PRIMS Full-text transcription (HTML)
Betrachtungen uͤber die Weiſen Abſichten GOTTes,
bey den Dingen, die wir in der menſchlichen Geſellſchafft und in der Offenbahrung antreffen,
Zweyter Theil.
Jena,Bey Chriſtian Heinrich Cuno.1745.

Seinen Hochgeehrteſten und Vielgeliebteſten Eltern, HERRN Johann Andreas Jacobi, Wolverdientem Prediger zu Wollershauſen im Fuͤrſtenthum Grubenhagen, und FRAUEN Johannen Julianen Bauern, widmet dieſes Buch Zum Zeichen ſeiner Danckbarkeit und Kindlichen Hochachtung der Verfaſſer.

Hochgeehrteſte und vielgelieb - teſte Eltern.
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Die Liebe und Danckbe - gierde hat Denenſelben in meiner Seele ſchon laͤngſt ſolche Denckmah - le geſetzet, welche auch der Tod nicht vernichten wird. Desgleichen die Ewigkeit wird das Andencken der ſorgfaͤltigen treuen Erzie - hung und vieler andern Wohlthaten, ſo) (3vonvon Denenſelben genoſſen, nicht ausloͤ - ſchen ſondern immer lebhafter und voll - kommener machen. Wird mich dereinſten mein Heiland in jene ſeligen Wohnungen aufnehmen, wird mein erloͤßter Geiſt in jene ſelige Ruhe gehen, wird mich erſt der Glantz des Himmels umgeben, werde ich einſt das ſelige Ziel erreichen, worauf Sie mich von Kindheit an gewieſen; ſo werde ich mich auch mit der allerzaͤrtlichſten Em - pfindung erinnern, mit was fuͤr Liebe und mit was fuͤr einer weiſen Sorgfalt Sie meine Augen von den erſten Jahren an dahin gerichtet, und die Vortreflichkeit deſ - ſelben gleichſam ſichtbahr gemacht. Wer - de ich alsdenn die Guͤte meines GOttes preiſen und ſeine Wohlthaten mit voll - kommen heiligen Lippen erzaͤhlen, ſo wer - de ich ihm auch dafuͤr dancken, daß er Dieſelben mir zu Eltern auserſehen, und mich als ein Kind in ſolche Haͤnde gege - ben, die mich ihm wieder zugefuͤhret ha - ben. Das Lob, ſo ich ewig meinemSchoͤp -Schoͤpfer bringen werde, wird auch Dero Ruhm ewig machen. Jene Welt wird mir auch erſt die Beredſamkeit geben mei - ne Kindliche Liebe, Ehrerbietung und Danckbegierde gegen Dieſelben recht leb - haft auszudruͤcken. Jndeſſen iſt die Em - pfindung von den Wohlthaten, ſo mich zu einem Schuldner von Denenſelben machen, viel zu ſtarck, als daß ſie bis da - hin koͤnnte verborgen bleiben. Jch habe ſchon lange darauf gedacht, wie ich De - nenſelben auch hier ein oͤffentliches Denck - mahl ſtifften und meiner Danckbegierde ge - gen Dieſelben einiges Gnuͤgen leiſten moͤchte. Jch habe aber dazu keine beſſere Gelegenheit finden koͤnnen, als wenn De - nenſelben dieſe Blaͤtter oͤffentlich zueigne - te. Jch werde Dero Verdienſte gegen mich nicht beſſer ruͤhmen und an das Licht ſtellen koͤnnen, als wenn ich zeige, wie Dieſelben den groͤſten Antheil an dieſer Arbeit haben, und ich Jhnen nur dasje - nige widme, was ohnedem groͤſtentheils) (4JhreJhre iſt. Jſt anders Gruͤndlichkeit in die - ſen Betrachtungen, enthalten ſie etwas, das zur Erbauung dienet, ſo haben ſolches diejenigen, ſo dadurch uͤberzeuget und ge - ruͤhret werden, mehr Jhnen, als mir zu dancken.

Sie, geliebteſter Vater, haben nicht nur durch einen unermuͤdeten und gruͤnd - lichen Unterricht den Grund aller derjeni - gen Wiſſenſchafften, die ich etwa beſitze, bey mir gelegt, ſondern auch, da Sie mich mit vielen Koſten der Unterweiſung anderer gelehrten Maͤnner uͤbergeben, mich immer auf das geſchickteſte angewieſen, wie man eine gute Wahl in den man - cherley Meynungen zu halten, alles zu pruͤfen und das Beſte auszuſuchen habe. Bis dieſe Stunde habe nie das Vergnuͤ - gen Dieſelben zu ſprechen, ohne von Jh - nen zu lernen.

Jhnen aber, wertheſte Mutter, habe ich nach zuruͤhmen, daß Dero Fleiß nicht nur einen anſehnlichen Theil der Koſtenauf -aufgebracht, welche an uns, Dero Kinder, ſind gewendet worden: ſondern ich werde auch nie vergeſſen, wie Sie uns gleich - ſam mit der erſten Milch das zaͤrtlichſte Gefuͤhl von GOtt und der Tugend einge - floͤßt. Wenn wir als kleine Kinder um Dieſelben herum lieffen, ſo war das im - mer der Hauptinhalt Dero Unterredun - gen mit uns, wie wir unſere Hoffnung auf nichts als GOtt und ſolche Hertzen, die er uns erwecken wuͤrde, zu ſetzen, und alſo dahin zu ſehen haͤtten, wie wir etwas rechtes erlerneten auch GOtt und Men - ſchen uns beliebt machten.

Sie beyderſeits geehrteſte Eltern, haben alle Dero Kraͤfte dahin mit einan - der vereiniget, und alles moͤgliche gethan, auch alle aufzubringende Koſten angewen - det, daß wir moͤchten zur Ehre GOttes, zu nuͤtzlichen Dienſten der Welt, und zu unſerer zeitlichen und ewigen Wohlfahrt erzogen werden. Dahin iſt Dero eifriges Gebeth, dahin ſind Dero unablaͤßigen Be -) (5muͤhun -muͤhungen gerichtet geweſen. Der HErr hat ſelbige geſegnet, und die gnaͤdige Vor - ſehung, von welcher Sie uns jederzeit ſo viel geruͤhmet, und welcher Sie ſo offt Thraͤnen eines bewegten und danckbahren Hertzens geopfert, goͤnnet Jhnen das Gluͤck angenehme Fruͤchte Dero ſorgfaͤltigen Kin - derzucht zu ſehen. Zwey von den vier Kin - dern, ſo Dieſelben erzeuget, ſind zwar Dero Geſicht durch das unerforſchliche; aber doch allezeit weiſe Verhaͤngniß GOt - tes entzogen. Doch aber haben Sie bey dem Schmertz, den Dieſelben hieruͤber noch empfinden, das Vergnuͤgen, daß Sie eine vollkommene Gewißheit haben, daß Jhre frommen Seelen in jene beſſere Welt gelanget, wo Sie der ſeligſten Ruhe der Auserwaͤhlten genieſſen. Dieſelben haben davon gantz andere Beweiſe als einige un - gewiſſe Seufzer, welche Sie ſterbend zu GOtt geſchicket. Jhr Glaube und die Auf - richtigkeit Jhres Hertzens hat weit gewiſ - ſere Merckmahle hinterlaſſen, von welchenwirwir mit einer zufriedenen Ueberzeugung auf Jhre Seeligkeit ſchlieſſen koͤnnen. Ja ich weis gewiß, Sie ſind vor dem Stuhl des Lammes und warten mit Freuden auf den Tag, da Sie Jhnen jauchzend koͤnnen entgegen gehen und ſagen: Dieſe ſind die treuen Seelen, die uns ſo ſorgfaͤltig erzo - gen. Hier ſind wir, geliebte Eltern, denen Sie mit Thraͤnen nachgeſehen. Jhr Wunſch iſt erfuͤllet. Nun ſind wir ewig vereinigt. GOtt Lob! das Ziel iſt erreicht, das Sie ſo aͤngſtiglich geſucht und von dem HErrn erbethen. Gluͤckliche Eltern! die ſich mit Gewißheit ſolche Vor - ſtellungen machen koͤnnen. Sie werthe - ſte Eltern, koͤnnen ſelbiges mit der ruhig - ſten Zufriedenheit thun. Sie genieſſen an - bey das Gluͤck Dero uͤbrigen beyden Kinder noch in dieſer Welt in ſolchen Umſtaͤnden zu ſehen, dergleichen Sie Sich nicht ein - mahl zu wuͤnſchen unterſtanden haben. Wir erkennen, daß wir ſelbige nechſt GOtt vornehmlich Dero Erziehung zu zuſchrei -benben haben. Wir ſind hieruͤber auf das zaͤrtlichſte geruͤhret. Und da ich beſchloſſen, Jhnen dieſes Denckmahl der Danckbarkeit aufzurichten, ſo verlanget mein annoch ei - niger und geliebteſter Bruder, welchen der HErr zu einem ausnehmenden Zeugen ge - macht, daß der Segen frommer Eltern den Kindern Haͤuſer baue, Antheil an demſel - ben zu haben. Wir kuͤſſen Jhnen dem - nach beide in kindlicher Ehrerbietung die Haͤnde, und dancken Jhnen hiemit oͤffent - lich fuͤr alle Vaͤterliche und Muͤtterliche Treue und Wohlthaten, beſonders aber dafuͤr, daß Sie uns von Kindheit an ein ſo zaͤrtliches Gefuͤhl von der Majeſtaͤt GOt - tes, und von der Schoͤnheit der Tugend, und von der Herrlichkeit der zukuͤnftigen Welt eingefloͤſſet, welches uns nie verlaſſen, ſon - dern auf den ſchluͤpfrigen Wegen der Welt allezeit begleiten und Vorſichtig machen wird. Wir verſichern der gantzen Welt, daß, wenn wir ihr jemahls einige nuͤtzliche Dienſte leiſten, Jhnen wertheſte Eltern,nechſtnechſt GOtt das groͤſte Antheil davon ge - buͤhret. Und da wir wenig Gelegenheit haben, Denenſelben unſere kindliche Danck - begierde an den Tag zu legen, ſo ſoll es doch hiedurch geſchehen. Wir wollen den gnaͤ - digen GOtt, der Dieſelben uns, und uns Jhnen geſchencket hat, anflehen, daß er den Reſt Dero Tage ruhig und vergnuͤgt ma - chen, und Dieſelben nach einem grauen Al - ter den voͤlligen Gewinn einer wahren Gott - ſeligkeit und geſegneter Kinderzucht in jener Welt genieſſen laſſen wolle. Wir verpflich - ten uns anbey unter der Gnade des HErrn allen moͤglichen Fleiß anzuwenden, daß alle das Gute, ſo wir Denenſelben zu dancken haben, auf unſere Nachkommen moͤge fortgepflantzet werden, damit Dieſelben des Wunſches theilhaftig werden, womit Sie mehr als einmahl von uns Abſchied genommen: Daß Sie nemlich moͤchten von GOtt gewuͤrdiget werden dereinſten mit einem gantzen auserwaͤhlten Geſchlecht vor ihm zu erſcheinen und ſagen zu koͤnnen:Siehe,Siehe, hier ſind wir, HERR, und die Kinder, die du uns gegeben haſt. Es verſprechen dieſes auf das theuerſte, und es wollen in dieſen ſeeligen Bemuͤhungen einſten ſterben,

Hochgeehrteſte und vielgeliebte - ſte Eltern

Dero Gehorſamſten Soͤhne Johann Friedrich Jacobi, und Johann Conrad Jacobi, Kaufmann in Duͤſteldorf.

Vorrede.[1]

Vorrede. Von dem rechten Gebrauch der Vernunft bey Erklaͤrung der heiligen Schrift.

§. I.

WAs mich bewogen eine Arbeit, dieEinlei - tung ich voͤllig aufgegeben, wieder an - zufangen, will ich lieber ver - ſchweigen, als hie oͤffentlich erzaͤhlen. Der Leſer gewoͤnne nichts, wenn ich ſolches mit vielen Worten anfuͤhrte, ich aber wuͤrde dadurch manches ungleiches Urtheil uͤber mich ziehen. Jch will derowegen hievon nichts ſagen als dieſes: Daß verſchiedene Urſachen, ſo mir wichtig geſchienen, mich zu der Entſchlieſſung gebracht, die Be - trachtungen uͤber die weiſen Abſich - ten GOttes bey den Dingen, ſo wir in der menſchlichen Geſellſchafft undJacobi Betr. 2. Band. Ader2der Offenbarung antreffen, wovon ich ehmahls einige Proben geliefert, fort - zuſetzen. Wie weit ich in dieſer Fortſetzung kommen ſoll, uͤberlaſſe ich derjenigen wei - ſen und guͤtigen Vorſehung, von welcher meine Schickſale abhangen. Und dieſes koͤnnte genug ſeyn zu einer Vorrede vor den zweyten Theil dieſer Betrachtungen, wenn ich nicht fuͤr dienlich erachtete dem Leſer von einigen Regeln, welche ich bey dieſer Arbeit zum Grunde ſetze, einige Rechen - ſchafft zu geben. Ein jeder ſiehet, daß ich bey dieſen Betrachtungen die Vernunft mit der Offenbarung zu verbinden ſuche, und ſelbige in geoffenbahrte Wahrheiten miſche. Jch halte derowegen fuͤr noͤthig die Regeln anzuzeigen, nach welchen ich mich der Vernunft bey der Offenbarung bediene, und was fuͤr Grentzen ich derſelben hiebey ſetze. Es ſoll dieſes in moͤglichſter Kuͤrtze geſchehen.

§. II.

Vielerley Bedeu - tung des Wortes Vernunft.

Das Wort Vernunft wird in gar vie - lerley Verſtande genommen, und die man - cherley Bedeutung, ſo dieſes Wort bekom - men, hat zu vielen Verwirrungen unter manchen Gelehrten Gelegenheit gegeben.

Wir3

Wir wollen derowegen die verſchiede - nen Bedeutungen dieſes Wortes bemer - cken, und genau beſtimmen, was fuͤr einen Begrif wir in dieſer und jener Frage da - mit verknuͤpfen wollen. Erſtlich bedeutet das Wort Vernunft das Vermoͤgen, ſo in einem Geiſte lieget, den Zuſammenhang von Wahrheiten einzuſehen, es mag dieſes Vermoͤgen ſich durch ſeine Wuͤrckungen aͤuſſern oder gantz ſtill und in einem tiefen Schlafe liegen. Jn dieſer Bedeutung nehmen dieſes Wort diejenigen, welche den Menſchen dadurch von dem Viehe unter - ſcheiden, daß ſie ihn ein lebendiges Geſchoͤpf nennen, ſo Vernunft hat. Diejenigen, welche dieſe Beſchreibung von dem Men - ſchen machen, faſſen in ſelbige ſaͤugende Kinder und ſchlafende Perſonen, und ver - ſtehen daher unter der Vernunft nichts an - ders als das bloſſe Vermoͤgen einen Zu - ſammenhang von Wahrheiten einzuſehen, wenn auch gleich kein Gebrauch dieſes Ver - moͤgens da iſt. Jn den Rechten aber und insbeſondere bey der Materie von der Zu - rechnung einer freyen Handlung wird das Wort Vernunft in einem engern Verſtan - de genommen und erklaͤret durch eine wuͤrck -A 2liche4liche Einſicht in den Zuſammenhang der Dinge. Und nach dieſer Erklaͤrung wird den Kindern, den Wahnwitzigen, berauſch - ten Leuten und dergleichen die Vernunft abgeſprochen. Doch andere bleiben bey der vorhin angegebenen Bedeutung des Worts Vernunft, und ſprechen den Kin - dern, Wahnwitzigen und dergleichen Per - ſonen nur den Gebrauch der Vernunft ab. Diejenigen, welche durch das Wort Ver - nunft eine Einſicht in den Zuſammenhang der Dinge bezeichnen, deuten damit, ſo viel mir wiſſend, allezeit eine wahre Einſicht an, und nennen alle irrende Einſicht Un - vernunft, oder wider die Vernunft. End - lich haben die Philoſophen dem Wort Vernunft noch eine andere Bedeutung beygelegt und bezeichnen damit auch den Zuſammenhang der Wahrheiten ſelber und nennen ſolchen rationem objective ſpectatam. Dieſes ſind die Bedeutun - gen des Worts Vernunft, ſo wir in den Schriften der Theologen und Philoſophen deutlich und genau beſtimmt finden. Es iſt aber noch eine Bedeutung dieſes Wor - tes uͤbrig, welche wohl die allergewoͤhnlich - ſte; aber von den Philoſophen vielleichtdes -5deswegen nicht iſt bemercket worden, weil nach derſelben die Vernunft ſo mancherley als Menſchen in der Welt, auch Vernunft und Unvernunft mit einander verbunden und vermiſcht werden. Wenn die Men - ſchen das Wort Vernunft gebrauchen, ſo verſtehen ſie darunter die mehreſte Zeit ih - re eigene Einſicht in den Zuſammenhang der Wahrheiten, ſie mag richtig oder un - richtig ſeyn. Denn daher koͤmmt es, daß der eine dasjenige fuͤr unvernuͤnftig und mit ſich ſelbſt ſtreitend erklaͤret, was der ande - re vernuͤnftig haͤlt. Ein Materialiſt haͤlt fuͤr unvernuͤnftig immaterielle Geiſter zu glauben. Hingegen ein Jdealiſt beſchul - diget diejenigen einer Thorheit, welche Coͤr - per annehmen. Ein Stahlianer haͤlt es vor unvernuͤnftig den Umlauf des Gebluͤ - tes, das Verdauen, die Abſonderung des Nahrungs-Saftes bloß aus der Zuſam - menſetzung des Coͤrpers zu erklaͤren. Ein Mechanicus aber verlachet jenen, wenn er dieſe Dinge fuͤr Wuͤrckungen der Seele ausgiebt. Der eine haͤlt diejenigen fuͤr tumme und aufgeblaſene Koͤpfe, welche vorgeben, es ſey nichts ohne zureichenden Grund. Ein ander aber weiſet denen eineA 3Stelle6Stelle im Tollhauſe an, welche dieſen Satz fuͤr thoͤrigt ausgeben. Jener groſſe Ge - lehrte weiß nicht Worte genug zu finden diejenigen laͤcherlich zu machen, welche der Luft eine Schwehre zueignen. Andere aber ſagen, er habe zwar eine groſſe Einſicht in den Zuſammenhang der Rechte; ſo bald er ſich aber in die Mathematick und Na - tur-Lehre wage, werde er ein Kind, und bringe nichts als abgeſchmacktes Zeug vor.

Dieſes mag genug ſeyn zu beweiſen, daß die Menſchen, wenn ſie die Worte Ver - nunft und vernuͤnftig in eintzeln Faͤllen ge - brauchen, gar ſehr von einander abgehen, und ein jeder ſeine eigene Einſicht fuͤr die eintzige und wahre Vernunft halte.

§. III.

Gebrauch der Ver - nunft bey deꝛ Schrift nach der erſten Be - dentung.

Nachdem alſo die mancherley Bedeu - tung des Wortes Vernunft angemercket worden, wird ſich die Frage entſcheiden laſ - ſen, ob und wie weit die Vernunft bey Er - klaͤrung der Schrift und in Glaubens-Sa - chen zu gebrauchen. Wir fragen erſtlich: Darf man ſich des Vermoͤgens den Zu - ſammenhang der Wahrheiten einzuſehen, ſo der guͤtige Schoͤpfer in die Seele gelegt,bedie -7bedienen, die Schrift zu erklaͤren und den Zuſammenhang der noͤthigen Glaubens - und Lebens-Lehren zu faſſen? Jch hoffe Niemand, der die Worte verſtehet, wird auf dieſe Frage mit Nein antworten, er muͤ - ſte ſonſt etwa ein Quaͤcker ſeyn. Doch auch ein ſolcher, wenn er ſich recht beſinnet, wird muͤſſen zugeben, daß er dieſes Ver - moͤgens noͤthig habe, um die vermeinten Eingebungen des Geiſtes anzunehmen und zu faſſen. Wir aber, die wir keine un - mittelbare Eingebungen des Geiſtes fuͤh - len, werden den Gebrauch des Vermoͤgens Wahrheiten einzuſehen noch weit noͤthiger erachten. Denn wie ohne daſſelbe nie - mand eine Wahrheit faſſen kan, ſo wird auch ohne daſſelbe niemand die heilige Schrift fuͤr ein goͤttlich Buch erkennen, daſ - ſelbige verſtehen lernen und zu einer wah - ren Erleuchtung kommen: Wer dieſes Vermoͤgen erſt in einen Schlaf bringen will, wenn er bey das Buch goͤttlicher Wahrheiten gehet, der wird die Weisheit, welche zum Leben fuͤhret, nie erkennen ler - nen. Wie weit man dieſes Vermoͤgen Wahrheiten einzuſehen bey Erklaͤrung der Schrift zu gebrauchen habe, wird ſich ausA 4der8der Wichtigkeit der goͤttlichen Wahrheiten begreifen laſſen. Die Wahrheiten der goͤttlichen Offenbarung ſind die allerwich - tigſten. Sie zeigen den Weg zu einem ewigen Gluͤcke, folglich verdienen ſelbige, daß das Vermoͤgen Wahrheiten einzuſehen vor allen Dingen auf ſie gerichtet werde, und daß man ſie anſtrenge mit dem groͤſten Eyfer die goͤttlichen Wahrheiten zu ſuchen, zu faſſen, zu uͤberlegen und durch ſelbige die wahre Weisheit zu erlangen.

§. IV.

Nach der zweyten Bedeu - tung.

Wir fragen zweytens, ob und wie weit die Vernunft bey der Offenbarung zu ge - brauchen, in ſo ferne darunter eine wahre Einſicht in den Zuſammenhang der Wahr - heiten, die man ohne Offenbarung erken - net, begriffen wird. Auch dieſe Frage, wenn ſie ſo, wie wir gethan, beſtimmet wird, iſt leicht zu beantworten. Alle Wahrheiten ſtehen in einer gewiſſen Ubereinſtimmung mit einander, eine fuͤhrt zu der andern, und eine macht die andere begreiflich. Es iſt unnoͤthig, daß wir dieſes hier beweiſen, wir koͤnnen ſolches mit Recht als bekannt und ausgemacht zum Voraus ſetzen. Weraber9aber dieſes annimmt, der wird zugleich muͤſ - ſen zugeben, daß es noͤthig die ohne Offen - barung erkannte Wahrheiten anzuwen - den, die wahre Offenbarung zu finden, und von ertichteten zu unterſcheiden. Er wird ferner muͤſſen eingeſtehen, daß es ſehr nuͤtz - lich, die ohne Offenbarung erkannte Wahr - heiten mit den geoffenbarten zu verbinden, um den Feinden der goͤttlichen Offenba - rung zu zeigen, daß die geoffenbarten Wahrheiten nicht unvernuͤnftig, und daß unſer Gottesdienſt vernuͤnftig ſey, d. i. mit dem groſſen Zuſammenhange der Wahr - heiten uͤbereinſtimme. Wenn derowe - gen ein Menſch waͤre, der keine andere als wahre Einſichten in den Zuſammenhang der Wahrheiten und folglich eine Vernunft ohne Jrrthum haͤtte, der wuͤrde berechtiget ſeyn, ja recht wohl thun, wenn er die geof - fenbarten Wahrheiten mit denen, die er ohne Offenbarung erkennte, ſo weit als nur immer ſeine eingeſchraͤnckte aber doch wah - re Einſicht reichte, verknuͤpfte. Es iſt aber niemand unter dem kurtz-ſichtigen Einwohnern dieſer Erden, der ſich ruͤhmen kan, daß alle ſeine Erkenntniß richtig und ohne Jrrthum ſey. Es iſt vielmehr gewiß,A 5daß10daß ein jeder Menſch gewiſſe Unwahrheiten aus Jrrthum fuͤr Wahrheiten halte. Nie - mand unter den Sterblichen kan ſich daher eine reine Vernunft ohne Jrrthum anmaſ - ſen. Niemand kennet auch ſeine eigene Jrrthuͤmer, und unterſcheidet folglich auch nicht in allen Faͤllen die wahre Vernunft von der faͤlſchlich eingebildeten.

Wir doͤrfen derowegen bey dieſen bey - den erſten Fragen nicht ſtehen bleiben, ſon - dern wir muͤſſen vor allen Dingen die drit - te unterſuchen: ob und wie weit ein jeder ſeine mit unerkannten Jrrthuͤmern ver - miſchte Einſicht, welche ein jeglicher fuͤr die eintzige und wahre Vernunft zu halten pflegt, bey Erklaͤrung der Schrift und in Glaubens-Lehren zu gebrauchen habe.

§. V.

Nach der dritten Be - deutung.

Wir haben zwar eine andere Bedeu - tung des Wortes Vernunft als die dritte angefuͤhret, da nemlich der Zuſammenhang der Wahrheiten ſelber dadurch angezeiget wird, und wir ſollten derowegen nach obi - ger Ordnung erſt fragen: wie weit die Ver - nunft bey Erklaͤrung der Schrift und in den Glaubens-Lehren Statt finde, wennman11man darunter den Zuſammenhang der Wahrheiten ſelber verſtehet? Allein dieſe Frage faͤllt gantz hinweg, weil der Zuſam - menhang der Wahrheiten bey Erklaͤrung der Schrift und in Glaubens-Sachen uns nicht zu ſtatten kommen kan, als in ſo fern wir eine Einſicht in denſelben haben. Hier - aus aber entſtehen die Fragen, mit deren Beantwortung wir uns anjetzt beſchaͤfti - gen.

§. VI.

Wir unterſuchen alſo nur noch, ob undNach der vierdten Bedeu - tung. wie weit die Vernunft bey Erklaͤrung der Schrift und in Glaubens-Sachen zu ge - brauchen, in ſo fern ein jeder darunter ſei - ne eigene mit unerkannten Jrrthuͤmern vermiſchte Einſicht, die er ohne Offenba - rung hat, verſtehet? Der Geiſt GOttes entdecket uns nicht unmittelbar, welche un - ter ſo vielen vorgegebenen Offenbarungen die wahre ſey. Der Geiſt GOttes ſagt uns ferner nicht unmittelbar, was fuͤr Begrif - fe mit den Worten, darinnen die wahre Offenbarung verfaſſet, zu verknuͤpfen. Es bleibet uns derowegen nichts uͤbrig als dieſes: entweder wir muͤſſen gar nicht unter - ſuchen, welches die wahre Offenbarungund12und der wahre Sinn derſelben ſey, oder wir muͤſſen die Vernunft, davon wir jetzt reden dazu gebrauchen. Welches von beyden iſt zu wehlen? Jch hoffe, man wird fuͤr billiger halten, daß man ſich ſeiner na - tuͤrlichen Einſicht bediene, die wahre Of - fenbarung und deren Sinn zu erforſchen, als dieſe Unterſuchung wie etwas Unnuͤtzes oder wohl gar Schaͤdliches zu fliehen. JEſus giebt ſelbſt die Anleitung in der Schrift zu ſuchen oder zu forſchen, Joh. 5. v. 39. Wie kan aber dieſes geſchehen oh - ne Anwendung der natuͤrlichen Einſicht in die Sprache, darinne man die Offenba - rung lieſet und in die Alterthuͤmer, wie auch in diejenigen Dinge, ſo immer in der menſchlichen Geſellſchafft vorkommen? Die Offenbarung ordnet allerdings die Erkenntniß ſolcher Dinge vorher. Se - tzet GOtt in ſeiner beweglichen Verſiche - rung ſeiner gnaͤdigen Vorſehung bey dem Jeſ. 49. v. 15. nicht zum Voraus, daß man ohne Offenbarung die Zaͤrtlichkeit ei - ner muͤtterlichen Liebe kenne? Setzet Chri - ſtus in ſeiner Rede Matth. 16. v. 2. nicht zum Voraus, daß man wiſſe, auf eine helle Abendroͤthe folge ein heiter, und auf einetruͤbe13truͤbe Morgenroͤthe ein truͤber Tag? Ob alſo gleich eines jeden natuͤrliche Einſicht mit allerhand Jrrthuͤmern vermiſcht iſt, ſo iſt ſie dennoch zu Erklaͤrung der Schrift und folglich zu der Erkenntniß der Glau - bens-Lehren unumgaͤnglich nothwendig. Nur iſt zu unterſuchen, wie weit man ſich auf ſelbige verlaſſen koͤnne, und wie weit ihr Gebrauch gehe.

§. VII.

Wie weit man ſich auf die Vernunft,Ob ſich ein jeder auf ſeine eige - ne Einſicht verlaſſen koͤnne? von welcher wir hier reden, verlaſſen koͤn - ne, halte ich fuͤr die allerſchwereſte Frage, welche vollkommen zu beantworten ich mich noch nicht unterſtehe. Jch halte dafuͤr, daß dieſe Materie wuͤrdig waͤre von mehr als einem Gelehrten mit rechtem Nachſin - nen unterſucht und abgehandelt zu werden. Diejenigen, welche die Gewißheit und den Gebrauch der Vernunft in der Offenba - rung bisher gelobt und angeprieſen, reden von einer reinen Vernunft, von einer Ver - nunft, welche, wenn ſie recht angeſtrenget wird, ſich fuͤr Jrrthuͤmer huͤten, und ſelbi - gen voͤllig ausbeugen koͤnne. Sie haben ſich die Vernunft gebildet nicht, wie ſie indem14dem Menſchen iſt, ſondern ſo, daß ſie ihre Unvollkommenheit abgeſondert. Sie ha - ben ſelbige, daß ich in der Sprache der Weiſen rede, nicht concretive ſondern abſtractive genommen. Und weil ſie ſich eine Vernunft ohne Jrrthum vorgeſtellet, haben ſie folgende Schluͤſſe gemacht: Was mit der Vernunft nemlich mit einer richtigen und reinen Vernunft ſtrei - tet, kan in der Offenbarung nicht ſtehen. Und dieſer Satz hat ſeine Rich - tigkeit. Hiebey aber hat ein jeder ſtill - ſchweigend als ausgemacht angenommen: Seine Einſicht, ſeine Vernunft ſey die eintzige wahre und richtige Ver - nunft. Und daraus hat ein jeder den Schluß gezogen: was alſo mit ſeiner Vernunft ſtreite, koͤnne in der Offen - barung nicht ſtehen. Ein jeder hat al - ſo angenommen; der Geiſt GOttes muͤſſe nothwendig eben ſo gedacht haben, wie er. Hat der Buchſtabe der Schrift ein anders ausweiſen wollen, ſo hat derſelbe ſo lange muͤſſen gezerret werden, bis er mit eines je - den beſondern Vernunft uͤberein geſtimmet. Und daher iſt es kommen, daß kein eintzigesBuch15Buch in der Welt ſo vielerley Erklaͤrungen leiden muͤſſen, als die Offenbarung.

§. VIII.

Wer ſiehet aber nicht den Fehler, derFortſe - tzung des vorigen. hier begangen wird. Wer kan bey einer reifern Uberlegung den Satz billigen, den mancher Gelehrter macht: ſeine Einſicht ſey die eintzige, wahre und richtige Ver - nunft. Wie thoͤrigt dieſes ſey, ſchlieſſe man daher. Sempronius, ein Mann, den die gelehrte Welt fuͤr eines ihrer wuͤr - digſten Glieder haͤlt, lieſet und pruͤfet viele Buͤcher, ſo andere Weiſen von gleichem Anſehen geſchrieben. Er findet kein eini - ges, das in allen nach ſeinem Geſchmack waͤre. Er findet in allen Ubereilungen, unvollkommene Erklaͤrungen, unrichtige Schluͤſſe, Saͤtze, die ſeiner Einſicht nach falſch ſind. Cajus ein Mann von gleichem Rang und Einſicht unterſuchet ebenfalls die Buͤcher der Weiſen, ſo wohl diejenigen, welche uns der Raub der Zeiten aus dem grauen Alterthum uͤbrig gelaſſen, als auch diejenigen, ſo uns die neuern Zeiten geſchen - cket. Er findet bey allen etwas zu erinnern. Auch die ſehr belobten Schriften ſeinesFreun -16Freundes des Sempronius findet er nicht ohne Fehler. Und Sempronius glaubt berechtiget zu ſeyn, dem Cajus einige unrich - tige Saͤtze vorzuwerfen. Jſt es billig? wenn Sempronius und Cajus ein jeder vor ſich dencket, ſeine Einſicht ſey richtiger als aller uͤbrigen Gelehrten in der gantzen Welt? Waͤre ein ſolcher hochmuͤthiger Gedancke zu dulden? Und muͤſte nicht we - nigſtens der eine ein in ſich ſelbſt verliebter Thor ſeyn? Meiner Meynung nach waͤren ſie es aber bey ihrer groſſen Gelehrſamkeit alle beyde. Ein jeder, der niemandes Mey - nungen als Orackel annimmt, ſondern al - les genau pruͤfet, wird keinen eintzigen Ge - lehrten in der gantzen Welt finden, mit wel - chem er in allen einerley Meynung waͤre. Demjenigen aber wird gewiß der oberſte Platz unter den Narren anzuweiſen ſeyn, der ſich einbildet, er alleine ſey es unter al - len, der alles am deutlichſten und richtig - ſten einſehe. Vielmehr wird dieſer Schluß zu machen ſeyn, ein jeder habe Wahrhei - ten und Jrrthuͤmer in ſeinem Kopfe. We - nigſtens waͤre unter allen denen, die in dieſer und jener Meynung von einander unter - ſchieden, nur ein einiger moͤglich, deſſen Saͤtzeins -17insgeſamt richtig ſich faͤnden. Denn alle die uͤbrigen, die nur in einem Satze von die - ſem abgiengen, waͤren eines Jrrthums ſchuldig. Wer hat aber Gruͤnde vor ſich, womit er beweiſen koͤnne, er ſey der einige Gelehrte, deſſen Verſtand von allem Jrr - thum rein? Es iſt vielmehr zu glauben, daß kein einiger ohne Jrrthum ſey.

§. IX.

Wenn denn aber kein einiger MenſchWas ge - wiß ſey. ohne Jrrthuͤmer, und doch auch niemand ſeine eigene Jrrthuͤmer kennet, ſo ſcheinet zu folgen, daß unſere vermiſchte Einſicht ohne allen Gebrauch und Nutzen ſey, indem ſich niemand auf einen eintzigen ſeiner Saͤ - tze mit voͤlliger Gewißheit verlaſſen koͤnne. Jch antworte hierauf folgendes: Man hat zwar noch keine vollkommen hinreichende allgemeine Merckmahle, wodurch man in einem jeden einzelnen Falle die richtigen Saͤtze und Schluͤſſe von den unrichtigen zu unterſcheiden faͤhig iſt: Man hat aber doch einige beſondere Merckmahle, wodurch man in einigen Faͤllen zu einer voͤlligen Ge - wißheit, ob etwas wahr oder falſch ſey, ge - langen kan. Ehe ich hievon mit mehrernJacobi Betr. 2. Band. Brede,18rede, muß ich erſt ſagen, was ich voͤllig ge - wiß nenne. Dasjenige nenne ich in An - ſehung meiner Erkenntniß gewiß, wovon mir ſolche Merckmahle bekannt, von wel - chen niemand ſagen und darthun kan, daß ſie ihn jemals betrogen. Sollte ich das - jenige voͤllig gewiß nennen, was ich mit ei - ner vollkommenen Demonſtration, der gar nichts fehlte, darthun koͤnnte, ſo bliebe meinem Verſtande gar nichts gewiſſes uͤbrig. Denn ich bekenne hiemit oͤffent - lich, daß ich keine vollkommene Demonſtra - tion zu machen weiß. Jch ſpreche hiemit aber andern das Vermoͤgen vollkommene Demonſtrationen zu machen nicht ab. Eh - mahls habe ich dieſes Vermoͤgen auch ge - habt. Jch habe es aber verlohren, da ich mir vorgenommen und auch wuͤrcklich den Anfang gemacht, vollkommene Demonſtra - tionen aufzuſetzen, und mich zugleich in die Hiſtorie der Philoſophie gewagt. Jn mei - nen Demonſtriren bin ich immer auf Saͤ - tze kommen, die ich umſonſt habe muͤſſen annehmen, und deren Richtigkeit ich mit nichts habe beweiſen koͤnnen. Dahin ge - hoͤren alle die Saͤtze, zu welchen wir bloß durch innere oder aͤuſſerliche Empfindun -gen19gen gelangen. Unter dieſen Saͤtzen ſtehet der Grund-Satz aller Demonſtrationen, daß ein Ding nicht zugleich ſeyn und auch nicht ſeyn koͤnne, oben an, und alle Erfahrungen durch die aͤuſſern Sinne ſtehen unmittelbar drunter. Alle dieſe Saͤtze muß mir derjenige ſchencken, dem ich etwas beweiſen ſoll, und ja nicht fodern, daß ich ihm einen zuverlaͤßigen Grund von der Richtigkeit der innern und aͤuſſern Em - pfindungen geſunder Menſchen angeben ſoll. Jch habe zwar die Beweiſe der ſcharf - ſinnigſten Philoſophen wider die Zweifeler. Allein ich muß bekennen, daß ich zu furcht - ſam bin, mit dieſen Beweiſen wider ſolche Leute zu ſtehen. Wenn ein Jdealiſt oder gar ein Egoiſt auf mich losgehet, ſo ziehe ich gewiß aus. Denn wer ſo hartnaͤckigt iſt, daß er zweifelt, ob ein Stock wuͤrcklich in der Welt ſey, wenn man ihn ſelbigen vor die Naſe haͤlt, ſondern glaubt, er habe nur einen deutlichen Traum davon, der wird gewiß auch alle meine Beweiſe fuͤr Traͤume halten. Auſſer dieſen kan ich auch niemanden die Allgemeinheit derjeni - gen Saͤtze beweiſen, welche aus eintzelnen Erfahrungen gezogen werden. Der an -B 2dere20dere muß mir ohne dringenden Beweiß er - lauben, daß wenn ich einen Satz aus vie - len Erfahrungen gezogen, ich denſelben ſo lange fuͤr allgemein halte, bis er mir eine Ausnahme entgegen ſetzen kan. Will er keinen Satz, keine Erklaͤrung als allgemein annehmen, ohne daß ich ihm die Allgemein - heit bewieſen, ſo iſt mir der Mund aber - mals geſtopfet, denn von meinen wenigſten Saͤtzen und Erklaͤrungen kan ich ihm die Allgemeinheit anders darthun, als daß ich von einigen auf alle ſchlieſſe: Und wer die ſtaͤrckſten Beweiſe recht zergliedert, wird bey den mehreſten auf allgemeine Saͤtze kommen, welche man nicht anders heraus gebracht, als daß man von einigen auf alle geſchloſſen. Wenn ich einige Steine ge - funden, die ſchwer geweſen, und es iſt nie - mand, der einen Stein ohne alle Schwere angetroffen, ſo ſetze ich ohne Bedencken feſt, alle Steine auf dieſem Erdboden ſind ſchwer. Wenn ich bey einigen Vertraͤgen wahrgenommen, daß ſie eine Einwilligung von zwo oder mehrern Perſonen in eine gewiſſe Sache, die keiner vor ſich allein ſoll wieder aufheben, ſo mache ich daher die allgemeine Erklaͤrung, ein Vertrag ſey eineEin -21Einwilligung zwo oder mehrer Perſonen in eine gewiſſe Sache, ſo daß keiner ſeine Ein - willigung fuͤr ſich allein ſoll wieder zuruͤck nehmen. Recht vollkommene Demon - ſtrationen, bey welchen mir niemand den Sprung von einigen auf alle erlaubet, fal - len bey mir ſehr hinweg. Und uͤberhaupt mag ich mit dem nichts zu thun haben, der nichts ohne Demonſtration annehmen will, ich werde bey ihm nichts zu eſſen und zu trincken bekommen, wenn er mir ehender nichts geben will, bis ich ihm demonſtriret, daß ich hungrig und duͤrſtig werde, wenn ich bey geſunden Leibe in einem halben Ta - ge nichts genoſſen.

Jch nehme indeſſen die innern und aͤuſ - ſern Empfindungen, wenn ich geſund, und die Empfindungen deutlich und anhaltend geweſen und meine Seele ihre voͤllige Kraft auf die Bemerckung derſelben gerichtet, als voͤllig gewiß an, theils, weil ich durch einen innern Trieb dazu gezwungen werde, theils aber, weil noch niemand in der Weit dar - thun koͤnnen, daß ihn ſelbige betrogen. So halte ich ferner fuͤr voͤllig gewiß alle dieje - nigen Saͤtze, welche unmittelbar aus obi - gen Empfindungen mit einiger UberlegungB 3gemacht22gemacht werden, und bey deren Gegentheil die Empfindung nicht ſo ſeyn koͤnnte, als ſie iſt. Z. E. Jch ſehe und fuͤhle einen Stein, und auf demſelben eine Naͤſſe, ſo iſt der Satz voͤllig gewiß, der Stein iſt naß. So ſind ferner die allgemeinen Saͤtze, ſo unmittelbar ohne weitlaͤuftige Schluͤſſe aus den Erfahrungen, die ein jeder haben kan, zuſammen geleſen werden, voͤllig ge - wiſſe Saͤtze. Z. E. Ein jeglicher Stein, der in freyer Luft in die Hoͤhe geworfen wird, faͤllt wieder herunter. Bey ſolchen Saͤtzen hat ſich auch noch niemand betro - gen gefunden, und haben eine ſolche Gewiß - heit, darauf man ſich voͤllig verlaſſen kan.

§. X.

Auf wel - che Schluͤſ - ſe man ſich verlaſſen koͤnne.

Auch unter den Saͤtzen, die man durch weitlaͤuftigere Schluͤſſe heraus bringet, ſind einige, auf deren Gewißheit man ſich voͤl - lig verlaſſen kan. Deren Beſtimmung aber iſt mir ungemein ſchwer, und ich ge - ſtehe, daß ich ſie genau anzugeben mich nicht im Stande befinde. Man pflegt ſie insgemein alſo zu beſtimmen: Ein Satz der aus richtigen Erfahrungen und richti - gen Erklaͤrungen durch richtige Schluͤſſeher -23hergeleitet wird, iſt voͤllig gewiß. Allein dieſes heiſſet eben ſo viel geſagt, als folgen - des: Eine gewiſſe erfundene Zahl, die nach der Regel Detri aus gewiſſen gegebenen Zahlen hat ſollen geſucht werden, iſt gantz gewiß die rechte, die es hat ſeyn ſollen, wenn man nur mit den gehoͤrigen Zahlen richtig verfahren, wenn man die rechten Zahlen richtig mit einander addiret, multipliciret, von einander ſubtrahiret und in einander dividiret. Entſtehet hiebey nicht die neue Frage: wobey man gewiß ſeyn koͤnne, daß man allezeit die rechten Zahlen genommen, und mit denſelben richtig verfahren? Und eben dieſe Frage entſtehet bey den obigen Kennzeichen der Saͤtze, die durch eine rich - tige Demonſtration ihre Gewißheit erhal - ten ſollen. Wobey kan man mercken, daß man richtige Erklaͤrungen gemacht, und aus richtigen Vorder-Saͤtzen allezeit rich - tig geſchloſſen, und dabey keinen Fehler be - gangen? Jch weiß davon keine andere Merckmale anzugeben, als dieſe. Habe ich etwas durch Schluͤſſe heraus gebracht, ich kan den Schluß durch verſchiedene Er - fahrungen auf dieſe Probe ſetzen, und ich finde ihn alsdenn richtig, ſo kan ich als voͤl -B 4lig24lig gewiß annehmen, daß ich richtig geſchloſ - ſen, beſonders wenn ſich bey der Probe auch nach und nach die Urſachen aͤuſſern, deren ich mich im Schlieſſen bedienet. Z. E. Jch bringe durch Schluͤſſe heraus, dieſe und jene Art von Befeſtigungen muͤſſen aus der und der Urſache ſehr vortheilhaft ſeyn. Jch baue ſie, und finde, daß ſie gute Dienſte bey einem Angrif gethan, ſo kan ich voͤllig gewiß ſeyn, meine Schluͤſſe ſeyn richtig geweſen. Jngleichen, wenn ich in der Phyſick durch Schluͤſſe heraus bringe, aus der Vermiſchung dieſer und jener Dinge muß dieſe und jene Erſcheinung erfolgen, und bey der Probe erfolget alles, wie man geſchloſſen, ſo kan man voͤllig gewiß ſeyn, daß man auf eine ſolche Art gedacht, dabey niemand betrogen wird. So bekommen die Beweiſe fuͤr den Satz des zureichen - den Grundes dadurch ein groſſes Gewicht, daß keine einige Erfahrung dawider kan aufgebracht werden, ſondern alle damit uͤbereinſtimmen. Ferner halte ich dieſes fuͤr ein Kennzeichen richtiger Beweiſe, wenn zu denſelben nicht noͤthig geweſen Erklaͤ - rungen die von ſehr viel einzelnen Dingen haben muͤſſen zuſammen geleſen werden,oder25oder Saͤtze, die vom Moͤglichen und Un - moͤglichen reden, oder auch die Erkenntniß des innern Weſens einzelner Dinge und des groſſen Zuſammenhanges der Welt und der Verbindung vieler tauſend Dinge, wie auch die Vergleichung anderer moͤg - lichen Reihen der Dinge zum Voraus ſetzen; wenn ferner der Beweiß kurtz, zu verſchiedenen Zeiten von verſchiedenen ſcharfſinnigen Leuten uͤberſehen und nichts dagegen aufgebracht, ſo nicht leicht zu he - ben waͤre, wenn dieſes alles ſich ſo verhaͤlt, ſo bin ich von der Richtigkeit ſolcher Be - weiſe ſo gewiß, als von der Richtigkeit der Addition ſehr weniger Zahlen, die von vie - len nachgeſehen worden, und bey welcher niemand einen Fehler entdecken koͤnnen. Bey Beweiſen die weitlaͤuftig, ſich auf Er - klaͤrungen gruͤnden, die von vielen einzel - nen Dingen zuſammen geſucht werden muͤſſen, die ferner ſolche Saͤtze in ſich enthal - ten, die ſich auf das Moͤgliche und Unmoͤg - liche auf das innere Weſen der Dinge, auf den groſſen Zuſammenhang der Welt und auf andere moͤgliche Reihen der Dinge be - ziehen, muß man nicht zu ſicher ſeyn, ſon - dern ſich immer bereit halten, beſſern Un -B 5ter -26terricht anzunehmen, denn die Geſchichte der Weiſen lehret, wie oft die groͤſten Gei - ſter in dergleichen Beweiſen ſich verirret, und wie oft man ſich dabey betrogen befun - den. Man leſe, was ich hievon (Betracht. VIII. §. 35. 36. ) geſchrieben habe. Waͤre es nicht ſo gar leicht ſich in der Verbindung verſchiedener Dinge zu verſehen, ſo wuͤrde es nicht leicht geſchehen, daß zwey geuͤbte Meiſter im Damen oder Schach-Spiel einander ein Spiel abgewoͤnnen, denn ſol - ches ſetzet allezeit wenigſtens ein Verſehen zum Voraus.

§. XI.

Welche hi - ſtoriſche Wahrhei - ten als ge - wiß anzu - ſehen.

Noch ferner werden alle diejenigen Zeugniſſe von Leuten, welche alle Merck - male der Glaubwuͤrdigkeit zuſammen ge - nommen vor ſich haben, zu den voͤllig ge - wiſſen Wahrheiten zu rechnen ſeyn. Denn man wird kein Exempel beybringen koͤnnen, daß jemand ſich bey Zeugniſſen anderer, die alle moͤgliche Merckmale der Glaub - wuͤrdigkeit vor ſich gehabt, betrogen befun - den. Damit ich dieſes genauer beſtimme und mich niemand durch ein wider mich an - gebrachtes Exempel zu Schanden machen moͤge, ſo erklaͤre ich mich alſo: Es bemer -cke27cke ſich jemand die Kennzeichen der Glaub - wuͤrdigkeit eines fremden Zeugniſſes, ſo der gelehrte Ditton in ſeinen mathema - tiſchen Beweiſe der Auferſtehung JEſu angegeben, und unterſuche, ob ein einiges Zeugniß, dadurch jemand in der Welt hintergangen worden, alle dieſe Merckmale der Glaubwuͤrdigkeit zugleich an ſich gehabt, er wird ſolches nie finden. Und dieſes macht mich voͤllig gewiß von den Zeugniſſen der heiligen Schriftſteller. Es iſt aber nicht genug, daß die Richtigkeit eines Zeugniſſes ihre voͤllige Gewißheit hat; ſondern man muß auch von der rech - ten Erklaͤrung deſſelben gewiß ſeyn. Es iſt nicht zu leugnen, daß die Erklaͤrung man - ches Zeugniſſes vielen Schwuͤrigkeiten un - terworfen und es iſt dieſes von ſehr vielen Zeugniſſen, wenn ſie alt werden, untrenn - bar. Alte Gebraͤuche und Begebenheiten und Spruͤchwoͤrter werden unbekannt, und alles das wird zugleich dunckel, was ſich darauf beziehet. Jedoch giebt es einige Ausdruͤcke die allezeit denen klar bleiben, welche die Woͤrter verſtehen, nemlich die - jenigen, in welchen die Woͤrter in ihrer ei - gentlichen Bedeutung ohne eine kuͤnſtlicheVer -28Verbindung ſtehen, und ſich auf keine be - ſondere Gebraͤuche und Geſchichte bezie - hen. Und die Erklaͤrungen derſelben ſind voͤllig gewiß zu nennen. Denn kein Sprach - Verſtaͤndiger, der ſolche Worte ohne Vor - urtheil angeſehen, und bey der einfaͤltigſten Deutung der Worte geblieben, iſt dabey eines Jrrthums uͤberfuͤhret worden. Da - her koͤmmt es auch, daß alle, die den Cice - ro und andere dergleichen Buͤcher geleſen, in vielen Stellen voͤllig mit einander in ih - ren Erklaͤrungen uͤbereinſtimmen. Daß bey der Erklaͤrung der Schrift auch bey den leichteſten Stellen ſo viel Zwieſpalt iſt, ruͤhret daher, daß faſt ein jeder, ehe er die Schrift lieſet, zum Voraus ſetzet, dieſe und jene Meynung, die er nach ſeiner Philoſo - phie fuͤr unrichtig haͤlt, muß nicht drinne ſte - hen. Wenn ſie derowegen mit den deut - lichſten Worten darinnen enthalten, ſo muͤſſen doch die Worte ſo lange gefoltert werden, bis ſie mit ihrer Art zu dencken uͤbereinſtimmen.

§. XII.

Welche Saͤtze wahr - ſcheinlich?

Auſſer den bisher erwehnten Arten von Wahrheiten weiß ich keine, von welchen ich mich zu behaupten getrauete, daß ſie voͤl -lig29lig gewiß waͤren. Denn von allen uͤbri - gen Arten der Wahrheiten, deren Bewei - ſe die angefuͤhrten Kennzeichen der Gewiß - heit nicht fuͤr ſich haben, kan ich Exempel aus der philoſophiſchen Hiſtorie beybrin - gen, daß recht ſcharfſinnige Perſonen bey allen ihren Demonſtriren dennoch ſind be - trogen worden. Jch halte daher alle die - jenigen Saͤtze, welche die angefuͤhrten Kenn - zeichen einer voͤlligen Gewißheit nicht ha - ben, nur fuͤr wahrſcheinlich, und leugne nicht, daß ich dem groͤſten Theil meiner Wiſſenſchafften nur eine Wahrſcheinlich - keit beylege. Es hat dieſes die Wuͤrckung in meinem Gemuͤth, daß ich diejenigen mit vieler Liebe tragen kan, die anders dencken, als ich, und mich mit niemand uͤber Mey - nungen zancke und ſchelte. Jch ſtehe fer - ner nicht hartnaͤckigt auf meinen Gedan - cken, ſondern bin bereit mich von einem je - den eines beſſern unterrichten zu laſſen. Vielleicht fragt jemand, wie ich es denn bey der Einrichtung meiner Handlungen an - fange, da ich mich ſo weniger Gewißheit in meinen Wiſſen ruͤhme? Jch verhalte mich dabey alſo: Jch wehle, was nach meiner Einſicht das Wahrſcheinlichſte und Si -cherſte.30cherſte. Und will jemand ehender nichts unternehmen, als bis er von dem Ausgan - ge eine voͤllige Gewißheit haben kan, der wird der allerungluͤcklichſte unter der Son - nen ſeyn. Er darf nicht ſaͤen noch ein - erndten, weder eſſen noch trincken, noch ſchlafen, denn er weiß nicht gewiß, ob nicht ein jedes davon dieſesmahl boͤſe Folgen habe. Unſere allermehreſten Handlungen muͤſſen wir bloß auf Wahrſcheinlichkeiten hinwagen. Bisweilen iſt das Wahr - ſcheinlichſte nicht das Sicherſte. Jn ei - nem ſolchen Falle muß man, wenn ſehr wichtige Folgen moͤglich ſind, das Sicherſte dem Wahrſcheinlichſten vorziehen. Es muß dieſes oͤfters im Kriege geſchehen. Ein General hat einen Feind in der Naͤhe. Es iſt hoͤchſt wahrſcheinlich, daß er ihn durch ein Treffen uͤberwinden und zuruͤck ſchla - gen koͤnnte. Der Feind aber ſtehet ſo, daß, wenn die Schlacht verlohren gienge, die Retirade ſehr beſchwerlich waͤre, und auf derſelben ungemein viel Leute bleiben wuͤr - den. Die Umſtaͤnde ſind ferner ſo, daß, wenn der Sieg nicht erfolgte und viele Leu - te getoͤdtet und gefangen wuͤrden, der Feind keinen Widerſtand mehr faͤnde und alseine31eine Fluth herein brechen koͤnnte. Wenn die Sachen dergeſtalt ſtehen, ſo wird ein weiſer General das Sicherſte dem Wahr - ſcheinlichſten vorziehen, und den Angriff nicht wagen. Und eben ſo wird es ein klu - ger Menſch in andern aͤhnlichen Faͤllen machen.

§. XIII.

Vielleicht wundern ſich einige, daß ichWie weit hiſtoriſche Wahrhei - ten andern demon - ſtrirten Saͤtzen gleich zu achten? Saͤtze, die man bloß aus klaren Zeugniſſen glaubhafter Leute hat, mit denen in eine Claſſe geſetzt, welche man durch gantz kurtze Beweiſe ohne fremde Zeugniſſe ausmachen kan, und jenen einen gleichen Grad der Ge - wißheit zueigne. Jch weiß gar wohl, wie weit man die hiſtoriſchen Wahrheiten un - ter die mathematiſchen und philoſophiſchen zu ſetzen pflege, und daß man von demje - nigen glaubt, er rede nicht accurat, der da ſaget, er wiſſe hiſtoriſche Wahrheiten. Er muß ſprechen, er glaube ſie. Jch befuͤrch - te aber, daß unſer Wiſſen, wo nicht gantz, doch groͤſten Theils hinweg falle, wenn da kein Wiſſen ſoll Statt finden, wo man ſich auf Zeugniſſe anderer gruͤndet. Wie viel ſind denn der Wiſſenſchaften, welche nicht unter ihren erſten Gruͤnden hiſtoriſcheWahr -32Wahrheiten haben? Aſtronomie, Mathe - matick, Geographie, und Chronologie, Bau-Kuͤnſte, ingleichen Logick, Metha - phyſick und viele andere Wiſſenſchafften gruͤnden ſich auf Erfahrungen, welche ein Menſch nicht machen kan, ſondern, welche einer von dem andern annehmen muß. Noch mehr: iſt ein einzelner Menſch im Stande einen eintzigen allgemeinen Satz aus der Erfahrung zu nehmen, darauf er ſich voͤllig verlaſſen kan, ohne anderer Men - ſchen Erfahrung mit zu Huͤlfe zu nehmen? Kan ein einiger Menſch ſich alle noͤthige einzelne Faͤlle, daraus er den allgemeinen Satz ziehen muß, uͤberſehen? Wie treff - lich man ſich auf die allgemeinen Saͤtze, die jemand aus ſeinen Erfahrungen allein ziehet, verlaſſen koͤnne, koͤnnte ich mit merck - lichen Exempeln der neueſten Zeiten aus der Mathematick und Phyſick beweiſen. Allein es moͤchte mir ſolches uͤbel gedeutet werden. Jch will derowegen lieber aus den Mohren-Laͤndern unter der Linie ein Exempel herholen. Dieſe nehmen als eine Erfahrung an, kein Waſſer koͤnne ſo hart werden, daß es groſſe Laſten trage. Jn ihren Laͤndern haben ſie kein Exempel, ſoihnen33ihnen das Gegentheil lehrete. Jndeſſen iſt ihre Erfahrung nicht hinreichend, einen ſo allgemeinen Satz zu befeſtigen. So muͤſſen ferner die mehreſten Erklaͤrungen durch anderer Leute Zeugniß beſtaͤrcket wer - den, wenn wir uns anders einiger Maſſen darauf verlaſſen ſollen. Die mehreſten Erklaͤrungen muͤſſen von unzehligen einzel - nen Dingen zuſammen geleſen werden. Wir koͤnnen ſelbige unmoͤglich alle uͤber - ſehen. Wir nehmen daher allezeit nur ei - nige, und ſuchen von ſelbigen den allgemei - nen Begriff eines Geſchlechtes zuſammen, und halten unſere Erklaͤrung fuͤr richtig, wenn wir kein Exempel von ſelbigen Ge - ſchlecht finden koͤnnen, ſo nicht unter der Erklaͤrung begriffen waͤre, oder auch kein Ding von einer fremden Gattung antref - fen, ſo mit unter die gemachte Erklaͤrung koͤnnte gezogen werden. Wie ſehr fehlen wir aber, wenn wir uns auf uns allein hie - bey verlaſſen, und dencken, eine Erklaͤrung, wider deren Richtigkeit wir kein Exempel auf bringen koͤnnen, die ſey vollkommen. Wie leicht die ſcharfſinnigſten Maͤnner ſich hiebey vergehen, kan denen nicht unbekannt ſeyn, die ſich nur in etwas die GeſchichteJacobi Betr. 2. Band. Cder34der Philoſophie bekannt gemacht. Auch die Arithmetiſchen, Geometriſchen, und Algebraiſchen Schriften der beruͤhmteſten Maͤnner ſind nicht frey von ſolchen Fehler - haften Erklaͤrungen und unrichtigen Be - weiſen, ſo daraus hergeleitet worden, da man doch in ſolchen Schriften die vollkom - menſten Erklaͤrungen und Beweiſe ſucht. Jch bin daher ſo furchtſam bey einer jeden Erklaͤrung, ſo ich ſelber mache, daß ich ihr nicht traue, bis ſie andere Perſonen von Einſicht uͤberlegt, und bezeuget, daß ſie nichts dagegen aufzubringen wiſſen. Noch eins. Alle Beweiſe gruͤnden ſich zuletzt auf den Satz des Widerſpruches. Deſ - ſen Gewißheit aber gruͤndet ſich auf unſere innere Empfindung. Wir fuͤhlen einen innern Widerſtand, wenn wir dencken wol - len, es koͤnne ein Ding zugleich ſeyn und nicht ſeyn. Sollte aber die innere Empfin - dung eines eintzigen Menſchen wohl genug ſeyn, dieſen Satz in ſeiner Allgemeinheit recht feſt zu ſetzen? Wir wiſſen, daß man - che Menſchen in ein und andern Dingen unrichtige Empfindungen haben, woher kan ich wiſſen, daß die Empfindung, darauf ſich dieſer Satz gruͤndet, richtig ſey? Gewißich35ich weiß kein ander Merckmal davon, als das Zeugniß anderer geſunden Menſchen, daß ſie eben dieſe Empfindung haben. Wie viel Wiſſenſchafften bleiben alſo uͤbrig, wenn klare Zeugniſſe beglaubter Perſonen unter den Gruͤnden derſelben keinen Platz finden ſollen?

§. XIV.

Nun getraue ich mir in etwas zu be -Wie weit unſere ver - miſchte Einſicht bey der Offenba - rung zu gebrau - chen? ſtimmen, wie weit die Vernunft bey Er - klaͤrung der Schrift und in Glaubens-Sa - chen zu gebrauchen, und was fuͤr Grentzen dabey zu beobachten. Wer auf eine gruͤnd - liche Art die geoffenbarten Wahrheiten er - kennen will, der muß ſich bemuͤhen eine Einſicht in die Grund-Sprachen, Alter - thuͤmer, und diejenigen Dinge, ſo im ge - meinen Leben haͤufig vorkommen zu erlan - gen. Er muß ſich ferner uͤben im Uberle - gen, im Unterſcheiden, im Vergleichen, und im Schlieſſen. Jene Einſicht begleitet von dieſer Fertigkeit zu uͤberlegen, zu unterſchei - den, zu vergleichen und zu ſchlieſſen, macht einen Theil ſeiner Vernunft aus. Die - ſen Theil muß er anwenden, den Sinn der Offenbahrung zu erfahren. Wollte je -C 2mand36mand dieſen Theil der Vernunft bey der Schrift und bey Beurtheilung der Glau - bens-Sachen nicht gebrauchen, gewiß ſo muß ihm eine auſſerordentliche Offenba - rung geſchehen, oder er wird nie eine gruͤnd - liche Erkenntniß in den Lehren der Schrift erlangen. Man muß ſich aber hiebey ja kein Verzeichniß von gewiſſen weit herge - holten Saͤtzen machen, uͤber welche man ſchreibt: Die Saͤtze koͤnnen und muͤſſen in der Schrift nicht ſtehen, und was ſelbige zum Voraus ſetzet, muß auch darinne nicht zu finden ſeyn. Es heiſſet dieſes, wie wir oben §. VII. bewieſen, nichts anders, als: Jch bin der eintzige weiſe Mann, der keine irrige Saͤtze hat. Alle meine Gedancken ſind richtig. Der Geiſt GOttes kan alſo unmoͤglich anders dencken, wie ich. Was derowegen mit meinen Meynungen nicht uͤbereinſtimmet, kan in ſeinen Offenbarun - gen nicht ſtehen. Sollte derjenige wohl nicht mit Recht einer kleinen Raſerey koͤn - nen beſchuldiget werden, der ſo dencket? Diejenige Haupt-Regel, deren ich mich bey Erklaͤrung der Schrift bediene, iſt dieſe: Jch bemuͤhe mich, ſo viel mir nur immer moͤglich iſt, mich in die Umſtaͤnde derer zuſetzen,37ſetzen, unter welchen die goͤttlichen Offen - barungen zuerſt ſind gemein gemacht wor - den. Jch mache mir ihre Sprache, ihre Geſchichte, Meynungen, Sitten und Ge - braͤuche, ſo viel moͤglich, bekannt, und frage alsdenn: Was fuͤr Gedancken wuͤrdeſt du in jener Umſtaͤnden mit dieſen und jenen Worten der Offenbarung verknuͤpft ha - ben? Und wenn ich denn finde, dieſes und jenes wuͤrde ich bey dieſem und jenem kla - ren Ausdruck gedacht haben, ſo halte ich ſolches fuͤr den echten Sinn der Offenba - rung, er mag ſich uͤbrigens mit meiner Phi - loſophie reimen oder nicht. Wir halten ja dieſes fuͤr die rechte Haupt-Regel, nach welcher andere Schriften zu erklaͤren, war - um ſoll ſie denn bloß bey der Offenbarung hinweg fallen?

§. XV.

Was heraus kommt, wenn man feſteWie weit ſie nicht zu gebrau - chen? ſetzet, was mit unſerer Philoſophie ſtreitet, muß in der Offenbarung nicht ſtehen, und hergegen, was mit derſelben uͤberein ſtimmet, muß dar - inne enthalten ſeyn, koͤnnen uns die Kirchen-Geſchichte durch alle Jahrhundert lehren. Alle Jahrhundert ſind gewiſſeC 3Saͤtze38Saͤtze aus der Offenbarung heraus ge - worfen und neue hinein geſetzt worden. Ein jeder hat die Worte der Schrift ſo lange gezerret, bis er ſeine Philoſophie dar - inne gefunden. Wir fuͤhren nur ein Ex - empel an. Wie ſind nicht die Gnoſticker in den erſten Zeiten des Chriſtenthums mit der Heil. Schrift umgegangen? als ſie feſt ſetzten, ihre Philoſophie ſey die rechte, und was mit ſelbiger ſtreite, muͤſſe in der Of - fenbarung nicht ſtehen. Nach ihrer Ver - nunft war die Materie, und folglich alle Coͤrper boͤſe und eine Quelle des Boͤſen. Der Coͤrper des Menſchen war ein Ge - faͤngniß, in welches die Seele nur zur Mar - ter geſteckt. Hieraus ſchloſſen ſie: Chri - ſtus kan unmoͤglich einen Coͤrper gehabt haben, ſondern ſein Leib muß nur ein Phan - tasma, eine Larve eines Coͤrpers geweſen ſeyn. Er iſt folglich auch nicht wahrhaf - tig gecreutziget. Die Ehe iſt zu verwerf - fen. Denn aus ſelbiger werden Coͤrper erzeuget. Die Auferſtehung der Leiber iſt nichts. Ehe ſie nun die Schrift laſen, war ſchon feſt geſetzt: was dieſer Philoſo - phie widerſpricht, muß in den heiligen Buͤ - chern nicht ſtehen. Und wenn gleich diedeut -39deutlichſten Worte vorhanden, die einen andern Sinn recht erzwingen, ſo muſten ſie ſo lange gedrehet werden, bis ſie mit dieſer Philoſophie uͤberein ſtimmten. Wie fein iſt nicht dieſe Art die Schrift zu erklaͤren? Es bluͤhet aber dieſe Art zu erklaͤren noch bis auf den heutigen Tag.

§. XVI.

Aus dem, was bisher geſagt worden,Weitere Ausfuͤh - rung des vorigen. ſchlieſſe man, wie weit dieſe Regel zu ge - brauchen: Was mit der Vernunft ſtreitet, kan in der Offenbarung nicht ſtehen, und eine Erklaͤrung, ſo einem Satz der Vernunft zuwider iſt, kan nicht die rechte ſeyn. Es iſt dieſer Satz in einem gewiſſen Verſtande richtig, in einem andern aber nicht. Wenn dieſer Satz alſo eingeſchraͤncket wird: Was mit der wahren Vernunft ſtreitet, kan in der Schrift nicht befindlich ſeyn, und eine Erklaͤrung die wahr - haftig einen wahren Satz der Ver - nunft auf hebet, kan nicht die rechte ſeyn, ſo hat er ſeine voͤllige Richtigkeit, aber er iſt wenig brauchbar. Wer ihn in ſeiner voͤlligen Ausdehnung, in welcher erC 4genom -40genommen wird, brauchen will, muß erſt ausmachen, wer unter ſo vielen Philoſo - phen, von ſo viel tauſend Jahren her, von welchen kein einiger mit dem andern voͤllig uͤberein geſtimmet, die wahre Vernunft und nichts als wahre Saͤtze derſelben beſitze. Denn da keiner mit dem andern voͤllig ei - nig iſt, ſo muß entweder nur ein einiger ſeyn, der in allen ſeinen Meynungen die wahre Vernunft hat, oder es muß kein ei - niger unter ihnen eine in allen Stuͤcken wahre Vernunft beſitzen. Jſt dieſes letz - tere, ſo muß, ehe jemand obige Regel brau - chen kan, ausgemacht werden, welche Saͤ - tze bey einem jeden mit voͤlliger Gewißheit als Wahrheiten einer reinen Vernunft koͤnnen angeſehen werden. Denn es wird in dieſem Falle als gantz gewiß angenom - men, daß ein jeder Menſch Jrrthuͤmer ha - be. Wie viel ſind aber derjenigen Wahr - heiten, von deren voͤlligen Gewißheit jemand recht verſichert ſeyn kan? Aus dem, was oben §. IX. u. f. geſaget worden, kan ein jeder leicht abnehmen, daß derſelben gewiß ſehr wenig ſind. Es wird dannenhero obige Grund-Regel noch ſehr muͤſſen ein - geſchraͤnckt werden, ehe ſie brauchbar wird. Wollte41Wollte aber jemand annehmen, es ſey je - mand, deſſen Vernunft von unerkannten Jrrthuͤmern gantz rein waͤre, ſo frage ich, wer iſt denn derjenige? Es wird zwar kei - ner von den Philoſophen ſo unverſchaͤmt ſeyn, und ſagen: Er ſey es. Jn der That aber ſetzt mancher bey dem Gebrauch obi - ger Grund-Regel zum Voraus, er ſey der - jenige, der alle andere Philoſophen uͤberſehe, und ſeine Saͤtze ſeyn lauter Wahrheiten einer reinen Vernunft. Bey einem ſol - chen aber hat obige Grund-Regel folgende Bedeutung: Was mit ſeiner Ver - nunft ſtreite, koͤnne in der Schrift nicht ſtehen, und eine Erklaͤrung, die ſeinen Saͤtzen widerſpreche, ſey falſch. Jſt aber dieſer Ausſpruch zu ertragen? Wer ſelbigen gebraucht, erhebt ſich derſel - be nicht uͤber alle Menſchen, und macht ſich zu dem einigen, welcher eine reine Ver - nunft beſitzet? Sollten ſich die Weiſen nicht ſchaͤmen einen ſolchen Satz anzu - nehmen?

§. XVII.

Soll derowegen obige Grund-RegelFortſe - tzung eben deſſelben. brauchtbar werden, ſo muß man ſie folgen - der Geſtalt einſchraͤncken: Was mitC 5ſolchen42ſolchen Saͤtzen wahrhaftig ſtreitet, auf deren voͤllige Gewißheit ein Menſch ſich ohne alle Furcht zu irren verlaſſen kan (ſiehe §. IX. u. f.) Das kan in der goͤttlichen Offenbarung nicht ſtehen: und eine Erklaͤrung, welche wahrhaftig einen ſolchen Satz auf hebet, kan die rechte nicht ſeyn. Jn dieſer Einſchraͤnckung iſt ſie richtig, denn keine Wahrheit kan die andere auf - heben. Und unter dieſer Beſtimmung iſt ſie brauchbar. Doch aber iſt noch ein ander Umſtand, der ihren Gebrauch unge - mein enge einſchraͤncket. Wenn man dieſe Regel zu dem erſten Vorderſatz eines Schluſſes machen will, ſo muß der zweyte alſo lauten: Dieſes und jenes ſtreitet wahrhaftig mit einer voͤllig gewiſſen Wahrheit der Vernunft; dieſe und jene Erklaͤrung hebt wahrhaftig ei - ne Wahrheit auf. Und hieraus kan denn erſt der Schluß hergeleitet werden: Dieſes und jenes kan in der Schrift nicht ſtehen: Dieſe und jene Erklaͤrung iſt falſch. Allein wie vielen Schwuͤrig - keiten iſt der Beweiß des zweyten Vorder - ſatzes unterworfen, und wie leicht laͤſſet ſichder43der menſchliche Verſtand uͤbereilen etwas fuͤr einen wahrhaften Widerſpruch anzu - nehmen, was doch keiner iſt, beſonders, da man bisher noch keine Merckmale ange - geben, durch welche man einen Schein - Widerſpruch, ehe er aufgeloͤſet wird, von einem wahren Widerſpruche unterſcheiden koͤnnte. Wie oft ſich Gelehrte hiebey ver - gangen, beweiſet abermals ſo wohl die Philoſophiſche als Kirchen-Geſchichte. Man hat aus gewiſſen unleugbaren Wahr - heiten ſolche widerſprechende Saͤtze gezo - gen, welche man erſt nach vielen hundert Jahren hat aufheben koͤnnen. Zum Ex - empel moͤgen dienen die Widerſpruͤche, welche Zweifler aus dieſer Wahrheit gezo - gen: Es giebt Bewegungen, und wel - che man in des Bailen Woͤrter-Buche unter dem Artickel Zeno finden kan. Wenn darf man voͤllig trauen, daß der eine Satz dem andern wahrhaftig widerſpreche? Meiner Einſicht nach ſehr ſelten. Denn ich hoffe, ich werde nicht viel Gegner fin - den, wenn ich behaupte, daß die mehreſten Widerſpruͤche, die ein Gelehrter dem an - dern vorwirft, mehrentheils Wortſtreite und unrichtige Folgerungen ſind. Soll -ten44ten wir nicht ein gleiches muthmaſſen muͤſ - ſen, bey den Widerſpruͤchen, ſo aus man - chem klaren Ausſpruche der Schrift her - geleitet worden? Jch meines Theils halte nichts mit voͤlliger Gewißheit fuͤr einen wahren Widerſpruch, es ſey denn, daß der - ſelbe ſich auf eine gantz deutliche Art ohne viele und kuͤnſtliche Folgen zeige. Miſchen ſich vielerley Begriffe und Erklaͤrungen und Saͤtze, die weit muͤſſen hergeholet wer - den, in den Beweiß des Widerſpruches, ſo traue ich ſeiner Richtigkeit nicht viel zu, und ſetze ihn gewiß klaren Ausſpruͤchen be - glaubter Zeugen nicht entgegen. Wie vielmal man bey ſolchen Widerſpruͤchen betrogen werde, kan man bloß in dem ge - meinen Leben abnehmen; oft glaubt man dieſes und jenes koͤnne unmoͤglich geſchehen ſeyn, und es iſt doch geſchehen. Aus al - len dieſen erhellet, wie ich meyne, hinlaͤng - lich, daß der Gebrauch der obigen Grund - Regel, welcher ſich heutiges Tages ſo ſehr weit erſtrecket, bey einem Weiſen, der ſich und die menſchlichen Wiſſenſchaften ken - net, gar enge Schrancken habe. Es iſt noch eine Urſach vorhanden, die mich ſehr furchtſam macht, von klaren Ausſpruͤchender45der Schrift zu ſagen, daß ſie der wahren Vernunft widerſprechen und folglich ſo muͤſſen gedrehet werden, daß ſie mit ſelbi - ger uͤbereinſtimmen. Wie leicht irren wir? Und wenn wir uns in einem ſolchen Urtheil uͤbereilet, was haben wir alsdenn gethan? Wir haben eine goͤttliche Wahr - heit die der Weiſeſte heilig haͤlt, fuͤr ab - geſchmackt, fuͤr thoͤrigt erklaͤret. Wie em - pfindlich iſt es aber uns, wenn jemand von unſern Saͤtzen ein ſo hartes Urtheil faͤllet? Sollte man derowegen nicht behutſamer ſeyn, bey Beurtheilung ſolcher Worte, die ein goͤttliches Anſehen haben. Jch wuͤn - ſche lieber zu ſterben als mich ſo zu verge - hen, und eine einige Wahrheit der ewigen Weisheit unter abgeſchmackte Thorhei - ten eines tummen Verſtandes zu ſetzen.

§. XVIII.

Man wird mich fragen, wie ich es dennWas zu thun, weñ unſere Vernunft und die Offenba - rung mit einander ſtreiten? anfange, wenn ich einen gewiſſen Satz meiner Vernunft, welchen ich fuͤr wahr halte, mit einem deutlichen Ausſpruche der Schrift nicht reimen koͤnne. Jch muß hierauf eine ſolche Antwort geben, welche den Leſer, wenn er muͤde worden, wiedermunter46munter machen, und vielleicht zu einem Ge - laͤchter uͤber mich bewegen wird. Jch glaube in einem ſolchen Falle entweder, daß meine Vernunft irret, oder ich hal - te beyde Saͤtze fuͤr wahr, ob ich gleich ihre Ubereinſtimmung nicht erreichen kan. Und zwar habe ich ſo viel Hochachtung nicht etwan bloß fuͤr die Ausſpruͤche der Offenbarung, ſondern auch fuͤr ein jedes klares Zeugniß eines andern glaubwuͤrdi - gen Mannes. Man wird dencken, mein Kopf ſey voll von widerſprechenden Din - gen, indem ich oben geſagt, mein inneres Gefuͤhl zwinge mich den Satz anzuneh - men, es koͤnne kein Ding zugleich ſeyn und nicht ſeyn, hier aber ſage ich, daß ich zwey einander widerſprechende Dinge zu - gleich als wahr annehmen koͤnne. Jch antworte aber, daß ich nicht glaube, daß in ſolchen Dingen, als ich jetzt ge - meldet, ein wahrer Widerſpruch ſey, ſondern ich ſehe ſie an als Dinge, die einander ſcheinen zu widerſprechen, de - ren Widerſpruch ich zwar nicht heben koͤnne, aber vielleicht dereinſten einmal von einem andern werde aufgeloͤſet wer - den. Denn eine ſo hohe Meynung habeich47ich von der Schaͤrfe meines Verſtandes nicht, daß ich den Schluß machte: Ein jeder Widerſpruch, den ich nicht loͤſen kan, iſt ein wahrer Widerſpruch. Wie viel groſſe Leute haben ſich durch dieſen hohen Gedancken auf die groͤſten Thor - heiten verleiten laſſen? Wie viel Wi - derſprechendes hat man ſonſt nicht in der beynahe Kugel - runden Form der Er - de, ingleichen in der Bewegung derſel - ben um die Sonne gefunden? Und wer kan alle diejenigen, welche daſſelbe nicht haben aufloͤſen koͤnnen, eines bloͤden Ver - ſtandes beſchuldigen? Jndeſſen ſind nach und nach alle die Zweifel gehoben, wel - che ſonſt den Witzigſten zu ſchwer wa - ren. Kan es uns mit andern Dingen nicht eben ſo gehen? Wie widerſinnig ſchien nicht noch vor kurtzer Zeit den meh - reſten Gelehrten die Meynung, daß mehr groſſe Behaͤlter von belebten Geſchoͤpfen in der Welt waͤren, als unſer kleines Erd-Puͤnctgen? Jetzo aber erſtaunt man ſchon uͤber diejenigen, welche ſich koͤnnen einbilden, daß in der unermeßlichen Wei - te der Welt und unter den unzaͤhlbaren groſſen Coͤrpern derſelben nur dieſe ein -tzige48tzige Erde, ein Punct gegen die uͤbrige Welt, lebendige Creaturen ernehren ſol - le. Und wie viel Exempel koͤnnte ich an - fuͤhren? Da die folgenden Zeiten Din - ge gereimt, welche vorher faſt jedermann widerſinnig geſchienen. Sollten wir denn nun ſchon diejenige Weißheit er - reicht haben, welche die Ubereinſtim - mung aller Dinge uͤberſehen koͤnnte? Ein groſſer Theil meiner Leſer wird aufhoͤren mich zu verlachen, daß ich Dinge neben einander glauben kan, deren Wider - ſpruch aufzuheben nicht in meinem Ver - moͤgen, wenn ich ihnen beweiſe, daß ſie eben dergleichen thun. Meine Leſer ſchlagen einmal die Gruͤnde nach, wel - che die alten Zweifler wider die Bewe - gung vorgebracht, welche ſie in des Bai - len Woͤrter-Buch unter dem Artickel Zeno finden. Jch weiß gewiß, alle die - jenigen, welche ſich nicht in der Mathe - matick wohl umgeſehen, ſind nicht im Stande dieſe Zweifel zu heben. Ein ſcharfſinniger und groſſer Thomas hat zwar uͤber ſelbige gelacht, ſie aber gantz gewiß nicht aufgeloͤſet. Jedoch werden alle diejenigen Leſer, welche nicht imStande49Stande dasjenige Wiederſinnige ſo je - ne aus der Bewegung herleiten, auf - zuheben, bey der gewiſſen Meynung blei - ben, daß ſie und andere Dinge ſich be - wegen. Dieſe aber werden denn we - nigſtens ſo beſcheiden, wo nicht gegen mich, doch gegen ſich ſelber ſeyn, und mich deßwegen nicht unter die verwirr - ten Geiſter rechnen, weil ich in gewiſ - ſen Faͤllen Dinge glaube, deren Wi - derſpruch ich nicht heben kan. Dieſe Faͤlle aber ſind folgende. Wenn mich bey geſunden Tagen und gehoͤriger Uber - legung die Sinne oder aber ein recht beglaubtes Zeugniß eines verſtaͤndigen und behutſamen Mannes von einer Sache uͤberfuͤhret, und meine Vernunft hat andere Saͤtze, die ich damit nicht reimen kan, ſo glaube ich, daß entwe - der die letztern Saͤtze meiner Vernunft falſch, oder daß ich die Ubereinſtimmung derſelben mit jenen wegen annoch un - bekannter Umſtaͤnde nicht einſehe. Wenn ferner beyde von zween Saͤtzen, die einander aufzuheben ſcheinen, gantz leich - te und deutliche Beweiſe der Vernunft vor ſich haben, wo ich in beyden Be -Jacobi Betr. 2. Band. Dwei -50weiſen keinen Fehler finden kan, ſo dencke ich gleichfalls: Vielleicht ſind beyde wahr, und ein noch unbekannter Umſtand macht, daß du ihre Uberein - ſtimmung nicht begreifeſt. Und nicht ſelten habe ich beſonders in den gemei - nen Vorfallenheiten des Lebens den Umſtand entdeckt, der mir die Verbin - dung zweener widrig-ſcheinenden Dinge klar gemacht.

