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Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Achten Bandes drittes Stuͤck.

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Ueber den Plan des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde.

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Auszug aus einem Briefe an den4Herausgeber,von Herrn5Salomon Maimon.

Die Seelenkunde ist die Wissenschaft von der menschlichen Seele, als Erkenntnis und Willensvermoͤgen; sie kann in die reine und angewandte Psychologie eingetheilt werden.

Die reine Psychologie ist die Lehre von den mannigfaltigen Hauptkraͤften der Seele, d.h. solchen Wirkungsarten derselben die sich nicht aus einander, aus denen aber alle Erscheinungen der Seele sich erklaͤren lassen.

Die angewandte Psychologie ist die Lehre von der Art diese Prinzipien zur Erklaͤrung besonderer Seelenerscheinungen zu gebrauchen.

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Jch bemerke aber, daß man sowohl in Ansehung der Seelenkunde, als der Naturkunde uͤberhaupt, eher auf Extremitaͤten geraͤth, als daß man den rechten Weg einschlagen sollte. Einige waͤhlen blos die empirische, andere hingegen blos die dogmatische Methode.

Jene glauben genug gethan zu haben, wenn sie so viel Erscheinungen als moͤglich ist gesammlet haben, ohne dieselben aus bekannten Prinzipien herzuleiten, und untereinander zu verbinden.

Diese hingegen suchen alle Erscheinungen aus Prinzipien herzuleiten, sie bekuͤmmern sich aber nicht genug um die Evidenz der Prinzipien selbst, sondern in Ermanglung der aus der Erfahrung bekannten Prinzipien, erdichten sie welche, unter dem Titel von Hypothesen.

Die einzige rechte Methode aber ist diese: alle Erscheinungen so viel als moͤglich ist, durchs Reduziren auf gemeinschaftliche Prinzipien, untereinander zu verknuͤpfen; keine unbekannte Prinzipien zu erdichten; und die zur Erklaͤrung der Erscheinungen, die sich aus den bekannten Prinzipien nicht erklaͤren lassen, angenommenen Hypothesen nur so lange gelten zu lassen, bis entweder dieses moͤglich wird, da man dann diese ganz ohne Grund angenommenen Hy -3 pothesen verwerfen kann, oder bis diese Hypothesen selbst durch etwas anders bestaͤtigt werden.

Woraus erhellet, daß wahre Menschenkenntniß kein Erbtheil der Weltleute seyn kann. Diese beweinen entweder die menschlichen Thorheiten mit dem Heraklit, oder belachen dieselben mit dem Demokrit, indem sie darinn so viel Unerklaͤrbares und Ungereimtes zu finden glauben.

Derjenige hingegen der sich die wahre Menschenkenntnis zu erlangen bemuͤht, wird die menschlichen Thorheiten, so wenig beweinen als belachen, sondern sie vielmehr aus ihren Prinzipien zu erklaͤren suchen.

Fuͤr ihn hat der Thor und schlechte Mensch eben dasselbe Jnteresse, als der Weise und Gute, weil, indem sein Zweck blos Menschenkenntniß, nicht aber irgend ein anderes Jnteresse ist, welches etwa der Zweck des Mediziners, Politikers und Moralisten seyn moͤchte, ihm zu diesem Behuf der Eine so gut als der Andere dienlich seyn kann.

Ja der Thor und schlechte Mensch hat hierin vor dem Weisen und Guten sogar einen Vorzug, indem die Hebung der Widerspruͤche in dem Karakter des ersten, eine tiefere Untersuchung uͤber den Menschen voraussetzt.

Der Umfang der Seelenarzneikunde ist nicht so groß als man ihn sich gemeiniglich vorstellt. Jch will mich hieruͤber naͤher erklaͤren.

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Die aus der Psychologie bekannten Seelenkraͤfte sind: 1) die sogenannten hoͤhern Kraͤfte, nehmlich Verstand und Vernunft. 2) Die niedrigern Kraͤfte: Empfindung, Einbildungskraft, Erinnerung, Witz u. d.gl.

Man nennt nehmlich hoͤhere Seelenkraͤfte diejenigen Wirkungsarten, die a) (in Beziehung auf bestimmte Objekte) Nothwendigkeit und Allgemeinguͤltigkeit enthalten; und deren b) Wirkungen wahre Einheiten der Natur sind, und daher nicht in Zeit und Raum gedacht und folglich an sich auch nicht veraͤndert werden koͤnnen. Diejenigen aber die diese Kriterien nicht haben, werden die niedern Kraͤfte genannt.

Der Verstand denkt Begriffe von Objekten und urtheilt von den Verhaͤltnissen dieser Objekte a priori. Diese beiden Wirkungen muͤssen in Beziehung auf dieselben Objekte, in Ansehung eines jeden Subjekts, nothwendig und allgemeinguͤltig seyn, oder man muß diese Wirkungen selbst in Zweifel ziehn, und allen Anspruch auf Erkenntnis der Wahrheit aufgeben.

Ferner ist der Begrif der Moͤglichkeit eines Objekts oder des Verhaͤltnisses verschiedener Objekte eine untheilbare Einheit. Der Begriff eines Dreieckes ist blos darum moͤglich, weil die drei Linien (als die Bestimmungen), ohne Raum (als das dadurch Bestimmte) nicht gedacht werden koͤnnen. Dieses Objekt entsteht also nicht in der Zeit, so5 daß man z. B. erst den Raum und hernach die drei Linien an sich daͤchte, sondern auf einmal; und so ist es auch z. B. mit dem Urtheil: Ein rechtwinklichtes Dreieck ist ein Dreieck, beschaffen, indem es blos darum seine Realitaͤt hat, weil man ein rechtwinklichtes Dreieck nicht ohne Dreieck uͤberhaupt denken kann. Mit der Vernunft, als dem Vermoͤgen mittelbar zu urtheilen, hat es eben dieselbe Bewandtnis.

Hieraus folgt daß alle Menschen, ja so gar alle denkende Wesen uͤberhaupt einerlei Verstand und Vernunft haben; sie koͤnnen in diesem Betrachte, nur in Ansehung der Objekte und der Grade dieser Wirkungen verschieden sein. Und selbst dieser Unterschied liegt nicht in den besondern Bestimmungen dieser Kraͤfte an sich, sondern in der Verschiedenheit des Stofs den die Sinne, und der Verbindungsart des Mannigfaltigen darin, die die Einbildungskraft dazu[ darbietet.]

Gebt einem Duns dieselben sinnlichen Vorstellungen und Reihen der Association, die Neuton gehabt hat, und er wird mit diesen das Weltsystem erfinden. Sobald als die Sinne und die Einbildungskraft die Mittelsaͤtze zur Erfindung einer Wahrheit darbieten, so ist die Wahrheit erfunden.

Diese hoͤheren Seelenkraͤfte koͤnnen also von einer Seelenarzeneikunde gaͤnzlich wegbleiben, weil sie an sich keiner Veraͤnderung unterworfen sind. Die Empfindung ist zwar (als Seelenvermoͤgen)6 an sich der Veraͤnderung unterworfen, da aber ihre Veraͤnderung von der besondern Organisation abhaͤngt, so ist hier wiederum fuͤr den bloßen Seelenarzt nichts zu thun.

Es bleibt also fuͤr die Seelenarzeneikunde nichts mehr uͤbrig als die Einbildungskraft mit ihren Abtheilungen, die nicht blos von außen als ein leidendes Vermoͤgen, sondern auch eigenmaͤchtig als ein thaͤtiges Vermoͤgen viele Veraͤnderungen annehmen kann.

Erstlich kann die Reproduktion nach dem Gesetze der Association bei Wahrnehmung eben desselben Objekts in verschiedenen Reihen der Association, in verschiedenen Graden von Staͤrke und Geschwindigkeit, in verschiedenen Verhaͤltnissen der Freiheit und Nothwendigkeit u. d.gl. gedacht werden.

Diejenige Proportion in der Wirksamkeit der Einbildungskraft wodurch nicht nur diese Wirksamkeit an sich, sondern auch die Wirksamkeit aller uͤbrigen davon abhangenden Seelenkraͤfte, das Maximum, oder das in einem gegebenen Subjekte Groͤßtmoͤgliche erreicht wird, ist der Zustand der Gesundheit. Was aber davon abweicht, ist Krankheit.

Die Seelenkrankheiten koͤnnen also, nicht bloß a posteriori, sondern auch nach einem Prinzip a priori bestimmt, und in ein System gebracht werden.

Man braucht nur die verschiedenen Wirkungsarten der Einbildungskraft aufzuzaͤhlen, und sie in ver -7 schiedenen Verhaͤltnissen zu verknuͤpfen, um alle moͤglichen Seelenkrankheiten zu bestimmen, welches die Pathologie ausmachen wird.

Was die Ordnung aber anbetrift, so glaube ich daß man am besten thun wird, wenn man erstlich die allgemeinsten, und folglich auch bekanntesten Krankheiten abhandelt, und hernach zu den weniger bekannten uͤbergeht.

Jene sind gleichsam uns angeerbte Krankheiten (so wie die Blattern), deren Schaͤdlichkeit aber durch eine gute Diaͤt verhuͤtet werden kann; von dieser Art sind die transcendenten Erdichtungen. Dieses erfordert eine naͤhere Erklaͤrung.

(Die Fortsetzung folgt.)

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Zur Seelennaturkunde.

1. Wirkung des Denkvermoͤgens auf die Sprachwerkzeuge.

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Mein Freund, der Herr Professor8Markus Herz,berichtet uns (Mag. zur Erfahrungs-Seelenkunde 8. Band. 2. Stuͤck 1.) eine merkwuͤrdige medizinisch-psychologische Erscheinung, die er, als gleich competenter Richter in beiden Wissenschaften, mit dem ihm eignen Scharfsinn zu erklaͤren sucht.

Jch werde hier sowohl diese Erscheinung, als seine Erklaͤrung in Kurzem anfuͤhren, und meine eigne Erklaͤrung hinzufuͤgen; uͤberlasse es aber dem Leser, mit welcher Erklaͤrungsart er am besten zufrieden seyn will.

Ein Mann, der durch einen Zufall, an der Zunge und an den Haͤnden und Fuͤßen einige Zeit voͤllig gelaͤhmet war, ist nachher soweit wieder hergestellt worden, daß er die Fuͤße hat vollkommen brauchen koͤnnen, wie auch einigermaßen die Haͤnde; in Ansehung der Sprache aber hat sich folgende merkwuͤrdige Erscheinung bei ihm ereignet. Er war9 schlechterdings nicht im Stande irgend ein Wort deutlich und vernehmlich hervorzubringen, weder von selbst aus eignem Triebe, noch wenn man ihm die Worte laut und langsam vorsagte; hingegen konnte er sehr fertig lesen, so daß man, wenn er laut las, kaum einen Fehler an seinen Sprachorganen bemerkte.

Die Erklaͤrung dieser Erscheinung ist nach dem Herrn Professor9Herzin Kurzem diese:

» Zum Aussprechen oder Hervorbringen eines Worts ist nothwendig, daß die Vorstellung desselben in der Seele vorgehe. Diese Vorstellung muß unter gewissen Umstaͤnden einen gewissen Grad von Staͤrke haben. Ferner, die Wirksamkeit einer Vorstellung haͤngt von zwei Ursachen ab, von ihrer Lebhaftigkeit und von ihrer Dauer. «

» Jn Ansehung der Lebhaftigkeit giebt es keine wesentliche Verschiedenheit unter den verschiednen sinnlichen Vorstellungen; in Ansehung der Dauer aber, ist vorzuͤglich eine Verschiedenheit zwischen den Vorstellungen des Gesichts und den des Gehoͤrs zu bemerken, indem die Wahrnehmungen des erstern viel dauerhafter, als die des leztern sind; folglich muß auch die Wirkung jener viel staͤrker, als die Wirkung dieser seyn. «

» Bei diesem Manne also, dessen Sprachorgane zum Theil gelaͤhmet waren, konnte nur die staͤrkere Vorstellung des Gesichts, nicht aber die schwaͤchere10 des Gehoͤrs die verlangte Wirkung (Hervorbringung eines Worts) verursachen. «

Herr Professor Herz fuͤhrt noch eine Erscheinung von dieser Art an, die er auf eine aͤhnliche Weise erklaͤrt.

Jch will mich hier in keine umstaͤndliche Beleuchtung dieser Erklaͤrungsart einlassen, und bemerke nur, daß ich den Unterschied zwischen den verschiednen Arten sinnlicher Vorstellungen in Ansehung ihrer Dauer nicht einsehen kann.

Die Dauer ist die Existenz eines Dinges zu verschiednen Zeiten. Nun hat aber eine Vorstellung sowohl, als die ihr correspondierende unmittelbare Wahrnehmung nur so viel Dauer, als zu ihrer Apprehension, d.h. zur Zusammennehmung und Ordnung ihrer Theile zu einem Ganzen, noͤthig ist; sobald dieses Geschaͤft zu Ende ist, ist auch die Vorstellung zu Ende; wird diese Operation wiederholt, so entstehet eine der vorigen aͤhnliche Vorstellung, die aber dennoch ihre eigene Existenz hat, indem die Verschiedenheit der Zeit bei aller wesentlichen Jdentitaͤt die Verschiedenheit der Existenz ausmacht.

Das Object mag immer (als Substanz) eine Dauer haben; seine aufeinander folgenden Eindruͤcke auf uns moͤgen immer einartig seyn; so muͤssen doch diese Eindruͤcke, und folglich auch die aus ihnen entspringenden Vorstellungen, ihrer Existenz nach11 verschieden seyn, und hierin sind alle sinnlichen Vorstellungen einander aͤhnlich.

Man taͤuscht sich gemeiniglich, wenn man glaubt geschwinder Lesen als Sprechen zu koͤnnen, da doch das (nicht laute) Lesen nichts anders als ein inneres Sprechen ist. Der Grund dieser Taͤuschung aber liegt darin, daß man schon aus Gewohnheit sich mit ganzen Phrasen bekannt gemacht hatte; man ließt daher bloß einige Theile derselben, und ersetzt das uͤbrige aus dem Gedaͤchtniß, und glaubt demohnerachtet das Ganze gelesen zu haben.

Wir moͤgen also die Vorstellung eines Worts durchs Hoͤren oder durchs Sehen erlangen, so ist ihre Dauer immer nur so viel, als zur Apprehension, d.h. zur Zusammennehmung der einzelnen Buchstaben, und ihrer Ordnung untereinander in einem Worte, nothwendig ist.

Sobald dieses zu Ende ist, muͤssen wir entweder durch unmittelbare Wahrnehmung oder Erinnerung dieses Geschaͤft aufs Neue vornehmen; aber dieses ist nicht mehr die Dauer eben derselben Vorstellung, sondern blos ihre Wiederholung.

Jch komme nun zu meiner Erklaͤrung dieser Erscheinung, zu deren Behufe ich folgende Saͤtze vorausschicken zu koͤnnen glaube:

  • 1) Das aus der Psychologie bekannte Gesetz der Association uͤberhaupt; nehmlich wenn zwei Vorstellungen A und B dem Erkenntnißvermoͤgen, in einer unmittelbaren Folge im Raume oder in der12 Zeit gegeben werden, so werden sie in Beziehung auf das Erkenntnißvermoͤgen so verknuͤpft, daß, wenn nachher die eine derselben A entweder durch das aͤußere Object gegeben, oder durch die Einbildungskraft reproducirt wird, alsdann auch die andere B reproducirt werden muß, und so auch umgekehrt.
  • 2) Diese Association oder die Wahrscheinlichkeit des Urtheils a priori von der Folge der Vorstellungen aufeinander kann verschiedene Grade haben, die durch die verschiedenen Grade der Wiederholung (ihre Anzahl) der a posteriori wahrgenommenen Folge dieser Vorstellungen aufeinander bestimmt werden; das heißt, je oͤfter diese Vorstellungen, in einer Folge aufeinander wahrgenommen worden sind, desto wahrscheinlicher wird es, daß wenn hernach eine derselben wahrgenommen werden sollte, die andere auf sie folgen werde.
  • 3) Der hoͤchste Grad der Association ist, wenn die Vorstellungen bestaͤndig in einer Folge aufeinander und nie außer derselben wahrgenommen worden sind.
  • 4) Der Grad der Association kann aber in den beiden associirten Vorstellungen verschieden seyn; wenn nehmlich die eine Vorstellung A bestaͤndig in einer Folge mit B, B hingegen auch außer dieser Folge wahrgenommen worden ist, alsdann ist die Wahrscheinlichkeit der Folge von B auf A13 groͤßer als die Wahrscheinlichkeit der Folge von A auf B.
  • 5) Es giebt auch eine Ordnung in der Association; wenn nehmlich bestaͤndig A als vorhergehend, und B als darauf folgend wahrgenommen worden ist, so wird auf die Wahrnehmung von A, B gewiß folgen, nicht aber umgekehrt. Wer eine fremde Sprache durchs Uebersetzen in seine Muttersprache erlernt, wird bei einem vorkommenden Worte aus der fremden Sprache auf das demselben correspondirende Wort in seiner Muttersprache leicht fallen, nicht aber umgekehrt. Dieses habe ich sowohl an mir selbst als an andern beobachtet, hingegen hatte ich noch keine Gelegenheit, die Ordnung der Association auch im umgekehrten Falle zu beobachten. Sollte sich dieses auch bestaͤtigen, so hat der Satz der Ordnung in der Association seine voͤllige Richtigkeit: wo nicht, so muͤssen wir ihn gaͤnzlich verwerfen, indem die beobachtete Ordnung im ersten Falle sich aus No. 4. erklaͤren laͤßt. Das Wort aus der fremden Sprache ist nie außer der Association mit dem ihm correspondirenden Worte aus der Muttersprache vorgekommen; hingegen ist dieses schon lange Zeit vor dieser Association gebraucht worden; folglich ist der Grad der Association des erstern groͤßer, als der des leztern, indem es bei dem ersten der hoͤchstmoͤgliche Grad ist. Man erinnert sich daher leicht bei jenem an dieses, nicht aber umgekehrt.
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  • 6) Die Vorstellungen der Objecte gehen der Sprache, und diese der Schrift voraus. Dieses ist ein Erfahrungssatz, den jeder zugeben wird. Ein Kind hat lange vorher Vorstellungen, ehe es sie durch Worte ausdruͤcken lernt. Und die Schrift bestehet aus willkuͤrlichen Zeichen der Toͤne, so wie die Sprache aus willkuͤrlichen Zeichen der Vorstellungen. Das Bezeichnetwerdende muß aber dem Zeichen vorhergehen.
  • 7) Aus 4. und 6. laͤßt sich erklaͤren, warum ein[ Kind,], das eine Sache benennt, zugleich eine Vorstellung davon hat; wenn es z. B. sagt: ich will Zucker, so wird es sich gewiß mit nichts anderm abspeisen lassen. Es kann aber umgekehrt eine Vorstellung von einer Sache haben, ohne sie benennen zu koͤnnen; wobei es sich eines allgemeinen Ausdrucks zu bedienen pflegt (weil dieser ihm oͤfter als der besondere Ausdruck vorgekommen ist), z. B. das Ding, etwas u. dgl. weil, obgleich die Vorstellungen mit ihren Nahmen in seiner Seele sind associirt worden, sie doch nicht in gleichem Grade associirt sind; indem die Vorstellung schon vor dieser Association, ihr Nahme hingegen erst durch dieselbe entstanden ist.
  • 8) Das was an sich schwer zu bewerkstelligen ist, wird durch die Association erleichtert, man bekoͤmmt die Fertigkeit in einer Kunst durch Uebung, d.h. durch oͤftere Wiederholung eben derselben Handlung. Wenn wir aber die Sache genauer betrach -15 ten wollen, so werden wir finden, daß diese Fertigkeit nicht aus der Wiederholung eines jeden Theils der Handlung an sich,, sondern aus der Wiederholung ihrer Verbindung untereinander entspringet.

Wenn jemand z. B. einen Menschen abzeichnen will, so kann er nicht gleich Anfangs alle Zuͤge richtig ausdruͤcken, er zeichnet blos diejenigen wenigen Zuͤge, auf die sich seine Aufmerksamkeit erstreckt, richtig. Hernach wendet er seine Aufmerksamkeit auf die noch nicht richtig getroffenen Zuͤge, und sucht sie auszudruͤcken, und mit den schon richtig getroffenen zu verbinden, u.s.w.; bis er auf diese Art das Ganze richtig zeichnen gelernt hat; je oͤfter er diese Handlung wiederholt, desto staͤrker werden diese Zuͤge zu einem Ganzen in seiner Einbildungskraft verknuͤpft, so daß er zuletzt nur auf einige derselben seine Aufmerksamkeit zu richten braucht, und die andern von selbst folgen.

Durch die Association also wird mit einem kleinern Grade von Aufmerksamkeit (auf einige Zuͤge) so viel verrichtet, als sonst mit einem groͤßern Grade von Aufmerksamkeit (aufs Ganze) haͤtte verrichtet werden muͤssen.

Aus diesem allen laͤßt sich die gedachte Erscheinung auf folgende Art erklaͤren.

Der Mann war an seinen Sprachwerkzeugen zum Theil gelaͤhmt, oder welches wahrscheinlicher ist, er war waͤhrend der Zeit seiner Laͤhmung in der16 Sprache ausser Uebunggekommen; er konnte zwar sprechen, aber nur mit Schwierigkeit. Dieser Schwierigkeit mußte daher durch eine Association abgeholfen werden.

Nun ist freilich die Vorstellung eines Objects mit dem Schalle seines Nahmens in einer Association, indem man diesen durch Verknuͤpfung mit jener erlernt hat. Da aber die Vorstellung des Objects seinem Nahmen eine lange Zeit vorhergegangen ist, so ist diese Association nicht stark genug, um dasjenige zu bewerkstelligen, was ohne dieselbe unmoͤglich war. Und so ist es auch mit den von andern gehoͤrten Worten beschaffen, indem man die Worte eher gehoͤrt, als sie auszusprechen gelernt hat. Hingegen ist die Association der Schriftzeichen, mit den ausgesprochenen Worten die groͤßtmoͤgliche, weil man jene bestaͤndig in einer Association mit diesen, aber nie außer derselben wahrgenommen hat; folglich kann sie stark genug seyn, um die erforderliche Wirkung hervorzubringen.

10Salomon Maimon.

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2. Schreiben uͤber Taͤuschung und besonders vom Traume.

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Aus einigen Aeusserungen welche in13JhrerErfahrungsseelenkunde vorkommen, aus dem eigentlichen Zwecke welchen Sie sich vorgesetzt zu haben scheinen, und aus der Natur der Sache muß ich vermuthen, daß Jhnen wenigstens nunmehr, da Sie schon eine ziemliche Anzahl von Thatsachen gesammlet haben, auch Betrachtungen willkommen seyn werden, wenn sie Aufschluͤsse zur Erklaͤrung dieser Thatsachen enthalten, oder zur Feststellung psychologischer Gesetze beitragen.

Jn dieser Hinsicht theile ich Jhnen die Resultate mit, welche ich nach Durchlesung des ersten Stuͤckes von dem ersten Bande ihrer psychologischen Schrift gefaßt habe. Sollten sie Jhrem Urtheile nach eine Stelle in Jhrer Seelenkunde verdienen, so habe ich meiner Seits nichts dagegen. Jch schreite zur Sache.

Die Verruͤcktheit, Faselei und der Traum haben das miteinander gemein, daß 1) in diesen Zustaͤnden Gedankendinge fuͤr außer uns vorhandene Dinge gehalten werden. 2) haben wir in dem Augenblicke in dem dieser Trug geschiehet, oft ein Bewußtseyn von dem Truge. Man traͤumt, und weiß im Traume, daß man traͤumt; auch geben18 Wahnsinnige in dem Zustande ihrer groͤßten Verruͤcktheit manchmal sehr deutlich ein Bewußtseyn ihres Wahnsinnes zu erkennen.

Um nun diese Erscheinungen zu erklaͤren, werde ich eine Frage aufwerfen, deren Beantwortung, wie man mit einem Blicke sehen wird, einiges Licht uͤber diesen Gegenstand verbreiten muß. Es fraͤgt sich nehmlich: da alle unsre Vorstellungen Beschaffenheiten unsers denkenden Wesens sind, woher kommt es, daß wir irgend etwas als ein Ding betrachten, welches außer uns wirklich ist, und so wenig von unsrer Vorstellung abhaͤngt, daß es noch fortdauern kann, wenn auch unser denkendes Wesen, und mit ihm alle unsre Gedanken zernichtet werden sollten?

