PRIMS Full-text transcription (HTML)
Sammlung einiger Abhandlungen
Aus der Neuen Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſen - ſchaften und der freyen Kuͤnſte
Leipzig,im Verlage derDykiſchen Buchhandlung,1779.
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Verzeichniß der Abhandlungen.

  • VorredeS. 3
  • Verſuch uͤber die Pruͤfung der Faͤhigkeiten8
  • Aus dem achten Bande der Neuen Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und der freyen Kuͤnſte. Betrachtung einiger Verſchiedenheiten in den Werken der aͤlteſten und neuern Schrift - ſteller, beſonders der Dichter116
  • Aus dem zehnten Bande der Neuen Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und der freyen Kuͤnſte. Vermiſchte Anmerkungen uͤber Gellerts Mo - ral, deſſen Schriften uͤberhaupt und Cha - rakter198
  • Aus dem zwoͤlften Bande der Neuen Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und der freyen Kuͤnſte. [2]Einige Gedanken uͤber das Intereſſirende. Erſter TheilS. 253
  • Aus dem zwoͤlften Bande der Neuen Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und der freyen Kuͤnſte. Einige Gedanken uͤber das Intereſſirende. Zweyter Theil313
  • Aus dem dreyzehnten Bande der Neuen Biblio - thek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und der freyen Kuͤnſte. Anhang zur voranſtehenden Abhandlung379
  • Hier zum erſtenmale gedruckt. Ueber den Einfluß einiger beſondern Umſtaͤn - de auf die Bildung unſerer Sprache und Litteratur. Eine Vorleſung440
  • Aus dem vierzehnten Bande der Neuen Biblio - thek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und der freyen Kuͤnſte.
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Vorrede.

Ich habe dieſe Abhandlungen zuſammendrucken laſ - ſen, weil einige meiner Freunde dieſelben zu be - ſitzen wuͤnſchten, ohne ſich das große Werk anſchaffen zu duͤrfen, in welchem ſie zerſtreut ſind. Da dieſelben fuͤr eine periodiſche Schrift verfertiget worden, an wel - cher mehrere Theil hatten: ſo wird ſich der Leſer an das Wir nicht ſtoßen, mit welchem der Verfaſſer von ſich ſelbſt redet, und welches Schriften dieſer Art eigen zu ſeyn pflegt.

Ich habe dieſe[Aufſaͤtze] beynahe ganz unveraͤn - dert gelaſſen, nicht weil ich ſie fuͤr vollkommen halte, ſondern weil ich jezt außer Stande bin, große Ver - beſſerungen zu machen, und kleine fuͤr den Nutzen, denA 24Vorrede. ſie ſtiften, zu muͤhſam finde. Ueberdieß macht oft die Veraͤnderung, die in dem Gemuͤth oder den Um - ſtaͤnden eines Schriftſtellers vorgegangen iſt, daß er Stellen ſeiner ehemaligen Schriften zu verbeſſern glaubt, wenn er ſie blos ſeiner jetzigen Lage und Den - kungsart gemaͤßer macht. Endlich iſt es entweder an ſich, oder nur mir insbeſondre ſchwer, den Faden al - ter Gedanken ſo vollſtaͤndig wiederzufinden, daß er anders geleitet werden kann, ohne zerriſſen zu werden. Ich finde es weit leichter, eine Materie von neuem durchzudenken, als einzelne Stuͤcke derſelben nach einem alten Plane zu bearbeiten.

Unter allen ſcheint mir jezt die Abhandlung vom Intereſſirenden am meiſten einer Verbeſſerung zu be - duͤrfen. Sie iſt zu weitſchweifig, zuweilen mit einer unnuͤtzen Metaphyſik uͤberladen; und oft mit Betrach - tungen ausgeziert, die nicht nothwendig zum Haupt - ſtoffe gehoͤren.

Folgender Plan ſcheint mir jezt der einfachſte, kuͤrzeſte und richtigſte zu ſeyn.

Intereſſe im eigentlichen Verſtande, iſt die Theilnehmung an dem Gewinnſte oder Verluſte eines5Vorrede. andern. Intereſſe im figuͤrlichen Verſtande, iſt die Theilnehmung der Seele an den Handlungen oder Eindruͤcken eines andern. So vielerley Arten der Beſchaͤftigungen der Seele es giebt, wann Gegenſtaͤn - de auf uns ſelbſt wirken: eben ſo viele Arten der Theilnehmung oder des Intereſſes giebt es auch, wann dieſe Gegenſtaͤnde auf andre wirken. So wie die Vorſtellungen unſers Verſtandes, unſre Gemuͤths - bewegungen und unſre Schickſale uns unmittelbar einnehmen: ſo koͤnnen die Gedanken, die Empfin - dungen, die Begebenheiten eines andern uns durch die Theilnehmung beſchaͤftigen, das heißt, uns in - tereſſiren. Wir nehmen aber an den Gedanken ei - nes andern alsdann am erſten Theil, wenn ſie ſo klar, ſo einleuchtend, und von ſo begreiflichem Nut - zen ſind, es ſey zum menſchlichen Leben oder zur Aufloͤſung von Schwierigkeiten, daß wir ſie leicht zu unſern eignen Gedanken machen koͤnnen, und Luſt haben, uns darauf einzulaſſen. Wir nehmen an den Gemuͤthsbewegungen eines andern Theil, wenn wir die Wahrheit und die Billigkeit der - ſelben, in ihren Ausbruͤchen oder in ihrer Schil -A 36Vorrede. derung erkennen. Wir nehmen an den erzaͤhlten Begebenheiten andrer Theil, wenn dieſe wahrſchein - lich, anſchauend, deutlich und erheblich ſind; jenes, um uns leicht in die Stelle der handelnden Perſonen verſetzen zu koͤnnen; dieſes, um in dieſer Stelle einen merklichen Einfluß der Begebenheiten auf uns gewahr zu werden.

In einigen Werken des Genies ſind alle dieſe Arten von Intereſſe vereiniget, als, zum Beyſpiele, im Drama; faſt in allen ſind einige derſelben ver - miſcht. Ueberhaupt aber gehoͤrt zu dieſer Theilneh - mung eben ſo wohl eine Empfaͤnglichkeit von Sei - ten des Zuhoͤrers, als ein Grad von Wirkſamkeit von Seiten des Redners oder Dichters. Diejeni - gen Gegenſtaͤnde intereſſiren allgemein, die, um an ſich und nach ihrer Brauchbarkeit verſtanden zu wer - den, keine andern Faͤhigkeiten und Kenntniſſe erfo - dern, als die allen wohlerzogenen Menſchen gemein ſind. Diejenigen intereſſiren nur eine gewiſſe Klaſſe, die Erfahrungen oder Neigungen einer beſondern Art vorausſetzen.

7Vorrede.

Man kann ſagen, das Intereſſe der Gedan - ken oder der Empfindungen ſey die Grundlage, wor - auf ſich das Intereſſe der Begebenheiten ſtuͤzt, weil dieſe nur inſofern wichtig werden, als ſie die Urſa - chen von einem von beiden ſind.

A 4
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Verſuch uͤber die Pruͤfung der Faͤhigkeiten.

  • Aus dem achten Bande der Neuen Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und freyen Kuͤnſte.

Wenn das Hauptwerk der Erziehung darin - nen beſteht, den Faͤhigkeiten der Seele Beſchaͤftigung und den Neigungen ihre gehoͤri - gen Gegenſtaͤnde zu geben: ſo wird ihr erſtes Geſchaͤft ſeyn muͤſſen, dieſe Faͤhigkeiten zu ken - nen. Aber wie ſchwer und wie mißlich iſt dieſe Unterſuchung! Wodurch will man die Faͤhigkei - ten des Geiſtes kennen lernen, wenn man ihn nicht handeln ſieht? Und doch, was kann es in9Ueber die Pruͤfung der Faͤhigkeiten. dieſem Alter fuͤr Verrichtungen geben, bey denen dieſe Faͤhigkeiten merklich wuͤrden? Es geht mit der Bildung der Geiſter, wie mit der Entſtehung der Koͤrper. Wir werden dieſe leztern nicht eher gewahr, als bis ſie ſchon eine merkliche Groͤße erreicht haben, und ſchon lange uͤber die Epoque hinaus ſind, wo ſich ihre Beſtandtheile zuſam - menfuͤgten, und durch ihre Lage und ihre Geſtalt die Beſchaffenheit und Erſcheinungen des kuͤnfti - gen Dinges beſtimmten. Eben ſo erkennen wir die Vollkommenheiten eines Geiſtes erſt alsdann, wann ſie an wichtigen Gegenſtaͤnden geuͤbt wer - den; aber dann iſt es gemeiniglich ſchon zu ſpaͤt, die Wahl iſt geſchehen, und nur der gluͤckliche oder ungluͤckliche Erfolg laͤßt uns auf die Anlage der Seele ſchließen, die dieſen Gegenſtaͤnden an - gemeſſen war. In der That, wie viel Kenntniß der Seele und was fuͤr eine feine Beobachtung ge - hoͤrt dazu, wenn man in kleinen Wirkungen eben die Kraft, die große hervorbringen koͤnnte, in nichtswuͤrdigen Beſchaͤfftigungen das Genie, und ſelbſt in Ausſchweifungen und Fehlern die Vor -A 510Ueber die Pruͤfungzuͤge des Geiſtes erkennen ſoll? Wenn nicht hier der Zufall oft mehr thaͤte, als die Klugheit und die Wahl, oder wenn nicht die Natur, mit vor - zuͤglichen Faͤhigkeiten fuͤr gewiſſe Sachen, auch eine vorzuͤgliche Neigung dazu verbunden haͤtte, ſo wuͤrden die meiſten Talente erſtickt oder ſchlecht angewendet werden.

Alſo, wenn das der einzige Endzweck dieſer Unterſuchung waͤre, dem Menſchen ſeine Beſtim - mung und ſeine Geſchaͤfte anzuweiſen, ſo koͤnnte man ſie getroſt aufgeben. Der Richterſtuhl, der uͤber die Faͤhigkeiten junger Buͤrger in einem Staate den Ausſpruch thun, und jedem ſeine Lebensart nach dieſem Ausſpruche zuerkennen ſoll - te, iſt einer von den ſchoͤnen Vorſchlaͤgen, die zu weiter nichts dienen, als ihre Erfinder zu belu - ſtigen. Die Natur will nicht haben, daß ſich unſre Weisheit in alle ihre Werke miſchen ſoll; und am Ende macht ſie es doch vielleicht eben ſo gut, als wir es mit unſrer ganzen Klugheit wuͤr - den gemacht haben.

11der Faͤhigkeiten.

Aber um den erwachſenen Mann mit ſeinen eignen Kraͤften bekannt zu machen, ihm, wenn der Zufall ihn gerade an die rechte Stelle ge - ſtoßen hat, mehr Zufriedenheit zu geben, oder wenn er an die unrechte gekommen iſt, ihm we - nigſtens einen Zeitvertreib zu zeigen, der ſich beſ - ſer fuͤr ihn ſchickt, als ſeine Geſchaͤfte; endlich wenigſtens von den Erſcheinungen in dieſer Sphaͤre Grund anzugeben, und die ſeltſame Ver - einigung zu erklaͤren, die man ſo oft in demſel - ben Menſchen zwiſchen großem Verſtande und großer Einfalt, zwiſchen ausnehmenden Talenten und einer ungewoͤhnlichen Unfaͤhigkeit, zwiſchen großen Kraͤften und einer voͤlligen Ohnmacht ge - wahr wird, dazu iſt dieſe Unterſuchung nuͤtzlich. Kann wohl die Philoſophie, wenn ſie nun einmal nicht zugelaſſen wird, die Dinge in der Welt zu beſſern, etwas anders thun, als das, was geſchieht, zu beſchreiben? und wenn ſie nicht an der Spitze des Heeres gehen kann, als Befehlshaber, um die Begebenheiten zu len - ken, ſo muß ſie wenigſtens hinter her ge -12Ueber die Pruͤfunghen, als Geſchichtſchreiber, um ſie aufzuzeich - nen.

Alle Unterſuchungen, die man zu dem Ende anſtellen muͤßte, theilen ſich in zwo Klaſſen. Ent - weder ſammlet man die Kennzeichen, aus denen man auf gewiſſe Faͤhigkeiten der Seele ſchließen kann Dieſer Theil iſt lang und beruhet auf ei - ner Reihe von Beobachtungen, zu denen jeder einzelne Menſch nur einen Beytrag thun kann. Oder man beſtimmt fuͤr jede Faͤhigkeit die Art von Geſchaͤften, die ſie am beſten auszurichten im Stande iſt. Dieſer Theil wuͤrde leicht ſeyn, wenn es moͤglich waͤre, jede Art von Geſchaͤften durchaus zu kennen, ohne ſelbſt die Faͤhigkeit zu beſitzen, ſie auszufuͤhren.

Um zu wiſſen, wie ſich gewiſſe Faͤhigkeiten der Seele aͤußern, muß man dieſe Faͤhigkeiten erſt un - terſcheiden.

I. Die erſte Faͤhigkeit, der Grund aller uͤbrigen, und die, welche die Staͤrke und Beſchaffenheit der andern beſtimmt, iſt das Vermoͤgen zu empfinden. So iſt der Gang der Natur: Zuerſt empfaͤngt13der Faͤhigkeiten. die Seele eine Menge Eindruͤcke, das Gedaͤchtniß erhaͤlt ſie, die Einbildungskraft ſezt ſie zuſam - men, der Verſtand ſammlet das Aehnliche in denſelben, und verwandelt die Eindruͤcke in Ideen, die Vernunft endlich bringt dieſe Ideen in Ver - bindung und erbaut ſich daraus das Syſtem ih - rer Grundſaͤtze und ihrer Regeln. Die Empfin - dungen ſind alſo der Stoff, welchen die uͤbrigen Faͤhigkeiten bearbeiten. Iſt dieſer feſt und dauer - haft, ſo iſt weiter nichts als ein geſchickter Kuͤnſt - ler dazu noͤthig, um vortrefliche Werke daraus zu machen; iſt er ſchwach und untauglich, ſo wird ſelbſt eine Meiſterhand und die weiſeſte An - wendung nur etwas Mittelmaͤßiges hervorbrin - gen.

Von der Empfindung ſollte alſo der Anfang dieſer Unterſuchung, ſo wie der Erziehung uͤber - haupt, gemacht werden. Sind die Eindruͤcke, die die Seele des Kindes von ſich ſelbſt und von den Sachen außer ſich empfaͤngt, richtig, mit den Gegenſtaͤnden uͤbereinſtimmend, tief und dauerhaft; ſind ihre Empfindungen wahr und14Ueber die Pruͤfungſtark? das iſt die Frage, die man zuerſt entſchei - den muß. Ich ſetze mich in die Stelle des Va - ters und Lehrers, und folge dem Kinde in allen ſeinen Bewegungen.

1. Das erſte, worauf ich Acht haben werde, iſt, ob das Kind die Sachen, die es einmal em - pfunden hat, geſchwind und leicht wieder er - kennt. Dieſe Beobachtung werde ich ſelbſt zu der Zeit anſtellen, wo das Kind fuͤr dieſe Empfin - dungen noch keine Worte hat. Der Schluß ſelbſt iſt klar. Um eine Sache wiederzuerken - nen, iſt noͤthig, den alten und den gegenwaͤrti - gen Eindruck zu vergleichen. Je geſchwinder dieſe Vergleichung geſchieht, deſto merklicher muͤſ - ſen die Spuren ſeyn, die die Sache in der Seele zuruͤckgelaſſen hat. Man ſieht zugleich, warum dieſes Merkmal bey Kindern richtig iſt, und bey Erwachſenen truͤgt. Die Seele der erſten be - ſchaͤftigt ſich ganz allein mit Empfindungen; ihre Aufmerkſamkeit iſt niemals zwiſchen den ſinnli - chen Gegenſtaͤnden und allgemeinen Ideen ge - theilt; und das Maaß der Staͤrke alſo, mit wel -15der Faͤhigkeiten. chem ſie empfindet, iſt zugleich das Maaß ihrer Kraft uͤberhaupt. Bey den andern haͤngt die Leichtigkeit, die alten Gegenſtaͤnde wiederzuer - kennen, nicht blos von dem Nachdrucke, mit dem man ſie zuerſt empfunden hat, ſondern auch von dem Grade der Aufmerkſamkeit ab, den man izt auf ſie wendet; und fuͤr die Empfindung bleibt nur ſo viel von der Kraft der Seele, als zum Den - ken nicht noͤthig iſt.

