PRIMS Full-text transcription (HTML)
Patriotiſche Phantaſien
Vierter Theil.
Herausgegeben von ſeiner TochterJ. W. J. v. Voigt, geb. Moͤſer.
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Mit Koͤnigl. Preußiſcher, Churſaͤchſiſcher, und Churbrandenbur - giſcher Freyheit.
Berlin,bey Friedrich Nicolai,1786.
An Herrn Nicolai.

Hier haben Sie verlangtermaaßen alles, was ich von meines Vaters Aufſaͤtzen noch habe auffinden koͤnnen. Finden Sie etwas darunter, was Jhnen ſeiner unwuͤrdig ſcheint; ſo laſſen Sie ſol - ches unbedenklich weg. Jhre Auswahl wird auch allemal die meinige ſeyn. Denn Sie lieben meinen Vater auch, nur ich zu ſehr, um uͤber ſeine Schrif - ten zu urtheilen.

Das wenigſte davon iſt neu, faſt alles iſt bereits in den Beylagen zu den hieſigen Jntelligenzblaͤttern, die von 1767 bis in die Mitte des Jahrs 1782 un - ter ſeiner Aufſicht herausgegeben ſind, erſchienen, und daraus in verſchiedene Monatsſchriften aufge - nommen worden. Sie moͤgen es alſo verantworten, daß Sie dieſe Aufſaͤtze noch einmal dem Drucke uͤbergeben; mir als Tochter wird das Publikum leicht verzeihen.

Blos jenes Jntelligenzblatt, das ſich in einem kleinen Lande ohne Zwang erhalten ſollte, hat mei - nen Vater, der die Schreiber wie die Spieler haßt, ob er gleich ſehr gern ſchreibt und ſpielt, zu dieſer Art von Schreiberey vermocht; denn ob er gleich darin fruͤhe Verſuche gemacht hat, indem er vor vierzig Jahren das Hannoͤveriſche Wo - chenblatt, welchem am Ende der Titel, Ver - ſuch einiger Gemaͤhlde von den Sitten unſer Zeit vorgeſetzt iſt*)Hannover bey Schmidt 1746, herausgab, ſo war ihm doch laͤngſt die Luſt dazu vergangen, nachdem der angeordnete Cenſor, ihm damals ſeiner Meinung) (2nachnach, zu hart behandelt, und manches Stuͤck ohne Grund verworfen hatte. Zur Probe lege ich Jhnen eines davon bey*)Man ſehe Nr. 49., was damals als anſtoͤßig ge - gen die Religion in der Cenſur unterdruͤckt, und von meinem Vater als eine Urkunde der Denkart vor 40 Jahren aufbewahret iſt.

Jetzt iſt dieſer Aufſatz vielleicht keinem als mei - nem Vater anſtoͤßig, der ſeitdem die chimiſche Un - terſuchung der menſchlichen Tugenden hoͤchſt zweck - widrig findet, und wenn ihm das Enſemble gefaͤllt oder wohl ſchmeckt, die Kunſt des Meiſters in Zu - ſammenſetzung widriger Jngredienzien bewundert. Das ſonderbarſte dabey iſt, daß die von dem Cen - ſor fuͤr ganz abſcheulich erklaͤrte Stelle: Glaubet nur, nach funfzig Jahren kann ſich kein Menſch bekehren , die im Grunde weiter nichts ſagen ſoll, als daß man im Alter ſich nicht leicht neue Fertigkeiten, die doch zu jeder Sinnesaͤnderung erforderlich ſind, er - warten kann, woͤrtlich aus Saurins Predigt Sur le Renvoi de la converſion genommen waren.

Es mag dieſes zugleich zur Probe dienen, wie meines Vaters Geſchmack ſich mit den Jahren veraͤndert hat, nachdem er von den Buͤchern zu Geſchaͤften uͤbergegangen iſt.

Uebrigens vergeſſen Sie nicht ſich zuweilen zu erinnern Jhrer Freundin Jenny von Voigts.

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Jnhalt des vierten Theils.

  • I Wie man zu einem guten Bortrage ſeiner Empfin - dungen gelange. Seite 3
  • II Ueber das Kunſtgefuͤhl von einem Weinhaͤndler8
  • III. Von der Nationalerziehung der alten Deutſchen. 13
  • IV. Ueber die Erziehung des Adels, von einem Edel - mann. 19
  • V. Alſo ſoll der handelnde Theil der Menſchen nicht wie der ſpeculirende erzogen werden. 23
  • VI. Ueber die Sittlichkeit der Vergnuͤgungen. 27
  • VII. Etwas zur Policey der Freuden fuͤr die Landleute. 31
  • VIII. Es ſollen die Wochenſchriften auch die Anzeigen der neueſten Moden enthalten. Schreiben von Amalien. 36
  • IX. Antwort an Amalien. 40
  • X. Wie iſt die Dreſpe im menſchlichen Geſchlecht am beſten zu veredeln? Anfrage eines Frauenzim - mers. 45
  • XI Wozu der Putz dient, ein Geſpraͤch zwiſchen Mut - ter und Tochter. 49
  • XII. Schreiben einer alten Ehefrau an eine junge Em - pfindſame. 50
  • XIII. Nachſchrift. 54
  • XIV. Schreiben einer Dame an ihren hitzigen Freund. 58
  • XV. Alſo ſollte man die Einimpfung der Blattern ganz verbieten; Schreiben einer jungen Matrone. 64
  • XVI. Ein kleiner Umſtand thut oft vieles; aus dem Le - ben eines Frauenzimmers, von ihr ſelbſt beſchrie - ben. 68
  • XVII. Der Werth der Complimente. Schreiben einer Witwe. 73
  • XVIII. Verdienten ſie die Krone oder nicht? Ein mora - liſches Problem. 76
  • XIX. Was iſt die Liebe zum Vaterlande? 82
  • XX. Der Herr Sohn iſt ſchlau. Schreiben an die gnaͤ - dige Frau Mutter. 84
  • XXI. Was iſt nicht alles, wofuͤr Dank gefordert wird? eine Anektote von Abdera. 88
  • XXII. An einen jungen Dichter. 89
  • XXIII. Der Autor am Hofe. Schreiben einer Hofdame. 93
  • XXIV. Eine Scene aus dem Luſtſpiele, der Sollicitant. 97
  • XXV. Jch an meinen Freund. 101
  • XXVI. Der Wirth muß vorauf, von einer Landwirthin. 103
  • XXVII. Klagen uͤber den Buchſtaben R. von meinem himmelblauen Maͤdgen. 105
  • XXVIII. La Prude et la Coquette zu Deutſch. 107
  • XXIX. Alſo ſollte man die Teſtamente auf dem Siech - bette ganz verbieten. 109
  • XXX. Von dem wichtigen Unterſchiede des wuͤrklichen und foͤrmlichen Rechts. 113
  • XXXI. Ueber den Unterſchied einer Chriſtlichen und Buͤrgerlichen Ehe. 118
  • XXXII. Von den Militairehen der Englaͤnder. 123
  • XXXIII. Die Artikel und die Punkte. 125
  • XXXIV. Ueber die Todesſtraſen. 130
  • XXXV. Alſo ſollte man den Zweykaͤmpfen nur eine beſſere Form geben. 135
  • XXXVI. Von der Gewohnheit des juͤdiſchen Volks auf das Oſterfeſt, die Loslaſſung eines Gefange - nen zu fordern. 139
  • XXXVII. Etwas zur Verbeſſerung der Zuchthaͤuſer. 143
  • XXXVIII. Rede eines Baͤckers uͤber die Backproben. 149
  • XXXIX. Gewiſſensfrage eines Advokaten. 152
  • XL. Vorſchlag zu einem neuen Plan der deutſchen Reichsgeſchichte. 153
  • XLI. Ein Denkmal der deutſchen Freyheitsliebe. 158
  • XLII. Große Herrn duͤrfen keine Freunde haben wie andre Menſchen. 162
  • XLIII. Von dem echten Eigenthum. 164
  • XLIV. Schreiben eines Edelmanns ohne Gerichtsbar - keit an ſeinen Nachbar mit der Gerichtsbarkeit. 168
  • XLV. Vorſchlag wie die Kirchhoͤfe aus der Stadt zu bringen. 175
  • XLVI. Was will aus unſern Garn und Linnenhandel werden. 181
  • XLVII. Von dem Naturgange der Gaͤnſe. 186
  • XLVIII. Toleranz und Jntoleranz. 187
  • XLIX. Die Bekehrung im Alter. 188
  • L. Eine kurze Nachricht von den Weſtphaͤliſchen Frey - gerichten. 193
  • LI. Von dem Urſprunge der Landſtaͤnde und des Land - rechts im Stift Oſnabruͤck. 206
  • LII. Ueber die Abſteuer der Toͤchter der Landbeſitzer. 216
  • LIII Das Herkommen in Anſehung der Abſteuer und des Verzichts adelicher Toͤchter im Stifte Oſnabruͤck. 237
  • LIV. Vereinigung der Ritterſchaft des Hochſtifts Oſna - bruͤck uͤber die Abſteuer und den Verzicht adlicher Toͤchter, wie ſolche von Sr. Koͤniglich Maj. von Großbrittanien als Vater des Herrn Biſchofs Friedrichs Koͤnigl. Hoheit Sub dato St. James den 15. Mai 1758. beſtaͤtiget worden. 242
  • LV. Warum bildet ſich der deutſche Adel nicht nach dem engliſchen? 246
  • LVI. Von dem Concursprozeſſe uͤber das Landeigenthum. 258
  • LVII. Ueber die Adelsprobe. 268
  • LVIII. Der Capitularſoldat, Auszug eines Schreibens. 295
  • LIX. Alſo ſollten geringe Nebenwohner, wenn ſie woll - ten, wegen ihrer Schulden nicht gerichtlich belangt, ſondern mit kurzer Hand zur Zahlung angehalten werden. 301
  • LX. Beherzigung des vorigen Vorſchlags. 306
  • LXI. Etwas zur Naturgeſchichte des Leibeigenthums. 311
  • LXII. Der Freykauf. 316
  • LXIII. Was iſt bey Verwandelung der bisherigen Er - besbeſetzung mit Leibeignen in eine freye Erbpacht, zu beachten? 321
  • LXIV. Formular eines neuen Colonatcontrakts, nach welchem einem vormaligen Cammer-Eigenbehoͤ - rigen, nach vorgaͤngiger Freylaſſung, der Hof uͤber - geben worden. 334
  • LXV. Formular des hierbey ertheilten Freybriefes. 347
  • LXVI. Alſo ſollte jeder Gutsherr ſeine Leibeignen vor Gerichte vertreten, und den Zwangdienſt mildern. 349
  • LXVII. Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten. 351
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Patriotiſche Phantaſien.

Vierter Theil.

Moͤſers patr. Phantaſ. IV. Th. A[2][3]

I. Wie man zu einem guten Vortrage ſeiner Empfindungen gelange.

Jhre Klage, liebſter Freund! daß Sie ſich in Aus - druck und Vorſtellung ſelten vollkommen genug thun koͤnnen, wenn Sie eine wichtige und maͤchtig em - pfundene Wahrheit andern vortragen wollen, mag leicht gegruͤndet ſeyn; aber daß dieſes eben einen Mangel der Sprache zur Urſache habe, davon bin ich noch nicht uͤber - zeugt. Freylich ſind alle Worte, beſonders die todten auf dem Papier, welchen es wahrlich ſehr an Phyſiono - mie zum Ausdrucke fehlt, nur ſehr unvollkommene Zei - chen unſrer Empfindungen und Vorſtellungen, und man fuͤhlet oft bey dem Schweigen eines Mannes mehr, als bey den ſchoͤnſten niedergeſchriebenen Reden. Allein auch jene Zeichen haben ihre Begleitungen fuͤr den em - pfindenden und denkenden Leſer, und wer die Muſik ver - ſteht, wird die Noten nicht ſclaviſch vortragen. Auch der Leſer, wenn er anders die gehoͤrige Faͤhigkeit hat, kann an den ihm vorgeſchriebenen, Worten ſich zu dem Verfaſſer hinauf empfinden, und aus deſſen Seele alles heraushohlen, was darinn zuruͤckblieb.

A 2Eher4Wie man zu einem guten Vortrage

Eher moͤchte ich ſagen, daß Sie Jhre Empfindun - gen und Gedanken ſelbſt nicht genug entwickelt haͤtten, wenn ſie ſolche vortragen wollen. Die mehrſten unter den Schreibenden begnuͤgen ſich damit, ihren Gegenſtand mit aller Gelaſſenheit zu uͤberdenken, ſodann eine ſo - genannte Diſpoſition zu machen, und ihren Satz darnach auszufuͤhren; oder ſie nuͤtzen die Heftigkeit des erſten Anfalls, und geben uns aus ihrer gluͤhenden Einbildungs - kraft ein friſches Gemaͤhlde, was oft bunt und ſtark genug iſt, und doch die Wuͤrkung nicht thut, welche ſie erwarteten. Aber ſo noͤthig es auch iſt, daß derjenige, der eine große Wahrheit maͤchtig vortragen will, dieſelbe vorher wohl uͤberdenke, ſeinen Vortrag ordne, und ſei - nen Gegenſtand, nachdem er iſt, mit aller Waͤrme be - handle: ſo iſt dieſes doch noch der eigentliche Weg nicht, worauf man zu einer kraͤftigen Darſtellung ſeiner Em - pfindungen gelangt.

Mir mag eine Wahrheit, nachdem ich mich davon aus Buͤchern und aus eignen Nachdenken unterrichtet habe, noch ſo ſehr einleuchten, und ich mag mich damit noch ſo bekannt duͤnken: ſo wage ich es doch nicht, ſo - gleich meine Diſpoſition zu machen, und ſie darnach zu behandeln; vielmehr denke ich, ſie habe noch unzaͤhlige Falten und Seiten, die nur jetzt verborgen ſind, und ich muͤßte erſt ſuchen, ſolche ſo viel moͤglich zu gewinnen, ehe ich an irgend einen Vortrag, oder an Diſpoſition und Ausfuͤhrung gedenken duͤrfe. Dieſemnach werfe ich zuerſt, ſobald ich mich von meinem Gegenſtande begei - ſtert und zum Vortragen geſchickt fuͤhle, alles was mir dar - uͤber beyfaͤllt, aufs Papier. Des andern Tages verfahre ich wieder ſo, wenn mich mein Gegenſtand von neuem zu ſich reißt, und das wiederhole ich ſo lange, als das Feuer und die Begierde zunimmt, immer tiefer in dieSache5ſeiner Empfindungen gelange. Sache einzudringen. So wie ich eine Lieferung auf das Papier gebracht, und die Seele von ihrer erſten Laſt ent - lediget habe, dehnt ſie ſich nach und nach weiter aus, und gewinnet neue Ausſichten, die zuerſt noch von naͤhern Bildern bedeckt wurden. Je weiter ſie eindringt, und jemehr ſie entdeckt, deſto feuriger und leidenſchaftlicher wird ſie fuͤr ihren geliebten Gegenſtand. Sie ſieht immer ſchoͤnere Verhaͤltniſſe, fuͤhlt ſich leichter und freyer zum Vergleichen, iſt mit allen Theilen bekannt und ver - traut, verweilet und gefaͤllt ſich in deren Betrachtung und hoͤret nicht eher auf, als bis ſie gleichſam die letzte Gunſt erhalten hat.

Und nun, wenn ich ſo weit bin, womit insgemein mehrere Tage und Naͤchte, Morgen - und Abendſtunden zugebracht ſind, indem ich bey dem geringſten Anſchein von Erſchlaffung die Feder niederlege, fang ich in der Stunde des Berufs an, mein Geſchriebenes nachzuleſen, und zu uͤberdenken, wie ich meinen Vortrag einrichten wolle. Faſt immer hat ſich waͤhrend dieſer Arbeit die beſte Art und Weiſe, wie die Sache vorgeſtellet ſeyn will, von ſelbſt entdeckt; oder wo ich hieruͤber noch nicht mit mir einig werden kann: ſo lege ich mein Papier bey Seite und erwarte eine gluͤcklichere Stunde, die durchaus von ſelbſt kommen muß, und leicht kommt, nachdem man einmal mit einer Wahrheit ſo vertraut geworden iſt. Jſt aber die beſte Art der Vorſtellung, die immer nur ein - zig iſt, waͤhrend der Arbeit aus der Sache hervorgegan - gen: ſo fang ich allmaͤhlig an, alles was ich auf dieſe Art meiner Seele abgewonnen habe, darnach zu ordnen, was ſich nicht dazu paßt, wegzuſtreichen, und jedes auf ſeine Stelle zu bringen.

Jnsgemein faͤllt alles was ich zuerſt niedergeſchrie - ben habe, ganz weg, oder es ſind zerſtreute Einheiten,A 3die6Wie man zu einem guten Vortragedie ich jezt nur mit der herauskommenden Summe zu bemerken noͤthig habe. Deſtomehr behalte ich von den folgenden Operationen, worinn ſich alles ſchon mehr zur Beſtimmung geneigt hat, und der letzte Gewinn dient mehrentheils nur zur Deutlichkeit und zur Erleichterung des Vortrags. Die Ordnung oder Stellung der Gruͤnde folgt nach dem Hauptplan von ſelbſt, und das Kolorit uͤberlaſſe ich der Hand, die, was die erhitzte Einbildung nunmehro maͤchtig fuͤhlt, auch maͤchtig und feurig mahlt ohne dabey einer beſondern Leitung zu beduͤrfen.

Doch will ich eben nicht ſagen, daß Sie ſich ſogleich hierinn ſelbſt trauen ſollen. Jeder Grund hat ſeine ein - zige Stelle, und er wuͤrkt nicht auf der einen wie auf der andern. Geſetzt ich wollte Jhnen beweiſen, daß das fruͤhe Diſponiren ſehr mißlich ſey, und fienge damit an, daß ich ihnen ſagte: Garrick bewunderte die Clairon, als Frankreichs groͤßte Actrice, aber er fand es doch klein, daß ſie jeden Grad der Raſerey, worauf ſie als Medea ſteigen wollte, vorher bey kaltem Blute und in ihrem Zimmer beſtimmen konnte : ſo wuͤrden Sie frey - lich die Richtigkeit der Vergleichung leicht finden, aber doch nicht alles dabey fuͤhlen, was ich wollte, daß Sie dabey fuͤhlen ſollten. Garrick diſponirte ſeine Rolle nie zum voraus, er arbeitete ſich nur in die Situation der Perſon hinein, welche er vorzuſtellen hatte, und uͤber - ließ es dann ſeiner maͤchtigen Seele, ſich ſeiner ganzen Kunſt nach ihren augenblicklichen Empfindungen zu be - dienen. Und das muß ein jeder thun der eine maͤchtige Empfindung maͤchtig ausdenken will.

Das Koloriren iſt leichter, wenn man es von der Haltung trennt; aber in Verbindung mit derſelben ſchwer. Hieruͤber laſſen ſich nicht wohl Regeln geben; man lernt es blos durch eine aufmerkſame Betrachtung der Natur,und7ſeiner Empfindungen gelange. und viele Uebung, was man entfernen oder vorruͤcken, ſtark oder ſchwach ausdruͤcken ſoll. Das mehrſte haͤngt jedoch hiebey von der Unterordnung in der Gruppirung ab, und wenn Sie hierinn gluͤcklich uud richtig geweſen ſind: ſo wird die Verſchiedenheit des Standorts, wor - aus die Leſer, wofuͤr Sie ſchreiben, ihr Gemaͤhlde an - ſehen, nur eine allgemeine Ueberlegung verdienen.

Unter Millionen Menſchen iſt vielleicht nur ein ein - ziger, der ſeine Seele ſo zu preſſen weiß, daß ſie alles hergiebt, was ſie hergeben kann. Viele, ſehr viele ha - ben eine Menge von Eindruͤcken, ſie moͤgen nun von der Kunſt oder von der Natur herruͤhren, bey ſich verborgen, ohne daß ſie es ſelbſt wiſſen; man muß die Seele in eine Situation verſetzen, um ſich zu ruͤhren, man muß ſie er - hitzen, um ſich aufzuſchließen, und zur Schwaͤrmerey bringen, um alles aufzuopfern. Horgz empfohl den Wein als eine gelinde Tortur der Seele, andre halten die Liebe zum Gegenſtande, fuͤr maͤchtiger, oder den Durſt zu Ent - deckungen: jeder muß hierinn ſich ſelbſt pruͤfen. Rouſ - ſeau gab nie etwas von den erſten Aufwallungen ſeiner Seele; wer nur dieſe und nichts mehr giebt, der traͤgt nur ſolche Wahrheiten vor, die den Menſchen insgemein auffallen und jedem bekannt ſind. Er hingegen arbeitete oft zehnmal auf die Art, wie ich es Jhnen vorgeſchlagen habe, und hoͤrte nicht auf ſo lange noch etwas zu gewin - nen uͤbrig war. Wenn dieſes ein großer Mann thut: ſo kann man ſo ziemlich ſicher ſeyn, daß er weiter vorge - drungen ſey, als irgend ein andrer vor ihm. So oft Sie ſich maͤchtiger in der Empfindung als im Ausdruck fuͤhlen, ſo glauben ſie nur dreiſt, ihre Seele ſey faul, ſie wolle nicht alles hervorbringen. Greifen Sie dieſelbe an, wenn Sie fuͤhlen, daß es Zeit iſt, und laſſen ſie arbeiten. Alle Jdeen die ihr jemals eingedruckt ſind undA 4die8Ueber das Kunſtgefuͤhl. die ſie ſich ſelbſt aus den eingedruckten unbemerkt gezo - gen hat, muͤſſen in Bewegung und Glut gebracht werden; ſie muß vergleichen, ſchließen und empfinden, was ſie auf andre Art ewig nicht thun wird, ſie muß verliebt und erhitzt werden gegen ihren großen Gegenſtand Aber auch fuͤr die Liebe giebt es keine Diſpoſition; kaum weiß man es nachher zu erzaͤhlen, wie man von einer Situation zur andern gekommen iſt.

II. Ueber das Kunſtgefuͤhl. Von einem Weinhaͤndler.

Hiebey uͤberſende ich Jhnen, nebſt tauſend Dankſa - gungen fuͤr Jhre mir letzthin bewieſene viele Freund - ſchaft, das Faͤßgen, was Sie verlangt haben. Der Wein iſt gut, und wenn er das noch haͤtte und dieſes nicht: ſo waͤre mir das Stuͤck davon nicht fuͤr tauſend Gul - den feil.

Lachen Sie nicht uͤber dieſe ſeltſame Sprache; es hat nicht viel gefehlt, oder ich waͤre dadurch bey mei - ner lezten Durchreiſe durch D .... zum Mitgliede ei - nes gelehrten Klubbs aufgenommen worden. Unſer gu - ter[Freund] der Kanonicus L der vermuthlich nicht wußte wie er den Abend mit einem Weinhaͤndler zubrin - gen ſollte, hatte mich dahin gefuͤhrt, und ich fand uͤber zwanzig junge Herrn zuſammen, die immer das Wort Kunſtgefuͤhl im Munde hatten, und von deſſen Mangel in gewiſſen Gegenden ein langes und breites ſprachen. Der eine beſchuldigte mit einer viel bedeutenden Mine das feindſelige Klima, der andre ſchob die Schuld aufdie9Von einem Weinhaͤndler. die ſchlaffe Regierungsform, ein dritter klagte die phi - loſophiſche Erziehungsart an, und ein vierter brachte ſo - gar die Religion mit ins Spiel, um den eigentlichen Grund zu beſtimmen, warum in dem einen Lande mehr Kunſtgefuͤhl und Geſchmack ſey, als in dem andern.

Nachdem ich den Gelehrten meiner Meynung nach lange genug zugehoͤret hatte, ſo glaubte ich endlich auch mit etwas von meiner Weißheit aufwarten zu duͤrfen und ſagte zu ihnen: Aber um des Himmels willen, wie koͤnnen Sie ſich uͤber eine ſolche Sache ſo lange zanken? ich kenne alle Gewaͤchſe des Rheingaues, und will nicht allein alle Arten, ſondern auch alle Jahrgaͤnge auf das genaueſte unterſcheiden: das iſt aber von ihnen keiner im Stande, und woher ruͤhrt dieſer Mangel des Ge - ſchmacks bey ihnen? wahrlich nicht vom Klima und auch nicht von der Religion, ſondern weil ſie nicht wie ich von Jugend auf in Kellern geweſen ſind und nicht alle Arten von Weinen oft genug verſuchet haben.

Anfangs ſchienen ſie zu ſtutzen, aber bald ſagte ei - ner, das waͤre etwas ganz anders; ein ſolches Memo - rienwerk als dieſe Weinkenntniß waͤre, koͤnne ein jeder ler - nen. Der Geſchmack, der dazu gehoͤrte, ſey nicht der wahre Kunſtgeſchmack, der pruͤfen und gluͤcklich waͤhlen koͤnnte; es ſey ganz etwas anders, eine Menge von Wei - nen zu kennen und zu entſcheiden welches der beſte ſey, man muͤßte ſich ein Jdeal machen koͤnnen ....

Das waͤre doch der Henker verſetzte ich, und nahm das Glas was eben vor mir auf dem Tiſche ſtand: dieſer Wein dahier iſt ein Markebrunner von 1759 und wenn er das noch haͤtte und dieſes nicht: ſo waͤre es der ſchoͤn - ſte Markebrunner den ich jemals getrunken habe; ich pruͤfe, waͤhle und entſcheide hier beſſer als der Praͤſident von allen gelehrten Akademien in Europa, und will den -A 5jenigen10Ueber das Kunſtgefuͤhl. jenigen erwarten, der meinen Geſchmack tadeln wird. So will ich mir in jeder Art des Rheinweins nicht allein den groͤßten Grad der Guͤte, ſondern auch, weil ſie doch von Kunſtidealen ſprechen, das moͤglichſt vollkommene Weinideal in Riedesheimer, Hochheimer, Laubenheimer und kurz in allen unſern Weinen denken, ich will ſo gut als wenn ich ſie wuͤrklich getrunken haͤtte, die Weine ſchmecken, die aus unſern Trauben vom Cap an bis in Weſtphalen gezogen werden koͤnnen, und wenn das nicht Kunſtgefuͤhl iſt: ſo weiß ich nicht was es ſey.

Die ganze Geſellſchaft lachte immerfort uͤber meinen Eyfer, und wiederholte das Wort: wenn er das noch haͤtte und dieſes nicht. Aber ich ſtoͤrte mich daran nicht, und behauptete, daß es das einzige Mittel waͤre, deſ - ſen ſich alle Kunſtverſtaͤndige, zu verſtehen von denen, die durch den Keller gezogen wuͤrden, bedienten, um zu hohen Jdealen der Vollkommenheit zu gelangen, und daß derjenige, welcher nicht lange die Keller beſucht, und fleißig geſchmeckt hatte, nie zu einem ſo feſten und rich - tigen Weingeſchmack gelangen ſollte.

So wie endlich der Laͤrm ſich zu einer ruhigen Be - trachtung herabſtimmte, fiengen einige an auf meine Seite zu treten; aber wie die andern darauf drungen, daß man um Geſchmack zu haben, nach Gruͤnden billi - gen oder verwerfen muͤßte, verſtummeten meine Freun - de wieder.

Sackerloth! rief ich nach Gruͤnden? Nach Gruͤn - den? Freylich nach Gruͤnden, aber doch wohl nicht nach ſolchen, die ihr Herrn in eurer armſeligen Sprache aus - druͤcken koͤnnet. Lavater hat auch Gruͤnde angegeben, um die Phyſionomien zu erkennen, und die guten von den ſchlechten zu unterſcheiden. Aber beym Element, wann ich einem Kerl ins Geſichte ſchaue: ſo will ich tau -ſendmal11Von einem Weinhaͤndler. ſendmal eher wiſſen, was der Knabe im Schilde fuͤh - ret, als alle diejenigen, ſo ihn nach den von jenem gro - ſen Meiſter angegebenen Gruͤnden beurtheilen. Jch habe mehr Menſchengeſichter geſehen, als ich Weine ge - ſchmecket habe, und die Cindruͤcke ſo ich von ihnen be - halten habe, dienen mir zu ſo viel Werkzeugen der Men - ſchenerkenntniß. Mit allen dieſen Werkzeugen beruͤhre ich den Kerl auf einmal, mein ganzes Gefuͤhl fließt um ſeine Form, und ich druͤcke ihn damit ſo ab, daß ich ihn habe wie er da ſteht, von innen und von auſſen; aber die Gruͤnde davon klar zu denken, ſie in einen duͤnnen elenden Faden auszuſpinnen, und andern mitzutheilen, das verſtehe ich ſo wenig, daß ich vielmehr glaube, es ſey nicht moͤglich, und unſre Sprache ſey ſo wenig das Werkzeug, alle Empfindungen, die wir durch unſre fuͤnf Sinne erhalten, auszudruͤcken, als die vier Species das Mittel ſind, unendliche Groͤßen zu berechnen.

Hier gieng nun der Streit von neuem an; ich behaup - tete, daß einer der des Menſchen Geſicht in einem Huy mit zehntauſend, obgleich unerklaͤrbaren Tangenten be - ruͤhrte, richtiger davon urtheilte, als ein andrer, der immer nur ein einzelnes Fuͤhlhorn ausſtrecken, und das - jenige was er dadurch empfaͤnde, deutlich beſchreiben koͤnnte. Und hieraus zog ich ſodann die Folge, daß es nothwendig in allen Arten des Geſchmacks zuerſt darauf ankaͤme, wie viel einer Tangenten haͤtte, und ob ſolche richtig waͤren? Dieſes bewieſe der Jtaliaͤner, der taͤg - lich gute Gebaͤude und Gemaͤhlde ſchauete, und ſchoͤne Muſik hoͤrte; durch die Eindruͤcke ſo er davon erhielte, gelangte er zu vielen und richtigen Tangenten, und es gienge ihm mit dem Geſchmack in der Muſik und der Baukunſt wie mir mit dem Weine. Das Vergleichen und Entſcheiden folge von ſelbſt, ſobald man vieles kenne,und12Ueber das Kunſtgefuͤhl. und neben einander ſtelle; und es fehle nur da an Kunſt - gefuͤhl und Geſchmack, wo man keine Gelegenheit haͤtte ſich Tangenten zu erwerben.

Der eine fragte mich: ob es nicht da ſchlechterdings an dem Weingeſchmack fehlen wuͤrde, wo wie in der Tuͤr - key, die Religion den Wein verboͤte, und ob alſo nicht die Religion eine Hinderungsurſache des Kunſtgefuͤhls ſeyn koͤnnte? Der andre: ob ich nicht am liebſten in ſolche Laͤnder reiſete, wo der Wein gut bezahlet wuͤrde? und ob ich viel Wein in den Staaten abſetzte, wo die Unter - thanen, von Laſten niedergedruckt, das Weintrinken ver - gaͤßen? Der dritte: ob nicht ein Klima vor dem andern mehr Waſſer als Wein erforderte? Der vierte: ob man zu einem guten Weingeſchmack gelangte, wenn man wuͤſte, daß der eine = A, und der andre = B, der dritte aber, der mit beyden uͤbereinkaͤme, = AB waͤre? und alle wollten nun wieder ihren vorigen Satz behaup - ten, daß Religion, Regierungsform, Klima und Er - ziehung den guten Geſchmack hindern und befoͤrdern koͤnnten.

Hier glaubte man mich recht in die Enge getrieben zu haben. Aber da ich ihnen ſo weit Recht gab, als ſie Recht hatten: ſo mußten ſie mir auch Recht geben, daß Religion, Klima, Regierungsform, und eine gewiſſe Art von Studiren, an und fuͤr ſich keinem Menſchen den Geſchmack geben oder bilden wuͤrden, wofern er ihm nicht dadurch gegeben wuͤrde, daß er recht viele und richtige Tangenten bekaͤme, und ſo kaͤme alles darauf an wie man ihm dieſe beybraͤchte. Hieruͤber wollte ich mir den Ausſpruch des gelehrten Klubbs erbitten, und mich und meine Weine immittelſt beſtens empfohlen haben.

Dieſer13Von einem Weinhaͤndler.

Dieſer fiel endlich dahin aus, daß das Kunſtgefuͤhl des Weins, und deſſen Wiſſenſchaft zwey ganz unter - ſchiedne Studien waͤren, wovon jede in ihrem beſondern Keller erlernet werden muͤßte. Jch aber behauptete, daß Mengs, der von der Kunſt zu ihrer Wiſſenſchaft uͤbergegangen waͤre, es in der letztern unendlich weiter gebracht haͤtte, als diejenigen, welche ſich blos mit der Wiſ - ſenſchaft der Mahlerey beſchaͤftiget haͤtten, und daß es der Hauptfehler unſter heutigen Erziehung ſey, daß wir unſre Jugend fruͤher zur Wiſſenſchaft als zur Kunſt anfuͤhrten.

III. Von der Nationalerziehung der alten Deutſchen.

Was Sie von der Nationalerziehung unſrer Vorfah - ren ſagen, hat meinen vollkommenſten Beyfall; die Uebung der Jugend in den Waffen machte billig die Hauptſache aus, da ſie ſich beſtaͤndig ihrer Haut zu weh - ren hatten: und ſie handelten hierin weit zweckmaͤßiger, als ihre ſpaͤtern Nachkommen, die kuͤnftige Hofleute roh und wild aufwachſen laſſen.

Was ich jederzeit am mehrſten dabey bewundert habe, iſt dieſes, daß die roͤmiſchen Legionen den ſchnellen Anlauf und das Einſprengen (velocitatem et inſultum:) *)Tacitus erwaͤhnet deſſen bey zweyen Gelegenheiten, einmal da Germanicus ein Treffen mit ihnen in der Ebne vermied; und das andremal, da die Deutſchen ſo in die Enge getrieben waren, daß ſie aſſultu & velocitate corporum nichts ausrich - ten konnten. Annal. L. II. c. 21.der14Von der Nationalerziehungder deutſchen Jnfanterie ſo außerordentlich fuͤrchteten. Dieſes ſetzt voraus, daß jene im vollen Anlauf, unge - faͤhr wie unſre heutige Cavallerie, in den Feind ſetzte, und ihn unter die Fuͤſſe trat. Die gefaͤlleten Spieſe der Roͤmer, womit ſie ſonſt eine gute Reuterey abhalten konn - ten, mochten dagegen nicht viel wuͤrken, weil die Deutſchen mit einem raſchen Sprunge daruͤber hinweg ſetzten, und mit ihren kurzen und ſcharfen Pfriemen den Roͤmern die Bruſt durchbohrten. Was gehoͤrte aber nicht dazu, um ſolche Springer, die ſich mit ofnen Augen in den Todt ſtuͤrzten, zu bilden? Wie mußten die Sehnen und Muſkeln dieſer Kerle von Kindesbeinen an gewoͤhnt und geſtaͤrket ſeyn? und was fuͤr Grundſaͤtze von Ehre und Schande mußten dieſen kriegeriſchen Seelen einge - praͤgt ſeyn?

Jhr einziges und ewiges Spiel war, auf ſcharfe Spieſe einzuſpringen*)Genus ſpectaculorum unum, atque in omni coetu idem. Nudi juvenes, quibus id ludicrum eſt, inter gladios ſe atque infeſtas frameas ſaltu jactant. Tacit. G. 24. Hiedurch er - reichten ſie jene Springkraft. Ignavos & imbelles & corpote infames coeno ac palude mergunt. G. c. 12. Wann man die - ſes nicht von der augenblicklichen Sittuation des Anlaufs ver - ſteht: ſo iſt es nichts., um Koͤrper und Auge zu gewoͤh - nen; und ihre Grundſaͤtze waren jenem Zwecke voͤllig angemeſſen. Wer im Anlaufe auf den Feind zu langſam war (ignavus) oder aus Angſt nicht raſch genug einſetzte, (imbellis) oder wohl gar auf eine ſchaͤndliche Art ſeine Sehnen unbrauchbar gemacht hatte, (corpore infamis) den erſtickten ſie in dem naͤchſten Sumpfe, und eine ewige unausloͤſchliche Schande verfolgte diejenigen, die ihren Dienſtherrn in der Schlacht verließen.

Dieſe15der alten Deutſchen.

Dieſe Springer waren aber auch nur in der erſten Linie, und die edelſten Juͤnglinge der Nation*)In univerſum aeſtimanti, plus penes peditem roboris: eoque mixti præliantur, apta & congruente ad equeſtrem pugnam velocitate peditum quos ex omni juventute delectos ante aciem ponunt. Tac. G. c. 6.. Ruͤbenfreſ - ſer ſchickten ſich dazu nicht; und nur unter den Englaͤn - dern, einer mehrentheils von Fleiſche lebenden Nation, ſicht man hie und da noch Juͤnglinge, die ohne Zulauf, uͤber eine Hecke von ſechs Fuß hinwegſetzen.

Ueberhaupt uͤbertrafen ſie alle Nationen im Sprin - gen. Der Koͤnig der Cimbern Teutoboch**)Quatornos ſenosque equos tranſilire ſolitus. Flor. III. 3. ſetzte ge - woͤhnlich uͤber vier und ſechs Pferde weg, und der Koͤ - nig iſt ſelten der erſte und einzige in ſeiner Art. Ohne Zweifel gehoͤrte alſo das Voltigiren zur National-Erzie - hung, und das Gefolge (comitatus) des Koͤnigs war vermuthlich noch ſtaͤrker in dieſer Kunſt als er. Die Nerve ihres Arms, womit ſie einen Wurfſpieß auf eine ungeheure Weite (miſſilia in immenſum vibrant ſagt Ta - citus) ſchleudern konnten, mußte an der Mutter Bruſt geſpannet ſeyn.

Da ſie alles in Abſicht auf den Krieg thaten: ſo iſt auch kein Zweifel uͤbrig, daß das Voltigiren nicht zu - gleich ſeine unmittelbare Beziehung auf das Reiten hatte, wie ſie denn auch mit einer verwundernswuͤrdigen Fer - tigkeit von ihren Pferden auf und ab ſetzten. Die deut - ſche Cavallerie war in allen Schlachten der roͤmiſchen uͤberlegen, und die roͤmiſchen Schriftſteller ſind froh, wenn ſie ſagen koͤnnen: equites ambigue certavere**)Quatornos ſenosque equos tranſilire ſolitus. Flor. III. 3..

Jhre16Von der Nationalerziehung

Jhre ſchwere Jnfanterie, denn ſie hatten auch eine leichte, die wie bekannt, mit der leichten Reuterey uͤber - weg*)Tacit. l. c. lief, hat ſchwerlich viele ihres gleichen gehabt. Urtheilen ſie aus dem einzigen Zuge: Wie die Cimbern an die Etſch kamen, ſtelleten ſie ſich, drey oder vier Mann hoch, in den Strom,**)LIV. XXXXIV. 26. und wollten ihn mit ihren Schilden aufhalten. Dies ſetzt voraus, daß Schild an Schild ſchloß, und dieſes Manoeuvre nicht allein eine undurchdringliche Mauer ausmachte, ſondern auch der groͤßten Gewalt widerſtehen konnte. Wo iſt jetzt ein Ge - neral, der ſich die Erwartung von ſeiner Jnfanterie ma - chen koͤnnte, daß ſie einen Strom im Laufe aufzuhalten vermoͤchte? Waͤre den Cimbern ihr Unternehmen gelun - gen: ſo waren ſie Meiſter von Rom. Mit dem Damme welchen ſie hernach ſchlugen, vergieng ihnen die Zeit.

Die Catten hatten einen Schandorden eingefuͤhrt,†)Retinere amnem manibus & clipeis fruſtra tentarunt. Flor. l. c. welchen jeder Juͤngling ſo lange tragen mußte, bis er einen Feind erlegt hatte. Dieſe Erfindung iſt gewiß um einen Grad feiner, als die Ritterorden in den Philan - tropinen. Um nur erſt unter die Zahl der ehrbaren Maͤn - ner zu gelangen, mußte der Juͤngling ſchon Thaten ge - than haben.

Jeder widmete ſich ſeinem Anfuͤhrer in deſſen Ge - folge er diente, mit einem ſchweren Eide auf Leib und Leben; und ſo lange dieſer ſtand, mußte alles ſtehen. Wer ihn ehe er fiel, verließ, ward, um in unſrer Spra - che zu reden, vor der Fronte des Gefolges als infam caſſirt, und keiner wuͤnſchte dieſe Schande zu uͤberleben. Jhre Subordination war ſo ſtrenge, daß jeder, was erthat17der alten Deutſchen. that, auf die Rechnung des Anfuͤhrers ſetzen, und ſich damit nicht ſelbſt erheben durfte*)Fortiſſimus quisque ferreum inſuper annulum, ignominioſum id genti, velut vinculum geſtat, donec ſ caede hoſtis abſol - vit. TACIT. G. c. 31..

Das Frauenzimmer hatte einen eben ſo hohen Be - griff von Ehre. Wie die Cimbern zulezt uͤberliſtiget wurden, bat das gefangene Frauenzimmer, unter die Veſtalinnen aufgenommen zu werden; und wie ihnen dieſes abgeſchlagen wurde, ſchlugen ſie ihre ſchoͤnen Haarflechten**)Id. c. 14. uͤber die Reiffen ihrer Wagen, knuͤpf - ten ſolche unter das Kinn zuſammen, und erhaͤngten ſich mit dieſem Wohlſtande unter der Decke ihrer Wagen. Specioſam mortem nennet es Florus.

Die Dichtkunſt der Nation hatte drey Hauptge - genſtaͤnde, die Ankunft des Volks von ſeinem Urſprung an, die Thaten der Krieger, und die Ermunterung zur Schlacht; ihre Mahlerey gieng blos auf die Ver - zierung des Schildes, die Tanzkunſt auf den hohen Eh - rentanz zur Belohnung der Sieger, und auf den Paß zum marſchiren. Mit einem Worte, alle Wiſſenſchaf - ten und alle Kuͤnſte giengen bey ihnen lediglich auf den Krieg; und daß ſie auch in der hoͤhern Strategie erfah - ren waren, ſchließt man nicht allein daraus, daß ſie fuͤnf roͤmiſche Conſular-armeen nach einander aus dem Felde ſchlugen, ſondern auch beſonders aus dem großen Ma - noeuver des Arioviſts***)Vinculo e crinibus ſuis facto a jugis plauſtrorum pepende - runt. FLOR. III. 3., der gleich ſein Lager nur eine Meile vom roͤmiſchen nahm, des andern Tages denMoͤſers patr. Phantaſ. IV. Th. BCaͤſar18Von der Nationalerziehung ꝛc. Caͤſar tournirte, ihm damit die Zufuhr abſchnitt, darauf ein Haupttreffen vermied, ſodann die Roͤmer, denen er in der Zahl leichter Truppen uͤberlegen war, mit Schar - muͤtzeln aufzureiben ſuchte, in der Schlacht ſelbſt ihnen durch eine der ſchnelleſten Wendungen ihre ganze Artil - lerie unbrauchbar machte, und ihren linken Fluͤgel beym erſten Angrif uͤber den Haufen warf.

Dieſes alles ſetzt eine Erziehung von ganz andrer Art voraus, als man ſich insgemein von Barbaren ein - bildet; und man kann dreiſt annehmen, daß es nicht blos wilde Tapferkeit, ſondern eine wahre eigne, durch die Erziehung gebildete Kriegeskunſt geweſen, welche die deutſche Nation den Roͤmern erſt fuͤrchterlich, her - nach ehrwuͤrdig und zuletzt werth gemacht hat. Die Roͤmer ſprechen von allen Nationen auſſer der deutſchen mit Geringſchaͤtzung.

Nur muß man, wie bisher zu wenig geſchehen, die Erziehung im Gefolge, von der gemeinen Erziehung, oder den gezogenen Soldaten von dem Bauern unter - ſcheiden. Jene Erziehung war blos im Gefolge, das heißt in der damaligen regulairen Militz; doch nehme ich die Sueven aus, als bey welchen auch der Bauer enregimentirt, und in ſeiner Maaße geuͤbt war. Von dieſen ſagten die uͤbrigen deutſchen Voͤlker*)Caeſ. de B. G. L. VI. , daß ihnen auch die Goͤtter ſelbſt nicht widerſtehen koͤnnten; ſo ſtark, ſo einzig war ihre kriegeriſche Verfaſſung. Und wahr - lich eine Verfaſſung, zu deren Begruͤndung man das Landeigenthum aufgehoben hatte, mußte von ganz be - ſondrer Art ſeyn**)Caeſ. de B. G. VI. 7..

IV. 19

IV. Ueber die Erziehung des Adels von einem Edelmanne.

Der unermuͤdete Eyfer, womit Euer Hochf. Durch - laucht ſich der Erziehung der Jugend annehmen, laͤßt mich hoffen, daß Hoͤchſtdieſelben, ens und anderes, was ich bey den in ſolcher Abſicht gemachten Einrich - tungen zu erinnern finde, nicht ungnaͤdig aufnehmen werden.

Dieſe ſind, wie mir duͤnkt, groͤßtentheils fuͤr kuͤnf - tige Gelehrte gemacht, und was ſie zur Vorbereitung der Jugend fuͤr andre Staͤnde beytragen ſollen, ſcheint mir dasjenige bey weitem nicht zu wuͤrken, was die prak - tiſche Anfuͤhrung zu denſelben wuͤrken kann. So wie junge Leute, welche ein Handwerk lernen ſollen, niemals dasjenige in einer Realſchule lernen werden, was ihnen in der Werkſtaͤtte eines guten Meiſters gelehrt wird; eben ſo wenig werden kuͤnftige Staatsmaͤnner in einer Staats - oder Cameralſchule vollkommen gebildet werden. Jene muͤſſen, ſo wie ſie ihr vierzehntes Jahr erreichet, und dasjenige erlernet haben, was ſie erlernen koͤnnen und muͤſſen, die Schulen der Gelehrten verlaſſen, und ſich einem Meiſter uͤbergeben; und eben dieſes muͤſſen meiner Meinung nach auch diejenigen thun, welche ſich andern Staͤnden widmen wollen.

Mit den Gelehrten iſt es eine eigne Sache; ihre Anzahl wird in Verhaͤltnis ihrer Mitbuͤrger, immer nur gering ſeyn duͤrfen, wenn ein Staat, der viele ausuͤ - bende und nur wenig lehrende Maͤnner gebraucht, großB 2und20Ueber die Erziehung des Adelsund maͤchtig bleiben ſoll. Der Adel ſollte ſich gar nicht in den Stand der Gelehrten begeben; und die Staaten wurden beſſer regiert, wie ungelehrte Landraͤthe ſtimmten, und ein gelehrter Canzler die Ausfertigungen darnach beſorgte, als jetzt wo alles gelehrt iſt.

Unſre Vorfahren, die immer ohne viel zu ſpeculi - ren mit dem Faden der Erfahrung uͤber Weg giengen, und Uebung und Arbeit in jeder Kunſt fuͤr ein ſicherers Mittel hielten, ihre Kinder vom Boͤſen abzuhalten, und aus ihnen brauchbare Maͤnner zu machen, als alle Re - geln und Wiſſenſchaften, ob ſie es gleich auch beylaͤufig hieran nicht ermangeln ließen, ſuchten ihre Soͤhne, je nachdem ſie an ihnen Luſt oder Faͤhigkeit bemerkten, bey Hofe, bey der Jagd, bey der Forſt oder beym Stalle anzubringen. Der Fuͤrſt, der ſie zuerſt als Pagen auf - nahm, hatte an ſeinem Hofmarſchall, Oberjaͤgermeiſter, Forſtmeiſter und Stallmeiſter, zunftgerechte Meiſter, und man ſprach damals von Hoͤfen, wie man jetzt von Aka - demien ſpricht. Jeder Edelmann wußte, wo ein gerech - ter Hof gehalten wurde, und jeder Fuͤrſt beſtrebte ſich den beſten zu haben. Man ſahe den Hof als die wahre Schule des Adels an, und ein Churprinz von Sachſen ward Page bey ſeinem Oheime, dem Erzbiſchofe zu Magdeburg, um Regierung zu lernen.

Jnsbeſondre aber leiſteten die Kriegesſchulen unſerer Vorfahren, da ein Vater ſeinen Sohn einem guten Mei - ſter oder Ritter auf ſechs oder ſieben Jahre in die Lehre gab, und nicht eher zuruͤcknahm, als bis er die Geſel - len - oder Knapen-Jahre erreicht hatte, und auf die Wan - derſchaft ziehen konnte, alles was man nach der damali - gen Kriegesverfaſſung noͤthig hatte; und der Geiſt dieſer Einrichtung zeichnet ſich unendlich weit vor der Heutigen aus, nach welcher der Knabe in einem Regimente auf -dienen21von einem Edelmanne. dienen muß. Denn der Ritter erhielt die vaͤterliche Ge - walt uͤber ſeinen jungen Lehrling, und zuͤchtigte ihn vaͤ - terlich, wenn dieſer aus dem Gleiſe gieng, anſtatt, daß jetzt ein Oberſter oder Hauptmann ſich kaum berechtiget haͤlt, einem ihm empfohlnen Fahnenjunker, der nun ſchon in des Fuͤrſten Dienſte ſteht, und daher nach ganz andern Grundſaͤtzen behandelt werden muß, in gewiſſen Faͤllen ei - nen ernſtlichen Verweis zu geben.

Nach dieſen Vorausſetzungen wuͤrden Ew. Hochfl. Durchlaucht, meiner geringen Einſicht nach beſſer thun, wenn Hoͤchſtdieſelben an dero Hofe einen ſolchen Ober - hofmarſchall, Oberjaͤgermeiſter, Oberforſtmeiſter und Oberſtallmeiſter, welche als gerechte Meiſter in ihren Kunſt, adliche Juͤnglinge in die Lehre nehmen, und dieſe mit vaͤterlicher Zucht zu rechtſchaffenen Geſellen bilden koͤnnten, unterhielten, und dann eine ſolche adliche Ju - gend unter dem Namen von Pagen aufnaͤhmen. Dieſe wuͤrden dann nach vollendeten Lehrjahren, anſtatt auf Akademien zu gehen, wenigſtens drey Jahre andre Hoͤfe und Laͤnder, Staͤlle, Forſten und Jaͤgereyen beſuchen muͤſſen, ehe und bevor ſie an dem Orte ihrer Beſtim - mung zum Dienſte gelaſſen wuͤrden.

Eben ſo wuͤrde ein großer Koͤnig, welcher eine zahl - reiche Armee zu unterhalten hat, gewiß ſtaͤrkere und ge - ſuͤndere Officiere erhalten, wenn dieſelben etwa bis ins zwanzigſte Jahr, einem General oder Oberſten mit voͤlli - ger vaͤterlicher Gewalt uͤbergeben, und ſodann erſt ins Regiment geſetzt wuͤrden. Dem Dienſte wuͤrde dadurch nichts entgehn, indem eine ſolche Jugend alles dasjenige verrichten koͤnnte, was ſie jetzt verrichtet; und dieſe wuͤrde auch nichts dabey verlieren, wenn der Koͤnig ſie nach ih - rem Alter befoͤrderte.

B 3Meine22Ueber die Erziehung des Adels ꝛc.

Meine Meinung iſt hiebey keinesweges, daß dieſe Jugend gar keines weitern Unterrichts genießen ſolle; ſie ſollen ihn nur empfangen, wie andre Lehrlinge ihren Unterricht in Sprachen oder im Schreiben, Rechnen, Tanzen und andern Fertigkeiten nehmen muͤſſen; und nur nicht wie kuͤnftige Gelehrte, die einſt wieder andre lehren ſollen, erzogen werden.

Ew. Hochfuͤrſtl. Durchlaucht haben jetzt drey große Paͤchter im Lande, die alle bey ihrem Vater fuͤr Jungen, Halb - und Groß-Knechte gewiſſe Jahre gedienet haben, und jedermann ruͤhmt ihnen nach, daß ihres Gleichen auf hundert Meilen nicht zu finden waͤre. Sie haben ein ſolches Auge fuͤr alles was zum Haushalten gehoͤret, daß alle Bauern im Dorfe ſie fuͤr ihre Meiſter erkennen, und alles was ſie unternehmen, bringt Segen. So iſt auch in Hoͤchſtdero Landſchaft der Herr von = = = und der Herr von = = =; die beyde bey der vaͤterlichen Wirth - ſchaft erzogen ſind, weiter nichts als einen guten Hof - meiſter gehabt, und auch fremde Laͤnder geſehen he - ben; aber an Einſicht in das wahre Wohl des Landes alle andre uͤbertreffen. Sie allein wiſſen es, wo es den Unterthanen druͤckt, und was ſie leiſten koͤnnen; und die - ſes muß die Hauptwiſſenſchaft des erbgeſeſſenen Edel - manns ſeyn; ꝛc.

Alſo23

V. Alſo ſoll der handelnde Theil der Menſchen, nicht wie der ſpeculirende erzogen werden.

Sie glauben, liebſter Freund, ich habe in dem Schrei - ben an den Fuͤrſten .... den Taͤnzer mit dem Tanz - meiſter, oder den Gelehrten mit dem Lehrer verwechſelt? Wohlan, ich will mich deutlicher erklaͤren, warum ich den praktiſchen Unterricht dem wiſſenſchaftlichen vorzie - he, und warum ich glaube, daß der praktiſch erzogne Menſch, wenn es zur That koͤmmt, ſein Ebentheuer beſ - ſer beſtehe als der andre.

Laßt uns nur gleich bey dem Landmanne anfangen; wie viel Standhaftigkeit zeigt derſelbe nicht in ſeinem Un - gluͤcke? Brennt ihm ſein Haus ab, oder raubt ihm ein Hagelſchlag ſeine ganze Hofnung im Felde; Gott hat es gegeben, Gott hat es genommen. Stirbt ihm ſein gu - tes Weib, oder ſein liebſtes Kind, im ewigen Leben ſieht er ſie wieder. Unterdruͤckt ihn der Maͤchtige, nach die - ſer Zeit koͤmmt eine andre. Raubt ihm der Krieg alles, Gott weis was ihm nuͤtzlich iſt; und allezeit iſt der Na - me des Herrn muthig gelobet. So finde ich faſt durch - gehnds den Landmann, und auf dem Sterbebette ſieht er, des Lebens ſatt und muͤde, ſeiner Abſpannung vom Joche mit einer beneidenswerthen Ruhe entgegen, ohne aller der Troͤſtungen zu beduͤrfen, die ſich der Gelehrte geſammelt hat, und blos mit den Hausmitteln verſorgt, die ihm der praktiſche Religions-Unterricht gewaͤhrt. Wo iſt aber der Gelehrte, der aufrichtig ſagen kann, ſo viel mehr Muth und Standhaftigkeit zu beſitzen, als er wiſſenſchaftlicher unterrichtet iſt?

B 4Eben24Alſo ſoll der handelnde Theil der Menſchen,

Eben ſo iſt es in andern Verhaͤltniſſen. Wer grif mit mehrer Zuverſicht an, als Ziethen? wer gieng kuͤh - ner in die Gefahr als Cook? und wer hat nach Verhaͤlt - niſſe aller Umſtaͤnde, groͤßere Schritte in der Erkenntnis gemacht, als ein Kind von zwey oder drey Jahren, das ſchon von allem ſpricht, ohne jemals eine deutliche Re - flexion gemacht zu haben? Wenn ich alle Kriegesbuͤcher und alle Reiſebeſchreibungen auswendig gelernt haͤtte: ſo wuͤrde ich in dem Augenblicke, da Sehen und Angrei - fen nur Eins ſeyn muß, dasjenige nicht ſeyn, was jene blos praktiſch unterrichtete Maͤnner waren.

Sie glauben vielleicht, Ziethen und Cook wuͤrden groͤßer geweſen ſeyn, wenn Sie bey gleichen Erfahrun - gen wiſſenſchaftlich waͤren unterrichtet worden? O Freund! der Weg der letzten Art iſt viel zu langſam; er laͤßt uns dasjenige nur Stuͤckweiſe genießen, was wir im prakti - ſchen Unterrichte auf einmal und im ganzen Zuſam - menhange faſſen. Das Auge, welches die Stellung der Feinde tauſendmal geſehn hat, ſummirt Totalein - druͤcke zu Totaleindruͤcken; es vergleicht unendliche Maſ - ſen mit unendlichen Maſſen, und bringt unendliche Re - ſultata heraus, anſtatt, daß der wiſſenſchaftlich Unter - richtete mit lauter einzelnen und beſtimmten Jdeen rech - net, und Regeln herausbringt, die, wenns zum Tref - fen koͤmmt, nie gegen den Totaleindruck beſtehen, und einen in dem Kampfe der Leidenſchaften hoͤchſtens mit dem Seufzer: Oh! troppo dura legge! verlaſſen.

Zum Vergnuͤgen, und bey muͤßigen Stunden ſtellt der praktiſch Unterrichtete auch wohl Unterſuchungen ſei - nes Reichthums an, anatomirt einen Totalbegrif, und freuet ſich des Philoſophen, der dieſen ſchon vor ihm zer - legt, und iedem Theilgen deſſelben einen Namen gege - ben hat; aber im Handel haͤlt ihn ſeine Metaphyſik nichtauf,25nicht wie der ſpeculirende erzogen werden. auf, weil er in der Jugend damit nicht angefangen, und ſeine Seele nicht an den weit langſamern Gang deutli - cher Jdeen gewoͤhnt hat.

Eben ſo macht es das Frauenzimmer, wovon man ſagt:

Illam quicquid agit, quoquo veſtigia movit, Componit furtim ſubſequiturque decor. ()

Sie hat das componere ſurtim nicht wiſſenſchaftlich erlernt; ſondern ſich immer unter unzaͤhligen Verhaͤltniſ - ſen befunden, ſich darnach ohne dieſelben in einzelne Be - griffe zu zerſtuͤcken, gebildet, und eine ſolche Summe fuͤr ihr Betragen daraus gezogen, die kein Gelehrter jemals vollſtaͤndig in einzelne Regeln aufloͤſen wird. Jhre Regeln ſind uoncreta, die ſo bald ſie durch die Abſtraction getrennet, oder auch nur deutlich gedacht werden koͤnnen, nicht mehr ihre ſchnelle Wuͤrkung behalten; indem das deutliche Denken ganzer Maſſen, nicht ſo geſchwind von ſtatten geht, als das Empfinden derſelben, und das An - ſtaͤndige oder Unanſtaͤndige fruͤher auffaͤllt, als die Urſa - chen davon gedacht werden koͤnnen. Empfindung kann nur durch Wiederempfindung voͤllig gefaßt, und nicht durch Worte ausgedruͤckt werden. Le ſentiment ſeul eſt en etat de juger le ſentiment, ſagt Helvetius.

Jn dem bekannten; video meliora proboque, dete - riora ſequor, werden kleine abſtrahirte Regeln den all - maͤchtigen Wuͤrkungen eines Totaleindruckes entgegen ge - ſtellet; und wie gluͤcklich iſt der Menſch, daß er durch dieſe und nicht durch jene zum Angriffe beſtimmt wird indem wahrlich mehr Gutes in der Welt unterbleiben wuͤrde, als jetzt darinn Boͤſes geſchieht, falls es in des Menſchen Vermoͤgen waͤre, ſich an der Schnur abgezog - ner Regeln zu halten, oder jede ſeiner HandlungenB 5ſo26Alſo ſoll der handelnde Theil der Menſchen,ſo einzurichten, wie er es ſich in ſeinem Lehrſtuhle bey kalter Ueberlegung vorgenommen hatte.

Noch eins; zerlegen Sie einmal das componere furtim, und unterſuchen, woraus die Compoſition be - ſteht; nicht wahr, Sie finden nichts wie Luͤgen und Be - trug? Man laͤßt ſcheinen was man nicht hat, und ver - birgt was man nicht ſehen laſſen darf. Und dennoch wird der praktiſche Mann die holde Schoͤne wahr und tugendhaft finden, und des moraliſchen Anatomiſten la - chen, der ihm ſolche theilweiſe unwahr und fehlerhaft zeigen kann. Eben ſo wird der durch den ganzen Ein - druck der Schoͤpfung belehrte Bauer immer des meta - phyſiſchen Atheiſten lachen, und Gott da erkennen, wo dieſer ihn nach dem Maaße verlieret, als er trennet, thei - let, und ins unendliche geht. Unter jenen hat nie einer an ſeiner eignen Exiſtenz und ſeiner Freyheit gezweifelt; und es iſt eine erſtaunende Beruhigung, daß die Wuͤr - kung des Ganzen, Glaube an Gott iſt, und der Zwei - fel blos aus einem ſublimirten Theilgen aufſteigt.

Ein ſtrenger Moraliſt wird niemals ein guter Miniſter werden, weil er immer ſein Verhalten mehr nach abſtrahir - ten Regeln, als nach Totalbegriffen einrichten wird; und doch ziehen manche Fuͤrſten bey Beſetzung der Miniſte - rialſtellen, den regelmaͤßig gelehrten dem praktiſchen Manne vor. Gewis wuͤrden ſie dadurch zu tauſend Un - gerechtigkeiten Gelegenheit geben, die jeder natuͤrlicher Weiſe begeht, der nach ſeinem kurzen abſtrakten Maaß - ſtab, eine menſchliche Handlung abmißt, wenn nicht zum Gluͤck die mehrſten abgezognen Regeln in dem Augen - blick der Handlung und Entſcheidung, dem maͤchtigen Totaleindruͤcke weichen muͤßten. Jn den mehrſten Laͤn - dern werden die Verbrecher noch nach abſtrahirten Ge -ſetzen27nicht wie der ſpeculirende erzogen werden. ſetzen verdammt; aber in England erkennen zwoͤlf Total - eindruͤcke uͤber die concrete That.

Aber dem allen ungeachtet, ſollen ſie nicht glauben, daß ich den wiſſenſchaftlichen Unterricht, und die Gelehr - ſamkeit, welche daraus entſteht, verachte. Nein, ich ſehe die Gelehrten als eine der edelſten Klaſſen der Men - ſchen an; der wiſſenſchaftliche Untecricht beſteht hier mit ſeinem Zwecke vollkommen, und ich weis, daß der prak - tiſche Unterricht unendlich durch die Reſultate des wiſ - ſenſchaftlichen gewonnen hat. Allein die Geſchaͤfts - maͤnner und die uͤbrigen handelnden Menſchen ſollen dieſe Reſultate nuͤtzen, ohne mit jenen einerley Gang zu ge - hen; ſie ſollen wie die Frau von Sevigny den Verſtand an bout de la plume haben, oder wie ein fertiger Muſi - cus, die Noten durchs Auge in die Finger gehen laſſen, und das commercium rerum et animae, wie es Baco nen - net, ſo wenig durch das Denken der Zeichen, als durch deren Ausdruck aufhalten; und das laͤßt ſich in Geſchaͤf - ten blos von dem praktiſchen Unterrichte erwarten. Jch bedenke nie was ich ſchreibe, und leſe nur was ich ge - ſchrieben habe, aber eben deswegen bin ich mit der groͤß - ten Fertigkeit ꝛc.

VI. Ueber die Sittlichkeit der Vergnuͤgungen.

Hoͤre Freund, ich gebs dir zu, es iſt unnoͤthig von den Daͤchern zu ſingen, wie ſuͤß die Liebe und wie lieblich der Wein ſey; denn die Natur wirds dem Jun - gen ſchon ſagen, und es iſt beſſer daß dieſe es thue, als daß eine Kupplerinn die Roſe vor der Zeit breche. Aberdaß28Ueber die Sittlichkeit der Vergnuͤgungen. daß ich nun auch auf der andern Seite im Genuſſe aller Menſchenfreuden ſo ſparſam und pipiſch ſeyn ſoll, damit bleib mir vom Leibe; ich genieſſe was ich vertragen und bezahlen kann; das iſt mein Maaß, und das Maaß ei - nes jeden redlichen Mannes unter der Sonnen*)Honny foit qui maly penſe. .

Du ſelbſt haſt mir zugeſtanden, daß es keine Suͤnde ſey, ein Fuͤrſt, Craf oder Edelmann zu ſeyn; unſer Pfarrer hat es mehrmals oͤffentlich gepredigt, man koͤnne hunderttauſend Thaler beſitzen und doch ſelig werden, obs gleich ein bisgen hart hergienge. Wenn ich alſo von der Ehre und vom Gelde ſo viel nehmen darf, wie ich vertragen und mit Recht erhalten kann, warum nicht auch von der Luſt? Wir ſind nicht in Amerika, wo man ſich mit der Ehre der bloßen Menſchheit begnuͤgen muß, und ſo lange es dauert, ſo wenig ein Edelmann als ein Graf ſeyn darf; wir ſind auch keine Wiedertaͤufer, daß wir alle Freuden wie alle Guͤter gemein haben muͤſſen; und wenn dieſes nicht iſt, wenn einer Feldmarſchall ſeyn darf, obgleich hunderttauſend fuͤr Gemeine dienen muͤſ - ſen; wenn einer eine Million Piſtolen beſitzen mag, ob - gleich eine Million Menſchen nicht ſo viel Heller zaͤhlt: ſo denke ich auch, ich duͤrfe ſatt Paſteten eſſen, wenn gleich alle meine Nachbarn nur grob Brod zu koſten kriegen.

Du nenneſt das hart? .... Gut. Mitleidiger Mann, ich will allen was mitgeben, es ſoll niemand bey mir darben; ich will großmuͤthiger ſeyn als der Koͤnig, der ſeine ganze Ehre fuͤr ſich allein behaͤlt, und billiger als der Reiche, der immer noch mehr ſammlet. Wir Meiſter in der Kunſt ſich zu vergnuͤgen, haben einen ed - lern Hang als beyde, wir laſſen keinen darben; und wirſind29Ueber die Sittlichkeit der Vergnuͤgungen. ſind nicht gluͤcklicher, als wenn die ganze Welt mit uns gluͤcklich iſt; wir theilen Opern, Redouten, Comedien, Paſteten und was wir haben, von Herzen gern mit, und boͤſe Leute allein ſind es, die uns nachreden, daß wir unſern Wein allein trinken. Unſer groͤßtes Vergnuͤgen iſt, recht viel vergnuͤgte Leute zu machen; ſind nicht eben die Redouten und Comedien gerade ſo eingerichtet, daß ein jeder fuͤr ein billiges daran Theil nehmen kann, und lachen wir wohl jemals herzlicher, als wenn die ganze Verſammlung mitlacht? Alſo ....

Aber das geht nicht, wir muͤſſen arbeiten, wir haben Pflichten gegen uns, gegen andre, gegen Gott

Richtig, vollkommen richtig! Jedoch geſetzt, wir wohnten auf Otaheiti, wo die Brodfrucht auf den Baͤu - men wuchs, und jeder nur den Mund aufthun durfte, um ſatt zu werden; wo die Einwohner den ganzen Tag in der Sonne lagen, und nicht anders aufſtunden als um Comedien zu ſpielen, oder zu tanzen; wo Jungen und Maͤdgen ſich beſtaͤndig im Graſe waͤlzten, und die Koͤni - ginn mit ihren Hofdamen den Englaͤndern immerfort in die Arme lief; wo Eſſen und Trinken und Schlafen die einzige Berufsarbeit war; wo es keine Arme und keine Almoſen gab, weil der Schoͤpfer fuͤr jedes menſchliche Geſchoͤpf mit gleicher Freygebigkeit geſorgt hatte, wo man anſtatt zu beten, alles nur mit Empfindung, die man kaum Dankbarkeit nennen konnte, genoß; ſollten hier die Leute ſich auch Pflichten machen? ſollten ſie die Brodbaͤume abhauen, um Korn im Schweiß ihres Ange - ſichts aus der Erde zu ziehen, oder ſich in die ſpaniſche Bergwerke ſchleppen laſſen, um Urſach zu haben Gott ſtuͤndlich fuͤr ihre Errettung anflehn zu koͤnnen? He!

Du30Ueber die Sittlichkeit der Vergnuͤgungen.

Du lachſt! und meinſt Weſtfalen ſeye nicht Ota - heiti? Je nun ſo kommen wir auf den rechten Fleck zu - ſammen; ſo iſt die Frage nicht, ob Redouten und Co - medien erlaubt ſind, nein! alles kommt denn darauf an, ob ſie dem Orte, worinn ſie gehalten werden, angemeſ - ſen ſind; und ob die Perſon welche ſie beſucht ihre Pflich - ten dabey verletzt? Aber wozu denn die allgemeinen Ur - theile uͤber ihre Sittlichkeit und Unſittlichkeit in Anſehung unbeſtimmter Oerter und Perſonen?

Man gewinnt doch noch immer etwas damit; man haͤlt doch noch manchen zuruͤck, der ſich ſonſt dieſem Ver - gnuͤgen zu ſehr uͤberlaſſen wuͤrde? ..... ſprichſt du? O Freund! Freund! was ſoll der gemeine Mann denken, wenn die Sittenlehrer mit aller Macht der Beredſamkeit, Opern, Comedien und Redouten verdammen, und gleich - wohl ſieht, daß die großen Fuͤrſten und Fuͤrſtinnen, deren Weißheit und Tugend eben dieſe Sittenlehrer nicht genug zu erheben wiſſen, ihrer Lehre gerade zu entgegen han - deln? Wenn eben diejenigen, welche eine Sache zu pruͤ - fen und zu ſchaͤtzen wiſſen, ſich an dieſen Vergnuͤgungen gar nichts abziehen laſſen? Muß er hier nicht ganz irre werden? Muß er nicht zuletzt glauben, alle Sittenlehre ſey bloßes Gewaͤſche, und indem er ein Gebot verachtet ſieht, alle fuͤr gleich veraͤchtlich halten? Und thaͤten wir nicht vernuͤnftiger, wenn wir aufrichtig ſagten: ſeidne Kleider ſind gut, aber nicht fuͤr jedermann, als wenn wir, um die Unvermoͤgenden abzuhalten, ſich nicht auch darinn zu kleiden, ſie fuͤr ſuͤndlich erklaͤreten, und uns gleichwohl ſelbſt darinn bruͤſteten? Auch hier kommt alles auf die Graͤnzlinie an; und ſo ſchwer auch dieſe anzu - weiſen ſeyn mag: ſo iſt ſie doch vorhanden, und wie manche andre Sache leichter im Griffe als im Ausdrucke.

Hier -31Ueber die Sittlichkeit der Vergnuͤgungen.

Hieruͤber ſage mir was du weißt, und dann will ich dich gern hoͤren. Ziehe die Graͤnzlinie ſtrenge, ſie ſoll mir nicht leicht zu ſtrenge ſeyn; oder wenn du ja ins All - gemeine gehn willſt: ſo ſage mir erſt, wenn du die noth - wendige Ungleichheit der Staͤnde und Guͤter in der Welt als erwieſen annimmſt; warum du die Ungleichheit der Vergnuͤgungen minder gerecht findeſt?

VII. Etwas zur Policey der Freuden fuͤr die Landleute.

Wenn ich Policeycommiſſarius waͤre, es ſollte mir anders gehn, die Leute ſollten mir wenigſtens ein - oder zweymal im Jahr, auf der Kirms oder auf Faſtnacht, voͤllige Freyheit haben, einige Baͤnde ſprin - gen zu laſſen, oder ich hieſſe nicht Herr Commiſſarius. Unſre heutige Maͤßigkeit macht lauter Schleicher, die des Morgens ihr Glaͤsgen und des Abends ihr Kaͤnngen trin - ken, anſtatt daß die vormalige Ausgelaſſenheit zu gewiſ - ſen Jahrszeiten, einem Donnerwetter mit Schloſſen glich, was zwar da, wo es hinfaͤllt, Schaden thut, im Ganzen aber die Fruchtbarkeit vermehret. Dagegen aber wuͤrde ich auch die taͤglichen Saͤufer, wenn ſie ſich auch nicht voͤllig berauſchten, ohne Barmherzigkeit ins Zucht - haus ſchicken.

Mit allem ihrem Lehren und Predigen haben es die Moraliſten endlich ſo weit gebracht, daß die Leute, wel - che vorhin des Jahrs einen Anker, aber an einem Tage herunterzechten, ſich jetzt taͤglich mit einem geringern Maaße, aber des Jahrs nicht mit einem Stuͤckfaſſe begnuͤ -gen,32Etwas zur Policey der Freudengen, und hier moͤchte ich wohl einmal fragen: Ob wir bey dieſem Tauſche gewonnen oder verlohren haben? Als Policeycommiſſarius ſage ich, Nein. So viele Freuden uns auch der Schoͤpfer giebt, und ſo gern er es ſehen muß, daß wir ſie mit Dank und Maͤßigung genieſſen: ſo offenbar finde ich, daß die Leute bey dem maͤßigen Ge - nieſſen zu Grunde gehen, die vorhin des Jahrs nur ein oder zweymal Kopfweh zu erleiden hatten; ich finde, daß es fuͤr die Pollcey leichter ſey, einmal des Jahrs Anſtal - ten gegen einen wilden Ochſen zu machen, als taͤglich die Kaͤlber zu huͤten.

Bey allem dem aber iſt es doch auch hier zu verwun - dern, daß die Freuden und Ergoͤtzungen unſerer Vorfah - ren policeymaͤßiger geweſen ſind, als die unſrigen. Jn der ganzen bekannten Welt ſind von den aͤlteſten Zeiten her gewiſſe Tage dem Menſchen dergeſtalt frey gegeben worden, daß er darinn vornehmen konnte was er wollte, in ſo fern er nur keinen Klaͤger gegen ſich erweckte. Das Amt der Obrigkeit ruhete an denſelben voͤllig, und der Fiſcus ſelbſt konnte nichts beſſers thun als mitmachen. Man findet alte Stadtordnungen, worinn an zweyen Ta - gen des Jahrs alle Arten von Gluͤcksſpielen erlaubet wur - den; die Obrigkeit duldete die Faſtnachtszechen, und Mummereyen bis in die Kirchen, und ſorgte blos dafuͤr, daß die unbaͤndigen Menſchen kein Ungluͤck anfiengen; die Uebermaaße ſelbſt wehrete ſie keinem. Man erinnert ſich der Saturnalien wie der Narrenfeſte; man weiß, was zur Carnevalszeit in und auſſer den Kloͤſtern erlaubt war, und man ſieht, ohne ein Montesquien zu ſeyn, daß aller Welt Obrigkeit, den Patriarchen zu Conſtantinopel nicht ausgeſchloſſen*)Cedron hiſt. p. 639., den Grundſatz angenommen hatte: dieThor -33fuͤr die Landleute. heit muß wenigſtens einmal im Jahre ausgaͤhren, damit ſie das Faß nicht ſprenge.

Eben dieſer Grundſatz herrſchte in andern Theilen bey unſern Vorfahren. Bey gewiſſen ſeltnen feyerlichen Gelegenheiten zeigten ſie ſich in verſchwenderiſcher Pracht, wenn ſie taͤglich in einem ſchlichten Wamſe giengen. Wenn ſie mit einander haderten: ſo ſchonten ſie ſo wenig ihrer Lunge als ihrer Faͤuſte; und wenn ſie ſich freueten: ſo wollten ſie berſten vor lachen. Damit ſchonten ſie ihre Feyerkleider, und entwehrten ſich des ſchwindſuͤchtigen Grams, und der Gefahr von einer ploͤtzlichen Freude zu ſterben. Wir hingegen opfern der Mode durch taͤgliche kleine Ausgaben unſer beſtes Vermoͤgen auf, verfolgen unſre Feinde mit der artigſten Manier, und ſchwindeln bey allen ploͤtzlichen Zufaͤllen.

Jedoch Scherz bey Seite, wenn ich Policeycommiſ - ſarius waͤre, die Leute ſollten mir zu gewiſſen Zeiten mehr Freuden haben, damit ſie zu andern fleißiger und ordent - licher wuͤrden. Jch weiß wie dem Handwerksmanne der Sonntags Braten ſchmeckt, wenn er ſich die ganze Wo - che mit einem Gemuͤſe beholfen hat; und wie zufrieden er mit ſeinem Gemuͤſe iſt, wenn er an den Sonntagsbra - ten gedenkt. Nach dieſem wahren Grundſatze, wuͤrde ich jedem Dorfe wo nicht alle Monate, doch wenigſtens alle Vierteljahr ein Feſt erlauben, um den taͤglichen Ge - nuß, welcher zuletzt auch oft den Beſten zur Uebermaaße verfuͤhrt, und um ſo viel gefaͤhrlicher iſt, je unbemerkter er im Finſtern ſchleicht, und mit der lieben Gewohnheit, der andern Natur, uͤber Weg geht, ſo vielmehr einzu - ſchraͤnken. Eine Policey, die ihre Aufmerkſamkeit dahin wendete, wuͤrde wahrſcheinlich gluͤcklicher ſeyn als dieje - nige, welche wie die neuere alle Arten von Zechereyen und Gelagen verbietet, und damit den durch keine GeſetzeMoͤſers patr. Phantaſ. IV. Th. Czu34Etwas zur Policey der Freudenzu bezwingenden heimlichen und oͤftern Genuß befoͤrdert, auch wohl ſelbſt das Salz der Freude, was dem geplag - ten Menſchen Reiz und Dauer zur Arbeit geben ſoll, voͤl - lig unſchmackhaft macht.

Jn gewiſſen Laͤndern und beſonders am Rheine, laͤßt der Pfarrer des Sonntags das Zeichen mit der Glocke geben, wenn der Fideler in der Schenke auf die Tonne ſteigen darf, und nun faͤngt alles an zu huͤpfen. Jn der ganzen Woche aber findet man daſelbſt keinen Menſchen in der Schenke. Jn Frankreich, wo das Tanzen am Sonntag verboten iſt, ſieht man des Abends nach ver - richteter Arbeit, haͤufige Taͤnze, und die Nation iſt nuͤch - tern und fleißig. Jn Genf findet man die Handwerker alle Abend, wenn es die Witterung erlaubt, eine Stun - de auf oͤffentlichen Plaͤtzen, um ſich von der unermuͤde - ten Anſtrengung des Tages zu erholen; und ſo iſt uͤberall, wo die Geſetzgebung auf Erfahrungen gebauet wird, Freude und Arbeit vermiſcht, und die eine dient der an - dern mit maͤchtiger Hand.

Jn andern Laͤndern hingegen, wo die Feyertage nach einer gebieteriſchen Theorie abgeſchaft, die blauen Mon - tage eingezogen, die Faſtnachtsluſtbarkeiten verboten, die Leichen - und Kindelbiere*)Jn vielen weſtfaͤliſchen Doͤrfern giebt es noch guͤſte Kindel - biere. Das iſt, Eheleute die keine Kinder haben, koͤnnen einmal in ihrem Leben auch ein Kindelbier halten, damit ſie ſich wegen deſſen, was ſie andern geopfert haben, erholen koͤnnen. Wahrlich eine gutherzige Erfindung. Guͤſt wird von Kuͤhen gebraucht, die nicht kalben. zu genau eingeſchraͤnkt, alle Zehrungen unterſagt, alle Kirmesfreuden durch den nie ſchlafenden Fiſcal geſtoͤret, und uͤberhaupt alle Luſt - barkeiten der Unterthanen ſo viel immer moͤglich unter -druͤckt35fuͤr Landleute. druͤckt ſind, ſieht man die Leute weit haͤufiger in den Schenken, ſtiller und trauriger aber oͤfterer trinken, und auch weniger fleißig arbeiten. Jhre Wirthſchaft geht bey allen Einſchraͤnkungen ſchlimmer, und der niederge - ſchlagene Menſch ſchaft mit ſeinen Haͤnden dasjenige nicht, was der luſtige ſchaft. Die Unterthanen ſehen den Ge - ſetzgeber wie die Kinder einen graͤmlichen Vater an; ſie verſammlen ſich in Winkeln, und thun mehr boͤſes als ſie bey mehrer Freyheit gethan haben wuͤrden. Sie duͤn - ken ſich ſicher, ſo oft ſie ſich nur nicht die Haͤlſe brechen.

Bisher hat man noch kein eignes Policeyreglement fuͤr die Luſtbarkeiten der Landleute gehabt, welches haupt - ſaͤchlich dayer ruͤhrt, daß die Geſetzgeber lieber ſelbſt ha - ben tanzen als andre tanzen laſſen wollen. Es wuͤrde aber doch in dem Falle noͤthig ſeyn, wenn meine Wuͤn - ſche erfuͤllet werden ſollten. Jn demſelben wuͤrde das erſte ſeyn, daß in einem gewiſſen zu beſtimmenden Di - ſtricte nur eine einzige Schenke geduldet, dieſe gehoͤrig und geraͤumig eingerichtet, und mit allen verſehen ſeyn ſollte, was vernuͤnftige Landleute ergoͤtzen koͤnnte. Der Wirth ſollte ſeine Vorſchrift haben, was er geben und nicht geben duͤrfte; der Tag zur Luſtbarkeit ſollte beſtimmt und an demſelben immer die noͤthige Huͤlfe, um Unord - nungen zu ſteuren, bey der Hand ſeyn. Auſſer dem be - ſtimmten Tage, und einigen andern, die noch naͤher be - ſtimmet werden koͤnnten, ſollte der Wirth gar keine Gaͤ - ſte ſetzen duͤrfen. Die Spiele ſollten beſtimmt, und an - gemeſſen ſeyn. Drey alte Maͤnner ſollten des Tages Rich - ter ſeyn, und alles entſcheiden koͤnnen, was der Cere - monienmeiſter anderwaͤrts entſcheiden kann. Wer ſich denſelben widerſetzte, ſollte ſofort der in der Naͤhe ſte - henden Amtshuͤlfe uͤbergeben; der betrunkene Mann durch ſie gegen ein gewiſſes Botenlohn ſofort nach Hauſe ge -C 2bracht;36Es ſollten die Wochenſchr. auch die Anzeigenbracht; und die betrunkene Frau vor ihrer Heimfuͤhrung oͤffentlich ausgeklatſcht werden. Auf dieſe Weiſe glau - be ich, daß die vielen und verderblichen Winkelſchenken geſchloſſen, das beſtaͤndige Leben im Wirthshauſe aufge - hoben, der Mann, der die Erholung am mehrſten ver - dient, zum beſten Genuß einer ordentlichen Freude ver - holfen, und uͤberhaupt mit der Zeit ein beſſerer Natio - nalgeiſt erzielet werden koͤnnte. Dabey verſtuͤnde es ſich von ſelbſt, daß an dieſen Tagen alle Frohnen und Bauer - werke aufhoͤren, und dieſelben alſo gewaͤhlet werden muͤßten, damit keine eilige Arbeit dadurch aufgehal - ten wuͤrde.

VIII. Es ſollten die Wochenſchriften auch die An - zeigen der neueſten Moden enthalten.

Schreiben von Amalien.

Das Jahr iſt beynahe voruͤber gegangen, ohne daß Sie auch nur ein Woͤrtgen von unſern ſchoͤnen neuen Moden geſagt haben. Gelt! Sie ſind des Dings muͤde, und unſre Veraͤnderungen ſo mannigfaltig gewor - den, daß ſie ihnen mit Jhrer Muſterung nicht haben fol - gen koͤnnen! Es geht den Moraliſten wie jenem Maͤdgen das von einem Huſaren verfolgt und gejagt wurde. Ach weh meine ſchoͤnen Schuhe! o meine Schuͤrze! o Him - mel was will Mama ſagen! rief es zu erſt, als eshier37der neueſten Moden enthalten. hier mit dem Abſatze in eine Pfuͤtze trat, und dort mit der Filetſchuͤrze in der Hecke haͤngen blieb. Wie es aber Holter Polter durch Dicke und Duͤnne laufen mußte, um dem boͤſen Manne zu entkommen: ſo ward an keine Schuhe, an keine Schuͤrze und an keine Mama gedacht. So gehts mit unſerer Theilnehmung an den Geſchaͤften die - ſer Welt. So lange man noch ſchreyet, hats keine Noth; aber wenns uͤber und uͤber geht, ſo ſchweigt man. Nicht wahr, iſts Jhnen nicht juſt ſo gegangen, oder haben Sie aus einer beſſern Urſache geſchwiegen?

Jndeſſen hat doch immer das Publicum ſehr dabey gelitten, daß ſo manche Moden unbemerkt voruͤbergegan - gen ſind, und viele ſich die Livres de modes mit großen Koſten haben von Paris kommen laſſen muͤſſen, welche Sie Jhnen leicht durch eine kleine Beſchreibung haͤtten erſparen koͤnnen. Manche aber ſind daruͤber gar ſo un - wiſſend geblieben, daß ſie einen Queuue de Renard von einem Plumet d amitiée nicht haben unterſcheiden gelernt, und die belle poule noyée mit der belle poule à pleines voiles verwechſeln. Dieſe Verantwortung bleibt Jhnen immer, da woͤchentliche Blaͤtter ſo ganz eigentlich dazu eingerichtet ſind, um von jeder neuen Mode ſofort eine Anzeige zu thun, und es weit ſchicklicher geweſen ſeyn wuͤrde, darinn die Veraͤnderungen unſrer Hauben als die unwichtigen Handlungen einiger laͤngſt vergeſſenen alten Biſchoͤffe aufzubehalten. Billig ſollte man in jedem wohl - beſtelleten Staate ein taͤgliches Blatt zur Bekanntma - chung der Moden haben.

Wenn Sie meinen Rath folgen wollen: ſo verbeſ - ſern Sie dieſen ihren Fehler in dem kuͤnftigen Jahre. Jch habe mir aus Utopien, wo die Menſchen auf dem Felde wachſen, etwas Frauenzimmerſaamen kommen laſ -C 3ſen,38Es ſollten die Wochenſchr. auch die Anzeigenſen, und ſolchen nach Amilecs*)Amiléc ou la graine d hommes. Amilec hatte eine Violine, worauf jede Sayte zu einer gewiſſen Leidenſchaft geſtimmet war. Wenn er nun z. E. die Sayte des Ehrgeitzes oder des Liebe ſtrich: ſo fiengen die Koͤrngen, welche zu kuͤnftigen Fuͤr - ſten beſtimmt waren, gleich an zu huͤpfen, und bisweilen be - wegte ſich auch nach dieſem Tone die Seele eines Pedanten. Die Sayte der Eitelkeit ſetzte faſt alles in mindre oder meh - rere Bewegung. Methode unterſucht. Jedes Koͤrngen huͤpfte, wenn ich die Sayte der Mode ſtrich, und ſo koͤnnen Sie denken, was das fuͤr eine Ernd - te geben wird, wenn der Saame auf unſrer Heide, ſo gut wie in dem goldreichen Utopien aufgeht. Jm Vor - beygehen geſagt, ich hatte mir auch etwas Maͤnnerſaat, und zwar von dem beſten, verſchrieben. Aber mein Cor - reſpondent hat mir geantwortet, es waͤre jetzt davon nichts vorraͤthig, weil es nicht mehr geſucht wuͤrde. Wenn ich aber Genieſaamen haben wollte: ſo ſtuͤnden mir einige Laſten zu Dienſte. Aber dieſen mag ich nun eben nicht, da die Genies bey uns wild wachſen.

Die Almanache, welche ein halbes Jahr vorher ab - gedruckt werden, und uns doch die Moden fuͤr ein ganzes kuͤnftiges Jahr zeigen wollen, werden Jhnen hierinn ſicher keinen Eintrag thun. Sie erhalten uns blos die Erfindun - gen einer laͤngſt veralteten Einbildung, und dabey ſagt uns keiner unter allen, wie die Neceſſaires, Badines, Bonbonnieres, Verrieres, Dejeuners &c. geformt geweſen; wohin die ver - ſchiedenen Arten von Venez y voir ihren Pol gehabt, ob die Schreibzeuge und Milchnaͤppe in Waſen, in Urnen oder in Obelisken beſtanden, ob der Staudenartige Schmelz**)Email arboriſe. oder die Stickerey en filagrame, oder die Haararbeit undvon39der neueſten Moden enthalten. von welchen Farben, den Vorzug behalten, was die Divina - toires*)Eine Art von Faͤchern, die man aber nicht mit denen à figu - res habillées en é ffes de Soye verwechſeln muß. von dem kuͤnftigen Jahre gewahrſaget, und was Herr Granchez in ſeiner Fabrik zu Clignancourt ſonſt fuͤr Anſtalten mache die deutſchen Beutel zu fegen. Die - ſem weſentlichen Fehler unſrer Policey kann allein durch ein Jntelligenzblatt, was friſch gedruckt und vertheilet wird, abgeholfen werden; und ich daͤchte, es verlohnte ſich wohl der Muͤhe, die jungen einheimiſchen Kuͤnſtler in Zeiten zu benachrichtigen, auf welchem neuen Wege ſie den ſchoͤpferiſchen Franzoſen den Rang abgewinnen koͤnnen.

Noch weniger haben Sie davon einen uͤblen Einfluß auf das gegenwaͤrtige Menſchengeſchlecht zu fuͤrchten. Daſſelbe iſt ſo bider und gut, es herrſcht unter den lie - ben Menſchenkindern ſo viele Menſchenliebe und Gutmuͤ - thigkeit, ihre Veredlung hat einen ſo maͤchtigen Fortgang gewonnen, und alles iſt ſo voll chriſtlicher Empfindſam - keit, daß die ſchleunige Bekanntmachung der neuen Mo - den unmoͤglich eine ſchaͤdliche Veraͤnderung darin hervor - bringen kann. Ja ich bin verſichert, daß wenn Chriſtus ſich, wie es ehedem einmal geheißen hat**)Il divortio celeſte di Ferrante Pallavicini. , von ſei - ner lieben aber ungetreuen Braut, der chriſtlichen Kir - che, ſcheiden laſſen wollte, kein Conſiſtorium dahin den Ausſpruch thun koͤnnte; ſo ſehr hat ſich das gute Ge - ſchlecht der Menſchen gebeſſert, und ſo ſehr haben auch die andaͤchtigen Perſonen ihre Peruͤcken und Hauben zu der ſuͤßen Empfindung des Erloͤſers geformt. Es iſt nie - mand der ſich beſſer mit dem lieben Gott verſteht, als ein empfindſames Herz; es dient ihm unter allen Geſtal -C 4ten40Es ſollten die Wochenſchr. auch die Anzeigenten der Mode, und liebt immer die Ruͤhrung, wenn ſie nur zu ſeiner Sayte ſtimmt, ſie komme vom Himmel oder von der Erde; uͤberall hat der liebe Gott jetzt Menſchen - freuden, und unſre Religion ſollte billig ganz umgeſchaf - fen werden, da es ſo gut als erwieſen iſt, daß ſie nur Troſt fuͤr Ungluͤckliche enthalte, man aber jetzt, dem Hoͤch - ſten ſey Dank! nichts wie Genuß kennt.

Sollte aber Jhr Stilleſchweigen von Jhrem Unver - moͤgen uns etwas neues hieruͤber zu ſagen, herruͤhren: o ſo legen Sie mit dieſem Jahre die Feder nieder, und nehmen von mir die aufrichtige Erklaͤrung an, daß ich ihre altmodiſchen Blaͤtter nicht mehr leſen werde*)Dieſer Aufſatz iſt vom 25 Dec. 1779; welches ich um des - willen bemerke, weil ſeitdem Modejournale, und Modeintel - ligenzblaͤtter in Deutſchland erſchienen ſind..

Amalia.

IX. Antwort an Amalien.

Halb haben Sie, theureſte Amalie, die Urſachen er - rathen, warum ich ſeit einiger Zeit von den aus - ſchweifenden Moden nicht ein Woͤrtgen mehr geſagt habe; aber eine der vornehmſten iſt Jhnen doch entwiſchet, ohn - erachtet ich ſie bereits einmal bekannt gemacht habe; und dieſe beſteht darin, daß ich mit dem Jrokeſiſchen Phi - loſophen das Staͤdtiſche Gemenge, und alles was nicht zu der Klaſſe der Ackerbauer, Jaͤger und Hirten gehoͤrt, als den Abfall oder die Spreu des menſchlichen Geſchlech -tes41der neueſten Moden enthalten. tes betrachte, und, wenn ich die mannigfaltigen Kunſt - werke ſehe, welche unſre Putzmacherinnen daraus hervor - bringen, die Guͤte des Schoͤpfers bewundre, der auch der Spreu eine kleine Freude bereitet hat, und ehe ſie der Wind verwehet, wo nicht andern doch ſich ſelbſt zu gute kommen laͤßt. Mit dieſer Urſache habe ich noch eine andre verknuͤpft, um mich nicht mit denen, welche die liebe gute menſchliche Geſellſchaft fuͤr das hoͤchſte Ungluͤck unſrer Erden halten, zu uͤberwerfen. Wenn ich naͤmlich ſehe, daß die Handwerker ſich in ihren einfoͤrmigen Stel - lungen lahm und blaß arbeiten, die Gelehrten uͤberſpan - net oder Hypochondriſch werden, die Hofleute ſich zu Tode walzen, die Fuͤrſten ihre beſte Zeit verſpielen, und uͤberhaupt die geſelligen Menſchen in den Staͤdten ſich durch die großen Opfer, welche ſie den Kuͤnſten, den Wiſſenſchaften und den Moden bringen, taͤglich mehr und mehr verfeinern, verſchnitzeln und verzaͤrteln, oder wohl gar verhaͤmmern und verpuffen: ſo ſtelle ich mir vor, die allguͤtige Vorſehung habe dieſe Mittel, als die ſanf - teſt abfuͤhrenden gewaͤhlt, um ihr großes Werk von allen verdorbenen Saͤften zu reinigen, und es ſey ein Eingriff in ihre Rechte, wenn ich dieſen Mitteln zum Verderben, Einhalt thun, oder ſie wohl gar zwingen wollte, dazu Erdbeben und Ueberſchwemmungen zu gebrauchen, und die Schuldigen mit den Unſchuldigen zu verderben. Jch verehre in ihren Abfuͤhrungsmitteln die weiſe Sorgfalt, nach welcher dieſe blos auf das Uebel wuͤrken, und die edlern Theile verſchonen, und troͤſte mich denn damit, daß das Geſchlecht was in den Siechenhaͤuſern der Staͤdte zuſammen ſeuchet, wenn es ja wieder erſetzet werden muß, darum nicht untergehn, ſondern von dem Abfall auf den Hoͤfen der edlen und gemeinen Lanſten immer noch hin - reichend vermehret werden koͤnne ....

C 5Jedoch42Es ſollten die Wochenſchr. auch die Anzeigen

Jedoch Sie ſind dieſe Art der Philoſophie an mir nicht gewohnt, und haben alſo unmoͤglich ſolche Urſa - chen errathen koͤnnen, die mir nie in den Sinn gekom - men ſind. Alſo fort mit den Abfuͤhrungsmitteln, und weg ins Feuer weg, mit dieſem Theile eines Briefes, worin ich es einmal habe verſuchen wollen, ob ich auch wohl graͤmlich ſeyn koͤnnte, wenn es meine Jahre erfor - dern ſollten. Jch befuͤrchte es gelingt mir nicht, und ich gehe ſicherer, wenn ich Jhnen theureſte Amalia, das Gluͤck unſrer Zeiten von ſeiner beſſeren Seite und in die - ſem einige beſſere Gruͤnde fuͤr mein Betragen zeige.

Wiſſen Sie alſo, daß Sie von der großen Urſache, warum ich dem fortrauſchenden Strome der Moden ſo gelaſſen nachgeſehen habe, ſo viel als gar nichts errathen haben; ſie ſind edler, ſie ſind folgende. Ueberall wohin wir unſre Augen wenden, hat die Natur nicht blos fuͤr unſre Erhaltung, ſondern auch fuͤr unſer Vergnuͤgen ge - ſorgt. So bald ſie nur das Waſſer erſchaffen hatte, ließ ſie auch den Weinſtock bluͤhen, und pflanzte die Roſe ne - ben dem Kornfelde. Sie ſorgte mit gleich muͤtterlicher Sorgfalt fuͤr alle unſre Sinne, und auch fuͤr edlere Ge - fuͤhle, indem ſie das holde Maͤdgen, was uns gluͤcklich machen ſollte, nicht wie eine Truffel unter der Erde rei - fen, ſondern zur allgemeinen Freude uͤber derſelben auf - bluͤhen ließ. Jhre Mannigfaltigkeit iſt unendlich, und ſie haßt die Einfoͤrmigkeit dergeſtalt, daß ſie auch nicht einmal die Pflanzen von einer Gattung ſich voͤllig aͤhnlich gemacht hat.

Schwerlich hat der Menſch, ihr edelſtes Werk, min - der vollkommen werden ſollen. Auch hier in dieſer klei - nen Welt, wie man den Menſchen nicht ganz unrecht nennt, hat ſie Blumen und Korn, Waſſer und Wein, und Truffeln und Maͤdgen erſchaffen, und jedem ſeinengehoͤri -43der neueſten Moden enthalten. gehoͤrigen Platz angewieſen. Auch hier hat ſie die Blume zur Ergoͤtzung und das Korn zur Erhaltung gepflanzet. Und wenn dieſes, wie ich nicht zweifle, ſeine Richtigkeit hat: ſo ſehe ich nicht ein, woher wir das Recht nehmen wollen, alle Roſen auszureißen, um nichts als Kartof - feln dafuͤr zu ziehen. Man laſſe jedem ſeine Stelle, und es wird alles gut gehen.

Durchdrungen von dieſen großen Wahrheiten ſehe ich den verfeinerten Theil der Menſchen an Hoͤfen und in Staͤdten mit ihren Moden, Kuͤnſten, Wiſſenſchaften und witzigen Erfindungen als das Blumenbeet der Natur; das platte Land hingegen als ihr Kornfeld an. So wie das letzte gut ſteht, wenn ſich nicht viel Blumen unter dem Korne befinden: ſo mag auch das erſte immer ſchoͤ - ner ausſehen, je weniger Korn darauf waͤchſt; und da einmal die Natur beydes zum allgemeinen Beſten und Vergnuͤgen angebauet haben will: ſo glaube ich daß wir keine beſſere Einrichtung treffen koͤnnen, als daß wir die Blumen in den Staͤdten, und das Korn drauſſen auf dem Lande ziehen. Auch hierin hat uns die Natur ein fuͤr - trefliches Beyſpiel gegeben; ſie laͤßt den Weitzen nicht mit ſchoͤnen Bluͤthen glaͤnzen, und fordert von den ſchoͤn - ſten Blumen keine Fruͤchte zu unſrer Erhaltung.

Wenn die Kunſt der Natur folgt: ſo hat ſie die be - ſte Wegweiſerinn, und wir folgen ihr in den Staͤdten, wenn wir alles in edle Blumen verwandeln. Hiezu die - nen Wiſſenſchaften, Kuͤnſte und Moden, und aus dieſem Geſichtspunkte bewundere ich jetzt die unermuͤdete Bemuͤ - hung der Menſchen in den Staͤdten, ſich um die Wette ſchoͤ - ner und glaͤnzender zu zeigen; ich ſehe jede Haube als eine neue Art auslaͤndiſcher Blumen an, die in unſre Gegend verpflanzet wird, und mache der Tulpe ſo wenig einenVor -44Es ſollten die Wochenſchr. auch die AnzeigenVorwurf, daß ſie nur das Auge ergoͤtzt, als ich es der Nachtviole verdenke, daß ſie nicht bey Tage riecht. Je - des Ding hat bey mir ſeine Zeit und ſeine Stelle bekom - men, und damit iſt auch meine ganze Kritik gefallen.

Der einzige Mißbrauch, den wir Moraliſten zu fuͤrch - ten und abzuwehren haben, iſt dieſer, daß die Blumen mehr Platz einnehmen als ihnen zukommt. Denn wo ſie dergeſtalt wuchern, daß ſie den Kartoffeln ihren Platz rauben, oder wohl gar das Korn erſticken, da ſieht es gefaͤhrlich aus. Aber hier koͤnnen wir raͤuten, pfluͤgen und brachen, und wenn wir dieſes zur rechten Zeit thun: ſo wird die Ordnung der Natur nichts dabey verlieren. Sie wird gut beſtehen, wenn wir vorher wohl unterſu - chen, ob ſich ein Landſtaͤdtgen, was Mangel an Korne hat, ſo gut zum Blumenbeete ſchicke, als eine Haupt - ſtadt, und die Heide ein Feld ſey um Hyacinthen darauf zu ziehen.

Gegen dieſen meinen Plan, liebſte Freundinn! wer - den Sie mir keine Einwendung machen. Sie gehoͤren zu dem Geſchlechte der Blumen, die nicht blos das Auge ergoͤtzen, ſondern auch noch uͤberdem ſchoͤne Fruͤchte brin - gen. Jn ihrem Schatten wird kein Korn erſtickt, und der Raum, den Sie einnehmen, iſt nicht groͤßer als Jh - nen gebuͤhrt. Sie ſchuͤtzen vielmehr andre zaͤrtliche Ge - waͤchſe vor der Macht der Sonne, und wenn Sie ihre Blaͤtter gleich hoch tragen, und ſich dem begierigen Auge in ihrem ſchoͤnſten Schmucke zeigen: ſo geſchieht dieſes, um die kurze Zeit, welche Sie in dieſer Welt zu bluͤhen haben, ihrer Beſtimmung gemaͤs anzuwenden, und dann zu einer vollkommenen Frucht zu reifen. Koͤnnen wir dieſe dann gleich nicht ſo lange wie wir wuͤnſchen aufbewahren: ſo muͤſſen wir uns damit troͤſten, daß wir fuͤr den Man -gel45der neueſten Moden enthalten. gel der Dauer durch die Menge der Reitzungen uͤber - fluͤßig bezahlt ſind.

Aber am Ende, meine Beſte, bitte ich Sie doch dieſe kleine Herzſtaͤrkung andern in dieſem neuen Jahre nicht anders als nach dem Abfuͤhrungsmittel zu geben. Die Zahl der Blumengecke iſt nicht ſo groß, als der Lieb - haber des reinen Korns, und wer ſein Gewaͤchs ſicher verſilbern will, der handelt immer am kluͤgſten, wenn er mehr Korn als Blumen zu Markte bringt. Nach dem erſten wird zur Zeit der Noth gar nicht gefragt, und oft liegt eine Roſe, die des Morgens erſt aufbluͤhete, ehe es Abend wird, verwelkt, entblaͤttert, und verachtet unter den Fuͤßen. Das Schickſal aller Blumen iſt einmal zu ſcheinen und fruͤh zu ſterben, und die Anbauer der Korn - felder haben nur Augen fuͤr ſie, um ſie auszureißen.