§. XIX.

Wahrer Endzweck und Werth der folgen - den Be - trachtun - gen.

Jndeſſen kan ich nicht leugnen, daß ich weit vergnuͤgter bin, wenn ich in den Saͤtzen, welche ich als wahr an - nehme, keinen Widerſpruch bemercke, ſondern ſelbige mit einander verbinden kan. Jch bin daher auch weit geruhi - ger, wenn ich meine Philoſophie und die klaren Zeugniſſe der goͤttlichen Offenba - rung mit einander in eine angenehme Ubereinſtimmung zu ſetzen vermag. Denn ich bin gar nicht in Abrede, daß ich ge - gen meine natuͤrliche Einſicht diejenige zaͤrtliche Liebe habe, die ein Vater ge - gen ſein Kind heget, und die Gefangen -nehmung51nehmung meiner Vernunft unter den Gehorſam des Glaubens geſchiehet nicht ohne Widerſtand. Wenn es mir de - rowegen immer moͤglich, ſo ſuche ich die Saͤtze meiner Vernunft mit den Saͤtzen der Offenbarung zu verknuͤpf - fen. Und dieſes iſt unter andern der Endzweck dieſer Betrachtungen. Mei - ne Bemuͤhungen gehen dahin, daß ich moͤge Schrift und meine Vernunft mit einander vereinigen. Es geſchiehet dieſes aber nicht dergeſtalt, daß ich meine Philoſophie in die Schrift hin - ein trage und feſt ſetze, der Geiſt GOt - tes koͤnne nicht anders dencken, wie ich. So ſehr bin ich nicht in mich ſelbſt verliebt, und ſo hohe Gedancken ſind ferne von mir. Sondern, wenn ich den Sinn der Schrift zu erforſchen ſuche, ſo werfe ich meine Philoſophie weg, ſo viel mir nur immer moͤglich, um die Worte des Geiſtes wenigſtens eben ſo unpartheyiſch zu unterſuchenD 2als52als die Worte eines Livius oder Cicero. Einer gantz vollkommenen Unpartheylichkeit ruͤhme ich mich zwar nicht. Denn ich erinnere mich immer deſſen, was ich von den beyden beruͤhm - ten und ungemein ehrlichen Lehrern der Jeniſchen hohen Schule, dem nunmehr ſeligen Stollen und dem noch bluͤhen - den Herrn Reuſch, an welche ich nie ohne eine kindliche und recht zaͤrtliche Ehr - erbietung gedencke, gehoͤret habe, daß nemlich ſich niemand leicht einbilden ſolle, er ſey bey einer Sache voll - kommen unpartheyiſch. Jndem ich aber dieſes weiß, ſo bemuͤhe ich mich doch, mich in eine ſolche Unpartheylich - keit zu ſetzen, als nur immer bey mei - nem eingeſchraͤnckten Verſtande moͤglich iſt. Und wenn ich denn auf ſolche Weiſe, wenigſtens meiner Meynung nach, den wahren Sinn der Schrift ge - funden habe, ſo verſuche ich, ob ich den - ſelben mit der Vernunft verbinden koͤn -ne.53ne. Dieſe Vernunft aber, damit ich auch hierinne offenhertzig ſey, iſt in den mehreſten Stuͤcken diejenige, welche in dieſem Jahrhundert vor andern Mode iſt. Haͤtte ich vor hundert Jahren gelebt, ſo wuͤr - de ſie anders ausgeſehen haben, und leb - te ich nach hundert Jahren, ſo wuͤrde ſie wieder anders geſtaltet ſeyn. Mein Urtheil von dieſen meinen eigenen Be - trachtungen iſt derowegen dieſes, die ge - offenbarten Wahrheiten, ſo darinnen ſind, werden in alle Ewigkeit bleiben. Wie viel Saͤtze meiner Vernunft aber zu der Kette der ewigen Wahrheiten ge - hoͤren, weiß ich ſelber nicht, und laſſe ſolches dahin geſtellet ſeyn, bis ich in die Geſellſchafft derjenigen Weiſen gelange, deren Wiſſen kein Stuͤckwerck mehr iſt. So lange gedulde dich auch, mein Leſer, und bleib indeſſen den redlichen Abſichten des Verfaſſers gewogen.

Zum Beſchluß muß nur noch erinnern, daß alle dieſe Betrachtungen von mir auf -D 3geſetzet,54geſetzet, als ich noch Prediger zu Oſterode am Hartz war, und zwar die beyden er - ſten im Jahr 1743. und die beyden letz - tern in dem Winter 1744. Es iſt wegen verſchiedener hiſtoriſchen Umſtaͤnde, ſo in den Betrachtungen vorkommen, noͤ - thig, daß dem Leſer ſolches bekannt ſey. Hannover den 10. Februar 1745.

Die
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Die Zehnte Betrachtung uͤber Die weiſe Abſicht GOttes bey dem Zeichen Jeſaiaͤ Cap. 7, v. 14. 15. 16.

§. 1.

ES iſt bekannt, wie viele Schwuͤ -Einlei - tung. rigkeiten die Ausleger der heiligen Schrifft bey dem Zeichen finden, ſo GOtt Jeſ. Cap. 7, v. 14. u. f. verſpricht. Es wird ihnen ſehr ſchwer zu begreiffen, wie eine auf etliche hundert Jahr entfernte Sa - che ein Zeichen in der gegenwaͤrtigen Zeit abgeben, und die Menſchen, welche eine groſſe Gefahr in ihrem Glauben wanckend und von GOtt abwendig macht, von deſſen weiſen und maͤchtigen Vorſehung kraͤftig uͤberzeugen und zu ihm zuruͤck fuͤhren koͤnne. Verblendet uns kein Vorurtheil, ſo liegenD 4alle56alle die Schwuͤrigkeiten, welche zu heben ſich ſo viele groſſe Maͤnner die Muͤhe gege - ben, nicht im Texte oder in der vorgetrage - nen Sache, ſondern darinne, daß man die wahre Abſicht dieſes Zeichens nicht gnug - ſam vor Augen gehabt. Bemercket man ſelbige, wie ſie denn unſerm Beduͤncken nach gantz deutlich im Texte und in der Sa - che ſelber vor Augen lieget, ſo fallen alle Schwuͤrigkeiten hinweg, welche die Ausle - ger auf ſo mancherley Gedancken gefuͤhret; und man wird ein nahes und zur Sache ſich ſehr wohl ſchickendes Zeichen finden, wel - ches zum Theil noch viele von den damals lebenden Buͤrgern Jeruſalems geſehen, und dadurch uͤberzeuget worden ſind, daß der HErr GOtt ſey und ſonſt keiner auſſer ihm. Der Leſer laſſe ſich durch dieſes Wort nicht wider mich aufbringen, und dencke nicht, daß ich auf ſolche Weiſe dasjenige von je - mand anders erklaͤren werde, was Mat - thaͤus auf Chriſtum deutet.

Es wird dieſes von mir nicht geſchehen. Will ſich der Leſer die Muͤhe geben, und dieſe Betrachtung gantz durchleſen, ſo wird er finden, daß ich hierinne von den Lehrern unſerer Kirche nicht abweiche; dennochaber57aber ein gantz nahes Zeichen angebe, wo - durch GOtt dem damaligen Geſchlecht ge - wieſen, daß er GOtt ſey.

§. 2.

Zufoͤrderſt muͤſſen wir diejenige Ge -Veranlaſ - ſung zu dieſem Zei - chen. ſchichte erzehlen, welche zu der Verheiſſung dieſes goͤttlichen Zeichens Anlaß gegeben, damit wir daraus die wahre Abſicht deſſel - ben erreichen. Ahas, Koͤnig in Juda, wurde von Rezin Koͤnige in Syrien und Pekah dem Koͤnige Jſraels mit Krieg uͤber - zogen. Sie waren gluͤcklich und machten in Juda eine groſſe Niederlage, ſo daß auch ein Printz des Koͤniges, und einige ſeiner Vornehmſten blieben. 2. Chron. Cap. 27, v. 5. 6. 7. Cap. 28, v. 5. u. f. 2. B. der Koͤn. Cap. 16, v. 5. 6. GOtt verhieng dieſes Schickſal uͤber Ahas und Juda, weil ſie ihn verlieſſen und falſchen Gottheiten nachlief - fen. Sie haͤtten hiebey den Exempeln ih - der Vorfahren folgen, und ſich wieder zu dem einigen und allein lebenden GOtt wen - den ſollen. Allein Ahas ſuchte Huͤlffe und Schutz bey Menſchen, nemlich bey dem Koͤnige zu Aſſyrien, dem Tiglath Pilleſſer, und das auf eine niedertraͤchtige Art. Er erklaͤrte ſich fuͤr einen Knecht und Sohn desD 5Aſſyri -58Aſſyriſchen Koͤniges, wenn er ihm zu Huͤlffe kaͤme. Er beraubte das Haus des HErrn, und ſchickte aus demſelben Gold und Sil - ber an den Tiglath Pilleſſer. 2. Koͤn. Cap. 16, v. 7. 8.

Es konnte dieſes Buͤndniß unmoͤglich dem weiſeſten Regierer der Welt gefallen. Denn erſtlich hatte es ſeinen Grund in ei - nem tadelhafften Mißtrauen gegen denje - nigen GOtt, der den Juden die theuerſten Verheiſſungen gethan, und ſie ſchon ſo viel - mal aus der Hand ihrer Feinde errettet oh - ne Huͤlffe heidniſcher Voͤlcker, mit welchen die Juden gar keine vertraute Gemein - ſchafft haben ſollten. Zweytens war alſo dieſes Buͤndniß wider denjenigen Befehl GOttes, worinne er ſeinem Volcke unter - ſagt mit heidniſchen Voͤlckern und ihren Goͤttern einen Bund zu machen. Man leſe dieſes Geſetze 2. B. Moſ. Cap. 23, v. 32. und an andern Orten mehr. Es iſt hier zwar eigentlich die Rede von den Einwoh - nern Canaans, und die Buͤndniſſe mit ſel - bigen werden ihnen unterſagt. Wer aber die beygefuͤgte Urſach und Abſicht dieſes Geſetzes betrachtet, wird leicht finden, daß ſich dieſes Verboth auf alle Buͤndnuͤſſe mitden59den Heiden erſtrecket. Die Urſach dieſes Verbothes heiſſet am angezogenen Orte v. 33. daß ſie dich nicht verfuͤhren wider mich.

Dieſe boͤſe Folge aber hat ſich auch ins beſondere bey dem Buͤndniſſe gefunden, welches Ahas mit dem Koͤnige zu Aſſyrien gemacht. 2. B. der Koͤn. Cap. 16. v. 10. u. f. 2. Chron. Cap. 28. v. 20-25. Und da der Allwiſſende ſolches vorher geſehen, ſo kan er unmoͤglich an dieſem Bunde Gefallen ge - habt haben, ſondern es muß nothwendig wi - der ſeinen Willen geweſen ſeyn. Man le - ſe hiebey Jeſ. Cap. 30. 31. Am wenigſten konnte dieſer Bund dem HErrn genehm ſeyn, da er drittens noch dazu auf eine hoͤchſt unanſtaͤndige Art gemacht wurde. Ahas beraubte den Tempel des HErrn, und machte an einen heidniſchen Koͤnig Geſchen - cke davon. Wie konnte ſolches dem hei - ligſten GOtt gefallen, daß man dergleichen aus Mißtrauen gegen ſeine Treue unter - nahm? Jn dieſen Umſtaͤnden ſandte der HErr den Propheten Jeſaias zum Koͤnige Ahas, daß er ihm moͤchte ſeine unnoͤthige Furcht und Mißtrauen gegen den lebendi - gen GOtt benehmen, Jeſ. Cap. 7. v. 3. u. f. Wer muß hieraus nicht den Schluß ma -chen,60chen, daß hiebey die vornehmſte Abſicht GOttes geweſen, den Ahas von dem nie - dertraͤchtigen und ſchaͤdlichen Buͤndniſſe mit den Aſſyrern abzuziehen, um bloß von ſeiner Allmacht Huͤlffe zu erwarten? Ja wir doͤrffen dieſes ohne Furcht zu irren anneh - men. Wer Jeſ. Cap. 7. v. 17. 20. Cap. 8. v. 8. lieſet, wird hiebey keinen Zweiffel uͤbrig behalten.

§. 3.

Das gege - bene Zei - chen iſt kein Gna - denzeichen.

Die Guͤte des Hoͤchſten, welche alles zum Heyl der Menſchen thut, damit ſie nie - mand der Nachlaͤßigkeit anklagen kan, ließ ſich auch in dieſer Angelegenheit ſo weit her - unter, daß ſie dem Ahas frey gab ein Zei - chen von der Allmacht zu fordern; dadurch er ſein wanckendes Gemuͤth aufrichten und in dem Vertrauen zu dem lebendigen GOtt ſtaͤrcken koͤnnte. Aber er ſuchte den Je - ſaias mit einer guten Manier abzuweiſen. Er ſtellete ſich, ob haͤtte er zu viel Hochach - tung vor GOtt, als daß er deſſen Worten nicht trauen, ſondern ein Zeichen fordern ſolte. Es wuͤrde ſolches nichts anders als eine ſtrafbare Verſuchung des Hoͤchſten ſeyn. Damit die Groͤſſe dieſer verwege -nen61nen Spoͤtterey und recht groben Heucheley kund werde; ſo leſe man was er gethan, als ihm Tiglath Pilleſſer zu Huͤlffe kom - men und die Reſidentz des Koͤniges zu Sy - rien erobert hatte. Er zog zu dem Tiglath Pilleſſer nach Damaſcus, und als er da - ſelbſt einen heidniſchen Altar fand, ſandte er das Ebendbild deſſelben nach Jeruſalem und ließ daſelbſt durch den Prieſter Uria eben ei - nen ſolchen Altar aufrichten, und hernach auf ſelbigen den Goͤtzen opffern. 2. Buch der Koͤn. Cap. 16. v. 10. u. f. Und als er zu ei - ner andern Zeit den Goͤttern der Heyden zu Damaſcus opfferte, ſprach er dieſe un - beſonnenen Worte: Die Goͤtter der Koͤ - nige zu Syrien helffen ihnen; darum will ich ihnen opffern, daß ſie mir auch helffen. 2. Chron. Cap. 28. v. 23. Dieſer Goͤtzen - Diener ſpricht anjetzt: Jch will kein Zei - chen von dem HErrn fodern, ich moͤchte ihn verſuchen. Jn der That aber trauete er dem Hoͤchſten nicht, und hielt die Huͤlffe des Aſſyriſchen Koͤniges fuͤr ſicherer, als die Huͤlffe des lebendigen GOttes. Dero - wegen ſuchte er nur durch dieſe Heucheley dem Jeſaias von der Seite zu kommen, und ſeinen Bund mit dem Tiglath Pilleſſerzu62zu befeſtigen. Hierauf ſpricht nun der Prophet: Wolan, ſo hoͤret ihr vom Hauſe David, iſts euch zu wenig, daß ihr die Leute beleidiget, ihr muͤſſet auch meinen GOtt be - leidigen? Darum ſo wird euch der HErr ſelbſt ein Zeichen geben. Wer dieſes mit der vorhergehenden Geſchichte zuſammen haͤlt und in ſeiner gantzen Verbindung be - trachtet, der urtheile, ob bey dieſer letzten Rede des Propheten ein Zeichen der nechſt bevor ſtehenden Errettung von dem Retzin und Pekah zu vermuthen ſtehe? als wel - che (man bemercke dieſes beſonders) wuͤrck - lich durch den Tiglath Pilleſſer iſt erhalten worden. 2. Buch der Koͤnige Cap. 16. v. 9. Sollte dieſes ſeyn, ſo muͤſte der Sinn dieſer letztern Worte des Propheten, wenn man ihn nach den gegenwaͤrtigen Umſtaͤnden weitlaͤufftig ausdruͤcken wollte, dieſer ſeyn: Jhr halsſtarrigen und boͤſen Leute, ihr beleidiget nicht nur Menſchen, ſon - dern lehnt euch ſo gar wider den leben - digen GOtt auf, und verwerffet deſſen Huͤlffe und Schutz. Es iſt ihm entge - gen, daß ihr mit dem Tiglath Pilleſſer einen Bund machet, und er will euch ohne deſſen Huͤlffe von der Hand eurerFeinde63Feinde erretten. Er biethet euch ein ſelbſt zu erwehlendes Zeichen an, daß er euch alleine helfen wolle und koͤnne, damit ihr aus Aſſyrien keine Huͤlffe holet, ſondern euch allein dem allmaͤch - tigen GOtt Himmels und der Erden anvertrauet. Allein ihr wollet nicht. Jhr verwerffet dieſe Guͤte des HErrn auf eine ſehr ſpoͤttiſche Art, und lauffet doch hin zu dem Koͤnige der Aſſyrer. Nun wolan, ſo will ich euch dennoch ein Zeichen geben, daß ihr werdet aus der jetzigen Gefahr errettet werden, und zwar durch euren Bund, den ihr mit dem Tiglath Pilleſſer machet. Jch will euch ein Zeichen geben, daß ſelbiger kommen, Damaſcus erobern und den Retzin toͤdten werde.

Dieſes muͤſte nothwendig der Sinn der angefuͤhrten Worte des Propheten ſeyn, wenn die Abſicht GOttes geweſen, hier ein Zeichen der nechſt bevorſtehenden Erret - tung zu geben. Denn ſelbige iſt wuͤrcklich durch des Tiglath Pilleſſers Huͤlffe erhal - ten worden. Waͤre aber darinne wohl ein vernuͤnftiger Zuſammenhang und einegoͤtt -64goͤttliche Weisheit anzutreffen? Meiner Einſicht nach keinesweges. Denn es hieſ - ſe dieſes nichts anders, als:

Jch habe euch ein Zeichen angebo - then, um euch von dem Koͤnige der Aſ - ſyrer abzuziehen. Dieſes aber habt ihr auf eine unanſtaͤndige und hoͤniſche Art verworffen. Derowegen will ich euch ein Zeichen geben, daß ihr durch die geſuchte Huͤlffe des Tiglath Pilleſ - ſers werdet von euren Feinden in kur - tzem befreyet werden. Jſt hierinne ein weiſer Zuſammenhang, und war es noͤthig, den Ahas in dem Vertrauen zu der Huͤlffe des Aſſyriſchen Koͤniges zu ſtaͤrcken? Faͤllt es nicht vielmehr bey Erwegung aller Um - ſtaͤnde in die Angen, daß die Abſicht Gottes nicht ſey ein Zeichen der bevorſtehenden Er - rettung, ſondern vielmehr ein Zeichen zu ge - ben, wodurch aller Welt kund werde, daß er der einige und lebendige GOtt, und alle menſchliche Huͤlffe, die ohne ihn geſucht werde, eitel ſey, ob gleich anfaͤnglich eine kleine Errettung erhalten werde. Man urtheile, ob ein beſſer und der Natur der Umſtaͤnde mehr gemaͤſſer Zuſammenhangda65da ſey, wenn man die Worte des Jeſaias alſo nimmt: Nun wolan ihr vom| Hau - ſe David, iſts euch zu wenig, daß ihr die Leute beleidiget, ihr muͤſſet auch mei - nen GOtt beleidigen? Jhr verlaſſet den HErrn, der euch bisher beſchuͤtzet, und verachtet das Zeichen ſeines fer - nern gnaͤdigen und maͤchtigen Bey - ſtandes, ſo er euch anbiethet, und wol - let euch auf keine Weiſe von der euch hoͤchſt nachtheiligen Verbindung mit heidniſchen Koͤnigen abrathen laſſen. Darum ſo wird euch der HErr wider euern Willen ein Zeichen geben, durch welches er kund machen wird, daß er der einige GOtt, und daß alle menſchli - che Huͤlffe ohne ihm nichts ſey.

Der verſtaͤndige Leſer urtheile, ob man bey den Worten des Propheten, wenn man ſie ohne Vorurtheil und in der Verbindung mit der gantzen hieher gehoͤrigen Geſchichte betrachtet, etwas anders gedencken koͤnne? Es ſcheinet mir daher deutlich zu ſeyn, daß die Abſicht GOttes hier nicht geweſen, ein Zeichen der Errettung von dem Retzin und Pekah, ſondern ſeines gerechten Zorns ge - gen den Ahas, und daß alle Huͤlffe ohne ihnJacobi Betr. 2. Band, Eeitel,66eitel, und er allein ein ſicher und allmaͤchti - ger Helffer ſey, zu geben.

§. 4.

Weitere Beſtaͤti - gung des vorigen.

Wer behaupten will, daß hier ein Gna - denzeichen der nechſt bevorſtehenden Erret - tung zu finden ſey, der muß etwas anneh - men, ſo gantz und gar wider die Ahnlichkeit der goͤttlichen Haushaltung unter den Ju - den. Eine der vornehmſten Abſichten der - ſelben war, ſie von aller Gemeinſchafft der Heiden, ſo viel nur immer moͤglich, abzuzie - hen. Wider dieſe Abſicht aber waͤre es ja ausdruͤcklich geweſen, wenn er hier den Bund, den niedertraͤchtigen Bund des Ahas mit den Aſſyrern ſo gar mit einem Zeichen, daß er ihnen wuͤrde heilſam ſeyn, beſtaͤtigen wollen. Wie will man dieſes reimen mit dem, was wir an andern Orten der Propheten gerade wider die Buͤndniſſe des Volckes GOttes mit den Aſſyrern le - ſen? Bey dem Propheten Hoſeas, welcher um die Zeiten Ahas geweiſſaget, zaͤhlet der HErr dieſes mit unter die groben u. ſtraf ba - ren Vergehungen ſeines Volckes, daß ſie bey den Aſſyrern Huͤlffe ſuchten, Hoſ. Cap. 5. v. 13. Cap. 7. v. 11. Cap. 8. v. 9. 10. Ja wenn er Jſrael zur Buſſe ermahnet, ſo for -dert67dert er ausdruͤcklich als ein Stuͤck ihrer Be - kehrung, daß ſie ſollen angeloben und ſpre - chen: Aſſur ſoll uns nicht mehr helffen. Hoſ. Cap. 14. v. 4. Jeſaias weiſſaget von einer Zeit, da ſich das Volck GOttes bekehren wuͤrde, und beſchreibet ſelbige un - ter andern alſo: Zu der Zeit werden die Uebrigen in Jſrael und die errettet werden im Hauſe Jacob ſich nicht mehr verlaſſen, auf den, der ſie ſchlaͤget (d. i. auf Aſſur); ſondern ſie werden ſich ver - laſſen auf den HErrn den Heiligen in Jſrael, in der Wahrheit Jeſ. c. 10. v. 20. Auch dieſer Ort beweiſet, wie ſehr es dem HErrn entgegen geweſen, wenn ſein Volck bey den Aſſyrern Huͤlffe geſucht. Wie ſollte nun der GOtt, welcher an ſo vielen Orten wider die Buͤndniſſe mit den Heiden, und beſonders mit den Aſſyrern eiffert, wie ſollte dieſer GOtt hier einen getroffenen Bund mit denſelben ſo gar mit einem Zei - chen beſtaͤtigen? Vielmehr laͤſſet ſich nach der Aehnlichkeit der goͤttlichen Regierung unter ſeinem Volck ein Zeichen ſeines Zorns muthmaſſen, beſonders da der 13. Vers den Zorn des HErrn ausdruͤcklich an den Tag leget. Man leſe auch Jeſ. Cap. 31. v. 1.

E 2§. 5.68

§. 5.

Jnhalt des fol - genden.

Nachdem wir alſo die eigentliche Abſicht des Zeichens, von welchem hier der HErr redet, aus dem gantzen Zuſammenhange entdecket; ſo wollen wir daraus dieſen ſchweren Ort in eine natuͤrliche Deutlich - keit zu ſetzen uns bemuͤhen. Wir wollen uns erſt um die Worte, und hernach um die Sachen bekuͤmmern. Was die Worte betrifft, ſo wollen wir von den erſten ſieben - zehn Verſen des ſiebenten Capitels eine richtige Ueberſetzung geben, doch alſo, daß wir, was nur immer thunlich, die Worte des ſeligen Luthers behalten. Diejeni - gen Worte aber, die nothwendig anders muͤſſen gegeben werden, ſollen mit groͤſſern Buchſtaben gedruckt werden, damit ein je - der gleich ſehe, wo wir von dieſem groſſen und theuren Manne, deſſen Verdienſte ge - gen die Bibel wir ungemein hoch ſchaͤtzen, abgehen. Viele critiſche Noten wollen wir nicht beyfuͤgen. Wer ſelbige haben will, der ſuche ſie in den Erklaͤrungen des Vitringa, Clercks, und anderer. Wir werden nur da einige Anmerckungen ma - chen, wo wir von gewoͤhnlichen Erklaͤrun - gen abgehen, oder wo es ſonſt unſer End -zweck69zweck nothwendig erfodert. Wenn dieſes geſchehen, wollen wir zeigen, welches das eigentliche Zeichen ſey, ſo hier der HErr dem Ahas und ſeinem Volck geben wollen; und endlich wollen wir unterſuchen, wie und warum hier die Verheiſſung des Jmma - nuels eingeſchaltet oder vielmehr vorange - ſetzet werde. Wir erſuchen den geneigten Leſer nochmals ehender nicht uͤber uns und unſere Arbeit zu urtheilen, bis er dieſe gantze Betrachtung durchgeleſen. Findet der - ſelbe aber, wenn ſolches geſchehen, etwas wieder unſere Meinungen zu erinnern, ſo ſind wir, wie allezeit, bereit, von einem je - den einen beſſern Unterricht anzunehmen.

§. 6.

Jeſ. Cap. 7.

v. 1. Es begab ſich zur Zeit Ahas, desErklaͤrung Jeſ. Cap. 7. v. 1-17. Sohns Jotham, des Sohns Uſia des Koͤ - nigs Juda zog herauf Rezin der Koͤnig zu Syria, und Pekah der Sohn Remalja, der Koͤnig Jſrael gen Jeruſalem wider ſie zu ſtreiten, konnten ſie aber nicht gewinnen, oder die doch nicht ſtarck waren, ſie zu gewinnen. (*)Jn dieſen Worten will der Prophet gleich anfangs zeigen, daß die gar zu groſſe FurchtAhas

E 370
(*)Ahas vergeblich geweſen, indem ſeiner Fein - de Macht nicht einmal ſtarck genug geweſen, Jeruſalem einzunehmen, in ſonderheit da der ſtarcke Arm des HErrn ſelbige Stadt be - ſchuͤtzen wollte. Denn der Koͤnig von Sy - rien oder Aramea, und der Koͤnig von Jſrael waren ſo gar maͤchtige Fuͤrſten nicht, und die Stadt Jeruſalem recht zu belagern war ſchon eine anſehnliche Macht vonnoͤ - then.
(*)

v. 2. Da ward dem Hauſe David an - geſagt, die Syrer verlaſſen ſich auf Ephra - im. Da bebete ihm das Hertz, und das Hertz ſeines Volckes, wie die Baͤume im Walde beben vom Winde.

v. 3. Aber der HErr ſprach zu Jeſaia: Gehe hinaus Ahas entgegen, du und dein Sohn Sear Jaſub an das Ende der Waſ - ſer-Roͤhren am obern Teich am Wege beym Acker des Faͤrbers (des Walckmuͤl - lers. (*)Warum Ahas ſich damals eben auſſer der Stadt aufgehalten, kan man allerhand Muthmaſſungen in des Vitringa Noten uͤber dieſen Vers in ſeinem Commentar. in Jeſai. leſen.

v. 4. Und ſprich zu ihm: Huͤte dich und ſey ſtille; fuͤrchte dich nicht und dein Hertz ſey unverzagt vor dieſen zween rau -chen -71chenden Loͤſchbraͤndten, nemlich vor dem Zorn Rezin ſamt den Syrern und des Sohns Remalja.

v. 5. Daß die Syrer wider dich einen boͤſen Rathſchlag gemacht haben ſamt Ephraim und dem Sohn Remalja und ſagen:

v. 6. Wir wollen hinauf zu Juda, und ſie aufwecken, (ihnen das Garaus ma - chen) und unter uns theilen, und zum Koͤ - nige darinnen machen den Sohn Tabeal.

v. 7. Denn alſo ſpricht der HErr HErr: Es ſoll nicht beſtehen, noch alſo ge - hen.

v. 8. Sondern wie Damaſcus das Haupt iſt in Syria, ſo ſoll Rezin das Haupt zu Damaſco ſeyn. Und uͤber fuͤnff und ſechzig Jahr ſoll es mit Ephraim aus ſeyn, daß ſie nicht mehr ein Volck ſeyn.

v. 9. Und wie Samaria das Haupt iſt in Ephraim, ſo ſoll der Sohn Remalja das Haupt zu Samaria ſeyn. Glaubet ihr nicht ſo bleibet ihr nicht. (*)Dieſes iſt des ſeligen Luthers Ueberſetzung von dem achten und neunten Verſe. Weil wir uns aber genoͤthiget ſehen von derſelbengantz

E 472
(*)gantz abzugehen, ſo wollen wir unſere Ueber - ſetzung beſonders herſetzen.
(*)

v. 8. Denn Damaſcus iſt immer das Haupt in Syrien geblieben, ſo daß Rezin weiter nichts als das Haupt zu Damaſcus iſt. Und das ſo gar, als noch Ephraim fuͤnff und ſechzig Jahr von dieſem Volck be - draͤnget wurde.

v. 9. Dennoch aber iſt Samaria das Haupt in Ephraim, und der Sohn Remal - ja das Haupt zu Samaria. Trauet ihr noch nicht, ſo werdet ihr nicht beſtehen. (*)Wir wollen dieſe beiden Verſe weitlaͤuffti - ger eroͤrtern. Nach der Ueberſetzung des ſe - ligen Luthers, mit welcher in der Hauptſa - che alle uͤberein kommen, die wir geleſen ha - ben, entſtehen groſſe Schwuͤrigkeiten, welche die Ausleger auf mancherley Meinungen gefuͤhret und einige dahin gebracht, daß ſie auf die Gedancken kommen, es ſey durch ei - nen Abſchreiber ein Fehler in dieſen Text kommen. Und wir ſind ſelber eine Zeitlang dieſer Meinung geweſen, und des ſehr gelehr - ten Vitringa Verbeſſerung dieſer Stelle hat uns vor andern gefallen. Weil ſie aber auch ihre Schwuͤrigkeiten hat, ſo haben wir die Worte genau angeſehen und unſerer Einſicht nach gefunden, daß es an der rich - tigen Ueberſetzung der Worte fehle. Die vornehmſte Schwuͤrigkeit entſtehet daher, daß man uͤberſetzt: Ueber fuͤnff und ſech -zig

73
(*)zig Jahr ſoll es mit Ephraim aus ſeyn, daß ſie nicht mehr ein Volck ſeyn. Der Ausgang widerſpricht dieſer Weiſſagung. Denn Ephraim oder Jſrael iſt im ein und zwantzigſten Jahre nach dieſer Weiſſagung in die Gefangenſchafft gefuͤhret worden. 2. B. der Koͤn. Cap. 17. v. 6. Vitringa meinet daher auch in ſeinem Commentar. in Jeſaiam es habe ehmals die Zahl ein und zwantzig auf eine gewiſſe beſondere Art im Text geſtanden. Andere ſind auf andere Erklaͤrungen gefallen, welche man bey dem Vitringa nebſt allerhand Zweiffeln, ſo er dagegen gemacht, leſen kan. Die andere Schwuͤrigkeit iſt dieſe: Es iſt nach den bis - herigen Ueberſetzungen kein rechter Zuſam - menhang in dieſen Verſen. Es werden im Anfange und am Ende einerley Worte wider die Syrer und Jſraeliten geſprochen. Jn der Mitte aber wird den Jſraeliten gantz al - lein der gaͤntzliche Untergang gedrohet, den Syrern aber nicht, da doch ſelbige mit den Jſraeliten einerley Schickſal gehabt, und von den Aſſyriern noch ehender unter das Joch gebracht worden, als die Jſraeliten. 2. Buch der Koͤnige Cap. 16. v. 9. Der groſſe Clericus hat dieſe Schwuͤrig - keit in ſeinem Commentar. in Prophetas Jeſ. VII, 8. 9. bemercket, und nicht anders auf - loͤſen koͤnnen, als daß er ſagt, Syrien und Jſrael waͤre als eines angeſehen, und was folglich dem einen waͤre gedrohet worden, haͤtte dem andern auch gegolten. Ob aber durch dieſe Erklaͤrung ein rechter ordentlicher Zuſammenhang in die Worte des Textes komme, moͤgen andere urtheilen. Nach un -ſerer
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(*)ſerer Uberſetzung fallen alle dieſe Schwuͤrig - keiten hinweg. Alles haͤnget genau zuſam - men, und die Zeit-Rechnung hat eine unge - zwungene Richtigkeit. Denen, welche die hebraͤiſche Sprache nicht verſtehen, und et - wa dieſe Blaͤtter leſen, muͤſſen wir verſichern, daß wir denen hebraͤiſchen Worten und ih - ren Fuͤgungen keine ungewoͤhnliche oder auch nur ſeltene Bedeutungen in unſerer Uber - ſetzung beygelegt, ſondern daß ſelbige aus einem jeden hebraͤiſchen Woͤrter-Buch und Grammatick koͤnnen gerechtfertiget werden. Weil aber unſere Uberſetzung von den Uber - ſetzungen anderer gantz und gar abgehet, und jemand von ſolchen Leſern argwohnen moͤchte, daß wir uns eben ſo weit von dem hebraͤiſchen Texte entfernten, ſo wollen wir ihnen das Hebraͤiſche von Wort zu Wort uͤberſetzt vorlegen. Weil ſelbiges aber nach der Bedeutunge der Woͤrter und den Regeln der Grammatick hauptſaͤchlich auf zweyer - ley Art kan uͤberſetzt werden, ſo wollen wir beyde moͤgliche Uberſetzungen neben einan - der ſtellen, damit ein jeder ſelbſt urtheilen koͤnne, welche hier zu wehlen. Denn Damaſcus iſt das Haupt von Syrien und Rezin das Haupt zu Dama - ſcus, und binnen fuͤnf und ſechzig Jahren wird Ephraim uͤber - waͤltiget werden vom Volck (d. i. das es kein Volck mehr iſt.) Das Haupt EphraimaberDenn Damaſcus iſt das Haupt von Syrien und Rezin das Haupt zu Dama - ſcus. Und das ſo gar, als noch Ephraim fuͤnf und ſechzig Jahr bekriegt wurde von dem Volck (d. i. von dieſem Volck.) Den - noch iſt das HauptEphra -
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(*)aber iſt Samaria, und das Haupt von Sa - maria iſt der Sohn Remalia. Glaubt ihr nicht, ſo werdet ihr nicht beſtehen. Siehe Clerici Commentar. in Prophetas in h. l. Ephraim Samaria, und das Haupt von Samaria iſt der Sohn Remalja. Glaubt ihr nicht, ſo werdet ihr nicht be - ſtehen. Denen, ſo die hebraͤiſche Sprache verſte - hen, muͤſſen wir noch einige Rechenſchafft von unſerer Uberſetzung geben. Das erſte betrifft die Partickel. 〈…〉〈…〉Es beziehet ſich ſelbige in der Heil. Schrift insgemein auf etwas, das noch kuͤnftig geſchehen ſoll, und daher iſt es geſchehen, daß bisher, ſo viel uns bekannt, alle Uberſetzer an dieſem Ort etwas zukuͤnftiges geſucht. Es beziehet ſich aber dieſe Partickel auch auf etwas vergangenes. Wenn dorten David ſpricht: Da das Kind lebte, ſo druckt er die deutſche Partickel da durch〈…〉〈…〉 aus 2. B. Sam. Cap. 12. v. 22. Und auf eben dieſe Art haben wir ſelbige hier uͤberſetzet. Wir wollen hiebey aber andern, welche in der hebraͤiſchen Sprache eine groͤſ - ſere Staͤrcke haben, zu beurtheilen anheim geben, ob die Partickel〈…〉〈…〉 nicht koͤnne gegeben werden: Zum noch mehrerem d. i. was noch mehr. Denn daß〈…〉〈…〉 noch mehr heiſſe, iſt bekannt und ohne Zweifel, und nach der Aehnlichkeit der Sprache wird alſo〈…〉〈…〉 gar fuͤglich durch was noch mehr ausgedruckt. Weil wir aber finden, daß die groͤſten Meiſter dieſer Sprache dieſe Parti - ckel keinmal alſo uͤberſetzet, ſo haben wir uns ſolches auch nicht unterſtehen moͤgen, ſon - dern ſind bey einer gewoͤhnlichen Bedeutungdieſes
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(*)dieſes Wortes geblieben. Sonſt wuͤrde die Uberſetzung obiger beyden Verſe fuͤglich alſo lauten: Denn Damaſcus iſt zwar das Haupt in Syrien und Rezin das Haupt zu Damaſcus: Und was noch mehr? Ephraim iſt fuͤnf und ſechzig Jahr von dieſem Volck bedraͤnget worden. Jedoch iſt Samaria noch das Haupt im Ephraim und der Sohn Remalja das Haupt zu Samaria. Trauet ihr nun noch nicht, ſo werdet ihr nicht beſtehen. Der Sinn waͤre dieſer: Jhr habt euch nicht zu fuͤrchten fuͤr Rezin und Pekah. Es iſt zwar Damaſcus das Haupt in Syrien und Rezin Koͤnig daſelbſt. Jhr wiſſet aber, wie dieſes Volck ſo viele Jahre wider Jſrael Kriege ge - fuͤhret, und die Stadt Samaria auf das haͤrteſte beaͤngſtiget. Dennoch aber hat es ſelbiges nicht unter ſich bringen koͤnnen, ſondern Samaria ſtehet noch auf den heutigen Tag, und iſt eine Reſidentz der Koͤnige Jſrael blieben, da ſie GOtt durch ſeine Macht und wunderbare Fuͤgungen erhalten. Wollet ihr nun nicht glauben, daß der einige GOtt euch auch er - halten koͤnne und wolle, ſo ſtehet euch nicht zu helfen. Doch das Hauptwerck bleibet bey unſerer obigen Uberſetzung auch ſtehen, und wir koͤnnen alſo bey der gewoͤhnlichen Bedeutung des Worts〈…〉〈…〉 bleiben. Sollte es aber zweytens auch wohl noͤ - thig ſeyn, daß ich mich bey den Sprach - Verſtaͤndigen rechtfertigte, daß ich das Fu - turum〈…〉〈…〉 durch die vergangene Zeit aus - gedruͤckt? Jch hoffe nicht, daß mir jemand daruͤber Schwuͤrigkeiten machen werde, in -dem
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(*)dem es in dieſer Sprache gantz gewoͤhnlich, daß man mit dem Futuro das Perfectum, und beſonders das Imperfectum ausdruͤcke, da die Hebraͤer kein eigenes Imperfectum haben. Man leſe indeſſen Jeſ. Cap. 41. v. 2. 3. B. der Richt. Cap. 5. v. 8. Von den Worten gehen wir fort zu der Sache, ſo darinnen liegt. Der Prophet will dem Koͤnige Ahas Muth machen, und ihn zu dem Vertrauen gegen den lebendigen GOtt bewegen. Derowegen haͤlt er ihm vor, daß das Volck zu Damaſcus ſchon lan - ge Krieg gefuͤhret, und doch noch nichts ge - wonnen. Jhr Koͤnig ſey bis auf dieſen Tag nichts, als ein Koͤnig von Damaſcus. Es habe dieſes Volck ſo gar gantzer fuͤnf und ſechtzig Jahr wider das Koͤnigreich Jſrael geſtritten; ſey auch ſo gluͤcklich geweſen, daß es Ephraim und ſo gar die Haupt-Stadt Sa - maria in die aͤuſſerſte Noth gebracht. Den - noch aber habe der HErr Samaria erhal - ten, und es habe ſelbiges bis auf dieſe Stun - de ſeinen eigenen Koͤnig. Noch vielweni - ger wuͤrden ſie wider den Willen des HErrn Jeruſalem und das Koͤnigreich Juda einbe - kommen, da Pekah und Rezin nur als rau - chende Braͤnde anzuſehen, welche leicht zu daͤmpfen waͤren. Der vernuͤnftige Leſer ur - theile, wie genau dieſes alles mit der Abſicht des Propheten uͤbereinſtimme, und wie ge - nau nach dieſer Erklaͤrung alles zuſammen hange. Wegen der Zeit-Rechnung findet ſich nach dieſer Erklaͤrung auch nicht die ge - ringſte Schwuͤrigkeit. Es wird dieſes ei - nem jeden in die Augen leuchten, wenn ich beweiſe, daß die Syrer einen fuͤnf und ſech - tzig-jaͤhrigen Krieg mit Ephraim gefuͤhret. Der -
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(*)Derjenige Theil der Syrer, von welchen hier die Rede iſt, und deren Haupt-Stadt Damaſcus war, iſt nebſt noch andern Thei - len von Syrien von dem David uͤberwun - den, und ihm zinsbar gemacht worden. 2. B. Sam. Cap. 8. v. 5. 6. Aus dem 1. B. der Koͤnige aber Cap. 11. v. 23. ſcheinet zu er - hellen, daß ſie unter der Regierung Salo - mons das Juͤdiſche Joch wieder abgeworf - fen. Nach der Theilung des Juͤdiſchen Reichs wurden ſie maͤchtiger, und weil die Macht der Juden durch die Theilung ihres Reichs ſehr geſchwaͤchet, ſo fielen ſie ihre nechſten Nachbarn, das Reich Jſrael oͤfters an. Un - ter den Koͤnige Ahab fielen ſie mit einem ge - waltigen Schwarm herein. Die bloſſe Furcht trieb Ahab zu der niedertraͤchtigen Entſchlieſ - ſung, ſich und ſein gantzes Hauß ſo gar mit Weibern und Kindern dem Koͤnige der Sy - rer Benhadad zu uͤbergeben, bis endlich bey noch hoͤherer Forderung des Benhadads die Oberſten des Jſraelitiſchen Volcks, und be - ſonders ein Prophet dem Ahab den Muth machten ſich zu wehren. Da es denn ge - ſchahe, daß die Syrer in zween Feldzuͤgen auf das Haupt geſchlagen und zuruͤck ge - trieben wurden. 1. B. der Koͤn. Cap. 20. Nachher vereinigte ſich Joſaphat der Koͤnig Juda mit Ahab dem Koͤnige Jſrael die Sy - rer anzugreifen. Da aber Ahab in der er - ſten Schlacht eine toͤdtliche Wunde bekam, und ſtarb, endete ſich dieſer Krieg damit. 1. B. der Koͤn. Cap. 22. Von dem Nachfol - ger des Ahabs Ahasja lieſet man nicht, daß er habe mit den Syrern Krieg gefuͤhret. Dieſem folgte Joram. Auch dieſer muß inden
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(*)den Jahren mit den Syrern Friede gehabt haben, denn wir leſen von ihm, daß er mit den Moabitern einen heftigen Krieg gefuͤh - ret, ohne von den Syrern daran gehindert zu werden. 2. B. der Koͤn. Cap. 3. Jn den folgenden Jahren Jorams machten ſie eini - gemahl einen Anſchlag auf das Koͤnigreich Jſrael. Weil aber der Prophet Eliſa ſol - ches durch goͤttliche Offenbarung dem Jo - ram anzeigte, daß er zu rechter Zeit die Oer - ter wohl beſetzen ließ, an welchen die Syrer ſich feſt zuſetzen gedachten, auch uͤber dem der Prophet einige Abgeordnete derſelben, die ihn holen ſollten, auf eine beſondere Weiſe hintergieng; ſtunden ſie vor dasmahl vom Kriege ab. Nach einiger Zeit aber zog Ben - hadad alle ſeine Macht zuſammen, und be - kriegete Jſrael, und kam bis vor Samaria, und belagerte es ſo lang, bis die aͤuſſerſte Hungers-Noth darinne entſtand. Da die Noth aber auf das hoͤchſte kommen, fuͤgte es der HErr, daß er durch ein ungegruͤndet Gericht von einer fremden anruͤckenden Macht erſchrecket wurde, Samaria verließ und mit der eilfertigſten Flucht ſich davon machte, dergeſtalt, daß er ſein gantzes Lager vor Samaria ſtehen ließ. 2. B. der Koͤn. Cap. 6. 7. Bisher hatten die Syrer durch alle ihre ſchweren Kriege dem Koͤnigreich Jſrael nichts ſonderliches abgewinnen koͤn - nen, ſondern zogen mehrentheils den kuͤrtzern davon. Nun aber gieng eine groſſe Veraͤn - derung in der Syriſchen Regierung zu Da - maſcus vor. Der obbemeldete Benhadad ſtarb, und einer von ſeinen Bedienten Ha - ſael kam auf ſeinen Thron. Dieſer und ſein Sohn, welcher wiederum Benhadad hieß,werden
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(*)werden als beſondere Ruthen des Reichs Jſrael beſchrieben. Eliſa, als er dem Haſael andeutete, daß er wuͤrde in wenig Tagen Koͤnig zu Damaſcus werden, weinete daher, und that ſehr uͤbel. Und als Haſael nach der Urſach fragte, ſprach er: Jch weiß, was Uebels du den Kindern Jſrael thun wirſt. Du wirſt ihre feſte Staͤdte mit Feuer ver - brennen, und ihre junge Mannſchafft mit dem Schwerdt erwuͤrgen, und ihre junge Kinder toͤdten, und ihre ſchwangere Weiber zerhauen, 2. B. der Koͤn. Cap. 8. v. 11. 12. 13. Und 2. B. der Koͤn. Cap. 13. v. 3. heiſſet es von ihnen: Und des HErrn Zorn ergrim - met uͤber Jſrael, und gab ſie unter die Hand Haſael, des Koͤniges zu Syrien, und Ben - hadad des Sohns Haſael ihr Lebenlang. Und ob gleich hierauf folget, daß der HErr denen Jſraeliten einige Luft gemacht, ſo er - hellet doch gleich aus dem folgenden, daß die Huͤlfe des HErrn nur dahin gegangen, daß die Jſraeliten nicht gantz aufgerieben wor - den. Denn der Koͤnig Jſrael Joahas hat - te nur noch funfzig Reuter, zehn Wagen und zehn tauſend Fuß Volck. Das uͤbrige hatte der Koͤnig zu Syrien umgebracht. 2. B. der Koͤn. Cap. 13. v. 7. Und v. 22. heiſſet es: Alſo zwang nun Haſael, der Koͤ - nig zu Syrien Jſrael, ſo lange Joahas lebte. Deſſen Nachfolger der Koͤnig Joas fieng an ſich wieder ein wenig zu erholen und den Syrern einige Staͤdte wieder abzunehmen. 2. B. der Koͤn. Cap. 13. v. 25. Allein er konnte es weiter nicht bringen, als daß er nur diejenigen Oerter eroberte, die ſeinem Vater Joahas noch waren abgenommen den. Uebrigens blieb der Zuſtand des Koͤ -nigreichs
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(*)nigreichs Jſrael noch ſehr elend und die Sy - rer hatten noch immer die Oberhand. Es wird dieſer bejammerns-wuͤrdige Zuſtand 2. B. der Koͤn. Cap. 14. v. 26. beſchrieben. Der Sohn und Nachfolger Joas der Koͤnig Jerobeam der zweyte dieſes Namens hatte erſt das Gluͤcke, daß er die Syrer voͤllig de - muͤthigte, ihnen die Jſraelitiſche Staͤdte ab - nahm, und ſo gar Damaſcus ſelbſt unter ſich brachte, welches aber vermuthlich nur ſo zu verſtehen, daß es ihm zinsbar worden. Man lieſet dieſes alles 2. B. der Koͤn. Cap. 14. v. 25. 28. Auf dieſe Weiſe war nun der lange Krieg mit Haſael und ſeinem Sohne geendiget. Es iſt hoͤchſt wahrſcheinlich, daß dieſes in den erſten Jahren der Regierung Jerobeams geſchehen. Denn da ſein Vater Joas die Syrer ſchon auf der Flucht hatte, und unter demſelben es ſchon heiſſet, daß der HErr den Jſraeliten Gnade gethan und ſich ihrer erbarmet, 2. B. der Koͤn. Cap. 13. v. 23. ſo iſt wohl gewiß, daß Jerobeam den Krieg nebſt den Siegen ſeines Vaters fort - geſetzet, und in den erſten Jahren ſeiner Re - gierung damit fertig worden. Wir nehmen derowegen an, daß ſolches in dem vierdten Jahr ſeiner Regierung geſchehen. Aus dem, was bisher beygebracht wor - den, erhellet erſtlich, daß unter Haſael und ſeinem Sohn die Syrer das Koͤnigreich Jſ - rael gewaltig geplaget und unter ihre Fuͤſſe getreten. Zweytens daß dieſer Krieg in der heiligen Hiſtorie als ein beſonderer und be - ſtaͤndig anhaltender Krieg, wie ohngefehr bey uns der dreyßig - jaͤhrige Krieg angegeben werde. 2. B. der Koͤn. Cap. 13. v. 3. Drit - tens, daß dieſer verzehrende Krieg gedauretvon
(*)Jacobi Betr. 2. Band. F82
(*)von dem letzten Jahre des Koͤniges Joram bis in das vierdte Jahr der Regierung Je - robeams II. Wir wollen hieraus die Laͤnge dieſes Krieges ſchlieſſen. Er hat gedauret unter dem Koͤnig
  • Joram -- 1. Jahr
  • Jehu -- 28 -
  • Joachas -- 17 -
  • Joas -- 16 -
  • Jerobeam II. - 3 -
  • Summe - 65. Jahr.
Und dieſes iſt der fuͤnf - und ſechzig-jaͤhrige Krieg, welchen unſerer Meynung nach Je - ſaias dem Koͤnige Juda, nemlich dem Ahas vorhielt. Wobey mir noch dieſes bemercken, daß Jeſaias dieſen Krieg dem Ahas mit deſto groͤſſerm Nachdruck zu Gemuͤthe fuͤhren konnte, um ihn zu einem Vertrauen auf die Huͤlfe des HErrn zu bewegen, weil kein ei - niger Umſtand uͤbrig blieb, welcher dem Ahas zu einer Ausnahme wider den Jeſaias haͤt - te dienen koͤnnen. Auch ſo gar dieſen Ein - wurf durfte Ahas nicht einmal machen, daß er von einer gedoppelten Macht nemlich der Syrer und der Jſraeliten zugleich angegrif - fen wuͤrde. Denn eben dieſes war den Jſ - raeliten in dem Syriſchen Kriege begegnet. Als die Jſraeliten damals in die groͤſte En - ge getrieben, ſo gedachte Amazia der Koͤnig Juda ſich des kleinen Reſtes von Jſrael zu bemeiſtern und ließ derowegen den Koͤnig von Jſrael Joas zum Krieg auffodern. Da aber die Jſraeliten in der aͤuſſerſten Noth waren, gab ihnen der HErr Sieg, da es nie - mand vermuthete. 2. B. der Koͤn. Cap. 14. v. 8. bis 14. Jſrael war alſo in weit be -draͤng -
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(*)draͤngtere und gefaͤhrlichere Umſtaͤnden ge - weſen, als jetzo Ahas. Der HErr hatte aber doch wiſſen ſein Wort zu erfuͤllen, und Jſrael ohne fremde Huͤlfe von zween Feinden zu erretten. Dieſes konnte derowegen mit vol - lem Nachdruck dem Ahas wider ſeine Wan - ckelmuth vorgehalten werden. Wir uͤber - geben dieſe unſere Erklaͤrung nochmahls dem Urtheil des geneigten Leſers, und gehen fort zu der Uberſetzung des folgenden.
(*)

v. 10. Und der HErr redete abermahls zu Ahas und ſprach:

v. 11. Fordere dir ein Zeichen vom HErrn deinem GOtt; es ſey unten in der Hoͤlle (in der Tiefe) oder oben in der Hoͤhe.

v. 12. Aber Ahas ſprach: Jch wills nicht fordern, daß ich den HErrn nicht ver - ſuche(*)Ahas hatte nun kein Vertrauen zu GOtt, ſondern hielt die Huͤlfe der Aſſyrer fuͤr gewiſ - ſer, derohalben verlangte er kein Zeichen von GOtt, und ſuchte durch dieſe heuchleriſche Antwort nur den Propheten von der Seite zu kriegen, wie §. 3. erwieſen worden.

v. 13. Da ſprach er: Wohlan ſo hoͤret ihr vom Hauſe David: Jſts euch zu we - nig, daß ihr die Leute beleidiget, ihr muͤſ - ſet auch meinen GOtt beleidigen? (*)Ein jeder ſiehet gar leicht, daß dieſes Wor - te einer nachdruͤcklichen Beſtrafung ſeyn. Kan man glauben, daß GOtt hiermit un - mittelbar ein Zeichen der Gnade fuͤr eben dieſe Unglaͤubigen verknuͤpfen, und ihnen ſel - biges aufdringen werde?

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v. 14. Darum ſo wird euch der HErr ſelbſt ein Zeichen geben:(*)Der HErr wird nemlich zeigen, daß alle eure Rathſchlaͤge ohne ihn nichts ſeyn, und daß ohne ihn keine ſichere Huͤlfe zu hoffen, und ohne ihn kein Koͤnig ſeinen Nachkom - men das Reich beſtaͤtigen koͤnne. Man be - mercke noch, daß dieſes Zeichen nicht dem kleinen Reſt derer, ſo den HErrn vertraue - ten verheiſſen oder vielmehr gedrohet werde, wie einige Ausleger meynen; ſondern dem Ahas und ſeinem Anhang. Denn die Rede gehet eben diejenigen an, welchen der vor - hergehende Vers geſaget worden. Siehe eine Jungfrau iſt ſchwanger (wird ſchwanger werden) und einen Sohn gebaͤhren, den wird ſie heiſſen Jmmanuel. (**)Es ſoll derjenige Saamen Davids, wel - chem die groͤſte Herrſchafft beſtimmt iſt Jeſaia Cap. 8. v. 8. 10. Cap. 9. v. 6. 7. nicht aus deinen Nachkommen entſpringen, ſondern der HErr wird ſich einen andern Zweig aus dem Hauſe Davids erwehlen, und zwar eine Jungfrau, aus welchen die Juͤden bey wei - ten ſo viel nicht machten, als aus dem maͤnn - lichen Stamm.

v. 15.85

v. 15. Butter und Honig wird er eſſen, daß er wiſſe Boͤſes zu verwerfen und Gu - tes zu erwehlen. (*)Es ſind ſchon vielerley Meynungen erſon - nen, dieſen Vers in Deutlichkeit zu ſetzen. Wir uͤberlaſſen es dem Urtheil des verſtaͤndigen Leſers, ob er nicht am fuͤglichſten auf fol - gende Art erklaͤret werde. Jeſaias fuͤhrt an vielen Orten als ein Laſter ſeiner Zeiten an, daß man der Voͤllerey ergeben geweſen und ſich im Wein berauſcht, und dabey den Gott - loſen um Geſchencke willen Recht geſprochen, und das Recht der Gerechten von ihnen ge - wendet d. i. ihnen abgeſprochen Jeſ. Cap. 5. v. 22. 23. Man leſe auch Jeſaia Cap. 28. v. 7. 8. 9. Wenn derowegen von dem Jm - manuel geſagt wird, er werde Butter oder Milch und Honig eſſen, ſo muthmaſſe ich, daß dadurch ſoll angezeiget werden, er werde von aller Voͤllerey entfernt, und ſehr maͤßig ſeyn, und ſich mit derjenigen Koſt behelfen, welche zu der Zeit das verwuͤſtete Land wer - de hervor bringen. Er werde maͤßig leben, damit er im Stande ſey das Boͤſe zu ver - werfen, und das Gute zu erwehlen. Es haben mich auſſer den erwehnten Umſtaͤnden auf dieſe Gedancken der 21. 22. und 23. Vers dieſes Capitels gebracht, welche alſo lauten: Zur ſelbigen Zeit wird ein Mann einen Haufen Kuͤhe (eine eintzige Kuh) und zwo Heerde ziehen (zween Schaafe er - halten,) und wird eben ſo viel zu melcken haben, daß er Butter eſſen wird: Denn But - ter und Honig wird eſſen, wer uͤbrig im Lan - de bleiben wird. Denn es wird zu der Zeitgeſche -

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(*)geſchehen, daß, wo jetzt tauſend Weinſtoͤcke ſtehen, tauſend Silberlinge wehrt, da werden Dornen und Hecken ſeyn. Man leſe auch v. 24. 25. Hier wird Butter oder Milch und Honig dem Weine gantz offenbar entge - gen geſetzt und angezeiget, daß man aus Mangel keinen Wein trincken, ſondern ſich mit Milchwerck und Honig werde behelfen muͤſſen. Es wird ſonſt Milch und Honig in der Schrift als ein Zeichen des Uberfluſ - ſes angegeben. Hier aber iſt es ohne allen Zweifel eine Anzeige von einem armſeligen Zuſtande, welcher aus einer langwierigen Verheerung eines Landes erfolget. Es wird dieſes niemanden befremden, da auch bey uns das Wort Brod beydes einen Uberfluß und auch einen armſeligen Zuſtand bedeutet. Wenn ich ſage: in jenem Lande findet man ſein Brod, ſo iſt dieſes eine Anzeige, es ſey daſelbſt gut wohnen. Sage ich aber nach einem Kriege von demſelben: Die Ein - wohner haben jetzo eben ihr Brod, ſo zei - get man damit an, es ſehe daſelbſt anjetzt gegen ſonſt ſchlecht aus.
(*)

v. 16. Denn ehe der Knabe lernet Boͤ - ſes verwerfen und Gutes erwehlen, wird das Land, davor dir grauet, verlaſſen ſeyn von ſeinen zween Koͤnigen.

v. 17. Aber der HErr wird uͤber dich, uͤber dein Volck und uͤber deines Vaters Hauß Tage kommen laſſen, die nicht kom - men ſind, ſint der Zeit Ephraim von Judageſchie -87geſchieden iſt, durch den Koͤnig zu Aſſy - rien. (*)Dieſe beyden Verſe koͤnnen ohne den Woͤr - tern und ihrer Verbindung eine ungewoͤhn - liche Bedeutung beyzulegen, und laut der gemeinſten Grammaticken und Woͤrter - Buͤcher folgender Geſtalt uͤberſetzet werden, und wir halten ſelbige Uberſetzung fuͤr die wahrſcheinlichſte.

v. 16. Und obgleich, ehe ein Knabe lernet Boͤſes verwerfen und Gutes er - wehlen, das Land, das dir ſo vielen Verdruß und Kummer verurſachet, von ſeinen zween Koͤnigen wird ver - laſſen ſeyn:(*)Bey dieſem Verſe haben wir wegen unſe - rer Uberſetzung keine Rechenſchafft zu geben, weil ſelbige, wie ſchon erinnert, alle Buͤcher geben, ſo die Hebraͤiſche Sprache lehren. Sollte ja einigen bedencklich vorkommen, daß wir nicht uͤberſetzt: ehe dieſer Knabe, ſondern: ehe ein Knabe; ſo machen wir folgende zwey Anmerckungen, Erſtlich be - zeichnet das〈…〉〈…〉 vor einem Worte nicht alle -zeit

v. 17. So wird doch der HErr uͤber dich, uͤber dein Volck und uͤber deines Vaters Hauß durch den Koͤnig von Aſſyrien ſolche Tage kommen laſſen, die nicht kommen ſind, ſint der Zeit Ephraim von Juda geſchieden iſt. (**)Aus dieſem Verſe erhellet gantz deutlich, daß der HErr dem Ahas hier kein Zeichen der Gnade und Errettung, ſondern ein Zeichen des Zorns geben und zugleich andeuten wolle, was dieſes fuͤr Folgen haben werde, daß er die Aſſyrer in das Land locke. Man erinnere ſich hiebey, was wir oben §. 2. 3. erwieſen. Darinne liegen denn auch die Ur - ſachen, die uns genoͤthiget von den gewoͤhn - lichen Uberſetzungen abzugehen und dieſe zu erwehlen.

F 488
(**)zeit eine beſtimmte Perſon oder Sache, ſon - dern auch eine unbeſtimmte. Ein Exempel davon ſehe man 5. B. Moſe Cap. 18. v. 6. wo ſtehet〈…〉〈…〉, wenn irgend ein Levit. Zweytens iſt dasjenige Wort, ſo hier durch ein Knabe uͤberſetzet wird, nicht dasjenige Wort, ſo vorher von dem Jmmanuel ge - braucht und durch Sohn uͤberſetzet worden. Folglich iſt gar keine Nothwendigkeit vor - handen, das Wort Knabe auf dem Jmma - nuel zu ziehen. Ubrigens wird wohl durch das Land, welches dem Ahas ſo viel Un - muth und Kummer verurſachte, derjenige Theil von Juda verſtanden, welchen die feindlichen Koͤnige ſchon erobert hatten.
(**)

§. 6.

Worinne das gege - bene Zei - chen ei - gentlich beſtanden?
27

Nun koͤnnen wir eigentlich ausmachen, welches dasjenige Zeichen ſey, womit der HErr dem Ahas und ſeinem unglaubigen Volck drohet, und was er durch daſſelbe bekraͤftigen wolle. Wir haben oben §. 2. 3. erwieſen, daß ſowohl die Umſtaͤnde alsauch89auch die Worte des dreyzehnten Verſes kein ander Zeichen, als ein Zeichen des Zorns zulaſſen. Und dieſes iſt hier. Es ſoll Ahas nicht erhalten, was er durch die Huͤlfe der Aſſyrer ſucht. Ob ſie ihn gleich von der Gewalt des Rezins und Remalja wuͤrden erretten, wuͤrden ſie doch darauf ſelber kommen, und ſein eigen Land mit Krieg uͤberziehen. Es wuͤrden uͤber ihn, uͤber ſein Volck und uͤber ſeines Vaters Hauß durch den Koͤnig von Aſſyrien ſolche Tage kommen, als nicht geweſen, ſint der Zeit Ephraim von Juda geſchieden. Es iſt dieſes gantz genau erfuͤllet worden. Ahas ſelbſt iſt noch von den Aſſyrern heimgeſucht und geaͤngſtiget worden. 2. Chron. Cap. 28. v. 20. u. f. Der Enckel des Ahas der Koͤ - nig Manaſſe wurde ſo gar von den Aſſy - rern gefangen genommen mit Ketten gefeſ - ſelt und alſo fortgefuͤhret. 2. Chron. Cap. 33. v. 10. 11. Hieraus erhellet genug, wie das Schwerdt der Aſſyrer uͤber Juda ge - hauſet, und wie ihnen diejenigen zur Ru - the worden, bey welchen ſie wider den Willen GOttes Huͤlfe geſucht.

F 5§. 7.90

§. 7.

Ueberein - ſtimmung dieſes Zei - chens mit der uͤbri - gen goͤttli - chen Haushal - tung.
27

Dieſes war denn ein nachdruͤckliches Zeichen und hinlaͤnglicher Beweis, daß der GOtt Jſraels der rechte GOtt, und daß er die beſte und gewiſſeſte Huͤlffe ſeines Volcks, und daß aller Beyſtand, den man aus Miß - trauen gegen ihn und wider ſeinen Willen bey Fremden ſuche, eitel und nuͤchtig ſey. Es kommt dieſes Zeichen mit der Aehnlich - keit der goͤttlichen Regierung unter ſeinem Volck genau uͤberein. Die Welt war damals mit der Meynung recht bezau - bert, daß es viele Goͤtter gaͤbe. Aus dieſen ſuchte man diejenigen zu ſeinen Goͤttern aus, welche man fuͤr die beſten erachtete. Man hielt aber denjenigen fuͤr den maͤchtigſten und beſten, bey deſſen Dien - ſte man die gluͤcklichſten Zeiten ſahe. Fruchtbare Jahre, eine gluͤckliche Vieh - zucht, Sieg wider die Feinde und die Ent - deckung verborgener und zukuͤnfftiger Din - ge waren die Merckmahle, woraus ſie auf die Wuͤrdigkeit einer Gottheit Schluͤſſe machten. Daher geſchahe es auch, daß das eine Volck des andern Gottheiten an - nahm, wenn es hoffte, bey dem Dienſte derſelben mehr Gluͤck zu haben. 2. Chron. Cap.91Cap. 28. v. 23. Der guͤtige Schoͤpffer wollte ſeine Welt in dieſem Aberglauben nicht laſſen. Das heiligſte Weſen ver - gnuͤget ſich an Vollkommenheiten. Sel - biges hat daher eine unendliche Begierde, ſeine Welt ſo vollkommen zu machen, als durch weiſe Mittel moͤglich iſt. GOtt hat derowegen auch die Seele der Menſchen mit einer beſſern Erkenntniß zieren, und ſie vom Aberglauben und Laſtern zuruͤck zie - hen wollen. Es ſind die groͤſten Vorkeh - rungen noͤthig geweſen, dieſen Endzweck zuerſt bey einem gantz kleinen Volcke zu er - reichen. Die Juden waren es, an wel - chen der HErr in dem mittlern Welt-Al - ter vor andern gleichſam arbeitete, ſie zu der Erkenntniß der wahren eintzigen und un - endlichen Gottheit, und zu einer unveraͤn - derlichen Treue gegen dieſelbe zu bringen. Und wie groß iſt die Langmuth geweſen, womit GOtt die Unbeſtaͤndigkeit dieſes Volcks getragen? Wie offt kehrten ſie zu - ruͤck zu dem Aberglauben der benachbarten Heiden, und ſuchten bey Goͤtzen ihr Gluͤck? Der HErr ſetzte dieſen Abweichungen die geſchickteſten Mittel entgegen. Wenn ſie bey andern Gottheiten ihr Gluͤck ſuchten,machte92machte er ſie ungluͤcklich, und gab ihnen da - durch einen begreiflichen Beweiß, daß auſ - ſer ihm kein wahrer GOtt zu finden. Er uͤbergab ſie ihren Feinden, er ſchickte theure Zeiten, bis ſie ſich wieder zu ihm bekehrten, alsdenn gab er ihnen wieder Sieg und ſeeg - nete ihre Felder und Weinberge, und ließ ihnen dieſes alles durch Propheten genau vorher verkuͤndigen zu einem unwiederlegli - chen Zeichen, daß er allein GOtt ſey. So hat es der HErr immer gehalten mit ſeinem Volcke, bis endlich die groſſe Veraͤnderung der Welt durch JEſum geſtifftet worden, welcher die Augen gantzer Reiche geoͤffnet, daß ſie die Thorheit des Goͤtzendienſtes ein - geſehen, und den Beherrſcher Himmels und der Erden fuͤr ihren einigen GOtt erkannt haben. Man leſe von dieſer Art des goͤtt - lichen Haushalts Buch der Richt. Cap. 2. v. 13. u. d. f. 1. B. der Koͤn. Cap. 17. 18. Hoſ. Cap. 5. v. 13. 14. 15. Cap. 6. v. 1. u. d. f. So weit wir derowegen bey dieſen Umſtaͤn - den ſehen koͤnnen, ſo gehet das gedrohete goͤttliche Zeichen dahin, daß der HErr durch eine harte Heimſuchung des Koͤniges Ahas und ſeines Hauſes und Volckes zeigen wol - len, daß alle Rathſchlaͤge die wider ſeinenWillen93Willen gefaßt werden, nicht beſtehen, und er allein GOtt und der ſtaͤrckſte Schutz ſei - nes Volckes ſey.

§. 8.

Einen Zweiffel muͤſſen wir noch heben,Ein Zweif - fel und deſſen Auf - loͤſung. welcher unſere bisher behauptete Meynung ſcheinet gantz und gar aufzuheben. Die erſten vier Verſe des achten Capitels Je - ſaias ſcheinen ausdruͤcklich eine Gnaden - Verheiſſung der naͤchſtbevorſtehenden Be - freyung von dem Rezin und Pekah durch die Aſſyrer in ſich zu enthalten. Denn der HErr befiehlt in denſelben dem Jeſaias den mit einer Prophetin gezeugten Sohn zu nennen, Raubebald Eilebeute. Und ſetzet dieſe Urſach hinzu. Denn ehe der Knabe ruffen kan: Lieber Vater, liebe Mutter, ſoll die Macht Damaſci und die Ausbeute Samariaͤ weggenommen werden durch den Koͤnig zu Aſſyrien.

Es iſt an dem, wenn man dieſe Verſe nach den gewoͤhnlichen Ueberſetzungen und beſonders mit Zuruͤcklaſſung der folgenden Verſe lieſet, ſo ſcheinen dieſe Worte den Buͤrgern Juda eine Gnade anzuzeigen, und ſelbige zu verſichern, daß ihr Buͤndniß mit den Aſſyrern ihnen den gewuͤnſchtenVortheil94Vortheil ſchaffen wuͤrde. Wenn man ſie aber in dem Grund - Texte und in der Verbindung mit dem nechſtvorhergehenden und nachfolgenden Verſen betrachtet, ſo findet man in demſelben gar keine Vortheile fuͤr das Reich Juda. Unmittelbar vor dieſem achten Capitel ſtehen die haͤrteſten Drohungen wider Juda, und die naͤchſtfol - genden Verſe dieſes Capitels ſchlieſſen mit eben dergleichen. Betrachtet man dero - wegen die erſten vier Verſe dieſes achten Capitels in ihrer wahren Verbindung, ſo iſt der Jnnhalt derſelben keine Gnaden - Verſicherung fuͤr das Reich Juda; ſon - dern ihre Abſicht iſt dieſe: Jſrael wird zwar durch die Aſſyrer verwuͤſtet werden, weil ſie der HErr zu ſtraffen beſchloſſen: Allein, wenn ſie mit Jſrael fertig ſind, wer - den ſie auch uͤber Juda kommen, und ſel - biges auf das haͤrteſte aͤngſtigen.

§. 9.

Erklaͤrung Jeſ. Cap. 8. v. 1-8.
27

Es wird dieſes deutlich erhellen, wenn wir eine genauere Uberſetzung von den er - ſten acht Verſen des achten Capitels geben. Wir thun dieſes abermals dergeſtalt, daß wir, ſo viel moͤglich, die Ueberſetzung des ſeligen Luthers behalten.

Cap. 95

Cap. 8.

v. 1. Und der HErr ſprach (weiter) zu mir: Nimm vor dich einen groſſen Brief (ein groſſes Blat) und ſchreibe darauf mit Menſchen-Griffel(*)Wir haben uns zwar vorgenommen dieſe Blaͤtter ohne Noth mit keinen critiſchen An - merckungen anzufuͤllen, weil ſie einer gantz andern Abſicht gewidmet ſind. Weil aber die gelehrten Erforſcher der Schrifft verſchie - dene Schwuͤrigkeiten bey dieſem Verſe fin - den, und wir dabey auf gewiſſe Gedancken gekommen ſind, dadurch ſich ſelbige heben laſſen, ſo haben wir unſere Meinung dem Ur - theil geneigter Leſer bey dieſer Gelegenheit unterwerffen wollen. Man fraget zuerſt, warum hier ein Menſchen-Griffel zu ſammen geſetzet worden, und was der HErr damit an - zeigen wollen? Zweytens iſt man ſehr unei - nig, was man aus dem〈…〉〈…〉 machen ſoll, wel - ches vor〈…〉〈…〉 ſtehet. Wir fuͤhren die ver - ſchiedenen Meinungen, ſo man daruͤber hat, nicht an. Diejenigen Leſer, fuͤr welche wir dieſe Anmerckung ſchreiben, wiſſen ſelbige oh - ne dem. Und damit wir unſern uͤbrigen Le - ſern nicht verdrießlich werden, wenn wir die - ſe Anmerckung weitlaͤufftig ausdehnen, ſo wollen wir unſere Gedancken auf das aller - kuͤrtzeſte vortragen. Der gelehrte Leſer pruͤ - fe ſelbige. Das Wort ſo hier durch Griffel uͤberſetzt wird, heiſſet auch einen Beutel oder etwas, darinn man ein anderes wickelt, zu - bindet und verwahret. Man findet es indieſer: Raube bald, eile beute.

96
(*)dieſer Bedeutung 2. B. der Koͤn. Cap. 5. v. 23. wo dasjenige damit bezeichnet wird, wor - in Naemann dem Gehaſi Silber gebunden. Die Sprachverſtaͤndigen urtheilen, ob die Schwuͤrigkeiten dieſes Ortes nicht wegfal - len, wenn man hier dieſes Wort in ſolcher Bedeutung nimmet, und dieſen Vers alſo uͤberſetzet: Weiter ſprach der HErr zu mir: Nimm vor dich ein groſſes Leder (auf derglei - chen man damals zu ſchreiben pflegte) und ſchreibe darauf: Zu einer groſſen Mannstaſche, um deſto eiliger rau - ben und Beute machen zu koͤnnen. Dieſe Ueberſetzung ſtimmet mit der gebraͤuch - lichen Bedeutung der Worte und deren ge - woͤhnlichen Fuͤgung vollkommen uͤberein, und es iſt unnoͤthig Sprachverſtaͤndigen da - von einen Beweis zu geben. Mit der Sache, ſo hier ſoll angedeutet werden, kommt dieſe Ueberſetzung auch genau uͤberein. Der HErr will durch allerhand Zeichen (Symbo - la,) wie ſolches dem damaligen Geſchmack der morgenlaͤndiſchen Voͤlcker gemaͤß war, andeuten, was nach kurtzen geſchehen werde, wie nemlich die Aſſyrer kommen und die Sy - rer, Jſraeliten und das Reich Juda pluͤndern und berauben werden. Dieſes recht lebhafft anzuzeigen, war das von GOtt erwaͤhlte Bild ſehr geſchickt. Es ſtellte vor, wie man ſo gar das Leder, ſo zum ſchreiben bereitet, nehmen und groſſe Beute-Taſchen daraus machen, und die Reichthuͤmer Syriens und Canaans hinein thun wuͤrde.
(*)v. 2.97

v. 2. Und ich nahm zu mir zween treue Zeugen, den Prieſter Uria und Sacharia den Sohn Jeberechia(*)Um in deren Gegenwart die befohlne Schrifft zu verfertigen, und ihnen die Deu - tung dieſes Zeichens zu ſagen, damit ſelbige hernach bezeugen koͤnnten, daß der HErr die kuͤnfftigen Begebenheiten ſo vorher verkuͤn - diget, als ſie nachgehends erfolget, und da - durch mit voͤlliger Gewißheit kund werden moͤchte, der GOtt Jacob ſey der einige und wahre GOtt.

v. 3. Und gieng (ferner gieng ich) zu einer Prophetin, die ward ſchwanger und gebahr einen Sohn, und der HErr ſprach zu mir: nenne ihn Raubebald, Eile - beute.

v. 4. Denn ehe der Knabe ruffen kan: Lieber Vater, liebe Mutter, ſoll die Macht Damaſci und die Ausbeute Samaria weggenommen werden, durch den Koͤnig zu Aſſyrien.

v. 5. Und (Aber) der HErr redete wei - ter mit mir und ſprach:(*)Aus dieſem und folgenden Verſen iſt gar deutlich zu erſehen, daß der HErr das vor - hergehende nicht zum Troſt Ahas und ſeines Volckes und zur Verſicherung, daß ſie an Aſſyrien einen treuen Bundesgenoſſen und einen maͤchtigen Beyſtand haben wuͤrden,gere -

Jacobi Betr. 2. Band, G98
(*)geredet; ſondern daß der HErr vielmehr die boͤſen Folgen dieſes vor ſich erwaͤhlten Bundes anzeigen wolle, und der Sinn ſeiner Rede dieſer ſey: Es wuͤrde zwar der Koͤnig von Aſſyrien kommen und ihnen anfaͤnglich helffen, aber, aber, wenn er mit Dama - ſcus und Samaria fertig waͤre, wuͤrde er auch ihnen zur groſſen Laſt werden.
(*)

v. 6. Weil dis Volck verachtet das Waſſer zu Siloah, das ſtille gehet, und troͤ - ſtet ſich des Rezin und des Sohns Re - malja:(*)Bey der Ueberſetzung dieſes Verſes finden die Ausleger wieder eine groſſe Schwuͤrig - keit bey den letzten Worten, und verfallen darauf, es muͤſten zu Jeruſalem verſchiedene geweſen ſeyn, die es heimlich mit den Sy - rern und Jſraeliten gehalten. Allein man findet davon keine Spuhr. Man ſiehet auch, daß die Verachtung, ſo hier angefuͤh - ret wird, dem Volck zu Jeruſalem uͤberhaupt zur Laſt, geleget wird, von welchem nicht glaublich, daß daſſelbe es mit den Feinden gehalten. Es ſtehet ſolches aber auch gar nicht im Texte. Denn wenn derſelbe nach der gewoͤhnlichen Bedeutung und Verbin - dung der Woͤrter uͤberſetzet wird, ſo lautet er alſo: Weil dis Volck verachtet das Waſſer Siloah, das ſtille gehet, gegen das groſſe Jubel-Geſchrey des Rezins und des Sohns Remalja. Der Sinn iſt dieſer: Weil dieſes Volck die aͤuſſerlich klei - ne Macht des Reichs Juda gering ſchaͤtzet, gegen die Macht der Syrer und Jſraeliten,oder

99
(*)oder auch wegen des groſſen Geſchreyes und drohenden Prahlerey der Feinde, und der maͤchtigen Hand GOttes nicht trauet, u. ſ. w. Durch die Waſſer, die hier einander ent - gegen geſetzt ſtehen, werden, wie ein jeder leicht ſiehet, Voͤlcker und Herrſchafften, be - ſonders in ſo fern ſie nach ihrer Macht be - trachtet werden, abgebildet. Siloah war ein Brunn, der an dem Fuſſe des Berges Zion ſprang, und durch einen kleinen Bach ſich in zwey Teiche ergoß. Das Waſſer dieſes Brunnen und Baches wird hier als ein Bild des, dem Anſehen nach, gantz ſchwa - chen Reiches Juda angegeben, und die Stil - le ſeines Waſſers wird verglichen mit dem groſſen Geraͤuſch des Rezins und Pekah, und ihrer maͤchtigen Krieges-Heere. Das Volck Juda ſchaͤtzte ſeine Macht gar zu ge - ringe, und ſahe nicht auf die Verheiſſungen und Macht desjenigen, der ſich fuͤr ihren Beſchuͤtzer erklaͤret, nemlich auf den lebendi - gen GOtt. Derowegen nahm der HErr dieſe Verachtung als eine ſtraf bare Verach - tung ſeiner ſelbſt auf.
(*)

v. 7. Siehe ſo wird der HErr uͤber ſie kommen laſſen ſtarcke und viel Waſſer des Strohms(*)Nemlich des Stroms Euphrat, welcher mehr in der Schrifft nur uͤberhaupt der Strohm, d. i. der groſſe Strom genannt wird. nemlich den Koͤnig zu Aſſy - rien und alle ſeine Herrlichkeit, (Macht) daß ſie uͤber alle ihre Baͤche, (Canaͤle) fah - ren und uͤber alle ihre Ufer gehen.

