PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Philoſophiſche Verſuche uͤber die menſchliche Natur und ihre Entwickelung
[figure]
Zweyter Band. Leipzig, beyM. G. Weidmanns Erben und Reich.1777.
[II][III]

Jnhalt des zweeten Bandes.

Zwoͤlfter Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit und Freyheit.

I.

  • Einleitung. Schwierigkeiten bey dieſer UnterſuchungS. 1

II.

  • Begriff von der Freyheit, oder von der Selbſtmacht der Seele uͤber ſich, auf den die Empfindung fuͤh - ret5
  • 1) Freyheit iſt ein Vermoͤgen, das nicht zu thun, was man thut, oder es anders zu thun, als man es thut. Folgen aus dieſem Begriff5
  • 2) Daß wir ein ſolches Vermoͤgen beſitzen, iſt aus Beobachtungen erweislich8
  • 3) Wie ſolches aus der Erfahrung bewieſen werde? Woher die Fallazen der Empfindungen hiebey entſtehen koͤnnen11

III.

  • Von dem Umfange und den Grenzen der Freyheit19
  • 1) Die Freyheit findet ſich bey allen Arten von Kraft - aͤußerungen der Seele. Jn wieferne ſolche dem Willen oder der Aufmerkſamkeit ausſchließungs - weiſe zugeſchrieben werden koͤnne? Von der Will - kuͤr19a 22) DieIVJnhalt
  • 2) Die menſchliche Freyheit iſt eingeſchraͤnkt, ſo wohl in Hinſicht der innern Staͤrke als ihrer Ausdeh - nungS. 25

IV.

  • Das Maß der Freyheit26

V.

  • Wie die Freyheit ſich auf die Vernunft beziehet31
  • 1) Das Vermoͤgen zu dem Gegentheil deſſen, was wir wirklich vornehmen, iſt noch naͤher zu unter - ſuchen31
  • 2) Wie die Freyheit ſich auf die Vernunft beziehe nach den wolfiſchen Jdeen32
  • 3) Jede Handlung iſt eine freye Handlung, in der eine deutliche Vorſtellung von der Handlung und von dem Objekt die wirkende Kraft beſtimmt. Von der moraliſchen Nothwendigkeit34
  • 4) Aber die Handlung kann auch frey ſeyn, wenn gleich die Kraft von einer nicht deutlichen Vorſtel - lung und von einer Empfindung beſtimmet wird. Der Zuſtand der Beſinnung iſt allemal erfoder - lich, wenn die Seele frey handeln ſoll37

VI.

  • Das Vermoͤgen ſich anders zu beſtimmen bey freyen Handlungen muß ein aktives inneres Vermoͤgen ſeyn, und nicht eine bloße Receptivitaͤt anders beſtimmet werden zu koͤnnen39

VII.

  • Von dem zureichenden Grunde, den freye Handlungen haben41

VIII.

  • Von ſelbſtthaͤtigen und aus Eigenmacht hervorgehenden Kraftaͤußerungen. Was es heiße, unabhaͤngig und aus voller Eigenmacht handeln. Von ſelbſtthaͤtigen Kraͤften, zu deren Aeußerung ein Reiz von außen er -fodertVdes zweeten Bandes. fodert wird. Von Aktionen, die durch eine mitge - theilte Kraft hervorgebracht werdenS. 46

IX.

  • Von der Selbſtthaͤtigkeit der menſchlichen Seele59
  • 1) Es iſt Erfahrung, daß die Seele mit voͤlliger Selbſt - thaͤtigkeit handelt, wenn ſie frey handelt59
  • 2) Schwierigkeiten ſich von dem, was alsdenn in uns vorgehet, deutliche Begriffe zu machen. Wie die Determiniſten und Jndeterminiſten ſolche Em - pfindungen erklaͤren63
  • 3) Die Wirkſamkeit der Seele, womit ſie willkuͤrlich ſich ſelbſt beſtimmt, iſt eine von dem Einfluß aͤuße - rer Empfindungen erweckte Selbſtthaͤtigkeit66
  • 4) Weitere Fragen und Veranlaſſungen zu fernern Unterſuchungen dieſer Selbſtthaͤtigkeit der Seele69

X.

  • Von der Beſtimmung der ſelbſtthaͤtigen Seelenkraft zu einzelnen Aeußerungen73
  • 1) Die Seele wird zuweilen leidentlich beſtimmt; zu - weilen beſtimmt ſie ſich ſelbſt74 Erſte Erfahrung: Wenn ſie fuͤhlet und empfin - det, wird ſie leidentlich beſtimmet74
  • 2) Zwote Erfahrung: Jede Kraftaͤußerung der Seele, welche unmittelbar auf ein Gefuͤhl erfolget, und von der wir vorher keine Vorſtellung hatten, iſt eine ſolche, zu der die Kraft der Seele leidentlich be - ſtimmt wird74
  • 3) Dritte Erfahrung: Oftmals haben wir ſchon vor - her eine Jdee von der erfolgenden Aktion, und wer - den dennoch leidentlich zu ihr beſtimmet76
  • 4) Vierte Erfahrung: Die Gegenwart, die Bear - beitung und die weitere Entwickelung der Vorſtel - lungen iſt oftmals keine Selbſtthaͤtigkeit der Seele, wenigſtens dem Gefuͤhl nach nicht; oftmals iſt ſie es76a 35) GrundVIJnhalt
  • 5) Grund dieſer Verſchiedenheit in den Empfindungen. Fuͤnfter Erfahrungsſatz: von dem Unterſcheidungs - merkmal ſolcher Aktus der Seele, wozu ſie leident - lich beſtimmet wirdS. 79
  • 6) Weſentliche Verſchiedenheit zwiſchen dieſen, und denen, wozu ſie ſich ſelbſt beſtimmt82

XI.

  • Fortſetzung des Vorhergehenden. Von den Selbſtbe - ſtimmungen der Seele zu ihren Aktionen84
  • 1) Die Selbſtbeſtimmung erfodert, daß die Seele in dem Stande reger Wirkſamkeit ſich befinde85
  • 2) Die Selbſtbeſtimmung zu einer Aktion erfodert, daß eine Vorſtellung von dieſer Aktion vorhanden ſey86
  • 3) Das Selbſtbeſtimmen iſt ein Aktus der Wieder - vorſtellungskraft, welcher die Jdee von der Aktion zum naͤchſten Objekt hat. Und dieſe Reproduktion iſt eine Selbſtthaͤtigkeit, welche nicht unmittelbar auf das Gefallen erfolget89
  • 4) Die gefallende Vorſtellung beſtimmt das thaͤtige Princip nicht innerlich zu der Aktion, welche erfol - get, ſondern iſt blos ein Objekt, welches der inner - lich ſchon voͤllig zur Aktion beſtimmten Kraft vor - gelegt wird91
  • 5) Der letzte Satz wird aus Beobachtungen bewieſen. Zuerſt aus ſolchen Faͤllen, in denen wir uns mehr zu einer Art der Handlung als zu der andern be - ſtimmen94
  • 6) Ferner bey ſolchen Selbſtbeſtimmungen, wo wir zwiſchen Thun und Laſſen auswaͤhlen100
  • 7) Endlich bey ſolchen Selbſtbeſtimmungen, wo wir uns zu einer groͤßern Anſtrengung der Kraft oder zu einer Nachlaſſung derſelben beſtimmen100

XII.

  • Von dem Vermoͤgen ſich ſelbſt zu beſtimmen101
1) Unter -VIIdes zweeten Bandes.
  • 1) Unterſchied zwiſchen Wollen und Verrichten, und zwiſchen dem Vermoͤgen ſich ſelbſt zu beſtimmenS. 102
  • 2) Das Vermoͤgen ſich ſelbſt zu beſtimmen erfodert, daß die Kraft wirkſam ſey, und innerlich zurei - chend zu der Art ihrer Anwendung beſtimmet104
  • 3) Die Vorſtellung von der Aktion, wozu wir uns ſelbſt ſollen beſtimmen koͤnnen, muß in uns gegen - waͤrtig ſeyn106
  • 4) Fortſetzung des Vorhergehenden. Wie weit die vorſtellende Kraft in jedwedem Fall mit der Vor - ſtellung von der Aktion beſchaͤfftiget iſt, wenn wir uns ſelbſt zu der Aktion beſtimmen koͤnnen107
  • 5) Von den verſchiedenen Graden in dem Vermoͤgen ſich ſelbſt zu beſtimmen113
  • 6) Wie weit auch da ein Vermoͤgen uns ſelbſt anders zu beſtimmen vorhanden ſeyn kann, wo wir leident - lich zu etwas beſtimmet werden113
  • 7) Wie weit wir es gewiß ſeyn koͤnnen, daß wir ein Vermoͤgen anders zu handeln beſitzen. 114
  • 8) Das Vermoͤgen ſich ſelbſt zu beſtimmen geht nur auf Handlungen, die ſchon ehemals inſtinktartig vorgenommen ſind115
  • 9) Wie Vermoͤgen zu entgegengeſetzten Aktionen, zum Wollen und Nichtwollen, zum Thun und zum Laſſen, zugleich in der Seele nebeneinander be - ſtehen116

XIII.

  • Deutlichere Vorſtellung von der Freyheit oder der Selbſtmacht der Seele uͤber ſich121

XIV.

  • Von den Folgen der Freyheit in den freyen Handlun - gen ſelbſt124
a 4XV. VIIIJnhalt

XV.

  • Vereinigung der allgemeinen Vernunftſaͤtze mit dem Begriff von der FreyheitS. 129
  • 1) Die Verknuͤpfung zwiſchen Urſachen und Wirkun - gen iſt nicht allemal eine nothwendige Verknuͤ - pfung129
  • 2) Unter welchen Vorausſetzungen die verurſachende Verknuͤpfung zufaͤllig ſey134
  • 3) Unter welchen ſie nothwendig iſt140
  • 4) Zufaͤlligkeit der Verknuͤpfung, wenn freye Urſa - chen wirken141
  • 5) Eine Erinnerung uͤber den Gebrauch der Gemein - begriffe von Nothwendigkeit und Zufaͤlligkeit146

Dreyzehnter Verſuch. Ueber das Seelenweſen im Menſchen.

I.

  • Vorlaͤufiger Begriff von der thieriſchen Natur des Menſchen, und von dem Seelenweſen in ihm149

II.

  • Unſere Vorſtellungen von der Seele und ihren Veraͤn - derungen ſind, eben ſo wie unſere Jdeen von den Koͤrpern, nur Scheine152

III.

  • Von dem koͤrperlichen Beſtandtheile unſers Seelen - weſens158
  • 1) Von dem Antheil des Gehirns an jedweder Seelen - aͤußerung. Von materiellen Jdeen158
  • 2) Von der Natur des Selbſtgefuͤhls der Seele. Sie fuͤhlet und empfindet ſich auf eine aͤhnliche Weiſe, wie das Auge ſich im Spiegel ſiehet169

IV.

  • Von der Jmmaterialitaͤt unſers Jchs175
1) UeberIXdes zweeten Bandes.
  • 1) Ueber den Begriff von der Jmmaterialitaͤt der Seele, und von einer ſubſtanziellen EinheitS. 176
  • 2) Ob in der ſubſtanziellen Einheit eine Vielfachheit von Beſchaffenheiten ſeyn, und in wiefern ihr eine ideelle Ausdehnung zukommen koͤnne184
  • 3) Wie weit zunaͤchſt aus der beobachteten Einheit des Jchs die ſubſtanzielle Einheit der Seele ge - folgert werden koͤnne191
  • 4) Jn wie weit die Seelenaktus nur kollektive ſolche Aktus ſeyn koͤnnen? Die kollektiven Kraͤfte und Wirkungen ſetzen eine ſubſtanzielle Einheit voraus, in der die Kollektion geſchieht, und in Hinſicht auf welche ſie nur ſolche Kraͤfte und Wirkungen ſind, als ſie ſind194
  • 5) Es iſt ein Unterſchied zwiſchen bloß kollektiven Kraͤften und Wirkungen, und zwiſchen abſoluten Kraͤften und Wirkungen eines Dinges, die von ſeiner Verbindung mit andern abhangen199
  • 6) Die naͤchſte Folge aus dem Vorhergehenden iſt: daß wenn unſer Jch aus mehreren ſubſtanziellen Ein - heiten beſtehet, deren Kraͤfte und Aeußerungen, einzeln genommen, von den Seelenaͤußerungen verſchieden ſind, ſo muͤſſen jene Kraftaͤußerungen in jedwedem einfachen Theile des Ganzen zuſam - menlaufen, oder doch in Einem von dieſen Thei - len204
  • 7) Ob dieß nicht ſo viel heiße, als: jedweder Theil dieſes Ganzen muͤſſe ein fuͤhlendes, denkendes |und wollendes Jch ſeyn; oder, nur Einer dieſer Theile muͤſſe es ſeyn206
  • 8) Beſchluß dieſer Betrachtung. Das bisher bewie - ſene fuͤhret nicht weiter als auf eine Vorſtellung, die zwiſchen die gewoͤhnliche Vorſtellung der Jm - materialiſten und der Materialiſten faͤllt210
a 5V. VonXJnhalt

V.

  • Von dem Sitz der VorſtellungenS. 213
  • 1) Fernere Fragen uͤber die Natur des Seelenwe - ſens213
  • 2) Jnſonderheit uͤber den Sitz der Vorſtellungen. Verſchiedene Hypotheſen daruͤber217

VI.

  • Beurtheilung der erſten Hypotheſe von dem Sitz des Gedaͤchtniſſes in der Seele223
  • 1) Die Erklaͤrungsart bey dieſer Hypotheſe. Jhr zu - folge giebt es keinen unmittelbaren Uebergang im Gehirn von einer materiellen Jdee zur andern, die mit ihr verknuͤpft iſt224
  • 2) Auf welche Art viele Schwierigkeiten, die man die - ſer Erklaͤrungsart entgegenſetzet, gehoben werden koͤnnen? Wie gewiſſe harmoniſche Bewegungen im Gehirn gegenwaͤrtig ſeyn koͤnnen, ohne daß weder die Seele noch die ſonſten gewoͤhnliche Jmpreſſion von außen ſie hervorbringe? Jmgleichen wie Jdeen wider den Willen der Seele in ihr und von ihr reproducirt werden koͤnnen227
  • 3) Schwierigkeiten, die aus der beobachteten Abhaͤn - gigkeit des Gedaͤchtniſſes von dem Koͤrper, und von koͤrperlichen Urſachen entſtehen. Wie dieſe ge - hoben werden koͤnnen230
  • 4) Merkwuͤrdiger Unterſchied zwiſchen willkuͤrlichen Vorſtellungen, deren Gegenwart von einem ſelbſt - thaͤtigen Beſtreben der Seele abhaͤnget, und zwi - ſchen unwillkuͤrlichen, die ſich uns von ſelbſt dar - zuſtellen ſcheinen233
  • 5) Einwurf, der aus dieſer Verſchiedenheit entſprin - get gegen die Meynung, daß die Wiedervorſtel - lungskraft allein der Seele zukomme. Wie ſich darauf antworten laſſe236VII. VonXIdes zweeten Bandes. Von der zwoten bonnetiſchen Hypotheſe, von dem Sitz der Vorſtellungen in dem Gehirn, und von dem Vermoͤgen des Gehirns ſie zu reproduci - renS. 238
  • 1) Auszug der bonnetiſchen Analyſis239
  • 2) Pruͤfung dieſer Hypotheſe. Sie hebt die Freyheit der Seele nicht auf247
  • 3) Pruͤfung des erſten Grundſatzes. Ob es eine all - gemeine Eigenſchaft organiſirter Koͤrper ſey, daß Eindruͤcke auf ſie gewiſſe Diſpoſitionen hin - terlaſſen, empfangene Bewegungen nachher leich - ter anzunehmen 251
  • 4) Pruͤfung des zweeten Grundſatzes. Ob jede ver - ſchiedene materielle Jdee ihre eigene Fiber erfo - dere? 255
  • 5) Pruͤfung dieſes Syſtems, als eine Hypotheſe be - trachtet, aus der die pſychologiſchen Erſcheinungen erklaͤret werden ſollen. Es hat auf einer Seite ei - nen Vorzug vor dem vorhergehenden, da es die Abhaͤngigkeit der Jdeen von dem Koͤrper leichter erklaͤret262
  • 6) Ob irgend eine Vorſtellung ſich jemals gaͤnzlich verliere266
  • 7) Von dem Kindiſchwerden der alten Leute. Wie ſolches nebſt andern aͤhnlichen Wirkungen ſowohl nach der erſten Hypotheſe, als nach der bonneti - ſchen zu erklaͤren ſey268
  • 8) Jn der bonnetiſchen Hypotheſe iſt eine Luͤcke, da die Jmpreſſionen in dem Gehirne ihre bleibenden Spuren haben ſollen, aber die Jmpreſſionen in der Seele nicht ſo. Eine aͤhnliche Luͤcke findet ſich auch in der erſten Hypotheſe auf der andern Seite274
  • 9) Beobachtungen, die ſchwerer aus der bonnetiſchen Hypotheſe erklaͤret werden278
VIII. All -XIIJnhalt

VIII.

  • Allgemeine Ueberſicht der verſchiedenen Hypotheſen uͤber den Sitz der Vorſtellungen und der Phan - taſieS. 283
  • 1) Vorerinnerung283
  • 2) Von der Ordnung und Folge der Seelen. und Gehirnsveraͤnderungen wenn Vorſtellungen von mehrern Objekten in der Empfindung aſſociirt werden285
  • 3) Was bey der Reproduktion der Vorſtellungen in dieſer Empfindungsordnung geaͤndert werden kann und geaͤndert wird288
  • 4) Vortrag einer Hypotheſe, zu welcher die Beobach - tungen ſich am beſten zu vereinigen ſcheinen293

IX.

  • Verſuch, aus der Analogie der Seelennatur des Men - ſchen mit ſeiner thieriſchen Natur die Einrichtung der erſtern aufzuklaͤren299

Erſte Abtheilung.

  • 1) Worinn die Analogie der Seelennatur und der thieriſchen Natur in dem Menſchen beſtehe? We - ſentliche Beſtandtheile der thieriſchen Natur301
  • 2) Wie die Seelenkraft mit der Koͤrperkraft in der thieriſchen Natur in Vereinigung bey den thieriſchen Bewegungen wirke? Die thieriſchen Bewegungen haben eine Verbindung mit einander in dem Koͤrper, und auch eine vermittelſt der Seele306
  • 3) Fragen uͤber die beſtimmte Art dieſer Zuſammen - wirkung. Wie weit die Seelenkraft die Koͤrper - kraͤfte, und dieſe jene, erſetzen koͤnnen312
  • 4) Von den blos organiſchen Bewegungsreihen. Einige ſind natuͤrlich nothwendig, andere ſind zufaͤllig entſtanden3155) EsXIIIdes zweeten Bandes.
  • 5) Es aſſociiren ſich organiſche Bewegungen in dem Koͤrper, wie Vorſtellungen in der SeeleS. 317
  • 6) Charakter der blos organiſchen Bewegungsreihen321
  • 7) Wie weit die Seele bey dieſen mitwirke, und ihre Verbindung von der Seelenkraft abhange328
  • 8) Fortſetzung des Vorhergehenden332
  • 9) Von den willkuͤrlich aſſociirten Bewegungen339
  • 10) Wie weit es organiſche Aſſociationen in dem Koͤrper gebe, die zu den willkuͤrlichen Reihen ge - hoͤren? und ob dieſe organiſchen Reihen, ohne Beywirkung der Seele, durch die Koͤrperkraͤfte hervorgebracht werden koͤnnen341
  • 11) Wie weit die Aktion der Seele und der Koͤrper - kraͤfte ſich hiebey einander modificiren, und wiefern die Bewegungsreihen durch die letztern allein, oder durch die Seele allein, erfolgen koͤnnen344
  • 12) Von den uͤbrigen Bewegungsreihen, die zum Theil willkuͤrlich, zum Theil blos organiſch ſind347
  • 13) Ob es der Analogie der Natur gemaͤß ſey, die Jnſekten und andere unvollkommene Thiere fuͤr ſee - lenloſe Weſen zu halten? Von dem Uebergange von beſeelten zu unbeſeelten Weſen349 Zwote Abtheilung.
  • 1) Analogiſcher Schluß von der thieriſchen Natur des Menſchen auf ſeine Seelennatur357
  • 2) Eine Folgerung daraus366

Vierzehnter Verſuch.

  • Ueber die Perfektibilitaͤt und Entwickelung des Menſchen368
  • Vorerinnerung uͤber die Abſicht dieſes Verſuchs368
ErſterXIVJnhalt

Erſter Abſchnitt.

  • Von der Perfektibilitaͤt der Seelennatur und ihrer Entwickelung uͤberhauptS. 373

I.

  • Ob der Anwachs des Seelenvermoͤgens allein in einer Vermehrung der Jdeen und Jdeenreihen beſtehe? Searchs Gedanken hieruͤber373

II.

  • Naͤhere Unterſuchung uͤber den Anwachs bey den thaͤti - gen Vermoͤgen378
  • 1) Beobachtungen, welche zu beſtaͤtigen ſcheinen, daß die Erhoͤhung der Vermoͤgen zu Fertigkeiten allein in den erworbenen Jdeenreihen beſtehe379
  • 2) Andere Beobachtungen, welche mit dieſer Hypotheſe nicht ſo gut zu vereinigen ſind385
  • 3) Wenn ein Vermoͤgen in Fertigkeit uͤbergeht, ſo empfangen a) die Jdeen von den Objekten eine Leichtigkeit wiedererwecket zu werden; b) die Vorſtellungen von den Aktionen ſelbſt, die theils eine Reproduktion der die einzelnen Aktionen be - gleitenden Empfindungen, theils eine Wiederho - lung der ehemaligen Kraftaͤußerungen ſelbſt, in ſich faſſen, werden leichter erweckbar390
  • 4) Genauere Vergleichung der Beobachtungen uͤber den Zuwachs der Vermoͤgen durch die Uebung. Was in dieſem Zuwachs enthalten ſey392
  • 5) Zwo Folgen aus dem Vorhergehenden. Von dem vorzuͤglichen Nutzen, den das Leſen der Original - ſchriftſteller hat. Von dem Nutzen der Metaphy - ſik, als einer Uebung der Verſtandeskraͤfte400
  • 6) Wie weit die Erhoͤhung eines Seelenvermoͤgens ſich uͤber andere Vermoͤgen ausbreite403
  • 7) Von der Schwaͤchung der Vermoͤgen durch allzu ſtarke Anſtrengung405
III. VonXVdes zweeten Bandes.

III.

  • Von der Erhoͤhung der leidenden Vermoͤgen der Seele, der Receptivitaͤt, des Gefuͤhls und der Empfind - ſamkeitS. 412
  • 1) Von der Erhoͤhung der aͤußern Sinne. Was hierinn lieget, iſt auch in der Vervollkommnung der uͤbrigen leidenden Vermoͤgen enthalten413
  • 2) Die erlangten Jdeen von den Objekten machen Zuͤge und Eindruͤcke bemerkbar, die es fuͤr ſich we - niger oder gar nicht geweſen ſeyn wuͤrden415
  • 3) Es entſtehet eine Leichtigkeit dergleichen Eindruͤ - cke anzunehmen, und auf ſie zu reagiren, welche von der Leichtigkeit die Jdeen von den Objekten zu erneuern unterſchieden iſt416
  • 4) Die Verfeinerung Einer Seite unſerer leidenden Vermoͤgen verbreitet ſich uͤber andere420

IV.

  • Worinn die Entwickelung der menſchlichen Natur be - ſtehe421
  • 1) Allgemeiner Abriß von dem Gange, den die Entwi - ckelung der Seelenvermoͤgen nimmt421
  • 2) Unterſchied zwiſchen den abſoluten und relativen Vermoͤgen, und zwiſchen der Ausbildung an jenen und an dieſen431
  • 3) Ob und wiefern die Entwickelung der Seele als eine Evolution oder als eine Epigeneſis zu betrach - ten ſey434
  • 4) Fortſetzung des Vorhergehenden. Die Seelenent - wickelung nach dem bonnetiſchen Syſtem436
  • 5) Es iſt ſchwer hieruͤber zu entſcheiden, und nicht anders als durch die Analogie aus der Entwicke - lung des menſchlichen Koͤrpers439
  • 6) Wie weit zu den beſondern Faͤhigkeiten angeborne Anlagen einzuraͤumen ſind oder nicht442
ZweeterXVIJnhalt

Zweeter Abſchnitt.

  • Von der Entwickelung des menſchlichen KoͤrpersS. 448

I. Vorerinnerung.

  • Wiefern die Bildung organiſirter Koͤrper unausforſchlich iſt. Abſicht der folgenden Betrachtung448

II.

  • Von dem Princip der Bildung in organiſirten Koͤrpern, und von Keimen452
  • 1) Allgemeiner Grundſatz452
  • 2) Verſchiedene Perioden in der Entwickelung orga - niſirter Weſen453
  • 3) Die vornehmſte bildende Urſache bey den organi - ſirten Weſen liegt in dem Keim. Begriff vom Keim nach dem Hrn. Bonnet454
  • 4) Begriff von dem Keim nach Hrn. Wolff459
  • 5) Erinnerung uͤber die weſentlichen Bildungsgruͤn - de nach den Begriffen des Hrn. Wolff460
  • 6) Vom Modell, von Patronen in dem buͤffoniſchen Syſtem. Von unvollſtaͤndigen Keimen464
  • 7) Von der organiſchen Konkretion466
  • 8) Von der generatione aequivoca. Wie weit ſie unvernuͤnftig iſt469
  • 9) Von den unorganiſchen Konkretionen und von der Bildung uͤberhaupt473

III.

  • Von den verſchiedenen Arten, wie Formen in organi - ſirten Koͤrpern entſtehen koͤnnen476
  • 1) Was hier Form heiße? Wenn neue Formen ent - ſtehen? und wenn die ſchon vorhandenen nur ver - aͤndert werden? Wie die Vergroͤßerung eines organiſirten Koͤrpers ohne Vermehrung der Formen moͤglich ſey4772) DasXVIIdes zweeten Bandes.
  • 2) Das Eigene in der bonnetiſchen Evolution haͤngt von dem Grundſatz ab, daß keine neue Formen entſtehen, und faͤllt mit dieſem Grundſatze weg. S. 484
  • 3) Fortſetzung des Vorhergehenden487
  • 4) Unter welchen Bedingungen mit der Vermehrung der Maſſe neue Formen entſtehen muͤſſen? 490
  • 5) Wenn neue Formen entſtehen koͤnnen, ſo giebt es mehrere Arten, wie ſie entſtehen koͤnnen. Von der Epigeneſis, von der Appofition der Theile und von der nicht durchgaͤngigen Evolution. Unter - ſchied zwiſchen den Perioden der Bildung, des Aus - wachſens und der Fortdauer494

IV.

  • Einige Anmerkungen uͤber die verſchiedenen Entſte - hungsarten organiſirter Koͤrper, beſonders uͤber das Evolutionsſyſtem500
  • 1) Es ſind zween verſchiedene Saͤtze. Der erſte: Es entſtehen keine neue Formen, die nicht ſchon in dem Keim enthalten ſind. Der zweete: Der Reim beſtimmt allein die Bildung, und beſtimmt ſie voͤllig501
  • 2) Die bonnetiſche Hypotheſe hat eine dunkle Stelle. Es iſt ſchwer ein beſtimmtes Unterſcheidungsmerk - mal zwiſchen einer organiſchen Form anzugeben, und zwiſchen den unorganiſchen Verbindungsarten, die nothwendig entſtehen muͤſſen, wenn mehr Ma - terie hinzukommt502
  • 3) Dieſe Hypotheſe kann nie durch die Beobachtungen voͤllig bewieſen werden504
  • 4) Erfahrungen, welche zeigen, daß neue Formen durch die Verbindung anderer Formen entſtehen505II Theil. b5) DieXVIIIJnhalt
  • 5) Die Entſtehung neuer organiſchen Formen ſetzet eine Entwickelung ſchon vorhandener Formen voraus, und geſchieht durch die Vereinigung der - ſelben. Dieſe Epigeneſis durch Evolution ſcheint die allgemeine Entſtehungsart organiſirter Weſen zu ſeyn. Sie muß auch bey den organiſchen Kon - kretionen ſtattfindenS. 508

V.

  • Naͤhere Betrachtung der letzterwaͤhnten Hypotheſe von der Epigeneſis durch Evolution513
  • 1) Sie vertraͤgt ſich mit allen Beobachtungen513
  • 2) Sie laͤßt eine Erzeugung neuer Theile zu, ohne daß eigene Keime zu ſolchen Theilen vorhanden ſind. Von den Wiederergaͤnzungen515
  • 3) Sie laͤßt zu, daß Keime erzeuget werden516
  • 4) Wie die neuen Formen ſich auf den Keim bezie - hen, aus deſſen Entwickelung ſie hervorgehen. Jn Hinſicht einiger Formen beſitzet der Keim nichts mehr als bloße Empfaͤnglichkeit520
  • 5) Was Anlage, Hang, Tendenz und Trieb zu et - was ſey? Was weſentliche und unabaͤnderliche Naturtriebe und Formen ſind522
  • 6) Wie die weſentlichen Formen in dem Keim be - ſtimmt ſind, nach der Hypotheſe der Evolution und nach der Epigeneſis526
  • 7) Wie bloße Vermoͤgen in naͤhere Anlagen, und dieſe in Tendenzen uͤbergehen533
  • 8) Allgemeine Naturgeſchichte organiſirter Weſen534

Dritter Abſchnitt.

  • Von der Analogie der Entwickelung der Seele mit der Entwickelung des Koͤrpers539
I. DasXIXdes zweeten Bandes.

I.

  • Das koͤrperliche Werkzeug der Seele entwickelt ſich auf dieſelbige Art, wie der organiſirte Koͤrper, und die Seele entwickelt ſich auf eine analoge ArtS. 539

II.

  • Von dem Seelenweſen im Keim. Die immaterielle Seele kann nicht entſtehen wie der Koͤrper; aber der Keim des menſchlichen Seelenweſens kann entſtehen540

III.

  • Jdee von der angebornen Seelennatur. Vermoͤgen, Anlagen, Jnſtinkte in derſelben542

IV.

  • Jhre Ausbildung beſtehet in einer Epigeneſis durch Evolution. Die Art, wie der Koͤrper ſich entwi - ckelt, wird aus der Entwickelung der Seele er - laͤutert548

V.

  • Von dem Unterſchied unter Grundvermoͤgen und abgeleiteten Vermoͤgen548

Vierter Abſchnitt.

  • Von der Verſchiedenheit der Menſchen in Hinſicht ih - rer Entwickelung555

I.

  • Von der angebornen Verſchiedenheit der Menſchen555
  • 1) Einige Verſchiedenheit in der Natur giebt es, auch in Hinſicht der Seelenkraͤfte, gegen Helve - tius555
  • 2) Wie weit die Verſchiedenheit in den Menſchen - gattungen ein Unterſchied an der Art, oder nur eine Varietaͤt ſey? Von der Verſchiedenheit an Abſtammung. Princip der Specifikarion561b 23) VonXXJnhalt
  • 3) Von den Urſachen, welche die Natur modificiren. Wie gewiſſe Eigenſchaften des Koͤrpers und der Seele ſich fortpflanzenS. 569
  • 4) Fortſetzung des Vorhergehenden. Von dem Ein - fluß, den die Einbildungskraft in die Fortpflan - zung der Nationalcharaktere hat576

II.

  • Von den Urſachen, welche die menſchliche Natur aus - bilden, und deren Verhaͤltniß gegeneinander582
  • 1) Die Bildungsgruͤnde bey dem Menſchen ſind die Naturanlage, die phyſiſchen Umſtaͤnde, das Beyſpiel und die eigentliche Erziehung582
  • 2) Wie groß der Einfluß der Natur ſey in Verglei - chung mit den hinzukommenden aͤußern Urſachen589
  • 3) Von der Macht der vollkommenſten Erziehung595
  • 4) Wichtigkeit der aͤußern Umſtaͤnde. Vom Geiſt des Standes596
  • 5) Wie weit die Entwickelung der Seelenkraͤfte der eigentlichen Erziehung zuzuſchreiben ſey601

III.

  • Von den verſchiedenen Formen der Menſchheit
  • 1) Stand der Wildheit, der Barbarey und der Ver - feinerung610
  • 2) Wie weit dieſe als Stufen der Menſchheit zu be - trachten ſind615
  • 3) Wie ſich dieſe Zuſtaͤnde auf einander beziehen616

IV.

  • Von der einſeitigen Vervollkommnung des Menſchen622
  • 1) Zu weit getriebene Vervollkommnung an einer Seite kann der Vollkommenheit der ganzen Na - tur ſchaͤdlich werden6222) WieXXIdes zweeten Bandes.
  • 2) Wie das Maß der Vervollkommnung an einer Seite zu beſtimmen ſey, wo ſie in Hinſicht der Voll - kommenheit des Ganzen ein Groͤßtes iſtS. 628

V.

  • Wie die innere Groͤße der Menſchheit in ihren ver - ſchiedenen Formen zu ſchaͤtzen ſey632
  • 1) Von der abſoluten phyſiſchen Vollkommenheit des Menſchen. Jnnere Groͤße und Werth der Menſchheit in dem Menſchen632
  • 2) Wie ferne die koͤrperlichen Vollkommenheiten Be - ſtandtheile der geſammten menſchlichen Vollkom - menheit ſind636
  • 3) Die Vollkommenheit der menſchlichen Natur haͤngt von der Vollkommenheit der Seele ab642
  • 4) Der Werth der koͤrperlichen Kunſtfertigkeiten haͤngt von der Groͤße der Seelenthaͤtigkeit ab, die in ihnen wirket646
  • 5) Die Groͤße in den Seelenkraͤften haͤngt von der Groͤße der innern Selbſtthaͤtigkeit ab649
  • 6) Der innere Werth des Genies und des Charak - ters haͤngt gleichfalls von der Selbſtthaͤtigkeit der Seele ab. Von dem innern Werth der Tugend652
  • 7) Eine Folge hieraus, wenn Genies von verſchie - dener Gattung mit einander verglichen werden658
  • 8) Von dem Werth der Wahrheit im Verſtande662
  • 9) Fortſetzung des Vorhergehenden670

VI.

  • Von der Gleichheit der Menſchen in Hinſicht ihrer innern Vollkommenheit676
  • 1) Es giebt eine gewiſſe Gleichheit unter den entwi - ckelten Menſchen676b 32) NaͤhereXXIIJnhalt
  • 2) Naͤhere Beſtimmung, wie weit dieſe allgemeine Gleichheit geheS. 678
  • 3) Wie weit ſie ſich auf Bloͤdſinnige erſtrecke683
  • 4) Grenzen der allgemeinen Gleichheit aller Menſchen, und die Folgen derſelben684

VII.

  • Von dem Werth des aͤußern Zuſtandes in Hinſicht auf die Vervollkommnung des Menſchen692
  • 1) Die aͤußern Umſtaͤnde haben einen relativen Werth, inſoferne ſie Mittel ſind, die Vervollkomm - nung der Menſchheit zu befoͤrdern692
  • 2) Wie ferne die aͤußern Umſtaͤnde in Hinſicht auf die Vervollkommnung gleichguͤltig ſind694
  • 3) Fortſetzung. Allgemeine Anmerkungen uͤber die Vorzuͤglichkeit gewiſſer Verfaſſungen697
  • 4) Die Vervollkommnung der Menſchen geht weiter in polizirten Staaten als in der Barbarey und Wildheit705 Fuͤnfter Abſchnitt. Von den Grenzen der Entwickelung und von der Wie - derabnahme der Kraͤfte709

I.

  • Von dem Aeußerſten in der Entwickelung der Seelen - vermoͤgen709
  • 1) Vorerinnerung709
  • 2) Die Sinne, die Vorſtellungskraft und der Ver - ſtand kommen in Hinſicht ihrer innern abſoluten Groͤße zu einer aͤußerſten Stufe, wo die weitere Entwickelung aufhoͤrt. Erfahrungen hieruͤber711
  • 3) Die Art wie die Seelenvermoͤgen ihr Groͤßtes er - langen7144) ObXXIIIdes zweeten Bandes.
  • 4) Ob die Grenze der Entwickelung in den Seelen - vermoͤgen weiter hinausgeruͤckt werden koͤnneS. 719
  • 5) Von der Grenze der Perfektibilitaͤt in dem Men - ſchen, und von der Grenze derſelben in der Seele721
  • 6) Erinnerung uͤber das Maximum in den relativen Fertigkeiten724

II.

  • Von der Wiederabnahme der Seelenvermoͤgen uͤber - haupt726
  • 1) Vorerinnerung726
  • 2) Jn welchem Verſtande die Wiederabnahme der Seelenvermoͤgen keine Wiedereinwickelung ſeyn kann727

III.

  • Von der Abnahme der Kraͤfte, welche aus ihrem Nicht - gebrauch entſpringet729
  • 1) Ob der Verluſt ehemals gehabter Kenntniſſe als eine Einwickelung angeſehen werden koͤnne729
  • 2) Verluſt der Vermoͤgen aus dem Nichtgebrauch731
  • 3) Was die Zuruͤckſetzung der Seele in den Zuſtand der Kindheit in ſich faſſe735

IV.

  • Von der Ermuͤdung der Seelenkraͤfte, und ihren Schwaͤchung aus andern zufaͤlligen Urſachen736
  • 1) Von der Ermuͤdung der Kraͤfte736
  • 2) Von ihrer Schwaͤchung aus andern Urſachen740

V.

  • Von der natuͤrlichen Abnahme der Seelenvermoͤgen im Alter744
b 41) DieXXIVJnhalt
  • 1) Die Abnahme der Seele im Alter kann nicht nach dem Grade ihrer aͤußern Wirkſamkeit mittelſt des Koͤrpers beurtheilet werdenS. 744
  • 2) Von der Abnahme der koͤrperlichen Fertigkeiten und der aͤußern Sinne744
  • 3) Die Abnahme der Seele im Alter kommt nicht von dem Verluſte ihrer Vorſtellungen, ſondern von der erſchwerten Reproducibilitaͤt derſelben748
  • 4) Warum die Alten ſich der Zeiten ihrer Jugend beſſer erinnern, als der neuern Begebenheiten? Vergeſſene Vorſtellungen ſind ſolche, die unter an - dern Vorſtellungen verhuͤllet ſind750
  • 5) Die in dem Alter vorhandenen ruhenden Vorſtel - lungen ſind etwas Reelles. Ehrwuͤrdigkeit des Alters. Kindheit des Alters752
  • 6) Die Abnahme an Lebhaftigkeit des Geiſtes von der zunehmenden Unerweckbarkeit der Vorſtellun - gen754
  • 7) Ob man aus der Abnahme an Thaͤtigkeit auf die Abnahme an Kraͤften und Vermoͤgen ſchließen koͤnne755
  • 8) Wie weit die Abnahme des Seelenweſens eine Ab - nahme der unkoͤrperlichen Seele ſey? Was die Analogie hievon lehre, und wie ferne die Erfah - rungen damit uͤbereinſtimmen759 Sechster Abſchnitt. Von der fortſchreitenden Entwickelung des menſchli - chen Geſchlechts767
  • 1) Vorerinnerung. Es iſt ſchwer auszumachen, ob es eine fortſchreitende Vervollkommnung des ganzen Geſchlechts gebe7672) ObXXVdes zweeten Bandes.
  • 2) Ob eine Verbeſſerung der Naturanlagen zu er - warten ſeyS. 771
  • 3) Die Vervollkommnung im Geſchlecht kann nur wachſen durch die Verbeſſerung der aͤußern Mit - tel, welche die Entwickelung befoͤrdern775
  • 4) Einige Anmerkungen uͤber dieſe Vervollkomm - nungsmittel776
  • 5) Welche Arten von Kenntniſſen am meiſten die hoͤ - hern Seelenvermoͤgen in Thaͤtigkeit ſetzen777
  • 6) Welche Vortheile ſich von den jetzo vorhandenen Vervollkommnungsmitteln fuͤr das allgemeine Be - ſte der Menſchheit erwarten laſſen780
  • 7) Urſachen, die dieſe Erwartungen ſchwaͤchen784 Siebenter Abſchnitt. Von der Beziehung der Vervollkommnung des Men - ſchen auf ſeine Gluͤckſeligkeit791
  • 1) Die Vervollkommnung des Menſchen und ſeine Gluͤckſeligkeit ſind in Verbindung, aber doch un - terſchieden791
  • 2) Die Gluͤckſeligkeit kann nicht allein nach der Zu - friedenheit geſchaͤtzet werden792
  • 3) Ob die Entwickelung der Menſchheit zu weit ge - hen koͤnne fuͤr ihre Gluͤckſeligkeit794
  • 4) Gedanken einiger Nenern uͤber die Grenze der Ver - vollkommnung, wenn dieſe der Gluͤckſeligkeit nicht ſchaͤdlich werden ſoll796
  • 5) Die Gluͤckſeligkeit der Menſchen beſtehet nicht ganz im unthaͤtigen Genuß ſinnlicher Vergnuͤgungen797
  • 6) Von dem Vergnuͤgen aus der thaͤtigen Anwendung der Kraͤfte. Es iſt am groͤßten, wenn die Kraͤfte in der Maße angewendet werden, wie ſie zugleich am meiſten vervollkommnet werden800b 57) VonXXVIJnhalt
  • 7) Von dem Grundgeſetz der angenehmen GefuͤhleS. 804
  • 8) Die Vervollkommnung des Menſchen macht ihn der Gluͤckſeligkeit empfaͤnglicher, und gewaͤhrt ſolche ſelbſt814
  • 9) Die geſammte menſchliche Gluͤckſeligkeit kann nicht nach dem Grad innerer Vollkommenheit geſchaͤtzet werden. Sie iſt zum Theil abhaͤngig von aͤußern Urſachen816
  • 10) Allgemeines Wohl der Menſchheit820
  • 11) Wiefern der Naturtrieb des Menſchen als ein Trieb zur Entwickelung, zur Vollkommenheit und zur Gluͤckſeligkeit anzuſehen iſt820
  • 12) Von dem Gefuͤhl der Vollkommenheiten, ohne Ruͤckſicht auf ihren Gebrauch826
Zwoͤlfter[1]

Zwoͤlfter Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit und Freyheit.

I. Einleitung. Schwierigkeiten bey dieſer Unter - ſuchung.

Die Freyheit der Seele oder ihre Selbſtmacht uͤber ſich iſt dem Pſychologen und Moraliſten, jenem, in ſo fern er ihre Natur erforſchen, die - ſem, in ſo ferne er ſie erhoͤhen und verſtaͤrken will, ein eben ſo intereſſanter, und auch eben ſo ſchwer zu bear - beitender Gegenſtand, als die buͤrgerliche Freyheit fuͤr den Politiker. Jene iſt auch in der That, in Hin - ſicht des innern Menſchen und ſeiner Seelenvermoͤgen daſſelbige, was die letztere bey dem Buͤrger in ſeinem rechtlichen Vermoͤgen iſt; und jene macht die Groͤße des Menſchen, wie dieſe die Groͤße des Buͤrgers, aus. Welchen ſelbſtdenkenden Philoſophen hat nicht wohl die Unterſuchung uͤber die Natur unſerer Freyheit Anſtren - gung des Verſtandes gekoſtet? Sie wird auch vermuth - lich den kuͤnftigen dergleichen noch koſten, da ſie wegen ihrer Wichtigkeit nicht uͤberſehen, und ihrer Dunkelheit und Verwirrung wegen nicht leicht hell und beſtimmt genug gefaßt werden kann.

Es iſt indeſſen von verſchiedenen ſchon erinnert wor - den, daß der Punkt in dieſer Lehre, der am meiſten zwi -II. Theil. Aſchen2XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitſchen den Determiniſten und Jndeterminiſten ſtreitig iſt, und der nur darum, weil er einer der verwickelteſten iſt, am meiſten die Aufmerkſamkeit auf ſich zu ziehen pflegt, wohl nicht ſo erheblich und fruchtbar in ſeinen Folgerun - gen ſeyn moͤge, als die ſtreitenden Partheyen dafuͤr hal - ten. Jch bin dieſer Meinung zum Theil auch, wenn nur das Streitige, ob naͤmlich die menſchlichen Hand - lungen, die frey ſind, durch zureichende Gruͤnde voͤllig beſtimmt werden, oder nicht? allein auf dieſe einzige Stelle eingeſchraͤnket, und das Uebrige, was in der geſammten menſchlichen Freyheit enthalten iſt, als unabhaͤngig von jener Streitfrage, der Seele von kei - ner Seite her entzogen werde. Man nehme heraus, was die Beobachtungen unmittelbar von der Freyheit lehren, und was ich mich angewoͤhnt habe, unter dem Ausdrucke von Selbſtmacht der Seele uͤber ſich zu - ſammen zu faſſen, und unterſuche deſſen Folgen in der Moral, ſo mag das uͤbrige zu den feinern metaphyſi - ſchen Spekulationen gerechnet werden, welches ohne Verluſt an wichtigen praktiſchen Einſichten als unaus - gemacht dahin geſtellt bleiben kann. Jch werde wenig - ſtens in dem gegenwaͤrtigen Verſuche eine ſolche Abſonde - rung vornehmen. Um ſo mehr, da ich mich uͤberzeugt halte, daß die ſimple Erfahrungskenntniß von der Freyheit nur allein dadurch in ſo viele Verwirrungen ge - rathen iſt, weil man ſie mit allgemeinen Spekulationen zu fruͤhzeitig vermiſchet hat. Es iſt mir niemals ſchwer geworden, die Erfahrungen ſelbſt unter ſich zu vereini - gen. Aber ſobald man mit den allgemeinen Begriffen von Nothwendigkeit und Zufaͤlligkeit dazwiſchen kommt, und metaphyſiſche Theorien auf die Empfindun - gen anwenden will, ſo ſcheinen ſich ſo viele Knoten zu - ſammen zu ziehen, daß man die Aufloͤſung aufgeben, oder mit dem Schwerd ſich heraushelfen, und entweder die eine oder die andere von den Beobachtungen ablaͤu -gnen,3und Freyheit. gnen, wie die Meiſten thun, die hierinn entſchieden ha - ben, oder ſie, wie andere es gemacht, fuͤr einen be - truͤglichen Schein erklaͤren muß. Denn ſo iſt es gegan - gen von der Zeit an, da man angefangen hat, uͤber die Freyheit zu metaphyſiciren, bis auf unſere Zeiten. Die vornehmſten Gruͤnde und Gegengruͤnde des determiniſti - ſchen und indeterminiſtiſchen Syſtems lieſet man ſchon in dem itzo unvollſtaͤndigen Buche des Cicero de fato. Sollten wir etwan hier ein Beyſpiel haben, wo der ge - ſunde Menſchenverſtand, der den Empfindungen folgt, und das Nachdenken der hoͤhern Vernunft unvereinbar ſind? Ganz dreiſt antworte ich, nein. Aber ob wir hier nicht ein merkwuͤrdiges Beyſpiel von der Mangel - haftigkeit unſerer Gemeinbegriffe antreffen? ob nicht et - wan in den Begriffen von der Nothwendigkeit und Zu - faͤlligkeit ſich etwas phantaſtiſches eingeſchlichen habe? ein ſinnlicher Zuſatz der Phantaſie, der mit den reinen aus Empfindungen abgezogenen Verſtandesbegriffen vermiſchet worden iſt? oder auch, ob nicht etwan ein Paar an ſich ganz unterſchiedene, aber einander nahe liegende und einfache Elementarbegriffe des Verſtandes, deren Verſchiedenheit man in den allgemeinen Theorien nicht ſonderlich geachtet hat, mit einander verwechſelt werden, und nachher bey der naͤhern Beſtimmung und Anwendung dieſer Grundſaͤtze die Begriffe ſchwankend machen, wie Bilfinger*)Jn ſeinem Buche de origine mali. geglaubet hat? Dieß ſind andere Fragen.

Nach meiner Ueberzeugung, in der ich mich nun ſchon bey den oͤfters wiederholten Unterſuchungen ſeit laͤnger als zehn Jahren beſtaͤrkt habe, liegt es eben an der Unvollkommenheit der tranſcendenten Theorien. Hier iſt die Verwirrung, die fuͤr mich verſchwunden iſt,A 2ſeitdem4XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitſeitdem ich die Begriffe vom Nothwendigen und Zufaͤl - ligen zu realiſiren geſucht habe. Jch will nicht, daß dieß vielleicht manchen zu voreilig ſcheinende Geſtaͤndniß etwas mehr bedeuten ſolle, als das Geſtaͤndniß eines jedweden andern, der ſich entſcheidend in dieſer Lehre er - klaͤret hat. Nur wuͤnſchte ich die Aufmerkſamkeit der Nachdenkenden dadurch zu reizen. Zum wenigſten darf ich nach meinen Begriffen keiner Beobachtung Gewalt anthun, und von allem dem, was der ſtrengſte Jnde - terminiſt in der Seele von ihrem reellen Vermoͤgen, an - ders zu handeln, als man handelt, antrifft, darf ich nichts ablaͤugnen, oder unter dem Vorwande, die Er - fahrung ſey truͤglich, wegphiloſophiren. Unter allen Umſtaͤnden, unter denen das geſchieht, was von einem freyen Wollen abhaͤngt, kann es unterbleiben, oder an - ders geſchehen. Jch bin auch des Determiniſten Freund. Wenn dieſer durch die Uebereinſtimmung aller Beob - achtungen es beweiſet, daß auch die freyeſte Handlung einen voͤllig zureichenden Grund in den individuellen Um - ſtaͤnden habe, welche unmittelbar vor der freyen Beſtim - mung der Kraͤfte vorhergehet, ſo geſtehe ich gerne, daß er Recht habe, und finde auch hierinnen nichts, was nicht mit dem vorgedachten recht wohl zu vereinigen waͤre. Beide Syſteme enthalten Wahrheit in ſich, in ſo ferne ſie nur dasjenige bejahen, was wirklich beobach - tet iſt; aber wo beide ſich einander ihr Beobachtetes ſtreitig machen, wenn es mit dem ihrigen ſich nicht zu reimen ſcheint, ſo liegt die wahre Urſache davon in der Unbeſtimmtheit allgemeiner Begriffe, die ſie allenthal - ben einmiſchen. Am Ende mag mich denn wohl der Determiniſt naͤher auf ſeiner Seite hin antreffen, als ſein Gegner; und vielleicht auch mach ich es keinem recht.

Nach meinem Plan, den ich hier gemacht habe, will ich zuerſt die Selbſtmacht der Seele uͤber ſich,als5und Freyheit. als eine hoͤhere Stufe ihrer Selbſtthaͤtigkeit, ſo darzule - gen ſuchen, wie die bloße Beobachtung uns ſolche zeiget. Dann will ich einige kurze Reflexionen und die Reihe der allgemeinen Begriffe anfuͤgen, worinn die metaphy - ſiſche Spekulation daruͤber enthalten iſt. Dieſe ſollen das Mittel ſeyn, die dem Scheine nach unvertragbaren Beobachtungen zu vereinigen, und den aus Empfindun - gen gezogenen Begriff von der Freyheit ſeiner Schwie - rigkeiten zu entledigen. Das erſte ſehe ich hier als die Hauptſache an. Das letztere ſoll mehr eine bloße An - gabe meiner Gedanken ſeyn, als ein polemiſcher Vor - trag, der dahin gienge, anders denkende zu widerlegen; und daher wundre man ſich nicht, wenn man dieſe letz - tern ſpekulativiſchen Saͤtze weniger mit Gruͤnden unter - ſtuͤtzet findet, als die erſtern.

II. Begriff von der Freyheit, oder von der Selbſt - macht der Seele uͤber ſich, auf den die Em - pfindung fuͤhret.

  • 1) Freyheit iſt hier ein Vermoͤgen, das nicht zu thun, was man thut, oder es anders zu thun, als man es thut. Folgen aus die - ſem Begriffe.
  • 2) Daß wir ein ſolches Vermoͤgen beſitzen, iſt aus Beobachtungen erweislich.
  • 3) Wie ſolches aus der Erfahrung bewieſen werde. Woher die Fallazen der Empfin - dungen hiebey entſtehen koͤnnen.

1.

Die Seele wirket in ſich ſelbſt, beſtimmet und veraͤn - dert ſich, ſo wie ſie außer ſich in den Koͤrper wir -A 3ket.6XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitket. Dieß iſt unlaͤugbar, und wenn auch die Bemer - kung des Herrn Search’s*)Licht der Natur Erſt. B. Erſt. Th. Kap. 1. ohne Einſchraͤnkung rich - tig waͤre, daß ſie niemals ſich ſelbſt anders, als nur mittelbar modificire, indem ſie außer ſich auf das Ge - hirn ihre Kraft aͤußert, und dann ſelbſt durch eine Reak - tion des Gehirns eine Veraͤnderung in ſich aufnimmt. Eine Jdee, die nicht ſo weit von der gewoͤhnlichen ab - weichet, als es bey dem erſten Anblick ſcheinen mag, die ich aber hier nicht unterſuche.

Daher vermag die Seele etwas uͤber ſich ſelbſt, beſitzet Kraft und Vermoͤgen, auf ſich ſelbſt zu wirken.

Aber dieß Vermoͤgen, auf ſich ſelbſt zu wirken, iſt noch nicht das, was Freyheit genennt wird, und was ich hier die Selbſtmacht uͤber ſich nenne. Wo ihre Thaͤtigkeit als eine Freye Thaͤtigkeit wirket, da muß ſie auch unthaͤtig oder auf eine andere Art thaͤtig ſeyn koͤn - nen, als ſie es iſt. Denn wenn ſie nicht anders wir - ken kann, als ſie wirket, ſie mag in und auf ſich ſelbſt, oder auf den Koͤrper wirken, ſo kann ſie nicht unthaͤtig ſeyn, anſtatt daß ſie thaͤtig iſt, und ihre Wirkſamkeit nicht in ſich ſelbſt zuruͤckhalten, wenn dieſe hervorgeht, noch ſie in eine andere Richtung bringen, als die iſt, welche ſie nimmt; und ſo handelt ſie nicht mehr frey, als das Waſſer, welches aus dem Gefaͤße herausſpringt, an der Stelle, wo ihm eine Oeffnung gemacht iſt, in der Richtung und mit der Geſchwindigkeit, die ihm durch die Umſtaͤnde beygebracht wird; nicht freyer, als eine Kugel, welche herunterfaͤllt, wenn der Faden durchſchnit - ten wird, an dem ſie vorher feſtgehalten ward. Die Selbſtmacht uͤber ſich, die poſitive Kraft, wodurch wir uns in unſerer Gewalt haben, wenn wir thaͤtig ſind, erfordert ein gleichzeitiges inneres Vermoͤgen oder Faͤhigkeit, unter denſelbigen Umſtaͤnden das Gegen -theil7und Freyheit. theil von demjenigen zu thun, was wir thun, wie man ſich kurz erklaͤren kann. Dieß Vermoͤgen, an - ders thaͤtig zu ſeyn, unſere eigene wirkende Kraft ent - weder aufzuhalten, zu unterbrechen, oder anders wohin zu lenken, beſtehet waͤhrend der ganzen Handlung, wenn dieſe in ihrer ganzen Laͤnge bis zu Ende eine freye Handlung iſt.

Auf einen Augenblick angenommen, daß dieſe Jdee von der Freyheit richtig ſey, ſo fuͤhret ſie ſogleich zu ei - ner wichtigen Folge. Ein freyes, ſeiner ſelbſt maͤchti - ges Weſen, beſitzet immer noch ein phyſiſches reel - les inneres Vermoͤgen mehr, als ein unfreyes, das ſonſten eine Wirkung von gleicher Groͤße hervorbringen kann, wie jenes. Denn die Selbſtmacht uͤber ſich enthaͤlt außer der Kraft, welche auf die hervorgebrachte Wirkung verwendet wird, noch ein anderes Vermoͤ - gen, das jenem gleichſam zur Seite iſt, und ſo viel in - nere Staͤrke beſitzet, als hinreichen wuͤrde, die Thaͤtigkeit des wirkenden Vermoͤgens zu hindern, oder in eine an - dere Richtung zu bringen. Ein freywirkendes We - ſen iſt alſo ein groͤßeres, mehr reelles, mehr poſi - tive Kraft enthaltendes Weſen, als jedes unfreye, das ſonſten die naͤmliche Handlung hervorbringen kann. Es iſt Herr uͤber ſich, ſtaͤrker, als es ſich auslaͤßt, in ſei - nen phyſiſchen Wirkungen, und ergießet ſich nie ganz in derjenigen Aeußerung, in der es hervorgeht; es kann noch etwas anders thun, als es thut, und beſitzet ein poſitives Vermoͤgen zu dem Gegentheil der Handlung zu eben der Zeit in ſich, in der es ſeine Kraft auf die Hand - lung ſelbſt anwendet.

Nicht jede Selbſtthaͤtigkeit iſt zugleich auch eine freye Selbſtthaͤtigkeit. Das Waſſer, welches aus ei - nem Gefaͤße hervorſpringet, und die Springfeder, welche losſchnellet, wenn der Faden, der ſie zuruͤckhielt, zer - ſchnitten wird, wirken durch eine innere Kraft, dieA 4ſchon8XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit. ſchon vorher ein Beſtreben war, und nichts mehr be - durfte, um ſich in Bewegung zu ſetzen, als daß ein aͤuſ - ſeres Hinderniß, welches ihr Beſtreben zuruͤckhielt, aus dem Wege geraͤumet wuͤrde. Die bewegende Aktion erfolgte aus einem innern Princip. Da iſt alſo Spon - taneitaͤt. Aber auch Selbſtmacht uͤber ſich? Jſt auch in der Feder, indem ſie ſich ausdehnet, ein inneres Vermoͤgen vorhanden, ſich aufzuhalten, oder ſich in ſich zuruͤckzuziehen? Jſt in dem herausſpringenden Waſ - ſer eine Kraft, ſich in der Oeffnung feſtzuhalten? Hier ſind bloß phyſiſche Kraͤfte, einſeitige Vermoͤgen, ſo und in der Richtung zu wirken, wie ſie beſtimmt ſind. Woll - te man auch den Druck, der ſich in jedem Waſſertro - pfen nach allen Seiten hin aͤußert, ſo lange ſie noch in dem Gefaͤße verſchloſſen ſind, etwan als ein vielſeitiges Selbſtvermoͤgen anſehen, ſich nach einer jeden Richtung hin zu bewegen, ſo hoͤret doch dieſer Trieb nach andern Richtungen hin in ihnen auf, ſo bald ſie zur Oeffnung herausgehen; oder iſt zum wenigſten kein ſolches Ver - moͤgen, welches ſtark genug waͤre, um ſie von dem We - ge, auf dem ſie fortgetrieben werden, abzulenken, noch weniger ſie mitten in dem Herausſpringen zum Still - ſtand zu bringen.

2.

Da das Vermoͤgen, anders zu handeln, als man handelt, nur bloß Vermoͤgen iſt, das aber nicht an - gewendet wird, und ſeinen Effekt hervorbringet, weil die Handlung ihren Weg gehet, und nicht wirklich ge - hindert oder veraͤndert wird; woher kann man ſich denn ſicher uͤberzeugen, daß ein ſolches Vermoͤgen in uns vor - handen ſey? Der Reuter, der das Pferd in ſeiner Ge - walt hat, glaubet doch mit Ueberzeugung, er koͤnne es von dem Pfade ablenken, auf welchem er es gehen laͤßt, und daß es nur darauf ankomme, daß er die Kraft in ſeiner Hand dazu wirklich anwende, wenn es geſchehenſolle;9und Freyheit. ſolle; aber iſt dieß vielleicht eine Einbildung, ein falſcher Schein von einem Vermoͤgen, das nicht vorhanden iſt?

Jch ſitze jetzo auf einem Stuhle, und glaube, daß ich in dieſem naͤmlichen Augenblicke das Vermoͤgen habe, aufzuſtehen und fortzugehen. Unter dieſem Vermoͤgen verſtehe ich eine gewiſſe poſitive Beſchaffenheit mei - nes Koͤrpers, welche zu dieſer Wirkung erfodert wird, und die ich, um jenes mit Gewißheit zu glauben, nicht beſtimmter noch deutlicher kennen darf. Es hat ſich wohl zuweilen ereignet, daß jemand unter meinen Umſtaͤnden in derſelbigen Meinung geweſen iſt, der aber, als er den Verſuch anſtellen wollte, fand, daß ihm der Fuß ſchlief, und er wirklich zum Fortgehen unvermoͤgend war. Man kann ſich alſo darinnen irren. Kann nicht ein Ge - neſender, der im Bette liegt, ſich ſchon ſtark genug duͤn - ken, in der Stube zu ſpatzieren, und ſich nachher zu ſchwach finden, ſich nur auf den Beinen zu halten? Wie jemand, der in einem Zimmer ohne ſein Wiſſen ver - ſchloſſen iſt, nicht daran zweifelt, daß er nicht herausge - hen koͤnne, wenn es ihm beliebe, da er es doch wirklich nicht vermag, und darinn verbleibet, ohne zu wiſſen, daß er darinnen verbleiben muͤſſe. Bringet einem Menſchen unvermerkt eine Portion Opium bey, ſagt der witzige Verfaſſer, der unter dem Namen des von Joch vor ein Paar Jahren mit dem Herrn Home zu beweiſen verſucht hat, daß die Empfindung unſerer Freyheit truͤg - lich ſey; richtet es alſo ein, daß dieß Opium ſeine ein - ſchlaͤfernde Wirkung zu eben der Zeit aͤußere, in der er gewohnt iſt, ſich zur Ruhe zu begeben, weil ſonſten viel - leicht das Ungewoͤhnliche ſeine Ueberredung ſtoͤren moͤch - te: wie trefflich wird er hintergangen werden. Er wird glauben, es ſey ſeine ganz freye Handlung, wenn er dem Antriebe der Natur nachgiebt, von ſeiner Arbeit ab - bricht und ſich zu Bette leget; er meinet, ſich ſeiner voͤl - lig darinnen maͤchtig zu ſeyn, und es unterlaſſen zu koͤn -A 5nen,10XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitnen, wenn es ihm gefaͤllig waͤre. Aber eine phyſiſche Kraft zwinget ihn, und wenn er wollte, wuͤrde er ſich in dem Wachen nicht erhalten koͤnnen.

Jn ſolchen nur ſeltenen Beyſpielen ſollte eine Kraft liegen, die das Zeugniß der innern Empfindung, das ich von einem Vermoͤgen in mir habe, das Gegentheil von dem thun zu koͤnnen, was ich wirklich verrichte, un - zuverlaͤßig und verwerflich machen koͤnnte? Der optiſche Schein hat mich betrogen, und fuͤr einen ſoliden leben - den Koͤrper anſehen laſſen, was nichts als ein Gemaͤhl - de auf einer Flaͤche war, deswegen ſollte ich nach ver - nuͤnftigen Denkgeſetzen fuͤrchten muͤſſen, daß ich nun auch hintergangen wuͤrde, wenn ich auf dem Tiſche vor mir ein Buch liegen zu ſehen vermeine, ob ich gleich das Zeugniß eines andern Sinnes, des Gefuͤhls, in dieſem Falle noch nicht zur Beſtaͤtigung meiner Meinung zu Huͤlfe genommen habe? Doch ich will den Philoſophen, gegen welche ich hier rede, Gerechtigkeit wiederfahren laſſen. Solche Beyſpiele ſollen nur zeigen, daß die Em - pfindung truͤgen koͤnne; denn daß ſie wirklich durchge - hends truͤge, haben ſie durch andere Gruͤnde, durch ei - ne vermeintliche innere Unmoͤglichkeit in der Sache ſelbſt, die aus metaphyſiſchen Grundſaͤtzen hergeholet wird, er - weiſen wollen. Es wird alſo der Beweis aus der Er - fahrung dadurch noch nicht unthunlich. Berkeley rai - ſonnirte die Wirklichkeit der Koͤrperwelt weg, und dar - auf verwarf er die Ausſage der Empfindung. Ohne Ruͤckſicht auf die Guͤltigkeit oder Unguͤltigkeit ſeiner Spe - kulationen, koͤnnte doch ein Unterſchied zwiſchen wahren und bloß ſcheinbaren Empfindungen gemacht, und jene von dieſen ausgekannt werden. Berkeley kannte ſelbſt dieſen Unterſchied ſo gut, wie irgend jemand. War - um ſollte nicht das Naͤmliche in dem gegenwaͤrtigen Falle geſchehen koͤnnen? Wir ſind ein und das andere mal zu voreilig geweſen, und haben uns durch eine unaͤchte Em -pfindung11und Freyheit. pfindung verleiten laſſen, zu glauben, es ſey ein reelles Vermoͤgen in uns vorhanden, das nicht da war, ſollten wir deswegen nicht in andern Faͤllen es wiſſen koͤnnen, daß wir uns nicht irren, und uns von dem Daſeyn ei - nes ſolchen Vermoͤgens ſo vergewiſſern koͤnnen, als von dem Daſeyn der Koͤrperwelt außer uns? Ob wir denn nun aber nicht nachher dieſe Empfindungskenntniß wie - der aufgeben, und die ſubjektiviſche Wirklichkeit fuͤr ei - nen bloßen Schein erklaͤren muͤſſen, weil die Vernunft uns lehre, daß das objektiviſche Seyn der Sache etwas ungereimtes ſey, das iſt, wie ich ſchon erinnert habe, ei - ne ſpekulativiſche Frage, die uns nicht ſtoͤren muß, wo wir nur vorlaͤufig unterſuchen, ob die Beobachtung uns nicht die Wirklichkeit einer Sache lehre, oder uns ſol - che nur aufbinde?

3.

Es iſt nichts mehr noͤthig, als eine genaue Beob - achtung unſerer ſelbſt in einigen einzelnen Faͤllen, in de - nen wir uns gewiß halten, daß wir frey handeln, um den Gang der Denkkraft zu ſehen, den ſie nimmt, wenn ſie aus dem Gefuͤhle zu dem Gedanken kommt, ſie koͤn - ne anders handeln, als ſie es wirklich thut. Dann of - fenbaren ſich auch zugleich die Urſachen, die ihre Fehl - tritte hierinn veranlaſſen. Jch will es noch bis weiter hin uneroͤrtert laſſen, was es mit dieſem Vermoͤgen zum Gegentheil eigentlich fuͤr eine Beſchaffenheit habe. Ge - nug, es iſt etwas poſitives in dem ſeiner ſelbſt maͤchti - gen Weſen; eine gewiſſe abſolute reelle Beſchaffenheit deſſelben, die mit derjenigen Kraft, welche in Thaͤtigkeit geſetzet iſt und die freye Handlung bewirket, zugleich vorhanden iſt. Wir wiſſen, was ein Vermoͤgen zu den - ken, und ein Vermoͤgen das Nachdenken zu unterbre - chen; ein Vermoͤgen uns zu entſchließen, und ein Ver - moͤgen unſern Entſchluß zu aͤndern; ein Vermoͤgen, die Haͤnde und Fuͤße zu bewegen, und ein anders, ſie wiederzur12XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitzur Ruhe zu bringen und ihre Bewegungen anders wo - hin zu lenken, u. ſ. w. ſagen wolle. Aus dieſen Em - pfindungen iſt in uns ein allgemeiner Begriff von ei - nem Vermoͤgen, von einer Faͤhigkeit und von einer Kraft entſtanden, welcher immer nur ein gemeiner, unaufgeklaͤrter und undeutlicher Begriff ſeyn mag, aber doch ein klarer Begriff iſt, ſo daß wir Vermoͤgen von Unvermoͤgen, Kraft von Schwaͤche, Faͤhigkeit von Un - faͤhigkeit, und Macht von Ohnmacht ſo helle durch das Gefuͤhl unterſcheiden, als das Weiße von dem Schwar - zen durch die Augen.

Wir erhalten die Jdee von einem Vermoͤgen zum Handeln aus der Empfindung, die wir von der Handlung ſelbſt haben. Wir fuͤhlen unſern geſunden Arm auf ei - ne gewiſſe Art; es entſtehet ein Entſchluß, ihn zu be - wegen, ein Antrieb gegen denſelben, eine Bewegung in dem Koͤrper und wiederum neue Gefuͤhle, die darauf folgen. Das Gefuͤhl von dem Zuſtande, der zunaͤchſt vor der Handlung vorhergehet, wird unterſchieden von dem Aktus ſelbſt. Es kam zu jenem etwas hinzu, eine Vorſtellung, eine Empfindung, ein innerer Trieb in der Seele, oder was wir unter der Benennung von Bewegungsgruͤnden befaſſen moͤgen, und da erfolg - te die Thaͤtigkeit, die nicht erfolgte in einem andern Falle, wo der naͤmliche Bewegungsgrund vorhanden war, wo aber an dem dazu erfoderlichen vorhergehenden Zuſtande etwas fehlte, oder wo auch noch ſonſten etwas dazwiſchen kam. Solche Empfindungen lehren uns das bloße unthaͤtige Vermoͤgen von dem wirkenden unter - ſcheiden. Es haͤngen aber die Vorſtellungen von allen unſern Vermoͤgen, ſowohl von denen, die wir eigentlich als koͤrperliche in den Koͤrper hinſetzen, als auch von den uͤbrigen, die wir fuͤr Seelenvermoͤgen halten, an gewiſ - ſen Gefuͤhlen, die in uns in unſerm Jnnern ſich befin - den. Aus Empfindungen nehmen wir den Stoff allerJdeen,13und Freyheit. Jdeen, und aus innern Empfindungen den Stoff zu den Jdeen von den verſchiedenen Arten der Ver - moͤgen. Es giebt alſo innere Gefuͤhle, welche fuͤr uns die Charaktere der Vermoͤgen ſind, an denen wir ihre Gegenwart erkennen, ſo wie die dazu gehoͤrigen Phantasme die Vorſtellungen von ihnen als von abwe - ſenden Gegenſtaͤnden ausmachen.

Das Vermoͤgen zu einer Handlung iſt etwas an ſich vielbefaſſendes. Wenigſtens iſt dieß von ſolchen wohl richtig, die wir kennen, wenn ſie auch beym erſten Blick einfache zu ſeyn ſcheinen. Sie enthalten eine Menge von Beſchaffenheiten, die, wenn es koͤrperliche Vermoͤgen ſind, groͤßtentheils nur ſehr mittelbar in ih - ren Folgen gefuͤhlet werden, und vielleicht wird ein Theil dieſer Folgen gar nicht in einem ſolchen Grade empfun - den, als zum Gewahrnehmen noͤthig iſt. Die Vermoͤ - gen nehmen Groͤßen, Grade und Stufen an. Das eine Vermoͤgen iſt ein groͤßeres Ganzes, als ein anderes. Es gehoͤrt mehr Elaſticitaͤt in dem Koͤrper dazu, Luftſpruͤn - ge machen zu koͤnnen, als ſich gerade auf den Fuͤßen aufzurichten.

Von einer ſolchen vielbefaſſenden Totalempfindung der Folgen nehmen wir aber gemeiniglich nur den her - vorſtechenden Theil heraus, wenn wir ſie bemerken wol - len. Dieſer Theil iſt unſer Merkmal des Ganzen, und wir ſetzen das Ganze in ihm. Das iſt die gewoͤhnliche Regel des Denkens. *)Erſter Verſuch. X. ſ. 1. Th. S. 81-87.

Jſt es denn alſo zu verwundern, daß die Reflexion zuweilen irre, wenn ſie urtheilet, es ſey ein Vermoͤgen in uns vorhanden, wo doch nur ein Theil davon wirk - lich empfunden wird, der zwar gewoͤhnlicher Weiſe, aber nicht allemal, das uͤbrige mit ſich vergeſellſchaftet hat? Wie mancher trauet ſich Seelen-oder Leibeskraͤfte genugzu,14XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitzu, und muß es aus der Probe nachher erlernen, daß ſeine Schultern zu ſchwach ſind? Wenn ein Kranker ſich fuͤr ſtaͤrker haͤlt, als ers iſt, ſo entſtehet der Jrrthum aus der naͤmlichen Quelle.

Jn ſolchen Faͤllen, wo zu dem geſammten vollen Vermoͤgen noch gewiſſe Zuſtaͤnde in dem Koͤrper erfo - dert werden, noch mehr, wo es auch außer demſelben auf gewiſſe Einrichtungen ankommt, da iſt es noch leichter moͤglich, daß dieſes aͤußere Kennzeichen des Ver - moͤgens, von dem, was in unſerm Jnnern das Vermoͤ - gen ſelbſt ausmacht, und was naͤher und unmittelbarer in uns gefuͤhlet wird, getrennet ſeyn kann, ob es ſonſten gleich in den gewoͤhnlichen Faͤllen damit verbunden iſt. Wer es nicht weiß, daß die Thuͤre des Zimmers durch einen Zufall oder mit Vorſatz zugeſchloſſen iſt, glaubet, ſie laſſe ſich wie gewoͤhnlich eroͤffnen, und ſchreibet ſich das Vermoͤgen zu, herausgehen zu koͤnnen, ſo wie er wirklich das Vermoͤgen beſitzet, zu ihr hinzugehen, und die Hand anzulegen. Der Reuter, der in der Meinung iſt, er koͤnne ſein Pferd vom Wege ablenken, wenn er wolle, betruͤget ſich, wenn jemand ihm den Zuͤgel zer - ſchnitten, und die getrennten Enden durch ein wenig Pech wiederum zuſammengeklebet hat, um ihm den Be - trug zu verbergen. Wir fuͤhlen es nicht allemal, wenn wir ſitzen, daß die Nerven in den Lenden gedruckt ſind, und daß der Fuß ſchlafe, aber wir fuͤhlen das uͤbrige, was zu einer freyen Bewegungskraft derſelbigen nach unſern ſonſtigen Erfahrungen erfodert wird, und ſchrei - ben uns alſo das Vermoͤgen zu, von unſerm Sitze weg - gehen zu koͤnnen.

Es iſt alſo klar, daß die falſchen Urtheile aus innern Empfindungen auf die naͤmliche Weiſe und aus der aͤhn - lichen Urſache entſtehen, wie die Fallazen des Geſichts; aber zugleich iſt es auch klar, daß es aͤhnliche Mittel bey jenen giebt, wie bey dieſen, den Erſchleichungen zuvor -zukommen,15und Freyheit. zukommen, und die Erfahrungen zuverlaͤßig zu machen. Die Natur ſiehet bey der Uebung von ſelbſten darauf hin. Sind wir zweifelhaft, ob es ein bloßer Schein oder ein wahrer Gegenſtand iſt, den wir vor Augen ha - ben, ſo beſchauen wir ihn genauer, naͤher, von mehrern Seiten und unter veraͤnderten Umſtaͤnden, wie die Ge - legenheit zu dieſen oder jenen gegeben wird; und beru - higet uns dieſes noch nicht, ſo fragen wir einen andern Sinn, und am gewoͤhnlichſten das Gefuͤhl, durch deſſen Uebereinſtimmung mit dem Geſicht aller Zweifel geho - ben wird. Es iſt die naͤmliche Methode, welche uns die Natur bey den innern Empfindungen gelehret hat. Ob ich wohl wirklich das Vermoͤgen habe aufzuſtehen, da ich ſitze; ob ich wirklich die Reihe meiner Betrachtun - gen, die ich jetzo mit Fleiß verfolge, unterbrechen und mich der gegenwaͤrtigen Vorſtellungen entſchlagen koͤn - ne? Was wuͤrde ich thun, wenn ich daruͤber zweifelhaft waͤre? Mich bemuͤhen, entweder genauer, ſtaͤrker, voͤl - liger meinen jetzigen Zuſtand zu beobachten, und mit demjenigen, den ich unter den Begriffen von ſolchen Ver - moͤgen mir vorſtelle, in deren Beſitz ich zu ſeyn vermei - ne, vergleichen; oder ich wuͤrde den gegenwaͤrtigen Zu - ſtand von mehrern Seiten in ſeinen verſchiedenen be - merkbaren Folgen befuͤhlen. Wenn ich noch zweifelte, ob ich dieß oder jenes in meiner Macht habe, ſo wuͤrde ich den Anfang machen, das Vermoͤgen anzuwenden, und dann darauf achten, ob auch zugleich die Wirkung anfange hervorzugehen? Dieſe letztere Art der Berichti - gung iſt dem Befuͤhlen bey den geſehenen Gegenſtaͤnden aͤhnlich. Es iſt auch das kuͤrzeſte Mittel, um zur Ge - wißheit zu kommen, und wo es in unſerer Gewalt iſt, auch das gewoͤhnlichſte, deſſen wir uns bedienen. Sollte mein Fuß auch jetzo wohl lahm oder ſteif ſeyn? Sollte ich wohl aufſtehen koͤnnen? Jch ziehe ihn an; erprobe das Vermoͤgen; es entſtehet ein Beſtreben, und der Koͤr -per16XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitper faͤngt an, ſich zu richten. Es iſt zum Verſuch in dieſem Falle genug, wenn man es bey dem Anfange der Aktion bewenden laͤßt, und da in gleicher Maaße die Wirkung anfangen ſiehet. Man kehret alsdenn zu der erſten Handlung zuruͤck, von der man wegen des ent - ſtandenen Zweifels, ob man ſich ſeiner bey ihr maͤchtig ſey, abgezogen war, ohne der Abweichung zu dem Ge - gentheile weiter nachzugehen, und ohne die ſie unterbre - chende und veraͤndernde Aktion voͤllig auszufuͤhren.

Die Handlungen, welche wir mit voͤlliger Be - herrſchung unſerer ſelbſt verrichten, und welche zu denen gehoͤren, die am meiſten frey ſind, werden auch wirklich, wie die Erfahrung lehret, durch ſolche dazwi - ſchen tretende kleinere Beſtrebungen, die aus dem Vermoͤgen zu dem Entgegengeſetzten ent - ſpringen, auf Augenblicke unterbrochen und verzoͤ - gert, zuweilen mehr, zuweilen minder. Denn die gleichzeitigen entgegengeſetzten Vermoͤgen ſind oͤfters wirkende Beſtrebungen und fuͤhlbare Antriebe, denen die ihrer ſelbſt maͤchtige Seele entgegenſtreben muß, um ſich in demjenigen Gange der Thaͤtigkeit ohne Zerſtreuung zu erhalten, auf den ſie aus Abſicht ihre Kraͤfte gerichtet hat; wie der Steuermann ein Schiff, das Wind und Wellen von ſeiner Bahn abtreiben wuͤr - den, wenn er nicht ihrem Einfluſſe durch die Richtung des Ruders entgegen arbeitete. Freye Handlungen von ei - niger Laͤnge gehen nicht ſo ununterdrochen in Einer geraden Linie oder in Einer Richtung fort, als die bloß phyſiſchen, in denen die wirkende Kraft nach dem naͤmlichen Geſetze der Thaͤtigkeit in eines fort vom An - fange bis zum Ende hinwirket.

Es liegt alſo nicht in der Natur der Sache, ſondern an unſern Uebereilungen, wenn die Empfindungen von der Selbſtmacht uͤber uns unaͤcht und falſch ſind; ſie koͤnnen zuverlaͤßig ſeyn und werden. Glauben, daßſie17und Freyheit. ſie allemal unzuverlaͤßig ſind, hieße ſo viel, als ber - keleyiſiren.

Es iſt nun unnoͤthig, noch beſonders einzelne Faͤlle von freyen Handlungen anzufuͤhren, in denen ein Ver - moͤgen, anders handeln zu koͤnnen, empfunden wird. Ei - nige ſind ſchon nebenher beygebracht. Auch iſt dieſelbige Handlung, die bey einem Menſchen unter gewiſſen Um - ſtaͤnden eine freye Handlung iſt, nicht allemal eine ſolche bey einem andern. Aber jeder meiner Leſer kann hier, indem er lieſet, bey dieſer ſeiner Handlung ſich fragen, ob er nicht in ſich auf die erwehnte Art ein Vermoͤgen fuͤhle, das Leſen zu unterlaſſen, wenn er gleich fortlieſet? Jch glaube, er leſe mit aller der Kaltbluͤtigkeit, die hiezu erfodert wird. Jede Betrachtung, jede willkuͤhrliche Be - wegung des Koͤrpers, jedes Fortſetzen des Fußes, jeder Griff mit der Hand, jedwede Aktion, die jemand mit voͤllig deutlichem Bewußtſeyn ohne Leidenſchaft, mit ge - ſetztem und gegenwaͤrtigem Geiſte vornimmt, giebt eine Erfahrung ab, die das Geſagte beſtaͤtiget. Wir fuͤh - len und empfinden es, daß wir ein Vermoͤgen haben, das zu unterlaſſen, was wir thun, oder doch es anders zu machen. Wir fuͤhlen einen Zuſtand in uns, der das iſt, was wir unter dem Begriffe von dieſem Vermoͤgen uns vorſtellen, und eben ein ſolcher iſt, wie andere, aus de - nen dieſer Begriff abſtrahirt worden iſt. Noch mehr. Wir koͤnnen uns ſogleich, wenn wir wollen, davon uͤber - zeugen, daß ſo ein Vermoͤgen anders zu handeln gegen - waͤrtig uns beywohne. Laßt es nur anfangen, ſich zu aͤußern, ſo fuͤhlen wir den Anfang ſeiner Wirkungen.

Wir unterſcheiden uͤberdieß die Faͤlle ſehr deutlich von einander, wenn wir einmal durch die zu große Leb - haftigkeit der Jdeen, und durch einen zu ſtarken Drang der Triebe zur Handlung hingeriſſen werden, und ein andermal mit voͤlliger Faſſung und Gewalt uͤber uns ſelbſt etwas ausrichten. Dort verlieren wir die Gegen -II Theil. Bwart18XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitwart des Geiſtes; hier fuͤhlen wir, daß wir die ganze Dauer der Aktion durch zwar zuweilen mit einer ſtarken Kraft und mit Nachdruck wirken; aber doch ſo, daß wir in jedem Momente die Aktion abzubrechen, oder ihr eine andere Richtung zu geben, vermoͤgend ſind. Oft wird der Trieb, mit dem wir handeln, in dem Fortgange der Aktion zu ſtark, und uͤberwaͤltiget uns; aber auch in dieſen Faͤllen laͤßt uns das Selbſtgefuͤhl die Stelle be - merken, wo der Widerſtand noch moͤglich war, von der an aber unſer Vermoͤgen zum Gegentheile immer mehr geſchwaͤcht, und durch die immer zunehmende zur Aktion treibende Kraft heruntergeſetzt oder gebunden ward, daß es in Ohnmacht uͤbergieng. Wir empfinden die allmaͤh - lig abnehmende Beſonnenheit, und fuͤhlen uns auch als - denn noch, wenn wir ſchon ſo weit ſind, daß wir uns dem Strome leidentlich uͤbergeben muͤſſen. Herr von Joch ſtelle einmal den Verſuch mit dem Opium, den er vorgeſchlagen hat, wirklich bey ſich an. Glaubet er, einen nur mittelmaͤßigen Beobachter ſeiner ſelbſt dadurch mehr als hoͤchſtens einmal zu hintergehen? Nicht zwey - mal, kaum das erſtemal, woferne nicht die Umſtaͤnde mit Sorgfalt darnach eingerichtet werden, daß die Re - flexion auf keine Weiſe rege wird, duͤrfte man’s dahin bringen, daß ein Menſch, der Opium bekommen haͤtte, ſich einbilden wuͤrde, es ſtuͤnde in ſeiner Macht, der un - natuͤrlichen und ſtarken Muͤdigkeit zu widerſtehen, der er nachgeben muß. So bald der Saft anfaͤngt, ſeine Wirkungen zu aͤußern, mag er vielleicht noch bey den erſten Anfaͤllen der Schlaͤfrigkeit die Augen offen zu hal - ten im Stande ſeyn, und bis dahin, ſo lange er dieß kann, beſitzet er auch wirklich das Vermoͤgen dazu, und handelt frey, wenn er ſich ergiebt. Aber die Erſtarrung dringet weiter ein. Dann wird ſein Widerſtand ver - geblich, und die Ermunterungskraft im Verhaͤltniß mit der einſchlaͤfernden zu ohnmaͤchtig. Da faͤngt der Zwangan.19und Freyheit. an. Die Selbſtmacht uͤber ſich iſt verlohren. Und ſo wird ihn ſein Selbſtgefuͤhl, wenn er ſich beobachtet, nichts mehr und nichts weniger lehren, als was wirk - lich vorhanden iſt.

III. Von dem Umfange und den Graͤnzen der Frey - heit.

  • 1) Die Freyheit findet ſich bey allen Arten von Kraftaͤußerungen der Seele. Jn wie ferne ſolche dem Willen oder der Aufmerk - ſamkeit ausſchließungsweiſe zugeſchrieben werden koͤnne? Von der Willkuͤhr.
  • 2) Die menſchliche Freyheit iſt eingeſchraͤnkt, ſowohl in Hinſicht der innern Groͤße, als ihrer Ausdehnung.

1.

Aus Erfahrungen iſt es alſo außer Zweifel, daß die menſchliche Seele Selbſtmacht uͤber ſich beſitze. Aber wie weit erſtreckt ſich ſelbige, und welches ſind ihre Schranken?

Die Beobachtung lehret uns, daß es ſo vielerley Arten freyer Thaͤtigkeiten der Seele gebe, als man uͤberhaupt wirkende Kraftaͤußerungen in ihr unter - ſcheiden kann; diejenige etwan abgerechnet, welche man zu ihrer leidenden Receptivitaͤt gewoͤhnlicher Weiſe hin - rechnet, womit ſie Eindruͤcke von außen und andere vor - handene Modifikationen in ſich fuͤhlet und empfindet. Jn einer Reihe von Vorſtellungen und Gedanken, die die Arbeit des Nachdenkens ausmachen, kann ich eben ſowohl abbrechen, und entweder die angeſtrengte Kraft zuruͤckziehen, oder anders wohin lenken, als es in mei -B 2ner20XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitner Gewalt iſt, im Spazierengehen ſtill zu ſtehen, oder einen andern Weg zu nehmen. Unter unſern Vorſtel - lungs - und Denkthaͤtigkeiten giebt es ſolche, uͤber die wir unmittelbar Herr ſind, ſowohl als unter den Aeuße - rungen der thaͤtigen Kraft, welche neue Modifikationen in uns und außer uns hervorbringet.

Einige Philoſophen haben die Freyheit auf den Willen eingeſchraͤnkt; andere laſſen auch der Erkennt - nißkraft dieſe Beſchaffenheit; und einige haben noch ge - nauer die Stelle in der Seele angegeben, wo ſie ſitzen ſolle, da ſie nur allein das Vermoͤgen aufmerkſam zu ſeyn, das iſt, das Vermoͤgen, die vorſtellende und denkende Kraft auf einen Gegenſtand hinzuwenden, fuͤr ein freyes Vermoͤgen erklaͤren, und es die Willkuͤhr nennen. Dieß letztere heißt ſo viel, als die Freyheit in dasjenige Vermoͤgen hinſetzen, welches an der Spitze aller uͤbrigen ſtehet, womit die Seele ein Objekt bear - beitet. Denn ſie richtet zuvoͤrderſt ihr Gefuͤhl und vor - ſtellende Kraft darauf, und hierauf entſtehet ein Ein - druck, eine Vorſtellung, und eine Jdee von der Sache: dann folget ein Gefallen oder Mißfallen, und dieſe Af - fektion reizet die begehrende Kraft zu einer Neigung auf das Objekt, oder zum Widerwillen gegen daſ - ſelbe.

Wenn es darauf ankommt, ſyſtemmaͤßig ſich aus - zudruͤcken, ſo kann jedwede dieſer beiden Behauptungen vertheidiget werden, je nachdem man die Erklaͤrungen der Worte, und die kuͤnſtlichen Klaſſifikationen der See - lenvermoͤgen einrichtet. Wer ſo, wie Herr Search, alle Selbſtbeſtimmungen, alle Beſtrebungen, Thaͤtigkei - ten und Handlungen, das iſt, alles, was eine Aeuße - rung der wirkſamen Kraft der Seele iſt, fuͤr eine Wir - kung des Willens erklaͤret, hat ohne Streit nicht un - recht, wenn er die Freyheit allein dem Willen beyleget, und dem Verſtande abſpricht. Denn bey dieſer Abthei -lung21und Freyheit. lung wird der Verſtand bloß auf die Receptivitaͤt und auf das Gefuͤhl eingeſchraͤnket, worinn, als in einem paſſiven Vermoͤgen, kein Vermoͤgen ſich anders zu be - ſtimmen ſtatt finden kann. Es laͤßt ſich ebenfalls vieles zur Behauptung der zwoten Meinung ſagen. Alles kommt darauf an, wie man ſich erklaͤret, und in der Anwendung auf einzelne Thaͤtigkeiten verſtanden ſeyn wolle, wie aus dem Folgenden erhellen wird.

Ueberhaupt die Sache betrachtet, ſo kann man ſich allenthalben eine Selbſtmacht uͤber ſich in der Seele vorſtellen, wo ſie mit ihrer Selbſtthaͤtigkeit arbeitet; ſie beſchaͤftige ſich als Erkenntnißkraft, ſie mache Vor - ſtellungen, ſie erwecke ſie wieder, ſie verbinde ſie, ſie trenne ſie; oder ſie bearbeite ſolche als Denkkraft, ſie urtheile, ſie uͤberlege, ſie ſchließe; oder endlich ſie wirke mit ihrer Aktivitaͤt, ſie bewege den Koͤrper und ihre Sinnglieder, oder ſie modificire ſich ſelbſt. Wo ſie in ſelbſtthaͤtigen Aeußerungen von Schritt zu Schritt fortgehet, da laͤßt ſich, bey allen dieſen Uebergaͤngen von der Thaͤtigkeit in dem vorhergehenden Augenblick zu der in dem naͤchſt folgenden, es als moͤglich vorſtellen, daß ſie ſich in ihrer Gewalt habe, und in jedwedem Moment ſich zum Stillſtande bringen, oder anderswohin wenden koͤnne. So lehren es auch die Beobachtungen. Jn allen dieſen verſchiedenartigen Verrichtungen zeiget ſich die Seele hie oder da als eine ihrer ſelbſt maͤchtige Kraft. Die Sphaͤre der Selbſtmacht uͤber ſich gehet alſo ſo weit heraus, als die Sphaͤre der thaͤtigen Kraft der Seele.

