PRIMS Full-text transcription (HTML)
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Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Neunten Bandes zweites Stuͤck.

Zur Seelennaturkunde.

1. Selbstmord aus Rechtschaffenheit und Lebensuͤberdruß.

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Der Faͤlle, wo ein Selbstmord nicht aus Leidenschaft und Uebereilung veruͤbt wird, giebt es so wenige, daß derjenige Fall vorzuͤglich die Aufmerksamkeit des Beobachters zu verdienen scheint, wo Vernichtung sein selbst in dem Plane eines Mannes lag; wo die Seele sich mehrere Jahre an der Hinsicht nach jenem Zeitpunkte labte, in welchem ein rascher Schritt sie von der Quaal befreien wuͤrde, die sie zernagte, wo der Gedanke: die Thuͤre steht offen, ich kann gehen, wenn ich will, das einzige war, was den Mann, der ihn hegte, in Thaͤtigkeit erhielt;2 und wo die That mit einer Seelenruhe ausgefuͤhrt wurde, die nur die Folge einer langen und reifen Ueberlegung seyn kann.

Den Mann, von dem ich spreche, lernte ich vor mehreren Jahren*)*) Zur Schonung der noch lebenden Familie erlaube man mir, Namen, Ort und Jahrzahl zu verschweigen; ob ich mich gleich erbiete, jedem, dem darum zu thun ist, die Geschichte umstaͤndlicher zu erzaͤhlen. kennen. Seine Einsichten in Geschichte und Geographie zogen mich an ihn, so sehr mich auch sein Aeußeres und die Verschiedenheit unsers Alters von ihm abschreckte. Er war damals zwischen seinem zwei und drei und vierzigsten Jahre, und sein Aeußeres war, wie gesagt, nichts weniger als empfehlend. Sein langer hagerer Koͤrper wurde von zwei duͤnnen Beinen getragen, deren Fuͤße sich in ein Paar Ballen endigten, die mehr als gewoͤhnlich, nach innen zu, hervorragten. Sein rundes, braungelbes Gesicht hatte durch den starken schwarzen Bart, die kurze Stirne, die schwarzen kleinen aber aͤußerst feuerigen Augen, und durch ein Paar, an der linken untern Kinnlade befindliche Warzen, ein ungemein finsteres Ansehn. Auch hatte sein Gespraͤch fuͤr einen jungen Menschen gewoͤhnlich nichts Anziehendes. Es war kalt und abgemessen.

Je naͤher ich ihn aber kennen lernte, je mehr schaͤtzte ich ihn, wegen seiner Rechtschaffenheit, sei -3 ner Offenheit, und der gelassenen Duldung mancherlei Leiden. Freilich schien das letztre ihm nicht ganz zum Verdienst angerechnet werden zu koͤnnen, indem Schmerz und Freude, vermoͤge seines melankolischen Temperaments, nur geringen Einfluß auf ihn hatten, und er, vermoͤge seines Standes, an den Lustbarkeiten der großen Welt und ihren Begriffen nicht den mindesten Antheil nahm. Aber wenn er an dem Vermaͤhlungstage seiner aͤltesten Tochter die Nachricht davon mit einem Jnteresse las, das genugsam die geringe Theilnahme an der Feierlichkeit des Tages verrieth; wenn er am Sterbebette eben dieser Tochter mit eigner Hand ein Paket zeichnet, das nach der Post sollte und 6 Pf. gekostet haben wuͤrde, wenn es dort gezeichnet worden waͤre, so thut man ihm Unrecht, diese Gleichguͤltigkeit fuͤr Kaͤlte, und diese Kaͤlte ganz fuͤr Temperamentsfehler auszugeben. Sie war groͤßtentheils Prinzip, Vorsatz. Aus den Lehren der Stoiker, die ihm bekannt waren, nahm er den Satz heraus: der Mensch muͤsse alles anwenden, um vom Einflusse der aͤußern Dinge unabhaͤngig zu seyn, und sein ganzes Leben war ein stetes Bestreben der Natur, die ihm zu dieser Unabhaͤngigkeit die Hand bot. Er hatte es auch hierin wirklich auf[ einen] hohen Grad gebracht. Er, fuͤr sich, hatte nur wenige, nur leicht zu befriedigende Beduͤrfnisse.

Aber da er verheirathet war, und sechs Kinder hatte, die eben so wenig als seine Frau von ihm4 nach seinen Grundsaͤtzen behandelt werden konnten, noch sich behandeln lassen wollten; so mußte er Dinge unternehmen, die mit seiner Rechtschaffenheit stritten, ihn in seinen Augen veraͤchtlich machten, und ihm das Ende seines Lebens als wuͤnschenswerth vorstellten.

Er war naͤmlich Kaufmann; aber da ein reeller Handel, bey der Mittelmaͤßigkeit seiner Gluͤcksumstaͤnde, lange nicht hinreichend war, seine zahlreiche Familie zu ernaͤhren, und die immer erneuerten Wuͤnsche seiner Frau zu befriedigen; so ward er Schleichhaͤndler. Mit der Zunahme seines Vermoͤgens, mit der sichtlichen Vergroͤßerung seines Wohlstandes, nahm seine Gemuͤthsruhe merklich ab; und der Mann, der vormals nur gegen das Keifen einer Frau zu kaͤmpfen hatte, hatte jetzt, durch die Befriedigung dieser, einen weit haͤrtern Kampf zu bestehen sein Gewissen klagte ihn an und verdammte ihn.

» Jch bin ein schaͤdliches Mitglied des Staats, sagte er mir oft mit innigster Erschuͤtterung. Die Gesetze desselben sind mir heilig, und ich verletze sie, bin gezwungen sie zu verletzen. Jch weiß, daß es nicht gut gehn kann, und uͤber kurz oder lang meine Schande an den Tag kommen muß. «

» Doch, setzte er einst hinzu, nicht die Furcht vor Entdeckung beunruhigt mich, sondern die That5 selbst. Der Strafe, die der Entdeckung folgt, kann ich leicht entgehn, aber nicht dem Bewußtsein sie zu verdienen. Und als ich fragte, wodurch er glaubte der Strafe entgehn zu koͤnnen, sagte er: es giebt einen Zustand, wo alle Vertraͤge aufhoͤren, und dieser Zustand ist der Tod. Jch werde ihn ergreifen, sobald ich vor Gericht erscheinen muß, und wuͤnsche ihn sobald als moͤglich ergreifen zu muͤssen. «

» Wenn ich meine Familie ernaͤhren soll, muß ich stets die jetzige Lebensart fuͤhren; aber ich kann sie nicht fuͤhren, ohne ungluͤcklich zu seyn. Es kaͤmpfen Pflichten gegen Pflichten in mir. Meine Frau, meine Kinder fordern meinen Beistand, aber der Staat meine Treue. Jch kann nicht beiden zugleich Genuͤge leisten, und werde dem unterliegen. «

» Uebrigens weiß ich auch nicht wozu ich lebe. Jch kenne meine Bestimmung hienieden nicht; und so viel ich aus der Analogie schließen kann, ist die Bestimmung des Menschen die der Thiere und Pflanzen. Sie werden geboren, wachsen und sterben. Sterben, ohne Bewußtsein von ihren Thaten hienieden zu behalten. Wozu die Quaal, wozu der Harm in diesem Leben? «

» Haͤtt 'ich nicht Frau, nicht Kinder, waͤre das Schicksal dieser nicht mir anvertraut, laͤge mir nicht ob, die Pflichten des Gatten und des Vaters zu erfuͤllen; ich fuͤr mich wuͤrde die beiden Enden meines Lebens schon laͤngst naͤher an einander gebracht6 haben. Nur der Gedanke, daß ich meine arme, huͤlflose Familie durch meinen Tod ungluͤcklich machen werde, haͤlt mich noch im Leben zuruͤck. Aber sobald ich entdeckt werde, sobald durch die Festungsstrafe, die auf der Entdeckung steht, meiner Frau der Mann, meinen Kindern der Vater doch geraubt wird, warum sollte ich einen Augenblick anstehen, mich mir selber zu rauben? «

» Und wohl mir, daß ich das kann; daß die Thuͤre offen steht und ich gehen kann, wenn ich will. Dadurch bin ich im Stande, meine Pflichten einigermaßen gegen meine Familie und den Staat zu erfuͤllen. Jch arbeite fuͤr jene aus allen Kraͤften, und befreie diesen am Ende von einem ungesunden Gliede durch meinen Tod. «

Er hielt Wort. Jm Jahre wurden die Befehle wegen des Schleichhandels erneuert und geschaͤrft. H. hatte einen großen Transport Waaren von der Messe zu erwarten, die alle fuͤr fremd erkannt werden mußten, sobald eine genaue Nachsuchung angestellt wuͤrde. Werden sie dafuͤr erkannt werden, so ist der Verlust der Waaren und die Erlegung einer schweren Geldsumme oder Festungsstrafe das Schicksal, das ihm bevorsteht.

Er erwartete es mit der Geduld eines Mannes, der nichts zu verlieren, und auf alle Faͤlle einen Ausweg hat, der nicht fehlen kann.

Die Zeit, die zwischen der Nachricht von der Absendung der Waaren und ihrer Ankunft verfloß,7 ging er oft im T.. G.. spatzieren; immer nach einem Orte, wo ein Arm der S.. eine Art von Zunge bildet. Er ging dahin, gleichsam, um sich mit dem Orte vertraut zu machen, an dem er sein Leben beschließen wollte.

Er sprach diese Tage groͤßtentheils von Unsterblichkeit der Seele, und von der Unzulaͤßigkeit aller Beweise fuͤr dieselbe. Des Selbstmordes, den er sonst mit vieler Waͤrme zu vertheidigen pflegte, erwaͤhnte er dieser Tage mit keinem Worte, so gern er auch sonst davon sprach, und so sehr auch Personen, die mit ihm umgingen, auf dieses Gespraͤch leiteten. Fuͤhrten seine Betrachtungen uͤber Unsterblichkeit auf Selbstmord, so lenkte er ein.

Die Waaren kamen an, wurden angehalten und er vor Gericht gefordert. Er schickte seinen Schwiegersohn voraus, und versprach, ihm mit seinem aͤltesten Sohne bald zu folgen.

Um drei Uhr Nachmittags traf ich ihn mit diesem Sohne auf der Straße. Er redete mich an, und unterhielt sich mit mir ebenfalls wieder von dem Gegenstande, der ihn, wie gesagt, die letzten Tage seines Lebens am meisten beschaͤftigte: von Unsterblichkeit der Seele.

Am Schloßplatze sagte er seinem Sohne, er solle nur allein gehn; er habe noch ein Geschaͤft abzumachen, das seine Gegenwart erfordere, und da er nicht wisse, wie bald er von dem bevorstehenden Verhoͤre werde befreit werden, wolle er es noch vor8 demselben abmachen. Jch wollte ihn ein Ende begleiten, aber er verbat es, indem er mir durch eine Gebaͤrde zu verstehen gab, wohin er gehen wollte.

Als er sich schon von uns entfernt hatte, sahe ich ihn zu seinem Sohne zuruͤckkommen, und ich erfuhr nachher, daß er ihm seine Taschenuhr gab, weil sie ihm bei dem vorhabenden Geschaͤft aus der Tasche fallen koͤnnte.

Gegen zehn Uhr Abends brachte ein Unbekannter einen Zettel an seinen Schwager, des Jnhalts: Er haͤtte sich entfernt, um das Ende des Prozesses abzuwarten; man sollte sich keine Muͤhe geben ihn zu finden, weil diese Muͤhe vergeblich sein wuͤrde. Sollte der Ausgang des Prozesses schlimm ausfallen, so empfehle er ihm (seinem Schwager) seine Frau als Schwester und seine Kinder als Neffen.

Der Schwager, mit dem er nie uͤber seine Absicht, sich zu entleiben, gesprochen hatte, legte den Sinn des Zettels buchstaͤblich aus, vertroͤstete seine Schwester, schwieg, und bat sie zu schweigen.

Er waͤre bei schnellen Anstalten vielleicht zu retten gewesen, denn Leute wollten ihn noch um neun Uhr Abends gesehn haben. Sein Schicksal wollte das nicht. Man fand ihn den andern Morgen tod in eben dem Arm der S.., bei dem er gewoͤhnlich spatzieren ging, voͤllig angekleidet liegen. Um den Leib hatte er einen neuen Strick geschlungen, und das Ende desselben an einen Baum befe -9 stigt wahrscheinlich, um nicht vom Strome fortgetrieben zu werden.

Den Hut fand man in einiger Entfernung schwimmen. Der Bauch war vom Wasser aufgetrieben und die Augen gebrochen; angewandte Huͤlfe war vergeblich.

Jn einem Zettel, den man in seiner Tasche fand, bat er, man solle ihn unentkleidet beerdigen. Man gab seiner Bitte Gehoͤr. Frau und Kinder waren untroͤstlich, und die Kaufmannschaft beweinte in ihm den Verlust eines Mannes, der nur in einem gefehlt hatte, aber uͤbrigens ein rechtschaffner ehrlicher Biedermann gewesen war.

Personen, die seinen Vater gekannt haben, versichern, daß dieser ebenfalls einen Versuch gemacht habe, sich den Hals abzuschneiden, aber durch das Hinzukommen einer Frau verhindert worden sei, den Schnitt so stark zu machen, um unheilbar zu sein. Auch soll er die Frau hart mit den Worten angelassen haben: ich kann nicht begreiffen, wodurch das Weib das Recht, mir verbieten zu wollen, daß ich mir in meinen Hals schneide?

4L. Bendavid.

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2. Fortsetzung des Aufsatzes uͤber Taͤuschung und besonders vom Traume. *)*) Dieser Aufsatz, der bei allem Mangel an Einheit des Prinzips sehr scharfsinnige Bemerkungen enthaͤlt, verdient hier allerdings eine Stelle. Jch habe durch einige beygefuͤgte Anmerkungen die Jdeen des Verfassers zu berichtigen, und mit den Meinigen gegeneinander zu halten gesucht, wodurch der denkende Leser sie zu beurtheilen ehr im Stande seyn wird.6S. M.7 (S. 8ten Bandes 3tes St. S. 17.)

Aus den Gruͤnden, welche bisher vorgetragen worden, kann nun folgendes hergeleitet werden. Wenn die Einbildungskraft regiert, Bilder sehr lebhaft malt, Begebenheiten mit Nachdruck schildert, und die hoͤheren Seelenkraͤfte unterdruͤckt, dann ist sie, wenn das Bewußtsein zugleich unvollkommen ist, auch taͤuschend, weil die Spur der vorhergegangenen Jdeenreihe, mithin das Kennzeichen von der innern Erzeugung einer Vorstellung oft verlohren geht, der auch die Ungereimtheiten, wegen der Schwaͤche Vernunft und des Verstandes, nicht auffallen koͤnnen. *) *) Aber warum wird die Einbildungskraft wegen ihrer Lebhaftigkeit taͤuschend? Sich taͤuschen, heißt, dasjenige, was nicht wirklich ist, fuͤr wuͤrklich zu halten. Nun ist aber, der Erklaͤrung des Verfassers zur Folge, die Unterbrechung einer Jdeenreihe, das Merkmal der Wirklichkeit, so wie umgekehrt das Bewußtsein der Erzeugung der Jdeen aus einander, nach dem Gesetze der Assoziation, das Merkmal der Nichtwirklichkeit[.]Jm Traume aber, da die Seele gaͤnzlich außer sich geraͤth, und sich bloß mit den ihr vorschwebenden Bildern beschaͤftigt, urtheilt man so wenig von der Wirklichkeit als von der Nichtwirklichkeit dieser Bilder, ihre Folgen in Ansehung des Subjekts sind immer eben dieselben. Nach dem Aufwachen urtheilt man zwar, dieser Erklaͤrung zufolge, durch Erinnerung der Ununterbrechung dieser Reihe, daß sie blos subjektiv (nicht[ wirklich]) war. Aber wo ist hier die Taͤuschung? Hat man sie denn im Traume fuͤr Objektiv gehalten? das kann nicht sein, da man in ihr keine Unterbrechung (das nach dem Verfasser Merkmal der Objektivitaͤt oder Wirklichkeit ist) wahrgenommen hatte. Man hat also nicht im Traume dasjenige fuͤr wirklich gehalten, was man im Wachen fuͤr Nichtwirklich erkennt, d.h. man hat sich nicht getaͤuscht.Meiner Erklaͤrung (9ten Bandes 1tes St. S. 2.) zu Folge hingegen, beruht das Urtheil von der Objektivitaͤt der Jdeen auf dem Bewußtsein der Selbstmacht der Seele, die Association der Jdeen zweckmaͤßig zu bestimmen. Die Richtigkeit dieses Bewußtseins aber kann nicht an sich, sondern bloß durch aͤußere Merkmale erkannt werden, nehmlich durch die Uebereinstimmung mit der Ordnung der Natur, ohne welche keine Zweckmaͤßigkeit gedacht werden kann. Folglich kann man allerdings im Traume, da die Urtheilskraft unthaͤtig, und nur die Einbildungskraft allein thaͤtig ist, glauben, daß man diese Selbstmacht besitze (so wie der Stein, der vom Dache herunter faͤllt, der mit Bewußtsein begabt, von den Gesetzen der Schwere aber nichts wissen wuͤrde, dem Spinoza zu Folge, diese Handlung fuͤr freiwillig halten muͤßte), nach dem Aufwachen aber, kann man durch Erinnerung der Unzweckmaͤßigkeit der Jdeenfolge, oder ihre Unuͤbereinstimmung mit der Ordnung der Natur, diese Taͤuschung leicht entdecken.10S. M.

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Daß aber die bloße Anlage zur Jdeenherrschaft, und ein unvollkommnes Bewußtsein an und fuͤr sich12 hinreichend sei, der Einbildungskraft die Staͤrke zu[ verleihen,] welche sie besitzen muß, wenn sie Bilder sehr lebhaft malen, Begebenheiten mit Nachdruck schildern, und die hoͤhern Seelenkraͤfte unterdruͤcken soll. Dieses ist es, welches noch eine deutliche Auseinandersetzung erfodert, und zwar um so mehr, da uns auch bei vollkommner Besonnenheit, und waͤhrend dem Wachen zuweilen Bilder vor den Augen schweben, deren Erzeugung in uns, uns auf keine Art bekannt ist, von denen wir gleichwohl wissen, daß sie bloße Gedankendinge sind; wie dieses am haͤufigsten geschieht, wenn wir im Finstern sitzen; denn da die Bilder die Lebhaftigkeit nicht haben, welche ihnen die wahre Natur verleiht, so erkennen wir aus dem Mangel an Lebhaftigkeit, und13 aus Vernunftgruͤnden den Mangel einer wahren Wirklichkeit. Es muß demnach die Ursache angegeben werden, warum bei einem unvollkommenen Bewußtsein, also auch im Traume, von dem wir hier vorzuͤglich handeln, die Einbildungskraft einen weit hoͤhern Grad von Staͤrke hat, die hoͤhern Seelenkraͤfte aber einen weit geringern haben, wenn unsre Behauptung erwiesen sein, und die Entstehung einer Taͤuschung sich erklaͤren soll.

Mehrentheils setzt man die Ursache, warum im Traume die Einbildungskraft so außerordentlich herrschend ist, in den beinahe gaͤnzlichen Mangel der sinnlichen Empfindung, der in diesem Zustande vorhanden ist. Allein es fraͤgt sich: warum erhalten nicht durch den Mangel an sinnlichen Empfindungen auch die hoͤhern Seelenkraͤfte einen hoͤhern Schwung? *)*) Diese Frage habe ich schon im gedachten Aufsatze auf folgende Art beantwortet. Jm Schlafe verliert der Koͤrper seine zur Wirksamkeit der Seele (nach der bekannten Harmonie zwischen Seele und Koͤrper) erforderliche Spannung. Jm Traume bekommt er zum Theil diese Spannung wieder. Die Einbildungskraft zeigt sich alsdann thaͤtig in Ansehung derjenigen Associationsarten, die keine Selbstmacht der Seele erfordern (der Aehnlichkeit, Konsistenz und Sukzession), d.h. solcher, worin die associirten Jdeen schon durch die aͤußern Objekte bestimmt werden, nicht aber in Ansehung der Associationsart der nothwendigen Dependenz (von Grund und Folge), die eine Selbstmacht der Urtheilskraft erfordert, welche der Grund der Zweckmaͤßigkeit der Jdeenreihe ist. Trift es sich aber zufaͤlligerweise zu, daß diese beiderlei Associationsarten in ihrer Wuͤrkung uͤbereinstimmen, alsdann wird nicht nur die Einbildungskraft, sondern auch die hoͤhern Seelenkraͤfte in Wirksamkeit gesetzt. Man geraͤth alsdann wirklich auf neue Erfindungen in Wissenschaften, auf Aufloͤsungen schwererer Probleme u. dergl. Da aber der Fall sich sehr selten ereignet, daß z. B. die Associationsart der Konsistenz mit der der Dependenz in den Objekten uͤbereinstimmen sollen, so darf freilich niemand darauf Rechnung machen, und jeder thut daher am besten, wenn er seine Untersuchungen huͤbsch wachend anstellt. Der Verfasser scheint (ob zwar mit Umschweif) eben dasselbe zu sagen.12S. M. warum sinken sie vielmehr so tief14 herab, daß wir im Traume alle die Ungereimtheiten im Ernste glauben, welche uns darin vorkommen. Warum verhaͤlt es sich nicht vielmehr gerade so, als wenn wir im Finstern saͤßen; denn nicht blos die Einbildungskraft, sondern auch die hoͤhern Seelenkraͤfte leisten alsdann ihre Funktionen besser, so daß viele denkenden Koͤpfe, und besonders viele Englaͤnder, sich des Nachts ins Finstere setzen, oder den Eingang des Lichts bei hellen Tagen verhindern, um eine Spekulation besser durchzudenken. Folgende Bemerkungen werden, wie ich glaube, auf den rechten Weg leiten, und die wahre Ursache anzeigen.

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Jeder sinnliche Begrif wird jederzeit von der Vorstellung eines Bildes oder einer Anschauung begleitet. Man wird z. B. den Namen eines Menschen nicht aussprechen koͤnnen, oder auch, man wird nicht an ihn denken, ohne daß uns in demselben Augenblicke sein Bild, und im Falle er uns unbekannt ist, ein Jdeal, das wir uns von ihm entworfen haben, vorschweben sollte. Eben so verhaͤlt es sich, wenn wir die Ausdruͤcke: Wasser, Feuer, Regen, Bewegung, Auf - und Niedergang, Hoͤlle oder Paradies u.s.w. nennen hoͤren, oder auch an diese Begriffe denken. Wir haben immer ihre Bilder oder die Jdeale, welche wir uns von ihnen machen, eine auffallende Wuͤrkung oder eine sinnliche Veraͤnderung derselben, im Sinne.

Die Fortschritte der Vernunft, und die Aufhellungen, welche der Verstand verschaft, werden hierdurch theils befoͤrdert theils gehindert; befoͤrdert, weil die bloße Vorstellung des Bildes und der Anschauung, wenn sie nicht Jdeale sind, die Beweise von der Moͤglichkeit und Anwendbarkeit der Begriffe mit sich fuͤhrt, und man also, wie dieses bei dem vollkommen unsinnlichen der Fall ist, zu erforschen noͤthig hat, ob der Begrif auch vom Widerspruche frei sei, ob er auf irgend einen Stoff bezogen werden kann, und ob sich eine praktische Anwendung von demselben denken laͤßt.

Es werden hingegen die Operationen der Vernunft und des Verstandes dadurch gehindert, weil16 die Bilder und Anschauungen unsre Aufmerksamkeit zu sehr auf sich ziehn, und wir sowohl wegen der Staͤrke des Eindrucks, als auch wegen des Vergnuͤgens, welches ihre Betrachtung oft gewaͤhrt, so lange bei ihnen verweilen, bis uns die Verbindung der vorhergegangenen Jdeen, der Zweck, weswegen wir jede Jdee herbeigerufen haben, und die Absicht der ganzen Untersuchung nicht mehr deutlich beiwohnt. Auch bringen die Anschauungen und Bilder alles das wieder in die natuͤrliche Ordnung; sie verbinden, was der Verstand um Deutlichkeit zu bewuͤrken getrennt, oder trennen, was er verbunden hat.

Bei Erlernung einer Wissenschaft, oder wenn wir eine eigne Untersuchung zu Ende bringen wollen, erregen die sinnlichen Vorstellungen die oben geruͤgten Schwierigkeiten, dahingegen die unsinnlichen und abstrakten, Zweifel uͤber ihre Moͤglichkeit und Anwendbarkeit erwecken, und noch uͤberdies von sinnlichen Vorstellungen leicht verdraͤngt werden.

Die einzige Wissenschaft, welche hierin eine Ausnahme macht, ist die Geometrie, ihre allgemeinen sowohl, als ihre besondern Begriffe, sind selbst Anschauungen; Begriffe und Anschauungen fallen also in derselben in einander, so daß die Vernunft und der Verstand, durch die Betrachtung der letzteren gar nicht gestoͤrt, wohl aber sehr beguͤnstigt wird.

Es erklaͤrt sich hieraus eine Wahrnehmung, welche in den vortreflichen Briefen, die neueste Litte -17 ratur betreffend, vorkommt; daß man nicht denjenigen, der die Metaphysik oder auch irgend eine praktische Wissenschaft nicht versteht, sondern denjenigen fuͤr dumm haͤlt, der die Anfangsgruͤnde der Geometrie nicht zu fassen vermag. Um nun eine andre Wissenschaft als die Geometrie zu erlernen, ist es nicht genug, daß man den Grad von hohen Seelenkraͤften besitzt, der dazu erfordert wird, sondern man muß auch den Hindernissen entgegenarbeiten, welche die Einbildungskraft auf Veranlassung der sinnlichen Begriffe verursacht, und die Schwierigkeiten aus dem Wege raͤumen, welche durch die Zweifel der Vernunft bei Gelegenheit der unsinnlichen, als: Zweck, Ursache, Wesen u.s.w. entstehn. Hingegen muß derjenige, welcher die Anfangsgruͤnde der Geometrie nicht zu begreifen vermag, schlechterdings den Grad der hoͤhern Seelenkraͤfte nicht besitzen, der zur Erlernung derselben gehoͤrt; weil er keine Schwierigkeiten, die von den Seelenkraͤften selbst herruͤhren, zu uͤberwinden hat, und ist daher in Absicht des Grades von Verstand und Vernunft, der zu Erlernung der Geometrie erfordert wird, dumm.

Also bestaͤtigt die besondre Bemerkung, welche aus den Litteraturbriefen angefuͤhrt worden, die Richtigkeit der vorhin angezeigten Bemerkung: daß den Fortschritten der Vernunft ihre eignen Zweifel und die Operationen der Einbildungskraft im Wege liegen; dahingegen die Einbildungskraft unaufhalt -18 sam ihren Lauf vollfuͤhrt, ohne daß sie die hoͤhern Seelenkraͤfte stoͤren koͤnnten. Sie ist demnach in Absicht derselben die herrschende.

Es werden aber die vorher geruͤgten Schwierigkeiten dennoch uͤberwunden, Betrachtungen durchgesetzt, Wissenschaften erlernt und erfunden; es muß also in dem Menschen etwas vorhanden sein, womit er den hoͤhern Seelenkraͤften aufhelfen, und die Einbildungskraft im Zaume halten kann; und dieses ist: die Macht des Vorsatzes. Wir haben eine Macht, unsre Vorstellungen nach eignem Belieben zu leiten, zu verstaͤrken, und den staͤrkern wiederum einen Theil ihrer Kraft zu benehmen. Ohne diese Kraft wuͤrden wir in der That nichts als Bilder und Anschauungen und niemals Begriffe im Sinne haben, noch weniger wuͤrden wir zusammenhaͤngend denken; blos mittelst dieser Macht ist es uns moͤglich dem Zwecke treu zu bleiben, und den Ausschweifungen der Einbildungskraft Einhalt zu thun; demnach ist die Einbildungskraft in Absicht der hoͤhern Seelenkraͤfte zwar die herrschende, kann aber durch die Macht des Vorsatzes im Zaum gehalten werden.

Aber der Gebrauch, welchen wir von unserem Vermoͤgen machen, unsre Vorstellungen nach eigenem Belieben zu leiten, zu staͤrken oder zu schwaͤchen, haͤngt von der Kenntniß ab, die wir von diesem Vermoͤgen haben; je mehr wir unser Jch fuͤhlen, je mehr wir dieses Jch als eine Quelle unsrer Vor -19 stellungen ansehn, je mehr wir uͤberzeugt sind, daß wir kein bloßes leidendes Wesen sind, welches seine Vorstellungen blos empfaͤngt, sondern zum Theil selbst hervorbringt; und endlich, je mehr wir den Werth kennen, welchen unsre Vorstellungen durch die Leitung, die wir ihnen geben, erhalten, desto lebhafter werden wir angefeuert, unsre Vorstellungen zu regieren, und so auch umgekehrt, je weniger das eine statt hat, je weniger hat es auch das andre.

