PRIMS Full-text transcription (HTML)
Sammlung einiger Abhandlungen
Aus der Neuen Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſen - ſchaften und der freyen Kuͤnſte
Leipzig,im Verlage derDykiſchen Buchhandlung,1779.
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Verzeichniß der Abhandlungen.

  • VorredeS. 3
  • Verſuch uͤber die Pruͤfung der Faͤhigkeiten8
  • Aus dem achten Bande der Neuen Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und der freyen Kuͤnſte. Betrachtung einiger Verſchiedenheiten in den Werken der aͤlteſten und neuern Schrift - ſteller, beſonders der Dichter116
  • Aus dem zehnten Bande der Neuen Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und der freyen Kuͤnſte. Vermiſchte Anmerkungen uͤber Gellerts Mo - ral, deſſen Schriften uͤberhaupt und Cha - rakter198
  • Aus dem zwoͤlften Bande der Neuen Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und der freyen Kuͤnſte. [2]Einige Gedanken uͤber das Intereſſirende. Erſter TheilS. 253
  • Aus dem zwoͤlften Bande der Neuen Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und der freyen Kuͤnſte. Einige Gedanken uͤber das Intereſſirende. Zweyter Theil313
  • Aus dem dreyzehnten Bande der Neuen Biblio - thek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und der freyen Kuͤnſte. Anhang zur voranſtehenden Abhandlung379
  • Hier zum erſtenmale gedruckt. Ueber den Einfluß einiger beſondern Umſtaͤn - de auf die Bildung unſerer Sprache und Litteratur. Eine Vorleſung440
  • Aus dem vierzehnten Bande der Neuen Biblio - thek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und der freyen Kuͤnſte.
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Vorrede.

Ich habe dieſe Abhandlungen zuſammendrucken laſ - ſen, weil einige meiner Freunde dieſelben zu be - ſitzen wuͤnſchten, ohne ſich das große Werk anſchaffen zu duͤrfen, in welchem ſie zerſtreut ſind. Da dieſelben fuͤr eine periodiſche Schrift verfertiget worden, an wel - cher mehrere Theil hatten: ſo wird ſich der Leſer an das Wir nicht ſtoßen, mit welchem der Verfaſſer von ſich ſelbſt redet, und welches Schriften dieſer Art eigen zu ſeyn pflegt.

Ich habe dieſe[Aufſaͤtze] beynahe ganz unveraͤn - dert gelaſſen, nicht weil ich ſie fuͤr vollkommen halte, ſondern weil ich jezt außer Stande bin, große Ver - beſſerungen zu machen, und kleine fuͤr den Nutzen, denA 24Vorrede. ſie ſtiften, zu muͤhſam finde. Ueberdieß macht oft die Veraͤnderung, die in dem Gemuͤth oder den Um - ſtaͤnden eines Schriftſtellers vorgegangen iſt, daß er Stellen ſeiner ehemaligen Schriften zu verbeſſern glaubt, wenn er ſie blos ſeiner jetzigen Lage und Den - kungsart gemaͤßer macht. Endlich iſt es entweder an ſich, oder nur mir insbeſondre ſchwer, den Faden al - ter Gedanken ſo vollſtaͤndig wiederzufinden, daß er anders geleitet werden kann, ohne zerriſſen zu werden. Ich finde es weit leichter, eine Materie von neuem durchzudenken, als einzelne Stuͤcke derſelben nach einem alten Plane zu bearbeiten.

Unter allen ſcheint mir jezt die Abhandlung vom Intereſſirenden am meiſten einer Verbeſſerung zu be - duͤrfen. Sie iſt zu weitſchweifig, zuweilen mit einer unnuͤtzen Metaphyſik uͤberladen; und oft mit Betrach - tungen ausgeziert, die nicht nothwendig zum Haupt - ſtoffe gehoͤren.

Folgender Plan ſcheint mir jezt der einfachſte, kuͤrzeſte und richtigſte zu ſeyn.

Intereſſe im eigentlichen Verſtande, iſt die Theilnehmung an dem Gewinnſte oder Verluſte eines5Vorrede. andern. Intereſſe im figuͤrlichen Verſtande, iſt die Theilnehmung der Seele an den Handlungen oder Eindruͤcken eines andern. So vielerley Arten der Beſchaͤftigungen der Seele es giebt, wann Gegenſtaͤn - de auf uns ſelbſt wirken: eben ſo viele Arten der Theilnehmung oder des Intereſſes giebt es auch, wann dieſe Gegenſtaͤnde auf andre wirken. So wie die Vorſtellungen unſers Verſtandes, unſre Gemuͤths - bewegungen und unſre Schickſale uns unmittelbar einnehmen: ſo koͤnnen die Gedanken, die Empfin - dungen, die Begebenheiten eines andern uns durch die Theilnehmung beſchaͤftigen, das heißt, uns in - tereſſiren. Wir nehmen aber an den Gedanken ei - nes andern alsdann am erſten Theil, wenn ſie ſo klar, ſo einleuchtend, und von ſo begreiflichem Nut - zen ſind, es ſey zum menſchlichen Leben oder zur Aufloͤſung von Schwierigkeiten, daß wir ſie leicht zu unſern eignen Gedanken machen koͤnnen, und Luſt haben, uns darauf einzulaſſen. Wir nehmen an den Gemuͤthsbewegungen eines andern Theil, wenn wir die Wahrheit und die Billigkeit der - ſelben, in ihren Ausbruͤchen oder in ihrer Schil -A 36Vorrede. derung erkennen. Wir nehmen an den erzaͤhlten Begebenheiten andrer Theil, wenn dieſe wahrſchein - lich, anſchauend, deutlich und erheblich ſind; jenes, um uns leicht in die Stelle der handelnden Perſonen verſetzen zu koͤnnen; dieſes, um in dieſer Stelle einen merklichen Einfluß der Begebenheiten auf uns gewahr zu werden.

In einigen Werken des Genies ſind alle dieſe Arten von Intereſſe vereiniget, als, zum Beyſpiele, im Drama; faſt in allen ſind einige derſelben ver - miſcht. Ueberhaupt aber gehoͤrt zu dieſer Theilneh - mung eben ſo wohl eine Empfaͤnglichkeit von Sei - ten des Zuhoͤrers, als ein Grad von Wirkſamkeit von Seiten des Redners oder Dichters. Diejeni - gen Gegenſtaͤnde intereſſiren allgemein, die, um an ſich und nach ihrer Brauchbarkeit verſtanden zu wer - den, keine andern Faͤhigkeiten und Kenntniſſe erfo - dern, als die allen wohlerzogenen Menſchen gemein ſind. Diejenigen intereſſiren nur eine gewiſſe Klaſſe, die Erfahrungen oder Neigungen einer beſondern Art vorausſetzen.

7Vorrede.

Man kann ſagen, das Intereſſe der Gedan - ken oder der Empfindungen ſey die Grundlage, wor - auf ſich das Intereſſe der Begebenheiten ſtuͤzt, weil dieſe nur inſofern wichtig werden, als ſie die Urſa - chen von einem von beiden ſind.

A 4
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Verſuch uͤber die Pruͤfung der Faͤhigkeiten.

  • Aus dem achten Bande der Neuen Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und freyen Kuͤnſte.

Wenn das Hauptwerk der Erziehung darin - nen beſteht, den Faͤhigkeiten der Seele Beſchaͤftigung und den Neigungen ihre gehoͤri - gen Gegenſtaͤnde zu geben: ſo wird ihr erſtes Geſchaͤft ſeyn muͤſſen, dieſe Faͤhigkeiten zu ken - nen. Aber wie ſchwer und wie mißlich iſt dieſe Unterſuchung! Wodurch will man die Faͤhigkei - ten des Geiſtes kennen lernen, wenn man ihn nicht handeln ſieht? Und doch, was kann es in9Ueber die Pruͤfung der Faͤhigkeiten. dieſem Alter fuͤr Verrichtungen geben, bey denen dieſe Faͤhigkeiten merklich wuͤrden? Es geht mit der Bildung der Geiſter, wie mit der Entſtehung der Koͤrper. Wir werden dieſe leztern nicht eher gewahr, als bis ſie ſchon eine merkliche Groͤße erreicht haben, und ſchon lange uͤber die Epoque hinaus ſind, wo ſich ihre Beſtandtheile zuſam - menfuͤgten, und durch ihre Lage und ihre Geſtalt die Beſchaffenheit und Erſcheinungen des kuͤnfti - gen Dinges beſtimmten. Eben ſo erkennen wir die Vollkommenheiten eines Geiſtes erſt alsdann, wann ſie an wichtigen Gegenſtaͤnden geuͤbt wer - den; aber dann iſt es gemeiniglich ſchon zu ſpaͤt, die Wahl iſt geſchehen, und nur der gluͤckliche oder ungluͤckliche Erfolg laͤßt uns auf die Anlage der Seele ſchließen, die dieſen Gegenſtaͤnden an - gemeſſen war. In der That, wie viel Kenntniß der Seele und was fuͤr eine feine Beobachtung ge - hoͤrt dazu, wenn man in kleinen Wirkungen eben die Kraft, die große hervorbringen koͤnnte, in nichtswuͤrdigen Beſchaͤfftigungen das Genie, und ſelbſt in Ausſchweifungen und Fehlern die Vor -A 510Ueber die Pruͤfungzuͤge des Geiſtes erkennen ſoll? Wenn nicht hier der Zufall oft mehr thaͤte, als die Klugheit und die Wahl, oder wenn nicht die Natur, mit vor - zuͤglichen Faͤhigkeiten fuͤr gewiſſe Sachen, auch eine vorzuͤgliche Neigung dazu verbunden haͤtte, ſo wuͤrden die meiſten Talente erſtickt oder ſchlecht angewendet werden.

Alſo, wenn das der einzige Endzweck dieſer Unterſuchung waͤre, dem Menſchen ſeine Beſtim - mung und ſeine Geſchaͤfte anzuweiſen, ſo koͤnnte man ſie getroſt aufgeben. Der Richterſtuhl, der uͤber die Faͤhigkeiten junger Buͤrger in einem Staate den Ausſpruch thun, und jedem ſeine Lebensart nach dieſem Ausſpruche zuerkennen ſoll - te, iſt einer von den ſchoͤnen Vorſchlaͤgen, die zu weiter nichts dienen, als ihre Erfinder zu belu - ſtigen. Die Natur will nicht haben, daß ſich unſre Weisheit in alle ihre Werke miſchen ſoll; und am Ende macht ſie es doch vielleicht eben ſo gut, als wir es mit unſrer ganzen Klugheit wuͤr - den gemacht haben.

11der Faͤhigkeiten.

Aber um den erwachſenen Mann mit ſeinen eignen Kraͤften bekannt zu machen, ihm, wenn der Zufall ihn gerade an die rechte Stelle ge - ſtoßen hat, mehr Zufriedenheit zu geben, oder wenn er an die unrechte gekommen iſt, ihm we - nigſtens einen Zeitvertreib zu zeigen, der ſich beſ - ſer fuͤr ihn ſchickt, als ſeine Geſchaͤfte; endlich wenigſtens von den Erſcheinungen in dieſer Sphaͤre Grund anzugeben, und die ſeltſame Ver - einigung zu erklaͤren, die man ſo oft in demſel - ben Menſchen zwiſchen großem Verſtande und großer Einfalt, zwiſchen ausnehmenden Talenten und einer ungewoͤhnlichen Unfaͤhigkeit, zwiſchen großen Kraͤften und einer voͤlligen Ohnmacht ge - wahr wird, dazu iſt dieſe Unterſuchung nuͤtzlich. Kann wohl die Philoſophie, wenn ſie nun einmal nicht zugelaſſen wird, die Dinge in der Welt zu beſſern, etwas anders thun, als das, was geſchieht, zu beſchreiben? und wenn ſie nicht an der Spitze des Heeres gehen kann, als Befehlshaber, um die Begebenheiten zu len - ken, ſo muß ſie wenigſtens hinter her ge -12Ueber die Pruͤfunghen, als Geſchichtſchreiber, um ſie aufzuzeich - nen.

Alle Unterſuchungen, die man zu dem Ende anſtellen muͤßte, theilen ſich in zwo Klaſſen. Ent - weder ſammlet man die Kennzeichen, aus denen man auf gewiſſe Faͤhigkeiten der Seele ſchließen kann Dieſer Theil iſt lang und beruhet auf ei - ner Reihe von Beobachtungen, zu denen jeder einzelne Menſch nur einen Beytrag thun kann. Oder man beſtimmt fuͤr jede Faͤhigkeit die Art von Geſchaͤften, die ſie am beſten auszurichten im Stande iſt. Dieſer Theil wuͤrde leicht ſeyn, wenn es moͤglich waͤre, jede Art von Geſchaͤften durchaus zu kennen, ohne ſelbſt die Faͤhigkeit zu beſitzen, ſie auszufuͤhren.

Um zu wiſſen, wie ſich gewiſſe Faͤhigkeiten der Seele aͤußern, muß man dieſe Faͤhigkeiten erſt un - terſcheiden.

I. Die erſte Faͤhigkeit, der Grund aller uͤbrigen, und die, welche die Staͤrke und Beſchaffenheit der andern beſtimmt, iſt das Vermoͤgen zu empfinden. So iſt der Gang der Natur: Zuerſt empfaͤngt13der Faͤhigkeiten. die Seele eine Menge Eindruͤcke, das Gedaͤchtniß erhaͤlt ſie, die Einbildungskraft ſezt ſie zuſam - men, der Verſtand ſammlet das Aehnliche in denſelben, und verwandelt die Eindruͤcke in Ideen, die Vernunft endlich bringt dieſe Ideen in Ver - bindung und erbaut ſich daraus das Syſtem ih - rer Grundſaͤtze und ihrer Regeln. Die Empfin - dungen ſind alſo der Stoff, welchen die uͤbrigen Faͤhigkeiten bearbeiten. Iſt dieſer feſt und dauer - haft, ſo iſt weiter nichts als ein geſchickter Kuͤnſt - ler dazu noͤthig, um vortrefliche Werke daraus zu machen; iſt er ſchwach und untauglich, ſo wird ſelbſt eine Meiſterhand und die weiſeſte An - wendung nur etwas Mittelmaͤßiges hervorbrin - gen.

Von der Empfindung ſollte alſo der Anfang dieſer Unterſuchung, ſo wie der Erziehung uͤber - haupt, gemacht werden. Sind die Eindruͤcke, die die Seele des Kindes von ſich ſelbſt und von den Sachen außer ſich empfaͤngt, richtig, mit den Gegenſtaͤnden uͤbereinſtimmend, tief und dauerhaft; ſind ihre Empfindungen wahr und14Ueber die Pruͤfungſtark? das iſt die Frage, die man zuerſt entſchei - den muß. Ich ſetze mich in die Stelle des Va - ters und Lehrers, und folge dem Kinde in allen ſeinen Bewegungen.

1. Das erſte, worauf ich Acht haben werde, iſt, ob das Kind die Sachen, die es einmal em - pfunden hat, geſchwind und leicht wieder er - kennt. Dieſe Beobachtung werde ich ſelbſt zu der Zeit anſtellen, wo das Kind fuͤr dieſe Empfin - dungen noch keine Worte hat. Der Schluß ſelbſt iſt klar. Um eine Sache wiederzuerken - nen, iſt noͤthig, den alten und den gegenwaͤrti - gen Eindruck zu vergleichen. Je geſchwinder dieſe Vergleichung geſchieht, deſto merklicher muͤſ - ſen die Spuren ſeyn, die die Sache in der Seele zuruͤckgelaſſen hat. Man ſieht zugleich, warum dieſes Merkmal bey Kindern richtig iſt, und bey Erwachſenen truͤgt. Die Seele der erſten be - ſchaͤftigt ſich ganz allein mit Empfindungen; ihre Aufmerkſamkeit iſt niemals zwiſchen den ſinnli - chen Gegenſtaͤnden und allgemeinen Ideen ge - theilt; und das Maaß der Staͤrke alſo, mit wel -15der Faͤhigkeiten. chem ſie empfindet, iſt zugleich das Maaß ihrer Kraft uͤberhaupt. Bey den andern haͤngt die Leichtigkeit, die alten Gegenſtaͤnde wiederzuer - kennen, nicht blos von dem Nachdrucke, mit dem man ſie zuerſt empfunden hat, ſondern auch von dem Grade der Aufmerkſamkeit ab, den man izt auf ſie wendet; und fuͤr die Empfindung bleibt nur ſo viel von der Kraft der Seele, als zum Den - ken nicht noͤthig iſt.

2. Ein ander noch allgemeineres und ſiche - rers Merkmal iſt es, wenn das Kind eine große Aufmerkſamkeit auf den jedesmaligen Gegenſtand ſeiner Empfindung hat, und ſich durch die uͤbri - gen Sachen, die itzund nicht eigentlich zu ſeiner Betrachtung gehoͤren, wenig oder gar nicht zer - ſtreuen laͤßt. Jedermann wird ſich erinnern, dieſen Unterſchied an Kindern bemerkt zu haben. Einige werden von dem Anblicke keiner einzigen Sache ſo ſtark geruͤhrt, daß ſie eine Zeitlang bey derſelben verweilen, ſie ſehen alles an, ohne ir - gend etwas zu bemerken; unter der Menge von Dingen, die um ſie ſind, irret der Sinn und die16Ueber die PruͤfungSeele beſtaͤndig von einem Gegenſtande zum an - dern, ohne bey einem einzigen ſtille zu ſtehen; oder vielmehr, ſie verhalten ſich gegen alle nur leidend, nehmen alle Eindruͤcke an, wie ſie ihnen von ungefaͤhr in die Sinne fallen, ohne einem einzigen freywillig den Vorzug zu geben.

Andre ſind immer nur mit einem Gegenſtan - de auf einmal beſchaͤftigt. Ihre Augen oder Ohren haben immer etwas Feſtes und Beſtimm - tes, worauf ſie ſich richten. Unter einem noch ſo großen Haufen von Sachen oder Perſonen un - terſcheiden ſie augenblicklich das Bekannte vom Fremden, gehen unachtſam bey dem einen vor - bey, und ſehen dafuͤr das andre ſo lange ſtarr und unverwandt an, bis ſie ungefaͤhr damit eben ſo bekannt worden ſind, wie mit den uͤbrigen.

Wenn man das Uebrige gleich ſezt, ſo kann man mit Recht vermuthen, daß die Bilder in der Seele des leztern beſſer und richtiger find, als in der erſten.

17der Faͤhigkeiten.

Dieſe Gabe, viele Dinge nicht zu ſehen und nicht zu hoͤren, um von einer recht geruͤhrt zu werden, die Aufmerkſamkeit mit einem Worte, iſt ſowohl die Urſache als der Beweis ſtarker Em - pfindungen. Die Urſache, weil, wo mehr Kraft angewendet wird, die Wirkung groͤßer ſeyn muß; der Beweis, weil die Seele von jeder Sache um ſo viel mehr an ſich gezogen wird, je groͤßer die Thaͤtigkeit iſt, in die ſie die Seele ſezt. Iſt die Seele nur zu leichten und gleichſam nur beruͤh - renden Eindruͤcken faͤhig; ſo werden ſie niemals uͤber die Zerſtreuungen die Oberhand behalten; die Kraft der Seele wird unter alles gleich ausge - theilt, und durch dieſe Theilung verzehrt. Hef - tige Wirkungen hingegen werden die Aufmerkſam - keit, auch ohne ihren Willen, auf die Gegenſtaͤn - de feſthalten, die ſie erregen.

3. Ein drittes, aber mehr zweydeutiges Kennzeichen iſt ſchon immer bey dieſer Unterſu - chung gebraucht worden; die Lebhaftigkeit meyne ich, und die Geſchaͤftigkeit des Geiſtes. Die Wahrheit, die zum Grunde liegt, iſt dieſe: JeB18Ueber die Pruͤfungbeſſer und lebhafter die Bilder ſind, die die Seele durch die Empfindungen erhaͤlt, deſto groͤßer iſt das Vergnuͤgen uͤber dieſelben, und deſto groͤßer das Verlangen nach neuen.

Die Begierde alſo, mit welcher wir gewiſſe Seelen immer neue und neue Gegenſtaͤnde ihrer Empfindung aufſuchen ſehen, und die Behendig - keit, die dieſe Begierde allen ihren Handlungen giebt, koͤnnte ein Beweis von der Guͤte ihrer Em - pfindungen ſeyn, wenn nur dieſe Munterkeit nicht oft einer gewiſſen Beharrlichkeit entgegen waͤre, welche jedem Eindrucke Zeit genug laͤßt, ſich in den Seelen feſtzuſetzen, ehe ein neuer auf ihn folgt. Ein ſchneller Uebergang von einer Sache zur andern zeigt freylich eine wirkſame Seele, aber er loͤſcht zu leicht einen Eindruck durch den andern aus, und zerſioͤrt die Wirkung, indem er den Gegenſtand zu oft abaͤndert.

Man ſieht alſo, wie leicht hier der Irrthum iſt. Ein langſamer Fortgang von einem Gegen - ſtande zum andern, der bey Kindern oft fuͤr Dummheit angeſehen wird, kann eben die Urſache19der Faͤhigkeiten. ihres kuͤnftigen Verſtandes ſeyn, weil er fuͤr ihn eine Reihe unterſchiedner und ſorgfaͤltig gezeich - neter Bilder ſammlet. Und die Fluͤchtigkeit der andern, uͤber die man ſich als eine unfehlbare Verkuͤndigung eines faͤhigen Geiſtes freuet, ver - wirrt und vermiſcht dieſe Bilder, und giebt der Reflexion, wenn ſie endlich ihr Amt anfangen will, nichts als ein Chaos von halbverloͤſchten und verworrnen Zuͤgen, aus denen ſich nichts zuſammenſetzen laͤßt. Die Kunſt beſteht alſo dar - innen, zu unterſcheiden, ob die Seele aus Traͤg - heit und Verdroſſenheit ſo ſchwer die alten Gegen - ſtaͤnde verlaͤßt, oder ob es aus einer gewiſſen Art von dunkler Betrachtung herruͤhrt, die ſie daruͤber anſtellt.

4. Die unmittelbarſten Wirkungen der Em - pfindungen ſind die Begierden. Man kann alſo dieſe brauchen, um auf jene zuruͤckzuſchließen; und da ſich die Begierden eher als die Faͤhigkeiten ent - wickeln, ſo iſt dieß auch der erſte Weg der Unter - ſuchung, die Talente aus den Leidenſchaften zu beurtheilen.

B 220Ueber die Pruͤfung

Sind dieſe rauſchend und heftig, aber vor - uͤbergehend, ſo ſind die Eindruͤcke in der Seele ſchnell, aber fluͤchtig. Sind ſie ruhig, aber dauerhaft, ſo iſt die Empfindung langſam, aber tief. Iſt zwiſchen den Begierden und ihren Ge - genſtaͤnden ein gewiſſes Verhaͤltniß, geſezt auch, daß ſie zuweilen daruͤber hinausgehen ſollten, ſo kann man in den Begriffen Ordnung und Rich - tigkeit vermuthen. Ausſchweifende oder ganz verkehrte Leidenſchaften, ohne alles wenigſtens ſcheinbare Verhaͤltniß mit dem Guten, auf wel - ches ſie gerichtet ſind, zeigen Zerruͤttung und Un - deutlichkeit in den Bildern an, die die Dinge von ſich in der Seele abgedruͤckt hatten. Ein Mangel aller Leidenſchaften iſt das untruͤglichſte Kennzei - chen der Dummheit.

5. Aber die genaueſte und ſchaͤrfſte Pruͤfung laͤßt ſich durch die Beobachtung des Geſchmacks anſtellen. Fuͤr diejenige Klaſſe von Empfindun - gen iſt das Vermoͤgen der Seele am faͤhigſten, in der ſie das Schoͤne vom Haͤßlichen am leichteſten und richtigſten unterſcheidet. Nach der Einrich -21der Faͤhigkeiten. tung der Natur bringt, wenn die ſinnlichen Werk - zeuge richtig und die Seele nicht unfaͤhig iſt, das Schoͤne Vergnuͤgen und das Haͤßliche Verdruß hervor. Aber nicht bey allen Gegenſtaͤnden iſt dieſe angenehme oder unangenehme Empfindung gleich ſtark. Das Auge eines Malers empfindet weit mehr Verdruß uͤber eine unrichtige Geſtalt, als ſein Ohr uͤber eine Disharmonie; hingegen ſieht der Tonkuͤnſtler die abgeſchmackteſte Zeich - nung ohne Ekel, und geraͤth bey falſchen Toͤnen oder bey verfehltem Takte außer ſich.

Man kann alſo dieſe Beobachtung auf zweyer - ley Art brauchen.

Einmal das Empfindungsvermoͤgen uͤber - haupt zu beurtheilen. Ein Menſch, dem alles gleichguͤltig iſt, der das Schlechte und Gute mit gleicher Zufriedenheit aufnimmt, und auf den Harmonie, Ordnung und Schoͤnheit keine Wir - kung thun; deſſen Eindruͤcke muͤſſen an und vor ſich ſchlecht, unrichtig und ſchlaͤfrig ſeyn: denn wenn das Bild von der Sache ſelbſt richtig gefaßtB 322Ueber die Pruͤfungiſt, ſo iſt dieſe begleitende Empfindung von Luſt oder Unluſt unausbleiblich.

Zum andern die Art von Gegenſtaͤnden zu be - ſtimmen, zu denen jede Seele die beſte Anlage hat, naͤmlich fuͤr die, wo ſie am leichteſten und genaueſten das Gute nicht nur vom Schlechten, ſondern auch vom Mittelmaͤßigen unterſcheidet, wo ihre Unterſcheidungen die feinſten, und ihr Vergnuͤgen und ihre Unluſt die lebhafteſten ſind. Es wuͤrde dieſe Art von Pruͤfung weit vollkomm - ner werden, wenn es moͤglich waͤre, von jeder Art der ſinnlichen Gegenſtaͤnde dem Kinde die ſchoͤnſten und vortreflichſten vorzuſtellen, um an ihnen ſeine Empfindung zu pruͤfen. Wenigſtens waͤre es doch billig, anſtatt das Auge und das Ohr des Kindes von Jugend auf an Mißgeſtal - ten und Disharmonie zu gewoͤhnen, und es gegen den natuͤrlichen Ekel davor abzuhaͤrten, es lieber durch richtige Zeichnung und wohlklingende Toͤne ſchon zuvor einzunehmen, und ihm ſeine erſten Vergnuͤgungen zu einem Muſter zu machen, nach23der Faͤhigkeiten. denen es ſchlechtere beurtheilen und verwerfen lernte.

6. Das waͤren alſo ſolche Kennzeichen der Empfindung, die ſelbſt Urſachen oder Wirkungen der Sache ſind, die ſie bezeichnen. Es giebt aber andre, die mehr Anzeichen als Merkmale ſind, die ganz auf der Oberflaͤche liegen, die bey den einzelnen Menſchen am leichteſten bemerkt werden, und ſich doch, weil ſie ſo mannichfaltig und ſo veraͤnderlich ſind, am ſchwerſten in eine allgemeine Regel verwandeln laſſen.

Das Wichtigſte dieſer aͤußern Merkmale iſt der Bau der Werkzeuge. Ein lebhaftes, mun - teres und feuriges Auge iſt daher immer mit Recht fuͤr das Zeichen eines faͤhigen Geiſtes gehalten worden, weil es die Quelle der vornehmſten und meiſten Empfindungen, oder, wie Milton ſagt, das große Thor der Weisheit iſt.

Die Munterkeit und das aͤußere Betragen, die Beweglichkeit und Thaͤtigkeit des Koͤrpers iſt ein ander ſolches Merkmal. So wie der Schlaf die Beraubung aller Empfindung iſt, ſo iſt dieB 424Ueber die PruͤfungSchlaͤfrigkeit die Schwaͤchung derſelben. Eine Seele, die immer mit gewiſſen Gegenſtaͤnden be - ſchaͤftiget iſt, ſetzet auch ihren Koͤrper in Bewe - gung, und verhindert die Erſchlaffung der Ner - ven, aus der die Traͤgheit entſteht. Wenn hin - gegen die Seele leer oder nur ſchlecht geruͤhrt iſt, ſo wirkt ſie in ihren Koͤrper eben ſo langſam und eben ſo ſchwach, als auf ſie war gewirkt worden, und der Menſch verſinkt in Langeweile und Muͤ - digkeit.

7. Aber ein Merkmal, welches ſeltner beob - achtet wird, iſt die Unfaͤhigkeit eines jungen em - pfindenden Kopfs zu Erlernung abſtrakter Be - griffe, oder der Woͤrter, die ſie ausdruͤcken. Man hoͤrt ſo oft uͤber die Ungelehrigkeit von Kindern klagen, die allenthalben, nur nicht in ihren Lehr - ſtunden verſtaͤndig ſcheinen. Ganz gewiß muͤſſen alsdann entweder die Sachen nicht gut fuͤr ſie gewaͤhlt ſeyn, die man ſie lehrt, oder der Lehrer unterſcheidet die Gabe, bloß andrer Gedanken zu behalten, nicht von der Faͤhigkeit ſelbſt zu denken. In einem je hoͤhern Grade es die leztere beſizt,25der Faͤhigkeiten. deſto weniger wird es von der erſten haben, be - ſonders von den unfruchtbaren Gegenſtaͤnden, mit denen man gemeiniglich den Unterricht an - faͤngt. Eine Seele, die mit wirklichen Bildern von Dingen erfuͤllt iſt, wird ſich ſehr ungern von denſelben zu bloßen Worten wegwenden, die es nicht verſteht; und je lebhaftere Eindruͤcke es be - koͤmmt, mit deſto groͤßerm Widerwillen wird es ſich die Gewalt anthun, Sachen zu behalten, die ohne alle Eindruͤcke ſind.

Die Geſchichte der Genies hat dieſe Anmer - kung beſtaͤtigt, und oft das Urtheil ihrer erſten Schullehrer widerlegt.

Nur noch zwey Worte uͤber dieſe ganze Ma - terie.

Erſtlich. Es iſt nichts ſchwerer, als die Em - pfindungen anderer zu beurtheilen oder zu verglei - chen. Unſre Sprache druͤckt das ſinnliche Bild bloß durch den Namen des Gegenſtandes aus. Jeder erinnert ſich alſo bey dem Worte an ſeine eigne Idee, aber keiner erfaͤhrt die Idee des an - dern. Die Mittheilung der Gedanken beſtehtB 526Ueber die Pruͤfungnicht ſowohl darinnen, in dem andern eben die Eindruͤcke hervorzubringen, die wir ſelbſt haben, ſondern nur die Eindruͤcke wieder zu erwecken, die durch eben die Gegenſtaͤnde bey ihm hervor - gebracht werden. Unſre ſinnlichen Begriffe ſind lauter Verhaͤltniſſe. Das Abſolute in denſelben koͤnnte ſich voͤllig aͤndern, und alle unſre Aus - druͤcke wuͤrden noch koͤnnen dieſelben bleiben, wenn nur die Aenderung durchgaͤngig und auf eine gleichfoͤrmige Art geſchaͤhe. Um alſo zu wiſſen, wie empfindet ein anderer, muͤſſen wir unterſu - chen, was faͤngt die Seele mit ihren Empfindun - gen an? und der Gebrauch, den jemand von den Bildern macht, die in ſeiner Seele geſammlet ſind, zeigt am erſten, wie dieſe Bilder beſchaffen ſind. Man wird dieſes nirgend ſo gewahr, wie bey den nachahmenden Kuͤnſtlern. Wuͤrde man wohl aus der beſten Beſchreibung eines Malers ſchließen, daß er was anders und beſſer ſieht, als wie andere? Sobald er durch Worte mitthei - len ſoll, ſo ſchraͤnkt ſich ſeine Empfindung bloß auf das Allgemeine ein, was allen ſehenden Menſchen27der Faͤhigkeiten. in die Augen faͤllt, und wofuͤr die Sprache nur al - lein gemacht iſt. Aber ſobald er den Pinſel in die Hand nimmt, da wird man gewahr, daß ſein Auge tauſend Sachen bemerkt hat, die uns un - ſichtbar waren, und daß in ſeiner Vorſtellung die Natur mit allen ihren Geſtalten ſich auf eine ganz andre Art abmale, als in der unſrigen.

Zweytens: Obgleich die Werkzeuge nicht verdorben ſeyn muͤſſen, wenn die Empfindung gut ſeyn ſoll, ſo iſt es doch falſch, daß ſich die Staͤrke der leztern nach der Schaͤrfe der erſtern richtet. Was wir ein ſcharfes Auge nennen, iſt nur ein Auge, das entferntere oder kleinere Ge - genſtaͤnde doch noch deutlich ſieht. Es ſieht alſo ohne Zweifel mehr auf einmal: aber bey einer gewiſſen Groͤße und Naͤhe ſieht das ſchwaͤchere Auge eben ſo gut: es bedarf alſo mehr Zeit, ſich dieſelbe Anzahl von ſinnlichen Begriffen zu ver - ſchaffen, aber es gelangt endlich doch dazu; und oft beſſer, weil ſein Geſichtskreis immer einge - ſchraͤnkter und ſeine Aufmerkſamkeit alſo weniger getheilt iſt.

28Ueber die Pruͤfung

Ueberdieß iſt es nicht der bloße Eindruck der Sache, ſondern es iſt die Idee, die aus die - ſem Eindrucke herausgezogen wird, die den Stoff zu den folgenden Wirkungen der Seele giebt.

Alſo iſt die Beurtheilung der Empfindungen etwas anders, als die bloße Beurtheilung des Se - hens und Hoͤrens; alſo kann dieſe Beurtheilung nicht unmittelbar durch die Beobachtung deſſen, was das Kind oder der Menſch von ſeinen Em - pfindungen ſagen kann, geſchehen; alſo iſt kein ander Mittel, zu irgend einer Kenntniß derſelben zu kommen, als die Wirkungen und Folgen der Empfindungen kennen zu lernen.

II. Die zweyte Handlung der Seele, die auf die Empfindungen zunaͤchſt folgt, iſt die Wieder - hervorbringung derſelben, entweder in eben der Form und Ordnung, in der wir ſie gehabt haben, das iſt das Gedaͤchtniß; oder getrennt und zu - ſammengeſezt, die Einbildungskraft. Beides iſt in gewiſſer Maaße eine unmittelbare Folge der29der Faͤhigkeiten. Empfindung und eine nothwendige Vorbereitung zum Denken.

Keine Faͤhigkeit ſcheint leichter zu erkennen zu ſeyn, als das Gedaͤchtniß, weil man glaubt nur Achtung geben zu duͤrfen, wie viel man behalten kann. Im Grunde aber iſt die Unter - ſuchung eben ſo ſchwer, und der Irrthum haͤu - fig, weil man gemeiniglich von dem Mangel einer gewiſſen Gattung von Gedaͤchtniſſe auf den Mangel des Gedaͤchtniſſes uͤberhaupt ſchließt.

Es giebt ein gewiſſes blos behaltendes, und ein andres, ſo zu ſagen raͤſonnirendes Gedaͤcht - niß. Man koͤnnte das erſte das Gedaͤchtniß im engern Verſtande, und das andre die Gabe der Erinnerung nennen. Jenes iſt das, wovon man am erſten urtheilt, und wovon man vielleicht nicht ohne Grund behauptet, daß es bey einem großen Verſtande ſelten ſey; es erhaͤlt die ehemaligen Eindruͤcke, und ſtellt ſie der Seele, ſo oft ſie will, in eben der Ordnung wieder vor, ohne daß ſie dabey eine andre Bemuͤhung noͤthig haͤtte, als30Ueber die Pruͤfungſich darauf zu richten. Man kann die Staͤrke dieſes Gedaͤchtniſſes ziemlich richtig nach demje - nigen abmeſſen, was ein Menſch auswendig ler - nen kann.

Das andre iſt ein Erinnern, welches durch Nachdenken geſchieht, wenn die Seele ihre ehemali - gen Vorſtellungen, ſobald nur eine davon wieder lebhaft worden iſt, durch ihre Verbindung und Folge aufzuwecken weis. Dieſes Gedaͤchtniß ſezt zwar voraus, daß die alten Ideen auf eine ge - wiſſe Weiſe verloͤſcht ſind, aber es erſetzt dieſe Schwaͤche durch eine andre Kraft der Seele, die es anzeigt, die Kraft die Verbindungen der Dinge einzuſehen, und ſelbſt verdunkelte Bilder durch ihre eigne Bemuͤhung wieder klar zu machen. Dieſes Gedaͤchtniß iſt ein ſehr ſicher Kennzeichen, oder vielmehr ein Theil des Verſtandes.

Man wird ſehr oft Menſchen ſehen, die Er - zaͤhlungen und Geſchichte ſchlecht behalten, und immer entweder Luͤcken oder Irrthuͤmer finden, ſo oft ſie Begebenheiten wieder erzaͤhlen ſollen; und die ſich doch ganzer Reihen von Vernunftſchluͤſſen31der Faͤhigkeiten. und Raiſonnemens ohne Muͤhe erinnern. Dieſe Menſchen haben gewiß die zweyte Art des Ge - daͤchtniſſes, und die erſte fehlt ihnen.

Der Grund iſt dieſer: Die Verbindung zwi - ſchen Wahrheiten iſt genauer, als die zwiſchen Begebenheiten; die Seele alſo, die ihre alten Bil - der nach und nach durch eine gewiſſe Art von Schluͤſſen wieder erwecken muß, ſieht bey den er - ſten den Weg genau bezeichnet, den ſie zu gehen hat, bey den leztern aber muß ſie ihn auf Gera - thewohl ſuchen, und geht alſo oft fehl. Die meiſten Begebenheiten werden nur durch Zeit und Ort verknuͤpft, oder dieſe Verbindung iſt doch we - nigſtens die einzige, die wir einſehen; wenn die Seele alſo ihre Ordnung bey der Erinnerung nicht verruͤcken ſoll, ſo muͤſſen ſich die Begriffe in eben der Reihe und Ordnung nach einander erhal - ten haben; weil das Nachdenken das Fehlende nicht erſetzen kann.

Zweytens. Wenn man unmittelbar, ſo bald man nur die Gedanken auf das richtet, was man ehemals empfunden oder erlernt hat, ſich32Ueber die Pruͤfungdie ganze Reihe der alten Ideen wieder vorſtellt, ſo hat man die erſte Art von Gedaͤchtniß. Wenn man aber bey dem erſten Blicke auf die Sache wenig oder nichts von ihr weis, nach und nach aber und ſtufenweiſe ſich eines Theils nach dem andern erinnert, und den Fortgang immer gewahr wird, wie eine Idee die naͤchſtliegende aufweckt; ſo hat man die zweyte.

Man ſieht alſo auch, warum man bey Kin - dern faſt nur uͤber das erſte urtheilt. Alles, wo - mit man ſie beſchaͤftigt, und woran man ihre Faͤ - higkeiten pruͤft, ſind groͤßtentheils Sachen, die ohne innere Verbindung ſind, und wo alſo kein ander Mittel iſt, als daß man ſie entweder aus - wendig wiſſen oder vergeſſen muß.

Wem beide Arten von Gedaͤchtniß fehlen, der wird fuͤr ſein Nachdenken nur wenig Gegenſtaͤnde, und alſo einen kleinen und eingeſchraͤnkten Ver - ſtand haben.

III. Die Einbildungskraft nimmt aus den Em - pfindungen einzelne Theile, und macht daraus33der Faͤhigkeiten. ein neues Ganze. In einem hoͤhern Grade nennt man ſie die Gabe der Dichtung.

Ihre Vollkommenheit beruht, wie einer jeden Zuſammenſetzung ihre, erſtlich auf der Richtigkeit der Theile und ihrer Aehnlichkeit mit den Dingen, von denen ſie genommen ſind. Zweytens, auf der Regelmaͤßigkeit und Richtigkeit der Verknuͤp - fung. So erfodern die Maler bey dem, was ſie Ideal nennen, die genaueſte Wahrheit und die getreueſte Kopie der Natur in den Theilen, und in dem Ganzen Wahl und Anordnung.

Jeder Menſch baut ſich zuweilen in ſeinen Gedanken eine kleine Welt, in der er wohnt, und in der er ſich gefaͤllt. Wenn dieſe gut geord - net iſt, und eine Reihe von Moͤglichkeiten enthaͤlt, die zuſammenhaͤngen, ſo iſt die Imagination richtig; wenn die Bilder den wirklichen Empfin - dungen an Staͤrke nahe kommen, ſo iſt ſie leb - haft; wenn ſie zuſammengeſezt einen hoͤhern Grad von Vollkommenheit haben, als die Na - tur, aus der ſie geſammlet ſind, ſo iſt ſie erha - ben. Auf dieſe Art alſo koͤnnen unſre SpielwerkeC34Ueber die Pruͤfunguns unſre weſentlichen Vollkommenheiten auf - klaͤren.

Dieſe Faͤhigkeit hat noch das Eigne, daß ſich bey ihr vorzuͤglich die Beſtimmung der Seele und die Art von Gegenſtaͤnden zeiget, fuͤr die ſie ge - macht iſt. Die Empfindungen, die die ſtaͤrkſten waren, laſſen auch die ſtaͤrkſten Eindruͤcke zuruͤck, und die Verbindungen werden alſo auch am leich - teſten und beſten. Durch dieſen Weg zeigt zu - weilen die Natur von ſelbſt die Abſicht mit ihrem Geſchoͤpfe. Der kuͤnftige Bildhauer macht Men - ſchen aus Leim, der junge Tonkuͤnſtler ſingt rich - tigere und kuͤnſtlichere Melodien.

Dieſe Werke der jugendlichen Einbildungs - kraft ſind leicht zu erkennen, wo ſie wirklich koͤr - perliche Theile zu einem Ganzen verbindet. Man darf nur darauf Achtung geben, in welcher Gat - tung das Kind die groͤßte Erfindſamkeit, den rich - tigſten Geſchmack und die beſte Anordnung hat. Aber die Einbildungskraft, die bloße Bilder zu - ſammenſetzet, zeigt ſich ſpaͤter und laͤßt ſich leich - ter verkennen, und auf dieſer beruht doch eigent -35der Faͤhigkeiten. lich die Faͤhigkeit zum Gelehrten oder zum ſchoͤnen Geiſt.

Man kennt gemeiniglich nur eine einzige Art von Einbildungskraft, die, welche ſinnliche Bil - der vereinigt, um neue Bilder hervorzubringen, die aus den Theilen der Koͤrper neue Koͤrper, aus Thatſachen Thatſachen, und aus einzelnen Erſchei - nungen in der Natur und beym Menſchen eine aͤhn - liche Welt und aͤhnliche Menſchen zuſammenſezt. Hier geben die Sinnen zuerſt den Stoff, und ih - nen wird auch zulezt das Werk, wann es vollen - det iſt, vorgeſtellt. Aber es giebt auch eine Ein - bildungskraft fuͤr den Philoſophen, oder wenig - ſtens fuͤr den Erfinder der Philoſophie. Um zu einer neuen Wahrheit zu kommen, wenn ſie nicht eine unmittelbare Folge einer ſchon bekannten iſt, iſt es unmoͤglich, die Art von deutlich gedachten Schluͤſſen zu brauchen, durch welche man dieſe Wahrheit, wenn ſie erfunden iſt, beweiſt. Wie will man den Weg zu einem Ziele abzeichnen, wel - ches man noch nicht kennt? Alſo Schluß vor Schluß von der bekannten Wahrheit zur unbe -C 236Ueber die Pruͤfungkannten fortzugehen, und ſich die ganze Reihe von Begriffen, durch welche beide zuſammenhaͤn - gen, gleich mit Deutlichkeit und richtiger Unter - ſcheidung zu denken, das iſt unmoͤglich. Hier muß der ſchnelle Flug des Genies erſt das unbe - kannte Land ausſpaͤhen, erſt die fremde Gegend durchſchaut haben, ehe der langſam fortſchreiten - de Verſtand ſeinen Weg antreten kann. Die Seele muß das Vermoͤgen haben, die ganze Reihe mit Einem Blick und einer Art von unmittelbarem Anſchauen zu uͤberſehen. Ideen, die entwickelt eine ganze Wiſſenſchaft ausmachen, muͤſſen ſich zuſammendraͤngen, ein Ganzes ausmachen, und ſich gleichſam in ein Bild vereinigen. So wie es eine gewiſſe Ahndung giebt, durch die man kuͤnftige Begebenheiten vorausſieht, ohne ſich alle die Urſachen erklaͤren zu koͤnnen, aus denen man ſie folgert: ſo giebt es eine gewiſſe Kunſt gluͤck - lich zu rathen, durch die man weit hinaus lie - gende Ideen und entfernte Folgerungen der Wahr - heiten vorausſieht, ohne ſich aller der Schluͤſſe37der Faͤhigkeiten. bewußt zu ſeyn, durch die man auf ſie gekom - men iſt.

Wuͤrde wohl in einem andern Kopfe, als in Neutons ſeinem, der Fall eines Apſels die Idee eines neuen Weltſyſtems haben erregen koͤnnen? Mit welcher Geſchwindigkeit des Blitzes mußte ſeine Seele die unendliche Reihe von Begriffen durchlaufen und erleuchten, die von der Idee der Schwere auf alle Koͤrper angewendet veranlaſſet wurden.

Unerklaͤrlich ſcheint es in der That zu ſeyn, allgemeine Ideen, zu denen kein Bild in der Ima - gination gehoͤrt, auf gewiſſe Weiſe ſinnlich klar zu denken; und doch iſt dieſe Faͤhigkeit gewiß in der menſchlichen Seele. In einem geringern Grade finden wir ſie ſchon bey der Erlernung und Wiederholung der Wiſſenſchaften. Man wird oft gewahr, daß, ehe man ſich aller Theile eines allgemeinen Beweiſes, oder mit einem Worte alles deſſen, was man von einer Sache weiß, einzeln erinnert, man ſchon zum voraus auf ge - wiſſe Art empfindet, wie der Gang des ganzenC 338Ueber die PruͤfungNachdenkens ſeyn wird. Und eben dieſe Voraus - empfindung, wann wir ſie haben, macht uns als - dann die Aufklaͤrung der einzelnen Theile leichter. Es giebt gewiſſe Augenblicke, wo es ſcheint, als wenn in einen dunkeln Theil unſrer Seele auf einmal ein Licht gebracht wuͤrde; die ganzen Ideen, die hier verborgen liegen, zeigen ſich mit einem male, obgleich Zeit und Folge dazu gehoͤrt, um ſie einzeln nach und nach herauszuheben, und zum Bewußtſeyn zu bringen.

Wo alſo dieſe ſchnellen ploͤzlichen Aufklaͤrungen oͤfter geſchehen; wann der Geiſt des Schuͤlers den Beweiſen ſeines Lehrers zuvorkoͤmmt, und das Ende der Schlußfolge ſchon zum voraus fuͤhlt, ehe ihn noch die Reihe der Schluͤſſe dahin gefuͤhrt hat; bey wem einzelne Winke viel Gedanken ver - anlaſſen; weſſen Verſtand nicht immer durch alle Wendungen und Umſchweife lauter unmittelbarer Folgerungen fortſchleicht, ſondern zuweilen gluͤck - liche Spruͤnge thut: bey dem hat die Natur die Anlage zu dem großen Lehrer oder dem Erfinder der Wiſſenſchaften gemacht.

39der Faͤhigkeiten.

Die dichteriſche Einbildungskraft hat Merk - male, die auch ſchon in einem zarten Alter ſtatt finden. Das erſte iſt, wenn es wohlgemachte Erdichtungen mit Vergnuͤgen und einer Art von Theilnehmung hoͤrt; wenn es ſchnell ihre Anlage und ihren Entwurf faßt, und wenn es ſie bald von abgeſchmackten, ungeheuern oder unnatuͤr - lichen unterſcheidet. Eine lebhafte Einbildungs - kraft wird leicht Bilder, die ihm von einer Mei - ſterhand vorgemalt ſind, nachmalen. Die Per - ſonen und Begebenheiten werden anfangen ihr gegenwaͤrtig zu werden; und ſie wird alſo alle die Wirkung thun, die die Empfindung bey dem wirklichen Daſeyn der Gegenſtaͤnde haben wuͤrde. Eine richtige Einbildungskraft wird die Aehn - lichkeit mit der Natur leicht gewahr werden, und wenn ſie einmal den Reiz derſelben empfunden hat, ſie in allen denen Werken vermiſſen, die unge - treue oder mit Fleiß verſtellte Kopien von ihr ſind. Wer einmal eine richtige menſchliche Bildung kennt, wird Rieſen und Zwerge leicht unterſchei - den. Alſo, wenn die Fabel oder Geſchichte Mit -C 440Ueber die Pruͤfungleiden, Liebe, Haß, Bewunderung, kurz alle Ar - ten von Leidenſchaften in der Seele rege macht, ſo iſt die Einbildungskraft gut. Die Entſtehung dieſer Leidenſchaften haͤngt immer von einer ge - wiſſen idealen Gegenwart der Gegenſtaͤnde ab, und dieſe wird von der Einbildungskraft gewirkt. Eine ruͤhrende Begebenheit alſo mit Kaltſinn an - hoͤren; bey der Erzaͤhlung einer vortreflichen That gleichguͤltig ſeyn; an dem Schickſale der Tugend - haften keinen Antheil nehmen; ſich fuͤr keine Per - ſon oder fuͤr keine Art von menſchlichen Vollkom - menheiten intereſſiren, zeigt nicht bloß ein unem - pfindliches Herz, ſondern auch einen ſchwachen Kopf an. Die Seele muß ganz unfaͤhig ſeyn, ſich dieſe Art von Bildern nur vorzuſtellen, wenn ſie von ihnen gar keine Wirkung em - pfindet.

Weiter! Wenn man bey gewiſſen Kindern zuweilen eine ploͤtzliche Freude, eine Frucht, eine Niedergeſchlagenheit ſieht, die ſich aus ihren ge - genwaͤrtigen Empfindungen nicht erklaͤren laͤßt; ſo kann man daraus auf eine geheime Geſchaͤftig -41der Faͤhigkeiten. keit der Einbildungskraft ſchließen, die ihre Wir - kungen aͤußert, ohne uns die Mittel dazu zu ent - decken. Diejenigen, deren Ideen bloß von der gegenwaͤrtigen Empfindung beſtimmt werden, ha - ben auch niemals andere Leidenſchaften, als die aus ihrer wirklichen Verfaſſung und ihren Um - ſtaͤnden entſtehen. Wem aber die guͤtige Natur, außer der einen Welt, die ſie ſeinem Sinne vor - geſtellt hat, die Gabe verleiht, noch viele andere in ſich ſelbſt zu bauen, der verliert ſich oft von den Dingen, die ihn umgeben, mit ſeinen Begierden eben ſo wohl als mit ſeinen Gedanken, und ſeine Vergnuͤgungen und ſeine Schmerzen entſtehen nicht bloß aus der Lage, die er in dieſer Welt hat, ſondern auch aus der, welche er in der von ihm erdichteten annimmt.

In einem hoͤhern Alter hat man ſo viele Muͤhe nicht noͤthig, dieſe Kraft gleichſam auf der That zu ertappen und ſie bey ihrer geheimen Wirkſamkeit zu uͤberraſchen; man kann ſie als - dann dazu auffodern, und ihr ſelbſt die Arbeiten vorſchreiben, nach denen man ſie beurtheilen will. C 542Ueber die PruͤfungDie natuͤrlichſten Proben, die man machen kann, ſind die Erzaͤhlung und die Erdichtung ſelbſt. Es zeigt ſchon einen hohen Grad von Einbildungs - kraft an, wenn wir wirkliche Begebenheiten oder die Erdichtungen andrer gut beſchreiben koͤnnen; einen hoͤhern, wenn wir ſelbſt dieſe Begebenhei - ten erfinden. Ohne Einbildungskraft werden wir Perſonen, Sitten und Handlungen, wenn ſie uns auch vor Augen ſind, niemals in ein vollſtaͤndi - ges und aͤhnliches Bild faſſen, das dieſe Gegen - ſtaͤnde andern wieder kenntlich machte. Aber ohne einen weit hoͤhern Grad werden wir uns nicht neue Perſonen und Begebenheiten zuſammenſetzen, die in der Zeichnung richtig und der Natur aͤhnlich, und doch ohne Original waͤren. Warum muͤſſen alſo diejenigen Uebungen des Stils, die den faͤhi - gen Kopf am ſtaͤrkſten unterſcheiden, und dem mit - telmaͤßigen die meiſte Gelegenheit zum Unterrichte geben, warum muͤſſen dieſe bey der Erziehung am wenigſten gebraucht werden?

Dieß ſind die Aeußerungen dieſer Faͤhigkeit durch ihre Wirkungen; es giebt noch andre, die43der Faͤhigkeiten. mehr mit derſelben beyſammen zu ſeyn, als von ihr unmittelbar herzuruͤhren ſcheinen, und die eben deswegen nur mit den erſten verbunden den Schluß zuverlaͤßig machen.

Erſtens: Man findet oft bey Leuten von ei - ner ſtarken Einbildungskraft eine Art von Zer - ſtreuung und Abweſenheit von den Gegenſtaͤnden, die um ſie ſind. Die Einrichtung der Natur haͤlt zwiſchen dem dunkeln und dem hellen Theile un - ſrer Vorſtellungen ein beſtaͤndiges Gleichgewicht. Sobald die einen an Klarheit ſteigen, ſo ſinken die andern in eine tiefere Finſterniß; und jede An - naͤherung der Seele auf einen Gegenſtand iſt zu - gleich eine Entfernung von den uͤbrigen. Die Eindruͤcke alſo, die die aͤußern Gegenſtaͤnde durch die Sinne auf uns machen, werden in eben dem Grade ſchwaͤcher, in welchem andre Vorſtellungen, die ſchon in der Seele da ſind, ſtark ſind. Auf dieſe Art kann die Einbildungskraft ihre Bilder zuweilen ſo lebhaft und ſo ſtark machen, daß die Seele auf eine Zeitlang die Empfindungen ganz44Ueber die Pruͤfungvergißt, und ſich deſſen nicht bewußt wird, was um ſie herum vorgeht.

Zweytens: Die Faͤhigkeit der Seele, ſich durch ſich ſelbſt zu beſchaͤftigen, iſt ein noch ſiche - rers Kennzeichen von einer ſtarken Einbildungs - kraft oder Reflexion. Der Trieb zur Wirkſamkeit iſt der erſte und urſpruͤnglichſte in der menſchli - chen Seele, und vielleicht der Grund aller uͤbrigen. Wenn die Seele alſo in ſich und in ihren eignen Bildern oder Ideen fuͤr ihre Beſchaͤftigungen keine Gegenſtaͤnde findet, ſo ſucht ſie darnach außer ſich, und ohne einen neuen Zufluß von Empfin - dungen, geraͤth ſie in den Stand der Unthaͤtigkeit, der unter dem Namen von Langeweile ſo bekannt und ſo quaͤlend iſt. Wer alſo, ſobald ſeine Ge - ſchaͤfte geendigt ſind, unmittelbar nach Geſell - ſchaft, nach Zerſtreuungen und nach Vorrath von neuen Eindruͤcken ſchmachtet; wer nicht mehr den - ken kann, ſobald ſeine Augen und ſeine Ohren nicht angefuͤllt ſind, der muß ſelbſt wenig Ideen hervorzubringen wiſſen. Um deswillen liebt der Poͤbel alle Schauſpiele, nicht weil ſie ſchoͤn ſind,45der Faͤhigkeiten. ſondern weil ſie ihn beſchaͤftigen; ein Seiltaͤnzer ſezt auf einige Augenblicke ſeine ſchwache Seele in eine Bewegung, die er ihr ſelbſt nicht zu geben weiß, und die ihm angenehm iſt.

Um ſo viel groͤßer das Vermoͤgen der Seele iſt, ſich ſelbſt alte Bilder wieder zu erneuern, oder dieſelben durch neue und noch nicht angeſtellte Verknuͤpfungen reizender zu machen, um ſo viel mehr kann ſie des beſtaͤndigen Anſtoßes von außen entbehren. Um deswillen haben von je her die Dichter die Einſamkeit und die Einoͤde geliebt; nicht weil ſie Feinde des Vergnuͤgens oder der Ge - ſellſchaft waren; ſondern weil ſie ſich das Vergnuͤ - gen, das andre in der Geſellſchaft ſuchen, und das ſie ohne Huͤlfe der Sinnen nicht erhalten koͤnnen, durch ihre eigne Einbildungskraft zu verſchaffen wußten

Endlich eine gewiſſe Abneigung und Unfaͤhig - keit bey Begriffen, wo keine Bilder ſind, und ein ſchneller Fortgang in allem, wobey es auf die rich - tige Vorſtellung eines Bildes ankoͤmmt, iſt das lezte aͤußere Kennzeichen.

46Ueber die Pruͤfung

Man hat angemerkt, daß eine ſehr große Richtigkeit und Correction in den Werken des ju - gendlichen Witzes gemeiniglich das Zeichen eines geringen Genies iſt. Man koͤnnte eben ſo uͤber - haupt ein zu fruͤhzeitiges Nachdenken und abſtracte Betrachtungen zu einer Zeit, wo die Seele noch mehr empfinden als denken ſollte, zum Zeichen ei - ner ſchwaͤchern Seele annehmen. Nach der Ord - nung der Natur entwickelt ſich die Einbildungs - kraft zuerſt, der Verſtand hernach. So wie alſo bey gewiſſen Koͤrpern, die zu ſchnell zur Reife kom - men, der Bau ſchwach und die Kraft klein iſt: ſo ſind die Seelen, die nicht mit der gehoͤrigen Lang - ſamkeit eine Faͤhigkeit nach der andern entwickelt und ausgebildet haben, beſtaͤndig mittelmaͤßig. Ein Kind alſo, welches von einer ſchoͤnen Fabel entzuͤckt wird, und bey einem eben ſo ſchoͤnen Be - weiſe gaͤhnt; das voll Munterkeit und Aufmerk - ſamkeit iſt, wann es die Geſchichte auf einem gu - ten Kupferſtiche oder Gemaͤlde erklaͤren hoͤrt, und verdroſſen und zerſtreut wird, ſobald man ihm all - gemeine Wahrheiten vortraͤgt; das in ſeinen47der Faͤhigkeiten. Spielen Erfindſamkeit, und in den Lernſtunden Unfaͤhigkeit zeigt, wuͤrde mir weit mehr Hofnung machen, als ein andres, das eine ganze Moral mit der groͤßten Geduld und der ſcheinbarſten Auf - merkſamkeit anhoͤrt, und in der Grammatik eben ſo gern lieſt, als im Robinſon.

IV. Aus dieſen Materialien nun endlich, die die Empfindung herbeygeſchafft, das Gedaͤchtniß bewahrt, die Einbildungskraft geſammlet hat, er - baut die Vernunft das Syſtem allgemeiner Be - griffe, nach denen der Menſch ſich und ſeine Ge - ſchaͤfte regieret.

Dieſe Frage iſt alſo ohne Zweifel die wichtigſte, und die erſt ſpaͤt und faſt nur vom Menſchen ſelbſt zu beantworten iſt: Wie ſtark iſt in der Seele die Faͤhigkeit nachzudenken, und durch welche Merk - male kann man ſie erkennen?

Zuerſt alſo wieder: Was iſt der Verſtand, und wie vielfach ſind ſeine Geſchaͤfte? Die Aus - breitung der Philoſophie hat dieſe Begriffe ſo be - kannt gemacht, daß man nur darauf zuruͤckzufuͤh - ren braucht, ohne ſie zu erklaͤren.

48Ueber die Pruͤfung

Jede Empfindung bezieht ſich auf einen ein - zelnen Gegenſtand. Wenn alſo die Empfindung die einzige Art von Vorſtellungen iſt, ſo muß ſie entweder ſo weit ausgebreitet ſeyn, wie die Na - tur ſelbſt; alsdann wuͤrde ſie die allgemeinen Be - griffe unnoͤthig machen, aber ſie iſt nur eine Ei - genſchaft der Gottheit; oder ſie iſt nur auf Einen Gegenſtand eingeſchraͤnkt, alsdann macht ſie allen Fortgang der Erkenntniß unmoͤglich, und iſt das Unterſcheidende des Thiers. Um alſo unſrer Ein - ſchraͤnkung zu Huͤlfe zu kommen, mußten wir die Geſchicklichkeit erhalten, die unendliche Menge von einzelnen Gegenſtaͤnden, die ſich uns nach und nach durch die Sinnen darſtellen, unter gewiſſe Klaſſen und gleichſam in große Gruppen zu brin - gen, wir mußten ein Mittel haben, aus unſern Empfindungen, die fuͤr ſich abgeſonderte und im - mer neue Ganze ausmachten, einen gewiſſen Theil herauszuziehen, der der Seele zuruͤckbliebe, wenn die Empfindung ſelbſt ſchon lange vergeſſen waͤre; und die unermeßliche Mannichfaltigkeit von Ei - genſchaften, die mit jedem einzelnen Dinge ſich49der Faͤhigkeiten. der Seele zeigen, mußten ſich auf eine kleine An - zahl von ſolchen einſchraͤnken laſſen, die ſich oft wieder finden, und die alſo eine immer wieder - holte Erfahrung erſparen: dieſes Mittel iſt die Abſtraktion.

Alſo, mehrere Empfindungen mit einander vergleichen, das, was in ihnen aͤhnlich iſt, be - merken, dieſes in einen Begriff ſammlen, und das Uebrige alles, was unaͤhnlich war, weglaſſen, das heißt Abſtrahiren; und dieſes mehrmals wieder - holt, heißt Nachdenken; oder weil bey uns die Sprache ſchon eher, dieſe abſtrakten Begriffe mit Worten verbunden, der Seele liefert, ehe ſie ſelbſt noch zur Abſtraktion faͤhig iſt: ſo beſchaͤftigt ſich nunmehr die Vernunft zuerſt damit, die Bedeu - tung der Worte zu beſtimmen, und die wahre all - gemeine Idee aufzuſuchen, von welcher das Wort ein Zeichen ſeyn ſoll.

Die Erlernung der Sprache haͤngt alſo mit der Vernunft zuſammen, als ein Mittel; und der richtige Gebrauch derſelben haͤngt davon ab, als Wirkung.

D50Ueber die Pruͤfung

Man findet indeſſen hier doch einen ſehr merk - lichen Unterſchied.

Wer durch Worte denken und ſich ausdruͤcken ſoll, muß allgemeine Begriffe haben, das iſt klar; denn die Worte bezeichnen keine andre. Aber die Seele kann dieſe Begriffe auf eine doppelte Art haben. Entweder ſucht ſie nur in den einzelnen Faͤllen den Begriff auf, und begnuͤgt ſich, wenn ſie in jedem vorkommenden neuen Falle dieſe Merkmale wiedererkennen und den Begriff anwen - den kann: oder ſie ſammlet dieſe Merkmale in eins, bezeichnet jedes mit einem Worte, und be - muͤht ſich, den allgemeinen Begriff abgeſondert von den Faͤllen, aus denen er abgezogen iſt, vor - zuſtellen. Der erſte macht ſich das Wort und die Vorſtellung deutlich, indem er eine geſchwinde dunkle Ueberſehung der Faͤlle anſtellt, in denen es gebraucht wurde; der andere, indem er eine Er - klaͤrung davon macht.

Man koͤnnte jenes den praktiſchen, und dieſes den theoretiſchen Verſtand nennen.

51der Faͤhigkeiten.

Der praktiſche Verſtand haͤngt mit der Einbil - dungskraft zuſammen, oder iſt vielmehr nur eine beſondere Anwendung derſelben. Ihr Werk iſt es, der Seele zugleich mit dem Worte die Faͤlle her - beyzubringen, aus deren ſchneller und ihr ſelbſt unbewußter Vergleichung ſie jedesmal den Begriff von neuem hervorbringt.

Die Kennzeichen von beiden werden ſich alſo einander ſehr aͤhnlich ſeyn.

Erſtens: Leute von dieſer Art koͤnnen ſich ſehr wenig uͤber Sachen erklaͤren, die ſie doch recht gut verſtehen, und die ſie recht gluͤcklich ausfuͤh - ren, wenn ſie ſie unternehmen. Der Grund iſt augenſcheinlich. Zur Erklaͤrung gehoͤren Worte, zu dieſen Merkmale, die von ihren Gegenſtaͤnden abgeſondert, und ohne ſie gedacht und bezeichnet worden, kurz gerade das, durch deſſen Mangel dieſe Art von Verſtande ſich unterſcheidet. Man kann uͤberhaupt zwey Arten von Menſchen in der Welt bemerken. Einige wiſſen vortreflich von Sachen zu ſprechen, und koͤnnen ihre ganze Theo - rie mit Genauigkeit und Deutlichkeit vortragen,D 252Ueber die Pruͤfungdie ihnen doch mißlingen, ſobald ſie die Hand daran legen. Andere reden wenig und verwirrt, und bringen ſie zu Stande.

Man thut ſehr unrecht, wenn man die erſten als Schwaͤtzer, und die andern als bloße Hand - werker anſieht.

Die Faͤhigkeiten, die ſie zu dem machen, was ſie ſind, ſind von der Natur ſelbſt unterſchieden. Der Philoſoph, der erklaͤrt, vergißt uͤber den Merkmalen, die er ſammlet, die individuellen Um - ſtaͤnde der Faͤlle, die doch in der Ausuͤbung muͤſ - ſen mit zu Rathe gezogen werden, und ſie verun - gluͤckt ihm alſo. Der Kuͤnſtler, welcher arbeitet, findet in dem Bilde, das ihm anſtatt der Erklaͤ - rung gegenwaͤrtig iſt, alle dieſe kleinen Umſtaͤnde; aber er kann aus dieſem Bilde nicht die einigen, wenigen Theile herausnehmen, die das Uebrige wuͤrden kenntlich machen: er kann alſo ſich nicht erklaͤren, als indem er die Sache zeigt. Wenn die erſten beſtaͤndig zum Erklaͤren und die andern zum Ausuͤben beſtimmt wuͤrden, ſo wuͤrde die Welt53der Faͤhigkeiten. richtige Theorien und vortrefliche Werke zugleich erhalten.

Zweytens. Ein ander Zeichen eines ſolchen praktiſchen Verſtandes iſt die genaue Beobachtung des Schicklichen; die Uebereinſtimmung in ſeinen Reden und Handlungen mit der Zeit, dem Orte und den Verhaͤltniſſen der Perſonen; mit einem Worte, eine gewiſſe groͤßere Aufmerkſamkeit auf alles, was zum menſchlichen Leben gehoͤrt. Man ſieht viel junge Leute, die dieſe Gabe vollkommen beſitzen, und deren Fortgang in den Wiſſenſchaf - ten ſehr geringe iſt, die deswegen von der Welt und beſonders von Leuten ihres Alters hervorge - zogen und von ihren Lehrern verachtet werden. Die Urſache iſt die: Zu dieſer Klugheit des geſell - ſchaftlichen Lebens iſt eine ſchnelle Ueberſehung einer Menge von Gegenſtaͤnden auf einmal, aber nicht die Ergruͤndung eines einzigen noͤthig. Die Seele muß ihre Aufmerkſamkeit zwiſchen ſehr vie - len Dingen zu theilen, oder ſie muß ſich vielmehr von dem Ganzen ein richtiges Bild bis auf alle Kleinigkeiten zu machen wiſſen: aber ſie hatD 354Ueber die Pruͤfungnicht noͤthig, dieſe kleinen Umſtaͤnde, die ſie bloß empfindet, und nach denen ſie ſich richtet, in Ge - danken von den uͤbrigen zu trennen und auszu - druͤcken.

Und dieß iſt drittens eben die Urſache, warum dieſe Art von Koͤpfen weit eher zur Reiſe zu kom - men ſcheint, als die andern. Ihr Verſtand er - ſcheint zugleich mit ihrer Einbildungskraft, und dieſe iſt eine unmittelbare Wirkung der Empfin - dungen. Ueberdieß finden ſie jeden Angenblick und allenthalben Gegenſtaͤnde, an denen ſie ihn uͤben; die Zerſtreuungen und Zeitvertreibe, die den Fortgang der uͤbrigen Faͤhigkeiten verzoͤgern, ſind ſo viele Gelegenheiten, dieſe zu ſchaͤrfen. Man wird alſo weit zeitiger von dieſer Art von Faͤhigkeit urtheilen koͤnnen. Ein junger Menſch, der im Umgange artig, in Geſellſchaft klug und vorſichtig, in Ausrichtung kleiner Geſchaͤfte ge - ſchickt und gluͤcklich, aber ohne ſonderlichen Ge - ſchmack und Talente fuͤr die eigentlichen Wiſſen - ſchaften iſt; ein ſolcher junger Menſch hat die Art von Verſtand, davon wir reden.

55der Faͤhigkeiten.

Viertens. Ein hoͤherer Grad dieſes Verſtan - des bringt die Gabe der Vorherſehung hervor, die wir ſchon oben genannt haben, und die das ei - gentliche Talent zu Geſchaͤften ausmacht. Die Zukunft liegt in dem Gegenwaͤrtigen eingewickelt. Man muß dieſes ganz uͤberſehen koͤnnen, um jene darinn zu finden. Wirkungen kann man nur aus ihren Urſachen kennen: aber dieſe ſind oft in ſo vielen Dingen zerſtreut; viele davon ſo klein, ſo unmerklich, und doch in der Zuſammenkunft ſo erheblich, daß es unmoͤglich iſt, ſie zu bemerken, wenn man ſie ſich nicht anders als deutlich den - ken kann. Ein Kopf, der immer zergliedern und ſchließen muß; deſſen Faͤhigkeiten nur die Dinge von derjenigen Seite faſſen, von der ſie ſich deut - lich machen laſſen; wird dieſe kleinen Umſtaͤnde uͤberſehen, er wird ſich bloß an die Hauptſachen halten, dieſer ihre Kraͤfte unterſuchen, und ſo ge - nau er immer dieſe kann abgemeſſen haben, einen falſchen Erfolg herausbringen. Das iſt die ei - gentliche Graͤnzſcheidung zwiſchen Theorie und Praxis. Die erſte nimmt keine andern als dieD 456Ueber die Pruͤfunggroͤßten, die in die Augen fallendſten Urſachen, und dieſe ergruͤndet ſie voͤllig; die andere nimmt alle Umſtaͤnde zuſammen, aber bloß in einem Bil - de. Wer alſo auf dieſe anſchauende Art denken kann, weſſen Seele eine Menge verwickelter Bege - benheiten zugleich zu umfaſſen im Stande iſt, weſ - ſen Beobachtung ſo genau iſt, daß er unter der Menge doch nicht die kleinſten Umſtaͤnde uͤberſieht; wer endlich alle dieſe Beobachtungen ſo ſchnell und ſo fertig anwenden kann, daß er augenblick - lich aus ihnen den Erfolg zieht, ohne ſich ſelbſt ſeines Schluſſes bewußt zu ſeyn: das iſt der Mann, der den entſcheidenden Augenblick in der Schlacht oder im Kabinet treffen wird, und deſ - ſen Entſchluͤſſe zugleich ſchnell und ſicher ſeyn werden.

Eben daher ruͤhrt bey dieſen Leuten die feſte Ueberzeugung, mit der ſie die Gewißheit eines Er - folgs vorherſehen, deſſen Gruͤnde ſie doch nicht angeben koͤnnen. Dieſe Gruͤnde liegen in dem Bilde, was ſie haben, und dieſes Bild koͤnnen ſie niemand mittheilen, weil Worte nur immer ge -57der Faͤhigkeiten. wiſſe Theile, niemals den ganzen Eindruck be - zeichnen. Plato ſezt deswegen die Staatsmaͤnner und den Wahrſager in eine Klaſſe, und leitet bey beiden dieſe Gabe, das Zukuͤnftige ohne Schluͤſſe zu entſcheiden, (weil ſich die Wirkungen der Seele dabey nicht erklaͤren laſſen,) von dem Einfluſſe ei - ner hoͤhern Macht her; denn, ſagt Sokrates, daß dieſe Gabe nicht unter die Wiſſenſchaften gehoͤret, ſehen wir augenſcheinlich. Wem wuͤrden Perikles und Themiſtokles eher dieſe Kunſt gelehrt haben, wenn ſie ſich lernen ließe, als ihren Soͤhnen, die doch ohne Anſehn und Einfluß in Griechenland waren?

Fuͤnftens. Dieſe Art von Verſtand macht endlich, daß der Menſch uͤber Begebenheiten, Per - ſonen und Handlungen richtige Urtheile faͤllen kann, unerachtet er verlegen iſt, wenn er die Ei - genſchaften, die er den Dingen beylegt, erklaͤren, oder die Gruͤnde anfuͤhren ſoll, warum ihnen die - ſelbe zukommen. Er iſt deswegen ein genauer Beobachter der Unſchicklichkeit in dem Betragen anderer, empfindet das Laͤcherliche leicht und ge -D 558Ueber die Pruͤfungſchwind, und wird alſo zur Satyre oder zur Spoͤt - terey mehr als andre Koͤpfe aufgelegt ſeyn. Eben dieſer Geiſt der Beobachtung, der ihn faͤhig macht, ſelbſt alle dieſe kleinen Verhaͤltniſſe zu wiſſen, um ſie zu beobachten, macht ihn auch zu - gleich aufmerkſam, wenn andre ſie aus den Au - gen ſetzen.

Das Laͤcherliche iſt das Ungereimte in Klei - nigkeiten. Eine Seele, die nur immer auf das Große, auf gewiſſe Hauptbegriffe, auf ganze Summen von Merkmalen geht, uͤberſieht dieſe kleinen Mishelligkeiten oder vergißt ſie augenblick - lich. Von dem andern, der nicht uͤber die Sa - chen gruͤbelt, ſondern ſie nur anſieht, werden ſie gefaßt und behalten. Die Seele des erſten iſt ein Maler, der die großen Zuͤge allein abſon - dert, und durch ſie das Bild entwirft; die Seele des andern iſt ein Spiegel, der die Sache ganz, wie ſie iſt, mit allen ihren kleinſten Flecken dar - ſtellt.

Die andere Gattung von Verſtande, die raͤ - ſonnirende, wenn ich ſo ſagen darf, gehoͤrt ei -59der Faͤhigkeiten. gen tlich fuͤr die Wiſſenſchaften, und verdient alſo am meiſten unſre Aufmerkſamkeit. Sie iſt nichts anders als ein philoſophiſches Genie, ein gewiſ - ſer Trieb, der zugleich mit Faͤhigkeit verbunden iſt, das Individuelle aufs Allgemeine zuruͤckzu - fuͤhren, und dieſes Allgemeine zu einem abgeſon - derten Gegenſtande ſeiner Betrachtung zu ma - chen.

Dieſe Faͤhigkeit aͤußert ſich zuerſt dadurch, daß die Seele, die ſie beſizt, indem ſie durch die Sprache die Anzahl von Begriffen erhaͤlt, die un - gefaͤhr den Umfang deſſen ausmachen, was man bon ſens oder den Menſchenverſtand nennt, ſich nicht dabey beruhigt, dieſe Begriffe bloß klar zu haben, ſondern von jedem Worte Beſchreibung und Erklaͤrung verlangt. Jede Seele iſt bemuͤht, Gedanken in ſich hervorzubringen; es iſt alſo na - tuͤrlich, daß, wenn ſie ein Zeichen von einer Sache bekoͤmmt, die ſie ſo ſehr wuͤnſcht, ſie dieſe Sache ſelbſt ſucht. Die Einbildungskraft kam den Koͤ - pfen von der erſten Art in dieſem Falle zu Huͤlfe, und ſtellte ihnen geſchwind einen einzelnen Fall,60Ueber die Pruͤfungeine Begebenheit vor, wo dieſes Wort hingehoͤrte, und gab ihnen alſo fuͤr eine Idee ein Bild. Aber bey unſrer Gattung von Koͤpfen iſt die Einbil - dungskraft weder ſtark noch ausgebreitet, alſo kann die Seele ſich den Begriff des Worts nicht durch die Erinnerung der Faͤlle aufklaͤren; ſie wuͤnſcht alſo die Beſtimmungen, die in den Faͤllen liegen, und die eigentlich allein zu dieſem Worte gehoͤren, ſchon abgeſondert, ſchon aus ihrer Ver - wickelung mit dem Uebrigen herausgehoben, ſchon mit einander zuſammengeſezt.

Mich deucht, ich brauche nicht erſt auf eine Erfahrung zuruͤckzufuͤhren, die alle Tage gemacht werden kann. Einige Kinder fodern von jedem neuen Worte eine Erklaͤrung, und dieſe fuͤhret ſie erſt zur Aufmerkſamkeit auf die Sache. Die andern beobachten ganz in der Stille, und ken - nen ſchon die Sache eher, zu der das Wort ge - hoͤrt, ehe man ihnen noch das Wort ſelbſt geſagt hat.

