PRIMS Full-text transcription (HTML)
Betrachtungen uͤber die Weiſen Abſichten GOTTes,
bey den Dingen, die wir in der menſchlichen Geſellſchafft und in der Offenbahrung antreffen,
Zweyter Theil.
Jena,Bey Chriſtian Heinrich Cuno.1745.

Seinen Hochgeehrteſten und Vielgeliebteſten Eltern, HERRN Johann Andreas Jacobi, Wolverdientem Prediger zu Wollershauſen im Fuͤrſtenthum Grubenhagen, und FRAUEN Johannen Julianen Bauern, widmet dieſes Buch Zum Zeichen ſeiner Danckbarkeit und Kindlichen Hochachtung der Verfaſſer.

Hochgeehrteſte und vielgelieb - teſte Eltern.
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Die Liebe und Danckbe - gierde hat Denenſelben in meiner Seele ſchon laͤngſt ſolche Denckmah - le geſetzet, welche auch der Tod nicht vernichten wird. Desgleichen die Ewigkeit wird das Andencken der ſorgfaͤltigen treuen Erzie - hung und vieler andern Wohlthaten, ſo) (3vonvon Denenſelben genoſſen, nicht ausloͤ - ſchen ſondern immer lebhafter und voll - kommener machen. Wird mich dereinſten mein Heiland in jene ſeligen Wohnungen aufnehmen, wird mein erloͤßter Geiſt in jene ſelige Ruhe gehen, wird mich erſt der Glantz des Himmels umgeben, werde ich einſt das ſelige Ziel erreichen, worauf Sie mich von Kindheit an gewieſen; ſo werde ich mich auch mit der allerzaͤrtlichſten Em - pfindung erinnern, mit was fuͤr Liebe und mit was fuͤr einer weiſen Sorgfalt Sie meine Augen von den erſten Jahren an dahin gerichtet, und die Vortreflichkeit deſ - ſelben gleichſam ſichtbahr gemacht. Wer - de ich alsdenn die Guͤte meines GOttes preiſen und ſeine Wohlthaten mit voll - kommen heiligen Lippen erzaͤhlen, ſo wer - de ich ihm auch dafuͤr dancken, daß er Dieſelben mir zu Eltern auserſehen, und mich als ein Kind in ſolche Haͤnde gege - ben, die mich ihm wieder zugefuͤhret ha - ben. Das Lob, ſo ich ewig meinemSchoͤp -Schoͤpfer bringen werde, wird auch Dero Ruhm ewig machen. Jene Welt wird mir auch erſt die Beredſamkeit geben mei - ne Kindliche Liebe, Ehrerbietung und Danckbegierde gegen Dieſelben recht leb - haft auszudruͤcken. Jndeſſen iſt die Em - pfindung von den Wohlthaten, ſo mich zu einem Schuldner von Denenſelben machen, viel zu ſtarck, als daß ſie bis da - hin koͤnnte verborgen bleiben. Jch habe ſchon lange darauf gedacht, wie ich De - nenſelben auch hier ein oͤffentliches Denck - mahl ſtifften und meiner Danckbegierde ge - gen Dieſelben einiges Gnuͤgen leiſten moͤchte. Jch habe aber dazu keine beſſere Gelegenheit finden koͤnnen, als wenn De - nenſelben dieſe Blaͤtter oͤffentlich zueigne - te. Jch werde Dero Verdienſte gegen mich nicht beſſer ruͤhmen und an das Licht ſtellen koͤnnen, als wenn ich zeige, wie Dieſelben den groͤſten Antheil an dieſer Arbeit haben, und ich Jhnen nur dasje - nige widme, was ohnedem groͤſtentheils) (4JhreJhre iſt. Jſt anders Gruͤndlichkeit in die - ſen Betrachtungen, enthalten ſie etwas, das zur Erbauung dienet, ſo haben ſolches diejenigen, ſo dadurch uͤberzeuget und ge - ruͤhret werden, mehr Jhnen, als mir zu dancken.

Sie, geliebteſter Vater, haben nicht nur durch einen unermuͤdeten und gruͤnd - lichen Unterricht den Grund aller derjeni - gen Wiſſenſchafften, die ich etwa beſitze, bey mir gelegt, ſondern auch, da Sie mich mit vielen Koſten der Unterweiſung anderer gelehrten Maͤnner uͤbergeben, mich immer auf das geſchickteſte angewieſen, wie man eine gute Wahl in den man - cherley Meynungen zu halten, alles zu pruͤfen und das Beſte auszuſuchen habe. Bis dieſe Stunde habe nie das Vergnuͤ - gen Dieſelben zu ſprechen, ohne von Jh - nen zu lernen.

Jhnen aber, wertheſte Mutter, habe ich nach zuruͤhmen, daß Dero Fleiß nicht nur einen anſehnlichen Theil der Koſtenauf -aufgebracht, welche an uns, Dero Kinder, ſind gewendet worden: ſondern ich werde auch nie vergeſſen, wie Sie uns gleich - ſam mit der erſten Milch das zaͤrtlichſte Gefuͤhl von GOtt und der Tugend einge - floͤßt. Wenn wir als kleine Kinder um Dieſelben herum lieffen, ſo war das im - mer der Hauptinhalt Dero Unterredun - gen mit uns, wie wir unſere Hoffnung auf nichts als GOtt und ſolche Hertzen, die er uns erwecken wuͤrde, zu ſetzen, und alſo dahin zu ſehen haͤtten, wie wir etwas rechtes erlerneten auch GOtt und Men - ſchen uns beliebt machten.

Sie beyderſeits geehrteſte Eltern, haben alle Dero Kraͤfte dahin mit einan - der vereiniget, und alles moͤgliche gethan, auch alle aufzubringende Koſten angewen - det, daß wir moͤchten zur Ehre GOttes, zu nuͤtzlichen Dienſten der Welt, und zu unſerer zeitlichen und ewigen Wohlfahrt erzogen werden. Dahin iſt Dero eifriges Gebeth, dahin ſind Dero unablaͤßigen Be -) (5muͤhun -muͤhungen gerichtet geweſen. Der HErr hat ſelbige geſegnet, und die gnaͤdige Vor - ſehung, von welcher Sie uns jederzeit ſo viel geruͤhmet, und welcher Sie ſo offt Thraͤnen eines bewegten und danckbahren Hertzens geopfert, goͤnnet Jhnen das Gluͤck angenehme Fruͤchte Dero ſorgfaͤltigen Kin - derzucht zu ſehen. Zwey von den vier Kin - dern, ſo Dieſelben erzeuget, ſind zwar Dero Geſicht durch das unerforſchliche; aber doch allezeit weiſe Verhaͤngniß GOt - tes entzogen. Doch aber haben Sie bey dem Schmertz, den Dieſelben hieruͤber noch empfinden, das Vergnuͤgen, daß Sie eine vollkommene Gewißheit haben, daß Jhre frommen Seelen in jene beſſere Welt gelanget, wo Sie der ſeligſten Ruhe der Auserwaͤhlten genieſſen. Dieſelben haben davon gantz andere Beweiſe als einige un - gewiſſe Seufzer, welche Sie ſterbend zu GOtt geſchicket. Jhr Glaube und die Auf - richtigkeit Jhres Hertzens hat weit gewiſ - ſere Merckmahle hinterlaſſen, von welchenwirwir mit einer zufriedenen Ueberzeugung auf Jhre Seeligkeit ſchlieſſen koͤnnen. Ja ich weis gewiß, Sie ſind vor dem Stuhl des Lammes und warten mit Freuden auf den Tag, da Sie Jhnen jauchzend koͤnnen entgegen gehen und ſagen: Dieſe ſind die treuen Seelen, die uns ſo ſorgfaͤltig erzo - gen. Hier ſind wir, geliebte Eltern, denen Sie mit Thraͤnen nachgeſehen. Jhr Wunſch iſt erfuͤllet. Nun ſind wir ewig vereinigt. GOtt Lob! das Ziel iſt erreicht, das Sie ſo aͤngſtiglich geſucht und von dem HErrn erbethen. Gluͤckliche Eltern! die ſich mit Gewißheit ſolche Vor - ſtellungen machen koͤnnen. Sie werthe - ſte Eltern, koͤnnen ſelbiges mit der ruhig - ſten Zufriedenheit thun. Sie genieſſen an - bey das Gluͤck Dero uͤbrigen beyden Kinder noch in dieſer Welt in ſolchen Umſtaͤnden zu ſehen, dergleichen Sie Sich nicht ein - mahl zu wuͤnſchen unterſtanden haben. Wir erkennen, daß wir ſelbige nechſt GOtt vornehmlich Dero Erziehung zu zuſchrei -benben haben. Wir ſind hieruͤber auf das zaͤrtlichſte geruͤhret. Und da ich beſchloſſen, Jhnen dieſes Denckmahl der Danckbarkeit aufzurichten, ſo verlanget mein annoch ei - niger und geliebteſter Bruder, welchen der HErr zu einem ausnehmenden Zeugen ge - macht, daß der Segen frommer Eltern den Kindern Haͤuſer baue, Antheil an demſel - ben zu haben. Wir kuͤſſen Jhnen dem - nach beide in kindlicher Ehrerbietung die Haͤnde, und dancken Jhnen hiemit oͤffent - lich fuͤr alle Vaͤterliche und Muͤtterliche Treue und Wohlthaten, beſonders aber dafuͤr, daß Sie uns von Kindheit an ein ſo zaͤrtliches Gefuͤhl von der Majeſtaͤt GOt - tes, und von der Schoͤnheit der Tugend, und von der Herrlichkeit der zukuͤnftigen Welt eingefloͤſſet, welches uns nie verlaſſen, ſon - dern auf den ſchluͤpfrigen Wegen der Welt allezeit begleiten und Vorſichtig machen wird. Wir verſichern der gantzen Welt, daß, wenn wir ihr jemahls einige nuͤtzliche Dienſte leiſten, Jhnen wertheſte Eltern,nechſtnechſt GOtt das groͤſte Antheil davon ge - buͤhret. Und da wir wenig Gelegenheit haben, Denenſelben unſere kindliche Danck - begierde an den Tag zu legen, ſo ſoll es doch hiedurch geſchehen. Wir wollen den gnaͤ - digen GOtt, der Dieſelben uns, und uns Jhnen geſchencket hat, anflehen, daß er den Reſt Dero Tage ruhig und vergnuͤgt ma - chen, und Dieſelben nach einem grauen Al - ter den voͤlligen Gewinn einer wahren Gott - ſeligkeit und geſegneter Kinderzucht in jener Welt genieſſen laſſen wolle. Wir verpflich - ten uns anbey unter der Gnade des HErrn allen moͤglichen Fleiß anzuwenden, daß alle das Gute, ſo wir Denenſelben zu dancken haben, auf unſere Nachkommen moͤge fortgepflantzet werden, damit Dieſelben des Wunſches theilhaftig werden, womit Sie mehr als einmahl von uns Abſchied genommen: Daß Sie nemlich moͤchten von GOtt gewuͤrdiget werden dereinſten mit einem gantzen auserwaͤhlten Geſchlecht vor ihm zu erſcheinen und ſagen zu koͤnnen:Siehe,Siehe, hier ſind wir, HERR, und die Kinder, die du uns gegeben haſt. Es verſprechen dieſes auf das theuerſte, und es wollen in dieſen ſeeligen Bemuͤhungen einſten ſterben,

Hochgeehrteſte und vielgeliebte - ſte Eltern

Dero Gehorſamſten Soͤhne Johann Friedrich Jacobi, und Johann Conrad Jacobi, Kaufmann in Duͤſteldorf.

Vorrede.[1]

Vorrede. Von dem rechten Gebrauch der Vernunft bey Erklaͤrung der heiligen Schrift.

§. I.

WAs mich bewogen eine Arbeit, dieEinlei - tung ich voͤllig aufgegeben, wieder an - zufangen, will ich lieber ver - ſchweigen, als hie oͤffentlich erzaͤhlen. Der Leſer gewoͤnne nichts, wenn ich ſolches mit vielen Worten anfuͤhrte, ich aber wuͤrde dadurch manches ungleiches Urtheil uͤber mich ziehen. Jch will derowegen hievon nichts ſagen als dieſes: Daß verſchiedene Urſachen, ſo mir wichtig geſchienen, mich zu der Entſchlieſſung gebracht, die Be - trachtungen uͤber die weiſen Abſich - ten GOttes bey den Dingen, ſo wir in der menſchlichen Geſellſchafft undJacobi Betr. 2. Band. Ader2der Offenbarung antreffen, wovon ich ehmahls einige Proben geliefert, fort - zuſetzen. Wie weit ich in dieſer Fortſetzung kommen ſoll, uͤberlaſſe ich derjenigen wei - ſen und guͤtigen Vorſehung, von welcher meine Schickſale abhangen. Und dieſes koͤnnte genug ſeyn zu einer Vorrede vor den zweyten Theil dieſer Betrachtungen, wenn ich nicht fuͤr dienlich erachtete dem Leſer von einigen Regeln, welche ich bey dieſer Arbeit zum Grunde ſetze, einige Rechen - ſchafft zu geben. Ein jeder ſiehet, daß ich bey dieſen Betrachtungen die Vernunft mit der Offenbarung zu verbinden ſuche, und ſelbige in geoffenbahrte Wahrheiten miſche. Jch halte derowegen fuͤr noͤthig die Regeln anzuzeigen, nach welchen ich mich der Vernunft bey der Offenbarung bediene, und was fuͤr Grentzen ich derſelben hiebey ſetze. Es ſoll dieſes in moͤglichſter Kuͤrtze geſchehen.

§. II.

Vielerley Bedeu - tung des Wortes Vernunft.

Das Wort Vernunft wird in gar vie - lerley Verſtande genommen, und die man - cherley Bedeutung, ſo dieſes Wort bekom - men, hat zu vielen Verwirrungen unter manchen Gelehrten Gelegenheit gegeben.