2. Ein ander noch allgemeineres und ſiche - rers Merkmal iſt es, wenn das Kind eine große Aufmerkſamkeit auf den jedesmaligen Gegenſtand ſeiner Empfindung hat, und ſich durch die uͤbri - gen Sachen, die itzund nicht eigentlich zu ſeiner Betrachtung gehoͤren, wenig oder gar nicht zer - ſtreuen laͤßt. Jedermann wird ſich erinnern, dieſen Unterſchied an Kindern bemerkt zu haben. Einige werden von dem Anblicke keiner einzigen Sache ſo ſtark geruͤhrt, daß ſie eine Zeitlang bey derſelben verweilen, ſie ſehen alles an, ohne ir - gend etwas zu bemerken; unter der Menge von Dingen, die um ſie ſind, irret der Sinn und die16Ueber die PruͤfungSeele beſtaͤndig von einem Gegenſtande zum an - dern, ohne bey einem einzigen ſtille zu ſtehen; oder vielmehr, ſie verhalten ſich gegen alle nur leidend, nehmen alle Eindruͤcke an, wie ſie ihnen von ungefaͤhr in die Sinne fallen, ohne einem einzigen freywillig den Vorzug zu geben.

Andre ſind immer nur mit einem Gegenſtan - de auf einmal beſchaͤftigt. Ihre Augen oder Ohren haben immer etwas Feſtes und Beſtimm - tes, worauf ſie ſich richten. Unter einem noch ſo großen Haufen von Sachen oder Perſonen un - terſcheiden ſie augenblicklich das Bekannte vom Fremden, gehen unachtſam bey dem einen vor - bey, und ſehen dafuͤr das andre ſo lange ſtarr und unverwandt an, bis ſie ungefaͤhr damit eben ſo bekannt worden ſind, wie mit den uͤbrigen.

Wenn man das Uebrige gleich ſezt, ſo kann man mit Recht vermuthen, daß die Bilder in der Seele des leztern beſſer und richtiger find, als in der erſten.

17der Faͤhigkeiten.

Dieſe Gabe, viele Dinge nicht zu ſehen und nicht zu hoͤren, um von einer recht geruͤhrt zu werden, die Aufmerkſamkeit mit einem Worte, iſt ſowohl die Urſache als der Beweis ſtarker Em - pfindungen. Die Urſache, weil, wo mehr Kraft angewendet wird, die Wirkung groͤßer ſeyn muß; der Beweis, weil die Seele von jeder Sache um ſo viel mehr an ſich gezogen wird, je groͤßer die Thaͤtigkeit iſt, in die ſie die Seele ſezt. Iſt die Seele nur zu leichten und gleichſam nur beruͤh - renden Eindruͤcken faͤhig; ſo werden ſie niemals uͤber die Zerſtreuungen die Oberhand behalten; die Kraft der Seele wird unter alles gleich ausge - theilt, und durch dieſe Theilung verzehrt. Hef - tige Wirkungen hingegen werden die Aufmerkſam - keit, auch ohne ihren Willen, auf die Gegenſtaͤn - de feſthalten, die ſie erregen.

3. Ein drittes, aber mehr zweydeutiges Kennzeichen iſt ſchon immer bey dieſer Unterſu - chung gebraucht worden; die Lebhaftigkeit meyne ich, und die Geſchaͤftigkeit des Geiſtes. Die Wahrheit, die zum Grunde liegt, iſt dieſe: JeB18Ueber die Pruͤfungbeſſer und lebhafter die Bilder ſind, die die Seele durch die Empfindungen erhaͤlt, deſto groͤßer iſt das Vergnuͤgen uͤber dieſelben, und deſto groͤßer das Verlangen nach neuen.

Die Begierde alſo, mit welcher wir gewiſſe Seelen immer neue und neue Gegenſtaͤnde ihrer Empfindung aufſuchen ſehen, und die Behendig - keit, die dieſe Begierde allen ihren Handlungen giebt, koͤnnte ein Beweis von der Guͤte ihrer Em - pfindungen ſeyn, wenn nur dieſe Munterkeit nicht oft einer gewiſſen Beharrlichkeit entgegen waͤre, welche jedem Eindrucke Zeit genug laͤßt, ſich in den Seelen feſtzuſetzen, ehe ein neuer auf ihn folgt. Ein ſchneller Uebergang von einer Sache zur andern zeigt freylich eine wirkſame Seele, aber er loͤſcht zu leicht einen Eindruck durch den andern aus, und zerſioͤrt die Wirkung, indem er den Gegenſtand zu oft abaͤndert.

Man ſieht alſo, wie leicht hier der Irrthum iſt. Ein langſamer Fortgang von einem Gegen - ſtande zum andern, der bey Kindern oft fuͤr Dummheit angeſehen wird, kann eben die Urſache19der Faͤhigkeiten. ihres kuͤnftigen Verſtandes ſeyn, weil er fuͤr ihn eine Reihe unterſchiedner und ſorgfaͤltig gezeich - neter Bilder ſammlet. Und die Fluͤchtigkeit der andern, uͤber die man ſich als eine unfehlbare Verkuͤndigung eines faͤhigen Geiſtes freuet, ver - wirrt und vermiſcht dieſe Bilder, und giebt der Reflexion, wenn ſie endlich ihr Amt anfangen will, nichts als ein Chaos von halbverloͤſchten und verworrnen Zuͤgen, aus denen ſich nichts zuſammenſetzen laͤßt. Die Kunſt beſteht alſo dar - innen, zu unterſcheiden, ob die Seele aus Traͤg - heit und Verdroſſenheit ſo ſchwer die alten Gegen - ſtaͤnde verlaͤßt, oder ob es aus einer gewiſſen Art von dunkler Betrachtung herruͤhrt, die ſie daruͤber anſtellt.

4. Die unmittelbarſten Wirkungen der Em - pfindungen ſind die Begierden. Man kann alſo dieſe brauchen, um auf jene zuruͤckzuſchließen; und da ſich die Begierden eher als die Faͤhigkeiten ent - wickeln, ſo iſt dieß auch der erſte Weg der Unter - ſuchung, die Talente aus den Leidenſchaften zu beurtheilen.

B 220Ueber die Pruͤfung

Sind dieſe rauſchend und heftig, aber vor - uͤbergehend, ſo ſind die Eindruͤcke in der Seele ſchnell, aber fluͤchtig. Sind ſie ruhig, aber dauerhaft, ſo iſt die Empfindung langſam, aber tief. Iſt zwiſchen den Begierden und ihren Ge - genſtaͤnden ein gewiſſes Verhaͤltniß, geſezt auch, daß ſie zuweilen daruͤber hinausgehen ſollten, ſo kann man in den Begriffen Ordnung und Rich - tigkeit vermuthen. Ausſchweifende oder ganz verkehrte Leidenſchaften, ohne alles wenigſtens ſcheinbare Verhaͤltniß mit dem Guten, auf wel - ches ſie gerichtet ſind, zeigen Zerruͤttung und Un - deutlichkeit in den Bildern an, die die Dinge von ſich in der Seele abgedruͤckt hatten. Ein Mangel aller Leidenſchaften iſt das untruͤglichſte Kennzei - chen der Dummheit.

5. Aber die genaueſte und ſchaͤrfſte Pruͤfung laͤßt ſich durch die Beobachtung des Geſchmacks anſtellen. Fuͤr diejenige Klaſſe von Empfindun - gen iſt das Vermoͤgen der Seele am faͤhigſten, in der ſie das Schoͤne vom Haͤßlichen am leichteſten und richtigſten unterſcheidet. Nach der Einrich -21der Faͤhigkeiten. tung der Natur bringt, wenn die ſinnlichen Werk - zeuge richtig und die Seele nicht unfaͤhig iſt, das Schoͤne Vergnuͤgen und das Haͤßliche Verdruß hervor. Aber nicht bey allen Gegenſtaͤnden iſt dieſe angenehme oder unangenehme Empfindung gleich ſtark. Das Auge eines Malers empfindet weit mehr Verdruß uͤber eine unrichtige Geſtalt, als ſein Ohr uͤber eine Disharmonie; hingegen ſieht der Tonkuͤnſtler die abgeſchmackteſte Zeich - nung ohne Ekel, und geraͤth bey falſchen Toͤnen oder bey verfehltem Takte außer ſich.

Man kann alſo dieſe Beobachtung auf zweyer - ley Art brauchen.

Einmal das Empfindungsvermoͤgen uͤber - haupt zu beurtheilen. Ein Menſch, dem alles gleichguͤltig iſt, der das Schlechte und Gute mit gleicher Zufriedenheit aufnimmt, und auf den Harmonie, Ordnung und Schoͤnheit keine Wir - kung thun; deſſen Eindruͤcke muͤſſen an und vor ſich ſchlecht, unrichtig und ſchlaͤfrig ſeyn: denn wenn das Bild von der Sache ſelbſt richtig gefaßtB 322Ueber die Pruͤfungiſt, ſo iſt dieſe begleitende Empfindung von Luſt oder Unluſt unausbleiblich.

Zum andern die Art von Gegenſtaͤnden zu be - ſtimmen, zu denen jede Seele die beſte Anlage hat, naͤmlich fuͤr die, wo ſie am leichteſten und genaueſten das Gute nicht nur vom Schlechten, ſondern auch vom Mittelmaͤßigen unterſcheidet, wo ihre Unterſcheidungen die feinſten, und ihr Vergnuͤgen und ihre Unluſt die lebhafteſten ſind. Es wuͤrde dieſe Art von Pruͤfung weit vollkomm - ner werden, wenn es moͤglich waͤre, von jeder Art der ſinnlichen Gegenſtaͤnde dem Kinde die ſchoͤnſten und vortreflichſten vorzuſtellen, um an ihnen ſeine Empfindung zu pruͤfen. Wenigſtens waͤre es doch billig, anſtatt das Auge und das Ohr des Kindes von Jugend auf an Mißgeſtal - ten und Disharmonie zu gewoͤhnen, und es gegen den natuͤrlichen Ekel davor abzuhaͤrten, es lieber durch richtige Zeichnung und wohlklingende Toͤne ſchon zuvor einzunehmen, und ihm ſeine erſten Vergnuͤgungen zu einem Muſter zu machen, nach23der Faͤhigkeiten. denen es ſchlechtere beurtheilen und verwerfen lernte.

6. Das waͤren alſo ſolche Kennzeichen der Empfindung, die ſelbſt Urſachen oder Wirkungen der Sache ſind, die ſie bezeichnen. Es giebt aber andre, die mehr Anzeichen als Merkmale ſind, die ganz auf der Oberflaͤche liegen, die bey den einzelnen Menſchen am leichteſten bemerkt werden, und ſich doch, weil ſie ſo mannichfaltig und ſo veraͤnderlich ſind, am ſchwerſten in eine allgemeine Regel verwandeln laſſen.

Das Wichtigſte dieſer aͤußern Merkmale iſt der Bau der Werkzeuge. Ein lebhaftes, mun - teres und feuriges Auge iſt daher immer mit Recht fuͤr das Zeichen eines faͤhigen Geiſtes gehalten worden, weil es die Quelle der vornehmſten und meiſten Empfindungen, oder, wie Milton ſagt, das große Thor der Weisheit iſt.

Die Munterkeit und das aͤußere Betragen, die Beweglichkeit und Thaͤtigkeit des Koͤrpers iſt ein ander ſolches Merkmal. So wie der Schlaf die Beraubung aller Empfindung iſt, ſo iſt dieB 424Ueber die PruͤfungSchlaͤfrigkeit die Schwaͤchung derſelben. Eine Seele, die immer mit gewiſſen Gegenſtaͤnden be - ſchaͤftiget iſt, ſetzet auch ihren Koͤrper in Bewe - gung, und verhindert die Erſchlaffung der Ner - ven, aus der die Traͤgheit entſteht. Wenn hin - gegen die Seele leer oder nur ſchlecht geruͤhrt iſt, ſo wirkt ſie in ihren Koͤrper eben ſo langſam und eben ſo ſchwach, als auf ſie war gewirkt worden, und der Menſch verſinkt in Langeweile und Muͤ - digkeit.

7. Aber ein Merkmal, welches ſeltner beob - achtet wird, iſt die Unfaͤhigkeit eines jungen em - pfindenden Kopfs zu Erlernung abſtrakter Be - griffe, oder der Woͤrter, die ſie ausdruͤcken. Man hoͤrt ſo oft uͤber die Ungelehrigkeit von Kindern klagen, die allenthalben, nur nicht in ihren Lehr - ſtunden verſtaͤndig ſcheinen. Ganz gewiß muͤſſen alsdann entweder die Sachen nicht gut fuͤr ſie gewaͤhlt ſeyn, die man ſie lehrt, oder der Lehrer unterſcheidet die Gabe, bloß andrer Gedanken zu behalten, nicht von der Faͤhigkeit ſelbſt zu denken. In einem je hoͤhern Grade es die leztere beſizt,25der Faͤhigkeiten. deſto weniger wird es von der erſten haben, be - ſonders von den unfruchtbaren Gegenſtaͤnden, mit denen man gemeiniglich den Unterricht an - faͤngt. Eine Seele, die mit wirklichen Bildern von Dingen erfuͤllt iſt, wird ſich ſehr ungern von denſelben zu bloßen Worten wegwenden, die es nicht verſteht; und je lebhaftere Eindruͤcke es be - koͤmmt, mit deſto groͤßerm Widerwillen wird es ſich die Gewalt anthun, Sachen zu behalten, die ohne alle Eindruͤcke ſind.

Die Geſchichte der Genies hat dieſe Anmer - kung beſtaͤtigt, und oft das Urtheil ihrer erſten Schullehrer widerlegt.

Nur noch zwey Worte uͤber dieſe ganze Ma - terie.

Erſtlich. Es iſt nichts ſchwerer, als die Em - pfindungen anderer zu beurtheilen oder zu verglei - chen. Unſre Sprache druͤckt das ſinnliche Bild bloß durch den Namen des Gegenſtandes aus. Jeder erinnert ſich alſo bey dem Worte an ſeine eigne Idee, aber keiner erfaͤhrt die Idee des an - dern. Die Mittheilung der Gedanken beſtehtB 526Ueber die Pruͤfungnicht ſowohl darinnen, in dem andern eben die Eindruͤcke hervorzubringen, die wir ſelbſt haben, ſondern nur die Eindruͤcke wieder zu erwecken, die durch eben die Gegenſtaͤnde bey ihm hervor - gebracht werden. Unſre ſinnlichen Begriffe ſind lauter Verhaͤltniſſe. Das Abſolute in denſelben koͤnnte ſich voͤllig aͤndern, und alle unſre Aus - druͤcke wuͤrden noch koͤnnen dieſelben bleiben, wenn nur die Aenderung durchgaͤngig und auf eine gleichfoͤrmige Art geſchaͤhe. Um alſo zu wiſſen, wie empfindet ein anderer, muͤſſen wir unterſu - chen, was faͤngt die Seele mit ihren Empfindun - gen an? und der Gebrauch, den jemand von den Bildern macht, die in ſeiner Seele geſammlet ſind, zeigt am erſten, wie dieſe Bilder beſchaffen ſind. Man wird dieſes nirgend ſo gewahr, wie bey den nachahmenden Kuͤnſtlern. Wuͤrde man wohl aus der beſten Beſchreibung eines Malers ſchließen, daß er was anders und beſſer ſieht, als wie andere? Sobald er durch Worte mitthei - len ſoll, ſo ſchraͤnkt ſich ſeine Empfindung bloß auf das Allgemeine ein, was allen ſehenden Menſchen27der Faͤhigkeiten. in die Augen faͤllt, und wofuͤr die Sprache nur al - lein gemacht iſt. Aber ſobald er den Pinſel in die Hand nimmt, da wird man gewahr, daß ſein Auge tauſend Sachen bemerkt hat, die uns un - ſichtbar waren, und daß in ſeiner Vorſtellung die Natur mit allen ihren Geſtalten ſich auf eine ganz andre Art abmale, als in der unſrigen.

Zweytens: Obgleich die Werkzeuge nicht verdorben ſeyn muͤſſen, wenn die Empfindung gut ſeyn ſoll, ſo iſt es doch falſch, daß ſich die Staͤrke der leztern nach der Schaͤrfe der erſtern richtet. Was wir ein ſcharfes Auge nennen, iſt nur ein Auge, das entferntere oder kleinere Ge - genſtaͤnde doch noch deutlich ſieht. Es ſieht alſo ohne Zweifel mehr auf einmal: aber bey einer gewiſſen Groͤße und Naͤhe ſieht das ſchwaͤchere Auge eben ſo gut: es bedarf alſo mehr Zeit, ſich dieſelbe Anzahl von ſinnlichen Begriffen zu ver - ſchaffen, aber es gelangt endlich doch dazu; und oft beſſer, weil ſein Geſichtskreis immer einge - ſchraͤnkter und ſeine Aufmerkſamkeit alſo weniger getheilt iſt.