Ehe ich weiter ruͤcke, bemerke ich noch, daß zur gegenwaͤrtigen Absicht eine blos psychologische Beantwortung dieser Frage hinreichend ist; eine metaphysische Beantwortung aber zu nichts dienen wuͤrde. Man verlangt hier keine Beweise fuͤr die Wirklichkeit der außer uns befindlichen Dinge, sondern man will blos die Wege welche uns zu dieser Vorstellungsart leiten, und die psychologischen Gesetze kennen, nach denen wir etwas fuͤr außer uns wirklich halten; und dieses darum, damit wir die Taͤuschung welche im Traume und in der Verruͤktheit vorgehet, desto besser einsehen moͤgen.

Wir werden also einige Blicke in uns selbst werfen muͤssen, und mehr erfordert es in der That nicht, um folgendes wahrzunehmen: von vielen19 Vorstellungen sind wir uns genau bewußt, wie wir von den vorhergegangenen zu ihnen geleitet worden sind; von vielen andern wissen wir dieses zwar nicht, aber wir wissen doch uͤberhaupt, daß eine stetige Fortruͤckung von Vorstellung zu Vorstellung nach dem Gesetze der Jdeenverkettung und Vergesellschaftung in uns statt gehabt hat. Wenn wir uns zum Beispiel auf etwas zu erinnern bemuͤhen, so sind wir uns die große Menge von Vorstellungen, welche wir durchwandert haben, nicht bewußt; aber wir wissen uͤberhaupt, daß wir sie durchwandert haben, und wenn die Erinnerung wirklich geschiehet, sie eine Folge aller vorhergegangenen Vorstellungen gewesen ist, welche nach dem oben angezeigten Gesetze in uns hervorgebracht worden sind.

Aus diesen Bemerkungen muͤssen wir natuͤrlich den Schluß ziehen: alle Jdeen, welche blos in uns erzeugt werden, mithin alle Gedankendinge, sind eine Folge von vorhergegangenen Vorstellungen, und koͤnnen nicht ploͤtzlich, oder wie der Psycholog dies zu nennen pflegt, mittelst eines Sprunges entstehen.

Allein wir bemerken auch, daß es noch eine Art von Vorstellungen giebt, welche sich uns mit einemmale aufdringen, bei denen wir keine Spur eines stetigen oder vergesellschafteten Jdeenganges wahrnehmen, so daß in der ganzen vorhergegangenen Jdeenreihe, wenigstens unsrer Meinung nach, nichts enthalten war, welches darauf geleitet haͤtte. 20Wenn z. B. indem ich dieses schreibe, ein Vogel vor meinen Augen voruͤber streicht, so glaube ich uͤberzeugt zu seyn, diese Vorstellung sey ploͤtzlich in mir entstanden, weil zufolge[ meines] besten Bewußtseyns in dem Vorhergegangenen kein Faden anzutreffen ist, den ich an den Begriff eines Vogels knuͤpfen koͤnnte.

Demnach erzeugt der Satz: kein Gedankending entstehet mittelst eines Sprunges, nebst dem zweiten: es giebt Vorstellungen, welche, wenn ich meinen Wahrnehmungen trauen darf, mittelst eines Sprunges entstehen, den dritten: Die Vorstellungen von der letzten Art, oder bestimmter, die Vorstellungen, welche die Sinne darbieten, werden nicht blos in mir entsponnen, sind keine bloße Gedankendinge, sondern es giebt eine Wirklichkeit außer mir, welche sie in mir wirkt, oder veranlaßt. Nemlich: entweder die Vorstellungen welche wir durch die Sinne empfangen, sind nicht mit unsern uͤbrigen Vorstellungen verbunden, obgleich die Dinge, welche auf die Sinne wirken, eine ununterbrochene Verbindung untereinander haben; oder der Faden ist in Absicht derselben nicht abgeschnitten; ich habe Vorstellungen von der ganzen Welt, und zwar diejenigen, welche blos in mir entstehen, beziehn sich unmittelbar auf mich, auf meine Eigenheiten, und auf Eindruͤcke, welche die sinnlichen Vorstellungen in mir zuruͤckgelassen haben; die Vorstellungen aber welche durch die Wirkung aͤußerer Ge -21 genstaͤnde in mir hervorgebracht werden, beziehn sich mehr auf die Verbindung des unendlichen und zum Theil von mir auch in dem gegenwaͤrtigen Zustande anschaulichen Alls.

Von den Vorstellungen des innern Sinnes weiß ich im wachenden und mit Besonnenheit verbundenen Zustande wie ich zu ihnen gekommen bin, oder werde wenigstens die Spur von einer stetigen Gedankenverkettung gewahr; von den Vorstellungen aber, welche uns von aussen zustroͤmen, findet auch dies letztere nicht statt; nicht weil keine da ist, sondern weil sie fuͤr uns verloren geht; hauptsaͤchlich darum, weil es schwer ist, in einem grenzenlosen und aͤusserst verwickelten All eine Spur zu bemerken.

Es scheint, daß die zuletzt angefuͤhrte Meinung, welche doch wenigstens moͤglich ist, wiederum alles das niederreisse, was vorher aufgebauet worden. Denn da vermoͤge derselben die Vorstellungen, welche uns die Sinne darbieten, von den vorhergegangenen nicht abgebrochen sind, so kann die anscheinende Unterbrechung keine außer uns vorhandene Wirklichkeit darthun.

Allein es ist bereits erinnert worden, daß blos der Weg und das Gesetz gesucht wird, nach denen wir uns bei dieser Beurtheilung richten; ein Gesetz, welches, da alles auf die Erklaͤrung der Taͤuschung im Traume und in der Verruͤcktheit abzielt, den Grund angiebt, warum in den eben genannten Taͤu -22 schungszustaͤnden das Blendwerk sich erzeugen muß, dessen Ursprung hier entraͤthselt werden soll; mithin auch im wachenden und mit voͤlliger Besonnenheit verbundenen Zustande zu Jrrschluͤssen leiten kann. Denn blos durch die Verirrung welche auch in dem eben beschriebenen Zustande moͤglich ist, kann die Verirrung erklaͤrt werden, welche in den taͤuschenden Zustaͤnden unstreitig statt hat.

Daß aber der wirkliche oder scheinbare Mangel einer Jdeenverbindung zwischen einer Vorstellung und den vorhergegangenen uns auf eine außer uns vorhandene Wirklichkeit fuͤhrt, beweisen viele Erfahrungen, von denen ich folgende heraushebe: Wenn ich in eben dem Augenblicke, in welchem ich das einsilbige Wort ja niederschreibe, es auch aussprechen hoͤre, so werde ich zweifelhaft, ob man es wirklich ausgesprochen habe, oder ob in mir eine Taͤuschung vorgegangen sey, und ich wuͤrde nicht einmal daran zweifeln, sondern es fuͤr eine ausgemachte Taͤuschung halten, wenn sie im wachenden Zustande wahrscheinlich waͤre.

Also wo wir keine ploͤtzliche Abbrechung von der vorhergegangenen Gedankenreihe wahrnehmen, da schließen wir auch auf keine aͤussere Wirklichkeit, und wir waͤren lauter erklaͤrte Egoisten, wenn die sinnlichen Vorstellungen, welche uns die aͤussern Gegenstaͤnde darbieten, mit unsrer Gedankenreihe gleichen Schritt hielten.

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Demnach ist die Unterbrechung der Jdeenstetigkeit der Weg der uns auf eine ausser uns vorhandene Wirklichkeit fuͤhrt, und zum Theil auch ein Merkmaal, daran wir sie erkennen.

Jch sagte zum Theil, und dies vorsetzlich, denn nachdem man auf die Jdee gefuͤhrt worden, so bemerkt man noch andere Merkmaale derselben, welche es eben sind, die den Egoismus so laͤcherlich machen. Die wichtigsten derselben sind fuͤr uns hier von keinem Gebrauche, weil sie besonders auf unsern Zustand im Traume nicht angewandt werden koͤnnen.

Jch werde daher nur eines einzigen Merkmaals gedenken, darnach wir uns richten, welches so schwankend ist, daß es zu Taͤuschungen verleitet und auch im Traume statt hat; ich meine nehmlich die Staͤrke der Vorstellung. Wir koͤnnen mittelst der Einbildungskraft das Bild der Sonne in uns hervorbringen, aber die Kraft der Vorstellung einer mit Augen gesehenen Sonne, wirkt mit einer weit groͤßern Staͤrke, als die Vorstellung, welche die Einbildungskraft uns gewaͤhrt.

Wie sehr aber dies Merkmaal irre fuͤhren kann, beweisen viele Beispiele, wovon ich nur ein einziges ruͤgen werde. Man weiß, daß Dichter und Mahler von ihren eignen Gedankengeschoͤpfen getaͤuscht werden, und es hat Faͤlle gegeben, daß sie in Furcht und Schrecken gesetzt worden, mit einemmale in einen Winkel gekrochen oder zuruͤkgefahren sind.

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Jch enthalte mich, ein mehreres hieruͤber hinzuzufuͤgen, da die Hauptsache sehr bekannt ist, und zur Erklaͤrung des Truges, welcher in den taͤuschenden Zustaͤnden in uns vorgehet, fast allgemein angewandt wird.

Jch begnuͤge mich, blos zu bemerken, daß wir alle Vorstellungen, welche uns die Einbildungskraft, und mithin auch die uͤberspannte Einbildungskraft liefert, fuͤr das was sie sind, fuͤr Gedankendinge halten muͤssen, wenn wir nicht in dem Augenblicke in welchem uns das eingebildete Ding vor Augen schwebt, selbst die Spur der vorhergegangenen Jdeenreihe, daher es entstanden ist, verloren haben.

Die Gruͤnde welche fuͤr die Nothwendigkeit einer Reihenabbrechung zur Vorstellung einer Wirklichkeit vorgetragen worden, beweisen dieses noch um so mehr, wenn sie auf unstreitige Gedankendinge, auf die Bilder der Einbildungskraft angewandt werden.

Es stehet also fest: die Abbrechung von der vorhergegangenen Gedankenreihe ist eine Bedingung, ohne welche wir in keinem Falle etwas als ausser uns wirklich annehmen; und, daß ich es im Vorbeigehn bemerke, in Absicht der Vorstellung unsers eignen Daseyns verhaͤlt es sich gerade umgekehrt. Der Mensch vergißt, so zu sagen, sein eignes Jch, wenn er so sehr von Gegenstand zu Gegenstand eilt, daß ihm die innere Gedankenreihe abgebrochen scheinen muß.

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Jch ruͤcke nunmehr naͤher zum Ziele, und zwar zufoͤrderst zur Erklaͤrung der Haupterscheinungen in den taͤuschenden Zustaͤnden, und um meine Meinung faßlicher zu machen, werde ich in der Folge einige Entstehungsarten von diesen Zustaͤnden angeben.

Von allen taͤuschenden Zustaͤnden ist der Traum der einzige, der fast allen Menschen aus eigner Erfahrung bekannt ist; man hat daher auch bestimmtere Begriffe von ihm, als von den uͤbrigen; und man siehet sich oft gezwungen, von ihm auf die andern zu schliessen. Jn dieser Ruͤksicht verdient er die erste Stelle; zu dessen Erklaͤrung aber etwas von unsern Vorstellungen im Schlafe vorausgeschickt werden muß.

Jn dem Zustande des tiefen Schlafes, worin auch kein Traum vorhanden ist, sind die dunklen Vorstellungen der Seele im Gleichgewicht, so daß keine derselben eine groͤßere Staͤrke als die andre hat; keine ist die hervorstechende, die herrschende. Die Aufmerksamkeit, welche die Seele auf sich selbst und ihre Vorstellungen hat, ist in diesem Zustande aͤußerst schwach, aber nicht ganz unterdruͤckt, weil in ihm keine Vorstellung unterdruͤckt werden kann.

Daher kommt es, daß ein vor dem Schlafe gefaßter Vorsatz selbst in diesem Zustande eine Wirksamkeit hat, wie sehr viele Erfahrungen ausser allen Zweifel setzen; und daher kommt es ferner, daß die Schaͤtzung des verstrichenen Zeit -26 raums im Schlafe besser als im wachenden Zustande von statten gehet.

Denn da wir das Maß der vergangenen Zeit blos durch die Menge von Vorstellungen schaͤtzen koͤnnen, welche in uns aufeinander gefolgt sind: so wird dieses nur alsdann mit der Wahrheit uͤbereinstimmen, 1) wenn die Vorstellungen, deren Zusammenzaͤhlung den Zeitraum bestimmen soll, gleichen Zeitraum einnehmen. 2) wird auch die Aufmerksamkeit auf sich und auf andre Vorstellungen sehr geringe seyn muͤssen, weil die Aufmerksamkeit Jrrung im Zaͤhlen verursacht.

Man kann immer richtig hintereinander wegzaͤhlen, wenn man gar nichts dabei denkt, und selbst das nicht, daß man zaͤhlet. Ja dies ist es eben, was diese Operation so schwer macht, weil wir die Aufmerksamkeit vollends ablenken muͤssen. Jch werde mich in der Folge hieruͤber deutlicher bestimmen.

Da indessen diese beiden Erfordernisse im Schlafe vorhanden sind, so ist es kein Wunder, daß wir puͤnktlich in dem Augenblicke erwachen, wie wir es vor dem Schlafengehen gewuͤnscht haben.

Man setze demnach: es werden jemanden nach einer jedesmaligen Ziehung der Lotterie die Nummern bekannt, welche herausgekommen sind, so wird er sich zwar im wachenden Zustande die Reihe27 von Nummern, welche seit vielen Jahren gezogen worden, nicht erinnern, und wird daher noch weniger wissen, welche Nummern gar nicht oder weniger mal wie andere herausgekommen sind, aber im Schlafe wird ihm die Vorstellung aller seit vielen Jahren gezogenen Nummern und das Resultat, welches hierin zu fassen ist, mit eben der Staͤrke beiwohnen koͤnnen, als jede andre Vorstellung, weil in diesem Zustande keine Vorstellung einen groͤßern Grad von Staͤrke hat, als die andere; und wenn eben dieser Jemand ein Lotteriespieler ist, fuͤr den also dieses Resultat Jnteresse hat, so wird ihn diese Vorstellung wecken, er wird entweder voͤllig erwachen, oder in den mittleren Zustand gerathen, das ist: er wird traͤumen.

Wem diese Behauptung zu kuͤhn scheint, den frage ich: ob denn die Verhaͤltnisse, welche jedes Frauenzimmer ohne es zu wissen, mithin mittelst dunkler Vorstellungen berechnet, wenn es eine Melodie anhoͤrt, nicht eine weit verwickeltere Sache sind? Und ich frage ferner: ob dies nicht daher ruͤhrt, weil wir uns bei Anhoͤrung einer Musik blos leidend verhalten, also keine Aufmerksamkeit zu verwenden brauchen? Denn Aufmerksamkeit nenne ich hier: die Bemuͤhung etwas zu entdecken oder zu fassen; und wenn ich sage: es wird keine Aufmerksamkeit erfordert, so will ich zu verstehen geben, daß diese Bemuͤhung unnoͤthig ist. Und daher behaupte ich: die Anhoͤrung der Musik erfordert keine Aufmerk -28 samkeit, weil die Toͤne schon als leidenschaftliche Ausdruͤcke eine Anziehung haben, welche faͤhig ist, unsre Aufmerksamkeit von allen Gegenstaͤnden weg zu wenden, und wir uns also blos leidend zu verhalten brauchen.

Jn eben dem erklaͤrten Sinne hatte ich es auch genommen, als ich vorhin die Meinung aͤusserte, daß man bei dem Zaͤhlen und wie ich jezt hinzusetze, auch bei dem gemeinen Rechnen, in so fern man blos nach einer erlernten Methode verfaͤhrt die Aufmerksamkeit ablenken muß; denn das Zaͤhlen und das gemeine Rechnen ist weder eine Operation des Verstandes noch der Vernunft.

Der vortrefliche Doctor Bloch, dieser Mann der mit dem Talent, welches in Ausuͤbung seiner Kunst eine conditio[ sine] qua non ausmacht, mit dem gesunden Menschenverstande so sehr begabt ist, erzaͤhlt uns in seinen Bemerkungen eine Antwort des verewigten Mendelssohn auf die Frage: was denken Sie?

» Nichts, ich zaͤhle. «

Meiner Meinung nach war diese Antwort Mendelssohns, wie die seinige immer zu seyn pflegte, vieles mit wenigen Worten, treffend, scharfsinnig und wahr.

Aus dem was ich vorhin angefuͤhrt hatte, wird auch die Schwierigkeit begreiflich, die viele Maͤnner von Genie finden, wenn sie den eigentlich mathematischen Kalkul bearbeiten sollen, ob sie ihn gleich29 wohl verstehen, und gemeine Rechnungen mit Fertigkeit zu vollenden im Stande sind.

Denn der mathematische Kalkul erfordert zum Theil die Wegwendung der Aufmerksamkeit in dem erklaͤrten Sinne und theils eine Anstrengung; das erstere in so ferne die Operationen des gemeinen Kalkuls darin vorkommen, und das letztere in Absicht der darin befindlichen Vernunftschluͤsse. Dieser bestaͤndige Kontrast ist es, welcher auch einem Genie Verwirrung machen kann.

Wenn also der Wunsch des Herrn von Leibniz in Erfuͤllung kaͤme, die Zahlzeichen so einzurichten daß das Resultat der Arithmetischen Operationen aus Gesetzen der Vernunft geschlossen werden koͤnnte, so haͤtte dies wenigstens den Nutzen, daß die gemeinen sowohl als die mathematischen Rechnungen, mit weniger Muͤhe bearbeitet werden koͤnnten; und der sonst gruͤndliche und erfinderische[ Plouquet] hat dennoch hieruͤber nicht so geurtheilt, wie er urtheilen sollte und pflegte.

Noch ausfuͤhrlicher darf ich uͤber diese Materie nicht seyn, denn ich eile zu einem großen Rechenmeister, zum Schlafe.

Ueberhaupt jedes Resultat das uns im wachenden Zustande darum verborgen bleibt, weil sowohl die Jdeen, welche es voraussetzt, oder von denen es zusammengesetzt ist, als auch das Verfahren der Vernunft, welches erforderlich ist, um das Endurtheil zu faͤllen, von herrschenden Jdeen oder Ver -30 nunftverfahrungen unterdruͤckt worden, kann im Schlafe dennoch in uns entstehen, und wir wuͤrden, wenn in dem Augenblicke, in welchem uns das Resultat beiwohnt, ein Erwachen erfolgte, ein vollkommenes Bewußtseyn davon haben, wenn nicht die Operation des Erwachens davon ableitete, und die Vorstellungen vom aͤussern Gegenstande, welche uns von allen Seiten zustroͤhmen, das dunkle Resultat wiederum unterdruͤcken koͤnnten. Es sind aber gleichwohl die gluͤcklichen Einfaͤlle daher erklaͤrbar, welche man oft nach dem Erwachen hat.

Der hier angenommene Uebergang vom tiefen Schlafe zum Erwachen geschiehet aber aͤusserst selten, mehrentheils erfolgt nach ihm ein Traum. Wir werden daher den Einfluß betrachten muͤssen, welchen die Jdeenreihe die wir im Schlafe hatten, auf die Vorstellungen im Traume hat; aber zufoͤrderst werden wir die Eigenheiten dieses taͤuschenden Zustandes festsetzen, und daraus werden sich die Haupterscheinungen in demselben von selbst erklaͤren.

Der Traum ist ein Mittelzustand, der zwischen unsern Zustand im Wachen und im tiefen Schlafe faͤllt, daher wird auch keine vollkommene Aufmerksamkeit auf die innere Jdeenreihe statt haben, und da, wo wir im wachenden Zustande nur eine Spur wahrnehmen, werden wir im Traume gar nichts bemerken. Also werden wir kein sehr lebhaftes Bewußtseyn von unserm Daseyn haben;31 denn dies haͤngt von der Wahrnehmung der innern Gedankenreihen ab; das Jch ist demnach in diesem Zustande nur schwebend.

Da nun ferner der Uebergang vom Schlafe zum Traume mittelst einer aͤussern Empfindung oder durch das besondere Jnteresse, welches eine gehabte Vorstellung fuͤr uns hat, geschiehet: so ist hiedurch die Anlage zu einer Herrschaft der Jdeen gegeben, oder mit andern Worten, die Seele steht unter der Regierung der Einbildungskraft. Denn der Zustand darin herrschende Jdeen und ein schwebendes Jch statt hat, enthaͤlt die Elemente zu einer Art von Einbildungskraft, welche man die taͤuschende und unterdruͤckende nennen koͤnnte.

Die Fortsetzung kuͤnftig.

32

3. Ueber Selbsttaͤuschung.

14

Jn der menschlichen Natur giebt es gewiß kein unerklaͤrbareres Phaͤnomen, als die Moͤglichkeit, sich selber zu taͤuschen, gleichsam als ob man ein von sich selbst verschiedenes Wesen waͤre, daß zweierlei Jnteresse haͤtte.

Da nun kein Mensch leicht den andern taͤuscht, ohne sich irgend einen Vortheil davon zu versprechen, so scheint es auch, als ob man sich selber unmoͤglich taͤuschen koͤnne, ohne irgend einen Vortheil von dieser Taͤuschung zu erwarten, oder zu geniessen.

Wer aber hiebei betrogen wird, ist demohngeachtet niemand, als wir selbst; und doch waͤre es ungereimt zu sagen, daß irgend ein Mensch die Absicht haben koͤnnte, sich selbst im Ernst zu betruͤgen.

Um dieses Raͤthsel aufzuloͤsen sind die sonderbaren Beispiele von Selbsttaͤuschung in dem Leben der Menschen aͤusserst wichtig; und verdienen in jeder Ruͤcksicht naͤher erwogen zu werden.

Offenbar findet der meiste Selbstbetrug bei den religioͤsen Empfindungen statt, welche man sich oft zu haben Muͤhe giebt, und am Ende wirklich zu haben glaubt, indem man bei leerem Herzen, in Ergiessungen des Danks und der Ehrfurcht ausbricht, die man nicht mehr fuͤr erkuͤnstelt haͤlt, und die es dennoch sind.

33

Dergleichen Ergiessungen finden sich haͤufig in diesem kleinen Buche, und dienen zum Beweise, bei welchem Grade von Froͤmmigkeit der Mensch dennoch gegen sich selber ein Heuchler seyn, und bei welchem Grade von Aufrichtigkeit er dennoch sich gegen sich selber verstellen koͤnne.

Denn wer dergleichen Empfindungen in seinen Worten und Gebehrden luͤgt, um andre Menschen damit zu taͤuschen, bei dem laͤßt sich dies Verfahren leicht erklaͤren; wer aber diese Empfindungen in sich selbst erkuͤnstelt, um sie fuͤr sich zu haben, wenn auch niemand ausser ihm sie bemerkte, bei dem sollte man kaum noch Verstellung ahnden, wenn dieselbe nicht noch einen Schlupfwinkel haͤtte, nehmlich den, daß der Mensch auch vor sich selber eine Rolle zu spielen, im Stande ist.

Ein jeder sucht nehmlich, mehr oder weniger in irgend einer Stellung oder Mine, die ihm an andern wohlgefaͤllt, auch sich selber wohl zu gefallen, und traͤgt das Fremde mehr oder weniger in sich uͤber.

Und so wie nun die Neigungen verschieden sind, so findet der eine z. B. ein vorzuͤgliches Wohlgefallen an dem aͤussern Ausdruck einer tiefen Andacht; der andre an dem aͤussern Ausdruck einer vorzuͤglichen innern Staͤrke und Seelengroͤße; und wieder ein andrer an dem Ausdruck eines sanften und ruhigen Charakters, dem eine vorzuͤgliche Liebenswuͤrdigkeit eigen ist.

34

Weil nun aber dies Wohlgefallen mehr an dem aͤussern Ausdruck, als an der innern Grundlage, mehr an dem Schein als an der Wirklichkeit haftet; so muß auch die Uebertragung des Fremden nothwendig steif und erkuͤnstelt werden, weil man dieselbigen Erscheinungen ohne dieselbe Unterlage hervorbringen will.