Wir3

Wir wollen derowegen die verſchiede - nen Bedeutungen dieſes Wortes bemer - cken, und genau beſtimmen, was fuͤr einen Begrif wir in dieſer und jener Frage da - mit verknuͤpfen wollen. Erſtlich bedeutet das Wort Vernunft das Vermoͤgen, ſo in einem Geiſte lieget, den Zuſammenhang von Wahrheiten einzuſehen, es mag dieſes Vermoͤgen ſich durch ſeine Wuͤrckungen aͤuſſern oder gantz ſtill und in einem tiefen Schlafe liegen. Jn dieſer Bedeutung nehmen dieſes Wort diejenigen, welche den Menſchen dadurch von dem Viehe unter - ſcheiden, daß ſie ihn ein lebendiges Geſchoͤpf nennen, ſo Vernunft hat. Diejenigen, welche dieſe Beſchreibung von dem Men - ſchen machen, faſſen in ſelbige ſaͤugende Kinder und ſchlafende Perſonen, und ver - ſtehen daher unter der Vernunft nichts an - ders als das bloſſe Vermoͤgen einen Zu - ſammenhang von Wahrheiten einzuſehen, wenn auch gleich kein Gebrauch dieſes Ver - moͤgens da iſt. Jn den Rechten aber und insbeſondere bey der Materie von der Zu - rechnung einer freyen Handlung wird das Wort Vernunft in einem engern Verſtan - de genommen und erklaͤret durch eine wuͤrck -A 2liche4liche Einſicht in den Zuſammenhang der Dinge. Und nach dieſer Erklaͤrung wird den Kindern, den Wahnwitzigen, berauſch - ten Leuten und dergleichen die Vernunft abgeſprochen. Doch andere bleiben bey der vorhin angegebenen Bedeutung des Worts Vernunft, und ſprechen den Kin - dern, Wahnwitzigen und dergleichen Per - ſonen nur den Gebrauch der Vernunft ab. Diejenigen, welche durch das Wort Ver - nunft eine Einſicht in den Zuſammenhang der Dinge bezeichnen, deuten damit, ſo viel mir wiſſend, allezeit eine wahre Einſicht an, und nennen alle irrende Einſicht Un - vernunft, oder wider die Vernunft. End - lich haben die Philoſophen dem Wort Vernunft noch eine andere Bedeutung beygelegt und bezeichnen damit auch den Zuſammenhang der Wahrheiten ſelber und nennen ſolchen rationem objective ſpectatam. Dieſes ſind die Bedeutun - gen des Worts Vernunft, ſo wir in den Schriften der Theologen und Philoſophen deutlich und genau beſtimmt finden. Es iſt aber noch eine Bedeutung dieſes Wor - tes uͤbrig, welche wohl die allergewoͤhnlich - ſte; aber von den Philoſophen vielleichtdes -5deswegen nicht iſt bemercket worden, weil nach derſelben die Vernunft ſo mancherley als Menſchen in der Welt, auch Vernunft und Unvernunft mit einander verbunden und vermiſcht werden. Wenn die Men - ſchen das Wort Vernunft gebrauchen, ſo verſtehen ſie darunter die mehreſte Zeit ih - re eigene Einſicht in den Zuſammenhang der Wahrheiten, ſie mag richtig oder un - richtig ſeyn. Denn daher koͤmmt es, daß der eine dasjenige fuͤr unvernuͤnftig und mit ſich ſelbſt ſtreitend erklaͤret, was der ande - re vernuͤnftig haͤlt. Ein Materialiſt haͤlt fuͤr unvernuͤnftig immaterielle Geiſter zu glauben. Hingegen ein Jdealiſt beſchul - diget diejenigen einer Thorheit, welche Coͤr - per annehmen. Ein Stahlianer haͤlt es vor unvernuͤnftig den Umlauf des Gebluͤ - tes, das Verdauen, die Abſonderung des Nahrungs-Saftes bloß aus der Zuſam - menſetzung des Coͤrpers zu erklaͤren. Ein Mechanicus aber verlachet jenen, wenn er dieſe Dinge fuͤr Wuͤrckungen der Seele ausgiebt. Der eine haͤlt diejenigen fuͤr tumme und aufgeblaſene Koͤpfe, welche vorgeben, es ſey nichts ohne zureichenden Grund. Ein ander aber weiſet denen eineA 3Stelle6Stelle im Tollhauſe an, welche dieſen Satz fuͤr thoͤrigt ausgeben. Jener groſſe Ge - lehrte weiß nicht Worte genug zu finden diejenigen laͤcherlich zu machen, welche der Luft eine Schwehre zueignen. Andere aber ſagen, er habe zwar eine groſſe Einſicht in den Zuſammenhang der Rechte; ſo bald er ſich aber in die Mathematick und Na - tur-Lehre wage, werde er ein Kind, und bringe nichts als abgeſchmacktes Zeug vor.

Dieſes mag genug ſeyn zu beweiſen, daß die Menſchen, wenn ſie die Worte Ver - nunft und vernuͤnftig in eintzeln Faͤllen ge - brauchen, gar ſehr von einander abgehen, und ein jeder ſeine eigene Einſicht fuͤr die eintzige und wahre Vernunft halte.

§. III.

Gebrauch der Ver - nunft bey deꝛ Schrift nach der erſten Be - dentung.

Nachdem alſo die mancherley Bedeu - tung des Wortes Vernunft angemercket worden, wird ſich die Frage entſcheiden laſ - ſen, ob und wie weit die Vernunft bey Er - klaͤrung der Schrift und in Glaubens-Sa - chen zu gebrauchen. Wir fragen erſtlich: Darf man ſich des Vermoͤgens den Zu - ſammenhang der Wahrheiten einzuſehen, ſo der guͤtige Schoͤpfer in die Seele gelegt,bedie -7bedienen, die Schrift zu erklaͤren und den Zuſammenhang der noͤthigen Glaubens - und Lebens-Lehren zu faſſen? Jch hoffe Niemand, der die Worte verſtehet, wird auf dieſe Frage mit Nein antworten, er muͤ - ſte ſonſt etwa ein Quaͤcker ſeyn. Doch auch ein ſolcher, wenn er ſich recht beſinnet, wird muͤſſen zugeben, daß er dieſes Ver - moͤgens noͤthig habe, um die vermeinten Eingebungen des Geiſtes anzunehmen und zu faſſen. Wir aber, die wir keine un - mittelbare Eingebungen des Geiſtes fuͤh - len, werden den Gebrauch des Vermoͤgens Wahrheiten einzuſehen noch weit noͤthiger erachten. Denn wie ohne daſſelbe nie - mand eine Wahrheit faſſen kan, ſo wird auch ohne daſſelbe niemand die heilige Schrift fuͤr ein goͤttlich Buch erkennen, daſ - ſelbige verſtehen lernen und zu einer wah - ren Erleuchtung kommen: Wer dieſes Vermoͤgen erſt in einen Schlaf bringen will, wenn er bey das Buch goͤttlicher Wahrheiten gehet, der wird die Weisheit, welche zum Leben fuͤhret, nie erkennen ler - nen. Wie weit man dieſes Vermoͤgen Wahrheiten einzuſehen bey Erklaͤrung der Schrift zu gebrauchen habe, wird ſich ausA 4der8der Wichtigkeit der goͤttlichen Wahrheiten begreifen laſſen. Die Wahrheiten der goͤttlichen Offenbarung ſind die allerwich - tigſten. Sie zeigen den Weg zu einem ewigen Gluͤcke, folglich verdienen ſelbige, daß das Vermoͤgen Wahrheiten einzuſehen vor allen Dingen auf ſie gerichtet werde, und daß man ſie anſtrenge mit dem groͤſten Eyfer die goͤttlichen Wahrheiten zu ſuchen, zu faſſen, zu uͤberlegen und durch ſelbige die wahre Weisheit zu erlangen.

§. IV.

Nach der zweyten Bedeu - tung.

Wir fragen zweytens, ob und wie weit die Vernunft bey der Offenbarung zu ge - brauchen, in ſo ferne darunter eine wahre Einſicht in den Zuſammenhang der Wahr - heiten, die man ohne Offenbarung erken - net, begriffen wird. Auch dieſe Frage, wenn ſie ſo, wie wir gethan, beſtimmet wird, iſt leicht zu beantworten. Alle Wahrheiten ſtehen in einer gewiſſen Ubereinſtimmung mit einander, eine fuͤhrt zu der andern, und eine macht die andere begreiflich. Es iſt unnoͤthig, daß wir dieſes hier beweiſen, wir koͤnnen ſolches mit Recht als bekannt und ausgemacht zum Voraus ſetzen. Weraber9aber dieſes annimmt, der wird zugleich muͤſ - ſen zugeben, daß es noͤthig die ohne Offen - barung erkannte Wahrheiten anzuwen - den, die wahre Offenbarung zu finden, und von ertichteten zu unterſcheiden. Er wird ferner muͤſſen eingeſtehen, daß es ſehr nuͤtz - lich, die ohne Offenbarung erkannte Wahr - heiten mit den geoffenbarten zu verbinden, um den Feinden der goͤttlichen Offenba - rung zu zeigen, daß die geoffenbarten Wahrheiten nicht unvernuͤnftig, und daß unſer Gottesdienſt vernuͤnftig ſey, d. i. mit dem groſſen Zuſammenhange der Wahr - heiten uͤbereinſtimme. Wenn derowe - gen ein Menſch waͤre, der keine andere als wahre Einſichten in den Zuſammenhang der Wahrheiten und folglich eine Vernunft ohne Jrrthum haͤtte, der wuͤrde berechtiget ſeyn, ja recht wohl thun, wenn er die geof - fenbarten Wahrheiten mit denen, die er ohne Offenbarung erkennte, ſo weit als nur immer ſeine eingeſchraͤnckte aber doch wah - re Einſicht reichte, verknuͤpfte. Es iſt aber niemand unter dem kurtz-ſichtigen Einwohnern dieſer Erden, der ſich ruͤhmen kan, daß alle ſeine Erkenntniß richtig und ohne Jrrthum ſey. Es iſt vielmehr gewiß,A 5daß10daß ein jeder Menſch gewiſſe Unwahrheiten aus Jrrthum fuͤr Wahrheiten halte. Nie - mand unter den Sterblichen kan ſich daher eine reine Vernunft ohne Jrrthum anmaſ - ſen. Niemand kennet auch ſeine eigene Jrrthuͤmer, und unterſcheidet folglich auch nicht in allen Faͤllen die wahre Vernunft von der faͤlſchlich eingebildeten.

Wir doͤrfen derowegen bey dieſen bey - den erſten Fragen nicht ſtehen bleiben, ſon - dern wir muͤſſen vor allen Dingen die drit - te unterſuchen: ob und wie weit ein jeder ſeine mit unerkannten Jrrthuͤmern ver - miſchte Einſicht, welche ein jeglicher fuͤr die eintzige und wahre Vernunft zu halten pflegt, bey Erklaͤrung der Schrift und in Glaubens-Lehren zu gebrauchen habe.

§. V.

Nach der dritten Be - deutung.

Wir haben zwar eine andere Bedeu - tung des Wortes Vernunft als die dritte angefuͤhret, da nemlich der Zuſammenhang der Wahrheiten ſelber dadurch angezeiget wird, und wir ſollten derowegen nach obi - ger Ordnung erſt fragen: wie weit die Ver - nunft bey Erklaͤrung der Schrift und in den Glaubens-Lehren Statt finde, wennman11man darunter den Zuſammenhang der Wahrheiten ſelber verſtehet? Allein dieſe Frage faͤllt gantz hinweg, weil der Zuſam - menhang der Wahrheiten bey Erklaͤrung der Schrift und in Glaubens-Sachen uns nicht zu ſtatten kommen kan, als in ſo fern wir eine Einſicht in denſelben haben. Hier - aus aber entſtehen die Fragen, mit deren Beantwortung wir uns anjetzt beſchaͤfti - gen.

§. VI.

Wir unterſuchen alſo nur noch, ob undNach der vierdten Bedeu - tung. wie weit die Vernunft bey Erklaͤrung der Schrift und in Glaubens-Sachen zu ge - brauchen, in ſo fern ein jeder darunter ſei - ne eigene mit unerkannten Jrrthuͤmern vermiſchte Einſicht, die er ohne Offenba - rung hat, verſtehet? Der Geiſt GOttes entdecket uns nicht unmittelbar, welche un - ter ſo vielen vorgegebenen Offenbarungen die wahre ſey. Der Geiſt GOttes ſagt uns ferner nicht unmittelbar, was fuͤr Begrif - fe mit den Worten, darinnen die wahre Offenbarung verfaſſet, zu verknuͤpfen. Es bleibet uns derowegen nichts uͤbrig als dieſes: entweder wir muͤſſen gar nicht unter - ſuchen, welches die wahre Offenbarungund12und der wahre Sinn derſelben ſey, oder wir muͤſſen die Vernunft, davon wir jetzt reden dazu gebrauchen. Welches von beyden iſt zu wehlen? Jch hoffe, man wird fuͤr billiger halten, daß man ſich ſeiner na - tuͤrlichen Einſicht bediene, die wahre Of - fenbarung und deren Sinn zu erforſchen, als dieſe Unterſuchung wie etwas Unnuͤtzes oder wohl gar Schaͤdliches zu fliehen. JEſus giebt ſelbſt die Anleitung in der Schrift zu ſuchen oder zu forſchen, Joh. 5. v. 39. Wie kan aber dieſes geſchehen oh - ne Anwendung der natuͤrlichen Einſicht in die Sprache, darinne man die Offenba - rung lieſet und in die Alterthuͤmer, wie auch in diejenigen Dinge, ſo immer in der menſchlichen Geſellſchafft vorkommen? Die Offenbarung ordnet allerdings die Erkenntniß ſolcher Dinge vorher. Se - tzet GOtt in ſeiner beweglichen Verſiche - rung ſeiner gnaͤdigen Vorſehung bey dem Jeſ. 49. v. 15. nicht zum Voraus, daß man ohne Offenbarung die Zaͤrtlichkeit ei - ner muͤtterlichen Liebe kenne? Setzet Chri - ſtus in ſeiner Rede Matth. 16. v. 2. nicht zum Voraus, daß man wiſſe, auf eine helle Abendroͤthe folge ein heiter, und auf einetruͤbe13truͤbe Morgenroͤthe ein truͤber Tag? Ob alſo gleich eines jeden natuͤrliche Einſicht mit allerhand Jrrthuͤmern vermiſcht iſt, ſo iſt ſie dennoch zu Erklaͤrung der Schrift und folglich zu der Erkenntniß der Glau - bens-Lehren unumgaͤnglich nothwendig. Nur iſt zu unterſuchen, wie weit man ſich auf ſelbige verlaſſen koͤnne, und wie weit ihr Gebrauch gehe.

§. VII.

Wie weit man ſich auf die Vernunft,Ob ſich ein jeder auf ſeine eige - ne Einſicht verlaſſen koͤnne? von welcher wir hier reden, verlaſſen koͤn - ne, halte ich fuͤr die allerſchwereſte Frage, welche vollkommen zu beantworten ich mich noch nicht unterſtehe. Jch halte dafuͤr, daß dieſe Materie wuͤrdig waͤre von mehr als einem Gelehrten mit rechtem Nachſin - nen unterſucht und abgehandelt zu werden. Diejenigen, welche die Gewißheit und den Gebrauch der Vernunft in der Offenba - rung bisher gelobt und angeprieſen, reden von einer reinen Vernunft, von einer Ver - nunft, welche, wenn ſie recht angeſtrenget wird, ſich fuͤr Jrrthuͤmer huͤten, und ſelbi - gen voͤllig ausbeugen koͤnne. Sie haben ſich die Vernunft gebildet nicht, wie ſie indem14dem Menſchen iſt, ſondern ſo, daß ſie ihre Unvollkommenheit abgeſondert. Sie ha - ben ſelbige, daß ich in der Sprache der Weiſen rede, nicht concretive ſondern abſtractive genommen. Und weil ſie ſich eine Vernunft ohne Jrrthum vorgeſtellet, haben ſie folgende Schluͤſſe gemacht: Was mit der Vernunft nemlich mit einer richtigen und reinen Vernunft ſtrei - tet, kan in der Offenbarung nicht ſtehen. Und dieſer Satz hat ſeine Rich - tigkeit. Hiebey aber hat ein jeder ſtill - ſchweigend als ausgemacht angenommen: Seine Einſicht, ſeine Vernunft ſey die eintzige wahre und richtige Ver - nunft. Und daraus hat ein jeder den Schluß gezogen: was alſo mit ſeiner Vernunft ſtreite, koͤnne in der Offen - barung nicht ſtehen. Ein jeder hat al - ſo angenommen; der Geiſt GOttes muͤſſe nothwendig eben ſo gedacht haben, wie er. Hat der Buchſtabe der Schrift ein anders ausweiſen wollen, ſo hat derſelbe ſo lange muͤſſen gezerret werden, bis er mit eines je - den beſondern Vernunft uͤberein geſtimmet. Und daher iſt es kommen, daß kein eintzigesBuch15Buch in der Welt ſo vielerley Erklaͤrungen leiden muͤſſen, als die Offenbarung.

§. VIII.