Nach sinnlichen Empfindungen, unter die sich nur wenige Geistesthaͤtigkeit mischt, entsteht eine Geistesstockung, wir gerathen in eine Art von Fahrlosigkeit, wir verlieren den Muth auf unsre Vorstellung zu wirken, weil wir uns als ein leidendes Ding betrachten; auch ist in diesem Zustande die Einbildungskraft außerordentlich herrschend. Junge, guthmuͤthige und scharfsinnige Leute verlieren nicht nur durch wiederholte Demuͤthigungen, welche ihnen von vermeintlichen Freunden zugefuͤgt worden, alle Geisteskraͤfte, werden unselbststaͤndig, so daß man sie leiten kann, wie man will, sondern man merkt auch an ihren Gebehrden und an ihrem Betragen, daß sie der Einbildungskraft unterjocht worden; sie steigen aber wiederum zu ihrer ehemaligen Geisteshoͤhe hinauf, wenn sie einsehn, daß die Demuͤthigungen nur arglistige Kunstgriffe waren, um sie in ihren eigenen Augen zu verkleinern, und bekommen alsdann einen festen unerschuͤtterlichen20 Sinn. Wenn ich nicht irre, so hat der Hr. Prof. Garve diese Bemerkung irgendwo mit eingewebt, aber die Sache ist gewiß, ich bin aus unstreitigen Erfahrungen davon uͤberzeugt.

Aus allen dem erhellet, daß in dem Zustande eines unvollkommnen Bewußtsein, worin wir unser Jch nicht gehoͤrig fuͤhlen, die Gedankenreihe, welche sich in uns erzeugt, die Gewalt, welche wir uͤber unsre Jdeen auszuuͤben vermoͤgen, nur wenig kennen, worin ferner eine Stimmung zu herrschenden Jdeen gegeben ist, und also Bilder und Anschauungen statt haben koͤnnen; auch Bilder und Anschauungen, welche die Begriffe begleiten, in der That herrschend werden, und eine außerordentliche Kraft bekommen; so daß die Einbildungskraft allein walten, und die Funktionen der hoͤhern Seelenkraͤfte unterdruͤcken muß, weil der Vorsatz, der allein die Gewalt hat, den Bildern und Ausschweifungen ihre Kraft zu benehmen, und dem leichten Gewebe der Vernunft und des Verstandes Dauer zu verschaffen nicht regiert.

Da nun schon vorhin bewiesen worden, daß in dem Zustande eines unvollkommenen Bewußtseins, oder wie wir das genannt haben, in dem Zustande eines schwebenden Jchs, die Bilder und Anschauungen einer herrschenden Einbildungskraft taͤuschend werden, so ist auch nunmehr unsre Behauptung erwiesen, daß der Zustand, darin herrschende Jdeen und ein schwebendes Jch statt haben, die Elemente21 zu einer taͤuschenden[ und] unterdruͤckenden Einbildungskraft enthaͤlt.

Es sind also hiermit die Bedingungen angegeben, unter denen jederzeit, mithin auch im wachenden Zustande, und zwar ohne alle Zerruͤttungen des Nervensystems, Taͤuschungen entstehen, ohne welche sie aber nur alsdann moͤglich ist, wenn in dem Nervensystem eine Zerruͤttung obwaltet. Denn ein unvollkommenes Bewußtsein muß vorhanden, die Spur von der Erzeugung eines Gedankendinges in uns muß fuͤr uns verlohren sein, wenn wir dieses Gedankending fuͤr ein außer uns bestehendes halten sollen; auch setzen Bilder und Anschauungen einen Zustand voraus, darin Jdeen herrschen koͤnnen. Diese Bedingungen sind aber auch hinreichend, weil bei einem unvollkommenen Bewußtsein die Erhoͤhung der Einbildungskraft, Heruntersetzung der hoͤhern Kraͤfte, und Verschwindung der Gedankenspur entstehn muß. Da nun in dem Traume das Vorhandensein eines unvollkommenen Bewußtseins dadurch gezeigt worden, weil er ein Mittelzustand ist, so ist die Entstehung einer Taͤuschung in demselben erklaͤrt.

Es ist jedoch die Erzeugung eines Mittelbewußtseins in einem Zustande, der zwischen dem Wachen und dem Schlafe faͤllt, noch deutlich zu machen, ohngeachtet sein Vorhandensein außer Zweifel ist. Um dieses besser zu thun, werde ich22 zufoͤrderst etwas uͤber das Bewußtsein uͤberhaupt sagen muͤssen.

Obgleich alle Vorstellungen, welche in uns erzeugt werden, oder welche wir von außen erhalten, das Wesen, welches sie hervorbringt oder aufnimmt, schon[ voraussetzen;] ob wir gleich eine Art von Erkenntniß von unserm Jch haben muͤssen, ehe wir gar eine Vorstellung haben koͤnnen; *)*) Jch glaube schwerlich; die Wahrnehmung des Jchs kann nur durch eine Vorstellung, d.h. eine Beziehung eines Merkmals auf sein Objekt erhalten werden, indem man dadurch zum Bewußtsein der Persoͤnlichkeit, oder Einheit des Subjekts zu verschiedenen Zeiten (zur Zeit der Bildung der zusammengesetzten Vorstellung des Objekts, und der einfachen Vorstellung als ihres Merkmals) gelangt.S. M. so haben wir dennoch erst alsdann ein Bewußtsein von unsrer Jchheit, wenn wir die Vorstellungen, welche in uns entstehn, wahrnehmen, und von ihnen einen Ruͤckblick auf die Quelle derselben, auf das Wesen, welches sie erzeugt, werfen. Die aͤußern sinnlichen Vorstellungen sind es gar nicht, welche uns unmittelbar auf das Wesen, welches sie aufnimmt, leiten.

Die Erfahrung bestaͤtigt diese Behauptung. Der gemeine Mann ist mehrentheils ein grober Realist; er kann sich davon keinen Begrif machen,23 daß er bloße Vorstellungen von aͤußern Dingen haben sollte; die aͤußern Dinge sind ihm Sachen, die sich ihm aufdringen. Er kann sich gar nicht darin finden, wenn er die Ausdruͤcke Erscheinung oder Vorstellung auf aͤußere Gegenstaͤnde anwenden hoͤrt. Das sind keine Erscheinungen oder Vorstellungen, sagt er, das ist, und indem er dieses sagt, pflegt er mit der Hand darnach zu greifen.

Man glaube nicht, daß der Grund hiervon in bloßen Mißverstaͤndnissen liegen moͤchte; man mache sich so verstaͤndlich als moͤglich, und man wird am Ende einsehn; der gemeine Mann sowohl, als viele unphilosophische Koͤpfe, finden in den Vorstellungen der aͤußern Gegenstaͤnde nichts, darin sie den Vorstellungen, welche sich in uns erzeugen, aͤhnlich waͤren; und dieses wuͤrde der Fall nicht sein koͤnnen, wenn die aͤußern Vorstellungen auf das Wesen, welches sie aufnimmt, unmittelbar fuͤhren[ sollten;] denn allerdings wuͤrde es sich bald zeigen, daß das Aufnehmen selbst eine Vorstellung ist, mithin auch der Ausdruck Vorstellung auf aͤußere Gegenstaͤnde bezogen werden kann.

So gewiß dieses aber auch ist, so gewiß wir durch den Anblick aͤußerer Gegenstaͤnde nicht unmittelbar auf unser Jch gefuͤhrt werden, weil dieses Jch gar nicht als etwas, das mit in Verbindung steht, betrachtet wird, so gewiß demnach aͤußere Vorstellungen kein unmittelbares Bewußtsein hervorbringen, so zuverlaͤßig ist es dennoch, daß der24 Ruͤckblick auf eine Urquelle, mithin in unserm Falle der Ruͤckblick auf die Quelle unsrer Vorstellungen, auf unser Jch vorzuͤglich durch die aͤußern Empfindungen gewirkt wird.

Vorstellungen, welche sich in uns erzeugen, Jdeenverbindungen, davon die Verbindung jederzeit unser Werk ist, enthalten den Keim, der zum Bewußtsein gehoͤrt, *)*) So wenig die Vorstellungen, die sich in uns erzeugen (welche bloße Formen der Erkenntniß sind), als die wir blos empfangen, sind zum Bewußtsein hinreichend. Jene, da sie allgemeine Formen sind, liefern zwar ein Bewußtsein[ uͤberhaupt, uͤberberhaupt] keinesweges aber ein Bewußtsein der Jndividualitaͤt (siehe meines Woͤrterbuchs, Art. Jch), diese liefern an sich gar kein Bewußtsein; sondern die Beziehung beider aufeinander liefert uns, sowohl ein Bewußtsein der Objekte, als unsrer selbst. Denn ob schon die Formen allen Menschen gemein angenommen werden, so koͤnnen doch die Objekte, worauf sie bezogen werden, in verschiedenen Subjekten verschieden sein.15S. M. weil wir von allen diesen Dingen die Quelle sind; aber entwickeln kann sich dieser Keim nicht, es entsteht kein vollkommnes Bewußtsein, wenn sich nicht aͤußere sinnliche Empfindungen damit verbinden. Die innern Empfindungen und Gedankenreihen ziehn unsre Aufmerksamkeit auf sich, und lassen den Ruͤckblick auf die Urquelle nur25 schwach zu; dahingegen die aͤußern Empfindungen, wenn sie sich mit den ersten vereinigen, einen Ruͤckblick von diesen erstern auf die Urquelle derselben verursachen.

Es ist uͤberhaupt ein Naturgesetz, dessen Erklaͤrung zur Transcendentalphilosophie gehoͤrt: daß die aͤußeren sinnlichen Empfindungen den Ruͤckblick auf irgend eine Ursache, auf eine so maͤchtige als wunderbare Art befoͤrdern. Der Anblick eines gestirnten Himmels zaubert, so zu sagen, die Jdee eines Urhebers in uns hinein. Die Vernunftidee der Graͤnzlosigkeit nimmt durch diesen Anblick eine sinnliche Gestalt an, spinnt daher ein unbegreifliches Ganze auf eine unbegreifliche Urquelle alles Seins.

(Die Fortsetzung folgt im naͤchsten Stuͤck.)

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3. Uebergang des Aberglaubens in Wahnwitz. 16(Siehe 9ten Bandes 1stes Stuͤck S. 109.)

Anna Maria Sirkin, kleiner Statur und magerer Komplexion, auf dem Lande geboren, in der katholischen Religion und allem Aberglauben des rohesten Landvolkes erzogen, war seit ihrem 14ten Jahre, immer im ehelosen Stande, in der Stadt gewesen, und hatte dreizehn Jahre lang in meiner Eltern Hause als Koͤchin gedient. Jhrem Charakter nach war sie mißtrauisch, eigensinnig, zaͤnkisch, hatte ihre ganz eignen Launen, war wenig dienstfertig und floh die Menschen. Thaͤtigkeit war ihre Sache nicht, sie sprach wenig, und konnte Stundenlang sitzen ohne ein Glied zu ruͤhren, pflegte doch aber zwischenein vor sich etwas zu singen. Sie sparte mit aͤußerster Sorgfalt, und vielleicht war das die Ursache ihrer wenigen Geselligkeit. Andaͤchtig war sie nicht uͤbertrieben. Sie ging woͤchentlich einmal in die Kirche, und betete zu Hause ihren Rosenkranz und ihren Morgen - und Abendseegen richtig. Das war alles. Doch hatte sie eine so große Anhaͤnglichkeit an Pfaffen, besonders an Franziskanermoͤnche (die bekanntlich aller Orten die alleraberglaͤubigsten und vernunftlosesten sind), daß sie, trotz ihrem Geitze, alles hingab, sobald es Pfaffen27 galt. Was ihres Amtes war, that sie gehoͤrig und gut, und war uͤbrigens treu und ehrlich, und zeigte in Allem einen richtigen Verstand. Jhr Blut war schwarz und dick, so wie sie es jaͤhrlich zweimal aus der Ader ließ. Krank habe ich sie die ganze dreizehn Jahre nur einmal, an einem rheumatischen Zufalle, gesehen.

Was vorzuͤglich sie auszeichnete, war ein undenkbarer Aberglaube. Keine Geschichte von Gespenstern und Hexen konnte so abgeschmackt seyn, daß sie sie nicht glaubte. Poltergeister, Blutsauger, Besessene, Erdgnomen (unter dem Namen der kleinen Leutchen bekannt, die unter den Heerden wohnen, Kinder austauschen, und hundert andre schoͤne Saͤchelchen machen), Engel, die den Menschen zur Seite staͤnden, und sie vor Gefahren schuͤtzten, boͤse Geister, die den Menschen unsichtbare Netze umwerfen, Wunderkraͤfte geweihter Lichter und Palmzweige, gegen Donner, Hagel, Pestilenz, und Gott weiß was, Luͤgen beim Glockenkaufen zur Vermehrung des Klanges, Raͤthseldeuten beim Lichtgießen, Teufel, die sich in Gestalt von Jaͤgern oder Aerzten mit einem Pferdefuße bei Hochzeiten einschlichen, und waͤhrend des Tanzes gottlose Braͤute stehlen, diese waren der Stoff ihrer Gedanken, ihrer Betrachtungen, und machten einen wesentlichen Theil ihres Glaubens aus. Vor allen Dingen aber beschaͤftigte sie der Glaube an Hexen, Wahrsagerinnen, Teufelsbanner, Schatzgraͤber, Konstella -28 tionen, Talismanne, Wuͤnschelruthen, Chiromantia und Geomantia. Daher denn auch keine Walpurgis, keine Johannisnacht, da sie nicht sollte emsig gebetet, und vorher alle Kreuzwege sorgfaͤltig vermieden haben. Daher abenteuerliche Maͤrchen von Sabbatsorthen, vom Feste mit Bechern aus Eierschaalen u.s.w. *)*) Vielleicht der Vallholl der Barden, wo aus Muschelschaalen[ getrunken] ward. Segensprechungen, Beschwoͤrungen und Wahrsagungen waren ihr Hauptgegenstand. Wer mit dieser Kunst nicht anzukommen wußte, der durfte sich nur an sie wenden, und er fand Bezahlung. Dafuͤr, und fuͤr aberglaͤubige Pfaffen, die sie in ihrem Wahne bestaͤrkten, und ihres Vortheils wegen sich dazu der Religion, als eines Huͤlfsmittels bedienten, fuͤr die sparte sie und entzog sich das Nothwendige. War Etwas im Hause verlohren; so war die Kunst der[ Koffee-] oder Handbeschauerin, unterstuͤtzt auch wohl durch eine Messe zum heil. Antonius, der Nessusmantel, in den sie sich barg. Nichts war ihr lieber, als wann sie von solchen Leuten vor Nachstellungen gewarnt wurde, wann ihr gesagt wurde, ihr sei Etwas angethan, und Diese oder Jene sei eine Hexe und ihre Feindin. So wurde sie zuletzt mißtrauisch gegen Jedermann, und glaubte Jeder ginge damit um, sie zu bezaubern. Jch besinne mich, daß ich als Kind ein Vergnuͤgen darin setzte, sie von ihren al -29 bernen Jrrthuͤmern zu uͤberzeugen (mehrentheils wohl um mir durch thaͤtige Beweise den kuͤtzelnden Beifall geben zu koͤnnen, daß ich uͤber diese Thorheiten waͤre), allein ich richtete nie Etwas aus. Wer ihr beistimmte, der war ihr angenehm, und nie wurde sie gespraͤchiger, als wenn von dergleichen Dingen die Rede war, und man sich glaubend stellte. So lebte sie bis in ihr vierzigstes Jahr, da eine entscheidende Katastrophe sie ihrem 13jaͤhrigen Aufenthalte in meinem Hause, und meinen fernern Beobachtungen entzog. Jhr dank ich vorzuͤglich die Erfahrungen, die ich uͤber die Denkart und die Begriffe des Poͤbels gesammelt habe.

Jm Sommer des Jahres 85 war es, da ich eines Sonnabends Nachmittage diese abgebrochene Worte vor der Hausthuͤr zischeln hoͤrte: behext ... Keiner mehr was anthun .. dieses Kraut in der rechten Fikke .. Pulver. gut wider boͤse Menschen ...... auf ihrer Hut. uͤber acht Tage .. großes Ungluͤck in diesem Hause geschehen ..... Laͤnger konnte ich es nicht aushalten, ich merkte was vorginge, und wollte wissen, was da gesprochen wuͤrde, aber da wollte keines mit der Sprache heraus. Jch erblickte ein altes schmutziges Weib, das eben beschaͤftigt war eine Handvoll Geld in die Tasche zu schieben, und die Wunderglaͤubige, die sich mit einem Buͤndel duͤrres Kraut und einem Pulver in der Hand, in sichtbarer Verwirrung eiligst entfernte. 30Die Kanidia ward bald zum Hause hinausgewiesen, und so schien Alles ruhig zu sein.

Der erste Abend vergieng, Alles war wie gewoͤhnlich. Den zweiten und dritten Tag aber war sie stiller und mehr in sich gekehrt als gewoͤhnlich. Die folgenden Tage war ihr Blick schon wild und schielend, und man konnte es ihr ansehen, daß etwas Außerordentliches in ihr vorgehen muͤßte, doch aber suchte sie durch erkuͤnsteltes Laͤcheln allen Argwohn zu entfernen, und da man nicht etwas so Schreckliches vermuthete als die Folge zeigte, drang man auch nicht sehr in sie.

Donnerstag zeigten sich schon deutliche Spuren von Verwirrung; alle ihre Geschaͤfte gingen langwierig und verkehrt von Statten. Mit einer Rechnung, die sie ablegen sollte, konnte sie wider Gewohnheit nicht zu Stande kommen: sie wuste nicht wie viel oder wofuͤr sie Auslagen gemacht, und kurz, je naͤher der prophetische Tag heranruͤckte, desto kenntlichere Abdruͤcke von verwirrtem Verstande zeigten sich. Endlich erschien der Sonnabend, und nun war kein Zweifel mehr uͤbrig, daß es wirklich mit dem richtigen Gebrauch ihrer Vernunft zu Ende sei. Jn so weit hatte die Wahrsagerin sich also als Wahrsagerin bewiesen, und wenn es sich wirklich so mit allen Prophezeiungen verhaͤlt, daß Begebenheiten nicht voraus gesagt wurden, weil sie geschehen sollten, sondern daß sie geschehen, weil sie voraus gesagt worden; so beuge ich mein Haupt31 vor dem Munde, der sie erzaͤhlte, und bekenne mich nur zu gerne als Glaubensjuͤnger.

Gleich am Morgen zeigte sich ihre Narrheit, und erreichte gegen die Nacht den hoͤchsten Grad. Die erste Handlung, wodurch sie ihren Vernunftmangel verrieth, war, daß sie einen Korb, der weggeholt werden sollte, vor die Hausthuͤr setzte. Als man sie fragte, was das bedeute, und sie erinnerte, der Korb koͤnnte gestolen werden, antwortete sie: er moͤchte nur immer stehen bleiben; der ihn holen sollte, wuͤrde sicher kommen, und Niemand wuͤrde ihn stehlen; und bei dieser Behauptung blieb sie schlechterdings, sagte doch aber nichts dazu, da man ihn hineinnahm. Sie ging hierauf aus, und kam mit drei Paar Huͤnern nach Hause. Sie haͤtte, sagte sie, vier Paar gekauft, aber nur fuͤr drei bezahlt. Als man sie fragte, wo denn das vierte Paar waͤre? gab sie trocken zur Antwort, sie waͤren weggeflogen. Man uͤberhob sie jetzt ihrer fernern Geschaͤften und wartete den Abend ab. Es war alles bis dahin ruhig. Gegen 8 Uhr aber fing sie von neuem, und zwar mit verdoppelter Heftigkeit, an, ihre Narrheit zu zeigen. Auf die Bereitung des Abendessens verwandte sie, unter aͤngstlicher verworrener Geschaͤftigkeit, wenigstens dreimal so viel Zeit als noͤthig war, brachte es aber doch noch so ziemlich zu Stande, außer einer Speise, wo sie zu acht malen Eier hineinthat. So wurde es von den andern Dienstboten erzaͤhlt. 32 Als es nachher darauf ankam, daß einige Huͤner sollten geschlachtet werden, konnte sie sich durchaus nicht zu dieser Unternehmung entschließen, sie versuchte es zwar aus Gehorsam, wetzte auch schon das Messer; allein der Abscheu dagegen war doch so stark bei ihr, daß sie sich zuletzt genoͤthigt sah, zu ihrer Gebieterin zu gehen, und gerade heraus zu erklaͤren, sie wuͤrde dieses Geschaͤft nicht verrichten. Nun schwieg man nicht laͤnger, und deutete ihr geradezu an, sie waͤre krank. Das wollte sie nicht zugeben, ihr schade nichts, sagte sie, sie sei ganz gesund. Dabei sah sie erhitzt und aufgetrieben aus, die Augen funkelten, sie war unruhig, seufzte, und fing an zu wimmern.

Man wollte ihr ein antiphlogistisches Pulver geben, allein dazu war sie nicht zu bewegen, und gab zu verstehen, es moͤchte wohl Gift seyn. Man rieth ihr eine Aderlaͤße, allein sie erwiederte, es waͤre ihr heute unmoͤglich Blut zu sehen. Da man nichts mit ihr ausrichten konnte, entließ man sie endlich. Nun fing sie an im Hause herumzuwandern, aͤchzte und wimmerte ohne Aufhoͤren, und ließ zwischenein abgebrochene Worte hoͤren: Ach Gott! welches Gesause? wie's dort pfeift! hoͤrt Jhr nicht? Dabei wollte sie keinen Menschen zum Hause hinauslassen; dort geradeuͤber, sagte sie, staͤnde er, und wer sich hinauswagte,[ dem] wuͤrde er auf alle Faͤlle den Hals umdrehen, und zeigte dabei auf einen ehrlichen Kraͤmerburschen, der vor seiner33 Bude stand. Da es doch aber eines Fensterladens wegen noͤthig war, daß jemand hinausgieng, entschloß sie sich am Ende lieber selbst dazu, als daß sie einen andern der Gefahr aussetzen wollte, wapnete sich mit einigen Kreutzzeichen, sprengte geweihtes Wasser, seegnete den Fußboden, und gieng nun entschlossen hinaus. Als sie wieder hereinkam, begann sie von Neuem zu aͤchzen und zu wimmern. So trieb sie es die ganze Nacht hindurch, und kam da es tagte, zu fragen, ob die Huͤner getoͤdtet werden sollten. Man antwortete nicht, und sie war still. Als es Morgen war, hatte man ein sonderbares Schauspiel. Ueberall, wo man hinsah, fand man Kreutze. Alle Werkzeuge in der Kuͤche, alle Besen, alle Stoͤcke im ganzen Hause waren kreutzweise gestellt, der ganze Weg, wo sie die Nacht gegangen war, von der Hausthuͤr an, bis hinten in die Kuͤche, war mit Kreidekreutzen besaͤet, der Schornstein, der ganze Feuerheerd, die Waͤnde, alle Stuffen der Treppen, alles, ja sie selbst sogar, von Kopf bis Fuß, an Kleidungsstuͤcken und Gesicht und Armen war mit Kreutzen dicht beschrieben. Wahrhaftig ein auffallender Anblick!

Nachdem die Nacht vorbei war, schien sie ruhiger. Man konnte mit ihr sprechen und ihr Rath ertheilen, auch sie glauben machen, daß sie krank sey. Sie aͤußerte » es waͤre ihr unmoͤglich, laͤnger in diesem Hause zu bleiben, « und folgte also dem34 Rathe, noch denselben Morgen zu einer alten Verwandtin zu ziehen. Hier, hofte man, sollte sie Ruhe erlangen, allein da fuͤhrte der Teufel, wie er denn immer sein Spiel hat, einen schwaͤrmerischen Moͤnch her, der uͤber die Besessene den Exorcismum zu halten anfieng, Reliquien auflegte, Weihwasser spruͤtzte und Amulete umhieng. War sie ruhig geworden, was konnte anders kommen, als daß sie von Neuem in Angst gesetzt wurde? und auch gleich liefen alle Nachbarinnen zusammen, und bethoͤrten sie mit ihrem Geschrei: ja sie waͤre besessen, sie waͤre besessen! Doch mag dieses eben keine große Wirkung gehabt haben; eine Aderlaͤsse that das Beste. Ehe drei Tage vorbei waren, kam sie heiter und froͤhlichen Muthes wieder in ihre alte Heimath, sagte: sie waͤre nun ganz gesund, und wuͤnsche nichts, als nur bei ihrer Herrschaft wieder zu seyn. Allein, kaum waren ein Paar Tage hingegangen; so sprach sie doch schon wieder von Toben und Pfeiffen und Teufeln. Man hielt also fuͤr das Beste sie auf immerdar aus dem Hause zu entfernen, darin sie den Grund zu ihrem Ungluͤcke gelegt hatte. Sie gieng also wieder zu ihrer alten Base, wo sie auch noch gesund, aber immer still und in sich gekehrt lebt. Zuweilen beklagt sie sich noch uͤber ihr Schicksal, und giebt dann immer dem Hause Schuld, darin es sie betroffen. Fraͤgt man sie aber, was sie eigentlich unter dem Hause verstehe; so kommt nie eine deutliche Antwort heraus. Menschen,35 sagt sie, waͤren's nicht, die ihr dieses Ungluͤck zugezogen haͤtten, sondern das Haus; und das ist alles so weit sie sich erklaͤrt.

Alles dieses, so wie ich es erzaͤhlt habe, steht mir noch so neu vor den Augen, als ob es heute erst geschehen waͤre. Mein Gedaͤchtniß ist mir treu, und ich kann mich also darauf verlassen. Noch hundert andre kleine Umstaͤnde haͤtt 'ich anfuͤhren koͤnnen, wenn ich ihrem geringern Werthe Gedult des Lesers und Zeit haͤtte nachsetzen wollen.

Wenn ich den ganzen Zusammenhang dieser Geschichte betrachte, ist mir nichts wahrscheinlicher, als daß diese Ungluͤckliche sich unter dem prophezeiten Ungluͤcke kein andres vorgestellt habe, als » das Haus wuͤrde von Teufeln besessen werden; « denn man bedenke, daß diese der vornehmste Gegenstand ihrer Gedanken waren, daß daher bei einem prophezeiten Ungluͤcke, und zwar großen Ungluͤcke der schrecklichste Gedanke, den ein Mensch haben kann diese Jdee sicher die erste gewesen seyn muß, die sich ihr darbot, und am festesten sich bei ihr muß eingewurzelt haben; man bedenke den Umstand, da sie den Kraͤmerburschen fuͤr den Teufel ansah denn fuͤr den hat sie ihn sicher gehalten; wie haͤtte sie sonst blos gesagt: dort steht er, ohne ihm einen Nahmen zu geben? wie haͤtte sie von Hals -36 umdrehen gesprochen? wie haͤtte sie endlich gerade die Mittel gebraucht, die zur Bannung des Teufels, wie ich von meinem Katecheten weiß, die wirksamsten sind: geweihtes Wasser und das Zeichen des Kreutzes? Man bedenke ferner die unzaͤhligen Kreutze, die sie aller Orten und an sich selbst geschrieben hatte. Man bedenke, daß sie von Sausen und Pfeiffen sprach, man bedenke endlich, daß sie nicht Menschen, sondern dem Hause die Schuld ihres Ungluͤcks beimaß; so wird wohl kein Zweifel uͤbrig bleiben, daß sie sich unter dem gefuͤrchteten Ungluͤcke eine Besitzung von Teufeln vorgestellt habe. Und nun, welche Angst, welche unbeschreibliche nagende Angst muß bei solchen Gedanken in ihrem Jnnern gewuͤhlt haben? Man stelle sich's vor, wie sie zuerst uͤber die Art des kommenden Ungluͤcks Muthmaßungen angestellt, wie die Jdeen von Teufeln, von ewiger Verdammung, von Hoͤlle, in aller der Grobheit der reinsten Orthodoxie, mit allen Schrecken, die ihnen eine entflammte Phantasie geben kann, sich in immer staͤrkern und staͤrkern Zuͤgen ihrer Seele dargestellt, welche scheußliche Bilder, welche graͤßliche Phantome! ------- ich mag ihnen nicht folgen. Man wird sich nicht laͤnger uͤber die Wirkung dieser Prophezeiung wundern, und die Ungluͤckliche bedauern, die den Wahn alter Schwaͤrmerei so herbe buͤßen mußte, aber auch zugleich aufmerksam gemacht werden, einem Unwesen Mauern zu setzen, das solche Verwuͤstungen in den37 Seelen der Mitbuͤrger anzurichten vermag. Gluͤcklich will ich mich schaͤtzen, wenn ich durch diese Erzaͤhlung die Aufmerksamkeit guter Maͤnner erregen sollte, in deren Haͤnden die Verwaltung buͤrgerlicher Geschaͤfte ruht. Und, o Gott! danken wollte ich's dir mit heißen Thraͤnen, wenn ich das Bewußtseyn haben koͤnnte, schon durch die erste Frucht meiner Bemuͤhungen meinen Nebenmenschen, wenn auch nur wenigen, nuͤtzlich geworden zu seyn!

Man erlaube mir, nun noch ein Paar Bemerkungen uͤber einige Scenen in der erzaͤhlten Begebenheit herzusetzen. Man kann es deutlich sehen, wie die Narrheit hier von Tage zu Tage gewachsen, und wie wenig Zeit dazu[ gehoͤrte,] einen Verstand zu verwirren. Diese Kuͤrze der Zeit, und die Schrecklichkeit der Jdeen, die diesen Zustand veranlaßten, geben zu vermuthen, daß die arme Ungluͤckliche keinen Augenblick Rast gehabt habe.