28Ueber die Pruͤfung

Ueberdieß iſt es nicht der bloße Eindruck der Sache, ſondern es iſt die Idee, die aus die - ſem Eindrucke herausgezogen wird, die den Stoff zu den folgenden Wirkungen der Seele giebt.

Alſo iſt die Beurtheilung der Empfindungen etwas anders, als die bloße Beurtheilung des Se - hens und Hoͤrens; alſo kann dieſe Beurtheilung nicht unmittelbar durch die Beobachtung deſſen, was das Kind oder der Menſch von ſeinen Em - pfindungen ſagen kann, geſchehen; alſo iſt kein ander Mittel, zu irgend einer Kenntniß derſelben zu kommen, als die Wirkungen und Folgen der Empfindungen kennen zu lernen.

II. Die zweyte Handlung der Seele, die auf die Empfindungen zunaͤchſt folgt, iſt die Wieder - hervorbringung derſelben, entweder in eben der Form und Ordnung, in der wir ſie gehabt haben, das iſt das Gedaͤchtniß; oder getrennt und zu - ſammengeſezt, die Einbildungskraft. Beides iſt in gewiſſer Maaße eine unmittelbare Folge der29der Faͤhigkeiten. Empfindung und eine nothwendige Vorbereitung zum Denken.

Keine Faͤhigkeit ſcheint leichter zu erkennen zu ſeyn, als das Gedaͤchtniß, weil man glaubt nur Achtung geben zu duͤrfen, wie viel man behalten kann. Im Grunde aber iſt die Unter - ſuchung eben ſo ſchwer, und der Irrthum haͤu - fig, weil man gemeiniglich von dem Mangel einer gewiſſen Gattung von Gedaͤchtniſſe auf den Mangel des Gedaͤchtniſſes uͤberhaupt ſchließt.

Es giebt ein gewiſſes blos behaltendes, und ein andres, ſo zu ſagen raͤſonnirendes Gedaͤcht - niß. Man koͤnnte das erſte das Gedaͤchtniß im engern Verſtande, und das andre die Gabe der Erinnerung nennen. Jenes iſt das, wovon man am erſten urtheilt, und wovon man vielleicht nicht ohne Grund behauptet, daß es bey einem großen Verſtande ſelten ſey; es erhaͤlt die ehemaligen Eindruͤcke, und ſtellt ſie der Seele, ſo oft ſie will, in eben der Ordnung wieder vor, ohne daß ſie dabey eine andre Bemuͤhung noͤthig haͤtte, als30Ueber die Pruͤfungſich darauf zu richten. Man kann die Staͤrke dieſes Gedaͤchtniſſes ziemlich richtig nach demje - nigen abmeſſen, was ein Menſch auswendig ler - nen kann.

Das andre iſt ein Erinnern, welches durch Nachdenken geſchieht, wenn die Seele ihre ehemali - gen Vorſtellungen, ſobald nur eine davon wieder lebhaft worden iſt, durch ihre Verbindung und Folge aufzuwecken weis. Dieſes Gedaͤchtniß ſezt zwar voraus, daß die alten Ideen auf eine ge - wiſſe Weiſe verloͤſcht ſind, aber es erſetzt dieſe Schwaͤche durch eine andre Kraft der Seele, die es anzeigt, die Kraft die Verbindungen der Dinge einzuſehen, und ſelbſt verdunkelte Bilder durch ihre eigne Bemuͤhung wieder klar zu machen. Dieſes Gedaͤchtniß iſt ein ſehr ſicher Kennzeichen, oder vielmehr ein Theil des Verſtandes.

Man wird ſehr oft Menſchen ſehen, die Er - zaͤhlungen und Geſchichte ſchlecht behalten, und immer entweder Luͤcken oder Irrthuͤmer finden, ſo oft ſie Begebenheiten wieder erzaͤhlen ſollen; und die ſich doch ganzer Reihen von Vernunftſchluͤſſen31der Faͤhigkeiten. und Raiſonnemens ohne Muͤhe erinnern. Dieſe Menſchen haben gewiß die zweyte Art des Ge - daͤchtniſſes, und die erſte fehlt ihnen.

Der Grund iſt dieſer: Die Verbindung zwi - ſchen Wahrheiten iſt genauer, als die zwiſchen Begebenheiten; die Seele alſo, die ihre alten Bil - der nach und nach durch eine gewiſſe Art von Schluͤſſen wieder erwecken muß, ſieht bey den er - ſten den Weg genau bezeichnet, den ſie zu gehen hat, bey den leztern aber muß ſie ihn auf Gera - thewohl ſuchen, und geht alſo oft fehl. Die meiſten Begebenheiten werden nur durch Zeit und Ort verknuͤpft, oder dieſe Verbindung iſt doch we - nigſtens die einzige, die wir einſehen; wenn die Seele alſo ihre Ordnung bey der Erinnerung nicht verruͤcken ſoll, ſo muͤſſen ſich die Begriffe in eben der Reihe und Ordnung nach einander erhal - ten haben; weil das Nachdenken das Fehlende nicht erſetzen kann.

Zweytens. Wenn man unmittelbar, ſo bald man nur die Gedanken auf das richtet, was man ehemals empfunden oder erlernt hat, ſich32Ueber die Pruͤfungdie ganze Reihe der alten Ideen wieder vorſtellt, ſo hat man die erſte Art von Gedaͤchtniß. Wenn man aber bey dem erſten Blicke auf die Sache wenig oder nichts von ihr weis, nach und nach aber und ſtufenweiſe ſich eines Theils nach dem andern erinnert, und den Fortgang immer gewahr wird, wie eine Idee die naͤchſtliegende aufweckt; ſo hat man die zweyte.

Man ſieht alſo auch, warum man bey Kin - dern faſt nur uͤber das erſte urtheilt. Alles, wo - mit man ſie beſchaͤftigt, und woran man ihre Faͤ - higkeiten pruͤft, ſind groͤßtentheils Sachen, die ohne innere Verbindung ſind, und wo alſo kein ander Mittel iſt, als daß man ſie entweder aus - wendig wiſſen oder vergeſſen muß.

Wem beide Arten von Gedaͤchtniß fehlen, der wird fuͤr ſein Nachdenken nur wenig Gegenſtaͤnde, und alſo einen kleinen und eingeſchraͤnkten Ver - ſtand haben.

III. Die Einbildungskraft nimmt aus den Em - pfindungen einzelne Theile, und macht daraus33der Faͤhigkeiten. ein neues Ganze. In einem hoͤhern Grade nennt man ſie die Gabe der Dichtung.

Ihre Vollkommenheit beruht, wie einer jeden Zuſammenſetzung ihre, erſtlich auf der Richtigkeit der Theile und ihrer Aehnlichkeit mit den Dingen, von denen ſie genommen ſind. Zweytens, auf der Regelmaͤßigkeit und Richtigkeit der Verknuͤp - fung. So erfodern die Maler bey dem, was ſie Ideal nennen, die genaueſte Wahrheit und die getreueſte Kopie der Natur in den Theilen, und in dem Ganzen Wahl und Anordnung.

Jeder Menſch baut ſich zuweilen in ſeinen Gedanken eine kleine Welt, in der er wohnt, und in der er ſich gefaͤllt. Wenn dieſe gut geord - net iſt, und eine Reihe von Moͤglichkeiten enthaͤlt, die zuſammenhaͤngen, ſo iſt die Imagination richtig; wenn die Bilder den wirklichen Empfin - dungen an Staͤrke nahe kommen, ſo iſt ſie leb - haft; wenn ſie zuſammengeſezt einen hoͤhern Grad von Vollkommenheit haben, als die Na - tur, aus der ſie geſammlet ſind, ſo iſt ſie erha - ben. Auf dieſe Art alſo koͤnnen unſre SpielwerkeC34Ueber die Pruͤfunguns unſre weſentlichen Vollkommenheiten auf - klaͤren.

Dieſe Faͤhigkeit hat noch das Eigne, daß ſich bey ihr vorzuͤglich die Beſtimmung der Seele und die Art von Gegenſtaͤnden zeiget, fuͤr die ſie ge - macht iſt. Die Empfindungen, die die ſtaͤrkſten waren, laſſen auch die ſtaͤrkſten Eindruͤcke zuruͤck, und die Verbindungen werden alſo auch am leich - teſten und beſten. Durch dieſen Weg zeigt zu - weilen die Natur von ſelbſt die Abſicht mit ihrem Geſchoͤpfe. Der kuͤnftige Bildhauer macht Men - ſchen aus Leim, der junge Tonkuͤnſtler ſingt rich - tigere und kuͤnſtlichere Melodien.

Dieſe Werke der jugendlichen Einbildungs - kraft ſind leicht zu erkennen, wo ſie wirklich koͤr - perliche Theile zu einem Ganzen verbindet. Man darf nur darauf Achtung geben, in welcher Gat - tung das Kind die groͤßte Erfindſamkeit, den rich - tigſten Geſchmack und die beſte Anordnung hat. Aber die Einbildungskraft, die bloße Bilder zu - ſammenſetzet, zeigt ſich ſpaͤter und laͤßt ſich leich - ter verkennen, und auf dieſer beruht doch eigent -35der Faͤhigkeiten. lich die Faͤhigkeit zum Gelehrten oder zum ſchoͤnen Geiſt.

Man kennt gemeiniglich nur eine einzige Art von Einbildungskraft, die, welche ſinnliche Bil - der vereinigt, um neue Bilder hervorzubringen, die aus den Theilen der Koͤrper neue Koͤrper, aus Thatſachen Thatſachen, und aus einzelnen Erſchei - nungen in der Natur und beym Menſchen eine aͤhn - liche Welt und aͤhnliche Menſchen zuſammenſezt. Hier geben die Sinnen zuerſt den Stoff, und ih - nen wird auch zulezt das Werk, wann es vollen - det iſt, vorgeſtellt. Aber es giebt auch eine Ein - bildungskraft fuͤr den Philoſophen, oder wenig - ſtens fuͤr den Erfinder der Philoſophie. Um zu einer neuen Wahrheit zu kommen, wenn ſie nicht eine unmittelbare Folge einer ſchon bekannten iſt, iſt es unmoͤglich, die Art von deutlich gedachten Schluͤſſen zu brauchen, durch welche man dieſe Wahrheit, wenn ſie erfunden iſt, beweiſt. Wie will man den Weg zu einem Ziele abzeichnen, wel - ches man noch nicht kennt? Alſo Schluß vor Schluß von der bekannten Wahrheit zur unbe -C 236Ueber die Pruͤfungkannten fortzugehen, und ſich die ganze Reihe von Begriffen, durch welche beide zuſammenhaͤn - gen, gleich mit Deutlichkeit und richtiger Unter - ſcheidung zu denken, das iſt unmoͤglich. Hier muß der ſchnelle Flug des Genies erſt das unbe - kannte Land ausſpaͤhen, erſt die fremde Gegend durchſchaut haben, ehe der langſam fortſchreiten - de Verſtand ſeinen Weg antreten kann. Die Seele muß das Vermoͤgen haben, die ganze Reihe mit Einem Blick und einer Art von unmittelbarem Anſchauen zu uͤberſehen. Ideen, die entwickelt eine ganze Wiſſenſchaft ausmachen, muͤſſen ſich zuſammendraͤngen, ein Ganzes ausmachen, und ſich gleichſam in ein Bild vereinigen. So wie es eine gewiſſe Ahndung giebt, durch die man kuͤnftige Begebenheiten vorausſieht, ohne ſich alle die Urſachen erklaͤren zu koͤnnen, aus denen man ſie folgert: ſo giebt es eine gewiſſe Kunſt gluͤck - lich zu rathen, durch die man weit hinaus lie - gende Ideen und entfernte Folgerungen der Wahr - heiten vorausſieht, ohne ſich aller der Schluͤſſe37der Faͤhigkeiten. bewußt zu ſeyn, durch die man auf ſie gekom - men iſt.

Wuͤrde wohl in einem andern Kopfe, als in Neutons ſeinem, der Fall eines Apſels die Idee eines neuen Weltſyſtems haben erregen koͤnnen? Mit welcher Geſchwindigkeit des Blitzes mußte ſeine Seele die unendliche Reihe von Begriffen durchlaufen und erleuchten, die von der Idee der Schwere auf alle Koͤrper angewendet veranlaſſet wurden.

Unerklaͤrlich ſcheint es in der That zu ſeyn, allgemeine Ideen, zu denen kein Bild in der Ima - gination gehoͤrt, auf gewiſſe Weiſe ſinnlich klar zu denken; und doch iſt dieſe Faͤhigkeit gewiß in der menſchlichen Seele. In einem geringern Grade finden wir ſie ſchon bey der Erlernung und Wiederholung der Wiſſenſchaften. Man wird oft gewahr, daß, ehe man ſich aller Theile eines allgemeinen Beweiſes, oder mit einem Worte alles deſſen, was man von einer Sache weiß, einzeln erinnert, man ſchon zum voraus auf ge - wiſſe Art empfindet, wie der Gang des ganzenC 338Ueber die PruͤfungNachdenkens ſeyn wird. Und eben dieſe Voraus - empfindung, wann wir ſie haben, macht uns als - dann die Aufklaͤrung der einzelnen Theile leichter. Es giebt gewiſſe Augenblicke, wo es ſcheint, als wenn in einen dunkeln Theil unſrer Seele auf einmal ein Licht gebracht wuͤrde; die ganzen Ideen, die hier verborgen liegen, zeigen ſich mit einem male, obgleich Zeit und Folge dazu gehoͤrt, um ſie einzeln nach und nach herauszuheben, und zum Bewußtſeyn zu bringen.

Wo alſo dieſe ſchnellen ploͤzlichen Aufklaͤrungen oͤfter geſchehen; wann der Geiſt des Schuͤlers den Beweiſen ſeines Lehrers zuvorkoͤmmt, und das Ende der Schlußfolge ſchon zum voraus fuͤhlt, ehe ihn noch die Reihe der Schluͤſſe dahin gefuͤhrt hat; bey wem einzelne Winke viel Gedanken ver - anlaſſen; weſſen Verſtand nicht immer durch alle Wendungen und Umſchweife lauter unmittelbarer Folgerungen fortſchleicht, ſondern zuweilen gluͤck - liche Spruͤnge thut: bey dem hat die Natur die Anlage zu dem großen Lehrer oder dem Erfinder der Wiſſenſchaften gemacht.

39der Faͤhigkeiten.

Die dichteriſche Einbildungskraft hat Merk - male, die auch ſchon in einem zarten Alter ſtatt finden. Das erſte iſt, wenn es wohlgemachte Erdichtungen mit Vergnuͤgen und einer Art von Theilnehmung hoͤrt; wenn es ſchnell ihre Anlage und ihren Entwurf faßt, und wenn es ſie bald von abgeſchmackten, ungeheuern oder unnatuͤr - lichen unterſcheidet. Eine lebhafte Einbildungs - kraft wird leicht Bilder, die ihm von einer Mei - ſterhand vorgemalt ſind, nachmalen. Die Per - ſonen und Begebenheiten werden anfangen ihr gegenwaͤrtig zu werden; und ſie wird alſo alle die Wirkung thun, die die Empfindung bey dem wirklichen Daſeyn der Gegenſtaͤnde haben wuͤrde. Eine richtige Einbildungskraft wird die Aehn - lichkeit mit der Natur leicht gewahr werden, und wenn ſie einmal den Reiz derſelben empfunden hat, ſie in allen denen Werken vermiſſen, die unge - treue oder mit Fleiß verſtellte Kopien von ihr ſind. Wer einmal eine richtige menſchliche Bildung kennt, wird Rieſen und Zwerge leicht unterſchei - den. Alſo, wenn die Fabel oder Geſchichte Mit -C 440Ueber die Pruͤfungleiden, Liebe, Haß, Bewunderung, kurz alle Ar - ten von Leidenſchaften in der Seele rege macht, ſo iſt die Einbildungskraft gut. Die Entſtehung dieſer Leidenſchaften haͤngt immer von einer ge - wiſſen idealen Gegenwart der Gegenſtaͤnde ab, und dieſe wird von der Einbildungskraft gewirkt. Eine ruͤhrende Begebenheit alſo mit Kaltſinn an - hoͤren; bey der Erzaͤhlung einer vortreflichen That gleichguͤltig ſeyn; an dem Schickſale der Tugend - haften keinen Antheil nehmen; ſich fuͤr keine Per - ſon oder fuͤr keine Art von menſchlichen Vollkom - menheiten intereſſiren, zeigt nicht bloß ein unem - pfindliches Herz, ſondern auch einen ſchwachen Kopf an. Die Seele muß ganz unfaͤhig ſeyn, ſich dieſe Art von Bildern nur vorzuſtellen, wenn ſie von ihnen gar keine Wirkung em - pfindet.