G 2v. 8.100

v. 8. Und werden (wird) einreiſſen in Juda, und ſchwemmen, und uͤbergehen, bis daß ſie (er) an den Hals reichen (rei - chet.) Und werden (er wird) ihre (ſeine) Fluͤgel ausbreiten, daß ſie dein Land, o Jm - manuel fuͤllen, ſo weit es iſt. (*)Wer dieſe acht Verſe auf eine ſolche Art in ihrem voͤlligen Zuſammenhange anſiehet, wird darinne keine Gnaden-Verheiſſung fuͤr Juda, ſondern eine harte Drohung finden, und darinne beſtaͤrcket werden, daß auch im vorhergehenden kein Gnaden-Zeichen, ſon - dern ein Zeichen des Zorns dem Ahas und ſeinem Volck angedeutet worden.

§. 10.

Wer der Jmma - nuel ſey.
36

Es iſt noch uͤbrig daß, wir zeigen, wie die Weiſſagung von dem Jmmanuel mit die - ſem allen zuſammen hange. Hiebey iſt vor allen Dingen noͤthig, daß wir ausma - chen, wer dieſer Jmmanuel ſey. Wir wollen ihn bloß aus dem Jeſaias kentbar machen. Wir thun dieſes um dem Werth - heimiſchen Ueberſetzer der Bibel nachzuge - ben, welcher den Erklaͤrungen des alten Teſtaments aus dem neuen nicht trauet, ſondern will, Moſes ſoll aus dem Moſes und Jeſaias aus dem Jeſaias erklaͤret wer - den. Wir halten zwar ſolche Regel ebenſo101ſo gegruͤndet als dieſe: Man muß den Nepos ja nicht aus dem Plutarch erlaͤu - tern.

Jndeſſen wollen wir anjetzt dieſe Regel einmal gelten laſſen, damit wir allen alles werden. Wir wollen den Jmmanuel vorjetzt nur durch einige wenige Kennzei - chen kentbar machen, welche ihn aber ſo ge - nau beſtimmen, daß wer die Geſchichte der Welt weiß, ihn von allen, ſo auf dieſen Erd - boden gelebt, wird unterſcheiden koͤnnen, ohne daß wir anzeigen, unter welchem Na - men er auf der Erde gewandelt. Jeſaias bezeuget an ſehr vielen Orten, daß derein - ſten die Heiden in ſehr groſſer Menge den HErrn den einigen lebendigen GOtt Him - mels und der Erden kennen lernen, und nicht mehr den Goͤtzen, ſondern dem ewigen GOtt allein dienen und mit dem Volcke GOttes ein Volck ausmachen wuͤrden. Man leſe dieſes in den allerdeutlichſten Ausdruͤckun - gen Jeſ. Cap. 2. Cap. 19. v. 21. bis 25. Cap. 18. v. 7. An dieſen beyden letztern Orten wird von groſſen Voͤlckern, als den Egyp - tern, Aſſyrern, ja von den Mohren geſagt, daß ſie ſich zu dem lebendigen GOtt bekeh - ren wuͤrden. Man leſe auch Jeſ. Cap. 11. G 3wo102wo eine ſolche groſſe Bekehrung in verbluͤm - ten Redens-Arten beſchrieben wird; beſon - ders bemercke man v. 10. Man ſchlage ferner auf Jeſ. Cap. 49. v. 6. Cap. 42. v. 1. bis 7. Cap. 60. v. 1. bis 6. Jch will noch einen merckwuͤrdigen Ort aus dem Jere - mia hinzu ſetzen, welcher eine gantz andere Verfaſſung des Volckes GOttes und eine groſſe Bekehrung vieler Heiden zu demſel - ben vorher verkuͤndiget. Es iſt eben der - ſelbe Jerem. Cap. 3. v. 16. 17. Hier wird beſonders mit ausdruͤcklichen Worten von einer Zeit geredet, da man nicht mehr wuͤrde die Bundes-Lade beſuchen, noch von ihr predigen noch opffern, ſondern der Dienſt des lebendigen GOttes wuͤr - de gantz anders beſchaffen ſeyn, und die Heiden wuͤrden ſich zu dem Volcke GOttes verſammlen.

§. 11.

Er wird ferner kentbar gemacht aus Jeſ. Cap. 42. v. 1. bis 7.
36

Der Prophet Jeſaias meldet, daß dieſe groſſe und merckwuͤrdige Veraͤnderung der Welt durch eine gewiſſe Perſon wuͤrde geſtifftet werden. Es verdienet davon be - ſonders mit Aufmerckſamkeit betrachtet zu werden Cap. 42. v. 1. bis 7. Siehe das iſt mein Knecht, heiſſet es daſelbſt, ich erhalteihn103ihn (welchen ich gefaſſet, nemlich bey der Hand) und mein Auserwehlter, an wel - chem meine Seele Wohlgefallen hat. Jch habe ihm meinen Geiſt gegeben, er wird das Recht unter die Heiden bringen. Er wird nicht ſchreyen noch ruffen, und ſeine Stimme wird man nicht hoͤren auf den Gaſſen. Das zerſtoſſene Rohr wird er nicht zubrechen, und das glimmende Tocht wird er nicht ausloͤſchen, er wird das Recht wahrhafftig halten lehren. Er wird nicht murriſch noch graͤulich ſeyn, (er wird nicht ſtumpff gemacht noch zerbrochen wer - den)(*)Dieſes iſt die gewoͤhnliche Bedeutung der Worte, welche der ſelige Luther durch murriſch und graͤulich ſeyn uͤberſetzet, welche Ueberſetzung aber gar nicht ſtatt findet. Der geneigte Leſer bemercke, daß hier von demjenigen, der mit dem Volcke GOttes ei - nen neuen Bund aufrichten und ein Licht der Heiden werden ſoll, vorher verkuͤndiget wer - de, er werde nicht ſtumpff gemacht oder ge - ſchwaͤcht und zerbrochen werden, bis daß er auf Erden das Recht angerichtet. Der ge - lehrte Leſer beliebe hiebey des groſſen Kunſt - richters des Clerici Commentarium in Eſaiam in h. l. nachzuſchlagen, welcher, da er ſonſten dem Grotivſ in vielen Stuͤcken fol - get, ſich hier doch nicht entbrechen kan mit vie - len Gruͤnden zu zeigen, wie der Grotiuſ die - ſe Verſe recht martert, wenn er ſelbige auf den Propheten Jeſaias ſelbſt ziehen will. auf daß (bis daß) er auf Erden das Recht anrichte (angerichtet habe); und die Jnſeln(**)Unter dieſen Jnſeln werden vermuthlich keine andere als die heidniſchen Jnſeln und halb Jnſeln auf dem Mittellaͤndiſchen Meer verſtanden, wohin die Juden mit den Ty - riern handelten. Man bemercke wol, daß dieſe Jnſulaner durch den Knecht, ſo hier be - ſchrieben wird, zu der Erkenntniß GOttes und ſeines Rechts kommen ſollen. werden auf ſein Recht warten. So ſpricht GOtt der HErr, der die Himmel ſchaffet und ausbreitet, der die Erde machet und ihr Gewaͤchſe (der die Erde gegruͤndet,) der dem Volck, ſo dar - auf iſt, den Odem giebt, und den Geiſt de - nen, die darauf gehen. Jch der HErr ha - be dir geruffen mit Gerechtigkeit, und habe dich bey deiner Hand gefaſſet, und habe dich behuͤtet, und habe dich zum Bund unter das Volck gegeben (habe dich geſetzet, daß du einen Bund mit dem Volcke macheſt) G 4zum104zum Licht der Heiden,(***)Dieſer Vers iſt eigentlich durch das Fu - tutum zu uͤberſetzen: Jch werde dich bey dei - ner Hand faſſen, und dich ſetzen, daß dueinen daß du ſollt oͤff - nen die Augen der Blinden, und die Gefan - genen aus dem Gefaͤngniß fuͤhren, und die da ſitzen in Finſterniß, aus dem Kercker.

105
(***)einen Bund (nemlich einen neuen Bund) mit dem Volcke macheſt, und ſo weiter, conf. Clericvſ l. c.
(***)

§. 12.

Mit dieſer Stelle vergleiche der LeſerNoch fer - ner aus Jeſ. Cap. 49. v. 1. bis 13. Jeſ. Cap. 49. v. 1. bis 13. Wir fuͤhren daraus nur den ſechſten Vers insbeſon - dere an. Es iſt ein geringes, daß du mein Knecht biſt, die Staͤmme Jacob aufzurich - ten, und das verwahrloſete (das Bewah - rete, oder Erhaltene, das noch Uebrige) in Jſrael wieder zu bringen, (zu bekehren,) ſondern ich habe dich auch zum Licht der Hei - den geſetzt, daß du ſeyſt mein Heil bis an der Welt Ende. (*)Man leſe auch uͤber dieſes Capitel Clerict Commentarium in Eſaiam. Hier wird abermals ei - ne eintzelne Perſon aufgefuͤhret, und zu dem Stiffter der groſſen Veraͤnderung in der Welt, da gantze Reiche die Goͤtzen abge - brochen und den einigen lebendigen GOtt erkannt, gemacht. Man halte hiermit zu - ſammen Jeſ. Cap. 52. v. 13. bis 15. Cap. 53.

§. 13.

Jeſaias oder vielmehr der HErr durchJnglei - chen aus Jeſ. 11. v. 1. bis 10. den Propheten beſtimmet auch an einem an -G 5dern106dern Orte mit ausdruͤcklichen Worten das Geſchlecht, woraus derjenige entſpringen werde, der die Welt in eine andere Verfaſ - ſung ſetzen ſolle. Wir leſen Jeſ. c. 11 v. 1. 10. gantz deutlich vorher verkuͤndiget, daß er aus den Nachkommen Davids ſeinen Urſprung nehmen ſolle. Es wird, ſpricht daſelbſt der HErr, eine Ruthe (ein Sproͤs - lein) aufgehen von dem Stamm Jſai, und ein Zweig aus ſeiner Wurtzel Frucht brin - gen. Von dieſem Zweig heiſſet es v. 10. und wird geſchehen zu der Zeit, daß die Wurtzel Jſai, die da ſtehet zum Panier(*)Ein Panier war eine Fahne, welche man im Kriege ausſteckte, daß die Soldaten ſich nach derſelben richten, zu ihr verſammlen und zu ihr halten konnten. Wenn derowegen hier geſagt wird, ein Zweig Davids werde ſelber den Heiden ein Panier ſeyn, ſo heiſſet dieſes ſo viel: Es werden die Heiden ſich zu ihm ver - ſammlen, und es mit ihm halten. Die vorhergehende Erzehlung der wunderbaren Vereinigung der zahmen mit den wilden Thieren, zeiget an, daß das Volck GOt - tes und die Heiden endlich eine Heerde aus - machen wuͤrden. Bey dem Ezechiel finden wir die deutlichſte Erklaͤrung dieſer Worte, wenn es daſelbſt c. 34. v. 28. vom Volcke GOt - tes heißt: Sie ſollen nicht mehr den Heiden zum Raube werden, und kein Thier auf Er - den ſoll ſie mehr freſſen, ſondern ſollen ſicher wohnen, ohne alle Furcht. den Voͤlckern, nach der werden die Heiden fragen. Und ſeine Ruhe wird Ehre ſeyn. (Seine Ruhe d. i. ſein ſanfftes Regiment wird mit vieler Ehre verknuͤpfft ſeyn). Wir bemercken hiebey, daß wenn hier ſte - het, die Heiden werden nach der Wurtzel Jſai fragen, eigentlich ein ſolches Fragen verſtanden werden muß, daß ſie ſich zu der - ſelben halten. Und da von ihr geſagt wird, daß unter ihrer Regierung das Land voll Erkaͤnntniß des HErrn ſeyn wuͤrde, und nie - mand den heiligen Berg, das iſt, den Got - tesdienſt angreiffen und aufheben wuͤrde, hiemit aber als eine Urſach verknuͤpft wird,weil107weil ſelbſt die Heiden ſich zu | ihr ſammlen und ſie zu ihren Augenmerck erwehlen wuͤr - den, ſo erſiehet man daraus ohne Schwuͤrig - keit, daß ſie unter der Regierung und An - leitung dieſes Zweiges ſelber zur Erkaͤnntniß des HErrn kommen, und alſo der Vorſatz wegfallen wuͤrde die Kirche GOttes umzu - ſtuͤrtzen. Es iſt alſo klar, das Geſchlecht Jſai oder Davids ſoll die Ehre haben, den - jenigen zu zeugen, unter welchen Juden und Heiden zu einer gegruͤndeten Erkaͤnntniß GOttes kommen ſollen.

§. 14.108

§. 14.

Die aͤuſſer - liche Gluͤckſe - ligkeit des Volckes GOttes unter dem Meßias.
42

Wir muͤſſen bey dieſer Materie noch ei - ne Anmerckung einſtreuen. Jn den Pro - pheten leſen wir ungemein oft, daß der HErr verſichert, es ſollten auch die aͤuſſer - lichen Umſtaͤnde ſeines Volckes d. i. des - jenigen Volckes, ſo ihn erkennet und ver - ehret, weit herrlicher werden, als in den damahligen Zeiten. Damals wurden ſie bald von dieſem bald von jenem heidniſchen Volcke geplaget, und in die haͤrteſte Scla - verey gefuͤhret, und ihr aͤuſſerlicher Got - tesdienſt wurde bald von dieſem bald von jenem geſtoͤhret und aufgehoben. Und der HErr gab dieſes immer zu, wenn ſie die Luſt bekamen fremde Goͤtter zu erwehlen, damit ſie uͤberfuͤhret wuͤrden, ihre ſelbſt - gemachte Gottheiten koͤnnten ihnen keinen Schutz verſchaffen. GOtt hat in dieſer Abſicht ſein Volck gar oͤfters die allerhaͤr - teſten Drangſalen erfahren und ſie unter heidniſchen Joche ſeufzen laſſen, ſo daß die - jenigen, welche noch rechtſchaffen unter ih - nen waren, oͤfters auf allerhand zweifel - hafte Gedancken in Anſehung der gnaͤdi - gen Vorſehung GOttes geriethen. Man nehme dieſes ab aus Pſ. 73. und 74. DerHErr109HErr verſicherte derowegen ſolchen treuen Anhaͤngern von Zeit zu Zeit, es ſollte nicht immer alſo gehen. Die Heiden ſollten nicht immer die groͤſte Macht und oberſte Herrſchafft auf den Erdboden behalten, und das Volck GOttes unter die Fuͤſſe treten. Es ſollte die Zeit kommen, da Jſrael nicht mehr wuͤrde zur Abgoͤtterey abfallen, und alsdenn ſollten auch die Hei - den bekehrt werden und das Volck des le - bendigen GOttes die Oberhand auf dem Erdboden behalten.

Es wird derowegen dieſes ſo ſehr oft mit einander verknuͤpft, die wahre Religion ſoll befeſtiget und ausgebreitet und das Volck GOttes aus der Sclaverey der Heyden zur Herrſchafft kommen, indem die Heyden mit ihnen eine Heerde machen wuͤrden. Man leſe Jeſ. Cap. 11. Cap. 49. v. 6. bis 13. wie auch in den folgenden und Cap. 60. Es war hoͤchſt noͤthig, ſolches beſonders damals dem Volcke GOttes be - ſtaͤndig einzupraͤgen, da man die Gottheit nach dem Gluͤck, ſo ſie ihrem Volcke gab, ſchaͤtzte. Haͤtte man nicht die Hoffnung gehabt, das Volck, ſo den lebendigen GOtt anbetet, wird einſt die Oberhand auf demErd -110Erdboden bekommen, es wuͤrden auch die treueſten von ihm abgefallen ſeyn. Es iſt bekannt, was fuͤr Zweifel nicht nur die Spoͤtter, ſondern auch treue aber dabey ſchwachglaubige Verehrer GOttes noch heutiges Tages daraus ziehen, daß das Heydenthum noch in groſſen Reichen herr - ſchet, da wir doch deutlich ſehen, wie die Grentzen des heidniſchen Aberglaubens nach und nach immer enger werden. Man begreife hieraus, warum dieſe Dinge ſo oft in den Weiſſagungen GOttes mitein - ander verbunden werden; die Ausbreitung des wahren Gottesdienſtes und die Herr - ſchafft oder Oberhand des Volckes GOt - tes uͤber die noch uͤbrigen Heiden.

§. 15.

Weitere Fortſe - tzung des vorigen.
42

Von demjenigen, welcher als das Licht der Heiden in den Weiſſagungen aufge - fuͤhret wird, wird auch geruͤhmt, daß er und unter ihm das Volck GOttes, die Oberhand uͤber die Heiden und eine groſſe Herrſchafft erlangen wuͤrde.

Man leſe hievon recht weitlaͤuftig und deutlich Jeſ. Cap. 52. v. 13. 14. 15. Cap. 53. und 54. Cap. 60. und an mehr Orten. Beſon -111Beſondere Aufmerckſamkeit verdienet das drey und funftzigſte Capitel. Clericus meinet zwar, es koͤnne dieſes Capitel auch einiger Maſſen, wiewohl nicht genau nach allen Worten und Umſtaͤnden, von dem Juͤdiſchen Volck in und nach der Baby - loniſchen Gefaͤngniß erklaͤret werden. Wenn man aber alles in genaueren Verſtande nehmen wolle, ſo ſchicke es ſich auf nieman - den, als auf den Meßias. Allein uns deucht, daß derjenige, von welchem hier die Rede iſt, von dem Juͤdiſchen Volcke gar zu ge - nau und deutlich unterſchieden werde, und alſo der Knecht des HErrn, ſo hier beſchrie - ben wird, eine eintzelne Perſon ſey. Be - ſonders wird er Vers 8. am Ende mit aus - druͤcklichen Worten von dem Volcke GOt - tes unterſchieden. Wie denn auch Cle - ricus ſelber die mehreſten Umſtaͤnde von den Meßias gantz allein zu erklaͤren durch die Deutlichkeit der Worte ſich genoͤthiget ſiehet. Wir aber wollen dieſe Perſon nicht Meßias nennen, weil wir uns vorgenom - men, anjetzt bloß mit dem Jeſaias zu reden. Wir nennen ihn denjenigen, durch welchen nach der Weiſſagung des Propheten die Erkenntniß GOttes unter die Heiden kom -men112men ſoll. Von deſſen Herrſchafft aber leſen wir folgende Betrachtungs - wuͤrdige Worte v. 10. 11. 12. Aber der HErr woll - te ihm alſo zerſchlagen mit Kranckheit. Wenn er ſein Leben zum Schuld-Opfer gegeben, ſo wird er Saamen haben, und in die Laͤnge leben, und des HErrn Vor - nehmen wird durch ſeine Hand fortgehen. Darum, daß ſeine Seele gearbeitet hat, wird er ſeine Luſt ſehen und die Fuͤlle ha - ben, und durch ſein Erkenntniß, wird er mein Knecht, der Gerechte, viel gerecht ma - chen: Denn er traͤget ihre Suͤnde. Dar - um will ich ihn groſſe Menge zur Beute geben, und er ſoll die Starcken zum Rau - be haben; darum, daß er ſein Leben in den Tod gegeben hat, und den Uebelthaͤtern gleich gerechnet iſt, und er vieler Suͤnde getragen hat, und fuͤr die Ubelthaͤter gebe - ten. Es lauten dieſe drey Verſe nach ei - ner genauen Uberſetzung alſo: Aber der HErr wollte ihn alſo zerſchlagen und hat ihn in groſſe Schwachheit dahin gegeben. Damit, wenn du (o GOtt) ſein Leben zum Schuld-Opfer aufge - ſetzt, er Saamen ſehen, in die Laͤnge leben und des HErrn Vornehmendurch113durch ſeine Hand fortgehen moͤchte. Und nach ſeiner groſſen und beſchwer - lichen Muͤhe wird er wieder aufſehen und die Fuͤlle haben, und durch ſein Er - kenntniß wird er, mein Knecht, der Ge - rechte, viel gerecht machen: Denn er traͤget ihre Suͤnden. Darum ſoll ihm eine groſſe Menge zu Theil werden, und er ſoll die Starcken zum Raube haben; darum, daß er ſein Leben in den Tod gegeben hat, und unter die Uebel - thaͤter gerechnet iſt, und er vieler Suͤn - de getragen und fuͤr die Uebelthaͤter gebeten hat. Von der Vermehrung und den gluͤcklichen Umſtaͤnden des Vol - ckes GOttes unter ſeiner Regierung han - delt das folgende gantze Capitel.

Wir machen dabey folgende Anmer - ckungen: Damit niemanden wider die Er - fuͤllung dieſer und dergleichen ſehr praͤch - tigen Beſchreibungen Zweifel einfallen, ſo bemercke man, daß die aͤuſſerliche Gluͤckſe - ligkeit des Volckes GOttes im Gantzen, und nicht in Abſicht auf ein jedes eintzel - nes Glied beſchrieben werde. Zweytens muß man, um die erfolgten beſſern Um - ſtaͤnde des Volckes GOttes ſehen und ſchaͤ -Jacobi Betr. 2. Band. Htzen114tzen zu koͤnnen, ſich ſo viel moͤglich in die betruͤbten Umſtaͤnde ſetzen, darinne es eh - mals geweſen. Sollte wohl ein in etwas vernuͤnftiger Sclav, der von den Engel - laͤndern aus Africa und Madagaſcar nach America gefuͤhret und zu der elendeſten Le - bens-Art verkauft wird, wenn er die praͤch - tigen Weiſſagungen von der Gluͤckſeligkeit des Volckes GOttes laͤſe oder hoͤrete, nicht glauben, daß ſelbige bey den Chriſten ihre voͤllige Erfuͤllung erhalten? Wir wiſſen die Vorzuͤge beſſerer Zeiten nicht eher recht zu erkennen, als wenn wir in recht elende Zeiten geſetzt werden. Wenn derowegen ein Verehrer GOttes aus der Babyloni - ſchen Gefangenſchafft, oder unter der Ty - ranney eines Antiochus Epiphanes die letz - tere Gluͤckſeligkeit des Volckes GOttes in dieſem und jenem groſſen Reiche in der Ferne ſiehet, ſo kommt ihm der Glantz ſo ausnehmend vor, wie er in den Propheten beſchrieben wird. Drittens iſt es nicht unmoͤglich, daß die Gluͤckſeligkeit des Vol - ckes, ſo den lebendigen GOtt bekennet, noch in einem und andern mit der Zeit hoͤher ſteige. Wir wiſſen nicht genau, was fuͤr groſſe Veraͤnderungen der HErr auf die -ſem115ſem Erdballen noch auszufuͤhren beſchloſ - ſen hat. Wer haͤtte unter den Verfol - gungen der erſten Roͤmiſchen Kaiſer glau - ben ſollen, daß das Volck GOttes jemahls zu der jetzigen Hoheit kommen wuͤrde? GOtt kan durch Kleinigkeiten groſſe Din - ge thun. Wir erwegen ſehr oft mit vie - lem Vergnuͤgen und zum Preiſe des all - waltenden GOttes, wie der Toback und Zucker, welchen wir ſo haͤufig anjetzt brau - chen, Gelegenheit geben wird groſſe Voͤl - cker zur Erkenntniß GOttes zu bringen. Damit dieſe beyden Stuͤcke haͤufig koͤnnen gebauet werden, holet man viel tauſend Heiden aus andern Laͤndern und bringet ſie nach America. Dieſer Leute Verſtand wird nun zwar jetzo nicht gebauet, damit ſie auſſer dem Stande bleiben das gantz unertraͤgliche Joch der Europaͤer abzuwerf - fen. Allein, was iſt wahrſcheinlicher, als daß auch in den dortigen Staaten endlich eigene Haͤupter aufſtehen und eigene Re - gierungen anfangen werden? Was wer - den aber ſolche fuͤr Mittel ergreifen, um ih - ren Thron zu befeſtigen? Gewiß, dieſe wer - den mit die erſten ſeyn, daß man den Scla - ven mehr Freyheit giebet und ihren Ver -H 2ſtand116ſtand bauet und zum Chriſtenthum fuͤhret. Niemand beſtimme uns wegen dieſer Ge - dancken den Lohn der neuen Propheten. Wir ſetzen nichts gewiſſes, ſondern Muth - maſſungen. Wer aber die Geſchichte der Welt mit Ueberlegungen betrachtet, dem wird dieſes gantz wahrſcheinlich vor - kommen. Ja wer darauf mercket, wie lange die Staaten der Erden in einerley Verfaſſung und Regierungs-Form blei - ben, derſelbe wird muthmaſſen muͤſſen, daß in einigen Theilen von America eine groſſe Veraͤnderung muͤſſe nahe ſeyn. Und wie leicht kan es geſchehen, daß ein Staat in Europa, um den andern zu ſchwaͤchen, ei - nem Uſurpateur in America wider den rechtmaͤßigen Herrn huͤlfliche Hand leiſtet? Wem ſind dergleichen Exempel unbekannt? Doch wir reden hievon vielleicht auf ein ander mahl weitlaͤuftiger.

§. 16.

Zwey Haupt - Kennzei - chen zur Beſtim - mung des Jmma - nuels.
42

Wir kommen wieder auf denjenigen, welchen Jeſaias als den Stifter der groſ - ſen Bekehrung der Welt von den Goͤtzen zu den lebendigen GOtt auffuͤhret. Wir ſetzen zwey Haupt-Kennzeichen aus dem obigen von ihm feſte, ſo zu unſerer jetzigenAbſicht117Abſicht noͤthig und dienlich ſind. Das erſte iſt: Die Erkenntniß GOttes und die wahre Gerechtigkeit wird durch ihn auf eine hoͤchſt-merckliche Weiſe ausgebreitet werden. Das zweyte iſt: Unter ſeiner Regierung wird das Volck GOttes eine ſehr groſſe Macht und die Oberhand auf den Erdboden erhalten. Beydes iſt in dem nechſt - vorhergehenden hinlaͤnglich bewieſen. Es wird dieſe groſſe Veraͤnderung der Welt allezeit nur einem, als dem Stifter derſelben zugeſchrieben. Wir koͤnnen daher den Schluß machen, wo jemand mit einem dieſer Merckmahle oder gar mit allen beyden beſchrieben wird, daſelbſt wird von dieſem eintzigen Stifter dieſer groſſen Veraͤnderung der Welt ge - redet. Jch hoffe, niemand wird leicht wi - der dieſe Art zu ſchlieſſen etwas Erhebli - ches einzuwenden haben. Derowegen halten wir vor unnoͤthig, mehr zu ſeiner Befeſtigung hinzu zu ſetzen.

§. 17.

Nun werden wir ausmachen koͤnnen,Eigentli - che Beſtim - mung, wer der Jm - manuel ſey? wer unſer Jmmanuel ſey. Er wird von dem Propheten mit den beyden angefuͤhr - ten Kennzeichen beſchrieben. Es iſt voll -H 3kommen118kommen deutlich, daß die Worte Jeſaia Cap. 9. v. 6. 7. von dem geſaget werden, welcher Cap. 7. v. 14. und Cap. 8. v. 8. 10. Jmmanuel genannt worden. Denn es hanget dieſe Rede ſehr genau zuſammen, und es wird in derſelben keines andern Sohnes als des Jmmanuels Meldung ge - than. Wir finden aber darinne die bey - den obbemeldete Kennzeichen. Wir wol - len dieſe Worte nach einer genauen Ueber - ſetzung anfuͤhren. Uns wird ein Kind gebohren, ein Sohn wird uns gegeben, welches Herrſchafft iſt auf ſeiner Schulter, und man wird ihn nennen den Wunderbaren, den Rathgeber, den ſtarcken GOtt (oder nach andern, den goͤttlichen Rathgeber, den groſſen Held) den ewigen Vater (nemlich ſei - nes Volckes) den Friede-Fuͤrſten. Die Weite ſeiner Herrſchafft und ſein Frie - de wird kein Ende haben, auf dem Thron Davids und uͤber ſein Koͤnig - reich (wird er nemlich herrſchen) daß er es zurichte und ſtaͤrcke mit Gericht und Gerechtigkeit, von nun an bis in Ewig - keit. Solches wird thun der Eyfer des HErrn Zebaoth (der Gnaden EyferGOt -119GOttes um ſein Volck.) Die alten Ju - den haben ſolches von dem Meßias erklaͤ - ret. Einige von den neuern aber wollen es auf den Hiskias ziehen. Grotius meinet auch, daß es einiger Maſſen von demſelben koͤnne erklaͤret werden. Allein wer dieſe Worte ohne Vorurtheil anſiehet, wird ſie viel praͤchtiger finden, als daß ſie den Hiskias und deſſen Regierung bezeich - nen ſollten.

David iſt ein groͤſſerer Koͤnig geweſen, wie Hiskias, wo finden wir aber eine ſol - che Beſchreibung von ihm? Clericus findet ſich derowegen hier abermals genoͤ - thiget, von dem Grotius abzugehen. Denn findet man auch etwas Aehnliches von die - ſer Beſchreibung, wenn Jeſaias unten Cap. 36. 37. 38. 39. ſo weitlaͤuftig von His - kias ſchreibet? Gewiß keinesweges. Hat denn ferner Hiskias ſein Reich mercklich erweitert? Jſt er nicht bloß Koͤnig uͤber Juda geweſen? Hat ferner ſein Regiment und die Gerechtigkeit, und der Gottesdienſt, welche er verbeſſert, eine ſo lange Zeit ge - dauret, daß die Zeit davon durch diejenige Formel koͤnne angedeutet werden, welche die Hebraͤer gebrauchen, wenn ſie entwe -H 4der120der die Ewigkeit oder wenigſtens eine ziem - liche lange Zeit ausdrucken wollen? Wir meinen die Formel von nun bis in Ewig - keit. Jſt nicht ſo gleich unter ſeinem Soh - ne dem Manaſſe der Greuel des Goͤtzen - dienſtes wieder eingefuͤhret worden? Ver - ſuͤndigte ſich ſelbiger nicht dergeſtalt an dem HErrn, daß er ihn in eine harte Gefan - genſchafft dem Koͤnige zu Aſſyrien uͤber - gab? Es kan alſo dieſe Rede unmoͤglich auf den Hisklas gedeutet werden, noch viel - weniger auf einen der nachfolgenden Koͤ - nige. Denn unter ſelbigen nahm der wah - re Gottesdienſt und eine gute Regiments - Form immer mehr und mehr ab, bis end - lich der HErr dieſe abtruͤnnigen Kinder von den Babyloniern in eine harte Ge - fangenſchafft fuͤhren ließ. Die gantze Schrift redet von niemanden auf eine aͤhn - liche Art als von dem groſſen Stifter der mercklichen Ausbreitung und Erhoͤhung des Volckes GOttes durch groſſe Reiche der Erden. Da nun aber dieſe praͤchti - gen Worte von dem Jmmanuel geſaget werden, ſo iſt ausgemacht, daß durch ſelbi - gen derjenige zu verſtehen ſey, von welchen an andern Orten geweiſſaget wird, daß erein121ein Licht der Juden und Heiden ſeyn, und dem Volcke GOttes die Oberhand auf dem Erdboden verſchaffen werde. Jſt es nun auch noͤthig noch weiter aus den Ge - ſchichten des Volckes GOttes zu zeigen, wenn dieſe Weiſſagung erfuͤllet worden, und wer die Perſon geweſen, die ſich unter den gemeldeten Merckmalen auf dieſen Erdboden gezeiget? Gewiß, unter Chri - ſten wird dieſes unnoͤthig ſeyn. Wir ge - hen derowegen ſogleich weiter, und unter - ſuchen, warum die Weiſſagungen von dem Jmmanuel hier eben eingeruckt worden, und wie ſelbige mit dem uͤbrigen zuſam - men hange.

§. 18.

Wenn man die Weiſſagung von demJn der Verheiſ - ſung des Jmma - nuels liegt hier eine Drohung fuͤr den Ahas. Jmmanuel in ihrer gantzen Verbindung betrachtet, ſo findet man auch darinne erſt - lich einen drohenden GOtt, und zwar in der voͤlligen Aehnlichkeit mit andern Orten, wo er wider die Haͤupter ſeines Volckes geeifert. Ahas machte zum Ziel ſeiner Beſchaͤftigungen, wie wohl alle hohe Haͤup - ter zu thun pflegen, die Befeſtigung ſeines Throns fuͤr ſich und ſeine Nachkommen auf immer-waͤhrende Zeiten. Er ſuchteH 5dieſes122dieſes unter andern durch Buͤndniſſe mit maͤchtigen Nachbarn zu erhalten. Hie - bey aber verließ er ſeinen GOtt und wich von den wichtigſten Grund-Geſetzen deſſel - ben ab. Der HErr zeigte ſeinen Eifer dagegen durch harte Drohungen, davon wir die letztere ſchon weitlaͤuftig vernom - men haben. Der Haupt-Jnhalt derſel - ben war, Ahas ſollte ſeinen Endzweck, den er bey der Verbindung mit den Aſſyrern ſich vorgeſetzt, nemlich die Sicherheit ſei - ner und ſeines Hauſes Herrſchafft uͤber Juda nicht erhalten, ſondern die Aſſyrer ſollten ihm und ſeinem Hauſe zum Fall gereichen. Die Weiſſagung von dem Jmmanuel enthaͤlt gleichfalls eine Dro - hung, die hiemit genau zuſammen haͤnget und fuͤglich voran geſetzet worden. Es iſt oben bewieſen, was fuͤr herrliche Vorſtel - lungen man ſich zu den Zeiten Jeſaias nach Anleitung der goͤttlichen Weiſſagungen von der kuͤnftigen Ausbreitung des Vol - ckes GOttes und ſeiner Oberhand auf dem Erdboden gemacht, und daß man den groſ - ſen Stifter dieſer groſſen Veraͤnderung aus dem Hauſe David gehoffet. Es iſt ferner dargethan worden, daß dieſer Jm -manuel123manuel eben derjenige Held ſey, durch wel - chen das Volck GOttes ſeine Grentzen er - weitern und zu der groͤſten Herrſchafft auf Erden gelangen wuͤrde. Jn dieſer Weiſ - ſagung aber wird gezeiget, daß er aus dem Hauſe Ahas nicht kommen ſolle: ſondern eine Jungfrau, welche von dem Hauſe Ahas genau unterſchieden und demſelben entgegen geſetzt wird,(*)Man halte Jeſ. Cap. 7. v. 14. 15. und 17. genau zuſammen, ſo wird man deutlich ſe - hen, daß der Jmmanuel und ſeine Mutter von dem Hauſe Ahas unterſchieden, ja dem - ſelben entgegen geſetzt werden. wuͤrde denjeni - gen zur Welt bringen, von welchen der HErr ſo groſſe Dinge vorher verkuͤndigen laſſe. Was iſt aber dieſes anders als eine Drohung? Man betrachte die Sache in ihrem gantzen Zuſammenhange. Der HErr verkuͤndiget, aus dem Geſchlechte David ſolle einer kommen, durch welchen er die groͤſten Dinge in der Welt ausrichten woll - te, und unter welchem die Erkenntniß GOt - tes gemein werden und das Volck GOt - tes die Herrſchafft auf der Erden erhalten wuͤrde. Ahas aber und ſein gantzes Hauß, welches doch damals der regierende Zweig Davids war, ſollte hiemit unwuͤrdig er - klaͤret werden, an dieſer Ehre Antheil zu ha - ben. Es iſt dieſes allerdinges eine Dro - hung, die mit dem folgenden gar genau uͤbereinſtimmet. Sie kommt auch genauuͤber -124uͤberein mit der Aehnlichkeit anderer goͤtt - lichen Drohungen, ſo der HErr den Haͤup - tern ſeines Volckes thun laſſen, wenn ſie ſich auf eine merckliche Art vergangen. Man findet dieſe Drohung oͤfters mit an - dern verknuͤpft: Der HErr wolle ſeine Geſchaͤfte von ihnen abnehmen und ſelbige auf andere legen und durch ſie ausfuͤhren. Man leſe vor andern, was GOtt dem ehmaligen Richter und Prie - ſter Eli drohen laͤſſet. 1. B. Sam. Cap. 2. v. 27. bis 36. Man wird zwiſchen ſelbi - ger Drohung und der, ſo dem Ahas geſche - hen, eine ſehr groſſe Aehnlichkeit finden. Man ſchlage auch nach 1. B. Sam. Cap. 15. v. 28.

§. 19.

Erfuͤllung dieſer Dro - hung.
43

Was die Erfuͤllung deſſen betrifft, was anjetzt geſagt worden, ſo gehe man in die Geſchichte des Volckes GOttes, und ſuche denjenigen, durch welchen die groſſe Aus - breitung dieſes Volckes geſtiftet worden,ſo125ſo wird man finden, daß er aus der Linie Ahas nicht entſprungen, ſondern von einer andern Linie des Davids hergekommen. JEſus, das wahre Licht der Heiden, durch welchen diejenige Veraͤnderung in der Welt geſtifftet, die ihres gleichen nicht hat, zehlet den Ahas nicht unter ſeine Ahnen. Sein Pflege-Vater der Joſeph ſtammte zwar von ſelbigen ab, Matth. Cap. 1. v. 9. Jn dem Geſchlecht-Regiſter der Mutter JEſu aber finden wir den Ahas nicht, ſon - dern ſelbige ſtammet von einer andern Li - nie Davids her, nemlich von dem Nathan dem Bruder Salomons. Luc. Cap. 3. v. 13. 2. B. Sam. Cap. 5. v. 14. (*)Denenjenigen Leſern, welche keine genaue Wiſſenſchafft von den beyden angezogenen Geſchlecht-Regiſtern des Joſephs und der Marien haben, melden wir, daß Matthaͤus das Geſchlecht-Regiſter Joſephs erzehlet, indem man von dem Geſchlecht des Mannes auf das Geſchlecht der Frauen zu ſchlieſſen pflegte nach Anleitung des 4. B. Moſ. Cap. 36. v. 8. 9. Lucas aber beſchreibet das Ge - ſchlecht-Regiſter der Marien und iſt Luc. Cap. 3. v. 23. alſo zu uͤberſetzen: Und JE - ſus, der gehalten wurde fuͤr einen Sohn Joſephs, war ein Enckel Eli (nemlich von der Seite der Mutter, denn der Vater Jo - ſephs hieß Jacob, Matth. Cap. 1. v. 16.)

§. 20.126

§. 20.

Sie iſt aber zu - gleich fuͤr andere ei - ne Gna - den-Ver - heiſſung.
44

Es iſt aber dieſe Weiſſagung von dem Jmmanuel zweytens eine groſſe Gnaden - Verheiſſung fuͤr diejenigen, welche dem wahren GOtt getreu verblieben. Der guͤtige GOtt, welcher die Ruhe der Sei - nigen ſucht, pflegt mit ſeinen Drohungen wider die Gottloſen immer die theuerſten Verheiſſungen fuͤr die Tugendhaften un - mittelbar zu verknuͤpfen. Man leſe die Propheten, man wird dieſes faſt allezeit unmittelbar bey einander finden. Dro - hungen und Verheiſſungen wechſeln im - mer mit einander ab. Es iſt dieſes uͤber - haupt hoͤchſt noͤthig, wenn den Tugend - haften nicht aller Muth benommen und ſel - bige nicht zu der betruͤbten Frage genoͤthi - get werden ſollen: Solls denn umſonſt ſeyn, daß mein Hertz unſtraͤflich lebet, und ich meine Haͤnde in Unſchuld wa - ſche? Sollen die Gottloſen auf eine recht merckliche Art heimgeſuchet werden, ſo muͤſſen die Gerechten mit leiden. Wuͤr - de nun ſelbigen auch nicht einmal die Hoff - nung beſſerer Zeiten gelaſſen, ſo waͤren ſie die aller Unſeligſten. Die Liebe des HErrn gegen die Seinen iſt daher viel zu zaͤrtlich,als127als daß er denen Laſterhaften drohen ſollte ohne fuͤr die Tugendhaften treue Verheiſ - ſungen mit anzuhangen. Jnsbeſondere aber war dieſes zu den Zeiten des alten Bundes hoͤchſt noͤthig, wenn nicht auch die treueſten Anhaͤnger GOttes alle Hoff - nung und alles Zutrauen zu GOtt und der wahren Religion verlieren ſollten. Um dieſes zu begreifen, und die Weisheit der damahligen Haußhaltung recht einzuſehen, ſo bemercke man folgende Umſtaͤnde der alten Zeiten. Die Meynung, daß es viele und mancherley Goͤtter gebe, hatte beynahe die gantze Welt eingenommen. Man richtete ſeine vornehmſte Sorge derowe - gen dahin, daß man diejenigen Gottheiten wehlete, welche am weiſeſten, am maͤch - tigſten und einem Volck am geneigteſten waͤren. Man ſchloß dieſes aus dem Gluͤck, welches ein Volck bey der Verehrung ge - wiſſer Gottheiten genoß, und aus der Of - fenbarung geheimer und zukuͤnftiger Din - ge. Es iſt dieſes zu Ende des erſten Theils dieſer Betrachtungen bewieſen. Es war dieſes ein thoͤrigter Aberglaube, und der einige GOtt, welcher nicht nur fuͤr die Vollkommenheit der coͤrperlichen Weltſorget,128ſorget, ſondern auch die Vollkommenheit der vernuͤnftigen Geiſter zu befoͤrdern ſucht, machte ſolche Vorkehrungen, daß eine beſ - ſere Erkenntniß und vernuͤnftigere Reli - gion in der Welt nach und nach gemein werden moͤchte. Er erwehlte derowegen ein kleines Volck, welches er eines beſſern unterrichten und ihnen beybringen ließ, daß nur ein einiger GOtt, nemlich der Schoͤpf - fer Himmels und der Erden, ſey: alle Goͤt - ter der Heiden aber ſeyn nur ertichtete Gottheiten, von welchen man vergeblich Schutz und Beyſtand hoffe. Dieſes Volck hievon zu uͤberfuͤhren, war nun noͤ - thig, daß der wahre GOtt ſie bey dem Dienſt, ſo ſie ihm leiſteten gluͤcklich mach - te, und ihnen kuͤnftige Dinge vorher ver - kuͤndigte. Denn dieſes war das eintzige Merckmahl, wornach die damahlige Welt eine Gottheit beurtheilte. Der HErr, welcher allezeit weißlich handelt, richtete ſich nach dieſer Meynung der Welt, und gab ſeinem Volcke gantz beſonder Gluͤck. Er machte ſie auf wunderbare Art frey von dem harten Joche der Aegypter, und fuͤhrte ſie in ein ſehr geſegnetes Land. Er verſicherte ihnen, daß er ſie nie verlaſſenwollte,129wollte, und verkuͤndigte ihnen, was nach dieſem geſchehen ſollte. Und wir finden daher gar offt, daß, wenn der HErr ſeinem Volcke beweiſen wollte, er allein ſey der rechte GOtt, der uͤber alles herrſche, er ſei - ne Schluͤſſe unter andern aus dieſen Gruͤn - den, die ein jeder annahm, herleitete. Man leſe Jeſ. Cap. 41. und 44.

Jndeſſen aber war dieſes alles nicht hin - laͤnglich, dieſes Volck bey der beſtaͤndigen Ueberzeugung von der Einigkeit GOttes und bey der unveraͤnderlichen Verehrung deſſelben zu erhalten. Ein groſſer Haufe fiel immer wieder zuruͤck auf die Meinung von der Vielheit der Goͤtter, und verliebte ſich in die praͤchtigen und zum Theil wolluͤ - ſtigen Goͤtzendienſte der Heiden, und gieng hin und ſuchte bey ſelbigen ein beſſer Gluͤck. Bey den Koͤnigen des Hauſes Jſrael ka - men auch noch Staats Urſachen hinzu, wel - che ſie bewegten, ihr Volck zum Goͤtzen - dienſt anzufuͤhren. 1. Buch der Koͤn. Cap. 12. v. 25. u. f. Kurtz die Abgoͤtterey war auch unter den Nachkommen Jacobs ein ſehr gemeines Laſter. Wer nun Einſicht hat, der urtheile, wie dieſem Uebel Grentzen zu ſetzen. Dieſer Schluß war bey ihnenJacobi Betr. 2. Band. Jrichtig:130richtig: Der GOtt, bey deſſen Verehrung man Gluͤck findet, iſt ein wahrer und Ver - ehrungs-wuͤrdiger GOtt, was war dero - wegen nach den Regeln der ewigen Weis - heit zu thun, wenn dieſes Volck, aus wel - chem den uͤbrigen Heiden das Licht einer beſſern Erkaͤnntniß aufgehen ſollte, zu den Goͤtzen uͤbergieng, von ſelbigen ſein Gluͤck hoffte, und ſeine vortheilhafften Schickſale denſelben zuſchrieb? Kan jemand ein beſſer Mittel finden, als dieſes, daß der einige Be - herrſcher Himmels und der Erden harte Verhaͤngniſſe uͤber ſie ergehen ließ, und ſie dadurch nach ihren eigenen angenommenen Grundſaͤtzen uͤberfuͤhrte, daß ſie ihre Auf - nahme und Sicherheit vergeblich bey den Goͤtzen ſuchten, und auſſer ihm fuͤr ſie kein Helffer ſey. Wer die Umſtaͤnde und vor - gefaſten Meinungen dieſes Volckes recht uͤberleget, der wird zugeben muͤſſen, daß die - ſes eines von den vornehmſten Mitteln ge - weſen, ſo ihrer Neigung zur Abgoͤtterey ent - gegen ſey? Wir finden daher auch, daß der weiſe GOttes alſo mit dieſem Volck gehal - ten. Schon unter den Richtern war die - ſes der goͤttliche Haushalt unter ihnen. Wenn ſie ſich von ihm abwendeten, uͤber -gab131gab er ſie ihren Feinden, bis ſie ihn wieder - ſuchten, ſo erweckte er ihnen denn wieder ei - nen Held, der ſie errettete. Buch d. Richt. Cap. 2. v. 8. bis 21. Als aber unter den Koͤnigen die Abgoͤtterey uͤberhand nahm, drohete er ihnen eine langwierige und ſehr harte Gefangenſchafft, welche denn auch endlich, als ſie ſich nicht bekehren wollten, erſt uͤber Jſrael und hernach uͤber Juda er - folgte.

Hiebey aber muſten die Unſchuldigen mit den Schuldigen leiden, und hieraus folgte natuͤrlicher Weiſe ein anderes Uebel. Die Tugendhafften, und die, ſo dem HErrn beſtaͤndig treu verblieben, muſten ſehen, daß das gantze Volck, ſo der groſſe GOtt ſein Eigenthum nannte, der Wuth und Gewalt der Heiden unterworffen wurde. Sie muſten ſelbſt mit fuͤhlen und erfahren, wie hart dieſes Volck, das ſo herrliche Verheiſ - ſungen von ſeinem GOtt hatte, gedruckt wurde. Sie muſten gar erleben, wie ih - nen auf Angeben eines ſtoltzen und blut - duͤrſtigen Hamans das Meſſer an die Kehle geſetzet und beſchloſſen wurde, dieſes gantze Volck an einem Tage voͤllig auszurotten. Und wem iſt unbekannt, was fuͤr Drang -J 2ſal132ſal zu einer andern Zeit der Syriſche Koͤnig Antiochus, der Edle zubenahmt, dem Vol - cke GOttes angethan, wie grauſam er mit ihnen umgegangen, wie er den Tempel ver - unreiniget, das Geſetz GOttes durch die Flammen gantz und gar zu verzehren ge - ſucht, und diejenigen getoͤdtet, welche es ver - borgen, oder darauf gehalten. Er iſt ſo mit ihnen umgegangen, daß man es nicht ohne Bewegung in den Buͤchern der Mac - cabaͤer leſen kan. Wie muß hiebey den treuen Knechten des HErrn ſeyn zu Muthe geweſen, wenn ſie geſehen, daß ſo harte Verhaͤngniſſe uͤber ſie ergangen, und ſie der - geſtalt von den Heiden unter die Fuͤſſe ge - treten worden. Man urtheile, was fuͤr Mittel unumgaͤnglich noͤthig geweſen, dieſe Perſonen in ſolchen Umſtaͤnden bey einem ſtandhafften Muthe und einem feſten Glau - ben an denjenigen GOtt, den ſie und ihre Vaͤter verehret, und in einem ſichern Ver - trauen zu deſſen weiſen und guͤtigen Vor - ſehungen zu erhalten. Man uͤberlege, was wir fuͤr Mittel wollten vorgeſchlagen haben, wenn uns die ewige Weisheit hie - bey um Rath gefraget. Wuͤrden wir et - was anders haben erdencken koͤnnen, als,da133da es nothwendig bey der uͤberhand neh - menden Abgoͤtterey das gantze Volck un - gluͤcklich zu machen, und in die grauſamen Haͤnde ſeiner Feinde zu geben, und alſo den Unſchuldigen mit dem Schuldigen leiden zu laſſen, ſo muͤſte man die Tugendhafften und denen, die ſich bekehren wuͤrden, die theuerſten und vielfaͤltigſten Verſicherun - gen geben, daß ſich dieſe harten Schickſale zu ſeiner Zeit aͤndern, und das Volck GOt - tes wieder herrſchen wuͤrde. Man nehme dieſe Verſicherungen hinweg, was ſollte auch wohl die Standhaffteſten abgehalten haben, beſonders bey ihren damals gehegten Grundſaͤtzen auf folgende zweiffelhafften Gedancken zu gerathen. Es iſt keine weiſe Vorſehung. Es iſt nichts mit der Religion, welche wir verehren. Die Verheiſſungen, ſo unſern Vaͤtern ge - ſchehen, ſind eitel. Es iſt vergebens, auf den einigen GOtt hoffen, welchem Abraham, Jſaac und Jacob vertraut. Das Volck, ſo ſich mehren ſollte, wie die Sterne am Himmel und der Sand am Meer, wird ein Opffer der Heiden. Das Volck, aus welchem ein Saame verheiſſen, in welchem alle Voͤlcker ſoll -J 3ten134ten geſegnet werden, wird ausgerottet. Waͤre der GOtt Jſraels ein wahrer GOtt, ſo wuͤrde er ſein Volck nicht der - geſtalt von den Dienern der Goͤtzen verheeren und vertilgen laſſen. Un - ſer Gottesdienſt iſt umſonſt, unſer Hoffnung iſt dahin.

Wohin verfaͤllt der Menſch leichter bey lang anhaltenden widrigen Schickſalen, als auf dergleichen zweiffelhaffte Gedan - cken wider GOtt, wider deſſen weiſe und guͤtige Vorſehung, und wider die Wahr - heit ſeiner heiligſten Religion? Wie viele Muͤhe haben ſich derowegen nicht die Wei - ſen von Anbeginn bis hieher gegeben, die Steine des Anſtoſſes hiebey aus dem We - ge zu raͤumen, und diejenigen ſteilen Hoͤhen abzubrechen, auf welchen ſo viele Gemuͤ - ther ſchwindelnd worden, und alle Hoff - nung verlohren? Man begreiffe hieraus, wie noͤthig es geweſen, daß der HErr das Vertrauen der Seinen zu ihm in jenen weit ausſehenden Verhaͤngniſſen durch vielfaͤl - tige und theure Verheiſſungen unterſtuͤtzet. Man bemercke zugleich, was fuͤr ein weiſer Zuſammenhang unter den goͤttlichen Dro - hungen und Verheiſſungen, ſo man immer -dar135dar bey den Propheten findet. Laͤſſet der HErr anzeigen, wie er ſeine abtruͤnnigen Kinder durch dieſes und jenes Volck zuͤchti - gen wolle, ſo ſtehet auch immer ſo gleich dar - bey, wie er ſolche Ruthen nachher zerbre - chen, und ſein Volck, nachdem es ſich gebeſ - ſert, herrlich machen wolle, und wie endlich ſein Volck aus der Sclaverey der Heiden zur Freyheit und Herrſchafft empor ſteigen werde.

§. 21.

Auf eine aͤhnliche Art ſcheinet mir dieDrohung und Ver - heiſſung wird hier weislich mit einan - der ver - knuͤpfft. Verheiſſung des Jmmanuels mit den Drohungen wider Ahas und ſeine Anhaͤn - ger zuſammen zu hangen. Es liegt dar - inne, wie wir oben ſchon gewieſen, zwar auch eine Drohung wider den Koͤnig Ahas und ſein Haus; aber auch zugleich eine Verheiſſung fuͤr die treuen Verehrer GOt - tes. Ehe ihnen der HErr voͤllig anzeiget, was fuͤr elende Zeiten durch die gemachte Freundſchafft mit den Aſſyrern uͤber Juda kommen wuͤrden, ſo verſichert er, daß es darum mit ſeinem Volcke nicht gantz aus ſeyn ſollte: ſondern es wuͤrde zu ſeiner Zeit einer kommen, der da beſſer wiſſen wuͤrde,J 4das136das Boͤſe zu verwerffen und das Gute zu erwaͤhlen, wie Ahas und ſeine Oberſten. Wenn man wuͤrde dencken, das Volck GOttes waͤre nun gantz unterdruͤcket, und wenn es das Anſehen haͤtte, als wuͤrde es nie wieder zu Kraͤfften kommen, ja wenn uͤber ſie der Schluß gefaſſet wuͤrde, ſie gaͤntz - lich unter die Fuͤſſe zu treten, ſo wuͤrde es doch endlich heiſſen: Beſchlieſſet einen Rath, und werde nichts draus. Beredet euch, und es beſtehe nicht, denn hie iſt Jm - manuel, Jeſ. Cap. 8. v. 10.

Wenn man derowegen die oben er - wehnte Umſtaͤnde des Volckes GOttes ge - nau erweget, ſo wird man in der bisher er - klaͤrten Weiſſagung einen genauen und weiſen Zuſammenhang finden. Wir wollen die Haupt-Regeln, wonach ſich al - les richtet, aus dem, was oben geſagt wor - den, kuͤrtzlich heraus ziehen, ſo wird man finden, daß nicht nur dieſe Regeln mit den goͤttlichen Eigenſchafften und Abſichten ſehr wohl uͤbereinſtimmen, ſondern auch al - les nach denſelben in den goͤttlichen Weiſſa - gungen ſehr genau verbunden ſey.

§. 22.137

§. 22.

Die erſte hiebey iſt dieſe: Der Aber -Regeln der Weis - heit, wor - nach ſol - ches ge - ſchehen. glaube und die Laſter, ſo damit ver - knuͤpfft, ſollen von dem Erdboden, ſo viel moͤglich verbannet und die Men - ſchen durch eine wahre und weiſe Reli - gion zu einem tugendhafften Leben und einer groͤſſern Vollkommenheit ge - bracht werden.

Die zweyte iſt nach der weiſen und un - begreifflichen Wahl des Allwiſſenden dieſe: Durch die Nachkommen Abrahams ſoll hiezu der Weg gebahnet werden.

Aus dieſen beyden Haupt-Regeln folgen verſchiedene andere. Wir koͤnnen da - her folgende als die dritte Regel annehmen: Dieſes Volck muß auf alle Weiſe in der Erkaͤnntniß und Verehrung des eini - gen GOttes befeſtiget werden.

Weil aber dieſes Volck je und je zu dem Aberglauben und den praͤchtigen Goͤtzen-Dienſten der Heiden uͤbertrat, und bey falſchen Goͤttern ſein Gluͤck ſuchte; ſo muſte es oͤffters ungluͤcklich gemacht werden, damit es ſein Gluͤck nicht erdichteten Gottheiten zueigenteJ 5und138und die Nichtigkeit des Goͤtzendienſtes erkennte. Dieſes kan man als die vierdte Regel feſte ſetzen.

Damit man aber die weiſe Regierung des einigen GOttes darinne deſto eher be - merckte, und zu deſſen Verehrung zuruͤck gezogen wurde, machte der HErr gleich - ſam zur fuͤnfften Regel.

Es muͤſſen dieſe widrigen Verhaͤng - niſſe, ſo wie ſie folgen ſollen, vorher ge - drohet werden.

Daß aber bey ſolchen harten Verhaͤng - niſſen die treuen Verehrer GOttes nicht auf allerhand zweiffelhaffte Gedancken ge - rathen; ſo iſt die ſechſte Regel: Es muͤſ - ſen fuͤr die treuen Verehrer des HErrn die theuerſten Verheiſſungen mit den Drohungen wider die Abtruͤnnigen verknuͤpfft werden.

Ein jeder, der Ueberlegung hat und die gehoͤrigen Umſtaͤnde genau uͤberdencket, wird in dieſen Regeln eine ſehr weiſe Ver - bindung wahrnehmen, und zugleich in den Weiſſagungen der Propheten einen weiſen Zuſammenhang finden.

§. 23.139

§. 23.

Schluͤßlich wollen wir daruͤber noch eineWarum der HErr die Zeit nicht ge - nau be - ſtimmt, da ſeine Ver - heiſſungen ſollen er - fuͤllet wer - den. Anmerckung machen, warum der HErr die Zeit, wenn ſeine Verheiſſungen ſollen er - fuͤllet werden, nicht zugleich auf eine deutli - che Art anzeiget, ſondern geſchehen laͤſſet, daß ſich ſein Volck die Erfuͤllung ſeiner Verheiſſungen in der Naͤhe vorſtellet, da ſie doch noch weit entfernet iſt. Auch ſo gar in der Kirche neuen Bundes hat man ſich von Zeit zu Zeit den Tag der groſſen Veraͤnderung dieſer Welt naͤher vorge - ſtellt, als er geweſen. Beſonders hat man in den erſten Zeiten des Chriſten - thums geglaubt, daß er gantz nahe ſey. Und dieſes hat manchmal den Spoͤttern Gelegenheit gegeben, die wichtigſten Ver - heiſſungen GOttes zu verlachen. Man leſe 1. Petri Cap. 3. v. 3. 4.

Wir forſchen derowegen nicht unbil - lig, warum der weiſe GOtt mit ſeinen Verheiſſungen nicht allemahl die Zeit ih - rer Erfuͤllung deutlich verknuͤpffet. Wir werden die gerechte Urſach davon entde - cken, wenn wir unterſuchen, was fuͤr Fol - gen daraus wuͤrden entſtanden ſeyn, wenn der HErr die Zeiten, da ſeine Verheiſſun -gen140gen ihre Erfuͤllung erreichen ſollten, allezeit mit ausdruͤcklichen und deutlichen Worten haͤtte entdecken wollen. Was wuͤrde wohl geſchehen ſeyn, wenn zum Exempel der HErr ſeinem Volck haͤtte wiſſen laſſen, daß die Ankunfft des Jmmanuels, und die groſſe Bekehrung der Heiden erſt nach einigen hundert Jahren geſchehen, und darauf ſein geſammtes Volck die Ober - hand auf dem Erdboden bekommen ſoll - te? Wuͤrde dieſes nicht auch einen groſſen Theil der treueſten Verehrer GOttes auf zweiffelhaffte Gedancken ge - bracht haben? Wuͤrden viele nicht allen Muth verlohren und gedacht haben: Wer weiß, was nach ſo vielen hundert Jahren ſeyn wird? Und wuͤrden die Feinde des Volckes GOttes nicht geſagt haben: Jhr GOTT ſpotte ihrer nur, oder ihre Propheten ſuchten ſie zu hinter - gehen, indem man ſie auf eine Gluͤckſe - ligkeit vertroͤſtete, die ihre Nachkommen nach vielen hundert Jahren erſt ſehen ſollten. Wuͤrde man nicht auf den Schluß verfallen ſeyn? Jſt der GOtt Jſraels ein wahrer und maͤchtiger GOtt und liebet ſein Volck, ſo kan er ja daſ -ſelbe141ſelbe ſo gleich erhoͤhen. Er kan ja ſo gleich anfangen, die Heiden zu bekehren und ſie zu ſeinem Volck zu ſammlen, die Wider - ſpenſtigen aber zu Boden zu werffen und auszutilgen. Da aber die Heiden noch ſo viele hundert Jahr die groͤſte Macht und Herrlichkeit der Erden beſitzen, das Volck GOttes aber nicht einmal den ſichern und ruhigen Genuß eines gantz kleinen Laͤndgens haben, ſondern oͤffters ein Opffer der Heiden werden ſoll, ſo iſt zweiffelhafft, was man von dieſem GOTT und deſſen Regierung geden - cken ſoll. Es iſt vergebens, daß man auf ihn hoffet und ihn verehret. Waͤ - re er allmaͤchtig und liebte die, ſo ſich zu ihm halten, ſo wuͤrde er ſolches ehen - der zeigen. Und gewiß, ich drucke die - ſen Schluß fuͤr jene Zeiten noch viel zu glimpflich aus. Man leſe, wie die Frau des Hiobs ſich ausdruͤcket. Buch Hiob Cap. 2. v. 9. Wer weiß nicht, was fuͤr Gedancken bey einem Menſchen ent - ſtehen, wenn er lange Zeit mit widri - gen Schickſalen ſtreiten muß? Wir haben gar zu wenig Einſicht in den Zu - ſammenhang der Dinge, und in dieFolgen,142Folgen, die eine jede Sache hat. Wir koͤnnen daher das Moͤgliche von dem Un - moͤglichen, das Thoͤrigte, von dem, was weislich eingerichtet, das Beſte von dem Schlechtern nicht in allen Faͤl - len und genau unterſcheiden, und daher halten wir oͤffters etwas Unmoͤgliches fuͤr moͤglich, und eine Thorheit fuͤr Weisheit, und das Schaͤdliche fuͤr gut, und dencken, warum richtet der Hoͤchſte durch ſeine Allmacht nicht dieſes und je - nes ſogleich ins Werck? Wir meinen, ein eintziges Wort koͤnne alles richten, da es doch eine weiſe Allmacht, die kei - ne Thorheiten und gegen einander lauf - fende Dinge machen kan. (Man leſe Betrachtung IV. §. 13. 14. Und da dencket man leicht, die Allmacht haͤtte ſo gleich mit vielem Vortheil das Volck GOttes in eine andere Verfaſ - ſung ſetzen, ſelbiges vermehren und zu den vornehmſten Beſitzern des Erdbo - dens machen koͤnnen, da doch die Er - leuchtung und Veraͤnderung der Gemuͤ - ther in gantzen Voͤlckern kein Werck, ſo ſich blos und auf einmal durch die Allmacht zwingen laͤſſet, ſondern es ge -hoͤren143hoͤren eben ſolche Reihen der Dinge da - zu, als der Weiſeſte erwaͤhlet. (Man leſe Betrachtung IV. §. 18. 19.) Die - ſes aber begreiffen wir Kurtzſichtigen nicht, wenn der HERR rauhe Wege mit uns gehet; ſondern wir fallen auf nichts leichter als auf dieſe Gedancken, der Allmaͤchtige haͤtte eine beſſere Ein - richtung machen koͤnnen. Wer derowe - gen die Menſchen der damaligen Zei - ten betrachtet, wie ſie in ihrer Unvoll - kommenheit ſind, und zu urtheilen pfle - gen, der wird leicht aus den angefuͤhrten begreiffen, daß, wenn der HERR ihnen die Zeit ſeiner Verheiſſungen und ihrer Schickſale genau und mit aus - druͤcklichen Worten haͤtte anzeigen laſ - ſen, ſeine Verheiſſungen ihre Krafft wuͤrden verlohren und ſein Volck ihm gaͤntzlich wuͤrde abgeſaget haben. So aber laͤſſet er zu, daß ſie ſich entfernte Verheiſſungen als gantz nahe vorſtellen, und in dieſer Hoffnung von einer Zeit zur andern hingehalten werden, bis end - lich die Tage kommen, die zu Ausfuͤh - rung ſeiner unerforſchlichen Rathſchluͤſſe am bequemſten ſind. Und alſo zeigetſich144ſich auch hierinne Uebereinſtimmung und Weisheit, wie noch deutlicher erhellen wird, wenn wir dereinſten Zeit und Ge - legenheit finden werden, von der Ab - ſicht GOTTes zu handeln, warum er den Meßias in einem ſo ſpaͤten Alter der Welt kommen laſſen, und das wichtige Werck der Bekehrung groſſer Voͤlcker nicht ehender angefangen.

§. 24.

Die Gluͤck - ſeligkeit ei - nes Chri - ſten fuͤr den Vaͤ - tern altes Bundes.
44

Der Leſer erwege hiebey mit mir noch, wie gluͤcklich ein wahrer Verehrer GOt - tes anjetzt iſt, vor jenen Vaͤtern altes Bundes. Wir ſehen alles, was uns unſere heiligſte Religion hoffen heiſſet, in der groͤſten Gewißheit. Wir ſehen ſo viele groſſe und weit ausſehende Ver - heiſſungen GOttes in ihrer Erfuͤllung. Auf die wunderbareſte Art ſind die groͤ - ſten Wercke ausgefuͤhrt, welche der HErr verkuͤndiget. Jmmanuel iſt kom - men. Der einige und wahre GOTT iſt den groͤſten Voͤlckern kund worden. Gantze Reiche haben ihre Goͤtzen umge - ſtuͤrtzet, zerſchmiſſen und verbrannt, undbeugen145beugen nunmehr ihre Knie vor dem GOtt Himmels und der Erden. Und wodurch hat der HErr dieſes groſſe Werck ausgefuͤhret? Durch die Weiſen dieſer Welt? Nein, ſondern groͤſten - theils durch ſolche, welche keinen Ruhm der Gelahrheit vor ſich haben. JEſus erwehlte gemeine Leute zu Zeugen ſeiner Wunder und Auferſtehung, dieſe unter - richtete er, wie ſie auf eine einfaͤltige Art der Welt den unbekannten GOtt be - kannt machen, und ſelbige von dem rech - ten Wege zu einer ewigen Gluͤckſeligkeit belehren ſollten. Hierzu ſchenckte er ih - nen auſſerordentliche Gaben des Geiſtes, welche demjenigen Beweis und Staͤrcke gaben, was ſie vortrugen. Wem an - ders an der Gewißheit der Hoffnung zu einer ſeligen Ewigkeit gelegen, wird ſich gluͤcklich ſchaͤtzen, daß die weiſe Vor - ſehung ihn zu der Zeit auf dieſen Bal - len treten laſſen, da er die wunder - bareſten und merckwuͤrdigſten Verheiſ -Jacobi Betr. 2. Band. Kſungen146ſungen GOttes in der herrlichſten Er - fuͤllung ſiehet, und daraus gewiß ſchlieſſen kan, es werde anch der Reſt derſelben zu ſeiner Zeit in voller Pracht erſcheinen. Man begreiffe hiebey die Krafft jener Worte JESU: Selig ſind die Augen die da ſehen, das ihr ſehet.

Die[147]

Die Eilfte Betrachtung uͤber Die weiſe Abſicht GOttes bey Nachſehung der Vielweiberey unter den erſten Vaͤtern und dem juͤdiſchen Volck.

§. 1.

ES iſt nunmehro eine ausgemach -Verhaͤlt - niß der jungen Manns - und Frau - ens-Per - ſonen. te Sache, daß die Anzahl der Frauens-Perſonen, die zu einem ehelichen Leben geſchickt ſind, wenigſtens nicht groͤſſer ſey, als die Anzahl der Manns - Perſonen, welche ſich verehlichen koͤnnen. Wie der weiſe Schoͤpfer gleich zu Anfang nur eine eintzige Frau fuͤr einen Mann er - ſchaffen, ſo hat er auch den Zuſammenhang der Welt ſo eingerichtet, daß die Anzahl derer, die ſich verehlichen koͤnnen, in bey - derley Geſchlecht nach dem ordentlichen Laufe der Natur eben dieſe Verhaͤltniß be -K 2halten.148halten. Man hat an verſchiedenen groſſen Oertern, und beſonders von vielen Jahren her zu Londen, und von einiger Zeit her auch an verſchiedenen kleinern Oertern die Liſten der gebohrnen Knaben und Maͤdgen geſammlet, und gegen einander gehalten, und gefunden, daß immer einige Knaben mehr gebohren werden. Man hat aus der Zuſammenhaltung vieler tauſend, ja vieler hundert tauſend wahrgenommen, daß ge - gen tauſend Maͤdgens wenigſtens tauſend und funftzig Knaben, oder gegen hundert Toͤchter wenigſtens hundert und fuͤnf Kna - ben auf die Welt treten. Aus den Liſten der Verſtorbenen aber hat man wahrge - nommen, daß das weibliche Geſchlecht uͤber - haupt betrachtet, mehr Jahre zuſammen bringe, als Maͤnnliche, wenn man gleich groſſe Summen von beyderley Geſchlechts - Perſonen neben einander ſetzet. Man be - greift gar leicht, woher dieſes letztere kom - me, wenn man bedencket, wie viel Unge - mach die Manns-Perſonen vor den Frau - ens zu uͤbernehmen haben, und wie ferner das maͤnnliche Geſchlecht uͤberhaupt be - trachtet, mehr Ausnahmen von einer or - dentlichen Lebens-Art machet, als das weib -liche149liche Geſchlecht. Was alſo das maͤnnli - che Geſchlecht an Perſonen mehr bekommt, gehet ihnen an der ſaͤmtlichen Anzahl Le - bens-Jahre wieder ab. Betrachtet man daher die beyden Geſchlechter uͤberhaupt, ſo ſind ſie nach der natuͤrlichen Einrichtung, und beſonders in den Jahren, da ſie zur Zeugung geſchickt ſind, einander gleich. (*)Wer hievon noch keine Nachricht und Uberzeugung hat, der leſe des Herrn Probſt Suͤßmilchs goͤttliche Ordnung in de - nen Veraͤnderungen des menſchlichen Ge - ſchlechts Cap. V. Wo dieſe Materie mit ei - ner ſehr gruͤndlichen Annehmlichkeit abge - handelt iſt.

§. 2.

Es ſind zwar verſchiedene durch dieFortſe - tzung des vorigen. Sterbeliſten und einige angeſtellte Ver - gleichungen der lebenden Perſonen in et - lichen Staͤdten auf die Gedancken kom - men, daß der Uberſchuß von Knaben ſich ſchon in der erſten Kindheit derſelben ver - loͤhre, ſo gar, daß bald die Anzahl der Maͤd - gens die Anzahl der jungen Manns-Per - ſonen ſo uͤbertraͤfe, wie dieſe jene bey der Ge - burt uͤberſtiegen. Der Herr Probſt Suͤß - milch hat hierwider verſchiedene Gruͤnde angebracht, und durch viele Liſten bewie -K 3ſen,150ſen, daß man von der Verhaͤltniß der in Staͤdten lebenden, nicht auf die Verhaͤlt - niß der gantzen Geſchlechter uͤberhaupt ſchlieſſen koͤnne, weil die Verhaͤltniß in Staͤdten durch die, ſo vom Lande nach ei - ner ſehr veraͤnderlichen Verhaͤltniß hinein ziehen, und durch einige andere Umſtaͤnde gar zu mercklich veraͤndert werde. Er be - weiſet durch verſchiedene Liſten, daß wenn man beyde Geſchlechter in Staͤdten und auf dem Lande zuſammen rechne, wenig - ſtens die Perſonen, ſo unter viertzig Jah - ren in beyden Geſchlechtern einander gleich ſeyn. Es ſtehen ihm aber einige Sterb - liſten aus Staͤdten entgegen, nach welchen in den erſten zehen Jahren ſo viel Knaben vor den Maͤdgens ſterben, daß der Uber - ſchuß dieſer ſo groß, als bey der Geburt der Uberſchuß jener geweſen. Der Herr Probſt muthmaſſet daher, daß auf dem Lande die - ſes nicht geſchehen muͤſſe, und wuͤnſchet von vielen Doͤrfern hierzu dienliche Sterb - liſten zu haben. Mir iſt ein leichteres Mit - tel eingefallen, dieſes auszumachen. An den Orten, wo diejenigen beſonders auf - geſchrieben werden, welche das Heil. Abend - mahl zum erſtenmahl genieſſen, kan manaus151aus dieſen Verzeichniſſen gleich ſehen, wie ſich im ſelbigen Alter d. i. im zwoͤlften, dreyzehnten, und vierzehnten Jahre beyde Geſchlechter gegen einander verhalten. Jch habe einen kleinen Verſuch gemacht, und nach ſelbigen finde ich die Muthmaſ - ſung des Herren Probſtes gegruͤndet. Die Verhaͤltniß der Gebohrnen finde ich an al - len Orten, wo ich ſie nachgeſehen, ſo, daß die Anzahl der Knaben, die Anzahl der Maͤdgen uͤbertrifft, auch an gantz kleinen Orten, wo nur jaͤhrlich fuͤnf, bis zehen Kin - der gebohren werden. Man darf nur fuͤnf, bis acht Jahr zuſammen rechnen, ſo findet ſich der Ueberſchuß an Knaben gleich. Die Verhaͤltniß derer aber, welche das erſtemahl zur heiligen Communion gelaſ - ſen worden, finde ich auf dem Lande an - ders, als in der Stadt. Die Gemeinde, bey welcher ich diene, beſtehet groͤſten Theils aus Einwohnern der Stadt, doch hat ſie auch viel eingepfarrte vom Lande. Jn ſelbiger ſind von 1703. bis 1743. zwoͤlf hun - dert und fuͤnf Knaben, und zwoͤlf hundert und fuͤnf - und viertzig Maͤdgen, und alſo viertzig Maͤdgen mehr confirmiret, und zum heiligen Abendmahl gelaſſen. Zum Claus -K 4thal,152thal, welches die groͤſte Berg-Stadt auf dem Hartz, ſind von 1735. bis 1743. acht hundert und ſiebenzehn Knaben, und acht hundert und dreyßig Maͤdgen confirmiret und zur heiligen Communion gelaſſen. Auch hier findet ſich ein Ueberſchuß von dreyzehn Maͤdgen. Jn Gegentheil iſt auf dem Lande die Anzahl der Confirmirten gantz anders. Jch habe davon einige Li - ſten durch die Guͤte des Herren Superin - tendenten Lodemanns erhalten. Sel - bigem werden allezeit, wenn ihm die Kin - der aus ſeiner Jnſpection zur Confirma - tion dargeſtellet werden, zugleich von je - dem Dorfe die Namen der Kinder auf ei - nem Zettel uͤberreichet. Der hieſige Herr Superintendens pflegt ſelbige aufzuheben, und hat von ſiebenzehn Doͤrfern die meh - reſten von 1736. bis 1743. wieder zuſam - men gefunden, und mir Auszuͤge daraus zu machen, geneigt erlaubt. Von einigen Doͤrfern habe die Liſten von allen acht Jahren, von vielen aber nur ſieben, ſechs, und wenigern Jahren. Die Summe aber, ſo aus allen zuſammen gezogen, traͤgt ſie - ben hundert drey - und viertzig Knaben, und ſechs hundert neun - und viertzig Maͤdgen,und153und findet ſich in dieſer Anzahl ein Ueber - ſchuß von vier und neuntzig Knaben. (*)Es iſt dieſer Ueberſchuß von Knaben ſehr groß. Es iſt aber die Anzahl der Jahre, dar - aus ſie genommen ſind, ſehr gering, und wenn ich alſo die Liſten von mehrern Jahren haͤtte, wuͤrde dieſer gar groſſe Ueberſchuß ſchon geringer werden. Er wuͤrde vermuth - lich kleiner ſeyn, wenn von einem jeden obi - ger ſiebenzehn Doͤrfer die Liſten von acht Jah - ren bekommen koͤnnen, da von manchem nur zwey, drey und vierjaͤhrige Liſten gehabt.Hiebey bemercke noch folgendes: Alle dieſe Kinder haben nach einer koͤniglichen Ver - ordnung, ſo vor einigen Jahren heraus kommen iſt, das vierzehnte Jahr ſchon gantz, oder bis auf einige wenige Wochen zuruͤck gelegt. Ferner habe ich bey ſo wenigen Jahren unter ſiebenzehn Doͤrfern nur drey gefunden, wo einiger Ueberſchuß an Maͤd - gen geweſen. Litten es meine Umſtaͤnde umher zu reiſen, und an dieſen Orten nur zehn - jaͤhrige Liſten zu ſammlen, vielleicht wuͤrde ſichs zeigen, daß an allen eintzelen Orten binnen ſo vieler Zeit ein Ueberſchuß an Knaben entſtuͤnde, obgleich einige Ge - meinden ſo klein, daß jaͤhrlich nur vier, bis neun Kinder daraus confirmiret werden. Von der Gemeinde, bey welcher mein ge - liebter Vater in die fuͤnf und dreyßig Jahr als Prediger ſtehet, und die in dieſe Jnſpe - ction gehoͤret, und jaͤhrlich etwa vier, bis zehn Kinder zur Confirmation darſtellet, kan dieſes verſichern, daß in derſelben ſich alle zehn Jahr ein mercklicher Ueberſchuß von Knaben findet. Wir finden in der Natur, daß bey den Dingen von einerleyK 5innern154innern und aͤuſſern Zuſammenſetzung, und die eine beſondere Art ausmachen, auch die uͤbrige Einrichtung nach einerley Regeln pflegt gemacht zu ſeyn. Es iſt dannenhe - ro nicht zu zweifeln, daß das maͤnnliche und weibliche Geſchlecht auch an andern Orten der Erden eben dieſe Verhaͤltniß habe. Wir koͤnnen wenigſtens ſo lange, als nie - mand das Gegentheil darthut, mit gutem Recht annehmen, daß die Manns - und Frauens-Perſonen einander in den Jah - ren, die zur Erzeugung der Kinder am ge - ſchickteſten, nach der ordentlichen Einrich - tung der Natur an Anzahl beynahe gleich ſeyn. Was wir unten von dem theuren Preiſe der Frauens-Perſonen an den Or - ten, wo die viel - weiberey gewoͤhnlich, bey - bringen werden, wird ſolches mit mehrern bekraͤftigen. (**)Jch habe vielfaͤltig nachgedacht, warum doch in den Staͤdten wohl mehr Knaben, als auf dem Lande ſterben, und dieſes Schickſal nicht auch die Maͤdgen in den Staͤdten treffe. Jch bin mit meinen Muthmaſſungen auf mancherley Urſachen verfallen. Einige da - von will ich dem verſtaͤndigen und beſchei - denen Leſer zu Beurtheilung anheim geben. Jch will ſie ſo vortragen, wie ich darauf kommen bin. Jch ſahe die Liſten der Con - firmirten in der hieſigen Vorſtaͤdter Gemein - de zu St. Marien nach. Und ich fand, daß von 1707. bis 1732. hundert drey und funfzig Knaben, und hundert zwey und zwantzig Maͤdgen confirmiret worden. Hier - auf fehlen die Liſten von vier Jahren. Von 1737. bis 1743. fand ich drey und viertzig Knaben und ſechs und funftzig Maͤdgen. Ueberall ſind alſo in angezeigten Jahren con - firmiret hundert ſechs und neuntzig Knaben, und hundert acht und ſiebentzig Maͤdgen. Es zeiget ſich alſo in dieſer Summe ein Ueberſchuß von achtzehen Knaben, und kom - men beynahe auf zehn Maͤdgen eilf Knaben. Jch ſahe auch, welches ich beylaͤufig erin - nere, die Liſten der Gebohrnen von 1722. bis 1742. nach, und zaͤhlte in dieſen ein und zwantzig Jahren zweyhundert ein und vier - tzig Knaben, und zweyhundert und zehn Maͤdgen. Daß ſich alſo in dieſen Jahren die Knaben zu den Maͤdgen verhalten bey - nahe wie acht zu ſieben. Obige Verhaͤltniß der Confirmirten zeigte mir, daß in dieſer Vorſtadt ſchon nicht ſo viel Knaben ſtuͤrben als in der Stadt, wo der Tod den Ueber - ſchuß der gebohrnen Knaben, und noch ei - nige druͤber in den erſten vierzehn Jahrenauf -

(**) Jch155156
(***)aufreibet. Jch unterſuchte daher, ob in der Vorſtadt unter den Knaben eine andere Le - bens-Art, als in der Stadt, und bemerckte folgendes: Jm Winter liegen die Knaben in der Stadt faſt beſtaͤndig auf den Gaſſen, werfen einander mit Schnee, glitſchen auf dem Eiſe, ziehen ſich im Schlitten, und die - ſes geſchiehet von vielen bis in die ſpaͤte Nacht. Jn der Marien-Vorſtadt allhier koͤn - nen ſie ſolches wenigſtens ſo haͤufig nicht, weil ſie die Gelegenheit darzu nicht vor der Thuͤr haben. Denn ſo bald es ein wenig Eiß frieret, bekommen ſie in ſelbiger Vor - ſtadt gantze Berge von Eiß-Schollen vor die Thuͤren, ſo ihnen aus der Stadt durch Huͤlf - fe des Waſſers taͤglich zugeſchickt worden. Ferner finde ich in der Stadt die groſſe Schule, welche die mehreſten Knaben in der Stadt, ſehr wenige aber aus der Vorſtadt, beſuchen. Wer nun auf groſſen Schulen geweſen, der erinnere ſich, was fuͤr Muth - willen ein ſolcher Schwarm von Knaben ausuͤbet, wenn er aus den Claſſen gelaſſen wird. Die groſſe Menge ſolcher Knaben und der in etwas ſchon gebauete Verſtand giebt zu den heftigſten Ausſchweifungen Ge - legenheit. Die wenigſten Eltern gebrau - chen dawider die gewoͤhnliche Schaͤrfe, und daher kommt der groͤſte Theil ſolcher Kna - ben aus der Schule nicht ehender nach Hauß, bis ihn der Hunger, oder die Nacht dahin treibet. Wie oft laufen ſie im vollem Schwitz nach Hauſe, und fallen gleich uͤber einen Krug voll kaltes Getraͤncke? Wo aber we - nig Knaben in einer Schule ſind, und an deren Verſtand nicht ſo viel Fleiß gewendet wird, da iſt auch weniger Gelegenheit zuAus -
(***)157
(***)Ausſchweifungen. Auf dem Lande muͤſſen auch die Knaben uͤber dieſes mehr in den Haͤuſern bleiben als in den Staͤdten. Jhre Haͤuſer ſind, ich darf faſt ſagen, die mehreſte Zeit, ſo mit Koth umgeben, daß die kleinen Kinder nur im heiſſen Sommer auf den Gaſ - ſen, und zwar hie und da wenige zuſammen kommen, und mit einander ſpielen koͤnnen. Jn den Staͤdten aber liegen ſie Winter und Sommer auf den Gaſſen. Es ſind ferner in den Staͤdten in ſehr vielen Haͤuſern Lehr - purſche und Geſellen, zu ſelbigen halten ſich die Knaben. Es iſt unnoͤthig die Folgen, ſo daher entſtehen, zu nennen. Man hat in den Staͤdten auch viele feierliche Zuſam - menkuͤnfte. Es werden Lehrpurſche losge - ſprochen, Meiſter gemacht, groſſe Freyſchieſ - ſen von gantzen Wochen gehalten. Bey allen dieſen Gelegenheiten muß geſoffen wer - den, ſonſt gienge es nicht feierlich zu. Der Vater nimmt das Soͤhnchen mit. Der Va - ter berauſch ſich. Der Sohn folgt ihm. Der mehreſte Handwercks-Mann in den Staͤd - ten, meinet endlich, man koͤnne nicht arbei - ten, wenn man des Morgens nicht ein Glaͤs - gen Brandtewein genommen. Er ſchmeckt ihnen ſehr gut. Seine Liebe gegen ſeinen Sohn iſt ohne Vernunft zaͤrtlich. Der Sohn muß auch koſten, was des Vaters Zunge angenehm iſt. Er findet nach kurtzen einen Geſchmack daran. Er muß dem Vater die - ſen Nectar zutragen. Wie oft ſiehet man daher, daß der Sohn an einer Ecke ſtehet, und erſt probieret, ob er auch gut ſey. Ein Bauer auf dem Lande kan dieſes insgemein nicht ausfuͤhren. Er muß Waſſer, oder kleien Covent mit den Seinigen trincken. Undden
(***)158
(***)den Toͤchtern in den Staͤdten wird es bis hieher noch zu einiger Schande gerechnet, wenn ſie als Jungfern viel Brandtewein trincken. Dieſe Umſtaͤnde ſcheinen mir de - rowegen in etwas begreiflich zu machen, warum in den Staͤdten mehr Knaben ſter - ben als Maͤdgen, und denn auch mehr als Knaben auf dem Lande. Vielleicht entde - cken andere noch mehrere und wichtigere Urſachen hievon.
(***)

§. 3.