Eigen war es, daß, da ich den Donnerstag, um sie naͤher zu beleuchten, mit der Frage das Gespraͤch anspinnen wollte: was doch letzthin die alte Frau mit ihr gesprochen? sie mir mit einer Art von Wuth zur Antwort gab, ich moͤchte ihr von dem verfluchten Weibe schweigen; die waͤr 'es nur eben, die an Allem Schuld waͤre. Es scheint dieses ein ordentliches fluidum intervallum gewesen zu seyn. Sie muß hier doch gefuͤhlt haben, daß sie38 thoͤricht daͤchte, und daß sie sich in einem ungewoͤhnlichen und ungluͤcklichen Zustande befaͤnde. Allein wer weiß durch was fuͤr heftige aͤußere Veranlassungen diese Einsicht bei ihr hervorgebracht worden. Sie stand beim Feuer; vielleicht daß, durch die Reitze von Licht und Hitze, ihre Organe thaͤtig wurden, sie auf andre Gegenstaͤnde aufmerksam, und so in ihrem Nachdenken zerstreut ward, u.s.w.

Den Eigensinn, den sie bei dem Auftritte mit dem Korbe bewies, glaube ich blos davon herleiten zu koͤnnen, daß sie, um allen Argwohn von Verruͤckung zu verhindern, zeigen wollte, sie habe es mit guter Ueberlegung gethan. Sie schwieg auch still, da man weiter nichts daruͤber erwaͤhnte.

Man wird finden, daß sie besonders sehr die Huͤner beschaͤftigten. Sie glaubte Basiliske; sollte das etwa die Ursache gewesen seyn? oder sollte es sich von dem Gedanken hergeschrieben haben: sieh, die sollst du heute toͤdten!

Betrachten wir diese Geschichte als Beispiel fuͤr meine obigen Saͤtze; so werden wir darin, wie ich glaube, Bestaͤtigungen genug fuͤr dieselben finden. Wann fieng diese Person an, eine Naͤrrin zu werden? den letzten Tag? nein! den Tag, da die Wahrsagerin zu ihr kam; aber welcher Mensch, der solche Jdeen nicht schon vorher immer zu seinem Hauptgegenstande gemacht haͤtte, waͤre wohl39 dadurch zum Narren geworden? Mußte man sie in Absicht auf diesen Punkt also nicht schon ihr ganzes Leben hindurch eine Naͤrrin heißen? und doch, wer haͤtte es gewagt, sie so lange von der Zahl vernuͤnftiger Menschen auszuschließen? also

Weiter will ich der eignen Beurtheilung des Lesers nicht vorgreifen. Aber Folgerungen herzuleiten, giebt diese Erzaͤhlung Stoff genug. Die alten Zeiten sind vorbei, da Sterndeutung und Zauberei noch galten, da an Schwarzkuͤnstler und Pfaffen noch der menschliche Verstand zu gleichen Rechten verpachtet war. Jetzt ist ihre Macht gedaͤmpft, ihre Schattenbilder hat die Zeit verloͤscht. Jene Meister sind nicht mehr, die Menschenseelen gefesselt hielten, und uͤber ihren Verstand das Scepter schwungen. Jhre Gebeine druͤckt das Grab und die lange Vergessenheit. Wir sind besser als unsre Vaͤter, uns lohnt das Schicksal mit Licht und mit Freiheit. Wir, entfesselt von dem Joche unsrer Ahnen, schluͤrfen mit vollen Zuͤgen Aufklaͤrung ein, und, begeistert von ihrer Kraft, fuͤhlen wir uns selbst stark genug, eigne Systeme zu weben, eigne Gaͤnge uns zu hauen zu dem Verborgenen, zu dem das unsre schaffende Seele uns weissagt, das in ihr ruht, und das sie noch nie außer sich wahrnahm. O kehrt nur wieder aus Euern Graͤ -40 bern, kehrt nur wieder Jhr Weisen der Vorzeit und des romantischen Mittelalters! Jhr findet eine treffliche Werkstaͤtte, darin Jhr arbeiten koͤnnt! Helfet Euern Enkeln mit euerm Geiste; so werden Zoroaster und Fludd und Apollonius und Faust, und Parazelsus und Hermes und Boͤhm und Agrippa, den Lohn ihrer verkannten Verdienste wiederfinden, Hoͤllenzwang und[ Clavicula] Salomonis, und Nathael und Tetragrammaton und Ach, werden wiederum leben, und den Menschen den verfehlten Weg zur Gluͤckseeligkeit zuruͤckfuͤhren, und[ Nigromantie] und Astrologie die Tyrannen seyn, vor denen sich unsre Zeitgenossen in den Staub beugen.

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4. Fortsetzung des Fragments aus Ben19Josua'sLebensgeschichte. 20Herausgegeben von K.22P. Moritz:

(Siehe 9ten B. 1tes St. S. 24.)

Ben23Josuawar in seiner Jugend ziemlich religioͤs, und da er an den mehrsten Rabbinern viel Stolz, Zanksucht und andere schlimme Eigenschaften bemerkt hatte, so wurden diese ihm dadurch verhaßt. Er suchte daher blos diejenigen darunter, die gemeiniglich unter dem Nahmen Chasidim, d.h. die Frommen, bekannt sind, sich zum Muster aus; das sind solche, die ihr ganzes Leben der strengsten Beobachtung der Gesetze und moralischen Tugenden widmen. Er hatte aber in der Folge Gelegenheit, zu bemerken, daß diese von ihrer Seite zwar weniger Andern, aber destomehr sich selbst schaden, indem sie, nach dem bekannten Spruͤchworte, das Kind mit dem Bade ausschuͤtten, und, indem sie ihre Begierden und Leidenschaften zu unterdruͤcken suchen, auch ihre Kraͤfte unterdruͤcken und ihre Thaͤtigkeit hemmen, ja sogar sich mehrentheils durch dergleichen Uebungen einen fruͤhzeitigen Tod zuziehn.

Ein Paar Beispiele hiervon, wovon B. J. selbst Augenzeuge war, werden hinreichend seyn,42 die Sache genugsam zu bestaͤtigen. Ein wegen seiner Froͤmmigkeit damals bekannter juͤdischer Gelehrter, Simon aus Lubtsch, der schon die Tschubath hakana (die Buße des Kana) ausgeuͤbt hatte, welche darin besteht, daß er sechs Jahre taͤglich fastet, und alle Abend nichts von allem, was von einem lebendigen Wesen herkoͤmmt (Fleisch, Milchspeisen, Honig und dergl. ), genießt, Golath, d.h. eine bestaͤndige Wanderung, wo man nicht zwei Tage an einem Orte bleiben darf, gehalten, und einen haarnen Sack aufm bloßen Leibe getragen hatte, glaubte, noch nicht genug zur Befriedigung seines Gewissens gethan zu haben, wenn er nicht noch die Tschubath hmischkal (die Buße des Abwaͤgens) d.h. eine partikulaͤre, jeder Suͤnde proportionirte Buße, ausuͤben werde. Da er aber nach Berechnung gefunden hatte, daß die Anzahl seiner Suͤnden zu groß sey, als daß er sie auf diese Art abbuͤßen koͤnnte, so ließ er sich einfallen, sich zu Tode zu hungern. Nachdem er schon einige Zeit auf diese Art zugebracht hatte, kam er auf seiner Wanderung an den Ort, wo B. J. Vater wohnte, und gieng, ohne daß jemand im Hause etwas davon wußte, in die Scheune, wo er ganz ohnmaͤchtig auf den Boden fiel. B. J. Vater kam zufaͤlligerweise in die Scheune, und fand diesen Mann, der ihm schon laͤngst bekannt war, mit einem Sahar in der Hand (das Hauptbuch der Kabalisten), halb todt auf dem Boden liegen.

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Jener, der schon seinen Mann kannte, ließ ihm gleich allerhand Erfrischungen darreichen, aber dieser wollte davon auf keinerlei Weise einen Gebrauch machen. Jener kam zu verschiedenenmalen und wiederholte sein Anliegen, daß S. was zu sich nehmen solle, aber es half nichts, und da J. im Hause was zu verrichten hatte, und S. sich von seiner Zudringlichkeit los machen wollte, strengte er alle seine Kraͤfte an, machte sich auf, gieng aus der Scheune, und endlich aus dem Dorfe. J., der abermals in die Scheune gekommen, und den Mann nicht mehr gefunden hatte, lief ihm nach, und fand ihn nicht weit hinter dem Dorfe todt liegen. Die Sache wurde uͤberall unter der Judenschaft bekannt, und S. ward ein Heiliger.

Jossei aus Klezk nahm sich nichts Geringeres vor, als die Ankunft des Messias zu beschleunigen. Zu diesem Ende that er strenge Buße, fastete, waͤlzte sich im Schnee, unternahm Nachtwachen u. dergl. Mit jeder Art dieser Operationen glaubte er die Niederlage einer Legion boͤser Geister, die den Messias bewachten, und seine Ankunft verhinderten, bewerkstelligen zu koͤnnen. *)*) So hat ein gewisser Narr, mit Nahmen Chosek, die Stadt Lemberg (auf die er boͤse war) aushungern wollen; zu welchem Behuf er sich hinter die Mauer legte, um mit seinem Koͤrper die Stadt zu blokiren. Der Ausgang dieser Blokade aber war dieser, daß er beinahe Hungers gestorben waͤre, die Stadt aber vom Hunger nichts zu sagen wußte. Dazu ka -44 men noch zuletzt viele kabalistische Alfanzereien, Raͤucherungen, Beschwoͤrungen u. dergl., bis er zuletzt daruͤber wahnwitzig wurde, wirklich Geister mit offnen Augen zu sehn glaubte, jeden mit Nahmen nannte, um sich schlug, Fenster und Oefen zerschlug, in der Meinung, daß dies seine Feinde die boͤsen Geister waͤren (ohngefaͤhr wie sein Vorgaͤnger Donquixot), bis er zuletzt ganz abgemattet liegen blieb, und nachher mit vieler Muͤhe durch des Fuͤrsten Radziwils Leibarzt wieder hergestellt wurde.

B. J. selbst konnte es in dergleichen Froͤmmigkeitsuͤbungen nie weiter bringen, als daß er eine geraume Zeit nichts, was von einem lebendigen Wesen herkoͤmmt, gegessen, und in den Zeiten der Bußtage zuweilen drei Tage in einem fort gefastet hat. Er entschloß sich zwar, die Tschubath hakana*)*) Siehe oben. zu unternehmen; dieses Projekt ist aber, so wie andere von der Art, unausgefuͤhrt geblieben, nachdem er sich die Meinungen des Maimonides, der kein Freund von Schwaͤrmerei und Froͤmmeln war, eigen gemacht hatte. Es ist merkwuͤrdig, daß er noch zu der Zeit, da er die rabbinischen Vorschriften aufs strengste beobachtete, gewisse Zeremonien, die etwas Komisches an sich haben, nicht beobachten wollte. Von dieser Art war z. B. das45 Malketh-Schlagen vor dem großen Versoͤhnungstage, wo jeder Jude sich in der Synagoge auf den Bauch legt, und ein anderer ihm mit einem schmalen Streif Leder 39 Schlaͤge giebt. So auch Hajorath andorim, oder das Loßsagen von den Geluͤbden am Tage vor dem Neujahrstage, wo sich drei Maͤnner niedersetzen, und ein anderer vor sie hintritt, und eine gewisse Formel sagt, deren Jnhalt ungefaͤhr dieser ist: Meine Herrn! ich weiß, welch eine schwere Suͤnde es sey, Geluͤbde nicht zu vollziehn, und da ich ohne Zweifel in diesem Jahre einige Geluͤbde gethan, die ich noch nicht vollzogen habe, und auf die ich mich nicht mehr besinnen kann, so bitte ich von Euch, daß Jhr mich von denselben lossagen wollet. Jch bereue nicht die guten Entschließungen, wozu ich mich durch dergleichen Geluͤbde verpflichtet habe, sondern bloß, daß ich nicht bei dergleichen Entschließungen hinzugefuͤgt habe, daß sie nicht die Kraft eines Geluͤbdes haben sollten u.s.w. Darauf entfernt er sich von dem Sitze dieser Richter, zieht die Schuhe aus und setzt sich auf die bloße Erde (wodurch er sich selbst verbannt, bis seine Geluͤbde aufgeloͤßt worden). Nachdem er einige Zeit gesessen, und fuͤr sich ein Gebet verrichtet hat, fangen die Richter an laut zu rufen: Du bist unser Bruder! du bist unser Bruder! du bist unser Bruder! Es giebt keine Geluͤbde, keinen Schwur, keine Verbannung mehr, nachdem du dich dem Gerichte unterworfen hast! Steh auf46 von der Erde und komm zu uns! Dieses wiederholen sie dreimal, und damit wird der Mensch auf einmal von allen seinen Geluͤbden loß. Bei dergleichen tragikomischen Scenen hat es immer schwer gehalten, daß sich B. J. des Lachens enthielt. Es uͤberfiel ihn eine Schamroͤthe, wenn er dergleichen Operationen mit sich vornehmen sollte. Er suchte daher, wenn er darum angehalten wurde, sich dadurch von denselben loß zu machen, daß er vorgab, es in einer andern Synagoge schon verrichtet zu haben, oder noch verrichten zu wollen. Eine sehr merkwuͤrdige psychologische Erscheinung! Man sollte denken, daß es unmoͤglich sey, daß sich jemand solcher Handlungen schaͤmen sollte, die er alle andern ohne die mindeste Schamroͤthe ausuͤben sieht, und doch war es hier der Fall; welches Phaͤnomen sich nur dadurch erklaͤren laͤßt, daß er bei allen seinen Handlungen erst auf die Natur der Handlung an sich (ob sie an sich recht oder unrecht, schicklich oder unschicklich sey), und dann auf ihre Natur, in Beziehung auf irgend einen Zweck, Ruͤcksicht nahm, und sie nur dann als Mittel billigte, wenn sie an sich nicht zu mißbilligen war; welches Prinzip sich nachher in seinem ganzen Religions - und Moralsystem voͤllig entwickelt hat; dahingegen die mehrsten Menschen zum Prinzip haben: der Zweck entschuldigt die Mittel. Dieses aber weiter zu untersuchen ist hier der Ort nicht.

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B. J. hatte in seinem Wohnorte einen Busenfreund, mit Nahmen Moses Lapidoth. Sie waren beide von gleichem Alter, gleichen Studien, und beinahe in gleichen aͤußern Umstaͤnden, außer daß B. J. schon fruͤhzeitig eine Neigung zu Wissenschaften aͤußerte, Lapidoth hingegen zwar Neigung zum Spekuliren, auch viel Scharfsinn und Beurtheilungskraft hatte, aber hierin nicht weiter gehn wollte, als er mit dem bloßen gesunden Verstande reichen koͤnne. Diese Freunde pflegten sich oft uͤber ihre Herzensangelegenheiten, besonders uͤber die Gegenstaͤnde der Religion und Moral zu unterhalten. Sie waren die einzigen in dem Orte, die es wagten, nichts blos nachzuahmen, sondern uͤber alles selbst zu denken. Es war also natuͤrlich, daß, indem sie sich in ihren Meinungen und Handlungen von allen uͤbrigen aus ihrer Gemeinde unterschieden, sie sich nach und nach von ihnen trennten, wodurch ihr Zustand (da sie doch von ihrer Gemeinde leben mußten) sich immer verschlimmerte. Sie merkten dieses zwar, wollten aber dennoch ihre Lieblingsneigungen keinem Jnteresse in der Welt aufopfern. Sie troͤsteten sich daher uͤber diesen Verlust so gut sie konnten, sprachen bestaͤndig von der Eitelkeit aller Dinge, von den religioͤsen und moralischen Jrrthuͤmern des gemeinen Haufens, auf den sie mit einer Art von edlem Stolze und Verachtung herabsahn. Besonders pflegten sie sich oft uͤber die Falschheit der mensch -48 lichen Tugend à la mandeville auszulassen. Z.B. Es hatten die Blattern in diesem Orte grassirt, wodurch viele Kinder hingeraft worden waren. Die Aeltesten der Gemeinde versammelten sich, um die geheimen Suͤnden ausfindig zu machen, um derentwillen sie diese Strafe (wofuͤr sie es ansahn) litten. Nach angestellter Untersuchung fand es sich, daß eine junge Wittwe aus der juͤdischen Nation mit einigen Hofbedienten einen zu freien Umgang pflege. Man schickte nach ihr, konnte aber durch alles Jnquiriren von ihr nichts mehr herausbringen, als daß sie zwar diese Leute, die bei ihr Meth traͤnken, wie billig, mit einem gefaͤlligen zuvorkommenden Wesen aufnaͤhme, uͤbrigens aber sich dabei keiner Suͤnde bewußt sey. Man wollte, da man keine andere Jndizien hatte, sie schon loßlassen, als eine aͤltliche Matrone, Madam F., wie eine Furie geflogen kam und schrie: peitscht siel peitscht sie so lange bis sie ihr Verbrechen gestanden haben wird! thut Jhr es nicht, so treffe Euch die Schuld des Todes von so viel unschuldigen Seelen. L., der mit seinem Freunde B. J. dieser Scene beiwohnte, sagte darauf zu diesem: Freund! meinst du, daß Madam F., blos von einem heiligen Eifer und Gefuͤhle fuͤrs allgemeine Beste ergriffen, diese Frau so scharf anklagt? o nein! Sie ist blos auf sie boͤse, daß sie noch gefaͤllt, indem sie selbst darauf keinen Anspruch mehr machen darf. Darauf antwortete B. J.: Freund! du sprichst nach meinem Sinn.

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Lapidoth hatte arme Schwiegereltern. Sein Schwiegervater war juͤdischer Kuͤster, und konnte mit seinem geringen Gehalte nur sehr kuͤmmerlich eine Familie ernaͤhren. Alle Freitage mußte daher dieser arme Mann von seiner Frau allerhand Schelt - und Schimpfwoͤrter hoͤren, weil er ihr nicht einmal das zum heiligen Schabath Unentbehrliche verschaffen konnte. Lapidoth erzaͤhlte dieses seinem Freunde B. J., mit dem Zusatze: Meine Schwiegermutter will mich glauben machen, als eifere sie blos fuͤr die Ehre des heiligen Schabath. Nein wahrhaftig, sie eifert blos fuͤr die Ehre ihres heiligen Wanstes, den sie nicht nach Belieben fuͤllen kann: der heilige Schabath dient ihr blos zum Vorwande dazu.

Da diese Freunde einst auf dem Walle um die Stadt spazieren giengen, und sich uͤber die, aus dergleichen Aeußerungen offenbare, Neigung des Menschen, sich selbst und andere zu taͤuschen, unterhielten, sagte B. J. zu L.: Freund! laß uns billig seyn, und uns selbst, so wie die andern, unsre Censur passiren. Sollte nicht die, unsern Umstaͤnden nicht angemessene kontemplative Lebensart, die wir fuͤhren, eine Folge unsrer Traͤgheit und Neigung zum Muͤßiggange seyn, die wir durch Reflexionen uͤber die Eitelkeit aller Dinge zu unterstuͤtzen suchen? Wir sind mit unsern jetzigen Umstaͤnden zufrieden, warum? weil wir sie nicht aͤndern koͤnnen, ohne vorher unsre Neigung zum Muͤßiggange50 zu bekaͤmpfen; wir koͤnnen, bei aller vorgegebenen Verachtung gegen alle Dinge außer uns, uns dennoch des heimlichen Wunsches nicht erwehren besser zu essen, und uns besser als jetzt kleiden zu koͤnnen. Wir schelten unsre Freunde J. N. H. u.s.w. als eitle den sinnlichen Begierden ergebene Menschen, weil sie unsre Lebensart verlassen, und sich den, ihren Kraͤften angemessenen Geschaͤften unterzogen haben, worin besteht aber unser Vorzug vor ihnen, da wir unserer Neigung zum Muͤßiggange, so wie sie der ihrigen folgen? Laß uns diesen Vorzug blos darin zu erlangen suchen, daß wir uns zum wenigsten diese Wahrheit gestehn, indem jene nicht die Befriedigung ihrer besondern Begierden, sondern den Trieb zur Gemeinnuͤtzigkeit zum Grunde ihrer Handlungen angeben. L., bei dem die Rede seines Freundes einen starken Eindruck machte, antwortete hierauf mit einiger Waͤrme: Freund, du hast vollkommen Recht! Wenn wir schon jetzt unsre Fehler nicht verbessern koͤnnen, so wollen wir doch hierin uns selbst nicht taͤuschen, und zum wenigsten den Weg zur Besserung offen halten.

Jn dergleichen Unterhaltungen brachten diese Zyniker ihre angenehmsten Stunden zu, indem sie sich zuweilen uͤber die Welt, zuweilen uͤber sich selbst lustig machten. L. z. B., dessen altes schmutziges Kleid ganz in Lumpen zerfallen, und wovon ein Aermel vom uͤbrigen Kleide ganz abgetrennt war (indem er nicht einmal im Stande war es ausbessern zu lassen),51 pflegte diesen abgefallenen Aermel mit einer Stecknadel auf den Ruͤcken zu heften, und darauf seinen Freund zu fragen: sehe ich nicht aus wie ein Schlachzig (polnischer Edelmann)? B. J. konnte seine zerrissenen Schuhe, die vorne ganz aufgegangen waren, nicht genug ruͤhmen, indem er sagte: sie druͤcken gar nicht.

Die Uebereinstimmung dieser Freunde in ihrer Neigung und Lebensart, mit einiger Verschiedenheit in Ansehung ihrer Talente, machte ihre Unterhaltung desto angenehmer. B. J. hatte mehr Talente zu Wissenschaften, bewarb sich mehr um Gruͤndlichkeit und Richtigkeit seiner Kenntnisse als L. Dieser hingegen hatte den Vorzug einer lebhaften Einbildungskraft, und folglich mehr Talente zur Beredsamkeit und Dichtkunst als jener. Wenn B. J. einen neuen Gedanken vorgebracht hatte, so wußte L. denselben durch eine Menge Beispiele zu erlaͤutern und gleichsam zu versinnlichen.

Jhre Neigung zueinander gieng so weit, daß sie, wenn es nur angieng, Tag und Nacht miteinander zubrachten; ja zuletzt fiengen sie sogar an, die gewoͤhnlichen Betstunden daruͤber zu vernachlaͤssigen. Erst uͤbernahm es L. zu beweisen, daß selbst die Talmudisten nicht immer ihre Gebete in der Synagoge, sondern zuweilen in ihrer Studierstube verrichteten. Hernach bewies er auch, daß nicht alle fuͤr nothwendig gehaltenen Gebete gleich nothwendig waͤren, sondern daß man einiger derselben ganz entbeh -52 ren koͤnne; selbst die fuͤr nothwendig erkannten wurden nach und nach immer mehr beschnitten, bis sie zuletzt gaͤnzlich vernachlaͤssigt wurden. Einst, da sie waͤhrend der Gebetszeit auf dem Walle spazieren giengen, sagte L.: Freund! was wird aus uns werden? wir beten ja nicht mehr. B. J. Nun was meinst du dazu? L. Jch verlasse mich auf die Barmherzigkeit Gottes, der gewiß nicht seine Kinder einer kleinen Nachlaͤssigkeit wegen strenge bestrafen wird. B. J. Gott ist nicht blos barmherzig, er ist auch gerecht, folglich kann uns dieser Grund nicht viel helfen. L. Was meinst du denn dazu? B. J. (der schon aus dem Maymonides richtigere Begriffe von Gott, und den Pflichten gegen ihn, erlangt hatte) Unsre Bestimmung ist blos, Erlangung der Vollkommenheit durch die Erkenntniß Gottes und Nachahmung seiner Handlungen. Das Beten ist blos der Ausdruck von der Erkenntniß der goͤttlichen Vollkommenheiten, und als Resultat dieser Erkenntniß blos fuͤr den gemeinen Mann, der zu dieser Erkenntniß von selbst nicht gelangen kann, bestimmt, und daher auch nur seiner Fassungsart angemessen. Da wir aber den Zweck des Betens einsehn, und zu demselben unmittelbar gelangen koͤnnen, so koͤnnen wir das Beten als etwas Ueberfluͤssiges gaͤnzlich entbehren. Dieses Argument schien beiden sehr gegruͤndet zu seyn. Sie beschlossen daher, um kein Aergerniß zu geben, alle Morgen mit ihren Taleth und Tefilim53 (juͤdische Gebetsinstrumente) aus dem Hause zu gehn; aber nicht nach der Synagoge, sondern nach ihrem Lieblingsretrait (dem Walle); dadurch entgiengen sie gluͤcklich dem juͤdischen Jnquisitionsgerichte.

Dieser schwaͤrmerische Umgang mußte aber doch, so wie Alles in der Welt, sein Ende nehmen. Diese beiden Freunde wurden verheirathet, und ihre Ehen waren ziemlich fruchtbar. Sie wurden also gezwungen eine Familie zu ernaͤhren. Das einzige Mittel fuͤr sie aber war eine Hofmeisterstelle, dadurch wurden sie nicht selten getrennt, und konnten nachher nur einige wenige Wochen im Jahre beisammen seyn. B. J. erste Hofmeisterstelle war eine Stunde weit von seinem Wohnorte bei einem armen Paͤchter J., eines elenden Dorfs P.; B. J. Gehalt war fuͤnf Thaler polnisch. Die Armuth, Unwissenheit, und Rohheit der Lebensart, welche hier hauseten, waren unbeschreiblich. Der Paͤchter selbst war ein Mann von ungefaͤhr funfzig Jahren, dessen ganzes Gesicht mit Haaren bewachsen war, und sich mit einem schmutzigen, dicken, pechschwarzen Barte endigte, und dessen Sprache eine Art Gemurmel, und nur den Bauern, mit denen er taͤglich umgieng, verstaͤndlich war. Er konnte nicht nur kein Hebraͤisch, sondern auch nicht einmal ein Wort Juͤdisch, blos Russisch (die gewoͤhnliche Bauernsprache) konnte er sprechen. Man denke sich dazu Frau und Kinder von eben dem Schlage. Ferner die Wohnstube: eine Rauchhuͤtte, kohlschwarz von54 innen und von außen, ohne Kamin, wo blos im Dache eine kleine Oefnung zum Ausgange des Rauches angebracht ist, die, so bald man das Feuer ausgehen laͤßt, sorgfaͤltig zugemacht wird, damit die Hitze nicht herausgehe.

Die Fenster waren kreuzweise uͤbereinander gelegte schmale Streifen von Kienholz, mit Papier uͤberzogen. Dieses Gemach war Wohn - Schenk - Speise - Studier - und Schlafstube zugleich. Nun denke man sich, daß diese Stube sehr stark geheizt und der Rauch, von Wind und Naͤsse (wie es im Winter mehrentheils der Fall ist) in die Stube zuruͤckgetrieben, und dieselbe bis zum Ersticken damit angefuͤllt wird. Hier haͤngt schwarze Waͤsche und andere schmutzige Kleidungsstuͤcke, auf den in der Stube der Laͤnge nach angebrachten Stangen, damit das .... im Rauche ersticke. Da haͤngen Wuͤrste zum trocknen, deren Fett den Menschen bestaͤndig auf die Koͤpfe herunter troͤpfelt. Dort stehen Zoͤber mit saurem Kohl und rothen Ruͤben (die Hauptspeise der Litthauer). Jn einem Winkel das Wasser zum taͤglichen Gebrauche, und daneben das unreine Wasser. Hier wird Brod geknetet, gekocht, gebacken, die Kuh gemolken u.s.w. Jn dieser herrlichen Wohnung sitzen die Bauern auf der bloßen Erde (hoͤher darf man nicht sitzen, wenn man nicht vom Rauche ersticken will), saufen Branntwein und laͤrmen; in einer Ecke sitzen die Hausleute; hinter dem Ofen aber saß B. J.55 mit seinen schmutzigen halbnackenden Schuͤlern, und explizirte ihnen aus einer alten zerrissenen Bibel aus dem Hebraͤischen ins Russisch-Juͤdische. Dieses alles machte im Ganzen die herrlichste Gruppe von der Welt, die nur von einem Hogarth gezeichnet und von einem Buttler besungen zu werden verdiente. Man kann sich leicht vorstellen, wie jaͤmmerlich B. J. Zustand hier seyn mußte. Brantwein mußte hier sein einziges Labsal seyn, das ihm alle seinen Kummer vergessen machte. Hierzu kam noch, daß ein Regiment Russen (die damals auf den Guͤtern des Fuͤrsten Radziwil mit aller erdenklichen Grausamkeit wuͤtheten) in dieses Dorf und seine Nachbarschaft gelegt wurde. Das Haus war bestaͤndig voll besoffener Russen, die alle moͤglichen Excesse begiengen, auf die Tische und Baͤnke hauten, die Glaͤser und Bouteillen den Hausleuten ins Gesicht schmissen u. dergl. Um nur ein einziges Beispiel anzufuͤhren, so kam einst der Russe, der in diesem Hause als Saloge (Schutzmann) lag, dem es aufgetragen war, das Haus vor aller Gewaltthaͤtigkeit zu sichern, ganz besoffen nach Hause und forderte zu essen; man stellte ihm eine Schuͤssel Hirse mit Butter zubereitet vor. Er stieß die Schuͤssel von sich, und schrie: man solle mehr Butter hinzuthun. Man brachte ihm ein ganzes Faͤßchen mit Butter. Er schrie: man solle ihm noch eine Schuͤssel geben. Man brachte sie gleich; er schmiß alle Butter hinein und forderte Branntwein. Man brachte56 ihm eine ganze Bouteille, welche er gleichfalls hineingoß; darauf mußte man ihm Milch, Pfeffer, Salz und Toback in großer Menge bringen, welches er hineinthat und fraß. Nachdem er davon einige Loͤffel voll gegessen hatte, fieng er an um sich zu hauen, raufte dem Wirth den Bart, gab ihm Faustschlaͤge ins Gesicht, so daß ihm das Blut aus dem Munde heraus kam, goß ihm von seinem herrlichen Breie in die Kehle, und wuͤthete so lange, bis er aus Betrunkenheit sich nicht mehr halten konnte und zu Boden fiel. Solche Scenen waren sehr gewoͤhnlich. Wenn eine Russische Armee einen Ort paßierte, so nahmen sie von da bis zu dem naͤchsten Orte einen Prowodnik (Wegweiser). Anstatt aber denselben vom Buͤrgermeister oder Dorfschulzen sich geben zu lassen, pflegten sie lieber den ersten den besten, den sie zufaͤlliger Weise auf der Straße trafen, zu ergreifen, er mochte uͤbrigens jung oder alt, maͤnnlich oder weiblich, gesund oder krank seyn, daran lag ihnen nichts, weil sie den Weg (nach speziellen Karten) wohl wußten, und nur eine Gelegenheit zu Grausamkeit suchten. Ereignete es sich, daß die aufgefangene Person den Weg nicht wußte, und ihnen nicht den rechten Weg zeigte, so pflegten sie sich doch dadurch nicht irre machen zu lassen, und den rechten Weg zu waͤhlen, aber sie pruͤgelten alsdann den armen Prowodnik halb todt, weil er den rechten Weg nicht gewußt hatte!