Die Folge alſo hieraus muß gerade die ent - gegengeſezte von derjenigen ſeyn, die wir oben61der Faͤhigkeiten. aus einem entgegenſtehenden Grunde zogen. Dieſe Faͤhigkeit muß ſich viel ſpaͤter entwickeln, weil zu der erſten nur Empfindung und Erinne - rung, zu dieſer eine wiederholte Vergleichung und eine langſame Sammlung der Aehnlichkeiten ge - hoͤrt. Ein Kind von dieſer Art kann alſo in den erſten Jahren ſehr leicht ein Dummkopf zu ſeyn ſcheinen. Abſtraktionen hat es noch nicht Zeit genug gehabt zu machen, und die Einbildungs - kraft erſetzet bey ihm dieſen Mangel nicht durch die Erinnerung der Faͤlle. Um eben dieſes Be - duͤrfniſſes willen verlangt es Erklaͤrungen; weil es ſonſt bey dem Worte nichts als einen leeren Schall hoͤrt. Die Seele iſt alſo in dieſer Zeit be - ſtaͤndig wirkſam, aber ihre Arbeit iſt noch unvoll - endet; und erſt der Erfolg kann entſcheiden, ob ihre Kraft ſich nur deswegen verbarg, weil ſie in - nerlich geſchaͤftig war, oder weil ſie durch ihre Schwaͤche eingeſchraͤnkt wurde.

In allen Sachen, wo es keine Abſtraction durch Worte giebt, iſt der Fortgang eines ſolchen Kopfs langſam. Alle dieſe Begriffe, die die Seele62Ueber die Pruͤfunganders nicht als klar denken kann, die mehr ge - fuͤhlt als geſagt werden koͤnnen, kommen bey ihm ſpaͤt und ſind ſelten richtig genug. Hinge - gen alles, wo ſich die Merkmale von dem Dinge abſondern, wo ſie ſich unter einen Begriff und in ein Wort faſſen laſſen, kurz, was ſich erklaͤren und lehren laͤßt, begreift er ſchnell, und iſt in kur - zem im Stande, es wieder mitzutheilen.

Der Geſchmack iſt ein dunkles Gefuͤhl des Schoͤnen. Einige Theile davon laſſen ſich in Be - griffe aufloͤſen, und ſind deswegen der Erklaͤrung und einer Theorie faͤhig; andre aber ſind zu ſehr im Ganzen verſtreut, zu vielfach und zuſammen - geſezt, als daß ſie gedacht werden koͤnnten, wenn man ſie nicht mehr empfindet. Die Art von Gei - ſtern, von der wir reden, werden alſo mit der er - ſten Gattung von Schoͤnheiten weit leichter be - kannt werden, als mit der lezten; wo ihr Gefuͤhl durch kein Raͤſonnement geleitet oder unterſtuͤtzet werden kann, wird es mangelhaft oder unſicher ſeyn; ſie werden als Kunſtrichter die Erfindung und die Anordnung eines Gedichts, die Richtig -63der Faͤhigkeiten. keit der Bilder und die Genauigkeit des Ausdrucks geſchwinder einſehen, als die feinen Schoͤnheiten der Harmonie, die Uebereinſtimmung des Ganzen, oder den Ton, der uͤberhaupt darinne herrſcht. Von einem Gemaͤlde werden ſie die dichteriſchen Schoͤnheiten weit eher als die mechaniſchen fin - den; der Ausdruck der Leidenſchaften wird von ih - nen beſſer bemerkt werden, als die Wirkungen des Lichts oder die Harmonie der Farben; und ihre Entſcheidung wird oft von des Malers ſeiner un - terſchieden ſeyn.

Unter dieſe Sachen, die nicht erklaͤrt, ſondern nur gefuͤhlt werden koͤnnen, wie ſie ſeyn muͤſſen, gehoͤren faſt die ganzen Geſetze des Wohlſtandes und der Lebensart; die Klugheit in den Geſchaͤf - ten des taͤglichen Lebens; die beſtaͤndige Ruͤckſicht bey allem, was man ſagt oder thut, auf die Cha - raktere, die Verhaͤltniſſe und die Umſtaͤnde der Perſonen, mit denen man zu thun hat. In die - ſem allem wird unſer junger Philoſoph von dem bloß gemeinen Verſtande des andern uͤbertroffen werden.

64Ueber die Pruͤfung

Dieſes hat noch eine andre Folge. Er wird ſich mit dem allgemeinen Geſpraͤche in einer groſ - ſen Geſellſchaft ſchlecht behelfen, und wird doch in einer Unterredung mit einer einzelnen Perſon, wo eine beſtimmte Materie der Vorwurf iſt, vor - treflich ſeyn koͤnnen. Bey dem erſten iſt ein Ge - miſch von tauſend abgebrochenen und zerſtuͤckten Gedanken, ein beſtaͤndiger Uebergang von einem Gegenſtande zum andern. Man will durchaus nichts ergruͤndet, ſondern alles nur beruͤhrt ha - ben. Jede Idee, die vorgebracht wird, muß, ſo zu ſagen, auf der Oberflaͤche des Dinges liegen, von der ſie genommen iſt; der Zugang zu ihr muß leicht ſeyn, und ſie muß eben ſo geſchwind begrif - fen als verlaſſen werden koͤnnen. Unſer guter Philoſoph wird nun hierbey nicht bloß durch die Mannichfaltigkeit der Vorwuͤrfe uͤberhaͤuft; ſon - dern er bleibt auch bey ihrem ſchnellen Fortgange zuruͤck; man laͤßt ihm nicht Zeit, ſeine Betrach - tungen vorzubringen, oder wenn er ſie geſagt hat, ſo ſind ſie fuͤr die uͤbrigen weder einleuchtend noch treffend; ſie hoͤren ſie alſo mit Kaltſinnigkeit65der Faͤhigkeiten. an, und geben ihm wenig Gelegenheit, ſie zu wie - derholen. Alles dieſes iſt in einer geheimen Un - terredung veraͤndert; der Gegenſtand iſt einfa - cher, und man haͤlt laͤnger bey demſelben aus; uͤberdieß hat man mehr die Abſicht, zu unterſu - chen. Der andre findet alſo nunmehr, da er ſich die Zeit nimmt nachzudenken, die Betrach - tung des philoſophiſchen Geiſtes richtig, aber feiner, als er ſie ſelbſt wuͤrde gemacht haben, und nun entſteht die Achtung aus eben den Urſa - chen, um deren willen er vorher vernachlaͤßiget wurde.

Im Ganzen genommen aber muß die erſte Art von Verſtand den Menſchen zur Geſellſchaft geſchickter machen, als die zweyte. Helvetius ſagt: Die gewoͤhnlichſte Materie des Geſpraͤchs in der Welt iſt von Perſonen und Begebenheiten, nicht von Sachen. Der angenehme Menſch in der Geſellſchaft iſt alſo der, der durch einen ſehr ausgebreiteten Umgang viele Perſonen und ihre Umſtaͤnde kennt, und zwar gerade die Perſonen, von denen der Geſellſchaft daran gelegen iſt, et -E66Ueber die Pruͤfungwas zu wiſſen. Wenn er ſeine Erzaͤhlungen mit etwas Witz vermiſcht, wenn er noch dabey den Leidenſchaften der Anweſenden zu ſchmeicheln, und ihre Geſinnungen gegen die Perſonen, von denen er ſpricht, zu errathen und anzunehmen weiß, ſo iſt er vollkommen. Und dieß iſt gerade alles das, was unſerm Manne fehlt. Er hat nicht den Be - merkungsgeiſt, um ſich von ſo viel Kleinigkeiten, als dabey noͤthig ſind, zu unterrichten; nicht das Gedaͤchtniß, ſie ſich einzupraͤgen; nicht die Ein - bildungskraft, um ſie vorzutragen; endlich nicht die praktiſche Urtheilskraft, ob das, was er ſagt, den Perſonen, die es hoͤren, angenehm oder ver - druͤßlich ſeyn werde.

Aber eben aus dieſem Geiſte der Zergliede - rung folgt, daß, wenn ſich dieſer Kopf einmal entwickelt hat, er ſich durch ſeine Werke weit rich - tiger abmeſſen laͤßt. Er wird das, was er weiß, allemal ausdruͤcken und mittheilen koͤnnen. Sei - ne Begriffe muͤſſen ſchlechterdings entweder voͤl - lig entwickelt oder dunkel ſeyn. Die bloße Klar - heit des Anſchauens, die die Gegenſtaͤnde in der67der Faͤhigkeiten. Seele erleuchtet, ohne ſie aufzuloͤſen, iſt fuͤr ihn nicht gemacht. Was er alſo nicht zu ſagen weiß, davon hat er auch gewiß keine Vorſtel - lung.

Die reine Mathematik iſt ein rechter Probier - ſtein fuͤr dieſe Koͤpfe. Da ſie faſt die einzige Wiſ - ſenſchaft iſt, wo nur eine Idee, (die Idee der Groͤße,) durchaus entwickelt wird; da in ihr nir - gends Einbildung, aber allenthalben Verſtand herrſcht; da hier das Nachdenken durch keine von den Schwierigkeiten aufgehalten wird, die in der Philoſophie den Fortgang ſo langſam und oft die Schritte ſo unſicher machen: ſo muß dieſe Wiſſen - ſchaft dieſer Art von Verſtande angemeſſen ſeyn. Wer alſo bey ihrer Erklaͤrung die Beweiſe leicht einſieht, dem Lehrer in ſeinen Schluͤſſen zuvor - koͤmmt, und zuweilen von dem Satze, der vorge - tragen wird, ſchon die Beweiſe vorherſieht, der hat dieſen Verſtand gewiß. Sollte dieß nicht ein Grund mehr ſeyn, warum die Mathematik ſehr bequem waͤre, um damit den Unterricht eines kuͤnf - tigen Gelehrten anzufangen?

E 268Ueber die Pruͤfung

Dieſe Koͤpfe unterſcheiden ſich gemeiniglich im Umgange noch durch ein ander Merkmal. Sie ſind beſtaͤndig damit beſchaͤftigt, von allen Bege - benheiten die Urſachen anzugeben, dahingegen die andern ſich mit der bloßen Wirklichkeit der That - ſache und mit der Kenntniß der Umſtaͤnde beru - higen. Die erſten haben nicht ſo bald einen Vor - fall aus der phyſiſchen oder ſittlichen Welt ge - hoͤrt, ſo fangen ſie ſchon an ihn zu erklaͤren; die andern ſuchen an ſtatt der Erklaͤrung lieber meh - rere Nachrichten, oder wenn ihnen die, welche ſie haben, hinreichen, ſo ſuchen ſie lieber wieder eine neue Begebenheit, als die Urſache der alten auf. Die erſten wiſſen mit einer bloßen Thatſache nichts anzufangen, wenn ſie ſie nicht gleich auf ihre Moͤglichkeit zuruͤckfuͤhren, ſie mit ihren Grund - ſaͤtzen in Verbindung bringen, und daraus entwe - der ihre alten Begriffe beſtaͤtigen, oder neue abzie - hen koͤnnen. Die andern verlangen nichts als ein getreues und vollſtaͤndiges Bild von der Sache; das Anſchauen deſſelben lehret ſie alsdann auf kuͤnftige Faͤlle eben das, was jenen ſeine Schluͤſſe. 69der Faͤhigkeiten. Wenn die Klugheit nicht dieſe Neigung des Philo - ſophen alles zu erklaͤren einſchraͤnkt, ſo wird er der Geſellſchaft beſchwerlich und ſelbſt in den Wiſ - ſenſchaften unnuͤtz.

Man kann zuweilen die Faͤhigkeiten der Seele durch ihre Fehltritte erkennen; oder vielmehr, ge - wiſſe Faͤhigkeiten ſind einer unrechten Anwendung ſo ſehr unterworfen, daß man bey aller Ueberzeu - gung, daß man ſie beſitzt, doch noch mit einer großen Behutſamkeit von der andern urtheilen muß. Z. E. weil dieſen Koͤpfen der ſchleichende Gang von einer Erfahrung zur andern, um daraus endlich durch vielfaͤltige Beobachtungen und im - mer neue Vergleichungen die abſtracten Begriffe zu ſammlen, oft zu langſam iſt: ſo iſt ihre Me - thode, aus einem einzelnen Falle, oder aus weni - gen, den allgemeinen Begriff herauszuziehn, und nun ohne Anſtand aus dieſem Begriffe die uͤbrigen Faͤlle zu erklaͤren.

Dieſes iſt es, was die Syſtemmacher hervor - gebracht hat, die aus einzelnen Beobachtungen gleich Geſetze der Natur machen, und durch eineE 370Ueber die Pruͤfungeinmal zug〈…〉〈…〉 troffne Hypotheſe alle Erſcheinungen der Welt erklaͤren; die eingeſchraͤnkten Kunſtrich - ter, die die freye Wahl des erſten Genies in eine Regel fuͤr alle kuͤnftige verwandeln, und dem Ver - gnuͤgen verbieten, aus andern Quellen zu fließen, als aus denen ſie es ſchon gekoſtet haben; die ein - ſeitigen Moraliſten, die immer die menſchliche Na - tur und die ihrige vermiſchen, und alle Erfahrun - gen unter das Joch der Grundſaͤtze bringen, die gar nicht mit Huͤlfe dieſer Erfahrungen waren ge - macht worden.

Ein andrer Abweg dieſer Koͤpfe iſt das Sub - tiliſiren. Sobald der Zergliederer Koͤrper theilen will, die entweder zu dicht ſind und zu feſt zuſam - menhaͤngen, um ſich trennen zu laſſen, oder zu klein, um gefaßt zu werden; ſo iſt ſeine Kunſt ver - geblich. Und wenn der Philoſoph Begriffe aufloͤ - ſen will, die entweder zu verwickelt und zu indi - viduell ſind, um einer andern Erklaͤrung als des Vorzeigens faͤhig zu ſeyn; oder zu einfach und ſchon zu weit zergliedert, um noch eine neue Auf - loͤſung zuzulaſſen; ſo iſt ſeine Arbeit nicht bloß71der Faͤhigkeiten. vergeblich, ſondern auch ſchaͤdlich. Eine ſolche hat zuerſt die Vernunftlehre mit Sophismen, und die ganze Philoſophie mit Spitzfuͤndigkeiten ange - fuͤllt, ſie hat die Erklaͤrungen eingefuͤhrt, die dunk - ler als die erklaͤrte Sache ſind, und den Geiſt des Weiſen durch Beweiſe geblendet, die in einer an - dern Form der bloße natuͤrliche Verſtand wuͤrde fuͤr abgeſchmackt erkannt haben.

Aber nun noch einmal zu unſerm richtig phi - loſophirenden Juͤnglinge zuruͤck, der dieſe Abwege vermeidet. Er wird ſich noch durch eine gewiſſe Methode in ſeinen Geſpraͤchen unterſcheiden; alle ſeine Gedanken werden einander untergeordnet, und die Verhaͤltniſſe, in denen ſeine Ideen fortge - hen, werden immer genauer und weſentlicher ſeyn. Aber eben deswegen ſcheinen ſeine Vorſtellungen oft ſeltſam, widerſinnig, oder mit dem Gegen - ſtande unzuſammenhaͤngend, entweder weil er ſei - ne Betrachtungen zu weit hinausgefuͤhrt hat, und der Gedanke, den er vorbringt, erſt durch viele Mittelglieder mit der gegenwaͤrtigen Sache oder Begebenheit zuſammenhaͤngt, die er oft zu ſagenE 472Ueber die Pruͤfungvergißt, und die die andern nicht ergaͤnzen koͤnnen; oder, weil er zu weit zu den Principien zuruͤckgeht, und ſeine Einbildungskraft erſt durch eine Menge von andern vorbereiten muß, deren Abſicht man nicht errathen kann.

So alſo zeigt ſich dieſe Faͤhigkeit in dem Um - gange und im geſellſchaftlichen Leben.

Die hoͤhern Verſtandskraͤfte und den Geiſt der Unterſuchung durch die gewoͤhnlichen Aeuße - rungen im geſellſchaftlichen Leben kennen zu ler - nen, iſt ſchwer, weil er hier außer ſeiner ei - gentlichen Sphaͤre iſt, und ihn viele Hinderniſſe entweder zuruͤckhalten oder unbrauchbar ma - chen; aber bey der Erlernung der Wiſſenſchaf - ten zeigt er ſich uneingeſchraͤnkt und unverdun - kelt.

Das erſte Merkmal eines verſtaͤndigen Lehr - lings iſt die Faͤhigkeit und die Neigung zu eignen Betrachtungen. Die Verſchiedenheit der menſch - lichen Geiſter bringt unausbleiblich auch in ihre aͤhnlichſten und uͤbereinſtimmendſten Begriffe eine gewiſſe Verſchiedenheit, ſobald nur dieſe Begriffe73der Faͤhigkeiten. nicht bloße Wiederholungen eines einzigen ſind. Von zwey Menſchen, die durchaus einerley uͤber eine gewiſſe Materie denken, hat gewiß nur Einer oder gar keiner gedacht; es muß ihnen ein frem - des Gepraͤge ſeyn aufgedruͤckt worden, ihre eigne Geſtalt wuͤrde Unaͤhnlichkeiten haben. Ein jun - ger Menſch alſo, bey dem ſich die Faͤhigkeit des Nachdenkens zuerſt entwickelt, wird ſeines Lehrers Unterſuchung mehr zur Gelegenheit als zum Mu - ſter ſeiner eignen brauchen. Wenn er mit ihm zuſammentrifft, ſo wird er die nunmehr erlernten Begriffe als die ſeinigen mit dem vollen Bewußt - ſeyn des Eigenthums annehmen und bewahren; wenn er von ihm abgeht, ſo wird er eben ſo dreiſt verwerfen, und wenn man ihn belehren will, reich an Zweifeln und Einwuͤrfen ſeyn. Man ſieht ſo oft, daß gute junge Koͤpfe ſtreitſuͤchtige Koͤpfe ſind. Wenn dieſer Widerſpruch die Folge von wirklich angeſtellten Unterſuchungen, und nicht die Abſicht derſelben iſt: wenn er bloß von einer freyen und durch kein Anſehen des Lehrers einge - ſchraͤnkten Beurtheilung herruͤhrt, ohne zuvorE 574Ueber die Pruͤfungſchon beſchloſſen worden zu ſeyn, ehe man noch gepruͤft hatte: ſo iſt er eine Uebung fuͤr den Schuͤ - ler und eine Probe ſeiner Faͤhigkeiten. In dieſem Fall giebt es, wie Plato ſagt, fuͤr die Irrenden keine andre Strafe, als die, belehrt zu werden. Aber wenn ſich die Eitelkeit darein miſcht, und man ſchon immer geneigt iſt, die entgegenſtehen - de Meynung anzunehmen, ehe man noch die Gruͤnde dazu gefunden hat; wenn man nun ſchon anfaͤngt, Irrthuͤmer zu wuͤnſchen, um ſie aufdecken zu koͤnnen: ſo kann die Streitſucht den Kopf verderben, den Faͤhigkeiten eine falſche Richtung geben, und das auf Spitzfuͤndigkei - ten und Diſputirkuͤnſte verwenden, was die Na - tur zur Erforſchung der Wahrheit beſtimmt hatte.

Die Erlernung der Sprachen iſt gemeiniglich unſer erſtes Studium; alſo wird ſie auch die erſte Gelegenheit fuͤr den Lehrer ſeyn, die Koͤpfe ſeiner Schuͤler zu unterſuchen. Ein Theil der Sprache iſt willkuͤhrlich, und kann bloß von dem Gedaͤcht - niſſe gefaßt werden; der andre iſt philoſophiſch,75der Faͤhigkeiten. und beruht auf den Verhaͤltniſſen der Begriffe. Von dem bloß nachdenkenden Geiſte wird der erſte ſchwer gefaßt; er hat nichts, woran er ſich hal - ten kann, und alles Vergoßne iſt verloren. Aber der andre wird ihm leicht; er koͤmmt geſchwind mit der Abſtraction gewiſſer allgemeinen Regeln der Anordnung und Verbindung der Begriffe zu Stande, die er, ohne es zu wiſſen, bey der Er - klaͤrung der Stellen zum Grunde legt, die er nicht nach den Bedeutungen aller einzelnen Woͤrter ver - ſteht; ein lebhaftes Gefuͤhl vom Zuſammenhange macht ihm beſtaͤndig das Unrichtige oder das Mangelhafte ſeiner Erklaͤrungen merklich, und hilft ihm oft zum voraus ſchon dasjenige muth - maßen, was er durch die Auslegung finden ſoll. Bey einer gewiſſen Fertigkeit in der Sprache, bey welcher er ſchon Verſuche im Schreiben machen kann, wird es ihm oft an Woͤrtern und Ausdruͤcken fehlen, aber er wird dem Genie der Sprache we - niger Gewalt anthun; er wird viele von ſolchen Sprachfehlern begehen koͤnnen, die bloß willkuͤhr - liche Regeln der beſondern Grammatik uͤbertreten,76Ueber die Pruͤfungaber keine ſolchen, die in allen Sprachen Unge - reimtheiten waͤren.

So wie die Sprache, ſo hat jeder andre Ge - genſtand des Wiſſens und des Thuns eine dop - pelte Seite; eine Seite fuͤr den Fleiß und das Ge - daͤchtniß, eine andre fuͤr das Nachdenken und den Verſtand. Man kann nach einem langen Studio der Geſchichte von ihr, außer einzelnen merkwuͤrdigen und großen Thatſachen, faſt nichts als ihre Philoſophie wiſſen; und man kann hin - gegen in der Mathematik nichts als eine Nach - richt von ihren Saͤtzen lernen. Ob man alſo gleich in der erſten Erziehung nicht ſchon der Wiſſenſchaft einen ausſchließenden Vorzug geben darf, die man nach der Wahl oder nach den Faͤ - higkeiten des Lehrlings als ſein kuͤnftiges Stu - dium anſieht, theils, um nicht dadurch den Kopf zu ſehr einzuſchraͤnken, wenn man ſeinen natuͤrli - chen Hang durch eine zu fruͤhzeitige Befriedigung noch verſtaͤrkte, theils weil keine Ausuͤbung einer menſchlichen Faͤhigkeit ohne einen gewiſſen Grad von Vollkommenheit in den uͤbrigen, vortreflich77der Faͤhigkeiten. oder auch nur brauchbar werden kann: ſo iſt es doch ſehr unrecht, daß, wenn man auch mit dem groͤßten Theile junger Leute einerley Wiſſenſchaf - ten treiben darf, man von ihnen einerley fodert, und ihren Fleiß oder ihre Tuͤchtigkeit gerade nach einerley Art des Fortgangs beurtheilt. In der That wird der junge Menſch vom groͤßten Ver - ſtande in dieſem Alter am meiſten zuruͤckgeſezt; weil man auf das, was er beſſer als andre in ſei - nen Arbeiten leiſtet, als auf ein Nebenwerk oder etwas Ueberfluͤßiges nicht Acht hat, und hingegen die Art von Vortreflichkeit verlangt, zu der er am unfaͤhigſten iſt. Thatſachen und Woͤrter, mit ei - nem Worte alles das, was man durch Sprachen und Geſchichte erlernet, muͤſſen freylich jedem ſtu - direnden Juͤnglinge gelehrt werden. Sie berei - chern den Kopf, indem ſie ihm zugleich eine man - nichfaltige Art von Gegenſtaͤnden darbieten, un - ter denen die Natur leichter und ſichrer den rech - ten findet, fuͤr den ſie den Menſchen beſtimmt hat. Aber man muß bey dieſem Unterrichte nicht durch - gaͤngig einerley Zweck haben. Wir wollen die78Ueber die PruͤfungGeſchichte zum Beyſpiele nehmen. Dem einen wird es leicht, ſich die ganze Folge und den Zu - ſammenhang der Begebenheiten, ſo wie er durch fruchtbare und unfruchtbare Zeiten von Genealo - gie und Chronologie fortgefuͤhrt wird, einzupraͤ - gen; ohne daß irgend eine Begebenheit heftigen Eindruck genug gemacht haͤtte, um ſich mit allen ihren kleinen Umſtaͤnden, die allemal bey Bege - benheiten das Intereſſirende ausmachen, in ſeiner Einbildungskraft zu erhalten. Dem Geſchichts - lehrer, dem eigentlichen Gelehrten im engſten Verſtande des Worts, iſt eine ſolche Erlernung nothwendig. Ein andrer findet unbeſchreib - liche Muͤhe, dieſe Kette zuſammenzuſetzen; kaum denkt er ſie vollſtaͤndig zu haben, ſo ſind ſchon wieder einige Glieder davon verloren gegangen; Namen ohne Begebenheiten, Zeitpunkte ohne Um - ſtaͤnde, die dieſelben merkwuͤrdig gemacht haben, entwiſchen ihm augenblicklich; und alle Muͤhe, dieſe Luͤcken wieder auszufuͤllen, iſt verloren. Aber dafuͤr bleibt das Bild großer Maͤnner und großer Thaten mit allen ſeinen kleinen Zuͤgen in ſeiner79der Faͤhigkeiten. Seele unausloͤſchlich; er behaͤlt nichts, als wo - fuͤr er ſich intereſſirt, aber dieß behaͤlt er auch ganz und ſo, daß er alle Augenblicke davon Ge - brauch machen kann. Große Staatsmaͤnner und große Heerfuͤhrer haben die Geſchichte nicht anders gekannt; und kaum hat der ſie noͤthig an - ders zu kennen, der nur Beyſpiele und Rath - ſchlaͤge bey ihr ſucht. Ein dritter wird vielleicht, nach einem eben ſo langen und aͤmſigen Studio, immer noch Namen, Perſonen und Begebenheiten verwechſeln; weder das Ganze noch die einzelnen Theile haben ſich in ſeinem Gedaͤchtniſſe erhalten, er weiß in der That von den Vorfaͤllen ſelbſt nichts: aber deswegen hat doch dieſe Wiſſenſchaft ihre Frucht fuͤr ihn gebracht; waͤhrend der Arbeit eine Menge von Uebungen, und nach derſelben eine Menge von Reflexionen, Grundſaͤtzen, Er - fahrungen, die er nach und nach ohne deutliches Bewußtſeyn aus den Begebenheiten herausgezo - gen hat, und die die Principien ſeines Denkens geblieben ſind, nachdem er ſich an keine einzige dieſer Begebenheiten mehr erinnern konnte. Viel -80Ueber die Pruͤfungleicht giebt es einen vierten, der aus der Geſchich - te ungefaͤhr eben ſo ein weſentliches Stuͤck von ihr zuruͤckbringt, als der rechnende engliſche Bauer aus der Oper, der die Violinſtriche zaͤhlte; und doch wuͤrde ſie noch immer einen Einfluß uͤber ſeine Denkungsart und ſeinen Kopf behalten. Dieß alſo iſt des weiſen Lehrers Arbeit und ſein Verdienſt, bey jeder Wiſſenſchaft von ihrem ei - genen und unmittelbaren Endzwecke, der Erler - nung der Sachen, die ſie enthaͤlt, noch den mannichfaltigen Gebrauch, der ſich davon ma - chen laͤßt, zu unterſcheiden, und ſeiner Schuͤler Faͤhigkeiten aus dieſem Gebrauche zu beur - theilen.

Der philoſophirende Verſtand, um uns nicht zu weit von ihm zu verlieren, zeigt ſich am deut - lichſten durch die Begriffe, die er ſelbſt hervor - bringt. In nichts unterſcheiden ſich die guten Koͤpfe von den ſchlechten ſo ſehr, als in ihren Aufſaͤtzen. Bey dem bloßen Lernen kann groͤßre Aemſigkeit und vielleicht mehr Gedaͤchtniß die lez - tern weiter gebracht haben: aber der Gebrauch,81der Faͤhigkeiten. den die erſtern auch von ihrer geringern Kenntniß in dem machen, was ſie fuͤr ſich ſelbſt denken, wird ihnen ſehr bald ihren Vorzug wiedergeben. Zuerſt iſt immer etwas Eignes und Charakteriſti - ſches, wo die Kraft der Seele ſelbſt ſchafft, nicht bloß empfangne Ideen zuruͤckgiebt; zweytens aͤußert ſich der Geiſt des Nachdenkens durch eine gewiſſe Verfolgung einerley Idee, durch eine Aus - einanderwickelung allgemeiner Grundſaͤtze, durch die Geſchicklichkeit, viele Begriffe aus einem ge - meinſchaftlichen Gliede herzuleiten. Wenn auch in den einzelnen Begriffen noch Dunkelheit, in den Saͤtzen Irrthum, in ihrer Anwendung Spitz - fuͤndigkeit iſt; ſo wird doch das Ganze zuſammen - haͤngen, ein Irrthum wird wenigſtens durch den andern unterſtuͤtzt werden.

Die Faͤhigkeit nachzudenken, mit einem Gra - de von Einbildungskraft vermiſcht, giebt das, was wir nach Verſchiedenheit der Gegenſtaͤnde Witz oder Scharfſinn nennen. Es iſt bekannt, daß man zu dem Gebiete des erſten die Aehnlichkeiten, und zum Gebiete des andern die Unterſchiede derF82Ueber die PruͤfungDinge beſtimmt. Aber darauf hat man nicht im - mer Acht gegeben, daß dieſe Verbindungen oder dieſe Trennungen bald durch die Einbildungskraft und bald durch den Verſtand geſchehen koͤnnen; daß es einen ſinnlichen und einen vernuͤnftigen Witz gebe.

Das, was man den Witz im engern Ver - ſtande nennen koͤnnte, und was in der Welt un - ter dieſem Namen gemeiniglich bekannt iſt, beſteht in einer gewiſſen Erfindſamkeit, verborgne und doch einleuchtende Verbindungen unter Begriffen zu entdecken, die von einander ſehr entfernt ſchei - nen. Man hat die Productionen deſſelben Ein - faͤlle genannt, um dadurch die Art von Verglei - chungen auszuſchließen, die durch Unterſuchung und Nachdenken gefunden werden, und den Cha - rakter der Schnelligkeit anzuzeigen, der dieſen Werken des Witzes weſentlich iſt, und ihr vor - nehmſtes Verdienſt ausmacht. Es iſt begreiflich, daß dieſe außerordentlichen Verbindungen unter ſehr fremdſcheinenden Ideen ſchlechterdings eine gewiſſe Mannichfaltigkeit und einen unordentli -83der Faͤhigkeiten. chen Reichthum von Objekten verlangen, unter welchen ſich von Zeit zu Zeit einige zuſammen fin - den muͤſſen, die einer ſolchen Verbindung faͤhig ſind. Um deswillen iſt die Geſellſchaft und ein vermiſchtes abwechſelndes Geſpraͤch der eigentliche Ort und die Werkſtaͤtte des Witzes. Wo eine fortgehende Reihe von Begriffen die Abſicht iſt, da ſind die Ideen alle von einerley Art, ihre Ueber - einſtimmung wird ſchon vorhergeſehen, und darf nur von dem Verſtande beſtimmt und abgewogen werden. Ein witziger Kopf befindet ſich alſo oft weit beſſer unter einer Geſellſchaft leerer Schwaͤtzer, die niemals auf einer Sache beharren, und deren durch einander gehende verworrene Begriffe deſto ſeltſamere Verbindungen erlauben, (noch das Ver - gnuͤgen der Eitelkeit hinzugerechnet, das Leben und die einzige Seele der Geſellſchaft zu ſeyn,) als bey einer Zuſammenkunft verſtaͤndiger Maͤnner, deren Gedanken gleichfoͤrmiger und regelmaͤßiger fortgehen.

Man ſieht leicht, daß dieſe Art von Witz ſich mit dem, was wir den praktiſchen Verſtand ge -F 284Ueber die Pruͤfungnannt haben, beſſer als mit dem theoretiſchen vertraͤgt. Die Einbildungskraft muß viele Be - gebenheiten und Bilder im Vorrath haben, und ſie muß durch jeden Anlaß, durch die kleinſte Ver - wandtſchaft der gegenwaͤrtigen Dinge an dieſelbe erinnert werden, wenn die Vernunft ſie eben ſo geſchwind ſoll vergleichen koͤnnen. Ueberdieß lie - gen dieſe Aehnlichkeiten, die der Witz aufſucht, nicht in dem Weſentlichen und Innern der Sa - chen, nicht, ſo zu ſagen, in ihrer Struktur, ſon - dern nur in der aͤußern Geſtalt, in ihren zufaͤlli - gen und abwechſelnden Merkmalen. Aber dieſe leztern koͤnnen, ihrer Menge und ihrer Kleinheit wegen, nicht durch deutliche Begriffe erkannt wer - den; und wer durch dieſe am meiſten denkt, uͤber - ſieht ſie, oder ſtellt ſie ſich falſch vor. Endlich iſt der Schein des Ohngefaͤhrs, der dem wirklich witzigen Einfalle nothwendig iſt, niemals zu er - halten, wenn die Ideen zu ſehr in einander ge - gruͤndet ſind, und man augenſcheinlich die Folge einſieht, in der man auf ſie hat kommen koͤnnen. Der zu genaue und innere Zuſammenhang alſo,85der Faͤhigkeiten. der zwiſchen den Ideen in einem bloß philoſophi - renden Kopfe ſeyn muß, wenn eine die andre ſoll erwecken koͤnnen, macht ihm leichte und zufaͤllige Verknuͤpfungen unmoͤglich; ſeine Einfaͤlle haben immer das Anſehen des Studirten und Ausge - dachten. In der Geſellſchaft ſind die Erfah - rungen leicht zu machen, die dieſes beſtaͤtigen. Wenn eine gewiſſe Materie zum Geſpraͤche aufge - worfen wird, ſo ſind gemeiniglich, (wenn uͤber - haupt die Geſellſchaft nicht aus Dummkoͤpfen be - ſteht,) zwo Parteyen in der Art, wie ſie mit dem Gegenſtande umgehen. Die einen wollen die Sa - chen als eine wirkliche Materie des Geſpraͤchs, die andern nur als eine Gelegenheit dazu brauchen. Jene wiſſen von den Dingen nichts zu ſagen, als in ſo fern ſie ſie ſelbſt unterſuchen koͤnnen; dieſe finden an den Beziehungen derſelben Stoff zum Reden genug, entweder durch die Erinnerungen, die ſie in ihnen erwecken, oder durch die Anwen - dungen, die ſie davon machen koͤnnen. Beſon - ders iſt die Gabe gut zu erzaͤhlen das Eigenthum des witzigen Kopfs. Die Theile einer Begeben -F 386Ueber die Pruͤfungheit ſo zu ordnen, daß diejenigen neben einander kommen, deren Aehnlichkeit oder deren Kontraſt den Eindruck machen ſoll; ſie durch den Ausdruck in das gehoͤrige Licht zu ſtellen, und ihr ein laͤ - cherliches, oder wenigſtens ein außerordentliches Anſehen zu geben: alles das hindert der bloße reine Verſtand durch die Langſamkeit, mit der er verfaͤhrt. Zum Unterſuchen ſind dieſe Sachen zu klein und zu mannichfaltig; ein gewiſſes Ge - fuͤhl muß ſie uns finden lehren, und dieſes Ge - fuͤhl giebt der Witz. Aber eben deswegen iſt es dem witzigen Kopfe ſo natuͤrlich, Geſchichte zu er - dichten, oder die wahren zu verunſtalten. Da die ſeltſamen Verbindungen unter Vorfaͤllen im - mer angenehmer ſind, als die unter Ideen: ſo erzaͤhlt er noch lieber, als er Einfaͤlle ſagt. Und weil nun in der wirklichen Welt, beſonders in dem engen Zirkel der Erfahrungen eines einzigen Menſchen, ſolche Verbindungen weit ſeltner vor - kommen, als ſie der witzige Kopf braucht: ſo muß er oft die Armuth der Natur in dieſem Stuͤcke er - ſetzen, oder wenigſtens dem Alltaͤglichen der Bege -87der Faͤhigkeiten. benheiten durch einen Zuſatz von ſeiner eigenen Schoͤpfung aufhelfen.

Auf keine Faͤhigkeit thun ſich Aeltern bey ih - ren Kindern mehr zu gute, und bey keiner koͤnnen ſie leichter hintergangen werden, als bey dem Witze. So wie der wirkliche Witz ſeinen Erfin - dungen den Schein des bloßen Zufalls und eines nicht vorhergeſehenen, nicht zur Abſicht gehabten Laͤcherlichen geben muß: ſo kann hinwiederum der Zufall in der That oft eben das hervorbrin - gen, was ſonſt nur das Werk des Witzes iſt. In einem Kopfe, wo ſchon die Ideen nach gewiſſen Abſichten und nach gewiſſen Regeln geordnet wer - den, iſt dieſes nicht moͤglich, oder wenigſtens ſel - ten. Aber wo noch die Seele alle Begriffe, die ihr vorkommen, ohne den geringſten Grund ihrer Aehnlichkeit oder ihrer Verbindung dabey noͤthig zu haben, zuſammenſezt; da muͤſſen nothwendig unter der Menge ganz ungereimter und nichtsbe - deutender Verknuͤpfungen einige vorkommen, in die ſich ein laͤcherlicher oder ein verſtaͤndiger Sinn hineinlegen laͤßt. Ein Zweig des Witzes iſt dieF 488Ueber die PruͤfungNaivetaͤt. Sie beſteht darinnen, wenn unter dem Scheine der Einfalt und der Unwiſſenheit eine große oder doch eine auffallende Wahrheit geſagt wird; wenn der Ausdruck ungereimt oder einfaͤl - tig, und der Sinn groß iſt. Wenn man nun bey Kindern ſolche Ausdruͤcke noch dazu mit der ein - nehmenden Miene der Unſchuld und der Freund - lichkeit vorbringen hoͤrt, ſo glaubt man, ſie ſind naiv, ob ſie gleich bey ihnen oft wirklich Einfalt ſind. Man bemerkt naͤmlich nicht, daß der Ge - danke, den man ſonſt vielleicht mit dieſem oder einem aͤhnlichen Ausdrucke zu verbinden gewohnt iſt, bey dem Kinde wirklich fehlt; der, den es hat - te, war vielleicht ſo nichtsbedeutend oder ſo wi - derſinnig, als der Ausdruck. Daher ſcheinen ſo oft dieſe artigen Einfaͤlle, die im dritten Jahre be - wundert wurden, Ungereimtheiten im achten. Das Kind ſagt izt nichts ſchlechters, als zuvor; aber man wird nur mehr gewahr, daß der Ge - danke, den man vorausgeſezt hatte, nicht vorhan - den ſey; der angenommene Kontraſt zwiſchen Be -89der Faͤhigkeiten. zeichnung und Idee faͤllt weg, das Naive wird toͤlpiſch.

Wenn es aber auch noch leicht waͤre, den wahren Witz zu erkennen, ſo iſt es doch gewiß ſchwer, die uͤbrigen Faͤhigkeiten des Kopfes nach demſelben zu beurtheilen. Natuͤrlicherweiſe aͤuſ - ſert ſich der Witz am erſten, weil auch unter einem kleinen Vorrathe von Ideen ſchon genug Zuſam - menſetzungen moͤglich ſind, und dieß eben das Werk und das Verdienſt des Witzes iſt, das Ver - borgne zu finden: aber er iſt deswegen nicht im - mer die Ankuͤndigung eines großen Geiſtes. Mit dem philoſophiſchen Geiſte vertraͤgt er ſich ſelten; eine ſehr feurige Einbildungskraft verzehrt ihn ſo zu ſagen, und er findet nur bey einer gewiſſen Mit - telmaͤßigkeit dieſer beiden Hauptfaͤhigkeiten ſtatt. Alles, was er ſucht, liegt nur auf der Oberflaͤche, und bedarf weder ein tiefes Nachdenken, noch eine ſehr ſtarke Empfindung.

Er iſt ſogar, wenn er zu fruͤhzeitig ausgebil - det wird, der Uebung der andern Faͤhigkeiten ſchaͤdlich. Da er die Seele gewoͤhnt, immer vonF 590Ueber die Pruͤfungdem Weſentlichen der Sachen abzugehen, und auf ihre Zufaͤlligkeiten und ihre aͤußern Verhaͤltniſſe zu ſehen, ſo verhindert er die Unterſuchung; und indem er die Aufmerkſamkeit der Seele bey jedem Gegenſtande theilt, und ſie von der bloßen Be - trachtung gleich auf Anwendungen deſſelben ab - zieht, ſo laͤßt er keinen ſtarken und bleibenden Eindruck zu. Der Witz iſt der Diener und der Gehuͤlfe der Eitelkeit. So wie er das Licht iſt, welches die Talente den Augen des großen Hau - fens ſichtbar macht, ſo erhoͤhet er ſie zugleich in den Augen des Menſchen ſelbſt. Die Geſchicklich - keit, ſich mit Vortheile zu zeigen, erweckt die Be - gierde, es oft zu thun: und ſo wird die Bemuͤ - hung, neue Vorzuͤge zu erwerben, durch die Be - muͤhung, ſeine alten ſehen zu laſſen, geſtoͤrt.

Man ſollte ſich aber um deſto weniger um dieſe Faͤhigkeit Muͤhe geben, weil ſie unter allen uͤbrigen die wenigſte Cultur zulaͤßt oder erfodert. Sie entwickelt ſich von ſelbſt, und man kann nichts anders zu ihrer Ausbildung thun, als ſie regieren und im Zaume halten. Der Witz iſt vor -91der Faͤhigkeiten. treflich, wenn er in eine Seele, die ſchon mit Ideen und Bildern angefuͤllt iſt, als die lezte Verſchoͤnerung hinzukoͤmmt. Der Reichthum wird alsdann zugleich zur Pracht, und die Ge - ſtalten, in welche die Seele ihre Begriffe kleidet, werden eben ſo ſchoͤn, als die Begriffe ſelbſt ge - ſund und vollkommen ſind. Sollen aber dieſe Ideen und Bilder erſt geſammlet werden, dann iſt ſeine Geſchaͤftigkeit ſchaͤdlich und hin - derlich.

Aber dieſe ganze Gattung von Witz iſt nicht die einzige. Es giebt einen andern ſo zu ſagen reflektirenden Witz, der mit der zwoten Art von Imagination, von der wir oben geredet haben, in Verbindung ſteht; ein Witz, der nicht unter einzelnen Dingen, ſondern unter allgemeinen Ideen, und nicht aͤußere Verhaͤltniſſe, ſondern in - nere Uebereinſtimmungen, aber auf eine ſolche Art ſucht, daß man die Operation des Verſtandes und die Folge der Begriffe, durch welche dieſe Ue - bereinſtimmungen ſind gefunden worden, nicht ge - wahr wird. Naͤmlich ein bloß geſunder natuͤrli -92Ueber die Pruͤfungcher Verſtand, ohne dieſen Witz, haͤlt keine an - dern Ideen gegen einander, als wo ſich ſchon aus dem, was er von ihnen weiß, ihre Uebereinſtim - mung vorherſehen laͤßt, und wo es alſo bloß dar - auf ankoͤmmt, dieſelbe auf etwas Beſtimmtes und Deutliches zu bringen. Auf dieſe Art verfaͤhrt die kluge Vorſichtigkeit in den gewoͤhnlichen Ge - ſchaͤften des gemeinen Lebens, und die beſcheidene Lehrbegierde in der Erlernung der Wiſſenſchaften. Dieſe Eigenſchaften ſichern den Menſchen vor Ver - wegenheit und Irrthum; aber ſie machen ihn auch zu großen Unternehmungen und zu neuen Entdeckungen untuͤchtig. Wenn aber mit dem Verſtande ſich der Witz vermaͤhlt, ſo wird der erſte beherzter und unternehmender. Er bekoͤmmt einen gewiſſen geheimen Zug, die unaͤhnlichſten Begriffe mit einander zu vergleichen, und die entfernteſten zuſammenzubringen; das Feld ſeiner Geſchaͤftigkeit wird groͤßer, die Vergleichung ge - ſchieht ſchneller; die Verbindungen, die er macht, werden mannichfaltiger und neuer.

93der Faͤhigkeiten.

Es giebt ferner in der Philoſophie, im Erklaͤ - ren und im Beweiſen eben ſo wohl einen gewiſſen Geſchmack, als in den Kuͤnſten und in den Wer - ken des ſchoͤnen Geiſtes; ein dunkles Gefuͤhl von der Staͤrke oder der Schwaͤche der Gruͤnde ſelbſt, ehe man ſie noch genau gepruͤft hat; ein vorlaͤu - figes Urtheil von der Wahrheit oder der Brauch - barkeit ſeiner Ideen vor der Unterſuchung. Die - ſer Geſchmack nun wird von dem Witze, von dem wir reden, und den die Lateiner Sagacitaͤt nen - nen, hervorgebracht. Er weiſet dem Nachdenken die Punkte an, auf die es ſich zu richten hat. Bey der Erlernung der Wiſſenſchaften bringt er eine ſchnelle Begreifung und eine richtige Anwen - dung der vorgetragnen Wahrheiten hervor; bey einem hoͤhern Fortgange aͤußert er ſich durch eine gewiſſe Erfindſamkeit, die Seite des Dinges zuerſt zu finden, von der ſie ſich am beſten angreifen laͤßt, und den Begriff von ihm zu faſſen, der am leichteſten und am fruchtbarſten bearbeitet werden kann. So zeigt er ſich z. B. in der Mathematik durch die Wahl der Beweiſe, durch die Abkuͤrzung94Ueber die Pruͤfungdes Weges, und durch eine gewiſſe feinere Ver - wickelung und eine unvermuthete Aufloͤſung der Aufgaben.

Mit dem Witze gehoͤrt der Scharfſinn zu ei - ner Klaſſe. Der Scharfſinn ſcheint mehr auf der Partey des philoſophiſchen Verſtandes zu ſeyn, ſo wie der Witz auf der Seite des dichteriſchen. Denn eben das Unterſcheiden und Abſondern, mit dem der Scharfſinn zu thun hat, bringt die Ab - ſtraktion hervor, oder iſt eine Folge derſelben. Um deswillen iſt die Subtilitaͤt, die eine Wirkung die - ſer Urſache iſt, ſo oft fuͤr die Eigenſchaft der Phi - loſophen angeſehen worden. In der That aber giebt es auch einen Scharfſinn, der ſich mit dem Witz vermiſcht, und unter ſeinem Namen ver - birgt. Die Begriffe von Aehnlichkeit und Unter - ſchied ſind immer gegenſeitig, und wo Ueberein - ſtimmungen bemerkt werden, da muß man die Verſchiedenheiten zugleich mit empfinden, die von jenen abſtechen.

Die andere Gattung von Scharfſinn aͤußert ſich nur bey der Erlernung der Wiſſenſchaften. 95der Faͤhigkeiten. Man hat aber nicht ſo wohl ihn kennen zu lernen, als die Fehler, zu denen er verleiten kann. Die falſche Anwendung von Scharfſinn iſt Spitzfin - digkeit, und beſteht in der Entdeckung nichtswuͤr - diger oder falſcher Unterſchiede.

Das fruͤhzeitigſte und beynahe das ſicherſte Zeichen des Scharfſinns iſt ein richtiger Gebrauch der Sprache. Jede Sprache hat eine Menge Woͤrter und Ausdruͤcke, die im Hauptbegriffe uͤbereinkommen, aber ſich doch durch ſo beſtimmte und ausgemachte Nebenbegriffe unterſcheiden, daß es wenig Faͤlle giebt, wo der Gebrauch der - ſelben ganz gleichguͤltig waͤre. Dieſen Unterſchied genau zu bemerken, und aus der Natur und der Verbindung der uͤbrigen Begriffe zu beurtheilen, welcher von dieſen Unterſchieden hier nothwendig oder wenigſtens ſchicklich ſey, das kann nur der Scharfſinn; und eben dieſes iſt es, was die Ge - nauigkeit im Ausdrucke ausmacht. Leute, die ſelbſt den Werth jedes Worts und den Gedanken jeder Rede genau wiſſen, werden leicht an jungen Leuten dieſe Verſchiedenheit bemerken. Einige ſa -96Ueber die Pruͤfunggen alles nur halb; ſie ſind zufrieden, wenn man nur ungefaͤhr gewahr wird, was ſie ſich denken; ſie nehmen immer das gewoͤhnlichſte Wort zuerſt, und kennen keine andre Wahl des Ausdrucks, als die Nachahmung, weil ſie keine Unterſchiede ken - nen, nach denen ſie ihre Wahl beſtimmen ſollten. Bey andern hingegen ſieht man wenigſtens die Bemuͤhung, fuͤr ihre jedesmaligen Ideen einen ihnen eignen Ausdruck zu finden; man bemerkt, daß ſie auf den Zuſammenhang des ganzen Ge - dankens Achtung gegeben, und in den Worten mehr als den ganz groben Begriff, der in allen andern Synonymen eben ſo gut war, geſucht ha - ben. In der That, weil dieſe Richtigkeit des Aus - drucks der Grund und beynahe das weſentlichſte Stuͤck der Schoͤnheit des Stils iſt, ſo ſollte bey den Ausarbeitungen, die man junge Leute machen laͤßt, auf keine Eigenſchaft ſo ſehr geſehen wer - den. Ein richtiger Gebrauch der Sprache bringt in unſere Vorſtellungen eine groͤßere Mannichfal - tigkeit, indem er uns unter Begriffen, die wir ſonſt fuͤr einen einzigen gehalten haͤtten, Unter -97der Faͤhigkeiten. ſchiede finden laͤßt, durch die ſie zu mehrern wer - den. Er macht die Entwickelung der Ideen leichter, indem er uns bey jedem Begriffe, den wir aufklaͤren wollen, die am naͤchſten damit ver - wandten zeigt, von denen der Begriff durch die Erklaͤrung abgeſondert werden muß; er giebt uns endlich mehr Stoff zur Philoſophie, indem er mehr Bedeutungen der Worte als ſo viel ſinnlich klare Begriffe uns anweiſet, die wir deutlich zu machen, und durch genaue Merkmale zu beſtimmen haben.

Jetzo ſind wir im Stande, uns den Begriff von einem Genie zu machen. Wir haben geſe - hen, daß einige Faͤhigkeiten in gewiſſer Maaße einander entgegen ſtehn, und daß man ſie deswe - gen ordentlicher Weiſe nur unter verſchiedenen Menſchen vertheilt findet. Aber wenn dieſel - ben in einem beſtimmten Falle dieſen Streit auf - heben; wenn ſie in einer gewiſſen Seele zuſam - menkommen, und ſich einander das Gegengewicht halten; wenn ſie ſich endlich alle zuſammen auf einen gewiſſen Gegenſtand vereinigen: alsdannG98Ueber die Pruͤfungbringen ſie ein Genie hervor. Ueberhaupt heißt Genie entweder alles, was in unſern Faͤhigkeiten von der Natur herruͤhrt, und wird dem Erlern - ten oder der Gelehrſamkeit entgegengeſezt; oder es zeigt eine hoͤhere Klaſſe von Geiſt an, und in dieſem Verſtande nehmen wir es jezt. Es giebt alſo ſo viel Genies, als es Gegenſtaͤnde fuͤr beſondere Faͤhigkeiten giebt. Wir wollen zum Beyſpiel das dichteriſche Genie nehmen. Es iſt klar, daß ſeine herrſchende Eigenſchaft die Ein - bildungskraft ſeyn muß, die von richtigen, ſtar - ken und feinen Empfindungen geleitet, von einer einſichtvollen, aber praktiſchen Vernunft ausge - bildet, und durch den Witz ausgeſchmuͤckt wird. Aber wenn die nachdenkende oder die philoſophi - rende Vernunft dieſer nicht zur Seite gienge, ſo wuͤrden ſich dieſe Bilder und dieſe Begriffe nicht ausdruͤcken laſſen; denn alle Worte ſind Zeichen fuͤr abgezogne Begriffe. Dieſe Uebereinſtimmung und Vereinigung alſo von Empfindungskraft und Vernunft, wovon die eine die Bilder, die nachgemacht werden ſollen, vorſtellt; die andre99der Faͤhigkeiten. ſie ordnet und die Farben herbeyſchafft, mit de - nen ſie entworfen werden: dieſes macht das Ei - genthuͤmliche und das Seltne von dieſem Genie. Faͤhigkeiten, die ſich in gewiſſem Grade aufheben, muͤſſen ſich bey ihm vereinigeu; die Erinnerungs - kraft, die die Ideen durch ihre Folge und Verbin - dung aufweckt, muß mit dem Gedaͤchtniſſe, das ganze Reihen von Begebenheiten wieder darſtellen kann, verbunden ſeyn; die Empfindungen muͤſ - ſen ſo ungeſtoͤrt bleiben, als wenn die Seele ſich bloß mit dem Gegenſtande ſelbſt beſchaͤftigte, und doch muß die Seele zugleich einen gehei - men Blick auf ſich ſelbſt thun, um dieſe Empfin - dungen gewahr zu werden, und ſie in den ge - hoͤrigen Schranken zu halten. Empfinden und Denken zugleich, das iſt die große Kunſt des Dich - ters.

Ich will nur noch einige allgemeine Merk - male, woran ſich gute Koͤpfe uͤberhaupt erkennen laſſen, hinzuſetzen:

Erſtlich. Die Eitelkeit hat bey ihnen we - niger Einfluß, und die Erwartung des Lobes iſtG 2100Ueber die Pruͤfungbey ihnen ein ſchwacher oder uͤberfluͤßiger Bewe - gungsgrund, weil die Sache ſelbſt ſchon fuͤr ſich ſie beſchaͤftigt und einnimmt. Ein guter Schrift - ſteller und ein wirklicher Gelehrter wird ſchon durch das Vergnuͤgen, das er genießt, indem er ſchreibt oder lehret, hinlaͤnglich belohnt, ohne erſt die Hoffnung zu Huͤlfe zu nehmen, daß es andre wiſſen werden. Wer alſo nicht mit einer gewiſſen Leidenſchaft an ſeine Arbeit geht; nicht aus Vergnuͤgen uͤber ſeine eigne Beſchaͤftigung bey derſelben aushaͤlt, ohne alles Intereſſe des Eigennutzes oder des Ehrgeizes; wer bey ſeiner Wiſſenſchaft oder bey ſeinem Werke einen andern Bewegungsgrund, als das Angenehme des Ge - genſtandes ſelbſt, und das Vergnuͤgen ſeine Kraft auszuuͤben bedarf, der iſt ohne Genie.

Zweytens. Gute Koͤpfe, die, wenn ſie fuͤr ſich ohne Aufforderung und ohne Anſtrengung uͤber eine Materie denken, voller Einſichten ſind, werden vielleicht an den Zeiten und Orten, wo ſie ſich am meiſten zeigen wollen, und wo es eigent - lich darauf ankoͤmmt, eine Probe ihrer Faͤhigkeit -101der Faͤhigkeiten. ten zu geben, weniger leiſten als andre. Dieſes iſt eine nothwendige Erinnerung fuͤr Lehrer, die oft ſehr unrichtig die Faͤhigkeiten ihrer Schuͤler aus den oͤffentlichen Pruͤfungen beurtheilen. Die Urſache davon iſt zum Theil phyſiſch. Zum Denken wird eine gewiſſe Bewegung des Bluts und der Lebensgeiſter erfodert. Die, bey wel - chen ſonſt dieſe Bewegungen langſam und ſchlaͤf - rig ſind, werden bey einer außerordentlichen Ge - legenheit, wo dieſelben durch die Leidenſchaft des Ehrgeizes, der Furcht, der Hoffnung beſchleunigt und verſtaͤrkt werden, beſſer und richtiger denken. Dahingegen die andern, bey welchen der gehoͤrige Grad von Bewegung ordentlicher Weiſe vorhan - den iſt, wenn die Bewegung durch eben dieſe Lei - denſchaft noch mehr beſchleunigt wird, eben da - durch unfaͤhiger werden. Zum Theil iſt die Urſache ſittlich. Jede Leidenſchaft entzieht dem Gegenſtande einen Theil von der Aufmerkſamkeit und von der Kraft der Seele, und nimmt ſie fuͤr ſich weg. Je ſtaͤrker man alſo die Leidenſchaften erregt, um deſto mehr ſchwaͤcht man eine jede an -G 3102Ueber die Pruͤfungdre Anwendung der Seelenkraͤfte; und zwar ge - rade da am meiſten, wo dieſe am groͤßten, und alſo zugleich die Leidenſchaften am ſtaͤrkſten ſind: dahingegen bey andern, wo Triebfedern fehlen, wo die Wirkſamkeit der Seele an und fuͤr ſich klein iſt, eben dieſe Leidenſchaften nuͤtzlich ſeyn koͤnnen.

Drittens. Gute Koͤpfe haben ſelten eine ge - wiſſe Art von ſo anhaltendem, und, wenn ich ſo ſagen darf, ſklaviſchem Fleiße. Sie unterrichten noch weit lieber ſich ſelbſt, als ſie ſich unterrich - ten laſſen, und ihre Seele beſchaͤftigt ſich lieber damit, ſelbſt Begriffe hervorzubringen, als ſie bloß einzuſammeln. So richtig dieſe Bemer - kung iſt, ſo wuͤrde ſie verfuͤhren koͤnnen, wenn man ſie nicht gehoͤrig einſchraͤnkte. Zuerſt alſo ſteht der Grundſatz feſt: Ohne fortgeſezte und vielfaͤltige Uebung, und ohne eine Erlangung von mannichfaltigen Kenntniſſen, kann keine einzige Faͤhigkeit des menſchlichen Geiſtes, und wenn ſie auch von der eigentlichen Gelehrſamkeit noch ſo entfernt waͤre, zur Vollkommenheit gelangen. 103der Faͤhigkeiten. Aber dieſe Uebungen koͤnnen entweder von uns ſelbſt gewaͤhlt, oder von andern vorgeſchrieben ſeyn; dieſe Kenntniſſe koͤnnen uns entweder von andern beygebracht, oder von uns ſelbſt aufge - ſucht werden. Mittelmaͤßige Koͤpfe haͤngen in beiden ſchlechterdings von ihren Lehrern ab; ſie ſind niemals begierig, mehr von der Sache zu wiſſen, als ihnen von derſelben iſt geſagt worden, und niemals koͤmmt ihnen die Luſt zu andern Ar - beiten an, als die ihnen aufgegeben ſind. Ihre ganze Bemuͤhung alſo beſteht bloß im Faſſen und im Wiederholen, und dieſe beſchaͤftigt ſie genug, um zu nichts anderm weder Zeit noch Neigung zu haben. Gute Koͤpfe hingegen finden in dem Un - terrichte ihrer Lehrer nur einen Stoff, den ſie ſelbſt erſt bearbeiten, ſie ſuchen ſich die Quellen der Kenntniſſe, die ſie brauchen, ſelbſt; und ob ſie gleich diejenigen nicht vernachlaͤßigen, die ihnen angeboten werden, ſo ſind ſie doch nicht ſo aͤngſt - lich begierig darnach, als die andern, die darin das einzige Mittel ihrer Aufklaͤrung finden. Dieß iſt die eine Urſache dieſer Erſcheinung. DieG 4104Ueber die Pruͤfungandre iſt, daß mit einer groͤßern Faͤhigkeit auch nothwendig eine groͤßere Leichtigkeit im Arbeiten verbunden iſt. Bey einer gleichen Anzahl von Beſchaͤftigungen werden alſo natuͤrlicherweiſe die erſten doch mehr Zeit unbeſchaͤftigt ſeyn, als die andern. Lehrer von Einſicht werden dieſes Merkmal nutzen, und den Fleiß, der eine behende und zugleich anhaltende Wirkſamkeit iſt, (das ei - gene Gepraͤge des Genies,) von der bloßen Ar - beitſamkeit, die in einer aͤmſigen und unermuͤde - ten Wiederholung einerley vorgeſchriebner, und vielleicht immer fruchtloſer, Bemuͤhungen beſteht, unterſcheiden. Nur Lehrer von eingeſchraͤnkten Einſichten, die noch dabey Eitelkeit haben, werden die Faͤhigkeit ihrer Schuͤler nach der Zeit abmeſſen, die ſie in ihren Hoͤrſaͤlen zugebracht haben, und den beſtaͤndigen Zuhoͤrer auch fuͤr den geſchickte - ſten halten.

Es iſt alſo nur noch die zwote Frage uͤbrig, zu welcher Art von Geſchaͤften oder Wiſſenſchaften jede Faͤhigkeit gehoͤrt. Ueberhaupt iſt ſchon aus der Erklaͤrung dieſer Faͤhigkeiten ſelbſt klar, daß105der Faͤhigkeiten. der bloß philoſophirende Verſtand fuͤr die Theorie, der andre fuͤr die Ausuͤbung iſt; der eine Gelehr - te, der andre Leute von Geſchaͤften oder Kuͤnſtler macht. Huart hat dieſen Theil unſrer Materie ſchon ſehr gut abgehandelt, und wir brauchen alſo nichts als einige Anmerkungen zu machen, die ſich hauptſaͤchlich auf die Wiſſenſchaften einſchraͤn - ken ſollen.

Unter der Klaſſe von Menſchen, die man Ge - lehrte nennt, ſind einige bloß dazu beſtimmt, die ſchon bekannten Wahrheiten fortzupflanzen, und die Wiſſenſchaft zu lehren; andere, ſie zu erwei - tern: die dritten, ſie auf das menſchliche Leben und den wirklichen Nutzen der Geſellſchaft anzu - wenden. Man wuͤrde ſehr unrecht thun, wenn man lauter Genies fuͤr die Wiſſenſchaften foderte, da es doch eine Menge von Aemtern und Verrichtungen giebt, die einen Gelehrten fodern, und die ohne Genies beſſer beſtellt werden. Geſunder Verſtand, (bon ſens) das heißt, eine nicht ſehr tiefſinnige, aber doch richtige Vernunft, die ſich an den ge - woͤhnlichen Gegenſtaͤnden der menſchlichen Kennt -G 5106Ueber die Pruͤfungniſſe geuͤbt hat; eine Gabe, die Gedanken andrer zu faſſen, und in den Sinn deſſen, was man lieſt oder hoͤrt, einzudringen; ein Gedaͤchtniß, wel - ches, wenigſtens bey einer hinlaͤnglichen Wieder - holung, die alten Gedanken erneuert, und uns in den Stand ſezt, immer das wieder von neuem zu lernen, was wir von Zeit zu Zeit vergeſſen: das iſt fuͤr dieſe Aemter und fuͤr die Klaſſe von Gelehr - ten, die ſie beſorgen, und alſo ohne Zweifel fuͤr den groͤßten Theil, hinlaͤnglich. Wenn zu dieſen Faͤhigkeiten des Verſtandes noch gewiſſe Eigen - ſchaften des Charakters hinzukommen; erſtlich die Beharrlichkeit, welche Schwierigkeiten uͤber - windet, und auch einen langſamen Fortgang un - unterbrochen verfolgt; zweytens eine Sorgfalt, keine Begriffe eher fuͤr erlernt anzuſehen, bis ſie ſie andern wieder beybringen koͤnnen: ſo koͤnnen recht gute Lehrer auf Akademien und Schulen dar - aus werden, ſie koͤnnen gute Koͤpfe zubereiten, und mittelmaͤßigen ihre Bildung geben. Man wuͤrde alſo durch die Strenge, die alle mittel - maͤßigen Koͤpfe von der Gelehrſamkeit ausſchließt,107der Faͤhigkeiten. dem Staate mehr ſchaden als nuͤtzen. Geiſter von hoͤhern Gaben laſſen ſich entweder ſchwerlich zu dieſen Dienſten brauchen, oder verrichten ſie in der That ſchlechter, weil ſie ſie unwillig oder zerſtreut thun, und ſie nur als Nebendinge anſe - hen, von denen ſie je eher je lieber wieder loszu - kommen ſuchen. Ein geſchickter Lehrer wird ei - nen jungen Menſchen, der in dieſe Klaſſe von brauchbaren Gelehrten kommen kann, bald erken - nen. Seine Gedanken werden niemals etwas Eigenes und Hervorſtechendes haben, aber ſie werden auch niemals abgeſchmackt ſeyn; er wird oft andern nachahmen, aber er wird es doch auf eine ſchickliche Art zu thun wiſſen; er wird fleißig, bedachtſam und uͤberlegt ſeyn, und vor allen Dingen bey dem Mittelmaͤßigen, was er macht, ſich einer gewiſſen hoͤhern Vollkommenheit bewußt ſeyn, die er nicht erreichen kann. In der That kann eine ſehr mittelmaͤßige Arbeit, ein ſchlechtes Gedicht, von einem ganz guten Kopfe herruͤhren: aber wenn er es ſelbſt fuͤr vortreflich haͤlt, wenn er den Unterſchied gegen andre nicht fuͤhlt, dann108Ueber die Pruͤfungiſt er verloren. Ein ſolcher muß die Wiſſenſchaf - ten verlaſſen.

Die andere Klaſſe von Gelehrten, welche die Wiſſenſchaften erweitern ſollen, erfodert wirklich das, was man Genie nennt, das heißt, irgend eine Faͤhigkeit in einem vorzuͤglichen Grade und die uͤbrigen in einer gehoͤrigen Unterordnung, ſie zu unterſtuͤtzen. Wir haben hier das meiſte ſchon gethan, da wir die Merkmale dieſer Faͤhigkeiten angegeben haben. Die Wiſſenſchaften ſelbſt braucht man hier nicht erſt auszuzeichnen; zuerſt, weil ſolche Koͤpfe fuͤr ſich ſelbſt die Gegenſtaͤnde finden, die fuͤr ſie gemacht ſind; zweytens, weil faſt jede Wiſſenſchaft ſo viel verſchiedene Seiten hat, daß man eben ſo viel verſchiedene Koͤpfe braucht, um ſie anzubauen.

Nur bey der Wahl der Wiſſenſchaften iſt noch dieß zu merken. Man ſuche den jungen Leuren einen wirklichen Begriff von denſelben beyzubrin - gen, ſo daß ſie im Ganzen, (und ſo weit es, ohne ſie erlernt zu haben, moͤglich iſt,) ungefaͤhr vor - ausſehen koͤnnen, was ſie darinne zu erwarten109der Faͤhigkeiten. haben, und ſtelle mit ihnen kleine Proben uͤber die Sachen einer jeden Wiſſenſchaft an. Man kennt aus dem Xenophon die Schule der Gerechtigkeit der Perſer, in welcher der Lehrer nicht bloß die Geſetze des Rechts vortrug, ſondern ſeine Schuͤ - ler auch nach denſelben uͤber Streitigkeiten den Ausſpruch thun ließ. Waͤre es nicht moͤglich, daß man auf dieſe Art junge Leute uͤber jede Gat - tung etwas verſuchen ließe, und dann auf dieje - nige, in welcher ſie das Beſte lieferten, ihre Nei - gungen zu leiten ſuchte? Man bemuͤhe ſich ferner, ſo viel moͤglich den Eindruck zu zerſtoͤren, den auf die erſten Jahre die aͤußern Blendwerke eines je - den Standes gemacht haben, und lege dem jun - gen Menſchen, wenn man kann, ein getreues Ge - maͤlde von dem menſchlichen Leben und den ver - ſchiedenen Staͤnden deſſelben vor. Nichts iſt hierbey ſo wichtig, als ihn zu uͤberzeugen, daß die Gluͤckſeligkeit und das Elend beynahe allent - halben gleich, und faſt nirgends von dem Stan - de, ſondern durchaus von der Perſon abhaͤngig ſey.

110Ueber die Pruͤfung

Die Pruͤfung der Geſchicklichkeiten muß we - niger durch oͤffentliche Examina und feyerliche Un - terſuchungen, als durch die beſtaͤndige Aufmerk - ſamkeit auf die gewoͤhnlichen Arbeiten, geſchehen. Ueberdieß ſollten die erſten Probeſtuͤcke nicht ſowohl ganz neue Ausarbeitungen ſeyn, die gemeiniglich elend und leer ſind, und nur den Stolz der jun - gen Leute vermehren, und die Zeit zum Lernen neh - men, ſondern freye Wiederholungen des Gelern - ten. Das erſte, wodurch ſich die Seele im Den - ken uͤbt, iſt, die Gedanken anderer mit eignen Ausdruͤcken zu wiederholen, und einige eigne da - mit zu vermiſchen. Durch nichts alſo koͤnnte man die Geſchicklichkeit beſſer erforſchen, als wenn der Schuͤler (der waͤhrend des Unterrichts nichts oder nur ſo viel, als zur Erhaltung der Aufmerk - ſamkeit nothwendig iſt, aufzeichnen muͤßte) fuͤr ſich ſelbſt alsdann eben dieſe Materie, als wenn er zu unterrichten haͤtte, ſchriftlich oder muͤndlich vortruͤge. Man wuͤrde auf dieſe Art ſowohl die Art von Wiſſenſchaft, als den Grad der Faͤhigkeit, der einem jeden zukaͤme, erkennen.

111der Faͤhigkeiten.

Die dritte Klaſſe, welche die ausuͤbenden Ge - lehrten in ſich begreift, erfodert in der That oft weit weniger Gelehrſamkeit, als Klugheit und Witz. Die Merkmale von dieſen Faͤhigkeiten ſind alſo auch die Beſtimmung fuͤr die Praxis. Man wird dieſe Sache ziemlich richtig einſehen, wenn man ſich nur an das Beyſpiel der praktiſchen Arz - neykunſt erinnert. Man weis, wie oft große Kuren von Leuten ſind verrichtet worden, deren Wiſſenſchaft ſehr mittelmaͤßig war. Man kann daraus wenigſtens ohne weitere Unterſuchungen die Nothwendigkeit lernen, auf dieſe Merkmale Achtung zu geben. Es iſt nichts gewoͤhnlicher, als Leute von wirklichem Verdienſt verachtet zu ſehen, bloß weil ſie ſich nicht in den Plaͤtzen befin - den, wo ſie von ihren Gaben Gebrauch machen koͤnnen. Leute von großer Gelehrſamkeit, die auf einer Akademie die Stuͤtze ihrer Wiſſenſchaft wer - den koͤnnten, leben oft ohne Nutzen und ohne Anſehen, weil ſie durchaus obrigkeitliche Aemter bekleiden, oder uͤberhaupt Geſchaͤften vorſtehen wollen.

112Ueber die Pruͤfung

Ich will dieſes Ganze nur noch mit der Be - merkung einiger Hinderniſſe beſchließen, die der Pruͤfung der Talente im Wege ſtehn.

1) Ein jeder Menſch kann groͤßtentheils von den menſchlichen Faͤhigkeiten nur nach ſeinen eige - nen urtheilen; und je eingeſchraͤnkter er ſelbſt iſt, deſto weniger kann er hoͤhere Vollkommenheiten begreifen. Daher koͤmmt es, daß, da das Maaß, welches er annimmt, ſchon zu klein iſt, die Groͤße, welche er mißt, zu groß herauskoͤmmt, und er alſo immer uͤber ſeine Faͤhigkeit ein zu guͤnſtiges Urtheil ſpricht. Dieſe Bemerkung zeigt uns erſtlich die Nothwendigkeit, uͤber unſer Genie andre urthei - len zu laſſen, die ſelbſt Genie haben. Zweytens giebt ſie uns ein Merkmal, woran wir unſer eige - nes pruͤfen koͤnnen.

2) Jeder Menſch ſteht in gewiſſen Verbin - dungen, die ſeiner Eitelkeit entweder aufhelfen und ſie unterſtuͤtzen, oder in andern, die ſeine wirkliche Faͤhigkeit verkleinern und unterdruͤcken. Es iſt nur gar zu gewiß, daß unſre eigne Ge - muͤthsart in die Beurtheilung unſrer ſelbſt einen113der Faͤhigkeiten. zu großen Einfluß hat. Und ſo, wie in Abſicht auf die Moral, die Schwermuth oder der Leicht - ſinn das Maaß unſrer Tugenden und Laſter ver - faͤlſcht; ſo werden auch oft Furchtſamkeit und Mistrauen unſre Faͤhigkeiten herunterſetzen, oder Dreiſtigkeit und Munterkeit ſie vergroͤßern. Der Eine ſucht ſelbſt nicht ſo viel in ſeinem Verſtande, als er finden wuͤrde, wenn er nur Zutrauen zu ſich haͤtte, und laͤßt daher einen Theil ſeiner Ga - ben ungebraucht; der Andre ſucht in ſich ſo viel, und vielleicht noch etwas mehr, als er hat, und wendet alſo eine kleinere Kraft mit groͤßerm Nach - druck an. Um alſo dieſem Hinderniſſe abzuhelfen, iſt es eine Regel fuͤr den Lehrer, die Wage auf bei - den Seiten einigermaßen gleich zu machen, entwe - der, indem er dem einen etwas weniger, dem an - dern etwas mehr als Gerechtigkeit wiederfahren laͤßt, oder indem er ſie in ſolche Umſtaͤnde und Verbindungen ſezt, wo dieſe ihre Leidenſchaften ohne Einfluß ſind. Vornehmlich aber muß er ſich dadurch warnen laſſen, ſeine Schuͤler nicht nach einzelnen Faͤllen, in denen ſie ſich entweder ſehrH114Ueber die Pruͤfungvortheilhaft oder nachtheilig gezeigt haben, ſon - dern nach dem Ganzen zu beurtheilen.

3) Dieß iſt endlich noch ein großes Hinderniß bey dieſer ganzen Unterſuchung, daß wir eine lange Zeit, von uns ſelbſt und andern, bloß nach der Groͤße unſers Gedaͤchtniſſes beurtheilt werden. Wie viel weißt du? iſt immer die erſte Frage, die man an ein Kind thut. Das heißt mit andern Worten ſo viel, als: was haſt du behalten? und gemeiniglich verlangt man alsdann die Wiederho - lung der Gedanken, die man ihm ſelbſt vorgeſagt hat, und zwar auch gerade mit den Ausdruͤcken, in denen ſie uns am deutlichſten ſcheinen. Und doch kann das Kind, welches bey einem ſolchen Verhoͤr oft verſtummt, und ſehr fehlerhaft und zer - ſtuͤckt das wieder erzaͤhlt, was es gehoͤrt hatte, ein weit faͤhigerer Kopf als das andre ſeyn, das alles auf das genaueſte herſagt. Die wahre Unterſu - chung des Vermoͤgens zu denken iſt, wenn man zwo Perſonen uͤber eine Materie, uͤber die ſie gleich viel Erfahrung und Unterricht haben, ihre eignen Meynungen und Urtheile ſagen oder aufſchreiben115der Faͤhigkeiten. laͤßt. Der gute Kopf wird hier den Mangel deſ - ſen, was er vergeſſen hat, durch eigne Betrach - tungen erſetzen, der andre wird entweder bloß wiederholen, oder nichts hervorbringen. Daher wird auch in den Gedanken des einen mehr Me - thode und anſcheinende Buͤndigkeit ſeyn, weil ſie bloß entlehnt ſind, in des andern ſeinen mehr Un - regelmaͤßiges, aber zugleich mehr Eigenthuͤmliches. Die Natur giebt auch ihren geringſten Werken ge - wiſſe Vorzuͤge vor den bloßen Werken des Fleißes und der Kunſt, die dem Auge des Kenners nicht entgehen.

H 2116Verſchiedenheiten in den Werken

Betrachtung einiger Verſchiedenheiten in den Werken der aͤlte - ſten und neuern Schriftſteller, be - ſonders der Dichter.

  • Aus dem zehnten Bande der Neuen Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und freyen Kuͤnſte.

Dem Geiſte der Kinder, ſagt Quintilian, wird eine Menge abwechſelnder Arbeiten weni - ger ſchwer, weil ſie dieſelben mit einem geringern Bewußtſeyn und mit weniger freywilligen An - ſtrengung thun; eben ſo wie ihr Koͤrper ſich durch die Bewegung weniger ermuͤdet, weil ſie eine klei - nere Laſt mit minderer Gewalt, und ohne ſich ſelbſt zu fuͤhlen, in Bewegung ſetzen. Ueberdieß,117der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. ſezt er hinzu, meſſen ſie niemals in ihren Gedan - ken ab, wie viel ſie ſchon gethan haben; da hin - gegen bey den Erwachſenen die Ermuͤdung bey - nahe oͤfter aus dem Ueberdenken und der Erinne - rung der Arbeit, als aus dem Gefuͤhle der Kraft - loſigkeit entſteht. Anmerkungen von der Art, welche dieſer Schriftſteller oft macht, wenn er fuͤr ſich ſelbſt denkt, erregen den Wunſch, daß er weniger Fleiß auf die Wiederholung und Berich - tigung der Ideen ſeiner Vorgaͤnger gewandt haͤtte.

Die Erfahrung, welche in dieſer Anmerkung ausgedruͤckt iſt, ſtimmt mit einer andern vollkom - men uͤberein, die der erwachſene Mann bey ſich ſelbſt, und eben deswegen vielleicht mit mehr Zu - verlaͤßigkeit machen kann. Welche Arbeiten des Geiſtes gerathen wohl in irgend einer Art beſſer, als diejenigen, bey welchen man ſich am wenig - ſten aͤngſtlich bemuͤht, ſie vortreflich zu machen? Welche unſerer Begriffe ſind wohl die reichſten, lebhafteſten, in der Entwickelung am fruchtbar - ſten? Die, welche ein freywilliges NachdenkenH 3118Verſchiedenheiten in den Werkenuͤber den Gegenſtand nach und nach aus den be - kannten Ideen hervorgearbeitet, oder die, welche ein oft bloß zufaͤlliger ſchneller Blick auf die Sache aus der Reihe ſich ſelbſt darbietender Vorſtellun - gen aufgefaßt hat? Die Werke, die man fuͤr das Publikum ſchon beſtimmt, indem man ſie verfer - tiget, ſind gemeiniglich unter dem, was man fuͤr ſich ſelbſt oder fuͤr ſolche Freunde macht, von de - ren Beyfall und Achtung man ſich ſchon verſichert haͤlt. Der Wunſch, etwas Gutes hervorzubrin - gen, die Begierde nach den Vortheilen, die uns unſer Werk, wenn es gelingt, zuwege bringen ſoll, die Achtſamkeit endlich auf unſer eigenes Bemuͤ - hen, es zu Stande zu bringen, alles dieß iſt eine Art von Zerſtreuung, durch welche diejenige Kraft, die ganz auf den Gegenſtand vereinigt ſeyn ſollte, auf ſich ſelbſt zuruͤckgekehrt, und durch Unruhe und Hoffnung verzehrt wird.