Dieſe Ver - haͤltniß iſt von dem Schoͤpfer alſo be - ſtimmt.
50

Wir duͤrfen nicht dencken, daß dieſes entweder abſolut nothwendig, oder von ohngefehr ſo in der Welt ſey; ſondern man muß hierinne allerdings eine goͤttliche Einrichtung und weiſe Vorſehung erken - nen. Es iſt nicht abſolut nothwendig, daß die Manns-Perſonen eine ſolche Verhaͤlt - niß gegen die Frauens-Perſonen haben muͤſſen als ſie wuͤrcklich haben. Denn alle Perſonen, ſo wohl von maͤnnlichen als weiblichen Geſchlecht, ſind zufaͤllige Weſen. Folglich iſt auch die Anzahl derſelben in jedem Geſchlecht zufaͤllig, und derowegen haͤtte die Allmacht des Schoͤpfers dieſen Zuſammenhang auch ſo einrichten koͤnnen, daß die Anzahl der Perſonen in dem einen Geſchlecht die Anzahl in dem andern bey weitem uͤbertroffen. Es findet hier keinbloſſer159bloſſer Zufall ſtatt. Was nach einem bloſſen Gluͤcks-Fall ohne die beſtimmte Abſicht und Einrichtung eines weiſen We - ſens geſchiehet, darinn iſt nicht allezeit ei - nerley Ordnung und Verhaͤltniß. Man nehme eine ziemliche Anzahl Wuͤrfel, und bezeichne ihre Seiten Wechſels - weiſe. Z. E. mit M. und F. Man theile ſie in einige Haufen, und werfe ſie mit einigen guten Freunden ſo oft, daß die Anzahl der Buchſtaben, welche gefallen, ſich z. E. auf tauſend und druͤber belaufen, und zeichne genau auf, wie die Buchſtaben in einem jeden Haufen fallen, man wird finden, daß die Buchſtaben M. und F. nicht in einem jeden Haufen in einer beynahe aͤhnlichen Verhaͤltniß gefallen. Man kan hierinne auch noch andere Erfahrungen machen. Man nehme einige Spiele Charten, und bezeichne die Helfte der Charten mit M. und die andere mit F. Man miſche ſie wohl, und lege einen groſſen Theil davon zuruͤck, den Reſt aber zertheile man nach Belieben in verſchiedene Haufen, und lege ſie auf bezeichnete Plaͤtze. Man bemer - cke, wie viel M. und F. auf einen jeden Platz gefallen. Man thue dieſes etlichemahl,160mahl, und lege beſonders auf einige Plaͤtze groͤſſere, und auf andere allezeit kleinere Haufen. Man wird abermahls wahr - nehmen, daß nicht auf einem jeden Ort M. und F. in einer beynahe gleichen Verhaͤlt - niß gefallen. Und ſo kan man durch weit mehrere Erfahrungen von dieſem Satz uͤberfuͤhret werden: Was von zufaͤlli - gen Dingen ohne Einrichtung eines weiſen Weſens geſchiehet, das geſchie - het nicht immer nach einerley Ordnung und in einer aͤhnlichen Verhaͤltniß. Da nun aber die jungen Manns - und Frauens-Perſonen, an allen Orten, wo darauf Achtung gegeben worden, ordentli - cher Weiſe in einer beynahe gleichen Ver - haͤltniß gefunden werden, ſo iſt daraus klar, daß ſolches der Einrichtung eines weiſen Weſens zuzuſchreiben, und daß man von dieſer Verhaͤltniß endlich auf dem Willen desjenigen ſchlieſſen muͤſſe, der dieſe gantze Welt, und ihre Verbindung geordnet.

§. 4.

Es folgt daraus die Unſchick - lichkeit
50

Es haben hieraus verſchiedene Gelehr - te mit Recht geſchloſſen, es ſey die Abſicht GOttes bey dieſer Einrichtung geweſen,daß161daß ein jeglicher Mann nur eine Frau, undder Viel - weiberey. eine jede Frauens-Perſon nur einen Mann haben, und dadurch das menſchliche Ge - ſchlecht auf eine bequeme Art fortgepflan - tzet werden ſollte. Waͤre die Abſicht GOt - tes geweſen, daß das menſchliche Geſchlecht durch eine Vielweiberey ſollte erhalten und vermehret werden, ſo haͤtte er ſeinem End - zweck entgegen gehandelt, da er die Einrich - tung nicht ſo gemacht, daß die Anzahl der Frauens-Perſonen das maͤnnliche Ge - ſchlecht mercklich uͤberſtiege. Nun aber iſt GOtt das weiſeſte Weſen, und verbin - det jederzeit mit ſeinen Abſichten die gehoͤ - rigen Mittel. Wo wir derowegen die ge - hoͤrigen Mittel zu einem gewiſſen Ziel in der Einrichtung der Welt nicht finden, da koͤnnen wir ſicher ſchlieſſen, daß der HErr ſich einen andern Endzweck erwehlet, nem - lich den, zu welchem man nach ſeiner Ein - richtung die Mittel findet. Da nun die Einrichtung der beyden Geſchlechter unter den Menſchen auf Erden ſo gemacht, daß ordentlicher Weiſe nicht mehr Frauens - Perſonen, ſo zum Ehe-Stande geſchickt ſind, vorhanden, als dergleichen Manns - Perſonen, ſo wird daraus klar, daß dieJacobi Betr. 2. Band. LAbſicht162Abſicht GOttes dabey geweſen, es ſollen die Ehen nur aus einem Mann und einer Frau beſtehen. (*)Man leſe hieruͤber die ſchoͤne Diſſertation des Herrn Hermanns de polygamia ſi - multanea illegitima, ſo er zu Halle unter dem Herrn Profeſſor Baumgarten ge - halten.

§. 5.

Fortſe - tzung des vorigen.
51

Soll bey dieſer goͤttlichen Einrichtung die Vielweiberey in einem Staate moͤg - lich werden, ſo muͤſſen ſolche Mittel darzu erwehlet oder zum Voraus geſetzet werden, welche die groͤſten Unordnungen verurſa - chen, und die ein jeder Unpartheyiſcher fuͤr hart und unbillig erkennen wird. Ent - weder es muß immer aͤuſſerlicher oder in - nerlicher Krieg gefuͤhret werden, oder man muß viele Maͤnner zum Ehe-Stande un - tuͤchtig machen durch die Vorſchneidung, oder es muͤſſen wenigſtens ſehr viele ohne Frau leben. Die beyden erſten Dinge machen bey den Tuͤrcken, daß die Viel - weiberey bey ihnen einiger Maſſen moͤglich iſt. Es fuͤhren ſelbige faſt beſtaͤndig die blutigſten Kriege mit andern Nationen. Denn aber ſind auch die innern Tumultein163in ihren groſſen Staͤdten etwas gantz ge - woͤhnliches in welchen gleichfalls viele Maͤnner ihr Leben laſſen. Hierzu kommt eine groſſe Anzahl Verſchnittener, deren ſich die Vornehmen zu ihrer Aufwartung bedienen. Und bey dieſem unordentlichen und harten Weſen ſind doch nicht einmal ſo viel Frauens-Perſonen in der Tuͤrckey uͤber die Anzahl der Manns-Perſonen uͤbrig, daß nur die Vornehmſten und Reich - ſten unter ihnen einige Weiber ohne Zu - ſchuß aus andern Voͤlckern haben koͤnn - ten. Die Niedrigen und folglich die meh - reſten muͤſſen ſich ohnedem nur an einer Frau begnuͤgen laſſen, weil ſie nicht meh - rere ernehren koͤnnen. Jedoch aber ſind die Frauens-Perſonen wegen der Viel - weiberey der Vornehmen ſo rar, daß ſie ſelbige zum Theil aus den Chriſten neh - men, da denn die Begierde zur Wolluſt den groſſen Haß, ſo ſie wider die Chriſten haben, in eine zaͤrtliche Liebe verwandelt. Theils aber kaufen ſie ſelbige von dem Tar - tarn mit vielem Gelde.

§. 6.

Zu den Zeiten der Patriarchen und auchWeitere Fortſe - tzung deſ - ſelben. noch hernach in dem juͤdiſchen Staate mußL 2die164die Vielweiberey gleichfalls die ledigen Frauens-Perſonen mannigmal rar gemacht haben, ſo, daß es manchem Manne ſchwer worden, eine Frau zu bekommen. Wir ſchlieſſen dieſes daher, weil die Vaͤter, wel - che Toͤchter hatten, ſelbige gleichſam ver - kaufften, oder wenigſtens von den Schwie - ger-Soͤhnen anſehnliche Geſchencke forder - ten. Jacob, der doch eine reiche Erbſchafft von ſeinem Vater zu gewarten hatte, mu - ſte dennoch bey dem Laban um eine jede Tochter ſieben Jahr dienen. Waͤren die ledigen Frauens-Perſonen nicht wegen der Vielweiberey rar geweſen, wuͤrde auch La - ban gegen einen Jacob ſeine Toͤchter ſo hoch im Preiſe gehalten haben? Man leſe die - ſes 1. Buch Moſ. Cap. 29. Eben ſo bath auch Sichem, Hemors eines Koͤniges Sohn, ſo viel fuͤr die Dina, als ihr Vater und Bruͤder nur haben wollten, 1. Buch Moſ. Cap. 34. v. 12. Eben dieſe Gewohn - heit muß auch noch zu Sauls Zeiten gewe - ſen ſeyn, wie aus 1. Buch Sam. Cap. 18. v. 23. 25. 27. deutlich abzunehmen. (*)Bey den aͤlteſten Griechen hat man eben - fals die Toͤchter denen Vaͤtern abgekaufft, und dieſen anſehnliche Geſchencke gegeben, um ihre Toͤchter zu Frauen zu bekommen. Man leſe Clericum in Commentar. in Geneſ. Cap. XXXIV. v. 12.Dieſe Gewohnheit wuͤrde damals eben ſo wenig ſtatt gefunden haben, wie jetzt, wenn die Vielweiberey nicht in Friedens-Zeitendie165die ledigen Frauens-Perſonen rar gemacht. Hieraus aber folget dieſe groſſe Unordnung, daß viele ſich zu anderer Maͤnner Weiber nahen, und Ehebruch treiben. Daß ſel - biger unter dem juͤdiſchen Volcke zu Zeiten ſehr haͤuffig geweſen, ſcheinet aus den gar ſcharffen Geſetzen, ſo der HErr 3. B. Moſ. Cap. 20. v. 4. 10. und 5. B. Moſ. Cap. 22. v. 22. gegeben, zu erhellen, indem es noͤthig geweſen, dieſem Laſter durch eine Lebens - Strafe Einhalt zu thun.

§. 7.

Auſſerdem hat die Ehe mit vielen Wei -Dem Schoͤpffer iſt die Vielwei - berey ent - gegen. bern ſelber viele Unbequemlichkeiten mit ſich verknuͤpft, welche ſich bey den Ehen zwi - ſchen einem Mann und einer Frau nicht fin - den. Die Eifferſucht der verſchiedenen Weiber laͤſſet nicht leicht zu, daß eine recht vertraute Freundſchafft unter ihnen ſollte obwalten. Man leſe, was zwiſchen den beiden Schweſtern der Lea und Rahel vor -L 3gegan -166gegangen, 1. Buch Moſ. Cap. 30. v. 14. 15. 16. Auch die verſchiedenen Kinder geben leicht zu Zanck und Streit Gelegenheit. Wir wiſſen, was daher Abraham wider ſeinen Willen thun muſte, mit der Hagar und dem Jſmael, 1. Buch Moſ. Cap. 21. v. 10. u. f. Es iſt derowegen gewiß, daß die Ehen mit vielen Weibern weit mehr Unbequemlichkeiten mit ſich verbunden ha - ben, als die Ehen zwiſchen einem Manne, und einer Frau. Und aus den Uebeln, welche in den Ehen mit vielen Weibern vor den Ehen zwiſchen einem Weibe und einem Manne entſtehen, laͤſſet ſich begreiffen, war - um der GOtt, welcher immer das beſte wehlet, zu der Ehe, welche er ſelber unmit - telbar zuſammen gefuͤget, nur einen Mann und eine Frau genommen, und die Fort - pflantzung der Menſchen ſo eingerichtet, daß nicht mehr, ſondern ſo gar weniger Frauens-Perſonen gebohren werden, als Manns-Perſonen. Aus den mancherley beſondern Uebeln, welche aus den Ehen mit vielen Weibern entſtehen, wird begreifflich, warum GOtt dieſe Einrichtung erwehlet, wie ſich dann im Gegentheil aus dieſer ſei - ner Macht ſchlieſſen laͤſſet, daß in ſeinen Au -gen,167gen, und nach ſeinen Abſichten die Vielwei - berey nicht ſo gut ſey, als die Ehen zwiſchen einem Manne und einer Frau. Denn der Weiſeſte waͤhlet nie das Schlechtere, ſondern allezeit das Beſte.

§. 8.

GOtt hat derowegen auch im neuenBeweis davon aus dem neuen Teſtam. Bunde mit ausdruͤcklichen Worten feſt ge - ſetzt: Ein jeder Mann ſoll ſeine eigene Frau, und eine jede Frau ihren eigenen Mann haben, 1. Cor. 7. v. 2. Dieſes Geſetz leidet keine Vielweiberey. Denn bey ſelbiger laͤſſet ſich nicht ſagen, daß ei - ne jede Frau ihren eigenen Mann habe. Diejenigen, welche vorgeben, daß durch dieſes Geſetz die Vielweiberey nicht aufge - hoben werde, thun den Worten Gewalt an, und nehmen ſie anders als der Gebrauch der Sprache mit ſich bringet. Wenn man ſagt, ein jeder Herr hat ſeinen eigenen Knecht; wer denckt alsdenn, vier und mehr Herren haben einen Knecht in Gemein - ſchafft, der ihnen allen aufwartet. Oder wenn man von einer Tiſch-Geſellſchafft ſpricht: Ein jeder hat ſeinen eigenen Loͤffel; wer laͤſſet ſich alsdenn wohl traͤumen, daß man damit anzeigen wolle, ſie bedienen ſichL 4alle168alle eines um das andere eines eintzigen Loͤf - fels? Jſt es nun aber nicht eben ſo thoͤricht mit den Worten: Eine jede Frau habe ihren eigenen Mann, dieſen Gedancken zu verknuͤpffen: Eine jede Frau habe ih - ren Mann entweder allein, oder auch in Gemeinſchafft mit andern Weibern? Wer dieſen Gedancken den Worten des Apoſtels beyleget, beſchuldiget ihn gantz ge - wiß der ungereimteſten Schreib-Art. Er buͤrdet demſelben auf, daß er ſeine Mei - nung mit ſolchen Worten ausgedruckt, mit welchen man im gemeinen Gebrauch gera - the das Gegentheil anzeiget. Denn wenn man ſagt: Ein jeder habe ſein Eigenes, ſo will man damit eben das Gemeinſchafft - liche aufheben, und an den Tag legen, es ſoll dieſes und jenes nicht vielen gemein ſeyn, ſondern ein jeder ſolle dieſes und jenes beſonders und allein haben. Wenn ein groſſer Herr einen feierlichen und praͤchti - gen Einzug bey einer vorgefallenen Gele - genheit halten will, und laͤſſet dem Vor - nehmſten am Hof und im Lande anzeigen, ein jeder ſolle hiebey mit ſeinem Staats - Wagen erſcheinen, und einige legten die - ſes aus Sparſamkeit alſo aus: Viere undviere169viere ſollten zuſammen thun, und in ei - nem Wagen aufgezogen kommen; was wuͤrde man ſelbigen wohl antworten, und was fuͤr eine Straffe wuͤrde man ihnen ſetzen? Warum muͤſſen denn aber ſo thoͤ - richte Auslegungen der goͤttlichen Geſetze, Vernunfft und Weisheit heiſſen?

§. 9.

Man wundert ſich nicht unbillig uͤberFortſe - tzung des vorigen. einen gewiſſen beruͤhmten Gelehrten, wel - cher in ſeinem Recht der Vernunfft bey dieſem und dergleichen Spruͤchen den Un - terſchied der Frauen vom erſten und zwey - ten Rang aus dem alten Teſtament anbrin - gen und behaupten will, daß im neuen Bun - de nur verbothen, mehr als eine Frau vom erſten Rang zu haben: Es waͤre aber nicht unterſagt, neben derſelben mehrere Kebsweiber zu halten. Das Wort, ſo Paulus am letzt angezogenen Orte braucht, heiſſet uͤberhaupt eine Frauens-Perſon. Was hat nun dieſer gelehrte Mann fuͤr Gruͤnde, daß dieſes Wort hier in einem en - gen Verſtande von einer Frau vom erſten Range muͤſſe genommen werden? Er brin - get keine bey, es iſt auch nicht glaublich, daß er ſolches koͤnne. Erſtlich findet man nir -L 5gend170gend im neuen Teſtament, daß die Chriſten dieſen Unterſcheid unter den Frauen vom erſten und zweyten Rang noch beybehalten, und daß ſelbiger waͤre gebilliget worden. Haͤtte aber Paulus bey dem Worte, ſo hier durch Weib uͤberſetzet iſt, an den Unter - ſcheid gedacht, der da iſt zwiſchen einer Frau vom erſten Rang und einem Kebsweibe und Concubine, ſo haͤtte er unmoͤglich ſagen koͤnnen: Um der Hurerey willen habe ein jeglicher ſeine eigene Frau, ſondern er haͤtte ſagen muͤſſen: Um der Hurerey willen habe ein jeder Mann ſeine eigene Frau vom erſten Rang, und ſo ſelbige noch nicht hinlaͤnglich, ihn von der Hurerey abzuhalten, ſo habe er noch Kebswei - ber, oder er halte, um Koſten zu erſpah - ren, ohne eine Haupt-Frau zu haben, eine oder etliche Concubinen. Die letz - tern Worte aber: Und eine jegliche habe ihren eigenen Mann, haͤtten gantz und gar muͤſſen hinweg bleiben. Denn nach dieſer Meynung kan eine Frau nicht verlangen, einen eigenen Mann zu haben, ſondern ſie muß es ſich gefallen laſſen, ihn mit Kebs - weibern in Gemeinſchafft zu beſitzen. Will man derowegen den Worten des Apoſtelsden171den Sinn andeuten: Um der Hurerey willen habe ein jeder ſeine eigene Frau vom erſten Rang; ſo muß man entweder zugeben, daß Paulus die Nebenfrauen und Concubinen nicht gebilliget habe, weil er bloß eine Frau vom erſten Rang als ein Mittel wider die Hurerey angeprieſen: Oder man muß annehmen, daß Paulus ſeine Gedancken wider alle Regeln der Vernunfft hoͤchſt unvollſtaͤndig, ja unrich - tig abgefaſſet. Welches zu ſagen ſich we - nigſtens ein Chriſt nicht unterſtehen wird. Daß aber Paulus hier an keine Kebsweiber und Concubinen gedacht, wird weiter dar - aus klar. Soll hier das Wort Weib ei - ne Frau vom erſten Rang bedeuten, ſo wird es dieſe Bedeutung in den unmittelbar vor - hergehenden Verſe auch haben, weil nicht die geringſte Urſach vorhanden, dieſes Wort in dem vorhergehenden Verſe in einem andern Verſtande zu nehmen. So waͤ - re denn aber der Sinn des Apoſtels: Es iſt dem Menſchen gut (nemlich in den da - maligen gefaͤhrlichen Zeiten v. 26. 29. ) daß er keine Frau vom erſten Rang be - ruͤhre. Jſt dieſes aber der Sinn des Apoſtels? Wer dieſes gantze Capitel lieſet,wird172wird uͤberzeuget werden, daß der Apoſtel anraͤth, Manns - und Frauens-Perſonen ſollen wegen der damals ſehr elenden Zeiten fuͤr die Chriſten im ledigen Stande bleiben, und einander, ſo lange ſolche Noth daurete, gantz und gar nicht beruͤhren. Es iſt dero - wegen auch hieraus klar genug, daß der Apoſtel das Wort Weib im gantz gemei - nen Verſtande nehme, und an den Unter - ſchied der Frauen vom erſten und zweyten Rang und der Concubinen nicht dencke. Endlich wird ſolches auch dadurch beſtaͤr - cket. Ein jeder ſiehet, daß der Apoſtel in dem zweyten Verſe zeigen will, wie dieje - nigen Perſonen, welchen der ledige Stand ſehr beſchwerlich faͤllt, der Hurerey entge - hen ſollen. Paulus will nicht bloß ſagen, wie diejenigen, ſo ſchon Haupt-Frauen ſind, der Hurerey entgehen ſollen, ſondern wie uͤberhaupt die Frauens-Perſonen, welchen der ledige Stand zu ſchwehr fallen will, einer Ausſchweiffung ſollen vorbeugen. Eine jede ſoll nemlich darnach trachten, daß ſie ihren eigenen Mann bekomme. So bald man dieſen Sinn in den Text des Apoſtels bringet: Eine jede Haupt-Frau habe ihren eigenen Mann; ſo iſt keinZuſam -173Zuſammenhang und keine Ubereinſtim - mung drinne.

§. 10.

Wir koͤnnen nicht umhin, bey dieſer Ge -Betrach - tung eini - ger Gruͤn - de fuͤr die Vielwei - berey. legenheit auch die Gruͤnde anzufuͤhren, wo - mit der jetzt angefuͤhrte Gelehrte die Noth - wendigkeit der Vielweiberey oder der Kebs - weiber neben der Frau vom erſten Rang feſte ſetzen will. Er ſchreibet alſo:

Und was zieht die Verbietung des Concubinats in Privat-Ehen nicht vor ſeltſame Ungeheuer nach ſich? Wie viel Ehen werden nicht aus Zwang der Eltern, Perſuaſion und Jntereſſe gemacht, in wel - cher die Eheleute niemals zu einer Har - monie gelangen koͤnnen, wodurch ſie ſich faſt genoͤthiget finden, zu Hurerey, ſtum - men Suͤnden und Ehebruch, deſſen ſie bey dem Concubinat enthoben ſeyn koͤnnten, zu greiffen. Wie offt kan ein Mann von der Frau die eheliche Pflicht entweder wegen des Eigenſinnes derſelben, oder auch wegen Mangel des Appetits nicht erhalten, wenn nun der Mann vollbluͤtig iſt, was iſt da bey verbothenem Concubi - nat(*)Bey dem Gebrauch des Wortes Concubinat muͤſſen wir anmercken, daß ſo wohl der Ge - lehrte, deſſen Worte wir hie anfuͤhren, als auch andere den Concubinatum und Pelli - catum mit einander vermiſchen, und dadurch Unwiſſende mit falſchen Schluͤſſen hinter - gehen. Concubinatus iſt eine ehliche Ge - ſellſchafft zwiſchen einem vornehmen ledigen Manne und einer geringen ledigen Frauens - Perſon, welche von einer ſonſt gewoͤhnlichen Ehe ſich dadurch unterſcheidet, daß man in ſelbige ohne die ſonſt gewoͤhnlichen Ceremo - nien trit, und die Concubine nebſt den Kin - dern, ſo ſie zeuget, an den Guͤtern und Wuͤr - den des Mannes keinen Antheil hat. Der Pellicatus aber iſt eine ehliche Geſellſchafft, in welcher ein Mann neben der Frau vom er - ſten Rang andere Nebenfrauen haͤlt, die nicht wie die erſte, an ſeinen Wuͤrden und Vermoͤgen Antheil haben. Diejenigen, ſo dieſen Unterſchied nicht beobachten, betruͤgen die Unwiſſenden, und uͤberreden ſie faͤlſchlich, wo in alten Urkunden des Concubinats ge - dacht werde, da ſey die Rede von einer Ehe, wo neben der erſten Frau auch andere vom geringern Range ſich befinden. Unſer Ge -lehrter zu thun? Der Richter kan die - ſem Uebel nicht abhelffen, weilen er einer capricieuſen174 capricieuſen oder auch einer Frau von kal - ter Natur nicht allenthalben nachgehen kan, ohne welches doch das Gebot eines Richters zu Waſſer und der Beyſchlaf auf Seiten des Mannes unertraͤglich wird. Wie offt geraͤth eine Frau in lang - wierige Kranckheiten, wodurch ſie zum Beyſchlaf, zum wenigſten auf eine gerau - me Zeit, ungeſchickt wird? Wie vielmal wird eine Frau durch die Geburth ſo uͤbel zugerichtet, daß ſie nicht mehr Kinder zu zeugen tauglich iſt? Was giebt es nicht vor vielfaͤltige Caſus, da es ein Eckel iſt, einer Frauen ferner beyzuwohnen? Was gehet nicht vor Zeit durch die hohe Schwangerſchafft ſechs Wochen und Menſes ab? Wo ſoll da ein vollbluͤtiger Mann hinaus? Gewiß ein ungluͤck - licher Mann, der mit einer halben Ver - zweiffelung dieſe Frage aufwerffen muß! Jch koͤnnte viel darauf antworten. Jch will aber vorjetzt dieſer Frage nur andere entgegen ſetzen. Wenn mir ſelbige je - mand mit gehoͤrigen Gruͤnden beantwortet, ſo will ich auf die obige auch Antwort geben. Was ſoll denn in allen oberwehnten Faͤllen ein vollbluͤtiger Mann machen, der arm iſt,und175und weder Frau noch Concubinen ernehren kan? Was ſollen aber vornemlich die voll - bluͤtigen Weibsperſonen anfangen, die aus Zwang der Eltern einen Mann haben neh - men muͤſſen, der ihnen nicht gefaͤllt? Oder wo ſollen ſie hinaus? Wenn der Mann auf geheime Commißionen oder Geſandſchaften oder wider den Feind ins Feld ziehen muß? Was ſollen ſie thun? wenn der Mann kal - ter und ſchlaͤfriger Natur; oder durch vie - le Strapatzen und uͤppiges Leben der jun - gen Jahre vor der Zeit unvermoͤgend wird; oder in eine langwierige Kranckheit ver - faͤllt; oder der Frau eckelhafft wird? Ma - chen dergleichen Umſtaͤnde auf Seiten der Maͤnner die Kebsweiber nothwendig, ſo werden eben dieſelben Umſtaͤnde die voll - bluͤtigen Frauens-Perſonen berechtigen, ſich nach geſchickten Cammer-Dienern umzuſehen. Die Nothwendigkeit neben dem erſten Manne noch neben Maͤnner zu haben, laͤſſet ſich aus obigen Gruͤnden eben ſo gut beweiſen, als die Nothwendigkeit der Nebenfrauen. So viel Freyheit will aber unſer Gelehrter den Schoͤnen nicht zu - geſtehen. Er behauptet vielmehr, daß, wenn ein junges Frauenzimmer einen altenund176und ſchon gantz erkalteten Mann nimmt, ſie mit ſelbigen ſoll zufrieden ſeyn, weil ſie ſeine Ohnmacht vorher wiſſen koͤnnen. Sollte ein vornehmer Rechtsgelehrter die Rechte wohl ſo ungleich und partheylich austhei - len? wenn der Mann kranck wird, ſoll die Frau aufwarten und keinen andern geſun - den Mann ſuchen. Wenn aber die Frau auf einige Tage Beſchwerungen hat, ſo heißt es: Wo ſoll der vollbluͤtige Mann hinaus? Muntere Nebenfrauen her. Doch er iſt ein Mann, und ſorget alſo vor - nemlich fuͤr ſein Geſchlecht. Seine Sorg - falt hat daher auch an die kaltſinnigen Manns-Perſonen gedacht. Das Recht ſeiner Vernunfft verlanget, daß das junge und feurige Frauenzimmer die Gegend des Hertzens nicht zu ſehr bedecke, damit von ſelbigen ein Feuer in jene kalten Glieder fahre, und die Augen der ſchon Entzuͤndeten geweidet worden. Verliebte Vernunfft! Man beſchuldiget die Gemahlin des Juſti - nianus, daß ſie einige Geſetze zum Vortheil des weiblichen Geſchlechts in das Corpus Juris gebracht, und ſich dabey ein wenig gar zu guͤnſtig fuͤr ihr Geſchlecht erzeiget. Aber gewiß, ſie iſt in der Liebe fuͤr ihr Ge -ſchlecht177ſchlecht ſo weit nicht gegangen, als einige Patronen wolluͤſtiger Maͤnner in der Gunſt gegen ihres gleichen. Unſer Ge - lehrter gehet ſo weit, daß er den Nutzen der Nebenfrauen auch darin mit ſetzet, daß als - denn ein Fuͤrſt nicht noͤthig habe, ſein Haus und das Land mit vielen Printzen zu be - ſchweren, ſondern, wenn er deren ein paar gezeuget, koͤnnte er ſich zu den Nebenfrauen halten, deren Kinder an der fuͤrſtlichen Wuͤrde keinen Antheil haͤtten. Die Fuͤr - ſtin ſoll alſo aus dem Ehebette welchen, wenn ſie ein paar Printzen zur Welt ge - bracht, und auf Zeit Lebens die Einſamkeit ſuchen, und Nebenfrauen ihren Platz ein - raͤumen. Der Fuͤrſt ſoll die Beſchwerde, wenn es anders eine Beſchwerde und nicht vielmehr eine heilſame Ruhe iſt, nicht uͤber ſich nehmen, daß er alle Monathe einige Tage einen gewiſſen vertrauten Umgang mit ſeiner Gemahlin meide. Wenn aber die Fuͤrſtin zween Printzen gebohren, ſo ſoll ihre Belohnung ſeyn, daß ſie aus dem Ehe - bette geſtoſſen wird. Jſt es moͤglich, daß ein Mann von ſo groſſer Einſicht, und ein angeſehener Prieſter der Gerechtigkeit ſo weit von Wahrheit und Billigkeit abwei -Jacobi Betr. 2. Band. Mchen178chen koͤnne? Jſt es moͤglich, daß ein Lehrer der Billigkeit um einigen Maͤnnern zu ſchmeicheln, ſo gar hart und grauſam gegen dasjenige Geſchlecht ſeyn kan, ohne welches nach ſeinen Saͤtzen ein vollbluͤtiger Mann keine ſieben Tage tugendhafft bleiben mag? Wohl aber dem, deſſen Tugend nicht auf ſolchen Stuͤtzen ruhet.

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(*)lehrter verſichert ſolches denjenigen, die es nicht beſſer wiſſen, ohne alles Bedencken. Unter den vornehmen Roͤmern war gewoͤhn - lich, daß mancher ſich lieber mit einer gerin - gen Frauens-Perſon ohne die gewoͤhnlichen Ceremonien ehlich verband, als mit einer, die ſeinem Stande gleich war, und die er ſei - ner Wuͤrden und Guͤter muſte theilhafftig machen. Jene nennte man eine Concubine und hatte weder fuͤr ſich noch fuͤr ihre Kinder Recht an den Ehren und Guͤtern des Man - nes, und konnten nichts als ihren Unterhalt fordern. Und wie die Ehen vom erſten Rang bey den Roͤmern durch eine willkuͤhr - liche Scheidung konnten aufgehoben wer - den, ſo hatte es mit dieſen Ehen vom zweyten Rang gleiche Bewandniß. Der Pellicatus aber, oder die Ehen mit einer Hauptfrau und einer oder etlichen Nebenfrauen zugleich waren durch die Roͤmiſchen Geſetze ver - bothen. Hatte jemand eine Concubine, ſo durffte er keine Frau vom Stande haben. Hatte er aber eine Frau vom erſten Rang, ſo durfte er keine Concubine halten. Wenn derowegen in den Roͤmiſchen Rech - ten des Concubinats gedacht wird, ſo iſt die Rede von der Ehe eines Vornehmern mit einer geringern Perſon, die er nicht ſeinem Stande gemaͤß haͤlt, und womit er Kinder zeuget, die mit der Mutter einerley Rang ha - ben. Keinesweges aber wird dadurch eine Vielweiberey vom ungleichem Rang ange - zeiget, denn ſelbige iſt auch bey den Roͤmern, als ſie noch Heiden waren, nicht erlaubt ge - weſen. Unſer Gelehrter muß derowegen erſt beweiſen, daß wenn unter den ChriſtenM 2ein180ein Concubinat iſt geduldet worden, es ein ſolcher Concubinat geweſen, als er verthei - diget. Er muß beweiſen, daß es ein Pelli - catus geweſen. Welches er nimmer wird thun koͤnnen. Daß die erſten Chriſten ihm nicht ergeben geweſen noch gebilliget, erhel - let daraus, daß ſie den Juden vorhalten koͤn - nen, wie ſie auch darinne von juͤdiſcher Wei - ſe abgiengen, daß ſie ſich mit einer Frau be - gnuͤgten. Jvſtinvſ Martyr in Dial. cum Tryphone. Und daß ſie insbeſondere die Kebsweiber fuͤr unerlaubt gehalten, bewei - ſet Clemenſ Alexandr. Pædag. Lib II. Cap. 10. Was anbelangt den eigentlichen Concubinat d. i. die ehliche Verbindung ei - nes vornehmern ledigen Mannes mit einer geringern ledigen Frauens-Perſon, ſo daß ein jedes von beyden ſeinen eigenen Stand behaͤlt und die Kinder am Stande der Mut - ter gleich werden und den Vater nicht beer - ben, ſo mache ich bey demſelben folgende An - merckungen. Erſtlich beluͤget man die Theo - logen, wenn man ſie uͤberhaupt beſchuldiget, daß ſie dieſen Concubinat verdammet, indem ſie des Thomaſens Diſputation vom Concubinat widerleget. Thomas verthei - diget den Pellicatum oder das Recht Kebs - weiber neben der erſten Frau zu haben, und hierin haben ihm wenigſtens die Theologen, ſo ich geleſen habe, allein widerſprochen. Was den Roͤmiſchen und anjetzt beſchriebe - nen Concubinat betrifft, ſo glaube ich nicht, daß ihn heutiges Tages ein Theologe gantz verwerfen wird, wenn der Roͤmer Schei - dung, die bey allen ihren Ehen erlaubt war, und Chriſtus bey allen Ehen aufgehoben, davon getrennet wird. O wie oft wuͤnſcheich,181ich, daß ſich in dergleichen Streitigkeiten kei - ne unordentliche Leidenſchafften miſchen moͤchten, welche oft verurſachen, daß einer dem andern faͤlſchlich die groͤſten Thorhei - ten auf buͤrdet. Jch mache zweytens eine Anmerckung bey dem Vorgeben, als waͤre der Roͤmer Concubinat unter den aller er - ſten Chriſten gantz gemein geweſen. Jch glaube nicht, daß man unter den Chriſten eher Exempel davon gehabt, als da man bey dem Kayſerlichen Hofe den Namen des Chri - ſtenthums angenommen. Man findet we - nigſtens keine gewiſſe Uhrkunden und kein einiges Exempel davon. Beruft man ſich auf die Lehrer des zweyten Jahrhunderts, welche nicht zum beſten von dieſer Art der Ehe geurtheilet, ſo verwerfen ja ſelbige den Concubinat nicht als eine Sache, ſo unter den Chriſten ſondern unter den Heiden ge - woͤhnlich war. Und ſo, wie er unter den Roͤ - mern im Gebrauch war und gar leicht ge - trennet wurde, wenn die Concubine ihre Schoͤnheit verlohr, oder man ſonſt zur Ver - aͤnderung ſehr geneigt war, oder eine Frau vom Stande nehmen wollte, konnten ſie ihn allerdings nicht billigen. Alles dieſes be - weiſet daher nicht, daß er damals ſchon un - ter den Chriſten und zwar nach Art der Roͤ - mer gewoͤhnlich geweſen. Man ſchlieſſet ferner alſo. Unter den Roͤmern war der Concubinat ſehr gemein. Es haben ſich aber gleich in den erſten Zeiten viele Roͤmer zum Chriſtenthum bekehret. Darunter werden folglich Maͤnner mit Concubinen geweſen ſeyn. Folglich muß unter den erſten Chri - ſten der Concubinat nach Art der Roͤmer gantz gemein geweſen ſeyn. Meiner Ein -M 3ſicht182ſicht nach iſt hiebey ſehr viel zu erinnern. Jſt es erſtlich moͤglich, daß der Concubinat unter den Roͤmern ſo gar gemein geweſen? Der Concubinat iſt eine ehliche Verbindung eines Vornehmen mit einer Geringern. Wie viel waren denn der Vornehmen gegen die vom geringen Stande? Es ſind derſelben allezeit wenig gegen die von gemeinem Stan - de. Bey den Geringern aber hatte der Con - cubinat gar keine Statt. Er kan aber auch unter den Vornehmern ſo gar haͤufig nicht geweſen ſeyn. Viele werden eine Perſon von Stande genommen haben, um einen gu - ten Brautſchatz zu bekommen. Mancher wird auch eine Frau vom Stande haben hei - rathen muͤſſen, um zu gewiſſen Ehren-Stel - len zu gelangen. Kan man ſich einbilden, daß die vornehmen Roͤmer, ſo Toͤchter hat - ten, nicht auch werden getrachtet haben, ſel - bige an Maͤnner von gleichem Stande zu bringen? Endlich aber wehlten auch ver - ſchiedene, wie bekannt iſt, an ſtatt der Con - cubinen huͤbſche Knaben, oder giengen in die oͤffentlichen Hurhaͤuſer. Conf. Joſeph. Lavrentii Tractat. de Adulteriis & Me - retricibus, Tom. VIII. Theſauri Antiqui - tat. Græcar. Gronovii inſertus, nec non Pitiſci Lexicon Antiqu. Rom. Tom. II. p. 187. 188. Der Concubinat war alſo bey weiten ſo haͤufig nicht, als man ſich einbildet. Man uͤberlege aber ferner, wie viel von ſolchen Vornehmen in den allererſten Zeiten des Chriſtenthums Chriſten worden? Es iſt ja bekannt, daß die erſten Chriſten mehrentheils Perſonen vom geringern Stande geweſen. Wie iſt es denn moͤglich, daß viele mit Con -cubinen183cubinen koͤnnen unter ihnen geweſen ſeyn? Geſetzt aber, es hat einer oder der andere mit einer Concubine den Chriſtlichen Glauben angenommen; iſt denn damit bewieſen, daß er ſie voͤllig nach Roͤmiſcher Art behalten und ſich nach Gefallen von ihr geſchieden, und eine andere genommen? Keinesweges. Man wird alſo daran ſo lang zu zweifeln Urſach haben, als niemand tuͤchtige Gruͤnde zum Beweiſe beybringet. Als der Hof Con - ſtantius des Groſſen den Namen des Chri - ſtenthums annahm, findet man, daß einige Vornehme ſich Chriſten genennet, und den Concubinat nach Roͤmiſcher Art fortgeſetzet. Doch hat Conſtantin allen Fleiß angewen - det dieſe Sitte auf eine glimpfliche Art ab - zuſchaffen. Vid. Jvſti Henning Boeh - meri Jus Eccleſ. Proteſt. juxta Seriem Lib. III. Decretal. Lib. III. Tit. II. de Cohabita - tione Clericorum & mulierum §. XII. p. m. 166.
(*)

§. 11.

Da denn aber gewiß, daß die Ehen mitFrage, warum GOtt die Vielwei - berey im A. Bund nachgeſe - hen. mehrern Weibern in den Augen des All - wiſſenden keinen ſo hohen Werth haben als die Ehen zwiſchen einem Manne und einer Frau, und derſelbe daher auch die Verhaͤltniß des weiblichen Geſchlechts zu dem maͤnnlichen alſo eingerichtet, daß ſel - bige mit der Vielweiberey in ordentlichen Staaten ſtreitet, auch im N. T. feſte ge - ſetzt, daß ein jeder Mann ſeine eigene Frau,M 4und184und eine jede Frau ihren eigenen Mann haben ſoll, 1. Cor. Cap. 7. v. 2. ſo fragt man billig, wie denn der weiſeſte und unveraͤn - derliche GOtt die Vielweiberey ſo lange Zeit unter ſeinem Volcke dulden koͤnnen? Es iſt dieſe Frage ſchon laͤngſt von groſſen Maͤnnern gemacht und beantwortet wor - den. Jſt es uns aber erlaubt offenhertzig zu ſagen, was wir ohne den Verdienſten ſolcher Maͤnner zu nahe zu treten, wohl wuͤnſchen moͤchten, ſo iſt es dieſes, daß man lieber geſagt, man erreiche die goͤttliche Ab - ſicht hiebey nicht, als daß einige ſolche Ur - ſachen angegeben, die auf keine Weiſe wahrſcheinlich, und welche ferner die Alt - vaͤter einer gar zu groſſen Thorheit ſchul - dig machen, und uͤberhaupt ſo beſchaffen ſind, daß man nicht einſiehet, wie ſelbige dem Weiſeſten haͤtten koͤnnen genung ſeyn die Vielweiberey nachzuſehen. Man giebt dadurch den Veraͤchtern der geoffenbar - ten Religion ohne Noth Gelegenheit, gif - tige Spoͤttereyen auszuſpeyen. Wie wir uns aber hiemit die Freyheit nehmen oͤffent - lich zu ſagen, was wir von gewiſſen Mei - nungen anderer gedencken, ſo urtheile auch ein jeder nach ſeiner Einſicht von der Mei -nung,185nung, welche wir anjetzo vortragen wol - len.

§. 12.

So weit unſere Einſicht reichet, iſt esVorberei - tung zu der Beant - wortung dieſer Fra - ge. hinlaͤnglich erwieſen, und voͤllig klar, daß GOtt die Vielweiberey nicht ſo gut befun - den als die Ehen zwiſchen einem Manne und einer Frau. Die erſte Ehe, ſo er ſel - ber geſtiftet, und die Verhaͤltniß beyder Geſchlechter gegen einander ſetzen dieſes auſſer allen Zweifel. Wir koͤnnen hier - aus ſicher ſchlieſſen, daß der HErr die Ehen mit vielen Frauen gegen die Ehen eines Mannes mit einer Frau als ein Uebel an - geſehen. Wenn ein weiſer Regente aber ein gewiſſes Uebel in ſeinem Staate dul - det, ſo iſt daraus der ſichere Schluß zu ma - chen, daß gewiſſe beſondere Umſtaͤnde ver - urſachen, daß die Verhinderung eines ſol - chen Uebels ein noch groͤſſer Uebel zeuge. Es traͤgt ſich dieſes nicht ſelten zu, daß ein Regente ein geringer Uebel zugeben muß, um ein groͤſſeres zu verhuͤten. Und wo iſt nur ein Hauß-Vater, der nicht zuweilen genoͤthiget iſt, aus zween Uebeln eines zu wehlen? Die Weißheit GOttes raͤth gleichfalls in der weitlaͤuftigen RegierungM 5der186der Welt ein geringer Uebel zuzulaſſen, wenn ein groͤſſeres auf keine beſſere Weiſe kan verhuͤtet werden. Und hieraus muͤſ - ſen viele Dinge in ſeiner Regierung erklaͤ - ret werden, die ſonſten mit den Vollkom - menheiten GOttes zu ſtreiten ſcheinen. Wenn wir derowegen ein gewiſſes Ubel in der Welt finden, ſo der HErr duldet, ſo koͤnnen wir wegen ſeiner unendlichen Weiß - heit und Heiligkeit nicht anders gedencken, als es geſchehe ſolches um ein groͤſſeres Uebel zu verhuͤten. Eben dieſes gedencke ich daher auch bey der eine lange Zeit von GOtt nachgeſehenen Vielweiberey.

§. 13.

Jn den al - ten Zeiten wurde eine erſtaunen - de Menge Manns - Perſonen in den ſehr vielen und hitzigen Kriegen aufgerie - ben.
54

Wir muͤſſen derowegen verſuchen, ob wir in den damahligen Umſtaͤnden der Welt das groͤſſere Ubel entdecken koͤnnen, welches durch die Duldung der Vielwei - berey verhuͤtet worden. Wenn wir aber die aͤltern Zeiten der Welt betrachten, ſo finden wir, daß ſelbige in unzehlbare klei - ne Staaten zertheilet geweſen. Jn den erſten Zeiten nach der Suͤndfluth waren faſt ſo viel Koͤnige und Koͤnigreiche als mit - telmaͤßige Staͤdte. Es ſind dieſe Dingezu187zu bekannt, als daß ich noͤthig haͤtte ſelbige erſt zu beweiſen. Nach und nach ver - ſchlang zwar ein kleiner Staat den andern, allein es dauerte doch noch ſehr lange, ehe einige recht groſſe und maͤchtige Koͤnigrei - che entſtunden. Alle glaubwuͤrdige Nach - richten von den Geſchichten der Welt be - ſtaͤtigen dieſes. Alle groſſe Reiche, davon die heilige, und weltliche Hiſtorie etwas weiß, ſind nach und nach aus kleinen Staa - ten zuſammen gewachſen. Ein jeder klei - ner Staat aber hatte die Begierde ſeine Herrſchafft zu erweitern. Ein jeder trach - tete den andern zu verſchlingen. Weil nun der kleinen Staaten ſo gar viel waren, ſo war immer eine groſſe Menge Schwerdter gezuckt, und einer lag gegen die andern zu Felde. Dieſe Kriege waren ungemein blutig, und dieſes aus zwo Urſachen. Erſt - lich war nach der Groͤſſe eines jeden Staats die Menge derer, welche ſtritten, weit groͤſ - ſer als jetzt. Denn ein jeder Buͤrger, den das Alter oder Schwachheit nicht die Er - laubniß gab zu Hauſe zu bleiben, war Soldat und muſte ins Feld und auf die Mauren. Wir finden daher, daß mittel - maͤßige Staaten ſo viel und mannigmahlmehr188mehr Soldaten ins Feld ſtellten, als jetzo gantz groſſe Reiche thun koͤnnen, da man eine gantz andere Art von Kriegs-Leuten eingefuͤhret. Der eintzige Stamm Ben - jamin ſtellte ehemahls ſechs und zwantzig tauſend Mann in den Streit wider Jſ - rael. Und das uͤbrige Jſrael war im Stande, vier hundert tauſend ſtreitbare Maͤnner zuſammen zu bringen. B. der Richt. Cap. 20. v. 15. 17. Rehabeam Koͤ - nig uͤber Juda und einem Theil von Ben - jamin, deſſen gantzes Koͤnigreich kaum ei - nem mittelmaͤßigen Hertzogthum in Teutſch - land gleich, konnte eine Armee von hundert und achtzig tauſend junger und ſtreitbarer Mannſchafft ſtellen, 2. B. der Chron. Cap. 11. v. 1. Abia ein Koͤnig Juda brachte gar vier hundert tauſend junger Mannſchafft zuſammen, und Jerobeam der Koͤnig Jſ - rael fuͤhrte acht hundert tauſend wider ihn ins Feld. 2. B. der Chron. Cap. 13. v. 3. Und es iſt bekannt, was fuͤr anſehnliche Krieges-Heere eintzelne Staͤdte in Grie - chenland zuſammen gebracht. Die groſſe Menge derer, die da ſtritten, war derowe - gen eine Urſache, warum die Kriege in den alten Zeiten ſehr blutig waren. Hierzuaber189aber kam zweytens ihre Art zu fechten. Jn der Ferne konnte man ſo ſonderlich viel nicht ausrichten. Man hatte zwar Schleu - dern, Wurfſpieſe und Pfeile. Mit ſelbi - gen aber that man dem Feinde den groͤſten Abbruch nicht. Das Hauptwerck kam auf Spieß und Degen an. Derowegen drang man mit groſſer Gewalt auf einan - der ein, und ſuchte einander in Unordnung zu bringen, da denn eine groſſe Menge Men - ſchen getoͤdtet wurde. Wenn denn end - lich der eine Theil anfieng zu weichen, ſo geſchahe die Flucht auch nicht ſo ordent - lich, wie anjetzo. Die Soldaten waren Buͤrger, und folglich zum Theil angeſehe - ne und reiche Leute. Selbige waren aber zu keinem ſolchen Gehorſam und Unter - wuͤrfigkeit zu bringen, als der jetzige Sol - dat. Wenn es derowogen zum Fliehen kam, ſo ſuchte ſich ein jeder nach ſeinem Gutbefinden zu retten. Sie zerſtreueten ſich derowegen ſehr, und es war ungemein ſchwer, ſie wieder zuſammen und in Ord - nung zu bringen. Der verfolgende Theil hatte daher insgemein Gelegenheit von dem fluͤchtigen Feinde noch eine groſſe Anzahl nieder zu machen. Endlich machte dieſesihr190ihr Gefechte ſehr grauſam, daß man mit den Gefangenen ſehr hart umgieng. Jhre Freunde pflegten ſich um ſelbige nicht viel zu bekuͤmmern. An einigen Orten wur - den ſie fuͤr infam gehalten, und die Feinde verkauften ſie daher insgemein zu einem harten Sclaven-Dienſt. Viele fochten derowegen lieber, bis ſie ihr Leben einbuͤſ - ſeten, als daß ſie ſich haͤtten zu Gefangenen ergeben ſollen. Daher geſchahe es denn, daß auch zwiſchen gantz kleinen Staaten weit groͤſſere Niederlagen geſchahen, als jetzo in den Kriegen zwiſchen den maͤchtig - ſten Haͤuptern. So wurden zu den Zei - ten der Richter ehemals in einer eintzigen Schlacht und auf der Flucht von dem ein - tzigen Stamm Ephraim zwey und viertzig tauſend getoͤdtet. B. der Richter Cap. 12. v. 6. Jn einem gantz kurtzen Kriege der uͤbrigen Staͤmme Jſrael mit dem Stamm Benjamin verlohren jene viertzig tauſend Mann, und dieſe fuͤnf und zwantzig tau - ſend ein hundert. B. der Nichter Cap. 20. v. 21. 25. Jerobeam der Koͤnig Jſrael, als er wider Abia den Koͤnig ſtritt, verlohr in einer Schlacht fuͤnf hundert tauſend. 2. Chron. Cap. 13. v. 17. Und hieraus iſt leichtzu191zu ſchlieſſen, daß auf der andern Seite auch muͤſſen Leute geblieben ſeyn.

§. 14.

Als nach und nach ein kleiner StaatFortſe - tzung des vorigen. den andern unter ſich brachte, und gantz groſſe Reiche entſtunden, ſo konnten zwar ſo viel Menſchen nicht mehr zu Felde zie - hen, wie vorher und eine Urſache des gar haͤufigen Blutvergieſſens hoͤrte alſo auf. Aber die uͤbrigen, ſo wir angefuͤhrt, blie - ben annoch. Wenn groſſe Reiche Krieg fuͤhren, ſo koͤnnen ſelbige nach ihrer Groͤſſe und Verhaͤltniß zu kleinern Herrſchafften nicht ſo viel Leute ins Feld ſtellen, als wenn ſelbige noch in gantz kleine Staaten zer - theilt ſind, und dieſe einander bekriegen. Denn ſelbige haben nicht weit zu reiſen, ehe ſie an die Grentzen ihres Feindes kom - men, und koͤnnen folglich heute pfluͤgen und das Land bauen, und morgen eine Schlacht liefern. Proviant und Krieges-Geraͤth - ſchafft kan auch leicht einige Stunden fort - geſchaffet werden. Jn ſolchen Staaten kan faſt die gantze Mannſchafft zu Felde gehen. Jn weitlaͤuftigen Reichen aber iſt ſolches nicht ſo moͤglich. Jn ſelbigen muͤſ - ſen viele einen groſſen Weg thun und hun -dert192dert und mehr Meilen reiſen, ehe ſie auf die Grentze kommen. Solche koͤnnen folglich nicht ihren Acker bauen, und auch ſtreiten. Sondern es muß eine anſehnliche Menge Manns-Perſonen zu Hauſe bleiben, die das Haußweſen verſehen. Ferner faͤllt es ſehr ſchwer fuͤr die zahlreichen Armeen groſſer Reiche die Lebens-Mittel und Krie - ges-Geraͤthſchafft nachzufahren, und muͤſ - ſen ſchon ſehr viel Leute dazu gebraucht werden, welche fechten koͤnnen, wenn alles in kleine Staaten zertheilet iſt und die Ar - meen nicht weit reiſen. Es iſt folglich klar, daß in groſſen Reichen nach ihrer Ver - haͤltniß gegen kleine Staaten, nicht ſo viel Menſchen zu Felde gehen koͤnnen, als in dieſen kleinen Geſellſchafften. Als dero - wegen groſſe Reiche aus den kleinen Herr - ſchafften zuſammen wuchſen, ſo wurde das maͤnnliche Geſchlecht in etwas mehr ge - ſchonet als vorher. Doch blieben noch viele hundert Jahre die uͤbrigen Urſachen des unſaͤglichen Blutvergieſſens, welche wir oben angefuͤhret. Faſt ein jeder Un - terthan wurde von Jugend auf zum Krie - ge erzogen und wer nur einiges Geſchick dazu erlangte, war verbunden, wenn eserfor -193erfordert wurde, zu Felde zu gehen. Und daher brachte man gar leicht die zahlreich - ſten Armeen zuſammen, man fochte noch auf die oben beſchriebene Art auf das aller - haͤrtnaͤckigſte und machte ſolche Niederla - gen, die uns anjetzt unglaublich vorkom - men. Ein Exempel davon kan der Krieg des Perſiſchen Koͤniges Xerxes wider die Griechen abgeben. Weil nicht ein jeder von unſern Leſern dergleichen Buͤcher in Haͤnden hat, darinnen er Nachricht von dieſer Geſchichte finden kan, ſelbige aber unſerm Beweiſe, welchen wir fuͤhren wol - len, ein groſſes Gewicht giebet, ſo wollen wir ſelbige hier einruͤcken, wie ſie Hun - phrey Prideaup in ſeinem alten und neuen Teſtament in eine Connexion mit der Juͤden, und benachbarten Voͤl - cker-Hiſtorie gebracht aus den aͤlteſten Geſchicht-Schreibern als dem Herodo - tus, Diodorus Siculus, Plutar - chus und anderen zuſammen getragen.

§. 15.

Dieſer aber erzehlet ſelbige in dem ge -Weitere Fortſe - tzung. meldeten Buche, Theil I. Buch IV. Seite 296. und ferner alſo:

Jacobi Betr. 2. Band. N Da194

Da Xerxes den Griechiſchen Krieg al - ſo reſolviret hatte, trat er mit den Cartha - ginenſern in ein Buͤndniß, wodurch man eins ward, daß indem die Perſier in Grie - chenland eindrungen, die Carthaginenſer alle die, ſo Griechen hieſſen, in Sicilien und Jtalien anfallen ſollten, damit ſie ein - ander in dem Krieg nicht helfen moͤchten. Die Carthaginenſer erwehlten den Ha - milcar zu ihrem General in dieſem Kriege, welcher nicht allein alle Macht in Africa zuſammen nahm, ſondern auch durch das ihm vom Xerxes zugeſchickte Geld einen Haufen Mieth-Voͤlcker aus Spanien, Gallien und Jtalien warb, alſo, daß er ei - ne Armee von 300000. Mann, und eine nach Proportion eben ſo groſſe Flotte be - kam, um der Alliirten Jntention hinaus zu fuͤhren.

Und nachdem alſo Xerxes, wie der Prophet Daniel verkuͤndiget, durch ſeine Macht und ſeinen groſſen Reichthum die damals bekannte und bewohnte gantze Welt, das iſt, den gantzen Occident unter Commando des Hamilcars, und den gan - tzen Orient unter ſeinem eignen, wider das Griechiſche Reich erreget hatte, machte er ſich195 ſich im 5ten Jahr ſeiner Regierung, wel - ches war das 10te nach der Marathoni - ſchen Bataille, von Suſa auf, und als er bis nach Sardis geruͤckt, ſtund er den Winter uͤber da ſtille. Jn dem naͤchſten Fruͤhling ſehr zeitlich brach Xerxes nach dem Helleſpont auf, uͤber welchen zwey Schiffbruͤcken geſchlagen waren. Ueber die eine gieng ſeine Armee, uͤber die andere ſeine Bagage und Laſt-Thiere in ſieben Tagen, binnen welcher Zeit Tag und Nacht die Bruͤcke ſtets voll war, ehe des Uebergehens ein Ende wurde, ſo groß war die Anzahl derer, welche zu dieſer Expedi - tion gebrauchet wurde. Von dar mar - chirte er durch die Thraciſche Halb-Jn - ſul, und gelangete endlich bey der Stadt Doriſcus, an dem Einfluß des Fluſſes He - brus in Thracien an. Als er daſelbſt mit ſeiner Armee ſein Lager aufgeſchlagen, und der Flotte Ordre gegeben hatte, ſeiner allda zu warten, nahm er daſelbſt beyde in hohen Augenſchein. Seine Armee zu Lande, war bey der Muſterung eine Mil - lion und 700000. zu Fuſſe, und 80000. zu Pferde ſtarck befunden, auſſer den Wa - gen und Cameelen, und wenn man alſoN 2 dieſe196 dieſe noch 20000. mehr rechnet, ſo kom - men gerade eine Million und 800000. Menſchen heraus. Seine Flotte beſtund in 1207. Kriegsſchiffen, auſſer den Galee - ren, Transport - Proviant - und anderer Art Schiffen, ſo bey der Hand waren, welche in die 3000. ausmachten, die Militz ſo darauf embarquiret war, wurde auch auf 517610. Menſchen gerechnet. So daß die gantze Macht zu Waſſer und zu Lande, welche Xerxes mit ihm aus Aſien nahm, in Griechenland einzufallen, auf 2. Millionen 317610. Mann kam. Nach - dem er den Helleſpont paßiret war, ſtieſſen die Voͤlcker von dieſer Seite, ſo ihm un - terthaͤnig waren, wieder in die 300000. Mann zu ſeiner Armee zu Lande, und 220. Schiffe mit 24000. Mann zu ſeiner Flot - te. Alſo kamen an den engen Paͤſſen, Thermopylaͤ genannt, zur ſelben Zeit an ſeiner gantzen Macht zu Waſſer und Lan - de 2. Millionen 641610. Menſchen zuſam - men. Der Knechte, Verſchnittenen, Weiber, und Marcktaͤnter aber, und an - der ſolche Volck, das dem Lager folgte, wa - ren ehe mehr als weniger. So daß die Anzahl aller Menſchen, die dem Xerxes in dieſer197 dieſer Expedition folgten, zum wenigſten 5. Millionen war. Das iſt es, was He - rodotus von ihnen vorgiebt; und Plu - tarchus und Jſocrates ſtimmen auch da - mit uͤberein. Diodorus Siculus aber, Plinius, Aelianus und andere haben in ihrer Anzahl weit weniger, und machen die Armeen des Xerxis, welche damals uͤber den Helleſpont in Griechenland gieng, ein klein wenig groͤſſer, als die, mit welcher Darius ſein Vater, uͤber den Bospho - rus gieng, die Scythier zu bekriegen. Es iſt probable, ſie werden dieſen Zug mit jenem vermenget haben. Die Verſe, welche auf der Griechen, ſo bey Thermopylis geſchla - gen waren, ihr Grabmahl geſchrieben wurden, ſtimmen auch mit des Herodotus Bericht uͤberein. Denn in denſelben wird geſagt, daß ſie da wider 2. Millionen Menſchen gefochten. Und weil er der aͤlteſte Autor iſt, der von dieſem Kriege geſchrieben, und in dem Alter gelebet hat, worinnen er gefuͤhret worden, und ihn mit mehrern Umſtaͤnden, und genauerer Kundſchafft tractiret hat, als irgends ein anderer, ſo ſcheinet ſeine Rechnung die wahrhafftigſte zu ſeyn, und inſonderheit,N 3 da198 da wir ſonſt von den Alten durchgehends, ſo wohl Griechen als Lateinern, ſtatuiret finden, daß dies die groͤſte Armee geweſen, die je ins Feld geſtellet worden.

Nachdem Xerxes ſeine Armee und Flotte zu Doriſcus in Augenſchein genom - men, marchirte er von dar mit ſeiner Ar - mee durch Thracien, Macedonien, und Theſſalien gen Attica, und befahl ſeiner Flotte, den gantzen Weg hindurch an den Kuͤſten acht auf ihn zu haben, und eben zur See da ſtille zu liegen, wo er es zu Lande thaͤte. Alles ergab ſich an ihn auf ſeinem March, ohne den geringſten Widerſtand, bis er an die engen Paͤſſe, Thermopylaͤ genannt, kam, allwo ihm Leonidas, der Lacedaͤmonier Koͤnig, mit 300. Sparta - nern, und ſo viel Griechen, die ohngefehr ein Corpo von 4000. Mann ausmachten, im Wege ſtund, und den Paß wider ihn defendirte. Zwo Tage lang hielte er ge - gen eine ſo ungeheure Armee der Perſer aus, und trieb ſie in jedem Anfall mit einer groſſen Niederlage der ihrigen zuruͤck. Als er aber am dritten Tage in Gefahr gerieth, von den Perſern durch die Verraͤ - therey eines Griechen, der ſie durch einen heim -199 heimlichen Weg uͤber das Gebuͤrge fuͤhr - te, ihm in den Ruͤcken zu fallen, umringet zu werden, retirirten ſich alle, auſſer dem Leonidas, und ſeine 300. Spartaner nebſt einigen wenigen andern, die ihn nicht ver - laſſen wollten; dieſelben blieben nun auf ihrer Poſt, die ſie ſich zu behaupten vorge - ſetzet hatten, und wurden endlich alle auf der Stelle niedergemacht. Jedoch die Perſer bezahlten dieſen Sieg gar theuer, denn ſie verlohren dabey von ihren Leuten 20000. Mann, und unter denſelben 2. Bruͤder des Xerxis.

Nachdem gieng Xerxes durch Boͤotia in Attica, der Athenienſer Land, nachdem er auf ſeinem March dahin ſeit Ueberſe - tzung uͤber den Helleſpont 4. Monden zu - gebracht hatte. Die Athenienſer, wel - che einer ſo groſſen Macht nicht gewachſen waren, verlieſſen ihre Stadt, ſchiffeten al - le ihre Leute ein auf ihre Flotte, und ſicher - ten ihre Weiber und Kinder in Salamis, Aegina, und Troͤzene, den benachbarten Staͤdten, an welche, weil die See dazwi - ſchen gieng, die feindliche Armee nicht tref - fen konnte, alſo, daß Xerxes bey ſeiner An -N 4 kunft200 kunft daſelbſt ſich alles ohne Widerſtand bemeiſtern konnte.

Jndeſſen da die Perſiſch-und Griechi - ſchen Flotten gantz nahe an einander la - gen, die erſtere zu Alphetaͤ, und die andere zu Artemiſium, uͤber Euboͤa, paßirten im - mer kleine Treffen unter ihnen, in denen die Griechen allezeit Vortheile hatten, und ob er wohl eben ſo groß nicht war, ſo dienete er doch dazu, ihnen zu zeigen, daß der Feind, unerachtet ihrer groſſen Anzahl, nicht unuͤberwindlich waͤre, welches ihnen ein Hertze machte, mit groͤſſerm Muth und Reſolution fernerhin wider ſie zu fech - ten. Gleichwohl hatten ihre Schiffe bey den kleinen Stoͤſſen unter einander viel erlitten, und dahero funden ſie noͤthig, ſich in einen ſichern Ort zu ihrer Verbeſſerung zu retiriren, und deßwegen kamen ſie in die engen Paͤſſe Salamis, wo ſie nicht allein wieder repariret, ſondern auch durch viele andere Schiffe geſtaͤrcket, und vermehret wurden; denn es kamen dieſelbe aus al - len Enden Griechen Landes zu ihnen, und conjungirten ſich wider den allgemeinen Feind, bis zuletzt eine Flotte von 300. Se - gel ſtarck ward. Mitlerweile als ſie dalagen,201 lagen, ruͤckte Xerxes in Athen ein, und deßwegen kam auch die Perſiſche Flotte dahin, und anckerte zu Phalerus, einen Hafen an denſelbigen Ufer. Die Enge bey Salamis, wo die Griechiſche Flotte lag, war der allerbequemſte Ort fuͤr ſie, darinnen ſie gegen die ſtarcke Flotte des Feindes fechten konnten, und haͤtten ſie ihn nicht beſſer wuͤnſchen koͤnnen. Denn weil die See da enge war, und folglich die Perſier ihre Schiffe nicht alle en fronte gegen der Griechen ihre ſtellen und ſie um - ringen konnten, ſo half es ihnen nichts, ob ihre Flotte gleich noch einmal ſo groß war, als dieſer, und muſten ſie gleich und gleich gegen einander treffen. Themiſtocles, der Athenienſer Admiral, hatte dieſen Vortheil ſehr weislich in acht genommen, und brachte es durch ſeine Klugheit und Geſchicklichkeit dahin, daß es daſelbſt zur Bataille zwiſchen ihnen kam, worinnen die Griechen wegen des vortheilhafften Orts den Sieg gewonnen, und dem Fein - de ſeine Niederlage verurſachten, daß da - durch ihre Anſpruͤche und Jntentiones dieſer ſo ungeheuren Expedition, welche ſo wohl der Koſten, als der Menge der Men -N 5 ſchen202 ſchen halber, die geoſte war, ſo jemals un - ternommen worden, gaͤntzlich zernichtet wurden. Denn da ſie ihnen uͤber 200. Schiffe ruiniret, auſſer denen, welche ſie gefangen bekommen, retirirten ſich die an - dern nach den Kuͤſten Aſiens, und als ſie daſelbſt bey Cyma, einer Stadt in Aeolien, geanckert, blieben ſie den Winter uͤber da - ſelbſt ſtille liegen, und kamen nicht wieder in Griechenland. Xerxes gerieth aber in ein Schrecken, es moͤchten die Sieger nach dem Helleſpont zuſeegeln, und ihm da den Paß zum Ruͤckwege verhauen, flohe derowegen mit groͤſter Eil und Ge - ſchwindigkeit dahin, und nachdem er Mar - donium mit 300000. Mann zuruͤck gelaſ - ſen, den Krieg in Griechenland zu fuͤhren, marchirte er mit dem Reſte zuruͤck nach Sardis, und nahm da die Winter-Quar - tiere auf das folgende Jahr. Es iſt re - marquale, daß, als er bey ſeiner Ruͤckkunft die Schiffbruͤcke, ſo er zuruͤck gelaſſen, durch allerhand Stuͤrme verſehrt gefun - den, derjenige, welcher vor wenigen Mo - nathen mit groſſer Pracht und Hoffarth heruͤber paßiret war, jetzt auf einem armen Schiffer-Kahn zuruͤck zu gehen genoͤthi - get wurde.

Um203

Um eben die Zeit wurden ſeine Confoͤ - derirten, die Carthaginenſer, mit einer ſo groſſen, wo nicht groͤſſern Niederlage in Sicilien empfangen. Denn nachdem Hamilcar, ihr General, ſeine ungeheure Armee, davon ich bereits Nachricht gege - ben, zuſammen gezogen, und ſie in die groſ - ſe Flotte eingeſchiffet hatte, die er zu ihrem Transport zugerichtet hatte, ſegelte er mit ihnen gen Sicilien, landete bey Panor - mus, einem Hafen ſelbiger Jnſul, an, und belagerte ſogleich Himera, eine Seeſtadt in der Nachbarſchafft. Mitlerweile als er da lag, ließ er zu ſeiner beſſern Sicher - heit 2. groſſe Lager fortificiren, in das eine verlegte er ſeine Armee zu Lande, in das andere zog er ſeine Schiffe, und ſtellte alle Militz zur See zu ihrer Beſchuͤtzung hin - ein. Selo hieß der damalige Koͤnig in Sicilien, ein Fuͤrſt von groſſer Weisheit, Klugheit, und Tapferkeit. So bald derſelbe von dieſem Einfall Nachricht hat - te, zog er eine Armee von 50000. Mann Fußvolck, und 5000. Reutern an ſich, und marchirte gleich auf den Feind loß, das Land zu vertheidigen. Als er naͤher an Himera kam, fieng er einen Courier mit Briefen204 Brieffen von den Salinutinern, der Car - thaginenſer confoͤderirten, an den Hamil - car auf, woraus er ſehen konnte, daß Ha - milcar den folgenden Morgen dem Nep - tuno in dem See-Lager ein groß Opfer thun wollte, und daß er Salinuntiniſche Pferde beſtellet, die dahin zu ihm kommen ſollten. Selo nahm dieſen Vortheil von dem Verſtaͤndniß in acht, ſchickte zu ge - ſetzter Zeit einige von ſeinen eigenen Pfer - den dahin, und als dieſelbe in dem Lager vor Salinuntiner angenommen worden, erſchlugen ſie erſt den Hamilcar, und ſteck - ten hernach die Flotte an. So bald das geſchehen war, und Selo deſſen durch ein von der Hoͤhe eines naͤchſt angelegenen Huͤgels, wohin er mit Fleiß Wachten an - geordnet hatte, durch ein Signal verſtaͤn - diget worden, ruͤckte er mit ſeiner Armee vor das andere Lager des Feindes, und liefferte ihm eine Schlacht. Als aber die von dem Seelager aufſteigende Flamme den Carthaginenſern das Un - gluͤck ihrer Flotte verkuͤndiget hatte, und ihnen zu gleicher Zeit ein Bothe den Tod ihres Generals mitbrachte, erſchra - cken ſie daruͤber ſolchergeſtalt, daß ſie allenMuth205 Muth ſincken lieſſen, und nicht mehr Stand hielten: Dahero wurden ſie bald aus einander gebracht, und Selo ſchlug ihrer 150000. auf der Wahlſtadt, die an - dern alle, deren wohl noch mehr waren, nahm er gefangen, und verkaufte ſie als Sclaven; ſo, daß gantz Sicilien mit ih - nen erfuͤllet wurde. Dieſe Niederlage war ſo vollkommen, daß von einer ſo ent - ſetzlichen groſſen Flotte und Armee, der - gleichen in dieſen Occidentaliſchen Gegen - den nie aufgebracht worden war, faſt kein einiger, auſſer etliche wenige zuruͤck ka - men, die auf einer kleinen Nache entwiſch - ten, dieſe erſchreckliche Zeitung nach Car - thago zu bringen. Herodotus giebt vor, dieſe Bataille ſey eben den Tag be - fochten worden, als die bey Salamis vor - gefallen: Allein Diodorus Siculus ſagt, es ſey zu eben der Zeit geſchehen, als Leo - nidas bey Thermopylaͤ erſchlagen wor - den, welches die richtigſte Nachricht unter beyden zu ſeyn ſcheinet. Denn nach die - ſem gluͤcklichen Streich des Selo ſandten ihm, dem Leonidas, die Griechen aus die - ſer Gegend Huͤlfe gegen den Xerxes, ob wohl in etwas zu ſpaͤt, welches ſie nach derBataille206 Bataille bey Salamis nicht wuͤrden ge - than haben. Denn ſeit dem hielten ſie ſich ſelbſt genugſam vermoͤgend, dem Feind vor ſich ſelbſt ohne andere Huͤlfe gewach - ſen zu ſeyn, und den Krieg endigen zu koͤnnen.

Als Xerxes aus Griechenland gewi - chen, uͤberwinterte Mardonius mit ſeiner Armee in Theſſalien und Macedonien, und des naͤchſten Fruͤhlings brach er ſehr zeitig auf in Boeotien. Von dar ſandte er Alexandrum, den damaligen Koͤnig in Macedonien nach Athen mit Vorſchlaͤgen eines Vergleichs vom Koͤnig Xerxe. Er erbot ſich ihnen dadurch auf des Koͤniges Koſten alles wieder zu bauen, was ſie das vorige Jahr in Attica verbrandt oder niedergeriſſen haͤtten, ſie ferner nach ihren eignen Geſetzen leben zu laſſen, und ſie wieder in ihr Vermoͤgen und Habe einzu - ſetzen, auch noch mehr Lande, die ſie etwa verlangen moͤchten, dazu zu geben. Weil aber die Athenienſer nicht konnten bewo - gen werden, um irgends einen Vortheil Griechenlandes Heyl zu verlaſſen, wollten ſie den Vorſchlaͤgen kein Gehoͤr geben, daruͤber wurde Mardonius halb raſend, marchirte207 marchirte mit ſeiner Armee in Attica, und verwuͤſtete alles, wohin er kam, er gieng auch in Athen, ſengte und brennte alles darnieder, was noch nach der Verheerung vom vorigen Jahr her ſtund. Denn weil die Athenienſer nicht ſtarck genug waren, ſo einem rauſchenden Platz-Regen zuwider ſtehen, hatten ſie ſich wieder nach Salamis, Aegina, Troecene zuruͤck gezo - gen, und die Stadt leer gelaſſen. Jm - mittelſt hatte ſich die gantze Macht Grie - chenlandes an den Corinthiſchen Jſthmum zuſammen gezogen, und Mardonius fand vor gut, wieder zuruͤck in Boeotien zu ge - hen. Denn weil das ein offen und eben Land war, ſo ſchickte es ſich viel beſſer vor ſie, darinnen zu fechten, als in Attica, wel - ches ein uneben felſicht, ja ein Land voller Huͤgel und engen Loͤcher war, und dahero keinen rechten Raum geben konnte, eine ſo zahlreiche Armee auszubreiten, noch tuͤchtigen Grund und Boden, die Caval - lerie recht zu gebrauchen. Bey ſeiner Ruͤckkehr lagerte er ſich an den Fluß Ae - ſopus: Die Griechen marchirten ihm nach, unter dem Commando des Pauſa - nias, Koͤniges der Lacedaͤmonier, und Ariſtidis,208 Ariſtidis, Generals der Athenienſer. Jhre Armee beſtund in 120000. Mann, und der Perſier ihre in 350000. Mann nach Herodotus Bericht, nach des Dio - dorus Siculus aber in 500000. Mann. Und mit dieſer Heeres-Macht kam es nun nahe bey Plataͤa zu einer Haupt-Schlacht zwiſchen ihnen, in welcher Mardonius ge - ſchlagen; und die gantze Perſiſche Armee niedergehauen wurde. Artabazus al - lein, welchen der ungluͤckliche Ausgang wegen uͤbler Anfuͤhrung des Mardonius geſchwanet hatte, flohe bey Zeiten mit 40000. Mann, die er commandirte, da - von, und kam noch vor dem Geruͤcht der Niederlage in Byzanz an, und gieng all - da in Aſien uͤber. Auſſer dieſen kamen ſonſt nicht 4000. Mann von dem gantzen Haufen aus dem Blut-Bade deſſelben Tages davon, ſondern wurden alle von den Griechen geſchlagen, und in Stuͤcken zerhauen, und dieſes befreyete ſie hinfuͤhro gaͤntzlich von allem Einfall dieſes Volcks. Denn von der Zeit an hat ſich die Perſi - ſche Armee nie wieder an deſſelben Seite des Helleſponts blicken laſſen.

