PRIMS Full-text transcription (HTML)
Hamburgiſche Dramaturgie.
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Zweyter Band.
Hamburg.In Commiſſion beyJ. H. Cramer, in Bremen.
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Hamburgiſche Dramaturgie. Drey und funfzigſtes Stück.

Den ein und vierzigſten Abend (Freytags, den 10ten Julius,) wurden Cenie und der Mann nach der Uhr, wiederholt. (*)S. den 23ſten und 29ſten Abend, Seite 153 und 172. Cenie, ſagt Chevrier gerade heraus,(**)Obſervateur des Spectacles Tome I. p. 211. führet den Namen der Frau von Graffigni, iſt aber ein Werk des Abts von Voiſenon. Es war Anfangs in Verſen; weil aber die Frau von Graffigni, der es erſt in ihrem vier und funfzigſten Jahre einfiel, die Schriftſtellerinn zu ſpielen, in ihrem Leben keinen Vers gemacht hatte, ſo ward Cenie in Proſa gebracht. Mais l’Auteur, fügt er hinzu, y a laiſſé 81 vers qui y exiſtent dans leur entier. Das iſt, ohne Zweifel, von einzeln hin und wieder zer -ſtreu -A2ſtreuten Zeilen zu verſtehen, die den Reim ver - loren, aber die Sylbenzahl beybehalten haben. Doch wenn Chevrier keinen andern Beweis hat - te, daß das Stück in Verſen geweſen: ſo iſt es ſehr erlaubt, daran zu zweifeln. Die franzöſi - ſchen Verſe kommen überhaupt der Proſa ſo nahe, daß es Mühe koſten ſoll, nur in einem etwas geſuchteren Stile zu ſchreiben, ohne daß ſich nicht von ſelbſt ganze Verſe zuſammen fin - den, denen nichts wie der Reim mangelt. Und gerade denjenigen, die gar keine Verſe machen, können dergleichen Verſe am erſten entwiſchen; eben weil ſie gar kein Ohr für das Metrum ha - ben, und es alſo eben ſo wenig zu vermeiden, als zu beobachten verſtehen.

Was hat Cenie ſonſt für Merkmahle, daß ſie nicht aus der Feder eines Frauenzimmers könne gefloſſen ſeyn? Das Frauenzimmer überhaupt, ſagt Rouſſeau,(*)à d’Alembert p. 193. liebt keine einzige Kunſt, verſteht ſich auf keine einzige, und an Genie fehlt es ihm ganz und gar. Es kann in kleinen Werken glücklich ſeyn, die nichts als leichten Witz, nichts als Geſchmack, nichts als Anmuth, höchſtens Gründlichkeit und Philoſophie ver - langen. Es kann ſich Wiſſenſchaft, Gelehr - ſamkeit und alle Talente erwerben, die ſich durch Mühe und Arbeit erwerben laſſen. Aber jenes himmliſche Feuer, welches die Seele erhitzet undent -3entflammet, jenes um ſich greifende verzehrende Genie, jene brennende Beredſamkeit, jene er - habene Schwünge, die ihr Entzückendes dem Innerſten unſeres Herzens mittheilen, werden den Schriften des Frauenzimmers allezeit feh - len.

Alſo fehlen ſie wohl auch der Cenie? Oder, wenn ſie ihr nicht fehlen, ſo muß Cenie nothwen - dig das Werk eines Mannes ſeyn? Rouſſeau ſelbſt würde ſo nicht ſchlieſſen. Er ſagt viel - mehr, was er dem Frauenzimmer überhaupt ab - ſprechen zu müſſen glaube, wolle er darum kei - ner Frau insbeſondere ſtreitig machen. (Ce n’eſt pas à une femme, mais aux femmes que je refuſe les talens des hommes(*)Ibid. p. 78..) Und dieſes ſagt er eben auf Veranlaſſung der Cenie; eben da, wo er die Graffigni als die Verfaſſerinn derſelben anführt. Dabey merke man wohl, daß Graffigni ſeine Freundinn nicht war, daß ſie übels von ihm geſprochen hatte, daß er ſich an eben der Stelle über ſie beklagt. Dem ohngeachtet erklärt er ſie lieber für eine Ausnahme ſeines Satzes, als daß er im gering - ſten auf das Vorgeben des Chevrier anſpielen ſollte, welches er zu thun, ohne Zweifel, Frey - müthigkeit genug gehabt hätte, wenn er nicht von dem Gegentheile überzeugt geweſen wäre.

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Chevrier hat mehr ſolche verkleinerliche ge - heime Nachrichten. Eben dieſer Abt, wie Che - vrier wiſſen will, hat für die Favart gearbeitet. Er hat die komiſche Oper, Annette und Lubin, gemacht; und nicht Sie, die Aktrice, von der er ſagt, daß ſie kaum leſen könne. Sein Be - weis iſt ein Gaſſenhauer, der in Paris darüber herumgegangen; und es iſt allerdings wahr, daß die Gaſſenhauer in der franzöſiſchen Ge - ſchichte überhaupt unter die glaubwürdigſten Dokumente gehören.

Warum ein Geiſtlicher ein ſehr verliebtes Singſpiel unter fremdem Namen in die Welt ſchicke, ließe ſich endlich noch begreifen. Aber warum er ſich zu einer Cenie nicht bekennen wol - le, der ich nicht viele Predigten vorziehen möchte, iſt ſchwerlich abzuſehen. Dieſer Abt hat ja ſonſt mehr als ein Stück aufführen und drucken laſ - ſen, von welchen ihn jedermann als den Verfaſ - ſer kennet, und die der Cenie bey weiten nicht gleich kommen. Wenn er einer Frau von vier und funfzig Jahren eine Galanterie machen woll - te, iſt es wahrſcheinlich, daß er es gerade mit ſeinem beſten Werke würde gethan haben?

Den zwey und vierzigſten Abend (Montags, den 13ten Julius,) ward die Frauenſchule von Moliere aufgeführt.

Moliere hatte bereits ſeine Männerſchule ge - macht, als er im Jahre 1662 dieſe Frauenſchuledarauf5darauf folgen ließ. Wer beide Stücke nicht kennet, würde ſich ſehr irren, wenn er glaubte, daß hier den Frauen, wie dort den Männern, ihre Schuldigkeit geprediget würde. Es ſind beides witzige Poſſenſpiele, in welchen ein Paar junge Mädchen, wovon das eine in aller Strenge erzogen und das andere in aller Einfalt aufge - wachſen, ein Paar alte Laffen hintergehen; und die beide die Männerſchule heiſſen müßten, wenn Moliere weiter nichts darinn hätte lehren wol - len, als daß das dümmſte Mädchen noch immer Verſtand genug habe zu betrügen, und daß Zwang und Aufſicht weit weniger fruchte und nutze, als Nachſicht und Freyheit. Wirklich iſt für das weibliche Geſchlecht in der Frauen - ſchule nicht viel zu lernen; es wäre denn, daß Moliere mit dieſem Titel auf die Eheſtandsregeln, in der zweyten Scene des dritten Akts, geſehen hätte, mit welchen aber die Pflichten der Wei - ber eher lächerlich gemacht werden.

Die zwey glücklichſten Stoffe zur Tragödie und Komödie, ſagt Trublet,(*)Eſſais de Litt. & de Morale T. IV. p. 295. ſind der Cid und die Frauenſchule. Aber beide ſind vom Corneille und Moliere bearbeitet worden, als dieſe Dichter ihre völlige Stärke noch nicht hat - ten. Dieſe Anmerkung, fügt er hinzu, habe ich von dem Hrn. von Fontenelle.

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Wenn doch Trublet den Hrn. von Fontenelle gefragt hätte, wie er dieſes meine. Oder Falls es ihm ſo ſchon verſtändlich genug war, wenn er es doch auch ſeinen Leſern mit ein Paar Wor - ten hätte verſtändlich machen wollen. Ich we - nigſtens bekenne, daß ich gar nicht abſehe, wo Fontenelle mit dieſem Räthſel hingewollt. Ich glaube, er hat ſich verſprochen; oder Trublet hat ſich verhört.

Wenn indeß, nach der Meinung dieſer Män - ner, der Stoff der Frauenſchule ſo beſonders glücklich iſt, und Moliere in der Ausführung deſſelben nur zu kurz gefallen: ſo hätte ſich dieſer auf das ganze Stück eben nicht viel einzubilden gehabt. Denn der Stoff iſt nicht von ihm; ſondern Theils aus einer Spaniſchen Erzehlung, die man bey dem Scarron, unter dem Titel, die vergebliche Vorſicht, findet, Theils aus den ſpaßhaften Nächten des Straparolle genommen, wo ein Liebhaber einem ſeiner Freunde alle Tage vertrauet, wie weit er mit ſeiner Geliebten ge - kommen, ohne zu wiſſen, daß dieſer Freund ſein Nebenbuhler iſt.

Die Frauenſchule, ſagt der Herr von Vol - taire, war ein Stück von einer ganz neuen Gat - tung, worinn zwar alles nur Erzehlung, aber doch ſo künſtliche Erzehlung iſt, daß alles Hand - lung zu ſeyn ſcheinet.

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Wenn das Neue hierinn beſtand, ſo iſt es ſehr gut, daß man die neue Gattung eingehen laſſen. Mehr oder weniger künſtlich, Erzeh - lung bleibt immer Erzehlung, und wir wollen auf dem Theater wirkliche Handlungen ſehen. Aber iſt es denn auch wahr, daß alles darinn erzehlt wird? daß alles nur Handlung zu ſeyn ſcheint? Voltaire hätte dieſen alten Einwurf nicht wieder aufwärmen ſollen; oder, anſtatt ihn in ein anſcheinendes Lob zu verkehren, hätte er wenigſtens die Antwort beyfügen ſollen, die Moliere ſelbſt darauf ertheilte, und die ſehr paſ - ſend iſt. Die Erzehlungen nehmlich ſind in die - ſem Stücke, vermöge der innern Verfaſſung deſſelben, wirkliche Handlung; ſie haben alles, was zu einer komiſchen Handlung erforderlich iſt; und es iſt bloße Wortklauberey, ihnen die - ſen Namen hier ſtreitig zu machen. (*)In der Kritik der Frauenſchule, in der Per - ſon des Dorante: Les recits euxmêmes y ſont des actions ſuivant la conſtitution du ſujet. Denn es kömmt ja weit weniger auf die Vorfälle an, welche erzehlt werden, als auf den Eindruck, welchen dieſe Vorfälle auf den betrognen Alten machen, wenn er ſie erfährt. Das Lächerliche dieſes Alten wollte Moliere vornehmlich ſchil - dern; ihn müſſen wir alſo vornehmlich ſehen, wie er ſich bey dem Unfalle, der ihm drohet, ge -behr -8behrdet; und dieſes hätten wir ſo gut nicht geſe - hen, wenn der Dichter das, was er erzehlen läßt, vor unſern Augen hätte vorgehen laſſen, und das, was er vorgehen läßt, dafür hätte er - zehlen laſſen. Der Verdruß, den Arnolph empfindet; der Zwang, den er ſich anthut, die - ſen Verdruß zu verbergen; der höhniſche Ton, den er annimmt, wenn er den weitern Progreſſe des Horaz nun vorgebauet zu haben glaubet; das Erſtaunen, die ſtille Wuth, in der wir ihn ſehen, wenn er vernimmt, daß Horaz dem ohn - geachtet ſein Ziel glücklich verfolgt: das ſind Handlungen, und weit komiſchere Handlungen, als alles, was außer der Scene vorgeht. Selbſt in der Erzehlung der Agneſe, von ihrer mit dem Horaz gemachten Bekanntſchaft, iſt mehr Hand - lung, als wir finden würden, wenn wir dieſe Bekanntſchaft auf der Bühne wirklich machen ſähen.

Alſo, anſtatt von der Frauenſchule zu ſagen, daß alles darinn Handlung ſcheine, obgleich alles nur Erzehlung ſey, glaubte ich mit meh - rerm Rechte ſagen zu können, daß alles Hand - lung darinn ſey, obgleich alles nur Erzehlung zu ſeyn ſcheine.

Ham -[9]

Hamburgiſche Dramaturgie. Vier und funfzigſtes Stück.

Den drey und vierzigſten Abend (Dienſtags, den 14ten Julius,) ward die Mütter - ſchule des La Chauſſee, und den vier und vierzigſten Abend (als den 15ten,) der Graf von Eſſex wiederholt. (*)S. den 26ſten u. 30ſten Abend Seite 161 u. 173.

Da die Engländer von je her ſo gern dome - ſtica facta auf ihre Bühne gebracht haben, ſo kann man leicht vermuthen, daß es ihnen auch an Trauerſpielen über dieſen Gegenſtand nicht fehlen wird. Das älteſte iſt das von Joh. Banks, unter dem Titel, der unglückliche Lieb - ling, oder Graf von Eſſex. Es kam 1682 aufs Theater, und erhielt allgemeinen Beyfall. Damals aber hatten die Franzoſen ſchon drey Eſſexe; des Calprenede von 1638; des Boyer von 1678, und des jüngern Corneille, von ebendie -B10dieſem Jahre. Wollten indeß die Engländer, daß ihnen die Franzoſen auch hierinn nicht möch - ten zuvorgekommen ſeyn, ſo würden ſie ſich viel - leicht auf Daniels Philotas beziehen können; ein Trauerſpiel von 1611, in welchem man die Geſchichte und den Charakter des Grafen, unter fremden Namen, zu finden glaubte. (*)Cibber’s Lives of the Engl. Poets. Vol. I. p. 147.

Banks ſcheinet keinen von ſeinen franzöſiſchen Vorgängern gekannt zu haben. Er iſt aber ei - ner Novelle gefolgt, die den Titel, Geheime Geſchichte der Königinn Eliſabeth und des Gra - fen von Eſſex, führet,(**)The Companion to the Theatre. Vol. II. p. 99. wo er den ganzen Stoff ſich ſo in die Hände gearbeitet fand, daß er ihn blos zu dialogiren, ihm blos die äußere dramatiſche Form zu ertheilen brauchte. Hier iſt der ganze Plan, wie er von dem Verfaſſer der unten angeführten Schrift, zum Theil, ausge - zogen worden. Vielleicht, daß es meinen Leſern nicht unangenehm iſt, ihn gegen das Stück des Corneille halten zu können.

Um unſer Mitleid gegen den unglücklichen Grafen deſto lebhafter zu machen, und die hef - tige Zuneigung zu entſchuldigen, welche die - niginn für ihn äußert, werden ihm alle die erha - benſten Eigenſchaften eines Helden beygelegt;und11und es fehlt ihm zu einem vollkommenen Cha - rakter weiter nichts, als daß er ſeine Leidenſchaf - ten nicht beſſer in ſeiner Gewalt hat. Burleigh, der erſte Miniſter der Königinn, der auf ihre Ehre ſehr eiferſüchtig iſt, und den Grafen wegen der Gunſtbezeigungen beneidet, mit welchen ſie ihn überhäuft, bemüht ſich unabläßig, ihn ver - dächtig zu machen. Hierinn ſteht ihm Sir Walter Raleigh, welcher nicht minder des Gra - fen Feind iſt, treulich bey; und beide werden von der boshaften Gräfinn von Nottingham noch mehr verhetzt, die den Grafen ſonſt geliebt hatte, nun aber, weil ſie keine Gegenliebe von ihm erhalten können, was ſie nicht beſitzen kann, zu verderben ſucht. Die ungeſtüme Gemüths - art des Grafen macht ihnen nur allzugutes Spiel, und ſie erreichen ihre Abſicht auf fol - gende Weiſe.

Die Königinn hatte den Grafen, als ihren Generaliſſimus, mit einer ſehr anſehnlichen Ar - mee gegen den Tyrone geſchickt, welcher in Irr - land einen gefährlichen Aufſtand erregt hatte. Nach einigen nicht viel bedeutenden Schar - mützeln ſahe ſich der Graf genöthiget, mit dem Feinde in Unterhandlung zu treten, weil ſeine Truppen durch Strabazen und Krankheiten ſehr abgemattet waren, Tyrone aber mit ſeinen Leu - ten ſehr vortheilhaft poſtiret ſtand. Da dieſe Unterhandlung zwiſchen den Anführern münd -B 2lich12lich betrieben ward, und kein Menſch dabey zu - gegen ſeyn durfte: ſo wurde ſie der Königinn als ihrer Ehre höchſt nachtheilig, und als ein gar nicht zweydeutiger Beweis vorgeſtellet, daß Eſſex mit den Rebellen in einem heimlichen Ver - ſtändniſſe ſtehen müſſe. Burleigh und Raleigh, mit einigen andern Parlamentsgliedern, treten ſie daher um Erlaubniß an, ihn des Hochver - raths anklagen zu dürfen, welches ſie aber ſo wenig zu verſtatten geneigt iſt, daß ſie ſich viel - mehr über ein dergleichen Unternehmen ſehr aufgebracht bezeiget. Sie wiederholt die vori - gen Dienſte, welche der Graf der Nation er - wieſen, und erklärt, daß ſie die Undankbarkeit und den boshaften Neid ſeiner Ankläger verab - ſcheue. Der Graf von Southampton, ein auf - richtiger Freund des Eſſex, nimmt ſich zugleich ſeiner auf das lebhafteſte an; er erhebt die Ge - rechtigkeit der Königinn, einen ſolchen Mann nicht unterdrücken zu laſſen; und ſeine Feinde müſſen vor dieſesmal ſchweigen. (Erſter Akt.)

Indeß iſt die Königinn mit der Aufführung des Grafen nichts weniger, als zufrieden, ſon - dern läßt ihm befehlen, ſeine Fehler wieder gut zu machen, und Irrland nicht eher zu verlaſſen, als bis er die Rebellen völlig zu Paaren getrie - ben, und alles wieder beruhiget habe. Doch Eſſex, dem die Beſchuldigungen nicht unbekannt geblieben, mit welchen ihn ſeine Feinde bey ihran -13anzuſchwärzen ſuchen, iſt viel zu ungeduldig, ſich zu rechtfertigen, und kömmt, nachdem er den Tyrone zu Niederlegung der Waffen ver - mocht, des ausdrücklichen Verbots der Königinn ungeachtet, nach England über. Dieſer unbe - dachtſame Schritt macht ſeinen Feinden eben ſo viel Vergnügen, als ſeinen Freunden Unruhe; beſonders zittert die Gräfinn von Rutland, mit welcher er insgeheim verheyrathet iſt, vor den Fol - gen. Am meiſten aber betrübt ſich die Königinn, da ſie ſieht, daß ihr durch dieſes raſche Betra - gen aller Vorwand benommen iſt, ihn zu ver - treten, wenn ſie nicht eine Zärtlichkeit verrathen will, die ſie gern vor der ganzen Welt verbergen möchte. Die Erwägung ihrer Würde, zu wel - cher ihr natürlicher Stolz kömmt, und die heim - liche Liebe, die ſie zu ihm trägt, erregen in ihrer Bruſt den grauſamſten Kampf. Sie ſtreitet lange mit ſich ſelbſt, ob ſie den verwegnen Mann nach dem Tower ſchicken, oder den geliebten Verbrecher vor ſich laſſen und ihm erlauben ſoll, ſich gegen ſie ſelbſt zu rechtfertigen. Endlich entſchließt ſie ſich zu dem letztern, doch nicht ohne alle Einſchränkung; ſie will ihn ſehen, aber ſie will ihn auf eine Art empfangen, daß er die Hoffnung wohl verlieren ſoll, für ſeine Verge - hungen ſo bald Vergebung zu erhalten. Bur - leigh, Raleigh und Nottingham ſind bey dieſer Zuſammenkunft gegenwärtig. Die KöniginnB 3iſt14iſt auf die letztere gelehnet, und ſcheinet tief im Geſpräche zu ſeyn, ohne den Grafen nur ein einzigesmal anzuſehen. Nachdem ſie ihn eine Weile vor ſich knien laſſen, verläßt ſie auf ein - mal das Zimmer, und gebiethet allen, die es redlich mit ihr meinen, ihr zu folgen, und den Verräther allein zu laſſen. Niemand darf es wagen, ihr ungehorſam zu ſeyn; ſelbſt Sout - hampton gehet mit ihr ab, kömmt aber bald, mit der troſtloſen Rutland, wieder, ihren Freund bey ſeinem Unfalle zu beklagen. Gleich darauf ſchicket die Königinn den Burleigh und Raleigh zu dem Grafen, ihm den Kommandoſtab abzu - nehmen; er weigert ſich aber, ihn in andere, als in der Königinn eigene Hände, zurück zu liefern, und beiden Miniſtern wird, ſowohl von ihm, als von dem Southampton, ſehr verächt - lich begegnet. (Zweyter Akt.)

Die Königinn, der dieſes ſein Betragen ſo - gleich hinterbracht wird, iſt äußerſt gereitzt, aber doch in ihren Gedanken noch immer unei - nig. Sie kann weder die Verunglimpfungen, deren ſich die Nottingham gegen ihn erkühnt, noch die Lobſprüche vertragen, die ihm die un - bedachtſame Rutland aus der Fülle ihres Her - zens ertheilet; ja, dieſe ſind ihr noch mehr zu - wider als jene, weil ſie daraus entdeckt, daß die Rutland ihn liebet. Zuletzt befiehlt ſie, dem ohngeachtet, daß er vor ſie gebracht werdenſoll.15ſoll. Er kömmt, und verſucht es, ſeine Auf - führung zu vertheidigen. Doch die Gründe, die er desfalls beybringt, ſcheinen ihr viel zu ſchwach, als daß ſie ihren Verſtand von ſeiner Unſchuld überzeugen ſollten. Sie verzeihet ihm, um der geheimen Neigung, die ſie für ihn hägt, ein Genüge zu thun; aber zugleich entſetzt ſie ihn aller ſeiner Ehrenſtellen, in Betrachtung deſſen, was ſie ſich ſelbſt, als Königinn, ſchuldig zu ſeyn glaubt. Und nun iſt der Graf nicht län - ger vermögend, ſich zu mäßigen; ſeine Unge - ſtümheit bricht los; er wirft den Stab zu ih - ren Füßen, und bedient ſich verſchiedner Aus - drücke, die zu ſehr wie Vorwürfe klingen, als daß ſie den Zorn der Königinn nicht aufs höchſte treiben ſollten. Auch antwortet ſie ihm darauf, wie es Zornigen ſehr natürlich iſt; ohne ſich um Anſtand und Würde, ohne ſich um die Folgen zu bekümmern: nehmlich, anſtatt der Antwort, giebt ſie ihm eine Ohrfeige. Der Graf greift nach dem Degen; und nur der einzige Gedanke, daß es ſeine Königinn, daß es nicht ſein König iſt, der ihn geſchlagen, mit einem Worte, daß es eine Frau iſt, von der er die Ohrfeige hat, hält ihn zurück, ſich thätlich an ihr zu vergehen. Southampton beſchwört ihn, ſich zu faſſen; aber er wiederholt ſeine ihr und dem Staate geleiſteten Dienſte nochmals, und wirft dem Burleigh und Raleigh ihren niederträchtigenNeid,16Neid, ſo wie der Königinn ihre Ungerechtigkeit vor. Sie verläßt ihn in der äußerſten Wuth; und niemand als Southampton bleibt bey ihm, der Freundſchaft genug hat, ſich itzt eben am wenigſten von ihm trennen zu laſſen. (Dritter Akt.)

Der Graf geräth über ſein Unglück in Ver - zweiflung; er läuft wie unſinnig in der Stadt herum, ſchreyet über das ihm angethane Un - recht, und ſchmähet auf die Regierung. Alles das wird der Königinn, mit vielen Uebertrei - bungen, wiedergeſagt, und ſie giebt Befehl, ſich der beiden Grafen zu verſichern. Es wird Mannſchaft gegen ſie ausgeſchickt, ſie werden gefangen genommen, und in den Tower in Ver - haft geſetzt, bis daß ihnen der Proceß kann ge - macht werden. Doch indeß hat ſich der Zorn der Königinn gelegt, und günſtigern Gedan - ken für den Eſſex wiederum Raum gemacht. Sie will ihn alſo, ehe er zum Verhöre geht, allem, was man ihr darwider ſagt, ungeachtet, nochmals ſehen; und da ſie beſorgt, ſeine Verbrechen möchten zu ſtrafbar befunden werden, ſo giebt ſie ihm, um ſein Le - ben wenigſtens in Sicherheit zu ſetzen, einen Ring, mit dem Verſprechen, ihm gegen dieſen Ring, ſobald er ihn ihr zuſchicke, alles, was er verlangen würde, zu gewähren. Faſt aber bereuet ſie es wieder, daß ſie ſo gütig gegen ihn geweſen, als ſie gleich darauf erfährt, daß er mit der Rutland vermählt iſt; und es von der Rutland ſelbſt erfährt, die für ihn um Gnade zu bitten kömmt. (Vierter Akt.)

Ham -[17]

Hamburgiſche Dramaturgie. Fünf und funfzigſtes Stück.

Was die Königinn gefürchtet hatte, ge - ſchieht; Eſſex wird nach den Geſetzen ſchuldig befunden und verurtheilet, den Kopf zu verlieren; ſein Freund Southampton desgleichen. Nun weiß zwar Eliſabeth, daß ſie, als Königinn, den Verbrecher begnadigen kann; aber ſie glaubt auch, daß eine ſolche frey - willige Begnadigung auf ihrer Seite eine Schwäche verrathen würde, die keiner Königinn gezieme; und alſo will ſie ſo lange warten, bis er ihr den Ring ſenden, und ſelbſt um ſein Leben bitten wird. Voller Ungeduld indeß, daß es je eher je lieber geſchehen möge, ſchickt ſie die Nottingham zu ihm, und läßt ihn erinnern, an ſeine Rettung zu denken. Nottingham ſtellt ſich, das zärtlichſte Mitleid für ihn zu fühlen; und er vertrauet ihr das koſtbare Unterpfand ſei - nes Lebens, mit der demüthigſten Bitte an dieC -18Königinn, es ihm zu ſchenken. Nun hat Not - tingham alles, was ſie wünſchet; nun ſteht es bey ihr, ſich wegen ihrer verachteten Liebe an dem Grafen zu rächen. Anſtatt alſo das auszu - richten, was er ihr aufgetragen, verleumdet ſie ihn auf das boshafteſte, und mahlt ihn ſo ſtolz, ſo trotzig, ſo feſt entſchloſſen ab, nicht um Gnade zu bitten, ſondern es auf das Aeußerſte ankommen zu laſſen, daß die Königinn dem Berichte kaum glauben kann, nach wiederholter Verſicherung aber, voller Wuth und Verzweif - lung den Befehl ertheilet, das Urtheil ohne Anſtand an ihm zu vollziehen. Dabey giebt ihr die boshafte Nottingham ein, den Grafen von Southampton zu begnadigen, nicht weil ihr das Unglück deſſelben wirklich nahe geht, ſondern weil ſie ſich einbildet, daß Eſſex die Bit - terkeit ſeiner Strafe um ſo vielmehr empfinden werde, wenn er ſieht, daß die Gnade, die man ihm verweigert, ſeinem mitſchuldigen Freunde nicht entſtehe. In eben dieſer Abſicht räth ſie der Königinn auch, ſeiner Gemahlinn, der Gräfinn von Rutland, zu erlauben, ihn noch vor ſeiner Hinrichtung zu ſehen. Die Königinn williget in beides, aber zum Unglücke für die grauſame Rathgeberinn; denn der Graf giebt ſeiner Gemahlinn einen Brief an die Königinn, die ſich eben in den Tower befindet, und ihn kurz darauf, als man den Grafen abgeführet,er -19erhält. Aus dieſem Briefe erſieht ſie, daß der Graf der Nottingham den Ring gegeben, und ſie durch dieſe Verrätherinn um ſein Leben bitten laſſen. Sogleich ſchickt ſie, und läßt die Voll - ſtreckung des Urtheils unterſagen; doch Bur - leigh und Raleigh, dem ſie aufgetragen war, hatten ſo ſehr damit geeilet, daß die Bothſchaft zu ſpät kömmt. Der Graf iſt bereits todt. Die Königinn geräth vor Schmerz außer ſich, ver - bannt die abſcheuliche Nottingham auf ewig aus ihren Augen, und giebt allen, die ſich als Feinde des Grafen erwieſen hatten, ihren bitterſten Un - willen zu erkennen.

Aus dieſem Plane iſt genugſam abzunehmen, daß der Eſſex des Banks ein Stück von weit mehr Natur, Wahrheit und Uebereinſtimmung iſt, als ſich in dem Eſſex des Corneille findet. Banks hat ſich ziemlich genau an die Geſchichte gehalten, nur daß er verſchiedne Begebenheiten näher zuſammen gerückt, und ihnen einen un - mittelbarern Einfluß auf das endliche Schickſal ſeines Helden gegeben hat. Der Vorfall mit der Ohrſeige iſt eben ſo wenig erdichtet, als der mit dem Ringe; beide finden ſich, wie ich ſchon angemerkt, in der Hiſtorie, nur jener weit frü - her und bey einer ganz andern Gelegenheit; ſo wie es auch von dieſem zu vermuthen. Denn es iſt begreiflicher, daß die Königinn dem Gra - fen den Ring zu einer Zeit gegeben, da ſie mitC 2ihm20ihm vollkommen zufrieden war, als daß ſie ihm dieſes Unterpfand ihrer Gnade itzt erſt ſollte ge - ſchenkt haben, da er ſich ihrer eben am meiſten verluſtig gemacht hatte, und der Fall, ſich deſ - ſen zu gebrauchen, ſchon wirklich da war. Die - ſer Ring ſollte ſie erinnern, wie theuer ihr der Graf damals geweſen, als er ihn von ihr erhal - ten; und dieſe Erinnerung ſollte ihm alsdann alle das Verdienſt wiedergeben, welches er un - glücklicher Weiſe in ihren Augen etwa könnte verloren haben. Aber was braucht es dieſes Zeichens, dieſer Erinnerung von heute bis auf morgen? Glaubt ſie ihrer günſtigen Geſinnun - gen auch auf ſo wenige Stunden nicht mächtig zu ſeyn, daß ſie ſich mit Fleiß auf eine ſolche Art feſſeln will? Wenn ſie ihm in Ernſte ver - geben hat, wenn ihr wirklich an ſeinem Leben gelegen iſt: wozu das ganze Spiegelgefechte? Warum konnte ſie es bey den mündlichen Ver - ſicherungen nicht bewenden laſſen? Gab ſie den Ring, blos um den Grafen zu beruhigen; ſo verbindet er ſie, ihm ihr Wort zu halten, er mag wieder in ihre Hände kommen, oder nicht. Gab ſie ihn aber, um durch die Wiedererhaltung deſſelben von der fortdauernden Reue und Unter - werfung des Grafen verſichert zu ſeyn: wie kann ſie in einer ſo wichtigen Sache ſeiner tödlichſten Feindinn glauben? Und hatte ſich die Notting - ham nicht kurz zuvor gegen ſie ſelbſt als eine ſolche bewieſen?

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So wie Banks alſo den Ring gebraucht hat, thut er nicht die beſte Wirkung. Mich dünkt, er würde eine weit beſſere thun, wenn ihn die Königinn ganz vergeſſen hätte, und er ihr plötz - lich, aber auch zu ſpät, eingehändiget würde, indem ſie eben von der Unſchuld, oder wenig - ſtens geringern Schuld des Grafen, noch aus andern Gründen überzeugt würde. Die Schen - kung des Ringes hätte vor der Handlung des Stücks lange müſſen vorhergegangen ſeyn, und blos der Graf hätte darauf rechnen müſſen, aber aus Edelmuth nicht eher Gebrauch davon machen wollen, als bis er geſehen, daß man auf ſeine Rechtfertigung nicht achte, daß die Königinn zu ſehr wider ihn eingenommen ſey, als daß er ſie zu überzeugen hoffen könne, daß er ſie alſo zu bewegen ſuchen müſſe. Und indem ſie ſo bewegt würde, müßte die Ueberzeugung dazu kommen; die Erkennung ſeiner Unſchuld und die Erinne - rung ihres Verſprechens, ihn auch dann, wenn er ſchuldig ſeyn ſollte, für unſchuldig gelten zu laſſen, müßten ſie auf einmal überraſchen, aber nicht eher überraſchen, als bis es nicht mehr in ih - rem Vermögen ſtehet, gerecht u. erkeñtlich zu ſeyn.

Viel glücklicher hat Banks die Ohrfeige in ſein Stück eingeflochten. Aber eine Ohrfeige in einem Trauerſpiele! Wie engliſch, wie unan - ſtändig! Ehe meine feinern Leſer zu ſehr dar - über ſpotten, bitte ich ſie, ſich der Ohrfeige imC 3Cid22Cid zu erinnern. Die Anmerkung, die der Hr. von Voltaire darüber gemacht hat, iſt in vieler - ley Betrachtung merkwürdig. Heut zu Tage, ſagt er, dürfte man es nicht wagen, einem Helden eine Ohrfeige geben zu laſſen. Die Schauſpieler ſelbſt wiſſen nicht, wie ſie ſich da - bey anſtellen ſollen; ſie thun nur, als ob ſie eine gäben. Nicht einmal in der Komödie iſt ſo etwas mehr erlaubt; und dieſes iſt das ein - zige Exempel, welches man auf der tragiſchen Bühne davon hat. Es iſt glaublich, daß man unter andern mit deswegen den Cid eine Tra - gikomödie betitelte; und damals waren faſt alle Stücke des Scuderi und des Boisrobert Tragikomödien. Man war in Frankreich lange der Meinung geweſen, daß ſich das ununter - brochne Tragiſche, ohne alle Vermiſchung mit gemeinen Zügen, gar nicht aushalten laſſe. Das Wort Tragikomödie ſelbſt, iſt ſehr alt; Plautus braucht es, ſeinen Amphitruo damit zu bezeichnen, weil das Abentheuer des Soſias zwar komiſch, Amphitruo ſelbſt aber in allem Ernſte betrübt iſt. Was der Herr von Voltaire nicht alles ſchreibt! Wie gern er im - mer ein wenig Gelehrſamkeit zeigen will, und wie ſehr er meiſtentheils damit verunglückt!

Es iſt nicht wahr, daß die Ohrfeige im Cid die einzige auf der tragiſchen Bühne iſt. Vol - taire hat den Eſſex des Banks entweder nichtge -23gekannt, oder vorausgeſetzt, daß die tragiſche Bühne ſeiner Nation allein dieſen Namen ver - diene. Unwiſſenheit verräth beides; und nur das letztere noch mehr Eitelkeit, als Unwiſſen - heit. Was er von dem Namen der Tragiko - mödie hinzufügt, iſt eben ſo unrichtig. Tragi - komödie hieß die Vorſtellung einer wichtigen Handlung unter vornehmen Perſonen, die einen vergnügten Ausgang hat; das iſt der Cid, und die Ohrfeige kam dabey gar nicht in Betrach - tung; denn dieſer Ohrfeige ungeachtet, nannte Corneille hernach ſein Stück eine Tragödie, ſo - bald er das Vorurtheil abgelegt hatte, daß eine Tragödie nothwendig eine unglückliche Kata - ſtrophe haben müſſe. Plautus braucht zwar das Wort Tragicocomœdia: aber er braucht es blos im Scherze; und gar nicht, um eine be - ſondere Gattung damit zu bezeichnen. Auch hat es ihm in dieſem Verſtande kein Menſch ab - geborgt, bis es in dem ſechszehnten Jahrhun - derte den Spaniſchen und Italieniſchen Dichtern einfiel, gewiſſe von ihren dramatiſchen Mißge - burten ſo zu nennen. (*)Ich weiß zwar nicht, wer dieſen Namen ei - gentlich zuerſt gebraucht hat; aber das weiß ich gewiß, daß es Garnier nicht iſt. Hedelin ſagte: Je ne ſçai ſi Garnier fut le premier qui ſ’en ſervit, mais il a fait porter ce titre à ſa Bradamante, ce que depuis pluſieurs ont imité. (Prat. du Th. liv. II. ch. 10.) UndWenn aber auch Plau -tus24tus ſeinen Amphitruo im Ernſte ſo genannt hätte, ſo wäre es doch nicht aus der Urſache geſchehen, die ihm Voltaire andichtet. Nicht weil der Antheil, den Soſias an der Handlung nimmt, komiſch, und der, den Amphitruo daran nimmt, tragiſch iſt: nicht darum hätte Plautus ſein Stück lieber eine Tragikomödie nennen wollen. Denn ſein Stück iſt ganz komiſch, und wir beluſtigen uns an der Verlegenheit des Amphitruo eben ſo ſehr, als an des Soſias ſeiner. Sondern dar - um, weil dieſe komiſche Handlung größtentheils unter höhern Perſonen vorgehet, als man in der Komödie zu ſehen gewohnt iſt. Plautus ſelbſt erklärt ſich dar - über deutlich genug:

Faciam ut commixta ſit Tragico-comœdia: Nam me perpetuo facere ut ſit Comœdia Reges quo veniant & di, non par arbitror. Quid igitur? quoniam hic ſervus quoque partes habet, Faciam hanc, proinde ut dixi, Tragico-co - mœdiam. ()Ham -

(*)Und dabey hätten es die Geſchichtſchreiber des franzöſiſchen Theaters auch nur ſollen bewen - den laſſen. Aber ſie machen die leichte Ver - muthung des Hedelins zur Gewißheit, und gratuliren ihrem Landsmanne zu einer ſo ſchö - nen Erfindung. Voici la premiére Tragi - Comedie, ou pour mieux dire le premier poeme du Theatre qui a porté ce titre Garnier ne connoiſſoit pas aſſez les fineſſes de l’art qu’il profeſſoit; tenons-lui cepen - dent compte d’avoir le premier, & ſans le ſecours des Anciens, ni de ſes contempo - rains, fait entrevoir une idée, qui n’a pas été inutile à beaucoup d’Auteurs du der - nier ſiecle. Garniers Bradamante iſt von 1682, und ich kenne eine Menge weit frühere ſpaniſche und italieniſche Stücke, die dieſen Titel führen.

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Hamburgiſche Dramaturgie. Sechs und funfzigſtes Stück.

Aber wiederum auf die Ohrfeige zu kom - men. Einmal iſt es doch nun ſo, daß eine Ohrfeige, die ein Mann von Ehre von ſeines Gleichen oder von einem Höhern be - kömmt, für eine ſo ſchimpfliche Beleidigung ge - halten wird, daß alle Genugthuung, die ihm die Geſetze dafür verſchaffen können, vergebens iſt. Sie will nicht von einem dritten beſtraft, ſie will von dem Beleidigten ſelbſt gerächet, und auf eine eben ſo eigenmächtige Art gerächet ſeyn, als ſie erwieſen worden. Ob es die wahre oder die falſche Ehre iſt, die dieſes gebiethet, davon iſt hier die Rede nicht. Wie geſagt, es iſt nun einmal ſo.

Und wenn es nun einmal in der Welt ſo iſt: warum ſoll es nicht auch auf dem Theater ſo ſeyn? Wenn die Ohrfeigen dort im Gange ſind: warum nicht auch hier?

D Die26

Die Schauſpieler, ſagt der Herr von Vol - taire, wiſſen nicht, wie ſie ſich dabey anſtellen ſollen. Sie wüßten es wohl; aber man will eine Ohrfeige auch nicht einmal gern im fremden Namen haben. Der Schlag ſetzt ſie in Feuer; die Perſon erhält ihn, aber ſie fühlen ihn; das Gefühl hebt die Verſtellung auf; ſie gerathen aus ihrer Faſſung; Scham und Verwirrung äußert ſich wider Willen auf ihrem Geſichte; ſie ſollten zornig ausſehen, und ſie ſehen albern aus; und jeder Schauſpieler, deſſen eigene Em - pfindungen mit ſeiner Rolle in Colliſion kommen, macht uns zu lachen.

Es iſt dieſes nicht der einzige Fall, in wel - chem man die Abſchaffung der Maſ ken betauern möchte. Der Schauſpieler kann ohnſtreitig unter der Maſke mehr Contenance halten; ſeine Perſon findet weniger Gelegenheit auszubre - chen; und wenn ſie ja ausbricht, ſo werden wir dieſen Ausbruch weniger gewahr.

Doch der Schauſpieler verhalte ſich bey der Ohrfeige, wie er will: der dramatiſche Dichter arbeitet zwar für den Schauſpieler, aber er muß ſich darum nicht alles verſagen, was dieſem we - niger thulich und bequem iſt. Kein Schauſpie - ler kann roth werden, wenn er will: aber gleich - wohl darf es ihm der Dichter vorſchreiben; gleichwohl darf er den einen ſagen laſſen, daß er es den andern werden ſieht. Der Schau -ſpieler27ſpieler will ſich nicht ins Geſichte ſchlagen laſſen; er glaubt, es mache ihn verächtlich; es verwirrt ihn; es ſchmerzt ihn: recht gut! Wenn er es in ſeiner Kunſt ſo weit noch nicht gebracht hat, daß ihn ſo etwas nicht verwirret; wenn er ſeine Kunſt ſo ſehr nicht liebet, daß er ſich, ihr zum Beſten, eine kleine Kränkung will gefallen laſ - ſen: ſo ſuche er über die Stelle ſo gut wegzu - kommen, als er kann; er weiche dem Schlage aus; er halte die Hand vor; nur verlange er nicht, daß ſich der Dichter ſeinetwegen mehr Bedenklichkeiten machen ſoll, als er ſich der Perſon wegen macht, die er ihn vorſtellen läßt. Wenn der wahre Diego, wenn der wahre Eſſex eine Ohrfeige hinnehmen muß: was wollen ihre Repräſentanten dawider einzuwenden haben?

Aber der Zuſchauer will vielleicht keine Ohr - feige geben ſehen? Oder höchſtens nur einem Bedienten, den ſie nicht beſonders ſchimpft, für den ſie eine ſeinem Stande angemeſſene Züchti - gung iſt? Einem Helden hingegen, einem Hel - den eine Ohrfeige! wie klein, wie unanſtän - dig! Und wenn ſie das nun eben ſeyn ſoll? Wenn eben dieſe Unanſtändigkeit die Quelle der gewaltſamſten Entſchließungen, der blutigſten Rache werden ſoll, und wird? Wenn jede ge - ringere Beleidigung dieſe ſchreckliche Wirkun - gen nicht hätte haben können? Was in ſeinen Folgen ſo tragiſch werden kann, was unter ge -D 2wiſſen28wiſſen Perſonen nothwendig ſo tragiſch werden muß, ſoll dennoch aus der Tragödie ausgeſchloſ - ſen ſeyn, weil es auch in der Komödie, weil es auch in dem Poſſenfpiele Platz findet? Worüber wir einmal lachen, ſollen wir ein andermal nicht erſchrecken können?

Wenn ich die Ohrfeigen aus einer Gattung des Drama verbannt wiſſen möchte, ſo wäre es aus der Komödie. Denn was für Folgen kann ſie da haben? Traurige? die ſind über ihrer Sphäre. Lächerliche? die ſind unter ihr, und gehören dem Poſſenſpiele. Gar keine? ſo ver - lohnte es nicht der Mühe, ſie geben zu laſſen. Wer ſie giebt, wird nichts als pöbelhafte Hitze, und wer ſie bekömmt, nichts als knechtiſche Kleinmuth verrathen. Sie verbleibt alſo den beiden Extremis, der Tragödie und dem Poſſen - ſpiele; die mehrere dergleichen Dinge gemein haben, über die wir entweder ſpotten oder zit - tern wollen.

Und ich frage jeden, der den Cid vorſtellen ſehen, oder ihn mit einiger Aufmerkſamkeit auch nur geleſen, ob ihn nicht ein Schauder überlau - fen, wenn der großſprecheriſche Gormas den alten würdigen Diego zu ſchlagen ſich erdreiſtet? Ob er nicht das empfindlichſte Mitleid für dieſen, und den bitterſten Unwillen gegen jenen empfun - den? Ob ihm nicht auf einmal alle die blutigen und traurigen Folgen, die dieſe ſchimfliche Be -geg -29gegnung nach ſich ziehen müſſe, in die Gedanken geſchoſſen, und ihn mit Erwartung und Furcht erfüllet? Gleichwohl ſoll ein Vorfall, der alle dieſe Wirkung auf ihn hat, nicht tragiſch ſeyn?

Wenn jemals bey dieſer Ohrfeige gelacht wor - den, ſo war es ſicherlich von einem auf der Gal - lerie, der mit den Ohrfeigen zu bekannt war, und eben itzt eine von ſeinem Nachbar verdient hätte. Wen aber die ungeſchickte Art, mit der ſich der Schauſpieler etwa dabey betrug, wi - der Willen zu lächeln machte, der biß ſich ge - ſchwind in die Lippe, und eilte, ſich wieder in die Täuſchung zu verſetzen, aus der faſt jede ge - waltſamere Handlung den Zuſchauer mehr oder weniger zu bringen pflegt.

Auch frage ich, welche andere Beleidigung wohl die Stelle der Ohrfeige vertreten könnte? Für jede andere würde es in der Macht des - nigs ſtehen, dem Beleidigten Genugthuung zu ſchaffen; für jede andere würde ſich der Sohn weigern dürfen, ſeinem Vater den Vater ſeiner Geliebten aufzuopfern. Für dieſe einzige läßt das Pundonor weder Entſchuldigung noch Ab - bitte gelten; und alle gütliche Wege, die ſelbſt der Monarch dabey einleiten will, ſind frucht - los. Corneille ließ nach dieſer Denkungsart den Gormas, wenn ihn der König andeuten läßt, den Diego zufrieden zu ſtellen, ſehr wohl antworten:

D 3Ces30
Ces ſatisfactions n’appaiſſent point une
ame:
Qui les reçoit n’a rien, qui les fait ſe
diffame.
Et de tous ces accords l’effet le plus
commun,
C’eſt de deshonorer deux hommes au
lieu d’un.

Damals war in Frankreich das Edict wider die Duelle nicht lange ergangen, dem dergleichen Maximen ſchnurſtracks zuwider liefen. Cor - neille erhielt alſo zwar Befehl, die ganzen Zeilen wegzulaſſen; und ſie wurden aus dem Munde der Schauſpieler verbannt. Aber jeder Zu - ſchauer ergänzte ſie aus dem Gedächtniſſe, und aus ſeiner Empfindung.

In dem Eſſex wird die Ohrfeige dadurch noch kritiſcher, daß ſie eine Perſon giebt, welche die Geſetze der Ehre nicht verbinden. Sie iſt Frau und Königinn: was kann der Beleidigte mit ihr anfangen? Ueber die handfertige wehrhafte Frau würde er ſpotten; denn eine Frau kann weder ſchimpfen, noch ſchlagen. Aber dieſe Frau iſt zugleich der Souverain, deſſen Beſchimpfun - gen unauslöſchlich ſind, da ſie von ſeiner Würde eine Art von Geſetzmäßigkeit erhalten. Was kann alſo natürlicher ſcheinen, als daß Eſſex ſich wider dieſe Würde ſelbſt auflehnet, und gegen die Höhe tobet, die den Beleidiger ſeiner Racheent -31entzieht? Ich wüßte wenigſtens nicht, was ſeine letzten Vergehungen ſonſt wahrſcheinlich hätten machen können. Die bloße Ungnade, die bloße Entſetzung ſeiner Ehrenſtellen konnte und durfte ihn ſo weit nicht treiben. Aber durch eine ſo knechtiſche Behandlung außer ſich ge - bracht, ſehen wir ihn alles, was ihm die Ver - zweiflung eingiebt, zwar nicht mit Billigung, doch mit Entſchuldigung unternehmen. Die Königinn ſelbſt muß ihn aus dieſem Geſichts - punkte ihrer Verzeihung würdig erkennen; und wir haben ſo ungleich mehr Mitleid mit ihm, als er uns in der Geſchichte zu verdienen ſcheinet, wo das, was er hier in der erſten Hitze der gekränkten Ehre thut, aus Eigennutz und andern niedrigen Abſichten geſchieht.

Der Streit, ſagt die Geſchichte, bey welchem Eſſex die Ohrfeige erhielt, war über die Wahl eines Königs von Irrland. Als er ſahe, daß die Königinn auf ihrer Meinung beharrte, wandte er ihr mit einer ſehr verächtlichen Ge - behrde den Rücken. In dem Augenblicke fühlte er ihre Hand, und ſeine fuhr nach dem Degen. Er ſchwur, daß er dieſeu Schimpf weder leiden könne noch wolle; daß er ihn ſelbſt von ihrem Vater Heinrich nicht würde erduldet haben: und ſo begab er ſich vom Hofe. Der Brief, den er an den Kanzler Egerton über dieſen Vor - fall ſchrieb, iſt mit dem würdigſten Stolze abge -faßt,32faßt, und er ſchien feſt entſchloſſen, ſich der - niginn nie wieder zu nähern. Gleichwohl fin - den wir ihn bald darauf wieder in ihrer völligen Gnade, und in der völligen Wirkſamkeit eines ehrgeitzigen Lieblings. Dieſe Verſöhnlichkeit, wenn ſie ernſtlich war, macht uns eine ſehr ſchlechte Idee von ihm; und keine viel beſſere, wenn ſie Verſtellung war. In dieſem Falle war er wirklich ein Verräther, der ſich alles ge - fallen ließ, bis er den rechten Zeitpunkt gekom - men zu ſeyn glaubte. Ein elender Weinpacht, den ihm die Königinn nahm, brachte ihn am Ende weit mehr auf, als die Ohrfeige; und der Zorn über dieſe Verſchmälerung ſeiner Einkünf - te, verblendete ihn ſo, daß er ohne alle Ueber - legung losbrach. So finden wir ihn in der Geſchichte, und verachten ihn. Aber nicht ſo bey dem Banks, der ſeinen Aufſtand zu der un - mittelbaren Folge der Ohrfeige macht, und ihm weiter keine treuloſen Abſichten gegen ſeine - niginn beylegt. Sein Fehler iſt der Fehler einer edeln Hitze, den er bereuet, der ihm vergeben wird, und der blos durch die Bosheit ſeiner Feinde der Strafe nicht entgeht, die ihm ge - ſchenkt war.

Ham -[33]

Hamburgiſche Dramaturgie. Sieben und funfzigſtes Stück.

Banks hat die nehmlichen Worte beybehal - ten, die Eſſex über die Ohrfeige ausſtieß. Nur daß er ihn dem einen Heinriche noch alle Heinriche in der Welt, mit ſammt Alexan - dern, beyfügen läßt. (*)Act. III. By all The Subtilty, and Woman in your Sex, I ſwear, that had you been a Man you durſt not, Nay, your bold Father Harry durſt not this Have done Why ſay I him? Not all the Harrys, Nor Alexander’s ſelf, were he alive, Shou’d boaſt of ſuch a deed on Eſſex done Without revenge. ()Sein Eſſex iſt über - haupt zu viel Prahler; und es fehlet wenig, daß er nicht ein eben ſo großer Gaſconier iſt, als derEſſexE34Eſſex des Gaſconiers Calprenede. Dabey er - trägt er ſein Unglück viel zu kleinmüthig, und iſt bald gegen die Königinn eben ſo kriechend, als er vorher vermeſſen gegen ſie war. Banks hat ihn zu ſehr nach dem Leben geſchildert. Ein Charakter, der ſich ſo leicht vergißt, iſt kein Charakter, und eben daher der dramatiſchen Nachahmung unwürdig. In der Geſchichte kann man dergleichen Widerſprüche mit ſich ſelbſt, für Verſtellung halten, weil wir in der Geſchichte doch ſelten das Innerſte des Herzens kennen lernen: aber in dem Drama werden wir mit dem Helden allzuvertraut, als daß wir nicht gleich wiſſen ſollten, ob ſeine Geſinnungen wirk - lich mit den Handlungen, die wir ihm nicht zu - getrauet hätten, übereinſtimmen, oder nicht. Ja, ſie mögen es, oder ſie mögen es nicht: der tragiſche Dichter kann ihn in beiden Fällen nicht recht nutzen. Ohne Verſtellung fällt der Cha - rakter weg; bey der Verſtellung die Würde deſ - ſelben.

Mit der Eliſabeth hat er in dieſen Fehler nicht fallen können. Dieſe Frau bleibt ſich in der Geſchichte immer ſo vollkommen gleich, als es wenige Männer bleiben. Ihre Zärtlichkeit ſelbſt, ihre heimliche Liebe zu dem Eſſex, hat er mit vieler Anſtändigkeit behandelt; ſie iſt auch bey ihm gewiſſermaßen noch ein Geheim -niß.35niß. Seine Eliſabeth klagt nicht, wie die Eliſa - beth des Corneille, über Kälte und Verachtung, über Gluth und Schickſal; ſie ſpricht von keinem Gifte, das ſie verzehre; ſie jammert nicht, daß ihr der Undankbare eine Suffolk vorziehe, nachdem ſie ihm doch deutlich genug zu verſtehen gegeben, daß er um ſie allein ſeufzen ſolle, u. ſ. w. Keine von dieſen Armſeligkeiten kömmt über ihre Lip - pen. Sie ſpricht nie, als eine Verliebte; aber ſie handelt ſo. Man hört es nie, aber man ſieht es, wie theuer ihr Eſſex ehedem geweſen, und noch iſt. Einige Funken Eiferſucht verra - then ſie; ſonſt würde man ſie ſchlechterdings für nichts, als für ſeine Freundinn halten können.

Mit welcher Kunſt aber Banks ihre Geſin - nungen gegen den Grafen in Action zu ſetzen gewußt, das können folgende Scenen des drit - ten Aufzuges zeigen. Die Königinn glaubt ſich allein, und überlegt den unglücklichen Zwang ihres Standes, der ihr nicht erlaube, nach der wahren Neigung ihres Herzens zu handeln. In - dem wird ſie die Nottingham gewahr, die ihr nachgekommen.

Die Königinn.

Du hier, Nottingham? Ich glaubte, ich ſey allein.

Nottingham.

Verzeihe, Königinn, daß ich ſo kühn bin. Und doch befiehlt mir meineE 2Pflicht,36Pflicht, noch kühner zu ſeyn. Dich bekümmert etwas. Ich muß fragen, aber erſt auf meinen Knien Dich um Verzeihung bitten, daß ich es fra - ge Was iſts, das Dich bekümmert? Was iſt es, das dieſe erhabene Seele ſo tief herab beu - get? Oder iſt Dir nicht wohl?

Die Königinn.

Steh auf; ich bitte dich. Mir iſt ganz wohl. Ich danke dir für deine Lie - be. Nur unruhig, ein wenig unruhig bin ich, meines Volkes wegen. Ich habe lange regiert, und ich fürchte, ihm nur zu lange. Es fängt an, meiner überdrüßig zu werden. Neue Kronen ſind wie neue Kränze; die friſcheſten, ſind die lieb - lichſten. Meine Sonne neiget ſich; ſie hat in ih - rem Mittage zu ſehr gewärmet; man fühlet ſich zu heiß; man wünſcht, ſie wäre ſchon untergegan - gen. Erzehle mir doch, was ſagt man von der Ueberkunft des Eſſex?

Nottingham.

Von ſeiner Ueberkunft ſagt man nicht das Beſte. Aber von ihm er iſt für einen ſo tapfern Mann bekannt

Die Königinn.

Wie? tapfer? da er mir ſo dienet? Der Verräther!

Nottingham.

Gewiß, es war nicht gut

Die Königinn.

Nicht gut! nicht gut? Weiter nichts?

Nottingham.

Es war eine verwegene, fre - velhafte That.

Die37
Die Königinn.

Nicht wahr, Notting - ham? Meinen Befehl ſo gering zu ſchätzen! Er hätte den Tod dafür verdient. Weit geringere Verbrechen haben hundert weit geliebtern Lieblin - gen den Kopf gekoſtet.

Nottingham.

Ja wohl. Und doch ſollte Eſſex, bey ſo viel größerer Schuld, mit geringerer Strafe davon kommen? Er ſollte nicht ſterben?

Die Königinn.

Er ſoll! Er ſoll ſterben, und in den empfindlichſten Martern ſoll er ſter - ben! Seine Pein ſey, wie ſeine Verrätherey, die größte von allen! Und dann will ich ſeinen Kopf und ſeine Glieder, nicht unter den finſtern Thoren, nicht auf den niedrigen Brücken, auf den höchſten Zinnen will ich ſie aufgeſteckt wiſſen, da - mit jeder, der vorübergeht, ſie erblicke und aus - rufe: Siehe da, den ſtolzen undankbaren Eſſex! Dieſen Eſſex, welcher der Gerechtigkeit ſeiner - niginn trotzte! Wohl gethan! Nicht mehr, als er verdiente! Was ſagſt du, Notting - ham? Meineſt du nicht auch? Du ſchweigſt? Warum ſchweigſt du? Willſt du ihn noch vertre - ten?

Nottingham.

Weil Du es denn befiehlſt, Königinn, ſo will ich Dir alles ſagen, was die Welt von dieſem ſtolzen, undankbaren Manne ſpricht.

Die Königinn.

Thu das! Laß hören: was ſagt die Welt von ihm und mir?

E 3Not -38
Nottingham.

Von Dir, Königinn? Wer iſt es, der von Dir nicht mit Entzücken und Bewunderung ſpräche? Der Nachruhm eines ver - ſtorbenen Heiligen iſt nicht lauterer, als Dein Lob, von dem aller Zungen ertönen. Nur dieſes einzige wünſchet man, und wünſchet es mit den heiſſeſten Thränen, die aus der reinſten Liebe gegen Dich ent - ſpringen, dieſes einzige, daß Du geruhen möch - teſt, ihren Beſchwerden gegen dieſen Eſſex abzuhel - fen, einen ſolchen Verräther nicht länger zu ſchützen, ihn nicht länger der Gerechtigkeit und der Schande vorzuenthalten, ihn endlich der Rache zu überlie - fern

Die Königinn.

Wer hat mir vorzuſchreiben?

Nottingham.

Dir vorzuſchreiben! Schrei - bet man dem Himmel vor, wenn man ihn in tiefe - ſter Unterwerfung anflehet? Und ſo flehet Dich alles wider den Mann an, deſſen Gemüthsart ſo ſchlecht, ſo boshaft iſt, daß er es auch nicht der Mühe werth achtet, den Heuchler zu ſpielen. Wie ſtolz! wie aufgeblaſen! Und wie unartig, - belhaft ſtolz; nicht anders als ein elender Lakey auf ſeinen bunten verbrämten Rock! Daß er tapfer iſt, räumt man ihm ein; aber ſo, wie es der Wolf oder der Bär iſt, blind zu, ohne Plan und Vor - ſicht. Die wahre Tapferkeit, welche eine edle Seele über Glück und Unglück erhebt, iſt fern von ihm. Die geringſte Beleidigung bringt ihn auf; er tobt und raſet über ein Nichts; alles ſoll ſich vorihm39ihm ſchmiegen; überall will er allein glänzen, al - lein hervorragen. Lucifer ſelbſt, der den erſten Saamen des Laſters in dem Himmel ausſtreuete, war nicht ehrgeitziger und herrſchſüchtiger, als er. Aber, ſo wie dieſer aus dem Himmel ſtürzte

Die Königinn.

Gemach, Nottingham, ge - mach! Du eiferſt dich ja ganz aus dem Athen. Ich will nichts mehr hören

(bey Seite)

Gift und Blattern auf ihre Zunge! Gewiß, Not - tingham, du ſollteſt dich ſchämen, ſo etwas auch nur nachzuſagen; dergleichen Niederträchtigkei - ten des boshaften Pöbels zu wiederholen. Und es iſt nicht einmal wahr, daß der Pöbel das ſagt. Er denkt es auch nicht. Aber ihr, ihr wünſcht, daß er es ſagen möchte.

Nottingham.

Ich erſtanne, Königinn

Die Königinn.

Worüber?

Nottingham.

Du gebotheſt mir ſelbſt, zu reden

Die Königinn.

Ja, wenn ich es nicht be - merkt hätte, wie gewünſcht dir dieſes Geboth kam! wie vorbereitet du darauf wareſt! Auf einmal glühte dein Geſicht, flammte dein Auge; das volle Herz freute ſich, überzufließen, und jedes Wort, jede Gebehrde hatte ſeinen längſt abgezielten Pfeil, deren jeder mich mit trift.

Nottingham.

Verzeihe, Königinn, wenn ich in dem Ausdrucke meine Schuldigkeit gefehlet habe. Ich maß ihn nach Deinem ab.

Die40
Die Königinn.

Rach meinem? Ich bin ſeine Königinn. Mir ſteht es frey, dem Dinge, das ich geſchaffen habe, mitzuſpielen, wie ich will. Auch hat er ſich der gräßlichſten Verbrechen gegen meine Perſon ſchuldig gemacht. Mich hat er belei - diget; aber nicht dich. Womit könnte dich der arme Mann beleidiget haben? Du haſt keine Ge - ſetze, die er übertreten, keine Unterthanen, die er bedrücken, keine Krone, nach der er ſtreben könnte. Was findeſt du denn alſo für ein grauſa - mes Vergnügen, einen Elenden, der ertrinken will, lieber noch auf den Kopf zu ſchlagen, als ihm die Hand zu reichen?

Nottingham.

Ich bin zu tadeln

Die Königinn.

Genug davon! Seine Königinn, die Welt, das Schickſal ſelbſt erklärt ſich wider dieſen Mann, und doch ſcheinet er dir kein Mitleid, keine Entſchuldigung zu verdienen?

Nottingham.

Ich bekenne es, Königinn,

Die Königinn.

Geh, es ſey dir verge - ben! Rufe mir gleich die Rutland her.

Ham -[41]

Hamburgiſche Dramaturgie. Acht und funfzigſtes Stück.

Nottingham geht, und bald darauf erſchei - net Rutland. Man erinnere ſich, daß Rutland, ohne Wiſſen der Königinn, mit dem Eſſex vermählt iſt.

Die Königinn.

Kömmſt du, liebe Rutland? Ich habe nach dir geſchickt. Wie iſts? Ich finde dich, ſeit einiger Zeit, ſo traurig. Woher dieſe trübe Wolke, die dein holdes Auge umziehet? Sey munter, liebe Rutland; ich will dir einen wackern Mann ſuchen.

Rutland.

Großmüthige Frau! Ich ver - diene es nicht, daß meine Königinn ſo gnädig auf mich herabſiehet.

Die Königinn.

Wie kannſt du ſo reden? Ich liebe dich; ja wohl liebe ich dich. Du ſollſt es daraus ſchon ſehen! Eben habe ich mit der Nottingham, der widerwärtigen! einen Streit gehabt; und zwar über Mylord Eſſex.

FRut -42
Rutland.

Ha!

Die Königinn.

Sie hat mich recht ſehr ge - ärgert. Ich konnte ſie nicht länger vor Augen ſehen.

Rutland.
(bey Seite)

Wie fahre ich bey die - ſem theuern Namen zuſammen! Mein Geſicht wird mich verrathen. Ich fühl es; ich werde blaß und wieder roth.

Die Königinn.

Was ich dir ſage, macht dich erröthen?

Rutland.

Dein ſo überraſchendes, gütiges Vertrauen, Königinn,

Die Königinn.

Ich weiß, daß du mein Ve[r]trauen verdieneſt. Komm, Rutland, ich will dir alles ſagen. Du ſollſt mir rathen. Ohne Zweifel, liebe Rutland, wirſt du es auch gehört haben, wie ſehr das Volk wider den armen, unglücklichen Mann ſchreyet; was für Verbrechen es ihm zur Laſt leget. Aber das Schlimmſte weißt du vielleicht noch nicht? Er iſt heute aus Irrland angekommen; wider meinen ausdrücklichen Be - fehl; und hat die dortigen Angelegenheiten in der größten Verwirrung gelaſſen.

Rutland.

Darf ich Dir, Königinn, wohl ſagen, was ich denke? Das Geſchrey des Vol - kes, iſt nicht immer die Stimme der Wahrheit. Sein Haß iſt öfters ſo ungegründet

Die Königinn.

Du ſprichſt die wahren Ge - danken meiner Seele. Aber, liebe Rutland, eriſt43iſt dem ohngeachtet zu tadeln. Komm her, meine Liebe; laß mich an deinen Buſen mich lehnen. O gewiß, man legt mir es zu nahe! Nein, ſo will ich mich nicht unter ihr Joch bringen laſſen. Sie vergeſſen, daß ich ihre Königinn bin. Ah, Lie - be; ſo ein Freund hat mir längſt gefehlt, gegen den ich ſo meinen Kummer ausſchütten kann!

Rutland.

Siehe meine Thränen, Königinn Dich ſo leiden zu ſehen, die ich ſo bewundere! O, daß mein guter Engel Gedanken in meine Seele, und Worte auf meine Zunge legen wollte, den Sturm in Deiner Bruſt zu beſchwören, und Balſam in Deine Wunden zu gießen!

Die Königinn.

O, ſo wäreſt du mein gu - ter Engel! mitleidige, beſte Rutland! Sage, iſt es nicht Schade, daß ſo ein braver Mann ein Verräther ſeyn ſoll? daß ſo ein Held, der wie ein Gott verehret ward, ſich ſo erniedrigen kann, mich um einen kleinen Thron bringen zu wollen?

Rutland.

Das hätte er gewollt? das könnte er wollen? Nein, Königinn, gewiß nicht, gewiß nicht! Wie oft habe ich ihn von Dir ſprechen hören! mit welcher Ergebenheit, mit welcher Bewunde - rung, mit welchem Entzücken habe ich ihn von Dir ſprechen hören!

Die Königinn.

Haſt du ihn wirklich von mir ſprechen hören?

Rutland.

Und immer als einen Begeiſterten, aus dem nicht kalte Ueberlegung, aus dem ein in -F 2neres44neres Gefühl ſpricht, deſſen er nicht mächtig iſt. Sie iſt, ſagte er, die Göttinn ihres Geſchlechts, ſo weit über alle andere Frauen erhaben, daß das, was wir in dieſen am meiſten bewundern, Schön - heit und Reitz, in ihr nur die Schatten ſind, ein größeres Licht dagegen abzuſetzen. Jede weibliche Vollkommenheit verliert ſich in ihr, wie der ſchwache Schimmer eines Sternes in dem alles überſtrömen - den Glanze des Sonnenlichts. Nichts überſteigt ihre Güte; die Huld ſelbſt beherrſchet, in ihrer Perſon, dieſe glückliche Inſel; ihre Geſetze ſind aus dem ewigen Geſetzbuche des Himmels gezogen, und werden dort von Engeln wieder aufgezeichnet. O, unterbrach er ſich dann mit einem Seufzer, der ſein ganzes getreues Herz ausdrückte, o, daß ſie nicht unſterblich ſeyn kann! Ich wünſche ihn nicht zu erleben, den ſchrecklichen Augenblick, wenn die Gottheit dieſen Abglanz von ſich zurückruft, und mit eins ſich Nacht und Verwirrung über Britan - nien verbreiten.

Die Königinn.

Sagte er das, Rutland?

Rutland.

Das, und weit mehr. Immer ſo neu, als wahr in Deinem Lobe, deſſen unver - ſiegene Quelle von den lauterſten Geſinnungen gegen Dich überſtrömte

Die Königinn.

O, Rutland, wie gern glaube ich dem Zeugniſſe, das du ihm giebſt!

Rutland.

Und kannſt ihn noch für einen Ver - räther halten?

Die45
Die Königinn.

Nein; aber doch hat er die Geſetze übertreten. Ich muß mich ſchämen, ihn länger zu ſchützen. Ich darf es nicht einmal wagen, ihn zu ſehen.

Rutland.

Ihn nicht zu ſehen, Königinn? nicht zu ſehen? Bey dem Mitleid, das ſeinen Thron in Deiner Seele aufgeſchlagen, beſchwöre ich Dich, Du mußt ihn ſehen! Schämen? weſ - ſen? daß Du mit einem Unglücklichen Erbarmen haſt? Gott hat Erbarmen: und Erbarmen ſollte Könige ſchimpfen? Nein, Königinn; ſey auch hier Dir ſelbſt gleich. Ja, Du wirſt es; Du wirſt ihn ſehen, wenigſtens einmal ſehen

Die Königinn.

Ihn, der meinen ausdrück - lichen Befehl ſo geringſchätzen können? Ihn, der ſich ſo eigenmächtig vor meine Augen drengen darf? Warum blieb er nicht, wo ich ihm zu bleiben be - fahl?

Rutland.

Rechne ihm dieſes zu keinem Ver - brechen! Gieb die Schuld der Gefahr, in der er ſich ſahe. Er hörte, was hier vorgieng; wie ſehr man ihn zu verkleinern, ihn Dir verdächtig zu machen ſuche. Er kam alſo, zwar ohne Erlaub - niß, aber in der beſten Abſtcht; in der Abſicht, ſich zu rechtfertigen, und Dich nicht hintergehen zu laſſen.

Die Königinn.

Gut; ſo will ich ihn denn ſehen, und will ihn gleich ſehen. O, meine Rut - land, wie ſehr wünſche ich es, ihn noch immerF 3eben46eben ſo rechtſchaffen zu finden, als tapfer ich ihn kenne!

Rutland.

O, nähre dieſe günſtige Gedan - ke! Deine königliche Seele kann keine gerechtere hägen. Rechtſchaffen! So wirſt Du ihn gewiß finden. Ich wollte für ihn ſchwören; bey aller Deiner Herrlichkeit für ihn ſchwören, daß er es nie aufgehöret zu ſeyn. Seine Seele iſt reiner als die Sonne, die Flecken hat, und irrdiſche Dünſte an ſich ziehet, und Geſchmeiß ausbrütet. Du ſagſt, er iſt tapfer; und wer ſagt es nicht? Aber ein tapferer Mann iſt keiner Niederträchtigkeit - hig. Bedenke, wie er die Rebellen gezüchtiget; wie furchtbar er Dich dem Spanier gemacht, der vergebens die Schätze ſeiner Indien wider Dich verſchwendete. Sein Name floh vor Deinen Flot - ten und Völkern vorher, und ehe dieſe noch eintra - fen, hatte öfters ſchon ſein Name geſiegt.

Die Königinn.
(bey Seite)

Wie beredt ſie iſt! Ha! dieſes Feuer, dieſe Innigkeit, das bloße Mitleid gehet ſo weit nicht. Ich will es gleich hören!

(zu ihr)

Und dann, Rutland, ſeine Geſtalt

Rutland.

Recht, Königinn; ſeine Geſtalt. Nie hat eine Geſtalt den innern Vollkommenheiten mehr entſprochen! Bekenn es, Du, die Du ſelbſt ſo ſchön biſt, daß man nie einen ſchönern Mann geſehen! So würdig, ſo edel, ſo kühn und gebietheriſch die Bildung! Jedes Glied, in welcherHar -47Harmonie mit dem andern! Und doch das Ganze von einem ſo ſauften lieblichen Umriſſe! Das wahre Modell der Natur, einen vollkommenen Mann zu bilden! Das ſeltene Muſter der Kunſt, die aus hundert Gegenſtänden zuſammen ſuchen muß, was ſie hier bey einander findet!

Die Königinn.
(bey Seite)

Ich dacht es! Das iſt nicht länger auszuhalten.

(zu ihr)

Wie iſt dir, Rutland? Du geräthſt außer dir. Ein Wort, ein Bild überjagt das andere. Was ſpielt ſo den Meiſter über dich? Iſt es blos deine - niginn, iſt es Eſſex ſelbſt, was dieſe wahre, oder dieſe erzwungene Leidenſchaft wirket?

(bey Seite)

Sie ſchweigt; ganz gewiß, ſie liebt ihn. Was habe ich gethan? Welchen neuen Sturm habe ich in meinem Buſen erregt? u. ſ. w.

Hier erſcheinen Burleigh und die Notting - ham wieder, der Königinn zu ſagen, daß Eſſex ihren Befehl erwarte. Er ſoll vor ſie kommen. Rutland, ſagt die Königinn, wir ſprechen einander ſchon weiter; geh nur. Notting - ham, tritt du näher. Dieſer Zug der Ei - ferſucht iſt vortrefflich. Eſſex kömmt; und nun erfolgt die Scene mit der Ohrfeige. Ich wüßte nicht, wie ſie verſtändiger und glücklicher vor - bereitet ſeyn könnte. Eſſex anfangs, ſcheinet ſich völlig unterwerfen zu wollen; aber, da ſie ihm befiehlt, ſich zu rechtfertigen, wird er nachund48und nach hitzig; er prahlt, er pocht, er trotzt. Gleichwohl hätte alles das die Königinn ſo weit nicht aufbringen können, wenn ihr Herz nicht ſchon durch Eiferſucht erbittert geweſen wäre. Es iſt eigentlich die eiferſüchtige Liebhaberinn, welche ſchlägt, und die ſich nur der Hand der Königinn bedienet. Eiferſucht überhaupt ſchlägt gern.

Ich, meines Theils, möchte dieſe Scenen lieber auch nur gedacht, als den ganzen Eſſex des Corneille gemacht haben. Sie ſind ſo cha - rakteriſtiſch, ſo voller Leben und Wahrheit, daß das Beſte des Franzoſen eine ſehr armſelige Fi - gur dagegen macht.

Ham -[49]

Hamburgiſche Dramaturgie. Neun und funfzigſtes Stück.

Nur den Stil des Banks muß man aus mei - ner Ueberſetzung nicht beurtheilen. Von ſeinem Ausdrucke habe ich gänzlich abge - hen müſſen. Er iſt zugleich ſo gemein und ſo koſtbar, ſo kriechend und ſo hochtrabend, und das nicht von Perſon zu Perſon, ſondern ganz durchaus, daß er zum Muſter dieſer Art von Mißhelligkeit dienen kann. Ich habe mich zwi - ſchen beide Klippen, ſo gut als möglich, durchzu - ſchleichen geſucht; dabey aber doch an der einen lieber, als an der andern, ſcheitern wollen.

Ich habe mich mehr vor dem Schwülſtigen gehütet, als vor dem Platten. Die mehreſten hätten vielleicht gerade das Gegentheil gethan; denn ſchwülſtig und tragiſch, halten viele ſo ziem - lich für einerley. Nicht nur viele, der Leſer: auch viele, der Dichter ſelbſt. Ihre Helden ſollten wie andere Menſchen ſprechen? WasGwären50wären das für Helden? Ampullæ & ſesqui - pedalia verba, Sentenzen und Blaſen und ellenlange Worte: das macht ihnen den wahren Ton der Tragödie.