Allein weit gefehlt iſt es dennoch, daß die Seele in allen und jeden Momenten, die in der ganzen Dauer einer jeden unterſcheidbaren einzelnen Handlung, und auch in der einfachſten, angenommen, in den zu - ſammengeſetzten aber beobachtet werden koͤnnen, wirk - lich frey handeln ſollte. Die freyeſten Handlungen ſindB 3es22XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeites nur in Hinſicht ihrer weſentlichſten Punkte, von denen die ganze Aktion abgehangen hat. Sie werden beurtheilt und benennt nach dieſem wichtigſten Theile; und man hat, um dieſe Beurtheilung zu er - leichtern, die bekannte Unterſcheidung unter ſolchen Handlungen, die unmittelbar frey ſind, und ſolchen, die es nur mittelbar ſind, eingefuͤhrt. Von jenen iſt hier aber allein die Rede, als ſolchen, die nur im ei - gentlichen Verſtande freye Handlungen ſind. Zuwei - len iſt nur der erſte Anſatz zur Aktion eine freye Thaͤtig - keit; in allen folgenden kann ſich die Seelenkraft mit ſolcher Staͤrke ergoſſen haben, oder mit ſolcher Gewalt fortgetrieben worden ſeyn, daß es ihr unmoͤglich war ſich zu halten, wie ein Menſch, der vom Berge herun - ter laͤuft, am Ende mehr durch die Kraft der vorher - gehenden Bewegung fortgeriſſen wird, als ſelbſt noch fortgehet. Oft finden ſich mehrere ſolcher frey fortge - ſetzten Schritte auf demſelbigen Wege, die hie und da zwiſchen den uͤbrigen zerſtreuet ſind, und mit den un - freyen Fortgaͤngen abwechſeln, wozu die innere Natur, und die zunaͤchſt vorhergehenden Umſtaͤnde ſie unwider - ſtehlich fortreißen. Jch ſetze mich zum Nachdenken hin, das iſt eine freye Handlung; es entſtehen Verbindun - gen der Begriffe, Urtheile, fortgezogene Schluͤſſe. Da ſind Reihen von wiedererweckten Jdeen, die ſo ſchnell eine auf die andere folgen, daß man uͤberraſchet und unvermoͤgend wird, dazwiſchen zu kommen, oder den Faden zu zerſchneiden, und nur allein bey irgend einem merklichen Abſatze abbrechen kann. Aber dage - gen giebt es ſo viele Stellen, die in der Empfindung deutlich genug erkannt werden koͤnnen, wo man es fuͤh - let, daß ein neuer Anſatz der Kraft, oder eine ſtaͤrkere Jntenſion des vorigen Beſtrebens erfodert wird, wie bey einem Menſchen, der in die Hoͤhe ſteiget. Und an dieſen Stellen, und bey dieſen Schritten fuͤhlet die Seeleſich23und Freyheit. ſich ihrer maͤchtig. Da kann ſie abbrechen, oder ſich anders wohin wenden.

Man mache die Neubegierde eines Menſchen auf eine Seltenheit rege, die man ihm vorzeigen will, wie der Taſchenſpieler ſeine Zuſchauer. Das Auge wendet ſich nach der Stelle hin, wo es das Objekt erwartet; man empfindet, machet eine Jdee; dieſe afficirt das Gemuͤth, und die Gemuͤthsbewegung ſpannet wiederum die thaͤtige Kraft, entweder nur dazu, daß wir noch ge - nauer und beſſer zuſehn, oder auch dazu, daß wir uns zu einer Handlung in Hinſicht des Objekts beſtimmen. Jn dieſen und in unzaͤhlig aͤhnlichen Faͤllen erfolget die Richtung des Sinngliedes und der Aufmerkſamkeit, die Empfindung, die Jdee, die Gemuͤthsbewegung und die Neigung mit ſolcher Schnelligkeit eins auf das andere, daß, wenn die Seele bey dem erſten Anfange nicht ihrer ſelbſt maͤchtig war, ſie es nachher gewiß auch nicht geweſen iſt. Jeder Eindruck wuͤrde ſich auf eine Seele, die, voͤllig leer von allen Vorſtellungen und Fer - tigkeiten, ſich gegen ihn eroͤffnet haͤtte, auf die naͤmliche Art ergießen, und in ſie bis in ihr Jnnerſtes eindrin - gen. Solche Faͤlle ſind es, worauf man die vorher - erwehnte Lehre von der bloß auf das Aufmerkſamkeits - vermoͤgen eingeſchraͤnkten Selbſtmacht gegruͤndet hat. Aber wie viele andere Beobachtungen freyer Thaͤtigkei - ten giebt es nicht noch, die man mit dieſen haͤtte verglei - chen ſollen. Und dann haͤtte man die Freyheit wol nicht eben in dieſen Winkel der Seele eingeklemmt.

Wie, wenn ich z. B. nun den geſehenen Gegen - ſtand vom neuen genauer anſchaue, wenn ich ihn von mehrern Seiten betrachte, daruͤber reflektire, ihn mit andern vergleiche, ſein Gutes und ſein Boͤſes erwaͤge und abzaͤhle, und dann, wann ich ihn zu beſitzen wuͤn - ſche, ihn zu erhandeln ſuche, und zu dieſer Abſicht ge - wiſſe Woͤrter hervorbringe, Geld aus dem Beutel ziehe,B 4und24XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitund ihn zu mir nehme: kann man ſagen, dieſe ganze Reihe von Verſtandes - und Willensaͤußerungen werde nothwendig von der erſten Verwendung der Aufmerk - ſamkeit auf die Sache nach ſich gezogen, ſo daß die Seele keine dieſer nachfolgenden Schritte mit Selbſt - macht uͤber ſich unternommen habe? Dieß iſt wider alle Empfindung.

Vielleicht kann man ſich helfen. Die ganze zuſam - mengeſetzte Reihe mag vielleicht aus lauter einzelnen Theilen beſtehen, deren jeder fuͤr ſich eine ſolche Reihe iſt, die von der Aufmerkſamkeit anfaͤngt, und bey die - ſem Anfangspunkte frey iſt, aber in den folgenden nicht mehr. Jch fange an, uͤber die geſehene Sache nach - zudenken. Da beſtehet der erſte Schritt in einer Hin - lenkung der Denkkraft auf den Gegenſtand; und auf dieſen erfolgen Urtheil, Affektion und dann Spannung der thaͤtigen Kraft, oder Selbſtbeſtimmung, Wollen. Dieß iſt eine einfache Reihe, wo die Selbſtmacht der Seele uͤber ſich nur bey dem Anfange allein ſtatt finden kann. Auf eine aͤhnliche Art verhaͤlt ſichs vielleicht in den folgenden Theilen der ganzen Aktion. Jch bringe meine Hand zu dem Geldbeutel. Es entſtehet eine Em - pfindung, die gefaͤllt, und vom neuen die Kraft der Hand zur Fortſetzung ihrer Verrichtung ſpannet. Alſo ſind auch hier die einzelnen Aktionen als Theile des Ganzen von der naͤmlichen Art.

Gegen dieſe Applikation des Satzes, daß nur Freyheit ſtatt findet, wo die Seele aufmerkſam wird, wuͤrde ich nicht viel einwenden. So iſt es. Wenn die ſelbſt - thaͤtige Kraft der Seele auf einen Gegenſtand ſich be - ſtimmet, ſo iſt ein Anfang der Aktion da. Dieſe hat eine Empfindung, oder die Vorſtellung, oder die Jdee zur Folge, welche auf das Gemuͤth wirket, und eine Affektion hervorbringet, welche wiederum die Thaͤtigkeit reizet. Jn den letztern Modifikationen, welche Folgenjenes25und Freyheit. jenes erſten Beſtrebens der thaͤtigen Kraft ſind, iſt die Seele leidend, und hat alſo auch hiebey keine Selbſt - macht uͤber ſich. Aber da, wo dieſe Reihe an eine aͤhn - liche nachfolgende anſchließt; wo Anſtrengung, neues Beſtreben, oder auch nur eine Fortſetzung der erſten Jn - tenſion erfodert wird, da iſt wiederum eine Stelle, wo die Seele mit Selbſtmacht uͤber ſich handeln kann. Jch ſage, wo ſie es kann, denn in den wenigſten Faͤl - len beſitzet ſie ſolche. Wo keine Aeußerung der Selbſt - thaͤtigkeit iſt, da iſt keine Freyheit. Aber nicht allemal, leider nur in den wenigſten Faͤllen, iſt dieſe da, wo je - ne iſt.

Zugleich aber iſt es nun auch offenbar, was ich vorher vermuthet hatte, daß man eine jede Beſtim - mung der ſelbſtthaͤtigen Kraft zur Aktion, eine Anwen - dung der Aufmerkſamkeit genennt wiſſen wollen. So muß man zum mindeſten ſich erklaͤren, woferne man mit der Erfahrung auskommen will.

2.

Dieß iſt nun die Beſchraͤnkung der menſchlichen Freyheit von einer Seite, in ihrer Ausdehnung naͤm - lich. Sie iſt es auch in Hinſicht auf die Jntenſion, da die ihrer ſelbſtmaͤchtige Kraft, welche handelt, ge - ringe iſt; und ſie iſt ſchwach, in ſo ferne auf das Ver - moͤgen zu dem Gegentheil geſehen wird. Ein großer Vortheil wird dem Kaufmanne angeboten. Sein Ent - ſchluß bleibet frey; denn er beſitzet das Vermoͤgen, ſich anders zu beſtimmen, und den Handel zu unterlaſſen. Aber er mache den Verſuch einmal, und er wird finden, daß es ihm ungemein ſchwer werde, ſeiner Begierde zum Gewinn zu widerſtehen. Wir haben noch oft das Vermoͤgen zu dem Entgegengeſetzten; aber es iſt keine Fertigkeit, mit der wir leicht und geſchwind den Effekt hervorbringen koͤnnten. Es haͤtte oft einen ſchwerenB 5Kampf26XII. Verſuch. Ueber die SelbſtthaͤtigkeitKampf gekoſtet, wenn wir einen Gebrauch von dieſem Vermoͤgen haͤtten machen wollen. Wer unterſcheidet alle hier wirklich vorkommende Stufen der Schwaͤche, und wie leicht iſt ſogar der Punkt verfehlet, wo die Schwierigkeit anders zu handeln in eine Unmoͤg - lichkeit uͤbergehet? Eine voͤllige Selbſtmacht uͤber ſich wuͤrde nur da ſtatt finden, wo das gleichzeitige Ver - moͤgen zu dem Entgegengeſetzten in der Seele eine ſolche Staͤrke beſitzet, daß es eben ſo leicht iſt, die wirkliche Aktion zu unterlaſſen, als ſie vorzunehmen, oder gleich leicht, ſie anders einzurichten, als ſie ſo zu laſſen wie ſie iſt. Vergleicht man die beyden Vermoͤgen zum Thun und zum Laſſen, als bloße Vermoͤgen mit einander, ſo kann das letztere groͤßer ſeyn, als das erſtere. Es iſt leichter, auf dem Wege den Berg hinauf umzukeh - ren, als weiter fortzugehen. Aber man muß das wir - kende Vermoͤgen in ſeiner Wirkſamkeit betrachten, ſo wie die Bewegungsgruͤnde darauf wirken, und das Ver - moͤgen zum Gegentheile ſoll ſtark genug ſeyn, jenes in ſeiner Wirkſamkeit aufzuhalten, oder anders wohin zu lenken.

IV. Das Maß der Freyheit.

Man kann die Selbſtmacht uͤber ſich in einzel - nen Handlungen von einer zwiefachen Seite an - ſehen, und ihre Groͤße auf eine zwiefache Weiſe be - ſtimmen. Es iſt eine thaͤtige Kraft da, welche handelt, und zugleich ein Vermoͤgen zu dem Gegentheile. Die Summe von beiden zuſammen machet die ganze reelle phyſiſche Groͤße der freyen Kraft in dem handelnden Weſen aus, in ſo ferne ſich ſolche auf die verrichtete Handlung beziehet. Dieß iſt ihre abſolute Groͤße, nach welcher die innere Groͤße des freyen ſelbſtthaͤtigen Weſens beſtimmet wird.

Der27und Freyheit.

Der Moraliſt, der die Groͤße der Moralitaͤt, oder den Grad der Guͤte und der Boͤßheit in der freyen Aktion, das iſt, die Staͤrke, womit die handelnde Kraft nach der Richtung hin beſtimmt geweſen ſeyn muß, in der ſie gewirket hat, um eine ſolche Aktion zu bewirken, als erfolget iſt, nur einiger Maßen ſchaͤtzen will, muß doch auch auf beides zugleich, naͤmlich ſowohl auf die thaͤtige Kraft ſelbſt, als auf das Vermoͤgen zu dem Gegentheil, Ruͤckſicht nehmen. Sonſt faͤllt die Schaͤtzung mangelhaft aus. Von einem eigentlichen Meſſen laͤßt ſich nichts ſagen, da ſolches zur Zeit bey den Seelengroͤßen nicht moͤglich iſt. Ein Weſen, wel - ches aus innerer Naturnothwendigkeit Gutes wirket, welch eine vortreffliche Natur beſitzet es nicht? Aber dieſe Naturguͤte iſt doch keine freye Guͤte, und ein freyes Weſen, das eine gleiche Kraft zum Guten be - ſitzet, wie jenes, hat doch noch mehr innere Guͤte, und iſt ein groͤßeres Weſen, weil es mit einer groͤßern innern Kraft wirket, die auch Boͤſes zu thun das Ver - moͤgen hat, und ihrer ſelbſt maͤchtig iſt, auch dann, wann ſie Gutes thut. Die nothwendige Guͤte bey dem Menſchen, ſeine Natur - und Temperamentsguͤte, hat noch einen deſto wenigern Werth, weil ſie nicht ganz in einem reellen Grade der innern Selbſtthaͤtigkeit der Seele beſtehet, ſondern zum Theil nur in dem Koͤrper ihren Sitz hat, zum Theil auch wahre Schwaͤche und Ohnmacht iſt. Die allerbeſte menſchliche Tugend iſt freylich immer in einigem Grade abhaͤngig vom Koͤrper, aber je mehr ſie doch wahre Tugend iſt, deſto weniger iſt ſie es, und deſto mehr iſt ſie eine Realitaͤt des innern Menſchen, und Staͤrke in der ſelbſtthaͤtigen Seele.

Dagegen vermindert auch die Fertigkeit im Guten an ſich den moraliſchen Werth der Handlung nicht. Die Leichtigkeit gut zu handeln iſt ein Beweis, daß das auf das Gute und Rechtſchaffene gerichtete Vermoͤgenmit28XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitmit einer großen Jntenſion wirket. Aber es folget daraus nicht, daß das entgegengeſetzte Vermoͤgen ſehr ſchwach ſeyn muͤſſe; nicht einmal iſt es nothwendig, daß es in Vergleichung mit jenem geringe ſey, ob es gleich bey den menſchlichen Fertigkeiten wohl ſo iſt. Noch weniger folget alſo, daß die geſammte handelnde Kraft ſchwaͤcher ſey, fuͤr ſich nach ſeiner abſoluten Groͤße ge - ſchaͤtzet, als da, wo die Fertigkeit im Guten fehlet. Sollte der Erwachſene in der Tugend nicht noch eben die Geſchicklichkeit beſitzen Boͤſes zu thun, welche er vorher beſaß, da er mit den Verſuchungen noch kaͤmpfen mußte? Jene Geſchicklichkeit kann jetzo noch groͤßer ſeyn, als ſie vorher war, unerachtet ſie ſich jetzo nicht reget. Er wirket mit einer moraliſchen Kraft, die doch wenigſtens an der einen Seite, in ſo ferne ſie aufs Gute gehet, groͤßer iſt, als bey dem ſchwachen Anfaͤnger, wenn ſie nicht auch an der entgegengeſetzten zugleich es iſt, wie ſie doch ſeyn kann. Aber auch angenommen, daß die innere Seelengeſchicklichkeit zum Boͤſen, alles das zuſammen genommen, was dazu gehoͤret, durch die lange Uebung im Guten in etwas geſchwaͤcht worden ſey, weil ſie durch den Gebrauch nicht geſtaͤrkt worden iſt, ſo folgt dennoch nicht, daß der Zuwachs an Selbſt - thaͤtigkeit an der andern Seite nicht die Abnahme an der entgegenſtehenden uͤbertreffen koͤnne. Und dann wuͤrde doch noch die Fertigkeit im Guten eine wahre Seelen - groͤße ſeyn.

Es kann aber auch zweytens die Groͤße der Selbſt - gewalt uͤber ſich, beziehungsweiſe geſchaͤtzet wer - den, in ſo ferne ſie naͤmlich eine Selbſtmacht uͤber ſich iſt, in ſenſu diuiſo, wie die Alten geſagt haben wuͤrden, nicht in ſo ferne ſie eine Kraft iſt, welche Selbſt - macht beſitzet, in ſenſu compoſito, wie ich ſie vorher betrachtet habe. Alsdenn haͤnget ihre Groͤße nicht ab von den abſoluten Groͤßen der beiden entgegengeſetz -ten29und Freyheit. ten Vermoͤgen zu handeln, und die Handlung zu unter - laſſen, ſondern von ihrem Verhaͤltniſſe gegen einander; und ſie iſt deſto groͤßer, je groͤßer das Vermoͤgen zum Gegentheil in Beziehung auf das Vermoͤ - gen iſt, welches ſich wirklich aͤußert. Die Tu - gend, welche im Kampfe gegen Leidenſchaften und Ver - ſuchungen unterlieget, kann noch mehr werth ſeyn, und unſere Achtung und Mitleiden fuͤr ſie beweiſet es, daß wir ihren Werth empfinden, als die ſchwache Tugend, die nur da thaͤtig iſt, wo das Vermoͤgen zum Boͤſen ge - ringe iſt. Die wirkende Kraft, die von einer ſtaͤrkern uͤberwunden wird, kann wohl viel mehr innere Staͤrke beſitzen, als die, welche uͤber eine ſchwaͤchere den Sieg erhaͤlt. Man ſchließe alſo nicht, daß lebhafte Perſo - nen, die ſo oft von ihrer Leidenſchaft hingeriſſen werden, ein ſchwaͤcheres Vermoͤgen, ſich zu beherrſchen, beſitzen muͤſſen, als die Temperamentsweiſen, die immer bey ſich ſelbſt ſind, und ſich faſſen, weil ſie zu wenig em - pfindſam ſind, um in ſtarke Bewegung geſetzt zu wer - den. Aber dennoch iſt diejenige Kraft immer noch ed - ler und groͤßer, die auch ſtaͤrkere Triebe beſiegen kann.

Dieſe relative Groͤße der Freyheit, die Leich - tigkeit ſich zum Gegentheile zu beſtimmen, die von dem Verhaͤltniß der beiden Vermoͤgen zu der Handlung und zu ihrem Gegentheil entſpringet, macht eigentlich die innere Unabhaͤngigkeit aus, ſowohl von den aͤußern Dingen, die einen Einfluß in die Handlung haben, als auch von den innern Modifikationen, die dazu reizen und bewegen. Je weniger dieſe auf die thaͤtige Kraft einen beſtimmenden Einfluß haben, deſto weniger wird die letztere mit Gewalt zu der Handlung fortgetrieben; deſto gleichguͤltiger iſt die Handlung, und deſto ehe kann ſie unterlaſſen, oder anders eingerichtet werden. Hiezu wird nicht allemal ein gleich großes Vermoͤgen erfodert. Wenn die Wage mit einem geringen Uebergewicht aneiner30XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeiteiner Seite herunter ſteiget, ſo bedarf es auch nur eines kleinen Gegengewichts an der entgegengeſetzten, um ſie zuruͤckzuhalten, und wieder in die Hoͤhe zu bringen. Doch bitte ich, dieß Gleichniß nicht uͤber ſeine Abſicht auszudehnen.

Die Unabhaͤngigkeit iſt zur Freyheit erfoderlich. Aber ſie iſt nur eine Beſchaffenheit der freyen Kraft. Nach der Groͤße von jener kann wohl die Freyheit als Freyheit, aber nicht die ganze Groͤße der freywir - kenden Kraft geſchaͤtzt werden. Die unabhaͤngige Kraft kann eine auf wenige Handlungen und zu ſchwa - chen Aeußerungen aufgelegte Kraft ſeyn. Jch will nicht ſagen, daß dieſe Anmerkung ſehr viel auf ſich habe, aber mich deucht doch, daß ſie von verſchiedenen nicht genug in Betracht gezogen wird, wenn ſie die Groͤße der Frey - heit in dem unkultivirten Zuſtande wilder Voͤlker mit der Freyheit des Buͤrgers in den polizirten Nationen zu ver - gleichen ſuchen. Der Wilde iſt von Geſetzen und Men - ſchen unabhaͤngiger, als der Kultivirte. Das mag ſeyn. Aber beſitzet er uͤberhaupt ſo viele freywirkende Vermoͤ - gen in Hinficht auf andere Menſchen zu handeln, die aus der Geſellſchaft entſpringen, als in polizirten Staaten, wo die Verbindungen und Beziehungen der Menſchen mit und auf Menſchen verwickelter ſind, und alſo meh - rere und mannigfaltigere Vermoͤgen außer ſich in Hin - ſicht auf andere zu handeln entwickelt werden? Man muͤßte wenigſtens, um die Vergleichung richtig anzu - ſtellen, zuerſt feſt ſetzen, wie viele und wie große aͤußere Handlungen das ſind, uͤber die der Buͤrger der einge - richteten Geſellſchaften Herr iſt, und dieſe mit der gan - zen Groͤße und Menge derer, woruͤber er es iſt außer der Geſellſchaft und in dem Stande der Wildheit, verglei - chen. Was hilfts ihm, wenn er hier Herr uͤber alle iſt; aber nur wenige beſitzt? Vielleicht iſt er ein unabhaͤngi -ger31und Freyheit. ger Bettler, der uͤberhaupt weniger durch Geſetze ver - pflichtet iſt, weil er weniger Vermoͤgen hat.

V. Wie die Freyheit ſich auf die Vernunft beziehet.

  • 1) Das Vermoͤgen zu dem Gegentheile deſſen, was wir wirklich vornehmen, iſt noch naͤher zu unterſuchen.
  • 2) Wie die Freyheit ſich auf die Vernunft be - ziehe nach den Wolfiſchen Jdeen.
  • 3) Jede Handlung iſt eine freye Handlung, in der eine deutliche Vorſtellung von der Hand - lung und von dem Objekt die wirkende Kraft beſtimmet. Von der moraliſchen Nothwendigkeit.
  • 4) Aber die Handlung kann auch frey ſeyn, wenn gleich die Kraft von einer nicht deut - lichen Vorſtellung oder Empfindung beſtim - met wird. Der Zuſtand der Befinnung iſt allemal erfoderlich, wenn die Seele frey handeln ſoll.

1.

Die bisherigen Bemerkungen koͤnnten gemachtwerden, ohne die Freyheit noch weiter, als von ihrer Auſ - ſenſeite anzuſehen. Sie ſtellet ſich dar, ich wiederhole es mit Fleiß noch einmal, als ein Vermoͤgen, auf ei - ne andere Art thaͤtig zu ſeyn, als wir es ſind, das zugleich in uns vorhanden iſt, indem wir unſere Kraft anwenden. Worinn dasjenige auch beſtehen mag, was wir die Bewegungsgruͤnde nennen, die Reize und Veranlaſſungen von innen und außen, die ſich mit demVermoͤ -32XII. Verſuch. Ueber die SelbſtthaͤtigkeitVermoͤgen zu handeln in uns verbinden, und dieſe zu thaͤtigen lebendigen Kraͤften machen, ſo ſoll doch da, wo die Handlung frey iſt, noch in unſerm Jnnern ein Vermoͤgen zuruͤck ſeyn, den bewegenden Gruͤnden zu widerſtehen, die wirkende Kraft außer Thaͤtigkeit zu ſetzen, oder in eine andere Richtung zu bringen. Dieß iſt die Jdee von der Freyheit, welche das Gefuͤhl der - ſelben unmittelbar uns vorhaͤlt.

Aber worinn beſtehet das Vermoͤgen zu dem Gegentheile, dieß unthaͤtige, todte Vermoͤgen, wel - ches bloßes Vermoͤgen bleibet, und nicht wirket, naͤmlich nicht dasjenige wirket in Hinſicht auf das Ver - moͤgen, womit wir die Handlung vornehmen, was es auf ſolches wirken kann, in ſeiner Wirkſamkeit es nicht ſtoͤret, noch anders beſtimmet? Jn anderer Hinſicht hat dieß gleichzeitige Vermoͤgen zum Gegentheile aller - dings ſeine Folgen und Wirkungen in jeder freyen Hand - lung, wie ich oben ſchon einmal erinnert habe, und es in der Folge noch deutlicher entwickeln will. Denn in der freyen Handlung iſt ein Charakter von der Frey - heit, mit der die Urſache gewirket hat ein Zeichen von der wirklichen Gegenwart des Vermoͤgens, ſich auf eine entgegenſtehende Art beſtimmen zu koͤnnen.

Um einen Verſuch zu machen, wie weit die Natur dieſes Vermoͤgens ſich deutlicher entwickeln laſſe, will ich auf dem bisherigen Wege den Beobachtungen nach - gehen.

2.

Die Erfahrung lehret, daß Freyheit mit der Ver - nunft oder der hoͤhern Denkkraft in Verbindung ſtehe. Das vernunftloſe Thier iſt kein freyhandelndes Weſen, wenn man ihm gleich eine Willkuͤhr, ein Analogon von menſchlicher Freyheit in eben dem Sinne, wie ein Analogon der Vernunft zuſchreiben kann. Kinder,Bloͤdſin -33und Freyheit. Bloͤdſinnige, Schlafende, Nachtwanderer, Betrun - kene und alle ſolche, bey denen die Vernunft alsdenn, wenn ſie etwas unternehmen, ſich nicht wirkſam bewei - ſet, ſind auch ihrer ſelbſt bey ſolchen Handlungen nicht maͤchtig. So wie die Vernunft in dem Kinde, und in dem Juͤnglinge ſich erhebt, ſo waͤchſet auch ſeine Ge - walt uͤber ſich, und ſeine Freyheit.

Ueberhaupt iſt es ein allgemeiner Erfahrungsſatz: Wenn und wo es unmoͤglich iſt, die gegenwaͤrtigen Vorſtellungen, die unſere thaͤtige Kraft leiten oder be - ſtimmen, ſelbſtthaͤtig zu bearbeiten, aus einander zu ſetzen, zu vergleichen und daruͤber zu reflektiren; dann und da beſitzen wir auch keine Freyheit. Und alles dasjenige, wodurch jenes Vermoͤgen der Denkkraft bey einzelnen Handlungen geſchwaͤcht oder aufgehoben wird, benimmt uns in der gleichen Maße die Gegenwart des Geiſtes, bringet uns, wie wir ſagen, aus unſe - rer Faſſung, ſchwaͤchet die Selbſtmacht uͤber uns, oder hebet ſie auf.

Jn der Wolfiſchen Seelenlehre wird die Freyheit als eine nothwendige Folge der Vernunft angeſe - hen. Ein vernuͤnftiges Weſen kann ſich deutliche Be - griffe machen, und da es ſich nach ſeinen Vorſtellungen zur Handlung beſtimmet, ſo kann es ſich auch nach deutlichen Begriffen beſtimmen. Dieß Vermoͤ - gen, ſich nach deutlichen Begriffen zu beſtim - men, iſt die Freyheit nach der Wolfiſchen Erklaͤrung. Alſo iſt Freyheit eine weſentliche Folge und Wirkung vom Verſtande und Vernunft.

Eine ſolche Abſtammung der Freyheit von der Ver - nunft kann man nun freilich aus ihren Begriffen nicht beweiſen, wenn die obige Jdee von der Freyheit zum Grunde gelegt wird, die wir zunaͤchſt aus den Erfah - rungen erlangen. Ob der Wolfiſche Begriff einerleyII Theil. Cmit34XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitmit dieſem ſey, oder eine Folge davon, oder nur eine einſeitige Vorſtellung ihres Gegenſtandes, das iſt vor - her zu unterſuchen, ehe man es bey ihr bewenden laͤſſet. Und dieß gruͤndlich zu unterſuchen, heißt ſo viel, als die ganze Beziehung der Freyheit auf das Vermoͤgen deut - liche Vorſtellungen zu haben, aufzuſuchen. Moͤgen doch die leidenden, afficirenden und bewegenden Vorſtel - lungen bis zum hoͤchſten Grade entwickelt ſeyn; folget es, daß, wenn ſie die Thaͤtigkeitskraft beſtimmen, ſie ſol - che nicht eben ſo hinreißend und maͤchtig beſtimmen koͤn - nen, als eine ſtaͤrkere Empfindung, oder eine ſinnlich verwirrte Vorſtellung unſrer groͤbern Sinne? Koͤnnen nicht die entwickeltſten Jdeen ſo uͤberwaͤltigend ſeyn, daß alles Widerſtehen unmoͤglich wird? Aber die von Wolfen ſo ſorgfaͤltig aufgeſuchten Beobachtungen leh - ren uns eine Verbindung zwiſchen der Vernunft und Freyheit kennen, die naͤher betrachtet zu werden ver - dient.

3.

Erſtlich iſt es gewiß daß jede Handlung ei - ne freye Handlung iſt, zu der unſere Kraft durch deutliche Vorſtellungen von der Handlung und von dem Objekt, und von deſſen Beziehungen auf uns, be - ſtimmt und geleitet wird. Dieſe Regel iſt ohne Ausnahme, wenn ſie gehoͤrig verſtanden wird. Jede Vorſtellung, die wir deutlich nennen, iſt es nur von Einer Seite, in Hinſicht einiger Zuͤge in ihr, welche auseinander geſetzt ſind, und von uns unterſchieden werden; aber das Ganze derſelben iſt verwirrt und un - deutlich, wie in den Gemaͤlden. Eine deutliche Vor - ſtellung, die es nur in einigen Zuͤgen iſt, kann, in ſo fern ſie als ein verwirrtes und undeutliches Bild auf die Seelenkraft wirket, zwingend ſeyn. Aber je mehr ſie deutlich iſt, und in der Maße, wie ſie es iſt, laͤſſetſie35und Freyheit. ſie das Vermoͤgen anders zu handeln ungekraͤnkt, ſchwaͤchet es nicht, und bindet es nicht. Jn ſolchen Faͤllen haben wir, wie die Erfahrung lehret, uns alle - mal in unſerer Gewalt. Und nach deutlichen Vor - ſtellungen, mit vollem Bewußtſeyn deſſen, was wir thun, handeln, und durch nichts als durch dieſe deutli - che Jdeen beſtimmt werden, iſt ſo viel, als ſo handeln, daß wir uns in unſerer Gewalt haben und frey han - deln.

Es giebt zwar eine Nothwendigkeit in unſern Handlungen, die in der Vernunft ihren Grund hat, und eine wahre phyſiſche Nothwendigkeit iſt, aber dem Erfahrungsſatze, den ich oben vorher angezeigt habe, nicht entgegen ſtehet. Man pflegt ſie wohl eine moraliſche Nothwendigkeit zu nennen. Dieſen Namen kann ſie haben von einer Seite betrachtet, nur nicht in derjenigen Bedeutung, in der das Moraliſch - nothwendige ſo viel iſt, als das Geſetz - und Pflicht - maͤßige, das billig nicht nothwendig heißen ſollte, da die Rechtmaͤßigkeit der Handlung fuͤr ſich allein nie - mals die Selbſtmacht der Seele uͤber ſich aufhebet, und mit dieſer nichts zu thun hat. Jene phyſiſche Noth - wendigkeit zeiget ſich in folgenden Beyſpielen. Es iſt mir, wenn ich wache, und mich beſinnen kann, unmoͤg - lich, meine Hand willkuͤhrlich an dem Feuer verbren - nen zu laſſen, ſo unmoͤglich als es dem Reiſenden uͤber die Alpen iſt, der ſeine Vernunft beſitzet, ſich von dem Fuß - ſteige hinab in die Abgruͤnde zu ſtuͤrzen. Solche auf - fallende Unſinnigkeiten kann der mit Ueberlegungskraft begabte Menſch nicht vornehmen, als nur im Stande der Vernunftloſigkeit, bey den allerheftigſten Leiden - ſchaften, welche die Reflexion unterdruͤcken. Eine Lei - denſchaft brachte den Roͤmer Metius, bringet die Fackyers und andere Fanatiker, zu Tollheiten. Aber wo dieſe Urſachen fehlen, da fehlet nicht bloß ihre Wir -C 2kung,36XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitkung, ſondern es fehlet auch das Vermoͤgen zu ſolchen Wirkungen, wenn geſunde Vernunft das Steuerruder haͤlt. Die phyſiſche Kraft im Koͤrper, um die Hand dem Feuer entgegen zu halten, iſt da, aber dieſe macht das geſammte Vermoͤgen, eine ſolche Handlung vor - zunehmen, nicht aus. Hiezu wird auch eine Kraft er - fodert, den ſtarken Widerwillen, den die Vorſtellung von der That ſelbſt hervorbringet, zu unterdruͤcken, und ihr entgegen das koͤrperliche Bewegungsvermoͤgen auf die Handlung zu richten.

Jn den angefuͤhrten Beyſpielen iſt die Gegenwart der Vernunft, und die Reflexion uͤber die That, die phyſiſche Urſache, daß die Seele, wenn ſie ſo aͤußerſt unſinnige Handlungen unterlaͤßt, oder dagegen aͤußerſt nothwendige vornimmt, dabey nicht frey und mit Selbſt - gewalt uͤber ſich handelt. Aber ſie verrichtet und un - terlaͤßt ſolche auch alsdenn nicht um der Staͤrke der all - gemeinen vernuͤnftigen Ueberlegung willen. Ob es gut ſey oder nicht gut ſey, die Hand zu verbrennen, das kann ſie vernuͤnftig nach deutlichen Begriffen uͤberlegen; und dadurch wird ſie nicht aus ihrer Faſſung gebracht. Sie wuͤrde von dieſen Reflexionen in der That wenig Widerſtand finden, wenn ihr einmal die Luſt anwan - deln ſollte, eine ſolche Probe zu machen. Aber die le - bendigen verwirrten anſchaulichen Vorſtellungen von der That, von ihrer Unvernunft und ihren Wirkungen, welche mit jenen deutlichen Ueberlegungen verbunden ſind, und ſich gegenwaͤrtig der Seele darſtellen; dieſe ſind es, die mit ſolcher Heftigkeit auf das Gemuͤth und auf den Willen wirken, daß die Kraft mit Schaudern von der Handlung zuruͤckfahren muß, und ſich außer Stand geſetzet fuͤhlet, ihr nur zu naͤhern und den An - fang zu machen. Es iſt alſo auch nicht die deutliche Vorſtellung, ſondern die ſie begleitenden Empfindungen, was in ſolchen Faͤllen die Handlung erzwinget. Darausaber,37und Freyheit. aber, daß dergleichen zuruͤckhaltende Vorſtellungen un - ter gewiſſen Umſtaͤnden dennoch durch andere entgegen - geſetzte uͤberwunden werden koͤnnen, folget weiter nichts, als daß es Bewegungsgruͤnde gebe, die noch| ſtaͤrker, als jene ſind. Jn Feuersgefaͤhr ſpringt wohl ein ver - nuͤnftiger Mann im bloßen Hemde aus dem Fenſter auf die Straße, und handelt denn eben ſo nothwendig, als es ihm bey geſunden Verſtande nothwendig iſt, es bleiben zu laſſen.

4.

Dagegen iſt es nicht allemal nothwendig, daß, um frey zu handeln, eine deutliche Vorſtellung der Be - wegungsgrund zur Handlung ſeyn muͤſſe. Der wuͤrde in Wahrheit nur eine ſchwache Gegenwart des Geiſtes beſitzen, den jedwede Empfindung oder ſinnliche Vor - ſtellung, der er nachgehet, ſogleich unvermoͤgend machte, zu widerſtehen, und anders ſich zu beſtimmen. Das Gemuͤth wird oftmals im Gewuͤhl der Geſchaͤffte von verwirrten Bildern ſehr lebhaft angegriffen, und man beſtimmt ſich nach dieſen unentwickelten Vorſtellungen, und behaͤlt demunerachtet die Herrſchaft uͤber ſich, fuͤhlt ſein Vermoͤgen anders zu handeln, und handelt mit Freyheit. Wenn die bewegende Vorſtellung nur nicht die ſtaͤrkſte uͤber alle andere iſt, welche die Seele zu der Zeit in ſich aufbieten kann. Sie kann eine noch ſtaͤrkere in ihrer Ruͤſtkammer im Vorrath haben, die ſie jener entgegenzuſetzen, und unter den Umſtaͤnden, un - ter welchen ſie handelt, zu erwecken und aufzubieten vermag; und man weiß, wenn auch keine andere da iſt, wie ſtark allein die einzige Jdee ſey: ich muß nun ein - mal meinen eigenen Willen beweiſen; die uns zu Dien - ſten ſtehet, und ſich bey dem Eigenſinnigen oͤfterer und ſtaͤrker anbietet, als die Vernunft ſie haben will. Aber es iſt doch in allen Faͤllen, wenn das Vermoͤgen ſo eineC 3entge -38XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitentgegengeſetzte Vorſtellung hervorzuziehen, und uns nach ihr zu beſtimmen, vorhanden ſeyn ſoll, auch nothwen - dig, daß wir uns in dem Stande der Beſinnung alsdenn befinden. Denn ſo oft es hieran fehlet, ſo oft fehlet auch das Vermoͤgen, ſelbſtthaͤtig aus ſich die ru - henden Vorſtellungen und Kraͤfte zu erwecken und thaͤ - tig zu machen. Die Maximen der Weisheit im Ge - daͤchtniß helfen nichts, wenn der Menſch nicht die Kraft hat, ſich ihrer zur rechten Zeit zu erinnern, und ſie zur lebhaften Gegenwart zu bringen, dann, wann die Sinnlichkeit ihn angreift. Jhr Vorrath im Kopfe macht keinen Weiſen, ob ſie gleich die Waffen der Weis - heit ſind. Die Seele muß die Kraͤfte beſitzen, ſie zu fuͤhren, worauf alles ankommt; das iſt, die ſelbſtthaͤti - ge Kraft, die guten Gedanken zu gebrauchen, muß durch den Anfall der bewegenden Vorſtellung nicht ent - zogen, noch geſchwaͤcht noch gebunden werden. Und dazu iſt es nothwendig, daß die Beſinnung oder der Stand der wirkſamen Vernunft und Ueberlegungskraft erhalten werde.

Hieraus offenbaret ſich die Beziehung der Freyheit auf die Vernunft, und der Grund ihrer Verbindung miteinander ſehr deutlich, obgleich jene nicht einerley mit dieſer, noch in ihrem ganzen Umfange genommen, eine nothwendige Folge von ihr iſt.

Die Vernunft iſt ein ſelbſtthaͤtiges Vermoͤgen der Seele, das Vorſtellungen zu ſeinen Gegenſtaͤnden hat, und die Freyheit iſt eine erhoͤhete Selbſtthaͤtig - keit in allen Kraftaͤußerungen der Seele uͤberhaupt. Beide haben eine gemeinſchaftliche Quelle. Daher iſt es alſo nicht zu verwundern, daß, wo der eine von den Ausfluͤſſen, zumal derjenige, der meiſtentheils der ſchwaͤ - chere iſt, naͤmlich die Vernunft, nicht thaͤtig ſeyn kann, auch von dem ſtaͤrkern keine Wirkungen zu erwarten ſind. Jſt Unbeſinnlichkeit in der Seele, ſo iſt keine Selbſt -thaͤtig -39und Freyheit. thaͤtigkeit da, mit der ſie auf ihre Vorſtellungen wir - ken, und mittelſt derſelben ſich beſtimmen kann, entwe - der, weil die Seelenvermoͤgen nicht wirkſam genug ſind, oder weil die Vorſtellung mit zu großer Gewalt auf ſie zudraͤnget, als daß ſie ſolche in derjenigen Entfernung von ſich halten koͤnnte, in der ſie ſo zu ſagen bleiben muͤſſen, wenn die Seele auch vermoͤgend ſeyn ſoll, an - dere neben ihnen hervorzuziehen und zu vergleichen. Jm Schlafe fehlet es an dem erfoderlichen Grade der Thaͤtigkeit, aus Schwaͤche der Kraft; im wachenden Zuſtande, wenn ſinnliche Vorſtellungen und Leiden - ſchaften hinreißen, iſt die Gewalt der Empfindungen zu uͤberwaͤltigend und feſſelnd.

VI. Das Vermoͤgen ſich anders zu beſtimmen bey freyen Handlungen muß ein aktives inneres Vermoͤgen ſeyn, und nicht eine bloße Recepti - vitaͤt anders beſtimmt werden zu koͤnnen.

Wenn man weiter die Urſache auffuchet, warum es eben nothwendig iſt, daß wir uns in dem Stande der Beſinnlichkeit befinden muͤſſen, indem wir uns zu etwas beſtimmen, wofern die Handlung unmittelbar frey ſeyn ſoll, ſo kommen wir auf die dunkelſte Stelle in dieſer Betrachtung, wo uns die Frage aufſtoͤßt, was es fuͤr eine Beſchaffenheit mit dem Vermoͤgen habe uns anders zu beſtimmen, welches wir ſelbſtthaͤtig in uns ſollen aufbieten, und dadurch die wirkende Kraft zuruͤckhalten, oder anders beſtimmen koͤnnen. Jn wie fern iſt dieß Vermoͤgen anders zu thun, als wir thun, ein wahres aktives Vermoͤgen etwas hervorzubrin - gen und zu verrichten, und in wie fern iſt es ein Ver - moͤgen unſers ſelbſtthaͤtigen innern Princips?

C 4Die40XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit

Die Wagſchale ſey durch ein Uebergewicht an ei - ner Seite nach dieſer hin heruntergeneigt. Leget man noch ein ſtaͤrkeres Gewicht in die gegenſeitige Schale, ſo ſteiget jene wiederum in die Hoͤhe, und dieſe letztere mehr beſchwerte ſinkt herunter. Als die Wage auf die erſtere Art durch das Uebergewicht ſich bewegte, beſaß ſie die Receptivitaͤr, durch eine Vergroͤßerung des Gegengewichts an der andern Seite wieder in den Gleichſtand zu kommen, und nach der Gegenſeite hin bewegt zu werden. Machte dieß ihr paſſives Ver - moͤgen anders beſtimmt zu werden, als ſie es war, die Wage zu einem freyen ſeiner ſelbſt maͤchtigen Weſen?

Wenn mein Hund mit mir aufs Feld gehet, und nun hinter einer Kraͤhe herſtreichet, und ich ihn laut und mit dem Stock drohend zuruͤckrufe, ſo haͤlt er mit - ten im Lauf inne, und begiebt ſich zu meinen Fuͤßen. Dieß Thier beſaß alſo waͤhrend des Laufs, wozu es ſei - ne Begierde trieb, eine Gelenkſamkeit, auf meine Stimme und auf meinen Stock aufmerkſam zu werden. Durch die Empfindungen, die daraus entſtehen, konnte die bewegende Kraft ſeiner Muskeln anders gelenkt wer - den, als ſie wirklich vorher beſtimmt war. Hat der Hund deswegen mit Selbſtmacht uͤber ſich und mit Freyheit gehandelt, als er auf die erſtere Art fortlief? Wir Menſchen befinden uns zu oft in aͤhnlichen Um - ſtaͤnden, wenn uns Leidenſchaften hinreißen, als daß unſer Selbſtgefuͤhl uns nicht ſagen ſollte, daß dieſe Fra - ge zu verneinen ſey. Soll ich mit Freyheit handeln, ſo ſoll ich aus mir ſelbſt vermoͤgend ſeyn, mich zu be - ſtimmen, nicht aber bloß aufgelegt ſeyn, mich leidend beſtimmen zu laſſen.

VII. Von41und Freyheit.

VII. Von dem zureichenden Grunde, den freye Hand - lungen haben.

Ehe man aber weiter geht, iſt es noͤthig auf den Er - fahrungsſatz zuruͤckzuſehen, den die Jndetermini - ſten eben ſo vergeblich einzuſchraͤnken und wegzuraiſon - niren ſich bemuͤhen, weil er ſich mit ihrer Jdee von der Freyheit nicht vertraͤgt, als ihre Gegner das wahre Ge - fuͤhl von Freyheit; daß naͤmlich jedwede, auch die al - lerfreyeſte Handlung, die moͤglich iſt, theils in der Seele, welche ſich beſtimmt und handelt, theils in den aͤußern indwiduellen Beziehungen auf das Objekt der Aktion, theils in der Beſchaffenheit des Objekts ſelbſt, ihren voͤllig zureichenden, oder wenn man will, beſtim - menden Grund habe, das iſt, einen Grund, warum ſie unternommen wird, und warum ſie auf dieſe, und auf keine andere Art unternommen wird. Die Erfah - rung iſt hier eben ſo deutlich und entſcheidend, als ſie es in Hinſicht der Freyheit ſelbſt iſt. Jn unzaͤhligen Faͤllen erkennen wir den Zuſtand, der unmittelbar vor der Beſtimmung der Kraft vorhergeht, ſo weit, daß wir es deutlich ſehen, daß ein ſolcher hinreichender Grund vorhanden iſt. Und dieß offenbaret ſich am meiſten da, wo wir mit der voͤlligſten Beſinnung han - deln, und unſere Aktion ſo voͤllig frey iſt, als ſie es ſeyn kann. Noch ſind die Jndeterminiſten es ſchuldig, ir - gend eine einzige vollſtaͤndige Beobachtung beyzubrin - gen, die hievon eine Ausnahme mache. Denn in al - len ſolchen Faͤllen, die dem erſten Anſcheine nach viel - leicht angefuͤhrt werden moͤchten, und auch wohl von einigen als Beyſpiele gebraucht ſind, iſt es bis zur Evi - denz gewiß, daß uns die individuellen Umſtaͤnde lange nicht alle bekannt ſind, und daß alſo auch bloße Unwiſ - ſenheit den Theil der zureichenden Urſache, den wirC 5vermiſ -42XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitvermiſſen, verſtecken koͤnne, der ſich uͤberdieß in man - chen Faͤllen gezeiget hat, nachdem man ihn mit mehre - rer Aufmerkſamkeit aufgeſucht hatte. Es giebt keinen pſychologiſchen Erfahrungsſatz, der eine ſtaͤrkere Jn - duktion fuͤr ſich habe, als dieſer. So lange man nur bey der Erfahrung allein ſtehen bleibt, und die Speku - lationen aus Begriffen bey Seite ſetzet, wird man kein Bedenken haben, ihn fuͤr einen allgemeinen Satz zu er - kennen. Es iſt unnoͤthig, das metaphyſiſche Princip vom zureichenden Grunde hieher zu ziehen. Jch wenigſtens wuͤrde mich darum nicht einmal bekuͤmmern. Genug es iſt eine Uebereinſtimmung aller Empfindun - gen da, die fuͤr die Allgemeinheit des Satzes ſtreitet, und wenigſtens nicht erlaubet hier Ausnahmen anzu - nehmen, als bis etwan durch die ſtrengſten und buͤndig - ſten Beweiſe dargethan wird, daß es dergleichen geben muͤſſe, wenn man nicht Widerſpruͤche verdauen wolle. Durch dieſe letztere Einſchraͤnkung bezeuge ich den Jn - determiniſten meine ganze Nachgiebigkeit, womit zum wenigſten diejenigen von ihnen zufrieden ſeyn werden, die es ſelbſt eingeſtehen, daß die vollkommenſte Gleich - heit aller individuellen Umſtaͤnde auf beiden entgegen - geſetzten Seiten (ſtatum perfecti aequilibrii) aus der Erfahrung nicht zu beweiſen ſey, ob man gleich die Wirklichkeit ſolcher Faͤlle aus Gruͤnden erkenne, weil ſonſt keine wahre Freyheit im Menſchen vorhanden ſeyn koͤnne. Einige von ihnen wiſſen es ſo gut, daß dergleichen vollkommen gleiche Beſtimmtheit der Hand - lung und ihres Gegentheils ſelten oder gar nicht beob - achtet werde, daß ſie daher behauptet haben, es ſey genug, wenn man ihnen eingeſtehe, der Menſch muͤſſe doch dann und wann einmal zum mindeſten in ſeinem Leben in dieſem vollkommenen Gleichgewichte ſich befun - den haben. Wenn ich hiezu nun noch die Erklaͤrung ſetze, daß ich jede Theorie hier auf ihrem Werth undUnwerth43und Freyheit. Unwerth beruhen laſſen, nur lediglich der Beobachtung nachgehen, und am Ende es darauf ankommen laſſen wolle, ob die Jdee von der Freyheit, welche man in der Experimentalphyſik der Seele aus Beobachtungen erhaͤlt, durch die metaphyſiſchen Theorien aus Ver - nunftſaͤtzen auch etwas umgeformt werden muͤſſe, als welches an ſich ja nicht unmoͤglich iſt, noch befremdend ſeyn wuͤrde, da wir in andern Wiſſenſchaften von wirk - lichen Dingen, z. B. in der Aſtronomie, aͤhnliche Bey - ſpiele haben; wenn, ſage ich, dieß erklaͤrt wird, ſo deucht mich, ich koͤnne als Philoſoph vom Philoſophen fodern, daß man mich aushoͤren, und nicht zu voreilig durch die Abſtraktion von der Freyheit ſich an der rich - tigen Beobachtung ihrer Aeußerungen ſtoͤren laſſe.

Jn den mathematiſchen Wiſſenſchaften kann man ſeine Meinung mit wenig Worten ſagen, ohne befuͤrch - ten zu duͤrfen, von denen mißverſtanden zu werden, von denen man richtig verſtanden werden will. Jn der Philoſophie iſt es ſo weit noch nicht, es mag nun die Unbeſtimmtheit der Begriffe, oder die Unvollkommen - heit des Ausdrucks, Schuld daran ſeyn. Um alſo den Mißdeutungen uͤber das, was ich hier unter dem zu - reichenden Grunde verſtehe, den jede unſerer freyen Handlungen hat, vorzubeugen, will ich einen wirkli - chen Verſuch anfuͤhren, den ich mehrmals beſtaͤndig mit einerley Erfolg angeſtellet habe. Daraus wird man ſehen, was ich hier unter zureichendem Grund ver - ſtehe. Jch mag ihn nicht ſo gern den voͤllig beſtim - menden Grund nennen, weil der aktive Ausdruck be - ſtunmend eine Nebenidee von einer Aktion des Grun - des ausdruͤcket, die nicht allemal vorhanden iſt. Sonſt iſt an einem Worte fuͤr ſich nichts gelegen.

Jch ſetze mir vor, meine rechte Hand auf das eine oder auf das andere Ende eines Buchs, welches vor mir liegt, niederzulegen. Jch ſtelle mich ſo gegen dasBuch,44XII. Verſuch. Ueber die SelbſtthaͤtigkeitBuch, daß ich, ſo viel als immer moͤglich iſt, gegen dieſe beiden Bewegungen nach der einen und nach der andern Stelle hin, gleichguͤltig werde, und wenn ja etwan eine dieſer Aktionen ohne mein Wiſſen noch et - was voraus behalten ſollte, das mich zu ihr vorzuͤglich geneigt machen moͤchte, ſo kann ich doch die Sache ſo einrichten, daß der Einfluß davon in meine Beſtim - mung ſo geringe iſt, daß ich ihn mit aller mir moͤgli - chen Aufmerkſamkeit nicht wahrnehmen kann. Was geſchieht? Jch frage mich ſelbſt, nach welcher Seite ich wohl die Hand hinlegen wolle, nach dieſer oder jener? und ſo lange ich mich frage und mich bedenke, wechſele ich die Vorſtellungen von beiden Aktionen in mir ſchnell mit einander ab. Es geſchieht aber nichts, hoͤchſtens ſchwebt meine Hand etwas hin und her, oder neiget ſich eigentlich nur wechſelsweiſe nach beiden Seiten. Endlich werde ich des Verſuchs uͤberdruͤßig; noch einige Augenblicke fahre ich vielleicht fort mich zu bedenken, aber endlich entſchließe ich mich zum Entſcheiden. Fuͤr welche Seite entſcheide ich nun? Beide ſind mir, ſo viel ich immer bemerken kann, gleichguͤltig. Jch be - wege die Hand nach der Stelle und in der Richtung hin, wovon die Jdee mir am lebhafteſten in dem Au - genblick gegenwaͤrtig war, da ich mich entſchloſſen hatte zu entſcheiden.

Jch beſtimmte mich zum Entſcheiden, weil mir dieß mehr gefiel, als die laͤngere Fortſetzung des vergeb - lichen Bedenkens. Jch beſtimmte mich zur Rechten, nicht darum, weil ich in dieſer Aktion den geringſten Vorzug antraf, ſie fuͤr leichter, bequemer oder angeneh - mer anſah, als die andere, ſondern nur allein darum, weil dieſe, da mir beides gleichguͤltig war, eben zuerſt mir in den Sinn kam. Dieſer letztere Umſtand iſt nicht der zureichende Grund der ganzen Hand - lung; hiezu gehoͤret viel mehr; ſondern der Grund,warum45und Freyheit. warum ich dieſe Aktion vornahm, und nicht die entge - gengeſetzte. Die Faͤlle, worinn wir uns zu dem be - ſtimmen, was, nach einer vorhergegangenen Verglei - chung der mehrern Moͤglichkeiten, uns das Beſte fuͤr ſich und objektive das Vorzuͤglichſte zu ſeyn ſcheinet, ſind vielleicht in dem ganzen Jnbegriffe der freyen Hand - lungen die wenigſten. Oft iſt der Grund, warum wir dieß greifen, und nicht ein anders, nur der, weil in dem Augenblicke der Beſtimmung uns jenes zuerſt in den Wurf kommt. Die meiſten Male iſt vielleicht bei - des, innerer und aͤußerer Grund beyſammen, aber oft genug iſt es mehr der letztere, als der erſtere, von dem das Warum ſo und nicht anderſ? abhaͤngt. Wir ſagen von ſolchen Handlungen, und karakteriſiren ſie dadurch; das Erſte ſey das Beſte. Und auch in un - ſern wichtigen Entſchluͤſſen geſchieht es nicht ſelten, daß, wenn die lange Ueberlegung uns ſtumpf gemacht hat, wir endlich eben ſo, wie dort, das Erſte was uns ein - faͤllt, wenn wir den letzten Entſchluß faſſen wollen, das Beſte ſeyn laſſen. Eine geſpannte und nun entloͤſete elaſtiſche Feder ſchnellt eine Kugel fort. Warum dieſe Kugel und nicht eine andere? Um nichts anders, als weil dieſe vor ihr lag, und nicht die andere.

VIII. Von46XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit

VIII. Von ſelbſtthaͤtigen und aus Eigenmacht hervor - gehenden Kraftaͤußerungen. Was es heiße, unabhaͤngig und aus voller Eigenmacht handeln. Von ſelbſtthaͤtigen Kraͤften, zu deren Aeußerung ein Reiz von außen erfo - dert wird. Von Aktionen, die durch eine mit - getheilte Kraft hervorgebracht werden.

Da die vornehmſte Schwierigkeit bey dem Begriffe von der Freyheit am Ende in unſerm Begriffe von der Spontaneitaͤt lieget, ſo laßt uns bey dieſer letz - tern vorher etwas ſtille ſtehen. Man findet bey den aͤltern Metaphyſikern ſchon manche allgemeine Betrach - tungen uͤber die Natur der Kraft und der Wirkſam - keit, die hieher gehoͤren. Bilfinger hat vorzuͤglich vieles zur Aufklaͤrung dieſes Begriffs geleiſtet. *)De origine mali. Jch halte mich uͤberzeugt, man wuͤrde laͤngſtens den etwan noch fehlenden Schritt gethan haben, wenn man die Entwickelung der allgemeinen Verſtandesbegriffe, vom Thun und Leiden, Aktion, Vermoͤgen, Kraft, Princip, und anderer, die ſich auf dieſe beziehen, et - was mehr ſich haͤtte angelegen ſeyn laſſen, als es ge - ſchehen iſt. Dieß ſoll keine Vorrede zu einer metaphy - ſiſchen Spekulation ſeyn. Jch werde nichts mehr von allgemeinen Begriffen mitnehmen, als unumgaͤnglich uothwendig iſt, um deutlich und genau zu ſehen. Wer dieß nicht verlanget, kann dieſen Abſchnitt uͤberſchlagen, nnd ihn nachher leſen, wenn er aus dem folgenden be - merket hat, auf welche Punkte man eigentlich die Au - gen am meiſten richten muͤſſe. Ueberdieß werde ich auch die noͤthigen Gemeinbegriffe mehr in den einzel -nen47und Freyheit. nen Faͤllen darſtellen, aus denen man ſie ſelbſt ſich ab - ſtrahiren kann, als in ihren allgemeinen Definitionen, die man nur alsdenn erſt gut machen kann, wenn man die Begriffe ſchon genau und ſcharf gefaßt hat.

Eine Handlung, die wir einem thaͤtigen Weſen zuſchreiben, weil es wenigſtens den vornehmſten Theil der ganzen thaͤtigen und in der Handlung ſich aͤuſ - ſernden Kraft in ſich enthaͤlt, iſt auch um deſto mehr eine ſelbſtthaͤtige Aktion, je weniger irgend etwas anders, was ſonſt auch vorhanden ſeyn muß, und deſſen Gegenwart unter die Erfoderniſſe oder noth - wendigen Umſtaͤnde der Handlung |gehoͤrt, als ein thaͤtiges Weſen zu der Wirkung etwas beytraͤgt, und in die Beſchaffenheit der Handlung ſelbſt einen Einfluß hat. Je mehr alle Thaͤtigkeit aus dem Jnnern der thaͤtigen Kraft entſpringt, und je mehr alle umgebende und mit ihr verbundene Gegenſtaͤnde bloß leidentlich ſich dabey verhalten, deſto mehr ſelbſtthaͤtig iſt die Aktion in Hinſicht des Dinges, dem ſie zugeſchrieben wird. Die Selbſtthaͤtigkeit iſt eine Unabhaͤngigkeit des thaͤtigen Weſens in ſeinem Wirken von den Kraͤften und Aktionen anderer aͤußerer Dinge.

Die Schale von der Wage ſteiget herunter durch das Gewicht, welches hineingelegt wird, wie das Schwerdt durch die Kraft des Arms ſchneidet, der es fuͤhret. Die Schale und das Schwerdt ſind nicht ſelbſtthaͤtig. Was ſie wirken, wie groß und ſtark ihr Effekt auch iſt, und die Richtung, in der ſie wirken, das iſt nicht in ihrem thaͤtigen Princip beſtimmt, ſon - dern richtet ſich nach der Groͤße, Beſchaffenheit und Richtung der Kraft, wodurch ſie getrieben werden. Dagegen faͤhret die geſpannte und nun ausſpringende Stahlfeder gegen eine Kugel, und treibet ſie fuͤr ſich weg. Dieſe Feder iſt ſelbſtthaͤtig, Die Materie der Kugel beſitzet nichts als eine leidentliche Receptivitaͤt,eine48XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeiteine Bewegung anzunehmen; ihre Ruͤckwirkung, die man ihr waͤhrend der Aktion der Feder etwan zu - ſchreibet, abgerechnet. Die ganze Wirkſamkeit vom Anfange bis zu Ende iſt in der Feder, und gehet aus einem innern Princip in ihr hervor. Dieß iſt ein Bey - ſpiel, das uns einen Begriff von einer Selbſtthaͤtig - keit geben kann, die es in dem hoͤchſten Grade iſt. Wenn die Feder ſich nur allein ausdehnet, ohne daß ſie an einen andern Koͤrper anſtoͤßt, ſo iſt keine Aktion in ein anderes Objekt vorhanden, und die Feder wirket alsdenn nur auf ſich allein, und in ſich.

Zwiſchen den beiden Aeußerſten in dieſen angefuͤhr - ten Beyſpielen, zwiſchen der bloß leidenden und der ganz thaͤtigen Kraft, liegen andere Mittelſtufen, wo - von ich hier nur folgende beſonders auszeichnen will. Es ſey die Feder in ihrer freyen ausgeſtreckten Lage, und es werde ein harter Koͤrper gegen ſie geworfen, der ſie zuſammendruͤcke und ſpanne. Sobald ſie geſpannt wird, faͤngt ihre elaſtiſche Kraft an, ſich wirkſam zu beweiſen. Sie entziehet dem anſtoßenden Koͤrper ſeine Geſchwindigkeit, ſo lange ſie ihn noch immer naͤher hinan kommen laͤßt; und alsdenn giebt ſie ihm vom neuen eine entgegengeſetzte Bewegung, und entfernet ihn wieder von ſich. Hier laſſen ſich zwo Aktionen der Feder unterſcheiden, oder vielmehr etwas zweifaches in der Wirkung, die durch die Aktion hervorgebracht wird. Die Bewegung des Koͤrpers, der auf die Feder ſtoͤßt und ſie zuſammendruͤckt, wird zerſtoͤret, und eine neue Bewegung in derſelbigen Materie hervorgebracht. So - wohl die erſtere als die zwote von dieſen Aktionen ſind ſelbſtthaͤtige, jedoch mit einiger Verſchiedenheit, wenn jede fuͤr ſich abgeſondert und einzeln vorgeſtellet wird. Die letztere iſt vollkommen ſelbſtthaͤtig, wie in in dem vorhergehenden Beyſpiele; die erſtere aber nicht ſo. Der ſtoßende Koͤrper ſpannte durch ſeine Thaͤtigkeitdie49und Freyheit. die Feder, und hatte alſo einen Einfluß in die Wirk - ſamkeit ihrer Elaſticitaͤt. Da haben wir ein Beyſpiel, worinn die nachher ſelbſtthaͤtige Kraft vorher, durch die Einwirkung einer andern thaͤtigen Urſache, in einen ſol - chen Zuſtand verſetzet wird, in welchem ſie nun als eine gereizte und geſpannte ſelbſtthaͤtige Kraft ſich auslaſſen kann.

Ohne dieſe Beyſpiele von koͤrperlichen Kraͤften und Thaͤtigkeiten in andern Abſichten als zur Erlaͤu - terung zu gebrauchen, will ich daraus folgende Unter - ſchiede bemerklich machen.

Eine voͤllige Selbſtthaͤtigkeit, oder die Selbſt - thaͤtigkeit ohne Beywort iſt alsdenn vorhanden, wenn die ganze Aktion aus der Kraft der wirkenden Sub - ſtanz hervorgehet, ſo daß, wenn ſie eine herausgehende Handlung iſt, in den außer ihr befindlichen Dingen nichts mehr zur Handlung gehoͤriges enthalten ſey, als allein das Objekt, auf welches die Kraft angewendet wird, mit ſeiner Receptivitaͤt die Wirkung anzuneh - men.

Die erweckte Selbſtthaͤtigkeit in der geſpann - ten Feder iſt doch auch eine Selbſtthaͤtigkeit, und iſt vorhanden, wenn die thaͤtige Kraft durch die Aktion eines aͤußern Dinges in ſeinen Zuſtand der Wirkſam - keit geſetzt worden iſt.

Zwiſchen dieſen Selbſtthaͤtigkeiten, das iſt, der Wirkſamkeit aus eigner Macht und der Wirk - ſamkeit aus fremder Macht, liegen alle unvoll - ſtaͤndige Selbſtthaͤtigkeiten in unendlich mannich - faltigen Stufen, deren Unterſchiede von einem Mehr oder Weniger in jenen Beſchaffenheiten abhangen. Jſt die Aktion und die Wirkung, welche hervorgebracht wird, immer eine unmittelbare Aeußerung einer Kraft, die allein aus ihrem innern Princip hervorgeht, und alſo keinesweges als eine mittelbare Aktion einer frem -II Theil. Dden50XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitden Kraft angeſehen werden kann, ſo iſt es doch moͤg - lich, daß jene ſelbſtthaͤtige Kraft waͤhrend ihrer Aktion einer beſtaͤndigen Anreizung benoͤthigt ge - weſen ſey, und dieſe von dem Einfluſſe einer aͤußern Ur - ſache empfangen habe.

Hiebey ſtoͤßt uns aber in den Erfahrungen noch eine andere Verſchiedenheit auf, die ſehr in Betracht gezo - gen zu werden verdienet, weil ſie unſere Begriffe unge - mein verwirren kann. Es iſt naͤmlich ganz etwas an - ders, wenn ein Ding die Kraft eines andern zur Thaͤtigkeit reizet, und wenn ein Ding einem an - dern die Kraft verleihet, mit welcher dieß letztere wirket. Dieſe Verſchiedenheit verraͤth ſich an zweyen Merkmalen. Wenn eine Kraft nur durch ein anderes Ding, als durch ſein Jnſtrument wirket, ſo iſt das letztere nur ein Kanal, der die Wirkſamkeit des erſtern fortfuͤhrt, oder, nur ein Konduktor, wie die leidenden Koͤrper bey der Elektricitaͤt; und dann wuͤrde ſich die Kraft auch ohne dieſes Zwiſchenmittel, auf eine aͤhnli - che Art, obgleich in einer andern Richtung, wirkſam haben bewegen koͤnnen. Die Schale der Wage druckt die Hand nieder durch das Gewicht, welches in ihr liegt. Aber das Gewicht wuͤrde die naͤmliche Wirkung in der - ſelbigen Staͤrke unmittelbar hervorbringen koͤnnen. Die Schale handelt alſo nicht durch ihre eigene, ſondern durch die fremde Schwere, und der erfolgte Druck iſt nichts, als eine mittelbare Wirkung des fremden Ge - wichts, welches durch die Schale wirket. Es verhaͤlt ſich anders, wo die wirkende Kraft nur zur Thaͤtigkeit von ei - ner andern gereizet worden iſt. Denn in dieſem Fall wuͤrde die erfolgte Wirkung aus der Aktion der bloß reizen - den und erweckenden Kraft nimmermehr erfolget ſeyn.

Dazu kommt noch ein zweytes Kennzeichen. Wenn eine Urſache nur aus fremder mitgetheilter Kraft thaͤtig iſt, ſo hoͤret nicht nur ihre ganze Thaͤtigkeit, ſondernauch51und Freyheit. auch ihre Kraft als Vermoͤgen auf, ſo bald ſie des Ein - fluſſes des ſie kraͤftig machenden Weſens beraubet iſt. Oder wenn es ſich auch, wie bey der Bewegung der Koͤrper, die ſie im Fallen von der Schwere erlanget haben, verhaͤlt, wenn naͤmlich die durch einen fremden Einfluß erzeugte Kraft von einem fortdaurenden, aber zufaͤlligen und veraͤnderlichen, Zuſtande abhaͤngt: ſo wird doch, um der Urſache dieſe Kraft zu benehmen, nichts mehr noͤthig ſeyn, als nur dieſen Zuſtand in ihr abzu - aͤndern. Alsdenn iſt auch zugleich ihre ganze Thaͤtig - keit und Vermoͤgen dahin, und in ihr nichts reelles mehr uͤbrig, kein inneres Princip, kein Vermoͤgen, keine Faͤhigkeit, außer der bloßen Receptivitaͤt, ſich et - wan vom neuen mit Kraft begaben zu laſſen. Man nehme der Kanonenkugel ihre Geſchwindigkeit, die ihr von der ausdehnenden Kraft des Pulvers gegeben war; ſogleich hoͤrt alles Vermoͤgen ſich zu bewegen, und andere Koͤrper zu zerſchmettern, auf einmal auf.

So iſt es wiederum nicht bey den eigenmaͤchtigen nur zur Thaͤtigkeit gereizten Weſen. Jhre wirk - ſame Kraftaͤußerung kann aufhoͤren, wenn ſie nicht zur Wirkſamkeit gereizet wird; aber ihr Vermoͤgen, ihre tode Kraft bleibet in ihr, wie die Elaſticitaͤt in der Stahlfeder iſt, auch wenn ſie von keinem Druck ge - ſpannet wird. Die aus Eigenmacht wirkende Kraft behaͤlt noch immer eine Realitaͤt mehr in ſich, als bloße Receptivitaͤt, ſich von einer Kraft wiederum in einen gewiſſen Zuſtand verſetzen zu laſſen. Auch ungereizet und unerwecket, in ihrer Ruhe beſitzet ſie das, was wir Vermoͤgen nennen; welches die reelle Folge hat, daß ſobald ſie thaͤtig wird, der Effekt den ſie hervorbringet, nun nicht aus der Wirkung begreiflich iſt, die ſie von der reizenden Kraft aufgenommen hat, noch dieſer, wie eine Wirkung ihrer Kraft proportionirt ſeyn kann. Denn ſie bringet etwas hervor, welches ſowohl der Quantitaͤt alsD 2Quali -52XII. Verſuch. Ueber die SelbſtthaͤtigkeitQualitaͤt nach von dem verſchieden iſt, was durch den Einfluß der ſie erweckenden Urſache in ſie hineingeleget war. Und eben hieran verraͤth es ſich, daß ſelbſt in ihrem Jnnern eine Realitaͤt vorhanden iſt, die wir Ver - moͤgen nennen, die ihr nicht gegeben ward und die nun, nachdem die Reizung hinzu gekommen iſt, das wahre Princip oder die Quelle ihrer Aktion und ihrer Wirkung ausmacht. Beſaͤße z. B. die Feder keine Elaſticitaͤt, ſo wuͤrde ſie wie ein weicher Thon zwar von einem Druck gebogen werden, aber nicht wieder herauswirken. Die Wirkung des aͤußern Drucks bringet eine Veraͤnderung ihrer Figur hervor; und mit dieſer empfangenen Mo - difikation wuͤrde ſie widerſtehen, und einem andern Koͤr - per ſeine Kraft benehmen koͤnnen, der ſie vom neuen um - aͤndern wollte. Aber ſie wuͤrde keine bewegende Kraft aͤußern koͤnnen, wie ſie wirklich thut.

Ziehen wir noch einmal das Allgemeine, das in den angefuͤhrten und vielen andern ihnen aͤhnlichen Beyſpie - len enthalten iſt, die wir anfangs nur aus der Koͤrper - welt nehmen moͤgen, vor uns herauf, und vergleichen dieſe verſchiedenen Abſtraktionen mit einander, ſo zeiget ſich uns das Weſentliche in der Selbſtthaͤtigkeit, und der Grund und das Maß derſelben.

Jſt es nur Ein Weſen, welches wirket, denn die - ſen einfachſten Fall kann man am leichteſten uͤberſehen, und doch in der That aus ihm alles Licht haben, das man gebraucht, ſo iſt ſeine Aktion eine Folge ſeiner innern dermaligen Beſchaffenheit, ſeiner thaͤtigen Vermoͤgen und Kraͤfte. Dieß in ihm vorhandene ma - chet das innere thaͤtige Princip, den innern zurei - chenden Grund von der Aktion aus, in welcher die Kraft hervorgeht und ſich aͤußert. Dieß wirkende We - ſen wirket alſo ſelbſt und allein, und ſeine Aktion geht alſo dermalen aus ihm ſelbſt hervor, und iſt in ſo weit eine ſelbſtthaͤtige Handlung.

Ohne53und Freyheit.

Ohne noch darauf zu ſehen, ob es Eigenmacht, oder nur fremde Macht iſt, welche dieſe Aktion her - vorbringet, muß doch da, wo die Aktion auswaͤrts her - ausgehet, und in einem andern Objekt die Wirkung verurſachet, noch ein aͤußerer Umſtand hinzu kom - men, woraus ſich begreiffen laͤßt, warum ſie eben auf dieſen Gegenſtand, und keinen andern trift, von dieſer Seite, und auf dieſe Art, und nicht anders*)Erſt. Th. viert. Verſ. IV. 2. 3.. Die - ſer Umſtand beſtehet in einer gewiſſen Lage des aͤuſ - ſern leidenden Objekts gegen die Kraft. Wo das thaͤtige Weſen in ſich ſelbſt wirket, faͤllt dieſes Erfoderniß weg. Es iſt aber klar, daß da, wo dieſer aͤußere Umſtand weiter nichts, als eine unwirkſame Beziehung der Kraft auf ihren Gegenſtand in ſich haͤlt, ſolcher zwar als ein Theil des ganzen zureichen - den Grundes, warum das, was geſchieht, ſo ge - ſchieht und nicht anders, angeſehen, und alſo auch in dem ganzen entſcheidenden Grunde der Aktion be - griffen werden muͤſſe, aber daß auch dieß nicht hindere, daß nicht die erfolgende Aktion ſelbſt ihrem ganzen in - nern Gehalt und ihrer Beſchaffenheit nach, der Art und Weiſe der Thaͤtigkeit nach, ihrer Staͤrke und Richtung nach, voͤllig und allein in dem Jnnern des handelnden Weſen, ihren ganzen zureichenden Grund haben, und eine dieſem innern Princip entſpre - chende Wirkung ſeyn koͤnne. Denn nichts, als dasje - nige, worinn die Aktion, wenn ſie ſo zu ſagen außer dem thaͤtigen Weſen heraus iſt, umgeaͤndert wird, und das giebt der Wirkung freylich oft ein ganz entge - gengeſetztes Anſehen, haͤngt in dem hier angenom - menen Fall von dem Daſeyn, von der Receptivitaͤt, und von der Lage des leidenden Objekts ab. Ob aber die Aktion voͤllig oder zum Theil ſelbſtthaͤtig aus Ei -D 3genmacht,54XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitgenmacht, oder durch eine fremde Kraft, aus innerer beſtaͤndiger Naturkraft, oder nur aus einer zufaͤlli - gen, mitgetheilten, aus nur erweckter Selbſt - thaͤtigkeit, oder aus hineingelegter Kraft ent - ſpringe? dieß iſt von jenen aͤußern unwirkſamen Um - ſtaͤnden unabhaͤngig.

Der innere zureichende Grund der erfolgenden Aktion kann aber ſo in der thaͤtigen Subſtanz vorhan - den ſeyn, daß er ganz allein von dieſer ſelbſt, ihrer Natur, oder ihrem zwar erworbenen aber beſtaͤn - dig fortdaurenden Vermoͤgen abhaͤnget, und daß, um ſich auf eine ſolche Art zu aͤußern, es durchaus kei - ner neuen Modifikation von einem andern Dinge, und keines aͤußern Einfluſſes einer fremden Urſache, mehr bedarf. Jn dieſem Fall handelt ſo ein Weſen voͤllig unabhaͤngig, und allein aus Eigenmacht, und iſt ein ſelbſtthaͤtiges Weſen, in dem Zuſtand betrach - tet, in dem wir es uns vorſtellen, wenn wir uͤber ſeine Selbſtmacht urtheilen. Dieß Weſen mag unter andre aͤußere Umſtaͤnde gebracht; das Zufaͤllige, was gegen - waͤrtig von der Einwirkung fremder Urſachen in ihm abhaͤngt, mag abgeſondert; es ſelbſt mag iſoliret wer - den: ſo hat es das ganze innere Princip in ſich, was die voͤllige Urſache der Aktion iſt, die aus ihm her - vorgeht.

So ein Weſen kann das, was es jetzo iſt gewor - den, ſeyn, und ſeine dermaligen Vermoͤgen und Kraͤfte erworben haben, ſolche nicht von Natur, nicht noth - wendig und nicht unverlierbar beſitzen. Aber dennoch iſt dieſes innere thaͤtige Princip nun einmal mit ſeiner Natur vereiniget und klebt dieſer beſtaͤndig an, unter welche Beziehungen die Subſtanz auch gebracht wird. Jenes Princip iſt eine innere Quelle von Aeußerungen und Wirkungen, die fuͤr ſich allein ſich ergießet, dauer - haft iſt und beſtehet in der Maße, daß ſie nicht ſelbſtdurch55und Freyheit. durch dieſe ihre Aeußerungen geſchwaͤchet werde und verſiege. Das Gewicht eines Koͤrpers vermindert ſich nicht, ſo lange fort auch der Koͤrper ſeinen Druck auf einen andern ſchon geaͤußert hat; und die Ausdehnungs - kraft der Luft wird nicht geſchwaͤchet, wenn ſie gleich mehrmalen nach einander angewendet worden iſt. Aber eine Kanonenkugel verliert ihre bewegende Kraft, in - dem ſie ſolche auf andere Koͤrper verwendet.

Dieß ſind eigenmaͤchtige Aktionen, die von ihren Gegenſtaͤnden, auf die ſie verwender wer - den, bloß aufgenommen werden.

Aber es kann auch dieſer ganze dermalige inne - re zureichende Grund der Aktion eine Wirkung ſeyn, welche durch den Einfluß eines andern Dinges in das handelnde Weſen hervorgebracht iſt, und entweder immerfort durch eben dieſen Einfluß unterhalten werden muß, oder doch nicht laͤnger in der thaͤtigen Subſtanz beſtehet, als bis ſie ſich thaͤtig damit beweiſet, und es anwendet. Alsdenn iſt es eine fremde Kraft, wo - durch das wirkende Weſen thaͤtig iſt. Es iſt zwar auch ſelbſtthaͤtig in den dermaligen Umſtaͤnden, unter de - nen es wirket, weil das Princip der Aktion innerlich in der handelnden Subſtanz ſich befindet. Aber man ent - ziehe dieſe der Einwirkung der aͤußern Urſache, von der ſie den Zuſtand empfaͤngt, worauf das Vermoͤgen be - ruhet, ſo iſt ſie tod und unvermoͤgend, wie die Kugel, der man ihre Bewegung entzogen, und die man von allem weitern Einfluß einer bewegenden Kraft ent - fernt hat.

Dieß iſt eine Aktion aus fremder Macht.

Es gehoͤrt keine beſondere Subtilitaͤt dazu, hiebey noch eine Verſchiedenheit gewahrzunehmen. Jſt der fremde Einfluß in die thaͤtige Subſtanz ununter - brochen erfoderlich, ſo iſt dieſe Subſtanz ſchlechthin nichts als ein leidendes Jnſtrument, durch welches dieD 4fremde56XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitfremde Kraft durchgehet, wie der Hebebalken iſt, durch den eine Laſt in die Hoͤhe gehoben wird.

Beſtehet aber doch der innere Grund der Aktion in den Dingen ſelbſt als ein bleibender Zu - ſtand, auch wenn ſich die Kraft verleihende aͤußere Ur - ſache entzogen hat, wie die Bewegung in der Kugel, die ſie von dem Druck empfaͤngt, ſo kann man doch ſchon ſagen, daß hier das wirkende Weſen mit eigener aber nur mitgetheilter Kraft handele. Allein dieſe Ei - genmacht klebet ihm nicht laͤnger an, als bis es ſo viele Wirkſamkeit ausgelaſſen hat, als es vorher an lei - dentlichen Veraͤnderungen empfangen hatte.

Endlich iſt es leicht begreiflich, daß der ganze in - nere zureichende Grund, als die Quelle der Aktion, zum Theil zu der Natur, oder doch zu den bleiben - den beſtaͤndigen Beſchaffenheiten der Subſtanz ſelbſt gehoͤren, zum Theil aber von dem Einfluß einer andern Urſache außer ihr abhangen koͤnne. Jn Hinſicht des letztern iſt ſie den aus fremder Kraft wirkenden Ur - ſachen aͤhnlich; in Hinſicht des erſtern aber denen die aus Eigenmacht handeln, oder den voͤllig ſelbſtthaͤti - gen. So verhaͤlt es ſich bey der Feder, die geſpannet werden mußte, ehe ſich ihre Elaſticitaͤt wirkſam bewies.

Jſt in dieſem Fall der Antheil an dem ganzen innern Grunde der Aktion, welcher in dem Jnnern des handelnden Wefens ſelbſt liegt, ihm und ſeiner Na - tur anklebet, zu ſeinen Beſchaffenheiten gehoͤrt, die es unter allen Umſtaͤnden und Verbindungen in ſich hat, der groͤßte, erheblichſte, wichtigſte; und iſt das, was ihm fehlet, um voͤllig zureichend zur Aktion zu werden, und was anderswoher ihm beygebracht werden muß, das geringſte, unwichtigſte: ſo iſt dieß eine eigenmaͤch - tige ſelbſtthaͤtige Kraft, die aber eines Reizes, oder einer Erweckung von außen bedarf.

Je57und Freyheit.

Je weniger alſo von dem ganzen innern zurei - chenden Grunde der Aktion in einer Subſtanz von aͤußern Urſachen abhaͤngt, deſto groͤßer iſt ihre Ei - genmacht.

Je mehr ſie aber, als inneres Princip ihrer Handlung betrachtet, ſelbſt eine Wirkung von einer aͤußern Urſache iſt, deſto weniger beſitzet ſie ſelbſtthaͤ - tige Eigenmacht.

Jch habe ſchon bey mehrern Gelegenheiten die ſelbſtthaͤtigen Veraͤnderungen der Seele von ihren leidentlichen Modifikationen unterſchieden. *)Erſter Verſuch XVI. 4. 5. 6. Zweyter Verſuch II. 4.Aber dorten konnte es genuͤgen, wenn man nur darauf Ruͤck - ſicht nahm, in wie weit eine Modifikation oder Wir - kung, welche erfolgte, in der Seele ſelbſt, und in ihrer eigenen Kraft, oder wie ferne ſie in einer andern Kraft außer ihr ihre Quelle hatte. Es war bey einer Veraͤnderung ihres Zuſtandes nur davon die Frage, wie weit ſolche eine wahre Aktion oder eine Paſſion ſey? wie viel ſie naͤmlich ſelbſt von der ganzen thaͤtigen und verurſachenden Kraft in ſich enthalte, oder wie viel fremde aͤußere Weſen dazu beywirken? Und weiter in die Natur der Eigenmacht hineinzugehen war oben un - noͤthig, weil es nur darauf ankam, wie weit das thaͤtige Princip ihr eigenes inneres Princip, oder eine fremde Kraft ſey, die ſie modificire?

Aber hier, wo die Natur der Selbſtthaͤtigkeit naͤher entwickelt werden muß, wenn anders unſere Jdee von der Freyheit mehr inneres Licht erhalten ſoll, muß man ſichs nicht verdrießen laſſen, auch dieſe Begriffe etwas microſkopiſcher zu betrachten. Jſt das thaͤtige Princip in der Seele ſelbſt, ſo iſt noch eine weſentliche Unterſuchung daruͤber zuruͤck: wie weit ſolches einer Reizung von außen noͤthig habe? wie weit es eine frem -D 5de58XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitde mitgetheilte Kraft ſey, oder von dem Einfluſſe an - derer abhange? oder wie weit es der Seele ſelbſt blei - bend zukomme?

Wer nur einigermaßen ſich dieſe allgemeinen Be - griffe gelaͤuſig gemacht hat, wird es bald gewahrneh - men, daß dieſes noch lange nicht alles ſey, was hie - bey weiter entwickelt werden muͤßte, wenn durch den ganzen Zweig dieſer Notionen Deutlichkeit und Einſicht gebracht werden ſollte. Aber dann ſchlage er auch die metaphyſiſchen Schriften nach; und ich hoffe, er werde die Klage nicht ungegruͤndet finden, wenn ich ſage, daß hier Dunkelheiten und Verwirrungen vorkommen, woran man noch die Fackel der Analyſe nicht hingebracht hat.

Noch eine Anmerkung. Wenn die Wirkung, wel - che hervorgebracht wird, eine Wirkung mehrerer ver - einigten Kraͤfte iſt, und nur derjenigen Kraft allein zu - geſchrieben wird, die unter den mitwirkenden den Haupt - antheil an ihr hat: ſo iſt dieſe letztere nicht in dem eigent - lichen Sinne, ſondern durch eine Synekdoche die Urſache zu nennen. Und wenn die Aktion oder die Wirkung auf dieſe vornehmſte Kraft bezogen wird, ſo kann nicht eher beſtimmt beurtheilet werden, in wie weit ſie aus ih - rer innern Eigenmacht hervorgehe, als bis der eigent - lich ihr zugehoͤrige Antheil von dem uͤbrigen, was an - dern Urſachen zukoͤmmt, abgeſondert wird. Nichts iſt leichter zu begreifen, als dieſe logiſche Regel, und nichts ſcheinet doch ſchwerer zu ſeyn, als ſie bey der Beurthei - lung wirklicher Dinge gehoͤrig zu befolgen.

IX. Von59und Freyheit.

IX. Von der Selbſtthaͤtigkeit der menſchlichen Seele.

  • 1) Es iſt Erfahrung, daß die Seele mit voͤlli - ger Selbſtthaͤtigkeit handelt, wenn ſie frey handelt.
  • 2) Schwierigkeiten, ſich von dem, was als - denn in uns vorgehet, deutliche Begriffe zu machen. Wie die Determiniſten und Jn - determiniſten ſolche Empfindungen erklaͤren.
  • 3) Die Wirkſamkeit der Seele, womit ſie will - kuͤhrlich ſich ſelbſt beſtimmt, iſt eine von dem Einfluſſe aͤußerer Empfindungen erweckte Selbſtthaͤtigkeit.
  • 4) Weitere Fragen, und Veranlaſſungen zu fernern Unterſuchungen dieſer Selbſtthaͤtig - keit der Seele.

1.

Man muß ſich in Acht nehmen, daß ſolche auseinan - dergeſetzten Gemeinbegriffe, wie die vorhergehenden ſind, die ſich auf ſelbſtthaͤtige Aktionen beziehen, da ſie Augenglaͤſer vor dem Verſtande ſind, nicht auch, wie ſo oft geſchieht, zu gefaͤrbten Glaͤſern werden, wenn das Verſchiedene in unſern wirklichen Empfindungen durch ſie beſchauet wird. Nur leitende Jdeen ſollen ſie ſeyn, die uns auf das Mannigfaltige in den Empfindungen mehr aufmerkſam machen, und die Unterſcheidung und Deutlichkeit befoͤrdern. Aber ob, wie weit und wenn wir wirklich ſelbſtthaͤtig oder aus Eigenmacht handeln, und ob, wie weit, und wann wir leidend von aͤuſ - ſern Urſachen getrieben werden, das muß allein die Be - obachtung entſcheiden.

Bey60XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit

Bey unſern einzelnen Handlungen den Grad der Selbſtthaͤtigkeit in ſeiner voͤlligen Schaͤrfe zu beſtimmen, das geht ohne Zweifel uͤber alle unſere Kraͤfte. Nur der Allwiſſende beurtheilet unſere individuellen Kraft - aͤußerungen nach einer voͤllig gerechten Wage, die es genau angiebt, was und wie viel unſerm Jch, uns als Seele zukommt, und wie viel dem Einfluſſe aͤußerer Umſtaͤnde beyzumeſſen ſey, von denen viele allzu ſehr im Dunkeln liegen, als daß unſer Auge ſie entdecken koͤnnnte. Aber dieß macht unſere deutlichen Selbſtge - fuͤhle nicht unzuverlaͤßig, die uns doch die Unterſchiede, ſo weit es uns in Beziehung auf unſere ſonſtigen Kennt - niſſe um ſie zu thun ſeyn kann, deutlich genug vorhalten.

Wir fuͤhlen es oft, daß Empfindungen, Vorſtel - lungen, Bewegungsgruͤnde uns beſtimmen und fort - druͤcken, auf eine Art die der aͤhnlich iſt, auf welche die Schale an der Wage, die im Gleichgewicht ſtehet von dem Uebergewicht niedergedruͤckt wird; daß ſie uns ziehen und zuweilen ſtoßen. Jn dieſen Faͤllen ſagen wir, wenn wir eigentlich reden, nicht, daß wir uns ſelbſt beſtimmen; wir werden vielmehr beſtimmt, hingeriſ - ſen, und die erfolgende Aktion wird uns abgezwungen.

Es mag ſeyn, daß die Thaͤtigkeit, welche alsdenn erfolget, eine Thaͤtigkeit unſers innern Princips ſey; zuweilen ſcheinet ſie dieß nicht zu ſeyn; aber es wird unſere innere Selbſtkraft doch von der hinzukommenden Empfindung oder Vorſtellung modificirt, und nun erſt durch dieſe neue Beſtimmung zu einem innerlich zurei - chenden Grunde gemacht, wovon der gegenwaͤrtige Trieb, das Beſtreben, oder die Aktion, ſo wie ſie erfolget, abhangen. Daß wir gerade zu derjenigen Kraftaͤußerung beſtimmet ſind, welche unter dieſen Umſtaͤnden entſpringt, haͤngt alsdenn von dem Einfluſſe der Empfindung oder der uns gefallenden Vorſtellung ab, von der wir modificirt ſind, und iſt alſo ſelbſt kein Werk unſerer Eigenmacht.

Spricht61und Freyheit.