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Hier wurde auch B. J. einst als Prowodnik aufgefangen. Er wußte zwar den rechten Weg nicht, aber zum Gluͤcke traf er denselben zufaͤlliger Weise. Er kam also mit der bloßen Drohung, daß wenn er sie irre fuͤhren wuͤrde, er alsdann lebendig geschunden werden sollte (welches den Russen gern zuzutrauen war), und mit haͤufigen Faustschlaͤgen und Rippenstoͤßen gluͤcklich am gehoͤrigen Orte an.

B. J. uͤbrigen Hofmeisterstellen waren mehr oder weniger dieser aͤhnlich.

Jn einer dieser Stellen ereignete sich eine merkwuͤrdige psychologische Begebenheit, worin er die Hauptperson war, und die in der Folge beschrieben werden soll. Jn einer andern ereignete sich eine Begebenheit von eben derselben Art, wovon er aber bloß Augenzeuge war.

Der Hofmeister des naͤchsten Dorfs nehmlich, der ein Nachtwandler war, stand einst des Nachts von seinem Lager auf, und gieng nach dem Kirchhofe dieses Dorfs, mit einem Kodex der juͤdischen Ritualgesetze in der Hand. Nachdem er da einige Zeit verweilt hatte, kam er wieder nach dem Lager zuruͤck. Des Morgens stand er auf, ohne sich das Mindeste von dem, was in der Nacht vorgefallen war, zu erinnern, und gieng bey seinen Koffer, wo dieser Kodex eingeschlossen zu seyn pflegte, um sich den ersten Theil davon, Orach chaiim*)*) Orach chaiim, der Weg zum Leben. genannt, worinnen58 er alle Morgen zu lesen pflegte, heraus zu holen. Er stutzte aber, da er von vier Theilen, die der Kodex enthaͤlt, und wovon jeder apart gebunden war, nur drei derselben liegen fand, da sie doch alle im Koffer eingeschlossen gewesen waren, und daß besonders der Theil Jore deah*)*) Jore deah, Lehrer der Weisheit. fehlte. Da er aber von seiner Krankheit wußte, so gieng er uͤberall und suchte darnach, bis er endlich auf den Kirchhof kam und den Jore deah bei dem Kapitel Hilchoth Eweloth*)*) Hilchoth Eweloth, Gesetze des Trauerns. aufgeschlagen fand. Er hielt dieses fuͤr ein boͤses Omen, und kam voller Unruhe nach Hause. Man fragte ihn nach der Ursache dieser Unruhe, und er erzaͤhlte die vorgefallene Begebenheit, mit dem Zusatze: Ach! Gott weiß, wie sich meine arme Mutter befindet (sein Vater war schon lange todt), bat sich von seinem Herrn ein Pferd aus, und um Erlaubniß, nach der naͤchsten Stadt (dem Wohnorte seiner Mutter) reiten zu duͤrfen, und sich nach ihrem Wohlseyn zu erkundigen. Er mußte den Ort passieren, wo B. J. Hofmeister war. Dieser, der ihn voller Bestuͤrzung reiten sahe, ohne auf eine kurze Zeit absteigen zu wollen, fragte ihn um die Ursache dieser Bestuͤrzung; worauf ihm jener die vorerwaͤhnte Begebenheit erzaͤhlte. B. J. wurde nicht so sehr uͤber die besondern Umstaͤnde derselben, als wie uͤber das Nachtwandeln uͤber -59 haupt, wovon er bis jetzt nichts gewußt hatte, in Verwunderung gesetzt. Jener hingegen versicherte ihn, das Nachtwandeln sey sein gewoͤhnlicher Zufall, der uͤbrigens nichts zu bedeuten haͤtte, nur der Umstand mit dem Jore deah, Hilchoth Eweloth, mache ihm ein Ungluͤck ahnden. Darauf ritt er fort, kam in seiner Mutter Haus, und fand sie beim Naͤhrahmen sitzen. Sie fragte ihn nach der Ursache seines Kommens; er gab ihr zur Antwort, er kaͤme blos sie zu besuchen, weil er sie schon lange nicht gesehen habe. Nachdem er da wohl ausgeruht hatte ritt er wieder zuruͤck, seine Unruhe wurde aber dennoch nicht gaͤnzlich gehoben. Der Gedanke an den Jore deah, Hilchoth Eweloth, gieng ihm nicht aus dem Kopfe. Den dritten Tag darauf entstand in der Stadt, wo seine Mutter wohnte, eine Feuersbrunst, und seine Mutter, indem sie ihre Habseeligkeit retten wollte, mußte im Brande umkommen. Man sahe hier in diesem Dorfe das Feuer (weil das Dorf nur eine Stunde davon entfernt war). Der arme Hofmeister fieng an zu jammern und zu wehklagen, als wuͤßte er ganz gewiß, daß seine Mutter im Brande umgekommen sey, ritt schleunig nach der Stadt, und fand was ihm geahndet hatte.

Ungefaͤhr um diese Zeit wurde B. J. mit einer damals emporkommenden Sekte seiner Nation, die neue Chasidim genannt, bekannt. Chasidim uͤberhaupt heißen bei den Hebraͤern die Frommen, d.h. diejenigen, die sich durch Ausuͤbung der strengsten60 Froͤmmigkeit vor andern hervorthun. Diese waren seit urundenklichen Zeiten Maͤnner, die sich von den weltlichen Geschaͤften und Vergnuͤgungen losgemacht, ihr Leben der strengsten Ausuͤbung der Religionsgesetze und Buße wegen ihrer begangenen Suͤnden widmeten. Sie suchten dieses durch Gebete und andere Andachtsuͤbungen, Kasteiung ihres Koͤrpers u. dergl. zu bewerkstelligen.

Aber um diese Zeit warfen sich einige darunter zu Stiftern einer neuen Sekte auf. Diese behaupteten: die wahre Froͤmmigkeit bestehe keinesweges in Kasteiung des Koͤrpers, wodurch zugleich die Seelenkraͤfte geschwaͤcht, und die zur Erkenntniß und Liebe Gottes noͤthige Seelenruhe und Heiterkeit zerstoͤrt werde; sondern umgekehrt, man muͤsse alle koͤrperlichen Beduͤrfnisse befriedigen, und von allen sinnlichen Vergnuͤgungen, so viel als zur Entwickelung unsrer Gefuͤhle noͤthig sey, Gebrauch zu machen suchen, indem Gott alles zu seiner Verherrlichung geschaffen habe. Der wahre Gottesdienst bestand, ihnen zu Folge, in Andachtsuͤbungen mit Anstrengung aller Kraͤfte und Selbstzernichtung vor Gott, indem sie behaupteten, daß der Mensch, seiner Bestimmung nach, seine hoͤchste Vollkommenheit nicht anders erreichen koͤnne, als wenn er sich nicht als ein fuͤr sich bestehendes und wuͤrkendes Wesen, sondern blos als ein Organ der Gottheit betrachte. Anstatt also, daß jene ihr ganzes Leben in Absonderung von der Welt,61 Unterdruͤckung ihrer natuͤrlichen Gefuͤhle, und Toͤdtung ihrer Kraͤfte zubrachten, glaubten diese weit zweckmaͤßiger zu handeln, wenn sie ihre natuͤrlichen Gefuͤhle so viel als moͤglich zu entwickeln, ihre Kraͤfte in Ausuͤbung zu bringen, und ihren Wuͤrkungskreis bestaͤndig zu erweitern suchten.

Man muß gestehen, daß diese Methoden beide etwas Reelles zum Grunde haben. Jener liegt offenbar der Stoizismus zum Grunde, nehmlich ein Streben die Handlungen nach einem hoͤheren Prinzip, als die Neigungen sind, dem freien Willen gemaͤß, zu bestimmen; diese gruͤndet sich auf das Vollkommenheitssystem. Nur daß beide, so wie alles in der Welt, gemißbraucht werden koͤnnen, und wirklich gemißbraucht werden. Die von der ersten Sekte treiben ihre Bußfertigkeit bis zur Ausschweifung; anstatt ihre Begierden und Leidenschaften blos regelmaͤßig einzurichten, suchen sie dieselben zu zernichten, und anstatt daß sie mit den Stoikern das Prinzip ihrer Handlungen in der reinen Vernunft suchen sollten, suchen sie es vielmehr in der Religion, einer, ihrer Meinung nach, zwar reinen Quelle, daraus sie aber in der That, da sie von der Religion selbst falsche Begriffe haben, und ihre Tugend blos die zukuͤnftigen Belohnungen und Bestrafungen eines nach bloßer Willkuͤr regie -62 renden eigenmaͤchtigen tyrannischen Wesens zum Grunde hat, nicht anders als aus einer unreinen Quelle fließen, nehmlich aus dem Prinzip des Jnteresse; und da dieses Jnteresse selbst blos auf Einbildungen beruht, so sind sie hierin noch weit unter den groͤbsten Epikuraͤern, die zwar ein niedriges, aber doch ein reelles Jnteresse zum Zwecke ihrer Handlungen haben. Nur alsdann kann die Religion ein Prinzip der Tugend abgeben, wenn sie selbst in der Jdee der Tugend gegruͤndet ist.

Die Anhaͤnger der zweiten Sekte haben zwar richtigere Begriffe von der Religion und Moral, da sie aber hierin mehrentheils nach dunklen Gefuͤhlen, und nicht nach einer deutlichen Erkenntniß sich richten, so muͤssen sie gleichfalls auf allerhand Ausschweifungen gerathen. Die Selbstzernichtung hemmet nothwendig ihre Thaͤtigkeit, oder giebt ihr eine falsche Richtung, und da sie keine Naturwissenschaft und psychologische Kenntnisse besitzen, und eitel genug sind sich als Organ der Gottheit zu betrachten (welches sie auch mit Einschraͤnkung nach dem Grade der erlangten Vollkommenheit sind), so begehn sie auf Rechnung der Gottheit die groͤßten Ausschweifungen; jeder seltsame Einfall ist ihnen eine goͤttliche Eingebung, und jeder rege Trieb ein goͤttlicher Beruf.

Diese Sekten waren zwar keine verschiedene Religionssekten, ihre Verschiedenheit bestand blos in63 der Art ihrer Ausuͤbung der Religion, aber doch gieng die Animositaͤt beider Partheien so weit, daß sie sich einander fuͤr Ketzer verschrieen, und wechselseitig verfolgten. Anfangs behielt die neue Sekte die Oberhand, und breitete sich beinahe in ganz Polen und auch außerhalb aus. Jhre Haͤupter schickten ordentlich Emissarien uͤberall herum, die die neue Lehre predigen und ihr Anhaͤnger verschaffen sollten, und da der groͤßte Theil der Polnischen Juden aus ihren Gelehrten, d.h. aus Menschen, die dem Muͤßiggange und der kontemplativen Lebensart ergeben sind, besteht (jeder Polnische Jude wird von Geburt an zum Rabbiner bestimmt, und nur die groͤßte Unfaͤhigkeit dazu kann ihn von diesem Stande ausschließen), und diese neue Lehre außerdem den Weg zur Seeligkeit erleichtern sollte, indem sie das Fasten, das Nachtwachen, und bestaͤndiges Studium des Talmuds nicht nur fuͤr unnuͤtz, sondern sogar fuͤr die zur aͤchten Froͤmmigkeit noͤthige Heiterkeit des Gemuͤths als schaͤdlich ausgab, so war es natuͤrlich, daß ihre Anhaͤnger sich in einer kurzen Zeit weit ausbreiteten.

Man wallfahrtete nach K. M. und andern heiligen Oertern, wo sich die erleuchteten Obern dieser Sekte aufhielten. Junge Leute verließen ihre Aeltern, Frauen und Kinder, und giengen schaarenweise, diese hohen Obern aufzusuchen, und die neue Lehre aus ihrem Munde zu hoͤren.

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Die Veranlassung zur Entstehung dieser Sekte war die folgende. *) *) Der Biograph des B. J. glaubt, daß in unsern Zeiten, da uͤber geheime Gesellschaften so viel pro und kontra gesprochen wird, die Geschichte einer besondern geheimen Gesellschaft, worin B. J., obzwar nur eine kurze Zeit, verwickelt war, in seiner Lebensgeschichte nicht uͤbergangen werden duͤrfe; und in diesem Magazine verdient diese Geschichte in psychologischer Ruͤcksicht vorzuͤglich eine Stelle.

Es ist bekannt, daß seit der Zeit, da die Juden ihren Staat verloren, und unter andere Nationen, wo sie mehr oder weniger tolerirt werden, zerstreuet wurden, sie keine andere innere Verfassung haben, wodurch sie zusammengehalten werden, und bei ihrer politischen Zerstreuung dennoch ein organisirtes Ganzes ausmachen, als ihre Religionsverfassung. Jhre Vorsteher ließen sich daher stets nichts so sehr angelegen seyn, als, nach dem Verfalle ihres Staats, dieses Band, als das einzige, wodurch sie noch eine Nation ausmachen, desto mehr zu befestigen. Weil aber ihre Glaubenslehren und Religionsgesetze aus der heiligen Schrift ihren Ursprung nehmen, diese aber in Ansehung ihrer Auslegung und Anwendung auf besondere Faͤlle viel Unbestimmtes enthaͤlt, so mußte die Tradition zu Huͤlfe genommen werden, wodurch die Art der Auslegung der heiligen Schrift sowohl, als der Ableitung der, durch diese unbestimmt gelassenen Faͤlle,65 aus den bestimmten Gesetzen angegeben werden sollte. Diese Tradition konnte freilich nicht der ganzen Nation, sondern blos einem Korps derselben, gleichsam wie einer gesetzgebenden Kommission anvertrauet werden.

Damit wurde aber dem Uebel nicht abgeholfen. Die Tradition selbst ließ noch viel Unbestimmtes zuruͤck. Die Ableitung der besondern Faͤlle aus den allgemeinen, und die nach den Zeitumstaͤnden erforderlichen neuen Gesetze, gaben zu vielen Streitigkeiten Gelegenheit; aber selbst durch diese Streitigkeiten, und die Art ihrer Entscheidung, wurde dieses Korps immer zahlreicher, und sein Einfluß auf die Nation desto staͤrker. Die juͤdische Verfassung ist also ihrer Form nach aristokratisch, und daher allen Mißbraͤuchen einer solchen Verfassung ausgesetzt. Der ungelehrte Theil der Nation konnte, wegen der ihm aufliegenden Sorge fuͤr seine sowohl, als des ihm unentbehrlichen gelehrten Theils Unterhaltung, auf dergleichen Mißbraͤuche nicht aufmerksam gemacht werden. Hingegen entstanden von Zeit zu Zeit Maͤnner aus diesem gesetzgebenden Korps selbst, die nicht nur diese Mißbraͤuche ruͤgten, sondern sogar die Autoritaͤt desselben in Zweifel zogen. Von dieser Art war der Stifter der christlichen Religion, der sich gleich anfangs der Tyrannei dieser Aristokratie mit gutem Erfolge widersetzte, und das ganze Zeremonialgesetz auf seinen Ursprung, nehmlich auf ein reines Moralsy66 system (zu dem sich dieses Zeremonialsystem als Mittel zum Zwecke verhielt) zuruͤckfuͤhrte, wodurch zum wenigsten die Reformation Eines Theils der Nation bewerkstelligt wurde.

Von dieser Art war ferner der beruͤchtigte Schabati nZebi, am Ende des vorigen Jahrhunderts, der sich zum Messias aufwarf, und das ganze Zeremonialgesetz, besonders die Rabbinischen Satzungen, abschaffen wollte. Ein auf die Vernunft gegruͤndetes Moralsystem waͤre, nach den tief eingewurzelten Vorurtheilen der Nation zu damaliger Zeit, unvermoͤgend gewesen, eine heilsame Reformation zu bewerkstelligen. Man mußte daher Vorurtheile und Schwaͤrmereien Vorurtheilen und Schwaͤrmereien entgegen setzen. Dieses geschahe aber, nach der Entwickelung des B. J., auf folgende Weise. Eine geheime Gesellschaft, deren Stifter aus den Mißvergnuͤgten der Nation bestanden, hatte schon laͤngst in derselben Wurzel gefaßt. Ein gewisser Franzoͤsischer Rabbiner, mit Nahmen Rabbi Moses de Lion, soll, nach dem Rabbi Joseph Candia, den Sohar verfertigt, und als ein altes Buch, das den beruͤhmten Talmudisten Rabbi Simon Ben Jechoi zum Verfasser haͤtte, der Nation untergeschoben haben. Dieses Buch ist in der Syrischen Sprache, in einem sehr erhabenen Stile, abgefaßt, und enthaͤlt die Auslegung der heiligen Schrift nach den Grundsaͤtzen der Kabala, oder67 vielmehr diese Grundsaͤtze selbst, in Form einer Auslegung der heiligen Schrift vorgetragen, und gleichsam aus derselben geschoͤpft. Dieses Buch hat gleich dem Janus ein doppeltes Gesicht, und ertraͤgt daher zweierlei Art Explikation. Die eine ist diejenige, die in den kabalistischen Schriften weitlaͤuftig vorgetragen, und in ein System gebracht worden ist. Hier ist ein weites Feld fuͤr die Einbildungskraft, wo sie nach Belieben herumschwaͤrmen kann, ohne doch am Ende uͤber die Sache besser belehrt zu seyn als vorher. Es werden hier manche moralische und physische Wahrheiten bildlich vorgetragen, die sich zuletzt in das Labyrinth des hyperphysischen verlieren. Diese Art die Kabala zu behandeln ist den kabalistischen Litteratoren eigen.

Die zweite Art hingegen betrift den geheimen politischen Jnhalt derselben, und ist nur den Obern dieser geheimen Gesellschaft bekannt. Diese Obern selbst sowohl, als ihre Operationen, bleiben immer unbekannt, die Andern aber koͤnnen immerhin bekannt seyn. Diese koͤnnen die politischen Geheimnisse, die ihnen selbst unbekannt sind, nicht verrathen. Jene werden es nicht, weil es ihrem Jnteresse zuwider ist. Nur die kleineren (blos litterarischen) Geheimnisse werden dem Volke debitirt, und als Sachen von großer Wichtigkeit anempfohlen. Die groͤßeren (politischen) Geheimnisse werden nicht gelehrt, sondern, wenn68 sie von selbst verstanden worden sind, in Ausuͤbung gebracht.

Ein gewisser Kabalist, mit Nahmen Rabbi Joel Baalschem, *)*) Baalschem heißt derjenige, der sich mit der praktischen Kabala, d.h. mit Geisterbeschwoͤrung und Amuletenschreiben abgiebt, wozu die Nahmen Gottes und mancherlei Geister gebraucht werden. wurde durch einige gluͤckliche Kuren, die er durch seine medizinischen Kenntnisse und Taschenspielerkuͤnste bewerkstelligte, zu dieser Zeit sehr beruͤhmt, indem er vorgab, dieses alles nicht durch natuͤrliche Mittel, sondern blos durch Huͤlfe der Kabala Maschiith (die praktische Kabala) und den Gebrauch der heiligen Nahmen bewerkstelligt zu haben. Auf diese Art spielte er in P. eine sehr gluͤckliche Rolle.

Er war auch auf Nachfolger in seiner Kunst bedacht. Unter seinen Schuͤlern waren einige, die seine Profession ergriffen, und sich durch gluͤckliche Kuren und Entdeckung der Diebstaͤhle beruͤhmt machten. Andre, von groͤßerm Genie und edlerer Denkungsart, machten sich weit wichtigere[ Plaͤne]: sie sahen ein, daß sie durch das Zutrauen des Volks sowohl ihr eigenes als das allgemeine Jnteresse wuͤrden aufs Beste befoͤrdern koͤnnen, und wollten es durch Aufklaͤrung beherrschen; ihr Plan war also moralisch und politisch zugleich. *)*) Da B. J. nie zum Range eines Obern in dieser Gesellschaft gelangt ist, so kann die Darstellung ihres Plans nicht als ein in Erfahrung gebrachtes Faktum, sondern blos als ein durch Reflexion herausgebrachtes Raisonnement betrachtet werden. Jn wiefern dieses Raisonnement gegruͤndet sey, laͤßt sich blos aus Analogie nach Regeln der Wahrscheinlichkeit bestimmen. Anfangs69 schien es als wollten sie blos die in dem juͤdischen Religions - und Moralsystem eingeschlichenen Mißbraͤuche abschaffen. Dieses mußte aber nothwendig eine voͤllige Abschaffung des ganzen Systems nach sich ziehn.

Die Hauptsachen, die sie angriffen, waren 1) der Mißbrauch der Rabbinischen Gelehrsamkeit, die, anstatt die Gesetze so viel als moͤglich zu simplifiziren, und jedem kenntlich zu machen, dieselben immer noch mehr verwirrt und unbestimmt seyn laͤßt; die ferner sich blos mit dem Studium der Gesetze beschaͤftigt (daher ihr das Studium derjenigen Gesetze, die jetzt von keinem Gebrauche sind (der Opfer, der Reinigung u. dergl. ), eben so wichtig, als derjenigen ist, wovon noch Gebrauch gemacht wird), statt daß sie hauptsaͤchlich sich mit der Ausuͤbung derselben beschaͤftigen sollte, indem das Studium selbst nicht Zweck, sondern blos Mittel zur Ausuͤbung ist; und die endlich bei der Ausuͤbung selbst blos auf das aͤußere Zeremoniel, und nicht auf den moralischen Zweck Ruͤcksicht nimmt.

2) Der Mißbrauch der Froͤmmigkeit der sogenannten Bußfertigen. Diese befleißigen sich zwar der Ausuͤbung der Tugend, da aber70 ihr Motiv zur Tugend nicht die in der Vernunft gegruͤndete Erkenntniß Gottes und seiner Vollkommenheit ist, sondern vielmehr in falschen Vorstellungen von Gott und seinen Eigenschaften besteht, so konnte es nicht anders seyn, als daß sie auch die wahre Tugend verfehlten, und auf eine eingebildete Art von Tugend geriethen, und daß, anstatt daß sie aus Liebe zu Gott, und Neigung ihm aͤhnlich zu werden, sich der Sklaverei ihrer sinnlichen Begierden und Leidenschaften haͤtten entziehn, und nach Gesetzen des in der Vernunft gegruͤndeten freien Willens zu handeln sich bestreben sollen, sie vielmehr durch Vernichtung ihrer wirkenden Kraͤfte selbst, ihre Begierden und Leidenschaften zu vernichten suchten, wie wir dieses schon oben durch einige traurige Beispiele dargethan haben.

Die Aufklaͤrer hingegen forderten als Bedingung der wahren Tugend ein heiteres, zu allen Arten von Thaͤtigkeit aufgelegtes, Gemuͤth; sie erlaubten nicht nur, sondern empfahlen sogar einen maͤßigen, zu Erlangung der Heiterkeit des Gemuͤths erforderlichen Genuß aller Arten der Vergnuͤgungen. Jhr Gottesdienst bestand in einer freiwilligen Entkoͤrperung, d.h. Abstrahirung ihrer Gedanken von allen Dingen außer Gott, ja sogar von ihrem individuellen Jch, und Vereinigung mit Gott; woraus eine Art von Selbstverlaͤugnung bei ihnen entstand, so daß sie alle in diesem Zustande71 unternommnen Handlungen nicht sich selbst, sondern Gott zuschrieben.

Jhr Gottesdienst bestand also in einer Art spekulativer Andacht, wozu sie keine besondere Zeit oder Formel fuͤr nothwendig hielten, sondern einem jeden uͤberließen, ihn nach dem Grade seiner Erkenntniß zu bestimmen; doch waͤhlten sie dazu hauptsaͤchlich die zum oͤffentlichen Gottesdienste bestimmten Stunden. Jn ihrem oͤffentlichen Gottesdienste beflissen sie sich hauptsaͤchlich der vorerwaͤhnten Entkoͤrperung, d.h. sie vertieften sich so sehr in die Vorstellung der goͤttlichen Vollkommenheit, daß sie dadurch die Vorstellung aller andern Dinge, und sogar ihres eignen Koͤrpers verlohren, so daß der Koͤrper ihrem Vorgeben nach zu dieser Zeit ganz gefuͤhllos seyn mußte.

Da es aber mit einer solchen Abstraktion sehr schwer hielt, so bemuͤhten sie sich durch allerhand mechanische Operationen (Bewegungen und Schreien) sich in diesen Zustand, wenn sie durch andre Vorstellungen aus demselben herausgekommen waren, wieder zu versetzen, und sich darin, waͤhrend der ganzen Andachtszeit, ununterbrochen zu erhalten. Es war lustig anzusehn, wie sie oft ihr Beten durch allerhand seltsame Toͤne und possierliche Bewegungen (die als Drohungen und Scheltworte gegen ihren Gegner, den Satan, der ihre Andacht zu stoͤren sich bemuͤhe, anzusehn waren) unterbrachen, und wie sie sich dadurch so abar -72 beiteten, daß sie gemeiniglich bei Endigung des Betens ganz ohnmaͤchtig niederfielen.

Es ist auch nicht zu leugnen, daß, so gegruͤndet auch ein solcher Gottesdienst an sich seyn mag, er auch eben so sehr dem Mißbrauche unterworfen sey. Die auf die Heiterkeit des Gemuͤths erfolgende innere Thaͤtigkeit, kann nur nach dem Grade der erlangten Erkenntniß Statt finden. Die Selbstzernichtung vor Gott ist nur alsdann gegruͤndet, wenn das Erkenntnißvermoͤgen so sehr mit seinem Gegenstande (der Groͤße des Gegenstandes wegen) beschaͤftigt ist, daß der Mensch dadurch gleichsam außer sich blos im Gegenstande existirt. Jst hingegen das Erkenntnißvermoͤgen in Ansehung seines Gegenstandes eingeschraͤnkt, so daß es keines bestaͤndigen Fortschrittes faͤhig ist, so muß die erwaͤhnte Thaͤtigkeit, durch Konzentrirung auf diesen einzigen Gegenstand, vielmehr gehemmt als befoͤrdert werden.

Einige einfaͤltige Maͤnner aus dieser Sekte antworteten zwar, wenn man sie, da sie den ganzen Tag uͤber mit der Pfeife im Munde muͤßig herumgiengen, frug, was sie doch zur Zeit daͤchten? » wir denken Gott! « Diese Antwort wuͤrde befriedigend gewesen seyn, wenn sie bestaͤndig, durch eine hinlaͤngliche Naturerkenntniß, ihre Erkenntniß von den goͤttlichen Vollkommenheiten zu erweitern gesucht haͤtten. Da dies aber mit ihnen der Fall nicht war, sondern ihre Naturerkenntniß sehr einge -73 schraͤnkt war; so mußte der Zustand, worin sie ihre Thaͤtigkeit auf einen (in Ansehung ihrer Faͤhigkeit) unfruchtbaren Gegenstand konzentrirten, unnatuͤrlich seyn. Ferner konnten sie nur alsdann ihre Handlungen Gott zurechnen, wenn sie Folgen einer richtigen Erkenntniß Gottes waren; waren sie aber Folgen der Eingeschraͤnktheit dieser Erkenntniß, so musten sie nothwendig auf Gottes Rechnung allerhand Excesse begehn, wie zum Ungluͤck der Erfolg gelehret hat.

Daß aber diese Sekte sich so geschwind ausbreitete, und ihre neue Lehre bei dem groͤßten Theile der Nation so vielen Beifall fand, laͤßt sich sehr leicht erklaͤren. Die natuͤrliche Neigung zum Muͤßiggang und zur spekulativen Lebensart, des groͤßten Theils der Nation (der von der Geburt an zum Studiren bestimmt wird), die Trockenheit und Unfruchtbarkeit des rabbinischen Studiums, und die große Last des Zeremonialgesetzes, die diese Lehre zu erleichtern verspricht, endlich die Neigung zur Schwaͤrmerei und zum Wunderbaren, die durch diese Lehre genaͤhrt wird, sind hinreichend, dieses Phaͤnomen begreiflich zu machen.