Wir haben es an nichts fehlen laſſen, ſagt Diderot,(*)Zweyte Unterredung hinter dem natürlichen Sohne. S. d. Ueberſ. 247. (man merke, daß er vornehmlich von ſeinen Landsleuten ſpricht,) das Drama aus dem Grunde zu verderben. Wir haben von den Alten die volle prächtige Verſification beybehalten, die ſich doch nur für Sprachen von ſehr abgemeſſenen Quantitäten, und ſehr merklichen Accenten, nur für weitläufige Büh - nen, nur für eine in Noten geſetzte und mit Inſtrumenten begleitete Deklamation ſo wohl ſchickt: ihre Einfalt aber in der Verwickelung und dem Geſpräche, und die Wahrheit ihrer Gemählde haben wir fahren laſſen.

Diderot hätte noch einen Grund hinzufügen können, warum wir uns den Ausdruck der alten Tragödien nicht durchgängig zum Muſter neh - men dürfen. Alle Perſonen ſprechen und unter - halten ſich da auf einem freyen, öffentlichen Platze, in Gegenwart einer neugierigen Menge Volks. Sie müſſen alſo faſt immer mit Zurück - haltung, und Rückſicht auf ihre Würde, ſprechen; ſie können ſich ihrer Gedanken und Empfindun - gen nicht in den erſten den beſten Worten entla -den;51den; ſie müſſen ſie abmeſſen und wählen. Aber wir Neuern, die wir den Chor abgeſchaft, die wir unſere Perſonen größtentheils zwiſchen ih - ren vier Wänden laſſen: was können wir für Urſache haben, ſie dem ohngeachtet immer eine ſo geziemende, ſo ausgeſuchte, ſo rhetoriſche Sprache führen zu laſſen? Sie hört niemand, als dem ſie es erlauben wollen, ſie zu hören; mit ihnen ſpricht niemand als Leute, welche in die Handlung wirklich mit verwickelt, die alſo ſelbſt im Affekte ſind, und weder Luſt noch Muße haben, Ausdrücke zu controlliren. Das war nur von dem Chore zu beſorgen, der, ſo genau er auch in das Stück eingeflochten war, dennoch niemals mit handelte, und ſtets die handelnden Perſonen mehr richtete, als an ihrem Schickſale wirklichen Antheil nahm. Umſonſt beruft man ſich desfalls auf den höhern Rang der Perſonen. Vornehme Leute haben ſich beſſer ausdrücken ge - lernt, als der gemeine Mann: aber ſie affecti - ren nicht unaufhörlich, ſich beſſer auszudrücken, als er. Am wenigſten in Leidenſchaften; deren jeder ſeine eigene Beredſamkeit hat, mit der al - lein die Natur begeiſtert, die in keiner Schule gelernt wird, und auf die ſich der Unerzogenſte ſo gut verſtehet, als der Polirteſte.

Bey einer geſuchten, koſtbaren, ſchwülſtigen Sprache kann niemals Empfindung ſeyn. Sie zeigt von keiner Empfindung, und kann keineG 2her -52hervorbringen. Aber wohl verträgt ſie ſich mit den ſimpelſten, gemeinſten, platteſten Worten und Redensarten.

Wie ich Banks Eliſabeth ſprechen laſſe, weiß ich wohl, hat noch keine Königinn auf dem franzöſiſchen Theater geſprochen. Den niedri - gen vertraulichen Ton, in dem ſie ſich mit ihren Frauen unterhält, würde man in Paris kaum einer guten adlichen Landfrau angemeſſen finden. Iſt dir nicht wohl? Mir iſt ganz wohl. Steh auf, ich bitte dich. Nur unruhig; ein wenig unruhig bin ich. Erzehle mir doch. Nicht wahr, Nottingham? Thu das! Laß hören! Gemach, gemach! Du eiferſt dich aus dem Athem. Gift und Blat - tern auf ihre Zunge! Mir ſteht es frey, dem Dinge, das ich geſchaffen habe, mitzu - ſpielen, wie ich will. Auf den Kopf ſchla - gen. Wie iſts? Sey munter, liebe Rut - land; ich will dir einen wackern Mann ſu - chen. Wie kannſt du ſo reden? Du ſollſt es ſchon ſehen. Sie hat mich recht ſehr geär - gert. Ich konnte ſie nicht länger vor Augen ſehen. Komm her, meine Liebe; laß mich an deinen Buſen mich lehnen. Ich dacht es! Das iſt nicht länger auszuhalten. Ja wohl iſt es nicht auszuhalten! würden die feinen Kunſtrichter ſagen

Wer -53

Werden vielleicht auch manche von meinen Leſern ſagen. Denn leider giebt es Deutſche, die noch weit franzöſiſcher ſind, als die Franzo - ſen. Ihnen zu gefallen, habe ich dieſe Brocken auf einen Haufen getragen. Ich kenne ihre Art zu kritiſiren. Alle die kleinen Nachläßigkeiten, die ihr zärtliches Ohr ſo unendlich beleidigen, die dem Dichter ſo ſchwer zu finden waren, die er mit ſo vieler Ueberlegung dahin und dorthin ſtreuete, um den Dialog geſchmeidig zu machen, und den Reden einen wahrern Anſchein der au - genblicklichen Eingebung zu ertheilen, reihen ſie ſehr witzig zuſammen auf einen Faden, und wol - len ſich krank darüber lachen. Endlich folgt ein mitleidiges Achſelzucken: man hört wohl, daß der gute Mann die große Welt nicht kennet; daß er nicht viele Königinnen reden gehört; Racine verſtand das beſſer; aber Racine lebte auch bey Hofe.

Dem ohngeachtet würde mich das nicht irre machen. Deſto ſchlimmer für die Königinnen, wenn ſie wirklich nicht ſo ſprechen, nicht ſo ſpre - chen dürfen. Ich habe es lange ſchon geglaubt, daß der Hof der Ort eben nicht iſt, wo ein Dich - ter die Natur ſtudiren kann. Aber wenn Pomp und Etiquette aus Menſchen Maſchinen macht, ſo iſt es das Werk des Dichters, aus dieſen Maſchinen wieder Menſchen zu machen. Die wahren Königinnen mögen ſo geſucht und affek -G 3tirt54tirt ſprechen, als ſie wollen: ſeine Königinnen müſſen natürlich ſprechen. Er höre der Hekuba des Euripides nur fleißig zu; und tröſte ſich im - mer, wenn er ſchon ſonſt keine Königinnen ge - ſprochen hat.

Nichts iſt züchtiger und anſtändiger als die ſimple Natur. Grobheit und Wuſt iſt eben ſo weit von ihr entfernt, als Schwulſt und Bom - baſt von dem Erhabnen. Das nehmliche Ge - fühl, welches die Grenzſcheidung dort wahr - nimt, wird ſie auch hier bemerken. Der ſchwülſtigſte Dichter iſt daher unfehlbar auch der pöbelhafteſte. Beide Fehler ſind unzer - trennlich; und keine Gattung giebt mehrere Ge - legenheit in beide zu verfallen, als die Tragödie.

Gleichwohl ſcheinet die Engländer vornehm - lich nur der eine, in ihrem Banks beleidiget zu haben. Sie tadelten weniger ſeinen Schwulſt, als die pöbelhafte Sprache, die er ſo edle und in der Geſchichte ihres Landes ſo glänzende Per - ſonen führen laſſe; und wünſchten lange, daß ſein Stück von einem Manne, der den tragiſchen Ausdruck mehr in ſeiner Gewalt habe, möchte umgearbeitet werden. (*)(Companion to the Theatre Vol. II. p. 105.) The Diction is every where very bad, and in ſome Places ſo low, that it even becomes unnatural. And I think, there ()can -Dieſes geſchah end -lich55lich auch. Faſt zu gleicher Zeit machten ſich Jones und Brook darüber. Heinrich Jones, von Geburt ein Irrländer, war ſeiner Pro - feßion nach ein Maurer, und vertauſchte, wie der alte Ben Johnſon, ſeine Kelle mit der Fe - der. Nachdem er ſchon einen Band Gedichte auf Subſcription drucken laſſen, die ihn als ei - nen Mann von großem Genie bekannt machten, brachte er ſeinen Eſſex 1753 aufs Theater. Als dieſer zu London geſpielt ward, hatte man bereits den von Heinrich Brook in Dublin geſpielt. Aber Brook ließ ſeinen erſt einige Jahre her - nach drucken; und ſo kann es wohl ſeyn, daß er, wie man ihm Schuld giebt, eben ſowohl den Eſſex des Jones, als den vom Banks, genutzt hat. Auch muß noch ein Eſſex von einem James Ralph vorhanden ſeyn. Ich geſtehe, daß ich keinen geleſen habe, und alle drey nur aus den gelehrten Tagebüchern kenne. Von dem Eſſex des Brook, ſagt ein franzöſiſcher Kunſtrichter,daß(*)tannot be a greater Proof of the little Encouragement this Age affords to Merit, than that no Gentleman poſſeſt of a true Genius and Spirit of Poetry, thinks it worth his Attention to adorn ſo celebra - ted a Part of Hiſtory with that Dignity of Expreſſion befitting Tragedy in general, but more particularly, where the Cha - racters are perhaps the greateſt the World ever produced. ()56daß er das Feuer und das Pathetiſche des Banks mit der ſchönen Poeſie des Jones zu verbinden gewußt habe. Was er über die Rolle der Rut - land, und über derſelben Verzweiflung bey der Hinrichtung ihres Gemahls, hinzufügt,(*)(Journal Encycl. Mars 1761.) Il a auſſi fait tomber en demence la Comteſſe de Rut - land au moment que cet illuſtre epoux eſt conduit à l’echafaud; ce moment ou cette Comteſſe eſt un objet bien digne de pitié, a produit une tres grande ſenſation, & a été trouvé admirable à Londres: en France il eut paru ridicule, il auroit été ſifflé & l’on auroit envoyé la Comteſſe avec l’Au - teur aux Petites-Maiſons. () iſt merkwürdig; man lernt auch daraus das Pari - ſer Parterr auf einer Seite kennen, die ihm wenig Ehre macht.

Aber einen ſpaniſchen Eſſex habe ich geleſen, der viel zu ſonderbar iſt, als daß ich nicht im Vorbeygehen etwas davon ſagen ſollte.

Ham -[57]

Hamburgiſche Dramaturgie. Sechzigſtes Stück.

Er iſt von einem Ungenannten, und führet den Titel: Für ſeine Gebietherinn ſter - ben. (*)Dar la vida por ſu Dama, el Conde de Sex; de un Ingenio de eſta Corte. ()Ich finde ihn in einer Samm - lung von Komödien, die Joſeph Padrino zu Sevilien gedruckt hat, und in der er das vier und ſiebzigſte Stück iſt. Wenn er verfertiget worden, weiß ich nicht; ich ſehe auch nichts, woraus es ſich ungefehr abnehmen ließe. Das iſt klar, daß ſein Verfaſſer weder die franzöſiſchen und engliſchen Dichter, welche die nehmliche Geſchich - te bearbeitet haben, gebraucht hat, noch von ih - nen gebraucht worden. Er iſt ganz original. Doch ich will dem Urtheile meiner Leſer nicht vorgreifen.

EſſexH58

Eſſex kömmt von ſeiner Expedition wider die Spanier zurück, und will der Königinn in Lon - don Bericht davon abſtatten. Wie er anlangt, hört er, daß ſie ſich zwey Meilen von der Stadt auf dem Landgute einer ihrer Hofdamen, Na - mens Blanca, befinde. Dieſe Blanca iſt die Geliebte des Grafen, und auf dieſem Landgute hat er, noch bey Lebszeiten ihres Vaters, viele heimliche Zuſammenkünfte mit ihr gehabt. So - gleich begiebt er ſich dahin, und bedient ſich des Schlüſſels, den er noch von der Gartenthüre bewahret, durch die er ehedem zu ihr gekommen. Es iſt natürlich, daß er ſich ſeiner Geliebten eher zeigen will, als der Königinn. Als er durch den Garten nach ihren Zimmern ſchleichet, wird er, an dem ſchattichten Ufer eines durch den - ſelben geleiteten Armes der Temſe, ein Frauen - zimmer gewahr, (es iſt ein ſchwüler Sommer - abend,) das mit den bloßen Füßen in dem Waſ - ſer ſitzt, und ſich abkühlet. Er bleibt voller Verwunderung über ihre Schönheit ſtehen, ob ſie ſchon das Geſicht mit einer halben Maſke bedeckt hat, um nicht erkannt zu werden. (Dieſe Schönheit, wie billig, wird weitläuftig beſchrie - ben, und beſonders werden über die allerliebſten weiſſen Füße in dem klaren Waſſer, ſehr ſpitzfin - dige Dinge geſagt. Nicht genug, daß der ent - zückte Graf zwey kryſtallene Säulen in einem fließenden Kryſtalle ſtehen ſieht; er weiß vor Er -ſtau -59ſtaunen nicht, ob das Waſſer der Kryſtall ihrer Füße iſt, welcher in Fluß gerathen, oder ob ihre Füße der Kryſtall des Waſſers ſind, der ſich in dieſe Form condenſirt hat. (*)Las dos columnas bellas Metiò dentro del rio, y como al vellas Vi un cryſtal en el rio deſatado, Y vi cryſtal en ellas condenſado, No ſupe ſi las aguas que ſe vian Eran ſus pies, que liquidos corrian, O ſi ſus dos columnas ſe formaban De las aguas, que alli ſe congelaban. ()Dieſe Aehnlichkeit treibt der Dichter noch weiter, wenn er beſchreiben will, wie die Da - me, das Waſſer zu koſten, es mit ihrer hohlen Hand geſchöpft, und nach dem Munde geführt habe. Dieſe Hand, ſagt er, war dem klaren Waſſer ſo ähnlich, daß der Fluß ſelbſt für Schrecken zuſammen fuhr, weil er befürchtete, ſie möchte einen Theil ihrer eignen Hand mit - trinken. Quiſo prabar a caſo El agua, y fueron cryſtalino vaſo Sus manos, acercò las a los labios, Y entonces el arrayo llorò agravios, Y como tanto, en fin, ſe parecia A ſus manos aquello que bebia, Temi con ſobreſalto (y no fue en vano) Que ſe bebiera parte de la mano. ()Noch verwirrter macht ihn die halbe ſchwarze Maſke auf dem weiſſen Geſichte: er kann nicht begrei - fen, in welcher Abſicht die Natur ein ſo göttli -H 2ches60ches Monſtrum gebildet, und auf ſeinem Ge - ſichte ſo ſchwarzen Baſalt mit ſo glänzendem Helfenbeine gepaaret habe; ob mehr zur Be - wunderung, oder mehr zur Verſpottung? (*)Yo, que al principio vi, ciego, y turbado A una parte nevado Y en otra negro el roſtro, Juzguè, mirando tan divino monſtruo, Que la naturaleza cuidadoſa Deſigual uniendo tan hermoſa, Quiſo hacer por aſſombro, o por ultrage, De azabache y marfil un maridage. ()) Kaum hat ſich das Frauenzimmer wieder ange - kleidet, als, unter der Ausrufung: Stirb Ty - ranninn! ein Schuß auf ſie geſchieht, und gleich darauf zwey maſkirte Männer mit bloßem De - gen auf ſie los gehen, weil der Schuß ſie nicht getroffen zu haben ſcheinet. Eſſex beſinnt ſich nicht lange, ihr zu Hülfe zu eilen. Er greift die Mörder an, und ſie entfliehen. Er will ih - nen nach; aber die Dame ruft ihn zurück, und bittet ihn, ſein Leben nicht in Gefahr zu ſetzen. Sie ſieht, daß er verwundet iſt, knüpft ihre Schärpe los, und giebt ſie ihm, ſich die Wunde damit zu verbinden. Zugleich, ſagt ſie, ſoll dieſe Schärpe dienen, mich Euch zu ſeiner Zeit zu erkennen zu geben; itzt muß ich mich entfer - nen, ehe über den Schuß mehr Lermen entſteht; ich möchte nicht gern, daß die Königinn den Zu - fall erführe, und ich beſchwöre Euch daher umEure61Eure Verſchwiegenheit. Sie geht, und Eſſex bleibt voller Erſtaunen über dieſe ſonderbare Begebenheit, über die er mit ſeinem Bedienten, Namens Coſme, allerley Betrachtungen anſtellt. Dieſer Coſme iſt die luſtige Perſon des Stücks; er war vor dem Garten geblieben, als ſein Herr hereingegangen, und hatte den Schuß zwar ge - hört, aber ihm doch nicht zu Hülfe kommen dür - fen. Die Furcht hielt an der Thüre Schild - wache, und verſperrte ihm den Eingang. Furcht - ſam iſt Coſme für viere;(*)Ruido de armas en la Quinta, Y dentro el Conde? Que aguardo, Que no voi à ſocorrerlé? Que aguardo? Lindo recado: Aguardo à que quiera el miedo Dexarme entrar: Coſme, que ha tenido un miedo Que puede valer por quatro. () und das ſind die ſpaniſchen Narren gemeiniglich alle. Eſſex be - kennt, daß er ſich unfehlbar in die ſchöne Unbe - kannte verliebt haben würde, wenn Blanca nicht ſchon ſo völlig Beſitz von ſeinem Herzen genommen hätte, daß ſie durchaus keiner andern Leidenſchaft darinn Raum laſſe. Aber, ſagt er, wer mag ſie wohl geweſen ſeyn? Was dünkt dich, Coſme? Wer wirds geweſen ſeyn, ant - wortet Coſme, als des Gärtners Frau, die ſichH 3die62die Beine gewaſchen? (*)La muger del hortelano, Que ſe lavaba las piernas. () Aus dieſem Zuge, kann man leicht auf das Uebrige ſchließen. Sie gehen endlich beide wieder fort; es iſt zu ſpät ge - worden; das Haus könnte über den Schuß in Bewegung gerathen ſeyn; Eſſex getraut ſich da - her nicht, unbemerkt zur Blanca zu kommen, und verſchiebt ſeinen Beſuch auf ein andermal.

Nun tritt der Herzog von Alanzon auf, mit Flora, der Blanca Kammermädchen. (Die Scene iſt noch auf dem Landgute, in einem Zimmer der Blanca; die vorigen Auftritten waren in dem Garten. Es iſt des folgenden Tages.) Der König von Frankreich hatte der Eliſabeth eine Verbindung mit ſeinem jüngſten Bruder vorge - ſchlagen. Dieſes iſt der Herzog von Alanzon. Er iſt, unter dem Vorwande einer Geſandt - ſchaft, nach England gekommen, um dieſe Ver - bindung zu Stande zu bringen. Es läßt ſich alles, ſowohl von Seiten des Parlaments als der Königinn, ſehr wohl dazu an: aber indeß erblickt er die Blanca, und verliebt ſich in ſie. Itzt kömmt er, und bittet Floren, ihm in ſeiner Liebe behülflich zu ſeyn. Flora verbirgt ihn nicht, wie wenig er zu erwarten habe; doch oh - ne ihm das geringſte von der Vertraulichkeit, in welcher der Graf mit ihr ſtehet, zu entdecken. Sie63Sie ſagt blos, Blanca ſuche ſich zu verheyra - then, und da ſie hierauf ſich mit einem Manne, deſſen Stand ſo weit über den ihrigen erhaben ſey, doch keine Rechnung machen könne, ſo durfte ſie ſchwerlich ſeiner Liebe Gehör geben. (Man erwartet, daß der Herzog auf dieſen Ein - wurf die Lauterkeit ſeiner Abſichten betheuern werde: aber davon kein Wort! Die Spanier ſind in dieſem Punkte lange ſo ſtrenge und deli - kat nicht, als die Franzoſen.) Er hat einen Brief an die Blanca geſchrieben, den Flora übergeben ſoll. Er wünſcht, es ſelbſt mit an - zuſehen, was dieſer Brief für Eindruck auf ſie machen werde. Er ſchenkt Floren eine güldne Kette, und Flora verſteckt ihn in eine anſtoßende Gallerie, indem Blanca mit Coſme hereintritt, welcher ihr die Ankunft ſeines Herrn meldet.

Eſſex kömmt. Nach den zärtlichſten Bewill - kommungen der Blanca, nach den theuerſten Verſicherungen des Grafen, wie ſehr er ihrer Liebe ſich würdig zu zeigen wünſche, müſſen ſich Flora und Coſme entfernen, und Blanca bleibt mit dem Grafen allein. Sie erinnert ihn, mit welchem Eifer und mit welcher Standhaftigkeit er ſich um ihre Liebe beworben habe. Nachdem ſie ihm drey Jahre widerſtanden, habe ſie end - lich ſich ihm ergeben, und ihn, unter Verſiche - rung ſie zu heyrathen, zum Eigenthümer ihrerEhre64Ehre gemacht. (Te hice dueño de mi ho - nor: der Ausdruck ſagt im Spaniſchen ein wenig viel.) Nur die Feindſchaft, welche un - ter ihren beyderſeitigen Familien obgewaltet, habe nicht erlaubt, ihre Verbindung zu vollzie - hen. Eſſex iſt nichts in Abrede, und fügt hin - zu, daß, nach dem Tode ihres Vaters und Bru - ders, nur die ihm aufgetragene Expedition wider die Spanier dazwiſchen gekommen ſey. Nun aber habe er dieſe glücklich vollendet; nun wolle er unverzüglich die Königinn um Erlaubniß zu ihrer Vermählung antreten. Und ſo kann ich dir denn, ſagt Blanca, als meinem Geliebten, als meinem Bräutigam, als meinem Freunde, alle meine Geheimniſſe ſicher anvertrauen.(*)Bien podrè ſeguramente Revelarte intentos mios, Como a galan, como a dueño Como a eſpoſo, y como a amigo. ()

Ham -[65]

Hamburgiſche Dramaturgie. Ein und ſechzigſtes Stück.

Hierauf beginnt ſie eine lange Erzehlung von dem Schickſale der Maria von Schott - land. Wir erfahren, (denn Eſſex ſelbſt muß alles das, ohne Zweifel, längſt wiſſen,) daß ihr Vater und Bruder dieſer unglücklichen Königinn ſehr zugethan geweſen; daß ſie ſich ge - weigert, an der Unterdrückung der Unſchuld Theil zu nehmen; daß Eliſabeth ſie daher gefan - gen ſetzen, und in dem Gefängniſſe heimlich hin - richten laſſen. Kein Wunder, daß Blanca die Eliſabeth haßt; daß ſie feſt entſchloſſen iſt, ſich an ihr zu rächen. Zwar hat Eliſabeth nachher ſie unter ihre Hofdamen aufgenommen, und ſie ihres ganzen Vertrauens gewürdiget. Aber Blanca iſt unverſöhnlich. Umſonſt wählte die Königinn, nur kürzlich, vor allen andern das Landgut der Blanca, um die Jahreszeit einige Tage daſelbſt ruhig zu genieſſen. Dieſen Vor -Jzug66zug ſelbſt, wollte Blanca ihr zum Verderben ge - reichen laſſen. Sie hatte an ihren Oheim ge - ſchrieben, welcher, aus Furcht, es möchte ihm wie ſeinem Bruder, ihrem Vater, ergehen, nach Schottland geflohen war, wo er ſich im Verborgnen aufhielt. Der Oheim war gekom - men; und kurz, dieſer Oheim war es geweſen, welcher die Königinn in dem Garten ermorden wollen. Nun weiß Eſſex, und wir mit ihm, wer die Perſon iſt, der er das Leben gerettet hat. Aber Blanca weiß nicht, daß es Eſſex iſt, wel - cher ihren Anſchlag vereiteln müſſen. Sie rech - net vielmehr auf die unbegrenzte Liebe, deren ſie Eſſex verſichert, und wagt es, ihn nicht blos zum Mitſchuldigen machen zu wollen, ſondern ihm völlig die glücklichere Vollziehung ihrer Rache zu übertragen. Er ſoll ſogleich an ihren Oheim, der wieder nach Schottland geflohen iſt, ſchreiben, und gemeinſchaftliche Sache mit ihm machen. Die Tyranninn müſſe ſterben; ihr Name ſey allgemein verhaßt; ihr Tod ſey eine Wohlthat für das Vaterland, und niemand ver - diene es mehr als Eſſex, dem Vaterlande dieſe Wohlthat zu verſchaffen.

Eſſex iſt über dieſen Antrag äußerſt betroffen. Blanca, ſeine theure Blanca, kann ihm eine ſolche Verrätherey zumuthen? Wie ſehr ſchämt er ſich, in dieſem Augenblicke, ſeiner Liebe! Aber was ſoll er thun? Soll er ihr, wie es bil -lig67lig wäre, ſeinen Unwillen zu erkennen geben? Wird ſie darum weniger bey ihren ſchändlichen Geſinnungen bleiben? Soll er der Königinn die Sache hinterbringen? Das iſt unmöglich: Blanca, ſeine ihm noch immer theure Blanca, läuft Gefahr. Soll er ſie, durch Bitten und Vorſtellungen, von ihrem Entſchluſſe abzubrin - gen ſuchen? Er müßte nicht wiſſen, was für ein rachſüchtiges Geſchöpf eine beleidigte Frau iſt; wie wenig es ſich durch Flehen erweichen, und durch Gefahr abſchrecken läßt. Wie leicht könnte ſie ſeine Abrathung, ſein Zorn, zur Verzweiflung bringen, daß ſie ſich einem an - dern entdeckte, der ſo gewiſſenhaft nicht wäre, und ihr zu Liebe alles unternähme?(*)Ay tal traicion! vive el Cielo, Que de amarla eſtoi corrido. Blanca, que es mi dulce dueño, Blanca, à quien quiero, y eſtimo, Me propone tal traicion! Que harè, porque ſi ofendido, Reſpondiendo, como es juſto, Contra ſu traicion me irrito, No por eſſo ha de evitar Su reſuelto deſatino. Pues darle cuenta a la Reina Es impoſſible, pues quiſo Mi ſuerte, que tenga parte Blanca en aqueſte delito. Pues ſi procuro con ruegos ()Di - Die -J 2ſes68ſes in der Geſchwindigkeit überlegt, faßt er den Vorſatz, ſich zu verſtellen, um den Roberto, ſo heißt der Oheim der Blanca, mit allen ſeinen Anhängern, in die Falle zu locken.

Blanca wird ungeduldig, daß ihr Eſſex nicht ſogleich antwortet. Graf, ſagt ſie, wenn Du erſt lange mit Dir zu Rathe gehſt, ſo liebſt Du mich nicht. Auch nur zweifeln, iſt Verbrechen. Undankbarer! (*)Si eſtàs conſultando, Conde, Allà dentro de ti miſmo Lo que has de hacer, no me quieres, Ya el dudarlo fue delito. Vive Dios, que eres ingrato! () Sey ruhig, Blanca! er - wiedert Eſſex: ich bin entſchloſſen. Und wo - zu? Gleich will ich Dir es ſchriftlich geben.

Eſſex ſetzt ſich nieder, an ihren Oheim zu ſchreiben, und indem tritt der Herzog aus derGal -(*)Diſuadirla, es deſvario, Que es una muger reſuelta Animal tan vengativo, Que no ſe dobla à los rieſgos: Antes con afecto impio, En el miſmo rendimiento Suelen aguſar los filos; Y quizà deſeſperada De mi enojo, o mi deſvìo, Se declarara con otro Menos leal, menos fino, Que quizà por ella intente, Lo que yo hacer no he querido. ()69Gallerie näher. Er iſt neugierig zu ſehen, wer ſich mit der Blanca ſo lange unterhält; und er - ſtaunt, den Grafen von Eſſex zu erblicken. Aber noch mehr erſtaunt er über das, was er gleich darauf zu hören bekömmt. Eſſex hat an den Roberto geſchrieben, und ſagt der Blanca den Inhalt ſeines Schreibens, das er ſofort durch den Coſme abſchicken will. Roberto ſoll mit allen ſeinen Freunden einzeln nach London kommen; Eſſex will ihn mit ſeinen Leuten unter - ſtützen; Eſſex hat die Gunſt des Volks; nichts wird leichter ſeyn, als ſich der Königinn zu be - mächtigen; ſie iſt ſchon ſo gut, als todt. Erſt müßt ich ſterben! ruft auf einmal der Herzog, und kömmt auf ſie los. Blanca und der Graf erſtaunen über dieſe plötzliche Erſcheinung; und das Erſtaunen des letztern iſt nicht ohne Eifer - ſucht. Er glaubt, daß Blanca den Herzog bey ſich verborgen gehalten. Der Herzog rechtfer - tiget die Blanca, und verſichert, daß ſie von ſeiner Anweſenheit nichts gewußt; er habe die Gallerie offen gefunden, und ſey von ſelbſt her - eingegangen, die Gemählde darinn zu betrach - ten. (*)Por vida del Rey mi hermano, Y por la que mas eſtimo, De la Reina mi ſeñora, Y por pero yo lo digo ()Que

J 3Der70
Der Herzog.

Bey dem Leben meines Bru - ders, bey dem mir noch koſtbarern Leben der - niginn, bey Aber genug, daß Ich es ſage: Blanca iſt unſchuldig. Und nur ihr, Mylord, haben Sie dieſe Erklärung zu danken. Auf Sie, iſt im geringſten nicht dabey geſehen. Denn mit Leuten, wie Sie, machen Leute, wie ich

Der Graf.

Prinz, Sie kennen mich ohne Zweifel nicht recht?

Der Herzog.

Freylich habe ich Sie nicht recht gekannt. Aber ich kenne Sie nun. Ichhielt(*)Que en mi es el mayor empeño De la verdad del decirlo, Que no tiene Blanca parte De eſtar yo aqui Y eſtad mui agradecido A Blanca, de que yo os , No ſatisfacion, aviſo De eſta verdad, porque a vos, Hombres como yo Cond. Imagino Que no me conoceis bien. Duq. No os havia conocido Haſta aqui; mas ya os conozco, Pues ya tan otro os he viſto Que os reconozco traidor. Cond. Quien dixere Duq. Yo lo digo, No pronuncieis algo, Conde, Que ya no puedo ſufriros. Cond. Qualquier coſa que yo intente ()Duq. 71hielt Sie für einen ganz andern Mann: und ich finde, Sie ſind ein Verräther.

Der Graf.

Wer darf das ſagen?

Der Herzog.

Ich! Nicht ein Wort mehr! Ich will kein Wort mehr hören, Graf!

Der Graf.

Meine Abſicht mag auch geweſen ſeyn

Der Herzog.

Denn kurz: ich bin überzeugt, daß ein Verräther kein Herz hat. Ich treffe Sie als einen Verräther: ich muß Sie für einen Mann ohne Herz halten. Aber um ſo weniger darf ich mich dieſes Vortheils über Sie bedienen. MeineEhre(*)Duq. Mirad que eſtoi perſuadido Que hacer la traicion cobardes; Y aſſi quando os he cogido En un lance que me De que ſois cobarde indicios, Non he de aprovecharme de eſto, Y aſfi os perdona mi brio Eſte rato que teneis El valor deſminuido; Que a eſtar todo vos entero, Supiera daros caſtigo. Cond. Yo ſoi el Conde de Sex Y nadie ſe me ha atrevido Sino el hermano del Rey De Francia. Duq. Yo tengo brio Para que ſin ſer quien ſoi, ()Pueda72Ehre verzeiht Ihnen, weil Sie der Ihrigen ver - luſtig ſind. Wären Sie ſo unbeſcholten, als ich Sie ſonſt geglaubt, ſo würde ich Sie zu züchtigen wiſſen.

Der Graf.

Ich bin der Graf von Eſſex. So hat mir noch niemand begegnen dürfen, als der Bruder des Königs von Frankreich.

Der Herzog.

Wenn ich auch der nicht wäre, der ich bin; wenn nur Sie der wären, der Sie nicht ſind, ein Mann von Ehre: ſo ſollten Sie wohl empfinden, mit wem Sie zu thun hätten. Sie, der Graf von Eſſex? Wenn Sie dieſer beru - fene Krieger ſind: wie können Sie ſo viele große Thaten durch eine ſo unwürdige That vernichten wollen?

Ham -

(*)Pueda mi valor invicto Caſtigar, non digo yo Solo a vos, mos a vos miſmo, Siendo leal, que es lo mas Con que queda encarecido. Y pues ſois tan gran Soldado, No echeis a perder, os pido, Tantas heroicas hazañas Con un hecho tan indigno ()

[73]

Hamburgiſche Dramaturgie. Zwey und ſechzigſtes Stück.

Der Herzog fährt hierauf fort, ihm ſein Un - recht, in einem etwas gelindern Tone, vorzuhalten. Er ermahnt ihn, ſich ei - nes beſſern zu beſinnen; er will es vergeſſen, was er gehört habe; er iſt verſichert, daß Blanca mit dem Grafen nicht einſtimme, und daß ſie ſelbſt ihm eben das würde geſagt haben, wenn er, der Her - zog, ihr nicht zuvorgekommen wäre. Er ſchließt endlich: Noch einmal, Graf; gehen Sie in ſich! Stehen Sie von einem ſo ſchändlichen Vorha - ben ab! Werden Sie wieder Sie ſelbſt! Wol - len Sie aber meinem Rathe nicht folgen: ſo erinnern Sie ſich, daß Sie einen Kopf haben, und London einen Henker! (*)Miradlo mejor, dexad Un intento tan indigno, Correſponded à quien ſois, ()Y Hiermitent -K74entfernt ſich der Herzog. Eſſex iſt in der äußer - ſten Verwirrung; es ſchmerzt ihn, ſich für einen Verräther gehalten zu wiſſen; gleichwohl darf er es itzt nicht wagen, ſich gegen den Herzog zu rechtfertigen; er muß ſich gedulden, bis es der Ausgang lehre, daß er da ſeiner Königinn am getreueſten geweſen ſey, als er es am wenigſten zu ſeyn geſchienen. (*)Non he de reſponder al Duque Haſta que el ſuceſſo miſmo Mueſtre como fueron falſos De mi traicion los indicios, Y que ſoi mas leal, quando Mos traidor he parecido. ()So ſpricht er mit ſich ſelbſt: zur Blanca aber ſagt er, daß er den Brief ſogleich an ihren Oheim ſenden wolle, und geht ab. Blanca desgleichen; nachdem ſie ih - ren Unſtern verwünſcht, ſich aber noch damit getröſtet, daß es kein Schlimmerer als der Her - zog ſey, welcher von dem Anſchlage des Grafen wiſſe.

Die Königinn erſcheinet mit ihrem Kanzler, dem ſie es vertrauet hat, was ihr in dem Garten begegnet. Sie befiehlt, daß ihre Leibwache alle Zugänge wohl beſetze; und morgen will ſie nach London zurückkehren. Der Kanzler iſt der Mei - nung, die Mäuchelmörder aufſuchen zu laſſen,und(*)Y ſino baſtan aviſos, Mirad que ay Verdugo en Londres, Y en vos cabeza, harto os digo. ()75und durch ein öffentliches Edict demjenigen, der ſie anzeigen werde, eine anſehnliche Belohnung zu verheiſſen, ſollte er auch ſelbſt ein Mitſchul - diger ſeyn. Denn da es ihrer zwey waren, ſagt er, die den Anfall thaten, ſo kann leicht einer davon ein eben ſo treuloſer Freund ſeyn, als er ein treuloſer Unterthan iſt. (*)Y pues ſon dos los culpados Podrà ſer, que alguno de ellos Entregue al otro que es llano, Que ſerà traidor amigo Quien fue desleal vaſſallo. () Aber die Königinn mißbilliget dieſen Rath; ſie hält es für beſſer, den ganzen Vorfall zu unter - drücken, und es gar nicht bekannt werden zu laſſen, daß es Menſchen gegeben, die ſich einer ſolchen That erkühnen dürfen. Man muß, ſagt ſie, die Welt glauben machen, daß die Könige ſo wohl bewacht werden, daß es der Verrätherey unmöglich iſt, an ſie zu kommen. Auſſerordentliche Verbrechen werden beſſer ver - ſchwiegen, als beſtraft. Denn das Beyſpiel der Strafe iſt von dem Beyſpiele der Sünde unzertrennlich; und dieſes kann oft eben ſo ſehr anreitzen, als jenes abſchrecken. (**)Y es gran materia de eſtado Dar a entender, que los Reyes Eſtan en ſi tan guardados Que aunque la traicion los buſque, ()Nunca

K 2In -76

Indem wird Eſſex gemeldet, und vorgelaſſen. Der Bericht, den er von dem glücklichen Er - folge ſeiner Expedition abſtattet, iſt kurz. Die Königinn ſagt ihm, auf eine ſehr verbindliche Weiſe: Da ich Euch wieder erblicke, weiß ich von dem Ausgange des Krieges ſchon ge - nug. (*)Que ya ſolo con miraros el ſuceſſo de la guerra. ()Sie will von keinen nähern Um - ſtänden hören, bevor ſie ſeine Dienſte nicht be - lohnt, und befiehlt dem Kanzler, dem Grafen ſogleich das Patent als Admiral von England auszufertigen. Der Kanzler geht; die Königinn und Eſſex ſind allein; das Geſpräch wird ver - traulicher; Eſſex hat die Schärpe um; die - niginn bemerkt ſie, und Eſſex würde es aus die - ſer bloßen Bemerkung ſchlieſſen, daß er ſie von ihr habe, wenn er es aus den Reden der Blanca nicht ſchon geſchloſſen hätte. Die Königinn hat den Grafen ſchon längſt heimlich geliebt; und nun iſt ſie ihm ſogar das Leben ſchuldig. (**)No baſtaba, amor tyranno Una inclinacion tan fuerte, Sin que te aya ayudado Del deberle yo la vida? ()Es(**)Nunca ha de poder hallarlos; Y aſſi el ſecreto averigue Enormes delitos, quando Mas que el caſtigo, eſcarmientos de exemplares el pecado. ()77Es koſtet ihr alle Mühe, ihre Neigung zu ver - bergen. Sie thut verſchiedne Fragen, ihn aus - zulocken und zu hören, ob ſein Herz ſchon einge - nommen, und ob er es vermuthe, wem er das Leben in den Garten gerettet. Das letzte giebt er ihr durch ſeine Antworten gewiſſermaaßen zu verſtehen, und zugleich, daß er für eben dieſe Perſon mehr empfinde, als er derſelben zu ent - decken ſich erkühnen dürfe. Die Königinn iſt auf dem Punkte, ſich ihm zu erkennen zu gebene doch ſiegt noch ihr Stolz über ihre Liebe. Eben ſo ſehr hat der Graf mit ſeinem Stolze zu käm - pfen: er kann ſich des Gedankens nicht entweh - ren, daß ihn die Königinn liebe, ob er ſchon die Vermeſſenheit dieſes Gedankens erkennet. (Daß dieſe Scene größtentheils aus Reden beſtehen müſſe, die jedes ſeitab führet, iſt leicht zu erach - ten.) Sie heißt ihn gehen, und heißt ihn wie - der ſo lange warten, bis der Kanzler ihm das Patent bringe. Er bringt es; ſie überreicht es ihm; er bedankt ſich, und das Seitab fängt mit neuem Feuer an.

Die Königinn.

Thörichte Liebe!

Eſſer.

Eitler Wahnſinn!

Die Königinn.

Wie blind!

Eſſex.

Wie verwegen!

Die Königinn.

So tief willſt du, daß ich mich herabſetze?

K 3Eſſex.78
Eſſex.

So hoch willſt du, daß ich mich ver - ſteige?

Die Königinn.

Bedenke, daß ich Königinn bin!

Eſſex.

Bedenke, daß ich Unterthan bin!

Die Königinn.

Du ſtürzeſt mich bis in den Abgrund,

Eſſex.

Du erhebeſt mich bis zur Sonne,

Die Königinn.

Ohne auf meine Hoheit zu achten.

Eſſex.

Ohne meine Niedrigkeit zu erwägen.

Die Königinn.

Aber, weil du meines Herzens dich bemeiſtert:

Eſſex.

Aber, weil Du meiner Seele Dich bemächtiget:

Die Königinn.

So ſtirb da, und komm nie auf die Zunge!

Eſſex.

So ſtirb da, und komm nie über die Lippen! (*)Rein. Loco Amor Cond. Necio impoſ - ſible Rein. Què ciego Cond. Què temerario Rein. Me abates a tal baxeza Cond. Me quieres ſubir tan alto Rein. Advierte, que ſoi la Reina Cond. Advierte que ſoi vaſallo Rein. Pues me humillas a el abyſmo Cond. Pues me acercas a los rayos Rein. Sin reparar mi grandeza Cond.

(Iſt79

(Iſt das nicht eine ſonderbare Art von Unter - haltung? Sie reden mit einander; und reden auch nicht mit einander. Der eine hört, was der andere nicht ſagt, und antwortet auf das, was er nicht gehört hat. Sie nehmen einander die Worte nicht aus dem Munde, ſondern aus der Seele. Man ſage jedoch nicht, daß man ein Spanier ſeyn muß, um an ſolchen unnatür - lichen Künſteleyen Geſchmack zu finden. Noch vor einige dreyßig Jahren fanden wir Deutſche eben ſo viel Geſchmack daran; denn unſere Staats - und Helden-Actionen wimmelten da - von, die in allem nach den ſpaniſchen Muſtern zugeſchnitten waren.)

Nachdem die Königinn den Eſſex beurlaubet und ihm befohlen, ihr bald wieder aufzuwarten, gehen beide auf verſchiedene Seiten ab, und machen dem erſten Aufzuge ein Ende. Die Stücke der Spanier, wie bekannt, haben deren nur drey, welche ſie Jornadas, Tagewerke, nennen. Ihre allerälteſten Stücke hatten viere: ſie krochen, ſagt Lope de Vega, auf allen vie - ren, wie Kinder; denn es waren auch wirklich noch Kinder von Komödien. Virves war dererſte,(*)Cond. Sin mirar mi humilde eſtado Rein. Ya que te miro acà dentro Cond. Ya que en mi te vas entrando Rein. Muere entre el pecho, y la voz. Cond. Muere entre el alma, y los labios. 80erſte, welcher die vier Aufzüge auf drey brachte; und Lope folgte ihm darinn, ob er ſchon die er - ſten Stücke ſeiner Jugend, oder vielmehr ſeiner Kindheit, ebenfalls in vieren gemacht hatte. Wir lernen dieſes aus einer Stelle in des letztern Neuen Kunſt, Komödien zu machen;(*)Arte nuevo de hazer Comedias, die ſich hinter des Lope Rimas befindet. El Capitan Virves inſigne ingenio, Puſo en tres actos la Comedia, que antes Andava en quatro, como pies de niño, Que eran entonces niñas las Comedias, Y yo las eſcrivi de onze, y doze años, De à quatro actos, y de à quatro pliegos, Porque cada acto un pliego contenia. () mit der ich aber eine Stelle des Cervantes in Wider - ſpruch finde,(**)In der Vorrede zu ſeinen Komödien: Donde me atrevi a reducir las Comedias a tres Jornadas, de cinco que tenian. wo ſich dieſer den Ruhm an - maßt, die ſpaniſche Komödie von fünf Akten, aus welchen ſie ſonſt beſtanden, auf drey ge - bracht zu haben. Der ſpaniſche Litterator mag dieſen Widerſpruch entſcheiden; ich will mich dabey nicht aufhalten.

Ham -[81]

Hamburgiſche Dramaturgie. Drey und ſechzigſtes Stück.

Die Königinn iſt von dem Landgute zurück - gekommen; und Eſſex gleichfalls. So - bald er in London angelangt, eilt er nach Hofe, um ſich keinen Augenblick vermiſſen zu laſſen. Er eröfnet mit ſeinem Coſme den zwey - ten Akt, der in dem Königlichen Schloſſe ſpielt. Coſme hat, auf Befehl des Grafen, ſich mit Piſtolen verſehen müſſen; der Graf hat heim - liche Feinde; er beſorgt, wenn er des Nachts ſpät vom Schloſſe gehe, überfallen zu werden. Er heißt den Coſme, die Piſtolen nur indeß in das Zimmer der Blanca zu tragen, und ſie von Floren aufheben zu laſſen. Zugleich bindet er die Schärpe los, weil er zur Blanca gehen will. Blanca iſt eiferſüchtig; die Schärpe könnte ihr Gedanken machen; ſie könnte ſie haben wollen; und er würde ſie ihr abſchlagen müſſen. Indem er ſie dem Coſme zur Verwahrung übergiebt,Lkömmt82kömmt Blanca dazu. Coſme will ſie geſchwind verſtecken: aber es kann ſo geſchwind nicht ge - ſchehen, daß es Blanca nicht merken ſollte. Blanca nimt den Grafen mit ſich zur Königinn; und Eſſex ermahnt im Abgehen den Coſme, wegen der Schärpe reinen Mund zu halten, und ſie niemanden zu zeigen.

Coſme hat, unter ſeinen andern guten Eigen - ſchaften, auch dieſe, daß er ein Erzplauderer iſt. Er kann kein Geheimniß eine Stunde be - wahren; er fürchtet ein Geſchwär im Leibe da - von zu bekommen; und das Verboth des Grafen hat ihn zu rechter Zeit erinnert, daß er ſich die - ſer Gefahr bereits ſechs und dreyßig Stunden ausgeſetzt habe. (*) Yo no me acordaba De decirlo, y lo callaba, Y como me lo entrego, Ya por decirlo rebiento, Que tengo tal propriedad, Que en un hora, ô la mitad, Se me hace poſtema un cuento. ()Er giebt Floren die Pi - ſtolen, und hat den Mund ſchon auf, ihr auch die ganze Geſchichte, von der maſkirten Dame und der Schärpe, zu erzehlen. Doch eben be - ſinnt er ſich, daß es wohl eine würdigere Perſon ſeyn müſſe, der er ſein Geheimniß zuerſt mit - theile. Es würde nicht laſſen, wenn ſich Flora rühmen könnte, ihn deſſen deflorirt zuhaben.83haben. (*)Alla Flora; mas no Sera perſona mas grave No es bien que Flora ſe alabe Que el cuento me desflorò. ()(Ich muß von allerley Art des ſpa - niſchen Witzes eine kleine Probe einzuflechten ſuchen.)

Coſme darf auf dieſe würdigere Perſon nicht lange warten. Blanca wird von ihrer Neu - gierde viel zu ſehr gequält, daß ſie ſich nicht, ſobald als möglich, von dem Grafen losmachen ſollen, um zu erfahren, was Coſme vorhin ſo haſtig vor ihr zu verbergen geſucht. Sie kömmt alſo ſogleich zurück, und nachdem ſie ihn zuerſt gefragt, warum er nicht ſchon nach Schottland abgegangen, wohin ihn der Graf ſchicken wol - len, und er ihr geantwortet, daß er mit anbre - chendem Tage abreiſen werde: verlangt ſie zu wiſſen, was er da verſteckt halte? Sie dringt in ihn: doch Coſme läßt nicht lange in ſich drin - gen. Er ſagt ihr alles, was er von der Schärpe weiß; und Blanca nimt ſie ihm ab. Die Art, mit der er ſich ſeines Geheimniſſes entlediget, iſt äußerſt eckel. Sein Magen will es nicht länger bey ſich behalten; es ſtößt ihm auf; es kneipt ihn; er ſteckt den Finger in den Hals; er giebt es von ſich; und um einen beſſern Geſchmack wieder in den Mund zu bekommen, läuft er ge -L 2ſchwind84ſchwind ab, eine Quitte oder Olive darauf zu kauen. (*)Ya ſe me viene a la boca La purga. O que regueldos tan ſecos Me vienen! terrible aprieto. Mi eſtomago no lo lleva; Proteſto que es gran trabajo, Meto los dedos. Y pues la purga he trocado, Y el ſecreto he vomitado Deſde el principio haſta el fin, Y ſin dexar coſa alguna, Tal aſco me diò al decillo, Voi à probar de un membrillo, O a mordar de una azeituna. ()Blanca kann aus ſeinem verwirr - ten Geſchwätze zwar nicht recht klug werden: ſie verſteht aber doch ſo viel daraus, daß die Schärpe das Geſchenk einer Dame iſt, in die Eſſex verliebt werden könnte, wenn er es nicht ſchon ſey. Denn er iſt doch nur ein Mann; ſagt ſie. Und wehe der, die ihre Ehre einem Manne anvertrauet hat! Der beſte, iſt noch ſo ſchlimm! (**)Es hombre al fin, y ay de aquella Que a un hombre fiò ſu honor, Siendo tan malo el mejor. () Um ſeiner Untreue alſo zuvorzukommen, will ſie ihn je eher je lieber heyrathen.

Die Königinn tritt herein, und iſt äußerſt niedergeſchlagen. Blanca fragt, ob ſie dieübri -85übrigen Hof damen rufen ſoll: aber die Königinn will lieber allein ſeyn; nur Jrene ſoll kommen, und vor dem Zimmer ſingen. Blanca geht auf der einen Seite nach Jrenen ab, und von der andern kömmt der Graf.

Eſſex liebt die Blanca: aber er iſt ehrgeitzig genug, auch der Liebhaber der Königinn ſeyn zu wollen. Er wirft ſich dieſen Ehrgeitz ſelbſt vor; er beſtraft ſich deswegen; ſein Herz gehört der Blanca; eigennützige Abſichten müſſen es ihr nicht entziehen wollen; unechte Convenienz muß keinen echten Affekt beſiegen. (*)Abate, abate las alas, No ſubas tanto, buſquemos Mas proporcionada esfera A tan limitado vuelo. Blanca me quiere, y a Blanca Adoro yo ya en mi dueño; Pues como de amor tan noble Por una ambicion me alexo? No conveniencia baſtarda Venza un legitimo afecto. ()Er will ſich alſo lieber wieder entfernen, als er die - niginn gewahr wird: und die Königinn, als ſie ihn erblickt, will ihm gleichfalls ausweichen. Aber ſie bleiben beide. Jndem fängt Jrene vor dem Zimmer an zu ſingen. Sie ſingt eine Re - dondilla, ein kleines Lied von vier Zeilen, deſſen Sinn dieſer iſt: Sollten meine verliebten Kla -L 3 gen86 gen zu deiner Kenntniß gelangen: o ſo laß das Mitleid, welches ſie verdienen, den Unwillen überwältigen, den du darüber empfindeſt, daß ich es bin, der ſie führet. Der Königinn gefällt das Lied; und Eſſex findet es bequem, ihr durch daſſelbe, auf eine verſteckte Weiſe, ſeine Liebe zu erklären. Er ſagt, er habe es gloſſiret,(*)Die Spanier haben eine Art von Gedichten, welche ſie Gloſſas nennen. Sie nehmen eine oder mehrere Zeilen gleichſam zum Texte, und erklären oder umſchreiben dieſen Text ſo, daß ſie die Zeilen ſelbſt in dieſe Erklärung oder Um - ſchreibung wiederum einflechten. Den Text heiſſen ſie Mote oder Letra, und die Ausle - gung insbeſondere Gloſſa, welches denn aber auch der Name des Gedichts überhaupt iſt. Hier läßt der Dichter den Eſſex das Lied der Jrene zum Mote machen; das aus vier Zeilen beſteht, deren jede er in einer beſondern Stanze umſchreibt, die ſich mit der umſchrie - benen Zeile ſchließt. Das Ganze ſieht ſo aus:Mote. Si acaſo mis deſvarios Llegaren a tus umbrales, La laſtima de ſer males Quite el horror de ſer mios. Glossa. Aunque el dolor me provoca De mis quexas, y no puedo,Que und bittet um Erlaubniß, ihr ſeineGloſſe87Gloſſe vorſagen zu dürfen. Jn dieſer Gloſſe beſchreibt er ſich als den zärtlichſten Liebhaber, dem es aber die Ehrfurcht verbiethe, ſich dem geliebten Gegenſtande zu entdecken. Die -niginn(*)Que es mi oſadia tan poca, Que entre el reſpeto, y el miedo Se me mueren en la boca; Y aſſi non llegan tan mios Mis males a tus orejas. Porque no han de ſer oidos Si acaſo digo mis quexas, Si aca ſo mis deſvarios. El ſer tan mal explicados Sea ſu mayor indicio, Que trocando en mis cuidados El ſilencco, y vos ſu oficio, Quedaran mas ponderados: Deſde oy por eſtas ſeñales Sean di ti conocidos, Que ſin duda ſon mis males Si algunos mas repetidos Llegaren a tus umbrales. Mas ay Dios! que mis cuidados De tu crueldad conocidos, Aunque mas acreditados, Seran menos adquiridos, Que con los otros mezclados: Porque no ſabiendo a quales Mas tu ingratitud ſe deba Viendolos todos iguales Fuerza es que en commun te mueva La laſtima de ſer males. ()En88niginn lobt ſeine Poeſie: aber ſie mißbilliget ſeine Art zu lieben. Eine Liebe, ſagt ſie unter andern, die man verſchweigt, kann nicht groß ſeyn; denn Liebe wächſt nur durch Gegenliebe, und der Gegenliebe macht man ſich durch das Schweigen muthwillig verluſtig.

Ham -

(*)En mi eſte afecto violento Tu hermoſo deſden le cauſa; Tuyo, y mio es mi tormento; Tuyo, porque eres la cauſa; Y mio, porque yo ſiento: Sepan, Laura, tus deſvios Que mis males ſon tan tuyos, Y en mis cuerdos deſvarios Eſtos que tienen de tuyos Quite el horror de ſer mios. ()Es müſſen aber eben nicht alle Gloſſen ſo ſym - metriſch ſeyn, als dieſe. Man hat alle Frey - heit, die Stanzen, die man mit den Zeilen des Mote ſchließt, ſo ungleich zu machen als man will. Man braucht auch nicht alle Zei - len einzuflechten; man kann ſich auf eine ein - zige einſchränken, und dieſe mehr als einmal wiederholen. Uebrigens gehören dieſe Gloſſen unter die ältern Gattungen der ſpaniſchen Poe - ſie, die nach dem Boſcan und Garcilaſſo ziem - lich aus der Mode gekommen.

[89]

Hamburgiſche Dramaturgie. Vier und ſechzigſtes Stück.

Der Graf verſetzt, daß die vollkommenſte Liebe die ſey, welche keine Belohnung erwarte; und Gegenliebe ſey Belohnung. Sein Stillſchweigen ſelbſt mache ſein Glück: denn ſo lange er ſeine Liebe verſchweige, ſey ſie noch unverworfen, könne er ſich noch von der ſüßen Vorſtellung täuſchen laſſen, daß ſie viel - leicht dürfe genehmiget werden. Der Unglück - liche ſey glücklich, ſo lange er noch nicht wiſſe, wie unglücklich er ſey. (*) El mas verdadero amor Es el que en ſi miſmo quieto Deſcanſa, ſin atender A mas paga, o mas intento: La correſpondencia es paga, Y tener por blanco el precio Es querer por grangeria. MDen -Die Königinn wider -legt90legt dieſe Sophiſtereyen als eine Perſon, der ſelbſt daran gelegen iſt, daß Eſſex nicht länger darnach handle: und Eſſex, durch dieſe Wider - legung erdreiſtet, iſt im Begriff, das Bekennt - niß zu wagen, von welchem die Königinn be - hauptet, daß es ein Liebhaber auf alle Weiſe wagen müſſe; als Blanca hereintritt, den Her - zog anzumelden. Dieſe Erſcheinung der Blanca bewirkt einen von den ſonderbarſten Theater - ſtreichen. Denn Blanca hat die Schärpe um, die ſie dem Coſme abgenommen, welches zwar die Königinn, aber nicht Eſſex gewahr wird. (*)Por no morir de mal, quando Puedo morir de remedio, Digo pues, ea, oſſadia, Ella me alento, que temo? Que ſera bien que a tu Alteza ()(Sale

Eſſex.

(*)Dentro eſta del ſilencio, y del reſpeto Mi amor, y aſſi mi dicha eſta ſegura, Preſumiendo tal voz (dulce locura!) Que es admitido del mayor ſugeto. Dexandome engañar de eſte concepto, Dura mi bien, porque mi engaño dura; Necio ſera la lengua, ſi aventura Un bien que eſta ſeguro en el ſecreto. Que es feliz quien no ſiendo venturoſo Nunca llega a ſaber, que es deſdichado. ()

91
Eſſex.

So ſey es gewagt! Friſch! Sie er - muntert mich ſelbſt. Warum will ich an der Krauk - heit ſterben, wenn ich an dem Hülfsmittel ſterben kann? Was fürchte ich noch? Königinn, wann denn alſo,

Blanca.

Der Herzog, Jhro Majeſtät,

Eſſex.

Blanca könnte nicht ungelegener kom - men.

Blanca.

Wartet in dem Vorzimmer,

Die Königinn.

Ah! Himmel!

M 2Blan -

(*)(Sale Blanca con la vanda pueſta.) Bl. Señora, el duque Con. A mal tiempo Viene Blanca. Bl. Eſta aguardando En la antecamara Rein. Ay, cielo! Bl. Para entrar Rein. Que es lo que miro! Bl. Licencia. Rein. Decid; que veo! Decid que eſpere; eſtoi loca! Decid, andad. Bl. Ya obedezco. Rein. Venid aca, volved. Bl. Que manda Vueſtra Alteza? Rein. El daño es cierto. Decidle no ay que dudar Entretenedle un momento Ay de mi! mientras yo ſalgo Y dexadme. Bl. Que es aqueſto? Ya voi. Con. Ya Blanca ſe fue, Quiero pues volver Rein. Ha zelos! Con. A declararme atrevido, Pues ſi me atrevo, me atrevo En de ſus pretenſiones. Rein.

92
Blanca.

Auf Erlaubniß,

Die Königinn.

Was erblicke ich?

Blanca.

Hereintreten zu dürfen.

Die Königinn.

Sag ihm Was ſeh ich! Sag ihm, er ſoll warten. Jch komme von Sinnen! Geh, ſag ihm das.

Blanca.

Jch gehorche.

Die Königinn.

Bleib! Komm her! - her!

Blanca.

Was befehlen Jhro Majeſtät?

Die Königinn.

O, ganz gewiß! Sage ihm Es iſt kein Zweifel mehr! Geh, unter - halte ihn einen Augenblick, Weh mir! Bis ich ſelbſt zu ihm herauskomme. Geh, laß mich!

Blanca.

Was iſt das? Jch gehe.

Eſſex.

Blanca iſt weg. Jch kann nun wie: der fortfahren,

Die

(*)Rein. Mi prenda en poder ageno? Vive dios, pero es verguenza Que pueda tanto un afecto En mi. Con. Segun lo que dixo Vueſtra Alteza aqui, v ſupueſto, Que cueſta cara la dicha, Que ſe compra con el miedo, Quiero morir nobelmente. Rein.

93
Die Königinn.

Ha, Eiferſucht!

Eſſex.

Mich zu erklären. Was ich wage, wage ich auf ihre eigene Ueberredung.

Die Königinn.

Mein Geſchenk in fremden Händen! Bey Gott! Aber ich muß mich ſchä - men, daß eine Leidenſchaf[t]ſo viel über mich vermag!

Eſſex.

Wenn denn alſo, wie Jhre Ma - jeſtät geſagt, und wie ich einräumen muß, das Glück, welches man durch Furcht erkauft, ſehr theuer zu ſtehen kömmt; wenn man viel edler ſtirbt: ſo will auch ich,

Die Königinn.

Warum ſagen Sie das, Graf?

Eſſex.

Weil ich hoffe, daß, wann ich Warum fürchte ich mich noch? wann ich Jhro Majeſtät meine Leidenſchaft bekennte, daß einige Liebe

Die Königinn.

Was ſagen Sie da, Graf? An mich richtet ſich das? Wie? Thor! Unſinni -M 3ger!(*)Rein. Porque lo decis? Con. Que eſpero, Si a vueſtra Alteza (que dudo!) Le declaraſſe mi afecto, Algun amor Rein. Que decis? A mi? como, loco, necio, Conoceiſme? Quien ſoi yo? Decid, quien ſoi? que ſoſpecho, Que ſe os huyo la memoria. 94ger! Kennen Sie mich auch? Wiſſen Sie, wer ich bin? Und wer Sie ſind? Jch muß glauben, daß Sie den Verſtand verlohren.

Und ſo fahren Jhro Majeſtät fort, den armen Grafen auszufenſtern, daß es eine Art hat! Sie fragt ihn, ob er nicht wiſſe, wie weit der Himmel über alle menſchliche Erfrechungen er - haben ſey? Ob er nicht wiſſe, daß der Sturm - wind, der in den Olymp dringen wolle, auf hal - bem Wege zurückbrauſen müſſe? Ob er nicht wiſſe, daß die Dünſte, welche ſich zur Sonne erhieben, von ihren Stralen zerſtreuet wür - den? Wer vom Himmel gefallen zu ſeyn glaubt, iſt Eſſex. Er zieht ſich beſchämt zurück, und bittet um Verzeihung. Die Königinn be - fiehlt ihm, ihr Angeſicht zu meiden, nie ihren Pallaſt wieder zu betreten, und ſich glücklich zu ſchätzen, daß ſie ihm den Kopf laſſe, in welchem ſich ſo eitle Gedanken erzeugen können. (*) No me veais, Y agradeced el que os dexo Cabeza, en que ſe engendraro[n]Tan livianos penſamientos. ()Er entfernt ſich; und die Königinn geht gleichfalls ab, nicht ohne uns merken zu laſſen, wie we - nig ihr Herz mit ihren Reden übereinſtimme.

Blanca95

Blanca und der Herzog kommen an ihrer Statt, die Bühne zu füllen. Blanca hat dem Herzoge es frey geſtanden, auf welchem Fuße ſie mit dem Grafen ſtehe; daß er nothwendig ihr Gemahl werden müſſe, oder ihre Ehre ſey verlohren. Der Herzog faßt den Entſchluß, den er wohl faſſen muß; er will ſich ſeiner Liebe entſchlagen: und ihr Vertrauen zu vergelten, verſpricht er ſogar, ſich bey der Königinn ihrer anzunehmen, wenn ſie ihr die Verbindlichkeit, die der Graf gegen ſie habe, entdecken wolle.

Die Königinn kömmt bald, in tiefen Gedan - ken, wieder zurück. Sie iſt mit ſich ſelbſt im Streit, ob der Graf auch wohl ſo ſchuldig ſey, als er ſcheine. Vielleicht, daß es eine andere Schärpe war, die der ihrigen nur ſo ähnlich iſt. Der Herzog tritt ſie an. Er ſagt, er komme, ſie um eine Gnade zu bitten, um welche ſie auch zugleich Blanca bitte. Blanca werde ſich näher darüber erklären; er wolle ſie zuſam - men allein laſſen: und ſo läßt er ſie.

Die Königinn wird neugierig, und Blanca verwirrt. Endlich entſchließt ſich Blanca, zu reden. Sie will nicht länger von dem verän - derlichen Willen eines Mannes abhangen; ſie will es ſeiner Rechtſchaffenheit nicht länger an - heim ſtellen, was ſie durch Gewalt erhaltenkann.96kann. Sie flehet die Eliſabeth um Mitleid an: die Eliſabeth, die Frau; nicht die Königinn. Denn da ſie eine Schwachheit ihres Geſchlechts bekennen müſſe: ſo ſuche ſie in ihr nicht die - niginn, ſondern nur die Frau. (*) Ya eſtoi reſuelta; No a la voluntad mudable De un hombre eſté yo ſujeta, Que aunque no ſè que mi olvide, Es necedad, que yo quiera Dexar a ſu corteſia Lo que puede hacer la fuerza. Gran Iſabela, eſcuchadme, Y al eſcucharme tu Alteza, Ponga aun mas que la atencion, La piedad con los orejas. Iſabella os he llamado En eſta ocaſion, no Reina, Que quando vengo a deciros Del honor una flaqueza, Que he hecho como muger, Porque mejor os parezca, No Reina, muger os buſco. Solo muger os quiſiera. ()

Ham -[97]

Hamburgiſche Dramaturgie. Fünf und ſechzigſtes Stück.

Du? mir eine Schwachheit? fragt die - niginn.

Blanca.

Schmeicheleyen, Seufzer, Liebkoſungen, und beſonders Thränen, ſind ver - mögend, auch die reinſte Tugend zu untergraben. Wie theuer kömmt mir dieſe Erfahrung zu ſtehen! Der Graf

Die Königinn.

Der Graf? Was für ein Graf?

Blanca.

Von Eſſex.

Die Königinn.

Was höre ich?

Blanca.

Seine verführeriſche Zärtlichkeit

Die Königinn.

Der Graf von Eſſex?

Blanca.

Er ſelbſt, Königinn.

Die Königinn.
(bey Seite)

Jch bin des Todes! Nun? weiter!

Blanca.

Jch zittere. Nein, ich darf es nicht wagen

NDie98

Die Königinn macht ihr Muth, und lockt ihr nach und nach mehr ab, als Blanca zu ſagen brauchte; weit mehr, als ſie ſelbſt zu hören wünſcht. Sie höret, wo und wie der Graf glücklich geweſen;(*)Bl. Le llamè una noche obſcura Rein. Y vino a verte? Bl. Pluguiera A dios, que no fuera tanta Mi diſdicha, v ſu fineza. Vino mas galan que nunca, Y vo que dos veces ciega, Por mi mal, eſtaba entonces Del amor, y las tinieblas und als ſie endlich auch höret, daß er ihr die Ehe verſprochen, und daß Blanca auf die Erfüllung dieſes Verſprechens dringe: ſo bricht der ſo lange zurückgehaltene Sturm auf einmal aus. Sie verhönet das leichtgläubige Mädchen auf das empfindlichſte, und verbiethet ihr ſchlechterdings, an den Grafen weiter zu denken. Blanca erräth ohne Mühe, daß dieſer Eifer der Königinn, Eiferſucht ſeyn müſſe: und giebt es ihr zu verſtehen.

Die Königinn. Eiferſucht? Nein; blos deine Aufführung entrüſtet mich. Und geſetzt, ja geſetzt, ich liebte den Grafen. Wenn ich, Jch ihn liebte, und eine andere wäre ſo vermeſſen, ſo thöricht, ihn neben mir zu lieben, was ſage ich, zu lieben? ihn nur anzuſehen, was ſage ich, anzuſehen? ſich nur eine Gedanke von ihm in den Sinn kommen zu laſſen: das ſollte dieſer an -dern99dern nicht das Leben koſten? Du ſieheſt, wie ſehr mich eine blos vorausgeſetzte, erdichtete Eifer - ſucht aufbringt: urtheile daraus, was ich bey ei - ner wahren thun würde. Jtzt ſtelle ich mich nur eifer - ſüchtig: hüte dich, mich es wirklich zu machen! (*)Rein. Eſte es zelo, Blanca. Bl. Zelos, Añadiendoſe una letra. Rein. Que decis? Bl. Señora, que Si acaſo poſſible fuera, A no ſer vos la que dice Eſſas palabras, dixera, Que eran zelos. Rein. Que ſon zelos? No ſon zelos, es ofenſa Que me eſtais haciendo vos. Supongamos, que quiſiera A el Conde en eſta ocaſion: Pues ſi yo a el Conde quiſiera Y alguna atrevida, loca Preſumida, deſcompueſta Le quiſiera, que es querer? Que le mirara, o le viera; Que es verle? No ſè que diga, No hai coſa que menos ſea No la quitara la vida? La ſangre no la bebiera? Los zelos, aunque fingidos, Me arrebataron la lengua, Y diſpararon mi enojo Mirad que no me deis zelos, Que ſi ſingidos ſe altera Tanto mi enojo, ved vos, Si fuera verdad, qui hiciera Eſcarmentad en las burlas, No me deis zelos de veras.

N 2Mit100

Mit dieſer Drohung geht die Königinn ab, und läßt die Blanca in der äußerſten Verzweif - lung. Dieſes fehlte noch zu den Beleidigungen, über die ſich Blanca bereits zu beklagen hatte. Die Königinn hat ihr Vater und Bruder und Vermögen genommen: und nun will ſie ihr auch den Grafen nehmen. Die Rache war ſchon be - ſchloſſen: aber warum ſoll Blanca noch erſt war - ten, bis ſie ein anderer für ſie vollzieht? Sie will ſie ſelbſt bewerkſtelligen, und noch dieſen Abend. Als Kammerfrau der Königinn, muß ſie ſie auskleiden helfen; da iſt ſie mit ihr allein; und es kann ihr an Gelegenheit nicht fehlen. Sie ſieht die Königinn mit dem Kanzler wieder - kommen, und geht, ſich zu ihrem Vorhaben ge - faßt zu machen.

Der Kanzler hält verſchiedne Briefſchaften, die ihm die Königinn nur auf einen Tiſch zu le - gen befiehlt; ſie will ſie vor Schlafengehen noch durchſehen. Der Kanzler erhebt die auſſeror - dentliche Wachſamkeit, mit der ſie ihren Reichs - geſchäften obliege; die Königinn erkennt es für ihre Pflicht, und beurlaubet den Kanzler. Nun iſt ſie allein, und ſetzt ſich zu den Papieren. Sie will ſich ihres verliebten Kummers entſchlagen, und anſtändigern Sorgen überlaſſen. Aber das erſte Papier, was ſie in die Hände nimt, iſt die Bittſchrift eines Grafen Felix. Eines Grafen! Muß es denn eben, ſagt ſie, von einem Gra -fen101fen ſeyn, was mir zuerſt vorkömmt! Die - ſer Zug iſt vortrefflich. Auf einmal iſt ſie wie - der mit ihrer ganzen Seele bey demjenigen Gra - fen, an den ſie itzt nicht denken wollte. Seine Liebe zur Blanca iſt ein Stachel in ihrem Her - zen, der ihr das Leben zur Laſt macht. Bis ſie der Tod von dieſer Marter befreye, will ſie bey dem Bruder des Todes Linderung ſuchen: und ſo fällt ſie in Schlaf.

Jndem tritt Blanca herein, und hat eine von den Piſtolen des Grafen, die ſie in ihrem Zim - mer gefunden. (Der Dichter hatte ſie, zu An - fange dieſes Akts, nicht vergebens dahin tragen laſſen.) Sie findet die Königinn allein und ent - ſchlafen: was für einen bequemern Augenblick könnte ſie ſich wünſchen? Aber eben hat der Graf die Blanca geſucht, und ſie in ihrem Zim - mer nicht getroffen. Ohne Zweifel erräth man, was nun geſchieht. Er kömmt alſo, ſie hier zu ſuchen; und kömmt eben noch zurecht, der Blanca in den mörderiſchen Arm zu fallen, und ihr die Piſtole, die ſie auf die Königinn ſchon geſpannt hat, zu entreiſſen. Jndem er aber mit ihr ringt, geht der Schuß los: die Königinn erwacht, und alles kömmt aus dem Schloſſe herzugelaufen.

Die Königinn.
(im Erwachen)

Ha! Was iſt das?

N 3Der102
Der Kanzler.

Herbey, herbey! Was war das für ein Knall, in dem Zimmer der Königinn? Was geſchieht hier?

Eſſex.
(mit der Piſtole in der Hand)

Grauſa - mer Zufall!

Die Königinn.

Was iſt das, Graf?

Eſſex.

Was ſoll ich thun?

Die Königinn.

Blanca, was iſt das?

Blanca.

Mein Tod iſt gewiß!

Eſſex.

Jn welcher Verwirrung befinde ich mich!

Der Kanzler.

Wie? der Graf ein Verrä - ther?

Eſſex.
(bey Seite)

Wozu ſoll ich mich ent - ſchlieſſen? Schweige ich: ſo fällt das Verbrechen auf mich. Sage ich die Wahrheit: ſo werde ich der nichtswürdige Verkläger meiner Geliebten, meiner Blanca, meiner theuerſten Blanca.

Die Königinn.

Sind Sie der Verräther, Graf? Biſt du es, Blanca? Wer von euch war mein Retter? wer mein Mörder? Mich dünkt, ich hörte im Schlafe euch beide rufen: Verrätherinn! Verräther! Und doch kann nur eines von euch die - ſen Namen verdienen. Wenn eines von euch mein Leben ſuchte, ſo bin ich es dem andern ſchuldig. Wem bin ich es ſchuldig, Graf? Wer ſuchte es, Blanca? Jhr ſchweigt? Wohl, ſchweigt nur! Jch will in dieſer Ungewißheit bleiben; ich will den Unſchuldigen nicht wiſſen, um den Schuldigen nichtzu103zu kennen. Vielleicht dürfte es mich eben ſo ſehr ſchmerzen, meinen Beſchützer zu erfahren, als mei - nen Feind. Jch will der Blanca gern ihre Verrä - therey vergeben, ich will ſie ihr verdanken: wenn dafür der Graf nur unſchuldig war. (*)Conde, vos traidor? Vos, Blanca? El juicio eſta indiferente, Qual me libra, qual me mata. Conde, Blanca, reſpondedme! Tu a la Reina? tu a la Reina? Oid, aunque confuſamente: Ha, traidora, dixo el Conde; Blanca dixo: Traidor eres. Eſtas razones de entrambos A entrambas coſas convienen: Uno de los dos me libra, Otro de los dos me ofende. Conde, qual me daba vida? Blanca, qual me daba muerte? Decidme! no lo digais, Que neutral mi valor quiere, Por no ſaber el traidor, No ſaber el innocente. ()Mejor

Aber der Kanzler ſagt: wenn es die Königinn ſchon hierbey wolle bewenden laſſen, ſo dürfe er es doch nicht; das Verbrechen ſey zu groß; ſein Amt erfodere, es zu ergründen; beſonders da aller Anſchein ſich wider den Grafen erkläre.

Die Königinn.

Der Kanzler hat Recht; man muß es unterſuchen. Graf,

Eſſex.

Königinn!

Die104
Die Königinn.

Bekennen Sie die Wahr - heit.

(bey Seite)

Aber wie ſehr fürchtet meine Liebe, ſie zu hören! War es Blanca?

Eſſex.

Jch Unglücklicher!

Die Königinn.

War es Blanca, die mei - nen Tod wollte?