Spricht nicht hingegen das Selbſtgefuͤhl eben ſo laut, daß wir zuweilen, alsdenn naͤmlich, wenn wir mit voͤlliger Beſinnung, nach Reflexion, oder, wie wir ſagen, mit Freyheit uns entſchließen, uns wirklich ſelbſt beſtimmen? Sind wir nicht in dieſen Faͤllen vorher, ehe wir unſere Kraft anwenden, innerlich un - beſtimmt, zum Wollen und Nichtwollen, zum Thun und Laſſen; oder ſind wir nicht zu beiden entgegengeſetz - ten auf eine gleiche Art beſtimmt? Wenn das eine er - folgt und nicht das andere, was geſchieht alsdenn in unſerer innern Kraft fuͤr eine Veraͤnderung? was kommt noch zu ihr hinzu, als allein der aͤußere Umſtand, daß ſie nun auf dieſen und nicht auf einen andern Ge - genſtand verwendet wird? Das Waſſer am Boden des Gefaͤßes ſpringt da heraus, wo ihm die Oeffnung gemacht wird, oder wo der Widerſtand am geringſten iſt; aber die ganze Aktion iſt Eigenmacht des Waſſers, inſoferne wir den Druck nach allen Seiten, den es lei - det, als ſeine eigene innere Kraft anſehen. Sind nicht die Bewegungsgruͤnde in ſolchen Faͤllen, wo wir uns ſelbſt zu dem beſtimmen, was uns am meiſten gefaͤllt, nur ebendaſſelbe, was die gemachte Oeffnung, oder die Stellen des leichteſten Widerſtandes bey dem Fluͤßigen iſt, wohin die innere wirkſamſte Kraft ſich ergießet, in - dem ſie dem leichteſten Wege nachgehet?

Jn ſolchen Beyſpielen, wo wir das Erſte das Beſte ergreifen, wo kein vorzuͤgliches Gefallen desjeni - gen, was wir waͤhlen, einen Einfluß in unſere Wahl hat, iſt unſer inneres Princip doch wohl eben ſo beſtim - met, auf das gewaͤhlte ſich zu verwenden, als auf das nicht gewaͤhlte. Das Gewaͤhlte war vor uns das, was die Kugel bey der ſich ausdehnenden elaſtiſchen Feder iſt, die ihr eben vorgeleget wurde. Die Feder haͤtte ſich ge - gen eine Wand losſchnellen koͤnnen, oder gegen jede an - dere Kugel. Jhre Aktion war ganz eine Wirkung ihrerEigen -62XII. Verſuch. Ueber die SelbſtthaͤtigkeitEigenmacht, und ihre Elaſticitaͤt bekam keine beſondere innere Beſtimmung durch die Gegenwart der Kugel, auf die ſie wirkte.

Wenn die gegenwaͤrtigen Empfindungen und Vor - ſtellungen, das Gefallen, und was uͤberhaupt zu den aͤußern Beſtimmungsgruͤnden der Aktion gerechnet werden kann, auch nichts mehr wirken, als nur, daß ſie dem innern thaͤtigen Princip den Gegenſtand vor - ſchieben, auf den es ſich anwendet; wenn ſie keine ſolche Modifikationen ſind, die zu Beſtandtheilen des in - nern zureichenden Grundes der Aktion werden und dergleichen in uns auch nicht hervorbringen, ſo iſt die Anwendung des innern Princips auf das Objekt eine aͤhnliche voͤllige Selbſtthaͤtigkeit. Da wir ſogar bey Koͤrpern Beyſpiele von Handlungen finden, die aus voller Eigenmacht entſtehen, ſo haben wir doch wohl noch weniger Urſache zu vermuthen, daß unſer Selbſt - gefuͤhl uns betruͤge, wenn wir dergleichen auch bey un - ſerer Seele gewahrnehmen.

Die Determiniſten haben doch eingeſtanden, daß die Bewegungsgruͤnde uns nicht ziehen, ſtoßen, zwingen, fortreißen, ſondern nur geneigt machen, lenken, und daß wir uns ſelbſt nach ihnen beſtim - men. Sie haben den Unterſchied richtig gefuͤhlet, der wirklich da iſt, aber ſie haben ihn nicht deutlich erklaͤret.

Von dem Vermoͤgen anders zu handeln, als wir es thun, von der Selbſtmacht uͤber uns, iſt noch nicht die Rede, ſondern nur von der Spontaneitaͤt der Eigenmacht. Jſt es alſo zu bezweifeln, daß wir oftmals ſo ſelbſtthaͤtig und eigenmaͤchtig handeln in der Art der Handlung, in ihrer Staͤrke, ſo gar in ihrer Richtung, und ſo unabhaͤngig von den Objekten, auf die wir uns beſtimmen, als die elaſtiſche Feder, oder als das herausſpringende Waſſer aus dem Gefaͤß, wel - ches auch die Richtung, in der es hervorſtroͤmet, inſeinem63und Freyheit. ſeinem innern Druck vorher ſchon hatte, ehe die Oeff - nung gemacht war, und ſolche durch dieſe letztern nicht erſt annahm?

2.

Die unmittelbare Erfahrung ſcheinet uns alſo auf ein - mal alles ins Klare zu ſetzen. Jndeſſen wird die Ausſicht bald wieder truͤbe, wenn wir ſie deutlicher faſſen wollen.

Wenn unſer inneres Princip zum Wollen und Nichtwollen, zum Thun und zum Laſſen, zu die - ſer Art der Aktion und zu einer andern, innerlich un - beſtimmt, oder zu allen auf gleiche Weiſe beſtimmt iſt, wie entſtehet denn diejenige Kraftaͤußerung, welche wirk - lich erfolget? Wollen iſt doch etwas anders, als Nichtwollen, eine andere Wirkung, eine andere Beſtimmung; zur Rechten gehen iſt doch eine andere Aktion, als zur Linken hin gehen. Woher das Eigene in der Art der Aktion, welche erfolget? Jſt hier nicht etwas mehr, als bloß eine Applikation des unbeſtimm - ten innern Princips auf eine gewiſſe Vorſtellung, oder auf ein gewiſſes Objekt?

Beide, die Determiniſten ſowohl, als Jndeter - miniſten fcheinen daruͤber einig zu ſeyn, daß in der wirklichen Anwendung der innern Kraft eine eigene hinzu gekommene Beſchaffenheit, und zwar in dem Jnnern der Aktion ſelbſt vorhanden ſey, die nicht bloß von der Beſchaffenheit des Objekts und von deſ - ſen Receptivitaͤt abhange. Es iſt daſſelbige Objekt, ich mag mich beſtimmen zum Wollen oder zum Nicht - wollen; aber dieſe beiden Handlungen ſind nach den Be - griffen beider Partheyen, unterſchiedene Aktionen; in dem Wollen iſt etwas, was in dem Nichtwollen nicht iſt. Woher nun dieſes?

Da iſt eben die Beſchaffenheit, ſagen die Deter - miniſten, welche auch ihren zureichenden Grund haben muß. Sie hat ihn auch in dem Gefallen, oderin64XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitin andern gegenwaͤrtigen Empfindungen. Alſo haben dieſe letztern Empfindniſſe, wenn wir es gleich nicht bemerken, das innere thaͤtige Princip zu der beſondern Aeußerung beſtimmet, zu der es vorher unbeſtimmt war?

Die Gegner laͤugnen dieß. Das Selbſtgefuͤhl, die ſchaͤrfſte Beobachtung lehret uns, daß wir nicht zu dieſer beſondern Handlung vorher innerlich beſtimmt ſind, ehe wir handeln. Aber die erfolgte Handlung hat doch ihre Eigenheit. Dieſe bedarf keines zureichenden Grundes, warum ſie iſt, ſetzen ſie hinzu, und hat auch keinen. Der Gemeinſatz vom zureichenden Grunde hat ſeine Einſchraͤnkungen. So antworten die Jnde - terminiſten.

Da ziehet ſich alſo der Knoten wieder feſt zuſam - men. Das Princip des zureichenden Grundes ſoll ſeine Einſchraͤnkung haben! Die Vernunft will nicht gerne daran. Oder ſoll unſer Gefuͤhl irrig ſeyn, welches uns ſo lebhaft ſaget, daß wir innerlich nicht zum Wollen be - ſtimmt werden, wenn wir frey wollen? Jſt dieß Ge - fuͤhl unrichtig, ſo handeln wir nicht einmal aus ſo vol - ler Eigenmacht, wie ein elaſtiſcher Koͤrper, oder wie das ausſpringende Waſſer.

Einer unter den ſcharfſinnigſten Jndeterminiſten, die mir bekannt geworden ſind, der Hr. G. R. Darjes,*)Jn ſeiner Metaphyſik. Pſych. Empir. §. CIX. hat doch geglaubt, der Satz vom zureichenden Grunde vertruͤge ſich ohne Einſchraͤnkung mit der freyen Wahl, in ſolchen Faͤllen, wo wir uns zu Einem Mittel von meh - rern entſchließen, die uns alle zu unſerer Abſicht gleich - guͤltig ſind, und alſo das Erſte das Beſte ſeyn laſſen. Das innere Princip iſt nicht mehr beſtimmt zu dem Ei - nen Mittel, das gewaͤhlet wird, als zu dem andern. Warum wird es denn gewaͤhlet, und warum nicht ein anders? Der genannte Philoſoph antwortet, weil es zu unſerer Abſicht hinreichet, und mehr ſuchen wir nicht. Jch65und Freyheit. Jch fuͤhre dieſe ſeine Erklaͤrung hier beſonders an, weil ich glaube, er ſey im Begriffe geweſen, in dieſer einen Art von Faͤllen den Knoten aufzuloͤſen. Aber er hat ihn nicht aufgeloͤſet. Denn die Antwort, die er gab, war unzureichend. Das Mittel genuͤget zur Abſicht. Wohl, aber die uͤbrigen Mittel, die nicht gewaͤhlet werden, genuͤgen auch. Bey dieſen war alſo derſelbige Grund, wie bey jenen. Warum wurde denn jenes, nicht dieſe, genommen? Mich deucht, es ſey ſehr auf - fallend, daß die Antwort ſo lauten muͤſſe: es werde darum gewaͤhlet, weil es unſerer ſich beſtimmenden Kraft jetzo vorlieget; nicht aber darum, weil es unſerer innern wollenden Kraft eine eigne Beſtimmung bey - bringet, und ſolche nun erſt zu einer eigenen Handlung geſchickt machet; ſondern darum, weil es ſich nun eben als ein Objekt darſtellet, uns in dieſem Augenblicke eben in den Sinn kommt, oder lebhafter und klaͤrer uns gegenwaͤrtig wird, als die uͤbrigen. Es war die Ku - gel, die man der elaſtiſchen Feder eben vorlegte, da ſie ſich ausdehnte. Wie, wenn ein anderes Mittel ſtatt des gewaͤhlten genommen worden waͤre, wuͤrde alsdenn eine andere Aktion, eine andere Selbſtbeſtimmung er - folget ſeyn? Nichts weniger; es wuͤrde dieſelbige Aktion erfolget ſeyn, nur auf ein anderes Objekt verwendet. Da iſt alſo nichts vorhanden, was außer dem innern wirkſamen Princip einen zureichenden Grund erfo - dert, als nur der aͤußere Umſtand, daß die Kraft auf dieſes Objekt beſonders appliciret ward; denn weiter iſt nichts Eigenes in dem, was hiebey wirklich geſchieht. Alſo war es die Gegenwart dieſes Objekts, was hinzu kam; und nun hat alles das Jnnere und das Aeußere der erfolgten Aktion ſeinen voͤllig zureichenden Grund, warum es ſo, und nicht anders iſt.

Laſſet uns annehmen, die Faͤlle dieſer Art, worinn wir uns zu Einem von mehrern gleichguͤltigen DingenII Theil. Eent -66XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitentſchließen, und wo das Warum ſo, und nicht anders, allein von der Gegenwart des Objekts abhaͤnget, worauf ſich die Kraft anwendet, waͤren voͤllig erklaͤrt; wie muͤßte es ſich denn in den uͤbrigen verhalten, wo das vorzuͤgli - che Gefallen es iſt, wonach wir uns beſtimmen, oder mit andern Worten, wo wir nach dem Geſetz des Beſten wollen und handeln? Hier ſcheint der eigentliche Sitz der Schwierigkeiten zu ſeyn. Handeln wir da ſelbſt, be - ſtimmen wir uns ſelbſt, wenn wir das waͤhlen, was uns gefaͤllt? So uͤberredet es uns unſer Gefuͤhl. Oder werden wir paſſive beſtimmt zur Handlung, und iſt die Handlung ſelbſt zum Theil wenigſtens eine Leiden - heit? So ſcheinet es, muͤſſe es ſeyn, wenn wir darauf ſehen, daß das Gefallen in der Sache uns beweget; und daß dieß Gefallen ein Empfindniß iſt, wodurch das Wollen hervorgebracht wird.

3.

Es ſind doch einige Vorbereitungen noͤthig, ehe man geradezu dieſe Schwierigkeiten angreifen kann. Meine Abſicht iſt nicht ſo ausgedehnt, die ganze Be - ſchaffenheit unſerer Selbſtthaͤtigkeit zu unterſuchen. Dieß iſt eine Tiefe, die uns deſto unerreichbarer vor - kommt, je weiter man in ſie hinabſteiget. Hier we - nigſtens verlange ich nicht mehr, als nur bis zu dem Grunde zu gelangen, woraus dasjenige entſpringet, was wir in unſern Gefuͤhlen vor uns haben, und helle genug unterſcheiden. Was iſt in uns vorhanden, was geſchieht, wenn wir mit Beſinnung willkuͤhrlich wol - len, uns beſtimmen, und handeln? Was iſt alsdenn da, wenn wir gereizet, getrieben, gedruckt, genoͤthi - get werden? Warum das Eine unter dieſen, das an - dere unter andern Umſtaͤnden? Aber auch zu dieſen Fragen iſt es noͤthig, ſich nach einigen Erfahrungsſaͤtzen uͤber die Selbſtthaͤtigkeit der Seele umzuſehen. Sichbeſtim -67und Freyheit. beſtimmen zu einer Aktion, kann von der Aktion ſelbſt unterſchieden werden, zu der wir uns beſtimmen. Dennoch iſt auch die Selbſtbeſtimmung, als eine will - kuͤhrliche Anwendung unſerer Kraft eine Selbſtthaͤ - tigkeit.

Zuvoͤrderſt wiederhole ich die Erinnerung, daß ich hier die immaterielle Seele, das eigentliche Jch, von ihrem innern unzertrennlichen Organ noch nicht unter - ſcheide. Die Empfindungen, die Vorſtellungen, das Wollen, das Thun iſt in der Seele. Dieſe iſt das leidende und wirkende Subjekt, welches empfindet, den - ket, will, thaͤtig iſt. So weit unſer inneres Selbſt - gefuͤhl uns Begriffe von dieſen Modifikationen giebet, ſo weit gehoͤren ſie zu den Veraͤnderungen des Seelen - weſens in dem Menſchen.

Dieß Weſen iſt nach der Ausſage aller Erfahrun - gen nicht ſo natuͤrlich ſelbſtthaͤtig, daß es in dem Zu - ſtande einer regen und beobachtbaren Wirkſam - keit ſich befinden kann, ohne von dem Einfluſſe aͤuße - rer Dinge gereizet und unterſtuͤtzt zu ſeyn. Jm tiefſten Schlafe, in der Ohnmacht, was wirkt die Seele dann? Sie mag wirken, ſich beſtreben, etwas hervor - bringen; niemals ein bloßes oder todtes Vermoͤgen ſeyn; ſo iſt doch ſo viel entſchieden, daß ſie nichts wirke, deſſen wir uns nachher erinnern koͤnnen. Jſt ſie in die - ſem Zuſtande thaͤtig, beſtimmt ſie ſich, handelt ſie, ſo liegen dieſe ihre Aeußerungen nicht in dem Umfange deſſen, was wir beobachten, und uͤber die unſer Selbſt - gefuͤhl uns ſagen koͤnne, ob es Selbſtthaͤtigkeiten oder Leidenheiten ſind? Wir beduͤrfen klarer Empfin - dungen von außen, um wachend zu ſeyn; und von den Handlungen des wachenden Menſchen iſt hier nur die Rede. Wenn wir auch zuweilen willkuͤhrlich im Traum handeln, ſo kommen dieſe Aktionen hier we - niger in Betracht; wie auch alsdenn die Selbſtwirk -E 2ſamkeit68XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitſamkeit im Traume mit den Empfindungen des aͤußern Gefuͤhls in Verhaͤltniß ſtehen moͤge. Und geſetzt, es ſind nicht klare aͤußere Empfindungen, ohne welche die Seele ſich als ein ſelbſtthaͤtiges Weſen vor ſich ſelbſt nicht zeigen kann, ſo ſind es doch innerliche koͤrperliche Gefuͤhle, die hiezu erfodert werden.

Alſo iſt die rege thaͤtige Seelenkraft, das in - nere wirkende Princip, wenn ſie ſich ſelbſtbeſtim - met, abhaͤngig von andern Dingen, und die Wirk - ſamkeit deſſelben iſt hoͤchſtens nichts mehr, als eine von andern Urſachen erweckte Selbſtthaͤtigkeit.

Dieß letztere, naͤmlich eine erweckte aber wahre Selbſtthaͤtigkeit iſt es auch, was ihre Wirkſamkeit ausmacht. Zu derjenigen Gattung von unſelbſtthaͤ - tigen Weſen, welche ſelbſt kein inneres Princip ihrer Wirkungen beſitzen, und nur Jnſtrumente fremder Kraͤfte ſind, nur Kanaͤle, wodurch die wahren Quellen aller Thaͤtigkeit und alles deſſen, was hervorgebracht wird, hindurchgehen, gehoͤrt ſie ganz gewiß nicht. Sie iſt nicht der Hammer, wozu ihr Koͤrper die Hand iſt, die ihn fuͤhret, noch die Kugel, die nur ſo viel be - wegende Kraft hat, als ihr durch die Schwere im Fal - len gegeben iſt. Zuverlaͤßig hat ſie ſelbſt ein inneres Princip zur Thaͤtigkeit. Jn ihren aͤußern Empfindun - gen verhaͤlt ſie ſich am leidentlichſten, und dennoch giebet eine etwas genaue Beobachtung gute Gruͤnde an die Hand,*)Erſter Verſuch XVI, 4. 5. Eilfter Verſuch III. zu glauben, daß auch zu den leidentlichſten Gefuͤhlen, die in ihr entſtehen, die innere Naturkraft etwas thaͤtig beytrage. Dieſe Mitwirkſamkeit des in - nern Princips iſt die Selbſtthaͤtigkeit, worinn der Grund zu dem Vermoͤgen lieget, Vorſtellungen zu haben und zu reproduciren.

Jſt69und Freyheit.

Jſt nun eine ſolche Modifikation, die ſie aufnimmt, wenn ſie fuͤhlet, nicht einmal ganz und gar ein Effekt der Kraft, die von außen einwirket, wie viel weniger ſind es denn die thaͤtigen Seelenaͤußerungen, zu welchen ſie, wenn ſie durch jene Gefuͤhle gereizet worden iſt, uͤbergehet; und ihre Beſtrebungen und Triebe, die ſie aͤußert, Vorſtellungen zu reproduciren, zu dichten, zu uͤberlegen, zu wollen, zu bewegen, und etwas hervor - zubringen? Dieſe Kraftaͤußerungen ſetzen noch viel - mehr eine abſolute und reelle Beſchaffenheit, als ein Vermoͤgen in ihr voraus, welches, ehe die Reizung von außen hinzukommt, ſchon vorhanden war, und nun rege gemacht, der wahre und letzte Grund der hervor - gehenden Aktion iſt. Sollte dieſe ſo evidente Folgerung noch dem mindeſten Zweifel unterworfen ſeyn, ſo kann die durchgaͤngige Uebereinſtimmung unſerer Selbſtge - fuͤhle ſie vollends beſtaͤtigen.

Dieß iſt alſo der erſte Erfahrungsſatz, und hier ein Grundſatz: die rege Wirkſamkeit der Seele in dem Zuſtande, wenn wir wachen, und willkuͤhrlich handeln, iſt eine erweckte Selbſtthaͤtigkeit; das innere thaͤ - tige Princip, ſo wie es nun der innere zureichende Grund der hervorgehenden Thaͤtigkeiten wird, iſt Ei - genmacht der Seele, die durch Gefuͤhle und Empfin - dungen erweckt und beſtimmt iſt.

4.

Bey dieſem Grundſatze, den ich hier als ein Faktum anſehe, will ich ſtehen bleiben. Die Wirkſamkeit der Seele, als menſchlichen Seele, die zu empfindende, die beobachtbare Wirkſamkeit, iſt eine gereizte, erweckte Selbſtthaͤtigkeit. Aber wie viele Dunkelheit liegt noch in dieſem Begriff? und wie viel Fragen kann man noch hinzuſetzen, auf welche die Antworten ſo leicht nicht duͤrften zu finden ſeyn?

E 3Auf70XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit

Auf welche Art wird das innere Princip in der Seele rege gemacht? und worinn beſteht dieſe Erregung?

Jſt dieß innere Princip, ehe es noch den aͤußern Reiz empfaͤngt, bloßes Vermoͤgen, etwas zu ver - richten, bloße Moͤglichkeit; oder iſt es ſchon thaͤtige obgleich uns verborgene Kraft?

Wenn das letztere iſt, worinn beſtehen die Aeuße - rungen, die Beſtrebungen dieſes Princips, ehe die Er - weckung von außen durch den Koͤrper dazu kommt? Hievon haben wir wohl nicht einmal Begriffe? oder ſind dieſe Aeußerungen eben dieſelbigen, die wir das Fuͤhlen, das Vorſtellen, Denken, Wollen nennen? innerlich dieſelbigen, nur daß wir ſie nicht gewahrneh - men koͤnnen? Geben die Eindruͤcke von außen nichts mehr her, als die Gegenſtaͤnde, auf welche das innere Princip ſich anwendet, und mit denen die Aktionen erſt ſelbſt empfindbar vor uns werden? Die Elaſticitaͤt in der geſpannten Feder iſt innerlich derſelbige wirkſame Trieb, daſſelbige Beſtreben, derſelbige Drang ſich zu aͤußern, die Feder mag in dieſem geſpannten Zuſtande erhalten, oder losgelaſſen werden; ſie mag eine Kugel antreffen, die ſie fortſtoͤßt, oder ſich ſelbſt ausdehnen. Jſt dieß ein Bild von der innern Eigenmacht der menſch - lichen Seele?

Wenn es ſich nicht ſo verhaͤlt, kann es denn nicht ſeyn, daß beides Seele und Koͤrper, jeder aber fuͤr ſich, nur in Verbindung wirken? Die Aktion der Seele ſelbſt iſt Eigenmacht, und der Beytrag des Koͤrpers iſt es auch. Was beide zuſammenwirken, das kann viel - leicht in ſeinem Effekt erſt beobachtbar werden, ohne daß die Aeußerung der Seele fuͤr ſich allein es ſeyn wuͤrde. Und dieſes Ganze wird als ein Effekt der Seele angeſehen, weil ſie die vornehmſte der beywirkenden Urſachen iſt. Sollte es ſich ſo verhalten?

Von71und Freyheit.

Von dieſer Vorſtellung laͤßt ſich vielleicht alsdenn Gebrauch machen, wenn die Frage iſt, wie das imma - terielle Jch, und ihr inneres Organ, in Vereinigung als ein Weſen wirken, und ſich auf einander beziehen? Dagegen aber hier, wo wir das ganze vorſtellende, den - kende und wollende Eins, als die Seele anſehen, der man den organiſirten Koͤrper entgegenſetzet, ſcheinet man ihn nicht anwenden zu koͤnnen. Wenigſtens iſt die Vorſtellung natuͤrlicher, daß das geſammte innere wirkſame Princip, oder der ganze zureichende Grund der Aktionen in der Seele, als dem Subjekt ſelbſt vor - handen ſey, nachdem ſie durch Eindruͤcke von außen modificiret worden iſt.

Jſt das innere Princip der Seele vor der Erweckung von außen, nur bloßes Vermoͤgen, was iſt es als Ver - moͤgen? Ein innerer noch unzureichender Grund zu einer Thaͤtigkeit. Wie wird dieſer unzureichen - de Grund in einen zureichenden verwandelt? Kann eine ſolche Erweckung dadurch beſchaffet werden, wenn das vermoͤgende Weſen leidentliche Modifikationen von andern empfaͤngt, wie etwan, nach unſern ſinnli - chen Vorſtellungen zu urtheilen, die vorher ruhende Kanonenkugel durch die Wirkung des Pulvers, oder durch den Stoß anderer, eine zerſchmetternde Kraft bekommt, die ſie vorher nicht beſitzet? Oder gibt es durchaus kein ganz unwirkſames Vermoͤgen, etwas zu thun, keine todte Faͤhigkeiten oder Kraͤfte, wie einige ſolche bloße Vermoͤgen nennen, ohne Wirkſam - keit? wie es nach der Meinung verſchiedener großen Philoſophen nicht geben kann, weil ſonſten nicht zu be - greifen ſey, wie ein unwirkſames Vermoͤgen in eine thaͤtige Kraft uͤbergehen koͤnne. Jſt aber vorher ſchon das bloße Vermoͤgen etwas wirkſames, ſo ließe ſich die Erweckung dieſer todten Kraft zu einer lebendigen, wel - che durch die Einwirkung einer fremden Kraft verurſa -E 4chet72XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitchet wird, darinn aufloͤſen, daß jenes innere vorher ſchon wirkſame Princip nur zur Reaktion gegen die von außen einwirkende Kraft gebracht werde. Und ſollte ſichs ins - beſondere bey der Seele nicht auf dieſe Art verhalten?

Endlich wenn die Wirkſamkeit der Seele ſowol von dem innern Naturprincip, als von der Einwirkung aͤußerer Urſachen abhaͤngt, wie verhaͤlt ſich die Bey - wirkung von außen zu dem Antheil, den jenes in - nere Princip an der entſtandenen Wirkſamkeit hat? Wie unendlich viele Grade und Stufen in dieſer Ab - haͤngigkeit giebt es nicht, die zugleich die innere Groͤße der natuͤrlichen Selbſtthaͤtigkeit eines Weſens beſtim - men? Dieß Verhaͤltniß iſt, zumal bey uns, wenn das ganze innere Seelenweſen fuͤr die Seele angeſehen wird, nicht allemal das naͤmliche. Die Lebhaftigkeit des Geiſtes iſt zuweilen mehr eine Wirkung der heitern Luft, der Geſundheit des Koͤrpers, des Gluͤcks, des Weins, als der innern Seelenſtaͤrke. Um manchem eingebildeten ſtarken Geiſte ſeinen Muth zu entziehn, darf man ihn nur kuͤmmerlich ſpeiſen, oder in eine dicke luft bringen; aber bey andern iſt die Quelle des Lebens und der Staͤrke in dem Jnnern. Nicht alle Menſchen ſind gleich wetterlaͤuniſch, wie der Hypochondriſt. Wo liegt der Grund dieſer Verſchiedenheit?

Es iſt ſchon zu viel gefragt. Wenn es in unſern Gemeinbegriffen nicht noch an demjenigen fehlte, was die Metaphyſiker in ihren Syſtemen ſchon darinn zu finden geglaubt haben, ſo ließe ſich Eins und das andere naͤher beſtimmen, und ohne Zweifel wuͤrden ſie uns denn ihrem Zwecke gemaͤß um eine Schicht tiefer unter der Oberflaͤche, und naͤher an das Jnnere unſerer Natur bringen. Aber unerreichbar iſt dieſes Jnnere doch. Jch kehre zu den Beobachtungen zuruͤck, und habe bey dieſen Fragen die Graͤnzlinie ziehen wollen, innerhalb welcher ich ſtehen bleiben will.

X. Von73und Freyheit.

X. Von der Beſtimmung der ſelbſtthaͤtigen Seelen - kraft zu einzelnen Aeußerungen.

  • 1) Die Seele wird zuweilen leidentlich be - ſtimmt; zuweilen beſtimmt ſie ſich ſelbſt. Erſte Erfahrung: Wenn ſie fuͤhlet und em - pfindet, wird ſie leidentlich beſtimmt.
  • 2) Zwote Erfahrung: Jede Kraftaͤuße - rung der Seele, welche unmittelbar auf ein Gefuͤhl erfolget, und von der wir vorher keine Vorſtellung hatten, iſt eine ſolche, zu der die Kraft der Seele leidentlich beſtim - met wird.
  • 3) Dritte Erfahrung: Oftmals haben wir ſchon vorher eine Jdee von der erfolgenden Aktion, und werden dennoch leidentlich zu ihr beſtimmt.
  • 4) Vierte Erfahrung: Die Gegenwart, die Bearbeitung, und die weitere Entwicke - lung der Vorſtellungen iſt oftmals keine Selbſtthaͤtigkeit der Seele, wenigſtens dem Gefuͤhl nach nicht; oftmals iſt ſie es.
  • 5) Grund dieſer Verſchiedenheit in den Em - pfindungen.
  • Fuͤnfter Erfahrungsſatz: von dem Unter - ſcheidungsmerkmal ſolcher Aktus der See - le, wozu ſie leidentlich beſtimmt wird.
  • 6) Weſentliche Verſchiedenheit zwiſchen dieſen und denen, wozu ſie ſich ſelbſt beſtimmt.
E 51. Wenn74XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit

1.

Wenn einmal vorausgeſetzt wird, daß die Kraft der Seele in dem Zuſtande einer regen Wirkſam - keit ſich befindet, ſo iſt nun vornehmlich auf das Wie und Wodurch zu ſehen, wenn ſie zu ihren beſondern Anwendungen, Handlungen und Verrichtungen gebracht werde? Jch bin wachend und munter, und komme auf mein Zimmer. Jnnerlich ſind eine Menge von Em - pfindungen rege, und außerhalb umgeben mich viele Gegenſtaͤnde. Es reget ſich das Gefuͤhl meines Be - rufs; ich empfinde Triebe, Verlangen; eine Menge von Vorſtellungen iſt gegenwaͤrtig. Jch ſetze mich nie - der, um uͤber die Freyheit zu denken und zu ſchreiben. Wie geht es zu, daß mein inneres thaͤtiges Princip zu dieſer beſondern Art von Wirkſamkeit und auf dieſe be - ſondern Objekte gelenket wird?

Erſte Erfahrung. Wenn ich Eindruͤcke von Gegenſtaͤnden empfange, die auf meine Sinnglieder wirken, und ſolche fuͤhle, ſo mag es ſeyn, daß dieß Aufnehmen und dieß Fuͤhlen eine Thaͤtigkeit ſey, die aus meinem innern Princip hervorgeht; aber es iſt gewiß, daß ich zu dieſer Aeußerung beſtimmet wer - de. Es iſt eine Reaktion, zu der mich die Ein - wirkung der aͤußern Dinge noͤthiget; und mir kommt das ganze Gefuͤhl wie ein Leiden vor. Aber es ſey eine Thaͤtigkeit, ſo iſt dieß doch gewiß kein thaͤtiger Aktus, daß meine Kraft auf dieſe Art angewendet wird. Dieß letztere iſt eine Leidenheit, wozu ſie beſtimmt wird. Die Groͤße der Reaktion und ihre Richtung haͤngt von einer andern Urſache ab.

Wenn ich dieſe Empfindung fortſetze, genauer zu - ſehe, oder die Augen wegwende, verſchließe, ſo fuͤhle ichs, daß ich hier ſchon mich ſelbſt beſtimmen kann. Die Jmpreſſionen, welche wir annehmen, koͤnnen wohlmittel -75und Freyheit. mittelbar oder auch unmittelbar von Selbſtbeſtimmun - gen meiner Kraft, welche vorhergegangen ſind, abhan - gen. Aber hier, wo von dem Eindruck und von dem Gefuͤhl die Rede iſt, welche unmittelbar auf die Ruͤh - rung der Organe folgen, da iſt es gewiß, daß die Be - ſtimmung des innern Sinns zu dieſem Gefuͤhl keine Selbſtthaͤtigkeit und kein Selbſtbeſtimmen ſey.

Es verhaͤlt ſich auf eine aͤhnliche Art bey den innern Empfindungen und bey den Empfindniſſen. Jch werde afficirt von einer Veraͤnderung, von Vorſtellun - gen. Sie ſind mir angenehm oder unangenehm. Dieſe Gefuͤhle moͤgen Folgen meines innern thaͤtigen Princips ſeyn, das auf eine gewiſſe Weiſe zuruͤckwirkt; aber zu dieſen Ruͤckwirkungen werde ich leidentlich beſtimmt.

2.

Zwote Erfahrung. Jede Kraftaͤußerung der Seele, die unmittelbar auf ein Gefuͤhl erfolget, und von der ich keine vorhergehende Vorſtellung habe, iſt eine ſolche, zu der die Kraft leidentlich beſtimmet wird.

Die Eindruͤcke von außen bringen nicht nur die er - ſten Reaktionen der Seele hervor, die das Fuͤhlen und das Empfinden ausmachen, ſondern verurſachen auch andere Kraftaͤußerungen in einem ſo thaͤtigen Weſen, als die Seele iſt. Es werden entweder Vorſtellungen erwecket, getrennet, vermiſcht; Jdeen, Gewahrneh - mungen, Gedanken hervorgebracht, indem die vorſtel - lende Kraft und die Denkkraft zur Anwendung erwecket werden; oder es entſtehen auch ganz neue Modifikatio - nen, eigentliche Thaͤtigkeiten,*)Zehnter Verſuch. I. 1. und gemeiniglich beides zugleich.

Jn jedem Fall, wenn ſie inſtinktartig erfolgen, ohne daß wir eine Vorſtellung von ihnen gehabt haben,die76XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitdie zuvoͤrderſt wieder erwecket ward, iſt es keine Selbſt - thaͤtigkeit, wenn die innere Wirkſamkeit auf dieſe Weiſe, in dieſer Richtung und mit dieſer Staͤrke hervorgehet.

3.

Dritte Erfahrung. Es iſt oͤfters eine Vorſtel - lung von einer Handlung in mir, und dennoch werde ich leidentlich zu ihr beſtimmt.

Oſtmals habe ich gegaͤhnet, auch gelachet, und weiß alſo, was beides iſt, kann auch beides willkuͤhrlich mittelſt dieſer Vorſtellung wieder hervorbringen. Wenn ich einem andern nachgaͤhne, ſo geſchieht ſolches auch nicht anders, als dadurch, daß die Vorſtellung von dem Aktus des Gaͤhnens erreget wird, und in Thaͤtig - keit uͤbergehet. *)Zehnter Verſuch. III. 3.Wie manches Frauenzimmer kann nicht ihre Thraͤnenquelle fließen laſſen, wenn ſie will! Aber dennoch uͤberfaͤllt uns auch wohl das Gaͤhnen, das Lachen, das Weinen, unmittelbar auf eine vorhergegan - gene Empfindung, ſo daß die Anwendung der thaͤtigen Seelenkraft, die hiezu erfodert wird, eine pure Leiden - heit iſt, und die Vorſtellung leidentlich reproducirt, und die Kraft zur Aktion leidentlich beſtimmet wird. Die Aktus ſelbſt ſind alsdenn wahre Kraftaͤußerungen; aber daß unſer inneres Princip ſich auf dieſe Art aͤußert, und in der Maße hervorgehet, iſt keine Selbſtthaͤtigkeit; es wird dazu eben ſo beſtimmet, als der reizbare Mus - kel zum Zuſammenziehen, wenn man ihn mit der Spitze einer Nadel oder eines Meſſers reizet.

4.

Vierte Erfahrung. Daß Vorſtellungen in uns wieder erwecket, und gegenwaͤrtig gemacht wer - den, daß ſie dermalen lebhafter ſind, daß ſie faſt bis an die ehemaligen Empfindungen hin ſich auswickeln, iſt77und Freyheit. iſt oftmals, nach unſerm Selbſtgefuͤhl zu urtheilen, eine Leidenheit; aber oft auch, und beſonders in dem Zuſtande der Beſinnung, wenn wir unſer ſelbſt maͤchtig ſind, eine Selbſtthaͤtigkeit, und eine Folge unſers eigenen Beſtrebens.

Zuweilen iſt es wallendes Gebluͤt, Affekt, Fieber - hitze, was uns mit Phantaſien beſchweret, deren wir uns nicht entſchlagen koͤnnen, wenn wir auch wollen. Da - gegen, wo wir uns hinſetzen, einen Plan zu durchden - ken, eine verwickelte Meditation vorzunehmen, eine Sache von allen Seiten zu uͤberſehen, da fuͤhlen wir unſere eignen Beſtrebungen, die dazu gehoͤrigen Vor - ſtellungen in uns hervorzurufen, zu unſerm Gebrauche gegenwaͤrtig zu erhalten, und ſie eine nach der andern zu entwickeln.

Wie es ſich auch mit der erſten Reproduktion der Vorſtellungen verhalten mag: denn zuweilen, wenn wir uns mit Fleiß auf etwas beſinnen, fuͤhlen wir auch hiebey unſer Thaͤtigſeyn; ſo fuͤhlen wir jenen Unter - ſchied am ſtaͤrkſten in ſolchen Faͤllen, wo es darauf ankommt, Jdeen gegenwaͤrtig vor unſerm Bewußtſeyn zu erhalten und ſie lebhafter in uns auszudrucken. Jch fuͤhle ſeltener ein Selbſtbeſtreben, wenn mir etwas ein - faͤllt; aber ich fuͤhle es oͤfters, wenn ich die mir einfal - lende Sache anſchaulich, und als ſtuͤnde ſie vor mir, zu gedenken mich bemuͤhe.

Dieſe Verſchiedenheit der Vorſtellungen, da ihre Gegenwart entweder eine Folge eines thaͤtigen Beſtre - bens der Seele iſt, oder nicht, haͤngt nicht allein von ihrer innern Lebhaftigkeit und Staͤrke, oder von der Menge der innern Aktionen ab, die in ihnen enthalten ſind. Es kommt auf noch etwas anders dabey an, das in dem Koͤrper liegt, und uͤberdieß auch auf etwas in der Kraft der Seele, was wir Geiſtesſtaͤrke nennen. Der große Verſtand wirket auf eine Sphaͤre von Jdeen,die78XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitdie ausgedehnter, intenſiv ſtaͤrker, und voller verwirr - ten und dunkeln Stellen iſt, und er erhaͤlt ſich dennoch in ſeiner Faſſung; da hingegen der ſchwache Kopf bey der geringſten Lebhaftigkeit und Verwirrung fortgeriſ - ſen wird. Jener behaͤlt ſich in ſeiner Gewalt, ſo lange dieſe Scene in ihm ſein eigen Werk iſt, das nur durch ſeine Thaͤtigkeit da iſt, und verſchwindet, ſobald er ſeine Kraft zuruͤckziehet; dieſer geraͤth außer ſich, und ſein Blut und ſein Gehirn ſpielt in ihm fort. Es ſind oͤf - ters dieſelbigen Vorſtellungen, die wir anfangs mit Muͤhe zuſammengeſucht und geordnet haben, und die uns nachher, nachdem wir ſchon allzulange und zu hef - tig mit ihnen uns befaſſet haben, nicht wieder ſogleich verlaſſen, als es uns gefaͤllig iſt, und als wir aufhoͤren, ſie zu erregen.

Aber dennoch lehret es die Erfahrung, daß dieſe ihre groͤßere und geringere Abhaͤngigkiet von der in - nern Seelenkraft auch mit ihrer Dunkelheit und Klar - heit, Verwirrung und Deutlichkeit, Staͤrke und Schwaͤche, in Beziehung ſtehe. Je naͤher ſie fuͤr ſich den Empfindungen kommen, deren zuruͤckgeblie - bene Spuren ſie ſind, deſto mehr ſind ſie auch, wenn alles uͤbrige gleich iſt, Leidenheiten, oder deſto leichter werden ſie es. Je mehr auseinandergeſetzt und je deut - licher ſie ſind, deſto mehr ſind ſie ſchon bey ihrem erſten Entſtehen auch Wirkungen von ſelbſtthaͤtigen Seelen - aͤuſſerungen, und deſto mehr haͤngt auch bey ihrer Re - produktion von dieſen letztern ab. Dazu kommt, daß ſie auch in jenem Fall mehr nach Art der Empfindun - gen wirken, und die Seelenkraft zu neuen inſtinktarti - gen Aktionen reizen, als ſie es thun, wenn ſie entwickelt und vernuͤnftig ſind. Je dunkler, je verwirrter, je mehr beſtimmter und vielbefaſſender die Vorſtellungen ſind, deſto ehe regieren und lenken ſie unſer Wollen, und un - ſere Thaͤtigkeit.

Es79und Freyheit.

Es laͤßt ſich etwas aͤhnliches bey unſern Gewahr - nehmungen, Urtheilen und andern Aeußerungen der Denkkraft, ſogar bey unſern Ueberlegungen anmerken. Wie oft werden ſolche uns nicht, ſo zu ſagen, abgenoͤthiget, wie Empfindungen, ohne daß wir es fuͤhlen, daß ſolche aus eigenem Beſtreben ent - ſpringen? deſto weniger und ſeltener, je mehr ſie ſelbſtthaͤtige Aktus der Denkkraft erfodert haben, ehe ſie zu Stande gekommen ſind. Und ſolche Aktus der Seele, wozu ſie paſſive beſtimmet wird, hinterlaſſen ihre Spuren, welche oft ſo innig an die Vorſtellungen, die anfangs das Objekt der thaͤtigen Kraft waren, ſich an - legen und mit ihnen vereiniget werden, daß der Aktus ſelbſt, wie z. B. das Gaͤhnen, wieder erwecket wird und hervorgehet, ſo bald die ſie veranlaſſende Vorſtel - lung wiederum da iſt, und zwar ſo, daß dieſe wieder - holte Aktion ſelbſt nur eben ſo, wie eine ſonſten paſſive Empfindung, in der Seele gegenwaͤrtig wird.

5.

Dieſe Verſchiedenheit in den Beſtimmungen der Seelenkraft mag ihren Grund haben, worinn ſie wolle; ſie iſt ſo groß, als der Unterſchied zwiſchen Thun und Leiden, und unſer Selbſtgefuͤhl lehret ſie uns ſehr deutlich von einander unterſcheiden. Es iſt auch nicht ſchwer, uͤberhaupt davon eine Erklaͤrung zu geben, ob dieſe gleich nach den verſchiedenen Vorſtellungen, die man ſich von der Natur des Seelenweſens macht, auf eine verſchiedene Art ausfallen muß. Seele und Koͤr - per handeln in Vereinigung, welche bey allen Hypothe - ſen, die man auch uͤber die Beſchaffenheit dieſer Ver - bindung annimmt, die Folge hat, daß mit jedweder Seelenveraͤnderung, mit jedweder Leidenheit und mit jeder Thaͤtigkeit eine gewiſſe Beſchaffenheit im Gehirn vergeſellſchaftet ſey, ohne welche jene wenigſtens nichtauf80XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitauf eine ſolche Art vorhanden iſt, daß wir uns ihrer bewußtſeyn koͤnnten. Die Kraft der Seele iſt das wirkſame Princip in dem Fall, wenn die Veraͤnde - rung eine Kraftaͤußerung iſt; und dann iſt das koͤr - perliche Organ das leidende, das nichts mehr thut, als bloß allein zuruͤckwirket; aber hingegen iſt das Or - gan das wirkende Princip, und die Seele reagirt nur leidentlich in den Empfindungen. Kann nun das Koͤr - perliche in dem Organ, die materielle Jdee, oder, wie wir es nennen wollen, die harmoniſche Veraͤnde - rung, die zu einer Seelenthaͤtigkeit gehoͤret, durch Ur - ſachen in dem Koͤrper gegenwaͤrtig gemacht werden, ſo kann die Seele dadurch leiden, und dann inſtinktartig zu dem begleitenden, vorſtellenden oder denkenden Aktus beſtimmet werden.

Jedoch alle Erklaͤrungen bey Seite geſetzt, will ich noch Eine Bemerkung zu den vorigen hinzuſetzen. Dieß ſoll der fuͤnfte Erfahrungsſatz ſeyn. Wenn es uns nach der dritten und vierten Beobachtung begegnet, daß eine Vorſtellung ohne ein Gefuͤhl unſers eignen Beſtrebens in uns gegenwaͤrtig wird, oder gegenwaͤr - tig bleibet, oder lebhafter hervorgehet, ingleichen wenn wir zu einer Reflexion, oder zu einem Tenk - aktus, oder zu einer andern Thaͤtigkeit leidentlich be - ſtimmet werden: ſo finden wir uns auf eine aͤhnliche Art modificiret, als es nach der zwoten Erfahrung |in ſolchen Faͤllen geſchieht, wo eine Kraftaͤußerung un - mittelbar auf ein Gefuͤhl erfolget, zu der dieſes Gefuͤhl uns beſtimmet.

Jch bin in einer Leidenſchaft, oder es wallet doch das Gebluͤt noch jetzo von ihr. Die vorigen Jdeen ſteigen von Zeit zu Zeit wieder auf, und reizen zu den vorigen Aktionen, die dann auch wohl zum Theil wirk - lich wieder erfolgen. Aber es iſt nicht ſchwer zu be - merken, daß, was hier leidentlich erfolget, unterbro -chen,81und Freyheit. chen, und nur, ſo zu ſagen, ſtoßweiſe erfolget. So wie die auftretende Vorſtellung weggeht, und ſich einen Augenblick verliert, ſo faͤllt auch der Anſatz zur Thaͤtigkeit mit ihr zugleich zuruͤck. Die Aktion beſtehet in dieſem Fall aus unterſchiedenen getrennten Theilen, die nach und nach hervorgetrieben werden, aber keine in Eins fortgehende Aktion ausmachen. Verfolgt mich ein Gedanke, ſo werde ich zwar zum Ge - wahrnehmen gezwungen; aber ich fuͤhle es doch, daß dieß Gewahrnehmen eben ſo vorhanden iſt, als wenn mir jemand das auf ein Spiegelglas aufgefangene Son - nenbild in die Augen wirft, und mich mit dieſem Bilde verfolget. Jch ſchließe die Augen zu, und drehe ſie weg; aber wenn ich ſie wieder eroͤffne, ſo iſt das blen - dende Bild, das mich verfolgt, auch wiederum vor mir; ich mach's wieder ſo, wie vorher. Jch handele aber unterbrochen, ſo wie mir die Aktion theilweiſe ab - gezwungen wird.

Dagegen wenn die Kraftaͤußerungen nicht ſolche unmittelbare Folgen ſind, wozu mich die Gefuͤhle be - ſtimmen, ſo gehen ſie in Eins fort, wenn ſie einmal angefangen haben. Der erſte Anfang der Aktion mag ein unmittelbarer Ausbruch der Kraft ſeyn, wozu das Gefuͤhl gereizet und geſtimmet hat; aber wenn das, was ferner erfolgt, meine Selbſtthaͤtigkeit iſt, ſo iſt es eine Folge meines Beſtrebens, und geht mit dem Beſtre - ben fort. Jn ſolchen Faͤllen fuͤhlen wir unſer Beſtre - ben und unſere Selbſtwirkſamkeit, und zwar darum, weil ſie fortdauern, und ſich dem Bewußtſeyn darſtel - len. Jn jenem Fall war auch eine Kraftaͤußerung vor - handen, inſoferne die Wirkung aus dem innern Prin - cip der Seele hervorgeht; aber ſie erſcheint auf die Art, wie eine Leidenheit, weil ſie als Selbſtthaͤtigkeit be - trachtet, nicht fortdaurend iſt, und daher weder nach - empfunden noch beobachtet werden kann.

II Theil. F6. Dieß82XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit

6.

Dieß iſt ſchon genug, um den großen Unterſchied zwiſchen dem Beſtimmetwerden, und zwiſchen dem Selbſt ſich beſtimmen merkbar zu machen. Jch gehe auf dem Felde; unvermuthet entſteht hinter mir ein erſchuͤtterndes Geraͤuſch; ich fahre zuſammen, und ſehe mich um, ehe ich mich noch beſinne. Hier wer - de ich, groͤßtentheils wenigſtens, leidend beſtimmt.

Jch ſitze jetzo auf meinem Stuhle, und fuͤhle eine Unbequemlichkeit. Es faͤllt mir ein, aufzuſtehen, und die Fuͤße zu bewegen: ich bedenke mich aber noch, weil ich eben mitten in einer Reflexion begriffen bin, die ich gerne ganz aufs Papier bringen moͤchte; indeſſen waͤhle ich doch das erſtere, ſtehe ohne Uebereilung ganz kalt - bluͤtig auf. Das Gefuͤhl ſagt, daß ich mich hiebey ſelbſt beſtimme.

Von Empfindung oder Gefuͤhl faͤngt die Aktion an. Jn dem erſten Fall reizet das Gefuͤhl, und es erfolget unmittelbar eine Beſtimmung der Kraft. Das Gefuͤhl beſtehet, oder dauert etwas fort, und es erfolgen alſo mehrere Beſtimmungen der Kraft von ei - nerley Art. Jhre Folge auf einander macht die ganze Aktion aus, die aber als Seelenaktion unterbrochen iſt, obgleich zuweilen auch in Eins fort zu gehen ſcheinet. Sie kommt uns in dieſen Faͤllen als ſo etwas Paſſives vor, wie jede andere leidentliche Empfindung.

Jn dem zwoten Fall faͤngt ſich die Aktion auch mit einem Gefuͤhl an. Dieß erwecket eine Jdee und macht meine Aufmerkſamkeit rege. Bis dahin geht ihre un - mittelbare Wirkung, und bis dahin werde ich be - ſtimmt. Aber es erfolget noch eine weitere Anwendung meiner Kraft, bey der ſich die neue Aktion anfaͤngt.

Wie wenn dieſe, auf welche Art ſie auch hinzu - kommt, durchaus eine Selbſtthaͤtigkeit iſt; wenn dieerfolgende83und Freyheit. erfolgende Aktion aus dem innern Princip ſo hervor - geht, wie die Ausdehnung einer elaſtiſchen Feder aus ihrer innern Elaſticitaͤt: ſo entſtehet hier etwas, das weſentlich von dem vorhergehenden unterſchieden iſt. Denn hier iſt die nachfolgende Aktion von ihrem An - fange an, von dem naͤchſten Schritt an, der auf die erſte inſtinktartige Aeußerung erfolgte, und noch eine unmittelbare Folge der Empfindung war, eine wahre Aktion. Der Anfang von ihr, oder der Anſatz dazu, der von dem weitern Erfolg unterſchieden werden kann, wie eine Beſtimmung zur Handlung von der Handlung ſelbſt, iſt ſchon Selbſtthaͤtigkeit, die nicht mehr unmit - telbar von einer Empfindung beſtimmet worden iſt. Und dieſe iſt eine Selbſtbeſtimmung.

Mehr ſuche ich hier noch nicht zu erweiſen, als daß es eine ſolche weſentliche Verſchiedenheit geben koͤn - ne. Wie es ſich aber bey den Selbſtbeſtimmungen un - ſerer Seele wirklich verhalte, wird nun vom neuen aus Beobachtungen aufzuſuchen ſeyn.

F 2XI. Fort -84XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit

XI. Fortſetzung des Vorhergehenden. Von den Selbſtbeſtimmungen der Seele zu ihren Aktionen.

  • 1) Die Selbſtbeſtimmung erfodert, daß die Seele in dem Stande reger Wirkſamkeit ſich befinde.
  • 2) Die Selbſtbeſtimmung zu einer Aktion er - fodert, daß eine Vorſtellung von dieſer Ak - tion vorhanden ſey.
  • 3) Das Selbſtbeſtimmen iſt ein Aktus der Wie - dervorſtellungskraft, welcher die Jdee von der Aktion zum naͤchſten Objekt hat. Und dieſe Reproduktion iſt eine Selbſtthaͤtigkeit, welche nicht unmittelbar auf das Gefallen erfolget.
  • 4) Die gefallende Vorſtellung beſtimmt das thaͤtige Princip nicht innerlich zu der Aktion, welche erfolget, ſondern iſt bloß ein Objekt, welches der innerlich ſchon voͤllig zur Aktion beſtimmten Kraft vorgeleget wird.
  • 5) Der letzte Satz wird aus Beobachtungen bewieſen. Zuerſt aus ſolchen Faͤllen, in denen wir uns mehr zu einer Art der Hand - lung, als zu einer andern beſtimmen.
  • 6) Ferner bey ſolchen Selbſtbeſtimmungen, wo wir zwiſchen Thun und Laſſen waͤhlen.
  • 7) Endlich bey ſolchen Selbſtbeſtimmungen, wo wir uns zu einer groͤßern Anſtrengung der Kraft, oder zu einer Nachlaſſung der - ſelben beſtimmen.
1. Die85und Freyheit.

1.

Die vorhergehenden Bemerkungen bringen uns end - lich zu der dunkeln Stelle hin, wo wir Licht und Helle zu haben wuͤnſchen. Wir handeln frey, und be - ſtimmen uns ſelbſt aus Eigenmacht. Dieß fuͤhlen wir. Aber wir werden auch ſo oft nur leidentlich beſtimmet. Da die Umſtaͤnde, unter welchen das letztere geſchieht, aufgeſuchet worden ſind, und uͤberhaupt ſchon der Un - terſchied zwiſchen wahren Selbſtbeſtimmungen und zwi - ſchen den paſſive angenommenen Richtungen unſerer Kraft bemerket iſt, ſo fehlet es nur noch daran, daß wir auf eine aͤhnliche Art die Erfoderniſſe von jenen wahren freyen Selbſtbeſtimmungen aufſuchen, und daraus in die innere Beſchaffenheit derſelben einige Blicke wagen. Es ſollen aber auch hier wiederum Er - fahrungen zum Grunde geleget werden.

Die erſte iſt dieſe: Wo ich mich ſelbſtthaͤtig zu etwas beſtimme, etwas will, da muß ſich die innere Kraft der Seele, mit der ich will, und mich zu der Aktion beſtimme, in einem Zuſtande der regen Wirk - ſamkeit befinden.

Jch beſtimme mich mit Ueberlegung, zur rechten Hand zu gehen, oder zur Linken. Da empfinde ich, daß meine Willenskraft, oder mein Vermoͤgen mich entſchließen zu koͤnnen, in einem Zuſtand der Wirkſam - keit iſt. Es iſt zum wenigſten ein Trieb da, heraus zu wollen. Man beſtimmt ſich ſelbſt, wenn man mit Beſinnung, und mit Gegenwart des Geiſtes handelt. Nach meinem Gefuͤhl iſt es wenigſtens ſo; und auf ſol - che Faͤlle, wo man nach Ueberlegung oder wenigſtens mit Beſinnung handelt, muß man allein zuruͤckſehen, wenn man das aufſuchen will, was in unſern Selbſt - beſtimmungen enthalten iſt. Denn dieſe Kraftaͤuße - rungen, und nur dieſe ſind zuverlaͤßig diejenigen, dieF 3wir86XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitwir als ſolche empfinden, zu denen wir uns ſelbſt be - ſtimmen, nicht aber zu ihnen gezogen, geſtoßen, oder leidentlich beſtimmet werden.

Jch beſtimme mich zum Aufſtehen, da ich ſitze. Das naͤchſte was erfolget, iſt das, was wir in uns das Wollen nennen. Es gehoͤrt noch mehr dazu, um das Gewollte auszurichten; aber indem ich mich mit Ueber - legung zum Wollen beſtimme, ſo finde ich meine Kraft ſchon in Wirkſamkeit, noch ehe ich will, ſchon waͤhrend des Beſinnens und des Ueberlegens.

Vielleicht ſchlaͤft mir der Fuß oder iſt paralytiſch geworden, ohne daß ichs weiß. Alsdenn werde ich nicht aufſtehen koͤnnen. Dieſe letztere Aktion des Koͤr - pers wollen wir noch bey Seite ſetzen. Aber ich kann es doch nichts deſtoweniger wollen, und will es. Jn dem Zuſtande, da ich mich beſinne und will, finde ich die innere ſich zum Wollen beſtimmende Kraft erreget und thaͤtig, und bereit zum Nichtwollen, wenn mir dieß gefaͤllt.

2.

Die zwote Erfahrung iſt dieſe. Man kann nichts wollen, ſich zu nichts ſelbſtthaͤtig beſtimmen, wenn nicht eine Vorſtellung in uns vorhanden iſt, nicht al - lein von dem Objekt, worauf das Wollen gehet, ſon - dern auch von derjenigen Kraftaͤußerung, welche er - folget, indem man will, das iſt, von der Beſtim - mung, welche der Kraft im Wollen gegeben wird.

Da dieß unmittelbare Erfahrung iſt, ſo kann ich nichts zu ihrer Beſtaͤtigung ſagen, als daß man nur in ſolchen Faͤllen, wo man ſich zu etwas entſchließt, auf ſich acht haben duͤrfe, um es ſo in ſich ſelbſt ge - wahrzunehmen. Jch bin munter zur Arbeit, komme auf mein Zimmer, beſinne mich, welches Geſchaͤffte ich vorzunehmen habe. Es ſind Vorſtellungen von denThaͤ -87und Freyheit. Thaͤtigkeiten vorhanden, die das Geſchaͤffte erfodert, das ich waͤhle, und dieſe Vorſtellungen ſtellen ſich mir dar.

Die Vorſtellungen von Thaͤtigkeiten ſind den Vorſtellungen von den Objekten und ihren Wirkungen einverleibet; aber dennoch iſt die Vorſtellung von der Sache von derjenigen, die wir von der Aktion ſelbſt ha - ben, unterſchieden; und jene macht noch dieſe nicht aus, wie ich anderswo ausfuͤhrlicher und deutlicher gezeiget habe. *)Zehnter Verſuch II. 3.Nach der jetzo bey vielen gewoͤhnlichen Art, ſich auszudruͤcken, ſind die Vorſtellungen von Objekten nichts als innere wiedererweckte ſinnliche Bewegungen in den Empfindungsfibern, und in dem Gehirn ſind ohne Zweifel die materiellen Jdeen wirklich ſo et - was. Dagegen aͤhnliche Spuren in den innern Aktions - fibern die Vorſtellungen von Aktionen ausmachen. Aber ohne Ruͤckſicht auf die mechaniſche Pſychologie iſt es eine Folge der reinen Erfahrungen, daß die Vorſtel - lungen von Aktionen wirkliche Anfaͤnge zu ihnen in dem Jnnern ſind, die in dem Koͤrper auch mit den Anwan - delungen zu gewiſſen Bewegungen verbunden ſind, wel - che, wenn ſie weiter herausgehen, koͤrperliche Handlun - gen oder Thaͤtigkeiten werden. Das Koͤrperliche oder das Materielle zu dieſen Vorſtellungen iſt außer Zweifel ſo ein Anſatz zu einer Bewegung in den Aktionsfibern, oder wenn man will, gewiſſe Schwingungen in ihnen, die aber den Schwingungen der Empfindungsfibern in - nig einverleibet ſind. Es iſt nicht die Vorſtellung von dem Objbkt der Handlung allein, die mir vorlieget, wenn ich mich zu etwas beſtimme, dafern ich mich ſelbſt be - ſtimme; ſondern auch die Vorſtellung von der Hand - lung ſelbſt iſt mir gegenwaͤrtig. Mir fallen zwo Ge - genden in die Augen, wenn ich ſpatzieren gehe, und ich frage mich, welche von beiden ich waͤhlen ſoll? Die Empfindungen von beiden Gegenſtaͤnden ſind zunaͤchſtF 4vor88XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitvor mir; ich vergleiche ſie, und finde die eine angeneh - mer, als die andere; oftmals iſt es auch das Angeneh - me des Weges, die Art der Bewegung, die ich im Hin - gehen habe, was den Entſchluß auf eine Seite hinlen - ket. Allein in jedem Falle, auch in dem erſten, be - ſtimme ich mich nicht ſelbſt, wenn das Gefallen, was der Vorſtellung von dem Objekt anklebet, unmittelbar das Wollen und die Aktion nach ſich ziehet; oder in der neuern Sprache zu reden, wenn die angenehme Schwin - gung in der Empfindungsfiber ſogleich die Aktionsfiber zu ihrer vollen Bewegung beſtimmet. Dieß letztere geſchieht wohl zuweilen, allein das Selbſtgefuͤhl lehret, daß es da nicht ſo ſey, wo ich mich ſelbſt zu der Aktion beſtimme. Jn dieſem Fall finde ich jedesmal eine vor - hergehende jetzo gegenwaͤrtige Vorſtellung von der Aktion ſelbſt in mir, ehe ich dieſe will. Die Empfindung des Angenehmen mag aus der Jdee von dem Objekt ent - ſtehen, und dieſe Jdee mir naͤher bringen; aber dieß iſt noch nicht der Entſchluß, oder die Selbſtbeſtimmung des Willens. Dieß letztere iſt, ſo zu ſagen, ein neuer Andruck auf die Vorſtellung von der Aktion, wodurch dieſe mehr und voͤlliger reproduciret wird.

Aus dieſem Charakter unſerer Selbſtbeſtimmungen folget, was wiederum unmittelbar durch die Beobach - tung beſtaͤtiget wird, daß wir nichts wollen, und uns zu keiner Kraftanwendung ſelbſt beſtimmen, als nur zu ſolchen, von welchen wir Vorſtellungen beſitzen, und die alſo ſchon vorher inſtinktartig erfolget ſind, ohne ſie damals gewollt, oder uns ſelbſt dazu beſtim - met zu haben. Jedoch ſetze ich dabey voraus, daß man ſich bey dieſem Satze zugleich auch an diejenige Einſchraͤnkung erinnern werde, welche ich ihm oben*)Zehnter Verſuch II. ſchon beygefuͤgt habe.

3. Dritte89und Freyheit.

3.

Dritte Beobachtung. Wo wir uns ſelbſt be - ſtimmen zu einer Aktion, oder ſie wollen, da iſt die - jenige Aeuſſerung der Kraft, welche das Beſtimmen ausmacht, ein ſtaͤrkeres Beſtreben auf die Vorſtellung von der Aktion; und von dieſem Beſtreben iſt es eine Wirkung, daß jene Vorſtellung voͤlliger reproducirt wird, und in eine volle Aktion, wenigſtens in eine innere, uͤbergehet. Und dieß Beſtreben zur Ent - wickelung der Vorſtellung iſt eine Selbſtthaͤtigkeit, welche nicht unmittelbar auf das Gefallen erfolget.

Nicht alle Kraftaͤußerungen der Seele beſtehen in Reproduktionen und Bearbeitungen der Vorſtellungen, ja keine einzige beſtehet ganz allein darinn. *)Zehnter Verſuch IV. 2.Aber da, wo wir ſelbſt uns zu etwas beſtimmen, da beſtehet das Wollen in einer Tendenz, eine vorhandene Vorſtellung von einer Aktion bis zur Empfindung zu erheben. Mit dieſer ſind zugleich Gefuͤhle und Empfindungen verbun - den, durch welche wiederum unmittelbare, inſtinktartige Thaͤtigkeiten veranlaſſet werden, wovon neue Modifika - tionen in der Seele abhangen. Niemals iſt eine ganze individuelle Kraftanwendung der Seele eine Selbſt - beſtimmung. Aber ſoweit ſie eine ſolche iſt, beſtehet ſie in einem Anſatz, eine Vorſtellung von einer Aktion voͤlliger bis zur Empfindung zu entwickeln.

Dieſe reproducirende Aktion iſt nicht unmittelbar die naͤchſte Folge von der Affektion, welche wir das Gefallen nennen, und welche inſtinktartig hervorgehet. Das Gefallen kann aus der Vorſtellung von dem Objekt der Handlung entſpringen, und dann unmittelbar die Jdee von der Aktion ſelbſt erwecken; oder, wenn dieſe ſchon erweckt iſt, ſolche noch mehr gegenwaͤrtig machen. Bis dahin werden wir beſtimmt. Nur iſt dieß nochF 5nicht90XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitnicht der Entſchluß, oder das Wollen. Dieß letz - tere iſt eine neue Thaͤtigkeit, die zu derjenigen, welche durch das Gefuͤhl des Angenehmen unmittelbar hervor - gebracht worden iſt, und zu der wir leidend beſtimmet waren, hinzu kommt und auf ſie folget. Wir erken - nen dieß am deutlichſten, wenn eine merkliche Ueberle - gung vorhergehet. Wie oft waͤlzen wir dann die Jdeen und Vorſtellungen um; und wenn nun auch das Gefal - len da iſt, außer dem wir nichts mehr gebrauchen, ſo kann uns doch noch eine gewiſſe Bedachtſamkeit, die zu - weilen Aengſtlichkeit wird, zuruͤckhalten. Wenn wir aber nichts mehr antreffen, das uns abhaͤlt, ſo beſtim - men wir uns nach unſerm Gefallen zu einer Vorſtellung, die ſchon vorher eben ſo vorhanden war, wie ſie es je - tzo iſt.

Jm Affekt, z. B. bey einem ſtarken Hunger tritt uns der Speichel in den Mund, wenn wir die wolſchme - ckende Speiſe auf dem Tiſch vor uns ſehen. Dieß iſt eine unwillkuͤrliche inſtinktartige Wirkung; und die ſie begleitende Begierde in der Seele zum Eſſen, welche zugleich mit jener Bewegung im Koͤrper entſpringet, iſt es nicht weniger. Aber in einem ſolchen Fall iſt das Begehren keine Selbſtbeſtimmung, und kein eigentli - ches Wollen.

Hiemit vergleiche man einen andern Fall, wo wir nach unſerm ſinnlichen Urtheil ſagen, daß die Bewe - gungsgruͤnde uns nur geneigt machen, uns nur rei - zen, locken, aber doch zum Entſchluß nicht zwingen, nicht beſtimmen und ziehen. Dieſe Verſchiedenheit hat man gefuͤhlet. Worinn beſtehet ſie? Jch meine hie - rinn, daß in dem letzten Fall die Selbſtbeſtimmung ei - ne neue Aktion ſey, welche noch zu der erſten Kraft - aͤußerung, oder zu der erſten Spannung der Kraft, die eine unmittelbare Folge von dem Gefallen war, hinzu - kommt.

Wir91und Freyheit.

Wir handeln zuweilen ohne merkliche Ueberle - gung, ſehr ſchnell; und dennoch fuͤhlen wir, daß wir da mit Beſinnung handeln, wo wir uns ſelbſt beſtim - men, und da nicht, wo wir hingeriſſen werden. Jn der Beſinnung iſt eine gewiſſe Reihe von Veraͤnderun - gen enthalten, die zum mindeſten um ein Glied groͤßer iſt, als die Reihe von Veraͤnderungen iſt, wenn wir ohne Beſinnung handeln. Jn der Beſinnung finden wir nur zuerſt ein Gefallen, dann eine gewiſſe Kraft - aͤußerung, wozu dieß Gefallen beſtimmet, eine Span - nung der Kraft, oder eine entſtehende Zuneigung zu der gefallenden Sache; und alsdenn endlich noch eine wei - tere Selbſtthaͤtigkeit, die aus dem Jnnern kommt, die nicht unmittelbar auf eine Empfindung folgt. Das letztere dieſer Stuͤcke fehlt, wo wir leidentlich beſtimmt werden.

4.

Viertens. Die gefallende Vorſtellung, auf welche ſich die thaͤtige Kraft verwendet, indem wir uns ſelbſt beſtimmen, iſt nichts, als ein Objekt, das dem innerlichen wirkſamen Princip vorge - leget wird; nichts anders, als was die Oefnung dem herausſpringenden Waſſer iſt, oder die Kugel, welche der Stahlfeder vorgeleget wird, indem dieſe ſich ausdehnt.

Die gefallende Vorſtellung, ſo wie ſie da iſt, wenn die wirkſame Seelenkraft ſich auf ſie wendet, ſie weiter entwickelt, und zur voͤlligen Aktion herausarbeitet, macht alſo keinen Beſtandtheil des innern zureichenden Grundes zu der Aktion aus, die aus dem ſich ſelbſt beſtimmenden Princip hervorgehet. Sie gehoͤrt alſo auch nicht zu den innern Beſtimmungsgruͤnden, wo - durch die innere Kraft aufgelegt gemacht wird, mit ei - ner ſolchen Jntenſion, und nach derjenigen Richtunghin92XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeithin zu wirken, mit und in der die Kraftaͤußerung er - folget. Sie iſt das ſich darbietende Objekt; ſie iſt wie der leichteſte Weg, auf dem die wirkſame, innerlich ohne ſie voͤllig beſtimmte Kraft ihre Wirkſamkeit auslaͤſſet. Es handelt alſo die Seele, da wo ſie ſich ſelbſt beſtimmt, aus voller Eigenmacht.

Dieſer Satz iſt, meiner Meinung nach, eigentlich der Schluͤſſel, der unſere Selbſtgefuͤhle von den freyen Handlungen entziffert. Jch bitte meine ſcharſſinnigen Leſer, ihn zu erproben, ob er allenthalben paſſe. Oben (IX. 2.) habe ichs erinnert, wo die Schwierigkeiten lie - gen. Wir fuͤhlen uns, wenn wir willkuͤrlich und frey wollen und handeln, innerlich nicht beſtimmt mehr zum Wollen, als zum Nichtwollen, nicht mehr zum Thun als zum Laſſen; nicht mehr zum Sowollen, als zum Anderswollen.

Aber die gefallende Vorſtellung gab der Aktion, welche erfolgte, doch ihre eigenen Beſtimmungen. Woher dieſe? Sie haben keinen zureichenden Grund, und beduͤrfen keines; antwortet der Jndeterminiſt. Sie muͤſſen einen haben; und daher iſt es außer Zweifel, daß wir nicht ſo unbeſtimmt vor der Aktion haben ſeyn koͤnnen, als die Empfindung es uns wol uͤberreden will. Dieß iſt die Antwort der Gegner.

Wie aber, wenn die ganze Vorausſetzung zum Theil irrig iſt; wenn in der Aktion, welche erfolget, keine beſondere Beſchaffenheiten vorhanden ſind, die ſich nicht auch in ihrem Gegentheil finden; ſo bedarf es auch keines zureichenden Grundes in dem innern Princip vor der Handlung, warum ſie mehr erfolgt, als nicht erfolgt, ſo erfolgt, und nicht anders; ſo wenig, als es eines beſondern Beſtimmungsgrundes in dem innern Druck des Waſſers am Boden eines Gefaͤßes bedarf, warum es an der Seite herausſpringet, wenn ihm hier die Oeffnung gemacht wird, und nicht vielmehr geradeunter -93und Freyheit. unterwaͤrts an dem Boden? Es iſt alſo in dem thaͤtigen Princip der Seele ſo viel zureichender Grund da, als zu den geſammten Beſchaffenheiten der Aktion erſodert wird, wenn wir naͤmlich dieſe ſo betrachten, wie ſie aus dem thaͤtigen Princip hervorgehet.

Wodurch denn aber Wollen und Nichtwollen, Thun und Laſſen, Sowollen und nicht Anderswollen, ihre Eigenheiten und Unterſcheidungsmerkmale empfangen, die ſie an ſich haben? Jch antworte: dieſe Verſchie - denheiten entſtehen alle aus dem Objekt des thaͤtigen Princips, welches hier die gefallende Vorſtellung von der Aktion iſt, worauf die innre Kraft ſich verwendet. Die Aktion iſt innerlich, als unmittelbare Folge der thaͤ - tigen Kraft betrachtet, dieſelbige, wir moͤgen wollen oder nicht wollen, ſo wollen oder anders wollen; aber die Verſchiedenheit dieſer Aktionen entſpringet aus der ver - ſchiedenen Receptivitaͤt des ideellen Gegenſtandes, mit dem ſich die Kraft verbindet, oder auf welches ſie ſich anwendet.

Jn ſolchen gleichguͤltigen Handlungen, wo uns das Erſte das Beſte iſt, indem wir uns beſtimmen, iſt es offenbar, daß es ſich auf dieſe Art verhalte. Es iſt oben gezeiget worden, wie dieſe letztere auf eine ſolche Art erklaͤret werden koͤnne, daß alle Schwierigkeiten wegfallen. Das thaͤtige Princip kann innerlich ſo gut beſtimmt ſeyn zu dem, was wir waͤhlen, als zu dem, was wir nicht waͤhlen. Nur die aͤußern Umſtaͤnde fuͤh - ren auf jenes. Aber dieſe Umſtaͤnde enthalten auch von nichts mehr den beſtimmenden Grund in ſich, als da - von, daß die Kraft auf einen beſtimmten Gegenſtand angewendet wird, und nicht auf einen andern. Sie geben keine innere Beſtimmungsgruͤnde her zu der Art der Handlung; und werden nicht zu Beſtandtheilen des ganzen innern zureichenden Grundes der Aktion; keine Ergaͤnzung zu dieſem. Wenn es ſich auf dieſelbige Artauch94XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitauch bey ſolchen Handlungen verhaͤlt, die wir nach dem Grundſatz des groͤſſern Gefallens vornehmen, ſo wird auch bey dieſen alles voͤllig begreiflich ſeyn. Aber dieß iſt es auch, was am wenigſten auffaͤllt, was am verſteckteſten war, ſo lange man nicht deutlich einſah, worinn die Vorſtellungen von Aktionen beſtehen; und was vorher ins Licht geſetzet werden muß, wenn unſere Gefuͤhle von Freyheit nicht mehr raͤthſelhaft ſeyn, oder gar unbegreiflich ſcheinen ſollen.

5.

Der Beweiß davon, daß die gefallende Vorſtel - lung, zu der wir uns beſtimmen, ſich wirklich alſo auf die erfolgende Selbſtbeſtimmung beziehe, muß aus Beobachtungen gefuͤhret werden. Hiezu kann man aber nur ſolche Beyſpiele nehmen, bey denen wir uns es voͤl - lig bewußt ſind, daß wir willkuͤrlich und frey handeln, und zwar, wo die Handlung unmittelbar willkuͤrlich iſt.

Zuerſt zergliedere man einen ſolchen Fall, wo wir uns zu Einer Art der Handlung vor der andern be - ſtimmen.

Jch bin jetzo zur Arbeit aufgelegt. Meine Kraft iſt rege, und ich fuͤhle ein Beduͤrfniß, mit dem Ver - ſtande thaͤtig zu ſeyn. Eine Menge von Empfindun - gen und Vorſtellungen ſind mir gegenwaͤrtig; und ich frage mich ſelbſt, mit welchem Geſchaͤffte ich mich nun wohl befaſſen ſolle? Es iſt mehr, als Eins, deſſen Vorſtellung ſich mir darbietet. Jch vergleiche ſie, und waͤhle dasjenige, was mir jetzo das angemeſſenſte, oder das noͤthigſte, oder das angenehmſte zu ſeyn ſcheinet. Hier kann ichs wohl merken, daß die Gefuͤhle, die in mir entſtehen, wenn ſie lebhaft ſind, auch ſogleich merk - liche Begierden erregen. Dieſe Gefuͤhle wirken auf mich, erregen, ſpannen, reizen meine Kraft, lenkenſie95und Freyheit. ſie nach einer gewiſſen Richtung hin, und ich beſtimme mich nach dieſer Richtung.

Wenn man nun dieß ſo erklaͤret, es ſey die wirk - ſame Seelenkraft durch die gefallende Vorſtellung in ihrem Jnnern zu einer gewiſſen Art von Handlung naͤher beſtimmet worden, als ſie es vorher war, ſo ſagt man etwas, das von einer Seite betrachtet, mit dem, was ich wirklich fuͤhle, uͤbereinſtimmet. Allein wenn ich nur mich ſo entſchließe, als wir es denn thun, wo wir uns unſern Entſchluß ſelbſt zuſchreiben, und uns voͤllig in unſerer Gewalt haben; und wenn wir alsdenn genauer auf das acht haben, was in uns vorgeht, ſo verhaͤlt es ſich zuverlaͤßig nicht gaͤnzlich auf der Art, wie man es in jener Erklaͤrung angiebt.

Jch fuͤhle mich vorher, ehe die gefallende Vorſtel - lung ſich darbietet, eben ſo gut beſtimmt zu einem an - dern Geſchaͤffte. Anſtatt meine Betrachtung uͤber die Freyheit fortzuſetzen, war ich aufgelegt, einem Dichter nachzuempfinden. Oder doch, wenn ich ja mehr zur Spekulation geſtimmt war, ſo haͤtte ich mich doch eben ſo gut mit vielen andern befaſſen koͤnnen, wenn mir die Vorſtellung von ihnen in den Sinn gekommen waͤre, und auch eben ſo gefallen haͤtte; denn es fallen mir wirk - lich mehrere Vorſtellungen von Handlungen ein. So lange ich noch uͤberlege, was ich zu thun habe, und alſo die Eine Arbeit noch keine Vorzuͤge vor den uͤbrigen mir zu haben ſcheint, ſo lange fuͤhle ich nicht die geringſte naͤhere innere Beſtimmung, keinen Drang, keine Be - gierde zu der Einen mehr als zu der andern.

Es kann vielleicht eine innere Beſtimmung in mei - nem dermaligen Zuſtande verborgen ſeyn, die ich nicht gewahrnehme. Jch geſtehe es. Vielleicht geht ein gewiſſer Zug, aus Gewohnheit entſtanden, mehr nach der einen Aktion hin, als nach der andern. Aber da ich dergleichen Beſtimmungen doch ſonſt wohl fuͤhle:was96XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitwas habe ich denn fuͤr Grund zu glauben, daß ſie nun auch da ſey, wo ich ſie mit aller meiner Sorgfalt nicht gewahrnehme? Und ganz gewiß giebt es doch ſolche Faͤlle, wo ich ſie nicht gewahrnehmen kann.

Nun aber kommt zu dieſer unbeſtimmten innern Wirkſamkeit die gefallende Vorſtellung hinzu; ich werde afficirt, und dieß Gefallen hat eine Wirkung auf mich, die ich ſo ausdruͤcke: ich werde geneigt, nach dieſer Vorſtellung mich zu beſtimmen.

Unterſuche ich mich bis hieher, ſo deucht mich, es ſey offenbar, daß der ganze Unterſchied zwiſchen der Neigung zu dieſer Aktion, die mir gefaͤllt, und zwi - ſchen der Neigung zu einer andern, von nichts weiter abhange, als davon, daß es die Vorſtellung von jener, und nicht die Vorſtellung von einer andern ſey, welche mir gefaͤllt, und dadurch meiner wirkſamen Kraft vor - gelegt wird. Die Neigung zu einem andern Geſchaͤffte wuͤrde eine Applikation der naͤmlichen innern Kraft auf einen andern ideellen Gegenſtand geweſen ſeyn. Wenn mir eine Vorſtellung von einer andern Unterſuchung in den Sinn gekommen waͤre, ſtatt jener, ſo wuͤrde eine andere Neigung entſtanden ſeyn, die aber nur ihr Cha - rakteriſtiſches von ihrem Gegenſtand gehabt haͤtte. Das innere Princip wollte thaͤtig ſeyn auf irgend ein Objekt, und beſtrebte ſich, wie die ſich ausdehnende Feder. Die Jdee, welche dieß Beſtreben auf ſich zog, war das, was die Kugel iſt, welche der Feder im Wege liegt, und ihren Jmpuls aufnimmt.

Aber vom Gefallen und Geneigtſeyn bis zur Selbſtbeſtimmung iſt noch ein Schritt weiter, und dieſer Schritt iſt ein ſelbſtthaͤtiger Reproduktionsaktus.

So weit ich hiebey mich ſelbſt und meine thaͤtige Kraft fuͤhlen kann, finde ich in dieſer Selbſtbeſtimmung wiederum innerlich nichts, das von einem jeden andern Reproduktionsaktus an ſich unterſchieden waͤre, nur daßein97und Freyheit. ein gewiſſes beſtimmtes Objekt vorhanden iſt, worauf ſich das Vermoͤgen zu reproduciren anwendet. Das Gefallen an Einer Vorſtellung hat mir das Objekt dar - geſtellet, aber mir keine neue Beſtimmung beygebracht, die meine Wirkſamkeit nur allein auf dieſe Vorſtellung zu wirken geſchickt gemacht haͤtte. Jene werde mir in dem Augenblick entzogen, oder es falle mir ein, daß es gut ſey, einmal nach Eigenſinn zu handeln! Was wird geſchehen? Es wird mir ein anderer Gegenſtand vorgelegt. Die Jndeterminiſten haben ſich ganz rich - tig auf dieſe Faͤlle berufen. Denn ſo viel lieget doch darinn, daß ſelbſt die Affektion des Gefallens, und ihre unmittelbare Wirkung keine Ergaͤnzung des in - nern zureichenden Grundes zu der Handlung war, woraus dieſe mehr als eine andre hervorgieng. Es war von nichts mehr der zureichende Grund, als davon, daß ein beſtimmtes Objekt auf eine naͤhere Art der Kraft dargeſtellet ward, und daß dieſe ſich eben auf je - nes anwandte und auf kein anderes. Ob ich alſo ſelbſt - thaͤtig die Eine Jdee, die mir mehr gefaͤllt, weiter fortſetze, und bis auf einen gewiſſen Grad hin ſie wieder erwecke, oder ob ich eine andre auf dieſe Weiſe bearbeite, das iſt in Hinſicht der reproducirenden Kraft ſo gleichguͤltig, als es in Hinſicht des Drucks des Waſſers iſt, wo ihm die Oeffnung gemacht wird. So fuͤhle ichs da, wo ich mich voͤllig in meiner Gewalt habe, indem ich will, mich entſchließe, mich beſtimme. Haͤtte ich etwas an - ders gewollt, als was ich jetzo will, ſo wuͤrde der Un - terſchied des letztern Wollens und des erſtern wiederum nur allein objektiviſch geweſen ſeyn.

Oftmals ſtellen ſich mehrere gefallende Vorſtellun - gen als ideelle Objekte mir dar, die ich aber noch mit einander vergleiche, ehe ich mich beſtimme. Jn die - ſem Falle bin ich zu jeder von ihnen geneigt, beſtimme mich aber zu dem, wozu ich es am meiſten bin. Jed -II Theil. Gwede98XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitwede von ihnen wirket auf mich, und beſtimmt mich zu dieſer Neigung. Aber ich fuͤhle mich ſo mit dieſen Neigungen beſtimmet, daß die hinzukommende Wahl eine Aktion meiner Kraft iſt, die innerlich dieſelbige ſeyn wuͤrde, wenn ſie auch auf ein andres Objekt gefallen waͤre. Die Wage ſteigt nieder von dem Uebergewicht, und es iſt die Kraft des Gewichts, wovon die Wirkung abhaͤngt. Hiemit mag eine Neigung, die unmittelbar aus der Empfindung des Angenehmen entſpringet, eine Aehn - lichkeit haben; allein die freye Wahl, welche nachfolgt, iſt eine Selbſtthaͤtigkeit, und innerlich eben ſo, wie ſie geweſen ſeyn wuͤrde, wenn ſie einen andern Gegenſtand gehabt haͤtte. Jhr eigenes haͤngt nun von der Receptivitaͤt des Objekts ab.

Dieß Objekt iſt eine Vorſtellung von einer Sa - che, und von einer Thaͤtigkeit. Beyde Arten von Vor - ſtellungen ſind ſo verſchieden, als die Aktionen und Empfindungen ſelbſt, von denen ſie zuruͤckgebliebene Spuren ſind. Daher veranlaſſet die Jdee, meinen Arm zu bewegen, eine andre Handlung, als die Jdee, meinen Fuß zu bewegen, wenn die innere thaͤtige Kraft nun jene, nicht dieſe wieder hervorzieht, ſich auf ſie beſtimmt, und dieſe Bedingungen will. Dadurch iſt es begreiflich, daß die Aktion, welche nach dieſen Vorſtellungen erfol - get, verſchieden ſeyn kann, ohnerachtet der Aktus des Wollens in der Seele ſelbſt in beyden Faͤllen eben der - ſelbige iſt. Hierzu kommt noch eine zwote Urſache der objektiven Verſchiedenheit. Wenn die Selbſtbe - ſtimmung geſchehen iſt, und die Aktion erfolget, ſo ent - ſtehen neue Gefuͤhle, welche wiederum die Seele zu in - ſtinktartigen, ihnen angemeſſenen Folgen beſtimmen. Kein Wunder alſo, daß die Reihe der Veraͤnderungen, und alſo die aͤußere Aktion ſogleich ein ganz verſchiede - nes Anſehen erhaͤlt, und auch wirklich verſchieden wird, ſo bald ſie, ſo zu ſagen, aus der Kraft heraus iſt, und ſich auf das Objekt verwendet hat.

Man99und Freyheit.

Man koͤnnte ſagen, da es doch die bewegende Kraft der Jdee iſt, welche das innere Princip zu der Neigung beſtimmet, die wir faſſen, ſo empfange dieſe Kraft eben durch die Jdee innerlich eine gewiſſe Richtung nach dieſer Vorſtellung hin, welche ſie vor - her nicht hatte, und alſo empfange ſie eine neue innere Beſtimmung, geſetzt, daß dieſe auch nur in einer Rich - tung beſtehe?

Jch antworte. So wenig als der Druck des Waſ - ſers im Gefaͤß alsdenn erſt eine neue Richtung em - pfaͤngt, nach der Stelle hin ſich zu |bewegen, wo man ihm ein Oeffnung macht, die es vorher nicht hatte; ſo wenig giebt die Jdee, welche ſich der innern wirkſamen Kraft darſtellt, ihr eine neue innere Beſtimmung. Das Waſſer beſaß ſchon vorher dieſelbige Tendenz, und beſtrebte ſich nach allen Seiten hin ſich herauszudrengen, und auch da, wo es wirklich herausgehet, nachdem die Oeffnung gemacht iſt. Die Richtung hieher iſt keine Wirkung davon, daß ein Hinderniß oder der Wider - ſtand an dieſer Stelle gehoben wird. Wenn das Waſſer aus der Oeffnung durch eine aͤußere Kraft her - ausgezogen wuͤrde, wie ein Pfahl aus der Erde, oder fortgeſtoßen wuͤrde, wie eine ruhende Kugel auf der Ta - fel: alsdenn wuͤrde die Aktion keine Selbſtthaͤtigkeit mehr ſeyn.

Allerdings eraͤugnet es ſich oft, daß die entſtehende Neigung uns hinreißt, wie es in jedem Affekt geſchieht, und auch zwiſchen durch bey den minder lebhaften Trie - ben. Jn ſolchen Faͤllen hat das Gefallen noch eine Wirkung mehr, als dieſe, daß es das Objekt zu der Kraft, oder die Kraft zu dem Objekt naͤher bringet. Aber wir fuͤhlen es alsdenn auch in uns, daß uns nicht ſo ſey, wie in den uͤbrigen Faͤllen, wo wir, unſerer vor - zuͤglichen Neigung zu einer Sache ohnerachtet, doch uns voͤllig in unſerer Gewalt haben, und unmittelbar freyG 2handeln100XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeithandeln. Und dieſe innere Diſpoſition, daß wir da, wo wir unſerer Neigung folgen, dennoch innerlich zu der entgegengeſetzten Kraftaͤußerung eben ſo wohl aufgelegt und geſtimmt ſind, als zu der, welche erfol - get, iſt eben diejenige Beſchaffenheit, welche wir durch die Redensart anzeigen: wir haben uns in unſerer Gewalt.

6.

Zu der zweyten Gattung von Selbſtbeſtimmungen gehoͤren ſolche, wo wir zwiſchen Wollen und Nicht - wollen zwiſchen Thun und Laſſen auswaͤhlen. Jch beſtimme mich, vom Stuhl aufzuſtehen, oder ſitzen zu bleiben. Es iſt unnoͤthig, hier wiederum ſo weitlaͤuf - tig zu ſeyn, als bey dem vorhergehenden. Man unter - ſuche, uͤberlege, waͤhle und entſchließe; man wird auch hier daſſelbige finden. Der Unterſchied zwiſchen Wol - len und Nichtwollen, zwiſchen Thun und Laſſen, wenn beydes ſelbſtthaͤtige Handlungen ſind, haͤnget wiederum allein von der Verſchiedenheit der gefallenden Vorſtellung ab, auf der die wirkſam ſich ſelbſt beſtimmende Kraft angewendet wird. Nichtwollen iſt ſo gut eine Selbſt - beſtimmung, als Wollen und Unterlaſſen, ſo weit es in einem innern Entſchluß beſtehet; ſo gut eine Kraftaͤußerung, als Verrichten. Jn ihren Folgen gehen beide freylich ſehr weit von einander ab.

7.

Die meiſten Schwierigkeiten moͤchten vielleicht in ſolchen Faͤllen angetroffen werden, wo unſere Selbſtbe - ſtimmungen dahin gehen, eine groͤßere Kraft anzuwen - den, mit ſtaͤrkerer Jntenſion zu arbeiten, oder im Ge - gentheil nachlaſſender zu wirken. Jch will ſtaͤrker und ſchneller fortgehen; ich will langſamer gehen; ich will ſtill ſtehen. Aber auch dieſe Willensaͤußerungen ſind, alsHand -101und Freyheit. Handlungen der Seele betrachtet, wiederum in nichts unterſchieden, als in Hinſicht der Vorſtellungen, auf welche die wirkſame Kraft ſich anwendet; in ihrem An - fang naͤmlich, nicht, in ſo fern ſie von uns ſelbſt ab - hangen. Aber die nachher erfolgenden Aktionen gehen ſo weit von einander ab, als Anſtrengung und Unthaͤ - tigkeit. Die Vorſtellung von jener hat Vorſtellungen mit ſich verbunden, welche der letztern fehlen, und dieſe verknuͤpften Vorſtellungen erwecken wiederum neue Em - pfindungen, welche von neuem reizen, und das innere Princip der Seele zur groͤßern Thaͤtigkeit unwillkuͤr - lich ſtimmen koͤnnen. Sonſten fuͤhlen wir es ſehr leb - haft, daß es oft eben ſo ſchwer iſt, die wirkſame See - lenkraft zu maͤßigen, und uns zur Ruhe zu bringen, als es Wirkſamkeit und Thaͤtigkeit iſt, ſie zu ermuntern und anzuſtrengen.