Denn wenn man die Wirklichkeit dem Scheine vorzoͤge, so wuͤrde man kein Beduͤrfniß haben, das Fremde in sich zu uͤbertragen, sondern man wuͤrde in sich selbst zuruͤcksinken, um aus seiner eigenen Grundanlage, dasjenige herauszuarbeiten, was darin enthalten ist, sey es so viel oder so wenig es wolle.

Wen nun aber seine Neigung einmal zu dem Scheinbaren hinzieht, dem ist der Vorzug der Realitaͤt freilich nicht so leicht begreiflich zu machen. Denn wenn die Realitaͤt mehr inneres Gewicht hat, so hat das Scheinbare wieder eine groͤßere Ausbreitung.

Und der Mensch ist in diesem Falle groͤßtentheils so beschaffen, daß wenn sich ihm die Gelegenheit dazu darbietet, er lieber etwas Ausgebreitetes blos scheinen, als etwas in sich Zuruͤckgezogenes und Unbemerktes wirklich seyn will.

Was Wunder denn, daß auch selbst religioͤse und tugendhafte Empfindungen, in einem uͤbertriebenen und uͤberspannten Grade, lieber von den Menschen erkuͤnstelt werden, als daß sie sich mit35 dem, wozu ihre Natur wirklich faͤhig und ihre Fiber gestimmt ist, begnuͤgen sollten, welches immer noch mehr seyn wuͤrde, als alles, was sie durch erzwungene Nachahmung in sich hervorzubringen streben.

Es ist unglaublich, wie viele Menschen an dieser Krankheit leiden, welche das vernachlaͤssigen was sie sind, ohne das je zu erreichen, wornach sie streben, weil das wornach sie streben nur eine fremde Oberflaͤche und nicht das Wesentliche ist, daß in ihnen so gut, wie in jedem andern verborgen liegt, und nur Ruhe und Stille der Seele erfordert, um aufzukeimen, und in Aeste und Zweige sich auszubreiten.

Es gehoͤrt eine gewisse Art von Verlaͤugnung und Ertoͤdtung dazu, um gaͤnzlich auf den Schein Verzicht zu thun. Aus dieser Ertoͤdtung selber aber keimt bei demjenigen, welcher sich ihr unterzieht, sicher ein neues Leben hervor, daß allen Schimmer uͤberwiegt.

Die Seele kann erst dann mit sich selber in ein dauerndes Gleichgewicht kommen, wenn Kraft und Wille harmonisch uͤbereinstimmen. Denn der Wille welcher die Kraft uͤbersteigt, ist grade dasjenige was zum Scheine zwingt.

Wuͤnsche nach etwas Hoͤhern sind freilich deswegen unvermeidlich, weil so viele fremde Begriffe in eins uͤberstroͤmen, die uns etwas kennen lehren, das wir selbst nie zu erreichen im Stande sind. 36 Wer sich aber in der Republik der Geister und mit dieser zusammen denkt, der wird auch jedes hoͤhere Talent als ein gemeinschaftliches Gut betrachten, das allen verhaͤltnißmaͤßig zugehoͤrt, und welches selbst dem der es besitzt, oft kein so reines und unvermischtes Vergnuͤgen gewaͤhrt, als dem welcher sich mit stillem Genuß daran ergoͤtzt.

Eine jede Seelenkraft die sich in ihrem Maaß ausbildet, ist, ganz ohne Vergleichung, fuͤr sich selbst das Hoͤchste. Niemand darf scheinen, um mit in Reihe und Glied zu stehen, sondern ein jeder hat den innern Gehalt und Werth dazu in sich selber.

Es ist der duͤstre umnebelte Blick, welcher den reichen Fond von Anlaͤssen zu allem Großen und Schoͤnen, der in der Menschheit schlummert nicht wahrnimmt, weil er nur auf sein Jndividuum sich beschraͤnkt, und uͤber dessen Grenzen nicht hinausgeht.

Wer nun uͤber das Wesentliche hinwegsieht, muß zu dem Unwesentlichen bei dem inwohnenden Triebe sich auszubreiten, nothwendig seine Zuflucht nehmen. Die eigentliche Wurzel bleibt vernachlaͤssigt und verdorret, indeß ein fremdartiges Gewebe sich umher spinnt.

Daß man nach dem alten Sprichwort so viele Bilder und Erscheinungen von Menschen, und wirkliche Menschen so wenig sieht, hat blos in dieser Sucht das Fremdartige in sich uͤberzutragen,37 seinen Grund, wodurch wahre innere Kraft und Wuͤrde unter den Menschen so selten werden.

Die Philosophie der Alten arbeitet daher immer auf den Satz hin, sich durch nichts Aeusseres blenden zu lassen, nichts anzustaunen und zu bewundern, sondern in sich selber den einzigen wahren Beruhigungspunkt zu finden, der uns alle aͤussern Dinge in ihrem gehoͤrigen gemaͤßigten Lichte erscheinen, und unsre Wuͤnsche uns auf das, was wir uns selber geben koͤnnen, beschraͤnken laͤßt.

Wenn irgend etwas faͤhig ist, vor der Selbsttaͤuschung zu bewahren, so ist es eine solche ruhige Stimmung der Seele, welche wie ein heiterer Spiegel, jede Art von Affektation und falschem Streben, das in uns sich regen will, uns augenblicklich selbst bemerken laͤßt, und uns wieder in den Zustand versetzt, wo wir uͤber unsre eigne Thorheit laͤcheln.

16Moritz.

38

4. Ueber Selbsttaͤuschung.Jn Bezug auf den vorhergehenden Aufsatz.

17

Selbsttaͤuschung ist eine Neigung den aͤußern Schein einer Vollkommenheit durch Handlungen so auszudruͤcken daß man selbst sie zu besitzen glaubt. Die[ Unaufloͤßligkeit] der Frage: wie man sich selbst taͤuschen wollen kann? *)*) Siehe den vorhergehenden Aufsatz uͤber Selbsttaͤuschung. beruhet, wie ich dafuͤr halte, auf einer Verwechslung des Begriffes von Taͤuschen, mit dem von Betruͤgen. Jch werde mich daher bemuͤhen den Unterschied dieser Begriffe anzugeben, wodurch diese Frage leicht aufgeloͤßt werden wird.

Taͤuschung uͤberhaupt heißt: die Vorstellung eines Gegenstandes fuͤr den Gegenstand selbst zu halten. » Wenn wir, sagt Sulzer, bei einem Gemaͤlde vergessen daß es blos die todte Vorstellung einer Scene der Natur ist, und die Sache selbst zu sehen glauben; oder wenn wir eine Handlung auf der Schaubuͤhne so natuͤrlich vorgestellt sehn, daß wir dabei vergessen, daß was wir sehen blos Nachahmung ist, und die Schauspieler wuͤrklich fuͤr die Personen halten die sie vorstellen, so werden wir getaͤuscht. Es erhellet also hieraus, daß die gute Wuͤrkung der schoͤnen Kuͤnste (in so fern sie Nachahmung der Natur sind) von der Taͤuschung abhaͤngt. «

39

Die Taͤuschung eben so wie die (historische) Wahrheit beruhet entweder auf der Association der Einbildungskraft, und ist uns mit den Thieren gemein, oder auf einem falschen Urtheile. Jch will mich hieruͤber umstaͤndlicher erklaͤren.

Wenn wir verschiedne Erscheinungen bestaͤndig miteinander in Zeit und Raum verknuͤpft wahrgenommen haben, so entsteht bei uns der Begrif eines Objekts das aus allen diesen Erscheinungen zusammengesetzt, und wovon jede insbesondere ein Merkmaal oder eine Vorstellung ist. Wir haben zum Beispiel bestaͤndig wahrgenommen, daß gelbe Farbe, vorzuͤgliche Dichtigkeit und Schwere, Aufloͤßbarkeit in Aquaregis, Schmelzbarkeit u. d.gl. in Zeit und Raum verknuͤpft sind, so daß wo und wenn die eine dieser Erscheinungen angetroffen wird, auch alle uͤbrigen angetroffen werden. Es entsteht daher bei uns hieraus der Begriff eines besondern Objekts nehmlich des Goldes, dem alle diese Erscheinungen als Eigenschaften zukommen.

Wir erwarten also bei der Wahrnehmung der einen dieser Erscheinungen, die Wahrnehmung aller uͤbrigen, worinn wir aber zuweilen getaͤuscht werden, weil diese Erscheinungen keine nothwendige Verknuͤpfung miteinander haben, sondern diese Verknuͤpfung in uns nach dem bekannten Erfahrungsgesetze der Association entsprungen ist; daher glaubt ein Kind bei Erblickung der Goldfarbe in der Feder40 eines Pfau das Gold selbst zu erblicken; daher bellt ein Hund den Spiegel an, in dem er einen andern Hund zu erblicken glaubt, daher findet eine Henne keinen Anstoß, wenn man ihr aus Kreide verfertigte Eier stat der ihrigen unterlegt u. d.gl. mehr. Bei einem vernuͤnftigen Menschen geschieht dieses entweder auf eben dieselbe Art, oder es koͤmmt noch ein falsches Urtheil hinzu, dieses nehmlich, was (in Ansehung einer Erfahrung) bestaͤndig ist, ist an sich nothwendig, welches wiederum auf einer falschen Umkehrung eines wahren Satzes; nehmlich: was an sich nothwendig ist, muß auch in Ansehung unserer Wahrnehmung bestaͤndig seyn, beruht.

Die Frage: ob die Sinne uns taͤuschen koͤnnen, hat, wie ich dafuͤr halte gar keine Bedeutung; denn soll es z. B. heissen: ist der Zucker, der mir suͤße schmekt, auch an sich (das Substratum dieser Empfindung) ausser meinem Empfindungsvermoͤgen suͤße, so enthaͤlt es einen Widerspruch, daß nehmlich etwas ausser dem Empfindungsvermoͤgen dennoch Empfindung sey; ist aber die Bedeutung davon diese, ob der suͤße Geschmack den ich mit der weissen Farbe u.s.w. verknuͤpft in dem Zucker wahrnehme, bestaͤndig damit verknuͤpft sey oder nicht, so ist im letztern Falle hier wiederum keine Taͤuschung, denn ein Gegenstand der die weisse Farbe, und die uͤbrigen Eigenschaften des Zuckers ausser dem suͤßen Geschmacke hat, ist so wenig Zucker als das Platina Gold ist.

41

Die Taͤuschung liegt nicht in den sinnlichen Empfindungen an sich, sondern in ihrer Verknuͤpfung; ist diese Verknuͤpfung in unserer Wahrnehmung bestaͤndig, so nennen wir sie Wahrheit, wo nicht, so halten wir das, daß wir sie bisher fuͤr bestaͤndig gehalten haben, fuͤr eine Taͤuschung. Die Wahrheit beruht also auf der zufaͤlligen Uebereinstimmung der Wahrnehmung dieser Verknuͤpfung mit dem Glauben an dieselbe. Die Taͤuschung hingegen auf der zufaͤlligen Nichtuͤbereinstimmung derselben. Der Glaube an sich aber hat in beiden Faͤllen keinen nothwendigen objektiven Grund. Aber wozu auch dieser? Der zufaͤllige subjektive Grund ist schon hinreichend genug, so wohl zum Gebrauche im gemeinen Leben, als zur Erweiterung unsrer Erkenntniß in Ansehung der Natur, und ihrer Erscheinungen.

Taͤuschung und (historischer) Betrug sind einander aͤhnlich, in so fern in beiden die Vorstellung fuͤr den Gegenstand selbst gehalten wird. Sie sind aber voneinander verschieden, in so fern ein Betrug durch seine Entdeckung vernichtet werden muß; Taͤuschung hingegen auch durch Ueberzeugung, daß sie Taͤuschung sey, nicht vernichtet wird. Ein Stock der zum Theil im Wasser, zum Theil aber ausser demselben ist, scheint an dem Orte wo er die Oberflaͤche des Wassers beruͤhrt gebrochen zu seyn. Wer von der Optik nichts versteht, und auch noch nicht durch Erfahrung diese Erscheinung zu42 berichtigen gelernt hat, haͤlt ihn fuͤr wuͤrklich gebrochen, er betruͤgt sich also hierin. Nachdem aber ihm dieser Betrug entdeckt wird (durch Vorzeigung desselben ausser dem Wasser, oder Erklaͤrung dieser Erscheinung nach den Gesetzen der Optik) so wird derselbe sogleich vernichtet. Er wird nicht mehr glauben daß der Stock im Wasser gebrochen sey, sondern daß er blos gebrochen zu seyn scheine.

Das durch einen Hohlspiegel in der Luft hervorgebrachte Bild eines Gegenstandes scheint der Gegenstand selbst zu seyn. Derjenige der entweder von dem Daseyn des Hohlspiegels oder von seinen Eigenschaften aus der Optik nichts weiß, wird das Bild fuͤr den Gegenstand selbst halten. Man kann ihn aber seines Jrrthums uͤberfuͤhren wenn man ihn dasselbe befuͤhlen laͤßt u. d.gl. mehr. Dieß sind Beispiele eines zu entdeckenden Betrugs, nicht aber der Taͤuschung. Was ist also Taͤuschung? Um diese Frage aufloͤsen zu koͤnnen sehe ich mich also gezwungen etwas weit auszuhohlen.

Jch habe schon bemerckt daß der Begriff eines besondern Objekts worauf sich die Vorstellung als Merkmaal beziehet, das sich aber selbst auf nichts ausser sich beziehet, eine Wuͤrkung der Association der Einbildungskraft ist, die verschiedene sinnliche Vorstellungen, wegen ihrer Verknuͤpfung in Zeit und Raum in ein einziges Objekt verknuͤpft; woraus nothwendig folgt, daß, indem Zeit und Raum das Band oder die Einheit dieses Mannig -43 faltigen sind, sie nicht zugleich als Bestandtheile dieses Mannigfaltigen selbst gedacht werden koͤnnen, d.h.: obgleich jedes wirkliche Objekt nur zu einer gewissen Zeit und in einem gewissen Raume existiren kann, es dennoch nicht durch diese Zeit und diesen Ort ein bestimmtes Objekt wird.

Man kann sich daher eben dasselbe Objekt zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten denken, ohne daß es deswegen aufhoͤrt, das nehmliche Objekt zu seyn. Die Bestimmungen von Zeit und Ort koͤnnen also blos als zufaͤllige Beschaffenheit oder als Zeichen, nicht aber als wesentliche Bestandtheile oder Eigenschaften desselben gedacht werden. Dieses muß noch mehr von den Nahmen die blos willkuͤrliche Zeichen sind, gelten.

Wenn also die Begebenheiten des Koͤnigs Lear, Macbeth, Graf Essex und dergleichen auf dem Theater vorgestellt werden; so benimmt die Wahrheit, daß diese Begebenheiten nicht jezt, sondern vor einigen hundert Jahren, und nicht in Deutschland, sondern in England vorgefallen, und daß die Hauptperson nicht Koͤnig Lear, sondern der Schauspieler ist, dieser Vorstellung nichts; indem diese zufaͤllige Bestimmung abgerechnet, uͤbrigens die wirkliche Begebenheit nicht blos vorgestellt, sondern vollstaͤndig dargestellt wird.

Hier geht also eine eigentlich sogenannte Taͤuschung vor, indem wir von der einen Seite gezwun -44 gen sind, diese Vorstellung fuͤr den Gegenstand selbst zu halten, weil ihr nichts Wesentliches dazu mangelt, von der andern Seite aber uns anderwaͤrts uͤberzeugt finden, daß diese Vorstellung unter diesen zufaͤlligen Bestimmungen wuͤrklich habe seyn koͤnnen. Das Gemuͤth wanckt also bestaͤndig von der einen Vorstellungsart zur andern, d.h. es wird getaͤuscht.

Die Ueberzeugung von der Nichtwirklichkeit dieser Vorstellung hebt diese Taͤuschung nicht, sondern ist vielmehr ein Bestandtheil derselben. Hingegen kann aus der Ueberzeugung von der Nichtwirklichkeit des Gegenstandes, dessen Bild wir in der Luft schweben sehn, keine Taͤuschung entspringen. Wir muͤssen es blos fuͤr einen Schein, nicht aber fuͤr ein wirkliches Ding halten, indem ihm ein Bestandtheil der Wirklichkeit, nemlich das Fuͤhlbare mangelt.

Jch bemerke aber: daß es in Ansehung der durch die schoͤnen Kuͤnste hervorgebrachten Taͤuschung einen Unterschied giebt, zwischen den Werken der schoͤnen Kuͤnste die blos als Nachahmung der Natur, und solchen, die schon in der Natur selbst gefallen. Jm ersten Falle hebt die Taͤuschung vom Zero an, und steigt mit jedem Grade der Nachahmung, bis zu einer gewissen Stufe; von da sie wieder abzunehmen anfaͤngt; d.h. die Taͤuschung hat in der Nachahmung ein Maximum. Jm zweiten Falle aber, wo nehmlich die Wirkung im Gegenstande selbst gegruͤndet ist, hat die Taͤuschung45 gar keine Grenzen, und kann also nicht zu weit getrieben werden. Eine gemahlte Eidexe gefaͤllt uns blos als Nachahmung der Natur, indem sie unsern Witz in Thaͤtigkeit setzt, eine Vergleichung zwischen dem Gegenstande selbst und seiner Vorstellung anzustellen, und ihre Aehnlichkeiten ausfindig zu machen. Der Gegenstand selbst aber mißfaͤllt uns. Hier hat also die Taͤuschung in Ansehung ihrer Wirkung Grenzen, sie darf nicht zu weit getrieben werden, so daß wir die gemahlte Eidexe fuͤr eine wirkliche halten sollten, weil sie uns alsdann mißfallen mußte. Aber dafuͤr ist auch schon gesorgt; die Mahlerkunst wird es schwerlich so weit bringen, daß man ihre Vorstellungen fuͤr die Gegenstaͤnde selbst halten wird.

Der Kuͤnstler kann daher getrost die Taͤuschung so weit treiben, so weit es nur immer in seinem Vermoͤgen ist, ohne zu besorgen, daß er ihre Grenzen uͤberschreiten werde. Hingegen ist es mit der Vorstellung eines Jdeals des Schoͤnen, Großen, Erhabnen und Edlen ganz anders beschaffen. Hier kann die Taͤuschung in Ansehung ihrer Wirkung nicht zuweit getrieben werden. Sie ist hier nicht durch den Gegenstand selbst begrenzt, indem sie keine Nachahmung der wirklichen, sondern blos der moͤglichen Natur ist. Es lassen sich Grade des Schoͤnen u.s.w. bis ins Unendliche denken. Sie ist auch nicht durch den Grund des Gefallens begrenzt, weil dieser hier auf der Vorzuͤglichkeit der Sache selbst beruht.

46

Die aͤsthetische Taͤuschung beruht also darauf, daß man eben dasselbe Ding zugleich als Gegenstand und Vorstellung betrachtet, indem man im ersten Falle blos auf das Wesentliche, im zweiten aber auch auf das Zufaͤllige Ruͤcksicht nimmt.

Jch komme nun zu einer andern Art Taͤuschung, welche die logische genannt werden kann. Sie ist der aͤsthetischen hierin aͤhnlich: daß in beiden die Vorstellung des Objekts fuͤr das Objekt selbst gehalten wird. Sie unterscheiden sich blos dadurch, daß in dieser die Vorstellung ein Bestandtheil des Gegenstandes selbst, in jener aber nicht Bestandtheil, sondern blos Form desselben ist. Das erste und auffallendste Beispiel hiervon kann uns die vorerwehnte Frage: koͤnnen uns die Sinne taͤuschen? darbieten.

Jch habe schon bemerkt: daß diese Frage gar keine Bedeutung haben kann, und dahero unaufloͤsbar bleiben muß, indem sowohl die einzelnen sinnlichen Eindruͤcke als die aus ihnen entspringenden Gegenstaͤnde der Anschauung keine Copien von irgend etwas ausser denselben sind, so daß man sie durch ihre Vergleichung mit ihren Originalen fuͤr Wahrheit oder Taͤuschung halten sollte; und doch zeigt diese oft aufgeworfene Frage, daß man sie immer als Copieen eines sich ausser ihnen befindlichen Originals denke. Jch werde mich daher bemuͤhen die Entstehungsart dieser Jllusion zu erklaͤren.

47

Gewisse sinnliche Eindruͤcke werden uns als in Zeit und Raum verknuͤpft gegeben z. B. die weiße Farbe, Kaͤlte und Fluͤssigkeit des Schnees u. d.gl. Aus dieser Association entspringt in uns der Begriff eines besondern fuͤr sich bestehenden Objekts (des Schnees) und der sich als Merkmaal auf ihn beziehenden Vorstellungen (weiße Farbe u.s.w.) Da aber die weiße Farbe z. B. nicht nur mit der Kaͤlte im Schnee sondern auch mit dem Suͤßen im Zucker u. d.gl. verknuͤpft ist; so abstrahiren wir das Objekt von allen besondern Bestimmungen und betrachten die weiße Farbe als die Vorstellung eines bestimmbaren aber unbestimmten Objekts uͤberhaupt.

Und da unser Abstraktionsvermoͤgen einmal in Gang gerathen ist, so abstrahiren wir diese Vorstellung nicht nur von jedem bestimmten reellen Gegenstande der Anschauung, sondern von einem reellen Gegenstande uͤberhaupt und beziehen sie bloß auf ein logisches Objekt, das wir aber dennoch (indem wir uns der Entstehungsart dieser Vorstellung bewust sind) als einen reellen Gegenstand betrachten. Wir werden also darin getaͤuscht, indem wir von der einen Seite gezwungen sind, diese Vorstellung ihrem Ursprunge nach auf ein reelles Objekt zu beziehen, von der andern Seite aber, dieses Objekt durch nichts bestimmen duͤrfen, weil wir diese Vorstellung bloß in Beziehung auf ein Objekt uͤberhaupt betrachten; aber ich verspahre mir die Ausfuͤhrung dieser Art Taͤuschung auf eine andere Gelegenheit.

48

Taͤuschen und Betruͤgen sind also an sich betrachtet voneinander verschieden, indem im Betruͤgen das Falsche in der Materie oder innern Form, beim Taͤuschen hingegen bloß in der aͤußern Form des Gegenstandes angetroffen wird. Jn[ Ansehung] ihrer Wuͤrkung aber sind sie nicht nur von einander verschieden, sondern sogar einander entgegen gesetzt. Beim Betruͤgen wird der aͤußere Schein eines Gegenstandes mit Weglassung der innern Kraft wovon die Wuͤrkung oder der Nutzen abhaͤngt, beobachtet, beim Taͤuschen wird im Gegentheil bloß auf die Wuͤrkung gesehen, und von den Eigenschaften des Gegenstandes nur so viel beibehalten, als zu dieser Absicht noͤthig ist. Wenn man eine falsche Muͤntze fuͤr eine aͤchte ausgiebt so betruͤgt man, indem jene nicht eben den Nutzen als diese gewaͤhren kann. Eine dramatische Vorstellung hat die Erregung gewisser Empfindungen und Leidenschaften zum Zweck. Waͤre also vor unsern Augen, die Begebenheit so wie sie vorgestellt wird, wuͤrklich vorgefallen, so wuͤrde dadurch dieser Zweck vollkommen erreicht werden. Da aber dieses nicht geschiehet, so ist es fuͤr uns hinreichend, wenn die Vorstellung der Begebenheit selbst so nahe kommt, als zur Erreichung dieses Zwecks noͤthig ist.

Hieraus laͤßt sich auch die vorgelegte Frage: wie kann man sich selbst taͤuschen wollen? leicht aufloͤsen. Man kann sich keineswegs taͤuschen wollen, in so fern taͤuschen so viel als betruͤgen49 heißt, d.h. man kann nicht wollen, die Vorstellung einer Vollkommenheit an sich fuͤr die Vollkommenheit selbst zu halten, wenn die Vollkommenheit selbst der Zweck ist. Man kann sich zwar hierin taͤuschen d.h. glauben, daß man diese Vollkommenheit wuͤrklich besitze, keineswegs aber sich taͤuschen wollen, indem dieses einen Widerspruch enthaͤlt. Denn taͤuschen wollen, heißt so viel als sich taͤuschen und dennoch wissen daß man sich taͤusche, d.h. sich nicht taͤuschen.

