PRIMS Full-text transcription (HTML)
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Leben der Schwediſchen Graͤfinn von G**
Zweyter Theil.
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Leipzig,beyJohann Wendler, 1748.
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Jch bin gegen das Elend, das der Graf in Rußland ausgeſtanden, zu em - pfindlich, als daß ichs nach ſeiner Laͤnge erzaͤhlen und in eine gewiſſe Ordnung bringen ſollte. Allein ich brauche auch dieſe betruͤbte Muͤhe nicht. Jch habe ein halb Jahr nach ſeiner Zuruͤckkunft noch zween von denen Briefen erhalten, die er in ſeiner Gefangenſchaft an mich geſchrieben. Den einen hatte er an einen Geiſtlichen, auf ſeinen Guͤtern in Liefland, addreßiret, der aber nichts von meinem Auffenthalte erfahren koͤn - nen. Den andern brachte mir ein Jude, wie man in dem Verfolge der Erzaͤhlung ſehen wird. Dieſe Briefe enthalten den groͤßten Theil von dem, was ihm in Moskau und Siberien begegnet iſt. Jch will ſie alſo un - veraͤndert hier einruͤcken. Es iſt immer, als wenn man mehr Antheil an einer Begebenheit naͤhme, wenn ſie der ſelbſt erzaͤhlet, dem ſie zugeſtoßen iſt. Sie werden uͤber dieſes den edlen Charakter des Grafen und ſeine beſtaͤn - dige Liebe gegen mich in ein groͤſſer Licht ſetzen. Wie4Leben der SchwediſchenWie groß iſt ſie nicht geweſen! Und eben zu der Zeit, da er mich ſo bruͤnſtig geliebt und al - les fuͤr mich gefuͤhlt hat, was nur ſein Elend hat vergroͤſſern koͤnnen, habe ich in den Ar - men eines andern Gemahls der Freuden der Liebe und des Lebens genoſſen. Wie viel tau - ſend Thraͤnen hat mich dieſer Gedanke ſchon gekoſtet, und wie oft bin ich vor meiner un - ſchuldigen Liebe zu dem Herrn R** als vor einem Verbrechen erroͤthet!

Der erſte Brief iſt aus der Stadt Mos - kau geſchrieben.

Euer ungluͤcklicher Gemahl lebt noch. Wollte doch Gott, daß ihr dieſe Nachricht ſchon wuͤßtet, oder ſie wenigſtens durch die - ſen Brief erfuͤhret! Ein ploͤtzlicher Ueberfall, den die Ruſſen drey Tage vor meiner angeſetzten Hinrichtung auf das Dorf thaten, in welchem ich gefangen und krank lag, hat mir das Leben errettet. Ja, liebſte Gemahlinn, dieſe Vorſehung iſt eine Frucht eurer Thraͤnen und meiner Unſchuld. Jch habe et - liche Tage nach dem geſchehenen Ueberfall kaum mehr gewußt, daß ich lebte. Nach - dem ich von meiner Krankheit wieder zu mir ſelber kam und mich in den Haͤnden der Ruſ -ſen5Graͤfinn von G**ſen ſah: ſo gab ich mich zu meiner Sicherheit fuͤr einen Capitain aus und nannte mich Loͤ - wenhoek. Unter allen denen Gefangenen, mit welchen ich bald in dieſe, bald in jene Fe - ſtung, und endlich nach der Stadt Moskau geſchleppt worden bin, ſind nicht mehr, als zween Officiere, die mich kennen. Sie ſind beide Engellaͤnder von Geburt und die treu - ſten und beſten Gefaͤhrten meines Elends, die ich mir nur wuͤnſchen kann. Der eine von ihnen, Steeley, hat vor wenig Tagen die Frey - heit erhalten, einige von ſeinen Landsleuten, die hieher handeln, zu ſprechen, und durch die - ſe hat er mir einen Brief nach Liefland zu be - ſtellen, die ſicherſte Gelegenheit ausgemacht. Wenn er doch ſchon in euren Haͤnden waͤre! Wenn ich doch nur eine von den Thraͤnen der Freude ſehen ſollte, die euch die Nachricht von meinem Leben auspreſſen wird. Wo habt ihr euch denn nach meinem letzten traurigen Briefe hingewandt? Hat euch die Rache des ungerechten Prinzen nicht verfolgt? Jſt mein Freund R** mit euch gefluͤchtet? Und wo - hin? Arme und ungluͤckliche Gemahlinn! Goͤnnt mir doch den Troſt, daß ich alle mein gegenwaͤrtiges Ungluͤck und das noch kuͤnftige eurer Tugend und eurer Liebe gegen mich zu - ſchreiben darf. Nichts als dieſe Urſache iſtA 3ver -6Leben der Schwediſchenvermoͤgend, mir mein Elend zu verſuͤſſen, und mir die Schande und das ſchreckliche And[en]- ken eines gewaltſamen Todes, den mir der Prinz zugedacht, zu erleichtern. Ertraget meine Abweſenheit gelaſſen, ich bitte euch bey unſerer Liebe, und hofft, wir werden uns ge - wiß wieder ſehen. Aber, o Gott! wenn? Und ach wo weis ich denn, ob ihr mein Un - gluͤck habt uͤberleben koͤnnen? Schrecklicher Gedanke, den ich ohne Zittern nicht nieder - ſchreiben kann! Nein, mein einziger Wunſch in der Welt, ihr lebt noch. Mein Herz ſagt mirs, und es verſpricht mir die Wolluſt, euch noch einmal, ehe ich ſterbe, zu umarmen. Um dieſe Gluͤckſeligkeit bitte ich die Vorſehung alle Tage und in dem Augenblicke, da ich dieſes ſchreibe. Kann mir Gott mein Leben wohl zu einem geringern Vergnuͤgen gelaſſen haben, als daß ich noch einen Theil davon, und wenn es auch nur etliche Tage waͤren, mit euch zu - bringen ſoll? Stellt euch doch die Zufrieden - heit vor, die wir ſchmecken werden, wenn uns die Zeit einander wieder geben wird. Wie lange werden wir vor Entzuͤckung nicht reden! und wie lange werden wir nach tauſend Um - armungen ſprechen, ehe wir uns ſatt reden und unſer Herz und unſer Schickſal einander ausſchuͤtten werden! Bekuͤmmert euch nichtzu7Graͤfinn von G**zu ſehr um mich. Mir fehlt zur Erleicht - rung meines Elendes nichts, als die Nachricht von euch und meinem lieben Freunde R** Erlauben es eure Umſtaͤnde: ſo uͤberſchickt mir einen Wechſel, ob ich vielleicht dadurch meine Zuͤruͤckkunft bewerkſtelligen kann. Jch bin ſeit meinem Arreſte von allem entbloͤßt ge - weſen. Jch habe alle Beſchwerlichkeiten aus - geſtanden, die einem Gefangenen auf einem Wege von mehr als hundert Meilen begegnen koͤnnen. Eben der kuͤmmerliche Proviant, der noch etliche hundert gemeine Mitgefange - ne geſaͤttiget hat, iſt die ganze Zeit uͤber gut genug fuͤr mich geweſen. Die Erbitterung der Ruſſen gegen die Schwediſche Nation, hat uns das Elend, gefangen zu ſeyn, am beſchwer - lichſten gemacht. Sie nennen ihre Sorglo - ſigkeit gegen uns, ihre Unempfindlichkeit ge - gen unſere Klagen, eine gerechte Vergeltung fuͤr das barbariſche Bezeigen, womit unſer Koͤnig, wie ſie ſagen, den gefangnen Ruſſen begegnen ließ. Das Schrecklichſte, was wir, nachdem wir uͤber die Pohlniſchen Grenzen wa - ren, erfahren haben, iſt der Mangel an fri - ſchem Waſſer geweſen, weil wir oft um die Moraͤſte zu umgehn, einen Umweg durch ſan - digte Gegenden nehmen mußten.

A 5Mein8Leben der Schwediſchen

Mein ganzes Vermoͤgen ſeit meiner Ge - fangenſchaft hat in zwanzig Thalern beſtan - den, mit denen mich ein gemeiner Schwedi - ſcher Soldat unlaͤngſt beſchenkt hat. Er ſtarb einen Monat zuvor, ehe wir in der Stadt Mos - kau ankamen, an einer Wunde, und zwar in einer Nacht, die wir unter freyem Himmel zu - bringen mußten. Er hatte mir auf dem Mar - ſche viele Dienſte erwieſen, und ich belohnte ſeine Treue dadurch, daß ich die ganze Nacht bey ihm blieb und auf ſein Verlangen mit ihm betete. Er hatte in ſeinem Bruſttuche ein Goldſtuͤck von zwanzig Thalern eingenaͤht, wo - mit ihn ſeine Braut in Stockholm bey ſeinem Abſchiede beſchenkt. Dieſes gab er mir und bat mich, wenn ich wieder nach Stockholm kommen ſollte, ſeiner Braut ſeinen Tod zu mel - den und ihr einige Wohlthaten zu erzeigen. Jch ſchicke euch den Zeddel, in welchem das Geld eingewickelt war, und in welchem der Braut ihr Name ſteht. Wenn es moͤglich iſt: ſo laßt ihr den Tod ihres Braͤutigams melden, und ſchickt ihr fuͤr die zwanzig Thaler, die mir und meinem lieben Steeley ſo viele Dien - ſte gethan haben, hundert. Als mein Lands - mann, der mich bis auf den letzten Augenblick bey der Hand hielt, todt war: ſo ſchlief ich neben ihm ein. Damals traͤumte mir, ihrkaͤ -9Graͤfinn von G**kaͤmet mir an einem Fluſſe entgegen. Wie erſchrackt ihr, meine Liebenswuͤrdige, wie ſchoͤn entſetztet ihr euch, mich wieder zu finden! Jch erwachte uͤber dieſem Traume und lag auf dem todten Landsmanne, und dankte dem Himmel, ehe ich noch aufſtund, fuͤr dieſen gluͤcklichen Traum. Die Freundſchaft, die ich dem Sterbenden erwies, brachte mir die Liebe von ſechs andern gemeinen Schweden zu Wege, die bey ſeinem Tode zugegen waren. Es gefiel ihnen, daß ich ihren Cameraden ſo wohl zum Tode bereitet hatte. Sie baten mich, daß ich eben das an ihnen thun moͤchte, wenn ſie etwan auf den Marſche ſterben ſoll - ten; ſie beeiferten ſich recht von dieſem Tage an, mir zu dienen und darbten ſich oft das friſche Waſſer ab, damit ſie es mir und Stee - ley im Nothfalle anbieten koͤnnten. Jch ward kurz darauf krank und konnte nicht mehr gehn, ſo hinfaͤllig war ich. Allein ehe mich mei - ne ſechs Landsleute zuruͤck ließen: ſo trugen ſie mich lieber etliche Tage lang in Stoͤcken, an Stricken gebunden und mit Binſen durchfloch - ten, fort und nahmen alle die Muͤhe aus gu - tem Herzen uͤber ſich, zu der ſie auſſerdem we - der Furcht noch Belohnung wuͤrde faͤhig ge - macht haben. Jch habe in dieſer Krankheit inſonderheit den großen Unterſchied geſehen,A 5der10Leben der Schwediſchender unter den Dienſten iſt, die man uns aus Gehorſam und Hoffnung erzeigt, und unter denen, die man dem andern aus einem gehei - men Triebe der Freundſchaft und des Mitlei - dens erweiſet. Jhre Begierde zu dienen wuchs mit meiner Gefahr, und Leute, die nie - mals ſinnreich in Anſchlaͤgen, noch geuͤbt in Gefaͤlligkeiten geweſen waren, wurden ſorg - faͤltig, und ſinnreich an Mitteln, mir das Le - ben zu erhalten, weil ſie es gern erhalten wiſ - ſen wollten. Dieſes iſt die einzige Krankheit geweſen, die mir auf dem Wege nach Rußland zugeſtoßen. Vor ſechs Wochen ſind wir hier in der Stadt Moskau angekommen und die er - ſten gefangnen Schweden in dieſem Kriege ge - weſen, an denen die wilden Einwohner dieſes Orts ihre rachſuͤchtigen Augen befriedigt haben. Wir mochten unſer wohl drey bis vier hundert ſeyn, die man in einem ſehr trau - rigen Aufzuge dem Poͤbel einen halben Tag lang oͤffentlich darſtellte. Er wuͤrde uns mit Freu - den umgebracht haben, wenn wir nicht von einer ſtarken Wache umgeben geweſen waͤren. Jndem wir eine Zeitlang auf einem freyen Platze geſtanden und tauſend Schimpfreden, die wir aus den Geberden unſrer Feinde erra - then konnten, angehoͤrt hatten, draͤngte ſich eine alte Frau zu einem Ruſſen, der mit unsan -11Graͤfinn von G**angekommen war. Sie fragte, wo ſein Ca - merad, ihr Sohn waͤre. Der Ruſſe, der vielleicht nicht wußte, nach wem ſie fragte, antwortete ihr, daß ihn die Schweden todt ge - ſchlagen haͤtten. Jn dem Augenblicke fuhr ſie auf mich und ſchrie: was? haſt du meinen Sohn umgebracht? und riß mich, der ich vor Mattigkeit mich kaum ſelbſt mehr aufrecht halten konnte, zur Erde, bis die Soldaten mich von ihrer Wut befreyten. Bedenkt nur, meine liebe Gemahlinn, wie mir damals zu Muthe geweſen ſeyn muß. Jn eben der Stadt, in welcher mein Vater in ſeiner Ju - gend die Ehre eines Koͤniglichen Abgeſandten genoſſen, war ich ein nichtswuͤrdiger Schwe - de, und vielleicht auf eben dem Platze, wo er ſeinen Einzug gehalten, war ſein Sohn itzt der Raſerey eines Weibes ausgeſetzt.