Weiter! Wenn man bey gewiſſen Kindern zuweilen eine ploͤtzliche Freude, eine Frucht, eine Niedergeſchlagenheit ſieht, die ſich aus ihren ge - genwaͤrtigen Empfindungen nicht erklaͤren laͤßt; ſo kann man daraus auf eine geheime Geſchaͤftig -41der Faͤhigkeiten. keit der Einbildungskraft ſchließen, die ihre Wir - kungen aͤußert, ohne uns die Mittel dazu zu ent - decken. Diejenigen, deren Ideen bloß von der gegenwaͤrtigen Empfindung beſtimmt werden, ha - ben auch niemals andere Leidenſchaften, als die aus ihrer wirklichen Verfaſſung und ihren Um - ſtaͤnden entſtehen. Wem aber die guͤtige Natur, außer der einen Welt, die ſie ſeinem Sinne vor - geſtellt hat, die Gabe verleiht, noch viele andere in ſich ſelbſt zu bauen, der verliert ſich oft von den Dingen, die ihn umgeben, mit ſeinen Begierden eben ſo wohl als mit ſeinen Gedanken, und ſeine Vergnuͤgungen und ſeine Schmerzen entſtehen nicht bloß aus der Lage, die er in dieſer Welt hat, ſondern auch aus der, welche er in der von ihm erdichteten annimmt.

In einem hoͤhern Alter hat man ſo viele Muͤhe nicht noͤthig, dieſe Kraft gleichſam auf der That zu ertappen und ſie bey ihrer geheimen Wirkſamkeit zu uͤberraſchen; man kann ſie als - dann dazu auffodern, und ihr ſelbſt die Arbeiten vorſchreiben, nach denen man ſie beurtheilen will. C 542Ueber die PruͤfungDie natuͤrlichſten Proben, die man machen kann, ſind die Erzaͤhlung und die Erdichtung ſelbſt. Es zeigt ſchon einen hohen Grad von Einbildungs - kraft an, wenn wir wirkliche Begebenheiten oder die Erdichtungen andrer gut beſchreiben koͤnnen; einen hoͤhern, wenn wir ſelbſt dieſe Begebenhei - ten erfinden. Ohne Einbildungskraft werden wir Perſonen, Sitten und Handlungen, wenn ſie uns auch vor Augen ſind, niemals in ein vollſtaͤndi - ges und aͤhnliches Bild faſſen, das dieſe Gegen - ſtaͤnde andern wieder kenntlich machte. Aber ohne einen weit hoͤhern Grad werden wir uns nicht neue Perſonen und Begebenheiten zuſammenſetzen, die in der Zeichnung richtig und der Natur aͤhnlich, und doch ohne Original waͤren. Warum muͤſſen alſo diejenigen Uebungen des Stils, die den faͤhi - gen Kopf am ſtaͤrkſten unterſcheiden, und dem mit - telmaͤßigen die meiſte Gelegenheit zum Unterrichte geben, warum muͤſſen dieſe bey der Erziehung am wenigſten gebraucht werden?

Dieß ſind die Aeußerungen dieſer Faͤhigkeit durch ihre Wirkungen; es giebt noch andre, die43der Faͤhigkeiten. mehr mit derſelben beyſammen zu ſeyn, als von ihr unmittelbar herzuruͤhren ſcheinen, und die eben deswegen nur mit den erſten verbunden den Schluß zuverlaͤßig machen.

Erſtens: Man findet oft bey Leuten von ei - ner ſtarken Einbildungskraft eine Art von Zer - ſtreuung und Abweſenheit von den Gegenſtaͤnden, die um ſie ſind. Die Einrichtung der Natur haͤlt zwiſchen dem dunkeln und dem hellen Theile un - ſrer Vorſtellungen ein beſtaͤndiges Gleichgewicht. Sobald die einen an Klarheit ſteigen, ſo ſinken die andern in eine tiefere Finſterniß; und jede An - naͤherung der Seele auf einen Gegenſtand iſt zu - gleich eine Entfernung von den uͤbrigen. Die Eindruͤcke alſo, die die aͤußern Gegenſtaͤnde durch die Sinne auf uns machen, werden in eben dem Grade ſchwaͤcher, in welchem andre Vorſtellungen, die ſchon in der Seele da ſind, ſtark ſind. Auf dieſe Art kann die Einbildungskraft ihre Bilder zuweilen ſo lebhaft und ſo ſtark machen, daß die Seele auf eine Zeitlang die Empfindungen ganz44Ueber die Pruͤfungvergißt, und ſich deſſen nicht bewußt wird, was um ſie herum vorgeht.

Zweytens: Die Faͤhigkeit der Seele, ſich durch ſich ſelbſt zu beſchaͤftigen, iſt ein noch ſiche - rers Kennzeichen von einer ſtarken Einbildungs - kraft oder Reflexion. Der Trieb zur Wirkſamkeit iſt der erſte und urſpruͤnglichſte in der menſchli - chen Seele, und vielleicht der Grund aller uͤbrigen. Wenn die Seele alſo in ſich und in ihren eignen Bildern oder Ideen fuͤr ihre Beſchaͤftigungen keine Gegenſtaͤnde findet, ſo ſucht ſie darnach außer ſich, und ohne einen neuen Zufluß von Empfin - dungen, geraͤth ſie in den Stand der Unthaͤtigkeit, der unter dem Namen von Langeweile ſo bekannt und ſo quaͤlend iſt. Wer alſo, ſobald ſeine Ge - ſchaͤfte geendigt ſind, unmittelbar nach Geſell - ſchaft, nach Zerſtreuungen und nach Vorrath von neuen Eindruͤcken ſchmachtet; wer nicht mehr den - ken kann, ſobald ſeine Augen und ſeine Ohren nicht angefuͤllt ſind, der muß ſelbſt wenig Ideen hervorzubringen wiſſen. Um deswillen liebt der Poͤbel alle Schauſpiele, nicht weil ſie ſchoͤn ſind,45der Faͤhigkeiten. ſondern weil ſie ihn beſchaͤftigen; ein Seiltaͤnzer ſezt auf einige Augenblicke ſeine ſchwache Seele in eine Bewegung, die er ihr ſelbſt nicht zu geben weiß, und die ihm angenehm iſt.

Um ſo viel groͤßer das Vermoͤgen der Seele iſt, ſich ſelbſt alte Bilder wieder zu erneuern, oder dieſelben durch neue und noch nicht angeſtellte Verknuͤpfungen reizender zu machen, um ſo viel mehr kann ſie des beſtaͤndigen Anſtoßes von außen entbehren. Um deswillen haben von je her die Dichter die Einſamkeit und die Einoͤde geliebt; nicht weil ſie Feinde des Vergnuͤgens oder der Ge - ſellſchaft waren; ſondern weil ſie ſich das Vergnuͤ - gen, das andre in der Geſellſchaft ſuchen, und das ſie ohne Huͤlfe der Sinnen nicht erhalten koͤnnen, durch ihre eigne Einbildungskraft zu verſchaffen wußten

Endlich eine gewiſſe Abneigung und Unfaͤhig - keit bey Begriffen, wo keine Bilder ſind, und ein ſchneller Fortgang in allem, wobey es auf die rich - tige Vorſtellung eines Bildes ankoͤmmt, iſt das lezte aͤußere Kennzeichen.

46Ueber die Pruͤfung

Man hat angemerkt, daß eine ſehr große Richtigkeit und Correction in den Werken des ju - gendlichen Witzes gemeiniglich das Zeichen eines geringen Genies iſt. Man koͤnnte eben ſo uͤber - haupt ein zu fruͤhzeitiges Nachdenken und abſtracte Betrachtungen zu einer Zeit, wo die Seele noch mehr empfinden als denken ſollte, zum Zeichen ei - ner ſchwaͤchern Seele annehmen. Nach der Ord - nung der Natur entwickelt ſich die Einbildungs - kraft zuerſt, der Verſtand hernach. So wie alſo bey gewiſſen Koͤrpern, die zu ſchnell zur Reife kom - men, der Bau ſchwach und die Kraft klein iſt: ſo ſind die Seelen, die nicht mit der gehoͤrigen Lang - ſamkeit eine Faͤhigkeit nach der andern entwickelt und ausgebildet haben, beſtaͤndig mittelmaͤßig. Ein Kind alſo, welches von einer ſchoͤnen Fabel entzuͤckt wird, und bey einem eben ſo ſchoͤnen Be - weiſe gaͤhnt; das voll Munterkeit und Aufmerk - ſamkeit iſt, wann es die Geſchichte auf einem gu - ten Kupferſtiche oder Gemaͤlde erklaͤren hoͤrt, und verdroſſen und zerſtreut wird, ſobald man ihm all - gemeine Wahrheiten vortraͤgt; das in ſeinen47der Faͤhigkeiten. Spielen Erfindſamkeit, und in den Lernſtunden Unfaͤhigkeit zeigt, wuͤrde mir weit mehr Hofnung machen, als ein andres, das eine ganze Moral mit der groͤßten Geduld und der ſcheinbarſten Auf - merkſamkeit anhoͤrt, und in der Grammatik eben ſo gern lieſt, als im Robinſon.

IV. Aus dieſen Materialien nun endlich, die die Empfindung herbeygeſchafft, das Gedaͤchtniß bewahrt, die Einbildungskraft geſammlet hat, er - baut die Vernunft das Syſtem allgemeiner Be - griffe, nach denen der Menſch ſich und ſeine Ge - ſchaͤfte regieret.

Dieſe Frage iſt alſo ohne Zweifel die wichtigſte, und die erſt ſpaͤt und faſt nur vom Menſchen ſelbſt zu beantworten iſt: Wie ſtark iſt in der Seele die Faͤhigkeit nachzudenken, und durch welche Merk - male kann man ſie erkennen?

Zuerſt alſo wieder: Was iſt der Verſtand, und wie vielfach ſind ſeine Geſchaͤfte? Die Aus - breitung der Philoſophie hat dieſe Begriffe ſo be - kannt gemacht, daß man nur darauf zuruͤckzufuͤh - ren braucht, ohne ſie zu erklaͤren.

48Ueber die Pruͤfung

Jede Empfindung bezieht ſich auf einen ein - zelnen Gegenſtand. Wenn alſo die Empfindung die einzige Art von Vorſtellungen iſt, ſo muß ſie entweder ſo weit ausgebreitet ſeyn, wie die Na - tur ſelbſt; alsdann wuͤrde ſie die allgemeinen Be - griffe unnoͤthig machen, aber ſie iſt nur eine Ei - genſchaft der Gottheit; oder ſie iſt nur auf Einen Gegenſtand eingeſchraͤnkt, alsdann macht ſie allen Fortgang der Erkenntniß unmoͤglich, und iſt das Unterſcheidende des Thiers. Um alſo unſrer Ein - ſchraͤnkung zu Huͤlfe zu kommen, mußten wir die Geſchicklichkeit erhalten, die unendliche Menge von einzelnen Gegenſtaͤnden, die ſich uns nach und nach durch die Sinnen darſtellen, unter gewiſſe Klaſſen und gleichſam in große Gruppen zu brin - gen, wir mußten ein Mittel haben, aus unſern Empfindungen, die fuͤr ſich abgeſonderte und im - mer neue Ganze ausmachten, einen gewiſſen Theil herauszuziehen, der der Seele zuruͤckbliebe, wenn die Empfindung ſelbſt ſchon lange vergeſſen waͤre; und die unermeßliche Mannichfaltigkeit von Ei - genſchaften, die mit jedem einzelnen Dinge ſich49der Faͤhigkeiten. der Seele zeigen, mußten ſich auf eine kleine An - zahl von ſolchen einſchraͤnken laſſen, die ſich oft wieder finden, und die alſo eine immer wieder - holte Erfahrung erſparen: dieſes Mittel iſt die Abſtraktion.

Alſo, mehrere Empfindungen mit einander vergleichen, das, was in ihnen aͤhnlich iſt, be - merken, dieſes in einen Begriff ſammlen, und das Uebrige alles, was unaͤhnlich war, weglaſſen, das heißt Abſtrahiren; und dieſes mehrmals wieder - holt, heißt Nachdenken; oder weil bey uns die Sprache ſchon eher, dieſe abſtrakten Begriffe mit Worten verbunden, der Seele liefert, ehe ſie ſelbſt noch zur Abſtraktion faͤhig iſt: ſo beſchaͤftigt ſich nunmehr die Vernunft zuerſt damit, die Bedeu - tung der Worte zu beſtimmen, und die wahre all - gemeine Idee aufzuſuchen, von welcher das Wort ein Zeichen ſeyn ſoll.

Die Erlernung der Sprache haͤngt alſo mit der Vernunft zuſammen, als ein Mittel; und der richtige Gebrauch derſelben haͤngt davon ab, als Wirkung.

D50Ueber die Pruͤfung

Man findet indeſſen hier doch einen ſehr merk - lichen Unterſchied.

Wer durch Worte denken und ſich ausdruͤcken ſoll, muß allgemeine Begriffe haben, das iſt klar; denn die Worte bezeichnen keine andre. Aber die Seele kann dieſe Begriffe auf eine doppelte Art haben. Entweder ſucht ſie nur in den einzelnen Faͤllen den Begriff auf, und begnuͤgt ſich, wenn ſie in jedem vorkommenden neuen Falle dieſe Merkmale wiedererkennen und den Begriff anwen - den kann: oder ſie ſammlet dieſe Merkmale in eins, bezeichnet jedes mit einem Worte, und be - muͤht ſich, den allgemeinen Begriff abgeſondert von den Faͤllen, aus denen er abgezogen iſt, vor - zuſtellen. Der erſte macht ſich das Wort und die Vorſtellung deutlich, indem er eine geſchwinde dunkle Ueberſehung der Faͤlle anſtellt, in denen es gebraucht wurde; der andere, indem er eine Er - klaͤrung davon macht.

Man koͤnnte jenes den praktiſchen, und dieſes den theoretiſchen Verſtand nennen.

51der Faͤhigkeiten.

Der praktiſche Verſtand haͤngt mit der Einbil - dungskraft zuſammen, oder iſt vielmehr nur eine beſondere Anwendung derſelben. Ihr Werk iſt es, der Seele zugleich mit dem Worte die Faͤlle her - beyzubringen, aus deren ſchneller und ihr ſelbſt unbewußter Vergleichung ſie jedesmal den Begriff von neuem hervorbringt.

Die Kennzeichen von beiden werden ſich alſo einander ſehr aͤhnlich ſeyn.

Erſtens: Leute von dieſer Art koͤnnen ſich ſehr wenig uͤber Sachen erklaͤren, die ſie doch recht gut verſtehen, und die ſie recht gluͤcklich ausfuͤh - ren, wenn ſie ſie unternehmen. Der Grund iſt augenſcheinlich. Zur Erklaͤrung gehoͤren Worte, zu dieſen Merkmale, die von ihren Gegenſtaͤnden abgeſondert, und ohne ſie gedacht und bezeichnet worden, kurz gerade das, durch deſſen Mangel dieſe Art von Verſtande ſich unterſcheidet. Man kann uͤberhaupt zwey Arten von Menſchen in der Welt bemerken. Einige wiſſen vortreflich von Sachen zu ſprechen, und koͤnnen ihre ganze Theo - rie mit Genauigkeit und Deutlichkeit vortragen,D 252Ueber die Pruͤfungdie ihnen doch mißlingen, ſobald ſie die Hand daran legen. Andere reden wenig und verwirrt, und bringen ſie zu Stande.

Man thut ſehr unrecht, wenn man die erſten als Schwaͤtzer, und die andern als bloße Hand - werker anſieht.

Die Faͤhigkeiten, die ſie zu dem machen, was ſie ſind, ſind von der Natur ſelbſt unterſchieden. Der Philoſoph, der erklaͤrt, vergißt uͤber den Merkmalen, die er ſammlet, die individuellen Um - ſtaͤnde der Faͤlle, die doch in der Ausuͤbung muͤſ - ſen mit zu Rathe gezogen werden, und ſie verun - gluͤckt ihm alſo. Der Kuͤnſtler, welcher arbeitet, findet in dem Bilde, das ihm anſtatt der Erklaͤ - rung gegenwaͤrtig iſt, alle dieſe kleinen Umſtaͤnde; aber er kann aus dieſem Bilde nicht die einigen, wenigen Theile herausnehmen, die das Uebrige wuͤrden kenntlich machen: er kann alſo ſich nicht erklaͤren, als indem er die Sache zeigt. Wenn die erſten beſtaͤndig zum Erklaͤren und die andern zum Ausuͤben beſtimmt wuͤrden, ſo wuͤrde die Welt53der Faͤhigkeiten. richtige Theorien und vortrefliche Werke zugleich erhalten.