Jst hingegen nicht die Vollkommenheit selbst sondern ihre Wuͤrkung Zweck, so kann man sich allerdings taͤuschen wollen. Ein Mensch kann sich (aus Mangel an psychologischen Kenntnissen) zwar taͤuschen, aber nicht taͤuschen wollen, daß er nach Principien der Tugend handle, wenn er bei sich weiß, daß er nach der Maxime des Jnteresses handele. Hingegen kann ein Mensch, der aus Temperament tugendhaft ist, d.h. dessen Neigungen zufaͤlligerweise mit den Gesetzen der Moral uͤbereinstimmen, sich taͤuschen wollen, daß er nicht bloß pflichtmaͤßig sondern aus Pflicht handle, weil er nicht nur vom Gegentheil sich nicht uͤberzeugen, sondern auch dadurch sich dieser Jdee immer naͤhern und den Endzweck also am besten befoͤrdern kann, und daher auch auf das, aus der Vorstellung dieser Vollkommenheit entspringende Vergnuͤgen mit Recht Anspruch machen darf. So wie ohngefaͤhr diejenigen, die nach einem bestimm -50 ten Ziele schießen lernen, blos die Erlangung dieser Geschicklichkeit zum Endzweck haben, keinesweges aber das Treffen des bestimmten Ziels, dennoch aber dieses als Jdee betrachten, wornach sie sich richten muͤssen, um diesen Zweck zu erreichen.

(Die Fortsetzung folgt.)

51

5. Anmerkungen und Berichtigungen zu dem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde.(Aus dem Franzoͤsischen uͤbersetzt.)

20

Da ich bei diesen Anmerkungen, Wahrheit und Nuͤtzlichkeit zur einzigen Absicht habe, und sie nur zu dem Privatgebrauch der Herausgeber bestimme, denen sie allein gewidmet sind, und welchen es frei stehet, jeden beliebigen Gebrauch davon zu machen, sich sogar von meinen Bemerkungen oder Berichtigungen zuzueignen, was sie fuͤr wahr halten; so trage ich kein Bedenken, sowohl uͤber den Plan der Herren Herausgeber, als uͤber dessen Ausfuͤhrung, eine strenge und trockene Kritik niederzuschreiben; und mag keine Zeit auf feine Wendungen und auf Hoͤflichkeitsbezeugungen verwenden, welche die Schonung und die Hochachtung, die man den Talenten und den Werken solcher Maͤnner schuldig ist, nothwendig erfordern wuͤrden, wenn diese Anmerkungen zum Druck bestimmt waͤren.

Da ich viel zu sagen habe, so gelte die Muͤhe, eine Menge Bemerkungen niederzuschreiben, welche sich mir bei Durchlesung dieses Werks aufgedrungen haben, fuͤr den sichersten Beweis von dem ungemeinen Jnteresse, welches ich fuͤr diese Unternehmung habe; fuͤr eine Unternehmung, die ich in Wahrheit52 als eine der nuͤtzlichsten dieses Jahrhunderts betrachte, die ich, als Monarch, mit allem Nachdruck unterstuͤtzen wuͤrde. Jch wuͤrde alsdann die Kostenbestreitung auf mich nehmen; ich wuͤrde die Herausgeber in den Stand setzen, dieser Arbeit allein alle ihre Seelenkraͤfte zu widmen; ich wuͤrde die Gelehrten und die Weltweisen aller Laͤnder aufmuntern, zu der Vervollkommnung dieses Werks herbei zu eilen.

Ersten Bandes 1tes Stuͤck. S. 2. ff. (Fakta und kein moralisches Geschwaͤtz, keinen Roman und keine Komoͤdie auch keine andere Buͤcher ausschreibe.) Der Versicherung, keine Buͤcher auszuschreiben, ist man in der Folge nicht treu geblieben. Jndessen bin ich so weit entfernt, den Verfassern einen Vorwurf daruͤber zu machen, daß ich vielmehr zwei Magazine, zwei Sammlungen gewuͤnscht haͤtte, davon das eine nur neue, und das andere aus Buͤchern ausgeschriebene Fakta, aus Biographieen, aus dem Gebiete der Arzneigelartheit, der Weltweisheit u.s.w. enthalten haͤtte. Haͤtte man dann diese Fakta mit Ueberlegung gewaͤhlt, ohne den Geist des Endzwecks dabei aus den Augen zu setzen, so wuͤrde man vielleicht am Ende das zweite Magazin fuͤr das nuͤtzlichere erkannt haben.

S. 7. (Nachrichten von J. M. Klug.) Vor einiger Zeit starb zu London ein Sonderling, von dem alle oͤffentlichen Blaͤtter sprachen. Er53 hatte sich gleichfalls eine lange Reihe von Jahren hindurch, in ein Zimmer eingeschlossen, und betrug sich uͤberhaupt vollkommen wie Hr. Klug, wiewohl aus ganz andern Bewegungsgruͤnden.

Es waͤre gewiß keine unnuͤtze Arbeit, die authentischen Berichte, welche man von demselben ertheilt hat, nachzusuchen und bekannt zu machen. Sie werden dieselben in den englischen Magazinen und Zeitungen von 1787-88 finden. Jch glaube wenigstens, sie um diese Zeit gelesen zu haben; doch weiß ich nicht genau, wo? vielleicht in dem Universal-Magazin.

S. 15. Jch werde in der Folge oͤfters Gelegenheit haben, von Traͤumen zu reden, und von Journalen uͤber Traͤume, deren Bekanntmachung ich mit Hr. Carl Bonnet sehr wuͤnsche; wiewohl ich nicht uͤberzeugt bin, daß sie jemals von irgend einem Nutzen seyn duͤrften. Und ich wuͤnsche diese Bekanntmachung aus keiner andern Ursache, als, weil ich es fuͤr ein Grundprincipium halte, daß man in der Psychologie, so wie in der Chymie, nicht nur die Verfahrungsart kennen muͤsse, durch welche man wirklich ein Produkt hervorgebracht hat, sondern auch die, welche nichts hervorgebracht haben. Es ist noch problematisch, ob Erzaͤhlungen von Traͤumen die Seelenlehre bereichern? und die Aufloͤsung dieses Problems ist von Wichtigkeit.

Bei dieser Gelegenheit will ich nur anmerken, daß sich unter Swedenborg's nachgelassenen Wer -54 ken, die zu Stockholm aufbewahret werden, drei Baͤnde von seinen Traͤumen befinden, die er mit großer Sorgfalt aufgezeichnet hat, und deren Mittheilung, meiner Meinung nach, um so interessanter seyn muͤßte, da sie ohne Zweifel auch die Merkmaale enthalten, wodurch er seine Somnia von dem unterschied, was er visa & audita nannte. *) *) Jch weiß keinen schicklicheren Ort Jhnen anzuzeigen, daß ich Schwedenborg persoͤnlich gekannt habe.

S. 19. Jch werde an einem andern Orte von Leuten reden, die, aus Ueberdruß am Leben, oder durch einen zufaͤlligen Todtschlag, Moͤrder geworden, und ein merkwuͤrdiges Beispiel anfuͤhren, welchem ich selbst beigewohnt habe. Der Mensch, von welchem hier die Rede ist, hat durch sein Betragen, z. B. gegen die Krankenwaͤrterin, offenbare Beweise von seiner Bosheit gegeben, und scheint mir in so fern weniger merkwuͤrdig, da er zu der Klasse der gemeinen Moͤrder gehoͤret.

S. 21. (Das Bestaͤndige, u.s.w.) Eine sehr richtige und gegruͤndete Bemerkung. Allein, man sollte von ihr zu der Untersuchung uͤbergehen, in wie fern die Errichtung der Manufakturen und sitzenden Gewerke, die bei uns ohne Vergleich zahlreicher sind, als sie bei den Alten waren, auf den Verfall des Menschengeschlechts Einfluß hat. Wieder ein Gegenstand zu einer Preisaufgabe!55 und man muͤßte zu diesem Behuf in denjenigen europaͤischen Staͤdten Bemerkungen machen, deren Einwohner sich hauptsaͤchlich von Manufakturen ernaͤhren; als: Manchester, Leiden, Lyon etc.

S. 26. VI. Ein wirklich merkwuͤrdiger Fall in seiner Art, und desto merkwuͤrdiger, da er nicht der Einzige ist; und von der Geschichte des Musquetiers Meyer S. 16. voͤllig abweicht.

S. 35. (Mir ist wenigstens) Eine Erfahrung des Verfassers die mir sehr merkwuͤrdig scheinet, und ihn wohl veranlassen sollte, sich naͤher zu erklaͤren, oder sich selbst in dieser Ruͤksicht tiefer zu durchforschen. Jch wenigstens muß gestehen, daß ich die Erscheinung eben so wenig kenne, als ich ihre Ursache zu errathen weiß. Mag die Unordnung in den Jdeen, eine viertel Stunde, hoͤchstens eine halbe Stunde nach dem Traume fortdauern; aber den ganzen Tag uͤber! das ist sehr auffallend.

S. 38. Kleinjogg war schon todt, als ich nach der Schweiz kam; aber nach dem Urtheile aller unpartheiischen Beobachter, muß man den Enthusiasmus, mit welchem man von so vielen Seiten uͤber ihn sprechen hoͤrt, merklich herabstimmen.

K. war ein redlicher, betriebsamer Bauer, der vor seines Gleichen das Talent sich gut auszudruͤcken, besaß. Hieraus laͤßt sich die hier erwaͤhnte Erscheinung sehr einfach erklaͤren.

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Der Anblick eines biedern Ackermannes, verbunden mit der Einfachheit seiner Manier, ist sehr geschickt, Seelenruhe einzufloͤßen, auf einige Zeit den Eindruck der Leidenschaften zu vernichten, u.s.w.

S. 39. I. Ein merkwuͤrdiges Stuͤck, von einer sehr interessanten Materie, die es wohl verdiente, daß man in einem kurzen Auszuge alle Data lieferte, welche wir schon anderweitig daruͤber haben; daß man z. B. die verschiedenen Methoden des l'Epée und des H. 23Heineckemit einander vergliche. Man koͤnnte noch dazu nehmen, was Wallis in seiner englischen Grammatik, Diderot in seinem Briefe uͤber die Taubstummen, und, wenn ich nicht irre, auch Harris in seinem Hermes, davon gesagt haben. Einige nicht unbetraͤchtliche Beitraͤge befinden sich auch in den Streitschriften uͤber den Ursprung der Sprache, in den Herderschen und Monbordoͤschen Werken, in Beauzée allgemeiner Sprachlehre, in dem großen Werke du Monde primitif, u.s.w.

S. 44. II. Eine gemeine, wiewohl ziemlich bemerkenswerthe Erfahrung. Jch kann wohl sagen, daß es mir wenigstens hundertmal in jedem Jahre meines Lebens so gegangen ist, und noch gehet. Hierbei ist zu merken, daß einem gewoͤhnlich ein Vers, und am haͤufigsten eine Strophe aus einem Liede in den Sinn kommt. Schwerlich ist einem57 Menschen jemals der nehmliche Fall mit einem prosaischen Stuͤcke erschienen.

S. 45. f. Eine noch alltaͤglichere Erfahrung, die nur alsdann interessant wird, wenn man sie allgemein, und zu einem Kapitel in der Seelenheilkunde macht. Es ist ein bewaͤhrtes Mittel gegen den Zorn, sich niederzusetzen. Man verstaͤrkt ihn durch das Aufstehen, wenn man schon gesessen hat; und er steigt noch mehr, wenn man einige Schritte vorwaͤrts thut u.s.w. Ueberhaupt besaͤnftiget das Sitzen jeden starken Affekt, und die Bewegung bringet ihn wiederum in Aufruhr. Die Ruhe des Koͤrpers theilet sich der Seele mit.

S. 46. f. S. 47. Sehr wahr! Jch bin uͤberzeugt, daß die Wahl des Zimmers, worinn man den groͤßten Theil seiner Zeit zubringet ob es heiter oder finster, hoch oder niedrig, hell oder dunkel, ruhig oder geraͤuschvoll, so oder anders meublirt ist einen so großen Einfluß auf die Laune und daher in der Folge auf den Charakter hat, daß es diesen nicht nur modifiziret, sondern sogar als ein sehr gutes Mittel dienen kann, ihm eine ganz andere Richtung zu geben.

Nach diesem Prinzip schließt man die zuͤgellose Jugend ein, und arretiret uͤbermuͤthige Militairspersonen; denn die Beraubung der Freiheit macht eben nicht den staͤrksten Eindruck; der Anblick des Gefaͤngnisses thut weit mehr, ohne daß man es vermuthen sollte.

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S. 47. III. Die Aerzte muͤssen entscheiden ob die Sensation, wovon hier die Rede ist, zu der Klasse des Alpdruͤckens gehoͤre? oder ob man durch eine gewisse Erschuͤtterung der Nerven, im Traume zu fallen, zu fliegen, oder zu schwimmen glaube? die beiden letztern Erscheinungen gehoͤren wenigstens nicht zu dem Alpdruͤcken; welches ich durch einige Erfahrungen an mir selbst, sehr genau kenne, und welches der Maler Fueßli in einem Gemaͤlde nach seiner gewoͤhnlichen, d.h. nach Michael Angelo's Manier vortreflich idealisiret hat.

S. 50. f. (Es ist nicht anders etc.) Eine sehr feine, und meiner Einsicht nach, sehr richtige Beobachtung. Uebrigens konnte ich nicht die Hand, sondern den rechten Arm zuerst heben, an welchem die Hand, wie zerbrochen, hing.

S. 52. f. (Jch vermuthe u.s.w.) Das glaube ich nicht. Die Empfindung des eigentlichen Alpdruͤckens ist immer die, welche Fueßli dargestellet hat. Man glaubt eine ungeheure Last zu fuͤhlen, die auf die Fuͤße schwer niedersinkt, und durch die Beine, uͤber Bauch und Brust gegen den Kopf fortruͤckt. Ehe sie in das Gesicht kommt, verschwindet die Erscheinung jedesmal.

S. 53. IV. Zerstreute Personen (die man fleißig beobachten sollte) koͤnnen leicht stehend traͤumen, und ihre Traͤume fuͤr Wirklichkeit außer ihnen, halten. Die bekannteste zerstreute Person war M. de Brancas, von der alle Memoires des59 Jahrhunderts Ludwigs des vierzehnten sprechen. Nach ihr folgt die zweite Hofdame der Koͤniginn, von welcher diese in ihren eben erschienenen Briefen erzaͤhlt.

Der Herzog von Selly war ebenfalls dergleichen Abwesenheiten unterworfen, die so weit gingen, daß er oͤfters ohne Beinkleider zur Messe ging. Der verstorbene General Burmanix, Adjutant des verstorbenen Prinzen von Oranien, stieg zu Pferde, voͤllig gekleidet, aber ohne Beinkleider.

Newton war nicht weniger zerstreut. Er hatte eines Tages jemanden zum Mittagbrodt eingeladen, und blieb in seinem Zimmer beim Kalkuliren. Der Bediente entschuldiget seinen Herrn bei dem Fremden, sagt, daß er es nicht wage, ihn zu rufen; er wolle aber indessen die Suppe auftragen.

Der Eingeladene wartet noch ein wenig, ißt alsdann die Suppe, und schiebt die leere Schuͤssel in die Mitte des Tisches. Hierauf erscheint Newton, bittet seinen Freund um Verzeihung, und, mit den Worten: » Kommen Sie, kommen Sie, wir wollen geschwinde essen « faltet er die Haͤnde zum Beten*)*) Newton war noch buͤrgerlich genug, um vor Tische zu beten., oͤffnet dann die Schuͤssel, und ruft voll Unwillen aus: » Welche Zerstreuung! hatte ich doch gar vergessen, daß ich schon die Suppe zu mir genommen! «

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S. 65. (Wenn die Jdeen) Eine aͤhnliche Empfindung, deren Gegenstand aber ungleich merkwuͤrdiger, ist die, welche eine Dame von vielem Geist oft zu haben versichert, und ich selbst einige mal sehr deutlich gefuͤhlt habe. Es ist als ob ein Vorhang hinter mir rauschte, und mich, in die Vergangenheit zuruͤck, in ein Zeitalter weit vor dem meinigen, versetzte.

Wenn ich die Seelenwanderung glaubte, so wuͤrde ich uͤberzeugt seyn, an dem Hofe Ludwigs des vierzehnten gelebt zu haben, vielleicht, Ludwig der vierzehnte selbst gewesen zu seyn. Sollte es daher kommen, weil ich so viele Memoires von diesem Hofe gelesen habe? allein, warum kann ich niemals dergleichen Memoires lesen, ohne daß es mir ist, als waͤre ich allen diesen Handlungen zugegen gewesen?

Jch stelle mir sogleich alle Personen, die Lage des Orts, das Costume u.s.w. auf das Lebhafteste vor. Die la Valcère macht einen ganz anderen Eindruck auf mich, wie Dido. Jch denke mir diese mit Mitleiden, an jene, mit einer Art von Unruhe.

S. 67. Die Erinnerung an Farbe vorzugsweise vor andern externis ist nicht allgemein. Mir sind Farben in meiner Kindheit niemals aufgefallen. Jch kann vierzehn Tage lang die nehmliche Person in der nehmlichen Kleidung sehen, ohne61 darauf Acht zu haben, oder mich in der Folge an diese Farbe zu erinnern.

Jch billige also die Stuffenleiter S. 69. nicht. Die erste Regel S. 68. ist nicht zu bezweifeln, und in den Verhaͤltnißbegriffen des Kindes gegruͤndet.

S. 82. f. Lavaters Traͤume, die er in seinem Buch Pontius Pilatus V. III. p. 252 sqq. erzaͤhlt, verdienen hier einen Platz. An einem andern Orte will ich von Visionen reden, die mit dem hier erwaͤhnten Traume Aehnlichkeit haben, z. B. die Swedenborgsche Vision von der Feuersbrunst seines Hauses.

S. 82. f. (Sprechen wir nicht sogar) Der Zufall thut hier viel; aber man muß dennoch untersuchen, ob nichts weiter dahinter ist? Das Spruͤchwort: » Wenn man vom Teufel spricht, so ist er nicht weit, « d.h. » oft trift das ein, wovon man spricht, « ist allen Sprachen gemein.

Die Neger, und uͤberhaupt die Wilden riechen das Wildpret auf der Jagd, zuweilen in einer Entfernung von einigen Meilen, indem sie sich zu Boden werfen, und den Kopf dicht an die Erde legen. Wir haben ohne Zweifel viele Jnstinkte und Faͤhigkeiten, die in uns schlafen, und nicht zur Reife kommen, weil wir sie ersticken.

Jndessen ist eine einzige fluͤchtige Erscheinung in dem ganzen Laufe unsers Lebens hinreichend uns ihr Daseyn zu versichern. Jch weiß nicht ob ich zu dieser Klasse eine Faͤhigkeit rechnen kann, die ich mit62 vielen Leuten, vorzuͤglich mit Militair-Personen gemein habe, welche, vermoͤge ihres Standes, genoͤthiget werden, oft Gebrauch davon zu machen.

Jch kann nehmlich selbst aus einem sehr tiefen Schlafe, schnell, zu der bestimmten Stunde, die ich mir des Abends fest in die Einbildungskraft gepraͤgt habe, und sehr puͤnktlich, erwachen.

Bei einem entschiedenen und interessanten Zwecke, als: eine Reise, ein Spazierritt, eine Jagdpartie etc. war ich oft in diesem Falle.

S. 85. VIII. Die hier angefuͤhrte Erfahrung scheint mir auf keine Weise ausserordentlich. Es ist eine Wuͤrkung der Einbildungskraft, die von einer Jdee, welche sie niemals gehabt, stark afficirt wird.

Jch habe einen Capitaͤn von bewaͤhrtem Muthe gekannt, der bis zur Tollkuͤhnheit gieng, und sich bei jedem Anlaß zeigte; und dennoch, so oft er von den Pocken sprechen hoͤrte, wurde er bleich, bekam Ueblichkeiten, und starb auch wirklich, ohne diese Krankheit gehabt zu haben.

Ein anderer Mensch aus meiner Bekanntschaft, der ohngefaͤhr 30 Jahr alt war, las, wie er glaubte, in seinem Leben zum erstenmal in einer englischen Bibel, in der ersten Epistel St. Johannis, die Worte: God is love (Gott ist die Liebe.) Diese Stelle wirkte so sehr auf ihn, daß er vom Stuhle aufsprang, die ganze Nacht in seiner Stube umhergieng, und unter einem Strom von Thraͤnen, be -63 staͤndig mit leiser Stimme wiederholte: God is love.

Es vergiengen mehr als zwei Jahre, ehe er diese drei Worte mit lauter Stimme, zumal in Gegenwart eines dritten, aussprechen konnte, ohne dermaßen zu weinen, daß er nicht weiter sprechen konnte.

Jch habe ihn sagen hoͤren: daß die Empfindung, die ihn uͤberkaͤme, so oft er an diese Worte denke, die entzuͤckendste sey, die er jemals gehabt.

S. 107. f. Der hier vorgezeichnete Plan ist bewundernswuͤrdig, und verdient von allen Paͤdagogen nachgeahmet zu werden, die Talent genug dazu besitzen.

S. 110. Diese Jdee ist so nuͤtzlich als sinnreich. Hier ist ein Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung: der Graf von S ... bewarb sich um ein Regiment in H ... schen Diensten, das vacant wurde.

Damals kannte ich ihn nicht von Person; aber die Grundsaͤtze, zu welchen er sich aus Jnteresse bekannte, machten mich fuͤr ihn partheiisch. Die Kabale setzte sich ihm entgegen; bis endlich der P ... ihm das Regiment antrug; und er sollte nun den Eid leisten, um es zu uͤbernehmen.

Denselben Abend erfuhr ich, daß eine Kabale im Werke sey, um die Sache zu hintertreiben, ohngeachtet er von dem P ... bereits ernannt war. Mein innigster Freund, der Herr Generaladjutant64 von B.. kam mit dem Herrn von S.. dann und wann zusammen.

Jch setzte in großer Eil ein Billet auf, um dem letztern anzuzeigen, daß er sogleich den Eid leiste, und auf diese Art die gegen ihn gerichtete Kabale scheitern mache. Er thut es, und ist im Besitze des Regiments.

Jch erzaͤhle alles dieses vorlaͤufig, um zu zeigen, wie weit ich damals von jeder Partheilichkeit gegen den Herrn von S.. entfernt war. Er war mir voͤllig unbekannt, und ich hatte ihm dennoch einen wichtigen Dienst geleistet.

Einige Zeit hernach gieng ich eines Abends ins Schauspielhaus. Beim Hereintreten erschrecke ich uͤber die Physiognomie eines neben mir stehenden Officiers. Sie war mir so verhaßt, so unausstehlich, daß ich mich gerne entfernt haͤtte; ich konnte mich kaum enthalten, ihm auf den Fuß zu treten, oder ins Gesicht zu speien. Kurz, ich habe niemals eine groͤßere Abneigung gefuͤhlt; ich konnte nicht laͤnger ausdauern, und mußte mitten im Schauspiel herausgehen.

Wenige Tage darauf gehe ich zu meinem Freunde, welchem ich damals das Billet, den Herrn von S.. betreffend, geschrieben hatte. Jch finde ihn eben beim Nachtische mit seiner Frau und diesem abscheulichen Originalmenschen, der mich im Schauspiele so sehr empoͤrt hatte.

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Jch stand wie versteinert. » Madame, sagte ich, « indem ich die Frau vom Hause bei Seite nahm, » um Gotteswillen! wer ist das Fratzengesicht das Sie hier bei sich haben? « wie? sie kennen ihn nicht? das ist ja der Herr v. S. Jch war wie aus den Wolken gefallen. Er uͤberhaͤufte mich mit Hoͤflichkeiten; aber er blieb mir immer so verhaßt, wie zuvor.

Bald darauf entwickelte sich sein Charakter immer mehr, bis er endlich waͤhrend der Revolution die bekannte Rolle spielte.

Man begnadigte ihn, begnuͤgte sich, ihn fuͤr infam zu erklaͤren, zu verbannen u.s.w. Herr v. S. ist ziemlich huͤbsch, ein fader Blondin, sehr fein, und druͤckt sich gut aus. Die Frage ist nun: was hat mich so sehr im ersten Blicke gegen diesen Mann eingenommen? Jch kann es nicht begreifen; indessen hat der Erfolg mein physiognomisches Vorgefuͤhl voͤllig bestaͤtiget. Jetzt ist es bekannt, daß er ein aͤußerst niedriger Boͤsewicht ist. Man sagt, er habe schon im zehnten Jahre seiner Mutter den Dolch auf die Brust gesetzt, um Geld von ihr zu erpressen u.s.w.