Wodurch habe ich doch das traurige Schickſal verdient, fern von euch, in einer oͤden Mauer eingeſchloſſen zu ſeyn, in einem Behaͤltniſſe, in dem ich auſſer der Geſellſchaft meines Steeley, alles entbehre, was das Le - ben angenehm macht, und von keiner Freude weis, als von der, mich euer mit ihm zu er - innern, und mit ihm uͤber unſer Schickſal zu ſeufzen? Er hat, wie ich euch ſchon geſagt, durch ein Geſchenke, das er dem Aufſeher uͤberdie12Leben der Schwediſchendie Gefangnen von dem Reſte unſrer zwanzig Thaler gemacht, endlich die Freyheit erhalten, mit einigen Kaufleuten aus London zu ſpre - chen. Dieſe haben ihn hundert Thaler vor - geſchoſſen und alles fuͤr ihn zu thun verſpro - chen. Durch dieſes Geld hoffen wir uns von unſern Gebieter zuweilen den Schatten ei - ner Freyheit zu erkaufen, denn durch Geld laſ - ſen ſie ſich, wenn ſie anders mitleidig ſeyn koͤnnten, am erſten mitleidig machen. Er brachte mir bey ſeiner Zuruͤckkunft eine Flaſche Wein und etwas Zwieback mit. Jhr denkt etwan, ſprach er, da er die Flaſche aus der Taſche zog, daß ich bey meinen Landsleuten ſchon Wein getrunken habe. Nein, mein lie - ber Graf, ich wuͤrde mir nicht die Freude ent - zogen haben, das erſte Glas in eurer Geſell - ſchaft zu trinken. Jch habe noch keinen Tro - pfen gekoſtet. Aber nun kommt, nun kann ich nicht laͤnger warten. Kommt, wir wol - len unſer Ungluͤck einige Augenblicke vergeſſen und die Freuden des Weins fuͤhlen, und uns alles das als gewiß vorſtellen, was wir wuͤn - ſchen. Wir tranken ein Glas. Welche Wol - luſt war das fuͤr uns! Wir ehrten durch un - ſere Entzuͤckung den Gott, der dem Weine die Kraft geſchenkt, unſere Herzen zu begeiſtern und dankten ihm durch ein ſtilles Nachdenkenfuͤr13Graͤfinn von G**fuͤr ein Vergnuͤgen, das wir ſeit ganzen Jah - ren nicht genoſſen hatten. Wir brachten ei - nen ganzen Nachmittag uͤber unſerer Flaſche Wein zu. Wir wollten nicht an unſer ausgeſtandnes Schickſal denken; aber es war uns unmoͤglich. Es war, als ob uns eine große Zufriedenheit fehlte, daß wir nicht mit einem Blicke die Reihe unſrer betruͤbten Begebenheiten uͤberſehen ſollten. Wir wieder - holten ſie einander, als ob wir ſie einander noch nicht geſagt haͤtten. Wir richteten uns bey unſern Klagen mit der Wahrheit auf, daß ein guͤtiger und weiſer Gott dieſes Schickſal uͤber uns verhaͤngt haͤtte, daß wir uns unſer Elend nicht leichter machen koͤnnten, als wenn wir uns ſeinen Schickungen geduldig uͤber - ließen, bis es ihm gefiele, uns das Ungluͤck, oder das Leben zu nehmen. Wir gaben ein - ander die Haͤnde darauf, alles was uns begeg - nen wuͤrde, mit einer uns anſtaͤndigen Gelaſ - ſenheit zu ertragen. Aber, fieng Steeley an, indem er meine Hand betrachtete, duͤrfen wir denn nicht wuͤnſchen, dieſe Haͤnde denen noch einmal zu reichen, die wir in unſerm Vater - lande lieben? Und wenn Gott dieſes nicht wollte, werden wir auch da gelaſſen bleiben? Wenn Gott dieſes nicht wollte ſprach ich, und konnte nichts mehr ſprechen. Es ward fin -ſter14Leben der Schwediſchenſter in meinem Verſtande. Jch ſah keine Gruͤnde zur Gelaſſenheit mehr, aber Urſachen genug, mich zu beklagen und euern Verluſt zu beſeufzen. Wir ſchwiegen eine zeitlang ſtill, als ob wir uns ſchaͤmten, den Entſchluß zu widerrufen, den wir nach langen Betrachtun - gen gefaßt hatten. Wie Gott will, fieng end - lich mein Freund mit einem Tone an, der doch die groͤßte Unruhe verrieth: wie Gott will! Jch will durch meine Gelaſſenheit gar nicht ei - nen Anſpruch machen, daß er ſeine Schickun - gen nach meinem Wunſche einrichten ſoll. Nein, er ſoll ſie ordnen. Aber iſt denn das Verlangen unſer Vaterland wieder zu[ſehn] und aus dieſer Barbarey erloͤſet zu ſeyn, ein ungerechter Wunſch? Sollen wir denn in die - ſem klaͤglichen Zuſtande unſer ganzes Leben zu - bringen und nur den Tod hoffen? So ſah es mit unſerer Gelaſſenheit aus, und ſo iſt es uns oft gegangen. Wenn wir uns bemuͤht ha - ben, recht ruhig zu ſeyn, ſind wir am unzufrie - denſten geworden. Man ſieht, wenn man den Betrachtungen uͤber die Vorſehung nach - haͤngt, die Unmoͤglichkeit ſich ſelbſt zu helfen, deutlicher, als wenn man ſich ſeinen Empfin - dungen uͤberlaͤßt; man ſieht die Nothwendig - keit, ſich ihren Fuͤhrungen zu uͤberlaſſen, und man will doch zugleich nicht von dem Planeſei -15Graͤfinn von G**ſeiner eignen Wuͤnſche abgehn. Man will ihn gewiß, man will ihn bald ausgefuͤhrt wiſſen, und man ſieht doch, daß die Umſtaͤnde dazu nicht in unſerer Gewalt ſtehn. Fuͤr dieſe trau - rige Entdeckung will ſich unſer Herz gleichſam durch die Unzufriedenheit raͤchen, und es um - nebelt den Verſtand, damit es von ſeinem Lich - te nicht noch mehr zu befuͤrchten habe.

Zur Arbeit hat man uns, wie die gemei - nen Gefangnen, noch nicht gezwungen, und gleichwohl verſtattet man uns nicht die ge - ringſte Freyheit auszugehen. Mein erſtes Geſchaͤfte in meinem itzigen Gefaͤngniſſe iſt die - ſer Brief, und daß wir keine Geſchaͤfte haben, uͤber denen wir uns zuweilen vergeſſen koͤnn - ten, dieſes macht unſer Elend vollkommen. Wenn auch die Erlaubniß, die ſich Steeley er - kauft hatte, ſeine Landsleute einige Stunden zu ſehn, uns nichts zu Wege gebracht haͤtte, als etliche Bogen Papier, und Dinte und Fe - der: ſo wuͤrde ſie uns doch ſchon koſtbar ge - nug ſeyn; denn dieſes haben wir fuͤr alles Geld nicht erhalten koͤnnen. Sidne, Stee - leys Landsmann und Vetter, iſt zu unſerm Ungluͤcke in ein ander Theil der Stadt gelegt worden; und ſo elend wir beide dran ſind: ſo muß es ihm doch noch weit kuͤmmerlicher gehn, da er von allem Gelde entbloͤßt iſt. Steeleygruͤßt16Leben der Schwediſchengruͤßt euch tauſendmal und iſt ſo ſehr euer Freund, als der meinige. Wenn ich ihn nicht haͤtte: ſo wuͤrde mir die Gefangenſchaft eine Hoͤlle ſeyn. Er hat bey einem redlichen und zaͤrtlichen Herzen gewiſſe Fehler, fuͤr die ich ihm recht verbunden bin, weil ſie oft unſe - re traurige Stille unterbrechen und uns etwas zu thun geben. Er liebt die Verdienſte ſeiner Nation auf Unkoſten der uͤbrigen Voͤlker. Dieſe Parteylichkeit, ein natuͤrlicher Unge - ſtuͤm, und der Fehler des Widerſprechens ma - chen mir ihn nothwendig und zugleich ſchaͤtzba - rer. Seine Widerſpruͤche kommen aus einer Fuͤlle des Geiſtes und der Lebhaftigkeit, aus einer Liebe zur Freyheit im Denken, aus einem Haſſe gegen alles niedertraͤchtige Nach - geben, und aus einem Ueberfluße der Aufrich - tigkeit und leicht aufwallender Empfindungen her. Jn ſeinem Charakter und in ſeinem Munde verliert alſo das Widerſprechen das meiſte von ſeiner beleidigenden Natur und wird eine Quelle zu vertrauten Geſpraͤchen und kleinen Zaͤnkereyen, deren Mangel uns die lange Zeit und die Gefangenſchaft noch weit verdrießlicher machen wuͤrde. Kurz, wir ſind fuͤr einander gemacht. Seine Fehler ſind von den meinigen das Gegengewicht, und ma -chen17Graͤfinn von G**chen ſeine guten Eigenſchaften nur deſto ſicht - barer. Er iſt ſehr vortheilhaft gebildet und ſeine Mine iſt ſo lebhaft, als ſein Herz. Er iſt noch jung. Das Ungluͤck in der Liebe iſt Ur - ſache, daß er ſein Vaterland verlaſſen und wi - der ſeine Neigung, bloß aus Unzufriedenheit, in Schweden Kriegsdienſte angenommen hat. Jch will euch ſein Ungluͤck kurz erzaͤhlen, und ihm euer Mitleiden dadurch verdienen. Als er nebſt ſeinem Vetter Sidne die Univerſitaͤt zu Oxford verlaſſen, begiebt er ſich auf ſeines Vaters Landgut, etliche Meilen von London, um deſto ruhiger ſtudiren zu koͤnnen. Hier wird er mit einem liebenswuͤrdigen Frauenzimmer, der Tochter eines benachbarten Landedel - manns bekannt, und faͤngt an, das erſtemal zu lieben. Nach zwey Jahren, nach tauſend beſiegten Hinderniſſen, und nach tauſend Be - weiſen ihrer Treue, erhaͤlt er endlich von ih - ren Aeltern das Ja, und von ſeinem Vater die Einwilligung. Der Tag zur Vermaͤhlung mit ſeiner geliebten Antonia wird angeſetzt. Sie ſoll Morgen auf ſeines Vaters Landgute vor ſich gehen, und heute reiſt er mit ihm zu ihr, um ſie nebſt den Jhrigen abzuholen. Sie kommen um die Mittagsmahlzeit an, und nach derſelben ſoll die Ruͤckreiſe erfolgen. Er ſitzt mit ſeiner Antonia in der zaͤrtlichſten Vertrau -II Theil. Blich -18Leben der Schwediſchenlichkeit unter einer Laube, als man ihnen mel - det, daß die Wagen angeſpannt wuͤrden. Verlaßt mich einen Augenblick, faͤngt ſie zit - ternd zu ihm an, und wenn alles fertig iſt: ſo holet mich ab. Er koͤmmt wieder und ſo - dert ſie zur Abreiſe auf. Nun bin ich, ſpricht ſie, indem ſie ihm die Hand reicht, bereit, euch zu folgen. Es war mir ſo bange, und ich weis nicht warum. Bin ich denn nicht gluͤck - lich genug, da ich in euern Armen der Zufrie - denheit der Ehe entgegen eile? Kommt, ich bin die Eurige. Er ſetzt ſich darauf mit ihr in die Kutſche, und die Uebrigen folgen in zween andern Wagen nach. Die Liebe, die unſchul - digſte und ſeligſte Liebe, ihr Urſprung, ihr Fort - gang, alles was ſie fuͤr einander gefuͤhlt haben, iſt in dem Wagen ihr Geſpraͤch. Jndem ſie noch ſo reden, und etwan noch eine Stunde bis auf ſeines Vaters Landgut haben, zieht ſich ein Gewitter auf. Jm kurzen wird der gan - ze Himmel ſchwarz und ein Schlag folgt auf den andern. Der Donner erſchlaͤgt eins von ihren Pferden. Antonia ſpringt darauf in der groͤßten Angſt aus dem Wagen und reicht Steeleyn die Hand, ihr nachzufolgen und mit ihr in das naͤchſte Dorf zu eilen. Jndem ſie ihn bey der Hand nimmt, thut es einen ent - ſetzlichen Schlag, und er ſinkt in den Wagen zu -ruͤck19Graͤfinn von G**ruͤck. Als er wieder zu ſich ſelbſt koͤmmt, ſieht er ſeine Braut noch an der Thuͤre des Wagens, vom Blitze getoͤdtet, leh - nen, ſo wie ſie ihm die Hand reichte. Kann wohl ein groͤßer Ungluͤck ſeyn? Der arme Freund! Ein halb Jahr darauf noͤthiget ihn ſein Vater, eine Reiſe vorzunehmen, um ſeine Schwermuth zu zerſtreuen. Er thut ihn in das Gefolge des Engliſchen Geſandten, der nach Stockholm geht, und giebt ihm ſeinen Vetter zum Gefaͤhrten mit. Und eben in dieſer Stadt entſchließt er ſich aus Schwermuth, und aus Verdruß gegen ſein Leben, ohne Wiſſen des Geſandten, Kriegsdienſte anzunehmen und muntert ſeinen Vetter zu eben dieſem Entſchluſſe auf. Er hat nunmehr an dieſen Geſandten geſchrieben, und ihm ſein Ungluͤck und ſeine Gefangenſchaft geklagt, und zugleich fuͤr mich, unter dem Namen des Capitains Loewenhoek gebeten. Vielleicht vermag die - ſer Mann etwas zu unſerer Befreyung. Addreſſirt eure Briefe nach der beygelegten Aufſchrift an den Sekretair dieſes Geſandten; er iſt Steeleys guter Freund. Jch wuͤrde noch nicht zu ſchreiben aufhoͤren, wenn wir mehr Papier haͤtten. Wird euch denn dieſer Brief auch antreffen? Ja, ich hoffe es und troͤſte mich ſchon mit einer Antwort von euch

B 2Mein20Leben der Schwediſchen

Mein Gemahl hat, wie er mir erzaͤhlt, in allen dreymal an mich geſchrieben. Zwey - mal aus Moskau und einmal aus Siberien. Der andere Brief aus Moskau iſt ganz ver - lohren gegangen. Er iſt ungefehr ein Jahr nach dem vorhergehenden und zu einer Zeit geſchrieben geweſen, in der es ihm in ſei - ner Gefangenſchaft am ertraͤglichſten gegan - gen. Steeley hatte naͤmlich durch ſeine Lands - leute und durch ihr Geld den Aufſeher der Ge - fangnen immer mehr gewonnen. Er hatte es ſo weit gebracht, daß ſein Vetter Sidne ihm und meinem Gemahle bey geſellet worden war. Durch den Beytritt dieſes Ungluͤckſeligen, von dem in dem folgenden Briefe eine traurige Nachricht enthalten iſt, war ihr Ungemach ei - nige Zeit ſehr gemildert worden. Mein Gemahl hat mir von dieſem Sidne nicht gu - tes genug erzaͤhlen koͤnnen. Er war von Natur liebreich und furchtſam geweſen, und bloß Steeleyn zu Liebe ein Soldat geworden. Er hatte nach ſeiner natuͤrlichen Beſchaffenheit die Beſchwerlichkeiten der Gefangenſchaft empfindlicher gefuͤhlt, als ſie beide; und ſo traurig er ſelbſt geweſen war: ſo war er doch, wenn Steeley und mein Gemahl ihren Muth verlohren hatten, aus Liebe fuͤr ſie gelaſſenund21Graͤfinn von G**und ihr Beruhiger geworden. Der Brief, den mein Gemahl aus der Stadt Tobolskoy in Siberien an mich geſchrieben, iſt fol - gender:

Liebſte Gemahlinn,

Jch hoffe, daß ihr noch lebt, weil es mein Herz wuͤnſcht, und ich hoffe ſo gar, daß dieſer Brief, den ich in dem entfernteſten und ſchrecklichſten Theile der Welt ſchreibe, gewiß in eure Haͤnde kommen ſoll. Ein Pohlniſcher Jude, der nach Tobolskoy handelt, und im Begriffe ſteht, wieder nach Pohlen abzurei - ſen, iſt mein Freund und großer Wohlthaͤter geworden, und vielleicht wird er gar mein Be - freyer aus der Gefangenſchaft. Jch habe ihm vor einem Jahre in einem nah an der Stadt gelegnen Gehoͤlze, wo ich nach dem Willen meines Schickſals noch, wie andre Ungluͤckliche, auf Zobel ausgehn mußte, das Leben erhalten, und ihn aus dem Schnee, in den er mit dem Pferde gefallen und faſt ſchon erfroren war, mit der groͤßten Gefahr erret - ret. Dieſer Mann iſt auf die edelſte Art dank - bar geweſen, und hat mir bewieſen, daß es auch unter dem Volke gute Herzen giebt, das ſie am wenigſten zu haben ſcheint. Er hat nicht eher geruht, biß er mich vor den Gou -B 3ver -22Leben der Schwediſchenverneur gebracht, bey dem er ſeines Reich - thums wegen in Anſehn ſteht. Herr, ſprach er, dieſer Schwediſche Officier hat mir, wie ihr wißt, das Leben erhalten, und ich habe Dank - barkeit und Geld genug, ihn zu ranzioniren. Der Gouverneur antwortete, daß dieſes nicht bey ihm ſtuͤnde, und daß er ohne Befehl von dem Hofe keinen Menſchen freygeben koͤnnte. Darauf gab ihm der Jude einen Beutel mit Golde und bat, daß er mir die beſchwerlichen Dienſte eines ins Elend Verwieſenen erlaſſen moͤchte. Der Gouverneur verſprach ihm die - ſes, doch unter der Bedingung, daß er taͤglich etliche Copicken fuͤr mich erlegen ſollte. Mein Wohlthaͤter bezahlte das Geld mit Freuden auf ein ganzes Jahr zum voraus und bat ſich zugleich aus, daß er mich in dem Gefangen - hofe einen Tag um den andern beſuchen duͤrfte. Doch ehe ich euch meine itzigen Umſtaͤnde wei - ter beſchreibe, ſo muß ich euch erſt ſagen, wie mirs ſeit drey Jahren in Siberien gegangen iſt, und wie ich in dieſes Land gekommen bin.