Ein Liebhaber von Beyden.

X. Wie iſt die Dreſpe im menſchlichen Ge - ſchlechte am beſten zu veredeln?

An[f] rage eines Frauenzimmers.

O! ſchweigen Sie ja ſtille, mein ſchoͤner Herr! Sie gehoͤren auch mit unter den Abfall des menſch - lichen Geſchlechts; der Ausſpruch unſers Jrokeſiſchen Philoſophen war:

Es giebt nur dreyerley aͤchte Staͤnde unter den Menſchen, als der Stand der Jaͤger, der Hirtenund46Wie iſt die Dreſpe im menſchl. Geſchlechteund der Ackerbauer; alles uͤbrige gehoͤrt zum Ab - fall, worauf man nicht viel rechnen muß.

Und Sie als Dichter, wo Sie ſich nicht bald, wie die Saͤnger in Arkadien, eine Heerde anſchaffen, fallen gewiß unter die Spreu, wenn man den Abfall auf die Schwinge bringt, um noch das Hinterkorn oder die Dre - ſpe zu gewinnen. Nicht wahr? o! wenn man nur ſeine Groͤße kennt: ſo betriegt einen der Schneider .... und auch ſeine eigne gute Meinung nicht.

Sie haben alſo gar keinen Beruf uns guten Maͤd - gen, die wir ſo ein bisgen mehr Zeit als andre der Lec - tuͤre ſchenken, und unſern Geiſt wie unſern Koͤrper zu ſchmuͤcken ſuchen, vorzuwerfen, daß wir die ganze Oeko - nomie der Natur zerſtoͤrten; und ich daͤchte, wir handel - ten beyde am kluͤgſten, wenn wir uns einander das Hand - werk nicht verſchrien.

Aber ſollte es denn wuͤrklich ſo ganz richtig ſeyn, daß die Jaͤger, die Hirten und die Ackerbauer das reine Korn in der Welt ausmachten, und alles uͤbrige zur Dreſpe gehoͤrte? Und ſollte es auf den Fall, daß wir uns dieſe Jrokeſiſche Eintheilung gefallen laſſen muͤßten, nicht Mit - tel geben, auch noch die Dreſpe in Preiß zu bringen! Die Jtaliener warfen lange die abgewundenen Huͤllen der Seidenwuͤrmer in den Miſt, bis ſie endlich lernten Blu - men daraus zu machen; und wir Deutſchen ſchufen auch einmal, denn Schoͤpfer ſind wir doch immer geweſen, aus den ſonſt weggeſpuͤlten Schuppen der Baͤrſche etwas das eine Blume heißen ſollte; was duͤnkt ihnen alſo, wenn wir auch noch ſo etwas aus der Dreſpe oder der Spreu machten, wenn ich Sie zum Exempel als eine Huͤlſe in eine Roſe verwandelte, und dieſer ein Plaͤtzgen auf mei - ner Haube, oder an einem andern Orte, wo Sie viel - leichtlieber verbluͤheten, einraͤumete; wuͤrden Sie eswohl47am beſten zu veredeln? wohl bereuen, nicht blos zum Pumpernickel erſchaffen zu ſeyn? Es kommt nur darauf an, wie ich das Ding in meinem Kopfe drehe: ſo ſind Sie Spreu oder Roſe.

So viel bleibt indeſſen immer, wir moͤgen nun ſeyn was wir wollen, richtig, daß die Drefpe wenn ſie genutzt und veredelt werden ſoll, eine ganz andre Behandlung als das reine Korn erfordere, und daß mehrere Arbeit, und mehrere Kunſt dazu gehoͤren, Baumwolle aus der Heede als ein Stuͤck Lowend aus gutem Flachſe zu ma - chen. Sie erinnern ſich wie unſer Jrokeſe die Ohren ſpitzte, als er hoͤrete, daß ein huͤbſcher junger Menſch verdammet wurde, zehn Jahre lang mit untergeſchlage - nen Beinen auf einem Tiſche zu ſitzen, um ſich dereinſt mit der Scheere und der Nadel in einem kleinen engen Stuͤbgen ernaͤhren zu koͤnnen. Das heißt, rief er, die Dreſpe auf eine grauſame Art veredlen; und was wuͤrde er geſagt haben, wenn er gehoͤrt haͤtte, daß man ſolchen jungen Burſchen nicht allein manchen Feyertag, ſondern auch ſogar den Troſt ſich alle vier Wochen einmal recht ausdehnen zu koͤnnen, oder den ſogenannten blauen Mon - tag abgeſchnitten haͤtte?

Nun daͤchte ich gewoͤnne die Sache ſchon eine andre Geſtalt, und wir haͤtten einiges Recht den Moraliſten zu - zurufen, nicht alles Hinterkorn ſofort in den Wind zu werfen, oder allenfalls fuͤr das Vieh ſchroten zu laſſen, wenn es nicht auf die naͤmliche Art brauchbar iſt, wie das reine. Es iſt ein wunderliches Ding um dieſen Abfall des menſchlichen Geſchlechts, ſeitdem man keine Reviere von hundert Meilen fuͤr die Jagd von hundert Jrokeſen un - gebauet laſſen will, und noch wunderbarer iſt es, daß oft aus dieſem Abfall das Korn erwaͤchſt, was in die Jro - keſiſche Wildbahn geſaͤet wird. Nach dem Ausſpruch un -ſers48Wie iſt die Dreſpe im menſchl. Geſchlechteſers Wilden gehoͤrte der Hof, die Buͤrgerſchaft, und die ganze beruͤhmte Gelahrten Republik zur Spreu, oder wo noch einige darunter der Jagd und dem Ackerbau ein Stuͤndgen ſchenken, zum Hinterkorn; was kann aber daraus nicht gemacht werden, wenn es von geſchickten Meiſtern und Meiſterinnen geworfelt, gemahlen, gebeu - telt und verbacken wird?

Jedoch meine Meinung war es nicht, mich auf eine ſo ernſthafte Sache einzulaſſen. Die Frage unter uns iſt blos, ob ich als ein kleines Huͤlsgen gerade alle die Ei - genſchaften und Tugenden eines aͤchten ſchoͤnen, reinen Weitzens haben muͤſſe, und ob ich nicht, da ich mich gut - willig unter den Abfall rechnen laſſe, das Privilegium habe, mich ein bisgen mit einer unſchuldigen, oder wie Sie es nennen, empfindſamen Lectuͤre zu amuſiren? Die Umſtaͤnde, welche es noͤthig gemacht haben, daß zwey geſunde ſtarke Maͤnner den dritten, der oft nur ein klei - ner feiner Moraliſt iſt, in der Saͤnfte tragen, koͤnnen es vielleicht auch noͤthig machen, daß tauſend ſich blos mit Leſen beſchaͤftigen, um eben ſo viel Autoren das Brod zu geben. Je mehr ſich die Zahl derjenigen vermehrt, die nicht zum reinen Korn gehoͤren; und je nothwendiger dieſe Vermehrung iſt, wo wir uns nicht wie die Jroke - ſen aus unſern Reviren treiben laſſen wollen, deſto haͤu - figer werden auch die Veredlungsmittel werden muͤſſen. Unſer Kuͤſter hat ſchon angefangen alle Saͤrger der Laͤnge nach einzuſenken, weil der Kirchhof zu klein wird; und ich fuͤrchte, wenn wir dereinſt auch ſo bey lebendigem Leibe zu ſtehen kommen, es wird noch manche eitle Beſchaͤfti - gung erdacht werden muͤſſen, um uns alle in Bewegung zu erhalten.

Ueber -49am beſten zu veredeln.

Ueberlegen Sie es mein Freund, und ſchicken mir allenfalls einen beſſern Vorſchlag zu meiner Veredelung. Aber Jhre Puppe will ich nicht ſeyn, ſie moͤchten meiner ſonſt gar zu balde muͤde werden; auch nicht ihre Ama - rillis, weil ihnen der Reim gleich eine Phillis bringen wuͤrde. Jhre Muſe oder ſo etwas was der Dichter ſich taͤglich wuͤnſcht und niemals erhaͤlt, moͤchte ich am lieb - ſten ſeyn, um mich ein bisgen zu raͤchen.

Amalia.

XI. Wozu der Putz diene? Ein Geſpraͤch zwiſchen Mutter und Tochter.

Das Kind. Mama! warum hat der Mahler dort mitten uͤber den ſchoͤnen Spiegel eine Guirlande gemahlt?

Die Mutter. Siehſt du denn nicht, daß er dort geborſten iſt, und daß er dieſen Borſt hat verbergen wollen?

Das Kind. Mama! warum hat der Kaufmann zu dem ſchoͤnen Chitz, welchen ſie mir gegeben haben, ein Zeug voll Loͤcher genommen?

Die Mutter. Damit man bey der Schoͤnheit der Farben die Loͤcher vergeſſen ſollte.

Das Kind. Mama! ſind denn uͤberall Boͤrſte und Loͤcher, wo uͤberfluͤßiger Schmuck iſt?

Die Mutter. Ja, mein Kind, uͤberall. Viel Putz iſt immer ein Zeichen, daß irgendwo etwas fehlt, es ſey nun im Kopfe, oder im Zeuge.

Moͤſers patr. Phantaſ. IV. Th. DXII. 50Schreiben einer alten Ehefrau

XII. Schreiben einer alten Ehefrau an eine junge Empfindſame.

Sie thun Jhrem Manne Unrecht, liebes Kind, wenn Sie von ihm glauben, daß er ſie jetzt weniger liebe als vorher. Er iſt ein feuriger thaͤtiger Mann, der Arbeit und Muͤhe liebt, und darinn ſein Vergnuͤgen fin - det; und ſo lange wie ſeine Liebe gegen Sie ihm Arbeit und Muͤhe machte, war er ganz damit beſchaͤftiget. Wie aber dieſes natuͤrlicher Weiſe aufgehoͤret hat: ſo hat ſich ihr beyderſeitiger Zuſtand, aber keinesweges ſeine Liebe, wie Sie es nehmen, veraͤndert.

Eine Liebe die erobern will und eine die erobert hat, ſind zwey ganz unterſchiedene Leidenſchaften. Jene ſpannt alle Kraͤfte des Helden; ſie laͤßt ihn fuͤrchten, hoffen und wuͤnſchen; ſie fuͤhrt ihn endlich von Triumph zu Triumph, und jeder Fuß breit den Sie ihm gewinnen laͤßt, wird ein Koͤnigreich. Damit unterhaͤlt und ernaͤhrt ſie die ganze Thaͤtigkeit des Mannes, der ſich ihr uͤberlaͤßt; aber das kann dieſe nicht. Der gluͤcklich gewordene Ehemann kann ſich nicht wie der Liebhaber zeigen; er hat nicht wie dieſer zu fuͤrchten, zu hoffen und zu wuͤnſchen; er hat nicht mehr die ſuͤße Muͤhe mit ſeinen Triumphen, die er vorhin hatte, und was er einmal gewonnen hat, wird fuͤr ihn keine neue Eroberung.

Dieſen ganz natuͤrlichen Unterſchied, liebes Kind! muͤſſen Sie ſich nur merken: ſo wird Jhnen die ganze Auffuͤhrung ihres Mannes, der jetzt mehr Vergnuͤgen in Geſchaͤften als an ihrer gruͤnen Seite findet, gar nicht widrig vorkommen. Nicht wahr, Sie wuͤnſchten nochwohl,51an eine junge Empfindſame. wohl, daß er wie vormals mit ihnen einſam auf der Ra - ſenbank vor der Grotte ſitzen, ihnen in das blaue Aeu - gelgen ſehen, und um einen Kuß auf ihre ſchoͤne Hand, knien ſollte? Sie wuͤnſchten noch wohl, daß er Jhnen das Gluͤck der Liebe, was der Geliebte ſo ſchlau und zaͤrtlich ſchildern kann, immer mit kraͤftigern Farben mahlen, und Sie von einer Entzuͤckung zur andern fuͤh - ren moͤchte? meine Wuͤnſche giengen wenigſtens in dem erſten Jahre, da ich meinen Mann geheyrathet hat - te, auf nichts weniger als dieſes. Allein es geht nicht, der beſte Mann iſt auch der thaͤtigſte Mann, und wo die Liebe aufhoͤrt Arbeit und Muͤhe zu erfordern, wo jeder Triumph nur eine Wiederholung des vorigen iſt, wo der Gewinnſt ſowohl an ſeinem Werthe als an ſeiner Neuheit verloren hat; da verliert auch jener Trieb der Thaͤtig - keit ſeine gehoͤrige Nahrung, und wendet ſich von ſelbſt dahin, wo er dieſe beſſer findet. Der weiſeſte Mann geht auf neue Entdeckungen aus, und ſieht das entdeckte nur mit Dankbarkeit an. Es gehoͤrt zum Weſen unſrer Seele, daß ſie immer beſchaͤftiget ſeyn und immer weiter will, und wenn unſre Maͤnner von der Vernunft auf die - ſem Wege in den Geſchaͤften ihres Berufs wohl gefuͤhret werden: ſo duͤrfen wir nicht daruͤber ſchmollen, daß ſie ſich nicht ſo oft als ehmals mit uns am Silberbache oder unter Luiſens Buͤche unterhalten. Anfangs kam es mir auch hart vor, eine ſolche Veraͤnderung zu ertragen. Aber mein Mann erklaͤrte ſich daruͤber ganz aufrichtig gegen mich. Die Freude womit du mich empfaͤngſt, ſagte er, verbirget deinen Gram nicht, und dein truͤbes Auge zwingt ſich vergeblich heiter zu ſeyn; ich ſehe was du willſt, ich ſoll mit dir wie zuvor auf der Raſenbank ſitzen, im - mer. an deiner Seite haͤngen, und von deinem Othem leben; aber dies iſt mir unmoͤglich. Mit LebensgefahrD 2wollte52Schreiben einer alten Ehefrauwollte ich dich noch auf einer Strickleiter vom Glocken - thurm herunter tragen, wenn ich dich nicht anders zu be - kommen wuͤßte; aber nun da ich dich einmal in meinen Armen feſt habe, da alle Gefahren uͤberwunden, und alle Hinderniſſe beſiegt ſind; nun findet meine Leidenſchaft von dieſer Seite ihre vorige Befriedigung nicht. Was meiner Eigenliebe einmal geopfert iſt, hoͤrt auf ein Opfer zu ſeyn; die Erfindungs-Entdeckungs - und Eroberungs - ſucht, die jedem Menſchen angeboren iſt, fordert eine neue Laufbahn. Ehe ich dich hatte, brauchte ich alle Tu - genden zu Stuffen, um an dich zu reichen; nun aber da ich dich habe, ſetze ich dich oben darauf, und du biſt nun bis dahin die oberſte Stuffe, von welcher ich weiter ſchaue.

So wenig mir auch der Glockthurm, und daß ich die Ehre haben ſollte, der hoͤchſte Fußſchemel meines Mannes zu ſeyn, gefiel: ſo begrif ich doch endlich mit der Zeit, und nachdem ich dem Laufe der menſchlichen Hand - lungen weiter nachgedacht hatte, daß es nicht anders ſeyn koͤnnte. Jch wandte auch meine Thaͤtigkeit, die vielleicht mit der Zeit auf der Raſenbank Langeweile gefunden ha - ben wuͤrde, auf die zu meinem Berufe gehoͤrigen haͤus - lichen Geſchaͤfte, und wann wir dann beyde uns tapfer getummelt hatten, und uns am Abend einander erzaͤh - len konnten, was er auf dem Felde und ich im Hauſe oder im Garten gemacht hatte: ſo waren wir oft froher und vergnuͤgter als alle liebevollen Seelen in der Welt. Und was das gluͤcklichſte dabey iſt: ſo hat dieſes Ver - gnuͤgen uns auch nach unſerm dreyßigjaͤhrigen Eheſtande nicht verlaſſen. Wir ſprechen noch eben ſo lebhaft von unſerm Hausweſen, als wir immer gethan haben, ich habe meines Mannes Geſchmack kennen gelernt, und er - zaͤhle ihm ſowohl aus politiſchen als gelehrten Zeitungenwas53an eine junge Empfindſame. was ihm behagt; ich verſchreibe ihm das Buch, und lege es ihm gebunden hin, was er leſen ſoll; ich fuͤhre die Correſpondenz mit unſern geheyratheten Kindern, und erfreue ihn oft mit guten Nachrichten von ihnen und un - ſern kleinen Enkeln. Was zu ſeinem Rechnungsweſen gehoͤrt, verſtehe ich ſo gut als er, und erleichtere ihm daſſelbe damit, daß ich ihm alle Belege vom ganzen Jahre, die durch meine Haͤnde gehen, zur Hand und Ordnung halte; zur Noth mache ich auch einen Bericht an die Hoch - preisliche Cammer, und meine Hand paradirt ſo gut in unſerm Caſſenbuche als die ſeinige; wir ſind an einerley Ordnung gewoͤhnt, kennen den Geiſt unſerer Geſchaͤfte und Pflichten, und haben in unſern Unternehmungen ei - nerley Vorſicht und einerley Regeln.

Dieſes wuͤrde aber wahrlich der Erfolg nie geweſen ſeyn, wenn wir im Ehehande ſo wie vorhin, die Rolle der zaͤrtlich Liebenden geſpielt, und unſre Thaͤtigkeit mit Verſicherung unſer gegenſeitigen Liebe erſchoͤpft haͤtten. Wir wuͤrden dann vielleicht jetzt einander mit Langeweile anſchauen, die Grotte zu feucht, die Abendluft zu kuͤhl, den Mittag zu heiß, und den Morgen unluſtig finden. Wir wuͤrden uns nach Geſellſchaften ſehnen, die, wenn ſie kaͤmen, ſich bey uns nicht gefielen, und mit Schmerzen die Stunde zum Aufbruche erwarteten, oder wenn wir ſie ſuchten, uns wieder fortwuͤnſchten. Wir wuͤrden zu Taͤndeleyen verwehnt, noch immer mittaͤndeln, und Freu - den beywohnen wollen, die wir nicht genießen koͤnnten; oder unſre Zuflucht zum Spieltiſche, als dem letzten Orte, wo die Alten mit den Jungen figuriren koͤnnen, neh - men muͤſſen.

Wollen Sie ſich nicht einſt in dieſen Fall verſetzen, liebes Kind! ſo folgen Sie meinem Beyſpiele, und quaͤ - len ſich und ihren rechtſchaffenen Mann nicht mit uͤber -D 3trie -54Schreiben einer alten Ehefrau ꝛc. triebenen Forderungen. Glauben Sie aber auch indeſſen nicht, daß ich mich ſo ganz dem Vergnuͤgen, den Meini - gen zu meinen Fuͤßen zu ſehen, entzogen hatte. O hiezu findet ſich weit eher Gelegenheit, wenn man ſie nicht ſucht, und ſich zu entfernen ſcheinet, als wenn man ſich allemal, und ſo oft es dem Herrn beliebt, auf der Ra - ſenbank finden laͤßt. Noch jetzt ſinge ich unterweilen mei - nen kleinen Enkeln, wenn ſie bey mir ſind, ein Liedgen vor, was ihn zur Zeit, als ſeine Liebe noch mit allen Hinderniſſen zu kaͤmpfen hatte, in Entzuͤckung ſetzte; und wenn dann die Kleinen rufen: Ancora! Ancora! Groß - mama, er aber die Augen voll Freudenthraͤnen hat: ſo frage ich ihn wohl noch einmal, ob es ihm jetzt nicht zu gefaͤhrlich ſchiene, mich auf der Strickleiter vom Kirch - thurme zu holen? Aber dann ruft er eben ſo heftig wie die Kleinen: O! Ancora Großmama Ancora.

XIII. Nachſchrift.

Noch eins, mein Kind! habe ich vergeſſen. Wie es mir vorkoͤmmt: ſo verlaſſen Sie ſich lediglich auf ihre gute Sache und ihr gutes Herz, vielleicht auch wohl ein bisgen auf ihre ſchoͤnen blauen Augen, und ſpintiſiren gar nicht darauf, ihren Mann von neuem an ſich zu zie - hen. Mich deucht, Sie ſind zu Hauſe gerade ſo wie vor acht Tagen in der Geſellſchaft bey unſerm ehrbaren G ...., wo ich euch ſo ſtille und ſteif antraf, als wenn ihr nur zuſammen gekommen waͤret, um euch Lange - weile zu machen. Merkten Sie aber nicht, wie bald ich die ganze Geſellſchaft in Bewegung brachte. Dem altenmuͤrri -55Nachſchrift. muͤrriſchen Cammerrath ſagte ich, er haͤtte doch letzthin Recht gehabt, daß man den Abfall der Steinkohlen nicht wie es im Dictionaire encyclopedique ſtuͤnde, zum Duͤn - ger nutzen koͤnnte, ich haͤtte es auf allerley Weiſe damit verſuchen laſſen und fluchs ward er ſo heiter und be - redt, wie ein Gelehrter der Recht behalten hat. Zu dem in ſich ſelbſt vertieften Kriegesrath .... ſprach ich, ſeine Prophezeyung, daß Clinton Charlestown erobern wuͤrde, waͤre eingetroffen. Und nun kam einmal nach dem an - dern, das haͤtte er ſo gewiß gewußt, daß er ſeinen Kopf darauf verwetten wollen; worauf ſich alles, was Odem hatte, gegen ihn ruͤhrte. Jndem jeder hiebey ſeine poli - tiſchen Einſichten auskramte, ſagte ich meinem Nachba - ren, dem jungen M .... einen Vers ins Ohr, wel - chen er ehedem gemacht hat:

Und ihre Fluͤgel wurden groß,
Fiengen Wind, und machten
Ein Geſchwirre durch das Land,
Daß man kaum ſein eignes Wort verſtand.

Und zugleich langte ich vor ihm vorbey, um die neue Uhr mit Brillanten zu beſehen, welche ſeine Nachbarinn auf der andern Seite, zum erſtenmale angelegt hatte. Die Kriegesraͤthinn fragte ich, wo ſie ihren allerliebſten neuen Wagen haͤtte machen laſſen, und um der Cam - merraͤthinn zugleich ein Compliment zu machen, kuͤßte ich ihren niedlichen kleinen Jungen. Damit fieng auch der uͤbrige Theil der Geſellſchaft an, ſich etwas froher zu fuͤh - len, und unſre Fluͤgel wurden auch groß, ſo daß wir ſcherzend und tanzend zu Tiſche und wieder davon giengen.

Wie ich es hier in der Geſellſchaft machte: ſo ma - che ich es auch taͤglich zu Hauſe. So wie ich des Mor - gens aufſtehe, ſchaffe ich mir ein heiteres Auge, welches ich mir immer verſchaffen kann, wenn ich nur friſchesD 4und56Nachſchrift. und reines Zeug uͤberwerfe; und habe allemal einen Scherz oder eine kleine Schmeicheley fuͤr meinen Mann in Bereitſchaft, ſollte ſie auch nur darinn beſtehen, daß er geſtern Abend recht prophezeyhet habe, wie es dieſen Morgen regnen wuͤrde. Er muß es immer vorher ge - wußt haben, was in der Haushaltungsbeſtellung gera - then wuͤrde oder nicht; er iſt es immer, den der Erfolg rechtfertiget, wenn wir neues Geſinde bekommen haben, das nach ſeinen phyſiognomiſchen Einſichten gut oder ſchlecht einſchlagen ſollte; waͤre ich ihm gefolgt, ſo waͤ - ren wir unſer Korn zu einem beſſern Preiſe los geworden, und wir waͤren beſſer mit dem Klaver als mit der Eſpar - cette gefahren das weiß ich ihm alles ſo gut einzubroͤ - keln, daß er die Kunſt nicht merkt, und wenn er ſie auch durchſchimmern ſieht, mir den Dank fuͤr meine Muͤhe, ein zufriedenes Wort, nicht verſagt.

Damit iſt der Tag angefangen; wir ſcheiden denn gemeiniglich aus einander, und des Mittags habe ich was neues. Wir haben uns froh verlaſſen und ſehen uns froh wieder. Einen kleinen Enkel von drey Jahren, den wir bey uns haben, ſetze ich ihm an die Seite, das iſt dann ſeine Puppe, damit muß er ſpielen. Macht das Kind etwas das ihm gefaͤllt: ſo ſage ich ihm, es ſey der leibliche Großpapa. Jſt der Wein nicht gut: ſo bewun - dre ich ſeinen feinen Geſchmack, und laſſe ihn glauben, er ſey aus einem neuen Faſſe; findet er die Felderdbeern wohlſchmeckender, als diejenigen, ſo ich ihm aus dem Garten vorgeſetzt habe: ſo habe ich auf einem Nebenti - ſche auch von jenen fuͤr ihn in Bereitſchaft. Schmeckt ihm das Waſſer vortreflich: ſo iſt es aus der Quelle am Berge, die er ſelbſt hat oͤffnen laſſen; und ſo mag er lo - ben oder tadeln, ich mache ihm gleich ein Ragout daraus nach ſeinem Geſchmacke.

Das57Nachſchrift.

Das geht nun freylich ſo nicht, wenn man immer den Mann gehen laͤßt, bis er von ſelbſt kommt, ihn nie anhaͤkelt, oder wohl gar vor ihm mit einem langen Zuge von Verdruß im Geſicht erſcheinet. Aber es iſt doch auch ſo ſchwer nicht, mein liebes Kind! wie Sie glauben, einen Mann auf jene Art ſo zu regieren, daß er noch immer einigermaaßen Liebhaber bleibt. Jch bin nur eine alte Frau; aber Sie koͤnnen noch was ſie wollen, ein Wort von Jhnen zur rechten Zeit, thut gewiß ſeine Wuͤrkung. Was brauchen Sie eben die leidende Tugend zu ſpielen? Die Seufzer einer Frau ſind gut zum verſcheuchen, aber nicht zum anholen; die Thraͤne des liebenden Maͤdgens, ſagt ein altes Buch, ſteht wie der Thau auf der Roſe; aber die auf den Wangen einer Frau, iſt fuͤr den Mann ein Tropfen Gift, den er um alles in der Welt nicht ver - ſchlucken moͤchte. Stellen Sie ſich nur immer freudig und hehr, ſo wird es der Mann auch werden, und wenn er es geworden iſt, werden Sie es auch von Herzen werden.

Die Kunſt ſo dazu gehoͤrt, iſt ſo groß nicht. Nichts ſchmeichelt einem Manne mehr als die Freude ſeiner Frau, er ſieht ſich immer ſtolz als den Urheber derſelben an. So bald Sie aber recht freudig ſind: ſo werden Sie auch lebhaft und aufmerkſam werden; jeder Augenblick wird Jhnen eine Gelegenheit geben, ein gefaͤlliges Wort anzubringen, und Sie werden bald darin ſo gelaͤufig werden, daß Sie nicht noͤthig haben Jhren Verſtand in große Unkoſten zu ſetzen. Zuerſt erfordert es freylich ein kleines Studium, und ich erinnere mich noch, wenn ich vordem in Geſellſchaft gieng, daß ich vorher die Cha - rakter aller Perſonen, welche darinn erſcheinen wuͤrden, muͤhſam uͤberdachte, um dasjenige ausfindig zu machen, was ich einer jeden paſſendes und angenehmes ſagenD 5wollte,58Schreiben einer Damewollte. Aber es giebt ſich doch bald, und zuletzt wird es einem ſo mechaniſch, wie den großen Herrn bey der Cour. Jhnen wird dabey Jhre gute Erziehung, die in dieſem Stuͤcke auſſerordentlich viel vermag, ſehr zu ſtat - ten kommen, und ihre Empfindſamkeit wird dann die edel - ſte Gabe werden, die Jhnen die Natur geſchenkt hat, wenn ſie zur freudigſten Thaͤtigkeit uͤbergeht, und jeder Handlung das ſanfte, gefaͤllige und zaͤrtliche eindruͤckt, was jetzt nur im ſtillen ſchmachtet, oder wie eine Blume im Keller bluͤhet. Jhr lieber Mann wird ſich auf den Lorbeerreiſern ſonnen, die Sie ihm unterlegen, und Sie zaͤrtlich einladen das Vergnuͤgen, was Sie ihm verſchaft haben, mit ihm zu theilen.

XIV. Schreiben einer Dame an ihren hitzigen Freund.

Verzeihen will ich Jhnen gern, mein lieber Freund, und zwar von Grund meines Herzens, aber ihre Entſchuldigung, daß ihre polternde Hitze ein Naturfeh - ler ſey, den man uͤberſehen muͤſſe, laſſe ich durchaus nicht gelten. Denn eines Theils iſt es noch gar nicht ausge - macht, daß es eben ſo wohl gebrechliche Seelen als ge - brechliche Koͤrper gebe; und andern Theils, wenn es auch einige Seelen geben ſollte, die von Natur Kruͤppel waͤ - ren: ſo glaube ich doch nicht, daß man ſolche Geiſtes - kruͤppel mit eben dem chriſtlichen Mitleiden ertragen muͤſſe, womit man einen von Natur ſchielenden Menſchen zu ertragen verbunden iſt. Endlich ſetzt man auch den koͤr - perlichen Fehlern noch wohl etwas entgegen, und ſchie -net59an ihren hitzigen Freund. net ein ſchwaches Bein, was zu hinken drohet; daher es dritten Theils hoͤchſt ſchaͤdlich ſeyn wuͤrde, dergleichen von Natur mangelhafte Seelen ohne Huͤlfe oder ohne Schienen, wenn ich es ſo ausdruͤcken mag, zu laſſen; und woher wollen Sie Schienen fuͤr die Seele ſuchen, wenn ſie ſolche nicht aus dem Zorn, dem Unwillen, und der Verachtung nehmen, womit man dergleichen natuͤr - liche Fehler der Seelen beſtraft? Wie ſehr wuͤrden dieſe immer mehr und mehr ihrem uͤblen Hange folgen, wenn man die Narren bedauerte, daß ſie von Natur nicht recht geſcheit waͤren, oder mit den Hitzigen Mitleid haͤtte. Hier muß man nicht ablaſſen mit wohlthaͤtigen Strafen und Ermahnen, und ſo wie man der Kinder Seelen mit Flu - chen und Segnen, mit Strafen und Belohnungen und mit allen Spann - und Sperrhoͤlzern, die nur moͤglich ſind, umgiebt, um ſie gerade zu ziehen, und vor dem Ue - berſchlagen zu bewahren: ſo muß man auch des Mannes Seele, wenn ſie eine Unart angenommen hat, ſo lange haͤmmern, bis ſie einen reinen Schlacken giebt.

Wenn es jemals einen Naturfehler an der menſch - lichen Seele gegeben hat: ſo iſt es gewiß die gar zu große Begierde, welche wir haben, unſern Gegnern eine ab - ſurde Folge ihrer Behauptungen zu zeigen. Auch ich fuͤhle dieſe Schwaͤche ſo ſtark wie ein andrer, und habe ihr vielleicht ſchon zu viel nachgegeben, da ich Jhnen jetzt auf gewiſſe Weiſe das Abſurde ihrer Entſchuldigung ge - zeigt habe. Aber was wuͤrde daraus werden, wenn man gegen dieſen Fehler gar nicht auf ſeiner Hut waͤre, wenn man immer ſo gleich nach einer Jnſtanz haſchte, womit man ſeinen Gegner ſo recht bey der Naſe ins Narren - ſpital fuͤhrte, und dieſer einen mit noch groͤßerer Erbit - terung ins Tollhaus ſchickte? Wuͤrde es nicht eine Mar - ter ſeyn in Geſellſchaft zu gehen, und wuͤrde man nichtin60Schreiben einer Damein beſtaͤndiger Angſt zittern muͤſſen, daß ſich die lieben Maͤnner und Herrn Collegen beym Kragen faſſen wuͤrden?

Jch will indeſſen damit nicht ſagen, daß man dieſe Manier der Widerlegung ganz verlaſſen ſolle; nein, ſie iſt die kuͤrzeſte und treffendſte unter allen, wenn ſie gluͤck - lich gebraucht wird, und eigentlich bey Hofe zu Hauſe, wo man die Syllogismen in forma haßt. Jch wollte Jh - nen nur damit zu erkennen geben, daß man ſeinen Geg - ner nicht ſo gleich im Triumph und mit aller Bitterkeit einer Rechthaberey ins Tollhaus ſchicken muͤſſe, theils weil es beleidigend iſt, theils weil man ſich auch ſelbſt in der Geſchwindigkeit verſehen, und eine bittere Jnſtanz machen kann, die durch eine noch bitterere gehoben wird. Der berichtigte Lord Rocheſter fuhr einmal in einer Mieth - kutſche aus der Comoͤdie, und wie der Kutſcher beym Em - pfang ſeines Fuhrlohns ſahe, daß er den Lord gefahren hatte, ſagte dieſer zu ihm: wenn ich das gewußt haͤtte, in die Hoͤlle haͤtte ich ſie fahren wollen. O! antwortete der Lord: ſo haͤtteſt du Narr ja mit deinen Pferden zu - erſt hinein muͤſſen. Phau! ſchrie der witzigere Kutſcher, ich wuͤrde Eure Herrlichkeit ruͤckwaͤrts hinein geſchoben haben (J Should have backed in your Lordſchip) So uͤbel kann man oft mit einer dem Anſcheine nach ganz gu - ten Jnſtanz anlaufen.

Jhr erſter hitziger Ausdruck war: dasjenige was Sie anfuͤhrten, ſey ſo klar wie die Sonne; und der Schluß den die ganze Geſellſchaft daraus machen ſollte, war na - tuͤrlicher Weiſe dieſer: daß ihr Gegner ſtockblind ſeyn muͤßte. Ob ſie Recht oder Unrecht hatten, bedarf kei - ner Unterſuchung, denn uͤber die Sache ſtreiten wir nicht, ſondern nur uͤber die Manier des Vortrags. Aber fra - gen Sie ſich ſelbſt, ob es ihr Wille war der Geſellſchaft einen ſo uͤblen Begrif von ihrem Gegner zu geben? Warers61an ihren hitzigen Freunders nicht, wie ich verſichert bin, wozu denn dieſe Heftig - keit? und wenn nun die Geſellſchaft gedacht haͤtte, es fehle Jhnen an dem Gefuͤhl des Anſtaͤndigen, was zu einem freundſchaftlichen Streite erfordert wird, oder wohl gar an einer guten Erziehung, wuͤrde ihnen dieſes angenehm geweſen ſeyn? Gewiß auch nicht; und ſo ha - ben Sie Jhren Gegner wider ihren Willen und wider Jhren eignen Vortheil mißhandelt.

Jhr zweyter hitziger Ausdruck war: ſie wollten es der ganzen Welt zur Beurtheilung uͤberlaſſen. Hier kam ihr Gegner auf einen noch ſchlimmern Poſten zu ſtehen. Denn ein Mann, der einzeln in ſeiner Art zu denken iſt, und die ganze Welt gegen ſich hat, iſt gewiß der groͤßte Sonderling, wo nicht ein ſonderbarer Narr; und im Grunde iſt denn doch eine Berufung auf das Urtheil der ganzen Welt, eine bloße Fanfaronade: man weiß wohl, daß ſolches nicht zu erhalten ſteht. Meine kleine Nach - barin à la Circaſſienne ſagte mir ins Ohr: in einer ſo groſ - ſen Verſammlung wuͤrde gewiß ein Schißma entſtehen, und der Himmel moͤchte ſich der jetzigen Kopfzeuger er - barmen, wenn die große Welt ſo hitzig wuͤrde, wie die kleine jetzt in meinem Zimmer Den Spott zogen ſie ſich zu, ohne es zu wiſſen und wollen.

Jmmer ſprachen ſie von geſunder Vernunft, und dem ſchlichten Menſchenverſtande, womit man ihr Recht einſehen koͤnne; ſie ſagten, es koͤnne nicht anders ſeyn, und, ſie wollten kein Wort mehr darum verlieren, und ſchwiegen dann zu Zeiten mit Verachtung. O! wenn Sie geſehen haͤtten, wie wir armen Weiber, die wir mit dem froheſten Herzen uns mit unſern lieben Maͤnnern zu er - goͤtzen, zuſammengekommen waren, bey dergleichen Sce - nen zitterten; wenn ſie geſehen haͤtten, wie oft der Frauihres62Schreiben einer Dameihres Gegners das Blut ins Geſichte ſtieg, wenn ſie auf jene Art ihren Mann fuͤr ſtockblind oder fuͤr unverſtaͤn - dig erklaͤrten! Wenn Sie geſehen haͤtten, wie Jhre eigne liebe Frau eine heimliche Thraͤne nach der andern ver - goß! Wenn Sie die bedeutenden Seitenblicke unſrer jun - gen Fraͤulein, das unvermerkte Achſelzucken der jungen Herrn, das raͤuſpernde Jtem, das Beſtreben etwas vor - zubringen, wobey man das Gezaͤnk nicht hoͤren ſollte, und alle die verungluͤckten Mittel ihnen den Streitpunkt zu verſchieben, bemerkt haͤtten, wahrlich Sie wuͤrden eine ſolche Schiene um ihre Seele empfangen haben, die auch der groͤßte Naturfehler derſelben nicht haͤtte zerbre - chen ſollen.

Und was ward nun am Ende aus dem allen? ich ließ die Charten eine halbe Stunde fruͤher geben, um den ungeſchickten Streiter mit einer Puppe zu beſchaͤftigen, und Sie verſpielten mit gluͤenden Wangen und zanken - den Augen eine Zeit, die wir des Tages vorher zu einer weit edlern Ergoͤtzung ausgeſucht hatten. Die Wahr - heit aber gewann nichts dabey, und vielleicht ſchmollen Sie heute und Morgen noch im Kauf gegen ihren Freund, der doch weiter nichts that, als daß er gelaſſen ſagte: ihm kaͤme die Sache, welche Sie blau faͤnden, etwas gruͤnlich vor, oder ſchiene ihm ins gruͤne zu fallen; und ihn deuchte, man koͤnne ſie auch zur Noth fuͤr gruͤn an - ſehen. So beſcheiden war er in dem Vortrage der Zwei - fel, die Sie ſo hitzig zu widerlegen ſuchten.

O! mein lieber wuͤrdiger Freund, Sie ſind gewiß ein Mann, dem Niemand ſeine großen Verdienſte ab - ſpricht; man laͤßt Jhren Einſichten, Jhrem Eyfer und Jhrer Redlichkeit die vollkommenſte Gerechtigkeit wieder - fahren; man widerſpricht Jhnen oft nur, um ſich von Jhnen belehren zu laſſen, und die ſtarken Gruͤnde zu hoͤ -ren,63an ihren hitzigen Freund. ren, womit Sie jede Wahrheit in ein neues Licht zu ſe - tzen wiſſen; warum wollen Sie alle dieſe großen und ed - len Vorzuͤge, durch ihre aufbrauſende Hitze verderben? warum wollen Sie dieſem Naturfehler Entſchuldigungen bereiten, und ſich dadurch des einzigen Mittels berauben, womit er noch einigermaaßen gemaͤßiget werden kann? Von mir muͤſſen Sie wenigſtens nicht fordern, daß ich Entſchuldigungen annehmen ſoll. Nein das muͤſſen Sie nicht, ich will Jhnen vielmehr jedesmal, ſo wie ich heute gethan habe, meinen ganzen Unwillen zeigen, damit Sie davon den lebhafteſten Eindruck nehmen, und zur Zeit der Gefahr einen Erretter haben moͤgen. Jch will, wenn wir in Geſellſchaften zuſammen ſind, und ich ſehe, daß Sie ſich von Jhrer Hitze uͤbermeiſtern laſſen, meinen Cra - paud*)Eine Art neumodiſcher Schnurrkatzen, welche die Stelle des Faͤchels eingenommen hat. Eine Schnurrkatze aber iſt ſo ein Ding, ja es iſt ſo ein Ding, womit die Kinder ſpielen. ſchnurren laſſen, und dann ſchlage dieſes Ge - raͤuſch wie ein Donner in die Bratpfanne, die den beſten Braten immer verbrennen laͤßt. Jch wuͤnſche indeſſen doch, daß er Jhnen mit dieſer ereme à la Sultane wohl ſchmecken moͤge, und wenn Sie heute kommen, um die Ruthe zu kuͤſſen, womit Sie geſtaͤupt ſind: ſo ſollen Sie an mir eine eben ſo warme Freundinn finden, als Sie ein hitziger Fechter geweſen ſind.

Amalia.

XV. 64Alſo ſollte man die Einimpfung

XV. Alſo ſollte man die Einimpfung der Blattern ganz verbieten.

Schreiben einer jungen Matrone.

Nun, mein liebes Kind! ich will nichts mehr dagegen ſagen, laß deinem Dutzend Kindergen je eher je lieber die Blattern geben, alle meine Wuͤnſche ſtehen dir dabey zu Dienſte, und zwar von ganzem Herzen. Aber ſiehe auch hernach zu, wie du deine acht Maͤdgen an den Mann bringeſt. Denn das will ich dir wohl im voraus ſagen, daß kein einziges davon ſterben werde: unſre Aerzte verſtehen das Ding zu gut, und ſind viel zu gluͤcklich um dir auch nur eine einzige Ausſteuer zu erſparen.

Wo will es aber endlich hinaus wenn das ſo fort geht; wenn die Brut, die jetzt erhalten iſt, ſich mit glei - chem Eifer vermehrt, und nichts davon abgeſchlachtet wird? Vordem dankte eine gute Mutter dem lieben Gott, wenn er redlich mit ihr theilte, und auch noch wohl ein Schaͤfgen mehr nahm; man erkannte es als ein ſicheres Naturgeſetz, daß die Haͤlfte der Kinder unter dem zehn - ten Jahre dahin ſterben muͤßte, und richtete ſich darnach mit den Wochenbetten. Aber kuͤnftig wird man ſeine Kinder ſelbſt ſaͤugen, und alſo alle zwey Jahr nur ein Wochenbette halten duͤrfen, oder mit dem zwanzigſten Jahre aufhoͤren muͤſſen Kinder zu holen, wo die Welt den Menſchenkindern nicht zu enge werden ſoll. Und doch hat die weiſe Vorſehung die Blattern gewiß nicht umſonſtin65der Blattern ganz verbieten. in die Welt geſchickt. Sie haben ſich, nebſt der mit ihr verwandten Seuche, gerade zu der Zeit eingefunden, da die Voͤlkerwanderungen, weil alles beſetzt war, aufhoͤ - ren mußten; ſie ſollen alſo wahrſcheinlich dazu dienen, einer Ueberladung der ſublunariſchen Welt vorzubeugen, und dieſem großen Winke ſollte man folgen, und den Aerzten ein Handwerk verbieten, was am Ende zu nichts dienen wird als Mann und Frau von Tiſch und Bette zu ſcheiden.

Denn geſchieht dieſes nicht: ſo beklage ich die armen Erbherrn des kuͤnftigen Jahrhunderts! Jeder von ihnen wird zum wenigſten ein Dutzend Schweſtern und Bruͤ - der abzufinden haben! Und wehe dem Lande, wo dieſe alle von Stande ſind, und Wapen und Namen fortfuͤh - ren wollen! Was fuͤr Stifter werden da auf Koſten des gemeinen Fleißes errichtet werden muͤſſen, um alle die Fraͤulein zu verſorgen? Was fuͤr Armeen werden gehal - ten und wie ſehr wird der Hofſtaat, und die Dienerſchaft rermehret werden muͤſſen, um jedem Sohne wenigſtens eine Compagnie oder einen andern Dienſt zu verſchaffen? Und was wird bey dem allen aus den Erbherrn werden, die jedesmal ein Dutzend Schweſtern und Bruͤder abzu - ſteuren und zu verſorgen haben?

Ein anders waͤre noch, wenn die Vorſorge blos auf den Bauerſtand gienge! denn wenn dieſer ſich zu ſehr vermehrt: ſo kann man ihn noch aufs Schlachtfeld fuͤh - ren, und mit Cartaͤtſchen darunter ſchießen laſſen. Aber ſo wird dieſer gar nicht einmal genoͤthiget ſich der Jnocu - lation zu unterwerfen, ohnerachtet unlaͤngſt die natuͤrli - chen Blattern in einem Kirchſpiele 73 Kinder Gott gefaͤl - lig weggeraft haben; man uͤberlaͤßt ihn ſeinem Vorur - theile oder der Natur, und was dieſe nicht muͤtterlichMoͤſers patr. Phantaſ. IV. Th. Eweg -66Alſo ſollte man die Einimpfungwegnimmt, wird durch jene aufgerieben, gerade als wenn er allein das Recht haͤtte nach ſeinem Kopfe zu handeln.

Zwar giebt es auch Mittel die Vornehmern auf dem Bette der Ehre ſterben zu laſſen; und die großen Herrn werden ſchon dafuͤr ſorgen, daß es hiezu nicht an Gele - genheit mangle. Allein dadurch wird den Maͤdgen nicht geholfen, ſondern nur die Ungleichheit beyder Geſchlech - ter wider die goͤttliche Ordnung vermehrt Fuͤr dieſe waͤre es alſo beſſer, wenn ſie ſo wie bisher zur Haͤlfte in ihren unſchuldigen Kinderjahren, ehe ſie wiſſen was es in der Welt giebt, von den Blattern weggeraft, und nicht durch jene grauſame Vorſorge aufgeſparet wuͤrden, achzigjaͤhrige Maͤrterinnen zu werden. Aber keine Zeit iſt ſo ſehr in Widerſpruch mit ſich ſelbſt geweſen als die jetzige. Sie arbeitet beſtaͤndig an Stamm und Namen, und doch ſoll jeder Stamm von unendlichen Sproͤßlingen erſchoͤpft werden. Sie treibt die Ueppigkeit bis zum hoͤchſten Grad, verzehrt was ſie einnimmt, macht auch wohl Schulden dazu, und doch denkt ſie an nichts als recht viele Erben zu erwecken. Sie klagt daß ihr die Kin - der taͤglich mehr koſten, und tadelt gleichwohl ihre Vor - fahren, welche in gluͤcklichen Zeiten die Haͤlfte davon an den Blattern ſterben ließen; ſie murret gegen die Fuͤrſten und will doch durch die Jnoculation eine Menge von Fuͤrſt - gen erhalten doch wer kann alle die Widerſpruͤche zaͤhlen, worinn ſich der Menſch verwickelt? ich habe ihn geſehen, wie er einen Dieb, der Morgen gehangen wer - den ſollte, ſich aber heute ſelbſt erhenkt hatte, mit aller nur erdenklichen Muͤhe wieder zum Leben zu bringen ſuchte, um ihn des andern Tages in forma aufknuͤpfen zu ſehen. Und ſo verfahren auch unſre Aerzte, ſie erhal - ten eine Menge von Leuten, die natuͤrlicher Weiſe, weil die Welt zu voll werden wird, verhungern muͤſſen. Kom -men67der Blattern ganz verbieten. men folgends die Medicinalanſtalten zu Stande, womit un - ſer wohlthaͤtiges Jahrhundert ſchwanger geht, ſo wird man uͤberall Eltern mit ihren Kindern, Kindeskindern, Enkelkindern und Urenkelkindern herum wandern ſehen, und zuletzt Mord und Todtſchlag begehen muͤſſen, um ſich mit Ehren einen Platz in der Weit zu verſchaffen.

Jm Anfang wie Gott die Welt erſchuf, wurden die Menſchen tauſend Jahr alt, weil Garten und Feldland im Ueberfluß da war; nachher wie die Bevoͤlkerung im juͤdiſchen Lande zunahm, erreichten viele kaum ein mitt - lers Alter von fuͤnf hundert Jahren; endlich ward das hoͤchſte Alter hundert Jahr, und man ſieht offenbar, daß das menſchliche Alter gerade in dem Verhaͤltniß abge - nommen hat, wie ſich die Menſchen vermehret haben. Liegt hierin aber nicht deutlich die Regel unſers Verhaͤlt - niß, daß wir der Kinder nicht gar zu viel werden laſſen ſollen? Wahrlich es wird, wenn die Einimpfung nicht noch in Zeiten verboten wird, uͤber funfzig Jahr wun - derlich in der Welt hergehen; das hoͤchſte Alter der Men - ſchen wird dann ungefaͤhr dreyßig Jahr ſeyn, und die Welt noch von zwanzigjaͤhrigen Greiſen regieret werden. Sonſt hieß es je dicker die Saat je duͤnner die Halme, aber unſre Herrn Aerzte kehren ſich an dieſe in der Erfahrung gegruͤndete Regel nicht; auch das ſchwaͤchſte und kuͤm - merlichſte Haͤlmgen ſoll nicht ausgejaͤtet werden. Nun ſie moͤgen ſehen wie es ihnen die Nachwelt danken wird; ich halte es mit den natuͤrlichen Blattern die ſo fein auf - raͤumen, und auf jedem Hofe gerade ein Paͤrgen uͤbrig laſſen, was ſich fein ſatt eſſen und dem lieben Gott recht viele Engeln liefern kann. Jch breche hier ab um keine Thorheit zu ſagen. Lebe wohl!

E 2XVI. 68Ein kleiner Umſtand thut oft vieles.

Ein kleiner Umſtand thut oft vieles.

Aus dem Leben eines Frauenzimmers von ihr ſelbſt beſchrieben.

..... O mein armer Mann! rief ich, aber es war vorbey, und in dem Augenblick hielt der Wagen vor meiner Thuͤr: es war ſchon nach Mitternacht, der Herr Graf empfohl ſich kurz, und ich flog in mein Schlafzimmer, wo ich ein Glas friſches kuͤhles Waſſer herunterſchluckte, und aus allen Kraͤften laut ſeufzete. Meine Cammerjungfer merkte gleich daß mir etwas be - gegnet ſey, womit ich nicht voͤllig zufrieden waͤre, und fieng an die Vergnuͤgungen des Tages durchzugehen, ver - muthlich um zu ſehen, zu welcher ich die verdrießlichſte Mine machen wuͤrde. Dejeune und Soupe, rief ſie, Comedie und Aſſamblee, Morgen - und Abendball, Me - dianotte, und andre Jntermezzos, wenn das nicht ver - gnuͤgte Leute macht, ſo weiß ich nicht woher ſie kommen ſollen. Das Wort Jntermezzo fiel mir auf, ich weiß wohl warum, und wie ich muͤrriſch fragte, was denn noch fuͤr Jntermezzos? fieng die Hexe laut an zu lachen. So gleich ſagte mir mein Gewiſſen, daß ich mich verra - then haͤtte, und weg war der Stolz, womit ich vorhin allen Verſuchungen und Gefahren zu trotzen geglaubet hatte. Dummes lachen! und mache ſie fort, es iſt ſpaͤt! war meine ganze Antwort, und hiemit ward alles ſtille. Meine Einbildung gluͤete die ganze Nacht, und ich ſchwaͤrmte von einer Vorſtellung zur andern, und wenn ich auf das letzte Jntermezzo kam, wie es mein Maͤdgenzu69Ein kleiner Umſtand thut oft vieleszu nennen beliebt hatte: ſo verlohr ich mich, und glaubte zu traͤumen. Meine ganze Eigenliebe empoͤrte ſich gegen meine Leichtſinnigkeit, und ich konnte nicht begreifen, wie ich bey dem großen Verſtande, womit ich mir vorhin ge - ſchmeichelt hatte, ſo tief haͤtte fallen koͤnnen. Jch fand auch nicht ein bißgen Großes in meinem ganzen Verhal - ten gegen den Angrif des Grafen, nichts womit ich mich in meinem Gewiſſen haͤtte zieren koͤnnen. Dieſe grauſame Erniedrigung, die ich ſo ganz fuͤhlte, preßte mir die bitterſten Zaͤhren aus; ich konnte mich in meinen eignen Gedanken nicht wieder zu meiner vorigen Groͤße erheben, und ſchaͤmte mich vor meinem Anblick. Hun - dert Einfaͤlle liefen mir durch den Kopf, ich verknuͤpfte meine ehmaligen hohen Grundſaͤtze von der Tugend mit denjenigen, ſo ich kuͤnftig ausuͤben wollte, um das Ge - genwaͤrtige zu vergeſſen, aber vergebens. Mit einer herzlichen Reue und mit dem feſten Vorſatze mich zu beſ - ſern, konnte ich mein Gewiſſen, aber nicht meine Eigen - liebe beruhigen.

Sie koͤnnen leicht denken, daß ich des andern Mor - gens nicht recht wohl war; ich hatte Befehl gegeben kei - nen auſſer dem Grafen, wenn er kommen wuͤrde, vor - zulaſſen, und wie er erſchien; ſo vermochte ich auch nicht einen Blick auf ihn zu werfen. Er mochte dieſes zu ſei - nem Vortheil auslegen; denn er ſetzte ſich neben mir, ergriff meine Hand, und druͤckte ſie mit aller Glut eines Liebhabers an ſeine Lippen. Aber hier erwachte ich und .... O! ich kann Jhnen, liebſte Freundinn! nicht alles ſagen, was mein Herz vorbrachte. Es waren keine Vorwuͤrfe, denn dieſe verdiente ich allein, es war das ganze Gefuͤhl meiner Schmach, welches ich ihm ſchil - derte, und ſo lebhaft, ſo aufrichtig ſchilderte, daß er meine Hand fallen ließ, und zuletzt den Augenblick verwuͤnſchte,E 3wel -70Ein kleiner Umſtand thut oft vieles. welcher mein ganzes Leben verbittern wuͤrde. Hievon hatte ich ihn uͤberzeugt, und in dieſer Ueberzeugung ſuchte ich meine Ruhe wieder zu finden.

Wir ſchieden endlich mit der heiligſten Verſicherung aus einander, uns nie wieder allein zu ſehen, und hier - auf kuͤßte ich ihn noch einmal zur Dankbarkeit wie ich glaubte, fuͤr die Gerechtigkeit, welche er mir in dieſem Augenblicke erzeigt hatte. Jetzt befand ich mich etwas ruhiger, und wie nicht lange darauf mein Mann zu mir kam, um ſich nach meinem Befinden zu erkundigen, konnte ich ihm ſagen, wie ich glaubte, daß die rauſchenden Ver - gnuͤgungen der Stadt meiner Geſundheit nicht zutraͤglich waͤren, und ſo zogen wir nach wenigen Wochen auf un - ſer Gut, und verließen den Hof, wo ich vorhin den Him - mel auf Erden gefunden zu haben glaubte.

So wie ich die Sachen jetzt, aber vielleicht aus ei - nem unrichtigen Geſichtspunkte, anſehe, glaube ich faſt, daß ich nie zu der ruhigen und ſtillen Lebensart gekom - men ſeyn wuͤrde, worinn ich mir nun ſo ſehr gefalle, wenn ich jene Erniedrigung nicht erlitten haͤtte. Jch ha - be ſeit der Zeit hundertmal mehr Gefaͤlligkeit fuͤr meinen Mann gehabt als vorhin, und er iſt gluͤcklicher dadurch geworden. Jch habe mich ganz meinen muͤtterlichen Pflich - ten gewidmet, und kenne nichts unertraͤglichers als den beſtaͤndigen Genuß ſolcher Luſtbarkeiten, die andre bis zum Eckel verfolgen. Jch bin gegen alle arme Suͤnder und Suͤnderinnen tauſendmal billiger als vorhin, ertrage etwas Unrecht wegen meiner heimlichen Schuld, kehre alles zum Beſten, beneide keinen Glanz, und richte keine menſchlichen Fehler. Jeder gefaͤllt ſich bey uns, man lo - bet mich wegen der großen Vernunft, womit ich den koſt - baren Eitelkeiten der Welt entſage, man ruͤhmt mich als die wuͤrdigſte Frau, als die gewiſſenhafteſte Mutter, undals71Ein kleiner Umſtand thut oft vieles. als die zaͤrtlichſte Freundinn. Jch werde der ganzen Pro - vinz zum Muſter vorgeſtellet, und das alles warum? darf ich es wohl denken? Nie wuͤrde ich ſo duͤnkt mich, mit meiner unbefleckten Tugend zu dieſem Gluͤcke gelan - get ſeyn; ich wuͤrde wie es mir ſcheinet, der ganzen Welt damit Trotz geboten, und ſicher keinem gefallen haben. Denn ich hatte ein ſtolzes Herz, und Tugend auf Stolz geimpfet, giebt zwar ſchoͤne Fruͤchte, aber andre genieſ - ſen ſie nicht gern.

Oft und ſehr oft denke ich an das ungluͤckliche Me - dianotte, bald mit Lachen bald mit Weinen, nachdem es meine Laune mit ſich bringt, und mein Mann hat mehr als einmal eine Thraͤne der Reue fuͤr eine zaͤrtliche Em - pfindung gegen ihn aufgenommen; auch dieſes Gluͤck wuͤrde ihm wahrſcheinlich unter andern Umſtaͤnden nie begegnet ſeyn. Nicht ſelten ſetzt mich aber auch jene Er - innerung und eine mit ihr insgemein ſich verbindende Muſterung der menſchlichen Tugenden ins Lachen, und wenn ich an den Kuß gedenke, welchen ich dem Grafen noch des andern Morgens gab: ſo kuͤſſe ich meinem Mann die Hand um es wieder gut zu machen. Jenes that ich doch nur aus Eigenliebe, welche ſich durch die Ueberzeu - gung des Grafen von meinem Unwillen einigermaßen be - ruhiget fand, und dieſes, ich will es nur geſtehn, ge - ſchieht auch nicht blos aus Liebe.

O wie viele Schelmerey wohnet in dem menſchlichen Herzen! und wie viele angenehme Stunden koͤnnten wir uns verſchaffen, wenn wir uns ſolche einander mit aller Aufrichtigkeit eroͤfneten, und die Naturgeſchichte unſrer Tugenden nicht haͤmiſch aber fromm und wahr beſchrie - ben. Wenn ich meiner Einbildung recht was zu gute thun will: ſo mahle ich ihr das Gluͤck ſolcher Freunde,E 4die72Ein kleiner Umſtand thut oft vieles. die ſcharfſichtig genug ſind, um alle Bewegungen ihres Herzens zu beobachten, und ſich dann einander die Ent - ſtehungsart derſelben recht herzlich mittheilen. Dieſe Vorſtellung reißt mich oft aus dem gewoͤhnlichen Kreiſe unſrer Denkungsart, und es iſt mir ſchon wiederfahren, daß ich zu meinem Mann gehn, und ihn durch die Schil - derung der ganzen Folge meiner veraͤnderten Empfindun - gen ſeit dem Vorfall mit dem Grafen, zu einer edlern Liebe gegen mich ruͤhren wollte. Aber ich unterließ es weislich, und die Wolluſt das beſte Herz gezeigt zu ha - ben, wuͤrde viel zu theuer erkauft worden ſeyn, wenn es ihm auch nur die kleinſte Unruhe verurſacht haͤtte. Denn es giebt ſchwerlich Ehemaͤnner, welche ihren Weibern der - gleichen Suͤnden ſo herzlich vergeben wuͤrden, als ſie ſol - che beichteten.

Nun haben Sie liebſte Freundinn die ganze Aufloͤ - ſung des Raͤthſels, warum ich ſo gluͤcklich und zufrieden auf dem Lande lebe. Sind gleich alle Tage nicht voͤllig heiter: ſo weiß ich doch auch die dunkeln zu meinem Vor - theile anzuwenden, und dieſe kommen den laͤndlichen Luſt - barkeiten oft beſſer zu ſtatten, als ein heller und heißer Tag. Jch habe Jhnen von allem was in meinem Herzen vorgegangen iſt, nichts verſchwiegen, und ehe Sie mich darum verachten: ſo kommen Sie zu mir und theilen auch ein Stuͤndgen der heimlichen Wehmuth mit mir, die mich bey dem allen nicht ſo ganz verlaſſen hat, wie es wohl ſcheinen moͤchte. Aber heute bin ich ſo aufgeraͤumt gewe - ſen, als wenn ich den Stein der Weiſen und mit dieſem den Schatz gefunden haͤtte, mein ganzes Doͤrfgen in ein Elyſium zu verwandeln. So miſche ich mir oft zu dem kleinen Genuß des Gegenwaͤrtigen, die Hofnung einer kuͤnftigen Freude, oder die Erinnerung einer vergange - nen, um die Luͤcke auszufuͤllen, welche ſich zwiſchen demGenuß73Ein kleiner Umſtand thut oft vielesGenuß von einer Luſt zur andern befindet; und gebe mei - ner Einbildung ein Feſt, welches dann am praͤchtigſten iſt, wenn ich die Groͤße und Schwaͤche der Menſchen ne - ben einander ſtelle, und ſehe wie die eine durch die an - dre gehoben wird.

Hier muß ich ſchließen. Der Hofemeiſter, welcher meinen Kindern in einem Nebenzimmer erklaͤret, was es fuͤr ein großes Gluͤck ſey, ſich keiner Schuld bewuſt zu ſeyn, ſtoͤret mich in meiner Schwaͤrmerey. Sonſt wuͤrde ich Jhnen noch ſagen, wie ſehr Licht und Schatten ſich einander zu ſtatten kommen.

A.

XVI. Der Werth der Complimente.

Schreiben einer Wittwe.

O meine Liebe! naͤrriſch ſollte man uͤber die halbwitzi - gen Mannskoͤpfe werden. Geſtern, wie wir uns zu einer Promenade fertig machten, ſagte ich zu dem Herrn ſeinen Namen errathen Sie leicht: Geben Sie mir ihren Arm, ich habe doch keine beſſere Stuͤtze. Hierauf machte er mir ein langes und breites Compli - ment, ich mußte ihm Ehren halber antworten, und wir geriethen daruͤber zu aller Welt Wunder in einen hoͤfli - chen Galimathias, wobey ich ſo roth ward wie Schar - lach, er aber ſich die ſtolze Mine eines triumphirenden Complimentirers gab. Die ganze Geſellſchaft hatte, eheE 5ich74Der Werth der Complimente. ich es mir verſehen, Theil an unſerer Unterredung genom - men, und was nach meiner Abſicht blos ein vertrauli - ches Wort zur Aufmunterung eines Mannes von gewiſ - ſen Verdienſten ſeyn ſollte, erhielt durch das Gepraͤnge, womit er ſolches aufhob, eine Art von Gewicht, was mich ordentlich kraͤnkte, und in Beziehung auf verſchie - dene andre von der Geſellſchaft, in eine wahre Verle - genheit ſetzte. Wie iſt es aber moͤglich, daß ein Menſch ſo wenig geſundes Gefuͤhl haben, und jede ſanfte Ma - nier des Ausdrucks, wodurch man Gefaͤlligkeit, Aufmerk - ſamkeit und Empfindung in einer Geſellſchaft von Freun - den zu erwecken ſucht, auf eine ſo rauhe Art behan - deln koͤnne?

Es iſt, wie Sie wiſſen, meine Gewohnheit, daß ich in Geſellſchaften entweder den geringſten oder denje - nigen, worauf die andern am wenigſten achten, gern zu meiner Unterhaltung erwaͤhle, und ihm oft zu ſeiner eig - nen Verwunderung zum allerliebſten Manne mache. Dazu gehoͤrt nun mancher Blick der feinſten Aufmerkſamkeit, manches verbindliche Wort, und auch wohl ein unfrey - williger Druck der Hand, der ſo weggleitet, ohne daß er foͤrmlich erwiedert werden ſoll. Wenn man aber alles dieſes, was das feinere geſellſchaftliche Leben erfordert, in ein großes Licht ſetzen, mich wegen jeder Bewegung gleichſam zur Rechenſchaft fordern, und alle Schatti - rungen zu beſondern Farben heraus heben wollte, ſo wuͤrde man ich weiß nicht was aus mir machen koͤnnen.

Bey dem Herrn .. iſt es jedoch nicht Mangel von Gefuͤhl ſondern blos die Begierde in fertigen und witzi - gen Antworten zu glaͤnzen, die ihn zu einer ſolchen Un - beſonnenheit verfuͤhrt. Er weiß wohl, daß ich eine ent - ſchloſſene Witwe bin, die keinen Menſchen und am aller - wenigſten ihn an ſich zu ziehen gedenket; er war uͤber -zeugt,75Der Werth der Complimente. zeugt, daß dasjenige, was ich ihm ſagte, blos Gutheit und keine aufs Fangen ausgelegte Lockung war; aber dem ungeachtet fuͤhrte ihn das Gluͤck, meine beſte Stuͤtze zu ſeyn, zu einer ſolchen Schilderung ſeiner Schwachheit, daß ich um dem Gezier ein Ende zu machen, in die naͤch - ſie Hecke grif, und anſtatt ſeines Arms den erſten Kruͤp - pelſtock in die Hand nahm.

Sie meine Beſte haben mir oft geklagt, daß es ein wahres Ungluͤck fuͤr die Geſellſchaften ſey, auch ſelbſt ei - nem Freunde nicht alles ſagen zu duͤrfen was man fuͤr ihn fuͤhlt. Jch habe aber die Wahrheit dieſer Klage nie - mals ſo lebhaft empfunden als damals. Wenn ein Freund nicht einmal die aufrichtigen Ergießungen der Freund - ſchaft von der Liebe unterſcheiden kann; wenn man auch gegen dieſen noch etwas von dem, was man ihm gern ſagte, zuruͤckhalten muß, um ſeine ruhende Eigenliebe nicht aufzuwecken: wie ſehr wird man denn nicht gegen einen Gleichguͤltigen mit jeder Gefaͤlligkeit auf ſeiner Hut ſeyn muͤſſen! Das maͤnnliche Geſchlecht muß einen eignen Grad von Selbſtgefaͤlligkeit beſitzen, um ſo gleich jeden beyfaͤlligen Blick fuͤr einen verbuhlten Wink aufnehmen zu koͤnnen.

Jedoch Jhren lieben Freund nehme ich davon aus, das verſteht ſich. Dieſen kann man ſo gar mit der Wahr - heit ſchmeicheln, ohne daß er ſich feyerlich dagegen ver - wahrt. Er fuͤhlt, was man ihm angenehmes ſagt, mit Beſcheidenheit und Zaͤrtlichkeit, und erwartet ſeine Ge - legenheit, um uns eine eben ſo warme Empfindung ab - zulocken; oder er ſchmeichelt in Thaten, und laͤßt von ſei - ner Erkenntlichkeit noch immer mehr errathen als man davon ſieht. Von der Nothwendigkeit des gegenſeitigen Gefallens in der menſchlichen Geſellſchaft uͤberzeugt, legt er einem vertraulichen Drucke nicht mehr bey, alsdarin76Der Werth der Complimente. darin liegt; und weiß wohl, daß auch die ſanft getrof - fene Eigenliebe ſich unterweilen durch einen Blick ver - raͤth, den man der Liebe zuſchreiben koͤnnte. Nie belaͤ - ſtigt er dieſe ſuͤßen Ausbruͤche der menſchlichen Natur, dieſe fuͤr die Freundſchaft ſo wichtigen Schwaͤchen, mit widrigen Vermuthungen; nie ſchreckt er unſer Herz durch eine witzige Antwort zuruͤck, und wenn auch ein Zug von Liebe ſich mit einmiſcht: ſo iſt man doch bey ihm wegen einer augenblicklichen Empfindung uͤber alle Auslegung ruhig.

Jedoch ich merke zu ſpaͤt, daß ich uͤber einen Text predige anſtatt Jhnen einen Brief zu ſchreiben. Verzei - hung! Mein Unwille uͤber einen Mann, der ein Com - pliment hoͤher aufnimmt als es gemeint iſt, und wohl gar einen ſogenannten galanten Wettſtreit ſucht, war zu groß; er muſte Luſt haben. Jch ſchließe Sie und ihren lieben Freund zugleich in meine Arme, und bin alles was Sie wollen, nur nicht Jhre

Ganz gehorſamſte Dienerinn, Amalia.

XVIII. Verdienten ſie die Krone oder nicht?

Ein moraliſches Problem.

Jch befand mich vor einiger Zeit in einer Geſellſchaft von Boͤſewichtern, wovon der eine ein Geitzhals, als ein kluger und ordentlicher Mann, der andre ein Ver -ſchwen -77Verdienten ſie die Krone oder nicht? ſchwender, als ein zaͤrtlicher und liebenswuͤrdiger Freund, und der dritte ein ehrſuͤchtiger Diener als ein großmuͤ - thiger und gnaͤdiger Goͤnner geruͤhmt wurde; ohnerach - tet ſich jeder von ihnen in dem Wege ſeiner Leidenſchaft alles heimlich erlaubte, was ſich der gottloſeſte Mann, der nicht eben an den lichten Galgen rennen will, nur immer erlauben konnte. Erbittert uͤber die ſchielenden Urtheile der Menſchen, und uͤber die große Falſchheit, ihrer Tugenden, begegnete ich einem Landmanne, und fragte ihn nach einer kurzen Unterredung, welches ſo die beſten Leute in ſeinem Dorfe waͤren, und wodurch ſie ſich ſo eigentlich auszeichneten. Seine Antworten ſagten je - doch nur ſo viel, der und der waͤre ein guter Kerl, und noch ein ander waͤre ein verwegen tuͤchtiger Kerl, aber immer folgte ein Aber hinten nach, und dieſes Aber gieng dahin, daß jeder ein Held in derjenigen Tugend waͤre, die ſeiner Neigung und Sinnesart am beſten zu ſtatten kaͤme, und ſich um die uͤbrigen zu wenig bekuͤmmerte. Endlich kam der Mann auf eine Geſchichte, die ſich vor vielen Jahren in ſeinem Dorfe zugetragen hatte, und glaubte mir damit einen Verweis zu geben, daß ich gar zu viel von dem beſten Menſchen forderte. Denn ich hatte ihn mehrmals gefragt, wie er diejenigen als gute Leute preiſen koͤnnte, die doch ſeiner eignen Beſchreibung nach ſo große Fehler an ſich haͤtten?

Jn unſerm Dorfe, hob er an, iſt die alte gute Ge - wohnheit, daß jaͤhrlich am Neujahrstage die Gemeine ſich in der Kirche verſammlet, und nach geendigtem Got - tesdienſt auf das Schloß begiebt, wo die Herrſchaft ei - nem Ehepaar, welches wenigſtens fuͤnf und zwanzig Jahr friedlich mit einander gelebt haben muß, und nach dem Urtheil aller Hausgeſeſſenen Einwohner des Dorfs die beſte Wirthſchaft gefuͤhret hat, einen Kranz von EichenLaube78Verdienten ſie die Krone oder nicht? Laube aufſetzt, der mit einer Steuerfreyheit fuͤr das Jahr, und einem Ehrenpfennig von funfzig Thalern, wozu ein alter Canonicus aus der Familie das Capital vermacht hat, verknuͤpft iſt. Dabey werden dann alle wuͤrkliche Eheleute an einer guten Tafel bewirthet, und des Abends kommt das junge Volk zum Tanze. Nun geſchahe es in meiner Jugend, daß unſer Gerichtsherr eben an einem ſolchen Tage ein Schreiben aus Amſterdam erhielt, worin ihm gemeldet wurde, daß vor vierzig Jahren ein gewiſ - ſer Mann aus ſeinem Dorfe nach Oſtindien gegangen, und mit Hinterlaſſung eines Vermoͤgens von vielen Ton - nen Goldes geſtorben waͤre; dieſer haͤtte das Teſtament, was ihm hiebey in Abſchrift zukaͤme, gemacht, und darin eine Perſon zur Erbin eingeſetzt, welche damals in ſei - nem Gerichtsdorfe geweſen waͤre; er moͤchte ſich alſo er - kundigen, ob dieſelbe jetzt noch lebte, und ſodann jemand mit ihrer Vollmacht uͤberſchicken, welcher die Erbſchaft, worin außer dem baaren Gelde, viele koſtbare Diaman - ten und insbeſondre eine Schnur orientaliſcher Perlen von ſolcher Schoͤnheit waͤren, daß eine Kayſerin ſich nicht ſchaͤmen duͤrfte ſie zu tragen, in Empfang naͤhme. Sie koͤnnen ſich vorſtellen wie begierig jedermann ward, das Teſtament zu hoͤren, und die Perſon zu kennen, die ſo viele Tonnen Goldes, ſo koſtbare Diamanten, und ſo ſchoͤne Perlen haben ſollte. Der Gerichtsherr uͤbergieng demnach alles was der Verſtorbene von dem großen Se - gen Gottes, und von dem einzigen Erloͤſer und Seligma - cher, welchem er ſeine Seele empfohl, geſagt hatte, und ſuchte nur gleich die Stelle auf, wo nach dieſem gewoͤhn - lichen Eingange, die gluͤckliche Erbin benannt wurde. Hierauf fieng er mit lauter Stimme an zu leſen.

Zur Erbin aller meiner zeitlichen Guͤter ſetze ich ein, meines ehemaligen guten Wirths Tochter, An -na,79Verdienten ſie die Krone oder nicht? na Catharine Unruhe, welche ich bey meiner Ab - reiſe ſchwanger hinterlaſſen, und das Kind von ihrem Leibe gebohren, wenn es der liebe Gott ()

weiter konnte er vor dem Laͤrm der Leute nicht leſen; je - dermann erkannte in der Anna Catharine Unruhe die Frau, welche ihrer aller Vermuthung nach als die beſte Ehefrau an dem Tage die Krone erhalten wuͤrde, und alle waren ganz ausſchweifend froh, daß eine ſo große Erbſchaft ins Dorf kommen ſollte. Die gnaͤdige Frau vom Schloſſe, welche ſich ſo gleich auf die erſte Nachricht von dieſer Neuigkeit in der Verſammlung eingefunden hatte, erſuchte die Anna Catharine aufs inſtaͤndigſte, doch ja die Perlen nicht in Amſterdam loszuſchlagen, weil ſie ihr ſolche ſo gut als ein andrer bezahlen wollte. Der gnaͤdige Herr begehrte ein gleiches wegen der großen Dia - manten; der Gerichtsverwalter erbot ſich zur Reiſe um die Erbſchaft in Empfang zu nehmen; der Pfarrer, wel - cher des Morgens, wie es an dieſem Tage gewoͤhnlich war, eine ſchoͤne Predigt uͤber die haͤuslichen Tugenden gehalten hatte, und der Ceremonie der Kroͤnung des be - ſten Ehepaars mit beywohnte, erinnerte ſie an ſeine ſchlechte Pfruͤnde, und den baufaͤlligen Thurm der Kir - che; und alle Einwohner des Dorfs hatten ihre beſon - dere Anliegen, deren Erzaͤhlung aber viel zu weitlaͤuftig ſeyn wuͤrde.

Endlich und nachdem der erſte Laͤrm zu einer maͤßi - gern Luſt hinabgeſunken war, fieng der gluͤckliche Mann dieſer reichen Erbin an ſie zu fragen: ob ſie denn vorher, ehe ſie ihn geheyrathet haͤtte, ein Kind gehabt, und warum ſie ihm denn niemals davon etwas geſagt haͤtte? Hier gieng der Laͤrm von neuem an, und ich ſchaͤme mich faſt es zu ſagen, mit welchen Gruͤnden alle mit einander, Hohe und Niedrige, den Mann zu bereden ſuchten, daßer80Verdienten ſie die Krone oder nicht? er doch ſeiner Frauen uͤber eine ſolche Kleinigkeit, die ihm jetzt einen ſo reichen Segen zugebracht haͤtte, keinen Vorwurf machen moͤchte. O! antwortete dieſer, das iſt auch meine Meinung nicht; ich war nur neugierig zu wiſſen und wollte weiter fragen: ob das Kind noch lebte, und ſeinen Theil von der Erbſchaft haben wuͤrde, oder ob meine mit meiner Frauen erzeugten Kinder ſolche allein zu erwarten haͤtten? Nun das ließ man gelten; und die Frau ſtotterte mit vieler Beſcheidenheit etwas heraus, daraus man ſich uͤberzeugte, es haͤtte einmal in ihrer Jugend ein Knecht bey ihren Eltern gedienet, der nach Oſtindien gegangen waͤre, und ſie haͤtte damals einmal geglaubt ſchwanger zu ſeyn, es waͤre aber noch gluͤcklich wieder uͤbergegangen.

Man kann ſich leicht vorſtellen, daß man bey dieſem wichtigen Vorfalle die Ceremonie des Tages ganz auſſer Acht gelaſſen hatte. Wie es aber doch allmaͤhlig Eſſens - zeit wurde: ſo erinnerte man ſich derſelben, weil man ſich nicht an den Tiſch ſetzen konnte, ohne das Paar zu waͤh - len, was als das Beſte den oberſten Platz einnehmen muͤßte. Alle Stimmen waren einmuͤthig fuͤr die Erbin und ihren Mann. Jn dem Augenblick aber, da man denſelben die Krone von Eichen Laube aufſetzen wollte, trat der Bruder der Gerichtsfrau mit einem lauten Gelaͤch - ter in die Verſammlung, und erzaͤhlte ihnen zu ihrem groͤßten Erſtaunen, daß er ihnen heute einen Poſſen ge - ſpielt, und das ſchoͤne Teſtament erdichtet haͤtte.

Von dem Entſetzen, welches die ganze Geſellſchaft befiel, will ich nichts erwehnen; es kann auch nicht be - ſchrieben ſondern blos empfunden werden. Jetzt entſtand aber die Frage: ob der Mann, der ſeine Ehre ſo leicht aufgegeben, und die Frau, die ſich ſo beſcheiden zur Hureer -81Verdienten ſie die Krone oder nicht? erklaͤret hatte, als die beſten Eheleute im Dorfe gekroͤ - net werden koͤnnten? Der Gerichtsherr ſagte kaltſinnig: er wolle es lediglich auf den Ausſpruch der Menge an - kommen laſſen; die gnaͤdige Frau meinte, ſie muͤßten doch etwas fuͤr den Schrecken haben; der Pfarrer verſicherte, es waͤren doch immer gute Leute geweſen; und die Ge - meinheit rief einhellig: O, wenn man alle ſo auf die Pro - be ſetzen wollte, ſo moͤchte der Henker ein ehrlicher Mann ſeyn. Der einzige Gerichtshalter wollte behaupten, die Sache muͤßte erſt naͤher unterſuchet werden, aber ihm ward befohlen, anſtatt der Erbſchaft, den Ausſpruch zum Protocoll zu nehmen, und die Gerichtsfrau ſetzte darauf der beſte Frau die Krone auf, ſo wie es der Gerichtsherr dem beſten Manne that

Das haͤtte ich nicht gethan antwortete ich, und wenn auch O erwiederte der Mann, wenn ſie in der Ver - ſammlung geweſen waͤren, und die Anna Catharine Un - ruhe in ihrem ehrwuͤrdigen Alter, und ihren Mann in ſeinen grauen Haaren geſehen; wenn ſie auf den Phy - ſionomien aller Anweſenden nur eine Stimme fuͤr ſie ge - leſen haͤtten; wenn ihnen der Pfarrer ſelbſt geſagt haͤtte, ſie moͤchten ſich kein Bedenken machen; und wenn das Eſſen immittelſt aufgetragen geweſen waͤre: O ſie haͤtten es wahrlich nicht kalt werden laſſen. Jch gieng fort, ohne weiter zu antworten. Aber was das fuͤr eine Philoſophie iſt, einen gutwillig Hahnrey und eine Hure als die beſten Eheleute zu kroͤnen! und doch mag ſich der Fall oft ge - nug zutragen; die Menſchen im gemeinen Leben haben eine ganz andre Praktik, als wir Phyſiologen. Sie laſ - ſen dem lieben Gott das Herz richten, und geben demje - nigen die Krone, von dem ſie das mehrſte Gute empfan - gen. Sie ſind minder ekel wie wir feinen Moraliſten, ob ſie aber dabey gewinnen oder verlieren, und ob dieſerMoͤſers patr. Phantaſ. IV. Th. FGe -82Was iſt die Liebe zum Vaterlande? Gewinnſt oder Verluſt ſich in das Urtheil miſchen duͤrfe, das iſt eine andre Frage. Jch denke wenn wir wie ſie und ſie wie wir handelten: ſo haͤtten wir beyde Unrecht; und ſo moͤgen wir umgekehrt auch wohl beyde Recht ha - ben. Aber es mag ein Problem bleiben.

XIX. Was iſt die Liebe zum Vaterlande?

Ein armer Weſtfaͤlinger gieng vor einigen Jahren nach Holland, und erwarb ſich dort in kurzer Zeit ſo viel, daß er wie andre ſeines gleichen, aus einem mit Silber beſchlagenen Pfeiffenkopfe rauchen konnte, und nicht allein ein ſeidenes Halstuch, ſondern auch ein Paar große ſilberne Schuhſchnallen und ein Dutzend ſilberner Knoͤpfe in ſeinem Wamſe trug. Die Leute, bey denen er arbeitete, liebten ihn, und vermehrten ihm ſeinen Lohn in der Maaße, daß er, wie ſeine andern Landes - leute ihrer Gewohnheit nach heimgiengen, den Winter uͤber zu bleiben verſprach. Kaum aber waren acht Tage verfloſſen, ſo uͤberfiel ihn eine ſolche Sehnſucht nach ſei - nem Dorfe, daß er ganz unmuthig und zuletzt gar krank daruͤber wurde. Er ſprach von nichts als ſeinen lieben Eltern und Freunden; die Heiden worauf er gebohren war, kamen ihm ſo reitzend und der Nebel in Holland ſo ſtinkend vor, daß er durchaus ſeinen Dienſt verlaſſen, und in die elterliche Huͤtte zuruͤckkehren wollte. Wie ihm aber ſein Herr hierinn nicht zu Willen ſeyn konnte: ſo fiel er zuletzt in eine auszehrende Krankheit, und der Arzt, welcher immittelſt dazu berufen war, erklaͤrte, daß ihnnichts83Was iſt die Liebe zum Vaterlande? nichts als die Ruͤckreiſe in ſeine Heimath herſtellen wuͤrde. Nun blieb dem Herrn, wenn er ſich nicht mit den Be - graͤbnißkoſten beladen wollte, kein anderer Weg uͤbrig als ihn heimzuſchicken, und von dem Augenblick an, da dem Kranken dieſe frohe Nachricht verkuͤndiget wurde, erholte er ſich dergeſtalt, daß er in wenig Tagen ſeine Reiſe antreten wollte. Gott ſey ewig Lob und Dank, Morgen reiſe ich in mein geliebtes Vaterland, ſagte er eben mit der reinſten Andacht zu ſich ſelbſt, als ſein Herr herein kam, und ihm die Rechnung von den Unkoſten ſeiner Krankheit, und was er bey ihm, ohne zu arbeiten, verzehret haͤtte, vorſagte. Hier, fuͤgte er hinzu, dieſen Pfeiffenkopf, dieſe Schnallen und dieſe Knoͤpfe, will ich dafuͤr zum Unterpfande behalten, und nun koͤnnt ihr in Gottes Namen reiſen wenn es euch gefaͤllt.

Jn Ewigkeit nicht, erwiderte der junge Mann, nach - dem er ſich aus ſeiner erſten Beſtuͤrzung erholet hatte; ich befinde mich jetzt ſo gut, daß ich euch gar nicht zu ver - laſſen, und Morgen anſtatt die Reiſe anzutreten, eure Arbeit wieder anzufangen gedenke. Er that es auch wirk - lich und blieb ſo lange geſund, bis er nicht allein ſeine Rechnung getilget, und ſeine Schnallen, ſeinen Pfeiffen - kopf und ſeine Knoͤpfe zuruͤck erhalten, ſondern ſich noch ein ſpaniſches mit Silber beſchlagenes Rohr, und eine große ſilberne Schnupftobacksdoſe erworben hatte. Nun hielt ihn aber auch nichts ab, in ſein Dorf zuruͤck zu keh - ren, und dort mit ſeinen herrlichen Sachen zu glaͤnzen.

Ach! ſagte der Pfarrer, als ihm dieſes Geſchichtgen erzaͤhlet wurde, was iſt die Vaterlandsliebe, wenn man ihr das eitle Gluͤck daheim mit den auswaͤrts erworbe - nen Schnallen und Knoͤpfen prahlen zu koͤnnen entzieht? Der eine wuͤnſcht ſeinem alten Rector zu zeigen, was ausF 2dem84Was iſt die Liebe zum Vaterlande? dem Schuͤler geworden; der andre will mit ſeinem Gluͤcke einer Geliebten die ihn ehmals verachtet hat, noch eine Thraͤne der Reue abzwingen; der dritte will ſeinen Eltern eine unvermuthete Freude machen, und alle hoffen auf Bewunderung, oder rechnen auf die Erneuerung einer alten Erinnerung; hier lebt noch ein Neider, woruͤber man triumphiren kann, dort ſperret die Nachbarſchaft erſtaunte Augen auf; man iſt dem einen als ein neues Phenomen, und dem andern als ein alter Bekannter willkommen; hoͤchſtens eilet man in ſein Baterland um noch ein Unrecht, was ihm wiederfaͤhrt, aus Rechtha - berey abwehren zu helfen, oder in demſelben ein erlern - tes Geſchaͤfte mit mehrerem Vortheil zu treiben. Aber keiner denkt auch nur von weitem an die Verbindlichkei - ten ſo er ſeinem Vaterlande ſchuldig iſt; keiner kehrt aus Liebe zum Lande oder zu ſeiner Verfaſſung zuruͤck, und keiner mahlt ſich daſſelbe reitzender, als ein fremdes Land, wenn es ihn verhindert, ſeine Knoͤpfe und Schnal - len zu zeigen, die in einem armen Lande immer beſſer glaͤnzen, als in einem reichen, wo tauſende ſie beſſer haben.

XX. Der Herr Sohn iſt ſchlau.

Schreiben an die gnaͤdige Frau Mutter.

Nein! Nein! Gnaͤdige Frau, Jhr Herr Sohn wird ſein Gluͤck in unſerm Dienſte nicht machen, wenn er uͤberall Verſtand zeigen will. Jch bin ein alter Mannund85Der Herr Sohn iſt ſchlau. und habe manches Geſchaͤfte unter Haͤnden gehabt, aber immer die Leute gefuͤrchtet, die keine Sache gut aus - fuͤhren koͤnnen, ohne auch die Ehre davon zu ſuchen und ſich dieſelbe in reicher Maaße geben zu laſſen. Bey mir finden dergleichen Leute nie Vertrauen, und der Mann, der ſeinem Freund nicht dienen kann, ohne mit einem glaͤnzenden Blicke um ſeinen Dank zu buhlen, iſt doch immer ein eitler Mann, der ſich von andern ſelbſtſuͤchti - gen Menſchen nur in der ſanftern Manier und in einer gluͤcklichern Wahl unterſcheidet. Zwar glaͤnzt auch die Freudenthraͤne in unſerm Auge, und fließet der Erkennt - lichkeit eines Freundes entgegen, den wir gluͤcklich ge - macht haben; dieſes wiſſen Sie, gnaͤdige Frau am be - ſten! Aber dieſer, o dieſer Glanz, wie ſehr unter - ſcheidet er ſich von dem Ausdruck der gierigen Selbſtge - faͤlligkeit, die uns mit einem halb verſchobenen Auge im Vertrauen ſagt: Gelt das habe ich recht klug gemacht! hier habe ich ihnen recht gedienet!

Jedoch ich will hier der Natur etwas Spielraum laſſen, und wo dieſe endlich die verſchiedenen Schatti - rungen in einander fließen laͤßt, keine Graͤnzpfaͤle ſchla - gen; ich moͤchte ſonſt, wenn ich einmal ein bisgen Ver - dienſt bey Jhnen noͤthig haͤtte, und Jhnen eine recht gute Handlung von mir erzaͤhlen koͤnnte, vor lauter Philoſo - phie davon gar ſchweigen, und der Freundſchaft die ſuͤße - ſte Nahrung entziehen. Nur das wollte ich eigentlich ſa - gen: Jhr Herr Sohn muß ſich abgewoͤhnen fuͤr ſchlau gelten zu wollen.

Unmoͤglich kann ich den Mann fuͤr wuͤrklich ſchlau halten, der ſchlau ſcheinen will. So verfuͤhreriſch der Ruhm eines uͤberlegnen Verſtandes iſt, und ſo gern wir dieſem lieben Goͤtzen opfern: ſo gewiß handeln wir ge - gen unſere eigne Abſicht, und gegen unſer wahres Jn -F 3tereſſe,86Der Herr Sohn iſt ſchlau. tereſſe, wenn wir uns dieſen Ruhm wuͤrklich erwerben, oder ihn wohl gar ſuchen. Der gewoͤhnlichſte Vortheil davon iſt, daß andre auf ſich Acht haben, ihr Herz vor uns verbergen, und uns als gefaͤhrliche Leute fliehen. Wer Schlauigkeit zeigt, will immer dafuͤr gehalten ſeyn, daß er einen andern uͤberliſtiget habe, und derjenige, der uns dieſes, es ſey nun mit einem Worte oder mit einem Augenwinke zu verſtehen giebt, warnet uns vor ſich ſelbſt. Wir muͤſſen immer fuͤrchten, daß er uns auch einmal uͤberliſtigen werde. Man liebt aber den Mann nicht, wovon man dieſes fuͤrchtet. Die einzige Ruhmſucht die ich einem jungen Manne verzeihe, iſt dieſe, wenn er wahr und vorſichtig iſt, und auch dafuͤr angeſehen ſeyn will. Alle uͤbrige gute Eigenſchaften muß er blos handeln und nicht zu ſehr glaͤnzen laſſen. Es iſt ein durchtrieb - ner Gaſt, ſagte unlaͤngſt der Herr Obermarſchall von ihm zu dem gnaͤdigſten Herrn, er weiß alles was vorgeht, erraͤth jeden Blick, und ſieht mit Falken Augen; Sie koͤnnen denken, wie mir dieſes durchs Herz gieng, da der Herr Sohn zu dieſem anſcheinenden Lobe nicht gelangt ſeyn kann, ohne ſich ſehr verrathen zu haben. Es iſt mir lieb, daß er alles ſieht und weiß; aber es iſt mir nicht lieb, daß er ſich damit ein ſo fruͤhzeitiges Lob er - worben hat. Glauben Sie mir gewiß, der Fuͤrſt wird ihm desfalls nie trauen, und er wird kuͤnftig weit weni - ger ſehen und erfahren, als wenn er nichts zu ſehen ſchie - ne; wenn ſein gutes Herz nicht noch etwas wieder gut machte, ſo wuͤrde man ihn wohl gar fliehen. Aber wie lange haͤlt ein gutes Herz gegen die Verſuchung Verſtand zu zeigen? Wie kann man ſeinen Verſtand beſſer zeigen, als durch Scharſſichtigkeit? Und was theilet man groß - muͤthiger mit, als das Vergnuͤgen, was uns dieſe ver - ſchaft?

O87Der Herr Sohn iſt ſchlau.

O meine theureſte Freundin! ſorgen Sie fuͤr den jungen liebenswuͤrdigen Mann, der Jhnen und uns allen die vollkommenſte Freude machen wird, wenn er ſich ein redliches Ziel ſteckt, mit unwankelbarem Schritt auf daſ - ſelbe zugeht, und alles was er mit ſeinen Falkenaugen ſucht, ſich im ſtillen zu Nutze macht. Stellen Sie ihm die Gefahr vor, worin er ſich dadurch ſetzt, daß er der ſcharfſichtigſte und ſchlaueſte Mann ſcheinen will; und rathen ihm redlich und vorſichtig zu ſeyn. Von Jhnen wird er dieſen muͤtterlichen Rath wohl nehmen, und wenn er es mit der Ehrlichkeit nur einige Jahre verſucht hat, vollkommen uͤberzeugt werden, daß keine groͤßere Politik ſey. Jch habe in meinem Leben keine andre Maxime be - folgt, als zuerſt zu unterſuchen, ob dasjenige was andre fuͤr mich thun ſollten, auch ihr wahrer Vortheil ſey, und wenn ich ſie davon uͤberzeugen konnte: ſo hatte ich auch zugleich den meinigen. Dieſes iſt der natuͤrliche Gang der Redlichkeit, und wer ſeinen Vortheil mit andern Schaden ſucht, wird fruͤh oder ſpaͤt dafuͤr beſtraft, er mag auch noch ſo viel Klugheit dabey gebraucht und den vollkommenſten Sieg davon getragen haben. Jch bin wie Sie wiſſen ꝛc.

F 4XXI. 88Was iſt nicht alles

XXI. Was iſt nicht alles wofuͤr Dauk gefor - dert wud?

Eine Anecdote von Abdera.

Zu Abdera, einer jetzt nicht unbekannten Stadt, be - fand ſich ein Glockenſpiel, und zugleich ein Muſi - cus, der nicht vertragen konnte, daß es im geringſten falſchſchlug. Er hatte es ſich daher ſeit langer Zeit zu einem Geſchaͤft gemacht, ſo oft das Glockenſpiel verſtimmt war, auf den Thurm zu ſteigen und die Harmonie wieder her - zuſtellen. Und jeder Einwohner machte ſich ein Vergnuͤ - gen daraus ihm ſofort Nachricht zu bringen, wenn ein Ton anfieng nachzugeben, da er denn niemals ermangelte, dem Ueberbringer fuͤr dieſe Nachricht ſeinen waͤrmſten Dank zu erſtatten. Jndeſſen genoß er doch von dem Klange des Glockenſpiels nichts mehr als jeder andrer Buͤrger, und er hatte auch weiter keinen Beruf ſich der Harmonie anzunehmen, als ſeine eigne Liebe zu derſelben.

Nun begab es ſich daß das Gewitter in den Kirch - thurm ſchlug, und der Schwefeldampf unter den Schin - deln hervor brach. Sogleich lief jedermann zu dem Mu - ſicus, und ſagte ihm, ſein liebes Glockenſpiel ſtuͤnde in der groͤßten Gefahr zu verbrennen. Er ohne ſich lange zu beſinnen, lief ſtracks die Stiegen hinauf, und fand zum Gluͤck, daß der Blitz nicht gezuͤndet und ſein Glocken - ſpiel gar nicht beſchaͤdiget habe. So bald aber vernah - men die unten verſammleten Abderiten dieſes nicht: ſo re -deten89wofuͤr Dank gefordert wird? deten ſie ihn mit dankbegierigen Augen an. Nun haben wirs nicht recht gut gemacht, daß wir ihnen gleich Nach - richt gegeben haben? Allerdings, ich danke euch tau - ſendmal ich hielt ihnen meinen Eymer ſchon bereit, ſetzte die Frau Oberkirchenvorſteherinn mit einer zaͤrtli - chen Mine hinzu, ich danke auch unterthaͤnig Und mein Brunn war zu ihren Dienſten, bewillkommete ihn der Herr Oberkirchenvorſteher Gott Lohn es, Gott Lohn es tauſendmal, rief der arme Muſicus, und biß die Zaͤhne zuſammen, uͤber die wunderbare Dankſucht der Leute, welche anſtatt ihm fuͤr ſeine Entſchloſſenheit, womit er Stadt und Kirche zu retten geſucht hatte, zu danken, noch Dank dafuͤr einſammlen wollten, daß ſie ihm von ihrer eignen Gefahr Nachricht gegeben, und zu ihrer Rettung das Waſſer angeboten hatten.

XXII. An einen jungen Dichter.

O! Jhre Lieder ſind ſchoͤn, mein Freund, und be - zaubernd, wenn Sie wollen. Aber darf ich nun auch wohl fragen, wozu es eigentlich dienen ſollte die Reitzungen der Liebe noch reitzender zu mahlen, und den Geſchmack fuͤr den Wein noch mehr zu ſchaͤrfen? Haben Liebe und Wein nicht ſchon ihre natuͤrlichen Reitzungen fuͤr unſre Beduͤrfniſſe, und iſt es rathſam das Gewicht, was ſchon auf dieſer Seite den Ausſchlag giebt, noch zu vermehren?

Ja wenn die Andacht jeden Kuß zur Todſuͤnde ge - macht haͤtte, wenn das ſchoͤne Geſchlecht ſich weigerte die Muͤhſeligkeiten und Gefahren des Eheſtandes zu tragen,F 5oder90An einen jungen Dichter. oder wenn die Maͤnner ſich in die Einſamkeit begaͤben, Wein und Liebe floͤhen, oder wenn gar der Staat Ge - fahr liefe auszuſterben, dann waͤre es freylich Zeit jenen Gegenſtaͤnden alle nur moͤgliche Reitzungen zu leihen und in jeden Buſen eine neue Flamme zu ſingen. Aber ſo geht nur alles darauf hinaus, einem dasjenige was man ohnehin nur gar zu ſehr ſucht, noch ſuͤßer zu machen, und den Menſchen immer mehr und mehr von andern Beſchaͤf - tigungen abzuziehen. Man ſtoͤrt die Oekonomie der Na - tur, welche die Arbeit ſauer, und das Vergnuͤgen ſuͤß gemacht hat, um die erſten durch das andere zu befoͤr - dern, nicht aber um ſich dem letztern zu ſehr zu uͤberlaſſen.

Was wuͤrde man ſagen, wenn jemand die Ehre auf dieſe Art behandelte? wenn man von nichts als von dem hohen Vergnuͤgen zu gebieten und der Beherrſcher vieler Tauſenden zu ſeyn, ſaͤnge, und damit den Stolzen nur noch ſtolzer machte? Und doch iſt die Ehre in unſern heutigen Verfaſſungen noch faſt das kraͤftigſte Mittel den Menſchen zu edlen Thaten und kuͤhnen Aufopferungen zu bringen. Die Ehre hat dabey uͤber die Liebe noch den Vorzug, daß ſie blos durch edle Handlungen erworben und erhalten werden kann; man hat einmal die Anlage ſo gemacht, daß keiner ſich ſolche erwerben kann, ohne ſich ihrer wuͤrdig zu machen; und der Adel ſelbſt fuͤhlt die Pflicht, ſeine angebohrnen Rechte durch neue Ver - dienſte aufrecht zu erhalten. Gleichwohl wird von den Suͤſſigkeiten derſelben nur wenig geſungen, und unſre mehrſten Dichter ſcheinen ſich eine Freude daraus zu machen, den Genuß der Ehre ſo viel ſie koͤnnen herab zu ſetzen.

Keiner ſchildert mehr das Vergnuͤgen viele Reich - thuͤmer zu beſitzen und ſeine Schaͤtze zu uͤberrechnen. Und doch ſollte dieſes zu unſern Zeiten, worin man die Ver -ſchwen -91An einen jungen Dichter. ſchwendung ſo ſehr liebt, vorzuͤglich reitzend gemahlet werden. Die Dichter ſollten es ſich zur Hauptpflicht ma - chen von nichts als dem Gluͤcke zu ſingen, ein großes un - verſchuldetes Eigenthum zu beſitzen. Aber ſo denken ſie, zu dieſer unedlen Empfindung ſinkt der Menſch von ſelbſt herab, und es iſt nicht noͤthig ihm eine edle Huͤlfe zu ge - ben; gleich als wenn Liebe und Wein minder lockten. Nur ſelten preiſen ſie noch das Gluͤck eines freyen Man - nes, der von ſeinem Stammgute weder Zinſen zu zah - len noch Ritterdienſte zu leiſten hat, was uns Horaz ſo ſchoͤn beſingt.

Freylich kann es auch die Politik erfordern die Liebe als das groͤßte Gluͤck zu ſchildern, und der Ehre oder den Reichthuͤmern nur den unterſten Platz anzuweiſen. Die - ſes war der Fall der Griechen, welche die Gleichheit un - ter ihren Buͤrgern erhalten, und ſo wenig die Ehrbe - gierde als die Sucht nach Reichthuͤmern vermehren, ſon - dern Helden durch Kraͤnze, von ſchoͤnen Haͤnden gewun - den, ziehen wollten. Aber was hier der Patriotiſmus erforderte, das fordert er in unſern Verfaſſungen nicht; und der Dichter der bey uns von Liebe und Wein ſingt, arbeitet nicht nach einem ſo großen Ziele. Wenn aber die Groͤße der Wuͤrkung den Werth der Handlung ent - ſcheidet: ſo hat die ſeinige bey weitem den Werth nicht, den ſie bey den Griechen hatte.

Sehen ſie nur einmal ſelbſt den Werth an, welchen unſre Nation zu ihrer Ehre auf die Gedichte legt, die Tugend und Religion befoͤrdern. Die Kritik hat es ei - nigemal gewagt, darin Fehler aufzuſuchen und ſie hat vielleicht in manchen Stuͤcken Recht gehabt. Allein es hat ihnen nichts geſchadet; man hat ihren großen Nuz - zen erkannt, und diejenigen verachtet, welche ſich Muͤhe gaben, Fehler in den Verzierungen zu finden. Der Nuz -zen92An einen jungen Dichter. zen den die Dichtkunſt bringt, und der Vortheil, wel - chen die menſchliche Gluͤckſeligkeit davon zieht, iſt alſo zu jederzeit das Maaß geweſen, wonach man ihren Werth beſtimmet hat, und das Kriegeslied hat bey einer krie - geriſchen Nation ſo viel gegolten als ein Liebeslied, wie das letztere noch dazu diente, Helden zu erwecken.

Jch erinnere mich hier eines jungen Neubauers, der ein Mohr abtrocknete, und eine Menge von alten Wur - zeln im Schweiße ſeines Angeſichts ausrodete. Schon oft war er in der Verſuchung geweſen, dem Heer ſeines Koͤnigs zu folgen, und dieſe ſeine Unternehmung zu ver - laſſen. Ermuͤdet von der Arbeit ſaß er manchen Abend auf der ausgerodeten Wurzel eines alten Eichenſtammes, auf ſeinen Spaden gelehnt, und dachte uͤber ſein Schick - ſal. Aber wenn er nun zu Hauſe kam: ſo fand er ſein gutes Weib, welche ihn mit offenen Armen, und an ei - nem wohlbereiteten Tiſche erwartete. Sie brachte ihm friſches Waſſer zum waſchen, ſetzte ihm den Stuhl, reichte ihm ſeinen Becher, und legte ihm den beſten Biſ - ſen vor. Dann laͤchelte ihm ſein Erſtgebohrner Wonne in die Seele, und er ſegnete ihn und ſein Weib, die ihn ſo gluͤcklich machten. Jede Muͤhſeligkeit des Tages ver - lohr ſich bey dieſem ſuͤßen Genuß, und er eilte des an - dern Morgens mit neuem Muthe zur Arbeit, um ſich wiederum einen ſolchen Abend zu verſchaffen. Mit Ent - zuͤcken uͤberſahe er dann, ſo oft er ausruhete den Platz, welchen er bereits gewonnen und urbar gemacht hatte, uͤberſchlug die Frucht, die er darauf ziehen wuͤrde, waͤhlte den Platz wo ſeines Weibes Leibzucht ſtehen ſollte, maß mit ſeinen Augen den Garten den er dazu nach der Mit - tagsſeite beſtimmete, grub den Graben um ihre Wieſe tiefer aus, und hofte er wuͤrde auch Fiſche halten koͤn - nen. Und das immer mit Erinnerung der Freude, dieer93An einen jungen Dichter. er ſeinem guten Weibe, und ihren Kindern verſchaffen wuͤrde.