Band I. Theil II. S. 1. f. Jch liebe diesen Herrn Nenke. Er scheint einen tiefdenkenden Geist zu haben; jedoch ist er ein wenig zu schnell, und es fehlt ihm an Praͤcision. Gleich in der zweiten Phrasis haͤtten ihn die Herausgeber, meiner Meinung nach, berichtigen sollen. Er sagt; daß66 uns gewisse Tugenden es sollte heissen: daß uns die Anlage zu gewissen Tugenden gleich wie zu gewissen Lastern etc. denn, im Grunde laͤßt es sich entweder gar nicht behaupten, oder doch nur von der Anlage.

S. 3. Diese Jdeen sind bewundernswuͤrdig aber nur in ihrem Grundsatze, nicht im Detail.

Doch ist die Hauptidee recht gut, nur eine Kleinigkeit liegt ihr im Wege, nehmlich die Gerichtshoͤfe mit Philosophen zu bevoͤlkern, und diese, wenn sich ja einige finden sollten, zu vermoͤgen, daß sie sich darauf befleißigten, den Verbrecher waͤhrend des Verhoͤrs vor der Bestrafung uͤber die unmittelbaren und mittelbaren Ursachen auszufragen, welche das Verbrechen veranlaßt haben. *)*) Meißner hat in seinen Skizzen eine Sammlung von Originalfaktis verschiedener Verbrecher angefangen. Ungluͤcklicherweise weiß ich nicht, ob er sie fortgesetzt hat, ich habe die letzten Baͤnde nicht gesehen. Der Entwurf war sehr interessant, und verdiente Aufmunterung, sowohl zum Vortheil der Seelenlehre, als der Kriminalgesetze. Nichts ist schoͤner in der Theorie und schwieriger in der Ausuͤbung, weil, ich wiederhole es, die Glieder welche den groͤsten Theil dieser Gerichtshoͤfe ausmachen, in den meisten Laͤndern selten philosophischen Geist haben.

Man eilt die Sachen zu expediren, es moͤgen Kriminalfaͤlle seyn oder nicht, denn es ist bald Mit -67 tag. Dieß ist der Lauf der Welt, und die Jdee die sich der Gelehrte in seinem Studierzimmer von diesen Dingen macht, ist himmelweit von dem unterschieden was man siehet, wenn man nahe dabei ist. Das schlimmste bei der Sache ist noch, daß die wenigen guten Koͤpfe, die vielleicht im Stande waͤren, solche idealisirte Vorschlaͤge auszufuͤhren, von ihren uͤbrigen Mitarbeitern verlacht und muthlos gemacht werden.

S. 4. Jch kenne die Toskanischen Zuchthaͤuser nur aus der Beschreibung meines Freundes Howard, und dieser hat sich mehr um die Gefaͤngnisse als um die Zuchthaͤuser bekuͤmmert, allein kuͤnftiges Jahr bin ich gesonnen sie selbst zu besuchen. Jndessen habe ich in einem andern Lande 10 Jahre lang verschiedene Zuchthaͤuser unter meiner Aufsicht gehabt, und weiß nur ein einziges Beispiel von einem jungen Menschen, der wuͤrklich darinn gebessert worden waͤre, alle uͤbrigen sind vielleicht noch boͤser darin geworden.

Jch gestehe daß die Einrichtung dieser Zuchthaͤuser aͤusserst elend war, aber ich war nicht im Stande sie auf bessern Fuß zu setzen. Jch haͤtte sie ganz und gar umschaffen muͤssen, und da stehen einem Zeit und Umstaͤnde immer im Wege. Der Mann im Amte haͤngt mehr von aͤussern Dingen ab, und alles Neuerungenmachen wird ihm schwieriger, als man es sich in seiner Studierstube wohl vorstellt.

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Jndessen koͤnnten die Stubengelehrten etwas sehr Nuͤtzliches verrichten, woran noch niemand gedacht hat. Es giebt so viele Lesebuͤcher fuͤr alle Staͤnde, und fuͤr jedes Alter, aber noch gar keins fuͤr Zuͤchtlinge, besonders in solchen Zuchthaͤusern, wo sie nicht arbeiten muͤssen. Die meisten fuͤhlen in dieser Lage eine Begierde zu lesen, die so heftig werden kann, als der Hunger oder der Durst. Sie lesen oft Zeitungsblaͤtter die 10 Jahr alt sind, so oft durch, daß sie sie endlich auswendig wissen. Noch hat man kein Buch, daß man diesen Menschen in die Haͤnde geben koͤnnte, um ihnen die Zeit zu kuͤrzen, und sie zu gleicher Zeit zu bessern, und doch waͤre nichts leichter als ein solches Buch zu schreiben, denn die Zuͤchtlinge sind nichts weniger als delikat im Lesen; und um es recht zweckmaͤßig ausarbeiten zu koͤnnen, muͤßte der Verfasser nur selbst einige Jahre in einem Zuchthause zugebracht haben. Die Gefaͤngnisse haben ihre eigene Moral, ihre eigene Logik und ihre eigene Art zu empfinden, so wie die Kloͤster und die Seeschiffe.

S. 8. Z. 9. b. z. Ende. Diese Schildrung ist vortreflich, und die Bemerkungen sind sehr fein. Man siehet daraus, wie wenig ein Gelehrter, der aus seiner Studierstube tritt, zu Geschaͤften faͤhig ist, wie oft er sich irren, und aus diesem Grunde schlecht betragen kann. Ein Theil dieser Bemerkungen wirft zugleich ein grosses Licht auf den Streit, den Rousseau mit David Hume gehabt69 hat, indem sie zeigen wie die Empfindlichkeit eines Gelehrten im Umgange mit einem Menschen aus der gewoͤhnlichen Welt, oft aufs entsetzlichste beleidigt wird; denn bei den gewoͤhnlichsten und unbedeutendsten Handlungen, wo der alltaͤgliche Mensch gar nichts argwoͤhnt, wird der Gelehrte so lange gruͤbeln und sich den Kopf daruͤber zerbrechen, bis er irgend eine besondre Absicht hineingelegt hat; Jn demselben Falle war der arme Werther!

No. 2. S. 10-18. Dieses Stuͤck ist gewiß aͤusserst interessant. Das Herz blutet hier beim Lesen, zumal wenn man bedenkt, daß dieses bei weitem nicht das einzige Beispiel dieser Art ist. Soll ich meine Meinung daruͤber sagen, und mich der Verachtung und dem Hohngelaͤchter eines sogenannten philosophischen Jahrhunderts aussetzen? Jch staͤnde keinen Augenblick an, wenn diese Verachtung mich allein betraͤfe; aber sie faͤllt auf alles zuruͤck, was ich nur sagen werde, es sey so vernuͤnftig und gegruͤndet als es nur wolle. Denn der Mensch ist nun einmal so: wer ihm in seiner Lieblingsmeinung widerspricht, findet auch in allen uͤbrigen Stuͤcken keinen Glauben. Jch schweige daher, und halte meine Gedanken uͤber diesen Punkt zuruͤck. Jch bitte nur auf folgende beide Umstaͤnde Acht zu haben. Der eine S. 15. » in dem Augenblick da der Moͤrder die so lange vorher durchdachte That begangen hat, fuͤhlt er Reue; « und S. 17. » Niemals « » Alsdann rieb er sich70 die Stirne etc. « Wenn man aufmerksam und mit unpartheiischem Auge diese ploͤtzlichen Uebergaͤnge einer sonst so abgehaͤrteten und festen Seele betrachtet, so wird man mir von diesen Uebergaͤngen (nicht Veraͤnderungen) keinen hinlaͤnglichen Grund angeben koͤnnen, ohne den Einfluß einer aͤussern wirkenden Macht anzunehmen. Aber es ist Mode den Einfluß dieser Macht zu laͤugnen; und auch ich nehme ihn nur da an, wo ich sehr triftige Bewegungsgruͤnde dazu habe. Sonst wuͤrde die Moral zu sehr darunter leiden, und ich will lieber Gefahr laufen zu wenig als zu viel anzunehmen; jedoch suche ich auch das Gegentheil, gar nichts anzunehmen, zu vermeiden. Aber sollte der Weltweise ein Sklave der Mode seyn! o fast schaͤme ich mich meines Jahrhunderts! Noch war keines der wahren Philosophie mehr zuwider. Man will sich frei machen von dem, was man Vorurtheil nennt, und geraͤth nun eben den wahren Vorurtheilen in die Haͤnde.

Dum vitant stulti vitia

in contraria currunt.

Aber wir kommen nur dann erst auf den wahren Mittelweg, wenn wir lange genug in den Extremen herumgeschwaͤrmt haben. Der Wagebalken geraͤth nur nach manchen Schwingungen auf beiden Seiten, in Ruhe. Unsre spaͤten71 Nachkommen im Jahre 2440 werden uns wacker auslachen. Doch nein! sie werden zu weise seyn, um uͤber die Verirrungen des menschlichen Geistes, oder wohl gar des menschlichen Herzens zu lachen sie werden vielmehr die Ausschweifungen eines Jahrhunderts beweinen, das spottet, belacht und bezweifelt, statt gruͤndlich durchzudenken, so wie wir die Barbarei, die Leichtglaͤubigkeit, und die Dummheit des mittlern Zeitalters beweinen oder belachen, je nachdem wir mehr Demokrite oder Heraklite sind.

S. 18. No. 3. Alles woran mein unsterblicher Freund M. Mendelssohn auch nur den entferntesten Antheil hat, muß interessant seyn. Gewiß dieses Stuͤck ist es. Der Held gehoͤrt zu der zahlreichen Klasse der Wahnwitzigen aus Ehrgeiz; und ich fuͤhle mich gezwungen zu gestehn (sollte es auch gegen einen Prinzen seyn, fuͤr den ich die tiefste Hochachtung hege, der aber in diesem Falle, wie es mir scheint, entweder gar nichts oder mehr haͤtte thun sollen), es war grausam, diesen Menschen mit einer Hoffnung zu koͤrnen, die man doch gar nicht zu erfuͤllen dachte, und von deren Erfuͤllung, wie es sich von selbst verstehet, die Wiederherstellung seiner Vernunft abhing. So wie er war, haͤtte er der Gesellschaft nuͤtzlich seyn koͤnnen. Die Worte S. 27. » Nennen Sie es Eitelkeit, « die er zu Mendelssohn sagte, tragen den Stempel einer nicht gemeinen Seele. Welch ein Trost fuͤr72 einen Weisen, daß er, wenn er ein solches Beispiel des menschlichen Elends siehet sagen kann: dieser Elende welcher mein Bruder war, gieng fuͤr seine Mitbruͤder verlohren, indem sie ihn ausstießen; Jetzt aber stehet er vor einem vollkommnen gerechten Richter, dessen Ausspruͤche nicht sind wie die unsern! Vielleicht war es bei einem aͤhnlichen Falle, als ein großer Mann aus dem Alterthum*)*) Es ist nicht mehr Mode diesen[ großen] Mann zu citiren, und zwar einer Schwachheit halber, die er doch selbst bereut hat. Wohl aber citirt man Heinrich IV. der jenem unter allen Menschen vielleicht am meisten, sowohl in den guten als boͤsen Eigenschaften gleich war, jedoch mit dem Unterschiede, daß Heinrich die nehmlichen Schwachheiten hatte, sie aber nicht bereute, daß er bei weitem so aufgeklaͤrt nicht war als jener, daß er kein so grosses Genie, kein so vortreflicher Dichter war, und uͤberdem nur einen Augenblick regierte. Aber man verschluckt begierig, das was Baile gegen den erstern gesammelt hat, statt daß Niemand das liest, was ein unpartheiischer Zuschauer uͤber den letztern gesammelt hat, (ich meine Sir George[ Carew], Gesandten der Koͤnigin Elisabeth an Heinrichs Hof,) der gewiß mehr im Stande war Heinrich den IV. richtig zu beurtheilen, als Baile den David. ausrief: Jch sterbe vor Verlangen, Lust und Begierde, nach deinem Urtheil, o Gott! fuͤnf tausend Jahre hindurch fuͤhlt man nun schon die73 Wahrheit: daß wenn auch alle Menschen zusammentraͤten, sie dennoch in fuͤnftausend Faͤllen unrichtig urtheilen wuͤrden, und freut sich daher der letzten Urquelle die uns immer noch uͤbrig bleibt. Doch es ist wahr! auch dieses alles haͤtte ich unterdruͤcken sollen; es ist nicht die Philosophie unsers Zeitalters.

S. 28. Ein sehr interessantes Stuͤck. Die unvermuthete Entwicklung hat mich uͤberrascht. Es waͤre der Muͤhe werth, diesem jungen Menschen nachzuspuͤren, der auf dem besten Wege war, ein Heuchler und ein durchtriebner Betruͤger zu werden. Waͤre er es geworden, so wuͤrde die uͤble Erziehung seiner Eltern einzig und allein Schuld daran gewesen seyn.

S. 38. III. Was waͤre nicht ein psychologisches Magazin werth, das aus lauter Beitraͤgen eines Spaldings, eines Sulzers, oder eines Mendelssohns bestaͤnde. Das einzige Mittel solche Maͤnner zu bewegen, daß sie gern und oft ihre Beitraͤge liefern, ist wohl dieß, das Magazin selbst so vollkommen als moͤglich zu machen, indem man nichts als wirklich wichtige Fakta aufnimmt, alle unnuͤtze Umstaͤndlichkeit vermeidet, jedes zweideutige Faktum daraus verbannt, und was noch mehr ist, sich eines unreifen und schielenden Raisonnements enthaͤlt.

Der Fall des Herrn Spalding war voruͤbergehend, und dauerte nur wenige Augenblicke, und ich finde ihn deshalb keinesweges so ausserordentlich. Wenn man in einem Zimmer schreibt, wo mehrere74 Menschen zu gleicher Zeit sprechen, traͤgt es sich da nicht oft zu, daß man etwas hinschreibt, welches jene gesagt haben, das uͤbrigens gar keinen Sinn hat, und gar nicht mit dem zusammenhaͤngt, was man hat niederschreiben wollen? Man pflegt alsdann wohl zu sagen, ich bin verwirrt, oder zu den Sprechenden, stille! sie machen mich irre. Sollte die nehmliche Wirkung, die nehmliche Zerstreuung die hier von den aͤussern, mehr oder weniger verwirrten Eindruͤcken des Gehoͤrs hervorgebracht wird, nicht auch von innern Ursachen, durch einen Zusammenfluß von mehr oder weniger verwirrten Jdeen hervorgebracht werden koͤnnen?

Ein Kaufmann versicherte mir in vollem Ernste, daß er einst ganz unvorsetzlich einen Wechsel folgenden Jnhalts geschrieben habe: Gegen diesen meinen prima Wechselbrief zahlen Sie an die Ordre des Herrn N ... die Summa von zwei hundert und zwanzig Flintenschuͤsse in Banco u.s.w.

Was die Jdentitaͤt der Seele betrift, die verwirrt, und sich zugleich dieser Verwirrung bewust ist, und sie richtig unterscheidet (S. 43.), so setze ich hinzu, daß die Seele in demselben Falle ist wenn sie traͤumt und das Bewußtseyn hat daß sie traͤumt oder doch sich bestrebet zu unterscheiden, ob sie traͤume oder nicht. Jenes ist mir selbst oft wiederfahren, und dieses dem Lavater,75 so wie er in seinem Pilatus in der oben angefuͤhrten Stelle erzaͤhlt.

Die Anwendung die Hr. S. von dieser seiner eigenen Erfahrung auf das macht, was er an einem wahnwitzigen Kandidaten bemerkt hat, und wovon sich mehrere Beispiele finden, ist so sinnreich als wichtig. Es ist moͤglich, daß sie auch richtig ist. Die Auseinandersetzung der Erfahrung selbst ist mit der moͤglichsten Precision und Genauigkeit aufgesetzt; jedoch moͤchte ich Hr. S. fragen: ob das was er[ S. 41. ] die fremden mir so uͤberlaͤstigen Vorstellungen nennet, Bilder, Woͤrter, oder Jdeen waren?

Jch wuͤnschte uͤbrigens, daß Hr. S. sich die Muͤhe genommen haͤtte, Jhnen die aͤhnlichen Erfahrungen zu liefern, die ihm sein Freund Sulzer mitgetheilet hat, und ich wundre mich, daß Sie nicht darum angehalten haben.

S. 44-73. Jch kann uͤber diesen weitlaͤuftigen Aufsatz des Hr. Herz nichts sagen, als daß er gut geschrieben ist, und sich mit Vergnuͤgen lesen laͤßt. Jndessen kann nach dem erstern Theile zu urtheilen, weder der Arzt noch der Psycholog viel daraus schoͤpfen. Es scheint daß dieß die einzige schwere Krankheit ist, die Hr. Herz uͤberstanden hat, denn seine Sensationen, so schoͤn er sie auch schildert, sind doch sehr alltaͤglich, z. B. das Vorgefuͤhl der Krankheit S. 48. und 49. Die vielen Lichter die76 in seinem Kopfe brannten, wenn das Delirium herankam, S. 54. 63. das Delirium selbst S. 54.

Dieser Zustand ist immer dem Traume gleich, nur mit dem Unterschiede, daß man hier wachend traͤumt, und die Phantasieen groͤßtentheils ihren Grund in physischen Begebenheiten haben, so wie Hr. Herz mehrere sehr gut, und einige mit großem Scharfsinn erklaͤrt hat,[ S. 56-58. ]Dann die Erhoͤhung oder Verstaͤrkung der Sinne, besonders des Geruchs,[ S. 57. ]Die Neigung zum Komischen S. 59. 63. 64.

Dies sind alles Symptome, die mehr oder weniger sich in jeder schweren Krankheit besonders in boͤsartigen Fiebern zeigen. Jch kenne sie alle aus meinen eigenen Erfahrungen, nachdem ich ein Faulfieber mit einem bestaͤndigen Delirio, die boͤsartigsten Pocken mit einem dreitaͤgigen methodischen Delirio, die Gelbsucht, und uͤber alles eine andre aͤusserst zusammengesetzte Krankheit uͤberstanden habe. Diese entstand aus einem Gifte, daß ich zu mir genommen hatte, und 5 Jahre hindurch spottete sie aller Kunst der Aerzte. Zulezt lag ich voͤllige neun Monathe im Bette, und litte Schmerzen, die jede Tortur uͤbertreffen, bis ich endlich so voͤllig entkraͤftet, und ausgesaugt war, daß meine Genesung ein wahres Wunder, und in der[ Medizin] fast einzig ist.

77

Der einzige wirklich merkwuͤrdige, obgleich gar nicht ausserordentliche Punkt, und im Grunde dem[ Mediziner] wichtiger als dem Psychologen, ist die unerwartete Krisis der Krankheit aus der[ S. 69. 70. ] angegebenen anscheinenden Ursache. Es fehlt jedoch ein hoͤchst wichtiger Umstand, den Hr. Herz als Arzt doch haͤtte erwaͤgen sollen, indem in ihm wahrscheinlicherweise die physische Ursache zur Krisis gelegen hat. Die Frage ist nehmlich: um wie viel war die Luft der Stube, in welcher Hr. Herz die ganze Zeit wider seinen Willen liegen mußte unreiner, als die der andern Stube, in welche ihn seine Schwiegermutter, zwar wider die Meinung der Aerzte, aber zu ihrer eigenen Zufriedenheit, und mit dem gluͤcklichsten Erfolg fuͤr die Krankheit, legen ließ? Es ist aus vielen Ursachen, die ich der Kuͤrze halber hier nicht anfuͤhren kann, sehr wahrscheinlich, daß die Luft in seinem Zimmer aͤusserst unrein und verderbt war, das heißt, daß man nach der alten Methode die Vorsicht welche man (besonders in faulen Krankheiten) als hauptsaͤchlich betrachten sollte, nicht beobachtet hat, nehmlich den Kranken oft zu luͤften, ihn eher zu kalt, als zu warm, und hauptsaͤchlich aͤusserst reinlich zu halten. Diese Methode haben die Englaͤnder zuerst aufgebracht, und die Erfahrung zeigt taͤglich, daß sie aͤusserst nuͤtzlich, oder vielmehr nothwendig ist.

Eine andre eben so gewoͤhnliche aber nicht minder wichtige Erfahrung, sowohl fuͤr den Psychologen78 als fuͤr den Mediziner, ist diese: eine heftige und anhaltende Begierde, die der Kranke zeigt, wenn ihre Befriedigung auch gegen alle Regeln der Kunst waͤre (wie es doch hier der Fall gar nicht war), ist sehr oft das wahre Mittel, welches die Natur uns anzeigt, die Krisis der Krankheit hervorzubringen. Man hat hievon die ausserordentlichsten Beispiele. Jch selbst habe ein solches an einem meiner Bedienten gesehen; ein Bursche der sonst sehr maͤßig war, und sich von einem aͤusserst boͤsartigen Fieber in einer einzigen Nacht kurirte, indem er in dem Delirio eine Brandweinflasche fand, und sie in einem Zuge ausleerte. Was uͤbrigens den Fall des Herrn Herz betrift, so glaube ich behaupten zu duͤrfen, daß man den Willen des Kranken allemal befolgen muß, wenn er in ein andres Zimmer, in einem andern Bette liegen oder mehr freie Luft haben will, und in manchen Faͤllen muß man ihn sogar dazu zwingen.

S. 74. Obgleich Lord Monboddo trotz seiner großen Gelehrsamkeit, in einem ganz originellen und fast einzigen Grade leichtglaͤubig ist, und ich ihn daher am wenigsten zur Bestaͤtigung eines ausserordentlichen Faktums anfuͤhren wuͤrde; so hat dieser Fall hier doch nichts, weshalb man ihn gaͤnzlich leugnen koͤnnte. Es scheint eine Zusammensetzung aus dem S. Veits Tanz, und dem Somnambulismo zu seyn. Louping ist gar kein engli -79 sches Wort, a Loping fever oder a Leaping fever ist die richtige Benennung.

Die Magnetisirer koͤnnten diesen Fall zu ihrem Systeme benutzen.

S. 78. Es giebt in dieser Art weit staͤrkere Beispiele als das hier angefuͤhrte, welches zu den Faͤllen gehoͤrt, wo die Einbildungskraft von einer einzigen Jdee zu stark geruͤhrt wird. Die allgemeinen Bemerkungen S. 81. 82. verdienen naͤhere Erwaͤgung.

S. 85. 86. Hier ist jemand, auf den die Farben in seiner Kindheit so wenig Eindruck gemacht haben, wie auf mich. Das Vorhergehende beweist vollkommen meine Jdee, wenn ich in meinen obigen Bemerkungen behaupte, daß die Band 1. St. 1. S. 68. festgesetzte Regel in den Verhaͤltnißbegriffen der Kinder ihren Grund hat.

Die folgenden Beobachtungen sind merkwuͤrdig und sinnreich; aber ich glaube, der Verfasser hat sie S. 93. recht wohl beurtheilt.

S. 96. ff. Jch billige den Gedanken sehr, die Schriften der Wahnsinnigen zu sammeln und herauszugeben. Jch besitze selbst einige; und wuͤrde sie mittheilen, wenn sie franzoͤsisch oder deutsch geschrieben waͤren. Uebersetzen lassen sich dergleichen Sachen nicht. Jch bemerke also nur 1) die frappante Aehnlichkeit in dem Character des Wahnsinns, der in diesen Schriften herrscht, mit der Erfahrung des Herrn Spalding S. 41. 42. und ich wundre80 mich, daß diese Bemerkung den Herrn Herausgebern entgangen ist.

2) Wenn man den Versuch macht Wahnsinnige lesen zu lassen, so gehet es ihnen wie beim Schreiben. Sie lesen einige Worte, und den folgenden Zeilen schieben sie andere unter, die an der unrechten Stelle stehen, und keinen Sinn geben. Ganz so wie die Quittung des Herrn Spalding, wie der Wechsel meines Banquier's, und endlich wie die Reden der M. Hennert und der Arbeiter zu Babel.