Wenn ihr meinen letzten Brief aus Mos - kau erhalten habt: ſo werdet ihr wiſſen, daß Sidne, Steeleys Anverwandter, nunmehr mit uns an einem Orte verwahret wurde. Das Geld, das Steeley von ſeinen Landsleu - ten aufs neue bekommen, langte einige Mo -nate23Graͤfinn von G**nate zu, unſere aͤuſſerlichen Umſtaͤnde zu ver - beſſern. Wir durften nicht bloß von der elen - den Koſt leben, die man den Gefangnen reich - te. Wir konnten wenigſtens zu Mittage etwas beſſers haben. Wir hatten dem Aufſeher lange angelegen, uns einige Engliſche oder Fran - zoͤfiſche Buͤcher zum leſen zu verſchaffen; allein wir erhielten keine. Er gab uns etliche Ruſ - ſiſche Chroniken, und einen Popen, oder Geiſt - lichen, der uns dieſe Sprache lehren ſollte. Wie froh waren wir, daß wir etwas zu thun bekamen. Es waren ſehr mittelmaͤßige Buͤ - cher, und dennoch laſen wir ſie wohl zehnmal durch. Wir konnten wenigſtens, ſo lange wir ſie laſen, nicht an unſer Elend denken, und dieſer Vortheil war groß genug fuͤr die Muͤhe, die wir anwenden mußten, wenn wir die Ge - ſchichte der alten Barbariſchen Fuͤrſten in Ruß - land verſtehn wollten. Unſer Pope vertrieb uns durch ſeinen Unterricht in der Sprache al - le Tage etliche Stunden fuͤr ein geringes Geld. Er brachte endlich einige kleine Buͤcher mit, welche von der Griechiſchen Religion handel - ten. Er war ſo unwiſſend darinn, als man nur ſeyn kann. Steeley widerſprach ihm nach ſeiner Gemuͤthsart ſehr oft, und ſo we - nig er noch das Ruſſiſche ſprechen konnte: ſo konnte er doch genug, um ihn zu widerlegen. B 4Jch24Leben der SchwediſchenJch und Sidne baten ihn oft, es nicht zu thun, weil wir nach und nach viel Bosheit bey dem Popen merkten. Da endlich unſer Geld alle wurde und der Pope auf die letzt meiſtens betrunken zu uns kam: ſo dankten wir dieſen Geiſtlichen ab. Dieſes verdroß ihn. Er ſchalt auf Steeleyn und den armen Sidne, der ihm das letzte Geld fuͤr ſeine Unterweiſung auszahlte. Wir ſuchten ihn bald durch gute Worte, bald durch Stillſchweigen zu beſaͤnfti - gen; aber vergebens. Der Brandtwein und eine niedertraͤchtige Seele tobten aus ihm, und er laͤrmte und ſchrie, biß die Wache hereintrat. Sie fragte, was es waͤre, und der Boͤſewicht beſchuldigte uns, daß wir wider den Zaar und die Kirche geſprochen haͤt - ten. Die Wache ward uͤber dieſe Beſchuldi - gung ſo raſend, daß wir in der Gefahr waren, umgebracht zu werden. Der Oberaufſeher kam und verſprach dem Popen Genugthuung; wir aber wurden gleich als die groͤßten Miſſe - thaͤter geſchloſſen. Ach meine Gemahlinn, ſoll ich euch unſere damalige Angſt beſchreiben? ſoll ich euch alles ſagen? Wir wurden den andern Tag zum Verhoͤr gebracht. Der Po - pe, deſſen Wort unbetruͤglich war, widerhol - te ſeine Beſchuldigung zuerſt gegen Steeleyn. Mein Freund berufte ſich auf ſeine Unſchuld;aber25Graͤfinn von G**aber vor dieſem ſchrecklichen Gerichte galt ſie nicht. Man verfuhr nach ihrer barbariſchen Gewohnheit, die Wahrheit vor Gerichte her - auszubringen. Man ließ ihn niederwerfen und ihm die Bodoggen geben, damit er beken - nen ſollte. Er ſtund dieſe Marter vor unſern Augen ſtandhaft aus und ließ unter den Haͤn - den der Barbaren, die ihn mit zwey Staͤben auf den bloſſen Leib ſchlugen, nicht die ge - ringſte Klage hoͤren. Als ſeine Qvaal voruͤ - ber war, ohne daß man ihm ein Geſtaͤndniß hatte abzwingen koͤnnen, ſo kam die Reihe an den ungluͤckſeligen Sidne. Der Pope bekann - te wider ihn, und Sidne, der mit tauſend Thraͤnen und Bitten dieſer Marter vergebens zu entgehn ſuchte, ward endlich nieder geriſ - ſen. Jch wollte das Geſicht wegwenden, um ſeiner Qvaal nicht mit zuzuſehn; allein die Wuͤtriche noͤthigten mich, der naͤchſte Zeuge davon zu ſeyn. Er erduldete ſie, ohne ſie zu uͤberleben. Sobald man ihm die geſetzte Zahl von Streichen gegeben hatte: ſo lag er ohne Bewegung da. Man nahm ein Geſchirr Waſſer und goß es ihm uͤber das Geſicht, um ihn wieder zu ſich ſelbſt zu bringen; doch es war kein Leben in ihm; und dieſes befremde - te unſere Richter um deſto weniger, weil viele von den Angeklagten unter dieſer Marter dasB 5Le -26Leben der SchwediſchenLeben einbuͤſſen. Steeley war wegen ſeines Unvermoͤgens bey Seite geſchafft; Sidne war todt, und ich erwartete, ohne mir recht bewußt zu ſeyn, mein Schickſal. Der bos - hafte Pope verlohr entweder mit dem Leben des Sidne ſeine Rachbegierde, oder er hielt ſich von mir am wenigſten beleidiget. Er be - ſchuldigte mich keiner Laͤſterungen wider den Staat, er begehrte nur, daß ich geſtehen ſoll - te, daß meine beiden Cameraden welche aus - geſtoßen haͤtten. Jch vertheidigte mich, daß ich von nichts wuͤßte. Man befahl, eben die Marter an mir vorzunehmen. Man legte mich auf die Erde und fragte noch einmal, ob ich nichts gehoͤrt haͤtte. Die Furcht vor der Pein und vor dem Tode beſtuͤrmten mich ent - ſetzlich. Dennoch beſchloß ich eher zu ſterben, als durch ein falſches Bekenntniß mir das Le - ben zu retten und es Steeleyn vielleicht zu nehmen. Jch weis nicht, ob mein trauriger Anblick den Popen zum Erbarmen bewegte; genug, er bat fuͤr mich um Gnade und ſagte, daß ich vielleicht die Laͤſterungen nicht koͤnnte verſtanden haben, weil ich nicht ſo viel Ruſ - fiſch koͤnnte, als die andern beide. Man ließ mich alſo wieder aufſtehn und brachte mich in unſer Gefaͤngniß zuruͤck, in welchem ich Stee - leyn ſinnlos antraf. Jch warf mich zu ihmauf27Graͤfinn von G**auf das harte Lager und umarmte ihn mit der einen Hand; denn mit der andern war ich noch geſchloſſen. Er ſprach die ganze Nacht kein Wort und lag in einem fuͤhlloſen Schlum - mer. Der Morgen brach an. Jch redte auf meinen Freund und er ſchlug endlich zu mei - ner Freude die Augen auf und reichte mir die Hand. Unſer Aufſeher kam und erkundigte ſich, ob Steeley noch lebte. Er ließ mir die Banden abnehmen und ſchien uns beide zu be - dauern. Jch verſicherte ihn bey allem, was heilig iſt, daß mein Freund ſo unſchuldig waͤ - re, als ich. Das hilft euch nichts, ſprach er. Das Zeugniß des Popen, als eines Geiſtlichen, gilt, und ihr ſeyd beide verurtheilt, nach Si - berien geſchickt zu werden. Gott helfe euch! ich kann euch nicht helfen, ſonſt muß ich alles von dem Popen befuͤrchten. Seyd zufrieden, wenn euch die Zunge nicht aus dem Halſe ge - ſchnitten wird, ehe ihr nach Siberien verwie - ſen werdet; denn dieſes widerfaͤhrt denen, die wider den Staat, oder die Kirche geſprochen haben. Warum ſeyd ihr ſo unvorſichtig ge - weſen und habt den Popen beleidigt? Jn ein Paar Tagen wird man euch nebſt andern Ge - fangnen nach Siberien ſchicken. Jch werde euch wohl nicht wieder ſehn. Jch warf mich neben Stecleyn nieder, der immer noch in ſei -ner28Leben der Schwediſchenner Betaͤubung lag, und wenigſtens itzt gluͤck - licher war als ich, weil er ſich ſeiner nicht mehr bewußt zu ſeyn ſchien. An Statt, daß der Aufſeher mir einen Troſt haͤtte zuſprechen ſol - len: ſo foderte er fuͤr die grauſame Nachricht, und fuͤr ſeine Dienſte uͤberhaupt, noch eine Belohnung. Jch griff in Steeleys Taſchen, um ſuͤr ihn etwas zu ſuchen; allein die Wa - che hatte ihm alles genommen. Da der Auf - ſeher kein Geld mehr ſah: ſo ſchien der Schat - ten von ſeinem Mitleiden zu verſchwinden. Er gieng mißvergnuͤgt fort und ließ mich in einem Zuſtande liegen, den ich euch nicht be - ſchreiben kann. Jch verſank in Schwermuth und Traurigkeit. Von Gott und Menſchen in meinen Gedanken verlaſſen, und feindſelig im Herzen wider beide, ſchlief ich ſchrecklicher Menſch ein, indem ich mir den Tod tauſend - mal wuͤnſchte. Es war viele Naͤchte kein Schlaf in meine Augen gekommen, und mei - ne zerſtoͤrten und ermatteten Geiſter hatten eine lange Ruhe noͤthig, wenn ſie wieder zu ſich ſelbſt kommen ſollten. Jch glaube, daß ich laͤnger als vier und zwanzig Stunden in ei - nem Stuͤcke geſchlafen habe. Jch erwachte und ſah meinen Freund mit aufgeſchlagnen Augen neben mir liegen. Er fragte mich, wo Sidne waͤre, denn er war weggeſchafft wor -den,29Graͤfinn von G**den, ehe Sidne ſtarb. Jch konnte ihm nicht antworten. Jſt er todt? ach wenn doch Gott das wollte! ſo waͤre er gluͤcklicher, als wir. So iſt er nicht mehr in den Haͤnden der Henker? Jch ſagte ihm, daß er todt waͤre. Jch fragte ihn, ob er noch große Schmerzen empfaͤnde, und er fragte mich, ob ich ſie noch ſehr fuͤhlte, denn er glaubte, daß ich ſeine Mar - ter ebenfalls ausgeſtanden haͤtte. Alſo hat man euch verſchont? fieng er, nach meiner Erzaͤhlung, an. Nun bin ich doppelt zufrie - den. Sidne iſt todt, und ihr habt meine Qvaal nicht gefuͤhlt. Fuͤr beides muͤſſen wir Gott danken.