Wer ſiehet aber nicht den Fehler, derFortſe - tzung des vorigen. hier begangen wird. Wer kan bey einer reifern Uberlegung den Satz billigen, den mancher Gelehrter macht: ſeine Einſicht ſey die eintzige, wahre und richtige Ver - nunft. Wie thoͤrigt dieſes ſey, ſchlieſſe man daher. Sempronius, ein Mann, den die gelehrte Welt fuͤr eines ihrer wuͤr - digſten Glieder haͤlt, lieſet und pruͤfet viele Buͤcher, ſo andere Weiſen von gleichem Anſehen geſchrieben. Er findet kein eini - ges, das in allen nach ſeinem Geſchmack waͤre. Er findet in allen Ubereilungen, unvollkommene Erklaͤrungen, unrichtige Schluͤſſe, Saͤtze, die ſeiner Einſicht nach falſch ſind. Cajus ein Mann von gleichem Rang und Einſicht unterſuchet ebenfalls die Buͤcher der Weiſen, ſo wohl diejenigen, welche uns der Raub der Zeiten aus dem grauen Alterthum uͤbrig gelaſſen, als auch diejenigen, ſo uns die neuern Zeiten geſchen - cket. Er findet bey allen etwas zu erinnern. Auch die ſehr belobten Schriften ſeinesFreun -16Freundes des Sempronius findet er nicht ohne Fehler. Und Sempronius glaubt berechtiget zu ſeyn, dem Cajus einige unrich - tige Saͤtze vorzuwerfen. Jſt es billig? wenn Sempronius und Cajus ein jeder vor ſich dencket, ſeine Einſicht ſey richtiger als aller uͤbrigen Gelehrten in der gantzen Welt? Waͤre ein ſolcher hochmuͤthiger Gedancke zu dulden? Und muͤſte nicht we - nigſtens der eine ein in ſich ſelbſt verliebter Thor ſeyn? Meiner Meynung nach waͤren ſie es aber bey ihrer groſſen Gelehrſamkeit alle beyde. Ein jeder, der niemandes Mey - nungen als Orackel annimmt, ſondern al - les genau pruͤfet, wird keinen eintzigen Ge - lehrten in der gantzen Welt finden, mit wel - chem er in allen einerley Meynung waͤre. Demjenigen aber wird gewiß der oberſte Platz unter den Narren anzuweiſen ſeyn, der ſich einbildet, er alleine ſey es unter al - len, der alles am deutlichſten und richtig - ſten einſehe. Vielmehr wird dieſer Schluß zu machen ſeyn, ein jeder habe Wahrhei - ten und Jrrthuͤmer in ſeinem Kopfe. We - nigſtens waͤre unter allen denen, die in dieſer und jener Meynung von einander unter - ſchieden, nur ein einiger moͤglich, deſſen Saͤtzeins -17insgeſamt richtig ſich faͤnden. Denn alle die uͤbrigen, die nur in einem Satze von die - ſem abgiengen, waͤren eines Jrrthums ſchuldig. Wer hat aber Gruͤnde vor ſich, womit er beweiſen koͤnne, er ſey der einige Gelehrte, deſſen Verſtand von allem Jrr - thum rein? Es iſt vielmehr zu glauben, daß kein einiger ohne Jrrthum ſey.

§. IX.

Wenn denn aber kein einiger MenſchWas ge - wiß ſey. ohne Jrrthuͤmer, und doch auch niemand ſeine eigene Jrrthuͤmer kennet, ſo ſcheinet zu folgen, daß unſere vermiſchte Einſicht ohne allen Gebrauch und Nutzen ſey, indem ſich niemand auf einen eintzigen ſeiner Saͤ - tze mit voͤlliger Gewißheit verlaſſen koͤnne. Jch antworte hierauf folgendes: Man hat zwar noch keine vollkommen hinreichende allgemeine Merckmahle, wodurch man in einem jeden einzelnen Falle die richtigen Saͤtze und Schluͤſſe von den unrichtigen zu unterſcheiden faͤhig iſt: Man hat aber doch einige beſondere Merckmahle, wodurch man in einigen Faͤllen zu einer voͤlligen Ge - wißheit, ob etwas wahr oder falſch ſey, ge - langen kan. Ehe ich hievon mit mehrernJacobi Betr. 2. Band. Brede,18rede, muß ich erſt ſagen, was ich voͤllig ge - wiß nenne. Dasjenige nenne ich in An - ſehung meiner Erkenntniß gewiß, wovon mir ſolche Merckmahle bekannt, von wel - chen niemand ſagen und darthun kan, daß ſie ihn jemals betrogen. Sollte ich das - jenige voͤllig gewiß nennen, was ich mit ei - ner vollkommenen Demonſtration, der gar nichts fehlte, darthun koͤnnte, ſo bliebe meinem Verſtande gar nichts gewiſſes uͤbrig. Denn ich bekenne hiemit oͤffent - lich, daß ich keine vollkommene Demonſtra - tion zu machen weiß. Jch ſpreche hiemit aber andern das Vermoͤgen vollkommene Demonſtrationen zu machen nicht ab. Eh - mahls habe ich dieſes Vermoͤgen auch ge - habt. Jch habe es aber verlohren, da ich mir vorgenommen und auch wuͤrcklich den Anfang gemacht, vollkommene Demonſtra - tionen aufzuſetzen, und mich zugleich in die Hiſtorie der Philoſophie gewagt. Jn mei - nen Demonſtriren bin ich immer auf Saͤ - tze kommen, die ich umſonſt habe muͤſſen annehmen, und deren Richtigkeit ich mit nichts habe beweiſen koͤnnen. Dahin ge - hoͤren alle die Saͤtze, zu welchen wir bloß durch innere oder aͤuſſerliche Empfindun -gen19gen gelangen. Unter dieſen Saͤtzen ſtehet der Grund-Satz aller Demonſtrationen, daß ein Ding nicht zugleich ſeyn und auch nicht ſeyn koͤnne, oben an, und alle Erfahrungen durch die aͤuſſern Sinne ſtehen unmittelbar drunter. Alle dieſe Saͤtze muß mir derjenige ſchencken, dem ich etwas beweiſen ſoll, und ja nicht fodern, daß ich ihm einen zuverlaͤßigen Grund von der Richtigkeit der innern und aͤuſſern Em - pfindungen geſunder Menſchen angeben ſoll. Jch habe zwar die Beweiſe der ſcharf - ſinnigſten Philoſophen wider die Zweifeler. Allein ich muß bekennen, daß ich zu furcht - ſam bin, mit dieſen Beweiſen wider ſolche Leute zu ſtehen. Wenn ein Jdealiſt oder gar ein Egoiſt auf mich losgehet, ſo ziehe ich gewiß aus. Denn wer ſo hartnaͤckigt iſt, daß er zweifelt, ob ein Stock wuͤrcklich in der Welt ſey, wenn man ihn ſelbigen vor die Naſe haͤlt, ſondern glaubt, er habe nur einen deutlichen Traum davon, der wird gewiß auch alle meine Beweiſe fuͤr Traͤume halten. Auſſer dieſen kan ich auch niemanden die Allgemeinheit derjeni - gen Saͤtze beweiſen, welche aus eintzelnen Erfahrungen gezogen werden. Der an -B 2dere20dere muß mir ohne dringenden Beweiß er - lauben, daß wenn ich einen Satz aus vie - len Erfahrungen gezogen, ich denſelben ſo lange fuͤr allgemein halte, bis er mir eine Ausnahme entgegen ſetzen kan. Will er keinen Satz, keine Erklaͤrung als allgemein annehmen, ohne daß ich ihm die Allgemein - heit bewieſen, ſo iſt mir der Mund aber - mals geſtopfet, denn von meinen wenigſten Saͤtzen und Erklaͤrungen kan ich ihm die Allgemeinheit anders darthun, als daß ich von einigen auf alle ſchlieſſe: Und wer die ſtaͤrckſten Beweiſe recht zergliedert, wird bey den mehreſten auf allgemeine Saͤtze kommen, welche man nicht anders heraus gebracht, als daß man von einigen auf alle geſchloſſen. Wenn ich einige Steine ge - funden, die ſchwer geweſen, und es iſt nie - mand, der einen Stein ohne alle Schwere angetroffen, ſo ſetze ich ohne Bedencken feſt, alle Steine auf dieſem Erdboden ſind ſchwer. Wenn ich bey einigen Vertraͤgen wahrgenommen, daß ſie eine Einwilligung von zwo oder mehrern Perſonen in eine gewiſſe Sache, die keiner vor ſich allein ſoll wieder aufheben, ſo mache ich daher die allgemeine Erklaͤrung, ein Vertrag ſey eineEin -21Einwilligung zwo oder mehrer Perſonen in eine gewiſſe Sache, ſo daß keiner ſeine Ein - willigung fuͤr ſich allein ſoll wieder zuruͤck nehmen. Recht vollkommene Demon - ſtrationen, bey welchen mir niemand den Sprung von einigen auf alle erlaubet, fal - len bey mir ſehr hinweg. Und uͤberhaupt mag ich mit dem nichts zu thun haben, der nichts ohne Demonſtration annehmen will, ich werde bey ihm nichts zu eſſen und zu trincken bekommen, wenn er mir ehender nichts geben will, bis ich ihm demonſtriret, daß ich hungrig und duͤrſtig werde, wenn ich bey geſunden Leibe in einem halben Ta - ge nichts genoſſen.

Jch nehme indeſſen die innern und aͤuſ - ſern Empfindungen, wenn ich geſund, und die Empfindungen deutlich und anhaltend geweſen und meine Seele ihre voͤllige Kraft auf die Bemerckung derſelben gerichtet, als voͤllig gewiß an, theils, weil ich durch einen innern Trieb dazu gezwungen werde, theils aber, weil noch niemand in der Weit dar - thun koͤnnen, daß ihn ſelbige betrogen. So halte ich ferner fuͤr voͤllig gewiß alle dieje - nigen Saͤtze, welche unmittelbar aus obi - gen Empfindungen mit einiger UberlegungB 3gemacht22gemacht werden, und bey deren Gegentheil die Empfindung nicht ſo ſeyn koͤnnte, als ſie iſt. Z. E. Jch ſehe und fuͤhle einen Stein, und auf demſelben eine Naͤſſe, ſo iſt der Satz voͤllig gewiß, der Stein iſt naß. So ſind ferner die allgemeinen Saͤtze, ſo unmittelbar ohne weitlaͤuftige Schluͤſſe aus den Erfahrungen, die ein jeder haben kan, zuſammen geleſen werden, voͤllig ge - wiſſe Saͤtze. Z. E. Ein jeglicher Stein, der in freyer Luft in die Hoͤhe geworfen wird, faͤllt wieder herunter. Bey ſolchen Saͤtzen hat ſich auch noch niemand betro - gen gefunden, und haben eine ſolche Gewiß - heit, darauf man ſich voͤllig verlaſſen kan.

§. X.

Auf wel - che Schluͤſ - ſe man ſich verlaſſen koͤnne.

Auch unter den Saͤtzen, die man durch weitlaͤuftigere Schluͤſſe heraus bringet, ſind einige, auf deren Gewißheit man ſich voͤl - lig verlaſſen kan. Deren Beſtimmung aber iſt mir ungemein ſchwer, und ich ge - ſtehe, daß ich ſie genau anzugeben mich nicht im Stande befinde. Man pflegt ſie insgemein alſo zu beſtimmen: Ein Satz der aus richtigen Erfahrungen und richti - gen Erklaͤrungen durch richtige Schluͤſſeher -23hergeleitet wird, iſt voͤllig gewiß. Allein dieſes heiſſet eben ſo viel geſagt, als folgen - des: Eine gewiſſe erfundene Zahl, die nach der Regel Detri aus gewiſſen gegebenen Zahlen hat ſollen geſucht werden, iſt gantz gewiß die rechte, die es hat ſeyn ſollen, wenn man nur mit den gehoͤrigen Zahlen richtig verfahren, wenn man die rechten Zahlen richtig mit einander addiret, multipliciret, von einander ſubtrahiret und in einander dividiret. Entſtehet hiebey nicht die neue Frage: wobey man gewiß ſeyn koͤnne, daß man allezeit die rechten Zahlen genommen, und mit denſelben richtig verfahren? Und eben dieſe Frage entſtehet bey den obigen Kennzeichen der Saͤtze, die durch eine rich - tige Demonſtration ihre Gewißheit erhal - ten ſollen. Wobey kan man mercken, daß man richtige Erklaͤrungen gemacht, und aus richtigen Vorder-Saͤtzen allezeit rich - tig geſchloſſen, und dabey keinen Fehler be - gangen? Jch weiß davon keine andere Merckmale anzugeben, als dieſe. Habe ich etwas durch Schluͤſſe heraus gebracht, ich kan den Schluß durch verſchiedene Er - fahrungen auf dieſe Probe ſetzen, und ich finde ihn alsdenn richtig, ſo kan ich als voͤl -B 4lig24lig gewiß annehmen, daß ich richtig geſchloſ - ſen, beſonders wenn ſich bey der Probe auch nach und nach die Urſachen aͤuſſern, deren ich mich im Schlieſſen bedienet. Z. E. Jch bringe durch Schluͤſſe heraus, dieſe und jene Art von Befeſtigungen muͤſſen aus der und der Urſache ſehr vortheilhaft ſeyn. Jch baue ſie, und finde, daß ſie gute Dienſte bey einem Angrif gethan, ſo kan ich voͤllig gewiß ſeyn, meine Schluͤſſe ſeyn richtig geweſen. Jngleichen, wenn ich in der Phyſick durch Schluͤſſe heraus bringe, aus der Vermiſchung dieſer und jener Dinge muß dieſe und jene Erſcheinung erfolgen, und bey der Probe erfolget alles, wie man geſchloſſen, ſo kan man voͤllig gewiß ſeyn, daß man auf eine ſolche Art gedacht, dabey niemand betrogen wird. So bekommen die Beweiſe fuͤr den Satz des zureichen - den Grundes dadurch ein groſſes Gewicht, daß keine einige Erfahrung dawider kan aufgebracht werden, ſondern alle damit uͤbereinſtimmen. Ferner halte ich dieſes fuͤr ein Kennzeichen richtiger Beweiſe, wenn zu denſelben nicht noͤthig geweſen Erklaͤ - rungen die von ſehr viel einzelnen Dingen haben muͤſſen zuſammen geleſen werden,oder25oder Saͤtze, die vom Moͤglichen und Un - moͤglichen reden, oder auch die Erkenntniß des innern Weſens einzelner Dinge und des groſſen Zuſammenhanges der Welt und der Verbindung vieler tauſend Dinge, wie auch die Vergleichung anderer moͤg - lichen Reihen der Dinge zum Voraus ſetzen; wenn ferner der Beweiß kurtz, zu verſchiedenen Zeiten von verſchiedenen ſcharfſinnigen Leuten uͤberſehen und nichts dagegen aufgebracht, ſo nicht leicht zu he - ben waͤre, wenn dieſes alles ſich ſo verhaͤlt, ſo bin ich von der Richtigkeit ſolcher Be - weiſe ſo gewiß, als von der Richtigkeit der Addition ſehr weniger Zahlen, die von vie - len nachgeſehen worden, und bey welcher niemand einen Fehler entdecken koͤnnen. Bey Beweiſen die weitlaͤuftig, ſich auf Er - klaͤrungen gruͤnden, die von vielen einzel - nen Dingen zuſammen geſucht werden muͤſſen, die ferner ſolche Saͤtze in ſich enthal - ten, die ſich auf das Moͤgliche und Unmoͤg - liche auf das innere Weſen der Dinge, auf den groſſen Zuſammenhang der Welt und auf andere moͤgliche Reihen der Dinge be - ziehen, muß man nicht zu ſicher ſeyn, ſon - dern ſich immer bereit halten, beſſern Un -B 5ter -26terricht anzunehmen, denn die Geſchichte der Weiſen lehret, wie oft die groͤſten Gei - ſter in dergleichen Beweiſen ſich verirret, und wie oft man ſich dabey betrogen befun - den. Man leſe, was ich hievon (Betracht. VIII. §. 35. 36. ) geſchrieben habe. Waͤre es nicht ſo gar leicht ſich in der Verbindung verſchiedener Dinge zu verſehen, ſo wuͤrde es nicht leicht geſchehen, daß zwey geuͤbte Meiſter im Damen oder Schach-Spiel einander ein Spiel abgewoͤnnen, denn ſol - ches ſetzet allezeit wenigſtens ein Verſehen zum Voraus.

§. XI.

Welche hi - ſtoriſche Wahrhei - ten als ge - wiß anzu - ſehen.