Wenn ich mir eine ganze Colonie von Neubauern auf dieſe Art gedenke: ſo wuͤrde ich ihr einen Dichter wuͤn - ſchen, der das Gluͤck von einem ſolchen Weibe empfan - gen, geliebt und erquickt zu werden, mit allen Reitzun - gen mahlte, und dadurch nicht allein die Maͤnner zum fernern Ausroden ermunterte, ſondern ihnen auch ihre Belohnung fuͤhlbarer machte. Allein die Reitzungen der Liebe und des Weins fuͤr ein verwoͤhntes Volk zu ſingen, iſt ganz etwas anders. Der ſanfteſte Trieb, den Gott dem Menſchen gab, wird dadurch abgewuͤrdiget, daß man ihn zu mindern und unedlen Zwecken braucht; und der Dichter der dieſes thut, kann das Lob uud den Beyfall nicht fordern, den er ſich auf die Rechnung ſeiner gluͤck - lichen Erfindungen und Wendungen ver pricht. Jch ziehe ihn warlich die alten Reim-Chronicken vor, die zu mei - ner Zeit, wo man nicht gewohnt war alles zu Buche zu ſetzen, edle Thaten im Gedaͤchtniß zu erhalten ſuchten. Jhr Zweck war wenigſtens groͤßer. Man lernt aus ih - nen, und vergißt daruͤber den Mangel des dichteriſchen Schmucks.

XXIII. Der Autor am Hofe.

Schreiben einer Hofdame.

Heute koͤnnte ich Jhnen einmal recht viel ſchreiben, Obrera iſt bey Capitain Cook, und wir Hofdamen ſind in Gnaden zu Hauſe gelaſſen. Allein zur Aſſenblee -zeit94Der Autor am Hofe. zeit zu ſchreiben, das iſt doch ſo wunderlich; ich habe noch einen Beſuch abzuſtatten, den ich ſeit Jahr und Tag ſchuldig bin; vielleicht gehe ich Wie manche gute Handlung geſchieht nicht aus Langerweile! o wenn es doch die Leute nur wuͤßten!

Aber wo war ich? ich glaube, meine Liebe, ich wollte Jhnen ſagen, daß ich recht viel Zeit zum ſchreiben haͤtte, und doch wohl nichts mehr ſchreiben wuͤrde, als daß Jhr lieber Carl wohl ſey, dieſes iſt Jhnen doch lieber als ein Anecdote à la Otaheiti, und allmaͤhlich den Gelehrten vergeſſe. Aber ich habe ihn auch was Rechts damit ge - hudelt, daß er ein Buch geſchrieben, und ſich eingebil - det hat, wir wuͤrden ihm dafuͤr einen Knicks mehr als andern machen. Anfangs ſchien er es ſehr uͤbel zu neh - men, und glaubte, wir waͤren am Hofe noch funfzig Jahr zuruͤck, weil wir keine gelehrte Zeitungen laͤſen, und nicht wuͤßten, was die Herrn Gelehrten ſich einan - der fuͤr ſchoͤne Complimente machten; allein ſeit dem ich ihm durch meine Cammerjungfer den neuen Orden pour le merite litteraire, eine Minerve am rothen Baͤndgen geſchickt habe, hat er nicht das Herz mehr, einen Autor in meiner Gegenwart zu nennen. Er wird ihn auch nicht ſo keck aushaͤngen als die Damen den Orden pour la vertu. Zu Jhrem Troſte kann ich Jhnen auch noch ſagen, daß der Miniſter ſehr mit ihm zufrieden ſey, ob er gleich zu Zeiten uͤber die Einbildung des jungen Autors laͤchelt, und ihn, wenn dieſe zu ſehr bey der allgemeinen Gleichguͤltig - keit des Hofes gegen die Werke ſeiner Helden leidet, ſcherzweiſe damit troͤſtet, daß keiner mehr Verdienſte um das menſchliche Geſchlecht habe, als der Erfinder der Spielkarten, und keiner auch undankbarer vergeſſen wer - de als er.

Der95Der Autor am Hofe.

Der Oberſthofemeiſter nimmt ſich ſehr ſeiner an. Sie kennen den rechtſchaffenen Mann, der alles mit ei - nem Blick uͤberſieht, gleich den Ton des Tages ſtimmt, und ſo wie er nur der Fuͤrſtinn ihren kleinen Finger ge - ſehen hat, den Augenblick weiß, was und wie ſie es ha - ben will. Carl bewunderte ihn ſchoͤn, und dieſes iſt der erſte Schritt zur Nachahmung. Nur glaube ich nicht, daß die Leute, welche Buͤcher geſchrieben haben, es je - mals in der Kunſt der Aufmerkſamkeit denjenigen gleich thun werden, die ſich gewoͤhnt haben alles mit einem natuͤrlichen Auge zu betrachten, und dem erſten Urtheil ihrer Sinne zu folgen. Der Fuͤrſt ſagte einmal bey der Tafel, ein General koͤnne wohl ein vortrefliches Buch ſchreiben, aber ein Buͤcherſchreiber kein General werden, und das glaube ich uͤberhaupt wahr zu ſeyn; unſer Hof - jude ſoll in Geſchaͤften zehnmal brauchbarer ſeyn als die Profeſſoren zu .... die jedoch auch in ihrer Stelle tau - ſendmal beſſer ſeyn moͤgen als der Jude; jedes Ding an ſeinem Orte ....

Jch hatte geſtern hier abgebrochen, weil mir bey dem langen Schreiben der Kopf kraus geworden war. Heute hat mich Carl mit einem Buͤchlein beſchenkt, was der Muſen-Almanach heißt und mir bey der Toilette daraus vorgeleſen. Die Wiſſenſchaften als Spielwerk be - trachtet mag er am Hofe immer lieben. Verſchiedene Dinge aus dem Almanach haben mich wuͤrklich amuſirt; und Carl war außer ſich, als ich eins lobte, was er, wie er mir hernach ſagte, ſelbſt gemacht hatte. Nun, ſagte er, iſt es nicht ſchoͤn, etwas zu ſchreiben, wenn man ſo viel damit gewinnen kann? Sie ſehen hieraus, liebſte Freundinn! daß Jhr guter Carl ſich nicht ganz verſtudirt hat. Magſt immer ſchreiben, Vetter, war meine Ant - wort, es wird dich vielleicht ans Toilet aber nicht insCabi -96Der Autor am Hofe. Cabinet bringen. Er kuͤßte mir die Hand und lief fort, aber auch aus dem Ausdrucke ſeines Kuſſes konnte ich ſchließen, daß er ein Buch geſchrieben hatte, ſo ſehr ver - tiefte er ſich darinn.

Nun muß ich ſchließen; doch noch eins, ich habe vor einigen Tagen mit dem Canzler geſprochen, und ihn gefragt, wie ihm Carl gefiele. Recht gut, antwortete er mir, aber es geht ihm wie dem Schreibmeiſter, der insgemein kein guter Copiſt iſt. Die jungen Genies wiſ - ſen die gemeinſten Sachen nicht anzugreifen, ſie ſind all - umfaſſend und allzugewaltig, beſitzen Horn und Stoß - kraft, wollen die Natur gebaͤhren helfen, und koͤnnen kein Protocoll faſſen. Aber ſtoͤren Sie ſich daran nicht, der alte Canzler iſt bisweilen graͤmlich, und Carl noch jung genug, um ſeine Horn und Stoßkraft brauch - bar zu machen; ſeine gute Mine wird ihm ſo lange Cre - dit verſchaffen, bis er bezahlen kann, und wer weiß ob er dann nicht auch noch einmal Canzler wird? Es iſt doch immer gut, wenn man das Tanzen gelernt hat, aber traurig Zeit Lebens Tanzmeiſter zu bleiben. An meinen Ermahnungen ſoll es nicht fehlen, und wenn er mir noch einmal die Hand ſo zaͤrtlich kuͤßt, werde ich ihn auf den Backen klopfen. Leben Sie wohl und umarmen meinen kleinen Pagen, der vielleicht ein beſſerer Hofmann wer - den wird als ſein Bruder. ꝛc.

XXIV. 97

XXIV. Eine Scene aus dem Luſtſpiele der Sollicitant.

Eraſt.

Ha! guten Morgen mein wuͤrdiger lieber Ariſt!

Ariſt.

Guten Morgen.

(vor ſich)

Wie die heilig - ſten Ausdruͤcke gemißbraucht werden!

Eraſt.

Da ich eben ſo vorbey gieng, wollt ich doch einmal ſehen wie ſie ſich und ihre liebe Frau befaͤnden.

Ariſt.

Nun das machen Sie ja gut.

(vor ſich)

Mein guter Kerl das iſt ſicher die Urſache deines Beſuchs nicht.

Eraſt.

Sie ſind doch geſtern in der Comoͤdie gewe - ſen? es war ein ſchoͤn Stuͤck.

Ariſt.

Ja! Ja!

(vor ſich)

Armer Tropf, was du vor Umwege nimmſt!

Eraſt.

Auch war das Nachſtuͤck allerliebſt.

Ariſt.

So?

(vor ſich)

Mich ſoll doch verlangen wenn du zur Sache kommen willſt?

Eraſt.

Was werden Sie denn heute bey dem ſchoͤ - nen Wetter anfangen? fahren Sie mit ihrer Frau nicht ein bisgen ſpatzieren zu ihren geliebten Freunden nach Holzhauſen oder Burghauſen, die ſo ſehnlich nach ihnen verlangen?

Ariſt.

Vielleicht; ich erwarte noch erſt die Poſt.

(vor ſich)

Er lenkt ein.

Eraſt.

Sind ſie auch kuͤrzlich zu Freyenwald geweſen?

Ariſt.

So ganz kuͤrzlich nicht.

(vor ſich)

Er koͤmmt etwas naͤher.

Eraſt.

Apropos! ich haͤtte wohl eine recht große Bitte an Sie, aber Sie muͤſſen mir erſt ſagen, daß ſie mir die - ſelbe nicht abſchlagen wollen.

Moͤſers patr. Phantaſ. IV. Th. GAriſt. 98Eine Scene aus dem Luſtſpiele
Ariſt.

Jch daͤchte es waͤre beſſer, Sie ließen mir erſt die Bitte wiſſen.

(vor ſich)

Der Kutſcher faͤhrt zu.

Eraſt.

Wenn Sie einmal nach Brieſenitz fahren: ſo laſſen Sie mich mit von der Geſellſchaft ſeyn, ich moͤchte gern dort Bekanntſchaft haben.

Ariſt.

Ganz gern.

(vor ſich)

Nun wirds kommen.

Eraſt.

Es ſoll dort ſehr angenehm, und der Herr des Hauſes ein uͤberaus gefaͤlliger Wirth ſeyn.

Ariſt.

So daß ihn keiner hier im Lande uͤbergeht.

(vor ſich)

Wie der Kerl mich blind fuͤhren will!

Eraſt.

Wie waͤre es, wenn wir heute hinaus fuͤh - ren, das Wetter iſt ſo ſchoͤn und moͤchte ſich aͤndern?

Ariſt.

Jch will Jhnen ſo bald die Poſt gekommen ſeyn wird, Antwort ſagen laſſen.

(vor ſich)

Nun fliegt die Kugel bald zum Ziel.

Eraſt.

Der Miniſter von iſt vielleicht auch da.

Ariſt.

So?

(vor ſich).

Endlich kommt der Fuchs zum Loche heraus. Das war alſo das ungefehre Vorbeyge - hen, die Comoͤdie, das Nachſpiel, das ſchoͤne Wetter, die Luſtfahrt ....

Eraſt.

Ja! er hat die Pferde ſchon beſtellen laſſen.

Ariſt.

Dann gehe ich heute gewiß nicht hin.

(vor ſich)

Eben war es noch ein vielleicht; nun ſind die Pferde ſchon beſtellt. Dumme Liſten!

Eraſt

Aber warum nicht?

Ariſt.

Weil ich auf dem Lande nicht gern in Staats - geſellſchaften bin.

Eraſt.

O! einem Freunde zu gefallen koͤnnen Sie wohl einmal etwas von ihrer Bequemlichkeit ablaſſen; ich habe den Miniſter nothwendig zu ſprechen.

Ariſt.

Wenn das iſt.

(vor ſich).

Sieh doch; der Geck bezieht ſich auf meine Freundſchaft in dem Augenblick da er mich zum Beſten hat.

Eraſt. 99der Sollicitant.
Eraſt.

Der Cammerrath Patz iſt dieſe Nacht von einer ſchweren Krankheit befallen.

Ariſt.

Der Cammerrath Patz?

(vor ſich).

Nun ſehe mir einer die Winkelzuͤge an! der Cammerrath iſt dieſe Nacht krank geworden, und der Mann, der ſeine Stelle wieder haben will, koͤmmt dieſen Morgen von ungefehr zu mir, um einmal zu ſehen wie ich mich befinde!

Eraſt.

Ja und der Arzt hat mir im Vertrauen ge - ſagt, daß er bey ſeinem hohen Alter nicht wieder auf - kommen werde.

Ariſt.

Es war ein wuͤrdiger braver Mann und mein Freund, den der Fuͤrſt ſehr ungern verlieren und lange miſſen wird.

Eraſt.

Und ſeine Stelle iſt es, wozu ich mich dem Miniſter gern empfehlen und von ihnen empfohlen ſehen moͤchte.

Ariſt.

Von mir? wahrhaftig nicht. Sie kennen meine Art zu denken, und wiſſen, wie ſehr ich die Offen - herzigkeit liebe. Haͤtten ſie mir gleich geſagt, daß dieſes die Abſicht ihres heutigen Beſuchs waͤre: ſo wuͤrde ich ſie ſo fort heraus begleitet, und mein Beſtes fuͤr ſie ge - than haben, aber ſo nicht.

Eraſt.

Aber ſo nicht? Das iſt freylich ſehr offenher - zig aber auch nicht ein bisgen freundſchaftlich.

Ariſt.

Wer mein Freund ſeyn will, muß wahr ſeyn, und Wahrheit vertragen koͤnnen.

Eraſt.

Gut, mein Freund! ſie ſind offenherzig, ich auch. Jch wollte ſie mit meinem Anliegen nicht uͤberra - ſchen, ich ließ ihnen Zeit einige Vermuthungen uͤber mei - nen unvermutheten Beſuch anzuſtellen, ſie konnten ſich auf etwas gefaßt machen, und wenn es noͤthig war, ſich erſt in Laune ſetzen; iſt dieſes denn ſo ganz uͤberfluͤßig? und wuͤrde es ihnen nicht vielleicht einiges Schrecken ver -G 2urſachet100Eine Scene aus dem Luſtſpiele ꝛc. urſachet haben, wenn ich ihnen mit der Krankheit des Cammerraths und meinem Anliegen ſo gerade auf den Leib gerennet waͤre? und ſind nicht gewiſſe Eingaͤnge von Wind und Wetter, ſo abgedroſchen ſie auch immer ſeyn moͤgen, immer noch die ſchicklichſten? Empfehlen ſie ſich nicht eben dadurch, daß ſie nichts bedeuten? Und zeigt nicht ihr oͤfterer Gebrauch von einer allgemein erkannten Nothwendigkeit? Mir kommen ſie gerade ſo vor, wie alle andere Eingaͤnge, womit der Redner die Zeit ver - weilet, bis die Zuhoͤrer ſich geraͤuſpert oder verpauſtet und die Ohren geſpitzt haben.

Ariſt.

Was es doch nicht fuͤr Entſchuldigungen in der Welt giebt? Aber womit beweiſen ſie, lieber Eraſt! daß ſie bey dieſen ihren Entſchuldigungen aufrichtiger ſind, wie bey ihren vorigen Complimenten? Sie haben mir ſelbſt den Beweis in die Haͤnde geliefert, daß ſie mit Umſchweifen umgehen; koͤnnte dieſe ihre Entſchuldigung nicht eine neue Wendung ſeyn mich herumzufuͤhren?

Eraſt.

Ganz richtig, die Vermuthung iſt wider mich, Worte ſind keine Beweiſe, und Thaten habe ich nicht zu geben. Aber beurtheilen ſie mich nach meinem Jntereſſe, und halten mich fuͤr ſo aufrichtig, wie es dieſes geſtattet.

Ariſt.

Nun das heiße ich, rein von der Leber ge - ſprochen; ſo kenne ich die Menſchen, und wenn Sie wol - len: ſo fahre ich gleich mit Jhnen zu dem Miniſter.

(Gehn ab)
XXV. 101

XXV. Jch an meinen Freund.

Ey ſo laſſen Sie ſich doch nicht irre machen, Edler Mann! der General fragte den Hauptmann ganz freundlich, was ſoll ich thun? dieſer erwiederte ohne langes Bedenken: ich wuͤrde das thun; und hierauf er - folgte von jenem die unerwartete Antwort: ich frage nicht was ſie thun wuͤrden, ſondern was ich thun ſoll? So liegt die Sache, und das Unrecht iſt auf der Seite des Generals ſo klar, daß Sie darum nicht noͤthig haben, ihre Ausdruͤcke kuͤnftig noch mehr auf die Wage zu legen. Es giebt hundert Menſchen gegen einen, denen es ge - woͤhnlich iſt mit einem: ich wuͤrde das thun oder das ge - than haben, zu antworten, ohne daß von dieſen hunder - ten auch nur fuͤnf daran denken ſollten, ſich andern zum Muſter zu ſetzen.

Zwar giebt es auch Menſchen die mit ihrem Jch bis zum Eckel hervortreten, aber mehr aus einer uͤblen Ge - wohnheit als einer zu großen Eigenliebe. Denn oft heißt es: ich hatte auch einmal Krehenaugen, ich hatte auch einmal einen hohlen Zahn, und neulich hoͤrte ich ſo gar ein junges Maͤdgen von zehn Jahren ſagen: wir hatten auch einmal Gaͤnſe. Hier muͤßte aber die Eigenliebe ſehr entfernt wuͤrken, wenn ſie und nicht die Gewohnheit, oder die Kuͤrze des Ausdrucks ihr Jch zum Helden in der Geſchichte vom hohlen Zahn machte.

Und doch iſt mir dieſes Jch, wenn es aus Unſchuld oder Unachtſamkeit gebraucht wird, weit ertraͤglicher, als die Kunſt, womit man es zu verbergen pflegt. Aber leider uͤbertreiben wir alles und unſre heutige ZaͤrtlichkeitG 3geht102Jch an meinen Freund. geht ſo weit, daß keiner es faſt wagt von ſich zu ſprechen. Jch habe einen Freund der viel gereiſet iſt, und vieles erzaͤhlen koͤnnte; ich habe einen andern, der lange im Kriege gedient und manche gute Bemerkung gemacht hat, aber beyde ſprechen tauſendmal lieber von Dingen die ſie nicht verſtehen, als von den Begebenheiten die ſie mit angeſehn, und woran ſie Antheil genommen haben, um den Vorwurf zu vermeiden, daß ſie gern von ſich ſelbſt redeten.

Dieſe uͤbertriebene Vorſicht bringt aber die mehrſten Geſellſchaften um ihre beſte Nahrung, und da es ebenfalls aus einer zu großen Delicateſſe, ſo fort Mediſance heißt, wenn man uͤber ſeines Naͤchſten Fehler urtheilet, ſo bleibt zuletzt gar nichts uͤbrig, als das Spiel, um das große Leere auszufuͤllen. Anfangs hat man freylich um den Prahlern, Windmachern und Verlaͤumdern das Feld en - ger zu machen, ſich auf die ſtrengſte Seite wenden muͤſ - ſen. Aber endlich ſollte man doch auf den guͤldnen Mit - telweg zuruͤcktreten, und dem Deutſchen zutrauen, daß er nicht gleich prahlen oder mediſiren wolle, wenn er von ſich und andern ſpricht. Wir werden ſonſt leicht alle Auf - richtigkeit verbannen, und die Thorheiten der Menſchen auf gefaͤhrliche Schleichwege fuͤhren. So geht zum Bey - ſpiele jetzt jede uͤble Nachrede von Hand zu Hand und thut tauſendmal mehr Schaden, als wenn man ſich oͤffentlich von einem Fehler ſeines Naͤchſten unterhielte. Hier tritt, wann es noͤthig iſt, noch mancher Vertheidiger der Un - ſchuld auf, und jeder huͤte ſich etwas gegen die Wahr - heit hinzuzuſetzen, anſtatt daß die Blindſchleichen ſich los - ſagen, wenn es zur Unterſuchung kommt, und denjeni - gen darauf ſitzen laſſen, der es einmal gewagt hat, ihre Boßheit zu offenbaren.

Jch103Der Wirth muß vorauf.

Jch werde mich wenigſtens an dieſe Mode nicht keh - ren, und noch weniger meine Eigenliebe aus Eigenliebe zu verbergen ſuchen. Vernunft gehoͤrt freylich mit da - zu, aber wem dieſe fehlt, der thut am beſten ganz zu ſchweigen. ꝛc.

XXVI. Der Wirth muß vorauf.

Von einer Landwirthinn.

Sie wundern ſich, daß meine Leute noch keinen Coffee trinken und uͤberhaupt ſo ordentlich ſind? O! mein liebes Kind, ich kann was ich will, und der Henker ſollte mir den Dienſtboten holen, der mir ein einziges Mal uͤber die Schnur hiebe. Ordnung im Haushalt iſt keine Hexe - rey, und ich habe ein ſo ſicheres Mittel meine Leute vom Coffee abzuhalten, daß ich alles in der Welt darauf wet - ten will, ſie trinken ihn nicht. Das ſchnackigtſte aber iſt, daß ich dieſes Mittel von meiner Viehmagd gelernt habe. Dieſe wollte, wie ich meinen Mann geheyrathet hatte, und wir unſre Pachtung antraten, nicht fruͤh ge - nug aufſtehen, und wie ich ſie daruͤber zur Rede ſtellete, gab ſie mir zur Antwort: By Us moet der Werth vorup. Dies ſchallere mir durch die Ohren, und auf einmal er - leuchtet fuͤhlte ich die ganze Wahrheit, daß alles in der Haushaltung durch einen guten Vorgang gezwungen werden muͤſſe, und daß es eine Thorheit ſey, ſich um acht Uhr aus dem Bette zum Coffee wecken zu laſſen, und von dem Geſinde zu fordern, daß es um drey Uhr an derG 4Arbeit104Der Wirth muß vorauf. Arbeit ſeyn, und ſich nicht auch eine verſtohlne Freude machen ſollte. Wie es des andern Morgens drey ſchlug, ſagte ich daher zu meinem Mann: Der Wirth muß vor - auf, und ſo wie er dieſes einigemal gethan hatte, war alles Gefinde ſo geſchwind bey der Hand, daß ich ſeit der Zeit nicht noͤthig gehabt habe, ein einziges Mal mit der Viehmagd uͤber ihren langen Schlaf zu ſchmaͤhlen. An - fangs fiel es uns etwas hart, ſo fruͤh die warmen Fe - dern zu verlaſſen. Wie wir es aber erſt eine Zeit lang gethan hatten, war es uns nicht moͤglich lange uͤber die gewohnte Zeit darinn zu verweilen, und wenn ein Feyer - tag uns eine Stunde ſpaͤter aufforderte: ſo waren wir doch zu rechter Zeit munter und feyerten nicht in ſuͤßen Umarmungen. Jeder Feyertag war uns dann doppelt willkommen, und wir freueten uns oft ſeines Anbruchs.

Nun mein Schatz, weißt du mein ganzes Geheim - niß, und wenn du daßelbe wohl anwendeſt: ſo wirſt du nicht noͤthig haben dich uͤber Unordnung im Haushalt zu beſchweren. Andern zu befehlen und Vorſchriften zu geben iſt keine Kunſt; man muß vorauf gehn, wenn man gefolgt ſeyn will, auf die Breſche wie auf die Droͤſche, und der Soldat lacht uͤber den Hauptmann, der ihm hinterm Eichbaume befehlen will, als ein braver Kerl die Sturmleiter hinauf zu klettern. So handeln aber unſre mehrſten Haushalter; ſie ſelbſt wollen ſchlafen, Cof - fee trinken, und hinterm Ofen ſitzen; das Geſinde aber ſoll ſich quaͤlen und ſchlecht behelfen. Das geht nicht, und wird in Ewigkeit nicht gehen, der Wirth muß vor - auf. Naͤchſtens ein mehrers und damit Gott befohlen.

XXVII. 105

XXVII. Klage uͤber den Buchſtaben R. von meinem himmelblauen Maͤdgen.

Onennen Sie mich nie wieder Jhre zaͤrtliche Freun - dinn. Die beyden R in dieſen Woͤrtern kratzen mir durch die Seele, und es iſt ſicher ein Barbar geweſen, der die ſanften Jdeen von Zaͤrtlichkeit und Freundſchaft mit einem Buchſtaben zerſtoͤret hat, der einzig und allein fuͤr das rauhe, harſche, harte und grauſame gemacht iſt. Wie ſanft klingt dagegen das mio Bene! mio unico Bene! wie lieblich iſt ſein Ton und wie fein geht er durch die Seele! O mon doux ami, wenn ich Sie lieben ſoll, ſo muͤſſen ſie meine liebesſieche Empfindung nie mit ſolchen rauhen Toͤnen erſchrecken; ſie ſind mir in dem Augen - blicke, da ſo alles ganz an mir ſchmelzt, unausſtehlich, und ich wuͤrde nie einen Deutſchen geliebt haben, wenn er nicht in dem Worte lieben alles was ein Ton weiches und ſanftes haben kann, vereiniget haͤtte. Jn demſel - ben glaͤnzt Jhre liebevolle Seele durch ein feuchtes Auge, und gleitet mit Sehnen in die meinige.

Jch habe mich ſchon bey vielen Gelehrten erkundiget, wer zuerſt die beyden Woͤrter zaͤrtliche Freundinn aufge - bracht haͤtte. Aber Niemand hat mir dieſen Barbarn nennen koͤnnen; das weibliche Weib*)Jn dem bekannten Gedichte: Ein wiblich VVib mit Zñhten ſprach Zir Tochter der ſi ſchone pflac. die Winsbeckin brauchte das letztere ſchon. Wahrſcheinlich ruͤhrt es vonG 5den106Klage uͤber den Buchſtaben R. den Slavaken in Oberſachſen her, die a Sigh ein Suͤch - ten, wie die guten Weſtfaͤlinger ſagen, in einen Seuf - zer verwandeln, und entweder in Doppellauten krei - ſchen, oder jedes ſanfte Gefuͤhl durch ziſchen und hau - chen verſcheuchen. Jhre Worte ſtrudeln wo ſie nur flieſ - ſen ſollten, und die ſanftern Gefuͤhle erſterben unter dem eckigten Ausdrucke.

Jn ſtillen Empfindungen dahin fließend, gleite ich oft uͤber ein Veilgen und benetze es mit einer ungeſehe - nen Thraͤne, daß unſre Woͤrter ſo wenig zur Sache ge - ſtimmt ſind. Wenn der Jtaliaͤner ſagt

Qui ci vivea di ſpeme
Qui ci languiva inſieme.

ſo fuͤhlt man gleich aus dem Mangel des R, daß hier eine weiche Empfindung ausgedruckt ſey; aber bey den Deutſchen iſt ein feines Ohr zu ſelten, und die Phyſio - nomie ihrer Woͤrter ſo dunkel, daß Lavater Muͤhe ha - ben wird, die Regeln davon anzugeben. Ein Jtaliaͤner empfaͤngt von einem Worte ſeiner Geliebten mehr Wonne, als der Deutſche von ihrem ganzen Herzen. Jenes ath - met ihm ſchon den ſuͤßeſten Genuß zu, wann dieſes un - ter dem dickborkigten Ausdrucke unerkannt zerſpringt.

Ueberlegen Sie es doch lieber Meiner, ob Sie nicht unſre Sprache auch ein wenig dahin ſtimmen koͤnnen. Fuͤr empfindſame Herzen gehoͤrt auch empfindſame Spra - che, und ich will lieber vor ihrem Bilde knien und aus deſſen Zuͤgen Leben ſchoͤpfen, als Sie vor mir knien ſe - hen, wenn Sie mich nicht anders als Jhre zaͤrtliche Freundinn nennen koͤnnen. Jndeſſen bin ich allezeit gern ihre gute liebe

Minna

XXVIII. 107

XXVIII. La Prude & la Coquette zu deutſch.

Es ſind viele der Meinung, daß man den Sinn dieſer beyden Woͤrter im Deutſchen nicht ausdruͤcken koͤnne. Mir ſcheint abrr doch Tugendſtolz den Begrif der Prude - rie voͤllig zu erſchoͤpfen.

Der Ahnenſtolz bezeichnet einmal den Mann ohne Verdienſte, der ſich lediglich auf ſeine hohe Geburt etwas zu gute thut; er kann aber auch von einem Manne ge - braucht werden, der alle Verdienſte hat, jedoch dieſe als ausſchliesliche Eigenſchaften ſeines Standes anſieht, und darauf ſtolz iſt. Eben dieſes trift auch bey dem Tugend - ſtolze zu, den eine wuͤrklich tugendhafte Perſon, und auch eine von ſchlechterm innern Werthe haben kann; und dieſe Doppelſinnigkeit entſpricht der franzoͤſiſchen Bedeu - tung voͤllig.

Mit der Coquetterie ſcheinet es etwas ſchwerer zu fallen. Dieſes Wort bedeutete zuerſt nach dem Mena - ge*)Dict. Etymol. v. Coquet. die Handlung des verliebten Hahnen, wenn er um das Huhn hoch einher geht, und ihm ſeine Neigung zu erkennen giebt; hernach ward es auch von dem Huhne gebraucht, was ſeinen guten Willen gegen den Hahnen zu zeigen bemuͤhet iſt; (des Poules qui ſe panardent de - vant le coq) und erſt ſehr ſpaͤt haben es die Franzoſen in der figuͤrlichen Bedeutung von den Menſchen gebraucht, die auf aͤhnliche Art entweder das Huhn oder den Hah - nen ſpielen. Die Mademoiſelle Scudery*)Hiſtoire de la Coquetterie T. II. de ſes nouvelles Converſa - tions de morale p. 735. bezeugt, daßes108La Prude & la Coquette zu deutſch. es ein neues Wort ſey, was zur Zeit der Catherine von Medicis zuerſt gebraucht worden. Vorher gehoͤrte jene Art zu handlen, die einige boͤſe Leute ſchon an der Eve im Paradieſe in ihrem Betragen gegen die Schlange be - merkt haben wollen, unter die namenloſen Arten von Thorheiten, deren es viele im menſchlichen Leben giebet, ohne daß ſie noch ein Moraliſt mit einem eigentlichen Na - men bezeichnet hat.

Wenn man nun dieſes Wort nach ſeinem Urſprunge ins Deutſche uͤberſetzen wollte: ſo wuͤrde man dazu einen ganz eigentlichen Ausdruck waͤhlen, und etwa Haͤhnern ſagen muͤſſen; ſo wie man von dem Moſelweine ſagt, er moſelt, oder vom Knaſter, er knaſtert. Allein dieſes Wort hat nicht die Mine, daß es ſein Gluͤck machen werde; ich will alſo eins den Weſtfaͤlingern abborgen, das uns die Sache wohl auszudrucken ſcheint. Dieſe ſprechen: es iſt ein faͤngres Maͤdgen, das Maͤdgen hat faͤngere Augen, oder auch wohl, das Maͤdgen hat ein Paar Faͤnger im Kopfe die ſich gewaſchen haben. Wie waͤre es alſo, wenn wir eine Coquette eine Faͤngerin, und die Coquetterie Faͤngerey nenneten. Der wahre Begrif einer Coquette iſt doch dieſer, daß ſie immer auf den Fang ausgeht. Ob im Ernſt oder Scherz das muß zweydeutig bleiben.

XXIX. 109

XXIX. Alſo ſollte man die Teſtamente auf dem Siechbette ganz verbieten.

Unſre Vorfahren die alten Deutſchen wußten von kei - nen Teſtamenten, oder ſolchen Verordnungen, die erſt durch den Tod bekraͤftiget werden mußten; deſtomehr aber von Uebergaben bey lebendigem Leibe. Wenn einer der Wirthſchaft muͤde war, und die damit verknuͤpften Muͤhſeligkeiten nicht mehr ertragen konnte: ſo uͤbergab er bey lebendigem Leibe ſein Gut dem Erben, welchen ihm ſeines Landes Gewohnheit beſtimmte. Wollte er es einem andern geben: ſo that er es mit Einſtimmung der Erben, und man findet kein Beyſpiel, daß einer von die - ſer Regel abgegangen ſey. Auch die Roͤmer wußten zu - erſt nur von Uebergaben vor dem engern Ausſchuſſe des Volks oder den fuͤnf Schoͤpfen, und ſie fielen erſt ſpaͤter darauf, dem Vater die Macht zu geben, den durch die Gewohnheit beſtimmten Erben zu uͤbergehen.

Jn den Lehn - und Hofrechten waren die Uebergaben ebenfalls gewoͤhnlich, in jenen ſo lange der Lehnmann ſich in voller Ruͤſtung von einer ellenhohen Stuffe auf das Roß ſchwingen, und ſolches vor dem Lehnherrn tummeln konnte*)S. Erwas von dem im Marggrafthum Ober-Lauſitz eingefuͤhrten Rechte der Vorritt genannt. Leipzig 1777 und Grupens teutſche Alterthuͤmer c. VII. ; in dieſen, vor gehegten Hofe, und ſo lange der Hofesmann im Stande war, einen Daumendicken Spahn aus einer Eiche zu hauen. Der Buͤrger mußte vor dem Rathe erſcheinen**)S. Bierwirth von Schenkungen am Siechbette. Zelle 1779., und dieſer kam ihm nichtvor110Alſo ſollte man die Teſtamentevor das Bette, wenn er ſein Gut uͤbergeben oder ein Te - ſtament machen wollte; der Geiſtliche aber, welcher ſeine Pfeuͤnde uͤbergeben kann und will, muß noch jetzt ſeine Uebergabe zwanzig Tage uͤberleben; man konnte von die - ſem weder Proberitt noch Probehieb fordern. Alle ſchei - nen darinn uͤbereingeſtimmt zu haben, daß die Verord - nungen auf dem Siechbette vieler Gefaͤhrde unterworfen ſeyn, und daß der Augenblick, da einer ſich zum Ueber - gang in die Ewigkeit bereitet, eben ſo wenig eine ruhige und bequeme Zeit ſey, ſein Haus zu beſtellen, als der Augenblick, worinn ein General ſeine Schlachtordnung macht, die Zeit iſt, den Kuͤchenzettel zu verfertigen. Und wie oft lernen wir aus den traurigſten Erfahrungen, daß die Menſchen auf dem Siechbette, im hoͤchſten Grade ſchwach und ungerecht handeln, und die Entſchließungen ploͤtzlich verleugnen, die ſie in geſunden Tagen gefaſſet hatten?

Emilie hatte von einer alten Tante, ihrer Gevat - terinn, ein ziemliches Vermoͤgen geerbt, und damit fruͤh einen Mann angelockt, der ihrer gar nicht werth war. Jhre Mutter und Schweſtern hatten ſie mehrmals vor ihm gewarnet, und ihn ihr als einen heimlich boͤſen Men - ſchen beſchrieben, aber ihr gutes Herz, was einmal Ver - bindungen angenommen hatte, hielt ſich auf ewig und auch zum Ungluͤck verbunden. Das erſte Jahr ihrer Ehe gieng ſo hin ohne daß ihr einiges Leid wiederfuhr; ſie ward ſchwanger und froh ſich ihren Mann durch ein neues Band zu verbinden. Kaum aber hatte ſie ihren erſten Sohn gluͤcklich gebohren, und ihren Eheherrn damit ge - gen den Ruͤckfall ihres Vermoͤgens geſichert: ſo legte die - ſer die Maske ab, und uͤberließ ſich einer Perſon, die ihn lange vorher gefeſſelt gehabt hatte. Umſonſt ſuchte ſie ihn durch alle Arten von Gefaͤlligkeiten wieder an ſichzu111auf dem Siechbette ganz verbieten. zu ziehen; es halfen weder haͤusliche Freuden, noch ruͤh - rende Thraͤnen. Der Undankbare flohe dieſe, und ach - tete jene nicht. Oft mußte ſie bey ihren großen Einkuͤnf - ten darben, oder ſich doch das noͤthigſte entziehen, waͤh - rend der Zeit er mit ſeiner erſten Buhlſchaft davon in Ueberfluß lebte, oder ihr Geld verſpielte. Er kam bald in Monaten nicht zu Hauſe, des Sommers war er in Baͤdern, und des Winters in der Hauptſtadt, wo ſeine erſte Geliebte wohnte; ſo daß es nicht ſchien, als wenn er auch nur die geringſte Pflicht gegen die gutherzigſte Frau zu erfuͤllen haͤtte. Jn dieſen traurigen Umſtaͤnden hatte ſie ihre juͤngere Schweſter zu ſich genommen, die jede ih - rer Thraͤnen mit empfand, und jede unangenehme Nach - richt von dem Undankbaren mit aller Vorſicht zu mildern ſuchte. Das wenige was ſie hatte, gab ſie mit Freuden zur Haushaltung her, um ihrer Schweſter Ungemach zu erleichtern, und ihr die unangenehme Erinnerung zu er - ſparen, daß ſie bey allem ihrem Vermoͤgen Mangel leiden mußte. Beyde Schweſtern liebten einander ſo herzlich, wie Zaͤrtliche und Ungluͤckliche zu thun pflegen; Emilie welche der Gram ſichtbar verzehrte, wuͤnſchte hundert - mal ihren Sohn und ihr Vermoͤgen ihrer Schweſter ver - laſſen, und beydes damit dem kuͤnftigen Untergange ent - ziehen zu koͤnnen. Aber es war ein eitler Entwurf, der jedoch bald zum Theil haͤtte erfuͤllet werden koͤnnen, in - dem ihr der Himmel ihr Kind raubte, und der Schrecken ſie dem Grabe naͤher brachte. Die Nachricht von die - ſem Tode und der damit verknuͤpfte Verluſt der Erbſchaft ruͤhrten aber nicht ſo bald den Vater, als er mit allen Zeichen einer wahren Betruͤbniß und Reue zu Emilien kam, ſie mit tauſend verſtelleten Thraͤnen um Vergebung bat, und um ihre Geſundheit vom Himmel zu erflehen, vor ihrem Bette kniete. Der Geiſtliche, welcher ſie be -ſucht112Alſo ſollte man die Teſtamente ꝛc. ſucht hatte, glaubte ſeine Pflicht zu thun, da er eine Verſoͤhnung zwiſchen beyden ſtiftete, und die Schweſter, dieſes großmuͤthige Maͤdgen, nahm ihre Hand, die ſie nicht zuruͤck zu ziehen vermochte, und legte ſie in die ſei - nige; der Richter des Orts, welchen der Mann gleich bey ſeiner Ankunft beſtellet hatte, kam als Nachbar un - ter dem Schein des Beſuchs, und es fuͤgte ſich alles ſo, wie es ſich in ſolchen Faͤllen zu fuͤgen pflegt, daß von Teſtamenten geredet, und ein Teſtament verfertiget wur - de, worin ſie den Mann zum einzigen Erben einſetzte, und ihrer Schweſter einiges Geraͤthe vermachte.

Unſtreitig war die Kranke noch bey gutem Verſtande; ſie betete jedes Gebet nach was man ihr vorſagte, und erinnerte ſich aller Perſonen die um ſie waren. Der Rich - ter ſetzte alſo nicht ganz unrecht in das Teſtament, daß er ſie bey geſunder Vernunft, obgleich ſchwach am Koͤr - per vorgefunden haͤtte. Allein wer kann denken daß es Emiliens freyer und wahrer Entſchluß war, ihre liebſte Schweſter, die ihr ſo ausnehmende Huͤlfe geleiſtet hatte, dergeſtalt zu vergeſſen, und einen Mann, der ihr gan - zes Leben verbittert hatte, zu ihrem gluͤcklichen Erben zu machen? Jſt da freyer Entſchluß, wo die herannahende Ewigkeit, die verſoͤhnende Stimme des Geiſtlichen, das edle Zureden einer Freundinn, ein empfindliches Herz zu - gleich beſtuͤrmen, wo man von allen abhaͤngt, und von keinen unterſtuͤtzet wird, wo Wehmuth und unzeitiges Mitleid allein wuͤrken, wo man keine Reue pruͤfen, und nichts uͤberdenken kann, wo ein augenblicklicher Eindruck mehr entſcheidet, als die ernſthafteſte Ueberlegung der vorigen Zeiten, wo die Sehnſucht nach Ruhe und der Ueberdruß des Lebens den Werth der Sachen beſtimmt, und alles uͤbereilet, wo man oft nur mit dem Kopfe einJa113Alſo ſollte man die Teſtamente ꝛc. Ja nickt, weil der Hals zu ſchwach iſt, das Nein heraus - zuſchuͤtteln, und wo endlich jeder Blick gebietet, jede Thraͤne fordert, und jede Bitte mit Macht eindringt? Ein geſunder Menſch kann irren, und ſeinen Jrrthum des andern Tages verbeſſern; aber dem Kranken koͤmmt auch dieſe Rechtswohlthat nicht zu ſtatten; der Tod hindert ihn am Wiederrufe, und der offenbareſte Jrrthum wird als ein heiliges Geſetz angenommen.

XXX. Von dem wichtigen Unterſchied des wuͤrk - lichen und foͤrmlichen Rechts.

Man findet jetzt ſo wenig Leute, die das foͤrmliche Recht von dem wuͤrklichen zu unterſcheiden wiſ - ſen, und die Gefahr, womit in unſern philoſophiſchen Zeiten die Verwechſelung von beyden das menſchliche Geſchlecht bedrohet, iſt ſo groß, daß es mir Pflicht zu ſeyn ſcheinet, dieſen ſonſt wohl bekannten Unterſchied eini - germaaßen wiederum in Erinnerung zu bringen. Selbſt die foͤrmliche Wahrheit wird nicht gehoͤrig mehr von der wuͤrklichen unterſchieden, und es erwachſen unzaͤhlbare Zaͤnkereyen daraus, die vermieden werden koͤnnten, wenn man darauf gehoͤrig achtete.

Was uͤberhaupt wuͤrkliches Recht und wuͤrkliche Wahrheit ſey, iſt einem jeden bekannt, ſo ſchwer es auch iſt, das eine oder die andre in einem gegebenen Falle zu entdecken; aber von der foͤrmlichen hat nicht jeder einen deutlichen Begriff; ich will ihn alſo, und zu mehrerer Deutlichkeit in einem Beyſpiele geben. Was die KircheMoͤſers patr. Phantaſ. IV. Th. Hoder114Von dem wichtigen Unterſchiedeoder eine Verſammlung erwaͤhlter und berufener Biſchoͤfe zuletzt fuͤr Wahrheit erklaͤret hat, das iſt foͤrmliche Wahr - heit fuͤr alle diejenigen, ſo zu dieſer Kirche gehoͤren, und foͤrmliches Recht iſt fuͤr ſtreitende Partheyen, was ein erwaͤhlter oder verordneter Richter zuletzt dafuͤr erkannt hat. Jn beyden kann die wuͤrkliche Wahrheit, oder das wuͤrkliche Recht zum Grunde liegen, und es iſt die hoͤch - ſte menſchliche Wahrſcheinlichkeit vorhanden, daß es ſo ſey. Jn der That aber kommt es hierauf nicht an; es thut im eigentlichen Verſtande nichts zur Sache, ob die Biſchoͤfe oder die Richter geirret haben oder nicht; Jhr letzter Ausſpruch verwandelt wuͤrkliches weiß in foͤrmli - ches ſchwarz, und umgekehrt. Beyde koͤnnen, was foͤrm - liche Wahrheit betrift, nicht irren, wenn alles ordentlich zugeht. Denn es iſt hier ein Nothrecht fuͤr die menſch - liche Ruhe, nach welchem nun einmal dasjenige foͤrmli - che Wahrheit und foͤrmliches Recht ſeyn ſoll, was alſo dafuͤr erklaͤrt oder ausgeſprochen worden. Der Menſch wuͤrde nimmer aufhoͤren zu zanken; jeder wuͤrde nach ſeinem eignen Begriffe handeln wollen, und es wuͤrde daraus die groͤßte Verwirrung entſtehn, wenn man ſich nicht endlich weißlich daruͤber verſtanden haͤtte, daß man dasjenige, was alſo ausgeſprochen iſt, fuͤr foͤrmliches Recht halten und befolgen wollte. Einem jeden bleibt dabey ſeine freye Meynung von dem wuͤrklichen Rechte, wenn er ſich von dem foͤrmlichen nicht uͤberzeugen kann, aber man achtet darauf nicht.

So bald man aber dieſe beyden Begriffe verwech - ſelt; ſo erlaubt man einem jeden dasjenige was er fuͤr wuͤrkliches Recht erkennet, auch in Ausuͤbung zu brin - gen. Der Fuͤrſt kann jeden Rath, der nach ſeiner Ue - berzeugung ein unredlicher Mann iſt, ſeines Dienſtes ent - ſetzen, und nach Gefallen beſtrafen. Der Richter kannjeden115des wuͤrklichen und foͤrmlichen Rechts. jeden erſten Spruch, wenn er ſeiner Meynung nach wuͤrk - lich recht iſt, ſo fort zur Vollſtreckung bringen, ohne ab - zuwarten, daß er die Kraft foͤrmlichen Rechtens erreiche; und um auch etwas von der Wahrheit zu ſagen: ſo muͤßte jeder Pfarrer ſich ein Bedenken daraus machen, das Glaubensbekenntniß ſeiner Kirche zu unterſchreiben, ſo bald es ſeiner Ueberzeugung nach nicht wuͤrklich wahr waͤre, da er es doch unterſchreiben kann, ſo bald er nur gewiß iſt, daß es eine foͤrmliche Wahrheit ſey.

Alle Menſchen koͤnnen irren, der Koͤnig wie der Phi - loſoph, und letztere vielleicht am erſten, da ſie beyde zu hoch ſtehen, und vor der Menge der Sachen, die vor ihren Augen ſchweben, keine einzige vollkommen ruhig und genau betrachten koͤnnen. Dieſerwegen haben es ſich alle Nationen zur Grundfeſte ihrer Freyheit und ih - res Eigenthums gemacht, daß dasjenige, was ein Menſch fuͤr Recht oder Wahrheit erkennet, nie eher als Recht gelten ſolle, bevor es nicht das Siegel der Form erhalten.

Zur Form Rechtens gehoͤrt, daß es von einem be - fugten Richter ausgeſprochen, und in die Kraft Rechtens getreten ſey. Dies iſt ein Grundgeſetz worinn ebenfalls alle Europaͤiſche Nationen uͤberein kommen, und der Mo - narch der eine wuͤrkliche Wahrheit, gleich einer foͤrmli - chen zur Erfuͤllung bringen laͤßt, wirft dieſes erſte, und jedem Staate heilige Grundgeſetz, ohne welchem es gar keine Sicherheit mehr giebt, uͤber einen Haufen. Ein Unternehmen das die Weisheit Salomons nicht entſchul - digen kann, da alle Weisheit in der Welt nur zur wuͤrk - lichen nicht aber zur foͤrmlichen Wahrheit fuͤhret.

Das wuͤrkliche Recht koͤnnte zur Noth in der Welt ganz entbehret werden; es giebt Nationen die gar keine Geſetzbuͤcher haben; und unſre deutſchen Vorfahren dieH 2von116Von dem wichtigen Unterſchiedevon einem wuͤrklichen Rechte nichts wußten, und wohl gar zweifelten ob es dergleichen in der Welt gebe, hat - ten ſich vereiniget, dasjenige fuͤr foͤrmliches Recht in je - der Streitſache gelten zu laſſen, was die von den Par - theyen erwaͤhlten Maͤnner, nach ihren großen oder ge - ringen Einſichten, fuͤr gut und billig erkennen wuͤrden. Eben das kann man auch von der wuͤrklichen Wahrheit ſagen, worinn ſo wenige Koͤpfe miteinander uͤberein kom - men. Aber foͤrmliches Recht und foͤrmliche Wahrheit laſſen ſich durchaus nicht entbehren, und es iſt eine ver - gebliche Frage, oder vielmehr eine Verwechſelung dieſer beyden ganz unterſchiedenen Arten von Wahrheiten, ob man wuͤrkliche Jrrthuͤmer hegen und naͤhren duͤrfe? Nur foͤrmliche Jrrthuͤmer koͤnnen nicht gehegt und ernaͤhrt werden, oder es liegt ein Fehler in der Grundverfaſſung des Staats.

Alle Nationen haben dieſes erkannt, die eher an Proceßordnungen als an Geſetzbuͤcher gedacht haben. Jene zeigen den Weg zum foͤrmlichen Rechte, und die beſte Proceßordnung iſt die, welche den Weg in ein Mi - nimum verwandelt. Dieſe aber enthalten nur das wuͤrk - liche Recht, welches wie geſagt, zur Noth entbehret wer - den kann; wie denn auch der Großcanzler von Cocceji die Proceßordnung dem Geſetzbuche vorgehen ließ.

Der traurigſte Fall worinn ein Richter ſich oft be - findet, iſt dieſer, wenn er das wuͤrkliche Recht augen - ſcheinlich erkennet, und es doch nicht zum foͤrmlichen ma - chen kann. Aber dem ungeachtet iſt es beſſer, daß ein einzelner Mann traure, als daß man alles in Gefahr ſetze; und dies wuͤrde geſchehen, wenn jeder Richter das - jenige, was er fuͤr wuͤrklich Recht erkennet, ſogleich als rechtskraͤftig annehmen koͤnnte. Jeder Menſch hat es mit dankbarem Herzen zu erkennen, daß man das foͤrm -liche117des wuͤrklichen und foͤrmlichen Rechts. liche dem wuͤrklichen vorziehe, wenn beydes ſich nicht zu - ſammen findet; und diejenigen verſuͤndigen ſich an der Menſchheit, welche entweder dieſe Form ganz ausſchlieſ - ſen, oder unnatuͤrlich verkuͤrzen und erſchweren wollen.

Uebrigens iſt es, was die Mittel zur Erhaltung foͤrm - lichen Rechtens, oder die Proceſſe betrift, eine edle Lei - denſchaft des Menſchen, daß er fuͤr dasjenige, was ihm ſeiner Meynung nach zukoͤmmt, Gut und Blut aufſetzet, und ſich gegen alles, was ihn ſeiner Einſicht nach, un - terdruͤcken will, aus allen Kraͤften wehret. Dieſe Leiden - ſchaft muß nicht unterdruͤcket ſondern aufgemuntert wer - den, beſonders bey geringern, deren Menge den Staat unterhaͤlt, und die gar bald zu Grunde gehen wuͤrden, wenn ſie ſich heute ein Stuͤck und Morgen ein anders, ohne daruͤber zu klagen, nehmen ließen. Der Fuͤrſt ſelbſt iſt von dieſer Leidenſchaft beſeelt; er laͤßt ſich nichts neh - men, und fordert was ihm zukommt. Das iſt er dem Staate, und jeder Bauer dem ihm anvertraueten ge - meinen Gute ſchuldig. Sein Hof iſt ſein Gewehr, und er muß auch nicht einen Flintenſtein davon verlohren ge - hen laſſen, ohne zu klagen.

Zu dieſem Ende muß ihm der Weg des foͤrmlichen Rechtens gerade, leicht und kurz gemacht; aber nicht verſperret oder verengert werden.

H 5XXIV. 118Ueber den Unterſchied

XXXI. Ueber den Unterſchied einer chriſtlichen und buͤrgerlichen Ehe.

Vor Zeiten gab es nur eine Art von Ehen*)Das Wort Ehe kommt von dem altdeutſchen Worte Eh oder Ewa Geſetz, und faßt den Begrif der Geſetzmaͤßigkeit in ſich. und man verſtund darunter eine ſolche Verbindung, die ei - ner nach den Geſetzen der Kirche und des Staats, deſſen Mitglied er war, vollzogen hatte. Nachher aber hat man dem Vortrage zu gefallen, oder aus Mangel eines andern Ausdrucks, dieſes Wort weitlaͤuftiger gemacht, und nicht allein diejenige Verbindung, welche blos nach den Geſetzen der Kirche und nicht nach den Geſetzen des Staats vollzogen war, eine Ehe genannt, ſondern auch in dem Rechte der Natur von Ehen geſprochen, und die beſondere Verbindung worin die Kinder blos der Mutter Namen und Vermoͤgen erben, oder wie unſre Vorfah - ren ſprachen, na der Mor gan, (nach der Mutter gehen) woraus die Lateiner das Matrimonium ad Morganaticam gemacht haben, eine Ehe zur linken Hand genannt. Dieſe Vermiſchung ruͤhrt vornemlich daher, daß der Staat alle diejenigen Ehen, welche unter gewiſſen Vorſchriften in der chriſtlichen Kirche vollzogen werden, entweder aus - druͤcklich oder ſtillſchweigend fuͤr buͤrgerlich guͤltig erken - net, und der Kuͤrze halber dem dazu beſtelleten ordentli - chen Pfarrer die Macht uͤberlaſſen hat, zwo Perſonen nicht allein kirchlich oder chriſtlich ſondern auch mit buͤr - gerlicher Wuͤrkung zu verbinden.

Hier -119einer chriſtlichen und buͤrgerlichen Ehe.

Hieraus ſind aber verſchiedene Verwirrungen ent - ſtanden, die wohl verdienen aus einander geſetzt zu wer - den. Die kirchliche Ehe iſt immer noch von der buͤrger - lichen unterſchieden, und jene fuͤhrt bey weitem nicht in allen Faͤllen alle die Folgen mit ſich, welche beyde zu - ſammen wuͤrken. Man wird ſolches am beſten aus fol - genden Beyſpielen beurtheilen.

Wenn zwo Perſonen ſich, wie es oft geſchieht, als Vagabunden oder pro vagis copuliren laſſen: ſo ſind ſie unſtreitig chriſtlich verbunden, und leben in einer kirch - lich rechtmaͤßigen Ehe. Allein ſie koͤnnen nun nicht aus dem Stande der Vagabunden, welchen ſie erwaͤhlet ha - ben, zuruͤcktreten, ohne von irgend einer Landes-Obrigkeit als Unterthanen aufgenommen zu werden. Geſchieht die - ſes, ſo erhaͤlt dadurch die kirchliche Ehe das Siegel der buͤrgerlichen Guͤltigkeit. Geſchieht es nicht: ſo bleiben ſie Wildfaͤnge, der uͤberlebende Theil kann ſich ſo wenig auf ein kayſerliches Recht als auf ein Landrecht bezie - hen; und die Kinder koͤnnen ihre Eltern nicht beerben. Die kirchliche Ehe iſt folglich hier ohne alle buͤrgerliche Wuͤrkung.

Eben ſo verhaͤlt es ſich mit denen, die ſich zwar nicht als Vagabunden, aber doch auch nicht von dem von der Obrigkeit dazu geſetzten Pfarrer, oder mit deſſen oder der Obrigkeit Erlaubnis von einem andern copuliren laſſen. Dem fremden Pfarrer hat die Obrigkeit nie das Recht uͤbergeben, zween Eheleuten alle buͤrgerliche Rechte mit - zutheilen, und ſo kann dieſer ihnen nur die kirchlichen geben. Jhre Beywohnung iſt Pflicht und ohne Suͤnde; ihre Kinder ſind kirchlich echt, aber in Anſehung des Wit - thums und der Erbfolge kommt ihnen weder Land - noch Stadtrecht zu ſtatten, und wo ſie nicht irgendwo als Un - terthanen aufgenommen werden, leben ſie im StandeH 4der120Ueber den Unterſchiedder Verbieſterung*)Verbieſtern iſt ſo viel als Herrenlos werden, und ſonach als ein bonum vacans dem Landesherrn heimfallen. Der Ur - ſprung dieſes Rechts faͤllt in die Zeiten, da der Boden noch keinen zum Unterthanen machte, ſondern der nexus ſubditius auf Hoͤrigkeit beruhete. Wer damals keinem Hoͤrig war, wurde herrenlos geachtet. Man braucht das Wort verbieſtern von Menſchen und Vieh, von Haͤuſern und Deichen, die der Eigenthuͤmer verlaſſen hat. Ein verbieſterter Menſch iſt da - her zugleich ein Wildfang, albanus oder aubain. Der Alba - nus unterſcheidet ſich von dem Forbanno darin, daß jener we - der in hundredo noch in plegio mithin extra bannum iſt, ob er ſich gleich in banno aufhaͤlt; dieſer hingegen deſſelben verwie - ſen iſt. Jener genießt des Landesfuͤrſtlichen Schutzes zu dem Preiſe, daß ihn der Landesherr beerbt. Dieſer hingegen hat gar keinen Schutz, und iſt vogelfrey.. Die Obrigkeit worunter ſie leben, kann ſie als Wildfaͤnge beerbtheilen.

Unſre Eigenbehoͤrigen leben bis auf dieſe Stunde blos in der kirchlichen und nicht in einer buͤrgerlichen Ehe. Jhre Kinder erben von ihnen nichts, und die Leibzucht**)Leibzucht, uſusfructus vitalitius. des Mannes oder der Frau iſt keine buͤrgerliche Wuͤrkung der Ehe, ſondern der dem Gutsherrn bezahlten Auf - fahrt***)Auffarth laudemium. . Die Freyen, welche in einer Hode†)Hode, Hut, Obhut oder Schutz; protectio vel advocatia ſpecialis, plegium Echte. ſte - hen, ſind in gleichen Umſtaͤnden; ihr Recht haͤngt von dem durch die Schutzurkunde††)Schutzurkunde, recognitio huius protectionis. abgeloͤſeten Sterbfall ab, und man kann es nicht als eine buͤrgerliche Wuͤrkung ih - rer Ehe anſehen, daß ihre Kinder von ihnen erben, und ihre Witwen ein gewiſſes in jeder Hode beſtimmtes Rechthaben.121einer chriſtlichen und buͤrgerlichen Ehe. haben. So bald ſie die Schutzurkunde verſaͤumen, wuͤrkt die kirchliche Ehe jenes nicht. Alle dergleichen blos kirch - lich oder chriſtlich verbundene Leute hinterlaſſen keine Wit - wen ſondern nur Relicten. Denn um Witwe zu werden, mußte man bey den Roͤmern und bey den Deutſchen in einer nach kirchlichem und buͤrgerlichem Rechte vollkom - menen Ehe gelebt haben. Wie aber das Wort Ehe all - gemeiner wurde, hieß man ihre Relicten auch Witwen. Aber nun nahm auch der Adel den Titel von Douarieren an, und die Notarien erfanden chriſt-adliche Ehen, um damit das Wort Ehe, welches zu weitlaͤuftig geworden war, zu einer neuen Beſtimmung zu ſtempeln. Eben ſo hatte er ſich lange vorher echte Hausfrauen zugelegt, weil es auch Hausfrauen gab, die nicht echt waren, das heißt, die blos in einer kirchlichen Ehe ohne buͤrgerliche Wuͤr - kung lebten.

So deutlich hieraus hervorgeht, daß der Unterſchied zwiſchen einer kirchlichen und buͤrgerlichen Ehe ſehr ge - gruͤndet ſey: ſo ſehr iſt es zu verwundern, daß man in den Lehrbuͤchern hierauf faſt gar nicht mehr fußet, und immer die chriſtliche Ehe mit der buͤrgerlichen vermengt, da es doch klar vor Augen liegt, daß der Geſetzgeber ſich jenes Unterſchiedes nuͤtzlich bedienen, und damit den un - erlaubten Copulationen ein ewiges Ziel ſetzen konnte. Denn die Kirche mag dann immerhin ihr Recht, daß das - jenige, was ſie einmal verbunden habe, auf ewig ver - bunden ſey, behaupten. Der Staat darf den kirchlich verbundenen nur die buͤrgerliche Wuͤrkung der Ehe we - gern: ſo muͤſſen dieſe entweder das Land raͤumen und ſich anderwaͤrts als Unterthanen aufnehmen laſſen, um die buͤrgerliche Wuͤrkung ihrer Ehen zu erhalten, oder wo ſie geduldet werden, als Wildfaͤnge, die von ihm beerbet werden, ihr Vergehen buͤßen.

H 5Un -122Ueber den Unterſchied

Unſtreitig hat es auch in der Verfaſſung unſrer Leib - eigenſchaft manchen Fehlſchluß veranlaſſet, daß wir die chriſtliche Ehen der Leibeignen als vollkommene Ehen an - geſehen haben. Unter leibeignen Eltern und Kindern iſt zwar eine chriſtliche Verwandſchaft aber keine buͤrgerliche, wenigſtens hatten ſie vordem nicht den geringſten Vortheil von der letzten; Eltern und Kinder, Schweſter und Bruͤ - der beerbten ſich im eigentlichen Verſtande nicht. Sie zeugen keine Genoſſen des Staats, und ihre Kinder ſind Wildfaͤnge, ſo bald ſie freygelaſſen ſind, und keinen neuen Schutz nehmen. Sie haben keine Pflichttheile von ihren Eltern zu fordern, und der Vater hat ſie nicht als echter Hausvater in ſeiner Gewalt. Wenn auch der alte Leib - eigne Leibzuͤchter eine freye Perſon heyrathet: ſo hat dieſe, was die buͤrgerliche Wuͤrkung betrift, nichts mehr als eine Concubine zu fordern, und die aus dieſer Ehe erzeugten Kinder ſind den uͤbrigen von ihrem Vater buͤrgerlich un - verwandt. Gleichwohl ſchließen wir bey ihnen oft aus den Rechten, welche nur fuͤr chriſt-buͤrgerliche Ehen ein - gefuͤhret ſind; und verwechſeln aus Menſchenliebe den Menſchen mit dem Buͤrger; woraus denn nichts wie Un - gewißheit der Rechte entſteht.

Legten wir aber bey einer neuen Geſetzgebung wegen der Ehen, jenen Unterſchied zum Grunde: ſo glaube ich, daß wir vielen Schwuͤrigkeiten, welche bisher die Sache verwickelt haben, ausweichen koͤnnten. Traurig iſt es zu hoͤren, daß es noch Eheproceſſe in der Welt giebt. Man ſollte denken, dieſen einzelnen Zweig haͤtten die vielen Bemuͤhungen der philoſophiſchen Geſetzgeber doch endlich ſo weit bringen muͤſſen, daß gar kein zweifelhafter Fall darinn mehr vorkommen koͤnnte. Allein die Verlaſſung jenes Unterſchiedes, wodurch die Kirche unnoͤthiger Weiſe mit dem Staate in Colliſion gebracht wird, und die we -nige123einer kirchlichen und buͤrgerlichen Ehe. nige Hoffnung, welche die weltliche Obrigkeit gehabt hat, hier eine Vereinigung zu treffen, hat es in den mehrſten Staaten immer verhindert, die Ehegeſetze vollſtaͤndig zu machen. Laͤßt ſie aber der Kirche, was der Kirche iſt, und geht blos auf die buͤrgerliche Wuͤrkung der Ehe: ſo iſt es allemal in ihrer Macht durch eine Nichtduldung oder Landesverweiſung diejenige Ordnung zu erhalten, welche das gemeine Beſte erfordert.

XXXII. Von den Militair-Ehen der Englaͤnder.

Die Englaͤnder dulden in ihren Armeen keine ledige Weibsperſonen; dagegen koͤnnen ſich ihre Solda - ten ein Weib vor der Trommel geben laſſen; und ſich auch ſo wieder von ihr ſcheiden. Dieſe beſondre Art der Ehen hat unſtreitig ſehr viel gutes in Vergleichung mit dem ſonſt gewoͤhnlichen Uebel. Der Soldat ſchuͤtzt ſein Weib, womit ihn der Tambour kopulirt hat, gegen je - den andern, und man hat weniger Beyſpiele von ſolchen, als von andern gebrochenen Ehen. Ja es haben mich mehrmals die engliſchen Officiere verſichert, daß es hier mehr Eiferſucht gebe, als in einer chriſtlichen Ehe; viel - leicht aus eben dem Grunde, warum mancher die Un - treue ſeiner Maitreſſe hoͤher empfindet, als die von ſei - ner echten Frau. Das engliſche Soldatenweib kann mit ihres Mannes Kammeraden in einem Zelte liegen, und keiner wagt es, ihr etwas ungebuͤhrliches anzumu - then. Der Mann macht ſich ein eignes Point d honneur daraus, dieſes durchaus nicht zu geſtatten, und wer esver -124Von den Militair-Ehen der Englaͤnder. verſuchen wollte, wuͤrde dafuͤr ſeinen, oder wenn er klag - te, ſeines Hauptmanns Zorn empfinden.

Wenn er ihrer muͤde iſt, ſo verkauft er ſie, jedoch mit ihrem guten Willen, einem andern; und dieſer ſchaͤtzt ſie eben ſo wie der vorige; ſo daß ſie niemals verwildern kann, und immer ihren Beſchuͤtzer hat. So bald ſie Nie - mand will, muß ſie die Armee verlaſſen. Uebrigens iſt der Englaͤnder gern Vater, und liebt ſein Kind; daher es nicht leicht geſchieht, daß er ein ſchwangeres Weib von ſich laͤßt, oder fuͤr ſein Kind nicht ſorgt.

Ledige Weibsperſonen, die ſich einem jeden ohne Unterſchied uͤberlaſſen, ſind vielfaͤltig von der boͤſen Seu - che angeſteckt, die manchen guten Kerl ins Hoſpital bringt. Dieſes hat man aber von jenen Weibern, die aus einer guten Hand in die andre gehen, nicht leicht zu beſorgen; und dieſes iſt wahrſcheinlich der Grund, welcher die Eng - laͤnder genoͤthiget hat, dieſe Art von Ehen jedem andern Nothmittel vorzuziehen.

Vermuthlich ſind ſie bey ihren weiten Seereiſen dar - auf verfallen, die echten Weiber der Soldaten moͤchten ihren Maͤnnern darauf nicht folgen, und dieſe auch die - ſelben allen Gefahren und allen Verſuchungen nicht blos ſtellen wollen. Andre Nationen hingegen haben mehr in ihrem Lande, oder auf deſſen Graͤnze gefochten, und ſie konnten ihre Weiber eher mitnehmen, daher ſie nicht wie die Englaͤnder aus zweyen Uebeln zu waͤhlen haͤtten. Mir iſt es wenigſtens nicht bekannt, daß irgend eine andre Nation dergleichen Militairehen oͤffentlich dulde, und wenn es erfordert wird, ſchuͤtze. Sie ſind aber allemal eine feinere Erfindung, als die oͤffentlichen Haͤuſer, die in andern Laͤndern, unter einer beſonderen Aufſicht der buͤrgerlichen und mediciniſchen Policey geduldet und ge -ſchuͤtzet125die Artikel und die Punkte. ſchuͤtzet werden; oder als das Geſetz: beym Gunthero in Ligur. L. VII. v. 282.

Naſo mutilabitur illa reſecto. ()

XXXIII. Die Artikel und Punkte.

Herr! ſind ſie nicht ein Schelm? Die Antwort war ein Schlag und nun haͤtte einer das Leben ſehen ſollen! der erſte behauptete als Richter, es waͤre nur ein Punkt, und kein Artikel*)Da einige Leſer es vielleicht nicht verſtehen moͤchten, was der Verfaſſer ſagen will: ſo will ich dieſen zu gefallen bemer - ken, daß die Criminalrechte es nicht geſtatten, jemanden ohne die hoͤchſte Urſache uͤber Artikel zu vernehmen, und daß man in neuern Zeiten, um dieſer Vorſchrift auszuweichen, auf den ſonderbaren Einfall gerathen ſey, die Artikel in Punkte zu verwandeln: Recentioribus temporibus novum invaluit re - fugium, nomine articulorum mutato, reſponſionem ad certa puncta decernendi, quaſi mitiori hoc vocabulo famae parcatur, reoque contra ſiniſtrum judicium, quod appellatione articulo - rum connexum eſſe ſolet, ſubveniatur, DE BOEHMER ad Conſt. crim. p. 113. Dieſer Aufſatz erſchien, als man zu .... den Herrn von wegen gewiſſen, gegen den Landesherrn gefuͤhrten freyen Reden, ad puncta vernehmen wollte., woruͤber er ihn ge - fragt haͤtte; und der andre ein angeſehener Mann, ver - ſetzte, die Namen thaͤten nichts zur Sache, es moͤchte ein Punkt oder ein Artikel heißen, wer ihn auf einen Diebſtahl anſpraͤche, dem ſchlage er aufs Maul.

Ey! hub der erſte an, haben es die Leipziger Juri - ſten doch ausdruͤcklich geſagt, daß man jemanden unbe -denklich126Die Artikel und die Punkte. denklich wegen eines Verbrechens vernehmen koͤnne, wenn es nur heiße, daß er uͤber Punkte, und nicht uͤber Artikel vernommen werde*)BERGER in El. jur. crim. p. 210.. Und was ſagen die Witten - berger**)Idem in O. f. p. 1198. zu dieſer Hofſprache, ſchrie der andre? Was denkt Leyſer***)In med. ad ff. ſp. 560. m. 25. dabey, wenn er ſich auf den Amour Medecin†)Art. II. ſc. 3. von Moliere beruft? und wie entſcheidet von Boͤhmer die Sache? Nicht wahr, er ſagt ††), man muͤßte es den Narren goͤnnen, die es nicht beſſer haben wollten? Jm Vertrauen geſagt, Herr Richter, die groſ - ſen Herrn und kleinen Diener, die ſich ſo einander den Ball zuwerfen, machen bisweilen naͤrriſch Zeug, ſonſt wuͤrden ſie wiſſen, daß Schlagen allemal wehe thue, man moͤge es Wickſen oder Pruͤgeln nennen. Jch denke es unter keinen von beyden Benennungen zu dulden, wenn ich es nicht verdient habe; und ob ich es verdient habe, daruͤber laſſe ich mich erſt ſprechen; verſteht er mich?

Der Richter wollte noch viel ſprechen, und behaup - ten, die Praxis braͤchte es doch hie und da ſo mit ſich, und es diene gar ſehr zur Abkuͤrzung des Proceſſes, ſo wie zur Aufklaͤrung der Wahrheit, wenn man einen be - ſchuldigten Mann ſelbſt vorfordern, ihn ſo gleich uͤberalleAd conſt. crim. art. XX. §. 19. p. 113. Seine Worte liegen alſo: Quicquid huic obverti poteſt, huc redit, non rationem ſed meram opinionem hororem articulis aſſuere, punctis vero detrahere, ſolum verborum ſonum differentiam conſtituere, ubique reum de crimine quod famam ſugillat, interrogari und endlich ſchließt er: quae ſola hujus examinis peculiaris conditio conceptum mere emaginari commedi excedit, ut nil obſtet cur ſtare prohibeatur. 127Die Artikel und die Punkte. alle Umſtaͤnde zur Rede ſtellen, mit ſchlauen Fragen, wor - auf er ſich nicht vorbereitet haͤtte, fangen, und wo er ge - ſtottert, wo er die Farbe veraͤndert, oder an ſeinem gan - zen Koͤrper gezittert haͤtte, nach dem Begriffe den man ſich hievon machte, zum Protokoll bemerken koͤnnte.

Allein der andre lies ihm keine Zeit. Herr Richter, ſagte er ihm, ich weiß das alles; ſie wiſſen aber auch, daß eine Special Jnquiſition, worin jemand ſo fort vor - gefordert, uͤber Punkte oder Artikel vernommen, und entweder durch Fragen gefangen, oder nach ſeiner Farbe beurtheilet werden ſoll, zu allen Zeiten fuͤr ehrenruͤhrig gehalten worden. Der Richter ſetzt dabey ſchon voraus, daß man der Mann ſey, der durch Fragen gefangen und nach ſeinem Verhalten beurtheilet werden muͤßte, oder um in dem Stile der peinlichen Halsgerichtsordnung zu bleiben, daß man ein Kerl ſey, zu dem man ſich eines Verbrechens wohl verſehen koͤnne; er ſetzet voraus, daß man ſich mit Unwahrheiten oder ſchlechten Ausfluͤchten be - helfen werde, dieſes will er durch ploͤtzliche Fragen, worauf man nicht vorbereitet iſt, verhindern; er ſetzt endlich voraus, daß man wuͤrklich, wo nicht des Ver - brechens ſchuldig, doch wenigſtens ſchon ſtrafbar ſey. Denn da ein ehrlicher Mann waͤhrend der Jnquiſition ſein Ehrenwort nicht geben, kein Zeugniß ablegen, ſei - nen Dienſt nicht verrichten, und ſein Gehalt nicht verdie - nen kann, wie faſt alle Juriſten ohne Unterſchied behaup - ten: ſo wird er offenbar ehender geſtraft, als er verur - theilet iſt. Und wenn man gleich durch den Unterſcheid zwiſchen Punkte und Artikel, dieſen Folgen vorzubeugen geſucht hat: ſo wird doch das Publikum, was einestheils von dieſem feinen Unterſcheide noch nicht unterrichtet, und andern theils durch das auſſerordentliche Verfahren des Richters berechtiget iſt, uͤbel zu urtheilen, gegen den Jn -quiſi -128Die Artikel und die Punkte. quiſiten leicht einen Abſcheu faſſen, oder wenigſtens im - mer einen Gedanken von ihm behalten, der ſeiner Ehre und ſeinem Credit nachtheilig iſt. Des Richters Abſicht muß ſeyn, ſo wohl die Unſchuld zu retten als den Ver - brecher zu ſtrafen, und keine Praxis in der Welt iſt zu - reichend dasjenige was dieſen beyden großen Abſichten entgegen laͤuft, zu rechtfertigen. Die ganze Praxis be - ſteht ohnehin aus experimentis in anima vili*)Vitae necisque poteſta[t]em ſibi vindicarunt primum in plebeies obſcures; AMMIAN. MARG. L. XXIII. , wo - von ſich gegen einen unbeſcholtenen Mann keine An - wendung machen laͤßt; und das Verfahren kann im Criminalproceß eben ſo gut wie im Civilproceß ab - gekuͤrzet werden, ohne daß es noͤthig iſt, ſich dazu der Ueberſchnellung zu bedienen. Was aber ihre gerichtliche Phyſiognomick anlangt: ſo glaube ich, daß der ploͤtzliche Ueberfall, womit der Richter den Jn - quiſiten zu uͤberraſchen und zu fangen ſich bemuͤhet, eben ſo fruͤh eine unſchuldige als verdaͤchtige Beſtuͤrzung her - vorbringen koͤnne. Vernuͤnftige Richter haben daher von je her in zweydeutigen Faͤllen die Wendung gebraucht, daß ſie diejenigen, worauf ſie einen Verdacht hatten, als Zeugen vorfordern, und ſie dasjenige erzaͤhlen ließen, was ſie von der Geſchichte wuͤßten, ohne ſich weiter blos zu geben; und erſt, nachdem ſie die Erzaͤhlung mit den Anzeigen zuſammen gehalten, ſich einige naͤhere Fragen erlaubt. Mit einem Worte, man kann eher, wenn es die Noth erfordert, zur Haft als zur Special Jnquiſi - tion ſchreiten. Denn ſo bald man jemanden, es ſey nun uͤber Punkte oder uͤber Artikel, fraͤgt: ſo verlangt man von ihm, was die Juriſten die Kriegesbefeſtigung nen -nen.129Die Artikel und die Punkte. nen. Dieſe ſetzt voraus, daß eine Klage vorhanden ſey, worauf man ſich einlaſſen ſolle. Es iſt alſo offenbar, daß derjenige der einen uͤber Punkte fraͤgt, ihn wuͤrklich anklage.

Jſt es aber nicht erſtaunend viel gewagt, jemanden wegen eines Verbrechens anzuklagen, ehe man von dem Beweiſe deſſelben ſicher iſt? Beladet ſich der Klaͤger nicht mit der ſchwerſten Genugthuung, wenn er ſolchergeſtalt jemanden in offnem Gerichte verklagt und den Beweis nicht fuͤhren kann? Oder hat ein Richter mehr Recht als ein andrer einen ehrlichen Mann ſolchergeſtalt oͤffentlich ungeſtraft zu verlaͤumden?

Freylich kann der Unſchuldige hernach immer noch in dieſem Falle auch von dem Richter Genugthuung for - dern. Aber wie ſchwer wird ihm dieſe nicht fallen? wie leicht wird ſich der Richter entſchuldigen? und iſt es billig auch nur den geringſten Menſchen unter der Verſicherung, daß man ihn ſchadlos halten wolle, in Schaden zu ſtuͤr - zen? Kann der Schade an der Ehre, ſo leicht wie der am Gute erſetzet werden? Jſt Verdruß, Gram und Kraͤn - kung, wodurch einer um ſeine Ruhe, und Geſundheit gebracht wird, wuͤrklich zu erſetzen? und iſt es daher nicht natuͤrlich, in ſolchen wichtigen Faͤllen diejenige Vor - ſicht zu gebrauchen, welche der ſchlichte Menſchenverſtand an Hand giebt?

Auſſerdem kommen doch auch manchen Beklagten leicht einige verzoͤgerliche Einreden zu ſtatten, warum er auf die Klage zu antworten nicht noͤthig hat. Warum will man einem nun dieſe in der wichtigſten Begebenheit abſchneiden, worin ein ehrlicher Mann gelangen kann? und das mit offenbarer Gewalt? Denn der Richter wird ſich leicht ermaͤchtigen den Mann einzuſperren, der einmal erſchienen iſt, und ſich zu antworten wegert Moͤſers patr. Phantaſ. IV. Th. JEs130Ueber die Todesſtrafen. Es iſt gut, rief der Richter, daß alle Leute nicht ſo klug ſind, wie Sie; ſonſt wuͤrde es mit den Punkten und Artikeln ſchlecht ausſehen; und damit gieng er zu ſeiner Pfeiffe ohne weiter zu fragen; und der andre der den Schlag ausgetheilt hatte, hielt ſich auch nicht verbunden, mit ihm laͤnger zu zanken.

XXXIV. Ueber die Todesſtrafen.

Es iſt zu unſern Zeiten ſehr oft die Frage aufgeworfen worden: woher die Obrigkeit das Recht erhalten habe, dieſen oder jenen Verbrecher mit dem Tode zu be - ſtrafen; und die hieruͤber gewechſelten Schriften haben nicht allein manchen fluͤchtigen Kopf, der einen Dieb mit eben der Gleichguͤltigkeit zum Galgen gehen ſahe, womit er ſein Hochzeitsfeſt angeſehen haben wuͤrde, zum Nach - denken gebracht, ſondern auch unſre ganze Lehre von Ver - brechen und Strafen aufgeklaͤrt. Mich duͤnkt aber im - mer, daß wir mit dieſen philoſophiſchen Unterſuchungen noch weiter gekommen ſeyn wuͤrden, wenn wir die Frage alſo geſtellet haͤtten: woher die Obrigkeit das Recht er - halten habe, dieſen oder jenen Verbrecher beym Leben zu erhalten?

Denn unſtreitig lag die Sache im Stande der rohen Natur, und, wie uns die Geſchichte zeigt, ſo gar in dem Stande der erſten Vereinigungen alſo, daß jeder Menſch denjenigen, der ihn beleidiget hatte, ſo weit und ſo lange verfolgen mochte, als ſeine Staͤrke reichte; daß jeder ſeinen Feind erſchlagen oder begnadigen konnte wie esihm131Ueber die Todesſtrafen. ihm gutduͤnkte, und daß einer uͤberhaupt ſeine Rache ſo weit treiben durfte wie er wollte.

Hier nun trat die Obrigkeit, oder vielleicht die Ge - ſellſchaft ins Mittel und ſprach:

Lieben Freunde! Eure Rache hat kein Ziel, es treten erſt Maͤnner gegen Maͤnner, dann Familien gegen Familien, und zuletzt Bundesgenoſſen gegen Bun - desgenoſſen auf, und jedes Blut was vergoſſen wird, vermerht eure Wuth, die zuletzt nicht anders als durch den voͤlligen Untergang der einen oder andern Parthey geſtillet werden kann. Dieſes Ungluͤck wird unſern Staat zu Grunde richten, oder wir muͤſſen der Privatrache Ziel ſetzen, und dieſes kann nicht beſſer geſchehn, als wenn wir ein Geſetz machen: daß alle Rache der Obrigkeit oder der Geſellſchaft uͤberlaſſen, und wer ſich hieran nicht halten will, von uns mit geſammter Hand als ein wilder Menſch verbannet und verfolget werden ſoll.

Und wie ihr hierauf die laͤrmende Menge antwortete: Was? wir ſollten das edelſte Kleinod unſerer Frey - heit, das Recht uns ſelbſt Recht zu verſchaffen, auf - geben? wir ſollten den Dieb, der uns unſer ſauer erworbnes Gut raubt, nicht wuͤrgen? wir ſollten dem Boͤſewicht, der unſre Ehre angreift, nicht den Dolch in die falſche Bruſt ſtoßen, wir ſollten den Moͤrder unſrer Kinder, Freunde und Verwandte nicht bis zum Grabe verfolgen duͤrfen? ja ſo gar gezwungen werden, dieſes unſer Recht einer ruhigen kalten Hand zu uͤberlaſſen, die ſich vielleicht nicht ruͤhrte, wenn wir von Eifer brennen, oder wohl gar nur ſuchte unſern Zorn mit Huͤlfe der Zeit zu ſchwaͤchen, um her - nach den Verbrecher in der Stille begnadigen zu koͤn - nen? Nimmermehr kann und darf dieſes geſchehn,J 2ſo132Ueber die Todesſtrafen. ſo war natuͤrlicher Weiſe ihre Antwort, oder doch ihre Meinung dieſe. Was das letzte betrift, lieben Freunde! ſo verſichern wir euch hiemit feyerlichſt: Wer Menſchen Blut vergießt, deſſen Blut ſoll wieder vergoſſen werden. Es ſoll Aug um Auge, Hand um Hand, Zahn um Zahn gegeben werden. Dieſes ſoll unter uns ein ewiges Grundgeſetz ſeyn; hingegen ſoll wider Wil - len der Beleidigten kein Mitleid ſtatt finden.

Und nun die obige Frage alſo gefaßt: Wie koͤmmt es, daß die Obrigkeit von dieſem Origi - nalcontrakt abgeht, und Verbrecher erhaͤlt, die der Privatraͤcher zu toͤdten befugt war, oder doch be - fugt zu ſeyn glaubte: ſo koͤmmt es zuletzt darauf an, in welchen Faͤllen der Privatraͤcher ſich befugt erachten konnte, denjenigen, der ihn an ſeiner Ehre, ſeinem Leibe oder ſeinem Gute verkuͤrzet hatte, ſelbſt ums Leben zu bringen?

Denn die Obrigkeit liehe nicht ſo oft dem Raͤcher ihr Schwerdt, als ſie den Verbrecher in Schutz nahm. Es war mehr Wohlthat fuͤr dieſen als fuͤr jenen, daß ſie der Privatrache Ziel ſetzte; und ſo waͤre es ein offenbarer Mißbrauch ihres Amts geweſen, wenn ſie dem Verbre - cher zu viel nachgegeben, und ihn in den Faͤllen verſcho - net haͤtte, worinn ihn der Beleidigte umbringen konnte. Alles was ſie thun konnte mußte darauf hinausgehn, den unwilligen oder ungluͤcklichen Todtſchlaͤger von dem vor - ſetzlichen und ſchuldigen Moͤrder zu unterſcheiden.

Schwerlich wird ſich aber jenes ſo genau angeben laſſen. Das Recht der Privatrache geht im Stande der Natur ſo weit, als die Macht, und man weiß von keinenandern133Ueber die Todesſtrafen. andern Graͤnzen*)Es kommt zuletzt auf die Frage an: wie weit das jus primi occupantis gehe, und ob dieſer nicht ein Recht habe, alle Thiere, den Menſchen mit eingeſchloſſen, welche ihn darin ſtoͤren wol - len uͤber den Haufen zu ſchießen? Die Regel: Was du nicht willſt, das dir die Leute thun ſollen, das thue ihnen auch nicht, ſpricht hier fuͤr den occupantem; denn dieſer kann ſa - gen, ich verlange nicht, daß man mir beſſer begegne, wenn ich andre in ihrem Rechte kraͤnke.; und wie ſchwer es gehalten habe, die Menſchen von dieſem Grundſatze abzubringen, legt ſich am mehrſten daraus zu Tage, daß faſt kein einziger Ge - ſetzgeber es gewagt, denſelben gerade zu und auf einmal umzuſtoßen, ſondern uͤberall zuerſt geſucht, demſelben durch Anordnung gewiſſer Freyoͤrter, wo der Verbre - cher gegen ſeinen Verfolger ſicher war, allmaͤhlig zu ſchwaͤchen.

Dieſemnach ſcheint es, daß man die Vermuthung fuͤr die Privatrache, welche noch jetzt in gewiſſen Faͤllen, wo die Ehre eines Mannes beleidiget iſt, aller Geſetzge - bung und allen Strafen trotzt, faſſen, und von der Obrig - keit den Beweis fordern koͤnne; wodurch ſie ſich berech - tiget halte, gewiſſe Verbrecher beym Leben zu erhalten?

Dieſen kann ſie rechtlicher Art nach nicht anders fuͤhren, als durch die daruͤber vorhandenen Geſetze, und wo dieſe mit Bewilligung des Volks zur Erhaltung eines Verbrechers gemacht ſind, da iſt daſſelbe von dem erſten Contrakt der Geſellſchaft in ſo fern abgegangen, und die Erhaltung beruhet auf einem richtigen Grunde. Wo aber dieſes nicht geſchehen, wo nach den Geſetzen oder dem zweyten Contrakt des Volks mit der Obrigkeit, jeder Dieb gehangen werden muß; da kann man gar nicht fra - gen, woher dieſe das Recht habe einen Dieb am LebenJ 3zu134Ueber die Todesſtrafen. zu ſtrafen? oder man muß ſich die Antwort geben, die Mitglieder des Staats haben ihrer urſpruͤnglichen Be - fugniß, jeden ihrer Feinde ſo weit ſie konnten, zu ver - folgen, nicht weiter entſagt, und die Obrigkeit iſt nicht befugt, ihr Mitleid weiter zu erſtrecken.

Mitleidige koͤnnen hier einwenden, daß nicht leicht ein guter Mann, dem ein Schaaf geſtohlen wird, den Dieb ſo gleich ums Leben bringen wuͤrde. Aber jeder wird ſich noch eines Falles erinnern, wo jemand einem naͤchtlichen Diebe, der ihm verſchiedentlich in den Schaaf - ſtall geſtiegen war, auflauerte, demſelben, wie er ihn endlich ertappete, beyde Beine und beyde Arme zerſchlug, und ihn ſo auf dem Miſthaufen ſterben ließ. That dieſes ein Chriſt, was mochten denn nicht die rohen Menſchen thun? dieſe machten keinen Unterſcheid unter dem Wolfe und unter dem Menſchen der ihnen ein Schaaf nahm; ſie ſchlugen den einen wie den andern todt, und gegen ſolche Menſchen hat die Obrigkeit die Verbrecher in Schutz genommen, aber damit nicht ſo gleich und uͤberall die Befugniß erhalten, ihren Schutz gegen den Originalcon - trakt auszudehnen, und wohl gar ohne eine allgemeine Einwilligung aller Privatraͤcher, und zu ihrer groͤßten Unſicherheit, da zu erhalten, wo jene getoͤdtet haben wuͤrden.

Zwar laſſen ſich dagegen auch noch andre Erinne - rungen machen; und es koͤnnen deren verſchiedene ſehr wichtig ſeyn. Allein ich glaube immer, daß man auf dem angelegten Wege am erſten das wahre Ziel erreichen, und ſolchen in der Maaße fuͤhren koͤnne, daß man zu ei - ner ſichern Theorie gelange.

XXXV. 135

XXXV. Alſo ſollte man den Zweykaͤmpfen nur eine beſſere Form geben.

Ob unſre Moraliſten wohl thun, wenn ſie der ge - kraͤnkten Ehre, das Recht, ihre Genugthuung durch einen Zweykampf zu fordern, ganz abſprechen, ob die Fuͤr - ſten durch ihre Geſetze es jemals voͤllig aufheben werden, und ob es nicht weit beſſer ſeyn wuͤrde, dem unaufhalt - baren Strome ſichere Ufer zu geben; dieſes ſind Fragen worauf ich mich nicht einlaſſen mag, weil meine Antwort vielleicht manchem zu ſonderbar ſcheinen moͤchte. Jndeſ - ſen habe ich doch immer folgende Geſchichte gern gehoͤrt.

Zwey Officier von einem Regimente geriethen im vorigen Kriege mit einander in Wortwechſel, und die Folge davon war eine Ausforderung auf den andern Morgen. Allein des Nachts brach die Armee auf, und es kam bey Anbruch des Tages mit dem Feinde zum Tref - fen, worin der Beleidigte, indem er ſeinem Beleidiger das Leben rettete, ſchwer verwundet wurde. Das Gluͤck wollte, daß er auf ein Gut gebracht wurde, was dem Vater des andern gehoͤrte, der ihn, wie leicht zu denken, auf die liebreichſte Art empfieng, und ihm alle diejenige Huͤlfe erzeigte, die er ſich nur wuͤnſchen konnte. Da das Treffen den Feldzug fuͤr das Jahr geendigt hatte, ſo kam auch der Beleidiger zu Hauſe, und der Dank, wel - chen er ſeinem Gegner ſchuldig war, erzeugte bald unter beyden die innige Freundſchaft wieder, worinn ſie vor - her beſtaͤndig gelebt hatten. Die ganze Familie nahm den aufrichtigſten Theil daran, und beyde philoſophirten mehrmals uͤber den Zweykampf, welchen ſie nach ihrerJ 4Wie -136Alſo ſollte man den ZweykaͤmpfenWiederkunft beym Regimente Ehrenhalber wuͤrden hal - ten muͤſſen, weil ihr Wortwechſel in Gegenwart mehre - rer Officiere vom Regimente entſtanden war. Beyde er - kannten die Nothwendigkeit deſſelben, und ſelbſt der Va - ter des Einen, der ſie beyde als ſeine Soͤhne liebte, war der Meinung, daß der eine Genugthuung haben, und der andre ſie geben muͤßte, weil ſonſt keiner mit dem Be - leidigten dienen wuͤrde. Aber verſetzte ſeine liebenswuͤr - dige Tochter, die bisher fuͤr den Erretter ihres Bruders die zaͤrtlichſte Sorgfalt gehabt hatte, und noch immer glaubte, daß alles Scherz waͤre: koͤnnen ſie denn nicht gegen einander ein Paar Kugeln vorbeyſchießen, oder mit ſtumpfen Degen fechten? Man ſchwieg um ſie nicht zu beunruhigen, jedoch ein jeder dachte bey ſich, daß der - gleichen Kinderſpiele keinem rechtſchaffenen Mann geziem - ten, und daß ein jeder von ihnen um ſo viel ernſthafter zu Werke gehen muͤßte, je groͤßer der Verdacht waͤre, daß ſie ſich als Freunde einander ſchonen wuͤrden.

Jn dieſen Geſinnungen reiſeten ſie mit einander ab, und ſchwerlich iſt ein Abſchied zaͤrtlicher und trauriger geweſen. Die Schweſter wollte ihren Bruder nicht aus den Armen laſſen, oder er ſollte ſchwoͤren .... aber dieſer riß ſich fort; und nun wagte ſie es in dieſem groſ - ſen Augenblicke, auch den Eerretter deſſelben zum er - ſtenmal zu umarmen, und ihn zu beſchwoͤren aber auch er entwandte ſich ihren maͤchtigen Thraͤnen. Der Vater ſahe ihnen mit ſegnenden Augen nach, und hoffte ſie wuͤrden als Maͤnner von Ehre handeln.

Jndeſſen hatte er doch die Vorſicht gehabt, und den ganzen Vorfall ihrem General gemeldet; weil es ihm wirklich zweifelhaft geſchienen, ob die Sache einen Zwey - kampf erforderte, und er denſelben nur aus dem Grunde gebilliget haͤtte, daß ein Mann von Ehre auch in einemzwei -137nur eine beſſere Form geben. zweifelhaften Falle, ſeine Genugthuung mit dem Degen ſuchen muͤßte. Der General gab beyden, ſo wie ſie an - kamen, Arreſt, verſammlete ſaͤmmtliche Officier vom Re - gimente, und trug ihnen den Fall vor, ſo wie ihn dieje - nigen, die bey dem Streite gegenwaͤrtig geweſen waren, beſtaͤtigten. Alle erkannten einmuͤthig, daß die Sache durch eine Erklaͤrung des Beleidigers gehoben werden koͤnnte, und wie dieſer ſich dazu auf das freymuͤthigſte erklaͤrte, umarmeten ſie ſich beyde, und die ſaͤmmtlichen Officiere vom General an bis auf den juͤngſten Faͤhndrich, umarmten jeden von ihnen, zum Beweiſel, daß ſie die - ſelben fuͤr Maͤnner von Ehre erkenneten.

So endigte ſich dieſe Sache, und ich bin gewis, daß die Haͤlfte von allen ſo geendigt werden koͤnnte, wenn der Zweykampf wieder erlaubt, nnd es nur unter der ſtreng - ſten Strafe verboten wuͤrde, daß keiner dergleichen ein - gehen ſollte, ohne Vorerkenntnis des Regiments. Hie - durch wuͤrden alle zweifelhafte Faͤlle, welche gewis die Haͤlfte wo nicht zwey Drittel ausmachen, ſo fort weg - fallen, und wie leicht koͤnnen vernuͤnftige Officiere, wenn ſie wollen, eine Sache ſo ſtellen, daß ſie zweifelhaft ſcheine.

Dagegen aber wuͤrde ich auch ein Geſetz fordern, daß ſo bald das Regiment auf den Zweykampf erkennete, beyde Theile ſo lange kaͤmpfen ſollten, bis einer auf dem Platze bliebe; um der Leichtfertigkeit, womit manche zum Degen greifen, und ſich wieder ihre Abſicht ungluͤcklich machen, einigen Einhalt zu thun.

Uebrigens glaube ich nicht, daß man jemals bey den nordlichen Voͤlkern, die von je her den Zweykampf geliebet, und auch eben ſo lange den Meuchelmord ver - abſcheuet haben, auf andre Weiſe etwas ausrichten werde.

J 5Mir138Alſo ſollte man den Zweykaͤmpfen ꝛc.

Mir ſcheint der Zweykampf in obiger Form die letzte moͤgliche Einſchraͤnkung der Selbſtrache zu ſeyn. Moſes wagte es nicht, dieſe ganz aufzuheben, vielmehr lies er ihr ihren Lauf, und ſetzte derſelben die Freyſtaͤtte entge - gen. Die ſpaͤtern Juden mochten ſich bis zu Sonnenun - tergang ſelbſt raͤchen duͤrfen. Denn Ehriſtus ſagt, ſie ſollten ihren Zorn auch nicht einmal bis dahin waͤhren laſſen. Die Deutſchen konnten ſich bis zur dritten Sonne ſelbſt Recht ſchaffen, ohne dadurch den Landfrieden zu brechen. Aber bey allen dieſen Einſchraͤnkungen behielt der Beleidigte doch mehrentheils das Recht, binnen der ihm zur Selbſtrache erlaubten Friſt, ſeinen Feind mit ungleicher Gewalt, und mit ungleichen Waffen zu uͤber - fallen, und wenn er ſeiner maͤchtig wurde, nach Willkuͤhr zu behandeln. Um dieſen und andern wilden Ausbruͤchen der Selbſtrache vorzubeugen, glaube ich, ſchraͤnkte man ſie auf einen foͤrmlichen und feyerlichen Zweykampf ein. Hiedurch behielt die Natur ihr Recht; und der Geſetz - geber muß zufrieden ſeyn, wenn er das Moͤgliche ſicher erreicht hat.

Die Franzoſen erlauben einem Manne, der ſeinen Proces verlieret, in der Publications-Audienz, die groͤb - ſten Jnjurien gegen ſeine Richter weil ſie glauben, die Natur laſſe ſich ſo weit nicht unterdruͤcken, Aber ſo bald er das Audienz-Zimmer verlaſſen hat, darf er ſeine Em - pfindungen nicht mehr frey reden laſſen.

XXXVI. 139

XXXVI. Von der Gewohnheit des juͤdiſchen Volks auf das Oſterfeſt, die Loslaſſung eines Gefangenen zu fordern.

Es heißt bey den beyden Evangeliſten Mathaͤus und Marcus, der Landpfleger habe die Gewohnheit gehabt, dem Volke auf das Oſterfeſt einen Gefan - genen loszugeben; Lucas aber ſagt ſchon, der Land - pfleger habe ihm einen nach Gewohnheit des Feſtes los - geben muͤſſen, und der Evangeliſt Johannes beſtimmt es deutlicher, daß es nicht ſo wohl eine Gewohnheit des Landpflegers als vielmehr ein Herkommen des juͤdiſchen Volks geweſen ſey, auf das Oſterfeſt die Loslaſſung eines Gefangenen zu fordern. Die Rede iſt alſo von einem Rechte des Volks, welches auch der roͤmiſche Statthal - ter verehren mußte, und nicht von einer Gnade oder Ge - faͤlligkeit, wodurch derſelbe ſich etwa bey dem Volke be - liebter zu machen ſuchte. Es iſt auch hier nicht von dem Volke, was wir uns unter dem Namen Poͤbel gedenken, ſondern von einer gleichſam zum Reichstage verſammle - ten Nation die Rede, weil dieſes Recht nur auf Oſtern wo die Nation zu Jeruſalem verſammlet war, ausgeuͤ - bet werden konnte; und ſo trage ich kein Bedenken die - ſes Recht fuͤr das Begnadigungsrecht zu erkennen, was in andern bekannten Staaten ein Recht des Throns oder der hoͤchſten Obrigkeit, hier aber auf eine eingeſchraͤnkte Weiſe dem ganzen Volke uͤberlaſſen iſt. Alsdenn aber zeugt es von einem ſehr großen politiſchen Plan, den die Juden in ihrer juͤngſten Verfaſſung zum Grunde gelegt hatten.

Ueber -140Von der Gewohnheit des juͤdiſchen Volks

Ueberhaupt ſcheint dieſe Nation es mit allen Re - gierungsformen verſucht zu haben. Bald hatten ſie eine prieſterliche Gewalt von der Feldherrlichen getrennt, bald waren ſie unter Richtern, bald unter Prieſtern, bald unter Koͤnigen; dann fielen ſie wieder auf Prieſter, denen die koͤnigliche Gewalt anvertrauet war, und ſie kannten auch Koͤnige, die zugleich Prieſter des Herrn waren. Sie ſcheinen alſo uͤber die Regierungsformen viel philoſophirt zu haben, wie ſie denn auch dieſe Philoſophie zu vielen großen Staatsrevolutionen verfuͤhret hatte, und man kann wohl annehmen, daß jene Gewohnheit des Volks, auf das Feſt die Loslaſſung eines Gefangenen zu fordern, das Reſultat eines uͤberaus feinen Nachdenkens geweſen ſey. Denn man ſieht leicht, wie gefaͤhrlich es ſeyn wuͤr - de, in einer Democratie das Recht der Begnadigung in den Haͤnden des Volks zu laſſen. Jedes Urtheil was wi - der einen ſeiner Lieblinge ausgeſprochen werden wuͤrde, wuͤrde unvollſtreckt bleiben, und insgemein ſind die Lieb - linge des Volks in der Democratie unruhige und ſchwaͤr - meriſche Koͤpfe. Aber auch eben ſo gefaͤhrlich wuͤrde es in einer Ariſtocratie ſeyn, den Obrigkeiten das Recht der Begnadigung zu laſſen; alle maͤchtige Unterdruͤcker des Volks wuͤrden leicht Gnade finden, und der geringſte Widerwillige unter dem Volke nach aller Strenge der Geſetze gerichtet werden. Wollte man alſo das Begna - digungsrecht nicht ganz ausſchließen: ſo mußte auf einen Mittelweg gedacht werden, und dieſer mochte darinn ge - funden werden, daß man dem Volke am Oſterfeſte, oder der verſammleten Nation erlaubte jaͤhrlich einen loszu - bitten. Dieſes Temperament war um ſo viel feiner, je gewiſſer es iſt, daß das Begnadigungsrecht nur ſelten ausgeuͤbt werden duͤrfe. Denn es iſt eine der groͤßten politiſchen Wahrheiten, daß die Geſetze milde und dieRich -141auf d. Oſterf., einen Gefangenen zu fordern. Richter ſtrenge ſeyn muͤſſen, und daß man durch die Hof - nungen auf Gnade niemanden reizen ſolle die Geſetze zu brechen.

Zur Zeit wie Chriſtus zum Tode verurtheilet wurde, hatten die Hohenprieſter und Oberſten des Volks die Ur - theilweiſung, Pilatus als des Kayſers Richter die Beſtaͤti - gung und Vollſtreckung des von ihnen gewieſenen Urtheils, und das verſammlete Volk das Recht der Begnadigung. Dieſes liegt klar vor Augen. Die Urtheilsweiſer ſagten, wir haben ein Geſetz und nach dem Geſetze haben wir Chriſtum verdammt, dieſes iſt die Sprache der Schoͤpfen. Pilatus wollte Chriſtum retten und verſuchte es auf aller - ley Weiſe, indem er ihn einmal an den Richter ſeiner Heymath (ad forum originis vel domicilii) wo vermuth - lich andre Urtheilsweiſer waren, zuruͤckſchickte, ein ander - mahl aber, nachdem ihn Herodes dem Gerichtsſtande der Ergreiffung (foro apprehenſionis) uͤberließ, ihn mit dem aͤrgſten Moͤrder dem Volke vorſtellete, in Hofnung, die - ſes wuͤrde doch nicht raſend ſeyn, und eher einen Moͤr - der als einen Unſchuldigen losbitten. Aber der Poͤbel in der Hauptſtadt, der von den Hohenprieſtern und Ober - ſten ſeinen meiſten Vortheil hatte, uͤberſchrie das ver - ſammlete Landvolk, was ſonſt uͤberall fuͤr Chriſtum war, und forderte Barrabam, wogegen Pilatus nichts weiter ſagen konnte. Jhm ſtand alſo das Begnadigungsrecht ſo wenig als dem Kayſer zu, weil er ſonſt nach ſeinen Ge - ſinnungen daruͤber an letztern berichtet haben wuͤrde. Und ſo bleibt nichts uͤbrig, als dem verſammleten Volke dieſen Theil des Majeſtaͤtsrechts zuzulegen.