Anfangs widersetzten sich zwar die Rabbiner und die Frommen nach dem alten Stil, der Verbreitung dieser Sekte, diese behielt aber dennoch, aus vorerwaͤhnten Gruͤnden, die Oberhand. Es wurden Feindseeligkeiten von beiden Seiten ausge -74 uͤbt. Jede Parthei suchte sich Anhaͤnger zu verschaffen. Es entstand eine Gaͤhrung in der Nation, und die Meinungen wurden getheilt.

B. J. konnte sich damals von dieser Sekte noch keinen richtigen Begrif machen, und wußte nicht, was er davon denken sollte, bis es sich einmal ereignete, daß ein junger Mensch, der schon in diese Gesellschaft initiirt war, der schon das Gluͤck gehabt hatte, die hohen Obern selbst von Angesicht zu Angesicht zu sprechen, B. J. Aufenthaltsort durchreiste. B. J. suchte sich diese Gelegenheit zu Nutze zu machen, und bat den Fremden um einige Aufklaͤrung uͤber die innere Einrichtung dieser Gesellschaft, uͤber die Art darin aufgenommen zu werden u.s.w.

Dieser, der selbst noch im ersten Grade war, und folglich von der innern Einrichtung dieser Gesellschaft noch nichts wußte, konnte auch dem B. J. daruͤber keine Auskunft geben, was aber die Art, darin aufgenommen zu werden, anbetrift, so versicherte er demselben, daß sie die simpelste von der Welt sey. Jeder Mensch, der einen Trieb nach Vollkommenheit in sich spuͤre, und die Art nicht wisse, wie er denselben befriedigen, oder die Hindernisse, die seiner Befriedigung entgegen staͤnden, aus dem Wege raͤumen solle, haͤtte nichts mehr noͤthig, als sich an die hohen Obern zu wenden, und eo ipso gehoͤre er schon als Mitglied zu dieser Gesellschaft. Er habe nicht einmal noͤthig (wie es sonst mit den Medicinern der Fall ist) diesen hohen75 Obern von seinen moralischen Schwaͤchen, seiner bisher gefuͤhrten Lebensart u. dergl. etwas zu melden, indem diesen hohen Obern nichts unbekannt sey; sie durchschauten das menschliche Herz, und entdeckten alles, was in seinen geheimen Falten verborgen sey; sie koͤnnten das Zukuͤnftige vorher sagen, und das Entfernte gegenwaͤrtig machen.

Jhre Predigten und moralischen Lehren wuͤrden nicht (wie es gemeiniglich zu geschehen pflege) von ihnen erst uͤberdacht und zweckmaͤßig geordnet, indem diese Art nur demjenigen zukaͤme, der sich als etwas fuͤr sich Bestehendes und Wirkendes, von Gott Getrenntes, betrachte. Diese hohen Obern aber hielten nur alsdann ihre Lehren fuͤr goͤttlich und folglich untruͤglich, wenn sie die Folge der Selbstvernichtung vor Gott waͤren, d.h. wenn sie ihnen ex tempore, nach Erfordern der Umstaͤnde, ohne daß sie etwas dazu beitruͤgen, einfielen.

B. J., den diese Beschreibung ganz entzuͤckte, bat darauf den Fremden, daß er ihm doch einige dieser goͤttlichen Lehren mittheilen moͤchte. Dieser schlug die Hand vor die Stirne (als wartete er auf Eingebung des heiligen Geistes), wandte sich darauf mit einer feierlichen Miene und halbentbloͤßten Armen, die er (ungefaͤhr wie Korporal Trim bei Vorlesung der Predigt) in Bewegung brachte, zu B. J., und fieng folgendermaßen an:

76

» Singt Gott ein neues Lied, sein Lob ist in der Gemeinde der Frommen (Psalm 1491,1.). Unsre hohen Obern erklaͤren diesen Vers auf folgende Art: die Eigenschaften Gottes, als des allervollkommensten Wesens, muͤssen die Eigenschaften eines jeden eingeschraͤnkten Wesens weit uͤbertreffen, folglich auch sein Lob (als Ausdruck seiner Eigenschaften) das Lob dieser. Bis jetzt bestand Gottes Lob darin, daß man ihm uͤbernatuͤrliche Wuͤrkungen (das Verborgne zu entdecken, das Zukuͤnftige vorher zu sehn, mit seinem bloßen Willen unmittelbar zu wirken u. dergl. ) beilegte. Nun aber sind die Frommen (die hohen Obern) im Stande, solche uͤbernatuͤrliche Handlungen selbst zu verrichten, und da Gott also hierin vor ihnen keinen Vorzug hat, muß man bedacht seyn, ein neues Lob ausfindig zu machen, das nur Gott allein zukommen kann. «

B. J., entzuͤckt uͤber die sinnreiche Art, die heilige Schrift auszulegen, bat den Fremden um noch mehrere Explikationen dieser Art. Dieser fuhr also in seiner Begeisterung fort: » Als der Spieler (Musikus) spielte, kam auf ihn der Geist Gottes (II. Buch der Koͤnige 3, 15.). Dies legen sie so aus: So lange sich der Mensch selbstthaͤtig zeigt, ist er unfaͤhig, die Wuͤrkung des heiligen Geistes zu empfangen; zu diesem Behuf muß er sich als ein Jnstrument, blos leidend verhalten. Die Bedeutung dieser Stelle ist also:77 Wenn der Spieler (קנםת) (der Diener Gottes) dem Jnstrumente gleich wird (קנב), alsdann koͤmmt auf ihn der Geist Gottes. *) *) Das Sinnreiche dieser Erklaͤrungsart besteht darin, daß im Hebraͤischen קנ sowohl das Jnfinitivum von Spielen, als ein musikalisches Jnstrument bedeuten, und das ב, das demselben vorgesetzt wird, sowohl mit als, als auch mit gleich ausgelegt werden kann. Die hohen Obern, die die Stellen der heiligen Schrift aus dem Zusammenhange herausrissen, indem sie dieselben blos als Vehikel zu ihren Lehren betrachteten, waͤhlten daher diejenige Bedeutung, die ihrem Prinzip von der Selbstvernichtung vor Gott am angemessensten war.

Nun hoͤren Sie noch, sagte der Fremde ferner, die Erklaͤrung einer Stelle aus der Mischea, wo es heißt: die Ehre deines Naͤchsten muß dir so lieb seyn als die deinige.

Unsre Lehrer erklaͤren dieses auf folgende Art: Es ist gewiß, daß kein Mensch daran Vergnuͤgen finden wird, sich selbst Ehre anzuthun, dieses waͤre ganz laͤcherlich. Aber eben so laͤcherlich ist es, auf Ehrenbezeugungen eines andern zu viel zu halten, da wir doch durch diese Ehrenbezeugungen keinen groͤßern innern Werth erhalten, als wir schon haben. Diese Stelle will daher so viel sagen: Die Ehre deines Naͤchsten (die dein Naͤchster dir erzeigt) muß dir so wenig lieb seyn, als die deinige (die du dir selbst erzeigst). « B. J. konnte nicht78 anders als, sowohl uͤber die Vortreflichkeit der Gedanken, wie auch uͤber die sinnreiche Exegetik, womit sie gestuͤtzt wurden, vor Bewunderung außer sich gerathen. *) *) Jn Ansehung des letzten Umstandes glaubt er sich noch jetzt nicht schaͤmen zu duͤrfen, indem er, da er doch gewiß kein Anhaͤnger des christlichen Glaubens ist, dennoch folgende Explikation eines katholischen Theologen von einer Stelle in dem Ezechiel (44, 1 u. 2.) nicht genug bewundern kann, wo es heißt: Und er (der Geist Gottes) fuͤhrte mich wiederum zu dem Thore des aͤußern Heiligthums, das nach vornezu gerichtet ist; und dieses war zugeschlossen. Und der Herr sprach zu mir: dies Thor soll zugeschlossen bleiben, und nicht aufgethan werden: und niemand soll darein kommen. Denn der Herr, der Gott Jsraels kommt hierdurch. Es soll zugeschlossen bleiben. Diesem Exegesen zufolge soll dieses eine prophetische Allegorie von der M. M. seyn. Man muß gestehn, daß keine sinnreichere Auslegung erdacht werden kann. Man sieht auch hieraus, welchen Einfluß Leidenschaften auf die Erhoͤhung der Erkenntnißkraͤfte haben, und wie Schwaͤrmerei witzig macht; jeder Ausdruck ist hier der Sache angemessen; das Thor des aͤußern Heiligthums, das nach vornezu gerichtet ist, und dieses: war zugeschlossen. Dies Thor soll zugeschlossen bleiben, und niemand soll darein kommen; denn der Herr, der Gott Jsraels, koͤmmt hierdurch etc. Vortreflich! Wer erkennt hier nicht die M. M. an ihren Attributen?

79

B. J., dessen Einbildung durch diese Beschreibungen aufs Hoͤchste gespannt wurde, und der folglich nichts so sehnlich wuͤnschte, als das Gluͤck zu haben, Mitglied dieser ehrwuͤrdigen Gesellschaft zu werden, beschloß eine Reise nach M. zu unternehmen, wo sich der hohe Obere B. befand. Er erwartete also die Endigung seiner Dienstzeit (welche nur noch einige Wochen dauerte) mit der groͤßten Ungedult. So bald diese zu Ende war, und er seinen Lohn erhalten hatte, trat er, anstatt nach Hause (das nur zwei Meilen von da entfernt war) zu reisen, seine Pilgerschaft an. Diese Reise dauerte einige Wochen.

Endlich kam er gluͤcklich in M. an. Nachdem er von seiner Reise ausgeruht hatte, gieng er nach dem Hause des hohen Obern, in der Meinung, ihm gleich vorgestellt werden zu koͤnnen. Aber man sagte ihm, daß er denselben noch nicht sprechen koͤnne, daß er aber auf den Schabath mit den andern Fremden, die ihn zu besuchen hieher gekommen waͤren, bei ihm zu Tische invitirt sey; bei welcher Gelegenheit er das Gluͤck haben wuͤrde, diesen heiligen Mann von Angesicht zu Angesicht zu sehn, und die erhabensten Lehren aus seinem Munde zu hoͤren, so daß er (B. J.) dieses oͤffentliche Entrevue, dennoch, wegen des Jndividuellen sich blos auf ihn Beziehenden, das er darin bemerken wuͤrde, als eine partikulaͤre Audienz betrachten koͤnnte.

80

B. J. kam also am Schabath zu diesem feierlichen Mahle. Er fand da eine große Anzahl ehrwuͤrdiger Maͤnner, die hier von verschiedenen Gegenden zusammen gekommen waren. Endlich erschien auch der große Mann in einer ehrfurchteinfloͤßenden Gestalt, in weißen Atlas gekleidet. Sogar seine Schuhe und Tobaksdose waren weiß (die weiße Farbe ist bei den Kabalisten die Farbe der Gnade). Er gab einem jeden der Neuangekommenen sein Schalam, d.h. er begruͤßte ihn. Man setzte sich zu Tische. Am Tische herrschte eine feierliche Stille. Nachdem man abgespeiset hatte, stimmte der hohe Obere eine feierliche den Geist erhebende Melodie an, hielt einige Zeit die Hand vor die Stirne, und fieng darauf an zu rufen: Z. aus H! M. aus R.! B. J. aus N. u.s.w. alle die Neuangekommenen bei ihren Nahmen, und den Nahmen ihrer Wohnoͤrter, woruͤber diese nicht wenig erstaunten. Jeder von ihnen sollte irgend einen Vers aus der heiligen Schrift hersagen. Es sagte jeder seinen Vers. Darauf fieng der hohe Obere an eine Predigt zu halten, der die besagten Verse zum Text dienen mußten, so daß, obschon es aus ganz verschiedenen Buͤchern der heiligen Schrift hergenommene unzusammenhaͤngende Verse waren, er sie dennoch mit einer solchen Kunst verband, als wenn sie ein einziges Ganzes gewesen waͤren; und was noch sonderbarer war, jeder dieser Maͤnner glaubte in dem Theile der Predigt, der auf seinem Verse81 beruhte, etwas zu finden, das sich besonders auf seine individuellen Herzensangelegenheiten beziehe. Sie geriethen also daruͤber, wie natuͤrlich, in die groͤßte Verwunderung. Es dauerte aber nicht lange, so fieng B. J. schon an von der hohen Meinung gegen diesen Obern und die ganze Gesellschaft uͤberhaupt nachzulassen. Er bemerkte, daß ihre sinnreiche Exegetik im Grunde falsch, und noch dazu blos auf ihre ausschweifenden Grundsaͤtze (Selbstvernichtung u.s.w.) eingeschraͤnkt war; hatte man diese einmal gehoͤrt, so bekam man nichts Neues mehr zu hoͤren. Jhre sogenannten Wunderwerke ließen sich ziemlich natuͤrlich erklaͤren. Durch Korrespondenzen, Spione, und einen gewissen Grad von Menschenkenntniß, wodurch sie, vermittelst einer Physiognomik und geschickt angebrachter Fragen, indirekte die Geheimnisse des Herzens herauszulocken wußten,[ brachten] sie sich bei diesen einfaͤltigen Menschen den Ruf zuwege, daß sie prophetische Eingebungen, haͤtten.

So mißfiel ihm auch die ganze Gesellschaft nicht wenig, wegen ihres Zynischen Wesens und ihrer Ausschweifung in der Froͤlichkeit. Um nur ein einziges Beispiel dieser Art anzufuͤhren, so kamen sie einst zur Betstunde im Hause des Obern zusammen. Einer unter ihnen kam etwas spaͤt; die andern fragten ihn nach der Ursache davon. Jener antwortete, das geschaͤhe darum, weil seine82 Frau diese Nacht mit einer Tochter niedergekommen sey. So bald sie dieses hoͤrten, fiengen sie an ihm auf eine tumultuarische Art zu gratuliren. Der hohe Obere kam aus seinem Kabinet dazu, und fragte nach der Ursache ihres Laͤrmens. Sie sagten, wir gratuliren dem P., dessen Frau ein Maͤdchen zur Welt gebracht hat; darauf antwortete jener mit großem Unwillen: Ein Maͤdchen! er soll ausgepeitscht werden. *) *) Ein Zug dieser, wie aller unkultivirten Menschen Verachtung gegen das andere Geschlecht.

Der arme P. protestirte dagegen. Er konnte nicht begreifen, warum er dafuͤr buͤßen solle, daß seine Frau ein Maͤdchen zur Welt gebracht habe. Aber es half nichts, man bemaͤchtigte sich seiner, legte ihn auf die Schwelle, und peitschte ihn derb aus. Diese Herren (außer dem einzigen, der das Opfer dafuͤr war) geriethen dadurch in eine lustige Laune, worauf der Obere sie mit folgenden Worten zum Gebete ermahnte: Nun Bruͤder, dient Gott mit Freuden!

B. J. wollte in dem Orte nicht laͤnger bleiben. Er ließ sich also von dem hohen Obern den Segen geben, nahm Abschied von der Gesellschaft, mit dem Vorsatze, sie auf ewig zu verlassen, und reiste wieder nach Hause.

Nun noch etwas von der innern Einrichtung dieser Gesellschaft.

83

Die hoben Obern dieser Sekte koͤnnen, nach der Darstellung des B. J., in vier Klassen gebracht werden: 1) in die der Klugen; 2) der Listigen; 3) der Starken; *)*) B. J. hat einen von dieser Art kennen gelernt. Dieser war ein junger Mensch von etwa 22 Jahren, von sehr schwacher Leibeskonstitution, hager und blaß von Gesicht. Er reiste in P. als Missionair herum. Dieser Mann hatte in seinem Ansehn so etwas Fuͤrchterliches, Gehorsamgebietendes, daß er dadurch die Menschen ganz despotisch beherrschte. Wo er hinkam, fragte er gleich nach der Einrichtung der Gemeinde, verwarf das, was ihm mißfiel und machte neue Einrichtungen, die aufs puͤnktlichste befolgt wurden. Die Aeltesten der Gemeinde, mehrentheils alte ehrwuͤrdige Maͤnner, die ihn an Gelehrsamkeit weit uͤbertrafen, zitterten vor seinem Angesicht. Ein großer Gelehrter, der an die Unfehlbarkeit dieser hohen Obern nicht hatte glauben wollen, wurde durch einen drohenden Blick, den jener auf ihn warf, so sehr von Schrecken ergriffen, daß er darauf in ein heftiges Fieber verfiel, woran er auch gestorben ist. Diesen außerordentlichen Muth und Entschlossenheit hat dieser Mann blos durch fruͤhzeitige Uebung im Stoizismus erlangt. 4) der Guten.

Die oberste, alle anderen regierende Klasse, machen, wie natuͤrlich, die Klugen aus. Diese sind erleuchtete Maͤnner, die eine tiefe Kenntniß der Schwaͤchen der Menschen, und der Triebfedern ihrer Handlungen erlangt, und84 fruͤhzeitig genug diese Wahrheit eingesehn haben: Klugheit ist besser denn Staͤrke, indem Staͤrke zum Theil von Klugheit abhaͤngig, Klugheit von Staͤrke aber unabhaͤngig ist. Ein Mensch mag so viele Kraͤfte, und sie in einem solchen hohen Grade besitzen, als er will, so ist doch seine Wirkung immer begraͤnzt. Durch Klugheit aber und eine Art psychologischer Mechanik, oder die Einsicht in den bestmoͤglichen Gebrauch dieser Kraͤfte und ihre Dirigirung koͤnnen sie ins Unendliche verstaͤrkt werden. Sie haben sich daher auf die Kunst gelegt, freie Menschen zu beherrschen, d.h. den Willen und die Kraͤfte anderer Menschen so zu gebrauchen, daß, indem diese blos ihren eignen Zweck zu befoͤrdern glauben, sie in der That den Zweck ihrer Obern mit befoͤrdern. Dieses kann durch eine zweckmaͤßige Verbindung und Ordnung dieser Kraͤfte erhalten werden, so daß man durch den geringsten Stoß auf dieses Organ, die groͤßte Wirkung hervor zu bringen im Stande ist. Es ist hier kein Betrug, weil, wie vorausgesetzt worden, diese andern selbst dadurch ihren Zweck am besten erreichen.

Die Listigen gebrauchen auch den Willen und die Kraͤfte anderer zur Erreichung eines Zwecks, da sie aber in Ansehung ihres Zweckes kurzsichtiger oder ungestuͤmer als die vorigen sind, so geschieht es oft, daß sie ihre Zwecke auf dieser Andern Unkosten zu erreichen suchen; ihre Kunst also besteht nicht bloß85 darin, daß sie die Erreichung ihrer Zwecke (wie die Erstern), sondern daß sie die Nichterreichung der Zwecke der Andern vor denselben sorgfaͤltig verbergen.

Die Starken sind Maͤnner, die durch ihre angeborne oder erworbene moralische Staͤrke uͤber die Schwaͤche Anderer herrschen, besonders wenn es eine solche Staͤrke ist, die man bei andern selten findet, z. B. die Beherrschung der Leidenschaften außer einer einzigen, die sie zum Zweck ihrer Handlungen machen.

Die Guten sind schwache Menschen, deren Erkenntnisse als Willenskraͤfte sich blos leidend verhalten, und deren Zwecke nicht durchs Beherrschen, sondern durchs Beherrschenlassen erreicht werden.

Die oberste Klasse, nehmlich der Klugen, weil sie alle die Andern uͤbersieht, von ihnen aber nicht uͤbersehn wird, regiert natuͤrlicher Weise alle die Andern. Sie bedient sich der guten Seite der Listigen, und sucht sie von der andern Seite unschaͤdlich zu machen, indem sie diese uͤberlistet, so daß, indem diese zu betriegen glaubt, selbst betrogen wird.

Sie bedient sich ferner der Starken zur Erreichung wichtiger Zwecke, sucht aber, wenn es noͤthig ist, durch Entgegensetzung mehrerer, ob schon geringerer, Kraͤfte, ihnen Einhalt zu thun.

Endlich bedient sie sich der Guten, nicht blos zur unmittelbaren Erreichung ihres Zwecks bei die -86 sen, sondern auch zur Erreichung ihres Zweckes bei andern, indem sie diese Schwachen den andern, als ein nachahmungswuͤrdiges Muster der Submission empfiehlt, und dadurch die aus der Selbstthaͤtigkeit dieser andern entspringenden Hindernisse aus dem Wege raͤumt.

Diese hoͤchste Klasse faͤngt gemeiniglich mit dem Stoizismus an, und endigt mit dem feinen Epikuraͤismus. Jhre Mitglieder bestehen aus den Frommen von der ersten Art, d.h. aus solchen, die sich eine geraume Zeit der strengsten Ausuͤbung der Religions - und Moralgesetze, und Beherrschung ihrer Begierden und Leidenschaften gewidmet haben; da sie aber nicht, wie jene, den Stoizismus selbst als Zweck, sondern blos als Mittel zum hoͤchsten Zweck des Menschen, nehmlich der Gluͤckseeligkeit, betrachten, so bleiben sie nicht dabei stehn, sondern, nachdem sie davon so viel, als zu diesem Zwecke noͤthig ist, in ihre Gewalt bekommen haben, eilen sie zum Zwecke selbst, d.h. zum Genusse der Gluͤckseeligkeit.

Durch ihre Uebung im strengsten Stoizismus ist ihr Gefuͤhl fuͤr alle Arten des Vergnuͤgens erhoͤhet und veredelt worden, anstatt daß es bei den groben Epikuraͤern immer stumpfer wird. Durch diese Uebung sind sie auch in den Stand gesetzt worden, ein jedes vorkommende Vergnuͤgen so lange zu verschieben, bis sie seinen wahren Werth bestimmt haben, welches bei den groben Epikuraͤern der Fall nicht ist.

87

Die Veranlassung zum Stoizismus kann aber Anfangs blos im Temperamente gelegen haben, und nur durch eine Art von Selbsttaͤuschung auf Rechnung der Selbstthaͤtigkeit geschoben worden seyn. Diese Eitelkeit hat dann Muth zu wirklichen Unternehmungen dieser Art gemacht, welcher Muth durch den gluͤcklichen Erfolg immer mehr angefeuert worden.

Noch viel weniger ist es von diesen Obern (die keine Maͤnner von Wissenschaften sind) zu vermuthen, daß sie nach bloßer Anleitung der Vernunft auf dies System gerathen waͤren, vielmehr war wohl bei ihnen die Veranlassung dazu erstlich das Temperament, zweitens Religionsbegriffe, und erst hinterher mochten sie zu einer deutlichen Erkenntniß und Befolgung dieses Systems in seiner Reinheit gelangen.

Diese Sekte war also (in Ansehung des Zwecks und der Mittel) eine Art geheime Gesellschaft, die sich beinahe der Herrschaft der ganzen Nation bemaͤchtigt haͤtte, wodurch eine der groͤßten Revolutionen in derselben zu erwarten war, haͤtten nicht die Ausschweifungen einiger ihrer Mitglieder so viele Bloͤßen gezeigt, und ihren Gegnern die Waffen gegen sie in die Hand gegeben.

Einige darunter, die sich als aͤchte Zyniker zeigen wollten, verletzten alle Gesetze des Wohlstandes, liefen auf oͤffentlicher Straße nackend herum, verrichteten in Gegenwart anderer ihre natuͤrlichen88 Beduͤrfnisse u. dergl. Durch ihr Extemporiren (dem Prinzip der Selbstvernichtung zu Folge) brachten sie in ihren Predigten allerhand naͤrrisches, unverstaͤndliches und verworrenes Zeug hervor. Einige wurden dadurch wahnwitzig, so daß sie glaubten in der That nicht mehr zu existiren. Endlich kam noch ihr Stolz und Verachtung gegen andre, die nicht von ihrer Sekte waren, besonders gegen die Rabbiner, dazu, die, obschon sie ihre Maͤngel hatten, dennoch weit thaͤtiger und brauchbarer waren, als diese unwissenden Muͤßiggaͤnger.

Man fieng an ihre Schwaͤchen aufzudecken, ihre Zusammenkuͤnfte zu stoͤren, und sie uͤberall zu verfolgen. Dieses wurde vorzuͤglich durch die Autoritaͤt eines beruͤhmten, bei der Judenschaft in großen Ansehn stehenden Rabbiners, Elias aus[ Wilna,] bewerkstelligt; so daß man jetzt kaum einige hin und wieder zerstreute Spuren von dieser Gesellschaft findet.

Nachricht

Jn diesem Fragmente aus B.36J.Lebensgeschichte ist (9. B. 1. St. S. 33.) bei der Erzaͤhlung, wie B. J. die lateinische und deutsche Schrift gelernt hat, ein Umstand, der zur Erlaͤuterung dieser Stelle unentbehrlich ist, weggelassen worden, nehmlich dieser, daß B. J. die Nahmen und Ordnung der Buchstaben schon vorher zufaͤlliger Weise erlernt hatte.

89

5. Theanthis und ihr Schweizerphilosoph.Eine psychologische Geschichte.

37

Die groͤßte Geschichte gebiert sich aus Nichts, sagt ein alter Dichter. So faͤngt eben meine kommende Geschichte von einem einfaͤltigen Maͤdchen an, das der klugen Welt wie Nichts ist, das den Nahmen einer Einfaͤltigen doppelt verdient, denn mit Einfalt der physischen Natur in ihrer simpeln Schoͤnheit trieb es auch die Einfalt der moralischen Natur aufs hoͤchste, nahm damit einen von Natur kaltsinnigen armen Philosophen ein, der beiderlei Einfalt im Wahrnehmen, Denken, Handeln zu beobachten gerade geneigt und beflissen, allmaͤhlich beide zusammen im Gleichgewicht, das die ganze Welt erhaͤlt, nach seiner guten Meinung zur wesentlichen Einfaltsmetaphysik zu befoͤrdern dachte, wie ihm diese endlich popularisirt, und allgemeinnuͤtzig ein durchgaͤngig praktisch guͤltiges Einfaltsgesetz der allgemein nothwendigen Beziehung aller Philosophie und Vernunftkritik gab; Jedem seine Behoͤrde: Friedrichs des Großen Symbolum, den Jnbegrif aller Weisheit in allgemeiner harmonischer Billigkeit, da diese Billigkeit die lautere Vernunft selbst90 in aller Hoͤhe, Tiefe, Breite und Laͤnge der anstaͤndigen Menschheit wohl seyn soll, die allbefriedigende Convenienz, was bringen sonst alle gute Beobachter, Denker, Vergleicher am Ende aller Menschlichkeit und Toleranz heraus?

Toleranz beduͤrfen wir alle, wie der Philosoph meiner Geschichte und seine einfaͤltige Schaͤferin, die einander nach achtzehnjaͤhriger Herzensbekanntschaft endlich auf einem mit Wolken umgebenen Bergschlosse heiratheten, nach tausend durchdrungnen und uͤberstiegnen Schwierigkeiten, Proben und Gefahren, nachdem er gut das 51ste, sie aber das 42ste Jahr zuruͤckgelegt hatte.

Jacob und Rahel waren nicht so alt, als sie einander um den Preis von vierzehn Dienstjahren zum ganzen frohen Besitzrecht erhielten. Da siehest du schon, liebe Lesegesellschaft von Ost, West, Suͤd oder Nord! wenn je diese Seltenheit das Gluͤck hat, dir unter Augen zu kommen, daß die Geschichte von Nichts zu einer der groͤßten Merkwuͤrdigkeiten steigt. Da giebts auf einmal einen schoͤnen großen Standpunkt, weit hinter sich und vor sich miteinander zu sehen. Wen siehest du lieber zuerst? das Frauenzimmer geht voran, sagt das Spruͤchwort der Mode, und die Schoͤnheit der Natur sieht man auch eher als den Verstand darin, davon, darzu, nicht wahr?

91

Unsre einfaͤltige Schaͤferin war, nach gewissen gemurmelten Nachrichten, ein Kind der Liebe, das erste ihrer Eltern, die ziemlich geschwind heirathen mußten, damit nicht etwan eine fruͤhe Frucht voraus komme. Noch ziemlich gluͤcklich und nicht gar zu fruͤhe kam ein engelschoͤnes Toͤchterchen ans Licht der Welt, in einer Schaͤferhuͤtte auf dem Lande, wohin sich die Mutter im Herbst gefluͤchtet hatte, um nicht zu viel Beobachter umher zu haben. Sie war aus einem vornehmen Hause in der akronischen Jnsel und Seestadt Tiliane, und hatte eine aus dem dreißigjaͤhrigen Kriege gerettete Graͤfin von Taxis zur Ahnfrau. Uebrigens war sie, nach Art mancher Vornehmen, sehr nachlaͤssig erzogen, eher verwahrloset, allem Leichtsinn und Eigensinn Preis gegeben, daher sehr natuͤrlich Faͤlle der Ausschweifung bei fruͤhen Reizungen kommen. Der Gemahl, den sie heirathete, war ein stolz beguͤterter und wohlgereiseter Posamentirer, lustig fuͤr die Langeweile, gar bequem aus Traͤgheit, stolzem Eigensinn und Wollust zusammengesetzt; das Paar da, es mochte nun so viel zusammen bringen, als es wollte, verstand sich, dem Naturel und seinem Costume nach, ein Bischen zu wenig aufs Haushalten, machte so ein paarmal Bankerott, konnte bald sich kaum selbst mehr erhalten, und so mußte dann das erste Kind, die aͤlteste Tochter, die nun vorsichtig strenger nach Ehre, als die Mutter, erzogen ward, nach ihrem zwoͤlften Jahre schon in die Dienste andrer Vornehmen ge -92 hen, inzwischen noch drei Kinder, zwei Toͤchter und ein Knabe, darzu gekommen, die nun kaum mit Noth zu erhalten waren.