Eſſex.

Nein, Königinn; Blanca war es nicht.

Die Königinn.

Sie waren es alſo?

Eſſex.

Schreckliches Schickſal! Jch weiß nicht.

Die Königinn.

Sie wiſſen es nicht? Und wie kömmt dieſes mörderiſche Werkzeug in ihre Hand?

Der Graf ſchweigt, und die Königinn be - fiehlt, ihn nach dem Tower zu bringen. Blan - ca, bis ſich die Sache mehr aufhellet, ſoll in ihrem Zimmer bewacht werden. Sie werden abgeführt, und der zweyte Aufzug ſchließt.

Ham -

(*)Mejor es quedar confuſa, En duda mi juicio quede, Porque quando mire a alguno, Y de la traicion me acuerde, A penſar, que es el traidor, Que es el leal tambien pienſe. Yo le agradeciera à Blanca, Que ella traidora fueſſe, Solo à truque de que el Conde Fuera el, que eſtaba innocente.

[105]

Hamburgiſche Dramaturgie. Sechs und ſechzigſtes Stück.

Der dritte Aufzug fängt ſich mit einer langen Monologe der Königinn an, die allen Scharfſinn der Liebe aufbiethet, den Grafen unſchuldig zu finden. Die Vielleicht werden nicht geſparet, um ihn weder als ihren Mörder, noch als den Liebhaber der Blanca denken zu dürfen. Beſonders geht ſie mit den Vorausſetzungen wider die Blanca ein wenig ſehr weit; ſie denkt über dieſen Punkt über - haupt lange ſo zärtlich und ſittſam nicht, als wir es wohl wünſchen möchten, und als ſie auf un - ſern Theatern denken müßte. (*)No pudo ſer que mintiera Blanca en lo que me conto De gozarla el Conde? No, Que Blanca no lo fingiera: No pudo haverla gozado, Sin eſtar enamorado, ()OY

Es106

Es kommen der Herzog, und der Kanzler: je - ner, ihr ſeine Freude über die glückliche Erhal - tung ihres Lebens zu bezeigen; dieſer, ihr einen neuen Beweis, der ſich wider den Eſſex äußert, vorzulegen. Auf der Piſtole, die man ihm aus der Hand genommen, ſteht ſein Name; ſie gehört ihm; und wem ſie gehört, der hat ſie un - ſtreitig auch brauchen wollen.

Doch nichts ſcheinet den Eſſex unwiderſprech - licher zu verdammen, als was nun erfolgt. Coſme hat, bey anbrechendem Tage, mit dem bewußten Briefe nach Schottland abgehen wol - len, und iſt angehalten worden. Seine Reiſe ſieht einer Flucht ſehr ähnlich, und eine ſolche Flucht läßt vermuthen, daß er an dem Verbre - chen ſeines Herrn Antheil könne gehabt haben. Er wird alſo vor den Kanzler gebracht, und die Königinn beſiehlt, ihn in ihrer Gegenwart zu verhören. Den Ton, in welchem ſich Coſme rechtfertiget, kann man leicht errathen. Er weiß von nichts; und als er ſagen ſoll, wo erhin -(*)Y quando tierno, y rendido, Entonces la haya querido, No puede haverla olvidado? No le vieron mis antojos Entre acogimientos ſabios, Mui callando con los labios, Mui bachiller con los ojos, Quando al decir ſus enojos Yo ſu deſpecho reñi? ()107hingewollt, läßt er ſich um die Wahrheit nicht lange nöthigen. Er zeigt den Brief, den ihm ſein Graf, an einen andern Grafen nach Schott - land zu überbringen befohlen: und man weiß, was dieſer Brief enthält. Er wird geleſen, und Coſme erſtaunt nicht wenig, als er hört, wohin es damit abgeſehen geweſen. Aber noch mehr erſtaunt er über den Schluß deſſelben, worinn der Ueberbringer ein Vertrauter heißt, durch den Roberto ſeine Antwort ſicher beſtellen könne. Was höre ich? ruft Coſme. Jch ein Ver - trauter? Bey dieſem und jenem! ich bin kein Vertrauter; ich bin niemals einer geweſen, und will auch in meinem Leben keiner ſeyn. Habe ich wohl das Anſehen zu einem Vertrau - ten? Jch möchte doch wiſſen, was mein Herr an mir gefunden hätte, um mich dafür zu neh - men. Jch, ein Vertrauter, ich, dem das geringſte Geheimniß zur Laſt wird? Jch weiß, zum Exempel, daß Blanca und mein Herr einander lieben, und daß ſie heimlich mit ein - ander verheyrathet ſind: es hat mir ſchon lan - ge das Herz abdrücken wollen; und nun will ich es nur ſagen, damit ſie hübſch ſehen, meine Herren, was für ein Vertrauter ich bin. Schade, daß es nicht etwas viel wichtigeres iſt: ich würde es eben ſo wohl ſagen. (*)Que eſcucho? Señores mios, Dos mil demonios me lleven, ()SiO 2Dieſe108Dieſe Nachricht ſchmerzt die Königinn nicht we - niger, als die Ueberzeugung, zu der ſie durch den unglücklichen Brief von der Verrätherey des Grafen gelangt. Der Herzog glaubt, nun auch ſein Stillſchweigen brechen zu müſſen, und der Königinn nicht länger zu verbergen, was er in dem Zimmer der Blanca zufälliger Weiſe an - gehört habe. Der Kanzler dringt auf die Be - ſtrafung des Verräthers, und ſobald die - niginn wieder allein iſt, reitzen ſie ſowohl belei - digte Majeſtät, als gekränkte Liebe, des Gra - fen Tod zu beſchließen.

Nunmehr bringt uns der Dichter zu ihm, in das Gefängniß. Der Kanzler kömmt und eröfnet dem Grafen, daß ihn das Parlament für ſchul - dig erkannt, und zum Tode verurtheilet habe,wel -(*)Si yo confidente ſoi, Si lo he ſido, o ſi lo fuere, Ni tengo intencion de ſerlo. Tengo yo Cara de ſer confidente? Yo no ſè que ha viſto en mi Mi amo para tenerme En eſta opinion; y à fe, Que me holgara de que fueſſe Coſa de mas importancia Un ſecretillo mui leve, Que rabio ya por decirlo, Que es que el Conde a Blanca quiere, Que eſtan caſados los dos En ſecreto ()109welches Urtheil morgen des Tages vollzogen wer - den ſolle. Der Graf betheuert ſeine Unſchuld.

Der Kanzler.

Jhre Unſchuld, Mylord, wollte ich gern glauben: aber ſo viele Beweiſe wi - der Sie! Haben Sie den Brief an den Roberto nicht geſchrieben? Jſt es nicht Jhr eigenhändiger Name?

Eſſex.

Allerdings iſt er es.

Der Kanzler.

Hat der Herzog von Alanzon Sie, in dem Zimmer der Blanca, nicht ausdrück - lich den Tod der Königinn beſchließen hören?

Eſſex.

Was er gehört hat, hat er freylich ge - hört.

Der Kanzler.

Sahe die Königinn, als ſie erwachte, nicht die Piſtole in Jhrer Hand? Gehört die Piſtole, auf der Jhr Name geſtochen, nicht Jhnen?

Eſſex.

Jch kann es nicht leugnen.

Der Kanzler.

So ſind Sie ja ſchuldig.

Eſſex.

Das leugne ich.

Der Kanzler.

Nun, wie kamen Sie denn dazu, daß Sie den Brief an den Roberto ſchrie - ben?

Eſſex.

Jch weiß nicht.

Der Kanzler.

Wie kam es denn, daß der Herzog den verrätheriſchen Vorſatz aus Jhrem eignen Munde vernehmen mußte?

Eſſex.

Weil es der Himmel ſo wollte.

O 3Der110
Der Kanzler.

Wie kam es denn, daß ſich das mörderiſche Werkzeug in Jhren Händen fand?

Eſſex.

Weil ich viel Unglück habe.

Der Kanzler.

Wenn alles das Unglück, und nicht Schuld iſt: wahrlich, Freund, ſo ſpielet Jhnen Jhr Schickſal einen harten Streich. Sie werden ihn mit Jhrem Kopfe bezahlen müſſen.

Eſſex.

Schlimm genug. (*)Cond. Solo el deſcargo que tengo Es el eſtar innocente. Senescal. Aunque yo quiera creerlo No me dexan los indicios, Y advertid, que ya no es tiempo De dilacion, que mañana Haveis de morir. Con. Yo muero Innocente. Sen. Pues decid No eſcribiſteis a Roberto Eſte carta? Aqueſta firma No es la vueſtra? Con. No lo niego. Sen.El gran duque de Alanzon No os oyò en el apoſento De Blanca trazar la muerte De la Reina? Con. Aqueſſo es cierto. Sen.Quando desbertò la Reina No os hallò, Conde, a vos meſmo Con la piſtola en la mano? Y

Wiſſen Jhro Gnaden nicht, fragt Coſme, der dabey iſt, ob ſie mich etwa mit hängen wer -111 werden? Der Kanzler antwortet Nein, weil ihn ſein Herr hinlänglich gerechtfertiget habe; und der Graf erſucht den Kanzler, zu verſtatten, daß er die Blanca noch vor ſeinem Tode ſprechen dürfe. Der Kanzler betauert, daß er, als Richter, ihm dieſe Bitte verſagen müſſe; weil beſchloſſen worden, ſeine Hinrichtung ſo heim - lich, als möglich, geſchehen zu laſſen, aus Furcht vor den Mitverſchwornen, die er viel - leicht ſowohl unter den Großen, als unter demPöbel(*)Y la piſtola que vemos Vueſtro nombre alli gravado No es vueſtro? Con. Os lo concedo. Sen. Luego vos eſtais culpado. Con. Eſſo ſolamente niego. Sen. Pues como eſcribiſteis, Conde, La carta al traidor Roberto? Con. No lo ſè. Sen. Pues como el Duque Que eſcucho vueſtros intentos, Os convence en la traicion? Con. Porque aſſi lo quiſo el cielo. Sen. Como hallando en vueſtra mano Os culpa el vil inſtrumento? Con. Porque tengo poca dicha. Sen. Pues ſabed, que ſi es deſdicha Y no culpa, en tanto aprieto Os pone vueſtra fortuna, Conde amigo, que ſupueſto Que no dais otro deſcargo, En fe de indicios tan ciertos, Mañana vueſtra cabeza Ha de pagar 112Pöbel in Menge haben möchte. Er ermahnt ihn, ſich zum Tode zu bereiten, und geht ab. Der Graf wünſchte blos deswegen die Blanca noch einmal zu ſprechen, um ſie zu ermahnen, von ihrem Vorhaben abzuſtehen. Da er es nicht mündlich thun dürfen, ſo will er es ſchrift - lich thun. Ehre und Liebe verbinden ihn, ſein Leben für ſie hinzugeben; bey dieſem Opfer, das die Verliebten alle auf der Zunge führen, das aber nur bey ihm zur Wirklichkeit gelangt, will er ſie beſchwören, es nicht fruchtlos bleiben zu laſſen. Es iſt Nacht; er ſetzt ſich nieder zu ſchreiben, und befiehlt Coſmen, den Brief, den er ihm hernach geben werde, ſogleich nach ſeinem Tode der Blanca einzuhändigen. Coſme geht ab, um indeß erſt auszuſchlafen.

Ham -[113]

Hamburgiſche Dramaturgie. Sieben und ſechzigſtes Stück.

Run folgt eine Scene, die man wohl ſchwer - lich erwartet hätte. Alles iſt ruhig und ſtille, als auf einmal eben die Dame, welcher Eſſex in dem erſten Akte das Leben ret - tete, in eben dem Anzuge, die halbe Maſke auf dem Geſichte, mit einem Lichte in der Hand, zu dem Grafen in das Gefängniß hereintritt. Es iſt die Königinn. Der Graf, ſagt ſie vor ſich im Hereintreten, hat mir das Leben erhal - ten: ich bin ihm dafür verpflichtet. Der Graf hat mir das Leben nehmen wollen: das ſchreyet um Rache. Durch ſeine Verurthei - lung iſt der Gerechtigkeit ein Genüge geſche - hen: nun geſchehe es auch der Dankbarkeit und Liebe! (*)El Conde me diò la vida Y aſſi obligada me veo; ()PElJndem ſie näher kömmt,wird114wird ſie gewahr, daß der Graf ſchreibt. Ohne Zweifel, ſagt ſie, an ſeine Blanca! Was ſchadet das? Jch komme aus Liebe, aus der feurigſten, uneigennützigſten Liebe: itzt ſchweige die Eiferſucht! Graf! Der Graf hört ſich rufen, ſieht hinter ſich, und ſpringt voller Er - ſtaunen auf. Was ſeh ich! Keinen Traum, fährt die Königinn fort, ſondern die Wahrheit. Eilen Sie, ſich davon zu überzeugen, und laſſen Sie uns koſtbare Au - genblicke nicht mit Zweifeln verlieren. Sie erinnern ſich doch meiner? Jch bin die, der Sie das Leben gerettet. Jch höre, daß Sie morgen ſterben ſollen; und ich komme, Jhnen meine Schuld abzutragen, Jhnen Leben für Leben zu geben. Jch habe den Schlüſſel des Gefängniſſes zu bekommen gewußt. Fragen Sie mich nicht, wie? Hier iſt er; nehmen Sie; er wird Jhnen die Pforte in den Park eröfnen; fliehen Sie, Graf, und erhalten Sie ein Leben, das mir ſo theuer iſt.

Eſſex.

Theuer? Jhnen, Madame?

Die

(*)El Conde me daba muerte, Y aſ[n]ofendida me quexo, Pues va que con la ſentencia Eſta parte he ſatisfecho, Pues cumpli con la juſticia, Con el amor cumplir quiero. ()

115
Die Königinn.

Würde ich ſonſt ſo viel ge - wagt haben, als ich wage?

Eſſex.

Wie ſinnreich iſt das Schickſal, das mich verfolgt! Es findet einen Weg, mich durch mein Glück ſelbſt unglücklich zu machen. Jch ſcheine glücklich, weil die mich zu befreyen kömmt, die meinen Tod will: aber ich bin um ſo viel un - glücklicher, weil die meinen Tod will, die meine Freyheit mir anbiethet. (*)Ingenioſa mi fortuna Hallò en la dicha mas nuevo Modo de hacerme infeliz, Pues quando dichoſo veo, Que me libra quien me mata, Tambien deſdichado advierto, Que me mata quien me libra. ()

Die Königinn verſtehet hieraus genugſam, daß ſie Eſſex kennet. Er verweigert ſich der Gnade, die ſie ihm angetragen, gänzlich; aber er bittet, ſie mit einer andern zu vertauſchen.

Die Königinn.

Und mit welcher?

Eſſex.

Mit der, Madame, von der ich weiß, daß ſie in Jhrem Vermögen ſteht, mit der Gna - de, mir das Angeſicht meiner Königinn ſehen zu laſſen. Es iſt die einzige, um die ich es nicht zu klein halte, Sie an das zu erinnern, was ich für Sie gethan habe. Bey dem Leben, das ich Jhnen ge -P 2ret -116rettet, beſchwöre ich Sie, Madame, mir dieſe Gnade zu erzeigen.

Die Königinn.
(vor ſich)

Was ſoll ich thun? Vielleicht, wenn er mich ſieht, daß er ſich recht - fertiget! Das wünſche ich ja nur.

Eſſex.

Verzögern Sie mein Glück nicht, Madame.

Die Königinn.

Wenn Sie es denn durch - aus wollen, Graf; wohl: aber nehmen Sie erſt dieſen Schlüſſel; von ihm hängt Jhr Leben ab. Was ich itzt für Sie thun darf, könnte ich hernach vielleicht nicht dürfen. Nehmen Sie; ich will Sie geſichert wiſſen. (*)Pues ſi esto ha de ſer, primero Tomad, Conde, aqueſta llave, Que ſi ha de ſer inſtrumento De vueſtra vida, quiza Tan otra, quitando el velo, Serè, que no pueda entonces Hacer lo que ahora puedo, Y como a daros la vida Me empeñè, por lo que os debo, Por ſi no puedo deſpues, De eſta ſuerte me prevengo. ()

Eſſex.
(indem er den Schlüſſel nimt)

Jch erkenne dieſe Vorſicht mit Dank. Und nun, Madame, ich brenne, mein Schickſal auf dem Angeſichte der Königinn, oder dem Jhrigen zu leſen.

Die117
Die Königinn.

Graf, ob beide gleich eines ſind, ſo gehört doch nur das, welches Sie noch ſehen, mir ganz allein; denn das, welches Sie nun erblicken,

(indem ſie die Maſke abnimt)

iſt der - niginn. Jenes, mit welchem ich Sie erſt ſprach, iſt nicht mehr.

Eſſex.

Nun ſterbe ich zufrieden! Zwar iſt es das Vorrecht des königlichen Antlitzes, daß es jeden Schuldigen begnadigen muß, der es erblickt; und auch mir müßte dieſe Wohlthat des Geſetzes zu Statten kommen. Doch ich will weniger hierzu, als zu mir ſelbſt, meine Zuflucht nehmen. Jch will es wagen, meine Königinn an die Dienſte zu erin - nern, die ich ihr und dem Staate geleiſtet (*)Morirè yo conſolado, Aunque ſi par privilegio En viendo la cara al Rey Queda perdonado el reo; Yo de eſte indulto, Señora, Vida por ley me prometo; Eſto es en comun, que es Lo que a todos da el derecho; Pero ſi en particular Merecer el perdon quiero, Oid, vereis, que me ayuda Major indulto en mis hechos, Mis hazañas ()

Die Königinn.

An dieſe habe ich mich ſchon ſelbſt erinnert. Aber Jhr Verbrechen, Graf, iſt größer als Jhre Dienſte.

P 3Eſſex.118
Eſſex.

Und ich habe mir nichts von der Huld meiner Königinn zu verſprechen?

Die Königinn.

Nichts.

Eſſex.

Wenn die Königinn ſo ſtreng iſt, ſo rufe ich die Dame an, der ich das Leben gerettet. Dieſe wird doch wohl gütiger mit mir verfahren?

Die Königinn.

Dieſe hat ſchon mehr ge - than, als ſie ſollte: ſie hat Jhnen den Weg geöfnet, der Gerechtigkeit zu entfliehen.

Eſſex.

Und mehr habe ich um Sie nicht ver - dient, um Sie, die mir Jhr Leben ſchuldig iſt?

Die Königinn.

Sie haben ſchon gehört, daß ich dieſe Dame nicht bin. Aber geſetzt ich wäre es: gebe ich Jhnen nicht eben ſo viel wieder, als ich von Jhnen empfangen habe?

Eſſex.

Wo das? Dadurch doch wohl nicht, daß Sie mir den Schlüſſel gegeben?

Die Königinn.

Dadurch allerdings.

Eſſex.

Der Weg, den mir dieſer Schlüſſel eröfnen kann, iſt weniger der Weg zum Leben, als zur Schande. Was meine Freyheit bewirken ſoll, muß nicht meiner Furchtſamkeit zu dienen ſchei - nen. Und doch glaubt die Königinn, mich mit die - ſem Schlüſſel, für die Reiche, die ich ihr erfochten, für das Blut, das ich um ſie vergoſſen, für das Leben, das ich ihr erhalten, mich mit dieſem elen -den119den Schlüſſel für alles das abzulohnen? (*)Luego eſta, que aſſi camino Abrirà a mi vida, abriendo, Tambien la abrirà a mi infamia; Luego eſta, que inſtrumento De mi libertad, tambien Lo havrà de ſer de mi miedo. Eſta, que ſolo me ſirve De huir, es el deſempeño De Reinos, que os he ganado, De ſervicios, que os he hecho, Y en fin, de eſſa vida, de eſſa, Que teneis oy por mi esfuerzo? En eſta ſe cifra tanto? ()Jch will mein Leben einem anſtändigern Mittel zu danken haben, oder ſterben.

(indem er nach dem Fen - ſter geht)
Die Königinn.

Wo gehen Sie hin?

Eſſex.

Nichtswürdiges Werkzeug meines Le - bens, und meiner Entehrung! Wenn bey dir alle meine Hoffnung beruhet, ſo empfange die Fluth, in ihrem tiefſten Abgrunde, alle meine Hoffnung!

(Er eröfnet das Fenſter, und wirft den Schlüſſel durch das Gitter in den Kanal)

Durch die Flucht, wäre mein Leben viel zu theuer erkauft. (**)Vil inſtrumento De mi vida, y de mi infamia, Por eſta rexa cavendo Del parque, que bate el rio, ()Entre

Die120
Die Königinn.

Was haben Sie gethan, Graf? Sie haben ſehr übel gethan.

Eſſex.

Wann ich ſterbe: ſo darf ich wenigſtens laut ſagen, daß ich eine undankbare Königinn hin - terlaſſe. Will ſie aber dieſen Vorwurf nicht: ſo denke ſie auf ein anderes Mittel, mich zu retten. Dieſes unanſtändigere habe ich ihr genommen. Jch berufe mich nochmals auf meine Dienſte: es ſteht bey ihr ſie zu belohnen, oder mit dem Andenken derſelben ihren Undank zu verewigen.

Die Königinn.

Jch muß das letztere Ge - fahr laufen. Denn wahrlich, mehr konnte ich, ohne Nachtheil meiner Würde, für Sie nicht thun.

Eſſex.

So muß ich dann ſterben?

Die Königinn.

Ohnfehlbar. Die Frau wollte Sie retten; die Königinn muß dem Rechte ſeinen Lauf laſſen. Morgen müſſen Sie ſterben; und es iſt ſchon morgen. Sie haben mein ganzes Mitleid; die Wehmuth bricht mir das Herz; aber es iſt nun einmal das Schickſal der Könige, daß ſie viel weniger nach ihren Empfindungen handeln kön - nen, als andere. Graf, ich empfehle Sie der Vorſicht!

Ham -

(**)Entre ſus cryſtales quiero, Si ſois mi eſperanza, hundiros, Caed al humedo centro, Donde el Tamaſis ſepulte Mi eſperanza, y mi remedio. ()

[121]

Hamburgiſche Dramaturgie. Acht und ſechzigſtes Stück.

Noch einiger Wortwechſel zum Abſchiede, noch einige Ausrufungen in der Stille: und beide, der Graf und die Königinn, gehen ab; jedes von einer beſondern Seite. Jm Herausgehen, muß man ſich einbilden, hat Eſſex Coſmen den Brief gegeben, den er an die Blanca geſchrieben. Denn den Augenblick dar - auf kömmt dieſer damit herein, und ſagt, daß man ſeinen Herrn zum Tode führe; ſobald es damit vorbey ſey, wolle er den Brief, ſo wie er es verſprochen, übergeben. Jndem er ihn aber anſieht, erwacht ſeine Neugierde. Was mag dieſer Brief wohl enthalten? Eine Ehever - ſchreibung? die käme ein wenig zu ſpät. Die Abſchrift von ſeinem Urtheile? die wird er doch nicht der ſchicken, die es zur Wittwe macht. Sein Teſtament? auch wohl nicht. Nun was denn? Er wird immer begieriger; zugleichQfällt122fällt ihm ein, wie es ihm ſchon einmal faſt das Leben gekoſtet hätte, daß er nicht gewußt, was in dem Briefe ſeines Herrn ſtünde. Wäre ich nicht, ſagt er, bey einem Haare zum Ver - trauten darüber geworden? Hohl der Geyer die Vertrautſchaft! Nein, das muß mir nicht wieder begegnen! Kurz, Coſme beſchließt, den Brief zu erbrechen; und erbricht ihn. Na - türlich, daß ihn der Jnhalt äußerſt betroffen macht; er glaubt, ein Papier, das ſo wichtige und gefährliche Dinge enthalte, nicht geſchwind genug los werden zu können; er zittert über den bloßen Gedanken, daß man es in ſeinen Händen finden könne, ehe er es freywillig abgeliefert; und eilet, es geraden Weges der Königinn zu bringen.

Eben kömmt die Königinn mit dem Kanzler heraus. Coſme will ſie den Kanzler nur erſt abfertigen laſſen; und tritt bey Seite. Die Königinn ertheilt dem Kanzler den letzten Be - fehl zur Hinrichtung des Grafen; ſie ſoll ſogleich, und ganz in der Stille vollzogen werden; das Volk ſoll nichts davon erfahren, bis der ge - köpfte Leichnam ihm mit ſtummer Zunge Treue und Gehorſam zurufe. (*)Haſta que el tronco cadaver Le ſirva de muda lengua. ()Den Kopf ſoll der Kanzler in den Saal bringen, und, nebſt dembluti -123blutigen Beile, unter einen Teppich legen laſſen; hierauf die Großen des Reichs verſammeln, um ihnen mit eins Verbrechen und Strafe zu zeigen, zugleich ſie an dieſem Beyſpiele ihrer Pflicht zu erinnern, und ihnen einzuſchärfen, daß ihre Königinn eben ſo ſtrenge zu ſeyn wiſſe, als ſie gnädig ſeyn zu können wünſche: und das alles, wie ſie der Dichter ſagen läßt, nach Gebrauch und Sitte des Landes. (*)Y aſſi al ſalon de palacio Hareis que llamados vengan Los Grandes y los Milordes, Y para que alli le vean, Debaxo de una cortina Hareis poner la cabeza Con el ſangriento cuchillo, Que amenaza junto a ella, Por ſymbolo de juſticia, Coſtumbre de Inglaterra: Y en eſtando todos juntos, Monſtrandome juſticiera, Exhortandolos primero Con amor a la obediencia, Les moſtrarè luego al Conde, Para que todos atiendan, Que en mi ay rigor que los rinda, Si ay piedad que los atreva. ()

Der Kanzler geht mit dieſen Befehlen ab, und Coſme tritt die Königinn an. Dieſen Brief, ſagt er, hat mir mein Herr gegeben,Q 2 ihn124 ihn nach ſeinem Tode der Blanca einzuhändi - gen. Jch habe ihn aufgemacht, ich weiß ſelbſt nicht warum; und da ich Dinge darinn finde, die Jhro Majeſtät wiſſen müſſen, und die dem Grafen vielleicht noch zu Statten kommen können: ſo bringe ich ihn Jhro Majeſtät, und nicht der Blanca. Die Königinn nimt den Brief, und lieſet: Blanca, ich nahe mich meinem letzten Augenblicke; man will mir nicht vergönnen, mit dir zu ſprechen: em - pfange alſo meine Ermahnung ſchriftlich. Aber vors erſte lerne mich kennen; ich bin nie der Verräther geweſen, der ich dir vielleicht ge - ſchienen; ich verſprach, dir in der bewußten Sache behülflich zu ſeyn, blos um der - niginn deſto nachdrücklicher zu dienen, und den Roberto, nebſt ſeinen Anhängern, nach London zu locken. Urtheile, wie groß meine Liebe iſt, da ich dem ohngeachtet eher ſelbſt ſterben, als dein Leben in Gefahr ſetzen will. Und nun die Ermahnung: ſtehe von dem Vor - haben ab, zu welchem dich Roberto anreitzet; du haſt mich nun nicht mehr; und es möchte ſich nicht alle Tage einer finden, der dich ſo ſehr liebte, daß er den Tod des Verräthers für dich ſterben wollte. (*)Blanca en el ultimo trance, Porque hablarte no me dexan, ()He

Menſch!125

Menſch! ruft die beſtürzte Königinn, was haſt du mir da gebracht? Nun? ſagt Coſme, bin ich noch ein Vertrauter? Eile, fliehe, deinen Herrn zu retten! Sage dem Kanzler, einzuhalten! Holla, Wache! bringt ihn augenblicklich vor mich, den Grafen, geſchwind! Und eben wird er gebracht: ſein Leichnam nehmlich. So groß die Freude war, welche die Königinn auf einmal über - ſtrömte, ihren Grafen unſchuldig zu wiſſen: ſoQ 3groß(*)He de eſcribirte un conſejo, Y tambien una advertencia; La advertencia es, que yo nunca Fui traidor, que la promeſſa De ayudar en lo que ſabes, Fue por ſervir a la Reina, Cogiendo a Roberto en Londres, Y a los que ſeguirle intentan; Para aqueſto fue la carta: Eſto he querido que ſepas, Porque adviertas el prodigio De mi amor, que aſſi ſe dexa Morir, por guardar tu vida. Eſte ha ſido la advertencia: (Valgame dios!) el conſejo Es, que deſiſtas la empreſſa A que Roberto te incita. Mira que ſin mi te quedas, Y no ha de haver cada dia Quien por mucho que te quiera, Por conſervarte la vida Por traidor la ſuya pierda. ()126groß ſind nunmehr Schmerz und Wuth, ihn hingerichtet zu ſehen. Sie verflucht die Eilfer - tigkeit, mit der man ihren Befehl vollzogen: und Blanca mag zittern!

So ſchließt ſich dieſes Stück, bey welchem ich meine Leſer vielleicht zu lange aufgehalten habe. Villeicht auch nicht. Wir ſind mit den dramatiſchen Werken der Spanier ſo wenig be - kannt; ich wüßte kein einziges, welches man uns überſetzt, oder auch nur Auszugsweiſe mitgetheilet hätte. Denn die Virgina des Au - guſtino de Montiano y Luyando iſt zwar ſpa - niſch geſchrieben; aber kein ſpaniſches Stück: ein bloßer Verſuch in der correcten Manier der Franzoſen, regelmäßig aber froſtig. Jch be - kenne ſehr gern, daß ich bey weiten ſo vortheil - haft nicht mehr davon denke, als ich wohl ehe - dem muß gedacht haben. (*)Theatraliſche Bibliothek, erſtes Stück, S. 117.Wenn das zweyte Stück des nehmlichen Verfaſſers nicht beſſer gerathen iſt; wenn die neueren Dichter der Nation, welche eben dieſen Weg betreten wol - len, ihn nicht glücklicher betreten haben: ſo mögen ſie mir es nicht übel nehmen, wenn ich noch immer lieber nach ihrem alten Lope und Cal - deron greife, als nach ihnen.

Die127

Die echten ſpaniſchen Stücke ſind vollkom - men nach der Art dieſes Eſſex. Jn allen einer - ley Fehler, und einerley Schönheiten: mehr oder weniger; das verſteht ſich. Die Fehler ſpringen in die Augen: aber nach den Schön - heiten dürfte man mich fragen. Eine ganz eigne Fabel; eine ſehr ſinnreiche Verwicklung; ſehr viele, und ſonderbare, und immer neue Theaterſtreiche; die ausgeſparteſten Situatio - nen; meiſtens ſehr wohl angelegte und bis ans Ende erhaltene Charaktere; nicht ſelten viel Würde und Stärke im Ausdrucke.

Das ſind allerdings Schönheiten: ich ſage nicht, daß es die höchſten ſind; ich leugne nicht, daß ſie zum Theil ſehr leicht bis in das Roma - nenhafte, Abentheuerliche, Unnatürliche, kön - nen getrieben werden, daß ſie bey den Spaniern von dieſer Uebertreibung ſelten frey ſind. Aber man nehme den meiſten franzöſiſchen Stücken ihre mechaniſche Regelmäßigkeit: und ſage mir, ob ihnen andere, als Schönheiten ſolcher Art, übrig bleiben? Was haben ſie ſonſt noch viel Gutes, als Verwicklung, und Theaterſtreiche und Situationen?

Anſtändigkeit: wird man ſagen. Nun ja; Anſtändigkeit. Alle ihre Verwicklungen ſind anſtändiger, und einförmiger; alle ihreTheater -128Theaterſtreiche anſtändiger, und abgedroſchner; alle ihre Situationen anſtändiger, und ge - zwungner. Das kömmt von der Anſtändigkeit!

Aber Coſme, dieſer ſpaniſche Hanswurſt; dieſe ungeheure Verbindung der pöbelhafteſten Poſſen mit dem feyerlichſten Ernſte; dieſe Ver - miſchung des Komiſchen und Tragiſchen, durch die das ſpaniſche Theater ſo berüchtiget iſt? Jch bin weit entfernt, dieſe zu vertheidigen. Wenn ſie zwar blos mit der Anſtändigkeit ſtritte, man verſteht ſchon, welche Anſtändigkeit ich meine; wenn ſie weiter keinen Fehler hätte, als daß ſie die Ehrfurcht beleidigte, welche die Großen verlangen, daß ſie der Lebensart, der Etiquette, dem Ceremoniel, und allen den Gauckeleyen zuwiderlief, durch die man den größern Theil der Menſchen bereden will, daß es einen kleinern gäbe, der von weit beſſerm Stoffe ſey, als er: ſo würde mir die unſinnigſte Abwechslung von Niedrig auf Groß, von Aber - witz auf Ernſt, von Schwarz auf Weiß, will - kommner ſeyn, als die kalte Einförmigkeit, durch die mich der gute Ton, die feine Welt, die Hofmanier, und wie dergleichen Armſelig - keiten mehr heiſſen, unfehlbar einſchläfert. Doch es kommen ganz andere Dinge hier in Betrachtung.

Ham -[129]

Hamburgiſche Dramaturgie. Neun und ſechzigſtes Stück.

Lope de Vega, ob er ſchon als der Schöpfer des ſpaniſchen Theaters betrachtet wird, war es indeß nicht, der jenen Zwitterton einführte. Das Volk war bereits ſo daran ge - wöhnt, daß er ihn wider Willen mit anſtimmen mußte. Jn ſeinem Lehrgedichte, über die Kunſt, neue Komödien zu machen, deſſen ich oben ſchon gedacht, jammert er genug darüber. Da er ſahe, daß es nicht möglich ſey, nach den Regeln und Muſtern der Alten für ſeine Zeitge - noſſen mit Beyfall zu arbeiten: ſo ſuchte er der Regelloſigkeit wenigſtens Grenzen zu ſetzen; das war die Abſicht dieſes Gedichts. Er dach - te, ſo wild und barbariſch auch der Geſchmack der Nation ſey, ſo müſſe er doch ſeine Grund - ſätze haben; und es ſey beſſer, auch nur nach dieſen mit einer beſtändigen Gleichförmigkeit zu handeln, als nach gar keinen. Stücke, welcheRdie130die klaſſiſchen Regeln nicht beobachten, können doch noch immer Regeln beobachten, und müſ - ſen dergleichen beobachten, wenn ſie gefallen wollen. Dieſe alſo, aus dem bloßen Natio - nalgeſchmacke hergenommen, wollte er feſtſetzen; und ſo ward die Verbindung des Ernſthaften und Lächerlichen die erſte.

Auch Könige, ſagt er, könnet ihr in euern Komödien auftreten laſſen. Jch höre zwar, daß unſer weiſer Monarch (Philipp der zwey - te) dieſes nicht gebilliget; es ſey nun, weil er einſahe, daß es wider die Regeln laufe, oder weil er es der Würde eines Königes zuwider glaubte, ſo mit unter den Pöbel gemengt zu werden. Jch gebe auch gern zu, daß dieſes wieder zur älteſten Komödie zurückkehren heißt, die ſelbſt Götter einführte; wie unter andern in dem Amphitruo des Plautus zu ſehen: und ich weiß gar wohl, daß Plutarch, wenn er von Menandern redet, die älteſte Komödie nicht ſehr lobt. Es fällt mir alſo freylich ſchwer, unſere Mode zu billigen. Aber da wir uns nun einmal in Spanien ſo weit von der Kunſt entfernen: ſo müſſen die Gelehrten ſchon auch hierüber ſchweigen. Es iſt wahr, das Ko - miſche mit dem Tragiſchen vermiſchet, Seneca mit dem Terenz zuſammengeſchmolzen, giebt kein geringeres Ungeheuer, als der Minotaurus der131 der Paſiphae war. Doch dieſe Abwechſelung gefällt nun einmal; man will nun einmal keine andere Stücke ſehen, als die halb ernſthaft und halb luſtig ſind; die Natur ſelbſt lehrt uns dieſe Mannigfaltigkeit, von der ſie einen Theil ihrer Schönheit entlehnet. (*)Eligeſe el ſujeto, y no ſe mire, (Pardonen los preceptos) ſi es de Reyes, Aunque por eſto entiendo, que el pru - dente, Filipo Rey de Eſpaña, y Señor nueſtro, En viendo un Rey en ellos ſe enfadava, O fueſſe el ver, que al arte contradize, O que la autoridad real no deve Andar fingida entre la humilde plebe, Eſte es bolver à la Comedia antigua, Donde vemos, que Plauto puſo Dioſes, Como en ſu Anfitrion lo mueſtra Jupiter. Sabe Dios, que me peſa de aprovarlo, Porque Plutarco hablando de Menandro, No ſiente bien de la Comedia antigua, Mas pues del arte vamos tan remotos, Y en Eſpaña le hazemos mil agravios, Cierren los Doctos eſta vez los labios. Lo Tragico, y lo Comico mezclado, Y Terencio con Seneca, aunque ſea, Como otro Minotauro de Paſife, Haran grave una parte, otra ridicula, Que aqueſta variedad deleyta mucho, Buen exemplo nos da naturaleza, Que por tal variedad tiene belleza. ()

R 2Die132

Die letzten Worte ſind es, weswegen ich dieſe Stelle anführe. Jſt es wahr, daß uns die Natur ſelbſt, in dieſer Vermengung des Ge - meinen und Erhabnen, des Poſſirlichen und Ernſthaften, des Luſtigen und Traurigen, zum Muſter dienet? Es ſcheinet ſo. Aber wenn es wahr iſt, ſo hat Lope mehr gethan, als er ſich vornahm; er hat nicht blos die Fehler ſeiner Bühne beſchöniget; er hat eigentlich erwieſen, daß wenigſtens dieſer Fehler keiner iſt; denn nichts kann ein Fehler ſeyn, was eine Nachah - mung der Natur iſt.

Man tadelt, ſagt einer von unſern neueſten Scribenten, an Shakeſpear, demjenigen un - ter allen Dichtern ſeit Homer, der die Menſchen, vom Könige bis zum Bettler, und von Julius Cäſar bis zu Jak Fallſtaff, am beſten gekannt, und mit einer Art von unbegreiflicher Jntui - tion durch und durch geſehen hat, daß ſeine Stücke keinen, oder doch nur einen ſehr fehler - haften unregelmäßigen und ſchlecht ausgeſonne - nen Plan haben; daß komiſches und tragiſches darinn auf die ſeltſamſte Art durch einander geworfen iſt, und oft eben dieſelbe Perſon, die uns durch die rührende Sprache der Natur, Thränen in die Augen gelockt hat, in wenigen Augenblicken darauf uns durch irgend einen ſeltſamen Einfall oder barokiſchen Ausdruck ihrer133 ihrer Empfindungen, wo nicht zu lachen macht, doch dergeſtalt abkühlt, daß es ihm hernach ſehr ſchwer wird, uns wieder in die Faſſung zu ſetzen, worinn er uns haben möchte. Man tadelt das, und denkt nicht daran, daß ſeine Stücke eben darinn natürliche Abbildungen des menſchlichen Lebens ſind.

Das Leben der meiſten Menſchen, und (wenn wir es ſagen dürfen) der Lebenslauf der großen Staatskörper ſelbſt, in ſo fern wir ſie als eben ſo viel moraliſche Weſen betrachten, gleicht den Haupt - und Staats-Actionen im alten gothi - ſchen Geſchmacke in ſo vielen Punkten, daß man beynahe auf die Gedanken kommen möchte, die Erfinder dieſer letztern wären klüger geweſen, als man gemeiniglich denkt, und hätten, wofern ſie nicht gar die heimliche Abſicht gehabt, das menſchliche Leben lächerlich zu machen, wenig - ſtens die Natur eben ſo getreu nachahmen wol - len, als die Griechen ſich angelegen ſeyn lieſſen, ſie zu verſchönern. Um itzt nichts von der zu - fälligen Aehnlichkeit zu ſagen, daß in dieſen Stücken, ſo wie im Leben, die wichtigſten Rollen ſehr oft gerade durch die ſchlechteſten Acteurs geſpielt werden, was kann ähnlicher ſeyn, als es beide Arten der Haupt - und Staats - Actionen einander in der Anlage, in der Ab - theilung und Diſpoſition der Scenen, im Kno -R 3 ten134 ten und in der Entwicklung zu ſeyn pflegen. Wie ſelten fragen die Urheber der einen und der andern ſich ſelbſt, warum ſie dieſes oder jenes gerade ſo und nicht anders gemacht ha - ben? Wie oft überraſchen ſie uns durch Bege - benheiten, zu denen wir nicht im mindeſten vorbereitet waren? Wie oft ſehen wir Perſo - nen kommen und wieder abtreten, ohne daß ſich begreifen läßt, warum ſie kamen, oder warum ſie wieder verſchwinden? Wie viel wird in bei - den dem Zufall überlaſſen? Wie oft ſehen wir die größeſten Wirkungen durch die armſeligſten Urſachen hervorgebracht? Wie oft das Ernſt - hafte und Wichtige mit einer leichtſinnigen Art, und das Nichtsbedeutende mit lächerlicher Gra - vität behandelt? Und wenn in beiden endlich alles ſo kläglich verworren und durch einander geſchlungen iſt, daß man an der Möglichkeit der Entwicklung zu verzweifeln anfängt: wie glück - lich ſehen wir durch irgend einen unter Blitz und Donner aus papiernen Wolken herabſprin - genden Gott, oder durch einen friſchen Degen - hieb, den Knoten auf einmal zwar nicht aufge - löſet, aber doch aufgeſchnitten, welches in ſo fern auf eines hinauslauft, daß auf die eine oder die andere Art das Stück ein Ende hat, und die Zuſchauer klatſchen oder ziſchen können, wie ſie wollen oder dürfen. Uebrigens weiß man, was für eine wichtige Perſon in den komiſchen Tra -135 Tragödien, wovon wir reden, der edle Hans - wurſt vorſtellt, der ſich, vermuthlich zum ewi - gen Denkmal des Geſchmacks unſerer Vorel - tern, auf dem Theater der Hauptſtadt des deutſchen Reiches erhalten zu wollen ſcheinet. Wollte Gott, daß er ſeine Perſon allein auf dem Theater vorſtellte! Aber wie viel große Aufzüge auf dem Schauplatze der Welt hat man nicht in allen Zeiten mit Hanswurſt, oder, welches noch ein wenig ärger iſt, durch Hanswurſt, aufführen geſehen? Wie oft ha - ben die größeſten Männer, dazu gebohren, die ſchützenden Genii eines Throns, die Wohlthä - ter ganzer Völker und Zeitalter zu ſeyn, alle ihre Weisheit und Tapferkeit durch einen klei - nen ſchnakiſchen Streich von Hanswurſt, oder ſolchen Leuten vereitelt ſehen müſſen, welche, ohne eben ſein Wamms und ſeine gelben Hoſen zu tragen, doch gewiß ſeinen ganzen Charakter an ſich trugen? Wie oft entſteht in beiden Ar - ten der Tragi-Komödien die Verwicklung ſelbſt lediglich daher, daß Hanswurſt durch irgend ein dummes und ſchelmiſches Stückchen von ſeiner Arbeit den geſcheidten Leuten, eh ſie ſichs verſehen können, ihr Spiel verderbt?

Wenn in dieſer Vergleichung des großen und kleinen, des urſprünglichen und nachgebildeten, heroiſchen Poſſenſpiels (die ich mit Vergnü -gen136gen aus einem Werke abgeſchrieben, welches unſtreitig unter die vortrefflichſten unſers Jahr - hunderts gehört, aber für das deutſche Publi - cum noch viel zu früh geſchrieben zu ſeyn ſcheinet. Jn Frankreich und England würde es das äuſ - ſerſte Aufſehen gemacht haben; der Name ſeines Verfaſſers würde auf aller Zungen ſeyn. Aber bey uns? Wir haben es, und damit gut. Unſe - re Großen lernen vors erſte an den *** kauen; und freylich iſt der Saft aus einem franzöſiſchen Roman lieblicher und verdaulicher. Wenn ihr Gebiß ſchärfer und ihr Magen ſtärker geworden, wenn ſie indeß Deutſch gelernt haben, ſo kommen ſie auch wohl einmal über den Agathon. (*)Zweyter Theil S. 192.Dieſes iſt das Werk von welchem ich rede, von welchem ich es lieber nicht an dem ſchicklichſten Orte, lieber hier als gar nicht, ſagen will, wie ſehr ich es bewundere: da ich mit der äußerſten Befremdung wahrnehme, welches tiefe Still - ſchweigen unſere Kunſtrichter darüber beobachten, oder in welchem kalten und gleichgültigen Tone ſie davon ſprechen. Es iſt der erſte und einzige Roman für den denkenden Kopf, von klaſſiſchem Geſchmacke. Roman? Wir wollen ihm dieſen Titel nur geben, vielleicht, daß es einige Leſer mehr dadurch bekömmt. Die wenigen, die es darüber verlieren möchte, an denen iſt ohnedem nichts gelegen.)

Ham -[137]

Hamburgiſche Dramaturgie. Siebzigſtes Stück.

Wenn in dieſer Vergleichung, ſage ich, die ſatyriſche Laune nicht zu ſehr vorſtäche: ſo würde man ſie für die beſte Schutz - ſchrift des komiſch tragiſchen, oder tragiſch ko - miſchen Drama, (Miſchſpiel habe ich es einmal auf irgend einem Titel genannt gefunden) für die gefliſſendlichſte Ausführung des Gedankens beym Lope halten dürfen. Aber zugleich würde ſie auch die Widerlegung deſſelben ſeyn. Denn ſie würde zeigen, daß eben das Beyſpiel der Natur, welches die Verbindung des feyerlichen Ernſtes mit der poſſenhaften Luſtigkeit rechtfer - tigen ſoll, eben ſo gut jedes dramatiſche Unge - heuer, das weder Plan, noch Verbindung, noch Menſchenverſtand hat, rechtfertigen kön - ne. Die Nachahmung der Natur müßte folg - lich entweder gar kein Grundſatz der Kunſt ſeyn; oder, wenn ſie es doch bliebe, würde durch ihnSſelbſt138ſelbſt die Kunſt, Kunſt zu ſeyn aufhören; we - nigſtens keine höhere Kunſt ſeyn, als etwa die Kunſt, die bunten Adern des Marmors in Gyps nachzuahmen; ihr Zug und Lauf mag gerathen, wie er will, der ſeltſamſte kann ſo ſeltſam nicht ſeyn, daß er nicht natürlich ſcheinen könnte; blos und allein der ſcheinet es nicht, bey wel - chem ſich zu viel Symmetrie, zu viel Ebenmaaß und Verhältniß, zu viel von dem zeiget, was in jeder andern Kunſt die Kunſt ausmacht; der künſtlichſte in dieſem Verſtande iſt hier der ſchlechteſte, und der wildeſte der beſte.

Als Kriticus dürfte unſer Verfaſſer ganz an - ders ſprechen. Was er hier ſo ſinnreich auf - ſtützen zu wollen ſcheinet, würde er ohne Zwei - fel als eine Mißgeburth des barbariſchen Ge - ſchmacks verdammen, wenigſtens als die erſten Verſuche der unter ungeſchlachteten Völkern wieder auflebenden Kunſt vorſtellen, an deren Form irgend ein Zuſammenfluß gewiſſer äußer - lichen Urſachen, oder das Ohngefehr, den mei - ſten, Vernunft und Ueberlegung aber den we - nigſten, auch wohl ganz und gar keinen Antheil hatte. Er würde ſchwerlich ſagen, daß die erſten Erfinder des Miſchſpiels (da das Wort einmal da iſt, warum ſoll ich es nicht brauchen?) die Natur eben ſo getreu nachahmen wollen, als die Griechen ſich angelegen ſeyn laſſen, ſie zu verſchönern.

Die139

Die Worte getreu und verſchönert, von der Nachahmung und der Natur, als dem Gegen - ſtande der Nachahmung, gebraucht, ſind vielen Mißdeutungen unterworfen. Es giebt Leute, die von keiner Natur wiſſen wollen, welche man zu getreu nachahmen könne; ſelbſt was uns in der Natur mißfalle, gefalle in der getreuen Nachahmung, vermöge der Nachahmung. Es giebt andere, welche die Verſchönerung der Na - tur für eine Grille halten; eine Natur, die ſchöner ſeyn wolle, als die Natur, ſey eben darum nicht Natur. Beide erklären ſich für Verehrer der einzigen Natur, ſo wie ſie iſt: jene finden in ihr nichts zu vermeiden; dieſe nichts hinzuzuſetzen. Jenen alſo müßte noth - wendig das gothiſche Miſchſpiel gefallen; ſo wie dieſe Mühe haben würden, an den Meiſter - ſtücken der Alten Geſchmack zu finden.

Wann dieſes nun aber nicht erfolgte? Wann jene, ſo große Bewunderer ſie auch von der ge - meinſten und alttäglichſten Natur ſind, ſich den - noch wider die Vermiſchung des Poſſenhaften und Jntereſſanten erklärten? Wann dieſe, ſo ungeheuer ſie auch alles finden, was beſſer und ſchöner ſeyn will, als die Natur, dennoch das ganze griechiſche Theater, ohne den geringſten Anſtoß von dieſer Seite, durchwandelten? Wie wollten wir dieſen Widerſpruch erklären?

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Wir würden nothwendig zurückkommen, und das, was wir von beiden Gattungen erſt be - hauptet, widerrufen müſſen. Aber wie müßten wir widerrufen, ohne uns in neue Schwierig - keiten zu verwickeln? Die Vergleichung einer ſolchen Haupt - und Staats-Action, über deren Güte wir ſtreiten, mit dem menſchlichen Leben, mit dem gemeinen Laufe der Welt, iſt doch ſo richtig!

Jch will einige Gedanken herwerfen, die, wenn ſie nicht gründlich genug ſind, doch gründ - lichere veranlaſſen können. Der Hauptge - danke iſt dieſer: es iſt wahr, und auch nicht wahr, daß die komiſche Tragödie, gothiſcher Erfindung, die Natur getreu nachahmet; ſie ahmet ſie nur in einer Helfte getreu nach, und vernachläßiget die andere Helfte gänzlich; ſie ahmet die Natur der Erſcheinungen nach, ohne im geringſten auf die Natur unſerer Empfin - dungen und Seelenkräfte dabey zu achten.

Jn der Natur iſt alles mit allem verbunden; alles durchkreutzt ſich, alles wechſelt mit allem, alles verändert ſich eines in das andere. Aber nach dieſer unendlichen Mannichfaltigkeit iſt ſie nur ein Schauſpiel für einen unendlichen Geiſt. Um endliche Geiſter an dem Genuſſe deſſelben Antheil nehmen zu laſſen, mußten dieſe das Vermögen erhalten, ihr Schranken zu geben, die ſie nicht hat; das Vermögen abzuſondern,und141und ihre Aufmerkſamkeit nach Gutdünken len - ken zu können.

Dieſes Vermögen üben wir in allen Augen - blicken des Lebens; ohne daſſelbe würde es für uns gar kein Leben geben; wir würden vor allzu verſchiedenen Empfindungen nichts empfinden; wir würden ein beſtändiger Raub des gegenwär - tigen Eindruckes ſeyn; wir würden träumen, ohne zu wiſſen, was wir träumten.

Die Beſtimmung der Kunſt iſt, uns in dem Reiche des Schönen dieſer Abſonderung zu überheben, uns die Fixirung unſerer Auf - merkſamkeit zu erleichtern. Alles, was wir in der Natur von einem Gegenſtande, oder einer Verbindung verſchiedener Gegenſtände, es ſey der Zeit oder dem Raume nach, in unſern Gedanken abſondern, oder abſondern zu können wünſchen, ſondert ſie wirklich ab, und gewährt uns dieſen Gegenſtand, oder dieſe Verbindung verſchiedener Gegenſtände, ſo lau - ter und bündig, als es nur immer die Empfin - dung, die ſie erregen ſollen, verſtattet.

Wenn wir Zeugen von einer wichtigen und rührenden Begebenheit ſind, und eine andere von nichtigem Belange läuft queer ein: ſo ſu - chen wir der Zerſtreuung, die dieſe uns drohet, möglichſt auszuweichen. Wir abſtrahiren von ihr; und es muß uns nothwendig eckeln, in derS 3Kunſt142Kunſt das wieder zu finden, was wir aus der Natur wegwünſchten.

Nur wenn eben dieſelbe Begebenheit in ihrem Fortgange alle Schattirungen des Jntereſſe an - nimt, und eine nicht blos auf die andere folgt, ſondern ſo nothwendig aus der andern ent - ſpringt; wenn der Ernſt das Lachen, die Traurigkeit die Freude, oder umgekehrt, ſo unmittelbar erzeugt, daß uns die Abſtraction des einen oder des andern unmöglich fällt: nur alsdenn verlangen wir ſie auch in der Kunſt nicht, und die Kunſt weiß aus dieſer Unmög - lichkeit ſelbſt Vortheil zu ziehen.

Aber genug hiervon: man ſieht ſchon, wo ich hinaus will.

Den fünf und vierzigſten Abend (Freytags, den 12ten Julius,) wurden die Brüder des Hrn. Romanus, und das Orakel vom Saint-Foix ge - ſpielt.

Das erſtere Stück kann für ein deutſches Ori - ginal gelten, ob es ſchon, größten Theils, aus den Brüdern des Terenz genommen iſt. Man hat geſagt, daß auch Moliere aus dieſer Quelle geſchöpft habe; und zwar ſeine Männerſchule. Der Herr von Voltaire macht ſeine Anmerkun - gen über dieſes Vorgeben: und ich führe Anmer - kungen von dem Herrn von Voltaire ſo gern an! Aus ſeinen geringſten iſt noch immer etwas zuler -143lernen: wenn ſchon nicht allezeit das, was er darinn ſagt: wenigſtens das, was er hätte ſagen ſollen. Primus ſapientiæ gradus eſt, falſa intelligere; (wo dieſes Sprüchelchen ſteht, will mir nicht gleich beyfallen) und ich wüßte keinen Schriftſteller in der Welt, an dem man es ſo gut verſuchen könnte, ob man auf dieſer erſten Stuffe der Weisheit ſtehe, als an dem Herrn von Voltaire: aber daher auch keinen, der uns die zweyte zu erſteigen, weniger behülflich ſeyn könn - te; ſecundus, vera cognoſcere. Ein kri - tiſcher Schriftſteller, dünkt mich, richtet ſeine Methode auch am beſten nach dieſem Sprüchel - chen ein. Er ſuche ſich nur erſten jemanden, mit dem er ſtreiten kann: ſo kömmt er nach und nach in die Materie, und das übrige findet ſich. Hierzu habe ich mir in dieſem Werke, ich be - kenne es aufrichtig, nun einmal die franzöſi - ſchen Scribenten vornehmlich erwählet, und unter dieſen beſonders den Hrn. von Voltaire. Alſo auch itzt, nach einer kleinen Verbeu - gung, nur darauf zu! Wem dieſe Methode aber etwann mehr muthwillig als gründlich ſcheinen wollte: der ſoll wiſſen, daß ſelbſt der gründliche Ariſtoteles ſich ihrer faſt immer be - dient hat. Solet Ariſtoteles, ſagt einer von ſeinen Auslegern, der mir eben zur Hand liegt, quærere pugnam in ſuis libris. Atque hoc facit non temere, & caſu, ſed certara -144ratione atque conſilio: nam labefactatis aliorum opinionibus, u. ſ. w. O des Pedan - ten! würde der Herr von Voltaire rufen. Jch bin es blos aus Mißtrauen in mich ſelbſt.

Die Brüder des Terenz, ſagt der Herr von Voltaire, können höchſtens die Jdee zu der Männerſchule gegeben haben. Jn den Brü - dern ſind zwey Alte von verſchiedner Gemüths - art, die ihre Söhne ganz verſchieden erziehen; eben ſo ſind in der Männerſchule zwey Vor - münder, ein ſehr ſtrenger und ein ſehr nachſe - hender: das iſt die ganze Aehnlichkeit. Jn den Brüdern iſt faſt ganz und gar keine Jntri - gue: die Jntrigue in der Männerſchule hinge - gen iſt fein, und unterhaltend und komiſch. Eine von den Frauenzimmern des Terenz, wel - che eigentlich die intereſſanteſte Rolle ſpielen müßte, erſcheinet blos auf dem Theater, um nie - der zu kom̃en. Die Jſabelle des Moliere iſt faſt immer auf der Scene, und zeigt ſich immer witzig und reitzend, und verbindet ſogar die Streiche, die ſie ihrem Vormunde ſpielt, noch mit Anſtand. Die Entwicklung in den Brüdern iſt ganz unwahr - ſcheinlich; es iſt wider die Natur, daß ein Alter, der ſechzig Jahre ärgerlich und ſtreng u. geitzig geweſen, auf einmal luſtig und höflich und freygebig werden ſollte. Die Entwicklung in der Männerſchule aber, iſt die beſte von allen Entwicklungen des Moliere; wahrſcheinlich, natürlich, aus der Jntrigue ſelbſt hergenommen, und was ohnſtreitig nicht das ſchlech - teſte daran iſt, äußerſt komiſch.

Ham -[145]

Hamburgiſche Dramaturgie. Ein und ſiebzigſtes Stück.

Es ſcheinet nicht, daß der Herr von Voltaire, ſeit dem er aus der Klaſſe bey den Jeſui - ten gekommen, den Terenz viel wieder geleſen habe. Er ſpricht ganz ſo davon, als von einem alten Traume; es ſchwebt ihm nur noch ſo was davon im Gedächtniſſe; und das ſchreibt er auf gut Glück ſo hin, unbekümmert, ob es gehauen oder geſtochen iſt. Jch will ihm nicht aufmutzen, was er von der Pamphila des Stücks ſagt, daß ſie blos auf dem Theater erſcheine, um nieder zu kommen. Sie erſcheinet gar nicht auf dem Theater; ſie kömmt nicht auf dem Thea - ter nieder; man vernimt blos ihre Stimme aus dem Hauſe; und warum ſie eigentlich die in - tereſſanteſte Rolle ſpielen müßte, das läßt ſich auch gar nicht abſehen. Den Griechen und Römern war nicht alles intereſſant, was es den Franzoſen iſt. Ein gutes Mädchen, das mitTihrem146ihrem Liebhaber zu tief in das Waſſer gegangen, und Gefahr läuft, von ihm verlaſſen zu wer - den, war zu einer Hauptrolle ehedem ſehr unge - ſchickt.

Der eigentliche und grobe Fehler, den der Herr von Voltaire macht, betrift die Entwick - lung und den Charakter des Demea. Demea iſt der mürriſche ſtrenge Vater, und dieſer ſoll ſeinen Charakter auf einmal völlig verändern. Das iſt, mit Erlaubniß des Herrn von Vol - taire, nicht wahr. Demea behauptet ſeinen Charakter bis ans Ende. Donatus ſagt: Ser - vatur autem per totam fabulam mitis Micio, ſævus Demea, Leno avarus u. ſ. w. Was geht mich Donatus an? dürfte der Herr von Voltaire ſagen. Nach Belieben; wenn wir Deutſche nur glauben dürfen, daß Dona - tus den Terenz fleißiger geleſen und beſſer ver - ſtanden, als Voltaire. Doch es iſt ja von kei - nem verlohrnen Stücke die Rede; es iſt noch da; man leſe ſelbſt.

Nachdem Micio den Demea durch die triftig - ſten Vorſtellungen zu beſänftigen geſucht, bittet er ihn, wenigſtens auf heute ſich ſeines Aeger - niſſes zu entſchlagen, wenigſtens heute luſtig zu ſeyn. Endlich bringt er ihn auch ſo weit; heute will Demea alles gut ſeyn laſſen; aber morgen, bey früher Tageszeit, muß der Sohn wieder mit ihm aufs Land; da will er ihn nicht gelinder hal -ten,147ten, da will er es wieder mit ihm anfangen, wo er es heute gelaſſen hat; die Sängerinn, die dieſem der Vetter gekauft, will er zwar mitneh - men, denn es iſt doch immer eine Sklavinn mehr, und eine, die ihm nichts koſtet; aber zu ſingen wird ſie nicht viel bekommen, ſie ſoll kochen und backen. Jn der darauf folgenden vierten Scene des fünften Akts, wo Demea allein iſt, ſcheint es zwar, wenn man ſeine Worte nur ſo obenhin nimt, als ob er völlig von ſeiner alten Den - kungsart abgehen, und nach den Grundſätzen des Micio zu handeln anfangen wolle. (*) Nam ego vitam duram, quam vixi usque adhuc Prope jam excurſo ſpatio mitto ()Doch die Folge zeigt es, daß man alles das nur von dem heutigen Zwange, den er ſich anthun ſoll, verſtehen muß. Denn auch dieſen Zwang weiß er hernach ſo zu nutzen, daß er zu der förmlich - ſten hämiſchſten Verſpottung ſeines gefälligen Bruders ausſchlägt. Er ſtellt ſich luſtig, um die andern wahre Ausſchweifungen und Tollhei - ten begehen zu laſſen; er macht in dem verbind - lichſten Tone die bitterſten Vorwürfe; er wird nicht freygebig, ſondern er ſpielt den Verſchwen - der; und wohl zu merken, weder von dem Sei - nigen, noch in einer andern Abſicht, als um al - les, was er Verſchwenden nennt, lächerlich zu machen. Dieſes erhellet unwiderſprechlich ausT 2dem,148dem, was er dem Micio antwortet, der ſich durch den Anſchein betriegen läßt, und ihn wirklich verändert glaubt. (*)Mi. Quid iſtuc? quæ res tam repente mo - res mutavit tuos? Quod prolubium, quæ iſtæc ſubita eſt lar - gitas? De. Dicam tibi: Ut id oſtenderem, quod te iſti facilem & feſtivum putant, Id non fieri ex vera vita, neque adeo ex æquo & bono, Sed ex aſſentando, indulgendo, & largi - endo, Micio. Nunc adeo, ſi ob eam rem vobis mea vita inviſa eſt, Aeſchine, Quia non juſta injuſta prorſus omnia, om - nino abſequor; Miſſa facio; effundite, emite, facite quod vobis lubet! ()Hic oſtendit Terentius, ſagt Donatus, magis Demeam ſimulaſſe mutatos mores, quam mutaviſſe.

Jch will aber nicht hoffen, daß der Herr von Voltaire meinet, ſelbſt dieſe Verſtellung laufe wider den Charakter des Demea, der vorher nichts als geſchmählt und gepoltert habe: denn eine ſolche Verſtellung erfodere mehr Gelaſſen - heit und Kälte, als man dem Demea zutrauen dürfe. Auch hierinn iſt Terenz ohne Tadel, und er hat alles ſo vortrefflich motiviret, bey jedem Schritte Natur und Wahrheit ſo genau beobach - tet, bey dem geringſten Uebergange ſo feineSchat -149Schattirungen in Acht genommen, daß man nicht aufhören kann, ihn zu bewundern.

Nur iſt öfters, um hinter alle Feinheiten des Terenz zu kommen, die Gabe ſehr nöthig, ſich das Spiel des Akteurs dabey zu denken; denn dieſes ſchrieben die alten Dichter nicht bey. Die Deklamation hatte ihren eignen Künſtler, und in dem Uebrigen konnten ſie ſich ohne Zwei - fel auf die Einſicht der Spieler verlaſſen, die aus ihrem Geſchäfte ein ſehr ernſtliches Stu - dium machten. Nicht ſelten befanden ſich unter dieſen die Dichter ſelbſt; ſie ſagten, wie ſie es haben wollten; und da ſie ihre Stücke über - haupt nicht eher bekannt werden ließen, als bis ſie geſpielt waren, als bis man ſie geſehen und gehört hatte: ſo konnten ſie es um ſo mehr über - hoben ſeyn, den geſchriebenen Dialog durch Einſchiebſel zu unterbrechen, in welchen ſich der beſchreibende Dichter gewiſſermaaßen mit unter die handelnden Perſonen zu miſchen ſcheinet. Wenn man ſich aber einbildet, daß die alten Dichter, um ſich dieſe Einſchiebſel zu erſparen, in den Reden ſelbſt, jede Bewegung, jede Ge - behrde, jede Mine, jede beſondere Abänderung der Stimme, die dabey zu beobachten, mit an - zudeuten geſucht: ſo irret man ſich. Jn dem Terenz allein kommen unzählige Stellen vor, in welchen von einer ſolchen Andeutung ſich nicht die geringſte Spur zeiget, und wo gleichwohlT 3der150der wahre Verſtand nur durch die Errathung der wahren Aktion kann getroffen werden; ja in vielen ſcheinen die Worte gerade das Gegentheil von dem zu ſagen, was der Schauſpieler durch jene ausdrücken muß.

Selbſt in der Scene, in welcher die vermeinte Sinnesänderung des Demea vorgeht, finden ſich dergleichen Stellen, die ich anführen will, weil auf ihnen gewiſſermaaßen die Mißdeutung beruhet, die ich beſtreite. Demea weiß nun - mehr alles, er hat es mit ſeinen eignen Augen geſehen, daß es ſein ehrbarer frommer Sohn iſt, für den die Sängerinn entführet worden, und ſtürzt mit dem unbändigſten Geſchrey heraus. Er klagt es dem Himmel und der Erde und dem Meere; und eben bekömmt er den Micio zu Geſicht.

Demea.

Ha! da iſt er, der mir ſie beide ver - dirbt meine Söhne, mir ſie beide zu Grunde richtet!

Micio.

O ſo mäßige dich, und komm wieder zu dir!

Demea.

Gut, ich mäßige mich, ich bin bey mir, es ſoll mir kein hartes Wort entfahren. Laß uns blos bey der Sache bleiben. Sind wir nicht eins geworden, wareſt du es nicht ſelbſt, der es zuerſt auf die Bahn brachte, daß ſich ein jedernur151nur um den ſeinen bekümmern ſollte? Antwor - te.(*) De. Eccum adeſt Communis corruptela noſtrum liberum. Mi. Tandem reprime iracundiam, atque ad te redi. De. Repreſſi, redii, mitto maledicta om - nia: Rem ipſam putemus. Dictum hoc inter nos fuit, Et ex te adeo eſt ortum, ne te curares meum, Neve ego tuum? reſponde. () u. ſ. w.

Wer ſich hier nur an die Worte hält, und kein ſo richtiger Beobachter iſt, als es der Dichter war, kann leicht glauben, daß Demea viel zu geſchwind austobe, viel zu geſchwind dieſen ge - laſſenern Ton anſtimme. Nach einiger Ueber - legung wird ihm zwar vielleicht beyfallen, daß jeder Affekt, wenn er aufs äußerſte gekommen, nothwendig wieder ſinken müſſe; daß Demea, auf den Verweiß ſeines Bruders, ſich des un - geſtümen Jachzorns nicht anders als ſchämen könne: das alles iſt auch ganz gut, aber es iſt doch noch nicht das rechte. Dieſes laſſe er ſich alſo vom Donatus lehren, der hier zwey vor - treffliche Anmerkungen hat. Videtur, ſagt er, paulo citius deſtomachatus, quam res etiam incertæ poſcebant. Sed & hoc mo - rale: nam juſte irati, omiſſa ſævitia adra -152ratiocinationes ſæpe feſtinant. Wenn der Zornige ganz offenbar Recht zu haben glaubt, wenn er ſich einbildet, daß ſich gegen ſeine Be - ſchwerden durchaus nichts einwenden laſſe: ſo wird er ſich bey dem Schelten gerade am wenig - ſten aufhalten, ſondern zu den Beweiſen eilen, um ſeinen Gegner durch eine ſo ſonnenklare Ueberzeugung zu demüthigen. Doch da er über die Wallungen ſeines kochenden Geblüts nicht ſo unmittelbar gebiethen kann, da der Zorn, der überführen will, doch noch immer Zorn bleibt: ſo macht Donatus die zweyte Anmerkung; non quod dicatur, ſed quo geſtu dicatur, ſpecta: & videbis neque adhuc repreſſiſſe iracun - diam, neque ad ſe rediiſe Demeam. De - mea ſagt zwar, ich mäßige mich, ich bin wieder bey mir: aber Geſicht und Gebehrde und Stim - me verrathen genugſam, daß er ſich noch nicht gemäßiget hat, daß er noch nicht wieder bey ſich iſt. Er beſtürmt den Micio mit einer Frage über die andere, und Micio hat alle ſeine Kälte und gute Laune nöthig, um nur zum Worte zu kommen.

Ham -[153]

Hamburgiſche Dramaturgie. Zwey und ſiebzigſtes Stück.

Als er endlich dazu kömmt, wird Demea zwar eingetrieben, aber im geringſten nicht überzeugt. Aller Vorwand, über die Lebensart ſeiner Kinder, unwillig zu ſeyn, iſt ihm benommen: und doch fängt er wieder von vorne an, zu nerrgeln. Micio muß auch nur abbrechen, und ſich begnügen, daß ihm die mürriſche Laune, die er nicht ändern kann, we - nigſtens auf heute Frieden laſſen will. Die Wendungen, die ihn Terenz dabey nehmen läßt, ſind meiſterhaft. (*) De. Ne nimium modo Bonæ tuæ iſtæ nos rationes, Micio, ()UEt

Demea.

Nun gieb nur Acht, Micio, wie wir mit dieſen ſchönen Grundſätzen, mit dieſer deiner lieben Nachſicht, am Ende fahren werden.

Micio.154
Micio.

Schweig doch! Beſſer, als du glau - beſt. Und nun genug davon! Heute ſchenke dich mir. Komm, kläre dich auf.

Demea.

Mags doch nur heute ſeyn! Was ich muß, das muß ich. Aber morgen, ſobald es Tag wird, geh ich wieder aufs Dorf, und der Burſche geht mit.

Micio.

Lieber, noch ehe es Tag wird; dächte ich. Sey nur heute luſtig!

Demea.

Auch das Menſch von einer Sän - gerinn muß mit heraus.

Micio.

Vortrefflich! So wird ſich der Sohn gewiß nicht weg wünſchen. Nur halte ſie auch gut.

De -

(*)Et tuus iſte animus æquus ſubvertat. Mi. Tace; Non fiet. Mitte jam iſtæo; da te hodie mihi: Exporge frontem. De. Scilicet ita tempus fert, Faciendum eſt: ceterum rus cras cum filio Cum primo lucu ibo hinc. Mi. De nocte cenſeo: Hodie modo hilarum fac te. De. Et iſtam pſaltriam Una illuc mecum hinc abſtraham. Mi. Pugnaveris. Eo pacto prorſum illic alligaris filium. Modo facito, ut illam ſerves. De. Ego iſtuc videro. ()At -

155
Demea.

Da laß mich vor ſorgen! Sie ſoll, in der Mühle und vor dem Ofenloche, Mehlſtaubs und Kohlſtaubs und Rauchs genug kriegen. Dazu ſoll ſie mir am heiſſen Mittage ſtoppeln gehn, bis ſie ſo trocken, ſo ſchwarz geworden, als ein Löſch - brand.

Micio.

Das gefällt mir! Nun biſt du auf dem rechten Wege! Und alsdenn, wenn ich wie du wäre, müßte mir der Sohn bey ihr ſchlafen, er möchte wollen oder nicht.

Demea.

Lachſt du mich aus? Bey ſo einer Gemüthsart, freylich, kannſt du wohl glücklich ſeyn. Jch fühl es, leider

Micio.

Du fängſt doch wieder an?

Demea.

Nu, nu; ich höre ja auch ſchon wieder auf.

U 2Bey

(*)Atque ibi favillæ plena, fumi, ac pollinis, Coquendo ſit faxo & molendo; præter hæc Meridie ipſo faciam ut ſtipulam colligat: Tam excoctam reddam atque atram, quam carbo eſt. Mi. Placet. Nunc mihi videre ſapere. Atque equidem filium, Tum etiam ſi nolit, cogam, ut cum illa una cubet. De. Derides? fortunatus, qui iſtoc animo ſies: Ego ſentio. Mi. Ah, pergiſne? De. Jam jam deſino. ()

156

Bey dem Lachſt du mich aus? des Demea, merkt Donatus an: Hoc verbum vultu Demeæ ſic profertur, ut ſubriſiſſe videa - tur invitus. Sed rurſus ego ſentio, amare ſevereque dicit. Unvergleichlich! Demea, deſſen voller Ernſt es war, daß er die Sängerinn, nicht als Sängerinn, ſondern als eine gemeine Sklavinn halten und nutzen wollte, muß über den Einfall des Micio lachen. Micio ſelbſt braucht nicht zu lachen: je ernſthafter er ſich ſtellt, deſto beſſer. Demea kann darum doch ſagen: Lachſt du mich aus? und muß ſich zwingen wollen, ſein eignes Lachen zu verbeiſſen. Er verbeißt es auch bald, denn das Jch fühl es leider ſagt er wieder in einem ärgerlichen und bittern Tone. Aber ſo ungern, ſo kurz das Lachen auch iſt: ſo große Wirkung hat es gleich - wohl. Denn einen Mann, wie Demea, hat man wirklich vors erſte gewonnen, wenn man ihn nur zu lachen machen kann. Je ſeltner ihm dieſe wohlthätige Erſchütterung iſt, deſto län - ger hält ſie innerlich an; nachdem er längſt alle Spur derſelben auf ſeinem Geſichte vertilgt, dauert ſie noch fort, ohne daß er es ſelbſt weiß, und hat auf ſein nächſtfolgendes Betragen einen gewiſſen Einfluß.