Jch konnte ihm die Nachricht von unſrer Verweiſung nach Siberien nicht laͤnger verſchweigen. Jch ſagte ihm, was ich von dem Aufſeher gehoͤrt hatte. Er ſchien durch das erlittene Ungluͤck ſchon ſo unempfindlich geworden zu ſeyn, daß ihn Siberien nicht mehr ſchreckte. Als ich aber davon anfieng, daß man uns vielleicht noch grauſamer begegnen wuͤrde: ſo rang er die Haͤnde. Nein, nein, ſchrie er, lieber den Tod, tauſendmal lieber, als jenes. Wollt ihr noch leben, wenn man euch ſo mißhandelt? Wir uͤberlieſſen uns der Wut und der Verzweiflung vom neuen. Jndem trat der Aufſeher in unſer Gefaͤngniß und kuͤn -dig -30Leben der Schwediſchendigte uns an, daß man uns Morgen fruͤh nach Siberien abfuͤhren wuͤrde. Wird man uns, rief Steeley, noch etwas mehr thun? Nein, ſprach der Ruſſe, nichts mehr, ihr ſeyd beide nur verurtheilt, nach Siberien zur Ar - beit verwieſen zu werden. Nun ſchien uns das groͤßte Elend geringe zu ſeyn, da wir nur hoͤrten, daß man keine weitere Gewalt an uns ausuͤben wollte; und wir fanden in dem Ver - lußte dieſer Furcht eine Art des Troſtes, den uns alles andere nicht haͤtte geben koͤnnen. Steeley wollte dem Aufſeher noch eine Beloh - nung geben, allein ſein Geld war ihm genom - men. Nachdem er lange geſucht, fand er end - lich noch zween Rubel. Er ſtund vor Freu - den zum erſtenmale von ſeinem Lager auf und ſagte dem Aufſeher, daß er ſeinen Reichthum mit ihm theilen wollte. Dieſer war auch ſo menſchlich, daß er ihm die Haͤlfte zuruͤck gab. Steeley fragte darauf, wo man den todten Koͤrper des Sidne hingethan haͤtte, ob er ihn nicht noch einmal ſehn koͤnnte. Der Ruſſe antwortete, daß man ihn ſchon an dem Orte eingeſcharret haͤtte, wo die Miſſethaͤter begra - ben wuͤrden. Er liege, wo er wolle, fieng er mit einem thraͤnenden Ungeſtuͤm an, er iſt doch ein ehrlicher Mann und mein Freund: es iſt ihm unrecht geſchehn Jch rief ihm zu, daßer31Graͤfinn von G**er ſchweigen und ſich aus Liebe zu ſeinem tod - ten Freunde nicht noch ungluͤcklicher machen ſollte. Er fragte, ob es nicht noch moͤglich waͤre, einen von ſeinen Landsleuten zu ſprechen; aber daran war nicht mehr zu gedenken. Nunmehr nahm unſer Aufſeher Abſchied. Wir dankten ihm unausſprechlich fuͤr ſeine Men - ſchenliebe, ob wir ſie gleich meiſtens erkauft hatten. Wir umarmten ihn und fragten ihn immer, ob es auch gewiß waͤre, daß man uns nichts weiter thun wuͤrde. Er verſicherte uns die - ſes mit dem groͤßten Eide, den ſie in ihrer Spra - che haben. Wir wollten ihm noch etwas Geld geben, daß er uns zu eſſen ſchaffen ſollte; denn es war wohl der dritte Tag, daß wir nichts zu uns genommen hatten. Auf einmal ward er großmuͤthig und ſagte, daß er uns zu eſſen und auch ein Glas Brandtwein auf unſere traurige Reiſe, und Steeleyn ein Pflaſter uͤber den Leib bringen wollte, welches ihm gute Dienſte thun wuͤrde. Er hielt ſein Wort und brachte uns, was er uns verſprochen hatte. Wir aſſen den Abend ziemlich ruhig und ergaben uns in alles, was uns begegnen wuͤrde, weil wir ſicher waren, daß uns faſt nichts ſchrecklichers begegnen konnte, als was wir ſchon ausge - ſtanden hatten. Der Schmerz, den Steeleynoch32Leben der Schwediſchennoch in dem Leibe fuͤhlte, minderte ſich durch das empfangne Pflaſter. Der Morgen brach an, ohne daß wir geſchlafen hatten, und man foderte uns zur Reiſe auf. Der Aufſeher empfahl uns dem Officier, der uns zu den uͤbrigen acht Gefangnen fuͤhrte, welche mit uns nach Siberien ſollten gebracht werden, und welche, wie ich nachdem erfuhr, meiſtens vornehme Ruſſen und wegen der Rebellion verdaͤchtig waren. Wir wurden alle zehn auf zwey Fahrzeuge vertheilt, und ich hatte gleich das Ungluͤck, daß man Steeleyn von mir trennte und auf den andern Wagen wies. Mehr hatte zu meinem Elende nicht gefehlt. So wie wir auf einer Station ankamen, muß - ten wir auch wieder fortgebracht werden, alſo kam Steeley niemals zu mir, uud ich habe auf dem ganzen Wege nichts, als einzelne Wor - te, mit ihm ſprechen koͤnnen. Drey von mei - nen Gefaͤhrten waren Ruſſen, und ihre Her - zen waren ſo wild, als ihre Geſichter. Jhr Unfall machte ihre Gemuͤther nur mehr erbit - tert, und ſie ſchaͤmten ſich, daß ſie, als Rußi - ſche Knees, mit einem Schweden und einem Franzoſen, denn dieſes war mein vierter Ge - faͤhrte, ein gleiches Ungluͤck theilen ſollten. Der Franzoſe, der Major geweſen war, und ſich ungluͤcklicher Weiſe ſeinem Oberſten mitdem33Graͤfinn von G**dem Degen widerſetzt hatte, ward bald mein Vertrauter, und wir waren um deſto gluͤckli - cher, weil die Ruſſen kein Franzoͤſiſch verſtun - den. Er hatte die edlen Meinungen einer gu - ten Erziehung im Felde nicht verlohren; und ſo unterſchieden ſeine Gemuͤthsart von der mei - nigen war: ſo machte uns doch das Ungluͤck ſchon halb zu Freunden. Er hatte ein von Natur ehrliches Gemuͤth, und das Mißtrauen, das ich anfangs bey ihm merkte, verlohr ſich voͤllig, da er mein Herz kennen lernte. Jch bildete ihn auf unſerm elenden und beſchwer - lichen Wege ſo, wie ich ihn haben wollte, und wie er ſeyn mußte, wenn er mir Steeleys Verluſt einiger maſſen erſetzen ſollte. Je naͤ - her wir Siberien kamen, deſto unfreundlicher wurden wir an denen Orten aufgenommen, wo man uns weiter fortſchaffen mußte. Wir achteten die Niedertraͤchtigkeiten, ich und Re - mour, ſo hieß der Franzoſe, kaum mehr, mit denen man uns begegnete. Wir bleiben doch rechtſchaffene Leute, ſprach der Major immer zu mir, wenn uns gleich der Poͤbel verun - ehrt. Er, ich, und die vornehmen Ruſſen, wir waren einer ſo arm, als der andre; und wenn wir auch etwas gehabt haͤtten: ſo wuͤrde uns doch der Poͤbel, oder unſere eigene Bedeckung nichts gelaſſen haben; ſo ſeindſelig geht manII Theil. Cmit34Leben der Schwediſchenmit denen um, die das Ungluͤck haben, nach Siberien beſtimmt zu ſeyn. Wir hatten nichts als trocknes Brodt, und auch damit waren wir zufrieden. Die Kaͤlte quaͤlte uns am meiſten. Niemand empfand ſie mehr als der arme Stee - ley an ſeinem mißhandelten Koͤrper. Nach ungefehr ſechs oder ſieben Wochen kamen wir in Tobolskoy an, wohin wir verwieſen wa - ren. Wir fanden, daß ichs kurz ſage, hier alles, was eine Gegend fuͤrchterlich und das Leben eines ins Elend Verwieſenen traurig machen kann. Wir wurden dem Gouver - neur vorgeſtellt und ich hatte das Ungluͤck von meinem lieben Steeley getrennt zu werden; doch blieb mir Remour. Der Gouverneur legte uns allen nach der eingefuͤhrten Gewohn - heit einerley Schickſal auf, naͤmlich die elende Beſchaͤftigung, Zobel zu fangen, deren Felle an den Ruſſiſchen Hof geliefert werden. Stellt euch vor, was ein Mann von meinem Stande und von meiner Gemuͤthsart fuͤhlen muß, der ſich zu der niedrigſten Verrichtung verdammet ſieht, der mit ſtumpfen Pfeilen in den Waͤldern her - umirren und Zobel erlegen, oder ſie mit Fal - len fangen, und unter den Befehlen ſolcher Menſchen ſtehen muß, die nicht viel vernuͤnfti - ger, und oft grauſamer, als Thiere ſind. Wenn35Graͤfinn von G**Wenn nicht die groͤßte Plage durch die Laͤnge der Zeit etwas von ihrer Laſt verloͤre; wenn nicht die groͤßten Beſchwerlichkeiten dem Koͤr - per endlich zur Gewohnheit wuͤrden, oder, daß ich mehr ſage, wenn Gott denen, die ohne ih - re Schuld ungluͤcklich ſind, nicht ſelbſt ihr Schickſal durch ihre Unſchuld und durch die geheimen Vergnuͤgungen eines guten Gewiſ - ſens in gewiſſen Stunden erleichterte: ſo wuͤr - de mein Zuſtand in Siberien ein Stand der Verzweiflung geweſen ſeyn. So elend jeder Tag verſtrich: ſo fand ich doch wenigſtens als - dann eine Beruhigung, wenn ich meinen Re - mour ſehn und ſprechen, und das, was mir begegnet war, und auch das, was ich ihm ſchon hundertmal geſagt hatte, in ſeine Seele aus - ſchuͤtten konnte. Ein Sclave zu ſeyn, bleibt allemal das groͤßte Ungluͤck; allein einen Freund in dieſem Elende zum Gefaͤhrten zu haben, iſt zugleich die groͤßte Wohlthat. Ei - ne Umarmung, ein Wort, ein Blick von ihm, alles iſt ein Troſt, der ſich nicht ausdruͤcken laͤßt, alles iſt Mitleiden; und was ſucht ein ungluͤckliches Herz, das der Nothwendigkeit elend zu ſeyn unterworfen iſt, mehr, als Mit - leiden? Jch wuͤrde undankbar gegen mein Schickſal ſeyn, wenn ich, da ich euch mein Un -C 2ge -36Leben der Schwediſchengemach erzaͤhle, nicht auch der kleinen An - nehmlichkeiten gedaͤchte, die der Elendeſte noch in ſeinen Umſtaͤnden zuweilen empfindet. Die Natur der Dinge ſcheint ſich, den Ungluͤckli - chen zu gefallen, oft zu veraͤndern; und das, was mir im Gluͤcke eine Betruͤbniß geweſen ſeyn wuͤrde, ward mir im Ungluͤcke ein Troſt. Jch habe, ſeit dem ich ſo gluͤcklich bin, weni - ger ein Sclave zu ſeyn, dieſen Spuren der Vorſehung oft mit tiefer Ehrfurcht, obgleich mit einem innerlichen Schauer, nachgedacht. Vielmal habe ich, wenn ich der Verzweiflung am naͤchſten war, und in der Ferne einen an - dern Verwieſenen erblickte, in dieſem Anbli - cke einen Troſt gefunden. Der Tod ſelbſt, der uns ſonſt ſo ſchrecklich ſcheint, iſt mir tau - ſendmal zur Wolluſt geworden, und der Ge - danke von ihm, der uns ſonſt niederſchlaͤgt, hat mich unter der Laſt, unter der ich ſeufzte, recht goͤttlich aufgerichtet. Jch bin in der Vorſtellung, daß ich in dieſer oder jener Nacht vielleicht ſterben koͤnnte, oft ſo freudig einge - ſchlafen, als ob ich alles haͤtte, was ich wuͤnſch - te. Und wenn ich um und neben mir kein Vergnuͤgen erblicken konnte: ſo brachte mir die Religion doch oft die Freuden aus einer andern Welt heruͤber. Nachdem ich alſo drey Jahre in einer vollkommenen Knechtſchaft zu -ge -37Graͤfinn von G**gebracht, und, gleich den andern Gefangnen, mir das Brodt aus den Haͤnden meiner Ge - bieter durch eine gewiſſe beſtimmte Anzahl der Thiere, die wir fiengen, erkaufen muͤſſen: ſo ereignete ſich die Begebenheit mit dem Pohl - niſchen Juden. Dieſer dankbare Mann, wie ich euch ſchon erzaͤhlt habe, hat mich durch ſeine Vorbitte bey dem Gouverneur und durch ſein erlegtes Geld von der Arbeit befreyet. Er hat es nach und nach ſo weit gebracht, daß ich in ein lichter und geraumer Behaͤltniß ge - kommen bin. Sobald ich dieſes nur hatte: ſo ſuchte er mir meine Gefangenſchaft noch mehr zu erleichtern. Er brachte mir ein be - qvemes Kleid und entriß mich dem groben und wilden Anzuge, in welchem ich nun ſchon ſo lange gegangen war. Schreckliches Kleid, das noch hier vor meinen Augen haͤngt und mich an das vorige Ungluͤck erinnert! Er brachte mir allerhand Decken und Pelzwerke zum Schlafen, wiewohl mich dieſe Anfangs nur an dem Schlafe hinderten. Eine lange Gewohnheit, hart zu liegen, hatte ſie faſt un - nuͤtz fuͤr mich gemacht. Er beſuchte mich oft, und niemals, ohne mir eine Gutthat zu erwei - ſen. So ſehr mein Zuſtand von dem vorigen unterſchieden war: ſo war er mir doch nicht angenehm genug, weil ich ihn nicht mit Stee -C 3leyn38Leben der Schwediſchenleyn oder mit Remourn, theilen konnte. Von Steeleyn hatte mein Wohlthaͤter auf mein Bitten die Nachricht eingezogen, daß er nach Pohem, vierzehn Tagereiſen von Tobolskoy, gebracht worden waͤre, ob er aber noch lebte, das konnte ich nicht