Der kuͤmmerliche Zustand waͤhrte eine Weile so fort, bis der Philosoph, als Arzt, wegen des kranken Knaben, zu denen Eltern kam, und diese bald in ein neues helles Haus, zu besserer Bequemlichkeit der Arbeit, und ihres kleinen Handels damit, zur Miethe ziehen konnten; da machte er ihnen dann groͤßern Muth zum Fleiß mit dem herzhaften Rath, einen verstaͤndigen Gesellen, den sie lange vorher gehabt hatten, aus der nunmehrigen weiten Entfernung ausdruͤcklich wiederum zu sich zu rufen, einen Menschen, der Geschicke und Munterkeit genug hatte, die vortheilhafteste Aufsicht, Einrichtung und Betreibung der Arbeit und des Handels zu besorgen; das geschahe, und damit konnten auch mehr Arbeiten gefoͤrdert und mehr Gesellen dabei unterhalten werden, daß es wie eine kleine Fabrik wurde, da schon außer dem Hause geringern Meistern und andern Armen einige dienliche Arbeit gegeben werden konnte. Dadurch wuchs aber die Haushaltung und deren Verwaltung so sehr an, daß die Frau Hausmutter, die, aus Schuld eitler Erziehung oder Verwahrlosung, in der Kuͤche und einer großen Hausordnung nicht sehr beschlagen war, und zu dem Anwachs des Hauswesens eine eigne Magd noch zu kostbar fand, in tausend Aengsten und Verlegen -93 heiten gerieth, zumal da ihre juͤngeren Toͤchter, noch zu klein, schwach, wild und flatterhaft, mehr verderben als gut machen konnten.

Die aͤlteste Tochter aber, die Theanthis unsrer Geschichte, war nun in Diensten eines der vornehmsten Haͤuser in Archabone, einem der kleinsten See - und Handelsstaͤdtchen, das doch in bequemer und schoͤner Lage auf der Schweizerseite des akronischen Seees verschiedne große Handelshaͤuser von patricischem Adel aus Schwaben enthielt, die nach Jtalien, Frankreich und so weiter handelten, auch in Lyon eigne Haͤuser und Gewerbe hatten.

Eins dieser patricischen Handelshaͤuser hatte nun Theanthis als Koͤchin und Kinderwaͤrterin schon viele Jahre bedient, und darin dreien Damen von der edlen Familie aufzuwarten, die da ziemlich gut zusammen lebten, und miteinander das Haus voll Leute regierten.

Es laͤßt sich sonst kaum einer einzigen delikaten Dame was recht genug machen, geschweige denn dreien zusammen. Theanthis vergnuͤgte durch einfaͤltige Treue, Ordnung, Fertigkeit und Munterkeit alle dreie so sehr durch etliche Jahre, daß sie solche gerne bestaͤndig behalten haͤtten, und ihr alles vertrauen mochten. Wie nun auf dieser Erde nicht leicht ein Gut ist, das nicht ein benachbartes Uebel zum Kreuz daruͤber hat, so fand sichs auch hier.

94

Der junge Herr des Hauses, in voller Bluͤthe und Vergnuͤgung bei einer schoͤnen, guten, klugen und herzhaften Frau, war doch etwas zu munter und galant, um nicht endlich an der schoͤnen Jugend und Treuherzigkeit der Theanthis, die er anfangs nicht zu achten schien, zu viel Reitze oder Gefallen zu finden, wiewohl sie, was sie ihm aufzuwarten hatte, immer so gerad, kurz und still ehrerbietig fertig machte, als moͤglich; im letzten Jahre ihres Aufenthalts in dem Hause wurde er oft zudringlicher mit reizenden Reden und versuchten kleinen Karessen; davor hatte sie aber mehr fliehende Furcht und Abscheu als vor Widrigkeiten und Strengigkeiten, die sie in ihrer Eltern Hause schon gut ertragen, und zum Besten still nutzen gelernt hatte, denn sie ließ sich die Widrigkeiten und Noͤthe gerade zu Gott treiben und zum Halten des Herzens an Jhm, dem sie alles Gute dankte. Die schlechtesten irrdischen Umstaͤnde ließen sie auch fast nichts auf Erden erwarten, und verderbliche Ausschweifungen, wo sie etwan solche sehen mußte, erweckten ihr desto mehr Eckel und Abscheu zum Zuruͤckbeben. Zu bittre klare Fruͤchte davon erschrecken schon.

Jn letzterm gedachten Jahre fiel es dem jungen Hausherrn ein, oft fruͤhe vor allen andern im Hause aufzustehen und sich Thee machen zu lassen bei seiner Schreiberei. Fand er nun die Koͤchin noch nicht in der Kuͤche, so war er ganz sonderbar artig, nahm seine Violine, die er gut verstand, und spielte ein95 Stuͤckchen damit auf, vor der Kammer der Koͤchin, daß sie hoͤren, aufstehen und ihm aufwarten mußte, welches sie denn auch that, mit aller Fertigkeit, aber sich von seinen vermeinten Reizen sobald zu andern Arbeiten entfernte als sie konnte. Sie bat Gott immer mehr im Herzen, sie doch aus dem Hause von der Gefahr zu erloͤsen, oder davor zu bewahren und sie in Stille zu staͤrken, daß sie alle Pflichten ehrlich erfuͤlle, ohne den Hausfrieden zu stoͤren.

Fruͤhe von Kindheit an hatte sie gut Schweigen, Thun und Leiden gelernt, sich an der heiligen Schrift und so einfaͤltig kernhaften Schriften, vom Leben mit Gott oder Christo in stillem Geist, sehr fruͤhe erbaut und zu halten am besten gefunden, wie Thomas von Kempis und seines gleichen waren.

Drei Jahre vor ihrem Ausgang aus diesem Hause befand sie sich einst in einem erstaunlichen Gewitter, das allen schrecklich schien, als kaͤme der juͤngste Tag. Man schien sich vor Erdbeben, Donner und Blitzschlaͤgen fast nirgends sicher. Da war Theanthis so entschlossen, nahm ihr Wartekind auf den Arm, lief damit in den Garten des Hauses, dachte dabei: Wenn ichs gleich nicht werth bin, so mag mich doch Gott um des unschuldigen Kindes Willen erhalten, verschonen! Aber unter freiem Himmel, in ganzer Angesicht schrecklichen Gewitters von allen Seiten, uͤbergab sie sich dem Allmaͤchtigen auf Gnade und Ungnade, opferte sich ihm unumschraͤnkt zu allem Moͤglichen auf, allen sei -96 nem Willen ewig zu ganzer Aufopferung ergeben zu seyn, wenn sie auch verzehrt wuͤrde wie ein Brandopfer, und nach der Aufopferung war und blieb sie ganz ruhig mit dem Kinde unter allen Schrecken der Natur umher.

Von da an war ihr der hoͤchste Richter voll Groͤße, Heiligkeit und Guͤte klar gegenwaͤrtig, wie ein Muster der Vollkommenheit uͤber alles, und jemehr er ihr majestaͤtisch rein uͤber allen Begrif vorkam, desto liebenswuͤrdiger und lieber ward er ihr, nicht mehr erschrecklich, im Gegentheil, wenn wieder ein Gewitter kam, so war sie nun voller Freuden, die Groͤße, Allmacht, Herrlichkeit und Guͤte Gottes darin zu bewundern, anzubeten, zu lieben, sogar, daß sie sich um der Freude Willen in die groͤßte Einsamkeit von allen Menschen dann entfernen mußte, um sie nicht in Unschuld zu aͤrgern.

Auf ihren zuweilen erlaubten einsamen Spatziergaͤngen sahe sie die Groͤße und Guͤte Gottes an aller Schoͤpfung bis zum Entzuͤcken, und im Gewissen ersahe sie seine Heiligkeit als die verehrungs - und befolgungswuͤrdigste Vollkommenheit, und so ward ihr die dreifache Vorstellung der Groͤße, Heiligkeit und Guͤte des einigen Hoͤchsten die drei Jahre lang, und weiter, die kraͤftigste und durchdringendste zu allem Rechten, Ewigen, Wahren und Guten. Der junge Herr Hauspatron wußte und merkte nicht, daß ein Staͤrkerer uͤber alles, auch in ewigen Reizen,97 ihr Herz schon maͤchtig eingenommen hatte, sonst haͤtte er sich vergebliche Muͤhe und Scham erspart.

Jnzwischen sie oft nach Erloͤsung von Gefahr in diesem Hause seufzte, so seufzte ihre Mutter zu Hause jenseit des Sees nach ihr, und hatte doch gar nicht das Herz, sie aus dem vornehmen, reichen und eintraͤglichen Hause selbst zuruͤck zu verlangen. Denn Noͤthe aus langen Unbesonnenheiten machen ganz verlegen, wie sinnlos. Da machte ihr der Philosoph, der sowohl als Arzt als aus Vetterschaft Freund des Hauses war, wiederum ganz frischen Muth, ihr vorstellend, daß ohne eine solche Person, wie die aͤlteste Tochter, die in den vornehmsten Haͤusern große und weitlaͤuftige Haushaltung fertig und gut gelernt, all ihr jetziges Hauswesen wiederum den Krebsgang und bald zu Grunde gehen wuͤrde, zumal da sie, die Hausmutter, oͤfters unpaͤßlich und ohnedem schwaͤchlich sey von vielerlei Empfindlichkeiten, wodurch vieles in Unordnung komme und in Ruin gerathe, es sey daher die Huͤlfe der ersten Tochter nicht nur jetzt absolut nothwendig, sondern auch durch vernuͤnftige Vorstellung und Bitte von der vornehmen Herrschaft richtig und wohl zu erhalten. Er gab dann an, wie die nothwendige Vorstellung an die Herrschaft fuͤglich in einem Schreiben zu verfassen sey, und an die Tochter koͤnne sie schreiben, wie es ihr Herz verlange. Gesagt, gethan; es gieng.

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Theanthis kam bald gluͤcklich aus dem lang bedienten großen Hause in ihre Heimath zuruͤcke, zu allseitiger Zufriedenheit. Da war sie nun ganz eifrig in ordentlicher Beobachtung der ganzen Haushaltung, und besonders in braver Besorgung der Kuͤche, deren Muͤhe sie der Mutter abnahm, und diese konnte nun mehr den Erfordernissen der Posamentfabrik, einigen simpeln Vorarbeiten dazu, und dem Handel damit abwarten und helfen, wozu sie geschickter war als zum Haushalten, daher hatte sie denn nun mehreres Vergnuͤgen in ihrer fuͤglich verbesserten Lage, auch mehr muntre Gesundheit zu genießen. Theanthis setzte nun frisch und frei ihren Lauf fort in hurtiger, fertiger und ordentlicher Arbeit, in Besorgung des Hauses und der juͤngern Geschwister zu ihrer bessern Ordnung. Vom fruͤhen Morgen an versah sie alles bis tief in die Nacht, da sie oft bis um eilf und zwoͤlf Uhr des Nachts zu schaffen hatte, doch richtete sie alles immer fertiger unter dem Posamentirgetuͤmmel so gut ein, daß sie endlich manchmal um zehn Uhr Nachts nach allen andern ruhig zu Bette gehen konnte.

Neben ihrer Arbeit, und all dem rauschenden Getuͤmmel der andern, fieng sie nun einen neuen Lauf im Geist an, von dem vorigen weit verschieden. Bisher hatte sie in der kleinen und kargen Zeit, die ihr zu einsamer Andacht uͤbrig war, wiewohl ihr einfache stille Arbeit auch zur Herzensandacht diente, sich discursiver Beobachtungen bedient, frommer99 Betrachtungen und damit affectiver Gebetsarten, sich zu allem Guten, zu ewigem Rechten und Wahren zu gewoͤhnen, zu ermuntern, zu staͤrken, auszubreiten, mit Denken an Gott und ihre Pflichten, sich so gut, so genau und so eifrig zu unterhalten, als sie konnte.

Allein die gleich anfaͤnglich nach ihrer Heimkunft sehr uͤberhaͤuften Arbeiten und Besorgnisse in ihrer Eltern Hause machten ihr das discursive Denken und Betrachten zur Zeit ihrer kleinen Andacht beschwerlich. Das Denken haͤufig neuer Geschaͤfte erforderte und brachte schon zu viel Anstrengung. Des Nachts wurde die Ermuͤdung zu groß, ihr lebhafter Eifer im Denken und Betrachten, im discursiven Anwenden und Affektioniren der Gruͤnde, Mittel und Zwecke der Religion erschoͤpfte sich, obgleich ihr Herz immer mehr davon eingenommen, und Religion gleichsam ihr Leben wurde, mitten unter aller muͤhseligen Erfuͤllung ihrer Pflichten und Zerstreuung vom Getuͤmmel des Hauses, das Ohren und Augen ermuͤdete.

Jhr Eifer in Uebernahme aller Muͤhseligkeiten war so groß, daß, wenn sie ihr gleich viel Leiden und Geduld noͤthig machten, sie doch wuͤnschte noch mehr aufnehmen und leiden zu koͤnnen. Ja ihr Herz brannte im Aufopferungseifer fuͤr ihr ganzes Haus, gleichsam von Hunger und Durst nach Lasttragen und Leiden; daher sie auch allen andern manche Ar -100 beit abnahm, wenn und wo sie nur mit der ihrigen fertig war.

Dagegen nahm die denkende Geschaͤftigkeit ihres Geistes in der stillen Andachtszeit ab, und ersank nach Erfuͤllung ihrer Pflichten und Angelegenheiten in Ruhe der Seele. Darin ward ihr nun Gott so unendlich erhaben, daß ihre ganze Seele im Stillschweigen vor ihm versank, und nur im Vertrauen auf den Unumschraͤnkten ruhte. Jn der Ruhe verwandelte ihre Denkgeschaͤftigkeit sich nach und nach in blos allgemeine Aufmerksamkeit der Seele auf ihren allgenugsamen, allguten Gott und Herrn, mit allgemeiner Herzensneigung zu ihm und zum einfaͤltigen Befolgen desselben, im eifrigen Dienst des Naͤchsten sein Opfer zu seyn. An dieser innern Betragensart fand sie allmaͤhlich, daß sie Genuͤge hatte, und bekam zugleich damit eine allgemeine und gar einfache Aufmerksamkeit auf ihre ganze Seele und ihren ganzen Wandel mit Gott von innen, als wenn nichts als der Einige, Allgenugsame und ihre einfache Seele in der Welt waͤre, mit allgemeiner Beobachtung alles zu thun dienlichen und moͤglichen von außen um Gottes willen.

So gieng ihre einfaͤltige Seele nach und nach geradezu in allgemeinste reine Gesinnung, gleichsam in eine metaphysisch praktische Allgemeinheit und Einfachheit uͤber, wie eine reale praktische Monade in bloßer reiner Grundlage zum allgemeinen Besten, und wurde damit der allgemeinsten und simpelsten101 praktischen Religionsphilosophie empfaͤnglich. Die besteht ganz einfaͤltig in geradem Rechtthun, und damit alles an Gott uͤberlassen, ihm folgen im guten Thun und Leiden, und darin mit Ruhe der Seele, des Vertrauens auf Gott und sein Ebenbild, ins Unendliche fortgehen. Alles geht stufenweise zur Einfalt der ewigen Natur, und sprungweise kanns und solls nicht.

Bei diesem stillen und sanften Geistesuͤbergang in allgemeine Einfachheit, wurde sie eine Herzensvertraute unsers anfangs gedachten Schweizer-Philosophen, den wir Arcas nennen, als ganzen Freund der Arkadischen Natureinfalt. Sie eroͤfnete ihm gelegentlich alle ihre Herzens - und Geistesbeschaffenheit, ihrer Angelegenheit gemaͤß, so viel sie davon wie stammelnd ausdruͤcken konnte, weil sie keine metaphysisch abstrakte Sprache gelernt hatte, und er verstand sie ganz und gab ihr simpeln Beifall, wo sie den rechten Weg traf, nach seiner Einsicht, zu allgemeiner Billigkeit der Achtung fuͤr Gott und den Naͤchsten, und schnitt nur im Rathen allmaͤhlich ab, was uͤberfluͤssig von zu großem Eifer des Naturels schiene, um ihr Wesen in mehr Gleichgewicht und damit in guten Bestand und ebenmaͤßigen Fortgang zu bringen, zumal aller Bestand, der Beharrungsstand aller Dinge, geistig und physisch (nach des simpeln Naturaͤquators, des grundverstaͤndigen Schweizers Lamberts Philosophie, wie nach aller Welt Erfahrung, deren Grund auch Herders Gott102 mit seiner herrlichen Nemesis lehrt), vom Gleichgewicht und Ebenmaaß der Kraͤfte, Erfordernissen und Fuͤglichkeiten abhaͤngt, vom richtig begraͤnzenden Gleichgewichte des Grundes, Mittels und Zwecks, darin alles Wesen der Dinge und ihr grades Vollkommenheitsmaaß selbst besteht, so weit es in Anlagen und stets ebenmaͤßigem Wirken der Natur zu sehen, zu beobachten ist, wie Newtons Himmelssystem schon gezeigt hat.

Eine Anlage zu der Gleichgewichtsphilosophie hatte unser Schweizer-Philosoph von seinem guten Vater, der außer der Ordnung seiner Pflichten, worin er puͤnktlich lebte, fuͤr alles uͤbrige der Welt die groͤßte Gleichguͤltigkeit hatte. Er war aber Rentamtsverwalter in Tiliane, und hatte in juͤngern Jahren, der Patricischen Kaufmannschaft in Lyon und Archabone zu getreuer Buchhalterei gedient; am letztern kleinen Orte zeugte er auch seinen erstgebohrnen Sohn, unsern Schweizer-Philosophen Arcas, in einer ausnehmend guten und gluͤcklichen Ehe, mit einer in besten Kreuzproben bewaͤhrten redlichen Landsmaͤnnin, die zwar kolerisches Feuer, aber zugleich scharfen Verstand, große Bedenklichkeit und Religion in Geistesfreyheit mit aͤußerster Ordnungs - und Reinlichkeitsliebe sowohl als Geschicklichkeit hatte, zu allem Dienlichen; also fuͤr einen Mann von großer Gleichguͤltigkeit außer seiner Pflicht, die beste Frau war.

Der erste Sohn nun, unser Arcas, hatte die Gleichguͤltigkeit seines Vaters fuͤr alles Aeußere der103 Welt geerbt, die ihn zum sehr neutralen Beobachter in freiem Geist machen konnte, und von der Mutter das Feuer zum Denken, das er ganz zum Studieren und Beobachten alles ihm moͤglichen anwandte; denn schon im neunten Jahre fieng er von selbst an, das Lernen und Studieren mit Auszugmachen aus Buͤchern, des Tages bis in die Nacht um zwoͤlf oder ein Uhr fortzusetzen, und im Sommer des Morgens um drei oder vier Uhr wieder anzufangen, ohne Schaden davon zu erfahren; denn im Herbst, Winter und Fruͤhling ließ er sich mehr Zeit zur Ruhe, und nach der ersten Hitze eines Sommers studierte er viele Jahre mit mehr Maaße und Beobachtung seiner selbst, ohne andre Anfuͤhrung als ein Gefuͤhl seiner Stirne, das ihn bemerken ließ, wenn er sich etwan zu sehr anstrengte, und die Stirne gespannt fand: da ließ er denn augenblicklich eine Minute oder mehr nach, um dann frisch wieder fortzufahren. Mit solchen kleinen Unterbrechungen geschah es, daß er gar wohl ganze Monate und Jahre seinen Studierfleiß fortsetzen mochte, munter gleichsam ganze Bibliotheken zu verschlingen, und besonders zusammenhaͤngende historische, poetische oder philosophische Werke in einem fort bis zu Ende zu bringen, um ihren Geist ganz zu fassen, allgemeine Uebersichten zu erhalten zu Generalbegriffen, nachdem er die Bibliothek seines Vaters zuerst durchsehen, die meist theologisch, welthistorisch und medicinisch war; theologisch und historisch104 von der Liebhaberei seines Vaters, der von fruͤhester Jugend her gern Theologie fuͤr sich selber studierte, und medicinisch-physisch von einem seligen Bruder seines Vaters her, der Medicin und Chirurgie studiert hatte, und jung verschieden war.

Der Vater hatte einen stillen und unpartheiisch gruͤndlichen Forschgeist, und da er bei seinem Latein, Franzoͤsisch und Jtaliaͤnisch, nur Kaufmaͤnnisch gelehrt war, in Debet und Credit, nach Art der Buchhalterei, so richtete er auch sein theologisches Studieren fuͤr sich selber so buchhalterisch ein, setzte in Auszuͤgen aller Theologie, die er sich machte, Gruͤnde und Gegengruͤnde auf zwei Folioseiten gegen einander uͤber, wie Debet und Credit, und da er auch die ganze polemische Theologie sich bekannt machte, so setzte er alle sogenannte Ketzereien auf die eine Seite, und die Gegengruͤnde auf die andre. Damit erwarb er sich eine tabellarische Uebersicht, und oft auch nach seinem Grundforschungs-Geschmack fuͤr Abstammungen, gleichsam Genealogie von allem Pro und Contra, und dadurch die reichste ordentliche Bequemlichkeit zu unpartheiischen Grundbetrachtungen des Reichs von dem Ewigen, der da ist, dessen biblisch patriarchalischer Grundbegrif ihm allgenugsames reines Liebeswesen, Licht und Leben war.

Diese Jdeen fuͤhrten ihn endlich einmal uͤber und wider sein Vermuthen in biblisch theologische105 Einsicht der Wiederbringung aller Dinge zum ersten kindlichen Ebenbild Gottes. An dieser dem Vater neuen und alldurchdringenden Einsicht zur hellsten Erklaͤrung der ganzen goͤttlich vaͤterlichen Haushaltung des Ewigen, nahm nebst der Mutter auch ihrer beider, damals zwoͤlfjaͤhriger Sohn Arcas auf seine Art Theil. Dieser, der bis dahin alles historisch studiert hatte, auch die ganze Kirchen - und Ketzerhistorie, und Litterargeschichte der Kirchenvaͤter, nebst den ersten apostolischen selbst, fieng bei dem neuen Licht an zu philosophiren, vom Ende aller Dinge zu ihrem Anfangsgrunde zuruͤck zu gehen, da nehmlich am Ende aller Dinge Gott alles in allem seyn soll, so schloß er ruͤckwaͤrts, so muß es im Anfang gewesen seyn, da natuͤrlich klar aus Gott selbst, dem reinen Allgrunde, zuerst alles vollkommen rein kam, alles voll lautrer goͤttlicher und im Grunde verborgner Ursprungs - Musters - und Zielsherrlichkeit. Und so gebahr die theologische Allzurechtbringungslehre des Vaters einen jungen philosophischen Pantheisten.

106

6.39ObereitsWiderruf fuͤr40Kant.41Ein psychologischer Kreislauf. *) *) Dieser Aufsatz, der uns vom Herrn Pr. Schmidt in Jena zugeschickt worden ist, verdient hier in diesem Magazin, nicht seines Jnhalts, sondern seiner besondern Form wegen, einen Platz. Es ist Herrn44Obereitsphilosophisches Glaubensbekenntniß in Curialstyl abgefaßt; was aber Herr45Obereitdamit haben wolle, da ihm niemand dieses Glaubensbekenntniß abgefordert hat, koͤnnen wir dem Leser nicht sagen, außer (was auch der Leser so gut wissen kann, als wir), daß es der Welt bekannt werden moͤchte. 46S. M.

Suum Cuique. Deo a priori.
Me regat Aequa Fides! Recto Vobisque Quirites,
Res fortunatem, feliciter ac bene vortat!
Quintus Ennius.

Et redit ad Dominum, quod fuit ante suum.

Eleg.

Doktor47Obereit,Philosoph beim Cabinet seiner Durchlaucht des Herzogs von Meiningen, erklaͤrt hiemit allen und jeden, denen es zu wissen dienlich und ersprießlich seyn mag, aus bloß eigener Ueber -107 zeugung und Bewegung, niemanden sonst zu lieb noch zu leid, als ein freier Schweizer, nur zu unpartheiisch gemeinnuͤtzigster Befoͤrderung und Bestaͤtigung des Besten einer gesunden Philosophie: Daß er bei der Hinfaͤlligkeit des menschlichen Lebens und Wichtigkeit des Alters, in Kuͤrze der Zeit und des Raums, so viel fuͤglich Gemeinnuͤtziges als moͤglich auf den wichtigsten Denkpunkt zusammen zu bringen gedacht, da er eine voͤllige und die groͤßte Revolution seiner Denkart fuͤr das Reich der Philosophie erfahren, die unzaͤhligen merkwuͤrdig und edlen Geistern frei redlicher Großmuth am nutzbarsten auf immer seyn koͤnnte. Hievon meldet er nun gradaus, daß er, nach fuͤnfjaͤhriger Abwesenheit von Jena, sich wiederum dahin verfuͤgend, um die philosophische Revolution da selber von Grund aus zu beobachten, zuerst die neue Theorie des Vorstellungsvermoͤgens von Reinhold, dann seine Beitraͤge zur Berichtigung bisheriger Mißverstaͤndnisse der Philosophen, darin die Grundlegung der neuen Elementarphilosophie, mit allem Fleiß eingesehen, welche beide Werke ihm von dem edelmuͤthigen Herrn Adjunkt Schmid sogleich mitgetheilt worden, dessen Moralphilosophie, wegen ihres Werths uͤber alle, sich48Obereitschon in Meiningen angeschaft hatte: ferner, daß er endlich Reinholds Schrift uͤber das Fundament des philosophischen Wissens, von ihm selbst aus der Presse guͤtigst mitgetheilt, mit ganz freiem Gemuͤthe gelesen, den Gang des Autors in108 allem Vortrag, Schritt vor Schritt, beobachtet, alle neuen Unterscheidungen und Entwickelungen genau bemerkt, den natuͤrlichen Zusammenhang durchaus richtig gefunden, *)*) Den natuͤrlichen Zusammenhang im Reinholdischen Fundament des philosophischen Wissens, wie auch in seiner Theorie des Vorstellungsvermoͤgens und den gedachten Beitraͤgen, muß jeder unpartheiische Selbstdenker richtig finden; und, wie ich dafuͤr halte, so hat diese Theorie, in Ansehung ihrer systematischen Form, die hoͤchste Vollkommenheit, die irgend eine Theorie erreichen kann, und das ihr zum Grunde liegende System kann als Muster eines vollkommenen Systems aufgestellt werden. Von der andern Seite betrachtet aber, glaube ich erstlich, daß nur die Philosophie (nach H. Reinholds Erklaͤrung) eines solchen Systems faͤhig sey, und eine jede andre Wissenschaft sich demselben nur immer naͤhern kann, ohne es voͤllig erreichen zu koͤnnen. Zweitens fehlt es dieser Theorie in der Philosophie selbst an der materiellen Gewißheit. Herr Kant legt seinem kritischen System Erfahrung, als unbezweifeltes Faktum, zum Grunde, woraus er hypothetisch die Realitaͤt der Grundbegriffe und Saͤtze a priori beweist. Nun hat aber der kritische Skeptiker allerdings Recht, das Faktum selbst (daß wir Erfahrungssaͤtze haben, die objektive Nothwendigkeit und Allgemeinguͤltigkeit ausdruͤcken) in Zweifel zu ziehn, und folglich auch die darauf gegruͤndete Realitaͤt gedachter Prinzipien selbst. Herr Reinhold legt seinem System den Satz des Bewußtseyns als Thatsache zum Grunde, nehmlich: Jm Bewußtseyn wird die Vorstellung durch das Subjekt vom Subjekt und Objekt unterschieden und auf beide bezogen. Dieser Satz kann nicht vom Bewußtseyn uͤberhaupt (auch einer Wahrnehmung), sondern blos vom Bewußtseyn einer Vorstellung (einer auf eine Synthesis, als Merkmal aufs Objekt sich beziehende Wahrnehmung) gelten. Eine bloße Wahrnehmung, ehe sie in irgend eine Synthesis gebracht wird, bezieht sich auf nichts außer sich selbst, und nur dadurch, daß sie als Bestandtheil einer Synthesis gedacht worden ist, bezieht sie sich auf dieselbe, als eine Vorstellung auf das dadurch Vorgestellte. Sie kann sich auch auf das Ding an sich, d.h. nicht blos auf die wirkliche (das Vorgestellte), sondern auf eine moͤgliche Synthesis uͤberhaupt (das Kantische x) beziehen, weil in dem Begriffe einer bestimmten Synthesis der Begrif einer Synthesis uͤberhaupt nothwendig enthalten seyn muß. Dieses alles kann aber nicht vom Bewußtseyn einer Wahrnehmung gelten, folglich ist gedachter Satz nicht allgemein.S. M. und wo er Bedenklichkeiten109 fand, dieselben dem Autor selbst frei eroͤfnet, der sie auf der Stelle muͤndlich klar und gut gehoben, und damit allen Nebel zerstreuet hat.