Zweytens. Ein ander Zeichen eines ſolchen praktiſchen Verſtandes iſt die genaue Beobachtung des Schicklichen; die Uebereinſtimmung in ſeinen Reden und Handlungen mit der Zeit, dem Orte und den Verhaͤltniſſen der Perſonen; mit einem Worte, eine gewiſſe groͤßere Aufmerkſamkeit auf alles, was zum menſchlichen Leben gehoͤrt. Man ſieht viel junge Leute, die dieſe Gabe vollkommen beſitzen, und deren Fortgang in den Wiſſenſchaf - ten ſehr geringe iſt, die deswegen von der Welt und beſonders von Leuten ihres Alters hervorge - zogen und von ihren Lehrern verachtet werden. Die Urſache iſt die: Zu dieſer Klugheit des geſell - ſchaftlichen Lebens iſt eine ſchnelle Ueberſehung einer Menge von Gegenſtaͤnden auf einmal, aber nicht die Ergruͤndung eines einzigen noͤthig. Die Seele muß ihre Aufmerkſamkeit zwiſchen ſehr vie - len Dingen zu theilen, oder ſie muß ſich vielmehr von dem Ganzen ein richtiges Bild bis auf alle Kleinigkeiten zu machen wiſſen: aber ſie hatD 354Ueber die Pruͤfungnicht noͤthig, dieſe kleinen Umſtaͤnde, die ſie bloß empfindet, und nach denen ſie ſich richtet, in Ge - danken von den uͤbrigen zu trennen und auszu - druͤcken.

Und dieß iſt drittens eben die Urſache, warum dieſe Art von Koͤpfen weit eher zur Reiſe zu kom - men ſcheint, als die andern. Ihr Verſtand er - ſcheint zugleich mit ihrer Einbildungskraft, und dieſe iſt eine unmittelbare Wirkung der Empfin - dungen. Ueberdieß finden ſie jeden Angenblick und allenthalben Gegenſtaͤnde, an denen ſie ihn uͤben; die Zerſtreuungen und Zeitvertreibe, die den Fortgang der uͤbrigen Faͤhigkeiten verzoͤgern, ſind ſo viele Gelegenheiten, dieſe zu ſchaͤrfen. Man wird alſo weit zeitiger von dieſer Art von Faͤhigkeit urtheilen koͤnnen. Ein junger Menſch, der im Umgange artig, in Geſellſchaft klug und vorſichtig, in Ausrichtung kleiner Geſchaͤfte ge - ſchickt und gluͤcklich, aber ohne ſonderlichen Ge - ſchmack und Talente fuͤr die eigentlichen Wiſſen - ſchaften iſt; ein ſolcher junger Menſch hat die Art von Verſtand, davon wir reden.

55der Faͤhigkeiten.

Viertens. Ein hoͤherer Grad dieſes Verſtan - des bringt die Gabe der Vorherſehung hervor, die wir ſchon oben genannt haben, und die das ei - gentliche Talent zu Geſchaͤften ausmacht. Die Zukunft liegt in dem Gegenwaͤrtigen eingewickelt. Man muß dieſes ganz uͤberſehen koͤnnen, um jene darinn zu finden. Wirkungen kann man nur aus ihren Urſachen kennen: aber dieſe ſind oft in ſo vielen Dingen zerſtreut; viele davon ſo klein, ſo unmerklich, und doch in der Zuſammenkunft ſo erheblich, daß es unmoͤglich iſt, ſie zu bemerken, wenn man ſie ſich nicht anders als deutlich den - ken kann. Ein Kopf, der immer zergliedern und ſchließen muß; deſſen Faͤhigkeiten nur die Dinge von derjenigen Seite faſſen, von der ſie ſich deut - lich machen laſſen; wird dieſe kleinen Umſtaͤnde uͤberſehen, er wird ſich bloß an die Hauptſachen halten, dieſer ihre Kraͤfte unterſuchen, und ſo ge - nau er immer dieſe kann abgemeſſen haben, einen falſchen Erfolg herausbringen. Das iſt die ei - gentliche Graͤnzſcheidung zwiſchen Theorie und Praxis. Die erſte nimmt keine andern als dieD 456Ueber die Pruͤfunggroͤßten, die in die Augen fallendſten Urſachen, und dieſe ergruͤndet ſie voͤllig; die andere nimmt alle Umſtaͤnde zuſammen, aber bloß in einem Bil - de. Wer alſo auf dieſe anſchauende Art denken kann, weſſen Seele eine Menge verwickelter Bege - benheiten zugleich zu umfaſſen im Stande iſt, weſ - ſen Beobachtung ſo genau iſt, daß er unter der Menge doch nicht die kleinſten Umſtaͤnde uͤberſieht; wer endlich alle dieſe Beobachtungen ſo ſchnell und ſo fertig anwenden kann, daß er augenblick - lich aus ihnen den Erfolg zieht, ohne ſich ſelbſt ſeines Schluſſes bewußt zu ſeyn: das iſt der Mann, der den entſcheidenden Augenblick in der Schlacht oder im Kabinet treffen wird, und deſ - ſen Entſchluͤſſe zugleich ſchnell und ſicher ſeyn werden.

Eben daher ruͤhrt bey dieſen Leuten die feſte Ueberzeugung, mit der ſie die Gewißheit eines Er - folgs vorherſehen, deſſen Gruͤnde ſie doch nicht angeben koͤnnen. Dieſe Gruͤnde liegen in dem Bilde, was ſie haben, und dieſes Bild koͤnnen ſie niemand mittheilen, weil Worte nur immer ge -57der Faͤhigkeiten. wiſſe Theile, niemals den ganzen Eindruck be - zeichnen. Plato ſezt deswegen die Staatsmaͤnner und den Wahrſager in eine Klaſſe, und leitet bey beiden dieſe Gabe, das Zukuͤnftige ohne Schluͤſſe zu entſcheiden, (weil ſich die Wirkungen der Seele dabey nicht erklaͤren laſſen,) von dem Einfluſſe ei - ner hoͤhern Macht her; denn, ſagt Sokrates, daß dieſe Gabe nicht unter die Wiſſenſchaften gehoͤret, ſehen wir augenſcheinlich. Wem wuͤrden Perikles und Themiſtokles eher dieſe Kunſt gelehrt haben, wenn ſie ſich lernen ließe, als ihren Soͤhnen, die doch ohne Anſehn und Einfluß in Griechenland waren?

Fuͤnftens. Dieſe Art von Verſtand macht endlich, daß der Menſch uͤber Begebenheiten, Per - ſonen und Handlungen richtige Urtheile faͤllen kann, unerachtet er verlegen iſt, wenn er die Ei - genſchaften, die er den Dingen beylegt, erklaͤren, oder die Gruͤnde anfuͤhren ſoll, warum ihnen die - ſelbe zukommen. Er iſt deswegen ein genauer Beobachter der Unſchicklichkeit in dem Betragen anderer, empfindet das Laͤcherliche leicht und ge -D 558Ueber die Pruͤfungſchwind, und wird alſo zur Satyre oder zur Spoͤt - terey mehr als andre Koͤpfe aufgelegt ſeyn. Eben dieſer Geiſt der Beobachtung, der ihn faͤhig macht, ſelbſt alle dieſe kleinen Verhaͤltniſſe zu wiſſen, um ſie zu beobachten, macht ihn auch zu - gleich aufmerkſam, wenn andre ſie aus den Au - gen ſetzen.

Das Laͤcherliche iſt das Ungereimte in Klei - nigkeiten. Eine Seele, die nur immer auf das Große, auf gewiſſe Hauptbegriffe, auf ganze Summen von Merkmalen geht, uͤberſieht dieſe kleinen Mishelligkeiten oder vergißt ſie augenblick - lich. Von dem andern, der nicht uͤber die Sa - chen gruͤbelt, ſondern ſie nur anſieht, werden ſie gefaßt und behalten. Die Seele des erſten iſt ein Maler, der die großen Zuͤge allein abſon - dert, und durch ſie das Bild entwirft; die Seele des andern iſt ein Spiegel, der die Sache ganz, wie ſie iſt, mit allen ihren kleinſten Flecken dar - ſtellt.

Die andere Gattung von Verſtande, die raͤ - ſonnirende, wenn ich ſo ſagen darf, gehoͤrt ei -59der Faͤhigkeiten. gen tlich fuͤr die Wiſſenſchaften, und verdient alſo am meiſten unſre Aufmerkſamkeit. Sie iſt nichts anders als ein philoſophiſches Genie, ein gewiſ - ſer Trieb, der zugleich mit Faͤhigkeit verbunden iſt, das Individuelle aufs Allgemeine zuruͤckzu - fuͤhren, und dieſes Allgemeine zu einem abgeſon - derten Gegenſtande ſeiner Betrachtung zu ma - chen.

Dieſe Faͤhigkeit aͤußert ſich zuerſt dadurch, daß die Seele, die ſie beſizt, indem ſie durch die Sprache die Anzahl von Begriffen erhaͤlt, die un - gefaͤhr den Umfang deſſen ausmachen, was man bon ſens oder den Menſchenverſtand nennt, ſich nicht dabey beruhigt, dieſe Begriffe bloß klar zu haben, ſondern von jedem Worte Beſchreibung und Erklaͤrung verlangt. Jede Seele iſt bemuͤht, Gedanken in ſich hervorzubringen; es iſt alſo na - tuͤrlich, daß, wenn ſie ein Zeichen von einer Sache bekoͤmmt, die ſie ſo ſehr wuͤnſcht, ſie dieſe Sache ſelbſt ſucht. Die Einbildungskraft kam den Koͤ - pfen von der erſten Art in dieſem Falle zu Huͤlfe, und ſtellte ihnen geſchwind einen einzelnen Fall,60Ueber die Pruͤfungeine Begebenheit vor, wo dieſes Wort hingehoͤrte, und gab ihnen alſo fuͤr eine Idee ein Bild. Aber bey unſrer Gattung von Koͤpfen iſt die Einbil - dungskraft weder ſtark noch ausgebreitet, alſo kann die Seele ſich den Begriff des Worts nicht durch die Erinnerung der Faͤlle aufklaͤren; ſie wuͤnſcht alſo die Beſtimmungen, die in den Faͤllen liegen, und die eigentlich allein zu dieſem Worte gehoͤren, ſchon abgeſondert, ſchon aus ihrer Ver - wickelung mit dem Uebrigen herausgehoben, ſchon mit einander zuſammengeſezt.

Mich deucht, ich brauche nicht erſt auf eine Erfahrung zuruͤckzufuͤhren, die alle Tage gemacht werden kann. Einige Kinder fodern von jedem neuen Worte eine Erklaͤrung, und dieſe fuͤhret ſie erſt zur Aufmerkſamkeit auf die Sache. Die andern beobachten ganz in der Stille, und ken - nen ſchon die Sache eher, zu der das Wort ge - hoͤrt, ehe man ihnen noch das Wort ſelbſt geſagt hat.

Die Folge alſo hieraus muß gerade die ent - gegengeſezte von derjenigen ſeyn, die wir oben61der Faͤhigkeiten. aus einem entgegenſtehenden Grunde zogen. Dieſe Faͤhigkeit muß ſich viel ſpaͤter entwickeln, weil zu der erſten nur Empfindung und Erinne - rung, zu dieſer eine wiederholte Vergleichung und eine langſame Sammlung der Aehnlichkeiten ge - hoͤrt. Ein Kind von dieſer Art kann alſo in den erſten Jahren ſehr leicht ein Dummkopf zu ſeyn ſcheinen. Abſtraktionen hat es noch nicht Zeit genug gehabt zu machen, und die Einbildungs - kraft erſetzet bey ihm dieſen Mangel nicht durch die Erinnerung der Faͤlle. Um eben dieſes Be - duͤrfniſſes willen verlangt es Erklaͤrungen; weil es ſonſt bey dem Worte nichts als einen leeren Schall hoͤrt. Die Seele iſt alſo in dieſer Zeit be - ſtaͤndig wirkſam, aber ihre Arbeit iſt noch unvoll - endet; und erſt der Erfolg kann entſcheiden, ob ihre Kraft ſich nur deswegen verbarg, weil ſie in - nerlich geſchaͤftig war, oder weil ſie durch ihre Schwaͤche eingeſchraͤnkt wurde.

In allen Sachen, wo es keine Abſtraction durch Worte giebt, iſt der Fortgang eines ſolchen Kopfs langſam. Alle dieſe Begriffe, die die Seele62Ueber die Pruͤfunganders nicht als klar denken kann, die mehr ge - fuͤhlt als geſagt werden koͤnnen, kommen bey ihm ſpaͤt und ſind ſelten richtig genug. Hinge - gen alles, wo ſich die Merkmale von dem Dinge abſondern, wo ſie ſich unter einen Begriff und in ein Wort faſſen laſſen, kurz, was ſich erklaͤren und lehren laͤßt, begreift er ſchnell, und iſt in kur - zem im Stande, es wieder mitzutheilen.

Der Geſchmack iſt ein dunkles Gefuͤhl des Schoͤnen. Einige Theile davon laſſen ſich in Be - griffe aufloͤſen, und ſind deswegen der Erklaͤrung und einer Theorie faͤhig; andre aber ſind zu ſehr im Ganzen verſtreut, zu vielfach und zuſammen - geſezt, als daß ſie gedacht werden koͤnnten, wenn man ſie nicht mehr empfindet. Die Art von Gei - ſtern, von der wir reden, werden alſo mit der er - ſten Gattung von Schoͤnheiten weit leichter be - kannt werden, als mit der lezten; wo ihr Gefuͤhl durch kein Raͤſonnement geleitet oder unterſtuͤtzet werden kann, wird es mangelhaft oder unſicher ſeyn; ſie werden als Kunſtrichter die Erfindung und die Anordnung eines Gedichts, die Richtig -63der Faͤhigkeiten. keit der Bilder und die Genauigkeit des Ausdrucks geſchwinder einſehen, als die feinen Schoͤnheiten der Harmonie, die Uebereinſtimmung des Ganzen, oder den Ton, der uͤberhaupt darinne herrſcht. Von einem Gemaͤlde werden ſie die dichteriſchen Schoͤnheiten weit eher als die mechaniſchen fin - den; der Ausdruck der Leidenſchaften wird von ih - nen beſſer bemerkt werden, als die Wirkungen des Lichts oder die Harmonie der Farben; und ihre Entſcheidung wird oft von des Malers ſeiner un - terſchieden ſeyn.

Unter dieſe Sachen, die nicht erklaͤrt, ſondern nur gefuͤhlt werden koͤnnen, wie ſie ſeyn muͤſſen, gehoͤren faſt die ganzen Geſetze des Wohlſtandes und der Lebensart; die Klugheit in den Geſchaͤf - ten des taͤglichen Lebens; die beſtaͤndige Ruͤckſicht bey allem, was man ſagt oder thut, auf die Cha - raktere, die Verhaͤltniſſe und die Umſtaͤnde der Perſonen, mit denen man zu thun hat. In die - ſem allem wird unſer junger Philoſoph von dem bloß gemeinen Verſtande des andern uͤbertroffen werden.

64Ueber die Pruͤfung

Dieſes hat noch eine andre Folge. Er wird ſich mit dem allgemeinen Geſpraͤche in einer groſ - ſen Geſellſchaft ſchlecht behelfen, und wird doch in einer Unterredung mit einer einzelnen Perſon, wo eine beſtimmte Materie der Vorwurf iſt, vor - treflich ſeyn koͤnnen. Bey dem erſten iſt ein Ge - miſch von tauſend abgebrochenen und zerſtuͤckten Gedanken, ein beſtaͤndiger Uebergang von einem Gegenſtande zum andern. Man will durchaus nichts ergruͤndet, ſondern alles nur beruͤhrt ha - ben. Jede Idee, die vorgebracht wird, muß, ſo zu ſagen, auf der Oberflaͤche des Dinges liegen, von der ſie genommen iſt; der Zugang zu ihr muß leicht ſeyn, und ſie muß eben ſo geſchwind begrif - fen als verlaſſen werden koͤnnen. Unſer guter Philoſoph wird nun hierbey nicht bloß durch die Mannichfaltigkeit der Vorwuͤrfe uͤberhaͤuft; ſon - dern er bleibt auch bey ihrem ſchnellen Fortgange zuruͤck; man laͤßt ihm nicht Zeit, ſeine Betrach - tungen vorzubringen, oder wenn er ſie geſagt hat, ſo ſind ſie fuͤr die uͤbrigen weder einleuchtend noch treffend; ſie hoͤren ſie alſo mit Kaltſinnigkeit65der Faͤhigkeiten. an, und geben ihm wenig Gelegenheit, ſie zu wie - derholen. Alles dieſes iſt in einer geheimen Un - terredung veraͤndert; der Gegenſtand iſt einfa - cher, und man haͤlt laͤnger bey demſelben aus; uͤberdieß hat man mehr die Abſicht, zu unterſu - chen. Der andre findet alſo nunmehr, da er ſich die Zeit nimmt nachzudenken, die Betrach - tung des philoſophiſchen Geiſtes richtig, aber feiner, als er ſie ſelbſt wuͤrde gemacht haben, und nun entſteht die Achtung aus eben den Urſa - chen, um deren willen er vorher vernachlaͤßiget wurde.