erfahren. Der Jude hat - te mir ein Geſchenk von ein Duzend Dukaten gemacht, damit ich in ſeiner Abweſenheit et - was zu meiner Verſorgung haͤtte. Jch wag - te es und bat ihn, daß er drey davon Re - mourn uͤberbringen, oder ihm einige Erqui - ckungen dafuͤr ſchaffen moͤchte, die uͤbrigen hub ich in Gedanken fuͤr Steeleyn auf. Er that es, und das war nicht genug: er brachte es noch denſelben Tag dahin, daß Remour etliche Stunden zu mir gelaſſen wurde. Jch thei - lete mein Herz mit ihm und alles, was ich hat - te. Jch hoffte dieſes Vergnuͤgen noch mehr - mal zu genieſſen; allein er ward darauf krank und ſtarb; und ich erhielt nicht eher, als et - liche Stunden vor ſeinem Tode die Erlaubniß ihn zu beſuchen, da er kaum noch etliche Wor - te ſtammeln konnte. Der Jude ſetzte, wie er mir verſprochen hatte, ſeine Beſuche fleißig fort. Er gab mir allerhand Anſchlaͤge, aller - hand Nachrichten von dem Gouverneur, und ſagte mir, daß er bey dem Zaar in groſſen Gnaden ſtuͤnde, daß er mit ihm in Deutſch -land39Graͤfinn von G**land geweſen waͤre, daß ſeine Gemahlinn aus Curland gebuͤrtig und eine Vertraute der Ca - tharina geweſen ſey. Er erzaͤhlte mir ferner, daß der Gouverneur ein groſſer Liebhaber vom Bauen waͤre, und daß ich, wenn ich etwas von der Baukunſt verſtuͤnde, mir vielleicht gar ſeine Gnade erwerben wuͤrde. Dieß war mir eine ſehr angenehme Nachricht. Jch ſagte ihm, daß ich zeichnen und Riſſe zu Gebaͤuden machen koͤnnte, und wenn er mir die noͤthigen Sachen ſchaffte, ſo wuͤrde ich wenigſtens ei - ne Beſchaͤftigung in meiner Einſamkeit mehr haben. Er that es, und ich uͤbte mich eini - ge Wochen. Sobald ich einen nicht unge - ſchickten Riß fertig hatte: ſo trug ihn der Ju - de zum Gouverneur. Den andern Tag wur - de ich ſchon zu ihm geholt. Er verſtund zu meinem Gluͤcke etwas von der Baukunſt, und wuͤrdigte mich, als mein Befehlshaber, etlicher freundlichen Minen und unterredte ſich mit mir bald auf deutſch, bald im gebrochnen La - tein. Er erſchrack, daß ich ſo fertig Latein ſprechen konnte, und von dieſem Augenblicke an ſchien er mich zu bedauern. Wenn es bey mir ſtuͤnde, ſprach er, ſo wollte ich euch die Freyheit ſchenken; allein ihr ſeyd auf zeitle - bens nach Siberien verbannet, und ich kann nichts thun, als euch eure Gefangenſchaft er -C 4traͤg -40Leben der Schwediſchentraͤglicher machen. So lange ich lebe, ſoll euch alle Arbeit der Gefangnen erlaſſen ſeyn, ohne daß der Jude etwas weiter fuͤr euch be - zahlt. Seyd ihr damit zufrieden? Jch be - dankte mich ſehr ehrerbietig und ſah ihn beweg - lich an. Jhr koͤnnt leicht denken, warum ich ihn nunmehr bat. Jch nahm alle meine Be - redſamkeit zuſammen, um ihn zu bewegen, daß er einem Freunde von mir, der zugleich mit mir nach Siberien verwieſen worden, und Steeley hieſſe, eben die Großmuth erzeigen ſollte, die er mir erwieſen haͤtte. Jhr bittet mehr, fieng er an, als mir zu thun frey ſteht. Jch will mich entſchlieſſen. Jtzt koͤnnt ihr gehn und mir den Riß von dem Gebaͤude ma - chen, von dem ich mit euch geſprochen habe. Jndem er dieſes noch ſagte, trat ein ſehr ſchoͤ - nes-Frauenzimmer mit einer viel verſprechen - den und großmuͤthigen Mine in das Zimmer. Wartet, rief er mir zu. Hier, meine Gemah - linn, fuhr er fort, iſt der ungluͤckliche Schwe - de, von dem ich euch neulich geſagt habe. Wenn es euch gefaͤllt, ſo koͤnnt ihr ſelbſt mit ihm reden, und ihm etwas zu eſſen reichen laſ - ſen. Jch will ein Paar Stunden auf die Jagd reiſen. Er gieng fort, und ſeine Ge - mahlinn redte auf eine ſehr liebreiche Art mit mir, und ſagte, daß ſie Urſache haͤtte, an mei -nem41Graͤfinn von G**nem Ungluͤcke Theil zu nehmen, weil ich, wie ſie hoͤrte, ein halber Landsmann von ihr waͤ - re. Sie that tauſend Fragen an mich und belohnte meine Erzaͤhlungen mit einer mitlei - digen Aufmerkſamkeit und mit einer Hoͤflichkeit, die mir alle Furcht benahm, frey und edel mit ihr zu reden. Nichts hoͤrte ſie lieber als die vortheilhaften Beſchreibungen, die ich ihr von euch machte, und die Wuͤnſche, euch, meine Gemahlinn, wieder zu ſehn. Jch bedaure ſie, fieng ſie an, nachdem ſie wohl zwo Stunden mit mir geſprochen hatte; und ich wuͤrde ihren Verdienſten ein beſſer Schickſal anweiſen, wenn ich dem Hofe naͤher waͤre. Vielleicht iſt es moͤglich, daß ich mit der Zeit noch etwas zur Ruͤckkehr in ihr Vaterland beytragen kann. Die ausnehmende Liebe, die ſie wider die Ge - wohnheit ihres Geſchlechts fuͤr ihre Gemah - linn haben, und ihr Ungluͤck ſind genug, mich zu ihrer Freundinn zu machen, und ich kann ihnen meine Hochachtung nicht entziehn, wenn gleich ihre Gebieter ihnen als einem Sclaven begegnen. Gefaͤllt ihnen mein Mitleiden: ſo beruhigen ſie ſich damit in einem Lande, wo die Barbarey die Stelle der Tugend zu ver - treten ſcheint. Jch wuͤrde dieſen Mittag mit ihnen ſpeiſen, wenn ich meinem Willen fol - gen duͤrfte. Darauf langte ſie| von der Ta -C 5fel,42Leben der Schwediſchenfel, die ſchon gedeckt war, eine Flaſche Wein, und trank mir eure Geſundheit zu. Jch ward von ihrer Großmuth bis zu den Thraͤnen ge - ruͤhret, und es war mir unmoͤglich, ihr meinen wahren Nahmen laͤnger zu verſchweigen. Jch warf mich zu ihren Fuͤſſen. Madam, fieng ich an, ſie verdienen, daß ich ihnen auf den Knien fuͤr die Freundſchaft danke, die ſie mir Ungluͤcklichen ſchenken. Jch muß ihnen alles ſagen, wenn auch mein Bekenntniß mit der Gefahr meines Lebens verknuͤpft ſeyn ſollte. Alles iſt wahr, was ich ihnen erzaͤhlt habe, allein ich heiſſe nicht Loͤwenhoek. Nein, ich bin der Graf von G** und ich bitte ſie bey ihrer edlen Seele und bey meiner Gemahlinn, meinen Namen nicht zu entdecken. Sie hob mich freundlich auf, und ich erzaͤhlte ihr mein Ungluͤck bey der Armee. O Gott! rief ſie, ſind ſie der Graf von G**? Mein Gemahl hat ihren Vater als Geſandten in Moskau ge - kannt. Ungluͤcklicher Graf! Sagen ſie ihm ja nichts davon. So viel ich Urſache habe mit ſeiner Auffuͤhrung gegen mich zufrieden zu ſeyn: ſo hat er doch gegen andere ein hitziges und rachgieriges Herz, und wie bald koͤnnte es nicht geſchehn, daß ſie ihn wider ihren Wil - len beleidigten. Begegnen ſie ihm ja allezeit mit einer tiefen Unterwerfung, und alsdannam43Graͤfinn von G**am allermeiſten, wenn er am gnaͤdigſten mit ihnen umgeht, auſſerdem ſtehn ſie in der Ge - fahr, noch weit mehr zu erfahren. Er liebt das Geld, und es wird gut fuͤr ſie ſeyn, wenn ihm der Jude von Zeit zu Zeit ein Geſchenk macht. Jch habe kein Geld, fuhr ſie fort, um ihnen zu dienen: allein ich habe Juwelen, von denen mein Gemahl nichts weis, davon will ich ihnen einige holen. Der Jude iſt ein ehrlicher Mann und wird ihnen doch wenigſtens die Haͤlfte ſo viel dafuͤr geben, als ſie werth ſind; allein ich wollte es nicht gern, daß ſie ihm ſagten, von wem ſie ſolche be - kommen haͤtten. Sie brachte mir darauf zwo goldne Einfaſſungen, die wie ich muth - maßete, von ein Paar Portraits abgenom - men waren. Sie waren mit koſtbaren Stei - nen beſetzt. Nehmen ſie, ſprach ſie, dieſes Geſchenk als einen Beweis an, daß es mir nicht an dem Willen fehlt, ihr Elend zu min - dern. Jch zweifle, daß ich iemals wieder die Gelegenheit erhalten werde, ſie allein zu ſpre - chen: darum wiederhole ich ihnen mein Mit - leiden und meine Hochachtung, und bitte ſie, in mir auch alsdann ihre Freundinn zu erken - nen, wenn ich genoͤthigt ſeyn werde, die Per - ſon einer Gebieterinn anzunehmen. Bege - ben ſie ſich nunmehr wieder in ihren einſamenAuf -44Leben der SchwediſchenAuffenthalt. Jch will ſehn, ob ichs bey mei - nem Gemahle ſo weit bringen kann, daß ihr Freund, von dem ſie mir erzaͤhlt haben, zu ih - rer Geſellſchaft hieher verlegt wird. Gewiß kann ichs ihnen nicht verſprechen. Gehn ſie und leben ſie wohl, armer Graf! Jch kehrte als im Triumpfe zuruͤck, und hielt mich nun - mehr unter den Haͤnden der Barbaren fuͤr ge - ehrt und gluͤcklich; ſo ſehr erfuͤllte das Mit - leiden dieſer ſo großmuͤthigen Seele mein Herz mit Hoheit und Hoffnung. Mein Jude be - ſuchte mich den Tag darauf. Und ehe ich ihm erzaͤhlte, wie ich von dem Gouverneur aufgenommen worden: ſo ſagte ich ihm, daß ich ſo gluͤcklich geweſen waͤre, in dem alten Kleide meines verſtorbenen Freundes, das er, da er bey mir war, zuruͤck ließ, weil ich ihm ein neues gab, uud das ich itzt vor mich hingelegt hatte, einige Koſtbarkeiten zu finden, wodurch ich ihm vielleicht die Koſten erſetzen koͤnnte, die er als mein Freund fuͤr mich zeither aufge - wandt haͤtte. Er betrachtete die beiden Ein - faſſungen mit Erſtaunen und ſchien mein Vor - geben zu glauben. Das ſind fuͤrſtliche Koſt - barkeiten, fieng er an, und ich kann euch mei - ne Aufrichtigkeit nicht beſſer beweiſen, als daß ich euch ſage, daß ſie fuͤnf bis ſechs tauſend Thaler werth ſind. Wollt ihr mir ſie anver -trauen:45Graͤfinn von G**trauen: ſo will ich ſie euch bey einem Juden, der Steine einkauft, verhandeln. Ein Mann, ſprach ich, der mir ſo viel Gutes erwieſen hat, wie ihr, verdient das groͤßte Vertrauen. Al - lein, verſetzte er, was wollt ihr mit ſo vielem Gelde anfangen? Man koͤnnte es euch uͤber lang oder kurz nehmen. Wißt ihr, was ich machen will? Jch will das Geld, das ich da - fuͤr bekomme, bey einem Juden, der hier wohn - haft iſt, niederlegen; er ſoll euch nicht um ei - nen Groſchen betriegen. Jch will ihm, und wenn ich binnen acht Tagen wieder zuruͤck nach Polen reiſe, auch dem Gouverneur ſagen, daß ich euch als dem Erhalter meines Lebens ſo und ſo viel zu eurer Verſorgung, und wenn es moͤglich waͤre, zu eurer baldigen Befrey - ung zuruͤckgelaſſen haͤtte. Kurz, ich war al - les zu frieden. Er verkaufte die Juwelen fur fuͤnftauſend Thaler und brachte mir tauſend baar und das Uebrige durch eine Anweiſung mit. Jch bot ihm fuͤr ſeine treuen Dienſte zwey - hundert Thaler an; allein er nahm ſie unter kei - ner andern Bedingung, als daß er ſie bey ſei - ner Abreiſe dem Gouverneur ſchenken wollte, damit er mir guͤnſtig bliebe. Dieß iſt geſchehn. Er hat mir durch meinen lieben Juden ver - ſprechen laſſen, daß ich Steeleyn gewiß zu mir bekommen ſollte, zumal wenn er auch etwasvon46Leben der Schwediſchenvon der Baukunſt verſtuͤnde. Der Jude ſelbſt ſteht nunmehr im Begriffe fortzureiſen. Jch verliere ſehr viel an dieſem treuherzigen Manne; doch ich will ihn gern verlieren, wenn er das Werkzeug iſt, durch den ihr von mir und ich von euch eine Nachricht erhalte. Er kennt meinen wahren Stand, und er hat mirs auf die heiligſte Art verſprochen, weder mich zu verrathen, noch zu ruhn, bis er euern Aufenthalt in Liefland ausfuͤndig gemacht. Jn dieſer letzten Abſicht hat er hundert Thaler zu Reiſekoſten von mir angenommen. Er koͤmmt, der ehrliche Mann, und will Abſchied nehmen und ſeinen Brief haben. Jch um - arme euch, wo ihr auch ſeyd, mit der treuſten Liebe. Moͤchten doch meine Umſtaͤnde ſo blei - ben, wie ſie itzt ſind! ſo hoffe ich noch, euch wieder zu ſehn und alle mein ausgeſtandnes Elend in euern Armen zu vergeſſen. Bittet den Himmel um dieſe Gluͤckſeligkeit. Ja, meine liebſte Gemahlinn, er wird ſie uns noch ſchenken.