Noch ferner werden alle diejenigen Zeugniſſe von Leuten, welche alle Merck - male der Glaubwuͤrdigkeit zuſammen ge - nommen vor ſich haben, zu den voͤllig ge - wiſſen Wahrheiten zu rechnen ſeyn. Denn man wird kein Exempel beybringen koͤnnen, daß jemand ſich bey Zeugniſſen anderer, die alle moͤgliche Merckmale der Glaub - wuͤrdigkeit vor ſich gehabt, betrogen befun - den. Damit ich dieſes genauer beſtimme und mich niemand durch ein wider mich an - gebrachtes Exempel zu Schanden machen moͤge, ſo erklaͤre ich mich alſo: Es bemer -cke27cke ſich jemand die Kennzeichen der Glaub - wuͤrdigkeit eines fremden Zeugniſſes, ſo der gelehrte Ditton in ſeinen mathema - tiſchen Beweiſe der Auferſtehung JEſu angegeben, und unterſuche, ob ein einiges Zeugniß, dadurch jemand in der Welt hintergangen worden, alle dieſe Merckmale der Glaubwuͤrdigkeit zugleich an ſich gehabt, er wird ſolches nie finden. Und dieſes macht mich voͤllig gewiß von den Zeugniſſen der heiligen Schriftſteller. Es iſt aber nicht genug, daß die Richtigkeit eines Zeugniſſes ihre voͤllige Gewißheit hat; ſondern man muß auch von der rech - ten Erklaͤrung deſſelben gewiß ſeyn. Es iſt nicht zu leugnen, daß die Erklaͤrung man - ches Zeugniſſes vielen Schwuͤrigkeiten un - terworfen und es iſt dieſes von ſehr vielen Zeugniſſen, wenn ſie alt werden, untrenn - bar. Alte Gebraͤuche und Begebenheiten und Spruͤchwoͤrter werden unbekannt, und alles das wird zugleich dunckel, was ſich darauf beziehet. Jedoch giebt es einige Ausdruͤcke die allezeit denen klar bleiben, welche die Woͤrter verſtehen, nemlich die - jenigen, in welchen die Woͤrter in ihrer ei - gentlichen Bedeutung ohne eine kuͤnſtlicheVer -28Verbindung ſtehen, und ſich auf keine be - ſondere Gebraͤuche und Geſchichte bezie - hen. Und die Erklaͤrungen derſelben ſind voͤllig gewiß zu nennen. Denn kein Sprach - Verſtaͤndiger, der ſolche Worte ohne Vor - urtheil angeſehen, und bey der einfaͤltigſten Deutung der Worte geblieben, iſt dabey eines Jrrthums uͤberfuͤhret worden. Da - her koͤmmt es auch, daß alle, die den Cice - ro und andere dergleichen Buͤcher geleſen, in vielen Stellen voͤllig mit einander in ih - ren Erklaͤrungen uͤbereinſtimmen. Daß bey der Erklaͤrung der Schrift auch bey den leichteſten Stellen ſo viel Zwieſpalt iſt, ruͤhret daher, daß faſt ein jeder, ehe er die Schrift lieſet, zum Voraus ſetzet, dieſe und jene Meynung, die er nach ſeiner Philoſo - phie fuͤr unrichtig haͤlt, muß nicht drinne ſte - hen. Wenn ſie derowegen mit den deut - lichſten Worten darinnen enthalten, ſo muͤſſen doch die Worte ſo lange gefoltert werden, bis ſie mit ihrer Art zu dencken uͤbereinſtimmen.

§. XII.

Welche Saͤtze wahr - ſcheinlich?

Auſſer den bisher erwehnten Arten von Wahrheiten weiß ich keine, von welchen ich mich zu behaupten getrauete, daß ſie voͤl -lig29lig gewiß waͤren. Denn von allen uͤbri - gen Arten der Wahrheiten, deren Bewei - ſe die angefuͤhrten Kennzeichen der Gewiß - heit nicht fuͤr ſich haben, kan ich Exempel aus der philoſophiſchen Hiſtorie beybrin - gen, daß recht ſcharfſinnige Perſonen bey allen ihren Demonſtriren dennoch ſind be - trogen worden. Jch halte daher alle die - jenigen Saͤtze, welche die angefuͤhrten Kenn - zeichen einer voͤlligen Gewißheit nicht ha - ben, nur fuͤr wahrſcheinlich, und leugne nicht, daß ich dem groͤſten Theil meiner Wiſſenſchafften nur eine Wahrſcheinlich - keit beylege. Es hat dieſes die Wuͤrckung in meinem Gemuͤth, daß ich diejenigen mit vieler Liebe tragen kan, die anders dencken, als ich, und mich mit niemand uͤber Mey - nungen zancke und ſchelte. Jch ſtehe fer - ner nicht hartnaͤckigt auf meinen Gedan - cken, ſondern bin bereit mich von einem je - den eines beſſern unterrichten zu laſſen. Vielleicht fragt jemand, wie ich es denn bey der Einrichtung meiner Handlungen an - fange, da ich mich ſo weniger Gewißheit in meinen Wiſſen ruͤhme? Jch verhalte mich dabey alſo: Jch wehle, was nach meiner Einſicht das Wahrſcheinlichſte und Si -cherſte.30cherſte. Und will jemand ehender nichts unternehmen, als bis er von dem Ausgan - ge eine voͤllige Gewißheit haben kan, der wird der allerungluͤcklichſte unter der Son - nen ſeyn. Er darf nicht ſaͤen noch ein - erndten, weder eſſen noch trincken, noch ſchlafen, denn er weiß nicht gewiß, ob nicht ein jedes davon dieſesmahl boͤſe Folgen habe. Unſere allermehreſten Handlungen muͤſſen wir bloß auf Wahrſcheinlichkeiten hinwagen. Bisweilen iſt das Wahr - ſcheinlichſte nicht das Sicherſte. Jn ei - nem ſolchen Falle muß man, wenn ſehr wichtige Folgen moͤglich ſind, das Sicherſte dem Wahrſcheinlichſten vorziehen. Es muß dieſes oͤfters im Kriege geſchehen. Ein General hat einen Feind in der Naͤhe. Es iſt hoͤchſt wahrſcheinlich, daß er ihn durch ein Treffen uͤberwinden und zuruͤck ſchla - gen koͤnnte. Der Feind aber ſtehet ſo, daß, wenn die Schlacht verlohren gienge, die Retirade ſehr beſchwerlich waͤre, und auf derſelben ungemein viel Leute bleiben wuͤr - den. Die Umſtaͤnde ſind ferner ſo, daß, wenn der Sieg nicht erfolgte und viele Leu - te getoͤdtet und gefangen wuͤrden, der Feind keinen Widerſtand mehr faͤnde und alseine31eine Fluth herein brechen koͤnnte. Wenn die Sachen dergeſtalt ſtehen, ſo wird ein weiſer General das Sicherſte dem Wahr - ſcheinlichſten vorziehen, und den Angriff nicht wagen. Und eben ſo wird es ein klu - ger Menſch in andern aͤhnlichen Faͤllen machen.

§. XIII.

Vielleicht wundern ſich einige, daß ichWie weit hiſtoriſche Wahrhei - ten andern demon - ſtrirten Saͤtzen gleich zu achten? Saͤtze, die man bloß aus klaren Zeugniſſen glaubhafter Leute hat, mit denen in eine Claſſe geſetzt, welche man durch gantz kurtze Beweiſe ohne fremde Zeugniſſe ausmachen kan, und jenen einen gleichen Grad der Ge - wißheit zueigne. Jch weiß gar wohl, wie weit man die hiſtoriſchen Wahrheiten un - ter die mathematiſchen und philoſophiſchen zu ſetzen pflege, und daß man von demje - nigen glaubt, er rede nicht accurat, der da ſaget, er wiſſe hiſtoriſche Wahrheiten. Er muß ſprechen, er glaube ſie. Jch befuͤrch - te aber, daß unſer Wiſſen, wo nicht gantz, doch groͤſten Theils hinweg falle, wenn da kein Wiſſen ſoll Statt finden, wo man ſich auf Zeugniſſe anderer gruͤndet. Wie viel ſind denn der Wiſſenſchaften, welche nicht unter ihren erſten Gruͤnden hiſtoriſcheWahr -32Wahrheiten haben? Aſtronomie, Mathe - matick, Geographie, und Chronologie, Bau-Kuͤnſte, ingleichen Logick, Metha - phyſick und viele andere Wiſſenſchafften gruͤnden ſich auf Erfahrungen, welche ein Menſch nicht machen kan, ſondern, welche einer von dem andern annehmen muß. Noch mehr: iſt ein einzelner Menſch im Stande einen eintzigen allgemeinen Satz aus der Erfahrung zu nehmen, darauf er ſich voͤllig verlaſſen kan, ohne anderer Men - ſchen Erfahrung mit zu Huͤlfe zu nehmen? Kan ein einiger Menſch ſich alle noͤthige einzelne Faͤlle, daraus er den allgemeinen Satz ziehen muß, uͤberſehen? Wie treff - lich man ſich auf die allgemeinen Saͤtze, die jemand aus ſeinen Erfahrungen allein ziehet, verlaſſen koͤnne, koͤnnte ich mit merck - lichen Exempeln der neueſten Zeiten aus der Mathematick und Phyſick beweiſen. Allein es moͤchte mir ſolches uͤbel gedeutet werden. Jch will derowegen lieber aus den Mohren-Laͤndern unter der Linie ein Exempel herholen. Dieſe nehmen als eine Erfahrung an, kein Waſſer koͤnne ſo hart werden, daß es groſſe Laſten trage. Jn ihren Laͤndern haben ſie kein Exempel, ſoihnen33ihnen das Gegentheil lehrete. Jndeſſen iſt ihre Erfahrung nicht hinreichend, einen ſo allgemeinen Satz zu befeſtigen. So muͤſſen ferner die mehreſten Erklaͤrungen durch anderer Leute Zeugniß beſtaͤrcket wer - den, wenn wir uns anders einiger Maſſen darauf verlaſſen ſollen. Die mehreſten Erklaͤrungen muͤſſen von unzehligen einzel - nen Dingen zuſammen geleſen werden. Wir koͤnnen ſelbige unmoͤglich alle uͤber - ſehen. Wir nehmen daher allezeit nur ei - nige, und ſuchen von ſelbigen den allgemei - nen Begriff eines Geſchlechtes zuſammen, und halten unſere Erklaͤrung fuͤr richtig, wenn wir kein Exempel von ſelbigen Ge - ſchlecht finden koͤnnen, ſo nicht unter der Erklaͤrung begriffen waͤre, oder auch kein Ding von einer fremden Gattung antref - fen, ſo mit unter die gemachte Erklaͤrung koͤnnte gezogen werden. Wie ſehr fehlen wir aber, wenn wir uns auf uns allein hie - bey verlaſſen, und dencken, eine Erklaͤrung, wider deren Richtigkeit wir kein Exempel auf bringen koͤnnen, die ſey vollkommen. Wie leicht die ſcharfſinnigſten Maͤnner ſich hiebey vergehen, kan denen nicht unbekannt ſeyn, die ſich nur in etwas die GeſchichteJacobi Betr. 2. Band. Cder34der Philoſophie bekannt gemacht. Auch die Arithmetiſchen, Geometriſchen, und Algebraiſchen Schriften der beruͤhmteſten Maͤnner ſind nicht frey von ſolchen Fehler - haften Erklaͤrungen und unrichtigen Be - weiſen, ſo daraus hergeleitet worden, da man doch in ſolchen Schriften die vollkom - menſten Erklaͤrungen und Beweiſe ſucht. Jch bin daher ſo furchtſam bey einer jeden Erklaͤrung, ſo ich ſelber mache, daß ich ihr nicht traue, bis ſie andere Perſonen von Einſicht uͤberlegt, und bezeuget, daß ſie nichts dagegen aufzubringen wiſſen. Noch eins. Alle Beweiſe gruͤnden ſich zuletzt auf den Satz des Widerſpruches. Deſ - ſen Gewißheit aber gruͤndet ſich auf unſere innere Empfindung. Wir fuͤhlen einen innern Widerſtand, wenn wir dencken wol - len, es koͤnne ein Ding zugleich ſeyn und nicht ſeyn. Sollte aber die innere Empfin - dung eines eintzigen Menſchen wohl genug ſeyn, dieſen Satz in ſeiner Allgemeinheit recht feſt zu ſetzen? Wir wiſſen, daß man - che Menſchen in ein und andern Dingen unrichtige Empfindungen haben, woher kan ich wiſſen, daß die Empfindung, darauf ſich dieſer Satz gruͤndet, richtig ſey? Gewißich35ich weiß kein ander Merckmal davon, als das Zeugniß anderer geſunden Menſchen, daß ſie eben dieſe Empfindung haben. Wie viel Wiſſenſchafften bleiben alſo uͤbrig, wenn klare Zeugniſſe beglaubter Perſonen unter den Gruͤnden derſelben keinen Platz finden ſollen?

§. XIV.

Nun getraue ich mir in etwas zu be -Wie weit unſere ver - miſchte Einſicht bey der Offenba - rung zu gebrau - chen? ſtimmen, wie weit die Vernunft bey Er - klaͤrung der Schrift und in Glaubens-Sa - chen zu gebrauchen, und was fuͤr Grentzen dabey zu beobachten. Wer auf eine gruͤnd - liche Art die geoffenbarten Wahrheiten er - kennen will, der muß ſich bemuͤhen eine Einſicht in die Grund-Sprachen, Alter - thuͤmer, und diejenigen Dinge, ſo im ge - meinen Leben haͤufig vorkommen zu erlan - gen. Er muß ſich ferner uͤben im Uberle - gen, im Unterſcheiden, im Vergleichen, und im Schlieſſen. Jene Einſicht begleitet von dieſer Fertigkeit zu uͤberlegen, zu unterſchei - den, zu vergleichen und zu ſchlieſſen, macht einen Theil ſeiner Vernunft aus. Die - ſen Theil muß er anwenden, den Sinn der Offenbahrung zu erfahren. Wollte je -C 2mand36mand dieſen Theil der Vernunft bey der Schrift und bey Beurtheilung der Glau - bens-Sachen nicht gebrauchen, gewiß ſo muß ihm eine auſſerordentliche Offenba - rung geſchehen, oder er wird nie eine gruͤnd - liche Erkenntniß in den Lehren der Schrift erlangen. Man muß ſich aber hiebey ja kein Verzeichniß von gewiſſen weit herge - holten Saͤtzen machen, uͤber welche man ſchreibt: Die Saͤtze koͤnnen und muͤſſen in der Schrift nicht ſtehen, und was ſelbige zum Voraus ſetzet, muß auch darinne nicht zu finden ſeyn. Es heiſſet dieſes, wie wir oben §. VII. bewieſen, nichts anders, als: Jch bin der eintzige weiſe Mann, der keine irrige Saͤtze hat. Alle meine Gedancken ſind richtig. Der Geiſt GOttes kan alſo unmoͤglich anders dencken, wie ich. Was derowegen mit meinen Meynungen nicht uͤbereinſtimmet, kan in ſeinen Offenbarun - gen nicht ſtehen. Sollte derjenige wohl nicht mit Recht einer kleinen Raſerey koͤn - nen beſchuldiget werden, der ſo dencket? Diejenige Haupt-Regel, deren ich mich bey Erklaͤrung der Schrift bediene, iſt dieſe: Jch bemuͤhe mich, ſo viel mir nur immer moͤglich iſt, mich in die Umſtaͤnde derer zuſetzen,37ſetzen, unter welchen die goͤttlichen Offen - barungen zuerſt ſind gemein gemacht wor - den. Jch mache mir ihre Sprache, ihre Geſchichte, Meynungen, Sitten und Ge - braͤuche, ſo viel moͤglich, bekannt, und frage alsdenn: Was fuͤr Gedancken wuͤrdeſt du in jener Umſtaͤnden mit dieſen und jenen Worten der Offenbarung verknuͤpft ha - ben? Und wenn ich denn finde, dieſes und jenes wuͤrde ich bey dieſem und jenem kla - ren Ausdruck gedacht haben, ſo halte ich ſolches fuͤr den echten Sinn der Offenba - rung, er mag ſich uͤbrigens mit meiner Phi - loſophie reimen oder nicht. Wir halten ja dieſes fuͤr die rechte Haupt-Regel, nach welcher andere Schriften zu erklaͤren, war - um ſoll ſie denn bloß bey der Offenbarung hinweg fallen?

§. XV.