Die obige Anmerkung iſt aber noch einer an - dern Anwendung faͤhig, und dieſe iſt eigentlich unſer Zweck. Da das menſchliche Geſchlecht und der einzelne Menſch in dem ſtufenweiſen Fortgange119der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. ihrer Faͤhigkeiten einander ſo aͤhnlich ſind, ſo fin - det man hier einen Grund von der nothwendigen und unausbleiblichen Verſchiedenheit, die zwiſchen den aͤlteſten und den ſpaͤtern Arbeiten deſſel - ben ſeyn muß. Es giebt in beiden eine Zeit der Kindheit und des maͤnnlichen Alters. In den Werken der erſten ſehen wir eine Kraft, die ſich durch ihre bloße Energie und die Gegenſtaͤnde ge - trieben fuͤhlt zu wirken, und deswegen in ihrer natuͤrlichen Thaͤtigkeit durch nichts geſtoͤrt wird; in den Werken der andern eine Kraft, die erſt durch ein beſonderes Intereſſe gereizt werden muß, die nach Abſicht und in Hofnung eines gewiſſen Er -[folges] wirkt, und die eben deswegen in ihren Aeuſ - ſerungen eingeſchraͤnkt, und von ihrer natuͤrlichen Richtung abgebracht wird. In den Werken der einen Zeit werden ſich die Schriftſteller ihrer Ideen nur ſo zu ſagen entſchuͤtten, die ihnen durch die Gegenſtaͤnde ſelbſt und eine ganz unwillkuͤhrliche Beobachtung derſelben aufgedrungen worden; in den Werken der andern werden ſie Ideen, die ſie geſucht und ausgearbeitet haben, in der Ab -H 4120Verſchiedenheiten in den Werkenſicht mittheilen, ſich Beyfall und Ruhm zu erwer - ben. Der aͤlteſte Schriftſteller iſt das Kind, das den ganzen Tag ohne Abſicht hin und her laͤuft, und niemals fuͤhlt, wie muͤde es iſt, weil es ſich bey keinem Schritte mehr an denjenigen erinnert, den es ſchon gethan hat, noch den voraus ſieht, den es noch zu thun gedenkt. Der neuere Schrift - ſteller iſt ein Wanderer, der immer den Ort im Geſichte hat, wo er hin will, in der Begierde an - zulangen ſeine Schritte zaͤhlt, und ſich durch das Ueberſehen des zuruͤckgelegten und des noch vor ihm liegenden Weges freywillig entkraͤftet.

Dieſer eine Umſtand haͤngt mit vielen andern zuſammen, die ſich, duͤnkt uns, ſo am beſten ent - wickeln laſſen, wenn man ſich zuerſt alle die Ver - ſchiedenheiten der beiden Zeitalter vorſtellt, und alsdann ſieht, was fuͤr Einfluß ſie auf die Werke des Geiſtes, und vornehmlich auf die Schriftſteller haben mußten.

Die erſte und groͤßte Verſchiedenheit liegt in der Art und Weiſe, diejenigen Begriffe zu bekom - men, die der Schriftſteller mittheilen ſoll. Bey121der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. uns iſt faſt das einzige Mittel das Lernen. Un - terricht und Leſen lehren uns meiſtentheils alles kennen, was wir wiſſen; und beides unterneh - men wir nicht anders, als in ſo fern wir es zur Ausfuͤhrung eines gewiſſen Plans brauchen. Bey den Alten ſcheint dieſe Erlernung weniger Stu - dium als inſtinktmaͤßige Beſchaͤftigung geweſen zu ſeyn. Ihre Sinnen waren ihre Lehrer, ſie ſahen, ſie hoͤrten, ſie dachten zu Folge der Eindruͤcke, die die Natur und ihre Verhaͤltniſſe mit andern Men - ſchen auf ſie gemacht hatten.

Was erſtlich die ſichtbare koͤrperliche Natur betrifft, ſo weit ſie durch den Anblick erkannt wer - den kann: ſo kannten ſie ſie in der That beſſer, als wir, und dieſe Kenntniß koſtete ihnen keine Arbeit. Wir werden von Kindheit an erſt durch unſere Erziehung, dann durch unſere Lebensart und Geſchaͤfte von dem Anblicke der Natur abge - halten; und viel alſo von dem, was wir durch unſere eignen Augen lernen koͤnnten, muͤſſen wir erſt von unſern Lehrern und aus Buͤchern erfah - ren. Die Klaſſe von Menſchen, unter welchen esH 5122Verſchiedenheiten in den Werkenfaſt allein Schriftſteller giebt, lebt bey uns be - ſtaͤndig in ihren Haͤuſern eingeſchloſſen; ihre Be - ſchaͤftigungen und ihre Zeitvertreibe ſind groͤßten - theils innerhalb der vier Waͤnde ihres Zimmers. Nur gelegentlich, nur auf Augenblicke werden un - ſere Menſchen in das freye Feld hinausgefuͤhrt. Und dann ſind ſie gemeiniglich ſchon ermuͤdet und zerſtreut, oder ihr Kopf iſt ſchon mit ſo viel klei - nem Eigennutze, mit dem Entwurfe ſo vieler Ver - gnuͤgungen, mit ſo viel ſelbſtgemachten Ideen und Begierden angefuͤllt, die das eingeſchraͤnkte buͤr - gerliche und haͤusliche Leben giebt, daß ſie ſelten mehr lebhaft von dem geruͤhrt werden, was ſie ſehen und hoͤren, wofern es nicht neu und außer - ordentlich iſt, und ihre Aufmerkſamkeit durch ei - nen ſtaͤrkern Reiz an ſich zieht, als der bloß ein - fache Eindruck auf ihre Sinne iſt. Wir beob - achten alſo ſehr wenig ſelbſt. Viele Dinge ge - ſchehen taͤglich vor unſern Augen, oder ſind nur wenig Schritte von uns, die wir doch kaum eher bemerken, als bis wir ſie in Buͤchern gefunden haben. Die Dichter muͤſſen uns erſt ſagen, was123der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. eine ſchoͤne Gegend ſey, und wie die Sonne auf und untergehe. Die Abwechſelung der Jahres, und der Tageszeiten, die verſchiedenen Geſtalten der Natur, die ſichtbaren Eigenſchaften und Ver - aͤnderungen der Pflanzen und Thiere gleiten, ih - rer Gewoͤhnlichkeit und unſrer Zerſtreuung wegen, nur uͤber die Oberflaͤche unſerer Seele weg, und beruͤhren ſie kaum, wenn wir ſie nicht zuvor ſchon durch Beſchreibungen haben kennen lernen. Erſt durch die Kopien werden wir auf die Originale aufmerkſam, weil wir in der Vergleichung zwiſchen beiden eine Beſchaͤftigung finden, die mehr nach unſrer itzigen Denkungsart iſt, als die freye Be - obachtung ſelbſt.

Was die Kenntniß betrifft, die der Menſch nur von Menſchen und durch ſeine Verbindung mit ihnen bekommen kann; ſo ſcheint es zwar, daß unſer itziger Zuſtand uns weit geſellſchaftli - cher gemacht, uns in mannichfaltigere Verhaͤlt - niſſe mit andern Menſchen geſetzt habe, und ſie uns alſo auch von mehrern Seiten kennen lehre. Und das iſt in gewiſſem Verſtande auch wahr. 124Verſchiedenheiten in den WerkenAuf einer andern Seite aber ſind wir in der That mehr von ihnen abgeſondert, als in dem fruͤheſten Zeitpunkte der Geſellſchaft. Itzo kennt jeder Menſch nur einige wenige Menſchen ſeines Stan - des, von ſeiner Denkungsart, von ſeinen Geſin - nungen. Alle uͤbrigen Klaſſen und Staͤnde der Menſchen, ſammt ihren Begriffen und ihren Em - pfindungen bleiben ihm Zeitlebens fremde, wenn er ſie nicht hoͤchſtens aus Buͤchern lernt. Der Um - gang mit andern Menſchen iſt ein Recht geworden, das uns nur gegen die zuſteht, mit welchen wir gleiches Ranges ſind. Wenn wir mit Hoͤhern umgehen wollen, ſo muͤſſen wir uns dieß erſt durch gewiſſe Vorzuͤge, die Aufſehen machen, verdient haben. Jeder entfernt ſich von denen, die unter ihm ſind, und zu denen, die uͤber ihm ſind, darf er ſich nicht nahen. Oder wenn auch zuweilen der Eigennutz der Geringern, oder die Begierde be - luſtigt zu werden bey den Vornehmern, oder end - lich eine edlere, minder eingeſchraͤnkte Denkungs - art auf beiden Seiten dieſe Graͤnzen uͤberſpringt;; ſo bleibt doch der Umgang froſtig, ohne diejenige125der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. Offenherzigkeit und Vertraulichkeit, die uns allein die Kenntniß fremder Herzen gewaͤhren, und uns in dem Umgange mit ihnen eine Quelle zu Beob - achtungen eroͤffnen kann. In den alten Zeiten waren faſt alle Glieder einer Stadt, einer Repu - blik einander bekannt. Die Staaten waren klei - ner. Ihre Buͤrger hatten alle ein gewiſſes gemein - ſchaftliches Intereſſe; Geſchaͤfte, die ſie oft zu - ſammenbrachten; oͤffentliche Zuſammenkuͤnfte, wo ſie ſich durchaus kennen lernten; Feyerlichkeiten, an denen ſie alle Theil nahmen. Die Rechte der verſchiedenen Staͤnde aͤußerten ſich weniger durch eine gegenſeitige Entfernung von einander in dem geſellſchaftlichen Leben, als in einer Unterord - nung bey der Ausfuͤhrung offentlicher Geſchaͤfte. Das Befehlen und Gehorchen war bey denen Ge - legenheiten, wo es eigentlich darauf ankam, die Pflichten ſeines Standes zu erfuͤllen, ſehr ſtrenge. Aber ſobald dieſe Gelegenheiten voruͤber waren, ſo ſtellte ſich eine Art von Gleichheit wieder her. Einen weit groͤßern Unterſchied unter den Men - ſchen macht der Reichthum, als der Rang; und126Verſchiedenheiten in den Werkennur dadurch, daß beide gemeiniglich bey uns ver - einigt zu ſeyn pflegen, iſt die Abſonderung der Staͤnde aufs hoͤchſte geſtiegen. Das Verhaͤltniß, das der Befehlende gegen den Gehorchenden hat, kann er nur unter gewiſſen Umſtaͤnden zeigen, und ſo lange, als die Art von Handlungen vorkoͤmmt, die er anzuordnen verſteht. Hingegen der Unter - ſchied, den der Reichthum macht, iſt beſtaͤndig, und erſtreckt ſich auf alles. Wohnung, Haus - geraͤthe, Kleidung, Aufwand der Tafel, Koſtbar - keit der Ergoͤtzungen, alles, was der Reiche hat und thut, iſt anders als bey dem Armen. Der eine kann alſo ſeine Erhabenheit, und der andre ſeine Niedrigkeit niemals aus den Augen verlieren. Ueberdieß bildet ſich durch die lange Abſon - derung auch endlich ein Unterſchied in dem, was man Anſtand und Sitten nennt, in der Art, ſich zu betragen und auszudruͤcken. So willkuͤhrlich auch dieſe Begriffe bald an die eine, bald an die entgegenge ezke Art etwas zu thun und zu ſagen verknuͤpft werden, ſo ſind ſie doch das erſte, wor - nach wir den Vorzug und die Verdienſte des Men -127der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. ſchen meſſen; und dieß alſo ſezt endlich die vor - her ſchwankende und oft niedergerißne Graͤnze zwiſchen Leuten von Stande und gemeinen Leuten feſt, und hebt alle Moͤglichkeit zur Wiedervereini - gung auf. Beylaͤufig zu ſagen: die Begriffe und die Geſinnungen des gemeinen Mannes ſind bey weitem nicht ſo ſehr von der feinern Welt ihren unterſchieden, als die Verſchiedenheit des Aus - drucks vermuthen laͤßt. Es gehoͤrt aber, auch ſelbſt fuͤr den denkenden Mann, etwas dazu, ſeine eignen Vorſtellungen unter einer niedrigen ihm ungewoͤhnlichen Bezeichnung wieder zu erkennen. Was geſunder Verſtand, natuͤrlicher Scharfſinn, und Witz durch Erfahrung gebildet geben kann, das hat der geringere Theil des menſchlichen Ge - ſchlechts mit dem groͤßern gemein, und oft in ei - nem hoͤhern Grade. Aber die Gewohnheit macht, daß wir dieß alles nicht mehr fuͤr das halten, was es iſt, wenn es uns nicht unter der Geſtalt, auf die Art gewendet, mit den Worten geſagt vor - koͤmmt, wie wir es zu denken gewohnt ſind. Die Vernunft muß ein mehr didaktiſches Anſehen kri[e]-128Verſchiedenheiten in den Werkengen. Manche Beobachtung, die in dem Munde eines gemeinen Tageloͤhners veraͤchtlich iſt, weil ſie ſich nur auf etwas einzelnes und uns gering ſcheinendes beziehet, wuͤrde, von einem Philoſo - phen geſagt, ſobald er ſie mit abſtrakten und zu - gleich edlern Worten ausgedruͤckt, ſie allgemein und vielleicht dadurch unrichtiger gemacht haͤtte, eine Entdeckung ſcheinen. Und doch iſt der Ver - ſtand gerade die Kraft, deren Wirkung noch am wenigſten von dem Werkzeuge abhaͤngt, deſſen ſie ſich bedient. Bey den Ideen der uͤbrigen Faͤhig - keiten koͤnnen wir oft kaum bis auf den Grund kommen. Wir wiſſen immer nicht, iſt es das Wort oder die Sache, die wir jedesmal witzig und artig und groß nennen. Wenigſtens ſind es die Falten des Gewandes, durch die wir den Bau des Koͤrpers beurtheilen. Wenn alſo die Mit - theilung der Ideen das einzige Band der Geſell - ſchaft ſeyn kann, ſobald der Eigennutz ſchweigt und die Beduͤrfniſſe befriedigt ſind; ſo giebt es kein ſolches mehr unter Gliedern einer Nation, die eine ſich fremde Sprache reden, und von einan -129der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. der weder geliebt noch hochgeſchaͤtzt werden koͤn - nen. Dieß alles faͤllt in den erſten Zeiten weg. Erziehung und Sitten, und Kenntniſſe und Spra - che ſind noch unter die verſchiedenen Staͤnde ei - nes Staats gleich ausgetheilt. Nichts iſt durch Verabredung unedel und veraͤchtlich worden. Je - des Ding, jedes Wort, macht noch den Eindruck, den es vermoͤge ſeiner Natur oder ſeiner Bedeu - tung zu machen im Stande iſt; nicht den, wel - chen es bloß von Gelegenheiten und Umſtaͤnden erborgt. Alſo liegt in der That das Gemaͤlde menſchlicher Handlungen und Leidenſchaften dem Beobachter mehr und in einem groͤßern Umfange vor Augen.

Unſere Schauſpiele, unſere Romanen, warum ſind ſie uns izt ſo reizend, oder vielmehr ſo noth - wendig geworden? Zum Theil deswegen, weil ſie uns in die menſchliche Geſellſchaft wieder verſetzen, von der wir gewiſſermaßen ausgeſchloſſen ſind; weil ſie uns Menſchen von allerley Staͤnden, und in weit wichtigern Auftritten ihres Lebens han - delnd und redend zeigen, als wir ſelbſt zu ſehenJ130Verſchiedenheiten in den WerkenGelegenheit haben; weil ſie uns wieder in die Haͤuſer der Großen fuͤhren, zu denen wir keinen Zutritt mehr haben, und uns mit der Vorſtellung ſchmeicheln, daß dort dieſe Großen uns aͤhnlicher und weniger uͤber uns erhaben ſind, als ſie zu ſeyn ſcheinen, wenn wir bloß die Mauern ihrer Palaͤſte anſehen; weil ſie uns in den niedrigſten Klaſſen, zu denen wir uns aus Vorurtheil und Stolz und angewoͤhntem Ekel nicht herablaſſen wollen, eben die Aeußerungen der Natur zeigen, die uns bey uns ſelbſt gefallen: mit einem Wor - te, weil ſie uns das Vergnuͤgen, unter Menſchen und unter Menſchen aller Art zu ſeyn, das wir in der Wirklichkeit verloren haben, in der Erdich - tung wieder verſchaffen; und weil ſie daher zu - gleich den Theil unſerer Kenntniſſe ergaͤnzen, den wir durch Erfahrung nicht mehr einſammeln koͤnnen.

Eben aus dieſer groͤßern Vereinigung der Menſchen folgte eine gewiſſe allgemeinere Be - kanntſchaft mit ihren Verrichtungen, beſonders zu einer Zeit, wo ein Theil der Bequemlichkeiten,131der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. die durch dieſe Arbeiten verſchafft wurden, noch ganz neu, und als ein wichtiges Geſchenk fuͤr die menſchliche Geſellſchaft noch hochgeſchaͤtzt war. Die Kuͤnſte, die Handwerke, die Geſchaͤfte des Ackerbaues, die Arbeiten jedes Standes waren weniger ſchwer zu erlernen, wurden von dem Thei - le, der ſie nicht trieb, noch nicht verachtet, und machten ein Stuͤck der allgemeinen Kenntniß aus, die ſich jeder erwarb, ohne darnach geſtrebt zu haben.

Auf dieſe Art alſo mußte ſich ihr Geiſt mit mannichfaltigen Begriffen anfuͤllen, die ihm in der That weit weniger Bemuͤhung, Nachdenken und Anſtrengung koſteten, als uns unſere viel - leicht eingeſchraͤnktern, aber mehr ergruͤndeten Kenntniſſe. Das Auge und das Ohr kann in ei - ner kurzen Zeit von unendlich viel Sachen unter - richten. Nachdenken und Leſen haͤlt uns lange bey wenig Gegenſtaͤnden auf. Aber freylich zei - gen uns jene auch nur die Erſcheinungen, nur das, was uns zunaͤchſt und der Empfindung offen liegt, nur das Reſultat von dem geheimen SpieleJ 2132Verſchiedenheiten in den Werkender natuͤrlichen Triebfedern; dahingegen uns dieſe zugleich daran gewoͤhnen, den innern Bau der Dinge und die Urſachen von den Begebenheiten zu erforſchen. Wir wiſſen izt vielleicht weniger, wie die Dinge ausſehen, aber wir wiſſen beſſer, was ſie ſind.

Dieſer Unterſchied nun in der Muͤhe oder Leichtigkeit, mit der wir gewiſſe Ideen bekommen, hat ſelbſt auf die Geſtalt dieſer Ideen einen großen Einfluß. Wo eine Muͤhe uͤberwunden werden ſoll, da muͤſſen wir eine Begierde haben, deren Befriedigung der Beſchwerlichkeit der Arbeit werth iſt; da muͤſſen wir uns eine Abſicht vorſetzen, Mittel waͤhlen; uns ſelbſt zur Anwendung unſrer Kraft auffodern; ſie, wenn ſie ermuͤdet, oder ſich von dem Gegenſtande verliert, zuruͤckbringen und feſthalten; ſie in ihren Operationen nach einem Plane leiten; dem natuͤrlichen Fortgange unſrer Vorſtellungen durch einen kuͤnſtlichen entgegen ar - beiten. Alle Begriffe, die auf dieſe Art entſtehen, ſind mehr unſer Werk, als das Werk der Dinge, die wir betrachten. Unſre Regeln, unſre vorher -133der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. geſammleten Begriffe haben immer mehr oder we - niger an dem Eindrucke gekuͤnſtelt, den die Sa - chen auf einen voͤllig noch uneingenommenen Geiſt machen wuͤrden. Selbſt das, was wir fuͤr reine lautere Beobachtung halten, iſt ſchon zum Theil aus unſerm uͤbrigen Gedankenſyſtem gefolgert. Ueberdieß, je mehr wir uns die Hervorbringung und Zuſammenſetzung gewiſſer Gedanken Arbeit koſten laſſen, deſto mehr ſind wir in Gefahr, die naͤchſten unmittelbarſten Verhaͤltniſſe der Begriffe zu uͤberſehen, und dafuͤr entferntere und weit her - geſuchte zu waͤhlen. Die einfaͤltige, nackende, einleuchtende Wahrheit, ſo wie ſie ſich dem bloß ruhigen Zuſchauer der Natur von ſelbſt darbietet, wird von dem zu geſchaͤftig ſuchenden Geiſte uͤber - gangen, und an ihre Stelle ſezt er eine Menge erkuͤnſtelter halb falſcher Saͤtze, denen er erſt durch den Ausdruck wieder einen Schein von Wahrheit und Aehnlichkeit mit der Sache ſelbſt geben muß.

Das, was wir Anſtrengung nennen, beſteht nicht ſowohl in einem gewiſſen Maaße der aufge -J 3134Verſchiedenheiten in den Werkenwendeten Kraft, als in der Muͤhe, dieſelbe von den Gegenſtaͤnden, welche nach den phyſiſchen Geſetzen am ſtaͤrkſten auf unſere Sinne oder auf unſre Einbildungskraft wirken wuͤrden, abzuzie - hen, und ſie auf ſolche zu richten, mit denen wir nach unſrer gegenwaͤrtigen Lage gar nicht oder nur ſchwach beſchaͤftigt ſeyn wuͤrden. Die Ideen koͤnnen bey einem Schauſpiele eben ſo lebhaft ſeyn, als bey einer Meditation. Die Aufmerkſamkeit kann bey dem erſtern ſogar in einem noch hoͤhern Grade angeſtrengt ſeyn. Aber in dem erſtern Falle laſſen wir uns nur beſchaͤftigen; wir ſind leidend; die Objekte bieten ſich von ſelbſt dar; der Fortgang unſrer Vorſtellung iſt vollkommen mit dem Fortgange der Veraͤnderungen analogiſch, die um uns her vorgehen. In dem andern Falle beſchaͤftigen wir uns ſelbſt. Wir ſelbſt muͤſſen die Gegenſtaͤnde in uns erſt hervorbringen, oder ſie unſerm Verſtande gegenwaͤrtig machen; den Eindruck der andern muͤſſen wir dagegen ſchwaͤchen oder bey Seite ſchaffen. Dieſer Streit zwiſchen den Gegenſtaͤnden, die eben izt auf unſre135der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. Sinne wirken, oder die unſre gegenwaͤrtige Ver - faſſung uns ins Gemuͤthe bringt, und zwiſchen denen, die ſich der Verſtand zu betrachten vorge - ſezt hat; dieſer macht eben das Beſchwerliche und Ermuͤdende der Arbeit aus.

Der alte Dichter ſah die Natur, ohne zu wiſ - ſen, daß er dieſe Betrachtung als ſeine Beſtim - mung, oder als das Mittel zu gewiſſen Abſichten zu betrachten haͤtte. Sie malte ſich alſo in ſeiner Seele ab, ohne daß er einen einzigen Pinſelſtrich beygetragen, oder ſie in ihrer Zeichnung geleitet haͤtte. Unſere Dichter, wenn ſie die Natur beob - achten, thun es ſchon immer in der Abſicht, ſie zu ſchildern, ſie wollen ſie gern ſchoͤn ſehen, oder we - nigſtens ſo, wie ſie ſich ſchoͤn ausdruͤcken laͤßt; und dadurch wird das Gemaͤlde ein Gemiſche von wahren Eindruͤcken, von bloß eingebildeten Zuͤgen ihrer Einbildungskraft, und von abſtrakten Be - griffen, die ſie durch Unterricht und Ueberlieferung bekommen haben.

Alſo ſchon der Weg, die Sachen ſelbſt ken - nen zu lernen, welche den Stoff der Dichter aus -J 4136Verſchiedenheiten in den Werkenmachen, war bey den Alten und Neuen nicht der - ſelbe. Die Sinne unterrichten den Verſtand mehr bey den erſten, und der Verſtand die Sinne mehr bey den andern. Aber um das, was jeder von Begriffen ſich geſammlet hat, mitzutheilen, dazu gehoͤren auch noch Bewegungsgruͤnde, und die ſind wieder bey beiden verſchieden.

In der Kindheit des Menſchen und der menſchlichen Geſellſchaft kannte man die Lange - weile nicht; man fuͤhlte keine Beduͤrfniſſe, ſich durch ſeinen Witz Zeitvertreibe zu verſchaffen. Bey allen den Menſchen, deren Arbeit in Be - wegung beſteht, iſt Ruhe eine hinlaͤngliche Erho - lung. Erſt alsdann, da es Beſchaͤftigungen im Kabinete gab, bey denen der Geiſt ſich erſchoͤpfte und der Koͤrper nicht ermuͤdete, brauchte man Er - holungen, die nicht in dem Aufhoͤren der Beſchaͤf - tigung, ſondern in ihrer Abwechſelung beſtunden; ſolche, wo nur an die Stelle von der Anwendung der einen Faͤhigkeit die Anwendung einer andern, an die Stelle von Vorſtellungen des Verſtandes und des Nachdenkens ſinnliche und imaginative137der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. Eindruͤcke geſezt wurden. Dazu waren nun an - fangs alle die Sachen gut genug, die heftig und lebhaft die Sinne ruͤhrten. Nach und nach woll - te man nicht ſo ſtarke, aber mannichfaltigere, mehr abwechſelnde Eindruͤcke haben, ſolche, bey denen ſich noch uͤberdieß Ideen von Richtigkeit und Schoͤnheit antreffen ließen. Der Witz und die Einbildungskraft wurden zu den Regierern dieſer Vergnuͤgungen beſtimmt. Nach einer Menge von Revolutionen in den Dingen, welche die Men - ſchen zu ihren Ergoͤtzungen beſtimmten, iſt das Beduͤrfniß zu leſen an die Stelle vieler andern ge - kommen. Dieſes Beduͤrfniß zu befriedigen, ſezt ſich der Schriftſteller, und am meiſten der Dich - ter, vor. Natuͤrlicherweiſe muß er ſich alſo in dem, was er unternimmt, nach der Natur des Beduͤrfniſſes richten, fuͤr welches er arbeitet. In der That werden bey uns die Dichter ſelten an - ders als zum Vergnuͤgen geleſen, und der Dichter ſelbſt kann ſich ſchwerlich einen andern Endzweck vorſetzen. Iſt er durch das Vergnuͤgen zugleich nuͤzlich, floͤßt er den Leſern, deren Zeit er verkuͤrzt,J 5138Verſchiedenheiten in den Werkenzugleich eine Anzahl nuͤzlicher Wahrheiten und tu - gendhafter Geſinnungen ein: vortreflich! wir wiſſen ihm dafuͤr Dank, unſerer Erholung ſo viel Werth in unſern eignen Augen gegeben zu haben; und im Grunde wuͤrde es ihm auch ohne ir - gend einen Einfluß des Nutzens auf unſern Geiſt nicht einmal gelungen ſeyn, den Einfluß zu erhal - ten, uns Vergnuͤgen zu machen. Aber bey dem allen wird er es doch nicht dahin bringen, daß wir uns aus der Leſung der Dichter, (wenn wir aus den Jahren der Erziehung heraus, und nicht ſelbſt Dichter oder Kunſtrichter ſind) eine eigentliche Ar - beit, eine Beſchaͤftigung machten.

Noch eine andere große Verſchiedenheit in den Werken der Schriftſteller liegt in dem Unterſchiede ihrer Sprache. Oder vielmehr, wenn man bey den Werken einzelner Schriftſteller das, was ih - nen, und das, was ihrer Zeit zugehoͤrt, zu leicht vermiſchen kann; ſo kann man hingegen aus der Vergleichung der Sprachen ſicherer die Verſchie - denheiten lernen, durch welche die ganzen Natio - nen und die ganzen Zeitalter ſich charakteriſiren. 139der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. Die Sprachen ſind fuͤr den einzelnen Menſchen, der durch die Geburt in eine ſchon civiliſirte Ge - ſellſchaft eintritt, eben ſo viel ſchon zubereitete Formen, nach welchen er ſeine Begriffe zu model - liren genoͤthigt iſt, oder unter welchen ſie ihm al - lein bekannt werden. Und da der Verſtand die Woͤrter braucht, nicht bloß andern zu ſagen, was er denkt, ſondern es ſich auch erſt ſelbſt deut - lich vorzuſtellen; da die Sprache nicht bloß das Werkzeug der Mittheilung, ſondern auch der Bildung der Gedanken iſt: ſo muß der Geiſt, der in den Werken jeder Nation herrſcht, eben ſo verſchieden ſeyn, als das Naturell ihrer Sprache.

Wenn wir die aͤlteſte griechiſche Sprache mit der unſrigen vergleichen, ſo finden wir, erſtlich, was natuͤrlicherweiſe bey Menſchen ſeyn mußte, die beſtaͤndig unter dem Anblicke der Natur leb - ten, und ſie alſo uͤberhaupt genommen beſſer kann - ten, als unſere immer eingeſchloßne Menſchen; wir finden, ſage ich, die Sprache, in Abſicht der natuͤrlichen Dinge und ihrer ſichtbaren Veraͤnde -140Verſchiedenheiten in den Werkenrungen, reicher als die unſrige. Sie hatte fuͤr Pflanzen, fuͤr Thiere, fuͤr die gewoͤhnlichſten Er - ſcheinungen und Handlungen derſelben, und fuͤr die Arbeiten, die der Menſch mit ihnen vornimmt, mehr Namen der allgemeinen Sprache, die be - kannt, und an Wuͤrde und Deutlichkeit allen an - dern Woͤrtern der Sprache gleich waren. Unſere Sprache iſt an ſolchen Woͤrtern arm. Nicht als ob die Perſonen, die mit jedem dieſer Dinge als mit ihrem Geſchaͤfte umgehen, ſie nicht auch zu benennen wuͤßten. Aber dieſe Namen ſind nur bloß den Leuten dieſes Standes und dieſer Be - ſchaͤftigung bekannt. Eben deswegen wechſeln ſie auch von Provinz zu Provinz, von Stadt zu Stadt ab. Was von den wenigſten gekannt wird, das wird auch keinen allgemeinen feſtgeſez - ten Namen haben, oder dieſer Name wird unter dem beſondern Beynamen jedes Orts bald verlo - ren ſeyn. Wenn einmal die Sache aus der Zahl derjenigen weggeſchafft iſt, die ſich alle Glieder einer Nation mitzutheilen haben, ſo braucht es auch kein Zeichen mehr, woran alle das Ding er -141der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. kennen. Woͤrter haben wir alſo wohl fuͤr alle dieſe Dinge, aber nur nicht bekannte, nicht edle Woͤrter.

Lieſt man den Homer da, wo er Gegenſtaͤnde fuͤrs Geſicht und beſonders Bewegungen vor - ſchreibt, ſo wird man gewahr, daß er fuͤr jede kleine Abaͤnderung in der Geſtalt der Sache ein beſondres Wort hat, fuͤr die wir nur ein gemein - ſchaftliches, oder Umſchreibungen haben. Er kann den Verfolg einer ſinnlichen Veraͤnderung, die Abwechſelung, die die Bewegung der Koͤrper in ihrem Anblicke hervorbringt, in ihrer vollſtaͤn - digen Folge auf einander vorſtellen. Waͤren uns eben die Sachen zu beſchreiben gegeben wor - den, ſo wuͤrde uns unſre itzige Denkungsart und das Naturell unſrer Sprache darauf gefuͤhrt ha - ben, nur einen einzigen Umſtand, den wir fuͤr den hauptſaͤchlichſten gehalten haͤtten, herauszuheben. Wir haͤtten der Einbildungskraft unſrer Leſer nur auf die Spur helfen koͤnnen. Homer zeichnet ihr die Sache vollſtaͤndig vor.

142Verſchiedenheiten in den Werken

Man ſehe z. B. die Beſchreibung eines Sturms beym Homer Iliade IV B. v. 421.

Ὡς δ᾽ ὁτ᾽ ἐν αἰγιαλῷ πολυηχέτ κῦμα ϑα - λάσσης Ὀρνυτ᾽ ἐπασσύτερον Ζεφύρου ὑποκινήσαντος Πόντῳ μὲν τὰ πρῶτα κορύσσεται αὐτὰρ ἔπειτα Χέρσῳ ῥηγνύμενον μεγάλα βρέμει, ἀμφὶ δὲ τ᾽ ἄκρας Κυρτὸν ἐὸν κορυφοῦται, ἀποπτύει δ᾽ ἁλὸς ἄχνην.

Man vergleiche ſie nur mit der Ueberſetzung des Pope, oder mit der Beſchreibung eines ſpaͤtern Dichters, und man wird den Vorzug der homeri - ſchen Sprache im Ausdrucke ſichtbarer Erſchei - nungen gewahr werden. Zuerſt giebt er die Sache, die er malen will, nur uͤberhaupt an, κῦμα ὄρνυτ῍; aber er ſezt ein Beywort hinzu, ἐπασσύτερον, das der Imagination ſchon ein ſehr zuſammengeſeztes Bild giebt. Es zeigt das Draͤngen einer Welle gegen die andere an, die Schnelligkeit, mit der auf jede heranrollende und143der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. ſich zerſchlagende Welle eine zweyte und eine dritte folgt, die das Auge beynahe mit der erſten ver - miſcht. Pope druͤckt dieß einzige Wort durch zwo Zeilen aus:

The billows float in order to the ſhore The wave behind rolls on the wave before.

Das Wort ὑποκινήσαντος zeigt nicht bloß, wie das Engliſche the Winds move the Seas, die Bewe - gung an, ſondern es beſtimmt auch die Art der Bewegung; es iſt ein innerer Aufruhr, der das Waſſer von der Tiefe in die Hoͤhe treibt. Pope ſcheint dieß durch einen andern Vers ausgedruͤckt zu haben:

Till with the growing ſtorms the deeps ariſe.

Bis ſo weit hat Pope den Homer zwar umſchrie - ben, aber doch ausgedruͤckt; aber wo dieſer die Beſchreibung der auf einander folgenden Ge - ſtalten des ſtuͤrmiſchen Meeres anfaͤngt, da ver - laͤßt ihn ſein Ueberſetzer gaͤnzlich. Eine allge - meine Redensart gilt fuͤr eine Menge beſtimmter und maleriſcher. Erſtlich wird das Meer nur noch leicht bewegt, es ruͤſtet ſich, κορύσσεται, noch144Verſchiedenheiten in den Werkeniſt die Bewegung mitten im Meere, die Wellen zer - ſchlagen ſich gegen einander, keine reicht bis ans Ufer. Aber der Sturm waͤchſt, die Wellen werden groͤßer, eine treibt die andre fort, die lezte bricht ſich ſchon mit großem Geraͤuſch am Lande, Χέρσῳ ῥηγνύμενον. Der Sturm erreicht ſeine groͤß - te Hoͤhe, die Wellen thuͤrmen ſich bey den Vorge - birgen, wo ſie weniger Raum haben, ſich auszu - breiten, kruͤmmen ſich in ihrer groͤßten Erhebung, κυρτὸν ἐὸν κορυϕοῦται, werfen an ihrer Spitze ei - nen weißen Schaum aus, und ſtuͤrzen wieder zu - ruͤck. Dieſe auf einander folgenden Erſcheinun - gen wird ſchwerlich irgend eine neuere Sprache mit gleicher Genauigkeit und Kuͤrze ausdruͤcken koͤnnen.

So werden wir in den meiſten Beſchreibun - gen Homers immer den Anblick, den die Sache ge - waͤhrt, die Art und Weiſe, wie ſie ſich dem Auge darſtellt, genau angegeben finden. Wenn wir bloß ſagen: er hat ihn mit ſeinem Schwerte durch - bohrt; ſo ſagt er:

145der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
δὲ διὰ πρὸ Ἀντικρὺ κατὰ κύςιν ὑπ᾽ ὀςέων ἤλυϑ᾽ ἀκωκὴ.

διὰ, der Spieß gieng durch; πρὸ, er kam vorne wieder hervor; ἀντικρὺ, die Spitze war auf der entgegenſtehenden Seite von der, wo er ſie einge - ſtoßen hatte.

Wenn er das Schwaͤrmen der Bienen be - ſchreibt, ſo zeigt er uns alles, was das Auge da - bey vorzuͤglich ruͤhrt: erſt das unaufhoͤrliche Her - vorkommen eines Schwarms nach dem andern aus dem Stocke; dann die zuſammengedraͤngten Truppe, die nur Einen Koͤrper auszumachen ſchei - nen; dann die Zertheilung und die mannichfalti - gen Richtungen dieſer Haufen.

Ἠΰτε ἔϑνεα εἶσι μελισσάων ἀδινάων Πέτρης ἐκ γλαφυρῆς ἀεὶ νέον ἐρχομενάων Βοτρυδὸν δὲ πέτονται ἐπ᾽ ἄνϑεσιν εἰαρινοῖσιν Ἁι μὲν τ᾽ ἔνϑα ἅλις πεποτήαται ἁι δέ τε ἔνϑα.

Hingegen ſind wir in Namen abſtrakter Be - griffe und in Ausdruͤcken fuͤr die Verhaͤltniſſe der - ſelben reicher. Wir haben erſtlich weit mehr Ab -K146Verſchiedenheiten in den Werkenſtrakta gemacht, mehr Kraͤfte der Dinge, mehrere ihrer gemeinſchaftlichen Eigenſchaften, mehrere Beziehungen derſelben auf einander wahrgenom - men, und alſo auch benannt. Beſonders haben wir in den Faͤhigkeiten und Operationen des Gei - ſtes eine Menge Unterſchiede durch eigne Woͤrter kenntlich gemacht, die bey den Alten ſich unter ei - nem gemeinſchaftlichen Namen vermiſchten. Ue - berdieß haben wir Woͤrter, die dieſe abſtrakten Begriffe geradezu ausdruͤcken; die den Verſtand unmittelbar darauf fuͤhren, und ohne erſt den Um - weg durch ein gewiſſes Bild zu nehmen, aus dem jeder ſich den hieher gehoͤrigen Theil ſelbſt ausſu - chen muß. Es ſind zwar in allen Sprachen die Woͤrter fuͤr die Dinge aus der unſichtbaren und geiſtigen Welt ihrem Urſprunge nach Metaphern. Aber dieſer Urſprung iſt bey uns vergeſſen, die Metapher wird nicht mehr bemerkt. Bey den Alten war eben dieſe Metapher das einzige Mit - tel, ſich den Begriff entweder ſelbſt zu formiren, oder ihn andern verſtaͤndlich zu machen. Die Etymologie erhaͤlt bey uns noch die Denkmaͤler147der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. dieſes Ueberganges von den ſichtbaren Gegenſtaͤn - den zu den abſtrakten. Aber der Sprachgebrauch laͤßt uns nicht mehr an die erſten gedenken. Urſpruͤnglich konnte man ſich den Begriff eines Worts anders nicht aufklaͤren, als indem man entweder das Ding ſelbſt, oder ſonſt etwas zeigte, das dem Dinge aͤhnlich war. Im leztern Falle mußten die Vergleichungsſtuͤcke, die die Merkmale des Begriffs ausmachten, nothwendig nach der verſchiedenen Faͤhigkeit oder Aufmerkſamkeit deſſen, der die Vergleichung anſtellte, verſchieden ſeyn; und der Begriff war daher ſchwankend, und wurde auf ſehr ungleichartige Gegenſtaͤnde angewandt. Izt kommen wir freylich ebenfalls zulezt zu die - ſem einzigen Huͤlfsmittel; aber nur erſt nach ei - nem laͤngern Umwege. Wir erhalten die Idee eines abſtrakten Wortes, indem wir es in eine ganze Menge anderer verwandeln, die concreter und von den ſinnlichen Begriffen ſo zu ſagen we - niger entfernt ſind. So loͤſen wir immerfort Woͤrter in Redensarten auf, bis wir endlich auf ſolche kommen, die nicht anders, als durch dieK 2148Verſchiedenheiten in den WerkenGegenwart des Objekts oder durch eine Metapher klar werden koͤnnen; dieſe Verwandlung heißen wir Erklaͤren. Wir werden alſo den Urſprung unſrer abſtrakten Ideen aus den ſinnlichen weni - ger gewahr, weil wir erſt nach einer Succeßion von andern abſtrakten Ideen darauf zuruͤckkom - men, und gemeiniglich dieſe Kette nicht bis ſo weit fortfuͤhren. In der aͤlteſten Sprache war dieſer Urſprung gleich unmittelbar bey jedem Worte ſichtbar. Ein Bild fuͤr das Auge oder Ohr war das naͤchſte Glied, an welches der allgemeine Be - griff geknuͤpft war.

Drittens. Die aͤlteſte Sprache iſt maleri - ſcher, als die unſrige; maleriſcher in einer doppel - ten Bedeutung. Erſtlich: weil ſie noch weniger zuſammengeſezte Ideen ausdruͤckte, ſo hatte ſie auch noch weniger abgeleitete, und mehr Stamm - woͤrter; dieſe Stammwoͤrter, je naͤher ſie ihrem Urſprunge ſind, je weniger ſie noch an den erſten Toͤnen geaͤndert haben, die die Menſchen bey Er - blickung eines gewiſſen Gegenſtandes ausſtießen, und die ſie nachher brauchten, um ihn andern149der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. wieder eingedenk zu machen, deſto mehr kommen ſie mit der Sache ſelbſt im Tone oder Accent uͤber - ein. Das Malen der Gegenſtaͤnde fuͤrs Ohr iſt bey einer ſolchen Sprache weniger die Abſicht des Dichters und das Werk ſeiner Kunſt, als eine natuͤrliche Wirkung der Woͤrter und Ausdruͤcke, welche die einzigen waren, die er waͤhlen konnte. Zweytens: Jedes Wort, das den ſinnlichen An - blick der Sache unmittelbar in der Einbildungs - kraft rege macht, und zu deſſen Bezeichnung nur ganz allein beſtimmt iſt, malt die Sache, in ſofern die Erweckung des Bildes in der Imagination die erſte und einzige Wirkung iſt, die es thut. Es giebt in jeder Sprache Woͤrter, die von einer Sache oder Handlung gerade nur den ſinnlichſten Theil ausdruͤcken, und denſelben ſo geradezu, ſo ohne allen Nebenbegriff vorſtellen, daß man an nichts, als an dieſen ſinnlichen Anblick der Sache, denken kann. Andere hingegen druͤcken mehr eine innere Beſchaffenheit und Einrichtung des Din - ges aus, oder ſtellen es zugleich mit gewiſſen Ne - benzuͤgen vor, die den Eindruck des bloß ſinnli -K 3150Verſchiedenheiten in den Werkenchen Bildes ſchwaͤchen, und die Idee mehr intel - lectuell machen. Starr anſehen und begaffen, etwas befuͤhlen und betaſten, ſagt einerley; aber das erſte druͤckt mehr die Handlung, und das an - dere mehr die koͤrperliche Bewegung aus, die da - bey vorgeht. Die alten Sprachen hatten einen Ueberfluß von der erſten Gattung von Woͤrtern und Redensarten. Die unſrigen haben auch noch einige; aber faſt die meiſten derſelben ſind in dem Munde des Poͤbels. Es giebt bey uns eine Menge ſolcher niedrig gewordner Ausdruͤcke, die kein Mann von guter Lebensart, und noch we - niger ein Schriftſteller brauchen darf, und die doch die Sache weit ſinnlicher bezeichnen, ſie ſo zu ſa - gen weit mehr vor Augen ſtellen, als die edlern Ausdruͤcke.

Von allen dieſen Verſchiedenheiten nun in den Sachen, welche gekannt wurden, in der Me - thode ſie zu erlernen, in den Werkzeugen ſie aus - zudruͤcken, was mußten davon die Folgen in Ab - ſicht der Werke ſelbſt ſeyn, die das Genie aus die -151der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. ſem Stoffe und in einer ſolchen Sprache hervor - brachte?

Erſtlich muß in den alten Schriftſtellern nothwendig mehr Originelles ſeyn. Wir nennen original, was ſeine naͤchſte und unmittelbare Ur - ſache in dem Dinge ſelbſt hat, an welchem es er - ſcheint. Diejenigen Gedanken ſind original, die dem Menſchen der ſie hat, ganz eigen, aus der individuellen Natur ſeines Geiſtes und ſeiner Verfaſſung entſprungen ſind, und die eben des - wegen von keinem andern eben ſo gedacht werden koͤnnen.

Jeder Menſch hat ſeine eigenthuͤmliche Form des Geiſtes, ſo wie ſeine Geſtalt. Er iſt anders or - ganiſirt, als die uͤbrigen; die Gegenſtaͤnde bringen in ſeinen Werkzeugen durch dieſelbige Einwirkung doch andere Bewegungen hervor, und malen ſich in ſeiner Seele mit andern Schattirungen ab. Er hat eine andere Anlage ſeiner Faͤhigkeiten, und richtet alſo ſeine groͤßte Aufmerkſamkeit auf andre Gegenſtaͤnde, oder auf andere Theile derſelben. Die Reihe der Dinge ſelbſt, die er ſicht, und dieK 4152Verſchiedenheiten in den WerkenOrdnung, in welcher er ſieht, iſt verſchieden; und ſeine neuen Erfahrungen finden alſo bey ihm eine andere Grundlage vorher eingeſammleter Begriffe, als bey jedem andern. Er hat andere Veran - laſſungen, ſich an ſeine gemachten Erfahrungen zu erinnern. Alſo bleiben bey ihm gewiſſe Ideen haften, die den uͤbrigen entwiſchen, weil gerade nur er den Anſtoß gehabt hat, ſie ſo oft, als noͤ - thig war, zu erneuern. Dafuͤr werden andere ihm dunkel, auf die ihn ſeine Umſtaͤnde nicht oft genug wieder zuruͤckgefuͤhrt haben. Er hat andre Neigungen, und daher auch die andre Beduͤrfniß, die Sachen kennen zu lernen. Er hat endlich an - dere Beyſpiele vor ſich, und hat ſeine einzelnen Begriffe auf eine andre Art zuſammengeſezt. In allen denen Ideen, die der Geiſt aus ſolchen Ope - rationen ſelbſt hervorbringt, die er aus ſeinen eignen Erfahrungen, durch ſeine eigne Art von Ab - ſtraktion ſchoͤpft, muß jeder Menſch etwas Eigen - thuͤmliches, oder mit einem andern Worte etwas Originelles haben. Wir geben aber den Gedan - ken deſſelben dieſen Namen nur alsdann, wenn153der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. die Unterſchiede merklicher, und die Gedanken ſelbſt von Wichtigkeit ſind.

Alſo nur in denjenigen Begriffen eigentlich kaun es eine vollkommene Uebereinſtimmung un - ter mehrern Menſchen geben, die ſie ſich einander ſchon unter einer abſtrakten Form mit Woͤrtern ausgedruͤckt, uͤberliefert haben. Dieſe Woͤrter und Ausdruͤcke ſind in unſrer itzigen Welt fuͤr die Beduͤrfniſſe und die Guͤter des Geiſtes, das heißt fuͤr die Ideen, ungefaͤhr eben das geworden, was das Geld in Abſicht der aͤußern Guͤter und Be - duͤrfniſſe iſt; eine Art von conventionellen Zeichen, die man im geſellſchaftlichen Verkehr an die Stelle der Sache ſelbſt ſezt, giebt und empfaͤngt, nicht weil ſie ſelbſt das ſind, was man begehrt oder mittheilen will, ſondern weil man vorausſezt, daß jeder ſich bey Gelegenheit den wirklichen Werth des Dinges, den ſie vorſtellen, dafuͤr eintauſchen koͤnne. Dieſe Woͤrter ruhen eben ſo oft unge - braucht in dem Gedaͤchtniſſe des Gelehrten, als das Geld im Kaſten des Reichen, und befriedigen ihre Beſitzer nur mit der bloßen Moͤglichkeit, ſichK 5154Verſchiedenheiten in den Werkendie Vorſtellungen oder die Vergnuͤgungen zu ver - ſchaffen, deren Symbole ſie ſind. Mit beiden laſſen wir unſere Kinder lange vor der Zeit ſpie - len, ehe ſie begreifen koͤnnen, wozu das eine an - gewendet werden koͤnne, und was die andern be - deuten.

Naͤmlich eine ſolche allgemeine Idee, die je - mand aus ſeinen eignen Beobachtungen noch nicht gefunden hat, muß, wenn ſie bey ihm eine wirk - liche Idee werden ſoll, erſt mit den Erfahrungen zuſammengehalten, und aus denſelben ſo zu ſagen aufgeklaͤrt und beſtaͤtigt werden. Sie iſt als - dann eine Art von Wegweiſerinn, die ihm bey dem vorkommenden Falle anzeigt, worauf er zu ſehen habe: und wenn er nun das Ding oder die Seite deſſelben auffindet, von welchem andre zu - erſt dieſen Begriff genommen haben; wenn er un - ter den Factis, die ihm vorkommen, das Muſter entdeckt, wovon die Wahrheit, die er zuvor den Worten nach gefaßt hatte, der Ausdruck ſeyn ſoll; dann iſt es erſt wahrhaftig ſein Begriff, und ſein Verſtand weiß, was die Worte ſagen wollen. 155der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. Aber die nach dieſer Methode aufgeklaͤrte Vor - ſtellung hat weit weniger die unterſcheidende Form ſeines Geiſtes, weil der Verſtand dabey weniger frey zu Werke gegangen, weil die Aufmerkſamkeit ſchon immer von der vorhergefaßten woͤrtlichen Idee geleitet worden, weil die Arbeit des Geiſtes mehr darauf gerichtet geweſen iſt, die Dinge ſo anzuſehen, ſie ſich ſo vorzuſtellen, wie es mit der Beobachtung und der Meynung der uͤbrigen uͤber - einſtimmte, als die Sache in ihrem ganzen Um - fange und nach der ſaͤmmtlichen Summe der Ein - druͤcke, die ſie auf ihn zu machen faͤhig war, ken - nen zu lernen.

Nun iſt klar, daß in dem aͤlteſten Zuſtande der Ideen mehr als izt geweſen ſeyn muͤſſen, die jeder Menſch fuͤr ſich aus ſeinen eignen Empfin - dungen, ſo gut er konnte, herleitete; und daß hingegen in dem unſrigen die uͤberlieferten und mit gewiſſen Woͤrtern bezeichneten Ideen die Oberhand haben, ſolche, die nur umgetauſcht, nicht von dem Geiſte ſelbſt hervorgebracht und gepraͤgt werden. In jenem erwuchs der Menſch156Verſchiedenheiten in den Werkenohne viel Unterricht. Aber deſto mehr Gelegen - heit, Muße und Auffoderung hatte er, ſeine Sinne zu brauchen. Was hernach ſein Verſtand mit den dergeſtalt geſammleten Ideen anfangen ſollte, das hieng noch weit weniger von der Leitung und dem Beyſpiele anderer, als von dem natuͤrlichen Hange und den freywilligen Bewegungen eines jeden ab. Was jeder von der Natur oder vom Menſchen kannte, das hatte er ſelbſt an ihr geſe - hen. So oft er davon redete, ſo ſtund vor ſei - ner Einbildungskraft wieder die Perſon, der Vor - fall, die Begebenheit, an der er zuerſt dieſe Be - ſchaffenheit oder dieſes Verhaͤltniß wahrgenom - men hatte. Bey ihnen hatte, nach des Prota - goras Syſtem, noch jeder Menſch ſeine eigene Wahrheit. Bey uns hingegen koͤmmt der Un - terricht den Sinnen lange zuvor. Wie viel Na - men ſind nicht in dem Munde unſrer Kinder und Erwachſenen, ehe ſie die Objekte geſehen haben, und die ſie zum Theil niemals recht ſehen. Wie viel Ausdruͤcke von Eigenſchaften und Verhaͤlt - niſſen der ſichtbaren und moraliſchen Welt brau -157der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. chen wir nicht, ehe wir jemals durch unſre eigne Umſtaͤnde ſind veranlaßt worden, dieſe Verhaͤlt - niſſe kennen zu lernen, und ehe uns die Verknuͤ - pfungen der Dinge vorgekommen ſind, bey wel - chen allein dieſelben ſich haben entdecken laſſen. Wie viel allgemeine Saͤtze und Sentenzen, und Regeln und Sittenſpruͤche koͤnnen wir nicht ſchon auswendig, ehe wir noch den kleinſten Theil der vorlaͤufigen Ideen haben, an deren Kette jene erſt das lezte Glied ſeyn ſollten. Unſere Ammen und unſere Lehrmeiſter bringen uns eine Menge ſolcher praͤſumtiver Kenntniſſe durch Woͤrter und Formeln bey, von denen wir vor der Hand nur ſo viel wiſſen, daß etwas dabey gedacht werden ſoll, und von andern gedacht worden iſt, die wir aber erſt hinterdrein, und oft ſehr ſpaͤt, mit wahren Gedanken ausfuͤllen koͤnnen. Wir hoͤren und re - den ſchon viel von menſchlichen Handlungen und Tugenden und Fehlern, ehe wir noch einen Men - ſchen mit Aufmerkſamkeit haben handeln geſehen. Je mehr alſo die natuͤrliche Ordnung unſrer Auf - klaͤrung umgekehrt wird, je mehr woͤrtliche ab -158Verſchiedenheiten in den Werkenſtrakte Ideen vor den ſinnlichen und Erfahrungs - ideen vorhergehen, je mehr der Beobachtungsgeiſt dem Syſtem nachfolgt, und daſſelbe nur zu beſtaͤ - tigen ſucht, deſto mehr Gleichheit unter den Be - griffen mehrerer, die izt bloß den gemeinſchaftli - chen Theil ihrer Faͤhigkeiten und nach einerley Vorſchrift geuͤbt, und den eigenthuͤmlichen ver - nachlaͤßigt haben; deſto weniger Originelles alſo.

Und ſo finden wirs auch in der That, wenn wir die Werke der Alten und Neuern anſehen. Muß es nicht einen etwas denkenden Menſchen wundern, wenn er hoͤrt, daß alle die vornehm - ſten Gattungen der Dichtkunſt, die, welche noch bis auf den heutigen Tag den ganzen Umfang menſchlicher Werke in dieſer Art zu umfaſſen ſchei - nen, gerade zu der Zeit ſind erfunden und feſtge - ſezt worden, da man am wenigſten uͤber die Na - tur dieſer Gattungen, und uͤber die Verſchieden - heiten, deren dieſelben faͤhig waͤren, nachdenken konnte? Iſt es nicht augenſcheinlich, daß dieſe verſchiedene Dichtungsarten nur ſo viel verſchie -159der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. dene Geſtalten waren, die die Begriffe in dem Kopfe der erſten Schriftſteller annahmen? Daß die Klaſſifikation derſelben, die wir izt als noth - wendig anſehen, zum Theil von dem zufaͤlligen Umſtande abhieng, daß gerade ſolche und ſolche Genies die erſten waren, die die Aufmerkſamkeit der Nationen auf ſich zogen? Der erſte poetiſche Erzaͤhler alter Geſchichte, und der, welcher in der Ode die Empfindungen bloß aus den Thatſachen herauszog, und dieſe als eine Art groͤbern Stoffs liegen ließ, und der, welcher die Begebenheiten vor den Augen ſeiner Zuſchauer vorgehen ließ: waren das Leute, welche bemerkt hatten, wie vie - lerley Formen die Vorſtellung einerley Sachen an - nehmen koͤnnte? Oder geriethen ſie nicht vielmehr darauf, weil ſie nach keinem Muſter gebildet, ſich bloß den Bewegungen ihres eignen Geiſtes uͤber - ließen, und alſo durch die groͤßre Leichtigkeit, die ſie fanden, ſich die Sachen auf die eine als auf die andre Art vorzuſtellen, getrieben wurden, dieſe zu waͤhlen? Sobald aber die erſten Schriftſteller einen Grad von Anſehen und Ruf erhalten hat -160Verſchiedenheiten in den Werkenten, ſo wurde nunmehr die natuͤrliche Wirkſam - keit der nachfolgenden geſtoͤrt. Jedermann war auf dieſe Werke aufmerkſam, und machte ſich mit denſelben bekannt. Eine neue Laufbahn zur Ehre und zur Achtung war geoͤffnet. Am Ende derſel - ben ſah man dieſe Maͤnner angelangt. Jeder - mann ſezte ſich alſo nunmehr in Bewegung; nicht mehr dahin, wohin er ſelbſt natuͤrlicherweiſe ohne Wegweiſer gegangen ſeyn wuͤrde, ſondern dahin, wo er ſahe, daß andre vor ihm gluͤcklich geweſen waren. Endlich kam die Philoſophie, die immer Gruͤnde findet, warum das Ding, das auf die eine Art geſchehen iſt, nur auf dieſe einzige Art geſchehen konnte, theilte die Dichtkunſt 2 priori in ſo viel Klaſſen, als der Zufall und die Natur der erſten Dichter verſchiedene Werke hervorge - bracht hatten, und ſchraͤnkte nun vollends die Freyheit der folgenden Schriftſteller durch den Schein von Vollſtaͤndigkeit ein, den ſie dieſer Klaſ - ſification gab.

So haben bey allen Arten der Erfindungen die beſondern Umſtaͤnde, die Talente und der Ge -161der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. ſchmack der erſten Perſon, die durch dieſelbe be - kannt worden iſt, entſchieden, nach welchen Re - geln alle kuͤnftige arbeiten ſollten. Die erſte Ent - deckung eines neuen Werks zum Nutzen oder zur Bequemlichkeit der Geſellſchaft, iſt ein Werk des Zufalls, das heißt, eines Zuſammenfluſſes von Urſachen, die wir nicht aus einander ſetzen koͤn - nen. Sobald der Menſch die Fruͤchte derſelben genießt, ſo giebt ihm ſeine Traͤgheit ſo viel An - haͤnglichkeit an die Form, unter welcher er die Sache zuerſt geſehen hat, daß nun gar nicht mehr davon die Rede iſt, ob nicht vielleicht, wenn noch nichts erfunden waͤre, ſein eigner Verſtand ihn auf einem andern Wege zu demſelben Ziele wuͤrde gefuͤhrt haben. Eine zweyte Erfindung koſtet oft mehr als die erſte, weil man, außer der Schwierigkeit der Unternehmung ſelbſt, noch zugleich den Hang der Nachahmung uͤberwinden muß.

In der That iſt es wohl begreiflich, daß die Empfindungen des Menſchen in Verſen oder in Proſe ſich auf nicht mehr als vier oder fuͤnferleyL162Verſchiedenheiten in den WerkenArten ſollten mittheilen laſſen; daß es entweder eine Erzaͤhlung mit Goͤtter - und Heldengeſchich - ten und Wundern und Erſcheinungen; oder eine dialogiſche Vorſtellung, und zwar dieſe, wenn ſie traurig iſt, zwiſchen Koͤnigen und Fuͤrſten, und wenn ſie luſtig iſt, zwiſchen Buͤrgern und Bedien - ten; oder daß es ein Geſang, und in dieſem als - dann nur Empfindungen mit Enthuſiaſmus und Unordnung; oder daß es endlich eine Fabel ſeyn muͤſſe, wenn etwas ein Gedicht ſeyn ſoll? Man ſtelle ſich einmal vor, unſer Klima waͤre zuerſt bevoͤlkert, unſere Nation zuerſt civiliſirt, unſere Sprache zuerſt ausgebildet worden; unſere Reli - gion, unſere Geſchichte, unſer Naturkenntniſſe, unſre Regierungsformen waͤren die aͤlteſten gewe - ſen. Haͤtte ſich wohl auch ein einziges Stuͤck der alten Dichtkunſt ſo vorſtellen laſſen, wie es izt iſt? Haͤtte wohl irgend ein Menſch an Epopeen und Oden und Schauſpiele nach Art der Alten denken koͤnnen? Wuͤrden wir wohl, wenn wir von der ganzen Natur und dem menſchlichen Ge - ſchlechte nichts weiter gewußt haͤtten, als was163der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. wir izt wirklich vor Augen haben, alle die Ein - richtungen abgerechnet, die ſchon den Geiſt der alten Zeit in die unſrige verpflanzen; wuͤrden wir wohl auf viele von den Regeln gekommen ſeyn, die izt die klaſſiſchen Schriftſteller der neuern be - obachten?

Man ſehe nur, wie genau die ganzen For - men unſerer poetiſchen Werke zu der Lage und Verfaſſung und Geſchichte von Griechenland, und wie wenig ſie zu der unſrigen paſſen! Bey jener machen ſie einen Stein des ganzen Gebaͤudes aus, bey uns ſind ſie ein angeflickter Zierrath. Ihre Epopee enthielt ihre aͤlteſte Geſchichte, den Ur - ſprung ihrer Staͤdte und ihrer großen Geſchlech - ter. Was der Dichter dort in eine zuſammen - haͤngende Erzaͤhlung brachte, das hoͤrte ſtuͤckweiſe ſchon das Kind an der Bruſt ſeiner Mutter, das beſang der Juͤngling an den Feſten der Goͤtter und Helden, davon redete der Sachwalter vor Gerichte, der Patriot im Rathe, der Herrfuͤhrer im Felde. Ihre Oden, ihre Schauſpiele, der Stoff und die Form derſelben, waren in die be -L 2164Verſchiedenheiten in den Werkenſondern Ceremonien ihres Gottesdienſtes, oder in die beſondern Feyerlichkeiten ihrer Zuſammen - kuͤnfte, oder in die Verfaſſungen ihrer Regierungs - formen ſo eingewebt, daß ſie nur unter dieſen auf alle Weiſe ihre Veranlaſſung, ihre Beziehung, ihre volle Wirkung hatten.

Der Glanz, den ein beruͤhmt gewordner Dich - ter oder Redner von ſich wirft, blendet ohne Zweifel ſeine unmittelbaren Nachfolger am mei - ſten, und die Nachahmungsſucht iſt in der That niemals ausſchweifender und ſklaviſcher, als gleich nach der Epoque der Erfinder. So war es in Griechenland, ſo in Rom, ſo in Italien zu den Zeiten Petrarchs. Die erſten Dichter wurden von den naͤchſten Jahrhunderten nicht bloß als Originale angeſehen, die man aus freyer Hand nachzeichnen wollte, ſondern als Modelle, in wel - che man ſein Werk bis auf die kleinſten Fugen paſſen mußte. Nach und nach, da die Anzahl der aufgeklaͤrten Voͤlker, unter denen es Dichter giebt, groͤßer geworden, haben ſich auch die Ori - ginale vermehrt: die Verehrung hat ſich getheilt,165der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. die Philoſophie hat uns Moͤglichkeiten gewieſen, wo wir auch noch keine Beyſpiele haben, und wir, die wir izt ſo ſpaͤt kommen, haben eben dadurch, daß uns ſo viele Muſter zum Nachahmen uͤberlie - fert worden, den Vortheil erlangt, daß es uns leichter wird, mitten unter der Nachahmung noch etwas von dem Eignen unſers Kopfes und Her - zens zu behalten.

So erhaͤlt der menſchliche Geiſt in ſeinem wei - teſten Fortgange auf einige Art das Recht wieder, was er bey ſeinen fruͤheſten Verſuchen gehabt hat - te. Die erſten Genies waren Originale gewiſſer - maßen aus Nothwendigkeit. Was haͤtten ſie anders ſeyn ſollen, da ſie die erſten waren? Die nachfolgenden waren viele Jahrhunderte durch, aus Traͤgheit und aus Bewunderung, ihre Nach - ahmer. Dieſer Einfluß wuͤrde vielleicht nicht ſo lange und ſo merklich fortgedauert haben, wenn nicht Zwiſchenzeiten von Unwiſſenheit und Barba - rey den menſchlichen Geiſt auf ſeiner Laufbahn aufgehalten, oder ihn beynahe wieder ganz bis an die Schranken zuruͤckgebracht haͤtten. UndL 3166Verſchiedenheiten in den Werkenwaͤre es nur noch reine einfaͤltige Unwiſſenheit, ein Mangel aller Kultur geweſen: ſo haͤtte ſie we - nigſtens die Freyheit des Menſchen in den Opera - tionen ſeiner Sinne und ſeines Verſtandes wie - der herſtellen koͤnnen. Die Geſellſchaft und die Wiſſenſchaften haͤtten alsdann ihre Reiſe wieder von vorne angefangen, und nach einer Reiſe aͤhn - licher Revolutionen waͤren unſere Homere oder Solons doch auch erſchienen. Aber ſo waren es Jahrhunderte einer verkehrten ungeſtalten Gelehr - ſamkeit. Die Anhaͤnglichkeit fuͤr das Alterthum dauerte fort, aber man kannte und verſtund die - ſes Alterthum nicht mehr. Als man ſich nun aus dieſer Dunkelheit hervorarbeitete, ſo hatte man die alten Muſter noch immer im Geſichte. Die Erhabenheit derſelben uͤber alles, was in den ſpaͤ - tern Jahrhunderten oder von andern Nationen war hervorgebracht worden, war augenſcheinlich. Die Hochachtung fuͤr ſie mußte ohne Graͤnzen ſeyn. Die Schwierigkeit, die es koſtete, ſie zu finden und zu ergaͤnzen, und die Arbeit, die man ſich machte ſie zu erklaͤren, waren ſehr geſchickt,167der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. dieſe Hochachtung noch hoͤher zu treiben. Nach und nach iſt dieſes Studium durch die Menge der ſchon vorhandenen Huͤlfsmittel weniger ſchwer, und nach eben dem Maaße weniger eifrig gewor - den. Der Mann von Genie hat auch bey der Leſung der Alten doch noch einige Muße uͤbrig be - halten, an ſeinen eignen Ideen zu arbeiten. Die Philoſophie hat endlich ihr Licht auch an dieſe Gegenſtaͤnde gebracht. Sie hat uns die Regeln, die ihren Grund in dem Beſtaͤndigen der menſch - lichen Natur haben, von denen unterſcheiden ge - lehrt, die aus dem veraͤnderlichen Zuſtande der - ſelben fließen.

Alles das zuſammengenommen hat zwar nicht unſrer Litteratur die Grundzuͤge nehmen koͤnnen, die von der alten griechiſchen und roͤmiſchen in ihr liegen: aber es hat doch wenigſtens die Geſtalten und Farben derſelben geaͤndert.

Eben dieſe Philoſophie iſt es, welche unſere Schriftſteller noch zu Originalen, wenigſtens in einzelnen Theilen ihrer Werke, machen kann.

L 4168Verſchiedenheiten in den Werken

Naͤmlich derjenige Theil der Dinge, der der Empfindung nicht unmittelbar offen liegt, der erſt durch eine Reihe von Beobachtungen und Schluͤſſen aus ihnen gefunden werden muß, wird da genauer erkannt, wo nicht jeder Menſch mit ſeinen Erkenntniſſen immer von vorne anfangen, und alle die erſten einfachſten Erfahrungen wieder durchwandern muß, ſondern wo er bey ſeinem Eintritte in die Geſellſchaft das Reſultat von den Erfahrungen ſeiner Vorfahren concentrirt erhaͤlt, und von dieſen nunmehr ausgehen kann. Die aͤlteſten Menſchen ſponnen ſich ſo zu ſagen den ganzen Faden ihrer Ideen ſelbſt: ſie kannten ihn deswegen genau, er war voͤllig ihre, aber weit fortgeſezt war er nicht. Izt bekoͤmmt jeder Menſch durch Ueberlieferung und Unterricht ſchon ein ganzes Gewebe von Ideen in die Hand, das er ſelbſt noch nicht uͤberſehen kann, das er indeß als einen unbekannten Schatz verwahret, bis er es nach und nach bey Gelegenheit aus einander wickelt. Und alsdann erſt, wenn er damit fertig iſt, dasjenige, was er von fremden Gedan -169der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. ken bekommen hatte, in ſeine eignen zu verwan - deln: alsdann erſt kann er nun anfangen, um - herzugehen und ſich ſelbſt Gegenſtaͤnde fuͤr ſeine eigne Bearbeitung aufzuſuchen.

Zu denjenigen Dingen, deren Kenntniß nicht bloß Empfindung, ſondern auch Zergliederung des Empfundnen verlanget, gehoͤrt die Entſtehung und die Abwechſelung der Begierden; aber noch weit mehr die Art der Erzeugung und der Ent - wickelung der Ideen ſelbſt, der Mechaniſmus, nach welchem die Seele bey ihren Operationen verfaͤhrt, die Triebwerke und die Geſetze ihrer Be - wegungen. Dieſe muͤſſen wir alſo von Rechts - wegen beſſer kennen, als die Alten. Hingegen die Aeußerungen derfelben, die Geberdenſprache, die von der Leidenſchaft unwillkuͤhrlich ausgeſtoßnen Worte, alles, was vom innern Menſchen merk - lich in den aͤußern uͤbergeht; das konnten ſie ſo gut wiſſen, wie wir, denn es gehoͤren nur Augen und Aufmerkſamkeit dazu; ja ſie bemerkten es viel - leicht beſſer, eben weil ſie nichts weiter zu bemer - ken hatten. Daraus entſpringen zween Unter -L 5170Verſchiedenheiten in den Werkenſchiede zwiſchen unſern Dichtern und den ihrigen. Erſtlich: Jene zeigen uns mehr das Innere, dieſe mehr das Aeußere der menſchlichen Handlungen. Unſere Dichter ſind ſchon eine Art Metaphyſiker, und muͤſſen es faſt fuͤr uns ſeyn. Sie zergliedern die Empfindung, die der Alte ganz einfach durch ein Wort ausgedruͤckt haͤtte, in die Summe der einzelnen Bewegungen, aus denen ſie ſich erklaͤren laͤßt. Sie ſagen uns nicht bloß die Gedanken, die der wirklich hatte, welcher in der vorgeſtellten Verfaſſung war, ſondern auch die, welche bloß dunkel in ſeiner Seele zum Grunde lagen, und in der Leidenſchaft ſich aͤußerten, ohne von dem Ver - ſtande bemerkt zu werden. Sie ſondern in dem Gemaͤlde der menſchlichen Seele die Zuͤge, die in Eins verlaufen waren, von einander ab, und laſſen die geheimern kleinern Triebfedern einzeln vor unſern Augen ſpielen, die die Natur uns nicht anders als in ihrer vereinigten Wirkung zeiget. Der Alte hingegen nennt das Phaͤnomen ſo im Ganzen, wie wir es ſehen, beſchreibt und erklaͤrt nichts; iſt genau, reich, umſtaͤndlich, wenn er171der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. die Wirkungen erzaͤhlt; unbeſtimmt, arm, kurz, wenn er ihre Urſachen angiebt. Zweytens: Wenn unſere Dichter originell ſeyn ſollen, ſo koͤn - nen ſie es nicht anders ſeyn, als durch neue Ent - deckungen in dieſem Theile der Natur; der andere Theil iſt erſchoͤpft, oder fuͤr uns zerſtreute Zu - ſchauer weniger ſichtbar. Und ſo ſind auch die - jenigen originell geworden, welchen wir zu un - ſern Zeiten dieſes Verdienſt zugeſtanden haben. Sie haben irgend eine neue Klaſſe der Empfindun - gen wahrgenommen, verborgene Unterſchiede und Schattirungen ſonſt aͤhnlicher Veraͤnderungen der Seele entdeckt, die Begriffe, die in einer zuſam - mengeſetzten Vorſtellung oder einer Begierde ver - borgen liegen, richtiger erforſcht. Die Alten konnten originell ſeyn, ſelbſt in dem ganz ſichtba - ren Theile der Natur.

Der Vorzug, den in dieſem Stuͤcke unſer Jahrhundert vielleicht vor allen uͤbrigen voraus hat, iſt augenſcheinlich. Man muͤßte in der That ſeine eigene Empfindung verleugnen, wenn man ſagen wollte, daß man den Menſchen von ſeiner172Verſchiedenheiten in den Werkeninnern Seite, die Philoſophie ſeines Herzens, in den Alten mehr oder nur eben ſo gut kennen lern - te, als in einigen vortreflichen Werken der Neuern. Vielleicht ſind dafuͤr Handlungen und Reden bey jenen genauere Kopien der damaligen Natur, als ſie es bey unſern Dichtern von der unſtigen ſind. Unſere Imagination bekoͤmmt dort vielleicht ge - treuere Bilder: aber unſer Verſtand erhaͤlt weni - ger Begriffe, oder weniger Unterſchiede unter aͤhn - lichen Begriffen. Unſer Herz wird vielleicht hef - tiger angegriffen; aber die Schlaͤge ſind einfoͤrmi - ger, und zielen mehr darauf ab, das Ganze un - ſerer Empfindungen uͤberhaupt in Bewegung zu ſetzen, als eine jede einzelne Saite derſelben beſon - ders zu ruͤhren.

Kein Unterſchied zwiſchen den alten und neuen Dichtern iſt ſichtbarer als der, daß jene mehr Dinge wußten und ſchilderten, dieſer ihre Kennt - niſſe eingeſchraͤnkter, aber tiefer ſind.

Es giebt izt unter dem Haufen der wißbaren Dinge einen Theil, der, ſo zu ſagen, das gemein - ſchaftliche Gut aller menſchlichen Geiſter auſ -173der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. macht, Gegenſtaͤnde, die allen gleich wichtig, un - gefaͤhr gleich bekannt ſind, und deren Erlernung die gewoͤhnliche Art der Uebung iſt, die jeder ſei - nem Verſtande giebt. Andere hingegen ſind nur das Eigenthum einer gewiſſen Gattung von Men - ſchen; die uͤbrigen kennen ſie nicht: und von der Unwiſſenheit bis zur Verachtung iſt nur noch ein Schritt: ſie nehmen auch keinen Theil daran. Ein ſolcher Unterſchied war in der erſten Epoche weniger ſichtbar. Der alte Dichter breitete ſich alſo in der That uͤber den ganzen Umfang der Na - tur, der Kuͤnſte und der Geſchaͤfte des Menſchen aus. Die Beſchreibung eines Wagens, eines Rades, einer Handarbeit, eines Schildes, eines Gebaͤudes war fuͤr ihn beynahe gleich erheblich; alles war noch neu. Heute zu Tage iſt der Dich - ter in allem, was zu den Arbeiten der niedern Klaſſen gehoͤrt, unwiſſend, und der Leſer in Abſicht derſelben ekel. Der eine iſt nicht im Stande, ſie zu beſchreiben, und der andere hat kein Intereſſe, ſie kennen zu lernen.

174Verſchiedenheiten in den Werken

Von wie viel Sachen mußte Homer nicht Kenntniſſe haben, von denen unſre heutigen Dich - ter nichts wiſſen, eben deswegen nichts wiſſen, weil ſich izt ſo viel davon wiſſen laͤßt; aber nur durch Studium und Fleiß, da Homer, zu deſſen Zeit jede Klaſſe der Kenntniſſe noch arm war, leicht den ganzen Vorrath einſammeln konnte, ohne ſelbſt recht zu wiſſen, wie er zu demſelben ge - kommen war. Welcher Dichter weiß izt bey uns, wann die Plejaden auf - und untergehen? welcher Wind der angenehmſte und welcher der Regen - wind ſey? welche Tage zur Saat dieſer oder jener Frucht taugen? Wer kennt den Bau des Pfluges, des Weberſtuhls, des Schiffes, und weiß die Handgriffe, durch die ſie gebraucht werden? Wem iſt die Beſchaffenheit und die Lage aller Staͤdte und Doͤrfer ſeines Vaterlands ſo gut be - kannt, als dem Homer die von Griechenland und Kleinaſien? Wer kennt die Ruͤſtung unſerer Sol - daten, ihre Art zu fechten, die Anordnung eines Heeres ſo gut? Wer iſt von den Erdarten, den beſondern Produkten, dem Klima jeder Provinz175der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. ſo gut unterrichtet, als Homer, deſſen gewoͤhn - lichſte Beywoͤrter davon entlehnt ſind? Alles das ſind Dinge, die uns entwiſchen, weil wir unſern ſtarren Blick nur auf Einen oder wenige Gegen - ſtaͤnde gerichtet haben, um dieſe ganz zu durch - ſchauen; da jene ihr freyes unangeſtrengtes Auge in der ganzen weiten Welt umherſchweifen, und auf jedem Gegenſtande ruhen ließen, der ſich durch irgend eine Art von Neuheit oder Sonderbarkeit auszeichnete?

Was insbeſondre die Natur außerhalb dem Menſchen betrifft, von wie viel Thieren oder Pflanzen koͤnnen unſere Dichter reden, ohne un - verſtaͤndlich oder niedrig zu werden? Wie viele von den Erſcheinungen der todten Natur ſind nicht gaͤnzlich aus der Zahl nachahmbarer Objekte bey uns ausgeſtrichen, weil ſie weder recht genau ge - kannt werden, noch edle Namen haben, noch bey dem Leſer dieſe ſchon vorlaͤufige Kenntniß der Sache finden, ohne welche die beſte Beſchreibung fuͤr ihn bloße Woͤrter ſind? Andere werden noch in unſere Nachahmungen aufgenommen, aber wir176Verſchiedenheiten in den Werkenſchildern ſie nicht nach unſern eigenen Beobach - tungen, ſondern nach Begriffen, die wir von an - dern und großentheils von alten Dichtern uͤber - kommen haben. Sehr wenige ſehen die Natur ſo, wie ſie innerhalb ihres eignen Geſichtskreiſes liegt, und wie ſie deswegen von einem Bezirke zum andern abwechſelt. Den Beſchreibungen der Alten ſieht man es an, daß ſie auf der Stelle ſind gemacht worden; alles ſchickt ſich nur auf ihr Land, ihre Menſchen, ihre Geſchichte. Selbſt jede ihrer Erdichtungen hieng auf gewiſſe Weiſe mit der Wahrheit zuſammen. Unſere Erdichtun - gen gehen in die weite Welt hinaus, und ſehen dem einen Lande, der einen Epoche ſo aͤhnlich, wie der andern. Wir richten uns bloß nach den allgemeinen Geſetzen der Natur; ſie weit mehr nach den Verfaſſungen und Denkmaͤlern ihres Volks.