P.S. Jch habe, weil Steeley noch nicht zugegen iſt, an ſeinen Vater nach London, und auch an den Engliſchen Geſandten nach Stock - holm geſchrieben, und unter dem Namen Loͤe - wenhoek beiden von meines Freundes neuem Ungluͤcke Nachricht gegeben.

Die -47Graͤfinn von G**

Dieſes ſind die beiden Briefe, die mein Gemahl in ſeiner Gefangenſchaft an mich ge - ſchrieben. Er hat von dem Abgange des letz - ten Briefs an, ungefehr noch anderthalb Jahre in Siberien zugebracht. Jch will das uͤbrige ſo erzaͤhlen, wie er mirs muͤndlich er - zaͤhlet hat.

Einige Wochen nach des Juden Abreiſe ſprach er, ward ich zum Gouverneur geholt. Jch uͤbergab ihm mit vieler Demuth den Riß, den er mir zu machen befohlen hatte. Er war ziemlich wohl damit zufrieden; allein er war doch der Gouverneur und ich ſein Gefangner. Kurz, er ſchaͤmte ſich, mir eine Art der Hoch - achtung aͤuſſerlich ſehn zu laſſen, die er mir vielleicht im Herzen nicht ganz abſchlagen konn - te. Er fragte mich, ob mir der Jude ſo und ſo viel Geld zuruͤckgelaſſen haͤtte und ich beant - wortete es mit Ja. Darauf befahl er, daß der Gefangene hereintreten ſollte; dieſes war mein lieber Steeley, den ich faſt ſeit vier Jah - ren nicht geſehen hatte. Jch vergaß vor Freu - den, daß ich vor dem Gouverneur ſtund, und lief auf Steeleyn mit offnen Armen zu. Er ſoll euer Geſellſchaffter ſeyn, fieng der Gou - verneuer an; allein wie lange, das kann icheuch48Leben der Schwediſcheneuch nicht ſagen. Jch verſtund dieſe Spra - che, und bat, ob er ſich nicht wollte gefallen laſſen, daß ich tauſend Thaler zum Unterhalte meines Freundes erlegen duͤrfte, Er ſagte daß er ſie zum Pfande, daß wir ſeine Gnade nicht mißbrauchen wuͤrden, annehmen wollte. Der Jude, von dem ich die Anweiſung bey mir hatte, ward gefodert, und bezahlte die tauſend Thaler. Er erhielt zugleich die Erlaubniß, mich an Statt des abgereiſten Ju - den zu beſuchen und mich mit dem Nothwen - digen zu verſehen. Nunmehr durfte ich an der Hand meines Steeleys, der noch wie in einem Traume war, und nichts als etliche ab - gebrochne Worte zu mir geſprochen hatte, nach meinem Behaͤltniſſe eilen. Unſere erſte Be - ſchaͤftigung, als wir allein waren, beſtund dar - inn, daß wir einander eine lange Zeit anſahn, ohne ein Wort zu ſprechen. Alsdann ſuchte ich ihm Waͤſche und eine Kleidung, womit mich der Jude noch vor der Abreiſe verſorget hatte; allein er war nicht vermoͤgend vor truckner Freude ſich allein anzukleiden, ich mußte ihm helfen. Er ſah die Sachen, die ich ihm gab, recht mit Erſtaunen an, als ob er ihren Gebrauch vergeſſen haͤtte. Da er end - lich umgekleidet war: ſo betrachtete er ſich mit unerſaͤttlichen Angen und weinte. Jch hatteihn49Graͤfinn von G**ihn ſchon oft gefragt, wie es ihm gegangen waͤre; und er hatte mir nichts geantwortet, als: wie es mir gegangen iſt, mein lieber Graf, wie es mir gegangen iſt? Ja, ich wuͤr - de ihm, ungeachtet meiner Neugierigkeit doch nicht haben zuhoͤren koͤnnen, wenn er mir auch meine Fragen beantwortet haͤtte, ſo be - ſtuͤrmt war ich von den Trieben der Freund - ſchaft und der Freude. Jch reichte ihm ein halbes Glas Wein, denn mehr hatte ich nicht, und erinnerte ihn, wie er mich einmal in Mos - kau damit tractiret hatte. Wir wurden nach und nach unſer maͤchtig. Wir hatten einan - der ſo viel zu erzaͤhlen, daß wir nicht wußten, wo wir anfangen ſollten. Unter dieſen Un - terredungen verſtrichen ganze Tage und Naͤch - te und eben ſo viele unter den Wiederholun - gen unſerer Begebenheiten. Steeley hatte in ſeinem Elende weit mehr erlitten, als ich. Ohne Mitleiden, ohne Freund war er die ganze Zeit ein Sclave, und was noch mehr iſt, ein Gefaͤhrte des boshaften Mitgefangnen, des Knees Eskin, geweſen. Dieſes Ungeheuer hatte ihm ſeine Huͤtte des Abends zur Hoͤlle ge - macht, wenn er den Tag uͤber die Laſt der Sclaverey uͤberſtanden. Von tauſend nie - dertraͤchtigen Streichen, vor welchen die Na - tur erſchrickt, will ich nur einen erzaͤhlen. II Theil. DStee -50Leben der SchwediſchenSteeley war krank worden und hatte ſich etli - che Tage nicht von ſeinem Lager aufrichten koͤnnen. Er hatte ſich alſo genoͤthigt geſehn, da Eskin des Abends aus den Waͤldern zuruͤck gekommen, ihn zu erſuchen, daß er ihm das Gefaͤß mit Waſſer reichen moͤchte, weil ihm ſehr durſtete. Alſo durſtet euch recht ſehr? ſpricht Eskin. Das iſt mir lieb. Es hat mich vielmal auch gedurſtet, und ihr ſeyd ge - gen einen Fuͤrſten doch nur ein Nichtswuͤrdi - ger. Darauf nimmt er das Trinkgeſchirr und trinkt, und alsdann wirft ers Steeleyn vor die Fuͤſſe und lacht: da ſo viel gehoͤrt euch! Braucht man wohl mehr zur Verzweiflung, als ſo einen Unmenſchen um ſich zu haben? Nach einer Zeit von einem Jahre, und nach unzaͤhligen Beleidigungen, wird dem Eskin, der ſich gegen einen von ſeinen Aufſehern in der Raſerey vergangen, ſo uͤbel mit gefahren, daß man ihn halb todt in ſein Behaͤltnis ſchlep - pen muß. Man entzieht ihm zween Tage das Brodt; aber Steeley iſt ſo großmuͤthig und theilet das ſeinige mit ihm. Er reicht ihm, ſo oft er kann das Trinken. Er waͤſcht ihm ſo gar die Wunden aus; und damals hat ihm der Ruſſe die Hand gedruͤckt und zu ihm geſagt: vergebt mirs, daß ich nicht eben ſo an euch gehandelt, als ihr an mir thut. Er hatihm51Graͤfinn von G**ihm nach dieſem |weniger Verdruß angethan. Sein ganzes Gluͤck, das ihm in ſeiner Abwe - ſenheit von mir begegnet iſt, beſteht in einer kleinen Freundſchaft, die ihm ein Coſakiſches Maͤdchen in dem letzten Jahre vor ſeiner Zu - ruͤckkunft nach Tobolskoy erwieſen. Sie be - weiſt, daß es auch unter dem wildeſten Vol - ke noch edle und empfindliche Herzen giebt. Steeley war eines Tages auf ſeinem Reviere um Pohem ſo gluͤcklich geweſen, die geſetzte Zahl ſeiner Zobel bald zu fangen. Auf dem Ruͤckwege nach der Stadt hatte er ſich, um auszuruhen bey einer Quelle niedergeworfen. Darauf koͤmmt ein wohlgebildetes Maͤdchen zu ihm und ſieht ihn lange ſtarr an. Endlich ſetzt ſie ſich nieder und trinkt mit der holen Hand aus der Quelle. Armer Fremdling, faͤngt ſie an, wollt ihr nicht auch trinken? Steeley ſagt, daß ers ſchon gethan haͤtte. Aber, ſpricht ſie, wollt ihr denn nicht einen Trunk Waſſer aus meiner Hand annehmen? Thut es doch, ihr dauert mich, ſo oft ich euch gehn ſehe, und ich bin nicht hieher gekommen, um zu trinken, ſondern um euch dieſes zu ſa - gen. Steeley erſchrickt, und weis ſelbſt nicht, was er ſagen ſoll. Ach faͤhrt ſie fort, ihr wollt mir nicht antworten? Nun dauert michs, daß ich euerntwegen hieher gegangen bin. War -D 2tet52Leben der Schwediſchentet nur, ich will nicht wieder kommen. Er ſieht ſie darauf traurig an, und ſagt, daß er ihr fuͤr ihr Mitleiden recht ſehr verbunden waͤ - re, und reicht ihr zur Dankbarkeit die Hand. Dieſe druͤckt ſie bald an den Mund, bald an die Bruſt. Sie ſpielt mit ſeinen ſchwarzen Haarlocken und wiederholt ihre Liebkoſung auf zehnerley Art. Er will nunmehr fort - gehn. O ſpricht ſie, wartet doch, ich kann mich an euch gar nicht ſatt ſehn. Jch wollte, daß alle Maͤnner in dieſem Lande ſo ausſaͤhen, wie ihr, alsdann wuͤrde es recht huͤbſch in Si - berien ſeyn. Und wenn ihr ja gehn muͤßt, werdet ihr euch nicht bald wieder hieher ſetzen? Jch habe euch ſo viel zu ſagen, und ich weis nicht, was es iſt. Jch wußte es, ehe ich zu euch kam, und nun habe ichs uͤber euren Haa - ren vergeſſen. Jndem ſieht ſie in die klare Quelle und ſieht ihr Bild darinn. Aber ſagt mir nur, ſpricht ſie, ſehe ich denn wirklich ſo, wie hier im Waſſer? Jch habe ja auch ſchwar - ze Augen, wie ihr. Eure gefallen mir, gefal - len euch denn meine auch? Sind meine Zaͤh - ne auch ſo weiß, wie eure? Ja, ſpricht er, ihr ſeyd ſchoͤn; aber laßt mich gehn, ich bin ein ungluͤcklicher Menſch. Darauf geht ſie mit thraͤnenden Augen fort. Als Steeley den andern Morgen wieder in ſein Revier geht: ſoſitzt53Graͤfinn von G**ſitzt ſie ſchon an der Quelle und wartet auf ihn. Sie noͤthigt ihn, daß er ſich niederſetzen und ein Stuͤck Honig und Brodt aus ihrer Hand eſſen muß. Seht ihr, ſpricht ſie, ich aͤſſe gern ſelbſt; aber ich goͤnne es euch doch noch lieber. Und hier habe ich euch auch et - liche Zobel mitgebracht, womit mich meine Liebhaber beſchenkt haben. Nun habt ihr den ganzen Tag nichts zu thun. Sie ſollen mir nun alle Tage welche ſchenken muͤſſen, und ich will ſie euch bringen. Seht mich doch freundlich an. Jhr hoͤrt ja, wie gut ichs mit euch meyne. Sie ſpielt darauf wieder ganz beſcheiden mit ſeinen Haaren, und bittet um eine Locke, und zeigt ihm eine Scheere, die ſie zu dieſer Abſicht mitgebracht. Steeley, dem die treuherzige und doch ehrbare Liebe dieſer wilden Coſakinn nicht mißfaͤllt, erlaubt ihr dieſe Bitte. Sie belohnt ihn durch etliche freywillige Kuͤſſe und zeigt ihm von fern eine Huͤtte, welches die Huͤtte ihres Vaters waͤre. Darauf nimmt ſie ein Blatt von einem Bau - me und blaͤßt. Nunmehr wird mein Bru - der kommen. Jch hatte ihn beſtellt. Wenn du mir die Locke nicht im guten gegeben haͤt - teſt, ſo haͤtten wir dich dazu gezwungen. Fuͤrchte dich nicht, er iſt wie ich, er thut dir kein Leid. Siehſt du, ſpricht ſie, da der Bru -D 3der,54Leben der Schwediſchender, ein Menſch mit einem ehrlichen wilden Ge - ſichte, naͤher koͤmmt, das iſt der Fremdling, dem ich ſo gut bin. Betrachte ihn nur, und ſag es ihm, wie oft ich von ihm mit dir rede. Zeige ihm doch die Gegenden, wo er mit leich - ter Muͤhe die Zahl von Zobeln zuſammen brin - gen kann. Jch will auch alles fuͤr dich thun. Suche mir hier in der Naͤhe eine Hoͤle, oder ei - nen Baum aus, wo ich dem armen Fremden kuͤuftig etwas Honig und Fiſch und Brodt hineinlegen kann. Der Bruder verſpricht es ihr, und geht mit Steeleyn fort, und weiſt ihm verſchiedene Vortheile, und auch einen Ort, wie ihn ſeine Schweſter verlangt hatte. Die - ſen hat ſie zur Vorrathskammer von ihren kleinen Wohlthaten gemacht, oder Steeleyn vielmehr entweder des Morgens, oder des Abends, da erwartet. Sie iſt oft ganze hal - be Tage bey ihm geblieben, und alsdann hat ihr Bruder ihres Liebhabers Arbeit verrichten muͤſſen. Da Steeley das vortreffliche Herz ſeiner Schoͤnen wahrgenommen: ſo hat er ſich alle Muͤhe gegeben, ſie zu bilden, und ihre ed - len Empfindungen von den rauhen Eindruͤ - cken ihrer Erziehung zu reinigen. Sie hat, durch die Liebe ermuntert, im kurzen ſeine Mey - nungen und ſeine Sitten angenommen und ſo viel Verſtand bekommen, daß er ſich keine Ge -walt55Graͤfinn von G**walt mehr hat anthun duͤrfen, ihr gewogen zu ſeyn. Allein dieſes Vergnuͤgen hat fuͤr bei - de nicht lange gedauret, weil Steeley nach drey Monaten nebſt etlichen andern Gefang - nen in eine andre Gegend zwanzig Werſte von Pohem verlegt worden. Von da iſt er nach - dem nach Tobolskoy abgerufen worden, und hat alſo ſeine Freundinn nie wieder ge - ſehn.

Wir richteten, da wir nunmehr wieder beyſammen waren, unſre Lebensart ſo gut ein, als es unſre Umſtaͤnde zulieſſen. Der Gou - verneur hatte mir ein Reiszeug gegeben und ich mußte durch meine kleine Kenntniß, die ich in der Mathematik hatte, ſeine Gewogenheit zu behaupten ſuchen. Jch unterwies Stee - leyn in dem, was ich von dieſen Dingen wuß - te, und da er die Rechenkunſt, die ihm ſein ei - gener Vater beygebracht, noch ſehr gut ver - ſtund: ſo war er in einem halben Jahre in allen dieſen Uebungen ſo geſchickt, als ich. Wir arbeiteten alſo um die Wette, und der Gou - verneur wuͤrde uns keine groͤſſere Strafe ha - ben anthun koͤnnen, als wenn er uns befohlen haͤtte, dieſe Beſchaͤftigung nicht zu treiben und muͤſſig zu ſeyn. Allein er ließ es uns nicht an Arbeiten fehlen. Er gab uns Rech - nungen, er gab uns tauſend alte Riſſe, die wirD 4ab -56Leben der Schwediſchenabcopiren mußten; und ich glaube, daß kein verfallenes Schloß in Siberien und ganz Mos - kau mehr war, das wir nicht abgezeichnet ha - ben. Er ließ uns zwar nicht zu ſich kommen; allein er beſuchte uns faſt alle Wochen ſelbſt einmal. Wir belohnten dieſe Gnade mit der moͤglichſten Demuth, und er belohnte ſich fuͤr ſeine Herablaſſung dadurch, daß er alles beſ - ſer wußte als wir, und uns unmittelbar nach einem zu freundlichen Worte, das ihm ent - wiſcht war, einmal gebietriſch anfuhr. Stee - ley, ſo ſehr ihn ſonſt der Geiſt des Widerſprnchs und der Stolz ſeiner Nation belebt hatte, war itzt viel gelaßner. Er ſchwieg, ſobald ihn der Gouverneur tadelte; allein damit war dieſer nicht allemal zufrieden. Nein, Steeley muß - te reden und ihm in der unwahrſten Sache Recht geben. Dieſes ward ihm ſehr ſauer, und er that es mit einer ſo gezwungnen Art, daß ihm oft der Schweis daruͤber ausbrach, und daß ich wuͤrde haben laut lachen muͤſſen, wenn wir an einem andern Orte, als in Sibe - rien, geweſen waͤren. Einsmals traf er uns an, daß wir Schach ſpielten. Steeley hatte die Steine mit dem Meſſer geſchnitzt, und ſie waren freylich nicht gar zu ſauber gemacht. Der Gouverneur beſahe ſie, und hielt ihm ei - ne lange Rede, daß keine Symmetrie und kei -ne57Graͤfinn von G**ne Sauberkeit darinn zu finden waͤre. Mein Freund gab es gern zu, und entſchuldigte ſich, daß er keine Jnſtrumente gehabt haͤtte. Aber das half alles nicht. Wenn ſie recht ſchoͤn ſeyn ſollten, ſprach der Gouverneur: ſo muͤß - ten ſie ſeyn, als wenn ſie gedrechſelt waͤren, und ihr ſeht doch wohl, daß ſie nicht ſo ſind, daß ſie hier zu viel, dort zu wenig, mit einem Worte, grob und ſchlecht geſchnitten ſind. Dergleichen Anmerkungen konnte er ganze Stunden fortſetzen, und Steeley zitterte auf die letzt vor dem Beſuche dieſes gebietriſchen Pedanten. Er ſetzte ſich oft, wenn wir zeich - neten, neben uns, und ſtopfte ſich eine Pfeife von unſerm Tabacke ein. Wenn er ihn end - lich mit vielem Appetite aufgeraucht hatte: ſo warf er die Pfeife hin, und that einen groſ - ſen Schwur, daß unſer Taback nicht das ge - ringſte taugte. Zuweilen pries er uns ſeine Wohlthat, daß er uns die ordentlichen Arbei - ten erlaſſen haͤtte, und noͤthigte uns dadurch, ihn demuͤthig zu bitten, daß er uns nicht wie - der den andern Sclaven gleich machen moͤchte. Oft kam er in dem groͤßten Zorne zu uns und fluchte auf die Gefaugnen, ohne zu ſagen, was geſchehen war, und wir mußten ſeine unſin - nige Hitze mit Ehrerbietung anhoͤren. Ob wir ihm nun gleich unſere verbeſſerten Umſtaͤn -D 5de58Leben der Schwediſchende zum Theil zu danken hatten: ſo war er doch bey allen unſern Vortheilen noch unſer beſtaͤn - diges Schrecken. Wir kannten ſeine unmaͤſ - ſige Gemuͤthsart und mußten alle Tage fuͤrch - ten, daß es ihm einfallen koͤnnte, uns von ein - ander zu trennen, und wieder unter die an - dern Gefangnen zu ſtecken. Um dieſem Un - gluͤcke zu entgehn, ließ ich ihm durch den Ju - den, der mein Geld in den Haͤnden hatte, ein klein Geſchenk nach dem andern machen.

Ein Jahr war verfloſſen, ſeit dem Stee - ley wieder bey mir lebte. Jch hoffte nun von einem Tage zum andern auf Briefe von euch, weil der Jude, dem ich den meinigen mitgege - ben, nach Tobolskoy handelte, und mir alſo leicht eine Antwort uͤbermachen konnte; allein ich hoffte vergebens. Steeley hatte ebenfalls binnen dieſer Zeit nach London, und an den Engliſchen Geſandten nach Schweden, geſchrie - ben, und keine Antwort erhalten. Die Ge - mahlinn des Gouverneurs hatte ich ſeit der Zeit, da ſie mir das großmuͤthige Geſchenk ge - macht, mit einem Worte, ſeit dem erſten ma - le nicht wieder geſehn. Alles dieſes machte uns niedergeſchlagen; und ie ertraͤglicher un - ſere Gefangenſchaft war, deſto mehr meldete ſich d[er]Wunſch in uns, ihrer gar los zu ſeyn. Und mit was fuͤr Rechte konnten wir dies hof -fen,59Graͤfinn von G**fen, da der Krieg mit den Ruſſen und Schwe - den noch immer fortdauerte? Jch ſtand eben um die Mittagszeit mit Steeleyn an unſerm kleinen Fenſter, als ich den Juden mit ſchnel - len Schritten uͤber den Hof durch den tiefſten Schnee laufen ſah. Er pflegte um dieſe Zeit nie zu kommen, und ich ſchloß aus ſeiner freu - digen Mine, daß er mir einen Brief von ſeinem Correſpondenten, dem Pohlniſchen Juden, bringen wuͤrde. Er brachte mir auch einen Brief, aber von der Gemahlinn des Gouver - neurs. Sie ſchrieb mir folgendes. Der Graf laß mir darauf einen Brief, den ich noch beſitze. Jch will ihn hier einruͤcken.