Was heraus kommt, wenn man feſteWie weit ſie nicht zu gebrau - chen? ſetzet, was mit unſerer Philoſophie ſtreitet, muß in der Offenbarung nicht ſtehen, und hergegen, was mit derſelben uͤberein ſtimmet, muß dar - inne enthalten ſeyn, koͤnnen uns die Kirchen-Geſchichte durch alle Jahrhundert lehren. Alle Jahrhundert ſind gewiſſeC 3Saͤtze38Saͤtze aus der Offenbarung heraus ge - worfen und neue hinein geſetzt worden. Ein jeder hat die Worte der Schrift ſo lange gezerret, bis er ſeine Philoſophie dar - inne gefunden. Wir fuͤhren nur ein Ex - empel an. Wie ſind nicht die Gnoſticker in den erſten Zeiten des Chriſtenthums mit der Heil. Schrift umgegangen? als ſie feſt ſetzten, ihre Philoſophie ſey die rechte, und was mit ſelbiger ſtreite, muͤſſe in der Of - fenbarung nicht ſtehen. Nach ihrer Ver - nunft war die Materie, und folglich alle Coͤrper boͤſe und eine Quelle des Boͤſen. Der Coͤrper des Menſchen war ein Ge - faͤngniß, in welches die Seele nur zur Mar - ter geſteckt. Hieraus ſchloſſen ſie: Chri - ſtus kan unmoͤglich einen Coͤrper gehabt haben, ſondern ſein Leib muß nur ein Phan - tasma, eine Larve eines Coͤrpers geweſen ſeyn. Er iſt folglich auch nicht wahrhaf - tig gecreutziget. Die Ehe iſt zu verwerf - fen. Denn aus ſelbiger werden Coͤrper erzeuget. Die Auferſtehung der Leiber iſt nichts. Ehe ſie nun die Schrift laſen, war ſchon feſt geſetzt: was dieſer Philoſo - phie widerſpricht, muß in den heiligen Buͤ - chern nicht ſtehen. Und wenn gleich diedeut -39deutlichſten Worte vorhanden, die einen andern Sinn recht erzwingen, ſo muſten ſie ſo lange gedrehet werden, bis ſie mit dieſer Philoſophie uͤberein ſtimmten. Wie fein iſt nicht dieſe Art die Schrift zu erklaͤren? Es bluͤhet aber dieſe Art zu erklaͤren noch bis auf den heutigen Tag.

§. XVI.

Aus dem, was bisher geſagt worden,Weitere Ausfuͤh - rung des vorigen. ſchlieſſe man, wie weit dieſe Regel zu ge - brauchen: Was mit der Vernunft ſtreitet, kan in der Offenbarung nicht ſtehen, und eine Erklaͤrung, ſo einem Satz der Vernunft zuwider iſt, kan nicht die rechte ſeyn. Es iſt dieſer Satz in einem gewiſſen Verſtande richtig, in einem andern aber nicht. Wenn dieſer Satz alſo eingeſchraͤncket wird: Was mit der wahren Vernunft ſtreitet, kan in der Schrift nicht befindlich ſeyn, und eine Erklaͤrung die wahr - haftig einen wahren Satz der Ver - nunft auf hebet, kan nicht die rechte ſeyn, ſo hat er ſeine voͤllige Richtigkeit, aber er iſt wenig brauchbar. Wer ihn in ſeiner voͤlligen Ausdehnung, in welcher erC 4genom -40genommen wird, brauchen will, muß erſt ausmachen, wer unter ſo vielen Philoſo - phen, von ſo viel tauſend Jahren her, von welchen kein einiger mit dem andern voͤllig uͤberein geſtimmet, die wahre Vernunft und nichts als wahre Saͤtze derſelben beſitze. Denn da keiner mit dem andern voͤllig ei - nig iſt, ſo muß entweder nur ein einiger ſeyn, der in allen ſeinen Meynungen die wahre Vernunft hat, oder es muß kein ei - niger unter ihnen eine in allen Stuͤcken wahre Vernunft beſitzen. Jſt dieſes letz - tere, ſo muß, ehe jemand obige Regel brau - chen kan, ausgemacht werden, welche Saͤ - tze bey einem jeden mit voͤlliger Gewißheit als Wahrheiten einer reinen Vernunft koͤnnen angeſehen werden. Denn es wird in dieſem Falle als gantz gewiß angenom - men, daß ein jeder Menſch Jrrthuͤmer ha - be. Wie viel ſind aber derjenigen Wahr - heiten, von deren voͤlligen Gewißheit jemand recht verſichert ſeyn kan? Aus dem, was oben §. IX. u. f. geſaget worden, kan ein jeder leicht abnehmen, daß derſelben gewiß ſehr wenig ſind. Es wird dannenhero obige Grund-Regel noch ſehr muͤſſen ein - geſchraͤnckt werden, ehe ſie brauchbar wird. Wollte41Wollte aber jemand annehmen, es ſey je - mand, deſſen Vernunft von unerkannten Jrrthuͤmern gantz rein waͤre, ſo frage ich, wer iſt denn derjenige? Es wird zwar kei - ner von den Philoſophen ſo unverſchaͤmt ſeyn, und ſagen: Er ſey es. Jn der That aber ſetzt mancher bey dem Gebrauch obi - ger Grund-Regel zum Voraus, er ſey der - jenige, der alle andere Philoſophen uͤberſehe, und ſeine Saͤtze ſeyn lauter Wahrheiten einer reinen Vernunft. Bey einem ſol - chen aber hat obige Grund-Regel folgende Bedeutung: Was mit ſeiner Ver - nunft ſtreite, koͤnne in der Schrift nicht ſtehen, und eine Erklaͤrung, die ſeinen Saͤtzen widerſpreche, ſey falſch. Jſt aber dieſer Ausſpruch zu ertragen? Wer ſelbigen gebraucht, erhebt ſich derſel - be nicht uͤber alle Menſchen, und macht ſich zu dem einigen, welcher eine reine Ver - nunft beſitzet? Sollten ſich die Weiſen nicht ſchaͤmen einen ſolchen Satz anzu - nehmen?

§. XVII.

Soll derowegen obige Grund-RegelFortſe - tzung eben deſſelben. brauchtbar werden, ſo muß man ſie folgen - der Geſtalt einſchraͤncken: Was mitC 5ſolchen42ſolchen Saͤtzen wahrhaftig ſtreitet, auf deren voͤllige Gewißheit ein Menſch ſich ohne alle Furcht zu irren verlaſſen kan (ſiehe §. IX. u. f.) Das kan in der goͤttlichen Offenbarung nicht ſtehen: und eine Erklaͤrung, welche wahrhaftig einen ſolchen Satz auf hebet, kan die rechte nicht ſeyn. Jn dieſer Einſchraͤnckung iſt ſie richtig, denn keine Wahrheit kan die andere auf - heben. Und unter dieſer Beſtimmung iſt ſie brauchbar. Doch aber iſt noch ein ander Umſtand, der ihren Gebrauch unge - mein enge einſchraͤncket. Wenn man dieſe Regel zu dem erſten Vorderſatz eines Schluſſes machen will, ſo muß der zweyte alſo lauten: Dieſes und jenes ſtreitet wahrhaftig mit einer voͤllig gewiſſen Wahrheit der Vernunft; dieſe und jene Erklaͤrung hebt wahrhaftig ei - ne Wahrheit auf. Und hieraus kan denn erſt der Schluß hergeleitet werden: Dieſes und jenes kan in der Schrift nicht ſtehen: Dieſe und jene Erklaͤrung iſt falſch. Allein wie vielen Schwuͤrig - keiten iſt der Beweiß des zweyten Vorder - ſatzes unterworfen, und wie leicht laͤſſet ſichder43der menſchliche Verſtand uͤbereilen etwas fuͤr einen wahrhaften Widerſpruch anzu - nehmen, was doch keiner iſt, beſonders, da man bisher noch keine Merckmale ange - geben, durch welche man einen Schein - Widerſpruch, ehe er aufgeloͤſet wird, von einem wahren Widerſpruche unterſcheiden koͤnnte. Wie oft ſich Gelehrte hiebey ver - gangen, beweiſet abermals ſo wohl die Philoſophiſche als Kirchen-Geſchichte. Man hat aus gewiſſen unleugbaren Wahr - heiten ſolche widerſprechende Saͤtze gezo - gen, welche man erſt nach vielen hundert Jahren hat aufheben koͤnnen. Zum Ex - empel moͤgen dienen die Widerſpruͤche, welche Zweifler aus dieſer Wahrheit gezo - gen: Es giebt Bewegungen, und wel - che man in des Bailen Woͤrter-Buche unter dem Artickel Zeno finden kan. Wenn darf man voͤllig trauen, daß der eine Satz dem andern wahrhaftig widerſpreche? Meiner Einſicht nach ſehr ſelten. Denn ich hoffe, ich werde nicht viel Gegner fin - den, wenn ich behaupte, daß die mehreſten Widerſpruͤche, die ein Gelehrter dem an - dern vorwirft, mehrentheils Wortſtreite und unrichtige Folgerungen ſind. Soll -ten44ten wir nicht ein gleiches muthmaſſen muͤſ - ſen, bey den Widerſpruͤchen, ſo aus man - chem klaren Ausſpruche der Schrift her - geleitet worden? Jch meines Theils halte nichts mit voͤlliger Gewißheit fuͤr einen wahren Widerſpruch, es ſey denn, daß der - ſelbe ſich auf eine gantz deutliche Art ohne viele und kuͤnſtliche Folgen zeige. Miſchen ſich vielerley Begriffe und Erklaͤrungen und Saͤtze, die weit muͤſſen hergeholet wer - den, in den Beweiß des Widerſpruches, ſo traue ich ſeiner Richtigkeit nicht viel zu, und ſetze ihn gewiß klaren Ausſpruͤchen be - glaubter Zeugen nicht entgegen. Wie vielmal man bey ſolchen Widerſpruͤchen betrogen werde, kan man bloß in dem ge - meinen Leben abnehmen; oft glaubt man dieſes und jenes koͤnne unmoͤglich geſchehen ſeyn, und es iſt doch geſchehen. Aus al - len dieſen erhellet, wie ich meyne, hinlaͤng - lich, daß der Gebrauch der obigen Grund - Regel, welcher ſich heutiges Tages ſo ſehr weit erſtrecket, bey einem Weiſen, der ſich und die menſchlichen Wiſſenſchaften ken - net, gar enge Schrancken habe. Es iſt noch eine Urſach vorhanden, die mich ſehr furchtſam macht, von klaren Ausſpruͤchender45der Schrift zu ſagen, daß ſie der wahren Vernunft widerſprechen und folglich ſo muͤſſen gedrehet werden, daß ſie mit ſelbi - ger uͤbereinſtimmen. Wie leicht irren wir? Und wenn wir uns in einem ſolchen Urtheil uͤbereilet, was haben wir alsdenn gethan? Wir haben eine goͤttliche Wahr - heit die der Weiſeſte heilig haͤlt, fuͤr ab - geſchmackt, fuͤr thoͤrigt erklaͤret. Wie em - pfindlich iſt es aber uns, wenn jemand von unſern Saͤtzen ein ſo hartes Urtheil faͤllet? Sollte man derowegen nicht behutſamer ſeyn, bey Beurtheilung ſolcher Worte, die ein goͤttliches Anſehen haben. Jch wuͤn - ſche lieber zu ſterben als mich ſo zu verge - hen, und eine einige Wahrheit der ewigen Weisheit unter abgeſchmackte Thorhei - ten eines tummen Verſtandes zu ſetzen.

§. XVIII.

Man wird mich fragen, wie ich es dennWas zu thun, weñ unſere Vernunft und die Offenba - rung mit einander ſtreiten? anfange, wenn ich einen gewiſſen Satz meiner Vernunft, welchen ich fuͤr wahr halte, mit einem deutlichen Ausſpruche der Schrift nicht reimen koͤnne. Jch muß hierauf eine ſolche Antwort geben, welche den Leſer, wenn er muͤde worden, wiedermunter46munter machen, und vielleicht zu einem Ge - laͤchter uͤber mich bewegen wird. Jch glaube in einem ſolchen Falle entweder, daß meine Vernunft irret, oder ich hal - te beyde Saͤtze fuͤr wahr, ob ich gleich ihre Ubereinſtimmung nicht erreichen kan. Und zwar habe ich ſo viel Hochachtung nicht etwan bloß fuͤr die Ausſpruͤche der Offenbarung, ſondern auch fuͤr ein jedes klares Zeugniß eines andern glaubwuͤrdi - gen Mannes. Man wird dencken, mein Kopf ſey voll von widerſprechenden Din - gen, indem ich oben geſagt, mein inneres Gefuͤhl zwinge mich den Satz anzuneh - men, es koͤnne kein Ding zugleich ſeyn und nicht ſeyn, hier aber ſage ich, daß ich zwey einander widerſprechende Dinge zu - gleich als wahr annehmen koͤnne. Jch antworte aber, daß ich nicht glaube, daß in ſolchen Dingen, als ich jetzt ge - meldet, ein wahrer Widerſpruch ſey, ſondern ich ſehe ſie an als Dinge, die einander ſcheinen zu widerſprechen, de - ren Widerſpruch ich zwar nicht heben koͤnne, aber vielleicht dereinſten einmal von einem andern werde aufgeloͤſet wer - den. Denn eine ſo hohe Meynung habeich47ich von der Schaͤrfe meines Verſtandes nicht, daß ich den Schluß machte: Ein jeder Widerſpruch, den ich nicht loͤſen kan, iſt ein wahrer Widerſpruch. Wie viel groſſe Leute haben ſich durch dieſen hohen Gedancken auf die groͤſten Thor - heiten verleiten laſſen? Wie viel Wi - derſprechendes hat man ſonſt nicht in der beynahe Kugel - runden Form der Er - de, ingleichen in der Bewegung derſel - ben um die Sonne gefunden? Und wer kan alle diejenigen, welche daſſelbe nicht haben aufloͤſen koͤnnen, eines bloͤden Ver - ſtandes beſchuldigen? Jndeſſen ſind nach und nach alle die Zweifel gehoben, wel - che ſonſt den Witzigſten zu ſchwer wa - ren. Kan es uns mit andern Dingen nicht eben ſo gehen? Wie widerſinnig ſchien nicht noch vor kurtzer Zeit den meh - reſten Gelehrten die Meynung, daß mehr groſſe Behaͤlter von belebten Geſchoͤpfen in der Welt waͤren, als unſer kleines Erd-Puͤnctgen? Jetzo aber erſtaunt man ſchon uͤber diejenigen, welche ſich koͤnnen einbilden, daß in der unermeßlichen Wei - te der Welt und unter den unzaͤhlbaren groſſen Coͤrpern derſelben nur dieſe ein -tzige48tzige Erde, ein Punct gegen die uͤbrige Welt, lebendige Creaturen ernehren ſol - le. Und wie viel Exempel koͤnnte ich an - fuͤhren? Da die folgenden Zeiten Din - ge gereimt, welche vorher faſt jedermann widerſinnig geſchienen. Sollten wir denn nun ſchon diejenige Weißheit er - reicht haben, welche die Ubereinſtim - mung aller Dinge uͤberſehen koͤnnte? Ein groſſer Theil meiner Leſer wird aufhoͤren mich zu verlachen, daß ich Dinge neben einander glauben kan, deren Wider - ſpruch aufzuheben nicht in meinem Ver - moͤgen, wenn ich ihnen beweiſe, daß ſie eben dergleichen thun. Meine Leſer ſchlagen einmal die Gruͤnde nach, wel - che die alten Zweifler wider die Bewe - gung vorgebracht, welche ſie in des Bai - len Woͤrter-Buch unter dem Artickel Zeno finden. Jch weiß gewiß, alle die - jenigen, welche ſich nicht in der Mathe - matick wohl umgeſehen, ſind nicht im Stande dieſe Zweifel zu heben. Ein ſcharfſinniger und groſſer Thomas hat zwar uͤber ſelbige gelacht, ſie aber gantz gewiß nicht aufgeloͤſet. Jedoch werden alle diejenigen Leſer, welche nicht imStande49Stande dasjenige Wiederſinnige ſo je - ne aus der Bewegung herleiten, auf - zuheben, bey der gewiſſen Meynung blei - ben, daß ſie und andere Dinge ſich be - wegen. Dieſe aber werden denn we - nigſtens ſo beſcheiden, wo nicht gegen mich, doch gegen ſich ſelber ſeyn, und mich deßwegen nicht unter die verwirr - ten Geiſter rechnen, weil ich in gewiſ - ſen Faͤllen Dinge glaube, deren Wi - derſpruch ich nicht heben kan. Dieſe Faͤlle aber ſind folgende. Wenn mich bey geſunden Tagen und gehoͤriger Uber - legung die Sinne oder aber ein recht beglaubtes Zeugniß eines verſtaͤndigen und behutſamen Mannes von einer Sache uͤberfuͤhret, und meine Vernunft hat andere Saͤtze, die ich damit nicht reimen kan, ſo glaube ich, daß entwe - der die letztern Saͤtze meiner Vernunft falſch, oder daß ich die Ubereinſtimmung derſelben mit jenen wegen annoch un - bekannter Umſtaͤnde nicht einſehe. Wenn ferner beyde von zween Saͤtzen, die einander aufzuheben ſcheinen, gantz leich - te und deutliche Beweiſe der Vernunft vor ſich haben, wo ich in beyden Be -Jacobi Betr. 2. Band. Dwei -50weiſen keinen Fehler finden kan, ſo dencke ich gleichfalls: Vielleicht ſind beyde wahr, und ein noch unbekannter Umſtand macht, daß du ihre Uberein - ſtimmung nicht begreifeſt. Und nicht ſelten habe ich beſonders in den gemei - nen Vorfallenheiten des Lebens den Umſtand entdeckt, der mir die Verbin - dung zweener widrig-ſcheinenden Dinge klar gemacht.