Im Ganzen genommen aber muß die erſte Art von Verſtand den Menſchen zur Geſellſchaft geſchickter machen, als die zweyte. Helvetius ſagt: Die gewoͤhnlichſte Materie des Geſpraͤchs in der Welt iſt von Perſonen und Begebenheiten, nicht von Sachen. Der angenehme Menſch in der Geſellſchaft iſt alſo der, der durch einen ſehr ausgebreiteten Umgang viele Perſonen und ihre Umſtaͤnde kennt, und zwar gerade die Perſonen, von denen der Geſellſchaft daran gelegen iſt, et -E66Ueber die Pruͤfungwas zu wiſſen. Wenn er ſeine Erzaͤhlungen mit etwas Witz vermiſcht, wenn er noch dabey den Leidenſchaften der Anweſenden zu ſchmeicheln, und ihre Geſinnungen gegen die Perſonen, von denen er ſpricht, zu errathen und anzunehmen weiß, ſo iſt er vollkommen. Und dieß iſt gerade alles das, was unſerm Manne fehlt. Er hat nicht den Be - merkungsgeiſt, um ſich von ſo viel Kleinigkeiten, als dabey noͤthig ſind, zu unterrichten; nicht das Gedaͤchtniß, ſie ſich einzupraͤgen; nicht die Ein - bildungskraft, um ſie vorzutragen; endlich nicht die praktiſche Urtheilskraft, ob das, was er ſagt, den Perſonen, die es hoͤren, angenehm oder ver - druͤßlich ſeyn werde.

Aber eben aus dieſem Geiſte der Zergliede - rung folgt, daß, wenn ſich dieſer Kopf einmal entwickelt hat, er ſich durch ſeine Werke weit rich - tiger abmeſſen laͤßt. Er wird das, was er weiß, allemal ausdruͤcken und mittheilen koͤnnen. Sei - ne Begriffe muͤſſen ſchlechterdings entweder voͤl - lig entwickelt oder dunkel ſeyn. Die bloße Klar - heit des Anſchauens, die die Gegenſtaͤnde in der67der Faͤhigkeiten. Seele erleuchtet, ohne ſie aufzuloͤſen, iſt fuͤr ihn nicht gemacht. Was er alſo nicht zu ſagen weiß, davon hat er auch gewiß keine Vorſtel - lung.

Die reine Mathematik iſt ein rechter Probier - ſtein fuͤr dieſe Koͤpfe. Da ſie faſt die einzige Wiſ - ſenſchaft iſt, wo nur eine Idee, (die Idee der Groͤße,) durchaus entwickelt wird; da in ihr nir - gends Einbildung, aber allenthalben Verſtand herrſcht; da hier das Nachdenken durch keine von den Schwierigkeiten aufgehalten wird, die in der Philoſophie den Fortgang ſo langſam und oft die Schritte ſo unſicher machen: ſo muß dieſe Wiſſen - ſchaft dieſer Art von Verſtande angemeſſen ſeyn. Wer alſo bey ihrer Erklaͤrung die Beweiſe leicht einſieht, dem Lehrer in ſeinen Schluͤſſen zuvor - koͤmmt, und zuweilen von dem Satze, der vorge - tragen wird, ſchon die Beweiſe vorherſieht, der hat dieſen Verſtand gewiß. Sollte dieß nicht ein Grund mehr ſeyn, warum die Mathematik ſehr bequem waͤre, um damit den Unterricht eines kuͤnf - tigen Gelehrten anzufangen?

E 268Ueber die Pruͤfung

Dieſe Koͤpfe unterſcheiden ſich gemeiniglich im Umgange noch durch ein ander Merkmal. Sie ſind beſtaͤndig damit beſchaͤftigt, von allen Bege - benheiten die Urſachen anzugeben, dahingegen die andern ſich mit der bloßen Wirklichkeit der That - ſache und mit der Kenntniß der Umſtaͤnde beru - higen. Die erſten haben nicht ſo bald einen Vor - fall aus der phyſiſchen oder ſittlichen Welt ge - hoͤrt, ſo fangen ſie ſchon an ihn zu erklaͤren; die andern ſuchen an ſtatt der Erklaͤrung lieber meh - rere Nachrichten, oder wenn ihnen die, welche ſie haben, hinreichen, ſo ſuchen ſie lieber wieder eine neue Begebenheit, als die Urſache der alten auf. Die erſten wiſſen mit einer bloßen Thatſache nichts anzufangen, wenn ſie ſie nicht gleich auf ihre Moͤglichkeit zuruͤckfuͤhren, ſie mit ihren Grund - ſaͤtzen in Verbindung bringen, und daraus entwe - der ihre alten Begriffe beſtaͤtigen, oder neue abzie - hen koͤnnen. Die andern verlangen nichts als ein getreues und vollſtaͤndiges Bild von der Sache; das Anſchauen deſſelben lehret ſie alsdann auf kuͤnftige Faͤlle eben das, was jenen ſeine Schluͤſſe. 69der Faͤhigkeiten. Wenn die Klugheit nicht dieſe Neigung des Philo - ſophen alles zu erklaͤren einſchraͤnkt, ſo wird er der Geſellſchaft beſchwerlich und ſelbſt in den Wiſ - ſenſchaften unnuͤtz.

Man kann zuweilen die Faͤhigkeiten der Seele durch ihre Fehltritte erkennen; oder vielmehr, ge - wiſſe Faͤhigkeiten ſind einer unrechten Anwendung ſo ſehr unterworfen, daß man bey aller Ueberzeu - gung, daß man ſie beſitzt, doch noch mit einer großen Behutſamkeit von der andern urtheilen muß. Z. E. weil dieſen Koͤpfen der ſchleichende Gang von einer Erfahrung zur andern, um daraus endlich durch vielfaͤltige Beobachtungen und im - mer neue Vergleichungen die abſtracten Begriffe zu ſammlen, oft zu langſam iſt: ſo iſt ihre Me - thode, aus einem einzelnen Falle, oder aus weni - gen, den allgemeinen Begriff herauszuziehn, und nun ohne Anſtand aus dieſem Begriffe die uͤbrigen Faͤlle zu erklaͤren.

Dieſes iſt es, was die Syſtemmacher hervor - gebracht hat, die aus einzelnen Beobachtungen gleich Geſetze der Natur machen, und durch eineE 370Ueber die Pruͤfungeinmal zug〈…〉〈…〉 troffne Hypotheſe alle Erſcheinungen der Welt erklaͤren; die eingeſchraͤnkten Kunſtrich - ter, die die freye Wahl des erſten Genies in eine Regel fuͤr alle kuͤnftige verwandeln, und dem Ver - gnuͤgen verbieten, aus andern Quellen zu fließen, als aus denen ſie es ſchon gekoſtet haben; die ein - ſeitigen Moraliſten, die immer die menſchliche Na - tur und die ihrige vermiſchen, und alle Erfahrun - gen unter das Joch der Grundſaͤtze bringen, die gar nicht mit Huͤlfe dieſer Erfahrungen waren ge - macht worden.

Ein andrer Abweg dieſer Koͤpfe iſt das Sub - tiliſiren. Sobald der Zergliederer Koͤrper theilen will, die entweder zu dicht ſind und zu feſt zuſam - menhaͤngen, um ſich trennen zu laſſen, oder zu klein, um gefaßt zu werden; ſo iſt ſeine Kunſt ver - geblich. Und wenn der Philoſoph Begriffe aufloͤ - ſen will, die entweder zu verwickelt und zu indi - viduell ſind, um einer andern Erklaͤrung als des Vorzeigens faͤhig zu ſeyn; oder zu einfach und ſchon zu weit zergliedert, um noch eine neue Auf - loͤſung zuzulaſſen; ſo iſt ſeine Arbeit nicht bloß71der Faͤhigkeiten. vergeblich, ſondern auch ſchaͤdlich. Eine ſolche hat zuerſt die Vernunftlehre mit Sophismen, und die ganze Philoſophie mit Spitzfuͤndigkeiten ange - fuͤllt, ſie hat die Erklaͤrungen eingefuͤhrt, die dunk - ler als die erklaͤrte Sache ſind, und den Geiſt des Weiſen durch Beweiſe geblendet, die in einer an - dern Form der bloße natuͤrliche Verſtand wuͤrde fuͤr abgeſchmackt erkannt haben.

Aber nun noch einmal zu unſerm richtig phi - loſophirenden Juͤnglinge zuruͤck, der dieſe Abwege vermeidet. Er wird ſich noch durch eine gewiſſe Methode in ſeinen Geſpraͤchen unterſcheiden; alle ſeine Gedanken werden einander untergeordnet, und die Verhaͤltniſſe, in denen ſeine Ideen fortge - hen, werden immer genauer und weſentlicher ſeyn. Aber eben deswegen ſcheinen ſeine Vorſtellungen oft ſeltſam, widerſinnig, oder mit dem Gegen - ſtande unzuſammenhaͤngend, entweder weil er ſei - ne Betrachtungen zu weit hinausgefuͤhrt hat, und der Gedanke, den er vorbringt, erſt durch viele Mittelglieder mit der gegenwaͤrtigen Sache oder Begebenheit zuſammenhaͤngt, die er oft zu ſagenE 472Ueber die Pruͤfungvergißt, und die die andern nicht ergaͤnzen koͤnnen; oder, weil er zu weit zu den Principien zuruͤckgeht, und ſeine Einbildungskraft erſt durch eine Menge von andern vorbereiten muß, deren Abſicht man nicht errathen kann.

So alſo zeigt ſich dieſe Faͤhigkeit in dem Um - gange und im geſellſchaftlichen Leben.

Die hoͤhern Verſtandskraͤfte und den Geiſt der Unterſuchung durch die gewoͤhnlichen Aeuße - rungen im geſellſchaftlichen Leben kennen zu ler - nen, iſt ſchwer, weil er hier außer ſeiner ei - gentlichen Sphaͤre iſt, und ihn viele Hinderniſſe entweder zuruͤckhalten oder unbrauchbar ma - chen; aber bey der Erlernung der Wiſſenſchaf - ten zeigt er ſich uneingeſchraͤnkt und unverdun - kelt.

Das erſte Merkmal eines verſtaͤndigen Lehr - lings iſt die Faͤhigkeit und die Neigung zu eignen Betrachtungen. Die Verſchiedenheit der menſch - lichen Geiſter bringt unausbleiblich auch in ihre aͤhnlichſten und uͤbereinſtimmendſten Begriffe eine gewiſſe Verſchiedenheit, ſobald nur dieſe Begriffe73der Faͤhigkeiten. nicht bloße Wiederholungen eines einzigen ſind. Von zwey Menſchen, die durchaus einerley uͤber eine gewiſſe Materie denken, hat gewiß nur Einer oder gar keiner gedacht; es muß ihnen ein frem - des Gepraͤge ſeyn aufgedruͤckt worden, ihre eigne Geſtalt wuͤrde Unaͤhnlichkeiten haben. Ein jun - ger Menſch alſo, bey dem ſich die Faͤhigkeit des Nachdenkens zuerſt entwickelt, wird ſeines Lehrers Unterſuchung mehr zur Gelegenheit als zum Mu - ſter ſeiner eignen brauchen. Wenn er mit ihm zuſammentrifft, ſo wird er die nunmehr erlernten Begriffe als die ſeinigen mit dem vollen Bewußt - ſeyn des Eigenthums annehmen und bewahren; wenn er von ihm abgeht, ſo wird er eben ſo dreiſt verwerfen, und wenn man ihn belehren will, reich an Zweifeln und Einwuͤrfen ſeyn. Man ſieht ſo oft, daß gute junge Koͤpfe ſtreitſuͤchtige Koͤpfe ſind. Wenn dieſer Widerſpruch die Folge von wirklich angeſtellten Unterſuchungen, und nicht die Abſicht derſelben iſt: wenn er bloß von einer freyen und durch kein Anſehen des Lehrers einge - ſchraͤnkten Beurtheilung herruͤhrt, ohne zuvorE 574Ueber die Pruͤfungſchon beſchloſſen worden zu ſeyn, ehe man noch gepruͤft hatte: ſo iſt er eine Uebung fuͤr den Schuͤ - ler und eine Probe ſeiner Faͤhigkeiten. In dieſem Fall giebt es, wie Plato ſagt, fuͤr die Irrenden keine andre Strafe, als die, belehrt zu werden. Aber wenn ſich die Eitelkeit darein miſcht, und man ſchon immer geneigt iſt, die entgegenſtehen - de Meynung anzunehmen, ehe man noch die Gruͤnde dazu gefunden hat; wenn man nun ſchon anfaͤngt, Irrthuͤmer zu wuͤnſchen, um ſie aufdecken zu koͤnnen: ſo kann die Streitſucht den Kopf verderben, den Faͤhigkeiten eine falſche Richtung geben, und das auf Spitzfuͤndigkei - ten und Diſputirkuͤnſte verwenden, was die Na - tur zur Erforſchung der Wahrheit beſtimmt hatte.

Die Erlernung der Sprachen iſt gemeiniglich unſer erſtes Studium; alſo wird ſie auch die erſte Gelegenheit fuͤr den Lehrer ſeyn, die Koͤpfe ſeiner Schuͤler zu unterſuchen. Ein Theil der Sprache iſt willkuͤhrlich, und kann bloß von dem Gedaͤcht - niſſe gefaßt werden; der andre iſt philoſophiſch,75der Faͤhigkeiten. und beruht auf den Verhaͤltniſſen der Begriffe. Von dem bloß nachdenkenden Geiſte wird der erſte ſchwer gefaßt; er hat nichts, woran er ſich hal - ten kann, und alles Vergoßne iſt verloren. Aber der andre wird ihm leicht; er koͤmmt geſchwind mit der Abſtraction gewiſſer allgemeinen Regeln der Anordnung und Verbindung der Begriffe zu Stande, die er, ohne es zu wiſſen, bey der Er - klaͤrung der Stellen zum Grunde legt, die er nicht nach den Bedeutungen aller einzelnen Woͤrter ver - ſteht; ein lebhaftes Gefuͤhl vom Zuſammenhange macht ihm beſtaͤndig das Unrichtige oder das Mangelhafte ſeiner Erklaͤrungen merklich, und hilft ihm oft zum voraus ſchon dasjenige muth - maßen, was er durch die Auslegung finden ſoll. Bey einer gewiſſen Fertigkeit in der Sprache, bey welcher er ſchon Verſuche im Schreiben machen kann, wird es ihm oft an Woͤrtern und Ausdruͤcken fehlen, aber er wird dem Genie der Sprache we - niger Gewalt anthun; er wird viele von ſolchen Sprachfehlern begehen koͤnnen, die bloß willkuͤhr - liche Regeln der beſondern Grammatik uͤbertreten,76Ueber die Pruͤfungaber keine ſolchen, die in allen Sprachen Unge - reimtheiten waͤren.