Aber wer hätte wohl bey einem Grammatiker ſo feine Kenntniſſe geſucht? Die alten Gram - matiker waren nicht das, was wir itzt bey demNa -157Namen denken. Es waren Leute von vieler Einſicht; das ganze weite Feld der Kritik war ihr Gebiethe. Was von ihren Auslegungen klaſſiſcher Schriften auf uns gekommen, ver - dient daher nicht blos wegen der Sprache ſtu - diert zu werden. Nur muß man die neuern Jnterpolationen zu unterſcheiden wiſſen. Daß aber dieſer Donatus (Aelius) ſo vorzüglich reich an Bemerkungen iſt, die unſern Geſchmack bil - den können, daß er die verſteckteſten Schönhei - ten ſeines Autors mehr als irgend ein anderer zu enthüllen weiß: das kömmt vielleicht weni - ger von ſeinen größern Gaben, als von der Be - ſchaffenheit ſeines Autors ſelbſt. Das römiſche Theater war, zur Zeit des Donatus, noch nicht gänzlich verfallen; die Stücke des Terenz wur - den noch geſpielt, und ohne Zweifel noch mit vie - len von den Ueberlieferungen geſpielt, die ſich aus den beſſern Zeiten des römiſchen Geſchmacks her - ſchrieben: er durfte alſo nur anmerken, was er ſahe und hörte; er brauchte alſo nur Aufmerk - ſamkeit und Treue, um ſich das Verdienſt zu machen, daß ihm die Nachwelt Feinheiten zu verdanken hat, die er ſelbſt ſchwerlich dürfte ausgegrübelt haben. Jch wüßte daher auch kein Werk, aus welchem ein angehender Schauſpie - ler mehr lernen könnte, als dieſen Commentar des Donatus über den Terenz: und bis das La - tein unter unſern Schauſpielern üblicher wird,U 3wünſchte158wünſchte ich ſehr, daß man ihnen eine gute Ueberſetzung davon in die Hände geben wollte. Es verſteht ſich, daß der Dichter dabey ſeyn, und aus dem Commentar alles wegbleiben müß - te, was die bloße Worterklärung betrift. Die Dacier hat in dieſer Abſicht den Donatus nur ſchlecht genutzt, und ihre Ueberſetzung des Textes iſt wäßrig und ſteif. Eine neuere deutſche, die wir haben, hat das Verdienſt der Richtig - keit ſo ſo, aber das Verdienſt der komiſchen Sprache fehlt ihr gänzlich;(*)Halle 1753. Wunders halben erlaube man mir die Stelle daraus anzuführen, die ich eben itzt überſetzt habe. Was mir hier aus der Feder gefloſſen, iſt weit entfernt, ſo zu ſeyn, wie es ſeyn ſollte: aber man wird doch ungefehr daraus ſehen können, worinn das Verdienſt beſteht, das ich dieſer Ueberſetzung abſprechen muß. Demea.Aber mein lieber Bruder, daß uns nur nicht deine ſchönen Gründe, und dein gleichgültiges Gemüthe ſie ganz und gar ins Verderben ſtürzen.Micio.Ach, ſchweig doch nur, das wird nicht geſchehen. Laß das immer ſeyn. Ueber - laß dich heute einmal mir. Weg mit den Runzeln von der Stirne.Demea.Ja, ja, die Zeit bringt es ſo mit ſich, ich muß es wohl thun. Aber mit anbrechendem Tage gehe ich wieder mit mei - nem Sohne aufs Land.Mi - und Donatusiſt159iſt auch nicht weiter gebraucht, als ihn die Da - cier zu brauchen für gut befunden. Es wäre alſo keine gethane Arbeit, was ich vorſchlage: aber wer ſoll ſie thun? Die nichts beſſers thun könnten, können auch dieſes nicht: und die et - was beſſers thun könnten, werden ſich bedan - ken.

Doch

(*)Micio.Jch werde dich nicht aufhalten, und wenn du die Nacht wieder gehn willſt; ſey doch heute nur einmal fröhlich.Demea.Die Sängerinn will ich zugleich mit herausſchleppen.Micio.Da thuſt du wohl, dadurch wirſt du machen, daß dein Sohn ohne ſie nicht wird leben können. Aber ſorge auch, daß du ſie gut verhältſt.Demea.Dafür werde ich ſchon ſorgen. Sie ſoll mir kochen, und Rauch, Aſche und Mehl ſollen ſie ſchon kenntlich machen. Auſ - ſerdem ſoll ſie mir in der größten Mittagshitze gehen und Aehren leſen, und dann will ich ſie ihm ſo verbrannt und ſo ſchwarz, wie eine Kohle, überliefern.Micio.Das gefällt mir; nun ſeh ich recht ein, daß du weislich handelſt; aber dann kannſt du auch deinen Sohn mit Gewalt zwin - gen, daß er ſie mit zu Bette nimt.Demea.Lachſt du mich etwa aus? Du biſt glücklich, daß du ein ſolches Gemüth haſt; aber ich fühle.Micio.Ach! hältſt du noch nicht inne?Demea.Jch ſchweige ſchon.

160

Doch endlich vom Terenz auf unſern Nach - ahmer zu kommen Es iſt doch ſonderbar, daß auch Herr Romanus den falſchen Gedanken des Voltaire gehabt zu haben ſcheinet. Auch er hat geglaubt, daß am Ende mit dem Cha - rakter des Demea eine gänzliche Veränderung vorgehe; wenigſtens läßt er ſie mit dem Cha - rakter ſeines Lyſimons vorgehen. Je Kinder, läßt er ihn rufen, ſchweigt doch! Jhr über - häuft mich ja mit Liebkoſungen. Sohn, Bru - der, Vetter, Diener, alles ſchmeichelt mir, blos weil ich einmal ein bißchen freundlich aus - ſehe. Bin ichs denn, oder bin ichs nicht? Jch werde wieder recht jung, Bruder! Es iſt doch hübſch, wenn man geliebt wird. Jch will auch gewiß ſo bleiben. Jch wüßte nicht, wenn ich ſo eine vergnügte Stunde gehabt hätte. Und Frontin ſagt: Nun unſer Al - ter ſtirbt gewiß bald. (*)So ſoll es ohne Zweifel heiſſen, und nicht: ſtirbt ohnmöglich bald. Für viele von unſern Schauſpielern iſt es nöthig, auch ſol - che Druckfehler anzumerken.Die Veränderung iſt gar zu plötzlich. Ja wohl; aber das Sprüch - wort, und der gemeine Glaube, von den un - vermutheten Veränderungen, die einen nahen Tod vorbedeuten, ſoll doch wohl nicht im Ernſte hier etwas rechtfertigen?

Ham -[161]

Hamburgiſche Dramaturgie. Drey und ſiebzigſtes Stück.

Die Schlußrede des Demea bey dem Te - renz, geht aus einem ganz andern Tone. Wenn euch nur das gefällt: nun ſo macht, was ihr wollt, ich will mich um nichts mehr bekümmern! Er iſt es ganz und gar nicht, der ſich nach der Weiſe der andern, ſondern die an - dern ſind es, die ſich nach ſeiner Weiſe künftig zu bequemen verſprechen. Aber wie kömmt es, dürfte man fragen, daß die letzten Scenen mit dem Lyſimon in unſern deutſchen Brüdern, bey der Vorſtellung gleichwohl immer ſo wohl aufgenom - men werden? Der beſtändige Rückfall des Lyſimon in ſeinen alten Charakter macht ſie komiſch: aber bey dieſem hätte es auch bleiben müſſen. Jch verſpare das Weitere, bis zu einer zweyten Vor - ſtellung des Stücks.

Das Orakel vom Saint-Foix, welches dieſen Abend den Beſchluß machte, iſt allgemein be - kannt, und allgemein beliebt.

XDen162

Den ſechs und vierzigſten Abend (Montags, den 20ſten Julius,) ward Miß Sara,(*)S. den 11ten Abend, Seite 103. und den ſieben und vierzigſten, Tages darauf, Na - nine(**)S. den 27ſten und 33ſten und 37ſten Abend, Seite 162. wiederholt. Auf die Nanine folgte, der unvermuthete Ausgang, vom Marivaux, in einem Akte.

Oder, wie es wörtlicher und beſſer heiſſen würde: die unvermuthete Entwicklung. Denn es iſt einer von denen Titel, die nicht ſowohl den Jnhalt anzeigen, als vielmehr gleich An - fangs gewiſſen Einwendungen vorbauen ſollen, die der Dichter gegen ſeinen Stoff, oder deſſen Behandlung, vorher ſieht. Ein Vater will ſeine Tochter an einen jungen Menſchen verheyra - then, den ſie nie geſehen hat. Sie iſt mit ei - nem andern ſchon halb richtig, aber dieſes auch ſchon ſeit ſo langer Zeit, daß es faſt gar nicht mehr richtig iſt. Unterdeſſen möchte ſie ihn doch noch lieber, als einen ganz Unbekannten, und ſpielt ſogar, auf ſein Angeben, die Rolle einer Wahnwitzigen, um den neuen Freyer ab - zuſchrecken. Dieſer kömmt; aber zum Glücke iſt es ein ſo ſchöner liebenswürdiger Mann, daß ſie gar bald ihre Verſtellung vergißt, und in aller Geſchwindigkeit mit ihm einig wird. Man gebe dem Stücke einen andern Titel, und alleLeſer163Leſer und Zuſchauer werden ausrufen: das iſt auch ſehr unerwartet! Einen Knoten, den man in zehn Scenen ſo mühſam geſchürzt hat, in einer einzigen nicht zu löſen, ſondern mit eins zu zerhauen! Nun aber iſt dieſer Fehler in dem Titel ſelbſt angekündiget, und durch dieſe Ankündigung gewiſſermaaßen gerechtfertiget. Denn, wenn es nun wirklich einmal ſo einen Fall gegeben hat: warum ſoll er nicht auch vor - geſtellt werden können? Er ſahe ja in der Wirk - lichkeit einer Komödie ſo ähnlich: und ſollte er denn eben deswegen um ſo unſchicklicher zur Ko - mödie ſeyn? Nach der Strenge, allerdings: denn alle Begebenheiten, die man im gemeinen Leben wahre Komödien nennet, findet man in der Komödie wahren Begebenheiten nicht ſehr gleich; und darauf käme es doch eigentlich an.

Aber Ausgang und Entwicklung, laufen beide Worte nicht auf eins hinaus? Nicht völ - lig. Der Ausgang iſt, daß Jungfer Argante den Eraſt und nicht den Dorante heyrathet, und dieſer iſt hinlänglich vorbereitet. Denn ihre Liebe gegen Doranten iſt ſo lau, ſo wetterläu - niſch; ſie liebt ihn, weil ſie ſeit vier Jahren nie - manden geſehen hat, als ihn; manchmal liebt ſie ihn mehr, manchmal weniger, manchmal gar nicht, ſo wie es kömmt; hat ſie ihn lange nicht geſehen, ſo kömmt er ihr liebenswürdig genug vor; ſieht ſie ihn alle Tage, ſo macht erX 2ihr164ihr Langeweile; beſonders ſtoßen ihr dann und wann Geſichter auf, gegen welche ſie Doran - tens Geſicht ſo kahl, ſo unſchmackhaft, ſo eckel findet! Was brauchte es alſo weiter, um ſie ganz von ihm abzubringen, als daß Eraſt, den ihn ihr Vater beſtimmte, ein ſolches Geſicht iſt? Daß ſie dieſen alſo nimt, iſt ſo wenig unerwar - tet, daß es vielmehr ſehr unerwartet ſeyn wür - de, wenn ſie bey jenem bliebe. Entwicklung hingegen iſt ein mehr relatives Wort; und eine unerwartete Entwicklung involviret eine Ver - wicklung, die ohne Folgen bleibt, von der der Dichter auf einmal abſpringt, ohne ſich um die Verlegenheit zu bekümmern, in der er einen Theil ſeiner Perſonen läßt. Und ſo iſt es hier: Peter wird es mit Doranten ſchon ausmachen; der Dichter empfiehlt ſich ihm.

Den acht und vierzigſten Abend (Mittewochs, den 22ſten Julius,) ward das Trauerſpiel des Herrn Weiß, Richard der Dritte, aufgeführt: zum Beſchluſſe, Herzog Michel.

Dieſes Stück iſt ohnſtreitig eines von unſern beträchtlichſten Originalen; reich an großen Schönheiten, die genugſam zeigen, daß die Fehler, mit welchen ſie verwebt ſind, zu ver - meiden, im geringſten nicht über die Kräfte des Dichters geweſen wäre, wenn er ſich dieſe Kräfte nur ſelbſt hätte zutrauen wollen.

Schon165

Schon Shakeſpear hatte das Leben und den Tod des dritten Richards auf die Bühne ge - bracht: aber Herr Weiß erinnerte ſich deſſen nicht eher, als bis ſein Werk bereits fertig war. Sollte ich alſo, ſagt er, bey der Vergleichung ſchon viel verlieren: ſo wird man doch wenig - ſtens finden, daß ich kein Plagium begangen habe; aber vielleicht wäre es ein Verdienſt geweſen, an dem Shakeſpear ein Plagium zu begehen.

Vorausgeſetzt, daß man eines an ihm bege - hen kann. Aber was man von dem Homer geſagt hat, es laſſe ſich dem Herkules eher ſeine Keule, als ihm ein Vers abringen, das läßt ſich vollkommen auch vom Shakeſpear ſagen. Auf die geringſte von ſeinen Schönheiten iſt ein Stämpel gedruckt, welcher gleich der ganzen Welt zuruft: ich bin Shakeſpears! Und wehe der fremden Schönheit, die das Herz hat, ſich neben ihr zu ſtellen!

Shakeſpear will ſtudiert, nicht geplündert ſeyn. Haben wir Genie, ſo muß uns Shake - ſpear das ſeyn, was dem Landſchaftsmahler die Camera obſcura iſt: er ſehe fleißig hinein, um zu lernen, wie ſich die Natur in allen Fällen auf Eine Fläche projektiret; aber er borge nichts daraus.

Jch wüßte auch wirklich in dem ganzen Stücke des Shakeſpears keine einzige Scene, ſogar keineX 3ein -166einzige Tirade, die Herr Weiß ſo hätte brauchen können, wie ſie dort iſt. Alle, auch die kleinſten Theile beym Shakeſpear, ſind nach den großen Maaßen des hiſtoriſchen Schauſpiels zugeſchnit - ten, und dieſes verhält ſich zu der Tragödie franzöſiſchen Geſchmacks, ungefehr wie ein weit - läuftiges Freſcogemählde gegen ein Migniatur - bildchen für einen Ring. Was kann man zu dieſem aus jenem nehmen, als etwa ein Geſicht, eine einzelne Figur, höchſtens eine kleine Grup - pe, die man ſodann als ein eigenes Ganze aus - führen muß? Eben ſo würden aus einzeln Ge - danken beym Shakeſpear ganze Scenen, und aus einzeln Scenen ganze Aufzüge werden müſ - ſen. Denn wenn man den Ermel aus dem Kleide eines Rieſen für einen Zwerg recht nutzen will, ſo muß man ihm nicht wieder einen Ermel, ſondern einen ganzen Rock daraus machen.

Thut man aber auch dieſes, ſo kann man we - gen der Beſchuldigung des Plagiums ganz ruhig ſeyn. Die meiſten werden in dem Faden die Flocke nicht erkennen, woraus er geſponnen iſt. Die wenigen, welche die Kunſt verſtehen, ver - rathen den Meiſter nicht, und wiſſen, daß ein Goldkorn ſo künſtlich kann getrieben ſeyn, daß der Werth der Form den Werth der Materie bey weitem überſteiget.

Jch für mein Theil betauere es alſo wirklich, daß unſerm Dichter Shakeſpears Richard ſoſpät167ſpät beygefallen. Er hätte ihn können gekannt ha - ben, und doch eben ſo original geblieben ſeyn, als er itzt iſt: er hätte ihn können genutzt haben, ohne daß eine einzige übergetragene Gedanke davon gezeugt hätte.

Wäre mir indeß eben das begegnet, ſo würde ich Shakeſpears Werk wenigſtens nachher als einen Spiegel genutzt haben, um meinem Werke alle die Flecken abzuwiſchen, die mein Auge un - mittelbar darinn zu erkennen, nicht vermögend geweſen wäre. Aber woher weiß ich, daß Herr Weiß dieſes nicht gethan? Und warum ſollte er es nicht gethan haben?

Kann es nicht eben ſo wohl ſeyn, daß er das, was ich für dergleichen Flecken halte, für keine hält? Und iſt es nicht ſehr wahrſcheinlich, daß er mehr Recht hat, als ich? Jch bin überzeugt, daß das Auge des Künſtlers größtentheils viel ſcharfſichtiger iſt, als das ſcharfſichtigſte ſeiner Betrachter. Unter zwanzig Einwürfen, die ihm dieſe machen, wird er ſich von neunzehn er - innern, ſie während der Arbeit ſich ſelbſt ge - macht, und ſie auch ſchon ſich ſelbſt beantwortet zu haben.

Gleichwohl wird er nicht ungehalten ſeyn, ſie auch von andern machen zu hören: denn er hat es gern, daß man über ſein Werk urtheilet; ſchaal oder gründlich, links oder rechts, gutar - tig oder hämiſch, alles gilt ihm gleich; und auchdas168das ſchaalſte, linkſte, hämiſchſte Urtheil, iſt ihm lieber, als kalte Bewunderung. Jenes wird er auf die eine oder die Art in ſeinen Nutzen zu verwenden wiſſen: aber was fängt er mit dieſer an? Verachten möchte er die guten ehrlichen Leute nicht gern, die ihn für ſo etwas auſſeror - dentliches halten: und doch muß er die Achſeln über ſie zucken. Er iſt nicht eitel, aber er iſt gemeiniglich ſtolz; und aus Stolz möchte er zehnmal lieber einen unverdienten Tadel, als ein unverdientes Lob, auf ſich ſitzen laſſen.

Man wird glauben, welche Kritik ich hiermit vorbereiten will. Wenigſtens nicht bey dem Verfaſſer, höchſtens nur bey einem oder dem andern Mitſprecher. Jch weiß nicht, wo ich es jüngſt gedruckt leſen mußte, daß ich die Amalia meines Freundes auf Unkoſten ſeiner übrigen Luſtſpiele gelobt hätte. (*)Eben erinnere ich mich noch: in des Herrn Schmids Zuſätzen zu ſeiner Theorie der Poeſie. S. 45. Auf Unkoſten? aber doch wenigſtens der frühern? Jch gönne es Jhnen, mein Herr, daß man niemals Jhre ältern Werke ſo möge tadeln können. Der Him - mel bewahre Sie vor dem tückiſchen Lobe: daß ihr letztes immer ihr beſtes iſt!

Ham -[169]

Hamburgiſche Dramaturgie. Vier und ſiebzigſtes Stück.

Zur Sache. Es iſt vornehmlich der Cha - rakter des Richards, worüber ich mir die Erklärung des Dichters wünſchte.

Ariſtoteles würde ihn ſchlechterdings verwor - fen haben; zwar mit dem Anſehen des Ariſtote - les wollte ich bald fertig werden, wenn ich es nur auch mit ſeinen Gründen zu werden wüßte.

Die Tragödie, nimt er an, ſoll Mitleid und Schrecken erregen: und daraus folgert er, daß der Held derſelben weder ein ganz tugendhafter Mann, noch ein völliger Böſewicht ſeyn müſſe. Denn weder mit des einen noch mit des andern Unglücke, laſſe ſich jener Zweck erreichen.

Räume ich dieſes ein: ſo iſt Richard der Dritte eine Tragödie, die ihres Zweckes ver - fehlt. Räume ich es nicht ein: ſo weiß ich gar nicht mehr, was eine Tragödie iſt.

YDenn170

Denn Richard der Dritte, ſo wie ihn Herr Weiß geſchildert hat, iſt unſtreitig das größte, abſcheulichſte Ungeheuer, das jemals die Bühne getragen. Jch ſage, die Bühne: daß es die Erde wirklich getragen habe, daran zweifle ich.

Was für Mitleid kann der Untergang dieſes Ungeheuers erwecken? Doch, das ſoll er auch nicht; der Dichter hat es darauf nicht angelegt; und es ſind ganz andere Perſonen in ſeinem Werke, die er zu Gegenſtänden unſers Mit - leids gemacht hat.

Aber Schrecken? Sollte dieſer Böſewicht, der die Kluft, die ſich zwiſchen ihm und dem Throne befunden, mit lauter Leichen gefüllet, mit den Leichen derer, die ihm das Liebſte in der Welt hätten ſeyn müſſen; ſollte dieſer blut - dürſtige, ſeines Blutdurſtes ſich rühmende, über ſeine Verbrechen ſich kitzelnde Teufel, nicht Schrecken in vollem Maaße erwecken?

Wohl erweckt er Schrecken: wenn unter Schrecken das Erſtaunen über unbegreifliche Miſſethaten, das Entſetzen über Bosheiten, die unſern Begriff überſteigen, wenn darunter der Schauder zu verſtehen iſt, der uns bey Er - blickung vorſetzlicher Greuel, die mit Luſt be - gangen werden, überfällt. Von dieſem Schrecken hat mich Richard der Dritte mein gutes Theil empfinden laſſen.

Aber171

Aber dieſes Schrecken iſt ſo wenig eine von den Abſichten des Trauerſpiels, daß es vielmehr die alten Dichter auf alle Weiſe zu mindern ſuchten, wenn ihre Perſonen irgend ein großes Verbrechen begehen mußten. Sie ſchoben öf - ters lieber die Schuld auf das Schickſal, mach - ten das Verbrechen lieber zu einem Verhäng - niſſe einer rächenden Gottheit, verwandelten lieber den freyen Menſchen in eine Maſchine: ehe ſie uns bey der gräßlichen Jdee wollten ver - weilen laſſen, daß der Menſch von Natur einer ſolchen Verderbniß fähig ſey.

Bey den Franzoſen führt Crebillon den Bey - namen des Schrecklichen. Jch fürchte ſehr, mehr von dieſem Schrecken, welches in der Tra - gödie nicht ſeyn ſollte, als von dem echten, das der Philoſoph zu dem Weſen der Tragödie rech - net.

Und dieſes hätte man gar nicht Schrecken nennen ſollen. Das Wort, welches Ariſtote - les braucht, heißt Furcht: Mitleid und Furcht, ſagt er, ſoll die Tragödie erregen; nicht, Mit - leid und Schrecken. Es iſt wahr, das Schrecken iſt eine Gattung der Furcht; es iſt eine plötzli - che, überraſchende Furcht. Aber eben dieſes Plötzliche, dieſes Ueberraſchende, welches die Jdee deſſelben einſchließt, zeiget deutlich, daß die, von welchen ſich hier die Einführung des Wortes Schrecken, anſtatt des Wortes Furcht,Y 2her -172herſchreibet, nicht eingeſehen haben, was für eine Furcht Ariſtoteles meine. Jch möchte dieſes Weges ſobald nicht wieder kommen: man erlaube mir alſo einen kleinen Ausſchweif.

Das Mitleid, ſagt Ariſtoteles, verlangt einen, der unverdient leidet: und die Furcht einen unſers gleichen. Der Böſewicht iſt we - der dieſes, noch jenes: folglich kann auch ſein Unglück, weder das erſte noch das andere er - regen. (*)Jm 13ten Kapitel der Dichtkunſt.

Dieſe Furcht, ſage ich, nennen die neuern Ausleger und Ueberſetzer Schrecken, und es ge - lingt ihnen, mit Hülfe dieſes Worttauſches, dem Philoſophen die ſeltſamſten Händel von der Welt zu machen.

Man hat ſich, ſagt einer aus der Menge,(**)Hr. S. in der Vorrede zu ſ. komiſchen Thea - ter, S. 35. über die Erklärung des Schreckens nicht verei - nigen können; und in der That enthält ſie in jeder Betrachtung ein Glied zu viel, welches ſie an ihrer Allgemeinheit hindert, und ſie allzu - ſehr einſchränkt. Wenn Ariſtoteles durch den Zuſatz unſers gleichen, nur blos die Aehn - lichkeit der Menſchheit verſtanden hat, weil nehmlich der Zuſchauer und die handelnde Per - ſon beide Menſchen ſind, geſetzt auch, daß ſich unter ihrem Charakter, ihrer Würde und ih - rem173 rem Range ein unendlicher Abſtand befände: ſo war dieſer Zuſatz überflüßig; denn er ver - ſtand ſich von ſelbſt. Wenn er aber die Mei - nung hatte, daß nur tugendhafte Perſonen, oder ſolche, die einen vergeblichen Fehler an ſich hätten, Schrecken erregen könnten: ſo hatte er Unrecht; denn die Vernunft und die Erfahrung iſt ihm ſodann entgegen. Das Schrecken entſpringt ohnſtreitig aus einem Ge - fühl der Menſchlichkeit: denn jeder Menſch iſt ihm unterworfen, und jeder Menſch erſchüt - tert ſich, vermöge dieſes Gefühls, bey dem widrigen Zufalle eines andern Menſchen. Es iſt wohl möglich, daß irgend jemand einfallen könnte, dieſes von ſich zu leugnen: allein die - ſes würde allemal eine Verleugnung ſeiner na - türlichen Empfindungen, und alſo eine bloße Prahlerey aus verderbten Grundſätzen, und kein Einwurf ſeyn. Wenn nun auch einer laſterhaften Perſon, auf die wir eben unſere Aufmerkſamkeit wenden, unvermuthet ein wi - driger Zufall zuſtößt, ſo verlieren wir den La - ſterhaften aus dem Geſichte, und ſehen blos den Menſchen. Der Anblick des menſchlichen Elendes überhaupt, macht uns traurig, und die plötzliche traurige Empfindung, die wir ſo - dann haben, iſt das Schrecken.

Ganz recht: aber nur nicht an der rechten Stelle! Denn was ſagt das wider den Ariſtote -Y 3les?174les? Nichts. Ariſtoteles denkt an dieſes Schrecken nicht, wenn er von der Furcht re - det, in die uns nur das Unglück unſers gleichen ſetzen könne. Dieſes Schrecken, welches uns bey der plötzlichen Erblickung eines Leidens be - fällt, das einem andern bevorſtehet, iſt ein mit - leidiges Schrecken, und alſo ſchon unter dem Mitleide begriffen. Ariſtoteles würde nicht ſa - gen, Mitleiden und Furcht; wenn er unter der Furcht weiter nichts als eine bloße Modification des Mitleids verſtünde.

Das Mitleid, ſagt der Verfaſſer der Briefe über die Empfindungen,(*)Philoſophiſche Schriften des Herrn Moſes Mendelsſohn, zweyter Theil, S. 4. iſt eine vermiſchte Empfindung, die aus der Liebe zu einem Ge - genſtande, und aus der Unluſt über deſſen Un - glück zuſammengeſetzt iſt. Die Bewegungen, durch welche ſich das Mitleid zu erkennen giebt, ſind von den einfachen Symptomen der Liebe, ſowohl als der Unluſt, unterſchieden, denn das Mitleid iſt eine Erſcheinung. Aber wie vielerley kann dieſe Erſcheinung werden! Man ändre nur in dem betauerten Unglück die ein - zige Beſtimmung der Zeit: ſo wird ſich das Mitleiden durch ganz andere Kennzeichen zu erkennen geben. Mit der Elektra, die über die Urne ihres Bruders weinet, empfinden wir ein mitleidiges Trauern, denn ſie hält das Un - glück175 glück für geſchehen, und bejammert ihren ge - habten Verluſt. Was wir bey den Schmerzen des Philoktets fühlen, iſt gleichfalls Mitlei - den, aber von einer etwas andern Natur; denn die Quaal, die dieſer Tugendhafte aus - zuſtehen hat, iſt gegenwärtig, und überfällt ihn vor unſern Augen. Wenn aber Oedip ſich entſetzt, indem das große Geheimniß ſich plötz - lich entwickelt; wenn Monime erſchrickt, als ſie den eiferſüchtigen Mithridates ſich entfär - ben ſieht; wenn die tugendhafte Desdemona ſich fürchtet, da ſie ihren ſonſt zärtlichen Othello ſo drohend mit ihr reden höret: was empfinden wir da? Jmmer noch Mitleiden! Aber mit - leidiges Entſetzen, mitleidige Furcht, mitlei - diges Schrecken. Die Bewegungen ſind ver - ſchieden, allein das Weſen der Empfindungen iſt in allen dieſen Fällen einerley. Denn, da jede Liebe mit der Bereitwilligkeit verbunden iſt, uns an die Stelle des Geliebten zu ſetzen: ſo müſſen wir alle Arten von Leiden mit der ge - liebten Perſon theilen, welches man ſehr nach - drücklich Mitleiden nennet. Warum ſollten alſo nicht auch Furcht, Schrecken, Zorn, Ei - ferſucht, Rachbegier, und überhaupt alle Ar - ten von unangenehmen Empfindungen, ſogar den Neid nicht ausgenommen, aus Mitleiden entſtehen können? Man ſieht hieraus, wie gar ungeſchickt der größte Theil der Kunſtrich - ter176 ter die tragiſchen Leidenſchaften in Schrecken und Mitleiden eintheilet. Schrecken und Mit - leiden! Jſt denn das theatraliſche Schrecken kein Mitleiden? Für wen erſchrickt der Zu - ſchauer, wenn Merope auf ihren eignen Sohn den Dolch ziehet? Gewiß nicht für ſich, ſon - dern für den Aegiſth, deſſen Erhaltung man ſo ſehr wünſchet, und für die betrogne Königinn, die ihn für den Mörder ihres Sohnes anſiehet. Wollen wir aber uur die Unluſt über das ge - genwärtige Uebel eines andern, Mitleiden nen - nen: ſo müſſen wir nicht nur das Schrecken, ſondern alle übrige Leidenſchaften, die uns von einem andern mitgetheilet werden, von dem eigentlichen Mitleiden unterſcheiden.

Ham -[177]

Hamburgiſche Dramaturgie. Fünf und ſiebzigſtes Stück.

Dieſe Gedanken ſind ſo richtig, ſo klar, ſo einleuchtend, daß uns dünkt, ein jeder hätte ſie haben können und haben müſſen. Gleichwohl will ich die ſcharfſinnigen Bemer - kungen des neuen Philoſophen dem alten nicht unterſchieben; ich kenne jenes Verdienſte um die Lehre von den vermiſchten Empfindungen zu wohl; die wahre Theorie derſelben haben wir nur ihm zu danken. Aber was er ſo vortrefflich auseinandergeſetzt hat, das kann doch Ariſtote - les im Ganzen ungefehr empfunden haben: we - nigſtens iſt es unleugbar, daß Ariſtoteles ent - weder muß geglaubt haben, die Tragödie könne und ſolle nichts als das eigentliche Mitleid, nichts als die Unluſt über das gegenwärtige Uebel eines andern, erwecken, welches ihm ſchwerlich zuzutrauen; oder er hat alle Leiden - ſchaften überhaupt, die uns von einem andernZmit -178mitgetheilet werden, unter dem Worte Mitleid begriffen.

Denn er, Ariſtoteles, iſt es gewiß nicht, der die mit Recht getadelte Eintheilung der tra - giſchen Leidenſchaften in Mitleid und Schrecken gemacht hat. Man hat ihn falſch verſtanden, falſch überſetzt. Er ſpricht von Mitleid und Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken; und ſeine Furcht iſt durchaus nicht die Furcht, welche uns das bevorſtehende Uebel eines an - dern, für dieſen andern, erweckt, ſondern es iſt die Furcht, welche aus unſerer Aehnlich - keit mit der leidenden Perſon für uns ſelbſt ent - ſpringt; es iſt die Furcht, daß die Unglücks - fälle, die wir über dieſe verhänget ſehen, uns ſelbſt treffen können; es iſt die Furcht, daß wir der bemitleidete Gegenſtand ſelbſt wer - den können. Mit einem Worte: dieſe Furcht iſt das auf uns ſelbſt bezogene Mitleid.

Ariſtoteles will überall aus ſich ſelbſt erklärt werden. Wer uns einen neuen Commentar über ſeine Dichtkunſt liefern will, welcher den Dacierſchen weit hinter ſich läßt, dem rathe ich, vor allen Dingen die Werke des Philoſophen vom Anfange bis zum Ende zu leſen. Er wird Aufſchlüſſe für die Dichtkunſt finden, wo er ſich deren am wenigſten vermuthet; beſonders muß er die Bücher der Rhetorik und Moral ſtudie - ren. Man ſollte zwar denken, dieſe Aufſchlüſſemüß -179müßten die Scholaſtiker, welche die Schriften des Ariſtoteles an den Fingern wußten, längſt gefunden haben. Doch die Dichtkunſt war ge - rade diejenige von ſeinen Schriften, um die ſie ſich am wenigſten bekümmerten. Dabey fehl - ten ihnen andere Kenntniſſe, ohne welche jene Aufſchlüſſe wenigſtens nicht fruchtbar werden konnten: ſie kannten das Theater und die Mei - ſterſtücke deſſelben nicht.

Die authentiſche Erklärung dieſer Furcht, welche Ariſtoteles dem tragiſchen Mitleid bey - füget, findet ſich in dem fünften und achten Ka - pitel des zweyten Buchs ſeiner Rhetorik. Es war gar nicht ſchwer, ſich dieſer Kapitel zu er - innern; gleichwohl hat ſich vielleicht keiner ſei - ner Ausleger ihrer erinnert, wenigſtens hat keiner den Gebrauch davon gemacht, der ſich davon machen läßt. Denn auch die, welche ohne ſie einſahen, daß dieſe Furcht nicht das mitleidige Schrecken ſey, hätten noch ein wich - tiges Stück aus ihnen zu lernen gehabt: die Ur - ſache nehmlich, warum der Stagirit dem Mit - leid hier die Furcht, und warum nur die Furcht, warum keine andere Leidenſchaft, und warum nicht mehrere Leidenſchaften, beygeſellet habe. Von dieſer Urſache wiſſen ſie nichts, und ich möchte wohl hören, was ſie aus ihrem Kopfe antworten würden, wenn man ſie fragte: war - um z. E. die Tragödie nicht eben ſo wohl Mit -Z 2leid180leid und Bewunderung, als Mitleid und Furcht, erregen könne und dürfe?

Es beruhet aber alles auf dem Begriffe, den ſich Ariſtoteles von dem Mitleiden gemacht hat. Er glaubte nehmlich, daß das Uebel, welches der Gegenſtand unſers Mitleidens werden ſolle, nothwendig von der Beſchaffenheit ſeyn müſſe, daß wir es auch für uns ſelbſt, oder für eines von den Unſrigen, zu befürchten hätten. Wo dieſe Furcht nicht ſey, könne auch kein Mitlei - den Statt finden. Denn weder der, den das Unglück ſo tief herabgedrückt habe, daß er wei - ter nichts für ſich zu fürchten ſähe, noch der, welcher ſich ſo vollkommen glücklich glaube, daß er gar nicht begreife, woher ihm ein Unglück zuſtoſſen könne, weder der Verzweifelnde noch der Uebermüthige, pflege mit andern Mitleid zu haben. Er erkläret daher auch das Fürch - terliche und das Mitleidswürdige, eines durch das andere. Alles das, ſagt er, iſt uns fürch - terlich, was, wenn es einem andern begegnet wäre, oder begegnen ſollte, unſer Mitleid er - wecken würde:(*)Ὡς δ᾽ ἁπλως εἰπειν, φοϐεϱα ἐςιν, ὀσα〈…〉〈…〉 ἑτερων γιγνομενα, μελλοντα, ἐλεεινα ἐςιν. Jch weiß nicht, was dem Aemilius Portus (in ſeiner Ausgabe der Rhetorik, Spiræ 1598.) einge - kommen iſt, dieſes zu überſetzen: Denique ut ſimpliciter loquar, formidabilia ſunt,quæ - und alles das finden wirmit -181mitleidswürdig, was wir fürchten würden, wenn es uns ſelbſt bevorſtünde. Nicht genug alſo, daß der Unglückliche, mit dem wir Mitleiden haben ſollen, ſein Unglück nicht verdiene, ob er es ſich ſchon durch irgend eine Schwachheit zugezogen: ſeine gequälte Unſchuld, oder viel - mehr ſeine zu hart heimgeſuchte Schuld, ſey für uns verlohren, ſey nicht vermögend, unſer Mit - leid zu erregen, wenn wir keine Möglichkeit ſähen, daß uns ſein Leiden auch treffen könne. Dieſe Möglichkeit aber finde ſich alsdenn, und könne zu einer großen Wahrſcheinlichkeit er - wachſen, wenn ihn der Dichter nicht ſchlimmer mache, als wir gemeiniglich zu ſeyn pflegen, wenn er ihn vollkommen ſo denken und handeln laſſe, als wir in ſeinen Umſtänden würden ge - dacht und gehandelt haben, oder wenigſtens glauben, daß wir hätten denken und handeln müſſen: kurz, wenn er ihn mit uns von gleichem Schrot und Korne ſchildere. Aus dieſer Gleich - heit entſtehe die Furcht, daß unſer Schickſal gar leicht dem ſeinigen eben ſo ähnlich werden könne, als wir ihm zu ſeyn uns ſelbſt fühlen: und dieſe Furcht ſey es, welche das Mitleid gleichſam zur Reife bringe.

Z 3So

(*)quæcunque ſimulac in aliorum poteſtatem venerunt, vel ventura ſunt, miſeranda ſunt. Es muß ſchlechtweg heiſſen, quæcun - que aliis evenerunt, vel eventura ſunt.

182

So dachte Ariſtoteles von dem Mitleiden, und nur hieraus wird die wahre Urſache begreif - lich, warum er in der Erklärung der Tragödie, nächſt dem Mitleiden, nur die einzige Furcht nannte. Nicht als ob dieſe Furcht hier eine be - ſondere, von dem Mitleiden unabhängige Leiden - ſchaft ſey, welche bald mit bald ohne dem Mit - leid, ſo wie das Mitleid bald mit bald ohne ihr, erreget werden könne; welches die Mißdeutung des Corneille war: ſondern weil, nach ſeiner Erklärung des Mitleids, dieſes die Furcht noth - wendig einſchließt; weil nichts unſer Mitleid erregt, als was zugleich unſere Furcht erwecken kann.

Corneille hatte ſeine Stücke ſchon alle ge - ſchrieben, als er ſich hinſetzte, über die Dicht - kunſt des Ariſtoteles zu commentiren. (*)Je hazarderai quelque choſe ſur cinquante ans de travail pour la ſcène, ſagt er in ſei - ner Abhandlung über das Drama. Sein er - ſtes Stück, Melite, war von 1625, und ſein letztes, Surena, von 1675; welches gerade die funfzig Jahr ausmacht, ſo daß es gewiß iſt, daß er, bey den Auslegungen des Ariſto - teles, auf alle ſeine Stücke ein Auge haben konnte, und hatte.Er hatte funfzig Jahre für das Theater gearbeitet: und nach dieſer Erfahrung würde er uns unſtrei - tig vortreffliche Dinge über den alten dramati - ſchen Codex haben ſagen können, wenn er ihnnur183nur auch während der Zeit ſeiner Arbeit fleißi - ger zu Rathe gezogen hätte. Allein dieſes ſchei - net er, höchſtens nur in Abſicht auf die mechani - ſchen Regeln der Kunſt, gethan zu haben. Jn den weſentlichern ließ er ſich um ihn unbeküm - mert, und als er am Ende fand, daß er wider ihn verſtoßen, gleichwohl nicht wider ihn ver - ſtoßen haben wollte: ſo ſuchte er ſich durch Aus - legungen zu helfen, und ließ ſeinen vorgeblichen Lehrmeiſter Dinge ſagen, an die er offenbar nie gedacht hatte.

Corneille hatte Märtyrer auf die Bühne ge - bracht, und ſie als die vollkommenſten untadel - hafteſten Perſonen geſchildert; er hatte die ab - ſcheulichſten Ungeheuer in dem Pruſias, in dem Phokas, in der Kleopatra aufgeführt: und von beiden Gattungen behauptet Ariſtoteles, daß ſie zur Tragödie unſchicklich wären, weil beide weder Mitleid noch Furcht erwecken könnten. Was antwortet Corneille hierauf? Wie fängt er es an, damit bey dieſem Widerſpruche weder ſein Anſehen, noch das Anſehen des Ariſtoteles leiden möge? O, ſagt er, mit den Ariſtoteles können wir uns hier leicht vergleichen. (*)Il eſt aiſé de nous accommoder avec Ariſto - te &c. () Wir dürfen nur annehmen, er habe eben nicht behaupten wollen, daß beide Mittel zugleich, ſowohl Furcht als Mitleid, nöthig wären, um die184 die Reinigung der Leidenſchaften zu bewirken, die er zu dem letzten Endzwecke der Tragödie macht: ſondern nach ſeiner Meinung ſey auch eines zureichend. Wir können dieſe Erklä - rung, fährt er fort, aus ihm ſelbſt bekräfti - gen, wenn wir die Gründe recht erwägen, welche er von der Ausſchlieſſung derjenigen Begebenheiten, die er in den Trauerſpielen mißbilliget, giebt. Er ſagt niemals: dieſes oder jenes ſchickt ſich in die Tragödie nicht, weil es blos Mitleiden und keine Furcht er - weckt; oder dieſes iſt daſelbſt unerträglich, weil es blos die Furcht erweckt, ohne das Mit - leid zu erregen. Nein; ſondern er verwirft ſie deswegen, weil ſie, wie er ſagt, weder Mitleid noch Furcht zuwege bringen, und giebt uns dadurch zu erkennen, daß ſie ihm deswe - gen nicht gefallen, weil ihnen ſowohl das eine als das andere fehlet, und daß er ihnen ſeinen Beyfall nicht verſagen würde, wenn ſie nur eines von beiden wirkten.

Ham -[185]

Hamburgiſche Dramaturgie. Sechs und ſiebzigſtes Stück.

Aber das iſt grundfalſch! Jch kann mich nicht genug wundern, wie Dacier, der doch ſonſt auf die Verdrehungen ziemlich aufmerkſam war, welche Corneille von dem Texte des Ariſtoteles zu ſeinem Beſten zu ma - chen ſuchte, dieſe größte von allen überſehen können. Zwar, wie konnte er ſie nicht überſe - hen, da es ihm nie einkam, des Philoſophen Erklärung vom Mitleid zu Rathe zu ziehen? Wie geſagt, es iſt grundfalſch, was ſich Cor - neille einbildet. Ariſtoteles kann das nicht ge - meint haben, oder man müßte glauben, daß er ſeine eigene Erklärungen vergeſſen können, man müßte glauben, daß er ſich auf die handgreif - lichſte Weiſe widerſprechen können. Wenn, nach ſeiner Lehre, kein Uebel eines andern unſer Mitleid erreget, was wir nicht für uns ſelbſt fürchten: ſo konnte er mit keiner Handlung inA ader186der Tragödie zufrieden ſeyn, welche nur Mitleid und keine Furcht erreget; denn er hielt die Sache ſelbſt für unmöglich; dergleichen Handlungen exiſtirten ihm nicht; ſondern ſobald ſie unſer Mitleid zu erwecken fähig wären, glaubte er, müßten ſie auch Furcht für uns erwecken; oder vielmehr, nur durch dieſe Furcht erweckten ſie Mitleid. Noch weniger konnte er ſich die Handlung einer Tragödie vorſtellen, welche Furcht für uns erregen könne, ohne zugleich unſer Mitleid zu erwecken: denn er war über - zeugt, daß alles, was uns Furcht für uns ſelbſt errege, auch unſer Mitleid erwecken müſſe, ſo - bald wir andere damit bedrohet, oder betroffen erblickten; und das iſt eben der Fall der Tra - gödie, wo wir alle das Uebel, welches wir fürchten, nicht uns, ſondern anderen begegnen ſehen.

Es iſt wahr, wenn Ariſtoteles von den Handlungen ſpricht, die ſich in die Tragödie nicht ſchicken, ſo bedient er ſich mehrmalen des Ausdrucks von ihnen, daß ſie weder Mitleid noch Furcht erwecken. Aber deſto ſchlimmer, wenn ſich Corneille durch dieſes weder noch verführen laſſen. Dieſe disjunctive Partikeln involviren nicht immer, was er ſie involviren läßt. Denn wenn wir zwey oder mehrere Dinge von einer Sache durch ſie verneinen, ſo kömmt es darauf an, ob ſich dieſe Dinge ebenſo187ſo wohl in der Natur von einander trennen laſ - ſen, als wir ſie in der Abſtraction und durch den ſymboliſchen Ausdruck trennen können, wenu die Sache dem ohngeachtet noch beſtehen ſoll, ob ihr ſchon das eine oder das andere von dieſen Dingen fehlt. Wenn wir z. E. von einem Frauenzimmer ſagen, ſie ſey weder ſchön noch witzig: ſo wollen wir allerdings ſagen, wir würden zufrieden ſeyn, wenn ſie auch nur eines von beiden wäre; denn Witz und Schönheit laſ - ſen ſich nicht blos in Gedanken trennen, ſondern ſie ſind wirklich getrennet. Aber wenn wir ſagen, dieſer Menſch glaubt weder Himmel noch Höl - le: wollen wir damit auch ſagen, daß wir zu - frieden ſeyn würden, wenn er nur eines von beiden glaubte, wenn er nur den Himmel und keine Hölle, oder nur die Hölle und keinen Him - mel glaubte? Gewiß nicht: denn wer das eine glaubt, muß nothwendig auch das andere glau - ben; Himmel und Hölle, Strafe und Beloh - nung ſind relativ; wenn das eine iſt, iſt auch das andere. Oder, um mein Exempel aus einer verwandten Kunſt zu nehmen; wenn wir ſagen, dieſes Gemählde taugt nichts, denn es hat weder Zeichnung noch Kolorit: wollen wir da - mit ſagen, daß ein gutes Gemählde ſich mit einem von beiden begnügen könne? Das iſt ſo klar!

A a 2Allein,188

Allein, wie, wenn die Erklärung, welche Ariſtoteles von dem Mitleiden giebt, falſch wäre? Wie, wenn wir auch mit Uebeln und Unglücksfällen Mitleid fühlen könnten, die wir für uns ſelbſt auf keine Weiſe zu beſorgen haben?

Es iſt wahr: es braucht unſerer Furcht nicht, um Unluſt über das phyſikaliſche Uebel eines Gegenſtandes zu empfinden, den wir lieben. Dieſe Unluſt entſtehet blos aus der Vorſtellung der Unvollkommenheit, ſo wie unſere Liebe aus der Vorſtellung der Vollkommenheiten deſſel - ben; und aus dem Zuſammenfluſſe dieſer Luſt und Unluſt entſpringet die vermiſchte Empfin - dung, welche wir Mitleid nennen.

Jedoch auch ſo nach glaube ich nicht, die Sache des Ariſtoteles nothwendig aufgeben zu müſſen.

Denn wenn wir auch ſchon, ohne Furcht für uns ſelbſt, Mitleid für andere empfinden kön - nen: ſo iſt es doch unſtreitig, daß unſer Mit - leid, wenn jene Furcht dazu kömmt, weit leb - hafter und ſtärker und anzüglicher wird, als es ohne ſie ſeyn kann. Und was hindert uns, an - zunehmen, daß die vermiſchte Empfindung über das phyſikaliſche Uebel eines geliebten Gegen - ſtandes, nur allein durch die dazu kommende Furcht für uns, zu dem Grade erwächſt, in wel - chem ſie Affekt genannt zu werden verdienet?

Ariſto -189

Ariſtoteles hat es wirklich angenommen. Er betrachtet das Mitleid nicht nach ſeinen primi - tiven Regungen, er betrachtet es blos als Affekt. Ohne jene zu verkennen, verweigert er nur dem Funke den Namen der Flamme. Mitleidige Regungen, ohne Furcht für uns ſelbſt, nennt er Philanthropie: und nur den ſtärkern Regun - gen dieſer Art, welche mit Furcht für uns ſelbſt verknüpft ſind, giebt er den Namen des Mit - leids. Alſo behauptet er zwar, daß das Un - glück eines Böſewichts weder unſer Mitleid noch unſere Furcht errege: aber er ſpricht ihm darum nicht alle Rührung ab. Auch der - ſewicht iſt noch Menſch, iſt noch ein Weſen, das bey allen ſeinen moraliſchen Unvollkommen - heiten, Vollkommenheiten genug behält, um ſein Verderben, ſeine Zernichtung lieber nicht zu wollen, um bey dieſer etwas mitleidähnli - ches, die Elemente des Mitleids gleichſam, zu empfinden. Aber, wie ſchon geſagt, dieſe mit - leidähnliche Empfindung nennt er nicht Mitleid, ſondern Philanthropie. Man muß, ſagt er, keinen Böſewicht aus unglücklichen in glück - liche Umſtände gelangen laſſen; denn das iſt das untragiſchſte, was nur ſeyn kann; es hat nichts von allem, was es haben ſollte; es er - weckt weder Philanthropie, noch Mitleid, noch Furcht. Auch muß es kein völliger Böſewicht ſeyn, der aus glücklichen Umſtänden in un -A a 3 glück -190 glückliche verfällt; denn eine dergleichen Be - gebenheit kann zwar Philanthropie, aber weder Mitleid noch Furcht erwecken. Jch kenne nichts kahleres und abgeſchmackteres, als die ge - wöhnlichen Ueberſetzungen dieſes Wortes Phi - lanthropie. Sie geben nehmlich das Adjectivum davon im Lateiniſchen durch hominibus gra - tum; im Franzöſiſchen durch ce que peut faire quelque plaiſir; und im Deutſchen durch was Vergnügen machen kann. Der einzige Goulſton, ſo viel ich finde, ſcheinet den Sinn des Philoſophen nicht verfehlt zu haben; indem er das φιλανϑϱωπον durch quod huma - nitatis ſenſu tangat überſetzt. Denn aller - dings iſt unter dieſer Philanthropie, auf welche das Unglück auch eines Böſewichts Anſpruch macht, nicht die Freude über ſeine verdiente Beſtrafung, ſondern das ſympathetiſche Gefühl der Menſchlichkeit zu verſtehen, welches, Trotz der Vorſtellung, daß ſein Leiden nichts als Ver - dienſt ſey, dennoch in dem Augenblicke des Lei - dens, in uns ſich für ihn reget. Herr Curtius will zwar dieſe mitleidige Regungen für einen unglücklichen Böſewicht, nur auf eine gewiſſe Gattung der ihn treffenden Uebel einſchränken. Solche Zufälle des Laſterhaften, ſagt er, die weder Schrecken noch Mitleid in uns wirken, müſſen Folgen ſeines Laſters ſeyn: denn treffen ſie ihm zufällig, oder wohl gar unſchuldig, ſo behält191 behält er in dem Herzen der Zuſchauer die Vor - rechte der Menſchlichkeit, als welche auch ei - nem unſchuldig leidenden Gottloſen ihr Mit - leid nicht verſagt. Aber er ſcheinet dieſes nicht genug überlegt zu haben. Denn auch dann noch, wenn das Unglück, welches den Böſewicht befällt, eine unmittelbare Folge ſei - nes Verbrechens iſt, können wir uns nicht ent - wehren, bey dem Anblicke dieſes Unglücks mit ihm zu leiden.

Seht jene Menge, ſagt der Verfaſſer der Briefe über die Empfindungen, die ſich um einen Verurtheilten in dichte Haufen drenget. Sie haben alle Greuel vernommen, die der Laſterhafte begangen; ſie haben ſeinen Wan - del, und vielleicht ihn ſelbſt verabſcheuet. Jtzt ſchleppt man ihn entſtellt und ohnmächtig auf das entſetzliche Schaugerüſte. Man arbeitet ſich durch das Gewühl, man ſtellt ſich auf die Zähen, man klettert die Dächer hinan, um die Züge des Todes ſein Geſicht entſtellen zu ſehen. Sein Urtheil iſt geſprochen; ſein Hen - ker naht ſich ihm; ein Augenblick wird ſein Schickſal entſcheiden. Wie ſehnlich wünſchen itzt aller Herzen, daß ihm verziehen würde! Jhm? dem Gegenſtande ihres Abſcheues, den ſie einen Augenblick vorher ſelbſt zum Tode verurtheilet haben würden? Wodurch wird itzt ein Strahl der Menſchenliebe wiederum bey192 bey ihnen rege? Jſt es nicht die Annäherung der Strafe, der Anblick der entſetzlichſten phy - ſikaliſchen Uebel, die uns ſogar mit einem Ruch - loſen gleichſam ausſöhnen, und ihm unſere Liebe erwerben? Ohne Liebe könnten wir unmöglich mitleidig mit ſeinem Schickſale ſeyn.

Und eben dieſe Liebe, ſage ich, die wir gegen unſern Nebenmenſchen unter keinerley Umſtän - den ganz verlieren können, die unter der Aſche, mit welcher ſie andere ſtärkere Empfindungen überdecken, unverlöſchlich fortglimmet, und gleichſam nur einen günſtigen Windſtoß von Unglück und Schmerz und Verderben erwartet, um in die Flamme des Mitleids auszubrechen; eben dieſe Liebe iſt es, welche Ariſtoteles unter dem Namen der Philanthropie verſtehet. Wir haben Recht, wenn wir ſie mit unter dem Na - men des Mitleids begreifen. Aber Ariſtoteles hatte auch nicht Unrecht, wenn er ihr einen ei - genen Namen gab, um ſie, wie geſagt, von dem höchſten Grade der mitleidigen Empfindun - gen, in welchem ſie, durch die Dazukunſt einer wahrſcheinlichen Furcht für uns ſelbſt, Affekt werden, zu unterſcheiden.

Ham -[193]

Hamburgiſche Dramaturgie. Sieben und ſiebzigſtes Stück.

Einem Einwurfe iſt hier noch vorzukommen. Wenn Ariſtoteles dieſen Begriff von dem Affekte des Mitleids hatte, daß er noth - wendig mit der Furcht für uns ſelbſt verknüpft ſeyn müſſe: was war es nöthig, der Furcht noch insbeſondere zu erwähnen? Das Wort Mitleid ſchloß ſie ſchon in ſich, und es wäre genug geweſen, wenn er blos geſagt hätte: die Tragödie ſoll durch Erregung des Mitleids die Reinigung unſerer Leidenſchaft bewirken. Denn der Zuſatz der Furcht ſagt nichts mehr, und macht das, was er ſagen ſoll, noch dazu ſchwan - kend und ungewiß.

Jch antworte: wenn Ariſtoteles uns blos hätte lehren wollen, welche Leidenſchaften die Tragödie erregen könne und ſolle, ſo würde er ſich den Zuſatz der Furcht allerdings haben er - ſparen können, und ohne Zweifel ſich wirklichB ber -194erſparet haben; denn nie war ein Philoſoph ein größerer Wortſparer, als er. Aber er wollte uns zugleich lehren, welche Leidenſchaften, durch die in der Tragödie erregten, in uns gereiniget werden ſollten; und in dieſer Abſicht mußte er der Furcht insbeſondere gedenken. Denn ob - ſchon, nach ihm, der Affekt des Mitleids, weder in noch außer dem Theater, ohne Furcht für uns ſelbſt ſeyn kann; ob ſie ſchon ein noth - wendiges Jngredienz des Mitleids iſt: ſo gilt dieſes doch nicht auch umgekehrt, und das Mit - leid für andere iſt kein Jngredienz der Furcht für uns ſelbſt. Sobald die Tragödie aus iſt, höret unſer Mitleid auf, und nichts bleibt von allen den empfundenen Regungen in uns zurück, als die wahrſcheinliche Furcht, die uns das bemit - leidete Uebel für uns ſelbſt ſchöpfen laſſen. Dieſe nehmen wir mit; und ſo wie ſie, als Jngredienz des Mitleids, das Mitleid reinigen helfen, ſo hilft ſie nun auch, als eine vor ſich fortdauernde Leidenſchaft, ſich ſelbſt reinigen. Folglich, um anzuzeigen, daß ſie dieſes thun könne und wirk - lich thue, fand es Ariſtoteles für nöthig, ihrer insbeſondere zu gedenken.

Es iſt unſtreitig, daß Ariſtoteles überhaupt keine ſtrenge logiſche Definition von der Tra - gödie geben wollen. Denn ohne ſich auf die blos weſentlichen Eigenſchaften derſelben einzu - ſchränten, hat er verſchiedene zufällige hinein -gezo -195gezogen, weil ſie der damalige Gebrauch noth - wendig gemacht hatte. Dieſe indeß abgerech - net, und die übrigen Merkmahle in einander reduciret, bleibt eine vollkommen genaue Er - klärung übrig: die nehmlich, daß die Tragödie, mit einem Worte, ein Gedicht iſt, welches Mitleid erreget. Jhrem Geſchlechte nach, iſt ſie die Nachahmung einer Handlung; ſo wie die Epopee und die Komödie: ihrer Gattung aber nach, die Nachahmung einer mitleidswürdigen Handlung. Aus dieſen beiden Begriffen laſſen ſich vollkommen alle ihre Regeln herleiten: und ſogar ihre dramatiſche Form iſt daraus zu be - ſtimmen.

An dem letztern dürfte man vielleicht zwei - feln. Wenigſtens wüßte ich keinen Kunſtrichter zu nennen, dem es nur eingekommen wäre, es zu verſuchen. Sie nehmen alle die dramatiſche Form der Tragödie als etwas Hergebrachtes an, das nun ſo iſt, weil es einmal ſo iſt, und das man ſo läßt, weil man es gut findet. Der ein - zige Ariſtoteles hat die Urſache ergründet, aber ſie bey ſeiner Erklärung mehr vorausgeſetzt, als deutlich angegeben. Die Tragödie, ſagt er, iſt die Nachahmung einer Handlung, die nicht vermittelſt der Erzehlung, ſondern ver - mittelſt des Mitleids und der Furcht, die Rei - nigung dieſer und dergleichen Leidenſchaften be - wirket. So drückt er ſich von Wort zu WortB b 2aus.196aus. Wem ſollte hier nicht der ſonderbare Ge - genſatz, nicht vermittelſt der Erzehlung, ſon - dern vermittelſt des Mitleids und der Furcht, befremden? Mitleid und Furcht ſind die Mittel, welche die Tragödie braucht, um ihre Abſicht zu erreichen: und die Erzehlung kann ſich nur auf die Art und Weiſe beziehen, ſich dieſer Mittel zu bedienen, oder nicht zu bedienen. Scheinet hier alſo Ariſtoteles nicht einen Sprung zu ma - chen? Scheinet hier nicht offenbar der eigent - liche Gegenſatz der Erzehlung, welches die dra - matiſche Form iſt, zu fehlen? Was thun aber die Ueberſetzer bey dieſer Lücke? Der eine um - geht ſie ganz behutſam: und der andere füllt ſie, aber nur mit Worten. Alle finden weiter nichts darinn, als eine vernachläßigte Wortfügung, an die ſie ſich nicht halten zu dürfen glauben, wenn ſie nur den Sinn des Philoſophen liefern. Da - cier überſetzt: d’une action qui, ſans le ſecours de la narration, par le moyen de la compaſſion & de la terreur u. ſ. w.; und Curtius: einer Handlung, welche nicht durch die Erzehlung des Dichters, ſondern (durch Vorſtellung der Handlung ſelbſt) uns, ver - mittelſt des Schreckens und Mitleids, von den Fehlern der vorgeſtellten Leidenſchaften reini - get. O, ſehr recht! Beide ſagen, was Ariſtoteles ſagen will, nur daß ſie es nicht ſo ſagen, wie er es ſagt. Gleichwohl iſt auch andie -197dieſem Wie gelegen; denn es iſt wirklich keine blos vernachläßigte Wortfügung. Kurz, die Sache iſt dieſe: Ariſtoteles bemerkte, daß das Mitleid nothwendig ein vorhandenes Uebel er - fodere; daß wir längſt vergangene oder fern in der Zukunft bevorſtehende Uebel entweder gar nicht, oder doch bey weitem nicht ſo ſtark bemit - leiden können, als ein anweſendes; daß es folg - lich nothwendig ſey, die Handlung, durch welche wir Mitleid erregen wollen, nicht als vergan - gen, das iſt, nicht in der erzehlenden Form, ſondern als gegenwärtig, das iſt, in der dra - matiſchen Form, nachzuahmen. Und nur die - ſes, daß unſer Mitleid durch die Erzehlung wenig oder gar nicht, ſondern faſt einzig und allein durch die gegenwärtige Anſchauung erre - get wird, nur dieſes berechtigte ihn, in der Er - klärung anſtatt der Form der Sache, die Sache gleich ſelbſt zu ſetzen, weil dieſe Sache nur dieſer einzigen Form fähig iſt. Hätte er es für möglich gehalten, daß unſer Mitleid auch durch die Er - zehlung erreget werden könne: ſo würde es al - lerdings ein ſehr fehlerhafter Sprung geweſen ſeyn, wenn er geſagt hätte, nicht durch die Erzehlung, ſondern durch Mitleid und Furcht. Da er aber überzeugt war, daß Mitleid und Furcht in der Nachahmung nur durch die einzige dramatiſche Form zu erregen ſey: ſo konnte er ſich dieſen Sprung, der Kürze wegen, erlau -B b 3ben.198ben. Jch verweiſe desfalls auf das nehmliche neunte Kapitel des zweyten Buchs ſeiner Rhe - torik. (*)Επει δ᾽ εγγυς φαινομενα τα παϑη, ἐλεεινα ἐισι. τα δε μυριοςον ἐτος γενομενα, εσομενα, ου᾽τ᾽ ἐλπι - ζοντες, ου᾽τε μεμνημενοι, ὁλως ου᾽κ ἐλεουσιν, ου᾽χ᾽ ὁμοιως, ἀναγκη τους συναπεργαζομενους σχημασι και ϕωναις, και ἐσϑητι, και ὁλως τῃ ὑποκρισει, ἐλεεινο - τερους εἰναι.

Was endlich den moraliſchen Endzweck anbe - langt, welchen Ariſtoteles der Tragödie giebt, und den er mit in die Erklärung derſelben brin - gen zu müſſen glaubte: ſo iſt bekannt, wie ſehr, beſonders in den neuern Zeiten, darüber ge - ſtritten worden. Jch getraue mich aber zu er - weiſen, daß alle, die ſich dawider erklärt, den Ariſtoteles nicht verſtanden haben. Sie haben ihm alle ihre eigene Gedanken untergeſchoben, ehe ſie gewiß wußten, welches ſeine wären. Sie beſtreiten Grillen, die ſie ſelbſt gefangen, und bilden ſich ein, wie unwiderſprechlich ſie den Philoſophen widerlegen, indem ſie ihr eigenes Hirngeſpinſte zu Schanden machen. Jch kann mich in die nähere Erörterung dieſer Sache hier nicht einlaſſen. Damit ich jedoch nicht ganz ohne Beweis zu ſprechen ſcheine, will ich zwey Anmerkungen machen.

1. Sie laſſen den Ariſtoteles ſagen, die Tra - gödie ſolle uns, vermittelſt des Schreckens und Mit -199 Mitleids, von den Fehlern der vorgeſtellten Leidenſchaften reinigen. Der vorgeſtellten? Alſo, wenn der Held durch Neugierde, oder Ehrgeitz, oder Liebe, oder Zorn unglücklich wird: ſo iſt es unſere Neugierde, unſer Ehr - geitz, unſere Liebe, unſer Zorn, welchen die Tragödie reinigen ſoll? Das iſt dem Ariſtoteles nie in den Sinn gekommen. Und ſo haben die Herren gut ſtreiten; ihre Einbildung verwan - delt Windmühlen in Rieſen; ſie jagen, in der gewiſſen Hoffnung des Sieges, darauf los, und kehren ſich an keinen Sancho, der weiter nichts als geſunden Menſchenverſtand hat, und ihnen auf ſeinem bedächtlichern Pferde hinten nach ruft, ſich nicht zu übereilen, und doch nur erſt die Augen recht aufzuſperren. Των τοιουτουν πα - ϑηματων, ſagt Ariſtoteles: und das heißt nicht, der vorgeſtellten Leidenſchaften; das hätten ſie überſetzen müſſen durch, dieſer und dergleichen, oder, der erweckten Leidenſchaften. Das τοιου - των bezieht ſich lediglich auf das vorhergehende Mitleid und Furcht; die Tragödie ſoll unſer Mitleid und unſere Furcht erregen, blos um dieſe und dergleichen Leidenſchaften, nicht aber alle Leidenſchaften ohne Unterſchied zu reinigen. Er ſagt aber τοιουτων und nicht τουτων; er ſagt, dieſer und dergleichen, und nicht blos, dieſer: um anzuzeigen, daß er unter dem Mitleid, nicht blos das eigentlich ſogenannte Mitleid, ſondernüber -200überhaupt alle philanthropiſche Empfindungen, ſo wie unter der Furcht nicht blos die Unluſt über ein uns bevorſtehendes Uebel, ſondern auch jede damit verwandte Unluſt, auch die Unluſt über ein gegenwärtiges, auch die Unluſt über ein vergangenes Uebel, Betrübniß und Gram, verſtehe. Jn dieſem ganzen Umfange ſoll das Mitleid und die Furcht, welche die Tragödie er - weckt, unſer Mitleid und unſere Furcht reini - gen; aber auch nur dieſe reinigen, und keine andere Leidenſchaften. Zwar können ſich in der Tragödie auch zur Reinigung der andern Leiden - ſchaften, nützliche Lehren und Beyſpiele finden; doch ſind dieſe nicht ihre Abſicht; dieſe hat ſie mit der Epopee und Komödie gemein, in ſo fern ſie ein Gedicht, die Nachahmung einer Hand - lung überhaupt iſt, nicht aber in ſo fern ſie Tra - gödie, die Nachahmung einer mitleidswürdigen Handlung insbeſondere iſt. Beſſern ſollen uns alle Gattungen der Poeſie: es iſt kläglich, wenn man dieſes erſt beweiſen muß; noch kläglicher iſt es, wenn es Dichter giebt, die ſelbſt daran zweifeln. Aber alle Gattungen können nicht alles beſſern; wenigſtens nicht jedes ſo vollkom - men, wie das andere; was aber jede am voll - kommenſten beſſern kann, worinn es ihr keine andere Gattung gleich zu thun vermag, das allein iſt ihre eigentliche Beſtimmung.

Ham -[201]

Hamburgiſche Dramaturgie. Acht und ſiebzigſtes Stück.

2. Da die Gegner des Ariſtoteles nicht in Acht nahmen, was für Leidenſchaften er eigentlich, durch das Mitleid und die Furcht der Tragödie, in uns gereiniget ha - ben wollte: ſo war es natürlich, daß ſie ſich auch mit der Reinigung ſelbſt irren mußten. Ari - ſtoteles verſpricht am Ende ſeiner Politik, wo er von der Reinigung der Leidenſchaften durch die Muſik redet, von dieſer Reinigung in ſeiner Dichtkunſt weitläuftiger zu handeln. Weil man aber, ſagt Corneille, ganz und gar nichts von dieſer Materie darinn findet, ſo iſt der größte Theil ſeiner Ausleger auf die Ge - danken gerathen, daß ſie nicht ganz auf uns gekommen ſey. Gar nichts? Jch meines Theils glaube, auch ſchon in dem, was uns von ſeiner Dichtkunſt noch übrig, es mag viel oder wenig ſeyn, alles zu finden, was er einem,C cder202der mit ſeiner Philoſophie ſonſt nicht ganz unbe - kannt iſt, über dieſe Sache zu ſagen für nöthig halten konnte. Corneille ſelbſt bemerkte eine Stelle, die uns, nach ſeiner Meinung, Licht genug geben könne, die Art und Weiſe zu ent - decken, auf welche die Reinigung der Leiden - ſchaften in der Tragödie geſchehe: nehmlich die, wo Ariſtoteles ſagt, das Mitleid verlange ei - nen, der unverdient leide, und die Furcht einen unſers gleichen. Dieſe Stelle iſt auch wirk - lich ſehr wichtig, nur daß Corneille einen fal - ſchen Gebrauch davon machte, und nicht wohl anders als machen konnte, weil er einmal die Reinigung der Leidenſchaften überhaupt im Kopfe hatte. Das Mitleid mit dem Un - glücke, ſagt er, von welchem wir unſers glei - chen befallen ſehen, erweckt in uns die Furcht, daß uns ein ähnliches Unglück treffen könne; dieſe Furcht erweckt die Begierde, ihm auszu - weichen; und dieſe Begierde ein Beſtreben, die Leidenſchaft, durch welche die Perſon, die wir betauern, ſich ihr Unglück vor unſern Au - gen zuziehet, zu reinigen, zu mäßigen, zu beſ - ſern, ja gar auszurotten; indem einem jeden die Vernunft ſagt, daß man die Urſache ab - ſchneiden müſſe, wenn man die Wirkung ver - meiden wolle. Aber dieſes Raiſonnement, welche die Furcht blos zum Werkzeuge macht, durch welches das Mitleid die Reinigung derLei -203Leidenſchaften bewirkt, iſt falſch, und kann un - möglich die Meinung des Ariſtoteles ſeyn; weil ſo nach die Tragödie gerade alle Leidenſchaften reinigen könnte, nur nicht die zwey, die Ari - ſtoteles ausdrücklich durch ſie gereiniget wiſſen will. Sie könnte unſern Zorn, unſere Neu - gierde, unſern Neid, unſern Ehrgeitz, unſern Haß und unſere Liebe reinigen, ſo wie es die eine oder die andere Leidenſchaft iſt, durch die ſich die bemitleidete Perſon ihr Unglück zugezo - gen. Nur unſer Mitleid und unſere Furcht müßte ſie ungereiniget laſſen. Denn Mitleid und Furcht ſind die Leidenſchaften, die in der Tragödie wir, nicht aber die handelnden Per - ſonen empfinden; ſind die Leidenſchaften, durch welche die handelnden Perſonen uns rühren, nicht aber die, durch welche ſie ſich ſelbſt ihre Unfälle zuziehen. Es kann ein Stück geben, in welchem ſie beides ſind: das weiß ich wohl. Aber noch kenne ich kein ſolches Stück: ein Stück nehmlich, in welchem ſich die bemitlei - dete Perſon durch ein übelverſtandenes Mitleid, oder durch eine übelverſtandene Furcht ins Un - glück ſtürze. Gleichwohl würde dieſes Stück das einzige ſeyn, in welchem, ſo wie es Cor - neille verſteht, das geſchehe, was Ariſtoteles will, daß es in allen Tragödien geſchehen ſoll: und auch in dieſem einzigen würde es nicht auf die Art geſchehen, auf die es dieſer ver -C c 2langt.204langt. Dieſes einzige Stück würde gleichſam der Punkt ſeyn, in welchem zwey gegen einander ſich neigende gerade Linien zuſammentreffen, um ſich in alle Unendlichkeit nicht wieder zu begeg - nen. So gar ſehr konnte Dacier den Sinn des Ariſtoteles nicht verfehlen. Er war ver - bunden, auf die Worte ſeines Autors aufmerk - ſamer zu ſeyn, und dieſe beſagen es zu poſitiv, daß unſer Mitleid und unſere Furcht, durch das Mitleid und die Furcht der Tragödie, gereiniget werden ſollen. Weil er aber ohne Zweifel glaubte, daß der Nutzen der Tragödie ſehr ge - ring ſeyn würde, wenn er blos hierauf einge - ſchränkt wäre: ſo ließ er ſich verleiten, nach der Erklärung des Corneille, ihr die ebenmäßige Reinigung auch aller übrigen Leidenſchaften beyzulegen. Wie nun Corneille dieſe für ſein Theil leugnete, und in Beyſpielen zeigte, daß ſie mehr ein ſchöner Gedanke, als eine Sache ſey, die gewöhnlicher Weiſe zur Wirklichkeit gelange: ſo mußte er ſich mit ihm in dieſe Bey - ſpiele ſelbſt einlaſſen, wo er ſich denn ſo in der Enge fand, daß er die gewaltſamſten Drehun - gen und Wendungen machen mußte, um ſeinen Ariſtoteles mit ſich durch zu bringen. Jch ſage, ſeinen Ariſtoteles: denn der rechte iſt weit ent - fernt, ſolcher Drehungen und Wendungen zu bedürfen. Dieſer, um es abermals und aber - mals zu ſagen, hat an keine andere Leidenſchaf -ten205ten gedacht, welche das Mitleid und die Furcht der Tragödie reinigen ſolle, als an unſer Mit - leid und unſere Furcht ſelbſt; und es iſt ihm ſehr gleichgültig, ob die Tragödie zur Reinigung der übrigen Leidenſchaft viel oder wenig beyträgt. An jene Reinigung hätte ſich Dacier allein hal - ten ſollen: aber freylich hätte er ſodann auch einen vollſtändigern Begriff damit verbinden müſſen. Wie die Tragödie, ſagt er, Mit - leid und Furcht errege, um Mitleid und Furcht zu reinigen, das iſt nicht ſchwer zu erklären. Sie erregt ſie, indem ſie uns das Unglück vor Augen ſtellet, in das unſers gleichen durch nicht vorſetzliche Fehler gefallen ſind; und ſie reiniget ſie, indem ſie uns mit dieſem nehm - lichen Unglücke bekannt macht, und uns da - durch lehret, es weder allzuſehr zu fürchten, noch allzuſehr davon gerührt zu werden, wann es uns wirklich ſelbſt treffen ſollte. Sie be - reitet die Menſchen, die allerwidrigſten Zu - fälle muthig zu ertragen, und macht die Aller - elendenſten geneigt, ſich für glücklich zu hal - ten, indem ſie ihre Unglücksfällen mit weit größern vergleichen, die ihnen die Tragödie vorſtellet. Denn in welchen Umſtänden kann ſich wohl ein Menſch finden, der bey Erblickung eines Oedips, eines Philoktets, eines Oreſts, nicht erkennen müßte, daß alle Uebel, die er zu erdulden, gegen die, welche dieſe MännerC c 3 er -206 erdulden müſſen, gar nicht in Vergleichung kommen? Nun das iſt wahr; dieſe Erklä - rung kann dem Dacier nicht viel Kopfbrechens gemacht haben. Er fand ſie faſt mit den nehm - lichen Worten bey einem Stoiker, der immer ein Auge auf die Apathie hatte. Ohne ihm indeß einzuwenden, daß das Gefühl unſers ei - genen Elendes nicht viel Mitleid neben ſich dul - det; daß folglich bey dem Elenden, deſſen Mit - leid nicht zu erregen iſt, die Reinigung oder Lin - derung ſeiner Betrübniß durch das Mitleid nicht erfolgen kann: will ich ihm alles, ſo wie er es ſagt, gelten laſſen. Nur fragen muß ich: wie viel er nun damit geſagt? Ob er im geringſten mehr damit geſagt, als, daß das Mitleid un - ſere Furcht reinige? Gewiß nicht: und das wäre doch nur kaum der vierte Theil der Foderung des Ariſtoteles. Denn wenn Ariſtoteles be - hauptet, daß die Tragödie Mitleid und Furcht errege, um Mitleid und Furcht zu reinigen: wer ſieht nicht, daß dieſes weit mehr ſagt, als Dacier zu erklären für gut befunden? Denn, nach den verſchiedenen Combinationen der hier vorkommenden Begriffe, muß der, welcher den Sinn des Ariſtoteles ganz erſchöpfen will, ſtück - weiſe zeigen, 1. wie das tragiſche Mitleid unſer Mitleid, 2. wie die tragiſche Furcht unſere Furcht, 3. wie das tragiſche Mitleid unſere Furcht, und 4. wie die tragiſche Furcht unſerMit -207Mitleid reinigen könne und wirklich reinige. Dacier aber hat ſich nur an den dritten Punkt gehalten, und auch dieſen nur ſehr ſchlecht, und auch dieſen nur zur Helfte erläutert. Denn wer ſich um einen richtigen und vollſtändigen Begriff von der Ariſtoteliſchen Reinigung der Leiden - ſchaften bemüht hat, wird finden, daß jeder von jenen vier Punkten einen doppelten Fall in ſich ſchlieſſet. Da nehmlich, es kurz zu ſagen, dieſe Reinigung in nichts anders beruhet, als in der Verwandlung der Leidenſchaften in tu - gendhafte Fertigkeiten, bey jeder Tugend aber, nach unſerm Philoſophen, ſich diſſeits und jen - ſeits ein Extremum findet, zwiſchen welchem ſie inne ſtehet: ſo muß die Tragödie, wenn ſie un - ſer Mitleid in Tugend verwandeln ſoll, uns von beiden Extremis des Mitleids zu reinigen ver - mögend ſeyn; welches auch von der Furcht zu verſtehen. Das tragiſche Mitleid muß nicht allein, in Anſehung des Mitleids, die Seele desjenigen reinigen, welcher zu viel Mitleid fühlet, ſondern auch desjenigen, welcher zu wenig empfindet. Die tragiſche Furcht muß nicht allein, in Anſehung der Furcht, die Seele desjenigen reinigen, welcher ſich ganz und gar keines Unglücks befürchtet, ſondern auch desje - nigen, den ein jedes Unglück, auch das entfern - teſte, auch das unwahrſcheinlichſte, in Angſt ſetzet. Gleichfalls muß das tragiſche Mitleid,in208in Anſehung der Furcht, dem was zu viel, und dem was zu wenig, ſteuern: ſo wie hinwiederum die tragiſche Furcht, in Anſehung des Mitleids. Dacier aber, wie geſagt, hat nur gezeigt, wie das tragiſche Mitleid unſere allzu große Furcht mäßige: und noch nicht einmal, wie es den gänzlichen Mangel derſelben abh[ie]lfe, oder ſie in dem, welcher allzu wenig von ihr empfindet, zu einem heilſamern Grade erhöhe; geſchweige, daß er auch das Uebrige ſollte gezeigt haben. Die nach ihm gekommen, haben, was er unter - laſſen, auch im geringſten nicht ergänzet; aber wohl ſonſt, um nach ihrer Meinung, den Nutzen der Tragödie völlig außer Streit zu ſetzen, Dinge dahin gezogen, die dem Gedichte überhaupt, aber keinesweges der Tragödie, als Tragödie, ins - beſondere zukommen; z. E. daß ſie die Triebe der Menſchlichkeit nähern und ſtärken; daß ſie Liebe zur Tugend und Haß gegen das Laſter wir - ken ſolle u. ſ. w.(*)Hr. Curtius in ſeiner Abhandlung von der Ab - ſicht des Trauerſpiels, hinter der Ariſtoteli - ſchen Dichtkunſt. Lieber! welches Gedicht ſollte das nicht? Soll es aber ein jedes: ſo kann es nicht das unterſcheidende Kennzeichen der Tragödie ſeyn; ſo kann es nicht das ſeyn, was wir ſuchten.