3) Eine Menge Erfahrungen, welche ich selbst hieruͤber zu machen das Gluͤck gehabt habe, berechtigen mich zu der Meinung, daß es uns immer so gehet, wenn wir im Traume lesen, oder lesen hoͤren. Jch sage: das Gluͤck; denn nur selten und durch einen gluͤcklichen Zufall erwacht man aus dergleichen Traͤumen so sanft, daß man sich der Worte, welche man im Traume gelesen, erinnern kann. Jst der Zufall nicht guͤnstig, so wird man sich sein ganzes Leben hindurch in Absicht dieser Traͤume truͤgen. Denn waͤhrend dem Traume ist man mit der Lektuͤre sehr wohl zufrieden; man ist von dem Zusammenhange vollkommen uͤberzeugt; man findet sogar Schoͤnheiten, z. B. wenn es Verse sind.

Fuͤnf und dreißig Jahre lang habe ich viel solche Traͤume fuͤr wirklich gehalten, vorzuͤglich wenn ich im Traume Briefe empfing, die ich durch und durch mit dem groͤßten Jnteresse las. Endlich wieder -81 fuhr es mir zweimal nacheinander, vor etwa zwei Jahren, daß ich sehr sanft aus einem Traume dieser Art, und sogar mitten in der Lektuͤre erwachte. Jch erinnerte mich noch deutlich der letzten Phrasen, die ich gelesen hatte. Es waren jedesmal anstatt Gedanken, nur Toͤne oder Woͤrter, kein Sinn, wieder eben so wie die Quittung des Herrn Spalding, u.s.w. Jch ziehe folgenden Schluß daraus: da Woͤrter nur willkuͤrliche Zeichen (an und fuͤr sich ohne Bedeutung), und nur Mittel sind, durch welche wir Jdeen von den aͤussern Gegenstaͤnden bekommen, es sey nun durch das Gehoͤr oder durch das Gesicht; und da die Seele sowohl im Delirio als im Traume, und selbst im Wahnsinn, die Jdeen, welche sie durch die aͤussern Gegenstaͤnde entstanden glaubt, doch nur von sich selbst empfaͤngt; so muͤssen ihr die Zeichen gleichguͤltig seyn, durch welche sie diese Jdeen zu erhalten glaubt, weil sie im Grunde alle Zeichen entbehren kann.

Nur die irrige Meinung, daß diese Jdeen von aussen kommen, und die Gewohnheit, im gesunden und im wachenden Zustande nur durch artikulirte Toͤne, oder durch Schriftzeichen Jdeen zu erwerben, uͤberreden sie, daß diese Zeichen nothwendig sind. Sie erdichtet welche so schlecht sie auch seyn moͤgen in ihrem jetzigen Zustande, und begnuͤgt sich damit, so wie man falsche Muͤnze eben so gerne82 wie die aͤchte nehmen wuͤrde, wenn man fuͤr jene, wie fuͤr diese, Waaren erhielte.

Eben so gehet es mit der Sprache, bei Leuten die noch auf der ersten Stufe der Verruͤcktheit stehen, d.h. bei welchen der Wahnsinn von aussen her, nicht von innen, kommt. Spalding glaubte seinen Candidaten in diesem Falle, so wie auch er selbst, und M. Hennert darin waren. Jn diesem Zustande kann die Seele nicht mehr die Zeichen, aber wohl noch die Begriffe beurtheilen. Jhre eigenen Gedanken betrachtet sie aus dem richtigen Gesichtspunkte; entscheidet, ob sie zusammenhaͤngend sind u.s.w., aber diese Beurtheilungskraft mangelt ihr in Absicht der Zeichen, deren sie sich zur Ausdruͤckung ihrer Gedanken bedienet, sowohl im Sprechen als im Schreiben.

Hierin sind wiederum Unterabtheilungen. Die Einen glauben gut zu reden und zu schreiben, indeß sie nur Galimathias vorbringen; die Andern wahnwitzig in geringerem Grade vermuthen oder fuͤhlen zuweilen, daß sie Galimathias schreiben oder sprechen; aber sie haben zu wenig Gedaͤchtniß, sie besinnen sich nicht schnell genug auf passende Woͤrter, auf die richtigen willkuͤrlichen Zeichen.

Jm Kurzen: das Delirium, und der Wahnsinn, der nur ein verlaͤngertes, zur Gewohnheit gewordenes und bestimmtes Delirium ist, sind nichts als der Zustand eines verlaͤngerten, zur Gewohnheit gewordenen und bestimmten Traums; d.h. der83 Wahnsinn ist im Vergleich mit dem Delirium, (versteht sich, mit dem voruͤbergehenden, in Fiebern und Krankheiten) was das Delirium gegen den bloßen Traum ist, und umgekehrt.

Wollte man verruͤckte Personen heilen, so muͤßte man sich Muͤhe geben, sie zu erwecken. Aber ehe man dazu gelanget, muͤßte man die Natur des Schlafs, und den physischen Zusammenhang, den der Zustand des Schlafs, mit dem Zustande des Traͤumens hat, genauer kennen. Wir wissen weiter nichts, als daß der Koͤrper schlaͤft, und der Geist, die Seele traͤumet, und es scheint eben so erweislich, daß eines ohne das andere bestehen kann; der Koͤrper kann schlafen, ohne daß die Seele traͤumet. Jch glaube daher, daß vice versa die Seele traͤumen koͤnne, ohne daß der Koͤrper schlaͤft; wie im Delirium und im Wahnsinn.

Jch zeichne hier nur die Aussenlinien (outlines) eines an Folgerungen sehr fruchtbaren Systems, fuͤr welches man aber noch viele Data sammlen, noch viele Untersuchungen anstellen muß, ehe man es zur Vollkommenheit bringen kann. Man muͤßte vorzuͤglich uͤber den Schlaf, den Traum, die Somnambulen, uͤber Personen im Delirium, uͤber Verruͤckte, und warum sollte ich es nicht sagen? auch uͤber Krampfhafte und Magnetisirte, Beobachtungen machen.

84

S. 100.f. Jch will einmal eine ganz ausserordentliche Frage, im Betreff der ersten hier erzaͤhlten Erfahrung machen: giebt es wohl einen einzigen Menschen wenn er auch nur in sehr geringem Grade dem Schwindel unterworfen ist dem nicht diese Jdee mehr oder weniger in den Sinn kaͤme, wenn er sehr aufmerksam darauf ist, und sich in der gegebenen Lage befindet? Die Seele hat eine aͤusserst seltsame Neigung sich alle moͤglichen Dinge vorzustellen und sie zu versuchen; und je entfernter die Moͤglichkeit ist, je vernuͤnftiger die Gruͤnde sind, welche sich der Ausfuͤhrung entgegenstellen, (wie in dem gegenwaͤrtigen Beispiele, die Gefahr den Hals zu brechen), je mehr der Koͤrper widerstrebt, desto staͤrker fuͤhlt sich die Seele angezogen.

Ohne vollwichtige und siegende Bewegungsgruͤnde, zu welchen man die durch Gewohnheit entstandene Ueberzeugung von der absoluten Unmoͤglichkeit der Sache, rechnen muß, wuͤrden wir, vermoͤge dieser allgemeinen Neigung, alles moͤgliche versuchen. Ein Kind streckt die Arme aus, um den Mond zu ergreifen, und eben diese Neigung hat die Erfindung der Schiffahrt, das Schwimmen, das Seiltanzen u.s.w. veranlaßt. Wuͤrde es sonst noch Menschen geben, welche gerne ein Universalmittel, die Quadratur des Zirkels u.s.w. erfinden wollen?

S. 110. ff. Ein vortrefliches Stuͤck in Plan und Ausfuͤhrung. Man kann diesen geschickten und85 einsichtsvollen Paͤdagogen nicht genug zur Fortsetzung aufmuntern. Man muß in dieser Art viel thun, wenn man etwas gethan haben will. Eine Menge solcher Faͤlle muß in verschiedenen Ruͤcksichten sehr nuͤtzlich seyn.

Band 1. St. 3. S. 1. I. Ein merkwuͤrdiges und schoͤn geschriebenes Stuͤck, das aber eher in ein Magazin zur Erziehung als zur Erfahrungsseelenkunde gehoͤrt. Einige Stellen aus den Originalbriefen des H. R. G. die man S. 8. 12. 14. hervorgesucht hat, waͤren hier am besten angebracht gewesen, denn sie haͤtten besser als Facta, einen Blick in die Seele des R. G. werfen lassen.

S. 28. III. Jch erwartete von der Selbstmoͤrderin, daß sie Schriften nachgelassen haben wuͤrde, woraus die Bewegungsgruͤnde erhelleten, die man in ihr vermuthet. Durch die Art, wie der Fall hier erzaͤhlt wird, und durch die blos auf Wahrscheinlichkeit und Vermuthungen gegruͤndeten Motive, verliert die ganze Geschichte an Jnteresse. Man hat eine Anekdote von einem Englaͤnder, der sich zu Rom das Leben nahm, und ein Schreiben hinterließ, worin er als Ursache dieser Handlung, nach seinen eigenen Ausdruͤcken angab: daß er unmoͤglich der Ungeduld habe widerstehen koͤnnen, zu erfahren, was das zukuͤnftige Leben sey, und was darin vorginge.

86

Das Buͤchelchen, welches S. 30. erwaͤhnt wird, heißt im Herrenhuterstyl das Loosbuͤchlein. Man veraͤndert es alle Jahre.

Dieser Umstand erinnert mich an eine Geschichte, welche hier zu Basel vor 5 bis 6 Jahren vorgefallen. Eine junge, redliche, sehr religioͤse Hausmutter war so ungluͤcklich verheirathet worden, daß sie nach vielen Kraͤnkungen, welche sie von ihrem Manne, einem groben, ungesitteten Menschen, hatte erleiden muͤssen, an einem Nachmittage auf ein Lusthaus, das sie ausserhalb der Stadt besaßen, ganz einsam ging, etwas Wein und Brodt mitnahm, davon sie ohngefaͤhr ein Drittheil verzehrte, dann wahrscheinlicherweise ein zu ihrer Gemuͤthsstimmung passendes Lied, aus einem Buche sang, welches sie offen auf dem Tische liegen ließ, mit einem Zeichen an der folgenden Stelle, und nach allen diesen Verrichtungen sich ersaͤufte.

Hier ist die Strophe, welche sie bezeichnet hatte:

Die Noth, o Herr, hat kein Gesetz,
Die mich jetzt hart umringet;
Drum das fuͤr keine Frechheit schaͤtz,
Wozu die Angst mich zwinget.
Wer blind, wer krank ist, sehnet sich
Nach Licht und Heilung aͤngstiglich;
Jch Todter such das Leben!

u.s.w.

87

S. 32. IV. Wieder ein Stuͤck von einer Art, die man in einem Magazine wie dieses nicht genug wuͤnschen kann. Ausser den Faktis und vielleicht auch diese nicht einmal ausgenommen giebt es keine merkwuͤrdigere, keine wahrhaft nuͤtzlichere Stuͤcke, als Schriften der Verruͤckten, der Wahnsinnigen, der tief melancholischen u.s.w., lauter Personen, die fuͤr die Psychologie aͤusserst wichtig sind: auch von sehr boshaften Leuten sollte man zu diesem Behufe Schriften sammeln. Jch bemerke noch im Vorbeigehen, daß die Staͤrke des Arguments gegen den Selbstmord, welches der Verfasser des Briefs uͤber Werther in Engels Philosoph fuͤr die Welt so schoͤn ausfuͤhrt, auf der Widerlegung des Sophismi beruhet, welcher den armen Clooß S. 37. verfuͤhrt hat. Daß wir nehmlich, wenn wir uns einen Arm abnehmen lassen, die daraus entstehenden Folgen wohl kennen; aber nicht also der Selbstmoͤrder u.s.w.

Das Argument S. 39. ist noch weit wichtiger, und muß unter den gegebenen Umstaͤnden, von allen Triebfedern am meisten zum Selbstmord verleiten. Es beweiset, wie unendlich wichtig die einzige Jdee ist, welche man ihm entgegenstellen kann; daß man nehmlich ein unbegraͤnztes Vertrauen in eine unendlich weise und guͤtige Vorsicht setzen muͤsse.

Jch kann mich nicht enthalten, eine allgemeine Bemerkung hieher zu setzen, welche die Seelenheilkunde betrift, den Theil ihres Plans, den Sie88 mit Recht fuͤr den wichtigsten halten. Jch meine die folgende:

Der Selbstmord gehoͤrt zu den Materien, woruͤber man sich sehr fruͤhzeitig, durchdachte Grundsaͤtze festsetzen, das Fuͤr und Wider wohl erwaͤgen, und alsdann mit sich selbst die feierliche und heilige Verbindlichkeit eingehen muͤßte (und sollte es auch des groͤßeren Eindrucks wegen schriftlich seyn,) » niemals von dem Resultate seiner Betrachtungen abzuweichen, sich durch keine Umstaͤnde, vorzuͤglich durch sich selbst nicht dazu bewegen zu lassen, daß man von diesen Betrachtungen einen Augenblick abweiche, ohne sich zugleich an alle die Grundsaͤtze mit Vorsatz zu erinnern, an alle die Beweisgruͤnde, durch welche man zu dem Resultate gelanget ist. «

Jch erinnere mich noch an die Anwendung, welche Jhr vortreflicher Mitbuͤrger und Goͤnner, der verewigte Mendelssohn, von dem nehmlichen Grundsatze, auf die Religion gemacht hat. » Man muß die Subtilitaͤten alle, wenigstens einmal in seinem Leben, klauben und ins Reine bringen, wenn man den Schlingen der Sophistik entgehen will; auch die Religionsstreitigkeiten gehoͤren hieher. « *)*) Jn dem Original wird hier eine Stelle aus Mendelssohns Brief an Lavater, uͤber dessen Zueig - < |89| > nungsschrift zu dem Buche des C. Bonnet citirt. Weil ich dieses nicht besitze, so habe ich eine homogene Stelle aus den Morgenstunden 1te. Ausg. Berl. 86. S. 23. dafuͤr gewaͤhlt, wo jedoch die letzten Worte, » auch die Relig. « u.s.w. gaͤnzlich fehlen.Uebersetzer. Jch behaupte: daß noch weit mehr89 der Selbstmord hieher gehoͤret; weil der Augenblick, in welchem man sich in eine Untersuchung uͤber den Selbstmord einlassen will, gewoͤhnlich zu gar keiner Untersuchung geschickt ist. Man billiget in diesem Augenblicke die Handlung, fuͤhlt sich dazu geneigt, und ist ohnehin ausser Stande zu denken, weil die Versuchung zum Selbstmorde schon einen gewissen Grad der Verwirrung, wenigstens eine heftige Erschuͤtterung des Geistes voraussetzt, einen Zustand, der mit der Kaltbluͤtigkeit voͤllig im Widerspruche stehet, und keiner unpartheiischen Ueberlegung des Fuͤr und Wider einer Handlung, Raum gestattet.

Wenig Personen haben mehr Recht, uͤber den Selbstmord zu sprechen, als ich; weil ich uͤberzeugt bin, daß wenig Personen einen so hartnaͤckigen, ausdauernden Hang gehabt haben, sich das Leben zu rauben, als ich. Jch entsinne mich noch sehr deutlich meines ersten Vorsatzes in dieser Art, da ich erst sechs Jahre alt war. Meine Eltern hatten mich, meiner Meinung nach, ungerecht gestraft; und doch hatte man mich blos in90 ein Zimmer eingeschlossen, das mir noch jetzt vollkommen gegenwaͤrtig ist; vorzuͤglich denke ich sehr lebhaft an ein Klavier, woran ich mich lehnte, mit dem Kopfe in den Haͤnden, und in der Trunkenheit meines Schmerzes, oder vielmehr meiner kindischen Empfindlichkeit. Selbst den Gang meiner damaligen Jdeen weiß ich noch sehr wohl. Mein erster Gedanke war ein lebhafter Wunsch, daß meine Eltern jetzt sterben moͤchten. Jnzwischen war ich so weit von jedem Gedanken an Vatermord entfernt, daß vielmehr eben der aͤusserst geringe Grad von Wahrscheinlichkeit, (meine Eltern waren damals noch jung und gesund) sogleich diesen Wunsch entfernte, um einem andern Platz zu machen: ich wuͤnschte meinen eigenen Tod. Jch kannte die Zaͤrtlichkeit meiner Eltern fuͤr mich. Jch war uͤberzeugt, daß mein Tod die heftigste Strafe fuͤr die Ungerechtigkeit seyn muͤßte, welche sie an mir veruͤbt hatten; und der Gedanke, mir selbst das Leben zu rauben, hatte eine ganz andre Wuͤrkung auf mich, als jener erste Wunsch nach dem Tode meiner Eltern gehabt hatte. So unzugaͤnglich ich jeder Jdee gewesen war, den Tod meiner Eltern selbst zu veruͤben, so heftig fuͤhlte ich mich zum Selbstmorde aus innerem Wohlgefallen angezogen. Nur die Mittel machten mich verlegen; und ich stand in Gedanken vertieft, um welche zu ersinnen, als man, nach Verlauf einer halben Stunde kommt, um mich aus meinem Gefaͤngnisse zu entlassen.

91

Seit dieser Zeit habe ich mehr als dreißig Jahre hindurch Neigung zum Selbstmord in der nehmlichen Jdeenfolge gehabt. Nur der erste, schnell aufsteigende Wunsch nach dem Tode der Personen, welche die Ursache meines Verdrusses gewesen waren, hat sich schon in meinem zwoͤlften oder dreizehnten Jahre so vollkommen verlohren, daß es mir in den Zeiten, wo mir die Menschen Ungerechtigkeiten erwiesen, die gewiß von groͤßerer Wichtigkeit waren, als die, von welchen J. J. Rousseau, Linguet und andere, die ganze Welt ertoͤnen ließen, dennoch nicht widerfahren ist, einen Augenblick das geringste Ungluͤck (eine rechtmaͤßige und gerichtliche Strafe ausgenommen, worinn ich aber keinen Einfluß gehabt haͤtte) den Leuten zu wuͤnschen, uͤber welche ich am meisten zu klagen hatte; nicht einmal dem Bedienten, der mich vergiftet, noch den Leuten, welche mir Steine in die Straße geworfen, oder denen, die einen jungen Menschen, der mir den Bart putzte, durch Geld dazu verleiten wollten, mir die Kehle abzuschneiden u.s.w. Nur die Neigung zum Selbstmorde ist mir geblieben, bis auf die Zeiten meiner außerordentlichen Kraͤnkungen, wo, durch die Gnade Gottes (denn von Vernunft war keine Spur in meinen damaligen Handlungen) jeder Gedanke zum Selbstmorde aus meiner Seele vertilgt war, in der er seit mehr als dreißig Jahren geherrscht hatte; oder, wie die Englaͤnder sagen: where she had been uppermost all that92 time (wo er, diese ganze Zeit uͤber herrschend gewesen war).

So lange ich gesonnen war mir das Leben zu rauben, war es niemals aus Vernunft. Jm Gegentheil; Vernunftgruͤnde waren jedesmal dagegen. Jch hatte eine Neigung zum Selbstmorde, wie zu einer Suͤnde; ich betrachtete ihn, wie das letzte Huͤlfsmittel; und da ich zum Gluͤcke der Handlung selbst nicht unterlag, so war mir der Gedanke in der Folge sehr nuͤtzlich. Er floͤßte mir Muth ein; ich ertrug jedes Uebel mit mehr Gelassenheit, wenn ich bedachte daß ich doch dieses Mittel mich zu befreien, immer in Haͤnden habe.

Nichts desto weniger war ich mehr als einmal der Vollstreckung nahe. Ja, ich warf eines Tages ein Paar sehr schoͤne Pistolen in das Wasser, mit welchen ich des Abends aus der Stadt gegangen war, mit dem festen Vorsatze die That endlich einmal zu begehen. Fuͤr diesesmal hat mir nur das Praͤservatif, welches ich eben erwaͤhnt, Einhalt thun koͤnnen. Doch war die Stimme der Ueberlegung sehr schwach; und nur einer ploͤtzlichen Anstrengung der Vernunft, und dem großen Mißtrauen gegen mich selbst, habe ich es zu verdanken, daß ich dem lebhaften Antriebe nachgab, und die Werkzeuge der Zerstoͤrung, die ich schon in Haͤnden hatte, in den Fluß warf.

Ein andermal, (und zwar zum letztenmale) nahm ich ein Paar Pistolen mit auf das Land, wo93 ich einige Wochen zubringen wollte, zu dem nehmlichen Endzwecke, wiewohl mit dem lebhaften Wunsche, mich des Mordes enthalten zu koͤnnen. Das Mittel, welches mich damals rettete, wird Jhnen gewiß durch seine Sonderbarkeit merkwuͤrdig werden, und Jhnen beweisen, daß ich mich auch der Seelenheilkunde beflissen habe. Es war eine Karte, die ich in meine Tasche gesteckt hatte; und ich hatte mir es zum Gesetze gemacht, diese Karte zu lesen, so oft ich allein seyn wuͤrde, aber vorzuͤglich, regelmaͤßig in dem Augenblicke des Erwachens, und des Schlafengehens. Auf dieser Karte standen aus einem Buche, welches ich immer nur in meiner Muttersprache gelesen habe, die Worte geschrieben: the cup, which my father has given me, shall not I drink it! (den Becher, welchen mir mein Vater gab, soll ich ihn nicht ausleeren!) Seit dieser Epoche bin ich uͤberzeugt, daß ich die angefuͤhrten Worte niemals werde mit lauter Stimme aussprechen koͤnnen, ohne bis in das Jnnere meines Herzens davon durchdrungen zu werden, ohne daß sie Stundenlang in meinen Ohren, oder vielmehr, im Grunde meiner Seele, wiederhallten.

Jch beschließe diese psychologischen Bekenntnisse mit folgender Anmerkung: ich bin nehmlich in meiner Neigung zum Selbstmorde niemals durch die Furcht vor dem Tode aufgehalten oder gestoͤret worden. Selbst in meinen staͤrksten Krankheiten94 ist mir diese Furcht nicht eingekommen. Jm Gegentheil: je naͤher ich dem Tode war, je mehr verlohr er von seiner Schrecklichkeit fuͤr mich.

Zwar kenne ich die Empfindung, welche man Furcht vor dem Tode nennet, aus Erfahrung; aber ich habe diese Erfahrung immer nur im Zustande der vollkommenen Gesundheit gemacht. Jch mache sie noch jetzt, so oft ich an Schlagfluß, Wassersucht, u.s.w. denke; und ich kann nach dem Beispiel des großen Turenne in Wahrheit sagen: daß ich zwar nicht den Tod, aber wohl den Schmerz als ein wahres Uebel fuͤrchte, da ich Schmerzen ausgestanden habe, die auf der Folterbank nicht quaͤlender seyn koͤnnen. Jch gestehe, daß ich mit einer schrecklichen Furcht an den Krebs, an Raserei, denke. Ja, ich koͤnnte diese Furcht bis zur Ohnmacht treiben, wenn ich ihr nicht mit Gewalt Einhalt thaͤte.

Die Bemerkungen des Hr. Glave, sind zwar ein wenig gesucht, aber vorzuͤglich die S. 40. uͤber die Verschiedenheit zwischen dem armen Clooß und Werther, sind mir aus der Seele geschrieben, (ich bediene mich gerne dieser deutschen Redensart, weil sie vortreflich ist, und in jeder andern Sprache fehlt.) Seine letzte Phrasis S. 45. ist eine der schoͤnsten, erhabensten Stellen die ich kenne. Wie werden einst alle Weise dieser Erde sich im Staube95 buͤcken, wenn sie ein vollkommnes Wesen, einen Menschen wie diesen Clooß richten hoͤren!

Heilige, mit frommem, kaltem Herzen,
Gehn voruͤber, und verdammen dich!
Jch allein, ich fuͤhle deine Schmerzen,
Theures Opfer, und beweine dich!
Werde weinen noch am letzten Tage,
Wenn der Richter unsre Thaten wiegt!

u.s.w.

Ein großes Genie hat diese ungemein schoͤne Stelle der armen Lotte angedichtet, wie sie einer Person gegen uͤber sitzt, die im Grunde[ nur] aus Enthusiasmus, d.h. aus Schwaͤrmerei und einer großen Schwaͤche, zusammengesetzt war. Hr. Glave hat es bereits gesagt: Clooß war ein ganz anderer Mensch, hatte weit edlere Bewegungsgruͤnde als Werther.