Aus dem, was wir bisher geſagt haben, wird ſich erklaͤren laſſen, was die Simplicitaͤt heiße, die man den aͤlteſten Schriftſtellern als einen ih - nen eignen Charakter zuſchreibt, und die, wie177der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. man vorgiebt, die groͤßte Schwierigkeit fuͤr den Ueberſetzer derſelben in eine unſrer Sprachen aus - macht. Dieſe Simplicitaͤt iſt nichts anders, als die zuſammengefaßte unentwickelte Empfindung aller der Verſchiedenheiten zwiſchen der Art, wie wir die Sachen ſehen und ausdruͤcken, und zwi - ſchen der ihrigen. Ungefaͤhr folgende Stuͤcke ſind einige von den Urſachen dieſer Empfindung. Sie ſchildern alle Arten von Gegenſtaͤnden, ſeltene und gemeine, bekannte und fremde: wir ſind ge - wohnt, nur gewiſſe Gegenſtaͤnde der Beſchreibung und Betrachtung werth zu halten. Sie gehn mit ihrer ganzen Abſicht niemals weiter, als uns das Bild der Sache, von der ſie reden, zu uͤberliefern: wir brauchen die Begebenheiten, die wir erzaͤhlen, die Objekte, die wir ſchildern, gemeiniglich nur als Gelegenheiten, eine Anzahl guter Ideen, die wir in unſerm Kopfe geſammelt haben, anzubrin - gen. Sie legen niemals in den Ausdruck einen groͤßern Reichthum von Gedanken, als der in dem Gegenſtande ſelbſt liegt: wir haben faſt immer noch außer der Abſicht, der Imagination des Le -M178Verſchiedenheiten in den Werkenſers ein gewiſſes Bild vorzuſtellen, die zweyte, in ſeinem Verſtande gewiſſe Betrachtungen zu ver - anlaſſen. Sie ſuchten geringſcheinende Gegen - ſtaͤnde, wenn ſie ihnen auf ihrem Wege aufſtießen, nicht durch feine Nebenzuͤge, durch veranlaßte An - wendungen derſelben, durch bewirkte kleine Ver - haͤltniſſe mit erheblichern, wichtig zu machen: bey uns wird der gute Schriftſteller in dieſem Falle immer eine Art von Kunſtgriff gebrauchen, uns noch an etwas anders denken zu laſſen, als was er geradezu ſagt. Sie nahmen allen ihren Stoff faſt durchgaͤngig aus der Geſchichte ihres Landes, und noch dazu aus einer gewiſſen Epoche derſel - ben; ſie erfanden niemals ganz neue Subjekte, ſondern ſetzten hoͤchſtens zu den alten einige neue Umſtaͤnde hinzu; alle ihre Fabeln haben auch des - wegen einen gemeinſchaftlichen Charakter: wir haben in den unſrigen mehr Mannichfaltigkeit, weil ſie[ganz] von unſrer Wahl abhaͤngen. Sie ſuchten in ihren Gemaͤlden nur Wahrheit, nicht Abwechſelung; und wenn deswegen in dem Laufe der Begebenheit dieſelbe Sache wieder vorkam, ſo179der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. ſcheuten ſie ſich nicht, ſie auf dieſelbige Art zu ſa - gen: wir ſind mit der Richtigkeit noch nicht zu - frieden, oder wir opfern auch wohl einen Theil derſelben auf, wenn nur unſre Neubegierde unter - halten wird; das immer Veraͤnderte in den Vor - ſtellungen iſt fuͤr unſre Seelen, deren uͤbrige Trieb - federn ſchon zum Theil abgenutzt ſind, ein noth - wendiger Reiz geworden, wenn ſie uns gefallen ſollen. Sie richten ſich in der Umſtaͤndlichkeit ih - rer Schilderungen nicht nach der Rangordnung, die unſer Stolz oder auch der Mißbrauch gewiſſer Sachen unter den Gegenſtaͤnden gemacht hat: bey uns werden nur wenige ausfuͤhrlich gezeigt, andere kommen nur beruͤhrt wieder, noch andere muͤſſen wir mit einer Decke uͤberziehen, die ſie ge - heimnißreicher und anziehender zugleich machen. Sie faſſen in ihrem Ausdrucke alles das in Eins zuſammen, was in der Empfindung der Seele nur als einfach vorkoͤmmt: wir ſondern das alles von einander ab, und druͤcken es einzeln aus, was der Verſtand Mannichfaltiges in dieſer Em - pfindung wahrnimmt. Ihre Vorſtellungen gehenM 2180Verſchiedenheiten in den Werkenſehr auf das Einzelne, und beſtimmen jeden Theil der Sache, wenn ihr Anblick geſchildert werden ſoll; ſie halten ſich bloß an das Allgemeine, und geben nur uͤberhaupt die Gattung an, wenn ihre Kraͤfte und Geſetze beruͤhrt werden: wir hingegen geben von den ſichtbaren Veraͤnderungen nur un - gefaͤhre ſchwankende Bilder, von den geiſtigen ge - naue zergliederte Begriffe.

Aus dem Haufen dieſer Verſchiedenheiten wol - len wir noch beſonders zwey herausheben.

Erſtlich: Alle alte Gedichte der Griechen ſind eine Art von Denkmaͤlern, die zwar nicht die ge - naue Wahrheit und die wirkliche Geſchichte ent - halten, aber doch etwas ihr Aehnliches uͤberlie - fern. Alles, was ihre Dichter von ihren Goͤt - tern und Helden erzaͤhlen, ſo unwahrſcheinlich es auch ſeyn mag, wenn es mit der Natur der Dinge und des Menſchen uͤberhaupt verglichen wird, be - koͤmmt doch eine Art von Glaubwuͤrdigkeit, wenn man es mit der Natur und der beſondern Ge - ſchichte des Landes vergleicht. Das Syſtem ih - rer politiſchen und gottesdienſtlichen Einrichtun -181der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. gen, viele unlaͤugbare Facta der folgenden Zei - ten, viele fortdauernde Spuren der aͤlteſten Pe - riode haͤngen auf gewiſſe Weiſe mit den Fabeln der Dichter zuſammen, und ſcheinen dieſelben voraus - zuſetzen. Zwiſchen der wirklichen und der mytho - logiſchen Geſchichte war doch ein gewiſſes Band, das, wenn es nicht der letztern die Glaubwuͤrdig - keit erwarb, ihr wenigſtens mehr Intereſſe gab, und ſie ungefaͤhr zu eben dem machte, was un - ſere Hypotheſen in der Naturlehre ſind, zu Vor - ausſetzungen, aus denen ſich Umſtaͤnde und Be - gebenheiten, die wirklich erfolgt ſind, erklaͤren laſ - ſen. Die Dichtkunſt ſcheint ſich bey allen Voͤl - kern, die ihre Ausbildung nicht von andern be - kommen haben, ihre Goͤtter und Helden und die ehrwuͤrdigſten Zeiten ihres hoͤchſten Alterthums zugeeignet zu haben. Wie Homer und Sopho - kles auf den trojaniſchen Krieg, ſo koͤmmt David immer auf die Ausfuͤhrung aus Aegypten und den Untergang der Aegypter zuruͤck.

Nothwendig aber mußte das, was wir zu unſern Zeiten als die Abſicht der Dichtkunſt anſe -M 3182Verſchiedenheiten in den Werkenhen, durch dieſe eingeſchraͤnkte Wahl ihrer Sub - jekte zum Theil vernichtet, zum Theil in einen bloßen Nebenzweck verwandelt werden. Die Per - ſonen wurden weder gut noch boͤſe von den Dich - tern gewaͤhlt; ſie wurden ſo genommen, wie ſie jedermann glaubte. Die geheimen Triebfedern der unſichtbar wirkenden Kraͤfte ſprachen den Dich - ter davon frey, die Bewegungsgruͤnde und Ver - anlaſſungen unter den ſichtbaren Kraͤften und in ihren bekannten Geſetzen aufzuſuchen. Die Be - gebenheit im Ganzen ward ſchon als bekannt und geglaubt vorausgeſetzt; es wurde alſo nicht mehr gefragt, ob ſie habe geſchehen koͤnnen: nur das, was nach dieſer Vorausſetzung in den einzelnen Theilen der Handlung hatte erfolgen koͤnnen oder muͤſſen, nur das war dem Dichter uͤbriggelaſſen, nach ſeiner Kenntniß von Natur und Wahrſchein - lichkeit zu beſtimmen. Das Principium war die Ueberlieferung, aus dieſem durfte nur richtig ge - folgert werden. Die moraliſchen Zwecke alſo, Thorheiten zu verſpotten, oder Tugenden zu em - pfehlen, oder Wahrheiten zu lehren, fanden bey183der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. Leuten nicht ſtatt, die nicht einen eigenen Stoff bearbeiteten, ſondern einen ſolchen, welcher das Eigenthum der Nation geworden war. Ihre Fabeln waren eben deswegen einfacher, nicht bloß weil ſie das Einfache liebten, weil ihr Genie frucht - barer war, aus ſehr wenigen Zufaͤllen eine Menge intereſſanter Reden und Handlungen herauszuzie - hen; ſondern vornehmlich, weil ihnen dieſe Fa - beln ſo einfach waren uͤberliefert worden, weil es Fabeln waren, die man nicht zum Vergnuͤgen er - dichtet hatte, ſondern die nach und nach durch un - merkliche Zuſaͤtze und Abaͤnderungen aus der er - ſten Tradition waren gebildet worden. Ueber - haupt muß alles das, was von einem einzigen Kopfe in der Abſicht hervorgebracht wird, zu un - terrichten oder zu ruͤhren, einen ganz andern Cha - rakter haben, als was ſo zu ſagen das Reſultat von tauſend Koͤpfen, und der Zuſammenfluß von Ideen und Meynungen einer noch ganz inculti - virten Nation iſt.

Fuͤr uns iſt dieſes Band, das die dichteriſche Welt mit der wirklichen zuſammenhieng, zerriſſen;M 4184Verſchiedenheiten in den Werkendie Erdichtungen oder ſelbſt die Geſchichten, die die Dichter bearbeiten, koͤnnen auf uns keine an - dere Beziehung haben, als die ihnen zukommen, in ſo fern es menſchliche Begebenheiten ſind; wir muͤſſen alſo nothwendig von einer andern Seite den Eindruck verſtaͤrken, der ihnen von der einen abgeht. Unſer Verſtand und unſer Herz ſind dem Vergnuͤgen verſchloſſen, das dem Griechen die Thaten ſeiner aͤlteſten Helden, durch ſeine aͤlteſten Weiſen beſchrieben, machen mußten; aber beide ſtehen immer noch dem Vergnuͤgen offen, das mannichfaltige und lebhafte Ideen oder geſell - ſchaftliche Neigungen in ihnen erregen. Unſer Dichter muß nothwendig mehr Abſichten ſich vor - ſetzen, als ſein Werk unmittelbar ankuͤndigt.

Bey der Bildung unſerer neuen Dichtkunſt iſt ein Streit von entgegenwirkenden Urſachen merk - lich. Durch die Bewunderung, die man fuͤr die Alten hatte, wurde man zu der Nachahmung der - ſelben gezogen, man ſuchte, ſo viel man konnte, ſich in ihre Zeit und Umſtaͤnde zu verſetzen, ihre Denkungsart anzunehmen, und ſah die Aehnlich -185der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. keit mit ihnen fuͤr das hoͤchſte Verdienſt eines Werks an. Durch die Veraͤnderungen hingegen, welche unterdeſſen in Sprache und Religion und Wiſſenſchaften und ſogar Aberglauben vorgegan - gen waren, wurde dieſe Nachahmung zum Theil unmoͤglich. Man konnte nicht mehr voͤllig ſich in den Geſichtspunkt ſetzen, aus dem die Alten die Dinge angeſehen hatten, oder man kam immer von Zeit zu Zeit wieder zu dem ſeinigen zuruͤck. So vermiſchten ſich die Farben des Antiken und des Modernen; Begriffe, die ihre Gegenſtaͤnde nur in jener Zeit hatten, mit einer Ausfuͤhrung derſelben, die nur auf die unſrige paßte.

Und dieſe Nachahmung mußte nothwendig mehr auf den aͤußern Bau, auf die Wahl der Ver - zierungen, auf die Form des Werks gehen, als auf das innere Weſen deſſelben. Man uͤberlie - fert uns die Alten als Muſter der Vortrefflichkeit, die das Zeugniß aller Jahrhunderte fuͤr ſich ha - ben. Aber dieſe Vortrefflichkeit nehmen wir an - fangs nur auf Treu und Glauben an, und weit eher, als wir ſie durch uns ſelbſt in ihren WerkenM 5186Verſchiedenheiten in den Werkenzu finden im Stande ſind. Denn die Sprachen, in denen ſie geſchrieben ſind, erfordern ein langes Studium; und wenige gelangen dazu, ſie bis auf den Grad zu kennen, daß das Leſen des Ori - ginals auf ſie denjenigen unmittelbaren Eindruck des Vergnuͤgens macht, nach welchem wir ohne weitere Regeln von dem Vorzuge eines Werks ur - theilen koͤnnen. Dasjenige, wovon dieſer Ein - druck abhaͤngt, liegt in der That bey den Alten wie bey den Neuen weit weniger in dem, was ſich durch allgemeine Regeln ſagen, erklaͤren und fin - den laͤßt, als in der unnennbaren Richtigkeit und Malerey des Ausdrucks; in tauſend Kleinigkei - ten, die ſo in das Innere der Sprache verwebt ſind, daß nicht der Verſtand, ſondern nur das Gefuͤhl ſie bemerken kann. Man darf ſicher aus der Schwierigkeit, die es koſtet, ſich ein ſolches Gefuͤhl zu erwerben, und der Menge der Bewun - derer, die dem unerachtet die Alten haben, ſchlieſ - ſen, daß der groͤßte Theil es nur aus einer falſchen Scham iſt; ſie fuͤrchten durch einen oͤffentlichen Widerſpruch gegen die allgemeine Meynung ſich187der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. den Verdacht eines uͤbeln Geſchmacks oder eines Mangels an Kenntniß zuzuziehen.

Was alſo von den Alten am meiſten nachge - ahmt wurde, was ſich bey ihnen auf etwas All - gemeines und Deutliches bringen, in Regeln ab - faſſen, in ein Syſtem vereinigen ließ, das iſt ihre Geſchichte, ihre Maſchinen, ihre Metaphern, der Gang ihrer Epopee, ihres Trauerſpiels, ihrer Ode, ihre Erklaͤrungen der natuͤrlichen Phaͤnomene, ihre politiſchen Geſinnungen (z. B. ihre ausſchließende Hochachtung fuͤr die Tapferkeit und fuͤr die Ehre eines Kriegers), ihre Anzeichen und Prophezei - hungen, u. ſ. w.

Im Einzelnen hingegen, in der Ausfuͤhrung behalten die Werke der Neuern, ſo ſehr ſie ſich auch mit dem Geiſte der Alten moͤgen genaͤhrt haben, doch immer das Gepraͤge eines Jahrhunderts, das immer weniger und weniger ſinnlich wird; deſſen Imagination ſich immer weiter von der bloßen Zuſammenſetzung von Bildern entfernet, und unter der Aufſicht der Philoſophie nur an der Verſchoͤnerung allgemeiner Ideen arbeitet. Das188Verſchiedenheiten in den WerkenSyſtem der Alten war rein, einfach, ganz allein durch ihre eignen Umſtaͤnde beſtimmt; das unſrige iſt vermiſcht, zuſammengeſezt, der Abdruck zweyer verſchiedenen Geſtalten des menſchlichen Geſchlech - tes zugleich.

Es iſt eine bekannte Anmerkung, daß es ſehr wenig ſchoͤn geſagte Gedanken giebt, die nicht et - was Falſches enthielten, die nicht, um ſchoͤn zu werden, etwas haͤtten muͤſſen uͤbertrieben werden. Man muß entweder das in der vollkommenſten Allgemeinheit ausdruͤcken, was nur auf einige Faͤlle paßt, oder man muß den hoͤchſten Grad nennen, wo nur ein niedrigerer vorhanden iſt. Ideen, die nur einige Verſchiedenheiten haben, muͤſſen durch die Verbergung ihrer Aehnlichkeiten zu einem vollkommnen Kontraſte erhoͤht, andere, die ſich nur in einigen Merkmalen aͤhnlich ſind, zur vollkommnen Uebereinſtimmung gebracht wer - den. Man unterſuche einmal die glaͤnzendſten Ideen aus den beſten philoſophiſchen Dichtern unſers Jahrhunderts, aus den Philoſophen ſelbſt, die aber zugleich ſchoͤn ſchreiben wollen, und frage189der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. ſich, ob die Sache genau immer ſo ſey, wie ſie ſie vorſtellen? ob es nicht oft eben ſo viel Ausnah - men als Faͤlle gebe, die unter die Regeln paſſen? ob nicht etwas von der Wahrheit habe verſchwie - gen oder verfaͤlſcht werden muͤſſen, um die Vor - ſtellung ſtark und neu zu machen?

Dieſe vorſetzliche Unwahrheit in den Gedan - ken, die ihren Ausdruck reizender macht, wuͤr - de ich zu einem unterſcheidenden Charakter der Neuen machen, und hingegen das Matte und wie es ſcheint Kraftloſe im Ausdrucke, mit einer genauen Wahrheit verbunden, zum Charakter der Alten.

Wenn zum erſtenmal ein beobachtender Geiſt eine Verbindung der Dinge, eine gewiſſe Folge von Urſachen und Wirkungen, eine Aehnlichkeit oder Verſchiedenheit unter den Gegenſtaͤnden, ge - wiſſe Regeln in den Operationen des Menſchen und der Natur entdeckt hatte: ſo war die Neu - heit dieſer Erfindung ſchon genug, den Ausdruck auffallend und ſtark zu machen. Ich begreife recht wohl, warum gemeine Gedanken, Senten -190Verſchiedenheiten in den Werkenzen, die itzo in dem Munde unſerer Kinder und unſrer Diener ſind, in den erſten Zeiten einem Manne den Titel eines Weiſen erwerben konnten; denn in der That ſolche Gedanken und Sentenzen ſind alles, was uns die philoſophiſche Geſchichte von den meiſten der erſten Weiſen aufbehalten hat. Ein ſolcher Gedanke war von großem Werthe, als er das erſtemal aus der Huͤlle der einzelnen Erfahrungen herausgezogen, und mit allgemei - nen Worten noch richtig und bedeutend abgebil - det wurde. Es gehoͤrte ein hoher Grad von Scharfſinn dazu, dieſe erſten Grundſaͤtze, auf die noch durch keine vorhergehenden allgemeinen Be - griffe die Seele gefuͤhrt wurde, der Natur ſelbſt abzulernen. Man denke nur, wie ſchwer es uns itzt noch wird, itzt, da wir einen ſo großen Vor - rath von erklaͤrten zergliederten Ideen haben, de - ren Ausdruͤcke wir nur auf eine neue Art zuſam - menſetzen duͤrfen, um das Eigenthuͤmliche unſrer eignen Ideen auszudruͤcken; wie ſchwer es uns dem unerachtet noch wird, ein Gefuͤhl, das wir ohne Anweiſung oder Beyſpiel, bloß durch die191der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. Verbindungen und Umſtaͤnde unſers eignen Le - bens bekommen haben, bis zu der Deutlichkeit zu erhoͤhen, daß es ſich mit Worten verſtaͤndlich aus - druͤcken und mittheilen laͤßt. Und man wird be - greifen, welches in der That die Groͤße eines Gei - ſtes ſeyn mußte, der, ohne dieſe Huͤlfsmittel, ſeine Sprache zum erſtenmal zu dem Ausdrucke ſolcher ihm eignen Erfahrungen bringen, und die Form finden mußte, in welcher ſeine Idee kenntlich blieb. Aber mehr brauchte es auch alsdann nicht, ſie vortreflich zu machen. Bey uns hingegen iſt dieſe erſte Anzahl von Ideen ſchon durch tauſend Koͤpfe gegangen, von allen gedacht, geſagt und etwas beruͤhrt worden. Einen großen Theil davon ler - nen wir ſchon an der Bruſt unſrer Muͤtter, oder auf dem Arme unſrer Waͤrterinnen. Unſer Um - gang, unſre Buͤcher, alles erfuͤllt uns mit ſolchen Grundſaͤtzen und Bemerkungen, und macht uns mit ihnen ſo bekannt, daß wir ſie anfangen ge - ringe zu ſchaͤtzen. Ihnen alſo mehr Leben und Staͤrke in unſrer Seele zu geben, muͤſſen ſie durch den Ausdruck erhoͤht, geſchaͤrft, verfeinert wer -192Verſchiedenheiten in den Werkenden. Wenn man die Bilder und Ideen ſeines Kopfes fuͤr das Vergnuͤgen eines Fremden zurich - ten will, ſo muß man ſie dem andern nicht bloß mittheilen, denn er hat die meiſten derſelben ſchon, und er wuͤrde ſie alſo als ein Geſchenk, das man ihm mit ſeinem Eigenthume machen wollte, ver - achten; ſondern man muß ihm zugleich eine aus - gebreitetere Nutzbarkeit derſelben, einen groͤßern Umfang von Faͤllen, die er darunter zuſammen - faſſen kann, eine groͤßere Mannichfaltigkeit von darinn verborgenen Vorſtellungen zeigen, als er bisher in ihnen wahrgenommen hat. Was man feine Gedanken nennt, ſind gemeiniglich ſolche, wo außer der erſten offenbaren und deutlich aus - gedruͤckten Verbindung der Ideen, noch eine an - dre verſtecktere bloß angezeigte Verhaͤltniß derſel - ben unter ſich oder mit gewiſſen Gegenſtaͤnden ge - meynt iſt. Starke Gedanken ſind die, wo man - nichfaltige Wirkungen unter eine einzige Urſache, viele Faͤlle unter eine Regel, viele Ideen unter ei - nen einzigen Ausdruck gebracht werden.

193der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.

Wir finden einen großen Theil dieſer Anmer - kungen durch eine Art von Originalen beſtaͤtigt, die aus den alten Zeiten zu uns gekommen ſind; ich meyne die Stuͤcke der alten hebraͤiſchen Poeſie. Hier ſehen wir eine andre Natur, andre Meynun - gen, andre Begebenheiten, eine andre Verfaſſung eben ſo ungehindert auf den Geiſt des Dichters wirken. In der That ſind auch die Werke, die er hervorbringt, eben ſo originell, eben ſo ſeinem Volke und Lande angemeſſen, als die Werke der Griechen den ihrigen. Nur iſt hier die Denkungs - art noch antiker, die Einbildungskraft noch ge - ſchaͤftiger, der Bilder noch mehr, der abſtrakten Begriffe noch weniger, und dieſe noch ſchwanken - der; die Sprache nicht bloß allegoriſch, ſondern zum Theil noch hieroglyphiſch; noch mehr Feuer und Enthuſiaſmus in der Beſchreibung der ſicht - baren Natur; noch weniger Kenntniß des innern Menſchen, ſeiner Faͤhigkeiten und Neigungen; die Ideen noch alle mehr einzeln, alle gleichſam noch einfache Erſchuͤtterungen der Empfindung, ohne bemerkte Verhaͤltniſſe; aber alle dieſe GegenſtaͤndeN194Verſchiedenheiten in den Werkenimmer in Beziehung auf die Religion; der ganze Stoff der Dichtkunſt durch die beſtaͤndige Verbin - dung mit einer Gottheit belebt und veredelt, und zwar einer Gottheit nach dem wuͤrdigſten Begriffe, den ſich je der menſchliche Geiſt von dieſem Weſen gemacht hatte.

Auch dieſe Dichter haben wir nachzuahmen angefangen. Aber wir koͤnnen uns in der That noch weniger in ihre Zeit und in ihren Geiſt ver - ſetzen. Einmal ſind der Denkmaͤler ſelbſt zu we - nig. Nur eine lange und haͤufige Lektuͤre kann endlich aus der Menge dunkler verworrener Be - griffe, die jedes Stuͤck einzeln von dem Charakter einer ſolchen alten Zeit zuruͤcklaͤßt, ein klares Ganze machen. Ueberdieß wenn Sprache und Verfaſſung ſchon zu weit von uns entfernt ſind, ſo geht der Unterſchied der Denkungsarten und das Eigenthuͤmliche der Alten bis zum Unverſtaͤndli - chen; wir haben nur ungefaͤhre, nur ungewiſſe Vorſtellungen, wo wir von unſern gewoͤhnlichen zu weit abgehen ſollen.

195der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.

Alles alſo, was von den Alten und Neuen iſt geſagt worden, giebt uns zuſammengenommen folgende Charaktere von beiden:

Die Alten waren Originale, weil ſie nichts anders als die Natur ſelbſt zum Muſter hatten. Dieſe Natur war ihr Gegenſtand nach allen ihren Theilen. Sie beobachteten ihre Erſcheinungen in den verſchiedenſten Klaſſen; kein Theil der Dinge, keine Verrichtung des Menſchen war ih - nen voͤllig fremd oder veraͤchtlich. Aber ſie kann - ten auch von der Natur nichts als die Oberflaͤche, und ſorgten fuͤr nichts weiter. Ihre Sprache war dazu gemacht, ſinnliche Bilder auszudruͤcken, und ihr Geiſt hatte wenig andre. Selbſt die rei - nen Ideen des Verſtandes erſchienen noch unter koͤrperlicher ſichtbarer Geſtalt. Ihr Stoff war nicht das Werk ihres Witzes, ſondern eine Folge ihres Zuſtandes, und alſo genau mit ihm uͤbereinſtimmend. Das Gefallen war nicht ihre Abſicht. Ihre Werke ſind die Wirkungen eines ſich ſelbſt gelaſſenen Geiſtes, der in ſeinen Ope - rationen nur von der Natur der Dinge und ſei -N 2196Verſchiedenheiten in den Werkennem Inſtinkte geleitet, dieſelben durch keine frey - willigen Entwuͤrfe und Abſichten in ihrer Rich - tung veraͤndert.

Die Neuen koͤnnen in den meiſten Faͤllen nicht mehr Originale ſeyn, nicht nur weil ſchon ſo viel vor ihnen iſt geſagt, ſchon die erſten ſicht - barſten Phaͤnomene der Natur ihnen ſind wegge - nommen worden, ſondern vornehmlich, weil ſie ſich eher mit den Beſchreibungen als mit den be - ſchriebenen Gegenſtaͤnden bekannt machen, und eher die Begriffe von den Dingen als ihre Bilder bekommen. Die Natur hat den Augen jedes menſchlichen Geiſtes eine eigene Struktur gegeben, damit die Natur ſich anders in ihnen abbilden ſoll. Aber wir verſchließen ſie, und laſſen uns dafuͤr erzaͤhlen, was andere vor uns geſehen haben. Wo wir alſo noch original ſeyn koͤnnen, das iſt in den feinern Beobachtungen innerer Eigenſchaf - ten und Einrichtungen des menſchlichen Geiſtes, der Denkungsart, der Sitten. Die Gegen - ſtaͤnde der Nachahmung ſind weit eingeſchraͤnkter. Ein Theil iſt unbekannt, ein anderer veraͤchtlich197der aͤlteſten und neuern Schriftſteller. geworden. Aber dieſe wenigen kennen wir beſſer, und haben ſie mehr durchdrungen. Unſere Sprache iſt fuͤr abſtrakte Begriffe gemacht, und unſer Geiſt hat ihrer weit mehr als Bilder. Wenn Verſtandsideen durch Bilder ausgedruͤckt werden, ſo iſt es nicht mehr Beduͤrfniß, ſondern Zierrath; es iſt nicht mehr die einzige, ſondern eine uns fremde Art ſie zu denken. Wir waͤhlen unſern Stoff; unſre eignen Umſtaͤnde koͤnnen uns nichts weiter als Bemerkungen des Einzelnen zur Aus - fuͤhrung verſchaffen. Unſer Zweck iſt das Ver - gnuͤgen unſerer Leſer und unſer Ruhm. Die Werke unſrer Zeit ſind Denkmaͤler von dem, was der menſchliche Geiſt nach Abſicht, mit Bewußt - ſeyn und durch ſich ſelbſt hervorzubringen im Stande iſt.

N 3198Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,

Vermiſchte Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, deſſen Schriften uͤber - haupt, und Charakter.

  • Aus dem zwoͤlften Bande der Neuen Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und freyen Kuͤnſte.

Unſere Abſicht iſt, das Andenken eines vortreff - lichen Mannes und unſers Freundes zu er - neuern, indem wir zugleich von dem letzten Ge - ſchenke reden, das er uns und dem Publiko ge - macht hat.

Wer Gellerten kannte, mußte ſchon voraus - ſehen, was das Eigenthuͤmliche dieſer Moral ſeyn wuͤrde. Er konnte keine tiefſinnigen Unterſuchun - gen uͤber die erſten Triebſedern unſrer Natur und199deſſen Schriften und Charakter. die erſten Gruͤnde von Verbindlichkeit erwarten: aber er konnte wiſſen, daß er die Religion zum Grunde der Moral geſetzt; daß er die einzelnen Tugenden ſorgfaͤltig erklaͤrt; ihre Bewegungs - gruͤnde auf die eindringendſte Art eingeſchaͤrft; die Mittel zu ihrer leichtern Ausuͤbung aus der Erfahrung geſchoͤpft; daß er durchgaͤngig Eifer fuͤr die Religion, Zaͤrtlichkeit fuͤr die, welche er belehrte; daß er in den Begriffen Deutlichkeit ohne muͤhſame Zergliederungen, und Ordnung ohne ſtrenge Methode; daß er im Vortrage An - muth und Beredſamkeit, den ruͤhrenden Ton vaͤ - terlicher Ermahnungen und die eindringende Stimme eines tugendhaften Freundes finden wuͤrde. Wer dieß in dieſem Werke ſucht, der findet es gewiß, und er wird Gellerten darinn erkennen.

Wir haben ſchon oft, duͤnkt uns, das Urtheil gehoͤrt und geleſen: daß dieſe Moral kein Syſtem ſey. Wir ſollten denken, wenn ein Syſtem eine Reihe von Wahrheiten iſt, die zuſammenhaͤngen, und davon die vorhergehenden zum VerſtandeN 4200Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,oder zum Beweiſe der folgenden angewandt wer - den, ſo iſt dieß ein Syſtem. Denn die wichtig - ſten Pflichten ſind entweder ausdruͤcklich, oder bey Gelegenheit abgehandelt, die allgemeinen Grund - ſaͤtze ſind vorausgeſchickt, die beſondern Tugen - den aus dieſen Grundſaͤtzen hergeleitet.

Wenn der Leſer, welcher den Schriftſteller kennt, ihn ſelbſt handeln geſehen, ihn reden ge - hoͤrt hat, wenn ein ſolcher Leſer uͤberhaupt die Schriften des Mannes beſſer verſteht; wenn er ſich viele Stellen durch die Geberde deſſelben, durch ſeine Mienen, durch ſein ganzes Betragen beſſer zu erklaͤren weiß, oder ſie ruͤhrender und eindringender findet, ſo muß es bey dieſer Moral vorzuͤglich ſtatt finden. In der That ſehen wir bey gewiſſen Stellen das Bild dieſes ehrwuͤrdigen Mannes wieder vor uns; wir denken uns ſein leidendes aber liebreiches Geſicht, wir hoͤren den Ton ſeiner Stimme, wir erklaͤren, wir verſtaͤrken uns alles, was wir leſen, indem wir uns das hinzudenken, was ſeine Worte nicht auszudruͤcken vermochten, was aber in ſeiner ganzen Perſon,201deſſen Schriften und Charakter. und noch mehr in ſeinem Umgange und ſeinem Le - ben ſichtbar wurde. Koͤnnten wir doch dieſe Empfindung unſern Leſern mittheilen! koͤnnten wir das Bild, das von ihm in unſerer Einbil - dungskraft daſteht, zergliedern, ohne es zu zer - ſtoͤren, um auch dem Verſtande unſrer Leſer einige Zuͤge davon kenntlich zu machen! Aber auch das unvollkommenſte Bildniß eines ſolchen Geiſtes und eines ſolchen Herzens muß immer noch ein einnehmendes Gemaͤlde geben, wenigſtens muß es eine reizende Arbeit fuͤr den Maler ſeyn; und warum ſollen wir nicht auch etwas auf unſer ei - gnes Vergnuͤgen rechnen duͤrfen?

Wenn in einem ſchoͤnen Koͤrper es irgend ein beſonderer Zug, ein einzelner Theil iſt, der ihn ſchoͤn macht: ſo iſt es dem Maler leicht, zu tref - fen. Aber wenn die Schoͤnheit nicht in der aus - nehmenden Vortrefflichkeit eines Gliedes, ſondern in der guten Bildung aller Theile, und in der Ue - bereinſtimmung derſelben liegt: dann wird es ſchwer, das, was man bey dem Anblicke auf ein - mal empfunden hat, durch einzelne Zuͤge nachN 5202Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,und nach wieder darzuſtellen. Das letztere iſt der Fall, wenn man den eigenthuͤmlichen Charakter des Gellertſchen Geiſtes ſchildern will. Seine Talente waren gewiß groß, aber ſie waren nicht groß durch den ausnehmenden Grad einer einzi - gen Faͤhigkeit, ſondern durch die Vereinigung und die mittlere Proportion aller. So mußten die Talente eines Mannes ſeyn, deſſen Schriften das Verdienſt haben ſollten, das Abbt den Gellert - ſchen zuſchreibt, von ſeiner ganzen Nation geleſen, verſtanden und geachtet zu werden; zu Aufklaͤ - rung der niedrigſten und zur Verbeſſerung und Ergoͤtzung der hoͤchſten Klaſſen beyzutragen. Nur durch dieſe ſeine Miſchung der verſchiedenen Er - kenntnißkraͤfte kann die Natur einen Geiſt hervor - bringen, deſſen Werke vortrefflich ſeyn koͤnnen, ohne uͤber die Faſſung des großen Haufens erho - ben zu ſeyn.

Der Leſer muß immer die Talente des Schrift - ſtellers, den er verſtehen, und der ihm gefallen ſoll, zwar in einem niedrigern Grade, aber doch in einem gewiſſen Maaße haben. Diejenige Art203deſſen Schriften und Charakter. von Genie alſo, die, indem ſie uͤber andere erha - ben iſt, doch noch die meiſte Aehnlichkeit mit ih - nen beybehaͤlt; welche die Denkungsart am we - nigſten veraͤndert: dieſe wird auch den meiſten brauchbar und ergoͤtzend werden. Sobald in den Ideen oder im Ausdrucke eines Buches Witz, oder Scharfſinn, oder nachforſchende Vernunft, ein ſehr merkliches Uebergewicht uͤber die uͤbrigen Faͤhigkeiten haben, ſobald wird es nur Eine Klaſſe von Leſern geben, die an dem Buche Geſchmack findet, und die es zu brauchen weiß. Es muß ebenfalls ein in ſeiner Art witziger Kopf, oder ein Philoſoph einer niedrigern Stufe ſeyn, der alles das gewahr werden ſoll, was der hoͤhere Witz und die tiefere Philoſophie in das Werk hineingelegt hat. Wenn aber die Vernunft die Zergliederung nur ſo weit treibt, als noͤthig iſt, die Begriffe, welche alle Menſchen klar haben, vollkommen deutlich zu machen; wenn die Einbildungskraft ihre Bilder aus dem allgemeinen Vorrathe aller menſchlichen Erfahrungen hernimmt, und ſie nach den Regeln der natuͤrlichſten, gewoͤhnlichſten Ord -204Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,nung zuſammenſetzt; der Witz neue, aber keine ſehr verſteckte Aehnlichkeit aufſucht; und wenn alle dieſe Faͤhigkeiten in einer Sprache ſich aus - druͤcken, die rein, anſtaͤndig, gewaͤhlt, und doch nicht zu ausgeſucht fremd und kuͤnſtlich iſt: dann wird das, was durch die Vereinigung ſo vieler ſich im Gleichgewichte haltenden Kraͤfte iſt hervor - gebracht worden, auch einen ſehr zuſammengeſetz - ten Eindruck auf die Seele der uͤbrigen machen; es wird fuͤr jede Klaſſe von Leſern eine Seite ha - ben, die ihrem Kopfe und ihrem Geſchmacke ge - maͤß iſt: und ſo wird es auch von allen Klaſſen geſchaͤtzt und geliebt werden. Dieß, deucht uns, iſt der Charakter der Gellertſchen Schriften. Sei - ne Fabeln ſind das Buch der Nation geworden; man lieſt ſie, wo man ſonſt nichts lieſt; jeder - mann verſteht ſie, findet den Scherz, woran er ſich vergnuͤgen, und die Wahrheit, die ihn beſſern ſoll. Und iſt nicht eben in dieſen Fabeln dieſes gluͤckliche Gleichgewicht aller Gaben des Geiſtes am meiſten ſichtbar? Sie enthalten viel Wahr - heit und Philoſophie, ſowohl Beobachtungen uͤber205deſſen Schriften und Charakter. die Dinge und Menſchen, als Regeln, ſie beſſer zu machen: aber es ſind ſolche, die jeder, ſobald er ſie hoͤrt, als bekannt anſehen, die jeder, auch wenn er kein großer Beobachter iſt, durch ſeine eigne Erfahrung rechtfertigen kann. Die Erzaͤh - lung iſt lebhaft, voller Munterkeit und eines ein - nehmenden Scherzes: aber kein einziger witziger Einfall, den es Muͤhe koſtete zu erklaͤren; keine ſcharſſinnige Sentenz, deren verborgener Sinn erſt durch einen aͤhnlichen Scharfſinn entdeckt werden muͤßte. Die Poeſie des Styls iſt in ih - rer Art die vollkommenſte, die ſeyn kann; kein Zwang, nicht die geringſte Abweichung von der Richtigkeit des Sinns und der Genanigkeit des Ausdrucks um des Sylbenmaaßes willen, allent - halben die eigentlichſten Woͤrter, keine neugemach - te Redensart, keine fremde Wendung, alles mit - ten aus dem gemeinſten Sprachgebrauche heraus - genommen, lauter Ausdruͤcke, die jedermann im Munde fuͤhret, und doch alle edel, ihrem Ge - genſtande angemeſſen, und in der Verbindung neu.

206Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,

Uns duͤnkt, wenn man das Ding, was man Geſchmack nennt, irgendwo zu ſuchen hat, ſo iſt es eben nicht an den aͤußerſten Graͤnzen des Ge - nies, ſondern in dieſem Mittelpunkte, wo die ver - ſchiedenen Faͤhigkeiten, die in den Umkreis des menſchlichen Geiſtes gehoͤren, gleichſam zuſam - menſtoßen, und ſich in gleichen Proportionen vereinigen. Genie naͤmlich ſoll irgend eine aus - nehmende Groͤße der Geiſteskraft, die in einem Werke ſichtbar iſt, und Geſchmack die Uebereln - ſtimmung und Schicklichkeit aller Theile deſſelben anzeigen. Wenn nun jene Groͤße nicht ſowohl darinn beſteht, daß das ganze Syſtem aller Faͤ - higkeiten in gleichem Grade erweitert iſt, als daß vielmehr nur Eine aus allen uͤbrigen abgeſondert, und einzeln unter ihnen gleichſam hervorgezogen worden: ſo wird der Theil des Werks, der gerade durch dieſe Faͤhigkeit ſich bearbeiten laͤßt, vor - trefflich, und vielleicht in einem hoͤhern Grade vortrefflich werden, aber alle uͤbrigen (und kein Werk von gewiſſem Umfange laͤßt ſich in allen ſei - nen Theilen nuͤr durch dieſelbe Faͤhigkeit bearbei -207deſſen Schriften und Charakter. ten,) alle uͤbrigen werden ohne Vergleich ſchlech - ter ſeyn. Ueberdieß wird es an der Verbindung und dem gehoͤrigen Verhaͤltniſſe der Theile fehlen; und eben in dieſer gleichen Ausarbeitung aller Stuͤcke und in der richtigen Zuſammenfuͤgung derſelben liegt das Geſchmackvolle. Man kann alſo wohl ſagen, daß vielleicht kein deutſcher Schriftſteller dieſe Eigenſchaft ſo ſehr ſeinen Wer - ken mitgetheilt habe, als Gellert. Wenn ſeine Werke nicht alle von gleicher Vortrefflichkeit ſind, ſo iſt doch das Unanſtaͤndige, Unſchickliche in keinem.

Dieſen ſo von Natur gleichſam gemaͤßigten Geiſt findet man gewiß auch in ſeiner Moral wie - der. Die Grundſaͤtze der Pflichten ſind alle da, ſind bis auf einen gewiſſen Grad entwickelt, aber ſie ſind nur ſo weit verfolgt, als ſie ohne Muͤhe erklaͤrt und verſtanden, nnd ohne Streitigkeiten feſtgeſetzt werden koͤnnen. Allenthalben findet man in den Abhandlungen der einzelnen Pflich - ten, daß der Verfaſſer ein Mann iſt, der die Tu - gend kennt, weil er ſie ausuͤbt; daß er ſich ſelbſt208Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,erforſcht, an ſich ſelbſt Verſuche gemacht hat, wie man gut ſeyn koͤnne, und ſeinen Leſern nicht bloß die Folge ſeiner Schluͤſſe, ſondern die Sammlung ſeiner Erfahrungen mittheilt.

Dieſe Moral, ſagt Gellert ſelbſt, und ſeine Freunde wiederholen es, ſoll mehr fuͤr das Herz, als fuͤr den Verſtand geſchrieben ſeyn. Was die - ſes Verſprechen fuͤr einen Sinn habe, zeigt die Art ſelbſt, auf welche er es erfuͤllt hat. Es konn - te unmoͤglich ſeine Meynung ſeyn, daß er ruͤhren wollte, ohne zu unterrichten; denn wir ſehen ihn ja in der That weit laͤnger mit der Erklaͤrung, als mit der Einſchaͤrfung der Pflichten beſchaͤff - tigt. Er verlangt nicht die Neigungen zu beſſern, ohne vorher die Meynungen und Grundſaͤtze be - richtigt zu haben; denn was iſt denn der groͤßte Theil ſeines Buchs anders, als ein Vortrag all - gemeiner Wahrheiten? Alſo nur das konnte er meynen: einmal, daß das Vermoͤgen und der Eifer, die Pflichten auszuuͤben, nicht von einer philoſophiſchen Kenntniß der Natur des Men - ſchen und des Urſprungs der Pflichten abhange;209deſſen Schriften und Charakter. zum andern, daß der Vortrag, der Styl, die Methode ſeines Buchs mehr auf die wirkliche Beſſerung, als auf den bloßen Unterricht abzielen ſolle.

Wenn ein Werk einen großen und guten End - zweck hat, und dieſen Endzweck erreicht, ſo iſt das Werk gut. Und kann es wohl einen beſſern und hoͤhern Endzweck geben, als den, die Schaͤtze der menſchlichen Weisheit aus den Haͤnden der wenigen, die ſie zuerſt geſammlet und zum Theil bisher in verborgenen Gefaͤßen verwahrt haben, in die Haͤnde des Volks zu bringen; mit einem Worte, den großen Haufen der Nation, ſelbſt mit Vorbeylaſſung der Gelehrtern und Weiſern, zu erleichten und zu veredeln? Wenn alſo Gellerts Moral auch weiter nichts thaͤte, als daß ſie die Vorſchriften und Bewegungsgruͤnde der Moral, die lange bekannt, und vielleicht vollſtaͤndiger und tiefſinniger abgehandelt ſind, ſo vortruͤge, daß ſie nun nicht bloß auf den kleinen Haufen ſchon edler Seelen wirkten, die, um uͤberzeugt zu ſeyn, nur Gruͤnde, und um bewegt zu werden,O210Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,nur den Anblick des Guten brauchen, ſondern daß ſie auch den Verſtand und das Herz gemeiner Menſchen einnaͤhmen, die uͤberredet und in Lei - denſchaft geſetzt ſeyn wollen, und die alſo bey ih - rem Lehrer Beredſamkeit fodern: waͤre Gellerts Moral nicht immer noch eines unſerer brauchbar - ſten Buͤcher? Und haͤtte es wohl dieſe Brauchbar - keit behalten, wenn die Erklaͤrungen ſchaͤrfer und kuͤrzer, die Beweiſe ſtrenger, die Unterſuchungen tiefſinniger, der Vortrag wiſſenſchaftlicher waͤre? Jetzo mag vielleicht der Gelehrte und der Philo - ſoph weniger neuen Unterricht daraus ſchoͤpfen, vielleicht der Mann, der ſchon viel gedacht und geleſen hat, weniger Nahrung darinnen finden: aber die weit groͤßere Anzahl vernuͤnftiger, aber nicht gelehrter Hausvaͤter und Hausmuͤtter wird ſich aus dieſem Buche unterrichten und er - bauen.

Unterdeſſen, wenn auch dieſes Buch nicht ei - gentlich zur Bereicherung der Moral als Wiſſen - ſchaft, ſondern zur Ausbreitung derſelben als ei - nes gemeinſchaftlichen Gutes der Menſchheit be -211deſſen Schriften und Charakter. ſtimmt iſt: ſo iſt es doch gewiß auch fuͤr den auf - geklaͤrten Leſer noch lehrreich, wofern er nur das Gemeine von dem Leichtbegreiflichen zu unter - ſcheiden, wofern er nur die Begriffe zu entwickeln weiß, deren Saame in den Betrachtungen des Verfaſſers liegt. Ein Beyſpiel davon muͤſſen wir nothwendig anfuͤhren.

Die Einbildungskraft, ſagt Gellert, ent - zuͤndet die Leidenſchaften, indem ſie uns die ge - noßne Luſt, oder den erlittnen Schmerz, entwe - der groͤßer vorſtellt, als er war, oder allein vor - ſtellt, da er doch mit gegenſeitigen Empfindun - gen vermiſcht war.

Dieſe Anmerkung ſcheint alt und bekannt; aber die Ausfuͤhrung derſelben leitet auf Betrachtungen, die weniger bekannt, oder weniger bemerkt ſind. Dieß naͤmlich iſt der vollſtaͤndige Sinn dieſer Regel. Vor jeder Be - gierde nach einem gewiſſen Vortheile oder Vergnuͤ - gen geht die Vorſtellung, und zwar eine bildliche Vorſtellung, des vollkommnern und angenehmern Zuſtandes, in welchen wir uns ſetzen wollen, vor - her. So denkt der, welcher den Wein liebt, erſtO 2212Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,an das Vergnuͤgen des Trinkens, ehe er nach der Flaſche greift. Waͤre nun in dieſem Augenblicke das Bild von dem Uebel oder dem Schmerze, der aus der Befriedigung folgen wird, eben ſo leb - haft, ſo waͤre die Begierde uͤberwunden. Aber das Ungluͤck iſt, daß dieſes Bild gemeiniglich ſchwerer fuͤr die Einbildungskraft, und oft un - moͤglich, immer aber unbeſtimmt und dunkel iſt. Als in unſerm Falle waͤre es das Bild einer kuͤnf - tigen Krankheit, aber doch keiner gewiſſen, zu kei - ner gewiſſen Zeit; oder es waͤre das Bild eines Menſchen, der verachtet wird, oder der ſich Vor - wuͤrfe macht; aber wie wenig ſinnlich iſt nicht dieſes Bild? Alſo iſt nur dieß Mittel wider die Leidenſchaft, entweder der Einbildungskraft alle Arten von ſehr lebhaften und ausfuͤhrlichen Schil - derungen, angenehmer oder verdrießlicher Gegen - ſtaͤnde, zu verwehren, und nur deutlichen Ueber - legungen Platz zu laſſen; oder ihr die Fertigkeit zu erwerben, ſich beide Arten von Bildern, die, welche der Leidenſchaft, und die, welche der Tu - gend zu Dienſten ſind, gleich lebhaft vorzuſtellen. 213deſſen Schriften und Charakter. Denn, ſich ein Vergnuͤgen zu verſagen, das man ſich jetzt eben nach allen verſchoͤnernden Umſtaͤn - den vorſtellt; oder eine Beſchwerde zu uͤberneh - men, deren finſteres Gemaͤlde jetzt eben die Ein - bildungskraft einnimmt: das ſteht nicht in des Menſchen Macht. Die Regel ſagt alſo: Wer uͤber ſeine Leidenſchaften herrſchen will, muß erſt uͤber ſeine Einbildungskraft Herr werden; er muß den - ken koͤnnen, was er will; muß durch den koͤnigli - chen Befehl ſeiner Vernunft ſeine Aufmerkſamkeit auf diejenige Sache und auf denjenigen Theil und Umſtand der Sache richten koͤnnen, der ſei - ner Abſicht gemaͤß iſt. Das wird wieder andere Huͤlfsmittel vorausſetzen, und unter dieſen fallen die beiden folgenden am meiſten in die Augen: 1) Man muß ſeinen Verſtand und ſeine Einbil - dungskraft mit ſo viel wichtigen und einnehmen - den Begriffen und Bildern anzufuͤllen ſuchen, als man kann. Man muß denken lernen. Nur als - dann kann die Aufmerkſamkeit von einem Gegen - ſtande abgezogen werden, wenn man einen an - dern gleich bey der Hand hat, der ſie eben ſo ſtarkO 3214Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,beſchaͤftigt. Wem bey jeder Sache eine Menge intereſſanter Gedanken und Bilder zu Gebote ſte - hen, der wird leicht den erſten Gedanken vertrei - ben koͤnnen, deſſen ſchaͤdliche Wirkſamkeit er kennt. 2) Man muß, ohne beſondere Abſichten, ſeiner Einbildungskraft nicht geſtatten, auch die ſinn - lichen Objekte anders als im Großen ſich vorzu - ſtellen. Wenn einmal die Seele den Hang hat, ihre Gemaͤlde bis auf die kleinſten Zuͤge auszufuͤh - ren, ſo wird ihre Begierde immer nur durch das Einzelne, nur durch Einen Gegenſtand, nur durch Einen Umſtand der Sache beſtimmt ſeyn, und die Tugend geht aufs Allgemeine, umfaßt Alle Ge - genſtaͤnde, zieht Alle Umſtaͤnde zugleich zu Rathe. Alles, was die Leidenſchaft reizt, laͤßt ſich ſo ganz umſtaͤndlich vorſtellen; aber die Ideen, die zur Tugend antreiben, ſind die Ideen des Vaterlan - des, der ganzen menſchlichen Geſellſchaft, der gan - zen Natur, der ganzen Zeit, der Zukunft, die alle, entweder nur mit dem Verſtande, oder nur durch einige große und allgemeine Zuͤge der Einbildungs - kraft vorgeſtellt werden koͤnnen.

215deſſen Schriften und Charakter.

Wir kommen wieder auf den Mann ſelbſt zu - ruͤck, von deſſen Werke wir redeten. Wir haben keine beſondere Nachrichten von ſeinen Lebensum - ſtaͤnden. Wir kennen ihn nur aus ſeinen Schrif - ten und aus ſeinem Umgange. Wir werden alſo nur wenig erzaͤhlen koͤnnen; aber bey einem ſol - chen Manne muß uns auch dieſes Wenige viel zu denken geben.

Nichts iſt ſchwerer zu beſtimmen, als das Ei - genthuͤmliche eines gewiſſen Geiſtes, beſonders wenn dieſer ein großer Geiſt, und noch mehr, wenn er ein Genie iſt. Alle Vollkommenheiten des Geiſtes laſſen ſich auf gewiſſe Vollkommenhei - ten der Gedanken bringen; oder vielmehr, nur ſo viel Unterſchiede und Vorzuͤge der Faͤhigkeiten und der Kraͤfte kennen wir, als wir Verſchieden - heiten und Grade der Vortrefflichkeit in den Ideen finden. Den Charakter einer beſtimmten Faͤhig - keit koͤnnen wir alſo faſt nicht anders angeben, als indem wir den beſondern Urſprung, die Ent - ſtehungsart der Gedanken beſchreiben, die dieſer Faͤhigkeit eigenthuͤmlich ſind. Dieſes geht nunO 4216Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,alsdann an, wenn dieſe Gedanken Folgen ande - rer Gedanken, mit einem Worte Wirkungen der Reflexion und des Nachdenkens ſind. Aber wenn ſie unmittelbar aus der Kraft der Seele zu ent - ſtehen ſcheinen, wenn ſich die veranlaſſenden hoͤ - hern oder fruͤhern Ideen nicht finden, ſelbſt von dem Menſchen, der jene hat, nicht bemerken laſ - ſen: dann iſt, ſo wie allenthalben, wo wir in unſerer Erklaͤrung der Phaͤnomene nicht mehr Wirkungen aus Wirkungen herleiten koͤnnen, ſon - dern bis zur wirkenden Kraft ſelbſt kommen, un - ſere Unterſuchung zu Ende. Und gerade dieſe letzte Art vortrefflicher Gedanken iſt es, die wir dem Genie zuſchreiben; gerade die Quelle ſolcher Ideen ſoll dieß Wort ausdruͤcken, die nicht durch Fleiß nach und nach ausgebildet worden, ſon - dern die aus dem Grunde der Seele ploͤtzlich ent - ſprungen ſind.

Wenn wir alſo hier etwas erklaͤren, und da - zu Urſachen aufſuchen wollen: ſo duͤrfen wir uns in der Seele ſelbſt nicht mehr darnach umſehen; ſondern wir muͤſſen die Umſtaͤnde des Menſchen217deſſen Schriften und Charakter. zu Rathe ziehen; die Gegenſtaͤnde, von denen er ſeine Begriffe bekommen, die Begebenheiten, durch welche er zur Aufmerkſamkeit auf gewiſſe Begriffe bewogen worden. Dieß iſt es, was Er - ziehung heißt.

Alles, was wir von der erſten Erziehung und dem fruͤhern Unterrichte Gellerts wiſſen, iſt bloß das, was ſie mit der Erziehung und dem Unter - richte jedes andern jungen Gelehrten gemein hat. In dieſem Alter wird der Juͤngling, den die Na - tur zum großen Manne beſtimmt hat, wenn er nicht von reichen oder vornehmen Aeltern gebo - ren iſt, wenig bemerkt. Und wenn er auch be - merkt wuͤrde: wer wuͤrde der Natur in dieſer ih - rer geheimen Werkſtaͤtte folgen koͤnnen? wer wuͤr - de unter der Menge wirklich gemeiner Vorfaͤlle die wichtigen, welche eben ſo gemein ſcheinen, herauszufinden, und unter dem Haufen kindi - ſcher Uebungen, und oft verkehrter Arbeiten, die - jenigen zu unterſcheiden wiſſen, bey welchen das Genie des kuͤnftigen Mannes ſich zuerſt gezeigt hat?

O 5218Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,

Und in der That hat bey den wirklich großen Geiſtern dieſe erſte Erziehung weit weniger Ein - fluß, als bey den uͤbrigen. Eben weil ſie eine ei - genthuͤmliche Form haben, ſo haftet die fremde ſchlechtere nicht, die man ihnen aufdruͤcken will, oder ſie wird zu einer gewiſſen Zeit wieder abge - worfen.

Faſt alle Menſchen einer hoͤhern Klaſſe erin - nern ſich eines gewiſſen Zeitpunkts in ihrem Leben, in welchem ſich ihre Denkungsart, ihr Charakter, ihre Schreibart ausnehmend geaͤndert habe. Gellert wußte einen ſolchen Zeitpunkt. Vielleicht wuͤrde alſo zu der Abſicht, die wir haben, eine vollſtaͤndigere Geſchichte ſeiner erſten Studien un - brauchbar ſeyn.

So viel koͤnnen wir aus der Vergleichung deſſen, was er geworden iſt, mit den Umſtaͤnden, in denen er ſich zuerſt befunden hat, errathen, daß die Vorſehung alles darauf angelegt habe, einen wirklich großen emporſtrebenden Geiſt auf gewiſſe Weiſe niederzuhalten, um ihn gemeinnuͤtzi - ger zu machen. Man ſtelle ſich einen faͤhigen219deſſen Schriften und Charakter. und thaͤtigen, aber doch ſchon ernſthaften und empfindlichen Juͤngling vor, der erſt die gewoͤhn - liche Zeit in der Sklaverey unſrer Schulen ſeufzt; dann ſeine akademiſchen Jahre in Duͤrftigkeit und Dunkelheit, unter Beſchaͤftigungen, die ihm mißfallen, oder fuͤr die er nicht gemacht iſt, zu - bringt; dann von ſeinen Umſtaͤnden hin und her getrieben, von wenigen geſchaͤtzt, und noch von niemanden fuͤr das erkannt und zu dem aufge - muntert wird, wozu ihn die Natur beſtimmt hat; der von dem beſchwerlichen Geſchaͤfte eines Pri - vatlehrers, von einem Orte, wo er zu ſeiner ei - genen Aufklaͤrung und Verbeſſerung nichts thun konnte, mit nicht guͤnſtigern Ausſichten wieder zu der Akademie zuruͤckkehrt, und es fuͤr eine un - erreichbare Gluͤckſeligkeit haͤlt, auf dieſer Akade - mie Lehrer zu werden; der, da er anfaͤngt ſeine Talente zu fuͤhlen, und Maͤnner zu finden, die ihm in der Ausbildung derſelben beyſtehen koͤn - nen, durch die Duͤrftigkeit gezwungen wird, ſein aufkeimendes Genie zu Arbeiten zu brauchen, durch welche es erniedrigt und in ſeinem Wachs -220Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,thume verzoͤgert wird; bey dem ſich zeitig mit die - ſen niederſchlagenden Umſtaͤnden, eine Schwach - heit des Koͤrpers, und ein anhaltendes, wenn auch nicht heftiges, Leiden vereiniget: was kann man wohl natuͤrlicherweiſe von dieſem Juͤnglinge erwarten? Wenn er nur einen geringen Grad von Kraft und Thaͤtigkeit unter dieſe Umſtaͤnde gebracht hat, ſo wird dieſe wahrſcheinlicherweiſe verloͤſchen oder geſchwaͤcht werden, und ſich in den alltaͤglichen Beſchaͤfftigungen eines Hand - werksgelehrten verzehren. Iſt es aber ein Menſch von edlerer Natur, von hoͤhern Gaben, von groͤſ - ſerm Feuer, ſo wird zwar der Flug des Geiſtes ei - nigermaßen gehemmt, ſeine emporſtrebende Kraft ein wenig zuruͤckgehalten, vielleicht ſeine eigene Gluͤckſeligkeit mit ſeinem Stolze zugleich vermin - dert werden: aber es werden auch die Fruͤchte dieſes Geiſtes reifer und milder, ſeine Gaben mehr in den Schranken der Brauchbarkeit erhal - ten, ſein Trieb zu Unternehmungen mehr zu einer ſtillen ſanften Wohlthaͤtigkeit herabgeſtimmt wer - den.

221deſſen Schriften und Charakter.

Vielleicht war es auch fuͤr Gellerten nuͤtzlich, oder es gehoͤrte wenigſtens dazu, ſeinem Kopfe und ſeinen Schriften ihren eignen Charakter zu geben, daß, wo er nicht Gottſcheds Schuͤler war, er doch wenigſtens die Werke und den Geſchmack deſſelben herrſchend fand, als er ſich bildete. Wenn ein junger guter Kopf Schriftſteller vor ſich findet, die mehr erhaben als ſchoͤn, mehr ſtark als anmuthig zu ſeyn ſuchen; wenn der Geſchmack der Zeit darauf geht, das Aeußerſte zu verſuchen, was die Sprache vermag; ſo iſt er ſehr in Ge - fahr, aus Begierde nach noch hoͤherer Vollkom - menheit, unnatuͤrlich und ſchwuͤlſtig zu werden; wenigſtens wird ſchwerlich unter ſolchen Umſtaͤn - den ein Schriftſteller ſeyn gebildet worden, den alle Welt geleſen und genuͤtzt haͤtte. Wenn aber das Genie Leeres auszufuͤllen, wirkliche Maͤngel zu erſetzen, das Matte und Kraftloſe zu beleben findet; wenn es nicht ſowohl damit zu thun hat, das Gute zu uͤbertreffen, als das Schlechte gut zu machen; wenn es ſeine Kraft, die ſonſt zu dem Erhabenen emporſteigen wuͤrde, dazu anwen -222Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,den muß, ſich aus dem Niedrigen und dem Ge - meinen hervorzuarbeiten: dann wird, durch dieſe Verbindung ſeiner eignen Vortrefflichkeit mit den Maͤngeln ſeiner Lehrer und ſeiner Zeit, diejenige Leichtigkeit, Verſtaͤndlichkeit, Simplicitaͤt hervor - gebracht, die Gellerts Werke faſt von allen nach - ſolgenden unterſcheiden.

Das einzige Huͤlfsmittel, von welchem wir deutlich ſehen, daß die Vorſehung es gebraucht hat, die Anlagen, die in ſeinem Geiſte waren, auszufuͤhren, ſind die Freunde, die ſie ihm in Leipzig zufuͤhrte, und mit denen er zugleich Mann und Schriftſteller wurde. Es iſt merkwuͤrdig, daß faſt unter allen Nationen ſich die guten Koͤpfe in Einem Zeitpunkte zuſammengefunden haben. Gel - lert wußte, was er dieſen Freunden ſchuldig war. Er erinnerte ſich mit Dankbarkeit und Vergnuͤgen an die Strenge, mit der er von ihnen beurtheilt worden, an die Schuͤchternheit, mit welcher er ihnen ſeine Sachen vorgelegt, und an den kleinen Stolz, mit welchem ihr ſparſames Lob ihn erfuͤllt hatte.

223deſſen Schriften und Charakter.

Richter uͤber ſeine Auffuͤhrung oder ſeine Schriften zu haben, die man nicht ſo weit uͤber ſich ſetzet, daß ihr Rath ein Befehl und ihr Tadel ein Vorwurf wuͤrde, und die man doch auch ſo weit hochachtet, daß man ihr Urtheil fuͤr guͤltig haͤlt, und zuweilen dem ſeinigen vorzieht; Freun - de von gleichem Grade des Verſtandes und von gleichen Abſichten, die man nicht erſt in ſeinem maͤnnlichen Alter ſich erwirbt, als wo immer die neuentſtandene Vertraulichkeit Behutſamkeit und Schonung, und die Freymuͤthigkeit die Decke der Hoͤflichkeit verlangt; ſondern die man aus ſei - nem Juͤnglingsalter mitbringt, in welchem man dreiſten Widerſpruch zu hoͤren am leichteſten ge - wohnt wird: ſolche Richter, ſolche Freunde zu haben, iſt zur Ausbildung und zur Beſſerung des Menſchen gleich vortheilhaft. Die Correction, die in Gellerts Werken herrſcht, hatte er gewiß dieſen zu danken.

So weit koͤnnen wir die Urſachen errathen, die auf die Denkungsart Gellerts einen Einfluß224Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,gehabt haben. Wir wollen jetzt ſehen, was ſie fuͤr Wirkungen hervorbrachten.

Sowohl ſeine natuͤrlichen Kraͤfte, als ſeine erworbene Einſichten, hatten den eignen Charakter der Gemeinnuͤtzigkeit. Seine Wiſſenſchaft und ſein Genie, anſtatt daß ſie ſonſt den Mann, dem ſie in einem vorzuͤglichen Grade eigen werden, von den uͤbrigen gemeinern Menſchen entfernen, dienten nur dazu, ihn genauer mit denſelben zu vereinigen. Da ſie ſonſt oft nichts als eine Hochachtung auflegen, die immer mit einiger Ei - ferſucht, und alſo mit einer Art von Widerwillen verbunden iſt, ſo ſollten ſie bey ihm nur ſeiner Tugend Zutritt verſchaffen. Sie leuchteten gleich - ſam vor ihm her, damit die Wirkung ſeines Cha - rakters und ſeiner Menſchenliebe ſich auf mehrere erſtrecken koͤnnte.

Zu dem Ende mußten ſeine Einſichten am mei - ſten auf das praktiſche Leben gerichtet, ſie muß - ten nicht ſowohl Wiſſenſchaft als Weisheit ſeyn; er mußte weniger erlernte, als Erfahrungsideen, mehr richtige Beurtheilungskraft in einzelnen225deſſen Schriften und Charakter. Faͤllen, als Tiefſinn zu allgemeinen Theorien be - ſitzen; er mußte weniger Feuer in ſeiner Einbil - dungskraft, als Richtigkeit haben; er mußte in den Sachen mehr das Offenbare und Gemein - nuͤtzige ins Licht zu ſetzen, als das Verſteckte und weniger Brauchbare zu finden wiſſen; ſein Witz mußte nicht ſowohl durch die Neuheit und das Außerordentliche ſeiner Verknuͤpfungen, als durch ihre in die Augen fallende Wahrheit gefallen.

Weit mehr Stoff zu ſeinen Erkenntniſſen hatte Gellerten die eigene Beſchaͤfftigung ſeines Verſtandes an den Dingen und Begebenheiten ſelbſt verſchafft, als das Leſen und der Unterricht; weit mehr Begriffe ſcheint er von der innern Em - pfindlichkeit ſeines Herzens, als von der Schaͤrfe ſeiner aͤußern Sinne bekommen zu haben. Er hatte fuͤr keine der Kuͤnſte, deren Schoͤnheiten durch die letztern beurtheilt werden, einen ent - ſchiedenen und ſichern Geſchmack. Aber das mo - raliſch Gute und Boͤſe in ſich und in andern zu erkennen, dazu hatte er ein feines Unterſcheidungs - vermoͤgen und ein ſicheres Gefuͤhl. Er war einP226Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,Beobachter, nicht in der Abſicht, um die menſch - liche Natur uͤberhaupt kennen zu lernen, ſondern um ſeine eigne Beſſerung, auf die er weit fruͤher und weit ernſtlicher als die meiſten Menſchen be - dacht war, durch die Kenntniß ſeiner Fehler zu be - foͤrdern. Dieſe Beobachtungen ſah er nicht als Erſcheinungen an, die er aus allgemeinen Geſetzen der Natur erklaͤren wollte, ſondern er machte ſie zu Maximen und Regeln, die er unmittelbar auf ſeine Perſon und ſeine Umſtaͤnde anwenden muͤßte.

Demunerachtet zeigen ſeine Werke, daß er die moraliſche Welt auch in einem weitern Umfange kannte. Er kannte die Empfindungen, das Be - tragen, die Sitten, die Neigungen, die Aus - druͤcke der verſchiedenen Staͤnde und der verſchie - denen Charaktere. Was er ſchildert, iſt allemal kenntlich, und das innerſte Gefuͤhl eines jeden Le - ſers ſtimmt damit uͤberein. Er kannte die Lei - denſchaften vielleicht nur in ihren ſanfteſten Aeuſ - ſerungen; aber er war auch um ſo viel weniger227deſſen Schriften und Charakter. in Gefahr, durch das Gemaͤlde derſelben ſchaͤdlich zu werden.

Seine Einbildungskraft war in der Epoche ſeines Lebens, wo er ſeine beſten Werke ſchrieb, ſehr wirkſam, obgleich nicht heftig. Die Arbeit erfuͤllte und beſchaͤfftigte alsdann ſeinen Geiſt voͤl - lig; er genoß das volle Gluͤck, das ein Schrift - ſteller genießen kann, ſich unter ſeinen eigenen Ideen ſelbſt zu vergeſſen, und die Empfindung der Unannehmlichkeiten in der wirklichen Welt, durch die Vorſtellung einer erdichteten, auszuloͤ - ſchen. So, wie Gellert, kann kein Mann erzaͤh - len, wenn nicht die Sache, die er erzaͤhlt, vor ſei - nen Augen vorgeht; wenn er nicht mitten unter den Perſonen iſt, die er ſprechen laͤßt; wenn er ſich nicht die Begebenheit ſo als eine gegenwaͤr - tige denkt. Aber man ſieht auch, und er ſelbſt bezeugte es, daß nicht ſowohl eine außerordent - liche ploͤtzliche Anſtrengung ſeines Geiſtes, als eine anhaltende gleiche Wirkſamkeit, ſeine beſten Stuͤcke hervorgebracht habe. Er war immer ge - maͤßigt, ruhig; vollkommen beſchaͤfftigt, aberP 2228Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,nicht begeiſtert; er behielt alſo noch alle Beſon - nenheit, auf den vollkommenſten Ausdruck, den richtigſten Reim und die ſtrengſte Correction zu denken. Ueberdieß wurde dadurch das ganze Kolorit ſeiner Gemaͤlde ſanfter, ſein Spott un - ſchuldiger, die Freude gelaßner. Es blieb alles in den genaueſten Schranken der Moralitaͤt und der Kritik. Dagegen ermuͤdete ſein Geiſt nicht ſo - bald, er arbeitete oft an einer Fabel ununterbro - chen mehrere Tage, aͤnderte ohne ungeduldig oder unmuthsvoll zu werden, und verfolgte die Idee von Vortrefflichkeit, auch wenn es ihm zuerſt fehl - ſchlug, mit Standhaftigkeit und Muth.

Seine Imagination war, beſonders in ſei - nen letzten Jahren, mehr der traurigen Bilder faͤ - hig, weil ſelbſt die traurigen Empfindungen die Oberhand hatten. Immer ſcheint das Wehmuͤ - thige, das Sanfte, mehr Eindruck bey ihm ge - macht zu haben, als das Froͤhliche und das Hef - tige. Er war oft und gern allein, und konnte ohne Buͤcher, ohne Umgang, und ohne mit neuen Werken umzugehen, ſich lange mit ſeinen eignen229deſſen Schriften und Charakter. Gedanken vergnuͤgen; dieß kann man nur, wenn man entweder Tiefſinn oder Einbildungskraft hat. Die ſanften Ruͤhrungen der Religion ſelbſt, die er zu dieſen Zeiten hatte, erfodern die Huͤlfe dieſer Faͤhigkeit. Das Nachdenken uͤber Gott kann die Seele in eine ſtarke Thaͤtigkeit ſetzen: aber ſie wehmuͤthig machen, ſie ruͤhren, Freudenthraͤ - nen hervorbringen kann es nur, wenn es mit gewiſſen Bildern vergeſellſchaftet iſt. Er klagte in ſeinen ſpaͤtern Jahren oft, daß dieſe Ruͤhrun - gen ausblieben, daß der Anblick der Natur, und die Feyerlichkeit gottesdienſtlicher Handlungen, nicht mehr daſſelbe Feuer der Andacht bey ihm er - rege. Aber in der That war er zu mistrauiſch gegen ſich ſelbſt, um die natuͤrlichen Urſachen, die er ſich von dieſer Veraͤnderung angeben konnte, zu glauben. Seine Ueberzeugung und ſein Wille waren noch gleich lebhaft; aber ſeine Einbildungs - kraft, und die dunkeln Triebe, die damit zuſam - menhaͤngen, waren geſchwaͤcht.

Sein Nachdenken und die Faͤhigkeiten, die den Philoſophen ausmachen, waren bey ihm ſo,P 3230Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,wie ſie bey einem ſolchen Grade von Empfindungs - vermoͤgen und Einbildungskraft ſeyn koͤnnen, und ſo, wie ſie ſeyn muͤſſen, wenn dieſe Kraͤfte zum Beſten des Menſchen und der Welt wirken ſollen. Er hatte in ſeinen erſten akademiſchen Jahren die tiefſinnige ſpekulative Philoſophie ſehr geliebt, und mit Eifer getrieben. Aber in der That war es nur der Eifer eines an ſich thaͤtigen Geiſtes, der ſeinen wahren Gegenſtand noch nicht gefunden hatte. Dieſe Philoſophie hatte gewiß auf ſeine Schriften und ſeinen Charakter wenig Einfluß. Aber er machte ſich ſelbſt in der Folge eine andre; eine, die dem bloß geſunden Verſtande aller Men - ſchen naͤher koͤmmt; die in der Geſellſchaft und in der Welt beſſer gebraucht werden kann; und die die Cinbildungskraft nicht toͤdtet, ſondern leitet. Sein Verſtand war wirklich helle und durchdrin - gend; er faßte leicht; brachte ſeine Begriffe ge - ſchwind aufs Reine und Klare; gab ihnen den kuͤrzeſten, gedraͤngteſten und klaͤrſten Ausdruck; urtheilte mit Beſtimmung und Genauigkeit, und wußte allemal die Wahrheit, die er eingeſehen231deſſen Schriften und Charakter. hatte, einleuchtend zu machen. Eben weil er in jeder Sache nur auf das Große und Hauptſaͤch - liche ſah, und weil er ſeine Betrachtungen nur im Ganzen darſtellte, und ſie nicht bis auf zu feine Theile zergliederte; eben deswegen iſt er von dem Großen, von dem Manne von Geſchaͤfften, die beide nur ſolche Betrachtungen faſſen oder brau - chen koͤnnen, eben ſo ſehr geleſen und geachtet, als von denjenigen Philoſophen, die den Werth des geſunden Verſtandes noch zu ſchaͤtzen wiſ - ſen.

Seine Kritiken ſind ſeinen guten Schuͤlern ſehr nuͤtzlich geweſen. Er fand jede Unrichtigkeit in Gedanken und Ausdruck, ſobald er ſie finden wollte, und nur nicht fuͤr die Perſon zu guͤnſtig eingenommen war. Denn Wohlwollen konnte zuweilen ſein Urtheil verfuͤhren, aber niemals Haß.

Seine Kenntniſſe, ſo weit ſie durch Buͤcher - leſen und Fleiß erlangt werden koͤnnen, waren nicht ſehr ausgebreitet; aber ſie waren in derje - nigen Klaſſe, welche er ſich gewaͤhlt hatte, voll -P 4232Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,ſtaͤndig, und fuͤr ihn, zum beſten Gebrauche ſei - ner Talente, hinreichend. Er war, beſonders in den letzten Jahren ſeines Lebens, einer ſtrengen und anhaltenden Aufmerkſamkeit nicht faͤhig. Ue - berdieß ſchraͤnkten ſich ſeine Abſichten immer mehr auf ſeine moraliſche Vollkommenheit ein. Selbſt die Beſchaffenheit ſeines Geiſtes machte, daß nur wenig Buͤcher von ihm mit großer Begierde gele - ſen werden konnten. Dem Geiſte, der ſelbſt thaͤ - tig ſeyn kann, wird es immer ſchwer, ſich bloß von Andern beſchaͤfſtigen zu laſſen. Das Genie bringt lieber Ideen hervor, als daß es ſich die - ſelben mittheilen laͤßt. Ueberdieß giebt die Leb - haftigkeit der Einbildungskraft und der Empfin - dung dem Menſchen eine gewiſſe Unruhe, die ſich mit dem ſtillſitzenden Fleiße des unermuͤdeten Buͤ - cherleſens wenig vertraͤgt. Wenn aber Gelehr - ſamkeit ſo viel heißt, als ein aufgeklaͤrter und be - reicherter Geiſt; ſo hatte ſie Gellert in dem vor - zuͤglichſten Grade.

In ſeinen Schriften herrſchet noch außer allen dieſen Faͤhigkeiten eine ſo einnehmende Munterkeit,233deſſen Schriften und Charakter. ein ſo lachender Scherz, eine bey aller Unſchuld doch ſo fuͤhlbare Spoͤtterey, daß nothwendig in der urſpruͤnglichen Anlage ſeines Geiſtes ein ho - her Grad von Lebhaftigkeit geweſen ſeyn muß, weil ſie, auch nachdem ſie durch das Nachdenken ge - maͤßigt und durch Krankheit geſchwaͤcht worden, ſich noch ſo merklich aͤußern konnte.

Die Gabe, die dazu gehoͤrt, vortreffliche Ver - ſe zu machen, genau zu beſchreiben, iſt vielleicht mehr, als irgend ein Philoſoph vermag; dieſe Gabe, nur den Ausdruck des Gedankens zu ſu - chen, und doch zugleich den Reim und das Me - trum zu finden. Gellert beſaß dieſe Gaben, wenn irgend einer unſerer Dichter, und vielleicht hat nichts zu dem großen und allgemeinen Auf - ſehen, das ſeine Fabeln machten, mehr beyge - tragen. Es war eine ſeltſame und in Deutſch - land noch unerhoͤrte Erſcheinung, Verſe zu leſen, wo alles ſo geſagt war, wie man ſpricht, und doch alles edel und einnehmend, und alles zugleich im Sylbenmaaße und Reime richtig. Es iſt ge - wiß, daß die Poeſie, wenn ſie dieſe VortrefflichkeitP 5234Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,erreicht, einen weit groͤßern Eindruck macht, als die Proſe. Sogar das Vergnuͤgen, welches der Reim macht, iſt alsdann kein veraͤchtliches Ver - gnuͤgen mehr. Und wir glauben, daß, obgleich ein gewiſſer Zeitpunkt im menſchlichen Leben und in der menſchlichen Geſellſchaft koͤmmt, wo man uͤberhaupt gegen Verſe gleichguͤltiger wird, doch die Fabeln Gellerts zu denen wenigen gehoͤren, die zu allen Zeiten und in jedem Alter mit Vergnuͤgen werden geleſen werden.