So wie die Sprache, ſo hat jeder andre Ge - genſtand des Wiſſens und des Thuns eine dop - pelte Seite; eine Seite fuͤr den Fleiß und das Ge - daͤchtniß, eine andre fuͤr das Nachdenken und den Verſtand. Man kann nach einem langen Studio der Geſchichte von ihr, außer einzelnen merkwuͤrdigen und großen Thatſachen, faſt nichts als ihre Philoſophie wiſſen; und man kann hin - gegen in der Mathematik nichts als eine Nach - richt von ihren Saͤtzen lernen. Ob man alſo gleich in der erſten Erziehung nicht ſchon der Wiſſenſchaft einen ausſchließenden Vorzug geben darf, die man nach der Wahl oder nach den Faͤ - higkeiten des Lehrlings als ſein kuͤnftiges Stu - dium anſieht, theils, um nicht dadurch den Kopf zu ſehr einzuſchraͤnken, wenn man ſeinen natuͤrli - chen Hang durch eine zu fruͤhzeitige Befriedigung noch verſtaͤrkte, theils weil keine Ausuͤbung einer menſchlichen Faͤhigkeit ohne einen gewiſſen Grad von Vollkommenheit in den uͤbrigen, vortreflich77der Faͤhigkeiten. oder auch nur brauchbar werden kann: ſo iſt es doch ſehr unrecht, daß, wenn man auch mit dem groͤßten Theile junger Leute einerley Wiſſenſchaf - ten treiben darf, man von ihnen einerley fodert, und ihren Fleiß oder ihre Tuͤchtigkeit gerade nach einerley Art des Fortgangs beurtheilt. In der That wird der junge Menſch vom groͤßten Ver - ſtande in dieſem Alter am meiſten zuruͤckgeſezt; weil man auf das, was er beſſer als andre in ſei - nen Arbeiten leiſtet, als auf ein Nebenwerk oder etwas Ueberfluͤßiges nicht Acht hat, und hingegen die Art von Vortreflichkeit verlangt, zu der er am unfaͤhigſten iſt. Thatſachen und Woͤrter, mit ei - nem Worte alles das, was man durch Sprachen und Geſchichte erlernet, muͤſſen freylich jedem ſtu - direnden Juͤnglinge gelehrt werden. Sie berei - chern den Kopf, indem ſie ihm zugleich eine man - nichfaltige Art von Gegenſtaͤnden darbieten, un - ter denen die Natur leichter und ſichrer den rech - ten findet, fuͤr den ſie den Menſchen beſtimmt hat. Aber man muß bey dieſem Unterrichte nicht durch - gaͤngig einerley Zweck haben. Wir wollen die78Ueber die PruͤfungGeſchichte zum Beyſpiele nehmen. Dem einen wird es leicht, ſich die ganze Folge und den Zu - ſammenhang der Begebenheiten, ſo wie er durch fruchtbare und unfruchtbare Zeiten von Genealo - gie und Chronologie fortgefuͤhrt wird, einzupraͤ - gen; ohne daß irgend eine Begebenheit heftigen Eindruck genug gemacht haͤtte, um ſich mit allen ihren kleinen Umſtaͤnden, die allemal bey Bege - benheiten das Intereſſirende ausmachen, in ſeiner Einbildungskraft zu erhalten. Dem Geſchichts - lehrer, dem eigentlichen Gelehrten im engſten Verſtande des Worts, iſt eine ſolche Erlernung nothwendig. Ein andrer findet unbeſchreib - liche Muͤhe, dieſe Kette zuſammenzuſetzen; kaum denkt er ſie vollſtaͤndig zu haben, ſo ſind ſchon wieder einige Glieder davon verloren gegangen; Namen ohne Begebenheiten, Zeitpunkte ohne Um - ſtaͤnde, die dieſelben merkwuͤrdig gemacht haben, entwiſchen ihm augenblicklich; und alle Muͤhe, dieſe Luͤcken wieder auszufuͤllen, iſt verloren. Aber dafuͤr bleibt das Bild großer Maͤnner und großer Thaten mit allen ſeinen kleinen Zuͤgen in ſeiner79der Faͤhigkeiten. Seele unausloͤſchlich; er behaͤlt nichts, als wo - fuͤr er ſich intereſſirt, aber dieß behaͤlt er auch ganz und ſo, daß er alle Augenblicke davon Ge - brauch machen kann. Große Staatsmaͤnner und große Heerfuͤhrer haben die Geſchichte nicht anders gekannt; und kaum hat der ſie noͤthig an - ders zu kennen, der nur Beyſpiele und Rath - ſchlaͤge bey ihr ſucht. Ein dritter wird vielleicht, nach einem eben ſo langen und aͤmſigen Studio, immer noch Namen, Perſonen und Begebenheiten verwechſeln; weder das Ganze noch die einzelnen Theile haben ſich in ſeinem Gedaͤchtniſſe erhalten, er weiß in der That von den Vorfaͤllen ſelbſt nichts: aber deswegen hat doch dieſe Wiſſenſchaft ihre Frucht fuͤr ihn gebracht; waͤhrend der Arbeit eine Menge von Uebungen, und nach derſelben eine Menge von Reflexionen, Grundſaͤtzen, Er - fahrungen, die er nach und nach ohne deutliches Bewußtſeyn aus den Begebenheiten herausgezo - gen hat, und die die Principien ſeines Denkens geblieben ſind, nachdem er ſich an keine einzige dieſer Begebenheiten mehr erinnern konnte. Viel -80Ueber die Pruͤfungleicht giebt es einen vierten, der aus der Geſchich - te ungefaͤhr eben ſo ein weſentliches Stuͤck von ihr zuruͤckbringt, als der rechnende engliſche Bauer aus der Oper, der die Violinſtriche zaͤhlte; und doch wuͤrde ſie noch immer einen Einfluß uͤber ſeine Denkungsart und ſeinen Kopf behalten. Dieß alſo iſt des weiſen Lehrers Arbeit und ſein Verdienſt, bey jeder Wiſſenſchaft von ihrem ei - genen und unmittelbaren Endzwecke, der Erler - nung der Sachen, die ſie enthaͤlt, noch den mannichfaltigen Gebrauch, der ſich davon ma - chen laͤßt, zu unterſcheiden, und ſeiner Schuͤler Faͤhigkeiten aus dieſem Gebrauche zu beur - theilen.

Der philoſophirende Verſtand, um uns nicht zu weit von ihm zu verlieren, zeigt ſich am deut - lichſten durch die Begriffe, die er ſelbſt hervor - bringt. In nichts unterſcheiden ſich die guten Koͤpfe von den ſchlechten ſo ſehr, als in ihren Aufſaͤtzen. Bey dem bloßen Lernen kann groͤßre Aemſigkeit und vielleicht mehr Gedaͤchtniß die lez - tern weiter gebracht haben: aber der Gebrauch,81der Faͤhigkeiten. den die erſtern auch von ihrer geringern Kenntniß in dem machen, was ſie fuͤr ſich ſelbſt denken, wird ihnen ſehr bald ihren Vorzug wiedergeben. Zuerſt iſt immer etwas Eignes und Charakteriſti - ſches, wo die Kraft der Seele ſelbſt ſchafft, nicht bloß empfangne Ideen zuruͤckgiebt; zweytens aͤußert ſich der Geiſt des Nachdenkens durch eine gewiſſe Verfolgung einerley Idee, durch eine Aus - einanderwickelung allgemeiner Grundſaͤtze, durch die Geſchicklichkeit, viele Begriffe aus einem ge - meinſchaftlichen Gliede herzuleiten. Wenn auch in den einzelnen Begriffen noch Dunkelheit, in den Saͤtzen Irrthum, in ihrer Anwendung Spitz - fuͤndigkeit iſt; ſo wird doch das Ganze zuſammen - haͤngen, ein Irrthum wird wenigſtens durch den andern unterſtuͤtzt werden.

Die Faͤhigkeit nachzudenken, mit einem Gra - de von Einbildungskraft vermiſcht, giebt das, was wir nach Verſchiedenheit der Gegenſtaͤnde Witz oder Scharfſinn nennen. Es iſt bekannt, daß man zu dem Gebiete des erſten die Aehnlichkeiten, und zum Gebiete des andern die Unterſchiede derF82Ueber die PruͤfungDinge beſtimmt. Aber darauf hat man nicht im - mer Acht gegeben, daß dieſe Verbindungen oder dieſe Trennungen bald durch die Einbildungskraft und bald durch den Verſtand geſchehen koͤnnen; daß es einen ſinnlichen und einen vernuͤnftigen Witz gebe.

Das, was man den Witz im engern Ver - ſtande nennen koͤnnte, und was in der Welt un - ter dieſem Namen gemeiniglich bekannt iſt, beſteht in einer gewiſſen Erfindſamkeit, verborgne und doch einleuchtende Verbindungen unter Begriffen zu entdecken, die von einander ſehr entfernt ſchei - nen. Man hat die Productionen deſſelben Ein - faͤlle genannt, um dadurch die Art von Verglei - chungen auszuſchließen, die durch Unterſuchung und Nachdenken gefunden werden, und den Cha - rakter der Schnelligkeit anzuzeigen, der dieſen Werken des Witzes weſentlich iſt, und ihr vor - nehmſtes Verdienſt ausmacht. Es iſt begreiflich, daß dieſe außerordentlichen Verbindungen unter ſehr fremdſcheinenden Ideen ſchlechterdings eine gewiſſe Mannichfaltigkeit und einen unordentli -83der Faͤhigkeiten. chen Reichthum von Objekten verlangen, unter welchen ſich von Zeit zu Zeit einige zuſammen fin - den muͤſſen, die einer ſolchen Verbindung faͤhig ſind. Um deswillen iſt die Geſellſchaft und ein vermiſchtes abwechſelndes Geſpraͤch der eigentliche Ort und die Werkſtaͤtte des Witzes. Wo eine fortgehende Reihe von Begriffen die Abſicht iſt, da ſind die Ideen alle von einerley Art, ihre Ueber - einſtimmung wird ſchon vorhergeſehen, und darf nur von dem Verſtande beſtimmt und abgewogen werden. Ein witziger Kopf befindet ſich alſo oft weit beſſer unter einer Geſellſchaft leerer Schwaͤtzer, die niemals auf einer Sache beharren, und deren durch einander gehende verworrene Begriffe deſto ſeltſamere Verbindungen erlauben, (noch das Ver - gnuͤgen der Eitelkeit hinzugerechnet, das Leben und die einzige Seele der Geſellſchaft zu ſeyn,) als bey einer Zuſammenkunft verſtaͤndiger Maͤnner, deren Gedanken gleichfoͤrmiger und regelmaͤßiger fortgehen.

Man ſieht leicht, daß dieſe Art von Witz ſich mit dem, was wir den praktiſchen Verſtand ge -F 284Ueber die Pruͤfungnannt haben, beſſer als mit dem theoretiſchen vertraͤgt. Die Einbildungskraft muß viele Be - gebenheiten und Bilder im Vorrath haben, und ſie muß durch jeden Anlaß, durch die kleinſte Ver - wandtſchaft der gegenwaͤrtigen Dinge an dieſelbe erinnert werden, wenn die Vernunft ſie eben ſo geſchwind ſoll vergleichen koͤnnen. Ueberdieß lie - gen dieſe Aehnlichkeiten, die der Witz aufſucht, nicht in dem Weſentlichen und Innern der Sa - chen, nicht, ſo zu ſagen, in ihrer Struktur, ſon - dern nur in der aͤußern Geſtalt, in ihren zufaͤlli - gen und abwechſelnden Merkmalen. Aber dieſe leztern koͤnnen, ihrer Menge und ihrer Kleinheit wegen, nicht durch deutliche Begriffe erkannt wer - den; und wer durch dieſe am meiſten denkt, uͤber - ſieht ſie, oder ſtellt ſie ſich falſch vor. Endlich iſt der Schein des Ohngefaͤhrs, der dem wirklich witzigen Einfalle nothwendig iſt, niemals zu er - halten, wenn die Ideen zu ſehr in einander ge - gruͤndet ſind, und man augenſcheinlich die Folge einſieht, in der man auf ſie hat kommen koͤnnen. Der zu genaue und innere Zuſammenhang alſo,85der Faͤhigkeiten. der zwiſchen den Ideen in einem bloß philoſophi - renden Kopfe ſeyn muß, wenn eine die andre ſoll erwecken koͤnnen, macht ihm leichte und zufaͤllige Verknuͤpfungen unmoͤglich; ſeine Einfaͤlle haben immer das Anſehen des Studirten und Ausge - dachten. In der Geſellſchaft ſind die Erfah - rungen leicht zu machen, die dieſes beſtaͤtigen. Wenn eine gewiſſe Materie zum Geſpraͤche aufge - worfen wird, ſo ſind gemeiniglich, (wenn uͤber - haupt die Geſellſchaft nicht aus Dummkoͤpfen be - ſteht,) zwo Parteyen in der Art, wie ſie mit dem Gegenſtande umgehen. Die einen wollen die Sa - chen als eine wirkliche Materie des Geſpraͤchs, die andern nur als eine Gelegenheit dazu brauchen. Jene wiſſen von den Dingen nichts zu ſagen, als in ſo fern ſie ſie ſelbſt unterſuchen koͤnnen; dieſe finden an den Beziehungen derſelben Stoff zum Reden genug, entweder durch die Erinnerungen, die ſie in ihnen erwecken, oder durch die Anwen - dungen, die ſie davon machen koͤnnen. Beſon - ders iſt die Gabe gut zu erzaͤhlen das Eigenthum des witzigen Kopfs. Die Theile einer Begeben -F 386Ueber die Pruͤfungheit ſo zu ordnen, daß diejenigen neben einander kommen, deren Aehnlichkeit oder deren Kontraſt den Eindruck machen ſoll; ſie durch den Ausdruck in das gehoͤrige Licht zu ſtellen, und ihr ein laͤ - cherliches, oder wenigſtens ein außerordentliches Anſehen zu geben: alles das hindert der bloße reine Verſtand durch die Langſamkeit, mit der er verfaͤhrt. Zum Unterſuchen ſind dieſe Sachen zu klein und zu mannichfaltig; ein gewiſſes Ge - fuͤhl muß ſie uns finden lehren, und dieſes Ge - fuͤhl giebt der Witz. Aber eben deswegen iſt es dem witzigen Kopfe ſo natuͤrlich, Geſchichte zu er - dichten, oder die wahren zu verunſtalten. Da die ſeltſamen Verbindungen unter Vorfaͤllen im - mer angenehmer ſind, als die unter Ideen: ſo erzaͤhlt er noch lieber, als er Einfaͤlle ſagt. Und weil nun in der wirklichen Welt, beſonders in dem engen Zirkel der Erfahrungen eines einzigen Menſchen, ſolche Verbindungen weit ſeltner vor - kommen, als ſie der witzige Kopf braucht: ſo muß er oft die Armuth der Natur in dieſem Stuͤcke er - ſetzen, oder wenigſtens dem Alltaͤglichen der Bege -87der Faͤhigkeiten. benheiten durch einen Zuſatz von ſeiner eigenen Schoͤpfung aufhelfen.

Auf keine Faͤhigkeit thun ſich Aeltern bey ih - ren Kindern mehr zu gute, und bey keiner koͤnnen ſie leichter hintergangen werden, als bey dem Witze. So wie der wirkliche Witz ſeinen Erfin - dungen den Schein des bloßen Zufalls und eines nicht vorhergeſehenen, nicht zur Abſicht gehabten Laͤcherlichen geben muß: ſo kann hinwiederum der Zufall in der That oft eben das hervorbrin - gen, was ſonſt nur das Werk des Witzes iſt. In einem Kopfe, wo ſchon die Ideen nach gewiſſen Abſichten und nach gewiſſen Regeln geordnet wer - den, iſt dieſes nicht moͤglich, oder wenigſtens ſel - ten. Aber wo noch die Seele alle Begriffe, die ihr vorkommen, ohne den geringſten Grund ihrer Aehnlichkeit oder ihrer Verbindung dabey noͤthig zu haben, zuſammenſezt; da muͤſſen nothwendig unter der Menge ganz ungereimter und nichtsbe - deutender Verknuͤpfungen einige vorkommen, in die ſich ein laͤcherlicher oder ein verſtaͤndiger Sinn hineinlegen laͤßt. Ein Zweig des Witzes iſt dieF 488Ueber die PruͤfungNaivetaͤt. Sie beſteht darinnen, wenn unter dem Scheine der Einfalt und der Unwiſſenheit eine große oder doch eine auffallende Wahrheit geſagt wird; wenn der Ausdruck ungereimt oder einfaͤl - tig, und der Sinn groß iſt. Wenn man nun bey Kindern ſolche Ausdruͤcke noch dazu mit der ein - nehmenden Miene der Unſchuld und der Freund - lichkeit vorbringen hoͤrt, ſo glaubt man, ſie ſind naiv, ob ſie gleich bey ihnen oft wirklich Einfalt ſind. Man bemerkt naͤmlich nicht, daß der Ge - danke, den man ſonſt vielleicht mit dieſem oder einem aͤhnlichen Ausdrucke zu verbinden gewohnt iſt, bey dem Kinde wirklich fehlt; der, den es hat - te, war vielleicht ſo nichtsbedeutend oder ſo wi - derſinnig, als der Ausdruck. Daher ſcheinen ſo oft dieſe artigen Einfaͤlle, die im dritten Jahre be - wundert wurden, Ungereimtheiten im achten. Das Kind ſagt izt nichts ſchlechters, als zuvor; aber man wird nur mehr gewahr, daß der Ge - danke, den man vorausgeſezt hatte, nicht vorhan - den ſey; der angenommene Kontraſt zwiſchen Be -89der Faͤhigkeiten. zeichnung und Idee faͤllt weg, das Naive wird toͤlpiſch.