Ham -[209]

Hamburgiſche Dramaturgie. Neun und ſiebzigſtes Stück.

Und nun wieder auf unſern Richard zu kom - men. Richard alſo erweckt eben ſo we - nig Schrecken, als Mitleid: weder Schre - cken in dem gemißbrauchten Verſtande, für die plötzliche Ueberraſchung des Mitleids; noch in dem eigentlichen Verſtande des Ariſtoteles, für heilſame Furcht, daß uns ein ähnliches Unglück treffen könne. Denn wenn er dieſe erregte, würde er auch Mitleid erregen; ſo gewiß er hin - wiederum Furcht erregen würde, wenn wir ihn unſers Mitleids nur im geringſten würdig fän - den. Aber er iſt ſo ein abſcheulicher Kerl, ſo ein eingefleiſchter Teufel, in dem wir ſo völlig keinen einzigen ähnlichen Zug mit uns ſelbſt fin - den, daß ich glaube, wir könnten ihn vor un - ſern Augen den Martern der Hölle übergeben ſehen, ohne das geringſte für ihn zu empfinden, ohne im geringſten zu fürchten, daß, wenn ſolcheD dStrafe210Strafe nur auf ſolche Verbrechen folge, ſie auch unſrer erwarte. Und was iſt endlich das Un - glück, die Strafe, die ihn trift? Nach ſo vie - len Miſſethaten, die wir mit anſehen müſſen, hören wir, daß er mit dem Degen in der Fauſt geſtorben. Als der Königinn dieſes erzehlt wird, läßt ſie der Dichter ſagen:

Dieß iſt etwas!

Jch habe mich nie enthalten können, bey mir nachzuſprechen: nein, das iſt gar nichts! Wie mancher gute König iſt ſo geblieben, indem er ſeine Krone wider einen mächtigen Rebellen be - haupten wollen? Richard ſtirbt doch, als ein Mann, auf dem Bette der Ehre. Und ſo ein Tod ſollte mich für den Unwillen ſchadlos hal - ten, den ich das ganze Stück durch, über den Triumph ſeiner Bosheiten empfunden? (Jch glaube, die griechiſche Sprache iſt die einzige, welche ein eigenes Wort hat, dieſen Unwillen über das Glück eines Böſewichts, auszudrücken: νεμεσις, νεμεσαν. (*)Ariſt. Rhet. lib. II. cap. 9.) Sein Tod ſelbſt, wel - cher wenigſtens meine Gerechtigkeitsliebe befrie - digen ſollte, unterhält noch meine Nemeſis. Du biſt wohlfeil weggekommen! denke ich: aber gut, daß es noch eine andere Gerechtigkeit giebt, als die poetiſche!

Man wird vielleicht ſagen: nun wohl! wir wollen den Richard aufgeben; das Stück heißtzwar211zwar nach ihm; aber er iſt darum nicht der Held deſſelben, nicht die Perſon, durch welche die Abſicht der Tragödie erreicht wird; er hat nur das Mittel ſeyn ſollen, unſer Mitleid für andere zu erregen. Die Königinn, Eliſabeth, die Prinzen, erregen dieſe nicht Mitleid?

Um allem Wortſtreite auszuweichen: ja. Aber was iſt es für eine fremde, herbe Empfin - dung, die ſich in mein Mitleid für dieſe Perſo - nen miſcht? die da macht, daß ich mir dieſes Mitleid erſparen zu können wünſchte? Das wünſche ich mir bey dem tragiſchen Mitleid doch ſonſt nicht; ich verweile gern dabey; und danke dem Dichter für eine ſo ſüße Quaal.

Ariſtoteles hat es wohl geſagt, und das wird es ganz gewiß ſeyn! Er ſpricht von einem μιαϱον, von einen Gräßlichen, das ſich bey dem Unglücke ganz guter, ganz unſchuldiger Perſo - nen finde. Und ſind nicht die Königinn, Eli - ſabeth, die Prinzen, vollkommen ſolche Perſo - nen? Was haben ſie gethan? wodurch haben ſie es ſich zugezogen, daß ſie in den Klauen die - ſer Beſtie ſind? Jſt es ihre Schuld, daß ſie ein näheres Recht auf den Thron haben, als er? Beſonders die kleinen wimmernden Schlacht - opfer, die noch kaum rechts und links unter - ſcheiden können! Wer wird leugnen, daß ſie unſern ganzen Jammer verdienen? Aber iſt die - ſer Jammer, der mich mit Schaudern an dieD d 2Schick -212Schickſale der Menſchen denken läßt, dem Mur - ren wider die Vorſehung ſich zugeſellet, und Verzweiflung von weiten nachſchleicht, iſt die - ſer Jammer ich will nicht fragen, Mit - leid? Er heiſſe, wie er wolle Aber iſt er das, was eine nachahmende Kunſt erwecken ſollte?

Man ſage nicht: erweckt ihn doch die Ge - ſchichte; gründet er ſich doch auf etwas, das wirklich geſchehen iſt. Das wirklich geſchehen iſt? es ſey: ſo wird es ſeinen guten Grund in dem ewigen unendlichen Zuſammenhange aller Dinge haben. Jn dieſem iſt Weisheit und Güte, was uns in den wenigen Gliedern, die der Dichter herausnimt, blindes Geſchick und Grauſamkeit ſcheinet. Aus dieſen wenigen Gliedern ſollte er ein Ganzes machen, das völlig ſich rundet, wo eines aus dem andern ſich völlig erkläret, wo keine Schwierigkeit aufſtößt, deren - wegen wir die Befriedigung nicht in ſeinem Plane finden, ſondern ſie außer ihm, in dem allgemeinen Plane der Dinge, ſuchen müſſen; das Ganze dieſes ſterblichen Schöpfers ſollte ein Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schö - pfers ſeyn; ſollte uns an den Gedanken gewöhnen, wie ſich in ihm alles zum Beſten auflöſe, werde es auch in jenem geſchehen: und er vergißt, dieſe ſeine edelſte Beſtimmung ſo ſehr, daß er die unbegreiflichen Wege der Vorſicht mit in ſei -nem213nem kleinen Zirkel flicht, und gefliſſendlich un - ſern Schauder darüber erregt? O verſchonet uns damit, ihr, die ihr unſer Herz in eurer Ge - walt habt! Wozu dieſe traurige Empfindung? Uns Unterwerfung zu lehren? Dieſe kann uns nur die kalte Vernunft lehren; und wenn die Lehre der Vernunft in uns bekleiben ſoll, wenn wir, bey unſerer Unterwerfung, noch Vertrauen und fröhlichen Muth behalten ſollen: ſo iſt es höchſt nöthig, daß wir an die verwirrenden Beyſpiele ſolcher unverdienten ſchrecklichen Ver - hängniſſe ſo wenig, als möglich, erinnert wer - den. Weg mit ihnen von der Bühne! Weg, wenn es ſeyn könnte, aus allen Büchern mit ihnen!

Wenn nun aber der Perſonen des Richards keine einzige, die erforderlichen Eigenſchaften hat, die ſie haben müßten, Falls er wirklich das ſeyn ſollte, was er heißt: wodurch iſt er gleichwohl ein ſo intereſſantes Stück geworden, wofür ihn unſer Publikum hält? Wenn er nicht Mitleid und Furcht erregt: was iſt denn ſeine Wirkung? Wirkung muß er doch haben, und hat ſie. Und wenn er Wirkung hat: iſt es nicht gleichviel, ob er dieſe, oder ob er jene hat? Wenn er die Zuſchauer beſchäftiget, wenn er ſie vergnügt: was will man denn mehr? Müſ - ſen ſie denn, nothwendig nur nach den Regeln des Ariſtoteles, beſchäftiget und vergnügt werden?

D d 3Das214

Das klingt ſo unrecht nicht: aber es iſt dar - auf zu antworten. Ueberhaupt: wenn Richard ſchon keine Tragödie wäre, ſo bleibt er doch ein dramatiſches Gedicht; wenn ihm ſchon die Schönheiten der Tragödie mangelten, ſo könnte er doch ſonſt Schönheiten haben. Poeſie des Ausdrucks; Bilder; Tiraden; kühne Geſin - nungen; einen feurigen hinreiſſenden Dialog; glückliche Veranlaſſungen für den Akteur, den ganzen Umfang ſeiner Stimme mit den mannich - faltigſten Abwechſelungen zu durchlaufen, ſeine ganze Stärke in der Pantomime zu zeigen u. ſ. w.

Von dieſen Schönheiten hat Richard viele, und hat auch noch andere, die den eigentlichen Schönheiten der Tragödie näher kommen.

Richard iſt ein abſcheulicher Böſewicht: aber auch die Beſchäftigung unſers Abſcheues iſt nicht ganz ohne Vergnügen; beſonders in der Nach - ahmung.

Auch das Ungeheuere in den Verbrechen par - ticipiret von den Empfindungen, welche Größe und Kühnheit in uns erwecken.

Alles, was Richard thut, iſt Greuel; aber alle dieſe Greuel geſchehen in Abſicht auf etwas; Richard hat einen Plan; und überall, wo wir einen Plan wahrnehmen, wird unſere Neugierde rege; wir warten gern mit ab, ob er ausgeführt wird werden, und wie er es wird werden; wir lieben das Zweckmäßige ſo ſehr, daß es uns,auch215auch unabhängig von der Moralität des Zweckes, Vergnügen gewähret.

Wir wollten, daß Richard ſeinen Zweck er - reichte: und wir wollten, daß er ihn auch nicht erreichte. Das Erreichen erſpart uns das Miß - vergnügen, über ganz vergebens angewandte Mittel: wenn er ihn nicht erreicht, ſo iſt ſo viel Blut völlig umſonſt vergoſſen worden; da es einmal vergoſſen iſt, möchten wir es nicht gern, auch noch blos vor langer Weile, vergoſ - ſen finden. Hinwiederum wäre dieſes Errei - chen das Frohlocken der Bosheit; nichts hören wir ungerner; die Abſicht intereßirte uns, als zu erreichende Abſicht; wenn ſie aber nun er - reicht wäre, würden wir nichts als das Abſcheu - liche derſelben erblicken, würden wir wünſchen, daß ſie nicht erreicht wäre; dieſen Wunſch ſehen wir voraus, und uns ſchaudert vor der Errei - chung.

Die guten Perſonen des Stücks lieben wir; eine ſo zärtliche feurige Mutter, Geſchwiſter, die ſo ganz eines in dem andern leben; dieſe Ge - genſtände gefallen immer, erregen immer die ſüßeſten ſympathetiſchen Empfindungen, wir mögen ſie finden, wo wir wollen. Sie ganz ohne Schuld leiden zu ſehen, iſt zwar herbe, iſt zwar für unſere Ruhe, zu unſerer Beſſerung, kein ſehr erſprießliches Gefühl: aber es iſt doch immer Gefühl.

Und216

Und ſo nach beſchäftiget uns das Stück durch - aus, und vergnügt durch dieſe Beſchäftigung unſerer Seelenkräfte. Das iſt wahr; nur die Folge iſt nicht wahr, die man daraus zu ziehen meinet: nehmlich, daß wir alſo damit zufrieden ſeyn können.

Ein Dichter kann viel gethan, und doch noch nichts damit verthan haben. Nicht genug, daß ſein Werk Wirkungen auf uns hat: es muß auch die haben, die ihm, vermöge der Gattung, zukommen; es muß dieſe vornehmlich haben, und alle andere können den Mangel derſelben auf keine Weiſe erſetzen; beſonders wenn die Gattung von der Wichtigkeit und Schwierig - keit, und Koſtbarkeit iſt, daß alle Mühe und aller Aufwand vergebens wäre, wenn ſie weiter nichts als ſolche Wirkungen hervorbringen woll - te, die durch eine leichtere und weniger Anſtal - ten erfordernde Gattung eben ſowohl zu erhalten wären. Ein Bund Stroh aufzuheben, muß man keine Maſchinen in Bewegung ſetzen; was ich mit dem Fuße umſtoſſen kann, muß ich nicht mit einer Mine ſprengen wollen; ich muß keinen Scheiterhaufen anzünden, um eine Mücke zu verbrennen.

Ham -[217]

Hamburgiſche Dramaturgie. Achtzigſtes Stück.

Wozu die ſauere Arbeit der dramatiſchen Form? wozu ein Theater erbauet, Männer und Weiber verkleidet, Ge - dächtniſſe gemartert, die ganze Stadt auf einen Platz geladen? wenn ich mit meinem Werke, und mit der Aufführung deſſelben, weiter nichts hervorbringen will, als einige von den Regungen, die eine gute Erzehlung, von jedem zu Hauſe in ſeinem Winkel geleſen, ungefehr auch hervorbringen würde.

Die dramatiſche Form iſt die einzige, in wel - cher ſich Mitleid und Furcht erregen läßt; we - nigſtens können in keiner andern Form dieſe Lei - denſchaften auf einen ſo hohen Grad erreget wer - den: und gleichwohl will man lieber alle andere darinn erregen, als dieſe; gleichwohl will man ſie lieber zu allem andern brauchen, als zu dem, wozu ſie ſo vorzüglich geſchickt iſt.

E eDas218

Das Publikum nimt vorlieb. Das iſt gut, und auch nicht gut. Denn man ſehnt ſich nicht ſehr nach der Tafel, an der man immer vorlieb nehmen muß.

Es iſt bekannt, wie erpicht das griechiſche und römiſche Volk auf die Schauſpiele waren; beſonders jenes, auf das tragiſche. Wie gleich - gültig, wie kalt iſt dagegen unſer Volk für das Theater! Woher dieſe Verſchiedenheit, wenn ſie nicht daher kömmt, daß die Griechen vor ih - rer Bühne ſich mit ſo ſtarken, ſo außerordentli - chen Empfindungen begeiſtert fühlten, daß ſie den Augenblick nicht erwarten konnten, ſie aber - mals und abermals zu haben: dahingegen wir uns vor unſerer Bühne ſo ſchwacher Eindrücke bewußt ſind, daß wir es ſelten der Zeit und des Geldes werth halten, ſie uns zu verſchaffen? Wir gehen, faſt alle, faſt immer, aus Neugier - de, aus Mode, aus Langerweile, aus Geſell - ſchaft, aus Begierde zu begaffen und begaft zu werden, ins Theater: und nur wenige, und dieſe wenige nur ſparſam, aus anderer Abſicht.

Jch ſage, wir, unſer Volk, unſere Bühne: ich meine aber nicht blos, uns Deutſche. Wir Deutſche bekennen es treuherzig genug, daß wir noch kein Theater haben. Was viele von un - ſern Kunſtrichtern, die in dieſes Bekenntniß mit einſtimmen, und große Verehrer des fran - zöſiſchen Theaters ſind, dabey denken: das kannich219ich ſo eigentlich nicht wiſſen. Aber ich weiß wohl, was ich dabey denke. Jch denke nehm - lich dabey: daß nicht allein wir Deutſche; ſon - dern, daß auch die, welche ſich ſeit hundert Jahren ein Theater zu haben rühmen, ja das beſte Theater von ganz Europa zu haben prah - len, daß auch die Franzoſen noch kein Theater haben.

Kein Tragiſches gewiß nicht! Denn auch die Eindrücke, welche die franzöſiſche Tragödie macht, ſind ſo flach, ſo kalt! Man höre ei - nen Franzoſen ſelbſt, davon ſprechen.

Bey den hervorſtechenden Schönheiten un - ſers Theaters, ſagt der Herr von Voltaire, fand ſich ein verborgner Fehler, den man nicht bemerkt hatte, weil das Publikum von ſelbſt keine höhere Jdeen haben konnte, als ihm die großen Meiſter durch ihre Muſter beybrachten. Der einzige Saint-Evremont hat dieſen Feh - ler aufgemutzt; er ſagt nehmlich, daß unſere Stücke nicht Eindruck genug machten, daß das, was Mitleid erwecken ſolle, aufs höchſte Zärtlichkeit errege, daß Rührung die Stelle der Erſchütterung, und Erſtaunen die Stelle des Schreckens vertrete; kurz, daß unſere Empfindungen nicht tief genug gingen. Es iſt nicht zu leugnen: Saint-Evremont hat mit dem Finger gerade auf die heimliche Wunde des franzöſiſchen Theaters getroffen. ManE e 2 ſage220 ſage immerhin, daß Saint-Evremont der Ver - faſſer der elenden Komödie Sir Politik Would - be, und noch einer andern eben ſo elenden, die Opern genannt, iſt; daß ſeine kleinen geſell - ſchaftlichen Gedichte das kahlſte und gemeinſte ſind, was wir in dieſer Gattung haben; daß er nichts als ein Phraſesdrechsler war: man kann keinen Funken Genie haben, und gleich - wohl viel Witz und Geſchmack beſitzen. Sein Geſchmack aber war unſtreitig ſehr fein, da er die Urſache, warum die meiſten von unſern Stücken ſo matt und kalt ſind, ſo genau traf. Es hat uns immer an einem Grade von Wär - me gefehlt: das andere hatten wir alles.

Das iſt: wir hatten alles, nur nicht das, was wir haben ſollten; unſere Tragödien waren vortrefflich, nur daß es keine Tragödien waren. Und woher kam es, daß ſie das nicht waren?

Dieſe Kälte aber, fährt er fort, dieſe ein - förmige Mattigkeit, entſprang zum Theil von dem kleinen Geiſte der Galanterie, der damals unter unſern Hofleuten und Damen ſo herrſchte, und die Tragödie in eine Folge von verliebten Geſprächen verwandelte, nach dem Geſchmacke des Cyrus und der Clelie. Was für Stücke ſich hiervon noch etwa ausnahmen, die beſtan - den aus langen politiſchen Raiſonnements, der - gleichen den Sertorius ſo verdorben, den Otho ſo kalt, und den Surena und Attila ſo elend ge -221 gemacht haben. Noch fand ſich aber auch eine andere Urſache, die das hohe Pathetiſche von unſerer Scene zurückhielt, und die Handlung wirklich tragiſch zu machen verhinderte: und dieſe war, das enge ſchlechte Theater mit ſei - nen armſeligen Verzierungen. Was ließ ſich auf einem Paar Dutzend Brettern, die noch dazu mit Zuſchauern angefüllt waren, machen? Mit welchem Pomp, mit welchen Zurüſtungen konnte man da die Augen der Zu - ſchauer beſtechen, feſſeln, täuſchen? Welche große tragiſche Action ließ ſich da aufführen? Welche Freyheit konnte die Einbildungskraft des Dichters da haben? Die Stücke mußten aus langen Erzehlungen beſtehen, und ſo wur - den ſie mehr Geſpräche als Spiele. Jeder Akteur wollte in einer langen Monologe glän - zen, und ein Stück, das dergleichen nicht hatte, ward verworfen. Bey dieſer Form fiel alle theatraliſche Handlung weg; fielen alle die großen Ausdrücke der Leidenſchaften, alle die kräftigen Gemählde der menſchlichen Unglücksfälle, alle die ſchrecklichen bis in das Jnnerſte der Seele dringende Züge weg; man rührte das Herz nur kaum, anſtatt es zu zer - reiſſen.

Mit der erſten Urſache hat es ſeine gute Rich - tigkeit. Galanterie und Politik läßt immer kalt; und noch iſt es keinem Dichter in der WeltE e 3ge -222gelungen, die Erregung des Mitleids und der Furcht damit zu verbinden. Jene laſſen uns nichts als den Fat, oder den Schulmeiſter hören: und dieſe fodern, daß wir nichts als den Men - ſchen hören ſollen.

Aber die zweyte Urſache? Sollte es mög - lich ſeyn, daß der Mangel eines geräumlichen Theaters und guter Verzierungen, einen ſolchen Einfluß auf das Genie der Dichter gehabt hätte? Jſt es wahr, daß jede tragiſche Hand - lung Pomp und Zurüſtungen erfodert? Oder ſollte der Dichter nicht vielmehr ſein Stück ſo einrichten, daß es auch ohne dieſe Dinge ſeine völlige Wirkung hervorbrächte?

Nach dem Ariſtoteles, ſollte er es allerdings. Furcht und Mitleid, ſagt der Philoſoph, läßt ſich zwar durchs Geſicht erregen; es kann aber auch aus der Verknüpfung der Begebenheiten ſelbſt entſpringen, welches letztere vorzüglicher, und die Weiſe des beſſern Dichters iſt. Denn die Fabel muß ſo eingerichtet ſeyn, daß ſie, auch ungeſehen, den, der den Verlauf ihrer Begebenheiten blos anhört, zu Mitleid und Furcht über dieſe Begebenheiten bringet; ſo wie die Fabel des Oedips, die man nur anhö - ren darf, um dazu gebracht zu werden. Dieſe Abſicht aber durch das Geſicht erreichen wol - len, erfodert weniger Kunſt, und iſt deren Sache, welche die Vorſtellung des Stücks übernommen.

Wie223

Wie entbehrlich überhaupt die theatraliſchen Verzierungen ſind, davon will man mit den Stücken des Shakeſpears eine ſonderbare Er - fahrung gehabt haben. Welche Stücke brauch - ten, wegen ihrer beſtändigen Unterbrechung und Veränderung des Orts, des Beyſtandes der Scenen und der ganzen Kunſt des Decora - teurs wohl mehr, als eben dieſe? Gleichwohl war eine Zeit, wo die Bühnen, auf welchen ſie geſpielt wurden, aus nichts beſtanden, als aus einem Vorhange von ſchlechtem groben Zeuge, der, wenn er aufgezogen war, die bloßen blan - ken, höchſtens mit Matten oder Tapeten behan - genen, Wände zeigte; da war nichts als die Ein - bildung, was dem Verſtändniſſe des Zuſchauers und der Ausführung des Spielers zu Hülfe kommen konnte: und dem ohngeachtet, ſagt man, waren damals die Stücke des Shake - ſpears ohne alle Scenen verſtändlicher, als ſie es hernach mit denſelben geweſen ſind. (*)(Cibber’s Lives of the Poets of G. B. and Ir. Vol. II. p. 78. 79. ) Some have inſinua - red, that fine ſcenes proved the ruin of acting. In the reign of Charles I. there was nothing more than a curtain of very coarſe ſtuff, upon the drawing up of which, the ſtage appeared either with bare walls on the ſides, coarſly matted, or covered with tapeſtry; ſo that for the place originally repreſented, and all the ()ſuc -

Wenn224

Wenn ſich alſo der Dichter um die Verzierung gar nicht zu bekümmern hat; wenn die Verzie - rung, auch wo ſie nöthig ſcheinet, ohne beſon - dern Nachtheil ſeines Stücks wegbleiben kann: warum ſollte es an dem engen, ſchlechten Thea - ter gelegen haben, daß uns die franzöſiſchen Dichter keine rührendere Stücke geliefert? Nicht doch: es lag an ihnen ſelbſt.

Und das beweiſet die Erfahrung. Denn nun haben ja die Franzoſen eine ſchönere, geräumli - chere Bühne; keine Zuſchauer werden mehr dar - auf geduldet; die Couliſſen ſind leer; der Deco - rateur hat freyes Feld; er mahlt und bauet dem Poeten alles, was dieſer von ihm verlangt: aber wo ſind ſie denn die wärmern Stücke, die ſie ſeit - dem erhalten haben? Schmeichelt ſich der Herr von Voltaire, daß ſeine Semiramis ein ſolches Stück iſt? Da iſt Pomp und Verzierung ge - nug; ein Geſpenſt oben darein: und doch kenne ich nichts kälteres, als ſeine Semiramis.

Ham -

(*)ſucceſſive changes, in which the poets of thoſe times freely indulged themſelves, there was nothing to help the ſpectator’s underſtanding, or to afſiſt the actor’s per - formance, but bare imagination. The ſpirit and judgement of the actors ſupplied all deficiencies, and made as ſome would inſinuate, plays more intelligible without ſcenes, than they afterwards were with them. ()

[225]

Hamburgiſche Dramaturgie. Ein und achtzigſtes Stück.

Will ich denn nun aber damit ſagen, daß kein Franzoſe fähig ſey, ein wirklich rührendes tragiſches Werk zu machen? daß der volatile Geiſt der Nation einer ſolchen Arbeit nicht gewachſen ſey? Jch würde mich ſchämen, wenn mir das nur eingekommen wäre. Deutſchland hat ſich noch durch keinen Bouhours lächerlich gemacht. Und ich, für mein Theil, hätte nun gleich die wenigſte Anlage dazu. Denn ich bin ſehr überzeugt, daß kein Volk in der Welt irgend eine Gabe des Geiſtes vor - züglich vor andern Völkern erhalten habe. Man ſagt zwar: der tiefſinnige Engländer, der witzige Franzoſe. Aber wer hat denn die Theilung gemacht? Die Natur gewiß nicht, die alles unter alle gleich vertheilet. Es giebt eben ſo viel witzige Engländer, als witzige Fran - zoſen; und eben ſo viel tiefſinnige Franzoſen,F fals226als tiefſinnige Engländer: der Braß von dem Volke aber iſt keines von beiden.

Was will ich denn? Jch will blos ſagen, was die Franzoſen gar wohl haben könnten, daß ſie das noch nicht haben: die wahre Tragödie. Und warum noch nicht haben? Dazu hätte ſich der Herr von Voltaire ſelbſt beſſer kennen müſſen, wenn er es hätte treffen wollen.

Jch meine: ſie haben es noch nicht; weil ſie es ſchon lange gehabt zu haben glauben. Und in dieſem Glauben werden ſie nun freylich durch etwas beſtärkt, das ſie vorzüglich vor allen Völ - kern haben; aber es iſt keine Gabe der Natur: durch ihre Eitelkeit.

Es geht mit den Nationen, wie mit einzeln Menſchen. Gottſched (man wird leicht be - greifen, wie ich eben hier auf dieſen falle,) galt in ſeiner Jugend für einen Dichter, weil man damals den Versmacher von dem Dichter noch nicht zu unterſcheiden wußte. Philoſophie und Critik ſetzten nach und nach dieſen Unterſchied ins Helle: und wenn Gottſched mit dem Jahr - hunderte nur hätte fortgehen wollen, wenn ſich ſeine Einſichten und ſein Geſchmack nur zugleich mit den Einſichten und dem Geſchmacke ſeines Zeitalters hätten verbreiten und läutern wollen: ſo hätte er vielleicht wirklich aus dem Versma - cher ein Dichter werden können. Aber da er ſich ſchon ſo oft den größten Dichter hatte nen -nen227nen hören, da ihn ſeine Eitelkeit überredet hat - te, daß er es ſey: ſo unterblieb jenes. Er konnte unmöglich erlangen, was er ſchon zu be - ſitzen glaubte: und je älter er ward, deſto hart - näckiger und unverſchämter ward er, ſich in die - ſem träumeriſchen Beſitze zu behaupten.

Gerade ſo, dünkt mich, iſt es den Franzoſen ergangen. Kaum riß Corneille ihr Theater ein wenig aus der Barbarey: ſo glaubten ſie es der Vollkommenheit ſchon ganz nahe. Racine ſchien ihnen die letzte Hand angelegt zu haben; und hierauf war gar nicht mehr die Frage, (die es zwar auch nie geweſen,) ob der tragiſche Dichter nicht noch pathetiſcher, noch rührender ſeyn kön - ne, als Corneille und Racine, ſondern dieſes ward für unmöglich angenommen, und alle Beeiferung der nachfolgenden Dichter mußte ſich darauf einſchränken, dem einen oder dem andern ſo ähnlich zu werden als möglich. Hun - dert Jahre haben ſie ſich ſelbſt, und zum Theil ihre Nachbarn mit, hintergangen: nun komme einer, und ſage ihnen das, und höre, was ſie antworten!

Von beiden aber iſt es Corneille, welcher den meiſten Schaden geſtiftet, und auf ihre tragi - ſchen Dichter den verderblichſten Einfluß ge - habt hat. Denn Racine hat nur durch ſeine Muſter verführt: Corneille aber, durch ſeine Muſter und Lehren zugleich.

F f 2Dieſe228

Dieſe letztern beſonders, von der ganzen Na - tion (bis auf einen oder zwey Pedanten, einen Hedelin, einen Dacier, die aber oft ſelbſt nicht wußten, was ſie wollten,) als Orakelſprüche angenommen, von allen nachherigen Dichtern befolgt: haben, ich getraue mich, es Stück vor Stück zu beweiſen, nichts anders, als das kahlſte, wäßrigſte, untragiſchſte Zeug her - vorbringen können.

Die Regeln des Ariſtoteles, ſind alle auf die höchſte Wirkung der Tragödie calculirt. Was macht aber Corneille damit? Er trägt ſie falſch und ſchielend genug vor; und weil er ſie doch noch viel zu ſtrenge findet: ſo ſucht er, bey einer nach der andern, quelque moderation, quel - que favorable interpretation; entkräftet und verſtümmelt, deutelt und vereitelt eine jede, und warum? pour n’etre pas obli - gés de condamner beaucoup de poemes que nous avons réuſſir ſur nos thea - tres; um nicht viele Gedichte verwerfen zu dür - fen, die auf unſern Bühnen Beyfall gefunden. Eine ſchöne Urſache!

Jch will die Hauptpunkte geſchwind berüh - ren. Einige davon habe ich ſchon berührt; ich muß ſie aber, des Zuſammenhanges wegen, wiederum mitnehmen.

1. Ariſtoteles ſagt: die Tragödie ſoll Mit - leid und Furcht erregen. Corneille ſagt: o ja,aber229aber wie es kömmt; beides zugleich iſt eben nicht immer nöthig; wir ſind auch mit einem zufrie - den; itzt einmal Mitleid, ohne Furcht; ein an - dermal Furcht, ohne Mitleid. Denn wo blieb ich, ich der große Corneille, ſonſt mit meinem Rodrigue und meiner Chimene? Die guten Kin - der erwecken Mitleid; und ſehr großes Mitleid: aber Furcht wohl ſchwerlich. Und wiederum: wo blieb ich ſonſt mit meiner Cleopatra, mit meinem Pruſias, mit meinem Phocas? Wer kann Mitleid mit dieſen Nichtswürdigen haben? Aber Furcht erregen ſie doch. So glaubte Corneille: und die Franzoſen glaubten es ihm nach.

2. Ariſtoteles ſagt: die Tragödie ſoll Mit - leid und Furcht erregen; beides, verſteht ſich, durch eine und eben dieſelbe Perſon. Cor - neille ſagt: wenn es ſich ſo trift, recht gut. Aber abſolut nothwendig iſt es eben nicht; und man kann ſich gar wohl auch verſchiedener Per - ſonen bedienen, dieſe zwey Empfindungen her - vorzubringen: ſo wie Jch in meiner Rodogune gethan habe. Das hat Corneille gethan: und die Franzoſen thun es ihm nach.

3. Ariſtoteles ſagt: durch das Mitleid und die Furcht, welche die Tragödie erweckt, ſoll unſer Mitleid und unſere Furcht, und was die - ſen anhängig, gereiniget werden. Corneille weiß davon gar nichts, und bildet ſich ein, Ari -F f 3ſto -230ſtoteles habe ſagen wollen: die Tragödie erwecke unſer Mitleid, um unſere Furcht zu erwecken, um durch dieſe Furcht die Leidenſchaften in uns zu reinigen, durch die ſich der bemitleidete Ge - genſtand ſein Unglück zugezogen. Jch will von dem Werthe dieſer Abſicht nicht ſprechen: ge - nug, daß es nicht die ariſtoteliſche iſt; und daß, da Corneille ſeinen Tragödien eine ganz andere Abſicht gab, auch nothwendig ſeine Tragödien ſelbſt ganz andere Werke werden mußten, als die waren, von welchen Ariſtoteles ſeine Abſicht abſtrahiret hatte; es mußten Tragödien werden, welches keine wahre Tragödien waren. Und daß ſind nicht allein ſeine, ſondern alle franzöſi - ſche Tragödien geworden; weil ihre Verfaſſer alle, nicht die Abſicht des Ariſtoteles, ſondern die Abſicht des Corneille, ſich vorſetzten. Jch habe ſchon geſagt, daß Dacier beide Abſichten wollte verbunden wiſſen: aber auch durch dieſe bloße Verbindung, wird die erſtere geſchwächt, und die Tragödie muß unter ihrer höchſten Wir - kung bleiben. Dazu hatte Dacier, wie ich ge - zeigt, von der erſtern nur einen ſehr unvollſtän - digen Begriff, und es war kein Wunder, wenn er ſich daher einbildete, daß die franzöſiſchen Tragödien ſeiner Zeit, noch eher die erſte, als die zweyte Abſicht erreichten. Unſere Tra - gödie, ſagt er, iſt, zu Folge jener, noch ſo ziemlich glücklich, Mitleid und Furcht zu er - wecken231 wecken und zu reinigen. Aber dieſe gelingt ihr nur ſehr ſelten, die doch gleichwohl die wichtigere iſt, und ſie reiniget die übrigen Lei - denſchaften nur ſehr wenig, oder, da ſie ge - meiniglich nichts als Liebesintriguen enthält, wenn ſie ja eine davon reinigte, ſo würde es einzig und allein die Liebe ſeyn, woraus denn klar erhellet, daß ihr Nutzen nur ſehr klein iſt. (*)(Poet. d’Ariſt. Chap. VI. Rem. 8.) Notre Tragedie peut réuſſir aſſez dans la pre - miere partie, c’eſt a dire, qu’elle peut ex - citer & purger la terreur & la compaſſion. Mais elle parvient rarement à la derniere, qui eſt pourtant la plus utile, elle purge peu les autres paſſions, ou comme elle roule ordinairement ſur des intrigues d’a - mour, ſi elle en purgeoit quelqu’une, ce ſeroit cella-la ſeule, & par la il eſt aiſé de voir q’elle ne fait que peu de fruit. ()Gerade umgekehrt! Es giebt noch eher franzöſiſche Tragödien, welche der zwey - ten, als welche der erſten Abſicht ein Genüge leiſten. Jch kenne verſchiedene franzöſiſche Stücke, welche die unglücklichen Folgen ir - gend einer Leidenſchaft recht wohl ins Licht ſetzen; aus denen man viele gute Lehren, dieſe Leidenſchaft betreffend, ziehen kann: aber ich kenne keines, welches mein Mitleid in dem Gra - de erregte, in welchem die Tragödie es erregen ſollte, in welchem ich, aus verſchiedenen grie -chi -232chiſchen und engliſchen Stücken gewiß weiß, daß ſie es erregen kann. Verſchiedene franzöſiſche Tragödien ſind ſehr feine, ſehr unterrichtende Werke, die ich alles Lobes werth halte: nur, daß es keine Tragödien ſind. Die Verfaſſer derſelben konnten nicht anders, als ſehr gute Köpfe ſeyn; ſie verdienen, zum Theil, unter den Dichtern keinen geringen Rang: nur daß ſie keine tragiſche Dichter ſind; nur daß ihr Corneille und Racine, ihr Crebillon und Vol - taire von dem wenig oder gar nichts haben, was den Sophokles zum Sophokles, den Eu - ripides zum Euripides, den Shakeſpear zum Shakeſpear macht. Dieſe ſind ſelten mit den weſentlichen Foderungen des Ariſtoteles im Wi - derſpruch: aber jene deſto öfterer. Denn nur weiter

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Hamburgiſche Dramaturgie. Zwey und achtzigſtes Stück.

4. Ariſtoteles ſagt: man muß keinen ganz guten Mann, ohne alle ſein Verſchul - den, in der Tragödie unglücklich wer - den laſſen; denn ſo was ſey gräßlich. Ganz recht, ſagt Corneille; ein ſolcher Ausgang er - weckt mehr Unwillen und Haß gegen den, wel - cher das Leiden verurſacht, als Mitleid für den, welchen es trift. Jene Empfindung alſo, welche nicht die eigentliche Wirkung der Tra - gödie ſeyn ſoll, würde, wenn ſie nicht ſehr fein behandelt wäre, dieſe erſticken, die doch eigent - lich hervorgebracht werden ſollte. Der Zu - ſchauer würde mißvergnügt weggehen, weil ſich allzuviel Zorn mit dem Mitleiden ver - miſcht, welches ihm gefallen hätte, wenn er es allein mit wegnehmen können. Aber kömmt Corneille hinten nach; denn mit einem Aber muß er nachkommen, aber, wenn dieſe Ur -G g ſache234 ſache wegfällt, wenn es der Dichter ſo einge - richtet, daß der Tugendhafte, welcher leidet, mehr Mitleid für ſich, als Widerwillen gegen den erweckt, der ihn leiden läßt: alsdenn? O alsdenn, ſagt Corneille, halte ich dafür, darf man ſich gar kein Bedenken machen, auch den tugendhafteſten Mann auf dem Theater im Unglücke zu zeigen. (*)J’eſtime qu’il ne faut point faire de diffi - culté d’expoſer ſur la ſcene des hommes tres vertueux. () Jch begreife nicht, wie man gegen einen Philoſophen ſo in den Tag hineinſchwatzen kann; wie man ſich das Anſe - hen geben kann, ihn zu verſtehen, indem man ihn Dinge ſagen läßt, an die er nie gedacht hat. Das gänzlich unverſchuldete Unglück eines rechtſchaffenen Mannes, ſagt Ariſtoteles, iſt kein Stoff für das Trauerſpiel; denn es iſt gräßlich. Aus dieſem Denn, aus dieſer Ur - ſache, macht Corneille ein Jnſofern, eine bloße Bedingung, unter welcher es tragiſch zu ſeyn aufhört. Ariſtoteles ſagt: es iſt durchaus gräßlich, und eben daher untragiſch. Cor - neille aber ſagt: es iſt untragiſch, inſofern es gräßlich iſt. Dieſes Gräßliche findet Ariſtote - les in dieſer Art des Unglückes ſelbſt: Corneille aber ſetzt es in den Unwillen, den es gegen den Urheber deſſelben verurſacht. Er ſieht nicht, oder will nicht ſehen, daß jenes Gräßliche ganzetwas235etwas anders iſt, als dieſer Unwille; daß wenn auch dieſer ganz wegfällt, jenes doch noch in ſei - nem vollen Maaße vorhanden ſeyn kann: ge - nug, daß vors erſte mit dieſem Quid pro quo verſchiedene von ſeinen Stücken gerechtfertiget ſcheinen, die er ſo wenig wider die Regeln des Ariſtoteles will gemacht haben, daß er vielmehr vermeſſen genug iſt, ſich einzubilden, es habe dem Ariſtoteles blos an dergleichen Stücken ge - fehlt, um ſeine Lehre darnach näher einzuſchrän - ken, und verſchiedene Manieren daraus zu ab - ſtrahiren, wie dem ohngeachtet das Unglück des ganz rechtſchaffenen Mannes ein tragiſcher Ge - genſtand werden könne. En voici, ſagt er, deux ou trois manières, que peut-ètre Ariſtote n’a ſû prevoir, parce qu’on n’en voyoit pas d’exemples ſur les théatres de ſon tems. Und von wem ſind dieſe Exempel? Von wem anders, als von ihm ſelbſt? Und welches ſind jene zwey oder drey Manieren? Wir wollen geſchwind ſehen. Die erſte, ſagt er, iſt, wenn ein ſehr Tugendhafter durch einen ſehr Laſterhaften verfolgt wird, der Ge - fahr aber entkömmt, und ſo, daß der Laſter - hafte ſich ſelbſt darinn verſtricket, wie es in der Rodogune und im Heraklius geſchiehet, wo es ganz unerträglich würde geweſen ſeyn, wenn in dem erſten Stücke Antiochus und Ro - dogune, und in dem andern Heraklius, Pul -G g 2 cheria236 cheria und Martian umgekommen wären, Cleo - patra und Phokas aber triumphiret hätten. Das Unglück der erſtern erweckt ein Mitleid, welches durch den Abſchen, den wir wider ihre Verfolger haben, nicht erſtickt wird, weil man beſtändig hoft, daß ſich irgend ein glück - licher Zufall eräugnen werde, der ſie nicht un - terliegen laſſe. Das mag Corneille ſonſt jemanden weiß machen, daß Ariſtoteles dieſe Manier nicht gekannt habe! Er hat ſie ſo wohl gekannt, daß er ſie, wo nicht gänzlich verwor - fen, wenigſtens mit ausdrücklichen Worten für angemeſſener der Komödie als Tragödie erklärt hat. Wie war es möglich, daß Corneille die - ſes vergeſſen hatte? Aber ſo geht es allen, die im voraus ihre Sache zu der Sache der Wahr - heit machen. Jm Grunde gehört dieſe Manier auch gar nicht zu dem vorhabenden Falle. Denn nach ihr wird der Tugendhafte nicht un - glücklich, ſondern befindet ſich nur auf dem Wege zum Unglücke; welches gar wohl mitlei - dige Beſorgniſſe für ihn erregen kann, ohne gräßlich zu ſeyn. Nun, die zweyte Manier! Auch kann es ſich zutragen, ſagt Corneille, daß ein ſehr tugendhafter Mann verfolgt wird, und auf Befehl eines andern umkömmt, der nicht laſterhaft genug iſt, unſern Unwillen allzuſehr zu verdienen, indem er in der Ver - folgung, die er wider den Tugendhaften betrei - bet,237 bet, mehr Schwachheit als Bosheit zeiget. Wenn Felix ſeinem Eidam Polyeukt umkom - men läßt, ſo iſt es nicht aus wüthendem Eifer gegen die Chriſten, der ihn uns verabſcheu - ungswürdig machen würde, ſondern blos aus kriechender Furchtſamkeit, die ſich nicht ge - trauet, ihn in Gegenwart des Severus zu retten, vor deſſen Haſſe und Rache er in Sor - gen ſtehet. Man faſſet alſo wohl einigen Un - willen gegen ihn, und mißbilliget ſein Ver - fahren; doch überwiegt dieſer Unwille nicht das Mitleid, welches wir für den Polyeukt empfinden, und verhindert auch nicht, daß ihn ſeine wunderbare Bekehrung, zum Schluſſe des Stücks, nicht völlig wieder mit den Zu - hörern ausſöhnen ſollte. Tragiſche Stümper, denke ich, hat es wohl zu allen Zeiten, und ſelbſt in Athen gegeben. Warum ſollte es alſo dem Ariſtoteles an einem Stücke, von ähnli - cher Einrichtung, gefehlt haben, um daraus eben ſo erleuchtet zu werden, als Corneille? Poſſen! Die furchtſamen, ſchwanken, unent - ſchloſſenen Charaktere, wie Felix, ſind in der - gleichen Stücken ein Fehler mehr, und machen ſie noch oben darein ihrer Seits kalt und eckel, ohne ſie auf der andern Seite im geringſten we - niger gräßlich zu machen. Denn, wie geſagt, das Gräßliche liegt nicht in dem Unwillen oder Abſcheu, den ſie erwecken: ſondern in dem Un -G g 3glücke238glücke ſelbſt, das jene unverſchuldet trift; daß ſie einmal ſo unverſchuldet trift als das andere, ihre Verfolger mögen böſe oder ſchwach ſeyn, mögen mit oder ohne Vorſatz ihnen ſo hart fal - len. Der Gedanke iſt an und für ſich ſelbſt gräßlich, daß es Menſchen geben kann, die ohne alle ihr Verſchulden unglücklich ſind. Die Heiden hätten dieſen gräßlichen Gedanken ſo weit von ſich zu entfernen geſucht, als möglich: und wir wollten ihn nähren? wir wollten uns an Schauſpielen vergnügen, die ihn beſtätigen? wir? die Religion und Vernunft überzeuget haben ſollte, daß er eben ſo unrichtig als got - tesläſterlich iſt? Das nehmliche würde ſicher - lich auch gegen die dritte Manier gelten; wenn ſie Corneille nicht ſelbſt näher anzugeben, ver - geſſen hätte.

5. Auch gegen das, was Ariſtoteles von der Unſchicklichkeit eines ganz Laſterhaften zum tra - giſchen Helden ſagt, als deſſen Unglück weder Mitleid noch Furcht erregen könne, bringt Cor - neille ſeine Läuterungen bey. Mitleid zwar, geſteht er zu, könne er nicht erregen; aber Furcht allerdings. Denn ob ſich ſchon keiner von den Zuſchauern der Laſter deſſelben fähig glaube, und folglich auch deſſelben ganzes Unglück nicht zu befürchten habe: ſo könne doch ein jeder ir - gend eine jenen Laſtern ähnliche Unvollkommen - heit bey ſich hegen, und durch die Furcht vorden239den zwar proportionirten, aber doch noch immer unglücklichen Folgen derſelben, gegen ſie auf ſeiner Hut zu ſeyn lernen. Doch dieſes gründet ſich auf den falſchen Begriff, welchen Corneille von der Furcht und von der Reinigung der in der Tragödie zu erweckenden Leidenſchaften hat - te, und widerſpricht ſich ſelbſt. Denn ich habe ſchon gezeigt, daß die Erregung des Mitleids von der Erregung der Furcht unzertrennlich iſt, und daß der Böſewicht, wenn es möglich wäre, daß er unſere Furcht erregen könne, auch noth - wendig unſer Mitleid erregen müßte. Da er aber dieſes, wie Corneille ſelbſt zugeſteht, nicht kann, ſo kann er auch jenes nicht, und bleibt gänzlich ungeſchickt, die Abſicht der Tragödie erreichen zu helfen. Ja Ariſtoteles hält ihn hierzu noch für ungeſchickter, als den ganz tu - gendhaften Mann; denn er will ausdrücklich, Falls man den Held aus der mittlern Gattung nicht haben könne, daß man ihn eher beſſer als ſchlimmer wählen ſolle. Die Urſache iſt klar: ein Menſch kann ſehr ſehr gut ſeyn, und doch noch mehr als eine Schwachheit haben, mehr als einen Fehler begehen, wodurch er ſich in ein un - abſehliches Unglück ſtürzet, das uns mit Mit - leid und Wehmuth erfüllet, ohne im geringſten gräßlich zu ſeyn, weil es die natürliche Folge ſeines Fehlers iſt. Was Du Bos(*)Reflexions cr. T. I. Sect. XV. vondem240dem Gebrauche der laſterhaften Perſonen in der Tragödie ſagt, iſt das nicht, was Corneille will. Du Bos will ſie nur zu den Nebenrol - len erlauben; blos zu Werkzeugen, die Haupt - perſonen weniger ſchuldig zu machen; blos zur Abſtechung. Corneille aber will das vornehm - ſte Jntereſſe auf ſie beruhen laſſen, ſo wie in der Rodogune: und das iſt es eigentlich, was mit der Abſicht der Tragödie ſtreitet, und nicht jenes. Du Bos merket dabey auch ſehr richtig an, daß das Unglück dieſer ſubalternen Böſe - wichter keinen Eindruck auf uns mache. Kaum, ſagt er, daß man den Tod des Narciß im Bri - tannicus bemerkt. Aber alſo ſollte ſich der Dichter, auch ſchon deswegen, ihrer ſo viel als möglich enthalten. Denn wenn ihr Unglück die Abſicht der Tragödie nicht unmittelbar beför - dert, wenn ſie bloße Hülfsmittel ſind, durch die ſie der Dichter deſto beſſer mit andern Per - ſonen zu erreichen ſucht: ſo iſt es unſtreitig, daß das Stück noch beſſer ſeyn würde, wenn es die nehmliche Wirkung ohne ſie hätte. Je ſimpler eine Maſchine iſt, je weniger Federn und Räder und Gewichte ſie hat, deſto vollkommener iſt ſie.

Ham -[241]

Hamburgiſche Dramaturgie. Drey und achtzigſtes Stück.

6. Und endlich, die Mißdeutung der erſten und weſentlichſten Eigenſchaft, welche Ariſtoteles für die Sitten der tragiſchen Perſonen fodert! Sie ſollen gut ſeyn, die Sit - ten. Gut? ſagt Corneille. Wenn gut hier ſo viel als tugendhaft heiſſen ſoll: ſo wird es mit den meiſten alten und neuen Tragödien übel ausſehen, in welchen ſchlechte und laſterhafte, wenigſtens mit einer Schwachheit, die nächſt der Tugend ſo recht nicht beſtehen kann, behaf - tete Perſonen genug vorkommen. Beſonders iſt ihm für ſeine Cleopatra in der Rodogune bange. Die Güte, welche Ariſtoteles fodert, will er alſo durchaus für keine moraliſche Güte gelten laſſen; es muß eine andere Art von Güte ſeyn, die ſich mit dem moraliſch Böſen eben ſo wohl verträgt, als mit dem moraliſch Guten. Gleichwohl meinet Ariſtoteles ſchlechterdingsH heine242eine moraliſche Güte: nur daß ihm tugendhaf - te Perſonen, und Perſonen, welche in gewiſſen Umſtänden tugendhafte Sitten zeigen, nicht ei - nerley ſind. Kurz, Corneille verbindet eine ganz falſche Jdee mit dem Worte Sitten, und was die Proäreſis iſt, durch welche allein, nach unſerm Weltweiſen, freye Handlungen zu guten oder böſen Sitten werden, hat er gar nicht ver - ſtanden. Jch kann mich itzt nicht in einen weit - läuftigen Beweis einlaſſen; er läßt ſich nur durch den Zuſammenhang, durch die ſyllogiſti - ſche Folge aller Jdeen des griechiſchen Kunſt - richters, einleuchtend genug führen. Jch ver - ſpare ihn daher auf eine andere Gelegenheit, da es bey dieſer ohnedem nur darauf ankömmt, zu zeigen, was für einen unglücklichen Ausweg Corneille, bey Verfehlung des richtigen Weges, ergriffen. Dieſer Ausweg lief dahin: daß Ari - ſtoteles unter der Güte der Sitten den glänzen - den und erhabnen Charakter irgend einer tugend - haften oder ſtrafbaren Neigung verſtehe, ſo wie ſie der eingeführten Perſon entweder eigenthüm - lich zukomme, oder ihr ſchicklich beygeleget werden könne: le caractere brillant & éle - d’une habitude vertueuſe ou crimi - nelle, ſelon qu’elle eſt propre & conve - nable à la perſonne qu’on introduit. Clcopatra in der Rodogune, ſagt er, iſt äuſ - ſerſt böſe; da iſt kein Meuchelmord, vor dem ſie243 ſie ſich ſcheue, wenn er ſie nur auf dem Throne zu erhalten vermag, den ſie allem in der Welt vorzieht; ſo heftig iſt ihre Herrſchſucht. Aber alle ihre Verbrechen ſind mit einer gewiſſen Größe der Seele verbunden, die ſo etwas Er - habenes hat, daß man, indem man ihre Hand - lungen verdammet, doch die Quelle, woraus ſie entſpringen, bewundern muß. Eben die - ſes getraue ich mir von dem Lügner zu ſagen. Das Lügen iſt unſtreitig eine laſterhafte Ange - wohnheit; allein Dorant bringt ſeine Lügen mit einer ſolchen Gegenwart des Geiſtes, mit ſo vieler Lebhaftigkeit vor, daß dieſe Unvoll - kommenheit ihm ordentlich wohl läßt, und die Zuſchauer geſtehen müſſen, daß die Gabe ſo zu lügen ein Laſter ſey, deſſen kein Dummkopf fähig iſt. Wahrlich, einen verderblichern Einfall hätte Corneille nicht haben können! Befolget ihn in der Ausführung, und es iſt um alle Wahrheit, um alle Täuſchung, um allen ſittlichen Nutzen der Tragödie gethan! Denn die Tugend, die immer beſcheiden und einfältig iſt, wird durch jenen glänzenden Charakter eitel und romantiſch: das Laſter aber, mit einem Firniß überzogen, der uns überall blendet, wir mögen es aus einem Geſichtspunkte nehmen, aus welchem wir wollen. Thorheit, bloß durch die unglücklichen Folgen von dem Laſter abſchre - cken wollen, indem man die innere HäßlichkeitH h 2deſſel -244deſſelben verbirgt! Die Folgen ſind zufällig; und die Erfahrung lehrt, daß ſie eben ſo oft glück - lich als unglücklich fallen. Dieſes bezieht ſich auf die Reinigung der Leidenſchaften, wie ſie Corneille ſich dachte. Wie ich mir ſie vorſtelle, wie ſie Ariſtoteles gelehrt hat, iſt ſie vollends nicht mit jenem trügeriſchen Glanze zu verbin - den. Die falſche Folie, die ſo dem Laſter un - tergelegt wird, macht daß ich Vollkommenheiten erkenne, wo keine ſind; macht, daß ich Mitt - leiden habe, wo ich keines haben ſollte. Zwar hat ſchon Dacier dieſer Erklärung widerſpro - chen, aber aus untriftigern Gründen; und es fehlt nicht viel, daß die, welche er mit dem Pater Le Boſſu dafür annimmt, nicht eben ſo nachtheilig iſt, wenigſtens den poetiſchen Voll - kommenheiten des Stücks eben ſo nachtheilig werden kann. Er meinet nehmlich, die Sit - ten ſollen gut ſeyn, heiſſe nichts mehr als, ſie ſollen gut ausgedrückt ſeyn, qu’elles ſoient bien marquées. Das iſt allerdings eine Re - gel, die, richtig verſtanden, an ihrer Stelle, aller Aufmerkſamkeit des dramatiſchen Dichters würdig iſt. Aber wenn es die franzöſiſchen Muſter nur nicht bewieſen, daß man gut aus - drücken für ſtark ausdrücken genommen hätte. Man hat den Ausdruck überladen, man hat Druck auf Druck geſetzt, bis aus charakte - riſirten Perſonen, perſonifirte Charaktere; auslaſter -245laſterhaften oder tugendhaften Menſchen, hage - re Gerippe von Laſtern und Tugenden gewor - den ſind.

Hier will ich dieſe Materie abbrechen. Wer ihr gewachſen iſt, mag die Anwendung auf un - ſern Richard, ſelbſt machen.

Vom Herzog Michel, welcher auf den Ri - chard folgte, brauche ich wohl nichts zu ſagen. Auf welchem Theater wird er nicht geſpielt, und wer hat ihn nicht geſehen oder geleſen? Krüger hat indeß das wenigſte Verdienſt darum; denn er iſt ganz aus einer Erzehlung in den Bremi - ſchen Beyträgen genommen. Die vielen guten ſatyriſchen Züge, die er enthält, gehören jenem Dichter, ſo wie der ganze Verfolg der Fabel. Krügern gehört nichts, als die dramatiſche Form. Doch hat wirklich unſere Bühne an Krügern viel verloren. Er hatte Talent zum niedrig Komiſchen, wie ſeine Candidaten be - weiſen. Wo er aber rührend und edel ſeyn will, iſt er froſtig und affectirt. Hr. Löwen hat ſeine Schriften geſammelt, unter welchen man jedoch die Geiſtlichen auf dem Lande vermißt. Dieſes war der erſte dramatiſche Verſuch, wel - chen Krüger wagte, als er noch auf dem Grauen Kloſter in Berlin ſtudierte.

Den neun und vierzigſten Abend, (Donner - ſtags, den 23ſten Julius) ward das LuſtſpielH h 3des246des Hrn. von Voltaire, die Frau die Recht hat, geſpielt, und zum Beſchluße des L’Affichard Jſt er von Familie?(*)S. den 17ten Abend Seite 131. wiederholt.

Die Frau, die Recht hat, iſt eines von den Stücken, welche der Hr. von Voltaire für ſein Haustheater gemacht hat. Dafür war es nun auch gut genug. Es iſt ſchon 1758 zu Carouge geſpielt worden: aber noch nicht zu Paris; ſo viel ich weiß. Nicht als ob ſie da, ſeit der Zeit, keine ſchlechtern Stücke geſpielt hätten: denn dafür haben die Marins und Le Brets wohl geſorgt. Sondern weil ich weiß ſelbſt nicht. Denn ich wenigſtens möchte doch noch lieber ein großen Mann in ſeinem Schlafrocke und ſeiner Nachtmütze, als einen Stümper in ſeinem Fey - erkleide ſehen.

Charaktere und Jntereſſe hat das Stück nicht; aber verſchiedne Situationen, die komiſch ge - nug ſind. Zwar iſt auch das Komiſche aus dem allergemeinſten Fache, da es ſich auf nichts als aufs Jncognito, auf Verkennungen und Miß - verſtändniſſe gründet. Doch die Lacher ſind nicht eckel; am wenigſten würden es unſre deut - ſchen Lacher ſeyn, wenn ihnen das reinde der Sitten und die elende Ueberſetzung das mot pour rire nur nicht meiſtens ſo unverſtänd - lich machte.

Den247

Den funfzigſten Abend (Freytags den 24ten Julius) ward Greſſets Sidney wiederhohlt. Den Beſchluß machte, der ſehende Blinde.

Dieſes kleine Stück iſt vom Le Grand, und auch nicht von ihm. Denn er hat Titel und Jn - trigue und alles, einem alten Stücke des de Broſ - ſe abgeborgt. Ein Officier, ſchon etwas bey Jahren, will eine junge Wittwe heyrathen, in die er verliebt iſt, als er Ordre bekömmt, ſich zur Armee zu verfügen. Er verläßt ſein Ver - ſprochene, mit den wechſelſeitigen Verſicherungen der aufrichtigſten Zärtlichkeit. Kaum aber iſt er weg, ſo nimmt die Wittwe die Aufwartun - gen des Sohnes von dieſem Officiere an. Die Tochter deſſelben macht ſich gleichergeſtalt die Abweſenheit ihres Vaters zu Nutze, und nimmt einen jungen Menſchen, den ſie liebt, im Hauſe auf. Dieſe doppelte Jntrigue wird dem Vater gemeldet, der, um ſich ſelbſt davon zu überzeugen, ihnen ſchreiben läßt, daß er ſein Geſicht verlohren habe. Die Liſt gelingt; er kömmt wieder nach Paris, und mit Hülfe eines Bedienten, der um den Betrug weiß, ſieht er alles, was in ſeinem Hauſe vorgeht. Die Ent - wicklung läßt ſich errathen; da der Officier an der Unbeſtändigkeit der Wittwe nicht länger zweifeln kann, ſo erlaubt er ſeinem Sohne, ſie zu heyrathen, und der Tochter giebt er die nehm - liche Erlaubniß, ſich mit ihrem Geliebten zu ver -bin -248binden. Die Scenen zwiſchen der Wittwe und dem Sohn des Officiers, in Gegenwart des letzten, haben viel Komiſches; die Wittwe ver - ſichert, daß ihr der Zufall des Officiers ſehr na - he gehe, daß ſie ihn aber darum nicht weniger liebe; und zugleich giebt ſie ſeinem Sohn, ih - rem Liebhaber, einen Wink mit den Augen, oder bezeigt ihm ſonſt ihre Zärtlichkeit durch Ge - behrden. Das iſt der Jnhalt des alten Stücks vom de Broſſe,(*)Hiſt. du Th. Fr. Tome VII. p. 226. und iſt auch der Jnhalt von dem neuen Stücke des Le Grand. Nur daß in dieſem die Jntrigue mit der Tochter weg - geblieben iſt, um jene fünf Akte deſto leichter in Einen zu bringen. Aus dem Vater iſt ein Onkel geworden, und was ſonſt dergleichen klei - ne Veränderungen mehr ſind. Es mag end - lich entſtanden ſeyn wie es will; gnug, es ge - fällt ſehr. Die Ueberſetzung iſt in Verſen, und vielleicht eine von den beſten die wir haben; ſie iſt wenigſtens ſehr flieſſend, und hat viele drolli - ge Zeilen.

Ham -[249]

Hamburgiſche Dramaturgie. Vier und achtzigſtes Stück.

Den ein und funfzigſten Abend (Montags, den 27ſten Julius,) ward der Hausvater des Hrn. Diderot aufgeführt.

Da dieſes vortreffliche Stück, welches den Franzoſen nur ſo ſo gefällt, wenigſtens hat es mit Müh und Noth kaum ein oder zweymal auf dem Pariſer Theater erſcheinen dürfen, ſich, allem Anſehen nach, lange, ſehr lange, und warum nicht immer? auf unſern Bühnen erhalten wird; da es auch hier nicht oft genug wird können geſpielt werden: ſo hoffe ich, Raum und Gelegenheit genug zu haben, alles auszu - kramen, was ich ſowohl über das Stück ſelbſt, als über das ganze dramatiſche Syſtem des Verfaſſers, von Zeit zu Zeit angemerkt habe.

Jch hohle recht weit aus. Nicht erſt mit dem natürlichen Sohne, in den beygefügten Un - terredungen, welche zuſammen im Jahre 1757J iheraus -250herauskamen, hat Diderot ſein Mißvergnügen mit dem Theater ſeiner Nation geäußert. Be - reits verſchiedne Jahre vorher ließ er es ſich merken, daß er die hohen Begriffe gar nicht da - von habe, mit welchen ſich ſeine Landsleute täu - ſchen, und Europa ſich von ihnen täuſchen laſ - ſen. Aber er that es in einem Buche, in wel - chem man freylich dergleichen Dinge nicht ſucht; in einem Buche, in welchem der perſifflirende Ton ſo herrſchet, daß den meiſten Leſern auch das, was guter geſunder Verſtand darinn iſt, nichts als Poſſe und Höhnerey zu ſeyn ſcheinet. Ohne Zweifel hatte Diderot ſeine Urſachen, warum er mit ſeiner Herzensmeinung lieber erſt in einem ſolchen Buche hervorkommen wollte: ein kluger Mann ſagt öfters erſt mit Lachen, was er hernach im Ernſte wiederholen will.

Dieſes Buch heißt Les Bijoux indiſcrets, und Diderot will es itzt durchaus nicht geſchrie - ben haben. Daran thut Diderot auch ſehr wohl; aber doch hat er es geſchrieben, und muß es geſchrieben haben, wenn er nicht ein Plagia - rius ſeyn will. Auch iſt es gewiß, daß nur ein ſolcher junger Mann dieſes Buch ſchreiben konnte, der ſich einmal ſchämen würde, es ge - ſchrieben zu haben.

Es iſt eben ſo gut, wenn die wenigſten von meinen Leſern dieſes Buch kennen. Jch will mich auch wohl hüten, es ihnen weiter bekanntzu251zu machen, als es hier in meinen Kram die - net.

Ein Kayſer was weiß ich, wo und wel - cher? hatte mit einem gewiſſen magiſchen Ringe gewiſſe Kleinode ſo viel häßliches Zeug ſchwatzen laſſen, daß ſeine Favoritinn durchaus nichts mehr davon hören wollte. Sie hätte lie - ber gar mit ihrem ganzen Geſchlechte darüber brechen mögen; wenigſten nahm ſie ſich auf die erſten vierzehn Tage vor, ihren Umgang einzig auf des Sultans Majeſtät und ein Paar witzige Köpfe einzuſchränken. Dieſe waren, Selim und Riccaric: Selim, ein Hofmann; und Ric - carie, ein Mitglied der Kayſerlichen Akademie, ein Mann, der das Alterthum ſtudiret hatte und ein großer Verehrer deſſelben war, doch ohne Pe - dant zu ſeyn. Mit dieſen unterhält ſich die Fa - voritinn einsmals, und das Geſpräch fällt auf den elenden Ton der akademiſchen Reden, über den ſich niemand mehr ereifert als der Sultan ſelbſt, weil es ihn verdrießt, ſich nur immer auf Unkoſten ſeines Vaters und ſeiner Vorfah - ren darinn loben zu hören, und er wohl voraus - ſieht, daß die Akademie eben ſo auch ſeinen Ruhm einmal dem Ruhme ſeiner Nachfolger aufopfern werde. Selim, als Hofmann, war dem Sultan in allem beygefallen: und ſo ſpinnt ſich die Unterredung über das Theater an, die ich meinen Leſern hier ganz mittheile.

J i 2 Jch252

Jch glaube, Sie irren ſich, mein Herr: antwortete Ricaric dem Selim. Die Akade - mie iſt noch itzt das Heiligthum des guten Ge - ſchmacks, und ihre ſchönſten Tage haben we - der Weltweiſe noch Dichter auf zu weiſen, de - nen wir nicht andere aus unſerer Zeit entgegen ſetzen könnten. Unſer Theater ward für das erſte Theater in ganz Afrika gehalten, und wird noch dafür gehalten. Welch ein Werk iſt nicht der Tamerlan des Tuxigraphe! Es verbindet das Pathetiſche des Euriſope mit dem Erhabnen des Azophe. Es iſt das klare Al - terthum!

Jch habe, ſagte die Favoritinn, die erſte Vorſtellung des Tamerlans geſehen, und gleichfalls den Faden des Stücks ſehr richtig geführet, den Dialog ſehr zierlich, und das Anſtändige ſehr wohl beobachtet gefunden.

Welcher Unterſchied, Madam, unterbrach ſie Ricaric, zwiſchen einem Verfaſſer wie Tuxigraphe, der ſich durch Leſung der Alten genähret, und dem größten Theile unſrer Neuern!

Aber dieſe Neuern, ſagte Selim, die Sie hier ſo wacker über die Klinge ſpringen laſſen, ſind doch bey weitem ſo verächtlich nicht, als Sie vorgeben. Oder wie? finden Sie kein Genie, keine Erfindung, kein Feuer, keine Charaktere, keine Schilderungen, keine Tira - den253 den bey ihnen? Was bekümmere ich mich um Regeln, wenn man mir nur Vergnügen macht? Es ſind wahrlich nicht die Bemerkungen des weiſen Almudir und des gelehrten Abdaldok, noch die Dichtkunſt des ſcharfſinnigen Facar - din, die ich alle nicht geleſen habe, welche es machen, daß ich die Stücke des Aboulcazem, des Muhardar, des Albaboukre, und ſo vieler andren Saracenen bewundrer! Giebt es denn auch eine andere Regel, als die Nachahmung der Natur? Und haben wir nicht eben die Augen, mit welchen dieſe ſie ſtudierten?

Die Natur, antwortete Ricaric, zeiget ſich uns alle Augenblicke in verſchiednen Geſtalten. Alle ſind wahr, aber nicht alle ſind gleich ſchön. Eine gute Wahl darunter zu treffen, das müſſen wir aus den Werken lernen, von welchen Sie eben nicht viel zu halten ſcheinen. Es ſind die geſammelten Erfahrungen, welche ihre Ver - faſſer und deren Vorgänger gemacht haben. Man mag ein noch ſo vortrefflicher Kopf ſeyn, ſo erlangt man doch nur ſeine Einſichten eine nach der andern; und ein einzelner Menſch ſchmeichelt ſich vergebens, in dem kurzen Rau - me ſeines Lebens, alles ſelbſt zu bemerken, was in ſo vielen Jahrhunderten vor ihm ent - deckt worden. Sonſt lieſſe ſich behaupten, daß eine Wiſſenſchaft ihren Urſprung, ihren Fort - gang, und ihre Vollkommenheit einem einzigenJ i 3 Geiſte254 Geiſte zu verdanken haben könne; welches doch wider alle Erfahrung iſt.

Hieraus, mein Herr, antwortete ihm Se - lim, folget weiter nichts, als daß die Neuern, welche ſich alle die Schätze zu Nutze machen können, die bis auf ihre Zeit geſammelt worden, reicher ſeyn müſſen, als die Alten: oder, wenn ihnen dieſe Vergleichung nicht gefällt, daß ſie auf den Schultern dieſer Koloſſen, auf die ſie ge - ſtiegen, nothwendig müſſen weiter ſehen kön - nen, als dieſe ſelbſt. Was iſt auch, in der That, ihre Naturlehre, ihre Aſtronomie, ihre Schiffskunſt, ihre Mechanik, ihre Rechenleh - re, in Vergleichung mit unſern? Warum ſollten wir ihnen alſo in der Beredſamkeit und Poeſie nicht eben ſo wohl überlegen ſeyn?

Selim, verſetzte die Sultane, der Unter - ſchied iſt groß, und Ricaric kann Jhnen die Ur - ſachen davon ein andermal erklären. Er mag Jhnen ſagen, warum unſere Tragödien ſchlech - ter ſind, als der Alten ihre: aber daß ſie es ſind, kann ich leicht ſelbſt auf mich nehmen, Jhnen zu beweiſen. Jch will Jhnen nicht Schuld geben, fuhr ſie fort, daß Sie die Al - ten nicht geleſen haben. Sie haben ſich um zu viele ſchöne Kenntniſſe beworben, als daß Jhnen das Theater der Alten unbekannt ſeyn ſollte. Nun ſetzen Sie gewiſſe Jdeen, die ſich auf ihre Gebräuche, auf ihre Sitten, auf ihre255 ihre Religion beziehen, und die Jhnen nur deswegen anſtößig ſind, weil ſich die Umſtände geändert haben, bey Seite, und ſagen Sie mir, ob ihr Stoff nicht immer edel, wohlge - wählt und intereſſant iſt? ob ſich die Hand - lung nicht gleichſam von ſelbſt einleitet? ob der ſimple Dialog dem Natürlichen nicht ſehr nahe kömmt? ob die Entwicklungen im gering - ſten gezwungen ſind? ob ſich das Jntereſſe wohl theilt, und die Handlung mit Epiſoden überladen iſt? Verſetzen Sie ſich in Gedanken in die Jnſel Alindala; unterſuchen Sie alles, was da vorgieng, hören Sie alles, was von dem Augenblicke an, als der junge Jbrahim und der verſchlagne Forfanti ans Land ſtiegen, da geſagt ward; nähern Sie ſich der Höhle des unglücklichen Polipſile; verlieren Sie kein Wort von ſeinen Klagen, und ſagen Sie mir, ob das geringſte vorkömmt, was Sie in der Täuſchung ſtören könnte? Nennen Sie mir ein einziges neueres Stück, welches die nehm - liche Prüfung aushalten, welches auf den nehmlichen Grad der Vollkommenheit An - ſpruch machen kann: und Sie ſollen gewonnen haben.

Beym Brama! rief der Sultan und gähn - te; Madame hat uns da eine vortreffliche aka - demiſche Vorleſung gehalten!

Jch256

Jch verſtehe die Regeln nicht, fuhr die Fa - voritinn fort, und noch weniger die gelehrten Worte, in welchen man ſie abgefaßt hat. Aber ich weiß, daß nur das Wahre gefällt und rühret. Jch weiß auch, daß die Vollkom - menheit eines Schauſpiels in der ſo genauen Nachahmung einer Handlung beſtehet, daß der ohne Unterbrechung betrogne Zuſchauer bey der Handlung ſelbſt gegenwärtig zu ſeyn glaubt. Findet ſich aber in den Tragödien, die Sie uns ſo rühmen, nur das geringſte, was dieſem ähnlich ſähe?