Jndeſſen leugne ich nicht, daß der roͤmiſche Statt - halter mehrmals einen Verurtheilten losgegeben haben moͤge; wer die Macht hat, geht leicht uͤber die Form weg. Vielleicht hatte er auch ein votum negativum. Und ſomochte142Von der Gewohnheit des juͤdiſchen Volksmochte auch Pilatus jetzt etwas zum Vortheil Chriſti wa - gen wollen; weil die Juden Chriſtum zuletzt eines Staats - verbrechens beſchuldigten, und zu jenen ſagten: laͤßt du dieſen los: ſo biſt du des Kayſers Freund nicht. Aber darum bleibt es doch ein richtiger Satz, daß das Volk am Oſterfeſte das Recht hatte die Loslaſſung eines Ge - fangenen zu fordern; und hiezu weiß ich keinen beſſern Grund als obiges Temperament unterzulegen.

Zwar koͤnnte man annehmen, daß dieſe Loslaſſung zum Andenken ſeiner Loslaſſung aus der Egyptiſchen Scla - verey, welche auch um Oſtern erfolgte, eingefuͤhrt ſey. Man koͤnnte weiter annehmen, daß auch das Oſterfeſt die Epoque ſeiner Befreyung aus der Babiloniſchen Ge - fangenſchaft geweſen ſey. Allein da man es nicht ſo leicht annehmen kann, daß das Volk unter ſeinen Richtern, Prieſtern und Koͤnigen ein gleiches Recht gehabt habe: ſo ſcheinet dieſes nicht wahrſcheinlich zu ſeyn; obgleich die Roͤmer, welche den uͤberwundenen Voͤlkern ihren Gottesdienſt, ihre Geſetze und ihre Gewohnheiten gern goͤnneten, auch in dieſem Fall jenes Recht der Oſterbitte verehret haben wuͤrden. Denn waͤre es zum Andenken der Erloͤſung aus Egypten eingefuͤhrt: ſo wuͤrden ſich da - von aͤltere Spuren und wahrſcheinlich auch eine Moſal - ſche Verordnung finden.

Es iſt uͤbrigens kein Volk bekannt, was auf dieſe Art das Begnadigungsrecht ausgeuͤbt hatte. Burnaby erzaͤhlt von Rhode Jßland, daß das dortige Volk ſolches an ſich genommen haͤtte, und von andern Staaten weiß man, daß das Volk ſich jedes Urtheil uͤber Leib und Le - ben vorbehalten und ſolchergeſtalt was dieſe beyde Punkte anlangt, die richtende und geſetzgebende Gewalt wider - natuͤrlich vereinigt habe; ſo war es bey den alten Deut -ſchen.143auf d. Oſterf., einen Gefangnen zu fordern. ſchen. Allein das letztere iſt auf die Dauer mit gar zu vielen Umſtaͤnden verknuͤpft, und die Juſtitzpflege auf Rhode Jßland iſt im ſchlechten Rufe. Blos ein ſolcher Plan, wie der juͤdiſche war, konnte ſich erhalten. Denn das Recht alle Jahr einen Gefangenen los zu machen iſt ein uͤberaus feiner und gluͤcklicher Mittelweg, faſt wie derjenige, welchen die alten Sachſen erwaͤhlet hatten, die das Recht der Begnadigung dem Kayſer einraͤumten, aber dem Begnadigten keinen Aufenthalt im Lande ver - ſtatteten.

XXXVII. Etwas zur Verbeſſerung der Zuchthaͤuſer.

Es iſt eine bekannte Wahrheit, daß in dem hieſigen Zuchthauſe immerfort zehn wo nicht zwanzigmal mehr Maͤnner als Weiber geſeſſen haben; und ich hoffe nicht, daß mir das ſchoͤne Geſchlecht daruͤber boͤſe wer - den wird, wenn ich hiemit oͤffentlich ſage, daß es die bel etage, welche fuͤr daſſelbe darinn zurecht gemacht iſt, gar - aus nicht verdiene, und zugleich meine Gedanken daruͤ - ber vorlege, wie dieſes Stockwerk beſſer genutzt werden koͤnne?

Dieſe gehn kuͤrzlich darauf hinaus, daß man daſſelbe blos mit ſichern Leuten beſetzen, und durch dieſelben zu - gleich die unſichern im oberſten Stockwerk, bewahren und bewachen laſſen ſolle, wodurch allein in der Bewa - chung jaͤhrlich mehr erſparet werden wird, als der Unter - halt aller unſichern Zuͤchtlinge koſtet.

Un -144Etwas zur Verbeſſerung der Zuchthaͤuſer.

Unſtreitig fallen hier im Lande, ſo gut wie in an - dern, viele Verbrechen einheimiſcher Leute vor, welche mit einigen Monaten oder Jahren im Werkhauſe gebuͤſſet werden koͤnnen und muͤſſen. Dergleichen Verbrecher wer - den um dieſer Strafe zu entgehen gewiß das Land nicht verlaufen, oder wo ſie es anfangs thun, nur in keinem Falle begnadiget werden duͤrfen, um die kuͤnftigen ohne alle auſſerordentliche Bewachung im Werkhauſe zu erhal - ten. Man hat an vielen Orten Werkhaͤuſer, woraus die Eingeſperreten in die Stadt zur Arbeit vermiethet werden, und zu der ihnen geſetzten Stunde frey aus - und eingehen koͤnnen, bey dem allen aber in guter Zucht und Ordnung bleiben. Die Sache iſt alſo ſo wenig ohne Ex - empel als ohne Hofnung eines guten Erfolgs: und wenn einmal das unterſte Stockwerk auf dieſe Art zum bloßen Werkhauſe beſtimmt, mithin von dem eigentlichen Zucht - hauſe, welches ſo dann auch fuͤr die darinn ſitzende, ſchimpflicher und empfindlicher werden wird, abgeſondert iſt: ſo leidet es auch wohl keinen Zweifel, daß darauf nicht in mehrern Faͤllen als jetzt erkannt, und mancher ungerathener Menſch, mancher ſchlechter Wirth, und mancher andrer Frevler, den man eben nicht zum Zucht - hauſe verdammen mag, darinn gebeſſert werden koͤnne.

Aus dergleichen Leuten, welche wie geſagt, das Land nicht verlaufen koͤnnten und wuͤrden, waͤren nun leicht alle Naͤchte, unter gehoͤriger Abwechſelung, einige zu Waͤchtern zu gebrauchen; man koͤnnte ſie die Stelle der Zuchtknechte vertreten laſſen, und zu allerhand Arten von Arbeiten, welche jetzt fuͤr Geld verrichtet werden muͤſſen, nuͤtzen, ohne daß es noͤthig waͤre, ihnen eine Begleitung, als welche man doch immer gern erſparen will, mitzuge - ben. Eine Verlaͤngerung ihrer Strafe, und eine guteZuͤch -145Etwas zur Verbeſſerung der Zuchthaͤuſer. Zuͤchtigung wuͤrden allenfalls hinreichen, ſie in gehoͤriger Ordnung zu erhalten.

Ueberhaupt dienen meiner Meinung nach die Werk - haͤuſer einem Staate mehr als die Zuchthaͤuſer. Denn außer dem, daß dieſe nicht immer fuͤr uns und unſre Kin - der ſind, gleichwohl aber dem Staate, der ehedem die fremden Diebe mit einem eben nicht viel koſtenden Brand - marke, abfertigen konnte, ſehr zur Laſt fallen, und oft die guten Einwohner mehr druͤcken, als die boͤſen beſſern: ſo werden mehrentheils nur ſolche darin gezuͤchtiget, an denen alle Hofnung zur Beſſerung verlohren iſt, und die - ſes iſt doch der wenigſte Nutze fuͤr den Staat, dem es unſtreitig mehrern Vortheil bringt, wenn er viele ſchlechte Leute darin beſſern, und aus ihnen gehorſame und fleiſ - ſige Unterthanen machen kann, als wenn er das Zucht - haus blos zum Bauer fuͤr ſolche Voͤgel gebraucht, die nicht frey herum fliegen ſollen.

Die letztere Abſicht iſt zu klein fuͤr die Anlage und nicht wuͤrdig genug. Zwar thun einige ſehr aͤngſtlich hie - bey, und glauben nicht ſicher ſchlafen zu koͤnnen, ſo lange noch ein ſolcher Raubvogel frey herumfliegt. Allein ich finde doch nicht daß die Zeiten und Laͤnder, worin man keine Zuchthaͤuſer hatte, ungluͤcklicher als diejenigen ge - weſen ſind, worin man dergleichen koſtbarlich unterhaͤlt; ich finde nicht daß unſre Vorfahren unruhiger geſchlafen haben, da man ſich blos mit der Landesverweiſung be - helfen mußte; und man wird bey einem leicht zu ma - chenden Ueberſchlage finden, daß die Uebelthaten ſich in beyden Zeiten und Laͤndern gleich verhalten haben. Unſer Hauptuͤbel iſt nur, daß unſre Staaten jetzt zu klein ſind, und ein Dieb, der des Landes verwieſen wird, nicht weit zu gehen braucht, um ſich eine gute Wohnung und Ge - legenheit wieder zu miethen. Daher hat die Landesver -Moͤſers patr. Phantaſ. IV. Th. Kwei -146Etwas zur Verbeſſerung der Zuchthaͤuſer. weiſung befonders in ſolchen Staaten, wo es eben nicht angenehm zu wohnen iſt, ſehr vieles von ihrem Werthe wie von ihrem Nutzen verlohren; in den alten Zeiten wie die Kreisſtaͤnde ſich hieruͤber verſtanden, und diejeni - gen die aus einem Lande verwieſen waren, in einem an - dern deßelbigen Kreiſes nicht aufgenommen wurden, mochte man mehr damit ausrichten. Unſre Vorfahren, die allemal reich an praktiſchen Erfindungen waren, hat - ten ein vortrefliches Mittel hieruͤber ohne viele Umſchwei - fe, eine nachbarliche Correſpondenz zu unterhalten. Sie ſtempelten den Verbrecher mit einem gluͤenden Eiſen auf den Ruͤcken, und nirgends ward ein Neuwohner aufge - nommen ohne zufoͤrderſt der Obrigkeit, unter welcher er aufgenommen ſeyn wollte, einen reinen Ruͤcken zu zeigen. Wenn wir dieſe Erfindung, welche zum Theil durch un - ſre neumodiſche Menſchenliebe verſcheucht iſt, wieder auf - naͤhmen: ſo wuͤrden wir vielleicht damit eben ſo gut aus - langen, als man damit in den Zeiten, wie noch gar kei - ne Zuchthaͤuſer und mehr reiche Leute als jetzt in der Welt waren, ausgelangt iſt.

Eben dieſe allmaͤhlig eingeſchlichene Empfindſamkeit hat, indem ſie einige Strafen gemildert, ſolche nur haͤu - figer noͤthig gemacht. Man hat in verſchiedenen deut - ſchen Stadtrechten viele ſonderbar ſchimpfliche und kraͤn - kende Strafen gegen allerhand Garten - und Felddiebe - reyen gehabt; und es iſt glaublich, daß das Exempel, was damit an Einem gegeben worden, zehn andre be - kehrt habe. Jetzt ſind wir gelinder, und die Folge da - von iſt, daß wir zehn Leute ſtatt einen ſtrafen muͤſſen. Jn den aͤlteſten Zeiten und bey allen Voͤlkern iſt das Blen - den eine ſehr gewoͤhnliche Strafe geweſen, ſie vertrat die Stelle der Lebensſtrafe, und ich glaube, daß ſie die fuͤrch -terlichſte147Etwas zur Verbeſſerung der Zuchthaͤuſer. terlichſte unter allen ſey. Jetzt haben wir ſolche verlaſſen, weil wir glauben, man koͤnne das Ebenbild Gottes wohl an den Galgen hangen, aber nicht ſeiner Augen berau - ben. Allein ob wir wohl daran gethan haben, und ob es nicht den groͤßten Eindruck machen wuͤrde, wenn noch jetzt Uebelthaͤter geblendet, und zum Radlauſen verkau - fet wuͤrden, iſt eine andre Frage. Zum Radlaufen fin - det ſich uͤberall Gelegenheit, und unſre Glandern, welche jetzt ein Pferd koſtbarlich zieht, koͤnnten weit wohlfeiler mit einem Rade, worin ein ſolcher Geblendeter laufen muͤßte, getrieben werden. Er kann ſeinem Herrn nicht entlaufen, und allemal leicht von ihm gezuͤchtiget werden.

Das Verkaufen der Uebelthaͤter die es verdient hat - ten, war auch gar keine uͤble Strafe, und man thut es noch in verſchiedenen Seehaͤfen, wo man Gelegenheit hat, ſolche weit fortſchicken zu koͤnnen. Ein Menſch der mit oder ohne Brandmark des Landes verwieſen wird, kann ſich noch in alle vier Theile der Welt wenden, und ſein Gluͤck von neuem verſuchen. Dieſes kann der Ver - kaufte ſo gleich nicht, und es iſt immer ein Grad der Sicherheit mehr dabey, als bey der bloßen Landesver - weiſung, womit man doch ehe und bevor Zuchthaͤuſer Mode waren, vieles bezwingen mußte. Was kann uns alſo hindern den Verkauf wieder einzufuͤhren? die Reichs - geſetze nicht, dieſe verbieten nur das Verkaufen eines Chriſten an die Unglaͤubigen; die Unſicherheit auch nicht, da ſie nicht ſo groß iſt, als bey der ſonſt uͤblichen Lan - desverweiſung; und Wiederkehren darf der Verkaufte nicht, weil der Verkauf die Landesverweiſung in ſich be - greift. Geſchaͤhe der Verkauf ſolcher Uebelthaͤter endlich an einen Nachbaren: ſo wuͤrde auch dieſer ihnen auf den Fall, da dergleichen Sclaven die Flucht ergriffen, keineK 2Woh -148Etwas zur Verbeſſerung der Zuchthaͤuſer. Wohnung auf der Graͤnze geben. Der Verkaufte wuͤrde aber immer mit dem gluͤenden Eiſen geſtempelt, und eine Konfoͤderation mit den Nachbaren, daß man keine alſo ge - ſtempelte Neuwohner aufnehmen wolle, errichtet werden muͤſſen, um den Verkauften, wenn er ſich auf freye Fuͤße ſetzen ſollte, zuverhindern, ſich an unſern Graͤnzen haͤuslich niederlaſſen zu koͤnnen.

Auf dieſe Weiſe, wird man ſagen, wuͤrden derglei - chen Verkaufte und Verbannte, aus Mangel einer Woh - nung, nothwendig Straſſenraͤuber und alſo auch gefaͤhr - licher werden muͤſſen. Allein einmal iſt der Staat, der den Verbrecher verkauft, hieran unſchuldig; dieſer hat ihm damit einen Aufenthalt verſchaft, der ihn von der Nothwendigkeit ein Raͤuber zu werden befreyt. Wird er es aber doch: ſo iſt er weniger zu fuͤrchten, als ein Haus - ſitzender Dieb, denn ein Straſſenraͤuber laͤuft bald an den Galgen.

Ferner, kann der Kaͤufer ſeinen Sclaven ſo ſicher bewahren als der Zuchtmeiſter, und man hat Exempel daß letzterem auch Leute entlaufen ſind; und letztlich hat man zur Zeit, wie man die Verbrecher mit dem Stem - pel in die Welt ſchickte, nicht mehrere Straſſenraͤuber ge - habt als jetzt. Die ganze philoſophiſche Welt klagt dar - uͤber, daß bey allen Arten von Strafen die Summe der Verbrecher in der Welt, immer gleich groß bliebe; und die Wahrheit iſt, daß Armuth und Roth die mehrſten Verbrecher zeugen, welche als Diebe und Raͤuber gehan - gen werden; und daß alle Strafen nur dem Scharfrich - ter und ſeinen Knechten, aber keinen andern den Lebens - unterhalt verſchaffen.

Aber wo werden ſich die Liebhaber finden, welche bey einer ſolchen Menſchenverſteigerung mit bieten wer - den? Je nun das ſtuͤnde zu erwarten; .... man koͤnntees149Etwas zur Verbeſſerung der Zuchthaͤuſer. es ja durch die Jntelligenzblaͤtter bekannt machen laſſen; eine genaue Beſchreibung der Waare lockte vielleicht noch Liebhaber herbey, die uns jetzt unbekannt ſind; und wer weiß ob nicht mancher Verkaufter eher als ein Zuͤchtling gebeſſert wuͤrde? So viel iſt wenigſtens gewiß, daß je - mand, der ſich die Beſſerung eines einzelnen Menſchen angelegen ſeyn laͤßt, damit eher als der Zuchtmeiſter, der mit vielen zu thun hat, zu Stande kommen werde. Man weiß die Geſchichte des Maͤdgens, das des Mor - gens den Staupbeſen mit dem Brandmarke empfangen hatte, und des Abends hundert tauſend Gulden in der Lotterie gewann; ſie ward unter der Zucht eines einzigen guten Mannes einne beſſere Frau, als ſie jemals im Zuchthauſe geworden ſeyn wuͤrde.

XXXVIII. Rede eines Baͤckers uͤber die Backproben.

Der Becker muͤßte ſein Handwerk ſchlecht verſtehen, der euch Schriftgelehrten nicht allemal die Probe ſo machen koͤnnte, daß er Recht behielte. Verſtehet er die Kunſt aus vierzig Pfund Roggen nur dreißig Pfund Mehl und aus zwey Pfund Mehl nur zwey Pfund Brod zu liefern: ſo verſteht er wahrlich auch die Kunſt das Mehl ſo zu ſieben, den Teig ſo zu kneten, und den Ofen ſo zu hitzen, daß ihr durch eure ſpaniſchen Brillen nichts ſehen werdet, als was er euch ſehen laſſen will. Da wo ich zu Hauſe gehoͤre, und nur Weitzenbrod gegeſſen ward, lieferte der Baͤcker zuerſt von drey Pfund Mehl vier Pfund Brod, und als er ſich hiedurch zu ſehr beſchwert glaubte, fuͤnf Pfund Brod von vier Pfund Mehl; und ein glei -K 3ches150Rede eines Baͤckersches denke ich muͤßte auch von Roggen geſchehen koͤnnen, beſonders wo das Roggenbrod in Leiben von zwey Pfund gebacken wird, weil das groͤbſte Mehl das mehrſte Waſ - ſer zieht, und das große Brod im Ofen am wenigſten ausduͤnſtet. Jedoch ich will mich hiebey nicht aufhalten, ſondern euch nur im Vertrauen fragen: wie ihr die Pro - be anſtellen wollet?

Zufoͤrderſt wiſſet ihr noch gar nicht genau, wie viel Pfund Mehl und Kleyen von einem Scheffel Roggen aus der Muͤhle kommen. Etwas nimmt der Muͤller zum Lohn und das wird ſich beſtimmen und berechnen laſſen. Et - was koſtet die Muͤhlenfuhr, und etwas verfliegt; auch das laͤßt ſich beſtimmen. Aber nun mahlt der eine Muͤl - ler und die eine Muͤhle weit ergiebiger als die andre; es mahlt ſich bey trockner Witterung beſſer als bey feuchter: und ein Muͤller iſt ehrlicher als der andre. Sodann giebt Roggen von Sande, von einer trocknen Erndte, ſo wie gedoͤrreter und alter Roggen weit mehr Mehl als der leichte hohle und dickhaͤutige von ſchlechterm Gewaͤchſe. Und wenn ihr auch ein Gemiſche von allerhand Arten Korn nehmet, wie es die Muͤhle liefert; wenn ihr auch im Durchſchnitte berechnet, was in hundert Proben ſo an hundert Tagen, mit der naͤmlichen Art Korn, und von dem naͤmlichen Gewichte, aus den verſchiedenen Muͤhlen zuruͤckgekommen: ſo habt ihr noch nichts weiter, als eine gewiſſe Summe von Pfunden an Mehl und Kleyen durch - einander, und wißt ungefehr was ihr an dem Gewichte des Roggens verlohren habet. Jhr wißt aber nicht, ob die Kleyen rein ausgemahlen, und ob folglich ſo viel Mehl aus dem Siebe kommen werde, als ihr daraus zu erwarten berechtiget ſeyd. Dies kann nach der Art des Korns, des Mahlens und der Witterung, immer um 10 und 20 vom Hundert fehlen. Und der Baͤcker, der esein151uͤber die Backproben. ein oder zweymal ſiebt, oder beutelt, muͤßte ein ſehr un - erfahrner Mann ſeyn, der auch nicht bey der Probe fuͤnf Pfund vom Hundert mehr oder weniger in die Luft ſchik - ken oder in den Kleyen zuruͤcklaſſen koͤnnte.

Wenn ihr aber auch wißt was an Mehl aus dem erſten und andern Siebe, oder aus der Beutelkiſte koͤmmt; ſo tritt ſchon wieder eine andre Ungewisheit ein, indem das geruhete und getrocknete Mehl ſchon weit er - giebiger als das friſche, ſo wie das eine Gewaͤchs gedey - licher als das andre iſt. Es tritt eine neue Ungewisheit beym Kneten ein, weil euch eure eigne Erfahrung uͤber - zeugen kann, daß der Baͤcker immer fuͤnf Pfund Brod mehr aus hundert Pfund Mehl backen kann, als ihr daraus zu backen im Stande ſeyn werdet. Jeder hat hierin ſeine eigne Kunſt; hundert Pfund von eurem eig - nen Brode ſind immer ſo nahrhaft als hundert fuͤnfe vom Baͤcker. Aber dieſer verſteht ſich beſſer aufs Gewicht zu backen als ihr; und wenn er nun dieſe Wiſſenſchaft bey der Probe nicht zeigt: ſo ſeyd ihr doch wieder hintergan - gen: das rechte Maaß des Waſſers, was zum Teige ge - hoͤrt, kann nur ein erfahrner Baͤcker wiſſen; und ein bis - gen mehr oder weniger bey der Probe macht wieder ei - nen wichtigen Unterſchied. So dunſtet auch grobes Mehl im Backen mehr aus als feines, und der Geſt .... doch was hilft es daß ich euch Gelehrten alle meine Ge - heimniſſe entdecke? Jhr prahlt nur damit und nuͤtzet ſie doch nicht. Wer mir funfzig Ducaten giebt, dem will ich es entdecken wie alle Baͤcker reich werden. Aber um - ſonſt bin ich nichts weiter als

Dero gehorſamer Diener.

K 4XXXIX. 152Gewiſſensfrage eines Advokaten.

XXXIX. Gewiſſensfrage eines Advokaten.

Jch bin ein Advocat, und habe ſchon manche. Sache vor Gerichte vertheidigt, aber unter allen noch keine ſo ungerecht gefunden, daß ich ſolche abzuweiſen noͤthig erachtet haͤtte. Gleichwohl iſt meine Parthey mehr als einmal in alle Koſten verdammt worden, und ich habe daraus ſchließen muͤſſen, daß ich mich mit Vertheidigung einer ungerechten Sache abgegeben habe. Dieſes beun - ruhiget mich, und ich moͤchte daher gern wiſſen, wie weit die Graͤnzen meiner Pflicht gehen?

Ein alter guter Freund ſagte mir, der Advocat ver - hielte ſich wie ein Soldat, der die Sache ſeines Herrn aufs beſte vertheidigen muͤßte, ohne ſich um die Gerech - tigkeit derſelben zu bekuͤmmern; ſo wie die raiſon de guerre es mit ſich braͤchte, daß man gegen ſeinen Feind kein Gift gebrauchen, und keine Patroullen ermorden duͤrfte: ſo braͤchte es auch die raiſon du barreau mit ſich, daß man nur keine falſche Urkunden und falſche Zeugniſſe gebrau - chen, und wenn die Parthey des Krieges muͤde waͤre, die - ſelbe nicht vom Frieden abrathen muͤßte, weiter gienge die Pflicht des Advocaten nicht.

Allein dieſe Vergleichung iſt meines Ermeſſens nicht voͤllig genau. Es ſind hoͤhere Urſachen, warum der Sol - dat ſich nicht um die Gerechtigkeit der Sache, wofuͤr er ſein Leben wagt, bekuͤmmern darf; und daß einer ſich keiner Betruͤgerey ſchuldig machen, und keine Partheyen die den Frieden ſuchen, gegen einander verhetzen duͤrfe, iſt eine gemeine Pflicht, die allen Menſchen obliegt. Je -ne153Gewiſſensfrage eines Advokaten. ne Frage iſt alſo dadurch nicht eroͤrtert; und ob mir gleich andre ſagen, der ſicherſte Weg ſich in ſolchen Faͤllen zu rathen, ſey dieſer, daß man nicht gegen ſein eignes Ge - wiſſen handle, und die Vertheidigung keiner Sache uͤber - nehme, die man ſelbſt ungerecht findet: ſo iſt mir doch auch damit nicht ſattſam geholfen, weil ich mehrmals bemerket, daß eine Sache die mir anfangs ungerecht ge - ſchienen hat, in der Folge, wenn ich erſt von allen Gruͤn - den und Umſtaͤnden erwaͤrmet worden bin, eine ganz an - dre Geſtalt gewonnen habe. Und ſo habe ich immer alle Sachen, die mir beym erſten Anblick ungerecht ſchienen, aus einem billigen Mißtrauen in meine erſten Einſichten annehmen muͤſſen. Daher mag es auch gekommen ſeyn, daß ich noch niemals in dem Falle geweſen bin eine mir aufgetragene Vertheidigung abzulehnen.

Es muß alſo entweder einem Advocaten erlaubt ſeyn, alle Sachen ohne Unterſchied anzunehmen, und zu ver - theidigen; oder man muß ihm einen Probierſtein anwei - ſen, woran er ſo fort die falſchen von den echten unter - ſcheiden koͤnne; und um die Mittheilung dieſes Probier - ſteins bittet inſtaͤndigſt

N. N. Adv. immat.

XL. Vorſchlag zu einem neuen Plan der deut - ſchen Reichsgeſchichte.

Jn der Geſchichte des deutſchen Reichs ſetzt man ins - gemein mit Carl dem Großen oder Ludewig dem Deutſchen ein, und holet dabey die vorhergegangeneK 5Ver -154Vorſchlag zu einem neuen PlanVerfaſſung ſummariſch auf; oder man faͤngt mit dem Ur - ſprung der Nation an, und indem man deren ihre Schick - ſale erzaͤhlt, webet man die Geſchichte des von ihr geſtif - teten Reichs mit in. Beyde Methoden haben unſtreitig ihren Werth, und faſt moͤchte ich ſagen, daß ſie fuͤr den Anfaͤnger, der durchaus ein richtiges und lebhaftes Ge - fuͤhl der Zeitordnung haben muß, worin die Begebenhei - ten vorgefallen ſind, die beſten ſind. Allein der Kenner, der nun einmal Zeichnung und Ordnung verſteht, und endlich ein wohl ausgefuͤhrtes Ganze zu ſehen wuͤnſchet, findet dabey ſein Vergnuͤgen nicht; und der Hofmann, der immer erſt einen langen gothiſchen Kloſtergang durch - wandern ſoll, ehe er in das Cabinet des Praͤlaten koͤmmt, verliert oft unterwegens ſeine beſte Laune; dabey wird ſich der arme Geſchichtſchreiber, wenn er anders ein Mann von Geſchmack und Gefuͤhl iſt, nie genug thun koͤnnen; die Gallerie iſt zu lang, und wenn er auch die beſte Wahl unter den Begebenheiten trift, die er darin ſchildert: ſo wird ſie ihm doch nie als ein großes Ganze gerathen. Jn der Epopee hat man daher laͤngſt einen andern Weg genommen, und der Einheit oder einem voll - ſtaͤndigen Ganzen zu gefallen, mit dem Helden deſſelben angefangen, ſodann aber das vorhergegangene auf eine geſchickte Art eingeflochten.

Den Vortheil dieſer Methode brauche ich Kennern nicht zu ſagen; jeder von ihnen hat ihn laͤngſt gekannt und gefuͤhlt, und Robertſon hat ihn in allen Geſchichten die er uns geliefert hat, gebraucht. So gar Mallet fieng die Braunſchweigſche Geſchichte mit Henrich dem Loͤwen an, und holte den Urſprung der Guelfen nach. Allein in der allgemeinen deutſchen Geſchichte hat noch keiner, ſo viel ich weiß, eine ſo gluͤckliche Epoche zu waͤhlen und zu nutzen geſucht.

Gleich -155der deutſchen Reichsgeſchichte.

Gleichwohl liegt es einem jeden klar vor Augen, daß ſich mit dem Landfrieden von 1495 ein ganz neues Reich angefangen, und das alte, man mag es nun mit Carl dem Großen oder Ludewig dem Deutſchen oder auch noch ſpaͤter anfangen laſſen, voͤllig aufgeloͤſet habe. Der wahre Publiciſt, wenn er die Rechte des Kayſers und der Reichs - ſtaͤnde beſtimmen will, geht nicht uͤber jenen Landfrieden hinaus, und der Staatsmann benutzt die voraufgehen - den Begebenheiten hoͤchſtens in der Maaße, wie Mon - tesquieu die alten Geſetze, und Winkelmann die halb - verwitterten Bruchſtuͤcke der Kunſt benutzet haben; meh - rentheils nur zur Philoſophie der Geſchichte.

Meiner Meinung nach muͤßte eine Geſchichte unſers heutigen deutſchen Reichs mit dieſer großen und gluͤckli - chen Confoͤderation, welche unter dem Namen des Maxi - milianiſchen Landfriedens bekannt iſt, anfangen, und dabey der Anfang und der Fortgang, ſo wie die gaͤnzli - che Zertruͤmmerung des aͤltern Reichs, in eine einzige Handlung, in eine einzige Darſtellung verwandelt wer - den. Aus der letztern ließe der Geſchichtſchreiber erſt die Nothwendigkeit dieſer neuen Vereinigung hervorgehen, zeigte dann ihre Formel, und braͤchte nun alles uͤbrige, was ſeit dem vorgefallen iſt, als Verbeſſerungen und Verſchlimmerungen des neuen Syſtems bey.

Das alte Reich endigte ſich mit Provincial-Landfrie - den und Verbindungen, welche zuletzt ſo viel kleine von einander unabhaͤngige Staaten hervorgebracht haben wuͤrden, als dergleichen Buͤndniſſe vorhanden waren; oder dieſe haͤtten mit offenbarer Gewalt der Waffen zer - trennet und uͤberwunden werden muͤſſen. Zu dem neuen hingegen confoͤderiren ſich erſt einige Fuͤrſten und Staͤnde, dieſe laden andre zu ſich, bis ſie zuletzt ſich alle zu einemgemein -156Vorſchlag zu einem neuen Plangemeinſamen Zwecke verbinden, ein gemeinſchaftliches Reichsgerichte zur Handhabung der Bundesrechte errich - ten, demſelben eine Gerichtsordnung vorſchreiben, die Mittel zur Execution gegen die Friedebrecher anweiſen, und den Kayſer als ihren Hauptherrn verbinden, dafuͤr zu ſorgen, daß alles, woruͤber die Confoͤderirten ſich ſol - chergeſtalt mit ſeiner Bewilligung verſtanden und vereini - get haben, auf das genaueſte ins Werk geſetzt, und darin erhalten werde. So wie dieſes mit vieler Muͤhe befeſti - get und die Confoͤderationsformel zur neuen Reichsfor - mel gemacht iſt, verbeſſert ſich auch der innere Zuſtand des Reichs, beſonders in ſeinen Policey - und Vertheidi - gungsanſtalten augenſcheinlich; jede Landesobrigkeit hat unter dem Schutz der Landfriedensgerichte Ruhe und Zeit, auch gute Einrichtungen in ihrem Theile zu machen; alle nun vorfallende Reichshandlungen gehn immer auf den Zweck der Confoͤderation, ſich mit vereinten Kraͤften je - dem auswaͤrtigen Angriffe und jeder innerlichen Zerruͤt - tung zu widerſetzen. Man ſchreibt den Kayſern durch Capitulation vor, was ſie als oberſte Landfriederichter zu thun und nicht zu thun haben; wie dieſes noch alles nicht vollkommen zum Zwecke der Confoͤderation wuͤrken will, entſteht zur beſſern Correſpondenz und Controle un - ter den Verbundenen, ein beſtaͤndiger Reichstag Mit einem Worte, die ganze deutſche Geſchichte von der Zeit des Maximilianiſchen Landfriedens an bis auf die gegen - waͤrtige Stunde, verwandelt ſich in eine einzige Darſtel - lung, in die Vervollkommerung der damit zum Grund - geſetze des neuen Reichs gemeinſchaftlich angenommenen Formel; und der Geſchichtſchreiber der von hier aus - gienge, wuͤrde dadurch alle Vortheile gewinnen, die der Epopeendichter ſo fruͤh genutzt hat; der Leſer aber, der ſein jetziges deutſches Vaterland kennen will, ſo gleichauf157der deutſchen Reichsgeſchichte. auf die rechte Bahn gerathen und darauf mit Vergnuͤ - gen wandeln.

So lange wir aber den Plan unſrer Geſchichte auf dieſe oder eine andre Art nicht zur Einheit erheben, wird dieſelbe immer einer Schlange gleichen, die in hundert Stuͤcke zerpeitſcht, jeden Theil ihres Koͤrpers der durch ein bisgen Haut mit dem andern zuſammen haͤngt, mit ſich fortſchleppt; und der Hauptfaden eines Puͤtters, ſo feſt und ſchoͤn wie er auch gedreht iſt, wird dem Geſchicht - ſchreiber nicht zum Seile dienen koͤnnen, um ſich in der Hoͤhe zu halten. Er wird immer wechſelweiſe ſteigen und fallen, und oft ſeine Verbindungen und Uebergaͤnge ſo kuͤmmerlich ſuchen muͤſſen, daß auch das Colorit eines Schmids in ſeiner Geſchichte der Deutſchen nicht hin - reicht, um dieſe Flickerey dem Auge zu entziehen; oder wir muͤſſen, wie unſer Landesmann Hegewiſch in ſeiner Geſchichte Carl des Großen und Ludewig des Frommen gethan hat, aus der Lebensgeſchichte eines jeden Kayſers eine beſondre Epopee machen, welches aber nie zu einer vollſtaͤndigen Reichshiſtorie, die einzig und allein in der Naturgeſchichte ſeiner Vereinigung beſtehn kann, fuͤhren wird. Wir werden dann nur einzelne ſchoͤne Gemaͤhlde aber keine in Eins zuſammenſtimmende Gallerie erhal - ten; und der groͤßte Mahler kann mit den alſo geſtelle - ten Gegenſtaͤnden, ſo viel ich von der hiſtoriſchen Kunſt verſtehe, niemals Ehre einlegen.

XLI. 158Ein Denkmal der deutſchen Freyheitsliebe.

XLI. Ein Denkmal der deutſchen Freyheitsliebe.

Unter Otto dem Großen wurde in einem Proceſſe uͤber die Frage geſtritten: Wenn ein Erblaſſer Soͤhne und Enkel hinterließe, ob die letztern in ihres verſtorbe - nen Vaters Stelle treten und durch denſelben mit den Soͤhnen erben koͤnnten oder nicht? Und der Koͤnig fand es noͤthig, die Reichsfuͤrſten daruͤber zu vernehmen, was in dieſem Falle zu thun ſey, worin es noch an einem allgemeinen deutſchen Geſetze ermangelte, indem das roͤ - miſche Recht damals noch nicht bey uns angenommen war. Dieſe riethen zu Schiedsrichtern, aber der Koͤnig fand es unanſtaͤndig und ſchimpflich*)Rex autem meliori uſus conſilio, noluit viros nobiles & ſe - nes populi inhoneſte tractari, ſed magis rem inter gladiatores diſcerni juſſic, VVITICH ann. L. II. p. 644. die Edlen und Fuͤr - ſten des Volks[folgergeſtalt] der Weisheit, oder welches einerley iſt, der Willkuͤhr andrer zu unterwerfen, und befahl dafuͤr, das Recht durch den Kampf ſuchen zu laſ - ſen; worin auch nachwaͤrts derjenige ſiegte, welcher fuͤr das Recht der Enkel geſtritten hatte.

Hier ſieht man recht die Barbarey unſrer Vorfah - ren, ſagen unſre neuern Weiſen; die Wahrheit mit dem Degen zu ſuchen, kann nur Menſchen einfallen, die ge - wohnt ſind alles auf die Fauſt ankommen zu laſſen. Aber ſo ſonderbar uns auch gegenwaͤrtig der Ausſpruch des Koͤnigs vorkoͤmmt: ſo liegt doch in der That ein ſo fei - nes Gefuͤhl von Ehre darin, daß wir alle Urſache ha -159Ein Denkmal der deutſchen Freyheitsliebe. ben zu glauben, er ſey mehr aus einer hohen als rohen Denkungsart gefloſſen.

Der Koͤnig ſagt, es ſey ſchimpflich und unanſtaͤndig die Edlen ſeines Reichs Schiedsrichtern zu unterwerfen, und unſtreitig verſtand er den Fall, wider ihren Willen; denn ſo bald ſie es ſelbſt darauf ankommen ließen, und ſich dergleichen erwaͤhlten, konnte es unmoͤglich unanſtaͤn - dig ſeyn. Schiedsrichter die nicht erwaͤhlt ſind, und den Partheyen wider ihren Willen aufgedrungen werden, ha - ben in Ermangelung eines ausdruͤcklichen Geſetzes, nichts als ihr eignes Recht und Gutduͤnken zu befolgen, und dieſes kann fuͤr andre nie verbindlich werden. Kaum er - laubt man es einem ordentlichen Richter den Partheyen in geringen und zweifelhaften Sachen einen Vergleich nach ſeinem Recht - und Gutduͤnken aufzulegen, und ſie damit zur Ruhe zu weiſen.

Aber wird man ſagen, warum machte der Koͤnig nicht ſo gleich mit ſeinen Reichsſtaͤnden ein Geſetz, daß die Enkel in des Vaters Stelle treten ſollten? Hierauf antworte ich, das konnte er nicht. Denn erſtlich hatte jeder Gow und jeder Hof (curia), man mag ſich einen Oberhof von Lehns - und Dienſtmaͤnnern, oder einen Unter - hof von gemeinen Hofesgenoſſen darunter denken, in der - gleichen Faͤllen ſeine eigne Autonomie; und warum ſoll - ten die Edlen des Reichs dieſer ihrer Autonomie mehr beraubt werden als jene? Laͤßt man doch jeden Vater das Recht unter ſeinen Kindern zu verordnen, und verſagt es einem Staͤdtgen nicht die Gemeinſchaft der Guͤter durch eine Willkuͤhr einzufuͤhren oder auszuſchließen? Zwertens konnte der Koͤnig zwar ebenfalls mit den Reichsſtanden, in ſo weit dieſe ihm mit Lehns - oder Dienſtpflicht verwandt waren, ein Hofrecht weiſen laſſen. Aber was gieng die - ſes die Edlen des Reichs an, die ihm mit keiner Lehns -und160Ein Denkmal der deutſchen Freyheitsliebe. und Dienſtpflicht verwandt waren, und unter ſolchen, nicht aber unter Lehn - und Dienſtleuten war der Proceß. Drit - tens war das Recht, wie es ein jeder von den Edlen in dergleichen Faͤllen, worin er ſeine Autonomie hatte, ge - halten wiſſen wollte, ſo wenig ein Gegenſtand der Reichs - ſtaͤndiſchen Verſammlung, als die Autonomie eines jetzi - gen Souverains, der Gegenſtand einer Verſammlung aller Souverainen ſeyn wuͤrde; es konnte daher ſo we - nig durch die Mehrheit als die Uebereinſtimmung aller uͤbrigen feſtgeſetzet werden, oder die Uebrigen haͤtten ſich mit einander wie in Pohlen wider den Einen vereinigen und ihn mit den Waffen noͤthigen muͤſſen, ſich ihren Aus - ſpruͤchen zu unterwerfen. Dann aber waͤre dasjenige, was Otto durch einen Zweykampf entſcheiden laſſen wollte, durch einen Krieg entſchieden worden; oder der Schwaͤchere haͤtte aus Furcht die Macht fuͤr Recht erken - nen muͤſſen. Viertens waren ſchon eine Menge von Hof - rechten oder Particulairgeſetzen vorhanden*)Denn eine varietas Legum gab zu dem Streite Anlaß. VVITICH l. c. , in deren einem der Fall von den Hofesgenoſſen ſo, und in dem andern anders entſchieden war; der Koͤnig mochte aber dieſe Verſchiedenheit nicht nach Willkuͤhr abaͤndern, ohne der Autonomie eines jeden Hofes vorzugreifen; und dann wuͤrde es Fuͤnftens noch immer eine Frage geblieben ſeyn, ob ein ſolches Geſetz auf einen vergangenen Fall gezogen werden konnte?

Dieſe Schwierigkeiten, welche aus der Sache ſelbſt hervor gehen, und aus der damaligen Sitte jedem ver - nuͤnftigen Manne bekannt waren, hielten ſo wohl den Koͤnig als die Reichsſtaͤnde ab, die Streitfrage durch einallgemei -161Ein Denkmal der deutſchen Freyheitsliebe. allgemeines Reichsgeſetz zu entſcheiden. Und ſo frag ich was blieb nun noch uͤbrig?

Ein heutiger Juriſt wuͤrde ohne Zweifel antworten, man haͤtte die Buͤcher nachſchlagen, und wie es in dieſem Falle anderwaͤrts gehalten worden, aufſuchen, oder wohl gar die Juriſten um ihre Meinung fragen ſollen. Aber geſetzt es waͤren daruͤber hundert Goͤdingsſpruͤche oder Rechtsweiſungen vorgebracht worden, worin der Fall fuͤr den einen Theil waͤre entſchieden geweſen, und der an - dre haͤtte deren gar keinen einzigen fuͤr ſich gehabt, haͤtte dann das Urtheil des einen Gows oder des einen Hofes, in einem andern Gowe oder Hofe, der ſeine eigne Auto - nomie hat, als guͤltig und verbindlich angeſehen werden koͤnnen? Waͤren die Edlen des Reichs ſchuldig geweſen jene gemoinen Rechtsweiſungen gegen ſich als praejudicia gelten zu laſſen? Und wann auch die Edlen in Schwaben ſich laͤngſt vorher verſammlet gehabt, und wie ſie es in ſolchen Faͤllen gehalten haben wollten, ausgemacht haͤt - ten, wuͤrde ein Sachſe oder Franke darnach haben ver - urtheilet werden koͤnnen? Die heutige Manier, in zwei - felhaften Faͤllen auf benachbarte Rechte, oder eine ſo - genannte gemeine Meinunge der Juriſten zu ſehen, ward damals verabſcheut, weil kein freyer Deutſcher außer dem Fall, da er aus freyen Stuͤcken Schiedsrichter waͤhlte, die Meinung oder die Weisheit eines andern fuͤr ſein Recht zu erkennen ſich ſchuldig erachtete, und noch jetzt iſt die gerichtliche Entſcheidung nach Meinungen der Rechtsgelehrten, immer ein ungluͤcklicher Nothbehelf, wenn ſich ihm gleich auch Fuͤrſten unterwerfen muͤſſen. Jch frage alſo nochmals was man thun ſollte?

Moͤglich waͤre es geweſen, die Frage durch ein paar Wuͤrfel entſcheiden zu laſſen; auch das Loos iſt Gottes Urtheil, dem ſich ein freyer Mann, ohne Gefahr will -Moͤſers patr. Phantaſ. IV. Th. Lkuͤhr -162Große Herrn duͤrfen keine Freunde habenkuͤhrlich zu recht gewieſen zu werden, unterwerfen kann. Aber dieſes mochte dem Koͤnig auch nicht anſtaͤndig und offenbar genug ſcheinen; darum zog er den Kampf, wozu jede Parthey ihren Mann ſelbſt waͤhlte, und worinn nicht allein beyde Theile, ſondern auch alle Reichsſtaͤnde wil - ligten*)Pacto ſempiterno VVITICH l. c. , als das ſicherſte Gottes Urtheil, was durch dieſe Wahl von aller Gefaͤhrde frey war, allen uͤbrigen vor; und man muß es billig als ein Denkmal der deut - ſchen Freyheitsliebe und des großen Gefuͤhls von Ehre bewundern, daß ers that.

XLII. Große Herrn duͤrfen keine Freunde haben wie andre Menſchen.Schreiben des Koͤnigs von an

Mein lieber N.

Jch danke ihnen fuͤr ihren wohlgemeinten Wunſch, ob ich gleich keine Hofnung habe ihn jemals erfuͤllt zu ſehn; auf Freunde und Freundſchaft muͤſſen wir Großen, wie man uns nennt, Verzicht thun. Alles was Stren - ges und Unangenehmes im Staate geſagt oder verfuͤgt werden muß, koͤmmt auf Unſre Rechnung, die Herrn Miniſter von dem groͤßten bis zum kleinſten ſchleichen ſich hinter Jhro Majeſtaͤt, und ſo muͤſſen wir die Schuld vonallem163wie andre Menſchen. allem Boͤſen tragen, wozu wir aber ſchwerlich im Stande ſeyn wuͤrden, wenn wir uns nicht ſo hoch hielten, oder ſo hoch halten ließen, daß uns nicht ein jeder ins Herz ſehen kann. Es iſt kein Suͤndenbock worauf ſo viel fremde Schuld gelegt wird, als auf uns; dies iſt unſer Loos, und zwar unſer von Gott gezogenes Loos, welches einer fuͤr alle tragen muß, und was uns immer noͤthigen wird auf einer gewiſſen Hoͤhe zu bleiben, die ſich mit der Freund - ſchaft nicht zu wohl vertraͤgt. So gar wird es uns von Jugend auf zum Geſetz gemacht, gar keine vertrauete Freunde zu haben oder zu hoͤren. Wie leicht zoͤgen wir ſonſt einen Mann, der weniger Verdienſt und mehr an - genehmes haͤtte als ein andrer, im Umgange hervor, und das waͤre an Uns Ungerechtigkeit; bey uns muß die Vor - ſtellung des Miniſters immer mehr gelten als die Vor - bitte eines Freundes, oder jener wuͤrde uns nicht dienen, und der Menſch durchſcheinen wo allein der Fuͤrſt han - deln darf. Es iſt eine große Frage, ob Koͤnige und Fuͤr - ſten ein eignes Herz haben duͤrfen? Das Meinige iſt mir nur bekannt, weil es oft leidet. Wie mancher edler, verdienſtvoller und liebenswuͤrdiger Mann hat nicht ſchon fuͤr mich geblutet! aber ich darf bey ſeinem Falle nicht lange weinen, ich muß, ja ich muß noch mehrere auf - opfern, und zu dem Gipfel des Berges fluͤchten, um das Wehklagen im Thale nicht zu hoͤren. O es iſt eine grau - ſame Sache Koͤnig zu ſeyn; ich muß der Unterdruͤckten Unſchuld gegen die Maͤchtigen, welche meinen Thron um - geben, Recht ſchaffen; und was wuͤrden jene zu hoffen oder dieſe zu fuͤrchten haben, wenn ich mich ganz zu mir ſelbſt herab ließe, und mit ihnen ganz Freund, ganz Menſch waͤre. Dieſes darf keiner wuͤnſchen, der in den Fall kommen kann, worin er meiner Huͤlfe bedarf. Nun mein lieber N… wiſſen ſie, was ich bey ihrem Wunſche,L 2daß164Von dem echten Eigenthum. daß ich ſo gluͤcklich werden moͤchte, den Dunſtkreis der mich umgiebt, verlaſſen, und mich meinen Freunden, in meiner natuͤrlichen Geſtalt zeigen zu koͤnnen, gedacht habe. Seyn ſie indes verſichert, daß ich auch wahre Verdienſte von weitem kenne, und die ihrigen vorzuͤg - lich ſchaͤtze.

XLIII. Von dem echten Eigenthum.

Unter allen maͤchtigen Begriffen und Ausdruͤcken, die ſich aus der deutſchen Denkungsart und Sprache verlohren haben, iſt keiner ſo vollkommen ausgewiſchet worden, als der von Eigen oder Eigenthum; kaum rei - chen noch einige entlehnte Zuͤge hin, ihn nur einiger - maaßen zum Anſchauen zu bringen. Und doch iſt er fuͤr die Philoſophie der Sprache ſowohl als der Geſchichte von einem ſehr erheblichen Werthe; man fuͤhlt, daß ſo wie der Begriff ſank und fortgieng, ſich auch das wahre Eigenthum verlohr. Jn der erſten Periode ſeines Ver - falls nennte man das wahre Eigenthum noch Erbecht, oder wie wir es verdorben haben, Erbexenſchaft, andre Orfacht, woraus einige Torfacht gemacht haben; und in der letzten fiel auch dieſes Wort ziemlich weg, wie man daraus leicht erkennet, daß wir fuͤr die Gutsherrlichkeit welche ein Eigenbehoͤriger erlangt, der ſich heute frey kauft, und morgen ſeinen Hof mit einem von ihm abhaͤn - genden Eigenbehoͤrigen beſetzt, und fuͤr diejenige, welche ein echter Gutsherr hat, nur einerley Ausdruck und Be - grif haben, ohnerachtet jeder noch dunkel fuͤhlt, daß die -ſes165Von dem echten Eigenthum. ſes zwey maͤchtig unterſchiedene Gutsherrlichkeiten ſind, und ſeyn ſollten.

Der einzige deutliche Charakter des echten Eigen - thums, den man jetzt noch angeben kann, iſt die Jagd; wir ſehen in dem Jagdprotokoll von 1651, daß eine Menge von Adlichen ihre Jagdgerechtigkeit in den Kirch - ſpielen, worin ſie keinen eignen Sitz haben, in der Guts - herrlichkeit gruͤnden; jetzt aber bemerken wir, daß dieſer Schluß gar nicht mehr gemacht werden koͤnne; und wo - her dieſes? Der alte echte Eigenthuͤmer hat, wie er ſein Erbe zuerſt einem Eigenbehoͤrigen oder Meyer untergab, die Jagd zuruͤck behalten. Nachdem nun dieſer Eigen - behoͤriger ſich frey gekauft, und wie wir aus Mangel des Ausdrucks ſagen muͤſſen, auch Eigenthuͤmer oder Guts - herr ſeines Erbes geworden, oder nachdem dieſes Erbe in andre freye Haͤnde gerathen: ſo iſt offenbar das Ei - genthum was dieſer hat, von dem Eigenthum was jener hatte, merklich unterſchieden; aber in der Sprache nicht mehr, auch oft nicht mehr deutlich genug in den Begriffen.

Ein andrer minder deutlicher Charakter deſſelben iſt die Stimmbarkeit im Staate, welche, wie wir allmaͤlig auch in Deutſchland, wiewohl noch ziemlich obenhin, ein - zuſehen anfangen, durch die ganze Welt mit dem Eigen - thum verknuͤpft iſt. Dieſe erlangt kein Gutsherr von der letztern Art; der folglich auch nicht dasjenige Eigenthum hat, wovon die Stimme in der Nationalverſammlung unzertrennlich iſt. Jetzt nennen wir dieſe Stimmbarkeit Landtagsfaͤhigkeit; vor dem hieß ſie Echtwort, ein Be - grif der ſich zur Zeit, wie man noch Nationalverſamm - lung hatte, in der Schoͤpfenbarkeit, ſpaͤter aber, da jene Verſammlungen aufhoͤrten, und der große Zwiſchenraum zwiſchen Nationalverſammlung und Landtag einfiel, nur bey Mark - und Waldverſammlungen zeigte.

L 3Die166Von dem echten Eigenthum.

Die Lateiner des mittlern Alters nannten das echte Eigenthum, was mit der Jagd, Stimmbarkeit und Schoͤpfenbarkeit verknuͤpft war, advocatiam. Man fin - det dieſes Wort faſt beſtaͤndig bey allen Verkaͤufen von Guͤtern, bis ins vierzehnte Jahrhundert, haͤufiger im dreyzehnten, und am mehrſten im zwoͤlften, zum wahr - ſcheinlichen Beweiſe, wie wahres Eigenthum ſich gegen die neuern Zeiten immer mehr und mehr vermindert ha - be. Jetzt iſt es ganz aus der Sprache weggefallen. Eben ſo gieng es den Roͤmern zuerſt mit dem dominio quirita - rio, hernach auch ſelbſt mit dem dominio was blos ein civis Romanus haben konnte; bis man zuletzt dominium und proprietatem fuͤr eins gebrauchte.

Dieſe allgemeine Vermiſchung des alten und neuen Eigenthums, welche zum Theil durch die Vermiſchung der alten und neuen perſoͤnlichen Ehre veranlaſſet wor - den, hat in der That einen groͤßern Einfluß auf den Staat, und auf eine reine gute Theorie der Geſetze gehabt, als man glaubt. Man iſt dadurch nicht allein von den ſchoͤ - nen großen Schluͤſſen, die aus dem alten echten Eigen - thum, wie wir oben bey der Jagd geſehen haben, gemacht wurden, zuruͤckgekommen, ſondern hat auch die Guts - herrlichen Rechte, welche wie man leicht ſieht, ſehr rich - tig aus dem alten echten Eigenthum fließen, in ganz an - dre Falten legen muͤſſen, wie ein ſcharfſichtiger Kenner, der die Eigenthumsordnung durchgeht, leicht bemerken wird.

Jn der urſpruͤnglichen Verfaſſung mußte jedes Mit - glied der Nation einen Hof, den er kaufte, als echter Ei - genthuͤmer beſitzen, und dieſem ſeine Landſtandſchaft mit - theilen koͤnnen; das Gut veredelte ſich gleichſam unter ſeiner proprietate, und er erhielt damit dominium. Allein wie erſt ein Eigenthuͤmer ſein Gut einem Meyer uͤber -gab,167Von dem echten Eigenthum. gab, und dieſer auf die eine oder andre Art proprietarius davon wurde, konnte dieſes nicht weiter geſchehen. Denn wenn der Meyer auch gleich ſeine Proprietaͤt einem Man - ne von alter Ehre verkaufte: ſo konnte dieſer doch das wahre Eigenthum damit nicht erlangen, oder dem Hofe ſolches ferner durch ſeine Perſon mittheilen, nachdem, um bey dem vorigen Beyſpiele zu bleiben, der erſte Gutsherr Jagd - und Echtwort zuruͤckbehalten hatte. Es haͤtten ſonſt von eben demſelben Hofe zwey, naͤmlich ein dominus und ein proprietarius jagen und ſtimmen muͤſſen; wer jetzt eine Gutsherrlichkeit kauft, erhaͤlt damit nicht ſo gleich Jagd und Erbexenſchaft.

Jch koͤnnte hievon noch viel mehrers anfuͤhren, wenn ich nicht befuͤrchten muͤßte, dem groͤßten Theile der Leſer unverſtaͤndlich zu werden. Auch in dem Staͤdtiſchen Bann - kreiſe giebt es ein beſonders Erbecht, was Stadtſchoͤpfen - barkeit giebt, und nun auch allmaͤlig verſchwindet. Auch hier hat der groͤßte proprietarius, wenn er nicht zugleich Buͤrger iſt, kein wahres Eigen. Es ſtammet dieſes Wort von E. oder Ehe ab, welches bey den Sachſen ſo viel als Geſetz hieß; und ein geſetzliches Eigenthum kann in den Staͤdten nur der Buͤrger, nicht aber der Einwohner ha - ben. Wie mangelhaft muß aber nicht Sprache und Phi - loſophie werden, wo man dieſe weſentlichen Unterſchiede nicht mehr auf eine beſtimmte Art bezeichnet? Wie ſehr muß der Staat geſunken ſeyn, wo man ſie entbehren kann? Und wie Ehrenvoll die Nation, in welcher ſich eine große Summe von wahren Eigenthuͤmern befindet?

L 4XLIV. 168Schreiben eines Edelm. ohne Gerichtsbark.

XLIV. Schreiben eines Edelmanns ohne Gerichts - barkeit an ſeinen Nachbar mit der Gerichtsbarkeit.

Die ganze Nacht habe ich von dem edlen Kleinode ge - traumt; aber dieſen Morgen beym Thee, wie ge - ſtern Abend bey der Bouteille bleibe ich dabey, daß die hohe Gerichtsbarkeit uͤber ein Doͤrfgen in meinen Augen etwas ſehr laͤcherliches, und bey weitem der Koſten nicht werth ſey, die man darauf verwenden muß; ich bleibe dabey, daß uͤberhaupt mit dem praͤchtigen Worte Ge - richtsbarkeit vieler Unſinn verknuͤpfet werde, und man - cher von uns ſich beſſer ſtehen wuͤrde, wenn er auf alles was dahin gerechnet werden kann oder mag, den feyer - lichſten Verzicht thaͤte, und weiter nichts als die Rechte des echten Eigenthuͤmers auf ſeinem Grunde und Boden verlangte. Denn es geht uͤber dieſes Wort den Herrn des Landes oft eben ſo wie uns; wir glauben beyde ein - ander zu nahe zu kommen, und im Grunde ſpielen wir die Comoͤdie vom eyferſuͤchtigen Manne, der die Hirſch - paſtete in den Hausgraben werfen ließ, weil er glaubte, das Geweihe, was darauf ſaß, ziele auf ihn. Jn der That, mein Freund! es fehlt an beſtimmten Erklaͤrun - gen in der Sache, an einer reinen Sprache und an ei - nem aufrichtigen Verfahren von beyden Seiten. Wir Edelleute ſuchen in mancher Handlung etwas beſonders und wollten ſie gern zu einem Hoheitsrechte ſtempeln; und die Herrn des Landes legen in manche von unſren Handlungen eine Abſicht und eine Gefaͤhrde, die ſich nurin169an ſeinen Nachbar mit der Gerichtsbarkeit. in den Koͤpfen ihrer Rathgeber befindet; aber indem ſie ſo vermuthen und wir uns ſo ſtellen: ſo haben die ſchlauen Boͤgel in der Stadt ihren Spuck mit uns, und anſtatt die Gaͤrſte ins Brauhaus zu fahren, faͤhrt der Knecht ſie zum Advocaten.

Jn Anſehung der hohen Gerichtsbarkeit gaben Sie ſelbſt geſtern Abend ziemlich nach, wie ich Jhnen vorrech - nete was eine Jnquiſition und Execution koſtete, wenn Jhnen auch der Landesherr ſein ganzes Jnventarium, welches Sie doch eigentlich ſelbſt halten muͤßten, dazu liehe; Sie fanden etwas widerliches darin, keine halbe Stunde weit jagen zu duͤrfen, ohne in eine neue Herrlich - keit zu kommen, und auf dem Boden derſelben ſofort ih - ren Halsherrn anzutreffen; und es ſchien Jhnen weit be - quemer, daß man fuͤr hundert Herrlichkeiten nur ein wohlbeſetztes Obergericht, nur einen Land-Phyſicus, nur einen Land-Chirurgus, nur einen Scharfrichter, nur ein Gefaͤngniß, und nur eine Marterkammer haͤtte, als daß jede Herrlichkeit alle dieſe Stuͤcke, und wahrſcheinlich von mindrer Guͤte, beſonders unterhalten muͤßte. Sie lieb - ten es nicht auf jedem Kreuzwege einen Galgen zu finden, und glaubten die Fremden wuͤrden ein Land barbariſch nennen, worin es ſo fuͤrchterlich ausſaͤhe. Sie fuͤhlten endlich, daß das einzige Obergericht auf demſelben Grun - de beſtehe, worauf unſer Stadt-Brauhaus ſteht, naͤm - lich, daß es mehrere Herrlichkeiten zuſammen halten, da - mit nicht jeder noͤthig habe dergleichen fuͤr ſich allein zu unterhalten; daß die Wahl ſo wie die Beeydigung des Braumeiſters um deswillen der hoͤchſten Obrigkeit uͤber - laſſen ſey, damit nicht hundert Koͤpfe mit ihren hundert Sinnen das Ding alle Augenblick verwirren moͤchten; und daß die Brau-Ordnung, oder wenn Sie wollen,L 5die170Schreiben eines Edelm. ohne Gerichtsbark. die Gerichts-Ordnung das Hauptwerk ſey, wovon man ſich nur nicht ausſchließen laſſen duͤrfe.

Aber die Untergeichte ſagten Sie, o dieſes Kleinod geht uͤber alles. Dieſe bezahlen noch zu Zeiten ihren Mann, und die Herrn des Landes moͤgen immer den Galgen be - halten, wenn wir nur die Sporteln uud Strafen genieſ - ſen, welche mir jenen verknuͤpft ſind, oder wo wir auch den Vortheil nicht achten wollten, nur in dem Beſitze bleiben unſre Hinterſaſſen gegen die Pluͤnderungen und Plackereyen andrer Untergerichte zu ſchuͤtzen.

Allein auch hierin kann ich Jhnen mein lieber Herr Nachbar ſo ſchlechterdings nicht beypflichten. Die Spor - teln und Strafen wollen wir nur gleich wegwerfen, ſie bringen ohne Pluͤnderung in einem kleinen Diſtricte ſelten ſo viel, als das Gehalt des Gerichtshalters ausmacht, und ich erinnere mich eines ſaͤchſiſchen Dorfs, worin alle 14 Tage Gericht gehalten, und des Mittages bey der Tafel geklaget wurde, daß heute nicht ſo viel eingekom - men waͤre, als der Brate betrug, welchen der Herr Ge - richtshalter mit verzehrte. Der Schutz Jhrer Hinterſaſ - ſen wuͤrde wichtiger ſeyn, wenn die gemeinſchaftlichen Un - tergerichte, welche wir im Lande mit Sporteln erhalten und natuͤrlicher Weiſe beſſer von vielen als von wenigen uͤbertragen laſſen koͤnnen, nothwendig pluͤndern muͤßten Dieſes iſt aber offenbar irrig, und wenn es geſchieht: ſo iſt dieſes ein Fehler, den wir dadurch nicht abwenden koͤnnen, und nicht abwenden ſollten, daß wir anſtatt Ei - nes gemeinſchaftlichen Unterrichters deren Zehn unterhal - ten, die weit eher in die Verſuchung, wo nicht in die Noth - wendigkeit geſetzt werden, ſo viel herauszupreſſen als ſie koſten und verzehren. Je angeſehener dergleichen Maͤn - ner ſind, und ſchlechte wird man doch in der guten Ab - ſicht ſeine Hinteraſſſen zu erhalten, nicht nehmen, deſtomehr171an ſeinen Nachbar mit der Gerichtsbarkeit. mehr muß man ihnen geben, und ohne einen ſolchen beey - deten Mann laͤßt ſich im H. R. Reich keine Juſtitz pfle - gen. Nach dem Geiſte der deutſchen Vrrfaſſung hat man dem Landesherrn gewiſſe beſtimmte Sporteln und Stra - fen zugeſtanden, um davon das hohe und niedrige Ju - ſtitz-Jnventarium zu unterhalten; und es iſt eigentlich wider dieſen urſpruͤnglichen Contract, wenn man dem Landesherrn die Beſchwerden laſſen, und die Vortheile entziehen will.

Wenn wir alle ſo verfahren, und alle Bruchfaͤlle in unſern Doͤrfern an uns ziehen wollen, ſo wird im Grunde nichts weiter dabey herauskommen, als daß unſre Hin - terſaſſen und Leibeigne dasjenige auf eine andre Art er - ſetzen muͤſſen, was ſolchergeſtalt dem gemeinen Ober - haupte entzogen wird. Denn dieſes will doch eben ſo gut wie unſer Pfarrer unterhalten ſeyn, der, wenn jeder von uns ſeinen Capellan haͤlt, von unſern Leuten ſo viel mehr nehmen muß.

Jch erinnere mich hiebey eines alten Staͤdtgens, worin die Buͤrgerſchaft, oder Namens ihrer der Kayſer, dem Magiſtrate den Weinkeller und die Apotheke ange - wieſen hatte, um aus dem Gewinnſte von beyden, alles was zu ſeiner und der Stadt Nothdurft erfordert werden wuͤrde, zu beſtreiten. Eine Zeitlang gieng dieſes vortref - lich, und der Vortheil von Aquavit und Rhabarber reichte allein hin, den Buͤrgemeiſter und ſechzehn Rathsherrn zu unterhalten. Allein nach und nach erlaubten dieſe Herrn einigen Vettern und Freunden auch Aquavit zu ſchenken, und ein Laxiertraͤnkgen zu verkaufen, und nun mußten die armen Buͤrger Schoß und Steuer geben, um die Luͤcke zu fuͤllen, welche durch dieſe Verguͤnſtigung in der Stadtkaſſe entſtand. Die Buͤrger wollten ſich zwar an - fangs widerſetzen, und behaupten, die Weinſchenke unddie172Schreiben eines Edelm. ohne Gerichtsbark. die Apotheke waͤre nach dem urſpruͤnglichen Contrakte ein Heiligthum des gemeinen Weſens, welches der Ma - giſtrat nicht haͤtte ſchmaͤhlern koͤnnen. Allein ſo fort tra - ten einige Rechtsgelehrte auf, und riefen mit lauter Stim - me, der urſpruͤngliche Contrakt waͤre laͤngſt durch die Verjaͤhrung abgeaͤndert; und die Vettern und Freunde des ehmaligen Buͤrgemeiſters, denen die Buͤrgerſchaft nichts ſchuldig war, duͤrſten in dem ruhigen Beſitze des Erſchlichenen nicht geſtoͤret werden. Die Gelehrten auf den Univerſitaͤten pflichteten den Gelehrten in dem Staͤdt - gen bey, und bis auf den heutigen Tag muͤſſen alle deſ - ſen Buͤrger Schoß und Steuer bezahlen, weil die Laͤnge der Zeit die Untreue des erſten Buͤrgemeiſters verwiſcht hat. Ja was noch mehr iſt, die Buͤrger, welche den Weinkeller und die Apotheke fuͤr ihre Obrigkeit erhalten wollten, wurden ſchimpfsweiſe Regaliſten genannt, waͤh - rend der Zeit, daß die Vettern und Freunde des Buͤrge - meiſters, die den Handel mit Wein und Arzneyen fuͤr ein freyes Gewerbe erklaͤrten, ſich Patrioten nennten, ohn - erachtet es handgreiflich war, daß dieſe die gemeine Stadt - kaſſe gepluͤndert hatten, und jene fuͤr die Steuerfreyheit der Buͤrger ſtritten.

Doch, mein wertheſter Herr Nachbar, die Geſchichte dieſes kleinen Staͤdtgens ſollte mich bald zu weit, und wohl gar zu der Behauptung fuͤhren, daß alles was ein einzelner Mann nicht ſonderlich nuͤtzen oder doch nicht ge - hoͤrig beſtreiten kann, Einem aber ſehr viel werth iſt, dem Fuͤrſten als dem Einen, nicht aber andern, denen der Staat nichts ſchuldig iſt, zuerkannt und fuͤr ein ſo genanntes Regal gehalten werden muͤßte. Jch will alſo nur geſchwind wieder einlenken, und Jhnen ſagen wie ich glaube, daß ein Edelmann als Herr auf ſeinem echtenEigen -173an ſeinen Nachbar mit der Gerichtsbarkeit. Eigenthume, und in Kraft der hausherrlichen Gewalt alles das haben koͤnnte und haben ſollte, was zu ſeinem wahren Vortheile gehoͤrt; wenn wir nur eine reine Spra - che und beſtimmte Begriffe haͤtten.

Der Vater hat keine Gerichtsbarkeit uͤber ſeine Kin - der, der Mann nicht uͤber ſeine Frau, der Herr nicht uͤber ſein Geſinde, der Abt nicht uͤber ſeine Moͤnche, der Gutsherr nicht uͤber ſeine Leibeigne, weil es ſo wenig eine Gerichtsbarkeit uͤber die Seinigen, als eine Dienſt - barkeit auf eignem Boden giebt. Aber es giebt eine vaͤ - terliche, maͤnnliche, hausherrliche, aͤbtliche und gutsherr - liche Macht, vermoͤge welcher ein Vater, Mann, Haus - herr Abt, und Gutsherr alles dasjenige haben kann, oder doch haben ſollte, was zu ſeinem Zwecke dient, und es koͤmmt nur darauf an, die Graͤnzen zwiſchen dieſer Macht und der Gerichtsbarkeit gehoͤrig und deutlich zu be - ſtimmen.

Jn dem erſten Menſchenalter gieng jene Macht ſehr weit, und Niemand bekuͤmmerte ſich darum, wie jeder Hausvater mit den Seinigen handelte, wenn er nur nicht uͤber eine gewiſſe Graͤnze hinausgieng; in dem heutigen Menſchenalter hingegen, miſcht ſich die Gerichtsbarkeit in alles; und wenn ein Vater das Ungluͤck hat, daß ihm ſeine Tochter geſchwaͤngert wird: ſo muß er noch wohl gar fuͤr ſie eine Geldſtrafe bezahlen. So wenig jene aͤlte - ſte Verfaſſung ſich zu unſerm Jahrhundert ſchicket: ſo ſehr ſcheint mir hingegen die letzte von aller Politik abzu - weichen; und ich ſollte glauben, die Beſtrafung der Un - zucht, der Untreue und andrer Verbrechen von Kindern und Geſinde, koͤnnte der vaͤterlichen und hausherrlichen Gewalt ſo lange uͤberlaſſen werden, bis der eine oder der andre den Beyſtand der Gerichtsbarkeit ſuchte. Wenig - ſtens ſcheinet mir eine gar zu fruͤhe Einmiſchung der letz -ten,174Schreiben eines Edelm. ohne Gerichtsb. ꝛc. ten, in haͤusliche Verbrechen ſehr bedenklich zu ſeyn, da dieſe in der Stille eher als durch oͤffentliche Veſchimpfun - gen gebeſſert werden koͤnnen.

Eben ſo koͤnnte einem echten Eigenthuͤmer auf ſeinem Boden die Macht zugeſtanden werden, ſeine Zeitpfaͤchter die darauf wohnen, durch Pfaͤndungen zu Bezahlung ih - rer Pacht anzuhalten, die aufgezogenen Pfande, wenn der Zeitpfaͤchter ſich ſolches gefallen laͤßt, ſelbſt ohne Zu - ziehung des Gerichts zu verkaufen; Entſchaͤdigungen fuͤr Feld - und Waldſchaden von ihnen zu nehmen, und uͤber - haupt mit ihnen, wie mit ſeinem Geſinde zu verfahren, ohne daß der Gerichtsherr ſich daruͤber beſchweren duͤrfte. Die Rede iſt hier blos von der Beſtrafung ſolcher Leute, die ab - und zuziehen koͤnnen; nicht aber von Erbpaͤchtern oder andern, die ein Recht an den Boden haben. So wenig dem Erbverpachter uͤber dieſe auch nur die mindeſte Macht zugeſtanden werden kann: ſo unbedenklich ſcheint es mir zu ſeyn, ihm uͤber jenen etwas mehrers einzuraͤu - men, da es ſein eignes Jntereſſe erfordert, ſein Geſinde und ſeine Zeitpfaͤchter auf eine gute Art zu behandeln, weil ſie ſonſt von ihm wegziehen werden. Aus einem aͤhnlichen Grunde muß die Macht eines Abtes uͤber ſeine Moͤnche und des Gutsherrn uͤber ſeine Leibeigne weit ein - geſchraͤnkter, als die herrliche uͤber Geſinde und Zeit - pfaͤchter ſeyn, weil jene das Kloſter, und ihre Gruͤnde, nicht ſo wie dieſe Dienſt und Pacht verlaſſen koͤnnen.

Jedoch es wuͤrde zu weitlaͤuftig ſeyn alle die Faͤlle, welche der Macht ohne Gerichtsbarkeit uͤberlaſſen werden koͤnnen, anzufuͤhren. Genug, daß der Geſetzgeber ſie beſtimmen, und damit die unendlichen Streitigkeiten, uͤber die Frage, was zur Gerichtsbarkeit gehoͤre, vermin - dern kann. Jch bin u. ſ. w.

XLV. 175

XLV. Vorſchlag wie die Kirchhoͤfe aus der Stadt zu bringen.

Die Verlegung der Gottesaͤcker oder Kirchhoͤfe auſ - ſerhalb der Stadt, iſt lange der allgemeine Wunſch geweſen; man wird aber auf deſſen Erfuͤllung nicht rech - nen duͤrfen, bevor man nicht die Schwierigkeiten aus dem Wege raͤumt, welche ſich gegen eine ſolche Veraͤnde - rung ſtraͤuben. Dieſe ſind von mancherley Art, und ich will verſuchen ob ich ſie nicht mit guter Manier auf die Seite ſchieben kann. Denn heroiſche Mittel wuͤrken in dergleichen Faͤllen, wo es auf die Einbildung der Men - ſchen ankommt, oft den unrechten Weg, und was ein Menſch von dem andern in der Guͤte erhalten kann, muß er ihm nicht abzuzwingen ſuchen.

Unſre Vorfahren haben viele beſondre Feyerlichkei - ten mit der Begrabung ihrer Leichen verknuͤpft, die eines Theils auf die allgemeine Sicherheit der Menſchen, an - dern Theils auf die Ehre und Belohnung der Verdienſte, und dritten Theils auch auf einen Vortheil der Kirchen und Kirchenbediente abzielen.

Zur erſten Art gehoͤrt, daß die Leichen nicht zu fruͤh begraben, ſondern einige Tage in ihren Saͤrgen zur Schau geſtellt, und hernach unter einer oͤffentlichen Begleitung an einen gemeinſchaftlichen Ort abgefuͤhret werden. Haͤtte ein jeder dafuͤr das Recht erhalten, ſeine Todten in der Stille und bey ſeinem Hauſe verſcharren zu moͤgen; ſo wuͤrde vielleicht mancher lebendig ins Grab gekommen, mancher erſchlagen oder vergiftet und mancher als todt be -graben176Vorſchlag wie die Kirchhoͤfegraben ſeyn, der ſich der Nachforſchung andrer haͤtte entziehen wollen. Dieſes wollten unſre Vorfahren ver - hindern, und nach ihrer Abſicht ſollte der Sarg ſo lange offen ſtehen, bis die ganze Leichenbegleitung ſich von dem wahren und natuͤrlichen Tode des Verſtorbenen durch ihre eigne Augen uͤberzeugt haͤtte, und desfalls zu jederzeit ein Zeugniß ablegen koͤnnte.

Zur zweyten gehoͤrt die ſogenannte letzte Ehre, wel - che Verwandte, Freunde, Verehrer, Amtsgenoſſen, und andre Freywillige dem Verſtorbenen erzeigen, und wo - mit ſie des rechtſchaffenen Mannes Lob, und das allge - meine Leid des Staats oͤffentlich verkuͤndigen, auch andre zur Nachahmung aufmuntern wollten. Dieſes ſollte gleich - ſam die Ehrenſaͤule des guten Buͤrgers, und der Triumph des Patrioten ſeyn. Mit einer Begrabung ohne Geſang und ohne Klang wollten ſie ungefaͤhr ſo viel ausrichten als wir mit dem Zuchthauſe.

Eine vernuͤnftige Politik ſchuf die dritte Art. Man ſahe, daß die Menſchen in jeder Ehrenſache großmuͤthi - ger und freygebiger waren, als in einer andern; und wie man zum Unterhalt der Armen, der Kirchen und Kirchen - bediente nicht gleich foͤrmliche Steuren ausſchreiben woll - te, damit auch vielleicht nicht das wahre Verhaͤltnis ge - troffen haben wuͤrde, ſo ſuchte man die Ehre zu reitzen, und dieſer eine milde Beyſteuer abzugewinnen. Auf eine gleiche Art hofte man bey den Leichen einen Beytrag zum Unterhalt der Armen und Schulen zu erhalten, und die Erfahrung hat gezeigt, daß dieſe Politik ihres Zwecks nicht verfehlet habe. Die Steuer iſt um ſo viel ergie - biger geweſen, je mehr ſie dem freyen Willen uͤberlaſſen iſt; und da der Menſch nur einmal ſterben kann: ſo hat man auch nicht befuͤrchtet, daß dem Staate eine gar zube -177aus der Stadt zu bringen. beſchwerliche Laſt daraus zuwachſen wuͤrde. Mehrere Vortheile, welche jedem bekannt ſind, uͤbergehe ich, ſo wie alles was die Religion angeht, weil wir hier die Sa - che nur von ihrer politiſchen Seite betrachten koͤnnen.

Alle dieſe wichtigen Vortheile fuͤrchtet man zu ver - lieren, wenn die Grabſtaͤtten auſſerhalb den Kirchen und der Stadt angewieſen wuͤrden. Man fuͤrchtet die Leichen - begleitungen wuͤrden bey dem weiten Wege und bey ſchlim - mem Wetter beſchwerlich werden, und ſich natuͤrlicher - Weiſe vermindern. Man fuͤrchtet die Ehre wuͤrde ihre Reitzung verlieren, und jeder ſich zuletzt mit einem ſchwar - zen Leichenwagen, in der fruͤheſten Morgenzeit, und mit einem Worte, ohne alle opfernde Ceremonie, zur Ruhe bringen laſſen, ſo wie ſolches in großen Hauptſtaͤdten, wo der Ceremonien leicht zu viel werden, wo keiner ſich dar - inn mehr unterſcheiden kann, und wo folglich ihre ganze Wuͤrkung aufhoͤret, laͤngſt geſchehen iſt.

Unſre heroiſchen Cameraliſten wuͤrden ſich vielleicht daruͤber wegſetzen, und ſich wohl gar freuen, daß alle dieſe eitlen Ausgaben vermieden, die Heyrathen, wenn die Haushaltungen ſolchergeſtalt erleichtert wuͤrden, ver - mehret, und alle Kraͤfte blos zu ihrem Vortheil geſpan - net wuͤrden; ſie die hier gleich Aberglauben und Thor - heit in ihrem feyerlichſten Gewande entdecken, die Kir - che und ihre Bedienten eines frommen Eigennutzes be - ſchuldigen, und die Leidenſchaften der Menſchen mit Aus - ſchluß aller andern beſteuren wollen; ſie die noch neulich in einem Lande aus oͤkonomiſchen Gruͤnden die Kreutze und Kronen, womit die Graͤber und Saͤrge daſelbſt be - ſetzet wurden, verboten, und damit einen allgemeinen Aufſtand unter dem Volke erwecket haben. Allein der - gleichen großen Maͤnnern iſt nicht immer ſicher zu folgen, und es war fuͤr die Kirche, welche daſelbſt die KronenMoͤſers patr. Phantaſ. IV. Th. Mvon178Vorſchlag wie die Kirchhoͤfevon allerley Art zu vermiethen und auch fuͤr ein Kreutz auf das Grab etwas zu genießen hatte, ein jaͤhrlicher Schade von hundert Thalern, der dort nun auf eine fuͤr die Eingepfarreten laͤſtigere Art erſetzt werden mußte. Unſers Orts wollen wir wenigſtens erſt verſuchen, ob wir nicht das Alte und Neue verbinden, und ſolcherge - ſtalt durch einen Mittelweg das Ziel erreichen koͤnnen.

Alle drey Abſichten koͤnnen unſer Meinung nach fuͤg - lich erhalten werden, wenn die Leiche vor wie nach aus dem Sterbehauſe abgeholet, ſo dann nach einem kurzen oder langen Umgange in die Kirche gebracht, hier ent - weder mit oder ohne Muſik empfangen, und nachdem alles was man dabey in der Kirche vornehmen will, voll - bracht iſt, oder auch noch waͤhrend der Zeit von den Traͤ - gern zur Kirche heraus, und entweder auf Schultern oder zu Wagen ohne andre Begleitung auf den Kirchhof außer der Stadt gebracht wird. Hiedurch wird nicht allein in der ganzen Oekonomie unſrer Vorfahren nichts zerſtoͤrt, ſondern auch noch den Begleitern wenigſtens die Haͤlfte des Ungemachs, was mit der Abfuͤhrung nach den Kirchhof, beſonders bey ſchlimmem Wetter verknuͤpft iſt, erſparet. Ja die Leichenabfuͤhrungen koͤnnen auf dieſe Art noch feyerlicher gemacht, die Perſonalien, welche ſeit der Zeit daß die buͤrgerlichen Tugenden ihren Werth ver - lohren haben, aus der Mode gekommen ſind, wieder eingefuͤhret, noch mehrere Geſaͤnge als oft im Regen geſchehen kann, geſungen, die Gemuͤther der Trauren - den zum Opfer fuͤr die Armen geruͤhrt, und die Thraͤnen der Leidtragenden deutlicher als bey ungeſtuͤmem Wetter unter freyem Himmel bemerkt werden.

Alles dieſes erfordert keine mehrere Zeit als die vo - rige Weiſe, und der Weg aus der Kirche nach dem Trauer - hauſe, um dort entweder noch einmal zu weinen oder nochetwas179aus der Stadt zu bringen. etwas Troſt zu holen, bleibt der naͤmliche. Fallen Seu - chen und Krankheiten ein, welche eine minder feyerliche Abfuͤhrung erfordert: ſo wird ein ſogenannter Luͤgenſarg zur Abfuͤhrung in die Kirche, und fuͤr die Begleiter eben die Erinnerungen erwecken koͤnnen, welche er in andern Faͤllen erweckt, und ſo wird auch darinn keinem etwas abgehn.

Uebrigens kann, um der guten Meinung der Men - ſchen in billigen Dingen nichts zu entziehen, dem Got - tesacker auſſer der Stadt eben die Heiligkeit und Sicher - heit mitgetheilet werden, welche derſelbe in der Stadt hat, und gewiß laͤßt ſich ſolche an einem voͤllig umſchloſ - ſenen Orte beſſer als hier erhalten, wo ein gemeiner Weg daruͤber geht. Hier wird mancher, wenn entweder der Raum zu enge, oder das Gras zu gut iſt, bald auf dieſe bald auf jene Art in ſeiner Ruhe geſtoͤrt, und keiner wuͤr - de auf ſein Grab eine Roſe ohne Gefahr bluͤhen laſſen koͤnnen*)Alles werde um dich Roſe, ſagt eine griechiſche Grabſchrift beym SALLENGRE in praef. ad T. I. Cont. Ant. . Die Ruhe iſt hier nicht ſo ſtille und ſo ſicher, wie es die weiche Wehmuth ihrem Geliebten wuͤnſchet, und keiner kann hier die Einſamkeit finden, welche der Schmerz ſuchet. Hier kann keiner mit Recht auf ſein Grab ſetzen laſſen, daß er in ſeinem Leben keinem beſchwer - lich geweſen**)Qui nulli gravis extiteram dum vita manebat, Hac functo acternum ſit mihi terra levis. beym MURAT. T. I. theſ. novi. p. 540., und es auch nach dem Tode nicht ſeyn wolle. Hier faͤllt bey einem taͤglichen Anblicke, der hei - lige Schauer weg, welcher Roungs Phantaſie ſo ſehr er - hoͤhete, und die trauerklagende Muſe kraͤchzet blos einM 2Leichen -180Vorſchlag wie die Kirchhoͤfe ꝛc. Leichencarmen herauf. Hier findet ſich ſelten der Raum dem zwar unerklaͤrbaren aber immer doch natuͤrlichen und nuͤtzlichen Triebe der Menſchen, ſich ein Andenken nach dem Tode zu ſtiften, mehr als einen glatten Stein zu opfern, und hier wird man nicht leicht, das alte: Sibi vivus poſuit, antreffen.

Aber ein wohlverwahrter Kirchhof vor der Stadt kann alle dieſe Vortheile und noch mehrere vereinigen; er kann naͤmlich auch ſeine Abſonderung fuͤr diejenigen, die nicht mit andern in Gemeinſchaft ruhen ſollen, haben; er kann wie bey den Herrnhutherrn, zur heilſamen Er - bauung fuͤr die Lebenden eingerichtet werden; er kann, da niemand gewoͤhnlich daruͤber geht, auch niemanden durch ein eingeſunkenes Grab, wie es auf den Stadt - kirchhofe oft geſchieht, gefaͤhrlich werden, und man hat bey Seuchen nicht zu fuͤrchten, daß die Todten die Leben - den anſtecken. So viele weſentliche Vortheile muͤſſen und koͤnnen alle Religionsverwandte dahin vereinigen, ihre kuͤnftigen Ruheſtaͤtten an einem gemeinſchaftlichen Orte vor der Stadt, wofuͤr die Landesobrigkeit hoffent - lich gern ſorgen wird*)Auf den Roͤmiſchen Grabmaͤlern findet man haͤufig die Buchſtaben S. A. D. oder die Worte: ſub aſcia dedicavit; und die Gelehrten ſtreiten uͤber deren Bedeutung. Wahr - ſcheinlich gab es aber zu Rom ein Zimmer-amt, oder wie wir ſprechen, ein officium ſtructurae, und wer etwas daran bezahlte, konnte es erhalten, daß ſein Grabmal auf ewige Zeiten rein und ſchoͤn bewahret wurde. Eine ſolche dedica - tio ſub aſcia koͤnnte auch bey den Kirchhoͤfen vor der Stadt eingefuͤhret werden., zu nehmen, und Gott mit dem Pfarrer zu Fontenay zu bitten, daß er diejenigen im Him - mel beyſammen laſſen wolle, die dort nach der Schlacht,in181aus der Stadt zu bringen. in ſeinem Pfarrſprengel, eine gemeinſchaftliche Grube verſchloß, und hier ſodann von einerley Wuͤrmer bruͤder - lich werden verzehret werden.

XLVI. Was will aus unſern Garn - und Linnenhandel werden?

Unſer Garn - und Linnenhandel in Weſtphalen iſt durch den Ausbruch des Krieges zwiſchen England und Holland auf einmal ſehr gefallen, und man hat Urſache zu fuͤrchten, daß er nicht ſo bald wieder ſteigen werde. Da ſehr viele Leute, beſonders auf dem Lande, wo man nur nach den hollaͤndiſchen oder deutſchen Seeſtaͤdten han - delt, und ſich um die weitern Schickſale des Linnens nicht bekuͤmmert, der Meinung ſind, daß von Regierungswe - gen etwas zum Beſten dieſer Handlung geſchehen koͤnne: ſo will ich hier kuͤrzlich die Urſachen des ploͤtzlichen Fal - lens anzeigen, und dann jeden auffordern die Moͤglichkeit zu zeigen wie und wo ihm geholfen werden koͤnne?

Zu dem bisherigen hohen Preiß des Linnens haben mehrere Urſachen gewuͤrket. Es kann nichts in die por - tugieſiſchen Jndien kommen, als auf den eignen Schif - fen dieſer Nation, und durch portugieſiſche Unterthanen; das Linnen was ſolchergeſtalt dahin geht, wird mit einer Auflage von 10 p. C. beſchwert. Ehen ſo geht nichts in die ſpaniſchen Jndien, als auf ſpaniſchen Schiffen und von ſpaniſchen Unterthanen; und was dahin geht, be - zahlt eine Auflage von 40 p. C. Die Verfaſſung in denM 3fran -182Was will aus unſerm Garn -franzoͤſiſcheu Colonien iſt nichts freyer, und was die eng - liſchen Colonien an Linnen und Garn aus Europa ge - brauchten, mußten ſie aus einem engliſchen Hafen ziehen, und 5 p. C. davon bezahlen.

Nun hielten die Hollaͤnder fuͤr alle dieſe vier Natio - nen ſchon ſeit langer Zeit einen Markt zu St. Euſtachius, worauf nicht allein der portugieſiſche Amerikaner ſeine zehn, der ſpaniſche ſeine vierzig, und der engliſche ſeine fuͤnf p. C. erſparen, ſondern auch, was er dahin zum Verkauf brachte, und was ſonſt abermals nicht anders als unter einer neuen Auflage, und auf portugieſiſchen, ſpaniſchen und engliſchen Schiffen nach den europaͤiſchen Hafen jeder Nation gebracht werden durfte, frey ver - kaufte, wenn er die Gefahr der Strafe, die jede Nation auf dieſe Defraudation geſetzt hatte, ſtehen wollte.

So lange die Englaͤnder mit ihren Coloniſten einig waren, kamen dieſe ſelten dahin; es verlohnte ſich um 5 p. C. zu erſparen, fuͤr einen Englaͤnder nicht die Muͤhe, ein Betruͤger zu werden; man paſſete auch in den ameri - kaniſchen Hafen ſehr ſcharf auf. Auch kamen ſelten die Portugieſen und Franzoſen dahin, weil die Auflage von 10 p. C. noch zu ertragen war. Jmmer aber und ſeit mehr als funfzig Jahren hat der ſchwere Jmpoſt von 40 p. C. die ſpaniſchen Jndianer in die Verſuchung geſetzt, ſich auf St. Euſtachius mit europaͤiſchen Waaren zu ver - ſorgen, und ſolche dort gegen ihre Producte frey einzu - tauſchen.

So bald die Unruhen in Amerika ausbrachen, gien - gen die engliſchen Coloniſten, welche entweder zu ſchwach waren gerade zu nach Europa zu handeln, oder den Weg dahin zu unſicher hielten, nach Euſtachius, wo ihnen die Hollaͤnder alles was ihr Herz begehrte, entgegen brach -ten,183und Linnenhandel werden? ten, und alles was ſie jetzt nicht los werden konnten, mit begieriger Hand abnahmen. Je mehr die Englaͤnder Meiſter zur See wurden, deſto weniger konnten die Ame - rikaner mit ihrem Toback und andern Produkten einen europaͤiſchen Hafen erreichen, und deſto mehr fielen ſie den Hollaͤndern auf Euſtachius in die Haͤnde, die mehr - mals zwey, drey bis vierhundert p. C. daran verdient haben. Die franzoͤſiſchen Colonien, welche von Haus aus nicht verſorget werden konnten, mußten ſich nach eben dieſem Markt wenden, und der franzoͤſiſche Hof, was er ſeinen Flotten mit Sicherheit nicht nachſchicken konnte, durch Hollaͤnder dahin beſorgen laſſen, wo es die Kriegs - ſchiffe in Empfang nahmen. Wie die Spanier mit in den Krieg verwickelt wurden, zogen ſie viele von ihren kleinen Kuͤſtenbewahrern ein, um Matroſen zu bekom - men, und ſahen mit ihren Coloniſten, die nach Euſta - chius giengen, durch die Finger, weil dieſe von Haus aus nicht verſorget werden konnten; und wahrſcheinlich zogen auch die Portugieſen manches daher. Solcherge - ſtalt ward Euſtachius der allgemeine Markt fuͤr alle Na - tionen, und je groͤßer die Concurrenz der Kaͤufer, je un - ſicherer die See wurde, deſto hoͤher lief der Preiß der von den Hollaͤndern dort verſammleten Waaren. Das weſtphaͤliſche Linnen, und die ſogenannten bunten, wel - che von weſtphaͤliſchem Garn gemacht werden, waren fuͤr alle von gleicher Beduͤrfniß, und der Preiß des Garns und Linnens ſtieg in Verhaͤltniß.

Nun brach der Krieg zwiſchen England und Holland aus, und der beſtuͤrzte hollaͤndiſche Kaufmann will es

  • a) noch nicht wagen, die europaͤiſchen Guͤter der See zu vertrauen und die Guͤter der franzoͤſiſchen und ſpa - niſchen Colonien von Euſtachius nach Europa zu fuͤhren. Es geht
M 4b) die184Was will aus unſerm Garn -
  • b) die Nachricht ein, daß der Orcan vom letzten October die Packhaͤuſer auf Euſtachius und alle dortige Commiſſionairs zu Grunde gerichtet habe. Hieraus ent - ſteht ein allgemeiner Mißcredit. Die Hollaͤnder muͤſſen
  • c) taͤglich einen Anfall der Englaͤnder auf Euſta - chius
    *)Dieſes gieng auch einige Monate nachher wuͤrklich verlohren.
    *) befuͤrchten, und dieſes iſt ein neuer Grund, war - um keiner ſein Gut dahin ſchicken will. Hiedurch geraͤth auf einmal der Handel mit Linnen, ins Stecken, und nun fraͤgt es ſich: ob die jetzt angefuͤhrten drey Urſachen von Weſtphalen ausgehoben werden koͤnnen?

Mit der erſten ſcheinet es ſo, wenn England bewo - gen werden koͤnnte, Freypaͤſſe auf das Linnen, was aus Weſtphalen nach Euſtachius geht, zu ertheilen. Allein England hat ſchon lange den Handel auf Euſtachius, wo - her ſeine Colonien unterſtuͤtzet werden, ungern geſehn; es will ſeine 5 p. C. von demjenigen was dieſe gebrau - chen, ziehen; es will ſein ſchottiſches und irlaͤndiſches Linnen dort abſetzen, es will den Schleichhandel in die ſpaniſchen Colonien, den die Hollaͤnder bisher gehabt ha - ben, auf Charlestown oder einen andern Hafen ziehen; und ſo iſt nicht zu erwarten, daß es gegen ſein eignes Jntereſſe Freypaͤſſe geben ſolle.

Die zweyte Urſache wird gehoben ſeyn, wenn die Nachrichten von dem Orcan guͤnſtiger werden. Aber der Credit wird ſich immer langſam herſtellen, und immittelſt mancher zu Grunde gehn.

Die dritte kann nicht gehoben werden, oder die Hol - laͤnder muͤßten eine ſolche Macht zur See haben, daß ſie Euſtachius, und die Fahrt dahin decken koͤnnen; und dazu koͤnnen wir unſers Orts nichts beytragen.

Das185und Linnenhandel werden?

Das einzige Mittel was ſich außerdem zeigt, iſt, daß die Daͤniſche Jnſel St. Croix, welche faſt eben ſo gele - gen liegt als Euſtachius, zum Marktplatze erwaͤhlet werde, und wuͤrklich hat Daͤnemark, oder vielmehr der wach - ſame Baron v. S. , in deſſen Haͤnden die Handlung auf St. Croix iſt, im vorigen Monate bekannt machen laſſen, daß auch mit auswaͤrts gebaueten Schiffen dahin ſollte gehandelt werden moͤgen. Dieſer Erlaubniß koͤnn - ten wir uns bedienen, und unſre Linnen unter daͤniſchen Paſſeports dahin verſenden. Allein ehe man eine Corre - ſpondenz dahin eroͤfnet, und einen ſichern Commiſſionair dort ausmacht; ehe die Fahrt dahin ſtark und der dor - tige Markt beruͤhmt genug wird; ehe man dort die ſpa - niſchen Retourwaaren findet, und ſolche in einem deut - ſchen Hafen zu verſilbern weiß, duͤrfte mancher ausge - handelt haben.

Es bleibt alſo faſt nichts uͤbrig als den Himmel zu bitten, daß der Bruch zwiſchen England und Holland bald geheilet werden moͤge. Der Krieg zwiſchen den uͤbrigen Theilen, wird uns dagegen vortheilhafter als ein allge - meiner Friede werden. Denn wenn durch denſelben die Amerikaner genoͤthiget werden, ihr Linnen wie vorhin aus England zu ziehen, wenn die Spanier ihre Schif - fahrt und ihre Kuͤſtenbewahrer wieder in Ordnung ha - ben, wenn die Franzoſen ihre Colonien von Haus aus verſehen koͤnnen: ſo wird ſo wohl das deutſche Linnen als Garn fallen.

Zwar wird alsdenn unſer Linnen wiederum von Ham - burg auf Portugall und Spanien, von Bremen auf Eng - land und Holland, und von Holland auf Frankreich und Euſtachius gehn. Allein das franzoͤſiſche, ſchottiſche und irlaͤndiſche Linnen wird auch uͤberall mit dem unſrigen concurriren, und den Preiß herunter halten. Und viel -M 5leicht186Von dem Naturgange der Gaͤnſe. leicht hat uns immittelſt Rußland, deſſen Linnen bey den jetzigen Conjuncturen uͤberall frey verfuͤhret wird, den Vorſprung abgewonnen. Es iſt wenigſtens jedem Kauf - mann zu rathen, nicht zu viel auf den kuͤnftigen Frieden zu rechnen. Deſto mehr aber wird die Handlung mit Linnen bluͤhen, wenn Holland und England allein aus - geſoͤhnt werden, und damit Euſtachius wieder der einzige Ort wird, wo ſich Portugieſen, Spanier, Franzoſen und Amerikaner, zu jedem Preiſe verſorgen muͤſſen. Dieſer Preiß wird ſo lange dauren, als die Spanier, Franzo - ſen und Amerikaner nicht Meiſter zur See werden, oder durch den Frieden zu einer ſichern Schiffahrt gelangen.

XLVII. Von dem Naturgange der Gaͤnſe.

Die Gaͤnſe haben Fittiche und ſcheinen zum fliegen von Natur berechtiget zu ſeyn; dennoch haben ſie kei - nen Naturflug, ſondern wo ſie uͤber die Hecke kommen, da ſtraft man ſie, weil ihnen das Fliegen gehemmet wer - den kann.

Dagegen haben ſie, ſo ſchlecht ſie auch zu Fuße ſind, einen freyen Naturgang, und wenn ſie da, wo ſie zu gehn berechtiget ſind, auf ein Stuͤck Buchweitzen im Mohr kommen: ſo muß der Eigenthuͤmer des Buchwei - tzens ſie ſatt freſſen laſſen, oder ſein Feld verzaͤunen.

Unlaͤngſt war ein Streit zwiſchen zweyen benachbar - ten Bauerſchaften, wovon die eine an dieſem und die an - dre an jenem Ende einer Gemeinheit lag, daruͤber, ob die Gaͤnſe der einen Bauerſchaft zu der andern kommenduͤrf -187Toleranz und Jntoleranz. duͤrften? die eine, welche das Waſſer und Gras vor der Thuͤr hatte, beſchwerte ſich daruͤber, daß die Gaͤnſe der andern immer zu ihr kaͤmen, wogegen die ihrigen nie wiederum zu der andern, welche auf ihrer Seite bare Heide haͤtte, giengen; dieſes ſey unbillig, weil der Na - turgang eine wechſelſeitige Nutzung zum Grunde haͤtte, die hier ganz wegfiele. Allein der Richter bemerkete, daß die Bienen der Bauerſchaft, welche am Waſſer lag, fleißig auf die Heide flogen, und befahl beyden die ver - ſchiedenen Vortheile der Natur mit Dank zu erkennen, und da man ſo wenig die Bienen als die Gaͤnſe an der Schnur halten koͤnnte, ſich einander das Leben nicht ſauer zu machen. Der Advocat des einen Theils war hiemit nicht zufrieden, und fuͤhrte die Unbilligkeit des Spruchs in einer ſtandhaften Behauptung ꝛc. nach allen Kuͤnſten aus. Aber der Richter ließ gleich ein Bauerrecht von ſechs benachbarten Maͤnnern halten, und wie dieſe mit ihm einſtimmeten, verſtattete er keinen Proceß; und der Oberrichter, wohin ſich der vermeintlich beſchwerte Theil wandte, beſtaͤtigte ſein Verfahren.

XLVIII. Toleranz und Jntoleranz.

Ein Philoſoph, als er unlaͤngſt die Ausſchweifungen des engliſchen Poͤbels las, ſagte er vor ſich: der Poͤbel iſt doch uͤberall Ochs, er hat zwey Hoͤrner, den Aberglauben und die Jntoleranz. Nimmt man ſie ihm: ſo kann man ihn weder faſſen noch anſpannen; und laͤßt man ſie ihm: ſo richtet er oft Ungluͤck an. Jndeſſen glaubeich188Die Bekehrung im Alter. ich doch, daß es beſſer ſey, ſie ihm zu laſſen als zu neh - men; nur muß man dafuͤr ſorgen, daß die Ochſentreiber ihre Hoͤrner ablegen.

Seine Frau, welche dieſes hoͤrte, und nie ſchweigt, wenn von Hoͤrnern die Rede iſt, machte hiebey die An - merkung: Nun weiß ich doch, warum den Maͤnnern Hoͤr - ner zugeſchrieben werden, uns Weibern aber nicht. Die Regenten muͤſſen ſie ablegen und tolerant ſeyn, aber die Unterthanen koͤnnen die ihrigen ohne Nachtheil nicht miſſen.

Wenn die Aufklaͤrung unſrer Zeiten es auch nur ſo weit bringt, daß die Regenten tolerant werden: ſo mag der Poͤbel und was dazu gehoͤrt, immer ſtoͤßig bleiben.