An209

An eben dem Tage, als die Griechen dieſe Bataille bey Plataͤa befochten, er - hielt ihre Macht zur See eine notable Victorie uͤber den Reſt der Perſiſchen Flotte in Aſia. Denn zu eben der Zeit, da ihr Herr zu Lande an dem Corinthi - ſchen Jſthmus Rende-Vous hielt, ſtieß ihre Flotte bey Aegia, unter Commando des Leotychides, des andern Koͤniges der Lacedaͤmonier, und Xantippus des Athe - nienſers, zuſammen, und es kamen dahin zu ihnen Bothſchaffter von den Joniern, die ſie invitiren ſollten, in Aſien zu kom - men, und die Griechiſchen Staͤnde von der Sclaverey der Barbaren zu befreyen: Derowegen ſeegelten ſie auf ihrem Wege dahin gen Delos, und als ſie da ſtille la - gen, empfiengen ſie neue Bothſchaffter von Samos, welche ihnen meldeten, daß die Flotte der Perſier, welche zu Cyma uͤberwintert, von dar nach Samos geſee - gelt waͤre, allwo ſie von ihnen gar leicht uͤberwunden und geſchlagen werden moͤch - te, wuͤrden dahero ernſtlich von ihnen er - mahnet, dahin zu kommen, und ſie anzu - greifen; deßwegen ſeegelten ſie auch gen Samos ab. Allein ſo bald es die Per -Jacobi Betr. 2. Band. O ſier210 ſier gehoͤret, hatten ſie ſich gen Mycale, ei - nem Vorgebuͤrge auf dem feſten Lande Aſiens, wo ihre Armee zu Lande in 100000. Mann beſtehend, (welches der Reſt von denen war, die Xerxes voriges Jahr wie - der zuruͤck aus Griechenland gebracht hatte,) lag, retiriret, da hatten ſie ihre Schiffe ans Land gezogen, und ſie rund herum mit einem ſtarcken Wall oder Schantze befeſtiget. Allein die Grie - chen folgten ihnen durch Huͤlfe der abge - fallenen Jonier dahin, uͤberwunden ihre Arme zu Lande, nahmen ihre Schantze weg, und verbrannten alle ihre Schiffe. Und hier endigten ſich nun die groſſen An - ſchlaͤge Xerxis mit dem alleraͤuſſerſten Elend, indem nach dieſen 2. Schlachten von der ungeheuren Armee, mit welcher er des Jahrs vorhero ſo trotzig uͤber den Hel - leſpont gegangen, kaum einer uͤbrig war, welchen Hunger, Peſtilentz oder Schwerdt nicht gaͤntzlich hingerichtet hatten, ausge - nommen die, ſo noch mit Artabazo aus Griechenland kamen. Und von dieſen ſtarben noch ein Haufen bey ihrer Ruͤck - kunft in Aſien, als ſie ſich nach den Be - ſchwerlichkeiten, ſo ſie an der andern Seitedes211 des Helleſponts hatten, ausſtehen muͤſſen, hernach mit dem Guten des Landes zu ſehr erfuͤlleten. Eine groͤſſere Flotte und Ar - mee war in Occident kaum zu einer Expe - dition an Tag kommen, als des Hamil - cars ſeine wider Sicilien. Auch war wohl nie keine groͤſſere Armee unter der Sonnen auf die Beine geſtellet worden, als die, mit welcher Xerxes in Griechen - land fiel, und dennoch wurde alle dieſe groſſe Macht durch die geſchwaͤchet, ge - ſchlagen und hingerichtet, welche, wenn man die Armeen von beyden Seiten ge - gen einander haͤlt, an Zahl und Macht kaum eine Hand voll Menſchen gegen ſie heiſſen moͤchte, und hiedurch wurde ein deutlich Exempel gegeben, daß der Hoch - muth der Menſchen Anſchlaͤge machen moͤge, wie er immer wolle, oder die Macht der Menſchen es auszufuͤhren gedencken koͤnne, die Providentz und Fuͤrſehung GOttes doch allezeit die Welt regiere, und alles den Weg lencke, der ihm ge - faͤllig iſt. (*)Jch habe dieſe Geſchichte ſo weitlaͤuftig und mit ihren Umſtaͤnden hieher geſetzet, damit man von ihrer Glaubwuͤrdigkeit deſto ehen - der uͤberfuͤhret werde. Und wenn dieſelbedennoch

O 2212
(*)dennoch wegen der allzugroſſen Menge der Menſchen, die hier eine Armee ſollen ausge - machet haben, bedencklich vorkommt, der er - wege, daß man von den jetzigen Armeen auf jene gar nicht ſchlieſſen koͤnne. Es war da - mals, wie oben ſchon erinnert, eine gantz an - dere Verfaſſung der Welt. Alle Manns - Perſonen wurden zum Kriege erzogen, und alle, welche vermoͤge der Jahre und Kraͤfte fechten konnten, waren verbunden, mit ins Feld zu gehen. Wenn man nun die Weite der Laͤnder betrachtet, woraus Xerxes dieſe Armee zuſammen gezogen, ſo laͤſſet ſich eine ſolche Menge gar wohl begreifen. Man weiß, daß Franckreich auf die zwantzig Mil - lionen Seelen hat. Mat hat ferner aus - gemacht, daß unter vier Menſchen einer als ſtreitbar kan angenommen werden. Nach dieſer Rechnung ſind in Franckreich fuͤnf Millionen Manns-Perſonen, die vermoͤge ihres Alters zum Streiten koͤnnten ge - braucht werden. Was iſt aber Franckreich vor ein kleines Reich, gegen diejenigen Lan - de, die Xerxes entweder beherrſchet, oder zu Bundesgenoſſen gehabt? Wer ferner den - cket, wo ſollte eine ſolche Armee den Pro - viant her bekommen? Der betrachte das Land, wo ſie geſtanden, und ihre Zuͤge gethan, und daß ſie aus 3. Theilen der Welt ohne viele Weitlaͤuftigkeit Zufuhren zu Waſſer gehabt. Er uͤberlege, wie viele Menſchen in Holland durch die bloſſen Zufuhren ihre Lebensmittel haben muͤſſen, da doch Hol - land bey weiten ſo bequem zur Zufuhr nicht liegt, als Griechenland. Wer dieſes alles in Erwegung ziehet, der wird die Moͤglichkeit einer ſolchen Armee und eines ſolchen Zuges begreifen.
(*)
§. 16.213

§. 16.

Durch dieſe und andere Exempel lernteJn den neuern Zei - ten iſt die Art zu krie - gen gantz veraͤndert. man nach und nach, daß es beym Kriege nicht ſo ſehr auf eine gar zu zahlreiche, als vielmehr wohl ausgeſuchte und geuͤbte Ar - mee ankomme. Alexander der Groſſe fochte daher mit ſehr mittelmaͤßigen, oder faſt kleinen Krieges-Heeren. Seine Leu - te aber waren ausgeſucht und geuͤbt, und er beſiegte damit die groͤſten Schaaren, und brachte in kurtzer Zeit die ſehr weit - laͤuftige Monarchie der Perſer unter ſich. Andere ſind ihm darinn gefolget. Die Roͤmer ſo wohl unter den Kaiſern, als auch eine ziemliche Zeit vorher fuͤhrten in Ver - gleichung mit den aͤltern Voͤlckern und der Weite ihres Reichs maͤßige Armeen ins Feld. Hiedurch erhielt das maͤnnliche Geſchlecht abermahls einen Vortheil. Man wurde auch endlich gelinder gegen die Ge - fangenen, beſonders, da das Chriſtenthum anfieng in einigen Reichen die Herrſchafft zu bekommen. Man wechſelte ſie gegen einander aus, oder loͤſete dieſelben mit Gel - de. Daher denn auch mancher ſo hart - naͤckigt nicht mehr fochte, wie ſonſt, ſondern ergab lieber ſein Leben der Gnade des Sie -O 3gers.214gers. Die gar groſſen Niederlagen, da - von die aͤltern Geſchichte voll ſind, hoͤr - ten derowegen unter den gebaueten Voͤl - ckern, beſonders unter den Chriſten, auf, und die Welt kam hierinne in eine gantz andere Verfaſſung.

§. 17.

Wahre Ur - ſach der im A. Bund von GOtt nachgeſe - henen Vielweibe - rey.
56

Aus demjenigen, was bisher beygebracht worden, erhellet, daß man in den aͤltern Zei - ten wider das maͤnnliche Geſchlecht recht gewuͤtet, und die Manns-Perſonen gleich - ſam nur darzu auferzogen, daß einer den andern toͤdten koͤnnte. Das weibliche Geſchlecht aber hatte keinen ſolchen Ver - luſt. Bey den mehreſten Niederlagen wurde ihrer geſchonet, und man verfuhr nicht immer ſo hart mit ihnen, wie dorten die von Jſrael mit den Weibern des Stam - mes Ephraim. B. der Richt. Cap. 20. v 21. Es konnte daher nicht anders ſeyn, als daß die Anzahl der Frauens-Perſonen die An - zahl der Maͤnner bey weiten uͤbertraf. Es kamen Zeiten, da ſieben Weiber einen Mann ergriffen, und ſprachen: Wir wol - len uns ſelbſt naͤhren und kleiden: Laß uns nur noch deinem Namen heiſſen, daß un - ſere Schmach von uns genommen werde. Eſa.215Eſa. Cap. 4. v. 1. Unter den Heiden war derowegen die Vielweiberey ſehr gewoͤhn - lich. Man ſetze daher, GOtt haͤtte ſeinem Volcke die Verehlichung eines Mannes mit mehreren Frauen nicht nachgeben wollen, was fuͤr ein Uebel wuͤrde daraus entſtan - den ſeyn? Es iſt bekannt, wie gar ſehr die Voͤlcker ehemahls zum Goͤtzendienſt ge - neigt geweſen. Wie viel groſſe und auſ - ſerordentliche Verkehrungen ſind vor Zei - ten nicht noͤthig geweſen, die Verehrung des einigen und wahren GOttes in einem gantz kleinen Volcke zu erhalten. Und demnach konnte eine geringe Urſache daſ - ſelbe von GOtt zu den Goͤtzen abfuͤhren. Die Buͤcher des alten Teſtaments ſind voll von ſolchen Exempeln. Beſonders gaben die Verheyrathungen der Jſraeliten mit den Heiden dazu Gelegenheit. B. der Richt. Cap. 3. v. 6. Haͤtte nun der HERR die Vielweiberey unter ſeinem Volck nicht dul - den wollen, was wuͤrde der ſehr groſſe Ueber - ſchuß der jungen Frauens-Perſonen uͤber die Anzahl der Maͤnner gewuͤrcket haben, wenn ſo vielen von jenen die Hoffnung ſich jemahls zu verehligen gaͤntzlich abgeſchnit - ten geweſen? Gewiß nichts anders, als daßO 4die216die Vaͤter und Muͤtter mit ihren Toͤchtern zu den Heyden uͤbergegangen, um dieſen Maͤnner zu ſchaffen. Es iſt dieſes ſo ge - wiß, daß niemand daran zweifeln wird, wer die alten Zeiten kennet. Dieſes aber waͤre allerdings ein weit groͤſſer Uebel fuͤr die Welt geweſen, welche durch dieſes Volck in eine gantz andere Verfaſſung ſollte geſetzet werden, als dasjenige Uebel, ſo die Vielweiberey beſonders in ſolchen Umſtaͤnden mit ſich verknuͤpft hatte. Und hierinne meynen wir die Abſicht entdecket zu haben, die GOtt bey der ehmahligen Duldung der Vielweiberey unter ſeinem Volck gehabt. Da wir allezeit das Gu - te, ſo aus einer Sache folget, als eine goͤtt - liche Abſicht bey derſelben anſehen koͤnnen; ſo wird dieſes wenigſtens eine Abſicht GOttes bey der Vielweiberey unter ſei - nem Volck mit geweſen ſeyn, daß ihnen dadurch eine ſehr wichtige Urſache benom - men worden, ſich mit den Heiden zu ver - miſchen. Und dieſe Abſicht hat meiner Einſicht nach eine genaue Verbindung mit den andern Abſichten GOttes, und iſt folg - lich der Weißheit GOttes voͤllig gemaͤß.

§. 18.217

§. 18.

Wir wollen hiebey noch einige FragenWarum im N. T. kein aus - druͤckli - ches und ſcharfes Verboth der Viel - weiberey zu finden. abhandeln, welche mit dem vorigen einige Verbindung haben. Die erſte ſoll dieſe ſeyn, warum man im neuen Teſtament kein ausdruͤcklich und ſcharfes und allge - meines Verboth wider die Vielweiberey findet, und darinne nirgend ſtehet, daß das - jenige, was GOtt dieſerwegen im alten Bunde nachgeſehen, und verordnet, nun - mehr voͤllig aufgehoben ſeyn ſoll. Es iſt oben angefuͤhrt, wie das neue Teſtament ſetze, es ſoll ein jeder Mann ſeine eigene Frau, und eine jede Frau ihren eigenen Mann haben, und daß hieraus durch eine richtige Folge flieſſe, daß die Vielweiberey aufgehoben ſeyn ſolle. Warum man aber kein ausdruͤckliches und ſcharfes und all - gemeines Verboth dawider finde, das er - klaͤren wir aus folgenden Umſtaͤnden der damahligen Zeiten. Es iſt oben §. 16. erwieſen, daß damahls bey weiten nicht mehr ſo viel Manns-Perſonen in den Krie - gen umkommen, als in den aͤltern Zeiten. Folglich hat auch die Anzahl der Frauens - Perſonen die Maͤnner gar nicht, oder doch nicht mercklich uͤbertroffen. Hier -O 5aus218aus aber iſt klar, daß keine haͤufige Viel - weiberey moͤglich geweſen. Wann dero - wegen einige mehr Frauen zugleich gehabt, werden ſolches nur vornehme Perſonen geweſen ſeyn. Es unterſagt ſich ohnedem die Vielweiberey den mehreſten von ſelb - ſten. Jn bevoͤlckerten Reichen haben die mehreſten genug zu thun, wenn ſie eine Frau ernehren wollen, und laſſen ſich auch an den Orten, wo es erlaubt iſt mehr Frauen zugleich zu haben, nicht einfallen mehr als eine auf einmal zu nehmen. Zu - dem war es denen Roͤmern und denenje - nigen, ſo unter ihren Geſetzen ſtunden, vor Chriſto ſchon verboten, mehr als eine Frau auf einmal zu haben. Folglich fand an vielen Orten, wo die Apoſtel lehreten, die Vielweiberey ohnedem keine Statt. Wo ſie aber noch geweſen, da wird gantz ge - wiß nicht leicht jemand auſſer einigen von den Vornehmſten mehr als eine Frau ge - habt haben wegen der trifftigen Gruͤnde, ſo wir angefuͤhrt. Mit den Vornehmen aber hatten die Apoſtel wenig zu thun, weil ſelbige groͤſten Theils an der Lehre JEſu, welche ſo ſehr auf eine weiſe Verleugnung der Welt, und auf eine wahre Tugenddringet,219dringet, keinen Geſchmack fanden. Sehet an, lieben Bruͤder, euern Beruf, ſchreibt Paulus 1. Cor. Cap. 1. v. 26. 27. 28. nicht viel Weiſe nach dem Fleiſch, nicht viel Ge - waltige, nicht viel Edle ſind berufen, ſon - dern was thoͤrigt iſt vor der Welt, das hat GOtt erwehlet, daß er zu Schanden ma - che, was ſtarck iſt, und das unedle vor der Welt, und das Verachtete hat GOtt er - wehlet, und das da nichts iſt, daß er zu nich - te mache was etwas iſt. Da alſo die Apo - ſtel wenige Gemeinſchafft mit den Vor - nehmſten hatten, pflegten ſie auch wider die - jenigen Unordnungen, ſo ſelbigen eigen waren, nicht zu eifern. Vermuthlich iſt ſolches geſchehen, damit ſie nicht als Auf - wiegler koͤnnten angeſehen werden. Wir finden daher nicht, daß ſie wider die Unge - rechtigkeiten mancher obrigkeitlichen Per - ſonen geſchrieben. Sie verdammen nir - gends mit ausdruͤcklichen Worten das An - ſehen der Perſonen, die Beugung des Rechts wegen Geſchencke, ungerechte Krie - ge und andere dergleichen grobe Verge - hungen, die nur unter Vornehmen moͤglich ſind, da doch gewiß iſt, daß das Chriſten - thum dergleichen eben ſo wenig billiget, alsdas220das Rauben und Stehlen. JEſus hatte den Seinen dieſen Befehl gegeben, ſie ſoll - ten klug ſeyn wie die Schlangen, doch aber auch ohne Falſch wie die Tauben. Dieſe Klugheit haben ſie auch darinne bewieſen, daß ſie in ihren Schrifften wider die beſon - dern Laſter der Hohen nicht mit ausdruͤck - lichen Worten geeiffert, und fuͤr ſelbige ge - warnet. Will Paulus ſagen, was den Obern oblieget, ſo thut er dieſes durch ein Lob, ſo er ihnen beyleget. Er ſchreibt Roͤm. Cap. 13. v. 3. 4. Wilſt du dich nicht fuͤrch - ten fuͤr der Obrigkeit, ſo thue Gutes, ſo wirſt du Lob von derſelbigen haben. Denn ſie iſt GOttes Dienerin, dir zu Gute. Thuſt du aber Boͤſes, ſo fuͤrchte dich: denn ſie traͤget das Schwerdt nicht umſonſt, ſie iſt GOttes Dienerin, eine Raͤcherin zur Strafe uͤber den, der Boͤſes thut. Hier haͤlt Paulus den Obern ihre Pflicht vor, ohne ſie anzureden und als wollte er bloß die Unterthanen ihrer Schuldigkeit erin - nern. So ſehr glimpflich verfahren die Bothen JEſu mit den heidniſchen Obern, welche doch zum Theil ſo laſterhafft und ungerecht waren, daß auch vernuͤnff - tige Heiden ihre Regierung verabſcheueten. Dieſes221Dieſes erforderte aber die Klugheit bey Pflantzung und Ausbreitung der Lehre JEſu, damit ſelbige auf keine Weiſe den Schein haben moͤchte, als verachtete ſie die Majeſtaͤten und ſtoͤhrte die aͤuſſerliche Ru - he. Und hieraus deucht uns, koͤnne auch erklaͤret werden, warum die Apoſtel wider die Vielweiberey nicht eben ſo geeiffert, als gegen die Hurerey, Voͤllerey u. d. g. Die Vielweiberey fand nur unter einigen Vornehmen Statt. Dieſe waren ohne - dem groͤſten Theils ja damahls faſt uͤber - all von dem Reiche Chriſti ungemein weit entfernt, und die Bothen des Heilandes fanden wenig Eingang bey denſelben. Jhre Lehre war ihnen vielmehr ſehr verhaßt, und man ſuchte ihnen mit Banden, Schwerdt, und Feuer den Mund zu ſtopfen. Haͤtten nun die Apoſtel wider etwas geeiffert, ſo den Vornehmen nur allein angegangen, ſo wuͤrde man ſolches aus einer Rachbegier - de hergeleitet und ſie zu Aufwieglern ge - macht haben. Es war derowegen damahls uͤberhaupt beſſer, wider die Obern und Vor - nehmſten insbeſondere nicht zu reden, und folglich war es auch beſſer von der Viel - weiberey nur anzuzeigen, daß ſie unter denChriſten222Chriſten aufgehoben ſeyn ſolle, als wider ſelbige, ſo wie gegen andere gemeine Un - ordnungen mit beſondern Nachdruck zu ſprechen, und wider ſelbige zu eiffern.

§. 19.

Weitere Ausfuͤh - rung des vorigen.
56

Daß die Vielweiberey damahls auch ſo gar unter den Juden rar geweſen, laͤſſet ſich auch ohne allen Widerſpruch aus der Rede Chriſti Matth. Cap. 19. v. 9. ſchlieſ - ſen. Er verwirfft daſelbſt den boͤſen Ge - brauch, der damahls unter den Voͤlckern war, da die Eheleute ſich um geringer Ur - ſachen willen von einander ſcheideten und ſich anders verheiratheten. Hierwider redet er alſo: Wer ſich von ſeinem Wei - be ſcheidet, es ſey denn um der Hurerey willen, und freyet eine andere, der bricht die Ehe. Und wer die abge - ſcheidete freyet, der bricht die Ehe. Man ſetze, die Vielweiberey ſey damahls unter den Juden noch ſehr im Schwange geweſen, ſogleich ſtimmen dieſe Worte mit der Abſicht des Heilandes, und folglich auch mit ſeiner Weißheit nicht uͤberein. Seine Abſicht iſt zu zeigen, daß diejenigen, ſo ſich von ihren Weibern ſcheideten, ge -meinig -223meiniglich, indem ſie eine andere Frau zu heirathen pflegten, auch Ehebruch begien - gen und verurſachten, daß ihre geweſene Frau und mit ihr ein ander ebenfalls in Ehebruch verfiele. Man ſchlage hiebey zugleich nach Matth. Cap. 5. v. 32. Ein jeder ſiehet, daß Chriſtus hier als eine Er - fahrung annimmt, und zum Voraus ſetzet, daß der Mann insgemein ſeiner Frauen den Scheide-Brief gegeben, wenn er zu einer andern mehr Liebe getragen, als zu der, ſo er hatte, und folglich dieſe abgeſchie - den um eine andere zu nehmen. Waͤre in den damahligen Zeiten die Scheidung und die Heyrath mit einer andern Perſon nicht insgemein mit einander verbunden geweſen, ſo waͤre gar keine Urſache zu fin - den, warum Chriſtus dieſe beyden Dinge, da er wider die Eheſcheidung geeiffert, bey einander geſetzt, und wegen des letztern die Maͤnner, ſo der Frau ohne wichtige Ur - ſache den Scheide-Brief gegeben, unter die Ehebrecher gezehlet. Waͤre es nicht gantz gewoͤhnlich geweſen und insgemein geſchehen, daß die Maͤnner, ſo die Frau geſchieden, ſich ſogleich wieder verheirathet, ſo waͤre es ein ſchlechter Grund wider dieleicht -224leichtſinnige Ehe-Scheidung uͤberhaupt geweſen, daß er diejenigen fuͤr Ehebrecher erklaͤret, welche nach der Scheidung ſich anderwaͤrts verehlichen. Wenn man aber dieſes als etwas damahls hoͤchſt gemeines annimmt, daß man bey der Scheidung ſein Abſehen auf eine andere Ehegattin gehabt, ſo laͤſſet ſich begreifen, wie der weiſe Erloͤ - ſer auf dieſe Art die leichtſinnige Ehe - Scheidung uͤberhaupt, oder nach dem aller - groͤſten Theil derſelben verwerfen koͤnnen, da er geſagt, ſie wuͤrden dabey Ehebrecher. Es meynen zwar einige, der Heiland er - klaͤre hier die leichtſinnige Scheidung fuͤr ſich allein betrachtet fuͤr einem Ehebruch. Jch muthmaſſe aber, daß ſolche entweder die griechiſche Sprache nicht verſtanden, oder den Grund-Text nicht angeſehen. Wer den Text in der griechiſchen Sprache lieſet, der wird leicht finden, daß der Hei - land die Maͤnner, ſo ſich leichtſinniger Wei - ſe ſcheiden, wegen der anderweitigen Ver - ehlichung nach der geſchehenen Verſtoſſung der erſten Frau des Ehebruchs ſchuldig er - kenne. Denn im Griechiſchen ſtehet ein Wort, welches nicht eine jede ungerechte Aufhebung der Ehe, ſondern eine Verle -tzung225tzung derſelben durch einen unerlaubten Beyſchlaf bedeutet. Wenn ferner Chri - ſtus die bloſſe leichtſinnige Scheidung fuͤr einen Ehebruch erklaͤren wollen, ſo frage ich, warum er denn die Worte hinzu ge - ſetzt? und freyet eine andere. Dieſe letztern Worte geben ja deutlich genug zu erkennen, daß er auch anzeigen wollen, durch dieſe anderweitige Verehlichung ge - ſchehe der Ehebruch. Wann derowegen der Heiland auch Matth. Cap. 5. v. 32. wider die leichtſinnige Ehe-Scheidung re - det, und die Worte: und freyet eine an - dere, nicht hinzu ſetzet, ſo beſchuldiget er auch den Mann nicht des Ehebruchs, ſon - dern ſpricht nur: er mache durch die Schei - dung, daß die Abgeſcheidete einen Ehebruch begienge, indem ſie ſich insgemein mit ei - nem andern verheirathete. (*)Es ſcheinet ſehr hart zu ſeyn, wenn Chri - ſtus auch die auf eine leichtſinnige Weiſe abgeſcheidete Frau und den, welcher ſie wie - der heirathet, eines Ehebruchs ſchuldig er - klaͤret. Man moͤchte gedencken, warum verdienet denn die anderweitige Verehlichung einer Abgeſcheideten, da ſie doch der Mann nicht behalten wollen, ein Ehebruch genannt zu werden? Wir werden die Billigkeit die - ſes Ausſpruches erkennen, wenn wir fol - gendes bemercken. Erſtlich muͤſſen derglei - chen Ausſpruͤche Chriſti nach keiner abſolu - ten Allgemeinheit d. i. nicht alſo erklaͤret werden, daß ſie gar keine Ausnahme litten, ſondern es iſt dasjenige darinne zu ſuchen, was insgemein geſchiehet und nach dem ge - meinen Laufe der Welt wahr iſt. (EjusmodiEs iſt dem - nach ohne allen Zweifel, daß Chriſtus der leichtſinnigen Ehe-Scheidung der Juden an dieſem Orte dieſes entgegen ſetzen wol - len, ſie wuͤrden insgemein durch die Schei - dung entweder zu einer anderweitigen un - erlaubten Ehe bewogen, oder ſie naͤhmen dieſe Scheidung vor, weil ſie beſchloſſen eine andere Frau zu waͤhlen; und verfie -Jacobi Betr. 2. Band. Plen226len alſo wegen und bey der Ehe-Schei - dung in Ehebruch. Da aber der Heiland auf dieſe Art die leichtſinnige Ehe-Schei - dung verwirfft, ſo iſt daraus vollkommen klar, daß damahls die Vielweiberey nicht muß haͤufig geweſen ſeyn. Waͤre ſelbi - ge damahls noch ſehr gemein geweſen, ſo wuͤrde Chriſtus dieſes nicht als insgemein verknuͤpfte Dinge haben anfuͤhren koͤnnen, nemlich die Ehe-Scheidung und eine an - derweitige Verehlichung. Mancher wuͤr - de ſich an ſeinen uͤbrigen Frauen haben begnuͤgen laſſen. Andere wuͤrden neben der erſten diejenigen genommen haben, ſo ihren Augen gefallen, um die ſtarcke Aus - ſteuer zu behalten, welche ſie den Abge - ſcheideten, wenn ſie ohne ein begangenes Verbrechen den Scheide-Brief bekamen, geben muſten. Denn wenn ſie ſich da - mahls verheiratheten, ſo bedung ſich die Braut allezeit einen Braut-Schatz, und insgemein eine anſehnliche Summe aus, welche ihr der Mann, wenn er ſie ſcheidete, auszahlen muſte. Es wuͤrde alſo eine an - derweitige Verehlichung weder das ge - woͤhnliche Ziel, noch die gemeinſte Folge der Ehe-Scheidung geweſen ſeyn, wenndie227die Vielweiberey noch ſehr gemein gewe - ſen. Es laͤſſet ſich derowegen aus dieſer Rede JEſu ſicher ſchlieſſen, daß damahls auch unter den Juden ſelber die Vielwei - berey ſehr rar geweſen. Die Armen konn - ten nicht viel Weiber ernehren, und weil es den Vornehmen und Reichen nicht, wie bey den Alten um die Vielheit der Kinder zu thun war, gaben ſie der erſten lieber die Ausſteuer nebſt dem Scheide-Briefe, wenn ihnen eine andere beſſer gefiel und ſie ſich mit ſelbiger zu verehlichen beſchloſ - ſen, damit ſie von der erſten keine Laſt mehr hatten.

P 2dicta228
(*)dicta non ſunt abſolute, ſed moraliter uni - verſalia) Wir finden daher von dieſem Aus - ſpruch eine Ausnahme, 1. Cor. Cap. 7. v. 15. wo einer Abgeſcheideten zu heirathen erlaubt wird, ohne eine Ehebrecherin zu werden, nem - lich in dem Fall, da ſie ein unglaubiger Mann der Religion wegen verſtoſſen hat. Wenn man aber den Ausſpruch Chriſti alſo an - nimmt, daß er dasjenige ausdruͤcket, was insgemein geſchehen und wahr geweſen, ſo wird man finden, daß er nicht zu hart ſey. Wenn damahls Scheidungen vorgiengen, ſo waren insgemein Mann und Frau zu - gleich Urſach daran. Eine Frau, die da hoff - te einem andern Mann zu erjagen, gab dem erſten wenig gute Worte, und bemuͤhete ſich folglich nicht die Scheidung durch ein gutes Betragen und Nachgeben zu verhuͤten, ſon - dern wenn der Mann mit dem Scheide-Brie - fe drohete, ſo forderte ſie ihn ſo gar. Einige Weiber giengen ſo weit, daß, wenn ſie einen fremden Mann fanden, der ihnen beſſer ge - fiel, denn ihr eigener, ſie mit Fleiß dieſem ſo viel Verdruß machten, daß er endlich einen Scheide-Brief ſchrieb. So gieng es insge - mein mit den Ehe-Scheidungen her. Jſt es aber bey dieſen Umſtaͤnden zu hart, wenn Chriſtus auch die abgeſcheideten Frauen, ſo wie ſie insgemein waren, wenn ſie ſich wie - der mit einen andern verehlichten, fuͤr Ehe - brecherinnen erklaͤret? Tugendhafte Weiber und die den Ehe-Stand fuͤr heilig hielten, wurden nicht leicht geſchieden. Wenn ſel - bige auch gleich mit ihrem Manne in Miß - verſtaͤndniß geriethen, ſo ſuchten ſie denſel - ben wieder zu gewinnen und ſich mit ihm zu verſoͤhnen. Jſt aber ja einer ſolchen Per -ſon
(*)229
(*)ſon das Schickſal begegnet, daß ſie ohne Urſache verſtoſſen worden, ſo duͤrfen wir ſicherlich glauben, daß eine ſolche unter dem Ausſpruche Chriſti nicht begriffen, wie aus 1. Cor. Cap. 7. v. 15. gnugſam erhellet. Die mehreſten Abgeſcheideten aber konnten mit Recht fuͤr freche und leichtſinnige Ehebre - cherinnen erklaͤret werden. Denn haͤtten ſie das Band der Ehe fuͤr heilig d. i. fuͤr un - verletzlich gehalten, ſo wuͤrden ſie ſich an - ders aufgefuͤhret haben. Sie willigten folg - lich in die Scheidung, und ſuchten einen an - dern Mann nicht aus Noth, ſondern aus Frechheit. Und diejenigen, welche eine ſol - che Abgeſcheidete heiratheten, pflegten auch von der beſten Art nicht zu ſeyn. Weiſe und tugendhaffte Leute huͤteten ſich fuͤr ſel - bigen. Conf. Seldeni uxor Ebr. Lib. III. Cap. XIX. Hammondi Paraphraſis N. T. ad 1. Tim. III. 2.
(*)

§. 20.

Aus der bisher erklaͤrten Rede ChriſtiAnder - weitiger Schluß aus dem vorherge - henden wider die Vielwei - berey. laͤſſet ſich noch ein wichtiger Schluß ma - chen. Der Erloͤſer giebt darinne auf eine verſteckte Art zu erkennen, daß die Viel - weiberey hinfort nicht mehr Statt finde, ſondern wie ſie ſich ſchon den allermehre - ſten von ſelbſten unterſagt, alſo fernerhin nach dem Exempel der allererſten Ehe Zwey und Zwey ein Fleiſch werden und folglich die Ehen aus einem Manne und einer Frau beſtehen ſollen. Man nehmeP 3an,230an, daß Chriſtus ſolches bey ſeinem Aus - ſpruche nicht zum Voraus geſetzt, ſo ſtrei - tet er abermahls mit den Regeln der Weißheit, und was in der That einerley waͤre, wuͤrde von Chriſto fuͤr gantz unter - ſchiedene Dinge ausgegeben. Chriſtus will der leichtſinnigen Ehe-Scheidung da - durch abhelfen, daß er diejenigen, welche nach der Scheidung wieder heiratheten, des Ehebruchs ſchuldig erklaͤret. Man nehme an, Chriſtus haͤtte hiebey zum Vor - aus geſetzt, die Vielweiberey ſollte noch fer - ner nachgeſehen werden, haͤtte aldenn auch dieſer Ausſpruch die geringſte Kraft ge - habt? Haͤtten ſich die Vornehmen und Reichen nicht vor der Scheidung mit ſo vielen Weibern verſehen koͤnnen, daß ſie hernach nicht eine, ſondern mehrere ver - ſtoſſen koͤnnen, ohne ſich durch eine ander - weitige Verheirathung des Ehebruchs nach dem Ausſpruche Chriſti ſchuldig zu machen? Wuͤrde alsdenn dieſer Aus - ſpruch Chriſti der leichtſinnigen Ehe-Schei - dunge ſonderliche Grentzen geſetzet haben? Gewiß keinesweges. Kan man nun glau - ben, daß der Weiſeſte der liederlichen Ehe - Scheidung, die er haſſete, einen ſo niedri -gen231gen und ſchlechten Zaun wuͤrde entgegen geſetzet haben? Auſſerdem muͤſte man auch annehmen, daß der Erloͤſer zwey Dinge, ſo in der That einerley, fuͤr gantz unter - ſchieden, und das eine fuͤr gut das andere aber fuͤr boͤſe gehalten. Haͤtte im neuen Bunde| die Vielweiberey geduldet werden ſollen, ſo folgte bey dem Ausſpruche Chri - ſti von der Ehe-Scheidung, daß wenn einer vor der Scheidung erſt wieder eine ande - re naͤhme, derſelbe keinen Ehebruch begien - ge, wenn er ſolches aber nach der Schei - dung thaͤte, des Ehebruchs ſchuldig wuͤrde. Waͤre nun dieſes nicht einerley, wenn ein Mann ſich ſcheidete, ob er einige Tage vorher, oder einige Tage nachher eine an - dere Frau naͤhme? Kan man glauben, daß der Weiſeſte dieſes fuͤr ſo unterſchiedene Dinge gehalten, daß er das eine fuͤr er - laubt, das andere fuͤr einen Ehebruch ge - achtet? Wer kan alſo von Chriſto den - cken? Will man ihn aber dergleichen nicht beſchuldigen, ſo muß man zugeben, da er ſich hier auf die erſte Einſetzung des Ehe - Standes beruft und beſonders darauf, daß zwey ein Fleiſch ſeyn ſollten, er habe die - ſes alſo verſtanden, daß nur zwey und zweyP 4Perſo -232Perſonen nemlich ein Mann und eine Frau in der Ehe unzertrennlich leben ſollten. Jſt aber dieſes der Sinn des Erloͤſers ge - weſen, ſo entſtehet die Frage, warum Chri - ſtus ſich hieruͤber nicht deutlicher verneh - men laſſen und die Vielweiberey eben ſo nachdruͤcklich aufgehoben, als die gar leichtſinnigen Ehe-Scheidungen? Es iſt auf dieſe Frage eben dieſelbige Antwort zu geben, womit man folgendes zu beantwor - ten hat, warum er z. E. die Beſchneidung, die Opfer u. d. g. nicht auf eine feyerliche Art aufgehoben. Es war noch nicht die Zeit, das buͤrgerliche und Ceremonial-Ge - ſetz der Juden, und was etwa nach dem - ſelben gedultet wurde, voͤllig aufzuheben. Es ſollte dieſes erſtlich nach der Ausgieſ - ſung des heiligen Geiſtes geſchehen. De - rowegen ließ ſich der Erloͤſer uͤber derglei - chen nicht heraus, als wenn man ihn ei - gentlich darauf brachte, wie z. E. hier bey der Frage von der Ehe-Scheidung, und dorten bey der Frage von dem rechten Or - te eines feyerlichen Gebets und oͤffentli - chen Gottesdienſtes Joh. Cap. 4. v. 20. 21. geſchehen.

§. 21.233

§. 21.

Wir haͤtten nunmehr unſerm EndzweckOb unter den erſten Chriſten die Viel - weiberey geweſen. ein Genuͤge geleiſtet, und die Abſicht, war - um GOtt die Vielweiberey unter ſeinem Volcke eine ſo lange Zeit nachgeſehen, aus ſichern Gruͤnden hergeleitet. Weil aber bey dieſer Materie noch einige Fragen pfle - gen vorgebracht und abgehandelt zu wer - den, ſo wollen wir unſere Gedancken uͤber ſelbige kuͤrtzlich hier beyfuͤgen. Es pfiegt bey dieſer Materie gefragt zu werden, ob unter den erſten Chriſten gar keine Exempel von einer Vielweiberey ſollten geweſen ſeyn. Diejenigen, welche dafuͤr halten, daß die Vielweiberey auch bey dem Chriſtenthum erlaubt ſey, pflegen anzunehmen, daß ſelbi - ge bey den erſten Chriſten noch gewoͤhnlich geweſen. Dieſes zu beweiſen, machen ſie folgenden Schluß. Die Vielweiberey iſt zu den Zeiten Chriſti und ſeiner Apo - ſtel ſo wol unter den Juden als vielen andern Voͤlckern noch gewoͤhnlich ge - weſen. Nun iſt hoͤchſt wahrſchein - lich, daß dergleichen Maͤnner gleich an - faͤnglich ſind bekehret worden, die mehr als eine Frau gehabt. Man findet kei -P 5nen234nen Befehl, daß ſolche ihre Frauen bis auf eine haben ſollen von ſich ſtoſſen. Sie werden ſelbige derowegen auch als Chriſten behalten haben. Folglich muß es unter den erſten Chriſten Exem - pel einer Vielweiberey gegeben haben. Geſetzt, es waͤre dieſer Schluß richtig, und man haͤtte gar keine Gegen-Gruͤnde, ſo be - wieſe derſelbe dennoch weiter nichts, als daß hier aus Noth eine Ausnahme von der Regel haͤtte muͤſſen gemacht werden. Es folgte aber daher keinesweges, daß einem jeden erlaubt waͤre, nach ſeinem Belieben eine ſolche Ausnahme zu machen. Es iſt bekannt, daß man ſo gar von dieſen Geſetzen: Du ſollt nicht toͤdten, du ſollt nicht dem andern das Seinige nehmen, Ausnah - men machen muͤſſe. Jſt daher aber einem je - den erlaubt, dieſe Ausnahme nach ſeinem Gutduͤncken zu machen. Allein es iſt auch obiger Schluß noch nicht ſo gewiß, als es ſcheinet. Diejenigen, welche denſelben machen, ſtellen ſich die Vielweiberey, auch an den Orten, wo ſie vergoͤnnet iſt, viel weit - laͤuftiger und haͤufiger vor, als ſie in der That iſt, und ſeyn kan. Es iſt oben §. 18. ſchon angefuͤhret, daß ſie unter den Roͤmernnicht235nicht geduldet worden, und unter den uͤbri - gen Voͤlckern, wo ſie iſt erlaubt geweſen, hat ſie zu den Zeiten Chriſti und der Apoſtel wegen angefuͤhrter Umſtaͤnde unter nie - manden, als etwa den Vornehmſten und Reichſten ſtatt finden koͤnnen. Der groͤſte Haufe war nicht im Stande, mehr als eine Frau zu nehmen. Da nun aber in den erſten Zeiten des Chriſtenthums ſelten je - mand von den Vornehmſten ein Chriſte wurde, 1. Cor. Cap. 1. v. 26. 27. 28. ſo iſt es ſehr ungewiß, ob in den erſten Zeiten jemand mit zwo oder mehr Frauen zum Chriſten - thum uͤbergetreten. Jch weiß zwar, was fuͤr groſſe Maͤnner ich in dieſem Satze wi - der mich habe, die in denen Schrifften, wel - che die Saͤtze behaupten, die wir Zeit her vorgetragen, nach ihrer Redens-Art keinen geſunden Biſſen und nichts Kluges finden. Allein es erlauben mir dieſe groſſen Maͤn - ner, deren Verdienſte ich mit der groͤſten Hochachtung verehre, daß ich mein Beden - cken uͤber ihre Saͤtze mit geziemender Be - ſcheidenheit anzeige, und die Gruͤnde vor - trage, die mich bis hieher abgehalten, in dieſer Lehre ihr Juͤnger zu werden.

§. 22.236

§. 22.

Fortſe - tzung des vorigen.
59

Alles kommt bey ihnen auf den obigen Schluß an: Die Vielweiberey iſt bey vielen Voͤlckern zu den Zeiten Chriſti gemein geweſen. Aus dieſen haben ſich Perſonen zum Chriſten bekehrt, die viele Frauen gehabt haben. Man findet keinen Befehl, daß ſie ſelbige von ſich ſtoſſen ſollen: Derowegen haben einige Chriſten viele Weiber zugleich gehabt, ja ſie iſt unter ihnen gaͤng und gebe geweſen, und diejenigen verdienen hoͤniſch abgefuͤhrt zu werden, ſo hieran zweifeln. Erſtlich finde ich bey dieſem Schluſſe nirgend einen Beweiß, daß die Vielweiberey in den erſten Zeiten des Chri - ſtenthums unter den Juden und andern Voͤlckern gemein, das iſt haͤufig geweſen. Da dieſes aber ein Haupt-Satz in dem an - gezogenen Schluſſe iſt, ſo muͤſte er billig be - wieſen werden. Jn den Buͤchern, ſo man anfuͤhret, als in des Seldeni Tractat: de uxore Ebr. u. d. g. finde ich dieſen Be - weiß nicht. Es iſt derſelbe aber deſto noͤ - thiger, je wichtiger die Gegengruͤnde, ſo beygebracht werden koͤnnen. Eine gemei -ne237ne Vielweiberey iſt gantz und gar nicht moͤglich, auſſer in ſolchen ſeltenen Zeiten, die wir oben (§. 17.) angefuͤhret, und die bey Pflantzung der Chriſtlichen Lehre nicht geweſen. Erſtlich ſtehet im Wege, daß die Anzahl der Frauens-Perſonen zu einer weitlaͤuftigen Vielweiberey nicht hinrei - chet. Zweytens aber koͤnnen auch die al - lerwenigſten viel Weiber ernehren. Es iſt ohne Zweifel, daß die Vielweiberey auch da, wo ſie erlaubt iſt, ordentlicher Weiſe nur unter die Vorzuͤge der Vornehmſten und Reichſten gehoͤre. Und auch unter dieſen ſind einige, welche lieber mit einer Frau als mit vielen leben. Wie viel zaͤhlt man aber von ſolchen vornehmen und rei - chen Perſonen unter den erſten Chriſten? Und wie viele ſollten ſich wohl von denen, die ſich mit vielen Weibern umgeben ha - ben, entſchloſſen haben, eine Religion zu wehlen, welche man mit Feuer und Schwerdt verfolgete? Jſt es unbekannt, was fuͤr eine groſſe Hinderniß bey einer ſolchen Entſchlieſſung eine eintzige Frau machen kan? Wie viel Schwuͤrigkeiten hat alſo derjenige zu uͤberwinden gehabt, der mit mehrern iſt verknuͤpft iſt geweſen? Wie238Wie iſt es derowegen doch immer moͤglich, daß ein gewiſſer groſſer Mann ſich durch den angezogenen Schluß kan bewegen laſ - ſen, ſchlecht weg zu ſetzen: Die Vielweibe - rey ſey bey den erſten Chriſten gaͤng und gebe geweſen. Man bringe doch ein ei - niges Exempel oder die geringſte Nachricht hievon aus den erſten drey hundert Jah - ren bey. Zu Ende des vierten Jahr hun - dert ſoll der Kaiſer Valentinian der aͤltere erlaubet haben, zwo Frauen zu neh - men und derſelben ſelbſt zwo gehabt ha - ben. Allein es iſt dieſes noch ſehr ungewiß, indem die naͤchſten Geſchichtſchreiber nichts davon melden(*)Vid. Seldeni Tractat. de uxore Ebr. Lib. I. Cap. IX. pag. m. 50. Was kan man aber zweytens, wenn es auch damit ſeine Richtigkeit hat, dadurch beweiſen? Etwa dieſes, daß bey den erſten Chriſten die Vielweiberey gewoͤhnlich geweſen? Ge - wiß niemand wird dieſe Folge fuͤr richtig erkennen koͤnnen, der unpartheyiſch iſt.

§. 23.239

§. 23.

Der unpartheyiſche Leſer urtheile fer -Weitere Fortſe - tzung des obigen. ner, wie weit folgende Gruͤnde beweiſen, daß unter den erſten Chriſten nicht leicht oder gar keine Maͤnner mit vielen Weibern vom erſten oder vom zweyten Range ge - weſen. Jm gantzen neuen Teſtament fin - den wir kein einiges Exempel. Es werden auch an keinem Orte ein Mann und viele Weiber, ſondern allemal Mann und Weib oder Maͤnner und Weiber neben einander geſetzt. Und waͤre es leicht geſchehen, daß ein Mann mit mehrern Weibern zu der Chriſtlichen Religion uͤbergetreten, ſollte Paulus, da er 1. Cor. 7. v. 12. ent - ſcheidet, ob ein Mann, der ein Chriſte worden, ſeine unglaubige Frau behalten koͤnnte, nicht mit einem eintzigen Worte darauf kommen ſeyn? Jſt es wahrſchein - lich, daß er in dieſem Fall nicht alſo wuͤr - de geredet haben: So ein Bruder ein oder mehrere unglaubige Weiber hat, und ſo weiter. Man beruft ſich zwar auf die Stelle, da Paulus 1. Tim. Cap. 3. v. 2. 12. ſetzt, ein Biſchoff und ein Diaconus oder Diener ſoll eines Wei -bes240bes Mann ſeyn, und man ſchlieſſet daher, daß die Vielweiberey damals unter den Chriſten muͤſſe gebraͤuchlich geweſen ſeyn, weil ſonſten Paulus dieſen Perſonen nicht insbeſondere wuͤrde anbefohlen haben, nur eine Frau zu haben. Allein es iſt dieſer Schluß, wie ſchon von vie - len erinnert worden, eben ſo richtig, als wenn man aus 1. Timoth. Cap. 5. v. 9. ſchlieſſen wollte, daß unter den erſten Chriſten manche Frau auch mehr als ei - nen Mann zugleich gehabt. Denn wie dorten Paulus von den Biſchoͤffen for - dert, daß ein jeder nur eines Weibes Mann ſeyn ſoll, ſo befiehlt er hier, daß keine Wittwe ſoll erwehlet, oder unter die Armen, ſo die Gemeinde ernehrte, aufgenommen werden, als die nur eines Mannes Frau geweſen. Warum macht man dieſen Schluß nicht, da doch be - kannt, daß wie bey verſchiedenen Voͤl - ckern die Vielweiberey geweſen, alſo bey andern Voͤlckern einer Frau mehr Maͤn - ner zu nehmen erlaubt worden(*)Conf. 10. Alb. Fabricii Bibliographia An - tiqu. Cap. XX. §. XI. ? Da man aber dieſen Schluß fuͤr unrichtig haͤlt, ſo erklaͤre man die erſten Ausſpruͤ - che des Apoſtels, wie dieſen letztern, ſieſtehen241ſtehen ja nicht weit von einander. Es iſt ſchon genug von andern angezeiget, daß eine leichtſinnige Eheſcheidung unter Juͤden und Heiden gewoͤhnlich geweſen. Manche Maͤnner jagten ihre erſten Wei - ber weg, und wehlten ſich andere, und manche Weiber ſuchten von ihren erſten Maͤnnern los zu kommen und verbanden ſich mit andern. Auf dieſe unerlaubte und unanſtaͤndige Weiſe hatte nun man - cher Mann einige Frauen, und manche Frau einige Maͤnner nach den andern, die aber zugleich lebten. Was nun die Wittwen betrifft, davon eine jede nur eines Mannes Frau geweſen ſeyn ſolle, ſo iſt klar, daß der Apoſtel von dieſem Amt diejenigen ausſchlieſſe, welche leicht - ſinniger Weiſe eine Scheidung von ih - ren erſten Maͤnnern verurſachet, und an - dere Maͤnner genommen. Denn daß Paulus es fuͤr nichts Unanſtaͤndiges ge - halten, wenn eine Frau nach ihres Mannes Todte wieder geheirathet, zei - get Paulus in eben demſelben Capitel v. 14. an. Jſt es denn derowegen nicht hoͤchſt wahrſcheinlich, daß Paulus durch die Worte: Ein Biſchoff ſoll einesJacobi Betr. 2. Band. QWei -242Weibes Mann ſeyn, ſolche Maͤnner zu Lehrern haben wollte, welche ſich nicht leichtſinniger Weiſe von ihrer erſten Frau geſchieden, und eine andere geheira - thet? (**)Conf. Seldeni Uxor Ebraica Lib. III. Cap. XIX. et Marc. X. 12. Hammondi Paraphraſis N. Teſtament. ad 1. Tim. III. 2. Ubi Clericvſ hunc locum ex Livio illuſtrat, et oſtendit Romanos quoque vi - rum unius uxoris dixiſſe, qui haud, prio - re uxore dimiſſa, aliam duxit.

§. 24.

Fernere Ausfuͤh - rung des vorigen.
62

Die eifrigen Reden der erſten Kirchen - Vaͤter wider die Vielweiberey ſind eben - fals ein Beweis, daß man zu ihren Zei - ten keine Maͤnner mit vielen Frauen un - ter den Chriſten gedultet. Es giebt zwar einige, welche eben daraus einen Be - weis nehmen, daß die Vielweiberey un - ter den Chriſten ſelber geweſen. Allein ſie werden davon niemand uͤberreden, als ſolche, die nie von dergleichen Redenetwas243etwas geleſen. Denn man findet nicht die allergeringſte Spur in denſelben, daß die Urheber derſelben wider eine Vielwei - berey eiffern, die unter den Chriſten waͤ - re; ſondern es iſt ja klar am Tage, daß ſie wider die Vielweiberey anderer Voͤl - cker, beſonders der Juden reden. So viel laͤſſet ſich doch noch leicht ſehen, ob jemand wider eine fremde oder einhei - miſche Unordnung die Feder ergriffen. Man leſe, was einige |von den alten Kirchen-Vaͤtern wider die zweyte, dritte und vierte Ehe geſchrieben, ſo wird man bald mercken, wie ſie ſchreiben, wenn ſie etwas unter den Chriſten ſelber fin - den, ſo ihnen nicht anſtehet. Es finden ſich Gelegenheiten in den Schriften der erſten Kirchen-Vaͤter, dabey ſie ſich, wenn unter den erſten Chriſten Exempel von Maͤnnern mit vielen Weibern gewe - ſen, dieſerwegen nothwendig haͤtten ent - ſchuldigen und ſich von einem Wider - ſpruch befreyen muͤſſen. Man findet, daß einige von den erſten Kirchen-Leh - rern den Juden vorgehalten, daß die Chriſten ſich mit einer Frau begnuͤgten, und die Vielweiberey verwuͤrffen. (*)Wir wollen nur die wenigen Stellen an - fuͤhren, welche uns davon ſind bekannt worden; es werden derſelben aber ohne Zweiffel mehr zu finden ſeyn. Man leſe demnach Dialog. cum Tryphone, welcher von den mehreſten Ivstino Martyr. zu - geeignet wird, und ein Geſpraͤch mit ei - nem Juden iſt. Es wird dieſe Schrift in die Mitte des zweyten Jahrhunderts geſetzt. Es kan ferner nachgeſchlagen werden Clemenſ Alexandr. Pædag. Lib. I. Cap. VII. Theophilvſ ad Autolicum Lib. III. Q 2Haͤtte244Haͤtte man nun Exempel von Maͤnnern mit vielen Weibern unter den Chriſten gehabt, wuͤrde man ſich in ſolchen Stel - len nicht nothwendig daruͤber haben erklaͤ - ren muͤſſen? Ja da die alten Kirchen-Vaͤ - ter ſo ſehr viel mit Ehe-Sachen in ihren Schrifften zu thun haben, und den Bo - gen hoͤher ſpannen, als billig und ſolche Saͤtze lehren, wider welche nothwendig ſolche Exempel wuͤrden ſeyn angefuͤhret worden, man aber kein einiges mal fin - det, daß ihnen daher ein Einwurf ge - macht worden, oder daß ſie demſelben zuvor gekommen und ihn beantwortet, ſo urtheile ein jeder Unpartheyiſcher, was hieraus zu ſchlieſſen. Da einige der alten Kirchen-Vaͤter ſo gar die zweyte Ehe tadelten, wuͤrde man ſelbi - gen nicht entgegen geſetzt haben? Daß man ja bey einigen Bekehrten ſo gar die Vielweiberey duldete. Man lieſet aber nirgend das allergeringſte davon. Was noch mehr? Man lieſet, daß ſie aller - hand Fragen gehabt, von der Eheſchei - dung zwiſchen einem glaͤubigen und un - glaͤubigen Ehegatten. Nirgend aber wird bey dieſen Fragen mehr als einerFrau245Frau gedacht. Ein jeder uͤberlege ſelber, was hieraus nach den Regeln der Cri - tic, die man bey andern Gelegenheiten fuͤr ſehr vernuͤnftig und gegruͤndet erklaͤ - ret, folget.

§. 25.

Noch ein wichtiger Grund wider dieNoch fer - nere Fort - ſetzung. Meinung, daß unter den erſten Chriſten bekehrte Maͤnner mit vielen Weibern ge - weſen, und gedultet | worden, iſt dieſer. Unter den Roͤmern war die Vielweibe - rey auf keine Weiſe erlaubet. Es wur - de nicht einmal zugeſtanden, daß jemandQ 3neben246neben der Frau vom erſten Rang eine von der zweyten Ordnung oder eine Concubine gehalten. Wer eine Concu - bine hatte, durfte keine andere Frau nehmen. Die mehr als eine Frau hat - ten, waren in ihren Geſetzen fuͤr infam erklaͤret(*)Der beyden Kayſer Diocletiani und Maximiniani Geſetz Leg. 2. Cod. de inceſtis Nuptiis iſt dieſes: Neminem qui ſub ditione Romani nominis, binas uxoreshabere. Da man ſich nun ſo viele Muͤhe gab, die Chriſten als unzuͤchtige und wolluͤſtige Leute auszuſchreien und Beweiſe davon beyzubringen; wuͤrden ſie ihnen die Vielweiberey nicht ohne al - len Widerſpruch haben vorwerfen koͤn - nen, wenn man Exempel davon unter ihnen angetroffen? Findet man aber, daß man wider die Chriſten dergleichen aufbringen koͤnnen? Niemand kan da - von die geringſte Spur aufweiſen. Hierdurch wird folglich ebenfals der Satz befeſtiget, daß man von keinen Exempeln ſolcher Maͤnner unter den Chriſten ge - wuſt, welche zugleich mehr Weiber ent - weder rechte Frauen oder Concubinen ge - habt.

247
(*)habere poſſe, vulgo patet, quum etiam in edicto Prætoris hujusmodi viri infamia notati ſunt. Von denen Kaiſern dem Valeriano und Galieno hat man folgen - des: Eum qui duas ſimul habuit uxores, ſine dubio comitari infamiam. Wir fuͤh - ren dieſes an aus des ſeligen Io. Alb. Fabricii Bibliographia Antiquaria Cap. XX. §. XI. pag. 588.
(*)

§. 26.

Man halte nun dasjenige, was bis -Beſchluß dieſer Ma - terie. her fuͤr und wider die Vielweiberey der erſten Chriſten beygebracht worden, zu - ſammen, und urtheile, welche Meinung mehr Beyfall verdiene. Jſt es ſchwerer zu begreifen, daß da die Vielweiberey nur unter den Vornehmen war, und ſich auch ſelbige lieber von der erſten Frau ſchieden, wenn ihnen eine andere beſſer gefiel, als daß ſie zwo zugleich gehalten haͤtten; (§. 19.) ſich auch ſelten ein Vornehmer und Reicher zu der Chriſtli - chen Religion wendete, weil er Ehre und auch offt Vermoͤgen dadurch verlohr; iſt es bey dieſen Umſtaͤnden ſchwerer zu be - greifen, daß ſich der Fall nicht zugetragen,Q 4daß248daß ein Mann mit vielen Weibern ein Chriſt worden: oder iſt ſchwerer zu be - greifen, wie es immer zugegangen, daß, wenn Maͤnner mit vielen Weibern unter den erſten Chriſten geweſen, man in ſo vielen Stellen des neuen Teſtaments und anderer alten Schriften, die von Maͤn - nern, Weibern und Eheſachen handeln, nicht die allergeringſte Spur davon an - treffe, und den Chriſten, da ſie ſich der Ehen eines Mannes mit einer eintzigen Frau ruͤhmten; (§. 24.) dieſelben eine von ihren Feinden, beſonders von den Roͤmern, welche die Vielweiberey fuͤr unanſtaͤndig hielten, dergleichen beſchul - diget und uͤberfuͤhret worden, da ſie ih - nen ſonſten alle Schande aufbuͤrdeten (§. 25)? Welches von beiden iſt leichter oder ſchwerer zu begreiffen? Dieſes wird we - nigſtens ein jeder, der nur in etwas un - partheyiſch iſt, eingeſtehen muͤſſen, daß das Vorgeben, als waͤre die Vielwei - berey unter den Chriſten gaͤng und gebe geweſen, wider alle Regeln einer geſunden Critic ſtreite. Jch bin gewiß verſichert, wenn diejenigen, ſo wider die Vielweiberey der erſten Chriſten ſtreiten,ſich249ſich einer ſolchen Critick bedienten und ſo verwegen in ihren Schluͤſſen waͤren, wie die Vertheidiger der Vielweiberey, es wuͤrden dieſe jenen, wie ſie zwar ſo ſchon thun, nicht nur alle Ueberlegung, ſondern wohl gar allen Verſtand abſprechen.

§. 27.

Vielleicht erwarten einige Leſer auchOb das Geſetz wi - der die Vielwei - berey gar keine Aus - nahme leide. noch dieſe Frage: Ob das Geſetz von den Ehen eines Mannes mit einer Frau heutiges Tages unter den Chriſten gar keine Ausnahme mehr leide? Die Frage will ich herſetzen; die Beantwor - tung derſelben aber groͤſſern Maͤnnern uͤberlaſſen. Es ſcheinet dieſelbe nicht oh - ne allen Nutzen zu ſeyn, und es ſind Faͤlle moͤglich, in welchen ihre Entſcheidung nothwendig. Denen, welche Chriſto un - ter ſolchen Voͤlckern Gemeinden ſammlen, bey welchen die Vielweiberey noch ge - woͤhnlich, kan dieſer Fall vorkommen, daß ein Mann mit zwo Frauen, mit de - ren jeder er ſchon Kinder gezeuget, ſichQ 5zum250zum Chriſtenthum meldet. Was iſt als - denn zu thun, beſonders, wenn die letzte - re Frau keine gar zu groſſe Gabe der Ent - haltung hat? Koͤnnen ſie zum Chriſten - thum angenommen werden, ohne daß man die letztere Frau ſcheidet; oder iſt ei - ne Scheidung vorzunehmen und die letz - tere Frau an einen andern zu verehlichen? Jch zweifele nicht, einige werden ſagen, man muͤſſe die letztere Frau ſcheiden und ſie an einen andern verheirathen. Jhr Grund wird dieſer ſeyn: Nach den Grund - Saͤtzen des Chriſtenthums iſt die Ehe mit der letztern Frau keine rechtmaͤßige Ehe und folglich muß ſie bey Annehmung der Chriſtlichen Religion aufgehoben werden. Und wer weiß, was in den erſten Zeiten des Chriſtenthums in ſolchen Faͤllen, wenn ſie ſich anders begeben, geſchehen? Ver - muthlich aber werden auch einige behaup - ten, man koͤnne ſolche Perſonen bey ein - ander laſſen. Sie haͤtten ſich zuſammen verbunden, ehe ihnen die Geſetze des Chri - ſtenthums bekannt worden, und als Che - Leute Kinder gezeuget. So wohl den Kindern von der letzten Frau, als auch ihrſelber251ſelber wuͤrde eine ſolche Scheidung zum groͤſten Nachtheil gereichen. Auch kei - nes von beyden Eltern, wenn ſie anders ein rechtes Gefuͤhl von der Kinder-Liebe haͤtten, wuͤrde die Kinder gerne fahren laſſen, und ſie entweder einem Stief-Va - ter oder Stief-Mutter uͤbergeben. Es wuͤrden daher auch alle ſolche Perſonen von ihrer Bekehrung ſehr zuruͤck gezogen werden. Da nun GOtt denen Glaͤubi - gen altes Bundes die Vielweiberey nach - geſehen, ſo waͤre kein Zweifel, daß er ſie auch im neuen Bunde in einem ſolchen auſſerordentlichen Falle dulden wuͤrde. Sie werden hinzufuͤgen, es ſeyn wenige Geſetze, welche nicht in beſondern Faͤllen Ausnahmen litten. Auch ſo gar von dem Verboth des Todtſchlages, und zwar in ſo fern es Eltern gegen ihre leiblichen Kin - der zu beobachten haͤtten, waͤren ehemahls Ausnahmen gemacht worden, und ein Prophet GOttes redete ſo davon, daß er die Mutter die in der Verwuͤſtung Juda durch die Babylonier ihre eigene Kinder geſchlachtet, weil ſie weder fuͤr ſelbige noch fuͤr ſich zu eſſen gehabt, keine ſtraf bareMoͤrde -252Moͤrderinnen genannt, ſondern er ſchrie - be alſo von ihnen: Es haben die barm - hertzigſten Weiber ihre Kinder ſelbſt muͤſſen kochen, daß ſie zu eſſen hat - ten in dem Jammer der Toͤchter meines Volcks, Klag-Lied. Jerem. Cap. 4. v. 10. Sie werden hieraus den Schluß machen, daß in einem auſſerordentlichen Falle noch ehender eine Ausnahme von dem Verboth viele Frauen zugleich in der Ehe zu haben, konnte gemacht und von GOtt wuͤrde genehm gehalten werden. Der ſelige Koͤhler in ſeinem Jure Gen - tium §. 162. giebt noch andere auſſeror - dentliche Faͤlle an, in welchen er meynt, daß die Vielweiberey nach den Geſetzen der Vernunft koͤnnte geduldet werden. Wir unterſtehen uns nicht, in einer ſo ver - wirrten Sache den Ausſchlag zu geben. Dieſes eintzige ſetzen wir hinzu. Dieje - nigen, ſo dieſer letztern Meynung zugethan ſind, vergehen ſich, wenn ſie alſo ſchlieſ - ſen: Es giebt gewiſſe auſſerordentliche Faͤlle, darinnen die Vielweiberey von GOtt nachgeſehen wird: Derowegen koͤnnen die Groſſen dieſer Erden mit gu -tem253tem Gewiſſen, wenn es ihnen nur beliebt, ſich mit mehrern Perſonen auf die eine und andere Art zugleich ehlich verbinden. Es iſt dieſer Schluß ſehr unrichtig und folgt keinesweges aus dem vorhergehen - den, und kein Fuͤrſt wird leiden, daß ſeine Unterthanen bey ſeinen Geſetzen ſolche Schluͤſſe machen. Ein Ober-Herr der zugleich ein wahrer Chriſt ſeyn will, muß ſein Volck nicht bloß durch ſeine Befehle, ſondern auch beſonders durch ſein Exempel regieren. Er muß nicht nur fuͤr ihre aͤuſſerliche Ruhe ſorgen, ſon - dern ihnen auch in allen Tugenden vorleuchten. Er muß daher auſſer der hoͤchſten Noth keine Ausnahmen von den Geſetzen GOttes machen. Thut er ſel - biges, ſo muß er eben dergleichen an de - nen nachſehen, die um ihn ſind. Die - ſen folgen die Vornehmen und Beamten des Landes, und man kan nicht wohl mit der Schaͤrfe wider ſie verfahren. Nach dieſen richten ſich die bemittelten Buͤrger und Bauern, man druͤckt dabey die Au - gen zu, und auf ſolche Weiſe wird das Spruͤchwort wahr: Wie der Hirte, ſodie254die Schaafe. Soll derowegen die Heer - de gut ſeyn, ſo muͤſſen die Hohen der Er - den mehr durch ein gutes Exempel als durch Geſetze herrſchen. Einen aͤhnlichen Schluß, als wir jetzt verworfen haben, hat man aus des ſeligen Thomaſens Abhandlung de Jure Principis aggra - tiandi homicidam gezogen. Dieſer ge - lehrte Mann behauptet, es koͤnnten ſich Faͤlle begeben, darinne ein Fuͤrſt ſich aus dringenden Urſachen gezwungen ſaͤhe, ei - nem Moͤrder das Leben zu laſſen, wie dorten David dem Joab. Hieraus zie - hen andere den falſchen Schluß: Ein Fuͤrſt kan mit Recht und gutem Gewiſſen nach ſeinem Belieben Moͤrdern das Leben ſchencken. Und daher kommt es, daß auf Veranlaſſung ſolcher Rathgeber jener Liebling eines Hofes, der einen Unſchul - digen bey dem Spiel erſticht, ſein Leben behaͤlt. Jener arme und ſonſt fromme Bauer aber, der nur alle Jahr etwa ein - mal Bier zu koſten bekommt, und ſelbi -ges255ges nicht vertragen kan, muß ſeinen Na - cken unter das Schwerdt halten, da er bey ſeinem Freunde auf der Kirchmeß un - vermerckt berauſcht wird und aus Ueber - eilung in einer entſtandenen Schlaͤgerey einen andern toͤdtet. Kan man ſolche Rathgeber auch nur vor dem Gericht der Vernunft fuͤr gerecht erklaͤren? Und was fuͤr ein Urtheil ſollte ſelbigen wohl vor dem Gericht desjenigen beſtimmt ſeyn, der keine Perſon anſiehet?

Zwoͤlf -[256][257]

Die Zwoͤlfte Betrachtung von Der goͤttlichen Abſicht bey den Dingen, deren Endzweck ſcheint nicht erhalten zu wer - den.

§. 1.

ES war der vorige Michaels-Tag,Gelegen - heit zu die - ſer Be - trachtung. als der Tod ein ſehr geliebtes Kind meinem Geſicht entzog. Jch mu - ſte ein wohlgebautes Koͤrperchen der Ver - weſung uͤberlaſſen, deſſen Anblick mich ſo oft geruͤhret, nachdem die Seele Abſchied genommen, deren erſte Gedancken mir ſchon manche Stunde auf eine angeneh - me Art verkuͤrtzet. Jch fuͤhlte bey dieſer Gelegenheit die vorher mir noch unbewuſte Staͤrcke desjenigen Triebes, durch wel - chem GOtt Menſchen und Thiere auf die Erhaltung derer richtet, welche von ihnenJacobi Betr. 2. Band. Rgezeu -258gezeuget worden. Dieſer Trieb wuͤrckte die erſte Zeit ſo heftig, daß ich alle uͤbrige natuͤrlichen Triebe nicht mehr fuͤhlete. Auch das Gefuͤhl des ſonſt uͤberaus ſtarcken Triebes zum Leben verlohr ſich, und ich lebte, weil ich es fuͤr eine Pflicht achtete zu leben. Jch fuͤhlte einen Schmertz, dem ich nicht wie andern Schmertzen auszu - weichen ſuchte, nein, die Unterhaltung deſ - ſelben war mein eintziges Vergnuͤgen. Al - les, was ich ſonſt liebte, war mir entweder gleichguͤltig oder gar zuwider. Das Le - ben ſelbſt ſchien mir eine beſchwerliche Laſt, und ich glaubte, nie wuͤrde ich ſanfter ſter - ben, als bey dem Sarge meines erblaßten Kindes. Jch erinnerte mich indeſſen doch, daß es ſich weder fuͤr einen weiſen Mann, noch vielweniger fuͤr einen Chriſten ſchicke, ſich dergeſtalt von einer rege gemachten Leidenſchafft hinreiſſen zu laſſen. Jch ge - dachte an Exempel ſolcher, welche auch den Tod geliebter Kinder großmuͤthig ertragen, und ſuchte alle die Gruͤnde hervor, welche ein ſolches Schickſal koͤnnen leidlicher ma - chen. Allein ich erhielt dadurch weiter nichts, als daß ich nicht wider die weiſe Vorſehung murrte, welche dieſes Verhaͤng -niß259niß uͤber mich beſchloſſen, und mein Kind in dieſes Leben nicht wieder zuruͤck wuͤnſch - te, ſondern in dieſes Schickſal als eine wei - ſe und guͤtige Fuͤgung meines GOttes wil - ligte. Der innere Schmertz aber legte ſich dadurch eben ſo wenig, als ich bey Oeff - nung einer Ader durch den Gedancken fuͤhl - los werde: Es ſey mir heilſam. Zeit und andere Empfindungen waren allein im Stande, dieſen Schmertz zu verdunckeln.

Jch bin bey dieſer Gelegenheit mehr wie jemahls auf die Unterſuchung verfallen, woher doch die Liebe der Eltern gegen die Kinder eine ſo gar groſſe Krafft bekom - men? Jch habe ſonſt geglaubt, ſie werde uns bloß durch den Umgang mit den Kin - dern nach und nach eingefloͤſſet, indem die beſtaͤndige Betrachtung ihrer Vollkom - menheiten eine Liebe bey uns zeugte und ernehrte. Jch bin aber nun durch die Er - fahrung uͤberzeuget, daß ſelbiger allein kei - ne ſo hefftige Neigung gegen jemand er - wecken koͤnne. Mein Kind war erſt zwey Jahr alt, und koͤnnte ich die Stunden zeh - len, die es um mich geweſen, ſie wuͤrden wenig Wochen ausmachen. Haͤtte ich ein fremdes Kind ſo lang um mich gehabt,R 2wuͤrde260wuͤrde deſſen Tod mir auch einen ſolchen Schmertz verurſachet haben? Gewiß kei - nesweges. Jch habe laͤnger als zwey Jahr mit liebens-wuͤrdigen Perſonen in einem Hauſe gelebt, und ſie ſind in meiner Ge - genwart erblaſſet, ich habe aber das nicht gefuͤhlet, was ich bey der Leiche meines ge - liebten Kindes empfunden. Die bloſſe Zeugung iſt auch nicht die eintzige Urſache, warum ich ein Kind liebe. Wuͤrde ein Kind bald nach der Geburt von mir genom - men und an einem andern Orte erzogen, und mir nachgehends, ohne daß ich es kenn - te, nebſt andern Kindern dargeſtellt, ich wuͤrde gegen ſelbiges keine groͤſſere Nei - gung empfinden, als gegen die uͤbrigen. So bald man mir aber ſaget: Dieſes iſt dein Kind, ſo wird ſich der Trieb aͤuſſern, der Eltern und Kinder ſo genau verbindet. Diejenigen, welchen die Geſchichte unſerer Zeiten bekannt ſind, erinnern ſich, was bey einem groſſen Koͤnige ſich geaͤuſſert, als ihm unvermuthet eine natuͤrliche Tochter dargeſtellet wurde, mit welcher er keinem Umgang gehabt und folglich nicht kennte. Die Worte: Dieſe iſt die und die, ruͤhr - ten das vaͤterliche Hertz und brachten ſel -biges261biges in die zaͤrtlichſten Bewegungen. Jch muthmaſſe daher, daß in der Vorſtellung, dieſes iſt von dir gezeuget, die Krafft lieget, welche bey den Eltern eine ſo groſſe Neigung gegen die Kinder wuͤrcket oder vielmehr in Bewegung bringet. Jch wer - de hierinne dadurch beſtaͤrcket, daß wenn jemand unwiſſend eine untreue Frau hat, er ein Kind, das von einem andern gezeu - get, eben ſo ſehr liebet, als diejenigen, ſo ihm wahrhaftig zugehoͤren. Was erwe - cket dieſe Liebe? Die Vorſtellung: Dieſes iſt dein Kind. Auch die Thiere kan man auf ſolche Weiſe hintergehen. Wenn zween Schaafe zugleich lammen, und man verwechſelt die Laͤmmer ſogleich nach der Geburt, ſo nimmt ein jedes das fremde Lamm, als das Seinige an. Hieraus iſt klar, daß es auch bey den Thieren auf die Vorſtellung ankommt: Dieſes iſt von dir gezeuget, es mag nun dieſe Vorſtel - lung ſo klar oder ſo dunckel ſeyn, wie ſie will. Jch habe weiter geforſcht, wie es zugehe, daß dieſe Vorſtellung ſo eine groſſe Krafft bey Menſchen und Thieren habe. Jch kan es aber eben ſo wenig ergruͤnden, als dieſes, wie es zugehe, daß mir das LobR 3eines262eines vernuͤnftigen Mannes, wenn ich gleich nicht den geringſten Vortheil davon hoffen kan, ruͤhre, und wie es zugehe, daß eine Kugel weit fort laufe, wenn man ihr nur einen eintzigen ſtarcken Stoß giebt. Dergleichen zu erklaͤren wird die Erkennt - niß des innern Weſens der Dinge erfor - dert. So weit aber gehet unſere Weiß - heit noch nicht. (*)Jch ſehe leicht zum Voraus, daß einige uͤber dasjenige, was ich hier und in dem fol - genden von den Bewegungen meines Ge - muͤths uͤber den Tod eines Kindes offenher - tzig erzehle, lachen, und mich einer unan - ſtaͤndigen Weichlichkeit beſchuldigen wer - den. Jch haͤtte dieſen entgehen koͤnnen, wenn das, was ich von mir ſage, in einer erdichtetn Erzehlung vorgetragen. Da ich aber die wahre Krafft von der Gewißheit einer allwiſſenden und gnaͤdigen Vorſehung zeigen wollen, ſo habe nichts Erdichtetes einmiſchen moͤgen. Da ich auch finde, daß ein Brockes und Bodmer bey dem Leichen geliebter Kinder weinen, und Canitz, Werl - hof, Haller und Richey uͤber den Abſchied werther Ehegatten oͤffentliche Klagen fuͤh - ren, ſo habe kein Bedencken getragen frey zu ſagen, was ich gefuͤhlt, als ich ein ange - nehmes Kind der Verweſung uͤberlaſſen muͤſſen.

§. 2.263

§. 2.

Um dieſen Schmertz etwas zu beſaͤnf -Fortſe - tzung des vorigen. tigen, reißte ich zu meinen geliebten Eltern. Jndem ich aber ohne Geſellſchafft war, beſchaͤfftigte ſich mein kranckes Gemuͤth beſtaͤndig mit Betrachtung meines entſeel - ten Kindes und der Begegniſſen dieſes Le - bens. Mir fiel hiebey der Gedancke eines beruͤhmten Gelehrten ein, welcher dafuͤr haͤlt, daß man wenigſtens nach der Ver - nunft nicht anders dencken koͤnne, als daß GOtt die zukuͤnftigen Dinge, ſo nicht ab - ſolut nothwendig ſeyn, nicht alle vorher ſehe, ſondern Verſuchs-weiſe allerhand Dinge mit einander verknuͤpffe, und erwarte, was daraus erfolge. Die vielen Dinge, wel - che ihr ſonſt gewoͤhnliches Ziel nicht errei - chen, z. E. die vielen Eyer, die wir mit ei - nem eintzigen Fiſche eſſen u. d. g. bewegen ihn zu glauben, daß der Schoͤpfer die Ver - nichtung dieſer Eyer und der darinne be - findlichen kleinen Fiſche nicht vorher geſe - hen, indem er ſie ſonſten nicht in einem ſol - chen Zuſammenhang wuͤrde geſetzet haben. Denn ein Allwiſſender koͤnne ſeines Ziels niemahls verfehlen. Jndem man aber die Eyer eines einigen Fiſches eſſe, wuͤrdeR 4das264das Ziel vieler tauſend Dinge aufgeho - ben. Es ſey folglich vieles einem blinden Zufall unterworfen, den der groſſe Be - herrſcher der Welt nicht vorher geſehen. Meine Einbildungs-Krafft verband hie - mit einen andern Satz dieſes gelehrten Mannes, da er annimmet, GOtt werde nach und nach alle moͤgliche Welten her - vor bringen, und ſahe als einen nothwen - digen Schluß dieſer Saͤtze an: Der Schoͤpfer werde durch vielfaͤltige Verſuche heraus bringen, welche die beſte Welt, ſo vor andern zu wehlen. Jch hatte dieſe Saͤtze ſchon lange gewuſt, und niemahls hatten ſie mich in Unruhe geſetzt. Es war mir auch ehmahls leicht geweſen, academi - ſche Zuhoͤrer von dem Gegentheil zu uͤber - zeugen. Anjetzt ſetzten ſie mich in die groͤ - ſte Verwirrung. Jch gedachte an die Aertzte, welche um durch Verſuche ihre Erkenntniß zu erweitern, allerhand Thie - re mit vieler Sorgfalt futtern, damit ſie bald ein ſchwangeres Mutter-Thier, bald ein Saamen-reiches Maͤnnchen, bald eine jetzt-gebohrne Frucht, bald ein beglucktes Ey oͤffnen und die innern Bewegungen wahrnehmen koͤnnen. Beſonders fiel mirjener265jener groſſe Zergliederer ein, welcher ei - nen Hund zu dem Ende futtert, damit er ihm bey erlangter voͤlliger Groͤſſe den Ruͤ - cken von Fell und Fleiſch entbloͤſſen, in die Wuͤrbel des Ruͤckgrades Loͤcher bohren, auf den Ruͤcken-Marck allerhand Spiri - tus und endlich Scheidewaſſer gieſſen koͤn - ne, damit er ſehen moͤge, was fuͤr Bewe - gungen dadurch in dem noch lebenden Thiere entſtehen, und wie es endlich an heftigen Convulſionen ſtirbet. Meine in eine halbe Schwaͤrmerey geſetzte Einbil - dung ſahe die Zerfleiſchungen dieſer arm - ſeligen Thiere und ihre aͤngſtlichen Bewe - gungen. Mir ſelbſt wurde angſt, und ich wuſte kaum, wo ich war. Jch dachte, vielleicht iſt dein entſeeltes Kind auch nur zu einem Verſuche in dieſer Welt gewe - ſen, und vielleicht biſt du ſelber zu keinem andern Ziel beſtimmt, und vielleicht wer - det ihr in der Probe zu ſchlecht befunden, daß man euch in die noch zu ſchaffenden Welten bringen ſollte. Jch kam an einen erhabenen Ort, wo man die ſchoͤnſte Ge - gend vor ſich ſiehet, und wo ich ſchon oft mit einer angenehmen Entzuͤckung an mei - nen Schoͤpfer gedacht. Anjetzo wurde erR 5mir266mir daſelbſt fuͤrchterlich, ja recht erſchreck - lich, da ich ihn als einen ſolchen ſahe, der nur noch ſchaffte um Experimente zu machen, das beſte zu finden. Meine ohne dem ge - ſchwaͤchten Glieder wurden gantz matt, ich ſetzte mich unter einen Baum, und wuͤnſch - te, daß ſo gleich das letzte Experiment mit mir moͤchte gemacht werden, um keines mehr fuͤrchten zu doͤrfen. Mein Wunſch wurde nicht erfuͤllet. Jch muſte, nachdem ich mich ein wenig erholet, meine matten Fuͤſſe weiter fortſetzen. Mein Kummer wurde mir unertraͤglich, und ich wuͤnſchte, entweder nicht zu ſeyn, oder von einer Vor - ſehung uͤberzeugt zu ſeyn, die eine wahre Allwiſſenheit, unendliche Guͤte und Macht zum Grunde haͤtte.

§. 3.