Ham -[257]

Hamburgiſche Dramaturgie. Fünf und achtzigſtes Stück.

Wollen Sie den Verlauf darinn loben? Er iſt meiſtens ſo vielfach und verwickelt, daß es ein Wunder ſeyn würde, wenn wirklich ſo viel Dinge in ſo kurzer Zeit geſchehen wären. Der Untergang oder die Erhaltung ei - nes Reichs, die Heyrath einer Prinzeßinn, der Fall eines Prinzen, alles das geſchieht ſo ge - ſchwind, wie man eine Hand umwendet. Kömmt es auf eine Verſchwörung an? im erſten Akte wird ſie entworfen; im zweyten iſt ſie beyſam̃en; im dritten werden alle Maaßregeln genommen, alle Hinderniſſe gehoben, und die Verſchwornen halten ſich fertig; mit nächſtem wird es einen Aufſtand ſetzen, wird es zum Treffen kommen, wohl gar zu einer förmlichen Schlacht. Und das alles nennen Sie gut geführt, intereſſant, warm, wahrſcheinlich? Jhnen kann ich nun ſo etwas am wenigſten vergeben, der Sie wiſ -K k ſen,258 ſen, wie viel es oft koſtet, die allerelendeſte Jntrigue zu Stande zu bringen, und wie viel Zeit bey der kleinſten politiſchen Angelegenheit auf Einleitungen, auf Beſprechungen und Berathſchlagungen geht.

Es iſt wahr, Madame, antwortete Selim, unſere Stücke ſind ein wenig überladen; aber das iſt ein nothwendiges Uebel; ohne Hülfe der Epiſoden würden wir uns vor Froſt nicht zu laſſen wiſſen.

Das iſt: um der Nachahmung einer Hand - lung Feuer und Geiſt zu geben, muß man die Handlung weder ſo vorſtellen, wie ſie iſt, noch ſo, wie ſie ſeyn ſollte. Kann etwas lächerli - cheres gedacht werden? Schwerlich wohl; es wäre denn etwa dieſes, daß man die Geigen ein lebhaftes Stück, eine muntere Sonate ſpie - len läßt, während daß die Zuhörer um den Prinzen bekümmert ſeyn ſollen, der auf dem Punkte iſt, ſeine Geliebte, ſeinen Thron und ſein Leben zu verlieren.

Madame, ſagte Mongogul, Sie haben vollkommen Recht; traurige Arien müßte man indeß ſpielen, und ich will Jhnen gleich einige beſtellen gehen. Hiermit ſtand er auf, und gieng heraus, und Selim, Riccaric und die Favoritinn ſetzten die Unterredung unter ſich fort.

We -259

Wenigſtens, Madame, erwiederte Selim, werden Sie nicht leugnen, daß, wenn die Epi - ſoden uns aus der Täuſchung heraus bringen, der Dialog uns wieder herein ſetzt. Jch wüßte nicht, wer das beſſer verſtünde, als un - ſere tragiſche Dichter.

Nun ſo verſteht es durchaus niemand, ant - wortete Mirzoza. Das Geſuchte, das Witzi - ge, das Spielende, das darinn herrſcht, iſt tauſend und tauſend Meilen von der Natur entfernt. Umſonſt ſucht ſich der Verfaſſer zu verſtecken; er entgeht meinen Augen nicht, und ich erblicke ihn unauf hörlich hinter ſeinen Perſonen. Cinna, Sertorius, Maximus, Aemilia, ſind alle Augenblicke das Sprachrohr des Corneille. So ſpricht man bey unſern al - ten Saracenen nicht mit einander. Herr Ri - caric kann Jhnen, wenn Sie wollen, einige Stellen daraus überſetzen; und ſie werden die bloße Natur hören, die ſich durch den Mund derſelben ausdrückt. Jch möchte gar zu gern zu den Neuern ſagen: Meine Herren, an - ſtatt daß ihr euern Perſonen bey aller Gelegen - heit Witz gebt, ſo ſucht ſie doch lieber in Um - ſtände zu ſetzen, die ihnen welchen geben.

Nach dem zu urtheilen, was Madame von dem Verlaufe und dem Dialoge unſerer dra - matiſchen Stücke geſagt hat, ſcheint es wohlK k 2 nicht,260 nicht, ſagte Selim, daß Sie den Entwicklun - gen wird Gnade wiederfahren laſſen.

Nein, gewiß nicht, verſetzte die Favoritinn: es giebt hundert ſchlechte für eine gute. Die eine iſt nicht vorbereitet; die andere eräugnet ſich durch ein Wunder. Weis der Verfaſſer nicht, was er mit einer Perſon, die er von Scene zu Scene ganze fünf Akte durchge - ſchleppt hat, anfangen ſoll: geſchwind fertiget er ſie mit einem guten Dolchſtoße ab; die ganze Welt fängt an zu weinen, und ich, ich lache, als ob ich toll wäre. Hernach, hat man wohl jemals ſo geſprochen, wie wir declamiren? Pflegen die Prinzen und Könige wohl anders zu gehen, als ſonſt ein Menſch, der gut geht? Geſticuliren ſie wohl jemals, wie Beſeſſene und Raſende? Und wenn Prinzeßinnen ſpre - chen, ſprechen ſie wohl in ſo einem heulenden Tone? Man nimmt durchgängig an, daß wir die Tragödie zu einem hohen Grade der Voll - kommenheit gebracht haben: und ich, meines Theils, halte es faſt für erwieſen, daß von allen Gattungen der Litteratur, auf die ſich die Afrikaner in den letzten Jahrhunderten ge - legt haben, gerade dieſe die unvollkommenſte geblieben iſt.

Eben hier war die Favoritinn mit ihrem Ausfalle gegen unſere theatraliſche Werke, als Mongogul wieder herein kam. Madame, ſagte261 ſagte er, Sie werden mir einen Gefallen er - weiſen, wenn Sie fortfahren. Sie ſehen, ich verſtehe mich darauf, eine Dichtkunſt abzu - kürzen, wenn ich ſie zu lang finde.

Laſſen Sie uns, fuhr die Favoritinn fort, einmal annehmen, es käme einer ganz friſch aus Angote, der in ſeinem Leben von keinem Schauſpiele etwas gehört hätte; dem es aber weder an Verſtande noch an Welt fehle; der ungefehr wiſſe, was an einem Hofe vorgehe; der mit den Anſchlägen der Höflinge, mit der Eiferſucht der Miniſter, mit den Hetzereyen der Weiber nicht ganz unbekannt wäre, und zu dem ich im Vertrauen ſagte: Mein Freund, es äußern ſich in dem Seraglio ſchreckliche Bewegungen. Der Fürſt, der mit ſeinem Sohne mißvergnügt iſt, weil er ihn im Verdacht hat, daß er die Manimon - bande liebt, iſt ein Mann, den ich für fähig halte, an beiden die grauſamſte Rache zu üben. Dieſe Sache muß, allem Anſehen nach, ſehr traurige Folgen haben. Wenn Sie wollen, ſo will ich machen, daß Sie von allem, was vor - geht, Zeuge ſeyn können. Er nimmt mein Anerbieten an, und ich führe ihn in eine mit Gitterwerk vermachte Loge, aus der er das Theater ſieht, welches er für den Pallaſt des Sultans hält. Glauben Sie wohl, daß Trotz alles Ernſtes, in dem ich mich zu erhal -K k 3 ten262 ten bemühte, die Täuſchung dieſes Fremden einen Augenblick dauern könnte? Müſſen Sie nicht vielmehr geſtehen, daß er, bey dem ſtei - fen Gange der Akteurs, bey ihrer wunderli - chen Tracht, bey ihren ausſchweifenden Ge - behrden, bey dem ſeltſamen Nachdrucke ihrer gereimten, abgemeſſenen Sprache, bey tau - ſend andern Ungereimtheiten, die ihm auf - fallen würden, gleich in der erſten Scene mir ins Geſicht lachen und gerade heraus ſagen würde, daß ich ihn entweder zum beſten haben wollte, oder daß der Fürſt mit ſammt ſeinem Hofe nicht wohl bey Sinnen ſeyn müßten.

Jch bekenne, ſagte Selim, daß mich dieſer angenommene Fall verlegen macht; aber könnte man Jhnen nicht zu bedenken geben, daß wir in das Schauſpiel gehen, mit der Ueberzeu - gung, der Nachahmung einer Handlung, nicht aber der Handlung ſelbſt, beyzuwohnen.

Und ſollte denn dieſe Ueberzeugung verweh - ren, erwiderte Mirzoza, die Handlung auf die allernatürlichſte Art vorzuſtellen?

Hier kömmt das Geſpräch nach und nach auf andere Dinge, die uns nichts angehen. Wir wenden uns alſo wieder, zu ſehen, was wir ge - leſen haben. Den klaren lautern Diderot! Aber alle dieſe Wahrheiten waren damals in den Wind geſagt. Sie erregten eher keine Em - pfindung in dem franzöſiſchen Publico, als bisſie263ſie mit allem didaktiſchen Ernſte wiederhohlt, und mit Proben begleitet wurden, in welchen ſich der Verfaſſer von einigen der gerügten Mängel zu entfernen, und den Weg der Natur und Täuſchung beſſer einzuſchlagen, bemüht hatte. Nun weckte der Neid die Critik. Nun war es klar, warum Diderot das Theater ſeiner Nation auf dem Gipfel der Vollkommenheit nicht ſahe, auf dem wir es durchaus glauben ſollen; warum er ſo viel Fehler in den geprieſenen Meiſter - ſtücken deſſelben fand: blos und allein, um ſeinen Stücken Platz zu ſchaffen. Er mußte die Me - thode ſeiner Vorgänger verſchrien haben, weil er empfand, daß in Befolgung der nehmlichen Methode, er unendlich unter ihnen bleiben wür - de. Er mußte ein elender Charlatan ſeyn, der allen fremden Theriak verachtet, damit kein Menſch andern als ſeinen kaufe. Und ſo fielen die Paliſſots über ſeine Stücke her.

Allerdings hatte er ihnen auch, in ſeinem na - türlichen Sohne, manche Blöße gegeben. Dieſer erſte Verſuch iſt bey weiten das nicht, was der Hausvater iſt. Zu viel Einförmigkeit in den Charakteren, das Romantiſche in dieſen Charakteren ſelbſt, ein ſteifer koſtbarer Dialog, ein pedantiſches Geklingle von neumodiſch phi - loſophiſchen Sentenzen: alles das machte den Tadlern leichtes Spiel. Beſonders zog die feyerliche Thereſia (oder Conſtantia, wie ſie indem264dem Originale heißt,) die ſo philoſophiſch ſelbſt auf die Freyerey geht, die mit einem Manne, der ſie nicht mag, ſo weiſe von tugendhaften Kindern ſpricht, die ſie mit ihm zu erzielen ge - denkt, die Lacher auf ihre Seite. Auch kann man nicht leugnen, daß die Einkleidung, welche Diderot den beygefügten Unterredungen gab, daß der Ton, den er darinn annahm, ein wenig eitel und pompös war; daß verſchiedene Anmerkun - gen als ganz neue Entdeckungen darinn vorge - tragen wurden, die doch nicht neu und dem Ver - faſſer nicht eigen waren; daß andere Anmerkun - gen die Gründlichkeit nicht hatten, die ſie in dem blendenden Vortrage zu haben ſchienen.

Ham -[265]

Hamburgiſche Dramaturgie. Sechs und achtzigſtes Stück.

Z. E. Diderot behauptete,(*)S. die Unterredungen hinter dem Natürli - chen Sohne S. 321. 22. d. Ueberſ. daß es in der menſchlichen Natur aufs höchſte nur ein Dutzend wirklich komiſche Charaktere gäbe, die großer Züge fähig wären; und daß die kleinen Verſchiedenheiten unter den menſch - lichen Charakteren nicht ſo glücklich bearbeitet werden könnten, als die reinen unvermiſchten Charaktere. Er ſchlug daher vor, nicht mehr die Charaktere, ſondern die Stände auf die Bühne zu bringen; und wollte die Bearbeitung dieſer, zu dem beſondern Geſchäfte der ernſthaf - ten Komödie machen. Bisher, ſagt er, iſt in der Komödie der Charakter das Hauptwerk geweſen; und der Stand war nur etwas Zu - fälliges: nun aber muß der Stand das Haupt - werk,L l266 werk, und der Charakter das Zufällige wer - den. Aus dem Charakter zog man die ganze Jntrigue: man ſuchte durchgängig die Um - ſtände, in welchen er ſich am beſten äußert, und verband dieſe Umſtände unter einander. Künftig muß der Stand, müſſen die Pflichten, die Vortheile, die Unbequemlichkeiten deſſel - ben zur Grundlage des Werks dienen. Dieſe Quelle ſcheint mir weit ergiebiger, von weit größerm Umfange, von weit größerm Nutzen, als die Quelle der Charaktere. War der Cha - rakter nur ein wenig übertrieben, ſo konnte der Zuſchauer zu ſich ſelbſt ſagen: das bin ich nicht. Das aber kann er unmöglich leugnen, daß der Stand, den man ſpielt, ſein Stand iſt; ſeine Pflichten kann er unmöglich verken - nen. Er muß das, was er hört, nothwendig auf ſich anwenden.

Was Paliſſot hierwider erinnert,(*)Petites Lettres ſur de grands Philoſophes Lettr. II. iſt nicht ohne Grund. Er leugnet es, daß die Natur ſo arm an urſprünglichen Charakteren ſey, daß ſie die komiſchen Dichter bereits ſollten erſchöpft haben. Moliere ſahe noch genug neue Charaktere vor ſich, und glaubte kaum den al - lerkleinſten Theil von denen behandelt zu ha - ben, die er behandeln könne. Die Stelle, in welcher er verſchiedne derſelben in der Geſchwin -digkeit267digkeit entwirft, iſt ſo merkwürdig als lehrreich, indem ſie vermuthen läßt, daß der Miſanthrop ſchwerlich ſein Non plus ultra in dem hohen Komiſchen dürfte geblieben ſeyn, wann er län - ger gelebt hätte. (*)(Im promptu de Verſailles Sc. 2.) Eh! mon pauvre Marquis, nous lui (à Moliere) fournirons toujours aſſez de matiere, & nous ne prenons guères le chemin de nous rendre ſages par tout ce qu’il fait & tout ce qu’il dit. Crois-tu qu’il ait épuiſé dans ſes Comedies tous les ridicules des hommes, & ſans ſortir de la Cour, n’a-t-il pas encore vingt ca - ractères de gens, ou il n’a pas touché? N’a-t-il pas, par exemple, ceux qui ſe font les plus grandes amities du monde, & qui, le dos tourné, font galanterie de ſe dechirer l’un l’autre? N’a-t-il pas ces adulateurs à outrance, ces flatteurs inſi - pides qui n’aſſaiſonnent d’aucun ſel les louanges qu’ils donnent, & dont toutes les flatteries ont une douceur fade qui fait mal au cœur à ceux qui les écou - tent? N’a-t-il pas ces lâches courtiſans de la faveur, ces perfides adorateurs de la fortune, qui vous encenſent dans la proſperité, & vous accablent dans la diſgrace? N’a-t-il pas ceux qui ſont tou - jours mécontens de la Cour, ces ſuivans inutiles, ces incommodes aſsidus, ces gens, dis-je, qui pour ſervices ne pou - ()ventPaliſſot ſelbſt iſt nicht un -L l 2glück -268glücklich, einige neue Charaktere von ſeiner eig - nen Bemerkung beyzufügen: den dummen Mäcen, mit ſeinen kriechenden Clienten; den Mann, en ſeiner unrechten Stelle; den Arg - liſtigen, deſſen ausgekünſtelte Anſchläge immer gegen die Einfalt eines treuherzigen Bieder - manns ſcheitern; den Scheinphiloſophen; den Sonderling, den Destouches verfehlt habe; den Heuchler mit geſellſchaftlichen Tugenden, da der Religionsheuchler ziemlich aus der Mode ſey. Das ſind wahrlich nicht gemeine Aus - ſichten, die ſich einem Auge, das gut in die Ferne trägt, bis ins Unendliche erweitern. Da iſt noch Erndte genug für die wenigen Schnitter, die ſich daran wagen dürfen!

Und wenn auch, ſagt Paliſſot, der komiſchen Charaktere wirklich ſo wenige, und dieſe weni - gen wirklich alle ſchon bearbeitet wären: wür -den(*)vent compter que des importunités, & qui veulent qu’on les recompenſe d’avoir obſedé le Prince dix ans durant? N’a-t-il pas ceux qui careſſent egalement tout le monde, qui promenent leurs civilités à droite, à gauche, & courent à tous ceux qu’ils vovent avec les mêmes embraſ - ſades, & les mêmes proteſtations d’ami - tié? Va, va, Marquis, Moliere aura toujours plus de ſujets qu’il n’en voudra, & tout ce qu’il a touché n’eſt que bagatelle au prix de ce qui reſte. ()269den die Stände denn dieſer Verlegenheit abhel - fen? Man wähle einmal einen; z. E. den Stand des Richters. Werde ich ihm denn, dem Richter, nicht einen Charakter geben müſ - ſen? Wird er nicht traurig oder luſtig, ernſt - haft oder leichtſinnig, leutſelig oder ſtürmiſch ſeyn müſſen? Wird es nicht blos dieſer Cha - rakter ſeyn, der ihn aus der Klaſſe metaphyſi - ſcher Abſtrakte heraushebt, und eine wirkliche Perſon aus ihm macht? Wird nicht folglich die Grundlage der Jntrigue und die Moral des Stücks wiederum auf dem Charakter beruhen? Wird nicht folglich wiederum der Stand nur das Zufällige ſeyn?

Zwar könnte Diderot hierauf antworten: Freylich muß die Perſon, welche ich mit dem Stande bekleide, auch ihren individuellen mo - raliſchen Charakter haben; aber ich will, daß es ein ſolcher ſeyn ſoll, der mit den Pflichten und Verhältniſſen des Standes nicht ſtreitet, ſondern aufs beſte harmoniret. Alſo, wenn dieſe Perſon ein Richter iſt, ſo ſteht es mir nicht frey, ob ich ihn ernſthaft oder leichtſinnig, leutſelig oder ſtürmiſch machen will: er muß nothwendig ernſthaft und leutſelig ſeyn, und jedesmal es in dem Grade ſeyn, den das vorhabende Geſchäfte erfodert.

Dieſes, ſage ich, könnte Diderot antwor - ten: aber zugleich hätte er ſich einer andernL l 3Klippe270Klippe genähert; nehmlich der Klippe der voll - kommnen Charaktere. Die Perſonen ſeiner Stände würden nie etwas anders thun, als was ſie nach Pflicht und Gewiſſen thun müßten; ſie würden handeln, völlig wie es im Buche ſteht. Erwarten wir das in der Komödie? Können dergleichen Vorſtellungen anziehend genug werden? Wird der Nutzen, den wir da - von hoffen dürfen, groß genug ſeyn, daß es ſich der Mühe verlohnt, eine neue Gattung dafür feſt zu ſetzen, und für dieſe eine eigene Dicht - kunſt zu ſchreiben?

Die Klippe der vollkommenen Charaktere ſcheinet mir Diderot überhaupt nicht genug er - kundiget zu haben. Jn ſeinen Stücken ſteuert er ziemlich gerade darauf los: und in ſeinen kri - tiſchen Seekarten findet ſich durchaus keine Warnung davor. Vielmehr finden ſich Dinge darinn, die den Lauf nach ihr hin zu lenken ra - then. Man erinnere ſich nur, was er, bey Gelegenheit des Contraſts unter den Charakte - ren, von den Brüdern des Terenz ſagt. (*)Jn der dr. Dichtkunſt hinter dem Hausvater S. 358. d. Ueberſ. Die zwey contraſtirten Väter darinn ſind mit ſo gleicher Stärke gezeichnet, daß man dem feinſten Kunſtrichter Trotz bieten kann, die Hauptperſon zu nennen; ob es Micio oder ob es Demea ſeyn ſoll? Fällt er ſein Urtheil vor dem271 dem letzten Auftritte, ſo dürfte er leicht mit Erſtaunen wahrnehmen, daß der, den er gan - zer fünf Aufzüge hindurch, für einen verſtändi - gen Mann gehalten hat, nichts als ein Narr iſt, und daß der, den er für einen Narren ge - halten hat, wohl gar der verſtändige Mann ſeyn könnte. Man ſollte zu Anfange des fünf - ten Aufzuges dieſes Drama faſt ſagen, der Verfaſſer ſey durch den beſchwerlichen Con - traſt gezwungen worden, ſeinen Zweck fahren zu laſſen, und das ganze Jntereſſe des Stücks umzukehren. Was iſt aber daraus geworden? Dieſes, daß man gar nicht mehr weiß, für wen man ſich intereſſiren ſoll. Vom Anfange her iſt man für den Micio gegen den Demea geweſen, und am Ende iſt man für keinen von beiden. Beynahe ſollte man einen dritten Va - ter verlangen, der das Mittel zwiſchen dieſen zwey Perſonen hielte, und zeigte, worinn ſie beide fehlten.

Nicht ich! Jch verbitte mir ihn ſehr, dieſen dritten Vater; es ſey in dem nehmlichen Stücke, oder auch allein. Welcher Vater glaubt nicht zu wiſſen, wie ein Vater ſeyn ſoll? Auf dem rechten Wege dünken wir uns alle: wir verlan - gen nur, dann und wann vor den Abwegen zu beiden Seiten gewarnet zu werden.

Diderot hat Recht: es iſt beſſer, wenn die Cha - raktere blos verſchieden, als wenn ſie contraſtirtſind.272ſind. Contraſtirte Charaktere ſind minder natür - lich und vermehren den romantiſchen Anſtrich, an dem es den dramatiſchen Begebenheiten ſo ſchon ſelten fehlt. Für eine Geſellſchaft, im gemeinen Le - ben, wo ſich der Contraſt der Charaktere ſo ab - ſtechend zeigt, als ihn der komiſche Dichter ver - langt, werden ſich immer tauſend finden, wo ſie wei - ter nichts als verſchieden ſind. Sehr richtig! Aber iſt ein Charakter, der ſich immer genau in dem gra - den Gleiße hält, das ihm Vernunft und Tugend vorſchreiben, nicht eine noch ſeltenere Erſcheinung? Von zwanzig Geſellſchaften im gemeinen Leben, werden eher zehn ſeyn, in welchen man Väter fin - det, die bey Erziehung ihrer Kinder völlig entgegen geſetzte Wege einſchlagen, als eine, die den wahren Vater aufweiſen könnte. Und dieſer wahre Vater iſt noch dazu immer der nehmliche, iſt nur ein einzi - ger, da der Abweichungen von ihm unendlich ſind. Folglich werden die Stücke, die den wahren Vater ins Spiel bringen, nicht allein jedes vor ſich unnatürli - cher, ſondern auch unter einander einförmiger ſeyn, als es die ſeyn können, welche Väter von verſchiednen Grundſätzen einführen. Auch iſt es gewiß, daß die Charaktere, welche in ruhigen Geſellſchaften blos ver - ſchieden ſcheinen, ſich von ſelbſt contraſtiren, ſobald ein ſtreitendes Jntereſſe ſie in Bewegung ſetzt. Ja es iſt natürlich, daß ſie ſich ſodann beeifern, noch weiter von einander entfernt zu ſcheinen, als ſie wirklich ſind. Der Lebhafte wird Feuer und Flamme gegen den, der ihm zu lau ſich zu betragen ſcheinet: und der Laue wird kalt wie Eis, um jenem ſo viel Uebereilungen begehen zu laſſen, als ihm nur im̃er nützlich ſeyn köñen.

Ham -[273]

Hamburgiſche Dramaturgie. Sieben und achtzig und acht und achtzigſtes Stück.

Und ſo ſind andere Anmerkungen des Paliſſot mehr, wenn nicht ganz richtig, doch auch nicht ganz falſch. Er ſieht den Ring, in den er mit ſeiner Lanze ſtoßen will, ſcharf genug; aber in der Hitze des Anſprengens, verrückt die Lanze, und er ſtößt den Ring gerade vorbey.

So ſagt er über den natürlichen Sohn unter andern: Welch ein ſeltſamer Titel! der natürliche Sohn! Warum heißt das Stück ſo? Welchen Einfluß hat die Geburt des Dorval? Was für einen Vorfall veranlaßt ſie? Zu welcher Situation giebt ſie Gelegen - heit? Welche Lücke füllt ſie auch nur? Was kann alſo die Abſicht des Verfaſſers dabey ge - weſen ſeyn? Ein Paar Betrachtungen über das Vorurtheil gegen die uneheliche GeburtM m auf -274 aufzuwärmen? Welcher vernünftige Menſch weiß denn nicht von ſelbſt, wie ungerecht ein ſolches Vorurtheil iſt?

Wenn Diderot hierauf antwortete: Dieſer Umſtand war allerdings zur Verwickelung mei - ner Fabel nöthig; ohne ihm würde es weit un - wahrſcheinlicher geweſen ſeyn, daß Dorval ſeine Schweſter nicht kennet, und ſeine Schweſter von keinem Bruder weiß; es ſtand mir frey, den Titel davon zu entlehnen, und ich hätte den Titel von noch einem geringern Umſtande ent - lehnen können. Wenn Diderot dieſes ant - wortete, ſag ich, wäre Paliſſot nicht ungefehr widerlegt?

Gleichwohl iſt der Charakter des natürlichen Sohnes einem ganz andern Einwurfe blos ge - ſtellet, mit welchem Paliſſot dem Dichter weit ſchärfer hätte zuſetzen können. Dieſem nehmlich: daß der Umſtand der unehelichen Geburt, und der daraus erfolgten Verlaſſenheit und Abſon - derung, in welcher ſich Dorval von allen Men - ſchen ſo viele Jahre hindurch ſahe, ein viel zu eigenthümlicher und beſonderer Umſtand iſt, gleichwohl auf die Bildung ſeines Charakters viel zu viel Einfluß gehabt hat, als daß dieſer diejenige Allgemeinheit haben könne, welche nach der eignen Lehre des Diderot ein komiſcher Charakter nothwendig haben muß. Die Ge - legenheit reitzt mich zu einer Ausſchweifung überdieſe275dieſe Lehre: und welchem Reitze von der Art brauchte ich in einer ſolchen Schrift zu wider - ſtehen?

Die komiſche Gattung, ſagt Diderot,(*)Unterred. S. 292. d. Ueberſ. hat Arten, und die tragiſche hat Jndividua. Jch will mich erklären. Der Held einer Tra - gödie iſt der und der Menſch: es iſt Regulus, oder Brutus, oder Cato, und ſonſt kein an - derer. Die vornehmſte Perſon einer Komödie hingegen muß eine große Anzahl von Menſchen vorſtellen. Gäbe man ihr von ohngefehr eine ſo eigene Phyſiognomie, daß ihr nur ein einziges Jndividuum ähnlich wäre, ſo würde die Ko - mödie wieder in ihre Kindheit zurücktreten. Terenz ſcheinet mir einmal in dieſen Fehler ge - fallen zu ſeyn. Sein Heavtontimorume - nos iſt ein Vater, der ſich über den gewaltſa - men Entſchluß grämet, zu welchem er ſeinen Sohn durch übermäßige Strenge gebracht hat, und der ſich deswegen nun ſelbſt beſtraft, in - dem er ſich in Kleidung und Speiſe kümmerlich hält, allen Umgang fliehet, ſein Geſinde ab - ſchaft, und das Feid mit eigenen Händen bauet. Man kann gar wohl ſagen, daß es ſo einen Vater nicht giebt. Die größte Stadt würde kaum in einem ganzen Jahrhunderte Ein Bey - ſpiel einer ſo ſeltſamen Betrübniß aufzuweiſen haben.

M m 2Zu -276

Zuerſt von der Jnſtanz des Heavtontimoru - menos. Wenn dieſer Charakter wirklich zu ta - deln iſt: ſo trift der Tadel nicht ſowohl den Te - renz, als den Menander. Menander war der Schöpfer deſſelben, der ihn, allem Anſehen nach, in ſeinem Stücke noch eine weit ausführ - lichere Rolle ſpielen laſſen, als er in der Copie des Terenz ſpielet, in der ſich ſeine Sphäre, wegen der verdoppelten Jntrigue, wohl ſehr einziehen müſſen. (*)Falls nehmlich die 6te Zeile des PrologsDuplex quæ ex argumento facta eſt ſimplici, ()von dem Dichter wirklich ſo geſchrieben, und nicht anders zu verſtehen iſt, als die Dacier und nach ihr der neue engliſ. Ueberſetzer des Terenz, Colman, ſie erklären. Terence only meant to ſay, that he had doubled the characters; inſtead of one old man, one young gal - lant, one miſtreſs, as in Menander, he had two old men &c. He therefore adds very properly: novam eſſe oſtendi, which certainly could not have been implied, had the characters been the ſame in the Greek poet. Auch ſchon Adrian Bar - landus, ja ſelbſt die alte Gloſſa interlinea - lis des Aſceuſius, hatte das duplex nicht an - ders verſtanden: propter ſenes & juvenes ſagt dieſe; und jener ſchreibt, nam in hac latina ſenes duo, adoleſcentes item duoſunt. Aber daß er von Me -nan -277nandern herrührt, dieſes allein ſchon hätte, mich wenigſtens, abgeſchreckt, den Terenz desfallsM m 3zu(*)ſunt. Und dennoch will mir dieſe Auslegung nicht in den Kopf, weil ich gar nicht einſehe, was von dem Stücke übrig bleibt, wenn man die Perſonen, durch welche Terenz den Alten, den Liebhaber und die Geliebte verdoppelt ha - ben ſoll, wieder wegnimmt. Mir iſt es un - begreiflich, wie Menander dieſen Stoff, ohne den Chremes und ohne den Clitipho, habe behandeln können; beide ſind ſo genau hinein - geflochten, daß ich mir weder Verwicklung noch Auflöſung ohne ſie denken kann. Einer andern Erklärung, durch welche ſich Julius Scaliger lächerlich gemacht hat, will ich gar nicht gedenken. Auch die, welche Eugra - phius gegeben hat, und die vom Faerne an - genommen worden, iſt ganz unſchicklich. Jn dieſer Verlegenheit haben die Kritici bald das duplex bald das ſimplici in der Zeile zu ver - ändern geſucht, wozu ſie die Handſchriften gewiſſermaaßen berechtigten. Einige haben geleſen:Duplex quæ ex argumento facta eſt du - plici. ()Andere:Simplex quæ ex argumento facta eſt du - plici. ()Was bleibt noch übrig, als daß nun auch ei - ner lieſet:Simplex quæ ex argumento facta eſt ſim - plici? ()Und278zu verdammen. Das Μενανδρε ϰαι βιε, ποτερος ἀῤ ὑμων ποτερον ἐμιμησατο; iſtzwar(*)Und in allem Ernſte: ſo möchte ich am lieb - ſten leſen. Man ſehe die Stelle im Zuſam - menhange, und überlege meine Gründe. Ex integra Græca integram comœdiam Hodie ſum acturus Heavtontimorume - non: Simplex quæ ex argumento facta eſt ſim - plici. ()Es iſt bekannt, was dem Terenz von ſeinen neidiſchen Mitarbeitern am Theater vorge - worfen ward:Multas contaminaſſe græcas, dum facit Paucas latinas ()Er ſchmelzte nehmlich öfters zwey Stücke in eines, und machte aus zwey Griechiſchen Ko - mödien eine einzige Lateiniſche. So ſetzte er ſeine Andria aus der Andria und Perinthia des Menanders zuſammen; ſeinen Evnuchus, aus dem Evnuchus und dem Colax eben die - ſes Dichters; ſeine Brüder, aus den Brü - dern des nehmlichen und einem Stücke des Diphilus. Wegen dieſes Vorwurfs rechtfer - tiget er ſich nun in dem Prologe des Heav - tontimorumenos. Die Sache ſelbſt geſteht er ein; aber er will damit nichts anders ge - than haben, als was andere gute Dichter vor ihm gethan hätten. Id279zwar froſtiger, als witzig geſagt: doch würde man es wohl überhaupt von einem Dichter ge -ſagt(*) Id eſſe factum hic non negat Neque ſe pigere, & deinde factum iri autumat. Habet bonorum exemplum: quo exem - plo ſibi Licere id facere, quod illi fecerunt, putat. ()Jch habe es gethan, ſagt er, und ich denke, daß ich es noch öfterer thun werde. Das bezog ſich aber auf vorige Stücke, und nicht auf das Gegenwärtige, den Heavtonti - morumenos. Denn dieſer war nicht aus zwey griechiſchen Stücken, ſondern nur aus einem einzigen gleiches Namens genommen. Und das iſt es, glaube ich, was er in der ſtreitigen Zeile ſagen will, ſo wie ich ſie zu leſen vorſchlage:Simplex quæ ex argumento facta eſt ſim - plici. ()So einfach, will Terenz ſagen, als das Stück des Menanders iſt, eben ſo einfach iſt auch mein Stück; ich habe durchaus nichts aus andern Stücken eingeſchaltet; es iſt, ſo lang es iſt, aus dem griechiſchen Stücke genom - men, und das griechiſche Stück iſt ganz in meinem Lateiniſchen; ich gebe alſoEx integra Græca integram Comœdiam. ()Die280ſagt haben, der Charaktere zu ſchildern im Stande wäre, wovon ſich in der größten Stadtkaum(*)Die Bedeutung, die Faerne dem Worte in - tegra in einer alten Gloſſe gegeben fand, daß es ſo viel ſeyn ſollte, als a nullo tacta, iſt hier offenbar falſch, weil ſie ſich nur auf das erſte integra, aber keinesweges auf das zweyte in - tegram ſchicken würde. Und ſo glaube ich, daß ſich meiner Vermuthung und Auslegung wohl hören läßt! Nur wird man ſich an die gleich folgende Zeile ſtoßen:Novam eſſe oſtendi, & quæ eſſet ()Man wird ſagen: wenn Terenz bekennet, daß er das ganze Stück aus einem einzigen Stücke des Menanders genommen habe; wie kann er eben durch dieſes Bekenntniß bewieſen zu haben vorgeben, daß ſein Stück nen ſey, no - vam eſſe? Doch dieſe Schwierigkeit kann ich ſehr leicht heben, und zwar durch eine Er - klärung eben dieſer Worte, von welcher ich mich zu behaupten getraue, daß ſie ſchlechter - dings die einzige wahre iſt, ob ſie gleich nur mir zugehört, und kein Ausleger, ſo viel ich weiß, ſie nur von weitem vermuthet hat. Jch ſage nehmlich; die Worte,Novam eſſe oſtendi, & quæ eſſet ()beziehen ſich keinesweges auf das, was Te - renz den Vorredner in dem Vorigen ſagen laſſen; ſondern man muß darunter verſtehen, apud Aediles; novus aber heißt hier nicht, was aus des Terenz eigenem Kopfe gefloſſen,ſon -281kaum in einem ganzen Jahrhunderte ein einziges Beyſpiel zeiget? Zwar in hundert und mehr Stücken könnte ihm auch wohl Ein ſolcher Cha -rakter(*)ſondern blos, was im Lateiniſchen noch nicht vorhanden geweſen. Daß mein Stück, will er ſagen, ein neues Stück ſey, das iſt, ein ſolches Stück, welches noch nie lateiniſch er - ſchienen, welches ich ſelbſt aus dem Griechi - ſchen überſetzt, das habe in den Aedilen, die mir es abgekauft, bewieſen. Um mir hierinn ohne Bedenken beyzufallen, darf man ſich nur an den Streit erinnern, welchen er, wegen ſeines Evnuchus, vor den Aedilen hatte. Die - ſen hatte er ihnen als ein neues, von ihm aus dem Griechiſchen überſetztes Stück verkauft: aber ſein Widerſacher, Lavinius, wollte den Aedilen überreden, daß er es nicht aus dem Griechiſchen, ſondern aus zwey alten Stücken des Nävius und Plautus genommen habe. Freylich hatte der Evnuchus mit dieſen Stücken vieles gemein; aber doch war die Beſchuldi - gung des Lavinius falſch; denn Terenz hatte nur aus eben der griechiſchen Quelle geſchöpft, aus welcher, ihm unwiſſend, ſchon Nävius und Plautus vor ihm geſchöpft hatten. Al - ſo, um dergleichen Verleumdungen bey ſeinem Heavtontimorun enos vorzubauen, was war natürlicher, als daß er den Aedilen das grie - chiſche Original vorgezeigt, und ſie wegen des Jnhalts unterrichtet hatte? Ja, die Aedi - len konnten das leicht ſelbſt von ihm gefodert haben. Und darauf geht dasNovam eſſe oſtendi, & quæ eſſet. ()N n282rakter entfallen ſeyn. Der fruchtbarſte Kopf ſchreibt ſich leer; und wenn die Einbildungs - kraft ſich keiner wirklichen Gegenſtände der Nach - ahmung mehr erinnern kann, ſo componirt ſie deren ſelbſt, welches denn freylich meiſtens Car - rikaturen werden. Dazu will Diderot bemerkt haben, daß ſchon Horaz, der einen ſo beſonders zärtlichen Geſchmack hatte, den Fehler, wovon die Rede iſt, eingeſehen, und im Vorbeygehen, aber faſt unmerklich, getadelt habe.

Die Stelle ſoll die in der zweyten Satyre des erſten Buchs ſeyn, wo Horaz zeigen will, daß die Narren aus einer Uebertreibung in die an - dere entgegengeſetzte zu fallen pflegen. Fufi - dius, ſagt er, fürchtet für einen Verſchwender gehalten zu werden. Wißt ihr, was er thut? Er leihet monatlich für fünf Procent, und macht ſich im voraus bezahlt. Je nöthiger der andere das Geld braucht, deſto mehr fodert er. Er weiß die Namen aller jungen Leute, die von gutem Hauſe ſind, und itzt in die Welt treten, dabey aber über harte Väter zu klagen haben. Vielleicht aber glaubt ihr, daß die - ſer Menſch wieder einen Aufwand mache, der ſeinen Einkünften entſpricht? Weit gefehlt! Er iſt ſein grauſamſter Feind, und der Vater in der Komödie, der ſich wegen der Entwei - chung ſeines Sohnes beſtraft, kann ſich nicht ſchlechter quälen: non ſe pejus cruciave - rit. 283 rit. Dieſes ſchlechter, dieſes pejus, will Diderot, ſoll hier einen doppelten Sinn haben; einmal ſoll es auf den Fuſidius, und einmal auf den Terenz gehen; dergleichen bey - läufige Hiebe, meinet er, wären dem Charakter des Horaz auch vollkommen gemäß.

Das letzte kann ſeyn, ohne ſich auf die vor - habende Stelle anwenden zu laſſen. Denn hier, dünkt mich, würde die beyläufige Anſpielung dem Hauptverſtande nachtheilig werden. Fuſi - dius iſt kein ſo großer Narr, wenn es mehr ſol - che Narren giebt. Wenn ſich der Vater des Terenz eben ſo abgeſchmackt peinigte, wenn er eben ſo wenig Urſache hätte, ſich zu peinigen, als Fufidius, ſo theilt er das Lächerliche mit ihm, und Fufidius iſt weniger ſeltſam und ab - geſchmackt. Nur alsdenn, wenn Fufidius ohne alle Urſache eben ſo hart und grauſam gegen ſich ſelbſt iſt, als der Vater des Terenz mit Urſache iſt, wenn jener aus ſchmutzigem Geitze thut, was dieſer aus Reu und Betrübniß that: nur als - denn wird uns jener unendlich lächerlicher und verächtlicher, als mitleidswürdig wir dieſen finden.

Und allerdings iſt jede große Betrübniß von der Art, wie die Betrübniß dieſes Vaters: die ſich nicht ſelbſt vergißt, die peiniget ſich ſelbſt. Es iſt wider alle Erfahrung, daß kaum alle hundert Jahre ſich ein Beyſpiel einer ſolchen Be -N n 2trüb -284trübniß finde: vielmehr handelt jede ungefehr eben ſo; nur mehr oder weniger, mit dieſer oder jener Veränderung. Cicero hatte auf die Na - tur der Betrübniß genauer gemerkt; er ſahe da - her in dem Betragen des Heavtontimorumenos nichts mehr, als was alle Betrübte, nicht blos von dem Affekte hingeriſſen, thun, ſondern auch bey kälterm Geblüte fortſetzen zu müſſen glau - ben. (*)Tuſc. Quæſt. lib. III. c. 27.Hæc omnia recta, vera, de - bita putantes, faciunt in dolore: maxi - meque declaratur, hoc quaſi officii ju - dicio fieri, quod ſi qui forte, cum ſe in luctu eſſe vellent, aliquid fecerunt huma - nius, aut ſi hilarius locuti eſſent, revo - cant ſe rurſus ad mœſtitiam, peccati - que ſe inſimulant, quod dolere inter - miſerint: pueros vero matres & magiſtri caſtigare etiam ſolent, nec verbis ſolum, ſed etiam verberibus, ſi quid in dome - ſtico luctu hilarius ab iis factum eſt, aut dictum: plorare cogunt. Quid ille Te - rentianus ipſe ſe puniens? u. ſ. w.

Menedemus aber, ſo heißt der Selbſtpeini - ger bey dem Terenz, hält ſich nicht allein ſo hart aus Betrübniß; ſondern, warum er ſich auch jeden geringen Aufwand verweigert, iſt die Ur - ſache und Abſicht vornehmlich dieſes: um deſto mehr für den abweſenden Sohn zu ſparen, unddem285dem einmal ein deſto gemächlicheres Leben zu verſichern, den er itzt gezwungen, ein ſo unge - mächliches zu ergreifen. Was iſt hierinn, was nicht hundert Väter thun würden? Meint aber Diderot, daß das Eigene und Seltſame darinn beſtehe, daß Menedemus ſelbſt hackt, ſelbſt gräbt, ſelbſt ackert: ſo hat er wohl in der Eil mehr an unſere neuere, als an die alten Sitten gedacht. Ein reicher Vater itziger Zeit, würde das freylich nicht ſo leicht thun: denn die wenig - ſten würden es zu thun verſtehen. Aber die wohlhabenſten, vornehmſten Römer und Grie - chen waren mit allen ländlichen Arbeiten be - kannter, und ſchämten ſich nicht, ſelbſt Hand anzulegen.

Doch alles ſey, vollkommen wie es Diderot ſagt! Der Charakter des Selbſtpeinigers ſey wegen des allzu Eigenthümlichen, wegen dieſer ihm faſt nur allein zukommenden Falte, zu ei - nem komiſchen Charakter ſo ungeſchickt, als er nur will. Wäre Diderot nicht in eben den Fehler gefallen? Denn was kann eigenthümli - cher ſeyn, als der Charakter ſeines Dorval? Welcher Charakter kann mehr eine Falte haben, die ihm nur allein zukömmt, als der Charakter dieſes natürlichen Sohnes? Gleich nach mei - ner Geburt, läßt er ihn von ſich ſelbſt ſagen, ward ich an einen Ort verſchleidert, der die Grenze zwiſchen Einöde und Geſellſchaft heiſ -N n 3 ſen286 ſen kann; und als ich die Augen aufthat, mich nach den Banden umzuſehen, die mich mit den Menſchen verknüpften, konnte ich kaum einige Trümmern davon erblicken. Dreyßig Jahre lang irrte ich unter ihnen einſam, unbekannt und verabſäumet umher, ohne die Zärtlichkeit irgend eines Menſchen empfunden, noch irgend einen Menſchen angetroffen zu haben, der die meinige geſucht hätte. Daß ein natürliches Kind ſich vergebens nach ſeinen Aeltern, verge - bens nach Perſonen umſehen kann, mit welchen es die nähern Bande des Bluts verknüpfen: das iſt ſehr begreiflich; das kann unter zehnen neunen begegnen. Aber daß es ganze dreyßig Jahre in der Welt herum irren könne, ohne die Zärtlichkeit irgend eines Menſchen empfunden zu haben, ohne irgend einen Menſchen angetrof - fen zu haben, der die ſeinige geſucht hätte: das, ſollte ich faſt ſagen, iſt ſchlechterdings unmög - lich. Oder, wenn es möglich wäre, welche Menge ganz beſonderer Umſtände müßten von beiden Seiten, von Seiten der Welt und von Seiten dieſes ſo lange inſulirten Weſens, zu - ſammen gekommen ſeyn, dieſe traurige Mög - lichkeit wirklich zu machen? Jahrhunderte auf Jahrhunderte werden verfließen, ehe ſie wieder einmal wirklich wird. Wolle der Himmel nicht, daß ich mir je das menſchliche Geſchlecht anders vorſtelle! Lieber wünſchte ich ſonſt, einBär287Bär gebohren zu ſeyn, als ein Menſch. Nein, kein Menſch kann unter Menſchen ſo lange ver - laſſen ſeyn! Man ſchleidere ihn hin, wohin man will: wenn er noch unter Menſchen fällt, ſo fällt er unter Weſen, die, ehe er ſich umge - ſehen, wo er iſt, auf allen Seiten bereit ſtehen, ſich an ihn anzuketten. Sind es nicht vorneh - me, ſo ſind es geringe! Sind es nicht glück - liche, ſo ſind es unglückliche Menſchen! Men - ſchen ſind es doch immer. So wie ein Tropfen nur die Fläche des Waſſers berühren darf, um von ihm aufgenommen zu werden und ganz in ihm zu verfließen: das Waſſer heiſſe, wie es will, Lache oder Quelle, Strom oder See, Belt oder Ocean.

Gleichwohl ſoll dieſe dreyßigiährige Einſam - keit unter den Menſchen, den Charakter des Dorval gebildet haben. Welcher Charakter kann ihn nun ähnlich ſehen? Wer kann ſich in ihm erkennen? nur zum kleinſten Theil in ihm erkennen?

Eine Ausflucht, finde ich doch, hat ſich Di - derot auszuſparen geſucht. Er ſagt in dem Verfolge der angezogenen Stelle: Jn der ernſthaften Gattung werden die Charaktere oft eben ſo allgemein ſeyn, als in der komi - ſchen Gattung; ſie werden aber allezeit weni - ger individuell ſeyn, als in der Tragiſchen. Er würde ſonach antworten: Der Charakterdes288des Dorval iſt kein komiſcher Charakter; er iſt ein Charakter, wie ihn das ernſthafte Schau - ſoiel erfodert; wie dieſes den Raum zwiſchen Komödie und Tragödie füllen ſoll, ſo müſſen auch die Charaktere deſſelben das Mittel zwi - ſchen den komiſchen und tragiſchen Charakteren halten; ſie brauchen nicht ſo allgemein zu ſeyn als jene, wenn ſie nur nicht ſo völlig individuell ſind, als dieſe; und ſolcher Art dürfte doch wohl der Charakter des Dorval ſeyn.

Alſo wären wir glücklich wieder an dem Punk - te, von welchem wir ausgiengen. Wir wollten unterſuchen, ob es wahr ſey, daß die Tragödie Jndividua, die Komödie aber Arten habe: das iſt, ob es wahr ſey, daß die Perſonen der Ko - mödie eine große Anzahl von Menſchen faſſen und zugleich vorſtellen müßten; da hingegen der Held der Tragödie nur der und der Menſch, nur Regulus, oder Brutus, oder Cato ſey, und ſeyn ſolle. Jſt es wahr, ſo hat auch das, was Diderot von den Perſonen der mittlern Gattung ſagt, die er die ernſthafte Komödie nennt, keine Schwierig - keit, und der Charakter ſeines Dorval wäre ſo tadelhaft nicht. Jſt es aber nicht wahr, ſo fällt auch dieſes von ſelbſt weg, und dem Charakter des natürlichen Sohnes kann aus einer ſo unge - gründeten Eintheilung keine Rechtfertigung zu - fließen.

Ham -[289]

Hamburgiſche Dramaturgie. Neun und achtzigſtes Stück.

Zuerſt muß ich anmerken, daß Diderot ſeine Aſſertion ohne allen Beweis gelaſſen hat. Er muß ſie für eine Wahrheit angeſehen haben, die kein Menſch in Zweifel ziehen werde, noch könne; die man nur denken dürfe, um ihren Grund zugleich mit zu denken. Und ſollte er den wohl gar in den wahren Namen der tra - giſchen Perſonen gefunden haben? Weil dieſe Achilles, und Alexander, und Cato, und Au - guſtus heiſſen, und Achilles, Alexander, Cato, Auguſtus, wirkliche einzelne Perſonen geweſen ſind: ſollte er wohl daraus geſchloſſen haben, daß ſonach alles, was der Dichter in der Tra - gödie ſie ſprechen und handeln läßt, auch nur dieſen einzeln ſo genannten Perſonen, und kei - nem in der Welt zugleich mit, müſſe zukommen können? Faſt ſcheint es ſo.

O oAber290

Aber dieſen Jrrthum hatte Ariſtoteles ſchon vor zwey tauſend Jahren widerlegt, und auf die ihr entgegen ſtehende Wahrheit den weſent - lichen Unterſchied zwiſchen der Geſchichte und Poeſie, ſo wie den größern Nutzen der letztern vor der erſtern, gegründet. Auch hat er es auf eine ſo einleuchtende Art gethan, daß ich nur ſeine Worte anführen darf, um keine ge - ringe Verwunderung zu erwecken, wie in einer ſo offenbaren Sache ein Diderot nicht gleicher Meinung mit ihm ſeyn könne.

Aus dieſen alſo, ſagt Ariſtoteles,(*)Dichtk. 9tes Kapitel. nach - dem er die weſentlichen Eigenſchaften der poeti - ſchen Fabel feſtgeſetzt, aus dieſen alſo erhellet klar, daß des Dichters Werk nicht iſt, zu erzählen, was geſchehen, ſondern zu erzählen, von welcher Be - ſchaffenheit das Geſchehene, und was nach der Wahrſcheinlichkeit oder Nothwendigkeit dabey möglich geweſen. Denn Geſchichtſchreiber und Dichter unterſcheiden ſich nicht durch die ge - bundene oder ungebundene Rede: indem man die Bücher des Herodotus in gebundene Rede bringen kann, und ſie darum doch nichts we - niger in gebundener Rede eine Geſchichte ſeyn werden, als ſie es in ungebundener waren. Son - dern darinn unterſcheiden ſie ſich, daß jener erzäh - let, was geſchehen; dieſer aber, von welcher Be - ſchaffenheit das Geſchehene geweſen. Daher iſt denn291 denn auch die Poeſie philoſophiſcher und nütz - licher als die Geſchichte. Denn die Poeſie geht mehr auf das Allgemeine, und die Ge - ſchichte auf das Beſondere. Das Allgemeine aber iſt, wie ſo oder ſo ein Mann nach der Wahrſcheinlichkeit oder Nothwendigkeit ſpre - chen und handeln würde; als worauf die Dichtkunſt bey Ertheilung der Namen ſieht. Das Beſondere hingegen iſt, was Aleibiades gethan, oder gelitten hat. Bey der Komödie nun hat ſich dieſes ſchon ganz offenbar gezeigt; denn wenn die Fabel nach der Wahrſcheinlich - keit abgefaßt iſt, legt man die etwanigen Na - men ſonach bey, und macht es nicht wie die Jam - biſchen Dichter, die bey dem Einzeln bleiben. Bey der Tragödie aber hält man ſich an die ſchon vorhandenen Namen; aus Urſache, weil das Mögliche glaubwürdig iſt, und wir nicht möglich glauben, was nie geſchehen, da hin - gegen was geſchehen, offenbar möglich ſeyn muß, weil es nicht geſchehen wäre, wenn es nicht möglich wäre. Und doch ſind auch in den Tragödien, in einigen nur ein oder zwey bekannte Namen, und die übrigen ſind erdich - tet; in einigen auch gar keiner, ſo wie in der Blume des Agathon. Denn in dieſem Stücke ſind Handlungen und Namen gleich erdichtet, und doch gefällt es darum nichts weniger.

O o 2Jn292

Jn dieſer Stelle, die ich nach meiner eigenen Ueberſetzung anführe, mit welcher ich ſo genau bey den Worten geblieben bin, als möglich, ſind verſchiedene Dinge, welche von den Aus - legern, die ich noch zu Rathe ziehen können, entweder gar nicht oder falſch verſtanden worden. Was davon hier zur Sache gehört, muß ich mitnehmen.

Das iſt unwiderſprechlich, daß Ariſtoteles ſchlechterdings keinen Unterſchied zwiſchen den Perſonen der Tragödie und Komödie, in Anſe - hung ihrer Allgemeinheit, macht. Die einen ſowohl als die andern, und ſelbſt die Perſonen der Epopee nicht ausgeſchloſſen, alle Perſonen der poetiſchen Nachahmung ohne Unterſchied, ſollen ſprechen und handeln, nicht wie es ihnen einzig und allein zukommen könnte, ſondern ſo wie ein jeder von ihrer Beſchaffenheit in den nehmlichen Umſtänden ſprechen oder handeln würde und müßte. Jn dieſem ϰαϑολου, in die - ſer Allgemeinheit liegt allein der Grund, warum die Poeſie philoſophiſcher und folglich lehrreicher iſt, als die Geſchichte; und wenn es wahr iſt, daß derjenige komiſche Dichter, welcher ſeinen Perſonen ſo eigene Phyſiognomien geben wollte, daß ihnen nur ein einziges Jndividuum in der Welt ähnlich wäre, die Komödie, wie Diderot ſagt, wiederum in ihre Kindheit zurückſetzen und in Satyre verkehren würde: ſo iſt es auch ebenſo293ſo wahr, daß derjenige tragiſche Dichter, wel - cher nur den und den Menſchen, nur den - ſar, nur den Cato, nach allen den Eigenthüm - lichkeiten, die wir von ihnen wiſſen, vorſtellen wollte, ohne zugleich zu zeigen, wie alle dieſe Eigenthümlichkeiten mit dem Charakter des - ſar und Cato zuſammen gehangen, der ihnen mit mehrern kann gemein ſeyn, daß, ſage ich, dieſer die Tragödie entkräften und zur Geſchichte erniedrigen würde.

Aber Ariſtoteles ſagt auch, daß die Poeſie auf dieſes Allgemeine der Perſonen mit den Na - men, die ſie ihnen ertheile, ziele, (ου῾ ϛοχαζεται ποιησις ὀνοματα επιτιϑεμενη;) welches ſich beſonders bey der Komödie deutlich gezeigt habe. Und dieſes iſt es, was die Ausleger dem Ariſto - teles nach zu ſagen ſich begnügt, im geringſten aber nicht erläutert haben. Wohl aber haben verſchiedene ſich ſo darüber ausgedrückt, daß man klar ſieht, ſie müſſen entweder nichts, oder etwas ganz falſches dabey gedacht haben. Die Frage iſt: wie ſieht die Poeſie, wenn ſie ihren Perſonen Namen ertheilt, auf das Allgemeine dieſer Perſonen? und wie iſt dieſe ihre Rückſicht auf das Allgemeine der Perſon, beſonders bey der Komödie, ſchon längſt ſichtbar geweſen?

Die Worte: ἐϛι δε ϰαϑολου μεν, τῳ ποιῳ τα ποἰ ἀττα συμβαινει λεγειν, πραττειν ϰατα το εἰϰος, το ἀναγϰαιον, ου῾ ϛοχαζε -O o 3ται294ται ποιησις ὀοοματα ἐπιτιϑεμενη, überſetzt Dacier; une choſe generale, c’eſt ce que tout homme d’un tel ou d’un tel caractere, a dire, ou faire vraiſemblablement ou neceſſairement, ce qui eſt le but de la Pœſie lors même, qu’elle impoſe les noms à ſes perſonnages. Vollkommen ſo überſetzt ſie auch Herr Curtius: Das Allgemeine iſt, was einer, vermöge eines gewiſſen Charakters, nach der Wahrſcheinlichkeit oder Nothwendig - keit redet oder thut. Dieſes Allgemeine iſt der Endzweck der Dichtkunſt, auch wenn ſie den Perſonen beſondere Namen beylegt. Auch in ihrer Anmerkung über dieſe Worte, ſtehen beide für einen Mann; der eine ſagt vollkommen eben das, was der andere ſagt. Sie erklären beide, was das Allgemeine iſt; ſie ſagen beide, daß dieſes Allgemeine die Abſicht der Poeſie ſey: aber wie die Poeſie bey Ertheilung der Namen auf dieſes Allgemeine ſieht, davon ſagt keiner ein Wort. Vielmehr zeigt der Franzoſe durch ſein lors même, ſo wie der Deutſche durch ſein auch wenn, offenbar, daß ſie nichts da - von zu ſagen gewußt, ja daß ſie gar nicht ein - mal verſtanden, was Ariſtoteles ſagen wollen. Denn dieſes lors même, dieſes auch wenn, heißt bey ihnen nichts mehr als ob ſchon; und ſie laſſen den Ariſtoteles ſonach blos ſagen, daß ungeachtet die Poeſie ihren PerſonenNamen295Namen von einzeln Perſonen beylege, ſie dem ohngeachtet nicht auf das Einzelne dieſer Per - ſonen, ſondern auf das Allgemeine derſelben gehe. Die Worte des Dacier, die ich in der Note anführen will,(*)Ariſtote previent ici une objection, qu’on pouvoit lui faire, ſur la definition, qu’il vient de donner d’une choſe generale; car les ignorans n’auroit pas manqué de lui dire, qu Homere, par exemple, n’a point en vuë d’ecrire une action generale & univerſelle, mais une action particu - liere, puisqu’il raconte ce qu’ont fait de certains hommes, comme Achille, Aga - memnon, Ulvſſe, &c. & que par conſe - quent, il n’y a aucune difference antre Homere & un Hiſtorien, qui auroit ecrit les actions d’Achille. Le Philoſophe va au devant de cette objection, en faiſant voir que les Poetes, c’eſt a dire, les Au - teurs d’une Tragedie ou d’un Poeme Epi - que, lors meme, qu’ils impoſent les noms à leurs perſonnages ne penſent en aucune maniere à les faire parler veritablement, ce qu’ils ſeroit obligez de faire, s’ils ecri - voient les actions particulieres & verita - bles d’un certain homme, nommé Achille ou Edipe, mais qu’ils ſe propoſent de les faire parler & agir neceſſairement ou vraiſemblablement; c’eſt a dire, de leur faire dire, & faire tout ce que des hom - mes de ce meme caractére devoient faire ()& zeigen dieſes deutlich. Nun296Nun iſt es wahr, daß dieſes eigentlich keinen falſchen Sinn macht; aber es erſchöpft doch auch den Sinn des Ariſtoteles hier nicht. Nicht genug, daß die Poeſie, ungeachtet der von ein - zeln Perſonen genommenen Namen, auf das Allgemeine gehen kann: Ariſtoteles ſagt, daß ſie mit dieſen Namen ſelbſt auf das Allgemeine ziele, ου᾽ ϛοχαζεται. Jch ſollte doch wohl mei - nen, daß beides nicht einerley wäre. Jſt es aber nicht einerley: ſo geräth man nothwendig auf die Frage; wie zielt ſie darauf? Und auf dieſe Frage antworten die Ausleger nichts.

Ham -

(*)& dire en cet etat, ou par neceſsité, ou au moins ſelon les regles de la vraiſemblance; ce qui prouve inconteſtablement que ce ſont des actions generales & univerſelles. Nichts anders ſagt auch Herr Curtius in ſei - ner Anmerkung; nur daß er das Allgemeine und Einzelne noch an Beyſpielen zeigen wol - len, die aber nicht ſo recht beweiſen, daß er auf den Grund der Sache gekommen. Denn ihnen zu Folge würden es nur perſonifirte Charaktere ſeyn, welche der Dichter reden und handeln ließe: da es doch charakteriſirte Perſonen ſeyn ſollen.

[297]

Hamburgiſche Dramaturgie. Neunzigſtes Stück.

Wie ſie darauf ziele, ſagt Ariſtoteles, die - ſes habe ſich ſchon längſt an der Komödie deutlich gezeigt: Επι μεν ου᾽ν της ϰω - μῳδιας ἠδη τουτο δηλον γεγονεν〈…〉〈…〉 συϛησαντες γαρ τον μυϑον δια των ἐιϰοτων, ου῾ω τα τυχοντα ὀνοματα ἐπιτιϑεασι, ϰαι ου᾽χ ὡσπερ οἱ ἰαμβοποιοι περι των καϑ᾽ ἐκαϛον ποιουσιν. Jch muß auch hiervon die Ueberſetzungen des Dacier und Curtius anführen. Dacier ſagt: C’eſt ce qui eſt déja rendu ſenſible dans la Comedie, car les Poetes comiques, après avoir dreſſé leur ſujet ſur la vraiſemblance impoſent après cela à leurs perſonnages tels noms qu’il leur plait, & n’imitent pas le Poetes ſatyriques, qui ne s’attachent qu’aux choſes particulieres. Und Curtius: Jn dem Luſtſpiele iſt dieſes ſchon lange ſichtbar geweſen. Denn wenn die KomödienſchreiberP p den298 den Plan der Fabel nach der Wahrſcheinlichkeit entworfen haben, legen ſie den Perſonen will - kührliche Namen bey, und ſetzen ſich nicht, wie die jambiſchen Dichter, einen beſondern Vorwurf zum Ziele. Was findet man in dieſen Ueberſetzungen von dem, was Ariſtoteles hier vornehmlich ſagen will? Beide laſſen ihn weiter nichts ſagen, als daß die komiſchen Dich - ter es nicht machten wie die Jambiſchen, (das iſt, ſatyriſchen Dichter,) und ſich an das Einzelne hielten, ſondern auf das Allgemeine mit ihren Perſonen giengen, denen ſie willkührliche Namen, tels noms qu’il leur plait, beyleg - ten. Geſetzt nun auch, daß τα τυχοντα ὀνο - ματα dergleichen Namen bedeuten könnten: wo haben denn beide Ueberſetzer das ου῾τω gelaſ - ſen? Schien ihnen denn dieſes ου῾τω gar nichts zu ſagen? Und doch ſagt es hier alles: denn dieſem ου῾τω zu Folge, legten die komiſchen Dich - ter ihren Perſonen nicht allein willkührliche Na - men bey, ſondern ſie legten ihnen dieſe willkühr - liche Namen ſo, ου᾽τω, bey. Und wie ſo? So, daß ſie mit dieſen Namen ſelbſt auf das Allgemeine zielten: ου᾽ ϛοχαζεται ποιησις ὁνοματα ἐπιτιϑεμενη. Und wie geſchah das? Davon finde man mir ein Wort in den Anmer - kungen des Dacier und Curtius!

Ohne weitere Umſchweife: es geſchah ſo, wie ich nun ſagen will. Die Komödie gab ihrenPer -299Perſonen Namen, welche, vermöge ihrer gram - matiſchen Ableitung und Zuſammenſetzung, oder auch ſonſtigen Bedeutung, die Beſchaffenheit dieſer Perſonen ausdrückten: mit einem Worte, ſie gab ihnen redende Namen; Namen, die man nur hören durfte, um ſogleich zu wiſſen, von welcher Art die ſeyn würden, die ſie führen. Jch will eine Stelle des Donatus hierüber an - ziehen. Nomina perſonarum, ſagt er bey Gelegenheit der erſten Zeile in dem erſten Auf - zuge der Brüder, in comœdiis duntaxat, habere debent rationem & etymologiam. Etenim abſurdum eſt, comicum aperte argumentum confingere: vel nomen per - ſonæ incongruum dare vel officium quod ſit a nomine diverſum. (*)Dieſe Periode könnte leicht ſehr falſch ver - ſtanden werden. Nehmlich wenn man ſie ſo verſtehen wollte, als ob Donatus auch das für etwas ungereimtes hielte, Comi - cum aperte argumentum confingere. Und das iſt doch die Meinung des Donatus gar nicht. Sondern er will ſagen: es würde ungereimt ſeyn, wenn der komiſche Dichter, da er ſeinen Stoff offenbar erfindet, gleich - wohl den Perſonen unſchickliche Namen, oder Beſchäftigungen beylegen wollte, die mit ihren Namen ſtritten. Denn freylich, da der Stoff ganz von der Erfindung des Dich - ters iſt, ſo ſtand es ja einzig und allein beyihmHinc ſervusP p 2fidelis300fidelis Parmeno infidelis vel Syrus vel Geta: miles Thraſo vel Polemon: juvenis Pamphilus: matrona Myr - rhina, & puer ab adore Storax: vel a ludo & a geſticulatione Circus: & item ſimilia. In quibus ſummum Poetæ vi - tium eſt, ſi quid e contrario repugnans contrarium diverſumque protulerit, niſi per ἀντιϕρασιν nomen impoſuerit jocula - riter, ut Miſarygrides in Plauto di - citer trapezita. Wer ſich durch noch mehr Beyſpiele hiervon überzeugen will, der darf nur die Namen bey dem Plautus und Terenz unter - ſuchen. Da ihre Stücke alle aus dem Griechi - ſchen genommen ſind: ſo ſind auch die Namen ihrer Perſonen griechiſchen Urſprungs, und ha - ben, der Etymologie nach, immer eine Bezie - hung auf den Stand, auf die Denkungsart, oder auf ſonſt etwas, was dieſe Perſonen mitmeh -(*)ihm, was er ſeiner Perſonen für Namen beylegen, oder was er mit dieſen Namen für einen Stand oder für eine Verrichtung verbinden wollte. Sonach dürfte ſich viel - leicht Donatus auch ſelbſt ſo zweydeutig nicht ausgedrückt haben; und mit Verän - derung einer einzigen Sylbe iſt dieſer Anſtoß vermieden. Man leſe nehmlich entweder: Abſurdum eſt, Comicum aperte argu - mentum confingentem vel nomen per - ſonæ &c. Oder auch aperte argumentum confingere & nomen perſonæ u. ſ. w.301mehrern gemein haben können; wenn wir ſchon ſolche Etymologie nicht immer klar und ſicher angeben können.

Jch will mich bey einer ſo bekannten Sache nicht verweilen: aber wundern muß ich mich, wie die Ausleger des Ariſtoteles ſich ihrer gleich - wohl da nicht erinnern können, wo Ariſtoteles ſo unwiderſprechlich auf ſie verweiſet. Denn was kann nunmehr wahrer, was kann klärer ſeyn, als was der Philoſoph von der Rückſicht ſagt, welche die Poeſie bey Ertheilung der Na - men auf das Allgemeine nimmt? Was kann unleugbarer ſeyn, als daß ἐπι μεν της ϰωμῳ - διας ἠδη τουτο δηλον γεγονεν, daß ſich dieſe Rückſicht bey der Komödie beſonders längſt of - fenbar gezeigt habe? Von ihrem erſten Urſprun - ge an, das iſt, ſobald ſich die Jambiſchen Dich - ter von dem Beſondern zu dem Allgemeinen er - hoben, ſobald aus der beleidigenden Satyre die unterrichtende Komödie entſtand: ſuchte man jenes Allgemeine durch die Namen ſelbſt anzu - deuten. Der großſprecheriſche feige Soldat hieß nicht wie dieſer oder jener Anführer aus dieſem oder jenem Stamme: er hieß Pyrgopo - linices, Hauptmann Mauerbrecher. Der elende Schmaruzer, der dieſem um das Maul gieng, hieß nicht, wie ein gewiſſer armer Schlucker in der Stadt: er hieß Artotrogus, Brockenſchröter. Der Jüngling, welcherP p 3durch302durch ſeinen Aufwand, beſonders auf Pferde, den Vater in Schulden ſetzte, hieß nicht, wie der Sohn dieſes oder jenes edeln Bürgers: er hieß Phidippides, Junker Spaarroß.

Man könnte einwenden, daß dergleichen be - deutende Namen wohl nur eine Erfindung der neuern Griechiſchen Komödie ſeyn dürften, deren Dichtern es ernſtlich verbothen war, ſich wah - rer Namen zu bedienen; daß aber Ariſtoteles dieſe neuere Komödie nicht gekannt habe, und folglich bey ſeinen Regeln keine Rückſicht auf ſie nehmen können. Das Letztere behauptet Hurd;(*)Hurd in ſeiner Abhandlung über die ver - ſchiedenen Gebiete des Drama: From the account of Comedy, here given, it may appear, that the idea of this drama is much enlarged beyond what it was in Ariſtotle’s time; who defines it to be, an imitation of light and trivial actions, provoking ridicule. His notion was taken from the ſtate and practice of the Athenian ſtage; that is from the old or middle comedy, which anſwer to this deſcription. The great revolution, which the introduction of the new co - medy made in the drama, did not hap - pen till afterwards. Aber dieſes nimmt Hurd blos an, damit ſeine Erklärung der Komödie mit der Ariſtoteliſchen nicht ſo ge - rade zu zu ſtreiten ſcheine. Ariſtoteles hatdie aber es iſt eben ſo falſch, als falſches303es iſt, daß die ältere Griechiſche Komödie ſich nur wahrer Namen bedient habe. Selbſt inden -(*)die Neue Komödie allerdings erlebt, und er gedenkt ihrer namentlich in der Mo - ral an den Nicomachus, wo er von dem an - ſtändigen und unanſtändigen Scherze han - delt. (Lib. IV. cap. 14.) Ἰδοι δ ἀν τις και ἐϰ των ϰωμῳδιων των παλαιων ϰαι των ϰαινων. Τοις μεν γαρ ἠν γελοιον ἀισχρολογια τοις δε μαλλον, η ὐπονια. Man könnte zwar ſagen, daß unter der Neuen Komödie hier die Mittlere ver - ſtanden werde; denn als noch keine Neue geweſen, habe nothwendig die Mittlere die Neue heiſſen müſſen. Man könnte hinzu - ſetzen, daß Ariſtoteles in eben der Olym - piade geſtorben, in welcher Menander ſein erſtes Stück aufführen laſſen, und zwar noch das Jahr vorher. (Euſebius in Chronico ad Olymp. CXIV. 4.) Allein man hat Un - recht, wenn man den Anfang der Neuen Ko - mödie von dem Menander rechnet; Menan - der war der erſte Dichter dieſer Epoche, dem poetiſchen Werthe nach, aber nicht der Zeit nach. Philemon, der dazu gehört, ſchrieb viel früher, und der Uebergang von der Mittlern zur Neuen Komödie war ſo un - merklich, daß es dem Ariſtoteles unmöglich an Muſtern derſelben kann gefehlt haben. Ariſtophanes ſelbſt hatte ſchon ein ſolches Muſter gegeben; ſein Kokalos war ſo beſchaffen, wie ihn Philemon ſich mit weni -gen304denjenigen Stücken, deren vornehmſte, einzige Abſicht es war, eine gewiſſe bekannte Perſon lächerlich und verhaßt zu machen, waren, außer dem wahren Namen dieſer Perſon, die übrigen faſt alle erdichtet, und mit Beziehung auf ihren Stand und Charakter erdichtet.

Ham -

(*)gen Veränderungen zueignen konnte: Κοϰα - λον, heißt es in dem Leben des Ariſtophanes, ἐν ἐισαγει φϑοϱαν ϰαι ἀναγνωρισ - μον, ϰαι τἀλλα παντα ἐζηλοσε Με - νανδρος. Wie nun alſo Ariſtophanes Mu - ſter von allen verſchiedenen Abänderungen der Komödie gegeben, ſo konnte auch Ari - ſtoteles ſeine Erklärung der Komödie über - haupt auf ſie alle einrichten. Das that er denn; und die Komödie hat nachher keine Erweiterung bekommen, für welche dieſe Er - klärung zu enge geworden wäre. Hurd hätte ſie nur recht verſtehen dürfen; und er würde gar nicht nöthig gehabt haben, um ſeine an und für ſich richtigen Begriffe von der Komödie außer allen Streit mit den Ariſtoteliſchen zu ſetzen, ſeine Zuflucht zu der vermeintlichen Unerfahrenheit des Ari - ſtoteles zu nehmen.

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Hamburgiſche Dramaturgie. Ein und neunzigſtes Stück.

Ja die wahren Namen ſelbſt, kann man ſa - gen, giengen nicht ſelten mehr auf das Allgemeine, als auf das Einzelne. Un - ter dem Namen Sokrates wollte Ariſtophanes nicht den einzeln Sokrates, ſondern alle Sophi - ſten, die ſich mit Erziehung junger Leute be - mengten, lächerlich und verdächtig machen. Der gefährliche Sophiſt überhaupt war ſein Gegenſtand, und er nannte dieſen nur Sokra - tes, weil Sokrates als ein ſolcher verſchrieen war. Daher eine Menge Züge, die auf den Sokrates gar nicht paßten; ſo daß Sokrates in dem Theater getroſt aufſtehen, und ſich der Vergleichung Preis geben konnte! Aber wie ſehr verkennt man das Weſen der Komödie, wenn man dieſe nicht treffende Züge für nichts als muthwillige Verleumdungen erklärt, und ſie durchaus dafür nicht erkennen will, was ſieQ qdoch306doch ſind, für Erweiterungen des einzeln Cha - rakters, für Erhebungen des Perſönlichen zum Allgemeinen!