So groß aber auch Gellert als Schriftſteller und Dichter iſt, ſo iſt er gewiß nicht bloß als Schriftſteller und Dichter ſo ſehr geſchaͤtzt wor - den, als er es war. Dieſe ganz allgemeine Ver - ehrung, die er genoß, dieſer Enthuſiaſmus, deſ - ſen unſre Nation fuͤr Dichter und Schriftſteller ſo wenig faͤhig zu ſeyn ſcheint, und der in allen Staͤnden und an allen Orten fuͤr die Perſon Gel - lerts herrſchte; dieſer ſein Ruhm, der nicht bloß im Beyfalle, ſondern in Liebe beſtund, iſt gewiß mehr eine Wirkung ſeines Charakters als ſeiner Gaben. Fuͤr den Freund der Tugend iſt dieß eine235deſſen Schriften und Charakter. herrliche Erſcheinung. Sie zeigt, was die[Tu -] gend unter den Menſchen vermag; ſie beweiſt, was bey Beobachtung einzelner Perſonen zweifel - haft werden koͤnnte, daß die Menſchen den Werth moraliſcher Vortrefflichkeit kennen, und, wo ſie nicht durch Vorurtheile gehindert werden, die Rechtſchaffenheit, mehr als irgend einen andern Vorzug, fuͤr den eigentlichen Gegenſtand der Hoch - achtung halten.

In der That waͤre Gellert fuͤr ſeine Freunde und fuͤr ſein Land immer ein merkwuͤrdiger Mann, wenn er auch kein großer Schriftſteller geweſen waͤre. Derjenigen Menſchen, die es zu dem Hauptgeſchaͤffte des Lebens machen, gut zu ſeyn, und Gutes zu thun, dieſer Menſchen giebt es noch zu wenig, als daß wir nicht aufmerkſam werden ſollten, wenn wir ſo gluͤcklich ſind, auf dem Wege unſers Lebens einen derſelben anzutreffen. Die Grundfeſte dieſes Charakters war die Religion; und nur die Religion kann einen ſolchen Charak - ter hervorbringen.

236Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,

Nur der Mann kann immer rechtſchaffen han - deln, der das immer fuͤr nuͤtzlich erkennt, was recht iſt. Das iſt nun in vielen Faͤllen ſchon aus den naͤhern und ſichtbaren Verbindungen, in welchen der Menſch ſteht, und aus den naͤchſten Folgen ſeiner Handlungen einleuchtend. Solche Tugenden werden alſo von dem Verſtaͤndigen, auch ohne Religion, ausgeuͤbt werden koͤnnen. Aber in noch mehrern, und gewiß in den ſchwer - ſten Faͤllen, erhellt die Nutzbarkeit der tugendhaf - ten Handlung erſt, wenn ſich der Menſch mit der ganzen Natur der Dinge, und alſo zugleich mit ihrem Urheber in Verbindung ſetzt; wenn er ſich die ganze Zukunft, und alſo zugleich das Weſen denkt, in deſſen Verſtande allein dieſe Zukunft vor - handen iſt, und durch deſſen Willen ſie beſtimmt wird.

Der menſchliche Geiſt muß Begierden, einen Endzweck, wornach er ſtrebt, Triebfedern haben, die ihn in Bewegung ſetzen. Wenn man ihm nun die kleinen eingeſchraͤnkten Endzwecke des Eigen - nutzes und der Eitelkeit nehmen will, ſo muͤſſen237deſſen Schriften und Charakter. andere Gegenſtaͤnde, andere Abſichten an deren Stelle treten; aber dieſer andere Gegenſtand kann nur Gott, dieſe andere Abſicht kann nur Voll - kommenheit, das heißt Tugend, ſeyn. Alle Dinge koͤnnen nur dieſe doppelte Beziehung auf uns ha - ben: die Beziehung, nach der ſie unſere aͤußern Vortheile, Bequemlichkeiten oder Ergoͤtzungen vermehren; und die Beziehung, nach der ſie un - ſer Weſen vollkommener machen. Zu der erſten Beziehung brauchen wir den Gedanken von Gott nicht. Die Sinne lehren uns zuerſt dieſe Wir - kungen jedes Gegenſtandes; die Vernunft ſagt ſie uns, nach einigen Erfahrungen, zuvor; und al - les, was wir dabey mehr oder anders thun als die Thiere, iſt, daß wir dieſe Vortheile auf einem laͤngern Wege ſuchen. Die Gegenſtaͤnde aber in der zweyten Beziehung anzuſehen, und durch dieſe Beziehung bewegt zu werden, dazu gehoͤrt das lebhafte Bewußtſeyn von der Gegenwart und dem Einfluſſe Gottes. Ohne den Begriff von Gott wiſſen wir nichts von einer innern Vortreflichkeit unſrer Natur, weil eben die Betrachtungen, die238Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,uns lehren, was ein vollkommner Geiſt ſey, uns darauf fuͤhren, daß es einen vollkommenſten ge - ben muͤſſe; und ohne die Ueberzeugung von dem Einfluſſe Gottes uͤber die Welt und uns, koͤnnen wir uns dieſe Vortreflichkeit nicht als einerley mit Gluͤckſeligkeit, nicht als einen Gegenſtand unſrer Begierde vorſtellen.

Dieſe Geſinnungen herrſchten in Gellerts Seele; aber ſie waren auf eine beſondere Art be - ſtimmt, weil er ſie ganz durch den Glauben an die Offenbarung bekommen hatte. Bloße Ver - nunftſchluͤſſe und Betrachtungen uͤber die Natur der Dinge wirkten bey ihm weder eine ſo feſte Ue - zeugung, noch ſo tiefe Ruͤhrungen, als die Leh - ren, die er aus der heiligen Schrift ſchoͤpfte. Es iſt gewiß, daß wir zuerſt aus dieſem Buche die Wahrheiten als Ueberlieferungen bekommen, die unſere Vernunft in ihrer folgenden Reife in eigne Einſichten verwandeln kann; es iſt auch gewiß, daß der Eifer derjenigen, welche dieſe Wahrhei - ten, durch ihr ganzes Leben, aus dieſem Buche ſchoͤpfen, gemeiniglich groͤßer und brennender iſt,239deſſen Schriften und Charakter. als der Eifer der Andern, die dieſe Einſichten brauchen wollen, ohne auf ihre Quelle zuruͤckzu - gehn; weil dieſe nur durch das Gewicht der Wahr - heit koͤnnen geruͤhrt werden, jene aber noch das aͤußere Anſehen einer goͤttlichen Ueberlieferung die - ſer Wahrheiten hinzuthun.

Gellert glaubte von ganzem Herzen alle Leh - ren unſerer Religion. Dieſe Anhaͤnglichkeit an die Wahrheit, die bey vielen Menſchen aus eben den Urſachen entſteht, aus welchen ſie die Irr - thuͤmer und Vorurtheile nicht ablegen, weil ſie ſie ſehr fruͤh bekommen und im Alter niemals daruͤber nachgedacht haben, entſtund bey Geller - ten aus dem herrſchenden Grundſatze der Pflicht, und dem beſcheidenen Gebrauche ſeiner Vernunft. Der Grundſatz der Pflicht machte, daß alle Be - weiſe bey ihm mehr galten, wenn ſie auf Feſt - ſetzung irgend einer Verbindlichkeit abzielten; daß er ſchon zum voraus geneigt war, jede Wahr - ſcheinlichkeit anzunehmen, die Lehren der Gottſe - ligkeit beſtaͤtigte; und daß er ſelbſt in den klein - ſten Theilen des Gebaͤudes ſeiner Religion, deren240Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,Hauptwerk ihm ſo unendlich wichtig war, keine Aenderung wollte gemacht wiſſen. Der beſchei - dene Gebrauch ſeiner Vernunft machte, daß er die Nachforſchungen entweder nicht dahin zu trei - ben ſich erlaubte, wo die Schwierigkeiten anfan - gen; oder daß er die einmal empfundene Gewiß - heit mehr bey ſich gelten ließ, als alle nachfolgen - de Zweifel.

Was aber noch mehr werth iſt, als der bloße Glaube an gewiſſe Lehren: Gellert machte aus der Religion die vornehmſte Triebfeder ſeiner Thaͤtigkeit. Seine Betrachtungen in der Ein - ſamkeit, ſeine Geſpraͤche in der Geſellſchaft, ſein Unterricht in ſeinen Lehrſtunden, ſeine Schriften, ſeine Briefe, ſeine Arbeiten und ſeine Erholungen, alles war mit dem Geiſte dieſer Religion erfuͤllt, alles hatte die Abſicht, ihre Kraft bey ihm ſelbſt zu verſtaͤrken, oder ihren Einfluß bey andern aus - zubreiten. Nur in einer nicht gemeinen Seele kann irgend ein allgemeines Principium ſo herr - ſchend werden, daß es auf alle Umſtaͤnde und Zei - ten des Lebens einen Einfluß habe; und nur bey241deſſen Schriften und Charakter. einem vortreflichen Herzen kann dieß Principium die Religion ſeyn.

Von Jugend auf ſcheinen die unangenehmen Empfindungen, nicht die, welche Zorn, ſondern die, welche Traurigkeit erregen, bey Gellerten ge - herrſcht zu haben. Sein koͤrperliches Leiden fieng zeitig an, und ſeine duͤrftigen Umſtaͤnde dauerten lange. Dieſer Theil des Temperaments unter - ſtuͤzte und beſtimmte manche Tugend; und wenn er einige Maͤngel hervorbrachte, ſo waren es ſol - che, die nur ihm den Genuß ſeiner Verdienſte raubten, nicht ſolche, die die Wirkſamkeit derſel - ben verhinderten.

Das beſtaͤndige Gefuͤhl von Schwachheit oder von Schmerz hat die natuͤrliche Wirkung, daß es den Muth ſchwaͤcht, das Gemuͤth mit der Idee von kuͤnftigen noch groͤßern Uebeln erfuͤllt, und dem Menſchen ein Mistrauen gegen ſeine Kraͤfte und gegen ſeinen Werth beybringt. Gellert hat - te in der That eine Kraft in der Seele, die, wenn ſie ſich bey außerordentlichen Gelegenheiten auf eine kurze Zeit ſammlete, ihn getroſt und beherztQ242Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,machte. Er redete mit den Koͤnigen ohne Schuͤch - ternheit; er fuͤrchtete den Tod weit mehr in ſeinen leichtern Zufaͤllen, als in ſeiner lezten Krankheit. Aber in dem gewoͤhnlichen Laufe ſeines Lebens, wenn ihn nichts zu einer außerordentlichen An - ſtrengung aufforderte, beunruhigten ihn auch kleine Uebel; und er erſchrak vor Schwierigkeiten, zu deren Ueberwindung er nur Entſchließung ge - braucht haͤtte.

Dieſe Furchtſamkeit entfernte ihn, auf der einen Seite, von allen Arten weitlaͤuftiger Un - ternehmungen, toͤdtete ſeinen Ehrgeiz, fuͤhrte ihn mehr auf ſich ſelbſt zuruͤck, und vermehrte alſo ſeine perſoͤnliche Vollkommenheit, indem ſie eine Menge andrer Beſtrebungen, die ihn von ſeiner Beſſerung zerſtreut haben wuͤrden, verhinderte; auf der andern ließ ſie ihn nicht zu dem Grade der Heiterkeit der Seele und der Froͤhlichkeit kommen, die die Belohnung der Tugend ſeyn ſoll.

Die Aufmerkſamkeit auf ſich ſelbſt hat, ſie mag auf den Koͤrper oder auf die Seele gerichtet243deſſen Schriften und Charakter. ſeyn, bey beiden aͤhnliche Wirkungen; und ge - meiniglich ſind beide Arten der Aufmerkſamkeit verbunden, weil ſie beide aus einer gemeinſchaft - lichen Quelle entſpringen. Im Koͤrper entdecken wir durch eine ſolche Achtſamkeit immer kleine Unordnungen, und in der Seele kleine Fehler, die wir unter den Zerſtreuungen der Luſtbarkeiten oder der Geſchaͤfte nicht wuͤrden bemerkt haben. Man genießt alsdann weder ſeiner Geſundheit, noch ſeiner Tugend, weil man durch das, was in Unordnung iſt, weit mehr beunruhigt, als durch das, was geſund und untadelhaft iſt, ver - gnuͤgt wird. Gellert hatte dieſe doppelte Auf - merkſamkeit; und er wurde auch wirklich auf dieſe Weiſe durch ſie beunruhigt. Es fehlte ihm an dem Muthe, der vor einem Fehler eben ſo we - nig, als vor der Anlage zu einer Krankheit er - ſchrickt, die Beſſerungsmittel braucht, und den Ausgang erwartet. Wenn dieſes ruhige Beſtre - ben nach ſeiner Beſſerung zur gegenwaͤrtigen Gluͤckſeligkeit des Menſchen mehr beytraͤgt; ſoQ 2244Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,iſt vielleicht das aͤngſtlichere mit einem groͤßern Eifer verbunden.

Die Furchtſamkeit machte ihn zugleich ſehr beſcheiden. Kein Gelehrter, kein Schriftſteller iſt wohl mehr geneigt geweſen, andern einen Vor - zug vor ſich zuzugeſtehen. Er ſchaͤzte die Voll - kommenheiten beynahe am hoͤchſten, die er nicht beſaß; er zog die Gelehrſamkeit dem Genie vor. Er war niemals ein Nebenbuhler irgend eines Menſchen geweſen. Auf der Laufbahn, in der er ſich befand, und in welcher ungluͤcklicher Weiſe Neid und Eiferſucht ſo leicht entſtehen, weil viele um einen gemeinſchaftlichen Preiß ſtreiten, haͤtte er gern jeden ſich zuvorkommen geſehen; und nur durch einige Gewalt war er ſo weit hervorgezogen worden. Er wußte zwar, daß der Stand gegen perſoͤnliche Eigenſchaften in keine Betrachtung koͤmmt; und wie waͤre es moͤglich, daß ein Mann von ſeinem Geiſte anders urtheilte? Aber demun - erachtet waren ihm dieſe Verhaͤltniſſe in der buͤr - gerlichen Geſellſchaft, als Einrichtungen der goͤtt - lichen Vorſehung, ſo wichtig, und er war zu -245deſſen Schriften und Charakter. gleich ſo geneigt, jeden Anſpruch eines andern, jedes Vorrecht gelten zu laſſen, daß er auch dem bloßen Stande eine ausnehmende Ehrerbietung und Achtung bewies. Er war uͤberhaupt weit mehr geneigt, ſich allen einmal gemachten Ein - richtungen der Welt, des Staates, oder ſeines Standes, zu unterwerfen, und von ihnen den beſten Gebrauch zu machen, als ſie, wo er ſie auch fuͤr fehlerhaft erkannte, zu aͤndern. Die Perſonen, die uͤber ihm waren, hielt er gemei - niglich auch fuͤr weiſer und einſichtsvoller, als ſich. Die Obrigkeit, die Gewalt uͤber ihn hatte, ſah er faſt immer als eine gerechte und guͤtige Obrigkeit an. Vielleicht hatte er gegen ſolche Verbeſſerungen, die ohne große Aenderungen nicht geſchehen koͤnnen, allzuviel Mißtrauen, und von der Guͤte der Anordnungen, die ſchon vorhanden ſind, einen zu vortheilhaften Begriff. Aber eben der Gehorſam gegen alles, was den Anſchein von Geſetz und Pflicht hatte, eben die Unterwerfung ſeiner eignen Einſichten und Neigungen unter alle goͤttlichen und menſchlichen Vorſchriften, welcheQ 3246Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,auf ſeinen ganzen uͤbrigen Charakter ſo viel Ein - fluß hatte, brachte auch dieſe vielleicht zu weit ge - triebne Behutſamkeit hervor.

Seine ſinnlichen Begierden waren von Natur maͤßig. Seine Krankheit hatte ihm eine ſtrenge Enthaltſamkeit aufgelegt; und ſeine Gottesfurcht machte ihn geneigt, lieber eine unnoͤthige Ver - leugnung zu uͤbernehmen, als ſich der nothwen - digen zu weigern. Er foderte zu den Bequem - lichkeiten und zu den Zierrathen des Lebens nur wenig. Und in der That iſt Eitelkeit gewiß die Leidenſchaft, die ein großer Geiſt am erſten unter die Fuͤße tritt. Denn es iſt unmoͤglich, daß die Seele mit etwas Großem und Gutem ſich abge - ben, oder daß ſie mit wichtigen Gedanken und Abſichten erfuͤllt ſeyn kann, wenn ihr noch der Unterſchied der Kleider und des Hausgeraͤthes wichtig ſcheint. Bey Gellerten konnte nur die Gewohnheit, nicht die ſinnliche Begierde, eine Art neuer Beduͤrfniſſe erzeugen. Er verlangte keine Sache praͤchtig oder ſehr bequem; aber er verlangte ſie ſo, wie er ſie immer gehabt hatte. 247deſſen Schriften und Charakter. Er veraͤnderte daher in ſeinen Umſtaͤnden und Einrichtungen wenig. Und ſo wie dieß in der That das Zeichen einer ruhigen und geſunden Seele iſt, ſo iſt es doch zuweilen eine Hinderniß der Verbeſſerung ſeiner Umſtaͤnde.

Da er von den Vorzuͤgen oder Vergnuͤgun - gen, die man fuͤr Geld haben kann, einen ſo ge - ringen Theil verlangte, ſo bedurfte er auch keiner großen Einkuͤnfte. So maͤßig die ſeinigen auch bis an ſein Ende waren: ſo hatte er doch auch dieſe nicht geſucht; und ſie reichten nicht bloß fuͤr ihn zu, ſondern ſeine Maͤßigkeit konnte noch ei - nen guten Theil davon zu Wohlthaten bey Seite legen. Keine kraͤftigere Stuͤtze kann die Tugend und Religion haben, als die Gleichguͤltigkeit gegen Rang und Vermoͤgen. Dieſe Gegenſtaͤnde, wenn ſie einmal in der Seele Eindruck gemacht haben, verlangen eine viel zu anhaltende Geſchaͤftigkeit, bringen viel zu viel andre Leidenſchaften ins Spiel, als daß der Seele Kraft und Zeit ſollte uͤbrig blei - ben, fuͤr die Rechtmaͤßigkeit jeder Handlung und fuͤr ihre innere Vollkommenheit zu ſorgen. Ueber -Q 4248Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,dieß muͤſſen wir auf dem Wege zu dieſen Abſichten nothwendig eine Menge Menſchen finden, die ſich uns widerſetzen, und die wir mit Gewalt oder Liſt bey Seite ſchaffen muͤſſen, wenn es uns durchaus darum zu thun iſt, jene Abſichten zu erreichen. Denjenigen koͤnnen wir durchaus nicht lieben, der uns in der Erreichung unſrer Abſichten verhindert. Haben wir nun ſolche Abſichten, in denen wir ge - ſtoͤrt werden, und welche wir beynahe nur errei - chen koͤnnen, inſofern wir andre darinn ſtoͤren: ſo muͤſſen wir uͤber lang oder kurz haſſen oder ge - haßt werden. Die ganze Welt iſt ein Schauſpiel dieſes Krieges.

Menſchenliebe aber und Guͤtigkeit, die lezte Frucht der Tugend, und das Werkzeug, durch welche ſie zum Beſten der Welt wirkſam wird, war eine der ſichtbarſten Eigenſchaften in Gellerts Cha - rakter. Er that von einem geringen Vermoͤgen viel Gutes: aber er leiſtete noch weit mehr perſoͤn - liche Dienſte; und perſoͤnliche Dienſte ſind immer die beſſern Wohlthaten. Er war ſehr geneigt, andre fuͤr gut anzunehmen, von denen er nichts249deſſen Schriften und Charakter. Boͤſes wußte, und leicht geneigt, in denjenigen alles fuͤr vortreflich zu halten, in welchen er ei - nige vortrefliche Eigenſchaften gefunden hatte. Da er an ſich die moraliſche Guͤte mehr als ſeine Gaben ſchaͤzte, ſo beurtheilte er auch andrer Werth mehr nach ihrer Tugend, als nach ihrem Verſtan - de. Und freylich iſt es, bey einem nicht beſtaͤndi - gen Umgange, leichter, in der erſten, als in der andern Abſicht hintergangen zu werden. Fuͤr ſeine erſten und aͤlteſten Freunde hatte er wahre innere Zaͤrtlichkeit; fuͤr die uͤbrigen, die er in ſpaͤtern Jahren bekommen hatte, Achtung und Dienſteifer. Zu ſeinem Umgange gehoͤrten nur wenige, und weil das Ungewohnte ihm immer einige Anſtrengung koſtete, nur dieſelben Perſonen.

Sein Beyſpiel und ſein Rath hielten eine Men - ge junger Leute, die ihm naͤher bekannt worden wa - ren, von Ausſchweifungen zuruͤck, und gewoͤhnten ſie zur Arbeitſamkeit und Ordnung. Seine Briefe hatten den Einfluß ſeiner Wohlthaͤtigkeit noch viel weiter ausgebreitet. Aus ſehr entfernten Gegen - den wendete ſich der Nothleidende, der Betruͤbte,Q 5250Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,der Zweifler, der Geaͤngſtete, oder der Unentſchloß - ne an ihn; und er that, was er vermochte, einen jeden Beyſtand oder Beruhigung zu verſchaffen. Dieſe Arbeiten fuͤllten einen großen Theil ſeiner Zeit aus; und ob er gleich zuweilen daruͤber, als uͤber eine Beſchwerlichkeit klagte, ſo iſt es doch ge - wiß, daß dieſe Beſchaͤftigung, die dem jetzigen Gra - de ſeiner Kraft gerade angemeſſen war, und ihm dabey die angenehme Ausſicht oͤfnete, wohlgethan zu haben, einen großen Theil ſeiner geheimen Gluͤckſeligkeit ausmachte, die jeder Menſch genießt, ohne ſie ſelbſt recht gewahr zu werden.

Er haßte gewiß niemanden; er verachtete nie - manden: und wenn er in ſeinen lezten Jahren nicht mehr der Ergießungen einer lebhaften Zu - neigung, oder einer innigen Zaͤrtlichkeit faͤhig war: ſo kam dieſes entweder daher, weil er von allen denen Freunden entfernt lebte, mit denen ſein Herz in den Zeiten ſeiner vollen Empfindlich - keit ſich vereinigt hatte; oder weil er uͤberhaupt in allen ſeinen Neigungen gemaͤßigter und dem Anſcheine nach kaͤlter geworden war.

251deſſen Schriften und Charakter.

Sein Anſehen, mit der Liebe verbunden, die er einfloͤßte, hat einen gluͤcklichen Einfluß auf die Akademie gehabt, auf der er lehrte. Sein Lob und ſeine Freundſchaft haben manchen jungen Kopf erweckt und muthig gemacht; ſein Rath und ſeine Vorſorge das Gluͤck vieler wuͤrdigen jungen Maͤnner gegruͤndet.

Seine perſoͤnlichen Eigenſchaften hatten ihm diejenige Art von Anſehen und Einfluß gegeben, die die ſchaͤzbarſte Oberherrſchaft unter den Mer - ſchen iſt. Er vermochte viel, weil er ſehr geliebt wurde, und nur immer das foderte, was der, von welchem er es foderte, billigen mußte.

Ein Mann von ſolchen Gaben und von ſol - chem Charakter iſt immer ein Geſchenk fuͤr ſeine Nation. Und wirklich hat die unſrige Gellerten vieles zu danken. Seine Schriften ſind immer die erſten Schriften, und an vielen Orten noch die einzigen, welche geleſen werden. Seine Fabeln unterrichten unſre erſte Kindheit, und ergoͤtzen und erbauen unſer maͤnnliches und hohes Alter. Seine meiſten Schriften ziehen den Leſer durch ihre252Anmerk. uͤber Gellerts Moral, ꝛc. Schoͤnheit an ſich, und ſie beſſern ihn, indem er ſich bloß zu vergnuͤgen gedenkt. Seine geiſtlichen Lieder ſind wirklich das erſte Erbauungsbuch, welches zu dem Privat - oder oͤffentlichen Gottes - dienſte eines verſtaͤndigen Mannes geſchickt iſt. Schon mancher Nothleidende hat ſich mit demſel - ben getroͤſtet; ſchon mancher Sterbende ſich den Tod erleichtert.

So lange die Deutſchen ihre jetzige Sprache verſtehen, werden ſie die Gellertſchen Schriften leſen; dieſe Epoche kann ihre Graͤnzen haben: aber den Gellertſchen Charakter werden die Men - ſchen verehren, ſo lange ſie die Tugend kennen; und dieſe Zeit iſt unbegraͤnzt.

253

Einige Gedanken uͤber das Intereſſirende.

Erſter Theil.

  • Aus dem zwoͤlften Bande der Neuen Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und der freyen Kuͤnſte.

Unſre Aufmerkſamkeit, die gewoͤhnlicherweiſe unter mehrere Dinge vertheilt iſt, oder ſchnell von einem Dinge zum andern uͤbergeht, kann zuweilen auf einen einzigen, oder eine An - zahl verbundner Gegenſtaͤnde ſo zuſammengebracht werden, daß wir des uͤbrigen Theils der Dinge, die auf oder in uns wirken, vergeſſen; ſie kann zuweilen auf dieſen Gegenſtaͤnden ſo feſtgehalten werden, daß wir eine betraͤchtliche Zeit lang mit keinen andern Gegenſtaͤnden abwechſeln. Dieſes254Einige GedankenZuſammenhalten und dieſes Aufhalten unſrer Aufmerkſamkeit bey Einem Gegenſtande erfodert allemal eine außerordentliche Kraft, die dieſes be - wirke; entweder die Kraft des Menſchen ſelbſt, oder die Kraft der Dinge, von denen er geruͤhrt wird. Im erſten Falle heißt ſeine Aufmerkſam - keit Anſtrengung; die Sache, worauf ſie gerich - tet iſt, ein Geſchaͤfte, und die Handlung Arbeit. In dem andern iſt es entweder die bloße Staͤrke und Gewaltſamkeit des Eindrucks, oder es iſt die beſtimmte Art deſſelben, welche unſre Aufmerkſam - keit feſſelt. Jenes iſt Zwang, und der Schmerz iſt es nebſt allem, was Schmerzen droht, der auf dieſe Weiſe die Seele wider ihren Willen auf ſich aufmerkſam macht. Dieſes iſt der ſanfte Zug, mit welchem das Vergnuͤgen, oder allgemeiner, alles, was mit unſerm Zuſtande, unſern Gedan - ken und unſern Neigungen in einem beſondern Zuſammenhange ſteht, das Auge unſers Geiſtes von andern Gegenſtaͤnden abwendet und auf ſich richtet.

255uͤber das Intereſſirende.

Alle die Gegenſtaͤnde, oder die Arten ſie vor - zuſtellen, welche, ohne unſre freywillige Anſtren - gung, vermoͤge des Wohlgefallens, das ſie in uns erregen, ſich unſrer Aufmerkſamkeit bemaͤch - tigen und dieſelbe ſtaͤtig machen, dieſe, glauben wir, ſoll das Wort intereſſant von andern Arten der Gegenſtaͤnde unterſcheiden; es ſoll die Dinge ausdruͤcken, welche auf eben die Weiſe und vermoͤge eben der Triebfedern uns nach ihren Vor - ſtellungen begierig machen, wie das uns aufmerk - ſam macht, was zur Befriedigung unſers Eigen - nutzes etwas beytragen kann.

Dieſer Unterſchied zwiſchen der Aufmerkſam - keit, deren Urheber wir ſelbſt ſind, und zwiſchen der, die das Werk der Gegenſtaͤnde iſt, faͤllt bey den gemeinſten Verrichtungen des Lebens in die Augen. Geſezt, man leſe ein Werk der Genea - logie oder Diplomatik. Es kann ſeyn, daß wir mit unſrer ganzen Aufmerkſamkeit leſen: aber wir ſind uns auch dabey der Muͤhe bewußt, die es uns koſtet, der Zerſtreuungen, die wir alle Au - genblicke abwehren, des Widerſtandes, den wir256Einige Gedankenandern mehr reizenden Ideen, die ſich eindringen wollen, leiſten muͤſſen. Nicht die Sachen, die wir leſen, erhalten die Seele in ihrer Richtung auf dieſelben, ſondern unſre Begierde zu lernen, unſre Pflicht, oder die Abſicht, wozu wir die Nach - richten brauchen; wir werden nicht angezogen, wir ſelbſt ſtellen uns zu der Sache hin, und zwin - gen uns dabey zu bleiben. In dieſem Falle wer - den wir nimmermehr ſagen, daß das Buch in - tereſſant ſey; wir werden nur ſagen, daß wir fleißig arbeiten. Geſezt aber, ein ander Werk, das wir ebenfalls aus Pflicht oder Zwang zu leſen anfiengen, enthalte Geſchichte, Schilderungen, Reden, die uns, indem wir fortfahren, unſrer ur - ſpruͤnglichen Abſicht, warum wir laſen, nach und nach uneingedenk machen, und uns bloß mit den Sachen ſelbſt beſchaͤftigen, die wir in jedem Au - genblicke erfahren; geſezt, die Begierde, die an - fangs nur auf einen entfernten Endzweck, und auf das Leſen als auf ein Mittel gerichtet war, gehe nun auf den Inhalt des Buchs ſelbſt, wir leſen nunmehro bloß, um zu wiſſen, was geſagt257uͤber das Intereſſirende. und was folgen wird, ohne weiter an einen Ge - brauch zu denken: ſo werden wir alsdann zwar auch noch hoͤchſt aufmerkſam ſeyn, vielleicht auf - merkſamer als zuvor, aber wir werden uns kei - ner Bemuͤhung mehr bewußt ſeyn, unſere Auf - merkſamkeit zu erhalten; die Kraft, die der na - tuͤrlichen Beweglichkeit der Seele Einhalt thut, wird nicht mehr unſer Entſchluß, ſondern der Ein - druck der Gegenſtaͤnde ſeyn. Das Buch, ſagen wir alsdann, faͤngt an uns zu intereſſiren. Noch ein anderer Umſtand unterſcheidet dieſe bei - den Arten der Aufmerkſamkeit; und gerade iſt der eine Umſtand das, was man ſich bey dem Worte Intereſſiren denkt. Naͤmlich, wenn ich bloß durch meinen Vorſatz in einer beſtimmten Reihe der Dinge mit meinen Gedanken bleibe: ſo ſtehe ich in jedem Augenblicke nur bey dem Gliede der Reihe ſtill, das jezt gegenwaͤrtig iſt, und bekuͤmmere mich um die kuͤnftigen nicht; ich ſchließe die Reihe, ſobald mein Vorſatz erreicht, oder die Zeit der Ar - beit geendigt iſt, ohne mich im geringſten wegen deſſen, was folgen wird, zu beunruhigen. WennR258Einige Gedankenich hingegen, durch die anziehende Kraft der Ge - genſtaͤnde ſelbſt, dieſe Reihe durchlaufe: ſo bin ich mit meiner Aufmerkſamkeit immer ſchon ein wenig vor der gegenwaͤrtigen Idee voraus; ich verlange nach den folgenden Gliedern, indem ich die gegenwaͤrtigen betrachte: und ehe die Reihe nicht bis ans Ende, oder bis an einen Unterbre - chungspunkt kommt, werde ich nicht ruhig auf - hoͤren koͤnnen. Ein Schauſpiel oder ein Roman intereſſirt mich, und, ich bin nach dem Erfolge begierig, ſind gleichbedeutende Re - densarten; und es iſt das ſicherſte Zeichen, daß ein dramatiſcher Dichter ſeinen Endzweck zu inter - eſſiren erreicht hat, wenn er den Zuſchauer in ein Verlangen und eine unruhige Erwartung der Zu - kunft ſezt. Der Grund dieſer Verſchiedenheit iſt, duͤnkt uns, dieſer. Die Begierde der Seele geht eigentlich immer auf etwas Kuͤnftiges. Geht ſie nun nicht auf die Sache ſelbſt, mit der man ſich beſchaͤftigt, ſondern auf eine Abſicht, die außer - halb derſelben liegt, und bloß durch ſie erreicht werden ſoll: ſo iſt außer dem gegenwaͤrtigen Theile259uͤber das Intereſſirende. der Sache nichts, als dieſe Abſicht, uns in den Augen. Hingegen, wo die Begierde auf die Dinge ſelbſt geht, mit denen wir unſere Aufmerk - ſamkeit beſchaͤftigen, da ſind es eigentlich die fol - genden Theile der Dinge, auf die ſie gerichtet iſt, denn die gegenwaͤrtigen werden ſchon genoſſen; und eben dieſe Befriedigung, die das Gegenwaͤr - tige der Seele gewaͤhrt, richtet ihren Blick gegen das Zukuͤnftige, um neue Befriedigungen zu ſu - chen.

Alſo alles das intereſſirt uns, was uns durch den Eindruck des Wohlgefallens, den es auf uns macht, ohne unſern Vorſatz aufmerkſam und nach der Fortſetzung und der Folge begierig erhaͤlt.

Alles Wohlgefallen entſpringt entweder aus dem, was unſere Kraft zu denken beſchaͤftiget, oder aus dem, was unſre Empfindungen erweckt. Alles, was mit uns auf gewiſſe Weiſe zuſammen - haͤngen, und uns mit ſich vereinigen ſoll, muß entweder Gedanken, oder es muß Neigungen er - regen, ſo wie ſie zu unſrer Natur und zu unſermR 2260Einige GedankenZuſtande paſſen. Wer uns intereſſiren will, muß uns viel zu denken geben, oder uns in Affekt bringen.

Zuerſt alſo von dem Intereſſe, das die Dinge und ihre Schilderungen haben koͤnnen, inſofern ſie Vorſtellungen erregen.

Das Wohlgefallen, das wir an gewiſſen Ge - danken finden, beruhet auf unſerer Wißbegierde, oder auf dem Triebe, unſere Kraͤfte zu aͤußern. Unſerer Wißbegierde gefallen alle die Reihen von Gedanken, die entweder uͤberhaupt der Seele Wahrheit und Kenntniß, oder die ihr beſonders ſolche Kenntniſſe, ſolche Begriffe geben, welche eine beſondere Beziehung auf ihren ehemaligen oder gegenwaͤrtigen Zuſtand haben; und dieſer lezte Reiz iſt ſtaͤrker, und bekoͤmmt oft allein den Namen des Intereſſirenden. Unſerm Triebe zur Geſchaͤftigkeit gefallen alle die Vorſtellungen, die reich und doch leicht zu faſſen, neu und doch klar ſind, ſtark und ſchnell und doch mit Ordnung ab - wechſeln.

261uͤber das Intereſſirende.

Wir wollen dieſe Triebfedern des Intereſſiren - den ſtuͤckweiſe durchgehen.

Wir haben geſagt, die Wißbegierde werde durch Wahrheit und Kenntniß gereizt. Einige dieſer Wahrheiten und dieſer Kenntniſſe wirken vermoͤge ihrer innern Kraft, bloß als Theile von Wiſſenſchaft, entweder der allgemeinen, wel - che alle Menſchen ſuchen, oder der beſondern, auf welche ſich gewiſſe Menſchen legen. Andere wirken vermoͤge gewiſſer Beziehungen, die ſie auf den Menſchen durch ſeine beſondern Umſtaͤnde bekommen haben. Jene wenden ſich bloß an den Verſtand, dieſe ziehen auch ſchon gewiſſe kleine Leidenſchaften mit ins Spiel, die ſie befriedigen, oder denen ſie Nahrung verſchaffen. In der Be - ſchreibung einer Reiſe, die nach dem Nordpole unternommen worden, die Geſtalt der Erde zu unterſuchen, wird durch die Figuren und Rech - nungen nur die Wißbegierde des Mathematikers gereizt; dieß iſt das Intereſſe einer beſondern Wiſſenſchaft. Aber das Reſultat dieſer Figu - ren und Rechnungen, ob die Erde oval oder ein -R 3262Einige Gedankengedruͤckt ſey, dieß erregt die Neubegierde aller; dieß iſt das Intereſſe der Wiſſenſchaft uͤber - haupt. Die Schilderung der Sitten und der Le - bensart der Einwohner des Nordens, die in die - ſer Reiſebeſchreibung vorkommen koͤnnte, wuͤrde von noch mehrern mit Theilnehmung und Begier - de geleſen werden; nicht bloß, weil ſie dadurch neue Einſichten bekaͤmen, ſondern noch mehr, weil ſie dabey viele Vergleichungen mit ihren eigenen Umſtaͤnden anſtellen koͤnnten, durch die ſchon vorher gefaßte Begriffe und ſchon daſeyende Nei - gungen wieder erweckt und beſchaͤftigt werden wuͤrden. Dieß iſt das Intereſſe, welches aus allgemeinen Beziehungen der Dinge auf uns entſteht. Vielleicht lieſt dieſe Reiſe ein Mann, der von dem Nordlichte eine Theorie gemacht und ein Buch daruͤber geſchrieben hat, und dem wuͤrde nichts wichtiger ſeyn, als was von beſondern Beobachtungen dieſes Phaͤnomens, oder von neuen Erklaͤrungen deſſelben geſagt wuͤrde, weil dieß durch die Begierde, ſeine Meynung beſtaͤtigt zu ſehen, oder die Furcht, ſich widerlegt zu finden,263uͤber das Intereſſirende. von wichtigen Folgen fuͤr ihn waͤre. Dieß iſt das Intereſſe, das aus beſondern Beziehun - gen der Dinge entſteht. Endlich der Theil, der die Gefahren beſchriebe, welche die Reiſenden ausgeſtanden, die Muͤhſeligkeiten, welche ſie er - duldet haben, wuͤrde ohne Zweifel die meiſten und die aufmerkſamſten, begierigſten Leſer finden. Dieß iſt das Intereſſe der Empfindung.

Von dem beſondern Reize, den jede Wiſſen - ſchaft fuͤr den hat, der ſie treibt, von dem allge - meinen Intereſſe, das jede wichtige und verſtaͤnd - liche Wahrheit fuͤr den Menſchen uͤberhaupt hat, wollen wir weiter nichts ſagen. Das Erſte ge - hoͤrt gar nicht zu unſerer Abſicht, und das Lezte iſt durch ſich ſelbſt verſtaͤndlich. Nur von dem Intereſſe wollen wir reden, das ſich auf gewiſſe Beziehungen der Dinge, auf einen gewiſſen Ein - fluß ihrer Ideen auf unſern Zuſtand gruͤndet, und welches das eigentliche Intereſſe iſt, das Dichter und Kuͤnſtler, zu denen wir hier reden, ihren Wer - ken geben ſollen. Aber eine allgemeine Anmer - kung muͤſſen wir vorausſchicken. Man kannR 4264Einige Gedankenes unſern Dichtern nicht oft genug wiederholen, daß es nicht bloß durch Leidenſchaften moͤglich iſt zu intereſſiren; daß ſie durch dieſe nur ſelten, und immer nur Augenblicke lang intereſſiren; daß es nur allein der Reichthum der Vorſtellung, die Wichtigkeit und die Menge deſſen, was ſie uns zu denken geben, ſeyn kann, was uns bey einem groͤßern Werke vom Anfange bis zu Ende geſchaͤf - tig, aufmerkſam und befriedigt erhalte. Das ruͤhrendſte Drama erregt bey dem empfindlichſten Zuſchauer immer nur Blitze der Empfindung. Auf einen Augenblick, wo man getaͤuſcht wird, folgt eine weit laͤngere Zeit, wo man wieder ſich und die Schauſpieler fuͤr das erkennt, was ſie ſind. Fuͤr einen Vorfall, fuͤr eine Rede, die un - mittelbar Leidenſchaft erregt, giebt es hundert, die nur Vorſtellungen erwecken. Das Ver - gnuͤgen, Mitleiden und Schrecken zu empfinden, genießt man alſo nur in einzelnen und kurzen Stellen eines Trauerſpiels. Aber das Vergnuͤ - gen, Menſchen von einem unterſcheidenden Cha - rakter, einem gebildeten Geiſte, feinen Sitten, ei -265uͤber das Intereſſirende. ner edlen Sprache, uͤber wichtige Vorfaͤlle des Le - bens reden zu hoͤren; das koͤnnen wir in allen Auftritten und ohne Unterbrechung genießen. Elend oder Gluͤckſeligkeit ſehe ich nur am Ende des Stuͤcks, aber denkende und handelnde Men - ſchen ſehe ich durch das Ganze. Iſt nun der Dich - ter um weiter nichts bekuͤmmert geweſen, als bloß dieſen Fall ſeines Helden recht ſchrecklich zu ma - chen, ſo wird auf viele lange Weile endlich ein er - goͤtzender Augenblick folgen, der noch dazu durch den vorhergehenden Verdruß die Haͤlfte ſeiner Kraft ſchon verloren hat. Hat aber der Dichter durch das ganze Stuͤck Nahrung fuͤr meinen Geiſt ausgeſtreuet, laͤßt er ſeine Perſonen ſo reden, daß ſie mich mannichfaltige und wichtige Sachen leh - ren, mich an vieles eriunern, viele dunkle Be - merkungen deutlich, viele Wahrheiten, die ich ab - ſtrakt erkannte, anſchauend machen: dann wird er mich bey den unerheblichen wie bey den wich - tigen Vorfaͤllen, am Anfange wie bey der Kata - ſtrophe ſeines Stuͤckes, ergoͤtzen; die erwartende Begierde nach dem Zukuͤnftigen wird durch dasR 5266Einige Gedankenſuͤße Gefuͤhl des Gegenwaͤrtigen gemaͤßigt werden; und mein Herz wird fuͤr die leztern ſtarken Ein - druͤcke, die er fuͤr daſſelbe beſtimmt, nur deſto mehr geoͤfnet ſeyn.

Wir kehren von dieſer kleinen Ausſchweifung wieder zuruͤck. Wir muͤſſen alſo erſt erklaͤren, wie gewiſſe Ideen eine naͤhere Beziehung auf die Umſtaͤnde des Menſchen bekommen, und dann, auf wie vielerley Art ſolche Beziehungen formirt werden koͤnnen.

Man erfaͤhrt dieß ſchon in dem Vortrage der abſtrakten Wiſſenſchaften. Wenn jemand einen Lehrer oder Schriftſteller uͤber Materien hoͤrt oder lieſt, uͤber welche er ſelbſt noch niemals nachzu - denken veranlaßt worden: ſo muß es bloß die Deutlichkeit und Evidenz der Sachen, die ihm vorgetragen werden, und ſeine eigne Luſt zu der Wiſſenſchaft ſeyn, die ihn fuͤr das, was er hoͤrt, einnehmen, und eine gewiſſe Theilnehmung an de - nen Unterſuchungen, welche angeſtellt werden, be - wirken kann. Und auch alsdann iſt es doch bey - nahe gewiß, daß er vieles vorbeylaſſen wird, was ihm gleichguͤltig ſcheint, ob es gleich unmittelbar267uͤber das Intereſſirende. zu der Abſicht des Redners und Schriftſtellers ge - hoͤrte; vieles als einen Gewinn auffaſſen wird, was ohne Bedeutung iſt, und bloß zu Nebenbe - griffen oder zu Ausfuͤllungen gehoͤrt. Denſelben Weg, den die Natur bey der Erfindung der Wahr - heit nimmt, den will ſie auch bey der Erlernung derſelben genommen wiſſen, wenn die Wahrheit ihren Ein druck machen ſoll. So wie man nun nicht eher Erklaͤrungen der Phaͤnomenen ſucht, als bis man von denſelben befremdet wird, und ſo wie beynahe alle unſre Unterſuchungen bloß zu Aufloͤſung von Schwierigkeiten angeſtellt werden, durch die man zuvor beunruhigt worden iſt; ſo muß man auch, damit man an dieſen Erklaͤrun - gen und Aufloͤſungen, wenn ſie von andern erfun - den worden, und uns nun vorgetragen werden, ein Intereſſe finde, eben dieſe Erfahrungen wenig - ſtens im Vorbeygehn gemacht, eben dieſe Schwie - rigkeiten wenigſtens dunkel wahrgenommen ha - ben. Jeder Gedanke in den Reden und Schrif - ten anderer, deſſen Wahrheit wir zwar einſehen, deſſen Brauchbarkeit wir aber nicht empfinden, und deſſen Abzielung wir nicht gewahr werden,268Einige Gedankenruͤhrt uns wenig. Dieſe Brauchbarkeit aber, dieſe Abzielung kann in nichts anderm liegen, als entweder in dem Lichte und der Gewißheit, die dieſer Gedanke uͤber andere ſchon vorher gehabte, uns wichtig ſcheinende Gedanken ausbreitet, in welchen wir noch Dunkelheit oder Zweifel fanden; oder in den Regeln und Huͤlfsmitteln, die uns derſelbe zu ſolchen Verrichtungen giebt, an deren Ausfuͤhrung uns gelegen iſt, und in denen wir nicht fortkommen konnten. Dieſe andern Ideen muß man alſo nothwendig erſt gehabt, und ihre Luͤcken oder ihre Undeutlichkeit empfunden ha - ben; zu dieſen Verrichtungen muß man erſt ver - anlaßt, und durch Mangel dieſer Kenntniſſe ge - hindert worden ſeyn, wenn man das Intereſſe an dem Unterrichte finden ſoll, das ſich auf die Aufklaͤrung dieſer Dunkelheiten und die Erſetzung dieſes Mangels gruͤndet.

Nicht das Gute, ſagt Locke, erregt an und fuͤr ſich Begierde, ſondern nur das Gute, welches eben jezt zur Vollſtaͤndigkeit unſers Zuſtandes fehlt, nur dasjenige, deſſen Mangel in unſerer269uͤber das Intereſſirende. jetzigen Verfaſſung eine Luͤcke macht, uͤber die wir unruhig ſind. Eben die Beziehung, die das Gute auf die Begierden hat, eben dieſelbe hat das In - tereſſirende auf den Verſtand. Nicht jede wahre große ſchoͤne Idee macht uns aufmerkſam, ſon - dern nur diejenige, die in die Reihe der in uns ſchon vorhandenen und von uns bemerkten Ideen noch hineinfehlt, die, welche eine von uns wahrgenommene Luͤcke unſerer Kenntniſſe ausfuͤllt, eine gewiſſe Unruhe ſtillt, die wir uͤber unſere Unwiſſenheit in dieſem Stuͤcke em - pfanden.

Wir ſehen alſo, wie der vorhergehende Zu - ſtand des Menſchen, die Summe deſſen, was er bisher erfahren, empfunden und gedacht hat, ei - nen Einfluß darauf haben kann, an welchen von den neuankommenden Ideen er den meiſten Ge - ſchmack finden, welche er am geſchwindeſten ſich zueignen, bey welchen er mit ſeiner Aufmerkſam - keit ſtehen bleiben ſoll. Wenn die Natur zuerſt das Auge und das Ohr des neugeborenen Men - ſchen oͤfnet: ſo uͤberlaͤßt ſie denſelben eine Zeit -270Einige Gedankenlang ganz der Herrſchaft aͤußerer Gegenſtaͤnde: ſeine innere Wirkſamkeit hat noch gar keine Rich - tung; alle Dinge, die ſich ſehen, hoͤren oder fuͤh - len laſſen, befriedigen denſelben auf gleiche Weiſe. Nur das hellere Licht, oder der ſtaͤrkere Schall iſt das einzige, was einem Dinge vor dem andern in ſeiner Aufmerkſamkeit und in ſeiner Zuneigung einen Vorzug giebt. Er verlangt an keine an - dere Sache zu denken, als die ſich ihm darſtellt; er erwartet keine andere Vorſtellung, als die er wirklich hat. Die Form jedes Gegenſtandes iſt der Seele gleichguͤltig, weil der Gegenſtand ſelbſt erſt der Seele ihre Geſtalt geben ſoll. Der erſte Unterſchied, der ſich zwiſchen den Dingen feſtſtellt, iſt der zwiſchen Luſt und Schmerz; und die erſte Triebfeder, die Aufmerkſamkeit und Erwartung erregt, iſt die Leidenſchaft. Aber indem dieſe Begierden ſich entwickeln, ihre Gegenſtaͤnde oͤfter, und in neuen Verbindungen vorkommen, breiten ſich die Ideen aus, und erzeugen aus ſich neue; viele derſelben fuͤgen ſich in gewiſſe Reihen zuſam - men, wovon jedes Glied die Vorausſehung und271uͤber das Intereſſirende. das Verlangen nach den uͤbrigen erregt; viele vereinigen ſich zu gewiſſen Ganzen, die ſich der Seele auf einmal darſtellen, und in welchen ſie das Mangelnde aus dem, was vorhanden iſt, fuͤhlen lernt. Der indeß immer fortgehende Fluß aͤußerer und innerer Gegenſtaͤnde und Vorfaͤlle fuͤhret neue Begriffe dazu, verſtaͤrket oder modifi - cirt die alten; bis endlich der Koͤrper reif, die Or - ganiſation voͤllig befeſtiget, die Ideen der meiſten und wichtigſten Dinge erlangt, die vornehmſten Freuden und Schmerzen des Lebens empfunden, und der Menſch und die Dinge, die ihn umgeben, durch ihre gegenſeitige Operation gegen einander gleichſam abgeformt ſind. Alsdann koͤnnen die neuankommenden Gegenſtaͤnde nicht mehr die Seele auf ganz neue Weiſen erſchuͤttern, ſie muͤſ - ſen gewiſſermaßen in die Fußſtapfen der alten tre - ten, wenn ſie Eindruck machen ſollen. Die Seele nimmt nicht mehr alles auf, was ſich ihr anbie - tet; ſie ſucht das, was ſich an die Reihen an - ſchließt, oder in die Ganzen hineinpaßt, die ſich in ihr formirt haben, und nach welchen ſie alles272Einige Gedankenordnen muß, was ihr denkbar und empfindbar ſeyn ſoll. Die Aufmerkſamkeit hat ſchon ihre ge - wiſſen Objekte, und an jedem Dinge ihre gewiſſen Theile, nach welchen ſie ſich allemal mit Vorbey - gehung der uͤbrigen hinkehrt; und wer alſo dieſe Aufmerkſamkeit gewinnen will, der muß der Seele gerade dieſe Objekte, oder dieſe Theile jedes Ob - jekts vorhalten.

Ueberdieß legt jede Begebenheit, die dem Menſchen aufſtoͤßt, jeder Zuſtand, in den er ge - raͤth, einen gewiſſen Stoff in ſein Gedaͤchtniß nie - der, der bearbeitet werden ſoll; jede Idee, die er bekoͤmmt, bereitet ihn zu einer neuen vor, oder enthaͤlt den Samen zu derſelben. Was nun alſo aus dieſen in ihm ſchon vorhandenen Mate - rialien erbaut wird, was aus dieſem in ihm lie - genden Samen aufſchießt und reift, iſt ihm weit wichtiger, gehoͤret weit mehr zu ihm, bringt ſeinen Kopf in weit groͤßere Thaͤtigkeit, und ſeine Einbil - dungskraft in weit groͤßere Waͤrme, als was aus ganz fremdem Stoffe zuſammengeſezt, und auf auslaͤndiſchem Boden gezeugt iſt.

273uͤber das Intereſſirende.

Es wird alſo leicht ſeyn, zu finden, auf wie vielfache Weiſe Ideen und Schilderungen eine ge - nauere Beziehung auf unſern Zuſtand bekommen. Einmal, wenn ſie das, was wir ſchon halb wiſ - ſen, ergaͤnzen, was wir dunkel empfunden haben, uns deutlich denken, oder was wir in abſtrakten Worten erlernt haben, in einem einzelnen Falle anſchauen lehren. Zweytens, wenn ſie uns an irgend etwas von dem, was wir ſelbſt mit groͤße - rer oder geringerer Ruͤhrung erfahren haben, leb - haft wieder erinnern, und uns in unſer eigenes voriges Leben einen Blick thun laſſen, der uns Aufſchluͤſſe von dem giebt, was wir damals nicht verſtanden, oder uns bemerken laͤßt, was wir da - mals uͤberſahen. Drittens, wenn ſie uns fuͤr gewiſſe Geſchaͤfte, an denen uns gelegen iſt, oder zu einem Betragen, nach welchem wir ſtreben, Muſter und Anweiſung geben. Viertens, wenn ſie uns zu irgend einer eignen Uebung unſrer den - kenden Kraft veranlaſſen, indem wir ſie mit den uns bekannten Grundſaͤtzen zuſammenhaͤngen, und durch die uns wiederfahrnen Begebenheiten erlaͤu -S274Einige Gedankentern, oder indem wir irgend eine Art von Ver - wandtſchaft, es ſey der Aehnlichkeit, es ſey der Abhaͤngigkeit zwiſchen ihnen und unſern alten Er - fahrungen aufſuchen.

Man wird vielleicht noch mehr Arten eines ſol - chen Zuſammenhangs der Vorſtellungen mit uns finden, oder dieſe noch in mehr Unterarten zer - gliedern koͤnnen. Aber die, welche wir angefuͤhrt haben, ſind hinlaͤnglich, den Begriff ſelbſt zu er - laͤutern, und die Folgerungen verſtaͤndlich zu ma - chen, die wir aus ihm in Abſicht auf die Werke der Dichter ziehen wollen.

Dieß naͤmlich fragt ſich jezt: was fuͤr Gegen - ſtaͤnde muß denn alſo der Dichter waͤhlen, wie muß er ſie bearbeiten, wenn er die meiſten, we - nigſtens die aufgeklaͤrten, die geſitteten Menſchen durch die Vorſtellungen, die er in ihnen erweckt, intereſſiren will?

Er muß, werden wir uͤberhaupt antworten, diejenigen Gegenſtaͤnde waͤhlen, von welchen er erwarten kann, daß ſie in aller dieſer Menſchen Seelen correſpondirende Begriffe finden, und daß275uͤber das Intereſſirende. ſie mit den alten Empfindungen derſelben zuſam - menhaͤngen; er muß dieſe Gegenſtaͤnde ſo bear - beiten, daß ſie die Zuͤge dieſer Bilder, die Spu - ren dieſer Empfindungen getreu wieder darſtellen, aber in denſelben mehr, und dieſes deutlicher oder anſchauender zeigen, als die Seele ſelbſt in ihnen entdeckte.

Nach dem erſten Grundſatze alſo werden 1) die Dinge, welche ein wahres Intereſſe haben ſol - len, natuͤrliche Gegenſtaͤnde und deren ihre natuͤr - liche Veraͤnderungen ſeyn muͤſſen, Dinge, deren Gattung wir durch unſere eigne Erfahrung ken - nen. Die wirkliche vor uns liegende Welt iſt es, aus der alle unſre Ideen geſchoͤpft, auf die alle unſre Neigungen gerichtet ſind. Sie iſt der In - begriff alles deſſen, was uns verſtaͤndlich oder wichtig oder angenehm ſeyn kann. Ihr Reich - thum fuͤllt den ganzen Umfang unſrer denkenden Kraft, und erſchoͤpft das ganze Maaß unſrer Em - pfindſamkeit. Wer ungeſehene Geſtalten und un - erhoͤrte Veraͤnderungen uns vorſtellt, der fuͤhrt uns in fremde Welten, wo wir andere OrganenS 2276Einige Gedankennoͤthig haͤtten, um zu ſehen, und ein ander Herz, um zu fuͤhlen, was uns gezeigt wird. Das Schlimmſte iſt, daß derjenige ſelbſt dieſe Organen und dieſes Herz nicht hat, der uns dieſe Dinge zeigen will. Dieſe neue Welten ſind bloß aus ei - nigen Truͤmmern der gegenwaͤrtigen erbauet, die groͤßtentheils uͤbel zuſammengefuͤgt, und dadurch weit unkenntlicher, weit unkraͤftiger geworden ſind, als ſie in ihrer alten Anordnung waren. Einige Kunſtrichter, die, wie uns duͤnkt, mehr nach al - ten Muſtern und alten Regeln, als nach der Na - tur und nach ihrer eigenen Empfindung philoſo - phiren, haben der ſogenannten Imagination in der Dichtkunſt, ich meyne der Imagination, wel - che ganz neue in der Natur nicht vorhandene We - ſen und Begebenheiten erfindet, einen viel zu ho - hen Rang unter den dichteriſchen Faͤhigkeiten, und ihren Werken einen viel zu großen Werth beyge - legt. Vom Longin oben an bis herunter zu dem Englaͤnder Dufft*)In ſeinem Verſuch uͤber das Originalgenie. wollen uns dieſe Herren durch -277uͤber das Intereſſirende. aus uͤberreden, daß den Homer nichts groͤßer mache, als ſein Jupiter, wenn er mit ſeinem Haupte den Olymp erſchuͤttert, und die Pferde des Mars, wenn ſie mit einem Schritte ſo weit ausgreifen, als man von einem hohen Berge ſe - hen kann; daß Schakeſpears Genie nirgends mehr hervorleuchte, als wo er ſeine Hexen und Unge - heuer reden laͤßt; und daß Pope bloß ein feiner Verſifikateur ſeyn wuͤrde, wenn er nicht zum Gluͤcke den Gabalis geleſen, und in ſeinen Locken - raub Sylphen und Gnomen gebracht haͤtte. Wenn dieſe Kunſtrichter nach ihrem wirklichen Ge - fuͤhle reden, ſo iſt es freylich ein ſicherer Beweis, daß das unſrige kein allgemeines Gefuͤhl ſey. Denn dieß geht ganz darauf, daß es ein groͤßer Genie erfodere, das Wirkliche und das Natuͤrliche, als das Erdichtete und das Uebernatuͤrliche zu ſchildern, (wir reden hier bloß von den redenden Kuͤnſten,) oder daß, wenn auch das lezte mehr Bewunderung erregen ſollte, doch das erſte nur intereſſiren koͤnne. Die wirkliche Natur iſt weit reicher in dem Stoffe, aus dem ſie jedes DingS 3268[278]Einige Gedankenzuſammengeſezt, weit mannichfaltiger in den Ar - ten, durch welche ſie daſſelbe abgeaͤndert hat. Je - des Ding in der Natur iſt ein Gewebe von unzaͤh - lichen Theilen; eine Miſchung von unendlich viel Beſchaffenheiten, und dieſe alle wieder auf alle moͤgliche Weiſe beſtimmt: jedes Ding der bloßen Imagination hingegen iſt faſt immer nur eine Zuſammenſetzung aus zwo, drey allgemeinen Ei - genſchaften, die man in einem Uebermaße nimmt, in welchem ſie keine beſondern Beſtimmungen, kei - ne Einſchraͤnkungen leiden. Alle dieſe Geſchoͤpfe der mythologiſchen und Feyen-Welt ſind im Grun - de wirklich nur abſtrakte Begriffe. Es iſt Macht, oder Groͤße, oder Geſchwindigkeit, oder irgend eine andere ſolche Eigenſchaft allein, im hoͤchſten Grade gedacht, die den Namen Jupiter oder Obe - ron bekoͤmmt. Ferner ſind die Verſchiedenheiten der natuͤrlichen Gegenſtaͤnde in derſelben Gattung unzaͤhlich. Unter der Menge von Beſchaffenhei - ten, die ihre Individualitaͤt ausmachen, darf nur eine einzige abgeaͤndert werden, ſo ſtimmt ſich das ganze Syſtem um, und das Gemeinſchaftliche279uͤber das Intereſſirende. der Gattung bleibt doch. Ueberdieß giebt es in dem, was ſeine beſtimmten Graͤnzen hat, unzaͤh - liche Grade des Mehr und des Weniger. Hinge - gen eine ſolche fremde Geſtalt, deren ganze Exi - ſtenz an zwey bis drey einmal ausgemachte Zuͤge gebunden iſt, wuͤrde gar nicht wieder erkannt wer - den, wenn man nicht gerade eben dieſelben Zuͤge vorbraͤchte: und weil man zugleich die ganze Gattung dieſer Dinge ſelbſt aus lauter Eigen - ſchaften im hoͤchſten Grade genommen zuſammen - geſezt hat, ſo kann es zwiſchen den Individuen keine merkliche Verſchiedenheit mehr geben, wenn ſie noch zu der Gattung gehoͤren ſollen. Man hat es tauſendmal wiederholt, daß die Natur ein - geſchraͤnkt, aber das Feld der Imagination un - endlich ſey. Uns duͤnkt, die imaginative Welt iſt gegen die wirkliche ein enges armſeliges Ge - hege, wo man immer daſſelbe Wild unter neuen Namen haſcht, und weil man ſich lange im Kreiſe herumbewegt hat, glaubt, daß man ſehr weit fortgekommen ſeyn muͤſſe. Aber geſezt, wir waͤ - ren ſo gute Schoͤpfer, daß wir wirklich neue in -S 4280Einige Gedankendividuelle Naturen hervorbringen, und ſie hin - laͤnglich abwechſeln koͤnnten: was koͤnnen uns alle dieſe Weſen angehen, die wir niemals um uns herum geſehen, mit denen wir niemals in ir - gend einem Verhaͤltniſſe geſtanden haben, und von denen wir wiſſen, daß wir nichts weder zu hoffen noch zu fuͤrchten haben? Wenn uns dieſe Goͤtter-Zauberer-Feyen - und Ritterwelt jetzo noch gefallen ſoll: ſo muß es entweder dadurch geſchehen, daß unter dieſen fremden Namen wirk - liche Menſchen aufgefuͤhrt werden, oder daß ſie doch zuweilen wie die uns bekannten Dinge wir - ken und leiden; oder es muͤſſen Anſpielungen, es muß Scherz, Satyre, mit einem Worte eine Art von verborgenem Sinne ſeyn, der unter dieſen Bildern hervorleuchtet. Dieſe Dinge und ihre Begebenheiten muͤſſen nur als das Mittel ge - braucht werden, durch welches andere, die uns eigentlich intereſſiren, ins Auge fallen ſollen.

Aus dieſer Regel folgt, 2) daß uns nichts mehr intereſſiren kann, als Schilderungen des Menſchen, ſeiner Sitten und ſeiner Vorfaͤlle. 281uͤber das Intereſſirende. Denn mit dem Menſchen haben wir doch von dem erſten Augenblicke unſers Bewußtſeyns an am meiſten zu thun, mit ihm verbinden uns unſere Beduͤrfniſſe am genaueſten, auf ihn macht uns unſere Natur am oͤfterſten aufmerkſam. Geſchaͤfte und Vergnuͤgungen, alles, wodurch wir Begriffe bekommen oder gewiſſe Neigungen annehmen, be - ziehen ſich nur auf Menſchen, oder werden mit ihnen gemeinſchaftlich unternommen und genoſ - ſen. Alſo muͤſſen von keiner Sache in der Natur ſo viele Elemente von Ideen bey uns vorhanden, auf keine muß unſre Neugierde ſo ſehr gerichtet ſeyn, zu keiner Erkenntniß muß ſo viel Anlage und ſo viel Beduͤrfniß in uns liegen, als zu der Kenntniß des Menſchen. Man weiſe uns den Menſchen, den geringen wie den hohen, in außer - ordentlichen oder in alltaͤglichen Vorfaͤllen; aber man weiſe ihn uns ſo, wie wir ihn eigentlich ken - nen wollen, als einen denkenden, empfindenden Menſchen; man finde die wahren Worte, die ihm ſeine Situation eingeben, die eigentlichen Hand - lungen, zu denen ihn ſein Charakter treiben muß:S 5282Einige Gedankenund unſere ganze Seele wird bey dem Anblicke in eine Geſchaͤftigkeit kommen, die ſie an nichts wei - ter denken laͤßt; der ganze Vorrath ihrer Ideen wird ſich, ſo zu ſagen, in Bewegung ſetzen, und das ganze Syſtem ihrer Empfindungen wird er - ſchuͤttert werden. Mit dieſer Saite iſt unſere ganze Seele harmoniſch geſtimmt. Alles, was wir wiſſen, alles, was wir wollen, hat irgend eine augenſcheinliche oder geheime Beziehung auf eine ſolche Schilderung. Wenn die Erſcheinung nicht ſo gewoͤhnlich waͤre, ſo wuͤrde es uns wun - derbar vorkommen muͤſſen, daß der gemeinſte elen - deſte Kopf unter den Zuſchauern einer Minna, der, wenn er einen Wirth, einen Major Tellheim, einen Wachtmeiſter wie Paul Werner, ſelbſt reden laſſen ſollte, nicht ein Wort wuͤrde zu finden wiſ - ſen, wodurch ſich dieſe Staͤnde oder dieſe Charak - tere unterſchieden, doch, wenn dieſe Sprache von dem Manne von Genie gefunden iſt, ſie ſogleich fuͤr die rechte eigentliche erkennt, und ihre Rich - tigkeit gleichſam durch ſeine eignen Erinnerungen beſtaͤtigt. Wie iſt dieß anders moͤglich, als283uͤber das Intereſſirende. daß auch der gemeinſte Mann Leute von dieſen verſchiedenen Staͤnden und Sitten im wirklichen Leben geſehen, daß er die Unterſchiede ihrer Spra - che und ihres Betragens damals empfunden, und ſeit der Zeit in ſeinem Gedaͤchtniſſe aufbehalten hat, aber ſo verworren unter einem Haufen ſtaͤr - kerer Ideen, die zugleich in die Seele kamen, ſo verdeckt von der Reihe derer, die darauf folgten, daß ſeine eigne Kraft nun nicht mehr zureicht, ſie wieder ans Licht zu ziehen? Aber dieſe Gegenſtaͤn - de duͤrfen ihm nur wieder vorkommen, beſonders ſo rein, ſo von heterogenen Dingen abgeſondert, ſo zuſammengedraͤngt, wie ſie ihm ein guter Dich - ter zeigt: dann finden ſich die Abdruͤcke, die da - von in ſeiner Seele vorhanden ſind, augenblicklich herzu; er druͤckt, ſo zu ſagen, den alten Stempel wieder darauf, er findet ihn genau paſſend, und eben dieſe Operation, die ſeinem eignen Geiſte zu - gehoͤret, iſt das, was ihn bey einer ſolchen Scene thaͤtig und aufmerkſam erhaͤlt, mit einem Worte, was ihn intereſſirt.

284Einige Gedanken

Unter dieſen Gemaͤlden von Menſchen nun wird uns 3) das Gemaͤlde ſolcher Menſchen am ſtaͤrkſten intereſſiren, die am meiſten unſers glei - chen ſind, die eine Denkungsart, eine Sprache und Sitten wie die unſrige haben, und deren Be - gebenheiten und Handlungen denen gleichkommen, aus denen der Lauf unſers eignen Lebens beſteht, mit einem Worte, das Gemaͤlde unſrer Zeit und unſrer Nation. Jeder Menſch hat um ſich herum ein kleines Syſtem. Er ſelbſt iſt der Mit - telpunkt deſſelben; die Glieder ſeiner Familie, die Einwohner ſeiner Stadt, die Leute, mit denen er alle Tage umgeht, ziehen die naͤchſten Kreiſe um dieſen Mittelpunkt; Reiſen, Geſchaͤfte, die ver - ſchiedenen Veraͤnderungen ſeines Zuſtandes, er - weitern dieſelbe. Innerhalb dieſes Syſtems ſieht der Menſch alles mit ſeinen eignen Augen, jeder Punkt der Peripherie haͤngt durch irgend einen Strahl mit dem Mittelpunkte zuſammen. Ge - ſchichte und Reiſebeſchreibungen koͤnnen ihm noch tauſend andre Syſteme außer dem ſeinigen be - kannt machen; aber dieſe alle ſieht er nur im285uͤber das Intereſſirende. Profil, beruͤhrt ſie gleichſam nur durch einige we - nige Tangenten. Und ſo wie auch dieſe weiter von ſeinem Standorte wegkommen, ſo wird ihr Anblick immer einſeitiger, mangelhafter, dunkler. In der That, wir kennen nur diejenige Le - bensart, diejenige Verfaſſung der Menſchen recht, die auch zugleich unſere eigne iſt. Alle uͤbrigen Zuſtaͤnde des menſchlichen Geſchlechts erklaͤren wir uns immer nur durch die Vergleichungen, die wir zwiſchen denſelben und dem gegenwaͤrtigen anſtellen. Wo dieſe Aehnlichkeiten uns verlaſſen oder betruͤgen, da ſind unſre Vorſtellungen von dieſen Zuſtaͤnden dunkel oder falſch. Wo die menſchliche Geſtalt anfaͤngt ſehr von der unſrigen abzugehen, da ſehen wir die Menſchen fuͤr eine Art von Ungeheuern an, und endlich ſtreiten wir wohl gar daruͤber, ob es Menſchen oder Affen ſind. Und wo der menſchliche Geiſt, ſeine Ideen, Geſinnungen, Handlungen, gar keine Gleichfoͤr - migkeit mehr mit den unſrigen haben, da verliert ſich das Bewußtſeyn von dem, was ein ſolcher Geiſt ſeyn mag, und das ſympathetiſche Gefuͤhl286Einige Gedankenvon dem, was in demſelben vorgeht. Ueber - dieß, die Nachrichten, die uns alte oder entfernte Menſchen bekannt machen ſollen, wie weit koͤnnen dieſe wohl reichen? Die Griechen und Roͤmer ſind gewiß die beiden Nationen, die wir aus dem Al - terthume am beſten kennen. Und doch, wie weit iſt der Begriff, den wir von der Verfaſſung und der Lebensart der Einwohner zu Rom und zu Athen haben, von einem ſinnlichen Anſchauen unterſchieden? Wie viele Luͤcken ſind nicht in den vollſtaͤndigſten Nachrichten, wie viel Umſtaͤnde, die kaum unſre Vernunft mit einander vereinigen kann, und aus denen noch weniger unſre Einbil - dungskraft ein Ganzes zu machen weiß? Es ſind immer nur einige wenige Beſtandtheile aus der unendlichen Zuſammenſetzung der damaligen Na - tur, nur einige zerrißne Glieder aus der Kette ih - rer Veraͤnderungen. Wir zwingen dieſe Theile zuſammen, wir haͤngen dieſe Glieder, ſo gut wir koͤnnen, an einander; aber wir fuͤhlen doch, daß wir nicht die wahre Geſtalt, nicht den ganzen Koͤrper der Natur wieder herausbringen. Wie287uͤber das Intereſſirende. viel unmoͤglicher alſo muß es nicht ſeyn, ein rich - tiges Gemaͤlde von dem geſammten Zuſtande eines Volks oder eines Zeitalters auf einzelne Stellen von Schriftſtellern zu gruͤnden, die davon im Vorbeygehen geredet haben.

Es ſind ſeit einiger Zeit unter uns die Bar - den - und Skaldengeſaͤnge aufgekommen. Wenn man damit nichts weiter zur Abſicht hat, als was Kleiſt bey ſeinem Liede eines Lapplaͤnders, und Gray bey ſeiner Herabkunft des Odins zur Abſicht hatte, uns auf eine lebhaftere Art, als durch die bloße Erzaͤhlung geſchehen kann, das Eigenthuͤm - liche und Sonderbare der Lebensart, der Sitten und der Dichtkunſt eines merkwuͤrdigen Volks zu zeigen: ſo iſt die Wahl unſrer Bardenſaͤnger die gluͤcklichſte, weil uns dieſes Volkes Eigenthuͤm - lichkeiten am erheblichſten vorkommen muͤſſen, da wir uns fuͤr deſſelben Nachkommen halten koͤn - nen. Aber wollte man ſo weit gehen, daß man die wahre deutſche Poeſie dadurch erſt wieder auf - zuwecken glaubte, daß man dieß als die einzigen Originalgedichte, und alles Uebrige als franzoͤ -288Einige Gedankenſiſche oder engliſche Nachahmungen anſaͤhe: ſo geſtehen wir aufrichtig, daß es uns um unſer Jahrhundert leid waͤre. So viel Muͤhe alſo haͤt - ten wir uns um Kultur und Sitten und Wiſſen - ſchaften gegeben, damit wir uns in denjenigen Werken, die der Nation vor allen uͤbrigen eigen ſeyn ſollten, wieder in ein rauhes, barbariſches, unwiſſendes Jahrhundert zuruͤckſezten, unſere in etwas gebildete Sprache wieder regellos machten, unſere kaum gebaͤndigte Phantaſie wieder ihrem wilden Laufe uͤberließen? Und wenn wir uns noch in dieſes Jahrhundert zuruͤckſetzen koͤnnten; wenn uns noch der Dichter dieſe wilde Natur und dieſe rauhen Menſchen ſo zeigen koͤnnte, wie ſie wirklich geweſen ſind! Aber dazu weiß er ſelbſt lange nicht genug von ihnen. Einige we - nige, hier und da aufgeſammlete, halb wahre und halb falſche Nachrichten, groͤßtentheils aus roͤmiſchen Schriftſtellern, und einige Fragmente aus Gedichten benachbarter barbariſcher Natio - nen, ſind die ganzen Quellen, woraus wir unſre Kenntniß von dieſen unſern Vorfahren ſchoͤpfen. 289uͤber das Intereſſirende. Einige Namen ihrer Gottheiten und Geiſter, ei - nige Gebraͤuche ihrer Religion, einige wenige von ihren politiſchen und haͤuslichen Einrichtungen, ihre Tapferkeit, ihr Haß gegen die Roͤmer, machen den ganzen Stoff aus, der zu der Schilderung ihrer Sitten und ihres Zuſtandes verbraucht wird. Daher koͤmmt es dann auch, daß der Grund des Gemaͤldes modern oder eine bloße Phantaſie iſt, und daß nur hin und wieder die etlichen wenigen Farben des Alterthums reichlich aufgetragen wor - den, uns zu erinnern, was der Dichter hat vor - ſtellen wollen. Durch ſolche Schilderungen aber, die der Dichter bloß nach ſeinen Einbildun - gen machen muß, koͤmmt er von ſeinem eigentli - chen Hauptgeſchaͤfte, der Beobachtung der wirkli - chen Welt und der gegenwaͤrtigen Menſchen, ab. Die Empfindungen und Leidenſchaften, die ſolche Gedichte ausdruͤcken, ſind doch niemals des Dich - ters eigne. Es iſt eine Maske, die er traͤgt, bey der er in der That einiges Verdienſt hat, wenn er die Rolle gut zu ſpielen weiß, zu der er ſich durch ſeine Maske anheiſchig macht. aber es iſt dochT290Einige Gedankennur eine Maske, und wer immer vermummt geht, muß wahrhaftig ein haͤßliches Geſicht haben. Wir kennen allerdings einige ſehr ſchaͤtzbare Stuͤcke dieſer Art. Wir verlangen auch nicht dem Genie irgend eines Dichters Schranken zu ſetzen. Aber wir wuͤnſchten doch unſre beſten Genies mit dem beſchaͤftigt zu ſehen, was unſerm Zeitalter und un - ſerer Nation am wichtigſten und am vortheilhaf - teſten ſeyn muß.