Vornehmlich hat besagten50Obereit,in den Reinholdischen Beitraͤgen, das erklaͤrte Verhaͤltniß der Theorie des Vorstellungsvermoͤgens zur Kritik der reinen Vernunft vollkommen uͤberzeugt, daß er,51Obereit,die Kritik der reinen Vernunft von52Kant110lange vorher und bis dahin sehr unrecht gefaßt, das Kritische nicht genetisch genug angesehen, hiemit im Grunde gar nicht nach des Autors Sinn verstanden hat. Er ist erst durch die Reinholdische Vorstellungsart, die er durchaus natuͤrlich genetisch entwickelnd gefunden, zu rechter Sinneseroͤfnung gekommen. Genetisch auf seine eigene Art, wie sich an53KantsPlatz, hatt 'er ihn verstanden.

54Obereithatte zwar schon im September vorigen Jahrs, nachdem er die neue Kritik der Urtheilskraft von55Kantmit groͤßter Aufmerksamkeit durchgelesen, am Ende ihm eine Kapitalsache uͤber die Spekulation gewonnen gegeben. Beim hoͤchsten Gegenstande und Jnteresse nehmlich, begab er sich der zuletzt vorkommenden grundscharfen Entdeckung, der Unzulaͤnglichkeit aller Beweisversuche fuͤr das Daseyn Gottes außer dem Moralischen, gab auch seine eignen vormaligen Beweise dafuͤr aus Ueberzeugung auf, so aͤußerst eingenommen er sonst fuͤr sie war, denn er erkannte nun die bestmoͤglichen Spekulativen selbst, als aus moralischer Sinnesart abstammend; *)*) Also auch die bestmoͤgliche Spekulation der Mathematik wird von H.57Obereitals aus moralischer Sinnesart abstammend erkannt? Vermuthlich will H. 58Obereithiemit so viel sagen: der moralischen Sinnesart liegt, nach dem59KantischenMoralprinzip, der Satz des Widerspruchs zum Bestimmungsgrunde. Nun aber muß dieser Satz einer jeden Spekulation als Conditio sine qua non, zum Grunde liegen, folglich etc. Aber damit hat uns H. 60Obereitnichts Neues gesagt; jeder Denker stimmt mit ihm hierinn von aller Ewigkeit her uͤberein. Sollte er aber damit sagen wollen, er erkenne bloß die Moral, worin der Satz des Widerspruchs nicht blos Conditio sine qua non, sondern reeller Bestimmungsgrund sey, fuͤr die bestmoͤgliche Spekulation, so sagt er freilich hiemit was Neues!61S. M. da er die Gewohnheit hat, nicht111 halb, sondern ganz auszudenken, und zusammen zu nehmen, was zusammen gehoͤrt, so schlug er sich, der neuen Grundeinsicht zufolge, nun ganz auf die Seite der praktischen Vernunftkritik, die er immer vorher fuͤr das Beste von62Kantgehalten, grad zuerst so; hiemit erst das Jahr 1788, fuͤr das volle Neulicht, 101 Jahr nach der ersten bekannten Erscheinung von Newtons Principien.

Eben in diesem Jahre erschien auch eine rein populaͤre und Nazarenisch weise Grundlegung zur Metaphisik der Sitten von Mutschelle: Ueber das sittlich Gute. Nun aber fand sich noch mehr bei genauerer Betrachtung des hoͤchsten praktischen Vernunftprinzips, dasselbe fand sich nun auch fuͤr alle Spekulation, fuͤr alle Selbstthaͤtigkeit im Denken als allgemein gerecht, gesetzgebend, hiemit gemeinnuͤtzig fuͤr sich zum hoͤchsten Grundgesetz aller Philosophie, eben zur absoluten Convenienz aller, aller Vernunft durchaus zu erheben, worin er nun112 alles in allem begrif, wie in der hoͤchsten Rechtsregel: Suum cuique! die schon im63KantischenSatz des Widerspruchs: Keinem Ding kommt was Widersprechendes zu, am weitesten begriffen ist, realer im Sellischen: Das Daseyn, und was zum Daseyn gehoͤrt, kann unmoͤglich nicht da seyn. *) *) Dieser Satz, der einer Philosophie zum Grunde liegt, von der man bei ihrer hoͤchsten Evidenz mit niemanden sprechen darf und kann stammt keinesweges aus der65KantischenPhilosophie. Dieser zu Folge ist das (wirkliche) Daseyn eine Modalitaͤt die das Verhaͤltniß des reellen Objekts (der Anschauung) zum Subjekt ausdruͤckt. Denkt man also alle Anschauungen weg, so wird dadurch auch ihr Daseyn weggedacht. Versteht aber Herr Obereit das blos logische Daseyn (das Setzen eines Praͤdikats), so gehoͤrt dieser Satz nicht blos der66Kantischen,sondern einer jeden Philosophie uͤberhaupt.67S. M.

So stimmte ihn68KantsKritik der Urtheilskraft zuerst ganz und gar zum pragmatischen Beobachter, auch alles Spekulativen, uͤberall um. Denn auf Selbstdenken allein, oder blos Spekuliren, haͤlt er außer dem Nothwendigen eben nicht viel, aber auf Selbstbeobachten, bis auf den Grund, unendlich viel. *)*) Hierin hat auch H.70Obereitvollkommen Recht. Aber kann er das71KantischeMoralprinzip durchs Selbstbeobachten bestaͤtigen? Jch glaube schwerlich. Je mehr er (oder irgend ein andrer) sich selbst beobachten, und sich zu den Prinzipien seiner Handlungen auf dem Wege der Jnduktion naͤhern wird, desto mehr wird er sich von dem72KantischenMoralprinzip entfernen, indem er nach einer genauen psychologischen Entwickelung finden wird, daß, so entfernt von allem (materiellen) Jnteresse diese anfangs zu seyn scheinen, sie dennoch sich darin aufloͤsen lassen; folglich kann er nicht durch das Selbstbeobachten, sondern nur durchs Selbsttaͤuschen und eine Art des Machtspruchs dazu gelangen.73S. M. Das war eine ganze Revolu -113 tion. Da giengs recht nach des alten seeligen Johann Jacob Mosers Verschen:

Nachdem das Herz den Kopf gelehrt,

Hat dieser sich ganz umgekehrt,

Auch in den Grundideen. *) *) Jch kann mir nicht vorstellen, daß das Herz den Kopf lehre, man naͤhme denn an, daß das Herz (Gefuͤhlsvermoͤgen) dem Kopfe (Erkenntnißvermoͤgen) ihm bisher unbekannte Gefuͤhle zum Vergleichen darbiete. Diese Gefuͤhle muͤßten also an sich evident seyn. Das moralische Gefuͤhl aber hat seinen Grund nicht im Herzen, sondern im Kopfe (in der Vernunft), und sein Daseyn als Gefuͤhl kann noch immer in Zweifel gezogen werden. Hier ist also der Fall umgekehrt, der Kopf oder die Vernunft muß dem Herzen ein Gefuͤhl (Achtung fuͤrs Gesetz), als Folge ihrer Jdee, durch einen Machtspruch aufdringen, d.h. es belehren.75S. M.

Das ist auch wohl die alleraͤlteste Gelehrsamkeit der Menschenkinder, bei schiefem Herzen die schlimmsten werdend, bei gradem reinem die besten114 und himmlischen, welche Grundlage zum Bauen darauf das Licht der Welt von Nazareth auch am besten verstand, und zeigte bis auf diesen Tag. Dabei gedachte er auch zu bleiben, zu leben und zu sterben, und keine Spekulation noch spekulative Kritik mehr zu achten, *)*) Also nicht einmal eine Spekulation noch spekulative Kritik zu achten!77S. M. außer dem praktischen hoͤchsten Vernunftgesetz, und ihm gemaͤß, je genauer je besser. So beurtheilte er nun alles ruͤckwaͤrts, alles Spekulative nach dem hoͤchsten Praktischen. *) *) Jch wuͤnschte von H.79Obereitbelehrt zu werden, wie er doch die mathematischen Wahrheiten nach dem Praktischen beurtheilen mag?80S. M.

Der Reinholdische Grundsatz des Bewußtseyns, nun, der ihm ganz unschuldig vorkam, als Fundament einer neuen universalen Elementarphilosophie, konnte ihn endlich durch den deutschen Merkur am dringendsten erwecken, von neuem einmal ein philosophisches Elementarstudium anzufangen. Sein Alter machte ihn nur etwa um ein Jahr juͤnger als den großen Kant, ließ ihn doch auf platonischem Popularitaͤtsgeschmack, den er am Hof erhalten, am Herzen und Kopf frei, munter, heiter und aufgeraͤumt, so schwer beladen auch nur sein Styl seyn mag (nur nicht so kerngut als Hallers und Persii Satyren, Pindar und Epiktet, seine fruͤhen Lieblinge), nachdem er uͤber ein halb Jahrhundert die115 Philosophie aller Zeiten und Nationen, soweit moͤglich, auch die sonst in der Welt ungeachtete, dunkelste, tiefsinnigste, paradoxeste, allgemein gleichgesinnt, neutral und frei durchgangen hatte, jede nur in Prinzipien und besten Quellen ihrer Art, nach ihrer Geistesmanier wie ein Schauspieler seine Rollen,

Nullius addictus jurare in verba magistri,

Multa tulit fecitque puer, sudavit & alsit.

Auch als spaͤter Autor, schon in der Geburt veraltet, wollte er weder herrschen noch kriechen, nur in Mitte Freiheit zum Unendlichen. Denn ehe ein Philosoph de Sanssouci seyn kann, muß erst der Philosoph de Grandsouci in aller Laͤnge, Tiefe, Breite, Hoͤhe da seyn. Nunmehr findet er am besten, Reinholds natuͤrlich simpel genetische Theorie und Elemantarphilosophie mit Kants allgemein praktischem Vernunftgesetz zu vereinigen, und in Absicht der ersten spekulativen Vernunftkritik von Kant widerruft er hiemit foͤrmlich laut uͤberall alle Urtheile uͤber sie, die er, seit 1787 von der verzweifelten Metaphisik an, bis in dieses laufende Jahr seines Schattenfechtens, in oͤffentlichen kleinen Schriften, die zum Gluͤcke keinen Anhang keinen Bruit zu machen taugten noch bestimmt waren, sich hat entfallen lassen als voreilig, vorschuͤssig, sagen die Schweizer, null und nichtig. So lange und so weit einer in seiner eigenen116 Sphaͤre seines eigenen guten Sinnes bleibt, den er am meisten im Leben beobachtet und angebaut hat, so mag er wenigstens sich selber verstehen und Grund fuͤr sich haben, auch alles Fuͤgliche dazu, aus allem schon gemeinnuͤtzig Vorhandenen, in der ganzen weiten Welt darzu nehmen, brauchen und sich dienen lassen, so baut er seine Sache an, so gut er immer kann, mit aller Welt in Frieden; aber auf fremdem Gebiet jagend, was und wo seine Sache nicht ist, wird er vogelfrei. Was ist absolute Vernunft in allem Spekulativen und Praktischen, als absolute Billigkeit? Gebt und laßt Gotte was Gottes ist, und jedem Dinge gehoͤrig das seine. Suum Cuique! Ad unum Absolute Aequum omnia.

81Obereitbekennt hiemit oͤffentlich, daß82KantsKritik der reinen Vernunft in rechtem Verstande, nach Reinholdischer Entwickelung, genau richtig und ohne Jrrthum sey, und laͤßt ihr hiemit alle uͤbrigen bekannten und schaͤtzbarsten Vorzuͤge, vor allen die große Zweckbemerkung, daß die Natur das ganze spekulative Vermoͤgen zum Behuf und zur Gruͤndung des moralischen hauptsaͤchlich eingerichtet habe, welche erhabene Bemerkung zugleich die Bestimmung der Vernunftgrenzen in sich faßt. Nur das einige kann er nicht gestehen und finden, daß sie ohne allen Mangel a priori sey; hievon zeugt selbst die Mangelersetzung, der unerklaͤrten Voraussetzungen, durch die Reinholdische Theorie des117 Vorstellungsvermoͤgens; Non omnia possumus omnes! *) *) Daß die84KantischeKritik a priori ist, kann H. 85Obereitnicht bezweifeln, aber versteht sich, hypothetisch, indem, meiner innigsten Ueberzeugung nach,86Kantnie im Sinne gehabt hat, durch seyn System die Skeptiker zu uͤberfuͤhren. 87KantsArt zu philosophiren ist diese: da die Dogmatiker den Erfahrungssaͤtzen objektive Wahrheit und Allgemeinguͤltigkeit beilegen, und als Faktum voraussetzen, so muͤssen sie alles zugeben, was mit diesem Fakto nothwendig verknuͤpft ist, und ohne welches dieses Faktum, das, nach ihrer Voraussetzung, wirklich ist, nicht moͤglich waͤre. Da aber dieses nur als Bedingung der Moͤglichkeit des Faktums seine Realitaͤt hat, so kann es außer demselben keinen Gebrauch haben. Daß aber die88KantischeKritik mangelhaft seyn solle, kann ich nicht glauben. Herr Reinhold hat blos der systematischen Form mehr Vollstaͤndigkeit gegeben, keinesweges aber etwas der Theorie Unentbehrliches hinzugefuͤgt, folglich trift hier nicht das non omnia possumus omnes! ein.89S. M.

90Obereitwar ein schwacher, im Alter vor allem, der erst durch eine akkommodirende Vorstellungs - oder Entwickelungsart, wie die Reinholdische fuͤr ihn war, zu rechter Einsicht vom voraus kritischen91Kantgelangen konnte. Daraus lernen wir alle, sammt und sonders, daß neuer Wein oder gar Weingeist eines starken reinen, hohen tiefen Geistes, in alte Schlaͤuche nicht taugt, daß also die Schlaͤuche,118 wenn sie ja neu zu fuͤllen waͤren, erst durch simpel Wasser oder Feuer, Luft und Sonne gereinigt, wie Tabula rasa werden muͤssen, daß nehmlich zu ganz reinem Fassen, reinem Kritisiren, reinem Theorisiren eben so viel absolut frei resolute, lautre, ganze, staͤtige Selbstverleugnung, ja Selbstvergessung gehoͤrt, als zu reinem Praktiziren eines reinen Willens. Augen, Ohren, Herzen, Edle, wo es noch giebt, merkt auf! Nicht umsonst zeigte Diotima, des Sokrates wahre Liebeslehrerin, daß diejenige Liebe, die zwischen Himmel und Erde Gemeinschaft stiftet, eigentlich Philosoph sey, Dolmetschergeist des Himmels fuͤr die Erde, der Erde fuͤr den Himmel, wie nach unserer weitern Aussicht, Vorsteller des Urquells aller Kraͤfte, Gesetze und Formen fuͤr die Natur, und so, der Grundharmonie aller urspruͤnglichen Spontaneitaͤt und Receptivitaͤt zu ihrer Wechselwirkung, Gemeinschaft und Fruchtbarkeit, alles aus Einem Prinzip und zu dem Einen zuruͤck durch harmonische Temperatur in allen Wirkungssphaͤren der ewigen reinen Liebe.

Was ist nun Philosophiren? Jn einzig wuͤrdigem Sinn ists lauterlich lieben, die reine, die wesentliche Harmonie, die da Wahrheit heißt, in lautrer Liebe ihr ganz sich selbst aufopfern. Hoͤchste Wahrheit, sey sie theoretisch oder praktisch, ist an sich absolute Convenienz, ewig ganzes, lautres Gegentheil des absoluten Widerspruchs an sich. Die Ewige ists werth. Unendlich ist ihre Klarheit, ihre119 Schoͤnheit, ihre Fruchtbarkeit, unuͤberwindlich ihre Staͤrke. Sie selbst die pur lautre All-Einheit des ewigen Rechts und unveraͤnderlichen Guts aller Zeiten und Voͤlker, aller Wesen, aller Himmel im Geiste der Unsterblichkeit!

92Obereitgab sich, unter und nach tausend Zerstreuungen seiner Lage, sein Schattenleben lang hienieden, mit Vergleichung aller Prinzipien aller Philosophen ab, zu sehen, wo Defekt, wo Exceß, wo Gleichgewicht zwischen beiden in Mitte zu treffen, wo eins dem andern aushelfen kann, was zusammen fuͤglich, was trennbar, wo das Band von allen, wo der Scheidepunkt, wie alles gehoͤrig unterschieden, doch in Einem zu begreifen, diakritisch-synthetisch zugleich ist. Er hatte insgemein, da er fast uͤberall wechselseitige Gebrechen fand, den Sinn des großen Bacons von Verulam (dem der alte simple Schweizer mehr Maximen fuͤr Wahrheit zu danken findet, in seinem kleinsten Theile, als allen andern beruͤhmten Weltgelehrten von jeher) vor Augen: Tum autem homines Vires suas noscent, cum non eadem infiniti, sed NB! omissa alii tractabunt. Wenn nicht alle einerlei, jeder was von andern Vorbeigelassenes beobachtet, dann wird wechselseitigen Beduͤrfnissen begegnet. Er sahe, daß durch bloßes gehoͤriges oder fuͤgliches Suppliren, wo es moͤglich, all den groͤßten nothwendigen Uebeln in der Welt, ohne andre Korrektur, ohne Streit, koͤnnte abgeholfen werden, wenn120 die Menschen einmal beliebten, die Mode anzunehmen, auf den Grund zu sehen, wo es fehlt, wie von Grund aus zu begegnen. Und wenn dieses gradezu zu schwer, dann nur auf den Zweck zu sehen, den man eher findet, was der fuͤr einen Grund, fuͤr ein Hauptmittel, fuͤr ein Gewicht oder Maaß und Fuͤgen von beiden erfordere, um dem Zwecke gleich zu kommen, so alles durch Gleichung zu finden, da in Grund, Mittel und Zweck, und ihrer Angemessenheit fuͤr einander alles besteht. Und ist nicht gruͤndlich zweckmaͤßig Suppliren alles in allem, was der Welt fehlt und noth thut?

Was aber nun durch absoluten Realismus a priori, auf genetische, ganz andre Manier als Spinoza,93ObereitsBeobachtungsgeist vor Zeiten fuͤr erhebliche Grundmaͤngel a priori an der Kritik der reinen Vernunft zu finden und sogleich a priori zu ersetzen Sinn hatte (nun freilich einem Kluͤgern als94Obereit,eher und anders am Ende als am Anfange denkbar), siehe das steht in dem Aufklaͤrungsversuch der Optik des ewigen Naturlichts, Berlin, bey Decker 1788. Es war schon drei Jahr vorher in einem Prospekt des Friedenstempels aufgesetzt. Da muß aber der Kontext so grobe Druckfehler verbessern, daß der umgekehrte Verstand wieder aufrecht zu stehen kommt, wiewohl dieses Jahrhundert den ganzen stufenartig freien Geistesprospekt da bis ins Jnnerste, eher fuͤr einen ganzen Druckfehler ansehen, etwa zu Methusalems oder Melchisedeks121 Welt aufs wenigste verbannen moͤchte, nach Belieben.

95Obereitwar doch weder Supernaturalist, ob er gleich96LavatersFreund war, noch materialer, blos physisch-mechanischer oder cosmologischer Naturalist, noch dogmatischer Theist à la Mode, noch dogmatischer Skeptiker, fuͤr sich selbst war er ein versuchend kritischer an allen Systemen, auch an seinem eigenen, wenn und so weit er eins hatte, da er immer von neuem bis nun mit Vergleichung aller alten und neuen Principien zu lernen anfieng, aber am liebsten in groͤßter Einfalt fieng er an vom simpelsten aller Wesen, dem Ewigen von selbst, dem wesentlich unendlich Freien, in sich selbst allein Allgenugsamen, damit fand er einen absolut universalen Moral-Naturalismus uͤber allen physisch-cosmologischen, insgemein fatalistischen, und uͤber allen scholastisch blinden Supernaturalismus, der außer dem buchstaͤblichen Anhangen an Ton und Schein keinen Grund hat, als selbst in der Blindheit am moralischen oder naturalischen Vollkommenheitsgesetz, das selbst natuͤrlich, graduales und hoͤchstes Bedingungsgesetz der Theilnehmung an des lautern Vollkommenheitswesens, an des selbststaͤndigen Allgutgesetzes Gemeinschaft ist; wie man denn den durchgaͤngig so klar grundfesten Moral-Naturalismus uͤber alles ganz fertig formirt sehen kann in Gamaliels Spatziergaͤngen, uͤber Berlinische Wunderbetrachtungen 1780, bei Perrenon. Wie auch122 schon im urspruͤnglichen Geister - und Koͤrperzusammenhang nach Newtonischem Geist, Augsburg bei Lotter 1776, so nur in einem Paar Bogen besteht.

Jn hoͤchst moralischem Verstande leuchtete ihm am hoͤchsten uͤber alles systematisch ein: Des Apostels Pauli Dreiklang von Gott: von Jhm, durch Jhn, und zu Jhm sind alle Dinge. Also von Jhm, als hoͤchstfreiwirksamem Urgrunde, durch Jhn, als[ hoͤchstfreithaͤtigen] Urmittel, zu Jhm, als hoͤchstfreierfuͤllendem Urzweck. Freikraft ist dem Ursprung gebender Urgrund, Freithaͤtigkeit das bestimmende Urmittel, Freierfuͤllung der vollendende Urzweck, das ist natuͤrlich in gutem Begrif. Von sich absolute Selbstkraft, absolute Selbstthaͤtigkeit, absolute Selbsterfuͤllung ist sich selbst absolut genugsam, von, durch, fuͤr sich selbst schon Urgrund, Urmittel, Urzweck, und ins Unendliche fort fuͤr alles von ihm Moͤgliche, als unumschraͤnktes Allgut mittheilbar, nach jeden Dinges Faͤhigkeit und ewig billigen Mittheilungsbedingungen, da ewige Wesensgesetze immer gleich gut fuͤr alle sind, Gesetze der Vollkommenheit ins Unendliche fort.

So ist alles Abhaͤngliche Original-Receptiv des Grundbestandes vom allkraͤftigen Urgrunde, der Bestimmung oder Einrichtung vom Urmittel, der Erfuͤllung, Vollendung, Befriedigung vom Urzweck. So ist alles fundamental dreiharmonisch in Grund, Mittel, und Zweck verfaßt, die einander gleich fuͤglich sind, und unzertrennlich in Grundkraft, Mittel -123 kraft und Zielkraft, in Gleichgewicht und Ebenmaß, zum Bestand und zur Schoͤnheit, und hiemit zur anstaͤndig und ebenmaͤßig wirksamen Fruchtbarkeit, alles von, durch, zu Einem Originaldreiklang der hoͤchsten harmonievollen Freiheit, der allgleich beruhigenden Allgenugsamkeit, fuͤr alle Subjektivitaͤt, Objektivitaͤt und Finalitaͤt von beiden, fuͤr alle Spontanitaͤt, Receptivitaͤt und Reaktivitaͤt in beide zur Erfuͤllung aller dreien in einem Dreiklange. Sowohl in der ganzen moralischen als in der ganzen physischen Welt herrscht die dreifache Beziehung, und da die physische mit der moralischen verbunden und dieser untergeben ist, zur moralischen Regierung, so ist die physische Welt nicht blos abgesonderte Maschine, nicht fuͤr sich allein da, sondern fuͤr die moralische, hiemit der ganzen moralischen Welt Organon, alles Physische hat moralische Zeichenbeziehung, so ist die ganze Welt, als moral-physisch, ein moralisch, aktives, passives und reaktiv moralisch bezeichnendes Ganze. Denn auch stumme Bezeichnung redet zum Moralwesen, wie mit der ganzen Natur ein Jachim Boas durch dramatisches Hierogliphensystem.

Nach einer solchen universal-moralischen Geistesstimmung nun, die vom Urwesen der Freiheit von, durch, fuͤr sich selbsten a priori erschien, war ihm der allgemeine Grundsatz des Bewußtseyns von Reinhold, der sich selbst beweißt, natuͤrlicher und willkommner, als die mit unendlichem Raum und124 Zeitfluß ohne Genesis wie mit einem ploͤtzlich sich in uns versetzenden Feenhimmel anfangende Kritik der reinen Vernunft, wiewohl diese ihre gute Ursachen zu so einem erhabenen Anfang hatte. *) *) Freilich hat die Kritik der reinen Vernunft ihre guten Ursachen dazu, und wenn Herr98Obereitdiese guten Ursachen so deutlich eingesehn haͤtte, als er sie nur dunkel ahndete, so waͤre diese Vergleichung anders ausgefallen.99S. M.

Allein es ist kein Wunder, daß der Satz des Bewußtseyns bisher in der jetzigen fast ganz populaͤr und zerstreuungsvoll gewordenen Vernunftwelt noch keinen Eingang zu finden scheint, nicht so viel als des Cartesii mehr auffallendes Cogito, ergo sum, weil eben der Reinholdische Elementarsatz bei aller seiner Natuͤrlichkeit und lautern Einfalt doch auch sogar dem sonst alle Spekulation trocken gewohnten Obereit anfaͤnglich und bis ans Ende zu spekulativ, wie kernleer, ins Auge fiel, ob er gleich das Fundament alles praktischen sowohl als theoretischen Elementarwissens seyn sollte.

Man sieht ihm seine Grundfruchtbarkeit gar nicht an, wie hingegen der Satz des zureichenden Grundes aller Welt gleich fruchtbar und allen Vernunftgegnern furchtbar in die Augen fiel, der Satz des Bewußtseyns aber braucht und ruͤhrt blos einfaͤltigen Verstand, und dieser ist in unsrer ganzen Kunstwelt gar zur Raritaͤt worden, da die Welt125 nicht begreifen kann, daß in der groͤßten Einfalt alle Menschen moͤgliche Weisheit verborgen liegt. *) *) Ein sehr wahrer Satz, der aber leicht gemißbraucht werden kann, und wirklich gemißbraucht wird (wie das Beispiel des Herrn101Obereitsselbst beweißt). Die Reinholdische Theorie des V. V. enthaͤlt freilich die einfachsten Prinzipien aller Wissenschaften uͤberhaupt, und ist, in sofern sie in einer Kritik des Erkenntnißvermoͤgens gegruͤndet ist, die Conditio sine qua non zu allen Wissenschaften. Wollte man aber mit Herrn102Obereitsagen, daß alle Wissenschaften schon darin verborgen laͤgen, so waͤre es so viel als sagte man: die ganze Geometrie liegt schon in dem Begriffe des Raumes verborgen; weil alle Gegenstaͤnde der Geometrie und ihre Verhaͤltnisse nur im Raume gedacht werden koͤnnen. Herr103Obereitprobire einmal irgend ein Phaͤnomen in der Natur durch die aus der Kritik der reinen Vernunft, oder der Theorie des V. V. geschoͤpften Prinzipien zu erklaͤren und wissenschaftlich zu bestimmen. Herr104Obereiterinnere sich an sein: suum cuique, aber auch nicht mehr als das Suum! 105S. M.

Eben das Letzte war aber der alte Schweitzer106Obereitsehr fruͤhe gewohnt zu merken, in Schweizereinfalt, bei simpelsten Prinzipien, deren Generalitaͤten gros dem Grunde nach, ja fast den Prospekt einer Allwissenheit giebt, und der ganze Jnbegriff allgemeiner ewiger Wahrheiten, was kann er urspruͤnglich seyn als ein Generalausdruck des allfassenden Verstandes, uns in der Grundform mitge -126 theilt? Die Wahrheit kann ja nur durch den Verstand seyn, ohne den keine, und ist der endliche nicht Grund genug darzu, so muß es ja wohl der unendliche seyn? *)*) Dieses scheint gar nicht der kritischen Philosophie, wozu sich Herr108Obereitbekehrt hat, angemessen zu seyn. Diese weiß von keinem unendlichen Verstande was zu sagen. Sie ist in ihren Forderungen bescheiden, und sucht nur die Bedingungen der Moͤglichkeit eines endlichen Verstandes anzugeben, welches fuͤr uns hinreichend ist.109S. M. Der durch sich selbst allgenug ist, da nichts ohne das seyn kann, wodurch es ist.

Der Unendliche kann wohl ohne uns endliche Kleinigkeiten seyn, das Unendliche per se gegeben, bedarf ja nichts Endliches, wir aber koͤnnen schon in der bloßen Moͤglichkeit nicht ohne den Unendlichen seyn, der objektiv ins Unendliche mittheilbar ist, ohne dessen Verstand der unsrige durch sich selbst allein nichts ist. Er gab uns also, daß wir von allen Schranken abstrahiren koͤnnen, wenn wir Jhn rein denken, das ist das Groͤßte und Fruchtbarste, was wir im Denken vermoͤgen, wodurch dessen groͤßte und reine Fruchtbarkeit im Allgemeinen gegruͤndet wird, wie auf andre Art durch den bloßen Begrif des absoluten Seyns fuͤr sich allein, ohne welches per se Gegebenes gar kein Relatives, hiemit keine Welt nur moͤglich ist. Und Seyn und Vermoͤgen ist Eins, denn was Nichts vermag, ist Nichts.

127

So haͤngt alles an einem Seyn, in Einfalt. Wie in der Empfaͤnglichkeit zum Empfangen allgemeiner Anziehungs - und Ausbreitungsreitz allempfangenden klaren Raum darstellt oder anschaulich macht, und mit dem Gleichungsreitz von und fuͤr beide im kuͤrzesten Ebenmaaß, der stetig fliegenden Zeit, so viel nur moͤglich zusammen zu nehmen, den sinnlichen Grund aller Schoͤnheit in uns giebt, da die Natur in und außer uns durch lauter Realentgegensetzungen, wie Feuer und Wasser, fruchtbar ist, so macht hingegen die mechanische Kunst durch Gewicht und Gegengewicht nur unfruchtbaren Stillstand, hiemit Contrast gegen die simpel antithetisch fruchtbare Natur.