Beſchluß der vori - gen Er - zaͤhlung.
66

Jch faßte meine Gedancken, ſo viel ich immer konnte. Jch richtete ſie auf die Gruͤnde der Weiſen, womit ſie die goͤttliche Allwiſſenheit feſt ſetzen, und beſonders dach - te ich an die Untruͤglichkeit der Offenbarung und die deutlichen Spruͤche von der unum - ſchraͤnckten Allwiſſenheit GOttes, und an die mercklichen Proben, da er zufaͤllige Din - ge ſo viel hundert Jahr vorher geſagt. Allein267Allein ich erfuhr, was fuͤr eine unbeſchreib - liche Gewalt hefftige Gemuͤths-Bewe - gungen uͤber die Vernunft haben. Jch konnte zu keiner zuverlaͤßigen Ueberzeugung und voͤlligen Ruhe kommen. Jch erreich - te den Ort meiner Geburth. Der Leib war matt, und das Gemuͤth gantz kranck. Jeder Ort des vaͤterlichen Hauſes erin - nerte mich, theils an angenehme, groſſen Theils aber an unangenehme Verſuche, ſo meinen mit ſich ſelbſt ſtreitenden Gedan - cken nach, mein Schoͤpfer mit mir gemacht, und die Furcht fuͤr den kuͤnftigen Experi - menten preßte mir allezeit den Wunſch aus, daß das letzte ſchon mit mir moͤchte gemacht ſeyn. Jch legte mich zur Ruhe, aber ich konnte nicht ruhen, da ich keine weiſe und gnaͤdige Vorſehung wuſte, die mein mor - gendes Schickſal zu beſtimmen, im Stan - de war. Jch ſtund voller Verwirrung wieder auf. Mein geliebter Vater bemuͤ - hete ſich, mir allerhand Veraͤnderung zu machen, und mein niedergeſchlagenes Ge - muͤth aufzurichten. Er fuͤhrte mich in eine Vogelſchneiſe(*)Ein Schneiſen-Gang, welchen ich an an - dern Orten einen Donen-Steig nennen hoͤ - ren, iſt ein ſchmaler Gang, der in einem jun - gen Holtze aufgehauen wird, in welchen man alle zween Schritte von einander einen von Weiden oder andere Ruthen gemachten Buͤgel an einen jungen Baum befeſtiget, in einen ſolchen Buͤgel zwo oder drey Schlei - fen von Pferde-Haaren hanget, unter welche man ein wenig Vogel-Beere feſt machet und darinne Droſſeln und andere Vogel faͤn - get. um zu meinem Ver - gnuͤgen ſelber ein Gericht Voͤgel auszuneh - men. Aber mein Gemuͤth rang auch hierbeſtaͤndig268beſtaͤndig mit obigen Zweifeln wider die goͤttliche Allwiſſenheit. Die vielen ver - geblich aufgeſtellten Buͤgel, an welchen in einem gantzen Herbſte kein einiger Vogel gefangen wird, ſchienen mir aͤhnliche Exem - pel zu ſeyn, von denen Geſchoͤpfen, welche ihr Ziel nicht zu erreichen ſcheinen. Jch gedachte, waͤre der Vogelſteller allwiſſend, er wuͤrde die wenigſten Buͤgel aufſtellen, noch vielweniger wuͤrde er ſie alle taͤglich mit Beeren verſehen, indem ſo viele ausge - beeret oder ausgefreſſen werden, an welchen ſich kein Vogel faͤnget. Wir kamen zu einem Buͤgel, wo der Raubvogel eine ge - fangene Droſſel ausgefreſſen. Auch hier dachte ich: Haͤtte man ſolches vorher ge - ſehen, ſo wuͤrde man auch in dieſen Buͤgel keine Beere gehangen haben. Jndem ich dieſer Reihe der Gedancken folgte und uͤberlegte, wie ein ſolcher Schneiſen-Gang ausſehen wuͤrde, wenn ihn ein Allwiſſender aufgeſtellt, ſo fand ich zu meiner groſſen Zu - friedenheit, daß ich vorher falſch gedacht. Eine genauere Ueberlegung ſagte mir, daß wenn auch gleich eine Allwiſſenheit einen ſolchen Fang einrichtete, dennoch ein groſſer Theil der aufgeſtellten Buͤgel bleiben wuͤr -de,269de, wenn ſich gleich nie ein Vogel darinne erhenckte. Ein Vogel faͤnget ſich nicht al - lezeit gleich im erſten Buͤgel, er beeret erſt einige aus, und faͤnget ſich alsdenn, oder flieget auch wohl geſaͤttiget davon. Woll - te man nun die Buͤgel nicht mit Beeren ver - ſehen, die er vorher ausfrißt, ſo wuͤrde man ihn in der letzten nicht fangen. Denn an - faͤnglich fuͤrchtet er ſich ungemein fuͤr den aufgeſpannten Pferde-Haaren. Und mancher ſetzet ſich daher anfaͤnglich gar nicht in den Buͤgel, ſondern haͤlt ſich mit den Fluͤgeln in freyer Luft, und frißt auf ſolche Weiſe die Beere ab. Wenn er aber einige Buͤgel abgefreſſen, wird er dreiſter, und faͤnget ſich endlich. Wollte man ferner nur wenige Buͤgel aufſtellen, ſo wuͤrden ein paar Voͤgel, welche einen Kropf voll Beere mit ihrem Leben gluͤcklich davon bringen, leicht ſolche Buͤgel ausbeeren, worinne ſich jetzo einer faͤnget, da jener andere Buͤgel auszufreſſen gehabt. Wollte ein Allwiſ - ſender wenigſtens die Muͤhe ſpahren, daß er keine Haare in die Buͤgel machte, von welchen er in den jetzigen Umſtaͤnden vorher ſiehet, daß ſich kein Vogel darinne fangen werde, und wollte nur Beere hinein han -gen,270gen, ſo wuͤrde nicht leicht ein Vogel in die Buͤgel fliegen, worinnen Haare ſind, ſo lange in jenen Beere waͤren, weil ein Vo - gel ſich ſehr fuͤr der Schlinge huͤtet, die ihm das Leben nehmen ſoll, auch die Buͤgel wuͤrde eine Allwiſſenheit nicht weg laſſen, die ein ander Vogel beraubet, wenn ſie ſaͤ - he, daß ſonſt der nechſt dabey ſeyende Fang nicht in Sicherheit bleiben wuͤrde. Jch begriff, daß, wenn das Ziel des einen Buͤ - gels ſollte erreichet und Vogel darinne ge - fangen werden, andere auch ſeyn muſten, die mir anfaͤnglich vergeblich und nur eine Arbeit einer auf einen unbekannten Zufall hoffenden Unwiſſenheit zu ſeyn ſcheinen. Jch fieng an zu fragen, woher man denn wohl wiſſen koͤnnte, daß es in der Natur nicht eine aͤhnliche Bewandniß mit denen Dingen habe, deren Endzweck ſcheint nicht erreicht zu werden? Woher iſt man denn verſichert, daß nicht ein jedes zu einem Ziel komme, welches der HErr zum Voraus geſehen. Mein Gemuͤth fieng von ſelbiger Stunde an ſich nach und nach zu beſaͤnffti - gen, und mir wurde wie einem der ſich in einem finſtern Nebel verlohren, und nicht weiß, wo er iſt, nachdem ſich aber die Duͤn -ſte,271ſte nach und nach vertheilet, wiederm ſiehet, wo er ſich befindet, und wo er ſich hinwen - den muß. Dieſer Zufall hat mich hernach auf folgende Reihe der Gedancken gebracht, welche zwar einem Gemuͤth, welches eine groſſe Begierde hat, die Abſichten GOttes bey beſondern Dingen zu erkennen, kein voͤlliges Genuͤge leiſten; doch aber viel - leicht nicht unangenehm ſeyn wird.

§. 4

Nach reiferer Ueberlegung habe wahr -Ein Be - weiß wi - der die All - wiſſenheit GOttes und deſſen Widerle - gung. genommen, daß eine Meinung mich in Un - ruhe geſetzt, welche zwar das Anſehen eines beruͤhmten Mannes, aber keinen buͤndigen Beweiß vor ſich hat. Man ſchlieſſet von der Unvollkommenheit, worinnen vieles, ſovollkom -272vollkommener werden muͤſte, bleibet und gar aufgehoben wird, auf die eingeſchraͤnck - te Erkaͤnntniß des Schoͤpfers. Die Rich - tigkeit dieſes Schluſſes aber iſt noch nicht erwieſen. Es wird ſolches erhellen, wenn wir ihn in ſeine eintzelne Saͤtze zergliedern. Es haͤlt aber dieſer Schluß eigentlich fol - gende Saͤtze in ſich.

  • Was das Ziel nicht erreicht, ſo der Schoͤpfer dabey gehabt, deſſen Schickſal iſt dem Schoͤpfer un - bekannt geweſen.
  • Viele Dinge kommen zu dem Ziel nicht, welches ihr Schoͤpfer bey ihnen gehabt; Derowegen muß ihr Schickſal dem Schoͤp - fer ſeyn unbekannt geweſen.

Jch koͤnnte gleich bey dem erſten Satze eines und das andere erinnern, weil man ihn aber leicht durch die bekannte und nach Menſchen Art gemachte Eintheilung des Willens GOttes in den vorhergehenden und nachfolgenden vertheidigen wird, ſo nehme ich ihn als richtig an. Der zweyte aber muß bewieſen werden. Dazu wird man folgende Saͤtze mit einander verbin - den muͤſſen.

Was273
  • Was nicht zu der gewoͤhnlichen Vollkommenheit ſeines Glei - chen gelanget, und zu den ge - woͤhnlichen Wuͤrckungen ſei - nes Gleichen kommet, daſſelbe erreichet den Endzweck des Schoͤpfers nicht.
  • Viele Dinge, z. E. manches Ey, die Geburths-Glieder von Menſchen und Thieren, ſo jung umkommen, gelangen nicht zu der Vollkommenheit und zu den gewoͤhnlichen Wuͤrckungen ihres Gleichen;
  • Derowegen erreichen viele Dinge den Endzweck ihres Schoͤp - fers nicht.

Der erſte Satz hat wieder einen neuen Beweiß noͤthig. Wer iſt aber im Stan - de, ſelbigen zu geben? Es muß bewieſen werden, daß der Schoͤpfer bey allen Din - gen, die in der erſten Unvollkommenheit bleiben und umkommen, die Abſicht geheget, die er bey denen hat, die zu einer groͤſſern Vollkommenheit gelangen? Wie? wenn dieſe Dinge nur Huͤlfs-Mittel waͤren, die andern, bey welchen eine weitere AbſichtJacobi Betr. 2. Band. Serrei -274erreichet wird, zu erhalten und zu einer groͤſ - ſern Vollkommenheit zu bringen. Wie? wenn die Vollkommenern nicht wohl koͤnn - ten erhalten werden, ohne daß viele andere in ihrer Unvollkommenheit gleich wieder zerfielen. Es ſterben ſehr viele Kinder in ihren erſten Jahren. Wie? wenn der Reſt ſo leben bleibet, ſterben muͤſte, wenn jene nicht ein fruͤhzeitiges Opfer des To - des wuͤrden. Alle Dinge haben ihre Ver - bindungen mit einander, und wir betruͤgen uns insgemein, wenn wir dencken, dieſes koͤnnte ohne jenes ſeyn. Jſt es nicht be - kannt, daß manche ungeſunde Frauens - Perſon, durch die Geburth und Saͤugung eines oder etlicher Kinder geſund und da - durch zu Zeugung geſunder und dauerhaf - ter Kinder bereitet werde, und das Leben der letztern von dem Tode der erſten abhan - ge. Wer weiß, wie viele andere Faͤlle ſind, da das Leben des einen in dem fruͤhzei - tigen Tode des andern gegruͤndet iſt. Doͤrffen wir es wagen, und iſt es der Ver - nunft gemaͤß, daß wir uns zu Richtern uͤber den groſſen Zuſammenhang der Dinge auf - werffen und ſagen: Dieſes und jenes iſt unnuͤtze, und eine Probe einer Unwiſſenheitdeſſen,275deſſen, der die Einrichtung gemacht? Jch war vor einiger Zeit bey ein paar guten Freunden, welche mit dem Damen-Spiel ſich beluſtigten. Beide hatten in dem ei - nen Spiel noch vier Damen gegen einan - der. Die Steine kamen ſo zu ſtehen, daß der eine ſich dreye ſchlagen ließ, und dadurch des andern Steine in eine ſolche Verhaͤlt - niß brachte, daß er mit dem einen, ſo ihm noch uͤbrig blieb, die vier Damen des an - dern auf einmal vom Brete brachte. Es ſtund ein junger Anfaͤnger in dieſem Spie - le dabey. Als ſelbiger ſahe, daß der erſte den Zug that, dadurch er drey Steine ver - lohr, drehete er ſich geſchwind um und rief: O ein Fehler! das war ein grob Verſehen! Er hielt fuͤr eine Unwiſſenheit der Folge, was in der That eine groſſe Klug - heit war, und von einer groſſen Einſicht in das Spiel zeugete. Sollte es uns wohl nicht eben ſo gehen, wenn wir uns unter - ſtehen, von Dingen in dem groſſen Zuſam - menhange der Welt zu urtheilen, daß ſie Folgen eines eingeſchraͤnckten Verſtandes waͤren?

S 2§. 5.276

§. 5.

Noch ver - ſchiedene Zweifel wider die Allwiſſen - heit GOt - tes.
67

Man wird einwenden, bey einigen Din - gen ſey es gar zu klar, daß die Abſicht des Schoͤpfers dabey gantz und gar nicht errei - chet werde. Man wird mir vorhalten, die Geburths-Glieder ſolcher, die in der Kindheit ſterben, die unzaͤhlbare Menge der Thierchen,(*)Was ich hier und in dem folgenden mit la - teiniſchen Woͤrtern ausdrucke, hatte ich an - faͤnglich auch, wie das Uebrige, in reinemTeutſch ſo ſich in dem Semine maſculino durch die Vergroͤſſerungs-Glaͤ - ſer ſehen laſſen, und unter welchen von etli - chen Millionen kaum ein einiges zu ſeiner gehoͤrigen Reife kommt, die vielen Fiſch - Eyer, ſo von Menſchen und Raub-Thieren verzehret werden, und die Keimen, ſo ſich in allen Koͤrnern finden, die von Menſchen und Vieh zermalmet werden. Man wird ſagen, ja man ſaget es wuͤrcklich, es ſey gar zu klar, daß die Abſichten dieſer Dinge kei - nesweges erreicht wuͤrden, ſondern es ſeyn ſelbige ein unwiderſprechlicher Beweiß, daß der Schoͤpfer nur verſuche, was von ſo vielem Stoff zu Menſchen, Thieren und Gewaͤchſen koͤnne zu Stande und zu ſeiner Vollkommenheit gebracht werden. Jch will auf ein jedes beſonders antworten.

277
(*)Teutſch aufgeſetzt. Hohe Goͤnner aber, welchen unterthaͤnig zu gehorchen, verbun - den bin, haben wichtige Urſachen gehabt, mir anzurathen, dieſe Materie auf eine verdeck - tere Art vorzutragen.
(*)

§. 6.

Was die Geburths-Glieder der Men -Widerle - gung des Zweifels, der aus den Ge - burths - Gliedern ſolcher Ge - ſchoͤpfe ge - zogen wird, die ohne Zeu - gung ſter - ben. ſchen und Thiere betrifft, welche hinweg ſterben, ohne gezeuget und gebohren zu ha - ben, ſo beweiſe man mir erſt, daß alle Ge - burths-Glieder ſonſt keinen andern End - zweck haben, als daß dadurch die Geſchlech - ter ſollen fortgepflantzet werden. Koͤnnen ſie nicht auch andern Nutzen haben? Die Lunge dienet zur Sprache. Jſt dieſes aber die eintzige Abſicht derſelben? Die Erfahrung lehret, daß die Geburths-Glie - der mehr Nutzen haben. Sie haben einen groſſen Einfluß in den Coͤrper und die Handlungen der lebendigen Geſchoͤpfe. Nimmt man ihnen, was zur Zeugung noͤ - thig, ſo werden ſie gantz traͤge und ſchlaͤfrig, uͤbermaͤßig fett, und bey den Menſchen ha - ben dieſe Dinge ſo gar ihren Einfluß in die Stimme. Was unter den Thieren ſehr jung geſchnitten wird, bekommt auch ein gantz ander Gewaͤchſe. Der Hals eines jung geſchnittenen Ochſen oder PferdesS 3gleicht278gleicht nicht den ſtarcken Haͤlſen der Stiere und Hengſte. Und hieraus iſt klar genug, daß die Dinge, ſo zur Zeugung noͤthig ſind, auch ſonſten ihren Einfluß haben, in die Ge - ſchoͤpfe, ſo damit verſehen. Wer weiß ferner, ob dieſe beſondern Stuͤcke nicht, wenn ſie verfaulen, beſondern Gewuͤrm Leben und Nahrung geben, das ſonſt nicht zur Wuͤrcklichkeit kaͤme, und doch auch zur Wuͤrcklichkeit hat kommen ſollen. Es koͤnnen mehr dergleichen Muthmaſſungen aufgebracht werden, deren Unmoͤglichkeit niemand zeigen wird, und folglich denjeni - gen, welcher von den Geburths-Gliedern, durch die keine Zeugung erhalten wird, auf den Mangel der Allwiſſenheit GOttes ſchlieſſet, verbinden, zu beweiſen, daß die Geburths-Glieder keine andere Abſicht als eine Zeugung haben koͤnnen, und folglich der Schoͤpfer bey allen Geburths-Glie - dern keinen andern Endzweck gehabt habe, und folglich aus Unwiſſenheit der kuͤnfti - gen Dinge ſeines Zwecks verfehle. So lange jenes nicht bewieſen, ziehet man mit Unrecht dieſe Folge.

§. 7.279

§. 7.

Jch komme auf die Animalcula ſper -Widerle - gung des Zweifels, der von den Ani - malculis ſpermati - cis genom - men wird. matica und den Schluß, ſo daher wider die Allwiſſenheit GOttes gezogen wird. Es iſt durch die Vergroͤſſerungs-Glaͤſer auſſer allen Zweifel geſetzt, daß in dem Semine maſculino von Menſchen und Thieren ei - ne erſtaunende Menge kleine Thierchen, die faſt die Form kleiner Schlangen haben, le - ben und ſich bewegen. Ein eintzig Troͤpf - gen enthaͤlt derſelben weit mehr, als man zehlen kan. Es ſind einige auf die Gedan - cken gerathen, daß ein jedes ſolches Thier - chen den Stoff eines zu erzeugenden Ge - ſchoͤpfes in ſich enthalte, und eine aͤhnliche Verwandlung mit demſelben vorgienge, wie mit den Maden, daraus Bienen, Flie - gen und dergleichen werden. Sie glau - ben, daß derſelben deßwegen eine ſo erſtau - nend groſſe Menge, damit zu ſeiner Zeit de - ſto eher ein ſolches Thierchen den Ort faͤn - de, wo ſeine erſte Verwandelung vorgehen koͤnnte, nemlich eines von den kleinen Eyern, ſo man in dem Ovario femellarum findet. Jch habe mich oͤffters gewundert, daß ſol - che Maͤnner, welche die Allwiſſenheit GOt - tes mit den ſtaͤrckſten Gruͤnden behaupten,S 4bey280bey dieſer Sache alſo reden, als wenn bey den goͤttlichen Einrichtungen ein blinder Zufall ſtatt faͤnde, und als wenn GOtt es eben ſo machte, wie der Ackermann, der Saamen auswirft, ohne zu wiſſen, welches Korn bekommen, und Frucht tragen werde. Diejenigen aber, ſo an der Allwiſſenheit GOttes zweifeln, meinen in dieſen Thier - chen einen unumſtoͤßlichen Grund fuͤr ih - re Meinung gefunden zu haben. Sie ſa - gen, wuͤſte GOtt alles vorher, und kennte das Thierchen, welches ein Ovulum ova - rii erreichen wuͤrde, ſo wuͤrde er derſelben nicht eine ſo unzaͤhlbare Menge in einem eintzigen Tropfen hervorbringen, damit nur etwa ein einiges, deſto gewiſſer zu ſeiner Vollkommenheit gelangete, die uͤbrigen aber ſaͤmmtlich und zwar bey vielen Millio - nen umkaͤmen. Ein Allwiſſender kennte das Puͤnctgen von dem Subtilſten des Se - minis maſculini, welches aus der Mutter durch die Fallopiſchen Roͤhren an den Eyer - Stock dringen, und ein geſchicktes Ey be - ruͤhren wuͤrde, und in dieſes Puͤnctgen wuͤr - de er nur den Stoff zu einem lebendigen Geſchoͤpf legen, und nicht ſo viele Thier - chen vergeblich hervorbringen, und in dererſten281erſten Bewegung gleich wieder zum Tode beſtimmen. Ein Allwiſſender koͤnne un - moͤglich eine ſolche Einrichtung machen.

§. 8.

Jch antworte hierauf dieſes: WoherFortſe - tzung des vorigen. weiß man denn, daß dieſe Animalcula ſpermatica Geſchoͤpfe, daraus Menſchen und Thiere werden? Jſt denn dieſes ſchon zu einer ſolchen Gewißheit gebracht, daß man ſelbiges den ſtaͤrckſten und buͤndigſten Beweiſen fuͤr die Allwiſſenheit GOttes entgegen ſetzen kan? Wir ſehen ja durch unzaͤhlbare Proben, daß der Schoͤpfer alles mit lebendigen Creaturen hat erfuͤllen wol - len, wo nur einige leben koͤnnen. Ein Tropfen gemeiner Bier-Eßigs enthaͤlt der - ſelben ebenfalls eine unzaͤhlbare Menge. Woher weiß man denn, daß der Semen maſculinum nicht auch mehr als einerley Nutzen habe, und geſchickt ſey, gantze Hee - re von Thierchen zu beleben und zu erneh - ren, und denn auch das andere Geſchlecht zu ſchwaͤngern? Mir iſt es wenigſtens gantz und gar nicht wahrſcheinlich, daß die Ani - malcula ſpermatica der erſte Stoff der Menſchen und der Thiere ſeyn. Mein Gegengrund iſt dieſer: Die zarte Haut,S 5ſo282ſo um den gelben Dotter eines Eyes gehet, iſt genau verbunden mit der Frucht ſo dar - innen waͤchſet, dergeſtalt, daß ſie wenigſtens bey Kuͤcheln, die zum Auskriechen zeitig, mit dem Hintern alſo verknuͤpft, daß ſelbige dadurch den gantzen Dotter in den Bauch ziehen. Jch habe einmal ein Kuͤcheln ge - ſehen, welches zum Durchbrechen mehren - theils fertig war, welches den Dotter noch halb vor dem Hintern hangend hatte. Dieſe wunderbare und genaue Verbin - dung der Brut mit der Haut des Dotters bringet mich auf die Muthmaſſung, daß der erſte Stoff der lebendigen Geſchoͤpfe bey der Mutter an den Dottern der Eyer ſitze, und durch die Auram ſeminis aufge - loͤſet und in Bewegung geſetzet werde, eben wie eine trockene Ranonckel durch die Feuchtigkeit der Erde. Man wird zwar ſagen: Das Saamen-Thierchen waͤch - ſet an den Dotter an. Sollte aber dieſes ſeyn, ſo wuͤrden wenigſtens diejenigen, wel - che hiebey keine Allwiſſenheit, die alles be - ſtimmet, zugeben wollen, ſondern auch GOtt unter diejenigen ſtellen, die auf einen Ha - ſard, auf einen unbewuſten Zufall, auf ei - nen Verſuch etwas muͤſſen ankommen laſ -ſen,283ſen, ſolche wuͤrden wenigſtens muͤſſen zu - geben, daß es gar leichte geſchehen koͤnnte, daß verſchiedene Saamen-Thierchen ſich an einen Dotter ſetzten, und zu einer gewiſ - ſen Groͤſſe wuͤchſen: Allein dieſes findet man nie. Jn einem Eye, worinne nur ein Dotter, werden nie zween Kuͤcheln. Jn einem Eye aber, worinnen zween von einander abgeſonderte Dotter, ſo man gar leicht an der Groͤſſe, und wenn man es vor ein Licht haͤlt, mercken kan, werden auch, wenn ſie bekommen, zween Kuͤcheln. Jch muthmaſſe daher auch, daß wenn eine Fe - mella auf einmal zween oder mehr Fœtus zur Welt bringet, bey ihr nicht verſchiedene Eyer befeuchtet worden, ſondern ein Ey, worinne verſchiedene Dotter zugleich gewe - ſen. Da es alſo noch ſehr ungewiß, ich will nicht ſagen unwahrſcheinlich, ob die Animalcula ſpermatica der erſte Stoff zu den Menſchen und Thieren; warum will man damit die Allwiſſenheit GOttes beſtreiten? Wie? wenn dieſe Thierchen dazu dienen muͤßten, daß ſie den Semen durch ihre viele Bewegungen zur Voll - kommenheit braͤchten?

§. 9.284

§. 9.

Fernere Fortſe - tzung des vorigen.
69

Doch geſetzt, daß dieſe Thierchen der erſte Stoff zu Menſchen und Thieren waͤ - ren: Woher will man denn beweiſen, daß deſſentwegen eine ſo gar unbegreifliche Menge derſelben da ſeyn, damit der Schoͤp - fer deſto ehender koͤnnen verſichert ſeyn, es wuͤrde eines davon zu ſeiner Vollkommen - heit gedeihen? Womit will man behaup - ten, daß keine andere Urſachen da ſeyn, die ihre Gegenwart nothwendig erfordern? Man wird verlangen, ich ſoll eine ſolche Urſache angeben. Jch geſtehe es, ich weiß keine. Folgt denn aber aus meiner oder auch aus aller Weiſen Unwiſſenheit, daß keine vorhanden? Gewiß keinesweges. Hat man aber Luſt zu unnuͤtzen Grillen, ſo nehme man an, daß dieſe Thierchen in der Welt, wie zur Winters-Zeit die Schwal - ben, Fliegen und dergleichen im Schlafe umher liegen, zu Zeiten aber durch einen ſemen maris wieder in Bewegung geſetzet und ein wenig gefuttert werden muͤſſen, daß ſie wieder eine Zeitlang ohne Bewe - wegung liegen koͤnnen, und ſich auf ſolche Weiſe in ihrer kleinen Geſtalt bis zu einer weitern Auswickelung halten.

§. 10.285

§. 10.

Man wird mich ohne Zweifel bey derWiderle - gung des Zweifels, ſo von den Eyern her - genom - men wird, deren. Brut nicht aus - kommt. obigen Eyer-Philoſophie zu halten ſuchen, und einwenden, daß wenn auch der Stoff der lebendigen Geſchoͤpfe an die Dotter der Eyer gebunden, ſo wuͤrde ich doch dadurch nichts gewinnen, ſondern vielmehr verlieh - ren. Man wird mir vorhalten, die vielen Menſchen und Thiere, welche umkommen, ehe ſie gezeuget haben, bey welchen man doch die Ovula zur Zeugung durch eine genaue Zergliederung findet. Man wird mir entgegen ſetzen die unſaͤgliche Menge Eyer der Fiſche und anderer Thiere, wel - che gegeſſen werden, und deren Brut zu ihrer Vollkommenheit nicht gediehen. Man wird ſchlieſſen: Haͤtte der Schoͤpfer zum Voraus geſehen, daß dieſes und jenes Ey nebſt ſeiner Brut wuͤrde ver - nichtet werden, ehe die Brut ihre Voll - kommenheit erreicht; er wuͤrde ſelbi - ge nicht vergeblich zur Wuͤrcklichkeit gebracht haben. Wir wollen die Schluͤſ - ſe, die hierinne liegen, ordentlich auswi - ckeln, damit wir von ihrer Richtigkeit deſto beſſer urtheilen koͤnnen. Es ſind in die - ſem unfoͤrmlichen Schluſſe verſchiedeneGruͤnde286Gruͤnde zuſammen gezogen, welche den Stoff zu verſchiedenen| ordentlichen und foͤrmlichen Schluͤſſen darreichen. Wir wollen ſie nach einander herſetzen und be - trachten. Der erſte wuͤrde ohngefehr die - ſer ſeyn:

  • Was die Vollkommenheit nicht erreichet, die andere ſeines glei - chen erreichen, deſſen Schickſal iſt dem Schoͤpfer unbekannt geweſen.
  • Viele Eyer und ihre Brut gedei - hen nicht zu der Vollkommen - heit, zu welcher andere kom - men; Derowegen iſt ihr Schick - ſal dem Schoͤpfer unbekannt geweſen.

Es iſt noͤthig, daß der erſte Satz erwie - ſen werde. Womit will man aber ſelbi - gen erhaͤrten? Jch weiß keinen Grund dazu, habe auch noch nirgend einen gefun - den. Folget etwa aus dem Begriff ei - nes Allwiſſenden, daß er muͤſſe in ſeinen Einrichtungen alle aͤhnliche Dinge zu ei - ner gleichen Vollkommenheit bringen? Jch wenigſtens begreife es nicht. Man kanaus287aus dem obigen auch folgenden Schluß zuſammen leſen:

  • Wer einen Stoff zu einem voll - kommenen Dinge ſchaffet, der doch zu ſeiner Vollkommenheit nicht gelanget, der muß nicht allwiſſend ſeyn.
  • GOtt aber hat mancherley Stoff zu allerhand vollkommenen Dingen gemacht, der doch in der erſten Auswickelung wie - der vernichtet wird; Derowe - gen iſt GOtt nicht allwiſſend.

Man beweiſe auch hier den erſten Satz. Man nehme an, es waͤre nicht moͤglich, daß der Stoff zu A. und B. zugleich zu ſei - ner Vollkommenheit gelangte. Wenn indeſſen B. ſeine Vollkommenheit erreichen ſollte, ſo muͤſte A. doch da ſeyn und in ſei - ner erſten Auswickelung vernichtet wer - den, anders koͤnnte B. zu ſeiner gehoͤrigen Vollkommenheit nicht gedeihen. Stritte es alsdenn mit einer Allwiſſenheit, die B. zur Vollkommenheit bringen wollte, daß ſie den Stoff zu A. auch machte, und ſel - bigen bey ſeiner erſten Auswickelung wie - derum um des B. willen verfallen lieſſe? Jch288Jch ſahe vor einiger Zeit eine kleine Spin - ne, welche die Sonnen-Waͤrme aus ih - rem Eye ausgebruͤtet. Sie brachte aus ihrem Eye ſo viel zaͤhen Saft mit, daß ſie ein kleines aber ſehr ordentliches Gewebe machen konnte. Sie ſpanne ſelbiges mit einer groſſen Fertigkeit und mit ſolchen ſubtilen Faden, die nichts als eine gantz kleine Fliege halten konnten. Sie erreich - te aber ihren Zweck, daß ſie dergleichen in ihrem Geſpinſte fieng und ſich damit fut - terte. Sie wuchs, und machte ihr Gewe - be immer groͤſſer, dichter und ſtaͤrcker, und mehrte ſich von den Fliegen, die ich ihr zum Theil ſelber zubrachte. Mit dieſen Fliegen wurde auch der Stoff zu einigen andern Fliegen vernichtet. Haͤtte dieſes aber nicht ſeyn ſollen, ſo waͤre die Spinne nach ihrer erſten Auswickelung wieder ge - ſtorben. Streitet denn aber eine ſolche Einrichtung wider oder fuͤr die Allwiſſen - heit des Schoͤpfers? Und wer kan denn ſagen, daß nicht dieſe und dergleichen Ur - ſachen bey allen denen Dingen ſind, wel - che die Vollkommenheit anderer ihres glei - chen nicht erreichen. Will ſich jemand auf die Allmacht GOttes hiebey berufenund289und ſagen: Der Schoͤpfer haͤtte ja ma - chen koͤnnen, daß eines ohne den Untergang des andern und alſo alles neben einander zu ſeiner Vollkommenheit gediehen waͤre, der leſe was ich Betracht. VII. §. 13. ge - ſchrieben habe.

Endlich liegt in dem obigen unfoͤrmli - chen und zuſammen gezogenen Schluſſe auch noch dieſer foͤrmliche Schluß:

  • Wer viele uͤberfluͤßige und ver - gebliche Dinge macht, der muß nicht allwiſſend ſeyn.
  • Der Schoͤpfer macht viele der - gleichen; derowegen muß er nicht alles, beſonders zukuͤnfti - ge Dinge vorher wiſſen.

Jſt es moͤglich, daß ein Weiſer einen ſolchen Schluß mache? Woher ſoll doch der mittlere Satz deſſelben bewieſen wer - den? Er ſpricht: Die vielen kleinen Coͤr - perchen, welche in den Eyern liegen, ſo nicht auskommen und viel tauſend andere Din - ge ſind ja vergeblich, indem ſie das Ziel des Schoͤpfers nicht erreichen? Woher weiß man denn, daß ſie vergebens da ſeyn und das Ziel des Schoͤpfers nicht erlan - gen? Jſt denn alles dasjenige vergeblich,Jacobi Betr. 2. Band. Tſo290ſo diejenige Vollkommenheit nicht erlan - get, wozu ein anderes ſeines gleichen hin - auf ſteiget? Es iſt die Unrichtigkeit dieſes Schluſſes genugſam gezeiget worden. Und woher weiß man denn, daß dieſe und jene Vollkommenheit das Ziel dieſer und jener Sache geweſen? Wie? wenn der Schoͤpf - fer keine groͤſſere Vollkommenheit dabey zum Ziel gehabt, als diejenige, welche es in ſeinem Eye erreichet? Wer davon urthei - len will, ob etwas in der Welt unnoͤthig und vergebens ſey; muß der nicht einen weit groͤſſern Theil der Welt recht genau uͤberſehen koͤnnen, als der hochmuͤthige Geiſt vieler Weiſen zu thun faͤhig iſt? Du uͤberſieheſt nicht einmahl hinlaͤnglich die Gliedmaſſen und Zuſammenſetzung einer veraͤchtlichen Laus, und wilſt urtheilen, was in dieſer Welt noͤthig und nuͤtzlich, oder aber vergeblich iſt?

Widerle - gung des Zweifels, ſo von den Keimen aller Saa - men-Koͤr - ner herge - nommenwird.
69

§. 11.

Eben hiemit beantworte ich auch die Zweifel, welche aus der unbeſchreiblichen Menge der Saamen-Koͤrner von Gewaͤch - ſen wider die Allwiſſenheit GOttes gezo - gen werden. Man ſpricht, die wenigſten von den Saamen-Koͤrnern kommen wiederan291an einen Ort, wo ſie ihres gleichen zeugen koͤnnen, dennoch ſind ſie faſt alle dazu ge - ſchickt. Alle vollkommene Saamen-Koͤr - ner ſind wieder mit Keimen verſehen. Die mehreſten von dieſen Keimen, ſprechen ſie, haben keinen Nutzen. Sie kommen um ohne ihres gleichen hervor zu bringen, wel - ches doch der eintzige Nutzen derſelben ſeyn kan. Waͤre nun GOtt allwiſſend, ſo wuͤrden nur diejenigen Koͤrner Keimen ha - ben, die wieder in die Erde kaͤmen und neue Gewaͤchſe hervor treiben. Jch frage aber - mahls, woher weiß man denn, daß die Kei - men der Saamen-Koͤrner ſonſt keinen Nu - tzen haben, als daß ſie neue Gewaͤchſe hervor treiben? Man ſpricht: Es liegt das gan - tze Gewaͤchſe ſchon in den Keimen drinne, und kan folglich zu nichts anders dienen, als daß dieſes Gewaͤchſe ſich daraus nach und nach auswickele, in ſeine gehoͤrige Groͤſſe ausdehne und ſeines gleichen zeuge. Jſt denn aber dieſes eine richtige Folge? Wir wiſſen keinen andern Nutzen von den Keimen: derowegen koͤnnen ſie keinen an - dern haben? Wie? wenn das Korn ſei - nen Kern nicht anders bekommen koͤnnte, als eben durch Huͤlfe dieſes Keimen. EsT 2iſt292iſt zwar bekannt, daß das Mehl in den Koͤrnern dem Keimen zur Nahrung ge - reicht, wenn derſelbe aufgehen und die er - ſten Wurtzeln ſchlagen ſoll, und alſo dieſes Mehl den Keimen diene, und daher mit um des Keimen willen ſey; daraus aber fol - get noch nicht, daß nicht auch der Keime um des Korns und deſſen Mehls willen ſeyn koͤnne. Es ſind mehr dergleichen Dinge in der Natur, die einander Wech - ſels-weiſe dienen. Der Baum zeuget die Blaͤtter, und die Blaͤtter dienen wiederum, wie bekannt, dem Baume.

Und daß der Keime in einem Saamen zum Wachsthum des Kerns unumgaͤng - lich nothwendig, ſcheinet mir dadurch hoͤchſt wahrſcheinlich, wo nicht gantz gewiß, zu werden. Der Keime iſt dasjenige, ſo aus dem Kern anfaͤnglich ſeine Nahrung hat, und aus demſelben weiter getrieben wer - den ſoll. Wenn man nun aber einem Ge - waͤchſe diejenigen Keimen nimmt, die es hervor treiben ſoll, ſo hoͤret auch der Wachs - thum des gantzen Gewaͤchſes auf. Eine Rube treibet anfaͤnglich zwey Blaͤtter und denn ferner ihr gewoͤhnliches Kraut aus, wovon das innerſte ſo genannte Hertz im -mer293mer als ein Keime der Rube anzuſehen. Bricht man ſelbiges recht rein heraus, oder die Erdfloͤhe freſſen es ab, ſo verdirbet auch die Rube und waͤchſet nicht weiter. Jch hatte Artuffeln in meinem Garten an ei - nem Orte, wo ich ſie nicht haben wollte, ich konnte das Land davon nicht rein be - kommen. Es blieben bey dem Umgraben immer einige zuruͤck. Jch fieng an, ihnen beſtaͤndig das junge Kraut abzuſchneiden: und in kurtzer Zeit war ich aller Artuffeln los. Man breche von einem Propffreiſe alle Augen, es wird bald vertrocknen. Es iſt bekannt, daß gantze Baͤume zu Zeiten trocken werden, wenn die Raupen ihnen immer das junge Laub abfreſſen. Hier - aus wird klar, daß die Keimen von den uͤbri - gen Theilen der Gewaͤchſe, womit ſie ver - bunden, zwar ihre Nahrung haben, daß aber auch hinwiederum die uͤbrigen Theile des Gewaͤchſes keinen Wachsthum ohne ſolche Keimen haben koͤnnen. Wir wollen uns uͤber die Urſachen hievon nicht einlaſ - ſen, ſondern nur bey dieſer Erfahrung ſte - hen bleiben. Wer das weiß, daß zu dem Wachsthum aller Gewaͤchſe ein gewiſſer Umlauf der Saͤffte vonnoͤthen, und daßT 3derſelbe294derſelbe ohne dergleichen Keimen und deren Wachsthum nicht lange beſtehen kan, wird dieſe Urſache von ſelbſten leicht finden. Die - ſes wollen wir nur fragen, ob man durch dieſe Erfahrung nicht genoͤthiget werde an - zunehmen, daß auch der Kern ſeinen Wachs - thum nicht haben werde, wenn kein Keime mit demſelben verknuͤpfft waͤre, und aus demſelben ſeine erſte Nahrung naͤhme. Der Keime waͤchſet, indem der Kern zu - nimmt: ſollte dieſes Letztere wohl geſche - hen, wenn das Erſtere nicht waͤre? Es iſt nach den Regeln, welche die Natur in der jetzt-benennten und in vielen tauſend an - dern Faͤllen beobachtet, gantz und gar nicht zu vermuthen. Doch es kan uns auch dieſes genug ſeyn, daß noch niemand erweiſen koͤn - nen, daß die Keimen in den Koͤrnern, die nicht wieder in die Erde kommen, und auf - gehen, gantz ohne allen Nutzen ſeyn, und das Ziel nicht erreichen, ſo ein Allwiſſender dabey haben koͤnnen.

§. 12.

Weitere Ausfuͤh - rung des vorigen.
69

Bey den Baͤumen aber iſt es vollkom - men klar, daß der Stoff zu viel tauſend Baͤumen in ſeiner Unvollkommenheit noth - wendig bleiben muß, wenn ein einigerBaum295Baum ſeine Vollkommenheit erreichen ſoll. Ein jedes Auge an einem Baume ent - haͤlt einen Keimen zu einem aͤhnlichen Bau - me. Ja ein jedes Blat hat den Stoff zu einen vollkommenen Baume in ſich. Es iſt dieſes daher auſſer allen Zweifel, weil man aus den Augen, wenn man ſelbige auf einem jungen Stamm propffet, oder in denſelben einaͤugelt, und ſo gar aus Blaͤt - tern, die man in die Erde pflantzet, und nach gewiſſen Regeln wohl wartet, voll - kommen groſſe Baͤume ziehen kan. Soll nun ein einiger groſſer Baum ſeyn und hundert Jahr und laͤnger dauren und Blaͤt - ter, Bluͤthe und Fruͤchte tragen, ſo ſiehet ein jeder, daß es nicht anders ſeyn koͤnne, es muß der Stoff zu viel Millionen andern Baͤumen in ſeiner Unvollkommenheit blei - ben, um zu der Vollkommenheit jenes ei - nigen verwendet zu werden. Und ich muthmaſſe daher nicht ohne Wahrſchein - lichkeit, daß der Stoff derjenigen Dinge, welche die Vollkommenheit ihres gleichen nicht erreichen, dazu von dem Schoͤpfer hervor gebracht worden, daß andere Din - ge dadurch zu einer groͤſſern Vollkommen -T 4heit296heit gelangen. Eines iſt immer um des andern willen.

§. 13.

Beweiß fuͤr die All - wiſſenheit GOttes aus dem zeitigen Untergan - ge vieler Thiere.
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Bis hieher habe ich mich vornemlich damit beſchaͤfftiget, daß ich die Unrichtig - keit der Schluͤſſe gezeiget, womit man be - weiſen wollen, daß der Stoff von vielen Dingen das Ziel eines Allwiſſenden nicht erreiche, und folglich der Schoͤpfer nicht allwiſſend ſey. Wir wollen nun zwey - tens eben aus dem zeitigen Untergange ſo vieler Geſchoͤpfe einen ſtarcken Beweiß herleiten, daß der Schoͤpfer allwiſſend, und daraus wollen wir wieder ruͤckwaͤrts ſchlieſ - ſen, daß ein jedes dasjenige Ziel erreiche, welches der Schoͤpfer zum Voraus geſe - hen und ſich bey der Schoͤpfung vorge - ſtellt, und daß immer eins um des andern willen. Wenn man genau auf die Din - ge dieſer Welt achtet, ſo findet man, daß der Untergang des einen zu der Erhaltung des andern noͤthig iſt. Sollen verſchie - dene Arten von Spinnen leben, ſo muͤſſen viele Fliegen ihren Saft und Leben her - geben, ehe ſie das Ziel erreichen, zu wel - chem viele andere gelangen. Sollen wil - de Enten, Waſſer-Huͤner, Reiger u. d. g. auf -297auf kommen, und zu ihrer Vollkommenheit gelangen, ſo muß mancher Fiſch in ſeinem beſten Wachsthum ihre Speiſe werden. Eben ſo verhaͤlt es ſich mit vielen andern Thieren, und vielleicht mit dem mehreſten. Ja faſt von allen, was hier auf dem Erd - boden lebet, wiſſen wir, daß es um ſich zu erhalten, entweder andere lebendige Crea - turen oder allerhand Gewaͤchſe zu Grunde richte. Und zwar finden wir, daß ein je - des Thier von dem Schoͤpfer mit ſolchen Jnſtrumenten, und mit derjenigen Geſchick - lichkeit verſehen, welche noͤthig diejenigen Dinge zu uͤberkommen und zu genieſſen, die zu ſeinem Wachsthum und Erhaltung noͤthig. Man koͤnnte hievon einige Buͤ - cher voll ſchreiben. Jch will nur ſolche Exempel anfuͤhren, bey welchen es einem jeden ſogleich in die Augen leuchtet, daß der Schoͤpfer den zeitigen Untergang der meh - reſten Dinge zum Voraus geſehen. Eine Spinne wird von ihrer Mutter nicht er - nehret, bekommt auch von derſelben kei - nen Unterricht. Die Waͤrme der Sonne und der Luft bruͤtet ſie aus ihrem Eye aus. So bald dieſes geſchehen, macht ſie ein ſehr ſubtiles und ungemein kuͤnſtliches Gewebe,T 5und298und faͤnget darinnen kleine Fliegen. Kan man dieſes der Ueberlegung der Spinne zuſchreiben? keinesweges. Manche Spin - ne hat wohl noch keine Fliege geſehen, wenn ſie das erſte Geſpinſte macht. Vielwe - niger kan ſie durch Ueberlegung heraus bringen, was fuͤr ein Netz noͤthig ſelbige zu fangen. Die Weißheit die man hier bemercket, iſt nothwendig demjenigen zuzu - eignen, der die Spinne hervor gebracht. Da nun aber derſelbe der Spinne die Ma - terie, die Kunſt und den Trieb zu einem ſolchen Geſpinſte gegeben; kan ihm denn verborgen geweſen ſeyn, daß die Spinne Fliegen fangen und vor der Zeit umbringen wuͤrde? Verſchiedene Vogel, als die Schwalbe, nehren ſich gantz allein vom Raube und freſſen Wuͤrme, Bienen, Flie - gen u. d. g. Wer nun den Magen und die Eingeweide ſolcher Thiere bereitet, ſollte der nicht gewuſt haben, was ſie freſſen wuͤr - den? Andere Vogel, als die Nachtigal, haben unter andern Ameiſen-Eyer zur Nahrung, und wiſſen ſelbige wohl zu fin - den. (*)Man leſe hievon weitlaͤuftiger des Herrn Leſſers Inſecto-Theologie Theil. II. B. I. Cap. 5. pag. 405. u. f.Wer nun den Trieb in dieſe Thiere gelegt eben dieſe Speiſe auszuſu - chen, und ihnen das Geſchick gegeben ſiezu299zu verdauen; ſollte dem unbekannt gewe - ſen ſeyn, daß durch dergleichen Voͤgel der Stoff zu viel tauſend Ameiſen wuͤrde ver - nichtet werden?

§. 14.

Daß der Schoͤpfer vorher geſehen, wieBeſonders aus dem Untergan - ge gewiſſer Raupen. das Aufkommen des Einen den Untergang des Andern befoͤrdern wuͤrde, erhellet noch mehr aus folgenden. Man findet eine Art von Jchneumons-Weſpen, welche auch Schlupff-Weſpen genannt werden, wel - che ihre Eyer durch einen beſondern Sta - chel unter die Haut gewiſſer Raupen, auf welche ſie ſich ſetzen, legen. Unter dieſer Haut kommen ſie aus und verzehren die Raupe, und haben von ſelbiger ihre Nah - rung, bis ſie fliegen und ihren Unterhalt weiter ſuchen koͤnnen. Andere Schlupff - Weſpen legen ihre Eyer in ein bereitet Neſt und tragen eine gewiſſe Art Raupen bey die Eyer und verwahren das Neſt wohl. Wenn denn die Waͤrme die Eyer aus - bruͤtet, nehren ſich die jungen Maden vonden300den Raupen, ſo lange, bis ſie Fittige be - kommen, ſich durch das Neſt durchfreſſen und fort fliegen. Mercket man hier nicht ohne Muͤhe, daß der Schoͤpffer dieſe Schlupff-Weſpen ſo bereitet, daß ſie ver - moͤge eines natuͤrlichen Triebes ihre Eyer dahin legen, wo ſie koͤnnen auskommen, und ſo verſorgen, daß es ihnen an Nahrung nicht mangelt? Kan man glauben, daß dem Schoͤpfer unbekannt geweſen, daß durch dieſe Thiere viele Raupen wuͤrden vernichtet werden, ehe ſie ihre Vollkom - menheit erreicheten, und ſchoͤne Butter - Vogel werden koͤnnten? Wer muß dieſen Schluß nicht buͤndig nennen?

  • Wer eine beſondere Art von Thie - ren ſo zubereitet, daß ſie ſich nicht anders fortzeugen koͤn - nen ohne den Untergang eines andern zu befoͤrdern, und ihnen einen Trieb giebet ſolches Thier aufzuſuchen, anbey an den Eyerſtock jener Thiere einen holen und ſpitzigen Stachel macht, womit ſie die Eyer un - ter die Haut des andern Thie - res bringen koͤnnen, der hat ge -wuſt,301wuſt, daß durch eine ſolche Art viele andere Thiere vor Errei - chung ihrer Vollkommenheit wuͤrden vernichtet werden.
  • Der Schoͤpfer aber hat ſolche Ar - ten von Thieren gemacht.
  • Derowegen hat er auch den zeiti - gen Untergang anderer zum Voraus geſehen.

§. 15.

Eben ſo leuchtet die Allwiſſenheit GOt -Ferner aus dem Untergan - ge der Maͤuſe und Heu - ſchrecken, wenn ihre Heere zu ſtarck wer - den. tes aus dem zeitigem Untergange vieler andern Thiere hervor, welche eine rauhe Witterung um das Leben bringet. Man hat Jahre, da ſich das Ungeziefer, als Heuſchrecken, Maͤuſe u. d. g. ſo ſehr ver - mehren, daß, wenn ſie nicht durch die Witte - rung und widrige Winde getoͤdtet wuͤrden, eine einige Art von dieſem Ungeziefer hin - laͤnglich waͤre, Menſchen und vielem Vieh alle Nahrung hinweg zu nehmen. Allein kan man wohl aus der Hiſtorie Exempel beybringen, daß groſſe Laͤnder viele Jahre hinter einander mit ſolchen auſſerordentli - chen Schaaren von Heuſchrecken waͤren heimgeſuchet worden, als in dem Jahr 1692. vielen302vielen Provintzen von Deutſchland wie - derfahren? Man wird dergleichen nirgend finden. Sondern, wenn ſolche ſchaͤdliche Thiere mannichmahl nur wenige Monath ein Land verheeret, kommen ſie auf ein - mahl, insgemein durch eine Witterung, ſo ihnen entgegen, hinweg, daß man keine Spuhr von ihnen findet. Die Heuſchre - cken treibet der Wind zu Zeiten ins Meer, daß ſie auf einmahl umkommen. Wie die Menge derſelben nicht nach und nach, ſondern auf einmal in wenig Tagen merck - lich wird, ſo werden ſie auch ſchleunig, ehe man es ſich verſiehet, wieder weggeſchafft. Verſchiedene Raub-Thiere fangen zwar von ſolchen Ungeziefer etwas weg; aber dieſer Abgang iſt nicht mercklich, und ſel - biger kan nicht verurſachen, daß groſſe Schaaren in wenig Tagen unſichtbar werden. Wer kan nun glauben, daß die - ſes allezeit nur von ohngefehr ſo trifft, daß wenn in einem Jahr eine ſo gar groſſe Brut von dieſen Thieren ausgekommen, immer eine ſolche Witterung oder Wind folget, welcher den groͤſten Theil derſelben vernich - tet. Wer ſich uͤberreden kan, daß die - ſes alles ohne Vorſehung eines hoͤchſt-wei -ſen303ſen Weſens alſo erfolge, der muß glauben koͤnnen, daß aus einer unuͤberlegten Ver - miſchung vieler Dinge dennoch etwas or - dentliches entſtehen koͤnne. Vielleicht iſt es wohl gar moͤglich, daß, wenn ſich jemand bey einem mit Buchſtaben angefuͤllten Buchdrucker-Kaſten ſtellet und Buchſta - ben ohne Ueberlegung zuſammen ſetzet, ein ordentliches Buch entſtehe. Man wird dieſem Schluß nicht koͤnnen diejenigen Stuͤcke Landes entgegen ſetzen, wo die ge - woͤhnliche Menge Heuſchrecken macht, daß ſo viel Menſchen daſelbſt nicht wohnen koͤn - nen, wie in andern Laͤndern, und wo da - her ein Theil der Einwohner bey einer ſtar - cken Vermehrung zu Zeiten ſich in andre Laͤnder begeben muͤſſen. Denn wir ſchlieſ - ſen hier aus einer ungewoͤhnlichen Menge Heuſchrecken und anderes Ungeziefers und der darauf immer folgenden beſondern und ſchleunigen Vertilgung deſſelben auf ein Vorwiſſen GOttes. Wie denn auch in denen Laͤndern, wo die Heuſchrecken ihren rechten Sitz haben, eine ungewoͤhnliche Menge nicht lange zu dauren pflegt.

Man304
  • Man leſe Prideaux Connexion A. und N. T. mit ander Voͤlcker-Hiſtorie Theil II. Bl. 387. Heinſius Kirchen-Hiſtorie Th. I. Secul. IX. Cap. V. §. VII. Bl. 1099.

§. 16.

Jnglei - chen aus der Ver - haͤltniß der beyden menſchli - chen Ge - ſchlechter zu einan - der.
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Vielleicht giebt jemand zu, daß der Schoͤpfer uͤberhaupt gewuſt, daß vieler Stoff zu gewiſſen Dingen ſeine Vollkom - menheit nicht erreichen wuͤrde, er habe aber nicht eigentlich gewuſt, welche eintzelne Stuͤcke wuͤrden vernichtet werden, ſonſt haͤtte er ſelbige zum Theil entweder gar nicht geſchaffen, oder wenigſtens diejenigen Theile daran weggelaſſen, welche gar kei - nen Nutzen zu haben und vergeblich zu ſeyn ſcheinen. Z. E. Jn den Raupen, wel - che eine Schlupff-Weſpe zum Neſte und Nahrung ihrer Brut machet, wuͤrden die Knoͤtgen nicht ſeyn, aus welchen die Fluͤgel hervor kommen, indem eine ſolche Raupe vernichtet wird, ehe die Fittige hervor trei - ben koͤnnen. Wir wollen auch dieſem Einwurf begegnen, und zwar wollen wir aus der zeitigen Vernichtung vieler Din - ge beweiſen, daß in dem Verſtande des Schoͤpffers alle eintzelne Dinge, alle ihreBewe -305Bewegungen und folglich die Minuten ih - rer Dauer gezehlet ſeyn. Diejenigen, welche obigen Einwurf machen, geben gar gerne zu, daß nicht alle Anlagen zu Men - ſchen ſo weit ausgewickelt werden, daß ſie durch eine Geburt an das Tages-Licht ge - ſetzet werden. Und zwar diejenigen, wel - che die Wuͤrmchen in dem maͤnnlichen Saamen fuͤr Anlagen zu Menſchen halten, glauben, daß deren viele Millionen um - kommen, ehe eins davon nur eine menſch - liche Geſtalt bekomme. Welche aber die Anlagen zu Menſchen in den Eyern junger Frauens-Perſonen ſuchen, nehmen an, daß mit einer jeden Jungfer und jungen Frau derſelben verſchiedne ſterben. Dennoch lehrt die Erfahrung, daß die Manns-und Frauens-Perſonen immer in einerley Ver - haͤltniß gebohren werden, nemlich ſo, daß allezeit einige Knaben mehr als Toͤchter auf die Welt treten. Jch habe Kirchen - Buͤcher an gantz kleinen Orten, wo etwa jaͤhrlich nur acht bis zehen Kinder gebohren werden, nachgeſehen, und wenn ich wenig Jahre zuſammen gerechnet, ſo hat ſich alle - zeit der Ueberſchuß an Knaben gezeiget. Niemand kan dieſes als eine Folge einesJacobi Betr. 2. Band. Ublin -306blinden Zufalls, der von keiner weiſen Ueberlegung vorher beſtimmet worden, anſehen.

§. 17.

Fortſe - tzung des vorigen Beweiſes.
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Was immer nach einer Regel gehet, die bey unzehlbaren Veraͤnderungen der Umſtaͤnde beſtaͤndig bleibt, das kan un - moͤglich von einem blinden Zufall abhan - gen. Man ſetze, es wuͤrden an tauſend Orten Lotterien angelegt, welche nach einer - ley Plan eingerichtet wuͤrden, nur daß die Anzahl der Looſe an dem einen Ort groß, an dem andern aber klein waͤre, wuͤrden ſie auch an allen dieſen Orten nach einer Haupt-Regul heraus kommen? Wuͤrde man eine ſolche Regel dabey koͤnnen feſt ſe - tzen, wie bey den Gebuhrten der Knaben und Toͤchter an groſſen und kleinen Orten wahrgenommen wird? Man wuͤrde eine ſolche Regel vergeblich ſuchen. Wo ein blinder Zufall ſtatt findet, da nimmt man keine gewiſſe und beſtaͤndige Regel wahr. Es muß alſo die Verhaͤltniß der gebohrnen Knaben, zu den gebohrnen Maͤdgen ab - ſolut nothwendig ſeyn, oder von der Ein - richtung eines verſtaͤndigen Weſens ab - hangen. Abſolut nothwendig kan ſie nichtſeyn,307ſeyn, indem die Wuͤrcklichkeit keines eini - gen Menſchen und alſo auch weder die An - zahl der Knaben noch der Maͤdgen abſolut nothwendig iſt. Es bleibet alſo nichts uͤbrig, als daß dieſe Verhaͤltniß von dem - jenigen ſo geordnet, der den groſſen Zuſam - menhang der Welt eingerichtet. Jſt aber dieſes, ſo laͤßt ſich leicht beweiſen, daß der - ſelbe muͤſſe allwiſſend ſeyn.

§. 18.

Dieſen Beweiß fuͤhre ich folgender Ge -Voͤllige Ausfuͤh - rung deſ - ſelben. ſtalt. Es werden immer einige Knaben mehr gebohren, als Maͤdgens. Es iſt dieſe Ordnung nicht nothwendig, und hat ihren zureichenden Grund nicht in ſich ſelbſt. Er iſt alſo in einem andern zu ſuchen. Ver - moͤge der Beweiſe, ſo man in der natuͤrli - chen GOttes-Gelahrtheit giebet, iſt ſelbiger in keinem andern zu finden, als in demjeni - gen, der dieſe groſſe Welt zuſammen geſe - tzet und alles mit einander verbunden, das iſt in GOtt; dieſer hat nun obige Ordnung entweder bloß durch eine zufaͤllige Vermi - ſchung der Anlagen zu den Menſchen ein - gerichtet, ohne zu wiſſen, welche Anlagen, ingleichen wenn, wie und wo ſie wuͤrden ausgewickelt und gebohren werden, oder erU 2hat308hat ſolches alles genau vorher geſehen und darnach die Einrichtung gemacht. Das erſtere kan unmoͤglich ſeyn. Denn, was man ohne Ueberlegung bloß nach einem blinden Zufall miſchet, daſſelbe lieget nicht nach einer Regel, und wenn man die ein - tzelnen Theile ohne ſie auszuſuchen wie - der weg nimmt, folgen ſie auch nicht ſo ge - nau nach einer Regel, wie die Knaben und Maͤdgen an groſſen und kleinen Orten ne - ben einander gebohren werden. Man uͤberlege folgende Umſtaͤnde genau. Es iſt die Vermiſchung der Knaben und Maͤd - gen nicht ſo genau, daß eine jede zeugende Perſon von jeder Art gleichviel bey ſich truͤ - ge. Die eine Frau bringet lauter Kna - ben, die andere lauter Maͤdgen, die dritte mehr Knaben, die vierdte mehr Maͤdgen. Es kommen auch nicht alle Anlagen zu neuen Menſchen zu ihrer voͤlligen Auswi - ckelung, indem viele Menſchen ſterben, die noch Kinder zeugen koͤnnten, und andere auſſer der Ehe alt werden, mit welchen we - nigſtens nach deren Meynung, mit denen wir hier zu thun haben, ungemein viel Men - ſchen in ihrer kleineſten Zuſammenſetzung wieder vernichtet werden. (*)Was mich betrifft, ſo bin noch ſehr unge - wiß, ob der Anlagen zu Menſchen und Thie - ren ſo viel verlohren gehen, als mancher meint. Woher weiß man, daß dergleichen Anlagen, wenn ſie noch im erſten Anfang ih - rer Auswickelung ſind, nicht eben das ver - tragen koͤnnen, was man an einer Ranunckel wahrnimmt. Dieſe kan man in ihren Wachsthum aus der Erde nehmen und wie - der gantz austrucknen und eine Zeitlang lie - gen laſſen, und wieder in die Erde bringen, und ſo faͤngt ſie von neuem an, Saft an ſich zu ziehen und zu wachſen. Woher weiß man? daß dieſe und jene Anlage zu einem Menſchen nach dem Tode des, der ſie bey ſich getragen, nach einiger Zeit nicht in einem andern menſchlichen Coͤrper zu ſeiner Auswickelung gelange. Wenigſtens iſt alles zugleich un - gewiß.Es geſchie -het309het auch nicht ſelten, daß der Stoff zu ei - nem neuen Menſchen durch eine unzeitige Geburt in die Verweſung gehet. Ge - ſchaͤhe nun die Auswickelung der menſch - lichen Anlagen nach einem unbeſtimmten Fall, ſo wuͤrde es ſich leicht zutragen, daß beſonders an kleinen Orten entweder eini - ge Jahre hinter einander lauter Knaben oder lauter Maͤdgen gebohren wuͤrden, oder da der Ueberſchuß an Knaben nicht gar groß, ſo wuͤrde es ſich auch an recht groſſen Orten leicht zutragen, daß einige Jahr nach einander wenigſtens einige Maͤdgen mehr fielen als Knaben. Dieſes hat man aber bey den vielen Erfahrungen, ſo ſchon an - geſtellt worden, noch keinmal gefunden. Es kan daher dieſe Ordnung in einer zufaͤl - ligen und unbeſtimmten Vermiſchung ih - ren Grund unmoͤglich haben. Es erfor - dert dieſe Verhaͤltniß der Gebohrnen von beyderley Geſchlecht eine ſehr genaue Be - ſtimmung. Und es iſt nothwendig, daß derjenige, der dieſe Einrichtung gemacht, den Stoff oder die Anlagen zu Manns - und Frauens-Perſonen, die einem jeden Ort zugeeignet, ſehr genau gezaͤhlet ha - be. Er muß zum Voraus geſehen ha -U 3ben,310ben, welche Anlagen an einem jeden Or - te vor der Zeit wuͤrden vernichtet wer - den, und welche zu ihrer ordentlichen Auswickelung kommen wuͤrden. Waͤre dieſes nicht geſchehen, ſo wuͤrde es ſich leicht zutragen, daß auch an groſſen Orten eini - ge Jahre vornemlich die Anlagen zu Kna - ben zu Grunde giengen, und ein merckli - cher Uberſchuß an Maͤdgen gebohren wuͤr - de, welches wider die Erfahrung. Wer aber ſo viel Anlagen genau gezaͤhlet, und zwar ſo, daß er auch die bemercket, ſo nicht ausgewickelt werden, und vorher beſtimmt, daß von jeder Art zu allen Zeiten eine gewiſ - ſe Anzahl zu ihrer Vollkommenheit gedie - hen, der muß die zufaͤlligen Entſchlieſſungen der Menſchen, und alles was zu ſelbigen Gelegenheit giebt, zum Voraus geſehen haben. Ohne dieſes waͤre es unmoͤglich, daß auch an kleinen Orten in gantz geringen Zahlen von Gebohrnen immer ein kleiner Ueberſchuß von Knaben gefunden wuͤrde. Denn die Verehlichungen und die Gebur - then gruͤnden ſich auf willkuͤhrliche Ent - ſchlieſſungen der Menſchen. Wer dero - wegen bey obigen Umſtaͤnden, da viele An - lagen zu ihrer Auswickelung nicht kommen,und311und manche Frau lauter Knaben, die an - dere nur Maͤdgen zur Welt bringet, die Verhaͤltniß der Gebohrnen beſtimmet hat, muß jene willkuͤhrliche Entſchlieſſungen zum Voraus geſehen haben. Wer dieſe auf ſo viel tauſend Jahr zum Voraus ſie - het, der muß auch alle und zwar die gering - ſten Kleinigkeiten wiſſen, wodurch ſie zu ſol - chen Entſchlieſſungen kommen. Folglich muß er die geringſten Kleinigkeiten dieſer Erden und ihre Wuͤrckungen in eine Folge von ſo viel tauſend Jahren genau kennen und uͤberſehen. Man wird hieran gar nicht zweifeln, wenn man anfaͤngt zu unter - ſuchen, wie es zugangen, daß dieſe und jene Perſon, eben an dem Ort und zu der Zeit verheirathet worden. Man gehe in einer ſolchen Unterſuchung nur zwantzig oder dreyßig Jahr zuruͤck, man wird einen ſol - chen Umfang von allerhand Kleinigkeiten finden, die zu einer ſolchen Verehligung das ihrige beytragen, daß man gar leicht begrei - fen wird, wie derjenige alle Kleinigkeiten dieſer Erden mit ihren Folgen auf viele tau - ſend Jahr auf das genaueſte einſehen muͤſſe, der eine ſolche Ehe vorher weiß. Tityrus iſt auf der Wanderſchafft und kommt vonU 4Oſten,312Oſten, Phillis gehet in den Wald, um von ihren Kuͤhen Milch zu hohlen, und kommt von Weſten. Ein unvermuthet Regen - ſchauer bringet beyde unter einen Baum, ein Feuer das durch die Augen gewechſelt wird, macht ſie mitten im Regenwetter ge - gen einander entzuͤndet. Tityrus ent - ſchließt ſich, an dem Orte der Phillis Arbeit zu nehmen. Es dauret kein Jahr, ſo ſind ſie ſchon geehlichet. Wer dieſe Ehe zum Voraus geſehen, und ihre kuͤnftige Kinder ſchon gezaͤhlet hat, der muß die Reiſe des Tityrus, den Weg der Phillis, die Anzahl ihrer Schritte, die Minute des eingefalle - nen Regens und noch mehr zum Voraus gewuſt haben. Und wenn man uͤberden - cket, was dieſes wiederum zum Voraus ſetzet, der wird mir nicht entgegen ſeyn, wenn ich behaupte, daß derjenige, der die Ver - haͤltniß der Geſchlechte beſtimmet, alle Klei - nigkeiten dieſer Erden mit ihren Folgen auf viele tauſend Jahr zum Voraus geſehen. Einer von Adel aus einem gewiſſen Dorfe gehet im Jahr 1717. als ein Freywilliger vor Belgrad und wird erſchoſſen. Seine an einen andern Edelmann vermaͤhlte Schwe - ſter kommt uͤber funftzig Meilen her nachdem313dem Gute ihres verſtorbenen Bruders, um ſeine bewegliche Hinterlaſſenſchafft abzu - holen. Sie bringet von dem Orte ihres Gemahls eine Cammer-Jungfer mit. Der Verwalter auf dem Gute des ver - ſtorbenen Bruders, verliebt ſich in ſelbige und verlaͤſt eine andere, welcher er ſonſt nachgegangen. Er ehlichet jene und zeuget mit ihr in zwoͤlf Jahren acht Knaben. Durch dieſe eintzige Perſon erfolget, daß in ſelbigem Dorfe binnen dieſen zwoͤlf Jahren unter den drey und neuntzig gebohrnen Kin - dern ein Ueberſchuß von ſieben Knaben ent - ſtehet, da vielleicht durch die erſtere Gelieb - te des Verwalters, welche ſich an einen an - dern Ort verheirathet und etliche Maͤdgens hinter einander zur Welt brachte, binnen dieſen zwoͤlf Jahren ein Ueberſchuß von Maͤdgen erzeuget worden. Man uͤberlege, was fuͤr eine weitlaͤuftige Erkaͤnntniß der Kleinigkeiten dieſes Erdbodens erfordert werde, eine ſolche eintzige Veraͤnderung zum Voraus zu ſehen. Jch darf derowe - gen ohne Widerſpruch zu befuͤrchten, an - nehmen, daß derjenige, der alle Gebur - then und folglich alle Ehen an allen Orten der Erden zum Voraus geſehen,U 5alle314alle Kleinigkeiten der Erden mit ihren Wuͤrckungen in viele tauſend Jahre aufs genaueſte wiſſe. Nun aber iſt es gewiß, daß der groſſe Schoͤpfer alle Geburthen zum Voraus geſehen, und auf das genaueſte gezaͤhlet. Folglich muͤſſen ihm auch die Kleinigkeiten die - ſer Erden nach ihren Wuͤrckungen in vielen tauſend Jahren nach der ge - naueſten Ausmeſſung des Raums und der Zeit bekannt ſeyn. Wir koͤnnen eben dieſes aus der weiſen Einrichtung an - derer Dinge ſchlieſſen. Man uͤberlege nur einige Dinge, welche bey der Ausbruͤ - tung der Bienen bemercket werden. Eine eintzige Koͤnigin legt Eyer, daraus Bienen entſtehen, andere daraus Dronen, und ei - nige wenige, daraus Koͤniginnen kommen. Jede Art erfordert eigene Zellen, darein die Eyer muͤſſen gelegt werden. Die Bienen bauen zu allen drey Gattungen ſolche Be - hauſungen, als ſich zu einer jeden Brut ſchi - cken. Die Dronen-Zellen ſind groͤſſer als die zu den Bienen. Und die Zellen zu den Koͤniginnen ſind von beyden gantz unter - ſchieden. Der Dronen-Zellen ſind gegen die uͤbrigen nicht ſo gar viel, und der Zellenfuͤr315fuͤr Koͤniginnen findet man nur drey bis viere. Wie denn auch die Bienen viele, der Dronen weniger und der Koͤniginnen ſehr wenige gezeuget werden. Die Koͤni - gin legt in jede Arthen von Zellen die Eyer, deren Brut ſie hinein ſchicket. Was muß derjenige nicht fuͤr eine genaue Erkaͤnntniß der Natur und ihres innerſten Weſens ge - habt haben, der da gemacht hat, daß ſo viele Thierchen mit einander uͤbereinſtimmen, die Zellen nach dem Maaß und der Anzahl der Brut bauen, und der die Koͤnigin ſo be - reitet, daß, wenn ein Ey aus ihr hervor kom - men will, darinnen eine Biene iſt, ſie ſelbi - ges in eine Bienen-Zelle legt, wenn aber ein Dronen-Ey folgt, ſie ſich in eine Dronen - Zelle begiebet, und wenn ein Ey zu einer Koͤ - nigin fallen will, ſie zu einer Zelle lauft, die ſich zu dieſer Brut ſchicket. Jſt es moͤg - lich, daß man demjenigen, der dieſes alles eingerichtet, die genaueſte Kaͤnntniß der Natur und aller ihrer Wuͤrckungen ab - ſpricht? Wir duͤrfen nicht zweifeln, daß die Coͤrper des Himmels, und was drauf iſt, mit gleicher Weisheit gebauet und ein - gerichtet worden. Alles, was wir an ih - nen und auf ihnen bemercken koͤnnen, iſt or -dentlich.316dentlich. Sie beobachten ihre Zeit auf die geringſte Augenblicke, und wir koͤnnen nicht anders als fuͤr gewiß annehmen, daß der Schoͤpfer ſelbige ſo genau kennet und uͤberſiehet, als die Dinge dieſer Erden. Auf ſelbiger aber kennet er das innigſte der geringſten Kleinigkeiten, und ſiehet alle ihre Wuͤrckungen zum Voraus, auch ſo gar die willkuͤhrlichen Entſchlieſſungen der Men - ſchen. Es wird ihm derowegen auch in jenen Coͤrpern alles zum Voraus bekannt ſeyn. Jſt aber dieſes, kan man demnach zweifeln, daß GOtt alles wiſſe und auch alles kuͤnftige zum Voraus ſehe? Will jemand ſich einen Begriff von dem unend - lichen Verſtande des Schoͤpfers machen, der betrachte eine eintzige Biene und die goͤttliche Weisheit, ſo ſich in ſelbiger ſpie - gelt. Er zaͤhle die Menge der Thiere in einem eintzigen Stocke oder Korbe. Er ſchlieſſe davon auf die Menge derſelben auf dem Erdboden. Er berechne die mancher - ley Arten von lebendigen und lebloſen Ge - ſchoͤpfen dieſer Erden, die eine gleiche goͤtt - liche Weißheit offenbar machen. Er be - dencke, daß dieſe Erde, auf welcher aus al - len Ecken Strahlen einer goͤttlichen Weiß -heit317heit hervor leuchten, nur ein kleines Puͤnct - gen gegen den Reſt des groſſen Weltgebaͤu - des, welches mit gleicher Weisheit aufge - fuͤhret; ſo wird man erſtaunen und ſich verlieren in der Einſicht deſſen, der dieſes al - les aufgefuͤhret und eingerichtet.

§. 18.

Zuſam - menhal - tung der bisherigen Beweiſe fuͤr und gegen die goͤttliche Allwiſſen - heit.
71

Man wird mir vielleicht entgegen ſetzen, daß alles dasjenige, was ich jetzo angefuͤh - ret, nach den Kennzeichen, die ich in der Vorrede dieſes Bandes angegeben, die Allwiſſenheit GOttes noch nicht in einevoͤllige318voͤllige Gewißheit ſetze, ſondern nur wahr - ſcheinlich mache, beſonders, da man nicht recht gewiß wiſſe, wie es auf dem Ballen des Himmels ausſehe. Gut, ich weiß ſel - ber ſehr wohl, daß in meinem Beweiſe noch Luͤcken ſind. Es ſey denn, daß mein Be - weiß die Allwiſſenheit des Schoͤpfers nur wahrſcheinlich mache; ſo wollen wir un - terſuchen, welches denn wahrſcheinlicher, daß GOtt allwiſſend ſey, oder nicht. Fuͤr die Allwiſſenheit GOttes und fuͤr die ge - naueſte Einſicht deſſelben in das innere Weſen und Wuͤrckungen aller Dinge ſte - hen als unverwerfliche Zeugen alle Saa - men, Pflantzen und lebendige Geſchoͤpfe, die zu ihrer Vollkommenheit kommen, de - rer eine unzaͤhlbare Menge. Es zeugen fuͤr die unendliche Weisheit GOttes auch der groͤſte Theil derjenigen Saamen, Pflantzen und lebendigen Geſchoͤpfe, ſo ih - re Vollkommenheit zwar nicht erreichen, von welchen aber am Tage, daß ſie durch ihren baldigen Untergang die Vollkom - menheit anderer Dinge befoͤrdern, die ſon - ſten zu keiner Vollkommenheit gelangen koͤnnten. (§. 12. 13. 14.) Berge, Thaͤler, Quellen, Baͤche, Fluͤſſe, Meere und die Er -de319de uͤberhaupt betrachtet, Sonne, Mond und alle Coͤrper des Himmels, ſo weit ſie uns bekannt ſind, geben unleugbare Pro - ben ab, daß GOtt alles auf das genaueſte kenne. Die beſtaͤndige Verhaͤltniß der Geſchlechter beweiſen, daß der Schoͤpfer auch die willkuͤhrlichen Entſchlieſſungen ſei - ner Geſchoͤpfe vorher eingeſehen. Die deutliche und gar genaue Erkaͤnntniß GOttes, die ſich in dieſen unzaͤhlbaren Dingen und deren ordentlichen Verbin - dung zeiget, beweget uns zu ſchlieſſen, daß ihm gar nichts verborgen. Was hat man aber auf der andern Seite, ſo man die - ſen entgegen ſetzet? Es giebt gewiſſe Anla - gen zu vollkommenen Dingen, welche die Vollkommenheit ihres gleichen nicht errei - chen, und von welchen wir gar keinen Nu - tzen einſehen, und nicht begreifen, wie ſie zu der Vollkommenheit der gantzen Welt bey ihrem gar fruͤhzeitigen Untergang etwas beytragen koͤnnten: Derowegen hat ſie der Schoͤpfer vergeblich gemacht und nicht vorher geſehen, was fuͤr ein Schickſal ſie leiden wuͤrden, und daß ſie ohne ihren Nu - tzen geſtiftet zu haben, wuͤrden untergehen. Er iſt folglich nicht allwiſſend. Wir uͤber -ſehen320ſehen zwar nicht den Zuſammenhang einer eintzigen Kaͤſemilbe, und die Philoſophiſche Hiſtorie erzaͤhlt Exempel genug, auf was fuͤr Thorheiten die Weiſen verfallen ſind, wenn ſie ſich mit ihrem Urtheil von dem groſſen Zuſammenhange der Welt und al - ler ihrer Theile ſo weit haben wagen wol - len, daß ſie feſt geſetzt, was dem Gantzen etwa nutze oder nicht: Aber die haben alle ſo weit nicht geſehen, wie ich. Dieſe ha - ben nur im finſtern geblintzet. Meine Au - gen ſind klaͤrer. Jn meinem Verſtande iſt Licht. Es begegnet mir zwar noch oͤff - ters, daß ich eine Sache fuͤr unnuͤtz anſehe, deren groſſen Nutzen ich hernach erfahre. Aber das ſind Kleinigkeiten. Jn dem groſſen Zuſammenhange der Welt habe ich mehr Einſicht. Das iſt mir ein leichtes zu begreiffen, daß viele unnuͤtze und vergeb - liche Dinge von GOtt in dieſe Welt geſe - tzet, und daß ſelbige gantz anders muͤſten ausſehen, wenn ſie ein Allwiſſender gemacht haͤtte. Denn wie ein Allwiſſender eine Welt einrichten muß, und daß ſelbiger kei - ne Anlagen muß hinein legen, welche die ge - woͤhnliche Vollkommenheit ihres gleichen nicht erreichen, und deren Nutzen ich nichtfinden321finden ſollte, begreife ich ohne langen Be - weiß. Welche Reihe der Gedancken iſt wahrſcheinlicher? Der Leſer wird dencken, ich habe die letztere Meinung und ihren Be - weiß mit Fleiß auf eine laͤcherliche Art vor - geſtellet. Allein ich verſichere, daß ſolches nicht geſchehen. Jch haſſe und mißbillige es, wenn man die Vertheidiger einer Meinung ſucht laͤcherlich zu machen. Man erregt dadurch bey ihnen die Galle und ent - fernt ſich von der Wahrheit. Und ich wuͤnſchte, daß ich die Kette der Gedancken derer, die aus dem fruͤhzeitigen Untergange gewiſſer Anlagen von Pflantzen und leben - digen Geſchoͤpfen die goͤttliche Allwiſſenheit beſtreiten, nach der Wahrheit anders vor - ſtellen koͤnnte. Aber ſo iſt kein einiger Satz in meiner Vorſtellung, der nicht in ihren Beweiß einflieſſet. Und ich kan ſie daher nicht anders faſſen, ohne ihrem Be - weiſe ſeine Staͤrcke zu nehmen. Faͤllt ein einiger Satz hinweg, ſo iſt der gantze Be - weiß nichts.

§. 20.

Was ſi - cherer ſey? einem all - wiſſenden GOtt zu glauben, oder nicht.
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Bey wahrſcheinlichen Wahrheiten, die einen Einfluß in unſre Handlungen haben, muß man auch auf das ſicherſte ſehen, undJacobi Betr. 2. Band. Xſich322ſich nach demjenigen richten, wobey man die wenigſte Gefahr hat. Die Wahrheit von der Allwiſſenheit GOttes iſt ein ſolcher Satz, der einen groſſen Einfluß in unſre Handlungen und die gantze Verfaſſung unſers Gemuͤths hat. Wir wollen ihn derowegen nach unſerm Beweiſe anjetzo nur als wahrſcheinlich anſehen, und unter - ſuchen, welches am ſicherſten, GOtt als ei - nen Allwiſſenden anzunehmen und zu ver - ehren, oder ob es ſicherer, ihm die Allwiſſen - heit abzuſprechen. Geſetzt, der Verſtand des Schoͤpfers haͤtte Schrancken, ſo wuͤrde es mir doch nicht ſchaden, wenn ich ihn als einen Allwiſſenden verehrte, vielleicht er - fuͤhre er meine Gedancken von ihm nicht einmal, oder wenn ſie ihm kund wuͤrden, wuͤrde er es mir leicht verzeihn, daß ich ihn fuͤr vollkommner hielte, als er waͤre. Es wuͤrde mir indeſſen dieſer Jrrthum, wenn es einer waͤre, eine ſtarcke Neigung zur Tu - gend geben, und uͤberhaupt die Ruhe mei - nes Gemuͤths ſehr befoͤrdern. Jſt aber GOtt wahrhafftig allwiſſend, ſollte es nicht eine ſtrafbare Verwegenheit und eine ſchwere Beleidigung der hoͤchſten Majeſtaͤt ſeyn? Wenn man bey ſo vielen Probeneiner323einer gantz genauen Erkaͤnntniß der inner - ſten Weſen der Dinge, ihn deßwegen vieler vergeblicher Vorkehrungen in ſeiner Welt beſchuldiget, und ihm daher die Allwiſſen - heit abſpricht, weil man den Nutzen ver - ſchiedener Dinge, welche die Vollkommen - heit ihres gleichen nicht erreichen, nicht ein - ſiehet. Sollte es nicht ſicherer ſeyn, ſeinem eigenen Verſtande engere Grentzen beyzu - meſſen, als dem Hoͤchſten eine Vollkom - menheit abzuſetzen, die er wuͤrcklich beſitzt. Gewiß, ich mag derjenige nicht ſeyn, der um ſolcher Gruͤnde willen dem Schoͤpfer eine Ehre zweifelhaft macht, die ihm von ſo viel tauſend vernuͤnftigen Geiſtern gege - ben wird.

§. 21.