Mein Herr,

Jch melde Jhnen eine Nachricht, die ich Jhnen lieber muͤndlich ertheilen moͤchte, da - mit ich das Vergnuͤgen haͤtte, ihre Freude mit anzuſehn und zu genieſſen. Sie ſind frey. Der Befehl wegen Jhrer Befreyung iſt geſtern mit dem neu angelangten Gefangnen angekom - men, und ſie ſollen Morgen nebſt vier andern Verwieſenen wieder auf die Art zuruͤck nach der Stadt Moskau gebracht werden, wie Sie hieher gebracht worden ſind. Alsdann haben Sie die Erlaubniß Sich hinzuwenden, wo Sie hinwollen. |Jch habe Jhnen Jhre Freyheit durcheine60Leben der Schwediſcheneine von meinen Freundinnen bey Hofe aus - gewirkt. Mein Gemahl weis es nicht, daß ich mich Jhres Ungluͤcks angenommen habe, und er ſoll es auch nicht wiſſen; auch nicht die Welt. Jch bin zufrieden, daß Sie es wiſſen. Und vielleicht waͤre mein Dienſt viel großmuͤ - thiger, wenn ich Jhnen ſolchen nicht ſelbſt be - kannt gemacht haͤtte. Jch war es Willens; allein ich war zu ſchwach; und ich ſehe, daß es leichter iſt, eine gute That zu unternehmen, als ſie zu verſchweigen. Vergeſſen Sie dieſe kleine Eitelkeit, durch die ich mich fuͤr meine guten Abſichten ſelbſt belohnt habe. Jch zwei - fle, daß ich das Vergnuͤgen haben werde, Sie vor Jhrer Abreiſe noch zu ſprechen, wenigſtens doch nicht allein. Jch wuͤnſche Jhnen alſo mit der groͤßten Aufrichtigkeit das Gluͤck, Jhre Ge - mahlinn bald wieder zu finden. Wie wird ſie mich lieben, daß ich ihr ihren Grafen wie - der geſchafft habe! Fuͤr Jhren Freund, den Sie hier zuruͤcklaſſen, will ich ſorgen. Leben Sie wohl, und ſchreiben Sie mir kuͤnftig, ob Sie Jh - re Gemahlinn angetroffen haben. Wenn meine Wuͤnſche erfuͤllet werden: ſo hoffe ich das betruͤbte Land, aus dem Sie eilen, noch mit meinem Vaterlande zu verwechſeln. Doch nein, ich Ungluͤckliche werde wohl hier mein Leben beſchlieſſen muͤſſen. Schreiben Sie mirja61Graͤfinn von G**ja. Jch habe noch eine Stiefſchweſter in Cur - land, an die ich Jhnen den beyliegenden Brief mitgebe. Sollten es ihre Umſtaͤnde verlan - gen: ſo glaube ich, daß ſie ſehr gut bey ihr aufgehoben ſind. Sie iſt eine Witwe; doch habe ich ſeit zwey Jahren keine Nachricht von ihr. Leben Sie noch einmal wohl.

Amalia L**

Dieſen Brief las ich und taumelte vor Freuden in Steeleyns Arme, und wollte ihm ſagen, was darinne ſtuͤnde; allein er wartete meine Entzuͤckungen nicht ab. Er riß mir ihn aus der Hand und las ihn. Jch legte mich mit dem Kopfe auf ſeine Achſel, um die Bewe - gungen nicht mit anzuſehn, die ihm die Nach - richt von meiner Befreyung und ſeiner fort - dauernden Gefangenſchaft verurſachen wuͤrde. Jhr ſeyd frey, fieng er an, und ich verliere euch und bleibe noch ein Gefangner und werde noch ungluͤcklicher, als zuvor? das iſt ſchrecklich! Hat euch der Himmel lieber, als mich? Doch ich werde Zeit genug zu meinen Klagen haben, wenn ihr nicht mehr bey mir ſeyd. Jch weis, daß es euch unmoͤglich iſt, mich zu vergeſſen. Nein, fiel er mir um den Hals, ihr vergeßt mich nicht. Jch konnte ihm vor Wehmuth lange nicht antworten, und mein Stillſchweigen, das doch nichts als Liebe war, machte ihn ſo hitzig,als62Leben der Schwediſchenals ob ich ſchon die groͤßte Untreue an ihm be - gangen haͤtte. Jch ließ ſeinen Affect ausre - den, und nach einem kleinen Verweiſe, ſah ich ihn beſchaͤmt und gelaſſen genug, ihm mein Herz zu entdecken und ihn zu uͤberfuͤhren, wie unvollkommen mir meine Freyheit ohne die ſei - nige waͤre. Jch nahm mit dem Juden die Abrede, daß er mir das Drittel von meinem Gelde zur Reiſe geben und das Uebrige fuͤr Steeleyn zuruͤck behalten und uns fuͤr ſeine Muͤhe, ſo viel er wollte, abziehn ſollte. Der Jude war vorſichtiger, als ich. Er ſagte mir, daß ich wenig baar Geld mitnehmen ſollte; weil ich in der Gefahr ſtuͤnde, auf der Reiſe nach Moskau zehnmal darum zu kommen. Er gab mir etwas weniges baar, und tauſend Thaler und daruͤber in vier Wechſeln an Ju - den in Moskau, damit ich, wenn ich einen verloͤre, doch nicht um alles kaͤme; ſo ehrlich handelte dieſer Mann an mir. Jch ward noch vor dem Abend zu dem Gouverneur gerufen. Er lag an dem Podagra krank und kuͤndigte mir meine Freyheit auf dem Bette, im Bey - ſeyn ſeiner[G]emahlinn an. Er reichte nur die Hand und ſagte: ich habe Befehl, euch wie - der nach Moskau zu ſchicken, und es ſoll Mor - gen zu Mittage geſchehn. Jch verliere euch zwar ungern; aber reiſet mir Gott und ſeydgluͤck -63Graͤfinn von G**gluͤcklicher, als ihr bisher geweſen. Jch kuͤß - te ihm die Hand aus einer wahren Dankbar - keit und bat um ſeine fernere Gnade fuͤr Stee - leyn. Wenn ich lebe, ſprach er, ſo ſoll es ihm nicht ſchlechter ergehn, als zeither. Er hieß mich niederſitzen, (eine Ehre, die er mir zum erſten male erwies) und ſagte, daß er noch viel mit mir zu reden haͤtte; allein ſeine Schmer - zen meldeten ſich ſo heftig, daß er mir winkte, ihn zu verlaſſen. Jch that es, und wieder - holte ſeiner Gemahlinn im Herausgehn durch eine dankbare Mine die Groͤſſe meiner Ver - bindlichkeit und ihrer Wohlthat. Lebt wohl, mein Herr, ſprach ſie, und wandte ſich den Au - gendlick wieder zu ihrem Gemahle. Sobald ich wieder bey Steeleyn war; ſo ſchrieb ich an meine Erretterinn, weil ich dieſer großmuͤ - thigen Seele nicht muͤndlich hatte danken koͤn - nen. Jch gab den Brief dem Juden, der un - terdeſſen die Wechſel beſorgt und mir Pelze und andere Nothwendigkeiten geſchafft hatte, um mich vor der groſſen Kaͤlte zu ſchuͤtzen. Nunmehr war alles verrichtet, und nun uͤber - ließ ich mich meinem Freunde die ganze Nacht hindurch. Wir redten, wir weinten, und em - pfanden alles, was wir nur nach unſern ver - ſchiednen Umſtaͤnden empfinden konnten. Der Morgen uͤbereilte uns, und eben ſo der Mit -tag,64Leben der Schwediſchentag, und wir hatten bis auf den letzten Augen - blick einander noch, ich weis nicht was, zu ſa - gen. Der Jude kam, und ſagte, daß die Schlit - ten, die mich nebſt den uͤbrigen Befreyten fort - fuͤhren ſollten, gleich zugegen ſeyn wuͤrden. Wir nahmen Abſchied, ohne zu reden, und ich vergaß mich in den Armen meines redlichen Steeleys, bis mich die Aufforderung der Wa - che von ihm losriß. Er ſtieß mich fort und in dem Augenblicke wollte er mir auch nach - laufen; allein man verſchloß die Thuͤre und mein Jude fuͤhrte mich bis in den Schlitten und rief mir noch die freundſchaftlichſten Wuͤnſche nach.

Jch ward nebſt drey andern auf einen Schlitten geſetzt, denen Hoffnung und Freude aus den Augen leuchteten. Jch kann nicht ſagen, was in den erſten Stunden, ja faſt in den ganzen erſten beiden Tagen in meiner See - le vorgieng. Ein Uebermaß von freudigen Wallungen und betruͤbten Regungen uͤber - ſtroͤmte mein Herz wechſelsweiſe. Man be - gegnete uns an den Orten, wo wir friſche Rennthiere bekamen, nicht ſo veraͤchtlich, als damals, da wir auf dem Wege nach Siberien waren. Meine Geſellſchafter waren drey Ruſſen. Sie hatten Geld und verſorgten ſich an allen Orten mit ſo vielem Brandtweine,daß65Graͤfinn von G**daß ſie auf der ganzen Reiſe faſt nicht nuͤch - tern wurden. Sie haben mich indeſſen nie mit Willen beleidiget, und ich wuͤrde ihre Freundſchaft erhalten haben, wenn ich mit ih - nen getrunken haͤtte. Wir waren zu Ende des Maͤrzes in Moskau. Jch ward in eben das Haus gebracht, in dem ich vor fuͤnf Jah - ren verwahrt geſeſſen hatte und fand den vo - rigen Gefangenwaͤrter noch. Jn drey Tagen ward ich voͤllig losgelaſſen und bekam einen Paß, und nun konnte ich mich hinwenden, wo ich hin wollte. Jch hatte mein Wechſel noch alle und begab mich nunmehr zu den En - gliſchen Kaufleuten, welche Steeleyn vordem beygeſtanden hatten, und uͤbergab dem einen, welcher Tompſon hieß, ein Billet von ihm. Er nahm mich ſehr liebreich auf und ſagte mir, daß ihm Steeleys Ungluͤck, nach Siberien ver - wieſen zu werden, durch den Gefangenwaͤrter waͤre hinterbracht worden, daß ers alsbald nach London an ſeine Freunde gemeldet und ſeit drey Jahren verſchiedne Briefe an den En - gliſchen Agenten in Moskau erhalten haͤtte. Zu dieſem giengen wir den andern Tag. Der Agent war der liebreichſte Mann von der Welt. Er wies mir die beweglichen Briefe, die Stee - leys Vater an ihn geſchrieben hatte. Er wies mir die Memoriale, durch die er bey dem Se -II Theil. Ena -66Leben der Schwediſchennate um meines Freundes Befreyung angehal - ten, und verſicherte mich, daß er ſie bey der Zuruͤckkunft des Zaars, die bald erfolgen ſoll - te, gewiß auszuwirken hoffte. Der Engli - ſche Geſandte in Schweden hatte ebenfalls an ihn geſchrieben und ihn gebeten, alles zu Stee - leyns Befreyung beyzutragen. Er gab mir die Briefe, die er aus London an ihn erhalten hatte, und Tompſon fuͤhrte mich nunmehr zu den Juden, um meine Wechſel zu heben. Jch bekam binneu zehn Tagen mein Geld, zu dem mir Tompſon doch wenig Hoffnung gemacht hatte, und buͤßte nicht mehr, als einen Wech - ſel von hundert und funfzig Rubeln ein. Der Jude, der mir ihn bezahlen ſollte, war in die elendeſten Umſtaͤnde gerathen, und ſeine Mit - bruͤder verſicherten mich, daß ſie binnen einem Jahre das Geld fuͤr ihn erlegen wollten, wenn ers nicht |thun koͤnnte. Jch zerriß darauf den Wechſel, und gab dem armen Juden noch zehn Thaler von dem uͤbrigen Gelde. Jch hat ſie, daß ſie mir etliche Briefe an ihren Corre - ſpondentē nach Siberien, von dem ich die Wech - ſel empfangen, beſtellen ſollten. Sie ſagten mir, daß drey von ihnen ihrer Geſchaͤfte wegen ſelbſt nach Tobolskoy reiſen wuͤrden, und wenn ich mich zween Monate hier aufhalten koͤnnte: ſo wollten ſie mir durch die Antwort beweiſen, obſie67Graͤfinn von G**ſie ihr Wort gehalten haͤtten. Jch ſchrieb an meinen Freund; doch ehe der Brief fortgieng, ließ mich der Agent rufen, und ſagte mir, daß er endlich ſo gluͤcklich geweſen waͤre, ſich um ſeinen Landsmann verdient zu machen; ſeine Befreyung waͤre in dem Senate unterzeich - net worden, und er haͤtte das Verſprechen er - halten, daß Steeley binnen drey oder vier Mo - naten aus Siberien zuruͤckgebracht und frey - gelaſſen werden ſollte. Jch dankte dem Agen - ten nicht anders, als ob er mir dieſe Wohl - that ſelbſt erwieſen haͤtte, und eilte meinem Freunde dieſe freudige Nachricht zu melden. Die Juden reiſten ab, und ich war wirklich willens, Steeleys Ankunft zu erwarten. Doch die Liebe ſiegte uͤber die Freundſchaft und das Verlangen euch zu ſuchen, machte mir meinen Auffenthalt in Moskau unertraͤglich. Jch wollte fort, ohne zu wiſſen, wohin. Der Handel in die Schwediſchen Lande war noch verboten. Jch wollte nach Daͤnnemark, weil ich mir einbildete, daß ihr euch vielleicht dahin gewendet haben wuͤrdet: allein Tompſon be - redte mich, daß ich mit einem Hollaͤndiſchen Schiffe, deſſen Ladung er in Commiſſion hat - te, und das in Archangel ſegelfertig lag, nach Holland gehn ſollte. Er gab mir eine Addreſ - ſe an den Kaufmann mit, dem die Waaren desE 2Schiffs68Leben der SchwediſchenSchiffs gehoͤrten, und verſprach mir, daß er die Briefe von Steeleyn an ihn einſchlagen wollte; ich aber ſollte bey dieſem Manne die Nachricht zuruͤcklaſſen, wo ich mich von Holland aus hinwenden wuͤrde, damit mich Steeley bey ſeiner Zuruͤckkunft zu finden wuͤß - te. Jch gieng alſo in der ſechsten Woche nach meiner Ankunft in Moskau mit dem Schiffe fort, das mich ſo unvermuthet und gluͤcklich zu euch gebracht hat. Ehe ich Moskau noch verließ: ſo gab ich Tompſon funfzig Thaler, um ſie nach meiner Abreiſe unter etliche von meinen gefangnen Landsleuten auszuthei - len.

Dieß iſt das meiſte von dem, was mir mein Gemahl, uͤber ſeine ſchriftlichen Nachrich - ten, von ſeinem Auffenthalt in Siberien erzaͤhlt hat. Jch habe es hin und wieder zuſammen gezogen, und das was zur Geographie oder zur Hiſtorie dieſes Lands gehoͤret, mit Fleiß uͤbergangen, weil ich keine Reiſebeſchreibung machen wollen. Es hat ſich auch ſeit der Zeit in dieſem Reiche vieles veraͤndert, beſonders ſeit der Erbauung der Stadt Petersburg und den groſſen Anſtalten Peters des Erſten, die ſo wohl in die Natur des Landes, als in die Gemuͤthsart der Einwohner einen groſſen Ein - fluß gehabt haben.