S. 46-76. Mein verewigter Freund Mendelssohn war ein gelassener Denker, und handelte mit Waͤrme. Sobald die Reihe wieder an das Denken kam, nahm er auch seine alte Gelassenheit wieder an. Jch kann ihn nicht wuͤrdiger, und nicht mit mehr Wahrheit loben; und ich wuͤrde ihn entehren, wenn ich diesem Muster so unaͤhnlich seyn, wenn ich ihn mit Enthusiasmus loben wollte. Gluͤcklich, wem der guͤnstige Zufall ward, daß er ihm mit Eifer, mit Waͤrme dienen konnte. Wer ihn loben will, darf nur richtig urtheilen; und man urtheilet gewiß desto richtiger, je gelassener96 man denkt. Jch sage darum von diesem Stuͤcke nichts mehr, als daß ich gerne fuͤr dieses Einzige den Preis des ganzen Magazins bezahlt haͤtte.

Beinahe keine Abhandlung von Moses Mendelssohn traͤgt mehr den Stempel seines Geistes und seines vortreflichen Kopfs, als diese. Es ist ein wahres Kleinod! Jch hatte sie noch nicht gelesen, als ich die vorhergehenden Anmerkungen schrieb. Jch vernichte sie dennoch nicht; denn ich bin nur Geschichtschreiber, nur ein armseeliger Handlanger, aber mein Freund Mendelssohn ist Architekt; er setzt die Materialien zusammen, welche man ihm darreicht, und erschaft ein praͤchtiges Gebaͤude. Jch wuͤnschte, daß er auch die meinigen besessen haͤtte; sie waͤren ihm nicht unnuͤtz gewesen, wiewohl sie noch ziemlich unvollkommen sind.

Ach, meine Herren! wie vortreflich waͤre ein Magazin fuͤr die Erfahrungsseelenkunde, zu welchem ein Beobachter wie Spalding die Beitraͤge lieferte, und ein Mendelssohn sie kommentirte! Finden Sie ein solches aus, und ich verspreche Jhnen, daß ich sie mit meinen Packeten nicht mehr belaͤstigen will. Jch bin uͤberzeugt, sie halten es fuͤr keinen Vorwurf, wenn ich behaupte, daß sie es nicht finden werden.

Jch hatte mir vorgenommen zu der erwaͤhnten Abhandlung fluͤchtige Anmerkungen hinzuwerfen; aber, nun ich die angezeichneten Stellen uͤberlese, werde ich gewahr, daß meine Bemerkungen eben97 so viel Lobspruͤche fuͤr jede einzelne Stelle gewesen waͤren; und ich glaube fest, daß ein Werk, wie das Jhrige, fuͤr keinen Leser geschrieben ist, dem man bei jedem Stuͤcke einen Fingerzeig geben muͤßte, damit er die Schoͤnheit fuͤhle.

1. 3. S. 76. ff. II. Ohne Zweifel hat der Taubstumme die meisten Jdeen, von welchen hier gesprochen wird, durch die Erziehung, und von aussen her erworben. Auch ist das Merkwuͤrdige in der Erscheinung gar nicht, daß er die Jdeen empfangen hat; nur der starke Eindruck, welchen diese Jdeen in ihm gemacht haben, die Begierde, mit welcher er sie erlernet, und die tiefen Wurzeln, die sie in seinem Herzen mehr als in seinem Kopfe gefaßt haben, verdienen Aufmerksamkeit. Welche Aehnlichkeit, zwischen diesem Taubstummen mit dem Blindgebornen, von dem in der h. S. gesagt wird: daß er mehr Glauben hatte, als einer in ganz Jsrael! und welcher Contrast mit den metaphysischen Sophismen eines Diderot, uͤber die religioͤsen Begriffe der Ungluͤcklichen dieser Art! Ohne Zweifel hat ein Blindgeborner und ein Taubstummer, der niemals von einem ewigen Wesen reden hoͤrte, ganz andere Begriffe von dem Ursprung und von der Natur der Dinge, als wir.

Er hat eben darum eine ganz andere Religion, so wie jeder Mensch nach seiner individuellen Weise, seine eigene hat. Aber man bringe nur dieser Art Leuten Begriffe von Gott, von einem Heilande, von98 dem zukuͤnftige Leben, bei; und man wird sehen, daß sie dergleichen Jdeen weit begieriger auffassen, viel inniger davon durchdrungen werden, ungleich staͤrker sich damit beschaͤftigen. Ach! sie beduͤrfen ja des Trostes so sehr; und sie haben viel weniger Zerstreuung, weniger Jnteresse sich zu taͤuschen, als wir.

S. 82. III. Ein neuer Beweis zu meiner eben angestellten Bemerkung. Dieses ganze Stuͤck macht der Menschenliebe und der aufgeklaͤrten Froͤmmigkeit des wuͤrdigen Pastors P. und seines redlichen Schulmeisters, ungemein viel Ehre.

Mit Vergnuͤgen wuͤrde ich die Bekanntmachung der beiden S. 84 und 87 citirten Stuͤcke sehen. Man kann nicht genug Lehrmethoden fuͤr Blindgeborne und Taubstumme, bekannt machen. Auch koͤnnten Sie die beiden Brochuren des Diderot uͤber diese Materie in einer Uebersetzung, oder doch wenigstens im Auszug liefern. Sie enthalten, unter vielen Sophismen, auch einige feine und psychologische Beobachtungen.

Der einzige Vorwurf, den ich gegenwaͤrtigem Stuͤcke machen koͤnnte, ist, daß es gerade in dem Augenblicke schließt, wo es am interessantesten zu werden anfaͤngt.

S. 102. f. Richtig und gut! Jn den Zeiten, wo ich der Schwermuth am meisten nachhing, hatte ich immer einen Band von Tristram Shandy auf meinem Schreibepult, und J. Miller war mir99 mehr werth als Petrarka. Noch jetzt sehe ich meine Freunde, den Dottor Bolonese, den Signor Fastidio di Fastidii, und den Kapitain Spavento und den lieben Policinello u.s.w. lieber auf dem Theater als alle Mahomete und Mithridate, im tragischen Cothurn. Die letztern interessiren und zerstreuen mich nur in den Stuͤcken des Shakespear, wenn ich mich einschließe, um in der Einsamkeit daruͤber nachzudenken, oder wenn Garrik oder die Mistr. Siddons sie durch ihr einziges Spiel beleben.

Jndessen thun in dem letzteren Falle Young's Nachtgedanken die nehmlichen Dienste. Auch diese haben weder mich noch manchen andern jemals in Betruͤbniß versetzt. Jch bin alsdann in der nehmlichen Stimmung, als wenn ich mich von den erdichteten Ungluͤcksfaͤllen des Koͤnig Lear, des Othello, oder des Hamlet erschuͤttern lasse. (Jch sage dies mit der unbegraͤnzten Bewunderung, welche dem groͤsten Genie aller Zeiten gebuͤhret.)

Es ist noch die Frage, ob J. Miller, und Till Eulenspiegel es verstehet sich, daß ich von dem alten rede; das non plus ultra der Heilungsmittel in dem non plus ultra der Melancholie, sind, wie Jhr Anonymus anzunehmen scheint. Jch kenne Grade der Melancholie oder der Hypochondrie, die bei weitem noch nicht die aͤußersten sind, wo ich noch100 ganz andere Heilmittel gebrauchen mußte. Und diese Heilmittel waren Noten schreiben eine mathematische oder algebraische Aufgabe aufloͤsen mit Samuel Johnson kalkuliren, von welcher Breite und Dicke ein silberner Guͤrtel um die Erdkugel und mit dem Meridian parallel, seyn muͤßte, wenn sein Werth den Betrag der englischen Nationalschulden nach geendigtem Kriege Anno 1785, ausmachen sollte. Oder endlich: ein Mittel, das mir allein eigen, und das wuͤrksamste von allen war, das ich aber ohne Nutzen nennen wuͤrde, weil wenig Personen in einer solchen Lage sind, daß sie den Nutzen davon ziehen koͤnnten, welcher mir daraus erwuchs, und mich daher wenige verstehen koͤnnten.

Was ich hinwiederum in dem Aufsatze Jhres Anonymus nicht verstehe, ist die Stelle S. 104, » die Teutschheit « u.s.w. Jch kenne nicht nur Winkel in Deutschland, die unter dem Joche des Despotismus seufzen, sondern Deutsche, sehr republikanische, sehr freie, oft als gluͤklich citirte Staaten, wo das Verhaͤltniß der Selbstmoͤrder, gegen die Londoner, wie 5: 3, ist.

S. 105. II. Ein Theil dieses Stuͤcks ist weit gruͤndlicher in den Buͤchern des Tissot und Anderer, uͤber die Gesundheit der Gelehrten, behandelt, und vorzuͤglich in dem letzten Bande des vortreflichen, medizinischen, und klassischen Werks des Kaͤmpe. Ein anderer101 Theil scheint meinen eben erwaͤhnten Erfahrungen geradezu zu widersprechen, Erfahrungen, die nichts desto weniger, mit Genauigkeit und Wahrheit uͤber den Gebrauch der abstrakten Meditationen als Heilmittel gegen die Melancholie, angestellet sind.

Jch glaube, daß man hier wohl unterscheiden muͤsse. Wenn die Melancholie nur reine Hypochondrie ist, und in bloß physischen Ursachen ihren Ursprung hat, so taugen die letzteren Mittel gewiß nicht; aber, sind es druͤckende Sorgen, unerhoͤrte Kraͤnkungen, die jeder Bemuͤhung sie zu vergessen, trotzen, dann giebt es auch gewiß kein besseres Mittel sich zu zerstreuen, als starke, willkuͤrlich gewaͤhlte, abstrakte Materien.

Jch begnuͤge mich, Jhnen diese Bemerkungen uͤber den ersten Theil Jhres Magazins vorlaͤufig mitzutheilen, und die Fortsetzung soll gaͤnzlich von Jhrem Befehl abhaͤngen.

Eine einzige Note will ich noch hinzusetzen, uͤber einen Brief, den ich Jhnen vor ungefaͤhr vier Jahren schrieb, und den Sie guͤtigst im 4. Heft des zweiten Theils dieses Magazins aufnahmen. Jn diesem Briefe hat sich ein sehr erheblicher Druckfehler eingeschlichen, und ohne Zweifel war meine unleserliche Hand Schuld daran. Jn dem eben angefuͤhrten Hefte S. 87 steht Arzt in Mietau, und soll heissen Arzt in Mayland.

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Die Journale, und mich duͤnkt, nahmentlich das Journal etranger, sprachen damals sehr viel von diesem Arzte und seinen Erfahrungen. Die Versuche die er mit seinen Gemuͤthskranken machte, bestanden, wie ich mich erinnere, hauptsaͤchlich darin, daß er die Verstopfungen im Gehirne zu heben suchte, indem er den Zufluß des Bluts und der Saͤfte, von dem Kopfe mehr nach den untern Theilen leitete.

Er bewerkstelligte dies entweder nach der alten Methode durch Fußbaͤder, Aderlaͤsse u.s.w., oder nach einer andern sehr wuͤrksamen Methode dadurch, daß er diejenigen Theile des Koͤrpers, die man ohne Gefahr reizen kann, als die Hinterbacken u.a., brennen oder bis aufs Blut peitschen ließ.

Wenn ich diesen Sommer, so wie ich hoffe, nach Mayland reise, so nehme ich mir vor, diesen Arzt und seine Versuche genauer kennen zu lernen. Jch habe immer geglaubt, daß wir aus allzugroßer Verzaͤrtelung und Verfeinerung, aufgehoͤrt haben nach der Methode der Alten und der noch heutigen Wilden, eine große Menge von Krankheiten durch Schmerzen und durchs Brennen zu heilen. Jndessen faͤngt es bei der Gicht schon an Grundsatz zu werden, daß man sie feindseelig behandeln muͤsse. So verfahren die Bauern, und man findet die Gicht unter ihnen weit seltener, als unter den Staͤdtern.

103

Nirgend ist diese Behandlungsart aber anwendbarer als bei Wahnwitzigen; denn nichts heftet den Verstand so sehr auf einen Punkt als die koͤrperlichen Schmerzen, und Peitschen ist die einzige Art, anhaltende Schmerzen hervorzubringen, ohne physische Gefahr befuͤrchten zu duͤrfen. Jndessen muß man nicht auf den Ruͤcken peitschen, weil man Gefahr laͤuft der Brust zu schaden, sondern auf gut russisch, die Hinterbacken, der Kranke sey uͤbrigens maͤnnlichen oder weiblichen Geschlechts.

Wir muͤßten also nur noch untersuchen, welche Veraͤnderungen der Zusammenfluß des Bluts, der Saͤfte u.s.w., den wir durch diese Behandlungsart in einem vom Kopfe ganz entfernten, und blos koͤrperlichen Theile hervorbringen, auf den Kopf selbst wuͤrken wird. Dies war es, was unser Arzt zu Mayland versuchen wollte, und ich gebe seiner Theorie voͤlligen Beifall. *)*) Jn der vortreflichen Abhandlung des Herrn Mendelssohn uͤber die Erfahrung des Herrn Spalding, finden sich Bemerkungen, die auf eben diesen Weg fuͤhren. Jch haͤtte wohl gewuͤnscht, diese Versuche selbst anstellen zu koͤnnen, ich durfte es aber nicht wagen. Man wuͤrde mich gesteinigt haben, wenn ich einen Wahnwitzigen haͤtte peitschen lassen. Es giebt eine Art Menschen, die nicht uͤber ihre Nase wegsehen koͤnnen, und diese koͤnnen eine solche Jdee nicht ertragen. 104Man ist immer gewohnt, das Peitschen als eine Zuͤchtigung moralischer Uebel zu betrachten, und nun faͤllt es schwer, es als ein medizinisches Mittel, oder als einen physischen Versuch anzusehen. Aus allzugroßer Empfindlichkeit sind wir weichlich und verzaͤrtelt worden.

Jn mehreren Staaten werden die Hausdiebe, die man anderwaͤrts am Leben straft, so vorsichtig gepeitscht, daß es keinen groͤßern Eindruck machen kann, als wenn man ihnen mit einem sanften Zeuge uͤber die Haut fuͤhre. Jch habe irgendwo ein Monument des Rousseau gesehen, welches ihn selbst vorstellt wie er ein Schild zerbricht, worauf nach der alten Methode, ein Schulmeister seinen Schuͤler brav durchpeitscht. Hat der Knabe blos seine Vokabeln vergessen, so billige ich freilich dieses Verfahren auch nicht; hat er aber seinen Mitschuͤler betrogen oder verrathen, warum sollte er nicht gepruͤgelt werden? Pfui uͤber eine solche Bestrafung, die den Zoͤgling herabwuͤrdigt, schrei't mit Jean Jaques das ganze Chor unsrer neumodischen Philosophen mit dem butterweichen Herzen, und dem steinharten Kopfe!

Trotz dem hat aber England so viele große Maͤnner, so viele starke Geister und edle Herzen beiderlei Geschlechts hervorgebracht, die alle in ihren Schulen mehr als hundertmal moͤgen durchgepruͤgelt worden seyn! Eitelkeit der Eitelkeiten! Un -105 sre neumodische Philosophie, und besonders die empfindelnde ist gewiß die Krone aller Eitelkeiten.

Man will sich der Natur naͤhern, und entfernt sich immer mehr von ihr; man will uns mehr Kraft geben, und macht uns nur gedruͤckter und weichlicher. Jn der That, ich kenne nichts Veraͤchtlicheres! Man spricht von nichts als von Vorurtheilen, wann werden wir aber einmal diese Modevorurtheile ablegen, die uns von den alten Vorurtheilen befreien sollen, und nichts leisten als Neue an die Stelle der Alten zu setzen, die am Ende nicht schlimmer, und vielleicht nicht einmal so schlimm seyn werden!

Jch will nur im Vorbeigehen noch eine Stelle meines Briefes IV. 2. S. 93 beruͤhren, die wie mich duͤnkt einer der dortigen Journalisten herausgehoben hat. Die Rede ist von einem Frauenzimmer, welche von einer sehr heftigen Gemuͤthskrankheit geheilt wurde, und die ich uͤber die Sensationen und Empfindungen waͤhrend ihrer Krankheit befragte. Jch sage in Jhrer Uebersetzung: » Jch hoͤrte verschiedene Dinge von ihr, welche von der Art sind, daß ich sie nie offenbaren werde. « Ueber diese Erklaͤrung ereifert sich der Herr, und macht mir den Proceß. Er kann sich mit seiner aͤrmlichen Einbildungskraft nicht denken, daß es Dinge geben kann, die eine Person nach uͤberstandener Gemuͤthskrankheit fuͤr Sensationen oder gemachte Erfahrungen ausgiebt, und die der Vernuͤnftige, dem sie106 sich anvertrauet hat, nicht rathsam findet, oͤffentlich bekannt zu machen.

Jch werde dem Herrn mit seiner Erlaubniß folgendes Dilemma vorlegen. Die moralischen oder physischen Erscheinungen, die ich durch die Erzaͤhlungen dieser Person erfahren habe, mußten auf Resultate fuͤhren, die entweder ausschweifend, und wuͤrklich wahnsinnig waren, oder aber auf solche die zwar anscheinend wahr, aber doch zweideutig, zweifelhaft, und wohl gar gefaͤhrlich waren. Jn dem einen Falle, wuͤrde es der Muͤhe nicht gelohnt haben sie zu erzaͤhlen, und im andern Falle, erinnere sich der Herr jenes Philosophen der einst sagte: wenn ich alle Wahrheiten in meiner zugemachten Hand haͤtte, so wuͤrde ich mich wohl huͤten, sie zu oͤffnen. Nun so mache einen Finger nach dem andern auf, erwiderte ihm zwar jener; aber wenn einen Finger aufmachen so viel heißt als die Buͤchse der Pandora oͤffnen, von der man im voraus weiß, daß sie nun durch den Misbrauch dem alle Dinge bei dem Menschen unterworfen sind, eine unendliche Menge Uebel, so wie in unsrem Falle, eine unendliche Menge Jrrthuͤmer, und falscher Systeme verbreiten wird; ist es dann nicht besser, die Hand fest zu zu halten, und auch nicht einen Finger aufzumachen?

Jch wenigstens denke so, und wenn Jhr Journalist andrer Meinung ist; so scheint es wohl, er habe in seinem Leben wenig außerordentliche, wuͤrk -

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lich außer dem gemeinen Weltlauf liegende Sachen gesehen.

Jch denke uͤber diesen Punkt voͤllig wie eine gewisse aͤußerst schaͤtzbare und geistreiche Person, die ich zwar nicht gradezu anbete, aber doch innigst verehre; ein Weib nach meinem Herzen: kurz, die heilige Jungfrau. Diese hatte in ihrem Leben viel außerordentliche Dinge an sich erfahren, und viele sich an andern zutragen sehen. Aber es ist bekannt, daß sie alles bemerkte, und alles in ihr Herz verschloß.

Die Erfahrung hat gezeigt, wie wohl sie daran gethan hat. Laßt uns dieses Beispiel nachahmen, laßt uns schwatzen, streiten, psychologische Magazine herausgeben, so viel wir nur wollen, aber uns huͤten, alles zu sagen, was wir zu wissen, oder erfahren zu haben glauben.

Der erste, der erschrocken zu seinem Nachbar sagte, ich habe einen Geist gesehen, hatte vielleicht wuͤrklich Einen gesehen, aber er haͤtte schweigen sollen. Nun hat er allen Kindern und alten Weibern einen Floh ins Ohr gesetzt, sie glauben jetzt alle zu sehen, wo es nichts zu sehen giebt.

29Van Goens.

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6. Die Leiden der Poesie.

30

Diese geheimen Leiden waren es, womit R ... beinahe von seiner Kindheit an, zu kaͤmpfen hatte.

Wenn ihn der Reitz der Dichtkunst unwillkuͤrlich anwandelte, so entstand zuerst eine wehmuͤthige Empfindung in seiner Seele, er dachte sich ein Etwas, worin er sich selbst verlohr, wogegen alles, was er je gehoͤrt, gelesen oder gedacht hatte, sich verlohr, und dessen Daseyn, wenn es nun wuͤrklich von ihm vorgestellt waͤre, ein bisher noch ungefuͤhltes unnennbares Vergnuͤgen verursachen wuͤrde.

Nun war aber noch nicht ausgemacht, ob dies ein Trauerspiel, oder eine Romanze, oder ein Elegisches Gedicht werden sollte; genug, es mußte etwas seyn, das wuͤrklich eine solche Empfindung erweckte, wovon der Dichter schon gewissermaßen ein Vorgefuͤhl gehabt hatte.

Jn den Momenten dieses seeligen Vorgefuͤhls konnte die Zunge nur stammelnde einzelne Laute hervorbringen.

Etwa wie die in einigen Klopstockschen Oden, zwischen denen die Luͤcken des Ausdrucks mit Punkten ausgefuͤllt sind.

Diese einzelnen Laute aber bezeichneten denn immer das Allgemeine von groß, erhaben, Wonnethraͤnen, und dergleichen.

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Dies dauerte denn so lange, bis die Empfindung in sich selbst wieder zuruͤcksank, ohne auch nur ein paar vernuͤnftige Zeilen, zum Anfange von etwas Bestimmten, ausgebohren zu haben.

Nun war also waͤhrend dieser Krisis nichts Schoͤnes entstanden, woran sich die Seele nachher haͤtte festhalten koͤnnen, und alles andre, was wuͤrklich schon da war, wurde nun keines Blicks mehr gewuͤrdiget.

Es war, als ob die Seele eine dunkle Vorstellung von etwas gehabt haͤtte, was sie selbst nicht seyn konnte, und wodurch ihr eigenes Daseyn ihr veraͤchtlich wurde.

Es ist wohl ein untruͤgliches Zeichen, daß einer keinen Beruf zum Dichter habe, den blos eine Empfindung im Allgemeinen zum Dichten veranlaßt, und bei dem nicht schon die bestimmte Scene, die er dichten will, noch eher als diese Empfindung, oder wenigstens zugleich mit der Empfindung da ist. Kurz, wer nicht waͤhrend der Empfindung zugleich einen Blick in das ganze Detaille der Scene werfen kann, der hat nur Empfindung, aber kein Dichtungsvermoͤgen.

Und gewiß ist nichts gefaͤhrlicher, als einem solchen taͤuschenden Hange sich zu uͤberlassen; die warnende Stimme kann nicht fruͤh genug dem Juͤngling zurufen, sein Jnnerstes zu pruͤfen, ob nicht der Wunsch bei ihm an die Stelle der Kraft tritt, und110 weil er diese Stelle nie ausfuͤllen kann, ein ewiges Unbehagen die Strafe verbotenen Genusses bleibt.

Dies war der Fall bei R ..., der die besten Stunden seines Lebens, durch mislungene Versuche truͤbte, durch unnuͤtzes Streben nach einem taͤuschenden Blendwerke, das immer vor seiner Seele schwebte, und wenn er es nun zu umfassen glaubte, ploͤtzlich in Rauch und Nebel verschwand.

Wenn nun je der Reiz des Poetischen bei einem Menschen mit seinem Leben und seinen Schicksalen kontrastirt, so war es bei R ..., der von seiner Kindheit an in einer Sphaͤre war, die ihn bis zum Staube niederdruͤckte, und wo er bis zum Poetischen zu gelangen, immer erst eine Stufe der Menschenbildung uͤberspringen mußte, ohne sich auf der folgenden erhalten zu koͤnnen.

So gieng es ihm nun jetzt wieder in seiner aͤußerlichen Lage; er hatte eigentlich keine Stube fuͤr sich, sondern mußte, da es nun anfing kaͤlter zu werden, mit in der gemeinschaftlichen Stube wohnen, deren Einwohner, wenn ausgefegt wurde, so lange herausgehen mußten.

Jn dieser Stube wohnte die ganze Familie, nebst R ... und noch einem Studenten, und jeder nahm seine Besuche von Fremden darin an; es wurde darin erzaͤhlt, von Kindern gelaͤrmt, gesungen, gezankt und geschrieen; und dies war nun die naͤchste Umgebung, worin R ... seine philosophische Abhandlung uͤber die Empfindsamkeit schreiben,111 und seine poetischen Jdeale außer sich darstellen wollte.

Hier sollte nun das Trauerspiel Siegwart geschrieben werden, das sich mit seiner Einkehr bei dem Einsiedler anhub, welches immer R ... s Lieblingsidee war, und die Lieblingsidee aller jungen Leute zu seyn pflegt, welche sich einbilden, einen Beruf zur[ Dichtkunst zu] haben.