Aus eben demſelbigen Grunde koͤnnen wir es nicht begreifen, wie es immer ein Kunſtrichter dem andern hat nachſprechen koͤnnen, daß Koͤnige und Fuͤrſten zur Tragoͤdie nothwendig ſind, weil nur deren ihre Schickſale uns recht ſtark intereſſiren koͤnnten. Auch Hurd, der einſichtsvolle Hurd, klagt bitterlich daruͤber*)In der Abhandlung von dem Gebiete der verſchie - denen Gattungen des Drama., daß die edelſte Gat - tung des Drama unter den Neuern beynahe ver - loren ſey, weil ſie ſich auch durch das Ungluͤck von Privatperſonen wollen ruͤhren laſſen. Aber wenn nur ſeine Gruͤnde eben ſo ſtark waͤren, als ſeine291uͤber das Intereſſirende. Klagen ernſtlich ſind! Es ſind dieſe beide: 1) Die Schickſale der Fuͤrſten haben in der Wirklich - keit oder in unſerer Einbildung einen Einfluß uͤber ganze Nationen; alſo muͤſſen ſie uns ſtaͤrker ruͤh - ren. 2) Die Perſonen der Fuͤrſten haben in un - ſrer Idee eine groͤßere Wuͤrde; alſo muß uns ihr Ungluͤck mehr in Erſtaunen ſetzen. Wenn uns recht iſt, ſo haben wir dieſe Gruͤnde ſchon oft ge - hoͤrt, und wohl noch ſtaͤrkere, als dieſe. Aber ſo oft wir es verſuchten, uns dadurch zu uͤberzeu - gen, ſo oft ſchien uns unſere Empfindung zu ſa - gen: Es iſt falſch, daß wir an das Volk denken, wenn wir einen Koͤnig auf der Buͤhne ſehen. Nur ſelten geht die Taͤuſchung ſo weit, daß wir wirk - lich einen Fuͤrſten zu ſehen glauben, und niemals ſo weit, daß wir auch das Volk fuͤr wirklich hiel - ten, welches in ſeinem Titel ſteht. Es iſt genug gefodert, wenn wir uͤber das Ungluͤck des Schau - ſpielers, der den Koͤnig macht, als uͤber ein wirk - liches geruͤhrt werden ſollten: aber es iſt eine Chi - maͤre, wenn man ſich einbildet, daß wir auch noch mit ſeinen unſichtbaren Unterthanen Mitleiden ha -T 2292Einige Gedankenben ſollen, von welchen wir gar zu gewiß wiſſen, daß ſie nirgends vorhanden ſind. Es giebt viele aͤhnliche Philoſophie uͤber das Theater, und im Vorbeygehn geſagt, uͤber den Menſchen uͤber - haupt, die als eine Reihe von Begriffen ganz rich - tig iſt; nur daß ſich die Gegenſtaͤnde zu dieſen Begriffen gar nicht in der Natur finden. Ue - berdieß wie viel ſind nicht im Leben der Koͤnige Privathandlungen; Begebenheiten, die in einem Buͤrgerhauſe wie in einem Palaſte vorgehen koͤn - nen; und ſind nicht die meiſten Subjekte unſrer und der alten heroiſchen Trauerſpiele von der Art? Was ſoll alſo hier der Name des Fuͤrſten thun, wenn er nur als Menſch handelt oder leidet? Aber, die groͤßre Wuͤrde der Koͤnige und ihre Hand - lungen? In der That, bey dem aufgeklaͤrten edlern Theile der Zuſchauer exiſtirt dieſe Idee von Wuͤrde gar nicht; und dieſen Theil wird doch wohl der Dichter am meiſten intereſſiren wollen. Und geſezt, wir haͤtten wirklich einen ſo einge - ſchraͤnkten Kopf, oder eine ſo niedrige Seele, daß uns der Name Fuͤrſt, Koͤnig, auch auf der Buͤhne293uͤber das Intereſſirende. unſrer natuͤrlichen Gleichheit vergeſſen ließe: wo - zu wuͤrde dieß anders dienen, als uns gegen das Schickſal dieſer hoͤhern Weſen gleichguͤltiger zu machen? Ja eben dieß, daß der Dichter ſich ver - bunden haͤlt, Koͤnige und Fuͤrſten die hoͤchſte Sprache der Poeſie reden zu laſſen, eine Sprache, die ſehr einfoͤrmig iſt, und die meiſten Verſchie - denheiten der Charaktere und der Denkungsarten unter einem immer gleichen Pompe verbirgt; eben dieß, daß man den hoͤhern Stand nicht anders als durch ein gewiſſes Gepraͤnge kenntlich zu machen weiß, welches oft dem natuͤrlichen Ausdrucke der Leidenſchaft ſchadet: eben dieß iſt eine Urſache mehr, warum uns das heroiſche Trauerſpiel we - niger intereſſant ſeyn muß, als das buͤrgerliche. Auch die Koͤnige muͤſſen erſt wieder Menſchen wer - den, wie wir, wenn ſie uns durch ihre Schickſale ruͤhren ſollen.

Weil alſo, wenn die Menſchen, die uns vor - geſtellt werden, nur kenntliche, nur in ihrer Art merkwuͤrdige Menſchen ſind, es nicht der Hoheit des Standes und der politiſchen Wichtigkeit derT 3294Einige GedankenBegebenheiten braucht, um uns zu intereſſiren: ſo werden wir natuͤrlicher Weiſe darauf geleitet, daß an der Bearbeitung der Charaktere und der Vorfaͤlle am meiſten gelegen iſt.

Diejenige Bearbeitung, haben wir geſagt, macht uns die dichteriſchen Vorſtellungen einer Sache intereſſant, durch welche unſre eignen dun - keln Ideen von derſelben getreu wieder erweckt, aber zugleich aufgeklaͤrt oder erweitert werden. Aufgeklaͤrt werden ſie, 1) indem wir das, was wir bloß in beſondern Faͤllen zu empfinden wuß - ten, allgemein denken lernen, und die Wahrheit, die in unſern Erfahrungen unter vielem nicht dazu gehoͤrigen Stoffe verborgen lag, rein und abge - ſondert unſerm Verſtande dargeſtellt ſehen; dieß macht das Intereſſe, welches Sentenzen, und was man uͤberhaupt Philoſophie in einem Ge - dichte nennt, am rechten Orte und auf die rechte Weiſe gebraucht, wirken koͤnnen; 2) indem das, was wir bloß mit Woͤrtern und in einem abſtrak - ten Satze gefaßt hatten, in einem einzelnen Falle295uͤber das Intereſſirende. auf einmal anſchauend gemacht wird; dieß iſt das Intereſſe der poetiſchen Schilderung ſelbſt.

Erweitert werden unſre Begriffe, indem uns entweder von den Dingen ſolche Theile und Ei - genſchaften gezeigt werden, die wir ſelbſt gar nicht bemerkt hatten, die wir aber, fogleich als ſie uns bekannt werden, der Sache gemaͤß und mit allen ihren uͤbrigen Theilen und Eigenſchaften uͤberein - ſtimmend finden; oder indem uns die feinern Zuͤge, die einfachern Elemente, die innern Kraͤfte der Dinge, die in unſerm eignen Begriffe zwar la - gen, aber von uns nicht unterſchieden, nicht aus einander gebracht werden konnten, entdeckt und kenntlich gemacht werden. Wenn wir uns unſre Begriffe von den Dingen von der wirklichen Welt abſtrahiren wollen, ſo muͤſſen wir ſehr aufmerkſam ſeyn, um die Sache, die wir beobachten, nicht unter der Menge der andern, die mit ihr zugleich da ſind, zu verlieren; um uns nicht durch den ſchnellen Fluß der aͤußern Veraͤnderungen und un - ſrer eignen Begierden von ihr eher wegtreiben zu laſſen, ehe wir noch ihre Geſtalt gefaßt haben. T 4296Einige GedankenUeberdieß ſind es nur immer Stuͤcke von Begrif - fen, die wir auf dieſe Weiſe jedesmal erhalten. Die Augenblicke, wo wir aus den Geſpraͤchen oder den Handlungen der Menſchen, mit welchen wir umgehen, etwas Erhebliches von dem Menſchen uͤberhaupt lernen koͤnnten, ſind ſelten. Wir muͤſ - ſen unſer Bischen Weisheit daruͤber muͤhſam zu - ſammenſparen, und bekommen doch oft nichts Brauchbares, nichts recht Ganzes. Vom Dich - ter erwarten wir aber, daß er dieſe Beobachtun - gen beſſer und vollſtaͤndiger zu machen Gelegenheit gehabt habe; von ihm fodern wir, daß er ſie uns auf einmal und in ganzen Haufen uͤberliefern ſoll: nicht bloß, indem er ſeinen Perſonen die Reflexio - nen ſelbſt in den Mund legt, die er bey dieſer, bey jener Gelegenheit mag angeſtellt haben, und wor - aus ſeine Kenntniß nach und nach erwachſen iſt; ſondern vielmehr, indem er ſeine Perſonen ſo han - deln, ſo reden laͤßt, daß es uns leicht wird, aus ihnen ſelbſt dieſe Wahrheiten zu abſtrahiren. Er haͤlt uns, ſo wie die Natur, nur den Stoff zu un - ſern Kenntniſſen vor; aber die Natur einen rohen,297uͤber das Intereſſirende. er einen zugearbeiteten Stoff; bey ihm koͤmmt das Individuelle ſchon dem Allgemeinen etwas naͤher; der Verſtand findet nicht mehr ſo viel weg - zulaſſen, ſo viel zuſammen zu ſuchen. Im Bild - niſſe laſſen ſich die Umriſſe, die die Geſtalt beſtim - men, leichter als in dem Geſichte der Perſon ſelbſt unterſcheiden.

Was die Sentenzen betrift, ſo ſind dieſelben in der neuern Kritik ausnehmend verſchrieen, und man hat Recht gehabt ſie zu verſchreyen, wenn man darunter entweder alltaͤgliche und ſo zu ſagen ſchon in gewiſſe Formulare gebrachte Wahrheiten verſteht; oder wenn uͤberhaupt da allgemeine ab - ſtrakte Urtheile ſind, wo lauter partikulaͤre Ideen, ſolche, die ſich bloß auf die Umſtaͤnde und das Ge - ſchaͤffte des Redenden beziehen, erfodert wurden. Aber, wie es in der Kritik und in der Moral oft gegangen iſt, man hat dieſen Fehler eben mit deſto mehr Hitze verfolgt, je laͤnger man ihn fuͤr ſchoͤn gehalten hatte. Nichts iſt in der That unertraͤg - licher, als wenn in einem Gedichte, beſonders in einem dramatiſchen Gedichte, (denn aus dieſerT 5298Einige GedankenGattung, als der intereſſanteſten unter allen, laſ - ſen ſich die Regeln und Fehler in dieſer Art am leichteſten abſtrahiren) der Dichter lehret, anſtatt daß die Perſonen ſprechen ſollen. Nichts ſtoͤret die Taͤuſchung mehr, als wenn wir anſtatt ſolcher Gedanken, die bloß aus der Situation und dem Charakter des Redenden erwachſen konnten, dieje - nigen Betrachtungen hoͤren, die einem wohlbele - ſenen Menſchen bey Gelegenheit dieſer Situation und dieſes Charakters einfallen koͤnnen. Aber nichts iſt ergoͤtzender und anziehender, als einen denkenden Mann in wichtigen Umſtaͤnden ſeines Lebens ſeine Begriffe ſowohl als ſeine Empfindun - gen entwickeln zu ſehen; nichts iſt intereſſanter, als dieſen Streit der Vernunft mit den Leiden - ſchaften zu ſehen, ich meyne zu ſehen, wie durch die allgemeinen Begriffe, Grundſaͤtze, Maximen, die eine Perſon in ihre gegenwaͤrtige Lage mit - bringt, die beſondern Eindruͤcke, welche dieſelbe von den Vorfaͤllen erhaͤlt, eingeſchraͤnkt werden, und wie hinwiederum die neuen Erfahrungen, die ſie jezt macht, auf dieſe alten Ideen zuruͤckwirken,299uͤber das Intereſſirende. ſie beſtaͤtigen, zweiſelhaft machen, oder abaͤndern; nichts iſt lehrreicher, als mitten in dem Laufe der Begebenheit und der Leidenſchaft, die ununterbro - chen fortgeht, doch zugleich diejenige ſtille unmerk - liche Arbeit des Verſtandes zu ſehen, durch welche jeder etwas vollkommnere Menſch auch aus den unruhigſten Scenen ſeines Lebens Nahrung von Wahrheit und Kenntniß herauszieht.

Man ſieht wohl, daß, was man eigentlich Sentenzen heißt, nur ein Theil der Sache iſt, wo - von ich rede. Dieſe eigentliche Sentenzen muß - ten freylich zu der Zeit ein groͤßer Intereſſe haben, als die Zahl allgemein gedachter, allgemein aus - gedruͤckter Wahrheiten noch geringer, als die Sprache noch nicht an den Ausdruck ſolcher Wahr - heiten gewoͤhnt, und das Gedaͤchtniß der Men - ſchen weniger mit ſolchen Grundſaͤtzen und Maxi - men angefuͤllt war. Man weiß, daß im Anfange der Philoſophie einige ſolche Sentenzen dem Erfin - der den Namen eines Weiſen erwerben konnten. In den Trauerſpielen der Griechen, beſonders des Euripides, finden wir ſie haͤufiger, als wir ſie in300Einige Gedankenunſern neuern Stuͤcken wuͤrden vertragen koͤnnen. An ihre Stelle iſt eine gewiſſe Metaphyſik, eine Zergliederung der Empfindungen und Leidenſchaf - ten getreten. Unſre Dichter laſſen ihre Perſonen uͤber ihr eigen Gefuͤhl weit mehr raͤſonniren, als die Alten gethan haben. Unſtreitig iſt es fuͤr unſre Wißbegierde eines der empfindlichſten Ver - gnuͤgen, wenn man uns unſre Erfahrungen gene - raliſiren lehrt, wenn man unſerm Gefuͤhle Worte verſchafft, und der Idee ſo zu ſagen aus ihrer Huͤlſe heraushilft. Es wird alſo faſt niemals fehlen, daß bey Leuten, deren Kopf nicht ſchon ſehr bereichert und deren Geſchmack nicht ſehr fein iſt, eine jede Sentenz, wenn ſie auch noch ſo ſehr am unrechten Orte ſteht, nicht eine Art von Be - wunderung erregen ſollte. Ein Stuͤck, das wohl verſificirt und mit ſolchen Sentenzen angefuͤllt iſt, wird, bey aller kunſtrichterlichen Einſicht des fran - zoͤſiſchen Parterre, doch gemeiniglich bey der erſten Auffuͤhrung von ihm beklatſcht. Nur den Mann wird ein ſolches Stuͤck beleidigen, bey dem auf der einen Seite das Vergnuͤgen neuerworbener Kennt -301uͤber das Intereſſirende. niſſe wegfaͤllt, weil ihm die meiſten ſolcher Wahr - heiten ſchon etwas Bekanntes und Gelaͤufiges ſind, und der auf der andern das Mißvergnuͤgen geſtoͤr - ter Empfindungen fuͤhlet, weil er die Unſchicklich - keit dieſer Lehrſpruͤche, bey den Umſtaͤnden deſſen, der ſie ſagt, bemerkt.

Wenn alſo der Dichter dieſes Intereſſe mit dem weſentlichern richtig geſchilderter Charaktere und Handlungen vereinigen will: ſo muß er ſol - che Charaktere, ſolche Situationen ſuchen, deren Entwickelung es mit ſich bringt, daß die Perſonen mehr als andre uͤber ihre Begebenheiten denken, und dieſe Gedanken freyer als andre ausdruͤcken. Dieß iſt eben der Vortheil der wahren launichten Charaktere.

Das Wort Laune ſoll theils diejenige Anlage des Kopfs anzeigen, durch die ein Menſch alle Sachen von einer etwas ſonderbaren Seite an - ſieht, von allen auf eine etwas ungewoͤhnliche Art geruͤhrt wird; theils diejenige Gemuͤthsart, in der er das, was er denkt, oder wozu er Luſt〈…〉〈…〉 was andre weder ſagen noch thun wuͤr -302Einige Gedankenden, weil ſie ſich von der Meynung der uͤbrigen oder von der Gewohnheit einſchraͤnken laſſen, ohne Zuruͤckhaltung ſagt und thut. Andre Charak - tere verſchließen ihre Betrachtungen in ſich, oder richten ſie bloß nach den Abſichten ein, die ſie bey ihrer Rede haben, oder nach den Geſinnungen der Perſonen, mit denen ſie reden. Der launichte Charakter oͤfnet ſo zu ſagen die Seele; er treibt jeden Keim von Gedanken gleich ſo weit heraus, daß er geſagt werden muß; und laͤßt uns alſo mehr von der geheimen Philoſophie des Menſchen erfahren, als irgend ein andrer. Wenn dieſe Laune bey Leuten von gemeiner Seele vorkoͤmmt, die eben nichts als etwas Alltaͤgliches, Niedriges, Abgeſchmacktes bey den Sachen denken, ſo iſt ſie unertraͤglich. Fuͤr ſolche Menſchen iſt die Poli - teſſe und der Zwang der Gewohnheit ganz durch - aus nothwendig, wenn wir ſie nicht verachten oder haſſen ſollen, ſo wie haͤßliche Koͤrper noth - wendig bekleidet ſeyn muͤſſen. Aber iſt es ein faͤhiger Kopf und ein edles empfindendes Herz, das ſich ſo ganz ſeinen eignen Eingebungen uͤber -303uͤber das Intereſſirende. laͤßt: ſo iſt uns in der That ſein Umgang lehrrei - cher und intereſſanter, als wenn ein eben ſolcher Kopf und ein ſolches Herz die Maske des gemeinen Wohlſtandes traͤgt, und, um andern Menſchen aͤhnlicher zu ſcheinen, den freyen Ausbruch ſeiner Gedanken und Geſinnungen hindert.

Von derjenigen Aufklaͤrung, welche geſchieht, wenn allgemeine Begriffe anſchauend gemacht wer - den, duͤrfen wir nichts mehr hinzuſetzen, da dieß eigentlich das Hauptgeſchaͤfte des Dichters iſt. Das Individuelle, das Beſondre, iſt an und fuͤr ſich, wenn das Uebrige gleich iſt, allemal intereſ - ſanter als das Allgemeine. Denn eben weil je - nes durch die Sinne und die Einbildungskraft, bey denen wir uns leidend verhalten, dieſes durch den Verſtand erkannt wird, bey welchem wir ſelbſt thaͤtig ſeyn muͤſſen: ſo iſt die Aufmerkſamkeit bey jenem immer weniger vorſezlich und weniger muͤh - ſam als bey dieſem, und dieß war eben das Kenn - zeichen des Intereſſirenden.

Man weiß, was wohlgewaͤhlte Beyſpiele auch tiefſinnigen Unterſuchungen fuͤr ein Intereſſe ge -304Einige Gedankenben koͤnnen: weil ſie ſo zu ſagen alle die von ein - ander gerißnen Theile der Sache, die uns das Raͤſonnement einzeln und nach und nach gewieſen hatte, wieder zuſammenſetzen, und uns den gan - zen Koͤrper auf einmal uͤberſehen laſſen. Solche Beyſpiele nun, fuͤr die meiſten, fuͤr die brauchbar - ſten unſrer allgemeinen Begriffe, ſoll uns der Dich - ter durch ſeine Nachahmungen geben; und eben dadurch werden dieſelben einer moraliſchen Abſicht faͤhig, weil ſie alle die Grundſaͤtze der Tugend und alle die Regeln der Klugheit, die in unſerm Ge - daͤchtniſſe todt liegen, gerade auf diejenige Art uns eingedenk machen koͤnnen, auf welche allein ſie ei - nen Einfluß auf unſer Verhalten haben. Eine Poeſie, die dieſen Endzweck nicht hat, die keiner wichtigen Lehre, keinem nuͤzlichen Begriffe Leben und anſchauende Klarheit verſchafft, iſt nicht nur ein bloßes Spiel, und ein ſehr koſtbares zeitver - derbendes Spiel, ſondern es iſt auch groͤßtentheils ein mattes langweiliges Vergnuͤgen.

Nur davon muͤſſen wir noch einige Worte ſa - gen, daß die Schilderungen des Dichters unſere305uͤber das Intereſſirende. Begriffe von den Dingen auch erweitern muͤſſen, wenn ſie intereſſiren ſollen. Nicht was jeder, auch bey einem fluͤchtigen zerſtreuten Anſchauen der Sache, an ihr findet, ſondern was nur der tiefſehende Beobachter bey einer langen aufmerk - ſamen Betrachtung derſelben entdecken konnte, das wollen wir in dem Gemaͤlde des Dichters finden. Jeder Charakter hat gewiſſe Zuͤge, die ſo auf der Oberflaͤche liegen, daß ſie jedermann und beym er - ſten Anblicke in die Augen fallen. Dem erſten Dichter konnten dieſe Zuͤge genug ſeyn; und er hatte immer Ruhm davon, nicht eben daß er ſie entdeckte, aber daß er ſie auszudruͤcken wußte. Aber nun, nachdem der Geizige, der Eiferſuͤchtige, der Verliebte, von Dichtern und Rednern vielleicht einige hundertmal ſind geſchildert, und jene Zuͤge von den meiſten mit den dazu einmal gewidmeten Ausdruͤcken wiederholt worden; nachdem faſt je - dem nicht ganz unwiſſenden Menſchen eine Menge ſolcher Zuͤge aus ſeiner Lektuͤre von Romanen und Komoͤdien in Gedanken ſchwebt: ſo kann es wohl kein großes Verdienſt mehr fuͤr den Dichter, keinU306Einige Gedankengroßes Vergnuͤgen fuͤr den Leſer ſeyn, wenn nur dieſe alten Bilder und Redensarten auf eine neue Art wieder zuſammengeſezt werden. Und doch iſt in der That manches unſrer neuen Gedichte von dieſer Art. Wir wollen freylich die Dinge, die Menſchen ſehen, die wir ſehen koͤnnen, aber wir wollen nicht das Gemeine, das Alltaͤgliche an ih - nen ſehen.

Dieſes Gemeine in den Charaktern und Lei - denſchaften zu vermeiden, hat man zween Wege: entweder ſie ſtark, oder ſie fein zu ſchildern. Ent - weder den hoͤchſten Grad der Leidenſchaft, die ge - waltſamſten Ausbruͤche eines Charakters, die hef - tigſten Wirkungen einer Situation zu zeigen, und zwar die bekannten gewoͤhnlichen Zuͤge der Sache, aber in einem ungewoͤhnlichen Grade vorzuſtellen; dieß iſt am meiſten das Werk des Trauerſpiels, beſonders des Trauerſpiels in Verſen bisher ge - weſen: oder die Sache durch gemaͤßigte, aber un - bemerktere geheimere Zuͤge zu ſchildern; die un - merklichern Spiele und Uebergaͤnge der Leiden - ſchaft aus dem Grunde der Seele hervorzuheben:307uͤber das Intereſſirende. die feinern Miſchungen zu zeigen, durch welche derſelbe Hauptcharakter in verſchiedenen Menſchen mannichfaltig abwechſeln kann; die Situation nach ihren kleinſten Wirkungen auf die Perſon, die ſich darinnen befindet, vorzuſtellen; dieß ſollte das Werk des buͤrgerlichen Trauerſpiels, der ho - hen Komoͤdie und aller der dramatiſchen Stuͤcke ſeyn, wo die Proſe dem Dichter mehr Freyheit und eine genauere Aehnlichkeit mit dem natuͤrlichen Ausdrucke erlaubt. Obgleich beide Arten, die dichteriſche Vorſtellung der Sache uͤber die gemei - nen Vorſtellungen zu erheben, ihren Werth ha - ben; obgleich zu jeder vorzuͤgliche Faͤhigkeiten des Geiſtes noͤthig ſind: ſo geſtehen wir doch, daß wir die leztere Art fuͤr die ſchwerere und fuͤr die inte - reſſantere halten; daß es nach unſerer Meynung mehr Kunſt koſtet, alle Schattirungen einer ruhi - gen Zuneigung, als einige wenige ſtarke Farben einer raſenden Liebe zu treffen; daß es mehr Ver - gnuͤgen macht, den ganzen Zuſtand der Seele bey einem Hausvater zu ſehen, der von einer uͤber - eilten Liebe ſeines Sohns, der Herrſchſucht ſeinesU 2308Einige GedankenBruders und der Zuruͤckhaltung ſeiner Tochter beunruhigt wird, als die etlichen gewaltſamen Erſchuͤtterungen in der Seele eines Koͤnigs, der ſeinen Vater ermordet und ſeine Mutter geheura - thet hat.

Durch die bloßen Ideen, haben wir geſagt, kann uns ein Werk intereſſiren, entweder inſofern es unſere Wißbegierde befriedigt; und zu dem Ende wird es uns begreifliche, fuͤr uns wichtige, von uns ſchon gewuͤnſchte Kenntniſſe verſchaffen muͤſſen; davon haben wir bisher geredet: oder inſofern es unſere denkende Kraft in Thaͤtigkeit ſezt; und zu dem Ende wird es eine Reihe ſchnell fortgehender, richtig zuſammenhaͤngender, hell und kraͤftig ausgedruͤckter Ideen enthalten muͤſ - ſen.

Auch ein Geſpraͤch von ganz unerheblichem Inhalte, aber ein feuriges muntres Geſpraͤch, wo das an Lebhaftigkeit erſezt wird, was am innern Werthe des Geſagten abgeht, kann doch immer noch ſehr unterhaltend fuͤr die ſeyn, welche es fuͤh - ren, und ſogar angenehm fuͤr die, welche es an -309uͤber das Intereſſirende. hoͤren. Um deswillen macht das Streiten alle - mal das Geſpraͤch intereſſanter; und durch Zaͤn - kereyen iſt man immer ſicher, die Aufmerkſamkeit der Umſtehenden zu erregen. Bey jedem Streite entwickeln ſich, durch Huͤlfe der Leidenſchaft, wel - che ſich darein miſcht, die Begriffe ſchneller, die Worte rollen leichter fort, Gedanken und Aus - druͤcke ſind ungeſuchter und kraͤftiger. Ueberdieß wird der Zuhoͤrer durch den ſchnellen und wieder - holten Uebergang von der einen Partey zur entge - gengeſezten, durch den Kontraſt der beiderſeitigen Meynungen und Geſinnungen, durch die immer vom neuen erregte und immer befriedigte Erwar - tung der Antworten und Gegenantworten, noch mehr beſchaͤftigt.

Dieſe Gattung des Intereſſe iſt in vielen Ar - ten der kleinern Gedichte die einzige, deren ſie faͤ - hig ſind, und ſie iſt allen Arten nothwendig. Der Lehrdichter mag noch ſo große und noch ſo neue Wahrheiten, der dramatiſche Schriftſteller mag noch ſo ruͤhrende Situationen und noch ſo einnehmende Charaktere gefunden haben; wennU 3310Einige Gedankennicht beide das, was ſie uns zu ſagen haben, mit einer gewiſſen Geſchwindigkeit und in einer unun - terbrochenen Reihe in unſre Seele bringen, wenn ſie nicht Stoß auf Stoß folgen laſſen, und die meiſten Ideen in der kuͤrzeſten Zeit erwecken koͤnnen, ſo werden ſie uns doch nicht intereſſiren.

Man ſieht, daß es hierbey vornehmlich auf den Styl ankoͤmmt, obgleich Gedanke und Aus - druck mit einander ſo zuſammenhaͤngen, daß es unmoͤglich iſt, anders ſich koͤrnicht, mit Waͤrme oder Genauigkeit auszudruͤcken, als wenn man auch eben ſo denkt. Aber ſo viel iſt doch gewiß, daß diejenige Ausbildung der Ideen, durch welche ſie zuſammengedraͤngt, vollkommen gemacht, und zu einem geſchwinden und doch immer richtigen Fortgange geſchickt gemacht werden, mit der Ar - beit ſie gut auszudruͤcken einerley, oder doch fuͤr uns nicht zu unterſcheiden ſey. Die Erfahrung lehret, wie ſehr unaͤhnlich die Urtheile der Natio - nalen und der Auslaͤnder uͤber ein Werk, das jene im Original und dieſe in der Ueberſetzung kennen, ausfallen; daß Schoͤnaich dem Englaͤnder ganz311uͤber das Intereſſirende. ertraͤglich, und Geßner ihm ſtuff ſcheinen koͤnne. So ſehr haͤngt der Eindruck der Sachen von dem Eindrucke der Schreibart ab, in der ſie geſagt werden. In ihr liegen die Fehler, die uns am erſten und am meiſten beleidigen, und von ihr kommen die Schoͤnheiten, die uns allenthalben durchs ganze Werk reizen. Ein vernachlaͤßigter Ausdruck zieht uͤber das beſte Werk einen Flor, der die Schoͤnheiten deſſelben einem gemeinen Auge ganz unſichtbar, und auch einem ſcharfen und ge - uͤbten unkenntlich macht. Duͤrfen wir uns nun wohl noch wundern, warum der große Haufe un - ſrer Nation ſich ſo wenig fuͤr unſre guten Koͤpfe und Schriften intereſſirt, da unter dieſen guten Koͤpfen ſo viele ſind, die ihre Gedanken nur halb auszudruͤcken wiſſen; da die Kunſt zu ſchreiben, die bey den Franzoſen und Englaͤndern auch man - cher mittelmaͤßiger und ſchlechter Schriftſteller be - ſizt, bey uns nicht einmal allen unſern guten Schriftſtellern eigen iſt; da die meiſten unſrer Leute von Genie entweder dieſſeits der Vollkom - menheit in Abſicht der Schreibart ſtehen bleiben,U 4312Einige Gedanken uͤber ꝛc. oder ſchon uͤber dieſelbe hinaus ſind, entweder die in unſrer Sprache liegende Schoͤnheit und Kraft des Ausdrucks vernachlaͤßigen, oder in dieſelbe fremde Schoͤnheiten und eine ihr unnatuͤrliche Staͤrke bringen wollen?

So viel von dem Intereſſe, das aus Vorſtel - lungen entſpringt: in dem folgenden Theile wer - den wir von dem Intereſſe reden, das aus Em - pfindung und Leidenſchaft entſteht.

313

Einige Gedanken uͤber das Intereſſirende.

Zweyter Theil.

  • Aus dem zwoͤlften Bande der Neuen Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und der freyen Kuͤnſte.

Ohnerachtet das Intereſſe, welches aus Lei - denſchaften entſteht, (der Gegenſtand un - ſrer noch uͤbrigen Arbeit) von dem Intereſſe, welches aus Vorſtellungen entſpringt, nicht voll - kommen getrennt werden kann, weil dieſe leztern nur inſofern wichtig und reizend fuͤr die Aufmerk - ſamkeit werden, als ſie etwas in ſich enthalten, was die Leidenſchaften aufbringt, oder ihnen ſchmeichelt: ſo ſcheint doch dieſe Abtheilung, wel - che wir zum Grunde uuſers Plans gelegt haben,U 5314Einige Gedankenſo richtig zu ſeyn, als irgend eine Theilung zwi - ſchen den Veraͤnderungen der menſchlichen Seele ſeyn kann. Denn wenn es erlaubt iſt, uͤberhaupt Verſtand und Herz von einander zu unterſcheiden, obgleich weder Vernunft noch Einbildungskraft lange geſchaͤftig ſeyn kann, ohne das Herz daran Theil nehmen zu laſſen, ſo iſt es auch erlaubt, den Antheil, den wir an den Aeußerungen des Verſtandes eines andern, von dem, den wir an den Ausbruͤchen ſeines Herzens nehmen, abzu - ſondern; oder mit andern Worten, das Intereſſe, welches Raͤſonnements oder Schilderungen, und das, welches Gemuͤthsbewegungen oder Schick - ſale erregen, zu unterſcheiden.

Vielleicht wuͤrden wir die Wahrheit, die wir bey unſrer Eintheilung im Sinne hatten, noch beſſer ausgedruͤckt haben, wenn wir ſo geſagt haͤtten: Der Zuſtand eines Menſchen, der von etwas intereſſirt wird, iſt ein vollkommneres Wa - chen, ein hoͤherer Grad von Leben. Er wird alſo darinnen beſtehen, daß wir uns ſelbſt lebhafter empfinden, daß wir mehr Begierden und Erwar -315uͤber das Intereſſirende. tungen haben, als gewoͤhnlich. Aber was fuͤr Begierden; und wornach? Entweder nach ge - wiſſen Veraͤnderungen der Umſtaͤnde, die uns in der Wirklichkeit oder in der Vorſtellung gegen - waͤrtig ſind; oder nach gewiſſen Veraͤnderungen unſrer Gedanken ſelbſt. Eine Sache intereſſirt uns, entweder weil ſie zu unſrer eignen Vollkom - menheit etwas beytraͤgt; dieß war das Intereſſe, welches die Deutlichkeit, die Menge der Vor - ſtellungen hervorbringt; oder weil ſie etwas in unſern Umſtaͤnden verbeſſert. Von dieſer leztern Art des Intereſſe wollen wir jezt reden.

Zuerſt bemerken wir, daß das Intereſſirende in den Begebenheiten immer etwas kuͤnftiges iſt: eine Gefahr, die uns nahe koͤmmt, eine Freude, die wir erwarten. Wenn der Vater, der ſeinen Sohn an einem fremden Orte aufzuſuchen gereiſt war, ihn todt findet, ſo iſt er aufs lebhafte ge - ruͤhrt; er iſt inſofern beſchaͤftigt, aber er iſt nicht intereſſirt. Wenn eben dieſer Vater, bey der An - kunft in die fremde Stadt, von einem Juͤnglinge, der ſeinem Sohn aͤhnlich iſt, und der eben begra -316Einige Gedankenben werden ſoll, reden hoͤrt: dann wird er im hoͤchſten Grade intereſſirt.

Zweytens in dieſer Zukunft muß noch einige Dunkelheit ſeyn. Es iſt eine ungewiſſe Erwar - tung, mit Begierde oder Abſcheu verbunden. So - bald ein guter oder ſchlimmer Ausgang gewiß iſt, ſobald iſt die Beſchaͤftigung der Seele, die Un - ruhe nicht mehr ſo groß. Man ſage dem Spieler voraus, daß er gewinnen wird, ſo mag er ſich mehr freuen, aber ſeine Seele wird weniger thaͤ - tig ſeyn. Und warum dies? Die Thaͤtigkeit der Seele beſteht in der Begierde, und die Begierde hoͤrt auf, wenn die Sache erreicht iſt. Er - reicht iſt aber auch die Zukunft, ſobald ſie gewiß wird.

Drittens: So viel es alſo in unſern Umſtaͤn - den Veraͤnderungen zum Beſſern oder zum Schlechtern geben kann, große oder kleine: auf ſo vielfache Weiſe koͤnnen wir intereſſirt werden. In dem Laufe jedes Tages kommen auch dem ein - gezogenſten, ruhigſten Menſchen tauſend kleine angenehme Vorfaͤlle vor, deren Erwartung zu ge -317uͤber das Intereſſirende. wiſſen Stunden und Augenblicken ihm mehr Leb - haftigkeit giebt. Bey jedem Menſchen giebt es ſolche kleine Dunkelheiten der naͤchſten Zukunft, durch welche er in einige Unruhe und in eine ſtaͤr - kere Bewegung geſezt wird.

Auf dieſe Weiſe alſo intereſſirt uns nun unſer eigen Leben. Aber wie kann dieſe Hofnung und Furcht entſtehen, ohne daß in unſern Umſtaͤnden ſich etwas aͤndert?

Uns duͤnkt, es giebt eine dreyfache Art, die Leidenſchaften hervorzubringen, ohne die Umſtaͤnde des Menſchen zu aͤndern: die eine wuͤrde ich gern die muſikaliſche, die andere die maleriſche, die dritte die dichteriſche Art heißen, nicht, als wenn nicht eine jede Kunſt mehr als ein Mittel haͤtte zu ruͤhren, ſondern weil ſich bey jeder Eine Art be - ſonders merklich zeigt.

Entweder wird die Leidenſchaft in der Seele hervorgebracht, indem der Koͤrper auf den Ton dieſer Leidenſchaft geſtimmt wird. Das geſchieht durch die Muſik. Wenn man ſagt, ſie ahmt die Leidenſchaften nach, ſo will man oft weiter nichts318Einige Gedankenals ſo viel ſagen: von einer gewiſſen Spannung der Nerven wird jede Leidenſchaft begleitet; iſt dieſe Spannung da, ſo entſteht dieſe Leidenſchaft, oder die Seele braucht nur noch eine kleine Ver - anlaſſung dazu. Toͤne, die eigentlich nur eine Erſchuͤtterung des Gehoͤrnervens wirken, haben doch einen unſtreitigen Einfluß auf den ganzen Koͤrper. Die Erfahrung hat uns gelehrt, welche Toͤne die Nerven ſchlaff und dadurch die Seele ſchwermuͤthig machen, oder welche ſie anſpannen und dadurch die Seele erheben. Der Komponiſt ſezt dieſe Toͤne zuſammen, und erweckt dieſe Lei - denſchaften. So viel iſt wenigſtens ausge - macht, daß die meiſte Inſtrumentalmuſik, außer dem Vergnuͤgen an Wohlklang und Rhythmus, weiter keine Wirkung auf die Seele thut, als durch die Verfaſſung, in die ſie den Koͤrper ſezt.

Oder die Leidenſchaft wird erregt durch das Anſchauen einer Begebenheit, die einen andern in Leidenſchaft ſezt, und an der wir durch Sym - pathie Theil nehmen. Dieſe Art, Leidenſchaf -319uͤber das Intereſſirende. ten zu erwecken, hat die Malerey mit der Poe - ſie gemein, aber die Malerey hat gar keine an - dere.

Die Poeſie hat noch eine zweyte. Naͤmlich, es entſtehen Leidenſchaften, wenn uns die Empfin - dungen oder die Ideen eines andern lebhafter an unſre Umſtaͤnde und Empfindungen aͤhnlicher Art erinnern, und alſo, ſo zu ſagen, ein vergangnes Intereſſe wieder aufwecken.

Wir werden uns bloß auf die beiden leztern Arten, die Leidenſchaften zu erregen, einſchraͤnken. Fuͤr die Dichter und die Schriftſteller uͤberhaupt iſt dieſe Unterſuchung beſtimmt. Gemaͤlde und Muſik koͤnnen uns ergoͤtzen, koͤnnen uns ruͤhren; aber im eigentlichen Verſtande intereſſiren koͤnnen uns nur die redenden Kuͤnſte.

Noch einmal alſo, dieſe Kuͤnſte erwecken Lei - denſchaften, 1) indem ſie Begebenheiten uns dar - ſtellen, an denen wir Antheil nehmen, 2) indem ſie Empfindungen uns vorlegen, die uns unſrer eigenen eingedenk machen. Man ſieht leicht, daß das Drama, die Epopee, alle die Theile der Dicht -320Einige Gedankenkunſt, welche Begebenheiten erzaͤhlen oder nachah - men, Leidenſchaften auf die erſte Art erwecken; die Ode, die Elegie hingegen, alle die Gattungen, welche bloß den Gemuͤthszuſtand des Dichters ſchildern, auf die zweyte.

Dieſe Materie iſt von unendlichem Umfange; wir muͤſſen ſie in engere Graͤnzen einſchließen, wenn wir ihrer maͤchtig werden wollen.

An welchen Leidenſchaften nehmen wir vor - nehmlich Theil? Auf welche Weiſe muͤſſen ſie ge - ſchildert werden, damit dieſe Theilnehmung be - foͤrdert werde? und welches iſt die nuͤzlichſte Art der Leidenſchaften, die der Dichter erwecken kann?

Um zu wiſſen, welche Leidenſchaften und Em - pfindungen am meiſten intereſſiren, haben wir zween Wege; entweder die menſchliche Natur zu fragen, oder die Praxin der Dichter.

Die Natur ſagt uns - Wir nehmen an den Leidenſchaften, von welchen wir andre bewegt ſe - hen, Theil, entweder wenn wir uns genau in ihre Umſtaͤnde zu verſetzen, und die Wirkung der -321uͤber das Intereſſirende. ſelben auf die Seele uns vorzuſtellen wiſſen; oder wenn wir zwiſchen dieſen Umſtaͤnden und unſern eignen eine gewiſſe Verbindung fehen.

Wir glauben, es giebt eine dreyfache Sym - pathie. Eine, die bloß im Koͤrper ihren Grund hat; unſre Werkzeuge gerathen bey gewaltſamen Bewegungen aͤhnlicher Werkzeuge in eine aͤhnliche Bewegung; ſo fuͤhlen wir das Geſchrey eines Menſchen, der auf der Tortur liegt. Eine zwote, die in den Vorſtellungen der Seele ihren Grund hat; unſre Einbildungskraft giebt uns die Rolle der leidenden Perſon, und wir bilden alſo auch alle ihre Empfindungen nach. Eine dritte, die in den moraliſchen Empfindungen ih - ren Grund hat; wir erzuͤrnen uns uͤber ein au - genſcheinliches Unrecht, das Jemanden geſchieht, mehr, als wir mit dem ihm zugefuͤgten Uebel Mit - leiden haben wuͤrden, wenn es ein bloßer Zufall waͤre.

Die erſte Art der Sympathie findet nur bey dem Schmerze, nicht bey dem Vergnuͤgen ſtatt. Denn die Erſchuͤtterungen muͤſſen gewaltſam ſeyn,X322Einige Gedankendie eine harmoniſche Erſchuͤtterung unſrer Nerven hervorbringen ſollen; und die Erſchuͤtterungen des Vergnuͤgens ſind ſanft. Um deswillen alſo iſt koͤrperlicher Schmerz kein ſchicklicher Stoff fuͤr den Dichter. Um deswillen ſoll Medea ihre Kin - der nicht auf dem Theater umbringen, und Atreus nicht ſeines Bruders Kinder vor den Au - gen der Zuſchauer auftragen. Die Leidenſchaf - ten, die uns von andern durch unſern Koͤrper mitgetheilt werden; auch die, wo ſich nur unſe - re koͤrperliche Sympathie ſehr mit hineinmiſcht, ſind immer unangenehme verdruͤßliche Leiden - ſchaften; ſie erlauben ſelten eine Miſchung von Vergnuͤgen, und ſie erregen keinen Wohlgefallen uͤber uns ſelbſt und unſre Empfindlichkeit.

Die zwote Art der Sympathie, die, welche aus der Einbildungskraft und dem Verſetzen in des andern Umſtaͤnde entſpringt, muß ebenfalls bey dem Leiden merklicher, als bey jeder andern Art der Empfindungen ſeyn. Denn, warum haͤtte man faſt in allen Sprachen alle an - dre Arten von Sympathie unbenannt gelaſſen,323uͤber das Intereſſirende. und dem Mitleiden allein einen Namen gege - ben?

Wir ſehen demunerachtet augenſcheinlich, daß wir an der Froͤhlichkeit eben ſowohl Theil nehmen koͤnnen, als an der Betruͤbniß.

Alle Leidenſchaften laſſen ſich in ſolche theilen, die aus dem Widerſtande gegen das Uebel und den Schmerz, und in ſolche, die aus der Nei - gug gegen das Gute und das Vergnuͤgen entſte - hen. Jede Gattung theilt ſich wieder, nach dem die Leidenſchaft die Seele erhebt oder nieder - ſchlaͤgt. Es giebt einen Widerwillen gegen das Uebel, der zum Widerſtande fuͤhrt, der mit einer Art von Aufwallung der Lebensgeiſter verbunden iſt, der muthig und beynahe verwegen macht, das iſt die zornartige Unluſt. Es giebt einen andern, der zur Muthloſigkeit fuͤhrt, der mit ei - ner Unterdruͤckung der Lebensgeiſter verbunden iſt, der ſchwermuͤthig und verzweifelnd macht, das iſt die Betruͤbniß. Eben ſo giebt es eine Freude, die ſtolz macht, die Zuverſicht und weit ausſehende Entwuͤrfe einfloͤßt; und eine andre,X 2324Einige Gedankendie weichlich macht, die in dem Schatten der Ru - he und bey dem Genuſſe einſchlaͤfert.

Noch iſt der Charakter der Leidenſchaften an - ders, wenn bloß das Gute oder Boͤſe erwartet wird, und anders wenn es nun koͤmmt.

Allgemeine Regeln zu geben, welche Leiden - ſchaften ſich am leichteſten mittheilen laſſen, mag vielleicht ſehr mißlich ſeyn; aber jeder darf ſeine Erfahrungen anfuͤhren, und der Leſer hat immer Vortheil, wenn er ſie mit ſeinen eignen vergleicht.

Uns alſo ſcheint es 1) daß, inſofern die Sympathie von den Vorſtellungen der Seele her - koͤmmt, koͤrperlicher Schmerz und Luſt am wenig - ſten Theilnehmung veranlaſſen. Vorſtellen koͤn - nen wir ſie uns wenig, wenn nicht der Koͤrper hilft. Daher diejenigen, die von einem ſo feſten Baue des Koͤrper und ſo abgehaͤrteten Fibern ſind, daß von hieraus der Zugang zur Seele verſchloſſen iſt, geſezt auch, daß ſie das fuͤhlbar - ſte Herz haben, doch bey den koͤrperlichen Leiden andrer, wenn nicht moraliſche dazu kommen, wenig empfinden. Das Ungluͤck, woran wir325uͤber das Intereſſirende. durch die Imagination Theil nehmen ſollen, muß auch von der Imagination herkommen; die Vor - ſtellungen, welche ſich der Leidende von den Din - gen macht, nicht die Bewegungen des Koͤrpers, welche er fuͤhlt, muͤſſen die Quelle ſeines Un - gluͤcks ſeyn.

2) Am Leiden koͤnnen wir uͤberhaupt mehr Theil nehmen, als am Vergnuͤgen; es ſey nun, weil der Schmerz immer die heftigſte Empfindung iſt, und alſo auch mit mehr Gewalt auf den Zu - ſchauer wirkt, oder weil wir dem Froͤhlichen und Gluͤcklichen nichts helfen koͤnnen, da hingegen die Noth andrer unſern Beyſtand und alſo unſre Thaͤtigkeit auffordert. Daher koͤmmt es alſo auch, daß nur das Trauerſpiel eigentliche Leidenſchaft erregt, die Komoͤdie aber mehr bloß durch die Vorſtellungen intereßirt.

3) An dem weichlichen Vergnuͤgen, das in dem bloßen Genuſſe beſteht, bey dem die Kraͤfte des Geiſtes mehr hinſinken, als empor ſtreben, koͤnnen wir am wenigſten Theil nehmen, wenn wir nicht ſelbſt in einem aͤhnlichen Zuſtande ſind,X 3326Einige Gedankenoder uns deſſelben erinnern. Aber davon iſt jezt die Rede nicht. Dieſe Maler der Wolluſt alſo, auch der feinern geſitteten Wolluſt, errei - chen doch ihren Zweck, geſezt er waͤre auch der edelſte, am wenigſten. Es iſt umſonſt, ſeine Seele in einen Zuſtand, der ganz leidend iſt, worinn ſie nichts wirkt, ſondern bloß Eindruͤcke andrer Dinge empfaͤngt, freywillig zu verſetzen. Nur die Freude, die geſchaͤftig, behende, mit Unternehmungen ſchwanger, voll großer Hof - nungen iſt; dieſe nur koͤnnen wir bey uns ſelbſt, ohne ſie zu fuͤhlen, nachmachen: denn unſre Kraͤfte zu Handlungen zu erwecken, haben wir die Gewalt; aber Eindruͤcke hervorzubringen, wenn die Gegenſtaͤnde nicht da ſind, haben wir keine. Was die verſchiedene Arten der Unluſt anbetrifft, ſo koͤmmt viel auf den Charakter des Zuſchauers an. Ein maͤnnlicher Geiſt wird mehr Antheil an dem Zorne, und ein weiblicher mehr Antheil an der Betruͤbniß nehmen. Jenes ſcheint der Fall bey den Alten geweſen zu ſeyn: deswegen konnten ſie auch ſo ſchreckliche Ge -327uͤber das Intereſſirende. ſchichte, ſo graͤßliche Ausbruͤche der Wuth ver - tragen, ſie ſahen lieber eine Medea, die, wenn gleich durch Grauſamkeiten, ſich uͤber ihr Un - gluͤck erhebt, als eine Niobe, die weinend unter demſelben zu Boden ſinkt. Dieſes ſcheint der Fall bey uns zu ſeyn; wir wollen mehr wehmuͤ - thige als ſtarke Empfindungen ſehen; ein Fei - ger, der aber ſonſt ein guter Mann und un - gluͤcklich iſt, findet mehr Mitleiden, als ein Tapferer, der durch das Ungluͤck wild und un - baͤndig worden. Dieß koͤmmt alſo daher, weil der maͤnnliche Geiſt die muthige Widerſetzung des Zornigen billiget, und die Ohnmacht des Niedergeſchlagenen verachtet; der weibliche Cha - rakter hingegen den Ungeſtuͤm des Zorns ſcheuet, und hingegen das Sanfte der Betruͤbniß gut heißt. Dieß haͤngt alſo mit der Sympathie der moraliſchen Empfindungen zuſammen, und da - von werden wir gleich reden.

4) An allen gluͤcklichen und ungluͤcklichen Vorfaͤllen andrer Menſchen koͤnnen wir mehr An - theil nehmen, wann ſie erwartet werden, alsX 4328Einige Gedankenwenn ſie gegenwaͤrtig ſind. Um deswillen ſchließt ſich das Trauerſpiel, ſobald der ungluͤckliche Streich vollbracht iſt. Den Hofnungen zweyer Liebenden, die ſich durch allerhand Schwierigkei - ten aufgehalten ſehen, koͤnnen wir mit Vergnuͤ - gen zuſehen; aber wann ſie nun verlobt ſind, ſo gehen wir davon. Die Urſache liegt in dem, was wir ſchon geſagt haben. Nur an der Be - gierde oder dem Abſcheue nehmen wir eigentlich Theil, nicht an dem Genuſſe und dem Leiden; jenes ſind Handlungen, dieß ſind Empfindun - gen; dort wirken wir ſelbſt, hier die Dinge. Wo ſich nun bey den Perſonen, welche es ei - gentlich gilt, Hofnung in Luſt verwandelt, da hoͤrt ihr Beſtreben und alſo unſre Mitwirkung auf. Bey dem Schmerze iſt es etwas anders; weil kein Schmerz ohne Furcht, obgleich Luſt oh - ne Hofnung ſeyn kann. Bey dem Genuſſe ver - liert ſich die Begierde, und alſo auch die Theil - nehmung. Bey dem Schmerze verliert ſich nicht die Verabſcheuung; die Beſtrebung das Uebel wegzuſchaffen bleibt, und dieſes Beſtreben thei - len wir mit dem Leidenden.

329uͤber das Intereſſirende.

Was die moraliſche Sympathie betrift, ſo richtet ſich dieſe nach zwo Sachen; nach dem Charakter der Perſon, und nach dem Charakter der Leidenſchaft, an welcher wir Theil nehmen ſollen. Die Perſon muͤſſen wir lieben oder hoch - achten; die Leidenſchaft muͤſſen wir in gewiſſem Grade billigen. 1) Liebe und Hochachtung gruͤnden ſich auf moraliſche Vollkommenheit, die wir einem Menſchen zuſchreiben. Aber Hoch - achtung geht auf die moraliſche Vollkommenheit bloß an ſich betrachtet, Liebe auf dieſelbe als eine Quelle des Vergnuͤgens oder des Nutzens fuͤr uns. Alle Umſtaͤnde einer Perſon, gegen welche wir eine dieſer beyden Geſinnungen ha - ben, ruͤhren uns mehr, alle ihre Empfindungen nehmen wir leichter an; einmal, weil wir dieſe Umſtaͤnde mehr mit den unſrigen verbinden, zum andern, weil wir dieſe Empfindungen fuͤr etwas vollkommners und nachahmungswuͤrdigers hal - ten.

2. Beſonders muͤſſen wir die Leidenſchaft, welche Sympathie erregen ſoll, fuͤr erlaubt oderX 5330Einige Gedankenfuͤr loͤblich, und den Grad derſelben fuͤr billig und der Urſache gemaͤß anſehen. Die Stoiker ſagten, unſre eigne Leidenſchaften bekaͤmen da - durch ihre groͤßte Staͤrke, weil wir aus Irrthum es fuͤr recht hielten, ſie zu haben. Wir wollen jezt nicht unterſuchen, wie weit dieſes wahr ſey; aber ſo yiel iſt gewiß, daß jede Leidenſchaft ge - ſchwinder entſteht, und auf eine groͤßere Hoͤhe ſteigt, wenn wir durch den Gedanken von Un - rechtmaͤßigkeir oder von Thorheit nicht zuruͤck gehalten werden. Der freywillige Entſchluß der Seele geſellt ſich bey Leidenſchaften, die wir bil - ligen, zu dem unfreywilligen Eindrucke der Ge - genſtaͤnde; und dieſe vereinigte Kraft unſrer ſelbſt und des Dinges macht alſo die Wirkung groͤßer.

So wie in den Begriffen von der Moralitaͤt etwas Feſtes und Unwandelbares, und etwas Veraͤnderliches und Willkuͤhrliches iſt; ſo werden auch die Leidenſchaften, welche man billiget, zum Theil bey allen Menſchen dieſelben, zum Theil durch die Verſchiedenheit der Sitten und der Ge - ſeze verſchieden ſeyn.

331uͤber das Intereſſirende.

Allgemein wird es ſeyn, daß eine Leiden - ſchaft, die auf Wohlwollen gegruͤndet iſt, mehr Theilnehmung erregt, als eine, welche aus Haß entſteht; die Elektra floͤßt uns bey weitem nicht ſo ſehr ihren Haß gegen ihre Mutter ein, als ſie uns ihre Liebe zu ihrem Bruder einfloͤßt. Allge - mein wird es ſeyn, daß eine Leidenſchaft, die ein Menſch bloß wegen ſeiner eignen gluͤcklichen oder ungluͤcklichen Veraͤnderungen empfindet, weniger Theilnehmung erregt, als die, welche er uͤber das Schickſal andrer, die unter ihm ſtehen, oder fuͤr welche er zu ſorgen hat, empfindet. Ein Vater, der ſeine ungluͤcklichen Kinder, ein Buͤr - ger, der ſein Land beweint, fodert mehr Mitleid, als ein Menſch, der ſeine eigne Armuth oder ſei - ne Krankheit beklagt. Allgemein wird es ſeyn, daß Zorn nur bey einem durch Ungerechtigkeit erlittnen Ungluͤcke gebilliget und mit empfunden wird.

Aber verſchieden werden die Meynungen uͤber die Groͤße der Beleidigungen ſeyn, und uͤber die Haͤrte der Ahndung, die bey jeder Belei -332Einige Gedankendigung erlaubt iſt. Eine empfangne Ohrfeige er - regt den ganzen Tumult in dem Cid, und dieſer Tumult ſcheint den Zuſchauern nicht uͤbertrieben. Die Rache der Elektra iſt grauſam; aber die Er - mordung eines Vaters ſchien ſie den Griechen zu rechtfertigen. Verſchieden werden ſie ſeyn uͤber den Werth der Tugenden, die ſich in den ver - ſchiedenen Leidenſchaften aͤußern. Jede Art der Faͤhigkeiten und Tugenden, die Tapferkeit, die Maͤßigkeit, die Menſchenliebe, hat ihre Epoche in der menſchlichen Geſellſchaft; vielleicht hat es noch keinen Zeitpunkt gegeben, wo alle Tugenden auf gleiche Art waͤren geſchaͤzt worden. Zu der einen Zeit wird man geneigt ſeyn, auch Hand - lungen der Ungerechtigkeit und Grauſamkeit zu entſchuldigen, wenn ſie nur mit Entſchloſſenheit unternommen und mit Muth ausgefuͤhrt wor - den; zu einer andern wird man auch weibiſches taͤndelndes Weſen vertragen koͤnnen, wenn es nur mit Feinheit der Sitten und Gutherzigkeit verbunden iſt.

So viel ſagte uns die Natur des Menſchen; was ſagt uns nun die Praxis der Dichter?

333uͤber das Intereſſirende.

Wenn man die alten und neuen Trauerſpie - le in ſeinen Gedanken durchlaͤuft, ſo wird man, glauben wir, zwo Leidenſchaften am oͤfterſten in ihnen vorkommen ſehen: Rachſucht und Liebe. Rache, oder die Ahndung einer empfangnen Be - leidigung, iſt oft der Stoff des heroiſchen Trauer - ſpiels, und iſt den Dichtern am meiſten eigen, welche nach Erhabenheit ſtreben; Liebe iſt gemei - niglich der Stoff des wehmuͤthigen Trauer - ſpiels, und iſt die Lieblingsmaterie der Dich - ter, welche mehr Empfindlichkeit des Herzens haben.

Dieſe Einfoͤrmigkeit wird uns weniger be - fremden, wenn wir bedenken, daß es nur zwo Leidenſchaften zu ſchildern geben kann, ſolche, die aus der Freude und dem Wohlgefallen, und ſol - che, welche aus dem Mißfallen entſtehen. Ruͤhrt nun dieſe Freude oder dieſer Verdruß von den menſchlichen Handlungen her, ſind es die geſell - ſchaftlichen Verhaͤltniſſe, durch welche dieſe Lei - denſchaften erregt werden, ſo werden ſie faſt al - lemal in Liebe oder in Zorn ausſchlagen.

334Einige Gedanken

Aber warum iſt unter allen Arten der Zunei - gung, die Liebe der Geſchlechter vorgezogen wor - den?

Deswegen, weil 1) dieſe Leidenſchaft allge - meiner iſt; ſie gruͤndet ſich auf einen Naturtrieb, ſie erinnert an eines der ſtaͤrkſten ſinnlichen Ver - gnuͤgungen; die Sympathie kann alſo allgemein ſeyn. Die vaͤterliche, die freundſchaftliche, die Vaterlandsliebe hingegen, ſind nur gewiſſen Per - ſonen eigen, ſie ſind mehr Tugenden, als wirk - liche Leidenſchaften; nur derjenige kann ſtark daran Theil nehmen, der ſelbſt faͤhig iſt ſie zu fuͤhlen. 2) Weil dieſe Leidenſchaft am meiſten Verwickelungen und Abentheuer hervorbringt, und alſo der beſte Stoff zu einer Fabel iſt. Da ſie ſich mit dem Intereſſe der Familien durch - kreuzt, ſo[findet] ſie mehr Schwierigkeiten und Widerſtand zu uͤberwinden; da ſie ausſchließend iſt, ſo hat ſie mit Nebenbuhlern zu kaͤmpfen; da ſie, durch die Unaufloͤßlichkeit der Ehe, den le - benslangen Zuſtand zwoer Menſchen beſtimmt, ſo macht ſie auf gewiſſe Weiſe die Entſcheidung335uͤber das Intereſſirende. ihres Schickſals aus; da ſie endlich geſchwinder auf ihre Befriedigung dringt als jede andre Lei - denſchaft, ſo bringt ſie in der kuͤrzeſten Zeit die wichtigſte Begebenheit des menſchlichen Lebens zu Stande, wodurch ſie einer dramatiſchen Be - handlung am meiſten faͤhig wird. 3) Weil ſie die am meiſten poetiſche Leidenſchaft iſt: ſie be - lebt die Einbildungskraft, weil ſie zum Theil koͤr - perlich iſt, und den Lauf der Saͤfte beſchleunigt; ſie iſt in ihrer vollen Staͤrke zu der Zeit des Le - bens, wo die Seele am meiſten wach, und die Nerven am gefuͤhlvollſten ſind; ſie vermiſcht ſich mit vielen andern Empfindungen, weckt jede ſchlafende Leidenſchaft auf, und faͤrbt jede Idee, jede Handlung mit ihrer eignen Farbe. Die Lie - be hat die Poeſie hervorgebracht, und es iſt nicht bloße Nachahmung, ſondern es iſt Natur, daß die Liebe und ihre Abentheuer oͤfter als jeder an - dre Umſtand des menſchlichen Lebens von der Dichtkunſt ſind beſungen worden.

Aber warum haben die Alten ſo wenig Liebe in ihren Stuͤcken? Man irret ſich. Liebe iſt in336Einige Gedankenihren Stuͤcken genug, aber nur nicht die Ge - ſchichte des Verliebens. Wenn wir die tragi - ſchen Begebenheiten der griechiſchen Buͤhne be - trachten, ſo finden wir, daß die Liebe viele der - ſelben veranlaßt und ſich faſt in alle gemiſcht hat. Was ſtuͤrzt den Agamemnon, was zerruͤt - tet die Haͤuſer des Atreus, des Jaſons, des Theſeus, als die Liebe? Was iſt es dann, das uns die griechiſchen Dichter in der Klytaͤmneſtra, in der Medea, in der Phaͤdra ſchildern, als die Wirkungen der Liebe? Freylich der ausſchwei - fenden, der ehebrecheriſchen, der ſchaͤndlichen Liebe. Aber ſie haben auch in der Alceſtis das Gemaͤlde ehelicher Treue aufgeſtellt. Die Neuern haben alſo nicht die Liebe zuerſt aufs Theater ge - bracht; aber ſie haben ſie auf eine neue Weiſe behandelt, einen andern Zeitpunkt derſelben, ſo zu ſagen, gewaͤhlt. Die Griechen ſchildern mehr die eheliche Liebe, es ſey in ihrer Ausſchweifung und Verderbniß, oder in ihrer Vollkommenheit und Reinigkeit; die Eiferſucht einer beleidigten Frau, oder die Wuth einer Ehebrecherinn iſt der337uͤber das Intereſſirende. Stoff ihres Gemaͤldes: unſre Dichter hingegen ſchildern mehr den Roman vor der Ehe, die Zaͤrtlichkeit des Liebhabers, oder die Eiferſucht der Braut.

Und ſo bringen es die Sitten der Griechen und die unſrigen mit ſich. Bey den Griechen gab es keinen ſolchen Roman. Ihre Toͤchter blieben in dem innerſten Theile des Hauſes, den Augen aller Mannsperſonen, ſelbſt ihres Lieb - habers verborgen, bis er ihnen als Gemahl zu - gefuͤhrt wurde. Eher trat das weibliche Ge - ſchlecht nicht auf dem Theater der Welt auf, als bis es verheurathet war; und auch dann waren die Beſten, die Tugendhafteſten, am wenigſten ſichtbar.

Was alſo in der menſchlichen Natur liegt, daß die Liebe eine allgemeine und poetiſche Leiden - ſchaft iſt, daß ſie am Elende und Gluͤckſeligkeit der Menſchen und der Familien ſehr vielen Theil hat: das hat Griechen und Franzoſen und Deut - ſche auf gleiche Weiſe dahin gebracht, die Liebe in ihre Stuͤcke zu bringen, es ſey als eine un -Y338Einige Gedankenſichtbare Triebfeder der Handlung, oder als das ſichtbare Original des Gemaͤldes. Was aber bloß in den Sitten unſrer Zeit liegt, daß beyde Geſchlechter auch vor der Ehe freyer mit einander umgehen koͤnnen; daß der Juͤngling und die Braut auf gleiche Weiſe ihre Neigung geſtehen duͤrfen; daß es einen ſo haͤufigen Kampf der Leidenſchaft der jungen Perſonen mit dem Intereſſe der Alten und ihrer Familien giebt; daß dieſer Streit von beyden Seiten durch ge - genſeitig gemachte Entwuͤrfe gefuͤhrt wird, wor - aus eigentlich die Intrigue entſteht: dieß hat auch unſerm Theater und unſern Romanen eine beſondre Art von Liebeshaͤndeln gegeben, von denen die Alten wenig wußten.

Eine Leidenſchaft giebt es, in welcher ſich dieſe beiden, Liebe und Zorn, mit einander ver - einigen; keine iſt auch deswegen oͤfter geſchildert worden, in keiner haben die Dichter ein groͤßer Feld gefunden, ihre Einſicht in die Fuͤhrung der Leidenſchaften zu zeigen. Dieſe Leidenſchaft iſt die Eiferſucht. Die Medea, der Othello und339uͤber das Intereſſirende. die Zaire, drey Hauptſtuͤcke dreyer beruͤhmten Nationen, haben die Eiferſucht zum Stoff.

In der That wird kaum irgend eine Leiden, ſchaft ſo viel andre Leidenſchaften in ſich ſchlieſ - ſen, kaum eine ſo mannichfaltige Bewegung des Gemuͤths erregen. Wer den Eiferſuͤchtigen ſchildern will, der muß die Liebe und den Haß, die Freude und die Traurigkeit, die Hoffnung und die Furcht ſchildern. Ueberdieß kann man der Entſtehung dieſer Leidenſchaft mehr als ir - gend einer andern nachſpuͤren. Andre Leiden - ſchaften entſtehen entweder zu langſam oder zu ſchnell, um aus ihrem Urſprunge ihre Natur kennen zu lernen. Eine einzige Beleidigung kann das Gemuͤth in Zorn bringen; die Vorſtellungen folgen hier mit ſolcher Geſchwindigkeit auf ein - ander, das Blut und die Lebensgeiſter brauſen ſo ſchnell auf, daß es dem Menſchen ſelbſt nicht moͤglich iſt, den Gang der Leidenſchaften zu ent - wickeln. Die Liebe, wenn ſie ganz ſinnlich iſt, entſteht eben ſo ſchnell und oft bey dem erſten Anblicke. Iſt ſie hingegen moraliſch, ſo waͤchſtY 2340Einige Gedankenſie unmerklich; es iſt unmoͤglich, den Zeitpunkt zu beſtimmen, wo Gleichguͤltigkeit in Neigung, und Neigung in Zaͤrtlichkeit uͤbergiengen. Bey der Eiferſucht hingegen iſt der Zuſtand, aus wel - chem die Leidenſchaft gleichſam ausgeht, ſchon ein an ſich merklicher Zuſtand, deſſen Abaͤnderungen ſich wohl wahrnehmen laſſen. Wenn ein Menſch, welcher liebt, und heftig liebt, anfangen ſoll zu haſſen: ſo muß der Uebergang deutlich ſeyn. Die Ideen, welche ſeine erſte Leidenſchaft beſtritten und beſiegt haben, muͤſſen oͤftere Anfaͤlle auf die - ſelbe gethan haben; es muß ein Kampf vorge - gangen ſeyn, mit einem Worte, der Menſch, der eiferſuͤchtig wird, iſt ſelbſt geſchaͤftig, ſeinen Arg - wohn zu ſtaͤrken oder zu beſiegen, er weiß alſo und kann angeben, was in ihm vorgeht.

Und dieß bringt uns auf eine andre Bemer - kung, die man bey der Leſung der Dichter machen kann, daß nichts ſo ſehr intereſſirt, als der Streit mehrerer Leidenſchaften.

Wir haben ſchon angemerkt, daß nicht ſowohl die Empfindung, die leidende Veraͤnderung des341uͤber das Intereſſirende. Geiſtes, die bey der Leidenſchaft zum Grunde liegt, als die Thaͤtigkeit, die wirkſamen Beſtre - bungen der Seele, durch welche ſich die Leiden - ſchaft aͤußert, dasjenige ſey, woran wir Theil neh - men. Iſt nun nur Eine unbeſtrittene Leidenſchaft in der Seele, ſo kehrt ſie ihre ganze Wirkſamkeit nach außen, ſie geht bloß mit der Unternehmung, mit der aͤußern Handlung um, die zu ihrer Be - friedigung abzielt; die innere Wirkſamkeit des Gei - ſtes ſelbſt, die, welche eigentlich durch die Rede geſchildert werden kann, iſt nur geringe. Wenn aber mehrere Begierden vorhanden ſind: ſo arbei - tet die Seele innerlich, eine Entſcheidung des Streits, oder ein Gleichgewicht zu finden; und dieſe Arbeit iſt es, welche eigentlich Worte malen koͤnnen.

Ein Menſch, der einen andern vollkommen und durchaus haßt, iſt auf gewiſſe Weiſe ruhig, weil er einmal entſchloſſen iſt, und einen einfachen Entwurf verfolgt; die Ideen, die zu jeder Leiden - ſchaft gehoͤren, ſo wie ſie ſich mehr feſtſetzen, wer - den dunkler. Wenn er aber eben die PerſonY 3342Einige Gedankenliebt, uͤber deren Beleidigung er ergrimmt: dann iſt das Gemuͤth im Aufruhr; die Ideen des Haſſes ſind neu, und alſo lebhaft und deutlich, die Ideen der Liebe ſind im Beſitze der Seele, und leiſten alſo muthigen Widerſtand, der ſie hinwiederum klaͤrer und lebendiger macht. Mit einem Worte, der Widerſpruch der Ideen und der Begierden, das iſt der Zuſtand, wo der Menſch ſeiner ſelbſt am beſten bewußt iſt, und wo er am meiſten ſei - ne Vorſtellungen und Neigungen ausdruͤcken kann.

Ueberdieß iſt die Erwartung, die zum Inter - eſſirenden nothwendig iſt, bey dem Streite zweyer Leidenſchaften groͤßer als bey Einer. Was der Menſch thun wird, der bloß liebt oder bloß haßt, das iſt ausgemacht; die Wahl kann nur zwiſchen den Arten der Befriedigung ſeyn, und dieß erregt die Neubegierde nicht ſo ſtark, weil es nichts iſt, was die Natur des Menſchen ſelbſt ſo ſehr an - gienge. Aber wozu ſich der Sohn noch entſchlieſ - ſen wird, der ſeinen eignen Vater an dem Vater einer Celiebten raͤchen ſoll; was die muͤtterliche343uͤber das Intereſſirende. Liebe einer heftigen und gegen ihren Gemahl wuͤ - tenden Frau thun wird; das ſind wir hoͤchſt be - gierig zu wiſſen, und ſind ſehr zweifelhaft, es vor - aus zu ſagen.

Dieſer Streit der Leidenſchaften iſt auf mehr als eine Art moͤglich.

Der erſte iſt zwiſchen einer alten eingewur - zelten Neigung, und einer neuentſtehenden Leiden - ſchaft, durch welche ſie beſiegt werden ſoll. Dieß iſt der Fall bey der Eiferſucht. Dieſe Art des Streites iſt zu einer Schilderung, zu einer Ent - wickelung der Leidenſchaft am vortheilhafteſten. Die Entſtehung iſt es, welche uns die Natur der Leidenſchaft am beſten erklaͤrt. Und wo koͤnnen wir dieſer Entſtehung zuſehen, als wo der Zeit - punkt, wo ſie anfaͤngt, merklich iſt; und wo kann er merklich ſeyn, als wo er von dem vorhergehen - den Zuſtande der Seele ſehr abſticht? Ueberdieß findet ſich der Vortheil, den der Streit der Leiden - ſchaften dem Dichter leiſtet, daß er die ſtummen beredt macht, bey keinem Streite mehr, als wo eine einmal feſte Ueberzeugung beſtritten, und eineY 4344Einige Gedankenſchon zur Gewohnheit gewordene Zuneigung an - gegriffen wird.

Eine andre Art des Streits, der viel Unruhe und Erwartung erregt, aber weniger den Charak - ter entwickelt, iſt der, wenn eine neue und zufaͤl - lig entſtandne Begierde, einer alten Leidenſchaft, bey der Wiedererkennung des Gegenſtandes, oder bey einer beſſern Belehrung, Platz macht. Dieß iſt der Fall bey der Iphigenia von Taucis und bey der Merope. Hier iſt es nicht ſowohl ein Streit, als eine ploͤzliche Umkehrung der Geſin - nungen. Das Intereſſe entſpringt nicht ſowohl, weil man in den Zuſtand der Perſon tief ein - dringt, und ſich alſo dadurch die Geſinnungen ſehr zu eigen machen kann; ſondern weil man ſelbſt durch den Widerſpruch unruhig wird, der ſich zwiſchen der jetzigen Bewegung der Perſon und ihren wirklichen Geſinnungen und Verhaͤltniſſen findet. Geſchieht nun die Entdeckung; ſo iſt bey der Perſon ſelbſt zwar kein eigentlicher Streit, die alte Leidenſchaft nimmt ungehindert Platz: aber ſie aͤußert ihre Gewalt weit ſtaͤrker; ſie iſt mit ei -345uͤber das Intereſſirende. nem Grade von Schrecken verbunden, und hat alſo noch eine Miſchung von der Leidenſchaft, aus welcher ſie entſtanden war. Faͤlle dieſer Art wer - den auf dem Theater oͤfter als im menſchlichen Leben vorkommen, denn ſie fordern immer eine wunderbare Verwickelung, um dem Menſchen den wahren Gegenſtand ſeiner Liebe oder ſeines Haſſes zu verbergen, oder um ihn auf eine Zeit - lang wider ſeine wirklichen Geſinnungen handeln zu laſſen.

Ein dritter Streit iſt zwiſchen zwo Leiden - ſchaften, welche ſich zwar einander nicht aufheben, welche nicht einander entgegenſtehen, aber die doch entgegenſtehende Maaßregeln und eine doppelte Auffuͤhrung brauchen.

Wenn ein Menſch zwo Perſonen liebt, wel - che einander haſſen; wenn er die Gunſt zwoer Perſonen ſucht, die entgegenſtehende Unterneh - mungen haben, an welchen ſie ihn wollen Theil nehmen laſſen, wenn er in zweyfachen Verbindun - gen iſt, die ihm beide theuer ſind, und ihm alſo entgegenſtehende Pflichten auflegen: dannY 5346Einige Gedankeniſt er in einer wichtigen Situation. Das iſt der Fall bey Germeuil im Hausvater, ſo iſt Neopto - lem im Philoktet, der gern den kranken Helden retten, und doch ſeinem gegebenen Worte treu ſeyn wollte. Man ſieht leicht, warum man ſich fuͤr einen ſolchen Menſchen intereſſirt. Die Un - ruhe iſt vielleicht unter allen Bewegungen der Seele diejenige, welche ſich am leichteſten mit - theilt; und eine ſolche Lage der Umſtaͤnde bringt Unruhe hervor. Ueberdieß iſt man begierig, die Entſcheidung zu wiſſen; man findet die Aufgabe verwickelt, und man wuͤnſchet ſie aufgeloͤſt zu ſehen.

Eine ſolche Situation kann aber eben ſowohl laͤcherlich als ruͤhrend werden, nach dem Charak - ter der Perſon, welche ſich in derſelben befindet. Bey einem ſchwachen Geiſte, oder wenn die Par - teyen, unter welchen zu waͤhlen iſt, nicht erheb - lich ſind; ſo artet dieſe Unruhe in eine kindiſche Unentſchloſſenheit und Verlegenheit aus, die alle - mal laͤcherlich iſt. Man wird ſich erinnern, in ſehr viel Komoͤdien ſolche Scenen geſehen zu ha -347uͤber das Intereſſirende. ben, wo ein alberner Menſch durch ſeine Verle - genheit die Zuſchauer erluſtiget. Bey einem ed - len und großen Charakter hingegen, und wenn die Vorfaͤlle wichtig ſind, und die Wahl einen groſ - ſen Ausſchlag giebt: dann wird dieſe Unruhe ruͤh - rend.

Wir koͤnnten hier den Streit zwiſchen Leiden - ſchaft und Vernunft, als eine beſondre Gattung hinzufuͤgen, wenn er ſich nicht auf gewiſſe Weiſe uͤber alle die vorigen Arten erſtreckte.

Naͤmlich, was wir eigentlich Leidenſchaft nen - nen, iſt eine ſinnliche Begierde, die vom Koͤrper herruͤhrt, die durch den Lauf der Saͤfte und die Bewegung der Lebensgeiſter unterſtuͤzt wird. Ver - nunft iſt der Geiſt, inſofern er aus ſich ſelbſt und abgezogen vom Koͤrper wirkt und handelt. So - bald alſo nur der Menſch ſelbſt thaͤtig iſt, und ſo weit er es iſt, da und ſo weit wirkt ſeine Vernunft. Aber jeder Streit der Leidenſchaften macht den Menſchen ſelbſt thaͤtig; alſo erweckt jeder Streit der Leidenſchaft die Vernunft.

348Einige Gedanken

Im Grunde war dieß eben der Vortheil, den wir von dieſem Streite ziehen konnten. Eine einfache ſinnliche Leidenſchaft kann thieriſch ſeyn, und iſt es immer mehr oder weniger; eine zwie - fache entgegengeſezte muß auf gewiſſe Weiſe ver - nuͤnftig werden, (oder der Menſch iſt verloren,) durch die Arbeit, die die Seele ſelbſt dabey an - wenden muß, ſie aus einander oder in Vereini - gung zu bringen. In dem erſten Falle denkt der Menſch wenig. Es iſt bloßes dunkles Gefuͤhl bey ihm: und wer will dieſes dunkle Gefuͤhl ſchildern? wer will ſich darein verſezen? In dem andern denkt er nothwendig Etwas, ſeine Em - pfindungen, die bloße Eindruͤcke waren, welche auf die Seele geſchahen, muͤſſen nun von ihr be - arbeitet, geaͤndert, und ſo zu ſagen in die Form gebracht werden, daß ſie bey einander Platz ha - ben. Dieſe Ideen zu beſchreiben, dazu iſt die Sprache gemacht, das kann allein der Vorſatz des Dichters oder Redners ſeyn.

Es giebt demungeachtet noch eine reinere oder hoͤhere Vernunft, als die, welche bloß aus349uͤber das Intereſſirende. dem Zuſammenſtoße der Leidenſchaften zum Vor - ſchein koͤmmt. Wir wollen ſagen, es giebt auch Begierden, die ihren erſten Urſprung in dem Geiſte und ſeinen eignen Vollkommenheiten ha - ben. Dieſe Begierden machen den Grund der Tugend aus. Sie ſind gleichfoͤrmig und ruhig, und geben alſo zu keinen gewaltſamen Aeußerungen, aber wohl zu einer lebhaf - ten Thaͤtigkeit Anlaß, wenn die Seele dieſe ihre eigenthuͤmlichen Begriffe, dieſe ihr am meiſten zugehoͤrenden Neigungen bey dem Sturme der koͤrperlichen Begierden und der gewaltſamen Be - wegung der Lebensgeiſter zu erhalten ſucht. Dieß iſt, glauben wir, ein aͤußerſt intereſſanter An - blick, der vielleicht nicht ſo oft recht geſchildert worden iſt, weil nur die beſten und vortreflich - ſten Maͤnner in ſich ſelbſt das Original zu einer ſolchen Schilderung finden koͤnnen. Dieß iſt der Kampf des weiſen Mannes mit dem Ungluͤcke, und oft auch mit dem Gluͤcke, welchen die Goͤt - ter ſelbſt, wie Seneka ſagt, mit Vergnuͤgen an - ſchauen.

350Einige Gedanken

Mit dieſem Streite der Leidenſchaften, von welchem bisher geredet worden iſt, haben zween Faͤlle etwas aͤhnliches, die nach Theorie und Er - fahrung vorzuͤglich intereſſant ſind. Des erſten gedenkt ſchon Ariſtoteles in ſeiner Rhetorik. Das Mitleiden, ſagt er, wird ſtaͤrker rege, wenn nach Vollbringung des Streichs, der das Schickſal des Helden entſcheidet, nun ein Umſtand ſich er - eignet oder bekannt wird, der ihn wuͤrde gerettet haben, wenn er nicht ſchon das aͤußerſte erlitten haͤtte. Was macht Clariſſens Tod trauriger, als die Ankunft der Norton, die ihr die Verge - bung von ihren Eltern bringt? Was iſt ſchreck - licher als die Situation des Romeo, der ſeine Geliebte wieder aufleben ſieht, da er das Gift ſchon getrunken hat? Dieſe Beyſpiele zeigen zu - gleich die Verſchiedenheit, die hierbey noch ſtatt findet. Iſt die Perſon ſelbſt, wie Romeo, noch am Leben und gegenwaͤrtig, ſieht ſie ſelbſt den gluͤcklichen alles aͤndernden Vorfall, und iſt doch verloren: ſo iſt die Situation ſchrecklich. Iſt die Perſon, wie Clariſſe, ſchon todt, und iſt es351uͤber das Intereſſirende. nur der Leſer, der das Ungluͤck, welches ſie er - litten hat, mit dem Gluͤcke, was ihr bevorſtund vergleicht: ſo iſt die Situation wehmuͤthig.