XII. Von dem Vermoͤgen, ſich ſelbſt zu beſtimmen.

  • 1) Unterſchied zwiſchen Wollen und Verrich - ten, und zwiſchen dem Vermoͤgen ſich ſelbſt zu beſtimmen.
  • 2) Das Vermoͤgen ſich ſelbſt zu beſtimmen er - fodert, daß die Kraft wirkſam ſey, und innerlich zureichend zu ihrer Art der Anwen - dung beſtimmet.
  • 3) Die Vorſtellung von der Aktion, wozu wir uns ſelbſt ſollen beſtimmen koͤnnen, muß in uns gegenwaͤrtig ſeyn.
  • 4) Fortſetzung des Vorhergehenden. Wie weit die vorſtellende Kraft in jedwedem Fall mit der Vorſtellung von der AktionG 3beſchaͤff -102XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitbeſchaͤfftiget iſt, wenn wir uns ſelbſt zu der Aktion beſtimmen koͤnnen.
  • 5) Von den verſchiedenen Graden in dem Vermoͤgen ſich ſelbſt zu beſtimmen.
  • 6) Wie weit auch da ein Vermoͤgen, uns ſelbſt anders zu beſtimmen, vorhanden ſeyn kann, wo wir leidentlich zu etwas beſtimmt werden.
  • 7) Wie weit wir es gewiß ſeyn koͤnnen, daß wir ein Vermoͤgen anders zu handeln be - ſitzen.
  • 8) Das Vermoͤgen ſich ſelbſt zu beſtimmen geht nur auf Handlungen, die ſchon ehe - mals inſtinktartig vorgenommen ſind.
  • 9) Wie Vermoͤgen zu entgegengeſetzten Aktio - nen, zum Wollen und zum Nichtwollen, zum Thun und zum Laſſen, zugleich in der Seele nebeneinander beſtehen?

1.

Vermoͤgen, Wollen und Thun unterſcheiden wir von einander in der Seele, ohnerachtet jedes Wol - len fuͤr ſich ſchon eine wirkliche Thaͤtigkeit und Kraft - aͤußerung iſt. Wenn indeſſen dieſer Unterſchied beobachtet wird, ſo iſt das Wollen nichts anders als die anfaͤngliche Beſtimmung der Kraft zur Thaͤtigkeit; noch nicht ein eigentliches Beſtreben, oder ein Trieb, etwas zu ver - richten, ſondern diejenige Selbſtbeſtimmung und Rich - tung der Kraͤfte, welche zu einer beſtimmten Handlung vorher erfodert wird. Wir wollen eine Sache in Ueberlegung nehmen, ſie durchdenken, wir wollen uns beruhigen, wir wollen mit dem Koͤrper arbeiten. Die -103und Freyheit. Dieſer Wille, dieſe Beſtimmung unſerer Kraͤfte iſt oft dem Vollbringen ſo nahe, daß beides zuſammenfaͤllt. Dann nennet man es ein volles, thaͤtiges, kraͤftiges Wollen. Denn, ich will den Arm ausſtrecken, und ich thue es, iſt faſt nur eine Aktion. Aber in andern Faͤllen iſt der Wille zwar vorhanden, wo leider, wenn es zur Sache kommt, das Vermoͤgen, das Gewollte auszurichten, fehlet. Und ſehr oft iſt von dem erſten Wollen bis zum Vollbringen ein langer Weg, auf dem wir ermuͤden und zuweilen gar nicht fortgehen. Zuweilen wollen wir etwas auch jetzo nicht, ſondern erſt auf die Zukunft. Jn ſolchen Faͤllen iſt das Wollen oder das Beſchließen auch noch jetzo nicht einmal ein eigentlicher Anfang der Thaͤtigkeit ſelbſt, die man ausfuͤhren will; ſondern eine gewiſſe Einrichtung unſerer ſelbſt und unſerer Kraͤfte, die als eine Vorrich - tung zu der kuͤnftigen Handlung erfodert wird, und wovon wir, wenn es zur wirklichen Ausrichtung kommt, anfangen.

Gleichwol iſt jedes Wollen doch auch ſchon eine Anwendung und Aeußerung der Seelenkraft, und, wie ſchon angemerket iſt, oft der weſentlichſte Theil der gan - zen erfolgenden Aktion. Daher kann ich hier, wo es auf den Unterſchied zwiſchen ſelbſtthaͤtigen und unſelbſt - thaͤtigen, freyen und unfreyen Aktionen ankommt, das Wollen mit dem Thun unter einem gemeinſchaftli - chen Begrif der thaͤtigen Kraftaͤußerung zuſammen laſſen, und nur dann, wenn etwan auf ihre Unterſchei - dung etwas ankommt, das Wollen fuͤr die erſte Be - ſtimmung der Kraft zur Thaͤtigkeit annehmen, das Thun aber fuͤr die wirklich erfolgende volle Thaͤtigkeit.

Aber ein Vermoͤgen zu einer ſelbſtthaͤtigen Hand - lung iſt weder ſo viel als etwas wollen, noch ſo viel, als ſich auf etwas beſtreben. Das Vermoͤgen muß vorhanden ſeyn, ehe die Thaͤtigkeit erfolgt. Denn ſoG 4bald104XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitbald eine wirkliche Thaͤtigkeit, ein Beſtreben, ein Trieb erſcheinet, ſo iſt es ſchon mehr als ein Vermoͤgen, we - nigſtens iſt es nicht ein bloßes Vermoͤgen, ſondern wirkſames thaͤtiges Vermoͤgen, das von den mehreſten Kraft genennet wird. Das Vermoͤgen zu einer Aktion machet ſie moͤglich, aber das Wollen, das Beſtreben machet ſie ſchon, wenigſtens in ihren erſten Anfaͤngen, oder in ihren unmittelbar vorhergehenden Zubereitungen, zu einer wirklichen Thaͤtigkeit.

Von den Vermoͤgen beſitzet die Seele ſo viele und ſo mancherley, als es Aeußerungen ihrer Kraft giebt. Und da ſie ſich ſelbſt beſtimmet, ſo beſitzet ſie auch das Vermoͤgen dazu. Und dieß lihr Vermoͤgen ſich ſelbſt zu beſtimmen macht ihren Willen aus.

2.

Wenn wir mit Freyheit etwas wollen oder nicht wollen; etwas thun oder unterlaſſen; auf eine Art es thun und nicht auf die andere; ſo iſt zugleich in uns ein Vermoͤgen zu dem Gegentheil. Wir wollen, aber wir haben das Vermoͤgen nicht zu wollen; wir han - deln, aber wir haben das Vermoͤgen, es zu unterlaſ - ſen; wir richten es ſo ein, und koͤnnen es anders ein - richten. Aber dieſe Vermoͤgen zu dem Gegentheil von dem, was wir wirklich wollen und vornehmen, die - ſe Vermoͤgen, uns ſelbſt anders zu beſtimmen, bleiben nur bloße Vermoͤgen. Es iſt ein weſentliches Stuͤck in unſerm Begriff von der Freyheit, dieſe Vermoͤgen zu unterſuchen.

Um die Betrachtung im Anfang ſo einfach zu ma - chen, als es moͤglich iſt, wollen wir dieſe Ver - moͤgen, uns ſelbſt zu beſtimmen, nur auf das Ver - moͤgen zu wollen oder nicht zu wollen, einſchraͤn - ken. Weil doch oft unſer Wille in unſerer Ge - walt iſt, wo das Vollbringen es nicht iſt, ſo iſt es fuͤrſich105und Freyheit. ſich klar, daß außer den Vermoͤgen, diejenige anfaͤng - liche Selbſtbeſtimmung unſerer Kraft zu ertheilen, in der das Wollen und Nichtwollen beſtehet, noch etwas mehr vorhanden ſeyn muß, wenn wir auch ein ſolches Vermoͤgen zu der That ſelbſt beſitzen ſollen. Dieß letz - tere laß hier noch bey Seite geſetzet werden.

Ein anders iſt ein mittelbares, ein anders ein unmittelbares Vermoͤgen zu etwas; ein anders ein nahes und ein entferntes Vermoͤgen; und noch ein anders, wirkſame Kraft, (potentia in actu primo et ſecundo, wie die Alten ſagten). Dieſe Unterſchiede hat man gefuͤhlt; haͤtte man ſie aber deutlich erklaͤrt, ſo wuͤrde es nicht nur kuͤrzer geſagt, ſondern auch in der That etwas leichter und beſſer beobachtet werden koͤnnen, wohin die Vermoͤgen, uns ſelbſt zu beſtimmen, zu rech - nen ſind, und was in ihnen enthalten iſt. Nun feh - let aber dieß Huͤlfsmittel, und ich weiß kein anders, um einen beſtimmten Begrif von jenem Vermoͤgen zu erlangen, als dieſes, daß man die volle Selbſtbeſtim - mung zur Richtſchnur nehme, und dann aus den Be - obachtungen aufſuche, was und wie viel an ihr und an ihren Beſtandtheilen fehlet, wenn nichts mehr als ein bloßes Vermoͤgen dazu vorhanden iſt.

Die wirkliche Selbſtbeſtimmung unſerer Kraft er - fodert:

Zuerſt, daß eine rege Kraft vorhanden ſey, die innerlich zureichend zu der Aktion eingerichtet iſt, wel - che erfolget, indem wir wollen, das iſt, uns ſelbſt be - ſtimmen.

Dann, daß ein ideeller Gegenſtand, oder eine Vorſtellung in uns vorhanden ſey, und in eine gewiſſe Lage komme, in der das innere thaͤtige Princip auf ſie angewendet wird. Hiezu iſt der Grund entweder in dem vorzuͤglichen Gefallen an dieſer Vorſtellung, wenn das gewollt wird, was uns das beſte zu ſeynG 5ſcheint;106XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitſcheint; oder er liegt in andern Umſtaͤnden, unter wel - chen die innere Kraft ſich derzeit auslaͤſſet.

Aber in jedem Fall iſt die wirkende Kraft innerlich zu ihrer Aeußerung voͤllig beſtimmt. Nichts fehlet ihr außer dem Objekt, das aber, wenn es gleich in der Seele eine angenehme Empfindung hervorbringet, den - noch der Kraft keine neue Beſtimmung mehr ertheilen muß, welche auf die folgende Art der Selbſtbeſtim - mung einen Einfluß hat. Sondern wenn auch die Vor - ſtellung, als der ideelle Gegenſtand, mit einer Affektion des Gemuͤths begleitet iſt: ſo muß dieſes weiter keine Folge fuͤr die Aktion haben, als bloß die Annaͤherung der Jdee zu der Kraft, oder daß eben dieſes Objekt der wirkſamen Kraft vorgehalten und dadurch ihre Anwen - dung auf ſelbiges veranlaſſet werde.

Wie viele von dieſen Jngredienzen fehlen nun dem bloßen Vermoͤgen? in dem Vermoͤgen nicht zu wollen, oder zu unterlaſſen, was wir doch wirklich wollen und thun.

Die erſte Wirkſamkeit des thaͤtigen Princips, der innere zureichende Grund zu der Handlung uͤber - haupt, darf nicht fehlen. Jm tiefen Schlaf, in dem Stand der Unbeſinnlichkeit und der Ohnmacht moͤgen wir noch das Vermoͤgen haben wirkſam zu werden, aber das Vermoͤgen, unſer thaͤtiges Princip dermalen anzuwenden, uns ſelbſt zu beſtimmen und zu wollen, beſi - tzen wir nicht, und koͤnnen es nicht beſitzen, da es uns ganz an dieſer thaͤtigen Kraft fehlet.

3.

Jſt dieſe Wirkſamkeit vorhanden, ſo beſitzen wir ſchon eine Spontaneitaͤt, eine Eigenmacht, derglei - chen in der Stahlfeder iſt, eine Kugel fortzuſtoßen, wenn ihr eine vorkommt. Aber dieß iſt es noch nicht alles, was in uns vorhanden iſt, wenn wir ſagen, wir haben ein Vermoͤgen, uns anders zu beſtimmen, alses107und Freyheit. es wirklich geſchieht. Denn dieß letztere heißt ſo viel, als wir koͤnnen unſere Kraft auf ein anderes Objekt an - wenden, als dasjenige iſt, wozu wir uns wirklich be - ſtimmen, und dieß erfodert, daß ein ſolches Objekt jetzo innerhalb der Sphaͤre unſrer Wirkſamkeit ange - troffen werde. Sonſten iſt es nichts, als ein Vermoͤgen einen Menſchen zu ſehen, der aber jetzo viele Meilen von mir entfernt iſt. Jch habe allerdings das Vermoͤ - gen ihn zu ſehen, wenn er nur vor mir waͤre. Aber jetzo habe ich das Vermoͤgen nicht, ihn zu ſehen; und ſo ſoll es doch ſeyn. Jetzo da ich will, ſoll ich das Vermoͤgen haben, es nicht zu wollen; jetzo, da ich dieß will, ſoll ich ein andres wollen koͤnnen.

Es iſt die Jdee vom Nichtwollen ſo gut in uns gegenwaͤrtig, und bietet ſich uns dar, als die Jdee vom Wollen; die Jdee von dem Verrichten ſo gut als die Jdee von dem Unterlaſſen. Und ſo muß es ſeyn. Wenn wir vorher deutlich uͤberlegen, was fuͤr ein Entſchluß zu nehmen ſey, ſo vergleichen wir die Jdeen; wir haben ſie alſo gegenwaͤrtig, und bearbeiten ſie, um die meiſt gefallende ausfuͤndig zu machen. Jn jedem Fall, wo wir uns vorher beſinnen, ehe wir wollen, ſchwebt uns beydes, das Wollen und das Nichtwollen in der Phan - taſie vor, ſo geſchwind auch die Auswahl erfolgen mag. Alſo muß die Vorſtellung von dem, was wir ſollen wollen koͤnnen, in uns dermalen gegenwaͤrtig ſeyn.

4.

Jndeſſen giebt es doch viele Stufen der Klarheit und Staͤrke, womit eine Vorſtellung in uns gegenwaͤr - tig ſeyn kann. Daher entſpringen die folgenden Ver - ſchiedenheiten, welche nach den Begriffen moͤglich ſind, und nach unſerm Selbſtgefuͤhl in uns wirklich vorkom - men. Zuweilen denken wir mit voͤlliger Klarheit und mit Bewußtſeyn an das Gegentheil von dem, was wir thun, und wir beſtreben uns, das Gute und Gefallen -de108XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitde bey demſelben ausfuͤndig zu machen. Zuweilen ſe - hen wir das Gegentheil nur in der Ferne ſchwach und dunkel. Jch weiß, ich halte mich die meiſten male nicht lange bey der Unterſuchung auf, was fuͤr eine Ar - beit ich etwa vornehmen ſollte; ich entſchließe mich bald und doch mit voͤlliger Beſinnung. Oft denken wir gar nicht an das Gegentheil, und haben nicht einmal eine Vorſtellung davon in uns. Es faͤllt uns ſolches nicht einmal ein, wie wir ſagen.

Jn dem erſten Fall beſtimmen wir uns mit deut - licher Kuͤckſicht auf das Gegentheil, und da zweifeln wir nicht daran, daß wir nicht das Vermoͤgen haͤtten, das Gegentheil zu wollen, und daß wir es auch wuͤrden gewollt haben, wenn es uns gefallen haͤtte. Jn dem zweyten ſehen wir doch auch auf das Gegentheil zu - ruͤck, aber auf eine ſchwaͤchere Art. Jn dem letzten Fall beſtimmen wir uns ohne alle Ruͤckſicht auf das Gegen - theil. Haben wir hier auch noch ein Vermoͤgen ge - habt, nicht zu wollen, oder das Gegentheil zu wollen?

Erſtlich, wenn ich keine Vorſtellung von einer Sache und von einer Aktion in mir habe, wenn keine Jdee davon in meinem Gedaͤchtniß iſt, oder wenn ſie durch meine Kraft nicht entdeckt werden kann, oder wenn ſie dieß nicht kann unter den Umſtaͤnden, unter de - nen ich mich gegenwaͤrtig befinde, ſo beſitze ich auch kein Vermoͤgen, meine Wirkſamkeit nach dieſer Vorſtellung zu beſtimmen, und ſo etwas zu wollen, und die dazu gehoͤrige Handlung hervorzubringen. Jetzo, da ich in meiner Stube ſitze, kann ich das nicht beſchauen, was an einem entfernten Orte ausgeſtellt iſt. Dieß iſt eine Graͤnzlinie, bis wohin uns die Vorſtellung nicht fehlen darf, wenn wir ein Vermoͤgen beſitzen ſollen, uns auf ſie zu beſtimmen.

Dagegen, wenn ich die gefliſſentlichſte Ruͤckſicht auf das Gegentheil von dem nehme, was ich jetzo will;wenn109und Freyheit. wenn ich beide entgegengeſetzte ideelle Objekte betrachtet und erwogen habe: ſo fehlet nichts mehr, um das Ge - gentheil wirklich zu wollen, als daß es am meiſten ge - falle. Daß es aber jetzo mir weniger oder gar nicht ge - faͤllt, hat ſeinen Grund in der Natur der vorgeſtellten Sache, und ihren Beziehungen auf mich, alſo in der Vorſtellung ſelbſt, und in dem Mangel ihrer vorzuͤg - lich bewegenden Kraft, mit der ſie auf mich zuruͤckwir - ken konnte; aber nicht darinn, weil ich ſie weniger als die ihr entgegengeſetzte bearbeitet haͤtte, und ſie weniger klar und deutlich dermalen in mir gegenwaͤrtig geweſen waͤre.

Jn |dieſem Fall, wo ich nicht will, weil es mir nicht gefaͤllt, und wo dieß Nichtgefallen allein darinn ſeinen Grund hat, weil es an bewegender Kraft in der gegenwaͤrtigen Jdee von dem Objekt und von der Hand - lung fehlte, nicht aber darinn, daß ſie etwan nicht in der gehoͤrigen Lage geweſen waͤre, um auf mich mit ih - rer bewegenden Kraft wirken zu koͤnnen; in dieſem Fall, ſage ich, fuͤhlen wirs am deutlichſten, daß wir eben ſo gut nicht wollen koͤnnen, als wollen, und das Vermoͤ - gen zu beiden in gleicher Maße beſitzen. Wir fuͤhlen es, daß, wenn wir nun mehr wollen als nicht wollen, oder unſere Kraft wirklich auf die erſte Art anwenden, und nicht auf die zwote, dieß darum allein ſich eraͤug - ne, weil jenes gefaͤllt, und nicht dieſes.

Wenn die Jdee der Sache ſelbſt es nicht iſt, die ſie uns gefaͤllig macht, ſondern eine mit ihr verbundene Nebenidee; und auch, wenn wir es fuͤr gut befinden, unſerm Kopf zu folgen, gegen die beſſern vernuͤnfti - gern Gruͤnde: ſo aͤndert dieß nichts in dem Vermoͤgen. Jch uͤberlege, ich vergleiche, kann das Eine und das Andere wollen. Zu beiden Beſtimmungen iſt innere Wirkſamkeit, ein Gegenſtand, und eine ſolche Lage des Gegenſtandes vorhanden, daß meine Kraft vielleichtnoch110XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitnoch leichter ſich zum Nichtwollen, als zum Wollen be - ſtimmen konnte. Allein mir gefaͤllt nun das Eine nicht, und ich beſtimme mich alſo auf dieſe Jdee nicht.

Dieß iſt die zwote Graͤnzlinie. Sie liegt da, wo mein klarſtes Selbſtbewußtſeyn, auch nach der ſorgfaͤltig - ſten Pruͤfung, mir nicht den geringſten Zweifel daruͤ - ber zuruͤcklaͤßt, daß ich nicht haͤtte nicht wollen koͤnnen; daß ich nicht das volle Vermoͤgen gehabt haͤtte, mich auf eine Art zu beſtimmen, die derjenigen, auf der ich mich wirklich beſtimmt habe, ganz entgegen iſt.

Aber das Selbſtgefuͤhl der Freyheit ſagt uns, daß eine ſolche gefliſſentliche Erwaͤgung des Gegentheils nicht allemal vorhanden ſey, auch wenn ich mit Beſin - nung will, und auch noch eben ſo ſtark ein volles Ver - moͤgen nicht zu wollen in mir gewahrnehme.

Laß die Jdee vom Nichtwollen, die wir immer noch als den Gegenſtand anſehen koͤnnen, auf den die ſich ſelbſt beſtimmende Kraft applicirt werden ſollte, dermalen min - der lebhaft in mir gegenwaͤrtig ſeyn, und laß dieſen Um - ſtand allein den Grund ſeyn, warum ſie mir minder ge - fallen hat, als ihre entgegengeſetzte: ſo kann ſie nichts deſto weniger auf eine ſolche Art in mir ſeyn, daß, um ſie mir lebhaft gegenwaͤrtig zu machen, und in meinem dermaligen Zuſtande ſie mehr zu entwickeln, als es wirklich geſchieht, weiter nichts erfodert werde, als daß nur dieſer Aktus der ſtaͤrkern Reproduktion mir mehr bey ihr gefallen haͤtte, als bey der entgegengeſetzten. Jch rede immer nur von ſolchen Aktionen, wozu ein unmittelbares Vermoͤgen vorhanden iſt. Sonſten liegt nichts daran, wenn ich auf das Gegentheil gar keine Ruͤckſicht nehme; wenn ich nur es gethan haben wuͤrde, ſo bald ich in meiner gegenwaͤrtigen Verfaſſung es gefaͤlliger gefunden haͤtte, mich mehr umzuſehen, und noch andre Jdeen zu erwecken, als mich zu der Erſten zu beſtimmen, die ſich darbot. Faͤllt mir das Gegen -theil111und Freyheit. theil nicht ein, ſo wuͤrde es mir doch eingefallen ſeyn, wenn ſtatt der erſten Selbſtbeſtimmung, womit ich der Jdee folgte, die vor mir lag, die andere Aktion des Bedenkens mir angenehm geweſen waͤre. Nun habe ich mich vielleicht nicht bedacht, und alſo habe ich mich dermalen zum Gegentheil auch nicht beſtimmen koͤnnen, weil ich es nicht vor mir hatte; aber ich haͤtte mich be - denken koͤnnen, und hatte alſo ein mittelbares Ver - moͤgen zu dem Gegentheil.

Wenn ein unmittelbares Vermoͤgen ſich ſelbſt zu beſtimmen vorhanden iſt, ſo muß doch die Repro - duktionskraft mit der Vorſtellung, auf welche ich mich jetzo ſoll beſtimmen koͤnnen, in eine gewiſſe Maße ſich wirklich beſchaͤfftigen, ſo weit naͤmlich, daß ſie dieſe Jdee wirklich ſo weit reproducirt haben wuͤrde, als es das Wollen erfodert, wenn ihr dieſer ideelle Gegen - ſtand in ſeiner damaligen Lage nur genug dazu gefallen haͤtte. Wenn ich jetzo das auch nicht wollen kann, was ich will, ſo habe ich die Vorſtellung von dem Nicht - wollen, oder von dem Gegentheil als ein Objekt mei - ner Kraft innerhalb der Sphaͤre meiner gegenwaͤrtigen Wirkſamkeit, wenn gleich minder nahe und vortheil - haft, als die Jdee vom Wollen; und die Kraft meiner Seele iſt innerlich voͤllig aufgelegt und beſtimmt, jene noch weiter zu bearbeiten und mehr zu entwickeln. Daß dieß letztere nicht geſchahe, dazu fehlte nichts, als das Gefallen.

Jch uͤberſehe zwey Wege bey meinem Spatziergehen, und waͤhle und will den Einen. Es mag wohl ſeyn, daß, wenn ich den zuruͤckgeſetzten genauer angeſehen haͤtte, dieſer vielleicht den Vorzug behalten ha - ben wuͤrde. Aber ich fuͤhle es recht ſehr, daß ich nur allein nach meinem gegenwaͤrtigem Gefallen mich mit der Vorſtellung des erſtern befaßte, und daß ich mich mit der Jdee des letztern wuͤrde befaßt, und aufdieſe112XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitdieſe mich vielleicht wirklich beſtimmt haben, wenn ſie mir in ihrer dermaligen Lage in mir mehr gefallen haͤtte, oder wenn es mir gefallen haͤtte, noch vorher mehr die Sache zu uͤberdenken.

Jſt eine Jdee mir gar nicht gegenwaͤrtig, ſo kann ich auch unmittelbar ihr Objekt nicht wollen. Aber wenn ich auf Eine meiner gegenwaͤrtigen Empfindungen oder Vorſtellungen gewirkt haͤtte, oder ſtaͤrker gewirkt haͤtte, ſo wuͤrde ſich jene Vorſtellung dargeſtellt haben. Jch ſehe etwas nicht, das vor mir liegt, aber wenn ich auf eine andere Empfindung zuruͤckgewirkt haͤtte, ſo wuͤrde mein Auge in die Lage gekommen ſeyn, es gewahr zu nehmen.

Mich deucht, es ſey in dieſen Faͤllen deutlich, daß es mit den unmittelbaren Vermoͤgen, mich zu etwas anders zu beſtimmen, eine ſolche Beſchaffenheit habe, als ich vorher ſchon angezeiget. Wenn, um die mir fehlende Vorſtellung zu erlangen, nichts mehr erfoder - lich geweſen waͤre, als daß ich unter den gegenwaͤrtigen Vorſtellungen, als ſo vielen Saiten der Seele, eine an - dere geruͤhrt haͤtte, als diejenige war, die ich wirklich ruͤhrte, und wenn ich ein ſelbſtthaͤtiges Vermoͤgen ge - habt habe, jenes zu thun, wenn es naͤmlich bloß daran lag, weil es mir nicht gefiel, ſo habe ich auch ein Ver - moͤgen gehabt, mittelbar mich auf die nun nicht ge - genwaͤrtige Vorſtellung zu beſtimmen. Das weſentli - che Erfoderniß iſt aber immer daſſelbige. Es mußte nichts, als nur allein das Nichtgefallen die Urſache ſeyn, daß ich die dazu erfoderliche Richtung meiner Kraft nicht wirklich gab. Dieſes mittelbare Vermoͤgen, ſich ſelbſt zu beſtimmen, vermiſcht unſer Gefuͤhl oft genug mit dem unmittelbaren. Aber ich will ſie hier bey Seite ſetzen. Sie machen im Anfange die Betrach - tung nur verwirrt, und in der Folge erklaͤren ſie ſich von ſelbſt.

Alle113und Freyheit.

Alle dieſe Beobachtungen beſtaͤtigen das obige Merk - mal von einem Vermoͤgen, ſich ſelbſt zu beſtimmen, das aber nur bloßes Vermoͤgen bleibet. So ein Ver - moͤgen iſt wahre Wirkſamkeit, und iſt auch Wirkſam - keit auf eine gegenwaͤrtige Jdee. Der Uebergang vom Vermoͤgen zur Wirkſamkeit haͤngt davon ab, daß durch das Gefallen an dem ideellen Objekte die Kraft und das Objekt mit einander in Verbindung kommen, da dieſes jener vorgeſtellet wird.

5.

Die Vermoͤgen, ſich ſelbſt zu beſtimmen, haben wie jedwede andere Art von Vermoͤgen ihre Groͤßen und Grade an innerer Staͤrke und Maͤchtigkeit. Das Ver - moͤgen kann ſo ſchwach ſeyn, daß es mit dem Unver - moͤgen zuſammenſchließet, wie wir wirklich oft genug die Schwaͤche mit der Ohnmacht, und die Schwierig - keit mit der Unmoͤglichkeit verwechſeln. Das Vermoͤ - gen erfodert eine innere Zureichlichkeit zu dem Effekt, der hervorgebracht werden ſoll, und wenn es ein volles Vermoͤgen iſt, ſo bedarf es keines neuen Zuſatzes von außen. Aber es kann auch nur zur Noth zureichen; es kann ganz mit ſeiner voͤlligen Jntenſion und in ſei - nem voͤlligen Umfange dazu erfodert werden, und den - noch iſt es ein Vermoͤgen. Es kann uͤberfluͤßige Staͤrke haben, es kann erhoͤhetes Vermoͤgen und Fer - tigkeit ſeyn.

6.

Wenn die Empfindung des Vergnuͤgens oder des Verdruſſes uns zu der folgenden Kraftaͤußerung leident - lich beſtimmt, und wir alſo nicht ſelbſtthaͤtig handeln, ſo haben wir es freylich auch nicht in unſerer Gewalt, dieſe erſte Wirkung von ihrer Urſache abzuſondern und ſie zuruͤckzuhalten. Ueberfaͤllt uns ein Gefuͤhl, ſo koͤn -II Theil. Hnen114XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitnen wir freylich der Affektion des Gemuͤths, und der erſten Bewegung, und den Regungen des Verlangens und der Begierde nicht widerſtehen. Aber wenn nun die bewegenden Vorſtellungen in uns ohne thaͤtiges Zu - thun unwillkuͤhrlich gegenwaͤrtig bleiben, ſich erneuern, und nach und nach der Seele durch ihre wiederholten Reizungen das Wollen und Vollbringen abnoͤthigen, ſo folget doch nicht, daß wir nicht ein volles Vermoͤgen gehabt haben koͤnnten, uns anders zu beſtimmen, wie uns das Gefuͤhl lehret, daß wir es wirklich gehabt haben. Die Gegenwart der bewegenden Vorſtellung oder Em - pfindung, welche in dieſem Fall als die Urſache anzuſe - hen iſt, kann in unſerer Gewalt geweſen ſeyn, und noch ſeyn; wenn wir andere Vorſtellungen durch eine Wir - kung aufs Gehirn hervorrufen koͤnnen, wodurch jene un - terdruͤcket werden; und wenn nichts mehr daran fehlet, daß es wirklich geſchehe, und die bewegende Vorſtellung unterdruͤcket werde, als nur das Gefallen an dieſer neuen Art der Thaͤtigkeit und des Beſtrebens. Wir koͤnnen kaͤmpfen gegen die Leidenſchaften und ſiegen.

7.

Das Vermoͤgen zu wollen iſt nur der Anfang von dem Vermoͤgen zu vollbringen. Von jenem koͤnnen wir unmittelbar und zunaͤchſt aus dem Gefuͤhl unſers gegenwaͤrtigen Zuſtandes uͤberzeuget werden, daß wir es beſitzen. Wir haben eine Jdee vom Wollen, vom Selbſtbeſtimmen, von Kraft und Vermoͤgen welche aus unſern innern Empfindungen entſtanden iſt, wie die Jdee von der rothen Farbe aus unſern Jmpreſ - ſionen von außen. Und auf dieſelbige Art, wie ich jetzo gewahrnehme, indem ich die weiße Wand anſehe, daß unter meinen gegenwaͤrtigen Jmpreſſionen ſo eine ſich befindet, die ich dadurch bezeichne, daß ich ſie das Ge - fuͤhl der weißen Farbe nenne, ſo kann ich auch aus derVer -115und Freyheit. Vergleichung meiner gegenwaͤrtigen Gefuͤhle von mei - nem innern Zuſtande mit den vergangenen es wiſſen, daß ich jetzo ſo modificiret ſey, als ich es ſonſten gewe - ſen bin, wo ich mir eine Kraft oder ein Vermoͤgen zu - geſchrieben habe. *)Zweeter Verſuch I. 5. Vierter Verſuch VII. 6. Fuͤnfter Verſuch VII.

Das Vermoͤgen zu vollbringen erfodert noch meh - rere Diſpoſitionen in der Seele und in dem Koͤrper, de - ren Daſeyn wir aus dem, was unmittelbar empfunden wird, mittelbar durch die Jdeenaſſociation erkennen. Die Jdeen von Thaͤtigkeiten, ſo wie wir ſolche in uns haben, ſind oft das Kennzeichen geweſen, daß auch die uͤbrigen in der Seele und in dem Koͤrper dazu gehoͤrigen Vermoͤgen vorhanden ſind, und zwar ein ſo zuverlaͤßi - ges, daß wir an dieſem letztern ſo wenig zweifeln, wenn uns jene Merkmale vorſchweben, als ein Reuter daran zweifelt, daß er mit dem Anziehen von dem Zaume, den er unmittelbar mit der Hand anfaſſet, das Gebiß in dem Maul des Pferdes ziehen und regieren werde. Dieſe Erkenntniß iſt von der Art, wie andere Empfindungs - kenntniſſe. Der Reuter koͤnnte ſich doch irren, wenn Jemand den Zaum in der Mitte durchſchnitten, und die Enden nur mit Wachs zuſammen gebacken haͤtte.

8.

Kein ſelbſtthaͤtiges Vermoͤgen erſtreckt ſich in - deſſen weiter, als auf Handlungen, die wir einzeln ehe - dem ſchon unternommen haben, oder die aus ſolchen zuſammengeſetzet ſind. Unſere Selbſtthaͤtigkeit wirkt durch die Wiedererweckung der Vorſtellungen und der Vorſtellungsreihen, die wir von Thaͤtigkeiten in uns haben. Dieſe Vorſtellungsreihen ſind die Ner - ven der thaͤtigen Kraft und des Willens, ſo wie die von den Objekten es bey dem Verſtande ſind. Daher iſtH 2unſere116XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitunſere Selbſtthaͤtigkeit im Handeln das Parallel zu der Dichtkraft in den Vorſtellungen. Die Vorſtellungen von Aktionen ſind, ſo zu ſagen, in den Thaͤtigkeitsfibern, was die Vorſtellungen von Sachen in den Empfindungs - fibern ſind, und beide erregen ſich wechſelſeitig. Wie jede neue Vorſtellung, die keine Phantaſie und keine Produktion der ſchaffenden Dichtkraft iſt, aus einer neuen hinzugekommenen Empfindung ihren Urſprung hat; eben ſo gehoͤret auch jedwede Aktion, die nicht bloß eine Reproduktion einer andern vorhergegangenen iſt, und auch aus ſolchen nicht zuſammengeſetzet, keinesweges zu denen, zu welchen wir uns ſelbſt beſtimmt haben, und ſelbſt beſtimmet haben koͤnnen. Es ſind dergleichen vielmehr neue inſtinktartige Ausbruͤche unſerer Kraft, wozu die Seele durch einen gewiſſen Eindruck leidentlich beſtimmt worden iſt.

9.

Eine Hauptfrage iſt noch dieſe: Kann denn auch in demſelbigen Moment, in welchem wir uns ſelbſt beſtimmen, das Vermoͤgen, uns ſelbſt anders zu be - ſtimmen, vorhanden ſeyn? Koͤnnen ſolche zwey entgegengeſetzte Vermoͤgen zugleich neben einander beſte - hen? Jedes enthaͤlt eine gewiſſe Aktion auf eine Vor - ſtellung. Kann man zugleich auf die Vorſtellung von der Handlung wirken, ſolche wieder hervorziehen, gegen - waͤrtig erhalten, und auch zugleich das naͤmliche bey der entgegengeſetzten vornehmen?

Die Erfahrung lehret, daß, ſo oft wir zwiſchen Wollen und Nichtwollen hin und her wanken, auch die beiden Jdeen von den einander entgegenſtehenden Aktio - nen in uns mit einander abwechſeln. Und wenn uns zuweilen mitten indem wir uns entſchließen, die Vor - ſtellung von dem Gegentheil einfaͤllt, oder gar noch nach - her, wenn wir ſchon mit der Ausfuͤhrung unſers Ent -ſchluſſes117und Freyheit. ſchluſſes beſchaͤfftiget ſind, ſo wird die erſtere Vorſtellung gleichſam ſo lange aufgehalten, und die letztere nimmt auf einen Augenblick ihre Stelle von dem Bewußtſeyn ein.

Siehet man dieſe Erfahrungen genauer an, ſo ſieht man bald, daß es ſich mit der vorzuͤglichen Gegenwart der Jdee, nach der wir uns beſtimmen, hier wo unſere Selbſtbeſtimmung nach ihnen gelenket wird, nicht an - ders verhalte, als es ſich uͤberhaupt mit ſolchen Vorſtel - lungen in dem Verſtande verhaͤlt, auf die wir in Einem Augenblick am meiſten aufmerkſam ſind. *)Zweeter Verſuch. II. 4.Mit Ei - ner ſind wir zwar in Einem Augenblick am meiſten, und am naͤchſten beſchaͤfftigt, aber es hindert uns dieß nicht, daß wir nicht wirklich auch auf eine große Menge anderer in demſelbigen Moment thaͤtig ſeyn ſollten; und zwar in der Maße, daß nichts mehr noͤthig iſt, als nur daß es uns gefalle, auch eine von dieſen letztern mehr hervor zu ziehen, und die vorzuͤglich gegenwaͤrtige durch ſie zu verdraͤngen und zu verdunkeln. Die Seele wirket zugleich auf einmal in allen Richtungen auf ihre Vorſtellungen.

Es wuͤrde allerdings eine große Ungereimtheit ſeyn, wenn man ſich einbilden wollte, die Seele koͤnne zugleich in demſelbigen Augenblicke wollen, und daſſelbige auch nicht wollen. Dieß hieße ſo viel, ſie koͤnne ſich mit ei - ner Jdee in dem Grade beſchaͤfftigen, als zu dem Wol - len erfodert wird, und zugleich es auch nicht thun, oder ſich doch mit einer andern eben ſo ſehr beſchaͤfftigen, daß die Applikation der Kraft auf die erſtere hintertrieben werde. Aber man behauptet auch dieß nicht, wenn man ſaget, daß die Seele etwas wollen koͤnne, und zu - gleich das Vermoͤgen beſitze daſſelbige nicht zu wollen. Zu dieſem letztern iſt nichts mehr erfoderlich, als wasH 3auch118XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitauch ſehr wohl angehet, naͤmlich daß die Seele, indem ſie ſich mit einer Jdee ſo weit beſchaͤfftiget und die Kraft auf ſie anwendet, als es geſchieht, wenn ſie ſich nach ihr beſtimmet und will, auch zugleich auf eine andere entgegengeſetzte, ſo zu ſagen, drucke, und ſie vor ſich er - halte. Die Jdee vom Wollen, Thun, So wollen, So thun und So handeln iſt am meiſten gegenwaͤrtig; aber die Jdee vom Nichtwollen, Unterlaſſen, Anders - wollen, Andershandeln kann zugleich, nur in einem mindern Grade gegenwaͤrtig ſeyn, wie in einem Koͤrper eine Bewegung nach Einer Seite hin, zugleich mit ei - nem Druck nach einer andern beſtehen kann, aber nicht mit einer wahren Bewegung nach einer andern hin. Denn ſo verhaͤlt ſich ohngefaͤhr die Jdee von einer Aktion, welche in uns gegenwaͤrtig iſt, zu der Aktion ſelbſt, oder zu der wirklichen Selbſtbeſtimmung unſerer Kraft, wie der Druck oder Anſatz zur Bewegung bey den Koͤrpern ſich zu der Bewegung ſelbſt verhaͤlt. Jndeſſen wuͤrde man um dieß im Vorbeygehen noch zu erinnern, eine ſehr ſonderbare Folgerung machen, wenn man daraus, daß Wollen und Nichtwollen Anwendungen der Seelen - kraft auf zwo verſchiedene Jdeen ſind, ſchließen wollte, daß die Unmoͤglichkeit beide dieſe Kraftaͤußerungen zu - gleich mit einander zu verbinden, nur allein ihren Grund in der Einſchraͤnkung und in der Endlichkeit der Kraft habe, ſo wie in dem Koͤrper die Unmoͤglichkeit nach meh - reren Richtungen hin zugleich ſich zu bewegen nur daher entſtehet, weil ſeine Kraft nicht Vermoͤgen genug hat, ſich allſeitig auf einmal auszulaſſen, und daß alſo, an ſich die Sache betrachtet, ein unendliches Weſen viel - leicht zugleich zum Wollen und zum Nichtwollen ſich beſtimmen koͤnne. Auf dieſe Art wuͤrde der Wider - ſpruch zwiſchen Wollen und Nichtwollen, und zwiſchen Thun und Laſſen bey einem uneingeſchraͤnkt wirkſamen Weſen wegfallen, und uͤberhaupt die Unvereinbarkeitentge -119und Freyheit. entgegengeſetzter Handlungen nur eine Art von Kolliſion ſeyn, die bey endlichen Kraͤften vorkommen koͤnnte. Jch wuͤrde mich nicht wundern, wenn man dieß be - hauptet und auf eine aͤhnliche Art jeden Widerſpruch in den Handlungen fuͤr bloße Relation in Hinſicht auf die Kraft, welche handelt, erklaͤret haͤtte, wie man es von dem Widerſpruche der Jdeen geſaget, und dadurch in der That den Grundſatz des Widerſpruchs, inſoferne ſolcher ein objektiviſcher Grundſatz unſerer Erkenntniß ſeyn ſoll, gelaͤugnet hat. Man ſehe aber nach, was ich anderswo*)Siebenter Verſuch IV. hieruͤber weitlaͤuftiger geſagt habe, ſo wird es einleuchten, daß auch hier ein großer Unter - ſchied ſey zwiſchen bloß verſchiedenen Handlungen, die eine Kraft ihrer Einſchraͤnkung wegen nicht auf ein - mal verrichten kann, wie ein Menſch nicht zugleich zur rechten und zur linken Hand hingehen, und ſich an meh - reren Orten gegenwaͤrtig machen kann; und zwiſchen Handlungen, die ſich ihrer Natur nach wider - ſprechen, und ſich einander aufheben, wie jene nur in Hinſicht auf die eingeſchraͤnkte Kraft es thun. Ein Weſen, das zugleich das naͤmliche wollen und nicht wollen, daſſelbige zugleich verrichten und unterlaſſen ſoll - te, muͤßte die Jdee von der Aktion des Wollens in der Maße gegenwaͤrtig haben, als es erfodert wird, wenn die Selbſtbeſtimmung der Kraft auf ſie erfolgen ſoll, und zugleich ſie nicht in dieſer Maße vor ſich haben; ſie alſo reproduciren und auch nicht reproduciren, ſon - dern ſie zuruͤckhalten, zugleich ſich nach ihr beſtimmen, und ſich nicht nach ihr beſtimmen. Dieß iſt ein aͤhn - liches Erfoderniß, als wenn eine Denkkraft zugleich ei - nen Gedanken haben und auch nicht haben ſoll. Und da iſt es offenbar, daß, ſo wie dieß letztere nicht bloß in Beziehung auf ein gewiſſes denkendes Weſen, ſondernH 4ſchlecht -120XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitſchlechthin unmoͤglich und unthunlich iſt, ſo ſey auch jenes unmoͤglich durch die Natur eines jeden handeln - den und ſich ſelbſt beſtimmenden Weſens, es mag ſeine Kraft eingeſchraͤnkt und endlich, oder unendlich und eine Allmacht ſeyn.

Es iſt aus dem obigen nunmehr ſehr begreiflich, daß wir ſo viele Vermoͤgen uns zu beſtimmen zugleich beſitzen koͤnnen, als wir verſchiedene Vorſtellungen von Handlungen in uns haben, auf welche wir in demſelbi - gen Augenblicke wirken koͤnnen, und in einigem Grade wirken. Dieſe gleichzeitige Wirkung auf ſolche entge - gengeſetzte Vorſtellungen kann ſo weit gehen, daß ent - gegenſtehende Neigungen daraus werden, gewiſſe An - lagen ſich zu entſchließen, dergleichen wir oft genug in uns gewahrnehmen, beſonders alsdenn, wenn wir ſagen, daß wir nicht einig mit uns ſelbſt werden koͤnnen.

Nun iſt aber freylich hiebey noch eine wichtige Frage zuruͤck. Wenn gleich das Vermoͤgen nicht zu wollen eben ſo gut vorhanden iſt, als das Vermoͤgen zu wollen, wie die Preſſion nach der einen Seite in dem gedruckten Waſſer mit einer Preſſion nach der andern zugleich be - ſtehet: muß denn nicht doch das eine Vermoͤgen zu dem Entgegengeſetzten von dem, was geſchieht, wegfallen, oder doch wenigſtens geſchwaͤcht werden, in dem Au - genblicke, wenn die Aktion erfolget? Jch antworte: dieß geſchieht wohl da, wo nur allein die erſte Selbſt - beſtimmung des Willens in unſerer Gewalt war, nicht aber die folgenden Theile der Handlung. So geſchieht es bey den Koͤrpern. Die geſpannte Feder druckt auf beide entgegenſtehende Flaͤchen, von denen ſie geklem - met wird, gleich ſtark. Aber ſobald ſie nach Einer Seite hin Freyheit bekommt, ſich auszudehnen, ſo ver - mindert ſich der Druck gegen die andere, und verſchwin - det endlich, und mit ihm zugleich das Vermoͤgen, nach dieſer Seite hin zu wirken. Etwas aͤhnliches geht beydem121und Freyheit. dem Druck des Waſſers vor, das alsdenn, wenn es ſich nach einer Seite hin wirklich beweget, deſto weniger nach der gegenuͤberſtehenden hin mit ſeiner Preſſion wirket. Jn der Seele aber iſt es nicht alſo. Wenn dieſe ſich waͤhrend der ganzen Aktion in ihrer Gewalt behaͤlt, ſo beſtehet ihre Vorſtellung von dem Entgegen - geſetzten, und ihr Druck auf dieſe Jdee eben ſo, wie ſol - cher im Anfange vorhanden war. Dieß iſt es eben, was die fortdaurende Gegenwart des Geiſtes, womit eine freye Handlung ganz durch verrichtet wird, aus - machet.

XIII. Deutlichere Vorſtellung von der Freyheit, oder der Selbſtmacht uͤber ſich.

Nun meyne ich, ſind wir bis auf die eigentliche Stelle hin, wo ich habe hinwollen. Laßt uns nur noch einmal auf das Vorhergehende einen allgemeinen Blick werfen. Wenn wir frey handeln oder mit Selbſtmacht uͤber uns, ſo ſoll in uns ein Vermoͤgen, uns ſelbſt zu dem Gegentheil zu beſtimmen, vorhanden ſeyn, und zu - gleich in demſelbigen Moment vorhanden ſeyn, in dem wir uns beſtimmen. Und dieß letztere Vermoͤgen ſoll unter allen Umſtaͤnden der Handlung ein ſolches Ver - moͤgen bleiben, ſo weit naͤmlich die Handlung frey iſt. Denn darum hat der Menſch ſich im Affekt noch nicht in ſeiner Gewalt, weil er etwan im erſten Anfang deſ - ſelben ſich hatte begreifen koͤnnen? Die Gegenwart des Geiſtes, die thaͤtige Wirkung der Seele auf den Um - fang ihrer dermaligen Gefuͤhle und Vorſtellungen (com - poſitio mentis) muß fortdauern, ſo lange die Hand - lung als eine freye Handlung fortgehet.

Das Vermoͤgen, anders zu handeln, muß ferner ein hinreichendes Vermoͤgen ſeyn, das iſt, von ſolcherH 5Staͤrke,122XII. Verſuch. Ueber die SelbſtthaͤtigkeitStaͤrke, daß es hinreichet, der itzo ſie bewegenden Ur - ſache, den Empfindungen und Vorſtellungen, welche ſie afficiren, ſich zu widerſetzen, ſie zu unterdruͤcken, oder ihre Wirkung aufzuheben, und eine ſelbſtthaͤtige Wendung der Seele auf das Gegentheil hervorzubringen.

Dieß Vermoͤgen iſt nicht bloße Receptivitaͤt, auf eine andere Art, durch andere Motiven beſtimmt zu werden. Es iſt innerlich thaͤtige Kraft, und innerlich zu dem Laſſen und zu dem Andersmachen voͤllig be - ſtimmt. Es fehlet nur die wirkliche Applikation der Kraft auf ihren Gegenſtand; welche alsdenn hinzu - kommt, wenn dieſer gefaͤllt, oder ihr ſonſten vorzuͤglich dargeſtellet wird. Jn der Hitze der Leidenſchaft ſind wir noch wohl faͤhig, durch einen entgegengeſetzten ſtaͤr - kern Eindruck umgeſtimmt zu werden; aber ſelbſt uns umzuſtimmen haben wir das Vermoͤgen nicht.

Soll nicht bloß das Wollen frey ſeyn, ſondern auch das Ausfuͤhren, ſo iſt es noch nicht genug, daß waͤhrend der Aktion eine Vorſtellung von dem Gegen - theil vorhanden ſey. Dieſe mag ſogar lebhaft gegen - waͤrtig ſeyn, wie ſie es im Affekt oft iſt, und ein Wol - len und Beſtreben, die dermalige Richtung der Seele zu veraͤndern, nach ſich ziehen. Video meliora, proboque, deteriora ſequor. Voͤllige Selbſtmacht uͤber ſich, in Hinſicht der ganzen Aktion, erfodert ein Vermoͤgen, das Entgegengeſetzte wirklich auszurichten, und folglich alle Diſpoſitionen und Faͤhigkeiten in der Seele und in dem Koͤrper, ohne welche das Gegentheil nicht verrichtet werden kann.

Je lebhafter und ſtaͤrker die Vorſtellungen ſind, die uns zur Handlung geneigt machen, oder bewegen, je mehr ſie Empfindungen aͤhnlich ſind, und je groͤßer die Fertigkeit der Kraft iſt, in ſolche Aktionen auszubre - chen, deſto mehr gehoͤrt dazu, wenn ein Vermoͤgen zu dem Entgegengeſetzten ſtatt finden ſoll; deſto ſtaͤrkermuß123und Freyheit. muß die in der Seele liegende Vorſtellung des Gegen - theils ſeyn, deſto naͤher muß ſie der Reproduktionskraft vorliegen, und deſto groͤßer die Fertigkeit ſeyn, auf dieſe Jdee ſo weit zu wirken, als erfodert wird, ſie zu einer Aktion zu entwickeln.

Um ſeiner ſelbſtmaͤchtig zu bleiben, iſt es nicht alle - mal noͤthig, daß das Gegentheil der Handlung zugleich mit klarem Bewußtſeyn vorgeſtellet werde. Un - vorſichtigkeit machet die Handlung nicht allemal unfrey. Wenn man der einſeitigen Vorſtellung von der Aktion nachgeht, ohne daran zu gedenken, daß man dasjenige unterlaſſen koͤnne, was man thut, ſo benimmt uns dieß noch nicht allemal die Herrſchaft uͤber uns. Wenn und warum aber nicht? Dann nicht, wenn die gefallende Vorſtellung die Jdee von dem Gegentheil nur nicht ſo weit aus der Sphaͤre der gegenwaͤrtigen Wirkſamkeit wegdraͤnget, oder die Seelenkraft nicht ſo ſehr von ihr abziehet, daß ſie nicht auch bis zur Aktion wieder her - aufgebracht werden koͤnne, wenn es der Seele gefiele, ſie hervorzuziehen. Die Vorſtellungen ſind hier die Tangenten, auf welche die Seele unmittelbar angreifen kann. Wird Eine von dieſen weggenommen oder zuge - deckt, daß die Hand nicht zu ihr hinzu kommen kann, ſo wird dem Spieler das Vermoͤgen entzogen, ſie zu ruͤhren. Er kann ſie alsdenn nicht ruͤhren, wenn er auch Neigung dazu haͤtte. Aber ſonſten kann er anſchlagen, welche er will, wie es ihm gefaͤllig iſt, und auch dieje - nigen, an die er nicht einmal lebhaft druckt. Wenn die Aktion nicht unmittelbar frey iſt, ſo kann ſie es doch mittelbar ſeyn, und ſie iſt es, wenn die Seele durch eine Wirkung auf ihre dermaligen Vorſtellungen die Jdee von dem Gegentheil hervorziehen, und zur Aktion bringen koͤnnte.

Unterſchiedene Vorſtellungen von Gegenſtaͤnden und Aktionen verdraͤngen einander gewiſſermaſſen, eben ſowie124XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitwie unterſchiedene Aktionen ſelbſt. Die Menſchenſeele hat eine eingeſchraͤnkte Sphaͤre ihrer Wirkſamkeit. Sie vertreiben einander nicht ganz aus der Seele, aber ſie vertreiben einander, ſo zu ſagen, aus ihren naͤchſten Stellen von der Seele, von dem Platze der leichtern Reproducibilitaͤt weg, wo die thaͤtige Kraft am leichte - ſten ſich auf ſie verwenden kann. Denn nicht jede Vor - ſtellung, die in uns vorhanden iſt, kann in jedem Zu - ſtande und unter jeden Umſtaͤnden unmittelbar reprodu - cirt werden. Hiezu iſt es erfoderlich, daß ſie mit den unmittelbar gegenwaͤrtigen in einer naͤhern Verbindung ſtehe, oder ſelbſt darunter gehoͤre. Die menſchliche Freyheit iſt in allen Hinſichten endlich und einge - ſchraͤnkt.

XIV. Von den Folgen der Freyheit in den freyen Hand - lungen ſelbſt.

Wer Freyheit beſitzet, beſitzet wahre reelle Vermoͤ - gen, und zwar mehrere neben einander. Von der Freyheit haͤngt auch die Moralitaͤt des freyen We - ſens ab, und beides iſt ein Ausfluß, der in der Selbſt - thaͤtigkeit der Weſen ſeine Quelle hat. Selbſtthaͤtig - keit iſt zwar fuͤr ſich allein keine Freyheit, und giebt den Weſen, die ſie beſitzen, fuͤr ſich allein keine moraliſche Natur. Aber wenn die Selbſtthaͤtigkeit erhoͤhet und ausgedehnet wird, und alſo mehrere gleichzeitige Thaͤ - tigkeiten nach mehrern Seiten, und in verſchiedenen Richtungen hin, entſtehen, ſo wird ein ſolches ſelbſt - thaͤtiges Weſen ein freyes Weſen, wenn es Vorſtellun - gen von Handlungen aufnimmt, und dieſe durch ſeine innere Selbſtmacht reproduciren kann.

Zunaͤchſt begreift man daraus, warum freye Hand - lungen in einem hoͤhern Verſtande dem handelnden We -ſen125und Freyheit. ſen zuzurechnen ſind, als unfreye. Darum naͤm - lich, weil das freyhandelnde Weſen in einem hoͤhern Sinn Urheber von ihnen iſt, als das letztere. Es iſt eine ſolche Urſache ſeiner Wirkungen, welche zugleich mit einem Vermoͤgen verſehen war, die Wirkung durch ſich ſelbſt zuruͤck zu halten, und alſo die Urſache ſeiner Aktion in einer gedoppelten Hinſicht: einmal darum, weil es ſie gethan hat: und dann zweytens darum, weil es ſie nicht unterlaſſen hat, wozu es ein Vermoͤgen be - ſaß. Jn dem freyen Weſen iſt außer dem Vermoͤgen, etwas thun zu koͤnnen, und außer der wirklichen Appli - kation dieſes Vermoͤgens auf die Handlung noch ein drittes vorhanden, naͤmlich das phyſiſche Vermoͤgen zu unterlaſſen. Die unfreye Kraft enthaͤlt nur zwey von dieſen dreyen Stuͤcken.

Die Strafen und Belohnungen haben eine hoͤhere Abſicht bey Menſchen, als bey Thieren, weil ſie bey jenen eigene und vorzuͤgliche Folgen und Wirkungen ha - ben, die bey dieſen fehlen. Das unfreye Weſen kann durch angenehme und unangenehme Folgen der Hand - lungen in eine gewiſſe Form gebracht, zu gewiſſen Rich - tungen hingelenket, und auf eine beſtimmte Art gezo - gen werden; aber in dem freyen Weſen koͤnnen dadurch neue ſelbſtthaͤtige Vermoͤgen hervorgezogen, das iſt, es kann eine innere Erhoͤhung der Natur bewirket werden. Die meiſten kuͤnſtlichen Abrichtungen der Thiere ſchwaͤ - chen ihre Naturkraͤfte, und ſetzen ſie mehr herunter, als ſie ſie erheben. Der Menſch dagegen ſammlet aus den Folgen ſeiner Handlungen, Vorſtellungen von Thaͤ - tigkeiten, und ſelbſtthaͤtige Vermoͤgen, und erweitert die innere Sphaͤre ſeiner Wirkſamkeit.

Aber da die Freyheit, oder Selbſtmacht der Seele uͤber ſich, nur das Vermoͤgen enthaͤlt ſich anders zu be - ſtimmen, und dieſes nur ein bloßes Vermoͤgen oder ei - ne tode Kraft bleibet: welche Folgen und Beſchaffen -heiten126XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitheiten kann ſolches in der Handlung ſelbſt hervorbrin - gen? und kann die freye Handlung auch eigene charakte - riſtiſche Zuͤge haben, die ſie nicht an ſich haben wuͤrde, wenn jenes bloße Vermoͤgen nicht in der Kraft vorhan - den geweſen waͤre, die ſie hervorbrachte? Vaucanſons Floͤtenſpieler und andere Schreib - und Sprachmaſchi - nen machen es begreiflich, daß die freyeſten Handlun - gen, wenn man bloß auf den aͤußern Effekt ſieht, der von ihnen in andern Koͤrpern hervorgebracht wird, in ihrem voͤlligen Umfange, und an ſich noch vollkomme - ner, als es bisher geſchehen iſt, durch Maſchinen nach - gemacht werden koͤnnen, die doch zu ihrer Art zu wir - ken ſo einſeitig beſtimmt ſind, daß durchaus kein Ver - moͤgen, ſich anders zu beſtimmen, bey ihnen gedacht werden kann. Dieß kann nicht gelaͤugnet werden. Aber iſt denn das, was eine Maſchine verrichtet, die ganze Aktion, die ein freyhandelnder Menſch vornimmt, wenn er ſchreibet, redet, ſpielet? iſt es ſie wohl ganz, wenn man nur allein auf dasjenige ſiehet, was in dem Koͤrper des Menſchen vorgehet, und aͤußerlich geſehen werden kann? Wie vieles fehlet nicht hieran? Ein Blick auf die Augen, auf das Geſicht, auf die Gebehr - den und die Bewegungen des uͤberlegenden Mannes, der zwar mit Feuer und Nachdruck etwas verrichtet, aber ſeiner ſelbſt maͤchtig iſt, wird es uns anders leh - ren. Das geſetzte Weſen, die auf alle Seiten hinge - richtete und angeſtrengte Aufmerkſamkeit, die Menge der zugleich thaͤtigen Kraͤfte, die, ſo zu ſagen, bereit ſind, auf jeden Wink ſich anderswohin zu wenden, wenn die Abſicht es erfodert, und die auch oft zwiſchen durch, wenn die Vorſtellung von dem Gegentheil einmal leb - haft wird, von ihrer Richtung abbeugen; dieſe Wir - kungen, welche aus den thaͤtigen Beſtrebungen des frey - handelnden innern Princips hervorgehen, koͤnnen in kei - ne Maſchine uͤbergetragen werden, und ſind wirkſameVer -127und Freyheit. Vermoͤgen, ob ſie gleich von der Seite betrachtet, in ſo fern durch ſie die Handlung veraͤndert werden kann, nur todte Vermoͤgen bleiben. Wir vermiſſen ihre Aeuſ - ſerungen in dem Affekt, wenn der Menſch hingeriſſen wird, und ſich nicht mehr in ſeiner Gewalt hat. Ei - ne jedwede individuelle freye Aktion iſt unendlich voͤlli - ger, mannichfaltiger und vielſeitiger, als ſie uns dann erſcheinet, wenn nur auf den einen Zug von ihr allein geſehen wird, der eine einzige Reihe von Veraͤnderun - gen darſtellt, die wir als die weſentlichen in der Hand - lung anſehen. Jn den unfreyen Handlungen fehlen alle diejenigen Beziehungen auf das Gegentheil, die in den freyen wahrgenommen werden, und aus dem regen Vermoͤgen, ſich anders zu beſtimmen, entſpringen.

Die Folgen und Wirkungen, welche das Vermoͤ - gen zum Gegentheil hat, und die man mit den bloßen Preſſionen in den Koͤrpern vergleichen kann, gehen zu - naͤchſt aus der Seele in unſern organiſirten Koͤrper uͤber, und ſind hier noch, wie ſchon erinnert iſt, ſichtlich. Es iſt nothwendig, daß dieſe Folgen ſich noch weiter heraus verbreiten, und auch in die aͤußern uns umgebenden Koͤrper uͤbergehen muͤſſen, ob wir gleich hier ihre Spu - ren verlieren. Zuweilen laſſen ſie ſich auch hier noch fuͤhlen und empfinden, wenn gleich nicht mehr deutlich unterſcheiden.

Wir haben aͤußere Kennzeichen der Spontanei - taͤt eines handelnden Weſens, und wir urtheilen nach denſelben, ob wir uns gleich zuweilen dabey irren koͤn - nen. Veraͤnderungen, Bewegungen, die aus den Ein - druͤcken von außen her, aus dem Stoße, oder dem Zu - ge, welche ein Koͤrper empfaͤngt, nicht begreiflich zu ſeyn ſcheinen, fuͤhren uns auf den Gedanken, daß in ihm ein inneres Princip als die Quelle ſeiner Aktion ſeyn muͤſſe. Dieß iſt der Grund, warum wir die klei - nen mikroſkopiſchen Thierchen fuͤr wahre Thiere halten,und128XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitund ihnen eine innere Selbſtthaͤtigkeit beylegen. Und in dieſen Faͤllen kann man ſichs auch nicht erwehren, ſo zu urtheilen, wenn man anders ſelbſt einmal ihre Be - wegungen aufmerkſam betrachtet hat, ob es gleich an ſich nicht unmoͤglich waͤre, daß unſer Urtheil falſch ſeyn konnte. Denn es iſt darauf zu wetten, daß manche Perſonen die Theilchen des fein geriebenen Eiſens, die man auf dem Papier durch einen Magneten in Bewe - gung ſetzen, fortgehen, ſtille ſtehen, ſich umdrehen und wieder zuruͤckſpringen laſſen kann, ebenfalls fuͤr leben - dige Weſen anſehen wuͤrden, wenn man ihnen ſolche zum erſtenmale vorzeigte und die Hand mit dem Ma - gneten verſteckte, durch deren Wendungen jene Bewe - gungen verurſacht werden. Doch, weil doch auch in die - ſem letztern Beyſpiel wirklich eine ſelbſtthaͤtige Kraft vorhanden iſt, diejenige naͤmlich, welche die Hand und den Magneten regiert, ſo kann ſolches unſere Ue - berzeugung von der Animalitaͤt der ſogenannten mikro - ſkopiſchen Thiere nicht ſchwaͤchen.

Wir haben auch Charaktere der Willkuͤr und der Freyheit in den aͤußern Wirkungen, aber es iſt nicht zu verwundern, daß ſie ſchwerer zu entdecken ſind. Da - her bedienen wir uns ihrer nicht auf dieſelbige Art, ſon - dern ſchließen ſolche vielmehr nur aus andern bekannten Aehnlichkeiten der Thiere und Menſchen mit uns ſelbſt in unſerm Stande der Beſinnung. Es wuͤrde vortreff - lich ſeyn, wenn wir die aͤußern Abdruͤcke der Freyheit in den freyen Handlungen genauer und deutlicher ange - ben koͤnnten. Dieß muͤßte, nur Eins zu ſagen, wenn es auf die Betrachtung uͤber die Natur angewendet wuͤrde, die hoͤchſte Freyheit des Schoͤpfers eben ſo ſichtbar in ſeinen Werken machen, als ſeine Macht und Weisheit es iſt.

XV. Ver -129und Freyheit.

XV. Vereinigung der allgemeinen Vernunftſaͤtze mit dem Begriff von der Freyheit.

  • 1) Die Verknuͤpfung zwiſchen Urſachen und Wirkungen iſt nicht allemal eine nothwen - dige Verknuͤpfung.
  • 2) Unter welchen Vorausſetzungen die verur - ſachende Verknuͤpfung zufaͤllig ſey?
  • 3) Unter welchen ſie nothwendig iſt?
  • 4) Zufaͤlligkeit der Verknuͤpfung, wenn freye Urſachen wirken.
  • 5) Eine Erinnerung uͤber den Gebrauch der Gemeinbegriffe von Nothwendigkeit und Zufaͤlligkeit.

1.

Nach meiner Ueberzeugung haben die vorhergehenden Betrachtungen ſo viel außer Zweifel geſetzt, daß in unſern Empfindungen und Beobachtungen uͤber die Freyheit alles ſehr wohl mit einander zuſammenhange. Denn wenn wir auf einer Seite uns unabhaͤngig von den aͤußern Umſtaͤnden und von den innern Bewegungs - gruͤnden beſtimmen, und uns ſo fuͤhlen, auf der andern Seite aber doch dieſen Motiven unterworfen zu ſeyn ſcheinen: ſo vereiniget ſich dieſes beides durch die Be - merkung mit einander, daß allerdings unſere innere Kraft unabhaͤngig und eben ſo gut zum Wollen als zum Nichtwollen, zum Thun als zum Laſſen, innerlich auf - gelegt iſt, wenn ſie ſich auf die bewegende Vorſtellung nicht anders, als auf einen ihr vorkommenden ſchickli - chen Gegenſtand beſtimmet, und darauf ihre Wirkſam - keit anwender. Von dieſer Seite betrachtet iſt alſo, wie ich meyne, die Lehre von der Freyheit als ein TheilII. Theil. Jder130XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitder beobachtenden Pſychologie ihrer Schwierigkeiten ent - lediget.

Aber nun iſt noch die zwote Seite zuruͤck, an der man jederzeit ſo viele Dunkelheiten und Verwirrungen gefunden hat. Wie kann da, wo freye Urſachen wir - ken, und in ihren Kraftaͤußerungen und Handlungen eine Zufaͤlligkeit Statt finden ſoll, die allgemeine Ver - knuͤpfung zwiſchen Urſachen und Wirkungen vorhanden ſeyn, und wie kann die Wirkung durch ihre vorherge - hende Urſachen und Umſtaͤnde zum voraus in aller Hin - ſicht oder vollſtaͤndig beſtimmt ſeyn? Das iſt, wie laſſen ſich die allgemeinen Grundſaͤtze der Vernunft uͤber die urſachliche Verbindung, welche durchaus keine Aus - nahme zu leiden ſcheinen, auch da anwenden, wo freye Urſachen thaͤtig ſind, und zufaͤllige Wirkungen hervor - bringen?

Ohne mich in weitlaͤuftige Eroͤrterung der hieher gehoͤrigen metaphyſiſchen Lehren einzulaſſen, will ich hier nur in Kuͤrze anzeigen, wie ich fuͤr mich ſelbſt dar - uͤber raiſonnire. Gewiß iſt es, daß hier irgendwo ei - ne Verwirrung in den Begriffen ſeyn muͤſſe; und es laͤßt ſich zum voraus wohl vermuthen, daß der Knoten nicht nur ſehr verwickelt, ſondern noch dazu an einer Stelle, vielleicht in den Grundbegriffen, ſitzen muͤſſe, wo ihm nur mit Muͤhe beyzukommen iſt. Fuͤr diejenigen, die gaͤnzlich mit den metaphyſiſchen Spekulationen uͤber Nothwendigkeit und Zufaͤlligkeit unbekannt ſind, wird dieſer folgende Zuſatz unbrauchbar, den ich ohnedieß weggelaſſen haben wuͤrde, wenn nicht ſehr viel an der Aufmerkſamkeit der ſpekulativiſchen Philoſophen, und wenn es ſeyn koͤnnte, an ihrer Ueberzeugung und Bey - ſtimmung gelegen waͤre. Dazu kommt, daß doch die bloße Erfahrungserkenntniß auch von dem Menſchen nur unverbundene Materialien und zuweilen nur Bruchſtuͤcke ausmacht, die mittelſt der allgemeinen Vernunftſaͤtzeerſt131und Freyheit. erſt in ein ganzes wiſſenſchaftliches Gebaͤude zuſammen - gebracht werden koͤnnen, welches zu foͤrdern der Wunſch und die Abſicht der Philoſophen iſt.

Die Wirkung iſt mit ihrer Urſache nothwen - dig verbunden, ſagt Hr. Home und mit ihm andre. Alſo iſt die Dependenz der letztern von der erſtern noth - wendig, das iſt, die Wirkung muß erfolgen, und kann nicht ausbleiben, wenn die ganze Urſache voll - ſtaͤndig vorhanden iſt. Daher, ſo ſchließen ſie nun wei - ter, iſt auch die Empfindung, die es uns bey unſern freyen Handlungen weiß machet, als wenn wir ſie un - ter denſelbigen Umſtaͤnden, unter welchen wir ſie bege - hen, unterlaſſen oder anders einrichten koͤnnten, eine leere Erſcheinung, und eine Fallaz des innern Sinns, wie es die optiſchen Scheine bey dem aͤußern Sinne des Geſichts ſind.

Die Empfindung betruͤget uns nicht, antwortet der Jndeterminiſt, und ich mit ihm. Aber wenn dieſer hinzuſetzet, die Dependenz der Wirkung von der Ur - ſache binde jene nur alsdenn an dieſe letztere noth - wendig, wenn die Urſache eine voͤllig beſtimmende Urſache, ein Wolfiſcher zureichender Grund iſt, dergleichen ſie nicht allemal iſt, noch ſeyn darf, weil nicht alles einen ſolchen zureichenden Grund hat noch haben muß: ſo enthaͤlt dieſer Nachſatz ein Rai - ſonnement, dem ich nicht beytreten kann.

Der Satz, daß jede Wirkung, welche hervorge - bracht wird, jede Sache, jede Modification, jede Handlung, welche entſtehet, ihren voͤllig beſtim - menden zureichenden Grund habe, von dem es abhanget, daß jene entſtehe, und in Hinſicht aller ih - rer Beſchaffenheiten und Beziehungen eine ſolche wird, wie ſie wirklich iſt, und keine andere; dieſer Satz iſt bey mir ein Grundſatz, den ich fuͤr ein Axiom er -J 2kenne,132XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitkenne, ohne daß es noͤthig ſey, ihn als einen Jnduk - tionsſatz aus Erfahrungen zu beweiſen.

Jndeſſen, wenn er es auch nicht waͤre, als ein all - gemeiner Grundſatz des Verſtandes in der Metaphyſik betrachtet, ſo muͤßte ich unmittelbar aus der Erfah - rung annehmen, daß es mit den Handlungen der menſchlichen Seele, auch mit denen, die am meiſten gleichguͤltig und im hoͤchſten Grade frey ſind, eine ſol - che Beſchaffenheit habe, dergleichen nach dieſem Prin - cip ein jedes werdendes, und ein jedes zufaͤllig vorhan - denes Ding haben ſoll. Es fehlet keiner einzigen von ih - nen an einem ſolchen vollſtaͤndigen und beſtimmenden Grunde, warum ſie ſo und nicht anders erfolgen. Man ſehe auf das zuruͤck, was ich oben (N. VII. ) hieruͤber angefuͤhret habe.

Aber wenn die Wirkung mit einer zureichenden und voͤllig ſie beſtimmenden Urſache verbunden iſt, ſo findet ſich doch eine zwiefache, durch reelle Merk - male von einander unterſchiedene Beſchaffenheit dieſer Verbindung, davon die Eine ſie zu einer nothwen - digen, die andre ſie zu einer zufaͤlligen Verknuͤpfung macht. Will man ſie nicht mit dieſem Namen benen - nen, weil etwan das zur Richtſchnur angenommene me - taphyſiſche Lexikon dagegen iſt, ſo waͤhle man andere. Genug, wenn hierbey eine ſolche reelle und deutlich kennbare Verſchiedenheit angetroffen wird.

Laß die vollſtaͤndig beſtimmende Urſache von einer Wirkung vorhanden ſeyn, ſo iſt es zwar ein Axiom: Wenn jene Urſache vorhanden iſt, ſo erfolget auch die Wirkung (poſita cauſa ponitur effectus); aber es ſtehet eine Einſchraͤnkung dabey, oder ſie muß dabey ſtehen, naͤmlich dieſe: daferne kein Hinderniß im Wege lieget. Der Wind wird den beweglichen Wet - terhahn herumdrehen; aber nur unter der Bedingung, daß jener nicht aufgefangen wird; oder daß der Wet -ter -133und Freyheit. terhahn etwan nicht von jemand mit der Hand feſt ge - halten werde, oder ſonſten durch den Roſt ſeine vorige Beweglichkeit verloren habe. Jn dieſen Faͤllen wird er nicht gedrehet werden. Das angelegte Feuer wird das Holz verbrennen, wenn es nicht jetzo noch gleich ausgeloͤſchet wird, oder wenn das Holz, indem das Feuer zu brennen anfaͤngt, der Flamme nicht entzogen wird, oder ſonſten nicht etwas geſchieht, welches jene Wirkung zuruͤckhaͤlt. Ueberhaupt naͤmlich ſetzt der wirk - liche Erfolg die Bedingung voraus, daß die gegenwaͤr - tig vorhandene vollſtaͤndige Urſache, welche vor dem Effekt unmittelbar vorhergehet, noch in dem naͤchſt - folgenden Augenblicke die naͤmliche bleibe, die ſie iſt, oder daß nicht zwiſchen ihr und der Wir - kung ſich etwas fremdes einſchiebe, welches die letz - tere von der erſten abtrennet. Der Schlag mit einem Stock auf ein porcellaines Gefaͤß wird es in Stuͤcke zerſchlagen, wofern er nicht aufgegriffen, oder auch das Gefaͤß im erſten Anfang des Schlages der Gewalt deſ - ſelben entzogen wird.

Alſo iſt es klar, daß außer der vollſtaͤndig beſtim - menden wirkenden Urſache, von der die Wirkung nach allen ihren Beſchaffenheiten und Verhaͤltniſſen abhaͤnget, noch immer die Abweſenheit des dazwiſchen tre - tenden Hinderniſſes vorausgeſetzet werde.

Und alsdenn erfolget ſie nothwendig, oder nach den gewoͤhnlichen metaphyſiſchen Begriffen, die hier noch ungeaͤndert beybehalten werden koͤnnen, auf eine ſolche Art, daß ſie nicht ausbleiben kann. Setzet die vollſtaͤndig beſtimmende Urſache und die Abweſenheit aller Hinderniſſe zuſammen, und verbindet damit den Satz, der Effekt erfolge nicht : ſo iſt in dieſer Ver - bindung ein Widerſpruch. Der Satz, es erfolget die Wirkung , iſt eine ſo nothwendige Folgerung aus je - nen beiden Vorderſaͤtzen, als die drey Winkel im Trian -J 3gel134XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitgel eine nothwendige Folge von ſeinen drey Seiten ſind. Dieß laͤugnet derjenige, der etwas dem Zufall uͤber - laͤßt; und dieß laͤugnet auch der Jntederminiſt. Er meint, er ſey dazu gezwungen, vermoͤge deſſen, was ihn die Erfahrung von freyen wirkenden Urſachen leh - ret. Jch meine es nicht, und wenn ſie dies als das Schiboleth ihrer Gegner, der Determiniſten, anſe - hen, ſo nehme ich es an, zu dieſen letztern gezaͤhlt zu werden.

Allein, wenn die Bedingung, daß kein Hinderniß da ſey, noch nicht angenommen werden kann; wenn ſie noch dahin ſtehet, und wenn man nur allein die Vor - ausſetzung vor ſich hat, daß die voͤllig beſtimmen - de Urſache vorhanden ſey, worunter ich hier, ſo wohl die eigentliche wirkende Urſache mit ihrer thaͤ - tigen Kraft, als auch die uͤbrigen poſitiven Er - foderniſſe und Umſtaͤnde, die etwas zur Beſtim - mung der Wirkung beytragen, zuſammen nehme: ſo finden zween ſehr verſchiedene Faͤlle Statt, auf deren wichtige Unterſcheidung alles ankommt.

2.

Die Urſache mit allen uͤbrigen Erfoderniſſen iſt vorhanden; aber es kann, ehe die Wirkung erfolgt, noch etwas Poſitives dazwiſchen kommen. Eine Ku - gel fahre z. B. in gerader Richtung auf ein Glas zu, ſo wird ſie das Glas zerbrechen, wenn nichts dazwiſchen tritt. Aber nun wird ſie aufgegriffen, oder das Glas wird ihr entzogen, und die Wirkung erfolget nicht. Al - les war gleichwohl dazu vorbereitet, nichts fehlte mehr daran, es haͤtte nur nichts neues, nur keine neue Urſache, keine Wirkung einer andern fremden Kraft, nichts, das ein Hinderniß ausmachte, hinzukommen ſollen.

Hier war alſo ein Beyſpiel, wo die Regel: poſita cauſa ponitur effectus, nur unter der Bedingung Stattfand,135und Freyheit. fand, wenn kein Hinderniß hinzukommt; und die - ſe Bedingung war noch nicht mit eingeſchloſſen, als man vorausſetzte, daß die wirkende Urſache ſammt allen uͤbrigen Erfoderniſſen vorhanden | ſey.

Das hinzukommende Hinderniß, welches dazwi - ſchen tritt, und den Erfolg zuruͤckhaͤlt, obgleich ſein zu - reichender Grund ſchon da iſt, kann eine zwiefache Wirkung hervorbringen. Zuweilen kann die erſte wirkſame Urſache mit ihrer ganzen thaͤtigen Kraft, in - gleichen das Objekt, welches die Wirkung aufnehmen ſoll, und deſſen Lage gegen die Kraft; mit einem Wort alles, was zu dem vorhergehenden zureichenden Grunde gehoͤrte, unveraͤndert bleiben, und noch eben ſo beſte - hen, wie es vorher war; ohnerachtet der Erfolg durch die hinzukommende hindernde Urſache zuruͤckgehalten wird. Das Gewicht in einer Schale an der Wage drucket noch eben ſo ſtark wie vorher; und die Schale iſt eben ſo be - weglich, wie vorher: aber dennoch ſinkt ſie nicht, wenn man ſie von unten unterſtuͤtzet.

Es giebt alſo einen Fall, wo nicht[nur]der voͤllig zureichende Grund vorhanden iſt, d[urc]h den der Ef - fekt bewirket wird, ſondern, wo ſelbiger auch unver - aͤndert beſtehet, und demohnerachtet die Wirkung nicht erfolget. Mit der Vorausſetzung, daß ein zurei - chender Grund vorhanden ſey, kann man noch dieſe ver - binden, daß derſelbige auch unveraͤndert bleiben und be - ſtehen ſoll; und dennoch erfolget die Wirkung nur un - ter der Bedingung, daß nichts anders in den Weg komme.

Alsdenn iſt es offenbar, daß die Verknuͤpfung zwiſchen der Urſache und ihrer Wirkung eine zufaͤllige Verknuͤpfung ſey, weil ſie auch fehlen kann. Die Ur - ſache zieht in dieſen Beyſpielen nicht nur die Wirkung nicht nothwendig nach ſich, wenn ſie zuerſt vorhanden iſt, ſondern auch, wenn ſie gleich unveraͤndert beſtehetJ 4und136XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitund ſo bleibet wie ſie iſt. Die Urſache ſelbſt und das Gegentheil von ihrer Wirkung koͤnnen alſo zugleich, in eben dem Zeitmoment, mit einander beſtehen.

Ob etwa hier nicht alles unter dem zureichenden Grunde begriffen wird, was man ſonſten darunter verſteht? Die wirkende Urſache und ihre Kraft ma - chet freylich den geſammten zureichenden Grund noch nicht aus, und daher koͤnnte man glauben, es laſſe ſich die obige Regel, daß die Urſache nur unter einer Be - dingung die Wirkung nach ſich ziehe, nicht anwenden, wenn von dem zureichenden Grunde die Rede iſt. Einige verlangen, daß unter dem voͤllig zureichenden und beſtimmenden Grunde nicht nur alle innere und aͤuſ - ſere Erfoderniſſe der Wirkung begriffen werden, ſondern zugleich auch die Bedingung, daß ſich kein Hinderniß eraͤugne. Wenn die Kugel, die im Begriff iſt, auf ein porcellaines Gefaͤß herunter zu fallen, unterwegens aufgefangen wird, ſo fehlte nach dieſer Jdee von dem zureichenden Grunde noch etwas daran, naͤmlich dieſer Umſtand, daß nichts zwiſchen der Kugel und dem Ge - faͤße ſich befinde, und auch nichts ſich dazwiſchen lege, wodurch die Wirkung des Stoßes auf das Gefaͤß ver - hindert werde.

Es iſt unnuͤtz, um Worte ſich zu ſtreiten. Mich deucht, es ſey in den angefuͤhrten Beyſpielen ungemein leicht, alles dasjenige reelle und poſitive, was die Wirkung erheiſchet, und ohne welches ſie ſo, wie ſie erfolget, nicht erfolgen kann, von dieſer Bedingung: daß nur außerdem nichts neues hinderndes hinzukom - men ſolle, abzuſondern. Die letztere Bedingung er - fodert nicht, daß außer demjenigen, was ſchon als vor - handen angenommen wird, etwas poſitives oder reelles mehr da ſey, nicht, daß eine neue Kraft, eine neue Richtung, eine neue Beziehung des Gegenſtandes auf die Kraft zu dem, was ſchon da iſt, hinzukomme, wo -durch137und Freyheit. durch der Wirkung noch beſondere Beſchaffenheiten gegeben werden, und noch etwas mehr bey ihr begreiflich werde, was es nicht ſchon aus demjenigen iſt, das in dem poſitiven zureichenden Grunde zuſammengefaſſet war. Die bedungene Abweſenheit des Hinderniſſes enthaͤlt nur allein, daß nichts mehr, als da iſt, hinzu - komme. Wenn demnach dieſes beides, naͤmlich der voͤllig beſtimmende poſitive Grund und die Ab - weſenheit eines Hinderniſſes, ſo deutlich von einan - der unterſchieden werden kann, ſo deucht mich, man koͤnne das erſtere wol mit Fuge den ganzen zureichen - den Grund nennen, weil er alles, was bey der Wir - kung vorkommt, begreiflich macht.

Allerdings iſt hier die Stelle, wo die Jndetermi - niſten und die Determiniſten anfangen, ſich von ein - ander zu trennen, wie ich ſchon erinnert habe.

Wenn der voͤllig beſtimmende Grund und die Ab - weſenheit jedweden Hinderniſſes zuſammen genommen werden, ſo erfolget die Wirkung ſo und nicht anders ohne alle fernere Bedingung, und ſie erfolgt noth - wendig. Dieß iſt ein Grundſatz bey dem einen Theil und bey mir auch; aber nicht bey den Jndeterminiſten, welche es fuͤr nothwendig anſehen, dem Princip des zu - reichenden Grundes gewiſſe Graͤnzen zu ſetzen. Jch habe mich vorher ſchon erklaͤrt, was man dem Umfang dieſes Princips entzieht, wird dem Zufall eingeraͤumet. Hier betrifft der Streit Grundſaͤtze. Aber in der Un - terſuchung uͤber die Freyheit braucht es keine Spekula - tion, ſondern nur die Erfahrung, um dieſen Grundſatz auf die Seelenveraͤnderungen angewendet, ſo ſtark zu befeſtigen, als die vollſtaͤndigſte Jnduktion jemals ei - nen allgemeinen Erfahrungsſatz befeſtiget hat.

Aber wenn wir dagegen die Abweſenheit eines Hin - derniſſes als eine blos negative Bedingung von dem uͤbrigen poſitiven zureichenden Grund abſondern undJ 5den138XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitden letztern allein nehmen, ſo lehren die obigen Beyſpie - le ſchon, daß die Wirkung ausbleiben koͤnne, wenn gleich der voͤllig beſtimmende Grund vorhanden iſt, und daß jene alſo nur zufaͤllig mit dieſem verbunden ſey. Allein es koͤnne auch andre Faͤlle geben, wo die Ver - knuͤpfung nothwendig iſt. Dieß iſt ſie naͤmlich als - denn, wenn die Bedingung, daß kein Hinderniß vor - handen ſey, ſchon in dem uͤbrigen wahren zureichenden Grunde begriffen iſt, und zugleich dadurch mit geſetzet wird, ſo daß dieſer poſitive Grund nicht ſo ſeyn oder ſo bleiben wuͤrde, wie er iſt, wenn ein Hinderniß erfolget.

Wir ſtellen uns die Urſache, ihre Aktion, und das Wirklichwerden des Effekts in einer gewiſſen Zeitfolge vor, ſo nahe und unmittelbar ihre einzelne Momente auch an einander liegen. Nach dieſer Jdee kann man mit der Vorausſetzung des poſitiven Grundes auch ſo gar die Bedingung verbinden, daß in dem er - ſten Moment kein Hinderniß vorhanden ſey; und es blei - ben doch noch zween ſehr unterſchiedene Faͤlle uͤbrig, die beide moͤglich ſind. Jn dem Einen kann noch derglei - chen Hinderniß in den folgenden Momenten hinzukom - men, in dem andern aber nicht.

Die Verknuͤpfung zwiſchen der Urſache und ihrer Wirkung iſt alſo zufaͤllig alsdenn, wenn der ganze po - ſitive Grund mit allen uͤbrigen poſitiven Erfoderniſſen ſo ſeyn und bleiben kann, wie er iſt und bleibet, wenn die Wirkung verurſachet wird, und dennoch ein neues Hin - derniß dazwiſchen kommen kann, was ſeine Ausrichtung oder Verurſachung auf haͤlt. Dieß iſt eine Zufaͤllig - keit, die in dem eigentlichſten Verſtande in der Depen - denz der Wirkung von der vorhandenen und auch fortdauernden Urſache Statt findet.

Geſetzt aber, daß die wirkliche Verhinderung nicht anders moͤglich ſey, als daß auch zugleich alsdenn et - was in jenem poſitiven zureichenden Grunde, es ſeynun139und Freyheit. nun in der wirkſamen Kraft, oder in den aͤußern Erfo - derniſſen und Umſtaͤnden abgeaͤndert werde: ſo iſt es dennoch zufaͤllig, daß die Wirkung erfolget, wo der zureichende Grund jetzo vorhanden iſt. Denn die Wir - kung kann auch in dieſem Fall ausbleiben, obgleich der Grund jetzo vorhanden iſt, und veraͤndert wird, wenn das Hinderniß eintritt. Wenn z. B. die Kugel auf das Gefaͤß zufaͤhret, und dieſes ihm entruͤcket wird, ſo kann man ſagen, es ſey das Gefaͤß nicht in derſelbigen Lage geblieben, in der es vorhero lag, und dieſer Um - ſtand habe doch zu dem geſammten zureichenden Grun - de mitgehoͤret. Alſo bleibet die ganze Urſache nicht un - veraͤndert, wenn das Hinderniß hinzukommt. Man koͤnnte alſo ſagen, daß, wenn hier die Wirkung fehlen koͤnne, obgleich die Urſache vorhanden iſt, ſo kom - me dieß nicht ſowohl daher, weil die Wirkung ſich von der Urſache und den vorgehabten Umſtaͤnden trennen ließe, als vielmehr, weil die Urſache oder die Umſtaͤnde, ob ſie gleich jetzo ſo ſind, ſich veraͤndern laſſen, daß ſie nicht in der Folge ſo bleiben, wie ſie jetzo ſind. Die Zufaͤlligkeit, die hier Statt findet, lieget alſo in der Zu - faͤlligkeit der Urſachen und der Umſtaͤnde, oder in der Zufaͤlligkeit des vorhandenen, poſitiven, hinrei - chenden Grundes ſelbſten. Allein aus welchem Geſichts - punkt man die Sache auch anſieht, ſo iſt ſie immer die - ſelbige. Wenn gleich jetzo alles vorhanden iſt, wovon die Wirkung abhaͤngt, die ganze Urſache mit allen ihren Umſtaͤnden, ſo erfolget die Wirkung nicht, als nur unter der Vorausſetzung, daß kein Hinderniß ſich eraͤugne, und daß alles auch unveraͤndert und ohne Zuſatz beſtehe und bleibe, wie es iſt, bis der Effekt be - wirket iſt, und der gegenwaͤrtige Stand der Sachen macht nicht fuͤr ſich ſchon dieſe Bedingung unnoͤthig.

Die urſachlichen Verbindungen der wirklichen Din - ge in der Welt ſind nach Leibnitzen und Wolfen zufaͤl -lig140XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitlig, in dem Verſtande, wie es hier eben beſtimmt iſt. Man kann in der Phyſik nicht demonſtriren, ſagte Leibnitz, wie in der Geometrie; von welchem Ausdruck man nicht allemal den vollen wahren Sinn gefaßt hat. Die wirkenden Urſachen in der Natur haben unter den geſetzten Umſtaͤnden ihre Wirkungen; aber deswegen iſt es kein Widerſpruch, daß die letztern fehlen, wenn gleich jene mit allen ihren Erfoderniſſen und Umſtaͤnden vorhanden ſind. Man kann nur alsdenn demonſtriren, daß die Wirkung erfolge, wenn man außer der Exi - ſtenz der Urſachen auch noch die Bedingung, daß kein Hinderniß in den Weg trete, unter die Praͤmiſſen auf - nimmt; ſonſten aber folget der Schlußſatz, daß die Wirkung zu Stande komme, nicht aus den Vorderſaͤ - tzen, worinnen die Urſache und ihre Umſtaͤnde als exi - ſtirend angenommen werden. Dieß iſt ohne Zweifel ei - ne vielbedeutende innere Zufaͤlligkeit der Welt, die der ſpinoziſtiſchen und ſtoiſchen Nothwendigkeit von den ge - nannten Philoſophen entgegengeſetzt wird.

3.