§. XIX.

Wahrer Endzweck und Werth der folgen - den Be - trachtun - gen.

Jndeſſen kan ich nicht leugnen, daß ich weit vergnuͤgter bin, wenn ich in den Saͤtzen, welche ich als wahr an - nehme, keinen Widerſpruch bemercke, ſondern ſelbige mit einander verbinden kan. Jch bin daher auch weit geruhi - ger, wenn ich meine Philoſophie und die klaren Zeugniſſe der goͤttlichen Offenba - rung mit einander in eine angenehme Ubereinſtimmung zu ſetzen vermag. Denn ich bin gar nicht in Abrede, daß ich ge - gen meine natuͤrliche Einſicht diejenige zaͤrtliche Liebe habe, die ein Vater ge - gen ſein Kind heget, und die Gefangen -nehmung51nehmung meiner Vernunft unter den Gehorſam des Glaubens geſchiehet nicht ohne Widerſtand. Wenn es mir de - rowegen immer moͤglich, ſo ſuche ich die Saͤtze meiner Vernunft mit den Saͤtzen der Offenbarung zu verknuͤpf - fen. Und dieſes iſt unter andern der Endzweck dieſer Betrachtungen. Mei - ne Bemuͤhungen gehen dahin, daß ich moͤge Schrift und meine Vernunft mit einander vereinigen. Es geſchiehet dieſes aber nicht dergeſtalt, daß ich meine Philoſophie in die Schrift hin - ein trage und feſt ſetze, der Geiſt GOt - tes koͤnne nicht anders dencken, wie ich. So ſehr bin ich nicht in mich ſelbſt verliebt, und ſo hohe Gedancken ſind ferne von mir. Sondern, wenn ich den Sinn der Schrift zu erforſchen ſuche, ſo werfe ich meine Philoſophie weg, ſo viel mir nur immer moͤglich, um die Worte des Geiſtes wenigſtens eben ſo unpartheyiſch zu unterſuchenD 2als52als die Worte eines Livius oder Cicero. Einer gantz vollkommenen Unpartheylichkeit ruͤhme ich mich zwar nicht. Denn ich erinnere mich immer deſſen, was ich von den beyden beruͤhm - ten und ungemein ehrlichen Lehrern der Jeniſchen hohen Schule, dem nunmehr ſeligen Stollen und dem noch bluͤhen - den Herrn Reuſch, an welche ich nie ohne eine kindliche und recht zaͤrtliche Ehr - erbietung gedencke, gehoͤret habe, daß nemlich ſich niemand leicht einbilden ſolle, er ſey bey einer Sache voll - kommen unpartheyiſch. Jndem ich aber dieſes weiß, ſo bemuͤhe ich mich doch, mich in eine ſolche Unpartheylich - keit zu ſetzen, als nur immer bey mei - nem eingeſchraͤnckten Verſtande moͤglich iſt. Und wenn ich denn auf ſolche Weiſe, wenigſtens meiner Meynung nach, den wahren Sinn der Schrift ge - funden habe, ſo verſuche ich, ob ich den - ſelben mit der Vernunft verbinden koͤn -ne.53ne. Dieſe Vernunft aber, damit ich auch hierinne offenhertzig ſey, iſt in den mehreſten Stuͤcken diejenige, welche in dieſem Jahrhundert vor andern Mode iſt. Haͤtte ich vor hundert Jahren gelebt, ſo wuͤr - de ſie anders ausgeſehen haben, und leb - te ich nach hundert Jahren, ſo wuͤrde ſie wieder anders geſtaltet ſeyn. Mein Urtheil von dieſen meinen eigenen Be - trachtungen iſt derowegen dieſes, die ge - offenbarten Wahrheiten, ſo darinnen ſind, werden in alle Ewigkeit bleiben. Wie viel Saͤtze meiner Vernunft aber zu der Kette der ewigen Wahrheiten ge - hoͤren, weiß ich ſelber nicht, und laſſe ſolches dahin geſtellet ſeyn, bis ich in die Geſellſchafft derjenigen Weiſen gelange, deren Wiſſen kein Stuͤckwerck mehr iſt. So lange gedulde dich auch, mein Leſer, und bleib indeſſen den redlichen Abſichten des Verfaſſers gewogen.

Zum Beſchluß muß nur noch erinnern, daß alle dieſe Betrachtungen von mir auf -D 3geſetzet,54geſetzet, als ich noch Prediger zu Oſterode am Hartz war, und zwar die beyden er - ſten im Jahr 1743. und die beyden letz - tern in dem Winter 1744. Es iſt wegen verſchiedener hiſtoriſchen Umſtaͤnde, ſo in den Betrachtungen vorkommen, noͤ - thig, daß dem Leſer ſolches bekannt ſey. Hannover den 10. Februar 1745.

Die
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Die Zehnte Betrachtung uͤber Die weiſe Abſicht GOttes bey dem Zeichen Jeſaiaͤ Cap. 7, v. 14. 15. 16.

§. 1.

ES iſt bekannt, wie viele Schwuͤ -Einlei - tung. rigkeiten die Ausleger der heiligen Schrifft bey dem Zeichen finden, ſo GOtt Jeſ. Cap. 7, v. 14. u. f. verſpricht. Es wird ihnen ſehr ſchwer zu begreiffen, wie eine auf etliche hundert Jahr entfernte Sa - che ein Zeichen in der gegenwaͤrtigen Zeit abgeben, und die Menſchen, welche eine groſſe Gefahr in ihrem Glauben wanckend und von GOtt abwendig macht, von deſſen weiſen und maͤchtigen Vorſehung kraͤftig uͤberzeugen und zu ihm zuruͤck fuͤhren koͤnne. Verblendet uns kein Vorurtheil, ſo liegenD 4alle56alle die Schwuͤrigkeiten, welche zu heben ſich ſo viele groſſe Maͤnner die Muͤhe gege - ben, nicht im Texte oder in der vorgetrage - nen Sache, ſondern darinne, daß man die wahre Abſicht dieſes Zeichens nicht gnug - ſam vor Augen gehabt. Bemercket man ſelbige, wie ſie denn unſerm Beduͤncken nach gantz deutlich im Texte und in der Sa - che ſelber vor Augen lieget, ſo fallen alle Schwuͤrigkeiten hinweg, welche die Ausle - ger auf ſo mancherley Gedancken gefuͤhret; und man wird ein nahes und zur Sache ſich ſehr wohl ſchickendes Zeichen finden, wel - ches zum Theil noch viele von den damals lebenden Buͤrgern Jeruſalems geſehen, und dadurch uͤberzeuget worden ſind, daß der HErr GOtt ſey und ſonſt keiner auſſer ihm. Der Leſer laſſe ſich durch dieſes Wort nicht wider mich aufbringen, und dencke nicht, daß ich auf ſolche Weiſe dasjenige von je - mand anders erklaͤren werde, was Mat - thaͤus auf Chriſtum deutet.

Es wird dieſes von mir nicht geſchehen. Will ſich der Leſer die Muͤhe geben, und dieſe Betrachtung gantz durchleſen, ſo wird er finden, daß ich hierinne von den Lehrern unſerer Kirche nicht abweiche; dennochaber57aber ein gantz nahes Zeichen angebe, wo - durch GOtt dem damaligen Geſchlecht ge - wieſen, daß er GOtt ſey.

§. 2.

Zufoͤrderſt muͤſſen wir diejenige Ge -Veranlaſ - ſung zu dieſem Zei - chen. ſchichte erzehlen, welche zu der Verheiſſung dieſes goͤttlichen Zeichens Anlaß gegeben, damit wir daraus die wahre Abſicht deſſel - ben erreichen. Ahas, Koͤnig in Juda, wurde von Rezin Koͤnige in Syrien und Pekah dem Koͤnige Jſraels mit Krieg uͤber - zogen. Sie waren gluͤcklich und machten in Juda eine groſſe Niederlage, ſo daß auch ein Printz des Koͤniges, und einige ſeiner Vornehmſten blieben. 2. Chron. Cap. 27, v. 5. 6. 7. Cap. 28, v. 5. u. f. 2. B. der Koͤn. Cap. 16, v. 5. 6. GOtt verhieng dieſes Schickſal uͤber Ahas und Juda, weil ſie ihn verlieſſen und falſchen Gottheiten nachlief - fen. Sie haͤtten hiebey den Exempeln ih - der Vorfahren folgen, und ſich wieder zu dem einigen und allein lebenden GOtt wen - den ſollen. Allein Ahas ſuchte Huͤlffe und Schutz bey Menſchen, nemlich bey dem Koͤnige zu Aſſyrien, dem Tiglath Pilleſſer, und das auf eine niedertraͤchtige Art. Er erklaͤrte ſich fuͤr einen Knecht und Sohn desD 5Aſſyri -58Aſſyriſchen Koͤniges, wenn er ihm zu Huͤlffe kaͤme. Er beraubte das Haus des HErrn, und ſchickte aus demſelben Gold und Sil - ber an den Tiglath Pilleſſer. 2. Koͤn. Cap. 16, v. 7. 8.

Es konnte dieſes Buͤndniß unmoͤglich dem weiſeſten Regierer der Welt gefallen. Denn erſtlich hatte es ſeinen Grund in ei - nem tadelhafften Mißtrauen gegen denje - nigen GOtt, der den Juden die theuerſten Verheiſſungen gethan, und ſie ſchon ſo viel - mal aus der Hand ihrer Feinde errettet oh - ne Huͤlffe heidniſcher Voͤlcker, mit welchen die Juden gar keine vertraute Gemein - ſchafft haben ſollten. Zweytens war alſo dieſes Buͤndniß wider denjenigen Befehl GOttes, worinne er ſeinem Volcke unter - ſagt mit heidniſchen Voͤlckern und ihren Goͤttern einen Bund zu machen. Man leſe dieſes Geſetze 2. B. Moſ. Cap. 23, v. 32. und an andern Orten mehr. Es iſt hier zwar eigentlich die Rede von den Einwoh - nern Canaans, und die Buͤndniſſe mit ſel - bigen werden ihnen unterſagt. Wer aber die beygefuͤgte Urſach und Abſicht dieſes Geſetzes betrachtet, wird leicht finden, daß ſich dieſes Verboth auf alle Buͤndnuͤſſe mitden59den Heiden erſtrecket. Die Urſach dieſes Verbothes heiſſet am angezogenen Orte v. 33. daß ſie dich nicht verfuͤhren wider mich.

Dieſe boͤſe Folge aber hat ſich auch ins beſondere bey dem Buͤndniſſe gefunden, welches Ahas mit dem Koͤnige zu Aſſyrien gemacht. 2. B. der Koͤn. Cap. 16. v. 10. u. f. 2. Chron. Cap. 28. v. 20-25. Und da der Allwiſſende ſolches vorher geſehen, ſo kan er unmoͤglich an dieſem Bunde Gefallen ge - habt haben, ſondern es muß nothwendig wi - der ſeinen Willen geweſen ſeyn. Man le - ſe hiebey Jeſ. Cap. 30. 31. Am wenigſten konnte dieſer Bund dem HErrn genehm ſeyn, da er drittens noch dazu auf eine hoͤchſt unanſtaͤndige Art gemacht wurde. Ahas beraubte den Tempel des HErrn, und machte an einen heidniſchen Koͤnig Geſchen - cke davon. Wie konnte ſolches dem hei - ligſten GOtt gefallen, daß man dergleichen aus Mißtrauen gegen ſeine Treue unter - nahm? Jn dieſen Umſtaͤnden ſandte der HErr den Propheten Jeſaias zum Koͤnige Ahas, daß er ihm moͤchte ſeine unnoͤthige Furcht und Mißtrauen gegen den lebendi - gen GOtt benehmen, Jeſ. Cap. 7. v. 3. u. f. Wer muß hieraus nicht den Schluß ma -chen,60chen, daß hiebey die vornehmſte Abſicht GOttes geweſen, den Ahas von dem nie - dertraͤchtigen und ſchaͤdlichen Buͤndniſſe mit den Aſſyrern abzuziehen, um bloß von ſeiner Allmacht Huͤlffe zu erwarten? Ja wir doͤrffen dieſes ohne Furcht zu irren anneh - men. Wer Jeſ. Cap. 7. v. 17. 20. Cap. 8. v. 8. lieſet, wird hiebey keinen Zweiffel uͤbrig behalten.

§. 3.

Das gege - bene Zei - chen iſt kein Gna - denzeichen.