Im erſten Falle wird das Leiden des Helden ſelbſt vergroͤßert; im zweyten wird nur die Vor - ſtellung dieſes Leidens bey dem Zuſchauer leb - hafter.

Ein zweyter Fall, wo nicht ein eigentlicher Streit der Leidenſchaften, aber doch ein gewiſſer Widerſpruch in den Begebenheiten und Gemuͤths - bewegungen das Intereſſe vermehrt, iſt der Fall des Oedips, der gerade durch die Mittel, welche er anwendet, ſich zu retten, ſein Ungluͤck be - ſchleunigt, gerade durch die Nachrichten, welche ihm einen Zuwachs von Gluͤckſeligkeit verſpre - chen, ſeines Ungluͤcks gewiß wird. Derſelbe Bote, welcher ihm die Krone von Korinth an - bietet, beweiſt es ihm, daß er Lajus und Joka - ſtens Sohn ſey. Aber woher entſteht hier das groͤßere Intereſſe? Aus der naͤmlichen Urſache, als im vorigen Falle, aus dem groͤßern Aufruhre in dem Gemuͤthe des Leidenden. Dort war es352Einige Gedankendas nahe Bild der Gluͤckſeligkeit, welches das Gemaͤlde des Ungluͤcks noch ſchwaͤrzer machte; die Begierden entbrannten zu eben der Zeit hefti - ger, da ſie ihren Gegenſtand unwiederbringlich verloren ſahen: hier giebt die Gewalt, mit wel - cher der Menſch ſeinem Ungluͤck entgegengearbei - tet hat, und die gegen ihn ſelbſt gekehrt wird, auch dem darauf folgenden Schmerz eine groͤßre Heftigkeit. Ein lange zuvorgeſehenes Ungluͤck, zu deſſen Abwendung man nichts gethan hat und nichts hat thun koͤnnen, kann ſehr ſchmerz - lich ſeyn, aber zu gewaltſamen Entſchluͤſſen wird es ſelten bringen; das Gemuͤth bleibt in ſeiner Lage, obgleich dieſe Lage traurig iſt. Aber wann der Menſch ſchon vorher, und mit einiger Hoff - nung, nach einem Ziele gerungen, wann er Vor - kehrungen gegen das Ungluͤck gemacht, Helfer herbeygerufen, alle ſeine Einſichten und ſeine Kraͤfte aufgeboten hat: dann iſt ſchon ohnedieß die Seele in einer lebhaften Bewegung; und wann alſo mitten in dieſem Sturme ein ungluͤck - licher Streich ſeine Bemuͤhungen vernichtet, dann353uͤber das Intereſſirende. kehrt ſich eben die Kraft der Seele, welche ſchon in Thaͤtigkeit war, gegen ſich ſelbſt; er wird un - willig und aufgebracht uͤber ſein Schickſal.

Man ſieht leicht, daß auch Fabeln von die - ſer Art kuͤnſtlich ſeyn muͤſſen. Und ohne das Syſtem eines blinden Schickſals, welches in der alten Tragoͤdie ſo ſehr herrſcht, wird es kaum moͤglich ſeyn, viele derſelben zu Stande zu brin - gen. In der That miſcht ſich dieſes Schickſal in die meiſten ihrer Stuͤcke. Oedip wird durch einen Orakelſpruch zum Vatermoͤrder, Phaͤdra wird von der Venus in ihren Stiefſohn verliebt gemacht, und Oreſt bringt ſeine Mutter auf den Befehl des Apollo um, der ihn doch dafuͤr durch die Furien ſtrafen laͤßt.

Dieſes Syſtem iſt das Syſtem der meiſten noch rohen unerleuchteten Voͤlker. Und darum ſind auch nur in den aͤlteſten Epochen die Ge - ſchichten haͤufig, wo ein Menſch alles thut, ei - nem geweiſſagtem Schickſale zu entgehen, und gerade dadurch ſich in dieſes Schickſal verwickelt. Fuͤr uns, die wir dieſe Ideen nicht annehmen,Z354Einige Gedankenkoͤnnen ſolche Verwickelungen nicht anders als unwahrſcheinlich und unnatuͤrlich ſcheinen; und wenn ſie auch dieß nicht waͤren, ſo wuͤrden ſie das groͤßte Intereſſe fuͤr einen feinern und geſit - teten Zuſchauer, die Theilnehmung an der Mo - ralitaͤt der Handlungen, aufheben.

Noch zu einer Erklaͤrung muͤſſen wir dieſe Anmerkungen uͤber den Streit der Leidenſchaften anwenden.

Was iſt wohl das, was die Kunſtrichter eine Situation nennen? Es iſt eine Zuſammen - kunft ſolcher Umſtaͤnde und Begebenheiten, durch welche die Empfindungen oder Leidenſchaften der handelnden Perſon, in Wirkſamkeit geſezt und genoͤthigt werden, in Entſchluͤſſen und Hand - lungen auszubrechen. Aber wodurch werden ſie in dieſe Wirkſamkeit geſezt? Gemeiniglich durch einen ſolchen Streit, als wir bisher betrachtet haben.

So wie wir in der Koͤrperwelt die Kraͤfte nur nach dem Widerſtande meſſen, den ſie uͤber - winden, ſo meſſen wir in der moraliſchen Welt,355uͤber das Intereſſirende. die Staͤrke der Neigungen oder Empfindungen, nur nach den gegenſeitigen Eindruͤcken oder Be - gierden, uͤber welche ſie die Oberhand behalten. Der Hausvater konnte ſeinen Sohn und ſeine Tochter lieben, ſo ſtark er immer wollte; daß er ihn liebte, das konnte bekannt ſeyn, aber wie innigſt ſeine Zaͤrtlichkeit ſey, wie weit er andre Vaͤter darinn uͤbertreffe, das konnte man erſt ſehen, da ſein Sohn ausſchweifend und ſeine Tochter zuruͤckhaltend wurde.

Diderot redet von nichts anders, als ei - nem ſolchen Streite, wann er den Kontraſt zwi - ſchen dem Charakter und den Umſtaͤnden ſo ſehr empfiehlt. Was iſt denn der Charakter? Es ſind diejenigen Neigungen und Abneigungen, die ebenfalls bey gewiſſen Vorfaͤllen und Gelegenhei - ten entſtanden ſind, aber die ſich nun einmal feſtgeſezt haben, die fortdauernd ſind. Was ſind die Umſtaͤnde? Es ſind die jezt vorfallenden Begebenheiten, welche Gelegenheit zu neuen Em - pfindungen und Geſinnungen geben. Was wird alſo der Mann ſeyn, deſſen Charakter mit ſeinenZ 2356Einige GedankenUmſtaͤnden im Streite ſtehn? Es wird ein Mann ſeyn, welcher die Gewohnheit hat eine Perſon zu lieben, und welcher jezt eben Veranlaſſung bekoͤmmt ſie zu haſſen; es wird einer ſeyn, der fuͤr beſtaͤndig eine Perſon ſehr verehrt, und fuͤr jezt veranlaßt iſt, ſie zu beſchimpfen. Alſo iſt im Grunde dieſer Streit zwiſchen Charakter und Umſtaͤnden, immer ein Streit zwiſchen Neigun - gen und Neigungen; zwiſchen einer Leidenſchaft und der andern. Nur daß die eine Neigung ſchon laͤngſt iſt erregt worden, und ſeit der Zeit fortgedauert hat; die andre erſt jezt erregt wird und groͤſtentheils voruͤbergehend iſt.

Wir empfinden demungeachtet noch hierbey eine Verſchiedenheit. Eine Leidenſchaft kann ei - ner andern auf eine doppelte Art zuwider ſeyn: einmal, wie ſich Haß und Liebe gegen dieſelbe Perſon zuwider iſt, ſo iſt es bey der Eiferſucht; das andremal, wie der Geitz und die Liebe zu ei - nem armen Maͤdchen, ſo iſt es beym Harpagon. Man ſieht naͤmlich, im erſten Falle iſt der Streit eigentlich zwiſchen den Begierden ſelbſt, man357uͤber das Intereſſirende. muß durchaus eine Wahl treffen; eine Neigung muß aufgeopfert werden. Im andern Falle koͤn - nen beide Leidenſchaften bey einander beſtehen, und dauern auch zugleich fort; aber der Streit iſt zwiſchen den Grundſaͤzen, Meynungen und Arten zu handeln, zu welchen dieſe Leidenſchaf - ten Anlaß geben. Als Geitzhals muß er eine Heirath ohne Mitgift fuͤr unvernuͤnftig halten: und als Verliebter muß er ſie jezt billigen. Viel - leicht iſt die Entſcheidung zu gewagt: aber uns duͤnkt, daß nur der erſte Streit eigentlich ruͤh - rend ſey, und fuͤr die Tragoͤdie und das In - tereſſe durch Empfindung gehoͤre; der andre hin - gegen leichter komiſch werde, und mehr bloß durch die Entwickelung des Charakters intereßire. Das erſte bringt Unruhe, ploͤzliche Uebergaͤnge, gewaltſame Entſchluͤſſe und zulezt Reue hervor; das andre hingegen faſt immer nur Verlegenheit, und gewiſſe Widerſpruͤche im Betragen und Re - den, die laͤcherlich werden.

Noch muͤſſen wir einer Leidenſchaft gedenken, die eine Art des Zorns zu ſeyn ſcheint, und dieZ 3358Einige Gedankenvon den Dichtern vorzuͤglich oft iſt gebraucht worden, das Schrecken oder Mitleiden zu ver - mehren: das iſt der Unwille wider ſich ſelbſt; die Reue. Warum iſt es ruͤhrend, wenn Oros - mann befiehlt, daß Zaire, die er umgebracht hat, vor ihn ſoll gebracht werden; warum iſt es ſo ſchrecklich, wenn die Moͤrderin des Koͤnigs in Makbeth, ihre blutigen Haͤnde waͤſcht, und die Flecken nicht wegnehmen kann? Deswegen glau - be ich, weil ſich alsdann zwo der unangenehm - ſten Leidenſchaften, die ſonſt faſt immer getrennt ſind, mit einander vereinigen, Traurigkeit und Zorn; weil die Reue gemeiniglich den Menſchen veranlaßt, ſich mitten im Elende den gluͤcklichen Zuſtand lebhaft vorzuſtellen, in welchem er ohne ſeine Vergehung ſeyn werde, und dieſe Vorſtel - lung das Ruͤhrendſte des Elends iſt; weil end - lich unter allen Schmerzen dieſer am meiſten aus dem moraliſchen Theile des Menſchen, aus dem Innerſten ſeines Geiſtes ſelbſt entſpringt. Jeder andrer Verdruß, jede andre Betruͤbniß koͤmmt vom Koͤrper, oder von Dingen außer uns359uͤber das Intereſſirende. her; die Reue iſt der Unmuth eines Geiſtes uͤber ſich ſelbſt. Und ſo wie in der wirklichen Welt, dieſer Unmuth der bitterſte Schmerz, und der Stachel beynahe aller andrer Leiden iſt, in welche er ſich ſo oft miſcht; ſo iſt er auch in der poeti - ſchen Welt das Huͤlfsmittel, unſre Theilneh - mung an fremden Leiden ſtaͤrker und tiefer zu machen.

Was wollen wir denn nun mit allen dieſem? wollen wir den Dichter einſchraͤnken? wollen wir ihn noͤthigen, gerade nur dieſe und keine andre Begebenheiten zu bearbeiten?

Nein, wir wollen ihn freyer machen; wir wollen ihm ſagen, daß jede Begebenheit man - nichfaltige Eindruͤcke machen, mannichfaltige Neigungen erregen koͤnne, nach dem Charakter der Perſon, die er in die Begebenheit ſetzet; und daß es alſo immer in ſeiner Gewalt ſtehe, Cha - rakter und Begebenheit ſo gegen einander abzu - meſſen, daß daraus wichtige und intereſſante Empfindungen und Leidenſchaften entſpringen. Wir wollen ihn lehren, daß wir nicht an denZ 4360Einige GedankenVorfaͤllen und Veraͤnderungen ſelbſt, ſondern nur an den Geſinnungen oder den Begierden unſrer Nebenmenſchen Theil nehmen, die durch ſolche Vorfaͤlle erregt oder aufgebracht werden; und daß es alſo mehr von ſeinen Perſonen, daß heißt im Grunde mehr von ihm ſelbſt, von ſei - ner eignen Art zu denken und zu empfinden, als von dem Stoff abhaͤnge, ob er intereſſant ſeyn ſoll oder nicht.

Es giebt eine Verſchiedenheit der Leiden - ſchaft, nach dem ſie aus dieſem oder jenem Vor - falle entſpringt, und nur unter gewiſſen Umſtaͤn - den moͤglich iſt: ſo hat jeder Stand, jede Le - bensart, jede Verfaſſung des Menſchen ihre eigne Leidenſchaften. Es giebt eine andre Ver - ſchiedenheit, die bey den naͤmlichen Vorfaͤllen ſtatt findet, nach der verſchiednen Seite, von welcher dieſelben betrachtet und empfunden wer - den; ſo kann dasjenige bey dem einen Zorn erre - gen, was den andern niederſchlaͤgt. Die erſte Verſchiedenheit iſt lange Zeit her, und zum Theil noch, fuͤr die wichtigſte gehalten, wenigſtens361uͤber das Intereſſirende. ſind die meiſten Regeln daruͤber gegeben worden; man hat nur einem gewiſſen Stande, einer ge - wiſſen Art von Umſtaͤnden und Vorfaͤllen, in Griechenland ſogar nur gewiſſen Familien und Geſchichten, erlaubet zu ruͤhren; und das ganze uͤbrige menſchliche Leben iſt bloß dem Laͤcher - lichen Preis gegeben worden. Dieſe Schranken muͤſſen wir jezt niederreiſſen, da wir anfangen, die Menſchheit ſelbſt zu ſchaͤtzen, was ſie werth iſt. Aber die andre Verſchiedenheit, die Ver - ſchiedenheit der Eindruͤcke, welche dieſelbe Bege - benheit auf verſchiedne Gemuͤther macht; und welche Eiudruͤcke es eigentlich ſind, an welchen der Zuſchauer Theil nimmt, und an welchen er am meiſten Theil nimmt: das iſt zwar von gu - ten Dichtern nicht aus der Acht gelaſſen, aber von den Kunſtrichtern weniger bearbeitet wor - den. Und hier nun, glauben wir, koͤnnen wir, zu folge der obigen Erfahrungen und Schluͤſſe, folgende Regeln feſtſezen.

1) Alle moraliſche Vergnuͤgungen und Lei - den laſſen ſich leichter mittheilen, und werdenZ 5362Einige Gedankenſtaͤrker mit empfunden, als die phyſiſchen. Un - ter den phyſiſchen verſtehen wir diejenigen, wel - che aus Veraͤnderungen der aͤußern Umſtaͤnde der Perſon entſtehen; die, welche ſich[auf] die Be - gierde nach Leben, Geſundheit, Rang, Vermoͤ - gen und koͤrperlichem Vergnuͤgen gruͤnden. Mo - raliſch aber nennen wir denjenigen Theil der Gluͤckſeligkeit oder des Elends, welcher aus Ver - aͤnderungen des innern Zuſtandes der Seele ſelbſt entſpringt; denjenigen, welcher ſich auf die Liebe des Menſchen zu ſeiner eignen Vollkom - menheit, oder auf ſeine Zuneigung zu andern moraliſchen Weſen gruͤndet. Es iſt ein Gluͤck zu lieben, oder geliebt zu werden, es iſt ein Elend, zu haſſen oder gehaßt zu ſeyn; es iſt ein Gluͤck bey ſich ſelbſt ruhig und mit ſich zufrieden, es iſt ein Ungluͤck uͤber ſich mißvergnuͤgt und mit ſeinen Handlungen unzufrieden zu ſeyn. Der Menſch alſo, welcher einen Freund verliert; der, welchen ſeine Mitbuͤrger anfangen zu haſſen; der das haſſen muß, was er zuvor geliebt hat; der nicht mehr das hochachten kann, was er noch363uͤber das Intereſſirende. jezt liebt; der Menſch, welcher gezwungen wird, von ſich ſelbſt ein nachtheiliges Urtheil zu faͤllen; der Beſchaͤftigungen, an denen er ſonſt Vergnuͤ - gungen fand, weil er ſie billigte, aufgeben muß, weil er ſie jezt mißbilligt und verwirft: dieſer Menſch iſt auf eine moraliſche Weiſe ungluͤcklich. Man ſieht leicht, daß hier nicht von einer beſon - dern Art der Ungluͤcksfaͤlle, ſondern von einer beſondern Art der Eindruͤcke die Rede ſey, wel - che jeder Ungluͤcksfall machen kann. Alle merk - liche Veraͤnderungen des Gluͤcks werden zugleich unſre Geſinnungen gegen gewiſſe Perſonen, oder dieſer ihre gegen uns aͤndern; bey allen Vorfaͤl - len wird unſer moraliſcher Zuſtand mit beruͤhrt werden. Es koͤmmt nur darauf an, daß der Dichter dieſen Geſichtspunkt faſſe, daß er ihn fuͤr den wichtigſten halte, daß er ſelbſt in ſeiner Perſon mehr von Freundſchaft und Ruhe des Geiſtes, als von Reichthum und Wohlſtand ge - ruͤhrt werde.

2) Der Dichter zeige uns mehr die Theilneh - mung der andern Perſonen an dem Schickſale364Einige Gedankender Hauptperſon, als dieſer ihr Ungluͤck ſelbſt. Mit nichts koͤnnen wir beſſer ſympathiſiren, als mit der Sympathie ſelbſt; keine Leidenſchaft pflanzt ſich leichter fort, als die man ſelbſt durch Mittheilung bekommen hatte. Einen Menſchen ermordet zu ſehen, iſt ein mehr graͤßlicher als ruͤhrender Anblick: aber eine troſtloſe Wittwe uͤber die Leiche hingebuͤckt, verwaiſte Kinder um dieſelbe herumſtehen zu ſehen, das iſt ruͤhrend. Einen Mann koͤnnen wir vielleicht ruhig ins Ge - faͤngniß ſchleppen ſehen; aber wir werden be - wegt, wenn ſeine Familie hinter ihm her folgt, und den Kerkermeiſter um Mitleiden und Gelin - digkeit anfleht. So iſt es in der wirklichen Welt; ſo finden wir es auch auf der Buͤhne. Nicht der Fall des Helden, ſondern die vielfa - chen Bewegungen, die dieſer Fall bey den Um - ſtehenden erregt, das iſt es, woran wir Theil nehmen. So ruͤhrt auch der Maler oft mehr durch Affekten, die er auf den Geſichtern der Umſtehenden ausdruͤckt, als durch die Haupt - handlung ſelbſt.

365uͤber das Intereſſirende.

Die Geſchichte des Geſchmacks beſtaͤtigt dieſe Anmerkung. Vor rohen Zuſchauern bringt man alles, was auf dem Theater iſt, um; das heißt, man will, daß alle Perſonen durch ihr eigen Un - gluͤck, keine bloß durch ihre Theilnehmung an ei - nem fremden Ungluͤck, die Zuſchauer ruͤhre. Aber was iſt der Erfolg? Die Zuruͤſtungen der Exeku - tion vergnuͤgen dieſe rohen Zuſchauer mehr, als die Todesfaͤlle ſelbſt ſie ruͤhren. In einem aufge - klaͤrten und geſchmackvollen Jahrhunderte laͤßt der Dichter nur Einen ſterben, nur Einer wird wirklich und perſoͤnlich ungluͤcklich. Aber die - ſer Eine iſt ein Vater, er iſt ein Gemahl, ein Hausherr, ein Koͤnig, eine Stuͤtze verlaſſener Ar - men. Aller dieſer ihre Empfindungen ſind ſo viel reflektirte Stralen, die ein gemaͤßigteres, aber ein lieblicheres Licht geben, als die Stralen, wel - che unmittelbar von dem Gegenſtande ſelbſt aus - laufen.

3) Das Leiden des Verluſtes iſt ruͤhrender als das Leiden des Schmerzens. Naͤmlich daran liegt alles, daß der Zuſchauer von dem Zuſtande,366Einige Gedankenan dem er Theil nehmen ſoll, ſich ein vollſtaͤndi - ges Bild machen koͤnne; daß ihm Ideen genug gegeben werden, um ſeine Einbildungskraft ſelbſt in Wirkſamkeit zu ſetzen, ſich dieſen Zuſtand vor - zuſtellen. Aber von welcher Art des Leidens laſ - ſen ſich die meiſten Ideen geben? oder vielmehr, auf welche Art bricht jeder Schmerz, der an und fuͤr ſich ein ſtummes unerklaͤrliches Gefuͤhl iſt, in Gedanken und Worte aus? Faſt immer durch eine Vergleichung ſeines jetzigen Zuſtandes mit dem vergangnen. Der Kranke denkt an die Tage der Geſundheit, der Arme ſtellt ſich den Wohlſtand eines andern, oder ſeinen ehemaligen Wohlſtand vor; der, welcher den Tod eines Freundes be - trauert, erinnert ſich ſeines Umgangs. Was ruͤhrt im Kaufmann von London am meiſten? daß er hingerichtet wird? Nein; daß er alle die Anſtalten erfaͤhrt, die zu ſeiner Gluͤckſeligkeit waren gemacht worden, und die nun vergeblich ſind.

Auch darauf, finden wir, werden die Dich - ter von ſelbſt geleitet, ſobald der Geſchmack einer367uͤber das Intereſſirende. Nation waͤchſt. Was ſind in Zeiten der Barba - rey die Gedichte und Erzaͤhlungen, durch welche man ruͤhren will, was ſind jezt noch die Gedichte und Erzaͤhlungen, die man fuͤr den Poͤbel macht? Bloße ſimple Mordgeſchichte. Man haͤuft Un - gluͤcksfaͤlle auf Ungluͤcksfaͤlle: und wenn man den Eindruck noch durch etwas verſtaͤrken will; ſo iſt es durch das Wunderbare der Vorfaͤlle. In un - ſern beſten Tragoͤdien und Romanen hingegen, wenn der Held ungluͤcklich werden ſoll, ſehen wir doch das Gemaͤlde ſeiner Gluͤckſeligkeit einen we - ſentlichen und wichtigen Theil ausmachen. Soll eine Familie zerruͤttet werden: man fuͤhrt uns erſt in dieſelbe ein, da ſie noch einig und gluͤcklich iſt; oder man macht uns doch mit dieſem Zuſtande be - kannt. Sollen einem Vater ſeine Kinder unge - horſam, ſoll einem Liebhaber ſeine Geliebte untren werden: man lehrt uns erſt, was es heiſſe, ein Vater guter Kinder, und der Treue ſeiner Gelieb - ten verſichert zu ſeyn.

4) Alle Leidenſchaften, oder vielmehr dieje - nige Art jeder Leidenſchaft, bey welcher eine Thaͤ -368Einige Gedankentigkeit der Seele, entweder zu Hervorbringung von Gedanken, oder zu gewiſſen Beſtrebungen und Entwuͤrfen vorkoͤmmt, ſind geſchickter nach - geahmt und mitgetheilt zu werden, als die, welche der Seele alle Kraft nehmen. Was iſt je in der Poeſie ſchwerer geweſen, als bloße reine Trau - rigkeit? Man ſchließt deswegen ſo bald als moͤg - lich, wenn man ſieht, daß die Perſonen nichts mehr uͤbrig haben, als zu klagen. Die Liebe ſelbſt, dieſe ſo poetiſche Leidenſchaft, hoͤrt auf es zu ſeyn, wenn ſie am meiſten bloß Liebe iſt; und eine Scene, wo Liebhaber und Geliebte, ihrer ge - genſeitigen Zuneigung ſchon gewiß, und von der Einwilligung ihrer Verwandten verſichert, doch noch mit einander heftig verliebt und intereſſant reden ſollen, iſt eine erſchreckliche ſchwere Scene. Warum das? Weil, wie wir ſchon geſagt haben, wir uns mehr mit den Wirkungen und Handlun - gen eines durch Leidenſchaften aufgebrachten Ge - muͤths, als mit ſeinen Empfindungen vereinigen. Wo Eifer etwas durchzutreiben, oder Behutſam - keit etwas zu vermeiden vorkoͤmmt; wo Schwie -369uͤber das Intereſſirende. rigkeiten zu uͤberwinden, Anſtalten zu machen, Un - ternehmungen und Erwartungen ſind: da wird es erſt dem Dichter ſelbſt, und dann auch dem Zuſchauer leichter, an die Stelle der Perſon zu treten. Aber wo nun die Leidenſchaft ruhig bloß ihrer ſelbſt genießt; wo ſie nichts mehr zu wuͤnſchen noch zu fuͤrchten hat: da ſinkt der Flug des Dich - ters; ſeine Begeiſterung wird matt, und mit ihm erkaltet der Leſer.

Auf eine doppelte Art aber koͤnnen Leiden - ſchaften wirkſam ſeyn, entweder indem ſie zu Ge - danken Anlaß geben, oder indem ſie Unterneh - mungen und neue Begierden erzeugen. Iſt die Leidenſchaft von der Art der ſtummen, ſo muß ſie unternehmend ſeyn; iſt ſie gelaſſen, ſo muß ſie beredt ſeyn: der Schmerz auf dem Theater iſt ent - weder Wehmuth oder Verzweiflung.

Aus dieſer Regel haben einige neuere Kunſt - richter geſchloſſen, daß die ganz vollkommnen Cha - raktere in der Dichtkunſt nicht intereſſant ſeyn koͤn - nen, weil ſie nicht thaͤtig genug ſind. Aber iſt dieſe Entſcheidung wohl richtig?

A a370Einige Gedanken

Erſtlich muß man unter dem vollkommnen Manne nicht den Menſchen verſtehen, der alle Ge - ſchicklichkeiten und Wiſſenſchaften beſizt, ſo wie Grandiſon zuweilen beſchrieben wird. Eine ſolche Schilderung kann froſtig werden. Einmal, weil ſie falſch und unnatuͤrlich iſt: denn einen ganz tugendhaſten Menſchen kann es wohl geben, we - nigſtens iſt das Ideal der moraliſchen Vollkom - menheit kein Hirngeſpinſt, es iſt vielleicht die rein - ſte, die unverfaͤlſchteſte Natur; aber einen Men - ſchen, der bey der groͤßten Gelehrſamkeit, dem feinſten Witze, auch der artigſte Hofmann, der tapferſte Soldat, ein guter Fechter, Reiter und Taͤnzer ſey, den kann es nicht geben, weil dieſe Geſchichkeiten Uebungen erfordern, wovon die eine die andre aufhebt. Zweytens, weil in ei - ner ſolchen Schilderung immer Kleinigkeiten zu viel Werth gegeben wird, auch wenn es der Dich - ter nicht will.

Zweytens muß man unter dem vollkomme - nen Charakter nicht nothwendig einen Catonſchen Charakter verſtehen; wenn man den Cato ſo an -371uͤber das Intereſſirende. nimmt, wie Addiſon und die meiſten ihn ſchildern. Seine Tugend iſt zu einſeitig; Muth und Ent - ſchloſſenheit ſchimmert unter den uͤbrigen zu ſehr hervor; ſein Wohlwollen iſt zu allgemein und zu kalt: uͤberdieß thut er alles, was er thut, mit einem gewiſſen Prunk. Der Charakter des So - krates iſt nicht weniger vollkommen: aber ſeine Schilderung wuͤrde weit intereſſanter ſeyn. Er war auch ſtandhaft und beherzt, wenn es irgend einer war: aber er trozte nicht der Gefahr oder den Schwierigkeiten; er uͤberwand ſie, indem er ſich unter ihnen zu beugen ſchien. Seine Men - ſchenliebe iſt eben ſo rein, und von eben ſo großem Umfange: aber ſie kann ſich bey einzelnen Perſo - nen bis zur Zaͤrtlichkeit erwaͤrmen; er wird wech - ſelsweiſe der Vater, der Bruder, der Freund, der Geſpiele der Alten und der Kinder, mit denen er ſpricht. Endlich iſt er in ſeinem Thun und Reden einfaͤltig und gemein; in dem Innerſten ſeines Geiſtes iſt der große und der außerordentliche Menſch, auf der Oberflaͤche ſieht man nur den ge - woͤhnlichen guten Mann.

A a 2372Einige Gedanken

Dieß alſo abgeſondert: ſollte wirklich der unvollkommne Menſch in ſeinem Bildniſſe uns ge - fallen und an ſich ziehen; und der vollkommenſte beſte Menſch ſollte uns langweilig ſeyn? Einzelne Stralen der Tugend ſollten einen Charakter er - waͤrmen, und das volle Feuer derſelben ſollte ihn kalt machen?

Wir fuͤrchten uns vor einer Entſcheidung〈…〉〈…〉 aber wir wuͤnſchten nur einige Data dazu zu ſammlen, damit andre beſſer als wir entſcheiden koͤnnten.

Von der einen Seite ſcheint es wahr, was Diderot ſagt, daß der Lorber des Apollo durch Blut befruchtet werden muͤſſe; daß faſt alle be - traͤchtliche Ungluͤcksfaͤlle durch Verbrechen geſche - hen; und daß in einer Welt voll tugendhafter Menſchen keine tragiſche Begebenheiten mehr moͤg - lich waͤren. Es ſcheint wahr, daß das Ungluͤck nicht eher recht ruͤhrend wird, als wenn es ſich ein ſonſt guter und von uns geliebter Mann durch irgend einen Fehler ſelbſt zugezogen hat; es ſcheint endlich wahr, daß eine gewiſſe Ausſchweifung und373uͤber das Intereſſirende. Schwaͤrmerey jeder Leidenſchaft, die ohne mora - liſche Unordnung nicht moͤglich iſt, der beſte poe - tiſche Stoff ſey.

Und doch ſehen wir auf der andern Seite, daß wir den Mann, an deſſen Begebenheiten wir Theil nehmen ſollen, lieben oder achten muͤſſen, und daß ſich dieſe Liebe oder Achtung auf irgend eine in ſeinem Charakter hervorleuchtende Tugend gruͤndet; wir ſehen, daß verwickelte Ungluͤcks - faͤlle bloß dadurch intereſſiren, weil wir eines wei - ſen Mannes Entſchluͤſſe dabey ſehen wollen; wir ſehen, daß nicht die Begebenheit intereſſirt, ſon - dern der Charakter, und zwar gewiſſe Vollkom - menheiten des Charakters, die durch die Begeben - heit ſo zu ſagen aufgefodert und in volle Wirk - ſamkeit geſezt worden: auch bey der Bosheit iſt es der Muth, bey dem Betruge die Klugheit, wel - che uns die Unterhaltung gewaͤhret.

Des Dichters Geſchaͤfte iſt freylich, die Na - tur in aller ihrer Mannichfaltigkeit zu ſchildern; und wenn die Natur mehr mittelmaͤßig gute als vollkommene Menſchen hervorbringt; ſo wuͤrdeA a 3374Einige Gedankenſein Gemaͤlde nicht treu und alſo auch nicht lehr - reich ſeyn, wenn er uns ſehr oft fehlerloſe Men - ſchen vorſtellen wollte. Ueberdieß wird er, wenn er vollkommne Menſchen ſchildert, oft bloß nach ſeiner Einbildungskraft, und nach ſeiner Idee von Tugend ſchildern muͤſſen; und dieſe Idee kann falſch oder mangelhaft ſeyn, dieſer Imagi - nation kann es an Uebereinſtimmung der Theile und richtiger Zuſammenſetzung fehlen; wenn er aber fehlerhafte Menſchen ſchildert, ſo kann er nach der Natur kopiren; und dieſe wird ihn we - niger irre fuͤhren, oder er wird ſeine Irrthuͤmer leichter einſehen lernen. Eben deswegen moͤgen vielleicht vollkommne Charaktere weniger abwech - ſelnd ſeyn. Nicht, als wenn es nicht in der Voll - kommenheit eine Manunichfaltigkeit geben koͤnnte: ſondern weil uns dieſe Mannichfaltigkeit weniger bekannt iſt; da wir hingegen die Abwechſelungen der Laſter oder der Thorheiten vor uns ſehen. Das Bild von Vollkommenheit, auch des Einzel - nen, hat immer einen Hang zu einem bloß allge - meinen generiſchen Begriffe; wir wiſſen nicht, daß375uͤber das Intereſſirende. eder Menſch einer hoͤchſten Vollkommenheit faͤhig iſt, die nur ſeine Vollkommenheit ſeyn wuͤrde; ſon - dern wir wiſſen nur von einer hoͤchſten Vollkom - menheit der ganzen Gattung. Unſre Moral ſelbſt leidet noch von dieſer Unzulaͤnglichkeit unſrer Ein - ſicht, weil ſie ſich ebenfalls die gemeinſchaftliche Natur als das Muſter aller einzelnen Naturen vorſtellen, und es alſo jedem Menſchen uͤberlaſſen muß, die beſtimmtere Art der ihm eignen Voll - kommenheit beſſer zu empfinden, als ſie ſie ihm erklaͤren kann.

Es iſt alſo allerdings wahr, daß der Dichter weniger darauf arbeiten muß, ſeinen Charakteren die hoͤchſte moraliſche Groͤße, als vielmehr ihnen mo - raliſche Richtigkeit und Verhaͤltniß zu geben; iſt er ſelbſt nicht ein ſehr großer Mann, ſo wird er zu der Bildung eines ſolchen Charakters ſeinen Geiſt auf eine gewaltſame Weiſe anſtrengen muͤſſen, und er wird nicht einen großen Mann, ſondern einen großen Rieſen hervorbringen. Es iſt wahr, daß der Dichter uns oͤfter das Spiel von Eitelkeit und Verſtand, die Miſchung von Thorheit undA a 4376Einige GedankenWeisheit, als die einfoͤrmige ungehinderte Wirk - ſamkeit der Tugend wird vorſtellen muͤſſen; denn daran iſt uns am meiſten gelegen, die Geſchichte der wirklichen Welt aus ihm, in ihren innern und feinern Theilen, zu lernen.

Aber dann ſehen wir doch auch nicht, warum es dem wahrhaftig großen Geiſte, der ſich ſelbſt der Vollkommenheit naͤhert, der das Auge gehabt hat, ſie bey andern ſtuͤckweiſe aufzuſammeln, oder das Gluͤck, ſie im Gan - zen in einem groͤßern Beyſpiele vor ſich zu ſe - hen; dem Manne, deſſen Imagination weit genug iſt, die Zuͤge der moraliſchen Bildung zu vergroͤßern, ohne ſie zu verſtellen, und welcher Einſicht genug hat, die allgemeine Idee von Vollkommenheit mit den Eigenthuͤmlichkeiten eines beſondern Charakters zu vergeſellſchaften: wir ſehen nicht ein, warum es ihm nicht er - laubt ſeyn ſollte, dieſes Ideal von Vollkommen - heit, fuͤr welches ſein Herz am meiſten erwaͤrmt iſt, zu ſchildern; oder warum dieſe Schilderung377uͤber das Intereſſirende. kalt werden ſollte? Giebt es denn keine lebhafte Aeußerung des Geiſtes, als die Leidenſchaft? Giebt es keine muthige Widerſetzung, als den Zorn, keine innige Zuneigung, als eine weibi - ſche Zaͤrtlichkeit? Oder muß der große Mann allemal mit Pomp und einer gewiſſen Zuruͤſtung reden und handeln; und giebt es nicht bey dem hoͤchſten Verſtande eine Leichtigkeit und Ge - meinheit des Ausdrucks, die allen verſtaͤndlich iſt, und bey der hoͤchſten Tugend ein einfaches und ungekuͤnſteltes Betragen, welches alle ein - nimmt?

Der Dichter ſchoͤpfe nur die Ideen der Vollkommenheit in ſich felbſt, er ſchildere ſie nur nicht nach angenommenen Begriffen oder Muſtern; er ſuche nicht dieſe Hoheit in den Worten und in der Pracht der Rede; er neh - me ſich nicht vor, einen Cato, einen Roͤmer, ſondern einen großen Mann zu ſchildern; er folge nicht den Meynungen der Geſchicht - ſchreiber und der Kunſtrichter, ſondern ſeinenA a 5378Einige GedankenEmpfindungen von Vollkommenheit: und dann wird er, wenn wirklich in ſeiner Imagination dieſes Bild liegt, wenn er ſchon dem Ziele nahe genug iſt, um es im Geſichte zu haben, uns ge - wiß das intereſſanteſte Gemaͤlde geben, das aus der Feder eines Dichters fließen kann.

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Anhang. Geſchrieben im Jahre 1779. *)Ohnerachtet ich im Anfange entſchloſſen war, dieſe Abhandlung ohne Zuſaͤtze und ohne Verbeſſerungen herauszugeben, ſo habe ich es doch meiner Achtung fuͤr das Publikum gemaͤß gehalten, einen Verſuch zu machen, in wie weit ich mich wegen des unaus - gefuͤhrten Plans der gegenwaͤrtigen Abhandlung rechtfertigen, oder denſelben ergaͤnzen koͤnne.

Ohne Zweifel iſt die Schwierigkeit, einen feh - lerhaften Plan auszufuͤhren, die Urſache geweſen, warum dieſe Abhandlung damals un - vollendet blieb, als ich ſie zuerſt ſchrieb. Dieſe Schwierigkeit iſt jezt noch groͤßer geworden, da die Laͤnge der Zeit, und die Entfernung von Un - terſuchungen dieſer Art, alle die Begriffe bey mir ausgeloͤſcht habey, mit denen ich die noch’fehlen - den Theile auszufuͤhren gedachte. Ich hatte naͤmlich drey Punkte uͤber das Intereſſe, das aus Leidenſchaften entſteht, auszufuͤhren uͤbernom -380Einige Gedankenmen: 1) Welches ſind die Leidenſchaften, an wel - chen wir in der poetiſchen Schilderung am mei - ſten Theil nehmen? Dieſe Frage iſt in dem zwey - ten Stuͤcke der alten Abhandlung beantwortet. 2) Auf welche Art muͤſſen ſie geſchildert werden, wenn ſie intereſſiren ſollen? 3) Fuͤr welche Lei - denſchaften iſt es am nuͤzlichſten, die Menſchen zu intereſſiren? Dieſe beiden Fragen ſind noch zu beantworten uͤbrig. Aber die leztere gehoͤret zur Unterſuchung der Natur des Intereſſirenden gar nicht, und die erſte hat groͤßtentheils ſchon die Beantwortung erhalten, deren ſie faͤhig iſt.

Denn, indem geſagt worden: daß die Lei - denſchaften des Schmerzes mehr als die Leiden - ſchaften des Vergnuͤgens; die aus moraliſchen Urſachen entſtehenden mehr als die aus koͤrperli - chen; die thaͤtigen mehr als die bloß duldenden; die durch Sympathie mehr als die durch eigene Eindruͤcke empfundnen intereſſiren: indem geſagt worden, daß die Unruhe der Erwartung mehr Ein - druck mache, als der Schmerz der Entſcheidung; daß die Liebe gegen die Perſon, eine gewiſſe Billi -381uͤber das Intereſſirende. gung der Leidenſchaft, unſre Sympathie verſtaͤrke; daß der Streit der Leidenſchaften am lebhafteſten ruͤhre: ſind nicht eben dadurch die Mittel ange - geben worden, wie Leidenſchaften geſchildert wer - den muͤſſen, wenn ſie den Leſer oder Zuſchauer zur Theilnehmung bewegen ſollen?

Naͤmlich jede Leidenſchaft iſt ein Zuſammen - geſeztes aus vielen; jede hat vielerley Seiten und Ausſichten. Jeder Schlag, der auf die Seele geſchieht, zerruͤttet nicht bloß den Ort, wo er hintrift, ſondern erſchuͤttert zugleich alle andre empfindliche Stellen ihres Syſtems. Die Lei - denſchaft iſt ein Feuer, deſſen Glanz und Waͤrme, von hundert Seiten gebrochen und zuruͤckprallend, ſich mit der Hauptflamme vereiniget. Was kann man alſo anders thun, um die Frage zu beant - worten: wie ſind Leidenſchaften zu ſchildern? als daß man die Zergliederung derſelben anſtellt; daß man die mittelbaren Wirkungen derſelben auf - ſucht; und daß man anzeigt, welche Elemente der Leidenſchaft, welche Art ihrer Wirkungen ſich in der Nachahmung durch Worte am beſten aus -382Einige Gedankennehmen, am klaͤrſten dargeſtellt werden koͤnnen, und am kraͤftigſten wirken?

So ſind z. B. koͤrperliche und geiſtige Ver - gnuͤgen und Schmerzen mit einander vermiſcht. Die Ausſicht auf Wohlſtand und Ehre miſcht ſich in die Unternehmungen unſrer reinſten Menſchen - liebe. Das zaͤrtlichſte Bedauren geliebter Freun - de hat zugleich den Schmerz uͤber entſtandene aͤußere Unbequemlichkeiten oder verlorne Vortheile zum Grunde. Aber auch keine Begierde iſt ſo koͤr - perlich, daß nicht moraliſche Freuden und Schmerzen, Liebe und Haß, Reue oder Wohlge - fallen mit uns ſelbſt, Scham oder Stolz ſich dar - ein miſchen. Wenn der Dichter alſo angewieſen wird, in jeder Leidenſchaft die moraliſche Seite aufzuſuchen; uns in den Schickſalen ſeiner Per - ſonen vornehmlich die Wirkungen zu zeigen, die dieſelben auf ihr Herz, ihre Geſinnungen, ihre Denkungsart thun: ſo iſt die Methode der Schil - derung ſo weit beſtimmt, als es durch Regeln ge - ſchehen kann. Ferner: Einerley Begebenheit kann entweder auf viele Perſonen durch Sympa -383uͤber das Intereſſirende. thie Einfluß haben, oder ſie kann nur eine einzi - ge Perſon betreffen. Dieſelbe Art von Affekt kann aus verſchiedenen Bewegungsgruͤnden entſtehn, und bald Billigung oder Verzeihung, bald Miß - billigung oder Abſcheu erhalten. Endlich, ſo wie wenige Leidenſchaften in der Seele maͤchtig werden, ohne durch andre verſtaͤrkt worden zu ſeyn, ſo werden auch wenige eine Zeit lang in der Seele fortdauern, ohne von entgegenſtehen - den beſtritten zu werden. Indem man alſo ſagt: der Dichter muß die Begebenheiten ſo anlegen, die Charaktere der Perſonen ſo beſtimmen, daß die Entſtehung der Leidenſchaften die er ihnen beylegt, dem Leſer begreiflich ſey, und eben des - wegen von ihm in gewiſſem Grade genehm ge - halten werde: indem man ſagt, der Dichter muß in jeder Leidenſchaft vornemlich den Streit ſchil - dern, den ſie erregt: ſo hat man zugleich angege - ben, wie er Leidenſchaften intereſſant machen muͤſſe.

Alles uͤbrige, was ſich unter der Frage Wie? begreifen laͤßt, iſt das Werk des Genies,384Einige Gedankennicht der Regeln. Es enthaͤlt freylich weit mehr, als daruͤber geſagt worden iſt, weit mehr als daruͤber geſagt werden kann. Und eben deßwe - gen ſind alle Unterſuchungen dieſer Art fuͤr den Dichter unnuͤtz; und nur eigentlich dem Leſer derſelben brauchbar, der ſeinen Geſchmack bil - den, oder dem Moraliſten, der aus dem Bilde den Menſchen ſelbſt kennen lernen will. Denn, derjenige, deſſen Geiſteskraͤfte zur Erfindung der beſonderſten Methode zureichen, die der Stoff und das Werk erfodern, welches er vorhat, der, deſſen Einbildungskraft ihm die einzelnen Worte der Leidenſchaft, ihren Gang, ihre Ansbruͤche, gerade in der einzigen Begebenheit weiſen, die er bearbeitet: der wird auch durch eben dieſe Staͤrke ſeines Geiſtes die allgemeinen Regeln finden, oder ſie, ohne ſie zu wiſſen, beobachten, die der Phi - loſoph ihm vorſchreiben kann. Dieſe Betrach - tung ſollte die aeſthetiſchen Schriftſteller vor ge - wiſſen allzu ſpeciellen und ins Kleine gehenden Unterſuchungen bewahren, dieweil ſie dem Dich - ter entbehrlich und zur Erkenntniß der Natur385uͤber das Intereſſirende. nicht erheblich genug ſind, eigentlich keiner Art von Leſern nutzen, und nur zu einem leeren Ge - praͤnge des Scharfſinns dienen. Ein Fehler, vor dem ich mich ſelbſt vielleicht in dieſer Ab - handlung nicht genugſam gehuͤtet habe.

Alles was man, außer der genauern Beſtim - mung der Wahl der einzelnen Theile oder der verſchiedenen Anſichten und Aeußerungen der Leidenſchaften, von der Art ihrer Schilderung ſagen kann, laͤßt ſich in die zwey Woͤrter zuſam - menſaſſen: Wahr und natuͤrlich. Wahr be - zieht ſich auf die Zuͤge des Gemaͤldes, es muß aͤhnlich ſeyn: Natuͤrlich bezieht ſich auf die Staͤrke des Kolorits: es muß nicht uͤbertrieben ſeyn. Jenes iſt das Werk des Genies: es muß ſich zu einem ſo hellen Anſchauen der Sache er - heben koͤnnen, daß es die wahre Geſtalt derſel - ben trift; dieß iſt das Werk des Geſchmacks; er muß in dem Ausmalen des geiſtigen Bildes eine gewiſſe Maͤßigung beobachten.

Wenn der Sprachgebrauch den Unterſchied zwiſchen dieſen beyden Woͤrtern nicht vollkom -B b386Einige Gedankenmen rechtfectigt: ſo erkennt wenigſtens die ge - ſunde Vernunft den Unterſchied, den wir zwi - ſchen den beiden Begriffen gemacht haben. Es iſt gewiß, dgß der Zeitpunkt, in welchem der Dichter erfindet, und ſeinen Gegenſtand geiſtig anſchaut, nicht derjenige iſt, wo er ſich hinſezt und ſeine Verſe ausarbeitet. Es iſt gewiß, daß jener Aktus in aller ſeiner Vollkommenheit vor - gegangen ſeyn, und daß dieſer zweyte jene Voll - kommenheit wieder verdunkeln oder zerſtoͤren kann; daß der Dichter, indem er ſich zur aͤußern Darſtellung ſeines innern Bilders wendet, wenn er die Woͤrter, den Reim, das Sylbenmaaß ſucht, das Wahre entweder zu kalt oder zu kuͤhn, zu fluͤchtig oder zu umſtaͤndlich ſagen koͤnne.

Das Wahre iſt allen Epochen der Dichtkunſt gemein. Zu jeder Zeit hat es große Geiſter ge - geben, die die Natur kennen und fuͤhlen. Das Natuͤrliche unterſcheidet ſie. In den aͤlteſten Zeiten bleibt in der Schilderung der Leidenſchaf - ten der Ausdruck etwas zuruͤck. Er iſt matt, kurz, voruͤbereilend. In den Zeiten der bluͤ -387uͤber das Intereſſirende. henden Wiſſenſchaften und der verfeinerten Sit - ten bekoͤmmt er mehr Leben, mehr Umſtaͤndlich - keit: aber er bleibt noch beſcheiden, und concis; in dem dritten Zeitraum wird er kuͤhn und uͤber - trieben. Die Erſcheinungen der Leidenſchaft werden zu weitlaͤuftig ausgemahlt, werden mit zu hellen Farben erleuchtet. Homer, Virgil, Lukan, koͤnnen die drey Muſter von dieſen Zeit - altern ſeyn. Es iſt der Erfahrung gemaͤß, daß das ſtaͤrkſte Intereſſe nur da ſtatt findet, wo Wahrheit und Maͤßigung ſich mit einander verei - nigen. Die dunkle Daͤmmerung des Morgens, oder eines truͤben Tages, kann die Gegenſtaͤnde richtig zeigen, aber es erhellt und belebt ſie nicht genug, das Gemuͤth bleibt traͤge, indem es ſie anſieht, und bekoͤmmt alſo weder klare Vorſtel - lungen, noch merkliches Vergnuͤgen. Das helle Licht des Mittags im Sommer macht die Ge - genſtaͤnde glaͤnzend: aber es blendet, es ermattet; es macht, daß wir die Augen von den Dingen abkehren. Aber das ſanfte Licht des Abends oder eines ſchoͤnen Herbſttages macht eigentlichB b 2388Einige Gedankendie Gegend intereſſant. Das Auge wird erquickt, geſtaͤrkt, indem es zugleich auf die Gegenſtaͤnde hingezogen wird; das Gemuͤth bekoͤmmt lebhafte Ideen, und bleibt doch in ſeiner Ruhe; wir ſe - hen die Natur am meiſten natuͤrlich, weil we - der Theile derſelben uns entwiſchen, noch ein fremder Schimmer ſie entſtellt.

Dichter haben zu allen Zeiten noch beſondre Methoden gewaͤhlt, die Leidenſchaften ihrer Per - ſonen intereſſanter zu machen, indem ſie ſie ent - weder mit einem beſonders ſchwaͤrmeriſchen und fantaſiereichen Charakter verbunden, oder ſie zu einem ſo hohen Grade getrieben haben, daß ſie den Gebrauch der Vernunft voͤllig aufheben. Die Heftigkeit der Leidenſchaften durch Wahnwitz oder Raſerey zu ſchildern, in welche ſie bey ſchwachen oder bey ungeſtuͤmen Temperamenten ausarten, iſt mit dem Urſprunge der tragiſchen Muſe gleich alt. Die Griechen hatten ihren Ajax, ihre Hekuba, ihren Oreſtes; Schakeſpear und Garrick ſind beide durch den Koͤnig Lear be - ruͤhmt worden. Die ſchoͤnſten Scenen im Mak -389uͤber das Intereſſirende. beth ſind die, wo Gewiſſensbiſſe und Furcht ihm und ſeiner am Koͤnigsmorde mitſchuldigen Fran die Schreckenbilder ihrer Einbildungskraft als wirkliche Geſtalten aufdringen. Die ſchwaͤr - mende Clementine im Grandiſon, die ſchwaͤrmen - de Julie im Romeo machen, jene den Roman, dieſe das Trauerſpiel intereſſant. Dieſe ſo gluͤck - lichen Beyſpiele haben viele Nachahmer gefunden.

Es iſt wahr, die Heftigkeit der Leidenſchaf - ten faͤllt nie mehr in die Augen als wenn ſie das Gemuͤth verruͤcken. Die Unordnung der Be - griffe, der ſchnelle Uebergang von einem Gegen - ſtande zum andern; die beſtaͤndige Ruͤckkehr ſelbſt von den entfernteſten oder gleichguͤltigſten Din - gen auf die Urſache der Leidenſchaft; die Erhoͤ - hung der Imagination, die alle Begriffe in ſinn - liche Geſtalten kleidet, und dieſe kuͤhn und mit einer gewiſſen reiſſenden Geſchwindigkeit ſchildert; alle die Symptome, die die Leidenſchaften zu ei - nem poetiſchen Stoffe machen, ſind in dem Zu - ſtande des Wahnwitzes noch in einem hoͤhern Grade vorhanden. Zweytens. Dieſer ZuſtandB b 3390Einige Gedankeniſt an und fuͤr ſich einer der traurigſten, die der Menſchheit wiederfahren koͤnnen. Wenn er wahr iſt, oder bis zu einer Art von Taͤuſchung nachgeahmt werden kann: ſo findet er bey jedem nicht ganz rohen oder verworfnen Menſchen Mit - leiden; und wenn er eine Perſon trift, die we - gen ihres vorzuͤglichen Verſtandes ſchaͤzbar, und wegen ihrer anſtaͤndigen Auffuͤhrung liebenswuͤr - dig war, ſo zerreißt er die Seele.

Ferner, ſo wie im Weine, ſo auch im Wahn - witz iſt oft die Wahrheit. Was der Menſch ſonſt verbirgt, das entdeckt er alsdann. Er handelt nicht mehr nach Abſichten, ſondern nach Eingebungen. Eine edle Seele zeigt ſich als - dann noch gut, und erweckt noch mehr Mitlei - den. Was Plato von den Traͤumen ſagt, das gilt auch von dieſem ungluͤcklichen Zuſtande, wo der Menſch wachend traͤumt. Die Einbildun - gen des Verruͤckten richten ſich nach dem Cha - rakter, den er bey geſundem Verſtande gehabt hat, und ſchildern denſelben.

Unterdeſſen, ſo wie alle Kunſtgriffe, die nicht in der Natur der Sache ſelbſt liegen, nur391uͤber das Intereſſirende. wenigemale gebraucht werden muͤſſen, wenn ſie nicht ihre Kraft verlieren ſollen: ſo iſt es auch mit dieſer Art von poetiſchem Kunſtgriffe beſchaf - ſen. Wohl gebraucht verfuͤhrt er die Seele das erſtemal ganz; er entzuͤckt, er bezaubert. So iſt es mir mit der Clementine, mit der Julie gegangen. Oefterer wiederholt, wird er, wenn er auch in aller Vollkommenheit angewandt wird, ſtumpf und unkraͤftig. Beſonders aber kann nichts leichter uͤbertrieben werden, als ein ſolches Gemaͤlde; nichts leichter verfehlt, als die Abſicht deſſelben.

Zuerſt iſt es ausgemacht, daß es immer am leichteſten iſt, die Extremen zu ſchildern. Man braucht keine Wahl mehr, wenn man alles aufs aͤußerſte treiben darf. So iſt es ſchon bey der groͤßten Hitze der Leidenſchaften, auch wenn ſie den Menſchen noch bey dem Gebrauche ſeiner Vernunft laͤßt. Es gehoͤrt zu eben der Maͤßi - gung, von der ich oben geredet habe, daß die poetiſche Schilderung innerhalb der mittlern Grade der Leidenſchaften ſtehen bleibe, wo die groͤßte Mannichfaltigkeit, die meiſten feinenB b 4392Einige GedankenSchattirungen, die groͤßte Vermiſchung mit verwandten, der meiſte Streit mit entgegenſte - henden Begierden ſtatt findet. Nichts graͤnzt naͤher an Schwulſt, oder kann leichter dazu ver - fuͤhren, als die Sprache der alleraͤußerſten Lei - denſchaft; und nichts iſt kaͤlter und weniger in - tereſſant als Schwulſt. Eben der Mangel der Urtheilskraft und des Geſchmacks, der die roͤ - miſchen Dichter des ſchlechtern Zeitalters verlei - tet hat, erhabne Gedanken durch den Ausdruck ſchwuͤlſtig, oder feine ſpitzfuͤndig zu machen: eben der hat ſie auch dazu gebracht, jeden Zorn in Wuth, jede Liebe in ſchmelzende Zaͤrtlichkeit oder tobende Begierde, den Stolz in unmenſchliches Aufblaͤhen, und den Muth der Tugend in Goͤt - tergroͤße zu verwandeln.

Aber noch weit weniger genaue Richtigkeit, weniger beſtimmte Wahrheit iſt da noͤthig, wo Perſonen auftreten, die ihres Verſtandes beraubt ſind. Der Abwege von der Vernunft ſind un - zaͤhlige; der Weg der Vernunft, oder einer der Vernunft untergeordneten Leidenſchaft iſt jedes -393uͤber das Intereſſirende. mal nur ein einziger. Alles was nur nicht rich - tig, nicht zuſammenhaͤngend, nicht zur Sache gehoͤrig iſt, iſt hinlaͤnglich den Zuſtand des Wahnwitzes zu ſchildern. Aber das Gemaͤlde einer von Leidenſchaften beſtrittnen Vernunft er - fodert Zuͤge, die mit dem Charakter, den Faͤ - higkeiten, der Lage der Perſon genau uͤberein - ſtimmen. Es iſt fuͤr den Dichter weit leichter, ſeine Einbildungskraft ſchwaͤrmen zu laſſen, als ſie zu gleicher Zeit zu erhoͤhen und zu fixiren. Und obgleich auch das verwirrte Gemuͤth ſeine Geſeze hat, wornach es handelt und denkt, ſo ſind doch dieſe Geſeze weit weniger ausgemacht, weit weniger bekannt. Der Dichter arbeitet nach einem unbeſtimmtern Modell, der Zuhoͤrer urtheilt nach einer unſichern Regel.

Ueberdieſes kann dieſer Gemuͤthszuſtand nur unter viel Einſchraͤnkungen den Zuhoͤrer ruͤhren. 1) Soll die Abweſenheit der Vernunft nur Mit - leiden uud Jammer erwecken: ſo muß bey der Gegenwart derſelben uns die Perſon Hochach - tung eingefloͤßt haben. In einem ganz neuenB b 5394Einige GedankenStuͤcke*)Die ungluͤckliche Verſchwiegenheit. wird eine der Hauptperſonen gleich vom Anfange an als melankoliſch, und bey heftigen Anfaͤllen als raſend vorgeſtellt. 2) Die Urſache muß nicht nur wichtig genug ſeyn, um eine ſolche gaͤnzliche Zerruͤttung der Werkzeuge des Gemuͤths hervorzubringen, ſondern ſie muß auch von der Art ſeyn, aus welcher, nach der Erfahrung, eine ſolche Veraͤnderung zu entſte - hen pflegt. Es giebt ſehr große Ungluͤcksfaͤlle, heftige Leidenſchaften, tiefer Gemuͤthskummer, die doch niemals die Vernunft angreifen, oder die Werkzeuge derſelben in Unordnung bringen. Andre Leidenſchaften hingegen, dem Anſcheine nach weniger ſtark, haben oft dieſe ungluͤckliche Wirkung gethan. Die Liebe ſteht in dieſer Liſte der Zerſtoͤrerinnen der menſchlichen Vernunft oben an. Ihre aͤußerſte Heftigkeit, oder ihre fehlgeſchlagnen Erwartungen, haben mehr Wahu - witzige gemacht, als alle andre Affekten zuſam - mengenommen. Die Reue uͤber einen Koͤnigs - mord, und bie Furcht vor den Folgen, kann395uͤber das Intereſſirende. machen, daß die Haͤnde dem Moͤrder blutig er - ſcheinen. Aber es ſcheint mir weniger natuͤrlich, daß ein alter Mann, ein Koͤnig, durch die Un - dankbarkeit ſeiner Toͤchter koͤnne raſend gemacht werden. 3) Es muß mehr Schwaͤrmerey als Wahnwitz ſeyn. Raſerey oder Narrheit ſind nach meinem Gefuͤhl immer, jene ſchrecklich, dieſe laͤcherlich, und koͤnnen niemals anders als be - leidigen oder Verachtung erregen anſtatt zu ruͤh - ren. 4) Die Anfaͤlle muͤſſen nur kurz und ab - wechſelnd ſeyn. Scenen dieſer Art moͤgen noch ſo gut gearbeitet ſeyn, wenn ſie lange dauren, ſo werden ſie eckelhaft. In dem vorgedachten Stuͤcke, erſcheint eine Mutter gleich vom Anfan - ge an melankoliſch, hat wiederholte Anfaͤlle von Raſerey, und ſtirbt an den Folgen derſelben. Die Tochter wird nach dem Tode der Mutter ebenfalls unſinnig, ſpielt die naͤmliche Rolle zum zweytenmale, und ſtirbt auf eine aͤhnliche Art. Ich habe nie ein Stuͤck geſehn, wo, bey ſo vielen Anlagen zur Ruͤhrung, ich ſo viel gelitten, ich ſo aͤngſtlich gewuͤnſcht haͤtte, von der Quaal des396Einige GedankenZuſchauens ſolcher Auftritte befreyt zu werden. So leicht iſt es in die aͤußerſten Fehler zu fallen, wenn man das Ruͤhrende durch außerweſentliche Mittel verſtaͤrken will.

Das wahrhaft große und maͤnnliche Genie zeigt ſich am meiſten, wenn es die Natur in ih - rer Reinigkeit und Geſundheit ſchildert. Die Leidenſchaft iſt in dem Gemaͤlde der Seele, was die Bewegung in der Schilderung der Koͤrper. Ohne ſie koͤnnen wir nicht die Kraͤfte gewahr werden, die in beiden verborgen liegen. Aber ſie werden dazu unnuͤtz, wenn ſie bis zur voͤlli - gen Zerſtoͤrung derjenigen Charaktere und Ge - ſtalten anwachſen, die wir eben durch ſie genauer und lebhafter ſehen wollen.

Anſtatt Vorſchriften und Grundſaͤtze dieſer Art noch mehr zu haͤufen, wollen wir einen der beruͤhmteſten leidenſchaftlichen Auftritte, den Tod der Dido im vierten Buche der Aeneis, unterſuchen, und diejenigen Umſtaͤnde bemerken, die in dem - ſelben vorzuͤglich intereſſant ſcheinen.

397uͤber das Intereſſirende.

Wenn Virgil, uns fuͤr die Liebe der Dido intereſſiren wollte, ſo mußte er machen, daß wir dieſelbe in einem gewiſſen Grade billigen: wenn er wollte, daß wir an ihrem Ungluͤcke Theil naͤh - men, ſo mußte er machen, daß wir ſie ſelbſt hochachten.

Eine ſo heftige Leidenſchaft, ſo ploͤzlich ent - ſtanden, und bis auf die Hoͤhe getrieben, wo ſie zur Verzweiflung fuͤhrt, iſt allemal ein Fleck in dem Charakter. Sie mußte alſo ſtarke Urſachen haben. Aeneas mußte ſehr liebenswuͤrdig ſeyn. So hat ihn auch Virgil geſchildert. Sanft - muth, Froͤmmigkeit, Zaͤrtlichkeit gegen die Sei - nen, mit Muth verbunden, machen den Cha - rakter des Aeneas aus; Eigenſchaften die dem weiblichen Geſchlechte vorzuͤglich gefallen. Ae - neas war ſchoͤn. Aber Venus erhoͤhte noch, als ſie ihn zur Dido einfuͤhrte, ſeine natuͤrliche Bil - dung, durch wunderbar uͤber ſeine Geſtalt und ſein Betragen ausgegoßne Reize.

namque ipſa decoram I, 593. Caeſariem nato genetrix, lumenque juuentae Purpureum et laetos oculis adflarat honores.
398Einige Gedanken

Dieſe Eigenſchaften, die im Aeneas ſelbſt lie - gen, laͤßt der Dichter nicht allein wirken. Die Liebe der Dido iſt ein unmittelbares Werk des Amors, der ſich unter der Geſtalt des Aſcanius zu ihr einfuͤhren laͤßt.

Virgil, der ſonſt weit moraliſcher iſt, als ſeine Vorgaͤnger, bleibt doch hier dem Syſtem getreu, das in der ganzen fabelhaften Geſchichte und in allem poetiſchen Stoffe der Alten herrſcht, nach welchem Menſchen von der Gottheit unwi - derſtehlich zu Handlungen getrieben werden, wo - fuͤr ſie doch in der Folge als fuͤr freywillige leiden muͤſſen. Dieſes Syſtem, das die Alten nicht be - leidigte, weil ſie bloß die Macht der Gottheit verherrlichen wollten, iſt unſrer Empfindung zu - wider, weil wir die Gottheit vornaͤmlich durch Gerechtigkeit erhoͤht wiſſen wollen. Das In - tereſſe ganzer Geſchichte wird dadurch unſtreitig fuͤr uns geſtoͤrt; das Intereſſe einzelner Scenen, weniger. Es ſcheint zwar die ſtufenweiſe Ent - wickelung der Leidenſchaft wegzufallen, wenn eine Gottheit ſie einpflanzt: aber bey den gu -399uͤber das Intereſſirende. ten Dichtern des Alterthums uͤberwindet die Na - tur das Syſtem. Sie nehmen an, daß die Lei - denſchaft durch ein Wunder erſchaffen wird, und laſſen ſie doch ſo allmaͤhlig wachſen, als wenn ſie aus natuͤrlichen Urſachen entſtanden waͤre.

Virgil hat noch mehr fuͤr die Dido gethan, um uns durch ihre Geſtalt und ihren Charakter einzunehmen, als ſelbſt fuͤr ſeinen Held.

Ihre Geſtalt iſt in den ſchoͤnſten Verſen des erſten Buchs beſchrieben.

Regina ad templum, forma pulcherri - I, 500. ma Dido Inceſſit, magna iuuenum ſtipante caterua. Qualis in Eurotae ripis, aut per iuga Cynthi Exercet Diana choros; quam mille ſecutae Hinc atque hinc glomerantur Oreades, illa pharetram Fert humero, gradiensque deas ſupereminer omnes: Latonae tacitum pertentant gaudia pectus. Talis erat Dido.

Oder vielmehr ihre Schoͤnheit wird nicht be - ſchrieben; aber wir bekommen durch dieſe Verſe400Einige Gedankenden Eindruck von einer großen hohen edeln Ge - ſtalt, welche Ehrfurcht erweckt.

So wie Sanftmuth bey einem tapfern Man - ne, ſo iſt Wuͤrde bey einer ſchoͤnen Frau, das was uns am meiſten feſſelt.

Der Charakter ihrer Geſtalt iſt auch der Cha - rakter aller ihrer Reden und Handlungen.

Wir finden ſie zuerſt beſchaͤftigt mit Gruͤn - dung ihres neuen Staats, Gebaͤude aufzufuͤh - ren, Geſeze zu geben, Recht zu ſprechen.

Ihre erſte Rede an die geretteten Trojaner iſt voller Wuͤrde, Sie zeigt Muth und Vorſich - tigkeit gegen die Fremden, die an ihren Ufern landen wollten, in der Abſicht zu ſchaden.

Res dura et regni nouitas me talia cogunt Moliri et late fines cuſtode tueri.

Dieß hatte die Anſtalten hervorgebracht, uͤber welche die Trojaner ſich beklagen. Sie zeigt Großmuth und Gaſtfreyheit gegen die Ungluͤck - lichen, die durch das Schickſal auf ihr Ufer aus - geworfen werden.

401uͤber das Intereſſirende.

Was ſie den Gefaͤhrten des Aeneas ſagt, hat nur den Ausdruck von Menſchenliebe, mit einer gewiſſen Hoheit verbunden.

Soluite corde metum, Teucri, ſecludite curas etc. I, 562.

Was ſie dem Aeneas ſelbſt ſagt, hat ſchon mehr die Sprache des Herzens, es zeigt von Freund - ſchaft und Hochachtung.

Quis te, nate dea, per tanta pericula caſus 615. Inſequitur.

Sie erinnert ſich ihrer alten Bekanntſchaft mit den Trojanen.

Atque equidem Teucrum memini Sidona ve - nire etc. 619.

Sie gedenkt endlich, welches ſchon eine gewiſſe Vertraulichkeit vorausſezt ihres eignen Ungluͤcks.

Non ignara mali miſeris ſuccurrere diſco.

Der Eindruck, den Aeneas auf ſie macht, findet in ihrem Herzen einen Widerſtand, aus welchem natuͤrlicher Weiſe Streit, und aus demC c402Einige GedankenStreit groͤßeres Intereſſe entſtehen muß. Die - ſer Widerſtand liegt in der Liebe zu ihrem ver - ſtorbnen Gemahl, geſtaͤrkt durch die Gefahren, die ſein Tod ihr zugezogen, durch die Unterneh - mungen zu denen er ſie veranlaſſet hat; in dem oͤffentlich erklaͤrten Entſchluſſe, nie eines andern zu ſeyn; endlich in der Wuͤrde einer Regentinn und Geſezgeberinn ſelbſt. Der Schatten ihres Gemahls wird durch die entſtehende Neigung be - leidigt; ihr Anſehn wuͤrde durch den gebrochnen Eid leiden, wenn ſie dieſer Neigung nachgaͤbe.

So iſt das Herz beſchaffen, das ſie ihrer Schweſter Anna, nach einer ſchlafloſen, in ver - liebter Unruhe und Kampf zugebrachten Nacht eroͤfnet.

〈…〉〈…〉ſoror, quae me ſuſpenſam inſomnia terrent!

Alles was ſie hier ſagt, iſt das erſte, natuͤrlich - ſte, was ein von einer entſtehenden Liebe beun - ruhigtes Weib ſagen kann, wenn ſie eine Freun - dinn hat, vor der ſie ihr ganzes Herz ausſchuͤttet.

403uͤber das Intereſſireude.
Was fuͤr ein Mann iſt dieſer Fremdling! Wie ſchoͤn, wie tapfer, wie edel! Es iſt nicht moͤglich ſeine hohe Abkunft zu verkennen. Und was fuͤr Thaten er gethan, was fuͤr Gefahren er ausgeſtanden hat! Ja wenn ich nach dem Sichaͤus noch einen andern lieben koͤnnte, ſo wuͤrde es dieſer geweſen ſeyn. Aber lieber wollte ich ſterben, ehe ich die Treue gegen die - ſen Gemahl verlezte.

Dieſe ganz einfaͤltigen aber wahren Gedan - ken haben im Virgil, durch die Wahl der Woͤr - ter und ihre Stellung, eine poetiſche Wuͤrde be - kommen, ohne etwas von ihrem Natuͤrlichen zu verlieren.

Zuerſt redet ſie von ihrer Liebe nur noch als von einer ungewiſſen, einer moͤglichen Nei - gung.

Huic uni forſan potui ſuccumbere culpae.

Einen Augenblick drauf, geht ſie einen Schritt weiter. Sie geſteht ein, daß ſie den Aeneas wirklich liebt.

C c 2404Einige Gedanken
Solus hic inflexit ſenſus, animumque labantem Impulit. Agnoſco veteris veſtigia flammae.

Aber nichts verraͤth ihre Leidenſchaft mehr, als die Heftigkeit und Staͤrke des Ausdrucks mit welcher ſie ſchwoͤrt, derſelben nicht nachzugeben.

Sed mihi vel tellus, optem, prius ima dehiſcat Vel pater omnipotens adigat me fulmine ad umbras, Ante, Pudor, quam te violo, aut tua iura reſoluo.

Anna, die Schweſter der Dido, die, wenn ſie auch nicht ganz ein Geſchoͤpf des Dichters war, doch mehr von ſeiner Willkuͤhr abhieng, weil er durch keine ſehr bekannte Tradition ein - geſchraͤnkt wurde, konnte entweder ſich dieſer Leidenſchaft widerſetzen, oder ihr ſchmeicheln. Das erſte, duͤnkt mich, wuͤrde im Drama ein lebhafter Intereſſe gegeben haben, wo die Ge - ſchichte der Leidenſchaft ſelbſt der Hauptgegen - ſtand waͤre. Der Dichter hat das zweyte beliebt. Ohne Zweifel, weil er in einer bloßen Epiſode ſeines Werks die Leidenſchaft ſchneller ihrer Ka -405uͤber das Intereſſirende. taſtrophe zueilen laſſen mußte, zu welchem Ende es noͤthig war, den innern Kampf der Dido ab - zukuͤrzen, und ihren Ehrgeitz und ihre Scham - haftigkeit geſchwind zu uͤberwinden.

Anna billigt alſo die Neigung der Dido ganz, hebt alle Bedenklichkeiten, findet in der Ankunft der Trojaner eine beſondre Fuͤhrung der Goͤtter, und in der Verbindung mit dem Aeneas die Aus - ſicht auf kuͤnftige Sicherheit und Groͤße ihres Staats.

Dieſe Gruͤnde ſind kurz, deutlich, gedraͤngt, und mit maͤßigem Affekt ausgefuͤhrt. Die Re - den der Anna werden nur durch dieſe Art der Beredſamkeit intereſſant.

Es iſt oben geſagt worden, daß unſer Mit - leid mit dem Ungluͤck eines andern noch lebhaf - ter wird, wenn er durch eben den Umſtand in daſſelbe geraͤth, der in ihm wahrſcheinliche Hof - nungen von Groͤße und Gluͤckſeligkeit erweckte. Von dieſer Seite betrachtet, tragen die ermun - ternden Vorſtellungen der Anna etwas dazu bey, die Empfindung der folgenden traurigen Auftrit -C c 3406Einige Gedankente zu ſchaͤrfen. Wenn der Leſer ſich an die Stelle der Dido ſtellt, ſo erhebt ſich ſein Herz uͤber der wahrſcheinlichen und nahen Ausſicht, alle ihre Wuͤnſche auf einmal erfuͤllt, ihren Staat groͤßer und ihre Leidenſchaft befriedigt zu ſehn. Deſto ſtaͤrker wird es durch den Kontraſt des Ausgangs geruͤhrt.

Dido wurde wenigſtens von den Vorſtellun - gen ihrer Schweſter auf dieſe Art getaͤuſcht.

His dictis incenſum animum inflammauit amore Spemque dedit dubiae menti, ſoluitque pu - dorem.

Die Phaͤnomene der ſchon herrſchenden Liebe be - ruͤhrt Virgil mit der ihm eignen Weisheit, nur kurz; mahlt ſie nicht aus, ſondern bezeichnet ſie nur durch einige allgemeine ſtarke Zuͤge.

Das Vergnuͤgen, mit welchem ſie den fol - genden Tag den Aeneas in ihrer neuen Stadt herumfuͤhrt; die Verwirrung die ſie uͤberfaͤllt, ſo oft ſie mit ihm ſpricht; der Eifer mit welchem ſie ſich die Schickſale von Troja zum zweytenmale erzaͤhlen laͤßt; die Liebkoſungen gegen den Aſca -407uͤber das Intereſſirende. nius; ihre ſchlafloſe Naͤchte; ihre ploͤzliche Gleich - guͤltigkeit gegen alle ihre liebſten Geſchaͤfte, gegen ihre wichtigſten Angelegenheiten, dieß ſind die Zuͤge durch welche er das verliebte Herz der Dido ſchildert.

Juno und Venus kommen uͤberein, den Ae - neas und die Dido bey Gelegenheit einer Jagd, in eine Hoͤle zu bringen, um ihrer Flamme zu vollem Ausbruche zu verhelfen.

Die Schutzgoͤttin der Dido ſcheint in dieſem Geſpraͤch das Herz des Leſers auf ſeiner Seite zu haben, wie Dido ſelbſt in der ganzen Geſchichte. Sie verlangt nicht mehr den Untergang ihres Feindes, ſie wuͤnſcht nur die Erhaltung, die Gluͤckſeligkeit ihres Lieblings.

Die Anſtalten der Jagd, und das Gemaͤlde derſelben, iſt eine kurze Zerſtreuung von den lei - denſchaftlichen Scenen, die weder lang noch ununterbrochen ſeyn duͤrfen, wenn ſie nicht den Dichter und den Leſer erſchoͤpfen ſollen.

Das Intereſſe der Erwartung iſt nirgends groͤßer als in dieſem Zeitpunkte. Der Leſer kenntC c 4408Einige Gedankennun die Heftigkeit der Leidenſchaft der Dido. Er ſieht die fuͤrchterliche Verſuchung zum voraus. Er ahndet etwas ſchlimmes, da er auf der einen Seite die unwiderruflichen Schluͤſſe des Schick - ſals uͤber den kuͤnftigen Sitz des Aeneas weiß, und auf der andern Seite vorausſieht, daß nur ein eheliches Band und ein beſtaͤndiger Aufent - halt des Aeneas zu Carthago die Ehre der Dido retten, oder ihre Leidenſchaft beſaͤnftigen koͤnne.

Die Scene der Hoͤle wird vom Virgil mit der feinſten Sittſamkeit beruͤhrt. Er macht ſie nur fuͤrchterlich durch die Ungluͤckweiſſagenden Meteoren die vorhergehn;

Fulſere ignes et conſcius aether Connubiis, ſummoque ulularunt vertice Nymphae.

und er laͤßt ihre Natur errathen, durch die Fol - gen die ſie hat.

Neque enim ſpecie famaque mouetur, Nec iam furtiuum Dido meditatur amorem; Coniugium vocat: hoc praetexit nomine cul - pam.
409uͤber das Intereſſirende.

Sobald Dido der Verſuchung untergelegen, ſo - bald iſt auch ihre Schamhaftigkeit uͤberwunden. Durch den Genuß wird die Liebe auch des an - dern Geſchlechts dreiſter, beſonders bey einer Perſon, die Macht und Anſehn beſizt. Dido geſteht die ihrige oͤffentlich; und ſucht durch die Hofnung und das Vorgeben der Ehe, ihre ſtraf - bare Schwachheit vor ſich und vor ihrem Volke zu beſchoͤnigen.

Es iſt zweifelhaft, aus welcher Urſache Vir - gil hier den Jarbas[auftreten] laͤßt; einen ehedem von Dido verſchmaͤhten Afrikaniſchen Fuͤrſten, der, da er jezt erfaͤhrt, daß ſie ſich einem Fremd - linge Preiß giebt, von Eiferſucht entbrannt, den Jupiter, deſſen Gottesdienſt er in ſeinem Lande eingefuͤhrt hatte, um Rache anfleht.

Geſchieht es bloß, um die Haupthandlung, durch das Bild der Fama (V. 174 197) und der Eiferſucht zu unterbrechen?