Der Erfolg dagegen iſt nothwendig an ſeinen zu - reichenden Grund gebunden, wenn dieſer, einmal ſo an - genommen, wie er iſt, die zwote Bedingung, daß kein Hinderniß erfolge, ſo in ſich enthaͤlt, daß dieſe letztere aus dem erſtern, wie eine Folgerung, hergeleitet werden kann. Wenn die wirkende Urſache durch nichts um ih - re Wirkſamkeit waͤhrend der Aktion gebracht, und jene nicht einmal geſchwaͤcht werden kann; wenn das Objekt ihr nicht entzogen werden kann; wenn die Urſache un - widerſtehlich wirket, und die Erfoderniſſe der Aktion unveraͤnderlich ſind; wenn dieß alles beyſammen iſt: ſo iſt das Wirklichwerden des Effekts eine nothwendige Folge von der Wirklichkeit des voͤlligen Grundes. Die Allmacht wuͤrde allemal nothwendig wirken, wofern ſie nicht die Allmacht eines freyen Weſens waͤre, dasſich141und Freyheit. ſich ſelbſt durch ſeine innere Selbſtmacht verhindern, und ſeine Allmacht, ſo zu ſagen, auf halten kann.

4.

Von dieſer allgemeinen Zufaͤlligkeit der wirkenden Verknuͤpfungen in der Welt iſt die innerliche Zufaͤllig - keit noch ſehr unterſchieden, welche alsdenn Statt fin - det, wenn die thaͤtige Urſache mit Freyheit wirket. Wenn der Wind die Wolken treibet, der Blitz einſchlaͤ - get, und das Waſſer Daͤmme fortreißet, ſo iſt es zwar moͤglich, daß dieſe Wirkungen auch unter den naͤmli - chen Umſtaͤnden haͤtten verhindert werden koͤnnen; aber aus welchem Grunde, und welch eine Urſache haͤtte dieß Hinderniß verſchaffen muͤſſen? Die Verurſachung der Wirkungen war zufaͤllig, weil die wirkenden Urſachen entweder fuͤr ſich zufaͤllig ſind, und, ob ſie gleich da wa - ren, noch vorher, noch ehe ſie ihren Effekt hatten, auf - gehaben werden konnten, oder weil ihre Thaͤtigkeit uͤberwindlich und widerſtehlich war. Allein wenn ein wirkliches Hinderniß haͤtte erfolgen ſollen, ſo wuͤrde eine aͤußere Urſache erfordert worden ſeyn, die ſich zu ihnen geſellen, und ſich in ihre Thaͤtigkeit einmiſchen konnte. Die Zufaͤlligkeit der Verknuͤpfung ſelbſt iſt zwar, von Einer Seite betrachtet, eine innere, und hat ihren Grund in der Beſchaffenheit der Natur der wirkenden Kraͤfte. Denn die hindernde Urſache mag wirklich da - zwiſchen kommen oder nicht, ſo iſt doch die Wirkung mit der angenommenen Urſache in einer ſolchen Ver - knuͤpfung, die fehlen, geaͤndert und aufgehoben werden konnte. Allein es enthaͤlt doch dieſe Zufaͤlligkeit zu - gleich eine Hinſicht auf eine aͤußere Urſache, welche auſ - ſer derjenigen, die hier wirket, und außer den Umſtaͤn - den, unter denen ſie wirket, das iſt, außer dem indi - viduellen zureichenden Grunde, vorhanden ſeyn ſoll. Wie wir eine Sache fuͤr eine ſolche anſehen, die hervor - gebracht werden kann, ſo muß nicht nur ihre Entſte -hung142XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeithung von einem innern Widerſpruch frey ſeyn, ſondern es wird zugleich angenommen, daß eine Kraft wirklich exiſtire, welche das noͤthige Vermoͤgen, ſie hervorzubrin - gen, beſitze. Man kann freylich auch wohl jene abſolute Moͤglichkeit, daß naͤmlich die Sache werden koͤnne, wenn nur eine Kraft da waͤre, die ſie hervorzubringen das Vermoͤgen haͤtte, als ihre abſolute Moͤglichkeit zu werden, oder als ihre innere Machbarkeit anſehen; allein die naͤhere Moͤglichkeit, daß ſie gemacht und hervorgebracht werden kann, ſetzet die dazu erfoderliche Kraft als ſchon exiſtirend voraus. Soll alſo nach die - ſen Begriffen nur alsdenn die urſachliche Verbindung fuͤr zufaͤllig gehalten werden, wenn wirkliche Kraͤfte mit hinreichendem Vermoͤgen vorhanden ſind, die unter den angenommenen Umſtaͤnden dazwiſchen kommen, und den Effekt verhindern koͤnnen, ſo iſt diejenige Zufaͤllig - keit, welche in den Verknuͤpfungen der Koͤrperwelt an - getroffen wird, nichts mehr als eine aͤußere Zufaͤllig - keit, die ſich auf eine aͤußere Urſache beziehet, welche an - derswoher dazwiſchen kommen kann.

Daher iſt auch dieſe Zufaͤlligkeit in der Verknuͤ - pfung nicht mehr da, wenn dieſe Bedingung nur hin - zugeſetzt wird, daß von außen nichts in den Weg tre - te. Wirf den Funken in das trockne Pulver, und nimm an, es ſey außer dieſen beiden in einander wir - kenden Dingen und den ſonſtigen gewoͤhnlichen Umſtaͤn - den nichts weiter vorhanden, was der zuͤndenden Kraft des Feuers, und dem Feuerfangen und Zerplatzen des Pulvers ſich entgegenſetze, ſo iſt genug angenommen. Die Wirkung erfolget, und erfolget nothwendig unter dieſen Vorausſetzungen.

Dagegen, wenn eine freye Urſache wirket, ſo iſt es moͤglich, daß die Aktion unterbrochen oder verhindert werde, wegen des Vermoͤgens zu dem Gegentheil, das dem handelnden Weſen ſelbſt zukommt. Laß die freye Urſache wirken, ſo kann die Wirkung ausbleiben, nichtnur143und Freyheit. nur weil die Urſache fuͤr ſich gehindert werden kann, ſondern auch weil ſie durch ihre eigene innere Kraft ih - re Handlung unterbrechen kann, und dazu das volle Vermoͤgen hat, ob ſie gleich jene |ihren Weg gehen laͤßt. Hier iſt alſo in den freyen Handlungen eine in - nere Zufaͤlligkeit, die das Daſeyn aͤußerer Urſachen nicht erfodert, und die auch durch keine Gewalt von außen aufgehoben werden kann, wofern nicht auch zu - gleich die Handlung erzwungen werden, und eine freye Handlung zu ſeyn aufhoͤren ſoll.

Um alſo die Wirkung einer frey handelnden Kraft aus ihrer zureichenden Urſache herzuleiten, iſt es nicht genug, dieſe letztere mit allen ihren Erfoderniſſen anzu - nehmen. Es muß hinzugefuͤget werden, daß ſich von außen kein Hinderniß einmiſche. Und noch nicht ge - nug; es muß ferner hinzugefuͤget werden, daß ſich von innen nichts einmiſche, naͤmlich daß die thaͤtige Kraft ſich ſelbſt nicht zuruͤckhalte, oder ſich anders beſtimme.

Dieſe Verſchiedenheiten aus allgemeinen Begriffen ſind doch zum mindeſten reelle Verſchiedenheiten, wel - ches auch der Jndeterminiſt nicht ablaͤugnen wird, we - nigſtens nicht darf, um ſein Syſtem zu behaupten. Er laͤugnet nur, daß dieſe Zufaͤlligkeit fuͤr freye Handlun - gen genuͤge. Aber dieß mußte von neuem zur Frage ge - ſetzet werden.

Die hier erklaͤrte Zufaͤlligkeit iſt dieſelbige, welche wir in unſern Erfahrungen bey der Seele antreffen. So viel, nicht mehr, noch weniger enthaͤlt die Empfindung unſerer Freyheit, als was in jenem Begriff enthalten iſt. Vernunft und Erfahrung ſind in Harmonie mit einander. Jch handle, ſo wie ich handle, nach zurei - chenden Gruͤnden; aber ich kann anders handeln, durch mich ſelbſt und aus mir ſelbſt, wenn ich meiner ſelbſt maͤchtig bin. Jch hoͤre jetzo noch nicht auf zu ſchreiben; dazu habe ich keinen Grund, und es gefaͤlltmir144XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitmir nicht; aber ich fuͤhle und weiß es, daß ich doch das ungekraͤnkte Vermoͤgen beſitze, jetzo die Feder wegzu - legen, und meine thaͤtige Kraft anderswohin zu lenken. Oder ſoll man nichts thun koͤnnen, was man nicht wirklich thut? Was nicht anders geſchieht, das ſollte auch nicht anders geſchehen koͤnnen? Einige haben wirklich in den metaphyſiſchen Spekulationen ſich dahin verloren, daß ſie endlich Seyn und Seyn koͤnnen, Werden und Werden koͤnnen, fuͤr einerley angeſe - hen, weil ſie die Graͤnzen dieſer beiden ſo auffallend un - terſchiedenen Grundbegriffe nicht recht feſtzuhalten wuß - ten. Und ohne Zweifel war die Verwechſelung dieſer beiden Begriffe, die oft ſowohl in der philoſophiſchen Sprache, als in dem gemeinen Ausdruck vorkommt, eine große Veranlaſſung darzu. Was nicht iſt, was gewiß und ſicher nicht iſt, wird oft ſo ausgedruckt, daß es nicht ſeyn koͤnne; und von dem, was ge - wiß iſt, ſagen wir oft: es iſt nothwendig. Um alle Verwirrung in den Gedanken zu heben, muß ſolche auch allerdings in der Sprache gehoben werden. Leibnitz ſagte mit Recht: ohne zureichenden Grund geſchieht nichts. Aber wer hat die Philoſophen be - rechtigt zu ſagen: ohne zureichenden Grund koͤnne nichts geſchehen. So wenig daraus, daß etwas nur ſeyn kann, gefolgert werden darf, daß es wirklich ſey; eben ſo wenig darf daraus, daß etwas nicht ge - ſchieht, geſchloſſen werden, daß es nicht geſchehen koͤnne. Wenn nun etwas keinen zureichenden Grund hat, und alſo nicht geſchieht, wie kann man ſchließen, es koͤnne auch nicht geſchehen. Faͤllt denn mit dem Grunde der Wirklichkeit auch der Grund der Moͤglichkeit, mit der wirklichen Anwendung eines Vermoͤgens auch das Vermoͤgen ſelbſt weg.

Der Jndeterminiſt iſt mit keiner Moͤglichkeit des Gegentheils, und alſo mit keiner Zufaͤlligkeit derSa -145und Freyheit. Sache ſelbſt zufrieden, ſobald ein voͤllig zureichender oder beſtimmender Grund von ihr angenommen wird. Die Zufaͤlligkeit iſt in ſeinen Augen keine wahre voͤllige Zufaͤlligkeit, wenn nicht mit der vorhergehenden thaͤti - gen Urſache und mit allen Erfoderniſſen der Handlung, und ſo gar unter der Bedingung, daß kein Hinderniß eintrete, es dennoch beſtehen kann, daß die Wirkung unterbleibe. Jſt dieß das Weſen der Zufaͤlligkeit, ſo erfodert Zufaͤlligkeit einen blinden Zufall in Hinſicht deſſen, was geſchieht. Es iſt hier ein Princip der Vernunft, woruͤber wir von einander abgehen. Aber ich habe nirgends gefunden, daß man eine noch mehr enthaltende Zufaͤlligkeit, als die oben erklaͤret iſt, in den freyen Handlungen aus Beobachtungen erwieſen habe. Man hat nur geſchloſſen, es muͤſſe ſolche vorhanden ſeyn, weil ſonſten gar keine da ſey. Aber welche ſoll die wahre Zufaͤlligkeit ſeyn? Etwan die innere Unbeſtimmt - heit des ſich ſelbſt entſchließenden Princips in der Seele? Dieſe iſt allerdings vorhanden, aber ſie beſteht ſehr wohl mit dem Grundſatze von dem innern zureichenden Grunde. Jch kann wollen und nicht wollen, und will, wie mirs gefaͤllt; und wenn es mir gefaͤllt, daß ich will, ſo behalte ich mein Vermoͤgen nicht zu wollen ſo gut, als ich es vorher hatte. Aber iſt irgend ein Beyſpiel vorhanden, daß ich gewollt haͤtte, ohne daß mir dieſe Selbſtbeſtimmung entweder vorzuͤglich gefallen haͤtte, oder doch ohne daß in den vorhergehenden Umſtaͤnden etwas geweſen waͤre, warum ich mehr gewollt, als nicht gewollt, mehr dieß Objekt als ein anderes gewollt haͤtte? Soll dieſer Grund darum kein beſtimmender Grund genennet werden, weil er wirklich die handelnde Kraft nicht innerlich mehr zur Aktion zureichend macht, als ſie es vorher war, ſondern nur als ein Objekt der Kraft ſich darſtellet, ſo wuͤrde ich damit ſehr einig ſeyn, und wuͤnſchen, daß er nicht beſtimmend genennet werdenII Theil. Kmoͤchte.146XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeitmoͤchte. Denn was beſtimmet doch die Kugel, die man eben der elaſtiſchen Feder vorleget, indem dieſe ausſpringet, die Elaſticitaͤt derſelben und ihre innere zureichende Kraft? obgleich dieſer Umſtand doch das Warum enthaͤlt, daß die Kraft auf dieſe Kugel ange - wendet wird! Warum ſoll dasjenige beſtimmend heißen, was nicht aktiv beſtimmt? Aber ein Grund oder ein hinreichender Grund wuͤrde es wohl heißen muͤſſen. Doch an Worte ſollten ſich wenigſtens Philo - ſophen nicht ſtoßen.

5.

Die metaphyſiſchen Gemeinbegriffe von dem Noth - wendigen und Zufaͤlligen beduͤrfen ohne Zweifel ei - ner ſorgfaͤltigen Pruͤfung. Es ſcheint, ſie haͤtten einen Anſtrich von dem Jmaginairen an ſich, das die bilden - de Phantaſie zu dem, was aus reinen Empfindungs - ideen gezogen worden iſt, hinzuzuſetzen pfleget. Aber Hr. Hume hat in ſeiner Analyſe des Nothwendigen zu wenig geſehen. Denn Nothwendig iſt mehr, als beſtaͤndig auf einerley Art ſeyn. Jndeſſen glaube ich, da dieſe Begriffe vom Nothwendigen und Zufaͤlli - gen ſo viele Verwirrung veranlaſſet haben, man thue wohl, wenn man ſie mit allen uͤbrigen, die ſich auf ſie beziehen, aus der Philoſophie wegließe, und das Reel - le, was nun einmal in dieſen beiden Notionen, die gleichſam zwey große Faͤcher des Verſtandes geworden ſind, enthalten iſt, zertheilt aufſuche, und in andere Gemeinbegriffe hineinbringe. Selbſt die gegenwaͤrtige Unterſuchung uͤber die Natur der Freyheit giebt ein Bey - ſpiel davon ab, daß Lehren, in denen man ſonſten ſo oft um dieſe Notionen herumdrehet, eben ſo faßlich und zuſammenhangend vorgetragen werden koͤnnen, wenn man ſich gleich der Woͤrter, Nothwendig und Zufaͤlligmit147und Freyheit. mit ſammt der Moͤglichkeit des Gegentheils in der phi - loſophiſchen Sprache gaͤnzlich enthalten wuͤrde.

Jch will damit nicht ſagen, daß man ſich ihrer nicht mit Nutzen bedienen koͤnne, wenn nur ihre Be - deutung vorher ſo genau beſtimmt iſt, als ſie es bey all - gemeinen Begriffen ſeyn muß, die wir zum Grunde unſerer Schluͤſſe legen wollen.

Die Spekulationen uͤber die gedachten Begriffe fuͤhren zu Diſtinktionen, die im allgemeinen vorgetra - gen, fein genug ſind, um als ſachleere Spitzfindigkei - ten zu erſcheinen, und ſind doch unvermeidlich, ſobald man bis auf die erſten Gruͤnde zuruͤckgeht, wo die An - faͤnge des Wahren und des Falſchen oft dicht an einan - der liegen. Wer ſie vermeiden will, entſage dem Ver - gnuͤgen aus der deutlichern Einſicht, und bleibe naͤher bey den Empfindungen, die aber doch ſehr oft, und be - ſonders hier, das Mikroſkop der Vernunft erfodern, wenn man recht wiſſen will, was man ſiehet.

Babuc*)Dieſe Erzaͤhlung ſtehet in der bekannten ſchoͤnen Schrift des ehemaligen daͤniſchen Profeſſors Schnee - dorf: Babuc, oder: die Welt, wie ſie iſt. Eine Art von Nachahmung von dem Voltairiſchen Zadic. 1761. ins Deutſche uͤberſetzt. ſprach mit dem Vornehmſten der Drui - den in Scythien, der auf den Groß-Lama zu Tibet uͤbel zu ſprechen war, weil dieſer ſich fuͤr unfehlbar haͤlt. Er verſicherte, die Druiden verdienten mehr geſchaͤtzt zu werden, weil ſie es Niemanden uͤbel deu - teten, wenn ſie von ihren Fehlern unterrichtet wuͤrden. Wie, ſagte der vornehme Geiſtliche, ſind Sie ein Unglaͤubiger? Glauben Sie, daß unſere Druiden fehlen? Fehlen zu koͤnnen und wirklich zu feh -K 2 len148XII. Verſuch. Ueb. die Selbſtthaͤtigk. c. len ſind zwey ganz unterſchiedene Dinge. Wir feh - len nie, aber wir geben es gerne zu, daß wir fehlen koͤnnen. Babuc, ſetzet der Erzaͤhler hinzu, der nicht ſcharfſichtig genug war, dieſen Unterſchied zu begreifen, ſchwieg und gieng fort.

Babuc hatte geſunden Menſchenverſtand. Aber war die Diſtinktion der Druiden an ſich wohl unrichtig? Jch kann vielleicht mit uͤberwiegenden Gruͤnden denje - nigen widerlegen, der mir vorwirft, ich haͤtte in dieſer oder jener Sache mich geirret. Aber nur ein Wort dagegen ſagen wollen, daß ich irren koͤnne, wuͤrde Un - ſinn ſeyn.

Drey -149

Dreyzehnter Berſuch. Ueber das Seelenweſen im Menſchen.

I. Vorlaͤufiger Begriff von der thieriſchen Natur des Menſchen und von dem Seelenweſen in ihm.

Der Menſch iſt ein Thier, und hat als Thier eine thieriſche Natur, die keiner ſcharfſinniger un - terſuchet hat, als Hr. Unzer in ſeiner Phyſiologie der Thiere. Als Thier beſitzt der Menſch Seelen - kraͤfte und koͤrperliche Kraͤfte. Zu den letzten gehoͤ - ren ſowohl die mechaniſchen, die eine Folge des Me - chanismus des Koͤrpers ſind, als auch die Nerven - kraͤfte. Dieſe letztern aber ſind gleichfalls koͤrperli - che Kraͤfte wie die erſtern, und wie jene eine Folge der Organiſation. Wir kennen ihre Natur nicht, und wiſ - ſen von ihren Wirkungsgeſetzen noch wenig, aber ſo viel laͤßt ſich ſagen, daß ihre Wirkungen aus den bekannten Grundſaͤtzen der Mechanik zur Zeit noch nicht erklaͤret werden koͤnnen, daher ſie auch durch den Namen der organiſchen oder Nervenkraͤfte von den mechani - ſchen ganz fuͤglich unterſchieden werden. Gleichwol ſcheint es nicht zu bezweifeln zu ſeyn, daß ſie uns nicht etwas naͤher bekannt werden koͤnnten, wenn eines Theils nur die Mechanik der fluͤſſigen elaſtiſchen Koͤrper, des Aethers, des Feuers, der Elektricitaͤt, des Magne - tismus u. ſ. w. nicht ſo weit zuruͤck waͤre, als ſie es iſt, und dann zweytens noch genauer aus Beobach - tungen nach den Grundgeſetzen, wornach ſie wirken,K 3gefor -150XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſengeforſchet wuͤrde. Sie ſind indeſſen Kraͤfte materiel - ler, koͤrperlicher Weſen, und wirken mit den Seelen - kraͤften in Verbindung in dem Thiere, und zwar in ſo inniger Verbindung, daß es auch darum, wenn nicht ganz unmoͤglich, doch lange noch ſchwer ſeyn wird, ihre Natur und Wirkungsart fuͤr ſich allein beſonders zu be - trachten. Aus jener Verbindung entſtehet die thieri - ſche Natur des Menſchen. Das Thier iſt das aus Seele und organiſirtem Koͤrper beſtehende Ganze.

Der Menſch als ein Weſen, welches empfindet, Vorſtellungen hat, denkt und will, beſitzet eine geiſti - ge Natur, oder, wenn man nur auf das Allgemeinere Ruͤckſicht nimmt, das auch den vernunftloſen Thieren zukommt, eine Seelennatur. Jſt auch dieſe ein zu - ſammengeſetztes Eins, und ſind die Kraͤfte und Ver - moͤgen, die wir der Seele zuſchreiben, und fuͤr See - lenkraͤfte anſehen, auch etwa nur Kraͤfte des Zuſam - mengeſetzten, die in einer Verbindung von Kraͤften ei - nes unkoͤrperlichen einfachen Weſens mit den Kraͤften eines innern koͤrperlichen Seelenorgans ihren Grund haben?

Jn dieſer dunkeln Gegend, die zu dem Jnnern der Menſchheit gehoͤrt, habe ich, mit dem Senkbley der Beobachtung in der Hand, etwas herumgeforſchet. Von dem Wege, den ich genommen habe, und von dem Erfolg meiner Bemuͤhungen will ich in dieſem Ver - ſuche Nachricht geben. Jch denke nicht einmal auf eine Entſchuldigung bey dem philoſophiſchen Leſer, auch bey dem nicht, der am Ende wohl mit gutem Grunde ſagen mag: Nichts mehr, als das?

Wenn wir unſere Empfindungen, Vorſtellungen, Gedanken und Neigungen und die dazu gehoͤrigen Thaͤ - tigkeiten ſo nehmen, wie wir ſie mit unſerm Selbſtge - fuͤhl faſſen und gewahrnehmen, und dieß alles als See - lenveraͤnderungen und Seelenwirkungen anſehen, esunter151im Menſchen. unter einander vergleichen, aufloͤſen und die einfachen Grundkraͤfte dazu aufſuchen, ſo ſind wir in einem et - was bekanntern Welttheile. Hier giebt es Erfahrun - gen, die uns leiten und zurechtweiſen.

Aber wenn wir nun weiter fragen: was iſt dieß fuͤr ein Weſen, dieſe Seele, dieſes Subjekt der Vor - ſtellungen, dieſes thaͤtige, Empfindungen und Vorſtel - lungen bearbeitende Weſen? Vorausgeſetzt, daß es ein eigenes beſonderes Weſen in uns giebt, welches un - ſer Jch ausmacht, und nun im pſychologiſchen Ver - ſtande die Seele genannt wird. Sind denn die Vor - ſtellungen in dieſer Seele Beſchaffenheiten ihrer Sub - ſtanz, oder haben ſie nur ihren Sitz in dem Gehirn, in einem koͤrperlichen ſenſorio communi, in dem Theile unſers organiſirten Koͤrpers, der die innern Werkzeuge der Seele und den koͤrperlichen Theil des Seelenweſens im Menſchen ausmachet? Wie etwa der Ton, den ein Jnſtrument angiebt, nicht in den Fingern des Spie - lers iſt, ob dieſe ihn gleich hervorbringen?

Dieſe Frage ſetze ich hier an der Spitze der uͤbrigen; denn es wird ſich bald zeigen, daß hier die Stelle ſey, wo die Betrachtung hinlaͤuft, und wo ſie ihr Ende findet.

Wenn wir dieß und mehreres fragen, was hieher gehoͤrt, ſind wir denn auch noch in einer Gegend, wo uns die Erfahrung leitet? Es giebt allerdings einige Beobachtungen, die uns einigermaßen zurechtweiſen; aber es ſind ihrer ſo wenige, daß man ſie nur wie eini - ge Jnſeln anſehen kann, die hie und da auf einem großen Ocean zerſtreuet, und in weiten Entfernungen ſtehen; und davon uͤberdieß einige, die auf den Charten der neuern Philoſophen geſetzet ſind, wirklich nicht ein wahres Land, ſondern nur Nebelbaͤnke geweſen ſind; Phantaſien, nicht Beobachtungen.

K 4II. Unſere152XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen

II. Unſere Vorſtellungen von der Seele und ihren Veraͤnderungen ſind eben ſo, wie unſere Jdeen von dem Koͤrper, nur Scheine.

Wir kennen unſer Empfinden, unſer Vorſtellen unſer Denken, Wollen und ſo ferner, bis da - hin, daß wir uns Jdeen von dieſen Operationen unſers Selbſt machen, ſie mittelſt dieſer Jdeen verglei - chen und unterſcheiden, auf die naͤmliche Art, wie wir es mit den Jdeen von den Wirkungen und Kraͤften der koͤrperlichen Dinge machen. Aber da wir die Jdeen von jenen wie von dieſen aus den Empfindungen haben, und da die Koͤrper und ihre Beſchaffenheiten, die der aͤußere Sinn uns darſtellet, nur Phaͤnomene vor uns ſind, was werden denn jene Seelenaͤußerungen, davon der innere Sinn uns die Vorſtellung giebt, vor uns ſeyn? Sind Empfinden, Denken, Wollen auch nur Phaͤnomene?

Dieſer unbeſtimmte Ausdruck, den man ſeiner Kuͤrze und zum Theil auch ſeiner Unbeſtimmtheit wegen in der Philoſophie ſo oft gebrauchet, will doch, wenn er deutlich erklaͤrt wird, nichts ſagen, was eigentlich die Natur der Koͤrper außer uns und ihre Beſchaffen - heiten angehet. Es iſt die ſubjektiviſche Natur unſerer Jdeen von ihnen, die ſie vor uns zu Phaͤnomenen ma - chet; und unſere Vorſtellungen von ihnen ſind Scheine oder Erſcheinungen, und zwar aus einem zwiefachen Grunde.

Erſtlich ſind unſere einfachſten Empfindungsvorſtel - lungen verwirrte Vorſtellungen, die vieles und etwas mannigfaltiges auf einmal in einander zuſammenlau - fend uns darſtellen.

Dann ſind zweytens unſere Empfindungsideen von den Beſchaffenheiten der Koͤrper nur relative Vorſtel -lungen153im Menſchen. lungen von den Objekten, das iſt, ſolche Vorſtellungen, welche nicht allein ſchon durch die Natur des vorſtellen - den Weſens und deſſen Beziehung auf die Objekte das ſind, was ſie ſind, ſondern die auch von der Beſchaf - fenheit der ſinnlichen Organe, und andern außer der Seele vorhandenen Empfindungserfoderniſſen, und von der Lage des Objekts gegen die Organe abhangen. Saunderſons Seele war daſſelbartige Weſen, wie die unſrige, und dennoch waren ſeine Vorſtellungen von dem Licht, von den Farben, von dem Raum u. ſ. f. von den Jdeen, die wir von dieſen Gegenſtaͤnden haben, ſo unterſchieden, wie es die koͤrperlichen Gefuͤhle der Aus - dehnung, das Gefuͤhl von einer Linie, und das Ge - fuͤhl von einer Bewegung, von den Jmpreſſionen ſind, die in uns von den naͤmlichen Objekten vermittelſt der Augen entſtehen. Unſere Geſichtsbilder haben etwas an ſich, das ſie allein von dem Organ des Auges haben, und Saunderſons Gefuͤhlsbilder hatten etwas an ſich, das von den Organen des Gefuͤhls abhaͤnget. Abſo - lute Vorſtellungen dagegen ſollen die ſeyn, welche jed - wedes aͤhnliche vorſtellende Weſen, auf die naͤmliche Art, von dem naͤmlichen Gegenſtande haben wuͤrde. Jene ſind uͤberhaupt Erſcheinungen, und koͤnnen, wie man leicht ſiehet, ihrer Natur nach nichts mehr, als einſei - tige Jdeen ſeyn, die ihre Objekte nur von Einer Seite und aus Einem Geſichtspunkte darſtellen, und alſo bey weitem die beſtimmten Begriffe nicht ſind, wodurch die Sachen, ſo wie ſie ſind, ihren innern Beſchaffenheiten nach, rein und farbenlos abgebildet werden.

Eine von den beiden Urſachen, wodurch unſere aͤußern Empfindungsideen zu verwirrten und zu einſei - tigen Jdeen werden, iſt offenbar bey den innern Em - pfindungsideen vorhanden, und von der andern iſt es wahrſcheinlich, daß ſie auch da ſey. Was iſt uns alſoK 5Buͤrge,154XIII. Verſuch. Ueber das SeelenweſenBuͤrge, daß unſere Jdeen vom Denken und Wollen vollkommnere Jdeen ſind, als die von dem Licht und von den Toͤnen? Der Eindruck von außen, der von dem weißen Licht entſtehet, iſt keine einfache Empfin - dung in dem Sinne, daß er ſelbſt als innerer Eindruck, als Beſchaffenheit und Modifikation der Seele einfach ſey; denn er enthaͤlt wirklich etwas vielfaches, wie der Lichtbuͤſchel, der durchs Auge gehet; ſondern wenn wir ihn fuͤr eine einfache Empfindung halten, ſo iſt ers nur in ſo weit, als nichts mannigfaltiges in ihm gewahrgenommen, oder nichts in ihm unterſchie - den werden kann, weil wir nicht jedwede Elementar - modifikation der Seele beſonders empfinden, von an - dern abſondern, und mit einem eigenen Aktus des Em - pfindens ſie bearbeiten koͤnnen. Nun ſind die innern Modifikationen, deren Gefuͤhl unſer Selbſtgefuͤhl aus - machet, darinn von den Jmpreſſionen von außen unter - ſchieden, daß ſie andere Urſachen haben, die ſie her - vorbringen. Sie entſtehen von innen und aus der Kraft der Seele ſelbſt. Dieſe wirket zuruͤck, wenn ſie empfin - det, iſt| thaͤtig, wenn ſie denket, beſtimmt ſich ſelbſt, wenn ſie will, und die nachbleibenden Spuren von die - ſen Aktionen ſind es, aus welchen wir unſere Vorſtel - lungen von den Seelenaͤußerungen hernehmen. Sind wir vergewiſſert, ja haben wir nur Einen Grund, es fuͤr wahrſcheinlich zu halten, da es der Analogie ſo ſehr entgegen iſt, daß die Aktus des Empfindens, des Den - kens, des Wollens ſo einfach ſind, als ſie uns vorkom - men? Jede einzelne individuelle Aktion, jedes Em - pfinden, Denken, Wollen iſt etwas in Eins fortgehen - des und erfodert ſeine Zeitlaͤnge, in der es entſtehet, und hat ſeinen Anfang, ſeine Mitte und ſein Ende. Vielleicht iſt gar jede beobachtbare Aktion aus heteroge - nen Aktionen und Paſſionen zuſammengeſetzt, die fuͤr unſere Abſonderungskraft zu unaufloͤslich und, einzelngenom -155im Menſchen. genommen, unbeobachtbar ſind. Wenigſtens haben wir keine Gruͤnde, dieß Vielleicht wegzulaſſen.

Was die zwote Eigenſchaft eines Phaͤnomens be - trifft, daß naͤmlich die Jdee der Sache nur eine rela - tive Jdee von uns ſey, die außer der Natur des vor - ſtellenden Weſens von gewiſſen Werkzeugen des Vor - ſtellens und von andern Umſtaͤnden abhaͤnget; ſo ſind wir, das wenigſte zu ſagen, hieruͤber nicht voͤllig ſicher, daß unſere Jdeen aus innern Empfindungen nicht eben ſo wohl zu dieſen Klaſſen gehoͤren, als die Jdeen aus den aͤußern Sinnen. Das Gegentheil wird vielmehr wahrſcheinlich, und beynahe voͤllig gewiß, wenn man auf die Art zuruͤckſiehet, wie ſolche Jdeen entſtehen. *)Erſter Verſuch VII. Zweeter Verſuch II. 5.Wie lernen wir unſer Gefuͤhl kennen, um nur dieß Eine zum Beyſpiel hier wieder anzufuͤhren? Wir empfin - den oder fuͤhlen den Eindruck von aͤußern Gegenſtaͤnden. Alsdenn gehet etwas in uns vor, und die Seele wirkt zuruͤck auf das Gehirn, indem ihre Kraft von den Be - wegungen deſſelben modificirt wird. Nun hinterlaͤßt der Aktus des Gefuͤhls eine Spur; es ſey unentſchieden, ob in der Seele oder in dem innern Organ, oder in beiden, genug daß ſolche in unſerm Seelenweſen zu - ruͤckbleibet, das iſt, in dem Weſen, welches fuͤhlet; und dieſe hinterlaſſene Spur muß von neuem gefuͤhlt, abſonderlich gefuͤhlt und unterſchieden werden, wenn eine Vorſtellung von dieſem Aktus des Fuͤhlens entſte - hen ſoll. Um alſo dieſe Vorſtellung von dem Gefuͤhl zu erhalten, iſt erfoderlich, daß wir den vorhergegan - genen Aktus des Gefuͤhls in ſeiner fortdaurenden Wirkung nochmals fuͤhlen und unterſcheiden; und als - denn fuͤhlen wir uns ſelbſt auf eine aͤhnliche Art, wie das Auge im Spiegel vermittelſt des reflektirten Lichts ſich beſehen kann. Da nun der Aktus des Gefuͤhlseine156XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſeneine gleichzeitige Veraͤnderung des Gehirns erfodert, und dieſe Organsbeſchaffenheit auch wiederum vorhan - den ſeyn muß, wenn wir den Aktus des Fuͤhlens ge - wahrnehmen ſollen, ſo folgt, daß unſere Vorſtellung von unſerm Fuͤhlen auch von der Einrichtung des innern Organs abhange, eben ſo, wie der erſte Aktus des Fuͤh - lens ſelbſt zum Theil davon abhaͤnget. Ein anderes Organ wuͤrde alſo eine andere Vorſtellung von dem Aktus des Fuͤhlens geben.

Dieſe Anmerkung wirft ein undurchdringliches Dunkel um das Jnnre unſerer Seelenaͤußerungen, un - ſers Fuͤhlens, Denkens, Wollens u. ſ. f. worinn auch das ſchaͤrfſte Auge nichts erkennen kann. So wenig die erſten einfachen Elemente der Koͤrper und ihre ein - fachen Wirkungen ſich durch die Zergliederung dem An - ſchauen darſtellen laſſen, und ſo wenig jemals der ſchaͤrf - ſte Blick des Menſchen in dem weißen Lichtſtrahl die vereinigten Farbenſtrahlen unterſcheiden wird; eben ſo wenig iſt zu erwarten, daß ein Beobachter ſeiner ſelbſt durch die bloße Aufmerkſamkeit auf ſein Gefuͤhl es aus - machen werde, ob die Seelenaͤußerungen, die vor ihm einfach ſind, auch wirklich einfach oder zuſammengeſetzt; und ob ſie aus einerleyartigen oder verſchiedenartigen Beſtrebungen entſtehen? Das Fuͤhlen, das Denken, das Selbſtbeſtimmen iſt vor uns etwas einfaches ohne innere Mannichfaltigkeit; aber da es vor uns ein Phaͤ - nomen iſt, ſo kann es entweder eine ſolche Empfindung ſeyn, welche aus unterſchiedenen Theilen zuſammenge - ſetzt iſt, wie die von dem weißen Lichte iſt, oder ſie kann aus homogenen Kraftaͤußerungen beſtehen, wie die Jdeen von den einfachen Grundfarben, von welchen wir es noch nicht wiſſen, daß ſie heterogene Theile in ſich enthalten.

Aber ich ſage nur, die Beobachtung allein koͤnne hier nichts ausrichten, nicht eindringen, undnichts157im Menſchen. nichts auseinanderſetzen. Ob denn auch durch andere Wege, von hinten zu, durch Umwege, oder durch Rai - ſonnements ſich nichts ausrichten laſſe? das iſt eine an - dere Frage, die man nicht zugleich mit der erſtern ver - neinen darf. Newton wußte es doch offenbar zu ma - chen, daß das weiße Licht eine Vermiſchung verſchie - denartig faͤrbender Strahlen ſey, obgleich weder das bloße Auge noch das bewaffnete dieſe Beſtandtheile dar - inn unterſcheiden konnte. Die chymiſche Aufloͤſung der Koͤrper leget uns die einfachen Elemente der Koͤrper nicht dar, und bringet uns in der That nicht einmal ſo weit, daß wir durch ſie daruͤber gewiß werden, ob es dergleichen wahre ſubſtanzielle Einheiten gebe, wie die Philoſophen behaupten, und dennoch glaube ich es den letztern, daß ſie vorhanden ſind, um ihrer Schluͤſſe willen, womit ſie dieß erweiſen; und geſetzt, daß ich es nicht glaubte, ſo wuͤrde ich doch die gaͤnzliche Unmoͤg - lichkeit, durch die Beobachtung ſie zu erkennen, nicht einmal unter die Gruͤnde meines Zweifels auffuͤhren. Am Ende wird es alſo nur darauf ankommen, ob es nicht andere Gruͤnde gebe, wornach wir die innere Ein - fachheit oder Zuſammenſetzung unſerer Gefuͤhle einfa - cher Seelenaͤußerungen beurtheilen koͤnnen.

III. Von158XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen

III. Von dem koͤrperlichen Beſtandtheile unſers See - lenweſens.

  • 1) Von dem Antheil des Gehirns an jedweder Seelenaͤußerung. Von materiellen Jdeen.
  • 2) Von der Natur des Selbſtgefuͤhls der Seele. Sie fuͤhlet und empfindet ſich auf eine aͤhnliche Weiſe, wie das Auge ſich im Spiegel ſiehet.

1.

Es giebt hier doch zween Saͤtze, die ſich ausmachen laſſen, und die bey den weiter gehenden Raiſonne - ments uͤber die Natur der Seele Leichtthuͤrme fuͤr uns ſeyn muͤſſen. Der erſte iſt mehr ein Erfahrungsſatz; der andere erfodert mehr Raiſonnement, wenn ſeine Ge - wißheit einleuchten ſoll. Jndeſſen beſtehen ſie beide in Begriffen und Urtheilen, die aus Empfindungen gezo - gen werden.

Der erſte Satz iſt dieſer: Zu jedweder Seelen - aͤußerung wirket ein gewiſſer innerer Theil unſers Koͤr - pers bey; wir moͤgen dieſen Theil das Gehirn, das ſenſorium commune, Seelenorgan, ſchema per - ceptionis, oder wie wir wollen, benennen.

Die andere Grundwahrheit iſt folgende: Es giebt außer den gedachten koͤrperlichen Seelenorganen in uns ein Weſen, das zwar in Vereinigung mit jenen wirkt, aber fuͤr ſich ein eigenes beſtehendes Ding oder eine Subſtanz iſt, die wir die Seele in pſychologiſcher Bedeutung oder unſer Jch nennen. Und dieß letztere un - koͤrperliche Weſen iſt es entweder allein, was das empfin - dende, denkende und thaͤtige Seelenweſen im Menſchen ausmacht, oder es iſt doch der vornehmſte Theil dieſes Ganzen,159im Menſchen. Ganzen, die Hauptſubſtanz deſſelben, deren Beſchaf - fenheiten und Aktionen das Weſentliche von dem aus - machen, was wir Empfinden, Denken und Wollen nennen, und der wir daher auch unſere Seelenbe - ſchaffenheiten und die Seelenkraͤfte und Seelenaͤuße - rungen als dem vornehmſten Weſen nicht unrecht bey - legen.

Zur Beſtaͤtigung des erſtern Satzes hier etwas hinzu zu ſetzen, iſt uͤberfluͤßig. Die Phyſiologie und Pſychologie hat nunmehr ſo viele Fakta geſammelt, welche dieſe durchgaͤngige Mitveraͤnderung des Gehirns zu allen Seelenveraͤnderungen offenbar machen, daß ſol - che als außer Zweifel geſetzt angeſehen werden kann. Jeder Eindruck von außen, jedes innere Gefuͤhl, jedes Empfindniß, jede Vorſtellung, jede Jdee, jedes Wol - len oder Beſtrebung und Thaͤtigkeit, mit einem Wort, jede Modifikation, jedes Thun und Leiden der Seele hat eine gewiſſe Modifikation des Gehirns mit ſich ver - bunden, ohne welche jene nicht vorhanden iſt, oder doch wenigſtens nicht ſo vorhanden iſt, daß wir ſie ſoll - ten bemerken und gewahrnehmen koͤnnen. Die Ge - hirnsveraͤnderungen dauren fort, ſo lange die Seelen - veraͤnderungen dauren, nehmen mit ihnen zu und ab, und hoͤren mit ihnen auf. Jhre Verbindung iſt auch nicht bloß einſeitig, ſondern ſie ziehen einander wechſel - ſeitig nach ſich. Wenn die Seele mit einem Spieler, und das Organ mit einem Jnſtrument verglichen wer - den ſollte, ſo muͤßte man zu dieſem Gleichniſſe hinzu - ſetzen, daß die Finger des Spielers ununterbrochen dicht an die Klaves oder an die Saiten des Jnſtru - ments anliegen; und daß, wie jede Regung und Druck von den Fingern in die Saiten des Jnſtruments uͤber - gehet, ſich auch dagegen jede Bewegung, jeder Schwung, jedes Zittern in den Saiten des Jnſtru -ments160XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenments den Fingern des Spielers mittheile und dieſe zu uͤbereinſtimmenden Bewegungen beſtimme.

Man hat einer Klaſſe von dieſen Gehirnsveraͤnde - rungen den Namen der materiellen Jdee gegeben, denen naͤmlich, die zu unſern Vorſtellungen und Jdeen gehoͤren. Es kann aber dieſelbige Benennung auf alle uͤbrige ausgedehnet werden, wie es auch von verſchie - denen ſchon geſchehen iſt, und dann ſind alle Gehirns - beſchaffenheiten, die unſere Seelenveraͤnderungen be - gleiten, materielle Jdeen.

Aber bey dieſem Erfahrungsſatze iſt noch eine Frage zuruͤck, die von großer Wichtigkeit ſeyn wuͤrde, wenn wir nur Data haͤtten, ſie zu entſcheiden. Jede Seelen - veraͤnderung wird von einer Gehirnsveraͤnderung beglei - tet, und umgekehrt; aber ſind wir verſichert, daß dieſe naͤmlichen Seelen - und Koͤrperveraͤnderungen einander beſtaͤndig begleiten, die einmal in Geſellſchaft geweſen ſind? Muß mit derſelbigen beſtimmten Seelenveraͤn - derung die naͤmliche Gehirnsveraͤnderung in allen Faͤllen verbunden ſeyn, die durch jene einmal veranlaſſet worden iſt, oder auch ſelbſt die Seelenveraͤnderung zuerſt veran - laſſet hat? Oder kann auch ſtatt dieſer eine andere vor - handen ſeyn? Diejenigen, welche ſich beſtaͤndig beglei - ten, ſind eigentlich nur harmoniſche, einander entſpre - chende und zugehoͤrige Veraͤnderungen.

Gewiſſe Vorſtellungen moͤgen vielleicht mehrere und verſchiedene Gehirnsbewegungen, und wiederum dieſelbigen Bewegungen im Gehirn, nach der Verſchie - denheit der Umſtaͤnde und der Lage der Phantaſie, bald dieſe bald jene Seelenveraͤnderungen bey ſich fuͤhren, ohne daß eben jede Veraͤnderung in einem Theile eine gewiſſe beſtimmte Veraͤnderung in dem andern begleite. Ein gewiſſer Hypochondriſt, den ich genau kenne, und der ſeine Krankheit oftmals dazu gebraucht, die ſonder - baren Wendungen der Einbildungskraft zu beobachten,empfand161im Menſchen. empfand einen Magenkrampf, ſo oft ihn etwas lebhaft ruͤhrte, die Urſachen ſeiner Leidenſchaft, die einzelnen Vorſtellungen und die beſondere Art der Ruͤhrung moch - ten ſeyn wie ſie wollten. Aber er empfand in jedem Fall eine ſolche Verbindung zwiſchen dem Krampf in dem Magen und der lebhaften Jdee in der Seele, daß er verſicherte, er wiſſe es aus eigner Empfindung recht anſchaulich, was jene Frau wohl moͤchte empfunden haben, welche von ſich ſagte, daß ſie es fuͤhle, wie der boͤſe Gedanke aus dem Magen in den Kopf hinauffteige. War die Vorſtellung lebhaft, ſo fuͤhlte er ſeinen Krampf; und regte ſich der Krampf von neuem, wenn er ſich der Jdee entſchlagen | hatte, ſo ward auch dieſe letztere wie - der erwecket. Die Vorſtellungen waren ſehr verſchie - den |in den verſchiedenen Faͤllen, aber in ſeinen Gefuͤh - len von den begleitenden Affektionen des Magens konnte er mit aller Aufmerkſamkeit nicht gewahrnehmen, daß ſie das eine Mal anders beſchaffen waͤren als die uͤbri - gen Male. Sollte nicht die Verbindung zwiſchen den Organsveraͤnderungen und den Seelenveraͤnderungen auf eine aͤhnliche Art nur ſo unbeſtimmt ſeyn, ſo wie ſie hier zwiſchen den Modifikationen in dem Kopfe und in dem Magen waren?

Das angefuͤhrte Beyſpiel ſoll es nur erlaͤutern, wor - uͤber hier noch Unterſuchungen anzuſtellen ſind, aber nicht zum Beweiſe gebraucht werden, wie es denn auch nichts beweiſen kann. Denn nicht zu erwaͤhnen, daß man es noch fuͤr moͤglich halten kann, daß die Em - pfindungen in dem Magen, welche das eine Mal einen Verdruß, das andere Mal ein lebhaftes Verlangen, und dann wieder eine vorzuͤgliche Freude begleitete, in dieſen verſchiedenen Umſtaͤnden wirklich auch ſelbſt ver - ſchiedene Gefuͤhle geweſen ſind, wenn gleich ihre Ver - ſchiedenheit dem Beobachter unbemerklich blieb: ſo wuͤr - de doch eine ſolche unbeſtimmte Verbindung zwiſchenII Theil. LKopfs -162XIII. Verſuch. Ueber das SeelenweſenKopfs - und Magensveraͤnderungen uns nicht berechti - gen zu ſchließen, daß die viel innigere Vereinigung zwiſchen Seelen - und Gehirnsveraͤnderungen nicht mehr beſtimmt ſeyn muͤſſe. Jndeſſen habe ich dieß nicht un - erinnert laſſen wollen, weil es Gelegenheit zu weitern Nachforſchungen geben kann. Denn man ſieht leicht ein, daß es ganz etwas anders iſt, wenn jedwede See - lenveraͤnderung nur uͤberhaupt von einer Gehirnsveraͤn - derung begleitet ſeyn darf, und wenn jedwede von jenen nur eine beſtimmte von dieſen, und jedwede von dieſen, nur eine beſtimmte von jenen neben ſich erfodert. Wenn man die Erfahrungen pruͤfet, die man fuͤr den obigen Allgemeinſatz anzufuͤhren pfleget, ſo wird man finden, daß eine große Anzahl von ihnen am Ende doch nichts mehr beweiſet, als daß uͤberhaupt eine Seelenveraͤnde - rung mit einer gewiſſen Gehirnsveraͤnderung vergeſell - ſchaftet ſey, ohne daß es daraus folge, daß die letztere immer eben dieſelbige ſeyn muͤſſe.

Es faͤllt von ſelbſt auf, und es wird ſich unten noch mehr zeigen, wie wichtig es fuͤr unſere Kenntniſſe von der Natur der Seele ſeyn wuͤrde, wenn es ſich naͤher ausmachen ließe, wie weit nur die eigentliche ſo genannte Harmonie ſich erſtrecke, und wie weit alſo von dem Daſeyn beſtimmter Seelenmodifikationen auf das Da - ſeyn beſtimmter Koͤrperbeſchaffenheiten, und umgekehrt, geſchloſſen werden koͤnne? Hr. Bonnet hat es ver - ſucht, daruͤber durch ein Raiſonnement zu entſcheiden, das ich unten zu pruͤfen mir vorbehalte.

So wie außer Zweifel iſt, daß, ſo oft ich dieß Buch, welches vor mir lieget, ſehen ſoll, auch auf der Netzhaut meines Auges daſſelbige Bild von dieſem Objekt vorhanden ſeyn muß, und auch umgekehrt, ſo oft dieß Bild auf meiner Netzhaut, die uͤbrigen Er - foderniſſe vorausgeſetzt, vorhanden iſt, auch in der Seele die naͤmliche Empfindung vorhanden iſt: ſo mußauch163im Menſchen. auch uͤberhaupt wohl zugeſtanden werden, daß jede be - ſondere Empfindungsvorſtellung in der Seele eine eigene ihr zugehoͤrige materielle Jdee im Gehirn er - fodere, ohne welche ſie nicht iſt, und mit der ſie zu - gleich iſt.

Wenn man noch weiter gehet, ſo kann man daſſel - bige auch wohl auf alle lebhafte Phantasmen ausdeh - nen, die den Empfindungen nahe kommen. Jede leb - hafte Erinnerung an ein geſehenes Ding, an einen Ton, den man gehoͤret hat, oder an jedes andere empfundene Objekt, erfodert, daß eine Gehirnsveraͤnderung in dem naͤmlichen innern Organ vorhanden ſey, das iſt, daß dieſelbige materielle Jdee wieder vorhanden ſey.

Aber wenn Vorſtellungen aus Einem Sinn an Vorſtellungen eines andern Sinnes genau aſſociiret ſind, und durch die letztern auf eine gleiche Art und in gleicher Schwaͤche wieder erweckt werden, wie wir die Gedan - ken bey dem Anblicke der Worte erneuern, womit ſie bezeichnet ſind: ſollte eine ſolche entfernte, mittelbare und ſchwache Wiedervorſtellung einer empfundenen Sache nicht in der Seele vorhanden ſeyn koͤnnen, ohne daß eben die erſte Gehirnsveraͤnderung, bey der die Vor - ſtellung entſtanden iſt, auch wieder gegenwaͤrtig ſey? Wenn alle Faſern, die das Organ des Gehirns auch in dem Jnnern des Gehirns ausmachen, herausgezo - gen oder unfaͤhig gemacht wuͤrden, ſinnlich veraͤndert zu werden: wuͤrde daraus folgen, daß zugleich die ganze Erinnerung der vorhin empfundenen Toͤne wegfallen muͤßte? Sollten die Gehoͤrsideen nicht den Vorſtel - lungen des Geſichts ſo innig einverleibet werden koͤnnen, daß es genug ſey, wenn nur die Fibern des Sehorgans und etwan auch ihre Nebenfaſern, durch welche ſie mit den Fibern des Gehoͤrwerkzeuges verbunden ſind, und die ſinnlichen Bewegungen auf die Gehoͤrsfibern fort - leiten, im Stande ſind, ihre gewoͤhnlichen Dienſte zuL 2thun?164XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenthun? Wenn es ſich ſo verhaͤlt, ſo wuͤrde es der ehema - ligen materiellen Jdeen fuͤr die Toͤne in den Faſern des Gehoͤrs nicht mehr beduͤrfen, und dennoch wuͤrden die Vorſtellungen von Toͤnen in der Seele vorhanden ſeyn koͤnnen.

Die Beobachtung verlaͤßt uns hier gaͤnzlich. Denn wenn gleich das aͤußere Sinnglied Schaden leidet, wenn Taubheit oder Blindheit entſtehet, und dennoch der Menſch ſich der ehemaligen Jmpreſſionen aufs Auge und Ohr erinnern kann: ſo laͤßt ſich, wie man wohl ſiehet, daraus nicht ſchließen, daß dieß Unvermoͤgen, ſinnlich beweget zu werden, ſich bis in die innern Theile des Organs in dem Gehirn erſtrecke, wo die dadurch erlangten materiellen Jdeen aufbewahret ſind, oder wo wenigſtens die ſinnlichen Bewegungen nothwendig ſind, welche die Phantaſien begleiten. Wir haben hier alſo keine entſcheidende Beobachtungen, und alſo nur die unſichere Analogie, die uns hieruͤber etwas lehren kann.

Auf der einen Seite iſt es wahrſcheinlich, daß etwas von der erſten materiellen Jdee eines Tons wieder erwecket werden muͤſſe, wenn die ihr zugehoͤrige Vor - ſtellung in der Seele vorhanden iſt. Die materiellen Geſichtsideen, die mit den materiellen Gehoͤrsideen ver - bunden ſind, wuͤrden doch allein fuͤr ſich nichts enthal - ten, was ſie zu materiellen Jdeen der Toͤne machte. Wenn alſo die Vorſtellungen von Toͤnen dennoch in der Seele in Geſellſchaft von jenen erneuert wuͤrden, ſo wuͤrde folgen, daß dieſe Gehoͤrsvorſtellungen in der Seele kei - ne ihnen insbeſondere entſprechende Organsveraͤnderun - gen bey ſich haben, welches unwahrſcheinlich iſt. Zum mindeſten muͤßte man doch annehmen, daß jenen ma - teriellen Jdeen des Geſichts etwas Charakteriſtiſches anklebe, was ihrer Verknuͤpfung mit den Vorſtellun - gen von Toͤnen entſpricht. Dieß iſt der ſonſt bekannten Analogie gemaͤß.

Hin -165im Menſchen.

Hingegen iſt es auch eben dieſer Analogie nicht zu - wider, wenn wir annehmen, daß nicht alle beſondere Arten materieller Jdeen zu den ihnen Anfangs zugehoͤ - rigen Jdeen in der Seele in gleichem Grade nothwen - dig ſind. Und da kann es alſo, um die Vorſtellung ei - nes Tons in Verbindung mit einer Geſichtsidee in der Seele zu haben, vielleicht genug ſeyn, daß die mate - rielle Jdee von dem Ton in dem innern Organ nicht weiter erneuert werde, als ich es vorher geſagt habe. Vielleicht iſt es genug, daß die aſſociirte Geſichtsidee allein vorhanden iſt, wenn ſie nur ſo vorhanden iſt, mit denſelbigen individuellen Beſchaffenheiten, wie ſie mit der materiellen Jdee von dem Ton vorher aſſociiret war, dergeſtalt etwan, daß die Bewegung oder Schwingung in den Geſichtsfaſern ſich auch zugleich in die Zwiſchen - faſern fortpflanze, wodurch die Geſichtsfibern und die Gehoͤrsfibern ſonſten verbunden ſind, und ſich einander zu ſinnlichen Bewegungen erwecken, ſo oft die Jdeen des einen Sinns die aſſociirten des andern Sinns wie - der hervorziehen. Wenn es ſich auf dieſe Art verhielte, ſo wuͤrde man doch ſagen koͤnnen, daß die Jdeen von Toͤnen in der Seele gegenwaͤrtig ſeyn koͤnnten, ob es gleich an den Oſcillationen in den Gehoͤrsfibern, welche das weſentlichſte Stuͤck der materiellen Jdeen von Toͤ - nen ausmachen, mangelte.

Hieraus wuͤrde alſo folgen, daß die Gegenwart der materiellen Jdeen in dem Gehirne, zu ihren Vorſtellun - gen in der Seele, nicht uͤberall in einem gleichen Grade nothwendig ſey. Dieß fuͤhret zu einer Mannichfaltig - keit in dem Mehr und Weniger, von dem wir wiſſen, daß die Natur ſie liebet, und dadurch wird ſie einiger - maßen wahrſcheinlich. Die Erfahrung iſt nicht dage - gen. Vielmehr laͤßt ſich aus dem, was wir bey der Aſſociation der Empfindungsideen aus den uͤbrigen Sinnen mit den Jdeen aus dem Geſicht antreffen, ei -L 3ne166XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenne Anzeige hernehmen, die ſolches beſtaͤtiget. Vielleicht iſt dieß eben das Mechaniſche in dem Gehirn, was der Einverleibung der Jdeen verſchiedener Sinne in ein - ander in der Seele entſpricht. *)Erſter Verſuch VIII. X. Fuͤnfter Verſuch VIII. XII. Es ſcheint ſo, als wenn das Organ des Geſichts am meiſten gebrauchet wird, wenn der Verſtand arbeitet, und zwar auch als - denn, wenn wir uns mit Gegenſtaͤnden beſchaͤfftigen, die nicht ſichtbar ſind. Dieß laͤßt ſich auch an dem aͤußern Theile deſſelben, an den aͤußern Augen und den herumliegenden Gefaͤßen gewahrnehmen, welche auf - laufen, wenn wir nachdenken. Vielleicht hat dieſe Be - merkung die alte Meinung veranlaſſet, daß der Ver - ſtand in dem Vordertheil des Kopfes ſitze. Wenn man annimmt, daß die Aſſociation faſt aller Vorſtellungen mit den Geſichtsideen nun auch die Folge habe, daß die Gegenwart der Gedanken in der Seele am meiſten und faſt allein nur ſinnliche Bewegungen in den Faſern des Geſichtswerkzeuges erfodere, und daß die Schwin - gungen oder materiellen Jdeen in dieſem die Stelle der uͤbrigen zum Theil vertreten koͤnne, ſo haben wir we - nigſtens einen naͤhern Grund, die erwaͤhnten Bemer - kungen zu erklaͤren.

Jndeſſen bitte ich, zu glauben, daß ich dieſe letzte Anmerkung fuͤr nichts mehr angeſehen haben wolle, als fuͤr das, was ſie nur iſt, naͤmlich fuͤr einen Wink zu neuen Vermuthungen, und, wenns ſeyn kann, zu neuen Unterſuchungen.

Jch habe es mehrmalen erklaͤrt, daß dasjenige, was wir von der Natur der materiellen Jdee wiſſen, nach meiner Ueberzeugung beynahe ſo viel, als nichts, heiſ - ſe. Da es Modifikationen und Beſchaffenheiten eines Koͤrpers ſind, ſo koͤnnen wir zwar ſchließen, daß jede Gehirnsveraͤnderung aus einer Bewegung entſtehe, unddie167im Menſchen. die ruhende, materielle Jdee, die von einer Empfindung zuruͤckgeblieben iſt, entweder ebenfalls in einer Bewe - gung oder doch in einer gewiſſen neuen Lage der Theile, oder in einem Zuſatz oder in einer Entziehung gewiſſer Partikeln, oder in dem einen und dem andern zugleich, beſtehe; aber dieß alles iſt nur etwas allgemeines und unbeſtimmtes. Die Erfahrung hat gelehrt, daß es Nerven ſind, welche die weſentlichen Theile unſerer Em - pfindungswerkzeuge ausmachen. Daraus iſt es wahr - ſcheinlich, daß die innern Organe aus Nerven beſtehen, und vermuthlich iſt es, daß außer dem Theile der Ner - ven, den wir als einen feſten Theil anſehen, weil der Zuſammenhang ſeiner Partikeln ihn von fluͤſſigen Din - gen unterſcheiden laͤſſet, ſo weich ſie ſonſten auch ſind, noch wol ein anderes fluͤßiges Weſen in ihnen vorhan - den ſey, das man Nervenſaft und Lebensgeiſter und Aether genennet hat, und daß dieſe Materie an ihren ſinnlichen Bewegungen und Schwingungen Antheil ha - be. Aber was iſt dieß fuͤr eine Materie? und was ſind es fuͤr Bewegungen, die ſie annimmt? nach welchen Geſetzen erfolgen ſie? nach den Geſetzen elaſtiſcher Koͤr - per, des Aethers? Sind es Schwingungen? Wallun - gen? Elektriſche Bewegungen? Es rathe, wer da wolle.

Aber was indeſſen die Gehirnsveraͤnderungen oder materielle Jdeen auch ſind, ſo laͤßt ſich doch ſo viel noch hinzuſetzen, daß ſie etwas Mannigfaltiges in ſich ent - halten, und in einer analogiſchen Beziehung ſowohl auf die aͤußern Objekte ſtehen, von denen die ſinnlichen Eindruͤcke herruͤhren, als auch auf die aͤußern Eindruͤ - cke, die auf die aͤußern Theile der Organe gemacht wer - den, und auch uͤberdieß mit den Seelenveraͤnderungen ſelbſt in Verhaͤltniß ſtehen. Denn ſo wie die rothe Farbe nicht die blaue Farbe in den Koͤrpern ſelbſt iſt, und der Eindruck auf die Augen, ingleichen das BildL 4auf168XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenauf der Netzhaut von der rothen nicht einerley mit dem Bild von der blauen iſt, ſo koͤnnen die ihnen zugehoͤri - gen innern Gehirnsveraͤnderungen, die Fiberſchwingun - gen, und die von ihnen zuruͤckgebliebenen, ruhenden, ma - teriellen Jdeen, nicht von beiden die naͤmlichen ſeyn. So ſind auch die ganzen Empfindungen nicht einerley, und alſo auch die Beſtimmungen und Modifikationen der Seele nicht. Die materiellen Jdeen ſind alſo einerley und verſchieden, wie die Objekte außer uns und die Seelenveraͤnderungen in uns es ſind, und das Mannich - faltige in jenen beziehet ſich auf eine aͤhnliche Art auf einander, wie das Mannichfaltige in den Zeichen und Bildern auf das Mannichfaltige in den abgebildeten Sa - chen. Wenn man will, ſo kann man die materiellen Jdeen dieſer Analogie wegen Bilder der Gegenſtaͤnde nennen.

Aber man wuͤrde viel zu voreilig ſchließen, wenn man aus dieſer allgemeinen Analogie folgern wollte, daß ſie in der Maße Bilder der Objekte ſeyn muͤßten, wie die bekannten Bilder auf der Netzhaut im Auge es ſind. So haben einige ſie ſinnreich gnug uns beſchrieben. Solche Gehirnsveraͤnderungen, wie die materiellen Jdeen ſind, koͤnnen vielleicht nicht mehr Bilder ſeyn, als der helle Fleck, den man auf einem Papier ſiehet, wenn man die durch ein erhabenes Glas fallenden Licht - ſtrahlen, nicht an dem Ort des Bildes, ſondern naͤher an dem Glaſe, oder weiter von ihm ab auffaͤngt, ein Bild des Gegenſtandes iſt. Das verwirrte Licht auf dieſer Stelle hat zwar ſeine analogiſche Beziehung ſo wohl auf das Objekt vor dem Glaſe, von dem es ausge - het, als auf das Bild in dem Vereinigungsort hinter dem Glaſe, wo die von den einzelnen Punkten ausge - henden Strahlen wieder in beſondere Punkte vereiniget werden. Dennoch ſiehet man auf der erwaͤhnten hellen Stelle nichts, dem man den Namen des Bildes bey -legen169im Menſchen. legen wuͤrde, weil die Strahlen nicht wiederum in be - ſondere Punkte vereiniget ſind. Koͤnnte nicht auf eine aͤhnliche Art der Ort des Bildes in der Seele ſelbſt ſeyn, und in dem Gehirn etwan nichts mehr als die Strahlen, die zwar ihre gewiſſen Lagen und Richtun - gen haben, aber unauseinandergeſetzt nur durchfahren? Wo wuͤrde in dieſem Fall das Bildliche in der materiel - len Jdee ſeyn, und wie viel wuͤrde es ſeyn außer der all - gemeinen Analogie, die zwiſchen jeder Urſache und ih - rer Wirkung, zwiſchen der Sache und ihren Zeichen vorhanden iſt? Nur allein durch dieſe Analogie ſind die ſogenannten materiellen Jdeen Jdeen, wie es die Vorſtellungen uͤberhaupt ſind. *)Erſter Verſuch. X. XI.

2.

Aus den beiden angefuͤhrten Grundſaͤtzen von der Natur der Seele folget, wenn wir den zweeten hier ſchon fuͤr eben ſo gewiß anſehen, als den erſtern, daß man auf die Frage: Was iſt das Jch, welches empfindet, denket, will? zunaͤchſt nichts anders antworten koͤnne, als dieß: es iſt ein Menſch, das empfindende, den - kende und wollende Ganze, das beſeelte Gehirn. Es iſt weder das Gehirn allein, noch das unkoͤrperliche Weſen allein, was wir fuͤhlen und uns vorſtellen, wenn wir unſer Jch fuͤhlen und uns uns ſelbſt vorſtellen. Man kann auf die Frage, welches iſt das den Ton her - vorbringende Ding? nicht antworten, daß es der Spieler allein ſey, noch daß es das Jnſtrument allein ſey. Aber der Spieler iſt thaͤtig und wirket auf die Saiten des Jnſtruments, und dieſe wirken auf die Luft, und bringen eine zitternde Bewegung hervor, die unſer Ohr empfaͤngt, die wir empfinden, und den Schall nennen. Auf gleiche Art iſt dasjenige, was in der Seele vorgehet, mit dem, was in| dem Organ vor -L 5gehet,170XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſengehet, zuſammen genommen, das Empfinden, das Denken, das Wollen.

Die Vereinigung dieſer beiden Theile mit einander iſt ſo innig, daß jedes Gleichniß, welches man von an - dern bekannten Arten von Vereinigungen hernimmt, um jene zu erlaͤutern, etwas unanpaſſendes hat. Die Or - gel ſpielet nicht von ſelbſt, und reißt den Finger des Spielers nicht zu den zugehoͤrigen Bewegungen mit ſich fort. Aber die Seelenmaſchine geraͤth oft durch aͤußere Urſachen in Bewegungen, welche das Jch gerne nicht fuͤhlen und unterdruͤcken moͤchte, aber es nicht kann. Sollte auch das, was in dem Denken vorge - het, nur allein aus dieſem Grunde dem Jch zugeſchrie - ben werden, weil die Bewegung des Denkorgans doch von der Wirkſamkeit des Jchs abhaͤnget, von dieſem hervorgebracht, modificirt und unterhalten wird, ſo muͤßte man es auch alsdenn dem |Gehirn zuſchreiben, wenn dieſes die erſte Urſache iſt, von der die Thaͤtigkeit des Jchs abhaͤnget, die das Jch in Aktion ſetzet, und die Veraͤnderungen in demſelben beſtimmet. Es muß alſo noch ein anderer Grund vorhanden ſeyn, der uns berechtigen kann, unſer Jch fuͤr das eigentlich fuͤh - lende und denkende Weſen zu halten, und das Ge - hirn fuͤr ein Jnſtrument deſſelben, nicht aber umge - kehrt unſer Jch fuͤr ein Jnſtrument des Gehirns, wo - fern wir anders wirklich zu dieſer Vorſtellungsart einen wahren Grund aus unſern Beobachtungen haben koͤnnen.

Noch weiter, wenn ich mich ſelbſt und meine Aktio - nen fuͤhle, was iſt alsdenn das Objekt meines Ge - fuͤhls? Die reine Beobachtung kann, wie geſagt, nichts anders antworten, als es ſey das Jch, was ich fuͤhle, das fuͤhlende, denkende und wollende Ganze, das aus einem Koͤrper und aus einer einfachen Seele beſtehet, die eingekoͤrperte Seele, oder wie mans nennenwill171im Menſchen. will, das beſeelte Organ. Jndem ich mich ſelbſt in meinen Wirkungen fuͤhle, empfinde ich etwas, das in mir, dem Menſchen, iſt, und ich ſelbſt, der ichs fuͤhle, bin ein Menſch. Mehr lehret die Beobachtung unmit - telbar nicht.

Stellen wir uns das Fuͤhlen und Empfinden ſo vor, wie es die Erfahrungen wenigſtens erlauben, als eine Reaktion der Seele auf eine Gehirnsveraͤnde - rung, ſo laͤſſet ſich die Art und Weiſe, wie das Selbſt - gefuͤhl ſich aͤußert, noch etwas beſtimmter angeben. Ein jedes Gefuͤhl iſt naͤmlich ein Aktus der modificirten Seele, mit dem ſie gegen eine Gehirnsveraͤnderung thaͤtig iſt. Sie kann dies nun zwar nicht ſeyn, ohne ſich ſelbſt zu veraͤndern, indem ſie zur Reaktion uͤber - gehet, und dadurch ihren eigenen Zuſtand veraͤndert; aber eigentlich iſt doch das naͤchſte Objekt, auf welches ſie zuruͤckwirket, das Gehirn und die materielle Jdee in denſelben. Nehmen wir die Vorſtellungsart als die wahre an, ſo kann die Seele ſich ſelbſt und ihre Aktio - nen nur auf eine aͤhnliche Art in dem Gehirn empfin - den, wie das beſeelte Auge ſich ſelbſt durch ein reflectir - tes Licht im Spiegel ſehen kann. Jeder Aktus der der Seele hat eine Wirkung im Gehirn nachgelaſſen, und auch vielleicht in dem Jch oder in der Seele ſelbſt, von der ich hier vorausſetze, daß ſie ein eigenes von dem, was wir unter Organ und Gehirn uns vorſtel - len, verſchiedenes Weſen ſey. Soll ich aber nun einen ſolchen Aktus fuͤhlen, ſo muß eine Reaktion der Seele auf jene bleibende Folgen deſſelben im Gehirn vor ſich gehen. Das heißt, die Seele muß ſich fuͤhlen und ſe - hen in dem Gehirn; da iſt ihr Spiegel, da ſtehen die Wirkungen und Folgen ihrer Thaͤtigkeit abgedruckt, die naͤmlich, auf welche ſie zuruͤckwirken, die ſie fuͤhlen und gewahrnehmen kann.

Jch172XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen

Jch habe geſagt, die Seele ſehe ſich ſelbſt auf eine aͤhnliche Art, wie das Auge ſich im Spiegel ſieht; aber wenn das beſeelte Auge ſich ſelbſt ſiehet, ſo iſt es doch unmittelbar nur die aͤußere Flaͤche des Auges, die man nun fuͤr den naͤchſten Gegenſtand des Geſichts an - nehmen kann; und der Gedanke, daß die Sache, oder das Objekt, das ich ſehe, das beſeelte Auge eines le - benden Weſens iſt, entſteht durch ein Raiſonnement, wobey wir durch die Kunſt des Malers hintergangen werden koͤnnen. Folglich ſiehet das beſeelte Auge nie - mals ſich ſelbſt weiter, als an ſeiner aͤußerlichen Flaͤche und an ſeinen Bewegungen, aber nicht inſofern es be - ſeelt iſt. Soll alſo die Seele, die ſich ſelbſt fuͤhlt, auf eine aͤhnliche Art nur das Gehirn fuͤhlen, ſo muß es bloß eine Wirkung des Raiſonnements ſeyn, daß ſie ſich ſelbſt zu fuͤhlen glaubt, da ſie nichts weiter als die aͤuſ - ſern Abdruͤcke ihrer Thaͤtigkeiten aufs Gehirn unmittel - telbar vor ſich hat. So verhaͤlt es ſich auch wirklich. Denn wenn wir unſer Jch als das Objekt unſers Ge - ſichts anſehen, ſo iſt außer dem bloßen Gefuͤhl auch ein Gedanke da, der außer dem ſimpeln Aktus des Ge - fuͤhls auch einen Aktus der eigentlichen Denkkraft erfo - dert, jene Abdruͤcke im Gehirn als Wirkungen auf die Seele, als ihre Urſache, beziehet, und dadurch dieſe in jenen und durch jene erkennt. *)Vierter Verſuch. III.

Wenn wir die Ruͤckwirkung der Seele auf das mo - dificirte Gehirn als das weſentliche Stuͤck in dem Aktus des Fuͤhlens anſehen, woran wir eben nicht Unrecht ha - ben, ſo koͤnnen wir zwar nun das Gefuͤhl, inſofern es in dieſem zuruͤckwirkenden Aktus beſtehet, der Seele al - lein mit Ausſchließung des Gehirns zuſchreiben, und das modificirte Gehirn als den gefuͤhlten Gegenſtand anſe - hen. Und in dieſem Verſtande iſt es weder das Ge -hirn173im Menſchen. hirn, welches fuͤhlet, noch das Ganze aus der Seele und dem Gehirn zuſammengeſetzt, ſondern die Seele oder das Jch iſt es allein. Aber wir nehmen als - denn auch unter der Benennung von Fuͤhlen nicht al - les zufammen, was ſelbſt nach dieſer Vorſtellung wirk - lich vorhanden iſt. Die Ruͤckwirkung der Seele auf das Gehirn ſetzet nicht nur eine gewiſſe Modification in dem Gehirn, ſondern auch eine Aktion des Gehirns auf die Seele voraus, welche ſo lange beſtehen muß, als die Reaktion der Seele dauert, und eben ſo unentbehr - lich iſt, als die letztere, wovon ein Gefuͤhlsaktus ent - ſtehen ſoll. Folglich iſt das Ganze, was alsdenn wirk - lich in uns vorgehet, etwas in der Seele und in dem Gehirn zugleich; und man muß wiederum ſagen, es ſey der Menſch oder das Seelenweſen, welches fuͤhler, das iſt, was in dem Aktus des Fuͤhlens wirkſam iſt.

Aber was das unmittelbare Objekt des Gefuͤhls be - trifft, das wir vor uns haben, wenn wir fuͤhlen, ſo iſt ſolches zwar eine Gehirnsbeſchaffenheit, allein dieſe iſt mit einer harmoniſchen Beſchaffenheit der Seele verge - ſellſchafftet, ohne welche ſie nicht beſtehen wuͤrde. Es iſt das beſeelte Auge, nicht blos ein todes oder ein gemaltes, welches von ſich ſelbſt im Spiegel geſehen wird. Das ganze wirkliche Objekt, was gefuͤhlet wird, iſt alſo eine Seelenbeſchaffenheit und Gehirnsbeſchaffen - heit zugleich; oder es iſt der Menſch, der von dem Menſchen gefuͤhlet wird.

Daraus aber, daß die Seele ſich auf eine aͤhnliche Art fuͤhlen ſoll, wie das Auge ſich im Spiegel ſiehet, wird man keine nachtheilige Folge gegen die Zuverlaͤſ - ſigkeit des Gefuͤhls, oder eigentlich gegen die Zuverlaͤſ - ſigkeit des aus dem Gefuͤhl entſtehenden Gedankens, daß es das Jch ſey, welches von ſich ſelbſt gefuͤhlet wird, herleiten. Es kann freylich ein ſolcher Gefuͤhls - gedanke unrichtig ſeyn, und iſt es vielleicht oftmals,wenn174XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenwenn wir etwas in uns ſelbſt als gegenwaͤrtig empfin - den, was doch nicht da iſt. Aber ſollte wohl die Schoͤ - ne, die ſich beſpiegelt, zweifelhaft daruͤber ſeyn duͤrfen, ob es auch ihr beſeeltes Auge ſey, was ſie jetzo ſiehet? Obgleich ein fremdes und ein gemaltes Auge denſelbi - gen Schein erregen kann, und wir es auch an den kleinen Kindern ſehen, daß ſie Anfangs ſo wenig als ein Be - wohner des Feuerlandes wiſſen, was ſie aus dem Bil - de im Spiegel machen ſollen, wenn ſie ſich ſelbſt darin - nen ſehen: ſo zeigen doch dieſe Erfahrungen nichts mehr, als daß die Reflexion der Seele uͤber ſich ſelbſt und ins - beſondere der Gedanke, das bin ich, und das iſt in mir, und geht in mir vor, ebenfalls zu den Wirkungen der Denkkraft gehoͤre, wozu dieſe ſich nur nach und nach entwickelt, und daß eine ſorgfaͤltige Beobachtung ſeiner ſelbſt vorausſetze, daß man ſchon aus der Kindheit her - aus ſey. Aber wer wird darum das ſtarke Selbſtge - fuͤhl in Zweifel ziehen?

Auf dieſen Umſtand, daß die Seele ſich ſelbſt, wie das Auge im Spiegel, beſchauen koͤnne, muͤſſen die Phi - loſophen nicht zuruͤckſehen, welche der Seele alle Er - kenntniß von ſich ſelbſt und von ihrer Natur aus dem Grunde abſprechen, weil ſie niemals ſich ſelbſt, ſondern wie das Auge des Koͤrpers, nur aͤußere und fremde Ge - genſtaͤnde empfinden koͤnne. Mich deucht, das Auge ſehe ſich ſelbſt mit zuruͤckfallendem Licht ſo gut, als es jedes andere Objekt mit gerade auffallendem ſehen kann. Und ſo verhaͤlt ſichs auch bey der Seele. Hierinn kann alſo kein allgemeiner Grund liegen, der Erkennt - niß von der Seele eine weſentliche Dunkelheit zuzuſchrei - ben, die bey unſerer Kenntniß von koͤrverlichen Dingen nicht angetroffen werden ſollte. Wir kennen die Koͤr - per und ihre Kraͤfte eben ſo wenig und unmittelbar als die Seele, und erhalten von ihnen eben ſo, wie von uns ſelbſt, nur Jdeen aus ihren Eindruͤcken und Wir -kungen175im Menſchen. kungen auf uns. Eingeſchraͤnkter, unentwickelter, mehr in einander laufend und verwickelter kann die eine Gat - tung von Vorſtellungen und Kenntniſſen vor der andern wohl ſeyn, und doch muß auch hierbey auf manche Be - dingungen Ruͤckſicht genommen werden, wenn die Ver - gleichung richtig gemacht werden ſoll; aber die Gattung macht nicht mehr noch minder eine Erkenntniß aus, das heißt, ſie iſt nicht mehr noch minder eine Seelenbeſchaf - fenheit, die ſich auf ihre Objekte analogiſch beziehet, und die wir unterſcheiden und bemerken, als die andere.

IV. Von der Jmmaterialitaͤt unſers Jchs.

  • 1) Ueber den Begriff von der Jmmateriali - taͤt der Seele, und von einer ſubſtantiel - len Einheit.
  • 2) Ob in der ſubſtantiellen Einheit eine Vielfachheit von Beſchaffenheiten ſeyn koͤnne? und inwiefern ihr eine ideel - le Ausdehnung zukommen koͤnne?
  • 3) Wie weit zunaͤchſt aus der beobachteten Einheit des Jchs auf die ſubſtantielle Einheit der Seele gefolgert werden koͤnne?
  • 4) Jn wie weit die Seelenaktus nur kollekti - ve ſolche Aktus ſeyn koͤnnen. Die kollekti - ven Kraͤfte und Wirkungen ſetzen eine ſubſtantielle Einheit voraus, in der die Kollektion geſchieht, und in Hinſicht auf welche ſie nur ſolche Kraͤfte und Wirkungen ſind, als ſie ſind.
  • 5) Es iſt ein Unterſchied zwiſchen bloß kollek -tiven176XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſentiven Kraͤften und Wirkungen, und zwi - ſchen abſoluten Kraͤften und | Wirkungen eines Dinges, die von ſeiner Verbindung mit andern abhangen.
  • 6) Die naͤchſte Folge aus dem Vorhergehen - den iſt, daß, wenn unſer Jch aus meh - rern ſubſtantiellen Einheiten beſtehet, de - ren Kraͤfte und Aeußerungen, einzeln ge - nommen, von den Seelenaͤußerungen ver - ſchieden ſind, ſo muͤſſen jene Kraftaͤuße - rungen in jedweden einfachen Theil des Ganzen zuſammenlaufen, oder doch in Ei - nen von dieſen Theilen.
  • 7) Ob dieß nicht ſo viel heiße, als: jedweder Theil dieſes Ganzen muͤſſe ein fuͤhlendes, denkendes und wollendes Jch ſeyn; oder nur Einer dieſer Theile muͤſſe es ſeyn?
  • 8) Beſchluß dieſer Betrachtung. Das bis - her Bewieſene fuͤhret nicht weiter als auf eine Vorſtellung, die zwiſchen die gewoͤhn - liche Vorſtellung der Jmmaterialiſten und der Materialiſten faͤllt.

1.

Der zweete Grundſatz, ohne den man ſogleich die wei - tere Unterſuchung uͤber die Natur des Seelenwe - ſens abbrechen muß, beſteht darinn, daß außer dem koͤrperlichen Antheil deſſelben ein immaterielles We - ſen mit jenem verbunden ſey, und daß dieß letztere ei - gentlich unſer Jch ausmache. Man mag ſich die Art und Weiſe, wie dieß Jch mit dem materiellen Organ ver - einiget iſt, vorſtellen, wie man will, es ſich wie eine un -koͤrper -177im Menſchen. koͤrperliche Kraft vorbilden, die das Gehirn durchdrin - get, oder wie ein Weſen, das ſeine eigene Stelle haben muß, wo es von den koͤrperlichen Werkzeugen umgeben iſt, und auf dieſe unmittelbar durch eine Art von Be - ruͤhrung wirken kann. Jm Anfange der Unterſuchung iſt hieran nichts gelegen, wenn nur das Daſeyn eines ſolchen immateriellen Weſens beſtaͤtiget iſt. Jſt aber dieß nicht, ſo faͤllt die neuere mechaniſche Pſycholo - gie ſo gut dahin, als die alte intellektuelle, und wenn alsdenn nichts mehr als die koͤrperliche Organiſation des Materialiſten uͤbrig bliebe, ſo muͤßte man wenig mit der Beſchaffenheit unſerer bisherigen Kenntniſſe von organiſirten Weſen bekannt ſeyn, wenn man ſichs auch nur als moͤglich vorſtellen wollte, daß die Philo - ſophen uͤber die innere Beſchaffenheit unſers organiſirten Seelenweſens etwas mehr als dichten und traͤumen koͤnnten. Man mag immerhin ſagen, daß die Lehre von der Jmmaterilaitaͤt der Seele wenig praktiſche Folgen fuͤr unſere Hoffnung auf die Zukunft habe, die mit dem entgegengeſetzten Materialiſmus nicht auch ver - bunden werden koͤnnten. Jn einem gewiſſen Verſtande, nur nicht gaͤnzlich, kann dieſes eingeſtanden werden; aber hier iſt die Frage von einem theoretiſchen Grund - ſatz, von dem wenigſtens ſehr vieles in der Erkenntniß abhaͤngt, und mit dem viele pſychologiſche Raiſonne - ments wegfallen muͤſſen. Mich deucht, allein in die - ſer Hinſicht ſey die Jmmaterialitaͤt unſers Jchs der ſcharfſinnigen Bemuͤhungen werth, die darauf verwen - det worden ſind. Und wenn es auf der einen Seite ab - ſchrecken kann, daß ſo viele von den Verſuchen, ſie zu beweiſen und ins Helle zu bringen, vergeblich geweſen ſind: ſo iſt es auch auf der andern Seite ein beſonderes Phaͤnomen, daß ſowol die Beobachter als die freyeſten und ſtaͤrkſten Raiſonneurs auf die Jdee eines einfachen Jchs gekommen ſind, und ſich von ſeiner Wahrheit,II Theil. Mjene178XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenjene durch ihr feines Gefuͤhl, dieſe durch ihre entwickel - ten Demonſtrationen, uͤberzeugt gehalten haben. So lange der Materialiſt das Spiel der Bilder in der Phan - taſie aus dem Mechaniſmus der Gehirnfaſern erklaͤrt, ſcheint es, es laſſen ſich ſeine Erklaͤrungen wol hoͤren; aber ſobald das Gefuͤhl von unſerm Jch, das klare Be - wußtſeyn unſer ſelbſt, unſers innern Wohls und Wehs, unſers Denkens und Wollens und unſerer Freyheit wie - der lebhaft wird, ſo draͤnget ſich uns auch wiederum der Gedanke auf: dieß ſey doch mehr als ein Spiel der Faſern, mehr als ein Zittern vom Aether und als Gehirnsbewe - gungen, was dahinter ſtecke. Mein Jch iſt ein Eins, nicht ein Haufen von mehrern Dingen. Vielleicht giebt es hier einen richtigen Weg von dem Gefuͤhl zu dem Schlußſatz, und vielleicht mehr als Einen, den der Verſtand inſtinkt - maͤßig findet, aber nicht ſo auf hellen kann, daß er ſelbſt den ganzen Gang ſeiner Reflexionen in ihrer Verbin - dung deutlich und entwickelt ſich darſtellen koͤnne.

Die erſte Vorſtellung, die wir aus dem Selbſtge - fuͤhl von einem Weſen uns machen, welches fuͤhlen, denken, ſich bewußt ſeyn und wollen kann, iſt ſo ganz heterogen von dem Begriff, den wir uns von der Ma - terie und dem Koͤrper aus unſern aͤußern Empfindun - gen abſtrahiren, und beyde ſind ſo unvergleichbar mit einander, daß wir nothwendig Anfangs dieſe beiden Ar - ten von Weſen als ganz verſchiedene Weſen uns vorzu - ſtellen genoͤthigt ſind. Der Koͤrper leidet, nimmt auf, wird modificirt, bewegt und wirkt zuruͤck; aber keine Spur vom Gefuͤhl, von Apperception, Vergnuͤgen und Verdruß, vom Wollen, vom Selbſtbeſtimmen liegt in allen Eindruͤcken, die wir von ihm erhalten. Dieſe erſte leichte Bemerkung fuͤhrt zugleich zu einer Folge - rung, die nicht unerheblich iſt. Geſetzt, daß es den Philoſophen nicht gelingen ſollte, es voͤllig evident zu machen, daß die Thaͤtigkeiten der Seele durchaus kei -ne179im Menſchen. ne Aktionen von Dingen ſeyn koͤnnten, die ſo wie Koͤr - per aus andern einfachen Subſtanzen vereiniget ſind: ſo muͤſſen dagegen die Verſuche der Materialiſten noch un - gluͤcklicher ablaufen, wenn dieſe Denken, Empfinden und Sichſelbſtbeſtimmen in Wirkungen koͤrperlicher Be - wegungen aufzuloͤſen bemuͤhet ſind. Eben dieſes iſt auch bis hieher durch den Erfolg beſtaͤtiget worden. Denn dasjenige, was bisher zu der Abſicht geſagt iſt, um Gefuͤhl und Bewußtſeyn aus koͤrperlicher Organiſa - tion begreiflich zu machen, iſt ſo unbedeutend, daß es kaum der Aufmerkſamkeit werth iſt. Daher auch die Scharfſichtigſten unter den Materialiſten ſich lieber an den aͤußern Gruͤnden halten, deren ganze Kraft, wenn ſie ſolche beſaͤßen, darinn beſtehen wuͤrde, daß bloß ge - zeiget wuͤrde, die Seele ſey koͤrperlich, ohne es begreif - lich zu machen, wie ſie es ſey. Man beruft ſich, z. B. auf die Analogie der Natur; dieſe ſoll es unwahr - ſcheinlich machen, daß ein Weſen, wie der Menſch, aus zwo Gattungen von heterogenen Weſen zuſammenge - ſetzt ſey; und auf gewiſſe aͤußere Zufaͤlle der Seele, die Beweiſe ihrer Abhaͤngigkeit von dem Koͤrper ſind. Was jene betrifft, ſo ſcheint ein Mißverſtand zum Grunde zu liegen, und wenn dieſer gehoben wird, ſo kann die Ana - logie mehr gebraucht werden, die Jmmaterialitaͤt der Seele zu beſtaͤtigen, als ſie zu beſtreiten, wie ich ſchon anderſwo erinnert habe. Die uͤbrigen Phaͤnomene be - weiſen am Ende weiter nichts, als daß die Seele ohne Koͤrper ſich ſo wenig als Seele beweiſen koͤnne, als ein Virtuoſe ohne Jnſtrument ſich als einen Spieler zeigen kann; oder doch nur, daß bey organiſirten Koͤrpern auch Bewegungen ohne Seelenkraͤfte ſich zeigen, dergleichen die von der Reizbarkeit abhangenden Zuſammenziehun - gen ſind, die wir nicht kennen, und die denen, welche in unſerm beſeelten Koͤrper angetroffen werden, und in dieſem von dem Beſtreben der Seele abhangen, von außen und in einem gewiſſen Grade aͤhnlich ſind.

M 2Es180XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen

Es iſt alſo, die Sache in ihrer Beziehung auf die Natur unſerer Kenntniſſe betrachtet, nicht abzuſehen, wie die Vernunft zu irgend einer feſten Entſcheidung hieruͤber gelangen koͤnne, wofern nicht den Jmmateria - liſten endlich der oft verſuchte Beweis gelinget, daß ein ſolches Weſen wie unſer Jch iſt, unmoͤglich zuſammen - geſetzt und materiell ſeyn koͤnne. Denn das Gegentheil, welches Lock bloß nicht fuͤr ganz unmoͤglich hielt, daß Gott der Materie eine Kraft zu denken beylegen koͤnne, liegt ſo weit von den bisherigen Graͤnzen unſerer Er - kenntniß, wie ich wenigſtens meine, entfernt, daß, im Fall es auch eine Wahrheit enthaͤlt, doch zur Zeit kein Anſchein vorhanden iſt, wie dieſe in den Umfang un - ſerer gewiſſen Kenntniſſe hineingebracht werden koͤnne. Alles wird in Moͤglichkeiten, Vermuthungen und hoͤch - ſtens in Wahrſcheinlichkeiten beſtehen muͤſſen, wofern nicht die Vertheidiger der Jmmaterialitaͤt auf ihrer Sei - te ſich endlich zur Evidenz durcharbeiten. Und da auf dieſer Seite die Hoffnung am ſtaͤrkſten iſt, ſo will ich es verſuchen, eine Hand mit anzulegen, indem es zu mei - ner gegenwaͤrtigen Abſicht eigentlich gehoͤret, das zuſam - men zu ſuchen, was uͤber die Natur unſers Seelenwe - ſens ſich mit einiger Gewißheit feſtſetzen laͤßt. Man wird es alſo fuͤr keine Ausſchweifung halten, wenn ich hier meine Gedanken ſo weit herſetze, als ich glaube, daß man feſte Ueberzeugung erlangen koͤnne. *)Die vornehmſten der bisher fuͤr die Unkoͤrperlich - keit der Seele gefuͤhrten Beweiſe hat Hr. Hennings in ſeiner Geſchichte der Seele beurtheilet. Dieß iſt mit vielem metaphyſiſchen Scharfſinne geſchehen; aber doch ließen ſich manche Einwuͤrfe gegen dieſe oder jene Beweiſe aus den Beweiſen ſelbſt heben. Was das eigne Raiſonnement des Hrn. Hennings aus der Willkuͤr betrifft, ſo iſt es wohl außer Zwei - fel, daß in dieſem Vermoͤgen der Seele ſowohl, als in denuͤbri -

Aber181im Menſchen.