Dies ist sehr natuͤrlich, weil der Zustand eines Einsiedlers gewissermaßen an sich selber schon Poesie ist, und der Dichter seinen Stoff schon beinahe vorgearbeitet findet.

Wer aber zuerst auf solche Gegenstaͤnde faͤllt, bei dem ist es auch fast immer ein Zeichen, daß bei ihm keine aͤchte poetische Ader statt finde, weil er die Poesie in den Gegenstaͤnden sucht, die in ihm selber schon liegen muͤßte, um jeden Gegenstand, der sich seiner Einbildungskraft darbietet, zu verschoͤnern.

So ist die Wahl des Schrecklichen ebenfalls ein schlimmes Zeichen, wenn das vermeinte poetische Genie gleich zuerst darauf verfaͤllt; denn freilich macht sich hier das Poetische auch schon von selber, und die innere Leerheit und Unfruchtbarkeit soll durch den aͤußern Stoff ersetzt werden.

Dies war der Fall bei R ... schon in H ... auf der Schule, wo er Meineid, Blutschande und Vatermord, in einem Trauerspiele zusammen zu haͤufen suchte, das der Meineid heissen sollte, und112 wobei er sich dann immer die wuͤrkliche Auffuͤhrung dieses Stuͤcks, und zugleich den Effekt dachte, den es auf die Zuschauer machen wuͤrde.

Dies zweite Zeichen sollte ebenfalls fuͤr jeden, der sich wegen seines poetischen Berufs sorgfaͤltig pruͤft, schon abschrekkend seyn.

Denn der wahre Dichter und Kuͤnstler findet und hoft seine Belohnung nicht erst in dem Effekt, den sein Werk machen wird, sondern er findet in der Arbeit selbst Vergnuͤgen, und wuͤrde dieselbe nicht fuͤr verlohren halten, wenn sie auch niemanden zu Gesicht kommen sollte. Sein Werk zieht ihn unwillkuͤrlich an sich, in ihm selber liegt die Kraft zu seinen Fortschritten, und die Ehre ist nur der Sporn, der ihn antreibt.

Die bloße Ruhmbegier kann wohl die Begier einhauchen, ein großes Werk zu beginnen, allein die Kraft dazu kann sie dem nie gewaͤhren, der sie nicht schon besaß, ehe er selbst die Ruhmbegier noch kannte.

Noch ein drittes schlimmes Zeichen ist, wenn junge Dichter ihren Stoff sehr gerne aus dem Entfernten und Unbekannten nehmen; wenn sie gerne morgenlaͤndische Vorstellungsarten, und dergleichen bearbeiten, wo alles von den Scenen des gewoͤhnlichen naͤchsten Lebens der Menschen ganz verschieden ist; und wo also auch der Stoff schon von selber poetisch wird.

113

Dies war denn auch der Fall bei R ...; er gieng schon mit einem Gedichte uͤber die Schoͤpfung schwanger, wo der Stoff nun freilich der allerentfernteste war, den die Einbildungskraft sich denken konnte, und wo er statt des Detail, vor dem er sich scheute, lauter große Massen vor sich fand, deren Darstellung man denn fuͤr die eigentlich erhabene Poesie haͤlt; und wozu die unberufenen jungen Dichter immer weit mehr Lust haben, als zu dem, was dem Menschen nahe liegt; denn in dies letztere muß freilich ihr Genie die Erhabenheit erst herein tragen, welche sie in jenem schon vor sich zu finden glauben.

R ... s aͤußere Lage wurde hiebei mit jedem Tage druͤckender, weil die gehofte Unterstuͤtzung aus H ... nicht erfolgte, und seine Hausleute ihn immer mehr mit schielen Blicken ansahen, je mehr sie inne wurden, daß er weder Geld besitze, noch welches zu hoffen habe.

Sein Fruͤhstuͤck und Abendbrodt, was er hier genoß, war er nicht im Stande zu bezahlen, und man ließ ihm deutlich merken, daß man nicht laͤnger Willens sey, ihm zu borgen; da man also keinen Nutzen von ihm ziehen konnte, und er uͤberdem ein trauriger Gesellschafter war, so war es natuͤrlich, daß man seiner loß zu seyn wuͤnschte, und ihm die Wohnung aufkuͤndigte.

So wenig auffallend dieß nun an sich war, so tragisch nahm es R ...

114

Der Gedanke des Laͤstigseyns, und daß er von den Leuten, unter denen er lebte, gleichsam nur geduldet wuͤrde, machte ihm wiederum seine eigene Existenz verhaßt.

Alle Erinnerungen aus seiner Jugend und Kindheit draͤngten sich zusammen.

Er haͤufte selber alle Schmach auf sich, und wollte verzweiflungsvoll sich einem blinden Schicksale aufs Neue uͤberlassen.

Nun gieng er zu F ..., um Abschied von ihm zu nehmen, ohne ihm eine eigentliche Ursache sagen zu koͤnnen, weswegen er Erfurt wieder verlassen wolle.

Der Doktor F ... schob diesen Entschluß auf seine Melancholie, redete ihm zu, daß er bleiben solle, und entließ ihn nicht eher, bis R ... ihm versprochen hatte, wenigstens heute und morgen noch nicht abzureisen.

Diese Theilnehmung an seinem Schicksale war nun zwar fuͤr R ... sehr schmeichelhaft; sobald er sich aber wieder allein befand, verfolgte der Gedanke des Laͤstigseyns in seiner naͤchsten Umgebung ihn wie ein quaͤlender Geist, er hatte nirgends Ruhe noch Rast; streifte in den einsamsten Gegenden von Erfurt umher, in der Gegend des Karthaͤuserklosters, wohin er sich nun im Ernst, wie nach einem sichern Zufluchtsorte sehnte, und wehmuͤthig nach den stillen Mauren hinuͤberblickte.

115

Dann irrte er weiter umher, bis es Abend wurde, wo der Himmel sich mit Wolken uͤberzog, und ein starker Regen fiel, der ihn bald bis auf die Haut durchnetzte.

Der Fieberfrost, welcher sich nun zu den innern Unruhen seines Gemuͤths gesellte, trieb ihn in Sturm und Regen umher, bei altem Gemaͤuer und durch einsame oͤde Straßen, denn in seine bisherige Wohnung zuruͤckzukehren, davon konnte er den Gedanken nicht ertragen.

Er stieg die hohe Treppe zu dem alten Dom hinauf, band sich ein Tuch um den Kopf, und suchte sich unter altem Gemaͤuer eine Weile vor dem Regen zu schuͤtzen.

Vor Muͤdigkeit fiel er hier in eine Art von betaͤubendem Schlummer, aus dem er durch einen neuen Regenguß, und durch das Getoͤse des Windes wieder erweckt wurde.

Jndem ihm nun der Regen ins Gesicht schlug, fiel ihm die Stelle aus dem Lear ein: to shut me out, in such a night as this! (Die Thuͤren vor mir zu verschließen, in einer Nacht wie diese!) Und nun spielte er die Rolle des Lear in seiner eigenen Verzweifelung durch, und vergaß sich in dem Schicksale Lears, der von seinen eigenen Toͤchtern verbannt, in der stuͤrmischen Nacht umherirrt, und die Elemente auffordert, die entsetzliche Beleidigung zu raͤchen.

116

Diese Scene hielt ihn hin, daß er sich eine Zeitlang den Zustand, worin er war, mit einer Art von Wollust dachte, bis auch dies Gefuͤhl abgestumpft wurde, und ihm nun am Ende nichts als die leere Wuͤrklichkeit uͤbrig blieb, welche ihn in ein lautes Hohngelaͤchter uͤber sich selbst ausbrechen ließ.

Jn dieser Stimmung kehrte er wieder zu dem alten Dom zuruͤck, der nun schon eroͤfnet war, und wo die Chorherren sich zur Fruͤhmette bei Licht versammleten.

Das alte gothische Gebaͤude, die wenigen Lichter, der Widerschein von den hohen Fenstern, machten auf R ..., der die ganze Nacht umher geirrt war, und sich hier auf eine Bank niedersetzte, einen wunderbaren Eindruck.

Er war, wie in einer Behausung, vor dem Regen geschuͤtzt, und doch war dies keine Wohnung fuͤr die Lebenden.

Wer vor dem Leben selber eine Freistatt suchte, den schien dies dunkle Gewoͤlbe einzuladen, und wer eine Nacht, wie R ... die vergangene, durchlebt hatte, konnte wohl geneigt seyn, diesem Rufe zu folgen.

R ... fuͤhlte sich auf der Bank im Dom in eine Art von Abgeschiedenheit und Stille versetzt, die etwas unbeschreiblich Angenehmes fuͤr ihn hatte, die ihn auf einmal allen Sorgen und allem Gram entruͤckte, und ihn das Vergangene vergessen machte.

117

Er hatte aus dem Lethe getrunken, und fuͤhlte sich in das Land des Friedens sanft hinuͤberschlummern.

Dabei heftete sich immer sein Blick auf den blassen Widerschein von den hohen Fenstern, und dieser war es vorzuͤglich, welcher ihn in eine neue Welt zu versetzen schien: es war dies eine majestaͤtische Schlafkammer, in welcher er seine Augen aufschlug, nachdem er die Nacht wild durchtraͤumt hatte.

Denn wie Traͤume eines Fieberkranken, waren freilich solche Zeitpunkte in R ... s Leben, aber sie waren doch einmal darin, und hatten ihren Grund in seinen Schicksalen von seiner Kindheit an.

Denn war es nicht immer Selbstverachtung, zuruͤckgedraͤngtes Selbstgefuͤhl, wodurch er in einen solchen Zustand versetzt wurde? Und wurde nicht diese Selbstverachtung durch den immerwaͤhrenden Druck von außen bei ihm bewirkt, woran freilich mehr der Zufall Schuld war, als die Menschen?

Als der Tag angebrochen war, kehrte R ... mit ruhigem Gemuͤthe aus dem Dom zuruͤck, und begegnete auf der Straße seinem Freunde N ..., der schon fruͤh ein Kollegium besuchte, und welcher erschrak, da er R ... n ins Gesicht sahe, so sehr hatte diese Nacht ihn abgemattet und entstellt.

N ... ruhete nicht eher, bis R ... ihm seinen ganzen Zustand entdeckt hatte.

118

Nach freundschaftlichen Vorwuͤrfen, daß R ... nicht mehr Zutrauen zu ihm gehabt, brachte er ihn wieder nach seiner alten Wohnung, suchte ihn dort den Leuten in einem andern Lichte darzustellen, und tilgte die geringe Schuld seines Freundes.

Diese aufrichtige Theilnehmung seines Freundes, staͤrkte bei R ... wieder das erkrankte Selbstgefuͤhl, er war gewissermaßen stolz auf seinen Freund, und ehrte sich in ihm.

Nun bedung er sich aus, um allein seyn zu koͤnnen, einen Verschlag auf dem Boden des Hauses zu beziehen, wohin man ihm auch ein Bette gab, und wo er nun wieder, ganz sich selbst gelassen, ein paar nicht unangenehme Wochen zubrachte.

Er laß und studirte hier oben, und wuͤrde in dieser Abgezogenheit voͤllig gluͤcklich gewesen seyn, wenn ihn sein Gedicht uͤber die Schoͤpfung nicht gequaͤlt haͤtte, welches machte, daß er oft wieder in eine Art von Verzweiflung gerieth, wenn er Dinge ausdruͤcken wollte, die er zu fuͤhlen glaubte, und die ihm doch uͤber allen Ausdruck waren.

Was ihm die meiste Qual machte, war die Beschreibung des Chaos, welche beinahe den ganzen ersten Gesang seines Gedichts einnahm, und worauf er mit seiner kranken Einbildungskraft am liebsten verweilen mochte, aber immer fuͤr seine ungeheuren und grotesken Vorstellungen keine Ausdruͤcke finden konnte.

119

Er dachte sich eine Art von falscher taͤuschender Bildung in das Chaos hinein, welche im Nu wieder zum Traume und Blendwerke wurde; eine Bildung die weit schoͤner, als die wirkliche, aber eben deswegen von keinem Bestande, und keiner Dauer war.

Eine falsche Sonne stieg am Horizonte herauf, und kuͤndigte einen glaͤnzenden Tag an.

Der bodenlose Morast uͤberzog sich unter ihrem truͤgerischen Einflusse mit einer Kruste auf welcher Blumen sproßten, Quellen rauschten; ploͤtzlich arbeiteten sich die entgegenstrebenden Kraͤfte empor, der Sturm heulte aus dem Abgrunde, die Finsterniß brach mit allen ihren Schrecknissen aus ihrem verborgenen Hinterhalte hervor, und verschlang den neugebornen Tag wieder in ein furchtbares Grab.

Die immer in sich selbst zuruͤckgedraͤngten Kraͤfte bearbeiteten sich mit Grimm nach allen Seiten sich auszudehnen, und seufzten unter dem lastenden Widerstande.

Die Wasserwogen kruͤmmten sich und klagten unter dem heulenden Windstoße.

Jn der Tiefe bruͤllten die eingeschlossenen Flammen, das Erdreich das sich hob, der Felsen der sich gruͤndete, versanken mit donnerndem Getoͤse wieder in den alles verschlingenden Abgrund.

Mit dergleichen ungeheuren Bildern, zerarbeitete sich R ... s Phantasie in den Stunden, wo sein Jnnres selbst ein Chaos war, in welchem der120 Strahl des ruhigen Denkens nicht leuchtete, wo die Kraͤfte der Seele ihr Gleichgewicht verlohren, und das Gemuͤth sich verfinstert hatte; wo der Reiz des Wirklichen vor ihm verschwand, und Traum und Wahn ihm lieber war, als Ordnung, Licht und Wahrheit.

Und alle diese Erscheinungen gruͤndeten sich gewissermaßen wieder in dem Jdealismus, wozu er sich schon natuͤrlich neigte, und worin er durch die philosophischen Systeme, die er in H ... studierte sich noch mehr bestaͤrkt fand.

Und auf diesem bodenlosen Ufer fand er nun keinen Platz wo sein Fuß ruhen konnte.

Angstvolles Streben und Unruhe verfolgten ihn auf jedem Schritte.

Dieß war es, was ihn aus der Gesellschaft der Menschen auf Boͤden und Dachkammern trieb, wo er oft in phantastischen Traͤumen noch seine vergnuͤgtesten Stunden zubrachte, und dieß war es was ihm zugleich fuͤr das Romantische, und Theatralische, den unwiderstehlichen Trieb einfloͤßte.

Durch seinen gegenwaͤrtigen innern und aͤußern Zustand, war er nun wiederum in der idealischen Welt verlohren, was Wunder also, daß bei der ersten Veranlassung seine alte Leidenschaft wieder Feuer fing, und er wiederum seine Gedanken auf das Theater heftete, welches bei ihm nicht sowohl Kunstbeduͤrfniß, als Lebensbeduͤrfniß war.

121

R ... s Schreiben an seinen Freund.

Dies Schreiben war denn ganz im Tone der Wertherschen Briefe abgefaßt.

Die patriarchalischen Jdeen mußten auf alle Weise wieder erweckt werden; nur Schade, daß es hier nicht wohl ohne Affektation geschehen konnte.

Denn um diesen Brief schreiben zu koͤnnen, schafte sich R ... erst einen Theetopf an, und lieh sich eine Tasse, und weil er kein Holz im Hause hatte, kaufte er sich Stroh, welches man in Erfurt zum Brennen braucht, um sich selber in seinem Stuͤbchen, in dem kleinen Oefchen seinen Thee zu kochen, womit er endlich, nachdem er vor Rauch beinahe erstickt war, zu Stande kam.

Und als dies nun nur erst einmal geschehen war, so schrieb er gleichsam triumphirend an seinen Freund.

Jetzt, mein Lieber! bin ich in einer Lage, welche ich mir nicht reizender wuͤnschen koͤnnte. Jch blicke aus meinem kleinen Fenster uͤber die weite Flur hinaus, sehe ganz in der Ferne eine Reihe Baͤumchen auf einem kleinen Huͤgel hervorragen, und denke an Dich, mein Lieber u.s.w. Jch habe die Schluͤssel dieser einsamen Wohnung, und bin hier Herr im Hause und Garten, u.s.w. Wenn ich denn manchmal so da sitze, an dem kleinen Oefchen, und mir selbst meinen Thee koche, u.s.w.

Jn dem Tone gieng es fort, und ward ein stattlicher und langer Brief; und als nun R ... es122 nicht uͤber das Herz bringen konnte, diesen schoͤnen Brief nicht auch seinem kritischen Freunde, dem Doktor S ... zu zeigen: so verdarb dieser vollends die Sache, indem er ihm nach seiner gutmuͤthigen Hoͤflichkeit das Kompliment machte: wenn ihm R ... s Gegenwart nicht selbst zu lieb waͤre, so wuͤrde er wuͤnschen, entfernt zu seyn, um nur solche Briefe von R ... zu erhalten.

Und nun war auf einmal, der beinahe zur Ruhe gebrachte Dichtungstrieb bei R ... wieder angefacht. Er suchte nun zuerst sein Gedicht uͤber die Schoͤpfung vollends durch das Chaos durchzufuͤhren, und hub mit neuer Qual an, in der Darstellung von graͤßlichen Widerspruͤchen und ungeheuren labyrinthischen Verwickelungen der Gedanken sich zu verlieren, bis endlich folgende beide Hexameter, die er aus der Bibel nahm, ihn aus einer Hoͤlle von Begriffen erloͤßten.

Auf dem stillen Gewaͤsser rauschte
Die Stimme des Ewigen
Sanft daher, und sprach: es werde Licht!
Und es ward Licht.

Merkwuͤrdig war es, daß ihm nun die Lust vergieng, dies Gedicht weiter fortzufuͤhren, sobald der Stoff nicht fuͤrchterlich mehr war.

Er suchte also nun einen Stoff aus, der immer fuͤrchterlich bleiben mußte, und den er in mehreren123 Gesaͤngen bearbeiten wollte; was konnte dies wohl anders seyn, als der Tod selber!

Dabei war es ihm eine schmeichelhafte Jdee, daß er, als ein Juͤngling, sich einen so ernsten Gegenstand zu besingen waͤhlte; daher hub er denn auch sein Gedicht an:

Ein Juͤngling, der schon fruͤh den Kelch
der Leiden trank, u.s.w.

Als er nun aber zum Werke schritt, und den ersten Gesang seines Gedichts, wovon er den Titel schon recht schoͤn hingeschrieben hatte, wirklich bearbeiten wollte, fand er sich in seiner Hofnung, einen Reichthum von fuͤrchterlichen Bildern vor sich zu finden, auf das Bitterste getaͤuscht.

Die Fluͤgel sanken ihm, und er fuͤhlte seine Seele wie gelaͤhmt, da er nichts, als eine weite Leere, eine schwarze Oede vor sich erblickte, wo sich nun nicht einmal das vergeblich aufarbeitende Leben, wie bei der Schilderung des Chaos anbringen ließ, sondern eine ewige Nacht alle Gestalten verdeckte, und ein ewiger Schlaf alle Bewegungen fesselte.

Er strengte mit einer Art von Wuth seine Einbildungskraft an, in diese Dunkelheit Bilder hineinzutragen, allein sie schwaͤrzten sich, wie auf Herkules Haupte die gruͤnen Blaͤtter seines Pappelkranzes, da er sich, um den Cerberus zu fangen, dem Hause des Pluto nahte. Alles was er niederschreiben wollte, loͤßte sich in Rauch und Nebel auf, und das weiße Papier blieb unbeschrieben.

124

Unter diesen immer wiederholten vergeblichen Anstrengungen eines falschen Dichtungstriebes, erlag er endlich, und verfiel selbst in eine Art von Lethargie und voͤlligem Lebensuͤberdruß.

Er warf sich eines Abends mit den Kleidern aufs Bette, und blieb die Nacht und den ganzen folgenden Tag in einer Art von Schlafsucht liegen, aus der ihn erst am Abend des folgenden Tages, wo es grade Weihnachten war, ein Bote von seinem Goͤnner dem Regierungsrath Sp ... weckte, dessen Frau an R ... ein sehr großes Weihnachtsbrodt zum Geschenk uͤbersandte.

Dies war nun gerade, was ihn in seiner unwiderstehlichen Schlafsucht noch bestaͤrkte. Er schloß sich mit diesem großen Brode ein, und lebte vierzehn Tage davon, weil er nur wenig genoß, indem er Tag und Nacht, wo nicht in einem immerwaͤhrenden Schlafe, doch, die letzten Tage ausgenommen, in einem bestaͤndigen Schlummer, im Bette zubrachte. Hiezu kam nun freilich der Umstand, daß er kein Holz hatte, um einzuheizen; er haͤtte aber auch nur ein Wort sagen duͤrfen, um dies Beduͤrfniß zu befriedigen, wenn es ihm nicht gewissermaßen lieb gewesen waͤre, den Mangel des Holzes als einen Beweggrund zu dieser sonderbaren Lebensart vorschuͤtzen zu koͤnnen.

R ... wurde in diesem Zustande auch von seinen Freunden nicht gestoͤrt, weil er gegen diese oft den125 Wunsch geaͤußert hatte, daß er nur einmal ein paar Wochen lang ganz einsam zu seyn wuͤnschte.

Nun hatte aber dieser Zustand eine sonderbare Wirkung auf R.. : die ersten acht Tage brachte er in einer Art von gaͤnzlicher Abspannung und Gleichguͤltigkeit zu, wodurch er den Zustand, den er vergeblich zu besingen gestrebt hatte, nun gewissermaßen in sich selber darstellte. Er schien aus dem Lethe getrunken zu haben, und kein Fuͤnkchen von Lebenslust mehr bei ihm uͤbrig zu seyn.

Die letztern acht Tage aber, war er in einem Zustande, den er, wenn er ihn isoliert betrachtet, unter die gluͤcklichsten seines Lebens zaͤhlen muß.

Durch die lange fortdauernde Abspannung hatten sich allmaͤlig die schlafenden Kraͤfte wieder erholt.

Sein Schlummer wurde immer sanfter; durch seine Adern schien sich ein neues Leben zu verbreiten; seine jugendlichen Hofnungen erwachten wieder eine nach der andern; Ruhm und Beifall kroͤnten ihn wieder; schoͤne Traͤume ließen ihn in eine goldne Zukunft blicken. Er war von diesem langen Schlafe wie berauscht, und fuͤhlte sich in einem angenehmen Taumel, so oft er von dem suͤßen Schlummer ein wenig aufdaͤmmerte.

Sein Wachen selber war ein fortgesetzter Traum, und er haͤtte alles darum gegeben in diesem Zustande ewig bleiben zu duͤrfen.

Jnhalt.

1

Seite

  • Ueber den Plan des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde.
    • Auszug aus einem Briefe an den Herausgeber, von Herrn Salomon Maimon. 1
  • Zur Seelennaturkunde.
    • 1. Wirkung des Denkvermoͤgens auf die Sprachwerkzeuge, von Herrn Salomon Maimon. 8.
    • 2. Schreiben uͤber[ Taͤuschung] und besonders vom Traume, von Herrn Veit. 17
    • 3. Ueber Selbsttaͤuschung, von dem Herausgeber. 32
    • 4. Ueber Selbsttaͤuschung. Jn Bezug auf den vorhergehenden Aufsatz. Von Herrn Salomon Maimon. 38
    • 5. Anmerkungen und Berichtigungen zu dem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Vom Herrn van Goens. Aus dem Franzoͤsischen uͤbersetzt. 51
    • 6. Die Leiden der Poesie, von dem Herausgeber. 108

About this transcription

TextGnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde
Author[unknown]
Extent126 images; 24169 tokens; 5255 types; 162059 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Christof WingertszahnSheila DicksonGoethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-StiftungUniversity of GlasgowNote: Erstellung der Transkription nach DTA-RichtlinienNote: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2015-06-09T11:00:00Z Matthias BoenigDeutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu BerlinNote: Konvertierung nach DTA-Basisformat2015-06-09T11:00:00Z UB Uni-BielefeldNote: Bereitstellung der Bilddigitalisate2015-06-09T11:00:00Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationGnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte achten Bandes drittes Stück Karl Philipp Moritz, Carl Friedrich Pockels, Salomon Maimon (eds.) . MyliusBerlin1791.

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Universitätsbibliothek Bielefeld UB Bielefeld, 2097611

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Psychologie; Wissenschaft; Psychologie; ready; dtae

Editorial statement

Editorial principles

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