Die Guͤte des Hoͤchſten, welche alles zum Heyl der Menſchen thut, damit ſie nie - mand der Nachlaͤßigkeit anklagen kan, ließ ſich auch in dieſer Angelegenheit ſo weit her - unter, daß ſie dem Ahas frey gab ein Zei - chen von der Allmacht zu fordern; dadurch er ſein wanckendes Gemuͤth aufrichten und in dem Vertrauen zu dem lebendigen GOtt ſtaͤrcken koͤnnte. Aber er ſuchte den Je - ſaias mit einer guten Manier abzuweiſen. Er ſtellete ſich, ob haͤtte er zu viel Hochach - tung vor GOtt, als daß er deſſen Worten nicht trauen, ſondern ein Zeichen fordern ſolte. Es wuͤrde ſolches nichts anders als eine ſtrafbare Verſuchung des Hoͤchſten ſeyn. Damit die Groͤſſe dieſer verwege -nen61nen Spoͤtterey und recht groben Heucheley kund werde; ſo leſe man was er gethan, als ihm Tiglath Pilleſſer zu Huͤlffe kom - men und die Reſidentz des Koͤniges zu Sy - rien erobert hatte. Er zog zu dem Tiglath Pilleſſer nach Damaſcus, und als er da - ſelbſt einen heidniſchen Altar fand, ſandte er das Ebendbild deſſelben nach Jeruſalem und ließ daſelbſt durch den Prieſter Uria eben ei - nen ſolchen Altar aufrichten, und hernach auf ſelbigen den Goͤtzen opffern. 2. Buch der Koͤn. Cap. 16. v. 10. u. f. Und als er zu ei - ner andern Zeit den Goͤttern der Heyden zu Damaſcus opfferte, ſprach er dieſe un - beſonnenen Worte: Die Goͤtter der Koͤ - nige zu Syrien helffen ihnen; darum will ich ihnen opffern, daß ſie mir auch helffen. 2. Chron. Cap. 28. v. 23. Dieſer Goͤtzen - Diener ſpricht anjetzt: Jch will kein Zei - chen von dem HErrn fodern, ich moͤchte ihn verſuchen. Jn der That aber trauete er dem Hoͤchſten nicht, und hielt die Huͤlffe des Aſſyriſchen Koͤniges fuͤr ſicherer, als die Huͤlffe des lebendigen GOttes. Dero - wegen ſuchte er nur durch dieſe Heucheley dem Jeſaias von der Seite zu kommen, und ſeinen Bund mit dem Tiglath Pilleſſerzu62zu befeſtigen. Hierauf ſpricht nun der Prophet: Wolan, ſo hoͤret ihr vom Hauſe David, iſts euch zu wenig, daß ihr die Leute beleidiget, ihr muͤſſet auch meinen GOtt be - leidigen? Darum ſo wird euch der HErr ſelbſt ein Zeichen geben. Wer dieſes mit der vorhergehenden Geſchichte zuſammen haͤlt und in ſeiner gantzen Verbindung be - trachtet, der urtheile, ob bey dieſer letzten Rede des Propheten ein Zeichen der nechſt bevor ſtehenden Errettung von dem Retzin und Pekah zu vermuthen ſtehe? als wel - che (man bemercke dieſes beſonders) wuͤrck - lich durch den Tiglath Pilleſſer iſt erhalten worden. 2. Buch der Koͤnige Cap. 16. v. 9. Sollte dieſes ſeyn, ſo muͤſte der Sinn dieſer letztern Worte des Propheten, wenn man ihn nach den gegenwaͤrtigen Umſtaͤnden weitlaͤufftig ausdruͤcken wollte, dieſer ſeyn: Jhr halsſtarrigen und boͤſen Leute, ihr beleidiget nicht nur Menſchen, ſon - dern lehnt euch ſo gar wider den leben - digen GOtt auf, und verwerffet deſſen Huͤlffe und Schutz. Es iſt ihm entge - gen, daß ihr mit dem Tiglath Pilleſſer einen Bund machet, und er will euch ohne deſſen Huͤlffe von der Hand eurerFeinde63Feinde erretten. Er biethet euch ein ſelbſt zu erwehlendes Zeichen an, daß er euch alleine helfen wolle und koͤnne, damit ihr aus Aſſyrien keine Huͤlffe holet, ſondern euch allein dem allmaͤch - tigen GOtt Himmels und der Erden anvertrauet. Allein ihr wollet nicht. Jhr verwerffet dieſe Guͤte des HErrn auf eine ſehr ſpoͤttiſche Art, und lauffet doch hin zu dem Koͤnige der Aſſyrer. Nun wolan, ſo will ich euch dennoch ein Zeichen geben, daß ihr werdet aus der jetzigen Gefahr errettet werden, und zwar durch euren Bund, den ihr mit dem Tiglath Pilleſſer machet. Jch will euch ein Zeichen geben, daß ſelbiger kommen, Damaſcus erobern und den Retzin toͤdten werde.

Dieſes muͤſte nothwendig der Sinn der angefuͤhrten Worte des Propheten ſeyn, wenn die Abſicht GOttes geweſen, hier ein Zeichen der nechſt bevorſtehenden Erret - tung zu geben. Denn ſelbige iſt wuͤrcklich durch des Tiglath Pilleſſers Huͤlffe erhal - ten worden. Waͤre aber darinne wohl ein vernuͤnftiger Zuſammenhang und einegoͤtt -64goͤttliche Weisheit anzutreffen? Meiner Einſicht nach keinesweges. Denn es hieſ - ſe dieſes nichts anders, als:

Jch habe euch ein Zeichen angebo - then, um euch von dem Koͤnige der Aſ - ſyrer abzuziehen. Dieſes aber habt ihr auf eine unanſtaͤndige und hoͤniſche Art verworffen. Derowegen will ich euch ein Zeichen geben, daß ihr durch die geſuchte Huͤlffe des Tiglath Pilleſ - ſers werdet von euren Feinden in kur - tzem befreyet werden. Jſt hierinne ein weiſer Zuſammenhang, und war es noͤthig, den Ahas in dem Vertrauen zu der Huͤlffe des Aſſyriſchen Koͤniges zu ſtaͤrcken? Faͤllt es nicht vielmehr bey Erwegung aller Um - ſtaͤnde in die Angen, daß die Abſicht Gottes nicht ſey ein Zeichen der bevorſtehenden Er - rettung, ſondern vielmehr ein Zeichen zu ge - ben, wodurch aller Welt kund werde, daß er der einige und lebendige GOtt, und alle menſchliche Huͤlffe, die ohne ihn geſucht werde, eitel ſey, ob gleich anfaͤnglich eine kleine Errettung erhalten werde. Man urtheile, ob ein beſſer und der Natur der Umſtaͤnde mehr gemaͤſſer Zuſammenhangda65da ſey, wenn man die Worte des Jeſaias alſo nimmt: Nun wolan ihr vom| Hau - ſe David, iſts euch zu wenig, daß ihr die Leute beleidiget, ihr muͤſſet auch mei - nen GOtt beleidigen? Jhr verlaſſet den HErrn, der euch bisher beſchuͤtzet, und verachtet das Zeichen ſeines fer - nern gnaͤdigen und maͤchtigen Bey - ſtandes, ſo er euch anbiethet, und wol - let euch auf keine Weiſe von der euch hoͤchſt nachtheiligen Verbindung mit heidniſchen Koͤnigen abrathen laſſen. Darum ſo wird euch der HErr wider euern Willen ein Zeichen geben, durch welches er kund machen wird, daß er der einige GOtt, und daß alle menſchli - che Huͤlffe ohne ihm nichts ſey.

Der verſtaͤndige Leſer urtheile, ob man bey den Worten des Propheten, wenn man ſie ohne Vorurtheil und in der Verbindung mit der gantzen hieher gehoͤrigen Geſchichte betrachtet, etwas anders gedencken koͤnne? Es ſcheinet mir daher deutlich zu ſeyn, daß die Abſicht GOttes hier nicht geweſen, ein Zeichen der Errettung von dem Retzin und Pekah, ſondern ſeines gerechten Zorns ge - gen den Ahas, und daß alle Huͤlffe ohne ihnJacobi Betr. 2. Band, Eeitel,66eitel, und er allein ein ſicher und allmaͤchti - ger Helffer ſey, zu geben.

§. 4.

Weitere Beſtaͤti - gung des vorigen.

Wer behaupten will, daß hier ein Gna - denzeichen der nechſt bevorſtehenden Erret - tung zu finden ſey, der muß etwas anneh - men, ſo gantz und gar wider die Ahnlichkeit der goͤttlichen Haushaltung unter den Ju - den. Eine der vornehmſten Abſichten der - ſelben war, ſie von aller Gemeinſchafft der Heiden, ſo viel nur immer moͤglich, abzuzie - hen. Wider dieſe Abſicht aber waͤre es ja ausdruͤcklich geweſen, wenn er hier den Bund, den niedertraͤchtigen Bund des Ahas mit den Aſſyrern ſo gar mit einem Zeichen, daß er ihnen wuͤrde heilſam ſeyn, beſtaͤtigen wollen. Wie will man dieſes reimen mit dem, was wir an andern Orten der Propheten gerade wider die Buͤndniſſe des Volckes GOttes mit den Aſſyrern le - ſen? Bey dem Propheten Hoſeas, welcher um die Zeiten Ahas geweiſſaget, zaͤhlet der HErr dieſes mit unter die groben u. ſtraf ba - ren Vergehungen ſeines Volckes, daß ſie bey den Aſſyrern Huͤlffe ſuchten, Hoſ. Cap. 5. v. 13. Cap. 7. v. 11. Cap. 8. v. 9. 10. Ja wenn er Jſrael zur Buſſe ermahnet, ſo for -dert67dert er ausdruͤcklich als ein Stuͤck ihrer Be - kehrung, daß ſie ſollen angeloben und ſpre - chen: Aſſur ſoll uns nicht mehr helffen. Hoſ. Cap. 14. v. 4. Jeſaias weiſſaget von einer Zeit, da ſich das Volck GOttes bekehren wuͤrde, und beſchreibet ſelbige un - ter andern alſo: Zu der Zeit werden die Uebrigen in Jſrael und die errettet werden im Hauſe Jacob ſich nicht mehr verlaſſen, auf den, der ſie ſchlaͤget (d. i. auf Aſſur); ſondern ſie werden ſich ver - laſſen auf den HErrn den Heiligen in Jſrael, in der Wahrheit Jeſ. c. 10. v. 20. Auch dieſer Ort beweiſet, wie ſehr es dem HErrn entgegen geweſen, wenn ſein Volck bey den Aſſyrern Huͤlffe geſucht. Wie ſollte nun der GOtt, welcher an ſo vielen Orten wider die Buͤndniſſe mit den Heiden, und beſonders mit den Aſſyrern eiffert, wie ſollte dieſer GOtt hier einen getroffenen Bund mit denſelben ſo gar mit einem Zei - chen beſtaͤtigen? Vielmehr laͤſſet ſich nach der Aehnlichkeit der goͤttlichen Regierung unter ſeinem Volck ein Zeichen ſeines Zorns muthmaſſen, beſonders da der 13. Vers den Zorn des HErrn ausdruͤcklich an den Tag leget. Man leſe auch Jeſ. Cap. 31. v. 1.

E 2§. 5.68

§. 5.

Jnhalt des fol - genden.

Nachdem wir alſo die eigentliche Abſicht des Zeichens, von welchem hier der HErr redet, aus dem gantzen Zuſammenhange entdecket; ſo wollen wir daraus dieſen ſchweren Ort in eine natuͤrliche Deutlich - keit zu ſetzen uns bemuͤhen. Wir wollen uns erſt um die Worte, und hernach um die Sachen bekuͤmmern. Was die Worte betrifft, ſo wollen wir von den erſten ſieben - zehn Verſen des ſiebenten Capitels eine richtige Ueberſetzung geben, doch alſo, daß wir, was nur immer thunlich, die Worte des ſeligen Luthers behalten. Diejeni - gen Worte aber, die nothwendig anders muͤſſen gegeben werden, ſollen mit groͤſſern Buchſtaben gedruckt werden, damit ein je - der gleich ſehe, wo wir von dieſem groſſen und theuren Manne, deſſen Verdienſte ge - gen die Bibel wir ungemein hoch ſchaͤtzen, abgehen. Viele critiſche Noten wollen wir nicht beyfuͤgen. Wer ſelbige haben will, der ſuche ſie in den Erklaͤrungen des Vitringa, Clercks, und anderer. Wir werden nur da einige Anmerckungen ma - chen, wo wir von gewoͤhnlichen Erklaͤrun - gen abgehen, oder wo es ſonſt unſer End -zweck69zweck nothwendig erfodert. Wenn dieſes geſchehen, wollen wir zeigen, welches das eigentliche Zeichen ſey, ſo hier der HErr dem Ahas und ſeinem Volck geben wollen; und endlich wollen wir unterſuchen, wie und warum hier die Verheiſſung des Jmma - nuels eingeſchaltet oder vielmehr vorange - ſetzet werde. Wir erſuchen den geneigten Leſer nochmals ehender nicht uͤber uns und unſere Arbeit zu urtheilen, bis er dieſe gantze Betrachtung durchgeleſen. Findet der - ſelbe aber, wenn ſolches geſchehen, etwas wieder unſere Meinungen zu erinnern, ſo ſind wir, wie allezeit, bereit, von einem je - den einen beſſern Unterricht anzunehmen.

§. 6.

Jeſ. Cap. 7.

v. 1. Es begab ſich zur Zeit Ahas, desErklaͤrung Jeſ. Cap. 7. v. 1-17. Sohns Jotham, des Sohns Uſia des Koͤ - nigs Juda zog herauf Rezin der Koͤnig zu Syria, und Pekah der Sohn Remalja, der Koͤnig Jſrael gen Jeruſalem wider ſie zu ſtreiten, konnten ſie aber nicht gewinnen, oder die doch nicht ſtarck waren, ſie zu gewinnen. (*)Jn dieſen Worten will der Prophet gleich anfangs zeigen, daß die gar zu groſſe FurchtAhas

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(*)Ahas vergeblich geweſen, indem ſeiner Fein - de Macht nicht einmal ſtarck genug geweſen, Jeruſalem einzunehmen, in ſonderheit da der ſtarcke Arm des HErrn ſelbige Stadt be - ſchuͤtzen wollte. Denn der Koͤnig von Sy - rien oder Aramea, und der Koͤnig von Jſrael waren ſo gar maͤchtige Fuͤrſten nicht, und die Stadt Jeruſalem recht zu belagern war ſchon eine anſehnliche Macht vonnoͤ - then.
(*)

v. 2. Da ward dem Hauſe David an - geſagt, die Syrer verlaſſen ſich auf Ephra - im. Da bebete ihm das Hertz, und das Hertz ſeines Volckes, wie die Baͤume im Walde beben vom Winde.

v. 3. Aber der HErr ſprach zu Jeſaia: Gehe hinaus Ahas entgegen, du und dein Sohn Sear Jaſub an das Ende der Waſ - ſer-Roͤhren am obern Teich am Wege beym Acker des Faͤrbers (des Walckmuͤl - lers. (*)Warum Ahas ſich damals eben auſſer der Stadt aufgehalten, kan man allerhand Muthmaſſungen in des Vitringa Noten uͤber dieſen Vers in ſeinem Commentar. in Jeſai. leſen.

v. 4. Und ſprich zu ihm: Huͤte dich und ſey ſtille; fuͤrchte dich nicht und dein Hertz ſey unverzagt vor dieſen zween rau -chen -71chenden Loͤſchbraͤndten, nemlich vor dem Zorn Rezin ſamt den Syrern und des Sohns Remalja.

v. 5. Daß die Syrer wider dich einen boͤſen Rathſchlag gemacht haben ſamt Ephraim und dem Sohn Remalja und ſagen:

v. 6. Wir wollen hinauf zu Juda, und ſie aufwecken, (ihnen das Garaus ma - chen) und unter uns theilen, und zum Koͤ - nige darinnen machen den Sohn Tabeal.

v. 7. Denn alſo ſpricht der HErr HErr: Es ſoll nicht beſtehen, noch alſo ge - hen.

v. 8. Sondern wie Damaſcus das Haupt iſt in Syria, ſo ſoll Rezin das Haupt zu Damaſco ſeyn. Und uͤber fuͤnff und ſechzig Jahr ſoll es mit Ephraim aus ſeyn, daß ſie nicht mehr ein Volck ſeyn.

v. 9. Und wie Samaria das Haupt iſt in Ephraim, ſo ſoll der Sohn Remalja das Haupt zu Samaria ſeyn. Glaubet ihr nicht ſo bleibet ihr nicht. (*)Dieſes iſt des ſeligen Luthers Ueberſetzung von dem achten und neunten Verſe. Weil wir uns aber genoͤthiget ſehen von derſelbengantz

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(*)gantz abzugehen, ſo wollen wir unſere Ueber - ſetzung beſonders herſetzen.
(*)

v. 8. Denn Damaſcus iſt immer das Haupt in Syrien geblieben, ſo daß Rezin weiter nichts als das Haupt zu Damaſcus iſt. Und das ſo gar, als noch Ephraim fuͤnff und ſechzig Jahr von dieſem Volck be - draͤnget wurde.