Hier ließe ſich von dem Gebrauche der wah - ren Namen in der Griechiſchen Komödie über - haupt verſchiednes ſagen, was von den Gelehr - ten ſo genau noch nicht aus einander geſetzt wor - den, als es wohl verdiente. Es ließe ſich an - merken, daß dieſer Gebrauch keinesweges in der ältern Griechiſchen Komödie allgemein ge - weſen,(*)Wenn, nach dem Ariſtoteles, das Schema der Komödie von dem Margites des Homer, ου᾽ ψογον, ἀλλα το γελοιον δϱαματο - ποιησαντος, genommen worden: ſo wird man, allem Anſehen nach, auch gleich An - fangs die erdichteten Namen mit eingeführt haben. Denn Margites war wohl nicht der wahre Name einer gewiſſen Perſon: indem Μαϱγειτης, wohl eher von μαϱγης gemacht worden, als daß μαϱγης von Μαργειτης ſollte entſtanden ſeyn. Von verſchiednen Dichtern der alten Komödie finden wir es auch ausdrücklich angemerkt, daß ſie ſich al - ler Anzüglichkeiten enthalten, welches bey wahren Namen nicht möglich geweſen wäre. Z. E. von dem Pherekrates. daß ſich nur der und jener Dichter gelegentlich deſſelben erkühnet,(**)Die perſönliche und namentliche Satyre war ſo wenig eine weſentliche Eigenſchaft der al -ten daß erfolg -307folglich nicht als ein unterſcheidendes Merkmal dieſer Epoche der Komödie zu betrachten. (*)Welches gleichwohl faſt immer geſchieht. Ja man geht noch weiter, und will behaupten, daß mit den wahren Namen auch wahre Be - gebenheiten verbunden geweſen, an welchen die Erfindung des Dichters keinen Theil ge -habt.Q q 2Es(**)ten Komödie, daß man vielmehr denjenigen ihrer Dichter gar wohl kennet, der ſich ihrer zuerſt erkühnet. Es war Cratinus, welcher zuerſt τῳ χαϱιεντι της ϰωμῳδιας το ὠϕελιμον πϱοσεϑηϰε, τους ϰαϰως πϱατ - τοντας διαβαλλων, ϰαι ὡσπερ δημοσιᾳ μαϛιγι τῃ ϰωμῳδια ϰολαζων. Und auch dieſer wagte ſich nur Anfangs an gemeine verworfene Leute, von deren Ahndung er nichts zn befürchten hatte. Ariſtophanes wollte ſich die Ehre nicht nehmen laſſen, daß er es ſey, welcher ſich zuerſt an die Großen des Staats gewagt habe: (Ir. v. 750.) Ουϰ ἰδιωτας ἀνϑϱωπισϰους ϰωμῳδων, ου᾽δε γυναιϰας, Αλλ᾽ Ἡϱαϰλεους ὀϱγην τιν᾽ ἐχων, τοισι μεγιϛοις ἐπιχειϱει.Ja er hätte lieber gar dieſe Kühnheit als ſein eigenes Privilegium betrachten mögen. Er war höchſt eiferſüchtig, als er ſahe, daß ihn ſo viele andere Dichter, die er verach - tete, darinn nachfolgten.308Es ließe ſich zeigen, daß als er endlich durch ausdrückliche Geſetze unterſagt war, doch nochim -(*)habt. Dacier ſelbſt ſagt: Ariſtote n’a pu vouloir dire qu Epicharmus & Phormis inventerent les ſujets de leurs pieces, puisque l’un & l’autre ont été des Poëtes de la vieille Comedie, ou il n’y avoit rien de feint, & que ces avantures fein - tes ne commencerent à etre miſes ſur le theater, que du tems d Alexander le Grand, c’eſt à dire dans la nouvelle Co - medie. (Remarque ſur le Chap. V. de la Poet. d Ariſt.) Man ſollte glau - ben, wer ſo etwas ſagen könne, müßte nie auch nur einen Blick in den Ariſtophanes gethan haben. Das Argument, die Fabel der alten Griechiſchen Komödie war eben ſo - wohl erdichtet, als es die Argumente und Fabeln der Neuen nur immer ſeyn konnten. Kein einziges von den übrig gebliebenen Stücken des Ariſtophanes ſtellt eine Bege - benheit vor, die wirklich geſchehen wäre: und wie kann man ſagen, daß ſie der Dich - ter deswegen nicht erfunden, weil ſie zum Theil auf wirkliche Begebenheiten anſpielt? Wenn Ariſtoteles als ausgemacht annimmt, ὁτι τον ποιητην μαλλον των μυϑων εἰναι δει ποιητην, των μετϱων: würde er nicht ſchlechterdings die Verfaſſer der alten Griechiſchen Komödie aus der Klaſſe der Dichter haben ausſchließen müſſen, wenn er geglaubt hätte, daß ſie die Argumenteihrer309immer gewiſſe Perſonen von dem Schutze dieſer Geſetze entweder namentlich ausgeſchloſſen wa - ren, oder doch ſtillſchweigend für ausgeſchloſſen gehalten wurden. Jn den Stücken des Me - nanders ſelbſt, wurden noch Leute genug bey ih - ren wahren Namen genannt und lächerlich ge - macht. (*)Mit der Strenge, mit welcher Plato das Verboth, jemand in der Komödie lächerlichzuDoch ich muß mich nicht aus einer Ausſchweifung in die andere verlieren.

Q q 3Jch

(*)ihrer Stücke nicht erfunden? Aber ſo wie es, nach ihm, in der Tragödie gar wohl mit der poetiſchen Erfindung beſtehen kann, daß Namen und Umſtände aus der wahren Geſchichte entlehnt ſind: ſo muß es, ſeiner Meinung nach, auch in der Komödie beſte - hen können. Es kann unmöglich ſeinen Be - griffen gemäß geweſen ſeyn, daß die Komödie dadurch, daß ſie wahre Namen brauche, und auf wahre Begeheiten anſpiele, wiederum in die Jambiſche Schmähſucht zurück falle: vielmehr muß er geglaubt haben, daß ſich das ϰαϑολου ποιειν λογους η μυϑους gar wohl damit vertrage. Er geſteht die - ſes den älteſten komiſchen Dichtern, dem Epicharmus, dem Phormis und Krates zu, und wird es gewiß dem Ariſtophanes nicht abgeſprochen haben, ob er ſchon wußte, wie ſehr er nicht allein den Kleon und Hyperbo - lus, ſondern auch den Perikles und Sokra - tes namentlich mitgenommen.

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Jch will nur noch die Anwendung auf die wahren Namen der Tragödie machen. So wie der Ariſtophaniſche Sokrates nicht den einzeln Mann dieſes Namens vorſtellte, noch vorſtellen ſollte; ſo wie dieſes perſonifirte Jdeal einer ei - teln und gefährlichen Schulweisheit nur darum den Namen Sokrates bekam, weil Sokrates als ein ſolcher Täuſcher und Verführer zum Theil bekannt war, zum Theil noch bekannter werden ſollte; ſo wie blos der Begriff von Stand und Charakter, den man mit dem Na - men Sokrates verband und noch näher verbin - den ſollte, den Dichter in der Wahl des Na - mens beſtimmte: ſo iſt auch blos der Begriff des Charakters, den wir mit den Namen Re -gulus,(*)zu machen, in ſeiner Republik einführen wollte, (μητε λογῳ, μητε εἰϰονι, μητε ϑυμῳ, μητε ἀνευ ϑυμου, μηδαμως μη - δενα των πολιτων ϰωμῳαδειν) iſt in der wirklichen Republik niemals darüber gehal - ten worden. Jch will nicht anführen, daß in den Stücken des Menander noch ſo man - cher Cyniſche Philoſoph, noch ſo manche Buhlerinn mit Namen genennt ward: man könnte antworten, daß dieſer Abſchaum von Menſchen nicht zu den Bürgern gehört. Aber Kteſippus, der Sohn des Chabrias, war doch gewiß Athenienſiſcher Bürger, ſo gut wie einer: und man ſehe, was Menan - der von ihm ſagte. (Menandri Fr. p. 137. Edit. Cl.)311gulus, Cato, Brutus zu verbinden gewohnt ſind, die Urſache, warum der tragiſche Dichter ſeinen Perſonen dieſe Namen ertheilet. Er führt einen Regulus, einen Brutus auf, nicht um uns mit den wirklichen Begegniſſen dieſer Män - ner bekannt zu machen, nicht um das Gedächt - niß derſelben zu erneuern: ſondern um uns mit ſolchen Begegniſſen zu unterhalten, die Män - nern von ihrem Charakter überhaupt begegnen können und müſſen. Nun iſt zwar wahr, daß wir dieſen ihren Charakter aus ihren wirklichen Begegniſſen abſtrahiret haben: es folgt aber doch daraus nicht, daß uns auch ihr Charakter wieder auf ihre Begegniſſe zurückführen müſſe; er kann uns nicht ſelten weit kürzer, weit natür - licher auf ganz andere bringen, mit welchen jene wirkliche weiter nichts gemein haben, als daß ſie mit ihnen aus einer Quelle, aber auf unzu - verfolgenden Umwegen und über Erdſtriche her - gefloſſen ſind, welche ihre Lauterheit verdorben haben. Jn dieſem Falle wird der Poet jene er - fundene den wirklichen ſchlechterdings vorzie - hen, aber den Perſonen noch immer die wahren Namen laſſen. Und zwar aus einer doppelten Urſache: einmal, weil wir ſchon gewohnt ſind, bey dieſen Namen einen Charakter zu denken, wie er ihn in ſeiner Allgemeinheit zeiget; zwey - tens, weil wirklichen Namen auch wirkliche Begebenheiten anzuhängen ſcheinen, und alles,was312was einmal geſchehen, glaubwürdiger iſt, als was nicht geſchehen. Die erſte dieſer Urſachen fließt aus der Verbindung der Ariſtoteliſchen Begriffe überhaupt; ſie liegt zum Grunde, und Ariſtoteles hatte nicht nöthig, ſich umſtändlicher bey ihr zu verweilen; wohl aber bey der zwey - ten, als einer von anderwärts noch dazu kom - menden Urſache. Doch dieſe liegt itzt außer meinem Wege, und die Ausleger insgeſamt ha - ben ſie weniger mißverſtanden als jene.

Nun alſo auf die Behauptung des Diderot zurück zu kommen. Wenn ich die Lehre des Ariſtoteles richtig erklärt zu haben, glauben darf: ſo darf ich auch glauben, durch meine Er - klärung bewieſen zu haben, daß die Sache ſelbſt unmöglich anders ſeyn kann, als ſie Ariſtoteles lehret. Die Charaktere der Tragödie müſſen eben ſo allgemein ſeyn, als die Charaktere der Komödie. Der Unterſchied, den Diderot be - hauptet, iſt falſch: oder Diderot muß unter der Allgemeinheit eines Charakters ganz etwas anders verſtehen, als Ariſtoteles darunter ver - ſtand.

Ham -[313]

Hamburgiſche Dramaturgie. Zwey und neunzigſtes Stück.

Und warum könnte das Letztere nicht ſeyn? Finde ich doch noch einen andern, nicht minder trefflichen Kunſtrichter, der ſich faſt eben ſo ausdrückt als Diderot, faſt eben ſo gerade zu dem Ariſtoteles zu widerſprechen ſcheint, und gleichwohl im Grunde ſo wenig widerſpricht, daß ich ihn vielmehr unter allen Kunſtrichtern für denjenigen erkennen muß, der noch das meiſte Licht über dieſe Materie ver - breitet hat.

Es iſt dieſes der engliſche Commentator der Horaziſchen Dichtkunſt, Hurd: ein Schrift - ſteller aus derjenigen Klaſſe, die durch Ueber - ſetzungen bey uns immer am ſpäteſten bekannt werden. Jch möchte ihn aber hier nicht gern anpreiſen, um dieſe ſeine Bekanntmachung zu beſchleunigen. Wenn der Deutſche, der ihrR rge -314gewachſen wäre, ſich noch nicht gefunden hat: ſo dürften vielleicht auch der Leſer unter uns noch nicht viele ſeyn, denen daran gelegen wäre. Der fleißige Mann, voll guten Willens, übereile ſich alſo lieber damit nicht, und ſehe, was ich von einem noch unüberſetzten gutem Buche hier ſage, ja für keinen Wink an, den ich ſeiner allezeit fertigen Feder geben wollen.

Hurd hat ſeinem Commentar eine Abhand - lung, über die verſchiednen Gebiete des Drama, beygefügt. Denn er glaubte bemerkt zu haben, daß bisher nur die allgemei - nen Geſetze dieſer Dichtungsart in Erwägung gezogen worden, ohne die Grenzen der verſchied - nen Gattungen derſelben feſtzuſetzen. Gleich - wohl müſſe auch dieſes geſchehen, um von dem eigenen Verdienſte einer jeden Gattung insbe - ſondere ein billiges Urtheil zu fällen. Nach - dem er alſo die Abſicht des Drama überhaupt, und der drey Gattungen deſſelben, die er vor ſich findet, der Tragödie, der Komödie und des Poſſenſpiels, insbeſondere feſtgeſetzt: ſo folgert er, aus jener allgemeinen und aus dieſen beſon - dern Abſichten, ſowohl diejenigen Eigenſchaften, welche ſie unter ſich gemein haben, als diejeni - gen, in welchen ſie von einander unterſchieden ſeyn müſſen.

Unter315

Unter die letztern rechnet er, in Anſehung der Komödie und Tragödie, auch dieſe, daß der Tragödie eine wahre, der Komödie hingegen eine erdichtete Begebenheit zuträglicher ſey. Hierauf fährt er fort: The ſame genius in the two dramas is obſervable, in their draught of characters. Comedy makes all its characters general; Tragedy, particular. The Avare of Moliere is not ſo properly the picture of a co - vetous man, as of covetousneß it - ſelf. Racine’s Nero on the other hand, is not a picture of cruelty, but of a cruel man. D. i. Jn dem nehmlichen Geiſte ſchildern die zwey Gattungen des Drama auch ihre Charaktere. Die Ko - mödie macht alle ihre Charaktere general; die Tragödie partikular. Der Geitzige des Moliere iſt nicht ſo eigentlich das Gemählde eines geitzigen Mannes, als des Geitzes ſelbſt. Racinens Nero hingegen iſt nicht das Gemählde der Grauſamkeit, ſondern nur eines grauſamen Mannes.

Hurd ſcheinet ſo zu ſchließen: wenn die Tra - gödie eine wahre Begebenheit erfodert, ſo müſ - ſen auch ihre Charaktere wahr, das iſt, ſo be - ſchaffen ſeyn, wie ſie wirklich in den Jndividuis exiſtiren; wenn hingegen die Komödie ſich mitR r 2er -316erdichteten Begebenheiten begnügen kann, wenn ihr wahrſcheinliche Begebenheiten, in welchen ſich die Charaktere nach allen ihrem Umfange zei - gen können, lieber ſind, als wahre, die ihnen einen ſo weiten Spielraum nicht erlauben, ſo dürfen und müſſen auch ihre Charaktere ſelbſt allgemeiner ſeyn, als ſie in der Natur exiſtiren; angeſehen dem Allgemeinen ſelbſt, in unſerer Ein - bildungskraft eine Art von Exiſtenz zukömmt, die ſich gegen die wirkliche Exiſtenz des Einzeln eben wie das Wahrſcheinliche zu dem Wahren verhält.

Jch will itzt nicht unterſuchen, ob dieſe Art zu ſchließen nicht ein bloßer Zirkel iſt: ich will die Schlußfolge blos annehmen, ſo wie ſie da liegt, und wie ſie der Lehre des Ariſtoteles ſchnurſtracks zu widerſprechen ſcheint. Doch, wie geſagt, ſie ſcheint es blos, welches aus der weitern Erklärung des Hurd erhellet.

Es wird aber, fährt er fort, hier dienlich ſeyn, einer doppelten Verſtoßung vorzu - bauen, welche der eben angeführte Grundſatz zu begünſtigen ſcheinen könnte.

Die erſte betrift die Tragödie, von der ich geſagt habe, daß ſie partikuläre Charaktere zeige. Jch meine, ihre Charaktere ſind par - tiku -317 tikulärer, als die Charaktere der Komödie. Das iſt: die Abſicht der Tragödie verlangt es nicht und erlaubt es nicht, daß der Dichter von den charakteriſtiſchen Umſtänden, durch welche ſich die Sitten ſchildern, ſo viele zuſam - men zieht, als die Komödie. Denn in jener wird von dem Charakter nicht mehr gezeigt, als ſo viel der Verlauf der Handlung unum - gänglich erfodert. Jn dieſer hingegen werden alle Züge, durch die er ſich zu unterſcheiden pflegt, mit Fleiß aufgeſucht und angebracht.

Es iſt faſt, wie mit dem Portraitmahlen. Wenn ein großer Meiſter ein einzelnes Ge - ſicht abmahlen ſoll, ſo giebt er ihm alle die Li - neamente, die er in ihm findet, und macht es Geſichtern von der nehmlichen Art nur ſo weit ähnlich, als es ohne Verletzung des allerge - ringſten eigenthümlichen Zuges geſchehen kann. Soll eben derſelbe Künſtler hingegen einen Kopf überhaupt mahlen, ſo wird er alle die gewöhnlichen Mienen und Züge zuſammen an - zubringen ſuchen, von denen er in der geſamm - ten Gattung bemerkt hat, daß ſie die Jdee am kräftigſten ausdrücken, die er ſich itzt in Ge - danken gemacht hat, und in ſeinem Gemählde darſtellen will.

Eben ſo unterſcheiden ſich die Schildereyen der beiden Gattungen des Drama: worausR r 3 denn318 denn erhellet, daß, wenn ich den tragiſchen Charakter partikular nenne, ich blos ſa - gen will, daß er die Art, zu welcher er gehö - ret, weniger vorſtellig macht, als der komi - ſche; nicht aber, daß das, was man von dem Charakter zu zeigen für gut befindet, es mag nun ſo wenig ſeyn, als es will, nicht nach dem Allgemeinen entworfen ſeyn ſollte, als wovon ich das Gegentheil anderwärts be - hauptet und umſtändlich erläutert habe. (*)Bey den Verſen der Horaziſchen Dichtkunſt: Reſpicere exemplar vitæ morumque ju - bebo Doctum imitatorem, & veras hinc ducere voces, wo Hurd zeiget, daß die Wahrheit, welche Horaz hier verlangt, einen ſolchen Ausdruck bedeute, als der all - gemeinen Natur der Dinge gemäß iſt; Falſchheit hingegen das heiſſe, was zwar dem vorhabenden beſondern Falle angemeſ - ſen, aber nicht mit jener allgemeinen Natur übereinſtimmend ſey.

Was zweytens die Komödie anbelangt, ſo habe ich geſagt, daß ſie generale Cha - raktere geben müſſe, und habe zum Beyſpiele den Geitzigen des Moliere angeführt, der mehr der Jdee des Geitzes, als eines wirk - lichen geitzigen Mannes entſpricht. Doch auch hier muß man meine Worte nicht in aller ihrer Strenge nehmen. Moliere dünkt mich in319 in dieſem Beyſpiele ſelbſt fehlerhaft; ob es ſchon ſonſt, mit der erforderlichen Erklärung, nicht ganz unſchicklich ſeyn wird, meine Mei - nung begreiflich zu machen.

Da die komiſche Bühne die Abſicht hat, Charaktere zu ſchildern, ſo meine ich kann dieſe Abſicht am vollkommenſten erreicht werden, wenn ſie dieſe Charaktere ſo allgemein macht, als möglich. Denn indem auf dieſe Weiſe die in dem Stücke aufgeführte Perſon gleichſam der Repreſentant aller Charaktere dieſer Art wird, ſo kann unſere Luſt an der Wahrheit der Verſtellung ſo viel Nahrung darinn fin - den, als nur möglich. Es muß aber ſodann dieſe Allgemeinheit ſich nicht bis auf unſern Begriff von den möglichen Wirkungen des Charakters, im Abſtracto betrachtet, erſtrecken, ſondern nur bis auf die wirkliche Aeußerung ſeiner Kräfte, ſo wie ſie von der Erfahrung gerechtfertiget werden, und im gemeinen Leben Statt finden können. Hierinn haben Moliere, und vor ihm Plautus, gefehlt; ſtatt der Ab - bildung eines geitzigen Mannes, haben ſie uns eine grillenhafte widrige Schilderung der Leidenſchaft des Geitzes gegeben. Jch nenne es eine grillenhafte Schilde - rung, weil ſie kein Urbild in der Natur hat. Jch nenne es eine widrige Schilderung; denn320 denn da es die Schilderung einer einfachen unvermiſchten Leidenſchaft iſt, ſo feh - len ihr alle die Lichter und Schatten, deren richtige Verbindung allein ihr Kraft und Le - ben ertheilen könnte. Dieſe Lichter und Schat - ten ſind die Vermiſchung verſchiedener Leiden - ſchaften, welche mit der vornehmſten oder herrſchenden Leidenſchaft zuſammen den menſchlichen Charakter ausmachen; und dieſe Vermiſchung muß ſich in jedem dramatiſchen Gemählde von Sitten finden, weil es zuge - ſtanden iſt, daß das Drama vornehmlich das wirkliche Leben abbilden ſoll. Doch aber muß die Zeichnung der herrſchenden Leidenſchaft ſo allgemein entworfen ſeyn, als es ihr Streit mit den andern in der Natur nur immer zulaſ - ſen will, damit der vorzuſtellende Charakter ſich deſto kräftiger ausdrücke.

Ham -[321]

Hamburgiſche Dramaturgie. Drey und neunzigſtes Stück.

Alles dieſes läßt ſich abermals aus der Mahlerey ſehr wohl erläutern. Jn charakteriſtiſchen Porträten, wie wir diejenigen nennen können, welche eine Ab - bildung der Sitten geben ſollen, wird der Artiſt, wenn er ein Mann von wirklicher Fäh - igkeit iſt, nicht auf die Möglichkeit einer ab - ſtrakten Jdee losarbeiten. Alles was er ſich vornimmt zu zeigen, wird dieſes ſeyn, daß ir - gend eine Eigenſchaft die herrſchende iſt; dieſe drückt er ſtark, und durch ſolche Zeichen aus, als ſich in den Wirkungen der herrſchen - den Leidenſchaft am ſichtbarſten äußern. Und wenn er dieſes gethan hat, ſo dürfen wir, nach der gemeinen Art zu reden, oder, wenn man will, als ein Compliment gegen ſeine Kunſt, gar wohl von einem ſolchen Portraite ſagen, daß es uns nicht ſowohl den Menſchen, alsS s die322 die Leidenſchaft zeige; gerade ſo, wie die Alten von der berühmten Bildſäule des Apollodorus vom Silanion angemerkt haben, daß ſie nicht ſowohl den zornigen Apollodorus, als die Lei - denſchaft des Zornes vorſtelle. (*)Non hominem ex ære fecit, ſed iracun - diam. Plinius libr. 34. 8. ()Dieſes aber muß blos ſo verſtanden werden, daß er die hauptſächlichen Züge der vorgebildeten Lei - denſchaft gut ausgedrückt habe. Denn im Uebrigen behandelt er ſeinen Vorwurf eben ſo, wie er jeden andern behandeln würde: das iſt, er vergißt die mitverbundenen Eigen - ſchaften nicht, und nimmt das allgemeine Ebenmaaß und Verhältniß, welches man an einer menſchlichen Figur erwartet, in Acht. Und das heißt denn die Natur ſchildern, wel - che uns kein Beyſpiel von einem Menſchen giebt, der ganz und gar in eine einzige Leiden - ſchaft verwandelt wäre. Keine Metamorpho - ſis könnte ſeltſamer und unglaublicher ſeyn. Gleichwohl ſind Portraite, in dieſem tadelhaf - ten Geſchmacke verfertiget, die Bewunderung gemeiner Gaffer, die, wenn ſie in einer Samm - lung das Gemählde, z. E. eines Geitzigen, (denn ein gewöhnlicheres giebt es wohl in dieſer Gattung nicht,) erblicken, und nach dieſer Jdee jede Muſkel, jeden Zug angeſtrenget, verzerret und überladen finden, ſicherlich nicht er -323 ermangeln, ihre Billigung und Bewunderung darüber zu äußern. Nach dieſem Begriffe der Vortrefflichkeit würde Le Bruns Buch von den Leidenſchaften, eine Folge der beſten und richtigſten moraliſchen Portraite enthalten: und die Charaktere des Theo - phraſts müßten, in Abſicht auf das Drama, den Charaktern des Terenz weit vorzuziehen ſeyn.

Ueber das erſtere dieſer Urtheile, würde jeder Virtuoſe in den bildenden Künſten unſtreitig lachen. Das letztere aber, fürchte ich, dürf - ten wohl nicht alle ſo ſeltſam finden; wenig - ſtens, nach der Praxis verſchiedener unſerer beſten komiſchen Schriftſteller und nach dem Beyfalle zu urtheilen, welchen dergleichen Stücke gemeiniglich gefunden haben. Es lieſſen ſich leicht faſt aus allen charakteriſtiſchen Komödien Beyſpiele anführen. Wer aber die Ungereimtheit, dramatiſche Sitten nach abſtrakten Jdeen auszuführen, in ihrem völli - gen Lichte ſehen will, der darf nur B. Johnſons Jedermann aus ſeinem Humor(*)Beym B. Johnſon ſind zwey Komödien, die er vom Humor benennt hat: die eine Every Man in his Humour, und die an - dere Every Man out of his Humour. DasS s 2 vor324 vor ſich nehmen; welches ein charakteriſtiſches Stück ſeyn ſoll, in der That aber nichts als eine(*)Das Wort Humor war zu ſeiner Zeit auf - gekommen, und wurde auf die lächerlichſte Weiſe gemißbraucht. Sowohl dieſen Miß - brauch, als den eigentlichen Sinn deſſelben, bemerkt er in folgender Stelle ſelbſt:As when ſome one peculiar quality Doth ſo poſſeß a Man, that it doth draw All his affects, his ſpirits, and his powers, In their conſtructions, all to run one way, This may be truly ſaid to be a hu - mour. But that a rook by wearing a py’d feather, The cable hatband, or the three-pil’d ruff, A yard of ſhoe-tye, or the Switzer’s knot On his French garters, ſhould affect a humour! O, it is more than moſt ridiculous. ()Jn der Geſchichte des Humors ſind beide Stücke des Johnſon alſo ſehr wichtige Do - kumente, und das letztere noch mehr als das erſtere. Der Humor, den wir den Eng - ländern itzt ſo vorzüglich zuſchreiben, war damals bey ihnen großen Theils Affecta - tion; und vornehmlich dieſe Affectation -cher -325 eine unnatürliche, und wie es die Mahler nen - nen würden, harte Schilderung einer GruppeS s 3 von(*)cherlich zu machen, ſchilderte Johnſon Hu - mor. Die Sache genau zu nehmen, müßte auch nur der affectirte, und nie der wahre Humor ein Gegenſtand der Komödie ſeyn. Denn nur die Begierde, ſich von andern aus - zuzeichnen, ſich durch etwas Eigenthümliches merkbar zu machen, iſt eine allgemeine menſchliche Schwachheit, die, nach Be - ſchaffenheit der Mittel, welche ſie wählet, ſehr lächerlich, oder auch ſehr ſtrafbar wer - den kann. Das aber, wodurch die Natur ſelbſt, oder eine anhaltende zur Natur ge - wordene Gewohnheit, einen einzeln Men - ſchen von allen andern auszeichnet, iſt viel zu ſpeciell, als daß es ſich mit der allgemei - nen philoſophiſchen Abſicht des Drama ver - tragen könnte. Der überhäufte Humor in vielen Engliſchen Stücken, dürfte ſonach auch wohl das Eigene, aber nicht das Beſſere derſelben ſeyn. Gewiß iſt es, daß ſich in dem Drama der Alten keine Spur von Hu - mor findet. Die alten dramatiſchen Dichter wußten das Kunſtſtück, ihre Perſonen auch ohne Humor zu individualiſiren: ja die al - ten Dichter überhaupt. Wohl aber zeigen die alten Geſchichtſchreiber und Redner dann und wann Humor; wenn nehmlich die hi - ſtoriſche Wahrheit, oder die Aufklärung ei - nes gewiſſen Facti, dieſe genaue Schilderung ϰαϑ᾽ ἑϰαϛον erfodert. Jch habe Exempel davon fleißig geſammelt, die ich auch blosdarum326 von für ſich beſtehenden Leidenſchaf - ten iſt, wovon man das Urbild in dem wirk - lichen Leben nirgends findet. Dennoch hat dieſe Komödie immer ihre Bewunderer gehabt; und beſonders muß Randolph von ihrer Einrichtung ſehr bezaubert geweſen ſeyn, weil er ſie in ſeinem Spiegel der Muſe aus - drücklich nachgeahmet zu haben ſcheint.

Auch

(*)darum in Ordnung bringen zu können wünſch - te, um gelegentlich einen Fehler wieder gut zu machen, der ziemlich allgemein geworden iſt. Wir überſetzen nehmlich itzt, faſt durch - gängig, Humor durch Laune; und ich glaube mir bewußt zu ſeyn, daß ich der erſte bin, der es ſo überſetzt hat. Jch habe ſehr un - recht daran gethan, und ich wünſchte, daß man mir nicht gefolgt wäre. Denn ich glaube es unwiderſprechlich beweiſen zu kön - nen, daß Humor und Laune ganz verſchie - dene, ja in gewiſſem Verſtande gerade ent - gegen geſetzte Dinge ſind. Laune kann zu Humor werden; aber Humor iſt, außer die - ſem einzigen Falle, nie Laune. Jch hätte die Abſtammung unſers deutſchen Worts und den gewöhnlichen Gebrauch deſſelben, beſſer unterſuchen und genauer erwägen ſol - len. Jch ſchloß zu eilig, weil Laune das Franzöſiſche Humeur ausdrücke, daß es auch das Engliſche Humour ausdrücken könnte: aber die Franzoſen ſelbſt können Humour nicht durch Humeur überſetzen. Von

327

Auch hierinn, müſſen wir anmerken, iſt Shakeſpear, ſo wie in allen andern noch we - ſentlichern Schönheiten des Drama, ein voll - kommenes Muſter. Wer ſeine Komödien in dieſer Abſicht aufmerkſam durchleſen will, wird finden, daß ſeine auch noch ſo kräftig gezeichneten Charaktere, den größten Theil ihrer Rollen durch, ſich vollkommen wie alle andere ausdrücken, und ihre weſent - lichen(*)Von den genannten zwey Stücken des John - ſon hat das erſte, Jedermann in ſei - nem Humor, den vom Hurd hier gerüg - ten Fehler weit weniger. Der Humor, den die Perſonen deſſelben zeigen, iſt weder ſo individuell, noch ſo überladen, daß er mit der gewöhnlichen Natur nicht beſtehen könn - te; ſie ſind auch alle zu einer gemeinfchaft - lichen Handlung ſo ziemlich verbunden. Jn dem zweyten hingegen, Jedermann aus ſeinem Humor, iſt faſt nicht die geringſte Fabel; es treten eine Menge der wunderlich - ſten Narren nach einander auf, man weis weder wie, noch warum; und ihr Geſpräch iſt überall durch ein Paar Freunde des Ver - faſſers unterbrochen, die unter dem Namen Grex eingeführt ſind, und Betrachtung über die Charaktere der Perſonen und über die Kunſt des Dichters, ſie zu behandeln, an - ſtellen. Das aus ſeinem Humor, out of his Humour, zeigt an, daß alle die Per - ſonen in Umſtände gerathen, in welchen ſie ihres Humors ſatt und überdrüßig werden.328 lichen und herrſchenden Eigenſchaften nur ge - legentlich, ſo wie die Umſtände eine ungezwun - gene Aeußerung veranlaſſen, an den Tag legen. Dieſe beſondere Vortrefflichkeit ſeiner Komö - dien entſtand daher, daß er die Natur getreu - lich copirte, und ſein reges und feuriges Genie auf alles aufmerkſam war, was ihm in dem Verlaufe der Scenen dienliches aufſtoſſen konnte: da hingegen Nachahmung und geringere Fähigkeiten kleine Scriben - ten verleiten, ſich um die Fertigkeit zu beei - fern, dieſen einen Zweck keinen Augenblick aus dem Geſichte zu laſſen, und mit der ängſt - lichſten Sorgfalt ihre Lieblingscharaktere in beſtändigem Spiele und ununterbrochner Thä - tigkeit zu erhalten. Man könnte über dieſe ungeſchickte Anſtrengung ihres Witzes ſagen, daß ſie mit den Perſonen ihres Stücks nicht anders umgehen, als gewiſſe ſpaßhafte Leute mit ihren Bekannten, denen ſie mit ihren Höflichkeiten ſo zuſetzen, daß ſie ihren Antheil an der allgemeinen Unterhaltung gar nicht nehmen können, ſondern nur immer, zum Vergnügen der Geſellſchaft, Sprünge und Männerchen machen müſſen.

Ham -[329]

Hamburgiſche Dramaturgie. Vier und neunzigſtes Stück.

Und ſo viel von der Allgemeinheit der komi - ſchen Charaktere, und den Grenzen dieſer Allgemeinheit, nach der Jdee des Hurd! Doch es wird nöthig ſeyn, noch erſt die zweyte Stelle beyzubringen, wo er erklärt zu haben verſichert, in wie weit auch den tragiſchen Cha - rakteren, ob ſie ſchon nur partikular wären, dennoch eine Allgemeinheit zukomme: ehe wir den Schluß überhaupt machen können, ob und wie Hurd mit Diderot, und beide mit dem Ari - ſtoteles übereinſtimmen.

Wahrheit, ſagt er, heißt in der Poeſie ein ſolcher Ausdruck, als der allgemeinen Na - tur der Dinge gemäß iſt; Falſchheit hin - gegen ein ſolcher, als ſich zwar zu dem vorha - benden beſondern Falle ſchicket, aber nicht mit jener allgemeinen Natur übereinſtimmet. Dieſe Wahrheit des Ausdrucks in der drama -T t tiſchen330 tiſchen Poeſie zu erreichen, empfiehlet Ho - raz(*)De arte poet. v. 310. 317. 18. zwey Dinge: einmal, die Socra - tiſche Philoſophie fleißig zu ſtudieren; zwey - tens, ſich um eine genaue Kenntniß des menſchlichen Lebens zu bewerben. Jenes, weil es der eigenthümliche Vorzug dieſer Schule iſt, ad veritatem vitæ propius accedere;(**)De Orat. I. 51. dieſes, um unſerer Nachah - mung eine deſto allgemeinere Aehnlichkeit er - theilen zu können. Sich hiervon zu überzeu - gen, darf man nur erwägen, daß man ſich in Werken der Nachahmung an die Wahrheit zu genau halten kann; und dieſes auf doppelte Weiſe. Denn entweder kann der Künſtler, wenn er die Natur nachbilden will, ſich zu ängſtlich befleißigen, alle und jede Beſon - derheiten ſeines Gegenſtandes anzudeuten, und ſo die allgemeine Jdee der Gattung auszudrücken verfehlen. Oder er kann, wenn er ſich dieſe allgemeine Jdee zu ertheilen be - müht, ſie aus zu vielen Fällen des wirkli - chen Lebens, nach ſeinem weiteſten Umfange, zuſammen ſetzen; da er ſie vielmehr von dem lautern Begriffe, der ſich blos in der Vorſtel - lung der Seele findet, hernehmen ſollte. Die - ſes letztere iſt der allgemeine Tadel, womit die Schule der Niederländiſchen Mahler zu be -331 belegen, als die ihre Vorbilder aus der wirk - lichen Natur, und nicht, wie die Jtalieniſche, von dem geiſtigen Jdeale der Schönheit ent - lehnet. (*)Nach Maaßgebung der Antiken. Nec enim Phidias, cum faceret Jovis formam aut Minervæ, contemplabatur aliquem e quo ſimilitudinem duceret: ſed ipſius in men - te incidebat ſpecies pulchritudi - nis eximia quædam, quam intuens in eaque defixus ad illius ſimilitudinem artem & manum dirigebat. (Cic. Or. 2.) Jenes aber entſpricht einem an - dern Fehler, den man gleichfalls den Nieder - ländiſchen Meiſtern vorwirft, und der dieſer iſt, daß ſie lieber die beſondere, ſeltſame und groteſke, als die allgemeine und reitzende Na - tur, ſich zum Vorbilde wählen.

Wir ſehen alſo, daß der Dichter, indem er ſich von der eigenen und beſondern Wahrheit entfernet, deſto getreuer die allgemeine Wahr - heit nachahmet. Und hieraus ergiebt ſich die Antwort auf jenen ſpitzfindigen Einwurf, den Plato gegen die Poeſie ausgegrübelt hatte, und nicht ohne Selbſtzufriedenheit vorzutragen ſchien. Nehmlich, daß die poetiſche Nach - ahmung uns die Wahrheit nur ſehr von wei - tem zeigen könne. Denn, der poetiſche Ausdruck, ſagt der Philoſoph, iſt das Abbild von des Dichters eigenen Be - griffen; die Begriffe des DichtersT t 2 ſind332 ſind das Abbild der Dinge; und die Dinge das Abbild des Urbildes, wel - ches in dem göttlichen Verſtande exi - ſtiret. Folglich iſt der Ausdruck des Dichters nur das Bild von dem Bil - de eines Bildes, und liefert uns ur - ſprüngliche Wahrheit nur gleichſam aus der dritten Hand. (*)Plato de Repl. L. X. Aber alle dieſe Vernünfteley fällt weg, ſobald man die nur gedachte Regel des Dichters gehörig faſſet, und fleißig in Ausübung bringet. Denn in - dem der Dichter von den Weſen alles abſon - dert, was allein das Jndividuum angehet und unterſcheidet, überſpringet ſein Begriff gleich - ſam alle die zwiſchen inne liegenden beſondern Gegenſtände, und erhebt ſich, ſo viel möglich, zu dem göttlichen Urbilde, um ſo das unmit - telbare Nachbild der Wahrheit zu werden. Hieraus lernt man denn auch einſehen, was und wie viel jenes ungewöhnliche Lob, welches der große Kunſtrichter der Dichtkunſt ertheilet, ſagen wolle; daß ſie, gegen die Ge - ſchichte genommen, das ernſtere und philoſophiſchere Studium ſey: ϕιλο - σοϕωτερον ϰαι σπουδαιοτερον ποιησις ἱϛοριας ἐϛιν. Die Urſache, welche gleich darauf folgt, iſt nun gleichfalls ſehr begreiflich: μεν γαρ ποιησις μαλλον τα ϰαϑολου, δ᾽ ἱϛορια τα333 τα ϰαϑ᾽ ἑϰαϛον λεγει. (*)Dichtkunſt Kap. 9.Ferner wird hieraus ein weſentlicher Unterſchied deutlich, der ſich, wie man ſagt, zwiſchen den zwey großen Nebenbuhlern der Griechiſchen Bühne ſoll befunden haben. Wenn man dem So - phokles vorwarf, daß es ſeinen Charakteren an Wahrheit fehle, ſo pflegte er ſich damit zu verantworten, daß er die Menſchen ſo ſchildere, wie ſie ſeyn ſollten, Euri - pides aber ſo, wie ſie wären. Σοφο - ϰλης ἐϕη, ἀυτος μεν ὁιους δει ποιειν, Ευρι - πιδης δε οἱοι ἐισι. (**)Ebendaſ. Kap. 25.Der Sinn hiervon iſt dieſer: Sophokles hatte, durch ſeinen aus - gebreitetern Umgang mit Menſchen, die ein - geſchränkte enge Vorſtellung, welche aus der Betrachtung einzelner Charaktere entſteht, in einen vollſtändigen Begriff des Geſchlechts erweitert; der philoſophiſche Euripides hinge - gen, der ſeine meiſte Zeit in der Akademie zu - gebracht hatte, und von da aus das Leben über - ſehen wollte, hielt ſeinen Blick zu ſehr auf das Einzelne, auf wirklich exiſtirende Perſo - nen geheftet, verſenkte das Geſchlecht in das Jndividuum, und mahlte folglich, den vor - habenden Gegenſtänden nach, ſeine Charaktere zwar natürlich und wahr, aber auch dann und wann ohne die höhere allgemeine Aehn -T t 3 lich -334 lichkeit, die zur Vollendung der poetiſchen Wahrheit erfodert wird. (*)Dieſe Erklärung iſt der, welche Dacier von der Stelle des Ariſtoteles giebt, weit vor - zuziehen. Nach den Worten der Ueberſetzung ſcheinet Dacier zwar eben das zu ſagen, was Hurd ſagt: que Sophocle faiſoit ſes Heros, comme ils devoient etre & qu Euripide les faiſoit comme ils etoient. Aber er ver - bindet im Grunde einen ganz andern Begriff damit. Hurd verſtehet unter dem Wie ſie ſeyn ſollten, die allgemeine abſtrakte Jdee des Geſchlechts, nach welcher der Dich - ter ſeine Perſonen mehr, als nach ihren in - dividuellen Verſchiedenheiten ſchildern müſſe. Dacier aber denkt ſich dabey eine höhere mo - raliſche Vollkommenheit, wie ſie der Menſch zu erreichen fähig ſey, ob er ſie gleich nur ſelten erreiche; und dieſe, ſagt er, habe So - phokles ſeinen Perſonen gewöhnlicher Weiſe beygelegt: Sophocle tachoit de rendre ſes imitations parfaites, en ſuivant toujours bien plus ce qu’une belle Nature etoit ca - pable de faire, que ce qu’elle faiſoit. Al - lein dieſe höhere moraliſche Vollkommenheit gehöret gerade zu jenem allgemeinen Begriffe nicht; ſie ſtehet dem Jndividuo zu, aber nicht dem Geſchlechte; und der Dichter, der ſie ſeinen Perſonen beylegt, ſchildert gerade umgekehrt, mehr in der Manier des Euripi - des als des Sophokles. Die weitere Aus - führung hiervon verdienet mehr als eine Note.

Ein335

Ein Einwurf ſtößt gleichwohl hier auf, den wir nicht unangezeigt laſſen müſſen. Man könnte ſagen, daß philoſophiſche Speculatio - nen die Begriffe eines Menſchen eher abſtrakt und allgemein machen, als ſie auf das Jndividuelle einſchränken müßten. Das letztere ſey ein Mangel, welcher aus der kleinen Anzahl von Gegenſtänden entſpringe, die den Menſchen zu betrachten vorkommen; und die - ſem Mangel ſey nicht allein dadurch abzuhelfen, daß man ſich mit mehrern Jndividuis bekannt mache, als worinn die Kenntniß der Welt be - ſtehe; ſondern auch dadurch, daß man über die allgemeine Natur der Menſchen nach - denke, ſo wie ſie in guten moraliſchen Büchern gelehrt werde. Denn die Verfaſſer ſolcher Bücher hätten ihren allgemeinen Begriff von der menſchlichen Natur nicht anders als aus einer ausgebreiteten Erfahrung (es ſey nun ih - rer eignen, oder fremden) haben können, ohne welche ihre Bücher ſonſt von keinem Werthe ſeyn würden. Die Antwort hierauf, dünkt mich, iſt dieſe. Durch Erwägung der allgemeinen Natur des Menſchen ler - net der Philoſoph, wie die Handlung beſchaf - fen ſeyn muß, die aus dem Uebergewichte ge - wiſſer Neigungen und Eigenſchaften entſprin - get: das iſt, er lernet das Betragen überhaupt, welches der beygelegte Charakter erfodert. Aber336 Aber deutlich und zuverläßig zu wiſſen, wie weit und in welchem Grade von Stärke ſich dieſer oder jener Charakter, bey beſondern Ge - legenheiten, wahrſcheinlicher Weiſe äußern würde, das iſt einzig und allein eine Frucht von unſerer Kenntniß der Welt. Daß Bey - ſpiele von dem Mangel dieſer Kenntniß, bey einem Dichter, wie Euripides war, ſehr häu - fig ſollten geweſen ſeyn, läßt ſich nicht wohl annehmen: auch werden, wo ſich dergleichen in ſeinen übrig gebliebenen Stücken etwa fin - den ſollten, ſie ſchwerlich ſo offenbar ſeyn, daß ſie auch einem gemeinen Leſer in die Augen fallen müßten. Es können nur Feinheiten ſeyn, die allein der wahre Kunſtrichter zu un - terſcheiden vermögend iſt; und auch dieſem kann, in einer ſolchen Entfernung von Zeit, aus Unwiſſenheit der griechiſchen Sitten, wohl etwas als ein Fehler vorkommen, was im Grunde eine Schönheit iſt. Es würde alſo ein ſehr gefährliches Unternehmen ſeyn, die Stellen im Euripides anzeigen zu wollen, wel - che Ariſtoteles dieſem Tadel unterworfen zu ſeyn, geglaubt hatte. Aber gleichwohl will ich es wagen, eine anzuführen, die, wenn ich ſie auch ſchon nicht nach aller Gerechtigkeit kri - tiſiren ſollte, wenigſten meine Meinung zu er - läutern, dienen kann.

Ham -[337]

Hamburgiſche Dramaturgie. Fünf und neunzigſtes Stück.

Die Geſchichte ſeiner Elektra iſt ganz be - kannt. Der Dichter hatte, in dem Charakter dieſer Prinzeßinn, ein tu - gendhaftes, aber mit Stolz und Groll erfüll - tes Frauenzimmer zu ſchildern, welches durch die Härte, mit der man ſich gegen ſie ſelbſt be - trug, erbittert war, und durch noch weit ſtär - kere Bewegungsgründe angetrieben ward, den Tod eines Vaters zu rächen. Eine ſolche hef - tige Gemüthsverfaſſung, kann der Philoſoph in ſeinem Winkel wohl ſchlieſſen, muß immer ſehr bereit ſeyn, ſich zu äußern. Elektra, kann er wohl einſehen, muß, bey der gering - ſten ſchicklichen Gelegenheit, ihren Groll an den Tag legen, und die Ausführung ihres Vorhabens beſchleunigen zu können wünſchen. Aber zu welcher Höhe dieſer Groll ſteigen darf? d. i. wie ſtark Elektra ihre RachſuchtU u aus -338 ausdrücken darf, ohne daß ein Mann, der mit dem menſchlichen Geſchlechte und mit den Wir - kungen der Leidenſchaften im Ganzen bekannt iſt, dabey ausrufen kann: das iſt unwahr - ſcheinlich? Dieſes auszumachen, wird die abſtrakte Theorie von wenig Nutzen ſeyn. So gar eine nur mäßige Bekanntſchaft mit dem wirklichen Leben, iſt hier nicht hinlänglich uns zu leiten. Man kann eine Menge Jndividua bemerkt haben, welche den Poeten, der den Ausdruck eines ſolchen Grolles bis auf das Aeußerſte getrieben hätte, zu rechtfertigen ſcheinen. Selbſt die Geſchichte dürfte viel - leicht Exempel an die Hand geben, wo eine tugendhafte Erbitterung auch wohl noch weiter getrieben worden, als es der Dichter hier vor - geſtellet. Welches ſind denn nun alſo die ei - gentlichen Grenzen derſelben, und wodurch ſind ſie zu beſtimmen? Einzig und allein durch Bemerkung ſo vieler einzeln Fälle als möglich; einzig und allein vermittelſt der ausgebreiteſten Kenntniß, wie viel eine ſolche Erbitterung über dergleichen Charaktere unter dergleichen Umſtänden, im wirklichen Leben gewöhnli - cher Weiſe vermag. So verſchieden dieſe Kenntniß in Anſehung ihres Umfanges iſt, ſo verſchieden wird denn auch die Art der Vor - ſtellung ſeyn. Und nun wollen wir ſehen, wie der vorhabende Charakter von dem Euripides wirklich behandelt worden.

Jn339

Jn der ſchönen Scene, welche zwiſchen der Elektra und dem Oreſtes vorfällt, von dem ſie aber noch nicht weis, daß er ihr Bruder iſt, kömmt die Unterredung ganz natürlich auf die Unglücksfälle der Elektra, und auf den Ur - heber derſelben, die Klytämneſtra, ſo wie auch auf die Hoffnung, welche Elektra hat, von ihren Drangſaalen durch den Oreſtes befreyet zu werden. Das Geſpräch, wie es hierauf weiter gehet, iſt dieſes:

Oreſtes.

Und Oreſtes? Geſetzt, er käme nach Argos zurück

Elektra.

Wozu dieſe Frage, da er, allem Anſehen nach, niemals zurückkommen wird?

Oreſtes.

Aber geſetzt, er käme! Wie müßte er es anfangen, um den Tod ſeines Vaters zu rächen?

Elektra.

Sich eben deß erkühnen, weſſen die Feinde ſich gegen ſeinen Vater erkühnten.

Oreſtes.

Wollteſt du es wohl mit ihm wa - gen, deine Mutter umzubringen?

Elektra.

Sie mit dem nehmlichen Eiſen umbringen, mit welchem ſie meinen Vater mor - dete!

Oreſtes.

Und darf ich das, als deinen feſten Eutſchluß, deinem Bruder vermelden?

Elektra.

Jch will meine Mutter umbrin - gen, oder nicht leben!

U u 2 Das340

Das Griechiſche iſt noch ſtärker:

Θανοιμι, μητϱος αἱμ᾽ ἐπισϕαξασ᾽ ἐμης.

  • Jch will gern des Todes ſeyn, ſo - bald ich meine Mutter umge - bracht habe!

Nun kann man nicht behaupten, daß dieſe letzte Rede ſchlechterdings unnatürlich ſey. Ohne Zweifel haben ſich Beyſpiele genug er - äugnet, wo unter ähnlichen Umſtänden die Rache ſich eben ſo heftig ausgedrückt hat. Gleichwohl, denke ich, kann uns die Härte dieſes Ausdrucks nicht anders als ein wenig beleidigen. Zum mindeſten hielt Sophokles nicht für gut, ihn ſo weit zu treiben. Bey ihm ſagt Elektra unter gleichen Umſtänden nur das: Jetzt ſey dir die Ausführung überlaſſen! Wäre ich aber allein ge - blieben, ſo glaube mir nur: beides hätte mir gewiß nicht mißlingen ſol - len; entweder mit Ehren mich zu be - freyen, oder mit Ehren zu ſterben!

Ob nun dieſe Vorſtellung des Sophokles der Wahrheit, in ſo fern ſie aus einer aus - gebreitetern Erfahrung, d. i. aus der Kennt - niß der menſchlichen Natur überhaupt, geſam - melt worden, nicht weit gemäßer iſt, als die Vorſtellung des Euripides, will ich denen zu beurtheilen überlaſſen, die es zu beurtheilen fähig341 fähig ſind. Jſt ſie es, ſo kann die Urſache keine andere ſeyn, als die ich angenommen: daß nehmlich Sophokles ſeine Cha - raktere ſo geſchildert, als er, unzäh - ligen von ihm beobachteten Beyſpie - len der nehmlichen Gattung zu Fol - ge, glaubte, daß ſie ſeyn ſollten; Eu - ripides aber ſo, als er in der enge - ren Sphäre ſeiner Beobachtungen erkannt hatte, daß ſie wirklich - ren.

Vortrefflich! Auch unangeſehen der Abſicht, in welcher ich dieſe langen Stellen des Hurd angeführet habe, enthalten ſie unſtreitig ſo viel feine Bemerkungen, daß es mir der Leſer wohl erlaſſen wird, mich wegen Einſchaltung derſelben zu entſchuldigen. Jch beſorge nur, daß er meine Abſicht ſelbſt darüber aus den Augen ver - loren. Sie war aber dieſe: zu zeigen, daß auch Hurd, ſo wie Diderot, der Tragödie beſondere, und nur der Komödie allgemeine Charaktere zutheile, und dem ohngeachtet dem Ariſtoteles nicht widerſprechen wolle, welcher das Allgemeine von allen poetiſchen Charakteren, und folglich auch von den tragiſchen verlanget. Hurd erklärt ſich nehmlich ſo: der tragiſche Charakter müſſe zwar partikular oder weniger allgemein ſeyn, als der komiſche, d. i. er müſſe die Art, zu welcher er gehöre, weniger vorſtel -U u 3lig342lig machen; gleichwohl aber müſſe das Wenige, was man von ihm zu zeigen für gut finde, nach dem Allgemeinen entworfen ſeyn, welches Ari - ſtoteles fordere. (*)In calling the tragic character parti - cular, I ſuppoſe it only lefs repre - ſentative of the kind than the comic; not that the draught of ſo much cha - racter as it is concerned to repreſent ſhould not be general. ()

Und nun wäre die Frage, ob Diderot ſich auch ſo verſtanden wiſſen wolle? Warum nicht, wenn ihm daran gelegen wäre, ſich nir - gends in Widerſpruch mit dem Ariſtoteles finden zu laſſen? Mir wenigſtens, dem daran gelegen iſt, daß zwey denkende Köpfe von der nehmli - chen Sache nicht Ja und Nein ſagen, könnte es erlaubt ſeyn, ihm dieſe Auslegung unterzuſchie - ben, ihm dieſe Ausflucht zu leihen.

Aber lieber von dieſer Ausflucht ſelbſt, ein Wort! Mich dünkt, es iſt eine Ausflucht, und iſt auch keine. Denn das Wort Allge - mein wird offenbar darinn in einer doppelten und ganz verſchiedenen Bedeutung genommen. Die eine, in welcher es Hurd und Diderot von dem tragiſchen Charakter verneinen, iſt nicht die nehmliche, in welcher es Hurd von ihm be - jaet. Freylich beruhet eben hierauf die Aus - flucht: aber wie, wenn die eine die andere ſchlechterdings ausſchlöſſe?

Jn343

Jn der erſten Bedeutung heißt ein allge - meiner Charakter ein ſolcher, in welchen man das, was man an mehrern oder allen Jndivi - duis bemerkt hat, zuſammen nimmt; es heißt mit einem Worte, ein überladener Cha - rakter; es iſt mehr die perſonifirte Jdee eines Charakters, als eine charakteriſirte Perſon. Jn der andern Bedeutung aber heißt ein all - gemeiner Charakter ein ſolcher, in welchem man von dem, was an mehrern oder allen Jn - dividuis bemerkt worden, einen gewiſſen Durch - ſchnitt, eine mittlere Proportion angenommen; es heißt mit einem Worte, ein gewöhnlicher Charakter, nicht zwar in ſo fern der Charakter ſelbſt, ſondern nur in ſo fern der Grad, das Maaß deſſelben gewöhnlich iſt.

Hurd hat vollkommen Recht, das ϰαϑολου des Ariſtoteles von der Allgemeinheit in der zweyten Bedeutung zu erklären. Aber wenn denn nun Ariſtoteles dieſe Allgemeinheit eben ſowohl von den komiſchen als tragiſchen Cha - rakteren erfodert: wie iſt es möglich, daß der nehmliche Charakter zugleich auch jene Allge - meinheit haben kann? Wie iſt es möglich, daß er zugleich überladen und gewöhnlich ſeyn kann? Und geſetzt auch, er wäre ſo überladen noch lange nicht, als es die Charaktere in dem getadelten Stücke des Johnſon ſind; geſetzt, er ließe ſich noch gar wohl in einem Jndividuo ge -denken,344denken, und man habe Beyſpiele, daß er ſich wirklich in mehrern Menſchen eben ſo ſtark, eben ſo ununterbrochen geäußert habe: würde er dem ohngeachtet nicht auch noch viel ungewöhn - licher ſeyn, als jene Allgemeinheit des Ariſto - teles zu ſeyn erlaubet?

Das iſt die Schwierigkeit! Jch erinnere hier meine Leſer, daß dieſe Blätter nichts weni - ger als ein dramatiſches Syſtem enthalten ſol - len. Jch bin alſo nicht verpflichtet, alle die Schwierigkeiten aufzulöſen, die ich mache. Meine Gedanken mögen immer ſich weniger zu verbinden, ja wohl gar ſich zu widerſprechen ſcheinen: wenn es denn nur Gedanken ſind, bey welchen ſie Stoff finden, ſelbſt zu denken. Hier will ich nichts als Fermenta cognitionis aus - ſtreuen.

Ham -[345]

Hamburgiſche Dramaturgie. Sechs und neunzigſtes Stück.

Den zwey und funfzigſten Abend (Dienſtags, den 28ſten Julius,) wurden des Herrn Romanus Brüder wiederhohlt.

Oder ſollte ich nicht vielmehr ſagen: die Brü - der des Herrn Romanus? Nach einer Anmer - kung nehmlich, welche Donatus bey Gelegen - heit der Brüder des Terenz macht: Hanc di - cunt fabulam ſecundo loco actam, etiam tum rudi nomine poetæ; itaque ſic pro - nunciatam, Adelphoi Terenti, non Te - renti Adelphoi, quod adhuc magis de fabulæ nomine poeta, quam de poetæ no - mine fabula commendabatur. Herr Ro - manus hat ſeine Komödien zwar ohne ſeinen Namen herausgegeben: aber doch iſt ſein Name durch ſie bekannt geworden. Noch itzt ſind die - jenigen Stücke, die ſich auf unſerer Bühne von ihm erhalten haben, eine Empfehlung ſeinesX xNa -346Namens, der in Provinzen Deutſchlandes ge - nannt wird, wo er ohne ſie wohl nie wäre gehöret worden. Aber welches widrige Schick - ſal hat auch dieſen Mann abgehalten, mit ſeinen Arbeiten für das Theater ſo lange fortzufahren, bis die Stücke aufgehört hätten, ſeinen Namen zu empfehlen, und ſein Name dafür die Stücke empfohlen hätte?

Das meiſte, was wir Deutſche noch in der ſchönen Litteratur haben, ſind Verſuche junger Leute. Ja das Vorurtheil iſt bey uns faſt all - gemein, daß es nur jungen Leuten zukomme, in dieſem Felde zu arbeiten. Männer, ſagt man, haben ernſthaftere Studia, oder wichtigere Ge - ſchäfte, zu welchen ſie die Kirche oder der Staat auffodert. Verſe und Komödien heiſſen Spiel - werke; allenfalls nicht unnützliche Vorübungen, mit welchen man ſich höchſtens bis in ſein fünf und zwanzigſtes Jahr beſchäftigen darf. So - bald wir uns dem männlichen Alter nähern, ſollen wir fein alle unſere Kräfte einem nützli - chen Amte widmen; und läßt uns dieſes Amt einige Zeit, etwas zu ſchreiben, ſo ſoll man ja nichts anders ſchreiben, als was mit der Gra - vität und dem bürgerlichen Range deſſelben be - ſtehen kann; ein hübſches Compendium aus den höhern Facultäten, eine gute Chronike von der lieben Vaterſtadt, eine erbauliche Predigt und dergleichen.

Daher347

Daher kömmt es denn auch, daß unſere ſchöne Litteratur, ich will nicht blos ſagen gegen die ſchöne Litteratur der Alten, ſondern ſogar faſt gegen aller neuern polirten Völker ihre, ein ſo jugendliches, ja kindiſches Anſehen hat, und noch lange, lange haben wird. An Blut und Leben, an Farbe und Feuer fehlet es ihr endlich nicht: aber Kräfte und Nerven, Mark und Knochen mangeln ihr noch ſehr. Sie hat noch ſo wenig Werke, die ein Mann, der im Denken geübt iſt, gern zur Hand nimmt, wenn er, zu ſeiner Erhohlung und Stärkung, einmal außer dem einförmigen eckeln Zirkel ſeiner alltäglichen Beſchäftigungen denken will! Welche Nahrung kann ſo ein Mann wohl, z. E. in unſern höchſt trivialen Komödien finden? Wortſpiele, Sprich - wörter, Späßchen, wie man ſie alle Tage auf den Gaſſen hört: ſolches Zeug macht zwar das Parterr zu lachen, das ſich vergnügt ſo gut es kann; wer aber von ihm mehr als den Bauch erſchüttern will, wer zugleich mit ſeinem Ver - ſtande lachen will, der iſt einmal da geweſen und kömmt nicht wieder.

Wer nichts hat, der kann nichts geben. Ein junger Menſch, der erſt ſelbſt in die Welt tritt, kann unmöglich die Welt kennen und ſie ſchil - dern. Das größte komiſche Genie zeigt ſich in ſeinen jugendlichen Werken hohl und leer; ſelbſt von den erſten Stücken des Menanders ſagtX x 2Plu -348Plutarch,(*)Επιτ. της συνϰϱισεως Αρις. ϰαι Μεναν. p. 1588. Ed. Henr. Stephani. daß ſie mit ſeinen ſpätern und letztern Stücken gar nicht zu vergleichen gewe - ſen. Aus dieſen aber, ſetzt er hinzu, könne man ſchlieſſen, was er noch würde geleiſtet ha - ben, wenn er länger gelebt hätte. Und wie jung meint man wohl, daß Menander ſtarb? Wie viel Komödien meint man wohl, daß er erſt geſchrieben hatte? Nicht weniger als hun - dert und fünfe; und nicht jünger als zwey und funfzig.

Keiner von allen unſern verſtorbenen komi - ſchen Dichtern, von denen es ſich noch der Mühe verlohnte zu reden, iſt ſo alt geworden; keiner von den itztlebenden iſt es noch zur Zeit; keiner von beiden hat das vierte Theil ſo viel Stücke gemacht. Und die Critik ſollte von ihnen nicht eben das zu ſagen haben, was ſie von dem Me - nander zu ſagen fand? Sie wage es aber nur, und ſpreche!

Und nicht die Verfaſſer allein ſind es, die ſie mit Unwillen hören. Wir haben, dem Himmel ſey Dank, itzt ein Geſchlecht ſelbſt von Critikern, deren beſte Critik darinn beſteht, alle Critik verdächtig zu machen. Genie! Genie! ſchreien ſie. Das Genie ſetzt ſich über alle Regeln hin - weg! Was das Genie macht, iſt Regel! So ſchmeicheln ſie dem Genie: ich glaube, da -mit349mit wir ſie auch für Genies halten ſollen. Doch ſie verrathen zu ſehr, daß ſie nicht einen Funken davon in ſich ſpüren, wenn ſie in einem und eben demſelben Athem hinzuſetzen: die Regeln un - terdrücken das Genie! Als ob ſich Genie durch etwas in der Welt unterdrücken lieſſe! Und noch dazu durch etwas, das, wie ſie ſelbſt geſtehen, aus ihm hergeleitet iſt. Nicht jeder Kunſtrichter iſt Genie: aber jedes Genie iſt ein gebohrner Kunſtrichter. Es hat die Probe aller Regeln in ſich. Es begreift und behält und be - folgt nur die, die ihm ſeine Empfindung in Worten ausdrücken. Und dieſe ſeine in Wor - ten ausgedrückte Empfindung ſollte ſeine Thätig - keit verringern können? Vernünftelt darüber mit ihm, ſo viel ihr wollt; es verſteht euch nur, in ſo fern es eure allgemeinen Sätze den Augen - blick in einem einzeln Falle anſchauend erkennet; und nur von dieſem einzeln Falle bleibt Erinne - rung in ihm zurück, die während der Arbeit auf ſeine Kräfte nicht mehr und nicht weniger wir - ken kann, als die Erinnerung eines glücklichen Beyſpiels, die Erinnerung einer eignen glück - lichen Erfahrung auf ſie zu wirken im Stande iſt. Behaupten alſo, daß Regeln und Critik das Genie unterdrücken können: heißt mit an - dern Worten behaupten, daß Beyſpiele und Uebung eben dieſes vermögen; heißt, das Genie nicht allein auf ſich ſelbſt, heißt es ſogar, le -X x 3dig -350diglich auf ſeinen erſten Verſuch einſchrän - ken.

Eben ſo wenig wiſſen dieſe weiſe Herren, was ſie wollen, wenn ſie über die nachtheiligen Ein - drücke, welche die Critik auf das genieſſende Publikum mache, ſo luſtig wimmern! Sie möchten uns lieber bereden, daß kein Menſch einen Schmetterling mehr bunt und ſchön findet, ſeitdem das böſe Vergrößerungsglas erkennen laſſen, daß die Farben deſſelben nur Staub ſind.

Unſer Theater, ſagen ſie, iſt noch in einem viel zu zarten Alter, als daß es den monarchi - ſchen Scepter der Critik ertragen könne. Es iſt faſt nöthiger die Mittel zu zeigen, wie das Jdeal erreicht werden kann, als darzuthun, wie weit wir noch von dieſem Jdeale entfernt ſind. Die Bühne muß durch Beyſpiele, nicht durch Regeln reformiret werden. Re - ſoniren iſt leichter, als ſelbſt erfinden.

Heißt das, Gedanken in Worte kleiden: oder heißt es nicht vielmehr, Gedanken zu Worten ſuchen, und keine erhaſchen? Und wer ſind ſie denn, die ſo viel von Beyſpielen, und vom ſelbſt Erfinden reden? Was für Beyſpiele ha - ben ſie denn gegeben? Was haben ſie denn ſelbſt erfunden? Schlaue Köpfe! Wenn ihnen Beyſpiele zu beurtheilen vorkommen, ſo wün - ſchen ſie lieber Regeln; und wenn ſie Regeln be - urtheilen ſollen, ſo möchten ſie lieber Beyſpielehaben.351haben. Anſtatt von einer Critik zu beweiſen, daß ſie falſch iſt, beweiſen ſie, daß ſie zu ſtrenge iſt; und glauben verthan zu haben! Anſtatt ein Raiſonnement zu widerlegen, merken ſie an, daß Erfinden ſchwerer iſt, als Raiſonniren; und glauben widerlegt zu haben!

Wer richtig raiſonnirt, erfindet auch: und wer erfinden will, muß raiſonniren können. Nur die glauben, daß ſich das eine von dem andern trennen laſſe, die zu keinem von beiden aufgelegt ſind.

Doch was halte ich mich mit dieſen Schwätzern auf? Jch will meinen Gang gehen, und mich unbekümmert laſſen, was die Grillen am Wege ſchwirren. Auch ein Schritt aus dem Wege, um ſie zu zertreten, iſt ſchon zu viel. Jhr Som - mer iſt ſo leicht abgewartet!

Alſo, ohne weitere Einleitung, zu den An - merkungen, die ich bey Gelegenheit der erſten Vorſtellung der Brüder des Hrn. Romanus,(*)Drey und ſiebzigſtes Stück. S. 161. annoch über dieſes Stück verſprach! Die vornehmſten derſelben werden die Veränderun - gen betreffen, die er in der Fabel des Terenz machen zu müſſen geglaubet, um ſie unſern Sit - ten näher zu bringen.

Was ſoll man überhaupt von der Nothwen - digkeit dieſer Veränderungen ſagen? Wenn wir ſo wenig Anſtoß finden, römiſche oder griechiſcheSitten352Sitten in der Tragödie geſchildert zu ſehen: warum nicht auch in der Komödie? Woher die Regel, wenn es anders eine Regel iſt, die Scene der erſtern in ein entferntes Land, unter ein fremdes Volk; die Scene der andern aber, in unſere Heimath zu legen? Woher die Verbind - lichkeit, die wir dem Dichter aufbürden, in jener die Sitten desjenigen Volkes, unter dem er ſeine Handlung vorgehen läßt, ſo genau als möglich zu ſchildern; da wir in dieſer nur unſere eigene Sitten von ihm geſchildert zu ſehen ver - langen? Dieſes, ſagt Pope an einem Orte, ſcheinet dem erſten Anſehen nach bloßer Eigen - ſinn, bloße Grille zu ſeyn: es hat aber doch ſeinen guten Grund in der Natur. Das Haupt - ſächlichſte, was wir in der Komödie ſuchen, iſt ein getreues Bild des gemeinen Lebens, von deſſen Treue wir aber nicht ſo leicht verſichert ſeyn können, wenn wir es in fremde Moden und Gebräuche verkleidet finden. Jn der Tra - gödie hingegen iſt es die Handlung, was unſere Aufmerkſamkeit am meiſten an ſich ziehet. Ei - nen einheimiſchen Vorfall aber für die Bühne bequem zu machen, dazu muß man ſich mit der Handlung größere Freyheiten nehmen, als eine zu bekannte Geſchichte verſtattet

Ham -[353]

Hamburgiſche Dramaturgie. Sieben und neunzigſtes Stück.

Dieſe Auflöſung, genau betrachtet, dürfte wohl nicht in allen Stücken befriedigend ſeyn. Denn zugegeben, daß fremde Sitten der Abſicht der Komödie nicht ſo gut entſprechen, als einheimiſche: ſo bleibt noch immer die Frage, ob die einheimiſchen Sitten nicht auch zur Abſicht der Tragödie ein beſſeres Verhältniß haben, als fremde? Dieſe Frage iſt wenigſtens durch die Schwierigkeit, einen einheimiſchen Vorfall ohne allzumerkliche und anſtößige Veränderungen für die Bühne be - quem zu machen, nicht beantwortet. Freylich erfodern einheimiſche Sitten auch einheimiſche Vorfälle: wenn denn aber nur mit jenen die Tragödie am leichteſten und gewiſſeſten ihren Zweck erreichte, ſo müßte es ja doch wohl beſſer ſeyn, ſich über alle Schwierigkeiten, welche ſich bey Behandlung dieſer finden, wegzuſetzen, alsY yin354in Abſicht des Weſentlichſten zu kurz zu fallen, welches ohnſtreitig der Zweck iſt. Auch werden nicht alle einheimiſche Vorfälle ſo merklicher und anſtößiger Veränderungen bedürfen; und die deren bedürfen, iſt man ja nicht verbunden zu bearbeiten. Ariſtoteles hat ſchon angemerkt, daß es gar wohl Begebenheiten geben kann und giebt, die ſich vollkommen ſo eräugnet haben, als ſie der Dichter braucht. Da dergleichen aber nur ſelten ſind, ſo hat er auch ſchon ent - ſchieden, daß ſich der Dichter um den wenigern Theil ſeiner Zuſchauer, der von den wahren Umſtänden vielleicht unterrichtet iſt, lieber nicht bekümmern, als ſeiner Pflicht minder Genüge leiſten müſſe.

Der Vortheil, den die einheimiſchen Sitten in der Komödie haben, beruhet auf der innigen Bekanntſchaft, in der wir mit ihnen ſtehen. Der Dichter braucht ſie uns nicht erſt bekannt zu machen; er iſt aller hierzu nöthigen Beſchrei - bungen und Winke überhoben; er kann ſeine Perſonen ſogleich nach ihren Sitten handeln laſ - ſen, ohne uns dieſe Sitten ſelbſt erſt langweilig zu ſchildern. Einheimiſche Sitten alſo erleich - tern ihm die Arbeit, und befördern bey dem Zu - ſchauer die Jlluſion.

Warum ſollte nun der tragiſche Dichter ſich dieſes wichtigen doppelten Vortheils begeben? Auch er hat Urſache, ſich die Arbeit ſo viel alsmöglich355möglich zu erleichtern, ſeine Kräfte nicht an Nebenzwecke zu verſchwenden, ſondern ſie ganz für den Hauptzweck zu ſparen. Auch ihm kömmt auf die Jlluſion des Zuſchauers alles an. Man wird vielleicht hierauf antworten, daß die Tragödie der Sitten nicht groß bedürfe; daß ſie ihrer ganz und gar entübriget ſeyn könne. Aber ſonach braucht ſie auch keine fremde Sit - ten; und von dem Wenigen, was ſie von Sitten haben und zeigen will, wird es doch immer beſ - ſer ſeyn, wenn es von einheimiſchen Sitten her - genommen iſt, als von fremden.

Die Griechen wenigſtens haben nie andere als ihre eigene Sitten, nicht blos in der Ko - mödie, ſondern auch in der Tragödie, zum Grunde gelegt. Ja ſie haben fremden Völ - kern, aus deren Geſchichte ſie den Stoff ihrer Tragödie etwa einmal entlehnten, lieber ihre eigenen griechiſchen Sitten leihen, als die Wir - kungen der Bühne durch unverſtändliche barba - riſche Sitten entkräften wollen. Auf das Co - ſtume, welches unſern tragiſchen Dichtern ſo ängſtlich empfohlen wird, hielten ſie wenig oder nichts. Der Beweis hiervon können vornehm - lich die Perſerinnen des Aeſchylus ſeyn; und die Urſache, warum ſie ſich ſo wenig an das Coſtume binden zu dürfen glaubten, iſt aus der Abſicht der Tragödie leicht zu folgern.

Y y 2Doch356

Doch ich gerathe zu weit in denjenigen Theil des Problems, der mich itzt gerade am wenig - ſten angeht. Zwar indem ich behaupte, daß einheimiſche Sitten auch in der Tragödie zuträg - licher ſeyn würden, als fremde: ſo ſetze ich ſchon als unſtreitig voraus, daß ſie es wenigſtens in der Komödie ſind. Und ſind ſie das, glaube ich wenigſtens, daß ſie es ſind: ſo kann ich auch die Veränderungen, welche Herr Romanus in Abſicht derſelben, mit dem Stücke des Terenz gemacht hat, überhaupt nicht anders als bil - ligen.

Er hatte Recht, eine Fabel, in welche ſo be - ſondere Griechiſche und Römiſche Sitten ſo innig verwebet ſind, umzuſchaffen. Das Bey - ſpiel erhält ſeine Kraft nur von ſeiner innern Wahrſcheinlichkeit, die jeder Menſch nach dem beurtheilet, was ihm ſelbſt am gewöhnlichſten iſt. Alle Anwendung fällt weg, wo wir uns erſt mit Mühe in fremde Umſtände verſetzen müſſen. Aber es iſt auch keine leichte Sache mit einer ſolchen Umſchaffung. Je vollkommner die Fa - bel iſt, deſto weniger läßt ſich der geringſte Theil verändern, ohne das Ganze zu zerrütten. Und ſchlimm! wenn man ſich ſodann nur mit Flicken begnügt, ohne im eigentlichen Verſtande umzuſchaffen.

Das Stück heißt die Brüder, und dieſes bey dem Terenz aus einem doppelten Grunde. Denn357Denn nicht allein die beiden Alten, Micio und Demea, ſondern auch die beiden jungen Leute, Aeſchinus und Kteſipho, ſind Brüder. Demea iſt dieſer beider Vater; Micio hat den einen, den Aeſchinus, nur an Sohnes Statt angenom - men. Nun begreif ich nicht, warum unſerm Verfaſſer dieſe Adoption mißfallen. Jch weis nicht anders, als daß die Adoption auch unter uns, auch noch itzt gebräuchlich, und vollkom - men auf den nehmlichen Fuß gebräuchlich iſt, wie ſie es bey den Römern war. Dem ohnge - achtet iſt er davon abgegangen: bey ihm ſind nur die zwey Alten Brüder, und jeder hat einen leiblichen Sohn, den er nach ſeiner Art erziehet. Aber, deſto beſſer! wird man vielleicht ſagen. So ſind denn auch die zwey Alte wirkliche - ter; und das Stück iſt wirklich eine Schule der Väter, d. i. ſolcher, denen die Natur die - terliche Pflicht aufgelegt, nicht ſolcher, die ſie freywillig zwar übernommen, die ſich ihrer aber ſchwerlich weiter unterziehen, als es mit ihrer eignen Gemächlichkeit beſtehen kann.