Consequent demnach, daß in den simpelsten Prinzipien, wie in dem simpelsten Wesen, von dem sie sind, die groͤßte Fruchtbarkeit liegt, wenn mans ihnen gleich noch nicht ansieht, sahe sich Obereit um, nachdem er die Vorstellungstheorie, die Beitraͤge und die Fundamentschrift Reinholds durchaus beobachtet hatte, da kehrte er endlich, um obiger Ursach willen, fuͤr sich allein den Satz des Bewußtseyns auf alle moͤgliche Seiten des angelegenen groͤßten universalen Jnteresses, ohne welches, und zwar sichtbares bis zum Augenschein, endlich die groͤßte und feinste Spekulation, Kritik und Systematik dem Allbeobachter eine taube Nuß ist. Und da das Gesetz des Gleichgewichts nach Newton, und dem ihm hoͤchst simpel kosmologisch prosequirenden128 Schweizer Lambert das ganze Universum regiert, nach letzterm auch in allen Kraͤften der Wesen und Sachen durchaus wie Ebenmaaß zum Bestand nothwendig, hiemit real metaphysische Einheit, Wahrheit und Guͤte ausmacht, da das Halten des Gleichgewichts der Seele, wie des Ebenmaaßes in der schoͤnen Sinnlichkeit schon insgemein guten Ruf, zu allgemeinnuͤtziger Anwendbarkeit im Geisterreich hat, da auch à la Newton schon der herrliche juͤngere Hemsterhuy's das Maaß der allgemeinen geistigen Anziehung der Seelenwelt eroͤfnet, so beobachtete der gerade alte Schweizer in allgemein geistigem Sinn, ob nicht das Gesetz des Gleichgewichts auch im Satz des Bewußtseyns nach der Schnur angemessen sey? und er fands genau, da das Subjekt, das Objekt, und die Vorstellung im Bewußtseyn einander gleich nothwendig, gleich wichtig, allseitig gleich unzertrennlich in Beziehung auf einander sind, durch ebenmaͤßige Aktivitaͤt, Receptivitaͤt und Reaktivitaͤt. Und so im Gleichgewicht muß das Bewußtseyn stehen, wenn die groͤßte Unpartheilichkeit unendlich wichtig statt haben soll. Da ist ein gleichseitig philosophischer Triangel zur Probe.

Wenn nun110Obereitfuͤr sich111Kantspraktisches Prinzip und Reinholds Elementar-Fundament unendlich fruchtbarer findet, auch allem wie mathematisch angemessener, mehr darin als112Kantund Reinhold selber genau oder ausdruͤcklich zur Zeit ihrer129 Verfassung darein wollten gelegt haben, wie113Obereitauch mehr in Lamberts Gleichungsgesetze und Pauls Dreiklang zu finden denkt, als diese selbst zu ihrer Zeit, nun wohl, so wissen die Gelehrten laͤngst: inventis facile est addere, die Erfinder gehen doch immer voraus, so geht jeder ihnen nach, so weit er kann und mag, jedesmal fuͤr jetzt in seiner Ordnung, jeder in seinem Kreis und jetzt geziemenden Gesichtspunkt, einstimmig in Grund und Zweck und allgemeinen Weg, verschieden in besondern Mitteln und Wegen der Vorstellung, wie jedem die Vorsehung giebt oder finden laͤßt, so wird Mannigfaltigkeit und Einheit im Ordnungsreich der Geister erhalten, am Ende kommen alle zu einem Ziel der ewigen Natur und unendlichen Wahrheit oder Harmonie, also Verschiedenheit, auch von Ost, West, Nord, Suͤd zu Einem Mittelpunkt und All, kein Schade fuͤr alle Welt!

Moͤchte der Geist der freien Schweitz uͤber alles nach ihrem groͤßten Newtonisch-philosophischen Landsmann, dem nach Herders Gott noch zum Allebenmaaß nutzbaren verklaͤrten Lambert, auch seinen noch auf Erden erhabensten Freund114Kant durch Kantsedlen Freund Reinhold frei klar sehen! Jm besten Lichte freier Natur!

Du, schwinge selbst vielmehr des Geistes Kraͤfte los,
Nicht ewig fuͤr die Zeit, nicht fuͤr die Erde groß.
Und hoͤherer Sorgen werth. Sieh jenem Himmel zu etc.
von Haller.
130
Sicanimus sylvas, sylvae sint Consule digne.
Virg.

Noch eine Capitalanmerkung eines Veteranen in der Philosophie, das ganze philosophische Reich betreffend, vergoͤnne man allerseits frei geneigt bei dieser Gelegenheit, die sonst nicht wiederkommen duͤrfte. Krusius hat schon die Gebrechlichkeit der sogenannten mathematischen Methode des Spekulirens, so wie sie Cartesius und Wolf zur Philosophie anwandten und einfuͤhrten, gezeigt, daß man auf diese Nachaͤffungsart ganz consequent, systematisch auf die falschesten Resultate komme, wie Spinoza. Der groͤßte systematische Skeptiker Hume kann auch zum Exempel dienen mit Vernichtung aller Vernunft durch gemeine Vernunft und Logik, weiter nichts. Und Krusius gab eine weit strengere und tiefere Logik, die kein Wolf haͤlt noch verdauet, so wenig als die streng vorhergegangene mathematisch foͤrmliche von dem scharfsinnigen Adolph Friedrich Hofmann, einem Vorgaͤnger in Principien des großen Plattners, der alle denkbare vereint.

Den ersten Grund dazu legte der erste unter allen Deutschen, der eine synthetisch kritisch erfindende Philosophie nur versuchte, und schon die ganze damalige philosophische Welt gegen sich hatte, wie115Kantanfaͤnglich die jetzige, Andreas Ruͤdiger. Lambert aber, als Newtonischer Physiker und Mathematiker von Profession und Gleichungsakkuratesse,131 hat den Schaden mit einem Blick des Durchmessers im Grund eingesehen, und ganz simpel gezeigt, daß Wolf und auch die groͤßten seiner Nachfolger die mathematische Methode nur halb, nicht vollstaͤndig gebraucht haben, und daher in alle Fehler der Halbdenker und Halbmesser, die uͤberall in der That zu kurz kommen, gefallen sind, daß man hingegen, vom Capitalfehler weg, aufs aͤußerste bemerken und besorgen muͤsse, die mathematische Methode vollstaͤndig, ganz Euklidisch im Geist, nicht Buchstaben der aͤußern Form, zu beobachten, um durchgaͤngig bestimmte Generalbegriffe, wie den des Zirkels, Triangels etc. zu bekommen, die denn auch durchgaͤngig richtig anwendbar seyen, ja nach denen, wenn was darnach zu messen moͤglich, der Mathematiker sogleich seine Dimension recht anbringen koͤnne, ohne vorher weitere Veraͤnderung und Berichtigung des Begriffes oder Satzes zu richtiger Meßbarkeit zu beduͤrfen, wie bisher der Fall insgemein war.

Jst diese absolut nothwendige Lambertische Forderung nicht von aller Philosophenwelt, außer116Kant,bisher vergessen worden? Vertrakt! Jst je deren Erfuͤllung in Philosophie zu vollem Bewußtseyn gekommen? Jst wohl das Bewußtseyn an sich selber, der Tag der Seele, ihr Gewißheitsmaaß nach Lambert, noch nie zu ganzem Bewußtseyn seiner selbst bei der ganzen Welt gekommen? Wo je?

132
Unseelig Mittelding, von Engeln und von Vieh!
Du prahlst mit der Vernunft, und du gebrauchst sie nie.
Was helfen dir zuletzt der Weisheit hohe Lehren?
Zu schwach, sie zu verstehn, zu stolz, sie zu entbehren,
Du bleibest stets ein Kind, das taͤglich unrecht waͤhlet,
Den Fehler bald erkennt, und gleich drauf wieder fehlet:
Du urtheilst uͤberall, und suchst nie recht, warum?
Einbildung ist dein Rath, und du sein Eigenthum.
Jm Geisterlabyrinth, in scheinbaren Begriffen,
Kann auch der Kluͤgste sich in fremde Bahn vertiefen,
Wenn auch sein sichrer Schritt sich nie vom Pfad vergißt,
Am Ende sieht er doch, daß er im Anfang ist.
Wohl angebrachte Muͤh! gelehrte Sterbliche!
Euch selbst mißkennet ihr, sonst alles wißt ihr eh.
Ach! eure Wissenschaft ist noch der Weisheit Kindheit,
Der klugen Zeitvertreib, ein Trost der stolzen Blindheit.
v. Haller.
Wo ist der Mann von Witz und Redlichkeit,
Der fauler Dummheit Macht und Heer nicht scheut,
Der Fesseln muͤd ', in kuͤhnem Geist entbrannt,
Zuerst fuͤr alle, sich allein verbannt:
Den dichten Lanzenhaag im Sterben niederdruͤckt,
Und uͤber seinen Leib den Weg zur Freiheit bruͤckt?
Bodmer.

Lamberts Zeit und Gelegenheit, die der physischen Mathematik meist gehoͤrte, verstattete ihm nicht, jene durchgaͤngige Bestimmungsangabe fuͤr die Metaphisik selbst genau auszufuͤhren, nur als Wegbahner durchaus kritischer Vernunft Anfangsversuche darzu zu machen, die in seinem Organon133 und seiner Architektonik der Begriffe zu sehen, welche letztern, ihm selbst zu wenig genugthuend, er anfaͤnglich nie Sinn hatte, selbst heraus zu geben, ohne zu sehr gedrungen zu seyn, weil die groͤßte Theurung und doch Nichtachtung, freien und reinen Grundverstandes herrschte, da er selbst behauptete, die Logik sey noch lange nicht vollkommen genug, um zur Metaphysik recht anwendbar zu seyn, die eigens erforderliche logische Causalmethode darzu sey noch nicht erfunden, auch noch nicht der Schluͤssel, das fruchtbarste richtige Eroͤfnungsprinzip darzu, das auch der universalgelehrte Sulzer mit der ganzen Berlinischen Akademie der Wissenschaften damals unter den Denkern desiderirte und suchte, wie dergleichen die Preisaufgabe uͤber die metaphysische Evidenz voraussetzend zu verstehen gab.

117Obereitgesteht, daß er das fruchtbarste und durchgaͤngig bestimmende Prinzip auch in der spekulativen Spekulationskritik von118Kantuͤberall suchte, und nicht zu finden das Gluͤck oder Geschick hatte, daher an ihr Grundmangel a priori natuͤrlich bei allen Hauptsachen zu sehen dachte, und dieselben ad interim fuͤr sich und moͤgliche Grundesfreunde, so gut er konnte, in dem Aufklaͤrungsversuch zu ersetzen suchte.

119Obereithatte zwar die erste Vernunftkritik jetzt besser verstehen gelernt, aber mit der neuen Theorie des Vorstellungsvermoͤgens, die ihm hauptsaͤchlich genetisch einleuchtete, konnte sein alter Kopf nun134 besser fortkommen, ließ also nun die erste Kritik, als ein ihm ungenetisches doch ehrwuͤrdiges Geruͤste stehen, zumal sie ihm vorher, wenn er auch keinen Fehler oder Jrrthum darin fand, doch als fuͤr vollstaͤndig ausgegebener Maaßstab in ihm mehr satyrischen als kritischen Geist erweckt hatte. Nun besser: Manum de Tabula!

Aber in Reinholds Satz des Bewußtseyns hat120Obereitdas durch sich selbst klar durchgaͤngig bestimmte und zugleich fruchtbarste Prinzip aller Philosophie, außer allem durch uns Unvorstellbaren, gefunden, also das weiteste und gewisseste Moͤgliche, außer den Dingen an sich.

Nun ist, und zwar augenscheinlich in vollem gruͤndlichen Bewußtseyn, durch Reinhold erfuͤllt, bis zu mathematischem Ebenmaaß durchgaͤngig gleicher Bestimmtheit, wie ein Generaltriangel, und fortgefuͤhrt in eine Elementarphilosophie, als in eine original-philosophisch sphaͤrische Trigonometrie, was Lamberts und Sulzers und der Berliner Akademie ihrer Zeit groͤßtes Desideratum Quesitum, Problem, allen sonst unerfindlich war.

Komm und siehe! rufen aller geistfreien Welt nun Lamberts, Sulzers und Hallers Geist, drei Schweizer durch einen andern, der sich gern nur als ein Opferkalb dagegen sieht, das nur eine Stimme aus der Wuͤste der an sich selbst bis zum allgemeinen Nichts von sich verzweifelten Metaphysik haben kann.

135

Sulzer verband mit allgemein philosophischem Verstande aller Wissenschaften und Kuͤnste, moralische und schoͤne Sinnlichkeit in einsichtreichem Geschmack, Lambert mit allwerts logischem Gleichsinn eine physisch mathematisch anschauende Sinnlichkeit, wie die anschauende Seele des groͤßten Realisten Jacobi, und der durchgaͤngig versuchende sanfte graduale Aequationsgeist Lamberts, Sulzers,[ Garves,] und noch etwa seltner Unpartheiischen war und ist gleichsam die Schiffbruͤcke fuͤr die Welt zum121Kantischkritischen und Reinholdisch elementarischen Geist. So wahr ist es, daß es auch in der Geisterwelt sowohl, als in der ganzen Material - oder Stofbilderwelt allmaͤhliche Uebergangsstuffen oder Mittel und Mittelhalter von einem Aeußersten zum andern giebt, wie eben vom aͤußersten auch oft nur original traͤgen Dogmatismus bis zum aͤußersten absoluten Skeptizismus, wo dieser moͤglich, den der kritische temperirt.

Nunmehro aber sind dem lautersten Wißbegierigen keine Schiffbruͤcken noͤthig, da Reinholds reinste klare Elementarlehre mehr helle Grundeinsicht in einem Tage eroͤfnet, als Lambert, Leibnitz, die groͤßten Vorigen in ganzen Jahren und Lebenslaͤufen, das macht der einzige Vortheil, daß bei Reinhold nun alles Wissens Quell, Mittelpunkt klar augenscheinlich ist.

136

Medium tenuere beati! *)*) Jch glaube schwerlich, daß sich dieser Vers zu der vorigen Aeußerung schickt! Reinholds reinste klare Elementarlehre haͤtte mehr helle Grundeinsicht in einem Tage eroͤffnet, als Lambert, Leibniz, die groͤßten Vorigen in ganzen Jahren und Lebenslaͤufen! Medium tenuere beati! Was dem edlen Reinhold123Kantsganze Kritik der reinen Vernunft war, nach Vollendung der ungeheuer schwierigen, allseitig kritischen Untersuchung, nehmlich unumschraͤnkt befriedigende Aufloͤsung alles Erklaͤrbaren, das ist dem124Obereitnun Reinholds einziges Elementarprinzip, mehr ihm als von zwei tausend Jahren alle laufende Philosophie der Welt, vielmehr Phil-Asophie, seine eigene bisherige mit zugeschossen fuͤr Lumpen zu neuem Papier. Wiewohl die Kuͤrze der Zeit, die man auf eigentliches Philosophiren anwenden kann, wie Hume wohl anmerkt, aus zweitausend Jahren einen sehr kleinen Zeitraum macht, der gegen unzaͤhlige Schwierigkeiten des strengen Philosophirens beinahe wie Nichts ist.

Man stelle sich einen Durst nach allbestimmender Grundwahrheit vor, der einen Menschen wenigstens vierzig Jahr und daruͤber, wie die Kinder Jsrael in der Wuͤste Arabiens herumfuͤhrte, sich selbst und alle Welt durchsuchen machte, nach jedem im Ganzen verfehlt ersehenen Versuch groͤßer wurde, ob er gleich in einigen Theilen befriedigt wurde, als in der bloßen Wesens Theologie, und im wichtigsten137 moralischen fruͤhe am vornehmsten und besten, vom Spiegel der Vollkommenheit, wer ihn kennen mag; da der Durst aber, außer dem Moralinhalt, alle andre Spekulation voll Gebrechen fand, und nur mit steter oder oͤfter temperirender Revolution zusammen konzentrirter Jdeentropfen, so gut sich thun ließ, sich begnuͤgen mußte, an wenigem und einfachem Moralfuͤglichen, endlich am Einigen zur Ewigkeit Nothwendigen und Allgenugsamen dem Unbedingten Allbedingenden sich begnuͤgen lernte, doch immer durstig nach einem absolut convenienten Prinzip fuͤr alles Jdealische. Man stelle sich einen solchen fast lebenslaͤnglichen Durst vor, und dann endlich auf einmal dessen Erfuͤllung, und man begreift125Obereit,den Mikroskopen, die ganze Jdeenwelt in einem Prinzip allgemein klar zu finden. Der edle juͤngere Hemsterhuy's fand nur zwei Philosophien, die nicht durch Witz und Jmagination verkuͤnstelt worden, die moralische des Sokrates, und die physische Newtons, nun fehlte noch immer rein simple intellektuelle, die giebt nach126KantenReinhold am klaͤrsten. Mit dem realobservatorisch[ propaͤdeutischen] Bacon von Verulam giebts ein Quadrat, Bataillon quarré, Face à tout! Und127Kantserste Kritik der reinen Vernunft nebst Hume ist ganz Einleitungssystem zur Sokratischen Unwissenheit vor allen Dingen.

Jm negativen Bewußtseyn, dessen, was man sich bewußt ist oder wird, nicht zu seyn, nicht zu138 haben, nicht zu koͤnnen, nicht zu wissen, wie der darin sehr musterhafte Sokrates, da giebts unendlich mehr Selbsterkenntniß als in dem wenigen Positiven, das man in sich findet, und selbst das zu besitzen Erachtete, im Bewußtseyn gemustert, findet sich meist aus Fremdem her, das naͤhere Eigene wiederum in Probe genommen, findet sich wenigstens nicht ohne fremde Huͤlfe gepflanzet, gezogen, gewachsen, was endlich wesentlich eigenthuͤmlich bleibt, bloßes Vermoͤgen, das kann nicht einmal absolut von und durch sich selbst seyn, sonst waͤre es unabhaͤngig sich selbst und allein genugsam, das widerlegt sich von selbst, in Ohnmacht von, durch, fuͤr sich selbst allein. Was ist also das bloße Vermoͤgen? Nichts von, durch, fuͤr sich selbst allein und absolut, am Ende pure Empfaͤnglichkeit von einem Allgenugsamen, und da wir, maͤnnliche Bilder, mehr Aktivitaͤten sind, die weibliche, mehr Receptivitaͤten, so giebt es gegen den Allgenugsamen gehalten, im wesentlichen Grunde der Endlichen, nichts als Receptivitaͤten von Jhm, also die ganze Natur in ihrem abhaͤngigen Vermoͤgen, nichts als Receptivitaͤt vom hoͤchst Freyen, dem Einigen absolut Gebenden, Receptivitaͤt, Dame, nicht Herr; hiemit die ganze originale Natur-Philosophie wesentliche Damen-Philosophie, und noch darzu die einzige grundwahre und am Ende unwidersprechliche.

Was stolzieren dann die großen Baͤrte der Philosophen, als waͤre die tiefste Grundphilosophie ihr139 vorzuͤgliches Eigenthum, da ihr tiefster Grund in der Weiblichkeit liegt? Vanitas Vanitatum! Vielleicht findet man noch unscheinbare Heldinnen im Geist der Vorzeit von weiterm und tieferm Grundauge als Maͤnnerfackeln. Und durch den Weg des negativen Bewußtseyns, hauptsaͤchlich dessen darin, was nicht ohne einander seyn kann, durch das Prinzip der Unzertrennlichkeit, in welchem erst der Satz des Grundes seinen Grund hat, sowohl als der des Zweckes, wie das Mittel zum Zwecke und Bestimmungsgrunde, der aus sich nur durch etwas, das ein Mittel ist, zum Zweck bestimmt, wie alles in Termino à quo, per quem, ad quem begriffen ist, da findet128Obereitdie allergroͤßte und zugleich nothwendigste, strengste, moͤgliche und proportionirteste, schoͤnste Fruchtbarkeit des Verstandes und der Vernunft uͤber alles im Grundsatz des Bewußtseyns. Und durch das unmoͤgliche Beisammenfinden im reinen Bewußtseyn, des nicht Zusammengehoͤrigen, Unvereinbaren, durch das Prinzip der Unverkniipfbarkeit, fand er den Grund aller rechten Absonderung, das philosophische Scheidewasser und Fegfeuer.

Da diese negative Grundretirade gefunden war, nunmehro fand er sich den Weg geoͤfnet zu einer in ihrer Sprachform zwar gewaltig negativen, aber in Wahrheit unzertrennlich klaren Elementareroͤfnung des Unentbehrlichen, die hiemit an sich allgemein augenscheinlich, und so fuͤr jedes faͤhige Wesen durch -140 aus pragmatisch nutzbar zum und im Nothwendigen seyn kann als wesentliches Teleskop der Zeit fuͤr die Ewigkeit, das zugleich ein Blitzableiter, fuͤr die sonst leicht gefaͤhrlichen Zeitgewitter, Zeitreitze, Zeit - und Raumwechsel ist. Ohne absolutes Recht, Licht und Gut als Wesens Norm, und Gesetzform koͤnnen wir nicht seyn, absolutes Recht, Licht und Gut aber ist per se gegeben vom absoluten Seyn per se, à se, pro se, braucht also keines Beweises, ist uͤber allen Beweis hinaus. Es ist, weil es ist, von dem: Jch bin, der ich bin, Absolut! Bestehend allein durch sich selbst.

Ein unbeweglich allreizend umtreibender, stets gleicher Augenpunkt der Ewigkeit; per se, unendlich starker, heller, still belebender als Feuer, Licht, Aether. Wenn dein Auge einfaͤltig ist, sagt das ewige Licht von Nazareth, so wird dein Ganzes Licht. Das Absolute per se allein bedarf bloße freie Observation, keinen Beweis. Altius hoc tibi non infiget Jupiter Ammon! Sum ne absolute Aequitas, ipsa mera Realitas, absolute objectiva, est certitudo ipsa per se, Fidei absolutae, Aequitate à se per se absolutae non nisi Fides absoluta respondet, convenit.

Ja da endlich Nichts ohne das Einige von selbst allgenugsame Wesen der unendlichen Freiheit nur moͤglich seyn kann, so findet129Obereitdamit den Weg zum Nichts aller Dinge an sich, ihrem Nichts nehmlich außer dem ewigen Wesen von selbst, das allein141 von selbst nothwendig wirklich, keine nothwendige Folgen als nur bloße Moͤglichkeiten haben kann, hiemit absolute Freiheit zu handeln daruͤber, absolut selbst genugsam, fuͤr sich allein unbeduͤrftig, in sich zu beruhen und vergnuͤgt zu seyn, auch mit seiner eignen freimoͤglichen, anstaͤndigen und unerschoͤpflichen Fruchtbarkeit und Mittheilbarkeit, im ewigen Gleichgewicht aller Vollkommenheiten der nothwendigen Wesens - Beziehung von, durch und zu sich selbst als einiger absoluter Allgrund und Herr aller bloßen Abhaͤnglichkeit. Mit dessen absolutem Daseyn von selbst, wenn es weg fiele, wird alle nur denkbare Moͤglichkeit auf einmal und fuͤr immer aufgehoben, schlechterdings gar nichts Denkbares bliebe uͤbrig, so ist und bleibt allein das pure Daseyn des ewigen Unabhaͤngigen von selbst, der erste Grund, wie das letzte Ziel alles Denkens, das absolute Positive an sich, von, durch, fuͤr sich selbst, der einige Grund aller Denkbarkeit, der einige Endpunkt aller Vorstellbarkeit, der einige Urgrund unumschraͤnkten Bejahens, in und an dem keine Negation moͤglich ist, das einige Ziel absoluten Zustimmens, Beruhens, Genuͤgens ohne Schranken, hiemit das einige absolute Grund - und Zielobjekt uͤber alles, so daß Verstaͤndniß und Vernunft, theoretisch und praktisch, ohne das zuerst und zuletzt nicht seyn koͤnnen, und in ewiger Ordnung a priori vom Anfangsgrunde zum Ende, vom Endzweck wieder zum Anfangsgrunde eben sowohl eine vollkommene142 Zirkulation haben, als alle Welt um ihr Zentrum, alle Jahrszeit auf ihre Art, nach einem gleichfoͤrmigen Allgesetz alles zu seinem Prinzipio und Fine, wie sichs gehoͤrt und gebuͤhret nach absolutem Vernunftgesetz ohne Ausnahme, zumal das Absolute an sich, das Unendliche selbst mit dem Wesengesetz und der Freiheit als a priori, per se gegeben, absolute primitive Fakta sind, wie das Bewußtseyn, worauf alles beruht, da man am Ende alles Denkens bis ins Nichts aller Dinge an sich, außer Einem, dem ewigen Ruhepunkt, dem unbedingten Allbedingenden, den ewigen Allanfang, den Urgrund wieder findet, und so den Ersten und Letzten aller Dinge zugleich, und hiemit kann auch Jmmanuel Kant der Erste, vor seiner ersten Vernunftkritik, in seinem einzig moͤglichen Beweisgrund des Daseyns Gottes, 1763, 1770, im einzig und ewig absolutissime zweischneidigen Dilemma: Aut Ens a se, aut Nihil absolute, mit130Kantdem andern und dritten, in seiner spekulativen und praktischen Vernunftkritik, wieder vereinigt werden, und ganz was und wie131Kantdurchaus a priori ist, ganz a priori voraus vor allen andern lautern Denkern da stehen und bleiben.

Da nun132Obereit,zur Strafe seiner Voreiligkeit, ein negativer Philosoph wird, mit einem evidenten Salto mortale, bis ins Nichts seiner selbst und aller Dinge an sich außer Einem Ewigen von selbst, so nimmt er mit seinem neuen und alten Wirbel des Nihilismus à se, der von Ewigkeit zu Ewigkeit richtig ist (Sapienti sat, in sipienti nunquam!), kurzab Schweizerisch guten Abschied, von aller ihm gnaͤdigen toleranten deutschen Lesewelt, und wuͤnschte aller Welt allerseits wohl zu leben im All. Amen in A und O!

143

Jena, Ende Juni und Anfang Juli, 1791, 13 Jahr nach des aͤquatorischen Lamberts Verscheiden, 10 Jahr nach133Kantserster Kritik der reinen Vernunft; 103 & quod excurrit, nach Newtons Prinzipien dazu. Zum Grundeins von Generalphysik und Metaphysik! Sehen wirs bald?

  • 1)
    Casta fave Lucina: Suus jam regnat Apollo!
    Aspice convexo nutantem pondere mundum;
    Aspice venturo laetentur ut omnia seclo.
  • 4)
    Occidet et serpens et fallax herba veneni
    Occidet, Assyrium vulgo nascetur amomum,
    Talia secla suis, dixerunt, currite fusis.
  • 7)
    Concordes stabili factorum numine Parece.
    Virgil.

Signirt Dr. Obereit,

aus dem Thurgau von Arbon am Bodensee.

Δος ροι πδςώ*) *) Der brave Schweizer Herr135Obereit,der, wie man aus diesem Aufsatze sieht, das tiefe Denken mit einer ungemeinen Erhabenheit des Ausdrucks in sich vereinigt, wird es einem braven Polen verzeihen, wenn er eingesteht, daß ihn dieser hohe Schwung schwindlich macht, und daß er vor dem Nichts zuruͤck schaudert. Er bekennet selbst in seiner ersten Schrift (Versuch uͤber die Transzendentalphilosophie) dieses Salto mortale gewagt, und die Vereinigung der Kantischen Philosophie mit dem Spinozismo versucht zu haben; ist aber jetzt von der Unausfuͤhrlichkeit dieses (einem jeden Selbstdenker natuͤrlichen) Unternehmens vollkommen uͤberzeugt, und glaubt vielmehr die Vereinigung der136KantischenPhilosophie mit dem Humischen Skeptizismo bewerkstelligen zu koͤnnen.137S. M.

144

Jnhalt.

1

Seite

  • Zur Seelennaturkunde.
    • 1. Selbstmord aus Rechtschaffenheit und Lebensuͤberdruß. 1
    • 2. Fortsetzung des Aufsatzes uͤber Taͤuschung, und besonders vom Traume. 10
    • 3. Uebergang des Aberglaubens in Wahnwitz. 26
    • 4. Fortsetzung des Fragments aus2Ben Josua'sLebensgeschichte. Herausgegeben von3K. P. Moritz.41
    • 5. Theantis und ihr Schweizerphilosoph. Eine psychologische Geschichte. 89
    • 4ObereitsWiderruf fuͤr5Kant.Ein psychologischer Kreislauf. 106

About this transcription

TextGnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde
Author[unknown]
Extent144 images; 28600 tokens; 6628 types; 196122 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Christof WingertszahnSheila DicksonGoethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-StiftungUniversity of GlasgowNote: Erstellung der Transkription nach DTA-RichtlinienNote: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2015-06-09T11:00:00Z Matthias BoenigDeutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu BerlinNote: Konvertierung nach DTA-Basisformat2015-06-09T11:00:00Z UB Uni-BielefeldNote: Bereitstellung der Bilddigitalisate2015-06-09T11:00:00Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationGnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte neunten Bandes zweites Stück Karl Philipp Moritz, Carl Friedrich Pockels, Salomon Maimon (eds.) . MyliusBerlin1792.

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Universitätsbibliothek Bielefeld UB Bielefeld, 2097611

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Psychologie; Wissenschaft; Psychologie; ready; dtae

Editorial statement

Editorial principles

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