Einem Einwurfe muß ich noch begeg -Einwurf und deſſen Beant - wortung. nen. Jch habe bisher mehr als einmal feſt geſetzt, es ſey fuͤr uns zu viel gewagt, zu urtheilen, dieſes und jenes ſey vergeblich in der Welt, und ſchaffe dem Gantzen keinen Vortheil. Jedoch aber unterſtehe ich mich ſelber zu behaupten, dieſes und jenes ſey ſehr weißlich eingerichtet, und ſchlieſſe daraus auf die Allwiſſenheit des Schoͤpfers. Nun aber kan jemand ſagen, ſey es gleich ſchwerX 2zu324zu beurtheilen, ob etwas weißlich und nuͤtz - lich, oder aber vergeblich und eine Geburth eines eingeſchraͤnckten Verſtandes ſey. Jn beiden Faͤllen muͤſſe man den Zuſammen - hang der Dinge kennen, und uͤberſehen koͤn - nen, ob etwas mit demſelben uͤbereinſtimme oder nicht. Wenn derowegen unſer Ver - ſtand zu kurtzſichtig zu urtheilen, daß dieſes und jenes vergeblich und mit dem groſſen Zuſammenhange der Welt nicht uͤberein - ſtimme, ſo ſey er auch zu ſchwach zu beſtim - men, was mit demſelben wohl zuſammen - ſtimme und darinnen Nutzen ſchaffe. Man koͤnne derowegen mit eben dem Grun - de dasjenige, was ich fuͤr die unumſchraͤnck - te Weißheit GOttes vorgebracht, als un - erheblich zuruͤck geben, womit ich die Zwei - fel wider dieſe goͤttliche Vollkommenheit abweiſen wollen. Man bemercke aber, daß wir in unſerm Beweiſe fuͤr die Allwiſ - ſenheit des Schoͤpfers uns nicht unterſtan - den aus der Uebereinſtimmung dieſes und jenes Dinges mit dem groſſen Zuſammen - hange der Welt Schluͤſſe zu machen, ſon - dern wir haben nur die Uebereinſtim̃ung ge - wiſſer eintzelner Theile mit einander und die Weißheit, die darinnen liegt, bemercket undalſo325alſo geſchloſſen: Der GOtt, der in ſo un - zaͤhlbaren eintzelen Stuͤcken der Welt eine ſo groſſe Kunſt und die deutlichſte Einſicht in das innere Weſen der Din - ge und ihre Wuͤrckungen auf viel tau - ſend Jahr an den Tag gelegt, wird die uͤbrigen Dinge eben ſo kennen, und gleich weislich geordnet haben und folglich allwiſſend ſeyn. Jn dieſem Schluſſe iſt gar nicht noͤthig, das Gantze zu uͤberſehen, ſondern man bleibt bey eintzeln Stuͤcken ſtehen, und bemercket die Weisheit, ſo aus ſelbigen fuͤr ſich allein betrachtet, hervor - leuchtet. Und dieſes iſt leicht. Es darf nur einer die Augen aufthun, ſo ſiehet er, daß die Bienen eines Stockes mit einander in ihrem Bau uͤberein ſtimmen, daß ſie ſo kuͤnſtlich bauen, daß zwiſchen ihren Zellen kein leerer und vergeblicher Raum entſte - het, und daß die Zellen zur Brut nach der verſchiedenen Groͤſſe derſelben abgemeſſen. Er ſiehet ferner, daß die Gliedmaſſen dieſer Thiere zu ihrem Bau geſchickt ſind, und was dergleichen mehr. Wer die gemei - nen Spinnen betrachtet, der bemercket ohne Muͤhe, daß ihre Nahrung unter andern der Saft der Fliegen ſey, und hiermit ſtimmetX 3ſehr326ſehr weislich uͤberein, der zaͤhe Saft, den ſie aus ihrem Eye mitbringen, und die Ge - ſchicklichkeit ein ſo kuͤnſtlich Netz zu ſpinnen. Wer ſeine Augen auf den Storch richtet, der wird an ihm Fuͤſſe wahrnehmen, die ſich zu den Oertern ſchicken, wo er ſeine Nahrung ſuchen ſoll. Und wer ſeinen Halß betrachtet, wird finden, daß er nach den Fuͤſſen abgemeſſen. Wer an die Quellen gehet, und den Baͤchen folget, ſo daraus entſpringen, wird finden, daß die Berge immer ſo neben einander liegen, daß die Thaͤler nicht verſchloſſen ſind, oder es gehet eine Oeffnung fuͤr den Bach durch die Felſen, und der Erdboden iſt ſo abgewo - gen, daß ein jeder Bach endlich in eine See oder Meer kommt. Die Weite und Groͤſſe der Sonnen hat zu der Erden eine ſolche Verhaͤltniß, daß dieſe letztere weder verbrennet noch beſtaͤndig fuͤr Kaͤlte erſtar - ret. Der Lauf der Erden iſt ſo eingerich - tet, daß eine Haͤlfte um die andere erwaͤrmet und fruchtbar gemacht wird. Die Ster - ne haben ihre Ordnung, und keiner ſtoͤſſet an den andern, ob ſie gleich in einer fluͤßi - gen Materie ſchwimmen. Solche Pro - ben einer unbegreiflichen Weisheit ſind inkleinen327kleinen und groſſen unzaͤhlbar, und ein jeder, der Ueberlegung brauchet, kan ſie ohne Muͤ - he bemercken, und wie uͤberzeugend iſt nicht der Schluß von dieſen ſo gar vielen Proben, auf einen Verſtand, der alle Dinge auf das genaueſte kennet? Wird hieraus nicht hoͤchſt wahrſcheinlich, daß auch alles uͤbrige in der Welt werde weislich eingerichtet ſeyn? Nun aber uͤberlege man, ob derje - nige ſo leicht mit ſeinem Beweiſe kan fertig werden, der ſich unterſtehet zu behaupten, es ſeyn vergebliche Dinge, unvollkommene Geburthen eines eingeſchraͤnckten goͤttli - chen Verſtandes in der Welt. Hat ein ſolcher einen eben ſo leichten Weg vor ſich wahrſcheinlich zu machen, daß etwas in der gantzen Welt gar keinen Nutzen habe, oder das Ziel nicht erreiche, wozu es ein All - wiſſender wuͤrde hervor gebracht haben? Will jemand hiervon urtheilen, muß der - ſelbe nicht den gantzen Zuſammenhang der Welt und die Wuͤrckungen eines jeden Dinges ziemlich genau kennen? Kan er ohne dieſe Erkaͤnntniß ſagen, daß etwas gar keinen Nutzen habe? Muß ferner derjenige die moͤglichen Abſichten eines Allwiſſenden nicht ziemlich genau uͤberſehen, der ſich un -X 4terſte -328terſtehen will zu ſagen, dieſes und jenes er - reichet das Ziel nicht, ſo ein Allwiſſender dabey haben kan? Jſt auch unter den kurtz - ſichtigen Menſchen jemand, der ſich einer ſolchen Erkaͤnntniß des gantzen Zuſammen - hanges der Welt und der moͤglichen Ab - ſichten eines Allwiſſenden bey eintzelen Dingen ruͤhmen koͤnne? Wie viel Be - weißthuͤmer hat derjenige nicht wider ſich, der ſich eine ſolche Einſicht beylegen will? Wie oft ſehen die Weiſeſten etwas fuͤr ſchaͤdlich an, wovon der Erfolg doch her - nach zeiget, daß es heilſam und nothwen - dig geweſen. Man begreife alſo, daß weit mehr erfordert werde zu beweiſen, daß etwas in der Welt vergeblich und folglich der Hoͤchſte nicht allwiſſend ſey, als den groſſen Verſtand GOttes in der weiſen Einrichtung unzaͤhlbarer groſſen und kleinen Theile der Welt zu bemer - cken, und daraus auf den unendlichen Verſtand des Schoͤpfers einen wenigſt hoͤchſt wahrſcheinlichen Schluß zu machen, deſſen Richtigkeit durch die gewoͤhnlichen Gruͤnde, die man fuͤr die Unendlichkeit al - ler Eigenſchaften GOttes und durch die klare Zeugniſſe der Offenbahrung auſſer al - len Zweifel geſetzt wird.

§. 22.329

§. 22.

Sind denn aber ſo viele Proben derFortſe - tzung des vorigen. genaueſten Einſicht GOttes in das in - nere Weſen der Dinge und ihre Wuͤr - ckungen auf viele tauſend Jahre vor un - ſern Augen. Sehen wir, daß der Schoͤpfer ſo viele Dinge gemacht, wo - bey wir die weiſeſte Verbindung und die guͤtigſten Abſichten zu bewundern haben. Finden wir dergleichen in kleinen und groſſen Theilen der Welt. Sollte es denn nicht ſicherer ſeyn, bey den Din - gen, deren Abſicht wir nicht erreichen, unſern engen Verſtand zu erkennen und zu ſchlieſſen, der Schoͤpfer wird auch hierbey weiſe Abſichten haben, die mir verborgen ſind? Ja wir koͤnnen aus der Groͤſſe des goͤttlichen Verſtandes, der ſich an allen Orten dieſer Welt zeiget, ſicher urtheilen, daß er nichts ohne die weiſeſten Abſichten gemacht, und daß alles dasjenige Ziel erreiche, ſo er zum Voraus geſehen. Die Erfahrung beſtaͤ - tiget, daß je weiter wir die Dinge ler - nen einſehen, deſto mehr Verbindung nehmen wir wahr, und begreifen, wieX 5noͤthig330noͤthig und nuͤtzlich eines dem andern. Und man hat nichts entdecket, von wel - chen man mit Gewißheit behaupten koͤnn - te, daß es ohne Nutzen waͤre. Sollte dieſes allein nicht hinlaͤnglich ſeyn, uns auf die Muthmaſſung zu bringen, daß wenn wir von allen eine genaue Einſicht erreichen koͤnnten, wir auch in allen Dingen die weiſeſte Verbindung wahr - nehmen wuͤrden. Es haben die Weſen mancher Dinge eine ſolche nothwendige Verbindung unter einander, daß auch ein Weiſer, weil er das vorhergehende gerne will, ſich auch das folgende, ſo damit verknuͤpft iſt, muß gefallen laſſen; und mannigmal muß er das vorherge - hende waͤhlen, weil das folgende ſein Endzweck iſt. Jener General will, daß ſeine Armee in einem Lager einen Weg von vielen Meilen zuruͤck lege, um durch einen engen Paß zu kommen, der ſon - ſten moͤchte verhauen oder durch das Wetter unter Waſſer geſetzt werden. Er muß daher auch in einen Raſt-Tag nach dieſem ſtarcken Marſch willigen. Oder er will ſchlagen. Die Armee aber iſt muͤde, ſo muß er ſie erſt ausru -hen331hen und ſich erhohlen laſſen. Eins zeu - get das andere. Eins ſetzt das andere zum Voraus. Die Weißheit GOttes liebet Ordnung, ſie richtet ſich nach dem innern Weſen der Dinge. Jn ſelbi - gem werden auch Urſachen liegen, wel - che Anlagen zu dieſem und jenem Dinge erfordern, die zu keiner Reiffe kom - men. Ein einiger vollkommner Baum erfodert die Anlagen zu viel tauſend an - dern Baͤumen, die ihre Vollkommenheit nicht erreichen.

§. 23.

Jch preiſe den in allen ſeinen Voll -Suͤſſe Zu - friedenheit aus der Ueberzeu - gung von der goͤttli - chen All - wiſſenheit. kommenheiten unendlichen GOTT, daß er mir fuͤhlen laſſen, wie richtig die Er - kaͤnntniß ſeiner liebenswuͤrdigen Eigen - ſchafften, und wie unſelig ein Menſch, der ſich bey den widrigen Schickſalen dieſes Lebens keiner weiſen Regierung und gnaͤdigen Vorſehung eines Allwiſſen - den getroͤſten kan. Nun habe ich erfah - ren, wie edel, wie unſchaͤtzbar die ge - wiſſe Erkaͤnntniß eines unendlich voll -komme -332kommenen GOttes ſey. Man gebe mir alles und nehme mir dieſe Gewiß - heit, ſo habe ich nichts. Man raube mir aber alle Guͤter dieſer Erden, man lege auch ſo gar meinen Leib in den Staub, und laſſe mir einen unendli - chen GOTT, ſo habe ich genug.

Anhang[333]

Anhang dreyer geiſtl. Reden, Welche einige vorhergehende Betrachtungen theils erlaͤutern theils zur Erbauung anwenden.

[334][335]

Erſte Rede, Welche ihrem Haupt-Jnhalte nach ehmals an einem Pfingſt - Feſte gehalten worden. uͤber Joh. 3, 16. Von der groſſen Liebe GOttes, die ſich in der Sendung ſeines Sohnes offenbahret.

WEnn wir, andaͤchtige Freunde, dieſe Welt mit einer uͤberlegen - den Aufmerckſamkeit betrach - ten, ſo leuchtet uns an allen Orten eine un - endliche Begierde GOttes, Menſchen ver - gnuͤgt und gluͤcklich zu machen, in die Au - gen. Gehet anjetzo hin in die bluͤhenden Gaͤrten und Auen: Auf wie mancherley vergnuͤgende Art ruͤhret daſelbſt der groſſe Schoͤpffer eure Sinne? Unter was fuͤr einer Pracht ſtehen die Baͤume? Wie mannigfaltig iſt die Schoͤnheit und der an -geneh -336genehme Duft der Blumen, wodurch das Geſicht und der Geruch ergetzet werden? Zaͤhlet ferner die friſchen Kraͤuter, ſo die Erde hervor treibet: Zaͤhlet die man - cherley Fruͤchte, ſo euch der Erdboden ſchon ehmahls in die Haͤnde geliefert, und welche euch der HERR jetzo ſchon wiederum in dem beſten Wachsthum zei - get, wir bitten euch, fanget einmahl an, dieſe mancherley Geſchencke zu zaͤhlen, wo - mit euch der HErr ſaͤttiget, und zugleich vergnuͤget; ihr werdet uͤber ihre Menge erſtaunen. Gehet ferner auf die Weiden, und betrachtet die Thiere, ſo die Anzahl eurer Speiſen vermehren. Auch die Luͤf - te und die Waſſer ſind voll davon. Wie viele ernehret nicht GOtt derſelben zu un - ſerm Nutzen? Ein Theil davon muß gar auf unſern Winck unſere ſchwereſte Arbeit thun, uns tragen und fahren, wohin wir wollen. Wir moͤgen hinſehen auf die Ber - ge oder in die Gruͤnde, in die Luft oder in das Waſſer, an allen Orten finden wir et - was, ſo zu unſerm Nutzen und Bequem - lichkeit dienet. Und was fuͤr Proben von einer goͤttlichen Liebe finden wir nicht in und an uns ſelber? Wir, die wir hier ver -ſamm -337ſammlet ſind, haben einen geſunden Ver - ſtand, und die allermehreſten haben das Gluͤck, daß ihre Seele in einem vollſtaͤndi - gen Coͤrper wohnet. Jn und an uns ſel - ber hat die ewige Liebe eine ungemeine Menge Wohlthaten zuſammen gehaͤuft und mit einander verbunden, deren hohen Werth von wenigen erkannt wird. Da - mit ihr aber ſelbige ſchaͤtzen lernet, ſo fragt euch ſelbſt, fuͤr welchen Preiß ihr wohl ge - daͤchtet euren Verſtand, oder das Geſicht, Gehoͤr und Sprache oder auch nur Arme und Fuͤſſe dahin zu geben und euch derſel - ben berauben zu laſſen. Jch weiß, ihr werdet keinen Preiß finden, der euch fuͤr dieſe edlen Geſchencke hoch genug waͤre. Begreift alſo, wie die Guͤte des HErrn uns mit unſchaͤtzbaren Wohlthaten uͤberhaͤuft. Das Unendliche in der Liebe des Schoͤpf - fers wird ſich uns noch mehr vor Augen ſtellen, wenn wir uns ſelber fragen, ob wir dieſen groſſen Wohlthaͤter etwas zuvor ge - geben, ſo uns wuͤrde wieder vergolten. Ach, moͤchten wir nur recht erkaͤnntliche und danckbare Geſchoͤpfe ſeyn, welche ihren ſo guͤtigen Schoͤpfer als ihren groͤſten Wohl - thaͤter verehrten! Moͤchten wir ſolche ſeyn,Jacobi Betr. 2. Band. Ywelche338welche nur ſeine Geſchencke nicht, wider ſei - ne guͤtigen Abſichten, mißbrauchten! Aber ach was aͤuſſert ſich hier fuͤr ein Verfall des menſchlichen Geſchlechts? Weſſen Wohlthaten werden weniger erkannt als die unſchaͤtzbaren Wohlthaten GOttes? Weſſen Liebe wird weniger geachtet als die Liebe des Hoͤchſten, womit er uns doch zuvor gekommen. Haltet nur das Bezei - gen der Menſchen gegen ſterbliche Gott - heiten mit ihrem Betragen gegen die hoͤch - ſte Majeſtaͤt zuſammen, wie weit wird nicht dieſe unter ihre Geſchoͤpfe geſetzet. Man ſuchet eine Ehre in der allertieſſten Ernie - drigung gegen die Majeſtaͤten, die nach kurtzen in einer ſtinckenden Faulniß liegen: Einer gleichen Ehrerbietung aber gegen den unendlichen HErrn Himmels und der Erden ſchaͤmet man ſich. Wunderbare Thorheit! Und wie weit iſt das menſchli - che Geſchlecht abgewichen von dem lieb - reichen Abſichten ſeines GOttes und folg - lich von ſeiner Gluͤckſeligkeit. Der HErr ſchafft und beweget Himmel und Erden, um unter andern uns vergnuͤgt und gluͤck - lich zu machen. Er hat uns in ein Wohn - hauß geſetzet, ſo er mit unzaͤhlbaren Din -gen339gen angefuͤllt, die zu unſerm Unterhalt und Bequemlichkeit gewidmet ſind, und wir koͤnnten in vieler Zufriedenheit des Guten genieſſen, ſo uns der guͤtige Schoͤpfer ge - ſchencket. Was thun die Menſchen aber in ihrem jetzigen Verfall? Sie gehorchen ausſchweifenden Begierden und bringen ſich und andere um das Gluͤck, ſo ihnen der Schoͤpfer bereitet. Sollte man meinen, daß ein Menſch der mit Vernunft begabt, das Elend und ſo gar den Tod vieler tau - ſend ſeiner Bruͤder beſchlieſſen koͤnnte, um ſich mit dieſer Vorſtellung vergnuͤgen zu koͤnnen? Ein groſſer Theil der Welt muß auf mich ſehen und meine Macht fuͤrchten. Wuͤrden wir die Moͤglichkeit einer ſo grauſamen Entſchlieſſung glauben, wenn uns nicht die betruͤbteſten Erfahrun - gen davon uͤberzeugten? So widerſtre - ben aber die Menſchen einer unendlichen Liebe, die ſie gluͤcklich machen will. Un - wuͤrdige Kinder des liebreichſten Vaters! Aber bewundert, die unendliche Liebe wird auch durch die Verachtung und durch das widerſpaͤnſtige Betragen ihrer Kinder nicht ermuͤdet an ihrer Gluͤckſeligkeit noch fer - ner zu arbeiten. Sie gehet uns mit groſ -Y 2ſer340ſer Zaͤrtlichkeit nach, ſie ſtiftet die groͤſſeſten Wunder, um uns von unſerer Wider - ſpaͤnſtigkeit abzuziehen und uns in eine ſol - che Verfaſſung zu ſetzen, daß ſie uns koͤn - ne ewig ſelig machen. O eine Langmuth, eine Gnade, die ihres gleichen nicht hat! Unſer heutiger Text erzehlet eines von de - nen groſſen Wundern, ſo der HErr zu un - ſerm ewigen Wohl auf eine unerwartete Art ausgefuͤhret. Wer hat nun noch ein menſchlich Hertz, welches durch recht wich - tige Wohlthaten wenigſtens einiger Maſ - ſen geruͤhret wird, der wuͤrdige daſſelbe anjetzt einer uͤberlegenden Betrachtung. Eine von den groͤſſeſten Wohlthaten GOt - tes wird ja noch verdienen, daß wir un - ſere Seelen eine Stunde damit beſchaͤfti - gen. Jhr, die ihr die groſſen Bemuͤhun - gen GOttes um uns und eure eigene Wohlfahrt noch ſo vieler Aufmerckſam - keit werth achtet, heiliget euch zu der jetzi - gen Betrachtung durch ein andaͤchtiges Gebet.

Text. Joh. 3. v. 16. Alſo hat GOtt die Welt ge - liebet, daß er ſeinen eingebohrnenSohn341Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glaͤuben, nicht verlohren wer - den, ſondern das ewige Leben haben.

Dieſer Text haͤlt uns vor

Die groſſe Liebe GOttes in der Sendung ſeines Sohnes.

Wir bemercken hiebey

  • I. die Sendung des Sohnes GOttes,
  • II. die Liebe GOttes, ſo hiedurch kund worden.

Liebreicheſter GOtt, laß uns von deiner unendlichen Vater-Liebe ſo uͤberzeugt werden, daß auch unſere Hertzen voll von kindlicher Liebe gegen dich, und un - ſere Seelen mit dir ſo vereinigt werden, daß wir deiner ewig genieſſen koͤnnen. Amen.

ALſo hat GOtt die Welt geliebet, daß er ſeinen eingebohrnen Sohn gab. Dieſes ſind Worte, die JEſus geſprochen. Er giebt durch ſelbige zu erkennen, daß es eine gantz beſondereY 3Probe342Probe einer goͤttlichen Liebe gegen die Menſchen, daß er ſeinen eingebohrnen Sohn gegeben. Damit wir die Groͤſſe die - ſer Liebe einſehen koͤnnen, muͤſſen wir er - wegen, wer dieſer Sohn ſey, und wie und in was fuͤr Abſicht derſelbe der Welt ge - ſchencket worden. JEſus ſetzet dieſes zum Theil als bekannt zum Voraus, zum Theil aber fuͤhret er ſolches ſelber in dem Ver - folg ſeiner Rede an. Wer dieſer einge - bohrne Sohn ſey, iſt wohl am bekannteſten, und wir koͤnnen daher in der Beſchreibung ſeiner Perſon gantz kurtz ſeyn. Wir wiſ - ſen, daß das einige goͤttliche Weſen ſich in der Schrift als einen Vater, als einen ewigen und eingebohrnen Sohn und als einen heiligen Geiſt geoffenbaret, doch ſo, daß dieſe drey nur Eins und eben derſelbe einige, ewige und untheilbare GOtt ſind. Ein Geheimniß, deſſen eigentliche Beſchaf - fenheit uns, wie tauſend andere Geheim - niſſe, die Ewigkeit wird kund machen. Die Wuͤrcklichkeit der Sache aber ſetzet die Of - fenbarung auſſer Zweifel. JEſus befiehltMatth. 28, 19. 1. Joh. 5, 7. daher zu taufen im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heil. Geiſtes. Und Johannes ſaget, daß dieſe drey Ei -nes343nes ſind. Dieſer einige GOtt nun, in ſo ferne ihn die Schrift einen Sohn nennet, hat ſich auf eine perſoͤnliche Art mit einer menſchlichen Natur vereiniget. Und die - ſe Perſon, ſo GOtt und Menſch zugleich iſt, iſt der eingebohrne Sohn, von welchem hier die Rede iſt. Es iſt JEſus ſelber, der hier redet. Dieſer iſt geſandt vom Va - ter, auf daß alle, die an ihn glaͤuben, nicht verlohren werden, ſondern das ewige Leben haben. Dieſe letztern Worte ſe - tzen feſte, daß die Menſchen ohne JEſum waͤren verlohren geweſen, durch ihn aber wieder einen offenen Weg zu einem ewi - gen und ſeligen Leben haben. Wir wol - len den wahren Zuſammenhang dieſer Wahrheiten aus andern Orten der Schrift zuſammen ſuchen. Der ſeligſte GOtt hat - te den Menſchen nach ſeinem Bilde zu ei - ner vollkommenen Seligkeit erſchaffen. Jn dieſem gluͤcklichen Zuſtande zu bleiben, war ein ehrerbietiger Gehorſam gegen den ober - ſten Beherrſcher und eine beſtaͤndige Rich - tung aller Kraͤfte auf das Gute vonnoͤthen. Der Menſch ließ ſich aber von den Gei - ſtern der Finſterniß verfuͤhren, und wich von dem Gehorſam gegen ſeinen Schoͤpf -Y 4fer344fer ab, und ſetzte ſich und ſeine Nachkom - men in die allerunſeligſten Umſtaͤnde. Bey der Abweichung von den Geſetzen des wei - ſeſten GOttes wurde der Wille voll von ausſchweifenden und unordentlichen Be - gierden, welche den Verſtand gantz verfin - ſterten. Eine Unvollkommenheit der See - len zeugte die andere. Kaum war die er - ſte Uebertretung geſchehen, ſo verfiel er auf die Thorheit, dem Allgegenwaͤrtigen auszuweichen, und dem Allwiſſenden die Wahrheit zu verhelen und ſeiner Verge - hung einen falſchen Mantel umzuhaͤngen. Der Leib, in welchem nun eine unordent - liche Seele wohnte, verlohr die Unſterblich - keit und wurde ein Opfer des Todes und der Verweſung. Der verfallene Menſch zeugete ſeines gleichen. Seine Nachkom - men verfielen auf die groͤſten Thorheiten und aͤrgſten Bubenſtuͤcke. Sie wurden ſo blind, daß ſie ſich Gottheiten aus Holtz und Steinen bereiteten, und ihr Gluͤck bey ſolchen ſuchten, bey welchen zum Theil kein Leben, zum Theil keine Macht. Sie tich - teten die allerſchaͤndlichſten Gottheiten. Alle Laſter bekamen hiebey die Herrſchafft, und die menſchliche Geſellſchafft kam in ei -ne345ne ſolche Verwirrung, daß ein Menſch des andern Teufel wurde, und die ewige Weis - heit ſich genoͤthiget ſahe, der Bosheit durch die haͤrteſten Strafen Grentzen zu ſetzen. Wir waren Kinder des Zorns, der Erdbo - den kam unter einen gerechten Fluch, und die Wohnung wurde nach den Einwoh - nern eingerichtet. Derjenige war nun - mehr hoͤchſt unſelig, der doch nach dem Bil - de des ſeligſten GOttes gemacht. Er war auch nicht einmal zu einer wahren Selig - keit mehr aufgelegt. Seine Begierden giengen immer auf ſeine eigene und ande - rer Unruhe, wie wir jetzo noch bey denen ſehen koͤnnen, welche kein hoͤhers Licht in eine andere Verfaſſung geſetzet. Die Seelen waren indeſſen unſterblich, und es war keine Hoffnung, daß ſie fuͤr ſich allein jemahls in eine ſeligere Verfaſſung kom - men waͤren. Derjenige wird hieran nicht zweifeln, der da uͤberlegt, was fuͤr wichtige Vorkehrungen noͤthig geweſen, daß nur einige wieder auf den Weg des Lebens ge - bracht worden. Es waͤre alſo die gantze menſchliche Geſellſchafft gewiß in alle Ewig - keit verlohren geweſen, wenn keine beſon - dere Gnade des Hoͤchſten ſich ihrer erbar -Y 5met346met und ſich zu den groͤſten Wundern ent - ſchloſſen, dasjenige wieder herzuſtellen, was durch den Ungehorſam der erſten Eltern war verlohren gegangen. Der ewigen Liebe aber jammert der unſelige Verfall ſo vieler Millionen ihrer Geſchoͤpfe. Sie beſchlieſſet alle moͤgliche Vorkehrungen zu machen, um ſie zu retten, und zu derjeni - gen Seligkeit zu bringen, wozu ſie geſchaf - fen. Sie faſſet den gnaͤdigen Entſchluß, ihrem verfinſterten Verſtande durch eine beſondere Offenbarung zu ſtatten zu kom - men, unzaͤhlige andere Einrichtungen zu machen, um die abtruͤnnigen unſeligen Kin - der von dem Aberglauben und den ver - derblichen Laſtern abzuziehen, ſie zu einer lebendigen Erkenntniß GOttes und einer vollkommenen Gottſeligkeit zu fuͤhren, und ſie zu einer wahren Seligkeit zu bereiten. Die Allmacht ſoll auch das verweſete Wohnhauß der Seelen wieder aufrichten, und ihm die Unſterblichkeit wieder geben. Hiebey aber findet die heiligſte Weisheit einen Gegenſtand. Es iſt wohl-eingerich - teten Staaten eines vollkommenen Re - genten nichts gefaͤhrlicher und nachtheili - ger als Begnadigungen. Sie gereichenoͤfters347oͤfters dem Begnadigten ſelber zur Sicher - heit und zu einem deſto groͤſſern Verfall. Andere aber nehmen daher Gelegenheit aͤhnliche Suͤnden zu begehen, indem ſie die Schaͤrfe der Geſetze nicht mehr fuͤrchten und gleichfalls Gnade hoffen. Oder will man ihnen dieſe Hoffnung abſchneiden, ſo ziehet ſolches das nothwendige Uebel nach ſich, daß ſolche ihre Liebe zu ihrem Herrn und folglich die beſte Eigenſchafft eines gu - ten Unterthanen verlieren. Wird ein wei - ſer und Tugend-hafter Geiſt es auch wohl dahin bringen koͤnnen, daß er gegen denje - nigen Herrn eine voͤllige Liebe behaͤlt, der einigen, ſo muthwillig die Grund-Geſetze des Reichs uͤbertreten, und Rebellen wer - den, ſelber nachgehet, ihnen Gnade anbie - tet und ihr abtruͤnniges Gemuͤth mit vie - len Bitten und groſſen Verheiſſungen zu gewinnen ſucht, ihm aber andeuten laͤſſet, daß er bey einer Uebertretung keine Be - gnadigung, vielweniger aͤhnliche Verheiſ - ſungen zu hoffen habe. Waͤre dieſes ein Mittel die Liebe bey treuen Unterthanen zu befeſtigen? (*)Man leſe das Exempel, ſo ich Betracht. XI. am Ende beygebracht, und gebe Achtung, was man bey ſich fuͤhlet.Da alſo die unendlicheLiebe348Liebe GOttes eine ſolche Begnadigung fuͤr die gefallenen Menſchen beſchloſſen, daß ſie ihnen ihren Ungehorſam nicht nur ver - geben, ſondern auch mit der groͤſten Lang - muth, mit der gnaͤdigſten Nachſicht und mit dem gedultigſten Anhalten an ihnen ar - beiten, und ihnen die groͤſten Verheiſſun - gen thun wolle, um ſie zu einer Ruͤckkehr zu der verſchertzten Seligkeit zu bringen; ſo muſte die Weisheit auf ein Mittel den - cken, wodurch die gewoͤhnlichen boͤſen Fol - gen einer ſolchen Begnadigung gehindert wuͤrden, damit nicht ſelbſt durch die Be - gnadigung der Zweck derſelben, nemlich die wahre Gluͤckſeligkeit vieler Geſchoͤpfe, gantz umgeſtuͤrtzt und dem gemeinen Beſten des groſſen Reichs des Schoͤpfers kein Nach - theil verurſachet wuͤrde. Nun ſehet, wel - ches iſt das Mittel, ſo GOtt waͤhlet uns Gnade angedeihen zu laſſen, daß doch das gemeine Beſte dabey nicht leidet. Sein bewunderns-wuͤrdiger Entſchluß iſt dieſer: Es ſoll neben der Gnade ſeine heiligſte Ge - rechtigkeit, die unverletzliche Heiligkeit ſei - ner Geſetze und ſeines Reichs auf eine recht ausnehmende auch jedermann in die Au - gen leuchtende Art offenbaret werden. Esſoll349ſoll den Menſchen auf Erden und ſelbſt den Geiſtern des Him̃els auf die nachdruͤcklich - ſte Art bezeuget werden, daß der groſſe Be - herrſcher Himmels und der Erden nicht gleichguͤltig bey der Suͤnde ſey, und daß die Wohlfahrt ſeiner Reiche nicht verſtat - te, die Verletzungen ſeiner heiligſten Ge - ſetze ungeſtraft hingehen zu laſſen. Es ſoll dieſes alſo geſchehen, daß wenn man von denen bisher im Guten beſtandenen Buͤrgern GOttes eine groͤſſere Vollkom - menheit fordert, als von den gefallenen Menſchen, ſelbigen dadurch keine widrige Empfindung erregt wird, ſondern ſie viel - mehr gereitzet werden, dieſe Forderung mit einer liebreichen und freudigen Ehrerbie - tung zu erfuͤllen. Und wie iſt denn dieſer Rathſchluß ausgefuͤhret? Auf eine ſolche Weiſe und wunderbare Art, daß auch die vollkommenen Geiſter des Him -1. Petr. 1. 12. mels geluͤſtet, ſelbiges zu ſchauen. GOtt, in ſo fern er ſich in der zweyten Perſon ge - offenbaret, vereiniget ſich in einer perſoͤn - lichen Verbindung mit der Natur eines Menſchen, nemlich mit der Menſchheit JEſu. Dieſer JEſus leiſtet fuͤr die ab -Roͤm. 5, 18. 19. truͤnnigen Kinder einen voͤlligen Gehorſam,er350er tritt in die Stelle der Suͤnder und leidet ferner, was ſie verſchuldet. Er laͤſſet alsMatth. 20, 28. ein Unſchuldiger ſein Leben zu einer Er - loͤſung oder Loͤſegeld fuͤr uns, an unſerer1. Tim. 2, 6. Gal. 3, 13. Statt. Er wird ein Fluch fuͤr uns, auf daß er uns erloͤſe von dem Fluche des Geſetzes. Dieſes iſt es, worauf JEſus zielet, wann er ſpricht: Alſo hat GOtt die Welt geliebet, daß er ſeinen einge - bohrnen Sohn gab. Jhr wiſſet die Angſt, die Schmach und die Art des To - des, die unſer Mittler nach dem goͤttlichen Rathſchluſſe erduldet, und ich will daher anjetzt davon keine mehrere Worte machen; ſondern ich will vielmehr zeigen, wie da - durch denen Unordnungen vorgebeuget, welche ſonſten aus Begnadigungen zu ent - ſtehen pflegen. Jndem der HErr bey ſei - ner Begnadigung der gefallenen Menſchen, ſeine Heiligkeit, die unverletzliche Guͤltig - keit und das Anſehen ſeiner Geſetze und die Abſcheulichkeit der Suͤnden auf eine ſo merckliche Art an den Tag leget, ſo wird dadurch den Begnadigten ſelber der triff - tigſte Bewegungs-Grund zu einer wah - ren Beſſerung gegeben. Sie koͤnnen nun - mehr wenigſtens mit Grunde der Wahr -heit351heit nicht dencken: GOtt iſt gleichguͤltig bey der Suͤnde, er iſt ſehr barmhertzig, er wird mich nicht ſtrafen, ich ſuͤndige, ſo viel ich will. Jch kan auch bey der Suͤnde ein geliebter Buͤrger ſeines Reichs ſeyn: Nein, nun iſt hinlaͤnglich bewieſen, die Suͤnde ſtreite gantz und gar mit der Ver - faſſung des goͤttlichen Reichs, indem er uns nicht begnadigen wollen, ohne zugleich durch die Leiden JEſu fuͤr uns die Heilig - keit ſeiner Geſetze feſte zu ſetzen. Auch den - jenigen Buͤrgern des goͤttlichen Reichs, wel - che bisher im Guten beſtanden und ſich an dieſe Begnadigung haͤtten ſtoſſen koͤnnen oder moͤgen, wird dadurch die Gelegenheit zu irrigen Gedancken von der goͤttlichen Gerechtigkeit und zu Abweichungen von ſeinen heiligſten Geſetzen benommen. Sie ſehen es auf das deutlichſte, das Creutz JE - ſu bezeuget ihnen auf das nachdruͤcklichſte, wie unveraͤnderlich die Heiligkeit GOttes und wie unverletzlich ſeine Geſetze. Es kan ihnen auch nicht widrig ſcheinen, wenn man von ihnen eine heiligere Beobachtung der goͤttlichen Geſetze fordert, als von den gefallenen Menſchen. Sie ſehen, daß GOTT bey der Begnadigung der ge -fallenen352fallenen Menſchen die wunderbareſten und groͤſten Vorkehrungen macht, damit jeder - mann ſeine Heiligkeit und die innere Heß - lichkeit der Suͤnden auf das deutlichſte mer - cken moͤge. Sie erfahren, daß er gar JE - ſum, mit dem er ſich perſoͤnlich vereiniget, am Creutze ſterben laͤſſet, damit die Geſetze ſeines Reichs ihre voͤllige Gnugthuung er - langen und auch bey dieſer Begnadigung nichts von ihrer Kraft verlieren. Jſt nun noch einiges Nachdencken und einige Liebe zu ihren Schoͤpfer bey ihnen, wie wir ih - nen ſolches als bis hieher treuen Buͤrgern GOttes zugeſtehen muͤſſen, ſo werden ſie dencken: Koſtet es ſo viel, daß ein Suͤnder ohne Verletzung des gemeinen Beſten kan begnadiget werden: Muß der Sohn des Hoͤchſten, der Unſchuldigſte, darum Marter und Tod uͤbernehmen, ſo will ich mich nicht in die Verfaſſung ſetzen, daß ich eine ſo theure Begnadigung noͤthig habe. Sie koͤnnen zu gleicher Zeit leicht einſehen, daß ſie ſich einer groͤſſern Bosheit, als die Men - ſchen, wuͤrden ſchuldig machen, wenn ſie ſich nun noch wollten zu einem Abfall ver - leiten laſſen. Denn je haͤufiger und je groͤſ - ſer die Bewegungs-Gruͤnde zur Treue, diejemand353jemand vor ſich hat, deſto groͤſſer und ſtraf - barer wird das Verbrechen, wenn ſich ein ſolcher zur Untreue verfuͤhren laͤſſet. Der Schluß folget alſo bey einem vernuͤnf - tigen Geiſte von ſelbſten: Eine jede Luſt ſey ferne von mir, um deren Verge - bung ein unſchuldiger und goͤttlicher Mitt - ler leiden muß. Eine ſolche Weisheit des Unendlichen, eine ſo groſſe Heiligkeit GOt - tes, ſeiner Geſetze, und ſeines Reichs, offen - baret ſich darinne, daß GOtt ſeinen ein - gebohrnen Sohn gegeben, auf daß alle, die an ihn glaͤuben, nicht verlohren werden, ſondern das ewige Leben haben. (*)Mir iſt hiebey die Frage eingefallen, ob die gefallenen Engel durch die Begnadigung der Menſchen nicht Gelegenheit bekommen, GOtt einer ungleichen Gerechtigkeit und Guͤte zu beſchuldigen, weil ihnen kein Mitt - ler gegeben und Gnade angetragen worden. Sollte aber ſonſt nichts ſeyn, wodurch ſie koͤnnten mit dieſem Vorwurff abgewieſen werden, ſo wuͤrde dieſes genug ſeyn. Sie ſind Haͤupter der Rebellion wider die goͤtt - lichen Geſetze: Die Menſchen aber ſind von ihnen durch Verfuͤhrung mit in gleiches Verbrechen gezogen worden. Nun aber wird ein jeder leicht begreifen, daß die Haͤup - ter eines Aufſtandes weniger Gnade ver - dienen, als die, ſo durch Verfuͤhrung mitJacobi Betr. 2. Band. Zdahin

Wir354

Wir richten unſere Andacht aber ins - beſondere noch auf die goͤttliche Liebe, ſo aus dieſem wichtigen Wercke mit dem hel - leſten Glantze hervor ſtrahlet. JEſus giebt uns ſelber Anweiſung auf ſelbige zu achten und ihre Groͤſſe zu bemercken. Alſo, ſpricht er, ſo ſehr hat GOtt die Welt geliebet, daß er ſeinen eingebohrnen Sohn gab. Wir werden die Groͤſſe die - ſer Liebe am beſten einſehen, wenn wir an - mercken, wen der HErr geliebet und wie wichtig die Probe ſeiner Liebe, die er durch das Werck der Erloͤſung abgelegt. Es iſt aber die Welt, welche GOtt liebet. Es iſt unnoͤthig, daß ich beweiſe, daß hier durch die Welt die Menſchen verſtanden werden. Wer die letztern Worte unſers Textes uͤberdencket, wird hieran nicht zweifeln. Die Worte JEſu ſind alſo eben ſo viel, als wenn er geſaget: Alſo hat GOtt die Menſchen geliebet. Erinnert euch nun aus dem obigen, wie ſelbige beſchaffen ſind. GOtt hatte ſie nach ſeinem Bilde zu einervollkom -(*)dahin geriſſen werden. Vielleicht aber wuͤr - de auch eine Begnadigung bey ihnen allen eben ſo vergebens geweſen ſeyn, wie bey den mehreſten Menſchen.355vollkommenen Seligkeit erſchaffen. Es war auf ihrer Seite nur noͤthig, dem Wil - len des Schoͤpfers ſich zu unterwerfen und diejenigen heilſamen Geſetze zu beobachten, ohne welche keine wahre Gluͤckſeligkeit be - ſtehen kan. Die Menſchen aber haben dieſer guͤtigen Abſicht ihres Schoͤpfers nicht gefolget. Sie haben die Geſetze ihres GOttes verlaſſen. Sie ſind auf die ſchaͤnd - lichſten Thorheiten verfallen, und haben ſolchen Begierden die Herrſchafft uͤberge - ben, die ſie zu den unſeligſten Sclaven ge - macht. Unſere Ruhe und Zufriedenheit iſt dahin. Unſere Begierden ſtreiten ſel - ber wider einander, und ſetzen uns in die be - truͤbteſte Unruhe. Was uns heute belu - ſtiget und wonach wir mit einem feurigen und wilden Triebe ringen, das verwuͤn - ſchen wir morgen mit der groͤſten Unzufrie - denheit. Jn unſerm Leib haben wir ein Gift gebracht, ſo alle Adern durchdringet, und uns Schmertzen, und im kurtzen den Tod verurſachet. Die unordentlichen Begierden bringen auch die Menſchen wi - der einander auf; auch ſetzen ſie uns in ſolche Unſicherheit, daß eins vor dem andern muß die Thuͤren verſchlieſſen, und daß wirZ 2Waͤlle356Waͤlle und Mauern wider einander bauen muͤſſen. Dieſes alles iſt nicht genug zu verhuͤten, daß nicht einer dem andern das Seinige raubet, ihm gar Glieder und Le - ben nimmt, und mit Vergnuͤgen unſchul - dig Blut flieſſen ſiehet. O! ſchaͤndlicher Ruhm fuͤr vernuͤnftige Geſchoͤpfe! Unſeli - ger Verfall! Niemand wuͤrde gerechte Urſache haben ſich zu beklagen, wenn uns der vollkommenſte GOtt unwuͤrdig achtete in ſeiner Welt unter ſeinen Geſchoͤpfen zu dulden. Allein bemercket hier die Unend - lichkeit einer erbarmenden Liebe. Hier aͤuſſert ſich ein Vater-Hertz, welches zwar an den Untugenden eines ungerathenen Sohns einen groſſen Abſcheu findet; aber dennoch nicht auf hoͤren kan, ſein Kind zu lieben. Es gehet ihm nach, es jammert ihn das Ungluͤck, in welches ſich ein ver - lohrner Sohn ſtuͤrtzet. Der Heiligſte kan nicht anders als unſere groſſe Unarth haſ - ſen. Allein der Abſcheu, welchen er an unſerm ſchaͤndlichen Betragen hat, hebt ſeine Vater-Liebe gegen ſeine abtruͤnnige Kinder nicht auf. Das Elend, worein ſie ſich ſtuͤrtzen, gehet ihm nahe. Seine Be - gierde, ſie wieder gluͤcklich zu ſehen, hat keinEnde.357Ende. Er liebt Kinder, bey welchen er kei - ne Gegen-Liebe, keine Ehrerbietung, keinen Gehorſam findet. Er liebet ſie mit einer erbarmenden Liebe. Er liebet ſie ſo ſehr, daß er ſeinen eingebohrnen Sohn fuͤr ſie dahin giebet. Erinnert euch, meine Bruͤ - der, aus dem obigen, was dieſes in ſich faſ - ſet. Der erbarmende GOtt will ſeine ab - truͤnnigen Kinder, die widerſpaͤnſtigen Re - bellen gerne begnadigen und ſie wieder in eine ſolche Verfaſſung ſetzen, daß er ſie ewig ſelig machen kan. Es muß aber hiebey den Unordnungen vorgebeuget werden, die aus Begnadigungen gar leicht entſtehen. Beſonders muß verhuͤtet werden, daß es nicht das Anſehen gewinne, als waͤre GOtt gleichguͤltig gegen die Laſter und die Unord - nungen, ſo daher entſtehen, damit nicht andere Geiſter ebenfalls zum Abfall ver - leitet werden, und die Begnadigten die Gnade nicht auf Muthwillen ziehen und die Begnadigung vergeblich machen. De - nen im Guten noch ſtehenden Geſellſchaff - ten muͤſſen neben der Begnadigung der Menſchen ſolche Gruͤnde vorgeleget wer - den, bey welchen ihnen nie einfaͤllt von den heilſamen Geſetzen GOttes abzuweichen. Z 3Die358Die gefallenen Menſchen aber muͤſſen ne - ben der Gnade die trifftigſten Bewegungs - Gruͤnde erblicken, die ſie zur Umkehr und einer ſeligen Anwendung der Gnade zu ih - rer Beſſerung bewegen. Denn ſo lange ſie in ihren Suͤnden bleiben, kan auch die Allmacht ſie nicht gluͤcklich machen. Eine ſolche weiſe Begnadigung zu ſtiften, giebt der Vater ſeinen eingebohrnen Sohn. Dieſer vereiniget ſich mit einer menſch - lichen Natur. Er tritt in der Suͤnder - Stelle. Er leidet, er ſtirbet, und er - duldet die Strafe, welche die ewige Gerechtigkeit von uns forderte. Hie - durch wird auf das allernachdruͤcklichſte bewieſen, daß GOtt zwar die Liebe ſelbſt, aber auch heilig und gerecht, und daß Suͤn - de und Unordnungen mit ſeinem Weſen und mit der Verfaſſung ſeines Reichs gantz und gar nicht uͤbereinſtimmen. Hiedurch erſcheinet die Guͤte GOttes als eine ſolcheRoͤm. 2, 4. Guͤte, die zur Buſſe leitet. Nun un - terweiſet uns die Gnade GOttes, daß wir ſollen verleugnen das ungoͤttliche Weſen, die weltlichen Luͤſte und zuͤch -Tit. 2, 12. tig gerecht und gottſelig leben in dieſer Welt. Ein jeder, der Ueberlegungbraucht,359braucht, muß nunmehr ſchlieſſen: Jſt die Suͤnde ſo heßlich, ſo abſcheulich in den Au - gen GOttes, und ſtreitet dergeſtalt mit ſei - nem Reiche, daß er ſie nicht vergeben wol - len ohne ſeinen heiligſten Abſcheu durch das groͤſte Wunder kund zu machen, ſo wird demjenigen, der dieſes alles verachtet, und dennoch in Suͤnden beharret, nichts uͤbrig bleiben, als ein erſchreckliches Warten des Gerichts und des Feuereifers, derEbr. 10, 27. die Widerwaͤrtigen verzehren wird. Bewundert die groſſen Bemuͤhungen GOttes, uns abtruͤnnige verirrte Menſchen zuruͤck zu bringen, gluͤcklich zu machen, und erkennet in ſelbigen die zaͤrtliche Liebe, ſo er gegen uns traͤget. Jſt es nicht eine groſſe Liebe, daß er an uns gedencket, da wir ihm doch Liebe und Gehorſam aufgekuͤndiget? Jſt es nicht eine unendliche Liebe, daß er uns begnadiget, da dieſe Begnadigung den Tod ſeines eigebohrnen Sohns erfordert? Jſt es nicht eine unbegreifliche Liebe, daß er ein ſo groſſes Wunder ſtiftet, damit ſeine Gnade uns auch zur Buſſe leiten und dahin bringen moͤge, daß ſeine guͤtigen Abſichten an uns moͤgen erreichet werden? Wo fin - det man wohl eine Liebe, die dieſer aͤhnlichZ 4iſt?360iſt? Ueberleget, Menſchen-Kinder, wie weit gehet unſere Liebe gegen einen wider - ſpaͤnſtigen und liederlichen Knecht? Wie lange haben wir Gedult mit ihm? Wie lange gehen wir ihm nach? Wie weit er - ſtrecken ſich unſere Bemuͤhungen, ihn zu beſſern und gluͤcklich zu machen? Wie viel thun wir um einen ſolchen, der nichts nach uns fraget, unſere Wohlthaten gering ſchaͤ - tzet, unſere Befehle verachtet, und daran ſein Vergnuͤgen ſuchet, was unſer Haus in beſtaͤndige Unruhe ſetzet? O! wie gar enge Schrancken hat nicht unſere Liebe gegen einen ſolchen, der doch unſers Geſchlechtes iſt? Haltet mit dieſer unſerer eigenen Liebe diejenige Liebe zuſammen, ſo GOtt gegen uns in dem Werck der Erloͤſung offenbah -Pſ. 144,3. ret. Majeſtaͤtiſcher GOtt, was iſt doch der Menſch, daß du dich ſein ſo an - nimmſt? und des Menſchen Kind, daß du ihn ſo achteſt? Wir halten uns viel zu hoch, viel zu edel, uns lange mit dem Gluͤck eines unarthigen und undanckbaren Knechts zu beſchaͤftigen. Wie bald er - klaͤren wir ihn unſerer Liebe und Wohltha - ten unwuͤrdig? Wie bald ſtoſſen wir ihn fort? Wie wenig ruͤhret uns das Ungluͤck,in361in welches er rennet? Wie kurtz und we - nig bekuͤmmern wir uns um die Beſſerung ſeines Zuſtandes? Du aber, unendlich vollkommener GOtt, achteſt dich nicht zu hoch, auf das Niedrige zu ſehen. Deine hoͤchſte Majeſtaͤt achtet auf alle deine Ge - ſchoͤpfe, und deine Begierde ſie gluͤcklich zu machen, wird nicht ermuͤdet. Auch un - danckbaren Veraͤchtern deiner Guͤte, un - gehorſamen und widerſpaͤnſtigen Beleidi - gern deiner Majeſtaͤt geheſt du, groſſer GOtt, nach. Du ſtifteſt die groͤſſeſten Wunder, damit ſie zur Ueberlegung, zur Umkehr und zur Annehmung deiner Guͤ - ter und Seligkeit moͤgen gebracht werden. JEſum deinen Geliebteſten laͤſſeſt du ſter - ben, damit dieſe ewig leben moͤgen. Groſſe unendliche Liebe!

O Menſchen-Kinder, die ihr euch einer Vernunft, einer Ueberlegung, eines be - weglichen Gemuͤths ruͤhmet, wie iſt es moͤg - lich, daß ein ſo groſſer Theil von euch bey dieſen Wundern der Liebe GOttes ohne eine vernuͤnftige Ueberlegung und ohne alle Ruͤhrung bleiben kan? Wie iſt es moͤg - lich, daß ihr bey der zaͤrtlichſten Liebe GOt - tes gegen euch ohne alle Empfindung blei -Z 5bet?362bet? Wie iſt es moͤglich, daß ihr ſo gar un - beſonnen ſeyd, die groͤſſeſten und wunder - bareſten Bemuͤhungen der goͤttlichen Liebe um eure Seligkeit verachtet und euch der - ſelben entziehet? Jhr habt euren Schoͤpf - fer und ſeine heiligſten Geſetze verlaſſen. Jhr ſeyd abgewichen von dem Wege des Lebens. Jhr verachtet die heilſamen Ver - ordnungen GOttes, auf deren Verletzung der Fluch ruhet. Jhr ſeyd Sclaven un - ordentlicher Begierden. Jhr habt euch dadurch ſchon manches Unheil zugezogen. Euer Leben iſt voller Unruhe, und kurtz: Jhr ſeyd ein Opfer des Todes. Und moͤch - ten ſich hier die Folgen der Suͤnden endi - gen! Aber ach! die Suͤnden haben ewige Folgen. Sie ſtuͤrtzen in einen Abgrund, wo nichts als ewige Quaal und Marter. Das Grauſen ſo ein finſteres Gefaͤngniß verurſachet, das Schrecken, in welches Ketten und Banden ſetzen, der heftige Schmertz, den ein nagender Wurm, ein brennendes Feuer zeuget, alles was ſchreck - lich und fuͤrchterlich iſt, findet ſich an dem Orte, den die heiligſte und weiſeſte Gerech - tigkeit fuͤr die unordentlichen und wider - ſpaͤnſtigen Geiſter, die ſein Reich beunru -higen,363higen, bauen muͤſſen. Und dieſem gefaͤhr - lichen Orte naͤhert ihr euch, freche Suͤn - der. Der Weg, den ihr waͤhlet, fuͤhret in dieſen fuͤrchterlichen Abgrund. GOtt aber, der liebreiche GOtt, gehet euch nach, er rufet euch als verirrete Schaafe. Er zeiget euch die Gefahr, in welche euch die Suͤnde ſetzet. Er warnet euch fuͤr eine ewige Unſeligkeit, deren ihr euch durch Un - gehorſam wuͤrdig gemacht. Er bietet euch Gnade und Vergebung an. Damit nun dieſes ohne Nachtheil der Gerechtigkeit, ſeiner heiligſten Geſetze und ſeines Reichs geſchehen moͤge, damit ihr ſelber dieſe groſſe Gnade nicht auf Muthwillen ziehen moͤch - tet, ſo muß JEſus an eurer Statt ſterben, und neben der unendlichen Gnade GOttes auch ſeine unendliche Gerechtigkeit, die un - verletzliche Heiligkeit ſeiner Geſetze und ſei - nes Reichs kund machen. Dieſes alles thut er um euch zu einer ſeligen Umkehr zu bewegen und euch ewig zu erhalten. Soll nun dieſes alles umſonſt ſeyn? Sollen alle dieſe groſſen Wunder der goͤttlichen Liebe vergebens ſeyn? Wollet ihr doch noch fortlaufen, auf euern verkehrten Wegen. Wollet ihr euch ferner widerſetzen, demGOtt,364GOtt, der euch einen ſo deutlichen und wunderbaren Beweiß ſeiner heiligſten Ge - rechtigkeit gegeben? Jſt das, was an dem unſchuldigen Buͤrgen der Suͤnder geſche - hen, zu wenig, euch in Furcht und Schre - cken zu ſetzen? Koͤnnet ihr noch hoffen, daß der GOtt, der ſeinen Abſcheu fuͤr die Suͤn - de auf eine ſo nachdruͤckliche Art an den Tag geleget, damit ihr von ſelbigen abſte - hen moͤchtet, euch in den Himmel erheben werde, wenn ihr bey dem Tode JEſu doch noch in muthwilligen Suͤnden bleibet? Waͤre dieſes der Wille des Weiſeſten, ſo ſagt, warum haͤtte er denn ſeine heiligſte Gerechtigkeit durch den Tod ſeines Soh - nes verſiegelt? Warum haͤtte er die Hei - ligkeit ſeiner Geſetze ſo nachdruͤcklich bewie - ſen? Waͤre ſein Wille eine Geſellſchafft von hochmuͤthigen, eigenſinnigen, neidi - ſchen, zornigen, rachbegierigen, ſtoͤrrigen, uͤppigen und leichtſinnigen Seelen, eine Geſellſchafft von ſchaͤndlichen Sclaven al - lerhand Laſter vor ſeinem Thron zu ſamm - len, und ihnen die praͤchtigen Gegenden des Himmels anzuweiſen; was waͤre es noͤ - thig geweſen und was ſollte es nuͤtzen, daß die Heslichkeit der Suͤnden und derheilige365heilige Abſcheu GOttes gegen ſelbige durch den Tod JEſu der Welt vor Augen ge - legt worden? Was waͤre es noͤthig gewe - ſen, daß neben der Gnade die Gerechtig - keit ſo nachdruͤcklich offenbaret worden? Was waͤre es noͤthig geweſen, daß JE - ſus Knechts-Geſtalt angenommen, Elend, Jammer, Schmach, Schmertzen, Hoͤllen - Angſt und den ſchmaͤhlichſten Tod fuͤr die Suͤnder, die da ſollen begnadiget werden, erduldet. Achtete der HErr die Suͤnde nicht, waͤren ſeine Geſetze nicht nothwendig und heilig, koͤnnte die Seligkeit ſeines Reichs bey den Laſtern beſtehen, ſollte ſein Reich ein Reich der Unordnung und der Himmel eine Wohnung ſchaͤndlicher See - len ſeyn, ſollten in dem Glantze der heilig - ſten Majeſtaͤt, unter der Zahl der Auser - waͤhlten und vertrauteſten Freunde GOt - tes, wuͤſte Geiſter, rohe und harte Seelen, Veraͤchter einer unendlichen Herrſchafft, frevelhafte Schaͤnder heilſamer Geſetze, verſtockte Sclaven der Laſter ſtehen, ſo waͤre es vergeblich und umſonſt, daß der HErr Geſetze gegeben, und die Heiligkeit derſelben durch den Tod ſeines Sohnes feſt geſetzet. Da es aber unmoͤglich, daß diehoͤchſte366hoͤchſte Weisheit ſo groſſe Vorkehrungen umſonſt ſollte gemacht haben, da es un - moͤglich, daß er JEſum ohne Abſicht zu einem Opfer ſeiner Gerechtigkeit dahin gegeben; ſo begreift, ſichere Suͤnder, daß der hoͤchſte wahrhaftig heilig, und ihr ſeine Freunde, ſeine auserwaͤhlten Kinder nicht ſeyn und bey ihm leben koͤnnet, wo ihr den Suͤnden nicht abſterbet und eure Glieder zu Waffen der Gerechtigkeit machet. Der Tod JEſu hilft euch nichts, wenn ihr nicht auch ſein Leben als ein Vorbild eurer Nachfolge annehmet. Wollet ihr euch deſſen troͤſten, daß GOtt mit euch verſoͤh - net iſt, was wird noͤthiger ſeyn, als daß ihr euch auch mit ihm verſoͤhnet? Wird es die Sache eines Rebellen gut machen, wenn ihm der Landes-Herr Gnade anbieten laͤſ - ſet, er aber von ſeiner Feindſchafft und Widerſpaͤnſtigkeit nicht abtreten will? 2. Cor. 5, 20.Wir bitten euch derowegen an Chriſtus Statt, laſſet euch verſoͤhnen mit GOtt. Stehet ab von der Verachtung eures Schoͤpfers, unterdruͤcket die Widerſpaͤn - ſtigkeit eures Hertzens, und fanget an GOtt zu lieben, der euch ſo gar als Feinde gelie - bet. Entgehet den unſeligen Folgen derSuͤnden,367Suͤnden, welche euch der Tod JEſu auf eine ſehr nachdruͤckliche Art verſichert. Wollet ihr aber ja fortfahren, Feindſchafft gegen die ewige Liebe zu beweiſen, wollet ihr fortfahren dem HErrn zu widerſtreben und ſein Reich durch eure unordentliche Luͤſte zu beunruhigen, ſo wiſſet, der gerech - teſte und weiſeſte Beherrſcher Himmels und der Erden wird ſein Reich nicht ewig eurem Unfug und Frevel ausſetzen. Er wird zwiſchen euch und ſeiner heiligen Schaar eine ſolche Kluft befeſtigen, die ihr nicht uͤberſteigen koͤnnet. Seine Auser - waͤhlten werden in ewigen Frieden wohnen, euch aber wird das Verderben, das ewige und ſchreckliche Verderben treffen, welches ihr jetzt nicht glaͤuben wollet. Und ſchaf - fet der Tod des Mittlers anjetzt keine Frucht bey euch, ſo wird er alsdann doch dieſes wuͤrcken. Er wird euch den Mund ver - ſtopfen, daß ihr nicht werdet ſagen doͤrfen, GOtt habe nicht alles moͤgliche gethan um euch zu retten. Er wird ein unverwerff - licher Zeuge wider euch ſeyn, daß GOtt un - ſchuldig an eurem Verderben, und daß er die groͤſſeſten Wunder gethan euch ſeligzu368zu machen, euer Wille aber ſey unbeweg - lich geweſen.

O liebreichſter GOtt, laß uns doch nicht ſo weit verfallen, laß uns nicht ſo verſtockt werden, daß weder deine Liebe noch deine Gerechtigkeit bey uns einen Eindruck ha - be! Nein, nein, Seelen, ermuntert euch mit mir, und laſſet uns mit rechter Uberle - gung betrachten, was GOtt um unſer Heyl thut. Laſſet uns an den Leiden unſers Buͤrgen abnehmen, wie heilig unſer GOtt und wie betruͤbt die Folgen der Bosheit, damit hiedurch die Luſt der Suͤnden gebro - chen werde. Laſſet uns nie vergeſſen, wie groß, wie zaͤrtlich die Liebe GOttes, womit er ſich unſer als ſeiner Feinde erbarmet, da er ſeines einigen Sohnes nicht verſcho - net, ſondern ihn fuͤr uns alle dahin gegeben. Laſſet uns nie vergeſſen der Liebe JEſu, welcher ſein Leben laͤſſet, damit wir leben moͤgen. Laſſet uns dieſer Liebe ewige Denckmahle in unſerer Seele ſetzen, da - mit ſelbige eine ewige Gegen-Liebe in uns zeuge, eine Liebe, die nichts mehr wuͤnſchet als GOtt und JEſu danckbar zu ſeyn, ei - ne Liebe, die ſich an nichts mehr ergetzet, als was GOtt und JEſu gefaͤllet. Otheuer369theuer erloͤſete Bruͤder, Seelen, die ihr ge - ruͤhret ſeyd, durch die Liebe des unendlichen Vaters, und die ihr ſehet und fuͤhlet die zaͤrtliche Zuneigung unſers theureſten Freundes JEſu, kommt, laſſet uns im Geiſt zuſammen treten, und nicht von dieſer Stel - le gehen, bis wir GOtt und dem Lamme ein heiliges Opffer der Liebe gebracht. Un - ſere Seele, alle unſere Glieder, welche das Blut JEſu geheiliget, ſollen dieſes Opf - fer ſeyn. Auf und ſchwoͤret mit mir, daß wir ewig, ewig unſers GOttes ſeyn wol - len. Unendlicher GOtt, erbarmender Vater, du haſt eine ſolche zaͤrtliche Liebe gegen uns ungehorſame und abtruͤnnige Kinder bewieſen, die alle Vernunfft uͤber - ſteiget, damit du uns ohne Nachtheil dei - nes Reichs begnadigen koͤnnteſt, giebſt du deinen Sohn dahin in den Tod des Creu - tzes. Du geheſt uns verirrten Schaa - fen nach, du rufeſt uns, du ſtreckeſt dei - ne Vater-Arme gegen uns aus, daß wir wieder zu dir kommen, und dich, als un - ſern Vater, annehmen, und deine Erben ſeyn moͤgen. Du verſoͤhneſt dich ſelbſt mit deinen abgefallenen und ausgewiche - nen Kindern: Du, o Vater! du unendli -Jacobi Betr. 2. Band. A acher370cher Schoͤpfer, du HErr Himmels und der Erden, bitteſt uns geringe Wuͤr - mer, daß wir uns auch moͤgen mit dir verſoͤhnen laſſen. O unbegreifliche Lang - muth! Unbegreifliche Erniedrigung GOt - tes gegen die Menſchen! Unbegreifliche ---! Wir erſtaunen, wir ſind ge - ruͤhret, wir ſind beſchaͤmet uͤber dieſe Lie - be. Unſer widerſpaͤnſtiges Hertz fuͤhlet den ſanfteſten Zug eines uns nachgehen - den Vaters. Uns wird angſt, wir ſchaͤ - men uns der Schande, daß wir einen ſolchen Vater verlaſſen und ihn einer kind - lichen Liebe unwerth geachtet. Wir ſte - hen ſtille auf unſern verkehrten Wege, aber wir ſcheuen uns unſer Angeſicht zu dir, o Vater, zu wenden. Unſere Schan - de iſt zu groß. Du aber beſprengeſt uns mit dem Blute das uns heiliget, du nim - meſt weg die Brandmahle unſers Gewiſ - ſens. Du faſſeſt uns bey der Hand, und befiehlſt uns wieder Vater, zu dir zu ſa - gen. Ach Abba, ſo kehren wir wieder zudir.371dir. Wir werfen uns voll Reu und kind - licher Zuverſicht in deine Arme. Wir ſchwoͤren, wir wollen nicht wieder von dir weichen. Hier iſt Seel und Leib. Von nun an wollen wir dein verbleiben. Wir verfluchen euch, unheilige und ſchaͤndli - che Luͤſte. Wir verlaſſen euch taumeln - de Kinder dieſer Welt. Euer raſendes Vergnuͤgen, euer tolles Geraͤuſch gefaͤllt uns nicht mehr. Weicht ihr Geiſter der Finſterniß. Hier liegen eure Banden. Hebt euch weg von uns. Wir wollen ewig ewig Kinder GOttes ſeyn. Was ſollen wir aber dir geben? Liebreicheſter Mittler, treueſter Freund der Seelen, der du uns bis in den Tod geliebet. Wir wiſſen, was der Vater hat iſt auch dein. Wohlan, ſo ſind wir auch dein Eigenthum. Ja ja, darum biſt du auch fuͤr alle ge - ſtorben, auf daß die, ſo da leben, hin - fort nicht ihnen ſelber leben, ſondern dem, der fuͤr ſie geſtorben und aufer - ſtanden iſt. So nimm denn an denA a 2Bund,372Bund der Treue, den wir anjetzt mit dir theils aufrichten, theils erneuern. Dir JESU, wollen wir leben, dir wollen wir ſterben, dein wollen wir todt und lebend ſeyn. Amen! dein Geiſt ver - ſiegle dieſen Bund, Amen!

Zweyte[373]

Zweyte Rede uͤber Joh. 3, 16. Von der Liebe GOttes bey An - nehmung des Glaubens.

GOtt iſt die Liebe. Dieſes iſt ein merckwuͤrdiger Ausdruck Jo - hannis, welchen wir zweymal in ſeinem erſten Briefe finden. Es druckt1. Joh. 4, 8. 16. dieſe Art zu reden dreyerley aus. Nemlich, es ſey die Liebe bey GOtt eine weſentliche Eigenſchaft, die von ihm untrennbar. Er beſitze ſelbige im hoͤchſten Grade. Alle ſei - ne Wercke und Einrichtungen haben dieſe Liebe zum Grunde. Jn allen Dingen wuͤrcke ſelbige, und richte ſie zum Wohl ſei - ner Geſchoͤpfe. Wollen wir von dieſer Wahrheit eine lebendige Ueberzeugung haben, ſo laſſet uns nur einen Blick auf uns ſelber thun, und auf das, was GOtt un - ſerntwegen gethan. Jn allen finden wir die Wahrheit, GOtt iſt die Liebe. WasA a 3hat374hat den Schoͤpfer bewogen, uns hervor zu bringen, da wir nicht waren? Was ha[t]ihn angetrieben, der Seele dieſen kuͤnſtli - chen Leib zu bauen, und zu ihrem Vergnuͤ - gen ſo viele Glieder zuſammen zu ſetzen, di[e]ſich ſo gleich auf ihren Winck bewegen〈…〉〈…〉 Was hat ihn gereitzet, uns in ein ſo groſſe und ſchoͤnes Wohnhaus zu ſetzen, und daſ[-]ſelbe mit unzaͤhlbaren andern Geſchoͤpfe[n]anzufuͤllen, die zu unſerm Wohlſeyn diene[n]muͤſſen? Jſt es etwas anders als eine un[-]endliche Liebe, vermoͤge welcher er einer Wohlgefallen an ſeinen Geſchoͤpfen und insbeſondere an unſerm Wohlergehen hat[?]Den hohen Grad dieſer Liebe koͤnnen wi[r]einigermaſſen erkennen, wenn wir beden - cken, daß das Ziel der goͤttlichen Liebe bey uns nicht mit dieſem Leben aufhoͤret Nein, ſeine Liebe goͤnnet uns eine ewige und vollkommene Gluͤckſeligkeit. Dieſes Leben ſoll nur die Vorbereitung zu einem beſſern Leben ſeyn, ſo eine ewige Dauer ha - ben ſoll. Und wie groß erſcheinet die Liebe GOttes, wenn wir unſer Gemuͤth auf die wichtigen Vorkehrungen richten, die GOtt in dieſer Abſicht gemacht hat. Erinnert euch an das wichtige und wunderbareWerck375Werck der Erloͤſung. Johannes ſchreibt mit Recht davon: Daran iſt erſchienen1: Joh. 4, 9. die Liebe GOttes gegen uns, daß er ſei - nen eingebohrnen Sohn geſandt hat in die Welt, daß wiꝛ durch ihn leben ſollen. Die zaͤrtlichen Neigungen GOttes gegen uns ſpiegeln ſich darinne dergeſtalt, daß der - jenige nothwendig muß geruͤhret werden, der ſie recht betrachtet. Jch werde ſo offt entzuͤckt und auſſer mich geſetzt, ſo offt ich mir dieſes Werck recht lebhaft vorſtelle. Jch befinde mich von Natur in einem ſol - chen Verfall, und folge ſo ſchaͤdlichen Be - gierden, daß das gemeine Beſte den weiſe - ſten und heiligſten Beherrſcher dringet, mich zu verlaſſen, ſeiner Liebe Grentzen zu ſetzen, und mich den unſeligen Folgen zu un - terwerfen, welche mit einer unordentlichen Gemuͤths-Verfaſſung, mit einer nieder - traͤchtigen Verachtung der hoͤchſten Ma - jeſtaͤt und deren Geſetze verknuͤpft ſind. Und ſo war ich ewig verlohren. Es be - wegte dieſes die Barmhertzigkeit meines GOttes, und damit ſich ſeine Gnade, oh - ne Verletzung des gemeinen Beſten, wieder gegen mich offenbahren koͤnnte, ſo ließ er JEſum fuͤr mich ſterben, damit die GeſetzeA a 4ihre376ihre Kraft behielten, ſeine Heiligkeit der gantzen Welt offenbar wuͤrde, und ich erret - tet und zum Leben erhalten werden koͤnnte. Unendliche und unbegreifliche Liebe! So liebeſt du mich, mein Schoͤpfer, ehe ich dich geliebet habe. So liebteſt du einen ver - lohrnen Sohn. Jch erſtaune. Meine Bruſt wird voll, und alle Glieder kommen in Bewegung. Jch werfe mich in Ehr - furcht vor dir nieder, erbarmender Vater! Jch bin geruͤhret von meiner Unwuͤrdigkeit und von der Groͤſſe deiner Liebe. Wie ſoll ich ---? O! lobe den HErrn meine Seele und vergiß, vergiß nicht, was er dir Gutes gethan hat. Der dir alle dei - ne Suͤnde vergiebt, und heilet alle deine Gebrechen. Der dein Leben vom Ver - derben erloͤſet. Der dich croͤnet mit Gna - de und Barmhertzigkeit. Alle Kinder des HErrn, lobet mit mir den GOtt, der uns gemacht und bisher erhalten hat. Lobet den GOtt, der uns mehr giebt, als wir zaͤh - len koͤnnen! Lobet den GOtt, der uns aus einem Abgrund des Elendes errettet, in wel - chen wir uns ſelbſt geſtuͤrtzet. Lobet den GOtt, der uns JEſum, und mit ſelbigem alles, alles geſchencket. Lobet die unend -liche377liche Liebe, welche uns Unwuͤrdigen und Abtruͤnnigen, uns Kindern des Todes und der Verdammniß, den Himmel wieder ge - oͤffnet, und uns ewige Wonne verſpricht. Bewundert und ruͤhmet die weiſe Liebe, die von uns Unvollkommenen hiebey weiter nichts fordert, als einen Glauben, der in der Liebe thaͤtig iſt. Wendet dieſe Stun - de mit mir an, dieſe letztere Probe der goͤtt - lichen Liebe mit einer ehrerbietigen Danck - begierde zu betrachten. O! daß alle un - ſere Seelen moͤgten voll werden von Be - wunderung der goͤttlichen Gnade gegen uns, und von einer ehrerbietigen und danckbaren Liebe gegen den, der uns alſo erſt geliebet hat. Segne hiezu, o GOtt, unſere jetzige Betrachtung. Laß uns nicht ohne zaͤrtli - che Empfindung von deiner groſſen Liebe und ohne heilige Ruͤhrungen von dannen gehen. Laß uns nicht anders, als mit der danckbareſten Seele dieſen Ort verlaſſen. Mache in unſer Gemuͤth einen ſolchen Ein - druck von deiner Guͤte, der in Ewigkeit nicht wieder ausgeloͤſchet werde.

A a 5Text. 378

Text. Joh. 3, 16.

Alſo hat GOtt die Welt gelie - bet, daß er ſeinen eingebohrnen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glaͤuben, nicht verlohren wer - den, ſondern das ewige Leben ha - ben.

Die Liebe GOttes bey Anneh - mung unſers Glaubens. Wir betrachten

  • I. Den Glauben, den GOtt an - nimmt.
  • II. Die Liebe, womit er ihn an - nimmt.