Pater eſſe diſce ab illis, qui vere ſciunt! ()

Sehr wohl! Nur Schade, daß durch Auflö - ſung dieſes einzigen Knoten, welcher bey dem Terenz den Aeſchinus und Kteſipho unter ſich, und beide mit dem Demea, ihrem Vater, ver -Y y 3bindet,358bindet, die ganze Maſchine aus einander fällt, und aus Einem allgemeinen Jntereſſe zwey ganz verſchiedene entſtehen, die blos die Convenienz des Dichters, und keinesweges ihre eigene Na - tur zuſammen hält!

Denn iſt Aeſchinus nicht blos der angenom - mene, ſondern der leibliche Sohn des Micio, was hat Demea ſich viel um ihn zu bekümmern? Der Sohn eines Bruders geht mich ſo nahe nicht an, als mein eigener. Wenn ich finde, daß jemand meinen eigenen Sohn verziehet, geſchähe es auch in der beſten Abſicht von der Welt, ſo habe ich Recht, dieſem gutherzigen Verführer mit aller der Heftigkeit zu begegnen, mit welcher, beym Terenz, Demea dem Micio begegnet. Aber wenn es nicht mein Sohn iſt, wenn es der eigene Sohn des Verziehers iſt, was kann ich mehr, was darf ich mehr, als daß ich dieſem Verzieher warne, und wenn er mein Bruder iſt, ihn öfters und ernſtlich warne? Unſer Verfaſſer ſetzt den Demea aus dem Ver - hältniſſe, in welchem er bey dem Terenz ſtehet, aber er läßt ihm die nehmliche Ungeſtümheit, zu welcher ihn doch nur jenes Verhältniß berech - tigen konnte. Ja bey ihm ſchimpfet und tobet Demea noch weit ärger, als bey dem Terenz. Er will aus der Haut fahren, daß er an ſeines Bruders Kinde Schimpf und Schande erleben muß. Wenn ihm nun aber dieſer antwor -tete:359tete: Du biſt nicht klug, mein lieber Bruder, wenn du glaubeſt, du könnteſt an meinem Kinde Schimpf und Schande erleben. Wenn mein Sohn ein Bube iſt und bleibt, ſo wird, wie das Unglück, alſo auch der Schimpf nur meine ſeyn. Du magſt es mit deinem Eifer wohl gut meinen; aber er geht zu weit; er be - leidiget mich. Falls du mich nur immer ſo ärgern willſt, ſo komm mir lieber nicht über die Schwelle! u. ſ. w. Wenn Micio, ſage ich, dieſes antwortete: nicht wahr, ſo wäre die Komödie auf einmal aus? Oder könnte Micio etwa nicht ſo antworten? Ja müßte er wohl ei - gentlich nicht ſo antworten?

Wie viel ſchicklicher eifert Demea beym Te - renz. Dieſer Aeſchinus, den er ein ſo lüder - liches Leben zu führen glaubt, iſt noch immer ſein Sohn, ob ihn gleich der Bruder an Kin - des Statt angenommen. Und dennoch beſtehet der römiſche Micio weit mehr auf ſeinem Rechte als der deutſche. Du haſt mir, ſagt er, deinen Sohn einmal überlaſſen; bekümmere dich um den, der dir noch übrig iſt;

nam ambos curare; propemodum Repoſcere illum eſt, quem dedi - ſti ()Dieſe360

Dieſe verſteckte Drohung, ihm ſeinen Sohn zurück zu geben, iſt es auch, die ihn zum Schweigen bringt; und doch kann Micio nicht verlangen, daß ſie alle väterliche Empfindungen bey ihm unterdrücken ſoll. Es muß den Micio zwar verdrießen, daß Demea auch in der Folge nicht auf hört, ihm immer die nehmlichen Vor - würfe zu machen: aber er kann es dem Vater doch auch nicht verdenken, wenn er ſeinen Sohn nicht gänzlich will verderben laſſen. Kurz, der Demea des Terenz iſt ein Mann, der für das Wohl deſſen beſorgt iſt, für den ihm die Natur zu ſorgen aufgab; er thut es zwar auf die un - rechte Weiſe, aber die Weiſe macht den Grund nicht ſchlimmer. Der Demea unſers Verfaſ - ſers hingegen iſt ein beſchwerlicher Zänker, der ſich aus Verwandtſchaft zu allen Grobheiten be - rechtiget glaubt, die Micio auf keine Weiſe an dem bloßen Bruder dulden müßte.

Ham -[361]

Hamburgiſche Dramaturgie. Acht und neunzigſtes Stück.

Eben ſo ſchielend und falſch wird, durch Auf - hebung der doppelten Brüderſchaft, auch das Verhältniß der beiden jungen Leute. Jch verdenke es dem deutſchen Aeſchinus, daß er(*)Aufz. I. Auft. 3. S. 18. vielmals an den Thorheiten des Kteſipho Antheil nehmen zu müſſen geglaubt, um ihn, als ſeinen Vetter, der Gefahr und öffentlichen Schande zu entreiſſen. Was Vetter? Und ſchickt es ſich wohl für den leiblichen Vater, ihm darauf zu antworten: ich billige deine hierbey bezeigte Sorgfalt und Vorſicht; ich verwehre dir es auch inskünftige nicht? Was ver - wehrt der Vater dem Sohne nicht? An den Thorheiten eines ungezogenen Vetters Antheil zu nehmen? Wahrlich, das ſollte er ihm ver - wehren. Suche deinen Vetter, müßte er ihmhöch -Z z362höchſtens ſagen, ſo viel möglich von Thorheiten abzuhalten: wenn du aber findeſt, daß er durch - aus darauf beſteht, ſo entziehe dich ihm; denn dein guter Name muß dir werther ſeyn, als ſeiner.

Nur dem leiblichen Bruder verzeihen wir, hierinn weiter zu gehen. Nur an leiblichen Brüdern kann es uns freuen, wenn einer von dem andern rühmet:

Illius opera nunc vivo! Feſtivum caput, Qui omnia ſibi poſt putarit eſſe præ meo commmodo: Maledicta, famam, meum amorem & peccatum in ſe tranſtulit. ()

Denn der brüderlichen Liebe wollen wir von der Klugheit keine Grenzen geſetzt wiſſen. Zwar iſt es wahr, daß unſer Verfaſſer ſeinem Aeſchi - nus die Thorheit überhaupt zu erſparen gewußt hat, die der Aeſchinus des Terenz für ſeinen Bruder begehet. Eine gewaltſame Entführung hat er[in]eine kleine Schlägerey verwandelt, an welcher ſein wohlgezogner Jüngling weiter kei - nen Theil hat, als daß er ſie gern verhindern wollen. Aber gleichwohl läßt er dieſen wohl - gezognen Jüngling, für einen ungezognen Vetter noch viel zu viel zu thun. Denn müßte es jener wohl auf irgend eine Weiſe geſtatten, daß dieſerein363ein Kreatürchen, wie Citaliſe iſt, zu ihm in das Haus brächte? in das Haus ſeines Vaters? unter die Augen ſeiner tugendhaften Geliebten? Es iſt nicht der verführeriſche Damis, dieſe Peſt für junge Leute,(*)Seite 30. deſſenwegen der deut - ſche Aeſchinus ſeinem lüderlichen Vetter die Nie - derlage bey ſich erlaubt: es iſt die bloße Conve - nienz des Dichters.

Wie vortrefflich hängt alles das bey dem Te - renz zuſammen! Wie richtig und nothwendig iſt da auch die geringſte Kleinigkeit motiviret! Aeſchinus nimmt einem Sklavenhändler ein Mädchen mit Gewalt aus dem Hauſe, in das ſich ſein Bruder verliebt hat. Aber er thut das, weniger um der Neigung ſeines Bruders zu willfahren, als um einem größern Uebel vorzu - bauen. Der Sklavenhändler will mit dieſem Mädchen unverzüglich auf einen auswärtigen Markt: und der Bruder will dem Mädchen nach; will lieber ſein Vaterland verlaſſen, als den Gegenſtand ſeiner Liebe aus den Augen ver - lieren. (**)Act. II. Sc. 4. Ae. Hoc mihi doler, nos pæne ſero ſciſſe: & pæne in eum locum Rediiſſe, ut ſi omnes cuperent, nihil tibi poſſent auxiliarier. ()Ct. Noch erfährt Aeſchinus zu rechterZ z 2Zeit364Zeit dieſen Entſchluß. Was ſoll er thun? Er bemächtiget ſich in der Geſchwindigkeit des Mäd - chens, und bringt ſie in das Haus ſeines Oheims, um dieſem gütigen Manne den ganzen Handel zu entdecken. Denn das Mädchen iſt zwar ent - führt, aber ſie muß ihrem Eigenthümer doch bezahlt werden. Micio bezahlt ſie auch ohne Anſtand, und freuet ſich nicht ſowohl über die That der jungen Leute, als über die brüderliche Liebe, welche er zum Grunde ſiehet, und über das Vertrauen, welches ſie auf ihn dabey ſetzen wollen. Das größte iſt geſchehen; warum ſollte er nicht noch eine Kleinigkeit hinzufügen, ihnen einen vollkommen vergnügten Tag zu machen?

Argentum adnu - meravit illico: Dedit prætera in ſumptum dimidium minæ. ()

Hat er dem Kteſipho das Mädchen gekauft, warum ſoll er ihm nicht verſtatten, ſich in ſei - nem Hauſe mit ihr zu vergnügen? Da iſt nach den alten Sitten nichts, was im geringſten der Tugend und Ehrbarkeit widerſpräche.

Aber

(**)Ct. Pudebat. Ae. Ah, ſtultitia eſt iſtæc, non pudor, tam ab parvulam Rem pæne e patria: turpe dictu. Deos quæſo ut iſtæc prohibeant. ()

365

Aber nicht ſo in unſern Brüdern! Das Haus des gütigen Vaters wird auf das ungeziemendſte gemißbraucht. Anfangs ohne ſein Wiſſen, und endlich gar mit ſeiner Genehmigung. Citaliſe iſt eine weit unanſtändigere Perſon, als ſelbſt jene Pſaltria; und unſer Kteſipho will ſie gar heyrathen. Wenn das der Terenziſche Kteſipho mit ſeiner Pſaltria vorgehabt hätte, ſo würde ſich der Terenziſche Micio ſicherlich ganz anders dabey genommen haben. Er würde Citaliſen die Thüre gewieſen, und mit dem Vater die kräftigſten Mittel verabredet haben, einen ſich ſo ſträflichen emancipirenden Burſchen im Zaume zu halten.

Ueberhaupt iſt der deutſche Kteſipho von An - fange viel zu verderbt geſchildert, und auch hierinn iſt unſer Verfaſſer von ſeinem Muſter abgegangen. Die Stelle erweckt mir immer Grauſen, wo er ſich mit ſeinem Vetter über ſei - nen Vater unterhält. (*)I. Aufz. 6. Auft.

Leander.

Aber wie reimt ſich das mit der Ehrfurcht, mit der Liebe, die du deinem Vater ſchuldig biſt?

Lycaſt.

Ehrfurcht? Liebe? hm! die wird er wohl nicht von mir verlangen.

Leander.

Er ſollte ſie nicht verlangen?

Z z 3Lycaſt. 366
Lycaſt.

Nein, gewiß nicht. Jch habe meinen Vater gar nicht lieb. Jch müßte es lügen, wenn ich es ſagen wollte.

Leander.

Unmenſchlicher Sohn! Du bedenkſt nicht, was du ſagſt. Denjenigen nicht lieben, der dir das Leben gegeben hat! So ſprichſt du itzt, da du ihn noch leben ſiehſt. Aber verliere ihn einmal; hernach will ich dich fragen.

Lycaſt.

Hm! Jch weis nun eben nicht, was da geſchehen würde. Auf allen Fall würde ich wohl auch ſogar unrecht nicht thun. Denn ich glaube, er würde es auch nicht beſſer machen. Er ſpricht ja faſt täglich zu mir: Wenn ich dich nur los wäre! wenn[du]nur weg wäreſt! Heißt das Liebe? Kanſt du verlangen, daß ich ihn wie - der lieben ſoll?

Auch die ſtrengſte Zucht müßte ein Kind zu ſo unnatürlichen Geſinnungen nicht verleiten. Das Herz, das ihrer, aus irgend einer Urſache, fähig iſt, verdienet nicht anders als ſklaviſch gehalten zu werden. Wenn wir uns des aus - ſchweifenden Sohnes gegen den ſtrengen Vater annehmen ſollen: ſo müſſen jenes Ausſchwei - fungen kein grundböſes Herz verrathen; es müſ - ſen nichts als Ausſchweifungen des Tempera - ments, jugendliche Unbedachtſamkeiten, Thor - heiten des Kitzels und Muthwillens ſeyn. Nach dieſem Grundſatze haben Menander und Terenzihren367ihren Kteſipho geſchildert. So ſtreng ihn ſein Vater hält, ſo entfährt ihm doch nie das geringſte böſe Wort gegen denſelben. Das einzige, was man ſo nennen könnte, macht er auf die vortreff - lichſte Weiſe wieder gut. Er möchte ſeiner Liebe gern wenigſtens ein Paar Tage, ruhig genieſ - ſen; er freuet ſich, daß der Vater wieder hinaus auf das Land, an ſeine Arbeit iſt; und wünſcht, daß er ſich damit ſo abmatten, ſo abmatten möge, daß er ganze drey Tage nicht aus dem Bette könne. Ein raſcher Wunſch! aber man ſehe, mit welchem Zuſatze:

utinam quidem Quod cum ſalute ejus fiat, ita ſe de - fatigarit velim, Ut triduo hoc perpetuo prorſum e lecto nequeat ſurgere. ()

Quod cum ſalute ejus fiat! Nur müßte es ihm weiter nicht ſchaden! So recht! ſo recht, liebenswürdiger Jüngling! Jmmer geh, wohin dich Freude und Liebe ru - fen! Für dich drücken wir gern ein Auge zu! Das Böſe, das du begehſt, wird nicht ſehr böſe ſeyn! Du haſt einen ſtrengern Aufſeher in dir, als ſelbſt dein Vater iſt! Und ſo ſind mehrere Züge in der Scene, aus der dieſe Stelle genommen iſt. Der deutſche Kteſipho iſt ein abgefeumter Bube, dem Lügen und Betrug ſehrge -368geläuffig ſind: der römiſche hingegen iſt in der äußerſten Verwirrung um einen kleinen Vor - wand, durch den er ſeine Abweſenheit bey ſei - nem Vater rechtfertigen könnte.

Rogabit me: ubi fuerim? quem ego hodie toto non vidi die. Quid dicam? Sy. Nil ne in mentem venit? Ct. Nunquam quicquam. Sy. Tanto nequior. Cliens, amicus, hoſpes, nemo eſt vo - bis? Ct. Sunt, quid poſtea? Sy. Hiſce opera ut data ſit. Ct. Quæ non data ſit? Non poteſt fieri. ()

Dieſes naife, aufrichtige: quæ non data ſit! Der gute Jüngling ſucht einen Vorwand; und der ſchalkiſche Knecht ſchlägt ihm eine Lüge vor. Eine Lüge! Nein, das geht nicht: non poteſt fieri!

Ham -[369]

Hamburgiſche Dramaturgie. Neun und neunzigſtes Stück.

Sonach hatte Terenz auch nicht nöthig, uns ſeinen Kteſipho am Ende des Stücks be - ſchämt, und durch die Beſchämung auf dem Wege der Beſſerung, zu zeigen. Wohl aber mußte dieſes unſer Verfaſſer thun. Nur fürchte ich, daß der Zuſchauer die kriechende Reue, und die furchtſame Unterwerfung eines ſo leicht - ſinnigen Buben nicht für ſehr aufrichtig halten kann. Eben ſo wenig, als die Gemüthsände - rung ſeines Vaters. Beider Umkehrung iſt ſo wenig in ihrem Charakter gegründet, daß man das Bedürfniß des Dichters, ſein Stück ſchlieſ - ſen zu müſſen, und die Verlegenheit, es auf eine beſſere Art zu ſchließen, ein wenig zu ſehr darinn empfindet. Jch weis überhaupt nicht, woher ſo viele komiſche Dichter die Regel genom - men haben, daß der Böſe nothwendig am Ende des Stücks entweder beſtraft werden, oder ſichA a abeſſern370beſſern müſſe. Jn der Tragödie möchte dieſe Regel noch eher gelten; ſie kann uns da mit dem Schickſale verſöhnen, und Murren in Mitleid kehren. Aber in der Komödie, denke ich, hilft ſie nicht allein nichts, ſondern ſie verdirbt viel - mehr vieles. Wenigſtens macht ſie immer den Ausgang ſchielend, und kalt, und einförmig. Wenn die verſchiednen Charaktere, welche ich in eine Handlung verbinde, nur dieſe Handlung zu Ende bringen, warum ſollen ſie nicht bleiben, wie ſie waren? Aber freylich muß die Handlung ſodann in etwas mehr, als in einer bloßen Colli - ſion der Charaktere, beſtehen. Dieſe kann aller - dings nicht anders, als durch Nachgebung und Veränderung des einen Theiles dieſer Charak - tere, geendet werden; und ein Stück, das wenig oder nichts mehr hat als ſie, nähert ſich nicht ſo - wohl ſeinem Ziele, ſondern ſchläft vielmehr nach und nach ein. Wenn hingegen jene Colliſion, die Handlung mag ſich ihrem Ende nähern, ſo viel als ſie will, dennoch gleich ſtark fortdauert: ſo begreift man leicht, daß das Ende eben ſo leb - haft und unterhaltend ſeyn kann, als die Mitte nur immer war. Und das iſt gerade der Unter - ſchied, der ſich zwiſchen dem letzten Akte des Te - renz, und dem letzten unſers Verfaſſers befin - det. Sobald wir in dieſem hören, daß der ſtrenge Vater hinter die Wahrheit gekommen: ſo können wir uns das Uebrige alles an den Fin -gern371gern abzehlen; denn es iſt der fünfte Akt. Er wird Anfangs poltern und toben; bald darauf wird er ſich beſänftigen laſſen, wird ſein Unrecht erkennen und ſo werden wollen, daß er nie wie - der zu einer ſolchen Komödie den Stoff geben kann: desgleichen wird der ungerathene Sohn kommen, wird abbitten, wird ſich zu beſſern verſprechen; kurz, alles wird ein Herz und eine Seele werden. Den hingegen will ich ſehen, der in dem fünften Akte des Terenz die Wen - dungen des Dichters errathen kann! Die Jn - trigue iſt längſt zu Ende, aber das fortwährende Spiel der Charaktere läßt es uns kaum bemer - ken, daß ſie zu Ende iſt. Keiner verändert ſich; ſondern jeder ſchleift nur dem andern eben ſo viel ab, als nöthig iſt, ihn gegen den Nachtheil des Exceſſes zu verwahren. Der freygebige Micio wird durch das Manöuvre des geitzigen Demea dahin gebracht, daß er ſelbſt das Uebermaaß in ſeinem Bezeigen erkennet, und fragt:

Quod proluvium? quæ iſtæc ſubita eſt largitas? ()

So wie umgekehrt der ſtrenge Demea durch das Manöuvre des nachſichtsvollen Micio endlich erkennet, daß es nicht genug iſt, nur immer zu tadeln und zu beſtrafen, ſondern es auch gut ſey, obſecundare in loco.

A a a 2Noch372

Noch eine einzige Kleinigkeit will ich erin - nern, in welcher unſer Verfaſſer ſich, gleichfalls zu ſeinem eigenem Nachtheile, von ſeinem Muſter entfernt hat.

Terenz ſagt es ſelbſt, daß er in die Brüder des Menanders eine Epiſode aus einem Stücke des Diphilus übergetragen, und ſo ſeine Brüder zuſammen geſetzt habe. Dieſe Epi - ſode iſt die gewaltſame Entführung der Pſal - tria durch den Aeſchinus: und das Stück des Diphilus hieß, die mit einander Ster - benden.

Synapothneſcontes Diphili comœdia eſt In Græca adoleſcens eſt, qui lenoni eripit Meretricem in prima fabula eum hic locum ſumpſit ſibi In Adelphos ()

Nach dieſen beiden Umſtänden zu urtheilen, mochte Diphilus ein Paar Verliebte aufgefüh - ret haben, die feſt entſchloſſen waren, lieber mit einander zu ſterben, als ſich trennen zu laſſen: und wer weis was geſchehen wäre, wenn ſich gleichfalls nicht ein Freund ins Mittel geſchla - gen, und das Mädchen für den Liebhaber mit Gewalt entführt hätte? Den Entſchluß, miteinan -373einander zu ſterben, hat Terenz in den bloßen Entſchluß des Liebhabers, dem Mädchen nach - zufliehen und Vater und Vaterland um ſie zu verlaſſen, gemildert. Donatus ſagt dieſes aus - drücklich: Menander mori illum voluiſſe fingit, Terentius fugere. Aber ſollte es in dieſer Note des Donatus nicht Diphilus anſtatt Menander heiſſen? Ganz gewiß; wie Peter Nannius dieſes ſchon angemerkt hat. (*)Sylloge V. Miſcell. cap. 10. Videat quæſo accuratus lector, num pro Menan - dro legendum ſit Diphilus. Certe vel tota Comœdia, vel pars iſtius argumen - ti, quod hic tractatur, ad verbum e Di - philo translata eſt. Ita cum Diphili comœdia a commoriendo nomen habeat, & ibi dicatur adoleſcens mori voluiſſe, quod Terentius in fugere mutavit: om - nino adducor, eam imitationem a Diphi - lo, non a Menandro mutuatam eſſe, & ex eo commoriendi cum puella ſtudio συναποϑνησκοντες nomen fabulæ indi - ditum eſſe. Denn der Dichter, wie wir geſehen, ſagt es ja ſelbſt, daß er dieſe ganze Epiſode von der Ent - führung nicht aus dem Menander, ſondern aus dem Diphilus entlehnet habe; und das Stück des Diphilus hatte von dem Sterben ſogar ſei - nen Titel.

A a a 3Jndeß374

Jndeß muß freylich, anſtatt dieſer von dem Diphilus entlehnten Entführung, in dem Stücke des Menanders eine andere Jntrigue geweſen ſeyn, an der Aeſchinus gleicher Weiſe für den Kteſipho Antheil nahm, und wodurch er ſich bey ſeiner Geliebte in eben den Verdacht brachte, der am Ende ihre Verbindung ſo glücklich be - ſchleunigte. Worinn dieſe eigentlich beſtanden, dürfte ſchwer zu errathen ſeyn. Sie mag aber beſtanden haben, worinn ſie will: ſo wird ſie doch gewiß eben ſo wohl gleich vor dem Stücke vorhergegangen ſeyn, als die vom Terenz dafür gebrauchte Entführung. Denn auch ſie muß es geweſen ſeyn, wovon man noch überall ſprach, als Demea in die Stadt kam; auch ſie muß die Gelegenheit und der Stoff geweſen ſeyn, wor - über Demea gleich Anfangs mit ſeinem Bruder den Streit beginnet, in welchem ſich beider Ge - müthsarten ſo vortrefflich entwickeln.

Nam illa, quæ antehac facta ſunt Omitto: modo quid deſignavit? Fores effregit, atque in ædes irruit Alienas clamant omnes, indigniſſime Factum eſſe. Hoc advenienti quot mihi, Micio Dixere? in ore eſt omni populo ()Nun375

Nun habe ich ſchon geſagt, daß unſer Verfaſſer dieſe gewaltſame Entführung in eine kleine Schlägerey verwandelt hat. Er mag auch ſeine guten Urſachen dazu gehabt haben; wenn er nur dieſe Schlägerey ſelbſt, nicht ſo ſpät hätte ge - ſchehen laſſen. Auch ſie ſollte und müßte das ſeyn, was den ſtrengen Vater auf bringt. So aber iſt er ſchon aufgebracht, ehe ſie geſchieht, und man weis gar nicht worüber? Er tritt auf und zankt, ohne den geringſten Anlaß. Er ſagt zwar: Alle Leute reden von der ſchlechten Aufführung deines Sohnes; ich darf nur ein - mal den Fuß in die Stadt ſetzen, ſo höre ich mein blaues Wunder. Aber was denn die Leute eben itzt reden; worinn das blaue Wun - der beſtanden, das er eben itzt gehört, und worüber er ausdrücklich mit ſeinem Bruder zu zanken kömmt, das hören wir nicht, und können es auch aus dem Stücke nicht errathen. Kurz, unſer Verfaſſer hätte den Umſtand, der dem Demea in Harniſch bringt, zwar verändern können, aber er hätte ihn nicht verſetzen müſſen! Wenigſtens, wenn er ihn verſetzen wollen, hätte er den Demea im erſten Akte ſeine Unzufrieden - heit mit der Erziehungsart ſeines Bruders nur nach und nach müſſen äußern, nicht aber auf einmal damit herausplatzen laſſen.

Möchten wenigſtens nur diejenigen Stücke des Menanders auf uns gekommen ſeyn, welcheTerenz376Terenz genutzet hat! Jch kann mir nichts Unter - richtenders denken, als eine Vergleichung dieſer griechiſchen Originale mit den lateiniſchen Ko - pieen ſeyn würde.

Denn gewiß iſt es, daß Terenz kein bloßer ſklaviſcher Ueberſetzer geweſen. Auch da, wo er den Faden des Menandriſchen Stückes völlig beybehalten, hat er ſich noch manchen kleinen Zuſatz, manche Verſtärkung oder Schwächung eines und des andern Zuges erlaubt; wie uns deren verſchiedne Donatus in ſeinen Scholien angezeigt. Nur Schade, daß ſich Donatus immer ſo kurz, und öfters ſo dunkel darüber ausdrückt, (weil zu ſeiner Zeit die Stücke des Menanders noch ſelbſt in jedermanns Händen waren,) daß es ſchwer wird, über den Werth oder Unwerth ſolcher Terenziſchen Künſteleyen etwas Zuverläßiges zu ſagen. Jn den Brü - dern findet ſich hiervon ein ſehr merkwürdiges Exempel.

Ham -[377]

Hamburgiſche Dramaturgie. Hundertſtes Stück.

Demea, wie ſchon angemerkt, will im fünf - ten Akte dem Micio eine Lection nach ſei - ner Art geben. Er ſtellt ſich luſtig, um die andern wahre Ausſchweifungen und Toll - heiten begehen zu laſſen; er ſpielt den Freygebi - gen, aber nicht aus ſeinem, ſondern aus des Bruders Beutel; er möchte dieſen lieber auf einmal ruiniren, um nur das boshafte Vergnü - gen zu haben, ihm am Ende ſagen zu können: Nun ſieh, was du von deiner Gutherzigkeit haſt! So lange der ehrliche Micio nur von ſeinen Vermögen dabey zuſetzt, laſſen wir uns den hämiſchen Spaß ziemlich gefallen. Aber nun kömmt es dem Verräther gar ein, den guten Hageſtolze mit einem alten verlebten Mütter - chen zu verkuppeln. Der bloße Einfall macht uns Anfangs zu lachen; wenn wir aber endlich ſehen, daß es Ernſt damit wird, daß ſich MicioB b bwirk -378wirklich die Schlinge über den Kopf werfen läßt, der er mit einer einzigen ernſthaften Wen - dung hätte ausweichen können: wahrlich, ſo wiſſen wir kaum mehr, auf wen wir ungehalt - ner ſeyn ſollen; ob auf den Demea, oder auf den Micio. (*)Act. V. Sc. VIII. De. Ego vero jubeo, & in hac re, & in aliis omnibus, Quam maxime unam facere nos hanc familiam; Colere, adjuvare, adjungere. Aes. Ita quæſo pater. Mi. Haud aliter cenſeo. De. Imo hercle ita nobis decet. Primum hujus uxoris eſt mater. Mi. Quid poſtea? ()De.

Demea.

Ja wohl iſt das mein Wille! Wir müſſen von nun an mit dieſen guten Leuten nur eine Familie machen; wir müſſen ihnen auf alle Weiſe auf helfen, uns auf alle Art mit ihnen verbin - den.

Aeſchinus.

Das bitte ich, mein Vater.

Micio.

Jch bin gar nicht dagegen.

Demea.

Es ſchickt ſich auch nicht anders für uns. Denn erſt iſt ſie ſeiner Frauen Mutter

Micio.

Nun dann?

Demea.

Auf die nichts zu ſagen; brav, ehr - bar

Micio. 379
Micio.

So höre ich.

Demea.

Bey Jahren iſt ſie auch.

Micio.

Ja wohl.

Demea.

Kinder kann ſie ſchon lange nicht mehr haben. Dazu iſt niemand, der ſich um ſie bekümmerte; ſie iſt ganz verlaſſen.

Micio.

Was will der damit?

Demea.

Die mußt du billig heyrathen, Bru - der. Und du,

(zum Aeſchinus)

mußt ja machen, daß er es thut.

Micio.

Jch? ſie heyrathen?

Demea.

Du!

Micio.

Jch?

Demea.

Du! wie geſagt, du!

Micio.

Du biſt nicht klug.

Demea.
(zum Aeſchinus)

Nun zeige, was du kannſt! Er muß!

B b b 2Aeſchi -

(*)De. Proba, & modeſta. Mi. Ita ajunt. De. Natu grandior. Mi. Scio. De. Parere jam diu hæc per annos non poteſt: Nec qui eam reſpiciat, quisquam eſt; ſola eſt. Mi. Quam hic rem agit? De. Hanc te æquum eſt ducere; & te ope - ram, ut fiat, dare. Mi. Me ducere autem? De. Te. Mi. Me? De. Te inquam. Mi. Ineptis. De. Si tu ſis homo, ()Hic

380
Aeſchinus.

Mein Vater

Micio.

Wie? Und du, Geck, kannſt ihm noch folgen?

Demea.

Du ſtreibeſt dich umſonſt: es kann nun einmal nicht anders ſeyn.

Micio.

Du ſchwärmſt.

Aeſchinus.

Laß dich erbitten, mein Vater.

Micio.

Raſeſt du? Geh!

Demea.

O, ſo mach dem Sohne doch die Freude!

Micio.

Biſt du wohl bey Verſtande? Jch, in meinem fünf und ſechzigſten Jahre noch heyra - then? Und ein altes verlebtes Weib heyrathen? Das könnet ihr mir zumuthen?

Aeſchinus.

Thu es immer; ich habe es ihnen verſprochen.

Micio.

(*)Hic faciat. Aes. Mi pater. Mi. Quid? Tu autem huic, aſine, auſcul - tas. De. Nihil agis, Fieri aliter non poteſt. Mi. Deliras. Aes. Sine te exorem, mi pater. Mi. Inſanis, aufer. De. Age, da ve - niam filio. Mi. Satin ſanus es? Ego novus maritus anno demum quinto & ſexageſimo Fiam; atque anum decrepitam ducam? Idne eſtis auctores mihi? Aes. Fac; promiſi ego illis. Mi. Pro - miſti autem? de te largitor puer. ()De.

381
Micio.

Verſprochen gar? Bürſchchen, verſprich für dich, was du verſprechen willſt!

Demea.

Friſch! Wenn es nun etwas wichti - geres wäre, warum er dich bäte?

Micio.

Als ob etwas wichtigers ſeyn könnte, wie das?

Demea.

So willfahre ihm doch nur!

Aeſchinus.

Sey uns nicht zuwider!

Demea.

Fort, verſprich!

Micio.

Wie lange ſoll das währen?

Aeſchinus.

Bis du dich erbitten laſſen.

Micio.

Aber das heißt Gewalt brauchen.

Demea.

Thu ein Uebriges, guter Micio.

Micio.

Nun dann; ob ich es zwar ſehr unrecht, ſehr abgeſchmackt finde; ob es ſich ſchon weder mit der Vernunft, noch mit meiner Lebens -B b b 3art(*)De. Age, quid, ſi quid te majus oret? Mi. Quaſi non hoc ſit maxi - mum. De. Da veniam. Aes. Ne gravere. De. Fac, promitte. Mi. Non omit - tis? Aes. Non; niſi te exorem. Mi. Vis eſt hæc quidem. De. Age prolixe Micio. Mi. Etſi hoc mihi pravum, ineptum ab - ſurdum, atque alienum a vita mea Videtur: ſi vos tantopere iſtuc vultis, fiat. 382art reimet: weil ihr doch ſo ſehr darauf be - ſteht; es ſey!

Nein, ſagt die Critik; das iſt zu viel! Der Dichter iſt hier mit Recht zu tadeln. Das ein - zige, was man noch zu ſeiner Rechtfertigung ſagen könnte, wäre dieſes, daß er die nachthei - ligen Folgen einer übermäßigen Gutherzigkeit habe zeigen wollen. Doch Micio hat ſich bis dahin ſo liebenswürdig bewieſen, er hat ſo viel Verſtand, ſo viele Kenntniß der Welt gezeigt, daß dieſe ſeine letzte Ausſchweifung wider alle Wahrſcheinlichkeit iſt, und den feinern Zu - ſchauer nothwendig beleidigen muß. Wie ge - ſagt alſo: der Dichter iſt hier zu tadeln, auf alle Weiſe zu tadeln!

Aber welcher Dichter? Terenz? oder Me - nander? oder beide? Der neue engliſche Ueberſetzer des Terenz, Colmann, will den größern Theil des Tadels auf den Menander zurückſchieben; und glaubt aus einer Anmer - kung des Donatus beweiſen zu können, daß Te - renz die Ungereimtheit ſeines Originals in dieſer Stelle wenigſtens ſehr gemildert habe. Dona - tus ſagt nehmlich: Apud Menandrum ſenex de nuptiis non gravatur. Ergo Terentius ἑυρητικως.

Es383

Es iſt ſehr ſonderbar, erklärt ſich Col - mann, daß dieſe Anmerkung des Donatus ſo gänzlich von allen Kunſtrichtern überſehen worden, da ſie, bey unſerm Verluſte des Me - nanders, doch um ſo viel mehr Aufmerkſam - keit verdienet. Unſtreitig iſt es, daß Terenz in dem letzten Akte dem Plane des Menanders gefolgt iſt: ob er nun aber ſchon die Unge - reimtheit, den Micio mit der alten Mutter zu verheyrathen, angenommen, ſo lernen wir doch vom Donatus, daß dieſer Umſtand ihm ſelber anſtößig geweſen, und er ſein Original dahin verbeſſert, daß er den Micio alle den Widerwillen gegen eine ſolche Verbindung äußern laſſen, den er in dem Stücke des Me - nanders, wie es ſcheinet, nicht geäußert hatte.

Es iſt nicht unmöglich, daß ein Römiſcher Dichter nicht einmal etwas beſſer könne gemacht haben, als ein Griechiſcher. Aber der bloßen Möglichkeit wegen, möchte ich es gern in keinem Falle glauben.

Colmann meinet alſo, die Worte des Dona - tus: Apud Menandrum ſenex de nuptiis non gravatur, hießen ſo viel, als: beym Menander ſtreibet ſich der Alte gegen die Heyrath nicht. Aber wie, wenn ſiedas384das nicht hießen? Wenn ſie vielmehr zu über - ſetzen wäre: beym Menander fällt man dem Alten mit der Heyrath nicht be - ſchwerlich? Nuptias gravari würde zwar allerdings jenes heiſſen: aber auch de nuptiis gravari? Jn jener Redensart wird gravari gleichſam als ein Deponens gebraucht: in dieſer aber iſt es ja wohl das eigentliche Paſſivum, und kann alſo meine Auslegung nicht allein lei - den, ſondern vielleicht wohl gar keine andere leiden, als ſie.

Wäre aber dieſes: wie ſtünde es dann um den Terenz? Er hätte ſein Original ſo wenig verbeſſert, daß er es vielmehr verſchlimmert hätte; er hätte die Ungereimtheit mit der Ver - heyrathung des Micio, durch die Weigerung deſſelben, nicht gemildert, ſondern ſie ſelber er - funden. Terentius ἑυρητικως! Aber nur, daß es mit den Erfindungen der Nachahmer nicht weit her iſt!

Ham -[385]

Hamburgiſche Dramaturgie. Hundert und erſtes, zweytes, drittes und viertes Stück.

Hundert und erſtes bis viertes? Jch hatte mir vorgenommen, den Jahrgang dieſer Blätter nur aus hundert Stücken beſte - hen zu laſſen. Zwey und funfzig Wochen, und die Woche zwey Stück, geben zwar allerdings hundert und viere. Aber warum ſollte, unter allen Tagewerkern, dem einzigen wöchentlichen Schriftſteller kein Feyertag zu Statten kom - men? Und in dem ganzen Jahre nur viere: iſt ja ſo wenig!

Doch Dodsley und Compagnie haben dem Publico, in meinem Namen, ausdrücklich hun - dert und vier Stück verſprochen. Jch werde die guten Leute ſchon nicht zu Lügnern machen müſſen.

C c cDie386

Die Frage iſt nur: wie fange ich es am beſten an? Der Zeug iſt ſchon verſchnitten: ich werde einflicken oder recken müſſen. Aber das klingt ſo ſtümpermäßig. Mir fällt ein, was mir gleich hätte einfallen ſollen: die Gewohnheit der Schauſpieler, auf ihre Hauptvorſtellung ein kleines Nachſpiel folgen zu laſſen. Das Nachſpiel kann handeln, wovon es will, und braucht mit dem Vorhergehenden nicht in der geringſten Verbindung zu ſtehen. So ein Nachſpiel dann, mag die Blätter nun füllen, die ich mir ganz erſparen wollte.

Erſt ein Wort von mir ſelbſt! Denn warum ſollte nicht auch ein Nachſpiel einen Prolog ha - ben dürfen, der ſich mit einem Poeta, cum primum animum ad ſcribendum appulit, anfinge?

Als, vor Jahr und Tag, einige gute Leute hier den Einfall bekamen, einen Verſuch zu ma - chen, ob nicht für das deutſche Theater ſich et - was mehr thun laſſe, als unter der Verwaltung eines ſogenannten Principals geſchehen könne: ſo weiß ich nicht, wie man auf mich dabey fiel, und ſich träumen ließ, daß ich bey dieſem Unter - nehmen wohl nützlich ſeyn könnte? Jch ſtand eben am Markte und war müßig; niemand wollte mich dingen: ohne Zweifel, weil mich niemand zu brauchen wußte; bis gerade auf dieſe Freunde! Noch ſind mir in meinemLeben387Leben alle Beſchäftigungen ſehr gleichgültig ge - weſen: ich habe mich nie zu einer gedrungen, oder nur erboten; aber auch die geringfügigſte nicht von der Hand gewieſen, zu der ich mich aus einer Art von Prädilection erleſen zu ſeyn, glauben konnte.

Ob ich zur Aufnahme des hieſigen Theaters concurriren wolle? darauf war alſo leicht ge - antwortet. Alle Bedenklichkeiten waren nur die: ob ich es könne? und wie ich es am beſten könne?

Jch bin weder Schauſpieler, noch Dichter.

Man erweiſet mir zwar manchmal die Ehre, mich für den letztern zu erkennen. Aber nur, weil man mich verkennt. Aus einigen drama - tiſchen Verſuchen, die ich gewagt habe, ſollte man nicht ſo freygebig folgern. Nicht jeder, der den Pinſel in die Hand nimt, und Farben verquiſtet, iſt ein Mahler. Die älteſten von jenen Verſuchen ſind in den Jahren hingeſchrie - ben, in welchen man Luſt und Leichtigkeit ſo gern für Genie hält. Was in den neuerern er - trägliches iſt, davon bin ich mir ſehr bewußt, daß ich es einzig und allein der Critik zu verdan - ken habe. Jch fühle die lebendige Quelle nicht in mir, die durch eigene Kraft ſich empor arbei - tet, durch eigene Kraft in ſo reichen, ſo friſchen, ſo reinen Strahlen aufſchießt: ich muß alles durch Druckwerk und Röhren aus mir heraufC c c 2preſ -388preſſen. Jch würde ſo arm, ſo kalt, ſo kurz - ſichtig ſeyn, wenn ich nicht einigermaaßen ge - lernt hätte, fremde Schätze beſcheiden zu bor - gen, an fremdem Feuer mich zu wärmen, und durch die Gläſer der Kunſt mein Auge zu ſtär - ken. Jch bin daher immer beſchämt oder ver - drüßlich geworden, wenn ich zum Nachtheil der Critik etwas las oder hörte. Sie ſoll das Genie erſticken: und ich ſchmeichelte mir, etwas von ihr zu erhalten, was dem Genie ſehr nahe kömmt. Jch bin ein Lahmer, den eine Schmäh - ſchriſt auf die Krücke unmöglich erbauen kann.

Doch freylich; wie die Krücke den Lahmen wohl hilft, ſich von einem Orte zum andern zu bewegen, aber ihn nicht zum Läufer machen kann: ſo auch die Critik. Wenn ich mit ihrer Hülfe etwas zu Stande bringe, welches beſſer iſt, als es einer von meinen Talenten ohne Cri - tik machen würde: ſo koſtet es mich ſo viel Zeit, ich muß von andern Geſchäften ſo frey, von un - willkührlichen Zerſtreuungen ſo ununterbrochen ſeyn, ich muß meine ganze Beleſenheit ſo gegen - wärtig haben, ich muß bey jedem Schritte alle Bemerkungen, die ich jemals über Sitten und Leidenſchaften gemacht, ſo ruhig durchlaufen können; daß zu einem Arbeiter, der ein Thea - ter mit Neuigkeiten unterhalten ſoll, niemand in der Welt ungeſchickter ſeyn kann, als ich.

Was389

Was Goldoni für das italieniſche Theater that, der es in einem Jahre mit dreyzehn neuen Stücken bereicherte, das muß ich für das deut - ſche zu thun, folglich bleiben laſſen. Ja, das würde ich bleiben laſſen, wenn ich es auch könn - te. Jch bin mißtrauiſcher gegen alle erſte Ge - danken, als De la Caſa und der alte Shandy nur immer geweſen ſind. Denn wenn ich ſie auch ſchon nicht für Eingebungen des böſen Feindes, weder des eigentlichen noch des alle - goriſchen, halte:(*)An opinion John de la Casa, archbi - ſhop of Benevento, was afflicted with which opinion was, that whenever a Chriſtian was writing a book (not for his private amuſement, but) where his intent and purpoſe was bona fide, to print and publiſh it to the world, his firſt thoughts were always the temptations of the evil one. My father was hugely pleaſed with this theory of John de la Caſa; and (had it not cramped him a little in his creed) I believe would have given ten of the beſt acres in the Shandy eſtate, to have been the broacher of it; but as he could not have the honour of it in the litteral ſenſe of the doctrine, he took up with the allegory of it. Preju - dice of education, he would ſay, is the devil &c. (Life and Op. of Triſtram Shan - dy Vol. V. p. 74.) () ſo denke ich doch immer, daß die erſten Gedanken die erſten ſind, und daß dasC c c 3Beſte390Beſte auch nicht einmal in allen Suppen oben - auf zu ſchwimmen pflegt. Meine erſte Gedan - ken ſind gewiß kein Haar beſſer, als Jedermanns erſte Gedanken: und mit Jedermanns Gedan - ken bleibt man am klügſten zu Hauſe.

Endlich fiel man darauf, ſelbſt das, was mich zu einem ſo langſamen, oder, wie es mei - nen rüſtigern Freunden ſcheinet, ſo faulen Ar - beiter macht, ſelbſt das, an mir nutzen zu wol - len: die Critik. Und ſo entſprang die Jdee zu dieſem Blatte.

Sie gefiel mir, dieſe Jdee. Sie erinnerte mich an die Didaskalien der Griechen, d. i. an die kurzen Nachrichten, dergleichen ſelbſt Ari - ſtoteles von den Stücken der griechiſchen Bühne zu ſchreiben der Mühe werth gehalten. Sie erinnerte mich, vor langer Zeit einmal über den grundgelehrten Caſaubonus bey mir gelacht zu haben, der ſich, aus wahrer Hochachtung für das Solide in den Wiſſenſchaften, einbildete, daß es dem Ariſtoteles vornehmlich um die Be - richtigung der Chronologie bey ſeinen Didaska - lien zu thun geweſen. (*)(Animadv. in Athenæum Libr. VI. cap. 7.) Δι〈…〉〈…〉 α〈…〉〈…〉 καλια accipitur pro eo ſcripto, quo explicatur ubi, quando, quomodo & quo eventu fabula aliqua fuerit acta. Quan - tum critici hac diligentia veteres chrono - logos adjuverint, ſoli æſtimabunt illi, quino - Wahrhaftig, eswäre391wäre auch eine ewige Schande für den Ariſtote - les, wenn er ſich mehr um den poetiſchen Werth der Stücke, mehr um ihren Einfluß auf die Sitten, mehr um die Bildung des Geſchmacks, darinn bekümmert hätte, als um die Olympia - de, als um das Jahr der Olympiade, als um die Namen der Archonten, unter welchen ſie zu - erſt aufgeführet worden!

Jch war ſchon Willens, das Blatt ſelbſt Hamburgiſche Didaskalien zu nennen. Aber der Titel klang mir allzufremd, und nun iſt es mir ſehr lieb, daß ich ihm dieſen vorgezogen habe. Was ich in eine Dramaturgie bringen oder nicht bringen wollte, das ſtand bey mir: wenigſtens hatte mir Lione Allacci desfalls nichts vorzuſchreiben. Aber wie eine Didaska - lie ausſehen müſſe, glauben die Gelehrten zu wiſſen, wenn es auch nur aus den noch vorhan - denen Didaskalien des Terenz wäre, die eben dieſer Caſaubonus breviter & eleganter ſcriptas nennt. Jch hatte weder Luſt, meine Didaskalien ſo kurz, noch ſo elegant zu ſchrei - ben: und unſere itztlebende Caſauboni würdenC c c 4die(*)norunt quam infirma & tenula præſidia habuerint, qui ad ineundam fugacis tem - poris rationem primi animum appule - runt. Ego non dubito, eo potiſtimum ſpectaſſe Ariſtotelem, cum Δίδασκαλιας ſuas componeret ()392die Köpfe trefflich geſchüttelt haben, wenn ſie gefunden hätten, wie ſelten ich irgend eines chronologiſchen Umſtandes gedenke, der künftig einmal, wenn Millionen anderer Bücher ver - loren gegangen wären, auf irgend ein hiſtori - ſches Factum einiges Licht werfen könnte. Jn welchem Jahre Ludewigs des Vierzehnten, oder Ludewigs des Funfzehnten, ob zu Paris, oder zu Verſailles, ob in Gegenwart der Prinzen vom Geblüte, oder nicht der Prinzen vom Ge - blüte, dieſes oder jenes franzöſiſche Meiſterſtück zuerſt aufgeführet worden: das würden ſie bey mir geſucht, und zu ihrem großen Erſtaunen nicht gefunden haben.

Was ſonſt dieſe Blätter werden ſollten, dar - über habe ich mich in der Ankündigung erkläret: was ſie wirklich geworden, das werden meine Leſer wiſſen. Nicht völlig das, wozu ich ſie zu machen verſprach: etwas anderes; aber doch, denk ich, nichts ſchlechteres.

Sie ſollten jeden Schritt begleiten, den die Kunſt, ſowohl des Dichters, als des Schau - ſpielers hier thun würde.

Die letztere Hälfte bin ich ſehr bald über - drüßig geworden. Wir haben Schauſpieler, aber keine Schauſpielkunſt. Wenn es vor Al - ters eine ſolche Kunſt gegeben hat: ſo haben wir ſie nicht mehr; ſie iſt verloren; ſie muß ganz von neuem wieder erfunden werden. Allge -mei -393meines Geſchwätze darüber, hat man in ver - ſchiedenen Sprachen genug: aber ſpecielle, von jedermann erkannte, mit Deutlichkeit und Prä - ciſion abgefaßte Regeln, nach welchen der Ta - del oder das Lob des Akteurs in einem beſondern Falle zu beſtimmen ſey, deren wüßte ich kaum zwey oder drey. Daher kömmt es, daß alles Raiſonnement über dieſe Materie immer ſo ſchwankend und vieldeutig ſcheinet, daß es eben kein Wunder iſt, wenn der Schauſpieler, der nichts als eine glückliche Routine hat, ſich auf alle Weiſe dadurch beleidiget findet. Gelobt wird er ſich nie genug, getadelt aber allezeit viel zu viel glauben: ja öfters wird er gar nicht einmal wiſſen, ob man ihn tadeln oder loben wollen. Ueberhaupt hat man die Anmerkung ſchon längſt gemacht, daß die Empfindlichkeit der Künſtler, in Anſehung der Critik, in eben dem Verhältniſſe ſteigt, in welchem die Gewiß - heit und Deutlichkeit und Menge der Grundſätze ihrer Künſte abnimt. So viel zu meiner, und ſelbſt zu deren Entſchuldigung, ohne die ich mich nicht zu entſchuldigen hätte.

Aber die erſtere Hälfte meines Verſprechens? Bey dieſer iſt freylich das Hier zur Zeit noch nicht ſehr in Betrachtung gekommen, und wie hätte es auch können? Die Schranken ſind noch kaum geöffnet, und man wollte die Wett - läufer lieber ſchon bey dem Ziele ſehen; bey ei -nem394nem Ziele, das ihnen alle Augenblicke immer weiter und weiter hinausgeſteckt wird? Wenn das Publikum fragt; was iſt denn nun geſche - hen? und mit einem höhniſchen Nichts ſich ſelbſt antwortet: ſo frage ich wiederum; und was hat denn das Publikum gethan, damit etwas ge - ſchehen könnte? Auch nichts; ja noch etwas ſchlimmers, als nichts. Nicht genug, daß es das Werk nicht allein nicht befördert: es hat ihm nicht einmal ſeinen natürlichen Lauf gelaſ - ſen. Ueber den gutherzigen Einfall, den Deutſchen ein Nationaltheater zu verſchaffen, da wir Deutſche noch keine Nation ſind! Jch rede nicht von der politiſchen Verfaſſung, ſon - dern blos von dem ſittlichen Charakter. Faſt ſollte man ſagen, dieſer ſey: keinen eigenen ha - ben zu wollen. Wir ſind noch immer die ge - ſchwornen Nachahmer alles Ausländiſchen, be - ſonders noch immer die unterthänigen Bewun - derer der nie genug bewunderten Franzoſen; al - les was uns von jenſeit dem Rheine kömmt, iſt ſchön, reitzend, allerliebſt, göttlich; lieber ver - leugnen wir Geſicht und Gehör, als daß wir es anders finden ſollten; lieber wollen wir Plump - heit für Ungezwungenheit, Frechheit für Gra - zie, Grimaſſe für Ausdruck, ein Geklingle von Reimen für Poeſie, Geheule für Muſik, uns einreden laſſen, als im geringſten an der Supe - riorität zweifeln, welche dieſes liebenswürdigeVolk,395Volk, dieſes erſte Volk in der Welt, wie es ſich ſelbſt ſehr beſcheiden zu nennen pflegt, in allem, was gut und ſchön und erhaben und an - ſtändig iſt, von dem gerechten Schickſale zu ſei - nem Antheile erhalten hat.

Doch dieſer Locus communis iſt ſo abgedro - ſchen, und die nähere Anwendung deſſelben könnte leicht ſo bitter werden, daß ich lieber da - von abbreche.

Jch war alſo genöthiget, anſtatt der Schrit - te, welche die Kunſt des dramatiſchen Dichters hier wirklich könnte gethan haben, mich bey de - nen zu verweilen, die ſie vorläufig thun müßte, um ſodann mit eins ihre Bahn mit deſto ſchnel - lern und größern zu durchlaufen. Es waren die Schritte, welche ein Jrrender zurückgehen muß, um wieder auf den rechten Weg zu gelan - gen, und ſein Ziel gerade in das Auge zu be - kommen.

Seines Fleißes darf ſich jedermann rühmen: ich glaube, die dramatiſche Dichtkunſt ſtudiert zu haben; ſie mehr ſtudiert zu haben, als zwan - zig, die ſie ausüben. Auch habe ich ſie ſo weit ausgeübet, als es nöthig iſt, um mitſprechen zu dürfen: denn ich weiß wohl, ſo wie der Mahler ſich von niemanden gern tadeln läßt, der den Pinſel ganz und gar nicht zu führen weiß, ſo auch der Dichter. Jch habe es wenigſtens ver - ſucht, was er bewerkſtelligen muß, und kannvon396von dem, was ich ſelbſt nicht zu machen vermag, doch urtheilen, ob es ſich machen läßt. Jch verlange auch nur eine Stimme unter uns, wo ſo mancher ſich eine anmaßt, der, wenn er nicht dem oder jenem Ausländer nachplaudern gelernt hätte, ſtummer ſeyn würde, als ein Fiſch.

Aber man kann ſtudieren, und ſich tief in den Jrrthum hinein ſtudieren. Was mich alſo ver - ſichert, daß mir dergleichen nicht begegnet ſey, daß ich das Weſen der dramatiſchen Dichtkunſt nicht verkenne, iſt dieſes, daß ich es vollkom - men ſo erkenne, wie es Ariſtoteles aus den un - zähligen Meiſterſtücken der griechiſchen Bühne abſtrahiret hat. Jch habe von dem Entſtehen, von der Grundlage der Dichtkunſt dieſes Philo - ſophen, meine eigene Gedanken, die ich hier ohne Weitläuftigkeit nicht äußern könnte. Jn - deß ſteh ich nicht an, zu bekennen, (und ſollte ich in dieſen erleuchteten Zeiten auch darüber ausgelacht werden!) daß ich ſie für ein eben ſo unfehlbares Werk halte, als die Elemente des Euklides nur immer ſind. Jhre Grundſätze ſind eben ſo wahr und gewiß, nur freylich nicht ſo faßlich, und daher mehr der Chicane ausge - ſetzt, als alles, was dieſe enthalten. Beſon - ders getraue ich mir von der Tragödie, als über die uns die Zeit ſo ziemlich alles daraus gönnen wollen, unwiderſprechlich zu beweiſen, daß ſie ſich von der Richtſchnur des Ariſtoteles keinenSchritt397Schritt entfernen kann, ohne ſich eben ſo weit von ihrer Vollkommenheit zu entfernen.

Nach dieſer Ueberzeugung nahm ich mir vor, einige der berühmteſten Muſter der franzöſiſchen Bühne ausführlich zu beurtheilen. Denn dieſe Bühne ſoll ganz nach den Regeln des Ariſtote - les gebildet ſeyn; und beſonders hat man uns Deutſche bereden wollen, daß ſie nur durch dieſe Regeln die Stuffe der Vollkommenheit erreicht habe, auf welcher ſie die Bühnen aller neuern Völker ſo weit unter ſich erblicke. Wir haben das auch lange ſo feſt geglaubt, daß bey unſern Dichtern, den Franzoſen nachahmen, eben ſo viel geweſen iſt, als nach den Regeln der Alten arbeiten.

Jndeß konnte das Vorurtheil nicht ewig gegen unſer Gefühl beſtehen. Dieſes ward, glücklicher Weiſe, durch einige Engliſche Stücke aus ſeinem Schlummer erwecket, und wir mach - ten endlich die Erfahrung, daß die Tragödie noch einer ganz andern Wirkung fähig ſey, als ihr Corneille und Racine zu ertheilen vermocht. Aber geblendet von dieſem plötzlichen Strahle der Wahrheit, prallten wir gegen den Rand eines andern Abgrundes zurück. Den engli - ſchen Stücken fehlten zu augenſcheinlich gewiſſe Regeln, mit welchen uns die Franzöſiſchen ſo bekannt gemacht hatten. Was ſchloß manD d ddar -398daraus? Dieſes: daß ſich auch ohne dieſe Re - geln der Zweck der Tragödie erreichen laſſe; ja daß dieſe Regeln wohl gar Schuld ſeyn könnten, wenn man ihn weniger erreiche.

Und das hätte noch hingehen mögen! Aber mit dieſen Regeln fing man an, alle Re - geln zu vermengen, und es überhaupt für Pe - danterey zu erklären, dem Genie vorzuſchreiben, was es thun, und was es nicht thun müſſe. Kurz, wir waren auf dem Punkte, uns alle Er - fahrungen der vergangnen Zeit muthwillig zu verſcherzen; und von den Dichtern lieber zu ver - langen, daß jeder die Kunſt aufs neue für ſich erfinden ſolle.

Jch wäre eitel genug, mir einiges Verdienſt um unſer Theater beyzumeſſen, wenn ich glau - ben dürfte, das einzige Mittel getroffen zu ha - ben, dieſe Gährung des Geſchmacks zu hem - men. Darauf los gearbeitet zu haben, darf ich mir wenigſtens ſchmeicheln, indem ich mir nicht angelegner ſeyn laſſen, als den Wahn von der Regelmäßigkeit der franzöſiſchen Bühne zu beſtreiten. Gerade keine Nation hat die Regeln des alten Drama mehr verkannt, als die Fran - zoſen. Einige beyläuffige Bemerkungen, die ſie über die ſchicklichſte äußere Einrichtung des Drama bey dem Ariſtoteles fanden, haben ſiefür399für das Weſentliche angenommen, und das Weſentliche, durch allerley Einſchränkungen und Deutungen, dafür ſo entkräftet, daß nothwen - dig nichts anders als Werke daraus entſtehen konnten, die weit unter der höchſten Wirkung blieben, auf welche der Philoſoph ſeine Regeln calculirt hatte.

Jch wage es, hier eine Aeußerung zu thun, mag man ſie doch nehmen, wofür man will! Man nenne mir das Stück des großen Corneille, welches ich nicht beſſer machen wollte. Was gilt die Wette?

Doch nein; ich wollte nicht gern, daß man dieſe Aeußerung für Prahlerey nehmen könne. Man merke alſo wohl, was ich hinzu ſetze: Jch werde es zuverläßig beſſer machen, und doch lange kein Corneille ſeyn, und doch lange noch kein Meiſterſtück gemacht haben. Jch werde es zuverläßig beſſer machen; und mir doch wenig darauf einbilden dürfen. Jch wer - de nichts gethan haben, als was jeder thun kann, der ſo feſt an den Ariſtoteles glaubet, wie ich.

Eine Tonne, für unſere kritiſche Wallfiſche! Jch freue mich im voraus, wie trefflich ſie da - mit ſpielen werden. Sie iſt einzig und alleinD d d 2für400für ſie ausgeworfen; beſonders für den kleinen Wallfiſch in dem Salzwaſſer zu Halle!

Und mit dieſem Uebergange, ſinnreicher muß er nicht ſeyn, mag denn der Ton des ernſthaftern Prologs in den Ton des Nachſpiels verſchmelzen, wozu ich dieſe letztern Blätter be - ſtimmte. Wer hätte mich auch ſonſt erinnern können, daß es Zeit ſey, dieſes Nachſpiel an - fangen zu laſſen, als eben der Hr. Stl., wel - cher in der deutſchen Bibliothek des Hrn. Ge - heimerath Klotz, den Jnhalt deſſelben bereits angekündiget hat? (*)Neuntes Stück S. 60.

Aber was bekömmt denn der ſchnackiſche Mann in dem bunten Jäckchen, daß er ſo dienſtfärtig mit ſeiner Trommel iſt? Jch erin - nere mich nicht, daß ich ihm etwas dafür ver - ſprochen hätte. Er mag wohl blos zu ſeinem Vergnügen trommeln; und der Himmel weis, wo er alles her hat, was die liebe Jugend auf den Gaſſen, die ihn mit einem bewundernden Ah! nachfolgt, aus der erſten Hand von ihm zu erfahren bekömmt. Er muß einen Wahrſager - geiſt haben, Trotz der Magd in der Apoſtelge - ſchichte. Denn wer hätte es ihm ſonſt ſagen können, daß der Verfaſſer der Dramaturgie auch mit der Verleger derſelben iſt? Wer hätteihm401ihm ſonſt die geheimen Urſachen entdecken kön - nen, warum ich der einen Schauſpielerinn eine ſonore Stimme beygelegt, und das Probe - ſtück einer andern ſo erhoben habe? Jch war freylich damals in beide verliebt: aber ich hätte doch nimmermehr geglaubt, daß es eine leben - dige Seele errathen ſollte. Die Damen können es ihm auch unmöglich ſelbſt geſagt haben: folg - lich hat es mit dem Wahrſagergeiſte ſeine Rich - tigkeit. Ja, weh uns armen Schriftſtellern, wenn unſere hochgebiethende Herren, die Jur - naliſten und Zeitungsſchreiber, mit ſolchen Käl - bern pflügen wollen! Wenn ſie zu ihren Beur - theilungen, außer ihrer gewöhnlichen Gelehr - ſamkeit und Scharfſinnigkeit, ſich auch noch ſol - cher Stückchen aus der geheimſten Magie bedie - nen wollen: wer kann wider ſie beſtehen?

Jch würde, ſchreibt dieſer Hr. Stl. aus Eingebung ſeines Kobolts, auch den zweyten Band der Dramaturgie anzeigen können, wenn nicht die Abhandlung wider die Buchhändler dem Verfaſſer zu viel Arbeit machte, als daß er das Werk bald beſchließen könnte.

Man muß auch einen Kobolt nicht zum Lüg - ner machen wollen, wenn er es gerade einmal nicht iſt. Es iſt nicht ganz ohne, was das böſe Ding dem guten Stl. hier eingeblaſen. JchD d d 3hatte402hatte allerdings ſo etwas vor. Jch wollte mei - nen Leſern erzehlen, warum dieſes Werk ſo oft unterbrochen worden; warum in zwey Jahren erſt, und noch mit Mühe, ſo viel davon fertig geworden, als auf ein Jahr verſprochen war. Jch wollte mich über den Nachdruck beſchweren, durch den man den geradeſten Weg eingeſchla - gen, es in ſeiner Geburth zu erſticken. Jch wollte über die nachtheiligen Folgen des Nach - drucks überhaupt, einige Betrachtungen anſtel - len. Jch wollte das einzige Mittel vorſchlagen, ihm zu ſteuern. Aber, das wäre ja ſonach keine Abhandlung wider die Buchhändler ge - worden? Sondern vielmehr, für ſie: wenig - ſtens, der rechtſchaffenen Männer unter ihnen; und es giebt deren. Trauen Sie, mein Herr Stl., ihrem Kobolte alſo nicht immer ſo ganz! Sie ſehen es: was ſolch Geſchmeiß des böſen Feindes von der Zukunft noch etwa weis, das weis es nur halb.

Doch nun genug dem Narren nach ſeiner Narrheit geantwortet, damit er ſich nicht weiſe dünke. Denn eben dieſer Mund ſagt: ant - worte dem Narren nicht nach ſeiner Narrheit, damit du ihm nicht gleich werdeſt! Das iſt: antworte ihm nicht ſo nach ſeiner Narrheit, daß die Sache ſelbſt darüber vergeſſen wird; als wodurch du ihm gleich werden würdeſt. Undſo403ſo wende ich mich wieder an meinen ernſthaften Leſer, den ich dieſer Poſſen wegen ernſtlich um Vergebung bitte.

Es iſt die lautere Wahrheit, daß der Nach - druck, durch den man dieſe Blätter gemeinnützi - ger machen wollen, die einzige Urſache iſt, warum ſich ihre Ausgabe bisher ſo verzögert hat, und warum ſie nun gänzlich liegen bleiben. Ehe ich ein Wort mehr hierüber ſage, erlaube man mir, den Verdacht des Eigennutzes von mir abzulehnen. Das Theater ſelbſt hat die Unkoſten dazu hergegeben, in Hoffnung, aus dem Verkaufe wenigſtens einen anſehnlichen Theil derſelben wieder zu erhalten. Jch ver - liere nichts dabey, daß dieſe Hoffnung fehl ſchlägt. Auch bin ich gar nicht ungehalten darüber, daß ich den zur Fortſetzung geſammel - ten Stoff nicht weiter an den Mann bringen kann. Jch ziehe meine Hand von dieſem Pfluge eben ſo gern wieder ab, als ich ſie anlegte. Klotz und Conſorten wünſchen ohnedem, daß ich ſie nie angelegt hätte; und es wird ſich leicht einer unter ihnen finden, der das Tageregiſter einer mißlungenen Unternehmung bis zu Ende führet, und mir zeiget, was für einen perio - diſchen Nutzen ich einem ſolchen periodi - ſchen Blatte hätte ertheilen können und ſollen.

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Denn ich will und kann es nicht bergen, daß dieſe letzten Bogen faſt ein Jahr ſpäter niederge - ſchrieben worden, als ihr Datum beſagt. Der ſüße Traum, ein Nationaltheater hier in Ham - burg zu gründen, iſt ſchon wieder verſchwun - den: und ſo viel ich dieſen Ort nun habe kennen lernen, dürfte er auch wohl gerade der ſeyn, wo ein ſolcher Traum am ſpäteſten in Erfüllung gehen wird.

Aber auch das kann mir ſehr gleichgültig ſeyn! Jch möchte überhaupt nicht gern das Anſehen haben, als ob ich es für ein großes Un - glück hielte, daß Bemühungen vereitelt worden, an welchen ich Antheil genommen. Sie können von keiner beſondern Wichtigkeit ſeyn, eben weil ich Antheil daran genommen. Doch wie, wenn Bemühungen von weiterm Belange durch die nehmlichen Undienſte ſcheitern könnten, durch welche meine geſcheitert ſind? Die Welt verliert nichts, daß ich, anſtatt fünf und ſechs Bände Dramaturgie, nur zwey an das Licht bringen kann. Aber ſie könnte verlieren, wenn einmal ein nützlicheres Werk eines beſſern Schriftſtellers eben ſo ins Stecken geriethe; und es wohl gar Leute gäbe, die einen ausdrücklichen Plan darnach machten, daß auch das nützlichſte, unter ähnlichen Umſtänden unternommene Werk verunglücken ſollte und müßte.

Jn405

Jn dieſem Betracht ſtehe ich nicht an, und halte es für meine Schuldigkeit, dem Publico ein ſonderbares Complot zu denunciren. Eben dieſe Dodsley und Compagnie, welche ſich die Dramaturgie nachzudrucken erlaubet, laſſen ſeit einiger Zeit einen Auſſatz, gedruckt und geſchrieben, bey den Buchhändlern umlaufen, welcher von Wort zu Wort ſo lautet:

Nachricht an die Herren Buch - händler.

Wir haben uns mit Beyhülfe verſchiedener Herren Buchhändler entſchloſſen, künftig denenjenigen, welche ſich ohne die erforder - lichen Eigenſchaften in die Buchhandlung miſchen werden, (wie es, zum Exempel, die neuaufgerichtete in Hamburg und anderer Orten vorgebliche Handlungen mehrere) das Selbſt-Verlegen zu verwehren, und ihnen ohne Anſehen nachzudrucken; auch ihre ge - ſetzten Preiſſe alle Zeit um die Hälfte zu ver - ringern. Die dieſen Vorhaben bereits bey - getretene Herren Buchhändler, welche wohl eingeſehen, daß eine ſolche unbefugte Stö - rung für alle Buchhändler zum größ[t]en Nachtheil gereichen müſſe, haben ſich ent - ſchloſſen, zu Unterſtützung dieſes Vorhabens, eine Caſſe aufzurichten, und eine anſehnlicheD d d 5Summe406Summe Geld bereits eingelegt, mit Bitte, ihre Namen vorerſt noch nicht zu nennen, da - bey aber verſprochen, ſelbige ferner zu unter - ſtützen. Von den übrigen gutgeſinnten Her - ren Buchhändlern erwarten wir demnach zur Vermehrung der Caſſe, desgleichen, und er - ſuchen, auch unſern Verlag beſtens zu re - commandiren. Was den Druck und die Schönheit des Pappiers betrifft, ſo werden wir der Erſten nichts nachgeben; übrigens aber uns bemühen, auf die unzählige Menge der Schleichhändler genau Acht zu geben, damit nicht jeder in der Buchhandlung zu höcken und zu ſtören anfange. So viel ver - ſichern wir, ſo wohl als die noch zutretende Herren Mitcollegen, daß wir keinem recht - mäßigen Buchhändler ein Blatt nachdrucken werden; aber dagegen werden wir ſehr auf - merkſam ſeyn, ſo bald jemanden von unſerer Geſellſchaft ein Buch nachgedruckt wird, nicht allein dem Nachdrucker hinwieder allen Scha - den zuzufügen, ſondern auch nicht weniger denenjenigen Buchhändlern, welche ihren Nachdruck zu verkaufen ſich unterfangen. Wir erſuchen demnach alle und jede Herren Buchhändler dienſtfreundlichſt, von alle Ar - ten des Nachdrucks in einer Zeit von einem Jahre, nachdem wir die Namen der ganzen Buchhändler-Geſellſchaft gedruckt angezeigthaben407haben werden, ſich los zu machen, oder zu erwarten, ihren beſten Verlag für die Hälfte des Preiſes oder noch weit geringer verkau - fen zu ſehen. Denenjenigen Herren Buch - händlern von unſre Geſellſchaft aber, wel - chen etwas nachgedruckt werden ſollte, wer - den wir nach Proportion und Ertrag der Caſſe eine anſehnliche Vergütung wiederfahren zu laſſen nicht ermangeln. Und ſo hoffen wir, daß ſich auch die übrigen Unordnungen bey der Buchhandlung mit Beyhülfe gutgeſinnter Herren Buchhändler in kurzer Zeit legen werden.

Wenn die Umſtände erlauben, ſo kommen wir alle Oſter-Meſſen ſelbſt nach Leipzig, wo nicht, ſo werden wir doch desfalls Commiſ - ſion geben. Wir empfehlen uns deren guten Geſinnungen und verbleiben Deren getreuen Mitcollegen,

J. Dodsley und Compagnie.

Wenn dieſer Aufſatz nichts enthielte, als die Einladung zu einer genauern Verbindung der Buchhändler, um dem eingeriſſenen Nachdrucke unter ſich zu ſteuern, ſo würde ſchwerlich ein Gelehrter ihm ſeinen Beyfall verſagen. Aber wie hat es vernünftigen und rechtſchaffenen Leu -ten408ten einkommen können, dieſem Plane eine ſo ſtraf bare Ausdehnung zu geben? Um ein Paar armen Hausdieben das Handwerk zu legen, wollen ſie ſelbſt Straßenräuber werden? Sie wollen dem nachdrucken, der ihnen nachdruckt. Das möchte ſeyn; wenn es ihnen die Obrigkeit anders erlauben will, ſich auf dieſe Art ſelbſt zu rächen. Aber ſie wollen zugleich das Selbſt-Verlegen verwehren. Wer ſind die, die das verwehren wollen? Ha - ben ſie wohl das Herz, ſich unter ihren wahren Namen zu dieſem Frevel zu bekennen? Jſt ir - gendwo das Selbſt-Verlegen jemals verbothen geweſen? Und wie kann es verbothen ſeyn? Welch Geſetz kann dem Gelehrten das Recht ſchmälern, aus ſeinem eigenthümlichen Werke alle den Nutzen zu ziehen, den er möglicher Weiſe daraus ziehen kann? Aber ſie mi - ſchen ſich ohne die erforderlichen Ei - genſchaften in die Buchhandlung. Was ſind das für erforderliche Eigenſchaften? Das man fünf Jahre bey einem Manne Pakete zu - binden gelernt, der auch nichts weiter kann, als Pakete zubinden? Und wer darf ſich in die Buchhandlung nicht miſchen? Seit wenn iſt der Buchhandel eine Jnnung? Welches ſind ſeine ausſchlieſſenden Privilegien? Wer hat ſie ihm ertheilt?

Wenn409

Wenn Dodsley und Compagnie ihren Nach - druck der Dramaturgie vollenden, ſo bitte ich ſie, mein Werk wenigſtens nicht zu verſtüm - meln, ſondern auch das getreulich nachdrucken zu laſſen, was ſie hier gegen ſich finden. Daß ſie ihre Vertheidigung beyfügen wenn an - ders eine Vertheidigung für ſie möglich iſt werde ich ihnen nicht verdenken. Sie mögen ſie auch in einem Tone abfaſſen, oder von einem Gelehrten, der klein genug ſeyn kann, ihnen ſeine Feder dazu zu leihen, abfaſſen laſſen, in wel - chem ſie wollen: ſelbſt in dem ſo intereſſanten der Klotziſchen Schule, reich an allerley Hiſtörchen und Aneldötchen und Pasquillchen, ohne ein Wort von der Sache. Nur erkläre ich im voraus die geringſte Jnſinuation, daß es gekränkter Eigennutz ſey, der mich ſo warm ge - gen ſie ſprechen laſſen, für eine Lüge. Jch habe nie etwas auf meine Koſten drucken laſſen, und werde es ſchwerlich in meinem Leben thun. Jch kenne, wie ſchon geſagt, mehr als einen recht - ſchaffenen Mann unter den Buchhändlern, deſ - ſen Vermittelung ich ein ſolches Geſchäft gern überlaſſe. Aber keiner von ihnen muß mir es auch verübeln, daß ich meine Verachtung und meinen Haß gegen Leute bezeige, in deren Ver - gleich alle Buſchklepper und Weglaurer wahr - lich nicht die ſchlimmern Menſchen ſind. Denn jeder von dieſen macht ſeinen coup de mainfür410für ſich: Dodsley und Compagnie aber wollen Bandenweiſe rauben.

Das Beſte iſt, daß ihre Einladung wohl von den wenigſten dürfte angenommen wer - den. Sonſt wäre es Zeit, daß die Gelehrten mit Ernſt darauf dächten, das bekannte Leib - nitziſche Projekt auszuführen.

Ende des zweyten Bandes.

Gedruckt mit Clermondtiſchen Schriften. Mit allergnädigſten Churſächſiſchen Privilegio.

About this transcription

TextHamburgische Dramaturgie
Author Gotthold Ephraim Lessing
Extent422 images; 74139 tokens; 12338 types; 506157 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationHamburgische Dramaturgie Zweyter Band Gotthold Ephraim Lessing. . [1] Bl., 410 S. CramerHamburgBremen1769.

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HAB Wolfenbüttel HAB Wolfenbüttel, M: Lo 4579:2Dig: http://diglib.hab.de/drucke/lo-4579-2b/start.htm

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Sprachwissenschaft; Wissenschaft; Literaturwissenschaft; core; ready; china

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

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  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
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ShelfmarkHAB Wolfenbüttel, M: Lo 4579:2
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