Aber es iſt eine Hauptſache, daß man zum Vor - aus ſich wohl bedenke, was man hier eigentlich unter der Jdee eines immateriellen Weſens ſich vorzuſtel - len habe, dergleichen die Seele ſeyn ſoll. Hr. Prieſt - ley ſcheint ſich daran zu ſtoßen, daß Seele und Koͤrper ſo ſchlechterdings ungleichartige Weſen ſeyn ſollen, da - von das Eine Beſchaffenheiten beſitze, die den Be - ſchaffenheiten des andern gerade entgegengeſetzt ſind, und haͤlt es darum fuͤr unwahrſcheinlich, daß der Menſch aus ſo heterogenen Theilen beſtehe. Nun iſt es zwar wahr, daß immateriell und materiell nach dem Sinn der Jmmaterialiſten als ſolche einander entgegengeſtellet werden; aber wenn Hr. Prieſtley Leibnitzen und Wolfen ſtudieret haͤtte, ſo wuͤrde er gefunden haben, daß, nach der Meinung mancher Phi - loſophen, jene Heterogeneitaͤt nur ſo weit gehe, als die Verſchiedenheit zwiſchen Einem Dinge und zwiſchen einem Haufen von mehrern, die mit einander vereinigt ſind. Die Seele iſt nur Ein fuͤr ſich be - ſtehendes Ding, Eine Kraft; der Koͤrper iſt ein aus mehrern Einheiten beſtehendes Ganzes, deſſen Theile mit einander dem Ort nach vereiniget ſind; und Ma - terie iſt das Aggregat, oder die Menge ſolcher einfachen Subſtanzen, wenn man ihre beſtimmte Vereinigung zuM 3Einem*)uͤbrigen, der Charakter ihrer immateriellen Natur durchſcheinen werde. Aber um dieß deutlich zu ſehen, wuͤrde wol ein mehr entwickelter Begriff von der Spon - taneitaͤt erfodert werden, als Herr Hennings vorausſe - tzet, der auf den Jndeterminiſmus bauet. Und dann, deucht mich, ſey dieſer Beweisgrund es am wenigſten, der uns den kuͤrzeſten Weg fuͤhre. Evidenz iſt zum mindeſten der Vorzug der Henningſchen Demonſtration nicht, die mehr als ein Glied hat, bey dem ich die Ver - bindung nicht begreife; ob es an mir liege, oder an der Sache, mag hier, da ich nicht kritiſiren will, dahin geſtellet bleiben.182XIII. Verſuch. Ueber das SeelenweſenEinem Ganzen in Gedanken bey Seite ſetzet. Nach der Jdee dieſer genannten Philoſophen iſt der Koͤrper ein Jnbegriff ſolcher Einheiten, die einzeln fuͤr ſich ſogar vorſtellende Weſen ſind, wie es die Seele auch iſt, und von denen die letztere nichts anders als einen hoͤ - hern Grad, eine Groͤße und Staͤrke der Vorſtellungs - kraft voraus hat. Die Seele, als das Jch, verhaͤlt ſich zu ſeinem Koͤrper, ſo wie der Chef einer Armee ſich zu dem Haufen der einzelnen Soldaten verhaͤlt, die zu - ſammen genommen die Armee ausmachen.

Ohne auf das Eigene in dieſen Leibnitziſchen Jdeen Ruͤckſicht zu nehmen, ſo iſt doch auch, nach der allge - meinen Meinung der Jmmaterialiſten, die Seele ſelbſt, eben ſo wohl als die einfachen Elemente des Koͤrpers, ein einfacher Beſtandtheil des ganzen Menſchen. Nur wie unter den uͤbrigen Elementen ſelbſt eine große innere Verſchiedenheit ihrer Kraͤfte und Vermoͤgen, Modifi - kationen und Wirkungen Statt finden kann; ſo iſt es ja auch moͤglich, daß das einfache Jch ſeine eigenen habe. Von jenen haben wir keine Begriffe, weil wir nur Begriffe haben von dem, was ſie ſind, wenn ſie zu ganzen Haufen im Koͤrper vereinigt ſind, oder eigent - lich von dem, was ſie zu ſeyn ſcheinen; aber wenn ſie uns bekannt waͤren, ſo wuͤrde vielleicht am Ende die Heterogeneitaͤt der Seele von den uͤbrigen nicht groͤßer ſeyn, als dieſer ihre unter ſich iſt. Wer es wahr - ſcheinlich findet, daß der letzte Stoff aller wirklichen Materie und aller Koͤrper einerley Natur ſey, und daß alle Verſchiedenheit der Koͤrper nur von der Art der Zu - ſammenſetzung abhange, wird auch keine Unmoͤglichkeit in der Leibnitziſchen Hypotheſe finden, daß die Ele - mente des Koͤrpers mit der Seele gleichartiger, vorſtel - lender Natur ſind? Mit einem Wort, die Heteroge - neitaͤt der Seele und des Koͤrpers, worauf alles bey ih - rer Jmmaterialitaͤt ankommt, iſt keine andere, als dieHete -183im Menſchen. Heterogeneitaͤt eines einzigen Waſſertroͤpfchens und ei - ner Maſſe Waſſers, die aus ſolchen vereinigten Troͤpf - chen zuſammengeſetzet iſt. Das immaterielle Jch iſt als ein ſolches nur Ein Ding, und das materielle Gehirn iſt eine Menge vereinigter Dinge. Und aus dieſem Unterſcheidungsmerkmal entſpringt die Ent - gegenſetzung ihrer beiderſeitigen Beſchaffenheiten, Hand - lungen und Wirkungen. Jenes kann nicht in mehrere Theile zerlegt werden, da jedes auch ein fuͤr ſich beſte - hendes Weſen iſt, wie der Koͤrper. Dieſen muß man ſich als ein aus ſubſtantiellen Einheiten beſte - hendes Ding vorſtellen, wofern man nicht zu den alten ariſtoteliſchen Jdeen von der ſubſtantiellen Form zu - ruͤckgehen will, die man ſich als etwas, das die Mate - rie durchdringet, ſich in ihr verbreitet, ihr beywohnt, und mit ihr vereiniget iſt, abbildet. Es iſt leicht ein - zuſehen, daß dieſe Begriffe aus dem Schein, den wir von den Koͤrpern erlangen, abſtrahiret ſind. Aber eine naͤhere Entwickelung dieſer verwirrten ſinnlichen Jdeen hat es, man kann ſagen, entſchieden, daß die Koͤrper aus Theilen beſtehen, die von einander wirklich abge - ſondert ſind, und nicht in einander fortlaufen, wenn gleich oft dicht an einander anliegen (partes diſcretae); und daß jene alſo Einheiten in ſich faſſen, die nicht von neuem aus andern trennbaren Einheiten zuſammen - geſetzt ſind. Dieß, was ich bisher nur als die Vor - ſtellungsart der Jmmaterialiſten angefuͤhrt habe, iſt, meiner Meinung nach, die richtige, wofern nicht etwa von neuem die Begriffe von Materie und Koͤrper zweifelhaft gemacht und der philoſophiſche Lehrſatz, daß es einfache Weſen oder Monaden gebe, und daß dieſe die letzten Beſtandtheile des Koͤrpers ausmachen, verworfen werden ſoll. Allein, wer hiebey noch an - ſtoͤßt, ſollte der auch wol genug vorbereitet ſeyn, um mit der beſondern Unterſuchung uͤber die Einfachheit derM 4Seele184XIII. Verſuch. Ueber das SeelenweſenSeele ſich befaſſen zu koͤnnen? Da beide Partheyen, die in der Pſychologie als Materialiſten und Jmma - terialiſten ſich entgegen ſind, gewoͤhnlicher Weiſe ſich uͤber jenen Grundſatz vereinbaret haben, oder es doch vorher noch thun muͤßten, ehe ſie uͤber die Natur der Seele beſonders mit einander ſich einlaſſen: ſo deucht mich, man koͤnne bey dieſem Grundſatz einen feſten Punkt annehmen, und, ohne weiter in metaphyſiſche Unterſuchungen hinein zu gehen, vorausſetzen, daß es ſolche Einheiten gebe, und daß die Seele, auch wenn ſie Materie und Koͤrper iſt, aus ſolchen beſtehen muͤſſe.

Dieſer Grundbegriff von der ſubſtantiellen Ein - heit iſt ſehr einfach. Sie iſt ein fuͤr ſich beſtehendes Ding. Das Materielle iſt etwas, welches mehrere ſolche Einheiten als ſeine Theile in ſich hat. Alle Veraͤnderungen in jener ſind Veraͤnderungen in einer und eben derſelbigen Kraft; in einem und demſelbigen Dinge; dagegen in der Materie, ſo genau auch ihre Theile mit einander vereiniget ſind, dennoch jedes einzel - ne Element ſeine eigne Kraft wie ſein eignes Beſtehen hat. Einer ihrer Beſtandtheile iſt nicht der andere; die Kraft der einen Monade iſt nicht die Kraft der an - dern. Die Veraͤnderung in der Einen iſt nicht die Ver - aͤnderung in der zwoten, ſo innig ſich dieſe auch einan - der mittheilen. Dieß iſt eine leicht auffallende Folge - rung aus dem Vorhergehenden.

2.

Dieß iſt noch nicht alles, was vorher zu thun iſt, ehe wir die Sache voͤllig im Freyen vor uns haben. Waͤre es nur etwan um ſolche Erinnerungen zu thun, die fuͤr den Metaphyſiker brauchbar ſind, wenn er ſeine Spekulationen uͤber die Subſtanzen mehr berichtigen und beſtimmen will: ſo wuͤrde ich ſie hier vorbeylaſſen. Aber da gewoͤhnlicher Menſchenverſtand, der ohne all -gemeine185im Menſchen. gemeine Vernunfttheorie uͤber dieſe Sache urtheilet, ſie durch ſeine verwirrten Gemeinbegriffe, als durch ge - faͤrbte Glaͤſer, anſiehet; ſo muß auch dieſer daruͤber erin - nert werden, um zu wiſſen, woran er ſich zu halten habe, wenn ihn ſeine Scheine verwirren. Es eraͤugnet ſich hier, was ſich ſo oft eraͤugnet. Nicht ſowohl die Ein - ſicht der Wahrheit ſelbſt iſt ſchwer, wenn man ſie nur erſt gerade vor ſich hat; aber ſie iſt mit fremden Geſtal - ten und ſchwankenden Bildern umgeben. Wenn man die Sache in der Naͤhe anſieht, ſo findet man das nicht an ihr, was alles in den verwirrten Bildern enthalten war, die man in der Ferne hatte, und wird ungewiß, ob man auch dieſelbige Sache ſehe. Und wenn man dieſe nun einmal ſcharf gefaßt hat, und es auch weis, daß man ſie habe, ſo ſchweben uns doch die verwirrten Bilder von neuem wieder vor, wenn wir nur ein wenig uns von der Betrachtung entfernen. Alsdenn ſieht wieder alles dunkel und neblich aus. Ob die Seele ei - ne immaterielle Subſtanz ſey, oder Materie, wird ſich, wie ich meine, leicht begreifen laſſen, wenn wir erſt recht wiſſen, wonach wir fragen, und dann nach - her nur nicht wieder dadurch irre werden, daß wir nicht wiſſen, welche Geſtalt und Figur wir ihr beylegen ſollen.

Es lehrt die Beobachtung, daß die Seele vielerley, das iſt mehrere und verſchiedene Vermoͤgen beſitze, und vielerley Arten von Veraͤnderungen annehme. Jn ihr, was ſie auch iſt, giebt es alſo eine gewiſſe Mannich - faltigkeit. Kann dergleichen in einer ſubſtanziellen Einheit ſtatt finden, oder hat dieſe Einheit doch eine gewiſſe ideelle Ausdehnung? Theile, die von ein - ander verſchieden ſind, und auch außer einander ſind, wie die Punkte einer Kugel? und, wenn ſie ſolche hat, wie kann ſie denn eine einfache Subſtanz ſeyn, die unzertheilbar und unaufloͤslich iſt?

M 5Was186XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen

Was die ſogenannte unkoͤrperliche Ausdehnung oder ideelle Extenſion betrift, die einige Philoſo - phen als eine allgemeine Eigenſchaft aller Subſtanzen uͤberhaupt anſehen und glauben ſolche nothwendig ei - ner jeden zuſchreiben zu muͤſſen, ſo iſt es, meiner Mei - nung nach, nicht zu zweifeln, daß ſolche nicht als ein anpaſſendes ſinnliches Bild von der Mannichfaltig - keit der Beſchaffenheiten in einem Dinge ſollte gebraucht werden koͤnnen (multitudo affectionum in vno ente phaenomenon.) Denn wenn wir ein Weſen uns vorſtellen, das von einer gewiſſen Groͤße iſt, und einen Raum einnimmt, worinnen ſich Theile und Punkte unterſcheiden laſſen, auf eine aͤhnliche Art, wie in einem geometriſchen Koͤrper, das iſt, in einer in Eins fortgehenden Ausdehnung nach allen Di - menſionen: ſo iſt es klar, daß dieſe Theile nicht eige - ne, abzuſondernde und fuͤr ſich beſtehende Weſen ſeyn koͤnnen. Der Geometer theilet ſeinen Raum durch Flaͤchen, Linien und Punkte; aber die wahre geometri - ſche Jdee eines Kontinuums oder einer Ausdehnung; die in Eins fortgehet, bringet es mit ſich, daß jede ſie durchſchneidende Flaͤche, Linie oder Punkt ſelbſt ein Stuͤck von ihr ſey, das ſowohl dem einen als dem an - dern der geſchnittenen Theile gemeinſchaftlich zukommt, und zugleich das Ende des einen und der Anfang des folgenden iſt. Alſo werden dadurch die Theile nicht als beſondere Stuͤcke fuͤr ſich abgeſchnitten, wie die Theile der wirklichen Koͤrper. Jene machen nur Ein Ganzes aus. Dieſen Unterſchied zwiſchen dem Kon - tinuum und dem ſogenannten Diskretum uͤberſah Sextus Empitikus, als er gegen die Geometer diſpu - tirte, und ihnen ihre Theilung einer Linie in zween gleich große Theile ſtreitig machen wollte. Wo zwo phyſi - ſche Kugeln einander beruͤhren, da hat doch jede fuͤr ſich ihren eigenen beſondern Umfang, und es giebt alsdennzween187im Menſchen. zween ſich einander beruͤhrende Punkte, die ganz nahe an einander liegen, die aber nicht in Einen Punkt zu - ſammenfließen. Zwo geometriſche Kugeln dagegen fließen in Einen Punkt zuſammen, wenn ſie ſich beruͤh - ren, ſo daß der Beruͤhrungspunkt ſowohl ein Punkt in der einen als auch in der andern zugleich iſt, und beiden zugehoͤret. Der Begriff von dem Kontinuum hebt alſo die wirkliche Abſonderung und die beſondere Beſteh - barkeit der Theile ganz auf. Dieſe Theile bleiben nichts mehr, als Theile, die unterſcheidbar von einander ſind, und außer einander exiſtiren, die partes extra partes, nach dem alten Ausdruck, aber nicht von einander abgeſondert ſind, nicht ſo, daß jeder fuͤr ſich ſein eige - nes Beſtehen haben koͤnne.

Auf dieſelbige Art verhaͤlt es ſich mit den Be - ſchaffenheiten, die wir uns in den Subſtanzen vor - ſtellen, und als in dieſen vorhanden von einander unter - ſcheiden. Man ſehe auf den Urſprung der Begriffe von Subſtanzen und Beſchaffenheiten zuruͤck, ſo wie ſolcher oben angegeben worden iſt. *)Erſter B. Fuͤnfter Verſuch. VI. Die Jdee von der Beſchaffenheit iſt eine Jdee von einem Theil oder von einem Zuge eines unzertrennlichen Ganzen, der aber fuͤr ſich allein nicht iſt. Wir koͤnnen, wie ſchon Leibnitz richtig geſagt hatte, die Beſchaffenheit fuͤr nichts anders anſehen, als fuͤr die ſo beſchaffene Sub - ſtanz in der Abſtraktion vorgeſtellet, indem wir die Seite einer Sache als eine eigene Sache anſehen. Die Bewegung, z. B. iſt der bewegte Koͤrper in dieſem Zu - ſtande der Bewegung vorgeſtellet, und dann dieſen Zu - ſtand beſonders in einer eigenen Jdee gefaßt. Es war eine ungemein leere Fiktion, womit ſich die Scholaſti - ker quaͤlten, und uͤber die auch neuere Philoſophen ſo manche unverſtaͤndliche Lehrſaͤtze von Weſen und For -men188XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenmen vortragen, wenn man die Subſtanz oder das Subſtanziale in ihr, dem Jnbegriff aller Beſchaf - fenheiten entgegenſetzte, und jenes als eine gewiſſe Grundlage ſich vorſtellte, worauf die Beſchaffenheiten aufgeklebet, und mit dem insbeſondere das Weſen, oder die Form, oder die Grundbeſchaffenheiten un - zertrennlich vereiniget waͤren. Nach der Entſte - hungsart dieſer Gemeinbegriffe, kann man die Be - ziehung der abſoluten Beſchaffenheiten in den Sub - ſtanzen auf die Subſtanz ſelbſt nicht beſſer vorſtellen, als wenn man ſie fuͤr das anſieht, was die einzelnen un - terſcheidbaren Punkte eines Kontinuums in dem Ganzen ſind. Nicht Theile, aus denen das Ganze, wie ein Koͤrper aus ſeinen Stuͤcken, zuſammengeſetzt iſt oder zu - ſammengeſetzet werden koͤnnte, ſondern wie ſo etwas, das zuſammen ein Eins ausmacht, und das einzeln ge - nommen, nur unterſcheidbare Stellen und Zuͤge in dem Eins ſind.

Eine ſolche ſubſtanzielle Einheit beſitzet alſo nur Eine und dieſelbige Kraft; und wenn gleich eine Veraͤnderung in ihr nicht ebendieſelbe iſt, wie eine andere, ſo ſind doch beide in demſelbigen Dinge. Jeder Eindruck an jeder Seite, auf jeden Punkt iſt zugleich ein Eindruck aufs Ganze, verbreitet ſich durchs Ganze, und iſt nur zuerſt unmittelbar eine Modifikation an Einer Stelle, aber zugleich eine Modifikation an allen, die durch alle Punkte geht, und in einem und demſelbigen Dinge ſich eraͤugnet.

Jſt dagegen ein Ding aus mehrern ſubſtanziellen Einheiten zuſammengeſetzt, wie die Koͤrper ſind, ſo zieht zwar die Vereinigung der Theile unter einander die Folge nach ſich, daß jeder Eindruck auf einen Theil ſich durch das Ganze verbreitet; aber da dieſe Theile fuͤr ſich beſtehende unterſchiedene Weſen ſind: ſo iſt doch niemals die geſammte Modifikation, die in dem Gan -zen189im Menſchen. zen iſt, in Einem Dinge beyſammen. Denn die Eine Haͤlfte der Beſchaffenheit befindet ſich als eine Beſchaf - fenheit an der Einen Haͤlfte der einfachen Subſtanzen, und die andere Haͤlfte von ihr in den uͤbrigen. So aͤhnlich und gleichartig dieſe Beſtandtheile auch ſeyn moͤgen, ſo ſind ſie doch nicht Ein und daſſelbige Ding.

Wenn nur dieſes Unterſcheidungsmerkmal deutlicher entwickelt werden koͤnnte! Denn daß es es nicht kann, iſt eben die Urſache von der Dunkelheit in ſo vielen der beſten Beweiſe, die man fuͤr die Jmmaterialitaͤt der Seele gegeben hat. Wenn jede Veraͤnderung in einem Theile zugleich eine Veraͤnderung in dem Ganzen iſt, und in demſelbigen Ganzen: wie unterſcheidet man es, ob jene Theile nur Beſchaffenheiten einer einfachen Subſtanz ſind, Seiten von ihr, ſubſtanzielle Punkte, wenn ſie ſo heißen ſollen; oder ob ſie fuͤr ſich beſonders beſtehende und trennbare Weſen ſind? Und wenn man auch erweiſen kann, daß in Ei - nem und demſelbigen Dinge, worinn ein Theil von ei - ner Modifikation ſich befindet, auch die geſammte Mo - difikation begriffen ſey: ſo iſt noch immer die Ausflucht uͤbrig, daß dieß Eins und daſſelbige Ganze vielleicht Eins und daſſelbige zuſammengeſetzte, nicht aber Eins und daſſelbige Einfache, ſeyn koͤnne. Es iſt eine große Verſchiedenheit zwiſchen dieſen beiden Faͤllen, die wir klar genug fuͤhlen. Denn da, wo doch etwas zwiſchen zweyen vertheilet iſt, da iſt nicht das Ganze in Einem und demſelbigen Dinge, worinn nur die Eine Haͤlfte iſt. Aber daran fehlt es, daß dieſer Unterſchied nicht ſo deut - lich gemacht werden kann, daß ſich ſolcher noch anders als aus dem Gefuͤhl erkennen laͤßt, indem man dieſe beiden unterſchiedenen Vorſtellungen gegen einander haͤlt. Dieß Gefuͤhl des Unterſchiedes ſcheim zu ver - ſchwinden, ſobald wir die Jdeen nicht mehr ſo voͤllig anſchaulich vor uns haben.

Jſt190XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen

Jſt die ideelle Extenſion ein brauchbares ſinnli - ches Bild von der Mannichfaltigkeit in der Ein - heit beider Subſtanzen, und iſt es alſo auch erlaubt, die immaterielle Seele uns wie ein Weſen von einer gewiſ - ſen Geſtalt und Form vorzubilden, um dem Verſtande ihre Betrachtung zu erleichtern, ſo iſt noch dieſes eine zwote Frage: ob ſie auch etwas mehr als ein ſolches Bild ſey? Muß das Einfache nothwendig einen Raum auf eine ſolche Art einnehmen? Dieß wird man wohl ſchwerlich einraͤumen, wenn man weis, woher und auf welche Art die Jdee vom Raum in uns entſtehet. Sie iſt aus den Geſichts - und Gefuͤhlsempfindungen her. *)Vierter Verſuch VII. 4.Das Ohr empfindet ſowohl mehrere verſchie - dene Toͤne zugleich, als Einen Ton auf einmal; aber dieſe Vereinigung in den Gehoͤrseindruͤcken giebt uns kein ſolches Bild von der Ausdehnung, wie wir aus dem Geſicht und aus dem Gefuͤhl dadurch erlangen, daß jeder Eindruck ein gleichzeitiger vereinigter Eindruck von vielen iſt. Die innern Selbſtgefuͤhle geben uns eben ſo wenig ein ſolches Bild. Was iſt alſo die Frage: ob die Seele, vorausgeſetzt daß ſie eine ſubſtanzielle Einheit ſey, eine Ausdehnung an ſich habe, und von welcher Figur und Geſtalt ſie ſey? anders, als die Frage jenes Blinden: welchen Ton die rothe Farbe habe? oder die Frage eines Gehoͤrloſen: auf welche Art der Ton einer Trompete gefaͤrbet ſey? Wenn naͤmlich unter der Jdee von der ideellen Ausdehnung das Beſondere in unſerm Bilde einbegriffen iſt, und alſo noch etwas naͤher beſtimm - tes darinnen lieget, als in dem Allgemeinbegriff von Man - nichfaltigkeit der Beſchaffenheiten in der fuͤr ſich beſtehenden Einheit: wer kann denn ſagen, daß die Seele zu der Art von Objekten gehoͤre, die durchs Ge - ſicht oder durchs aͤußerliche koͤrperliche Gefuͤhl empfun -den191im Menſchen. den werden, und alſo einen ſolchen Schein hervorbrin - gen koͤnnen, als der iſt, den wir von der Ausdehnung haben? Wenn aber nichts mehr durch die ideelle Aus - dehnung dem Einfachen beygeleget wird, als uͤberhaupt Mannichfaltigkeit in Einem: ſo wird dieſe Benennung in einem tranſcendenten und allgemeinem Verſtande ge - nommen, in dem man ſo wohl eine Beſchaffenheit der Seele, als anderer einfachen Subſtanzen, daraus ma - chen kann.

3.

Wenn wir auch nichts mehr, als dieſe Begriffe zur Fertigkeit gebracht haben, ſo zeiget ſich unmittelbar aus den Beobachtungen eine gewiſſe Einheit unſers Jchs, bey der es zwar noch nicht entſchieden iſt, daß ſie eine ſubſtanzielle Einheit ſey, die aber doch fuͤr ſich allein ſchon eine fruchtbare Vorſtellung giebt. Sie verdienet, fuͤr ſich erwogen zu werden.

Es iſt ein ſo ſehr erwieſener Beobachtungsſatz, als es ſonſten einer ſeyn kann, daß das Jch, welches ſiehet, das naͤmliche iſt, welches hoͤret, ſchmecket, riechet, fuͤhlet, denket, will; wenn wir auch nicht wiſſen, worinn dieſe Aeußerungen der Seele beſtehen, und nur ſo verwirrte und relative Vorſtellungen davon haben, als unſere Scheine von den Koͤrpern ſind. Jch, der ich fuͤhle, denke, afficirt werde, leide, handle, bin ſo ſehr Eins und daſſelbige Weſen, Ding oder Kraft, wie man es nennen will, daß ich keinen Begriff von ei - ner groͤßern Jdentitaͤt habe, als dieſe Jdentitaͤt meines Jchs iſt. Jch kann mir nicht vorſtellen, daß A mehr einerley mit A, oder ein Ding mehr einerley mit ſich ſelbſt ſeyn koͤnne, als das Jch, welches denket, es iſt mit dem Jch, welches will.

Es mag wohl ſeyn, daß dieß Jch, wenn ich ſehe, in Verbindung mit den Augen wirket, das iſt, mit ei -nem192XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſennem gewiſſen unterſchiedenen Theile des Koͤrpers, und, wenn ich hoͤre, in Verbindung mit einem andern Theile des Koͤrpers. Jſt es ſo, ſo wird folgen, daß das ganze Ding, welches veraͤndert wird, wenn ich ſehe, nicht daſſelbige iſt mit dem Ganzen, welches veraͤndert wird, wenn ich hoͤre, u. ſ. f. Allein ſo viel iſt offenbar, es iſt Ein Ding vorhanden, was ich vorzugsweiſe mein Jch nenne, und dieß iſt in allen den genannten Seelenaͤuße - rungen immer ebendaſſelbige.

Dieß erſtrecket ſich auf die kleinſten und einfachſten Handlungen und Leidenheiten, deren ich mir bewußt bin. Jch bin daſſelbige Jch, welches das ganze Gemaͤlde uͤberſieht, und welches einen einfachen Strich darauf ge - wahr wird; daſſelbige, was in ſolchen Faͤllen, wo wir ſagen, daß wir mit uns ſelbſt uneins ſind, bald zum Beyfall, dann zur Abſtimmung ſich neiget; jetzt zum Wollen, und im Augenblick darauf, ehe der Entſchluß ſich voͤllig entwickelt, wieder zum Nichtwollen gereizet wird.

Dieß wichtige Datum laͤßt doch zunaͤchſt ſo viel deutlich einſehen. Wenn auch das Jch ein aus meh - rern einfachen Weſen beſtehendes Ganze iſt, ſo muß zwiſchen den ſubſtanziellen Einheiten, woraus es beſteht, eine durchgaͤngige und einige Vereinigung ſtatt finden. Jede merkbare Veraͤnderung des Einen Theils muß ſich durch das Ganze verbreiten, und alle uͤbrigen Be - ſtandtheile daran Antheil nehmen laſſen. Denn wollte man ſich vorſtellen, daß etwan Einem der Beſtandtheile unſers Jchs das Sehen, und einem andern das Hoͤren ausſchließungsweiſe zukomme; daß alſo die mancherley Geſchaͤffte der Seele zwiſchen dieſem Weſen ſo vertheilet ſind, wie die Geſchaͤffte eines Kollegiums zwiſchen meh - rern Mitgliedern deſſelben, davon jeder fuͤr ſich in ſei - nem eigenen Fach arbeitet, ohne daß der andere an ſei - nen meiſten Verrichtungen Antheil nimmt; ſo habenwir193im Menſchen. wir eine Jdee, die ſich mit den Beobachtungen ſchlecht - hin nicht vereinigen laͤßt. Giebt es beſondere Theile, die zunaͤchſt die Eindruͤcke bey beſondern Empfindun - gen annehmen: ſo muͤſſen die uͤbrigen davon zugleich auch mit veraͤndert, und die Veraͤnderung muß eine Veraͤnderung des Ganzen werden. Und dieß muß ſich auf jeden einzelnen Aktus des Geſichts, des Denkens und des Wollens erſtrecken, den wir als eine Aeuſſerung unſers Jchs gewahrnehmen. Denn in dem entgegen - geſetzten Fall iſt es unmoͤglich, daß es ebendaſſelbige Ding ſeyn koͤnne, welches die einen und auch die uͤbri - gen Wirkungen hervorbringet. Jn der Uhr iſt es die Feder, welche treibet, und der Zeiger, der auf dem Zif - ferblatte herumgehet; aber ſo gewiß es iſt, daß jedes dieſer Stuͤcke der Maſchine ſein eigenes Geſchaͤffte habe, welches nicht das Geſchaͤffte des andern iſt, ſo gewiß falſch iſt es auch, daß ebendaſſelbige Weſen, welches das Uhrwerk treibet, auch dasjenige ſey, welches un - mittelbar die Stunden anzeiget. Nur ein Wortſpiel wuͤrde es ſeyn, wenn Jemand darauf beſtehen wollte, daß doch gleichwol der ganzen Uhr, beides, die Ver - richtung der Feder und des Zeigers, zugeſchrieben wer - den koͤnne. Wo wir ſo gewiß verſichert ſind, daß meh - rere Wirkungen Einer und derſelbigen Kraft zugehoͤren, als wir es bey den Wirkungen unſers Jchs ſind, da koͤnnen ſolche zwiſchen mehrern Dingen, die nur neben einander ſind, nicht vertheilt gedacht werden. Dieſe Dinge muͤſſen zum mindeſten ſo mit einander vereini - get ſeyn, daß Jedes-Jedem das Seinige mittheile, und daß Jedes an den Veraͤnderungen eines Jeden ſo viel Antheil nehme, als dieſe Veraͤnderungen in Einem und demſelbigen Dinge ſind.

Es folget ferner, daß unſer Jch ein Weſen ſey, welches von allem dem, was wir unter der Jdee vom koͤrperlichen Organ der Seele uns vorſtellen, un -II Theil. Nter -194XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenterſchieden iſt, und daß es auch den ganzen Jnbegriff unſerer Organe nicht ausmachen koͤnne. Die aͤußern Werkzeuge der Empfindung, ſo weit wir ſie kennen, ſind auf ſolche Art mit einander nicht verbunden, daß nicht jedes ſeine ſinnlichen Modifikationen fuͤr ſich haben koͤnne. Der Eindruck von dem Licht iſt in dem Auge, wenn wir ſehen, aber dieſer Eindruck iſt keine Veraͤnde - rung in den Ohren. Denken wir uns unter dem Be - griffe von Werkzeugen ſolche Theile des Koͤrpers, die zu beſondern Arten von Veraͤnderungen ausſchlieſ - ſungsweiſe gehoͤren, ſo iſt das Jch von allen dieſen Organen zuſammengenommen, ſo weit unterſchieden, als das beſeelte Gehirn von den aͤußern Gliedmaßen des Koͤrpers iſt. Aber freylich kann auch dieſe Jdee von Seelenwerkzeugen erweitert werden. Denn wir koͤnnen auch ſolche koͤrperliche Theile darunter verſtehen, die zu eigenen Arten von Veraͤnderungen nur in ſo weit gehoͤ - ren, als ſie es ſind, die ſolche unmittelbar aufneh - men, obgleich ihre Vereinigung ſo innig iſt, daß jeder ſogleich jedem andern ſich voͤllig kommunicire. Wenn dieß ſo iſt, ſo koͤnnte das Ganze dieſer Organe, auch wenn es von dem Jch unterſchieden iſt, als ein allge - meines Organ, oder als ein ſenſorium commune gedacht werden. Jm Fall aber dieß Ganze mit dem geſammten Seelenweſen einerley iſt, ſo muͤßte das, was wir fuͤr beſondere Organe anſehen, die zu eigenen Gattungen von Eindruͤcken gehoͤren, mehr fuͤr gewiſſe Seiten der Seele und beſondere Theile von ihr, als fuͤr Organe, zu halten ſeyn.

4.

Dieſe Einheit unſers Jchs iſt noch das nicht, was die Jmmaterialiſten durch ihre Beweiſe darzuthun ge - ſucht haben. Laßt uns die Seelenaͤußerungen in ihre einfachen Aktus zerlegen, in welche ſie durch die ſchaͤrf -ſte195im Menſchen. ſte Analyſis zerleget werden koͤnnen. Laßt zum Bey - ſpiel in jedem Urtheil die drey Aktus unterſchieden wer - den: die Vorſtellung des Subjekts, die Vorſtellung des Praͤdikats, und den Aktus des Beziehens dieſer beiden Vorſtellungen auf einander. Nun folget zwar aus dem Vorhergehenden ſo viel, daß, wenn gleich un - ſer urtheilendes Jch aus mehrern trennbaren Weſen zu - ſammengeſetzet ſey, dieſe jene Aktus doch nicht ſo unter ſich vertheilet haben koͤnnen, daß einige von ihnen allein die Vorſtellung des Subjekts in ſich haben, andere da - gegen das Praͤdikat ſich vorſtellen, und wiederum an - dere den beziehenden Aktus vornehmen, und den Ver - haͤltnißgedanken oder die Form des Urtheils hervor - bringen. Man kann ſagen, daß es eben ſo unmoͤglich ſey, daß es ſich auf dieſe Art verhalte, als ein Zirkel Ecken haben kann; da es offenbar iſt, daß bey dieſer Vorausſetzung es nicht Eins und daſſelbige We - ſen iſt, welches alle dieſe Aktus vornimmt. Aber den - noch lieget hierinn, wie einige ganz richtig bemerket ha - ben, noch die groͤßte Schwierigkeit. Wenn gleich jede einfache Seelenaͤußerung ein Aktus ebendeſſelben zu - ſammengeſetzten Weſens iſt, dem jede andere Seelen - aͤußerung auch zukommt, ſo iſt die große Frage zuruͤck: ob nicht jeder ſimple Aktus ein Aktus mehrerer Dinge ſeyn koͤnne, und woher man wiſſen koͤnne, daß ein Ganzes, welches alle Aktus unter alle ſeine Theile verbreitet, ohne reelle Zuſammenſetzung ſeyn muͤſſe? Da es eine Vielfachheit in demſelben giebt, iſt denn dieſe nothwendig nur eine bloße Vielfachheit ſubſtan - zieller Punkte, die zuſammen nur die ſubſtanzielle Einheit ausmachen? Man thut, um bey dieſer Unter - ſuchung recht ſcharf und vorſichtig zu Werke zu gehen, ſehr wohl, wenn man dieſe zwey Bilder beſtaͤndig ge - gen einander haͤlt, naͤmlich das Bild von einer ſub - ſtanziellen Einheit, in der es bloß eine Mannichfaltig -N 2keit196XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenkeit von einzeln unbeſtehbaren Punkten giebt, welche die Beſchaffenheiten des einfachen Weſens vorſtellen; und auf der andern Seite das Bild von einer zuſam - mengeſetzten Subſtanz, die aus mehrern reell ver - ſchiedenen Subſtanzen, welche einzeln fuͤr ſich beſte - hen, zuſammengeſetzet iſt. Jeder Beweis fuͤr die Jm - materialitaͤt der Seele aus ihren Kraftaͤußerungen muß die letztere Vorſtellung aufheben; aber es giebt, ſo viel ich weis, keine, mit der nicht jene erſtere als eine bild - liche Vorſtellung der Sache ſich vereinigen laſſe, und man kann ſichs verſichern, daß irgend etwas in unſern Raiſonnements erſchlichen ſey, wenn wir auf eine Fol - gerung gerathen, die das Jch nothwendig von einem mathemathiſchen Punkt in Hinſicht der Ausdehnung machen wuͤrde. Denn dieſe Nebenidee iſt in dem Be - griffe der Einfachheit nicht enthalten, ſobald wir nur die Mehrheit in einem Kontinuum von einer Mehrheit reell unterſchiedener und nur dicht an einander liegender phy - ſiſchen Punkte zu unterſcheiden wiſſen.

Das erſte und vornehmſte, was uns hier aufſtoͤßt, iſt die Frage: ob fuͤhlen, afficirt werden, gewahrneh - men, ſich beſtimmen, nur bloß kollektive Hand - lungen eines zuſammengeſetzten Ganzen ſeyn koͤnnen, die aus gewiſſen Handlungen der einfachen Subſtanzen beſtehen, welche einzeln genommen zwar ſeelenartige Kraftaͤußerungen genannt werden moͤgen, aber von den eigentlichen Seelenaͤußerungen unterſchieden ſind? und die vielleicht gar nur in Bewegungen beſtehen, oder wenigſtens zu einer Art von Wirkungen gehoͤren, wo - von wir keine Vorſtellungen haben?

Mich deucht, es fehle nichts an der Evidenz in der Antwort, die verſchiedene Philoſophen, und unter die - ſen beſonders der vortreffliche Verfaſſer des Phaͤdons hierauf gegeben haben. Jſt der Aktus des Fuͤhlens aus einer Menge anderer Kraftaͤußerungen zuſammen -geſetzt,197im Menſchen. geſetzt, die einzeln genommen keine Gefuͤhle ſind: ſo wird aus dieſen letztern nur alsdann erſt ein Gefuͤhls - aktus, wann ſie vereiniget und zuſammen, das iſt, kollektive genommen werden. Aber es iſt unmoͤglich, daß ſie kolligirt werden koͤnnen, wofern ſolches nicht in Einem Dinge geſchieht, welches eine wahre ſubſtan - zielle Einheit iſt. Denn wenn die verſchiedenen Be - ſtandtheile des Aktus durch mehrere verſchiedene Weſen vertheilet ſind, davon jedes einzeln, nur einen einzelnen von jenen Aktus hervorbringet: ſo iſt zwar ein Haufen von Elementen des Gefuͤhls in mehrern Dingen vertheilt vorhanden; aber nirgends iſt ein Gefuͤhl, nir - gends das vereinigte Ganze aus ihnen, das nach der Vorausſetzung, heterogen von ſeinen Elementen, erſt ein Gefuͤhl wird, wenn jene Elemente zuſammen genom - men werden; nirgends iſt einmal ein Schein des gan - zen Gefuͤhls. Wie kann man ſagen, daß es ein fuͤh - lendes Weſen im Menſchen gebe, ohne ſich vorzuſtellen, daß jene heterogene Beſtandtheile des Gefuͤhls in irgend einem Dinge zuſammen kommen, und hier zu einer Kollektion in Einem werden, wodurch jener Jnbegriff von Aktionen zu einem Gefuͤhl gemacht wird? Was bloß kollektive ein Gefuͤhl iſt, muß kolligiret wer - den, ehe es ein ſolches wird. Es kann als ein unlaͤug - barer Erfahrungsſatz angeſehen werden, daß unſer Jch ſich ſelbſt als ein fuͤhlendes und denkendes Weſen er - ſcheine. Aber ſowohl die Exiſtenz des Gefuͤhls, das nur durch die Kollektion ein Gefuͤhl iſt, wie hier angenom - men wird, als auch nur der Schein deſſelben, worinn dieſer letztere auch beſtehen mag, faͤllt weg, wenn nichts weiter, als eine Menge von Weſen da iſt, deren jed - wedes allein fuͤr ſich ganz etwas anders als ein Fuͤhlen hervorbringet.

Es iſt laͤngſt angezeiget worden, wie wenig anpaſ - ſend das Gleichniß der Materialiſten ſey, wenn ſie dieN 3Entſte -198XIII. Verſuch. Ueber das SeelenweſenEntſtehungsart der Seelenaͤußerungen aus Bewegun - gen, durch die Entſtehung der Harmonie aus einzelnen Schallarten, erklaͤren wollen. Wenn das Ohr, das die einzelnen harmonirenden Toͤne vereiniget, wegge - nommen wird, wo bleibet denn die Harmonie, die nur durch die Vereinigung derſelben in Einem Dinge zur Harmonie wird? Jede Kraft und jede Wirkung einer Kraft in den zuſammengeſetzten Dingen kann nicht an - ders Ein Ganzes ſeyn, als entweder in Hinſicht Ei - nes andern, das die Wirkungen von den einzelnen Theilen des Zuſammengeſetzten in ſich aufnimmt, wie der Druck eines zehn Pfund ſchweren Koͤrpers nur ein ganzer Druck iſt, in ſo ferne er in einem andern Koͤrper ſich vereiniget; oder nur in Hinſicht eines vorſtel - lenden Weſens, das ſich alles Einzelne zuſammen auf einmal vorſtellet. Jn dem feſten ſchweren Koͤrper iſt eine gewiſſe Verbindung der Theile mit einander, welche, als die objektive Vereinigung der Partikeln, der Grund davon iſt, daß ihre einzelnen Druckungen ſich mit einander vereinigen. Aber ein zuſammengeſetzter Druck aus allen einzelnen Preſſionen der Partikeln erfodert ein anderes Ding, in welchem jene ſich in ihren Wirkun - gen vereinigen. Die ganze Kollektion dieſer Druckun - gen iſt nur etwas Subjektiviſches in dieſem leidenden Weſen. Wenn ein Regiment manoͤvrirt, ſo beſtehet die Bewegung des Ganzen aus den Bewegungen aller Jndividuen, die zugleich und uͤbereinſtimmend erfol - gen; aber fuͤr jeden einfachen Soldaten, der nur auf ſich ſieht, iſt keine ganze gleichzeitige Bewegung der Ar - me und der Gewehre in allen vorhanden, ſo wenig als es irgendwo ein ganzes koͤrperliches Gefuͤhl von dieſen Bewegungen giebt, das aus der Vereinigung aller einzel - nen Gefuͤhle beſtuͤnde. Dieß letztere iſt nirgends. Ei - ne kollektive Bewegung des Ganzen befindet ſich nur ſubjektive in dem Zuſchauer.

Hier199im Menſchen.

Hier iſt der Unterſcheidungscharakter zwiſchen ei - nem einfachen Weſen, in welchem man ſich eine Mehrheit von verſchiedenen ſubſtanziellen Theilen vor - ſtellt, und zwiſchen einem aus reell unterſchiedenen Sub - ſtanzen zuſammengeſetztem Ganzen. Wenn gleich eine Aktion des Einfachen ebenfalls eine Mannichfaltigkeit in ſich faſſen, und gleichſam als aus ſo vielen Theilen beſtehend gedacht werden kann, als man ſubſtanzielle Punkte in dem Ganzen ſich gedenket: ſo iſt doch dieſe Aktion ein Kontinuum, das nicht aus reell verſchie - denen Theilen beſtehet, und nur Eine Aktion in Ei - nem Weſen ausmachet. Die Kollektion der einzelnen. Theile der Aktion geſchieht in demſelbigen Weſen, und wird alſo in demſelben zu einer ſolchen Aktion, als ſie iſt. Jſt dagegen das Ganze ein ſolches, das aus mehrern Einheiten beſtehet, davon jede ihren unterſchiedenen Beytrag zu der ganzen Aktion liefert, ſo wird aus die - ſen Beytraͤgen zuſammen niemals ein Ganzes werden, wofern nicht alle Beytraͤge in jedwede einzelne Einheit zuſammengebracht werden, wie z. B. jeder Soldat den ganzen Knall hoͤret, der durch das gleichzeitige Schieſ - ſen hervorgebracht wird. Alsdenn aber geſchehen ſo viele Kollektionen, als es ſolche kolligirende Einheiten giebt. Jſt aber nur Eine kolligirende Einheit vorhan - den, ſo iſt es eine wahre ſubſtanzielle Einheit, und das, was ſie in ſich vereiniget, ſind nichts, als ſubſtanzielle Theile eines Ganzen.

5.

Man hat die bloß kollektiven Kraͤfte und Aktio - nen, die das nicht ſind, was ſie ſind, als nur allein in der Beziehung auf dasjenige Weſen, in welchem ſie kollektiret werden, mit einer Art von abſoluten Kraͤf - ten und Kollektionen verwechſelt, die nur in der Ver - bindung mehrerer Dinge entſpringen, und daher auchN 4nicht200XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſennicht zu den Grundkraͤften, ſondern zu den abgelei - teten gerechnet werden muͤſſen. Die einzelnen Theile einer Stahlfeder beweiſen keine Elaſticitaͤt, wenn der Stahl aufgeloͤſet wird. Dieß Vermoͤgen erlangen ſie nur in einer gewiſſen Verbindung mit einander. Das Knallgold verlieret feine ausdehnende und knallende Ei - genſchaft, wenn das Gold, und der ihm anklebende fremde Zuſatz von einander wieder getrennet werden. Dergleichen Beyſpiele giebt es unzaͤhlige in der Koͤrper - welt, und man hat ſich ihrer bedienet, um begreiflich zu machen, wie aus nicht denkenden Elementen der Materie, durch eine gewiſſe Verbindung derſelben, den - kende Weſen entſtehen koͤnnen.

Allerdings wuͤrde auf dieſe Beyſpiele Ruͤckſicht ge - nommen werden muͤſſen, wenn davon die Rede waͤre, ob das denkende Jch ſchon ſeiner erſten Grundkraft nach ein denkendes Ding ſey? |oder ob nicht vielmehr die Grundkraft deſſelben noch vorher in Verbindung mit einem ſchicklichen Gehirn geſetzt werden muͤſſe, auf wel - ches ſie wirke, und von dem und deſſen Eindruͤcken ſie erreget und gereizet werde, ehe ſie in den Stand kom - me, ſolche Aktionen hervorzubringen, wie diejenigen ſind, welche wir jetzo ein Fuͤhlen, Empfinden, Denken und Wollen nennen? Jn welcher Maße iſt das koͤr - perliche Organ der Seele unentbehrlich, nicht nur um wirkliche Denkaktus hervorzubringen, ſondern um ihre Denkvermoͤgen zu behalten? Dieſe Frage wird noch nicht zugleich entſchieden, wenn die Jmmaterialitaͤt der Seele bewieſen iſt; und darauf gruͤndet ſich, was ver - ſchiedene geſagt haben, daß von der Jmmaterialitaͤt der Seele nicht ſehr vieles abhange. Denn wenn es nun auch ausgemacht wird, daß unſer Jch ein unkoͤrperli - ches oder einfaches Weſen iſt: ſo wird es dadurch nur der Zerſtoͤrung entzogen, der es ſonſten als Materie unterworfen ſeyn wuͤrde; aber es wird dadurch ſeineFort -201im Menſchen. Fortdauer als Seele, als fuͤhlendes und denkendes We - ſen, nicht außer Zweifel geſetzet. Und ob man nun jenes wiſſe, wenn man doch das letztere nicht weiß, daran duͤrfe uns, wie einige meinen, wenig gelegen ſeyn. Jch habe es vorher ſchon erinnert, es mag viel oder wenig von einer Wahrheit abhangen, und ſoll man darnach ſo aͤngſtlich fragen: ſo iſt doch eine jedwede ein Schatz fuͤr ſich, den der Denker nicht gleichguͤltig weglaͤßt, wenn er gleich andre noch entbehren muß, die ihm viel angelegentlicher ſind.

Es iſt ſehr leicht zu begreifen, wenn mehrere ein - fache Weſen mit einander vereinigt werden, und in ein - ander wirken, daß dadurch Thaͤtigkeiten und Wirkungs - arten in ihnen erreget werden, die ſie allein fuͤr ſich nicht wuͤrden geaͤußert haben. Aber dergleichen Kraft - aͤußerungen, ob ſie gleich an gewiſſe aͤußere Umſtaͤnde gebunden ſind, ſind doch dermalen abſolute Kraͤfte und Wirkungsarten, die eine objektiviſche Exiſtenz in den Dingen ſelbſt haben. Sie haben zwar ihren Grund, zum Theil wenigſtens, in gewiſſen Beziehungen auf andre Dinge, und haͤngen von dieſen Beziehungen ab, ſie beſtehen nur, ſo lange dieſe dauern, und hoͤren auf, wenn ihre Verbindungen mit andern wegfallen; aber ſie ſind das, was ſie ſind, nicht bloß ſubjektiviſch in andern Dingen, wie die kollektiven Kraͤfte und Vermoͤgen, deren Exiſtenz nur ſubjektiviſch in dem kolligirenden Weſen iſt, das ſich ſolche vorſtellet, oder ihre vereinigten Wirkungen in ſich aufnimmt.

Die Eigenſchaften der Koͤrper und der Kraͤfte, die wir ihnen zuſchreiben, koͤnnen von uns, wenn wir auf die Natur unſerer ſinnlichen Vorſtellungen zuruͤckſehen, fuͤr nichts anders, als fuͤr bloß kollektive Beſchaf - fenheiten und Kraͤfte gehalten werden. Wir em - pfinden nicht einzelne Einheiten, ſondern immer nur ganze Haufen von ihnen auf einmal. Daher ſind wirN 5auch202XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenauch nicht berechtigt, den koͤrperlichen Kraͤften, wie wir uns ſolche in unſern Bildern von ihnen vorſtellen, eine objektiviſche Exiſtenz beyzulegen; es ſey denn, daß wir es aus andern Gruͤnden einſehen, daß eine Kraft des Ganzen mit den einzelnen Kraͤften der einfachen Theile gleichartig und nur in der Groͤße davon unter - ſchieden ſey. So iſt z. B. das Gewicht einer ganzen Maſſe eine Summe von gleichartigen Druckungen jedes kleinſten Atoms der Materie; und wenn ein ganzer Koͤrper mit einer Geſchwindigkeit ſich fortbeweget; ſo muͤſſen wir dieſe letzte Beſchaffenheit in dem Ganzen als eine ſolche anſehen, die auch jeder Partikel und je - dem Element des Koͤrpers fuͤr ſich einzeln genommen zu - kommt. Es verhaͤlt ſich auch die Sache in die - ſen und andern Beyſpielen wirklich ſo, inſofern wir bey der Aufloͤſung des Koͤrpers nicht weiter hinausge - hen, als es in der Naturlehre geſchieht, das iſt, nicht weiter als auf die kleinſten koͤrperlichen Theile, die noch Koͤrper ſind. Aber man nehme einmal an, Leibni - tzens Hypotheſe, daß die Monaden, als die letzten Elemente der Koͤrper, eine vorſtellende Kraft beſitzen, und daß aus den Veraͤnderungen, welche durch dieſe Kraͤfte entſtehen, wenn jene in einem Haufen von Mo - naden zuſammengenommen, auf einmal ſinnlich, ver - wirrt, und von einer Seite vorgeſtellet werden, unſere ſinnliche Jdee von der Bewegung entſpringe, ſey eine richtige Muthmaßung: was wird alsdenn die Bewe - gung, die Geſchwindigkeit und der Druck anders ſeyn, als die Farben und andere Koͤrperbeſchaffenheiten ſind? naͤmlich blos kollektive Beſchaffenheiten, die von den abſoluten, objektiviſchen Kraͤften ſo weit unterſchie - den ſind, als unſere Jdeen von einer Vorſtellung und von einer Bewegung es ſind. Aber das Eigene Leib - nitziſche in dieſer Vermuthung bey Seite geſetzet, ſo iſt doch das Allgemeine außer Zweifel, daß die koͤrperli -chen203im Menſchen. chen Kraͤfte, ſo wie wir ſolche uns vorſtellen, nur blos als etwas ſubjektiviſches angenommen werden duͤrfen.

So verhaͤlt es ſich in den angefuͤhrten Beyſpielen mit der Elaſticitaͤt und mit der Eigenſchaft des Knall - goldes. Es ſind dieß bloß kollektive Beſchaffenhei - ten, die wir nicht weiter in ihre abſolute Beſtandtheile aufloͤſen koͤnnen, und die vor uns das Abſolute ſelbſt ſind. Aber da wir erfahren, daß die ſcheinbaren Kraͤfte der Dinge ſich bey ihnen veraͤndern, je nachdem ſie mit andern Dingen in Verbindung kommen, ohne daß wir glauben koͤnnten, daß dieß nur einer neuen Art der Kollektion der naͤmlichen objektiviſchen Kraͤfte zuzu - ſchreiben ſey, die wir in uns ſelbſt vornehmen koͤnnten: ſo ſchließen wir, daß die Veraͤnderung in dem Schein ihren Grund in der Veraͤnderung der Objekte, und in ih - rer veraͤnderten Verbindung mit andern habe. Das Knallgold wird nur Knallgold dadurch, daß es durch ein gewiſſes Salz aus ſeiner Solution in Koͤnigswaſſer niedergeſchlagen wird, und erhaͤlt dieſe Eigenſchaft nicht, wenn ein anderes Mittel zur Niederſchlagung deſſelben genommen wird. Sie iſt ein neues Vermoͤgen, wel - ches in andern Umſtaͤnden dem Golde fehlet. Dieß neue Vermoͤgen muß alſo der dem Golde beywohnenden Kraft durch die Einwirkung des mit ihm verbundenen Koͤrpers beygebracht worden ſeyn, und dieſe Veraͤnde - rung iſt eine objektiviſche; die neue Eigenſchaft iſt eine neue abſolute Kraft, die aus der Verbindung entſtan - den iſt, und alſo eine abgeleitete Kraft, aber keine Kol - lektion, ſo wie wir ſie naͤmlich kennen. Jedes Element, jeder einfache Theil kann nun auf eine neue Art wirken, auf die er ſonſten nicht gewirket hat. Aber dieſe neuen abgeleiteten Kraͤfte ſind von den bloß kollektiven Kraͤften weit unterſchieden.

6. Das204XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen

6.

Das Reſultat aus dieſen Betrachtungen giebt uns einen Grundſatz, durch den ſchon vieles in dieſer dun - keln Sache ausgemacht iſt, und der dem Materialiſten Eine ſeiner gewoͤhnlichſten Erklaͤrungsarten gaͤnzlich entziehet.

Es ſey naͤmlich die Seele ein Jnbegriff mehrerer Weſen, die zuſammen wirken; und es ſey das, was je - des einfache Weſen fuͤr ſich allein wirket, und was in jedem einzeln genommen vorgeht, wenn das Ganze fuͤhlet, ein Druck zur Bewegung, oder ſonſt ſo et - was, wie die Reaktion eines Koͤrpers; nur ſey es kein Fuͤhlen noch Denken: ſo muͤſſen alle dieſe Aktus, oder die Folgen und Verbindungen von ihnen, zuſammen - laufen und ſich irgendwo in Einem Dinge vereinigen, damit ihre Kollektion ein Fuͤhlen und Denken werden koͤnne. Entweder giebt es alſo außer dieſem zu - ſammengeſetzten Jch noch ein andres Jch, worinnen dieſe Vereinigung vorgehet, wie die Bewegungen der einzelnen Soldaten eines Regiments in dem Zuſchauer, der ſie alle zuſammen ſiehet, vereiniget werden; oder dieſes kollektirende Jch iſt ſelbſt ein Beſtandtheil des geſammten wirkenden Jchs, wenn es nur ein einziges dergleichen giebt; oder es iſt jeder einfache Theil des Ganzen ſelbſt ein ſolches. Das letztere wird viel - leicht von den Gegnern am erſten zugegeben werden; in - dem es ohne dieß ſchon eine Folge iſt, die aus der Ver - einigung mehrerer Subſtanzen zu Einer fließet. Denn ſo weit die Vereinigung geht, ſo weit wird auch jedwe - de Veraͤnderung in jeder, und alſo die ganze Menge von gleichzeitigen Veraͤnderungen in allen, auf jede ein - zelne, ſo zu ſagen, reflektiret, und in ihren Folgen ver - einiget.

Dieſe unmittelbare Folgerung hat die vollkommen - ſte Evidenz. Denn das Fuͤhlen iſt entweder eine ab -ſolute205im |Menſchen. ſolute Aktion der einzelnen Theile, die jedes einzeln fuͤr ſich aͤußert, oder es iſt ein Aggregat derſelben verei - niget in Einem, oder der Jnbegriff von den abſoluten Aktionen durch alle vertheilet. Aber das letzte iſt nichts, als eine Menge von mehrern gleichzeitigen Aeußerun - gen, die, wofern nicht jedwede einzelne fuͤr ſich ein Ge - fuͤhl iſt, auch keine Summe von Gefuͤhlen ausmacht. Denn in dem angenommenen Fall wird die Summe von den einzelnen Aktionen nur zum Gefuͤhl dadurch, daß ſie kollektive genommen werden, das iſt, nur dadurch, daß ſie ihre Wirkungen in Einem Dinge zuſammen - bringen, und in dieſer einen Schein bewirken. Und dieß letztere iſt ſo wenig gedenkbar, ohne daß irgendwo in einem Weſen, als in einem Mittelpunkt, dieſe Kol - lektion vorgehe, daß auch ſelbſt die Folgerung, daß ei - ne dreyſeitige Figur drey Winkel haben muß, nicht evi - denter ſeyn kann.

Wird nun z. B. ein Eindruck von dem vor mir ſte - henden Menſchen auf das fuͤhlende Jch hervorgebracht, ſo mag auf der innern zuſammengeſetzten Seele ein ſol - ches Bild entſtehen, wie auf dem Papier, worauf eine Zeichnung gebracht wird, oder wie das Bild auf der Netzhaut iſt, das ſich auf mehrere Nerven verbreitet. Ein Theil mag den Kopf, ein anderer den Leib, ein dritter die Arme faſſen, und ein vierter die Eindruͤcke von den Fuͤßen aufnehmen. Aber ſollen dieſe Eindruͤcke nun erſt vereiniget das Gefuͤhl und die Vorſtellung des Ganzen ausmachen, ſo muͤſſen jene Theile in der innigſten Verbindung mit einander ſtehen, und jeder ſich jedem mittheilen. Alle Veraͤnderungen in allen Theilen muͤſſen, ſo zu ſagen, in ihren Wirkungen durch einander laufen, und entweder in jedem einzelnen einfachen Weſen ſich vereinigen, oder nur in Einem von ihnen; oder in einem andern Weſen, das zu die - ſem Haufen nicht hingehoͤrt.

Eben -206XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen

Ebendaſſelbige wird erfordert, wenn wir den Aktus des Vergleichens in einem Urtheil betrachten. Die Vorſtellung der einen Sache, welche verglichen wird, iſt eine Modifikation des Ganzen, die aber durch die Ver - einigung entweder in allen und jeden ſubſtanziellen Theilen, oder in Einem einzigen von ihnen, zu einer Vorſtellung wird, wenn ſie es nicht ohne dieß ſchon in jedweder einzeln genommen iſt. Mit der Vorſtellung der zwo - ten Sache verhaͤlt es ſich auf dieſelbige Art. Nun folgt die Vergleichung. Laßt dieſe Aktion auf die Jdeen wiederum eine Aktion des Ganzen ſeyn, ſo ſind entweder die einzelnen Aktionen jedweder Theile Aktus des Ver - gleichens, oder ſie ſind es nur kollektive, inſofern ſie in ihren Folgen und Wirkungen auf ein einfaches ſich ver - einigen, und in dieſem, wenn es ein vorſtellendes We - ſen iſt, den ſubjektiviſchen Schein von dem Aktus des Vergleichens hervorbringen.

7.

Kann man ſagen, daß dieſe Folgerung in andere Worte uͤberſetzet, ſo viel heiße: es ſey jedes einfache Weſen, woraus das angenommene zuſammengeſetz - te Jch beſtehet, ſelbſt ein fuͤhlendes, denkendes und wollendes Weſen, ſelbſt die Seele, ſelbſt ein Jch? Laßt uns zur Maxime nehmen, uns ſo nahe bey der materialiſtiſchen Vorſtellung zu halten, als wir nicht durch die Vernunft davon abgedraͤnget werden, und laßt alſo nicht Einen, ſondern alle fuͤr ſich beſtehende Punkte des Ganzen ſolche Weſen ſeyn, in welchen die heterogenen Aktus von allen vereiniget werden.

Wir koͤnnen alſo jeden einfachen Aktus der Seele von einer zweyfachen Seite betrachten, wenn wir auf alles ſehen, was zu dieſem Aktus gehoͤret; und alsdann koͤn - nen wir dieſe Vorſtellung durch eine andere erlaͤutern, die ſchon bekannter iſt. Wenn ein Regiment Solda -ten207im Menſchen. ten zugleich Feuer giebt, und ein Schall entſtehet, der von jedem einzelnen Menſchen gehoͤrt wird, ſo iſt zwar jeder Soldat fuͤr ſich das hoͤrende Weſen, aber man kann nicht ſagen, daß jeder allein dieſen hoͤrbaren Knall wuͤrde hervorgebracht, und ſich die Empfindung davon verſchafft haben. Jn dieſem Beyſpiel treffen wir zuerſt etwas objektiviſches an, naͤmlich, die Bewe - gungen in der Luft, die auf einmal durch alle Schuͤſſe hervorgebracht werden. Dieſe machen eigentlich das Objekt aus, das kollektive in jedem einzelnen Gehoͤr ge - nommen der ganze Knall iſt, der nur ein ſubjektiviſches Daſeyn in den empfindenden Jndividuen hat.

Kann nicht jedes einfache Gefuͤhl eine ganze Men - ge anderer Aktus in ſich enthalten, die noch keine Ge - fuͤhle ſind, die in Reaktionen des zuſammengeſetzten Seelenweſens auf den Koͤrper beſtehen, und die alſo auch Aktionen des Koͤrpers auf das Seelenweſen voraus - ſetzen? Aber dieſe Aktus vereinigen ſich in jedem ein - fachen Theil des Ganzen. Daher geht ihre Kollektion in jedem einzelnen einfachen Theil vor ſich, und das iſt es, was nun dieſe Seelenaͤußerung zu einem Ge - fuͤhl macht. Allein die letztere Vereinigung kann nicht Statt finden, wenn nicht die ſich vereinigenden Aktus des Ganzen vorhanden ſind, das iſt, wenn nicht alle Theile des Ganzen gewirkt haben.

Nun iſt es zugleich offenbar, da es unter dieſer Vor - ausſetzung mehrere Weſen geben muß, in denen die Kollektionen der geſammten Gefuͤhlsaktus vor ſich gehen, und da jene Kollektion dieſe letztern Aktus erſt zum Gefuͤhl machet, oder doch zu einem Gefuͤhl ſubjekti - viſch betrachtet, zu einem Schein des Gefuͤhls; ſo wuͤr - de es auch eben ſo viele fuͤhlende Weſen geben, als es hoͤrende Soldaten giebt, die den Knall des ganzen Re - giments hoͤren. Es iſt nicht nur ein Haufe von We - ſen vorhanden, die ſolche Gefuͤhlshandlungen her -vor -208XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenvorbringen, und die alsdann, wann wir |empfinden, auf das modificirte Gehirn zuruͤckwirken, ſondern es iſt auch ein Haufe von Weſen da, in welchen dieſe Re - aktionen in ihren Folgen vereiniget werden und in ein Gefuͤhl uͤbergehen. Nur das Ganze zuſammen, nur alle Theile in Verbindung moͤgen das Ding ſeyn, wel - ches die ſich vereinigenden Aktus hervorbringet; aber dieſe Aktus ſind vor ihrer Vereinigung kein Gefuͤhl; das Gefuͤhl iſt nur in jedem einzelnen Theil, da wo die Kollektion geſchieht. Der fuͤhlenden Weſen giebt es alſo ſo viele, als es ſolche kolligirende ſubſtanzielle Einheiten giebt. Fuͤhlen, inſofern es eine Kolligiren anderer uns unbekannter Modifikationen, oder wenn man will, von Bewegungen iſt, muß dennoch ein Aktus einer einfachen Subſtanz ſeyn, ſo wie Ge - wahrnehmen und Wollen. Aber deswegen darf es kein einfacher Aktus ſeyn. Es iſt erlaubt, ſich ſeinen An - fang, ſeine Mitte und ſein Ende als unterſcheidbar vorzuſtellen, und ſogar eine unendliche Mannichfaltig - keit in demſelben anzunehmen; aber es iſt ein Aktus einer einfachen, alles dieſes in Einem, das iſt, in ſich ſelbſt vereinigenden Kraft.

Wird es zugegeben, daß die einzelnen Aktus der einfachen Weſen bey dem Gefuͤhl, ſelbſt ſchon mit dem Gefuͤhl homogene Handlungen ſind, ſo bedarf es keiner weitern Frage, ob es nicht mehrere fuͤhlende Weſen ge - be? Jn dieſer Vorausſetzung wuͤrde das Fuͤhlen eine abſolute Aktion ſeyn, die nicht in einer Kollektion meh - rerer in Einem beſtehet. Alsdann wuͤrde nur noch zu unterſuchen ſeyn, ob alle dieſe einzelnen Gefuͤhlshand - lungen gleichermaßen in jeder einzelnen fuͤhlenden Ein - heit ſich vereinigten, und alſo in jeder ein kollektives Ganzes ausmachten? Aber wenn irgendwo ein ſubjekti - viſcher Schein des ganzen zuſammengeſetzten Gefuͤhls ſeyn ſoll; wenn die einzelnen Gefuͤhlsaktus der Theilevon209im Menſchen. von dem zuſammengeſetzten kollektiven Gefuͤhl, das wir von uns ſelbſt erkennen, unterſchieden ſind: ſo iſt es wiederum außer Zweifel, daß eine Vereinigung aller Gefuͤhle in Einer Subſtanz, oder in jeder geſchehen muͤſſe, die ein Theil des Ganzen iſt. Genug, unſer Gefuͤhl, das, was mein Jch aͤußert, inſofern ichs kenne, iſt das Gefuͤhl eines einfachen Weſens.

Will man dieſe Vorſtellung vertheidigen, daß un - ſer Jch aus mehrern fuͤhlenden Weſen beſtehe, de - ren jedwedes ein Vereinigungspunkt der Veraͤnde - rung im Ganzen iſt: ſo geſtehe ich zwar, ich weiß nichts, womit ich beweiſen koͤnne, daß dieß unmoͤglich ſey. Aber mich deucht, eine Vorausſetzung, die nicht nur gar nichts fuͤr ſich hat, ſondern auch nimmermehr durch einen vernuͤnftigen Grund beſtaͤtigt werden koͤnn - te, wenn ſie wahr waͤre, falle von ſelbſt hinweg. Jn - dem unſer Jch ſich in ſeinen Wirkungen ſelbſt fuͤhlet, ſo wuͤrde in dem Fall, daß mehrere Jchs zugleich und jedes die ganze Menge derſelben erkennte, kein einziges von ihnen es wiſſen koͤnnen, daß andre neben ihm ſind, und neben ihm fuͤhlen und denken. Jſt der Schein von meinem Jch ein Schein von einer Menge, ſo iſt dieſer Schein auch wiederum in jedem Theil dieſer Menge, in jedem einzelnen Jch. Daß ein anderes Ding, als ich ſelbſt bin, naͤmlich ein Koͤrper, an mei - nen Seelenhandlungen Antheil nimmt, und etwas bey - wirket, das kann ich auf dieſelbige Art vermuthen, oder aus Gruͤnden ſchließen, wie der blinde Soldat es wiſ - ſen kann, daß ſeine Flinte es nicht allein ſey, die den großen Knall des ganzen Regimentsſchuſſes hervor - bringt; aber daß es unter den Urſachen, die mit meinem Jch zugleich wirken, noch mehrere ſolche Jchs gebe, da - von kann das Eine Jch nichts wiſſen. Man kann dem Jmmaterialiſten die Widerlegung dieſes Gedan - kens, daß es eine Menge von Jchs in Einem Men -II Theil. Oſchen210XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenſchen gebe, wohl ſchenken. Es iſt zum mindeſten uͤber alle Maßen unwahrſcheinlich, daß es in mir mehr als eine einzige, die Modifikationen der uͤbrigen in ſich kol - lektirende und fuͤhlende, Einheit gebe.

8.

Weiter, als bis zu dieſer Folgerung, daß in dem menſchlichen Seelenweſen, außer dem koͤrperlichen Organ, ein einfaches unkoͤrperliches Weſen, eine wahre ſubſtantielle Einheit vorhanden ſey, welche ei - gentlich das fuͤhlende, denkende und wollende Ding iſt, getraue ich mich nicht fortzugehen. Das Licht, das bis hieher ſcheinet, verliert ſich, wenn man ein mehreres von dem erweiſen will, was ſonſten die Jm - materialiſten zu beweiſen ſuchen. Das bisher erwieſene Reſultat fuͤhret nur auf eine Vorſtellung, die gleichſam zwiſchen der gewoͤhnlichen Vorſtellung der letztern, und zwiſchen der entgegengeſetzten des Materialiſten, in der Mitte lieget. Kann das Jch zu irgend einem Gefuͤhl eines Gegenſtandes gelangen, ohne Beyhuͤlfe des Koͤr - pers? kann das Selbſtgefuͤhl ohne dieſe letztere Statt finden? und iſt unſere Jdee von uns ſelbſt und von un - ſern Seelenaͤußerungen, die wir aus dem Selbſtgefuͤhl erhalten, ein Schein in einer andern Bedeutung, als es unſere Vorſtellungen von den Koͤrpern ſind, obgleich das Objekt von jener Jdee, naͤmlich die Veraͤnderungen und Wirkungen unſers Jchs, Beſchaffenheiten einer einfachen Subſtanz ſind. Jch weiß auf dieſe Frage hier nichts weiter zu antworten, als dieſes:

Wenn ein Eindruck von einem aͤußern Gegenſtan - de auf die Seele faͤllt, ſo mag die Aktion des Gehirns nicht nur dazu noͤthig ſeyn, daß dieſer Eindruck zu der Seele hingebracht wird, ſondern auch dazu, daß die Seele auf ihn zuruͤckwirke, und dann, daß dieſe Ruͤck - wirkung, die eine Reaktion vieler Punkte ſeyn kann, indem211im Menſchen. dem Jch durch die Vereinigung des Mannichfaltigen zum Gefuͤhl werde. Es iſt anderswo*)Zweeter Verſuch. VIII. eine Jdee von dem Gefuͤhl angefuͤhret worden, die beſonders bey den neuern Philoſophen beliebt iſt. Das Fuͤhlen ſoll eine Art von geiſtiger Reaktion der Seele ſeyn. Man koͤnnte durch die letzten Verſuchungen veranlaßt werden zu glauben, daß dieſe Jdee ſehr mangelhaft ſey, und ſo zu ſagen nur die aͤußern Wirkungen von dem Aktus des Gefuͤhls angebe. Denn nicht ſowohl die Reaktion der fuͤhlenden Subſtanz außer ſich auf die ſie umgebende Materie, ſondern vielmehr die Kollektion oder Vereinigung der Folgen, die ſowohl aus dieſen Aktionen des Seelenweſens, als aus der Aktion ande - rer Dinge entſpringen, und in dem Jch zuſammenlau - fen, macht das Weſentliche in dem Aktus des Gefuͤhls aus. Das Gehirn wirket auf die Seele, und die Seele wirket zuruͤck. Nun kann eine Materie vorhanden ſeyn, die das fuͤhlende Jch umgiebt, und mit dieſem zu einer materiellen Subſtanz vereiniget iſt, vielleicht ſogar auf eine von den naͤmlichen Arten, wie auch in den Koͤrpern Monaden mit Monaden zu einer Subſtanz vereiniget ſind. Wenn die Seele aufs Gehirn wirket, oder auf die innern Organe, ſo mag dieß eine Reaktion nicht nur des fuͤhlenden Jchs, des Mittelpunkts von allen, ſondern eine Reaktion des Ganzen, und aller mit dem Jch vereinigten Weſen ſeyn. Wenn es ſich ſo verhielte, ſo wuͤrde nicht ſowohl der Aktus des Fuͤhlens in dieſer vielleicht feinen koͤrperlichen Reaktion auf die Organe beſtehen, ſondern vielmehr in dem Aktus des Vereinigens, da die Folgen aus allen dieſen einzelnen Aktionen in dem Jch, als ihrem Mittelpunkt, zuſam - mengehen und dadurch zum Fuͤhlen werden. Was nun dem Jch widerfahren wuͤrde, wenn die gedachteO 2innere212XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſeninnere Materie aufgeloͤſet wuͤrde, davon es, ſo zu ſagen, die Grundeinheit iſt; ob es alsdenn mehr als das Ver - moͤgen unter aͤhnlichen Umſtaͤnden wiederum fuͤhlend zu werden behalten wuͤrde, kann ich aus den vorherge - henden Schluͤſſen nicht ſo ausmachen, wie es nach der gewoͤhnlichen Vorſtellungsart derer, die das Jch als eine ſubſtanzielle Einheit anſehen, entſchieden ſeyn wuͤrde.

Was endlich die Natur unſers Selbſtgefuͤhls und der Vorſtellungen betrifft, die wir von unſern eigenen Wirkungen haben, ſo koͤnnen ſie, nach den hier ange - ſtellten Raiſonnements, nichts mehr als Schein ſeyn; ſo wie die unmittelbare Beobachtung uns auch nicht be - rechtiget, ſie fuͤr etwas mehr anzuſehen, wie ich vorher (XI, 3.) gezeigt habe. Denn wir empfinden die Aktus unſers Gefuͤhls, und des Denkens, und des Wollens nur in ihren Wirkungen, das iſt, in den Veraͤnderungen und Folgen, die davon in dem geſammten Seelenweſen, das iſt, in einem zuſammengeſetzten Weſen, abhangen. Dieſe Empfindung entſtehet alſo auf eine aͤhnliche Art, wie die Empfindung eines aͤußerlichen koͤrperlichen Ge - genſtandes, von dem eine Jmpreſſion auf die innern Organe vorhanden iſt. Jene iſt eine Empfindung in - nerer Modificationen in der Materie, die aber ihre Ur - ſache, von der ſie abhaͤngt, und auf die ſie als Wirkung bezogen wird, in der Aktion des Jchs, das iſt, eines einfa - chen Weſens, hat, und die auch eine zuſammengeſetzte Aktion des einfachen Jchs ſelbſt ſeyn kann. Man muß zum mindeſten einſehen, daß die Pſychologen es bisher nicht bewieſen haben, daß dieſe Vorſtellung unreimlich ſey. Und wenn das iſt, ſo iſt es auch offenbar, daß die zwote Empfindung von der erſten Empfindung eines aͤußern Objekts, und uͤberhaupt, das Gefuͤhl unſerer eigenen Gemuͤthsbewegungen, unſerer Denkthaͤtigkeiten und unſers Willens, und alſo auch die Vorſtellungen aus dieſen Empfindungen in allen Hinſichten nur Er -ſchei -213im Menſchen. ſcheinungen ſind, die unmittelbar von dem koͤrperli - chen Beſtandtheile der Seele herruͤhren, ſich aber mit - telbar auf die Beſchaffenheiten, Kraͤfte und Vermoͤgen des einfachen Jchs beziehen, und in ſo weit Vorſtellun - gen von dem Einfachen ſind, aber nur verwirrte und re - lative Vorſtellungen. Vielleicht ſetzen kuͤnftige Unter - ſuchungen hieruͤber noch etwas mehr ins Licht.

V. Von dem Sitz der Vorſtellungen.

  • 1) Fernere Fragen uͤber die Natur des See - lenweſens.
  • 2) Jnſonderheit uͤber den Sitz der Vorſtel - lungen. Verſchiedene Hypotheſen daruͤber.

1.

Die bisher erwogenen zween Grundſaͤtze zeigen uns zwo Seiten von der Seelennatur des Menſchen. Jn jeder Empfindung, Vorſtellung und ſo ferner, iſt eine Seelenbeſchaffenheit in unſerm Jch enthalten, eine gewiſſe Modifikation, Beſtimmung oder Ein - ſchraͤnkung dieſer Kraft, oder wie man ſie nennen und unter welcher Metapher man ſie ſich vorſtellen will. Auf der andern Seite iſt eine Organsveraͤnderung da, und beide ſind zuſammen.

Will man nun tiefer in das Jnnere der Seele hinein, ſo werden wir freylich bald auf eine Menge von Fragen ſtoßen; aber, wie ich fuͤrchte, wenig beſtimmte Antworten aus der Erfahrung darauf erhalten. Zuerſt die gewoͤhnlichen uͤber die ſogenannten pſychologiſchen Syſteme.

Jſt zwiſchen der Seelenbeſchaffenheit (idea intelle - ctualis) und der ihr zugehoͤrigen Modifikation des Ge - hirns, oder materiellen Jdee, eine wahre urſachlicheO 3Ver -214XIII. Verſuch. Ueber das SeelenweſenVerbindung? bringet jene dieſe, oder dieſe jene, wie eine Urſache ihre Wirkung, hervor? Oder iſt nichts mehr als eine harmoniſche Geſellſchaft zwiſchen ihnen? Nichts als ein beſtaͤndiges Zuſammentreffen der Einen mit der andern, wie zwiſchen zwo Uhren, oder zwiſchen zwo Perſonen, die alle Markttage in Einer Stadt, in Einem Gaſthofe und in Einem Zimmer, zu Einer Ta - gesſtunde, ohne vorhergenommene Abrede, zuſammen kommen?

Und wenn es ſich alſo verhaͤlt, iſt es denn ſo, wie Leibnitz es ſich vorſtellte? bringet die Seele ihre eige - nen, und das organiſirte Gehirn auch die ſeinigen, durch ſeine eignen Kraͤfte hervor?

Oder wirket Gott unmittelbar in beiden alles, wie Malebranche es meinte, nach dem Syſtem der durch - gaͤngigen Aſſiſtenz.

Oder wirket Gott nur einige Seelenbeſchaffenheiten unmittelbar, ihre paſſiven Modifikationen naͤmlich, oder ihre Gefuͤhle; und nur einige in dem Koͤrper, die - jenigen Bewegungen naͤmlich, welche ſonſten der Thaͤ - tigkeit der Seele zugeſchrieben werden? So iſt es nach dem Syſtem der gelegentlichen Urſachen oder der gelegentlichen Aſſiſtenz. Gott wirket naͤmlich ſo viel, als zur Erhaltung der allgemeinen Harmonie erfodert wird. Malebranche entzog der Seele alle Kraft, alle Selbſtthaͤtigkeit, und dem Koͤrper gleichfalls. Dieß Syſtem war von der Leibnitziſchen Harmonie nur allein darinn unterſchieden, daß es die wirkende Urſache in Gott, Leibnitz aber in der Seele und in dem Koͤrper ſelbſt, ſetzte. Aber dieß war die Meinung des Des Car - tes und der Vertheidiger der gelegentlichen Aſſiſtenz nicht; welche letztere Hypotheſe ganz andere Folgen hat, als jene, ob ſie gleich von einigen Philoſophen mit jener verwechſelt worden iſt. Denn nach der letztern waren es nur die paſſiven Veraͤnderungen, die Gott unmittel -bar215im Menſchen. bar bewirkte, und die nach der gewoͤhnlichen Meinung ihr, wenn ſie empfindet, von dem Koͤrper beygebracht werden. Nun aber konnte ſie ſelbſt dieſe Empfindungen bearbeiten, und ſich ſelbſt zur Aktion beſtimmen, und hatte alſo ihr eigenes Werk. Und wenn mit dieſer Seelenthaͤtigkeit in dem Gehirn eine harmoniſche Be - wegung vergeſellſchaftet iſt, ſo war die letztere wiederum eine Wirkung von Gott, von welcher neue Bewegungen entſtehen, dem Mechaniſmus des Koͤrpers gemaͤß, die ihren Grund in dem Koͤrper ſelbſt und in ſeinen organi - ſchen Kraͤften haben, und wiederum neue Empfin - dungen in der Seele veranlaſſen. Die Seele ſowohl als der Koͤrper behielten ihre Spontaneitaͤt, deren ſie in dem Syſtem der Aſſiſtenz gaͤnzlich beraubet wurden.

Jch erwaͤhne dieſer Fragen hier nicht, um mich auf ſie weiter einzulaſſen, da ſie ſo ſehr durchgemuthmaßet, durchvernuͤnftelt und durchgedacht ſind, daß man dieß Feld fuͤr ganz ausgebaut anſehen kann, das vielleicht ein halbes Jahrhundert wieder brach liegen muß, ehe ſich von einer neuen Kultur deſſelben etwas erhebliches erwarten laͤßt. Das gemeine Syſtem, daß die Seele mit dem Koͤrper in einer wahren phyſiſchen Verbindung ſey, iſt das natuͤrliche Syſtem des Menſchenverſtandes. Nach allen Unterſuchungen hat ſichs gewieſen, daß die Schwierigkeiten bey demſelben, die man als die Gruͤn - de vorwandte, warum es noͤthig ſey, ſich um eine an - dre Vorſtellungsart zu bekuͤmmern, am Ende ſich in einen Mangel an deutlichen Begriffen uͤber die urſachli - che Verknuͤpfung aufloͤſen, und in eine Unbekanntſchaft mit dem Jnnern der Natur, welche in jeder andern Hy - potheſe nicht geringer iſt. Aber es hat ſich kein einziger Grund gefunden, der uns noͤthigte, in das gemeine Raiſonnement des Verſtandes ein Mißtrauen zu ſetzen, ob es gleich auf nur wahrſcheinlichen Grundſaͤtzen beruhet, die das Gegentheil nicht voͤllig wie eine UnmoͤglichkeitO 4aus -216XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenausſchließen. Dagegen haben die uͤbrigen Syſteme nichts fuͤr ſich, als bloß ihre innere Moͤglichkeit, die wenigſtens bisher noch nicht widerlegt worden iſt. Aber wie viel bedeuten Hypotheſen und Meinungen von der Einrichtung der Natur, die nichts weiter fuͤr ſich haben, als daß vielleicht die Sache ſo ſeyn koͤnne, wie man ſich ſie vorſtellet, ohne daß naͤhere Anzeigen vorhanden ſind, welche ihnen eine Wahrſcheinlichkeit geben? Mei - ne Abſicht iſt hier nur, die Beziehung zu bemerken, in der dieſe ſogenannten pſychologiſchen Syſteme mit einer andern Unterſuchung uͤber den Sitz der Vorſtellun - gen ſtehen, die unter den Philoſophen nicht ſo alt iſt, daß ſie nicht noch etwas von dem Glanze der Neuheit an ſich habe, und noch weniger von allen ihren Seiten bisher erwogen iſt.

Jſt naͤmlich die Leibnitziſche Harmonie oder die Aſ - ſiſtenz das wahre Syſtem, ſo faͤllt die Frage: in wel - chem Theile unſerer ganzen Seelenweſen ſich die Vor - ſtellungen befinden, das iſt, die wiedererweckbaren Spuren ehemaliger Empfindungen, von ſelbſt weg. Nach Leibnitz, Malebranche und Des Cartes verſtehet es ſich von ſelbſt, daß die Vorſtellungen ſowohl als die Empfindungen Seelenbeſchaffenheiten ſind, und in der Seele, als in ihrem Subjekt, ihren Sitz haben. Denn nicht nur die Modifikation, welche die Empfin - dung ausmacht, iſt in der Seele, ſondern hier iſt es auch, wo die Spur davon zuruͤckbleibet, und wieder erwecket wird. Nun bleibt es zwar noch unbeſtimmt, ob nicht auch in dem Gehirn ſich etwas aͤhnliches eraͤugne; ob nicht die Veraͤnderung in der organiſirten Maſſe, wel - che in der Empfindung entſtehet, auch in dem Organ eine Spur hinterlaſſe, welche durch koͤrperliche Urſachen, ſie moͤgen in dem Gehirn ſelbſt ſeyn, oder von außen auf daſſelbige wirken, wieder erneuert werden koͤnne? oder ob das Gehirn wie ein fluͤſſiges Weſen ſich ver -haͤlt,217im Menſchen. haͤlt, welches die harmoniſchen Bewegungen nur allein aufnimmt, ohne ſie in ſich beſtehen zu laſſen, oder eine Spur davon zu behalten? Allein wie ſich auch der Har - moniſt, oder der Vertheidiger der Aſſiſtenz daruͤber er - klaͤren mag, ſo hat er doch uͤber den weſentlichen Punkt, naͤmlich uͤber die Exiſtenz der intellektuellen Jdee in der Seele, ſchon entſchieden. Zum mindeſten iſt es ſo bey der Leibnitziſchen Harmonie. Denn die Carteſiſche und Malebranchiſche Hypotheſe koͤnnte noch ſo raffinirt werden, daß ſie den unterſchiedenen Meinungen uͤber den Sitz der Vorſtellungen angepaßt wuͤrde.

Allein wenn das Syſtem der urſachlichen Verknuͤ - pfung zwiſchen dem immateriellen Jch, und zwiſchen dem Koͤrper vorausgeſetzet wird: ſo iſt allerdings die letzte Frage uͤber den Sitz der Vorſtellungen als eine der Hauptfragen anzuſehen, wenn man uͤber die Natur der Seele philoſophiren will. Da nun der Jnſtinkt den Philoſophen ſowohl als den Nichtphiloſophen unauf hoͤr - lich anlieget, ſich fuͤr dieſe Meinung zu erklaͤren, und die Vernunft nach der ſchaͤrfſten Aufloͤſung der Begriffe nichts dagegen zu ſagen hat, ſondern vielmehr beyſtim - met, ſo iſt es endlich unter den neuern Philoſophen ſo gut als ausgemacht angenommen, daß ſie die wahre Vorſtellung von der Union ſey, und dadurch iſt zugleich die Unterſuchung uͤber das Subjekt der Vorſtellungen außerordentlich intereſſant geworden. Gluͤcklich, wenn es, wie mans glaubet, wahr iſt, daß hier eine Stelle gefunden ſey, wo ſich der Schleyer der Natur auf he - ben laͤßt; ich fuͤrchte, unter dem Schleyer ſey ſie noch mit einem dichten Mantel bedecket.

2.

Jch ſehe den Mond und empfinde ihn. Es iſt ei - ne Modifikation in der Seele vorhanden, und eine gleichzeitige Veraͤnderung im Gehirn.

O 5Jch218XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen

Jch habe jetzo, da ich den Mond zwar nicht ſehe, aber an ihn denke, eine Vorſtellung von ihm. Es iſt alſo wiederum eine Modifikation meines Jchs vorhan - den, eine Beſtimmung oder Einſchraͤnkung der Seelen - kraft, und eine gleichzeitige Modifikation in meinem Gehirn. Die Seele iſt alſo ein Ding, worinn etwas iſt, als eine Beſchaffenheit in einem Subjekt. Aber hievon iſt eigentlich die Frage nicht.

Die Empfindung hinterlaͤßt eine Spur, auch wenn ſie bis dahin voruͤbergehet, daß ich von ihr nichts mehr weiß. Worinn dieſe Spur beſtehe, weiß ich nicht. Vielleicht iſt es die naͤmliche oder doch eine gleichartige Modifikation, wie die Empfindung ſelbſt war, nur ge - ſchwaͤcht, in ſich zuſammengezogen, eingewickelt, ſo daß ſie nicht mehr als gegenwaͤrtig vorhanden gewahr - genommen werden kann; aber doch ſo, daß ſie, ohne eine neue Jmpreſſion von dem aͤußern Objekt, wiederum verſtaͤrket, ausgebreitet, entfaltet, und dann als ein mir gegenwaͤrtiges Phantasma gewahrgenommen werden kann.

Vielleicht iſt es ſo etwas, als man ſich unter dem Beſtreben oder unter der Tendenz einer Kraft, ſich in einen gewiſſen Zuſtand zu verſetzen, vorbildet. Aber was es auch ſey, ſo hat es die Folge, daß eine gewiſſe Leichtigkeit in uns vorhanden iſt eine gewiſſe, der ehemaligen Empfindung aͤhnliche Modifikation anzuneh - men, oder in einen aͤhnlichen Zuſtand verſetzet zu wer - den, welche Diſpoſition vorher nicht da war, ſondern aus der Empfindung entſtanden iſt. Solche Leich - tigkeiten oder eigentlich die Beſchaffenheiten, welche der Grund von ihnen ſind, machen die ruhenden Vor - ſtellungen in dem Gedaͤchtniſſe aus; und ſolche ſind in uns vorhanden, auch wenn wir ſie nicht ge - brauchen.

Wo219im Menſchen.

Wo ſind dieſe Beſchaffenheiten, dieſe ruhenden, wieder erweckbaren Spuren ehemaliger Empfindungen? Sind es gewiſſe Beſchaffenheiten der Seelenkraft, Mo - difikationen von unſerm Jch? Wenn ſie wirklich re - produciret werden, ſo ſind Seelenbeſchaffenheiten vor - handen, und Gehirnsveraͤnderungen. Dieß letztere iſt nicht zweifelhaft, aber von jenem iſt die Frage naͤm - lich davon: welches das Subjekt der zuruͤckgebliebenen Spuren oder der Sitz der Leichtigkeiten ſey, den Zu - ſtand der Empfindungen auf eine gewiſſe Weiſe zu er - neuern?