Wenn es aber auch noch leicht waͤre, den wahren Witz zu erkennen, ſo iſt es doch gewiß ſchwer, die uͤbrigen Faͤhigkeiten des Kopfes nach demſelben zu beurtheilen. Natuͤrlicherweiſe aͤuſ - ſert ſich der Witz am erſten, weil auch unter einem kleinen Vorrathe von Ideen ſchon genug Zuſam - menſetzungen moͤglich ſind, und dieß eben das Werk und das Verdienſt des Witzes iſt, das Ver - borgne zu finden: aber er iſt deswegen nicht im - mer die Ankuͤndigung eines großen Geiſtes. Mit dem philoſophiſchen Geiſte vertraͤgt er ſich ſelten; eine ſehr feurige Einbildungskraft verzehrt ihn ſo zu ſagen, und er findet nur bey einer gewiſſen Mit - telmaͤßigkeit dieſer beiden Hauptfaͤhigkeiten ſtatt. Alles, was er ſucht, liegt nur auf der Oberflaͤche, und bedarf weder ein tiefes Nachdenken, noch eine ſehr ſtarke Empfindung.

Er iſt ſogar, wenn er zu fruͤhzeitig ausgebil - det wird, der Uebung der andern Faͤhigkeiten ſchaͤdlich. Da er die Seele gewoͤhnt, immer vonF 590Ueber die Pruͤfungdem Weſentlichen der Sachen abzugehen, und auf ihre Zufaͤlligkeiten und ihre aͤußern Verhaͤltniſſe zu ſehen, ſo verhindert er die Unterſuchung; und indem er die Aufmerkſamkeit der Seele bey jedem Gegenſtande theilt, und ſie von der bloßen Be - trachtung gleich auf Anwendungen deſſelben ab - zieht, ſo laͤßt er keinen ſtarken und bleibenden Eindruck zu. Der Witz iſt der Diener und der Gehuͤlfe der Eitelkeit. So wie er das Licht iſt, welches die Talente den Augen des großen Hau - fens ſichtbar macht, ſo erhoͤhet er ſie zugleich in den Augen des Menſchen ſelbſt. Die Geſchicklich - keit, ſich mit Vortheile zu zeigen, erweckt die Be - gierde, es oft zu thun: und ſo wird die Bemuͤ - hung, neue Vorzuͤge zu erwerben, durch die Be - muͤhung, ſeine alten ſehen zu laſſen, geſtoͤrt.

Man ſollte ſich aber um deſto weniger um dieſe Faͤhigkeit Muͤhe geben, weil ſie unter allen uͤbrigen die wenigſte Cultur zulaͤßt oder erfodert. Sie entwickelt ſich von ſelbſt, und man kann nichts anders zu ihrer Ausbildung thun, als ſie regieren und im Zaume halten. Der Witz iſt vor -91der Faͤhigkeiten. treflich, wenn er in eine Seele, die ſchon mit Ideen und Bildern angefuͤllt iſt, als die lezte Verſchoͤnerung hinzukoͤmmt. Der Reichthum wird alsdann zugleich zur Pracht, und die Ge - ſtalten, in welche die Seele ihre Begriffe kleidet, werden eben ſo ſchoͤn, als die Begriffe ſelbſt ge - ſund und vollkommen ſind. Sollen aber dieſe Ideen und Bilder erſt geſammlet werden, dann iſt ſeine Geſchaͤftigkeit ſchaͤdlich und hin - derlich.

Aber dieſe ganze Gattung von Witz iſt nicht die einzige. Es giebt einen andern ſo zu ſagen reflektirenden Witz, der mit der zwoten Art von Imagination, von der wir oben geredet haben, in Verbindung ſteht; ein Witz, der nicht unter einzelnen Dingen, ſondern unter allgemeinen Ideen, und nicht aͤußere Verhaͤltniſſe, ſondern in - nere Uebereinſtimmungen, aber auf eine ſolche Art ſucht, daß man die Operation des Verſtandes und die Folge der Begriffe, durch welche dieſe Ue - bereinſtimmungen ſind gefunden worden, nicht ge - wahr wird. Naͤmlich ein bloß geſunder natuͤrli -92Ueber die Pruͤfungcher Verſtand, ohne dieſen Witz, haͤlt keine an - dern Ideen gegen einander, als wo ſich ſchon aus dem, was er von ihnen weiß, ihre Uebereinſtim - mung vorherſehen laͤßt, und wo es alſo bloß dar - auf ankoͤmmt, dieſelbe auf etwas Beſtimmtes und Deutliches zu bringen. Auf dieſe Art verfaͤhrt die kluge Vorſichtigkeit in den gewoͤhnlichen Ge - ſchaͤften des gemeinen Lebens, und die beſcheidene Lehrbegierde in der Erlernung der Wiſſenſchaften. Dieſe Eigenſchaften ſichern den Menſchen vor Ver - wegenheit und Irrthum; aber ſie machen ihn auch zu großen Unternehmungen und zu neuen Entdeckungen untuͤchtig. Wenn aber mit dem Verſtande ſich der Witz vermaͤhlt, ſo wird der erſte beherzter und unternehmender. Er bekoͤmmt einen gewiſſen geheimen Zug, die unaͤhnlichſten Begriffe mit einander zu vergleichen, und die entfernteſten zuſammenzubringen; das Feld ſeiner Geſchaͤftigkeit wird groͤßer, die Vergleichung ge - ſchieht ſchneller; die Verbindungen, die er macht, werden mannichfaltiger und neuer.

93der Faͤhigkeiten.

Es giebt ferner in der Philoſophie, im Erklaͤ - ren und im Beweiſen eben ſo wohl einen gewiſſen Geſchmack, als in den Kuͤnſten und in den Wer - ken des ſchoͤnen Geiſtes; ein dunkles Gefuͤhl von der Staͤrke oder der Schwaͤche der Gruͤnde ſelbſt, ehe man ſie noch genau gepruͤft hat; ein vorlaͤu - figes Urtheil von der Wahrheit oder der Brauch - barkeit ſeiner Ideen vor der Unterſuchung. Die - ſer Geſchmack nun wird von dem Witze, von dem wir reden, und den die Lateiner Sagacitaͤt nen - nen, hervorgebracht. Er weiſet dem Nachdenken die Punkte an, auf die es ſich zu richten hat. Bey der Erlernung der Wiſſenſchaften bringt er eine ſchnelle Begreifung und eine richtige Anwen - dung der vorgetragnen Wahrheiten hervor; bey einem hoͤhern Fortgange aͤußert er ſich durch eine gewiſſe Erfindſamkeit, die Seite des Dinges zuerſt zu finden, von der ſie ſich am beſten angreifen laͤßt, und den Begriff von ihm zu faſſen, der am leichteſten und am fruchtbarſten bearbeitet werden kann. So zeigt er ſich z. B. in der Mathematik durch die Wahl der Beweiſe, durch die Abkuͤrzung94Ueber die Pruͤfungdes Weges, und durch eine gewiſſe feinere Ver - wickelung und eine unvermuthete Aufloͤſung der Aufgaben.

Mit dem Witze gehoͤrt der Scharfſinn zu ei - ner Klaſſe. Der Scharfſinn ſcheint mehr auf der Partey des philoſophiſchen Verſtandes zu ſeyn, ſo wie der Witz auf der Seite des dichteriſchen. Denn eben das Unterſcheiden und Abſondern, mit dem der Scharfſinn zu thun hat, bringt die Ab - ſtraktion hervor, oder iſt eine Folge derſelben. Um deswillen iſt die Subtilitaͤt, die eine Wirkung die - ſer Urſache iſt, ſo oft fuͤr die Eigenſchaft der Phi - loſophen angeſehen worden. In der That aber giebt es auch einen Scharfſinn, der ſich mit dem Witz vermiſcht, und unter ſeinem Namen ver - birgt. Die Begriffe von Aehnlichkeit und Unter - ſchied ſind immer gegenſeitig, und wo Ueberein - ſtimmungen bemerkt werden, da muß man die Verſchiedenheiten zugleich mit empfinden, die von jenen abſtechen.

Die andere Gattung von Scharfſinn aͤußert ſich nur bey der Erlernung der Wiſſenſchaften. 95der Faͤhigkeiten. Man hat aber nicht ſo wohl ihn kennen zu lernen, als die Fehler, zu denen er verleiten kann. Die falſche Anwendung von Scharfſinn iſt Spitzfin - digkeit, und beſteht in der Entdeckung nichtswuͤr - diger oder falſcher Unterſchiede.

Das fruͤhzeitigſte und beynahe das ſicherſte Zeichen des Scharfſinns iſt ein richtiger Gebrauch der Sprache. Jede Sprache hat eine Menge Woͤrter und Ausdruͤcke, die im Hauptbegriffe uͤbereinkommen, aber ſich doch durch ſo beſtimmte und ausgemachte Nebenbegriffe unterſcheiden, daß es wenig Faͤlle giebt, wo der Gebrauch der - ſelben ganz gleichguͤltig waͤre. Dieſen Unterſchied genau zu bemerken, und aus der Natur und der Verbindung der uͤbrigen Begriffe zu beurtheilen, welcher von dieſen Unterſchieden hier nothwendig oder wenigſtens ſchicklich ſey, das kann nur der Scharfſinn; und eben dieſes iſt es, was die Ge - nauigkeit im Ausdrucke ausmacht. Leute, die ſelbſt den Werth jedes Worts und den Gedanken jeder Rede genau wiſſen, werden leicht an jungen Leuten dieſe Verſchiedenheit bemerken. Einige ſa -96Ueber die Pruͤfunggen alles nur halb; ſie ſind zufrieden, wenn man nur ungefaͤhr gewahr wird, was ſie ſich denken; ſie nehmen immer das gewoͤhnlichſte Wort zuerſt, und kennen keine andre Wahl des Ausdrucks, als die Nachahmung, weil ſie keine Unterſchiede ken - nen, nach denen ſie ihre Wahl beſtimmen ſollten. Bey andern hingegen ſieht man wenigſtens die Bemuͤhung, fuͤr ihre jedesmaligen Ideen einen ihnen eignen Ausdruck zu finden; man bemerkt, daß ſie auf den Zuſammenhang des ganzen Ge - dankens Achtung gegeben, und in den Worten mehr als den ganz groben Begriff, der in allen andern Synonymen eben ſo gut war, geſucht ha - ben. In der That, weil dieſe Richtigkeit des Aus - drucks der Grund und beynahe das weſentlichſte Stuͤck der Schoͤnheit des Stils iſt, ſo ſollte bey den Ausarbeitungen, die man junge Leute machen laͤßt, auf keine Eigenſchaft ſo ſehr geſehen wer - den. Ein richtiger Gebrauch der Sprache bringt in unſere Vorſtellungen eine groͤßere Mannichfal - tigkeit, indem er uns unter Begriffen, die wir ſonſt fuͤr einen einzigen gehalten haͤtten, Unter -97der Faͤhigkeiten. ſchiede finden laͤßt, durch die ſie zu mehrern wer - den. Er macht die Entwickelung der Ideen leichter, indem er uns bey jedem Begriffe, den wir aufklaͤren wollen, die am naͤchſten damit ver - wandten zeigt, von denen der Begriff durch die Erklaͤrung abgeſondert werden muß; er giebt uns endlich mehr Stoff zur Philoſophie, indem er mehr Bedeutungen der Worte als ſo viel ſinnlich klare Begriffe uns anweiſet, die wir deutlich zu machen, und durch genaue Merkmale zu beſtimmen haben.

Jetzo ſind wir im Stande, uns den Begriff von einem Genie zu machen. Wir haben geſe - hen, daß einige Faͤhigkeiten in gewiſſer Maaße einander entgegen ſtehn, und daß man ſie deswe - gen ordentlicher Weiſe nur unter verſchiedenen Menſchen vertheilt findet. Aber wenn dieſel - ben in einem beſtimmten Falle dieſen Streit auf - heben; wenn ſie in einer gewiſſen Seele zuſam - menkommen, und ſich einander das Gegengewicht halten; wenn ſie ſich endlich alle zuſammen auf einen gewiſſen Gegenſtand vereinigen: alsdannG98Ueber die Pruͤfungbringen ſie ein Genie hervor. Ueberhaupt heißt Genie entweder alles, was in unſern Faͤhigkeiten von der Natur herruͤhrt, und wird dem Erlern - ten oder der Gelehrſamkeit entgegengeſezt; oder es zeigt eine hoͤhere Klaſſe von Geiſt an, und in dieſem Verſtande nehmen wir es jezt. Es giebt alſo ſo viel Genies, als es Gegenſtaͤnde fuͤr beſondere Faͤhigkeiten giebt. Wir wollen zum Beyſpiel das dichteriſche Genie nehmen. Es iſt klar, daß ſeine herrſchende Eigenſchaft die Ein - bildungskraft ſeyn muß, die von richtigen, ſtar - ken und feinen Empfindungen geleitet, von einer einſichtvollen, aber praktiſchen Vernunft ausge - bildet, und durch den Witz ausgeſchmuͤckt wird. Aber wenn die nachdenkende oder die philoſophi - rende Vernunft dieſer nicht zur Seite gienge, ſo wuͤrden ſich dieſe Bilder und dieſe Begriffe nicht ausdruͤcken laſſen; denn alle Worte ſind Zeichen fuͤr abgezogne Begriffe. Dieſe Uebereinſtimmung und Vereinigung alſo von Empfindungskraft und Vernunft, wovon die eine die Bilder, die nachgemacht werden ſollen, vorſtellt; die andre99der Faͤhigkeiten. ſie ordnet und die Farben herbeyſchafft, mit de - nen ſie entworfen werden: dieſes macht das Ei - genthuͤmliche und das Seltne von dieſem Genie. Faͤhigkeiten, die ſich in gewiſſem Grade aufheben, muͤſſen ſich bey ihm vereinigeu; die Erinnerungs - kraft, die die Ideen durch ihre Folge und Verbin - dung aufweckt, muß mit dem Gedaͤchtniſſe, das ganze Reihen von Begebenheiten wieder darſtellen kann, verbunden ſeyn; die Empfindungen muͤſ - ſen ſo ungeſtoͤrt bleiben, als wenn die Seele ſich bloß mit dem Gegenſtande ſelbſt beſchaͤftigte, und doch muß die Seele zugleich einen gehei - men Blick auf ſich ſelbſt thun, um dieſe Empfin - dungen gewahr zu werden, und ſie in den ge - hoͤrigen Schranken zu halten. Empfinden und Denken zugleich, das iſt die große Kunſt des Dich - ters.

Ich will nur noch einige allgemeine Merk - male, woran ſich gute Koͤpfe uͤberhaupt erkennen laſſen, hinzuſetzen:

Erſtlich. Die Eitelkeit hat bey ihnen we - niger Einfluß, und die Erwartung des Lobes iſtG 2100Ueber die Pruͤfungbey ihnen ein ſchwacher oder uͤberfluͤßiger Bewe - gungsgrund, weil die Sache ſelbſt ſchon fuͤr ſich ſie beſchaͤftigt und einnimmt. Ein guter Schrift - ſteller und ein wirklicher Gelehrter wird ſchon durch das Vergnuͤgen, das er genießt, indem er ſchreibt oder lehret, hinlaͤnglich belohnt, ohne erſt die Hoffnung zu Huͤlfe zu nehmen, daß es andre wiſſen werden. Wer alſo nicht mit einer gewiſſen Leidenſchaft an ſeine Arbeit geht; nicht aus Vergnuͤgen uͤber ſeine eigne Beſchaͤftigung bey derſelben aushaͤlt, ohne alles Intereſſe des Eigennutzes oder des Ehrgeizes; wer bey ſeiner Wiſſenſchaft oder bey ſeinem Werke einen andern Bewegungsgrund, als das Angenehme des Ge - genſtandes ſelbſt, und das Vergnuͤgen ſeine Kraft auszuuͤben bedarf, der iſt ohne Genie.

Zweytens. Gute Koͤpfe, die, wenn ſie fuͤr ſich ohne Aufforderung und ohne Anſtrengung uͤber eine Materie denken, voller Einſichten ſind, werden vielleicht an den Zeiten und Orten, wo ſie ſich am meiſten zeigen wollen, und wo es eigent - lich darauf ankoͤmmt, eine Probe ihrer Faͤhigkeit -101der Faͤhigkeiten. ten zu geben, weniger leiſten als andre. Dieſes iſt eine nothwendige Erinnerung fuͤr Lehrer, die oft ſehr unrichtig die Faͤhigkeiten ihrer Schuͤler aus den oͤffentlichen Pruͤfungen beurtheilen. Die Urſache davon iſt zum Theil phyſiſch. Zum Denken wird eine gewiſſe Bewegung des Bluts und der Lebensgeiſter erfodert. Die, bey wel - chen ſonſt dieſe Bewegungen langſam