Glauben, wenn wir dieſes Wort in ſei - ner gemeinen Bedeutung nehmen, heiſſet etwas, ſo wir mit unſern Sinnen nicht em - pfinden, fuͤr wahr annehmen, wir moͤgen ſelbiges entweder durch Beweiß oder durch das Zeugniß eines andern erkennen. Was wir mit den Sinnen empfinden, von dem ſagen wir, daß wir es ſehen, oder hoͤren, oder riechen u. ſ. w. Was wir mit den Sinnen nicht empfinden, und doch als wahr auneh - men, das glauben wir. So ſagen wir, daßwir379wir einen GOtt glauben, weil wir dieſe Wahrheit, theils durch Beweiſe der Ver - nunft, theils durch das Zeugniß der Offen - bahrung erkennen. Der H. Verfaſſer des Briefes an die Hebraͤer ſchreibet derowegen: Der Glaube ſey eine gewiſſe ZuverſichtHebr. 11, 1. des, das man hoffet und nicht zwei - felt an dem, das man nicht ſiehet. Unſer Text ſaget uns, daß es einen Glau - ben gebe, welchen GOtt ſo hoch achte, daß ſeine Liebe uns in Abſicht auf denſelben das ewige Leben ſchencke. Es iſt dieſes der Glaube an ſeinen Sohn. Alſo hat GOtt die Welt geliebet, daß er ſeinen eingebohrnen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glaͤuben, nicht verlohren weꝛ - den, ſondern das ewige Leben haben. Laſſet uns den Glauben genauer kennen lernen, der uns ſo viel Gutes verſpricht. Was heiſſet an JEſum glaͤuben? Was faſſet dieſer Glaube in ſich? Was ſetzet er zum Voraus? Was muß er wuͤrcken? An JEſum glaͤuben, kan vermoͤge der Be - deutung dieſes Wortes nichts anders heiſ - ſen, als JEſum fuͤr denjenigen annehmen, der er wahrhafftig iſt. Er iſt aber GOttes eingebohrner Sohn, GOTTund380Joh. 1, 14. - 6, 14. - 1, 9.und Menſch zugleich. Er iſt der groſ - ſe Prophet, er da kommen ſollte, ein Licht der Welt, das alle Menſchen er -1. Tim. 2, 5. 6. leuchtet. Er iſt der Mittler zwiſchen GOtt und Menſchen, der ſich gegeben hat fuͤr alle zur Erloͤſung, oder zu einem Loͤſegelde, womit die groſſe Schuld unſerer Suͤnden, welche einen ewigen Fluch uͤber uns gebracht, getilget worden. Er iſt derEbr. 2, 10. Herzog unſerer Seeligkeit, der uns aus dem Tode ins Leben gebracht hat, der groſſeJoh. 10, 14. 16. Hirte der Schaafe, dem alle Menſchen ſolgen ſollen. Er iſt der HERR,Phil. 2, 10. in deſſen Namen ſich beugen ſollen, alle Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erden ſind. Er iſt der1. Cor. 15, 25. HErr, der da herrſchet, bis er alle ſeine Feinde unter ſeine Fuͤſſe gebracht hat: An JEſum glauben, heiſſet alſo ihn anneh - men, als eine ſolche Perſon, die GOtt und Menſch iſt, als den Propheten, den alle Welt hoͤren ſoll, als den einigen Erloͤſer und Seligmacher des menſchlichen Ge - ſchlechts, als unſern HErrn und Koͤnig. Hieraus erhellet, daß wer an ihn glaͤubet, der muß alle ſeine Lehren annehmen, alles ſein Vertrauen und Hoffnung auf ihn gruͤnden,und381und ſeinen heiligſten Geſetzen ſich unterwer - fen. Wer aber die Lehren JEſu an - nimmt, der glaubet auch an GOtt den Va - ter und den heiligen Geiſt. Denn wie offt hat er von ſelbigen gezeuget? Wer dero - wegen an Chriſtum glaͤubet, der nimmt den dreyeinigen GOtt als ſeinen Schoͤpfer, Koͤ - nig, und als die einige Quelle ſeines Heils an. Hieraus begreife man den weiten Umfang des Glaubens an JEſum, und vereinige daraus mit unſerm Texte diejeni - gen Spruͤche, welche mehr als blos den Glauben an den Mittler fordern. So ſpricht Chriſtus an einem andern Orte: Das iſt das ewige Leben, daß ſie dich,Joh. 17, 3. der du allein wahrer GOtt biſt, und den du geſandt haſt, JEſum Chriſtum erkennen. Man meine nicht, daß unſer Text, der nur den Glauben an JEſum zur Seligkeit fordert, weniger ſage, als der jetzt angezogene Ausſpruch unſers Erloͤſers. Wer an den Sohn GOttes glaͤubet, der glaͤubet auch an den Vater. Es iſt alſo in allen dergleichen Stellen einerley enthalten, und es wird an dem einen Orte dasjenige nur mit mehrern Worten geſagt, was an andern mit wenigern ausgedruckt wird. Es382Es wird aber vornemlich auf den Glauben an JEſum gedrungen, weil ſelbiger den Juden ein Aergerniß, den Griechen und Heyden aber eine Thorheit war, und alſo die Noth erforderte, ſelbigen beſonders ein - zuſchaͤrfen, aber vornemlich, weil der Glau - be an Chriſtum dasjenige Hauptwerck iſt, ſo unſern uͤbrigen Glauben vor GOtt an - genehm und geltend macht. Denn Chri -1. Cor. 1, 30. ſtus iſt uns gemacht von GOTT zur Weisheit und Gerechtigkeit, und zur Heiligung und zur Erloͤſung. Wer ihn nun nicht fuͤr einen ſolchen erkennen und annehmen will, ſondern ihn muthwillig verachtet und verwirft, der widerſtrebt einer Verordnung GOttes, die er mit den groͤſ - ſeſten Wundern feſtgeſtellet, und woraufAp. Geſch. 4, 12. er unſer Heil gegruͤndet. Denn es iſt in keinem andern Heil, und es iſt kein an - der Name den Menſchen gegeben, dar - inne ſie ſollen ſelig werden, als allein in dem Namen JEſu. Und wer das ſo ſtarck bekraͤftigte Zeugniß GOttes von ſeinem Sohne nicht annehmen will,1. Joh. 5, 10. der macht GOTT zum Luͤgner. Er verachtet GOtt auf das niedertraͤchtig - ſte, da er das fuͤr Thorheit erklaͤret, worinneGOtt383GOtt die hoͤchſte Weisheit gefunden. De - nen aber, die den Glauben an JEſum ha - ben, giebt er die ſtaͤrckeſte Gewißheit, daß ſie GOtt als ihren gnaͤdigen Vater anſe - hen, und von ihm eine ewige und gantz un - ſchaͤtzbare Gluͤckſeligkeit erwarten koͤnnen. Er macht alſo, daß ſie mit einer kindlichen Zuverſicht und lebendigen und ſeligſten Hoffnung an GOtt glauben und ſich ihm recht ergeben koͤnnen. Er giebt ihnen de - rowegen die trifftigſten Bewegungs - Gruͤnde und zugleich die Staͤrcke, die Herr - ſchafft der Suͤnden abzuwerffen und der Tugend nachzujagen. Ueberhaupt giebt er uns, wie wir unten mit mehrern zei - gen wollen, diejenige Geſtalt, in welcher wir nach dem Falle gantz allein dem hei - ligſten GOtt angenehm werden und gefal - len koͤnnen. Damit wir dieſes unten deſto deutlicher machen koͤnnen, ſo muͤſſen wir noch zeigen, was dieſer Glaube zum Vor - aus ſetzet, und was er wuͤrcket. Der Glau - be an den Erloͤſer ſetzet zum Voraus eine recht lebendige Erkenntniß und betruͤbtes Gefuͤhl von dem groſſen Verfall, worinne wir liegen. Der Glaube von welchen wir reden, nimmt JEſum an als unſern Buͤr -gen,384gen, als denjenigen, der fuͤr unſere Suͤnde ein Opfer worden, und der Heiligkeit GOt - tes und ſeinen unverletzlichen Reichs-Ge - ſetzen ein Genuͤgen gethan, damit wir auf eine weiſe und dem Reiche GOttes un - nachtheilige Art koͤnnten begnadiget wer -1. Joh. 11, 2. den. Er nimmt ihn an als die Verſoͤh - nung fuͤr unſere und der gantzen Welt Suͤnde, ohne welche uns die weiſeſte Hei - ligkeit keine Gnade und keine Errettung haͤtte koͤnnen angedeihen laſſen. Der Glaube eignet ſich das Verdienſt des Mitt - lers mit einem ſehnlichen Verlangen, mit einer ſanften Befriedigung der Seele, mit einer ſeligen und vergnuͤgten Hoffnung zu. Alles dieſes aber findet keine ſtatt, wenn man nicht einſiehet und recht lebhafft er - kennet, daß man ein Suͤnder, ein durch Suͤnden hoͤchſt unſeliger Menſch ſey, und wenn man nicht den ſchweren Fluch fuͤhlet, der auf uns Unſeligen ruhet. Der Glau - be, von dem wir reden, nimmt ferner GOtt als einen verſoͤhnten Vater, JEſum, als unſern HErrn, an. Wie kan dieſes aber geſchehen, ohn unſern verderbten Begierden, der Welt und dem Reich der Finſterniß abzuſagen? Wie kan dieſe neue Huldi -gung385gung ohne Abwerfung des alten Joches geſchehen? der ſeligmachende Glaube ſetzt alſo eine lebendige und aͤngſtliche Erkennt - niß unſers Verfalls und eine Abſchwoͤrung der Suͤnden zum Voraus. JEſus laͤſſet derowegen ſeine erſte Predigt dieſe ſeyn: Thut Buſſe und glaͤubet an das Evan -Marc. 1, 15. lium. Wir kommen endlich auf die Wuͤr - ckungen dieſes Glaubens. Soll unſer Glaube anders vor GOtt gelten, ſo muß er nicht todt und wercklos, ſondern leben -Jac. 2, 17. 26. dig d. i. wuͤrckſam ſeyn. Wenn wir aber dieſem Glauben Zeit zu einer oͤftern und reifen Ueberlegung, und Raum, ſeine Kraft zu aͤuſſern, laſſen, ſo wuͤrcket er vor allen Dingen die zaͤrtlichſte, die freudigſte und danckbareſte Liebe gegen GOtt und JE - ſum. Der Glaube zeiget uns GOtt als den allerliebreicheſten Vater. Durch den Glauben ſehen wir ihn als einen ſolchen, der mit abtruͤnnigen, ungehorſamen und ſich ſelbſt in das groͤſſeſte Ungluͤck ſtuͤrtzen - den Kindern ein zaͤrtliches Mitleiden hat. Er liebt die, ſo ihn ihrer Gegen-Liebe un - wuͤrdig achten, ihn gering ſchaͤtzen und ihr Vergnuͤgen in einem widerſpaͤnſtigen Wi - derſtreben finden. Er liebet ſie ſo ſehr, daßJacobi Betr. 2. Band. B ber386er ſeinen eingebohrnen Sohn fuͤr ſie da - hin giebt, damit er ohne Nachtheil ſeiner heiligen Geſetze und ſeines Reichs hinter ihnen hergehen, ihnen eine Errettung an - bieten und ſie von den Wegen des Ver - derbens zuruͤck rufen koͤnne. Der Glau - be zeiget uns GOtt als einen verſoͤhnten Vater, der die Arme liebreich gegen uns ausſtrecket, der uns auf die gnaͤdigſte aber auch zugleich nachdruͤcklichſte Art zuruft, wir ſollen wieder zu ihm kehren, und ſeine Erben werden. Der Glaube zeiget uns den Mittler, wie er aus Liebe zu uns, Elend, Schmach und die grauſamſte Marter uͤber - nimmt und damit wir leben moͤgen, ſtir - bet. Der Glaube zeiget uns den Geiſt der Gnaden, wie er um uns beſchaͤfftiget iſt, und uns mit groſſen Wundern ein Wort giebet, deſſen goͤttliche Kraft die Quelle des Verderbens verſtopfen und unſere See - len erleuchten, heiligen, und zu einer un - wandelbaren Gluͤckſeligkeit bereiten kan. Jſt es moͤglich, daß, wenn man hiebey eine aufmerckſame Ueberlegung gebraucht, man ohne Bewegung und Liebe bleiben kan? Kan man die unendliche Liebe des dreyei - nigen GOttes gegen uns, kan man diegroſſen387groſſen Bemuͤhungen GOttes um unſere Wohlfahrt, kan man den Tod des Mitt - lers um unſer Leben ſich recht lebhafft vor - ſtellen, ohne geruͤhrt zu werden, und ohne einen ſanften Zug zu fuͤhlen, der uns in den Schooß des Vaters und in die Arme JE - ſu ziehet? Koͤnnen wir das Feuer der goͤtt - lichen Liebe fuͤhlen, ohne entzuͤndet zu wer - den? Nein. Es iſt am Tage, mit dem Glauben, der eine rechte Ueberzeugung hat, iſt die Liebe verbunden, wie die Waͤrme mit dem Feuer. GOtt erkennet derowe - gen auch keinen Glauben fuͤr rechtſchaffen, als den, der in der Liebe thaͤtig iſt. Gal. 5, 6.Es iſt zu unſerer Abſicht noͤthig, daß wir einige Wuͤrckungen dieſer Liebe noch be - trachten, damit wir die wahre Geſtalt der Glaͤubigen naͤher kennen lernen. Dieſe Liebe wuͤrcket vor allen Dingen ein recht ſehnliches Verlangen dem HErrn zugefal - len, ihm recht danckbar zu ſeyn fuͤr die un - endlich groſſe Barmhertzigkeit, womit er ſich unſer angenommen, und eine eifrige und ſorgfaͤltige Begierde ewig in dieſer Gnade zu beſtehen. Dieſe Liebe macht, daß wir uns nun GOtt und dem Erloͤſer gantz hingeben und unſer groͤſſeſtes Ver -B b 2gnuͤgen388gnuͤgen in dem Dienſt unſers GOttes fin - den. Das Hertz der Glaͤubigen ſprichtRoͤm. 14, 7. Unſer keiner lebt ihm ſelber, unſer kei - ner ſtirbt ihm ſelber. Leben wir, ſo leben wir dem HErrn, ſterben wir, ſo ſterben wir dem HErrn. Darum, wir le[-]ben oder ſterben, ſo ſind wir des HErrn Sie halten ſich fuͤr ſolche, die theuer er - kauft ſind; darum achten ſie ſich verbun -2. Cor. 6, 20. den, GOtt zu preiſen an ihrem Leibe und an ihrem Geiſte. Sie ſind bereitPhil. 1,20. GOtt zu preiſen, es ſey durch Leben oder durch den Tod. Sie ſind in der Kraft des HErrn bereit alles zu verlaſſen ja um die Ehre JEſu ſich alle Adern oͤffnen zu laſſen, ihrem Hals unter das Schwerdt zu halten, oder gar auf einen Scheiter - Haufen zu ſteigen, und in den Flammen GOtt zu loben. Viel tauſend haben die Staͤrcke dieſer Liebe an ihrem Exempel be - wieſen. Und waͤre ſolches nicht geſchehen, wir haͤtten das Gluͤck nicht, den HErrn zu kennen. Der Name Chriſti waͤre laͤngſt von dem Erdboden vertilget. Dieſe danckbare Liebe gegen GOtt und den Hey - land wuͤrcket ferner die aufrichtigſte Liebe gegen den Neben-Menſchen. Der Glau -be389be ſagt uns, GOTT ſey ein Vater allerMal. 2, 10. Menſchen-Kinder; er habe eine allgemeine Liebe gegen alle, und unſer Buͤrge habe ſein Leben fuͤr alle dahin gegeben, und ſo gar fuͤr ſeine Feinde gebeten. Wir mer - cken daher, daß wir wider GOtt und den Heyland ſind, wenn wir die nicht lieben, die von ihm geliebet werden. Wir begreifen, daß der alſo ein Luͤgner ſey, der da ſpricht,1. Joh. 4, 20. er liebe GOtt, und haſſe ſeinen Bruder. Wir ſehen ein, daß, ſo lange wir noch oh - ne Liebe und voller Zorn und Rachbegier - de ſind, wir Chriſtus Geiſt noch nicht ha - ben und folglich nicht ſein ſind. Wir mer - cken, daß die Liebe gegen die Bruͤder das rechte Kennzeichen der Juͤnger des HErrnJoh. 13, 35. ſey. Je ſtaͤrcker nun aber dieſe Liebe iſt, je ſehnlicher das Verlangen angenehme Kinder GOttes zu ſeyn, je groͤſſer die Be - gierde dem Erloͤſer zu folgen und ihm aͤhn - lich zu werden, je mehr wir uns bemuͤhen in der Erkenntniß und Tugend immer wei - ter zu kommen, deſtomehr bemercken wir unſer Unvermoͤgen, und die Groͤſſe unſerer Unvollkommenheiten. Wir bemercken noch immer Jrrthuͤmer und Thorheiten in dem Verſtande, und unordentliche und hef -B b 3tige390tige Begierden in dem Willen, von wel - chen wir je und je uͤbereilet werden. Nie - mand ſagt mit einer groͤſſern UberzeugungRoͤm. 7, 18. als ein Glaͤubiger: Jch weiß, daß in mir, daß iſt in meinem Fleiſche, woh - net nichts Gutes. Wollen habe ich wohl; aber Vollbringen des Guten finde ich nicht. Niemand ſiehet auch die Groͤſſe dieſer Unvollkommenheit beſſer ein, als ein Glaͤubiger, der auf ſeine innere Bewegungen und auf ſein Thun recht Ach - tung giebet. Er ſiehet die unendliche Lie - be GOttes gegen die Menſchen. Er er - kennet die Billigkeit einer recht feurigen Gegen-Liebe. Er fuͤhlet aber, wie ſehr un - vollkommen ſelbige oͤfters bey ihm iſt, und wie ſein Hertz oͤfters von einer nichts-wuͤr - digen Sache mehr geruͤhret wird, als von dem hoͤchſten Gute. Er mercket, was fuͤr eine Schande es iſt, daß ein vernuͤnftiger Geiſt, GOtt, die ewige Liebe, nicht ſo zaͤrt - lich lieben kan, als billig geſchehen ſollte, und daß ſich dieſe Liebe nicht allemahl in ihrer gehoͤrigen Staͤrcke reget. Er wird hieruͤber ſehr empfindlich. Die groſſe Ein - bildung von ſich ſelber faͤllt, der natuͤrliche Stoltz ſincket nieder. Er weiß nichts mehrzu391zu ſagen, als: Jch elender Menſch, werRoͤm. 7, 24. will mich erloͤſen von dem Leibe dieſes Todes? Haben ihn ehmahls bey dem An - fange der Bekehrung etwan nur die fuͤrch - terlichen Folgen der Suͤnden, der Tod und die Hoͤlle in Schrecken geſetzt, ſo macht ihn jetzt die Schaͤndlichkeit der Suͤnden empfindlich. Er haͤlt die Liebe GOttes und ſeine Unempfindlichkeit gegen einan - der. Es uͤberfaͤllt ihn Schamhaftigkeit und kindliche Wehmuth. Nun pranget er nicht mehr mit ſeinen Vollkommenhei - ten. Da liegen ſeine Wercke, die ihn ſonſt ſtoltz machten. Die Schoͤnheit faͤllt ab, in welche er ſich ſonſt ſo ſehr verliebte. Er ſiehet ſich in einer armſeligen Bloͤſſe. Doch aber ſiehet er auch denjenigen, der die Suͤn - der gerecht macht. Er ſiehet die Arme ei - nes verſoͤhnten Vaters offen. Er wirfft ſich in ſelbige, er ergiebt ſich auf die ange - bothene Gnade, und ſuchet in derſelben im - mer vollkommener, immer gefaͤlliger, im - mer geſchickter zu dem Reiche zu werden, ſo der HErr ſammlet. Dieſes ſind die Glaͤubigen, die der groſſe GOtt, nach dem Ausſpruch unſers Erloͤſers, ſo ſehr liebet. Dieſes iſt der Glaube, den ſeine Liebe vonB b 4ihnen392ihnen annimmt, und um welches willen er ihnen das ewige Leben ſchencket.

Es iſt billig, o ſelige Mitgenoſſen der goͤttlichen Liebe, daß wir ſelbige unſerm Gemuͤthe noch beſonders vorhalten, und die Groͤſſe derſelben, nebſt der Weisheit, ſo damit verknuͤpft iſt, in heiliger Andach bewundern. Der Heyland haͤlt ſie uns vor als eine beſonders groſſe Liebe. Alſo ſpricht er, hat GOtt die Welt geliebet daß er ſeinen eingebohrnen Sohn gab auf daß alle, die an ihn glaͤuben, nicht verlohren werden, ſondern das ewige Leben haben. Der heiligſte Beherrſcher Himmels und der Erden will die ſchaͤnd - liche Verachtung ſeiner Majeſtaͤt, unſern Ungehorſam, unſere Rebellion, dieſes alles will er verzeihen und uͤberſehen, er will uns dieſe groſſe Schuld ſchencken und uns durch groſſe Wunder aus dem Verderben zie - hen, worein wir uns ſchon geſtuͤrtzet. Wir ſollen nicht verlohren werden, ſondern ein ewiges Leben haben, wenn wir nur unſern Unfug erkennen und bereuen, wenn wir unſere Widerſpaͤnſtigkeit verfluchen, die in JEſu ſo theuer verſicherte Gnade im Glauben annehmen, und GOtt, unſernSchoͤpfer393Schoͤpfer, und dem, welchen er uns zum Heylande, zum Lehrer und Koͤnige geſchen - cket, huldigen, unſere Unwuͤrdigkeit jeder - zeit vor Augen haben, alles eigene Ver - dienſt hinweg werfen, und nichts als Gna - de und in derſelben eine Verbeſſerung un - ſers hoͤchſt-niedertraͤchtigen Gemuͤths ernſt - lich ſuchen. Dieſes ſoll der ewigen Liebe genug ſeyn uns zu begnadigen, zu Kindern wieder anzunehmen und uns ein ewiges Gluͤck zu ſchencken. Die Groͤſſe und Zaͤrt - lichkeit dieſer Liebe in etwas zu faſſen, ſo ſtellet euch mit mir einen HErrn vor, wel - cher Knechte hat, denen viele wichtige Voll - kommenheiten fehlen, die bey ihrem Dien - ſte noͤthig waͤren, und die man wohl wuͤnſch - te. Sie erkenneten dieſes aber ſelber, ſie kaͤmen vor ihren HErrn, beriefen ſich auf ſeine Leutſeligkeit, und baͤten, er moͤchte Gedult mit ihnen tragen, und ſie nicht ver - ſtoſſen, und zu gantz ungluͤcklichen Leuten machen. Laſſet uns ſetzen, der HErr er - barmete ſich ihrer und uͤberſaͤhe ihre Un - vollkommenheiten, und gaͤbe ihnen dennoch vollen Lohn; wuͤrden wir dieſes nicht als eine beſondere Leutſeligkeit loben? Eine ſolche Liebe aber erzeiget GOtt ſo gar ſol -B b 5chen,394chen, welche des Verbrechens der beleidig - ten goͤttlichen Majeſtaͤt ſchuldig ſind, die ſeine Feinde geweſen, freventlich wider ſein Reich geſtritten, und ſich ſelber zu ſeinem Dienſte ungeſchickt gemacht. Dieſe be - gnadiget er um des Glaubens willen, ohne Abſicht auf ihre Wercke. Er nimmt ſie wieder an, und hegt ſie als geliebte Buͤrger ohne ihr Verdienſt. Er uͤberſiehet um ihres Glaubens willen ihre Unvollkommen - heiten, und iſt zufrieden, wenn ſie nur thun, was ſie koͤnnen. Er ſiehet nicht die That, ſondern das glaͤubige Hertz an. O Men - ſchen, vergleicht dieſe Liebe mit der eurigen. Wie lange habt ihr mannigmahl Gedult mit den Unvollkommenheiten eurer Be - dienten, wenn ſie euch gleich in Demuth um Nachſicht anflehen? Wie lange tra - get ihr die Schwachheiten eurer Bruͤder, und ſeyd zufrieden, wenn ſie nur ein gutes Hertz gegen euch haben? O! wohl uns, daß unſer Heyl nicht von der Guͤte der Men - ſchen abhaͤnget! Wohl uns, daß wir un - ter einem ſo gnaͤdigen GOtt ſtehen, der ſich unvollkommener Kinder erbarmet und groſſe Gedult mit ihnen traͤget und mit groſ - ſer Langmuth zu der Vollkommenheit desGeiſtes395Geiſtes fuͤhret, darinne er ſie ewig gluͤck - lich machen kan. Gelobet ſey der GOtt, der die Liebe ſelber iſt! Laſſet uns aber wohl mercken, daß mit dieſer Liebe eine unend - liche Weisheit verknuͤpft iſt. Es iſt keine thoͤrichte Liebe eines gar zu gelinden Va - ters, der mit ſeinen Kindern zufrieden iſt, ſie moͤgen beſchaffen ſeyn, wie ſie wollen. Es iſt keine unordentliche Zaͤrtlichkeit, bey welcher die Kinder verwildern, und endlich ungluͤcklich werden. Nein es iſt eine hoͤchſt weiſe, eine heilige Liebe. Sie uͤbet zwar eine groſſe Langmuth gegen uns Unvoll - kommene aus, und will uns um derſelben willen nicht verwerfen; ſie fordert aber doch auch diejenige Gemuͤths-Verfaſſung, in welcher es allein moͤglich iſt, daß ein Wei - ſer und Heiliger einen Suͤnder lieben kan, und bey welcher es allein moͤglich iſt, einen unvollkommenen und ungluͤcklichen Men - ſchen vollkommen und gluͤcklich zu machen. Wir muͤſſen dieſes denen zu Gemuͤthe fuͤh - ren, welche die Guͤte GOttes auf Muth - willen ziehen, oder ſonſten durch einen an - dern Weg zum Leben zu gelangen geden - cken. Niemand ſchlieſſe: weil denn GOtt ſo liebreich iſt und die gelindeſte Forderungan396an die Menſchen macht, ſo werde ich leicht vor ihm beſtehen und ihm angenehm ſeyn, ich mag beſchaffen ſeyn wie ich will. Wiſ - ſet, GOtt hat ſich in ſeiner Forderung ſchon auf das weiteſte herunter gelaſſen, von ſel - biger wird er alſo nicht um den geringſtenHebr. 11, 6. Punct abgehen. Ohne Glauben iſt es unmoͤglich GOtt zu gefallen. Es iſt unmoͤglich GOtt ohne denjenigen Glau - ben zu gefallen, welchen wir beſchrieben. Joh. 3, 18.Wer auf die Art nicht glaubet, der iſt vor GOtt ſchon gerichtet. Denn da wir von Natur widerſpaͤnſtige Rebellen in dem Reiche GOttes ſind, welche mit der groͤſ - ſeſten Heftigkeit wider die guͤtigen Abſich - ten GOttes ſtreiten, ſo iſt es ja unmoͤg - lich, daß uns der Weiſeſte fuͤr treue Buͤr - ger halten kan, ehe wir unſern Unfug abſa - gen, die angebotene Gnade ergreifen, und GOtt und den, ſo er zu unſerm Mittler und Koͤnige geſandt hat, fuͤr unſern HErrn wie - der erkennen und ſeine heilſamen und noth - wendigen Reichs-Geſetze annehmen. Kurtz, der Weiſeſte kan uns unmoͤglich als treue Buͤrger anſehen, wenn wir ſeine Gnade verachten, und ihm die ſchuldige Huldi - gung verſagen. Er kan uns unmoͤglichfuͤr397fuͤr ſeine lieben Kinder achten, wenn wir ihn nicht fuͤr unſern Vater erkennen wol - len. Alles dieſes aber kan durch nichts anders geſchehen als durch denjenigen Glauben, von welchem wir oben geredet. Selbiger iſt die neue Huldigung, womit wir aus dem Reich der Finſterniß in das Reich GOttes wieder uͤbertreten. Die - jenigen betruͤgen ſich derowegen ſehr, wel - che ſich auf die Liebe GOttes verlaſſen, und ihn daher nur mit dem Munde bekennen, mit den Wercken aber verleugnen, GOtt und JEſum ihren HErrn nennen, aber der Herrſchafft unordentlicher Begierden unterworfen bleiben. So wenig die wei - ſeſte Liebe Finſterniß fuͤr Licht halten kan, ſo wenig kan ſie ſolche fuͤr treue Mitgenoſ - ſen ihres Reichs erklaͤren. Und weil es unmoͤglich, jemanden unter der Herrſchafft der Laſter gluͤcklich zu machen, ſo kan der HErr auch ſolche unmoͤglich zu einer ſeli - gen Ruhe erheben. Niemand halte de - rowegen die Liebe des HErrn fuͤr ſo un - weiſe, daß er ſelbiger durch einen todten Glauben gefallen koͤnne. Vor GOtt gilt kein Glaube, als der in der Liebe thaͤtig iſt. Nicht alle, die HErr HErr ſagen, kom -men398Matth. 7, 21.men ins Himmelreich, ſondern, die den Willen GOttes thun. So wenig nun die weiſeſte und heiligſte Liebe einen Glau - ben, der nicht in der Liebe thaͤtig iſt, an - nehmen kan, ſo wenig koͤnnen ihr auch die - jenigen gefallen, welche ſich ſo weit nicht erniedrigen wollen, daß ſie ihre Gerechtig - keit bloß in den Glauben ſuchen, ſondern in ihre Wercke, in ihre Tugenden ein groſ - ſes Verdienſt ſetzen und mit einer hoch -Matth. 7, 22. muͤthigen Mine ſprechen: Haben wir nicht viel Thaten gethan? Wir muͤſ - ſen das Bild dieſer hohen und ſtarcken Geiſter etwas genauer abſchildern. Es giebt Perſonen, welchen die oben beſchrie - bene Geſtalt der Glaͤubigen viel zu nieder - traͤchtig, zu kriechend iſt. Der Glaube, welchen wir oben beſchrieben, erkennet alle Tugenden, die wir ausuͤben, fuͤr hoͤchſt un - vollkommen. Er begreift, daß ſich noch viele Thorheiten und Schwachheiten bey ſelbigen finden, und ihnen die gehoͤrige Schoͤnheit benehmen. Er ſetzet derowe - gen ſeine Hoffnung nicht auf ſein Verdienſt, ſelbiges faͤllt gantz weg, ſondern ſein Ver - trauen gruͤndet er bloß auf die Gnade GOt - tes, die mit einem demuͤthigen Glauben willzufrie -399zufrieden ſeyn, und ſucht, in demſelben der wahren Vollkommenheit immer naͤher zu kommen. Die ſtarcken Geiſter aber, ſo wir nahmhafft gemacht haben, halten die - ſe Geſtalt fuͤr unanſtaͤndig, die ſich wenig - ſtens fuͤr ſie gantz und gar nicht ſchicke. Sie halten ihre Tugenden fuͤr ſo groß, daß ſie die groͤſſeſten Laſter bedecken, und auch ſo gar vor GOtt unſichtbar machen koͤn - nen. Eine gantz geringe Liebe iſt fuͤr das hoͤchſte Weſen ſchon genug. Und wenn ſie ſo viel die goͤttlichen Geſetze beobachten, als ihre unordentlichen Neigungen und der verderbte Geſchmack der Welt zulaͤſſet, ſo iſt dieſes ſchon ein groſſes Verdienſt. Wenn ſie des Morgens einige Stunden nuͤchtern ſind, ſo macht ſelbiges alle Unmaͤßigkeit gut, die vom Mittage bis in die ſpaͤteſte Nacht betrieben wird. Sie ſind vollkommen, oder wenigſtens gut genug. Einige ha - ben gar noch etwas uͤbrig. Sie ſind dero - wegen um die fernere Erleuchtung ihres Verſtandes und um die beſtaͤndige Beſſe - rung ihres Willens keinesweges bekuͤm - mert, ſondern bleiben in ihrem natuͤrlichen Verfall. Sie haben nicht das geringſte unangenehme Gefuͤhl von ihrer Unvoll -kommen -400kommenheit. Wenn andere mit einer ehr - erbietigen und demuͤthigen Mine ſprechen: Vergieb uns unſere Schuld, ſo legen ſie die eine Hand auf den Ruͤcken, die andere in die Weſte, und die Augen ſchweifen umher, damit ſie ja auch allen Verdacht meiden moͤgen, als haͤtten ſie einige Ehr - erbietung fuͤr das hoͤchſte Weſen und haͤt - ten noͤthig, ihre Unvollkommenheit zu er - kennen, und ſich vor GOtt zu demuͤthigen. Chriſtus iſt ihnen wenig oder gar nichts nuͤtze. Man uͤberlege mit einer unpar - theyiſchen und gelaſſenen Vernunft, ob dieſe Geſtalt ſolcher hohen Geiſter dem Weiſeſten gefallen koͤnne? Kan der Wei - ſeſte ſolche Perſonen fuͤr verſtaͤndig, und ih - re gantze Gemuͤths-Verfaſſung fuͤr ſchoͤn achten? Welches iſt denn wohl die groͤſſe - ſte Thorheit? Gewiß dieſe, wenn ſich der Thore fuͤr weiſe haͤlt. Und was verun - zieret wohl einen Geiſt am mehreſten? Ge - wiß dieſes, wenn er ſich bey einer groſſen Unvollkommenheit fuͤr vollkommen ſchaͤtzet, und bey einer groſſen Heßlichkeit uͤber ſei - ne vermeynte Schoͤnheit aufgeblaſen iſt. Nichts kan die Augen eines Weiſen mehr beleidigen, als ein ſolcher Menſch. Wernoch401noch groſſe Unvollkommenheiten an ſich hat, wird in einer Geſellſchafft von weiſen Gei - ſtern durch nichts leidlich, als dadurch, daß er ſeine Unvollkommenheit in Demuth er - kennet, um eine geneigte Nachſicht anhaͤlt, und eine beſtaͤndige Begierde, vollkomme - ner zu werden, blicken laͤſſet. So lange wir, wir unvollkommene Menſchen, dieſe Geſtalt nicht annehmen, ſo lange bleiben wir unleidliche Thoren vor GOtt, und un - ertraͤglich den vollkommenen Geiſtern des Himmels. Bewundert derowegen die weiſe und heilige Liebe GOttes, die ſich durch die Forderung eines lebendigen Glaubens offenbaret. Bemercket auch zugleich, was fuͤr eine weiſe Verbindung in den goͤttlichen Ordnungen und in den Lehren, ſo uns GOtt in ſeinem Wort kund gemacht.

Darum, o Menſchen, die ihr euch Chri - ſten nennet, und euch ruͤhmet, daß ihr GOtt angehoͤret, und von ſeiner Liebe ein ewiges Gluͤck hoffet, erkennet eure Thorheit, die ihr begehet, wenn ihr auf einem andern Wege zur Ruhe kommen wollet, als der HErr euch gezeiget hat, und wenn ihr ihmJacobi Betr. 2. Band. C cin402in einer andern Geſtalt gefallen wollet, als er beſtimmet hat. Damit eure Thorheit deſto deutlicher werde, ſo will ich noch zei - gen, wie eure Urtheile mit ſich ſelber ſtrei - ten, und wie ihr euch ſelber verdammet. Jhr duldet keinen von den liederlichen Knechten, die nur Herr, Herr, ſagen, uͤbrigens aber nach dem Willen des Herrn nichts fragen, ſondern thun, was ihnen ge - luͤſtet. Jhr achtet einen ſolchen eurer Liebe gantz unwuͤrdig. Was ſind aber diejeni - gen anders als ſolche Knechte, die durch ei - nen todten Glauben vor GOtt gerecht und Buͤrger ſeines Reichs werden wollen? Schlieſſet ſie daher nicht ihr eignes Urtheil von dem Reiche GOttes aus? Jhr werdet ferner ſolche Knechte unfaͤhig halten, lange in eurem Dienſte zu behalten, die allerhand Unfug in eurem Hauſe anrichten und ſelbi - ges immer in die groͤſſeſte Verwirrung ſe - tzen, zu Zeiten aber ſich zu euren Fuͤſſen wer - fen, auf eure Guͤte ſich berufen, und Ver - zeihung ſuchen, aber nur in der Abſicht, daß ſie ihre boͤſen Tuͤcke moͤgen ferner unge - ſcheuet fortſetzen koͤnnen. Sind aber die - jenigen nicht eben ſolche Knechte, welche in dem groſſen Hauſe GOttes allerhand Un -gerech -403gerechtigkeit und Laſter ausuͤben, und ſich hernach mit einem demuͤthigen Gebet vor GOtt niederwerfen und Gnade, Gnade rufen? Dieſes alles aber in der Abſicht thun, daß ſie deſto dreiſter fortfahren moͤgen, das Haus GOttes mit ihrem ungerechten, ſuͤndlichen Weſen zu belaͤſtigen. Macht ſie nicht ihr eigen Urtheil zu unnuͤtzen und verworfenen Knechten? Es ſind euch fer - ner diejenigen Hausgenoſſen gantz und gar unleidlich, welche bey einer groſſen Unge - ſchicklichkeit glauben, daß ſie beſondere Vorzuͤge vor andern haben, und euch im - mer vorhalten, wie geſchickt ſie ſind, und wie ſehr verdient ſie ſich um euch machen, anbey keinen Unterricht annehmen und ſich fuͤr unverbeſſerlich halten. Es iſt euch ein ſolcher Thor gantz unertraͤglich. Sind aber diejenigen beſſer? welche von ſich ſel - ber halten, daß ſie alle noͤthige Tugenden im hohen Grade beſitzen, mit ihrer Gerechtig - keit prangen, ſich fuͤr unverbeſſerlich achten und dafuͤr halten, es ſey zu niedertraͤchtig fuͤr ſie als ſehr vollkommene Menſchen in einer wahren Ernidrigung vor GOtt zu kommen, Gnade zu ſuchen und ſelbige zu einer beſtaͤndigen Verbeſſerung ihrer See -C c 2le404le anzuwenden. Wird GOtt ein anders als ihr eigen Urtheil noͤthig haben, um ſie fuͤr unfaͤhig zu erklaͤren, Glieder jener wei - ſen, heiligen und ſeligen Geſellſchafft zu werden? Oder meinet man, daß ein ſterb - licher Menſch Recht habe, mehr Vollkom - menheit, mehr Beſcheidenheit und mehr Ehrerbietung von ſeines gleichen zu fordern, als der hoͤchſte GOtt von uns ſeinen Ge - ſchoͤpfen fordern kan? O Seelen, bey wel - chen noch Vernunft und Ueberlegung iſt! laſſet uns dieſes recht uͤberdencken. Laſſet uns dieſe Gruͤnde, die ſo deutlich ſind, ſo lang erwegen, daß ſie ſich recht feſt in uns ſetzen und die Kraft bekommen, eine Thor - heit zu beſiegen, welche ſich durch den Um - gang mit der heutigen Welt gar leicht bey uns einſchleicht, und eine groſſe Gewalt uͤber uns bekommt. Wer ſich viel unter den Kindern der heutigen Welt aufhaͤlt, ihre leichtſinnigen und frohen Urtheile und ihre Geſpoͤtte uͤber das, was zu einer wah - ren Religion gehoͤret, und ihr Gelaͤchter uͤber die eifrigen Verehrer derſelben oͤffters anhoͤret, der wird nach und nach in die Ver - faſſung kommen, daß er ſich der Religion, wenigſtens eines wahren Eifers in derſel -ben405ben und einer billigen Ehrerbietung gegen die hoͤchſte Majeſtaͤt ſchaͤmet. Es gewin - net dieſe Schamhaftigkeit unvermerckt eine ſolche Staͤrcke, ich weiß, was ich ſage, daß, wenn wir auch gantz allein ſind, wir einen innern Widerſtand fuͤhlen, die Gnade GOttes mit einer ſolchen Erniedrigung zu erbitten, mit welcher wir die Gnade einer ſterblichen Gottheit oͤffentlich zu ſuchen fuͤr eine Ehre halten. Beſonders iſt der Na - me desjenigen, welcher durch ſeinen Tod ausgerichtet, daß die weiſeſte Heiligkeit des oberſten Beherrſchers uns Unſelige hat be - gnadigen koͤnnen, der angenehme Name deſſelben, wird nach dem Geſchmack der heutigen Klugen dieſer Welt ſo eckelhafft, daß ſie ihn nicht wohl mehr nennen, noch vielweniger ſich ſeiner ruͤhmen koͤnnen. Der haͤufige Umgang mit ſolchen macht uns eben ſo. O groſſer Verfall der heuti - gen Religion! Laſſet uns dieſer ſchaͤndli - chen Thorheit obige Gruͤnde entgegen ſe - tzen, damit wir in einer tiefen und glaͤubi -C c 3gen406gen Erniedrigung vor GOtt und in dem Ruhme unſers Erloͤſers die beſte Schoͤn - heit unſerer Seele ſuchen. Laſſet uns ab - legen den hohen Geſchmack der heutigen Zeiten. Laſſet uns verachten den Ruhm, daß die Welt uns unter die ſtarcken Gei - ſter zaͤhlet. Wird Chriſtus anders wie - der kommen, zu richten die Lebendigen und die Todten, wie er denn ſo wahrhaftig wie - der kommen wird, als er von dem Tode auferſtanden und gen Himmel gefahren, gewiß er wird ſolche ſtarcke und hochmuͤ - thige Geiſter nicht fuͤr die Seinen erkennen. Marc. 8, 38.Die ſich ſeiner geſchaͤmet, die wird er ſeiner auch nicht werth achten. O theuer erkauf - te Seele! nimm deiner ſelbſt wahr unter dem hochmuͤthigen Geſchlechte. Stelle dich nicht dieſer Welt gleich. Laß dich ihr Urtheil nicht einnehmen, huͤte dich fuͤr der ſchaͤndlichen Thorheit, daß du dich deſ - ſen ſchaͤmeſt, der dich erſchaffen, erloͤſet und geheiliget hat. Erkenne deine Bloͤſſe. Wirf dich nieder vor der unendlichen Ma -jeſtaͤt,407jeſtaͤt, vor welcher der Himmel ſich bewegt, und die Erde zittert. Demuͤthige dich vor dem, vor welchem ſich noch beugen ſollen alle Kniee, die im Himmel und auf Erden und unter der Erden ſind. Ehre den groſ - ſen Richter der Lebendigen und der Todten, der wird dich wieder ehren. Ach! wann kommen doch die ſeligen Zeiten, die uns zum voͤlligen Genuß der Liebe GOttes bringen? Wann kommt die Stunde, die uns zur Herrlichkeit JEſu hinruͤcket? Wann kom - men wir zu euch, vollkommene Geiſter, wo man GOtt und den Heyland ehret, ohne ge - hoͤnet zu werden? Ach! wie lange ſollen wir noch wallen unter dem Geſchlecht, wel - chem eine demuͤthige Verehrung der hoͤch - ſten Majeſtaͤt und deſſen, der zur Rechten der Kraft ſitzet, eine kriechende Einfalt iſt? Eilet, eilet ihr Tage, die uns hier noch be - ſtimmet ſind, ehe wir zur Vollkommenheit gelangen. Jndeſſen ſoll auch hier unſerC c 4Mund408Mund nicht ſchweigen, ſondern mit allen Glaͤubigen ausrufen: Lob und Ehre und Preis und Gewalt ſey GOtt und dem Lamme von Ewigkeit zu Ewigkeit!

Dritte[409]

Dritte Rede uͤber Luc. 10, 23. 24. Von der Gluͤckſeligkeit, die ein wahres Chriſtenthum in die - ſem Leben giebt.

WIr wollen, meine Freunde, anjetzt eine Wahrheit behaupten, die ſehr wichtig, und deren Erkaͤnt - niß ſehr heilſam iſt, welche aber nicht einem jeden ſo gleich in die Augen faͤllet, noch von uns allezeit gehoͤrig erwogen wird. Sie iſt dieſe: Ein aufrichtiges Chriſtenthum macht uns nicht nur nach dem Tode gluͤcklich, ſondern bringet uns auch ſchon zu dem vornehmſten und groͤſten Theil derjenigen Gluͤckſeligkeit, die in dieſem Leben zu erreichen iſt. Wir wollen zeigen, daß dieſe untere Welt nichts hat, welches ſo viel frohe Stunden und ein ſo empfindliches und recht entzuͤckendes Vergnuͤgen geben koͤnne, als wahre Gott -C c 5ſelig -410ſeligkeit. Augen, welche von den unor - dentlichen Luͤſten dieſes Lebens umnebelt ſind, ſehen das Angenehme des Chriſten - thums nicht. Sie erblicken ſolches in ei - ner duͤſtern, betruͤbten und widrigen Ge - ſtalt. Sie fuͤrchten und fliehen daſſelbe. Sie glauben, ein wahrer Chriſte koͤnne nie mit einer heitern Stirn und froͤlichem Mu - the erſcheinen. Sie meinen, ſein Haupt muͤſte immer gebuͤckt und die Bruſt be - klemmt ſeyn, und es beraube bey nahe aller Vergnuͤgungen dieſes Lebens. Dieſen Jrrthum, welcher ſo viele Menſchen von der Gluͤckſeligkeit abſchrecket, werden wir ſuchen zu beſtreiten. Wir wollen uns be - muͤhen, das Angenehme des Chriſtenthums zu zeigen und zu beweiſen, daß kein irrdi - ſches Gut ein ſolches Vergnuͤgen gebe, als das Chriſtenthum ſeinen wahren Vereh - rern auch ſchon in dieſem Leben gewaͤret. Unſer Wunſch iſt, daß hiedurch viele, wel - che bisher wahre Gottſeligkeit geſcheuet, dieſelbe lieb gewinnen, ein jeder aber unter uns ermuntert werden moͤge, einen eifrigen Nachfolger JEſu abzugeben. Bittet mit mir den Hoͤchſten, daß er dieſen Wunſch er - fuͤllen wolle.

Text. 411

Text. Luc. 10, 23. 24.

Und er wandte ſich zu ſeinen Juͤngern und ſprach inſonder - heit: Selig ſind die Augen, die da ſehen, das ihr ſehet. Dann ich ſage euch: Viel Propheten und Koͤnige wollen ſehen, das ihr ſehet, und habens nicht geſe - hen, und hoͤren, das ihr hoͤret, und habens nicht gehoͤret.

Der Heiland, meine Freunde, ſchaͤtzet ſeine Juͤnger in dem verleſenen Text ſelig. Ja er eignet ihnen ein groͤſſer Gluͤck zu, als den Koͤnigen und Propheten altes Bundes. Und zwar redet er von einem gegenwaͤrti - gen Gluͤcke. Er preiſet diejenigen ſelig, welche doch beſtimmt waren, dem Reiche der Finſterniß den Krieg anzukuͤndigen und mit dem Aberglauben und den Laſtern der Welt zu ſtreiten. Und was heiſſet dieſes? Nichts anders, als den Haß der Welt ſich zuziehen, die maͤchtigſten Kinder der Fin - ſterniß wider ſich in eine raſende Wuth bringen, giftige Zungen, rauhe Faͤuſte, Pech, Feuer, und Schwerdt wider ſich in hefftige Bewegung ſetzen. Hiezu hattedie412die goͤttliche Vorſehung die von Geburth her unangeſehene und arme Juͤnger auser - kohren. Sind dieſe nun in dieſer Welt ſchon ſelig zu achten? Kan deren Gluͤck mit den Cronen der maͤchtigſten Koͤnige und mit dem Anſehen groſſer Propheten vergli - chen werden? Der Heiland thut dieſes, und wir wiſſen, daß ſein Mund nicht truͤget. Worein ſetzet er aber dieſes ſo ſonderbare Gluͤck? Darein, daß ſie die Zeiten des Meßias ſehen. Selig ſind die Augen, die da ſehen, das ihr ſehet. Es iſt un - noͤthig weitlaͤuftig zu erinnern, daß hier von keinem bloſſen leiblichen Sehen der Per - ſon und der Wunder des Heilandes die Rede ſey, ſondern von einem ſolchen Sehen, welches den Verſtand aufklaͤret, den Wil - len heiliget, und die Seele mit einem recht - ſchaffenen Weſen in Chriſto belebet. An - ders waͤren auch die Phariſaͤer ſelig zu nen - nen geweſen, welches der Heiland nie ge - than. Er hat vielmehr ein fuͤrchterliches Weh uͤber ſie ausgerufen. Was giebt aber den Juͤngern des HErrn dieſes Sehen fuͤr einen Vorzug vor den gottſeligen Vaͤ - tern, Koͤnigen und Propheten, welche den Tag des Heilandes nur zum Voraus imGeiſte413Geiſte geſehen? Dieſes iſt der wichtige Vorzug. Sie empfiengen wuͤrcklich die Verheiſſung, womit alle uͤbrige Verſpre - chungen GOttes an ſein Volck verknuͤpft waren, und ſahen alſo mit der groͤſten Ge - wißheit, daß alle Verheiſſungen GOttes Ja und Amen waͤren. Die Hoffnung der Vaͤter altes Bundes ſtund aͤuſſerlichem Anſehen nach oͤffters in der groͤſten Gefahr, und ſie kamen zu Zeiten in ſolche Stunden, die da ſchienen alle Verheiſſungen GOttes auf einmal zu zernichten. Die gaͤntzliche Ausrottung des Volckes, durch deſſen Saa - men der Aberglaube beſiegt, die heidniſchen Altaͤre zerbrochen, die falſchen Goͤtter um - geſtuͤrtzt, die Laſter beſtritten, die Welt mit Erkaͤnntniß des wahren GOttes erleuchtet, und die Voͤlcker auf ewig geſegnet werden ſollten, die Ausrottung dieſes Volckes, ſa - ge ich, wurde mehr als einmal von den Hei - den beſchloſſen und die Schwerdter gewe - tzet, die ihnen das Garaus machen ſollten. Der Meßias verzog und die Heiden beſpot - teten die Verheiſſungen des GOttes Zions. Urtheilet, wie viel erfordert worden, in ſol - chen Stunden nicht zu wancken und zu den - cken? Der HErr hat uns verlaſſen, derHErr414HErr hat unſer vergeſſen, es iſt aus mit un - ſerer Hoffnung. Die Juͤnger aber ſahen nun den, welcher dem Uebertreten weh - ren, die Suͤnde zuſiegeln, die Miſſethat verſoͤhnen und die ewige Gerechtigkeit bringen ſollte. Der Grund der Hoͤllen bebte nunmehr wuͤrcklich, und die Geiſter der Finſterniß flohen. Der Tod wich, und Leiber giengen aus der Verweſung, zum gewiſſen Zeichen des, was nach dieſem geſchehen ſoll. Dieſes ſahen ſie mit einer glaͤubigen Verwunderung, und wurden da - durch bewogen Chriſtum und ſeine Lehre mit einer voͤlligen Gewißheit anzunehmen, und eine ſelige Ewigkeit zu hoffen. Die - ſes iſt der Grund der Gluͤckſeligkeit, die JE - ſus ſeinen Juͤngern zueignet. Uns, treue Bruͤder Chriſti, gehet ſelbige auch an. Wir ſehen auch, was die Juͤnger ſahen, in den ſicherſten Zeugniſſen. Ja wir ſehen noch mehr als ſie. Wir ſehen das Evan - gelium ausgebreitet und daſelbſt Tempel Chriſti, wo ſonſten Tempel der Goͤtzen ſtun - den. Das Feuer, das Schwerdt und die Wuth der Heiden drohet dem Volcke GOttes den Untergang nicht mehr. Es herrſchet uͤber die maͤchtigſten Reiche. Wir415Wir ſehen alſo die groͤſten Verheiſſungen GOttes erfuͤllet, und wer kan an der ge - wiſſen Erfuͤllung der uͤbrigen nunmehr zweifeln? da der HErr ſeine Treu durch ſo viele und merckliche Proben bewieſen. Wohl derowegen allen treuen Juͤngern JEſu, denn ſie haben Antheil an den Ver - heiſſungen GOttes. Jhr Chriſtenthum macht ſie hier und dort ewiglich gluͤcklich. Auch hier gilt von ihnen: Selig ſind die Augen, die da ſehen, was ſie ſehen. Der Werth ihres Gluͤckes uͤberſteigt den Werth der maͤchtigſten Cronen. Viele geben die - ſes mit dem Munde zu, aber ihr Hertz wi - derſtehet und hat keine Ueberzeugung. Der Beweis hievon ſoll derowegen das Ziel unſerer fernern Rede ſeyn. Wir wol - len ſuchen deutlich zu machen,

Daß ein wahres Chriſtenthum auch unſerer zeitlichen Gluͤckſe - ligkeit den groͤſten Vorzug gebe, den ein Menſch vor dem an - dern erreichen kan.

Dieſes zu beweiſen, zeigen wir

I. Wie416
  • I. Wie weit die irrdiſchen Dinge die zeitliche Gluͤckſeligkeit des einen Menſchen vor dem an - dern erhoͤhen.
  • II. Wie weit ſelbige durch ein wahres Chriſtenthum erhoͤhet werde.

Wir beweiſen, daß unſere zeitliche Gluͤckſeligkeit nichts ſo ſehr erhoͤhe, als wahre Gottſeligkeit. Soll dieſer Be - weis recht uͤberzeugend werden, ſo muͤſſen wir zuerſt beſtimmen, wie hoch unſere Gluͤckſeligkeit uͤber das Gluͤck anderer durch die vergaͤnglichen Guͤter als Reichthuͤmer, hohe Ehrenſtellen und dergleichen, koͤnne ge - trieben werden. Wir muͤſſen hiebey vor - her erinnern, worinne unſer Gluͤck eigent - lich beſtehe. Derjenige ſchaͤtzet ſich gluͤck - ſelig, der allerhand Vergnuͤgen genieſſen kan, und derjenige achtet ſich gluͤcklicher als der andere, der ſich mehr beluſtigen kan als jener. Und ein jeder nennet ſich in ſo weit ungluͤcklich, als er dieſer und anderer Be - quemlichkeit und Beluſtigung nicht kan theilhafftig werden. Wir werden gar leicht einſehen, daß wir unſer gantzes Gluͤckin417in das Vergnuͤgen gewiſſer Beluſtigun - gen ſetzen, wenn wir Folgendes recht uͤber - dencken. Wir ſuchen Geld und Ehre, und nennen uns gluͤcklich, wenn unſer Vor - rath groß iſt, und wir uͤber einen groſſen Theil unſerer Bruͤder erhaben ſind. Jn was fuͤr Abſicht aber wuͤnſchen wir dieſe Dinge. Das Ziel derſelben iſt unſer Ver - gnuͤgen. Wir werden nichts wuͤnſchen, nichts ſuchen, welches nicht faͤhig iſt, uns auf gewiſſe Art zu beluſtigen, und wenig - ſtens unſerer Meynung nach, das Mißver - gnuͤgen abzuwenden. Es iſt derowegen gewiß, unſere Gluͤckſeligkeit laͤſſet ſich ab - meſſen nach dem Vergnuͤgen, ſo jemand genieſſet. Derjenige iſt gluͤckſeliger, der mehr Vergnuͤgungen hat, und derjenige hat das beſte Gluͤck, welcher der groͤſten und dauerhafteſten Freude theilhaftig iſt. Nun laſſet uns unterſuchen, wie ſehr die vergaͤnglichen Guͤter dieſes Lebens die zeit - liche Gluͤckſeligkeit des einen Menſchen vor dem andern erheben koͤnnen. Jſt es moͤg - lich, durch ein geziemendes Bitten bey euch, meine Bruͤder, etwas zu erhalten, ſo fol - get unſerm Vortrage mit einer uͤberlegen - den Aufmerckſamkeit, ihr werdet finden,Jacobi Betr. 2. Band. D dwie418wie gering der Vorzug an Vergnuͤgen, welchen Geld, Ehre und dergleichen geben, wenn man ſelbige ohne Chriſtenthum und ohne Tugend beſitzet. Richtet eure Auf - merckſamkeit auf einige von denen Men - ſchen, welche die Welt recht gluͤcklich nen - net. Stellet neben dieſelben ſolche, die im niedrigen Stande leben, arm ſind, und im Schweiß ihres Angeſichts ihr Brod eſſen. Betrachtet aber beyde ohne die Vortheile, welche ein wahres Chriſtenthum giebet, und bemercket genau, wie viel jene vor dieſen zum Voraus haben. Jhr werdet wahrnehmen, daß es ſehr wenig ſey. Nie - mand aber dencke hiebey, daß wir den Rei - chen und Hohen dieſer Erden alle Vorzuͤ - ge abſprechen wollen. Denn dieſes hieſſe nichts anders, als Wohlthaten GOttes verdunckeln, verachten, und diejenigen, welche ſolche beſitzen, von der ſchuldigen Danckbarkeit gegen die Guͤte des HErrn ableiten. Dergleichen ſey ferne von uns. Dieſes wollen wir nur behaupten, daß die Vorzuͤge, welche die Guͤter dieſes Lebens geben, geringe ſeyn gegen diejenigen Din - ge, welche Hohen und Niedrigen gemein ſind. Wir beweiſen dieſes mit folgendenGruͤn -419Gruͤnden. Jn den groͤſten und angenehm - ſten Vergnuͤgen, ſo aus irdiſchen Dingen entſtehen, hat ſie die Guͤte des HErrn gleich gemacht. Die aller angenehmſten und mehreſten Beluſtigungen giebt bey ei - nem geſunden Verſtande das Geſicht, das Gehoͤr und die Sprache. Wir doͤrfen dieſes auszumachen weiter nichts thun, als dieſe Frage an euch, geliebte Bruͤder, er - gehen laſſen, ob wohl jemand unter uns ſeinen Verſtand, Geſicht, Gehoͤr und Spra - che fuͤr aller Welt Schaͤtze laſſen wollte? Ein Koͤnig wird lieber ſeine Crone verlie - ren und ſein Scepter einem andern geben, als jene Geſchencke des Schoͤpfers fahren laſſen. Dieſe edlen Geſchencke aber ſind Hohen und Niedrigen gleich gemein. Nie - mand ſetze mir entgegen: die Reichen und Hohen dieſer Welt koͤnnten ihr Geſicht und Gehoͤr mit weit angenehmern Dingen wei - den als ein Geringer. Die angenehmſten Ruͤhrungen dieſer Sinne ſind gleichfalls ge - mein. Ueberlegt abermahls, welcher Em - pfindungen die Gluͤcklichen dieſer Erden am liebſten wuͤrden beraubt ſeyn. Wuͤr - de wohl jemand ſein Auge lieber in ein koſtbar Zimmer einſchlieſſen laſſen, daſſel -D d 2be420be an dem Schimmer des Goldes weiden, und abſagen, nie den Anblick eines be - bluͤhmten Raſen, eines gruͤnen Feldes, be - laubten Waldes, und des blauen Him - mels zu genieſſen? Oder wuͤrde ein ſolcher ſich lieber an dieſen letztern Schoͤnheiten vergnuͤgen, und es leichter verſchmertzen, wenn der Glantz kuͤnſtlich und praͤchtig be - kleideter Waͤnde nie ſein Auge beruͤhrte? Wuͤrde ferner ein ſolcher lieber den ange - nehmen Unterredungen, deren auch ein Ge - meiner theilhaftig wird, abſagen, und ſein Ohr nur mit den kuͤnſtlich gemiſchten Toͤ - nen der Saiten und Pfeifen beluſtigen, oder wird er dieſes letztere lieber fahren laſ - ſen, und das erſtere behalten? Eben ſo verhaͤlt es ſich mit den Vergnuͤgungen des Geſchmacks. Die angenehmſten ſind ge - mein. Wie ſehr lieben nicht auch die Gluͤcklichſten den Geſchmack des Brodtes, der gruͤnen Kraͤuter und Fruͤchte, und iſt das Saltz nicht auch dieſer ihr beſtes Ge - wuͤrtz? Werden ſie nicht lieber die Spei - ſen, die ſie vor andern zum Voraus haben, fahren laſſen, als diejenigen Dinge, wel - che auch die Niedrigen und Armen ernaͤh - ren? Und ſollte mancher nicht eher denWein,421Wein, als das Waſſer und andere Ge - traͤncke niedriger Perſonen entbehren! Laſ - ſet euch dieſes wenige anleiten, durch wei - teres Nachſinnen zu begreifen, wie dieje - nigen Dinge, die das angenehmſte und empfindlichſte Vergnuͤgen geben, gemein ſind, und wie diejenigen Stuͤcke, welche die ſogenanten Gluͤcklichen zum Voraus ha - ben, gegen das, was gemein iſt, geringe Kleinigkeiten ſind. Nehmet die gemeinen Vergnuͤgungen des Geſichts, Gehoͤrs, der Sprache, des Geſchmacks und Gefuͤhls hinweg. Beraubt die Hohen und Reichen des Sonnen-Lichtes, der freyen Luft, des Anblicks des Himmels und der angeneh - men Auen auf der Erde. Nehmt ihnen Brod, Waſſer, gemein Getraͤncke, friſche Kraͤuter, Wurtzeln und Fruͤchte. Nehmt ihnen Saltz, Milch und was ein Gemeiner hat. Laſſet ihnen dargegen die koſtbaren Pallaͤſte und die kuͤnſtlichen Erleuchtungen derſelben. Laſſet dem Geſchmack den Wein und das beſondere Fleiſch, ſo der Wald und das Waſſer giebt. Laſſet dem Gehoͤr bloß die kuͤnſtlichen Bewegungen der Sayten. Laſſet ihnen die guͤldenen und ſilbern Gefaͤſſe und die koſtbareſtenD d 3Klei -422Kleidungen. Laſſet ihnen alles, was ſie vor dem groͤſten Haufen zum Voraus ha - ben: Wird ſie alsdenn auch jemand gluͤck - lich ſchaͤtzen? Und werden ſie ſelber glau - ben, daß ihr Gluͤck das Gluͤck der Gemei - nen uͤberſteige? O ihr geliebten Seelen, bey welchen Vernunft und Ueberlegung wohnet, ſagt anjetzt, haben wir Niedrigen Urſach das zeitliche Gluͤck der Hohen, ſo ſie vor uns zum Voraus haben, zu benei - den? Hat uns der HErr nicht in den wich - tigſten Stuͤcken einander gleich gemacht? Thun wir recht, wenn wir gedencken, die Hohen und Reichen dieſer Erden haben al - lein Urſach den HErrn zu preiſen? wir aber haben nur wenig empfangen, und koͤn - nen uns keines Gluͤcks ruͤhmen. Neh - men wir uns in dieſem Gedancken nicht vor, GOtt fuͤr das Vornehmſte nicht zu dancken, weil wir das Geringere nicht em - pfangen? Wir haben zeither von einigen Arten der Vergnuͤgungen geredet, und ge - wieſen, wie die angenehmſten Vornehmen und Geringen gemein ſind. Wir kom - men auf die Vielheit der vergnuͤgten Stun - den. Auch hier wird es ſich finden, daß die Schaͤtze der Erden den Hohen und Rei -chen423chen keinen gar groſſen Vorzug vor den Uebrigen geben. Lernet nur dieſe Stun - den recht zaͤhlen. Von einer groſſen An - zahl koͤnnen wir beweiſen, daß ſie von Ho - hen und Niedrigen auf gleiche Art hinge - bracht werden. Jn den erſten funfzehn Jahren unſers Lebens iſt das Kind eines Armen ſo vergnuͤgt, als der Printz eines groſſen Koͤniges. Noch mehr als der vierte Theil des noch uͤbrigen Lebens iſt ebenfalls bey Hohen und Niedrigen gleich, ſelbiger wird mit Schlaffen hingebracht. Und koͤnnte man den Reſt der uͤbrigen Stunden, welche Reiche und Arme ver - gnuͤgt zuruͤck legen, zaͤhlen, ſo wuͤrde man dieſe Anzahl bey den Geringern oft groͤſſer finden, als bey denen, die man vor ihnen gluͤcklich nennet. Gebet acht in der Welt, ihr werdet wahrnehmen, daß mannigmahl ein Knecht mehr Stunden froͤlich iſt, als ſein Herr. Gehet hin bey diejenigen, wel - che den Aeckern ihren Schweiß opffern, da - mit ihnen ſelbige ihre Fruͤchte geben; fin - det man ſie nie froͤlich? Bewundert die - jenige Weisheit, welche auch dieſe Arm - ſeligen weiß zu erfreuen. Diejenigen Din - ge aber, welche das menſchliche GemuͤthD d 4beun -424beunruhigen, ſind ebenfalls Reichen und Armen groͤſten Theils gemein. Kranck - heiten und Schmertzen ſchleichen ſich auch unter den Purpur, und der Tod uͤbergiebt auch gecroͤnte Haͤupter der Verweſung. Und ſind die Niedrigen und Armen mit gewiſſen Sorgen beſchwehrt, welche einen Hohen nicht drucken, ſo aͤngſtiget dieſe wieder ein ander Kummer, davon jene nichts wiſſen. Weinet dieſer, daß ſeine Nahrung ſchlecht, und er ſeinen hungrigen Kindern das Brod ſparſam zutheilen muß, ſo iſt jener unruhig, ſchaͤumet und raſet, daß ein Betruͤger einen Theil ſeines Vor - raths durchgebracht, oder ein ander ihm1. B. der Koͤn. 19. vorgezogen worden. Muß ein armer Elias fliehen und mit Waſſer und Brod vorlieb nehmen, ſo liegt Ahab voller Unmuth auf1. B. der Koͤn. 21. dem Bette und findet auch keinen Ge - ſchmack an Koͤniglichen Gerichten, da ihm Naboth ſeinen Weinberg verſagt. Die Anzahl der vergnuͤgten Stunden macht folglich auch keinen ſonderlichen Unterſchied unter der Gluͤckſeligkeit eines Hohen und eines Niedrigen. Wird man dieſe und dergleichen Gruͤnde genau uͤberlegen, ſo wird man finden, daß Geld, Ehre und der -gleichen425gleichen einen nicht gar groſſen Unterſcheid unter der Gluͤckſeligkeit der Menſchen-Kin - der machen. Es iſt wahr, ſie erhoͤhen in etwas das zeitliche Gluͤck dieſes und jenes Menſchen; es iſt aber der Vortheil, wel - chen ſie ſchaffen, gering gegen diejenigen Dinge, die gemein ſind, und wir werden nun auch zeigen koͤnnen, daß er gering ſey gegen diejenigen Vortheile, die ein wah - res Chriſtenthum auch ſo gar in dieſem Le - ben giebt.

Wir zeigen derowegen zweytens, wie ſehr ein wahres Chriſtenthum unſere zeit - liche Gluͤckſeligkeit erhoͤhe. Die Zeit lei - det aber nicht den voͤlligen Gewinn der Gottſeligkeit in dieſer Welt vor Augen zu legen. Er iſt groͤſſer, als daß er ſich in einer kurtzen Zeit beſchreiben lieſſe. Jch will derowegen nicht ausfuͤhren, wie das Chriſtenthum uns arbeitſam, ſparſam, leutſelig und treu gegen andere Menſchen, folglich zu einem guten Gewerbe recht ge - ſchickt mache. Jch will nicht weitlaͤuf - tig darthun, wie uns ferner das Chri - ſtenthum vom uͤbermaͤßigen Pracht und Verſchwendung abhalte und uns ordent -D d 5licher426licher Weiſe fuͤr gar zu groſſer Armuth bewahre. Jch will auch nicht zeigen, wie das Chriſtenthum unſere heftige Gemuͤths - Bewegungen, die ein Gift des Leibes ſind, maͤßige, und dadurch unſere Jahre verlaͤngere. Jch uͤbergehe auch mit Still - ſchweigen, wie das Chriſtenthum uns geſchickt mache der Guͤter dieſes Lebens recht mit Vergnuͤgen zu genieſſen, wel - ches viele wegen ihrer unordentlichen Ge - muͤths-Verfaſſung nicht koͤnnen, welchen doch die Guͤte des HErrn viel zugetheilet. Alle dieſe groſſen Vortheile uͤbergehen wir, und bleiben bloß ſtehen bey der Zufrie - denheit der Seele in GOtt, und bey der Hoffnung eines nie aufhoͤrenden und hoͤchſt gluͤcklichen Lebens, ſo ein wahres Chri - ſtenthum giebet. Das Chriſtenthum ſe - tzet ſeine echten Verehrer in die ſeligſte Ruhe des Gemuͤths. Es zeiget ihnen GOtt, als den treueſten und liebreichſten Vater, der mit der zaͤrtlichſten Liebe fuͤr ſeine Kinder ſorget. Sie erblicken auch in ſeinen Zuͤchtigungen eine liebreiche Va - ter-Hand, und ſind gewiß, daß denen, dieRoͤm. 8, 28. GOtt lieben, alle Dinge zum Beſtendienen. 427dienen. Preſſen ihnen dieſe und jene Schickſale gleich Thraͤnen aus, ſo fuͤhlt doch das Hertz eine Liebe und Zutrauen zu ſeinem GOtt. Sie werſen ſich dem zur Heilung in den Schooß, der die Wun - de geſchlagen. Sie werden ſtille, und hoͤren die Stimme: Jch will dich nichtHebr. 13, 5. verlaſſen noch verſaͤumen. Jſt nicht Ephraim mein theurer Sohn undJer. 31, 20. mein trautes Kind? Denn ich geden - cke noch wohl daran, was ich ihm ge - redt habe; darum bricht mir mein Hertz gegen ihn, daß ich mich ſein er - barmen muß. Sie faſſen dieſes mit ei - ner Empfindung, in welcher noch Kummer und Zufriedenheit mit einander ſtreiten, welcher Streit aber endlich zu einer ſuͤſ - ſen Ruhe gedeyet. Kein Geld, keine Eh - re vermag eine ſolche Zufriedenheit zu ge - ben. Noch mehr aber erhoͤhet unſere zeit - liche Gluͤckſeligkeit die Hoffnung eines nie auf hoͤrenden und hoͤchſt ſeligen Lebens. Keine Begierde iſt bey dem Menſchen or - dentlicher Weiſe ſtaͤrcker als die Begierde zum Leben, und nichts haͤlt ein Menſch hoͤher als ſein Daſeyn. Haut fuͤr Haut,und428und alles, was ein Mann hat, laͤſſet er fuͤr ſein Leben. Nichts iſt derowegen auch empfindlicher als die Furcht wieder zu ver - gehen, und hergegen nichts angenehmer als die Gewißheit ewig zu ſeyn. Dieſe uͤbertrifft alles Vergnuͤgen, welches Geld und Ehre giebet. Ja ohne dieſe Hoff - nung werden uns alle zeitliche Schaͤtze zu - letzt das empfindlichſte Mißvergnuͤgen er - wecken. Denn je mehr jemand, der ohne Hoffnung einer ſeligen Ewigkeit iſt, hat, deſto mehr Schmertz und Kummer wird ihm ein kurtzer Beſitz deſſelben ver - urſachen. Was wuͤrde mancher nicht einem Artzte geben, der ihm die Gewiß - heit in einer hoͤchſt gefaͤhrlichen und toͤdt - lichen Kranckheit verſchaffte, er wuͤrde nicht ſterben, ſondern noch viele Jahre leben. Sollte nicht mancher Koͤnig fuͤr die Erlaubniß, nur noch zehn Jahr zu le - ben, ſeine Crone einem andern uͤberlaſſen? Erkennet, was fuͤr ein Guth die gewiſſe Hoffnung einer ſeligen Ewigkeit ſey. Eine ſo ſelige Hoffnung aber ſetzet das Chri - ſtenthum in ſeinen wahren Verehrern auf eine unbewegliche Art feſte. JEſus ver -ſpricht429ſpricht ihnen ein beſtaͤndiges Leben. Jch lebe und ihr ſollt auch leben. DieſesJoh. 14, 19. iſt eine Verheiſſung, die er mit ſeinem Tode, Auferſtehung und Himmelfarth auſſer allen Zweifel geſetzt. Die Sei - nen aber ſollen nicht nur leben, ſondern auch hoͤchſt ſelig ſeyn. Er iſt kommen,Joh. 10, 10. daß ſie Leben und volle Gnuͤge haben ſollen. Seine Lehre verſichert uns derMatth. 10, 28. Unſterblichkeit unſers Geiſtes. Auch die vermorſchten Gebeine ſollen wieder leben,Joh. 5, 28. 29. und die Unſterblichkeit anziehen. Das Chriſtenthum verſichert ſeinen rechtſchaffe - nen Verehrern, daß ihr Tod nur ein Abſchied aus einer Welt, aus einer Ge - ſellſchafft in die andere und zwar voll - kommnere ſey. Es oͤffnet ihnen den Him - mel von ferne, und zeiget ihnen JEſum zur Rechten GOttes. Sie erblicken die angenehmſten Gegenden, wo ſich die Herrlichkeit GOttes in weit praͤchtigerm Glantze zeiget als hienieden. Die groͤ - ſten Wercke GOttes fuͤllen ihre Sinnen. Dort ſehen ſie die reinſten Geiſter in der groͤſten Vertraulichkeit von einem Ort des Himmels zum andern wallen, unddie430die Wercke GOttes mit Vergnuͤgen be - wundern. Keine Gefahr zweifelhafter Faͤlle ſetzet ſie in Sorgen. Kein Man - gel und kein Schmertz macht ſie bekuͤm - mert. Kein Neid, keine Herrſchſucht, kein Eigennutz unterbricht ihre Freundſchafft. Nichts, nichts ſtoͤhret ihre Ruhe. Dort unterhaͤlt ſich eine Geſellſchafft mit den angenehmſten Geſpraͤchen. Hier erfuͤllet man die ſtillen Luͤfte mit den ſuͤſſeſten Toͤ - nen. Diejenigen tugendhaften See - len, welche hier mit Thraͤnen von einan - der Abſchied genommen, kommen dort mit Jauchzen wieder zuſammen. Tu - gendhafte Kinder finden dort die treuen Eltern wieder, denen ſie mit einer kind - lichen Zaͤrtlichkeit die Augen zugedruͤckt. Fromme Eltern finden die folgſamen Kin - der, welchen ſie mit benetzten Augen in die Grufft geſehen. Gottſelige Ehegat - ten erneuern hier das Band einer heili - gen Freundſchafft, ſo der Tod zerriſſen. Kurtz, alle Seelen, welche GOtt und Tu - gend hiernieden verbunden, und durch das letzte Schickſal ſind getrennet wor - den, werden hier wieder mit Freudenver -431verſammlet. Dieſes alles ſehen treue Chriſten von ferne. Sind ſie derowegen nicht ſchon hiernieden bloß durch dieſe Hoffnung ſelig zu preiſen? Sollten alleRoͤm. 8, 24. irdiſche Schaͤtze einen vernuͤnftigen Geiſt ſo ſelig machen koͤnnen, als dieſe ſichere Hoffnung? Wollet ihr die Krafft und den hohen Werth dieſer Hoffnung recht einſehen, ſo ſtellet euch einen Erhabenen und Reichen vor in den gemeinen Schick - ſalen. Laſſet ihm einen Verluſt an Guͤ - tern betreffen. Stellet ihn neben den Sarg eines geliebten Kindes oder wer - then Ehegattens. Betrachtet ihn endlich auf dem Bette, wo eine heftige Kranck - heit die Lebens-Saͤfte verzehret, und den Leib der Verweſung uͤbergiebet. Stellt ihn euch vor ohne Hoffnung eines beſſern und dauerhaftern Lebens. Stellt neben ihn einen frommen und dabey armen Chri - ſten in gleiche Schickſale. Welchen wer - det ihr am ruhigſten finden? Und wel - chen ſchaͤtzet ihr am gluͤcklichſten, auch nur auf dieſer Welt. Welcher unter beyden hat den groͤſten Troſt und die mehreſte Beruhigung? Erkennet den hohen Werthdes432des Chriſtenthums auch in bloſſer Abſicht auf dieſes Leben. Die Hoffnung, ſo das Chriſtenthum giebet, uͤbertrifft an Krafft alle uͤbrige Gewinne der Erden. (*)Jch werde allezeit aͤuſſerſt bewegt, wenn ich leſe, wie Cicero ein vernuͤnfftiger Hey - de ſich uͤber eine ſolche Hoffnung vergnuͤ - get, und wie hoch er den Werth derſelben ſchaͤtzet. Man leſe ſeinen Tractat de Se - nectute gegen das Ende.Sie wuͤrcket auch mitten unter den Thraͤnen in dem Hertzen eines glaͤubigen Chriſten, eine ſanfte Beruhigung und entzuͤckendes Vergnuͤgen. Kommt, ihr falſchen und grauſamen Bruͤder, nehmt uns einen Theil des Zeitlichen. Es ſchmertzet uns. Aber die Hoffnung zu ewigen Guͤtern mindert dieſen Schmertz gar bald. Euer Raub uͤberfuͤhrt uns von dem geringen Werth deſſen, was da kan geraubet werden. Scheidet von uns, ihr Geliebten, in deren Geſellſchafft wir wuͤnſchen unſere Pil - grimſchafft zu vollenden. Brecht ihr zaͤrt - lich geliebten Vater - und Mutter-Hertzen. Gehet vor uns hin, die wir mit Schmer - tzen zu unſern Nachkommen erzielet. Gebt den Ring der Treue zuruͤck, fromme Ehe -gatten.433gatten. Reicht uns den letzten Kuß, treue Bruͤder und Schweſtern. Eilt hinweg ihr aufrichtigen Seelen. Laſſet uns al - lein zuruͤck. Euer Abſchied ſchlaͤgt uns zwar nieder. Er ruͤhrt alle Glieder. Er dringet durch Marck und Bein. Wir werden betaͤubt und muͤde, und das Le - ben wird uns fuͤrchterlich, das wir ohne euch noch ſollen zubringen. Die Betruͤbniß ziehet die matten Augen zur Erden: ſie finden aber daſelbſt alles oͤde. Allein JE - ſus ruft: Selig ſind die Todten, ſo inOff. Joh. 14, 13. dem HErrn ſterben! Wir ermuntern uns. Wir ſchlagen die truͤben Augen gen Himmel. Wir ſehen euch nach in jene hellen Gegenden, und die Hoffnung euch bald zu folgen, ſtellt unſer Gemuͤth wieder in Zufriedenheit. Wir ſetzen unſere Fuͤſſe fort, um den Weg auch zu vollenden, wel - chen uns die Vorſehung beſtimmet hat. Eile derowegen auch auf uns zu, du fuͤrch - terliches Schickſal. Komm, wirf auch uns nieder. Verzehre unſere Saͤfte. Lege die verſchrumpfte Haut auf die duͤrren Knochen. Zerbrich die Huͤtte, ſo wir be - wohnen. Entkleide die Gebeine, und mach uns zu Moder. Wir erſchrecken zwar,Jacobi Betr. 2. Band. E ewenn434wenn wir dich mit den letzten Schritten2. Cor. 5, 4. herbey nahen ſehen. Denn wir wuͤnſch - ten lieber uͤberkleidet als entkleidet zu werden. Wir verzagen aber nicht. 2. Cor. 5, 8.Wir ſind getroſt, und haben vielmehr Luſt auſſer dem Leibe zu wallen und daheim zu ſeyn bey dem HERRN. Der Weg dahin iſt zwar beſchwerlich und fuͤrchterlich: aber er iſt kurtz. JEſus iſt bey uns, und die Heimath iſt angenehm. Wir kommen zum Frieden, ins rechte Vaterland, in ewige Huͤtten. Nun ihr geliebten Mitbuͤrger der Sterblichkeit, nun bitte ich euch, faͤllet ein gerechtes Ur - theil, welches unſer zeitliches Leben gluͤck - licher mache, die Schaͤtze dieſer Welt, Geld, Ehre und dergleichen, oder ein wah - res Chriſtenthum? Sagt, wen haltet ihr fuͤr gluͤcklicher auch ſchon in dieſem Leben, einen armen und widrigen Chriſten? oder einen Erhabenen und Reichen ohne Chri - ſtenthum und ohne Hoffnung? Jch rufe euch beſonders zu Zeugen, euch, die ihr im niedrigen Stande lebet und JEſu folget. Wolltet ihr wohl die Hoffnung des Chri - ſtenthums, und die Ruhe, ſo ſelbige giebt, mit irdiſchen Guͤthern vertauſchen? Woll -tet435tet ihr wohl die Hoffnung zu jener unver - welcklichen Crone mit einer zeitlichen Cro - ne verwechſeln? Jch weiß, dieſer Wechſel wuͤrde euch nicht gefallen. Es iſt derowe - gen am Tage, dieſe Hoffnung iſt die hoͤch - ſte Gluͤckſeligkeit dieſes Lebens, die ein Menſch vor dem andern, nemlich der Glau - bige vor dem Unglaubigen und Laſterhaf - ten erreichen kan. Hieraus iſt denn aber auch begreiflich, wie JEſus armſelige Menſchen, die aber wahre Chriſten ſind, auch ſchon in dieſer Welt kan ſelig prei - ſen. Ja ſelig ſind, die JEſum mit glau - bigen Augen ſehen. Sie ſehen in ihm ei - ne ſelige Unſterblichkeit des Geiſtes, eine herrliche Wiederherſtellung der zerfallenen Huͤtte, eine froͤliche Himmelfahrt, kurtz ein ewiges und hoͤchſt ſeliges Leben.

Erlaubt uns, theuerſte Bruͤder, daß wir zum Beſchluß an eure Gewiſſen einige Fragen thun, und damit in geziemender Ehrerbietung und Liebe einige treue Erin - nerungen verbinden. Wir haben vernom - men, und ich hoffe, ihr werdet es auch zu - geben, daß das Chriſtenthum auch ſchon in dieſem Leben die groͤſten Vortheile und eine ſuͤſſe Ruhe der Seele verſchaffe. Un -E e 2ſere436ſere erſte Frage iſt derowegen dieſe: Er kennen wir es denn auch wohl fuͤr ein groſſe und beſondere Wohlthat GOttes daß er uns nicht im Heidenthum, ſonder daſelbſt laſſen gebohren werden, wo ma[n]uns mit aller Sorgfalt zum Chriſtenthu[m]fuͤhret? Haben wir je dem Hoͤchſten hie〈…〉〈…〉 fuͤr, als fuͤr eine der groͤſten Wohlthate[r]gedancket? Jſt ſolches nicht geſchehen, ſ[o]laſſet uns unſere Unerkaͤnntlichkeit dadurch bedecken, daß wir ſelbige dem Allwiſſende[n]bekennen, und von nun an anfangen auch fuͤr dieſe Wohlthat den Namen des HErrn zu ruͤhmen.

Zweytens frage ich: ob wir auch ins geſamt eine ernſtliche und eifrige Begierd[e]haben, der Vorzuͤge des Chriſtenthum[ſ]theilhaftig zu werden. Jch weiß, das Her[tz]eines jeden ſaget: ja. Jſt aber dieſes un[-]ſer Ernſt, ſo iſt noͤthig, daß wir unſere erſt[e]und vornehmſte Sorge dahin richten, da[ß]wir rechtſchaffene Chriſten ſeyn. Es iſt noͤ - thig, daß wir allen Eyfer, allen Fleiß und Muͤhe anwenden JEſu aͤhnlich zu werdenRoͤm. 8. Wer ſeinen Geiſt nicht hat, der iſt nicht ſein. Es iſt noͤthig, daß wir unſer FleiſchGal. 5, 24. creutzigen ſamt den Luͤſten und Be -gier437gierden. Denn ſo jemand auch kaͤmpf -2. Tim. 2, 5. fet, wird er dennoch nicht gecroͤnet, er kaͤmpfe denn recht. Hochmuth, Geitz, Neid, Eigenſinn, Zorn, Rachbegierde, uͤp - pige Wolluſt muͤſſen bey uns nicht herr - ſchen, ſondern immer mehr und mehr be - ſiegt werden. Hingegen muß Glaube, und in demſelben Liebe, Demuth, Leutſeligkeit, Vergnuͤgſamkeit, Friedfertigkeit, Gedult, Maͤßigkeit, Keuſchheit die vornehmſte Zier - de unſerer Seele ſeyn. JEſus iſt ein hei - liger Koͤnig, er liebt heilige Unterthanen. Er ſammlet ein ſelig Reich. Geiſter der Unordnung ſind derowegen davon ausge - ſchloſſen. Denen gehet die Hoffnung der Chriſten nicht an, die nicht Chriſto folgen. Jch frage derowegen zum Beſchluß: iſt es unſer aller rechter Ernſt GOtt und JE - ſum als unſer hoͤchſtes Guth anzunehmen und zu verehren? Jſt es unſer feſter Ent - ſchluß GOtt und JEſu mit einem treuen Glauben zugethan zu ſeyn? Wollen wir uns jederzeit beweiſen als rechtſchaffene Streiter JEſu Chriſti? Wollen wir un - ter der Gnade GOttes Welt, Satan und unſer eigen Fleiſch beſtreiten? Wollen wir uns mit allem Eifer bemuͤhen in denen Tu -E e 3genden438genden uns zu uͤben, darinnen der treue Heiland uns iſt vorgegangen? Sind wir bereit, auch im Leiden ihm nachzufolgen? Mit einem Wort: iſt es unter der Gnade des Hoͤchſten unſer unbeweglicher Vorſatz, unſerm JEſu eine treue, heilige und un - befleckte Seele zuzubringen? Jch hoͤre ei - nen jeden mit Ja antworten. Eins aber iſt noth, meine Bruͤder. Es muß dieſer Vorſatz nicht mit dieſer Stunde verſchwin - den, er muß nicht lau noch fluͤchtig ſeyn, ſondern er muß ſich lebendig erzeigen, und uns bis in die Ewigkeit begleiten. JE - SU, mache du uns beſtaͤndig und wuͤrcke in uns die Treue, die du zu croͤ - nen verſprochen haſt. Amen!

Jnhalt
[439]

Jnhalt dieſes zweyten Theils.

  • Vorrede. Von dem rechten Ge - brauch der Vernunfft bey der Offenbarung.
  • X. Betrachtung. Von der Ab - ſicht GOttes bey dem Zeichen Jeſ. VII. 10. u. f.
  • XI. Betrachtung. Von der Ab - ſicht GOttes bey der nachge - ſehenen Vielweiberey der Vaͤter A. B.
  • XII. Betrachtung. Von der goͤtt - lichen Abſicht bey den Din - gen, deren Endzweck ſchei - net nicht erhalten zu wer - den.
  • 440
  • Anhang dreyer geiſtlichen Reden.
    • I. Rede uͤber Joh. III, 16. Von der groſſen Liebe GOttes, die ſich in der Sendung ſeines Sohnes offenbaret.
    • II. Rede uͤber Joh. III, 16. Von der Liebe GOttes bey Anneh - mung des Glaubens.
    • III. Rede uͤber Luc. X, 23. 24. Von der Gluͤckſeligkeit, die ein wahres Chriſtenthum in die - ſem Leben giebt.
[441][442][443][444]

About this transcription

TextBetrachtungen über die Weisen Absichten Gottes, bey denen Dingen, die wir in der menschlichen Gesellschaft und der Offenbahrung antreffen
Author Johann Friedrich Jacobi
Extent462 images; 73291 tokens; 9116 types; 509688 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationBetrachtungen über die Weisen Absichten Gottes, bey denen Dingen, die wir in der menschlichen Gesellschaft und der Offenbahrung antreffen Zweyter Theil Johann Friedrich Jacobi. . [7] Bl., 440 S. CunoJena1745.

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HAB Wolfenbüttel HAB Wolfenbüttel, M: Te 610

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationGebrauchsliteratur; Erbauungsliteratur; Gebrauchsliteratur; Erbauungsliteratur; core; ready; china

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  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-09T17:31:56Z
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ShelfmarkHAB Wolfenbüttel, M: Te 610
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