Wenn jene bleibende Spuren nur allein in dem koͤrperlichen Organ der Seele vorhanden ſind, ſo wird die Empfindung dennoch eine wahre Modifikation der Seele und des Gehirns zugleich ſeyn. Die wieder - erweckte Vorſtellung iſt in der Seele ſelbſt ein wieder zuruͤckkehrender ehemaliger Zuſtand, eine nochmalige matte Empfindung oder ein ſchwaches Bild von ihr. Aber wenn die Seele nun leichter in dieſen Zuſtand ver - ſetzet werden kann, ſo mag dieß vielleicht daher kom - men, weil das Gehirn die dazu gehoͤrige, materielle Jdee leichter aufnimmt; nicht aber daher, weil ſie ſelbſt in ſich ſo eine Diſpoſition erhalten hatte. Jn dieſem Fall wuͤrde die Reproduktion nicht in der Seele, ſondern in dem Organ geſchehen. Jn jener wuͤrde jedes Phan - tasma ein neuer Zuſtand, eine neue Jmpreſſion ſeyn, aber keine Ausdehnung oder Erweckung deſſen, was ſchon wie im Keim, oder wie ein Funke unter der Aſche, vorher wirklich vorhanden war. Wenn eine ge - trocknete Blaſe, die mit Luft erfuͤllet iſt, jeden Augen - blick durch den Druck der Hand eine andere Geſtalt an - nimmt, aber wieder in ihre erſte Geſtalt ausſpringet, nachdem der Druck aufgehoͤret hat, ſo lege man ihr noch außer der Elaſticitaͤt die Beſchaffenheit bey, daß ſie von jedem ſtarken Druck eine ſolche Lage ihrer Fibernerhalte,220XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenerhalte, die ſie aufgelegt machet, in dieſe Form am leichteſten wieder verſetzet werden zu koͤnnen, und zwar durch ein gewiſſes Schuͤtteln, ohne daß es einer aͤhnli - chen Preſſion mit der Hand beduͤrfe, welche das erſte - mal nothwendig war. Jhre Biegſamkeit, die ſie, zu - gleich mit ihrer Elaſticitaͤt und Feſtigkeit vereiniget, zu dieſem Ende beſitzen muͤßte, wuͤrde ausnehmend groß ſeyn, und groͤßer als wir ſie bey irgend einem Koͤrper antreffen. Aber wenn wir denn der Blaſe dieſe Ei - genſchaften in Gedanken leihen, ſo iſt es begreifllich, daß ſie von jedweder Veraͤnderung ihrer Geſtalt eine Spur, oder eine Leichtigkeit dieſe Figur von neuem an - zunehmen, behalten wuͤrde. So oft ſie ſich bey dieſer Vorausſetzung veraͤndert, ſo oft veraͤndert ſich auch die Figur der innern, in ihr verwahrten fluͤßigen Luft. Denn dieſe aͤndert ihren aͤußern Umfang, wie die Blaſe und mit ihr zugleich, ohne daß dem ohnerachtet in der Luft etwas anzutreffen ſey, ſo mit den bleibenden Spu - ren in der Blaſe zu vergleichen waͤre. Die Luft iſt und bleibet wie das Waſſer, aller Veraͤnderungen ihrer Form in dem Gefaͤße ungeachtet, zu jeder Geſtalt gleichguͤl - tig, und hat fuͤr ſich ſelbſt keine andere, als diejenige, welche ihr von ihrem Gefaͤße gegeben wird. Man kann ihr in der Fiktion noch außer ihrer Elaſticitaͤt, womit ſie gegen die Waͤnde des Gefaͤßes druckt und auswaͤrts treibet, auch Kraͤfte beylegen gewiſſe ge - genwaͤrtige Geſtalten des Gefaͤßes zu erhalten, und ge - wiſſen Abaͤnderungen derſelben zu widerſtehen, ſo daß ſie nicht ganz gleichguͤltig gegen alle iſt; dennoch wird ſie keiner bleibenden Spuren in ſich faͤhig, und bleibet in ihrem Jnnern ſo unbeſtimmt, wie ſie vorher gewe - ſen iſt.

Hier liegt der Mittelpunkt der Sache. Jſt die von der Empfindung in dem Seelenweſen zuruͤckgeblie - bene Spur, eine bleibende Beſchaffenheit derSeele,221im Menſchen. Seele, oder des Organs? Hat das Gedaͤchtniß, dieſes Jdeen aufbewahrende Vermoͤgen, ſeinen Sitz in der Seele oder in dem Gehirn?

Man kann vier Antworten darauf geben:

1) Die Spuren ſollen allein Seelenbeſchaffen - heiten ſeyn. Dieß iſt die erſte und gemeinſte Hy - potheſe von dem Sitz der Vorſtellungen in der Seele.

2) Sie ſollen allein Beſchaffenheiten des Ge - hirns ſeyn. Dieß iſt das Bonnetiſche Syſtem von dem Sitz des Gedaͤchtniſſes im Gehirn.

Oder 3) ſie ſollen Beſchaffenheiten in beiden ſeyn. Die Seele ſoll die Leichtigkeit in ſich haben, auf die vorige Art von neuem modificirt zu werden; und das Gehirn gleichfalls. Jene in der Seele wird alsdenn das weſentlichſte Stuͤck ſolcher ruhenden Vorſtellung ausmachen; wenn dieſe gleich nicht wieder erwecket wer - den kann, ohne daß die Gehirnsbeſchaffenheit zugleich auch erneuert werde. Dieß iſt die dritte Hypotheſe von dem Sitz der Vorſtellungskraft in beiden Theilen des Menſchen. Vielleicht iſt ſie am Ende die wahrſcheinlichſte, weil ſie in der Mitte lieget.

Oder 4) einige im Gedaͤchtniß ruhende Vorſtellungen koͤnnen nur allein Seelenbeſchaffenheiten ſeyn, andere allein Gehirnsbeſchaffenheiten. Vielleicht einige auch Beſchaffenheiten von beiden.

Jrgendwo ſind dieſe Vorſtellungen vorhanden in dem innern Menſchen; in dem beſeelten Organ, oder in der mit dem Organ vereinigten Seele. Dadurch werden wir verſichert, daß doch auf Einer dieſer vor uns liegenden Hoͤhen die Wahrheit ſtehen muͤſſe. Zu welcher fuͤhren uns nun die Beobachtungen hin, oder zu welcher von ihnen bringen ſie uns doch ſo nahe, daß wir es ganz helle ſehen, ſie ſey es, die wir ſuchen? Jch ſage, die Beobachtungen: denn ſonſten habenauch222XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenauch die Metaphyſiker vieles uͤber die Natur der Sub - ſtanzen aus Begriffen raiſonnirt, das, wenn es hier ſicher gebrauchet werden koͤnnte, uns die Dienſte der Teleſkope thun moͤchte. Aber ſo ſcheinet jetzo noch nichts anders uͤbrig zu ſeyn, als daß man ſich auf den langen und zum Theil ungebahnten Weg der Erfahrung zu Fuß begebe, und langſam immer etwas naͤher hinan zu kommen ſuche.

Hiebey muß ich aber noch folgende Anmerkung hin - zuſetzen. Wenn gleich die hier aufgezaͤhlten vier Ver - ſchiedenheiten alle moͤgliche Hypotheſen begreifen, die man uͤber den Sitz des Gedaͤchtniſſes, inſoferne ſolches den Jnbegriff der ruhenden Vorſtellungen ausmachet, erſin - nen kann, ſo ſind ſie es doch nicht alle, die moͤglich ſind, wenn auch zugleich der Sitz der Wiedervorſtellungs - kraft oder des Vermoͤgens zu reproduciren beſtim - met werden ſoll. Die hinterbliebene Spur der Em - pfindung kann in dem Gehirn, und die Kraft ſie wieder zu erwecken, in der Seele, oder umgekehrt, das Ver - moͤgen der Reproduktion in dem Gehirn, und die erweck - bare Spur in der Seele ſeyn. Die Kraft und ihr Objekt koͤnnen in demſelbigen Weſen beyſammen, oder ſie koͤnnen auch getrennet ſeyn. Dieſe moͤgliche Ver - ſchiedenheit iſt alſo noch mit jener zu verbinden; und daher kann jede der obigen vier Hypotheſen, in zwo Nebenhypotheſen auseinander gehen, wie ſich bald erge - ben wird, wenn man in die Unterſuchung der Sache ſelbſt etwas hineingehet. Nun iſt ſchon vorher ange - merket worden, daß unter dem Namen von Vorſtel - lungen nicht jedwede hinterbliebene Spuren verſtan - den werden, ſondern eine ſolche, welche durch innere Urſachen in der Seele auch wieder erwecket werden kann, wenn gleich die Einwirkung der Urſachen fehlet, welche die erſten Jmpreſſionen in der Empfindung hervorbrachte. Es iſt nichts daran gelegen, wenn man den Sitz desGedaͤcht -223im Menſchen. Gedaͤchtniſſes und den Sitz der Vorſtellungen fuͤr einerley haͤlt; aber alsdenn kann der Sitz der Vor - ſtellungen von dem Sitz der Einbildungskraft oder des Wiedererneurungsvermoͤgens verſchieden ſeyn. Jndeſſen, da es hier meine Abſicht nicht iſt, alle Moͤg - lichkeiten durchzugehen, ſondern nur die Wahrſchein - lichkeiten aufzuſuchen, ſo bedarf es auch keine vollſtaͤn - digere Aufzaͤhlung von jenen, und es iſt genug, auf ſie eine allgemeine Ruͤckſicht zu nehmen.

VI. Beurtheilung der erſten Hypotheſe von dem Sitz des Gedaͤchtniſſes in der Seele.

  • 1) Die Erklaͤrungsart bey dieſer Hypotheſe. Jhr zufolge giebt es keinen unmittelbaren Uebergang im Gehirn von einer mate - riellen Jdee zur andern, die mit ihr ver - knuͤpft iſt.
  • 2) Auf welche Art viele Schwierigkeiten, die man dieſer Erklaͤrungsart entgegenſetzet, ge - hoben werden koͤnnen. Wie gewiſſe har - moniſche Bewegungen im Gehirn gegen - waͤrtig ſeyn koͤnnen, ohne daß weder die Seele, noch die ſonſt gewoͤhnliche Jmpreſ - ſion von außen, ſie hervorbringe. Jnglei - chen, wie Jdeen wider den Willen der Seele in ihr und von ihr reproduciret wer - den koͤnnen.
  • 3) Schwierigkeiten, die aus der beobachteten Abhaͤngigkeit des Gedaͤchtniſſes von dem Koͤrper und von koͤrperlichen Urſa -chen224XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenchen entſtehen. Wie dieſe gehoben werden koͤnnen.
  • 4) Merkwuͤrdiger Unterſchied zwiſchen will - kuͤrlichen Vorſtellungen, deren Gegen - wart von einem ſelbſtthaͤtigen Beſtreben der Seele abhaͤngt, und zwiſchen unwill - kuͤrlichen, die ſich uns von ſelbſt darzu - ſtellen ſcheinen.
  • 5) Einwurf, der aus dieſer Verſchiedenheit entſpringet, gegen die Meinung, daß die Wiedervorſtellungskraft allein der Seele zukomme. Wie ſich hierauf antworten laſſe.

1.

Die erſte der gedachten Hypotheſen iſt die gewoͤhnlich - ſte, die man in den Lehrbuͤchern der aͤltern Philo - ſophen als eine nicht zweifelhafte Vorausſetzung an - trifft; oder wenigſtens kommt ihr die gewoͤhnlichſte am naͤchſten, zumal wenn man auf die Anwendung ſieht, die gemeiniglich von ihr gemacht wird. Jn der Seele ſoll das Gedaͤchtniß und der aufbewahrte Vorrath von Vorſtellungen, Jdeen und Gedanken; dagegen in dem Ge - hirn nichts dahin gehoͤriges ſeyn, wenn die Empfindung voruͤber iſt, und die Vorſtellung aufgehoͤret gegenwaͤr - tig uns vorzuſchweben. Da das Gehirn weich, und der Nervenſaft fluͤßig iſt, ſo kann hier vielleicht ſo wenig eine Spur von der vorhergegangenen ſinnlichen Bewe - gung zuruͤckgeblieben ſeyn, als in dem Waſſer die Stelle kenntlich iſt, wo ein Stein hineingeworfen iſt, ſobald die wallende Bewegung auf der Flaͤche ſich wiederum verloren hat, die keine Minute beſtehet.

Wir225im Menſchen.

Wir wollen hiemit auch dieß verbinden, daß nur allein die Seele eine pſychologiſche Reproduktionskraft beſitze. Sie ſoll es ſeyn, welche ihre gehabte Vorſtel - lungen aus ſich wiederum erwecket, die alsdenn in ihr eigentlich nur Wiedervorſtellungen ſind. Die Bewe - gungen im Gehirn, welche zu ihnen gehoͤren, ſind je - desmal neue Bewegungen, obgleich Wiederholungen anderer vorhergegangenen, denen ſie aͤhnlich ſind. Man laſſe zum zweytenmal einen Stein auf der naͤmlichen Stelle ins Waſſer fallen, wenn die Kreiſe, die der erſte machte, nicht mehr ſichtbar ſind; ſo werden aͤhn - liche Kreiſe entſtehen; aber es ſind neue Kreiſe, die eben ſo von dem zweeten fallenden Stein entſtehen, als die erſtern, und keine Beziehung auf jene haben, welche vorhergegangen ſind.

Die Seele reproducirt die Jdeen nach dem Geſetz der Aſſociation: theils nach der Verbindung, die ſie ſchon in dem Gedaͤchtniß haben, theils nach der Aehn - lichkeit unter ſich, und mit dem gegenwaͤrtigen Zuſtand der Seele. Hiebey hat die Seele ſich nicht immer in ihrer Gewalt. Denn dieß Geſetz iſt ein Geſetz ihrer Natur, von dem ſie nicht anders abgehen kann, als in ſo ferne ſie ſelbſt ihren eigenen Zuſtand zu veraͤndern im Stande iſt. Heget ſie alſo Jdeen wider ihren Willen, oder faͤllt ſie auf ſie mit Unmuth alle Augenblicke zuruͤck; iſt ſie von ihnen bezaubert, wie ein Kaninchen von ei - ner Klapperſchlange, das ſich entfernen will, auch ſich wirklich etwas entfernet, aber doch gleich wieder zuruͤck - kehret und, indem es unverwandt dem Verſchlinger in die funkelnden Augen ſiehet, ſich ihm immer mehr naͤ - hert, und endlich zur Beute uͤberlaͤßt; wenn ſo etwas aͤhnliches dem Liebhaber mit der Vorſtellung von ſeiner Geliebten begegnet, und jedem andern mit ſeinem Steckenpferde: ſo folget nicht, daß die Seele von dem Strome des Gehirns getrieben wuͤrde; es folget nur,II Theil. Pdaß226XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſendaß ſie nicht allemal das Vermoͤgen habe, die in ihr feſtgeſetzte Folge von Vorſtellungen ſelbſtthaͤtig abzu - aͤndern.

Ein weſentlicher Charakter dieſer Hypotheſe, der nothwendig aus dem vorhergehenden folget, beſtehet darinn, daß es nur allein in der Seele einen unmit - telbaren Uebergang von einer reproducirten Vor - ſtellung zu der andern giebt. Die intellektuelle Jdee von dem Berge, lieget dicht an der intellektuellen Jdee von dem Thale. Die dazu gehoͤrigen Gehirnsveraͤnde - rungen haben unter ſich unmittelbar keine Verbindung, ſondern ſind nur ſich zur Seite ſtehende Wirkungen Ei - ner Urſache. Die materielle Jdee von dem Berge im Gehirn, oder die Gehirnsveraͤnderung wird durch die intellektuelle Vorſtellung in der Seele hervorgebracht, und die zwote von dem Thale iſt in dem Gehirn mit der zwoten Jdee von dem Thale in der Seele verbun - den. Dieſe beiden Gehirnsbewegungen folgten in der Empfindung auf einander, als das Auge von dem Ber - ge zum Thale ſich hinwandte; aber ſie haben dennoch in der Reproduktion keine ſolche Beziehung auf einan - der, daß die erſtere Oſcillation im Gehirn die letztere unmittelbar erwecken koͤnne. Folglich kann keine Ge - hirnsveraͤnderung wieder zuruͤckkehren, woferne nicht entweder von außen die naͤmliche Urſache einen Ein - druck machet, oder nicht von innen die Seelenkraft auf die naͤmliche oder auf eine aͤhnliche Art dieſelbige Fiber in Bewegung ſetzet.

Entweder die naͤmliche oder doch eine aͤhnliche aͤußere Urſache kann die naͤmliche, oder doch eine aͤhnliche, Gehirnsbewegung hervorbringen. Aeußere Urſache iſt hier aber eine jede, die, wenn ſie gleich in - nerhalb des Umfangs des Koͤrpers iſt, doch außer der Seele und außer ihrem innern Organ ſich befindet, wie z. B. Funken herausfahren, wenn das Auge ſtark ge -ſtoßen227im Menſchen. ſtoßen oder geſchlagen wird. Es entſtehen alſo mate - rielle Jdeen von Licht und Feuer, ohne daß ein Feuer außer den Augen vorhanden ſey. Das naͤmliche wird durch eine Menge von optiſchen Erſcheinungen, be - ſonders durch die ſo genannten zufaͤlligen Farben, oder veraͤnderlichen Scheinfarben, die in uns ent - ſtehen, ohne daß aͤußere Gegenſtaͤnde vor uns ſind, wo - durch auf die gewoͤhnliche Weiſe die materiellen Bilder von ſolchen Farben erreget werden koͤnnten, beſtaͤtiget. Wir haben alſo ſinnliche Bewegungen im Gehirn, wel - che zu gewiſſen Jdeen in der Seele gehoͤren, und in dem Gehirn hervorgebracht werden, ohne daß die ge - woͤhnliche Jmpreſſion von außen vorhanden ſey. Und auch iſt es die Seele nicht, welche ſie hervorbringet.

2.

Jn dieſem Erfahrungsſatz, daß gewiſſe ſinnliche Bewegungen im Gehirn durch mehr als Eine Urſache entſtehen koͤnnen, obgleich zwiſchen dieſen Urſachen we - nig Aehnlichkeit zu ſeyn ſcheinet, hat man einen Ge - meinort, aus dem ſich eine Menge von Erklaͤrungen herholen laſſen, wenn der Vertheidiger der gemeinen Hypotheſe Schwierigkeiten aufloͤſen ſoll, die ihm aus gewiſſen Faktis entgegengeſetzt werden. Denn da es Eindruͤcke im Gehirn giebt, wovon man vielleicht glau - ben kann, daß ſie durch die Thaͤtigkeit der Seele be - wirket werden, und die doch auch von einer Reproduk - tionskraft des Gehirns nicht entſtehen koͤnnen, weil das Gehirn dergleichen nicht beſitzet, ſo muͤſſen ſie jedesmal, wenn ſie vorhanden ſind, aͤußerliche Urſachen haben, wovon ſie herruͤhren. Sind nun die gewoͤhnlichen nicht da, ſo koͤnnen es andere ſeyn, die jenen zwar in man - chen Hinſichten unaͤhnlich ſind, aber doch unter gewiſ - ſen Umſtaͤnden aͤhnliche Bewegungen im Gehirn her - vorbringen.

P 2So228XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen

So ein anderer Gemeinort iſt in dem ſchon ange - fuͤhrten Satz, den man mit dieſer Hypotheſe verbinden kann, daß naͤmlich die Seele nicht allemal ihre Repro - duktion in ihrer Gewalt habe, und dem Geſetz der Aſ - ſociation auch wider ihren Willen unterworfen ſey. Fraget man z. B. wie Wallungen im Gebluͤt Phanta - ſien veranlaſſen, wie der Wein angenehme Vorſtellun - gen erwecke, und die Hitze des Fiebers Raſerey? wie kann es die Seele ſelbſt thun? ſo laͤßt ſich antworten, ohne daß man dem Gehirn ruhende, materielle Vorſtel - lungen, oder ein Vermoͤgen zu reproduciren einraͤume. Man kann hier nicht annehmen, wie ſonſten in manchen andern Faͤllen, daß die Bewegungen in dem Gebluͤt und in den Saͤften die Urſachen ſind, die ſolche Ein - druͤcke in dem Seelenorgan des Kranken, in ſolcher Menge und ſo ſchnell hervorzaubern koͤnnen, wozu ſon - ſten Jahre erfodert werden, ehe ſie nach und nach aus den Empfindungen geſammlet werden. Es waͤre we - nigſtens außerordentlich unwahrſcheinlich, die Bilder des Jrreredenden im Fieber fuͤr Wirkungen von den Jmpreſſionen der aͤußern Objekte anzuſehen, die gegen - waͤrtig auf das Gehirn wirken ſollten. Jſt es moͤglich, ohne Augen und Ohren zu gebrauchen, daß durch ge - wiſſe innere Bewegungen in dem Gehirn Schwingun - gen entſtehen, die ſonſten nur vermittelſt der offenen Sinnglieder hervorkommen? Dieſe Antwort aus dem erſtern Grundſatz laͤßt ſich hier nicht geben. Die See - le ſelbſt wird ſich auch ja nicht ſo aus ihrer Faſſung ſe - tzen, und ſo unordentlich und verwirrt reproduciren, daß ſie zur andern Zeit ſich dafuͤr ſchaͤmen muͤßte.

Allein aus dem letztern Satze kann man antworten, ohne die Hypotheſe zu verlaſſen. Es bedarf keiner An - lagen im Gehirn aus ehemaligen Empfindungen her, die durch koͤrperliche Urſachen, ohne Zuthun der Seele, erwecket wuͤrden. Alles kann auf die folgende Art zu -gehen.229im Menſchen. gehen. Die Bewegungen in dem Koͤrper, die von dem Wein, von der Hitze, oder von andern Urſachen entſtehen, veranlaſſen Empfindungen in der Seele, weil ſie im Gehirn einen ſinnlichen Eindruck machen, welcher zu ſolchen Empfindungen gehoͤret. Aber die Seele, wenn ſie einmal auf dieſe Empfindungen gebracht iſt, uͤber - laͤßt ſich dem Geſetz der Aſſociation. Der Wein, der des Menſchen Herz erfreuet, erreget zunaͤchſt ein Ge - fuͤhl des Wohlſeyns. Dieß Gefuͤhl giebt der Seele den Ton in ihren Kraftaͤußerungen und Phantaſien; und es werden Jdeen erwecket, die ſich auf dieſen Zu - ſtand beziehen, ſchoͤne Ausſichten, Hoffnungen, Freu - den, nach dem Geſetz der Aſſociation; und dieſe Jdeen in der Seele bringen ihre zugehoͤrigen Gehirnsbeſchaf - fenheiten hervor. Jn andern Leidenſchaften und in der Raſerey iſt die Reihe von Vorſtellungen anders, und ihre Folgen ſind anders; das Spiel in der Seele iſt anders, und folglich auch die Reihe der Gehirnstoͤne. Allein in allen dieſen Faͤllen iſt die Seele der Spieler; nur daß ſie durch einen oder den andern Ton, den eine fremde Urſache hervorbrachte, zuerſt in den Schwung geſetzt worden iſt, bey dem ſie oftmals aus ihrer Faſ - ſung geſetzet wird.

Ueberhaupt wenn es nur auf das Vertheidigen hier ankaͤme, wenn ſich vorausſetzen ließe, die Hypotheſe ſey mehr als eine Hypotheſe, entweder in Faktis voͤl - lig gegruͤndet, oder doch wegen der Menge und Wich - tigkeit der Anzeigen, die fuͤr ſie ſind, uͤberwiegend wahr - ſcheinlich in Vergleichung mit andern, die man ihr zur Seite ſetzen kann; wenn ſich dieſes ſchon annehmen ließe, und es alſo nur darum zu thun waͤre, daß man zeigte, es koͤnnten die ihr entgegengeſtellten Schwierig - keiten gehoben werden, ohne daß ſie ſchlechthin dadurch umgeſtoßen werde: ſo ließe ſich wohl Rath ſchaffen. Moͤchten dann gleich manche Erfahrungen leichter, ein -P 3facher230XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenfacher und naͤher aus einer andern Hypotheſe erklaͤret werden koͤnnen, ſo kann darauf noch kein ſo vielbedeu - tender Einwurf gegruͤndet werden, da wir doch aus manchen Beyſpielen in der Naturlehre wiſſen, daß Er - klaͤrungsarten, die anfangs die einfachſten und leichte - ſten zu ſeyn ſchienen, nachher bey weitem nicht als die richtigſten befunden worden ſind. Die Natur iſt zwar einfach in ihrem Verfahren, aber auch ſo mannichfaltig, daß die verworrenſten Arten zu wirken, ſo wie ſie uns naͤmlich vorkommen, oftmals die ſind, welche ſie liebet. Aber es fehlet noch viel daran, daß es mit unſerer Hy - potheſe ſchon ſo weit gebracht ſey. Jn wie vielen Faktis iſt ſie gegruͤndet, ſo daß nicht fuͤr jede der uͤbrigen eben ſo viele auf die naͤmliche Art angefuͤhrt werden koͤnnten? Wenn ſie alſo an Glaubwuͤrdigkeit etwas voraus hat, ſo ſoll dieſer Vorzug erſt aus den vorzuͤglich leichten und einfachen Erklaͤrungsarten, die aus ihr genommen werden koͤnnen, hervorleuchten. Sie muß alſo an Wahrſcheinlichkeit verlieren, wenn ihre Vertheidiger noch neue Hypotheſen hinzuſetzen muͤſſen, um mit ihr aus - zureichen; noch mehr aber, wenn dieß ſchon noͤthig iſt, um ſie zu erhalten, daß ſie durch Fakta nicht umge - worfen werde.

3.

Zu den vornehmſten Schwierigkeiten, die ſich bey ihr finden, gehoͤret die bekannte Abhaͤngigkeit des Gedaͤchtniſſes von dem Gehirn und dem Koͤrper. Jſt das Gedaͤchtniß, als der Jdeenſitz, allein in der Seele: wie kann die Krankheit ſolches wegnehmen, wo - von man Beyſpiele hat, daß es geſchehen iſt? Wie kann das Alter es ſchwaͤchen? Die Leiden des Koͤrpers bringen Empfindungen in der Seele hervor, und hin - dern ihre Vermoͤgen zu wirken; aber koͤnnen ſie auch die Spuren in dem Jnnern der Seele ausloͤſchen, dieſich231im Menſchen. ſich da aus den Empfindungen her ſchon feſtgeſetzt hat - ten? Koͤnnen ſie dieß nicht, warum werden denn ſo viele Jdeen durch Zufaͤlle entzogen, oder unerweckbar gemacht?

Vielleicht hat die koͤrperliche Urſache die Fibern des Gehirns erſchlaffet oder erſtarret, daß es ihnen nun an der noͤthigen Feſtigkeit oder Beugſamkeit fehlet, die in - nern Eindruͤcke von der Seele her anzunehmen. Jch wuͤrde dieß antworten. Und dann iſt es zugleich be - greiflich, warum die Seele, ob ſie gleich ihre intel - lektuellen Jdeen wieder hervorziehet, ſich auf nichts be - ſinnen koͤnne. Denn wenn ſie dieſe letztern in ſich wie - der erneuert: ſo thut ſie das, was ein Spieler thut, wenn er mit ſeinen Fingern auf die Klaves hin und her faͤhrt, wie er es ſonſten macht, wenn er ſpielet. Es erfolget dennoch kein Ton, wenn die Saiten des Jn - ſtruments geſchlaffet oder zerſprungen ſind. Auf gleiche Weiſe koͤnnte die intellektuelle Jdee wieder hervorkom - men; aber wenn die dazu gehoͤrige Gehirnsveraͤnderung nicht vorhanden iſt: ſo iſt es auch nicht moͤglich, daß die Seele ihre wiedererweckte Vorſtellung empfinden, und von ihr wiſſen koͤnne, daß ſie in ihr ſey. Denn ein Gefuͤhl von einer gegenwaͤrtigen Vorſtellung erfo - dert allemal eine gegenwaͤrtige Gehirnsbewegung, auf welche die Seele zuruͤckwirket, indem ſie die dazu gehoͤ - rige Vorſtellung fuͤhlet.

Genuͤget dieſe Antwort? Menſchen, deren Ge - daͤchtniß in hitzigen Krankheiten vergangen iſt, haben eigentlich am meiſten an dem Jdeenvorrath gelitten, nicht ſo ſehr an dem Gedaͤchtniß ſelbſt, als Vermoͤgen betrachtet, obgleich allerdings auch an dem letztern, zu - weilen mehr, zuweilen weniger. Sonſten findet ſich, wenn ſie wiederum geſund ſind, daß ihr Gedaͤchtniß auch ſeine Dienſte wiederum leiſtet, Modifikationen aufbewahrt und reproducirt. Dieß ſcheinet zu beweiſen,P 4daß232XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſendaß die Gehirnsfibern ihre Receptivitaͤt ſich ſpannen zu laſſen nicht verloren haben, wenn nur Vorſtellungen vorhanden waͤren. Solche Leute muͤſſen von neuem lernen, weil ihr aufgeſammleter Jdeenvorrath dahin iſt. Dieſer Umſtand giebt eine neue Schwierigkeit. Wie iſt dieß zu begreifen, wenn die Jdeen in der Seele ſelbſt uͤbrig geblieben ſind, wie vorher, und das Gehirn uͤber - haupt nichts mehr in ſich hat, noch annehmen kann, als nur die unbeſtimmte Faͤhigkeit, ſich von der Seele modificiren zu laſſen? Sobald dieſe Staͤrke wiederum in den Fibern da iſt, ſollten ſich ja auch zugleich alle vorige Jdeen wieder erneuern laſſen.

Auf dieſe Replik ließe ſich noch wohl dupliciren. Bey einigen beſondern Faͤllen iſt es noͤthig, ſich ſo ge - nau in die Gruͤnde fuͤr und wider eine Hypotheſe ein - zulaſſen, um ihre ganze Staͤrke im Erklaͤren einzuſehen. Aber auch nur in einigen Faͤllen. Denn wenn man Muthmaßungen pruͤfet, ſo iſt es ganz ein anders, als wenn man Wirkungen aus einer bekannten Urſache ab - leiten will. Bey jenem kommt es mehr auf eine allge - meine Ueberſicht aller Anzeigen zuſammen und auf die Uebereinſtimmung der Muthmaßungen mit allen an, als auf die Art dieſer Uebereinſtimmung mit einigen ein - zeln fuͤr ſich betrachtet.

Es laͤßt ſich, wie geſagt, noch einmal auf den letz - ten Einwurf antworten. Koͤnnen nicht die Fibern des Gehirns durch die Krankheit zu ſchlaff geworden ſeyn, um durch die Aktion der Seele von innen die noͤthigen Schwingungen anzunehmen, und durch eine neue An - wendung bey den Empfindungen dieſen Grad ihrer Spannkraft, der ihnen fehlet, nur allmaͤhlig wieder er - halten? Ein Kranker hatte ſeinen Namen vergeſſen; dieſer wird ihm von neuem vorgeſagt, und er behaͤlt ihn nun. Vielleicht war die Fiber zu ſchwach, um die materiellen Jdeen von innen anzunehmen; aber nichtzu233im Menſchen. zu ſchwach, um ſie aus der ſtaͤrkern Jmpreſſion, die von dem aͤußern Schall herkommt, zu erhalten. Und wenn ſie nun zugleich ihre vorige Elaſticitaͤt wieder em - pfaͤngt, ſo iſt ſie in den Stand geſetzt, auch von der zuruͤckgebliebenen Jdee in der Seele modificiret zu wer - den. Die aͤußern Empfindungen muͤßten nach dieſer Erklaͤrung zwar die Elaſticitaͤt oder worinn eigent - lich die Empfaͤnglichkeit des innern Organs beſtehen mag verſtaͤrken, und in ſo weit etwas in dem Or - gan zuruͤcklaſſen. Allein was ſie zuruͤcklaſſen, iſt eine bloße Erhoͤhung der Elaſticitaͤt, welche keine Spuren von beſondern Toͤnen, das iſt, keine materiellen Jdeen ausmacht. Uebrigens kann man bey dieſer Hypotheſe es auch gerne zugeben, daß ſich Vorſtellungen ſelbſt aus der Seele zum Theil und gaͤnzlich verlieren, und daß dieß Vergeſſen in der Seele ſelbſt in die angefuͤhr - ten Erfahrungen einen Einfluß habe.

4.

Es giebt eine Menge von Vorſtellungen in uns, bey denen das Selbſtgefuͤhl es offenbar zu lehren ſcheinet, daß ihre Reproduktion die durchaus keiner aͤußern Urſache zugeſchrieben werden kann auch keine Wir - kung der Seele ſey, ſondern eine bloße Leidenheit, wie die aͤußern Empfindungen, die ihre Urſachen außer der Seele haben. Soll jede reproducirte Vorſtellung als eine Wirkung von der Seelenkraft angeſehen werden, ſo iſt man zuweilen genoͤthiget, auf gut idealiſtiſch oder harmoniſtiſch zu erklaͤren.

Wir kennen den Unterſchied zwiſchen unwillkuͤrli - chen Vorſtellungen, die von ſelbſten ſich uns darzubie - ten ſcheinen, und zwiſchen den willkuͤrlichen, deren Wiedererweckung nicht ohne eine merkliche Anſtrengung unſerer Kraft geſchieht, ſehr gut. Die Empfindung lehret dieſen Unterſchied; und, ohne Ruͤckſicht auf irgendP 5eine234XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſeneine Hypotheſe, iſt ſo viel außer Zweifel, daß die eine Art weniger, als die andere, eine außerordentliche und ſich auszeichnende Thaͤtigkeit unſers Jchs erfodere, ſie mag nun von dem Gehirn, oder von dem Jch, oder von beiden zugleich abhangen. Wir unterſcheiden die Stunden der Arbeit und des geſchaͤfftigen Beſtrebens des Geiſtes, im Vorſtellen und im Nachdenken, von den Stunden der Ruhe und des Genuſſes. Jn jenen iſt die Reproduktion der Vorſtellungen mehr ein Werk von uns ſelbſt; dagegen in den letztern die Phantaſien ſich von ſelbſt darbieten, und uns eine leichte und ab - wechſelnde Unterhaltung verſchaffen. Jn jenen arbeitet die Seele, und die Organe verrichten ihre Dienſte mit Munterkeit; die Vorſtellungen ſind lebhaft, und ſtel - len ſich zu unſerm Dienſte dar, ohne doch ſich laͤnger zu verweilen als wir ſie gebrauchen. Die Seele blei - bet dabey beſinnlich, behaͤlt die Herrſchaft uͤber die Jdeen, und bringet auch das Organ, wenn ſie will, wiederum in Ruhe. Dieß fuͤhlen wir, ſo lange die Staͤrke und Lebhaftigkeit der Jdeen innerhalb einer ge - wiſſen Grenze bleibet, die der Geometer im Nachden - ken, und der Dichter in der Begeiſterung, ja nicht zu uͤberſchreiten hat. Denn ſobald die Vorſtellungen ſo lebhaft werden, daß ſie in der Seele den Meiſter ſpielen, ſo ſind ſie ungelenkbar, und verfolgen uns auch wider ihren Willen. Eine aͤhnliche Graͤnze findet ſich gleich - falls auch auf der andern Seite in unſern Erholungen und vernuͤnftigen Vergnuͤgungen, die nicht in gaͤnzli - cher Unthaͤtigkeit beſtehen. So lange wir innerhalb derſelben ſind, iſt Beſinnung und Beherrſchung der Vor - ſtellungen da; aber weiter herunter entſtehet der Traum und der Schlaf, in welchem die Seele, obgleich aus ei - nem andern Grunde, naͤmlich aus Mangel an innerer Selbſtthaͤtigkeit, eben ſo wenig ſich und ihre Vorſtel - lungen regieren kann.

Es235im Menſchen.

Es verdienet hiebey eine beſondere Bemerkung, daß es ein großes Beduͤrfniß unſrer Seele ſey, daß ſie ununterbrochen fort mit ſolchen unwillkuͤrlichen und lei - dentlichen Vorſtellungen, wie mit Empfindungen, er - fuͤllet ſey. Fehlet es uns auf dem Boden unſerer See - le an Jdeen und Gedanken, die ſich uns darſtellen, und ſich in uns erhalten, ohne daß es der Seele eine be - merkbare Aeußerung koſte ſich ſolche zu verſchaffen, ſo iſt die Munterkeit und Geſundheit und, faſt kann man ſagen, das Leben des Geiſtes dahin. Wenn das ge - ſchwaͤchte Gehirn uns hierinn ſeine Dienſte verſagt und nicht immerfort Bilder zur Beſchaͤfftigung uns vor - haͤlt: auf einen Augenblick naͤmlich einmal ange - nommen, daß das Gehirn ſelbſt ſeine Schwingungen er - neuere: ſo entſtehet ein ungluͤckſeliger Zuſtand in dem Menſchen, wovon ich nicht wuͤnſche, daß meine Leſer anſchaulich aus der Erfahrung ihn kennen moͤgen. Naͤm - lich es entſtehet ſo ein Lebensverdruß, als das weſent - liche Stuͤck in dem Spleen der Englaͤnder ſeyn ſoll. Dieſe Krankheit hat, wie man meint, ihre erſte Urſa - che zwar im Unterleibe, aber ſie verbreitet ſich ins Ge - hirn, und machet das Seelenorgan unfaͤhig, die uns unterhaltenden Vorſtellungen herzugeben, welche die Gegenſtaͤnde und die Nahrung fuͤr die Wirkſamkeit der Seele und fuͤr ihr Leben ſind. Alsdenn entſteht ein ſchreckliches Leeres in uns, das die Seele durch ein Beſtreben Jdeen zu erwecken, oder auch durch Zer - ſtreuungen und neue Empfindungen, auszufuͤllen ſucht; aber ſo, daß ſie zugleich bey dieſen Beſtrebungen ihre Schwaͤche und Ohnmacht fuͤhlet und muthlos wird. Die Bilder erfolgen nicht, oder fallen ſogleich wiederum weg. Es iſt ſehr natuͤrlich, daß daraus ein Unmuth entſpringe, welcher mehr, als ein Verdruß uͤber einzelne unangenehme Zufaͤlle, mehr als ein Gefuͤhl von Schmerzen und Widerwaͤrtigkeit, welches doch dieSeele,236XIII. Verſuch. Ueber das SeelenweſenSeele, ſo lange es nur nicht ganz betaͤubend iſt, in Thaͤ - tigkeit ſetzet und ſie zugleich mit dem begleitenden Ge - fuͤhl ihrer Staͤrke aufrichtet, ſondern ein Ueberdruß des Lebens ſelbſt iſt. Denn das Gefuͤhl der Exi - ſtenz wird widrig, und alſo Vorſtellen und Denken ei - ne Laſt, die, wenn ſie anhaͤlt, die Geiſteskraft zu Bo - den druͤcket.

5.

Aus dieſem Unterſchiede zwiſchen den reproducirten Vorſtellungen kann eine unſrer gegenwaͤrtigen Hypotheſe ungemein nachtheilige Folgerung gezogen werden. Da es in uns eine ununterbrochene Reihe unzaͤhliger Vor - ſtellungen giebt, die nicht von aͤußern Eindruͤcken ent - ſtehen, auch keine innern Empfindungen ſind, weder gewoͤhnliche noch ungewoͤhnliche, weder aͤchte noch un - aͤchte; ſoll man annehmen, daß unſer Jch ſelbſt ſie her - vorbringe: ſo kann man aus eben dieſen Gruͤnden an - nehmen, daß es auch die Eindruͤcke von den Farben hervorbringet, wenn wir ſehen. Denn das Jch iſt, dem Gefuͤhl nach, bey jenen Vorſtellungen nicht mehr ſelbſt - thaͤtig, als bey ſeinen leidentlichen Jmpreſſionen, wenn wir empfinden.

Und kann nicht offenbar der naͤmliche Schluß bey der großen Menge von Jdeen angebracht werden, die uns nicht nur ohne unſern Willen, ſondern auch ge - gen unſern Willen und gegen unſer Beſtreben ſich auf - draͤngen, wieder zuruͤckkehren und uns verfolgen, wie die Schmerzen aus dem Koͤrper? Jn der That finde ich keinen Unterſchied in dem Gefuͤhl meiner Wirkſamkeit bey jenen und bey dieſen. Dennoch ſoll das Jch es ſeyn, was die Vorſtellungen in ſich ſelbſt erweckt, und alsdann erſt die harmoniſchen Gehirnsveraͤnderungen hervorbringet. Wenn das Gehirn ſeine materiellen Jdeen in ſich ſelbſt und aus ſich hervorziehet, und derSeele237im Menſchen. Seele ſie vorhaͤlt: ſo ſcheinet dieſe Reproduktion ſo gut erklaͤrt zu ſeyn, als die Empfindungen, denen ſie von dieſer Seite ſo ſehr aͤhnlich ſind. Laßt uns die Re - produktionskraft, ſo viel naͤmlich zu den paſſiven Vor - ſtellungen erfodert wird, dem Gehirne beylegen, und alſo auch in dieſem die ruͤhrenden materiellen Jdeen an - nehmen: ſo haben wir eine Erklaͤrung dieſer Phaͤnome - ne, die viel natuͤrlicher und leichter iſt, als die gemeine Hypotheſe ſie geben kann.

Aber daß die letztere nun ſchlechthin damit nicht be - ſtehen koͤnne: dieß wuͤrde ich nicht zugeben, wenn ich ihr Vertheidiger ſeyn wollte. Kann die Seele nicht aufgelegt ſeyn, durch ihre natuͤrliche Wirkſamkeit eine Menge von Vorſtellungen in ſich zu unterhalten, wo - fern nur das Gehirn nicht ungeſchickt iſt, ſeine Dienſte zu thun, ohne daß ſie doch dieſe ihre eigenen Beſtrebun - gen beſonders fuͤhlen und gewahrnehmen duͤrfe? Wenn ſie einmal durch Empfindungen in den Stand reger Wirkſamkeit gebracht iſt, ſo mag ſie ſo leicht und ſo unmerklich Jdeen reproduciren, als ein Virtuos auf ſeinem Jnſtrument phantaſiren kann. Dieſer Effekt koſtet zwar Kraft und Thaͤtigkeit, daher ſie auch endlich daruͤber ermuͤdet; aber doch keine ſich ausneh - mende Anſtrengung, die ſie als eine eigene Kraftaͤuße - rung und als ein beſonderes Beſtreben in ihrer ganzen Thaͤtigkeit unterſcheiden muͤßte. Wenn aber das Ge - hirn ſeine Receptivitaͤt dazu verloren hat, dann iſt es nicht zu verwundern, daß ſeine ſinnlichen Bewegungen nicht erfolgen, und daß es alsdenn an dem Gefuͤhl der Vorſtellungen und der Thaͤtigkeit fehle, oder auch, daß dieß Gefuͤhl ſo ſchmerzhaft werde, als die Anſtrengung des Kopfes, wenn das Gehirn durch eine hitzige Krank - heit gelitten hat.

Kann die Seele dieſe oder jene Vorſtellung nicht unterdruͤcken, wie ſie will, ſo kann dieß darinn ſeinenGrund238XIII. Verſuch. Ueber das SeelenweſenGrund haben, weil dieſe mit einer Empfindung ver - knuͤpfet iſt, die von außen her unauf hoͤrlich in uns ver - neuert wird. Das Gebluͤt behaͤlt noch einige Zeit ſeine Wallungen, und der Magen kocht noch etwas fort, wenn gleich der Zorn voruͤber iſt. Jn dieſen Umſtaͤn - den mag die Seele die Vorſtellung von einer empfange - nen Beleidigung einen Augenblick unterdruͤcken; und dieß vermag ſie; aber weil die Bewegungen im Koͤrper noch immer dieſelbigen dunklen Empfindungen wieder er - neuern, die in dem ganzen Affekt enthalten waren: ſo ſtellen ſich auch die Jdeen von dem Beleidiger und von der Beleidigung, die noch eben vorher ſo innig mit jenen Jmpreſſionen aſſociirt waren, nach dem Geſetz der Aſ - ſociation wieder dar, das die Seele nicht auf heben kann. Auf dieſe Art laſſen ſich die obgedachten Beob - achtungen noch erklaͤren; und dann ſteht die Meinung, daß alle Vorſtellungen nur allein in der Seele und von der Seele reproduciret werden, wo auch allein ihr Sitz iſt, noch an derſelbigen Stelle, wo ſie vorhero ſtand.

VII. Von der zwoten Bonnetiſchen Hypotheſe; von dem Sitz der Vorſtellungen im Gehirn, und von dem Vermoͤgen des Gehirns ſie zu reproduciren.

  • 1) Auszug der Bonnetiſchen Analyſis.
  • 2) Pruͤfung dieſer Hypotheſe. Sie hebt |die Freyheit der Seele nicht auf.
  • 3) Pruͤfung des erſten Grundſatzes. Ob es eine allgemeine Eigenſchaft organiſirter Koͤr - per ſey, daß Eindruͤcke auf ſie gewiſſe Diſpo - ſitionen hinterlaſſen, die empfangenen Be - wegungen nachher leichter anzunehmen?

4) Pruͤ -239im Menſchen.

  • 4) Pruͤfung des zweeten Grundſatzes. Ob jede verſchiedene materielle Jdee ihre eigene Fiber erfodere?
  • 5) Pruͤfung dieſes Syſtems, als eine Hypo - theſe betrachtet, aus der die pſychologiſchen Erſcheinungen erklaͤrt werden ſollen. Es hat auf Einer Seite einen Vorzug vor dem vorhergehenden, da es die Abhaͤngigkeit der Jdeen von dem Koͤrper leichter erklaͤrt.
  • 6) Ob irgend eine Vorſtellung ſich jemals gaͤnzlich verliere?
  • 7) Von dem Kindiſchwerden der alten Leute. Wie ſolches nebſt andern aͤhnlichen Wirkun - gen ſowohl nach der erſten Hypotheſe, als nach der Bonnetiſchen, zu erklaͤren ſey?
  • 8) Jn der Bonnetiſchen Hypotheſe iſt eine Luͤ - cke, da die Jmpreſſionen in dem Gehirn ih - re bleibenden Spuren haben ſollen, aber die Jmpreſſionen auf die Seele nicht ſo. Eine aͤhnliche Luͤcke findet ſich auch in der vorher - henden Hypotheſe auf der andern Seite.
  • 9) Beobachtungen, die ſchwerer aus der Bon - netiſchen Hypotheſe erklaͤret werden.

1.

Nun zur zwoten Hypotheſe, welche das ganze Ge - daͤchtniß dem Gehirn oder den innern Seelenor - ganen zuſchreibet! Nach dieſer iſt das Gehirn das Subjekt und der Sitz der Vorſtellungen, dem auch das Vermoͤgen, ſie wieder zu erwecken, eigentlich zukommt. Der240XIII. Verſuch. Ueber das SeelenweſenDer Verfaſſer des bekannten Eſſai de Pſychologie, wovon man nun weiß, daß es Hr. Bonnet nicht iſt, hatte dieſelbige Meinung ſchon vorgetragen; aber Hr. Bonnet hat ſie in ſeinem bekannten Verſuche ſo voͤl - lig ausgebildet, daß ſie wohl den Namen von ihm fuͤh - ren kann. Man muß gleich anfangs geſtehen, wie viel oder wenig man auch dem Fundament und der Fe - ſtigkeit dieſes neuen pſychologiſchen Gebaͤudes zutrauen mag: ſo iſt doch ſeine Form und die Zuſammenfuͤgung ſeiner Theile ein Meiſterſtuͤck der philoſophiſchen Archi - tektonik. Es iſt mit ausnehmender Vorſichtigkeit und mit einer Aufmerkſamkeit von dem vortrefflichen Manne bearbeitet, die beſtaͤndig das Ganze vor ſich hatte, und in ſeinem Jnnern die lichtvolleſte Ordnung erhalten hat, die es in allen ſeinen Theilen leicht uͤberſehen laͤſſet. Jch will zuvoͤrderſt die Grundlage herſetzen.

Der Menſch empfindet. Alsdenn iſt eine Modi - fikation in dem Gehirn vorhanden, eine uns unbekann - te Bewegung in ſeinen Fibern, in ihren feſten oder fluͤſ - ſigen Theilen. Die Seele reagirt auf das Gehirn, und wird dadurch zugleich modificirt; und dieſer ihre Modi - fikation iſt es, was wir das Gefuͤhl, die Empfin - dung, oder die Perception des Objekts nennen.

Hat die Empfindung aufgehoͤrt, ſo iſt voraus - geſetzt, daß ſie einen gewiſſen Grad von Staͤrke und Lebhaftigkeit gehabt habe in der bewegten Fiber des Gehirns eine Veraͤnderung vorgegangen. Dieſe kann nunmehr leichter auf die naͤmliche Art beweget werden; vielleicht hat ſie eine gewiſſe Tendenz ſich ſo zu bewegen bekommen; ſie kann nunmehr faſt durch jedwede Urſache, die ſie etwas ſtark erſchuͤttert, in den vorigen Schwung verſetzet werden, wenn gleich nicht ſo ſtark, als der Eindruck von außen in der Em - pfindung es gethan hatte. Die Fiber beſaß dieſe Diſ - poſition, leichter eine gewiſſe ſinnliche Bewegung an -zuneh -241im Menſchen. zunehmen, vorher nicht, als ſie noch unberuͤhrte Jung - ferfiber (fibre vierge) war. Die aͤußere Empfin - dung mußte ihr ſolche beybringen, entweder dadurch, daß ſie ein Hinderniß ſich auf dieſe Art zu bewegen wegnahm, oder ihr gewiſſe Theile zuſetzte, oder ſie ſtaͤr - ker ſpannte, oder ihren Theilen eine gewiſſe Lage bey - brachte, oder auf welche Art man ſichs am beſten ver - meinet vorſtellen zu koͤnnen. Genug, das Faktum iſt da, und es iſt eine Folge von dem Mechaniſmus des Gehirns. Jn dieſem bleiben die Spuren von den Empfindungen zuruͤck, welche die ruhenden materiellen Jdeen ausmachen.

Zu jeder verſchiedenen Jmpreſſion von außen, aus der eine Vorſtellung eines Objekts entſtehet, ge - hoͤrt auch eine eigene beſondere Fiber. Die naͤm - liche Fiber kann nicht zu zwoen ſinnlichen Bewegungen die naͤhern Diſpoſitionen aufnehmen. Die Leichtigkeit zu der Einen wuͤrde ſich mit der Leichtigkeit zu der an - dern verwirren und in Eine zuſammenfließen; und dann koͤnnten die Vorſtellungen ſolcher Dinge nicht un - terſchiedene Vorſtellungen bleiben. Dieſer Satz und ſeine Folgen machen eigentlich nur eine Nebenbetrach - tung aus, die ſich von den uͤbrigen abſondern laͤßt. Aber Hr. Bonnet haͤlt ſie fuͤr nothwendige Theile des ganzen Syſtems, ohne welche nicht Licht genug darein gebracht werden koͤnne.

Die Seele, ein immaterielles, von dem Koͤr - per und dem Gehirn ganz unterſchiedenes und mit dieſem unvergleichbares Weſen, denn Hr. Bonnet konnte Denken und Bewußtſeyn in dem Koͤrper nicht finden, weil ſeine Hypotheſe unter den uͤbrigen die naͤch - ſte bey dem Materialiſmus iſt; dieſe Seele em - pfindet und wird auf eine gewiſſe Art modificirt, wenn in dem Gehirn die ſinnliche Bewegung, z. B. die Jm - preſſion auf das Werkzeug des Geruchs von der Nelke,II Theil. Qent -242XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenentſtehet. Sie hat eine andere Empfindung, wenn anſtatt der Nelke der Duft aus der Roſe die Nerven ruͤhret. Aber ſobald die Empfindung der Nelke aufge - hoͤrt hat, und nun nichts mehr als eine Leichtigkeit zu der aͤhnlichen Bewegung in den Gehirnsfibern uͤbrig iſt, ſo iſt in der Seele keine Spur mehr davon. Dieſe, als das eigentliche Jch im Menſchen, iſt eine unbeſtimm - te, das Gehirn bewegende, fuͤhlende Kraft, die nur jedes - mal eine ſolche Form hat, als ihr von der gegenwaͤrti - gen Bewegung des Gehirns gegeben wird. Nur als - denn, wenn die ſinnliche Bewegung in dem Organ wie - derum erwecket wird, nimmt auch die Seele die vorige Form wieder an. Die Leibnitziſche Erklaͤrung von der Seele, daß ihr weſentlicher Charakter in der Vorſtel - lungskraft beſtehe, iſt nach dieſem Syſtem die allerun - ſchicklichſte. Der Menſch, das beſeelte Organ, ſtellet ſich die Welt vor; aber die Seele fuͤhlet nur die gegen - waͤrtigen ſinnlichen Bewegungen im Gehirn.

Jn der Seele ſelbſt kann keine Vorſtellung die an - dere unmittelbar wieder erwecken. Jch habe ge - ſtern einen Menſchen neben einem Eſel, und beyde bey einer Quelle, geſehen. Wenn durch irgend eine Urſache die Vorſtellung von dieſem Eſel wieder hervorkommen ſoll: ſo muß im Gehirn die vorige ſinnliche Bewegung erneuert werden; und wenn dieſe Jdee die uͤbrigen ver - geſellſchafteten erwecket: ſo ziehet Eine der Gehirnsbe - wegungen unmittelbar die zwote hervor, die in der Em - pfindung an ſie geknuͤpfet ward; und dieſe erreget die zwote Vorſtellung in der Seele. Darauf gehet das Gehirn von der zwoten zur dritten Bewegung uͤber; und die dritte im Gehirn bringet die dritte in der Seele her - vor. Die Phantaſie, das Vermoͤgen zum Wiedervor - ſtellen, iſt in den Fibern des Gehirns. Jn dieſem lie - gen die Jdeenreihen wie Linien, deren Punkte die ma - teriellen Vorſtellungen ſind. Von jedem dieſer Punktegehet243im Menſchen. gehet zwar aufwaͤrts eine Seitenlinie in der Seele; aber die Vorſtellungen in der Seele ſind nichts, wenn ſie nicht gegenwaͤrtig uns vorſchweben. Daher kann die Seele von der Einen zur Andern nicht uͤbergehen, als vermittelſt der materiellen Jdeen, die im Gehirn in Verbindung ſind. Das Gehirn iſt alſo eine wieder - vorſtellende Maſchine, und die Einbildungskraft nebſt dem Gedaͤchtniß eine Folge der Organiſation.

So lange eine ſinnliche Bewegung in dem Gehirn beſtehet, ſo lange dauert auch die gleichzeitige Jdee in der Seele. Wie aber, wenn die Leichrigkeit zu der naͤmlichen Bewegung, die im Gehirn zuruͤckbleibet, nichts anders waͤre, als eine fortdauernde, wahre, ob - gleich geſchwaͤchte und unbemerkbare Bewegung; wie der Verfaſſer des Eſſai de Pſychologie ſichs vorſtellete, und Hr. Bonnet nicht fuͤr ganz unwahrſcheinlich haͤlt? Wuͤrde denn nicht die entſprechende Seelenbeſchaffenheit und alſo die ruhende Jdee auch in der Seele fort - dauernd ſeyn muͤſſen; und alſo die Seele das Subjekt der Vorſtellungen und der Sitz des Gedaͤchtniſſes ſeyn? Aber man ſieht leicht, daß dadurch das Eigene dieſer Erklaͤrung nicht wegfalle. Denn wenn das Jch auch unaufhoͤrlich ihre Vorſtellungen in ſich behaͤlt, und ſol - che in einer permanenten Spur von der Empfindung beſtehet: ſo kann ihr dennoch das Vermoͤgen fehlen, ei - genmaͤchtig dieſe Spuren in ſich wieder zu entwickeln und bemerkbar zu machen. Dieß Vermoͤgen der Re - produktion wuͤrde noch ausſchließungsweiſe eine Eigen - ſchaft des Organs ſeyn koͤnnen.

So weit gehet der erſte Theil dieſer Pſychologie, der hier am meiſten zur Unterſuchung kommt; aber man muß zugleich auf den zweeten ſehen, worinn der thaͤtige Antheil der Seele an den Vorſtellungen be - ſtimmt wird, um ſie in ihrem ganzen Umfange zu faſ - ſen. Die Seele verhaͤlt ſich bey dieſem Spiel des Ge -Q 2hirns244XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenhirns doch nicht ganz unthaͤtig. Sie beſitzet die Kraft, eine gegenwaͤrtige Vorſtellung zu unterhalten, oder auf eine andere fortzugehen. Dadurch kann ſie ihren gegenwaͤrtigen Zuſtand ſelbſtthaͤtig fortſetzen, wenn ſie die dazu gehoͤrige ſinnliche Gehirnsbewegung unterhaͤlt; und dieß geſchieht, ſo oft wir die Aufmerkſamkeit auf eine Vorſtellung verwenden, oder mit andern Worten, ſo oft die Seele in einem hoͤhern Grade mit ihrer Aktivi - taͤt auf die in Bewegung gebrachte Fiber zuruͤckwirket. Eben ſo kann ſie eine Vorſtellung voruͤbergehen laſſen, wenn ſie ihre Kraft von der bewegten Fiber abziehet, und auf eine andre anwendet.

Es geſchieht das eine oder das andere, je nachdem ihre gegenwaͤrtige Modifikation ihr gefaͤllt oder miß - faͤllt. Dieſe Affektion haͤnget aber von einem gewiſſen Verhaͤltniß zwiſchen der Groͤße der Bewegung und der Beſchaffenhenheit der Fiber ab, welche beweget wird. Jſt das Verhaͤltniß der Bewegung zu der Kraft der Fiber ſo, daß jene dieſer angemeſſen iſt, oder die Fiber weder ſtaͤrker noch ſchwaͤcher erſchuͤttert wird, als die Verbindung ihrer Theile und ihre Nervenkraft es ver - tragen kann, ohne uͤbermaͤßig geſpannt zu werden: ſo iſt ſolch eine Bewegung ihr angemeſſen, und die daraus entſtehende Empfindniß iſt angenehm. Mehr oder Weniger, als dieſes Maß gehet, macht die Bewe - gung unangenehm, und verurſachet entweder Schmer - zen oder Langeweile.

Aber jedwede ſinnliche Bewegung, die durch die Thaͤtigkeit der Seele unterhalten wird, erreget zugleich eine Menge von ſinnlichen Bewegungen in andern Fi - bern; vorausgeſetzt, daß die Leichtigkeiten dazu ih - nen ſchon in vorhergegangenen Empfindungen beyge - bracht ſind, und daß zwiſchen dieſen und jenen mittel - bar oder unmittelbar eine Verbindung nach dem Geſetz der Aſſociation zu Stande gebracht iſt. Daher kannauch245im Menſchen. auch eine ſinnliche Bewegung, die fuͤr ſich ſelbſt gleich - guͤltig iſt, wegen ihrer Verbindung mit andern ange - nehm oder unangenehm ſeyn. Jndem nun aber die Aufmerkſamkeit bey Einer Vorſtellung verweilet, oder zu einer andern uͤbergehet: ſo giebt jenes, wie dieſes, Anlaͤſſe genug zu einer Menge anderer Reproduktionen im Gehirn und zu Vorſtellungen in der Seele, aus de - nen ſie wiederum einige auswaͤhlet und andere zuruͤck - laͤſſet, wie ſie es fuͤr gut befindet.

Die Seele iſt nach dieſer Vorſtellung in Hinſicht auf ihr Gehirn weniger, als ein Spieler in Hinſicht auf ſein Klavier; und das Gehirn iſt mehr bey der Seele, als das Jnſtrument bey dem Spieler. Das Seelenorgan iſt ein Jnſtrument, worauf die aͤußern Gegenſtaͤnde zu ſpielen anfangen, die Toͤne anfangs in den Saiten angeben, und dann die Saiten auf eine ſolche Art ſpannen, daß ſie um ein vieles gegen die naͤm - lichen Toͤne empfindlicher gemacht werden, als ſie es vorhero waren. Und wenn nun dieſes bey allen Saiten geſchehen iſt, ſo ſpielet das Jnſtrument von ſelbſt, ſo bald als einige Saiten durch irgend eine Urſache in Be - wegung gebracht ſind. Die Seele ſitzet in dem Jn - nern dieſes Automatons; und obgleich dieſes keinen Ton hervorbringet, ohne daß jene modificirt wird: ſo thut doch die Seele nichts mehr, als daß ſie das Spiel len - ket, einzelne Toͤne maͤßiget oder verſtaͤrket, nachdem es ihr gefaͤllt, und ſo weit ſie kann. Vielleicht wuͤrde dieſe Beywirkung der Seele zu dem Organ beſſer mit dem Geſchaͤfft eines Steuermanns zu vergleichen ſeyn, der dem Schiffe keine Bewegung mittheilet, aber es fuͤhret und lenket, wenn es von dem Wind und Strom getrieben wird.

Den naͤmlichen Antheil, nicht mehr oder nicht we - niger, hat die Seele auch an den Bewegungen des Koͤrpers, und an der innern Wirkſamkeit, die wirQ 3der246XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſender Seele auf den Koͤrper zuſchreiben. Die Gehirns - fibern, die ſinnlich beweget werden, wenn Vorſtellungen da ſind, haben eine Verbindung mit denen, wodurch die weiter abſtehenden Theile des Koͤrpers in Bewegung ge - ſetzt werden. Dieß iſt die Verbindung der Vorſtel - lungsfibern mit den Thaͤtigkeitsfibern. Jndem alſo die Seele die ſinnlichen Bewegungen der erſtern verſtaͤrket oder ſchwaͤchet, ſo regiert und lenkt ſie auch die Thaͤtigkeitsfibern und ihre Wirkungen. Herr Bon - net haͤtte dieſe Stelle ſeines Syſtems noch mehr ins Helle ſetzen koͤnnen, wenn er die Natur unſerer Jdeen, die wir von den Thaͤtigkeiten und Bewegungen des Koͤrpers haben, genauer unterſuchet haͤtte. Die an - ſchauliche Vorſtellung einer Aktion iſt ſchon ein ſchwacher Anfang zur Bewegung in den Thaͤtigkeitsfi - bern ſelbſt, wie ich anderswo gezeiget habe. *)Zehnter Verſuch II. So oft man ſich lebhaft vorſtellet, wie man den Arm bewege, den Kopf umdrehe, gaͤhne u. ſ. w. ſo iſt ſchon eine An - wandlung in uns da ſolche Bewegungen wirklich vor - zunehmen, und dieſe geht in eine volle Bewegung uͤber, wenn das naͤmliche Beſtreben der Seele fortdauert, und nichts in den Weg kommt, wodurch ihre Kraft anders - wohin gerichtet wird. Hieraus wuͤrde die Folgerung gezogen werden koͤnnen, daß die Verbindung der Aktio - nen mit den Vorſtellungen von derſelbigen Verknuͤpfung der Gehirnsfibern abhange, woraus die Jdeenaſſocia - tion uͤberhaupt entſpringet, ohne daß außer dieſer noch ein eigener Zuſammenhang zwiſchen Denk - und Hand - lungsfaſern angenommen werden duͤrfe.

Dieß iſt die Jdee des Hrn. Bonnets von der menſchlichen Seelennatur. Die Vorſtellung, welche Herr Search und andere Neuere ſich davon machen, ſcheinet im Grunde dieſelbige zu ſeyn; nur iſt ſie vonkei -247im Menſchen. keinem andern ſo deutlich und beſtimmt entwickelt wor - den. Das Gehirn, das innere Seelenorgan, iſt der Sitz der Vorſtellungen, und die Seele ſelbſt eine unbe - ſtimmte Kraft, die in ſich und aus ſich nichts reprodu - ciren kann. Woraus denn folget, daß zwo menſchli - che Seelen ihre Koͤrper umtauſchen koͤnnten, ohne die ihnen widerfahrende Veraͤnderung gewahr zu wer - den; was ſich ſogar auf Thierſeelen erſtrecken muͤßte, die in ein menſchliches Gehirn verſetzet, hier wie Men - ſchenſeelen ſich vorſtellen, denken und handeln wuͤrden, oh - ne zu wiſſen, was ſie vorher geweſen ſind. Denn da jedwede Seele ein mit Vorſtellungen verſehenes Gehirn antreffen wuͤrde, von deſſen ſinnlichen Bewegungen es modificiret wird, und da ſie nicht weniger und nicht mehr, noch auf eine andre Art afficiret werden kann, als ihr Vorgaͤnger in derſelbigen Wohnung es gewor - den waͤre: ſo behaͤlt ſie auch nicht die geringſten Merk - zeichen, woran ſie wiſſen koͤnnte, daß ſie ehedem an - derswo ſich aufgehalten und ſich anders befunden habe. Nach der erſten vorhergepruͤften Hypotheſe iſt dieß un - moͤglich. Wenn mein Jch in ſich ſelbſt die Spuren von ſeinen Empfindungen auf behaͤlt, ſo wuͤrde es ein neues Organ entweder nicht gebrauchen koͤnnen, oder wenn es das koͤnnte, eine neue Reihe von Empfindungen und ein neues Leben anfangen. Koͤnnte es in dieſem Fall ſeine vor - her aufgeſammelten Jdeen reproduciren, ſo wuͤrde es das Neue ſeines Zuſtandes deutlich erkennen. Wenn es aber auch ſolches nicht koͤnnte, und alles Vorhergehen - de gaͤnzlich vergeſſen hatte: ſo wuͤrde es doch in dieſer neuen Lage ſo wirken, wie ein Weſen, das ehemals in einer andern geweſen waͤre, und davon die Folgen empfinden.

2.

Dieſe Bonnetiſche Hypotheſe verdienet um ſo mehr eine etwas genauere Pruͤfung, da ſie durch die Ueber -Q 4ſetzung248XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenſetzung des Eſſai de Pſychologie und des Eſſai analy - tique des Hrn. Bonnets unter uns bekannt geworden iſt, und ſchon unter den Philoſophen ihr Gluͤck zu ma - chen ſcheinet. Sie iſt auch in ſich ſelbſt zuſammenhaͤn - gend, und nicht nur mit Scharfſinnigkeit, ſondern auch mit der dem beruͤhmten Bonnet eigenthuͤmlichen ein - nehmenden Deutlichkeit dargeſtellet, ſo daß es nicht zu verwundern iſt, wenn ſie bey dem großen Schein, den ſie hat, von vielen ſeiner Leſer fuͤr etwas mehr als eine Hypotheſe gehalten wird, wofuͤr ſie doch ihr Lehrer ſelbſt nur ausgegeben hat. Denn Hr. Bonnet geſteht es, daß ſie noch nichts mehr als eine Hypotheſe ſey, welche die Erſcheinungen auf eine ungezwungene Art und voll - ſtaͤndig erklaͤre, aber dadurch mehr nichts als eine große Wahrſcheinlichkeit erhalte. Nur was die erſten Grund - ſaͤtze betrifft, ſo ſieht man ſolche als Erfahrungsſaͤtze an, die auf Beobachtungen beruhen und durch. Beob - achtungen beſtaͤtiget werden. Jn Wahrheit, wenn dieſe mechaniſche Pſychologie wirklich alle diejenigen Vorzuͤge an ſich haͤtte, die Hr. Bonnet ihr beyleget: ſo wuͤrde ich ſelbſt unter diejenigen von ſeinen Leſern ge - hoͤren, welche glauben, der Philoſoph habe nach ſeiner gewoͤhnlichen Beſcheidenheit weniger von ihrem wahren Werthe geſagt, als derjenige, der ſie durchdenket, bey ihr antreffen muß. Jch werde alſo aus mehr als Ei - nem Grunde mich bey ihrer Pruͤfung etwas verweilen.

Um voͤllig gerecht zu ſeyn, will ich ihr zuvoͤrderſt ei - nen Vorwurf abnehmen, der ſie bey ſo vielen anſtoͤßig gemacht hat, naͤmlich, daß ſie die Freyheit der Seele auf hebe. Mit des Hrn. Bonnets Erklaͤrung von der Freyheit kann man freylich nicht zufrieden ſeyn, wenn man dieſe genauer unterſucht hat. Allein was ſein Syſtem betrifft, ſo meine ich, daß es von dieſem Feh - ler befreyet werden koͤnne, wie ſolches auch bey dem Verfaſſer des Eſſai de Pſychologie noch davon wirklichfrey249im Menſchen. frey war. Hr. Bonnet laͤßt zwar die Seele nach Vor - ſtellungen handeln, und nach deutlichen Vorſtellungen; oder eigentlicher zu ſagen, nach ihrem Gefallen oder Mißfallen an den ſinnlichen Bewegungen des Gehirns, und an den Objekten, die dieſe Bewegungen verurſa - chen. Aber er erwaͤhnt nicht einmal der innern Selbſt - macht der Seele uͤber ſich, nach der ſie unter allen be - ſtimmenden Umſtaͤnden entweder anders handeln als ſie wirklich handelt, oder die Handlung unterlaſſen kann; ſondern er tadelt dieß vielmehr an ſeinem Vorgaͤnger, daß dieſer ihr ein Vermoͤgen zugeſchrieben hatte, nach ihrer Willkuͤr eine andere Fiber ſo gut ſpielen zu laſ - ſen, als diejenige, die ſie wirklich ſpielen laͤßt. Die ganze Selbſtthaͤtigkeit der Seele richtet ſich alſo nur nach den ſinnlichen Bewegungen des Gehirns. Denn in dieſen lieget die Urſache von dem Angenehmen und dem Unangenehmen in der Empfindung; und nach die - ſen Gefuͤhlen beſtimmt ſich die Seele, und will, ohne daß ſie im geringſten eine andre Jdee hervorziehen koͤn - ne, als diejenige, die unter denen, welche das Gehirn ihr vorhaͤlt, die gefaͤlligſte iſt.

Nach dem Syſtem ſelbſt kann zwar die Seele kei - ne Jdee durch ihre Selbſtthaͤtigkeit unmittelbar hervor - bringen; aber ſie kann doch auf die gegenwaͤrtige Jdee ihre Aufmerkſamkeit fortſetzen und verſtaͤrken, oder nach - laſſen und abziehen, und es dadurch ausrichten, daß entweder die naͤmliche Gehirnsbewegung fortdauere, oder daß eine andre Fiber mit andern Schwingungen zur Aktion gelange. Alſo iſt es doch eine Wirkung ihrer eigenen Selbſtbeſtimmung, wenn ihre Kraft auf eine Jdee mehr oder weniger verwendet wird. Und da ſelbſt eifrige Jndeterminiſten die Freyheit auf dieſe Selbſtbe - ſtimmung zur Aufmerkſamkeit eingeſchraͤnket haben: ſo kann ſogar die ganze Willkuͤr nach dem Begriff der Jndeterminiſten mit der Hypotheſe verbunden werden. Q 5Die250XIII. Verſuch. Ueber das SeelenweſenDie Jdeen werden unterhalten oder weggeſchafft, je nachdem die Aufmerkſamkeit auf ſie hingewendet oder von ihnen abgezogen wird. Soll dieß geſchehen, ohne einen andern Grund in der Seele zu haben, als weil ſie ſich ſelbſt auf dieſe Art beſtimmt, weil ſie will oder nicht will, oder in der Sprache der Jndeterminiſten, ohne beſtimmenden Grund: ſo heißt dieß, in die Bon - netiſche Sprache uͤberſetzt, ſo viel, daß ſie als die bewe - gende Kraft des Gehirns, ſich zu einer Aktion aufs Gehirn beſtimme, und dadurch eine Veraͤnderung in den ihr vorſchwebenden Vorſtellungen bewirke, und Fi - bern, die auf koͤrperliche Bewegungen hingehen, in Be - wegung bringe, ohne daß etwas vorhanden ſey, war - um ſie auf dieſe Fiber wirke und nicht auf eine andere. Die Seele bleibet ein ſelbſtthaͤtiges Weſen, iſt die ei - gentliche Kraft des Gehirns; und alsdenn kann man ja nur hinzuſetzen, daß ſie ſich zuweilen ohne zureichen - de Gruͤnde auf gewiſſe Bewegungen anwende.

Sehen wir auf den wahren Begriff von der Frey - heit, nach welchem Freyheit ſo viel, als ein Vermoͤgen der erhoͤheten Selbſtthaͤtigkeit iſt, auch noch auf mehre - re und entgegengeſetzte Arten ſich wirkſam zu aͤußern, wenn die Seele auf eine gewiſſe Art thaͤtig iſt: ſo iſt zwar in der Bonnetiſchen Pſychologie nicht abzuſehen, wie Erhoͤhungen der Seelenvermoͤgen, und alſo auch der Selbſtthaͤtigkeit, in der immateriellen Seele oder in dem Jch entſtehen koͤnnten, weil dieſes Jch keine Jdeen ſei - ner Handlungen in ſich zuruͤckbehaͤlt; aber es laſſen ſich doch dergleichen in dem beſeelten Organ gedenken, wenn ſie gleich allein nur auf Entwickelungen der Organe und auf die Diſpoſitionen derſelben, Jdeenreihen zu repro - duciren, hinausgehen. Alſo kann doch auch dieſe letztere Jdee von der Freyheit in die mechaniſche Pſychologie eingeſchaltet werden, ohne daß es noͤthig ſey, dieſer ihre Grundtheile zu verruͤcken.

Auch251im Menſchen.

Auch will ichs ihr nicht vorwerfen, daß ſie einen all - zukuͤnſtlichen Mechanismus im Gehirn erfodere. Vau - cauſſons Floͤtenſpieler, und faſt noch mehr ſein Kanarien - vogel, erlaͤutern die Moͤglichkeit ſolcher Maſchinen. Sie erlaͤutern ſie, ſage ich, denn es iſt allerdings noch im - mer ein weſentlicher Unterſchied zwiſchen allen auch noch ſo kuͤnſtlichen Maſchinen und zwiſchen einem repro - ducirenden Gehirn zuruͤck, den ich gleich weiter eroͤrtern will. Die Leibnitziſche Harmonie verlangte noch viel mehr von dem Mechaniſmus des Koͤrpers; da ſie dieſen alles thun ließ, was zu der Hervorbringung der mate - riellen Jdeen und der Bewegungen gehoͤret, Hr. Bon - net dagegen die Seele dazwiſchen kommen und die Be - wegungen im Koͤrper durch ſie regieren und lenken laͤßt. Und dennoch war der Einwurf, den Bayle ge - gen Leibnitz machte, daß ein ſolcher Mechaniſmus uͤber die Allweisheit Gottes hinausgehe, nichts als ein leeres Wortſpiel. Mit einem Wort, gegen die Moͤglichkeit der Sache weiß ich nichts zu ſagen.

3.

Sie hat aber anderswo zwo Seiten, wo man ihr beykommen kann. Es werden gewiſſe phyſiſche Grund - ſaͤtze angenommen, auf die ihre Moͤglichkeit gebauet iſt. Hier kann man zuerſt fragen, ob dieß wahre Saͤtze, und ob ſie es alle ſind? Sind ſie zur voͤlligen phyſiſchen Ge - wißheit gebracht, die Hr. Bonnet in ihnen vorausſetzet, oder koͤnnen ſie dahin gebracht werden?

Alsdenn ſoll ſie zweytens als Hypotheſe betrachtet, alles begreiflich machen, was wir bey der Seele beob - achten. Und da iſt die zwote große Frage: Ob ſie denn ein ſolcher Gemeinſchluͤſſel ſey, der alles aufſchließet, was er oͤffnen ſoll? Oder ob ſie nicht vielmehr nur zu einigen Erfahrungen paſſe, zu andern nicht? und ob nicht Beobachtungen da ſind, bey denen ſie eben ſo ge -drehet252XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſendrehet werden muͤſſe, um ſie anzuwenden, als das vor - hergehende Syſtem und als jedes andere? Denn wenn dieß iſt, ſo wird es ſchon ſchwer zu glauben, daß es in dem denkenden und handelnden Menſchen wirklich alſo zugehe, als Hr. Bonnet an ſeiner beſeelten Statue es hat vorſtellig machen wollen.

Der erſte und allgemeinſte Grundſatz, auf den Hr. Bonnet bauet, iſt folgender: Jn dem Gehirn ſollen die Jmpreſſionen von außen waͤhrend der Empfin - dung, gewiſſe permanente Beſchaffenheiten, oder Leichtigkeiten auf die naͤmliche ſinnliche Art von neuem beweget zu werden, hervorbringen. Dieſe materiellen Jdeen ſoll das Gehirn vermoͤge ſeiner Or - ganiſation annehmen.

Wenn man behaupten will, daß dieß wahrſchein - lich angenommen werden koͤnne, ſo habe ich kein Be - denken, beyzuſtimmen. Es entſtehen auch in andern Theilen des Koͤrpers, in den Fingern, in den Fuͤßen, in den Augen, und faſt in allen Muskeln dergleichen Leichtigkeiten, oder Diſpoſitionen, wie ſich beſonders alsdenn gewahrnehmen laͤßt, wenn wir uns koͤrperliche Kunſtfertigkeiten zu verſchaffen uns bemuͤhen. Wer an ein anhaltendes Leſen in Buͤchern nicht gewoͤhnt iſt, fuͤhlet anfangs, daß ihm die Augen wehe thun; und wer auf einem Jnſtrumente ſpielen lernet, hat im Anfange, bey einiger Anſtrengung unangenehme Empfindungen. Je - de ungewohnte Arbeit iſt, wie die Erfahrung lehret, ſchwer auch fuͤr den Koͤrper, und wird leicht durch die Uebung. Daher iſt es außer Zweifel, daß die Wie - derholung einerley Art von Handlungen auch in den aͤußern Theilen des organiſirten Koͤrpers eine gewiſſe Geſchwindigkeit hervorbringe, welche ſie aufgelegt macht, auf eine gewiſſe Art und in einer beſondern Fol - ge, leichter beweget zu werden, als ſie es vorhero gewe - ſen ſind. Sollte nun die Analogie nicht etwas aͤhnli -ches253im Menſchen. ches in den innern Faſern des Gehirns vermuthen laſ - ſen, in dem Theile, der von allen organiſchen Kraͤften unſers Koͤrpers die Quelle und der Hauptſitz zu ſeyn ſcheinet?

Ohne Zweifel. Kopfarbeiten verurſachen im An - fange Kopfſchmerzen und andere Uebel, die eine Folge von einem zu ſtarken Reiz des Gehirns ſind; iſt man aber jener gewohnt, ſo verlieren ſich dieſe Empfindun - gen. Hieraus folget doch im Allgemeinen ſo viel, daß die ſinnlichen Bewegungen im Gehirn gewiſſe Diſpo - ſitionen hinterlaſſen, die daſelbſt noch fortdauren, wenn die Bewegungen aufgehoͤret haben.

Vielleicht iſt dieß eine allgemeine Eigenſchaft aller organiſirten Koͤrper, da man ſogar etwas da - von in den muſikaliſchen Jnſtrumenten antrifft, und in den groben Maſchinen, die nichts mehr als Maſchinen ſind. Die Jnſtrumente geben alsdenn erſt die Toͤne am reinſten und am hellſten an, wenn ſie eine Zeitlang gebrauchet und ausgeſpielet worden ſind. Jm Anfange ſind einige Hinderniſſe da, eine gewiſſe Unbiegſamkeit und Rauhigkeit, wodurch ſich die Theile an einander reiben und die Bewegungen gehindert werden, die ſich in der Folge verlieren.

Es iſt zugleich auch begreiflich, daß die Receptivi - taͤt zu ſolchen Fertigkeiten unendlich verſchiedene Grade haben koͤnne. Sie iſt auch wohl nicht in allen Seelen - organen in dem Menſchen von gleicher Groͤße. Das Werkzeug des Geſichts, oder der Theil des Gehirns, wo ſich die Eindruͤcke des Geſichts ablegen, ſcheinet hier - innen, wie bekannt und niehrmalen ſchon erinnert iſt, einen merklichen Vorzug zu haben.

Aber dennoch kann dabey einiger Zweifel entſtehen, ob dieß auch ſo weit gehe, als Hr. Bonnet es zum Grundſatz machet und machen muß; ſo weit naͤmlich, daß jedwede unterſcheidbare ſinnliche Bewegungeine254XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſeneine eigene unvermiſchte Spur hinterlaſſe? ſo weit, daß dieſe Spur zu einer Diſpoſition werde, die naͤmliche Bewegung wieder anzunehmen, ſobald nur eine andere Bewegung in einer andern Fiber vorhanden iſt, die ehedem mit jener verknuͤpfet war, oder doch nur etwas gemeinſchaftliches und aͤhnliches mit ihr hat? Wir kennen die Natur der Organiſation noch zu wenig, als daß ſich ohne Erfahrung daruͤber urtheilen ließe. Hr. Bonnet ſtellet ſich eine gewiſſe wechſelſeitige Einwir - kung zwiſchen den Fibern vor, die zugleich mit einander in Bewegung kommen. Allein dieß heißet eine Hypo - theſe durch eine andere ſtuͤtzen. Jn den Vaucauſſoni - ſchen Maſchinen ſind es jedesmal dieſelbigen oder doch aͤhnliche Urſachen, wovon aͤhnliche Bewegungen gewir - ket werden; welches aber alles nicht hinreichet, die Aſ - ſociation der Jdeen begreiflich zu machen, wodurch Jdeen wiederum erneuert werden, auch wenn keine Ur - ſache von außen wirket, die derjenigen aͤhnlich iſt, wo - durch ſie das erſtemal erreget iſt, wenn nur bloß eine andere erneuert iſt, die mit jener ehedem vergeſellſchaf - tet war. Dazu geſteht man, daß es allein dieſe Ver - bindung ſey, von der die Aſſociation abhange. Herr Bonnet hat ſich ſelbſt in Verlegenheit befunden, dieß aus der bloßen Organiſation begreiflich zu machen.

Enthauptete Thiere und beſonders einige Jnſekten verrichten ohne Kopf und Gehirn, und wie man wohl annehmen kann ohne Seele, Handlungen, die denen aͤhnlich ſind, welche ſie vorher verrichtet ha - ben, da ſie voͤllig lebten. Dieſe Beyſpiele lehren, daß es Bewegungen in dem thieriſchen Koͤrper gebe, die ohne Beywirkung der Seele durch die Nervenkraͤfte erfolgen, obgleich ſonſten gewoͤhnlicher Weiſe das Gehirn und die Seele wenn eine da iſt Antheil daran haben. Sie beweiſen ferner, daß es auch in dem Koͤrper Aſ - ſociationen der Bewegungen gebe, welche ich untengenauer255im Menſchen. genauer zu betrachten Gelegenheit haben werde. Dieß ſind ohne Zweifel Fakta, wodurch die Aſſociation der materiellen Jdeen im Gehirn erlaͤutert wird. Jedoch will ich hier nur zum voraus erinnern, daß, wenn man jene mit dieſer naͤher vergleichet, ſo finde ſich eine ſo weſentliche Verſchiedenheit zwiſchen ihnen, daß es ſelbſt daraus unwahrſcheinlich wird, daß ohne Zuthun der Seele die Jdeenverknuͤpfung in der Phantaſie allein von der Organiſation des Koͤrpers abhangen koͤnne.

4.

Dieſem erſten Grundſatze hat Hr. Bonnet einen zweeten zugefuͤgt, den er mit jenem durch ſein ganzes Syſtem verwebet hat, der ſich aber doch wieder heraus - ziehen laͤßt, ohne daß darum das Syſtem ſelbſt aus - einandergehe. Es ſoll naͤmlich jedwede verſchiedene Jmpreſſion, und jedwede verſchiedene materielle Jdee ihre eigene Fiber haben, worinn ſie ihren Sitz hat. Eine einfache Fiber ſoll nur Eine ſinnli - che Modifikation aufnehmen. Die rothe Farbe ſoll ihre Fiber haben, und dieſe ſoll von der Fiber, die zu der Jdee von der blauen Farbe gehoͤrt, verſchieden ſeyn. Eine andere ſoll fuͤr den Ton der Violine, eine andere fuͤr den Ton der Trompete beſtimmt ſeyn.

Dieß kann nun noch auf eine zweyfache Art beſtim - met werden.

Sollen ſo viele Fibern vorhanden ſeyn, als es ein - zelne zuſammengeſetzte Empfindungen und Jdeen einzelner Dinge giebt, davon jede etwas eigenes an ſich hat? Soll fuͤr jedes einzelne Menſchengeſicht, fuͤr jedes einzelne gruͤne Blatt, ſobald dieſe Gegenſtaͤnde und ihre Jmpreſſionen merklich verſchieden ſind, eine eigene einfache oder zuſammengeſetzte Fiber vorhan - den ſeyn? eine andere fuͤr die Jdee des Purpurrothen, und eine andere fuͤr die Jdee des Gelbrothen, und nocheine256XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſeneine andere fuͤr das Braunrothe? u. ſ. f. Da die naͤm - lichen einfachen Bewegungen in mehrern zuſammenge - ſetzten Jmpreſſionen vorkommen, nur in einer andern Ordnung und in einem andern Verhaͤltniß: ſo kann dennoch jedes unterſcheidbare Ganze ſeinen eigenen Fi - berbuͤſchel haben; und dieß macht die Menge ſolcher be - ſondern Buͤſchel ſo groß, als die Anzahl der einzelnen individuellen Jmpreſſionen iſt.

Aber es kann auch vielleicht genuͤgen, daß die Man - nichfaltigkeit der Fibern ſo groß ſey, als die Mannich - faltigkeit der einfachen Jmpreſſionen. So hat jede Saite in dem Jnſtrument ihren eigenen Ton; aber nicht jedes Stuͤck, was geſpielet wird, hat ſein eigenes Jnſtrument, ſondern die naͤmlichen Saiten werden in einer andern Folge und in andern Verbindungen ge - ruͤhret.

Wenn man das letztere annimmt, ſo darf die Zahl der unterſchiedenen Fibern nicht groͤßer ſeyn, als es Mannichfaltigkeit in den einfachen Empfindungen giebt; und wenn nun dieß wiederum auf die einfach - ſten Elemente der Empfindungen eingeſchraͤnkt wird; wer kann denn ſagen, wie gering ihre Anzahl wohl nicht am Ende nur ſeyn koͤnnte? Denn auf dieſe Art wuͤrden nicht mehr einfache Fibern noͤthig ſeyn, als es ein - fache Grundfarben giebt, aus deren Vermiſchung die uͤbrigen entſtehen; und vielleicht wuͤrde die Zahl von drey Grundfarben, die man annimmt, noch zu groß ſeyn, wenn man ſie noch weiter aufzuloͤſen im Stande waͤre, als man es jetzo iſt.

Dieſe letztere Vorſtellung ſcheinet auf der Einen Seite die Hypotheſe ungemein einfach zu machen; aber auf der andern wird ſie dadurch doch nicht minder zuſam - mengeſetzt. Denn wenn nur ſo wenige Fibern erfodert werden, um die einfachen Toͤne in der Seele anzugeben: ſo muß eine jede auf eine vielfache Art mit jedwederandern257im Menſchen. andern verknuͤpft ſeyn, um die zuſammengeſetzten Jdeen in ſo inniger Vereinigung aller ihrer einfachen Theile, als einzelne Ganze, zu reproduciren. Jn ſo un - zaͤhlig vielen Jdeen die Vorſtellung von der weißen Farbe ein Beſtandtheil iſt, ſo viele Verknuͤpfungen muß die zu ihr gehoͤrige Fiber mit andern haben.

Daher muß man geſtehen, daß ſowohl die letztere Vorſtellung von der Einrichtung des Gehirns, als die erſtere auf etwas Unendliches in der Feinheit, Man - nichfaltigkeit und Verbindung der Fibern hinfuͤhre, worinn unſere Phantaſie ſich verlieret. Wer die Natur kennet, wird zwar hierauf keine Einwendung gruͤnden, da dieß Unuͤberſehbare vielmehr das wahre Gepraͤge von ihr und von der unendlichen Weisheit ihres Urhebers iſt; aber es iſt doch auch gewiß, daß eine ſolche ſchein - bare Unbegreiflichkeit einer Hypotheſe, die noch nichts mehr iſt, als dieſes, nach den Geſetzen unſers Verſtan - des ſie nicht empfehlen koͤnne, zumal wenn ſie nur darum ergriffen wird, um einer andern auszuweichen, der man auch nichts weiter als eine ſolche Unbegreiflich - keit vorzuwerfen hat. Hr. Bonnet hat ſich fuͤr das erſtere erklaͤret, daß naͤmlich jede einzelne verſchiedene Empfindung ihre eigene Fiber habe, von der die materielle Jdee aufgenommen werde; aber er hat noch mehr gethan, er hat es durch ein Raiſonnement aus Gruͤnden zu erweiſen geſucht, daß es ſich auf dieſe Art in dem Gehirn verhalten muͤſſe. Dieſer Beweis ver - dienet eine Pruͤfung. Jch will ſonſten gerne zugeben, daß manche Schwierigkeiten, die ſich beym erſten An - blicke zeigen, nachhero ſich heben laſſen, wenn man die Sache deutlicher entwickelt. Denn da bey ſo vielen ver - ſchiedenen ſinnlichen Jmpreſſionen ohne Zweifel ihre ganze Verſchiedenheit nur auf Grade ankommt, auf eine groͤßere oder geringere Jntenſion des Eindrucks, der ſonſten an und fuͤr ſich derſelbige ſeyn kann: ſo be -II Theil. Rdarf258XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſendarf es fuͤr dieſe Verſchiedenheiten in den Graden auch keiner verſchiedenen Fibern, ſondern es wuͤrde genug ſeyn, wenn die naͤmliche Fiber nur in verſchiedenen Gra - den der Staͤrke ſchwingen kann. Und dadurch koͤnnte die Zahl der beſondern einzelnen Fibern ſchon um ein großes heruntergeſetzet werden. Allein der Beweis, den Hr. Bonnet gefuͤhret hat, iſt entweder nicht rich - tig, oder er wuͤrde, wenn man ihn nur ein wenig aͤn - dert, noch mehr beweiſen und eben ſo gut darthun, daß auch jeder Grad einer Jmpreſſion ihre eigene Fiber erfodere, als daß jede verſchiedene Jmpreſſion derglei - chen haben muß. Und uͤberhaupt, wenn man etwas genauer die Folgen uͤberdenket, die aus dieſem pſycho - logiſchen Fiberſyſtem entſpringen, man mag es, wie man will, auf die eine oder die andere Art erklaͤren: ſo wird man es nicht ſo leicht finden, ſich einen Mecha - niſmus vorzuſtellen, der zu allen unſern Jdeenaſſocia - tionen hinreichet. *)Erſter Verſuch XV.