XLIX. Die Bekehrung im Alter.

Petron hat ſich ganz bekehret ſagt Valer. Mit eurer Erlaubnis verſetzt Ariſt, es iſt nicht andem; Pe - tron hat einen feinen Geſchmack und iſt dabey ſehr ver - aͤnderlich; Er hat die Laſter ſo lange verſucht, bis ſie ihm nunmehro unſchmackhaft geworden ſind. Sie ha - ben keine Reizungen mehr fuͤr ihn, und weil er ſich doch veraͤndern muß: ſo hat er wohl aus Noth fromm werden muͤſſen. Jhr meint gewis die Thorheit koͤnne ewig ge - fallen? o nein! dieſe iſt auch eitel; große Herren, wenn ſie die Wolluſt aller Leckerbiſſen erſchoͤpfet haben, eſſen oft auf einem Meyerhofe, um ihre ſtumpf gewordenen Zun - gen ein wenig zu ſchaͤrfen. Er verſaͤumet doch gleichwohl keine Predigt, wieder redete Valer, er iſt uͤberaus an -daͤch -189Die Bekehrung im Alter. daͤchtig, fliehet die Suͤnde aufs aͤußerſte, und giebet den Armen nach ſeinem Vermoͤgen; er dient jedermann gern, iſt gelaſſen, barmherzig, liebreich und freundlich; er glaubet alles was ihm die Lehrer unſer Kirche ſagen, und ſeine Werke ſtimmen mit ſeinem Glauben uͤberein; was wollt ihr denn mehr von einen Chriſten verlangen? Es kann dieſes alles ſeyn, ſchloß Ariſt; allein glaubt mir, nach funfzig Jahren kann ſich kein Menſch bekehren. Wenn Petron vor zwanzig Jahren ſo geweſen waͤre, wie er jetzt iſt, da er auf ſechzig hinan gehet: ſo wollte ich ihn fuͤr einen Heiligen gehalten haben. Denket einmal nach, der weiſeſte Koͤnig auf Erden hatte in ſeinem Alter nicht einmal ſo viel Kraft, daß er der groͤdſten Abgoͤtte - rey widerſtehen konnte; wie unſchuldig hat alſo Petron zur Froͤmmigkeit kommen koͤnnen, da er, nachdem ſeine boͤſen Neigungen erſtorben, und ſeine Leidenſchaften in einen tiefen Schlaf verfallen ſind, derſelben gar nicht wi - derſtehen koͤnnen? Wo der Widerſtand ſchwach iſt, da iſt der Sieg geringe, und da ein alter Mann oftmals nicht einmal ſo viel Kraft hat, daß er dem Reize einer Klapperbuͤchſe widerſtehen kann, wie will er denn dem be - ſtaͤndig anziehenden Reize der Tugend widerſtehen koͤn - nen? Glaubet mir die beſte Bekehrerin in der Welt, iſt die Faulheit; dieſe iſt die wahre Zerſtoͤrerin aller Laſter, und wenn der Menſch nur erſt ſo weit iſt, daß ſeine Lei - denſchaften traͤge werden: ſo iſt er gar bald fromm. Stellet euch vor, Petron hoͤre eine nicht gar zu allge - meine Predigt, er wuͤrde dadurch geruͤhrt, weil ſein Herz nicht widerſtehet; dieſer Mangel des Widerſtandes aber ſey nicht die Frucht einer Ueberwindung, ſondern eines erſchlaften Herzens, wuͤrdet ihr wohl ſagen, Petron ha - be ſich bekehret? Jch habe noch keinen geſehen, der ſich in der Staͤrke ſeiner Leidenſchaften ernſthaft gebeſſert hat. Das190Die Bekehrung im Alter. Das Herz hat allemal den Verſtand betrogen, und wo es hoch gekommen, die Froͤmmigkeit zum Vorwurf ſei - ner Leidenſchaften gemacht.

Jch beſinne mich, fuhr er fort, daß ich in meiner erſten Kindheit einen großen Theil an den geringſten Klei - nigkeiten nahm; mein Herz war ein leerer Raum, der von dem erſten Vorwurfe ganz erfuͤllet wurde. Meine Mutter erfuͤllete mich anfangs ganz; nachher wurde ihr Bild bey mir kleiner, weil mein ſilbernes Pfeifgen auch einen kleinen Platz haben wollte. Jch gieng in die Schu - le, und nahm ſo viel Woͤrtergens in dieſen Raum, daß mein ſilbernes Pfeifgen, nur den tauſendſten Theil ſeines vorigen Platzes mehr behaupten konnte. Eine gewiſſe Ruͤhrung, welche ich mit der bewegenden Materie eini - ger Weltweiſen vergleiche, erhielt alle dieſe Bilderchens in ihrem Schwunge. Jch nannte dieſe bewegende Ma - terie einen natuͤrlichen Trieb zum Vergnuͤgen. Alle Bilder woraus dieſer Trieb ſeinen Vortheil nicht ziehen konnte, blieben liegen und wurden nicht geruͤhret. Jch erblickte einsmals eine Schoͤne, welche meinen ganzen Seelenraum durchaus erfuͤllte. Meine Woͤrtergens, waren ſo ſchwach, daß ſie dieſen eindringenden Reizun - gen nicht den geringſten Widerſtand thaten. Es waͤh - rete beynahe ein Jahr, daß meine vernunftloſe Einoͤde ſich dergeſtalt von dieſer Schoͤne erfuͤllen ließ. Endlich aber kam das Spiel, welches anfangs einen unmerkli - chen Theil in meinem Raum eroberte, aber nach und nach ſo ſehr ſich ausdehnte, daß das Bild meiner Gat - tin, nur einen geringen Theil behauptete, und zuletzt alles Verhaͤltnis verlor. Jetzt merkte ich, daß der Schwamm meiner Leidenſchaften ſeine ganze Ausdehnung verlieret. Jch ſahe, daß ich taͤglich frommer wurde, ſo wie dieſe abnahmen Eine ſolche negative Froͤmmigkeit nahmein191Die Bekehrung im Alter. ein ander das Wort, iſt nur eine Abweſenheit der vori - gen Bilder, welche ſich von ſelbſt verloren haben; die geiſtloſe Leere ſchnappet nur aus Noth, und damit das Kinderbuͤchſgen, welches ſich bey den Menſchen im Alter wenn er von ſeiner Einbildungskraft verlaſſen wird, jedes mal hervorthut, nicht wieder ausdehnen moͤge, nach frommen Bildern, ſo wie die Adern ſich mit Winde er - fuͤllen, wenn ſich das Blut verlieret. Daher koͤmmt es, daß alte Leute gar oft leichtglaͤubig und aberglaͤubiſch wer - den, und in fromme Ausſchweifungen verfallen. Denn ein jedes fuͤrchterliche Bild erfuͤllet ſie, weil in ihrem See - lenraum nichts iſt, was noch einigen Widerſtand thun koͤnnte. Bey einem Menſchen fuͤgte Ariſt hinzu, der die große Kraft ſeiner Leidenſchaften in der Wolluſt abgenutzt hat, hat endlich die Froͤmmigkeit außer dem Mangel des Widerſtandes, noch den Werth der Neuigkeit. Eine neue Vergnuͤgungsart, ſie ſey gut oder ſchlimm, hat allemal ihre Reizungen, und das allermatteſte Herz empfindet dabey noch etliche angenehme Aufwallungen oder zaͤrtliche Blaͤhungen, die ein Zeichen der Froͤmmigkeit ſind, und dieſe frommen Aufwallungen werden oft noch von dem Vergnuͤgen der Reue unterhalten. Auch werden viele Suͤnden durch Verdruß und Langeweile geſchwaͤchet, und durch die Veraͤnderungsbegierde erzeuget; dahero iſt ihr Andenken noch immer und wenigſtens wider Willen an - genehm, weil unſer Herz mehr ſeine Fehler bereuen will, als wuͤrklich bereuet. Solche Perſonen opfern Gott nur denjenigen Eckel auf, welchen ſie verbannen wollen, es koſte was es wolle. Aus dieſer Urſache verachtet Evre - mont einen gottloſen Alten, als einen ungeſchickten Mann, der ſein Handwerk nicht verſtehet, indem er ſeinem Ver - gnuͤgen nachhaͤngt, ſo lange es laſterhaft iſt, und es ver - nachlaͤßiget da es von ſelbſt anſaͤngt tugendhaft zu wer -den.192Die Bekehrung im Alter. den. Die angenehme Verfluchung ihrer vorigen Aus - ſchweifungen, ſchmeichelt noch immer der ſterbenden Nei - gung, und die Thraͤnen uͤber die Suͤnden, ſind faſt im - mer mit ſolchen Tropfen vermiſcht, welche aus einer zweydeutigen Zaͤrtlichkeit entſpringen. Aus dieſem Grun - de kann ein alter Mann allemal bey ſeiner Froͤmmigkeit des Vergnuͤgens der Reue genieſen; aus eben dieſem Grunde fließet die gemeine kloͤſterliche Andacht, wie der Abbe St. Pierre ſchon angemerket hat, indem er keinem rathen will, ins Kloſter zu gehen, der nicht einen ſolchen Vorrath an Suͤnden gemacht, daß es ihm niemals an dem Vergnuͤgen der Reue fehlen koͤnne.

Jetzt erkenne ich die Auffuͤhrung des Petrons, ſagt Valer. Allein wenn er nun zu ſeinem Ungluͤck ſo lange lebte, daß die Froͤmmigkeit ihre Neuigkeit verloͤre, oder eine neue Sache kaͤme, die mit mehrerer Gewalt in ſeinen leeren Seelenraum draͤnge wie denn?

Sorget nicht, verſetzte Ariſt, weil alle Dinge in der Welt ihre Liebenswuͤrdigkeit, und die Macht des Ein - drucks von unſer Einbildung erhalten: ſo hat Petron nichts zu beſorgen, weil ſeine Einbildung ſchon ſo unachtſam und traͤge geworden iſt, daß ſie keine ſchoͤne Bilder mehr ent - wickeln, und ſolche den Vorwuͤrfen leihen kann. Er koͤnnte vielleicht uͤber einige Zeit noch geitzig werden, wenn die Verſuchung ſtark genug wuͤrde; denn die Alten ſind ohnedem, aus Mangel hinlaͤnglicher Eitelkeit immer geneigt, dem ſcheinbar nuͤtzlichen den Vorzug vor allen andern Vergnuͤgungen zu geben, weil ſie außer Stande ſind, daran Theil zu nehmen. Jch will alſo nicht gaͤnz - lich in Abrede ſeyn, daß Petron nicht noch geizig werden koͤnne. Er wird aber nach ſeiner Art fromm dabey blei - ben. Er wird glauben Gott einen Dienſt zu thun, daßer193Die Bekehrung im Alter. er ſeine Zeit nicht verliert, und ſie nicht in vergaͤnglichen Luſtbarkeiten verſchwendet. Allein wenn er geitzig wer - den ſoll, ſo muß er erſt reich werden; es muß ſich aͤußern wenn er die große Erbſchaft an ſeinen Bruder thut.

Die Prophezeyung iſt eingetroffen, Petron hat die Erbſchaft von ſeinen Bruder gethan, und iſt auf einmal ſo geitzig geworden, als er in ſeiner Jugend verſchwen - driſch geweſen iſt. Waͤre ſeine Froͤmmigkeit rechtſchaffen geweſen, ſo muͤßte ſie alle Proben ausgehalten haben. So aber hat ſie nicht einmal dem allerſchwaͤchſten Angrif widerſtehen koͤnnen; denn wenn ein verſchwendriſches Naturell nicht einmal den Leckereyen des Reichthums in ſeinem Alter begegnen kann, ſo muß die Ohnmacht ganz erſtaunend ſeyn; iſt aber die Ohnmacht ſo groß, ſo iſt es gewiß keine Kraft, ſondern eine Faulheit geweſen, die ihn bekehret hat.

L. Eine kurze Nachricht von den Weſtphaͤli - ſchen Freygerichten.

Die Freygrafen und Freyſchoͤpfen in Weſtphalen, wel - che ſich zu Anfange des funfzehnten Jahrhunderts ſo beruͤhmt und fuͤrchterlich machten, daß es wenig fehlte, oder man haͤtte gegen ſie wie gegen die Tempelherrn ver - fahren muͤſſen, ſind zwar in der Geſchichte noch unver - geſſen, aber doch vielleicht manchem unter uns nicht ſo bekannt, wie es eine ſolche Nationalſache verdient. Jch will alſo denen zu gefallen, die ſich lieber aus einem Ta - ſchencalender, als aus großen gelehrten Werken unter - richten, eine kurze Nachricht von ihnen geben.

Moͤſers patr. Phantaſ. IV. Th. NJhren194Eine kurze Nachricht

Jhren Urſprung leiteten ſie ſelbſt von Carl dem Groſ - ſen her, und die Gelehrten, welche dieſe ihre Meinung unterſtuͤtzen, haben es hoͤchſtwahrſcheinlich gemacht, daß ſie ihr Daſeyn den Carolingiſchen Commiſſarien (miſſis per tempora diſcurrentibus) zu danken haͤtten. Dieſe ver - hielten ſich eben ſo wie die jetzigen archidiaconaliſchen Commiſſarien, reiſeten des Jahrs ein oder mehrmal in die ihnen angewieſenen Diſtricte, und hielten in denfelden ihre Sitzungen, Namens des Kayſers, oder unter Koͤ - nigs Bann; wobey ein jeder der entweder etwas gegen die ordentlichen Beamten anzubringen, oder doch ſonſt eine Beſchwerde hatte, welche nicht anders als durch den Kayſer ſelbſt gehoben werden mochte, ſich angeben konnte. Jnsbeſondre aber unterſuchten und beſtrafeten dieſe Com - miſſarien diejenigen Verbrechen, deren Beſtrafung der Kayſer ſich ſelbſt vorbehalten hatte; und wie es uͤber - haupt ſcheinet, daß der ordentliche Richter nicht anders als zur Erhaltung, das iſt zur Genugthuung mit Gelde richten konnte: alſo mochten jene Commiſſarien uͤber alle Verbrechen richten, welche entweder der Kayſer fuͤr un - abloͤslich erklaͤrt, oder der Verbrecher ſelbſt dadurch, daß er ſich zur Genugthuung vor ſeinem ordentlichen Richter nicht bequemen wollte, unabloͤslich gemacht hatte.

Die Natur dieſer Anſtalt erforderte zweyerley, als erſtlich eine oͤffentliche und geheime Sitzung. Denn da unter den unabloͤslichen Verbrechen, Ketzerey, Zaube - rey und Kirchenraub mit begriffen waren: ſo ließ ſich dar - uͤber nicht vor dem ganzen Volke inquiriren; und ſo ward die Commiſſion wahrſcheinlich eben wie unſre Sende, erſt mit dem verſammleten Volke eroͤffnet, und hernach mit einem Stillgerichte beſchloſſen. Zweytens erforderte ſie, weil die Commiſſarien ſich nicht lange aufhalten konnten,einen195von den Weſtphaͤliſchen Freygerichten. einen geſchwinden Proceß, und dieſer beſtand darinn, daß in jedem Diſtricte, wie es von den archidiaconaliſchen Commiſſarien noch geſchieht, zwey oder mehrere der be - ſten und redlichſten Maͤnner zu Eydgeſchwornen angeſetzt und alle Verbrechen, die zu ihrer Beſtrafung gehoͤrten, auf deren Zeugniß gerichtet wurden. Hiemit ſtimmt auch die Geſchichte, wann man alle kleine Umſtaͤnde zuſam - men nimmt, uͤberein, und die ſpaͤtern Geſchichtſchreiber ſetzen dieſem noch den beſondern aber ſehr wahrſcheinli - chen Umſtand hinzu, daß die Eydgeſchwornen dem Volke nicht waͤren bekannt gemacht worden, damit ſich keiner vor ihnen haͤtte in Acht nehmen koͤnnen; ſo daß ein Bru - der ſich vor dem andern habe fuͤrchten muͤſſen.

Vergleicht man dieſe Beſchreibung der Carolingiſchen außerordentlichen Commiſſion mit den ſpaͤter alſo genann - ten Freygrafſchaften: ſo findet man unter beyden die groͤßte Aehnlichkeit. Jhre Sitzungen hießen Freydinge, der Ort wo die Sitzung gehalten ward, der freye Stuhl, der Commiſſarius Freygraf, und die Eydgeſchwornen Frey - ſchoͤpfen; der Herzog von Sachſen, welcher auch noth - wendig als oberſter miſſus jene miſſos per tempora diſcur - rentes abſchickte, war ihr oberſter Stuhlherr; derſelbe hatte in dieſer Eigenſchaft das Patronatrecht uͤber jeden Stuhl, oder die Ernennung des Freygrafen, und dieſer ließ ſich dann nachdem er ernannt war, von dem Kayſer wiewohl es auch zu Zeiten Commißionsweiſe vom Her - zoge geſchahe, mit des Koͤnigs Bann belehnen.

Vor ihren Richterſtuhl gehoͤrten ebenfalls jene Ver - brechen und alle Klagen gegen Leute, die vor ihrem or - dentlichen Richter kein Recht geben wollten. Sie hatten auch wie jene ihr Stillgericht, oder ihre ſogenannte heim - liche Acht, nachdem ſie zuvor den freyen Stuhl bekleidetN 2und196Eine kurze Nachrichtund ihre oͤffentliche Sitzung unter dem blauen Himmel eroͤffnet hatten. Es ward dem Volke nicht bekannt ge - macht wer Freyſchoͤpfe war; und dieſe waren durch einen fuͤrchterlichen Eyd verbunden, Vater und Bruder, Mut - ter und Schweſter, Freunde und Verwandte anzugeben, wenn ſie etwas begangen hatten, was vor dem freyen Stuhl zu ruͤgen war. Jhnen lag es zugleich ob, alle Er - kenntniſſe des freyen Stuhls zu vollſtrecken, die Ladun - gen an die Straffaͤlligen zu uͤberbringen, und wenn es das Urtheil mit ſich brachte, den Verurtheilten wo ſie ihn fanden, zu haͤngen. Jm Grunde aber hielten ſie dem Kay - ſer alle Laͤnder offen, handelten ohne ſich an Territorial - graͤnzen zu kehren, noch immer als auſſerordentliche, die kayſerliche Majeſtaͤt repraͤſentirende Commiſſarien, und wuͤrden, wenn ſie beſtehen geblieben waͤren, alle Terri - torialhoheit verhindert haben.

Des erſten Freygerichts wird ums Jahr 1211. mit - hin nicht lange nach dem geſprengten Großherzogthum in Sachſen, als einer ſchon bekannten Sache gedacht. Ver - muthlich hatten die vorhingedachten Commiſſarien ihr Amt unter den Herzogen fortgeſetzt, und ſich von dieſen als den oberſten miſſis beſtellen laſſen. Denn da alle Blut - gerichte von dem Herzogthum ausgiengen: ſo mußten auch dieſe Commiſſarien davon angeordnet ſeyn. Jn die - ſer Zeit muͤſſen ſie ſich aber auf einem gewoͤhnlichen und bekannten Fuß gehalten haben, weil die Schriftſteller ih - rer gar nicht gedenken; und dieſes iſt insgemein der Fall mit gewoͤhnlichen Begebenheiten; man bemerkt in der Geſchichte die Cometen und Finſterniſſen, aber nicht den taͤglichen Aufgang der Sonne. Erſt nach geſprengtem Her - zogthume fielen die Freygerichte in die Augen. Kein Reichsfuͤrſt wollte gern einen ſolchen unmittelbaren kay -ſerli -197von den Weſtphaͤliſchen Freygerichten. ſerlichen Comiſſair zulaſſen. Jeder Biſchof und Fuͤrſt war darauf bedacht die Commiſſion auf ſich zu bekom - men, ſelbſt Oberlehnsherr der Stuͤhle in ſeinem Lande zu werden, und damit eine fremde Gerichtsbarkeit auszu - ſchließen. Der Erzhiſchof von Coͤlln allein, welcher das Herzogthum in Engern und Weſtphalen erhalten hatte, widerſetzte ſich dieſen Unternehmungen, und brachte es auch wuͤrklich dahin, daß er faſt uͤberall in Weſtphalen und Engern als oberſter Stuhlherr erkannt wurde. Von ihm hieng alſo eine Zeitlang die Ernennung aller Frey - grafen in dieſen Laͤndern ab, und vermuthlich auch die Belehnung derſelben mit des Koͤnigs Banne.

Jn dieſer Lage blieben die Freygrafſchaften eine gute Weile, außer daß ſich viele Biſchoͤfe, Fuͤrſten und Staͤd - te, welche das ordentliche Richteramt zur Erhaltung, oder die Gowgrafſchaften an ſich gebracht hatten, ſich dieſem auſſerordentlichen Beamten zu entziehen, und ent - weder dieſes ihr Richteramt auch auf die Faͤlle zu Haut und Haar zu erſtrecken ſuchten, oder ſich auf andre Art den Freygrafen widerſetzten, wozu die allmaͤhlige Abnah - me des Rechts die Verbrechen mit Gelde zu loͤſen, der Landfrieden, und andre Arten von Selbſthuͤlfen, haupt - ſaͤchlich aber die von dem Kayſer gegen ſein eignes Jnte - reſſe ertheilten Privilegien nicht wenig beytragen mochten. Gegen das Ende des vierzehnten und zu Anfang des funf - zehnten Jahrhunderts erſchienen ſie aber auf einmal mit einer ſolchen Macht, daß ganz Deutſchland davor zittern mußte; und ich glaube nicht zu viel zu ſagen, wenn ich annehme, daß mehr als hundert tauſend Freyſchoͤpfen in Deutſchland waren, die wie die Freymaͤurer vereint und unerkannt, jeden der von der heimlichen Acht verdammt war, unverwarnt hinrichteten, und was die AusrichtungN 3be -198Eine kurze Nachrichtbetrift, den Banditen und Aſſaſſinen gleich verfuhren. Bayern und Oeſterreicher, Franken und Schwaben, wenn ſie etwas an jemanden zu fordern hatten, der ih - nen vor ſeinem ordentlichen Richter nicht zu Recht ſtehen wollte, wandten ſich an ein weſtphaͤliſches Freygericht, und brachten von demſelben Ladungen und Urtheile aus, die ſo gleich dem ganzen Orden der Freyſchoͤpfen bekannt gemacht wurden, und ſo mit jene hundert tauſend Hen - ker in Bewegung ſetzten, die durch den fuͤrchterlichſten Eyd verbunden waren, weder ihrer Eltern noch ihrer beſten Freunde und Verwandten zu ſchonen. Wenn ein Freyſchoͤpfe, der mit ſeinem in der heimlichen Acht verur - theilten Freunde uͤber Weg gieng, demſelben nur den ge - ringſten Wink gab, und z. E. nur zu ihm ſagte: Ander - waͤrts iſt ſo gut Brod zu eſſen als hier, um ihm damit zu verſtehen zu geben, er moͤge ſich aus dem Staube ma - chen: ſo waren alle Freyſchoͤpfen durch ihren Eyd ver - bunden, dieſen Verraͤther ſieben Fuß hoͤher zu haͤngen als einen jeden andern Verurtheilten. Jhnen gebuͤhrte, nachdem einmal das Urtheil in der heimlichen Acht aus - geſprochen war, nicht die geringſte weitere Erkenntniß, ſondern der ſtrengſte Gehorſam, deſſen irgend ein Or - densmann nur faͤhig iſt; und wenn der Verbrecher auch von ihnen fuͤr den redlichſten und beſten Mann gehalten wurde: ſo mußten ſie ihn haͤngen.

Dieſes bewog faſt jeden Mann von Geburt und An - ſehen ſich als Freyſchoͤpfe aufnehmen zu laſſen, um ſich ſolchergeſtalt deſtomehr in Acht nehmen zu koͤnnen. Jeder Fuͤrſt hatte einige Freyſchoͤpfen unter ſeinen Raͤthen, je - der Magiſtrat unter ſeinen Gliedern*)Es habe ſich erfunden, ſchreibt VVERLICH in Chron. Aug. p. II. c. 9. daß 36 Buͤrger zu Augſpurg, darunter auchviel und der Adel warhaͤu -199von den Weſtphaͤliſchen Freygerichten. haͤufiger Freyſchoͤpfe als jetzt Freymaͤurer. Jn Sachen der Stadt Oſnabruͤck gegen Conrad von Langen waren uͤber dreyhundert Freyſchoͤpfen, theils von der Ritter - ſchaft, theils erbarn Standes*)Beym KRESS vom Archid. Weſen in app. S. 161., in der heimlichen Acht, worin der von Langen verdammt wurde. Auch Fuͤrſten, als der Herzog von Bayern und der Markgraf von Bran - denburg, ließen ſich zu Freyſchoͤpfen aufnehmen, und man erzaͤhlt von dem Herzog Wilhelm von Braunſchweig, einem Freyſchoͤpfen, daß er geſagt habe, ich muß Herzo - gen Adolf von Schleßwig haͤngen, wenn er zu mir koͤmmt, oder die Schoͤpfen wuͤrden mich haͤngen**)Doch bezweifelt der Hofrath Koch in den Anmerkungen uͤber die Weſtph. Gerichter ꝛc. dieſe Erzaͤhlung Johannes von Buſche de reform. monaſt. III. 42. p. 942. weil der Herzog ſich ſo weit nicht herauslaſſen duͤrfen.. Man konn - te dem Verfahren der Freygerichte nur ſelten ausweichen, da die Freyſchoͤpfen, wenn ſie einen Fuͤrſten aus ſeinem Palaſte, oder einen edlen Herrn aus ſeiner Burg, oder einen Buͤrger aus der Stadt zu verabladen hatten, ſich des Nachts ungeſehn und unerkannt an die Mauren der Burg oder der Stadt heranſchlichen, und die bey ſich ha - benden Ladungen an die Pforten hefteten. War dieſes dreymal geſchehen, und der Beklagte erſchien nicht: ſo ward er in der heimlichen Acht verdammt, und um der Vollſtreckung des Urtheils vorzubeugen noch einmal vor -N 4be -*)viel von Geſchlechten nnd des Raths, des ſcharfen Weſt - phaͤliſchen Proceſſes bewußt, ja auch wohl gar heimliche und verborgene Henker geweſen. Wenn ſolchergeſtalt 36 Weſtphaͤliſche Freyſchoͤpfen in einer einzigen entfernten Stadt waren, wie viele mochten denn nicht in ganz Deutſchland geweſen ſeyn?200Eine kurze Nachrichtbeſchieden, ſodann aber wenn er nochmals ausblieb, verfehmt, oder vor jeden Freyſchoͤpfen gleichſam Vogel - frey erklaͤrt, und das unſichtbare Heer der Schoͤpfen ver - folgte ihn bis zum Tode. Wenn ein Schoͤpfe ſich zu ſchwach fuͤhlte den Verurtheilten zu greifen und zu haͤngen, ſo mußte er ihn ſo lange verfolgen, bis er mehrere Frey - ſchoͤpfen antraf, die ihm die huͤlfliche Hand leiſteten; und dieſe waren auf das ihnen gemachte heimliche Zeichen ohne Widerrede dazu verbunden. Sie hiengen dann den Ungluͤcklichen mit der Weide an einen Baum auf der Land - ſtraße, nicht aber an einen Galgen, um damit anzuzei - gen, daß ſie ein freyes Kayſerl. Richteramt durch das ganze Reich haͤtten, welches an keine Herrſchaftl. Ge - richtſtaͤtte gebunden waͤre. Widerſetzte er ſich ſo, daß ſie ihn nieder ſtoßen mußten: ſo bunden ſie den Koͤrper an den Baum, und ſteckten ihr Meſſer dabey, zum Zeichen, daß er nicht ermordet, ſondern von einem Freyſchoͤpfen gerichtet waͤre.

Das tiefſte Geheimniß deckte alle ihre Handlungen; und man weiß bis dieſe Stunde noch nicht*)Die vier Buchſtaben S. S. G. G. welche man insgemein ſo auslegt: Stock Stein Graß Grein, ſtanden in einem Proto - koll, was man zu Herſord gefunden hat. S. PFEFFINGER l. c. p. 490., was ſie fuͤr eine Loſung gehabt, woran ſich die Wiſſenden, ſo nannten ſich die Freyſchoͤpfen, einander erkannt haben; und noch weniger ihre ganze Einrichtung. Selbſt dem Kayſer, ohnerachtet er der oberſte Stuhlherr war, durf - ten ſie dasjenige nicht entdecken, was in der heimlichen Acht vorgegangen war. Nur dann wenn er fragte:

Jſt N. N. verurtheilt[?]ſo konnten ſie ihm mit Ja oder Nein antworten, wenn er aber fragte: wer iſt inder201von den Weſtphaͤliſchen Freygerichten. der heimlichen Acht verurtheilt[?]durften ſie ihm keinen mit Namen nennen, wie man ſolches aus den Antworten ſieht, welche die Freygrafen dem Kayſer Ruprecht im Jahr 1404 ertheilten*)ap. DATT de pace publica p. 777..

Der Kayſer oder ſein Bevollmaͤchtigter der Herzog konnte nirgends Freyſchoͤpfen machen als auf der rothen Erden, das iſt in Weſtphalen, an einem freyen Stuhle, unter dem Beyſtande von drey oder vier andern Frey - ſchoͤpfen als Zeugen. Auch hierinn waren ſie den Frey - maͤurern aͤhnlich, und wenn man ſich jeden Stuhl als eine Loge, und den oberſten Stuhlherrn als Großmei - ſtern aller Weſtphaͤliſchen Logen denkt: ſo wird die Aehn - lichkeit noch ſcheinbarer. Was aber fuͤr ein myſtiſcher Sinn unter der rothen Erde verborgen liege, und warum Weſtphalen die rothe Erde genannt werde, iſt noch zu unterſuchen; vielleicht zielte man auf die Farbe des Fel - des im Herzoglich Saͤchſiſchen Schilde. Der Koͤnig Wen - zel hatte Freyſchoͤpfen außerhalb Weſtphalen gemacht, und als der Kayſer Ruprecht fragte, wie ſich echte Frey - ſchoͤpfen gegen dieſelben verhielten: ſo war die Antwort: man haͤngt ſie von Stund an ohne Gnade.

Der Kayſer allein und kein ander Fuͤrſt konnte einem der in der heimlichen Acht verurtheilet war, ein frey Ge - leit ertheilen; eben dieſes hatte auch Carl der Große ſich in den ſaͤchſiſchen Capitularien vorbehalten. Doch, ant - worteten die Schoͤpfen, ziemte es den Kayſer beſſer der - gleichen Geleit nicht zu ertheilen, weil ihm mehr daran gelegen ſeyn muͤßte, die heimlichen Gerichte zu ſtaͤrken als zu ſchwaͤchen; und hierinn hatten ſie Recht, weil die Freygrafen den unmittelbaren Einfluß der kayſerlichenN 5Ge -202Eine kurze NachrichtGewalt gegen die anwachſenden Territorialhoheiten be - haupteten. Obgedachten Conrad von Langen, der ſein Gut zwiſchen der Stadt Oſnabruͤck und dem Dorfe Oeſede hatte, nahm der Kayſer Sigismund in ſeine Dienſte, um ihn zu retten. Aber die Freygrafen verfolgten ihn mit ihren Erkenntniſſen, wovon er endlich an das Concilium zu Baſel appellirte*)S. PFEFFINGER ad vitr. ill. T. IV. p. 487..

Die wahre Urſache ihres Untergangs iſt auch ganz ſichtbar die Territorialhoheit, welche ſich gegen dieſe auſ - ſerordentlichen und unmittelbaren kayſerlichen Commiſſa - rien ſo lange ſperrete, bis ſie ſolche voͤllig erſtickt hatte. Doch ſind ſie durch die Reichsgeſetze nie voͤllig aufgeho - ben, ſondern nur auf ihre urſpruͤngliche Einrichtung, und auf ihre Diſtricte eingeſchraͤnkt worden. Noch jetzt giebt der Kayſer freye Stuͤhle zu Lehen, und man findet auch noch verſchiedene Freygerichte in der Grafſchaft Mark und dem Herzogthum Weſtphalen, die aber doch nicht mehr unmittelbar unter dem Kayſer, ſondern unter ih - rem Landesherrn ſtehn. Den letztern Schaden haben ih - nen uͤberall die Archidiaconen gethan, welche als biſchoͤf - liche Commiſſarien eine beſſere und naͤhere Unterſtuͤtzung an ihrem Herrn, als die Freygrafen an dem entfernten Kayſer hatten, und beſonders den Theil der freygraͤſli - chen Gerichtsbarkeit, welcher in dem Kayſerlichen Kir - chen und Kirchhofesſchutz beſtand, an ſich zogen, auch den Freygrafen nicht weiter das Urtheil uͤber Zauberey und Ketzerey geſtatten wollten, wie ſolches aus verſchiedenen Beſchwerden der Freygrafen uͤber jene biſchoͤflichen Com - miſſarien zu erſehen iſt.

Was203von den Weſtphaͤliſchen Freygerichten.

Was aber die wahre Urſache ihres großen Anſchens zu Ende des vierzehnten und zu Anfang des funfzehnten Jahrhunderts geweſen, daruͤber ſind die Gelehrten nicht eins. Jnsgemein glaubt man, ſie haͤtten ſich durch die weſtphaͤliſchen Landfrieden gehoben. Allein dieſes kann unmoͤglich die Urſache ſeyn, weil nach dem Sinn des weſt - phaͤliſchen Landfriedens von 1325*)Beym HÆBERLIN in analectis p. 288. a) die eilende Huͤlfe der Verbundenen, b) das Landrecht worunter ein jeder ſteht, und c) die Landfriedens - oder Confoͤderationsgerichte, alle diejenigen Mittel ausmachen, wodurch einer zu ſei - nem Rechte gelangen kann. Haͤtte man hier zur Hand - habung des Landfriedens gegen deſſen Uebertreter die Freygrafen und Freyſchoͤpfen noͤthig gehabt; ſo wuͤrde man ihrer gewiß gedacht, und ſich ihrer anſtatt beſonde - rer Confoͤderationsgerichte bedient haben; davon findet ſich aber keine Spur.

Wahrſcheinlicher iſt es, daß ſie bey eben der großen Anarchie im Reiche, welche die partikulairen Landfrieden noͤthig machte, ihr Haupt empor gehoben und ſtatt der Reichsgerichte gedient haben. Dieſe waren damals noch nicht eingerichtet, und ihre allgemeine Befugniß iſt erſt aus dem allgemeinen Landfrieden entſtanden. Sie ſind im Grunde Confoͤderationsgerichte, die in Reichsgerichte uͤbergegangen ſind, nachdem die deutſche Confoͤderation, oder der allgemeine Landfriede, zu einem Reichstags - ſchluß erhoben worden. Vorher alſo war in Weſtphalen und vielen andern Provinzen des Reichs nach abgegange - ner zerruͤtteter oder geſchwaͤchter Herzogl. Gewalt, (facto) kein Reichsgericht, vor welchem man eines jeden Reichs - ſtandes zu Ehren oder zu Rechte maͤchtig werden konnte, und dieſe Luͤcke fuͤlleten die Freygerichte aus.

Man204Eine kurze Nachricht

Man ſieht dieſes nicht deutlicher als aus den Ge - genmitteln, deren ſich die Fuͤrſten gegen die Freygrafen bedienten. Einige ſagten, der Kayſer waͤre ihrer zu Eh - ren und zu Rechte maͤchtig, und ſo brauchten ſie vor kei - nem freyen Stuhle zu erſcheinen; dieſes wollten aber die Freygrafen nicht gelten laſſen, weil ſie eben diejenigen zu ſeyn behaupteten, die unmittelbar unter des Kayſers Banne richteten. Hierin irreten ſie ſich jedoch, denn der miſſus mußte, wenn es hohe Standesperſonen betraf, an den Kayſer berichten, der dann deren ihre Sache vor die Reichsverſammlung brachte. Andre Fuͤrſten und Staͤnde nahmen ihre Zuflucht zu Austraͤgen, und ſchuͤtz - ten vor, weil ſie Austraͤge haͤtten, vor welchen ſie beſpro - chen werden koͤnnten: ſo waͤren ſie nicht ſchuldig den Frey - grafen in der erſten Jnſtanz zu antworten. Dieſes ließ man gelten, und jedermann, auch ſogar Staͤdte waͤhlten ſich andre Staͤdte zu Austraͤgen, um den Freygrafen zu entgehen. Noch andre beriefen ſich in dieſer Abſicht auf ihre Provincial-Reichsgerichte, wie auf das Kayſerl. Gericht zu Rottweil, und befoͤrderten deren Aufnahme. Viele Fuͤrſten errichteten, um ihre Edelleute gegen die Freygrafen zu ſchuͤtzen, Fuͤrſtl. Landgerichte, und der Adel wie auch die Staͤdte flogen mit Freuden darunter, alles in der Abſicht um den hundert tauſend Henkern zu ent - gehn, die unerkannt in Deutſchland lebten, und jeden Verfehmten vom Leben zum Tode richteten.

Man kann alſo wohl ſagen, daß die Weſtphaͤliſchen Freygrafen die jetzige Reichsverfaſſung in vielen Stuͤcken befoͤrdert, und das in die Anarchie verfallene Volk noch am mehrſten unter die Fuͤrſten Huͤte und Biſchofsmuͤtzen gejagt, dieſe aber genoͤthiget haben ſich einem allgemei - nen Reichsgerichte zu unterwerfen, und ſowohl fuͤr ſich als fuͤr ihre Unterthanen einen Oberrichter zu erkennen,vor205von den Weſtphaͤliſchen Freygerichten. vor welchem man wo nicht in der That, doch wenigſtens in der Theorie aller Hohen und Niedrigen in Deutſchland zu Rechte maͤchtig werden kann. So bald aber die Frey - grafen dieſes wichtige Werk, obgleich wider ihre Abſicht, zu Stande gebracht hatten, bedurfte man ihrer grauſa - men Huͤlfe nicht weiter.

Uebrigens war das Verfahren der Freygrafen an ſich gar nicht unfoͤrmlich. Jeder Beklagter ward drey - mal, um auf die Klage zu antworten, und wenn er nicht erſchien, mithin in contumaciam gegen ſich ſprechen ließ, zum viertenmal vorgeladen, um der Execution vorzubeu - gen. Das Urtheil ward, ſo lange es ordentlich zugieng, von redlichen und ausgeſuchten Maͤnnern gefaͤllet, und ſolchergeſtalt keiner ungehoͤrt verdammt. Was ihnen da - gegen aus Haß von den Territorialherrſchaften, welche die Kayſerl. Commiſſarien nicht leiden konnten, aufge - buͤrdet iſt, iſt wahrſcheinlich großentheils uͤbertrieben; und außer den vorgedachten Schoͤpfen des Koͤnigs Wen - zels, und denen welche von den Freyſchoͤpfen auf friſcher That ertappt wurden, ein Fall, der vielleicht nie einge - troffen iſt, iſt von ihnen vielleicht keiner von Stund an gehangen worden.

Den Namen Verbotener Gerichte fuͤhrten die Frey - gerichte ohnſtreitig daher, weil das Gericht der miſſorum unter dem blauen Himmel ein ungeboten, das Stillge - richt aber ein geboten Ding war, wovor keiner, als wer dazu verbotet war (ein weſtphaͤliſcher Ausdruck fuͤr citi - ren) erſchien. Da auch noch jetzt in einigen Laͤndern, als z. E. im Oeſterreichſchen, der Rahm cremor Fahm ge - nannt wird, mithin Fahmen eben ſo gut als Rahmen oder berahmen fuͤr citiren gebraucht ſeyn kann: ſo wird Fehmding ein Name der den Stillgerichten der Freygra -fen206Von dem Urſprunge der Landſtaͤndefen gegeben wurde, ebenfalls nur ein geboten Ding an - zeigen. Verfehmen iſt dann eben ſo viel als verbannen, weil auch bannen fuͤr citiren gebraucht wird.

LI. Von dem Urſprunge der Landſtaͤnde und des Landraths im Stifte Oſnabruͤck.

Der Ausdruck Land, Landes-herr, Land-ſtaͤnde und Landes-kaſſen iſt nicht ſo alt wie man insgemein glaubt. Man hatte lange Stift, Biſchoͤfe, Capittel, Stiftsmannſchaft und Staͤdte, ehe man den Zuſatz von Land gebrauchte, und es liegt allerdings daran die eine Periode von der andern zu unterſcheiden.

Ohne mich jetzt darauf einzulaſſen, zu welcher Zeit Biſchoͤfe, Capittel, Stiftsmannſchaft und Staͤdte in ih - rem allmaͤhligen Fortgange entſtanden ſind, will ich nur die Zeit des Uebergangs von dem einen Begriff und von dem einen Ausdruck zum andern anzugeben ſuchen, und dann etwas von der wahrſcheinlichen Entſtehung des Land - raths ſagen.

Wann in den aͤltern Zeiten eine gemeine Ausgabe vorfiel, welche Biſchof, Capittel, Stiftsmannſchaft und Staͤdte, gemeinſchaftlich tragen wollten oder mußten: ſo bewilligten ſie, wie alle andre Geſellſchaften, welche ſich zu einer gemeinſchaftlichen Abſicht vereiniget haben, ſolche lediglich aus ihrem Eigenthum, und es wurden dadurch keine andre Stifts - oder Landeseinwohner, welche den Mitgliedern jener Vereinigung mit Leib oder Gut nicht angehoͤrten, zum Beytrage verbunden.

Jn207und des Landraths im Stifte Oſnabruͤck.

Jn dem Eide, welchen Biſchof Henrich von Holſtein beym Antritt ſeiner Regieruug (1403) dem Domcapit - tel ablegte, verſpricht er nur noch blos, daß er vom Domcapittel, den Kloͤſtern und Kirchen des Stifts und der Stadt, wie auch von ihren Perſonen und Guͤtern ohne Rath und Bewilligung des Domcapittels keine Bey - huͤlfe fordern wolle, die Worte lauten alſo:

Item quod nec per nos nec per advocatos noſtros aliquas exactiones Capitulo Monaſteriis vel eccleſiis civitatis & dioeceſeos Oſnabrugenſis earumque perſonis in bo - nis eorum faciemus vel fieri permittemus, ſine conſi - lio & conſenſu Capituli Oſnabr. ()

Wenn alſo damals der Biſchof die Einwilligung des Domcapittels, zu einer Beyſteuer von den Capitular - Kloͤſter - und Kirchen-Eigenbehoͤrigen, hatte, ſo mußte er, in ſo fern die Stiftsmannſchaft und die Staͤdte auch dazu deytragen ſollten, deren ihren Rath und Einwilli - gung beſonders ſuchen.

Bey der unruhigen Wahl des Biſchofes Johann von Diepholz (1424) ſuchten die Stiftsmannſchaft und Staͤdte ſich mit dem Domcapitel naͤher zu vereinigen, mithin die - ſen Punkt alſo zu faſſen:

Ok en ſolle Wy noch en willen ninerleye Schattinge, Bede eder Denſt van en eeſchen eder eeſchen laten, noch unſe Amtlude, wy ne doen dat na Rade un Willen Capittols Stichtesmanne un Stades to Oſſenbr. ()

und obgleich dieſe Wahl fuͤr nichtig erklaͤret wurde: ſo blieb doch dieſer Punkt in der Folge beſtehn, und es ward in der Capitulation Biſchofes Henrichs (1437) geſetzt:

Dat Wy noch vermydſt uns noch unſsen Vogden eder Amtlüden, nynen Denſt, Bede noch Schattinge Ca - pitteln Mönſtern offte Kerken Stichtesmannen ederStades208Von dem Urſprunge der LandſtaͤndeStades to Oſſenbrugge unde eren Perſonen ofte eren Luden doen ſcheenlaten willen, ſunder Raet unde Vulbort Capittels Stichtesmannen unde Stades te Oſ - ſenbrugge.

Auf gleiche Weiſe mußten ſich (1442) Biſchof Henrich (1450) Biſchof Albrecht und (1455) Biſchof Conrad von Diepholz verbinden.

Jn dem Eyde des Biſchofes Conrad von Rettberg ward eine kleine Erweiterung hinzugeſetzt, indem es darin heißt:

Vortmer willen Wy noch vermitts uns noch unſern Vogden noch Amtlüden nyne Schattinge, Denſt noch Bede Capitteln Kerken Stichtsmannen ofte Stades to Oſſenbrugge in eren Perſonen, noch eren Guden noch Lüden noch Vryen de up eren Güdern ſitten, doen willen noch ſcheen laten, ſunder Vulbort Capittel, Stichtesmanne unde Stades to Oſenbr. ſunder de Vryen de up malkes Güdern ſitten, dat ſe de mögen hebben beſchermen unde verdedigen gelik eren eg - nen Lüden. ()

Hiebey blieb es in dem Eyde des Biſchofes Franz (1500) des Biſchofes Erichs (1508) des Biſchofes Franz von Waldeck (1532) und des Biſchofes Johannes von der Hoya (1554) aber in der Capitulation des Biſchofes Philipp Sigismunds ward zum erſtenmal von Stiftsun - terthanen geſprochen, und §. 27. folgendes geſetzt:

Als auch dieſes Stift in merkliche und große Beſchwe - rung durch Krieg und Ueberzuͤge gerathen, da denn auch die Unterthanen ihrer Unvermoͤgenheit halber in dieſe ſchwere theure Jahr keine Schatzung ertra - gen koͤnnen: ſo wollen wir dies Stift vor unſer ſelbſt Perſon mit keiner Schatzung beſchweren.
So209und des Landraths im Stifte Oſnabruͤck.

Sodann in der immerwaͤhrenden Capitulation §. 36. auch der Staͤnde gedacht, und dieſer Punkt alſo gefaßt:

Als auch dieſes Stift in große Beſchwerung durch Krieg und Ueberzuͤge gerathen: ſo ſoll und will der Bi - ſchof dies Stift fuͤr ſich ſelbſt ohne Bewilligung der Staͤnde mit keiner neuen Schatzung belegen.

Folget man nun dieſem Gange des Ausdrucks mit Auf - merkſamkeit nach: ſo erkennt man,

  • 1) Daß jeder Bewilligender, wie es auch die Natur der Repraͤſentation mit ſich bringt, nicht fuͤr andre, ſon - dern blos fuͤr ſeine Perſon und ſeine Leute bewilliget habe.
  • 2) Daß man in dem Eyde des Biſchofes Conrad von Rittberg zum erſtenmal darauf gedacht, wie ein jeder Bewilligender auch fuͤr die Freyen, ſo er auf ſeinen Gruͤn - den in Schutz und Schirm haͤtte, ſprechen koͤnnte. Vor - hin alſo galt dieſe Bewilligung nur fuͤr eines jeden eigne Leute, und
  • 3) Daß in dieſer ganzen alten Verfaſſung noch keine Landſtaͤnde, Landeskaſſen und Landesunterthanen vor - kommen konnten.

Denn der Begriff des Landſtandes entſteht nur als - denn, wenn die Repraͤſentanten nicht mehr fuͤr ſich und die ihrige, ſondern fuͤr alles was auf dem Landesboden ſitzt, und von ihnen nicht verſchonet ward, bewilligen. Die gemeinſchaftliche Kaſſe des Capitels der Stiftsmann - ſchaft und der Stadt, bleibt ſo lange eine Bundeskaſſe, woraus blos die Nothdurft der Verbuͤndeten und ihrer Zugehoͤrigen beſtritten ward, bis ihre Bewilligung fuͤr das ganze Land gilt. Dann iſt auch ihre Kaſſe Landes - kaſſe; und Landesunterthanen erſcheinen, wenn man nicht mehr darauf ſieht, ob die Steurenden genau den Be - willigenden an - oder zugehoͤren, ſondern dieſer ihre Be -Moͤſers patr. Phantaſ. IV. Th. Owilli -210Von dem Urſprunge der Landſtaͤndewilligung fuͤr alle, welche auf dem Landesboden ſitzen, gelten laͤßt.

Um dieſes mit einem Beyſpiel zu erlaͤutern: ſo darf man ſich nur erinnern, daß in den alten Zeiten, Capi - tel, Stiftsmannſchaft und Stadt, ſo lange ſie nur blos fuͤr ſich ihre eigenen und Schutzverwandten Freyen bewil - ligen konnten, nicht im Stande waren, einen einzigen Ravenſpergſchen, Tecklenburgſchen und Lingiſchen, auf hieſigem Landesboden geſeſſenen Freyen, oder auch nur einen jeden Grafen angehoͤrigen eignen Mann, der hier im Lande wohnte, zu beſteuren. Die Urſache davon iſt klar, weil dieſe auswaͤrtigen Herrn angehoͤrige Leute hier nicht repraͤſentirt waren, und nur erſt repraͤſentirt zu werden anfiengen, wie man die Verbindlichkeit zum Bey - trage aus dem Landesboden hervorgehn lies, die Bun - deskaſſe in Landkaſſe umſchuf, und die in dem Beſitze ei - ner Repraͤſentation fuͤr die ihrigen befindlichen Verbuͤn - deten in Landrepraͤſentanten oder Staͤnde verwandelte.

Der Anfang dieſer Verwandlung in Begrif und Aus - druck laͤßt ſich nicht genau beſtimmen, und ſie iſt vermuth - lich im allgeniaͤhligen unbemerkten Fortgange zu Stande gekommen. Dem Kayſer allein haftete zuerſt der Reichs - boden, oder das Land, ohne Unterſchied der Amtsab - theilungen; dies geht klar aus Carls des Großen Thei - lung unter ſeinen Soͤhnen hervor. Dem Biſchofe hafte - ten ſaͤmmtliche Eingepfarrte zu ſeinen Biſchoͤflichen Ge - buͤhren; den Herzogen und Grafen die Herzogthums - und Grafſchaftseingeſeſſene, zur Folge in der Reichs - und Landesvertheidigung. Mit dem Lande hatten Biſchof Herzog und Graf nichts zu thun. Sie fiengen aber doch bald an Leute zu beſitzen, das iſt, ſie noͤthigten ihre Ein - gepfarrten und Amtseingeſeſſene in ihre Privatdienſte, zwangen ſie ihnen ihre Gruͤnde unter mancherley Bedin -gungen211und des Landraths im Stifte Oſnabruͤck. gungen zu uͤbergeben, und von ihnen zur Precarey, oder zu Lehn, oder zum Bau wieder zu nehmen; und ſo wie jeder auf dieſe Art alle ſeinem geiſtlichen oder weltlichen Reichsamte anvertraute Reichsmaͤnner, und ihre Gruͤn - de verſchlungen hatte, verwandelten ſich ihre Aemter in Landeshoheit, und ihre gemeinen Untergebne in Landesun - terthanen, und die vornehmen in Landſtaͤnde.

Jedoch waren lange vorher Landſchatzungen be - kannt. Dieſes waren aber Reichsſteuren, welche der Biſchof, der Herzog oder der Graf zwar auch in Kraft eines gemeinen Reichsſchluſſes, oder von Amts wegen, weil es die gemeine Nothdurft erforderte, erhob; die aber doch immer den Charakter der Reichsſteuren behiel - ten. Weil dieſe zu oft gefordert werden mochten: ſo con - foͤderirten ſich im Jahr 1471 das Oſnabruͤckiſche Domca - pitel, die Ritterſchaft, und die Stadt Oſnabruͤck, in wel - chen Faͤllen eine Landſchatzung Platz greifen ſollte. Dieſe Confoͤderation ermaͤchtigte ſich alſo zum erſtenmal einer Landesrepreſentation, anſtatt daß Domcapitel, Ritter - ſchaft und Staͤdte vorhin nur die ihrigen repreſentirt hatten.

Die aͤlteſte und merkwuͤrdigſte Confoͤderation dieſer Art ſcheint mir die Luͤneburgiſche*)Beym SCHEID, in Dibl. Gotl. T. I. p. 141. von 1392. zu ſeyn, worin es heißt:

Hirumbe hebben we (Berend und v. Henrich G. G. Her - zoge zu Br. u. L.) na langem Berade mit guden Wil - len und wolbedachten Mode menliken mit allen Pre - laten Manſchop, Radlüden und Börgheren der Stede und Wikbelde unſer Herſchop Lüneburg, we mit en und ze mit uns, umme unſer Land und Lüde meneO 2Beſte212Von dem Urſprunge der LandſtaͤndeBeſte willen, vor uns unſe Erven und Nakommelin - ge in unſer Herſchop Lüneburg, enen erſliken ewigen Wrede und ene enynge und zate up alle nabeſcrevene Stücke ſamend und up ieweliken beſundern eendrächt - licken gewillkoored gemaket unde geendet trüweli - ken to holdene ſunder yenegerleye Wedderſprake &c.

Dieſem Beyſpiele ſind mehrere gefolget, und man kann es als eine aus der Natur der Sache fließende, und auch aus der Geſchichte zu erweiſende Wahrheit anneh - men, daß alle heutige Landſchaften*)Das Beyſpiel von der Ravenſpergſchen (1476) findet ſich beym Kuhlmann in den Ravenſpergiſchen Merkwuͤrd. T. II. p. 25. Des Oſnabr. habe ich zuvor gedacht. ſich auf eine aͤhn - liche Art in dem funfzehnten Jahrhundert gebildet haben. Vorher, wenn man von dem Verfall der Carolingiſchen Reichsverfaſſung anrechnet, war alles blos Particulair Confoͤderation, und die Confoͤderirten handelten und ſchloſ - ſen nur fuͤr die ihrigen; aber von dieſer Zeit an erfolgten General-Confoͤderationen, welche fuͤr alle und jede Lan - deseingeſeſſene handelten und ſchloſſen, und dieſe haben in der Folge den Namen von Landſchaften erhalten.

Die Entſtehungsart dieſer Confoͤderation war die naͤmliche mit dem Landfrieden. Zu dieſem confoͤderirten ſich erſt einige der maͤchtigſten Reichsſtaͤnde, und die an - dern traten nach und nach hinzu, bis ſie ſich alle verei - niget hatten, wie man davon ein Muſter an dem weſt - phaͤliſchen Landfrieden**)Beym HAEBERLIN in anal. 344. von 1385. hat. Was hier die großen Reichsſtaͤnde thaten, dem ahmten die Capitel, Mannſchaften und Staͤdte eines jeden Stifts oder einer jeden Graf - und Herrſchaft nach. Jene betrafen die oͤf - fentliche Ruhe zwiſchen den Staͤnden des Reichs, unddieſe212[213]und des Landraths im Stifte Oſnabruͤck. dieſe die Ruhe zwiſchen den Eingeſeſſenen eines be - ſondern Landes, mithin auch deſſen ganze gemeinſchaft - liche Vertheidigung.

Auch darin kamen die Landfrieden mit den Landſchaf - ten uͤberein, daß jeder verbuͤndete Theil insgemein zwey Satesleute (Bevollmaͤchtigte oder Deputirte) ernannte, welchen die Ausrichtung der Schluͤſſe anvertrauet wurde. Dieſes erforderte wiederum die Natur der Sache, indem keine Confoͤderation ohne einen Bevollmaͤchtigten, der die Correſpondenz fuͤhrt, das Ausſchreiben verrichtet, und die beſchloſſenen Sachen weiter zur Erfuͤllung bringt, be - ſtehen kann. Und aus dieſen Satesleuten, wovon nach einer eben ſo natuͤrlichen Folge, das Capitel zwey, die Stiftsmannſchaft zwey, und die Stadt Oſnabruͤck zwey zu ernennen hatte, ſind endlich, wie man offenbar ſieht, und billig annehmen muß, die ſpaͤtern Landraͤthe erwach - ſen, nachdem der Biſchof den von der Confoͤderation er - nannten Bevollmaͤchtigten dieſen Ehrentittel beygelegt hat. Jn der Luͤneburgiſchen Confoͤderation iſt die Anzahl der ausgeſprochenen Satesleute groͤßer, vermuthlich weil ſich mehrere Quartiere dazu einließen, wovon jedes ſeinen beſondern Satesmann haben wollte; auch waͤhlten die Ravenſpergiſchen Confoͤderirten vielleicht aus einer glei - chen Urſache, ſechs Satesleute, wovon vier aus der Lan - des Ritterſchaft, und zwey aus der Ritterſchaft und dem Rath zu Bilefeld waren. Allein der Landfriede und die Sache ſelbſt erforderte ſo viele nicht, und ich glaube nach dieſem die Zahl zwey als die gewoͤhnlichſte fuͤr jeden Haupttheil der Confoͤderation annehmen zu muͤſſen. Von der Wahl beſonderer Satesleute unter den Geiſtlichen, findet man in den aͤlteſten Zeiten nichts, weil die Praͤla - ten der Kirche gebohrne Satesleute waren, und es alſo unnoͤthig war annoch beſondre zu erwaͤhlen. Eine gleicheO 3An -214Von dem Urſprunge der LandſtaͤndeAnmerkung kann man bey den Staͤdten machen, als wor - in die Burgermeiſter ebenfalls gebohrne Satesleute vor - ftelleten.

Den Zeitpunkt, worinn dieſe alſo ernannten Sates - leute den Titel von Landraͤthen erhalten, kann ich nun zwar nicht ganz genau beſtimmen. Er muß aber nach dem Gange des Ausdrucks, welchen ich zuerſt erzaͤhlt habe, und nach der Geſchichte jener Confoͤderationen zu ur - theilen, gegen das Ende des funfzehnten Jahrhunderts eingefallen ſeyn.

Jn dem Eyde des Biſchofes Alberts von der Hoya (1450.) wird zum erſtenmal der Ritterſchaft des Landes gedacht, da es vorhin blos die Stiftsmannſchaft hies. Jener Ausdruck kann ſchon mehrere als dieſer begriffen haben; und ſcheinet eine ſolche allgemeine Confoͤderation vorauszuſetzen, die auch wie ich zuvor erwehnt habe, etwa um dieſe Zeit hier im Stifte geſchloſſen iſt. Jn dem aͤlteſten mir bekannten Landtagsabſchiede vom 29. Aug. 1555. heißt es:

Zu wiſſen: als auf naͤchſtgehaltenem Landtage an der hohen Linden, Dienſtag den 23. Jul. der Hochwuͤr - dige in Gott Fuͤrſt Herr Johann die Beſchwe - rungen und Schulden, dahin S. Fuͤrſtl. Gnaden von wegen des Stifts gerathen, und damit die Land - ſchaft ſonſt beladen geweſen, eintraͤchtlich in eine Schuld gezogen und fuͤr gut angeſehen und verab - ſchiedet iſt, daß S. Fuͤrſtl. Gnaden forderlichſt den dazu verordneten Ausſchuß und Landraͤthe bey ſich gnaͤdiglich beſchreiben, und mit denſelben auf Wege und Mittel, wie ſolchen ſaͤmtlichen Beſchwerungen und Schulden traͤglichſt und leiderlichſt abzuhelfen, gedenken, nothduͤrftiglich erwegen und ſich davon miteinander vergleichen, und was alſo fuͤr gut an -ge -215und des Landraths im Stifte Oſnabruͤck. geſehen, daſſelbige folgends auf einem andern Land - tage der ſaͤmtlichen Landſchaft vermelden, darin als - denn mit gemeinen Rathen ferner zu handeln, zu rathſchlagen und endlich zu ſchließen ꝛc.

Hier erſcheint ſchon, wie man ſieht, eine foͤrmliche Landſchaft und ein Landrath; es wird von Landtagen und Landtagsabſchieden geſprochen; und alles dieſes auf eine Art, daß man wohl ſieht, es ſind damals bekannte Dinge geweſen. Jndeſſen ſcheinet doch die Sache in ſo fern einen Schein der Neuheit zu haben, daß man zum erſtenmal die Vorſchuͤſſe, welche theils der Biſchof, theils jeder Stand, zum gemeinen Beſten gethan hatte, zuſam - men gerechnet, und gemeinſchaftlich auf Mittel gedacht habe, ſolche von gemeiner Landſchaft wegen zu tilgen.

Es war zwar, wie man leicht denken wird, oft und mehrmals geſchehn, und man hat Beyſpiele genug, daß der Biſchof, das Domcapitel, die Stiftsmannſchaft und die Stadt, Schadens - und Vorſchußrechnungen gegen einander eingebracht, und ſich uͤber deren Berechnung und Bezahlung vereiniget haben. Aber es geſchahe die - ſes zuerſt nur nach der Anleitung eines Bundes, ſo daß die Verbuͤndeten fuͤr ſich und die ihrigen bewilligten und zuſammen ſteuerten; und die Frage iſt jetzt, wann dieſes zuerſt fuͤr das ganze Land geſchehen. Dieſen Zeitpunkt ſetze ich ſo lange in die Zeit des vorangezogenen Landtags - Abſchiedes, bis ein andrer durch einen fruͤhern Abſchied das Gegentheil zeigt. So viel bleibt allemal gewis, daß vor 1424. kein Landrath und auch keine eigentliche Land - ſchaft geweſen ſeyn kann.

O 4LII. 216Ueber die Abſteuer der Toͤchter

LII. Ueber die Abſteuer der Toͤchter der Landbeſitzer.

Es war eine Zeit, worin der Sachſe auf ſeinem Hoſe ſaß, und weder Staͤdte noch Doͤrfer um ſich duldete, worin er außer der Salſtaͤtte und der Leibzucht keine Wohnung auf ſeinen Gruͤnden haben durfte, und worin er von keinem Geldreichthum etwas wußte. Zu dieſer Zeit konnte nur ein Kind, es mochte nun das aͤlteste oder das juͤngſte, ein Knabe oder ein Maͤdgen ſeyn, den Hof erben; denn theilen konnte man ihn nicht, ohne eine dop - pelte Wohnung darauf zu errichten, und dieſer eine Erbe konnte auch ohne Geld ſeinen Miterben nicht wie man jetzt zu ſagen pflegt, heraus geben. Ueberhaupt findet die Theilung der Hoͤfe nur da Statt, wo man ſich in Doͤrfern anbauet, und die in der gemeinſchaftlichen Flur liegende Aecker von dem einen Hauſe an das andre, wie man zu reden pflegt, fliegen koͤnnen. Dies war aber der Fall der Sachſen ſo wenig als er jetzt der unſrige iſt; und die Urſache warum nicht mehrere Wohnungen auf einem Hofe ſeyn mochten, war zu ſehr mit ihrer Staatsverfaſ - ſung verflochten, um ſich ſo leicht heben zu laſſen. Noch jetzt erlauben wir keinem Hofe, mehrere Jagd-Holz - und Weidegerechtigkeiten; und ohne dieſe zu vermehren, laſ - ſen ſich auch die Wohnungen auf demſelben nicht ſehr vervielfaͤltigen Allenfalls aber konnte der Hof doch nur ein oder zweymal geheilet werden, und dann waren ſie wieder wo ſie geweſen waren. Der Kinder waren in je - der Familie immer mehr als Hoͤfe und Witwenſitze, undwenn217der Landbeſitzer. wenn gleich alle bis zu ihrer Großjaͤhrigkeit in dem elter - lichen Hauſe Brod haben mochten: ſo konnte doch dieſes nicht laͤnger waͤhren, als bis die junge Frau auf den Hof kam, und ihre Kinder deu Platz am Heerde forderten, welchen die Oheims und Tanten bis dahin eingenom - men hatten.

Hier fragt man nun billig, was aus den letztern, da ſie weder Erbtheil noch Brautſchatz erhalten, und auch alle nicht wiederum auf Hoͤfe heyrathen konnten, gewor - den ſey? Praͤbenden, Stifter und Kloͤſter waren nicht vorhanden, und ich moͤchte auch nicht gern behaupten, daß alle ſaͤchſiſchen Maͤdgen, die ſo geſund von Kern und blau von Auge waren, ſich zum eheloſen Stande ent - ſchloſſen haͤtten. Anderwaͤrts habe ich ſchon geſagt, daß die junge Brut alle fuͤnf oder zehn Jahr geſchwaͤrmt und ſich auf Ebentheuer in fremde Laͤnder begeben haͤtte. Ta - citus ſcheint dieſes zu beſtaͤtigen, wenn er ſagt: bey den Deutſchen bringt die Frau ihrem Manne keinen Braut - ſchatz zu; und dieſer heyrathet auf Roß und Ruͤſtung. Denn dieſes gilt offenbar nicht von dem Hofes Erben, ſondern von den juͤngern Soͤhnen, die auf Ebentheuer ziehen, oder von den Sueven, welche kein Grundeigen - thum hatten, und die mehrſte Zeit im Lager ſtanden. Der Hofes Erbe heyrathet nicht auf Roß und Ruͤſtung, ſondern auf ſeinen Hof; und ſeine Witwe hat eine Leib - zucht, anſtatt daß die Frau, welche auf Roß und Ruͤ - ſtung geheyrathet wird, keinen andern Witwenſitz als hinter dem Sattel hat.

Allein die Zeit zur Voͤlkerwandelungen, worin jene junge Brut ſchwaͤrmte, war nicht immer guͤnſtig; die Roͤ - mer waͤhreten ſolches unſern Vorfahren oft, die Franken noch mehr, und die chriſtliche Religion hemmete ſolche zu -O 5letzt218Ueber die Abſteuer der Toͤchterletzt ganz. Man langt alſo damit zu alten Zeiten nicht aus; und ſo muß man auf ein anders Mittel denken, um die armen Maͤdgen zu verſorgen, und die jungen Bur - ſchen nicht in die Sclaverey ihrer Bruͤder und Verwand - ten zu jagen. Aber woher nimmt man dieſes, in einer Verfaſſung, worin wie geſagt, keine Staͤdte und Doͤr - fer geduldet, keine neue Wohnungen erbauet, und keine Geluͤbde angenommen wurden? wo alle Bedienungen Reihelaſten waren, die von den Hofgeſeſſenen ſelbſt ge - tragen wurden, wo man keine ſtehenden Armeen hatte, wo man von Kraͤmern und Handwerkern nichts mehr wußte, als wir jetzt von Tyrolern und Jtalienern wiſſen, die mit Wetterglaͤſern und Mauſefallen zu uns kommen; und wo endlich niem and von ſeinen Jntereſſen leben konn - te, weil man kein Geld zu Zinſen hatte?

Jch geſtehe gern, daß ich ſolches in dieſer Verfaſ - ſung nicht zu finden, und außer der von der Vorſehung ſo weislich beguͤnſtigten Voͤlkerwandlung kein Mittel an - zugeben weiß. Es bleibt mir daher nichts uͤbrig als die Verfaſſung ſelbſt ſich ſo nach und nach abaͤndern zu laſ - ſen, als es die Beduͤrfniſſe ſo vieler jungen Leute, die doch auch heyrathen, und ihr Geſchlecht in Ehren fort - pflanzen wollten, erfordert. Hiezu zeigen ſich nun fol - gende Umſtaͤnde in der Geſchichte.

Der Kayſer vermehrte immer mehr und mehr ſeine Dienſtfolge; die Herzoge, Biſchoͤfe, Grafen und Herrn thaten nach und nach ein gleiches, und hierin begab ſich der vornehmſte Ueberſchuß. Es entſtanden Schutzgerech - tigkeiten unter Kayſern, Herzogen, Biſchoͤfen, Grafen und Herrn, und in dieſelben zog ſich eine Menge von Leuten, welche ſich mit Kraͤmerey und Handwerk zu er - naͤhren ſuchte; aus denſelben erwuchſen mit der ZeitStaͤdte,219der Landbeſitzer. Staͤdte, Weichbilde und Doͤrfer. Neben her entſtanden noch allerhand Hoden und Echten unter dem Namen ei - nes Heiligen, welche nach und nach auch ſolche Leute auf - nahmen, die ſich mit Erlaubniß der Hofgeſeſſenen, ein - zeln einen Kotten oder eine Huͤtte erbaueten, und entwe - der ein Pfund Wachs zum Licht der Pfarrkirche, eine Brieftracht, oder andre kleine gemeine Laſt uͤbernahmen, um ihre Huͤtte zu verdienen. Das Geld kam mittler - weile aus den reichen Laͤndern der Roͤmer und Franken zu uns heruͤber, und folgte dem Kriege oder der aufkei - menden Handlung. Die Kirche drang in ihren fruͤheſten Verordnungen fuͤr die nordlichen Gegenden, auf eine zu - laͤngliche Ausſteuer fuͤr Maͤdgen, die ſich ihrem Stande gemaͤs verheyratheten, und der roͤmiſche Brautſchatz, wel - cher in einer Verfaſſung entſtanden war, worin lange ein ſtarker Geldreichthum, viel buͤrgerliches Vermoͤgen, ſehr viel fliegend Land, und eine beſoldete Kriegesmacht ge - weſen war, empfohl ſich unſern Vorfahren, nach dem Maaße wie ſie in gleiche Umſtaͤnde und Beduͤrfniſſe ka - men. Beſonders aber vermehrte ſich die Zahl von aller - hand Leibeignen, welche zu nichts greifen konnten, und das Brod von der Hand ihres Herrn, dem Vergnuͤgen in Freyheit zu hungern vorzogen.

Alle dieſe Erſcheinungen zeigen ſich in der Geſchichte nach dem Verhaͤltniß wie die Beduͤrfniß des Staats zu - nimmt, ſeiner jungen Brut, die nun nicht mehr auswan - dern konnte, Unterhalt oder Untergang zu verſchaffen; und fuͤr einen gewiſſen Theil ſorgen die Kloͤſter, die in gleichem Verhaͤltniß ſteigen; und auch wiederum abneh - men, je nachdem die ſtehenden Heere von Kriegern und Bedienten andre Auswege eroͤffnen; oder die See - handlung und neue Welt den Ueberſchuß verſchlingtwel -220Ueber die Abſteuer der Toͤchterwelchen neue Krankheiten und Uebel nicht aufreiben koͤnnen.

Sie fuͤhren aber mit einander nur auf eine billige Abfindung der juͤngern Kinder, und nicht auf Gleichthei - lungen oder Pflichttheile, dergleichen die Roͤmer in ihrer buͤrgerlichen Verfaſſung, nachdem der Geldreichthum zu ſehr uͤberhand genommen hatte, und der Kriegesdienſt ſich nicht mehr auf Haus und Hof, ſondern auf eine Loͤh - nung an Gelde gruͤndete, mit Recht eingefuͤhret hatten. Und wenn man die Geſetze und Urkunden der Deutſchen aufs genaueſte pruͤfet: ſo findet ſich keine Spur, daß die - ſelben jemals an die Moͤglichkeit einer Gleichtheilung, oder ein ſicheres Verhaͤltniß zur Ausſteuer gedacht haͤtten. Der einzige Wiſigothe dachte anders, aber auch nur erſt in dem reichen Spanien, wo er feſt ſetzte, daß man ſei - ner kuͤnftigen Frau nicht mehr als den zehnten Theil ſei - ner Guͤter, oder doch nicht mehr verſchreiben ſollte, als dieſe einbringen werde. Und dieſes Geſetz galt doch nur fuͤr die großen Hofbediente des Koͤniges, die uͤberall zu - erſt fremde Rechte angenommen haben, nicht aber fuͤr die Nation, welche in ihren Dinghoͤfen allemal nach al - ten Gewohnheiten richtet.

Dem Staate, der aus Hofbeſitzern entſteht, iſt zu allen Zeiten an der Erhaltung des Hofes gelegen; zwar jetzt nicht mehr ſo ſehr als vor dem, da der Eigner deſ - ſelben noch im Heerbann zu Felde ziehen mußte; aber doch immer noch genug, um deſſen Verſplitterung und Verſchuldung zu verhindern. Die Natur fordert dieſes Geſetze; ſie hat es in dem Augenblick der erſten Verbin - dung gegeben, und kann es nicht untergehen laſſen, ohne dieſem Staate ſeine ganze Einrichtung zu nehmen. Es giebt ſogar Faͤlle, wo ſie die Vertheilung mehrer zuſam -men -221der Landbeſitzer. mengebrachten Hoͤfe verbietet. So erſchien z. B. unter den Carolingern der Eigner von zwoͤlf Hoͤfen mit dem Harniſch im Heerbanne. Erlaubte ſie hier dem Vater eine Theilung dieſer Hoͤfe: ſo konnte keines von ſeinen Kindern im Harniſch erſcheinen; dieſe mußten zur gemei - nen Reihe zuruͤckkehren, welches gewiß nicht geſchehen konnte, ſo lange die Vertheidigung Geharniſchte erfor - derte. Und ein ſolches Geſetze widerſteht ewig allen Gleichtheilungen, ſo wie allen Abſteuern und Abfindun - gen, die den Hof oder deſſen Eigner in der Maaße er - ſchoͤpfen, daß er ſich nicht als ein gemeiner Reihemann, oder als ein Geharniſchter zulaͤnglich vertheidigen kann.

Eine billige Abfindung war alſo das Mittel was un - ſre Vorfahren waͤhlten, um ihre Soͤhne und Toͤchter, welche das vaͤterliche Erbe verlaſſen mußten, und nun nicht mehr mit dem Knapſack in die weite Welt gehen konnten, einigermaßen zu verſorgen. Denen, ſo an ei - nen Hof in Dienſte giengen, war mit einer guten Ruͤ - ſtung, mit einem Ehrenkleide, und mit einem Noth - und Ehrenpfennige gedient. Diejenigen, welche ein Gewerbe anfiengen, brauchten etwas zur Anlage. Wer eine Praͤ - bende oder einen Kloſterplatz ſuchte, konnte auch mit lee - rer Hand nicht weit kommen, und eine Tochter die ein huͤbſches Brautpferd und ein paar Brautrinder mitbrin - gen konnte, war auf einem Hofe ohne Zweifel willkom - mener, als eine andre, die ſich blos mit ihrem Buͤndel hinter ihrem Liebhaber aufs Pferd ſchwingen wollte. Was Nothdurft und nothwendiger Wohlſtand in der - gleichen Faͤllen erforderten, kam zuerſt in Betracht, man richtete die Ausſteuer oder die Abſteuer, Abguͤtung, Ab - findung, Berathung, Beſtattung, Verſorgung, Abſon - derung ꝛc. darnach ein, und es wird ſich vor dem funf -zehn -222Ueber die Abſteuer der Toͤchterzehnten Jahrhundert*)Der erſte und aͤlteſte Verzicht einer ins Kloſter gegangenen Fraͤulein iſt der von Roſinen von Werdemann vom Jahr 1498 beym Luͤnig in R. A. T. XII. p. 456. kein Beyſpiel finden, daß ein Sohn, der mit einer Praͤbende verforgt worden, oder eine ausbeſtattete und berathene Tochter, wenn ſie auch gleich keinen Verzicht gethan hatte, auf die nachherigen Erbſchaften der Eltern einigen Anſpruch gemacht, oder von dem Erben ein Pflichttheil gefordert haͤtte. Die Aus - ſteuer oder Beſtattung begriff in der erſten Zeit alles was wir heutiges Tages Brautſchatz und Brautwagen nennen, und zugleich die voͤllige Abfindung von den elterlichen Guͤ - tern; und man beſtimmte ſolche anfangs nicht ſowohl nach ſeinem Vermoͤgen, als nach den Beduͤrfniſſen derje - nigen, die entweder in den geiſtlichen Stand, oder an einen Hof giengen, oder ſich zu einem Gewerbe bequem - ten. Es wuͤrde ein entſetzlicher Sprung geweſen ſeyn, wenn man von der Gewohnheit**)Dotem non uxor marito ſed maritus uxori offert TACIT. in germ. c. 18. den abgehenden Kin - dern weder Brautſchatz noch Erbtheil zu geben, auf em - mal zu dem Gedanken uͤbergegangen waͤre, die Ausſteu - ren mit dem Vermoͤgen des Gebers in Verhaͤltnis zu ſe - tzen. Dieſes iſt wider die natuͤrliche und politiſche Ge - ſchichte dieſer Art menſchlicher Handlungen. Die nach entſtandenem fraͤnkiſchen Reiche, und eingefuͤhrter chriſt - lichen Religion in der Kirche und im Staate vorgefalle - nen Veraͤnderungen forderten nur eine beſſere und billige Verſorgung der vorhin ausgewanderten Kinder; das an - kommende Geld erleichterte ſie, und die mit jeder Perio - de ſteigende Verſchwendung brachte eine mit ihr im Ver - haͤltnis ſtehende Verbeſſerung hervor. Vermuthlich wardzu -223der Landbeſitzer. zuerſt die Kiſte der Tochter eines Hofesgenoſſen, von allen zu dieſem Hofe gehoͤrigen Leuten gefuͤllet, und ſolcherge - ſtalt eine Sammlung angeſtellt, welche wir noch jetzt die Kiſtenfuͤllung, und wenn es die Tochter des oberſten Ho - fes - oder Landesherrn iſt, die Prinzeſſinſteuer nennen. Denn der Sachſe, ſo lange er nur ehrbare Hofgeſeſſene um ſich hatte, und keine fluͤchtige Nebenwohner kannte, ſteuerte in allen Faͤllen gern zuſammen, und vermied da - durch eine auf einmal zu ſtark fallende Ausgabe. Natuͤr - licher Weiſe aber gab er ſelbſt ſeinen vom Hofe gehenden Kindern etwas mehrers, als die uͤbrigen zuſteurenden Nachbaren und Hofesgenoſſen mit, und daraus ward endlich der Brautwagen, welcher mit der Zeit auch etwas Kiſtengeld, was in der Folge den Namen von Braut - ſchatz erhalten mochte, unter ſich begriff.

Dieſe auf die erſte Beduͤrfniſſe des vom Hofe zie - henden Sohns, oder der Tochter ſich beziehende Abſteuer konnte aber nicht lange beſtehen, weil Eitelkeit und Stolz ſich in alle menſchliche Handlung miſchen, und ſich auch bey einer ſo feyerlichen Gelegenheit nicht ungezeigt laſſen konnten. Der eine wollte es beſſer machen als der an - dre und nun mußten Mittel gefunden werden, dieſem freudigen Triebe zum allgemeinen Verderben Ziel zu ſez - zen. Solon und Lycurg*)In Solone p. 89. in Lacon. Apoplit. T. II. opp. p. 227. vir - gines ſine dote nubere juſſit ur uxores ducerentur non pecuniae. JUSTIN. III. 3., um dieſem Uebel zu begeg - nen, verboten ſchlechterdings die Maͤdgen auszuſteuren. Jhre Tugend mag ihnen Maͤnner finden, ſagten ſie, und wenn jeder Freyer nur hierauf zu ſehen hat: ſo wird die Arme wie die Reiche geſucht werden. Unſre Vorfahren, welche zuerſt nach einem gleichen Grundſatze gehandelthat -224Ueber die Abſteuer der Toͤchterhatten, konnten aber, nachdem einmal eine Ausſteuer eingefuͤhrt war, ſich daran nicht halten; und ſo blieb ihnen nichts uͤbrig, als ein Standesgebrauch., der jedoch ebenfalls den Geiſt des Lycurgiſchen Geſetzes zum Grunde hatte. Denn Burchard von Aßwede*)Jn einem uͤber den Landesgebrauch der Ausſteuer abgehaͤl - tenen Oſnabr. Zeugenverhoͤr v. 26. Sept. 1598. ruͤhmt es Alber - ten von dem Buſſche nach, daß er geſagt: er wolle ſei - nen Toͤchtern einen Brautſchatz geben, und denſelben niemanden verſteigern, denn es moͤchte ein ander ſeyn, der nicht ſo wohl koͤnnte als er. Dieſes iſt offenbar nach dem Sinn des Lycurgiſchen Geſetzes, welches durchaus verhindern wollte, daß die Reichen den Armen den Markt nicht verderben ſollten; die Verſicherung keinem den Brautſchatz zu verſteigern, ſetzt eine Standesgewohnheit voraus. Und dieſer Standesgebrauch hat bey zunehmen - dem Geldreichthum und der dadurch entſtandenen Ver - miſchung der im Landbeſitz vorhin unterſchiedenen Staͤnde, zuerſt auf Verhaͤltniſſe und zuletzt auf roͤmiſche Pflicht - theile und roͤmiſche Erbtheilungen gefuͤhrt.

Wenn man ſich in der Geſchichte das Schauſpiel ge - ben will, wie fremde Rechte uͤber die einheimiſchen ge - ſiegt haben: ſo muß man immer von den hoͤchſten zu den geringſten heruntergehen, und wenn man im Gegentheil alte deutſche Gewohnheiten aufſpuͤren will, von unten in die Hoͤhe ſteigen. So hat zum Beyſpiel das roͤmiſche Recht erſt im Jahr 1768 die deutſche Auslobung der Ei - genbehoͤrigen hier im Lande beſieget, indem es darin ein Verhaͤltnis eingefuͤhret hat, was nicht lange vorher ein junger Rechtsgelehrter ausgeheckt hatte; und wovon daßes225der Landbeſitzer. es jemals einem Menſchen eingefallen war nach demſel - ben die Abfindungen zu beſtimmen, kein Beyſpiel vor dem Jahr 1730 zu finden ſeyn wird. Der Adel hat von dem roͤmiſchen Rechte fruͤhere Anfaͤlle erlitten, aber unter allen zuerſt die Fuͤrſten. Der aͤlteſte Verzicht einer Tochter auf ihre elterliche Verlaſſenſchaft, iſt vom Jahr 1214, und von einer Prinzeſſin aus dem Hauſe Lothringen, der aͤlte - ſte Verzicht einer graͤflichen Tochter vom Jahr 1236, der aͤlteſte einer Fraͤulein vom Jahr 1313, und der aͤlteſte Verzicht einer Tochter eines gemeinen hofge - ſeſſenen Mannes, iſt aller Wahrſcheinlichkeit nach aus dem gegenwaͤrtigen Jahrhundert. Hier zeigt ſich offen - bar der Gang, welchen das roͤmiſche Recht von oben nach unten zu genommen, indem die Verzichte in dem Ver - haͤltniſſe aufgekommen ſind, wie die Toͤchter roͤmiſche Erbtheile forderten, oder fordern zu wollen, in Verdacht kamen, und wer die Probe hierauf machen will, der ſu - che nur den Gang der Autonomie auf, mit welcher ſich die Familien gegen die Folgen dieſes Uebels gewehret ha - ben. Die aͤlteſten Familienvertraͤge und Geſetze zu Er - haltung der zuſammengebrachten Laͤnder ſind aus fuͤrſtlichen und graͤflichen Haͤuſern. Jhnen folgen die Majorate, Fidei - commiſſe und teſtamentariſchen Verordnungen des Adels, nach einem ziemlichen Zwiſchenraume, und das aͤlteſte Fidei - commis eines gemeinen Landmannes hier im Stifte, der ſich aus dem Leibeigenthum frey kaufte, iſt vom Jahr 1756.

Man denke aber nicht, daß dieſes blos die Wuͤrkung einer Mode geweſen, welche die Vornehmen zuerſt und die Geringen zuletzt annahmen. Nein, es iſt das Werk der Noth, welche alles nach den Beduͤrfniſſen jedes Stan - des ſo geordnet hat. Der gemeinen Hofgeſeſſenen waren viele; ſie hatten von den aͤlteſten Zeiten ihre Hofver - ſammlungen, und konnten ſich unter einander gemeinesMoͤſers patr. Phantaſ. IV. Th. PRecht226Ueber die Abſteuer der ToͤchterRecht ſetzen, welches durch keine Teſtamente, die auch um deswegen in dieſer Klaſſe von Leuten gar nicht ge - braͤuchlich waren, abgeaͤndert werden konnte. Der Adel wohnte weiter aus einander und kam bey weitem nicht ſo fruͤh dahin, um allgemeine Verſammlungen zu halten, und collegialiſche Rechte zu ſetzen; der Fuͤrſten waren noch weniger, und ihre Rechtsweiſungen vor dem Kay - ſer ſeltener. Alſo mußten dieſe zuerſt zu einer Autono - mie greifen, und ſich durch eigne Geſetze und Vertraͤge helfen. Die fremden Rechte thaten auf ſie als einzelne einer collegialiſchen Rechtsweiſung beraubte, und ſol - chergeſtalt ohne Landrecht beſtehende Menſchen den erſten Angriff; der zweyte gieng auf den Adel; und der dritte erſt auf die mindern Landbeſitzer, welche entweder von einer Hofrolle abgeriſſen, oder aus dem Leibeigenthum freygelaſſen, und ſo ebenfalls als Einzelne, die kein ge - meinſames Hofrecht hatten, uͤberwunden wurden. Der Geiſtlichen, welche anfangs auch einzeln waren, und eben - falls noch kein gemeines Recht hatten, erwehne ich nicht, auch keiner Buͤrger. Denn die erſtern bedienten ſich, ſo bald ſie teſtiren durften, des roͤmiſchen Rechts noch fruͤ - her und natuͤrlicher als die Fuͤrſten; die Rechte der letz - tern aber ſind mehr das Werk der Kunſt als der Natur, und dahier iſt nur die Rede von der Zeitordnung, nach welcher die fremden Rechte durch natuͤrliche und noth - wendige Beduͤrfniſſe zugelaſſen oder abgewehret worden.

Nach dieſer kurzen Ausſchweifung uͤber den Gang, welchen die roͤmiſchen Rechte in ihren Angriffen und Vor - dringen genommen, will ich nun zu den Ausſteuren zu - ruͤck kehren, wie ſie zuerſt nach einer Standesgewohn - heit abgemeſſen wurden. Sieht man die aͤlteſten Ehe - ſtiftungen und Verzichte fuͤrſtlicher Haͤuſer nach: ſo ge -ſchieht227der Landbeſitzer. ſchieht die Abſteuer immer, wie es unter fuͤrſtlichen Per - ſonen hergebracht iſt, oder wie es in dem Hauſe Sachſen, wie es in dem Hauſe Wuͤrtenburg gebraͤuchlich iſt. Der - gleichen Formeln, worin entweder auf einen Standes - oder Hauſesgebrauch zuruͤckgewieſen wird, findet man un - zaͤhlige; und wer ſich die Muͤhe geben will, kann es von allen koͤniglichen, fuͤrſtlichen und graͤflichen Haͤuſern ſamm - len, was jede Tochter am Brautſchatz empfangen oder kuͤnftig zu erwarten hat. Sie richten ſich nunmehr ledig - lich nach einem Hausgebrauch, und das Haus mag in Schulden oder in Vorrath ſeyn, es moͤgen der Soͤhne und Toͤchter viele oder wenig ſeyn, die Beſtimmung der Abſteuer, wenn ſie auch oft nicht baar erfolgt, bleibt immer einerley, und man wagt es nicht leicht daruͤber herauszugehen, weil eine gebuͤhrende Mitgift beyde Theile von vielen ſonſt unvermeidlichen Verlegenheiten, Verbindlichkeiten, Empfindlichkeiten und Nachreden befreyet.

Bey dem Adel iſt eben ſo zuerſt ein Standesge - brauch, wie es adlich und ſittlich, eingefuͤhret worden, bis die neuen Fideicommiſſe und Majorate nebſt dem Her - kommen auch einen Hausgebrauch guͤltig gemacht haben; und ob gleich auch eine Ausſteuer nach Stande und Ver - moͤgen Platz gefunden: ſo gieng dieſe doch nicht weiter, als daß der Beſte es dem Beſten und der Mittlere dem Mittlern gleich that, nicht aber dahin, daß man das Vermoͤgen zum Anſchlag brachte, auf Gleichtheilungen oder gewiſſe Pflichttheile und auf ausgerechnete Verhaͤlt - niſſe zuruͤck ſahe.

Die gemeinen Landbeſitzer hielten ſich an die Kirch - ſpielsgewohnheit, oder an ihre Hofweiſungen; und der Gutsherr befolgte ein gleiches in Anſehung ſeiner Leibeig - nen. Selbſt die hieſige im Jahr 1722 gemachte Eigen -P 2thums -228Ueber die Abſteuer der Toͤchterthumsordnung*)Eigenth. Ordn. C. V. §. 21. billiget dem abſtehenden Anerben, von einem im guten Stande befindlichen Meyerhofe 30 Tha - ler zu, welche ihm in drey Jahren, mithin jaͤhrlich mit 10 Thalern ohne Zinſen ausbezahlet werden ſollen. Sie fraͤgt hier nicht lange, wie viel Kinder vorhanden, ſie fordert keine genaue Ausrechnung, ſondern nimmt einen guten Meyerhof an, und billiget dann dem Anerben 30 Thaler oder mehr zu. Der Zuſatz oder mehr, laͤßt dem Gutsherrn zwar einige Ermaͤßigung der Umſtaͤnde, aber doch mit ſolcher Beſcheidenheit, daß man daraus keine beſchwerlichen Folgen ziehen wird. Man wird auch vor errichteter Eigenthumsordnung ſchwerlich eine einzige ſol - che gerichtliche Unterſuchung und Beſtimmung finden, wie wir ſeit der Verordnung vom 5 Decemb. 1768 viele er - lebet, und die ihren Urſprung, lediglich den roͤmiſchen Begriffen zu danken haben. Fuͤrſten, Grafen und Edel - leute haben ſich dagegen durch Hausvertraͤge, Haus - und Standesgebrauch, Teſtamente, Verzichte und Vereini - gungen geſchuͤtzt: aber die armen und geringen Landmaͤn - ner, die in dieſem Jahrhundert zuerſt in dieſen Stuͤcken einer fremden Geſetzgebung unterworfen worden, anſtatt daß ſie vorhin uͤberall und zu allen Zeiten, ſo viel ihrer Hofesgenoſſen waren, ihre eigne Autonomie unter Hofes - richterlicher Beſtaͤtigung, und ſo viel ihre Rittereigne wa - ren, die Gutsherrliche Vorſorge fuͤr ſich hatten, ſind in den Strudel der roͤmiſchen Rechte fortgeriſſen worden, ohne daß es ihnen dabey einmal recht erlaubt oder moͤg - lich iſt, ſich ſelbſt Huͤlfe zu verſchaffen, auſſer daß ſie ſich nun allmaͤhlig durch Teſtamente, einer neuen Art von Autonomie, die ebenfalls im vorigen Jahrhundert kei - nem gemeinen Landbeſitzer eingefallen iſt, zu helfenſuchen,229der Landbeſitzer. ſuchen, aber insgemein nur ihre Erben in Proceſſe ver - wickeln.

Blos die Buͤrger, deren unſichtbarer und taͤglich veraͤnderlicher Geldreichthum keinen dauerhaften Haus - und Standesgebrauch zulaͤßt; und keinen aͤußerlichen Verhaͤltniſſen Raum giebet, indem man ſie nach ihrem unſichtbaren und verborgnen Vermoͤgen, nicht in halbe, ganze und viertel Meyer eintheilen kann, haben ſich die roͤmiſche Art zu erben und gleich zu theilen zuerſt gefallen laſſen; und da die Stadtſteuren in einem kleinen Bezirk fruͤher nach eines jeden Aufwand und Vermoͤgen ausge - glichen werden konnten: ſo war auch hiebey nicht ſo viel zu erinnern, als bey Fuͤrſten, Grafen, Adlichen und Landbeſitzern, die mit dem Staate und der allgemeinen Reichs und Landeswohlfahrt in einer ganz andern Be - ziehung ſtehen.

Man wird einwenden, daß gleichwohl uͤberall ein fruͤher Landesgebrauch alle Soͤhne zur Gleichtheilung des vaͤterlichen Erhes und Lehns gerufen habe. Allein woher ruͤhrte dieſes? Man wollte, als der Heerbann nicht mehr auszog, und gegen Loͤhnung gedient wurde, viele Ge - meine und wenige Officier, und noch weniger Generale haben. Daher fuͤhrte man erſt die Gleichtheilung bey gemeinen Lehnen ein, und hielt dagegen blos die Gene - rals - und Hauptmannslehne zuſammen*)Es gehoͤret mit zur Geſchichte der Rechtsverdnderungen, daß auch die Generalslehne gegen das ausdruͤckliche Verbot Frie - derichs des 1. 2. f. 55. §., theilbar wurden; wovon die Urſa - che dieſe war, daß die ducatus marehiae & comitatus Heer - banns Generalate waren woraus die Gemeinen deſertirt wa - ren, und ſich entweder in die Dienſte des Heerbannsgenerals oder andre begeben hatten. Des Heerbanns Herzogthum waralſo. Das Longo -P 3bar -230Ueber die Abſteuer der Toͤchterbardiſche Recht hatte nichts dagegen, daß ſechs Bruͤder ein Commisbrod unter ſich theilten, und dafuͤr dienten, und die Lehnsherrn ſahen es natuͤrlicher Weiſe auch nicht ungern, wenn ſich ihre Vaſallen vermehrten. Sonach war das Staatsintereſſe fuͤr die Theilbarkeit der gemei - nen Lehne, und da das Heerbannsgut der Gemeinen keine Maͤnner mehr zum Kriege ſteuerte: ſo wuͤrde es eine ſehr einfaͤltige Politik geweſen ſeyn, deſſen alte Untheilbarkeit zu behaupten. Vielmehr ſahen es alle Lehnsherrn gern, daß die ihnen dienende Soͤhne unter dem Schutze der ſich hier ſehr empfehlenden roͤmiſchen Geſetze, jeden Lumpen des vaͤterlichen Erbguts unter ſich theilten, um ſich im Dienſte ſo viel beſſer erhalten zu koͤnnen. Dieſe Raſerey hat ſo lange gewaͤhrt als der Lehndienſt, und ſo wie die - ſer aufhoͤrte, ſuchte der Adel ſich durch Fideicommiſſe ge - gen die Folgen jener Zeiten wieder in den Stand zu ſe - tzen, worin er war, als er noch ohne Lehnspflicht und von ſeinem Erbgute im Harniſch diente. Denn die oͤffent - liche Geſetze, die zur Heerbannszeit gegeben waren, und die man erſt in den neuern Zeiten als alte Ueberbleibſel wieder geſammlet hat, waren lange verdunkelt; und der Geiſt des Lehnweſens mußte erſt wieder erſtickt, die Koͤ - pfe der roͤmiſchen Rechtsgelehrten mußten erſt wieder um - geſchaffen, und die Vortheile, welche jeder Staat an der Erhaltung ſeiner großen und kleinen Landbeſitzer hat, mußten in ein ganz neues Licht geſetzet werden, ehe eine allgemeine Aufmerkſamkeit zu erwarten war. Was aberjeder -*)alſo zu einer alten Rubrick mit einigen trocknen Gefallen her - abgeſunken. Dagegen ſtieg das neue Dienſtherzogthum in die Hoͤhe, nach dem Maaße als jenes durch die Deſertion ab - nahm. Und das letztere wurde durch die daruͤber errichteten Familienvertraͤge und Gewohnheiten, wieder untheilbar.231der Landbeſitzer. jedermann durch Majorate und Fideicommiſſe verordnen kann, warum ſollte dieſes nicht durch allgemeine Geſetze verordnet werden koͤnnen? Es iſt eine armſelige Politik Familien Fideicommiſſe zu Erhaltung der Stammguͤter zu beguͤnſtigen, einem Vater zu erlauben ſeinen Nach - kommen, die er wohl ſegnen aber nicht zaͤhlen kann, bis ins tauſendſte Glied Geſetze zu geben, und doch nicht das Herz zu haben, allgemeine Wahrheiten hieraus zu ziehen. Unſere Vorfahren, welche blos von der Natur geleitet wurden, hielten jeden Hof fuͤr Stammgut; und Stammgut waren auch die zwoͤlf Hoͤfe, wovon zu Carls des Großen Zeiten, einer im Harniſche diente. Man kann alſo immer wieder die juͤngern Soͤhne von der Gleich - theilung ausſchließen, und dieſelbe dahin bringen, daß ſie ſich wie die Toͤchter mit einer billigen Verſorgung, und einer ſtandesmaͤßigen Abfindung begnuͤgen muͤſſen.

Aber wie, wenn man ſich nicht daruͤber vereinigen kann, was eine billige Verſorgung, eine ſtandesmaͤßige Abfindung, und ein ziemliches Ehegeld ſey? Wenn der Landesgebrauch auf die einzelnen Faͤlle nicht recht paßt? wenn der Hausgebrauch nicht immer befolget werden kann, indem das Haus bald tief verſchuldet, bald mit auſſerordentlichen Reichthuͤmern verbeſſert iſt? wenn bald nur ein einziges Kind, bald ihrer zehn abzufinden ſind? wenn der Erbe ein Geitzhals iſt, der den Wohlſtand un - ter die Fuͤſſe tritt, oder doch ſo beſtimmt, daß ihm kein ander ehrlicher Mann darin beypflichten kann? oder wenn die jungen Kinder den Mund ſo weit aufthun, daß er mit einem ziemlichen Biſſen nicht geſtopfet werden kann, und ſolchemnach der Richter herbeygerufen werden muß, der dasjenige, was in dem einzelnen Falle, adlich und ſittlich iſt, auf ein Haar beſtimmen ſoll? Muß hier nichtP 4alles232Ueber die Abſteuer der Toͤchteralles aufgeſchrieben, angeſchlagen und zur genaueſten Rechnung gebracht werden? Muͤſſen hier nicht die Ziegel auf den Daͤchern und die Baͤume im Walde gezaͤhlt, alle Grundſtuͤcke angeſchlagen, alle Regiſter ausgezogen, alle Siegel geoͤffnet, alle Kleinodien geſchaͤtzt, alle Loͤffel und Kannen gewogen und wohl gar alle Glaͤubiger durch oͤf - fentliche Ladungen herbey gerufen werden? Muß man hier nicht die Forderungen der Glaͤubiger, ob ſie wahr oder falſch aufgeſtellet worden, rechtlich pruͤfen, die Ge - rechtigkeiten der Guͤter alle in Richtigkeit bringen, und die Guͤter, wenn man ſich uͤber ihren Werth nicht verei - nigen kann, ein, zwey und dreymal in eines, zweyen oder dreyen Herrn Landen feil bieten?

Wenn man ſich nicht in der Guͤte vertragen kann: ſo muß freylich ein Dritter erwaͤhlet werden, der beyde Theile auseinander ſetze, aber dieſes braucht kein Rich - ter zu ſeyn, der durch die ganze Ceremonie des Jnventa - riums geht, die Glaͤubiger in dreyen Herrn Laͤndern auf - rufen, und die Erbguͤter in eben ſo vielen Jntelligenz - blaͤttern ausbieten laͤßt, vielmehr muͤſſen einige Schieds - freunde von beyden Theilen erwaͤhlet, und mit der Voll - macht verſehen werden, dasjenige zu beſtimmen, was in dem vorkommenden Falle adlich, ſittlich und billig iſt. Dies kann der ordentliche Richter nicht, ohne ſich in ei - nen Deſpoten zu verwandeln. Aber wo den Partheyen die Wahl der Perſonen bleibt, ſollten ſie auch den Ob - mann durch die Wuͤrfel waͤhlen, da kann ihre Vollmacht immer durch die Geſetze unbedenklich groß gemacht werden.

Man erwaͤhle alſo Schiedsfreunde und zwar ſolche die mit den Partheyen von gleichem Stande ſind; Schieds - freunde die auch Kinder und Guͤter haben, die auch wiſ - ſen und fuͤhlen, was ein Stammherr fuͤr Laſt habe, wenner233der Landbeſitzer. er die Ehre ſeines Namens und Standes behaupten, ſei - nen Standespflichten ein Genuͤgen thun, die Ungluͤcks - faͤlle, denen die Guͤter unterworfen ſind, tragen, und ſeinen Geſchwiſtern, wenn ſie ungluͤcklich werden, Ehren - halben zu ſtatten kommen ſoll; Schiedsfreunde die ſich ſelbſt in den Fall hineindenken, worin ſich der Vater be - finden wuͤrde, wenn er jetzt die Abſteuer ſeiner Kinder be - ſtimmen ſollte. Und wenn dieſe dann ſchwoͤren: daß ſie ſprechen wollen, wie ſie ſprechen wuͤrden, wenn ſie ſich in dem naͤmlichen Falle befaͤnden, und als Vaͤter zu thun und zu laſſen haͤtten, ſo bin ich verſichert, daß dasjenige, was adlich, ſittlich und ziemlich iſt, zulaͤnglich ans Licht kommen werde, ohne daß es noͤthig iſt jene koſtbaren und weitlaͤuftigen gericht - lichen Unterſuchungen anzuſtellen. So bald dieſe nur einen ſolchen Satz haben, wie z. E. der vorangefuͤhrte iſt, von einem Meyerhofe in gutem Stande ſollen 30 Tha - ler gegeben werden, ſo werden ſie alle uͤbrigen leicht finden, und einen ſolchen Satz kann man bey dem Adel haben, wenn man ſich des - jenigen, was das groͤßte und beſte Haus in einem aͤhn - lichen Falle gethan hat, erinnert, und davon auf andre herunter geht. Es ſind auch unzaͤhlige Faͤlle, wo der Richter mit Zahlen und Maaßen nichts ausrichten kann, wo es unmoͤglich iſt, im eigentlichen Verſtande zu ent - ſcheiden, und wo man doch ohne Verletzung ſeines Ge - wiſſens, ſeiner Ehre und ſeines Eigenthums, den richti - gen Mittelweg zu finden weis, ſo bald man nur die Voll - macht hat ihn aufzuſuchen. Jn allen Oberlaͤndern des deutſchen Reichs hat man einen ſolchen Satz, man hat ihn auch hier gehabt, und kann ihn uͤberall finden, wenn man nur darauf ſieht, was nach dem Hausgebrauch beyP 5dieſer234Ueber die Abſteuer der Toͤchterdieſer oder jener Familie geſchehen iſt. Dieſen Hausge - brauch hat hier ein Vater und dort ein ander Vater, der ſeine Kinder alle geliebt hat, beſtimmt; der Geiſt deſſel - ben iſt auch der Geiſt des Standes, und was mehrere Vaͤter von demſelben Stande gethan haben, das kann man fuͤr Perſonen dieſes Standes, als ein ziemlich ſicheres Ziel betrachten, nicht als Richter aber wohl als erwaͤhl - ter Schiedsfreund. Hiebey kommt es gar nicht auf eine gemeine Schaͤtzung der Guͤter an, und einige tauſend Thaler mehr oder weniger thun ſo wenig zur Sache als ſie es in fuͤrſtlichen oder graͤflichen Haͤnſern, oder bey den adlichen Familien in Oberdeutſchland und am Rhein thun.