v. 9. Dennoch aber iſt Samaria das Haupt in Ephraim, und der Sohn Remal - ja das Haupt zu Samaria. Trauet ihr noch nicht, ſo werdet ihr nicht beſtehen. (*)Wir wollen dieſe beiden Verſe weitlaͤuffti - ger eroͤrtern. Nach der Ueberſetzung des ſe - ligen Luthers, mit welcher in der Hauptſa - che alle uͤberein kommen, die wir geleſen ha - ben, entſtehen groſſe Schwuͤrigkeiten, welche die Ausleger auf mancherley Meinungen gefuͤhret und einige dahin gebracht, daß ſie auf die Gedancken kommen, es ſey durch ei - nen Abſchreiber ein Fehler in dieſen Text kommen. Und wir ſind ſelber eine Zeitlang dieſer Meinung geweſen, und des ſehr gelehr - ten Vitringa Verbeſſerung dieſer Stelle hat uns vor andern gefallen. Weil ſie aber auch ihre Schwuͤrigkeiten hat, ſo haben wir die Worte genau angeſehen und unſerer Einſicht nach gefunden, daß es an der rich - tigen Ueberſetzung der Worte fehle. Die vornehmſte Schwuͤrigkeit entſtehet daher, daß man uͤberſetzt: Ueber fuͤnff und ſech -zig

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(*)zig Jahr ſoll es mit Ephraim aus ſeyn, daß ſie nicht mehr ein Volck ſeyn. Der Ausgang widerſpricht dieſer Weiſſagung. Denn Ephraim oder Jſrael iſt im ein und zwantzigſten Jahre nach dieſer Weiſſagung in die Gefangenſchafft gefuͤhret worden. 2. B. der Koͤn. Cap. 17. v. 6. Vitringa meinet daher auch in ſeinem Commentar. in Jeſaiam es habe ehmals die Zahl ein und zwantzig auf eine gewiſſe beſondere Art im Text geſtanden. Andere ſind auf andere Erklaͤrungen gefallen, welche man bey dem Vitringa nebſt allerhand Zweiffeln, ſo er dagegen gemacht, leſen kan. Die andere Schwuͤrigkeit iſt dieſe: Es iſt nach den bis - herigen Ueberſetzungen kein rechter Zuſam - menhang in dieſen Verſen. Es werden im Anfange und am Ende einerley Worte wider die Syrer und Jſraeliten geſprochen. Jn der Mitte aber wird den Jſraeliten gantz al - lein der gaͤntzliche Untergang gedrohet, den Syrern aber nicht, da doch ſelbige mit den Jſraeliten einerley Schickſal gehabt, und von den Aſſyriern noch ehender unter das Joch gebracht worden, als die Jſraeliten. 2. Buch der Koͤnige Cap. 16. v. 9. Der groſſe Clericus hat dieſe Schwuͤrig - keit in ſeinem Commentar. in Prophetas Jeſ. VII, 8. 9. bemercket, und nicht anders auf - loͤſen koͤnnen, als daß er ſagt, Syrien und Jſrael waͤre als eines angeſehen, und was folglich dem einen waͤre gedrohet worden, haͤtte dem andern auch gegolten. Ob aber durch dieſe Erklaͤrung ein rechter ordentlicher Zuſammenhang in die Worte des Textes komme, moͤgen andere urtheilen. Nach un -ſerer
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(*)ſerer Uberſetzung fallen alle dieſe Schwuͤrig - keiten hinweg. Alles haͤnget genau zuſam - men, und die Zeit-Rechnung hat eine unge - zwungene Richtigkeit. Denen, welche die hebraͤiſche Sprache nicht verſtehen, und et - wa dieſe Blaͤtter leſen, muͤſſen wir verſichern, daß wir denen hebraͤiſchen Worten und ih - ren Fuͤgungen keine ungewoͤhnliche oder auch nur ſeltene Bedeutungen in unſerer Uber - ſetzung beygelegt, ſondern daß ſelbige aus einem jeden hebraͤiſchen Woͤrter-Buch und Grammatick koͤnnen gerechtfertiget werden. Weil aber unſere Uberſetzung von den Uber - ſetzungen anderer gantz und gar abgehet, und jemand von ſolchen Leſern argwohnen moͤchte, daß wir uns eben ſo weit von dem hebraͤiſchen Texte entfernten, ſo wollen wir ihnen das Hebraͤiſche von Wort zu Wort uͤberſetzt vorlegen. Weil ſelbiges aber nach der Bedeutunge der Woͤrter und den Regeln der Grammatick hauptſaͤchlich auf zweyer - ley Art kan uͤberſetzt werden, ſo wollen wir beyde moͤgliche Uberſetzungen neben einan - der ſtellen, damit ein jeder ſelbſt urtheilen koͤnne, welche hier zu wehlen. Denn Damaſcus iſt das Haupt von Syrien und Rezin das Haupt zu Dama - ſcus, und binnen fuͤnf und ſechzig Jahren wird Ephraim uͤber - waͤltiget werden vom Volck (d. i. das es kein Volck mehr iſt.) Das Haupt EphraimaberDenn Damaſcus iſt das Haupt von Syrien und Rezin das Haupt zu Dama - ſcus. Und das ſo gar, als noch Ephraim fuͤnf und ſechzig Jahr bekriegt wurde von dem Volck (d. i. von dieſem Volck.) Den - noch iſt das HauptEphra -
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(*)aber iſt Samaria, und das Haupt von Sa - maria iſt der Sohn Remalia. Glaubt ihr nicht, ſo werdet ihr nicht beſtehen. Siehe Clerici Commentar. in Prophetas in h. l. Ephraim Samaria, und das Haupt von Samaria iſt der Sohn Remalja. Glaubt ihr nicht, ſo werdet ihr nicht be - ſtehen. Denen, ſo die hebraͤiſche Sprache verſte - hen, muͤſſen wir noch einige Rechenſchafft von unſerer Uberſetzung geben. Das erſte betrifft die Partickel. 〈…〉〈…〉Es beziehet ſich ſelbige in der Heil. Schrift insgemein auf etwas, das noch kuͤnftig geſchehen ſoll, und daher iſt es geſchehen, daß bisher, ſo viel uns bekannt, alle Uberſetzer an dieſem Ort etwas zukuͤnftiges geſucht. Es beziehet ſich aber dieſe Partickel auch auf etwas vergangenes. Wenn dorten David ſpricht: Da das Kind lebte, ſo druckt er die deutſche Partickel da durch〈…〉〈…〉 aus 2. B. Sam. Cap. 12. v. 22. Und auf eben dieſe Art haben wir ſelbige hier uͤberſetzet. Wir wollen hiebey aber andern, welche in der hebraͤiſchen Sprache eine groͤſ - ſere Staͤrcke haben, zu beurtheilen anheim geben, ob die Partickel〈…〉〈…〉 nicht koͤnne gegeben werden: Zum noch mehrerem d. i. was noch mehr. Denn daß〈…〉〈…〉 noch mehr heiſſe, iſt bekannt und ohne Zweifel, und nach der Aehnlichkeit der Sprache wird alſo〈…〉〈…〉 gar fuͤglich durch was noch mehr ausgedruckt. Weil wir aber finden, daß die groͤſten Meiſter dieſer Sprache dieſe Parti - ckel keinmal alſo uͤberſetzet, ſo haben wir uns ſolches auch nicht unterſtehen moͤgen, ſon - dern ſind bey einer gewoͤhnlichen Bedeutungdieſes
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(*)dieſes Wortes geblieben. Sonſt wuͤrde die Uberſetzung obiger beyden Verſe fuͤglich alſo lauten: Denn Damaſcus iſt zwar das Haupt in Syrien und Rezin das Haupt zu Damaſcus: Und was noch mehr? Ephraim iſt fuͤnf und ſechzig Jahr von dieſem Volck bedraͤnget worden. Jedoch iſt Samaria noch das Haupt im Ephraim und der Sohn Remalja das Haupt zu Samaria. Trauet ihr nun noch nicht, ſo werdet ihr nicht beſtehen. Der Sinn waͤre dieſer: Jhr habt euch nicht zu fuͤrchten fuͤr Rezin und Pekah. Es iſt zwar Damaſcus das Haupt in Syrien und Rezin Koͤnig daſelbſt. Jhr wiſſet aber, wie dieſes Volck ſo viele Jahre wider Jſrael Kriege ge - fuͤhret, und die Stadt Samaria auf das haͤrteſte beaͤngſtiget. Dennoch aber hat es ſelbiges nicht unter ſich bringen koͤnnen, ſondern Samaria ſtehet noch auf den heutigen Tag, und iſt eine Reſidentz der Koͤnige Jſrael blieben, da ſie GOtt durch ſeine Macht und wunderbare Fuͤgungen erhalten. Wollet ihr nun nicht glauben, daß der einige GOtt euch auch er - halten koͤnne und wolle, ſo ſtehet euch nicht zu helfen. Doch das Hauptwerck bleibet bey unſerer obigen Uberſetzung auch ſtehen, und wir koͤnnen alſo bey der gewoͤhnlichen Bedeutung des Worts〈…〉〈…〉 bleiben. Sollte es aber zweytens auch wohl noͤ - thig ſeyn, daß ich mich bey den Sprach - Verſtaͤndigen rechtfertigte, daß ich das Fu - turum〈…〉〈…〉 durch die vergangene Zeit aus - gedruͤckt? Jch hoffe nicht, daß mir jemand daruͤber Schwuͤrigkeiten machen werde, in -dem
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(*)dem es in dieſer Sprache gantz gewoͤhnlich, daß man mit dem Futuro das Perfectum, und beſonders das Imperfectum ausdruͤcke, da die Hebraͤer kein eigenes Imperfectum haben. Man leſe indeſſen Jeſ. Cap. 41. v. 2. 3. B. der Richt. Cap. 5. v. 8. Von den Worten gehen wir fort zu der Sache, ſo darinnen liegt. Der Prophet will dem Koͤnige Ahas Muth machen, und ihn zu dem Vertrauen gegen den lebendigen GOtt bewegen. Derowegen haͤlt er ihm vor, daß das Volck zu Damaſcus ſchon lan - ge Krieg gefuͤhret, und doch noch nichts ge - wonnen. Jhr Koͤnig ſey bis auf dieſen Tag nichts, als ein Koͤnig von Damaſcus. Es habe dieſes Volck ſo gar gantzer fuͤnf und ſechtzig Jahr wider das Koͤnigreich Jſrael geſtritten; ſey auch ſo gluͤcklich geweſen, daß es Ephraim und ſo gar die Haupt-Stadt Sa - maria in die aͤuſſerſte Noth gebracht. Den - noch aber habe der HErr Samaria erhal - ten, und es habe ſelbiges bis auf dieſe Stun - de ſeinen eigenen Koͤnig. Noch vielweni - ger wuͤrden ſie wider den Willen des HErrn Jeruſalem und das Koͤnigreich Juda einbe - kommen, da Pekah und Rezin nur als rau - chende Braͤnde anzuſehen, welche leicht zu daͤmpfen waͤren. Der vernuͤnftige Leſer ur - theile, wie genau dieſes alles mit der Abſicht des Propheten uͤbereinſtimme, und wie ge - nau nach dieſer Erklaͤrung alles zuſammen hange. Wegen der Zeit-Rechnung findet ſich nach dieſer Erklaͤrung auch nicht die ge - ringſte Schwuͤrigkeit. Es wird dieſes ei - nem jeden in die Augen leuchten, wenn ich beweiſe, daß die Syrer einen fuͤnf und ſech - tzig-jaͤhrigen Krieg mit Ephraim gefuͤhret. Der -
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(*)Derjenige Theil der Syrer, von welchen hier die Rede iſt, und deren Haupt-Stadt Damaſcus war, iſt nebſt noch andern Thei - len von Syrien von dem David uͤberwun - den, und ihm zinsbar gemacht worden. 2. B. Sam. Cap. 8. v. 5. 6. Aus dem 1. B. der Koͤnige aber Cap. 11. v. 23. ſcheinet zu er - hellen, daß ſie unter der Regierung Salo - mons das Juͤdiſche Joch wieder abgeworf - fen. Nach der Theilung des Juͤdiſchen Reichs wurden ſie maͤchtiger, und weil die Macht der Juden durch die Theilung ihres Reichs ſehr geſchwaͤchet, ſo fielen ſie ihre nechſten Nachbarn, das Reich Jſrael oͤfters an. Un - ter den Koͤnige Ahab fielen ſie mit einem ge - waltigen Schwarm herein. Die bloſſe Furcht trieb Ahab zu der niedertraͤchtigen Entſchlieſ - ſung, ſich und ſein gantzes Hauß ſo gar mit Weibern und Kindern dem Koͤnige der Sy - rer Benhadad zu uͤbergeben, bis endlich bey noch hoͤherer Forderung des Benhadads die Oberſten des Jſraelitiſchen Volcks, und be - ſonders ein Prophet dem Ahab den Muth machten ſich zu wehren. Da es denn ge - ſchahe, daß die Syrer in zween Feldzuͤgen auf das Haupt geſchlagen und zuruͤck ge - trieben wurden. 1. B. der Koͤn. Cap. 20. Nachher vereinigte ſich Joſaphat der Koͤnig Juda mit Ahab dem Koͤnige Jſrael die Sy - rer anzugreifen. Da aber Ahab in der er - ſten Schlacht eine toͤdtliche Wunde bekam, und ſtarb, endete ſich dieſer Krieg damit. 1. B. der Koͤn. Cap. 22. Von dem Nachfol - ger des Ahabs Ahasja lieſet man nicht, daß er habe mit den Syrern Krieg gefuͤhret. Dieſem folgte Joram. Auch dieſer muß inden
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(*)den Jahren mit den Syrern Friede gehabt haben, denn wir leſen von ihm, daß er mit den Moabitern einen heftigen Krieg gefuͤh - ret, ohne von den Syrern daran gehindert zu werden. 2. B. der Koͤn. Cap. 3. Jn den folgenden Jahren Jorams machten ſie eini - gemahl einen Anſchlag auf das Koͤnigreich Jſrael. Weil aber der Prophet Eliſa ſol - ches durch goͤttliche Offenbarung dem Jo - ram anzeigte, daß er zu rechter Zeit die Oer - ter wohl beſetzen ließ, an welchen die Syrer ſich feſt zuſetzen gedachten, auch uͤber dem der Prophet einige Abgeordnete derſelben, die ihn holen ſollten, auf eine beſondere Weiſe hintergieng; ſtunden ſie vor dasmahl vom Kriege ab. Nach einiger Zeit aber zog Ben - hadad alle ſeine Macht zuſammen, und be - kriegete Jſrael, und kam bis vor Samaria, und belagerte es ſo lang, bis die aͤuſſerſte Hungers-Noth darinne entſtand. Da die Noth aber auf das hoͤchſte kommen, fuͤgte es der HErr, daß er durch ein ungegruͤndet Gericht von einer fremden anruͤckenden Macht erſchrecket wurde, Samaria verließ und mit der eilfertigſten Flucht ſich davon machte, dergeſtalt, daß er ſein gantzes Lager vor Samaria ſtehen ließ. 2. B. der Koͤn. Cap. 6. 7. Bisher hatten die Syrer durch alle ihre ſchweren Kriege dem Koͤnigreich Jſrael nichts ſonderliches abgewinnen koͤn - nen, ſondern zogen mehrentheils den kuͤrtzern davon. Nun aber gieng eine groſſe Veraͤn - derung in der Syriſchen Regierung zu Da - maſcus vor. Der obbemeldete Benhadad ſtarb, und einer von ſeinen Bedienten Ha - ſael kam auf ſeinen Thron. Dieſer und ſein Sohn, welcher wiederum Benhadad hieß,werden
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(*)werden als beſondere Ruthen des Reichs Jſrael beſchrieben. Eliſa, als er dem Haſael andeutete, daß er wuͤrde in wenig Tagen Koͤnig zu Damaſcus werden, weinete daher, und that ſehr uͤbel. Und als Haſael nach der Urſach fragte, ſprach er: Jch weiß, was Uebels du den Kindern Jſrael thun wirſt. Du wirſt ihre feſte Staͤdte mit Feuer ver - brennen, und ihre junge Mannſchafft mit dem Schwerdt erwuͤrgen, und ihre junge Kinder toͤdten, und ihre ſchwangere Weiber zerhauen, 2. B. der Koͤn. Cap. 8. v. 11. 12. 13. Und 2. B. der Koͤn. Cap. 13. v. 3. heiſſet es von ihnen: Und des HErrn Zorn ergrim - met uͤber Jſrael, und gab ſie unter die Hand Haſael, des Koͤniges zu Syrien, und Ben -