Jch69Graͤfinn von G**

Jch eile nunmehr zu dem letzten Periode dieſer Geſchichte, naͤmlich zu dem, was nach der Ruͤckkunft meines Gemahls erfolgt iſt. Wir lebten in unſerer zweyten Ehe, wenn ich ſo reden darf, vollkommen zufrieden, und mein Gemahl ſchmeckte auf ſein erlittenes Ungemach die Freuden der Liebe und der Ruhe gedoppelt. Er bluͤhte in meinen Armen wieder auf und be - kam die erſte Lebhaftigkeit wieder, von der ihm das Ungluͤck einen groſſen Theil entzogen hat - te. Die erſten Monate verſtrichen uns in der Geſellſchaft der Mariane und des Herrn R** meiſtens unter wechſelſeitigen Erzaͤhlungen. Nichts war klaͤglicher, als da ich ihm| einsmals meine Heyrath und die Geſchichte meiner Ehe mit dem Herrn R** und zwar in dem Beyſeyn deſſelben umſtaͤndlich erzaͤhlen ſollte. Der Graf hatte mich die ganze Zeit uͤber bey der Hand, als wollte er mir einen Muth einſprechen. Jch fieng die Erzaͤhlung mit vieler Dreiſtigkeit an. Jch war von der Liebe meines Grafen voͤllig uͤberzeugt: ich wußte, daß ich ihm niemals untreu geworden ſeyn wuͤrde, wenn ich nur die geringſte Nachricht von ſeinem Leben ge - habt haͤtte. Allein alles dieſes langte nicht zu, mich in meiner Erzaͤhlung zu unterſtuͤtzen. Jch wollte aufrichtig und doch auch behutſam ſprechen; und ie mehr ich redete, deſto mehrE 3fuͤhl -70Leben der Schwediſchenfuͤhlte ich, wieviel beleidigendes dieſe Geſchich - te fuͤr den Grafen in ſich hatte, und wie viel kraͤn - kendes fuͤr mich und fuͤr den Herrn R**. Jch ward verzagt. Der Graf gab mir die theuer - ſten Verſicherungen, daß er durch nichts belei - digt wuͤrde; allein ich kam nicht weiter, als bis auf die Geburt meiner Tochter. Jch ſamm - lete alle meine Kraͤfte; ich fieng zehnmal wie - der an; doch mein ganzes Herz weigerte ſich, mich fortfahren zu laſſen; ich ſchwieg. Nun ſprach der Graf mit einer liebreichen Mine, dieſe kleine Marter, die ich euch itzt gemacht habe, das ſoll die Strafe fuͤr eure Untreue ſeyn, und umarmte mich. Und ihr mein lieber R** fuhr er fort, ſchlagt eure Augen immer wieder auf und ſeht zu eurer Strafe eure vorige Gemahlinn in meinen Armen. Er kuͤßte ihn, und ich mußte es auch thun. Nein, ſprach er, ſie hat euch geliebt und ihr habt es verdient, und wenn ich ſterbe, ſo liebt ſie euch wieder. Wir haben uns alle kein Vergehn, ſondern nur das Ungluͤck vorzuwerfen. Ma - riane, (ſie ſaß bey mir), ſeht nur, wie euch meine Gemahlinn betrachtet. Kann ſie ſich wohl beſſer an mir raͤchen, als durch eure Ge - genwart?

Jch war unermuͤdet, dem Grafen alle die Augenblicke zu erſetzen, die er ohne mich zuge -bracht.71Graͤfinn von G**bracht. Jch kam ſelten von ſeiner Seite und ſann bey jeder Gefaͤlligkeit, die ich ihm erwei - ſen konnte, ſchon auf eine neue. Wenn wir unſer Herz ausgeredet hatten: ſo las ich ihm etwas vor, und wenn ich nicht mehr leſen konnte, ſo that ers. Dieſe gluͤckliche Beſchaͤf - tigung mit dem Geiſte der beſten Scribenten, die der Graf ſo lange entbehrt hatte, nahm uns den groͤßten Theil des Tages weg, und breitete ihr Vergnuͤgen uͤber unſere Geſpraͤche, uͤber unſere Mahlzeiten und uͤber alle unſere Zaͤrtlichkeiten aus. Wir hielten keine Geſell - ſchaften und fuͤhlten doch nie die Beſchwerlich - keit der Langenweile. Wenn wir mitten in unſern Vergnuͤgungen recht empfindlich ge - ruͤhrt ſeyn wollten: ſo dachten wir unſerm Schickſale nach. Diejenigen, die niemals unter groſſen Ungluͤcksfaͤllen geſeufzt haben, wiſſen gar nicht, was fuͤr eine Wolluſt in die - ſen Betrachtungen zu finden iſt. Man ent - kleidet ſich in ſolchen Augenblicken von al - lem ſeinen natuͤrlichen Stolze; man ſieht, in - dem man ſein Schickſal durchſchaut, ſein Un - vermoͤgen, ſich ſelber gluͤcklich zu machen, und uͤberlaͤßt ſich den Entzuͤckungen der Dankbar - keit, die uns nicht laͤnger wollen nachdenken laſſen. Der Graf ſetzte zuweilen ganze Tage zu dieſer Abſicht aus und wandte ſie zu Wer -E 4ken72Leben der Schwediſchenken der Gutthaͤtigkeit an. Er erkundigte ſich nach elenden und ungluͤcklichen Perſonen; mit einem Worte, Arme, Kranke und Gefangene an dieſem Tage zu erquicken und aufrichten zu laſſen, das war ſeine Zufriedenheit. Oft ließ er auch einige von denen, die ſchon unter dem Elende grau geworden waren zu ſich rufen, und ſie an einem Tiſche zuſammen ſpeiſen. Es war ihm freylich lieb, wenn er wußte daß es Leute waren, welche die Gutthat ver - dienttn; allein er ſtellte deswegen nicht die ſtrengſten Unterſuchungen an. Vielleicht, ſprach er, laſſen ſie ſich durch die Wohlthaten beſſern, wenn ſie boshaft geweſen ſind; laßt ſie auch der Wohlthat unwerth ſeyn: ſie ſind doch Menſchen. Wenn er hoͤrte, daß ſie mit dem Eſſen bald fertig waren: ſo gieng er zu ihnen und ließ ſich ihr Schickſal erzaͤhlen. Fand er eine Perſon darunter, die ein edles Herz hatte: ſo nahm er ſich ihrer ins beſon - dre an. R** war ſein Gehuͤlfe in dieſer Tugend, und wem ſie beide nicht als Wohl - thaͤter dienen konnten, dem dienten ſie doch als vernuͤnftige Rathgeber. Wir fuhren ge - meiniglich an dieſen Tagen etliche Stunden in die Felder, oder in die Gaͤrten, ſpatziren. Ein - mal hoͤrten wir des Abends, indem wir bey dem Mondenſcheine durch die Wieſen giengenund73Graͤfinn von G**und den Wagen am Wege halten lieſſen, ein jaͤmmerliches Gewinſel. Wir naͤherten uns ungeachtet des tiefen Graſes dem Orte, mo der Schall herkam, und fanden eine junge Wei - besperſon, welche die Schmerzen der Geburt kaum uͤberſtanden hatte und in eiuem huͤlflo - ſen Zuſtande da lag. Herr R** der bey uns war, fuhr den Augenblick in das naͤchſte Land - haus, um ein Weib und andre Beduͤrfniſſe fuͤr die Geburt herbey zu holen, und ich machte mich indeſſen um dieſe Ungluͤckliche ſo gut ver - dient, als es die Nothwendigkeit erforderte. Jch konnte aus ihrem Anzuge ſchlieſſen, daß ſie keine der Vornehmſten und keine der Ge - ringſten war, und ihre Jugend und ihre gute Bildung war genug, uns einen Theil von ih - rem Schickſale zu erklaͤren, weil ſie ſelbſt nichts, als etliche unvernehmliche Worte, hervorbrin - gen konnte. Herr R** kam mit einigen Weibern zuruͤck und wir lieſſen die unbekann - te Elende auf unſerm Wagen in das naͤchſte Dorf bringen, und kehrten zu Fuſſe in die Stadt. Nun, ſprach der Graf, indem wir zuruͤckgiengen, dieſer Spaziergang iſt viel werth. Wie ſchoͤn wird ſichs in den Gedan - ken einſchlafen laſſen, daß wir zwoen Perſonen das Leben auf einmal erhalten haben! Das arme Maͤdchen iſt vermuthlich aus Furcht derE 5Schan -74Leben der SchwediſchenSchande von ihrem Geburtsorte gefluͤchtet. Wer weis, welcher Betruͤger ſie unter dem Verſprechen der Ehe um ihre Unſchuld ge - bracht hat. Jch fuhr mit anbrechendem Ta - ge nebſt Carolinen auf das Dorf und wir fan - den die Ungluͤckliche mit ihrem Kinde auf den Armen, in Thraͤnen zerflieſſen. Sie war nicht allein wohl gebildet, ſie war ausnehmend ſchoͤn, und eine gewiſſe ſchamhafte Mine ent - ſchuldigte ihren Fehler zum voraus. Die Lie - be, ſprach ſie, oder vielmehr ein Liebhaber hat mich ungluͤcklicher gemacht, als ich zu ſeyn ver - diene. Jch habe mich mit ihm ſeit zwey Jah - ren verſprochen; allein ein bejahrter Vor - mund, unter dem ich ſtehe und der mir ſein eigen Herz aufdringen wollte, hat unſre Ver - bindung verhindert. Mein Braͤutigamm, ei - nes Pachters Sohn bey Leiden, hat mich mit meinem Willen entfuͤhrt, und mir verſprochen, ſich im Haag mit mir nieder zu laſſen und die Handlung zu treiben. Als wir geſtern Mor - gen in die Gegend kamen, wo ihr mich ange - troffen, ſah ich mich durch eine Unpaͤßlichkeit genoͤthigt, vom Wagen abzuſteigen. Mein bis dahin getreuer Liebhaber fuͤhrte mich in dem Felde herum, um mich durch die Bewe - gung wieder zu mir ſelber zu bringen. Jch mußte mich endlich niederſetzen, und ſobalder75Graͤfinn von G**er ſah, was mir fuͤr ein Schickſal bevor ſtund, verließ mich der Boshafte unter den Vorwan - de, mir iemanden zu Huͤlfe zu rufen. Jch habe alſo den ganzen Tag auf ſeine Zuruͤck - kunft vergebens gewartet und bin mehr durch das Entſetzen uͤber ſeine Untreue, als durch die ungluͤckliche Frucht meiner Liebe in den ſinn - loſen Zuſtand gekommen, indem ihr euch ge - ſtern meiner ſo großmuͤthig angenommen. Man kann keine groͤſſere Bosheit begehn, als er an mir begangen hat. Er hat mir mein Geſchmeide, das mein ganzer Reichthum war, und das wir im Haag zu Gelde machen woll - ten, mitgenommen. Dennoch haſſe ich ihn noch nicht, ja ich wuͤrde, es ihm mit Freuden vergeben, daß er mich mit der Gefahr meines Lebens verlaſſen hat, wenn ich nur wuͤßte, daß es ihn reute Jch ſuchte ſie zu beruhigen und verſprach ihr, wenn ihr Liebhaber binnen acht Tagen nicht wieder kaͤme, ſie zu mir zu nehmen und ſie und ihr Kind zu verſorgen. Er kam nicht, und ich erfuͤllte mein Wort und ließ das Kind auf dem Dorfe erziehn.

Der Graf war nunmehr ein halb Jahr lang bey mir und hatte nicht das geringſte Verlangen in ſein Vaterland zuruͤck zu keh - ren, wenn ihn auch die Erlaubniß dazu waͤ - re angeboten worden. Ueberdieſes wußte er,daß76Leben der Schwediſchendaß der Prinz, dem er ſein Ungluͤck zu dan - ken hatte, noch lebte und bey dem Koͤnige in dem groͤßten Anſehn ſtund; und was brauch - te er mehr, als dieſes zu wiſſen, um an keine Ruͤckkehr zu denken? Aber daß Steeley nicht kam, und daß er, auf alle ſeine Briefe an ihn, noch nicht die geringſte Antwort erhalten, die - ſes beunruhigte ihn deſto mehr. Von Stee - leys Vater hatte er zwar aus London ſchon vor etlichen Monaten die Nachricht bekom - men, daß ſein Sohn durch die Bemuͤhungen des Engliſchen Geſandten, und durch ein Straf - geld von etlichen tauſend Thalern ſeiner Ver - weiſung nach Siberien erlaſſen worden waͤ - re, von ihm ſelbſt aber haͤtten er und ſeine Landsleute in Moskau keine Briefe. Jndeſ - ſen daß der Graf vergebens auf Steeleyn hoffte, begegnete ihm ein andrer vergnuͤgter Zufall. Er war eine Stunde vor der Mahl - zeit, wie er zu thun pflegte, mit dem Herrn R** auf das Caffeehaus gegangen, wo die meiſten Fremden einzuſprechen pflegten. Kurz darauf ließ er mir ſagen, er wuͤrde mir einen Gaſt mitbringen, fuͤr den ich ein Zimmer zu rechte machen laſſen ſollte. Er kam, und der Gaſt war der ehrliche Jude, der ihm in Si - berien ſo viele Menſchenliebe erwieſen, und den ſeine Geſchaͤfte nach Holland zu gehn genoͤ -thigt77Graͤfinn von G**thigt hatten. Mein Gemahl war auſſeror - dentlich erfreut, daß er dieſem wackern Man - ne einige Gefaͤlligkeiten erzeigen konnte, und er ſelbſt war eben ſo froh, daß er meinen Ge - mahl ſo unvermuthet und ſo gluͤck[lic]h angetrof - fen. Er uͤberreichte mir den Brief aus Si - berien, den ich ſchon eingeruͤckt habe, und ver - ſicherte mich, daß er ſich in Liefland und Daͤn - nemark ſehr ſorgfaͤltig nach mir erkundigt und doch nicht das Geringſte von meinem Auffent - halte haͤtte erfahren koͤnnen. Sein Herz war wirklich ſeiner ehrlichen und einfaͤltigen Mine gleich, und ſeine Sitten gefielen durch ſein Herz. Er war ſchon bey Jahren und ſein grauer Bart und ſein langer pohlniſcher Pelz gaben ihm ein recht ehrwuͤrdiges Anſehn. Die freundſchaftliche Art, mit der wir mit ihm um - giengen und ihm unſere Erkenntlichkeit zu be - zeigen ſuchten, ruͤhrte ihn ausnehmend. Als wir das erſtemal von der Tafel aufſtun - den: ſo ward der gute Mann ganz betruͤbt. Mein Gemahl fragte ihn um die Urſache. Ach ſprach der Alte, wenn ich nur ſo gluͤcklich ſeyn koͤnnte, noch etliche Stunden bey ihnen zu bleiben! Jch habe mein Tage kein ſolch Ver - gnuͤgen gehabt, und niemand iſt noch ſo groß - muͤthig mit mir umgegangen, als ſie thun. Der Graf nahm ihn bey der Hand und fuͤhrteihn78Leben der Schwediſchenihn in das Zimmer, das fuͤr ihn zu bereitet war. Seht ihr, ſprach er, meine Gemahlinn giebt euch ihr beſtes Zimmer ein. Glaubt ihr nun wohl, daß ihr uns angenehm ſeyd? Jhr duͤrft nicht daran denken, uns unter acht Tagen zu verlaſſen. Nicht wahr, ich woh - ne hier beſſer, als in Siberien? dort habt ihr mich bedienet, und hier wollen ich und meine Gemahlinn euch bedienen. Wir thaten es, und wir alle, Caroline ſowohl als R** be - ſtrebten uns recht, dieſe acht Tage unſerm Ga - ſte zu Tagen des Vergnuͤgens zu machen. Wenn die Sonne untergieng, ſchlich er ſich in ſein Zimmer und blieb meiſtens eine halbe Stunde aus. Wir fragten ihn, als dieſes etlichemal geſchah, um die Urſache und er wandte allerhand kleine Verrichtungen vor, bis ihn endlich Herr R** einmahl uͤberraſchte und auf den Knien betend fand. Als dieſe acht Tage unter tauſend kleinen Vergnuͤgun - gen verſtrichen waren: ſo bat er uns, unſere Wohlthaten einzuſchraͤnken und ihn wieder fortreiſen zu laſſen. Er verließ uns einen Tag, um ſeine Geſchaͤfte zu beſorgen, und kam den andern wieder, um Abſchied von uns zu nehmen. Nun, ſprach er, will ich mit Freuden