Die einzige Bremiſche Ritterſchaft*)S. das Bremiſche Ritterrecht. Beym. Hn. v. Pufendorf in T. IV. obſ. app. p. 12. Jn dem Ritterrecht ſelbſt wird noch alles nach landſaͤßiger Uebung und Gebrauch be - ſtimmt, und blos eines ziemlichen Ehegeldes gedacht; aber in den Noten, welche das Werk dieſes theoretiſchen Jahrhun - derts ſind, werden die Guͤter auf der Maſch zu 6 p. C. und die auf der Geeſt zu 5 p. C. angeſchlagen, wenn die Abſteu - ren der Toͤchter beſtimmt werden ſollen. Jm uͤbrigen ver - faͤhrt man faſt ſo wie hier im Stifte mit Auslobung der Ei - genbehoͤrigen. iſt ſo viel mir bekannt, diejenige, welche ſich in neuern Zeiten an ein ſicheres ordentlich beſtimmtes Verhaͤltnis, nach welchem die juͤngern Kinder das Jhrige erhalten koͤnnen, gebun - den hat. Aber die Bremiſche Ritterſchaft iſt auch gerade diejenige, welche ſich durch ihre Theilungen am mehrſten geſchwaͤchet hat, und ein zahlreicher und ſchwacher Adel, iſt gegen alle geſunde Politik. Die Ritterſchaft der Graf - ſchaft Mark hat hingegen eine Vereinigung, und dieſeiſt235der Landbeſitzer. iſt von ihrem Koͤnige beſtaͤtiget*)Die Vereinigung und die daruͤber ertheilte Confirmation ſteht bey dem von Steinen in der Weſtf. Geſchichte im VII. St. p. 1931., daß alle Proceſſe dieſer Art bey funfzig Thaler Strafe an kein ordentliches Gerichte gebracht werden duͤrfen. Hier ſind alſo Schieds - richter von der Art, wie ſie Deutſchland ehedem hatte; Schiedsrichter die an kein corpus juris gebunden ſind, ſondern die Vollmacht haben, nach ihrem Gewiſſen, das - jenige Recht zu ſprechen, was nach dem uralten roͤmi - ſchen Begriffe, das bonum & aequum ausmacht, oder was das allgemeine Beſte des Standes erfordert. Das koͤnnen und duͤrfen ordentliche Richter nicht, ſie moͤgen fuͤrſtlichen, graͤflichen, adlichen oder buͤrgerlichen Stan - des ſeyn. Denn ſo bald einer nicht zum Richter erwaͤh - let ſondern geſetzt iſt: ſo kann er nicht ſcharf genug an die gemeine Rechte und Formalien gebunden werden; und es ſind ſehr auſſerordentliche und geringe Faͤlle, wo man einem ſolchen Richter erlaubt, den Partheyen einen Ver - gleich vorzuſchreiben. Aber ein erwaͤhlter Richter von welchem Stande er auch ſeyn mag, erſetzt durch die Voll - macht oder das Vertrauen der Partheyen alles uͤbrige, und man erwaͤhlt ihn nur um deswillen gern von gleichem Stande, weil ein andrer nicht leicht das Gefuͤhl des An - ſtaͤndigen, Sittlichen und Billigen hat, was jeder insge - mein nur fuͤr ſeinen eignen Stand hat.

Ueberhaupt aber bin ich verſichert, daß, wenn der Satz nur erſt feſtſteht, daß die Toͤchter kein roͤmiſches oder irgend ein anders, nach genauen Verhaͤltniſſen zu beſtim - mendes Pflichttheil, ſondern ein anſtaͤndiges und ziemli - ches Ehegeld fordern moͤgen, ſehr viele Streitigkeiten von ſelbſt wegfallen werden, die mit jeder auf ein richtiges Jnventarium ſich gruͤndenden Abfindung verknuͤpft ſind. Alle236Ueber die Abſteuer der Toͤchter ꝛc. Alle Theile wiſſen denn ſo viele Faͤlle anzufuͤhren, von demjenigen was dieſe oder jene bekommen hat; der Bru - der weiß denn ſo gewiß, daß die Abſteuer ſeiner Geſchwi - ſter eine Ehrenſache ſey, und er, ohne ſich veraͤchtlich zu machen, die oͤffentliche Erwartung ſeines Standes nicht unbefriediget laſſen duͤrfe, daß die Schiedsfreunde wenig Muͤhe haben koͤnnen, den wahren Mittelweg zu treffen. Und faſt moͤchte ich ſagen, daß es allemal gemeinſchaͤd - lich ſey eine eigentliche Ehrenſache in eine geſetzlich zu entſcheidende Sache zu verwandeln. Mancher wuͤrde nach den Empfindungen ſeiner Ehre und ſeines Gewiſſens, oder nach den Verbindlichkeiten der natuͤrlichen Geſetze vieles gethan haben, was er gewiß nicht thut, nachdem einmal der Streit dem Richter uͤbergeben, und er nach den ſtren - gern Civilrechten frey geſprochen iſt. Man ſieht dieſes taͤglich bey Teſtamenten, welche nicht alle Formalitaͤten haben. Die Canoniſten glaubten, und wahrlich nicht ohne Grund, daß die Teſtamentſachen fuͤr den geiſtlichen Richter gehoͤrten, der den Partheyen das Gewiſſen ruͤgen koͤnnte. Aber ſeit dem man ſolche fuͤr jeden Richter zie - hen kann, haͤlt ſich niemand zu etwas mehrern im Ge - wiſſen verbunden, als ihm dieſer von Rechtswegen auf - legt. Der ganze Unterſchied zwiſchen vollkommenen und unvollkommenen Verbindlichkeiten iſt auſſer alle Anwen - dung getreten; und man behauptet mit theoretiſcher Keck - heit, daß jeder Rechtsſpruch auch das Gewiſſen beruhige. Dadurch aber wird die wahre edle Empfindung des Men - ſchen ungemein verenget; und die geitzige Schuldigkeit tritt in die Stelle der großmuͤthigen Ehre. Eben ſo wird es auch mit den Abſteuren gehen, wenn der eine auf ei - nen Heller das Seinige zu fordern weiß, und der andre ihn als einen gemeinen uͤberlaͤſtigen Glaͤubiger nach der Strenge Rechtens befriedigen muß.

LIII. 237

LIII. Das Herkommen in Anſehung der Ab - ſteuer und des Verzichts adlicher Toͤchter im Stifte Oſnabruͤck*)Auch dieſes Stuͤck ruͤcke ich der Verbindung wegen mit ein; es iſt die Vorrede zu dem darin angefuͤhrten Zeugenverhoͤr, welches mein Vater zur beſſern Begruͤndung der Vereinigung abdrucken lies..

Das hiebey gefuͤgte Zeugenverhoͤr**)Das Zengenverhoͤr ſelbſt laſſe ich zuruͤck, weil man deſſen Hauptinhalt aus den daraus angefuͤhrten Stellen, leicht er - rathen wird., wovon die Ur - kunde bey der H. Ritterſchaft hieſelbſt niederge - legt iſt, liefert den Beweis, daß die adlichen Toͤchter, wenn ſie nicht Erbtoͤchter geweſen ſind, ſich hier im Stifte eben ſo wie in den benachbarten und andern deutſchen Laͤndern, mit einem Landſittlichen Brautſchatze begnuͤget, und gegen deſſen Empfang oder Sicherſtellung aller wei - tern elterlichen Erbſchaft entſaget haben.

Die Behandlung dieſes Brautſchatzes geſchahe, wie man hieraus erſieht, zwiſchen den naͤchſten Verwandten und Freunden beyder Theile, und was dieſe beſchloſſen oder feſtſetzten, damit waren Braut und Braͤutigam, fuͤr welche ſich dieſe Behandlung ohnehin nicht wohl ſchickte, zufrieden***)Teſtis, 17. ad Art. prob. 28..

Man ſahe bey derſelben nicht ſchlechterdings auf das Vermoͤgen, oder die kuͤnftige Erbſchaft der Braut Eltern,ſondern238Das Herkommen in Anſehung der Abſteuerſondern auf einen unter dem Adel landſittlichen Gebrauch, nach welchem es der Beſte dem Beſten, und der Mittlere dem Mittlern in dieſem Ehrenfalle gleich thun mußte. Jedoch hielt es auch der Beſte fuͤr unanſtaͤndig hierin zu viel zu thun, und andern guten Familien gleichſam einen Vorwurf zuzuziehen, wie ſolches von dem reichſten Edel - manne der damaligen Zeit*)Teſt. 17. ad Int. ſpec. 8. bemerkt iſt.

So war auch der Gebrauch bey allen hofgeſeſſenen Landleuten**)Teſt. ad. Art. prob. 6., als welche ihre Taͤchter nach Kirchſpiels - ſitte und nicht nach ihrem Vermoͤgen ausſteureten, ein Gebrauch, der noch beſtehen wuͤrde, wenn ihn die roͤmi - ſchen Begriffe, und die daraus gefloſſenen Verordnungen nicht zum Nachtheil des gemeinen Weſens unterbrochen, und die falſchen Grundſaͤtze beguͤnſtiget haͤtten, nach wel - chen die Abſteuren ſich nach dem Vermoͤgen der Eltern richten ſollen.

Von Teſtamenten wußte man, wie die Zeugen viel - faͤltig beurkunden***)Ad Art. prob. 13. und 14., in den aͤltern Zeiten ſo wenig als bey den alten Deutſchen; blos die Geiſtlichen†)Teſt. 17. ad Art. prob. 25., wel - chen die Natur keine Erben erweckte, fiengen zuerſt an dergleichen zu machen. Und ſo waren die Eltern auch nicht einmal in der Verſuchung ihren Toͤchtern, welche einmal Verzicht gethan hatten, ein mehrers zuzuwenden. Dieſe hatten alſo auſſer ihrer Abſteuer nichts weiter zu hoffen, als was ihnen Gott und die Kirche noch zuwand - te††)Teſt. 22. 26. 34. ad Art. prob. 4.. Von Gott kamen die Ruͤckfaͤlle der Guͤter, wenn die Bruͤder, welchen zum Beſten die Toͤchter ihren Ver -zicht239und des Verzichts adlicher Toͤchter ꝛc. zicht geleiſtet hatten, ohne Kinder verſturben; und von der Kirche, was die Bruͤder, welche in den geiſtlichen Stand getreten waren, ihren Geſchwiſtern vermachten. Die Verzichte wurden unverbruͤchlich gehalten, wenn ſol - che mit Zuziehung der naͤchſten Verwandten von beyden Theilen geſchehen waren, ſie mochten von Groß - oder Minderjaͤhrigen mit oder ohne Eyd geſchehen ſeyn*)Teſt. ad Art. prob. 7., und man lernte erſt aus den ſpaͤter eingefuͤhrten canoni - ſchen Rechten, daß der beſchworne Verzicht eines Min - derjaͤhrigen mehrere Kraft haͤtte.

Jn dem Falle, wo die verheyratheten Toͤchter kei - nen Verzicht gethan hatten, blieb ihnen zwar ihr Erb - recht offen; wie ſolches auch die hieſigen Landſtaͤnde mit - telſt ihres Zeugniſſes vom 9. Jul. 1712. bekannt haben, und immer noch werden bekennen muͤſſen, weil der Grund warum die abgehenden Toͤchter nicht weiter erbten, in der Behandlung beruht. Aber dieſes ihr Erbrecht fuͤhrte ſo wenig zur Gleichtheilung als zum Pflichttheile, ſon - dern zu einer Behandlung unter beyderſeitigen Freunden und Verwandten; und dieſe hatten bey der Beſtimmung des Brautſchatzes nicht ſo ſchlechterdings auf die Groͤße des Vermoͤgens oder der Erbſchaft, ſondern lediglich auf den landuͤblichen adlichen Gebrauch zu ſehen, mithin denſelben blos hiernach und nach Gelegenheit der Guͤter, nicht aber mit dem roͤmiſchen Maaßſtabe in der Hand zu beſtimmen. Unſern Vorfahren fehlte nichts als eine Land - tafel, worin alle adliche Guͤter waͤren aufgefuͤhrt, und die Brautſchaͤtze unter allen zufaͤlligen Umſtaͤnden beſtim - met geweſen. Haͤtten ſie dieſe gehabt ſo wuͤrden ſie auch ſofort damit dem Erbrechte der Toͤchter ſichtbare Graͤn - zen geſetzet und daſſelbe auch dem Namen nach aufgeho -ben240Das Herkommen in Anſehung der Abſteuerben haben. Da aber eine ſolche Landtafel, weil ſich die Umſtaͤnde taͤglich veraͤndern, und die Anzahl der Kinder ein immerwaͤhrender Grund der Veraͤnderung bleibt, faſt unmoͤglich iſt, und ihnen das Verhaͤltnis, wozu die Roͤmer in einer gleichen Verlegenheit ihre Zuflucht ge - nommen haben, den Stammhaͤuſern gar zu nachtheilig ſchien: ſo konnten ſie nicht weiter kommen, als daß ſie einer jeden Tochter Erbrecht bis zur Behandlung goͤnne - ten, und die letztere zur Nothwendigkeit machten.

Alle dieſe vortreflichen mit der wahren deutſchen Denkungsart und dem gemeinen Beſten ſowohl uͤberein - ſtimmenden Einrichtungen, hat die roͤmiſche Lehre von der Gleichtheilung unter gleichen Erben, und vom Pflicht - theile zuerſt untergraben: ohnerachtet beyde ſowohl die Gleichtheilung als der Pflichttheil zwiſchen buͤrgerlichen Mauern, wo der Geldreichthum das Landeigenthum uͤber - wogen hatte, gebohren ſind, und den ehmaligen Quiri - ten, oder den urſpruͤnglichen, durch den Beſitz eines ge - wiſſen Landeigenthums qualificirten Buͤrgern voͤllig un - bekannt waren, auch nie aus der Stadt auf das Land, wo das Grundeigenthum ſowohl die Repraͤſentanten als auch den groͤßten Theil der Repraͤſentirten ausmacht, haͤtte erſtrecket werden ſollen.

Die Familien ſelbſt ſind dadurch nicht gebeſſert. Denn wo die Braut Pflichttheile einbringt, da muß auch der Braͤutigam dergleichen ſeinen Geſchwiſtern ausgeben. Deſtomehr aber iſt dem Staate daran gelegen, daß die Beſitzer der Guͤter, dieſe moͤgen nun adlich oder unadlich ſeyn, nicht erſchoͤpft werden. Der Abel dient zwar jetzt von dem Seinigen nicht mehr wie ehedem zur ritterlichen Landesvertheidigung; er iſt aber dagegen mit der ganzen Laſt der Repraͤſentation beladen, und erſchoͤpfte Repraͤ - ſentanten koͤnnen Verraͤther des Vaterlandes werden;das241und des Verzichts adlicher Toͤchter. das gemeine Wohl iſt in ihren Haͤnden nicht ſicher; und der Adel, wenn er zwiſchen Herrn und Unterthanen eine gluͤckliche Mittelſtuffe abgeben ſoll, muß ſich nicht in der Nothwendigkeit befinden, ſich entweder ſchlechterdings abhaͤngig zu machen, oder ſich auf andre Art zum Nach - theil des gemeinen Weſens zu erhalten; dieſes iſt was man ſich unter Erhaltung Stamm und Namens, gedenkt. Die Beſitzer unadlicher Guͤter aber tragen die ganze Buͤrgſchaft fuͤr die ordentlichen Laſten, und ihre Entkraͤf - tung durch Gleichtheilungen und Pflichttheile iſt fuͤr den Staat unter gewiſſen Umſtaͤnden noch verderblicher, weil Heuerleute, Kraͤmer und dergleichen zufaͤllige Contribuen - ten, welche aus den abgefundenen juͤngern Kindern meh - rentheils entſtehen, keine annehmliche Buͤrgen ſind; ſie entweichen wenn die Noth eintritt, und vertheidigen den Boden nicht, der ihnen einen billigen Erbtheil ver - ſagt hat. Sie ſind auch erſt ſpaͤt, nachdem man Geld - und Perſonalſteuren eingefuͤhret hat, in der Landesver - ſammlung repraͤſentirt worden.

Dieſe Betrachtungen haben die hochadliche Ritter - ſchaft bewogen, S. Koͤnigl. Majeſtaͤt von Großbritannien als Vatern des Herrn Biſchofes Koͤnigl. Hoheit um die ausdruͤckliche Beſtaͤtigung einer Gewohnheit zu bitten, welche zwar jederzeit beſtanden, aber in juͤngern Jahren von den roͤmiſchen Rechtsgelehrten manchen Angrif er - litten hat.

Moͤſers patr. Phantaſ. IV. Th. QLIV. 242Beſtaͤtigung der Abſteuer u. des Verzichts

LIV. Vereinigung der H. Ritterſchaft des Hoch - ſtifts Oſnabruͤck uͤber die Abſteuer und den Ver - zicht adlicher Toͤchter, wie ſolche von Sr. Koͤ - nigl. Maj. von Großbritannien als Vater des Herrn Biſchofes Friederichs Koͤnigl. Hoheit ſub dato St. James den 15 May 1778 beſtaͤtiget worden*)Der vorhergehende Aufſatz iſt vom Jahre 1777 und ſollte zur Vorbereitung der Vereinigung dienen, welche das Jahr darauf erfolgte, und ich hier mit einruͤcke, ob ich gleich an - dre Landesordnungen, wozu manches Stuͤck der Phantaſien eine Vorbereitung enthalten hat, zuruͤckgelaſſen hat..

Wir Georg der dritte, von Gottes Gnaden, Koͤnig von Großbritannien, Frankreich und Jrland, Be - ſchuͤtzer des Glaubens, Herzog zu Braunſchweig und Luͤ - neburg, des Heiligen Roͤmiſchen Reichs Erzſchatzmeiſter und Churfuͤrſt ꝛc. ꝛc.

Thun kund und fuͤgen als Vater und Namens des poſtulirten Biſchofs des Hochſtifts Oſnabruͤck, Unſers Prinzen Friederichs Liebden, hiemit zu wiſſen.

Demnach die loͤbliche Ritterſchaft des Hochſtifts Oſ - nabruͤck Uns unterthaͤnigſt zu vernehmen gegeben, was maßen, obgleich die durch ein vormals zu Oſnabruͤck im Jahr 1589 vor eigends dazu angeſetzten fuͤrſtlichen Com - miſſarien abgehaltenes Zeugenverhoͤr in Sachen von dem Buſſche wider von Rottorf beurkundete Gewohnheit des Adels im Hochſtifte Oſnabruͤck, ſo wie in mehrern anderndeut -243adlicher Toͤchter im Stifte Oſnabruͤck. deutſchen Laͤndern, es mit ſich bringe, daß die Toͤchter ſich mit einer billigen Abſteuer begnuͤgen, und ſowohl ihre Forderungen darnach einrichten, als ihre dagegen mit Zuziehung der naͤchſten Verwandten gethane Verzichte halten muͤſſen, dennoch mehrmals vorgekommen ſey, daß ihre adlichen Toͤchter, wenn ſie ihre Ausſteuer ſo, wie ſol - che entweder von den Eltern beſtimmet, oder auch bey ih - rer Verheyrathung zwiſchen beyderſeitigen Verwandten der Braut und des Braͤutigams behandelt worden, erhal - ten, und ſich darauf der weiteren elterlichen Erbſchaft verziehen haben, dieſe ihre Verzichte nachwaͤrts, unter dem Vorwande, daß ſie an ihrem Kindestheile, oder an dem ihnen nach Roͤmiſchen Rechten gebuͤhrenden Pflicht - theile verkuͤrzet worden, anfoͤchten, oder, wenn ſie noch nicht abgeſteuret worden, und den ihnen ſonſt aus den Guͤtern billig zukommenden Unterhalt, entweder durch Heyrath oder ſonſt, zu verlaſſen willens waͤren, ihre Ab - findungen wenigſtens nach dem Verhaͤltniſſe eines ſolchen Pflichttheils forderten, mithin daruͤber weitlaͤuftige Pro - ceſſe veranlaſſeten;

Und ſolchemnach beſagte Ritterſchaft geziemend gebeten hat, daß Wir als Vater Unſers Prinzen Bi - ſchofs Liebden, zu beſſerer Erhaltung des Adels und zu Abwendung unnoͤthiger Proceſſe, auf vorangefuͤhrte Gewohnheit gnaͤdigſt halten laſſen, und ſaͤmmtliche Ge - richte des Hochſtifts darnach anweiſen moͤchten:

Als haben wir, in gnaͤdigſter Ruͤckſicht auf vorbe - regte Gruͤnde und Umſtaͤnde, nach daruͤber eingezogenem Berichte und Gutachten der Land - und Juſtiz-Canzley, folgendes zu verordnen gut gefunden.

Erſtlich ſollen ſaͤmmtliche Gerichte des Hochſtifts Oſnabruͤck ſo wenig in dem Falle,Q 2da244Beſtaͤtigung der Abſteuer u. des Verzichtsda eine abgeſteuerte Tochter ſich unter dem Bey - ſtande ihrer naͤchſten Anverwandten der weiteren el - terlichen Erbſchaft eydlich verziehen, als in dem Falle, da die Abſteuer einer Tochter von beyden Eltern, oder auch von dem Vater, ehe derſelbe zur zwoten Ehe geſchritten, allein beſtimmet, und die Tochter hierauf einen foͤrmlichen obgleich nicht beſchwornen Verzicht geleiſtet hat, einige Klagen, welche eine Verletzung zum Grunde ha - ben, annehmen.

Zweytens, in dem Falle aber, da die Abſteuer nicht von den Eltern, oder von dem Vater obgedachter maßen allein, ſondern von an - dern geſchehen iſt, und die Tochter dagegen einen unbeſchwornen Verzicht gethan hat, gleichwohl aber verkuͤrzet zu ſeyn vermeynet, ſo wie endlich auch in dem Falle, da die Tochter noch erſt ihre Abfindung fordert, und eine elterliche oder vaͤterliche Beſtimmung, ſo wie oben geſetzt, nicht vorhanden iſt, ſollen die Gerichte die Klagen der Toͤchter an drey aus der Ritterſchaft zu erwaͤhlende Schiedsleute, wovon die Klaͤgerinn den einen, der Beklagte den andern, und den dritten wiederum die Klaͤgerinn aus dreyen ihr von dem Beklagten vorzuſchlagenden mit Landtagsfaͤhigen Guͤtern angeſeſſenen adlichen Perſonen erwaͤhlen mag verweiſen und damit dieſe ſoviel geſchwinder ausgeſprochen, auch demnaͤchſt ſoviel beſſer im Stand geſetzt werden moͤgen, eine guͤtliche Behandlung vornehmen, oder ihren Schieds - richterlichen Ausſpruch thun zu koͤnnen: ſo ſollen

Drittens, die Gerichte den Beklagten ſofort, mit - telſt eines Decreti communicatorii, zur gerichtlichen Ein -liefe -245adlicher Toͤchter im Stifte Oſnabruͤck. lieferung eines auf Verlangen eydlich zu beſtaͤrkenden Status bonorum oder Inventarii, und zur Venennung ei - nes Schiedsmannes, nachdem die Klaͤgerinn den ihrigen in der Klage benannt haben wird, ſo wie zum Vorſchlag der drey von ihm zu benenenden Perſonen, woraus die Klaͤgerinn einen zum dritten Schiedsmann zu erwaͤhlen hat, binnen einer ihm zu ſetzenden Friſt anhalten. So - dann aber ſollen die Gerichte.

Viertens, die alſo gerichtlich benannten Schiedsmaͤn - ner dahin, daß ſie den ihnen zugeſtellten Statum bonorum wohl erwaͤgen, und die Abſteuer darnach alſo beſtimmen wollen, wie ſie ſolche, wenn ſie ſelbſt Vaͤter waͤren, und dieſe Guͤter wie auch dieſe Kinder haͤtten, fuͤr die ihrigen beſtimmen wuͤrden, beeydigen, mithin ihnen den Statum bonorum zuſtellen, und eine gewiſſe Friſt, binnen welcher ſie ihr Gutachten jeder beſonders einbringen ſollen, ſetzen, alsdenn aber

Fuͤnftens, die verſchiedenen Beſtimmungen zuſam - men rechnen, und mit der Zahl drey theilen, mithin das dadurch herauskommende Quantum fuͤr eine billige Abfin - dung von den elterlichen Guͤtern beſtaͤtigen, und die Par - theyen um ſich damit zu begnuͤgen verweiſen.

Wie nun ſaͤmmtliche Gerichte des Hochſtifts Oſna - bruͤck in vorkommenden Faͤllen ſich darnach zu achten, und dieſe Verordnung pflichtmaͤßig zu befolgen haben: alſo ſoll ſelbige zu ſolchem Ende durch den Druck publieirt werden, ſo geſchehen und gegeben auf unſerm Palais zu St. James den 15ten May des 1778ſten Jahres Unſers Reichs im achtzehnten.

George R. v. Alvensleben.

Q 3LV. 246Warum bildet ſich der deutſche Adel

LVI. Warum bildet ſich der deutſche Adel nicht nach dem engliſchen.

Jn dem Streite, welchen der Markis de Laſſay*)Jm Mercure de France, Decemb. 1754. T. II. uͤber die Frage erregte: ob dem Franzoͤſiſchen Adel erlaubt werden koͤnne, ſich mit der Handlung abzugeben? und worin nachwaͤrts verſchiedene große Maͤnner fuͤr und wider auftraten**)Zuerſt erſchien La Nobleſſe commercanre, worin gezeigt wer - den ſollte, daß der Handel dem Adel unſchaͤdlich ſeyn koͤnne. Dieſem widerſetzte ſich ein ander unter dem Titel: La No - bleſſe militaire ou le Patriote François, und darauf erſchien: Le Conciliateur ou la Nobleſſe militaire & commerçante. Aber alle drey verfielen in Declamation, weil ſie die Begriffe vom Adel nicht genug beſtimmen, und immer die moraliſche Ehre mit der politiſchen vermiſchen? La Nobleſſe veritable conſiſte dans lo courage & la vertu, deux qualités de l ame qui ne de - pendent pas de l avarice de l homme, ſagt der Conciliateur, und faͤhrt dann fort: je ſuis de famille noble ſi mon pere cut eté roturier, n’aurois je pas les memes ſentimens; & celui qui nait dans la plus baſſe roture ne peut il pas pretendre à penſer & á agir ausſi noblement que vous & moi? Ein ſolches elendes Gewaͤſche entſteht aus jener Verwechſelung; und man koͤnnte eben ſo gut fragen: ob ein Bauer nicht eben ſo gut ein Chriſt ſeyn koͤnne als ein Edelmann? Lauter Folgen der neu - modiſchen Menſchenphiloſophie, die immer mit dem Menſchen zu thun hat, ohne den Actionair zu kennen., wird es immer als ein uͤberaus wichtiger Umſtand angefuͤhrt, daß in England der Bru -der247nicht nach dem engliſchen? der des Lords ſich ohne alle uͤble Folgen der Handlung oder einem jeden andern Geſchaͤfte widmen koͤnnte, und Mylord Oxford, Mylord Townsſend ſich ihrer Bruͤder, wovon der eine als Factor in Aleppo ſtand, und der an - dre in London lebte, nie geſchaͤmet hatten. So wenig nun auch dieſer Umſtand zur Entſcheidung jener Frage etwas beytrug, indem die Bruͤder eines Lords in England nicht zum Adel gehoͤren, ſo iſt er doch allemal ſehr merk - wuͤrdig und man fraͤgt billig: warum wir Deutſchen die juͤngern aus einem adlichen Ehebette erzeugten Kinder mehr zum Adel rechnen als die Englaͤnder?

Man kann antworten: in England ſey der Adel eine Kronehre oder ein Kronlehn, welches wie jede andere erblich gewordene Wuͤrde nur Einem aus der Familie, und nachdem die Einrichtung iſt, nur dem aͤlteſten zu Theil werden kann; das Haupt, welches dieſe Ehre ſeinem Geſchlechte erwirbt, ſey dadurch alſo ganz allein gewuͤr - diget und auſſer dem Sohne, der ihm in dieſer Erbwuͤrde folgt, behalte ſein ganzes uͤbriges Geſchlecht, diejenige gemeine Wehrung, die es vorher hatte, die Wehrung freygebohrner Leute. Hingegen zeuge ein Herzog, wenn der liebe Gott ſein Ehebette ſegnet, zwoͤlf Herzoge, ein Graf zwoͤlf Grafen und ein Freyherr zwoͤlf Freyherrn, ohnerachtet das Herzogthum, die Grafſchaft und die Frey - herrlichkeit ebenfalls alte Kronwuͤrden ſind, und lange auch in Deutſchland nur einem zu Theil wurden.

Allein damit bleibt immer noch die Frage uͤbrig: warum wir dieſen Weg eingeſchlagen? warum wir nicht eben wie in den mehrſten koͤniglichen Haͤuſern, den juͤn - gern Sohn immer eine Stuffe niedriger ſtehen laſſen, als den aͤltern, und das Herzogthum, die Grofſchaft und die Freyherrlichkeit einmal fuͤr alle fuͤr untheilbare Reichs -Q 4wuͤr -248Warum bildet ſich der deutſche Adelwuͤrden erklaͤren, mithin ſolche nur auf den aͤlteſten fallen laſſen, und den nachgebohrnen Kindern etwas mehrers als den Vorzug von vornehmen Eltern gebohren zu ſeyn und die damit natuͤrlich verknuͤpfte Achtung einraͤumen?

Aber, koͤnnte man erſt fragen, haben wir denn wuͤrk - lich einen andern Weg als die Englaͤnder genommen? ſind bey uns die juͤngern Kinder des Adels etwas mehr als freygebohrne Leute? Jſt der Beweis, welcher in Dom - capiteln, Ritterſchaften und andern geſchloſſenen Orden, von einem der darin aufgenommen werden will, erfor - dert wird, etwas mehr als der Beweis einer freyen Ge - burt? Und ſteckt nicht der ganze Knoten darin, daß das Wort freygebohren bey uns einen ausgedehntern Begriff*)Das Wort frey iſt ein relativer Begriff, und es giebt in ſtatu civili ſo viele Arten von Churfreyen, Nothfreyen und Frey - gebohrnen, daß es wegen ſeiner wenigen Beſtimmung ganz unbrauchbar iſt. hat, als bey den Englaͤndern, und daß wir, blos nur um die daraus entſtehende Zweydeutigkeit zu vermeiden, und um eine beſtimmte Art von freyer Geburt auszudruͤcken, die juͤngern Soͤhne adelich nennen?

So ſcheinet es, und wenn wir genau auf den Gang unſrer Sprache, die hier vielen Einfluß auf die Begriffe gehabt hat, Acht geben: ſo findet ſich auch wuͤrklich, daß wir das Wort freygebohrn, weil es zweydeutig war, und die alſo beſtimmte Art von freyer Geburt nicht ausdruͤck - te, zuerſt gegen Edelgebohrn, und wie auch dieſes im ſtarken Umlauf zu leicht wurde, gegen Wohlgebohrn, Hochwohlgebohrn, Keichs-frey Hochwohlgebohrn und zuletzt gegen Hochgebohrn vertauſchet haben, alles in der Abſicht um den juͤngern Kindern blos die Rechte ihrer Geburt zu erhalten, nicht aber um ihnen den Adel zu ge -ben,249nicht nach dem engliſchen. ben, der als eine Kronwuͤrde betrachtet, eben wie in England, blos auf den Haupterben faͤllt. Jedoch ſind unſre Begriffe hievon nicht beſtimmt und aufgeklaͤrt ge - nug. Wir machen keinen deutlichen Unterſchied zwiſchen Adel und Edelgebohrn, und ſo hilft es uns nichts, daß wir auf den erſten Urſprung, oder auf den boͤſen Einfluß der Sprache zuruͤckgehen, und daraus die Geſchichte der Verwirrung wiſſen; es hilft uns nichts, daß der Gelehrte in ſeiner Stube den Unterſchied zwiſchen Adel (Kronehre) und Edelbuͤrtigkeit (Faͤhigkeit zu Kronehren) deutlich denket: ſo lange wir im gemeinen Leben den Briefadel als eine Wuͤrde, und nicht als eine Faͤhigkeit anſehen, und die juͤngern Soͤhne eines Freyherrn ohne Unterſchied Freyherrn nennen.

Jn dieſer unſrer praktiſchen Denkungsart gehen wir von den Englaͤndern ab, bey denen die juͤngern Soͤhne des*)Große Herrn haben daher in ihren Familien fuͤr mehrere juͤngere Soͤhne eigne Wuͤrden, damit ſie nicht unmittelbar zu Gentlemens herabſinken Un Comte de Provence, un Comte d Artois iſt durch ſeine Grafſchaft gleich vor dieſen tie - fen Fall bewahrt. Eben ſo machen es auch adliche Familien, die ihren juͤngeren Kindern beſondere Herrlichkeiten, Stifts - praͤbenden ꝛc. ꝛc. verſchaffen. Adels, er mag ſo hoch ſeyn wie er will, blos Gen - tlemens im eigentlichen Verſtande, das iſt Kron-Lehnfaͤ - higgebohrne, und bis dahin, daß ſie zu einem wuͤrklichen Kronlehn gelangen, von allen Vorrechten des Adels aus - geſchloſſen ſind. Dieſe Denkungsart muß alſo erſt geaͤn - dert, und der Unterſchied zwiſchen dem Adel und den Edelgebohrnen, oder wenn man dieſes Wort nach dem jetzigen Curs deſſelben, fuͤr ungeſchickt haͤlt, den adlich gebohrnen, deutlich feſtgeſetzt, und gegen alle Misdeu -Q 5tung250Warum bildet ſich der deutſche Adeltung geſichert werden, ehe man die vorgelegte Frage beantworten kann?

Allein was hindert uns dieſes zu thun? Was hin - dert uns mittelſt eines allgemeinen Reichsſchluſſes feſtzu - ſetzen, daß blos diejenigen adlich gebohrnen oder adlich gemachten zum Adel gehoͤren ſollen, welche ein Herzog - thum, eine Grafſchaft, eine Freyherrlichkeit oder eine andre Reichswuͤrde bekleiden? Der jetzige Landſaͤßige Adel iſt durch die aͤlteſten Reichsſchluͤſſe, worin die Dienſtleute der Fuͤrſten den Reichsdienſtleuten gleich geſetzet ſind, vollkommen gedeckt; jedes Landtagsfaͤhige Gut iſt in dieſem Betracht Reichsherrlichkeit, und giebt damit ſei - nem Edelgebohrnen Herrn die Reichswuͤrde. Eben das gilt von allen mit adlichen Freyheiten verknuͤpften Bedie - nungen im Reiche und im Lande; wer ſolche beſitzt, ſteht in einer wuͤrklichen Reichswuͤrde; und der aͤltere Haupt - mann eines Fuͤrſten geht dem juͤngern Hauptmann des Kayſers vor. Wo ein adlich gebohrner in einer beſtimm - ten geiſtlichen Wuͤrde ſteht, da wird er zum wuͤrklichen Adel gerechnet; und wenn einer ein Majorat oder Fidei - commis ſtiftet, was vom Kayſer oder dem Landesherrn zu einem Reichs - oder Landtagsfaͤhigen Herrlichkeit er - hoben wird, da entſteht ein neues Reichsamt, was ſei - nem adlich gebohrnen oder adlich gemachten Beſitzer, den wuͤrklichen Adel giebt; den edelgebohrnen Toͤchtern geben ſowohl die Wuͤrden ihrer Maͤnner, als die Praͤbenden in adlichen Stiftern den Adel. Und ſonach koͤnnen die Schwuͤrigkeiten ſo groß nicht ſeyn, um in Deutſchland wie in England, jenen Unterſchied deutlich feſtzuſetzen, und die adlich gebohrnen Soͤhne und Toͤchter nur in ſo fern zum Adel zu rechnen, als ſie auf vorbeſchriebene Art gewuͤrdiget ſind, den uͤbrigen aber bis dahin ſie auchdurch251nicht nach dem engliſchen? durch gleiche Wuͤrden und Guͤter erhoben ſind, blos die Adelsfaͤhigkeit beyzulegen.

Daß der Adel, der ſeine Vorrechte gebraucht, keine Handlung und kein Gewerbe treiben koͤnne, davon wird ſich ein jeder leicht uͤberzeugen, der ſich nur ſelbſt die Frage vorlegt: ob der Soldat, der ſeinen Tornuͤſter kei - nem Beſucher eroͤffnet, ſondern damit uͤberall frey durch - geht, auch wohl Waaren zur Handlung darin bey ſich fuͤhren duͤrfe! Seine Antwort wird ohne Zweifel dieſe ſeyn, daß ſich kein rechtſchaffener Soldat mit dergleichen Betruͤgereyen abgeben wuͤrde, und das war der Ton des Adels und der ritterlichen Kriegesleute zur Zeit, wie die - ſelben nicht allein im Reiche ſondern in der ganzen Chri - ſtenheit unbeſucht und ungehindert jedes Zollhaus vor - beyreiſen konnten; ſie machten eine Ehrenſache daraus, und verabſcheueten diejenigen aus ihrem Mittel, die ſich durch die Handlung zu Defraudanten machten, mithin die Freyheit ihres ganzen Ordens in Gefahr ſetzten, ſonſt hatte der ſchlichte Menſchenverſtand einem jeden laͤngſt geſagt, daß Freyheit und Handlung nicht mit einander beſtehen koͤnnen.

Thaͤten wir dieſes, wie wir es thun koͤnnen, wenn wir auch die Graͤnzlinie zwiſchen den verſchiedenen Wuͤr - den und Dienſten, in etwa ſchwanken ließen, indem doch ein jeder, der in einer geiſtlichen oder weltlichen Bedie - nung ſteht, in Anſehung aller Steuren und perſoͤnlichen Leiſtungen gleicher Freyheit mit dem Adel genießt: ſo wuͤrden wir wenigſtens auf die Frage: Kann der Adel ſich unbeſchadet ſeines Standes mit der Handlung und mit gewiſſen Gewerben abgeben? mit Zuverſicht antworten koͤnnen:

  • a) Der Adel und uͤberhaupt jeder Kronbedienter darf in keinem Falle Handlung oder Gewerbe treiben.
b) Die252Warum bildet ſich der deutſche Adel
  • b) Die Edelgebohrnen aber moͤgen es unbeſchadet ih - rer Adelsfaͤhigkeit thun.

Und ſo waͤren wir gerade auf dem Wege, welchen die Englaͤnder zur Heerſtraße gemacht haben. Die Adelsfaͤhigkeit verliert man dort dadurch nicht, daß man ſein Brod auf jede einem ehrlichen Manne an - ſtaͤndige Art zu erwerben ſucht; der eine ſchlaͤgt dieſen, der andre jenen Weg ein, und es iſt gar nichts auſſer - ordentliches, daß der aͤlteſte Bruder im Oberhauſe, der andre im Unterhauſe und der dritte auf der Boͤrſe ſitzt. Wer in keiner wuͤrklichen Kronwuͤrde ſtehet, iſt aller Vor - rechte des Adels beraubt, er gilt nicht mehr als ein an - drer, und man ehret ihn blos als einen Mann, der ent - weder nach Erbgangsrecht oder durch Koͤnigl. Ernennung zu einer Kronwuͤrde gelangen kann.

Wie wollen aber die Edelgebohrnen, wenn ſie Hand - lung und Gewerbe treiben, und ſich ſolchemnach mit aller - hand Arten von Menſchen vermiſchen, die Rechte ihrer Geburt erhalten? Woran will man nach langen Jahren, wenn ſich keiner mehr ihrer Vorfahren erinnert, und je - der an ihren Vaͤtern und Großvaͤtern nichts mehr als an andern gemeinen Leuten erblickt hat, ihre Adelsfaͤhigkeit erkennen. Und wo ſoll endlich die Graͤnze ſeyn, welche ein Edelgebohrner ohne Nachtheil ſeiner Ehre nicht uͤber - ſchreiten darf, oder ſoll er ſich ohne Unterſchied mit allen Klaſſen der Menſchen vermiſchen duͤrfen? Geſetzt die Stuffen der Menſchheit ſtuͤnden alſo:

  • a) Rittereigen,
  • b) Hoͤrige nach Hausgenoſſenrechte,
  • c) Freye Hausgenoſſen,
  • d) Freye unter Amtsſchutze,
  • e) Freye unter Buͤrgerſchutze,
  • f) Freye Canzleyſaͤßige.
Kann253nicht nach dem engliſchen?

Kann er ſich ohne die Rechte ſeiner Geburt zu ver - lieren, in alle dieſe Klaſſen begeben? oder iſt eine darun - ter, deren Erwaͤhlung zugleich den Verzicht auf eine freye Geburt enthaͤlt, und welche iſt die? Und wozu nuͤtzt es endlich dem Staate, allen und jeden Edelgebohrnen, die ſich ſolchergeſtalt in das Meer der Menſchheit herabſtuͤr - zen, die Vorrechte ihrer Geburt mit Huͤlfe einer muͤh - ſamen Controle zu erhalten? Jſt es dafuͤr nicht beſſer ſie ganz darinn untergehen zu laſſen, um deſto eher Gelegen - heit zu haben, andern verdienſtvollen Maͤnnern die Adels - faͤhigkeit zu ertheilen?

Dieſe Gruͤnde ſind wichtig, und wahrſcheinlich auch die Haupturſachen, warum man in Deutſchland ſtrenger wie in England geweſen iſt, und auf den, eben durch jene große Vermiſchung in ein leeres Wort verwandel - ten Titel von Gentlemen, wenig oder nichts giebt. Jn - deſſen ſcheint es mir doch, daß hier noch eine Huͤlfe moͤg - lich ſey.

Jn England wird noch immer ſtrenge auf die Wapen geſehen, und es iſt dort ein beſonderes oͤffentliches von der Krone abhangendes Amt, wovor jeder Gentlemen ſein Wapen eintragen laͤßt, um das Recht ſeiner Wapenbuͤr - tigkeit zu erhalten. Niemand darf dergleichen fuͤhren, ohne ſein Recht dazu auf das genaueſte erweiſen zu koͤn - nen, ſo auch in Braband; und unter dieſem gleichſam oͤffentlich ausgehangenen Schilde, iſt jeder Gentlemen ſicher, die Rechte ſeiner Geburt nicht zu verlieren. Der Adel fuͤhrt das Familienwapen mit den Wapen und Zier - rathen ſeiner Wuͤrde und Kronehre; der Gentlemen oder Adelsfaͤhige fuͤhrt es ohne dieſelben. Jener ſchreibt ſich von, weil er ſich von einem Kronamte, oder Krongute ſchreiben kann, dieſer nicht, da er nur aus, und nicht Herr von einem Reichs - oder Landtagsfaͤhigen Hauſe iſt. Dieſem254Warum bildet ſich der deutſche AdelDieſem Vorgange muͤßten wir nothwendig folgen; wir muͤßten ein Landes-Heroldsamt, unter der Aufſicht des Adels errichten, dieſes muͤßte mit einem allgemeinen Reichs-Heroldsamte correſpondiren, vor demſelben muͤßte jedes Kind des Adels, ſo bald es das vaͤterliche Haus ver - laͤßt und einen andern Stand erwaͤhlt, ſeinen Namen und ſein Wapen eintragen laſſen; es moͤchte allenfalls ſich aus aber nicht von ſchreiben duͤrfen, und auf ſolche Art glaube ich, daß es moͤglich waͤre, jedem die Rechte ſeiner Ge - burt unter allen Vermiſchungen zu erhalten.

Hiernaͤchſt muͤßte freylich um die Adelsfaͤhigkeit im Werthe zu erhalten, eine gewiſſe Linie gezogen werden, woruͤber ſich keiner wagen duͤrfte, ohne damit auf ſein Geburtsrecht Verzicht zu thun. Dieſe wuͤrde nun zwar in Deutſchland, wo die Reichsdienſtleute und andre vor - nehme Standesbediente, die ehmalige allgemeine Kette der Hoͤrigkeit, womit Herrn und Leute verbunden waren, zerbrochen, und den geringern Theil der Menſchheit dar - unter verlaſſen haben, ſchwerer zu ziehen ſeyn als in Eng - land, wo alle Hoͤrigkeit aufgehoben, und Freyheit und Eigenthum allen Einwohnern ohne Unterſchied zu Theil geworden iſt. Jndeſſen ſehe ich doch nicht ein, warum ſie nicht endlich gezogen werden koͤnnte; warum wir nicht eben wie in Rußland, mehrere Klaſſen von Menſchen ha - ben, und dabey feſtſetzen koͤnnten, wie weit ſich einer aus den Hoͤhern in die Niedrigen vertiefen koͤnnte, ohne den Ruͤckweg zu verlieren, wenn er nach Erbgangsrechte zu einer Kronwuͤrde in ſeine urſpruͤngliche Klaſſe gerufen wuͤrde? Hat man doch in Frankreich dem Adel die See - handlung eroͤffnet?

Wenn man auf die Zeiten zuruͤckgeht, worinn noch keine beſtaͤndige und regulaire Miliz gehalten wurde: ſowird255nicht nach dem engliſchen? wird man faſt alle Bedienungen, die jetzt buͤrgerlich heiſ - ſen, mit Soͤhnen des Adels beſetzt finden. Mir ſind viele Faͤlle vorgekommen, daß der juͤngere Bruder des aͤltern Hauscapellan geworden, und es iſt im funfzehnten Jahr - hundert nichts gewoͤhnlicher als edelgebohrne Paſtoren und Vicarien, Gowgrafen und Gerichtsſchreiber Jede Familie wird davon mehr als eine Collation und Beſtal - lung aufzuweiſen haben. Hieraus ſieht man ſchon, daß man nicht zu allen Zeiten gleich gedacht, und nicht im - mer die Ehre eine Fahne zu tragen, der Ehre aufs Filial zu reiten vorgezogen habe.

Man wird weiter aus den vielen Reichsſchluͤſſen, die gegen die Pfalbuͤrger gemacht ſind, ſchließen, daß zu der Zeit, als die Buͤrgerſchaft einem noch etwas von der Freyheit raubte, viele Edelgebohrne Leute ſich, ohne Vuͤrgerſchaft zu nehmen, zwiſchen den Pfaͤlen einer Stadt aufgehalten, und wenn ſie gleich kein buͤrgerliches Ge - werbe getrieben, dennoch die Macht der Staͤdte auf an - dre Art vermehret, und dieſe zu einer ſolchen Hoͤhe ge - bracht haben, daß man, um die Pfalbuͤrger wieder aus den Mauren zu ziehen, von Reichswegen hat verordnen muͤſſen, keinen binnen den Pfaͤlen wohnen zu laſſen, der ſich nicht zur Buͤrgerſchaft bequemte. Auch hier muͤſſen dergleichen Gentlemens in Staͤdten oder Pfalbuͤrger Gele - genheit gefunden haben, ſich ohne Kronbedienungen und Kronwuͤrden oder ohne Landbedienungen und Landwuͤr - den zu erhalten. Einige traten vielleicht ohne Buͤrger - ſchaft zu nehmen, in Stadtdienſte, andre aber mochten doch ihre Speculation machen, wie unſre Kaufleute zu reden pflegen; genug ſie wohnten ihrer Geburt unbe - ſchadet zwiſchen den Mauren, und durften nur nicht Buͤr - ger werden, weil dieſe noch mehrentheils unter ihrenVoͤgten256Warum bildet ſich der deutſche AdelVoͤgten ſtanden, und denſelben eine Sterbfallsurkunde zukommen laſſen mußten.

Man wird endlich aus der alten Reichsgeſchichte wiſſen, daß es eine Zeit gegeben habe, worinn ein ed - ler Herr nicht einmal kayſerlicher Dienſtmann werden konnte, ohne ſeiner Freyheit zu entſagen, und folglich die Rechte ſeiner Geburt aufzugeben.

Hat es ſich nun aber mit der Dienſtmannſchaft alſo gewandt, daß jeder von Adel ſich ohne ſein Geburtsrecht zu verlieren darinn begeben, und ſich dem Heergewedde unterwerfen kann, ohne ſeine Ehre aufzuopfern; hat es ſich mit der Buͤrgerſchaft alſo geaͤndert, daß ſie faſt uͤber - all das vogteyliche Joch abgeſchuͤttelt, und ſich vom Sterb - fall befreyet hat; hat man Beyſpiele, daß ſich Edelge - bohrne auf amtsſaͤßigen ja wohl gar auf ſchatzpflichtigen Guͤtern erhalten haben, ohne darum ganz abgewuͤrdiget zu werden, kann man endlich eine Muskete auf die Schul - ter nehmen, und doch dabey ſein Wapen behalten: ſo ſehe ich nicht ab, warum ſich die Adelsfaͤhigkeit in einer andern Vermiſchung weniger als in jener erhalten laſſen ſollte? Die Furcht der Franzoſen, daß der ſo noͤthige Militairſtand und der kriegeriſche Geiſt der Nation dabey verlieren wuͤrde, kommt bey mir gar nicht zum Anſchlage. Tapferkeit iſt eine moraliſche Eigenſchaft die mit jener politiſchen nichts zu thun hat; es giebt moraliſch gute Leute in allen Staͤnden; der Englaͤnder iſt durch die Ver - miſchung nicht feiger geworden, und was der Militair - ſtand gebraucht, wird er um ſo viel reichlicher erhalten, je mehr die Officiere und andre Edelgebohrne heyrathen, koͤnnen, ſo bald ihren Kindern alle Wege ſich zu erhalten welche ihnen durch unſre jetzige Denkungsart verſchloſſen ſind, eroͤffnet werden.

Auch257nicht nach dem engliſchen?

Auch iſt die Gefahr fuͤr vermiſchte Heyrathen ſo groß nicht als man ſich ſolche vorſtellet. Denn ſo bald jene Wege geoͤffnet ſind: ſo wird man auch eben wie in Eng - land, edelgebohrne Kaufleute, und edelgebohrne Paͤch - ter finden, die ihren Soͤhnen und Toͤchtern die Wapen - buͤrtigkeit durch das Heroldsamt erhalten haben.

Das einzige was allenfalls zu befuͤrchten waͤre, moͤchte darin beſtehen, daß die Adelsfaͤhigkeit zu gemein, und die Zahl derjenigen, welche auf eine Kronwuͤrde, oder welches nach dem Vorausgeſetzten einerley iſt, auf eine Praͤbende und andre dem Adel gleichgeltende Bedienun - gen Anſpruch machen koͤnnten, zu groß werden wuͤrde. Allein ſo wichtig dieſer Einwurf von einer Seite ſcheinet: ſo hart iſt es doch auch auf der andern, daß die juͤngern Soͤhne des Adels, wenn ſie keine Reichs - oder Landwuͤr - den erhalten, ſich des Eigenthums begeben und manche gute edelgebohrne Maͤdgen ledig bleiben muͤſſen; und faſt moͤchte ich ſagen, daß es blos der Eigennutz des Adels ſey, der die Zahl der Adelsfaͤhigen zu vermindern ſucht, um die Praͤbenden jedesmal zur Verſorgung oder Aufo - pferung ſeiner jungen Kinder gebrauchen zu koͤnnen. Am Ende aber duͤrfte es doch noch wohl eine große Frage ſeyn, ob der Adel ſich nicht beſſer dabey ſtehen und we - nigſtens wohlthaͤtiger gegen ſein Geſchlecht handeln wuͤr - de, wenn ſeine juͤngern Kinder ſich wie in England durch die Handlung oder jede andre Art eines anſtaͤndigen Ge - werbes bereicherten, und ſich auf dieſe Weiſe die Mittel erwuͤrben, kuͤnftig in einer Kronwuͤrde deſto beſſer glaͤn - zen zu koͤnnen, als daß ſie auf einer Praͤbende zu Tode gefuttert werden.

Dem Adel allein ſchadet die Vermehrung; er kann leicht zu zahlreich und zu gemein werden; aber den Edel -Moͤſers patr. Phantaſ. IV. Th. Rge -258Von dem Concursproceſſegebohrnen, die ſich des Adels enthalten muͤſſen, nicht. Jenes iſt eine Vermehrung der Wuͤrden, dieſes aber eine Vermehrung der Wuͤrdefaͤhiger, und keiner hat es noch behauptet, daß es Schade fuͤr den Staat ſey, viele ſolche wuͤrdige Leute zu haben.

LVI. Von dem Concursproceſſe uͤber das Landeigenthum.

Unſre Vorfahren hatten die Vertheidigung des Staats auf das Landeigenthum gegruͤndet, und ſahen die - ſes gewiſſermaßen, als den einzigen oͤffentlichen Fond der buͤrgerlichen Geſellſchaft an, wovon jeder Unterthan ſei - nen Antheil zu getreuen Haͤnden hielte. Keinem war es erlaubt ſolchen nach Willkuͤhr mit Schulden, Dienſten oder Paͤchten zu erſchoͤpfen, ſondern wo die Noth den einen oder andern hiezu noͤthigte, mußte ſolches mit Vor - wiſſen und Einwilligung desjenigen geſchehen, der die Oberaufſicht uͤber jenen oͤffentlichen Fond hatte. Dieſes war damals der Graf oder Richter, (ſolus comes de pro - prietate judicat. ) und ſo galt keine Hypothek oder andre Beſchwerde, welche auf dem Boden haften ſollte, als wenn ſie vom Richter beſtaͤtiget war. Die Gerichtsbar - keit uͤber den Boden war nur eine, und der Stand ſei - nes Beſitzers veraͤnderte die Natur deſſelben ſo wenig als er die Lage veraͤndern konnte. Man wußte vor dem 14 Jahrhundert von keinen unterſchiedenen Gerichtszwaͤngen der Guͤter, ſo mannichfaltig und verſchieden auch die Ge richtsbarkeiten fuͤr die Perſonen waren. Nur dasjenigeStuͤck259uͤber das Landeigenthum. Stuͤck Grund was mit allgemeiner Einwilligung amor - tiſiret, und folglich von der Vertheidigungslaſt ganz be - freyet war, machte eine Ausnahme, und konnte eine machen. Jm uͤbrigen war nur ein Richter, oder ein Generalcontrolleur. Dieſer Plan iſt ſo gewiß, und ſo deutlich aus den Capitularien der fraͤnkiſchen Kayſer zu erweiſen, als gewiß es iſt, daß die Protocolle dieſer Con - trolle, oder dieſe alten Hypotheken-Grund - oder Flurbuͤ - cher nach und nach in Unordnung gerathen, und an man - chen Orten vielleicht nie angefangen ſind. Jnzwiſchen ſieht man in allen Laͤndern Spuren davon. Man findet lange vor den neuern Einrichtungen, Landes - und Stadt - geſetze, welche dahin gehen, daß aller Verkauf liegender Gruͤnde vor der Obrigkeit geſchehen, alle Hypotheken von dem Richter, worunter die Guͤter liegen, beſtaͤtiget wer - den, und keine neue Pflichten darauf haften ſollen, als welche dieſer bewilliget habe. Jn den aͤlteſten Kaufbrie - fen und Schenkungen, laͤßt der Verkaͤufer oder Verſchen - ker ſein Gut dem Richter auf, und dieſer uͤbergiebt es demjenigen der es haben ſoll, oder ſetzt ihn herein. Hie - von zeugen unzaͤhlige Geſetze und Urkunden, und alles weiſet auf obigen Plan zuruͤck, den die geſunde Vernunft in neuern Zeiten unter dem Schutt der Verwuͤſtung wie - der hervorſucht, indem ſie neue Hypothekenbuͤcher ein - fuͤhret, und immer weiter einfuͤhren wird, je nachdem die Vertheidigung des Staats eine ſorgfaͤltigere Bewah - rung ſeines Fonds erfordert.

Wenn ein Schuldner in dieſer Verfaſſung bewogen wurde, etwas zu borgen: ſo verkaufte er vor Gerichte ſeinem Glaͤubiger, eine gewiſſe Rente, die zuerſt in Fruͤch - ten und ſpaͤter in Gelde beſtand, aus ſeinem unterha - benden Gute, und dieſer bezahlte ihm dagegen das Ca - pital oder die Kaufſumme. Dieſes ſcheinet uͤberall dieR 2erſte260Von dem Concursproceſſeerſte Art geweſen zu ſeyn um Geld zu borgen, ſo wie Kauf oder Tauſch der aͤlteſte menſchliche Contract gewe - ſen ſeyn mag. Der Verkaͤufer behielt ſich den Wieder - kauf bevor, damit er ſich doch endlich von ſeiner Schuld wieder befreyen konnte. Der Kaͤufer hingegen konnte nicht loͤſen, und man ſahe uͤberhaupt die jetzige Loͤſe, welche ſich erſt gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts in den Contracten der Landbeſitzer gemein gemacht hat, als etwas gefaͤhrliches oder verwegenes an, indem kein Landbeſitzer mit Gewißheit verſprechen kann, das ihm ge - liehene Capital nach einer dem Glaͤubiger bevorbleibenden Loͤſe bezahlen zu wollen. Dem Kaͤufer einer Rente oder eines Grundzinſes blieb alſo nichts uͤbrig, als ſich in die Selbſthebung dieſer ihm gebuͤhrenden Renten ſetzen zu laſſen, wenn ihn ſein Schuldner nicht richtig bezahlte. Dazu gab ihm der Richter die Huͤlfe, oder die Jmmiſ - ſion, und wenn er dieſe hatte, ſo hatte er alles, was er aus ſeinem Kaufcontracte zu fordern hatte. Wollte er gern ſein Capital wieder haben: ſo mußte er dieſes, wie es in England und Frankreich noch uͤblich iſt, einem an - dern uͤbertragen oder verkaufen, von dem Schuldner mochte er es nicht fordern.

Die natuͤrliche Folge hievon iſt, daß er auch nie die Subhaſtation des Gutes fordern konnte. Verkaufte der Schuldner ſein Gut; ſo blieb jener mit ſeiner Rente dar - auf haften, aber der neue Kaͤufer konnte gegen ihn das Wiederkaufsrecht ausuͤben.

Auf eben die Art als der erſte Glaͤubiger ſich eine Rente aus dem Gute gekauft hatte, konnten hundert andre es auch thun, wenn der Schuldner mehr Geld noͤthig hatte, und der Richter ſeine Einwilligung dazu ertheilte. Aber alle, ſo viel ihrer auch waren, konntennicht261uͤber das Landeigenthum. nicht weiter kommen als der erſte. Wenn der Richter ſie in die Selbſthebung ſetzte: ſo hatte jeder was er gekauft hatte, naͤmlich ſeine Rente; und keiner hatte auch nur den allermindeſten Grund einen Verkauf des ganzen Guts zu verlangen. Es war auch dieſes ihr Vortheil nicht. Denn wenn das Gut nicht ſo theuer bezahlet wurde, daß alle ihre Capitalien daraus bezahlet werden konnten: ſo haͤtten ſie ihre Renten, die ſie ruhig genoſſen, eingebuͤßt.

Dieſes Verfahren gieng ſo lange ganz gut, als der Richter ſein Buch ordentlich hielt, jeder, der eine Rente kaufte, ſolche ordentlich eintragen ließ, und wann ihm dieſe nicht bezahlt wurde, zu rechter Zeit die Jmmiſſion ſuchte. Es konnte dann niemand gefaͤhrdet werden; und wer zuletzt Renten kaufte, hatte es ſich ſelbſt beyzumeſ - ſen, wenn er etwas kaufte was nicht vorhanden war. Der Richter war auch, ſo bald er ſein Buch nachſahe, im Stande zu ſagen, daß der Schuldner bereits alles was er beſaͤſſe verkauft und keine Renten mehr uͤbrig haͤtte.

So wie es aber zu allen Zeiten gegangen iſt, daß mancher Kaͤufer auf Treu und Glauben handelt, oder ſich um die Umſtaͤnde ſeines Schuldners nicht genug bekuͤm - mert, oder auch zu ſpaͤt aufwacht, und die Zeit verſchla - fen hat, worin ein juͤngerer Glaͤubiger vor ihm die Jm - miſſion erlangt hat; und ſo wie es weiter zu allen Zeiten mir den Gerichtsprotocollen nicht in der beſten Ordnung geweſen iſt: ſo geſchahe es auch vermuthlich damals, daß ein Theil der Rentenkaͤufer das ganze Gut allein genoſ - ſen, und ſich ganz wohl dabey befunden; andre hinge - gen gar keine Renten erhielten, und doch gern welche haben, oder auch wenn ſie eine Schuldforderung ausge - klagt, und eine idealiſch Jmmiſſion, oder eine ſogenannte Hypothek erhalten hatten, ihre Bezahlung ſuchen wollten.

R 3Hier262Von dem Concursproceſſe

Hier blieben dieſen nur zwey moͤgliche Wege offen. Entweder hatten ſie ein aͤlters und beſſers Recht, als die - jenigen, welche geeilet waren, um in den Beſitz der Ren - ten zu kommen; oder ſie hatten ein juͤngers. Jm erſtern Fall hatten die alten den Weg einer gemeinen Klage ge - gen die juͤngern, um ſolche mit Huͤlfe eines ordentlichen richterlichen Erkenntniß aus dem Beſitze zu treiben, worin ſie blos mit dem gewoͤhnlichen Vorbehalt eines jeden Rech - tens, auf gerathewohl geſetzet waren. Jn dem letztern hingegen, mußten ſie ſich mit den Gedanken ſchmeicheln, daß das Gut, wenn es verkauft wuͤrde, mehr gelten koͤnnte, als die Glaͤubiger, die es nutzten, zu fordern hatten.

Aber dieſer ſchmeichelhafte Gedanke, konnte eine Chimere ſeyn, und auf Chimeren konnte der Richter nicht zur Subhaſtation des Gutes ſchreiten. Dieſer gab ihnen alſo den rechtlichen Beſcheid, daß, wenn ſie fuͤr die Reali - ſirung dieſer Chimere, und fuͤr die mit der Subhaſtation verknuͤpften Koſten hinlaͤngliche Sicherheit beſtellen wuͤr - den, alsdenn nach ihrem Wunſche verfahren werden ſollte. Anders konnte er nicht erkennen: denn die juͤn - gern Glaͤubiger hatten nicht das mindeſte Recht, die aͤl - tern Rentekaͤufer in Unſicherheit zu ſetzen; auch ſelbſt die Einwilligung des Schuldners, oder eine ſogenannte ceſſio bonorum reichte dahin nicht: denn wie konnte der Schuld - ner ſeine vorigen Verkaufcontracte aufheben, oder die Rentekaͤufer einſeitig in Gefahr ſetzen, dasjenige was ſie von ihm gekauft hatten wieder zu verlieren?

Es verſteht ſich aber von ſelbſt, daß das letztere, naͤmlich die Sicherheit fuͤr ein ſolches Gebot, wodurch alle aͤltere Glaͤubiger mit zweyjaͤhriger Zinſe und das Gericht wegen der Koſten gedecket werden, nur alsdenn Statt fand, wenn der Glaͤubiger das Recht zu loͤſen hatte; undwie263uͤber das Landeigenthum. wie uͤberhaupt die eingefuͤhrte Loͤſe eine ganze Veraͤnde - rung in der ehmaligen Art des Verfahrens gemacht hat, als wird es noͤthig ſeyn auch hievon etwas anzufuͤhren.

Hier muß man ſich, um die Sache deutlich vor Au - gen zu haben, ſogleich eine Ordnung der Glaͤubiger z. E. von folgender Art vorſtellen:

  • A hat auf ein Gut 1000 Rthlr.
  • B 1000 -
  • C hat auf ein Gut 1000 Rthlr.
  • D 1000 -
  • E 1000 -

Geſetzt nun A hatte ſein Capital dem Schuldner ge - loͤſet, und dieſer bezahlte ihn nicht: ſo ſprach er erſt zu E; oder wann der nicht wollte, zu D, und wann auch dieſer nicht wollte, zu C, und zuletzt zu B: ob er ihn ausloͤſen wollte? So wie ſich nun einer nach dem andern von un - ten auf, wegerte ihn zu loͤſen, das heißt ihm ſein Capi - tal mit einer alten und neuen Rente, zu bezahlen, mußte er von dem Gute abtreten, oder wie es auch wohl heißt, das Gut verlaſſen; und wegerten ſie ſich alle mit einan - der: ſo ließ A das Gut ſchaͤtzen, und ſich daſſelbe vom Richter uͤbergeben, welches die Immiſſion ex ſecundo de - creto ausmachte. Die Schaͤtzer ſagten denn insgemein weiter nichts, als: das Gut iſt ſo viel werth als A an Capital, Zinſen und Koſten mit Recht darin zu fordern hat: denn ſie mußten fuͤr ihre Schaͤtzung haften.

Nun behielt A das Gut nach Oſnabruͤckiſchem Rechte ſo lange bis ihm der Schuldner alles was er mit Recht daran zu fordern hatte, bezahlete, ohne daß ihn die ab - getretenen Glaͤubiger weiter beunruhigen konnten. Allein nach dem Hamburgiſchen Entſetzungsrechte, welches in dieſem Stuͤcke weit feiner iſt, konnten die abgetretenenR 4Glaͤu -264Von dem ConcursproceſſeGlaͤubiger zu dem Annehmer des Guts annoch ſagen: ſie haͤtten ihm durch ihren Abtritt oder durch ihre Verlaſ - ſung alle Koſten zum voraus verſichert; unter dieſe Ko - ſten gehoͤrten auch diejenigen, welche zur Subhaſtation erfordert wuͤrden; er ſollte alſo in Zeit ven 6 Wochen das Gut an die Kerze bringen, damit ſie ſehen koͤnnten, ob nicht mehr dafuͤr kaͤme.

Deſſen konnte ſich A nicht wegern, oder der Richter hielt ihn dazu an. Was nun mehr dafuͤr geboten wurde, als A darinn zu fordern hatte, das wurde den folgenden Glaͤubigern in ihrer Ordnung zu Theile. A allein er hielt alle ſeine Zinſen und Koſten zur Belohnung der uͤbernom - menen Gefahr; jeder von den uͤbrigen aber nur eine alte und neue Rente.

Eben ſo gieng es, wenn E loͤſete, nur mit dem Un - terſchiede, daß dieſer ſeine Vorgaͤnger ſicher ſtellen, und als der letzte blos den Schuldner fragen konnte, ob er ihn loͤſen wollte. Sagte derſelbe nein: ſo ließ E das Gut ſchaͤtzen und ſich zuſchlagen; mithin nach Hamburgiſchem Rechte zur Kerze bringen.

Waren noch andre Glaͤubiger vorhanden, die nicht in dem Gerichte beſtaͤtiget waren, worin das Gut bele - gen war, und die folglich dem A. B. C. D. und E. das Vorzugsrecht nicht ſtreitig machen konnten: ſo konnten dieſe, nachdem ſie zufoͤrderſt die Immiſſion ex primo de - creto genommen, oder ein dingliches Recht an dem Gute erhalten hatten, eben das thun, was A. B. C. D. und E. zu thun berechtiget waren.

Wo aber der Glaͤubiger, welcher ſeinem Schuldner die Loͤſe gethan hatte, nicht wußte, ob mehrere und wie viel Schulden auf dem Gute was ihm verſchrieben war, hafteten: ſo ließ er ſaͤmtliche Glaͤubiger vorerſt auf ſeineGefahr265uͤber das Landeigenthum. Gefahr und Koſten oͤffentlich vorladen, und fragte denn die erſchienenen, vom juͤngſten bis zum aͤlteſten, oder von unten auf; ob ihn jemand loͤſen wollte, und wann ſich keiner fand: ſo verfuhr er wie zuvor. Jn keinem Falle verlohren aber die abtretenden oder verlaſſenden Glaͤu - biger ihr Recht an den Schuldner oder deſſen uͤbriges Vermoͤgen, ſondern blos an dem Gute, was jetzt geauſ - ſert oder entſetzet wurde.

Dieſe Art des Verfahrens ſcheint uͤberaus ſimpel zu ſeyn, und wenn ſolche in einem Lande, worin ordentli - che Hypothekenbuͤcher eingefuͤhret ſind, befolget wuͤrde: ſo ſollte man nicht glauben, daß ein Concurs entſtehen koͤnnte, beſonders wenn keinem Glaͤubiger, der nicht in - groſſirt iſt, ein Recht an dem Gute geſtanden wuͤrde. Wer aus einem Wechſel klagt, muß ſich an die Perſon des Schuldners, an deſſen bewegliches Vermoͤgen, als welches im Hypothekenbuche nicht repraͤſentirt iſt, oder endlich an den Ueberſchuß desjenigen halten, was das Gut mehr werth iſt, als darauf ingroſſirt iſt, und um das letztere thun zu koͤnnen, muß er ſich noch erſt ingroſſiren laſſen, denn die Jngroſſation vertritt mit Recht die Stelle der Immiſſion ex primo decreto. So dann aber kann er die Subhaſtation fordern, ſo bald er alle ſeine Vorgaͤn - ger ſicher geſtellet hat.

Denn wozu ſollte hier ein Concurs dienen? die Glaͤu - biger ſo Recht an dem Gute haben, ſind aus dem Hypo - thekenbuche bekannt, und auf die uͤbrigen koͤmmt es nicht an. Wozu eine Claſſiſication? da das Hypothekenbuch die Ordnung anzeigt, und der aͤuſſernde Glaͤubiger, wenn er einen, der ihm ſeiner Meynung nach mit Unrecht vor - ſteht, aus dem Wege haben will, ſolches durch den Weg der Klage erhalten kann? Wozu ein Curator, da der aͤuſſernde Glaͤubiger alle ſeine Vorgaͤnger ſicher geſtelletR 5hat,266Von dem Concursproceſſehat, und diejenigen ſo ihm folgen, von dem Gute abge - treten ſind? Ja es iſt keine Moͤglichkeit zum Concurs; der Schuldner kann nicht bonis cediren, und auf die Ge - fahr ſeiner Glaͤubiger eine Subhaſtation ſeines Guts for - dern; und die Jngroſſirten Glaͤubiger haben keinen an - dern Weg, um zu ihren Capital zu gelangen, als hier oben vorgeſchrieben iſt; und ſie concurriren allenfalls nur in ſolchen Laͤndern, wo keine Hypothekenbuͤcher ſind, blos zu dem Ende, um einen Annehmer auf obige Art unter ſich auszumachen. Wer ſie zu dem Ende beyſammen for - dert, muß den Rufer bezahlen; und dieſes vorher erwe - gen. Andre Koſten fallen jetzt noch nicht vor; ſondern dieſe wendet erſt der Annehmer an; der ſeinen Anſchlag darauf machen kann. Die abtretenden Glaͤubiger aber haben ſich nicht zu beſchweren; denn indem ſie abtreten, geſtehen ſie, daß ſie mehr auf das Gut geliehen haben, als es ihnen werth iſt, welches ſie haͤtten unterlaſſen ſollen.

Wir hatten vor einiger Zeit in den Zeitungen eine oͤffentliche Ladung, worin eine gewiſſe fuͤrſtliche Regie - rung erklaͤrte, wie ſie Amtshalber den Concurs uͤber ver - ſchiedene adliche Guͤter eroͤffnen muͤßte, indem ſie es nicht laͤnger mit Gedult anſehn koͤnnte, daß dieſelben ſo wie bisher von einer Menge immittirter Glaͤubiger genoſſen und verwuͤſtet wurden. Nun iſt es freylich eine unan - genehme Sache mit den Jmmiſſionen; und in Laͤndern, worin ordentliche Hypothekenbuͤcher ſind, duldet man die - ſen verderblichen Weg, den die Zeiten, worin noch Renten ohne Loͤſe uͤblich waren, eroͤffnet hatten, billig nicht. Allein die Eroͤffnung eines Concurſes von Amts - wegen bleibt dennoch das letzte Mittel, was man dieſem Uebel entgegen ſetzen ſollte; es waͤre denn, daß ſich ein Aeuſſerer faͤnde, der ſich zum Entſatz des Gutes, undnicht267uͤber das Landeigenthum. nicht allein alle Glaͤubiger mit zweyjaͤhrigen Zinſen zu be - friedigen, ſondern auch die Gerichtskoſten zu bezahlen ſich erboͤte. Sonſt beladet man unſchuldige und ruhig ſitzende Glaͤubiger von Amtswegen mit Koſten, und ſetzt einen Theil derſelben offenbar der Gefahr aus, ihre Forde - rungen zu verlieren, wenn das Gut nicht hoch genung erkauft wird.

Ueberhaupt iſt der ſogenannte Aeuſſerproceß, wel - cher in Hamburg, die Entſetzung oder Rettung*)Man ſehe hievon Matthaͤi Schluͤters D. rechtsbegruͤndeten Tractat von dem Entſetzungsproceß, wie ſolcher bey der Acht - erfolgung eines oͤffentlich verpfaͤndeten Erbes in Hamburg ge - fuͤhrt wird. Hamburg 4. 1699., im Oldenburgiſchen die Loͤſung, in Pommern der Oblations - proceß, und in jedem Lande anders genannt wird, weil ihn die Natur uͤberall zuerſt hervorgebracht hat, ein Werk der Kunſt, das noch mehr als die griechiſchen und roͤmi - ſchen Kunſtwerke, ſtudirt zu werden verdient. Die ſchoͤne Wendung des Hamburgiſchen, da der Annehmer verbun - den iſt, das Gut, nachdem es ihm ex ſecundo decreto zu - geſchlagen worden, an die Kerze zu bringen, damit er von der Noth ſeines Schuldners, und von der Verlaſſung zu ſchwacher Glaͤubiger keinen unbilligen Vortheil ziehe, verdient Bewunderung, und ich zweifle nicht, daß der Aeuſſerproceß, wenn er gehoͤrig eingerichtet wird, da wo die Hypothekenbuͤcher in der moͤglichſten Ordnung ſind, die beſten Dienſte leiſten werde. Blos die Perſon des Schuldners und deſſen bewegliches Vermoͤgen liegt hier nicht in der Gerichtsbanco, und wird folglich auch durch kein ſolio, was ein Glaͤubiger in dem Bancobuche hat,behaf -268Von dem Concursproceſſe ꝛc. behaftet*)So iſt es im Calenbergiſchen v. Pufendorf in obſ. T. III. obſ. 180.. Hieruͤber bleibt allemal ein Concurs offen. Bey dem allen aber haben der alte Rentekauf, oder die in England uͤblichen Annuitaͤten, welche aus unabloͤsli - chen aber nicht unwiederkaͤuflichen Zinſen beſtehen, den großen Vorzug, daß klein Glaͤubiger, der mehrere For - derung zuſammenkaͤuft einen ſchwachen Schuldner uͤber den Haufen werfen kann.

LVII. Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.

Es iſt nicht blos dem alten, ſondern auch dem neuen Adel, und ſelbſt denen, welche zu dieſer Ehre ge - langen wollen, daran gelegen, daß der alte deutſche Adel, es ſey nun der hohe oder der niedrige, diejenige Wuͤrde und Wehrung behalte, welche er von den fruͤheſten Zei - ten her gehabt hat. Denn ſo bald er ſolche verliert; ſo bald nur der alte und neue Adel vermiſcht wird, und alle Menſchen im Staate durch einen kurzen oder geſchwinden Weg zu einerley Hoͤhe gelangen koͤnnen: ſo verliert ſich auch eine der wichtigſten Quellen zur Belohnung großer und edler Thaten; der Staat muß dasjenige mit ſchwe - rem Gelde bezahlen, was er ſonſt mit der Ehre beſtrei - ten kann; und die gluͤckliche Abſtufung der Monarchie, die auf der einen Seite ſo vieles zur Groͤße des Monar - chen beytraͤgt, und auf der andern den von dem Throne entfernten Unterthanen ſo weſentliche Vortheile verſchaft,ver -269Ueber die Adelsprobe in Deutſchland. verſchwindet endlich ganz. Es geht dann mit dem Adel, wie mit andern perſoͤnlichen Wuͤrden, die in einem gluͤck - lichen Augenblicke erſchlichen, erkauft, und verdienet werden koͤnnen, aber auch eben durch dieſe Zufaͤlligkeit ſo ſehr ihren Werth verlohren haben, daß kein Landgraf von Heſſen den Doctorhut, und kein Dallberg den Rit - terſporn, noch wie ehedem verlangt. So wenig der Kay - ſer jetzo hiemit jemanden eine große Gnade erzeigen kann; eben ſo wenig wird er es alsdann auch mit einem Adels - briefe thun koͤnnen. Blos der Umſtand, daß der Adel einige Jahrhunderte gebraucht, um zu ſeiner Vollkom - menheit zu reifen, und daß der junge Edelmann dieſer Zukunft fuͤr ſeine Nachkommen mit Verlangen entgegen ſieht, macht ihm und allen buͤrgerlichen Standesperſo - nen den Adel wuͤnſchenswerth, und zum Bewegungs - grunde, ſich denſelben durch Verdienſte um den Staat zu erwerben. Nur der Monarch, der ſich zum Deſpo - ten erheben, und alles unter ſich in Sclaven von gleicher Art verwandeln will, kann wuͤnſchen, daß er mit Titeln und Adelsbriefen, nach ſeinem Gefallen ſchaffen und ver - nichtigen koͤnne, und daß alles vor ihm in gleicher Entfer - nung kriechen und zittern, oder haſſen und fluchen ſolle; nicht der Unterthan. Dieſer freuet ſich, wenn er ſiehet, daß der regierende Adel ſich von dem dienenden trennt; Koͤnige und Fuͤrſten ihre Gemalinnen außer Landes, und ihre Miniſter unter dem Adel, ſuchen; Edelleute, wenn ſie Fuͤrſten werden, auf Stand und Namen Verzicht thun, und ſolchergeſtalt, die regierende, dienende, und ge - meine Klaſſe der Menſchen, auf eine Art geſchieden wer - den, daß die eine in der andern keine Vettern und Schwaͤ - ger hat, und der Nepotism nicht alles verſchlingen kann. Dem ganz großen Mann, einem Necker zum Beyſpiele ꝛc., bleibt dabey uͤberall ſein Recht, ſo wie dem ganz ver -dienſt -270Ueber die Adelsprobe in Deutſchland. dienſtloſen Edelmanne die verdiente Verachtung; und alle Klaſſen verehren die Virtù, wo ſie ſolche finden, Fuͤr - ſten und Edle am erſten.

Alle dieſe großen Vortheile, welche nichts weniger auf ſich haben, als dem groͤßten und wichtigſten Theile der Nation die hoͤchſte Gnade und Gerechtigkeit in einem billigen Verhaͤltniſſe zufließen zu laſſen, fallen aber auf einmal weg, ſo bald man den politiſchen Stand mit dem moraliſchen verwechſelt, oder uͤberall und allein auf per - ſoͤnliche Verdienſte ſieht*)Die Amerikaner haben im erſten Eifer den Erb Adel ausge - ſchloſſen. Sie laſſen aber doch Erb-Recht gelten; und wie in einem auf Landeigenthum gegruͤndeten Staate, die Stimm - barkeit in der Nationalverſammlung, welche in einer ſolchen Nation alle Ehrenfaͤhigkeit mit ſich fuͤhret, und den Adel im eigentlichen Verſtande ausmacht, die Stimme mit der Land - actie nothwendig vererbt, oder auch verkaufet werden kann: ſo moͤchte man wohl fragen, ob die guten perſoͤnlichen Ver - dienſte hier mehr in Betracht kommen werden, und ob das Erbrecht, oder ein Kaufcontract, eine beſſere Vermutung fuͤr ſich habe, als der Erbadel? Freylich, ſo bald man eine hand - lende Nation vorausſetzt, und das Geld als das hoͤchſte Gut anſieht, muß es den Handlungsgeiſt befoͤrdern, wenn jeder durch Geld zur Stimmbarkeit gelangen kann. Allein die groͤßte Summe von Tugend und Menſchenkraft findet ſich in hand - lenden Staaten nicht; und die Satyriker koͤnnen denen, die nicht durch eigenen Fleiß reich geworden ſind, eben die Vor - wuͤrfe machen, welche der Geburtsadel erdulten muß. Der alte Text, woruͤber ſchon John Bull unter Richard II. den Bauren predigte:When Adam dalf and Eve ſpann Who was than a Gentleman? WALSIN. Riechard II. ()laͤßt ſich auf dieſe, wie auf jene, anwenden..

Das271Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.

Das erhabene Verdienſt der Herablaſſung und Po - pularitaͤt, welches aller Satyren ungeachtet, von dem groͤßten und gluͤcklichſten Einfluſſe iſt, verſchwindet zum Nachtheil vieler guten Menſchen, deren einzige Beloh - nung in dem Beyfalle der Großen beſtehet, und die oft einzig und allein dadurch bewogen werden, ſich dem ge - meinen Weſen aufzuopfern.

Wenn man dieſe einem jeden auffallende Wahrhei - ten in reifliche Erwegung zieht: ſo muͤſſen nothwendig alte und junge von Adel, ſo wie diejenigen, welche den Adel als eine Belohnung ihrer Verdienſte erwarten, einmuͤ - thig darin uͤbereinſtimmen, daß man nicht eifrig genug ſeyn koͤnne, die verſchiedenen Stufen deſſelben in ihrem gehoͤrigen Abſtande zu erhalten, und allen Unternehmun - gen vorzubeugen, welche auf derſelben Vermiſchung abzielen.

Jnsbeſondere aber iſt zu wuͤnſchen, daß das hoͤchſte Reichsoberhaupt, als die jetzige Grundquelle des Adels, dieſe Ehrenkrone, welche zu deſſen und des Reiches An - ſehen ſo manchen tapfern und bidern Mann erweckt hat, in dieſer ihrer maͤchtigen Wirkung erhalten, und ſie nicht allein fuͤr das wahre Verdienſt um das deutſche Vater - land aufſparen, ſondern auch in dem Glanze, welchen das Alterthum giebt, beſtehen laſſen moͤge. Denn die Mittel, deren ſich Griechen und Roͤmer zur Belohnung tapferer Krieger bedient haben, finden nur da ſtatt, wo der Held den Lorbeerkranz durch einen allgemeinen Volks - ſchluß, und nicht durch den Willen eines einzelnen Rich - ters, erhaͤlt; und die Laͤnge der Zeit, welche der Adel zum Reifen braucht, erſetzt gleichſam den Mangel der vielen Stimmen, die jene erkannten.

Damit aber jedoch auch diejenigen, welche den Adel von ihren Vorfahren wohl erhalten haben, nicht unge -rechter272Ueber die Adelsprobe in Deutſchland. rechter Weiſe durch unmoͤgliche Beweiſe um ihr Recht ge - bracht, und Maͤnner, welche endlich die Frucht der ihren Voreltern von dem hoͤchſten Reichsoberhaupte zuerkann - ten Belohnung, genießen wollen, nicht ins Unendliche aufgehalten werden, iſt es noͤthig, genau zu beſtim - men: 1. Was denn nun einer, der ſich als ein alter Edelmann darſtellen will, beweiſen, und 2. Wie die - ſer Beweis gefuͤhrt werden ſolle? Beydes wird ſich aber nicht mit hinlaͤnglicher Deutlichkeit bewirken laſſen, ohne vorher etwas von dem Urſprunge des Adels zu ſa - gen; jedoch wird hier blos das Reſultat der daruͤber bis - her angeſtellten Unterſuchungen vorgeleget werden duͤr - fen, weil der Zweck, wozu dieſes beſtimmt iſt, ein meh - rers nicht erfodert, und eine Anfuͤhrung aller Gruͤnde, worauf daſſelbe gebauet iſt, viel zu weitlaͤuftig ſeyn wuͤrde.

Man kann uͤberhaupt bey einer landbauenden Na - tion, dergleichen die Deutſche iſt, 3 Quellen des Adels annehmen: als

Erſtens diejenige, welche in allen angehenden und aufbluͤhenden Staaten ſolcher Nationen das aͤchte Eigen - thum einer in der Nationalverſammlung ſtimmbaren Hufe oder Landactie giebt. Hier geht dieſer Eigenthuͤmer un - ter einem erwaͤhlten Heerfuͤhrer zu Felde, verſchaft ſich ſelbſt Waffen und Unterhalt, und vertheidiget die Rechte der aus Landeigenthuͤmern errichteten Geſellſchaft. Die - ſes waren die Ingenui der Deutſchen, und die ſpaͤter ſo genannten ſchoͤpfenbaren Leute, oder der erſte und aͤlteſte deutſche Adel; und unter dieſen entſtand noch ein beſon - derer hoher Adel aus den zuerſt erwaͤhlten Oberſten oder Hauptleuten, nachdem dieſe Wahlwuͤrden, wie bey Land - eigenthuͤmern mit der Zeit faſt allemal geſchehen wird, bey einer Hufe und deren Eigenthuͤmer lange Zeit gelaſ - ſen, und endlich erblich wurden. Blos die oberſte Heer -fuͤhrer -273Ueber die Adelsprobe in Deutſchland. fuͤhrerſtelle vererbte ſo leicht nicht, weil ſie mit jedem Kriege ein Ende nahm; wohingegen Oberſten und Hauptleute, zu Erhaltung der Rolle, der Uebung, und der Zucht, auch im Frieden bleiben mußten.

Zweytens diejenige, welche insgemein der Herren - dienſt giebt, wenn anſtatt des, immer nicht ohne Be - ſchwerde aufzubietenden, zu verſammlenden, und zu uͤben - den Landeigenthuͤmers, von dem Vorſteher der Geſell - ſchaft, oder ihrem Oberhaupte, eine ausgeſonderte be - ſtaͤndige Militz unterhalten werden muß. Zu der Zeit, wie dieſes bey den Deutſchen geſchah, gedachte man viel - leicht noch an kein beſtaͤndiges Fußvolk: entweder weil man ſolches zur Zeit der Noth aus den Landeigenthuͤ - mern leicht zuſammen zog, oder bey der damaligen Art Krieg zu fuͤhren, nicht ſonderlich gebrauchte; und ſo ent - ſtand zuerſt eine beſtaͤndige Reuterey, unter dem Namen von Comitibus, Miniſlerialibus, oder Dienſtleuten, die nicht von ihrem Eigenthume, ſondern fuͤr Loͤhnung (bene - ficia), diente, und nun, da ſie ſich beſtaͤndig uͤbte, und unter ſich die Ritterſpiele einfuͤhrte, gar bald zu demje - nigen Anſehen gelangte, welches die jetzige beſtaͤndige und regulaͤre Militz erlangt hat. Sie hatte in ihrer Verfaſ - ſung 3 Stufen, indem naͤmlich einer zuerſt gewiſſe Jahre als ſimplex oder Waffenjunge, und wiederum gewiſſe Jahre als famulus oder Knape, dienen mußte, ehe er von der ritterlichen Zunft zur Meiſterſchaft gelaſſen, oder als miles (ſpaͤter Ritter) aufgenommen wurde*)Eine gleiche Abſtufung fand ſich in dem aͤlteſten Gefolge (comitatu) der Deutſchen, indem Tacitus ſagt: quin etiam gradus Comitatus habet. .

Moͤſers patr. Phantaſ. IV. Th. SUnter274Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.

Unter denſelben entſtand wiederum, nach dem naͤm - lichen Gange ein hoher und niederer Adel, indem die ho - hen Dienſtwuͤrden, welche von einem Oberhaupte ab - hiengen, noch geſchwinder als die Wahlwuͤrden, in ge - wiſſen Geſchlechtern vererbten. Der hohe beſtand aus Dienſtherzogen, Dienſtgrafen, und Dienſthauptleuten, wie in der erſten Zeit aus Wahlherzogen, Wahlgrafen, und Wahlhaͤuptlingen, oder Dynaſten.

Zuerſt mochte dieſe hohe und niedere Dienſtmann - ſchaft, aus dem vorhandenen hohen und niedern Adel der erſten Zeit, genommen werden. Jn der Folge aber nahm die Dienſtmannſchaft (nach dem gewoͤhnlichen Hange aller Gilden, die gern alle blos Meiſtersſoͤhne aufnehmen moͤchten) nur Dienſtmannskinder zu Waffenjungen an: und ſo konnte ſo leicht keiner aus den uͤbrigen Staͤnden, hie und da einen außerordentlichen Fall ausgenommen, zur Ehre eines Knapen oder Ritters gelangen. Es fuͤgte ſich aber bald, daß die beſtaͤndigen Heere verſtaͤrket wer - den mußten, und der Kayſer ſo viel Ritter machte, als er gebrauchte, ohne ſich an die Ordnung und Stufen der eigentlichen Ritterſchaft zu binden.

Nun zeigten ſich Ritter edlen Buͤrger - und Bauer - ſtandes in ſolcher Menge, daß Henrich Geßler, der im Jahr 1493 Syndicus des großen Raths zu Straßburg war, dieſe drey Arten ſo gar in ſeinem Titularbuche unterſchei - det, und den erſten: Edelſtrenge! den andern: Strenge feſte! und den letzten Strenge! zu ſchreiben lehret. Je - doch trift dieſes keinen Ritter einer geſchloſſenen Geſell - ſchaft oder andern adlichen Jnnung, die ſich, wie jede fuͤrſtliche Dienſtmannſchaft, durch Verbindungen und Vereine dagegen deckte, oder auf andere Art verbuͤndete, und jene Ritter à la ſuite du St. Empire von ihren Ver -ſamm -275Ueber die Adelsprobe in Deutſchland. ſammlungen ausſchloß. Dem Beyſpiele dieſer geſchloſſe - nen Geſellſchaften folgten die hoͤhern Capitel und Stifter, und achteten von nun an auf keine Ritter - oder Doctor - wuͤrden; ſondern auf ritterliche Geſchlechter in dem Ver - ſtande der vorhergegangenen Periode, worin die Dienſt - mannſchaft nur Dienſtmannskinder zu Waffenjungen an - genommen hatte, und ſo nach die ritterliche Wuͤrde nicht durch die kayſerl. Gnade, ſondern nach zuruͤckgelegter Knapſchaft, wie jede andere Meiſterſchaft, von der rit - terlichen Jnnung erlangt wurde, und der Geburtsbrief vorgelegt werden mußte.

Drittens die Briefe, wodurch der Kayſer und dieje - nigen, welche ſonſt deſſen Vollmacht dazu haben, einem verdienten Manne den deutſchen Adel ertheilet haben. Dieſes iſt der ſo genannte Briefadel, welcher, da die nunmehr geſchloſſenen Geſellſchaften keine neue Geſchlech - ter annehmen wollten, ſich im 15ten Jahrhundert zuerſt von ſelbſt empfohl, und nothwendig machte, wofern nicht der Staat das große Mittel, edle Thaten durch den Adel zu belohnen, ganz verlieren ſollte. Die Zeiten, worin jeder Herzog, Biſchof, oder Graf, ſeine Dienſtleute aus den tapferſten erwaͤhlt, und ſolchergeſtalt manchen neu geadelt hatte*)Die Adelbriefe dieſer Zeit lauten insgemein alſo: Nos Bruno Wirceburgenſis Epiſcopus Unum nomine Richboldum, prae caeteris nobis familiarem transtulimus in conſortium et jus mi - niſterialium eccleſiae noſtrae; cui cum foemina quaedam libera et liberis orta parentibus, nomine Richere, legitime nupſis - ſet ap. Falken in erad. Corb. p. 662. oder Nos Mechtildis dei gratia Abbatiſſa Herfordenſis Nos vero occaſione huiusmodi cenſus nobis dati, et de conſilio et conſenſu Capituli et mini - ſterialium eccleſiae noſtrae, praedictum Gerardum et omnes pue -ros, waren voruͤber; keiner wagte es mehr,S 2andre276Ueber die Adelsprobe in Deutſchland. andre als Dienſtmannskinder an ſeinen Hof und in ſeine Dienſte zu nehmen, weil, wie leicht zu erachten, die nun einmal vorhandene mit ſchlechten nicht dienen wollten. Die erſte Quelle des Adels, ſo aus dem Eigenthum einer Landactie beſtand, war guten Theils verſiegen; beſonders nachdem die ritterliche Militz den Heerbann der Landei - genthuͤmer ſo ziemlich verdunkelt hatte, und bey dem ver - mehrten Gelde, die Landactie ein Gegenſtand des Han - dels geworden war, ſo daß ſie auch ein Freygelaſſener, wenn er Geld hatte, erſtehen konnte. Und ſo war es billig, eine dritte Quelle zu eroͤffnen, die nun freylich im Anfange nicht ſehr beſuchet wurde, jedoch bald, als neben der Dienſtmannſchaft eine neue Art von beſtaͤndiger Mi - litz errichtet wurde, und die Fuͤrſten gelehrte Raͤthe an - nahmen, welche in Behandlung gewiſſer Sachen mehrere Geſchicklichkeit als die gebohrnen Dienſtleute hatten, von dem Glanze der neuen Civil - und Militairwuͤrden erho -ben*)ros ſuos utriusque ſexus in miniſteriales noſtrae eccleſiae rece - pimus, dantes eis omne jus quod miniſteriales noſtrae eccleſiae antiquitus habuerunt ib. p. 750. Die Aebtiſſin giebt ihm omne jus: das iſt, alles was ihm 16 Ahnen verſchaffen konn - te, und mehr als der Kayſer geben kann. Aber es geſchahe auch cum conſenſu caeterorum miniſterialium; und der gea - delte hatte ihr eine jaͤhrliche Einnahme von einer Mark Herfor - derſcher Pfenning verſchaffet. Andre treugeleiſtete Dienſte werden nicht angefuͤhrt. Der Erzoͤiſchof Adelbert zu Mainz erlaubte dem Probſte zu Aſchaffenburg, duos viros, ejusdem praepoſiturae aliquando quidem cenſuales, cum conſenſu advo - cati, zu ſeinen Miniſterialen anzunehmen, und den einen zu ſeinem Erbmarſchall, und den andern zu ſeinem Erbſchenken zu machen; v. diploma 1227 beym Guden T. I. p. 394. Dieſe Standeserhoͤhung zweyer Cenſualium ſub advocatia inferiori conſtitutorum, zeigt, wie man ohne einen kayſerlichen Brief ein Edelmann werden koͤnne.277Ueber die Adelsprobe in Deutſchland. ben, ſich dergeſtalt empfahl, daß nun ein jeder daraus ſchoͤpfen wollte.

Dieſes zu mehrerer Deutlichkeit, und zu beſſerer Entwickelung der Begriffe, vorausgeſetzt, wird es leicht zu beſtimmen ſeyn.

I. Was derjenige, welcher ſich als ein alter Edelmann darſtellen will, zu erweiſen habe?

Derjenige welcher ſeinen Adel aus der erſten Quelle herzuleiten gedenket, muß darthun, daß die Ahnen, wo - von er abſtammet, echte Eigenthuͤmer ſtimmbarer Land - Actien, oder wie man jetzt ſpricht, Reichs - oder Landta - gesfaͤhiger Guͤter, geweſen, und in ſolcher Eigenſchaft zu den oͤffentlichen Reichs - oder Landesverſammlungen berufen worden. Er muß beydes zuſammen, oder doch wenigſtens, wenn er mit dem Beweiſe des erſten allein auslangen will, dieſes erweiſen, daß in dem Lande, worin ſeine Ahnen geſeſſen geweſen, kein Unadelicher zum Ei - genthume eines Reichs - oder Landtagsfaͤhigen Gutes habe gelangen koͤnnen. Ein anderer Beweis iſt die Schoͤ - pfenbarkeit, wenn einer naͤmlich zeigen kann, daß ſeine Ahnen in kayſerl. und Reichs-Landgerichten, welche un - ter dem perſoͤnlichen Vorſitze eines Biſchofes, Herzoges, oder Grafen, gehalten worden, die Stelle eines Schoͤ - pfen bekleidet haben. Die vom Adel aus der zwoten Quelle haben zu erweiſen, daß ihre Ahnen wahre kayſer - liche, fuͤrſtliche, oder graͤfliche Dienſtleute geweſen. Auch haben einige edle Herren und Aebte, als die zu Wildes - hauſen, von welchen der Kayſer Lothar ſagte:ejus mini - ſteriales cum ſiliis et poſteris ſuis parem conditionem et legem cum ſuis et ducis Henrici miniſterialibus habere, Origg. Guelf. T. II. p. 52, ()gute Dienſtleute gehabt: und wo dieſes außer Zweifel iſt, mag auch der Dienſtmann eines ſolchen Abten, Probſten, oder edeln Herrn, wel -S 3cher278Ueber die Adelsprobe in Deutſchland. cher einen Lehnshof hat, ſich wohl auf ſeine Dienſtmann - ſchaft beziehen, und durch den Beweis, daß ſeine Ahnen in dergleichen Dienſtmannſchaft geſtanden haben, ſeinen alten Adel erweiſen. Jndem es aber auch mittelbare oder Unterdienſtmannſchaften, worunter die ſogenannten Ho - fes oder Hausgenoſſenſchaften, und andere gemeine Ganerbſchaften gehoͤren, gegeben hat: ſo mag der Be - weis, daß jemand unter ſeinen Vorfahren miniſteriales gehabt habe, nicht hinreichen, ſondern es muß erwieſen werden, daß ſie miniſteriales curiae ſuperioris geweſen; mithin entweder bey oͤffentlichen Belehnungen, unter dem perſoͤnlichen Vorſitze ihres Herrn (den perſonalis praeſen - tiae locum tenentem nicht ausgeſchloſſen), Lehnsrichter, Lehnsſchoͤpfen, oder Pares curiae abgegeben, oder doch ſolche Dienſtſtellen bekleidet haben, welche nicht anders als mit Reichs - oder Landes unmittelbaren Dienſtleuten beſetzt waren. Jn den Landen, worin der Adel allein Lehnsfaͤhig iſt, wird dieſer Beweis leicht zu fuͤhren ſeyn. Doch mag hierauf nur da mit Grunde gebauet werden, wo die Lehne mit Herrlichkeiten oder doch mit Gerichts - barkeiten verknuͤpft ſind, als welche letztere nur guten Dienſtleuten verliehen zu werden pflegten.

Was die vom Adel aus der dritten Quelle zu erwei - ſen haben ſollen, wenn ſie als alte Edelleute in geſchloſ - ſene adeliche Geſellſchaften aufgenommen werden wollen, iſt uͤberall nicht gleich beſtimmt. Jm Grunde aber haͤngt die Beſtimmung in dieſem Falle uͤberall, wo noch kein zu Rechte beſtaͤndiges Herkommen auf andre Schluͤſſe fuͤh - ret, von einer politiſchen Betrachtung ab. Vorher iſt feſtgeſetzet worden, daß der Adel fuͤr alle und jede um ſo viel angenehmer ſey, je groͤßer der Zeitraum iſt, worin er zu ſeiner Vollkommenheit reifet. Nach dieſem Grund - ſatze ſollte der Reugeadelte unter den Ahnen, deren Adelnach279Ueber die Adelsprobe in Deutſchland. nach jedes Orts Gewohnheit zu erweiſen iſt, gar nicht erſcheinen duͤrfen. Es ſcheinet auch dieſes der Analogie, nach welcher die unadeliche Frau eines Edelmanns, ohn - erachtet ſie durch die Ehe zur Edelfrau erhoben iſt, nicht mit unter die Ahnen gezaͤhlt werden darf, obgleich ihre Tochter unter dem vaͤterlichen Wapen zugelaſſen wird, am gemaͤſſeſten zu ſeyn. Jndeſſen koͤmmt doch alles zu - letzt darauf an, was ſaͤmmtliche geſchloſſene adliche Ge - ſellſchaften, denn einzelne koͤnnen hierunter nicht gut et - was beſtimmen, dem hoͤchſten Reichsoberhaupte zu Eh - ren, oder der deutſchen Nation zum Beſten, thun wol - len oder ſollen.

Denn nachdem ſie einmal den Briefadel uͤberhaupt unter gewiſſen Bedingungen in ihren geſchloſſenen Geſell - ſchaften zugelaſſen haben, um nicht dem Reiche zum Nach - theil dieſe große Quelle zu Belohnungen ganz aufhoͤren, und ſich eines nicht zu billigenden Eigennutzes beſchuldi - gen zu laſſen: ſo will endlich der Umſtand, ob der Reu - geadelte in der oberſten Reihe zugelaſſen werde oder nicht, ſo gar vieles nicht erheben, ſo bald er nur von allen ge - ſchloſſenen adlichen Geſellſchaften allgemein angenommen und von der einen nicht gegen die andere zum Vorwurf gebrauchet wird. Unter einem neuen, und einem erneuer - ten Adel, mag aber kein großer Unterſchied ſeyn, weil die Erneuerung vorausſetzt, daß der vormalige Adel durch Buͤrgerſchaft, Leibeigenthum, Herren - oder Heiligen - ſchutz (Hyen, Hoden, Pflegen, Echten), erloſchen ſey: es waͤre denn, daß das Gegentheil vollkommen erwie - ſen wuͤrde.

Dieſes waͤre alſo ein Gegenſtand, woruͤber ſaͤmmt - liche geſchloſſene Capitel, Orden, und Ritterſchaften, ſich zu vereinigen, und dieſe Vereinigung dem hoͤchſten Reichs - oberhaupte zur gnaͤdigſten Pruͤfung und Beſtaͤtigung vor -S 4zule -280Ueber die Adelsprobe in Deutſchland. zulegen haͤtten, damit die Reichsgerichte darauf zu ſpre - chen einmal fuͤr alle angewieſen wuͤrden.

Ein Gegenſtand gleicher Art iſt die Anzahl der Ahnen, welche einer, der ſeinen alten Adel darzulegen hat, auf - zuſtellen und zu beweiſen haben ſoll. Zuerſt hat man ohne Zweifel weiter nichts erfodert, als daß derjenige, welcher irgendwo als altadlich aufgenommen werden woll - te, zeigen ſollte, wie er von Eltern abſtammte, die an - dern altadelichen ebengenos oder ebenbuͤrtig geweſen waͤ - ren: wie denn dieſes noch jetzt im Grunde den eigentli - chen Gegenſtand des Beweiſes ausmacht, und in den paͤpſtlichen Beſtaͤtigungen, welche verſchiedene Domcapi - tel daruͤber erhalten haben, mit den Worten, ex utroque parente de Principum, Comitum, Baronum, et Militarium genere natus, ausgedruͤcket iſt. Als aber ein ſolcher Be - weis beſonders von Fremden, die in dem Lande, wo ſie aufgenommen werden wollten, unbekannt waren, nicht gefuͤhret werden konnte, ohne nun auch den alten Adel der Eltern zu erweiſen: ſo fuͤhrte dieſes nothwendig wei - ter, und nach einer ganz richtigen Folge ins Unendliche; bis man endlich eine gewiſſe Anzahl von Ahnen feſtſetzte, woruͤber nicht hinaus gegangen werden ſollte. Dieſe An - zahl iſt in den mehrſten Orden, Capiteln, und Ritter - ſchaften, theils durch ein beſtaͤndiges Herkommen, theils auch durch ausdruͤckliche Statute, bald mit, bald ohne hoͤhere Beſtaͤtigung, auf 16 eingeſchraͤnkt; und diejeni - gen, welche mehr oder weniger erfodern, ſind im Grunde ſo ſehr nicht von jenen unterſchieden, als es anfangs ſcheinen will. Denn einige, die ſich mit 4 Ahnen begnuͤ - gen, erfodern zugleich dabey, daß jeder dieſer viere, wie - derum 4 Ahnen nachweiſen ſolle, mithin in der That 16. Andere hingegen, welche 32 oder mehrere verlangen, thun dieſes nur in der Abſicht, um die Neugeadelten um ſoviel281Ueber die Adelsprobe in Deutſchland. viel ſpaͤter zuzulaſſen. Alle aber kommen im Grunde darin uͤberein, daß die 16 Ahnen von Ritters Art ſeyn ſollen. Die Abſicht dieſer Beſtimmung war blos eine Erleichte - rung des ehemaligen Beweiſes, und ein gluͤcklicher Mit - telweg, beſonders fuͤr Fremde, keinesweges aber eine be - ſchwerliche Neuerung fuͤr andere Staͤnde. Denn wenn man dieſe Beſtimmung ganz unterlaſſen, und ſich damit begnuͤgt haͤtte, keinen in ſeine geſchloſſene Geſellſchaft aufzunehmen, der nicht von gutem alten Adel waͤre: ſo wuͤrden die Nachkommen eines neugeadelten in dem Laufe unendlicher Jahre niemals haben aufgenommen werden koͤnnen. Wahrſcheinlich iſt man auf die Zahl Sechszehn durch einen uralten Gebrauch, wo nicht durch das goͤtt - liche Gebot, daß die Suͤnden der Vaͤter bis ins 4te Glied beſtrafet werden ſollen, gefuͤhret worden. Denn in der Boͤhmiſchen Landesordnung vom Jahr 1480, heißt es ſchon, man ſolle den Kindern der neugeſchoͤpften Ritter, bis in das dritte Glied, nicht Edel - und Ehrenveſt, ſon - dern blos Ehrbarveſt geben, weil ſie den alten Geſchlech - tern aus der Ritterſchaft nicht gleich waͤren. Hier wer - den alſo ſchon 16 Ahnen erfodert, indem die Abſtammung eines neuen Ritters erſt im 4ten oder 5ten Gliede, das Ehrenwort Edelfeſt erhalten ſoll.