Oder geſchieht es, um dem Leſer, der zu partheyiſch fuͤr Dido eingenommen iſt, und eben deßwegen den Held des Dichters weniger liebt,C c 5410Einige Gedankengegenſeitige Eindruͤcke beyzubringen, und ihm zu zeigen, daß Dido eben ſo ungerecht gehandelt habe, als ihr jetzo begegnet wird?

Oder hat Virgil dadurch bloß einen kuͤrzern Weg zur Entwicklung der Geſchichte finden wol - len, indem Jupiter, dieß Verlangen ſeines An - beters zu erhoͤren, den Merkurius zum Aeneas abſendet, ihm die Abfahrt von Carthago befeh - len zu laſſen?

Aeneas folgt dieſem Befehl ohne Wider - ſpruch.

Ardet abire ſuga, dulcesque relinquere terras.

Er hat nicht mit ſich zu kaͤmpfen. Sein Ent - ſchluß iſt gleich gefaßt; aber er iſt doch wegen des Schickſals der Dido nicht ohne Unruhe.

Quid agat, quo nunc reginam ambire furen - tem Audeat adfatu, quae prima exordia ſumat.

Er traͤgt es ſeinen Gefaͤhrten auf, fuͤr die Aus - ruͤſtung der Flotte zu forgen. Er ſelbſt nimmt es uͤber ſich, dieſe Nachricht der Dido zu der gele -411uͤber das Intereſſirende. genſten Zeit, und mit der groͤßten Schonung beyzubringen.

Tentaturum aditus, et quae molliſſima fandi Tempora, quis rebus dexter modus.

Aeneas iſt alſo nicht ganz unzaͤrtlich. Aber er iſt doch fuͤr unſre Empfindung fuͤr unſre Sitten zu kalt. Ohnezweifel hat das Alterthum, das in Muth und Entſchloſſenheit faſt alle Tugenden der Maͤnner ſezte, und das die Liebe fuͤr eine ſchaͤndlichere Schwachheit derſelben anſah als wir, anders davon geurtheilt. Davon aber bin ich noch nicht uͤberzeugt, daß Aeneas nicht fuͤr alle Zeitalter intereſſanter geworden waͤre, wenn bey ihm, wo nicht Liebe, doch Dankbar - keit mit der Pflicht des Gehorſams gekaͤmpft haͤtte.

Dido erfaͤhrt die Anſtalten zur Abreiſe, ehe ſie noch Aeneas ihr entdeckt.

quis fallere poſſit amantem?

Die Vorwuͤrfe in die ſie ausbricht, da ſie ihn ſieht, (V. 305 330) die kalte und bloß ver -412Einige Gedankennuͤnftige Antwort deſſelben (V. 333 361) und die noch heftigern Ausbruͤche des Zorns und der beleidigten Liebe bey der Dido (365 387) gehoͤren unter die ſchoͤnſten Stellen dieſes Buchs.

In allen Reden der Leidenſchaft ſind in der That diejenigen am intereſſanteſten, die zugleich eine moraliſche Empfindung ausdruͤcken. Wenn Dido dem Aeneas vorwirft, was ſie alles um ſeinetwillen aufgeopfert habe, ſo faͤllt mir nichts mehr auf als der Vers:

te propter eundem Exſtinctus pudor, et qua ſola ſidera adibam, Fama prior.

Wenn Aeneas ſich rechtfertigt: ſo macht keine ſeiner Vorſtellungen mehr Eindruck bey mir, als die Sehnſucht nach ſeinem alten Troja und nach den Ueberreſten der Seinigen. Da das Schickſal zu dieſen zuruͤckzukehren ihm nicht er - laubt, wie viel weniger wird es ihm vergoͤnnen in Afrika zu bleiben?

413uͤber das Intereſſirende.
Me, ſi fatis meis paterentur ducere vitam Auſpiciis, et ſponte mea componere curas; Vrbem Troianam primum, dulcesque meorum Reliquias colerem.

Aber es iſt gewiß, daß Dido, im ganzen genommen, weit intereſſanter ſpricht, weil ſie mehr geruͤhrt iſt.

Virgil iſt der Natur getreu, wenn er den Zorn und die Leidenſchaft der Dido durch die kalte Vertheidigung des Aeneas noch anwachſen laͤßt.

Num fletu ingemuit noſtro? num lumina flexit? Num lacrimas victus dedit, aut miſeratus amantem eſt?

Vorher hatte ſie nur die Rechte der Liebe fuͤr ſich angefuͤhrt, jezt ruͤckt ſie ihm ihre Wohltha - ten vor.

Ejectum litore, egentem Excepi, et regni demens in parte locaui.

Vorher hatte ſie ſich nur uͤber ihr Ungluͤck be - klagt, jezt will ſie das ſeinige.

414Einige Gedanken
Dabis improbe, poenas. Audiam, et haec manes veniet mihi fama ſub imos.

Erſchoͤpft von Liebe und Zorn, verliert Dido das Bewußtſeyn, ſobald mit der Gegenwart des Aeneas, dieſe heftige Aufwallung aufhoͤrt.

An dieſem einzigen Orte ſcheint Aeneas er - weicht. Sie verließ ihn ploͤzlich, da er eben noch viel zu ſagen wuͤnſchte, und nicht Worte finden konnte:

Linquens multa metu cunctantem et multa parantem Dicere.

Der Poet ſagt ſogar ausdruͤcklich, daß er ſelbſt die Unruhe der Liebe gefuͤhlt habe.

Lenire dolentem Solando cupit, et dictis auertere curas, Multa gemens, magnoque animum labefactus amore.

Aber ſein Vorſatz iſt deßwegen nicht erſchuͤt - tert. Die Anſtalten zur Abreiſe werden verdop - pelt.

415uͤber das Intereſſirende.

Dido wendet ſich an ihre Schweſter.

Nie - mand, ſagt ſie, kann dieſen Mann beſſer be - handeln als du, keines Menſchen Worte ma - chen bey ihm mehr Eindruck.

Man wuͤnſchte, daß eine Perſon, die beiden Verliebten ſo wichtig iſt, haͤtte mehr auftreten, ſich haͤtte thaͤtiger heweiſen koͤnnen.

So lange Dido den Aeneas vor ſich ſah: ſo lange hatte der Unwille uͤber die Liebe die Ober - hand. Sie wollte, daß er reiſen ſollte:

Neque te teneo, neque dicta refello. I, ſequere Italiam ventis, pete regna per undas.

Jezt, nachdem ſie wieder mit ſich allein iſt ihre Lebensgeiſter ſich beſaͤnftiget haben, be - koͤmmt die Zaͤrtlichkeit uͤber den Zorn ihr altes Uebergewicht. Sie will ihn nicht mehr weglaſ - ſen. Sie bittet ihre Anna, den Aeneas nur da - hin zu bringen, daß er ihr eine kurze Friſt ver - willige, daß er den Winter bey ihr abwarte, um ſich nicht ſelbſt in Gefahr zu ſetzen.

Exſpectet facilemque fugam, ventosque fe - rentes.
416Einige Gedanken

Es liegt etwas ruͤhrendes in dieſer Beſorgniß fuͤr die Sicherheit eines Ungetreuen.

Anna erfuͤllt ihren Auftrag, aber ohne Er - folg.

Fata obſtant, placidasque viri deus obſtruit aures.

Stoiſche Standhaftigkeit bey einem empfind - lichen Herzen wird durch folgenden Vers ſchoͤn gezeichnet:

Mens immota manet, lacrymae voluuntur inanes.

Die Unbeweglichkeit des Aeneas, ſchreckliche An - zeichen bey ihrem Opfer, und die Stimme ihres Gemahls, die ſie aus ſeinem ſacrario hoͤrt, bringen endlich die Dido zu dem Entſchluß zu ſterben.

Sie zeigt nun ihrer Schweſter Anna ein hei - keres Geſicht; und giebt vor, ſie habe einen Weg gefunden, durch magiſche Kuͤnſte Aeneas Liebe, oder ihre Ruhe zu bewirken.

Die fuͤrchterlichen Anſtalten, das Geheim - nißvolle, und das Wunderbare der Zauberey,417uͤber das Intereſſirende. haben ſie, ſo lange der Glaube an dieſelbe noch vorhanden war, zu einem ſehr poetiſchen Stoffe gemacht. In ſehr viele alte Fabeln iſt derſelbe verwebt, wie in die Geſchichte der Medea, in andre iſt er mit Kunſt hineingebracht worden. Kein Dichter iſt in der Beſchreibung derſelben weitlaͤuftiger, als Lukan, wo er die Theſſaliſche Hexe dem Sohne des Pompejus den Ausgang der Pharſaliſchen Schlacht durch einen wieder - gebrachten Todten vorherſagen laͤßt. Aber auch Virgil, der ſolcher Huͤlfsmittel des Schreckens am wenigſten noͤthig hatte, der im Stande war, eine Situation durch die Geſinnungen und die Gedanken der Perſonen ſelbſt ruͤhrend zu machen, die ſich in derſelben befinden; Virgil, der ſeine Dido deswegen erſt bey den Roͤmern entſchuldigen mußte*)Teſtor, cara, deos,〈…〉〈…〉 et te, germana, tuumque IV, 492. Dulce caput, magicas inuitam accingier artes. , die wie alle aberglaͤubiſche Voͤlker, die magiſchen Kuͤnſte zugleich glaubten und verab - ſcheuten: Virgil hat doch ein ſolches magiſches Opfer mit allem Pomp der Poeſie beſchrieben;D d418Einige Gedankenund er enthaͤlt ſich nicht, die ungereimten und aberglaͤubiſchen Mittel anzufuͤhren, durch welche man glaubte die Liebe erzwingen zu koͤnnen. Ei - nen Umſtand hat Virgil dadurch erhalten, der wirklich den lezten Auftritt, den Tod der Dido, noch ruͤhrender macht. Es gehoͤrte zu den Zu - bereitungen des magiſchen Opfers, daß ein Schei - terhaufen errichtet, mit Cypreſſen umkraͤnzt, und mit den Waffen, den Geſchenken des Aeneas, und mit ihrem unaͤchten hochzeitlichen Bette belegt werden mußte. Unter dieſen entleibt ſich Dido. Der Schauplatz ihres Todes konnte auf keine Art geſchmuͤckt werden, die zur Verſtaͤrkung des Ein - drucks mehr beygetragen haͤtte.

Es folgt die letzte Nacht, in welcher das Ge - muͤth der Dido, von Liebe, Rache und dem Ge - danken des nahen Todes beunruhiget, in dem groͤßten Anfruhr iſt.

Was ſoll ich thun? Soll ich die ehemals verſchmaͤhten Freyer wieder aufſuchen? Oder wie? wenn ich ſelbſt mit den Trojanern gienge? Mit den Trojanern? Vielleicht, weil419uͤber das Intereſſirende. ich ihnen Gutes gethan habe? Als wenn ſie etwas von Dankbarkeit wuͤßten. Nein, ſie werden mich nicht in ihre Schiffe aufnehmen; oder ſollten ſie, ſo werden ſie mich als ihre Sklavinn behandeln. Und wie ſollt ich ge - hen? Allein, oder mit meinem Volke? O Schwe - ſter, du biſt an meinem Ungluͤcke ſchuld! Warum blieb ich doch nicht meinem erſten Gemahle ge - treu? ſo haͤtt ich nichts von dieſen Qualen em - pfunden.

Dieſe Gedanken ſo einfaͤltig, ſo ohne das Feuer des Ausdrucks und der Poeſie vorgetragen, zeigen doch ſchon ihre Wahrheit, ihre Schicklich - keit zu den Umſtaͤnden. Was fuͤr Eindruck muͤſ - ſen ſie nicht alsdann machen, wenn ſie in virgi - lianiſche Verſe eingekleidet ſind?

Aeneas, durch eine neue Botſchaft des Mer - kurs aus dem Schlafe geweckt, ſegelt noch in die - ſer Nacht mit der groͤßten Eile ab.

Dido ſieht des Morgens aus ihrer Burg die Ufer und den Hafen leer. Ihr Affekt koͤmmt aufs Aeußerſte.

D d 2420Einige Gedanken
Alles ſoll dem Fluͤchtlinge nach. Aber es iſt zu ſpaͤt. Fruͤher haͤtte ich ihn beſtra - fen ſollen! Nein, das kann der zaͤrtliche Sohn nicht ſeyn, der ſeinen alten Vater aus dem Feuer trug. O wenn ich doch ihn, ſein ganzes Heer, ſeinen Sohn, und mich ſelbſt mit ihnen haͤtte in den Untergang ſtuͤrzen koͤnnen!

Jener Gedanke und dieſe Empfindung haben et - was mehr Auffallendes, als die uͤbrigen Theile dieſer Rede, weil ſie eine mehr einleuchtende Wahr - heit haben. Ein empfindliches Herz, das Va - terliebe kennt, kann gegen die Liebe einer andern Art nicht ganz fuͤhllos ſeyn. Der Zorn, der aus Liebe entſteht, wuͤtet gegen ſich ſelbſt immer zu - gleich mit, indem er ſich gegen den Beleidiger auslaͤßt.

Es folgen Verwuͤnſchungen gegen den Ae - neas, die zugleich Prophezeihungen von Vorfaͤllen enthalten, die dieſem wirklich in Italien begegnen; und der lezte Befehl an ihr Volk, die Roͤmer ewig zu haſſen.

421uͤber das Intereſſirende.

Der lezte Auftritt dieſes Trauerſpiels iſt der ausgearbeitetſte unter allen, und er iſt es vielleicht vorzuͤglich, der dem ganzen Buche ſeinen Ruhm verſchafft hat.

Dido, in dem Augenblicke, da ſie ſterben will, iſt nicht mehr in Wut dieß wuͤrde den Leſer nicht geruͤhrt, ſondern beleidigt haben. Sie iſt bey dem Anblicke der Waffen und aller Denk - maͤler des Aeneas und ihrer Liebe, die auf dem Scheiterhaufen liegen, nur geruͤhrt, nur weh - muͤthig.

Dulces exuuiae!

Sie ſchiebt die Urſache ihres Ungluͤcks mehr auf das Schickſal, als auf ihren Geliebten:

Dum fata deusque ſinebant.

Dann wird ſie groß. Sie ſieht in ſich nicht mehr die ſchwache verliebte Dido, nicht die ver - achtete und verzweifelnde Geliebte: ſondern die Koͤniginn, die Stifterinn eines neuen Staates, die gluͤckliche Raͤcherinn des Todes ihres Ge - mahls:

D d 3422Einige Gedanken
Et nunc magna mei ſub terras ibit imago. Vrbem praeclaram ſtatui: mea moenia vidi: Vlta virum.

In allem war ſie gluͤcklich und groß, bis auf den Augenblick, da die Trojaner landeten:

Felix, heu nimium felix, ſi litora tantum Nunquam Dardaniae tetigiſſent noſtra ca - rinae!

Sie verbirgt ihr Geſicht in das Bette, den Zeu - gen ihrer Luſt, und die Quelle ihres Ungluͤcks; eine neue, aber nicht ſo heftige Auſwallung ihres Unwillens und ihres Schmerzes beſchließt ihren Kampf:

Wie? ungerochen ſoll ich ſterben? Ja! auch ſo iſt es beſſer zu ſterben. Der Grauſame mag die Flamme meines Scheiterhau - fens ſehen, und dieſes Vorbedeutungszeichen auf ſeine Reiſe mitnehmen.

Virgil haͤlt ſich bey ihrer Entleibung nicht auf. Alles, was bloß ſinnlich iſt, muß in einer Scene, die das Herz ruͤhren ſoll, nur kurz be - ruͤhrt werden.

423uͤber das Intereſſirende.

Das Geruͤcht von ihrem Tode erſchallt bald durch die ganze Stadt. Anna laͤuft herzu, und findet ihre Schweſter ſterbend.

Ich halte mich bey ihren Klagen nicht auf. Sie ſcheinen mir etwas kalt, wie die ganze Rolle dieſer Perſon.

Aber warum ruͤhren dieſe drey lezten Zeilen ſo ſehr?

Ter ſeſe attollens, cubitoque innixa leua - vit, Ter reuoluta toro eſt, oculisque errantibus alto Quaeſiuit coelo lucem, ingemuitque re - perta.

Anna haͤngt uͤber der Dido, und will ihren lezten Hauch auffangen. Sie ſucht ſie in ihren Armen zu erwaͤrmen. Dieſe Bemuͤhung, die Liebe der Dido zu ihrer Schweſter, die Begierde ihr noch etwas zu ſagen, bringt die ſchon Sterbende wieder zu ſich.

Der erſte Theil der obigen Stelle enthaͤlt nur das Bild einer koͤrperlichen Aktion; aber ſie iſt ſoD d 4424Einige Gedankenkurz und ſo gut gemalt. Das Anſtrengen der lezten Kraͤfte einer Sterbenden, ſich in die Hoͤhe zu richten, und das Zuruͤckſinken der Ohnmacht, wird unſrer Einbildungskraft durch die wenigen Worte auffallend deutlich.

Der zweyte Theil enthaͤlt ein moraliſches Ge - maͤlde von dem groͤßten Ausdrucke, und ſo ein - faͤltig, in anderthalb kurze Zeilen eingeſchloſſen.

Dido koͤmmt zu einem halben Bewußtſeyn, oͤfnet die Augen, hat ſie ſtarr gen Himmel gerich - tet; aber ſieht kein Licht mehr. Ein dunkler Ein - druck von Aengſtlichkeit uͤber die ungewohnte Fin - ſterniß an dem Orte, der ſonſt der Sitz und die Quelle des Lichts war, macht, daß ſie die Augen halb willkuͤhrlich, halb durch eine mechaniſche Bewegung, hin und her kehrt, um irgend einen Ausgang ins Freye zu ſuchen, um dem vermeyn - ten Hinderniſſe auszuweichen, das die gewuͤnſch - ten Stralen auffaͤngt. Jezt koͤmmt die Ster - bende zu einem vollern Bewußtſeyn: ihre Augen werden von den Lichtſtralen geruͤhrt, ſie fuͤhlt ihr425uͤber das Intereſſirende. Daſeyn wieder; und ein tiefer Seufzer iſt der ein - zige Ausdruck dieſes Gefuͤhls.

Was ruͤhrt an dieſem Gemaͤlde? Erſtlich, es ſcheint ſo wahr. Wenn dieß nicht die Empfin - dungen von Sterbenden ſind: ſo ſind es doch genau die Empfindungen, die wir Sterbenden zuſchreiben. Der Dichter hat genau das Ideal getroffen, das wir von dieſer intereſſanten Scene des menſchlichen Lebens mit uns herumtragen, wenn er auch nicht den Gegenſtand ſelbſt getrof - fen haͤtte.

Zweytens, ohne auf die Richtigkeit der Schil - derung zu ſehen: was kann ruͤhrender ſeyn, als ein Menſch, der leidet, der ſchon anfieng in dem Schlummer des Todes das Bewußtſeyn ſeiner ſelbſt und mit demſelben ſeiner Noth und ſeines Schmerzes zu verlieren, und der nun wieder er - wacht, ſich und alles ſein Elend wieder fuͤhlt, und das zuruͤckkehrende Leben beſeufzt.

Was iſt ruͤhrender, als dieſer Streit der menſchlichen Natur zwiſchen der Furcht vor dem Tode, welche macht, daß der Sterbende das LichtD d 5426Einige Gedankenwuͤnſcht und ſucht, und zwiſchen dem Jammer des Lebens, der ihm Seufzer auspreßt, wenn er das Licht gefunden hat.

Zwo allgemeine Folgerungen will ich aus die - ſer vielleicht zu weitlaͤuftigen Zergliederung des virgilianiſchen Gemaͤldes ziehen.

Erſtlich: Wo viel Intereſſe in den Reden der Leidenſchaft ſeyn ſoll, da muß Abwechſelung, Streit und Verbindung mehrerer Leidenſchaften ſeyn. Der ſchnelle Uebergang vom Zorne zur Zaͤrtlichkeit, von der Reue zum Stolze, macht die Reden der Dido vorzuͤglich intereſſant. Man laſſe eine von dieſen allein herrſchen: und die in - tereſſante Sprache derſelben wird viel ſchwerer zu finden, wird viel kuͤrzer auszuhalten ſeyn. Ae - neas, Anna, alle ſind, mit ihr verglichen, lang - weilig. Ihre Reden ſind mehr beredt als ruͤh - rend, weil ihre Geſinnungen einfach ſind.

Zum zweyten: Das vornehmſte Intereſſe der Dichtkunſt, beſonders der epiſchen Dichtkunſt, iſt, Wahrheit und Natur in poetiſchem Schmucke zu ſehen, natuͤrliche Gedanken in ſchoͤnen Verſen. 427uͤber das Intereſſirende. Da dieſer Schmuck ſo leicht der Wahrheit Ein - trag thut, ſo empfinden wir die uͤberwundene Schwierigkeit, wenn beide gluͤcklich vereinigt ſind, und genießen das Vergnuͤgen der Kunſt. Da uns oft die Wuͤrde des Ausdrucks auf gemeine Wahrheit erſt aufmerkſam machen muß: ſo wer - den wir im Bilde gewahr, was uns im Original entwiſchte, und genießen alſo das Vergnuͤgen an der Natur.

Den lezten Punkt des alten Plans, welche Leidenſchaften zu erwecken am nuͤzlichſten ſeyn, halte ich fuͤr unnoͤthig zu beruͤhren. Jede wohl - getroffene Schilderung hat den Nutzen, daß ſie uns den Menſchen kennen lehrt. Seine Leiden - ſchaften wechſeln zwar in den verſchiedenen Zeit - punkten vielleicht eben ſo ab, wie ſeine Krankhei - ten, und es ſcheint alſo am nuͤzlichſten zu ſeyn, jedesmal diejenigen zur oͤffentlichen Belehrung oder Warnung im Bilde auszuſtellen, zu denen die Verſuchungen am groͤßten, oder deren ſchlim - me Folgen die ausgebreitetſten ſind. Allein, nach der Wahrheit und der Erfahrung, nuͤzt die Poeſie428Einige Gedankennicht ſowohl unmittelbar durch den Gegenſtand, den ſie ſchildert, als mittelbar durch die Wahr - heiten, die ſie beyher lehrt, oder durch die Mu - ſter des Schoͤnen, die ſie dem Geiſte vorhaͤlt. Dieſen Nutzen befoͤrdert ſie, welche Art von Lei - denſchaften ſie auch zu ſchildern vornehme, wenn ſie nur die wahre Natur derſelben trift.

Anſtatt dieſer beſondern Unterſuchung, zu der ich mich anheiſchig gemacht hatte, will ich noch einige allgemeine Luͤcken der obigen Abhandlung ausfuͤllen, oder einige Fehler verbeſſern.

Nach meiner jetzigen Einſicht iſt uͤberhaupt die Materie von Erweckung der Leidenſchaften fuͤr den Zweck des Ganzen zu weitlaͤuftig abgehandelt worden. Intereſſiren und ruͤhren graͤnzt in ei - nem Punkte an einander: aber es iſt nicht einer - ley. Das eine geht auf das Ganze eines Werks, das andre auf einzelne Scenen deſſelben: das eine iſt eine Aufbietung unſers Verſtandes; das andre eine Erweichung des Herzens: das eine la - det zum Leſen oder Anhoͤren einer Geſchichte ein;429uͤber das Intereſſirende. das andre giebt wirklich den Genuß, wozu wir eingeladen ſind.

Neugierde, Liebe und Vortheil ſind die drey Triebfedern, die uns fuͤr etwas intereſſiren. Be - gebenheiten, Perſonen und Wahrheiten ſind die Gegenſtaͤnde, fuͤr welche wir intereſſirt werden koͤnnen. Neugierde intereſſirt uns hauptſaͤchlich fuͤr Begebenheiten, und wird erhalten durch die Verwickelung; Liebe intereſſirt uns fuͤr Perſonen und wird erweckt durch ihre Chataktere.

Unſer Vortheil koͤmmt bey der Poeſie in keine oder nur in eine entfernte Betrachtung.

Der Artikel von der Verwickelung iſt oben ausgelaſſen worden. Ich will noch einige Worte daruͤber hinzufuͤgen:

1) Iſt die Verwickelung zum Intereſſe einer poetiſchen Erzaͤhlung nothwendig? Kann insbe - ſondere ein dramatiſches Stuͤck ohne dieſelbe ſehr intereſſant ſeyn?

Ich bin ehedem dieſer Meynung geweſen. Ich habe geglaubt, daß die Intrigue mehr zu dem Vergnuͤgen eines rohen geſchmackloſen Han -430Einige Gedankenfens, als gebildeter denkender Zuhoͤrer beytrage; daß eine Gallerie von Gemaͤlden aus dem menſch - lichen Leben, wohlgetroffen und auf irgend eine Art mit einander verbunden, uns hinlaͤnglich an ſich ziehen koͤnne; daß endlich die ſogenannten Hiſtorys des engliſchen Theaters der mittlern Zeit nur beſſer behandelt werden duͤrften, um noch jezt intereſſant zu werden.

Ich aͤndre jezt dieſe Meynung. Wenn ich auf die Denkungsart des groͤßten Theils der Menſchen ſehe, fuͤr welche doch die Poeſie, und beſonders die theatraliſche, beſtimmt iſt; wenn ich auf meine eigne in den Zeiten ſehe, wo ich mich erholen will, und dieſe Zeiten ſoll das Theater eigentlich ausfuͤllen: ſo werde ich gewahr, daß die unterhaltene und befriedigte Neugier, das Wohlgefallen an einer wunderbaren und doch natuͤrlichen Begebenheit, die Erwartung, in die wir wegen des Erfolgs geſezt werden, die Grund - lage von dem Vergnuͤgen ausmache, das wir waͤhrend der Anhoͤrung des Stuͤcks genießen, und daß das Vergnuͤgen der Ruͤhrung und des Un -431uͤber das Intereſſirende. terrichts nur einzelne Theile der Zeit ausfuͤlle, die wir zu dieſer Erluſtigung beſtimmen.

Wißbegierde und Neugierde iſt im Grunde Eins. Jene geht aufs Allgemeine, dieſe aufs Beſondre; jene auf Wahrheiten, dieſe auf Fakta. Eine kann alſo die andre erklaͤren. In beiden Faͤllen entſteht der Reiz aus der Schwierigkeit, die Befriedigung aus der Aufloͤſung.

Was thut die populaͤre Beredſamkeit, um allgemeine Materien intereſſant vorzutragen? Außer der Klarheit, der Ordnung im Vortrage, von welcher im Anfange dieſer Abhandlung gere - det worden, und welche macht, daß der Leſer ohne Muͤhe und in der kuͤrzeſten Zeit die Begriffe faßt, die der Schriftſteller gehabt hat, bleibt in der Methode nichts uͤbrig, als eine Art von Ver - wickelung und Aufloͤſung, durch die eine Unter - ſuchung Leben erhaͤlt. Der Schriftſteller muß zu - erſt die Schwierigkeiten zeigen, ſie in ihrem groͤß - ten Lichte darſtellen, und dann dieſe heben.

Der vorzuͤgliche Reiz, den die Mathematik fuͤr ihre Kenner hat, ruͤhrt vornehmlich davon432Einige Gedankenher, daß in ihr mehr, als in andern ſpekulativen Wiſſenſchaften, Aufgabe und Aufloͤſung, die Schwierigkeit und die Hebung derſelben, ſich deut - lich von einander unterſcheiden.

2. Aber worinne beſteht die Verwickelung? Die Ueberwindung großer Schwierigkeiten iſt es allemal, was den großen oder den merkwuͤrdigen Mann zeigt. Dieſe muͤſſen alſo in jeder Bege - benheit vorkommen, welche intereſſiren ſoll. Aus dieſen entſteht die eigentliche Verwickelung, ſobald dieſelben, in einen kleinen Zeitraum zuſammenge - draͤngt, ſich ſchnell wieder aufloͤſen ſollen. Da - her finden wir in der Epopee, wo die Erzaͤhlung Zeit und Raum hat, zwar allemal große Hinder - niſſe, widrige Zufaͤlle, feindliche Anſchlaͤge, Ge - fahren, die den Muth oder die Weisheit des Hel - den aufbieten: aber weil dieſe Schwierigkeiten ſich nicht auf Einen Punkt vereinigen, weil ſie nicht auf einmal ſich verlieren: ſo iſt Verwicke - lung, Intrigue im engern Verſtande, nicht die - ſem Gedicht eigen. Auf dem Theater iſt die Zeit durch die Dauer der Vorſtellung eingeſchraͤnkt. 433uͤber das Intereſſirende. Die Zufaͤlle, deren nicht viele ſeyn koͤnnen, muͤſ - ſen ſich mehr zuſammendraͤngen; der Knoten muß alſo verwickelter werden, die Schlingen deſſelben durchkreuzen ſich mehr.

Die Vollkommenheit liegt auch hier in der Mitte. Eine Verwickelung, wo die Zufaͤlle zu ſehr gehaͤuft, zu kuͤnſtlich durch einander ver - ſchlungen werden, iſt ſchwer zu faſſen, wird un - wahrſcheinlich, und verwirrt, anſtatt zu intereſ - ſiren. Eine allzueinfache Handlung, wo jede Urſache ihre gewoͤhnliche vorhergeſehene Wirkung thut, und durch keine entgegenwirkende in dem Laufe ihrer Erfolge aufgehalten wird, kann zwar durch das Sittliche der Charaktere und die Wahr - heit des Dialogs belebt werden, aber doch nie ein ſtarkes Intereſſe, beſonders in einem laͤngern Werke, hervorbringen.

Die Einheit des Intereſſe, die alte und oft wiederholte Vorſchrift der Kunſtrichter, iſt um zweyer Urſachen wegen nothwendig. Unſere Schwachheit iſt die eine. Wir koͤnnen nicht viel Sachen auf einmal faſſen, wir koͤnnen nicht anE e434Einige Gedankenvieler Menſchen Schickſale zu gleicher Zeit Theil nehmen. Es gehoͤrt eine gewiſſe Beſchaͤftigung des Gemuͤths dazu, ſich in eines andern Stelle zu verſetzen; und dieſe kann man nur auf Einen Gegenſtand auf einmal verwenden.

Die Nothwendigkeit einer Verwickelung iſt die zweyte. Wenn die Handlungen, die Bege - benheiten zwoer Perſonen zu gleicher Zeit neben einander fortlaufen: ſo wird entweder keine ver - wickelt ſeyn koͤnnen, und alsdann wird unſere Aufmerkſamkeit von keiner gereizt; oder ſie ſind es beide, und alsdann wird ſie ermuͤdet. Es iſt ſeltſam, daß die Art der Imagination, die zu Erfindung wunderbarer Verwickelungen gehoͤrt, die, welche den poetiſchen Stoff ſchaft, in ver - feinerten Zeiten weniger gemein iſt, als in rohen, und daß daher die Dichter des erſtern Zeitraums oft genoͤthigt ſind, ihren Stoff aus den Erfin - dungen des leztern zu nehmen, und ſich lieber bemuͤhen, ihn von den Ungereimtheiten zu ſaͤu - bern, die ihm ankleben, als ihn durch ganz neue Erfindungen zu erſetzen. Die Dichter des er -435uͤber das Intereſſirende. leuchteten Griechenlands nahmen alle ihre Sub - jekte aus der Mythologie; und noch bis auf die ſpaͤteſte Zeit arbeitete der Witz und der Scharf - ſinn ihrer beſten Koͤpfe, die Geſchichten zu ver - ſchoͤnern, die die wilde Einbildungskraft ihrer Vorfahren erfunden hatte. Die neuern Dichter haben die Romane und die Schauſpiele der mitt - lern Zeiten auf gleiche Weiſe benutzt.

Iſt es, daß die Einbildungskraft ganz zuͤ - gellos, an keine Regeln gebunden ſeyn will, wenn ſie eigentlich erfindet, und daß, um ſich an Richtigkeit und Ordnung zu binden, ſie ſchon einen Plan, wenn auch nur einen Chaotiſchen, vor ſich haben muß?

Es giebt eine Neubegierde, unbekannte ſelt - ſame Dinge zu erfahren. Es giebt eine andre, bekannte Dinge erklaͤrt, mit unbekannten oder großen in Verbindung geſezt zu ſehen, oder ih - ren Urſprung zu erfahren. Dieſer Art des In - tereſſes haben ſich die alten Dichter, und vor - zuͤglich Virgil bedient, indem ſie faſt alle Perſo - nen, die ſie auffuͤhren, aus der Fabel und Tradi -E e 2436Einige Gedankention hernehmen und mit der bekannten Ge - ſchichte in Verbindung bringen, indem ſie lauter ſolcher Begebenheiten erwaͤhnen, die auf die Er - bauung bekannter Staͤdte und den Urſprung großer hiſtoriſcher Erfolge eine Beziehung haben. An keinem Orte landet Aeneas, wo nicht Staͤd - te oder Gegenden, von ihm und ſeinen Begleitern benannt, noch zu Virgils Zeiten vorhanden wa - ren; er thut keinen Schritt, der nicht Spuren und Denkmaͤler zuruͤck laͤßt, die noch die Leſer Virgils erkennen konnten. Die ganze Liebesge - ſchichte der Dido iſt zugleich die Veranlaſſung des Streits zwiſchen Rom und Carthago.

Aus eben dem Grunde iſt das Intereſſe zu erklaͤren, das wir an Nachahmungen nehmen; ein Intereſſe, das von den alten Dichtern mit Vorſatz und offenbar geſucht worden, anſtatt von ihnen vermieden oder verſteckt zu werden. Die griechiſchen Dichter giengen gefliſſentlich auf den Fußſtapfen des Homers; die Roͤmiſchen ge - fliſſentlich auf den Fußſtapfen der Griechen. Es iſt allerdings ein Vergnuͤgen, eine alte Ge -437uͤber das Intereſſirende. ſchichte wieder verjuͤngt zu ſehen; Zuͤge aus ei - nem verehrten alten Schriftſteller in einem unge - wohnten Glanze wiederzufinden; und ihnen viel - leicht zum erſtenmale aus Empfindung den Bey - fall zu ſchenken, den wir ihnen bisher nur des Anſehns und des Alterthums wegen vergoͤnnt hatten.

So wie die alten Dichter von Seiten des Reichthums und der Mannichfaltigkeit des Stoffs, unter dem ſie zu waͤhlen hatten, einge - ſchraͤnkter waren als die unſrigen, indem ihnen ſo viel Jahrhunderte von Geſchichten, merkwuͤr - digen Perſonen und Kenntniſſen fehlten: ſo wa - ren ſie auf der andern Seite beguͤnſtigt durch die allgemeinere Bekanntſchaft, in welcher die gerin - gere Anzahl von Perſonen, Begebenheiten und Schriften ſtand, aus welchen ſie den Stoff oder wenigſtens den Schmuck ihrer Gedichte hernah - men. Ihre Schilderungen hatten nicht immer das Verdienſt der Neuheit, aber ſie hatten das Verdienſt, geſchwinder verſtanden und durch - gaͤngiger gefuͤhlt zu werden. Perſonen, Oerter,E e 3438Einige GedankenFluͤſſe, nichts war den Leſern ganz fremde. Selbſt ihre Anſpielungen giengen weniger verlo - ren. Die naͤmliche Art der Neubegierde, die das Bekannte ſo gerne unter fremden Gegenſtaͤn - den wieder findet, macht auch in den Epiſchen Gedichten, die Vorherſagungen ſolcher Begeben - heiten, die zu oder kurz vor den Zeiten des Dich - ters und ſeiner Leſer vorgegangen, ſo intereſſant. Alle Dichter, die nach dem Virgil gekommen ſind, haben ſich der fruchtbaren Materie bemaͤchtigt, die ihnen dieſer, nach dem Homer, in Aeneas Hinabfahrt in den Orkus angezeigt hatte. Alle haben auf eine oder die andre Weiſe, mit mehr oder weniger Schicklichkeit, die Geſchichte ihrer Zeit und ihrer Nation weiſſagen laſſen.

Ich beſchließe dieſe Zuſaͤtze mit der Bemer - kung eines Maasſtabes, wornach der Schrift - ſteller zum voraus muthmaßen kann, welcher Theil ſeines Werks ſeine Leſer am meiſten intereſ - ſiren wird. Grade derjenige, der ihn ſelbſt, da er ſchrieb, am meiſten intereſſirt hat; bey dem er die meiſte Luſt, die groͤßte Leichtigkeit, und439uͤber das Intereſſirende. das vollſte Gnuͤge fand. Gedanken, die andern lebhaft werden ſollen, muͤſſen ſich uns, zu der Zeit, da wir ſie hervorbrachten, mit vorzuͤglicher Klarheit dargeſtellt haben. Und wenn die Hel - ligkeit der Begriffe den Leſer vergnuͤgen ſoll, bey dem ſie doch durch die Verſchiedenheit ſeiner Denkungsart etwas verdunkelt wird, wie ſollte ſie den Schriftſteller gleichguͤltig gelaſſen haben, bey dem ſie in ihrem erſten Lichte ſtrahlt! Wenn Begebenheiten zeitvertreibend oder ruͤhrend ſind fuͤr diejenigen, die ſie ſtuͤckweiſe und nach und nach erfahren, wie vielmehr muͤſſen ſie denjeni - gen ergoͤzt oder geruͤhrt haben, der ſie auf ein - mal uͤberſah, und ihre Theile ſelbſt ausbildete!

Die Aufmerkſamkeit des Scribenten iſt alle - mal groͤßer, als die Aufmerkſamkeit auch des be - ſten Leſers. Was dieſer nicht entwiſchen und doch nicht anſtrengen ſoll, muß alſo jene noch weit ſtaͤrker und mit groͤßrer Leichtigkeit gefeſ - felt haben.

E e 4440Ueber den Einfluß einiger

Ueber den Einfluß einiger beſondern Um - ſtaͤnde auf die Bildung unſerer Spra - che und Litteratur. Eine Vorleſung.

Aus dem vierzehnten Bande der Neuen Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und der freyen Kuͤnſte.
Meine Herren,

Wann wir die Faͤhigkeiten eines Menſchen kennen, um zu wiſſeu, was er thun kann, und ſeine beſondern Umſtaͤnde, um zu wiſſen, was er zu thun Gelegenheit und Bewe - gungsgruͤnde gehabt: ſo koͤnnen wir ungefaͤhr vorausſehen, welche Werke er unternehmen wird; wenigſtens koͤnnen wir diejenigen, die er bereits geliefert hat, uns erklaͤren. Eben ſo, wie mit einzelnen Menſchen, verhaͤlt es ſich auch mit ganzen Nationen. Was man die Litteratur ei -441Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc. nes Volks nennt, iſt der Inbegriff der Werke, die es in ſeiner eigenen Sprache beſizt: und die Geſtalt derſelben haͤngt theils von dem Eigen - thuͤmlichen in dem Geiſte der Nation, theils von den beſondern Umſtaͤnden ab, durch welche die - ſer Geiſt ſeine Richtung gegen gewiſſe Gegenſtaͤn - de, und mehr Huͤlfsmittel zu der einen als zu der andern Gattung erhalten. Das Eigen - thuͤmliche in dem Geiſte der Nation ſelbſt iſt aus - nehmend verborgen; es iſt ſchwer, das Gemein - ſchaftliche in der Denkungsart eines Volks aus einer ſo unendlichen Menge von einzelnen Ver - ſchiedenheiten herauszubringen: und da man nur immer eine ſehr kleine Anzahl von Faͤllen vor ſich hat, ſo kann man faſt nie einen allge - meinen Schluß machen, der nicht durch gegen - ſeitige Beyſpiele wankend wuͤrde. Die beſon - dern Umſtaͤnde aber, unter welchen die Aufklaͤ - rung eines Volks ſich angefangen, liegen mehr vor Augen, und laſſen ſich mehr außer Streit ſetzen: oder wann auch hier eine ſo vielfaͤltige Verbindung mannichfach wirkender Urſachen ſtattE e 5442Ueber den Einfluß einigerfaͤnde, daß die Geſchichte ſie nicht alle angeben, noch die Philoſophie ſie alle errathen koͤnnte; ſo giebt es doch darunter einige ſo merkliche und ſo maͤchtige, daß ſich ihr Einfluß weder verkennen, noch auch unrecht verſtehen laͤßt.

Sie ſehen leicht, meine Herren, daß dieſe Umſtaͤnde von doppelter Art ſind; daß ſie ent - weder außer der Nation, von der die Rede iſt, oder in ihrer eigenen innerlichen Verfaſſung lie - gen. Zu jenen gehoͤrt vornehmlich die Zeit, in der eine Nation an Wiſſenſchaft uͤberhaupt, und beſonders an ihrer eigenen Sprache, Geſchmack gewinnt, und dann die Beſchaffenheit der Litte - ratur bey andern Nationen, die vor ihr aufge - klaͤrt wurden, und ihr Licht ihr mittheilten.

Was war es fuͤr ein Zeitpunkt, wo die Bar - barey ſich zuerſt in Deutſchland zu zerſtreuen an - fieng? Ein ſpaͤterer allerdings, als bey den mit - taͤglichen und weſtlichen Voͤlkern. Italien iſt das erſte und faſt das einzige Land, das zu eben der Zeit, wo es die Meiſterſtuͤcke der alten Spra - chen mit Muͤhe wieder kennen lernte, zugleich443Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc. Meiſterſtuͤcke in ſeiner eigenen ſchuf. Das Licht, das dort aufgegangen war, kam in nicht gar langer Zeit darauf auch zu uns; aber es war ein fremdes Feuer, das uns nur erleuchtete, ohne zugleich unſer eigenes anzuzuͤnden. Wir laſen und lernten, ja wir ſchrieben ſo gar lateiniſch und griechiſch; viele gut, einige ſo gar vortref - lich: aber doch konnte das noch lange keine Lit - teratur geben, keine uns eigene Litteratur, die ein treues Gemaͤlde unſers beſondern Geiſtes, unſerer unterſcheidenden Denkungsart geweſen waͤre. Die Gelehrten machten in dieſem Jahr - hunderte gleichſam eine eigene, unter die andern zerſtreute Nation aus, die allenthalben ungefaͤhr dieſelbige Denkungsart, denſelbigen Ton hatte: und zwar deswegen, weil ſie durchgaͤngig auf einerley Art war gebildet worden. Da ſie ihre eigene, dem uͤbrigen Theil des Volks unver - ſtaͤndliche Sprache redeten und ſchrieben; ſo hat - ten ſie zwar unter ſich ſelbſt eine naͤhere, mehr unmittelbare Gemeinſchaft, als die Gelehrten unſers Jahrhunderts: aber auf die Uebrigen der444Ueber den Einfluß einigerNation hatten ſie wenig Einfluß; auch nahmen ſie eben ſo wenig von der beſondern Denkungs - art derſelben und der eigenthuͤmlichen Wendung ihres Geiſtes an. Denn ſie ſchrieben nicht al - lein, ſondern ſie faßten auch ihre Ideen in einer fremden Sprache.

Was damals Luther fuͤr die deutſche Spra - che gethan hat, darf ich Ihnen, meine Herren, nicht ſagen. Es iſt wahr, ſeine Sorgfalt, ſei - ne Richtigkeit im Ausdrucke, ſeine Genauigkeit in der Wortfuͤgung haben unſre Grammatik und unſer Woͤrterbuch in einer groͤßern Reinigkeit er - halten, vielleicht auch vollſtaͤndiger gemacht, als es ohne ihn wuͤrde geſchehen ſeyn: aber bey alle dem haben doch ſeine Werke unſre Litteratur nicht angefangen; ſie haben es uns nicht leichter ge - macht, Werke der Gelehrſamkeit oder Schriften zum Vergnuͤgen in unſerer Sprache zu liefern. Wer dieſe hervorbringen wollte, hatte noch alles zu thun; er mußte noch ſelbſt die Ausdruͤcke, die Wendungen, die Zierrathen aus dem zer - ſtreuten Reichthume der Sprache zuſammenleſen;445Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc. mußte noch ſelbſt unbeſtimmte Woͤrter beſtimmen, oder wenn er fuͤr ſeine Ideen gar keines hatte, bald durch Zuſammenſetzung und Abaͤnderung neue finden, bald ſich dadurch helfen, daß er fremde entlehnte; mußte noch ſelbſt neue Verbin - dungen, neue Wendungen wagen, wo die Spra - che zu ungelenk war: kurz, er mußte ſich ſeinen Styl noch erſchaffen. Doch war das nach - folgende Jahrhundert in aller Abſicht weit dunk - ler und barbariſcher, als das, worinn Luther lebte. Man vergaß ſein Bischen aͤchtes altes Latein uͤber den Zaͤnkereyen, zu welchen ſich eine verderbte, mit ſpitzfuͤndigen Begriffen uͤberladene Latinitaͤt am beſten ſchickte; und deutſch lernte man auch nicht. Mit einem Worte: man hatte eigentlich gar keine Sprache.

In dieſer Zwiſchenzeit, am Ende des vori - gen Jahrhunderts, machten unſre weſtlichen Nachbarn, die Franzoſen, auf einmal ein ge - waltiges Aufſehen. Sie eroberten und ſchrie - ben: und wer durch die Pracht des Koͤnigs und den Muth der Truppen auf die Nation war auf -446Ueber den Einfluß einigermerkſam gemacht worden, der fand, wenn er naͤher mit ihr bekannt ward, Schriftſteller und Kuͤnſtler, die Hochachtung und Bewunderung verdienten. Die Veraͤnderung war ſo ploͤzlich, ſo groß, daß ſie nothwendig ſo wohl die Fran - zoſen ſelbſt, als auch ihre Nachbarn in eine Art von Betaͤubung ſetzen mußte, in welcher beide nicht wußten, was ſie von ſich und was ſie von den andern zu halten haͤtten. Jene glaubten getroſt, daß ſie die erſte Nation auf der Welt waͤren, und in der That hatten ſie einigen An - ſpruch auf dieſen Namen.

Die deutſche Nation war damals noch ein ſo zuſammengeſeztes, ungleichartiges Ganze, daß das Urtheil uͤber jene ſehr verſchieden ausfiel. Alle, die durch ihren Rang oder ihre Theilneh - mung an den oͤffentlichen Staatsgeſchaͤften den Glanz dieſes erobernden und witzigen Volks mehr in die Naͤhe ſahen, und ihn mit der traurigen Dunkelheit ihrer eigenen Nation verglichen, wel - che nichts als Schulgelehrte aufweiſen konnte; die alle beeiferten ſich, an dieſem Glanze Theil447Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc. zu nehmen, ſuchten ſich, ſo viel als moͤglich, dieſer fremden Nation einzuverleiben, ſich von ihrer eigenen durch Sprache und Sitten zu un - terſcheiden: und ſo waren ſie herzlich zufrieden, daß die Deutſchen von den Franzoſen verachtet wurden, weil ſie ſelbſt glaubten, halbe Franze - ſen zu ſeyn. Unſre Gelehrten hingegen, die dem Spiel ſehr in der Ferne zuſahn, ließen ſich noch wenig durch dieſe Verachtung der Fremden und ihrer eigenen Landsleute ruͤhren, oder ſie troͤſteten ſich durch eine gegenſeitige innige Ver - achtung der elenden Taͤndeleyen eines Volks, bey welchem, nach ihrer Meynung, die wahre Ge - lehrſamkeit auszuſterben anfing. Von dieſer Seite alſo war es nicht zu hoffen, daß Ehrgeiz und Eiferſucht ſehr rege werden und deutſche Schriftſteller mit den franzoͤſiſchen um den Preis kaͤmpfen ſollten. Unterdeſſen verbreitete ſich der Geſchmack an dem Auslaͤndiſchen in Sprache, Sitten und Schriften von den Großen bis zum wohlhabenden Buͤrger, und endlich bis zu der Klaſſe von Leuten, die zwiſchen den Gelehrten448Ueber den Einfluß einigerund dem Weltmanne in der Mitte ſtehen. Be - gierde, den Großen zu gefallen und ſein Gluͤck zu machen, Theilnehmung an ihrer Arbeit in ge - lehrten Bedienungen, Ehrgeiz, ihres Umganges gewuͤrdiget zu werden, Handel mit den Franzo - ſen, die die nuͤtzlichen Kuͤnſte zugleich mit den an - genehmen und ſchoͤnen zur Vollkommenheit brach - ten: alles das trug zu der allgemeinen Ausbrei - tung dieſes fremden Geſchmacks bey. Nun dachten endlich auch wir Deutſchen daran, daß wir eine Sprache haͤtten, die ſich ſchreiben ließe; aber da wir hieran nicht eher dachten, als bis wir ſchon von den Schoͤnheiten einer fremden Sprache geruͤhrt, ſchon von der Politur fremder Schriftſteller eingenommen waren, ſo konnte es gar nicht anders ſeyn, wir mußten ihnen nach - ahmen, auch ohne die Abſicht zu haben. Laſſen Sie uns doch ſehen, meine Herren, wie weit ungefaͤhr dieſe Nachahmung ſich erſtreckt hat.

Man muß hier die Geſtalt unſrer Wiſſen - ſchaften und den Charakter unſrer jetzigen Schriftſtellerſprache wohl unterſcheiden. In449Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc. jenen ſteckt, wenn ich ſo reden darf, mehr latei - niſcher Geiſt, in dieſer hingegen mehr franzoͤſi - ſcher und engliſcher. Beide zuſammen machen eine Miſchung, die, wenn man ſie recht aus ein - ander ſcheiden koͤnnte, den Zuſtand unſrer Koͤpfe und unſrer Schriften am beſten erklaͤren wuͤrde.

Wiſſenſchaften und Philoſophie fiengen nicht erſt da bey uns an, wo wir anfiengen, deutſche Schriftſteller zu haben. Wir hatten ſchon einen großen Vorrath von Gelehrſamkeit, und zur Philoſophie hatten wir viele und uns eigene An - lage. Den Stoff dazu hatten wir, wie alle europaͤiſche Nationen, von den Alten, theils unmittelbar durch ihre eigene Werke, theils mit - telbar durch die unreinen Kanaͤle der neuern ſcholaſtiſchen Theologie und Philoſophie bekom - men. Sokrates, Ariſtoteles und Cicero, ſammt dem guten Thomas Magiſter, haben vielleicht auf die Art und Weiſe, wie wir die Wiſſenſchaften lehren, auf die Abtheilung und Hauptoͤrter unſerer Syſteme, auf die Fragen, dieF f450Ueber den Einfluß einigerwir vorzuͤglich unterſuchen, die Schwierigkeiten, die wir aufloͤſen, und die Streitigkeiten, die ſich immer von neuem bey uns entſpinnen, weit mehr Einfluß, als wir uns vorſtellen moͤgen.

Aber nun unſre eigene Sprache. Die Un - terſcheidung deſſen, was in ihr ſchoͤn, edel, an - ſtaͤndig ſeyn ſollte, die Beeiferung, ſich uͤber al - lerhand Arten von Gegenſtaͤnden in ihr auszu - druͤcken, und gut auszudruͤcken; dieſe hat ſich erſt angefangen, als ſich das jetzige Jahrhundert anfing. Und woher haben wir da unſre Regeln und unſre Muſter genommen? Die alten Sprachen ſind von der unſrigen zu entfernt, als daß ſie viel zu ihrer Ausbildung beytragen koͤnn - ten: uͤberdieß ſind die, welche deutſch ſchreiben, und gut zu ſchreiben ſich Muͤhe geben, gerade nicht die groͤßten Kenner der alten Sprachen. Es war alſo ganz natuͤrlich, daß die ſchon ver - feinerte Sprache unſrer Nachbarn, die wir alle eher gelernet hatten, ehe wir in der unſrigen arbeiteten, und deren eingebildete oder wahre Vortreflichkeit uns zuerſt gereizt hatte, auf eine451Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc. Verbeſſerung unſerer eigenen zu denken; daß, ſa - ge ich, dieſe unſern Ausdruck oft ohne unſern Vorſatz bildete und beſtimmte. Das Franzoͤſi - ſche kam zuerſt; das Engliſche folgte. Man merkt den Uebergang von jenem zu dieſem gar deutlich in unſern Schriftſtellern. Unſer Styl iſt in der neueſten Zeit gedrungener, koͤrnichter, reicher geworden, aber auch oft gewagter und zuweilen ausſchweifender. Man druͤckt ſeine Gedanken vielleicht freyer und eigenthuͤmlicher aus, und bey guten Koͤpfen gewinnt der Leſer dabey allemal: aber man verzeiht ſich auch ſelt - ſame Zuſammenſetzungen von Woͤrtern, unge - woͤhnliche Redensarten, und das artet dann bey ſchlechten Schriftſtellern ſehr oft ins Sinnloſe und Abentheuerliche aus. Kurz, dieſe Art von Freyheit hat, ſo wie jede andere, ihren Vortheil und ihren Nachtheil. Die guten Schriftſteller werden dadurch vortreflich und die mittelmaͤßigen elend.

Vielleicht, meine Herren, halten Sie es der Muͤhe werth, daß ich von dem Einfluſſe dieſerF f 2452Ueber den Einfluß einigerfremden Litteratur auf die unſrige noch etwas genauer rede, und zwar beſonders, inſofern er ſich auf die Sprache erſtreckt hat.

Eine ſich bildende Sprache nimmt von einer andern entweder einzelne Woͤrter, oder Wendun - gen, oder eine gewiſſe allgemeine Farbe an, die ſich eher empfinden, als deutlich erklaͤren laͤßt. Einzelne Woͤrter kann eine Sprache, wie die un - ſrige, eigentlich von keiner fremden borgen, die gar nicht mit ihr verwandt iſt, die ihren Woͤr - tern ganz andre Endungen giebt, ſie mit ganz andern Toͤnen ausſpricht, ſie nach ganz andern Geſetzen abaͤndert. Und doch hat ſie dergleichen nicht wenige aus der franzoͤſiſchen und engliſchen heruͤbergenommen; oft, weil ſie wirklich zu arm war, noch oͤfter aber, weil die Schriftſteller ih - ren ganzen Reichthum nicht kannten, oder aus Traͤgheit nicht erſt lange durchſuchen wollten. Armuth iſt es in einem doppelten Falle: einmal, wenn fuͤr die Sachen, die wir ſagen wollen, ganz und gar keine Woͤrter in der Sprache vor - handen ſind, entweder weil die Sache bey der453Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc. erſten Bildung der Sprache noch gar nicht da, oder weil ſie der Nation noch nicht bekannt war; und dieſer Fall koͤmmt in allen Sprachen vor, wo ſich jeder, der von unbekannten Dingen zum erſtenmal ſpricht, des Rechts bedient, ein neues auslaͤndiſches Wort zu brauchen: zweytens, wenn zwar die Sprache ein Wort hat, die Sache im Ganzen auszudruͤcken, aber keins, das edel und zu dem jeztgewaͤhlten Tone der Schreibart paſſend waͤre, oder keins, das zugleich alle Ne - benbegriffe ausdruͤckte, die wir eben jezt zu unſe - rer beſondern Abſicht glauben noͤthig zu haben. Dieſes leztere iſt es, was ſo viel fremde Woͤrter auch in unſre guten Schriftſteller gebracht hat. In der That muß der Fall bey einem guten Schriftſteller oͤfter vorkommen, weil bey dieſem immer die Ideen genauer beſtimmt ſind, und er mehr auf die kleinen Schattirungen Acht hat, die ganz gleichſcheinende Woͤrter noch unterſchei - den. Schreibt er beſonders uͤber eine Materie, worinn die Auslaͤnder viel gearbeitet und viel von ihm ſind geleſen worden; ſo wird ſich ihmF f 3454Ueber den Einfluß einigermancher Begriff gar unter keinem andern Worte, als unter dem fremden darbieten; mancher wird ihm nicht genau und ſtark genug geſagt ſcheinen, ſo bald er nicht mit eben demjenigen Worte ge - ſagt wird, womit er zuerſt ihn bekommen hat. Oft iſt es bloße Einbildung, wenn uns das nicht mehr vollguͤltig duͤnkt, was durch den lan - gen Gebrauch unſcheinbar geworden, obgleich das Fremde und Neugepraͤgte in der That von keinem groͤßern innern Gehalte iſt. Oft aber iſt es wahre Empfindung, und dann iſt deſſen Ohr nicht ſo wohl zaͤrtlich, als verzaͤrtelt, der weni - ger ein fremdes Wort, als eine halbgeſagte, uͤbel paſſende Idee dulden kann, weniger von der feinen Richtigkeit in den Gedanken, als von ei - ner pedantiſchen Reinigkeit der Sprache geruͤhrt wird.

Eine Sprache, wenn ſie fuͤr alle Klaſſen von Werken bequem ſeyn ſoll, muß einerley Sache auf mehr als einerley Art, nach den verſchiednen Gattungen der Materie und den verſchiedenen Abſichten des Schriftſtellers, ausdruͤcken koͤnnen. 455Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc. In dieſen Gattungen der Schreibart giebt es un - zaͤhlige mittlere Stufen: doch laſſen ſie ſich uͤber - haupt auf dreye bringen. Dieſe ſind die eigent - lich poetiſche und maleriſche, die populaͤre und dialogiſche, und die didaktiſche.

Sehen wir unſere Sprache an, ſo finden wir ſie an Woͤrtern der erſten Art reicher, als viel - leicht irgend eine andre. Namen, die die Dinge oder die Veraͤnderungen von ihrer ſinnlichſten Seite vorſtellen, die ſo zu ſagen, nur die ſicht - bare Erſcheinung der Sache, nicht ihre innre Na - tur ausdruͤcken, ſolche Namen haben wir in Men - ge: und oft ſind wir auch im Stande, neue zu machen, ohne daß wir der Sprache Gewalt thaͤ - ten. Dieſen Reichthum unſrer Sprache hat wohl niemand beſſer gekannt, beſſer genuzt, als Klop - ſtock und Geßner, obgleich in zwo ganz verſchie - denen Arten. Wie weit hier die franzoͤſiſche hin - ter der unſrigen bleibe, das zeigen ihre eigenen Originalwerke, die immer, ſo bald es auf Schil - derung der ſichtbaren Natur ankoͤmmt, zu allge - mein ſind, und der Imagination das Bild mitF f 4456Ueber den Einfluß einigerzu wenig Beſtimmung, zu wenig Lebhaftigkeit vormalen; noch mehr aber zeigen es ihre Ueber - ſetzungen unſrer deutſchen Dichter, beſonders der beiden, die wir oben genannt haben. Klopſtock verliert im Franzoͤſiſchen ganz unendlich. Tau - ſend im Deutſchen genau beſtimmte Woͤrter wer - den dort zu allgemeinen, denen die bedeutungs - volle Nuͤance fehlt; eine unzaͤhliche Menge der maleriſchſten, ausdruckvollſten Beiwoͤrter, die aus der ſchwachen dunklen Ferne dem Auge der Imagination das Bild naͤher und in die rechte Lage ruͤckten, geht zum Theil ganz verloren, zum Theil werden ſie durch ſolche erſezt, die weit ab - ſtrakter und eben deswegen weit leerer ſind, zum Theil werden ſie mit einem Schwalle von Woͤr - tern umſchrieben, worunter die ganze Idee er - ſtickt. Oder wenn man die Ueberſetzung der Meſ - ſiade fuͤr zu unvollkommen haͤlt, um ſie bey der Vergleichung zum Grunde zu legen; ſo vergleiche man die Ueberſetzung Geßners, die von ſo aus - gemachter und vorzuͤglicher Guͤte iſt, mit dem Originale.

457Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc.

Was Woͤrter im geſellſchaftlichen Style be - trift, ſo wie er im Luſtſpiele, in der Erzaͤhlung, in andern zur Ergoͤtzung geſchriebenen Werken vorkoͤmmt, ſo moͤchten wir ſie in hinlaͤnglicher Anzahl haben; nur daß die Grenze zwiſchen dem Niedrigen, dem Komiſchen, dem Vertraulichen u. ſ. w. weniger genau beſtimmt iſt, oder oft das alte ſehr ausdruͤckende Wort veraͤchtlich und poͤbelhaſt geworden, ohne daß ein andres an ſei - ne Stelle gekommen. Bey einigen ſolcher Woͤr - ter iſt alle Rettung verloren; beſonders wenn man ſich einmal bey ihnen an gewiſſe unanſtaͤndi - ge oder ekelhafte Nebenbegriffe gewoͤhnt hat: bey andern iſt die Rettung noch moͤglich, wenn ſich ihrer ein Schriftſteller vom erſten Range annimmt. Ein Mann, von dem ſchon die ganze Nation uͤberzeugt iſt, daß er mit der feinſten Auswahl und ſorgfaͤltigſten Ueberlegung ſchreibt; wenn ſo ein Mann ein mit Unrecht verachtetes Wort wie - der gebraucht: ſo wird man vielleicht in dem er - ſten Augenblicke anſtoßen; aber bald wird man auf Gruͤnde zu ſeiner Entſchuldigung denken;F f 5458Ueber den Einfluß einigerman wird das Wort an Stellen hingeſezt finden, wo es ſo eigenthuͤmlich und paſſend iſt, daß man es fuͤr unentbehrlich halten muß; von dem An - ſehen dieſes Mannes unterſtuͤzt, werden es an - dre Schriftſteller ihm nachgebrauchen, und bald werden wir eben ſo gewohnt ſeyn, es zu hoͤren, als ob wir uns niemals davon entwoͤhnt haͤtten. Auf dieſe Art hat uns Ramler und Leßing ſchon manches Wort, manchen Ausdruck gerettet, und andre Schriftſteller von gleichem Anſehen, wie ſie, ſollten es auch thun. Die meiſte Unbequemlich - keit findet man, wenn man Geſpraͤche ſchreibt. Man moͤchte ſo gerne die Sprache rein erhalten, ſo gerne alles das deutſch ſagen, was wirklich deutſch geſagt werden kann; und doch moͤchte man auch der Nachahmung das voͤllige Anſehen der Natur geben; man moͤchte gerne die Redens - arten beybehalten, wie ſie im Geſpraͤche wirklich gehoͤrt werden. Wie will man aber beide End - zwecke vereinigen, wann ſich von den ungluͤck - lichen Zeiten her, wo man weder Franzoͤſiſch noch Deutſch, ſondern ein Gemengſel von beiden459Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc. Sprachen redete, noch eine ſo große Menge frem - der Woͤrter und Redensarten, beſonders unter den Vornehmen, erhalten hat, wofuͤr ſchlechterdings kein gleichgeltender deutſcher Ausdruck da iſt, der gemein und gebraͤuchlich waͤre? Dieſe Unart hat indeſſen an den meiſten Orten ſchon ziemlich nach - gelaſſen; man bedienet ſich ſchon weit mehr, als vordem, der Ausdruͤcke der Mutterſprache: und wo dieſe noch nicht gewoͤhnlich ſind, da hat der Schriftſteller das Recht, ſie gewoͤhnlich zu machen. Er bildet, wenn er nur ſonſt vortreflich iſt, die Sprache des Umgangs, wie die Sprache der Buͤ - cher; und ſchreibt der Nation vor, wie ſie reden ſoll, wenn er ihr nicht nachſchreiben kann, wie ſie wirklich redet.

Wenn es den Deutſchen in irgend einer Gattung der Schreibart an Woͤrtern fehlt, ſo fehlt es ihnen in der didaktiſchen Gattung. Daher koͤmmt es, daß unſre Philoſophen, oder die, welche auch in Werken anderer Art gerne philoſophiren, entweder immer in Metaphern ſchreiben, oder eine Menge fremder Woͤrter460Ueber den Einfluß einigergebrauchen. Hier nun hat die franzoͤſiſche und engliſche Sprache einen augenſcheinlichen Vorzug. Da unſere Wiſſenſchaften, wie ich bereits geſagt habe, von den Lateinern zu uns gekommen ſind, oder uns durch lateiniſch ge - ſchriebene Buͤcher ſind uͤberliefert worden; ſo ſind die meiſten Woͤrter, die wir in den ab - ſtrakten Theilen der Wiſſenſchaften noͤthig ha - ben, lateiniſch. Dieſe haben nun natuͤrlicher Weiſe in Sprachen, die von der lateiniſchen abſtammten, leicht koͤnnen aufgenommen wer - den: und die Franzoſen, die ſonſt fuͤr die Rei - nigkeit ihrer Sprache ſo ſehr beſorgt ſind, neh - men in dieſer Art alle Tage noch mehr auf. Wir, die wir eine eigne Stammſprache ha - ben, konnten dieſe Woͤrter durchaus nicht in deutſche verwandeln. Wir mußten alſo deut - ſche ſuchen oder machen, die mit jenen einer - ley Ideen bezeichnen ſollten. So haben wir uns freylich zu helfen geſucht: aber wer in dieſer Gattung ſchreibt, und noch mehr, wer darinne uͤberſezt, der wird finden, daß fuͤr eine Menge461Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc. von Begriffen immer nur Ein Wort vorhanden iſt, wo die philoſophiſche Genauigkeit deren meh - rere verlangt, und unſre Nachbarn auch wirklich deren mehrere haben.

Dieß, meine Herren, ſey genug von den ein - zelnen Woͤrtern geſagt. Das Zweyte, was eine Sprache von der andern entlehnen kann, ſind Redensarten, gewiſſe Verbindungen von Woͤrtern, die ſchon ganze vollſtaͤndige Gedanken bezeichnen; gewiſſe eigene Wendungen und Uebergaͤnge. Und hier iſt es nun, wo unſre Sprache unſtreitig ſehr viel von ihren Nachbarinnen angenommen hat, und auch kuͤnftig noch annehmen wird, ſo wie wir uns mit neuen Nationen bekannt machen, oder neue Buͤcher leſen und bewundern werden. Wie weit darinne der Gebrauch gehe, und wo der Mißbrauch anfange; das iſt auch hier, wie in allen andern Dingen, unendlich ſchwer zu beſtim - men. Zum Ungluͤcke hilft das Eifern ſehr we - nig, wenn auch der Mißbrauch augenſcheinlich waͤre. Die Sprachen haben ihre Revolutionen, wie die Voͤlker, die ſie reden; und dieſe Revolu -462Ueber den Einfluß einigertionen moͤgen nun zur Verbeſſerung oder Ver - ſchlimmerung gereichen, ſo werden ſie demjenigen allemal Verderbniſſe ſcheinen, der an die Neue - rungen noch nicht gewoͤhnt iſt. Freylich wuͤrde unſre Sprache ganz anders ſeyn, wenn unſre Nation, als die erſte an Kultur und Kuͤnſten, alles das aus ſich ſelbſt hervorgebracht haͤtte, was ihr jezt von andern iſt uͤberliefert worden anders wuͤrde ſie ſeyn, wenn die Griechen und Roͤmer ſo unſre Nachbarn waͤren, wie jezt die Franzoſen und Englaͤnder; anders endlich, wenn die ſprachverwandten nordiſchen Nationen ent - weder vor uns oder mit uns zu gleicher Zeit durch ihre Schriftſteller Aufſehen gemacht haͤtten. Viel - leicht, wenn bey der Sache ja etwas zu bedauern iſt, ſo iſt es dieß, daß wir gerade am meiſten mit Voͤlkern in Verbindung geſtanden, deren Sprache ſo wenig mit der unſrigen gemein hat, und uns niemals um diejenigen bekuͤmmert haben, die un - ſre eigne aͤlteſte Sprache oder einen Dialekt der - ſelben reden.

463Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc.

Unter der Menge beſonderer Anmerkungen, die ich machen koͤnnte, will ich nur eine einzige machen, die mir vorzuͤglich wichtig ſcheint. Die franzoͤſiſche Sprache gebraucht lange nicht ſo viel Verbindungswoͤrter, als die unſrige; ſie bringt die Ideen in keinen ſo genauen Zuſammen - hang, als die unſrige. Dadurch hat ſie eine abgeriſſene ſentenzioͤſe Schreibart veranlaßt, wor - inne man Satz auf Satz einzeln hinwirft, und es dem Leſer ſelbſt uͤberlaͤßt, ſich die Verbindung hinzu zu denken. Wenn der Mann, der ſo ſchreibt, in der That ein buͤndiger Kopf iſt, der ſich an eine ſtrenge und genaue Ordnung ſeiner Gedan - ken gewoͤhnt hat, ſo mag fuͤr einen auch denken - den Kopf in einer ſolchen Schreibart viel leichte und ſchmeichelhafte Beſchaͤftigung, und mithin viel Reizendes ſeyn. Aber ſobald ſich ihrer ein nicht ſo buͤndiger Schriftſteller bedient, ſo leitet ſie ihn ohne Unterlaß von dem geraden Wege ſei - ner Ideen ab; ſie fuͤhrt ihn in Verſuchung, Saͤtze zuſammenzuhaͤufen, die keine richtige Folge ma - chen: und dann verliert ſich der Schriftſteller oft464Ueber den Einfluß einigervoͤllig von ſeinem Ziele, ſcheint uns die ſcharf - ſinnigſten Sachen zu ſagen, und ſagt uns im Grunde ſo viel als nichts. Die ſo geſchriebenen ſchlechten Buͤcher ſollten gar nicht uͤberſezt wer - den; die ſo geſchriebenen guten Buͤcher ſollte der Ueberſetzer eben dadurch am meiſten verdeutſchen, daß er die wirklich vorhandene Verbindung der Ideen ſo viel als moͤglich angaͤbe; und keiner unſrer Originalautoren ſollte der Sprache Gewalt thun, um ſie eben ſo zerriſſen und unzuſammen - haͤngend in ihren Gliedern zu machen, als die franzoͤſiſche es geworden iſt. Nichts iſt einem guten Werke ſo weſentlich, als ein richtiger Gang und eine genaue Verbindung der Gedanken; und nichts an einer Sprache ſo ſchaͤzbar, als wenn ſie durch ihr Genie dieſen richtigen Gang und dieſe genaue Verbindung beguͤnſtiget.

Sie ſehen, meine Herren, daß meine Mate - rie kaum angefangen, und nichts weniger als er - ſchoͤpft iſt; ich kann Ihnen daher aus den uͤbri - gen Theilen nur einige zerſtreute Gedanken vorle -465Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc. gen, deren Ausfuͤhrung ich mir aufs Kuͤnftige vorbehalte.

Die Provinz, in welcher die guten Schrift - ſteller zuerſt zum Vorſcheine gekommen ſind, und der Dialekt dieſer Provinz muß nothwendig mit in Betrachtung gezogen werden, wenn man wiſ - ſen will, warum unſre Denkungsart und unſre Sprache gerade dieſen und keinen andern Schwung genommen haben? Waͤre die Dicht - kunſt in Schwaben, wo ſie aufzubluͤhen anfieng, zur voͤlligen Reife gediehen, ſo wuͤrde ſich unſer Geſchmack ganz anders gewoͤhnt haben; wir wuͤrden uns unſtreitig von dem, was gut deutſch heißt, von dem, was in den Ausdruͤcken edel oder laͤcherlich ſeyn ſoll, ganz andre Begriffe ma - chen, als jezt. Alle Sprachen, die in groſ - ſen Reichen geſprochen werden, muͤſſen Dialekte haben; aber nicht bey allen haben dieſe Dialekte gleiche Wirkung. Wenn jedermann, oder wenn wenigſtens der Mann von Erziehung die Haupt - dialekte ſeines Landes verſteht, wie das in Grie - chenland war, und noch jezt in Italien iſt; wennG g466Ueber den Einfluß einigernicht jede Provinz den Dialekt der andern durch - aus und abſolut laͤcherlich findet; wenn der Athe - nienſer, ſeines feinen und verwoͤhnten Ohrs un - geachtet, doch die Delikateſſe und den Wohl - klang des ioniſchen Herodots nicht verkennt: ſo kann davon die Dichtkunſt und Beredſamkeit Vortheil ziehen. Uns aber, bey denen jene Be - dingungen nicht ſtatt finden, wuͤrde ein Dich - ter, wie Homer, der die verſchiedenen Dialekte unſers Landes vereinigen wollte, nicht anders als abentheuerlich und abgeſchmackt ſcheinen.

Ueber den Mangel einer allgemeinen Haupt - ſtadt iſt ſchon vielfaͤltig geklagt worden. Halb iſt dieſe Klage gerecht, und halb iſt ſie unge - recht. Auf die Kuͤnſte hat freylich eine allge - meine Hauptſtadt einen ſehr großen Einfluß; denn nur durch die gegenſeitige Mittheilung der Einſichten und Erfindungen, und durch den Ehrgeiz, den die Nebenbuhlſchaft erregt, koͤnnen die Menſchen ihre Werke zur Vollkommenheit bringen; und bey den Kuͤnſten findet dieſe Mit - theilung anders nicht ſtatt, als durch die Ge -467Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc. genwart und den Anblick. Zur Kultur der ſchoͤ - nen Wiſſenſchaften iſt es in gewiſſer Abſicht nuͤtzlich, daß die Schriftſteller beyſammen woh - nen, ſich ihre Gedanken und Entwuͤrfe muͤndlich mittheilen, einer des andern Rath hoͤren, einer den andern entflammen und aufmuntern; aber ſo nothwendig iſt es bey weitem nicht, als bey den Kuͤnſten. Es giebt hier ſchon Wege, wo - durch ſich Kenntniſſe und Geſchmack auch in entfernte Gegenden verbreiten koͤnnen. Ja, vielleicht beſaͤßen wir einige unſrer ſchoͤnſten Werke nicht, die ſich durch den originellen Cha - rakter der einfaͤltigſten und liebenswuͤrdigſten Natur empfehlen, wenn unſere Schriftſteller nur dem uͤppigen Publikum einer allgemeinen Haupt - ſtadt haͤtten gefallen wollen, und der gekuͤnſtelte Ton der vornehmen Welt einmal Mode gewor - den waͤre. Wer am meiſten Recht hat, uͤber den Mangel einer Hauptſtadt zu klagen, das iſt der theatraliſche Dichter. Denn dieſer vermißt damit ein gebildetes, beſtimmtes, uͤberall bekann - tes Publikum, deſſen Sitten er kopiren und dasG g 2468Ueber den Einfluß einigerihn hinlaͤnglich belohnen koͤnnte; er vermißt eine Buͤhne, die reich genug waͤre, alle guten Schau - ſpieler der Nation an ſich zu ziehen, und eben da - durch vollkommen genug, ihn uͤber das Praktiſche ſeiner Kunſt zu belehren, und ihm Muth zur Ue - berwindung ihrer unzaͤhligen Schwierigkeiten zu geben.

Es ſcheint, als wenn es unſern Schrift - ſtellern bisher noch an der Beharrlichkeit gefehlt haͤtte, lange Zeit an einem Werke im Verbor - genen zu arbeiten, und viele Jahre lang einen weitlaͤuftigen Plan zu verfolgen, ohne die Frucht des Ruhms von der Bekanntmachung deſſelben zu genießen. Und doch ſind die Werke der Monteſquieu und der Ferguſon nur auf dieſe Weiſe entſtanden. Eine Haupturſache davon iſt wohl die, daß bey den meiſten unſrer jungen Koͤpfe der Ruf, den ſie als Schriftſteller ſuchen, bloß das Mittel ſeyn ſoll, ihr Gluͤck zu ma - chen. Freylich koͤnnen ſie alsdann nicht genug eilen, dieſen Ruf zu erhalten; und es waͤre ſehr469Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc. unnatuͤrlich, wenn ſie nicht mit einer kleinern Vollkommenheit ihrer Werke zufrieden waͤren, wo - fern dieſelben nur gut genug ſind, Leute, die ihre Umſtaͤnde verbeſſern koͤnnen, auf ſie aufmerkſam zu machen.

Man klagt daruͤber, daß unſre Großen un - ſere Buͤcher nicht leſen, und man hat Recht, daruͤber zu klagen. Aber auch dieß haͤngt ſo natuͤrlich mit den Umſtaͤnden unſerer Nation und ſelbſt mit der Beſchaffenheit unſerer Lit - teratur zuſammen, daß man ſich wenigſtens nicht wundern darf, wenn man auch klagt. Keine Werke der Philoſophie erlauben mehr Er - habenheit im Ausdrucke, mit mehr Scharſſinn in der Unterſuchung verbunden, als die, welche von Verwaltung der Staaten handeln. Keine ziehen die Aufmerkſamkeit der Staatsmaͤnner und der Großen mehr auf ſich. Wir haben bis - her noch kein einziges Werk dieſer Art, das wir den Schriften unſrer Nachbarn an die Seite ſetzen koͤnnten. Wenn es uns gelaͤnge, unſern Fuͤr -G g 3470Ueber den Einfluß einiger ꝛc. ſten einen deutſchen Monteſquieu in die Haͤnde zu geben, vielleicht wuͤrden ſie dann auch unſre Klopſtocke und Geßner und Leſſinge und Mo - ſes leſen.

Ende.

Druckfehler.

  • S. 313. S. 8. ſtatt zwoͤlften iſt zu leſen: drey - zehnten.

About this transcription

TextSammlung einiger Abhandlungen
Author Christian Garve
Extent478 images; 69325 tokens; 8428 types; 493802 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationSammlung einiger Abhandlungen Aus der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste Christian Garve. . 470 S., [1] Bl. DyckLeipzig1779.

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HAB Wolfenbüttel HAB Wolfenbüttel, M: Ac 95Dig: http://diglib.hab.de/drucke/ac-95/start.htm

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Philologie; Wissenschaft; Philologie; core; ready; china

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  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
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ImprintBerlin 2019-12-09T17:30:36Z
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ShelfmarkHAB Wolfenbüttel, M: Ac 95
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