Dieſe naͤhere Beſtimmung war uͤberfluͤßig, ſo lange die Ritterwuͤrde nicht vom Kayſer, ſondern von der Rit - terlichen Jnnung als ein Meiſterrecht ertheilt, und keiner von dieſen zum Waffenjungen und Knapen angenommen wurde, der nicht von guter ritterlicher Art war. Wenn man alſo hoͤher hinauf nicht ſo viel von der Zahl der Ah - nen findet: ſo iſt dieſes keinesweges ein Veweis, daß ſol - che vorher nicht erfodert wurde. Die Turnierordnungen, ſo weit man ſolche als richtig annehmen kann, werdenS 5unge -282Ueber die Adelsprobe in Deutſchland. ungefaͤhr mit jener Boͤhmiſchen Landesordnung von einem Alter ſeyn: und wenn darin 4 edle Ahnen erfordert wer - den; ſo ſind dieſes nach demjenigen, was hier oben be - reits angefuͤhret iſt, in der That 16, weil dieſe 4 Ahnen nicht edel ſeyn konnten, ohne ebenfalls ihre 4 Ahnen zu haben.

Die Zahl 16 iſt alſo die gewoͤhnlichſte geweſen; und diejenigen Capitel, Orden und Ritterſchaften, welche ſolche ſpaͤter namentlich erfodert, und daruͤber zu mehre - rer Vorſicht, in Abſicht auf Fremde beſondere Vereini - gungen gemacht haben, haben weiter nichts gethan, als daß ſie eine lange Gewohnheit, oder ein ſtillſchweigendes von Kayſern, Koͤnigen, Fuͤrſten und Herren, uͤberall ge - billigtes Geſetz, zu einem ausdruͤcklichen und geſchriebe - nen erhoben haben. Man wird auch, ohne den Adel gar zu leicht, und nach einer natuͤrlichen Folge, veraͤchtlich zu machen, nicht leicht weniger zulaſſen koͤnnen. Jn dem Zeitraum von 4 Abſtammungen, verjaͤhret und verſchwin - det das Andenken der perſoͤnlichen Fehler des erſten Er - werbers; die Nachwelt erhaͤlt den Helden und ſeine Tha - ten, und vergißt den Menſchen; das mit ihm in der Welt geweſene Menſchengeſchlecht iſt zugleich mit abgeſtorben; und es faͤllet ſeinen Nachkommen minder beſchwerlich, dem Urenkel die voͤllige Ehre zu bezeigen, als dem erſten Erwerber, der ihnen gleich, wo nicht minder, geweſen iſt. Man erinnert ſich eines Liberti, eines Libertini, und eines Libertini Filii, aber nicht leicht eines Libertini Ne - potis. Der Gang der menſchlichen Denkungsart erfor - dert mithin dieſe Schonung; und es iſt aus mehr als einem Grunde zu hoffen, daß das hoͤchſte Reichsober - haupt ſich fuͤr die Zahl 16 gern erklaͤren werde, wenn die Capitel, Orden, und Ritterſchaften, welche in den Beſitz ſind, keine andre als Altadliche in ihre geſchloſſeneGeſell -283Ueber die Adelsprobe in Deutſchland. Geſellſchaften anzunehmen, dieſes von dem Throne be - gehren werden.

Die groͤßte Bedenklichkeit, welche dagegen eintreten koͤnnte, beſteht darin, daß nicht alle Ritterſchaften das Repraͤſentationsrecht auf Landtagen allein, und in Ca - piteln die Altadelichen nicht uͤberall das ausſchließliche Recht zu den Pfruͤnden, haben: daher das Reichsober - haupt ſeinen gemeinen Reichsunterthanen, denen es nicht minder ſeinen maͤchtigen Schutz angedeihen laſſen muß, gar ſehr zu nahe treten wuͤrde, wenn daſſelbe dieſen auf einmal den Zugang zu allen hohen Pfruͤnden verſperren, und den unadlichen Eigenthuͤmern ſtimmbarer Guͤter ihre Befugniß entziehen wollte; eine Bedenklichkeit, die um ſo viel wichtiger iſt, da man es als einen Zufall betrach - ten muß, daß in einigen Stiftern der hohe Adel den nie - drigen, in andern der Reichsunmittelbare den Landſaͤſ - ſigen, und wiederum in andern der Landſaͤßige, andre von ihren Guͤtern qualificirte, und zum Theil von den Ingenuis der erſten Klaſſe abſtammende Eigenthuͤmer, von dem Repraͤſentationsrecht auf Landtagenausgeſchloſſen, und die adlichen Capitularen ſich aller, kenntlich nicht fuͤr ſie allein geſtifteten Pfruͤnden, bemaͤchtiget haben.

Allein dieſe Bedenklichkeit liegt außerhalb der jetzi - gen Sphaͤre, als worin es lediglich auf die Beſtimmung, was einer, der in ein geſchloſſenes adliches Stift, Capi - tel, oder Ritterbuͤndnis aufgenommen werden will, zu erweiſen haben ſoll, nicht aber darauf ankoͤmmt, ob die - ſes oder jenes Capitel, oder dieſe und jene Ritterſchaft, ein Recht habe, die unadelichen Beſitzer ſtimmbarer Guͤ - ter von der Landesrepraͤſentation auszuſchließen, als wel - ches zu einer beſondern Entſcheidung zwiſchen auftreten - den Parteyen gehoͤret. Und uͤberhaupt iſt zu wuͤnſchen, daß eine Sache wie dieſe, deren Wirkung und Wehrungdurch284Ueber die Adelsprobe in Deutſchland. durch das ganze Reich gehen, und welche dieſes gegen be - nachbarte Reiche ſo wohl, als gegen Rom, aufrecht er - halten ſoll, vorhero zu einem Reichsgutachten eingeleitet, und ſo wie mit den Zuͤnften und Handwerkern geſchehen iſt, durch allgemeine Entſchließungen berichtiget werden moͤge. Da denn auch jene Bedenklichkeit erwogen, und allenfalls eine ſichere Anzahl Pfruͤnden fuͤr den auf den Adel folgenden, und billig auch feſtzuſetzenden Stand aus - geſetzt, ſo wie die Dienſtmannſchaft von der Landesre - praͤſentation getrennet, jene in eine geſchloſſene Ritterſchaft, und dieſe in eine, jedem aͤchten Eigenthuͤmer einer Land - actie offne Verſammlung, verwandelt werden koͤnnte. Denn was letztere betrift: ſo iſt es allemal die Wirkung einer deſpotiſchen Politik, daß man den Adel aus der er - ſten Quelle nicht noch jetzt, wie vordem, entſtehen, und den echten Eigenthuͤmer einer Landactie, ſo bald er zei - gen kann, daß er ſo wenig von vaͤterlicher als muͤtterli - cher Seite, Libertus, Libertinus, und Libertini ſilius ſey, mithin 16 frey gebohrne Ahnen habe, nicht als einen Ehren - faͤhigen Mann zulaͤßt; ſondern blos den Adel aus der zwo - ten und dritten Klaſſe, worin er auf Dienſt - und Gna - denbriefen beſteht, erkennen will: welches vielleicht ein - zig und allein einem Mangel der Sprache zuzuſchreiben iſt, wodurch die Freyen unter Herrn - oder Buͤrgerſchutz, mit dem ſelbſtſtaͤndigen Freyen, dem Piaſten, oder eigent - lichen Hidalgo, welchen ich zum Unterſchiede von ſchlech - ten Freyen, gern den Wehren (Quiritem) nennen moͤchte vermiſchet und beyde verwechſelt ſind.

Unter Buͤrgerſchaft und Herrenſchutz (Advocatia inferior) iſt keine ſelbſtaͤndige Freyheit, und noch weni - ger Adel, wenn gleich die darunter ſtehenden Menſchen in einer gewiſſen Beziehung frey genannt werden. Denn Schutzgenoſſen und Buͤrger ſind zuerſt durch ihren Schutz -herrn285Ueber die Adelsprobe in Deutſchland. herrn in der Nationalverſammlung vertreten worden; und haben darin eben ſo wenig fuͤr eine eigne Landactie ſtimmen koͤnnen, als mittelbare Edelleute auf dem Reichs - tage, fuͤr eine ehemalige jetzt aber unter der Landesho - heit beſchloſſene Reichsactie, wenn ſie auch gleich Reichs - Freyherren heißen.

Daß aber endlich, in einigen Capiteln und Ritter - ſchaften, auch dieſes erfodert werden will, daß einer aus der Reichsritterſchaft ſeyn ſolle, der darin aufgenommen werden wolle: iſt nicht allein an ſich ungegruͤndet, ſon - dern auch allen Reichsfuͤrſten ſchimpflich. Man erinnert ſich noch, was es fuͤr Bewegungen ſetzte, als im Jahr 1737, die Kayſerlichen Officiere den Reichsfuͤrſtlichen von gleichem Range, ohne Unterſchied des Dienſtalters, vor - gehen wollten; und wie geſchwind der Prinz Eugen von dieſer Foderung abſtand, als ein gewiſſer großer Reichs - fuͤrſt ſeine Truppen daruͤber von der Reichsarmee am Rheine zuruͤckziehen wollte.

Jene Foderung der Reichsdienſtleute iſt nun gerade eben dieſelbe, welche die kayſerlichen Officiere machten; und erhielt auch ihre baldige Erledigung aus dem hier - oben ſchon angefuͤhrten Grunde, wo der Kayſ. Lothar erklaͤrt, daß die Dienſtleute des Abts zu Wildeshauſen einerley Rang mit den ſeinigen und des Herzogs Ma - gnus Dienſtleuten haͤtten. Zwiſchen kayſerl. und fuͤrſtl. Dienſtleuten, oder welches einerley iſt, zwiſchen der mit - telbaren und unmittelbaren Reichsritterſchaft, iſt alſo von den aͤlteſten Zeiten her kein Unterſchied geweſen; und er laͤßt ſich auch nicht denken, ohne den fuͤrſtlichen Heerſchild um einen Grad zu erniedrigen.

Uebrigens verſteht es ſich von ſelbſt, daß einer, der ſich als ein deutſcher Edelmann darſtellen, und zu dendamit286Ueber die Adelsprobe in Deutſchland. damit insgemein verknuͤpften Vortheilen gelangen will, auch dieſes beweiſen muͤſſe, daß ſeine Ahnen entweder als Jngenui in des Roͤm. Reichs Heerbann, oder als Dienſtmaͤnner in der Folge des h. Roͤm. Reichs, geſtan - den, oder ihren Briefadel von dem hoͤchſten Reichsober - haupte, oder denjenigen, welche deſſen Vollmacht haben, erlanget habe. Das heilige Roͤm. Reich beſteht aber nicht blos aus Deutſchland; ſondern aus allen den Reichen zu - ſammen, welche jemals mit ihm, zur Vertheidigung der Kirche, und eines gemeinſchaftlichen Reichs, geſtanden haben: wie denn ſelbſt Karl der Große, in der Thei - lung unter ſeine 3 Soͤhnen, dieſes ausdruͤcklich verord - net, daß ſeiner Theilung ungeachtet, alle von ihm beſeſ - ſene Laͤnder, zur Vertheidigung einer allgemeinen Kirche, und eines allgemeinen Reichs, in einem gemeinſchaftli - chen Heerbann bleiben ſollten*)S. 8. Diviſio Caroli M. §. 8. und 17: beym Dumont im Corps dipl. Th. I. S. 5.. Daher auch, ſo lange es nicht aus hoͤhern Gruͤnden verboten wird, viele fran - zoͤſiſche, ſpaniſche, niederlaͤndiſche, und italieniſche, aber keine engliſche, daͤniſche, ſchwediſche, polniſche, ruſſiſche, und andre Familien, als Eingebohrne jenes zu unſern Zeiten verdunkelten heiligen Reichs angeſehen, und zu deutſchen Stiften und Reichswuͤrden zugelaſſen werden.

So wie nun hieraus im allgemeinen hervorgehen wird, was einer zu erweiſen habe, welcher ſich als ein Stifts - und Turnierfaͤhiger Edelmann darſtellen will; alſo wird es nun noch darauf ankommen: II. Wie dieſer Be - weis zu fuͤhren ſey: Die Rede iſt nicht hier von dem er - foderlichen Beweiſe der Abſtammung; denn dieſer iſt ein gemeiner Beweis, der wie alle andere, wodurch Rechtund287Ueber die Adelsprobe in Deutſchland. und Wahrheit gerichtlich und außergerichtlich geſucht werden, gefuͤhret werden muß: ſondern von dem Bewei - ſe des Adelſtandes, der entweder eine kenntliche Thatſa - che zum Grunde hat, wovon unmittelbar auf den Adel geſchloſſen werden kann, oder aber auf giltige Zeugniſſe und Zeugenauſſagen angenommen werden ſoll. Hier kann die Thatſache, als z. B. daß die 16 Vorfahren, wor - auf einer ſeinen alten Adel gruͤndet, Schoͤpfen in hohen Land - und Lehngerichten geweſen, als Marſchaͤlle, Truch - ſeſſe, Caͤmmerer, oder Jaͤgermeiſter, bey einem Reichs - hauptherrn, welcher keine andere als gute Dienſtleute gehalten, gedienet, oder auch ſchon die ritterliche Wuͤrde bekleidet, in der echten Knapſchaft geſtanden, Turniere beſucht, oder Lehne und Aemter beſeſſen haben, welche keinem andern als Adlichen verliehen werden, ebenfalls durch ſolche Urkunden und Zeugniſſe, die in allen Gerich - ten angenommen und fuͤr hinlaͤnglich angeſchen werden muͤſſen, gefuͤhret werden; und iſt es daher unnoͤthig, ſich dabey aufzuhalten. Wo ſich hingegen jemand darauf gruͤnden will, daß er von undenklichen Jahren fuͤr einen alten Edelmann erkannt, zugelaſſen, und geehret wor - den: da wird etwas mehrers, als ſolche Urkunden, worin dieſes beilaͤufig geſchrieben worden, erfordert; indem Richter und Notarien, welche dergleichen Urkunden fer - tigen, uͤber dergleichen Dinge nicht mit hinlaͤnglicher Kenntniß urtheilen koͤnnen, und jedem eher zu viel als zu wenig geben. Es wird auch dieſer Beweis nicht aus zweyer oder dreyer gemeiner Zeugen Munde genommen werden koͤnnen: in ſo fern dieſe nicht eine redende That - ſache zum Grunde ihrer Wiſſenſchaft angeben koͤnnen, oder aber die Zeugen ſelbſt adlich ſind, mithin den Begriff von der Sache haben, welchen ſie durch ihr Urtheil oder Zeugnis bekraͤftigen ſollen. Und denn wird es noch einebeſon -288Ueber die Adelsprobe in Deutſchland. beſondere Erwegung verdienen, wie dieſe Zeugniſſe ein - und aufgenommen ſeyn muͤſſen, und wie viel Zeugen er - fordert werden, um eine oͤffentliche Meinung, welche der Notorietaͤt gleicht, zu begruͤnden. Denn wer ſeinen Adelſtand durch Zeugen erweiſen will, ohne daß dieſe wahre Thatſachen zum Grunde ihrer Wiſſenſchaft ange - ben koͤnnen: der gruͤndet ſich in exiſtimatione publica, und 2 oder 3 Zeugen machen mit ihrer Meinung kein Publicum aus.

Ehe man aber hierunter etwas gewiſſes beſtimmen kann, wird es noͤthig ſeyn, wiederum einiges aus der Geſchichte voranzuſchicken.

Bey den Turnieren erſchien der Adel aus den 4 Laͤn - dern, und keiner wurde in die Schranken gelaſſen, oder er mußte ſich zu einem der 4 Laͤnder geſellen. Wenn ſich hiernaͤchſt bey der Helmſchau, welche vor jedem Tur - niere hergieng, ein Wappen fand, was vorhin noch nicht zugelaſſen geweſen war: ſo traten aus der Landmann - ſchaft, welche ihn fuͤr ihren Ebengenoſſen erkannt hatten, 2 oder 4 Maͤnner auf, und behaupteten mittelſt ihres Eydes, in Gegenwart aller Turniersgenoſſen, deſſen rechtmaͤßige Abſtammung von 4 edlen Vorfahren. Hier wurde alſo der Beweis des Adels, 1. durch Zeugen, 2. die Turniersgenoſſen, 3. und mit dem Neuangekomme - nen aus einem Lande waren, gefuͤhrt; und dieſe mußten 4. in Gegenwart ihrer eigenen Landmannſchaft, und 5. der uͤbrigen Landmannſchaften, einen koͤrperlichen Eyd uͤber die Sache ablegen. Lange bediente man ſich dieſer Beweisart bey den einheimiſchen Ritterſchaften nicht, wo die Familien einander kannten, und Fremde nur ſelten aufgenommen wurden. Deſto fruͤher aber wurde er bey Orden und Capiteln eingefuͤhret, worin ebenfalls, wiebey289Ueber die Adelsprobe in Deutſchland. bey Turnieren, der Adel aus allen deutſchen Laͤndern auf - genommen wird, und ſonach der Fall, daß ein Fremder den Beweis antreten muß, faſt beſtaͤndig vorkoͤmmt. Der Neuankommende mußte, ſo wie es bey einigen Domca - piteln noch uͤblich iſt, ſeine ebenbuͤrtigen Zeugen aus ſei - ner Heymat mitbringen, und dieſe mußten ihren Eyd in Gegenwart des Capitels ablegen. So vernuͤnftig dieſe Art des Beweiſes iſt, indem von gegenwaͤrtigen Zeugen Erlaͤuterungen und Antworten auf Zweifel und Beweiſe ertheilet werden koͤnnen: ſo beſchwerlich war ſie aber auch, und ſo wurde der Beweis durch Proben, worauf auch andre ebengenoſſe Zeugen ſchwoͤren konnten, der ge - woͤhnlichſte.

Hier aber machten eigentlich die Proben den Beweis aus; und die ſo genannten Aufſchwoͤrer ſagten nur un - ter ihrem Eyde aus, daß ſie nicht anders wuͤßten, und auch glaubhaft nicht anders gehoͤret haͤtten, als daß die vorgelegten 16 Ahnen Rittermaͤßigen Geſchlechts waͤren.

Dieſe Beweisart nahmen nun endlich auch, nachdem das Geld, und mit dieſem die Gelegenheiten, zu einer Landactie in fremden Provinzen zu gelangen, ſich ver - mehret hatte, die mehrſten Ritterſchaften an, welche um deswillen, daß ſie ſich derſelben ſpaͤter bedienet haben, den Capiteln und Orden keinesweges nachzuſetzen ſind. Vorher aber hatten dieſelben faſt uͤberall Landesvereini - gungen errichtet, oder Landtafeln ausgehangen, um ſich gegen die vorerwaͤhnte neue Art von Rittern, und den Briefadel, zu ſchließen, und ihre alten bekannten Ge - ſchlechter von dieſem abzuſondern. Bey dieſen Vereini - gungen wurde aber, wie bey den Turnieren, zuerſt der Beſitzſtand angenommen, und derjenige zugelaſſen, wel - cher entweder als echter Eigenthuͤmer einer Landactie, oder auch als Dienſtmann, zu Hof - und zu Landverſamm -Moͤſers patr. Phantaſ. IV. Th. Tlun -290Ueber die Adelsprobe in Deutſchland. lungen zugelaſſen war. Wer alſo ſeine Ahnen damit recht - fertigen konnte, daß ſie zur Zeit jener Vereinigungen alſo zugelaſſen waren, oder ſolche mit geſchloſſen und unter - ſchrieben hatten, brauchte ſich mit einem hoͤher hinauf - gehenden Beweiſe nicht zu beladen.

Nach dieſer kurzen Geſchichte der Beweisart, wird man leicht einſehen, wohin man ſich allenfalls zu verei - nigen habe, wenn, wie es vernuͤnftig, und aus mehrern Urſachen noͤthig iſt, uͤberall ein gleichfoͤrmiger Beweis des Adels eingefuͤhret werden ſoll.

Der Beweis durch Zeugniſſe von geſchloſſenen Stifts - oder Ordenscapiteln und Ritterſchaften, iſt natuͤrlicher Weiſe der ſicherſte und beſte, wenn ſolche bey gemeiner Verſammlung erkannt, und hinlaͤnglich glaubhaft aus - gefertiget ſind. Denn was ein zahlreiches adliches Col - legium, in einer einheimiſchen, ihrer Wiſſenſchaft nicht leicht entgehenden Sache, als wahr und offenkundig, oder als eigne Geſchichte, beglaubiget: dem muß billig ſo lange Glaube beygelegt werden, bis jemand den von ihm be - gangenen Jrrthum voͤllig beweiſet.

Ob aber dergleichen Zeugniße blos unter dem Sie - gel, oder nebſt dieſem unter der Hand des geſchwornen Syndici und Secretarii allein, ausgefertiget, und nicht auch von zween Mitgliedern des Collegii mit unterſchrie - ben, und beſiegelt werden muͤſſen: ſteht billig zur allge - meinen Beſtimmung. Zur Guͤltigkeit verſchiedener ge - richtlichen Handlungen wird, außer des Richters oder des Gerichtſchreibers Unterſchrift, die Mitunterſchrift zweyer Schoͤpfen erfodert; und es hindert nicht, dieſe Foͤrmlichkeit auch bey den Zeugniſſen der Capitel und Rit - terſchaften zu verlangen, da man vorausgeſetzter maßen, den Beweis ſo wenig zu erleichtern, als zu erſchweren, noͤthig hat.

Wo291Ueber die Adelsprobe in Deutſchland.

Wo aber jemand aus einer Provinz iſt, worin keine ſolche Capitel und Ritterſchaften vorhanden ſind: da muß billig und in ſubſidium ein anderer Beweis ſtatt finden. Jnsgemein hat man in dieſem Falle das an Eydes ſtatt gegebene Zeugnis von 2, 3, oder 4 bekannten Stifts - oder Turniersgenoſſen Edelleuten, zugelaſſen. Jedoch ſind auch Capitel und Ritterſchaften vorhanden, welche ſich wegern, dergleichen Privatzeugniſſe fuͤr zulaͤnglich zu er - kennen. Der Grund hievon mag darin liegen, daß Per - ſonen, welche einzeln und außergerichtlich um ihr Zeug - niß angeſprochen werden, ſich ungern entſchließen, ſolche einem ungeſtuͤmen, oder angeſehenen Manne, zu ver - ſagen; oder ſich doch leicht durch Freundſchaft und andere Bewegungsgruͤnde verleiten laſſen, ſich mehr nach der oͤffentlichen Meinung, als nach einer genauen Unterſu - chung, zu entſchließen. Ein andrer Grund mag ſeyn, daß oft jemand ſich in einer von ſeiner Heymat entfernten Provinz niedergelaſſen, und von Vater auf Sohn den Ruhm eines alten Edelmanns erhalten hat, der in ſeiner Heymat nie dafuͤr erkannt iſt.

Beyde Gruͤnde ſind wichtig, und fuͤhren natuͤrlicher Weiſe dahin, daß man dergleichen Zeugniſſe nicht anders anzunehmen habe, als wenn ſie vor dem Obergerichte, und eydlich, abgelegt ſind: nicht ſo wohl, um ihnen meh - rere Gewißheit, als den Zeugen ſelbſt Gelegenheit zu ge - ben, ſich, wenn ſie ihrer Sache nicht genugſam ſicher ſind, mit deſto mehrerem Anſtande entſchuldigen zu koͤn - nen. Und auch bey einem alſo ertheilten Zeugniſſe, muͤßte wenigſtens dieſes, daß die Familie in dem Lande, wor - aus ſie das Zeugnis verlangt, uͤber aller Menſchen Ge - denken, oder doch uͤber 100 Jahr, einſaͤßig, und als eine altadliche Familie bekannt geweſen, von den ZeugenT 2eydlich292Ueber die Adelsprobe in Deutſchland. eydlich erhaͤrtet werden. Dieſe muͤßten auch ſelbſt das Wappen nicht fuͤhren, woruͤber ihr Zeugnis erfodert wird.

Wie es aber in dem Falle zu halten, da diejenigen vom Adel, welche das Zeugnis ablegen, an dem Orte, wo ſolches gebraucht werden ſoll, nicht genugſam bekannt ſind, und ob in dieſem Falle, das Zeugnis einer Lan - desregierung uͤber die Ritterbuͤrtigkeit der Zeugen, zu - gelaſſen werden ſolle: iſt ebenfalls eine wichtige Frage. Legt die Landesregierung hiebey eine Thatſache, woraus unmittelbar auf den Adel des Zeugens geſchloſſen werden kann, zum Grunde: ſo kann ſolches billiger Weiſe nicht wohl bezweifelt werden. Wo es aber hieran fehlt, muͤßte der Landesfuͤrſt um ein beſonders adliches Mannsgericht, worin nicht minder als 4 Beyſitzer waͤren, angegangen, und von dieſen die Ritterbuͤrtigkeit der Zeugen erkannt werden; da dann diejenigen, welche der Fuͤrſt als adliche Maͤnner zu einem ſolchen Manngericht berufen haͤtte, auch dafuͤr, ohne weitere Probe, anzunehmen ſeyn wuͤrden.

Ueberhaupt moͤchte es zu Erleichterung des Bewei - ſes nicht wenig beytragen, wenn in den Laͤndern, worin es keine geſchloſſene adliche Capitel und Ritterſchaften giebt, die Landesfuͤrſten einen Tag, an welchem alle und jede Erbgeſeſſene, welche ihr altadliches Geſchlecht erwei - ſen wollten, ihre Proben vorzulegen haͤtten, beſtimmten, ſodann aus den benachbarten Capiteln und Ritterſchaften etwa 12 untadelhafte Mitglieder zu ſich begehrten, und vor denſelben die Unterſuchung der eingekommenen Wap - pen und Beweiſe vornaͤhmen, und von denſelben daruͤber erkennen ließen; da denn daruͤber eine Ritterrolle ver - fertiget werden koͤnnte, woraus hiernaͤchſt jedem, der es verlangte, ein Auszug mitgetheilet werden koͤnnte. Die auf dieſe Art fuͤr gut erklaͤrten Geſchlechter wuͤrden als -dann293Ueber die Adelsprobe in Deutſchland. dann gewiß ein mehrers, als bey den Turnieren und an - dern adlichen Feyerlichkeiten uͤblich geweſen, erwieſen, mithin nicht zu fuͤrchten haben, daß ein einziges geſchloſ - ſenes Capitel, beſonders, wenn man ſich allenfalls daruͤ - ber auch vorher vereiniget haͤtte, dieſen Beweis fuͤr un - guͤltig erklaͤren wuͤrde; nachdem ſo gar die Rollen einiger Turniere neuerer Zeiten, oder fuͤrſtlicher Leichenbeglei - tungen, fuͤr gute Beweiſe angenommen ſind, wobey ge - wiß die Proben nicht ſo foͤrmlich unterſuchet ſeyn moͤgen, als in jenem Falle geſchehen kann. Ein beſtaͤndiges He - roldsamt iſt fuͤr kleine Provinzen zu beſchwerlich, und wenn es nicht vollſtaͤndig und gehoͤrig beſetzet iſt, unzu - verlaͤßig: ſonſt wuͤrde dieſes den deutſchen Provinzen, worin keine geſchloſſene Stifter und Ritterſchaften ſind, zu empfehlen ſeyn. Jenes Mittel, daß ſie einmal fuͤr alle, die vorgeſchlagene Unterſuchung vornehmen ſollen, iſt aber auch um deswillen angenehmer, weil es nur ein - mal mit Ausſchluß aller Stillſchweigenden gehalten wer - den ſoll, und ſolchergeſtalt nicht zu einer Quelle von kuͤnf - tigen Erſchleichungen mißbrauchet werden kann.

Wenn nun einmal die Adelsprobe auf dieſe oder eine andere Art, worin man, unter der hoͤchſten Genehmi - gung des Reichsoberhauptes, gemeinſchaftlich uͤberein gekommen iſt, gleichfoͤrmig gemacht ſeyn wird: ſo wird auch damit der Vorwurf, welchen von Zeit zu Zeit, eine geſchloſſene adeliche Ritterſchaft der andern gemacht hat, und wodurch es dahin gekommen iſt, daß oft die eine das Zeugnis der andern nicht hat gelten laſſen wollen, von ſelbſt verſchwinden. Denn wenn alle nach gleichfoͤrmigen, von dem hoͤchſten Reichsoberhaupte beſtaͤtigten Beweis - arten verfahren, und daß dieſes geſchehen ſey, kuͤnftig in ihren Zeugniſſen ausdruͤcken, auch allenfalls noch die -T 3ſes,294Ueber die Adelsprobe in Deutſchland. ſes, daß ſie eine geſchloſſene adliche Ritterſchaft ſey, wel - che keine andere als ſolche, die ſich nach obigen Grund - ſaͤtzen als altadliche Geſchlechter darſtellen koͤnnen, in ihre Verſammlungen als Mitglieder zulaſſe, gehoͤrig beſchei - nigen: ſo muͤſſen ihre Zeugniſſe insgemein guͤltig ſeyn, und die Reichsgerichte darauf erkennen. Es koͤmmt ſodann nicht darauf an, ob eine oder andere Ritterſchaft vorhin minder ſtrenge zu Werke gegangen ſey; indem, ſobald jene Vereinigung zu Stande gekommen iſt, fuͤr die Zu - kunft nichts weiter zu befuͤrchten iſt, und das Vergan - gene den Beſitzſtand, welcher ſo wohl bey den erſten Tur - niergeſetzen, als bey den erſten Ritterſchaftlichen Verei - nigungen, fuͤr zulaͤnglich gehalten wurde, zum Grunde hat; einen Grund, den auch alle Capitel haben gelten laſſen, als ſie ſich zuerſt gegen die kuͤnftigen Zeiten ſchloſ - ſen, und nicht allein alle diejenigen, welche in dem Be - ſitze der Pfruͤnden waren, ſondern auch deren ihre Waf - fengenoſſen, fuͤr Stiftsfaͤhig erkannten.

Ohne Zweifel ſind in Anſehung der Beweisart noch mehrere Punkte zu berichtigen, ehe man ſich uͤber ihre voͤllige Gleichfoͤrmigkeit wird vereinigen koͤnnen. Gleich - wie aber dieſe von jedem Stifte, oder jeder Ritterſchaft, am beſten werden angegeben, und zu einer gemeinſchaft - lichen Beſtimmung befoͤrdert werden koͤnnen: alſo wird es unnoͤthig ſeyn, ſich dermalen darauf umſtaͤndlich ein - zulaſſen. Die Hauptangelegenheit muß jetzt ſeyn, das hoͤchſte Reichsoberhaupt zu bewegen, die beyden Punkte, was einer, der ſich als ein alter Edelmann darſtellen will, beweiſen, und wie dieſer Beweis gefuͤhret werden ſolle, einmal fuͤr alle zu beſtimmen, und daruͤber allenfalls das Gutachten des geſammten Reichs zu erfordern, um den Adel bey ſeinem alten Glanze zu erhalten, und allen fer -nern295Ueber die Adelsprobe in Deutſchland. nern Erſchleichungen vorzubeugen. Denn geſchiehet die - ſes nicht: ſo wird ſelbſt der neue Militairſtand, welcher wohl am meiſten den alten Militairſtand druͤckt, und mit ihm eben ſo verfaͤhrt, wie dieſer mit dem Adel der erſten Klaſſe, oder der Militz aus Landeigenthuͤmern, verfah - ren iſt, kuͤnftig den Adel nicht als eine hinlaͤngliche Be - lohnung ſeiner Verdienſte anſehen koͤnnen, und ſo nach in der Folge den Vortheil verlieren, welchen er in dem erſten Augenblicke erhalten zu koͤnnen vermeinet.

LVIII. Der Capitularſoldat.

Auszug eines Schreibens.

.... Jn der That die Sache verdient, daß ſie von der ganzen deutſchen Nation beherziget, und dem Kayſer zur ſchleunigſten Verbeſſerung empfohlen werde. Denn nicht allein verliert der Capitular von ſei - ner Wuͤrde und Wehrung, wenn er ſolchergeſtalt den Kriegsſtand ganz vermeiden muß; ſondern der ganze Stand der Weltgeiſtlichen geraͤth immer mehr und mehr mit dem Jntereſſe des Staats in Colliſion, und wird von dieſem natuͤrlicher Weiſe immer mehr und mehr verach - tet und verfolgt, wenn er die bravſten jungen Edelleute auf die Baͤrenhaut lockt, und dem Fuͤrſten nicht erlaubt, einen wohlverdienten Officier mit einer Pfruͤnde zu be - lohnen, ohne ihn zugleich aus ſeinem Dienſte zu verlie - ren. Es fehlt auch nicht, da der Militairſtand taͤglich gewinnt, und in der Spannung, worin Europa ſchwitztT 4immer,296Der Capitularſoldat. immer mehr und mehr gewinnen muß; oder die Capitu - laren, beſonders die Domcapitularen, wenn ſie von allen Kriegsdienſten ausgeſchloſſen bleiben, werden zuletzt an den großen weltlichen Hoͤfen zu niedlichen Abbe’s herab - ſinken, und ihre bisher gehabte Wuͤrde nicht behaupten koͤnnen. Ob die Kirche hiebey gewinnen, und ob nicht mit der Zeit ein ſo weſentlicher Fehler in ihrer Verfaſ - ſung, das ganze Syſtem untergraben, mithin in der Folge den Weltgeiſtlichen eben den Haß zuziehen werde, welchen ſich die Moͤnche durch ihre politiſche Unthaͤtig - keit zugezogen haben: uͤberlaſſe ich andern zu beurthei - len. Aber offenbar erfodert es das allgemeine Wohl des Staats, und das eigene Jntereſſe der Kirche, daß hierinn eine Reformation vorgenommen werde: und ich ſehe nicht ab, was unſern Kayſer abhalten ſolle, ſolche von dem Oberhaupte der Kirche zu verlangen, oder was den Papſt bewegen koͤnnte, dieſe zu verweigern, da die Nothdurft der Kirche und die Beduͤrfnis der Zeit, ſie gleich laut fodern. Die Kirche darf nicht nach Blut duͤrſten: das weiß ich, und das verehre ich als eine weſentliche Chri - ſtenpflicht. Aber daß ſie nicht Blut vergießen duͤrfe, wenn eigene Rettung, die Rettung des Staats und der Heerde, ſolches von ihr erfodert: das iſt die Lehre des Miethlings, der anſtatt den Wolf zu toͤdten, ihm die Heerde preis giebt. Daher auch ſchon Clemens V. jeden Geiſtlichen von aller Jrregularitaͤt frey ſprach, wenn er Blut zu ſeiner Rettung vergoſſen hatte.

Wenn ich alle die Bruchſtuͤcke, welche in den Conci - lien und Decretalen daruͤber vorhanden ſind, daß die Geiſtlichen ſich nicht in Kriegsdienſte einlaſſen ſollen, zu - ſammen und in Ordnung ſtelle: ſo koͤmmt am Ende nichts weiter als dieſer Sinn heraus, daß diejenigen, ſo derKirche297Der Capitularſoldat. Kirche am Altar dienen, nicht gezwungen werden ſollen, fuͤr ſie ins Heer zu ziehen; und daß kein Geiſtlicher ſich von freyen Stuͤcken in den Krieg begeben ſolle. Das er - ſte bezieht ſich auf die Zeiten des Heerbanns, worinn der Krieg eine Reihepflicht war, und nachdem es der Kayſer verlangte, jeder Manſus ſeinen Mann ſtellen mußte. Hier war es ganz natuͤrlich, den Manſus der Kirchen, deſ - ſen Beſitzer davon am Altar diente, nicht mit doppelter Pflicht zu beſchweren. Das andre hingegen geht auf die Zeiten, wo man anfieng, außer dem Heerbann, und auſ - ſer der Lehn - und Dienſtmannſchaft, eine neue Art von Geworbenen anzunehmen, welche auf Contracte und auf eine gewiſſe Zeit dienten, und vornehmlich der Beute und Pluͤnderung wegen dem Kriege nachzogen. Dieſe hießen Teufelskinder*)Filii Belial, de ſecta corum, qui vocantur Rotte: ARNOLD. Lübec. c. 26. Vermuthlich wurden die Geworbenen in Rot - ten abgetheilt, und hieſſen daher Ruptuarii, Roturiers, im Gegenſatz von der noblen Dienſtmannſchaft. und Bluthunde und unter dieſen ſollte von Rechtswegen kein Geiſtlicher ſich finden laſſen. Da - her ſagten die zu Arles verſammleten Vaͤter: ut nullus Clericus ruptuariis vel boleſtariis, aut hujusmodi viris ſan - guinis, praeponatur. Und ſpaͤtere Verordnungen der Kir - che eifern nur dawider, daß Geiſtliche ſich nicht ſollten anwerben laſſen; zu verſtehen von dieſen Teufelskindern, als der damaligen einzigen Art von Geworbenen, keines - wegs aber, daß ſie nicht ſollten, wenn ſie anders woll - ten, im Heerbann mit ausziehen, und fuͤr ein Lehn die - nen koͤnnen. Wie es denn gewiß in der Geſchichte tau - ſend und mehr Faͤlle giebt**)Noch in den ſpaͤtern Niederlaͤndiſchen Unruhen, war faſt jeder reiche Edelmann in Weſtphalen, Entrepreneur einesCorps, wo Paͤpſte, Biſchoͤfe undT 5andre298Der Capitularſoldat. andre Geiſtliche, an der Spitze ihres Heerbanns oder ih - rer Lehnmannſchaft gefochten haben, ohne daß ſie ſich dadurch eine Jrregularitaͤt zugezogen haͤtten.

Gehe ich nun von dieſem Sinne der Kirche aus: ſo handelt ein jeder Geiſtlicher, und vielleicht ein jeder Menſch, gegen ſeine Pflicht, der ſein Leben einem andern verkauft, und ſich zu mehrerem Blutvergießen verbindet, als die Vertheidigung des Reichs oder des Landes, deſſen Unterthan er iſt, von ihm erfodert. Es mag auch wohl fuͤr unanſtaͤndig gehalten werden, wenn ein Geiſtlicher unter den leichten Truppen dienet; obſchon dieſe jetzt in eben ſo großer Achtung ſtehen, als die ſchweren, und mit der Zeit noch groͤßere Achtung verdienen werden. Allein daß ein Geiſtlicher ſofort ſeine Pfruͤnde verliehren ſolle, wenn er ſich unter die Zahl der heutigen beſtaͤndi - gen Landesvertheidiger, die nun anſtatt des alten Heer - banns, und der Lehn und Dienſtmannſchaft, gehalten werden, aufnehmen laͤßt, nicht nach bloßer Willkuͤhr ſein Leben verkauft, ſondern nur das Gottgefaͤllige Geluͤbde thut, zur Zeit der Roth, Kirche, Reich und Land mit ſei - nem Blut vertheidigen zu wollen, nicht den geiſtlichen Wohlſtand verletzt, und nun eben den Partiſan ſpielt: das duͤnkt mir um ſo viel unbilliger, je mehr die neue - ren Zeiten von dem Soldaten Menſchenliebe und Tugen - den erfodern, und je gewiſſer man dieſe eher bey wuͤrdi - gen Geiſtlichen, als bey andern, zu ſuchen berechtiget iſt.

Freylich haben feige Ausleger ihre Rechnung dabey gefunden, daß ſie das Duͤrſten nach Blute, welches dieKirche**)Corps; und unſre jetzigen Hollandsgaͤnger, zogen damals alle mit dergleichen Entrepreneurs dem Kriege nach. Jn ihren Contracten ſteht, daß ſie alle Staͤdte, welche ſie erobern wuͤr - den, 3 Tage zu pluͤndern die Erlaubnis haben ſollten.299Der Capitularſoldat. Kirche verbietet, mit dem Vergießen deſſelben zu ihrer Vertheidigung, verwechſelt, und den Bannaliſten wie den Lehnmann, mit jenen Blutduͤrſtigen Soͤldnern in Eine Klaſſe geſetzt haben. Denn ſie konnten unter dieſem Schil - de einen Baͤrenhaͤuter unbeſchimpft in die Taſche ſtecken, und jeden ehrlichen Kerl beleidigen, ohne daß ſie noͤthig hatten, ihm zu Kampfe zu ſtehen. Auch mochten die Wer - bungen uͤberhaupt, wodurch ein Herr, wenn er nur Geld hat, ſich auf eine kurze Zeit dem maͤchtigſten gleich ſtellen und alles, was mit Geſchwindigkeit zu erobern ſteht, eben ſo gut, wie jener, erobern kann, der Kirche und dem Papſte nicht ſonderlich gefallen. Vielleicht ſchwebte den Kirchenvaͤtern auch der entſetzliche Unfug vor Augen, welchen die Lanzknechte, die Reiſtres, und andre auf Con - tracte dienende Truppen, im 14ten, 15ten und 16ten Jahrhunderte, uͤberall anrichteten. Allein ich getraue es mir gegen jeden Kanoniſten zu behaupten, daß der echte Sinn der Kirchengeſetze es keinem Weltgeiſtlichen verboten habe, im Heerbann mit auszuziehen, oder ſein Lehn in Perſon zu verdienen: nichts hinderend, daß nach dem Lehnrechte die Pfaffen Lehnrechtes darben ſollten. Denn durch dieſe Regel ſuchte ſich blos der weltliche Staat gegen den geiſtlichen zu decken, der nicht gezwungen wer - den konnte, ſein Lehn in Perſon zu verdienen. Konnte aber ein Weltgeiſtlicher, wenn er wollte, im Heerbann mit ausziehen, und ſein Lehn in Perſon verdienen: ſo kann er auch Dienſte unter der jetzigen beſtaͤndigen Mi - litz nehmen, die nach der heutigen Lage unſrer Verfaſ - ſung, und aller Umſtaͤnde, zur Vertheidigung der Kirche, des Reichs, und des Landes, unterhalten werden muß.

Wir ſind nicht mehr in den Zeiten, worin jeder Chriſt Buße thun muß, wenn er auch in dem gerechteſten Kriege ſeinen Feind erſchlagen haͤtte. Wir fragen auchnicht300Der Capitularſoldat. nicht mehr, ob ein Geiſtlicher wohl die Chirurgie treiben, und jemanden die Ader oͤffnen duͤrfe, um nicht fuͤr einen Blutvergießer gehalten zu werden. Aber eben deswegen ſollte man auch die aus jenen Zeiten ſich herſchreibende, und auf zufaͤllige Zeitumſtaͤnde ſich gruͤndende Kirchen - zucht, nach den ſpaͤtern Beduͤrfniſſen der Zeit ermaͤßigen, und den Weltgeiſtlichen dasjenige nicht verſagen, was den geiſtlichen Rittern zur Pflicht gemacht iſt; oder wenn das durchaus nicht geſchehen kann, Capitularpfruͤnden, wovon die darauf haftende Pflicht durch einen beſtaͤn - digen Vicar verrichtet wird, in Commenden verwandeln, und ihre Beſitzer von der Nothwendigkeit befreyen, ſich des Kriegsſtandes unfaͤhig zu machen, um ſolchergeſtalt Staat und Kirche zu vereinigen, und die wuͤrdigen Maͤn - ner mit zur Vertheidigung der Kirche und des Staats zu gebrauchen, welche jetzt wider ihren Willen die Haͤnde in den Schoos legen muͤſſen.

Jn den alten Zeiten ließ die Kirche das Blutgericht, weil die Ausuͤbung deſſelben immer Geld koſtete, dem Kayſer, und begnuͤgte ſich mit den Strafen, welche Geld einbrachten. Aber in den neuern Zeiten iſt die Politik der guten Mutter etwas naͤher beleuchtet worden, und man denkt: wer den Blutbann ausuͤben ſoll, muͤſſe auch zu deſſen und der Criminalraͤthe Unterhalt, die Geldbuſ - ſen einziehen. Der Laye wird immer kluͤger; und es fehlt nicht, oder er entdeckt auch noch einmal einen zwey - ten Weg zum Himmel, wo er ohne Maut und Zoll da - hin kommen kann, wenn die Kirche den andern gar zu enge macht, und nicht in Zeiten auf die Abſtellung ſolcher Dinge denkt, welche den Staat an ſeiner wahren Groͤße hindern. Der heil. Bernhard warb die Rekruten zum Kreuzzuge mit der Maͤrtyrerkrone; und ich ſollte denken,daß301Der Capitularſoldat. daß es weit ruͤhmlicher ſey, ſein Leben fuͤr das Vater - land, als fuͤr das heil. Grab, zu wagen. Die Geiſt - lichen Fuͤrſten haͤtten um ſo mehr Urſache, eine baldige Reformation in dieſem Stuͤcke zu befoͤrdern, und jedem Domcapitularen eine Compagnie zu geben, da in dem Falle, daß die jetzige Spannung von Deutſchland einmal zum Bruch kommen ſollte, niemand vorhanden ſeyn wird, der dem Sieger Einhalt thun kann; und unſre maͤchtige Nachbarn, wenn man bey ihnen Huͤlfe ſuchen wird, ſich mit Leuten nicht verbinden werden, die nur ihr Brevia - rium zu behandeln wiſſen. Man ſpottet zwar uͤber die Biſchoͤfe und andere kleine Herrn, welche nur eine kleine Kriegsmacht halten. Aber die Zeit kann kommen, und ſie koͤmmt einmal gewiß, wo dergleichen einzelne Re - gimenter, unter der Anfuͤhrung eines Kreisherzogs, eben dasjenige leiſten werden, was der Niederſaͤchſiſche Kreis unter dem Herzoge Ferdinand geleiſtet hat ....

LIX. Alſo ſollten geringe Nebenwohner, wenn ſie wollten, wegen ihrer Schulden nicht gerichtlich belangt, ſondern mit kurzer Hand zur Zahlung angehalten werden.

Ruͤhmen Sie mir doch nur nichts mehr von ihrer ſchoͤnen Juſtitz. So lange Sie keine Anſtalt ma - chen, daß die armen und geringen Leute auf dem Lande, unter einen ſichern nahen Schirm und Schutz gebracht werden, der ſie nach Beſchaffenheit ihrer Umſtaͤnde be -han -302Sollten nicht Nebenwohnerhandelt: ſo lange bleibt ihre geruͤhmte Juſtitz nur eine Ruthe, womit der Allmaͤchtige dieſes Land zuͤchtiget. Sie koͤnnen dieſes in der Stadt, wo der Buͤrger den Schutz ſeiner Obrigkeit, der er nach allen Umſtaͤnden bekannt iſt, muͤndlich anrufen und immer auf dem kuͤrzeſten Wege auch mehrentheils ohne alle Unkoſten Huͤlfe haben kann, ſo nicht einſehen, wie wir es auf dem Lande thun, wo ein jeder ſo bald er etwas zu klagen hat, oder verklagt wird, ſo gleich einige Meilen reiſen muß, und keine Huͤlfe erlangen kann, ohne einen Advocaten und Procurator anzunehmen. Hier hat man immer nur die Wahl, ob man ſich dem einen Ungluͤck uͤberlaſſen, oder dem andern entgegen gehen wolle. Jch kann Jhnen davon eine ſehr traurige Geſchichte erzaͤhlen die ſich hier in vorigem Jahre zugetragen hat, und leider oft zutraͤgt.

Ein gewiſſer Kaufmann, dem alle Eingeſeſſene ſei - nes Kirchſpiels viel oder wenig ſchuldig ſind, ward auf einen Heuermann boͤſe, der ihm ſein Linnen nicht wie ge - woͤhnlich zum Verkauf gebracht, und die Kleidungsſtuͤcke ſo er gebrauchte, von einem andern genommen hatte. Dieſes muͤſſen, im Vorbeygehen geſagt, alle die ihm ein - mal ſchuldig ſind, und weil ſich das ganze Kirchſpiel in dieſem Falle befindet, alle ohne Ausnahme thun; den Preis ſetzt er in beyden Faͤllen wie er will, und was er zu Buche ſchreibt das gilt von Rechtswegen. So bald ward der Kaufmann die Abtruͤnnigkeit ſeines bishe - rigen Sclaven nicht gewahr: ſo ließ er ihn auch wegen funfzig Thaler, die er ihm laut ſeines Buches und der darin enthaltenen wucherlichen Abrechnung ſchuldig ſeyn ſollte, an das entfernteſte Gericht fordern, noͤthigte den Mann, welcher die Schuld, die von ſeiner Frauen erſtem Mann herruͤhren ſollte, nicht wahr glaubte, zu einembe -303in Schuldſachen muͤndlich verklagt werden. beſchwerlichen Proceſſe, der ihn zuletzt um alles das Seinige brachte.

Seine Frau, die er ungefehr vor einem Jahre als Witwe mit drey Kindern geheyrathet hatte, war eine von den geſunden und freudigen Weibern, die immer fleißig arbeiten, und Gott danken, wenn ſie Arbeit ha - ben. Sie wußte von keinem Ungluͤck, außer daß ſie ih - ren Mann verlohren hatte, und dieſer Verluſt war ihr durch einen eben ſo guten erſetzt, der ſie ohne weitere Unterſuchung ihres Vermoͤgens ſo freudig genommen, wie er ſie gefunden hatte. Beyde waren ſo vergnuͤgt, wie immer Leute ſeyn koͤnnen, die bey redlicher Ar - beit ihr nothduͤrftiges Auskommen haben, als ſie von ih - rem Procurator die Nachricht erhielten, daß ſie zu Be - zahlung der funfzig Thaler und doppelt ſo vieler Koſten verdammt waͤren. Wenige traurige Abende, die ſie mit hin und herdenken, wie ſie ſich in dieſem ſchrecklichen Falle retten wollten, zubrachten, waren verfloſſen, als auch ſchon die Pfandung einlangte; und nun ward ihnen ihr Bett, was ſich die Frau in den ſechs Jahren, die ſie als Magd gedienet, ſauer erworben hatte, eine Kuh die eben melk geworden, und ein Schwein deſſen vortrefliches Ge - deyen bisher der Stof ihrer taͤglichen Unterredung gewe - ſen war, aus dem Hauſe genommen; ein Stuͤck Loͤwend, womit ſie ihre verſchiedene Oſterheuer bezahlen wollten, und worauf ſie den ganzen Winter geſponnen und gear - beitet hatten, mußte mit fort; aus dem Hauſe gieng es aufs Feld, wo zwey Morgen mit dem ſchoͤnſten Roggen, und ein andrer mit Lein ſo ſchoͤn wie ein geſchorner gruͤ - ner Samet, in die Pfandung genommen wurden. Um - ſonſt widerſetzte ſich hier der Frauen ihre Schweſter, die eben das Lein jaͤtete, und durch ihr weißes Hemd die Auf - merkſamkeit der voruͤbergehenden an ſich zu ziehen be -muͤhet304Sollten nicht Nebenwohnermuͤhet war, mit der Behauptung, daß das Lein bis da - hin wo die Bohnen auf der gruͤnen Flur hervorragten, ihr allein zugehoͤrte; umſonſt rief ſie, daß ſie daruͤber hundert Zeugen bringen wollte. Die Pfaͤnder kehrten ſich ſo wenig an ihr Geſchrey als an ihr ſchoͤnes Hemde, und das arme blauaͤugigte Maͤdgen mußte mit Schrecken hoͤren, daß ſie ihre Zeugen dem Richter vorbringen ſollte, dem Richter, den ſie nicht anders als abermal durch ei - nen Advocaten und Procurator ſprechen konnte.

Nun ſitzt das arme gute Weib da mit drey Kindern von ihrem erſten Mann, ohne Bette, ohne Kuh, ohne Schwein, ohne Flachs, ohne Korn, und was noch das betruͤbteſte iſt ohne Mann. Denn dieſer der keine Kin - der mit ihr hatte, ſagte ihr gleich des andern Tages: Gott erhalte dich gutes Weib, im ewigen Leben ſehen wir uns wieder, und gieng damit nach Holland, und wollte, wie er ſagte, in einem Lande nicht bleiben, welches Gott bald ſtrafen muͤßte, weil darin die geringen Leute keinen beſſern Schutz haͤtten. Und woher ruͤhrt dieſes Ungluͤck? Gewiß blos daher, daß der Mann nicht vor einem na - hen Schutzherrn belangt werden konnte, der beyde Theile muͤndlich hoͤrte, und allenfalls dem Schuldner ſagte, daß er bezahlen muͤſſe, dem Glaͤubiger aber die Huͤlfe ſo gabe wie ſie jener ohne auf einmal zu Grunde gerichtet zu wer - den, erleiden konnte. Sagen Sie mir nicht, daß der Richter dieſes eben ſo gut thun koͤnnte. Dieſer kann die aus der Ferne zu ihm kommenden Leute, nicht unter - ſcheiden. Redliche und unredliche, gute und ſchlechte haben vor ihm einerley Phyſionomien, und er iſt nicht angewieſen nach dem Lavater zu urtheilen. Bey der Menge der Sachen ſo ihm vorkommen, kann er keine beſondre Aufmerkſamket auf eine wenden; er darf nur auf Beweiſe ſprechen, und was wuͤrde aus dem Leine desblau -305in Schuldſachen muͤndlich verklagt werden? blauaͤugigten Maͤdgens geworden ſeyn, wenn dieſes nur eine Ladung gegen zwey Zeugen haͤtte ausbringen, und dieſe ſchwoͤren laſſen ſollen?

Aber werden Sie ſagen, was iſt hier fuͤr eine An - ſtalt zu treffen? Sollen wir die Zahl der Richter vermeh - ren? und wird man nicht die geringen Leute um allen Credit bringen, wenn man die Forderungen ihrer Glaͤubi - ger, und die ihnen darauf gebuͤhrende rechtliche Huͤlfe der beliebigen Ermaͤßigung eines Schutzherrn uͤberlaͤßt? dieſes iſt freylich zu fuͤrchten und auch nicht auſſer Augen zu ſetzen. Aber doch wuͤnſchte ich, daß es moͤglich ſeyn moͤchte, ihnen auf eine oder andre Art zu helfen; es bleibt doch immer eine auſſerordentliche Beſchwerde fuͤr dieſel - ben, daß ſie nicht die geringſte Friſt erhalten koͤnnen, ohne wenigſtens einen Procurator anzunehmen, und wenn ich es gering ſetzen will, ohne zwey Thaler anzu - wenden, die mit der Beſcheinigung ihrer Umſtaͤnde, mit deren gerichtlichen Einbringung, dem communicetur, und dem Beſcheide darauf gehen; eine Beſchwerde die um ſo viel groͤßer iſt, je geringer ihre Schulden ſind. Jch habe Leute geſehen, die nur zehn Thaler ſchuldig waren, und ſolche nach Verlauf eines Monats bezahlen konuten und wollten, aber um dieſe Friſt zu gewinnen, zwey Thaler anwenden mußten; iſt das nicht entſetzlich?

Mein Vorſchlag um dem Uebel abzuhelfen wuͤrde dieſer ſeyn, daß alle Voll - und Halberben, und alle Erb - koͤtter, wenn man nicht anders wollte, unter dem ordent - lichen Richter bleiben, ihre Heuerleute aber, und die geringern Koͤtter in Schuldſachen, wenn ſie es ſelbſt ver - langten, unter dem Vogte*)Der Vogt im Oſnabr. iſt Steuereinnehmer, der wohl Gelder einnehmen, aber nicht als Richter erkennen kann., als ihren beſondern Schutz -Moͤſers patr. Phantaſ. IV. Th. Uherrn306Sollten nicht Nebenwohner ꝛc. herrn ſtehen ſollten. Dieſer ſollte ſie auf Verlangen ih - rer Glaͤubiger zur Zahlung nach Beſchaffenheit ihrer Um - ſtaͤnde anſtrengen, und damit in billiger Maaße ſo lange fortfahren, bis der Schuldner ſich ſelbſt ans Gerichte wendete, und den Glaͤubiger zum gerichtlichen Beweis ſeiner Forderung aufforderte. Dann wuͤrden ſich gewiß hundert bedenken, ehe ſie dieſen koſtbaren Schritt wag - ten, und der Glaͤubiger haͤtte auch die Freude ſeinen Schuldner nicht durch Gerichtskoſten erſchoͤpft zu ſehen. Wie oft wuͤrde dieſer nicht noch Geduld haben, wenn er nur noch keine Gerichtskoſten angewandt haͤtte? wenn er vorausſaͤhe, daß alles mit Koſten aufgehen wuͤrde? und wenn ihm die Muͤhe nicht verdroͤſſe, ſeinen eignen Procurator zu ſchreiben und ſich von ihm die Koſtenrech - nung einſchicken zu laſſen?

Wie gluͤcklich wuͤrde ich mich ſchaͤtzen, wenn dieſer Vorſchlag Beyfall faͤnde, und deſſen Ausfuͤhrung das neue Jahr, was wir jetzt antreten, bezeichnete! Bey der letzten Theurung gab die Regierung denjenigen, welche Korn ausborgten, die vogteyliche Huͤlfe. Warum ſollte dieſelbe nicht auch in andern Faͤllen unter obiger Ein - ſchraͤnkung ſtatt finden koͤnnen?

LX. Beherzigung des vorigen Vorſchlags.

Wahr iſt es, die armen und geringen Leute ſind zu beklagen, wenn ſie vors Gericht gezogen werden. Aber ſollte man nicht noch eine naͤhere Huͤlfe als die vor - geſchlagene haben koͤnnen? Man erlaube jedem Kauf -manne307Beherzigung des vorigen Vorſchlags. manne, oder einem jeden der mit dem Landmanne in Verkehr ſtehet, gedruckte Citirzettel unter ſeiner eignen Unterſchrift zu gebrauchen, ſolche ſeinem Schuldner durch den Pfarrer zuſtellen zu laſſen, und nach Ablauf der dar - inn zum erſten und andern Mal geſetzten Friſten, die Pfan - dung von dem Vogte zu nehmen: ſo wird ſich alles eben ſo gut geben und ſchicken, als wenn der Citirzettel von einem Gerichte ausgefertiget iſt. Dieſen natuͤrlichen Weg hatte der geſunde Menſchenverſtand den Glaͤubigern laͤngſt gewieſen, als ſie gerichtlich ausgefertigte Citirzettel in blanco nahmen, und ihren Schuldnern damit ſo lange zu Leibe giengen bis ſie bezahlten. Jn der Stadt ſieht man ihn taͤglich, indem ein Glaͤubiger den Rathsdiener bittet, ſeinem Schuldner zu ſagen, daß er ihn binnen 14 Tagen bezahlen muͤſſe; der Diener thut dieſes hundert Male ohne den Richter zu fragen und das mit Recht. Hier iſt eine muͤndliche Ladung in blanco.

Der Bauer iſt ein wunderliches Geſchoͤpf; er laͤßt die Citirzettel ſo lange laufen, bis er gepfandet wird; dann laͤuft er als wenn ihm der Kopf brennet, und ſucht Huͤlfe zu jedem Preiſe. Dieſe haͤtte er aber in jenem Falle wohlfeiler; er brauchte denn keine contumaciam zu pur - giren, keine vergeblich erkannte executoriales zu bezahlen, und keinen Advocaten und Procurator anzunehmen, und keine Reiſe in die Stadt zu thun. Er duͤrfte ſich ſodenn nur an ſeinen Glaͤubiger und Vogt wenden; dieſe wuͤß - ten wie er ſteht, und wie er ſein Verſprechen erfuͤllen wuͤrde; es waͤren wenige oder gar keine Koſten aufge - gangen; und die Sache ſchickte ſich, ohne daß die ge - ringſten falſchen Unkoſten aufgegangen waͤren.

Wozu bedarf es hier eines Gerichts oder eines ge - richtlichen Erkenntniſſes? Die Schuld leugnet der MannU 2ſelten,308Beherzigung des vorigen Vorſchlags. ſelten, er kann nur nicht ſo geſchwind bezahlen als der Glaͤu - biger wuͤnſcht; und dieſes ob er bezahlen will und kann, iſt dem Vogte zehnmal beſſer als dem Richter bekannt. Jn dem ſeltnen Falle, da er die Schuld nicht geſtaͤndig iſt, kann er allemal zum Richter gehn; dieſer Weg bleibt ihm offen, und der Richter kann angewieſen werden, ihm einen gedruckten Zettel zu geben, worauf der Vogt ein - halten muß. Wozu iſt es alſo noͤthig, ſogleich den Rich - ter, Gerichtsſchreiber, Pedellen, Advocaten und Procu - ratorn zu gebrauchen? hat doch jeder Gutsherr die Selbſtmahnung und Selbſtpfandung? hat ſie doch der Vogt auf die Schatzung, der Kirchenproviſor auf die Kir - chenrenten, der Verpachter in manchen Faͤllen auf ſeine Heuerleute? Warum ſollte man ſie alſo nicht in obiger Maaße jedem Kaufmanne wenigſtens in der Vogtey ge - ben, worin er und ſein Schuldner wohnen und bekannt ſind? Was bedarf es hier jenes koſtbaren Ceremoniels?

Vormals ehe die letztere Verordnung wegen der Ci - tirzettel ergieng, wußten die Pedellen und Boten ſich dieſes kurzen Mittels ganz gut zu bedienen. Sie ſtellten das ganze Gericht allein vor, und handelten gerade ſo, wie ich wuͤnſchte, daß alle Glaͤubiger handeln moͤchten. Der Misbrauch, welcher jene Verordnung veranlaßt hat, iſt in dem Falle, wo der Glaͤubiger ſelbſt alſo handelt, gar nicht zu befuͤrchten; und die Natur dringt immer mit Macht auf dieſen Weg, wir moͤgen auch dagegen anfangen was wir wollen. Die geſunde Vernunft pre - digt ihn beſtaͤndig, und es iſt Eigenſinn, daß wir ihr nicht endlich folgen. Alſo, mein Herr, jedem Kaufmann oder Glaͤubiger nur gerade zu das Recht eingeraͤumt, ſei - nem Schuldner einen Citirzettel zuzuſchicken; ihm erlaubt fuͤr jeden drey Pfennig in Rechnung zu bringen, unddann309Beherzigung des vorigen Vorſchlags. dann die Gebuͤhr des Pfarrers und Vogten beſtimmt: ſo haben wir alles was wir noͤthig haben, und brauchen nichts weiter. Jch erinnere mich eines Procurators, der alle ſeine Deſervitrechnungen noch kuͤrzer beyforderte. Er hielt ſich einen eignen Boten, ſchickte ihn aufs Land, ließ ſeine Schuldner einmal und zweymal fordern, und zuletzt fragen: ob ſie dem Boten ein Pfand geben woll - ten oder nicht? Kein einziger wegerte ſich deſſen, ſie be - zahlten, ſo oft ſie gemahnt wurden, dem Boten ſeinen Schilling, und gaben ihm zuletzt, wenn ſie nicht bezah - len konnten, ein Pfand, was er nach einer beſtimmten Zeit verkaufte, ohne dem Richter einen Pfennig davon zu goͤnnen, und der Schuldner war am Ende froh, ſo wohlfeil davon gekommen zu ſeyn. Ein andrer hingegen mahnte ſeine Schuldner in einem verſiegelten Briefe, ſetzte jedesmal 7 ß. pro litteris zur Rechnung, brachte dann ein Mandatum ſolvendi in aller Form aus, und er - hielt endlich die Pfandung mit allen Ceremonien; wer war hier der Patriot, der Mann der ſeinen Schuldner auf eine legale Art um Kuh und Schwein brachte, oder der andre, der auf dem Wege der Natur mit dem Schweine allein davon gieng? ich denke der letzte, und ſo mag uns auch ſein Beyſpiel zur Richtſchnur dienen, es koͤmmt nur darauf an, daß man Herz genug habe ſich von den juri - ſtiſchen Schnoͤrkeln zu befreyen, und den Bonſens einer ſteifen Methode vorzuziehen.

Alſo ich werde kuͤnftig meinem Schuldner ſagen laſ - ſen: Lieber Freund, du biſt mir zwey Thaler ſchuldig, die mußt du mir binnen 14 Tagen bezahlen, oder ich laſſe dir durch durch den Vogt ein Pfand nehmen. Ein andrer, der ſich in demſelben Falle befindet, mag dage - gen an ſeinen Procurator ſchreiben, daß er zum Richter gehe, damit dieſer dem Gerichtsſchreiber ſage dem BotenU 3zu210[310]Beherzigung des vorigen Vorſchlags. zu befehlen zum Paſtor zu gehen, daß dieſer dem Schuld - ner bedeute, er muͤſſe binnen 14 Tagen bezahlen, oder wenn er nicht koͤnne, einen andern Procurator anneh - men, der dem Gerichtſchreiber ſage, den Richter davon zu benachrichtigen, damit dieſer es des Klaͤgers Procu - rator kund thue, von welchem es dann deſſen Principal wohl erfahren wuͤrde, daß er eine Friſt von 14 Tage geſucht habe.

Solche ſchnakiſche Umzuͤge die alle mein armer Schuldner bezahlen muß, nennt man die liebe Juſtitz; und wenn der arme Hund ſo viel Geld nicht hat, die Friſt mit ſo viel Ceremoniel zu bitten: ſo heißt das Con - tumacia, dafuͤr wird er geſtraft als wenn der Geldman - gel eine Suͤnde waͤre.

Neulich kam ein Kaufmann vom Lande zu mir und klagte, daß man ihn beſtrafen wollte, weil er ſich von dem Richter einen Citirzettel in blanco geben ließe, und davon fuͤnfhundert Abdruͤcke aus der Druckerey nehme; Jenes als das Original ließe er jedem Schuldner vorzei - gen, und ihm dann von dieſem einen Abdruck, den er ſelbſt ausgefuͤllet haͤtte, zuruͤck; dieſes waͤre der wohl - feilſte Weg, den er einſchlagen koͤnnte, und derſelbe ge - reiche ſo offenbar zum Beſten der Unterthanen, daß er in der Welt nicht ſaͤhe, wie man ihn daruͤber beſtrafen koͤnnte, vielmehr glaubte er fuͤr die Erfindung dieſes kurzen Mittels eine Belohnung zu verdienen. Da ſeine Schuldner, denen er die fuͤnfhundert Abdruͤcke zugeſchickt haͤtte ihn ſaͤmtlich bezahlt: ſo haͤtte er die eine Citation, die ihm das Gericht in blanco gegeben, niemals gericht - lich reproducirt, und er bewahre ſolche bis zum Jahre 1780, da er eine neue nehmen wuͤrde, denn die Jahr - zahl des Blanketts waͤre: 177.

Nie -311Beherzigung des vorigen Vorſchlags.

Niemand, ſagte ich ihm, kann euch beſtrafen; wenn hier eine Suͤnde iſt: ſo hat ſie der Richter begangen, welcher auch gegen die Verordnung das Blanquet, und mit dieſem die Macht ſolches gegen alle eure Schuldner zu gebrauchen, anvertrauet hat. Jhr ſeyd den wahren Weg der Natur eingeſchlagen, da ihr euch mittelſt eines Schillings, und des dafuͤr erhaltenen Citirzettels in blanco, das große Recht erkauft habt, fuͤnfhundert Schuldner ſo zu aͤngſtigen daß ſie euch bezahlen muͤſſen; und das iſt alles was ihr verlangt und vom Richter verlangen koͤnn - tet. Jch hoffe aber auch ihr werdet euren Schuldnern nichts fuͤr die Ladung anrechnen!

Wahrhaftig keinen Pfennig, verſetzte der Kaufmann, ſo bald ſie mich bezahlen; und wenn ſie mich nicht be - zahlen: ſo warte ich wieder ein paar Monat, bis ſie Geld haben, laſſe ihnen dann abermals durch den Pa - ſtor meinen Citirzettel vorweiſen, und einen Abdruck, den ſie ohnehin nicht leſen koͤnnen, davon zuruͤck.

LXI. Etwas zur Naturgeſchichte des Leib - eigenthums.

Es moͤgen ungefehr achtzig Jahr ſeyn, daß ein gewiſ - ſer Mann, er mag Robinſon heißen, ſich mit eini - gen zuſammengebrachten Familien auf die See begab, und auf einer von ihm zuerſt entdeckten Jnſel eine Colo - nie errichtete. Fuͤr ihn war dieſes ein ſehr wichtiges Un - ternehmen, indem die Leute, welche er mitnahm, nichts in der Welt hatten, und von ihm ſo lange unterhaltenU 4wer -312Etwas zur Naturgeſchichtewerden mußten, bis ſie ſich ſelbſt ernaͤhren konnten. Auch ſetzte er ſein ganzes anſehnliches Vermoͤgen dabey zu, und was ihm in der erſten Zeit ſeine Coloniſten an Zinsfruͤch - ten entrichteten, ward guten Theils zu ihrem eignen Be - ſten wieder verwandt, indem er ihnen nicht allein eine Muͤhle, ſondern auch eine Schule und Kirche bauen ließ, und einen Paſtor und Richter hielt. Sein Sohn und Erbe trat nach ſeinem Tode in des Vaters Fußſtapfen und Rechte, und wandte ebenfalls alles an, um ſeine Jnſel mit ihren Einwohnern gluͤcklich zu machen. Dieſe verhielten ſich dagegen ruhig und fromm, und waren froh einen Herrn zu haben, der zu rechter Zeit ſparete, und ihnen zur Zeit der Noth ſeinen Vorrath eroͤfnete. Keiner dachte ans wegziehen, auch war dazu kein Schiff vorhanden, und vielleicht haͤtten ſie auch nie daran ge - dacht, wenn nicht waͤhrend den jetzigen Amerikaniſchen Unruhen ein Kaper dahin verſchlagen waͤre, der ihnen von dem gluͤcklichen Zuſtande andrer Colonien, und be - ſonders von der darinn herrſchenden Freyheit ein ſo rei - zendes Bild gemacht haͤtte, daß alles was ſich auf der Jnſel befand, und beſonders die Jugend beyderley Ge - ſchlechts ſich auf einmal vorſetzte mit ihm davon zu ge - hen, um dieſe goldne Freyheit zu kuͤſſen. Die Colonie hatte ſich damals noch nicht ſo ſtark vermehret, daß ſie eine ſolche Auswanderung vertragen konnte. Der junge Robinſon widerſetzte ſich alſo derſelben; und verlangte daß ſie da bleiben ſollten. Allein die aufgebrachte Ju - gend, von dem Kaper angeflammt und unterſtuͤtzt, fragte ihn ſtuͤrmiſch: ob er ſie dann als Leibeigne behandeln wollte? ob nicht ihre Vaͤter als freye Englaͤnder mit ihm zur See gegangen waͤren? und wo der Contrakt waͤre, wodurch ſie ſich und ihre Nachkommen ewig dem Joche untergeben haͤtten, was man ihnen jetzt auflegen wollte?

Mein313des Leibeigenthums.

Mein Vater, antwortete Robinſon, hat ſein ganzes Vermoͤgen daran gewandt, um euch ein Schiff zur Ue - berfahrt, Unterhalt, Aecker, Haͤuſer, Muͤhle und Kirche zu verſchaffen; Noch haben, er ſo wenig als ich, jaͤhr - lich ſo viel von euch erhalten, daß wir auch nur einmal fuͤr die Zinſen des eurentwegen aufgewandten Capitals entſchaͤdiget ſind; und wenn ihr mich jetzt verlaſſet: ſo bin ich ein armer ungluͤcklicher Mann, dem Aecker, Haͤuſer, Muͤhle und Kirche zu nichts dienen. Was ſoll ich mit dem Paſtor ohne Gemeine, und mit dem Richter, wel - chen ich euch geſetzt habe, ohne Gerichtsſaſſen anfangen? Mein ganzes Capital geht nicht allein verlohren, ſondern ich bleibe auch in einer Laſt ſitzen, die mich voͤllig zu Grun - de druͤckt. Eure Vaͤter moͤgen alſo ſich und ihre Nach - kommen meinem Vater und ſeinen Nachkommen uͤberge - ben haben oder nicht; ihr moͤgt euch Leibeigen oder Freye nennen; genug ich habe ein Recht auf euch, das euch zwingt hier zu bleiben; der Vorſchuß meiner Fami - lie iſt eine Schuld die auf euren Leibern haftet, Eure Vaͤter hatten nichts als dieſe, wie ſie der Meinige auf ſeine Koſten uͤberfuͤhren ließ; und nie wuͤrde er ſich zu dieſer mißlichen Unternehmung entſchloſſen haben, wenn es nicht unter der ſelbſt redenden Bedingung geſchehen waͤre, daß ſie und ihre Nachkommen, ihm wenigſtens ſo lange haften ſollten, bis er ſeines ganzen Vorſchuſſes we - gen entſchaͤdiget ſeyn wuͤrde. Eure Aecker und Haͤuſer moͤgen euch oder unſrer Familie gehoͤren, es liegt nichts daran, aber ohne eure Haͤnde iſt mir alles nichts werth, und ich muß euch hier behalten, oder ihr raubt mir mein ganzes Vermoͤgen.

Die Leute ſtutzten, und vermochten nicht zu antwor - ten. Allein hier nahm der Kaper fuͤr ſie das Wort, und behauptete mit der ihm eignen Keckheit: Freyheit undU 5Eigen -314Etwas zur NaturgeſchichteEigenthum waͤren unveraͤuſſerliche Rechte der Menſchheit, die niemand mit gutem Willen fahren ließe. Wer ſich alſo auſſer dem Stande der Freyheit befinde, der habe allemal Zwang erlitten, und Zwang binde Niemanden zu Rechte, ſo bald man nur maͤchtig genug ſey, ſich dem - ſelben zu entziehen. Geſetzt aber auch die Vaͤter dieſer Colonie haͤtten ſich fuͤr ihre Perſonen verbinden koͤnnen: ſo waͤre es doch nicht in ihrer Macht geweſen, ihre Kin - der und Nachkommen ins unendliche zu verbinden. So bald dieſe dem Herrn der Jnſel den vaͤterlichen Acker, und allenfalls alles, was ſie von ihren Vaͤtern ererbt haͤtten, zuruͤckließen: ſo koͤnnten ſie mit ihrem Leibe gehen, wohin ſie wollten. Dieſes Geſetz habe die Natur, wie Locke der Geſetzgeber von Amerika geſagt, ſelbſt gegeben, und es ſey vielleicht die grauſamſte Conſtitution auf dieſem Erdboden, welche in dieſer Colonie herrſchte, und nach welcher einer nicht einmal ſeinen nackten Leib ſollte da - von tragen duͤrfen.

Das beſte hiebey war, daß es dem Kaper kein Ernſt war die jungen Jnſulaner mitzunehmen, und daß dieſe alſo bleiben mußten, wo ſie bisher, ohne daran zu den - ken, ob ſie dazu verbunden waͤren oder nicht, ſich gluͤck - lich geſchaͤtzet hatten. Jnzwiſchen gab doch dieſer Vor - fall nachher oft zur Unterſuchung der Frage Anlaß: Ob das Recht des Herrn ſolchergeſtalt ins unendliche gehen, und ihm, wenn die Umſtaͤnde darnach waͤren, die ganze Nachkommenſchaft zu eigen machen koͤnnte? Der Paſtor behauptete, es ſey dieſes die wahre patriarchaliſche Ver - faſſung. Kinder und Knechte waͤren ſo lange in der Hoͤ - rigkeit der Altvaͤter geblieben, bis ſie daraus mit ſeinem guten Willen waͤren erlaſſen worden, und dieſes ſey ſel - ten geſchehen, weil nicht leicht ein Freygelaſſener dasVer -315des Leibeigenthums. Vermoͤgen gehabt eine beſondere Colonie anzulegen, und dieſelbe zu der Zeit da Niemand das Land, ſondern jeder Altvater nur die Seinigen geſchuͤtzet haͤtte, gegen andre zu ſchuͤtzen. Alles habe ſich daher zum Stamme ge - halten, und das Haupt deſſelben ſey dagegen verbunden geweſen, ſie zu ernaͤhren, zu ſchuͤtzen und wohl zu halten. Man habe das Band der heutigen Unterthaͤnigkeit, nach welchem einer frey zu - und abziehen konnte, und einem Fuͤrſten nur ſo lange unterworfen waͤre, als man ſich in deſſen Lande befinde, gar nicht gekannt; daher auch Jo - ſeph von den Egyptern die Eigengebung erfordert haͤtte, wenn ſie von dem Koͤnige ernaͤhret ſeyn wollten. Jn der heutigen Verfaſſung wuͤrde er blos geſagt haben: Kinder bleibt im Lande, damit euch der Koͤnig Brod gebe; in der damaligen Verfaſſung aber, worinn die Pharaonen keine Koͤnige von Egypten, ſondern patriarchaliſche Koͤ - nige in Egypten geweſen waͤren, und uͤber die ihnen un - angehoͤrigen Einwohner des Landes nicht zu gebieten ge - habt hatten, haͤtte er nothwendig von einer Uebergabe ihres Leibes ſprechen muͤſſen; die Uebergebung des Lei - bes und Vermoͤgens ſey blos Huldigungsformel in der auf Hoͤrigkeit gegruͤndeten Monarchie der Vorwelt.

Der Richter ſetzte hinzu: Die Natur gebe jedem, der eine Eolonie anlegte, und den Verlag davon thaͤte dieſes Recht; es ſey eine ſtillſchweigende Bedingung des erſten Originalcontrakts, daß die Coloniſten nicht wieder davon laufen ſollten, und blos in dem Falle, da die zu - genommene Bevoͤlkerung den Verleger gegen die Gefahr des Verluſtes ſicher ſtellete, werde jenes Recht unnoͤthig; alsdann aber ſey der Menſch ſo geartet, daß er ein Recht was er nicht gebrauchte, von ſelbſt fahren ließe. Daher wuͤr - de man bey zunehmender Bevoͤlkerung die Leibeshaft mitallen316Etwas zur Naturgeſchichte ꝛc. allen ihren Folgen immer mehr und mehr verſchwinden, und nur dasjenige davon beybehalten ſehen, was wah - ren Nutzen braͤchte.

Die Jnſulaner wollten ſich aber doch mit dieſen Gruͤnden nicht beruhigen, und verglichen ſich endlich mit dem Robinſon dahin, daß nach funfzig Jahren ein Ju - beljahr verkuͤndiget, und jedem freygelaſſen werden ſollte, zu ziehen wohin er koͤnnte und wollte. Robinſon willigte hierinn um ſo viel lieber, weil er eines Theils hofte, daß die Jnſel in dieſer Zeit hinlaͤnglich bevoͤlkert ſeyn wuͤrde, und es andern Theils ſelbſt hart fand, die Nachkommen ſeiner Coloniſten in alle Ewigkeit haften zu laſſen.

Jndeſſen erhellet hieraus, daß es nicht ſo wohl Krieg und Tyranney, als natuͤrliche Beduͤrfniß und Ver - bindlichkeit in der Jugend eines Staats geweſen, welche den Leibeigenthum oder die Leibeshaft ſo fruͤh und ſo all - gemein eingefuͤhret hat. Denn Leute, welche nichts hat - ten, mußten froh ſeyn, daß man ihnen Credit auf ihren Leib gab.

LXII. Der Freykauf.

Boiko war der leibeigne Knecht eines ſehr guͤtigen Gutsherrn, und doch hatte er lange gewuͤnſcht den Hof, welchen er von ihm zum Bau unterhatte, als ſein freyes Eigenthum zu beſitzen, aus Beſorgniß, der Nach - folger ſeines Herrn moͤchte einſt minder edel denken, oder durch die immer geſchwindere Zeiten genoͤthiget werden, ihn an einen Tyrannen zu verkaufen. Die Freyheit warihm317Der Freykauf. ihm oft mit allen ihren hohen Reizungen erſchienen, und mehr als einmal hatte er die Eiche mit den Augen gemeſ - ſen, wovon er ſodann voͤlliger Herr ſeyn wuͤrde. Eilike Eilike, ſagte er oft zu ſeiner Frau, wenn wir frey ſind, ſo ſind unſre Kinder auch frey, und was wir mit unſerm ſauern Schweiße erwerben, bleibet ihnen.

Endlich kam die gluͤckliche Stunde, worin ſein Guts - herr ſich bewogen ſahe, einige ſeiner entfernten Eigenbe - hoͤrigen, worunter Boiko mit gehoͤrte, abzuſtehen, und wie er dieſen immer fuͤr einen guten Mann gehalten hatte: ſo bot er ihm ſeine Freyheit und ſeinen Hof fuͤr ein ziemliches Kaufgeld an, Euch, Boiko, ſprach er zu ihm, moͤchte ich ungern an einen andern verkaufen: ihr habt mir allemal ehrlich gedient, und es geht mir durchs Herz, wenn ich daran denke, daß ihr vielleicht einem Manne zu Theil werdet, der, wenn er zu viel verſpielet hat, ſich an eurer Armuth erholet; koͤnnt ihr zum Gelde rathen: ſo verſaͤumt die Gelegenheit nicht, euch frey zu kaufen. Zwey tauſend Thaler ſind mir fuͤr euch geboten, und ihr ſollt der naͤchſte zum Kaufe ſeyn, wenn ihr in Zeit von acht Tagen eben ſo viel geben wollt.

Halb traurig und halb froh hoͤrte Boiko dieſen un - vermutheten Vortrag an. Ungern, erwiederte er, ver - laſſe ich das Eigenthum meines gnaͤdigen Gutsherrn, der bisher mein Herr und mein Schutz geweſen, und Geduld mit mir gehabt hat, ſo oft mich Ungluͤcksfaͤlle auſſer Stand geſetzt haben ihm meine Pacht zu entrichten. Allein wenn ich ihn durchaus verlaſſen ſoll, o ſo bitte ich mir das Vorrecht vor andern zu goͤnnen, ich will ſehen, wie ich in der geſetzten Zeit, ſo blutſauer es mir auch werden wird, zum Gelde gelange, und die uͤbrige Zeit meines Lebens gern Waſſer trinken, um mit meinen Nachkom - men zu ewigen Tagen in Freyheit zu leben und zu ſterben.

So318Der Freykauf.

So wie er dies geſagt hatte, gieng er in hohem Muthe nach Hauſe. Fuͤnf hundert Thaler hatte er baar; zweyhundert gedachte er aus ſeinem uͤberfluͤßigen Holze zu machen, und das uͤbrige hofte er gegen Verpfaͤndung eines Theils ſeiner Laͤndereyen zu bekommen Dieſes waren ſeine Ueberlegungen unter Weges, und kaum hatte er ſeiner Frauen und ſeinen Kindern ihr gemein - ſchaftliches Gluͤck, und den Plan eroͤffnet, wie er zum Gelde gelangen koͤnnte: ſo wurde ein Nachbar nach dem andern herbeygeholet, um zu uͤberrechnen, was fuͤr Leute in der Bauerſchaft waͤren, die Geld haͤtten, und ſolches vorſchießen koͤnnten. Der eine hatte ihrer Vermuthung nach hundert, der andre hatte funfzig Thaler, und ſo oft etwas zu fehlen ſchien, ſagte die Frau, daß ſie in Zeit von vierzehn Tagen noch ein Stuͤck Loͤwend Linnen fertig haben wuͤrde, womit auch noch ein gutes Loch ge - ſtopfet werden koͤnnte. Alle aber ſtimmten froh darin uͤberein, daß das Geld noch wohl zu kriegen ſeyn wuͤrde, und Thraͤnen der Freude traten dem guten Boiko ins Au - ge, ſo oft der Krug herumgieng, und ihm ſchon mit ei - nem .. es gilt euch Herr Boyemann zugebracht wurde. Erſt ſpaͤt in der Nacht verließ die bidere Geſellſchaft den warmen Heerd, und jeder legte ſich mit der hohen Erin - nerung eines wichtigen Entſchluſſes, vielleicht auch etwas berauſchet zur Ruhe.

Allein indem alle im tiefen Schlafe begraben lagen, ohne daß auch nur ein Traum ihre Ruhe ſtoͤrte, machte ſich Hazeke, ihre aͤlteſte Tochter, welche alles beym Heerde mit angehoͤrt hatte, auf zu ihrem Braͤutigam, um dem - ſelben ihr Ungluͤck zu eroͤffnen. Die fuͤnfhundert Thaler, womit mich mein Vater ausgeboten hat; und worauf du dich mit mir verſprochen haſt, ſollen jetzt zum Freykaufeange -319Der Freykauf. angewandt werden, war ihre erſte Anrede gegen ihn ſo bald ſie ihn auf der gewohnten Stelle fand, und wann dann noch ſo viel Holz gehauen, ſo viel Laͤnderey von unſerm Hofe verſetzt, und alles was im Hauſe uͤberſluͤßig iſt, losgeſchlagen werden ſoll, ſo bekommſt du gerade nichts mit mir, und ich kann in die Welt gehen, um mein Brod zu betteln. O Henrich Henrich, wir muͤſſen dieſen Freykauf hintertreiben, oder du und ich ſind ungluͤcklich, unwiederbringlich ungluͤcklich, mit ledigen Haͤnden laͤßt ſich nichts anfangen.

Das laͤßt ſich freylich nicht, erwiederte Henrich ganz ernſthaft, und aus unſer Heyrath kann nichts werden, wenn du kein Geld haſt; Mein Gutsherr wird dich nicht annehmen, und ich muß Geld freyen, wenn ich meinen Hof erhalten ſoll. Aber iſt es denn ſchon ſo ganz richtig mit dem Freykauf? und iſt das Geld, was angeliehen werden ſoll, ſchon gezaͤhlet? keines von beyden verſetzte ſie eiligſt. Mein Vater hat acht Tage Zeit genommen, um das Geld zu ſchaffen und Morgen will er zu den Leu - ten in der Bauerſchaft gehen, die es haben und leihen ſollen. Es iſt alſo noch moͤglich, daß wir alles ruͤckgaͤn - gig machen, wenn wir entweder einen andern aufbrin - gen, der fuͤr uns und unſern Hof dem Gutsherrn mehr bietet, oder aber die Leute bereden koͤnnen, unſerm Va - ter kein Geld zu leihen. Gehe du Morgen zu dieſen, und mache ſie bange, ich will indeſſen ſehen, ob ich den Wa - ſenmeiſter in unſerm Dorfe der Geld wie Heu hat, bewe - gen kann, daß er unſerm Gutsherrn einhundert Thaler fuͤr meinen Vater mehr biete. Jſt es doch heut zu Tage ſo, daß ein Bauer den andern kaufen kann, und der Waſenmeiſter, der ſein Camiſol mit Golde beſetzt hat, iſt doch auch ein ehrlicher Mann.

Beyde320Der Freykauf.

Beyde flogen nun eiligſt aus einander, und das Ge - ruͤchte ſagt gar, daß ſie ſich nicht einmal eine gute Nacht zugerufen haͤtten, ſo ſehr hatte ihre Liebe gegen einan - der ihre Aufmerkſamkeit auf die Mittel geheftet, die zu ihrer Vereinigung fuͤhren ſollten. Henrich gieng ſofort wie der Tag anbrach zu den Leuten, bey welchen er eini - ges Geld vermuthete, und entdeckte ihnen im Vertrauen, daß Boiko zu ihnen kommen, und ihnen weis machen werde, daß er ſich fuͤr zweytauſend Thaler frey gekauft haͤtte, da er doch das doppelte geboten haͤtte, welches ſein Hof nie gelten koͤnnte; und hiemit richtete er ſo viel aus, daß Boiko der ſpaͤter aufgeſtanden war, anſtatt Geldes nichts wie leere Entſchuldigungen fand. Das Maͤdgen aber wußte es mit dem Waſenmeiſter ſo gut ein - zuleiten, daß dieſer den Gutsherrn, wie er nach verlau - fenen acht Tagen kein Geld von ſeinen Eigenbehoͤrigen ſahe, uͤberfuͤhrte, wie ein und zwanzig hundert Thaler beſſer waͤren als zweytauſend die noch erſt aufgeliehen werden ſollten.

Hazeke ſahe nachher zwar oft ihren Vater dem Wa - ſenmeiſter dienen; aber die Freude ſich mit den nun von ihrem Vater erhaltenen fuͤnfhundert Thalern gluͤcklich zu ſehen, machte ihr ſein Ungluͤck leicht ertragen. Sie liebte ihren Henrich zwar nicht im hohen Stil, und nach dem Maaße unſrer Empfindungen, aber doch auf ihre Weiſe ſtark genung, um Vater und Mutter fuͤr ihn zum Henker zu ſchicken.

LXIII. 321

LXIII. Was iſt bey Verwandelung der bisherigen Erbesbeſetzung mit Leibeignen in eine freye Erbpacht, zu beachten?

Jn gegenwaͤrtigen der Freyheit guͤnſtigen Zeiten mel - den ſich verſchiedene Leibeigne um ihre Freyheit, und wuͤnſchen ihre unterhabenden Hoͤfe gegen gewiſſe zu beſtimmende Pflichten und Dienſte zu bauen; einige Guts - herrn ſind auch dazu gar nicht abgeneigt; aber beyde wiſ - ſen die Schwierigkeiten nicht alle zu uͤberwinden, welche ihnen bey dieſer neuen Einrichtung vorkommen. Es feh - let hier im Lande an einem allgemeinen Rechte freyer Perſonen an gutsherrlichen Staͤdten; die alten Hofrechte, worin die hiezu erforderlichen Beſtimmungen liegen, ſtu - diret faſt niemand, und alles auf einen ſchriftlichen Con - trakt ankommen zu laſſen, iſt bedenklich, weil man nicht alle Faͤlle vorher ſehen kann, und mehr Proceſſe entſte - hen ſieht, ſeitdem jeder ſein eignes Teſtament gemacht hat, als zu der Zeit, wo die Erbfolge durch gemeine Ge - wohnheiten und Rechte feſtgeſetzt war.

Die Frage: ob es uͤberhaupt gut ſey, ſeinen Leib - eignen die Freyheit zu ertheilen, und ihnen den unterha - benden Hof gegen beſtimmte Pflichten und Dienſte in Erbpacht zu geben, iſt in dieſen Blaͤttern mehrmals auf - geworfen, und von Verſchiedenen beantwortet worden. Lange habe ich denjenigen beygepflichtet, welche ſolche verneinet haben, und dieſes zwar aus dem Grunde, weil natuͤrlicher Weiſe jeder Gutsherr ſich hieruͤber mit ſeinen Leibeignen beſonders vergleichen, und mancher dieſen Ver -Moͤſers patr. Phantaſ. IV. Th. Xgleich322Von Verwandlung der Erbesbeſetzunggleich leicht zu hart machen wuͤrde, da denn, wenn alles und jedes, woruͤber ſie Beyde ſolchergeſtalt einverſtanden ſind, gleich den alten gutsherrlichen Paͤchten bey dem Steuer-Anſchlage vorabgezogen werden ſollte, andere mit ihnen in gleicher Reihe und Pflicht ſtehende Hoͤfe darunter leiden wuͤrden; ich konnte mir die Schwierig - keit nicht heben, wie es in dem Falle, wo ein Hof in Verfall geriethe, und den oͤffentlichen und gutsherrlichen Laſten nicht zugleich gewachſen bliebe, gehalten werden ſollte? ob naͤmlich, ſo denn die Einkuͤnfte wie jetzt, zwi - ſchen beyden getheilet, und dasjenige, was dem Hofe fuͤr die dem Beſitzer ertheilte Freyheit neuerlich aufgelegt wuͤrde, mit zu dieſer Rechnung kommen ſollte, oder nicht? Eine Schwierigkeit die mir um ſo viel groͤßer ſchien, da man kein oͤffentliches Kataſter hat, worin die alten Paͤchte und Dienſte mit einander verzeichnet ſind, und ſolcher - geſtalt hierunter dem Beweiſe wuͤrde trauen muͤſſen, wel - chen beyde Theile fuͤr richtig erkennen. Mit einem Worte, ich fuͤrchtete, dasjenige was fuͤr auſſerordentliche Ge - faͤlle zwiſchen dem Gutsherrn und Leibeignen verglichen, und auf ein jaͤhrliches gewiſſes Geld geſetzet werden wuͤr - de, moͤchte eine Real-Erbeslaſt, und aus obigen Gruͤn - den dem gemeinen Weſen, was doch zu dieſem Contrakt nicht gezogen werden ſoll, und in Anſehung deſſen folg - lich auch dieſer ſo wenig als jener Beweis einige Guͤltig - keit haben kann, nachtheilig werden.

Allein nachdem ich in den alten Hofrechten die Ver - ordnung fand,daß ein Freyer, der ſeine freye Urkunde jaͤhrlich nicht bezahlte, als ein Leibeigner beerbtheilet und behandelt werden ſollte;ſo ſahe ich auf einmal, daß es nicht noͤthig ſey, aus dem - jenigen, was zwiſchen dem Gutsherrn und Leibeignen fuͤrdie323mit Leibeignen in freye Erbpacht. die auſſerordentlichen Gefaͤlle verglichen werden wuͤrde, zum Nachtheil des gemeinen Weſens eine Erbeslaſt zu machen; ich dachte, der Gutsherr koͤnne zufrieden ſeyn, wenn derjenige, der ihm das Verglichene nicht bezahlt, zur Strafe wieder Leibeigen werden muͤſſe, und wie ſol - chemnach der Staat nicht mehr verliert, als er jetzt wuͤrk - lich entbehren muß: ſo pflichtete ich denjenigen bey, welche fuͤr die Freyheit redeten.

Aber nun entſtand die Frage, was man allenfalls fuͤr allgemeine Grundſaͤtze annehmen koͤnnte, um alle Jrrungen zwiſchen dem Gutsherrn und dem freyen Erb - pachter zu verhuͤten, und die Graͤnzen ihrer beyderſeiti - gen Rechte zu beſtimmen? Es lag gleich vor Augen, daß von dem Augenblick der ertheilten Freyheit an ein ganz neues Jntereſſe zwiſchen beyden Theilen entſtuͤnde. Vor - her lag dem Gutsherrn alles an der Erhaltung ſeines Leibeignen; er mußte ihn ſchonen, ſchuͤtzen und vertreten, um gute Auffahrten, Sterbfaͤlle und Freybriefe zu erhal - ten; jede Schuld die der Bauer auf ſein bewegliches Gut machte, jeder Proceß den er anfieng, jeder Bruͤchte den er bezahlte, jedes Kind das er ausſteuerte, jede Schaz - zung die er bezahlen ſollte, alles intereſſirte den Guts - herrn, alles bewog ihn zu ihrem beyderſeitigen gemein - ſchaftlichen Beſten zu handeln. So bald iſt aber der Mann nicht frey: ſo fallen alle dieſe Betrachtungen rein weg; der Gutsherr nimmt was ihm zukoͤmmt, und bekuͤmmert ſich nicht weiter um ſeinen Paͤchter, er ſieht ihn wie ei - nen freyen Handwerker an, den er ſo genau als moͤglich bedingt, ohne darnach zu fragen, ob er auch Salz und Brod behalte: wird er in Streitigkeiten verwickelt, deſto ſchlimmer fuͤr ihn; ſind Steuern zu bewilligen: ſo ſorgt der Gutsherr nur fuͤr die Sicherheit ſeiner Erbzinsfruͤchte, und das uͤbrige iſt ihm gleichguͤltig, der freye ErbpaͤchterX 2hat324Von Verwandlung der Erbesbeſetzunghat kein Wort dabey zu ſprechen und keinen Vertreter. Kurz der Mann, der als Leibeigner einem Kutſchpferde gleich gehalten wurde, was man zu ſeinem eignen Ver - gnuͤgen und Vortheile in dem beſten Stande zu erhalten ſucht, wird jetzt einem Miethpferde*)Linguet bediente ſich dieſer Gruͤnde zur Vertheidigung des Leibeigenthums: Sie gelten aber nur da, wo ein Staat we - nig Steuern zu zahlen, und wenig Recruten zu ſtellen hat. Dieſes iſt aber jetzt in wenigen Laͤndern der Fall. Jn den mehr - ſten iſt ihm mehr an der Erhaltung und dem Wohlſtande vie - ler geringer Unterthanen, als an dem Vortheile großer Guts - herrn gelegen. gleich, was man heute ſo gut und ſo viel braucht als man kann, und ſich nicht darum bekuͤmmert, wie es Morgen zittern werde. Dieſes ſo ploͤtzlich erſcheinende neue Jntereſſe, ſage ich, lag vor Augen, und aus demfelben gieng der Schluß her - vor, daß die Graͤnzen zwiſchen einem Gutsherrn und ei - nem freyen Erbpaͤchter weit genauer beſtimmt werden muͤſſen, als zwiſchen jenen und ſeine leibeignen Paͤchter, wo ihr beyderſeitiger Vortheil in der Schonung und Bil - ligkeit beruhet.

Zuerſt kam der Hof in Betrachtung. Hier redete die Sache von ſelbſt, daß die Freyheit dem Erbpaͤchter in Anſehung deſſen nicht mehr Rechte geben koͤnnte, als er vorhin wie Leibeigner gehabt hatte. Beyde ſind in glei - cher Maaße ſchuldig die Gebaͤude zu errichten und zu er - halten, und ſolche ſo wenig als Zaͤune und Frechten ver - fallen zu laſſen; beyde muͤſſen in Bau und Spannung gleich gut beſtehen; beyde koͤnnen den Hof nicht mit neuen Dienſtbarkeiten, Schulden, oder Auslobungen beſchwe - ren; beyde koͤnnen ihm durch Proceſſe oder Contrakte nichts vergeben; beyde duͤrfen das Holz nicht ungebuͤhr -lich325mit Leibeignen in freye Erbpacht. lich angreifen; beyde haben den Hof nur, wie es in der alten Formel heißt to tellen unde to bowen, oder zum pflanzen und bauen unter, nicht aber um weiter unter, oder uͤber die Erde zu gehen, und Veraͤnderungen vorzu - nehmen, wodurch der Hof in ſeinem Weſen veraͤndert wird; beyde bleiben, wenn ſie dieſen Grundgeſetzen zu - wider handeln der Abaͤuſſerung, oder wenn man in An - ſehung der Freyen einen andern Namen gebrauchen will, der Abmeierung unterworfen. Es hinderte alſo nichts ſich hierunter in allgemeinen Ausdruͤcken an die Eigen - thumsordnung zu halten, und den Grundſatz anzunehmen.

daß der freye Erbpaͤchter ſich in Anſehung des Ho - fes ein mehrers, als den Leibeignen in der Eigen - thumsordnung erlaubt iſt, nicht herausnehmen, oder widrigenfalls, wo dieſer desfalls der Abaͤuſſe - rung unterworfen iſt, die Abmeyerung leiden ſolle.

Eben ſo deutlich redete auch die Sache in Anſehung der Dienſtleiſtungen und Paͤchte, und zwar dergeſtalt, daß der Gutsherr ſolche von dem freyen Erbpaͤchter nach eben dem Maaße und eben dem Ziele fordern konnte, nach wel - chem er ſolche von ſeinem Eigenbehoͤrigen hatte, die Selbſt - pfandung nicht ausgeſchloſſen. Es konnte alſo auch hier die Eigenthumsordnung die bekannte Richtſchnur bleiben.

Die einzige Ausnahme, welche ſich hier aufſtellete, betraf das Holz, warum ſich mancher Gutsherr, nach vermindertem Jntereſſe, zum Nachtheil des gemeinen We - ſens, jetzt weniger, oder auch wohl, um den freyen Erb - paͤchter durch einen Nebenweg wieder unter ſeine Will - kuͤhr zu bringen, zu ſehr bekuͤmmern wuͤrde. Die erſte von dieſen beyden Folgen ſchien mir hier im Lande, wo man den voͤllig freyen Bauern, wiewohl mit Unrecht, die willkuͤhrliche Nutzung ihres Holzes geſtattet, und ſolcher - geſtalt das Publikum in Gefahr ſetzt, durch den uͤblenX 3Haus -326Von Verwandlung der ErbesbeſetzungHaushalt eines einzigen ſchlechten Wirths einen Erbſcha - den an einem Reihepflichtigen Gute zu erleiden, nicht gefaͤhrlich, und allenfalls zur kuͤnftigen Vorſorge des Ge - ſetzgebers zu gehoͤren. Die andre aber fand ich um ſo viel bedenklicher, je mehr das neue Jntereſſe, und der daraus gezogene Schluß eine ſcharfe Beſtimmung noth - wendig machte. Die Verweigerung der Anweiſung, oder willkuͤhrliche Gebuͤhren fuͤr jeden Stamm, ſind immer ge - faͤhrliche Mittel fuͤr einen uͤbelwollenden Herrn, und wenn man einmal die Abſicht hat, Freyheit und Leben einzufuͤhren, muß man alles was dieſe verhindern kann, auf die Seite ſchaffen. Hiezu aber liegt, ſo viel ich ur - theilen kann, das Mittel nicht in der Eigenthumsord - nung; und gerade hier wird es noͤthig ſeyn, den ſchrift - lichen Contrakt zu gebrauchen, mithin darinn zu beſtim - men, ob der Erbpaͤchter unter gehoͤriger Verpflichtung zur Wiederanpflanzung die Nothdurft an Brand - und Bauholze ohne Anweiſung nehmen, oder ob er ſolche zu dem letztern ſowohl was das Zaun - Wagen - Riegel - und Speer - als Hausbalkenholz betrift, nachſuchen, und wie weit er nach Beſchaffenheit der Localumſtaͤnde zum Ver - kauf oder zu einer Forſtmaͤßigen Nutzung, denn das Ver - hauen und Verſchwenden iſt immer verboten, berechtiget ſeyn ſolle?

Meine zweyte Betrachtung fiel auf Bau und Beſſe - rung. Hievon weiß man bey der Erbesbeſetzung mit Leibeignen nichts; alles was dieſelben in den Hof ver - wenden, koͤmmt dem Hofe, oder dem Hofeserben, und wenn dieſer fehlt, dem Gutsherrn ohne alle Erſtattung zu gute. Aber auch dieſes iſt der wahre deutſche Meyer - contrakt, und es hindert nichts den Erbpachtscontrakt dahin zu richten.

daß327mit Leibeignen in freye Erbpacht.
daß alles was der Erbpaͤchter an dem Hofe bauen und beſſern oder aus der offnen Mark, worin der Hof berechtiget iſt, es ſey unter welchem Titel es wolle, ankaufen wuͤrde, dem Hofe und Hofeserben, nach deſſen Abgang aber dem Erbverpaͤchter ohne alle Erſtattung zu gute kommen ſolle.

Der Fall, wo das angekaufte noch unbezahlt, und ſol - chergeſtalt noch nicht rein mit dem Hofe verknuͤpft iſt, nimmt ſich von ſelbſt aus; und das Recht was die Ei - genbehoͤrigen haben, Gruͤnde, welche ſie auſſer aller Be - ziehung auf den Hof gekauſet haben, bey Lebzeiten wie - der verkaufen zu moͤgen, bleibt dem Erbpaͤchter und ſei - nen Nachkommen ewig. Aber in der Mark, worin der Hof liegt, bezieht ſich alles auf denſelben. Hier muß der Erbpaͤchter nichts zum freyen Verkauf fuͤr ſich und die ſeinige, ſondern alles dem Hofe und Hofeserben er - werben; oder er iſt in beſtaͤndiger Verſuchung ein Ver - raͤther an dem ihm anvertraueten Meyergute zu werden, und ſein Erbgut zum Nachtheil des Pachtguts zu beſſern. Alſo kein Erbgut in derſelben Mark, worin der Hof liegt.

Die Beſitzer aller Pfruͤnden befinden ſich in gleichem Falle. Was ſie an ihren Curien und Obedienzien ver - beſſern, bleibt nach ihrem Tode ohne alle Erſtattung da - bey, in ſo fern ſie ſich nicht durch eine Bewilligung ihrer Obern vorgeſehen haben, welche insgemein auf eine jaͤhr - liche Abtoͤdtung gerichtet iſt, und auch in dieſer Maaße dem Erbpaͤchter ohne ſonderlichen Nachtheil des Guts - herrn, entweder von dieſem oder wenn derſelbe unbillig ſeyn ſollte, von der Obrigkeit ertheilet werden kann; auf zwanzig Jahr, wenn er bereits einen Hofeserben im Le - ben hat, und auf zehn wenn er dergleichen nicht ha - ben ſollte.

X 4Nichts328Von Verwandlung der Erbesbeſetzung

Nichts hat den Leibeigenthum mehr beguͤnſtiget, als der billige Vortheil welchen der Gutsherr hat, daß er wegen Bau und Beſſerung, Gail und Gare, oder wie ſonſt die Zankaͤpfel zwiſchen Paͤchtern und Verpaͤchtern mehr heiſſen, mit keinen Glaͤubigern oder Allodialerben zu liquidiren und zu ſtreiten hat. Dieſer Vortheil muß alſo auch mit der Erbpacht, wenn man dieſelbe befoͤrdern will, verknuͤpfet bleiben. Die abgehenden Kinder erhal - ten ihre Auslobung, womit ſie von aller Beſſerung ab - gefunden werden, und es giebt hier keine Regredi - enterben.

Auch hat man bey den Pfruͤnden das gluͤckliche Recht, daß ſich keine Glaͤubiger und Erben ohne Mittel in die Erbſchaft des Verſtorbenen miſchen koͤnnen, ſondern was ſie zu fordern haben, aus der Hand der ernannten Exe - cutoren nehmen muͤſſen ſo die Erbſchaft zu verwahren haben. Eine ſolche Verwahrung war auch ehedem bey den Lehnen, unter dem Namen von Cuſtodia, und der Lehnsherr uͤbte ſie aus. Eben dieſelbe iſt wiederum der große Vortheil des Leibeigenthums, wo der Gutsherr voͤlliger und einziger Executor oder Cuſtos auf dem Hofe iſt, ſo bald der Fall eintritt. Ein gleicher Vortheil kann dem Erbverpaͤchter unter dem Namen einer Erbesver - wahrung zugeſtanden werden, um alles Beſitzergreifen Vorenthalten (jus retentionis) und unmittelbare Einmiſchen fremder Praͤtendenten und Glaͤubiger von ſeinem Hofe abzuhalten, und wuͤrde ſolcherhalb in dem Erbpachtcon - trakt zu bedingen oder vielmehr in einem gemeinen Mey - errechte zu verodnen ſeyn,

daß der Hof in beſtaͤndiger Verwahrung ſeines Guts - herrn bleiben, mithin keiner daran oder darauf ei - nen feſten Beſitz haben ſolle als derjenige, der ſol -chen329mit Leibeignen in freye Erbpacht. chen fuͤr ſeines Leibesleben aus den Haͤnden den Gutsherrn empfangen haͤtte.

Damit waͤre denn alles Recht der Vorenthaltung und Beſitzergreifung fuͤr ſolche Perſonen, die nicht ſelbſt die Hand am Gute erhalten, voͤllig ausgeſchloſſen, und die richterliche Handhabung gehoͤrig eingeſchraͤnkt; ſo dann muͤßten die Erben zu dem beweglichen Gute, was ihnen gebuͤhrte, aus der Verwahrung des Executoren nicht aber ohne Mittel nehmen. Das iſt auch der deutſche Unterſcheid zwiſchen Erben und Erbgenahmen.

Wollte man dieſes zum Beſten der Erbgenahmen und Glaͤubiger mildern: ſo wuͤrde ſolches alſo geſchehen koͤn - nen, daß der Gutsherr ihnen in dem Falle, wo ihm das Erbe eroͤfnet wuͤrde, die ganze Erndte des Jahrs, worin der letzte Erbpachter ſtirbt, und allenfalls noch ein Jahr aus ſeiner Verwahrung zu gute kommen lieſſe, woraus dann diejenigen, mit deren Gelde oder Fleiſſe eine oder andre unbezahlte Beſſerung ausgerichtet worden, ihre Befriedigung erhalten koͤnnten.

So viel von dem Hofe; jetzt will ich auf die Perſon des Erbpaͤchters kommen. Hier zeigt ſich die groͤßte Schwie - rigkeit, wie man eine genaue Scheidungslinie zwiſchen Hofeserben und andern Erben ziehen wolle. Dem Guts - herrn iſt es nicht zuzumuthen, daß er allen und jeden, die dem Berſtorbenen nahe oder fern verwandt ſind, in ihrer Ordnung den Hof uͤbergeben ſolle. Wollte man die - ſes fordern: ſo koͤnnte ich keinem rathen, ſich auf eine Erbpacht einzulaſſen. Nie wuͤrde ihm ſein Hof eroͤfnet werden, und oft wuͤrde er mit allerhand Erben ſich herum zu zanken haben. Es iſt alſo durchaus noͤthig hier eine Graͤnzlinie zu ziehen. Die Frage iſt aber wie? und wo? man ſolche ziehen wolle.

X 5Die330Von Verwandlung der Erbesbeſetzung

Die Roͤmer hatten hier zuerſt, wie ſie ihre laͤndli - chen Begriffe mit in die Stadt brachten, ihre Suitet, und Emancipation. So bald ein Kind aus der Suitet trat, verlohr er ſein Erbrecht. Gleiche Begriffe hat - ten die Deutſchen, der Erbe mußte ſeyn hoͤrig, huldig und ledig, und dieſes gieng ſo weit, daß ein Bruder in einer Hode oder Hulde ſeinen Bruder in einer andern nicht erben konnte. Keine Erbſchaft folgte aus der Stadt oder der Buͤrgerhulde aufs Land, aus einer Hode in die andre, aus einer Hoͤrigkeit in die andre. So wenig jetzt ein freyer Sohn ſeinen leibeignen Vater beerbt, eben ſo wenig erbten emancipirte, aus der Suitet, dem Gehoͤr oder der Hulde entlaſſene Kinder ihre Eltern. Hier im Stifte ward dieſes Recht zuerſt durch die mit dem Bi - ſchofe Conrad von Diebholz im Jahr 1482 geſchloſſene Capitulation §. 12. aufgehoben; und auf demſelben be - ruhet noch der Abſchoß.

Auf dieſe Begriffe leitete die Natur Menſchen, wel - che die Schwierigkeit fuͤhlten, die ich vorhin angefuͤhrt habe, und die ſie gern vermeiden wollten. Begriffe die das große Gebaͤude der Hoͤrigkeit getragen haben, was ehedem uͤber den Boden von ganz Europa hervorragte, und die in manchen Koͤpfen jetzt fuͤr redende Urkunden der Leibeigenſchaft gelten. Allein eben dieſe Begriffe ſind jetzt, da ſie der Praͤtor zu Rom, und der Geldreichthum, wel - cher bald den groͤßten Theil der Erbſchaften ausmachte, uͤberall verbannt hat, ſo wohl ihrer großen Feinheit we - gen, als weil ſich alles in Territorialunterthanen verwan - delt hat, ziemlich unbrauchbar. Sie ſind das feinſte Kunſtgewebe des menſchlichen Verſtandes, der nur das Band der Hulde zwiſchen Haupt und Gliedern kannte, und man muͤßte ſie, wie ehedem taͤglich behandeln, um ſie in Uebung und Anſchauung zu unterhalten.

Jn331mit Leibeignen in freye Erbpacht.

Jn dieſer Verlegenheit muͤſſen wir wieder unſre Zu - flucht zur Eigenthumsordnung nehmen; dieſe ſagt:

Diejenigen welche vom Erbe mit Ausſteuer abgeguͤ - tet, darauf Verzicht gethan oder andre Erben und Guͤter angenommen haben, ſollen keinen Regres zur Erbfolge im Hofe haben, es ſey dann daß der Gutsherr ſie mittelſt gebuͤhrender Qualification hin - wieder dazu laſſen wolle.

Und dieſes muß auch der Grund der Erbfolge im Hofe bey freyen Perſonen bleiben. Jedes Kind, was aus dem Hofe freyet, ein Ausdruck der ſich auch auf die alte Hoͤ - rigkeit bezieht, muß, ſo bald der Prieſter den Eheſegen geſprochen hat, nichts weiter als ſeine Auslobung for - dern koͤnnen, und damit von aller Erbfolge im Hofe ab - geſchnitten ſeyn. Das Erbrecht faͤllt von einem Kinde aufs andre, ſo lange ſie noch ungefreyet ſind; unter die - ſen kann eins zum Vortheil des andern darauf Verzicht thun, aber es kann ohne gutsherrliche Bewilligung kein Verzicht oder Abſtand zum Vortheil ſolcher Kinder gelten, welche das vaͤterliche Gehoͤr, oder den Hof mit Heyra - then verlaſſen haben. Und dieſen Grundſatz zu verſtaͤr - ken, kann man im uͤbrigen die voͤllige Analogie der Ei - genthumsordnung gelten laſſen.

Bey dem Leibeignen ſtreitet man daruͤber, ob dieje - nigen Kinder, welche auf eine andre Stelle in dem naͤm - lichen Eigenthum heyrathen, ihr Erbrecht verlieren? Ein gleicher Streit erhob ſich auch ehedem im Hofrechte uͤber die Veranderſettung (etabliſſement ailleurs) und man be - hauptete, daß die Kinder, welche in derſelben Hulde blie - ben, ſich nicht verander ſetteten. Eben ſo konnte es auch geſchehen, daß bey dem Ausdruck aus dem Hofe heyra - then, die Frage entſtuͤnde, ob Kinder die im Hofe heyra - theten und auf demſelben entweder als Vormuͤnder desAner -332Von Verwandlung der ErbesbeſetzungAnerben, oder zur Heuer blieben, ihr Erbrecht damit ver - wirken, beſonders wenn ſie mit dem Hofeserben in einer - ley Hude bleiben? Dieſem Streite wird man aber in An - ſchung der Erbpacht damit vorbeugen koͤnnen, wenn man in den Meyercontrakt ſetzt,

daß alle Kinder, welche heyrathen, wenn ein An - erbe im Leben iſt, damit voͤllig abgehen, und weiter nichts als ihre Auslobung fordern ſollen.

Ueberhaupt aber wird es noͤthig ſeyn hier die Behandung einzufuͤhren. Die Behandungsguͤter ſind bekannt, be - ſonders in dem Fuͤrſtlich Werdenſchen Lehnhofe, und ſie werden auch adlichen (wie wohl nicht zu Meyer - ſondern zu Ritterdienſten) mithin gewiß aller perſoͤnlichen Frey - heit unbeſchadet, verliehen. Dieſe Behandung giebt der ganzen Sache eine ordentliche Richtung, als:

  • 1) behandet der Gutsherr dem freyen Erbpaͤchter oder deſſen Anerben und ſeiner Frauen das Gut; daher faͤllt es von dem Manne auf die Frau, und von der Frau auf den Mann fuͤr ihrer beyder Leibesleben.
  • 2) Behandet er es einem Stiefvater oder einer Stief - mutter, wenn der Fall einer zweyten Ehe eintritt, und erhaͤlt damit das Recht die Behandung auf eben die Jahre einzuſchraͤnken, auf welche ſie der Gutsherr in Anſehung der Leibeignen einſchraͤnkt, da denn auch wiederum die Analogie der Eigen - thumsordnung hier zu gebrauchen iſt.
  • 3) Behandet er nach dieſer Analogie den Eltern, wenn ſie abziehn auch die Leibzucht, und behaͤlt dadurch deren Beſtimmung nach uͤblichem Rechte in ſeiner billigen Vorſorge.
  • 4) Steht die Behandung mit der vorgedachten Bewah - rung in einem ſyſtematiſchen Zuſammenhange.
5) Kann -333mit Leibeignen in freye Erbpacht.
  • 5) Kann der Gutsherr kraft der Bewahrung, wenn er es noͤthig findet, den Zuſtand ſeines Hofes unter - ſuchen, und nachſehen, ob derſelbe auch verſchul - det ſey.
  • 6) Erhaͤlt auch mittelſt der Behandung der Zuſtand des Erbens ſeine eigentliche Beſtimmung. Man ſieht alle noch unverheyrathete Kinder ſind hoͤrige und nothwendige Erben, heredes ſui & neceſſarii, alle andre aber nicht. Dennoch geht der Beſitz auf dieſe nicht von ſelbſt (ipſo jure) ſondern durch die Behan - dung uͤber. Und da.
  • 7) eine Beſtimmung noͤthig iſt, was bey dem Abzug der Eltern auf die Leibzucht im Hofe gelaſſen werden muß und nicht mitgenommen werden kann, oder was von der Erbtheilung ausgeſchloſſen iſt: ſo kann der Gutsherr dafuͤr ſorgen, daß diejenigen Sachen, welche unter die Behandung gehoͤren (res Manipi auf weſtphaͤliſch Redegut) zuſammen im Hofe blei - ben und dem Hofeserben nicht entzogen werden.

Eine ganz andre Frage aber iſt es, ob den alſo abge - gangenen Kindern auf den Fall, da der Hofeserbe und ſeine Frau abgehen, nicht das Naͤherrecht vor einem Fremden, wenn jener die naͤmlichen Bedingungen einge - hen will als dieſer, zuzubilligen ſey? und ob ſodann die naͤchſten Verwandten des Letztlebenden, ohne Unterſchied, ob der Hof ihm urſpruͤnglich gehoͤrt habe oder nicht, den Vorzug haben ſollen? Allein da ſolche nur zu Proceſſen fuͤhren wuͤrden: ſo ſcheinet es mir am beſten zu ſeyn, die - ſes Naͤherrecht auszuſchlieſſen, wie es denn auch bey Eigenbehoͤrigen nicht ſtatt findet. Doch moͤgen andre, die mildere Meinung, ohne daß ich ihnen darin wider - ſprechen will, behaupten.

Auch334Von Verwandlung der Erbesbeſetzung ꝛc.

Auch koͤnnte man noch fragen: ob es nicht rathſam ſeyn wuͤrde das Hageſtolzenrecht, nach welchem der Ho - feserbe, wenn er unverheyrathet verſtirbt, als Leibeig - ner beerbtheilet werden kann, zu bedingen. Denn der Gutsherr kann einen freyen Mann nicht wie einen Leib - eignen noͤthigen, ſich bey Verluſt ſeines Erbrechts zu ver - heyrathen; und jenes Hageſtolzenrecht kann nur bey freyen Perſonen ausgeuͤbet werden, weil Leibeigne ohne - hin von ihren Gutsherrn beerbtheilet werden. Allein dieſe Bedingung ſcheint mir uͤberfluͤßig, weil der Meyercon - trakt dahin geſchloſſen werden kann, daß der Hofeserbe, wenn er bis uͤber dreyßig Jahr mit der Heyrath wartet, dem Weinkauf ſo als wenn er wuͤrklich heyrathet, bezah - len ſolle. Und wenn man auch dieſes nicht will: ſo muͤß - ten zugleich mehrere unverheyrathete Geſchwiſter im Hofe geblieben ſeyn, wenn derſelbe dem Gutsherrn nicht eroͤf - net werden ſollte. Und dieſes wird ſelten der Fall ſeyn.

LXIV. Formular eines neuen Colonatcontrakts, nach welchem einem vormaligen Cammereigen - behoͤrigen, nach vorgaͤngiger Freylaſſung der Hof uͤbergeben worden.

Des Allerdurchlauchtigſten, Großmaͤchtigſten Fuͤrſten und Herrn, Herrn GEORG des III. Koͤnigs von Großbritannien, Frankreich und Jrland, Beſchuͤtzer des Glaubens, Herzogs zu Braunſchweig und Luͤneburg ꝛc. als Vaters des Durchlauchtigſten Fuͤrſten und Herrn,Herrn335Formular eines neuen Colonatkontrakts. Herrn Friederichs poſtulirten Biſchofs zu Oſnabruͤck ꝛc. zum Amte .... beſtellete Droſt und Rentmeiſter urkun - den und bekennen hiedurch, daß Wir dem N. N. und ſeiner ehelichen Hausfrauen N. N. beyderſeits freyen Standesperſonen*)Den beyden Eheleuten wurde vorher die Freyheit in einem beſondern Briefe ertheilt, damit ſie guͤltig contrahiren konn - ten. Sie bezahlten dafuͤr vierhundert Piſtolen, welche die Cammer zum Ankauf eines andern Hofes verwendete., auf ihr geziemendes Anſuchen bey Hochpreißl. Regierung zu Oſnabruͤck, und darauf von derſelben an uns ergangenen beſondern Befehl, mittelſt Darreichung unſrer rechten Hand behaͤndigt und uͤberge - ben haben, ein dem H. Peter**)Mein Vater behaͤlt gern die alte ſymboliſche Sprache, wenn ſie ſo bedeutend iſt, wie dieſe, bey. und zeitigen Biſchofe zu Oſnabruͤck gehoͤriges Erbe, in dieſem Amte und der Vogtey Berge belegen, der Meyerhof zu N. N. genannt, mit allen dazu gehoͤrigen Gebaͤuden, Gaͤrten, Kaͤmpfen, Aeckern Wieſen, Weiden, Holzungen, Heiden, Moͤhren, Bruͤchen und Gewaͤſſern, derenſelben jetzigen und kuͤnf - tigen Verbeſſerungen, auch Muͤhlen - Jagd -***)Dieſes war alles bey dem Hofe und von ihm als Eigenbe - hoͤrigen bereits beſeſſen worden. und Markgerechtigkeiten, wie dieſelben bisher aus dieſem Hofe geuͤbet worden oder beſſer geuͤbet werden moͤgen, jedoch alles in der Maaße, um denſelben mit dieſen darinn und darausgehenden Gerechtſamen, auf ihrer beyder Lebens - zeit, oder ſo lange bis ſie die Leibzucht waͤhlen, zu bauen zu beſſern und zu nutzen, insbeſondre aber, das darauf ſtehende Erbwohnhaus nebſt den dazu gehoͤrigen Neben - gebaͤuden, wie auch die Muͤhle in redlicher Beſſerung zuerhal -336Formular eines neuen Colonatkontrakts. erhalten, ſolche, wenn ſie fallen, ohne unſere Koſten und Schaden wieder aufzubauen, ſich jederzeit bey guter Spannung und Viehzucht zu halten, den Acker gehoͤrig zu beſtellen, die Frechten, Ufer und Wallungen wohl zu vertheidigen, das Gehoͤlze mit Zupflanzen und Zuſaͤen beſtens zu pflegen, und ſich in allen alſo zu verhalten, wie es einem guten treflichen Wirthe wohl anſtehet und ge - buͤhret.

Davor ſollen ſie einem zeitigen Biſchofe zu Oſnabruͤck und an deſſen Statt uns nicht allein treu, hold und ge - waͤrtig ſeyn, ſofort des Stifts, Amts und Hofes Beſte nach Moͤglichkeit befoͤrdern und deſſen Schaden warnen und wehren, ſondern auch uns die aus beſagtem Hofe bisher gegangene Paͤchte, als:

  • 1) Rocken
  • 2) Hafer

alle Jahr unverhoͤhet und unverjaͤhrt und zwar vor Mar - tini gebuͤhrend und untadelhaft, ſo gut es naͤmlich auf dem Hofe waͤchſt, an das Amthaus auf ihre Koſten lie - fern, daneben und jaͤhrlich zur freyen Urkunde einen harten Thaler von 2 Loth Silber in hieſiges Amts - regiſter bezahlen, oder wenn ſie daran ſaͤumig ſeyn ſoll - ten, erleiden, daß Wir ſie dazu mit eigner Huͤlfe, als der Selbſtpfandung und Abdreſchung der Fruͤchte auf dem Boden, oder auch dem Befinden nach gerichtlicher Huͤlfe anſtrengen laſſen, und wenn ſolche, wegen ermangeln - der Pfande ihre Wuͤrkung nicht haben koͤnnte und ſie auch nicht in Zeit von drey Monaten den voͤlligen Ruͤckſtand zu berichtigen vermoͤchten, dieſelbe des Hofes, jedoch auf vorhergehendes rechtliches Erkenntniß, entſetzen.

Dagegen wollen Wir dann als Hofes Herrn dieſel - ben bey der ihnen ertheilten Freyheit ſchirmen und ſchuͤz - zen, ihnen ſo lange ſie leben oder auf dem Hofe bleibenwollen,337Formular eines neuen Colonatcontrakts. wollen, deſſen und aller ſeiner Zubehoͤrungen nutzbaren Gebrauch verſtatten, mithin dieſelben dabey handhaben, nach ihrem beyderſeitigen Ableben oder Abzuge auf die Leibzucht, den Hof auf gleiche Maaße und Weiſe ohne etwas davon zuruͤck zu behalten, einem von ihren eheli - chen oder durch Vollziehung der Ehe legitimirten Kindern, als welche letztere eben ſo angeſehen werden ſollen, als wenn ſie waͤhrend der Ehe gezeuget und gebohren worden, wiederum goͤnnen, und wenn daſſelbe zur Ehe ſchreitet, gleich nach ausgeſprochenem prieſterlichen Segen, gegen Erlegung eines auf eines Jahrs Pacht - und Dienſtgeld hiemit beſtimmten unveraͤnderlichen Weinkaufs wuͤrklich uͤbergeben, oder wo daſſelbe Verhinderung halber von uns oder unſern Bevollmaͤchtigten, welchen ſie zur Ge - buͤhr fuͤr dieſe Uebergabe und die daruͤber zu ertheilende Urkunde zwanzig Thaler bezahlen ſollen, nicht geſchehen ſollte, den Ausſpruch des prieſterlichen Segens fuͤr die wuͤrkliche Uebergabe gelten laſſen, jedoch alſo, daß ſie auch in dieſem Falle die vorgedachte Urkunde fuͤr die be - ſtimmte Gebuͤhr nehmen und loͤſen und vor wuͤrklicher Bezahlung des Weinkaufs und dieſer Gebuͤhr keinen hand - hablichen Beſitz erlangen ſollen.

Und damit ſowohl wegen der Leibzucht, als der Art und Weiſe, wie die Kinder in den Hof zugelaſſen werden ſollen, allen kuͤnftigen Jrrungen vorgebauet werden moͤ - ge: ſo wird denſelben hiemit nachgelaſſen, ſich der er - ſtern halber mit dem Hofes Erben, jedoch mit unſerm Vorwiſſen und unſerer Genehmhaltung ſelbſt zu verglei - chen, und wollen Wir in dem Falle, da ſie hieruͤber nicht einig werden koͤnnten, die Leibzucht nach dem Landrechte, was bey andern gutsherrlichen Hoͤfen in Gebrauch, oder vorher bey dem Meyerhofe uͤblich geweſen iſt, ganz oder zur Haͤlfte, nachdem es der Fall erfordert, beſtimmen.

Moͤſers patr. Phantaſ. IV. Th. YWegen338Formular eines neuen Colonatcontrakts.

Wegen der letztern ſoll es alſo gehalten werden, daß wenn Soͤhne vorhanden, unter denſelben der juͤngſte, in ſo fern er nicht gebrechlich oder ſonſt unvermoͤgend iſt, dem Hofe vorzuſtehen, und ſo auch die juͤngſte Tochter, wenn ſie dazu tuͤchtig iſt, vor den aͤltern den Vorzug ha - ben ſollen, damit die Eltern ihre aͤltern Kinder deſto beſ - ſer berathen koͤnnen, und dem Hofes Erben nicht zu fruͤh im Wege ſeyn moͤgen.

Daneben ſollen die Kinder erſter Ehe, ohne Unter - ſcheid, ob es Soͤhne oder Toͤchter ſind, den Kindern ſpaͤ - terer Ehe vorgezogen werden. Und dieſe Succeßions - ordnung ſoll dergeſtalt beſtehen, daß ſo wenig beyde El - tern als Vater und Mutter allein dagegen etwas vorneh - men moͤgen, es waͤre denn, daß ſolche Urſachen eintreten, welche eine Enterbung rechtfertigen koͤnnten, und Wir ihnen hierauf geſtatteten, aus den von dem Hofe noch nicht geſchiedenen Kindern einen andern Hofes Erben zu erwaͤhlen.

Jedoch wollen Wir geſtatten, daß das juͤngere Kind zum Vortheil eines andern, welches in dem Falle, da dieſes nicht vorhanden waͤre, der naͤchſte Erbe geweſen ſeyn wuͤrde, auf ſein Erbrecht Verzicht thun moͤge. Auch ſoll der Hofes Erbe, wenn er auſſerhalb Landes waͤre, und ſich vor Ablauf eines Jahres und eines Tages nicht von ſelbſt meldete, damit ſeines Erbrechts an dem Hofe verluſtig und dieſes auf denjenigen verfallen ſeyn, wel - cher, wenn jener nicht vorhanden waͤre, der naͤchſte dazu geweſen ſeyn wuͤrde. Waͤre aber dergleichen nicht vor - handen, ſollen der oder die Abweſenden nach Ablauf ei - nes Jahres und eines Tages unter Beſtimmung einer fernern Friſt von drey Monaten, oͤffentlich vorgeladen, und nur alsdenn der Behandung verluſtig ſeyn, wenn ſie ſich in der ihnen alſo geſetzten Friſt nicht melden.

Sind339Formular eines neuen Colonatcontrakts.

Sind aber Kinder aus mehrern Ehen vorhanden, und es gehen ſowohl die Soͤhne als die Toͤchter aus der erſten Ehe ab: ſo haben die aus der zweyten das Recht der erſtern, und tritt bey ihnen eben das ein was in An - ſehung dieſer hier oben feſtgeſetzet iſt.

So lange dasjenige Kind, was ſolchergeſtalt von Natur oder auch durch Verzicht eines andern, zum Hofe gerufen iſt, unverheyrathet bleibt, als welches ihm, wenn es bereits dreyßig Jahr und einen Tag erlebt hat, im - mer fuͤnf Jahr nach dem Tage, daß ihm der Hof ange - fallen iſt, vorher aber bis dahin, daß es dreyßig Jahr und einen Tag erreicht hat, und fuͤnf Jahr daruͤber, ſei - nem Erbrechte unbeſchadet erlaubt iſt, bleibt deſſen gan - zen und halben Geſchwiſtern, wenn ſie nicht bereits ver - heyrathet oder abgelobet ſind, der Hof in ihrer Ordnung vom juͤngſten bis zum aͤlteſten offen, ſo, daß wenn jenes darauf verſtirbt, dieſe ihm nach jener Ordnung fol - gen moͤgen. Nach Verlauf der alſo beſtimmten Jahre aber wird ein ſolches Kind fuͤr den Annehmer des Hofes gehalten, derſelbe mag ihm dann uͤbergeben ſeyn oder nicht, und mit ſeiner Annahme verlieren deſſen Geſchwi - ſter allen kuͤnftigen Ruͤckgang in den Hof, ſo wie denn auch ein ſolcher Annehmer ſodann den voͤlligen Weinkauf und die Gebuͤhr fuͤr die Behandung erlegen muß.

Heyrathet aber ein ſolches Kind vor Ablauf dieſer Zeit: ſo wird jener Ruͤckgang mit dem Augenblicke aus - geſchloſſen, da der prieſterl. Segen uͤber ihn geſprochen iſt, wie denn auch allemal der Hof von dem Manne auf die Frau, denen er uͤbergeben iſt, ſolchergeſtalt uͤbergeht, daß der uͤberlebende Ehegatte, wenn keine Kinder vor - handen ſind, die voͤllige Hand daran behaͤlt, ohne Unter - ſcheid ob er der angeheyrathete oder im Hofe gebohrneY 2Theil340Formular eines neuen Colonatcontrakts. Theil iſt, und wird demſelben der Hof auf Lebenszeit oder ſo lange er die Leibzucht bezieht, in aller Maaße gelaſſen, auch wo er zur andern Ehe ſchreitet, in dem Falle wo keine Kinder vorhanden ſind, gegen Erlegung des vori - gen Weinkaufs, den beyden Eheleuten wie vorhin uͤber - geben und behaͤndigt.

Sind aber Kinder erſter Ehe vorhanden, und ein ſolcher uͤberlebender Ehegatte gedenkt ſich zum andern - male zu verheyrathen: ſo muß derſelbe ſich vorher bey uns melden und gegen den einmal feſtgeſetzten Weinkauf eine neue Behandung nehmen.

Jſt es der Vater, von dem zugleich der Hof her - kommt, welcher eine neue Uebergabe oder Behandung ſuchet: ſo werden demſelben fuͤr ſeine Lebenszeit keine, wohl aber der Frauen auf den Fall ſeines Ablebens ſichere beſtimmte Jahre geſetzt. Jſt es aber die Mutter, ſo muß ſich dieſelbe eine ſolche Beſtimmung gefallen laſſen, und wird den neuen Eheleuten der Hof ſo lange uͤbergeben, bis der Hofes Erbe erſterer Ehe dreyßig Jahr und einen Tag zuruͤckgeleget hat, und ſoll jene Beſtimmung alſo geſchehen, daß wenn der Hofes Erbe vor dem erſten May ſein dreyßigſtes Jahr und einen Tag zuruͤckgelegt, die naͤchſte Erndte annoch von dem auf beſtimmte Jahre woh - nenden Eltern, und wenn er dieſe ſeine Jahre und Tage nach dem erſten May vollendet, ſolches von dem Hofes Erben geſchehen ſolle.

Ehe und bevor aber der Vater zur andern Ehe ſchrei - tet, muß er dasjenige, was ihm eigenthuͤmlich gehoͤrt, mit ſeinen Kindern auf die Haͤlfte getreulich theilen, zu ſolchem Ende zwey von ihren naͤchſten Anverwandten, welche von dem Richter als Vormuͤnder zu beeyden ſind, erſuchen, um der Theilung mit beyzuwohnen. Dasjenigewas341Formular eines neuen Colonatcontrakts. was zum Hofgewehr und nach der hierin enthaltenen Be - ſtimmung den Hofes Erben vorab gebuͤhrt, behaͤlt er nach vorgaͤngiger Schaͤtzung in Haͤnden und liefert es auch zu ſeiner Zeit wiederum darnach ab. Von allen aber be - haͤlt er den Nießbrauch ſo lange, bis die Kinder aus dem Hofe, erhaͤlt ſie dagegen in Koſt und Kleidung, und ſor - get fuͤr ihren Unterricht, es ſey zu Hauſe oder in einer Werkſtatt, wenn ſie ein Handwerk erlernen.

Eben ſo verfaͤhrt die Mutter in dem Falle, da die - ſelbe zur andern Ehe ſchreitet, jedoch mit dem Unter - ſcheide, daß dieſe, wenn ein Kind vorhanden, die Haͤlfte, wenn aber deren mehrere ſind, nur den dritten Theil erhaͤlt.

Stuͤrben der Vater oder die Mutter, ehe und bevor die Kinder den Hof verlaſſen, oder ihre Großjaͤhrigkeit erreichet haben, ſo hoͤrt der Nießbrauch auf, und tritt die Vorſorge der Vormuͤnder ein, welche ſich ſodann wei - ter mit den Stiefeltern zu vergleichen wiſſen werden, ob ſie der Kinder Vermoͤgen in deren getreuer Verwaltung laſſen oder zu ſich nehmen wollen, den Kindern ſelbſt aber gebuͤhrt auch in dieſem Falle freye Koſt und Kleidung vom Hofe, bis die Toͤchter ihr ſechszehntes und die Soͤhne ihr achtzehntes Jahr vollendet haben; jedoch alſo, daß dem Hofes Beſitzer dagegen der Nießbrauch des ihrigen ſo lan - ge gegoͤnnet, oder, wofern dieſer ein mehrers betragen ſollte, ein billiges Koſt - und Kleidungsgeld von Vormuͤn - dern zugeſtanden werde.

Stirbt eins von den Kindern: ſo wird es mit deſſen Beerbung nach den gemeinen Rechten gehalten. Beyder Ehe Kinder aber haben ihre Auslobung aus dem Hofe nach einerley Grundſaͤtzen zu erwarten, und ſoll darun - ter nicht leicht ein Unterſchied gemacht werden, indem wenn Schulden in der andern Ehe gemacht ſind, dieſeY 3blos342Formular eines neuen Colonatcontrakts. blos auf das Erbvermoͤgen der Kinder zweyter Ehe fal - len koͤnnen.

Was der eine oder der andere Ehegatte in den Hof bringt, es ſey in der erſten oder andern Ehe, faͤllt in dem Falle, da keine Kinder vorhanden ſind, nach ihrer Seite nicht wieder zuruͤck; ſondern dem uͤberlebenden Theile zu, indem alles Einbringen mit der Leibzucht, welche der ver - ſtorbene Theil dagegen zu erwarten gehabt, fuͤr bezahlt und erſtattet gehalten wird, und mag auch daruͤber zum Vortheil einiger Seitenverwandte wider den Willen des uͤberlebenden Theils nichts verordnet werden. Ziehen die Eltern auf die Leibzucht: ſo moͤgen dieſelbe zwar ihre er - erworbene Mittel und was ſonſt nicht zum Hofgewehr gehoͤrt, dahin mitnehmen, mithin auch damit wie an - dere freye Leute ſchalten und walten, jedoch ſind dieſel - ben ſchuldig, alles was auf dem Hofe Erd - Wand - Nied - und Nagelfeſt iſt, worunter namentlich Duͤngung und Einſaat, und alle Verbeſſerungen begriffen, ſo wie alles, was zum Hofgewehr gehoͤrt, als Pferde, Kuͤhe, Schwei - ne, Schaafe und ander Vieh, Ackerwagen, Pfluͤge und Eggen, alles auf dem Felde oder noch im Hauſe vorhan - dene Korn, auf dem Hofe zu laſſen, und ſich mit demje - nigen zu begnuͤgen, was ihnen davon durch einen guͤtli - chen Vergleich oder von uns zugebilliget werden wird, da Wir denn letzternfalls, nachdem der Haushalt gut oder ſchlecht beſteht, von obigen Stuͤcken ſo vieles zuerken - nen werden, als ſie zu ihrem Auskommen bis zur naͤch - ſten Erndte und zur guten Beſtellung der Leibzucht noth - duͤrftig gebrauchen, wogegen ſie aber auch von dem uͤbri - gen Hausgeraͤthe, was ſie nach unſerm Ermeſſen entbeh - ren koͤnnen, und wenigſtens den dritten Theil im Hauſe laſſen muͤſſen; darunter iſt aber kein baar oder ausſte - hend Geld, auch kein Silber oder Gold, oder was zuKlei -343Formular eines neuen Colonatcontrakts. Kleidung und Schmuck gehoͤrt, imgleichen kein unange - ſchnittenes Linnen begriffen, als welches den Eltern in allen Faͤllen zur freyen Verfuͤgung bevorbleibt.

Wenn ſich die abgezogenen Eltern auf der Leibzucht anderweitig verheyrathen, moͤgen der - oder dieſelbe dem angeheyratheten Theile, ohne unſere und des Hofes Er - ben Bewilligung keine weitere Leibzucht darauf verſchrei - ben, auch haben die aus ſolcher Ehe erfolgende Kinder keine Auslobung aus dem Hofe zu fordern.

Damit aber auch die Leibzucht ſowohl als der Hof und was darauf iſt, von keinem Glaͤubiger oder Erben ohne Mittel angegriffen werden moͤge: ſo bleiben beyde in unſer beſtaͤndigen Bewahrung, und muͤſſen diejenigen welche aus der Leibzucht, wenn ſolche dem Hofe eroͤfnet wird, etwas zu fordern haben, ſolches von dem Hofes Erben, der alles, was darauf iſt, zu guter Rechenſchaft beſchreiben und zu ſich nehmen mag, und diejenigen ſo aus dem Hofe etwas zu fordern haben, wenn derſelbe uns heimfaͤllt, ſolches von uns ſuchen, nicht aber mit un - mittelbaren Eingriffen oder Arreſten verfahren.

Eben dasjenige, was dem Hofes Erben zur Verthei - digung des Hofes an Hofgewehr und ſonſt gelaſſen wer - den muß, verbleibt auch demſelben vorab, wenn die El - tern auf dem Hofe und nicht auf der Leibzucht ſterben, mithin deren bewegliches Vermoͤgen unter mehrern dazu berechtigten Kindern zur Erbſchaftstheilung gezogen wird; wogegen er aber auch, was zu ihrer Ausſteuer an der - gleichen Stuͤcken uͤblich iſt, zu ſeiner Zeit in allen Faͤllen ſtehen muß.

Den vom Hofe abgehenden Kindern ſoll davon eben ſo wie bey andern Gutsherrl. Staͤtten, nach der ſolcher - halb vorhandenen oder kuͤnftig gemacht werdenden Ver -Y 4ord -344Formular eines neuen Colonatcontrakts. ordnungen ein ſicheres zur Abſteuer und Abfindung von uns ausgelobet werden, welches auch die auf Mahljah - ren ſitzenden Eltern in billiger Maaße mit abfuͤhren muͤſſen.

Weil aber bey den mit Leibeignen beſetzten Staͤtten das vorhandene Geld und uͤbriges Vermoͤgen zum Sterb - fall gehoͤret, wohingegen daſſelbe hier den Eltern zu ih - rer freyen Verwendung bleibt, ſo daß ſie dasjenige, was nach bezahlten Schulden uͤbrig iſt, ſo weit ihnen die ge - meine Rechte hierin nicht entgegen ſtehen, eben den Kin - dern die ihre Auslobung aus dem Hofe erhalten, zuwen - den, und dem Hofes Erben der jene gleichwohl aus dem Seinigen abgeſteuret, entziehen koͤnnen: ſo ſollen dieſel - ben in dem Falle, da ſie die Ausſteuer ihrer abgehenden Kinder ohne Beſchwerde des Hofes ausgerichtet haben, daruͤber nach ihrem Gefallen, ſo weit es ihnen die ge - meinen Rechte geſtatten, in ihrem letzten Willen und ſonſt verordnen moͤgen, ſonſt aber und wenn die Auslobung dem Hofe zur Laſt bleibt oder geblieben iſt, dem Hofes Erben die Haͤlfte dieſes ihres Vermoͤgens als Pflichttheil zu laſſen ſchuldig ſeyn.

Die Wahl eines Ehegatten oder einer Ehegattinn bleibt dem Hofes Erben, ſo wie jedem freyen Manne frey, doch ſollen dieſelben uns ſolches bey einer Strafe von zehen Thalern acht Tage vor der Hochzeit anmelden, da - mit Wir uns zur Uebergabe oder Behandung am Hoch - zeittage einfinden, oder unſern Bevollmaͤchtigten dazu ſchicken koͤnnen; auch ſollen dieſelben keine fremde Eigen - behoͤrige oder Hofhoͤrige Perſon, die nicht frey gelaſſen iſt, auf den Hof bringen, oder wo ſie ſolches thun ſoll - ten, die aus ſolcher Ehe erzielten Kinder zu dem Hofe nicht gelangen, und eine ſolche Perſon auch der Leibzucht, welche ohnehin, weil ihr der Hof nicht behandet iſt, weg -faͤllt,345Formular eines neuen Colonatcontrakts. faͤllt, nicht genießen, gleich wie denn auch in einem ſol - chen Falle der prieſterliche Eheſegen die Stelle der ver - hinderten Behandung nicht erſetzen ſoll.

Wenn Vormuͤnder erfordert werden, moͤgen dieſel - ben von dem ordentlichen Richter geſucht, geſetzt und in einem anzuſetzenden Termino, wovon uns der Richter Nachricht geben wird, beſtaͤtiget werden; doch ſollen die - ſelben ſich des unter unſer Verwahrung ſtehenden Hofes und Gutes nicht annehmen, ohne ſich vorher bey uns zu melden, und ſoll es uns frey ſtehen, ob Wir denſelben die Verwaltung des Hofes uͤberlaſſen oder ſolche einem andern, jedoch zum Beſten der Kinder und zu guter Re - chenſchaft, vertrauen wollen.

Uebrigens verſtehet es ſich von ſelbſt, daß die Be - ſitzer des Hofes den ihnen behandeten Hof mit ſeinem Zu - behoͤr getreulich zuſammen halten, davon bey Strafe der Nichtigkeit nichts verkaufen, vertauſchen, verſetzen, oder auf Erbpacht austhun, ſolchen mit keinen Schul - den, neuen Dienſtbarkeiten und Auslobungen vor ſich be - ſchweren, in Anſehung der Gebaͤude und des Weſens des Hofes ohne Einwilligung keine erhebliche Veraͤnderung machen, oder ſonſt es ſey gerichtlich oder auſſergerichtlich etwas vornehmen, ſchließen und handeln moͤgen, wor - aus dem Hofe ein beſtaͤndiger Nachtheil oder Schade zu - wachſen koͤnne, vielmehr ſind dieſelben ſchuldig, ſolchen ſo viel ſie koͤnnen, zu beſſern, was ſie aus der Mark, worinn derſelbe belegen iſt, an ſich bringen, dabey zu laſſen, und da ſie jetzt in dieſer Mark keine Gruͤnde erb - eigen beſitzen, ſich zu mehrerer Sicherheit des Hofes aller Erwerbung einiger Gruͤnde fuͤr erbeigen zu enthalten, oder wo ſie ſolches dem ohngeachtet thun wollten, zu er - leiden, daß der Hofes Erbe, und wenn ein ſolcher gaͤnz -Y 5lich346Formular eines neuen Colonatcontrakts. lich abgehen ſollte, der Hofes Herr ſich alles dasjenige zueigne, was von den Beſitzern des Hofes in beſagter Mark fuͤr erbeigen angekaufet worden, ohne dafuͤr ein mehrers zu verguͤten, als was etwa von dem Kaufgelde noch unbezahlt zuruͤckſtehen moͤchte.

Es verſteht ſich ferner von ſelbſt, daß dieſelben und ihre Nachkommen am Hofe alle oͤffentliche und gemeine Laſten, welche dem Hofe jetzt obliegen oder von Rechts - wegen auferlegt werden koͤnnen, wie auch die zu deſſen und ſeiner Gerechtſame gerichtlichen Vertheidigung etwa erforderliche Koſten vor ſich ohne unſer Zuthun tragen muͤſſen, auch in dem Falle, da ſie durch Krieg, Brand, Mißwachs, Hagelſchlag, Ueberſchwemmung, Viehſter - ben und andere auſſerordentliche Ungluͤcksfaͤlle leiden ſoll - ten, ſolcherhalb keinen Nachlaß an den ihnen obliegenden Paͤchten und Dienſten fordern koͤnnen, immaßen das eine Jahr das andere uͤbertragen muß, und die Paͤchte, ſo dem Hofe obliegen, in Anſehung deſſen Ertrages Ver - haͤltnißmaͤßig ſehr geringe ſind.

Es verſtehet ſich endlich von ſelbſt, daß dieſelben das auf dem Hofe vorhandene Brand - und Schlagholz als gute Wirthe zu ihrer Nothdurft gebrauchen, ſolches nicht verhauen und beſonders kein Bauholz ohne unſer Vor - wiſſen und Anweiſung faͤllen muͤſſen; ſollten dieſelben aber dieſem alſo nicht nachkommen, ſondern das Holz ver - hauen und Bauholz ohne Anweiſung faͤllen: ſo ſoll nicht allein das alſo gehauene Holz, in ſo weit es irgendwo, es ſey auf dem Hofe oder auſſerhalb demſelben, noch vorhanden, ſofort an Uns verfallen ſeyn, oder dafern es nicht mehr vorhanden, nach der Schaͤtzung bezahlt werden; ſondern es ſollen dieſelben auch fuͤr jeden alſo gehauenen Baumſtamm eine Strafe von zehn Thalernerlegen,347Formular eines neuen Colonatcontrakts. erlegen, und wenn das Gehoͤlze verhauen iſt, ihrer Be - handung verluſtig ſeyn; dagegen aber wollen Wir ihnen auch das noͤthige Bauholz, ſo viel davon auf der Wehr vorhanden, wenn ſie ſich darum gehoͤrig melden, ohne Aufenthalt gegen eine billige Gebuͤhr fuͤr die Bemuͤhung des Anweiſers auszeichnen und anweiſen laſſen, und wenn durch einen Windſturm auf einmal ſo viel Holz umge - ſtuͤrzet wuͤrde, daß es in der Haushaltung nicht nothwen - dig gebraucht, ſondern mehrſtbietend verkauft werden koͤnnte, das daraus geloͤſete Geld mit ihnen theilen.

Schließlich verwuͤrken dieſelben den Hof und ihr daran habendes Behandungsrecht, jedoch nicht anders als auf gerichtliches Erkenntniß, wenn ſie etwas davon verkaufen, vertauſchen, verſetzen, oder auf andere Art veraͤuſſern und verbringen, denſelben nicht in redlicher Beſſerung erhalten, das Holz verhauen und ſich durch eine ſchlechte Wirthſchaft oder viele perſoͤnliche Schulden, auſſer Stand ſetzen, demſelben gehoͤrig vorzuſtehen, und was dem Hofe obliegt, auszurichten.

LXV. Formular des hiebey ertheilten Freybriefes.

GEORG der dritte, von Gottes Gnaden, Koͤnig von Großbritannien, Frankreich und Jrrland, Be - ſchuͤtzer des Glaubens, Herzog zu Braunſchweig und Luͤ - neburg, des Heil. Roͤm. Reichs Erz-Schatzmeiſter und Churfuͤrſt ꝛc. ꝛc.

Urkun -348Formular des hiebey ertheilten Freybriefes.

Urkunden und bekennen hiemit als Vater und Na - mens des poſtulirten Biſchofs des Hochſtifts Oſnabruͤck, Unſers Prinzen FRIEDERICHS Liebden, fuͤr Uns und un - ſre Nachfolger an dem Stifte Oſnabruͤck, wie auch ſonſt jedermaͤnniglich, wasmaßen Wir den Martin Schulten zu Aſelage, und ſeine Hausfrau Maria Gertrud Nehem, mit allem was von ihrem Leibe gebohren iſt, oder kuͤnf - tig noch gebohren werden wird, auf ihr allerunterthaͤ - nigſtes Anſuchen, wie auch aus beſonders bewegenden Urſachen, und um der Dienſte willen die ſie dem Stifte Oſnabruͤck geleiſtet haben oder leiſten werden, von aller Leibeigenſchaft, womit ſie bisher Uns und einem zeitigen Biſchofe verwandt geweſen ſind, voͤllig frey gelaſſen, und in den Stand andrer freyen Amtsunterthanen des Hoch - ſtifts verſetzet haben; thun das auch hiemit und alſo, daß dieſelben alle Rechte freyer Amtsſaſſen genießen, uͤberall von uns unverfolgt Ehre und Gluͤck ſuchen, geiſtliche oder weltliche Wuͤrden beſitzen, aͤchte Handlung ſchließen, und wo ihnen das zu thun iſt, Recht geben oder nehmen moͤ - gen; denen welche wir zu befehlen haben, befehlend, an - dre aber erſuchend, gedachte Eheleute und ihre Kinder fuͤr freye Amtsſaͤßige Leute zu erkennen, und ihnen in ſolcher Maaße alle Gebuͤhr und allen guten Willen zu bezeugen, immaßen Wir denn auch dieſelben bey dieſer ihrer Freyheit, ſo lange ſie ſich als getreue Unterthanen betragen, und in dem Hochſtifte verbleiben, kuͤnftig ſchuͤtzen, und ihnen alle diejenigen Wohlthaten angedeyen laſſen werden, deren ſich andre freye Unterthanen zu er - freuen haben; jedoch alles mit Vorbehalt deſſen was ſie Uns und unſern Nachfolgern am Stifte, von dem ihnen nunmehro als freyen Leuten behaͤndigten Schuldenhofe zu Aſelage kraft des daruͤber aufgerichteten und von unsgeneh -349Alſo ſollten Gutsh. ihre Leibeignen vertreten. genehmigten Contrakts zu thun und zu leiſten ſchuldig ſind.

(L. S.) Ad Mandatum Regis & Electoris pro - prium. v. Ende.

LXVI. Alſo ſollte jeder Gutsherr ſeine Leibeignen vor Gerichte vertreten, und den Zwang - dienſt mildern.

Ewr. Hochwohlgebohren haben Recht zu ſagen: die erſte Pflicht der Gutsherrn ſey die Vertheidigung ihrer Eigenbehoͤrigen vor Gerichte und zu Felde. Hat gleich die letzte aufgehoͤrt, nachdem man eine neue Art der Vertheidigung zu Felde eingefuͤhrer hat, und leidet auch gleich die jetzige gerichtliche Verfaſſung nicht mehr, daß der Gutsherr ſelbſt ins Gerichte gehe, um ſeinen leibeignen Mann zu vertreten: ſo bleibt doch fuͤr ihn im - mer eine gewiſſenhafte Verbindlichkeit zuruͤck, und jeder ehrliche Mann muß fuͤr ſein Eigenthum ſtehen. Der Herr der ſeine Unterthanen nicht mehr ſchuͤtzen kann, ver - liert ſein Recht.

Mit Betruͤbnis ſehe ich es an, wie die armen Leute, wenn ſie in einen Rechtshandel verwickelt werden, in der Stadt herumirren, und einen guten Rath ſuchen. Aus dem naͤmlichen Grundſatze, woraus ſie den Quack - ſalber dem geſchickten Arzte vorziehen, nehmen ſie ihre Zuflucht zuerſt zu demjenigen, der ihn ihrer Vermuthungnach350Alſo ſollten Gutsh. ihre Leibeignen vertreten. nach am wohlfeilſten geben wird. Jener bringt ſie auf ein langwieriges Lager, und der rechtſchaffene Arzt kann ihnen hernach weiter nichts ſagen, als: ſie haͤtten eher kommen ſollen. Die juriſtiſchen Quackſalber ſind nicht ſo beſchrien wie die mediciniſchen; aber ſie ſind eben ſo dreiſt, und oft eben ſo gefaͤhrlich. Ein ungluͤcklicher Pro - ces iſt der Geſundheit oft nachtheiliger, als ein hitzi - ges Fieber.

Groß und Nachahmungswuͤrdig iſt demnach der Ent - ſchluß, daß Ewr. Hochwohlgebohren ſich einen rechtſchaf - fenen Advocaten erwaͤhlt, und alle ihre Eigenbehoͤrige angewieſen haben, ſich einzig und alleine ſeiner Huͤlfe zu bedienen. Die jaͤhrliche Beſoldung, welche Hochdieſel - ben dem Manne dafuͤr reichen, wird Jhnen durch den kuͤnftigen Wohlſtand der Eigenbehoͤrigen gewis reichlich verguͤtet werden; und dieſer ihre Rechtsſachen, werden unendlich beſſer eingeleitet werden, wenn der Gelehrte in der Stadt von einem der Baurenſtreitigkeiten kundigen Gutsherrn unterrichtet wird.

Es iſt ein Hauptfehler vieler heutigen Verfaſſungen, daß der arme und geringe Mann, wie der Bauer in dem Style der Reichsgeſetze heiſet, keinen ihn vertretenden Hauptmann hat; und ſich entweder durch koſtbare Mieth - linge vertheidigen, oder einem uͤbelgeſinnten Beamten blos ſtellen muͤſſe. Wenigſtens ſollten die geringern Klaſ - ſen der Menſchen auf dem Lande, eben wie Buͤrger in Staͤdten und Flecken, einem gemeinſchaftlichen Vorſprecher haben, und in Ordnungen abgetheilet ſeyn. Dies war der Geiſt der ehmaligen Heiligenſchuͤtzungen anſtatt daß die mehrſten von unſern Neubauern mit der dritten Genera - tion wieder zu Grunde gehn; wenn ihre Nachkommen durch Erbabſindungen, Ausſteuern von Kindern, undRuͤck -351Alſo ſollten Gntsh. ihre Leibeignen vertretenRuͤckfaͤlle verzehrter Mitgiften geſchwaͤcht ſeyn werden. Man bauet ihnen Haͤuſer, giebt ihnen Gaͤrten, und ver - ſorgt ſie mit Vieh. Allein keiner denkt daran, ihnen eine angemeſſene Verfaſſung und Autonomie zu geben.

Wenn Ewr. Hochwohlgebohren zu obiger Wohlthat noch dieſe hinzuthun, daß dieſelben Jhrem Eigenbehoͤ - rigen die Wahl laſſen, ob ſie den Zwangdienſt in Perſon verrichten, oder das Lindlohn, was ein Knecht oder eine Magd verdient, bezahlen wollen: ſo werden Sie gewis ein gutes Beyſpiel geben, und Nachfolger erwecken. Wo die Einwohner verſchiedener Religion ſind, hat der per - ſoͤnliche Zwangdienſt immer einiges Bedenken; und grau - ſam iſt es, daß ein guter Vater ſein ſechzehnjaͤhriges Maͤdgen dem Muthwillen der Koͤche und Bediente blos ſtellen muß, ich bin ꝛc.

LXVII. Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.

Wenn mein Gutachten, uͤber die Frage:

Ob Sie einen Zehnten wofuͤr Jhnen jaͤhrlich von undenklichen Jahren her, ein gewiſſes Korn im Sacke oder ein ſichers Pachtgeld gegeben worden, und welchen Jhre Zehnt-pflichtigen alle acht oder zwoͤlf Jahr von neuem haben pachten muͤſſen, mit Ablauf der Pachtjahre vom Felde ziehen moͤgen

nicht ſo ausfaͤllt, wie Sie es vielleicht wuͤnſchen: ſo moͤ - gen Sie dreiſt glauben, daß mich wichtige, ſehr wichtige Urſachen abhalten, mir Jhren guͤtigen Beyfall zu erwer - ben. Wenige Sachen ſind ſo rauh und unpolitiſch be -handelt352Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten. handelt worden, als die Zehntſachen, ohnerachtet ſie von dem groͤßten Einfluß auf das Wohl eines Staats ſind, und es geſchieht nie ohne die aͤußerſte Wehmuth, daß ich in der Geſchichte des Landeigenthums der Schickſale ge - denke, welche die Zehnten, und mit dieſen den Stand der Landbauer betroffen haben.

So lange dieſelben die Stelle einer Steuer vertra - ten, und zu den oͤffentlichen Beduͤrfniſſen ihrer Zeit, der Vertheidigung und dem Unterhalte des Biſchofes, der Pfarrer, der Armen, und der Kirchen verwendet wur - den, wie es die desfalls vorhandenen Reichs - und Kir - chengeſetze mit ſich brachten, habe ich dieſelben jederzeit als eine vortrefliche, angemeſſene und ſichere Auflage ver - ehret; ohnerachtet es mir oft geſchienen hat, daß es da - mit weiter gienge, als es die Nothdurft erforderte. Allein ſeitdem die Zehnten verſchenkt, verſetzt, verkauft, verliehen, und auf andre Art, ihrer erſten Beſtimmung, entzogen ſind; und ſeitdem der Landeigenthuͤmer durch neue Steuern dieſer Ausfall bey der oͤffentlichen Caſſe hat erſetzen muͤſſen, habe ich es unzaͤhlige mal bedauert, daß nicht gleich vom erſten Anfang an, eine Controle von Landſtaͤnden, oder andern Repreſentanten vorhanden ge - weſen, welche ſich den hoͤchſt ungerechten, und unguͤlti - gen Veraͤuſſerungen des gemeinen Guts, wogegen die Paͤbſte ſo oft, aber immer vergeblich geeifert haben, wie - derſetzet haͤtte; und daß man nicht in jedem Staate ein Grundgeſetz gehabt, wodurch alle Contrakte, aller Be - ſitz, und alle Verjaͤhrung zum Nachtheil der oͤffentlichen Steuer fuͤr nichtig erklaͤrt werden. Denn im Grunde iſt und bleibt doch jede Veraͤuſſerung einer Kron - oder Lan - desſteuer, wenn ſie ohne die hoͤchſte Noth und ohne die Einwilligung des Staats geſchieht, eine offenbare Ver -un -353Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten. untreuung anvertrauter Guͤter; und der arme Landei - genthuͤmer iſt um ſo mehr zu beklagen, je groͤßer das Vertrauen war, was er zu ſeinen Obern ſezte, und je weniger es in ſeiner Macht war, auf andre Art die Hand - lungen ſeiner Vorgeſezten zu controliren. Dem Satze, daß die Zehnten oͤffentliche Steuren geweſen, kann mit Grunde nie widerſprochen werden; und die Folge, daß dieſelben ſolchergeſtalt unveraͤuſſerlich waren, iſt vernuͤnf - tigerweiſe eine der erſten Bedingungen des geſellſchaft - lichen Contrakts.

Traurig iſt es, aus der Geſchichte zu lernen, wie ſehr der Landeigenthuͤmer uͤberall, und zu allen Zeiten unter - druͤckt worden. Natuͤrlich iſt es anzunehmen, daß bey uns, wo alle Hoͤfe einzeln liegen, ut fons ut ſylva ut ne - mus placuit, jeder Hof, der jezt mit einem Leibeigenen, oder einer andern Art von Bauern beſezt iſt, ehedem ſei - nen beſondern Eigenthuͤmer gehabt habe. Es konnte bey dem erſten Anbau dieſer Art, und bey der erſten Genuͤg - ſamkeit, keinem Menſchen einfallen, zwey oder mehrere Hoͤfe anzunehmen; und welche er nicht ſelbſt bauete, mit Leibeigenen zu beſetzen. Der Staat welcher viele Haͤnde zu ſeiner Vertheidigung gebrauchte, und von einem Miethlinge nicht erwarten konnte, daß er ſein Leben gleich dem Eigenthuͤmer wagen wuͤrde, verhinderte jene Art der Hofesbeſetzung, und eben der Grund, welcher Moſen bewog alle Zinſen zu verbieten, bewog jeden Staat, die Zinsfruͤchte zu verbieten, oder welches in beyden Faͤllen einerley iſt, zu verbieten, daß keiner ſeines Nachbaren Hof in ein Aftergut verwandeln, und mit einem Zins - Dienſt - oder Pachtpflichtigen Manne beſetzen ſolle, der entweder dadurch zu ſchwach wird, um zur Zeit der Noth ſich andern gleich auszuruͤſten, oder doch mit ihnen nicht gleich viel zu verlieren hat. Dieſes brachte die gegen -Moͤſers patr. Phantaſ. IV. Th. Zſeitige354Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten. ſeitige Aſſecuranz unter Verbundenen mit ſich, die einan - der mit gleichem Gute, und Blute vertheidigen wollten.

Wie ſehr hat ſich aber nicht alles zum Nachtheil des Landeigenthums veraͤndert?

Zuerſt brachten die Eigenthuͤmer freywillig Korn und Fruͤchte, fuͤr diejenigen zuſammen, welche beſtaͤndige Gefolge, (comitatus) die erſte Art einer ſtehenden Militz, unterhielten, und damit fuͤr ſie auszogen. Dieſes war das erſte Subſidium gratuitum, womit das Landeigenthum belaſtet wurde.

Zu dieſem kamen in der Folge die Zehnten, welche mit der chriſtlichen Religion eingefuͤhret wurden. Dieſes war die zweyte Steuer. Wie die Biſchoͤfe, oder diejeni - gen, welche die Zehnten zu erheben und zu berechnen hatten, eine neue Art von beſtaͤndiger Militz, unter dem Namen von Lehn - und Dienſtmaͤnnern errichteten, mit - hin dieſen den Zehnten zur Loͤhnung verliehen, fieng man an von den Landeigenthuͤmern zur Beyhuͤlfe Beeden zu fordern, das war die dritte Steuer; und wie man end - lich auch hiermit nicht auslangte: ſo wurden die Gruͤnde der Landeigenthuͤmer gemeſſen und kataſtrirt, und man beſteurete dieſelben zum Behuf einer neuen Militz, wel - ches die heutigen Soͤldner, oder Soldati ſind; und auch hie und da zum Unterhalte der Landesherrn, welche die ihnen anvertrauten Zehnten, und andere Kroneinkuͤnfte verſchenket und verſchwendet hatten, und nun ihre Hof - haltungen guten Theils auf gemeine Koſten zu fuͤhren ge - zwungen waren, dieſes war die vierte und letzte Steuer, worauf nunmehr aller Augen und Haͤnde gerichtet ſind, waͤhrender Zeit die andern, theils unter ihren vorigen Namen als die Zehnten, wie auch die Herbſt - und May - beeden, theils unter dem Namen von Gutsherrlichen Ge -faͤllen355Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten. faͤllen in Privathaͤnde gerathen ſind, nachdem ſie theils zu Lehn gemacht, theils auch denen verblieben ſind, die in der Allodial - oder Heerbannsfolge zur Reichs - und Lan - desvertheidigung in Harniſch auszogen und denen immer zwoͤlf Manſi eine Beyſteuer geben mußten.

Gleichwohl ſoll dieſer ſo oft und vielfaͤltig gedruͤckte Landeigenthuͤmer, der den unverantwortlichen Haushalt mit der Zehntkaſſe, bereits auf ſo mancherley Art gebuͤſ - ſet hat, ſo oft die Frage entſtehet: ob ein ehmals ver - dungener oder verpachteter Zehnte, nach Belieben des Zehntherrn vom Felde gezogen werden koͤnne? alle Rechts - vermuthungen wider ſich haben, und noch immer nach eben den Grundſaͤtzen behandelt werden, welche zu den Zeiten golten, wie die Zehnten noch wuͤrklich die Stelle der Steuren vertraten. Nicht zufrieden damit, daß das Landeigenthum von den Pflichten und Paͤchten gedruckt werde, welche demſelben zum Unterhalt der Geharniſch - ten in Heerbann, oder einer ſpaͤtern Lehn - und Dienſt - mannſchaft aufgebuͤrdet ſind; will man daſſelbe auch noch einer Zehntſteuer in der weiteſten Ausdehnung unterwer - fen, und die Steuren, welche er zum Unterhalt der heu - tigen Reichs - und Landesvertheidigung aufbringen muß, und welche die einzigen ſind, die ihm von Rechtswegen obliegen, den Zehnten und Paͤchten nachſetzen, die laͤngſt den Charakter einer Steuer verlohren haben; nachdem die erſtern in allerhand Haͤnde gerathen, und die letztere einer laͤngſt außer Dienſt getretenen Allodial - und Lehn - militz verabreichet werden.

Man glaubt, weil diejenigen, welche jetzt das ſteuer - bare Landeigenthum bauen, jene aͤltern Steuern mit Laͤnge der Zeit durch Contrakte uͤbernommen haben: ſo muͤßte auch der Staat, deſſen einzige wahre SicherheitZ 2in256[356]Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten. in dem Landeigenthume beruhet, zu dieſem ſeinen Ver - luſte ſchweigen, und blos im hoͤchſten Falle der Noth ſeine Rechte gegen die Zehntherrn guͤltig machen, ohne zu bedenken, daß das Land, was von ſchwachen und elen - den Leuten gebauet wird, in großen Nothfaͤllen von die - ſen fruͤher als von guten Eigenthuͤmern verlaſſen werde, und ein verlaſſener Acker ſeine Steuer nicht bezahle.

Jedoch ich will die hoͤhern Gruͤnde bey Seite ſetzen, und Jhnen lediglich aus demjenigen was hier im Stifte vorgegangen iſt, zeigen, daß ein Zehnte, welcher bis - her mit Korn oder Gelde bezahlt worden, um deswillen, daß von ſeiner Verpachtung noch offenbare Urkunden vorhanden ſind, noch nicht ſo gleich mit Unterlaſſung der fernern Verpachtung vom Felde gezogen werden koͤnne, wofern er nicht noch jetzt die Natur der Steuer hat.

Mein erſter Grund iſt:

Die hieſigen Zehnten ſind von Anfang an nicht vom Felde gezogen, ſondern ſo fort mit Korn oder Gelde ge - loͤſet worden.

Dieſe Wahrheit kann ich Jhnen ſo gleich mit hun - dert Urkunden belegen, und damit Sie nicht glauben, daß ich zuviel ſage; ſo will ich Jhnen ſo viel davon aus - ziehen, als hoffentlich zu Jhrer und aller Menſchen Ue - berzeugung hinreichen wird. Zuerſt mag das Nicrolo - gium der hieſigen Domkirche, worin die derſelben ver - machten Zehnten, von den aͤlteſten Zeiten her aufgefuͤh - ret ſind, das Wort nehmen: hierin kommen folgende Stellen vor.

Ad diem IV. Jan.
  • 1) Ob. Gerardus de foro, Canonicus noſter, qui nobis contulit decimam V. domorum in parochia Anchem, unde fratribus dabuntur V. Solidi et in aſcenſione Domini XXX den.
ad. 357Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten. ad. d. XIII. Jan.
  • 2) Ob. Adolphus Sacerdos qui nobis contulit II. Sol. de decima unius manſi noſtri in Hagen.
ad. d. XX. Jan.
  • 3) Ob. Wernerus Laicus et Helena qui X. Sol. Decimae in Hunelern contulerunt.
ad d. XXV. Jan.
  • 4) Ob. Henricus de Kappele, qui nobis contulit redditus VIII. Sol. VII. denar. de domo Wolde in parochia Sögeln III. Sol. decimales.
ad. d. XII. Febr.
  • 5) Ob. Arnoldus Nobilis, qui nobis V. Solidos decimae Bacheim contulit.
ad. d. I. Mart.
  • 6) Memoria Godefridi Quintini dabit fratribus XXX den, de decima in Malbergen.
ad. d. V. Apr.
  • 7) Ob. Hermannus de Rusvorde miles, qui nobis Deci - mam curiae ſuae in Wilſeten XXX denar. perſolven - tem, contulit.
ad. d. XIII. Apr.
  • 8) Ob. Henricus de Rulle, qui contulit nobis LXV. Mar - cas, locatas in decima Malbergen Laebergen et Se - geſt, pro quo dantur ſingulis menſibus XXX den, de Decima Middendorf.
Z 3ad. 358Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten. ad. d. 16. Apr.
  • 9) Ob. Segenondus Plebanus, qui contulit fratribus triginta Marcas, unde hodie dantur V. Sol. et II. den. Cam - panariis de decima in Heimbergen.
ad. d. 17. ej.
  • 10) Ob. Godeſcalcus, qui nobis contulit XI. Sol. redditus de decima.
ad. d. 19. ej.
  • 11) Dantur etiam V. Sol. perſolvendi de XX. Marcis, quas Henricus locavit in Decimam de Lacbergen.
ad. d. 26. Apr.
  • 12) Ob. Albertus Rogge qui contulit fratribus Decimam in Cronloge, ſolventem duo Moltia Siliginis, et tres nummos pro minori decima, unde fratribus dantur V. Sol. Ob. Alebrandus, pro quo fratribus dabuntur XXX. den. de decima curtis Berge.
ad. d. 9. May.
  • 13) Ob. Hermannus Hake famulus-pro quo-contulit IV. Sol. decimalium redditus in duabus domibus in Wel - lingen.
ad. d. 25. May.
  • 14) Ob. Godefredus Quintin qui contulit eccleſiae noſtrae LVI. marcas, pro quibus dabuntur fratribus quolibet menſe XXX. den. de decima in Malbergen.
ad. d. 3. Jun.
  • 15) Ob. Hathebrandus Sacerdos qui nobis XXX. den. de cedima in Droph contulit.
ad. 359Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten. ad. d. 23. ej.
  • 16) Ob Helenbertus de Horſt miles, qui pro ſe et uxo - re ſua Margaretha contulit III. Sol. decimales in cu - ria Holſeter.
ad. d. 1. Jul.
  • 17) Ob. Thetmarus cuſtos, qui nobis contulit XII. mar - cas, unde fratribus dantur XXX. den. de decima in Mintenlage et Batershem.
ad. d. 2. Jul.
  • 18) Ob. Franco Praepoſitus qui VII. Marcas in ſui me - moriam contulit, unde item de Decima in Mintelage et Baterſen fratribus denarii XXX exhibentur.
ad. d. 15. Jul.
  • 19) Ob. Philippus Ep. in cuius memoriam Decanus Jo - ſeph decimam II. domorum contulit Werſtorpe et Scirenbecke V. Sol. ſolventem.
ad. d. 14. Aug.
  • 20) Pro memoria Gerardi de Arencampe dabuntur fra - tribus XXX. den. quos dedit Gyſo Decanus de Decima Bertelevit ſolvendos.
ad. d. 15. Aug.
  • 21) De feſto hodierno dabuntur fratribus V. Sol. de deci - ma Lothorpe, quam nobis contulit Lentfridus eccle - ſiae noſtrae Praep. Dabuntur etiam nobis V. Sol. de eadem Decima, et X. Sol. de advocatia curiae in Eſſen.
ad. d. 17. ej.
  • 22) Campanariis dantur II. denarii de decima Ahuſen.
ad. 360Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten. ad. d. 19. ej.
  • 23) recepimus decimam curiae in Cappeln III. Solidos ſol - ventem.
ad. d. 21. ej.
  • 24) Jutta contulit fratribus XXX denariorum redditus dandos de decima in Segeſt.
ad. d. 26. ej.
  • 25) Ludolfus de Tranthem contulit fratribus III. Solidos dandos de decima in Segeſt.
ad. d. 29. ej.
  • 26) Ob. Theodoricus Decanus, qui nobis decimam unam magnam oblationem ſolventem contulit.
ad. d. 15. Sept.
  • 27) In Solenni Octavae B. M. dantur de Decima Him - berghe in parochia Holte X Solidi ad d. 30 Sept.
ad. d. 30. Sept.
  • 28) Ob. Olrich et Alheit in quorum obitu Decanus ma - jor de decima Buren dabit V. Sol.
ad. d. 3. Oct.
  • 29) Ob. Wulfarius, qui in memoriam ſui dimidium ta - lentum decimationis in Hukelen nobis contulit.
ad. d. 8. Oct.
  • 30) Centum Marcae in domum et decimam Himbergh commutatae de quibus dantur ſingulis menſibus XXX. den.
ad. 361Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten. ad. d. 12. Oct.
  • 31) Johannes contulit III. Marcas in decima Suaſlorpe.
ad. d. 17. Oct.
  • 32) Huno dedit fratribus VI. Sol. decimationis in Haren.
ad. d. 24. Oct.
  • 33) Hic dantur III. Sol. decimales de domo Erneſti in Ho - lenbecke, attinente.
ad. d. 27. Oct.
  • 34) Ob. Praepoſitus Giſelbertus qui nobis contulit Deci - mam duarum domorum in Granthorpe et duarum do - morum in Harpentorpe VII. Sol. et VI. den. ſolven - tem; et decimam minutam unde hodie dantur VI. Sol.
ad. d. 11. Nov.
  • 35) Ob. Wido Epiſcopus, qui nobis duas domos XI. So - lidos ſolventes et decimationis duo talenta contulit.
ad. d. 13. Nov.
  • 36) Fratribus dabuntur XXX denarii de Decima in Bor - thuſen.
ad. d. 18. Nov.
  • 37) Ob. Wedikindus Epiſcopus, qui nobis decimam no - vorum agrorum. Hic dabuntur cuilibet fratrum XL. denarii, quibus datur annona ſcilicet I. molt. Silig. I. molt. ordei I. molt. avenae.
ad. d. 20. Nov.
  • 38) Ob. Conradus miles dictus de Brogtesbecke dabuntur XXX. denarii de decima quam comparavit Conradus Uncus, in parochia Weſtercappeln.
Moͤſers patr. Phantaſ. IV. Th. A aad. 362Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten. ad. d. 24. Nov.
  • 39) Habebunt fratres XXX. denarii qui dabuntur de deci - ma in Olentorpe.
ad. d. 21. Dec.
  • 40) Ob. Joh. Coline pro cuius memoria XXX. denarii de decima Granthorpe.
ad. d. 22. Dec.
  • 41) Ob. Riczo qui contulit eccleſiae noſtrae III. Sol. de - cimae Weſterrothe in parochia Merſnen.
Folgende Auszuͤge aus Urkunden, wovon ein guter Theil meiner Oſnabruͤckiſchen Geſchichte beygefuͤget iſt, bewaͤhren eben dieſes.
  • 42) ex precaria Alberici Epiſcopi de 1049: eaque cum quinque libris et IV. Solidis decimatio - nis in precariam recepit.
  • 43) Aus einer andern von eben dieſem Jahre. cum duabus libris decimationis.
  • 44) Aus einer Beſtaͤtigung Bennonis II. Epiſcopi von 1070. tres libras decimationis in precariam recipiens.
  • 45) Aus einer Uebergabe de 1074. et cum ſeptem libris decimationis in precariam re - cipiens.
  • 46) Aus einer andern von 1086. IV. libras decimationis et IV. feras quotannis in be - neſicium recipiunt.
  • 47) Ex traditione Nobilis Volckeri von 1086. II. 363Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten. II. libras decimationis in Harpenſted et Halthuſen in beneſicium recipiunt.
  • 48) Ex traditione Hildebergae von 1087 cum IV. libris decimationis in precariam recipit.
  • 49) Ex reſignatione Everhardi eccleſiae Oſnab. advocati von 1090. ac cum X libris decimationis in beneficium recipiunt.
  • 50) Ex traditione Viduae Suanenburg von 1096. cum XXIV. libris decimationis in precariam recipit.
  • 51) Ex traditione Demod von 1096. duas libras in decimatione recepit.
  • 52) Ex traditione Henrici Comitis de 1150. CCXXX. Marcas et XX libras decimationis in bene - ficium recipiens.
  • 53) Aus einer Schenkung des Biſchofes Philip von 1163. decimas duarum domorum IV. Sol. ſolventes, et de - cimam in Andervenne Marcam et duas amphoras bu - tyri ſolventem.
  • 54) Ex privilegio Arnonis Ep. Mindenſis v. 1183. Decano et Capitulo Oſnab. decimam curtis in Peding - torpe pro XII. Sol. annuis concedentis.
  • 55) Aus einem Zeugniſſe vom Biſchofe Engelbert. IV. Solidorum decimalium et duorum arietum re - ditibus.
  • 56) Aus einer Beſtaͤtigung des Biſchofes Gerhard von 1195. pro tota decimatione tam in Altilibus quam Semini - bus tres ſolidos annuatim perſolvat.
  • 57) Aus einer gleichen, des Mindiſchen Biſchofes Con - rad v. 1224. ne domus jam dicta impoſterum a decimatore injurioſo et oneroſo gravaretur, ſub hac forma perpetua ſtabili -A a 2tate364Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten. tate firmanda, ut Canonici pro tali decima percipiant annuatim II. Sol. mindenſis monetae.
  • 58) Aus einer andern Erklaͤrung des Biſchofes En - gelbert: Quod nos redemtionem decimae domus in Weſtern - ſtuke, quae eccleſiae Wildeshuſanae pertinet, ratam et firmam volumus in perpetuum permanere. Ne igi - tur aliquis dictam redemtionem ſicut ab antiquo ſol - vit, praeſumat infringere.
  • 59) Aus einer Verſchreibung Henrici de Bramſche von 1312. Recognoſco quod redemtionem noſtram decimalem in Entzter, videlicet duo moltia ſiliginis et unum moltium ordei obligavi.
  • 60) Aus einer Beſtaͤtigung des Biſchofes Conrad von 1283. Johannes dictus de Suthuſen vendidit conventui in Berſſenbrügge pro XV. Marcis et dimidia decimam novem Solidorum, videlicet quatuor Sol. in villa Ol - thentorpe et V. Sol. in villa Weſterbecke.
  • 61) Aus einer andern von eben demſelben. vendidit Capitulo noſtro duorum Solidorum reditus, pro redemtione integralis decimae in feſto S. Criſpini et Criſpiniani ſingulis annis perſolvendos.
  • 62) Noch aus einer dergleichen von 1276. trium Sol. reditus, de curia Lodoweſten, et domo quae adjacet in parochia Anchem pro redemtione in - tegralis decimae annis ſingulis perſolvendos.
  • 63) Ferner aus einer andern von dieſem Jahre. IV. Sol. reditus quos curia Weſtorpe pro redemtione integralis decimae annis ſingulis dare conſueverit.
  • 6) 4 Wiederum aus einer von 1272. com -365Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten. comparavit quasdam penſiones decimales in villa dicta Lothe, tria videlicet Moltia Siliginis tribus modiis minus, et IX. Sol. uſualis monetae tribus denariis minus.
  • 65) Aus einer Verſchreibung des Domprobſtes Lent - fried. decimam unam in Ulenberge XXX. ſolventem nummos.
  • 66) Ex confirmatione Adolphi Ep. Oſn. de 1217. decimam curiae ſuae in Wilſeten et cujusdam domun - culae prope curiam ſitae, XXX. denarios annuatim in feſto Criſp. et Criſp. ſolventem.
  • 67) Ex confirmatione Conradi Ep. Decimam unius domus in Anchem pro redemtione Decimae ſolventem IX modios ſiliginis et IX. denarios.
  • 68) Ex confirmatione Engelberti Ep. decimam quandam duarum domorum prope clauſtrum Harſt ſitam, IV. moltia et V. modios et IV. Sol. et V. denarios annuatim ſolventem.
  • 69) Ex confirm. Brunonis Ep. von 1242. Engelbertus Camerarius Moltium Siliginis per dimi - diam menſuram, quod ab anteceſſoribus noſtris prae - poſitis de domo Hermanni in Wulflen pro redemtio - ne decimae domus praedictae.
  • 70) Ex confirm. ej. von 1251. decima domus Sywardi in Heke in parochia Alf hu - ſen ſitae, pro qua ſolebat XXVIII denarios recipere annuatim.
  • 71) ex obligatione v. 1256. obligaverunt conventui ſolutionem decimalem curtis in Berſſenbrügge IV. ſcilicet ſolidorum et Allodii in Boelo III. Sol. et Allodii in Weſtorpe II. Sol.
A a 372) ex366Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
  • 72) ex conſirmatione Widekindi Ep. Decimam unam in Berneſtorpe XI. moltia ſingulis annis ſolventem.
  • 73) ex conſirmatione ejusdem de 1265. decimam IV. domorum in parochia Damme, de do - mo Johannis, III. ſol. et minutam decimam de domo Odeconis ibidem XVIII. den. cum minuta decima. Item in parochia Steinvelden de domo Alberti XVIII den. cum minuta decima, de domo Hermanni XVIII den. cum minuta decima.
  • 74) Ex confirm. ej. v. 1266. redemtionem cujusdam decimae in domo Hamme XVI. den. et minutam decimam ſolventem.
  • 75) Aus einer Urkunde von 1324. minutam decimam valentem annuatim duos ſolidos.
  • 76) Ex aſſignatione Capituli von 1327. Decimam in Lacbergen cum omnibus juribus et perti - nentiis ad decanatum eccleſiae aſſignamus tali con - ditione quod Decanus XX. moltia Siliginis et omnes denarios qui de eadem decima dar i debent ſingulis annis Capitulo miniſtrabit.
  • 77) Ex documento decani de 1343. reditus annuos duorum moltium bonae ſiliginis hie - malis et unius aucae et unius pulli ipſi, nomine re - demtionis decimae praeſtandos.
  • 78) ex documento ej. de 1364. medietatem decimae villarum in Tittingdorf ſingulis annis duarum Marcarum reditus.
  • 79) Ex concambio de 1353. proprietatem decimae redemtionalis dictae vulgariter Tentloſe.

Und mehr als einmal haben unſre Biſchoͤfe, die hier oben alſo benannte decimatores injurioſos et oneroſos,welche367Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten. welche den Naturalzehnten fordern wollten, zu Rechte gewieſen, wie aus folgenden Clauſeln abzunehmen iſt.

  • 80) Ex ſententia Engelberti Epiſcopi. Quod cum Weſcelus dictus Clericus, eccleſiae noſtrae miniſterialis, man - ſum ſitum in parochia Rulle ſuper manipulorum deci - ma impeteret; et Arnoldus et Henricus fratres dicti de Steinfard, ſe opponerent, ab utraque parte co - ram nobis in eo conſenſerunt quod e praedicto manſo ſin - gulis annis XII. denarii uſualis monetae, pro totali decima minori ſcilicet et majori perſolvantur.
  • 81) Ex ſententia Conradi Ep. Cum praeſtationes decimorum et eorundem proventus in ordinatione et poteſtate ſint Epiſcopi, notum eſſe volumus, quod Joh. de Northorpe de domo, quae vocatur Boninchus, ſingulis annis pro ſolutione deci - mae, videlicet majori infeſto Criſp. et Criſp. I. mol - tium Siliginis et I. braciiet I. avenae perſolvat.
  • 82) Ex Sent. ejusdem. Quod cum Dominus Eylhardus miles von der Horſt domum in Oſteringhe comparaſſet, et Weſcelo Ca - merario pro decima inde tres modii ſiliginis, et tres denarii ſolverentur, et hanc penſionem decimalem dictus Weſcelus infringere niteretur, prudentum viro - rum conſilio, hane pactionem inter eos, interceſſiſſe, ut. pro totali decima dictae domus majori videlicet et minori, nec non omnibus his, quae ad legem Dei jure decimali poterant vindicari ſingulis annis, in fe - ſto Dominorum, penſio V. mod. Siliginis et V. den. perſolveretur.
  • 83) Ex ſententia Philippi Ep. in plena Synodo lata de 1160. Cum quaedam fratrum curia Burclo ſita, ſecundum antiquam inſtitutionem pro decima ſua IV. Sol. dena -A a 4riorum368Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten. riorum LX. annis et amplius perſolviſſet, et prolixi - tas temporis attuliſſet firmum titulum poſſeſſionis, qui - dam Menwardus in Synodum noſtram veniens, jure beneficiali praedictae curiae decimam in manipulis exegit. Sed ille tandem juſtitiae regulis coarctatus, in Synodo plena profeſſus eſt, quod pro decima ejusdem curiae, et cujusdam domus, quae de agris ejusdem curiae collecta eſt, quae teutonice Plochus vocatur, non niſi IV. Sol. denariorum, in feſto beatorum C. et C. praeſentandos, de jure eſſet accepturus. Nos igitur eandem inſtitutionem veris fidelium noſtrorum atteſta - tionibus approbatam, temporis etiam contractu robo - ratam, et coram nobis fideliter retractatam utriusque partis conſenſu ſub teſtimonio magnae Synodus confir - mavimus.

Wie denn auch der Domprobſt Lentfried, welcher 1190 lebte, ſich ſelbſt

in regiſtro redituum eccleſiae cathedralis ()

wohl nicht das Compliment gemacht haben wuͤrde,

Ego Lentfridus Praepoſitus magno labore pro decem Solidis quondam Deeimae, elaboravi V. moltia Sili - ginis V. ordei et ſemis, et VI. modios tritici; et I. molt. ſiliginis, I. molt. ordei et moltium avenae in Elſteden. ()

falls es nicht eine von den Biſchoͤfen anerkannte allge - meine Regel geweſen, daß die Zehnten von den aͤlteſten Zeiten her, mit einer beſtimmten Summe Geldes oder Korns geloͤſet worden. Man kannte den Zehnten faſt nicht anders als geloͤſet, ſo daß ſo gar der Biſchof Bruno, als er im Jahr 1251 einen Zehnten einloͤſete, ſich der Worte bediente: ſe redemtionem redemiſſe, oder wie die Worte lauten.

Nos369Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten. Nos conſiderantes, pium et juſtum eſſe, redimi deci - mas de manu laicorum redemtionem totalis decimae curtis in Honen, a nobili viro de Stenvordia, noſtro conſanguineo, redemerunt. ()

Wenn nun aber ſolchergeſtalt von den aͤlteſten Zeiten her die Zehnten geloͤſet worden; wenn dadurch das Wort Zehntloſe, wie aus obigen Urkunden erhellet, in die Volksſprache aufgenommen worden. Wenn in alten Rach - richten von libris, talentis, folidis et denariis decimalibus, als von einer Bankomuͤnze geſprochen, und dagegen gar keines einzigen Naturalzehnten vom Felde gedacht wird. Wenn diejenigen, welche den Zehnten vom Felde ziehen wollten, von den Biſchoͤfen ſelbſt injurioſi et oneroſi de - cimatores genannt werden; und wenn endlich dieſe in plena ſynodo erkennen, daß die Zehnten uͤber aller Men - ſchen Gedenken geloͤſet geweſen: ſo glaube ich, daß man wenigſtens in unſerm Stifte (von andern ſaͤchſiſchen Stif - tern wird ſich aber der Beweis auch fuͤhren laſſen) die Vermuthung gegen den Naturalzehnten, und fuͤr eine urſpruͤngliche Verpachtung faſſen koͤnne.

Die Urſachen dieſer großen und wichtigen Veraͤnde - rung mag ich nicht darin ſuchen, daß die Sachſen ſich wegerten den Zehnten zu geben, und daß vielleicht die erſten Biſchoͤfe, wie auch ſchon von Eſgen in jure eccl. p. II. lit. 23. c. 2.

bemerkt, um das Volk zu gewinnen, ſich ihres Rechts nicht nach aller Strenge bedient, ſondern den Zehnten zu einem leidlichen Pachtgelde erlaſſen haben. Nein! ich bedarf dieſer Vermuthung nicht; ſo ſehr ihr auch die Geſchichte dieſer Zeit, das Capitular von 829, de deci - mis, quas populus dare non vult, niſi quolibet modo ab eo redimantur, und der bekannte Brief Alcuins, CarlsA a 5des370Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehuten. des großen Lehrmeiſters, zu ſtatten koͤmmt. Vielmehr gebe ich zu, daß es immer noch von dem Biſchofe ab - hieng, ob er den Zehnten, ſo lange er die Eigenſchaft einer Steuer behielt, vom Felde ziehen, oder zu Gelde laſſen wollte. Dieſes ſagen nicht allein die Geſetze de de. eimis non redimendis niſi Epiſcopo placuerit,

Bey Georgiſch. in Corp. J. G. S. 1842, ()

ſondern es iſt auch der wahre Sinn des oft gebrauchten Ausdrucks, quod decimae ſint in poteſtate Epiſcoporum; als wodurch angezeigt wird, daß der Kayſer es zwar in die Macht der Biſchoͤfe geſtellet, in den Steueranlagen bis auf den zehnten Pfennig zu gehen, aber darum noch nicht gewollt habe, daß ſie nun dieſe Zehntſteuer jedes Jahr, ohne Unterſchied ob es noͤthig ſey oder nicht, ein - fordern ſollten. Da zu dieſer Zeit noch keine Landſtaͤnde vorhanden waren, mit denen der Biſchof die gemeinen Stiftsanlagen uͤberlegen konnte, und es zu weitlaͤuftig geweſen ſeyn wuͤrde, zu jeder Anlage die kayſerliche Be - willigung einzuholen, und eines von beyden mußte doch geſchehn, ſo war der Zehnte nur als ein non plus ultra erwaͤhlt, woruͤber die Biſchoͤfe, ohne weitere Vorfrage nicht hinausgehen ſollten.

Dieſes vorausgeſetzt, werden ſie mir hoffentlich

Zweytens darunter gern beypflichten, daß alle Steuren ihr natuͤrliches Maaß an der Beduͤrfnis haben, wozu ſie gefordert werden. Was daruͤber iſt geht auf Willkuͤhr hinaus, und dieſer darf ſich ein Biſchof noch weniger als ein ander Regent ſchuldig machen. Um den Biſchof von der Verſuchung abzuhalten, etwas mehrers an Zehnten zu fordern, als er zu ſeiner, der Kirchen und der Armen Nothdurft gebrauchte, war verordnet, daß der jaͤhrliche Ueberſchuß allemal den Armen gegeben, nicht aber ver -kauft371Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten. kanft und das daraus erloͤſete Geld in den Schatzkaſten gelegt werden ſollte.

v. add. IV. ad Capit. §. 89. beym Georgiſch. in Corp. J. G. p. 1821. ()

Dieſes hatte natuͤrlicher Weiſe die Folge, daß er nicht mehr Zehnten vom Felde zog, als er zu obigem Ende noͤ - thig hatte; und ſich das uͤbrige gern mit Gelde abloͤ - ſen ließ.

Wollte nun aber jetzt ein Biſchof oder Regent ſeine Beduͤrfniſſe zum Grunde nehmen, warum er den Zehnten vom Felde ziehen muͤßte: ſo konnte er doch einzelnen Zehntpflichtigen ein mehrers nicht abfordern, als ſie in ihrem Verhaͤltniſſe dazu beytragen muͤßten; und nur als denn den voͤlligen Zehnten nehmen, wenn die Noth ſo groß waͤre, daß ſie nicht anders als mit dem Zehnten des ganzen Sprengels beſtritten werden koͤnnte. Die Cano - niſten haben die Biſchoͤflichen und Parochialzehnten beguͤn - ſtiget, weil dieſe, da ſie einen Theil der oͤffentlichen Be - ſoldung ausmachen, noch wuͤrklich die Eigenſchaft einer Steuer haͤtten. Allein es bleibt immer die Frage: warum ſollen einzelne Zehntpflichtige fuͤr das Ganze leiden; und wie wenige urſpruͤngliche Parochialzehnten moͤgen annoch vorhanden ſeyn, da zuerſt alle abgeloͤſet, und die heuti - gen Zehnten faſt alle durch Kauf und Vermaͤchtniſſe an die Kirche zuruͤckgekehrt ſind!

Drittens verliert jede Steuer, ſo bald ſie in die Haͤnde eines Privatmannes koͤmmt, ihre Natur, und ih - ren Wachsthum; ſie verwandelt ſich von dem Augenblick an, da ſie verkauft oder verſchenkt wird, in einen trock - nen Zinß, weil das Beduͤrfniß des Privatmanns nicht mehr das Beduͤrfniß des Staats iſt; und es wuͤrde

Viertens der aͤrgſte Wucher ſeyn, wenn jemand, der denarios et ſolidos decimales fuͤr ein benanntes Capitalge -372Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten. gekauft hat, nun dem Zehntpflichtigen aufs Feld fallen, und den Naturalzehnten davon ziehen wollte. Alles was er fordern kann, iſt dieſes, daß ihm fuͤr jeden Solidum, deren zur Zeit Carls des großen zwanzig aus der feinen Mark geſchlagen wurden, ein heutiger Gulden nach dem zwanzig Gulden Fuße, oder, wenn man den Fall des Sil - bers mitrechnen will, zwoͤlf Himten Roggen verguͤtet wuͤr - den, als ſo viel man in jener Zeit dafuͤr kaufen konnte. Einen aͤhnlichen aber mildern Fuß hat die Praxis in ſpaͤ - tern Zeiten befolgt.

Dagegen erhebt es

Fuͤnftens nichts, daß die Zehntpflichtigen gleichwohl alle acht oder zwoͤlf Jahr den Zehnten von neuem pachten, und dabey einen beſondern Weinkauf geben muͤſſen; ſo lange der Zehntherr nicht erweiſen kann, daß er den Zehn - ten jemals vom Felde gezogen habe. Denn jenes iſt

  • a) wahrſcheinlich nur aus Vorſorge zur Erhaltung Rechtens geſchehn. Es gab auſſer den Solidis decimali - bus auch Solidi areales, und andre Arten von Grundgel - dern, die theils redimibiles theils irredimibiles, und bey entſtehenden Concurſen mehr oder weniger privilegirt wa - ren; und um jenen ihren urſpruͤnglichen Charakter zu erhalten; wie auch um ſie bey dem geiſtlichen Gerichte einklagen zu koͤnnen, wurde jene Form beybehalten.
  • b) Erlaubte das Canoniſche Recht den Geiſtlichen nicht, ihre Einkuͤnfte in Erbpacht zu geben; und um die - ſer Verordnung, die in unſern Gegenden gar nicht an - wendbar iſt, auszuweichen, behielt man auch in der Erb - pacht der Emphyteuſi und andern auf die Erben gehen - den Contrakten den Schein der Zeitpacht bey, und lies den Erbpaͤchter dieſer Form wegen, alle acht oder zwoͤlf Jahr von neuem pachten; wie dieſes die vielen Colonate,welche373Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten. welche alle zwoͤlf Jahr von neuem gewonnen werden muͤſ - ſen, und gleichwohl ihrer Natur nach, weil der Colon die Gebaͤude absque aeſtimatione empfaͤngt, und wenn ſie abfallen, ohne Verguͤtung wieder bauen muß, erb - lich ſind, beweiſen.
  • c) ſteht in dergleichen Pachtpriefen uͤber den Zehn - ten, daß die Pflichtigen alle acht oder zwoͤlf Jahr, neues gewinnen muͤſſen. Dieſes waͤre eine ſehr uͤberfluͤßige Be - dingung, wenn der Zehntherr nach Verlauf der Jahre den Zehnten vom Felde ziehen koͤnnte. Nie hat man dergleichen Bedingungen einer wahren Zeitpacht ange - haͤngt. Denn wenn dieſe zu Ende iſt, ſo verſteht es ſich von ſelbſt, daß der Verpaͤchter mit dem ſeinigen machen koͤnne, was er will.
  • d) Heißt es oft in dergleichen Pachtbriefen:
Litones ac ſervi glebae - proxima dominica poſt fe - ſtum patrocinii penſionem eccleſiae debitam in fru - mento ſeu Blado (Blé) ſuper granario ibidem ſito, et ad antiquo ad hoc deputato pagtare tenentur fina - liter et expedite, et qui in illa ſolutione et feſto ne - gligens fuerit, tribus ſolidis mulctabitur Boehmer in praefat. ad Strodtmanni jus curiale. ()
  • Hier muͤſſen die Zehntpflichtigen, oder wie ſie in der Urkunde genannt werden, die Zehntſcheurigen Leute jaͤhr - lich pachten; und die Zehntſcheuer oder das granarium ſteht als eine redende Urkunde da; dennoch verwirken dieſe Leute nicht den Zehnten vom Felde, wie man ſchlieſ - ſen ſollte, ſondern nur eine Strafe von drey Schillingen, wenn ſie die Pacht verſaͤumen; zum Zeichen, daß die Pacht weiter nichts als eine ſymboliſche Handlung ſey.
  • e) uͤberſende ich ihnen hiebey zwey Winnbriefe, die von einerley Verpaͤchter uͤber einerley Gut und ebendem -374Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten. demſelben Paͤchter ertheilet ſind, in deren einem von 24 Oct. 1742 ausdruͤcklich ſteht, daß der Paͤchter das Gut fuͤr ſich und ſeine Nachkommen erblich beſitzen ſolle; und in dem andern vom 1. Oct. 1751, daß das Gut nach Ab - lauf der 12 Jahre dem poſſeſſori Vicariae winnlos ver - fallen ſeyn ſolle. Den erſten erhaͤlt der Paͤchter, wann er den Hof antritt, und den andern alle zwoͤlf Jahr; und wie oft ſteht nicht in dergleichen Briefen noch deutlicher,
der Colonus ſoll ein jus irrevocabile Coloniae perpe - tuae habe, gleichwohl aber bey jeder Wechſelung der Colonorum den Hauptgewinn mit .. Thaler und uͤberdem noch alle 12 Jahr pro renovatione in - veſtiturae .. Thaler bezahlen!
  • zum deutlichſten Beweiſe, daß man bey den Erbpachten nur den Charakter des erſten Contrakts zu erhalten ge - ſucht habe.
  • f) zeigen die alten Regiſter von einer einfoͤrmigen Pacht, die in ſpaͤtern Zeiten nach dem Verhaͤltnis, wie die Muͤnze gefallen, in billiger Maaße erhoͤhet worden; und faſt alle Pachtbriefe ſind aus der letzten Zeit. Jn einigen Kirchenregiſtern ſteht ſogar folgende oder eine aͤhnliche Anmerkung:
utut ſit, e re eccleſiae fuit, pro informatione ac poſ - ſeſſione et continuatione, ad longum hic inſerere copiam ac formam documenti elocationis, quod con - ductoribus hujus decimae per triginta et plures annos a poſſeſſoribus datum fuit. ()
  • waraus deutlich abzunehmen, daß der geiſtliche Zehnten, als er den zehntpflichtigen Bauren, die nicht leſen konn - ten, einen neuen Pachtbrief in die Hand geſteckt, ſich mit einem utut ſit, pro bono eccleſiae beruhiget habe. Endlich nahmen
g) die375Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten.
  • g) die Deutſchen bey allen Vorfaͤllen gern Wein - kaͤufe, oder wie es in den Regiſtern heißt, etwas ad vi - nalia wie ſolches aus den alten Reichs - und Landespoli - cey-Ordnungen, die dagegen eyfern, genugſam hervor geht; und es laͤßt ſich daraus, daß die Zehntpflichtigen alle acht oder zwoͤlf Jahr einen Weinkauf bezahlen muͤſ - ſen, um ſo viel weniger auf eine Zeitpacht ſchlieſſen, je offenbarer es iſt, daß ſolcher bey mehrern Erbpachten bezahlet werden muß. Nicht zu gedenken, daß der Wein - kauf auch nur ein Symbol des erſten Contrakts ſey, und als eine Aſſecuranz-Praͤmie fuͤr auſſerordentliche Ausfaͤlle nicht unbillig bedungen werde.

Dieſes ſind die Gruͤnde, liebſter Freund, welche mich bewegen, von ihrer Meinung abzugehen. Andre und beſſere werden Sie bey den angeſehenſten Rechtsge - lehrten finden, indem ich nur diejenigen angefuͤhret habe, welche von ihnen insgemein uͤbergangen werden. Waͤre die Regel pro decima naturali: ſo wuͤrde man im Auf - ſteigen von juͤngern Pachtbriefen zu den aͤltern, immer deutlichere Spuren von Zugzehnten finden. Da ſie aber erwieſener maaßen, pro redemtione univerſali ſteht: ſo verhaͤlt es ſich gerade umgekehrt; und das gemeine Be - ſte leidet es nicht, daß zu einer Zeit, wo das Landeigen - thum zu allen oͤffentlichen Beduͤrfniſſen auf andre Weiſe ſteuren muß, dieſes unter dem Vorwand einer alten Steuer, beſonders wenn dieſe ſich in Privathaͤnden fin - det, noch mehr erſchoͤpfet werde. Es verhaͤlt ſich damit wie mit alten Dienſtgeldern, Herbſt - und Maybeeden, und andern gutsherrlichen Gefaͤllen, die ſo lange ſie ei - nen Theil der oͤffentlichen Beſoldung, der fuͤr das Va - terland oder fuͤr deſſen Herrn ſtreitenden Lehn - und Dienſt - leute ausmachten, wachſen und ſteigen konnten, nun -mehro376Ueber die Oſnabruͤckiſchen Zehnten. mehro aber, da die oͤffentliche Vertheidigung mittelſt einer Landſteuer dem Bauer auferlegt worden, die Eigenſchaft eines trocknen Zinſes erhalten haben, und zum Nachtheil des ſteuerbaren Bodens, nicht mehr veraͤndert werden koͤnnen. Mit den Neubruchszehnten verhaͤlt es ſich eben ſo. Der Zehntere hat ſolchen mit Recht verlohren, als ſein Zehnte die Eigenſchaft einer Steuer und mit dieſer ihren moͤglichen Wachsthum verlohr; und nur da, wo derſelbe in den Haͤnden des Landesherrn, oder eines Man - nes iſt, der ihn zur oͤffentlichen Beſoldung vom Staate genieſſet, findet man ihn noch zu Zeiten; obgleich nicht mit dem beſten Grunde, da er auch hier, wenn man genau gehen will, nicht mehr die Eigenſchaft einer Steuer hat.

Leipzig, gedruckt mit Solbrigſchen Schriften.

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About this transcription

TextPatriotische Phantasien
Author Justus Möser
Extent392 images; 92975 tokens; 14650 types; 647772 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationPatriotische Phantasien Vierter Theil Justus Möser. Jenny von Voigts (ed.) . [4] Bl., 376 S. NicolaiBerlin1786.

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HAB Wolfenbüttel HAB Wolfenbüttel, M: Ac 252:4Dig: http://diglib.hab.de/drucke/ac-252-4b/start.htm

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Fraktur

LanguageGerman
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ShelfmarkHAB Wolfenbüttel, M: Ac 252:4
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