Der Beweis, den Hr. Bonnet fuͤr ſeinen gedachten Grundſatz gefuͤhret hat, iſt folgender. Eine und die naͤmliche Fiber, ſie mag als einfach angeſehen wer - den! die den Geruch der Roſe aufgenommen hat, kann den Eindruck von dem Geruch der Nelke nicht em - pfangen, ohne daß ihre vorhergegangene Jmpreſſion von der Roſe in dieſen nachfolgenden Eindruck von der Nelke einen Einfluß habe. Denn da die erſte ſinnliche Bewegung von der Roſe eine Leichtigkeit in der Fiber hinterlaſſen hat erneuert zu werden, ſo muß ja, wenn nun die naͤmliche Fiber von der Nelke modificirt wird, jene erſtere mit der letztern wieder hervorkommen. Ei - ne Fiber, die ſchon eine Tendenz oder eine Leichtigkeit zu einer ſinnlichen Bewegung empfangen hat, darf nur auf irgend eine Art ſinnlich beweget werden, und es wird dieihr259im Menſchen. ihr gelaͤufige Bewegung erneuert. Die Empfindung von der Roſe wuͤrde alſo in der Geſtalt eines Phantas - ma reproduciret werden, wenn der Eindruck von der Nelke hinzukommt. Aber alsdenn muͤßten ſich dieſe zwo, zugleich in Einer Fiber vorhandenen, Bewegun - gen mit einander vermiſchen, und in eine mittlere Bewegung zuſammenlaufen, die weder eine Bewe - gung von der Nelke noch von der Roſe iſt, wie das allgemeine Bewegungsgeſetz von der Vereinigung zwoer Seitenbewegungen zu einer dritten Diagonalbewegung, die weder die Eine noch die andere von jenen allein iſt, es mit ſich bringet. Daraus wuͤrde folgen, daß die materielle Jdee von dem Geruch der Nelke nicht abge - ſondert genug von der Vorſtellung, die zu der Roſe ge - hoͤret, erhalten werden koͤnne, ſondern daß aus beiden Jmpreſſionen zuſammen nur Eine vermiſchte Jdee von dem Geruch der Nelke durch den Geruch der Roſe mo - dificirt zuruͤckbleibe, welches doch wider die Erfahrung iſt. Wir haben unterſchiedene Jdeen von beiden, und zwar auf dieſelbige Art, es mag zuerſt die Roſe und dann die Nelke, oder in umgekehrter Ordnung, gero - chen worden ſeyn. Es iſt alſo offenbar, daß jede be - ſondere Empfindung ihre eigene Gehirnsfiber erfodere, die ſie aufnimmt.

Gewiß hat der ſcharfſinnige Mann hier die Grund - ſaͤtze der Mechanik nicht vorſichtig genug angewen - det. Jch will das uͤbergehen, was tiefere Unterſuchun - gen uͤber die Bewegungen geſpannter Saiten gelehret haben. Es iſt kein Zweifel, daß nicht mehrere verſchie - dene Schwingungen zu derſelbigen Zeit in Einer Saite, ohne einander zu ſtoͤren, und ohne auch in Eine ſich zu vermiſchen, vorhanden ſeyn koͤnnten. Wenn alſo die Gehirnsfibern in dieſer Hinſicht mit den Saiten ver - glichen werden koͤnnen: welches doch Hr. BonnetR 2auch260XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenauch zulaͤßt, ohne ſie ſelbſt eben fuͤr ſolche anzuſehen; ſo wuͤrde das, was von jener ihren Bewegungen be - kannt iſt, mehr Gruͤnde als man dazu noͤthig hat an die Hand geben, um zu zeigen, daß Hr. Bonnet unrichtig geſchloſſen habe. Jndeſſen darf man ſo weit nicht gehen, und kann ſich ohne mathematiſche Spe - kulation aus leichten Beyſpielen erklaͤren, daß die Ver - miſchung der Jmpreſſionen in Einer Fiber nicht noth - wendig ſey, wenn ihrer gleich mehrere in derſelbigen Fiber zugleich ſind. Eine Kugel, die auf einer hori - zontalen Flaͤche liegt, hat eine Tendenz, herunter zu fallen, und mit dieſer druͤckt ſie auf die Flaͤche. Hin - dert dieſer Druck in der Vertikallinie, daß ſie nicht von jedweder Kraft in der Horizontalrichtung nach jeder Richtung hin beweget werden koͤnne, und auf dieſelbige Art beweget werden koͤnne, als wenn ſie ganz ohne Ge - wicht in der naͤmlichen Ebene ſich befindet? Wenn nun die materielle Jdee von dem Geruch der Roſe nichts anders iſt, als eine Tendenz, eine gewiſſe ſinnliche Be - wegung anzunehmen, warum ſollte dieſe Tendenz nicht fuͤr ſich beſonders aufbewahret ſeyn koͤnnen, ohne daß ſie einer neuen ſinnlichen Bewegung ein Hinderniß ſetzet? Es muß doch nicht eine jedwede Erſchuͤtterung in der Fiber ohne Unterſchied ihre vorige ſinnliche Bewegung wiederum erwecken koͤnnen, ſonſt muͤßte dieſe letztere beſtaͤndig in ihr erwecket ſeyn, weil kein Theil des Ge - hirns einen Augenblick ohne Bewegung und Druck iſt, und dann wuͤrden wir nicht viele Sachen ganze Jahre durch, ohne an ſie zu gedenken, im Gedaͤchtniß haben koͤnnen. Hr. Bonnet erfodert ſelbſt dazu, daß eine Bewegung die andere reproducire, und daß ſchon eine gewiſſe Kommunikation zwiſchen ihnen zu Stande gekom - men ſey. Warum ſollte alſo ohne Unterſchied jede neue ſinnliche Bewegung in der Fiber die Tendenz zu einer vorhergegangenen wieder erwecken, und dieß bis da -hin,261im Menſchen. hin, daß ſie als eine gegenwaͤrtige Vorſtellung in der Seele erſcheine?

Allein man kann auch gerne zugeben, daß die Jm - preſſion von der Roſe, wenn dieſe empfunden wird, die ehemalige Jmpreſſion von der Nelke erneuere. Jn dieſem Fall wuͤrde doch die letztere auf die erſtere eine ſo ſchwa - che Beziehung haben, als eine Einbildung auf eine Empfindung iſt. Sollte alſo jene dieſe in etwas modi - ficiren, wie eine kleine Seitenbewegung in einem Koͤr - per eine andere ſtaͤrkere abaͤndert, ſo koͤnnte ihr Einfluß doch nicht groͤßer ſeyn, als es ihre eigene Staͤrke er - laubet; und alsdenn moͤchte dieſer Einfluß, wenn die Einbildung von der Roſe nur nicht noch eine wahre Nachempfindung, oder doch ſehr lebhaft iſt, ſo unbe - deutend geringe ſeyn, daß man ihn nicht bemerken kann. Die folgende Empfindung von der Nelke, koͤnnte als eine ganz reine Empfindung von der Nelke ſich darſtel - len. So wuͤrde die Jmpreſſion von der Nelke ihre ei - gene Natur und ihre eigenen Folgen in uns haben, und ſich wie ein eigener verſchiedener ſinnlicher Eindruck in derſelbigen Fiber feſtſetzen, in der ſich der Eindruck von der Roſe ſchon vorher feſtgeſetzet hatte. Jſt aber dieß einmal geſchehen, warum ſollte nicht eine jede derſelben auch auf die ihr eigene Art, bey der Abweſenheit der Objekte erneuret, und als eine beſondere Phantaſie in uns reproduciret werden koͤnnen, ohne ſich mit der an - dern zu vermiſchen?

Sehen wir auf das, was wirklich geſchieht, wenn wir unmittelbar nach der Roſe auch die Nelke vor die Naſe halten, ſo zeiget ſich eine Wirkung, die der bon - netiſchen Jdee, daß es zwo verſchiedene Fibern ſind, welche von dieſen Eindruͤcken geruͤhrt werden, faſt mehr entgegen iſt, als ſie beſtaͤtiget. Die vorhergegan - gene Empfindung modificiret die nachfolgende, und modificiret ſie ſo ſehr, daß der Duft der Nelke nicht ſoR 3empfun -262XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenempfunden werden kann, als ſonſten, wenn er zuerſt in die Naſe kommt, und daß wir auch nicht voͤllig die naͤmliche materielle Geruchsidee aus dieſer Empfindung von ihr erhalten. Daſſelbige zeiget ſich in vielen an - dern Empfindungen, bey allen Sinnen, am meiſten aber bey den niedern Sinnen des Geruchs, des Ge - ſchmacks und des Gefuͤhls. Jede wird etwas geaͤndert durch die, welche unmittelbar oder doch nicht lange vor - hergegangen ſind, und von deren Eindruck noch etwas zuruͤck iſt. Man kann daraus zwar nicht geradezu ſchließen, daß die Eindruͤcke auf ebendieſelbige Fiber fallen, weil jener Einfluß derſelben in einander auch aus ihrer Verbindung wohl begreiflich iſt. Aber dennoch moͤchte ich, nach dieſen Beobachtungen allein zu urthei - len, es fuͤr wahrſcheinlicher halten, daß mehrere Ein - druͤcke auf einerley Fiber kommen, als das Gegentheil. Hat ſich die Empfindung der Roſe gaͤnzlich verloren, ſo erhalten wir die Jmpreſſion von der Nelke unver - miſchter und reiner; allein man weiß auch, wie wenig die Reproduktion einer Geruchsempfindung zu bedeuten habe, wenn ſie mit einer Empfindung verglichen wird. Wenn man die Beyſpiele aus den Geſichtsempfindun - gen hernimmt, ſo beſtaͤtiget es die Erfahrung mehr als zu viel, wie leicht die Einbildungen ſich mit den gegen - waͤrtigen Jmpreſſionen verbinden, und dadurch unreine Eindruͤcke hervorbringen. Dieß fuͤhret gleichfalls mehr auf die Vermuthung, daß dieſelbige Fiber mehrere Jmpreſſionen aufnehme, als daß jede ihre eigene habe.

5.

Bis hieher gehen die erſten Gruͤnde des bonneti - ſchen Syſtems, bey deren letztern diejenige Zuverlaͤſ - ſigkeit nicht mehr iſt, die der ſcharfſinnige Mann ihm zuſchrieb. Aber nun iſt die Hauptſache noch zuruͤck. Denn263im Menſchen. Denn nun iſt die Frage: wie weit ſich die pſychologi - ſchen Erfahrungen auf Bonnetiſch erklaͤren laſſen? das iſt, ob dieß Syſtem, als Hypotheſe betrachtet, den großen innern Vorzug vor andern beſitze, den ihm ſchon ſo viele als unbezweifelt zuerkennen? ob es naͤmlich leichter, faßlicher, vollſtaͤndiger erklaͤre, als die gewoͤhn - liche Meinung von dem Sitz der Vorſtellungen in der Seele?

Von Einer Seite betrachtet ſcheinet es ſo zu ſeyn. Die Abhaͤngigkeit der Seelenaͤußerungen von dem Koͤr - per, und von Urſachen, die auf den Koͤrper wirken, und die ſich darauf beziehende Fakta; der Verluſt des Gedaͤchtniſſes durch Krankheiten und Alter; die Schwaͤ - chung und Verſtaͤrkung der Seelenkraft und der Selbſt - thaͤtigkeit, welche die Veraͤnderungen in dem Koͤrper nach ſich ziehen, ſo gar die in den aͤußern Theilen vor - gehen; und uͤberhaupt dasjenige, was oben bey der er - ſten Hypotheſe Schwierigkeiten verurſachte: findet hier in dieſer zwoten ganz leicht ſeine Gruͤnde und Urſachen. Hat die Seele, als eine an ſich unbeſtimmte und nur die ſinnlichen Bewegungen des Koͤrpers fuͤhlende und dann in das Gehirn wirkende Kraft, gar keine Vorſtel - lungen mehr, wenn ſie an die Gegenſtaͤnde nicht geden - ket; iſt die Wiederhervorziehung der Jdeen nicht ihr Werk: was folget natuͤrlicher, als daß ſie aufhoͤre zu fuͤhlen, zu denken und zu handeln, ſobald das Gehirn außer Stand geſetzet iſt, ihr die Objekte ihrer Thaͤtig - keit vorzuhalten? was natuͤrlicher, als daß alle ihre Jdeen und Gedanken dahin ſind, wenn entweder ein langer Nichtgebrauch der Fiber, oder eine koͤrperliche Urſache ihr ihre Leichtigkeiten benommen hat, auf die erfoderliche Art beweget zu werden? Denn wenn die Spuren der Empfindungen in dem Organ verloſchen ſind, ſo kann die Seele es auch nicht wiſſen, daß ſie ſolche jemals gehabt habe, da ſie nicht das geringſteR 4Merk -264XIII. Verſuch. Ueber das SeelenweſenMerkmal, woran ſie ſich ihrer erinnern koͤnnte, uͤbrig hat.

Aber es iſt doch auch wahr, daß ſich eben dieſe Er - ſcheinungen mit dem erſtern Syſtem vereinigen laſſen. Dieß iſt vorher ſchon gezeiget worden; allein man kann noch hinzuſetzen, daß, wenn man ſich hiebey aufs be - ſondere einlaͤßt, und die bonnetiſchen Erklaͤrungen mit den vorigen vergleichet, das Uebergewicht von jenen, das wenigſte zu ſagen, um ein Großes vermindert werde. Es ſind dieſe Vorfaͤlle fuͤr ſich ſo merkwuͤrdig, daß es ſich wohl der Muͤhe verlohnet, einige davon als Bey - ſpiele hier beſonders naͤher zu betrachten.

Was die Staͤrkung des Gedaͤchtniſſes durch ein fleißiges Ueben, und die Schwaͤchung deſſelben durch den Nichtgebrauch betrifft, ingleichen das Vergeſſen ſolcher Jdeen, welche in langen Zeiten unerneuert ge - blieben ſind, ſo ſehe ich nicht, warum dieſe Wirkungen nicht eben ſowohl begreiflich ſeyn ſollten, wenn man an - nimmt, daß die Vorſtellungen Seelenbeſchaffenheiten ſind, als wenn ſie Gehirnsbeſchaffenheiten ſeyn ſollen. Soll eine Fiber die einmal empfangene vorzuͤgliche Re - ceptivitaͤt zu einer ſinnlichen Bewegung verloren haben, ſo muß entweder die Lage ihrer Theile gegen einander, oder auch die innre Beſchaffenheit ihrer Theile veraͤn - dert ſeyn, je nachdem die materielle Jdee von dieſer oder von jener abhaͤngt. Jſt eine Veraͤnderung in den einzelnen Elementen der Fiber vorgegangen: wie iſt dieß mehr begreiflich, als wenn man die Veraͤnderung bey der Seele ſelbſt annimmt, die doch auch ein einfaches Weſen iſt, wie es die wahren Elemente der Gehirns - fibern ſind? Soll der Verluſt einer Vorſtellung in ei - ner Veraͤnderung der Lage und der Verbindung der Theile, alſo in einer Veraͤnderung der Art und Weiſe, wie die Elemente der Fibern in einander wirken, ſeinen Grund haben: ſo fuͤhret eine ſolche Veraͤnderung wie -derum265im Menſchen. derum auf eine Modifikation der Kraͤfte in den einzel - nen Elementen zuruͤck. Denn wenn ſich die Lage der Theile aͤndert, ſo aͤndern ſich ja die relativen Vermoͤgen der Elemente auf einander zu wirken; und wenn nun gleich die Grundkraͤfte immerfort von der naͤmlichen Groͤße bleiben, ſo aͤndern ſich doch die abgeleiteten und relativen Kraͤfte, da die Grundkraͤfte ſich nicht auf die naͤmliche Art gegen dieſelbigen Elemente thaͤtig beweiſen koͤnnen, wie vorher. Sollte wohl dieß alles ſo leicht faßlich in der Fiber ſeyn, und ſo unbegreiflich, wenn man etwas analogiſches der Seele zuſchreibet? Ob eine Jdee aus dem Gedaͤchtniß verloren iſt, oder nicht, das darf die Seelenthaͤtigkeit im Ganzen noch nicht mindern, und kann zuweilen nur allein daran lie - gen, daß ihre innern Vorſtellungen in eine andere Be - ziehung gebracht worden ſind, ſo daß die reproducirende Kraft einer gewiſſen, in ihr vorhandenen Jdee nur nicht gehoͤrig beykommen kann. Auf manche Dinge beſin - nen wir uns nur darum nicht, weil wir ſo viel andere im Kopfe haben, die ſich uns darſtellen, und jene un - terdruͤcken, die ſonſten, wenn ſie nicht waͤren von andern verdecket worden, uns leicht und deutlich genug ſich ge - zeiget haͤtten. Sollte auch eine Spur einer Vorſtel - lung gaͤnzlich ausgeloͤſchet worden ſeyn, ſo denke ich nicht, daß dieſe Ausloͤſchung in der Seele eben ſchwerer zu be - greifen ſey, als es iſt, wenn ein Koͤrper, und jede Par - tikel deſſelben, aus der ſchnelleſten Bewegung zur Ruhe gebracht iſt? Dieſe letztere Veraͤnderung in den Ele - menten mag beſtehen worinn ſie wolle, ſo iſt ſie eine ſolche, bey der eine gewiſſe Beſchaffenheit weggehet, die vorher da war.

Nun wird doch auch die Seele als Gehirnskraft veraͤndert, da ſie nach des Hrn. Bonnets Vorſtellung bald ſtaͤrker, bald ſchwaͤcher, auf das Gehirn wirket. Was wuͤrde denn fuͤr eine beſondere Schwierigkeit dabeyR 5ſeyn,266XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenſeyn, daß eine gewiſſe Diſpoſition in ihr, und beſon - ders die Diſpoſition dieſe oder jene Jdee wieder zu erwecken, einmal entweder gaͤnzlich, oder doch bis da - hin ſich verloͤre, daß ſie dieſe Vorſtellung, ohne eine neue Jmpreſſion von auſſen, nicht wieder aus ſich ſelbſt hervorziehen koͤnnte? Warum kann es nicht eben ſo wohl ein Seelengeſetz als ein Geſetz der Organiſation ſeyn, daß eine Diſpoſition zur Thaͤtigkeit, die lange ungebraucht lieget, ſich verliere und in ein Unvermoͤgen uͤbergehe?

6.

Sollte aber jemals eine in die Seele gebrachte Vor - ſtellung ſich ſo gaͤnzlich wieder verlieren, daß auch nichts mehr von ihr vorhanden ſey, und daß ſie niemals wie - der erwecket werden koͤnne? Daß einige bis auf einen gewiſſen Grad erloͤſchen, iſt außer Zweifel, naͤmlich bis ſo weit, daß man ſolche unter den gewoͤhnlichen Um - ſtaͤnden in dieſem Leben und bey der gewoͤhnlichen Anſtrengung der Seelenkraft nicht reproduciren kann. Aber daß ſie ſich dergeſtalt verlieren ſollten, daß es eben ſo gut waͤre, als wenn ſie niemals vorhanden geweſen, wuͤrde ich allein wegen der theoretiſchen Vernunftgruͤnde, die Leibnitz und Wolf dagegen anfuͤhrten, fuͤr hoͤchſt unwahrſcheinlich halten. Allein dieß meine ich hier nicht, ſondern ſehe vielmehr darauf, ob irgend eine Vorſtellung, welche ſo ſtark in der Seele ſich befeſtigt hatte, daß ſie von ihrer eigenen Kraft reproduciret wer - den koͤnnte, bis dahin ſich verliere, daß ſie durchaus nicht mehr als eine ſolche Vorſtellung reprodu - cibel ſey; und dann, ob hieruͤber ohne Ruͤckſicht auf Raiſonnements aus allgemeinen Gruͤnden, bloß aus Erfahrungen, ſich etwas erkennen laſſe? Man hat Beyſpiele, daß Perſonen in ihrer zarten Jugend Woͤr - ter, Spruͤche, gewiſſe Redensarten, aus einer Sprachegele -267im Menſchen. gelegentlich aufgefaßt, die ſie in der Folge ſo ganz ver - geſſen, daß es ihnen kaum einmal erinnerlich geweſen iſt, jemals dergleichen Unterricht gehabt zu haben. Nach vielen Jahren ſind jene alten, fuͤr ausgetilget und erloſchen gehaltene Bilder in einer hitzigen Krankheit wieder lebhaft erneuert worden, und alsdenn haben ſol - che Leute, dem Scheine nach, eine Sprache geredet, die ſie niemals erlernet hatten, und denn zuweilen das Schickſal gehabt, fuͤr Beſeſſene erklaͤrt zu werden. Dieſe Beyſpiele beweiſen meiner Meinung nach, was ſich auch wohl aus andern Beobachtungen, obgleich nicht ſo auffallend, zeigen laͤßt, daß Vorſtellungen, auf welche die Seele, in dem ordentlichen geſunden Zuſtande des Koͤrpers, mit aller Anſtrengung ſich nicht beſinnen konnte, dennoch das Eigene, was ſie zu ſolchen Vor - ſtellungen machte, nicht ſo gaͤnzlich verloren hatten, daß ſie nicht bey außerordentlichen Anlaͤſſen wieder reprodu - ciret werden konnten. Zu den uͤbrigen Erfahrungen, die daſſelbige beſtaͤtigen, gehoͤret auch noch die lebhafte Wiedererinnerung an laͤngſt vergangene Dinge, aus der Jugend her, die man bey alten Leuten antrifft. Ein mir bekannter Mann mochte in dreyßig und mehr Jahren an die Regeln im Donat nicht gedacht haben, und vor zwanzig Jahren nicht mehr im Stande geweſen ſeyn, ſie woͤrtlich herzuſagen; aber im Alter, als das Gedaͤchtniß neuerer Dinge geſchwaͤcht war, wußte er das in der Jugend auswendig gelernte Schulbuch groͤß - ſtentheils woͤrtlich herzuſagen. Sind die Spuren aber ſo unausloͤſchlich, ſo ſehe ich nicht, wie man dieſe Fort - dauer der Vorſtellungen beſſer begreife, wenn man ih - nen ihren Sitz in dem Gehirn anweiſet, als wenn ſie in der Seele als in ihrem Subjekte ſind.

Wir kennen das Geſetz der Organiſation, nach wel - chem die Koͤrper feſter und unbiegſamer werden, wenn ſie aufgehoͤrt haben, ihren aͤußern Umfang zu erweitern. Wenn268XIII. Verſuch. Ueber das SeelenweſenWenn nun auch das Gehirn, nach dieſem Geſetz, im Alter ungeſchmeidiger geworden iſt neue Eindruͤcke anzunehmen, ſoll es denn gelenkſamer geworden ſeyn, in die lange vorher empfangenen Bewegungen wieder uͤberzugehen, da es doch vorher ſchon einmal in den mitt - lern Jahren zu ihrer Erneurung unfaͤhig geweſen iſt? Mich deucht, man moͤge das Gedaͤchtniß in der Seele, oder in den Organen ſetzen; ſo bald man deutlich begreifen will, auf welche Art es dort oder hier ſich be - finde, um ſo beſondere Wirkungen hervorzubringen: ſo ſind die Schwierigkeiten eben ſo groß bey der Einen, als bey der andern Vorausſetzung.

7.

Das Kindiſchwerden der Menſchen in dem hoͤchſten Alter iſt ein Phaͤnomenon, das vorzuͤglich, und noch vielleicht mehr als der Verluſt des Verſtandes, fuͤr die Wahrſcheinlichkeit der bonnetiſchen Gehirnskraft zu ſtreiten ſcheinet. Es ſind beyde Zufaͤlle ſehr demuͤ - thigend fuͤr den Menſchen, aber lehrreich fuͤr den von ſeinem Jch und deſſen Unabhaͤngigkeit zu hoch denken - den Stoiker, der ſeine Tugend den Goͤttern nicht ver - danken wollte. Mir iſt das Beyſpiel eines beruͤhmten Mathematikers bekannt, der dieſe Wiederkehr der Kind - heit erlebte. Die Erinnerung der vorigen Jdeen fehlte ſo ſehr, daß, wenn er zuweilen in ſeiner Einſamkeit fuͤr ſich auf eine Demonſtration von einem der erſten Saͤtze im Euklides verfallen war: denn der Hang zur Beſchaͤftigung mit geometriſchen Figuren und Begrif - fen war ihm noch uͤbrig geblieben, ein eigener merk - wuͤrdiger Umſtand! ſo zeigte er ſolche ſeinem Sohn, als eine Wirkung ſeiner Erfindungskraft, mit einer freudigen Selbſtzufriedenheit, die einem Kinde von zehn Jahren natuͤrlich geweſen ſeyn wuͤrde, hier aber ſeinem Sohn, der aus ſeines Vaters Schriften ſo viele mathe -matiſche269im Menſchen. matiſche Kenntniſſe erlanget hatte, Thraͤnen auspreßte. Da mit der Kindheit des Verſtandes auch kindiſche Sorgloſigkeit und kindiſche Freude vergeſellſchaftet iſt: ſo moͤchte man dieſen Zufall zwar nicht ſo ganz fuͤr ein Ungluͤck halten; aber wie unſchaͤtzbar war hier bey die - ſem wuͤrdigen Alten nicht der Verluſt des Gedaͤchtniſ - ſes, mit dem alle Freuden verloren gehen, die aus der Wiedererinnerung des ruͤhmlich gefuͤhrten Lebens ent - ſpringen, und die Luſt, Kraft und Nahrung des Alters ſeyn ſollten?

Nach der bonnetiſchen Jdee von dem Sitz der Vorſtellungen im Gehirn, ſind ſolche Phaͤnomene bald erklaͤret. Da es in der Seele keine bleibende intel - lektuelle Jdee giebt: ſo ſind alle Vorſtellungen verloren, wenn die materiellen Jdeen im Gehirn dahin ſind, und mit den Jdeen faͤllt zugleich die Erinnerungskraft weg. Denn die Erinnerung haͤngt von der Leichtigkeit ab, mit der man eine Jdee empfaͤngt oder unterhaͤlt, die man vorher ſchon gehabt hat, und wozu aus der erſten Jmpreſſion her eine Diſpoſition zuruͤckgeblieben iſt, welche die zwote Aufnahme derſelbigen Jdee leichter macht. Die Seele nimmt ſie das zweytemal mit einer geringern Anſtrengung bey ihrer Aktion aufs Gehirn gewahr. Hierinn liegt das Merkzeichen vor uns, daß wir uns ehemals mit einem ſolchen Objekt ſchon be - ſchaͤfftiget haben. Zunaͤchſt entſtehet ein gewiſſes dun - keles Gefuͤhl, daß uns etwas ſchon bekannt ſey, daß wir es ehemals geſehen oder gehoͤrt haben, und dergleichen, wobey wir in vielen Faͤllen ſtehen bleiben. Auf dieß Gefuͤhl erfolget aber eine deutliche Wiedererinnerung, wenn zugleich eine andere Reihe aſſociirter Vorſtellun - gen von den Umſtaͤnden, von der Zeit und dem Ort, wenn und wo wir die Jdeen gehabt haben, wieder er - wecket wird. Jede dieſer Jdeen hat auch einzeln ge - nommen den Charakter an ſich, daß ſie eine Phantaſieaus270XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenaus ehemaligen Empfindungen ſey. *)Erſter Verſuch X. Und wenn wir auf jede allein, und außer der Verbindung mit den uͤbrigen zuruͤckſehen, ſo wuͤrden wir außer dem dunkeln Gefuͤhl, daß es wiedererweckte Jdeen ſind, nichts mehr bey ih - nen gewahrnehmen. Aber indem wir ihrer mehrere zugleich haben, die ſich in der Reproduktion eben ſo auf einander beziehen, als vordem in der Empfindung, ſo ſehen wir auch jedwede derſelben in ihrer Verbindung mit andern. Die Reihe von Vorſtellungen, welche die Jdee der vergangenen Zeit unſers Lebens aus - macht, iſt nebſt den Bildern von den Oertern, wo wir geweſen ſind, gleichſam der Grundfaden, auf welchen wir die uͤbrigen Vorſtellungen von einzelnen Objekten beziehen, und dadurch das Ganze zu einer Vorſtellung von dem Vergangenen machen. Es iſt die Verknuͤ - pfung jeder beſondern Theile deſſelben, vermittelſt welcher wir ſolche klar und deutlich als Theile von dem Ver - gangenen erkennen und gewahrnehmen.

Hieraus folget, wie ſchon erinnert iſt, von ſelbſt, daß wenn die Spuren ehemaliger Vorſtellungen im Gehirn verloren ſind, man weder es deutlich wiſſen, noch es dunkel fuͤhlen koͤnne, daß wir jemals auf eine ſolche Art vorher modificirt geweſen ſind. Dieß iſt die bonnetiſche Erklaͤrung.

Ueberhaupt aber muß es, unabhaͤngig von jeder Hy - potheſe, zufolge der Erfahrungen zugeſtanden werden, daß alle Gefuͤhle, welche die Seele von ihren leidentli - chen Veraͤnderungen hat, eben ſo, wie jedwede ſonſtige Kraftaͤußerung eine entſprechende gegenwaͤrtige Gehirns - veraͤnderung erfodere, in der die Seele ihr Gefuͤhl und ihre Aktion wie in einem Spiegel erkenne, woferne ſie ſolche anders in ſich gewahrnehmen ſoll. Jſt alſo das koͤrperliche Werkzeug nicht aufgelegt, die noͤthigenſinnli -271im Menſchen. ſinnlichen Bewegungen anzunehmen, ſo mag in dem Jnnern der Seele vorgehen, was da wolle, ſie mag fuͤhlen, denken, ſich beſtreben, thun: ſie kann dennoch nichts von allen dieſen wiſſen, und nicht gewahrnehmen, daß ſie es thue, woferne ſie nicht die begleitende Ge - hirnsveraͤnderung empfinden kann. Man ſieht leicht, daß alles, was in dem Kindiſchwerden des Alters, und in dem Verluſt des Gedaͤchtniſſes durch Zufaͤlle und Krankheiten vorgehet, nur beſondere Faͤlle ſind, die un - ter dieſem allgemeinen, aus Faktis abgezogenen Geſetze begriffen werden.

Wenn man aufs hoͤchſte zugeben wollte, daß eben dieſes ganze Faktum mit allen ſeinen beſondern Faͤllen etwas leichter aus der bonnetiſchen Pſychologie zu be - greifen ſey, als aus derjenigen, welche die Vorſtellun - gen, und das Vermoͤgen zu reproduciren, der Seele als ihrem Subjekte zuſchreibet: ſo deucht mich doch, es enthalte auch die letztere Gruͤnde in ſich, woraus daſ - ſelbige erklaͤret werden koͤnne. Wenn das Jnſtrument des Virtuoſen verſtimmt iſt, ſo kann dieſer die Jdeen von den Toͤnen in ſich erneuern, die zu ſpielende Arie im Kopf uͤberdenken, auch mit ſeinen Fingern auf die Klaves hin und her fahren, auf die naͤmliche Art wie vorher, da das Jnſtrument im vollkommenen Stande war, und demohnerachtet entſtehet kein Ton, der Spie - ler vernimmt keinen, und wuͤrde nichts von dem wiſſen, was er thut, wenn ers nicht aus ſeinen uͤbrigen Gefuͤh - len erkennte. Laßt uns die Seele in einer aͤhnlichen Be - ziehung auf ihr Organ uns vorſtellen: ſo werden wir an jenem ein erlaͤuterndes Beyſpiel haben, das uns die Sache wenigſtens einigermaßen begreiflich macht. Die Seele kann in ſich ihre intellektuellen Vorſtellungen re - produciren, und ſich wirkſam mit ihrer Denkkraft be - weiſen. Wir wollen hinzuſetzen, daß, wenn ſie dieſe Aktion und die daraus entſtehende Veraͤnderung in ſichempfin -272XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenempfindet, ſo ſey auch wiederum dieß letztere Gefuͤhl etwas, das in ihr ſelbſt iſt, wie es auch nach der Vor - ſtellung des Hrn. Bonnets es iſt: folget denn, daß ſie nun auch nothwendig ein ſolches Selbſtgefuͤhl haben muͤſſe, als zum Bewußtwerden, das iſt, um dieſen Aktus des Gefuͤhls von andern Aeußerungen auszuken - nen, erfodert wird? Das meine ich nicht. Denn wenn man auf das angezogene Beyſpiel von dem Spie - ler wieder zuruͤckſiehet, der von allen ſeinen Aktionen, die er vornimmt, wenn er ſpielet, nichts weiß, als aus ihren Wirkungen, theils naͤmlich aus den Gefuͤhlen in ſeinen Fingern, theils und vornehmlich aber aus den Toͤnen, die er mittelſt des Jnſtruments hervorbringet: ſo deucht mich, es laſſe ſich eben ſo gut gedenken, daß die Seele in ihrem Jnnern mit ihrem Vermoͤgen wir - ken koͤnne, ohne ſich ſelbſt zu fuͤhlen, als der Spieler wirken kann, ohne etwas von dieſer Wirkſamkeit zu ver - nehmen, wenn das Jnſtrument keine Toͤne angiebt, und er auch der uͤbrigen Gefuͤhle in ſeinen Fingern be - raubt ſeyn wuͤrde. Wir kommen am Ende zwar zu dem obigen Satz hin, daß die Seele ſich ſelbſt und ihre Aktus nicht anders fuͤhle, als nur in den Wirkungen, die davon in ihren Organen entſtehen: aber es folget daraus nicht, daß ſie nicht in ihrem Jnnern ihre Kraft beſtimmen und ſich ſelbſt modificiren koͤnne, wenn gleich außer ihr das gehoͤrige Objekt fehlet, das ihre Wirkun - gen aufnimmt, auf ſie zuruͤck wirket, und alsdenn von ihr gefuͤhlet wird.

Wollte man dennoch glauben, da die Gegenwart der Vorſtellungen ſo ſehr von dem Organ abhange, ſo ſey es natuͤrlich, dieſes fuͤr die Stelle anzuſehen, wo ſie ſitzen: ſo wuͤrde ich antworten, daß, da Hr. Bonnet ſelbſt die Gegenwart der Vorſtellungen in ſo weit, daß ſie entweder laͤnger unterhalten werden, oder geſchwin - der wieder zuruͤckfallen, von der Aktion der Seeleabhaͤngig273im Menſchen. abhaͤngig macht, es eben ſo natuͤrlich ſey, ſie in die Seele hin zu ſetzen. Was bedarf es einer Seelenbey - wirkung, eines gewiſſen Grades ihrer Reaktion auf die Gehirnsveraͤnderung, um eine Vorſtellung gegenwaͤrtig zu erhalten? warum einer ſtaͤrkern oder ſchwaͤchern An - ſtrengung ihrer Kraft, um ſich zu erinnern, daß eine Vorſtellung ehedem vorhanden geweſen iſt, wenn das Spiel der Vorſtellungen allein im Gehirn iſt, und es nur darauf ankommt, daß die entſtandenen Diſpoſitionen zu gewiſſen ſinnlichen Bewegungen in wirkliche Bewegun - gen zuruͤckgehen? Warum ſoll denn noch uͤberdieß eine Aktion der Seele erfodert werden, um die Eine vor der andern auszuwaͤhlen, und ſolche laͤnger vor ſich zu hal - ten? Die Seele ſoll das Spiel der Faſern lenken, ab - aͤndern und die Saiten anziehn. Warum iſt die Seele nicht ſchlechthin nur eine muͤßige Zuſchauerin? Warum fuͤhlet ſie nicht bloß das, was im Gehirn iſt, ſo wie es iſt, ohne bey jedem in gewiſſer Proportion einen thaͤtigen Antheil zu nehmen? Warum muß ſie denn ſo viel bey - wirken, als ihr doch zugeſchrieben wird, und auch in der That nach den Beobachtungen zugeſchrieben werden muß?

Es bringet die genaue Vereinigung der Seele mit dem Koͤrper es ſo mit ſich, wird Hr. Bonnet antwor - ten, und ich habe eine Hypotheſe angeben wollen, welche das denkende Weſen darſtellet, wie es wirklich iſt, nicht wie mans ſich phantaſiren moͤchte.

Ganz richtig, wuͤrde ich als Vertheidiger der erſten Hypotheſe erwiedern, dieß iſt auch zugleich meine Ant - wort auf die obige Frage: warum die Gehirnsveraͤnde - rung ſo unentbehrlich iſt, wenn eine Vorſtellung repro - ducirt werden ſoll. Die Seele fuͤhlet ſich und ihren Zuſtand nur in ihren Wirkungen im Gehirn. So bringet es beider Vereinigung mit ſich. Der Frage: warum iſt die Seele, wenn ſie ſelbſt der JdeenſitzII Theil. Siſt,274XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſeniſt, ſo ſehr an das Organ gebunden? ſetze ich eine an - dere entgegen: warum iſt die ſinnliche Bewegung des Organs, die materielle Jdee, und ihre Lebhaftigkeit und Beſtehen ſo ſehr an die Beywirkung der Seele ge - bunden, wenn das Gehirn der Sitz derſelben iſt?

Nun waͤge, wer eine philoſophiſche Wage hat, bei - der Wahrſcheinlichkeiten aus den bisherigen Datis ge - gen einander ab, und urtheile!

8.

Jndeſſen zeiget das Bisherige noch immer die ſtaͤr - kere Seite der mechaniſchen Pſychologie, aber ſie hat eine andere, wo ſie ſchwaͤcher erſcheint.

Zuerſt verdienet es Aufmerkſamkeit, daß ſie in ſich ſelbſt, inſofern ſie ſo genommen wird, wie Hr. Bonnet ſie vortraͤgt, eine innere Luͤcke hat. Die Seele, vor - ausgeſetzt, wie es die Hypotheſe erlaubt, daß ſie eine unkoͤrperliche Kraft und ein Weſen fuͤr ſich iſt, obgleich innigſt mit dem koͤrperlichen Organ vereiniget, wird je - desmal modificirt, wenn eine ſinnliche Bewegung in dem Gehirn vorhanden iſt; wenn die ſinnliche Bewe - gung ſtaͤrker iſt, ſo iſt auch die Seelenveraͤnderung, und die ganze Vorſtellung lebhafter; und wenn jene abnimmt, ſo wird auch dieſe geſchwaͤchet. Man ſieht die Sonne. Die ſinnliche Bewegung in dem Organ iſt heftig, und die Empfindung in der Seele iſt es auch. Das Son - nenbild bleibt, wenn die Augen weggewendet ſind, noch eine Weile vor ihnen ſtehen, aber die Bewegung in den Fibern iſt alsdenn ſchon ſchwaͤcher, und zugleich auch die Seelenveraͤnderung, die alsdenn noch eine nachbleiben - de Empfindungsvorſtellung iſt, und immer matter wird, und ſich endlich in der Seele verliert, wie die Bewe - gung in den Fibern abnimmt. Giebt es denn nun et - wan irgendwo eine Graͤnze, wo die Theilnehmungder275im Menſchen. der Seele gaͤnzlich aufhoͤret, wenn gleich im Gehirn noch eine Bewegung vorhanden iſt?

Dieß wuͤrde zum mindeſten der Analogie zuwider ſeyn. So weit uns die Vereinigung der Seele mit dem Koͤrper bekannt iſt, ſcheinet die Seelenveraͤnderung und die ſinnliche Gehirnsveraͤnderung unzertrennlich zu ſeyn. Zwar iſt die Jnduktion, worauf dieſe durch - gaͤngige Harmonie beruhet, an ſich noch unvollſtaͤndig, doch auch ſo groß, daß da wir ohnedieß keine Gruͤnde haben, Ausnahmen zu vermuthen, die daraus entſte - hende Wahrſcheinlichkeit bis zu einer moraliſchen Ge - wißheit gehet. Sollen etwan die Jmpreſſionen von außen, die wir nicht gewahrwerden, nicht bis zu der Seele durchgedrungen ſeyn? Es iſt, das Wenigſte zu ſagen, wahrſcheinlich, daß ſie wirklich bis dahin kom - men, wenn ſie gleich nicht ſo lebhaft ſind, daß ihre Ge - genwart erkannt wird, weil die Seele nicht auf ſie ge - hoͤrig Acht hat. Aber geſetzt, daß ſie nicht bis zur Seele kommen, ſo iſt es auch wahrſcheinlich, daß ſie nicht bis zu den innern und naͤchſten Organen dringen, bis zu dem Theil naͤmlich hin, der als das ſenſorium com - mune das naͤchſte Werkzeug des Vorſtellens iſt. So oft dagegen in dieſem eine ſinnliche Bewegung vorhan - den iſt, ſchwach oder ſtark, ſo iſt es unwahrſcheinlich, daß nicht zugleich auch eine entſprechende, intellektuelle Jdee in der Seele vorhanden ſeyn ſollte. Hr. Bon - net hat ſelbſt dieſe Harmonie nicht eingeſchraͤnkt.

Folget aber nicht hieraus ganz natuͤrlich, daß, wenn die materielle Jdee im Gehirn, ſo wie ſie eingewi - ckelt und unaufgeweckt in dem Gedaͤchtniß iſt, in einer wirklichen geſchwaͤchten oder in ſich zuſammen - gezogenen ſinnlichen Bewegung der Fibern beſtehet, wie der Verfaſſer des Verſuchs der Pſychologie, der Vorgaͤnger des Hrn. Bonnets ſich vorſtellet, auch zugleich mit dieſen nachgebliebenen ſchwachen Gehirns -S 2bewe -276XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenbewegungen ſchwache nachbleibende Seelenbeſchaffenhei - ten verbunden ſeyn werden? Das hieße denn ſo viel: die materiellen Jdeen in dem Organ wuͤrden gleichzeiti - ge fortdaurende Seelenveraͤnderungen erfodern, die auf die vorhergegangenen Empfindungen in der Seele ſich eben ſo beziehen, wie die materielle Jdee im Gehirn auf die Bewegung in der Empfindung. Auf dieſe Art wuͤrde doch ein Vorrath von ruhenden, unaufgeweckten Jdeen in der Seele, und alſo auch inſoweit das Ge - daͤchtniß in ihr ſeinen Sitz haben, wenn gleich das Vermoͤgen, ſolche Jdeen unmittelbar zu reproduciren, nur allein den Fibern des Gehirns zukaͤme.

Herr Bonnet laͤßt nun freylich die ſinnlichen Be - wegungen im Gehirn gaͤnzlich aufhoͤren, und, was zu - ruͤckbleibet, nichts mehr als eine Diſpoſition, oder eine Tendenz, oder eine Leichtigkeit zu der naͤmlichen Bewegung ſeyn, die von einer wirklichen Bewegung, ſie mag nun beſtehen worinn ſie wolle, unterſchie - den iſt.

Allein wenn es ſo iſt, ſollte es denn nun weniger der Analogie der Erfahrungen zuwider ſeyn, gewiſſe dieſen organiſchen Diſpoſitionen, Tendenzen oder Leich - tigkeiten entſprechende Beſchaffenheiten der Seele ſelbſt abzuſprechen? Sollte ſie nicht vielmehr etwas aͤhnliches annehmen und behalten, das naͤmlich auf ihre erſten Modifikationen ſich auf dieſelbige Weiſe beziehet, und als eine permanente Spur, oder als eine Abbil - dung von ihnen angeſehen werden kann? Jſt das, was man in dem Organ Diſpoſition, Leichtigkeit, Cendenz, zu einer beſtimmten Bewegung nennet, nach den Begriffen der Naturlehre, die man von wirklichen Dingen abſtrahiret, etwas anders, als was ſonſten mit den mathematiſchen Ausdruͤcken, Element der Be - wegung, unendlichkleine Bewegung, virtuelle, anfaͤngliche Bewegung benennet wird? Und ſinddieſe277im Menſchen. dieſe von ſo heterogener Natur mit den wirklichen Be - wegungen, daß man, wenn mit jeder von dieſen letzten eine Modifikation in der Seelenkraft vergeſellſchaftet iſt, annehmen koͤnne, daß doch die erſten nur allein Ge - hirnsbeſchaffenheiten ſind, denen nichts in der Seele entſpraͤche? Kann man dieß annehmen, ohne dem Geſetz der Kontinuitaͤt, welches doch, bloß als Er - fahrungsſatz betrachtet, ungemein wahrſcheinlich iſt, zu nahe zu treten? Die Form der Seele richtet ſich nach der Form des Organs, wie die Figur des Waſſers in dem Gefaͤs, nach der Figur des Gefaͤſes. Aber da nun hier ein Gefaͤs von ſo beſonderer Natur angenom - men wird, daß es von jeder ſeiner ehemaligen Geſtalten noch kennbare Spuren aufbehalten hat, und ſolche leicht von neuem wieder annehmen kann: ſo wuͤrde es doch etwas unwahrſcheinlich ſeyn, daß nicht auch die einge - ſchloſſene Seele ſolche Beſchaffenheiten beſitzen ſollte. Hier iſt eine Luͤcke in der bonnetiſchen Hypotheſe, die, ſo viel oder ſo wenig ſonſten auch davon abhaͤnget, ſie doch nicht empfiehlt, ſondern einen Grund gegen ſie ab - giebt.

Allein derſelbige Vorwurf kann, an dem andern Ende zugeſpitzet, gegen die erſte Hypotheſe von dem Sitze der Vorſtellungen in der Seele gebraucht werden. Wenn die ruhende Vorſtellung im Gedaͤchtniſſe eine gewiſſe permanente Seelenbeſchaffenheit iſt: ſo wird ſie, ſo wie ſie durch dieſe modificirt iſt, auf ihr Organ wir - ken, mit dem ſie ununterbrochen vereiniget iſt; und dann iſt es doch zum wenigſten wahrſcheinlich, daß auch in dem Organ ſelbſt eine Beſchaffenheit hervorgebracht und unterhalten werde, die ſich auf jene Vorſtellung be - ziehet. Beſteht ſolche z. B. in einem Beſtreben der Seele, ſich auf gewiſſe Weiſe zu modificiren, ſo wuͤrde es eine Folge davon ſeyn, daß auch in dem Organ eine Tendenz zu der entſprechenden Bewegung, das iſt, eineS 3materielle278XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenmaterielle Jdee vorhanden ſey. Das Gehirn wuͤrde alſo beſtaͤndig mit Diſpoſitionen und Leichtigkeiten zu ehemaligen ſinnlichen Bewegungen erfuͤllet ſeyn.

Jndeſſen iſt es klar, daß, wenn man auch in beiden Hypotheſen dieſe Luͤcke ausfuͤllen, und alſo fowohl ma - terielle Jdeen dem Gehirn, als intellektuelle, bleibende Spuren der Seele zuſchreiben wollte: ſo koͤnnten die Syſteme darinnen noch einander entgegengeſetzet ſeyn, daß die Kraft zu reproduciren, in dem erſtern aus - ſchließungsweiſe der Seele, in dem zweiten bonnetiſchen aber ausſchließungsweiſe dem Gehirn zuerkannt wuͤrde. Die Frage: welches der Sitz der Phantaſie ſey? laͤßt ſich von der erſtern, uͤber den Sitz der Jdeen abſondern.

9.

Am ſchwerſten iſt es, die ſelbſtthaͤtigen Kraft - aͤußerungen der Seele, die ſie bey den Vorſtellungen be - weiſet, und die Wirkungen, die hievon abhangen, aus dieſer zwoten Erklaͤrungsart abzuleiten; und dieß hat dem Hrn. Bonnet viele Muͤhe gemacht.

Die Seele, das Jch, welches an allen Vorſtellun - gen Antheil nimmt, iſt ein thaͤtiges Weſen; und es iſt eine thaͤtige Kraftanwendung deſſelben, wenn wir auf etwas aufmerkſam ſind, und etwas wollen. Nun wird der Seele zugeſtanden, daß ſie die ſinnliche Bewegung in dem Gehirn, welche daſelbſt reproduciret iſt, durch ihre eigene Selbſtthaͤtigkeit feſtſetzen, und eine Weile ſich vorhalten koͤnne. Alſo vermag ſie, eine materielle Jdee, die im naͤchſten Augenblicke ohne ihr Zuthun nicht mehr gegenwaͤrtig geweſen ſeyn wuͤrde, zu erhalten, und die Schwingungen einer Fiber, die ſonſten zu ihrer vo - rigen Ruhe kommen wuͤrde, durch ihre Aktion aufs Ge - hirn fortzuſetzen. Vermag ſie aber ſo viel: warum ver - mag ſie denn nicht, eben dieſer Fiber ſolche Bewegungenbeyzu -279im Menſchen. beyzubringen, wenn entweder ſie ſelbſt, oder die Fiber ſchon dazu eingerichtet iſt, daß ſie ohne eine neue Jm - preſſion von außen ihren ehemaligen Zuſtand leichter an - nimmt? Jſt denn die Fortſetzung der Oſcillation in der Fiber durch eine innere Kraft nicht eben daſſelbige Werk, als die erſte Hervorbringung derſelben? Einer Kraft, die das Eine vermag, ſollte ſo gaͤnzlich das Vermoͤgen zu dem andern fehlen? Kann die Seele aber eine ehemals vorhandene ſinnliche Bewegung durch ihre eigene Kraft wieder hervorbringen: ſo beſitzet ſie ein un - mittelbares Vermoͤgen zu reproduciren.

Was man aus Beyſpielen an den Koͤrpern hierauf ſagen koͤnne, weis ich wohl. Die Schwere in dem Perpendikel kann die Schwingungen unterhalten, aber nicht anfangen; es muß das Gewicht zuerſt ange - ſtoßen, oder durch eine andere Urſache beweget werden, wenn er einmal in Ruhe iſt; und die geſpannte Klavier - ſaite wird durch ihre elaſtiſche Kraft nicht aus ihrer Ru - he gebracht, aber in ihrer Schwingung unterhalten, wenn dieſe ihr einmal beygebracht worden iſt. So et - was aͤhnliches muͤßte auch im Gehirn geſchehen, wenn die Seele die Fiberſchwingungen zwar nicht anfangen, aber wohl fortſetzen kann. Allein wenn man dieſe an - gefuͤhrten Beyſpiele etwas genauer anſieht, ſo iſt die Erlaͤuterung, die ſie geben, gar nicht zum Vortheil der bonnetiſchen Hypotheſe. Denn was iſt es, was in der That die Schwingungen des Perpentikels und der Sai - ten zuerſt anfaͤngt? Es iſt dieſelbige Schwere, oder dieſelbige Elaſticitaͤt, dieſelbige Kraft, die ſie fortſetzet; nur daß vorher eine andere Urſache wirken muß, die den Perpendikel und die Saite aus ihrer erſten Lage bringe, damit die Schwere oder Elaſticitaͤt zur Wirk - ſamkeit komme. Soll die Aktion der Seele aufs Ge - hirn nur darinn beſtehen, daß ſie die Schwungskraft der Fibern zur Thaͤtigkeit bringet, wie der Druck desS 4Fingers280XIII. Verſuch. Ueber das SeelenweſenFingers die Elaſticitaͤt der Saiten: warum kann ſie denn nicht eben ſo gut die ruhenden Fibern anziehen, und in Schwung bringen? warum nur den aus der Kraft des Gehirns ſchon entſtandenen Schwingungen Graͤnzen ſe - tzen, oder ihnen eine laͤngere Fortdauer geben? Denn thut ſie nichts mehr, als daß ſie die Gehirnskraft in Thaͤtigkeit ſetzet, ſo muͤßte ſie eigentlich die ſinnlichen Bewegungen anfangen, aber die Gehirnskraft ſie fort - ſetzen. Dieß wuͤrde doch die bonnetiſchen Erklaͤrun - gen*)Effai Analyt. chap. XVIII. 450. ff. von der Reproduktion umaͤndern.

Jch wills gerne geſtehen, daß ich keine Gruͤnde aus Erfahrungen weis, wodurch man es deutlich beweiſen koͤnne, daß Bonnets Erklaͤrungen falſch ſind. Sie werden noch lange einen Platz unter den Hypotheſen be - halten. Aber ſoviel meine ich, zeige ſich doch, daß man bey ihnen auf eine Anomalie gerathe, die immer eine Schwierigkeit mehr ausmacht. Jn dem Gehirn ſoll es koͤrperliche Urſachen geben, die ſowohl die ſinnlichen Be - wegungen in den Fibern anfangen, als auch ſie unter - halten koͤnnen, wie es in den unwillkuͤrlichen Phan - taſien geſchieht, die oft gegen ihr Beſtreben in der Seele fortgehen. Dagegen ſoll die Seelenkraft nur Eine von dieſen Wirkungen haben koͤnnen, und auf das Fortſetzen der Oſcillation eingeſchraͤnkt ſeyn. Dieſe Folge iſt von der Art, daß eine andere gleichmoͤgliche Hypotheſe vor dieſer einen innern Vorzug haben muͤßte, wenn ſie zu einem ſolchen Schlußſatz nicht fuͤhrte.

Aber außer dieſen giebt es noch andere Beobachtun - gen, die bey dieſer zwoten Hypotheſe deſto mehr Schwie - rigkeiten verurſachen, je leichter ſie bey der erſten zu er - klaͤren ſind, davon ich nur einige der vorzuͤglichſten an - fuͤhren will.

Viele281im Menſchen.

Viele von unſern Vorſtellungen, die vorher in keiner Verbindung geweſen ſind, werden durch die ſelbſtthaͤtige Phantaſie alsdenn erſt in der Seele aſſociirt, wenn ſie durch andere Urſachen erneuert werden, bloß weil ſie ſich auf einerley Zuſtand in der Seele beziehen. Es iſt anderswo*)Erſter Verſuch XV. 9. dieſer ſelbſtthaͤtigen Aſſociationen, die Wirkungen des Genies ſind, erwaͤhnet und zugleich er - innert worden, wie ferne ſie von den unſelbſtthaͤtigen Aſſociationen, welche auf der Koexiſtenz der Jdeen in den Empfindungen, oder auf ihrer Aehnlichkeit beruhen, verſchieden ſind. Jſt das Herz vergnuͤgt, ſo reihen ſich viele heitere Jdeen in der Seele zuſammen, die ſonſten keine Verbindung oder Aehnlichkeit unter ſich haben, als daß ſie jede fuͤr ſich und zertheilt mit dieſer Gemuͤthsbe - ſchaffenheit als Urſache, oder Wirkung, oder begleiten - der Umſtand verbunden waren.

Herr Bonnet hat eine Art angegeben, wie koexi - ſtirende Eindruͤcke ſich in dem Gehirn ſelbſt verbinden, und vermittelſt dieſer Verbindung ſich einander wieder - erwecken koͤnnen. Wenn ſie unter ſich einander aͤhnlich ſind, ſo laͤßt ſich ſolches wohl begreifen. Aber welche Schwierigkeiten entſtehen nicht, wenn man ſich geden - ken ſoll, daß auch in ſolchen Faͤllen, wo das Gelenke, das die aſſociirten Jdeen verbindet, in der Seele, in einer fortdaurenden Empfindung lieget, dennoch ihre Reproduktion ſo erfolgen ſolle, daß eine unmittelbar die andere hervorziehe, ohne daß die Linie der Reproduktio - nen durch die Seele ſelbſt gehe. Es ſey eine Jmpreſ - ſion vorhanden, welche uns traurig oder froͤlich macht: ſo iſt es dieſes Empfindniß, das auch Hr. Bonnet nicht dem Gehirn, ſondern der Seele zuſchreibet, wodurch die ſich darauf beziehenden Jdeen, die ſonſten in dem Gehirn zerſtreut waren, hervorgezogen, und nun ſo innig anS 5einan -282XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſeneinander gereihet werden, daß ſie kuͤnftig ſich unmittel - bar einander erwecken. Muͤßte nicht in dieſen Faͤllen die Seelenkraft ſelbſt die Jdeen anreihen? Und wenn ſie das thut, muß ſie denn nicht die zwote Vorſtellung ſich ſelbſt unmittelbar erwecken, als die erſte vorhanden war, und ſie der erſtern vorhergehenden anfuͤgen, da ja die Verbindung der materiellen Jdeen im Gehirn noch nicht vorhanden war, und alſo die Urſache ihrer Folgen auf - einander nicht ſeyn konnte? Das heißt: muß man nicht der Seele das Vermoͤgen zugeſtehen, eine Jdee durch ihre Selbſtthaͤtigkeit zu erwecken, das ſie doch nach der Hypotheſe nicht haben ſoll?

Jch will nur ſagen, daß es natuͤrlicher zu ſeyn ſchei - ne, ſich vorzuſtellen, daß in dieſen Faͤllen die Seele, indem ſie ſich beſtrebet zu wirken, ihre Kraft auf die ehemals angenommenen Arten modificire, das iſt, Eine ihrer intellektuellen Jdeen hervorziehe, und dieſem ge - maͤß die Saiten des Gehirns ſpanne, und die entſpre - chenden Schwingungen errege; als wenn man ihre Wirkſamkeit darauf einſchraͤnket, daß ſie ihren Zuſtand erhalte, und daß alsdenn das Organ nun ſelbſt ſeine Toͤne in einer ſolchen Folge angebe, wie ſie ſich zu der gegenwaͤrtigen Stimmung ſchicken. Am Ende laͤßt ſich die Sache freylich auch wohl bonnetiſch vorſtellen. So viel iſt gewiß, wenn die ſelbſtthaͤtige Phantaſie nach ei - nem Plan gewiſſe Jdeen anreihet und zu einem Ganzen zuſammenordnet: ſo wirket die in Thaͤtigkeit geſetzte Seele, dieſer ihrer Thaͤtigkeit und ihrer angenommenen Richtung gemaͤß, auf das Gehirn, und giebt ſelbigem eine gewiſſe Spannung. Aber ſoll nun das Gehirn al - lein die Jdeen reproduciren, ſo muß man die ihm bey - gebrachte Spannung als den Grund anſehen, warum auch ſolche Schwingungen und ſolche Jdeen auf einan - der folgen, die keine weitere Aehnlichkeit haben, als daß ſie ſich auf dieſelbige Spannung in den Fibern beziehen. Geſetzt,283im Menſchen. Geſetzt, es laſſe ſich dieſe Art zu aſſociiren bey dem Ge - hirn annehmen, wie bey der Seele: ſo iſt man doch in einer neuen Verlegenheit, wenn man den Unterſchied zwiſchen bloßen Einfaͤllen, die uns bey ſolchen Be - trachtungen leidentlich aufſtoßen, und zwiſchen den ſelbſt - thaͤtigen Verbindungen, bey denen wir es fuͤhlen, daß ſie von unſern Beſtrebungen abhangen, erklaͤren ſoll; und dieſer Unterſchied wird lebhaft genug gefuͤhlet und wahrgenommen.

VIII. Allgemeine Ueberſicht der verſchiedenen Hypothe - ſen uͤber den Sitz der Vorſtellungen und der Phantaſie.

  • 1) Vorerinnerung.
  • 2) Von der Ordnung und Folge der See - len - und Gehirnsveraͤnderungen, wenn Vorſtellungen von mehrern Objekten in der Empfindung aſſociiret werden.
  • 3) Was bey der Reproduktion der Vorſtel - lungen in dieſer Empfindungsordnung ge - aͤndert werden kann und geaͤndert wird.
  • 4) Vortrag einer Hypotheſe, zu welcher die Beobachtungen ſich am beſten zu vereinigen ſcheinen.

1.

Die beiden vorhergehenden Hypotheſen habe ich darum etwas ausfuͤhrlicher an ihren verſchiedenen Seiten betrachten wollen, weil uns dieß uͤberhaupt mit den verſchiedenen Umſtaͤnden bekannt macht, worauf man bey dieſen Unterſuchungen zu ſehen hat. Da ſie diebeiden284XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenbeiden ſind, welche einander am meiſten entgegenſtehen, indem die Eine ſowohl die bleibenden Spuren, als auch das Vermoͤgen ſolche unmittelbar wieder zu erwecken, der Seele, und die andere beides dem Organ zuſchrei - bet: ſo mußten wir bey ihnen auf die Data in den Er - fahrungen treffen, ſo ferne es dergleichen giebt, welche auf die vielleicht zwiſchen ihnen liegende Wahrheit hin - fuͤhren. Man muß es eingeſtehen, daß die Beobach - tungen keine von beiden ganz aufheben; aber auch zu - gleich, daß jede von ihnen nur gewiſſe Erfahrungen voͤl - lig erklaͤret, und als eine natuͤrliche Folge nachziehet, andere hingegen hoͤchſtens nur mit ſich zuſammenreimen laͤßt. Jſt man bey einer Hypotheſe hiemit zufrieden, (und wie oft muß man es nicht ſeyn!) ſo laͤßt ſich die Eine ſo gut, als die andere vertheidigen. Ueberdieß iſt ihre erwaͤhnte Eigenſchaft ein Merkmal, wodurch es wahrſcheinlich wird, daß jede derſelben von Einer Seite wenigſtens die Einrichtung unſerer Natur richtig angebe. Allein wenn wir eine ſolche Vorſtellung ſuchen, die als - denn nur entſtehet, wenn alle verſchiedenen Seiten der Sache mit einem Blick umfaſſet werden, nachdem man ſie einzeln vorher betrachtet hat, und die dazu nicht bloß mit allen Phaͤnomenen ſich reimen laͤßt, ſondern ſie alle als nothwendige Folgen der vorausgeſetzten innern Ein - richtung darſtellet und begreiflich macht; wenn wir nach einer ſolchen Hypotheſe uns umſehen: ſo werden wir ſchwerlich durch Eine von den beiden befriediget. Man findet an ihnen nichts mehr, als einſeitige Jdeen, die noch ſehr unvollſtaͤndig zu ſeyn ſcheinen, und die doch fuͤr vollſtaͤndig gehalten werden, und alſo inſofern etwas irriges mit ſich verbunden haben.

Sollte nun jede andere der uͤbrigen moͤglichen Hy - potheſen auf dieſelbige Art beurtheilet werden, wie es bey den vorhergehenden geſchehen iſt: ſo wuͤrden wir in eine Weitlaͤuftigkeit gerathen, die ich jetzo fuͤr unnoͤthig halte. Wir285im Menſchen. Wir kennen nunmehr die beſondern Erfahrungen, auf welche es am meiſten ankommt. Anſtatt mich alſo bey den folgenden in das Einzelne einzulaſſen, will ich einen allgemeinen Geſichtspunkt ſuchen, aus dem die ganze Verſchiedenheit bey unſern Seelenaͤußerungen, und be - ſonders bey der Reproduktion der Vorſtellungen zuſam - mengefaſſet, und mit jeder Jdee, die man ſich von dem Sitz der Vorſtellungen und des Vermoͤgens zu repro - duciren machen moͤchte, unmittelbar verglichen werden kann.

2.

Die Ordnung und Folge, in der die Veraͤnde - rungen des Organs und der Seele in uns entſtehen, wenn Jdeen von mehrern Objekten mit einander in der Empfindung verknuͤpfet werden, iſt das erſte, was in Betracht gezogen werden muß, und was die Grund - lage abgiebt zu der Jdee von der Folge, in der dieſe Veraͤnderungen wieder erneuert werden, wenn die Ob - jekte abweſend ſind. Wenn man es als einen Grund - ſatz annehmen koͤnnte, daß alles das, was bey der Empfindung in uns vorgehet, in derſelbigen Ordnung bey der Reproduktion wieder zuruͤckkehre: ſo ließe ſich die Frage vielleicht noch entſcheiden, ob es die Seele oder der Koͤrper ſey, welcher unmittelbar die Eine aſſo - ciirte Jdee auf der andern erwecket, und alſo die unmit - telbar reproducirende Kraft beſitze? Aber ſo iſt es nicht, wie ſich nachher zeigen wird. Jndeſſen laͤßt ſich am be - ſten uͤberſehen, worinn die Ordnung, in der die Re - produktionen erfolgen, von der Ordnung in der Empfin - dung abhaͤngt, wenn die letztere ſelbſt vorher naͤher be - trachtet iſt.

Man nehme alſo ein Beyſpiel von Empfindungen, wo mehrere Theile eines Ganzen nach einander uͤberſe - hen, und dann in der Vorſtellung zu Einer Totalideevon286XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenvon dem Ganzen gemacht werden; wenn ich z. E. zu - erſt den Thurm ſehe, und dann die Kirche, und dieſe beiden Jmpreſſionen zu einer Vorſtellung von der Kir - che mit einem Thurme, als von Einem Objekt, verbinde. Jn allen dieſen Faͤllen iſt zuerſt eine Jmpreſſion von dem aͤußern Objekt auf unſer Organ vorhan - den, die von dem Objekt als von ſeiner Urſache ſo ab - haͤngt, daß ſie ohne dieſe nicht entſtanden ſeyn wuͤrde. Das erſte alſo, was in uns bewirkt wird, iſt eine Ge - hirnsveraͤnderung, eine ſinnliche Bewegung in dem Gehirn, die von außenher kommt.

Auf dieſe folget die Modifikation der Seele, das intellektuelle Bild, wie die Alten ſagten, und das Gefuͤhl. Denn es verſteht ſich hier, daß man die Grundſaͤtze, welche allen dieſen Hypotheſen gemein - ſchaftlich ſind, annehmen muͤſſe: nemlich, daß die fuͤh - lende Seele von ihrem koͤrperlichen Organ unterſchieden iſt, und daß ſie durch die Veraͤnderung des Organs eine eigene Modifikation ihrer Kraft erhalte, welche als die phyſiſche Wirkung von jener Gehirnsveraͤnderung ange - ſehen werden kann.

So entſtehet die Jmpreſſion auf die Seele von dem Thurm. Nun aber erfolget drittens eine neue Rich - tung in dem Sinngliede. Wir wenden die Augen nach der Kirche hin. Und dieſe Wendung des Organs zu einer neuen Empfindung, die Aufmerkſamkeit im Ge - fuͤhl, oder das Hinſehen auf das Objekt, iſt eine Wir - kung, die von innen herausgehet, und ein gewiſſes Be - ſtreben der Seele zum Grunde hat. Sie iſt nicht bloß eine Veraͤnderung in der Lage des Organs. Sie iſt zugleich auch eine Art von Eroͤffnung des Organs, in - dem wir es dadurch gleichſam geſchickter machen, die Eindruͤcke von außen anzunehmen. Die Faſern werden, ſo zu ſagen, geſpannt zu der neuen Jmpreſſion, um ſol - che beſſer zu faſſen.

Man287im Menſchen.

Man wird hiebey nicht anſtoßen, wenn man nur ſolche Faͤlle zur naͤhern Erwaͤgung ausſuchet, worinn man mit Vorſatz und mit Bewußtſeyn von der Be - ſchauung des Einen zur Beſchauung des Andern uͤber - gehet. Denn freylich iſt es die meiſten Male eine Wir - kung von zufaͤlligen Umſtaͤnden, daß uns dieß oder jenes ins Auge faͤllt, ohne daß es eben eines Beſtrebens der Seele beduͤrfe, um das Auge zu richten; und auch als - denn, wenn wir von einem Objekt auf das naheliegende mit Fleiß hinſehen, findet ſich, daß wir gemeiniglich ſchon vorher das Ganze vorlaͤufig und fluͤchtig uͤberſehen haben. Und noch mehr. Wir koͤnnen eigentlich nie - mals mit Vorſatz die Augen von Einer Sache auf die andere hinlenken, ohne ſchon eine Vorſtellung von einer ſolchen Aktion aus unſern vorhergegangenen Empfin - dungen zu beſitzen. Wir muͤſſen vorher ſchon inſtinkt - maͤßig dergleichen Wendungen der Sinnglieder zu neuen Empfindungen unternommen haben. Allein dieß alles macht es doch im geringſten nicht zweifelhaft, daß es nicht von einer Selbſtbeſtimmung der Seele abhange, wenn wir mit dem Sinn auf etwas aufmerkſam ſind, oder ihn auf ein Objekt anwenden, um es zu betrachten. Selbſt nach dem organiſchen Syſtem des Hrn. Bon - nets kommt ein ſolches Beſtreben der Seele dazwiſchen, ehe auf die erſte Empfindung die zwote erfolget; nur daß die Art, wie man nach dem letztern ſich dieſe Aktion vorſtellen kann, etwas eigenes an ſich hat. Denn wenn die ganze Aktion der Seele auf die Gehirnsfibern dar - inn begraͤnzet iſt, daß ſie die einmal erregten Schwin - gungen fortſetzen oder nachlaſſen kann: ſo koͤnnte man auch ſagen, daß ſie, indem die eine Fiber ſchwinget, nicht unmittelbar eine andere ſpannen, oder die erſtere auf eine andere Art ſpannen, und alſo auch die neue Richtung des Organs nicht zuerſt anfangen koͤnne. Es ſey aber, daß eine Urſache im Gehirn liege, welche dieneue288XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenneue Richtung oder Spannung des Organs anfaͤngt: ſo bleibet doch noch uͤbrig, daß die Seele mit ihrer Aktion auf dieſe Fiber dazu komme, um ſolche voͤllig zu Stande zu bringen, ſo weit naͤmlich, daß die zwote folgende Jmpreſſion aufs Gehirn, und die intellektuelle Jdee in der Seele zu einer klaren Empfindung wird. Man wuͤrde dem innern Gefuͤhl Gewalt anthun, wenn man glauben wuͤrde, das Auge des Naturforſchers, der die Fruchttheile einer Pflanze nacheinander durchſucht, wuͤr - de bloß durch mechaniſche Bewegungen im Gehirn ohne Selbſtbeſtimmung der Seele auf einen Theil geheftet, und dann von dieſem zu dem andern fortgeſtoßen.

Jſt nun viertens das Organ auf das Objekt hin - gerichtet und zur Empfindung vorbereitet, oder iſt nur jenes allein geſchehen: denn wenn man auch das letztere fuͤr keine eigene Wirkung anſehen will, die von der Wendung des Organs unterſchieden ſey, ſo wird dieß wenig entſcheiden; ſo entſtehet von neuem eine Wirkung von den aͤußern Urſachen, und eine Jmpreſ - ſion oder ſinnliche Bewegung in dem Organ, und auf dieſe folget wiederum die dazu gehoͤrige Jmpreſſion in der Seele.

Die Reihe der Veraͤnderungen in den Empfindun - gen iſt alſo folgende: Jmpreſſion von außen aufs Organ, oder materielle Jdee; dann Seelenver - aͤnderung oder intellektuelle Jdee; darauf Aktion der Seele aufs Organ; alsdenn die zwote mate - rielle Jdee in dem Organ; und dann die zwote in - tellektuelle Jdee in der Seele.

3.

Jn der Empfindung iſt der Einfluß der aͤußern Ur - ſache unentbehrlich, wenn die Jdee der Kirche mit der Jdee von dem Thurm aſſociiret werden ſoll. Da dieſes Zwiſchenglied bey der Reproduktion wegfaͤllt, ſo mußdie289im Menſchen. die Reihe der innern Veraͤnderungen unter ſich ſelbſt in eine unmittelbare Verknuͤpfung gebracht worden ſeyn, in welcher ſie vor der Empfindung nicht geweſen iſt. Die Frage iſt alſo: iſt dieſe in dem Gehirn oder in der Seele zu Stande gekommen? Nach der bonnetiſchen Hypotheſe iſt ſie im Gehirn zwiſchen den materiellen Jdeen, wo auch nur allein die permanenten Spuren entſtanden ſind; nach der Erſtern iſt beides in der Seele geſchehen.

So viel iſt alſo außer Zweifel, daß Veraͤnderun - gen in uns, welche das erſtemal eine aͤußere Urſache er - foderten, erneuert werden koͤnnen, ohne eine ſolche zu haben. Warum ſoll dieſe Beſchaffenheit nur allein der Seele, und warum nur allein dem Gehirn zukommen?

Muͤßte man annehmen, daß bey der Reproduktion nur die aͤußern Einwirkungen ausfallen, ſonſten aber alles in der naͤmlichen Ordnung wieder hervorkomme, als es waͤhrend der Empfindung bewirket worden: ſo wuͤrde folgen, daß, wo auch die bleibenden und erweck - baren Spuren vorhanden ſeyn moͤgen, dennoch das Vermoͤgen ſolche wieder zu erwecken der Seele zukomme, welche unmittelbar die ſinnliche Bewe - gung in dem Gehirn und dadurch mittelbar die intel - lektuelle Jdee in ſich ſelbſt hervorbringet. Denn da die zwote ſinnliche Bewegung nicht ehe auf die erſtere folgte, als bis eine lenkende und ſpannende Aktion der Seele auf die Fiber dazwiſchen kam: ſo iſt es auch in der Re - produktion dieſe Spannung, wodurch die Fiber wie - derum in ihren ehemaligen Schwung gebracht wird. Es giebt alſo auch keinen unmittelbaren Uebergang im Gehirn von der erſten Schwingung auf die zwote: ſo wenig als in der Seele ein ſolcher von der erſten zu der zwoten intellektuellen Jdee ſtatt findet.

Und bey derſelbigen Vorausſetzung kann die intel - lektuelle Jdee in der Seele niemals anders in derII Theil. TSeele290XIII. Verſuch. Ueber das SeelenweſenSeele ſelbſt erneuert werden, als nur wie eine Folge der materiellen Jdee im Gehirn, die ſchon vorher erneuert ſeyn muß. Wenn man hiemit nun die Hypo - theſe verbindet, daß es allein das Gehirn ſey, welches eigentlich Spuren der ehemaligen Veraͤnderungen auf - behielte: ſo wuͤrde folgen, daß zwar das Gehirn der Sitz der materiellen Jdeen ſey, aber daß dieſe doch nur durch die Kraft der Seele wie - dererwecket werden koͤnnen, und daß ſie alſo im Gehirn zwar fuͤr Spuren ehemaliger Jmpreſſionen aber nicht fuͤr eigentliche Vorſtellungen angeſehen werden koͤnnten. Denn um Vorſtellungen im Gehirn zu ſeyn, muͤßten ſie auch durch die Kraft des Gehirns wieder er - neuert werden koͤnnen.

Es wuͤrde ferner folgen, daß die Reproduktion der Vorſtellungen ſo ſehr von beiden, von der Seele und von dem Gehirn, abhange, daß ſie nicht anders, als durch beider innigſte Vereinigung moͤglich ſey. Wenn in dem Gehirn die permanenten Spuren der ehemaligen Jmpreſſionen ſind, ſo erfodern ſie die Aktion der Seele, um wieder hervorzukommen, und die intellektuelle Jdee in der Seele erfodert die Reproduktion der Gehirns - bewegung.

Aber dieſer allgemeine Grundſatz, daß die Folge der Modifikationen in der Reproduktion dieſelbige ſeyn ſolle, wie ſie in den Empfindungen geweſen iſt, hat ſo manche Beobachtungen gegen ſich, daß man ihn zu einer Grundanlage einer neuen pſychologiſchen Hypo - theſe nicht wohl gebrauchen kann.

Zuerſt giebt es viele Jdeen, die eine Gemuͤthsbe - wegung zur Folge gehabt, und ſie als eine Wirkung nach ſich gezogen haben, welche doch in der Reproduktion nur dann erſt wiedererweckt werden, wenn ihre Wir - kung aus andern Urſachen ſchon gegenwaͤrtig iſt. Jhreriſt291im Menſchen. iſt ſchon mehrmalen erwaͤhnet worden. *)Erſter Verſuch VIII. S. auch oben VII. 9.Die Freude und die Traurigkeit, die jetzo durch eine angenehme oder widrige Nachricht erwecket wird, iſt die Veranlaſſung, daß wir auch von neuem uns ehemaliger aͤhnlicher Em - pfindungen erinnern, davon die Vorſtellungen ehedem dieſelbige Affektion verurſacht haben, nun aber durch die Aſſociation mit ihrer Wirkung als eine Folge von die - ſer letztern erneuert werden.

Dieß findet zwar nur in Hinſicht ganzer Vorſtel - lungen ſtatt, und es ließe ſich dabey wohl erinnern, daß daraus noch nicht folge, daß die ehemalige Ordnung, auch in Hinſicht der einfachen dazu erfoderlichen Thaͤ - tigkeiten in der Seele und in dem Organ, geaͤndert ſeyn duͤrfe. Aber auch jenes nur genommen, ſo ergiebt ſich doch ſo viel, daß wir es nicht durchaus als eine allge - meine Regel feſtſetzen koͤnnen, daß die Reproduktion in jedem Falle das Vergangene in der ehemaligen Folge wieder darſtelle. Es ſind freylich viele Beobachtungen, bey denen dieß Geſetz vorkommt, und es gehoͤrt zu den ſpeciellen Regeln der Phantaſie, welche die natuͤr - liche Ordnung bey der Reproduktion beſtimmen, in der ſie am leichteſten die Theile eines Ganzen darſtellet. Wenn wir Sprachen leicht verſtehen, die wir doch nicht ohne viele Muͤhe ſprechen oder ſchreiben, ſo kommt dieß zum Theil daher, weil die Phantaſie nur gewohnt iſt, den Gedanken mit dem Ausdruck als eine Folge von dieſem zu erneuern, aber es nicht gewohnt iſt, von dem Gedanken zu dem Ausdruck zuruͤckzugehen. Jnglei - chen findet ſich, daß wir ein Gebaͤude gemeiniglich in der Ordnung mit der Phantaſie durchgehen, daß wir von den untern Theilen anfangen, und bey den obern endigen; wie wir es bey den meiſten erhabenen Gegen - ſtaͤnden zu thun pflegen, die wir mit den Augen inT 2dieſer292XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſendieſer Ordnung geſehen, oder doch in dieſer Ordnung genauer betrachtet haben. Allein es iſt auch zugleich gewiß, daß wenn nur eine Veranlaſſung vorhanden iſt, die unſere Phantaſie zuerſt auf die obern Theile zuruͤck - fuͤhret, ſie eben ſo wohl die niedrigern in der Folge auf die hoͤhern reproducire, als die hoͤhern in der Folge auf die niedern. Die in der Empfindung entſtandene Ord - nung kann wenigſtens auf manche Art und durch ver - ſchiedene Urſachen in der Phantaſie umgekehret und den Jdeen eine andere Stellung gegeben werden, ohne daß dazu noͤthig ſey, daß auch die Jmpreſſionen in der Em - pfindung vorher einmal in der neu gemachten Ordnung haͤtten vorhanden ſeyn muͤſſen.

Zweytens iſt ja ohnedieß außer Zweifel, daß die aͤußern Urſachen, die auf uns wirken, bey der Repro - duktion aus der Reihe der wiedererneuerten Veraͤnde - rungen ausfallen. Alſo muß in dem Menſchen, es ſey nun in dem Organ oder in der Seele, eine Urſache vor - handen ſeyn, welche die Stelle der aͤußern Urſachen vertreten, und die Jmpreſſionen ohne dieſe erneuern koͤnne. Jn uns ſelbſt gehen wir alſo von einer Vor - ſtellung zur andern uͤber, ohne daß die aͤußere, dieſe Jmpreſſionen auf einander hervorbringende Urſache da iſt, die in der erſten Empfindung nothwendig dazwi - ſchen kommen mußte.

Endlich | drittens, wenn wir es wie eine moͤgliche Hypotheſe annehmen, daß die innern, zu einer Vor - ſtellung gehoͤrigen Seelen - und Gehirnsveraͤnderungen dennoch unter ſich in derſelbigen erſtern Folge wieder kommen, ſo oft die Vorſtellung reproduciret wird: ſo haben wir eine Hypotheſe, die als ein Mittel zwiſchen den beiden, welche vorher einzeln unterſucht ſind, alles und noch mehr eben ſo leicht erklaͤret, wie eine von die - ſen, und bey der weniger Phaͤnomene uͤbrig bleiben, die nur mit ihr zur Noth vereiniget werden koͤnnen. Der293im Menſchen. Der erſtern der obgedachten Erklaͤrungsarten ſtehet die große Abhaͤngigkeit der Vorſtellungen von der Organi - ſation im Wege; dieſer nicht. Mit der letztern von jenen laͤßt ſich die Selbſtmacht unſers Jchs uͤber die Vorſtellungen und das Selbſtbeſtreben, wenn wir uns auf etwas mit Fleiß beſinnen, nicht ohne Muͤhe verei - nigen; bey dieſer mittlern Hypotheſe iſt ſolches eine nothwendige Folge. Aber dennoch ſcheinen die unwill - kuͤrlichen Reproduktionen (VI. 4.), die oft wider das Beſtreben der Seele vor ſich gehen, ihr noch im Wege zu ſtehen. Sie koͤnnen zwar mit ihr vereinigt werden, aber es iſt keine ſo nothwendige Folge von ihr, daß der - gleichen Beobachtungen da ſeyn muͤßten. Jn dieſen, unwillkuͤrlich ſich aus dem Gehirn her aſſociirenden Vor - ſtellungen liegt der vornehmſte Grund der Wahrſchein - lichkeit fuͤr den Grundſatz in der mechaniſchen Pſycholo - gie, daß die materiellen Jdeen im Gehirn ſich einander erneuern, und zwar ohne Dazwiſchenkunft der Seele, welches bey dieſer letztern Hypotheſe wegfallen muͤßte.

4.

Kann man es als wahrſcheinlich anſehen, daß die materiellen Jdeen im Gehirn einander unmit - telbar erregen, und ſich oft dem Beſtreben der Seele entgegen ihr aufdringen, wenn das Gebluͤt in Wal - lung iſt und zum Gehirn draͤnget: ſo deucht mich, es ſey in demſelbigen Grade wahrſcheinlich, daß auch in der Seele die intellektuellen Modifikationen ſich einander unmittelbar erwecken, und oftmals das Ge - hirn, auch wenn es nicht zum beſten dazu aufgelegt iſt, in die zugehoͤrigen ſinnlichen Bewegungen verſetzen. So viele Erfahrungen von dem Einfluſſe koͤrperlicher Urſa - chen in den Schwung der Phantaſie das erſtere glaub - lich machen; eben ſo viele Erfahrungen hat man von dem Einfluſſe der ſelbſtthaͤtigen Beſtimmung unſers JchsT 3auf294XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenauf die Reproduktionen und auf den Zuſtand des Koͤr - pers, die das letztere beſtaͤtigen. Man hat Beyſpiele, daß eine ſtarke Seele, die ſich zu faſſen weis, ſo gar die aus einer Krankheit entſpringenden Unordnungen der Phantaſie bis auf einen gewiſſen Grad bezaͤhmen und maͤßigen kann. *)Wilhelm der Dritte, Prinz von Oranien ward 1675 mit gefaͤhrlichen Blattern befallen, in welcher Krank - heit ſein Vater das Leben verloren hatte. Der Prinz uͤberſtand ſie, und man ſchrieb dieß beſonders ſeiner Standhaftigkeit und Geiſtesſtaͤrke zu, wodurch er die Verirrung des Verſtandes abhielt, die in dieſer, wie vielleicht in allen andern Krankheiten, ſehr viel ſchlim - me Folgen hat. (Toze Geſchichte der vereinigten Niederlande; 10. B. S. 891.) An ſich iſt die Sache nicht unmoͤglich; und da derſelbige Prinz bey andern Gelegenheiten eine ſo große Selbſtmacht uͤber ſich bewie - ſen hat, ſo iſt es wahrſcheinlich, daß dieß Lob der Ge - ſchichte keine Schmeicheley ſey. Ueberhaupt hat das Haus Oranien eine ganze Reihe von Fuͤrſten hervorge - bracht, die ſich als Menſchen durch eine bewunderns - wuͤrdige Seelengroͤße auszeichneten.Die Wirkungen, die wir davon er - fahren, wenn die Seele ſich ſelbſtthaͤtig begreift, und die Macht, womit ſie alsdenn Jdeen hervorzieht, wel - che denen entgegen ſind, die das Gehirn ihr darſtellet, und die Reihen von neuen Vorſtellungen, die wir dar - um, weil wir ſtandhaft wollen, in uns hervorbringen und unterhalten: dieß alles ſind eben ſo viele Data, die uns in gleicher Maße auf den Gedanken fuͤhren, die Seele muͤſſe ihre einmal empfangenen Modifikationen aus ſich ſelbſt erneuern und alsdenn die entſprechende, materielle Jdee durch ihre Aktion aufs Gehirn hervor - ziehen koͤnnen, als umgekehrt die Macht der Phantaſie uͤber uns auf eine wiederſchwingende Kraft des Gehirns hinweiſet. Es gehoͤrt nicht viel Umſuchens dazu, um jeder Art von Beyſpielen, welche das letztere wahr -ſchein -295im Menſchen. ſcheinlich machen, andere entgegenzuſetzen, welche die Macht der Seele uͤber das Organ darthun. Und wenn die einzelnen Faͤlle von jenen etwan haͤufiger ſind, als von dieſen, ſo iſt ſolches leicht zu begreifen, da das letztere einen hoͤhern Grad der Selbſtthaͤtigkeit der Seele, das iſt, eine hoͤhere Geiſtesſtaͤrke erfodert, warum ſo wenig Menſchen ſich mit dem anhaltenden Eifer be - werben und bewerben koͤnnen, mit dem ſie nur erlanget werden kann, wenn ſie mehr als Temperament und Gehirnsſtaͤrke ſeyn ſoll, die nur ihr Analogon iſt.

Hieraus folget, wenn es wahrſcheinlich iſt, daß in dem Organ eine Aſſociation der ſinnlichen Bewegungen zu Stande kommt, ſo ſey es auch wahrſcheinlich, daß in der Seele die intellektuellen Jdeen auf aͤhnliche Weiſe aſſociirt, und in der Seele wie jene im Gehirn an einander gefuͤget werden, daß ſie ſich unmittelbar er - neuern koͤnnen, ohne daß die Aktion des andern Theils erfodert werde, welche anfangs dazwiſchen kam.

Aber dieß vorausgeſetzt, ſo iſt es nothwendig, daß ſowol in der Seele ſelbſt, als in dem Gehirn Spuren von den ehemaligen Modifikationen aufbewahret wer - den. Wie das Gehirn durch die erſten Jmpreſſionen in der Empfindung eine Diſpoſition empfangen muß, leichter auf dieſelbige Art ſich zu bewegen, weil ſonſten auf eine ſinnliche Bewegung unmittelbar keine andere folgen koͤnnte, ohne daß aus der Seele her ein Beſtre - ben oder Antrieb dazwiſchen ſtehe: ſo muß aus dem - ſelbigen Grunde in der Seele eine permanente Folge von der erſten Jmpreſſion zuruͤckgeblieben ſeyn, weil es ſonſten unmoͤglich waͤre, daß dieſe erneuert werden koͤnn - te, ohne durch die Aktion der wiedererneuerten Fiber - ſchwingung.

So wenig als die wiedererneuerte Gehirnsbewe - gung eine Vorſtellung iſt, von der wir wiſſen koͤn - nen, daß ſie da iſt, wenn nicht auch das Gefuͤhl derſelben,T 4und296XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenund alſo die entſprechende intellektuelle Jdee in der Seele, erneuert wird; eben ſo wenig kann die Seele es wiſſen, daß ſie eine Vorſtellung reproducirt habe, wenn nicht außer der intellektuellen Jdee auch die dazu gehoͤrige Bewegung im Gehirn vorhanden iſt und gefuͤhlet wird.

Wenn man aus allen dieſen die Jdee herauszieht, auf welche die verſchiedenſten Beobachtungen als auf einen Mittelpunkt zuſammenlaufen: ſo deucht mich, jedoch ſey dieß ſo geſagt, wie man es ſagt, wenn man lebhaft fuͤhlet, wie dunkel alles herum iſt, und wie leicht man mit der Vermuthung irren koͤnne! man komme auf eine Hypotheſe, die ob ſie gleich zuſammen - geſetzet zu ſeyn ſcheinet, doch in der That einfoͤrmig iſt, und allen Phaͤnomenen auf die leichteſte Art eine Gnuͤge thut. Von dieſer will ich die Grundzuͤge herſetzen.

Sowol in der Seele ſelbſt, als in dem Gehirn oder dem innern Organ der Seele, bleiben Spuren zuruͤck, theils von den Jmpreſſionen, die wir von außen erhalten, theils auch von den uͤbrigen Modifika - tionen, die durch innere Urſachen hervorgebracht werden, und die wir vermittelſt des Selbſtgefuͤhls erkennen.

Da man dergleichen in dem Gehirn, als einem or - ganiſirten Koͤrper, ſo leicht zugiebt: was hat es denn fuͤr beſondere Schwierigkeiten, ſich vorzuſtellen, daß ſie auch in der Seele ſelbſt ſeyn koͤnnen? Sind ſie in dem Gehirn, ſo fuͤhren ſie doch am Ende auf gewiſſe Mo - difikationen der einfachen Weſen zuruͤck, woraus das Gehirn beſtehet. Wir moͤgen ſie uns wie Diſpoſitio - nen, Tendenzen oder wirkliche, zuſammengezogene, ge - ſchwaͤchte Bewegungen vorſtellen, oder wie wir wollen, ſo iſt eine Luͤcke in dem Syſtem, wenn man nicht an - nimmt, daß auch unſer Jch dergleichen in ſich habe, wie oben (VII. 8.) iſt erinnert worden. Jſt die Seele eine von dem Gehirn unterſchiedene, fuͤr ſich beſtehende,ſub -297im Menſchen. ſubſtanzielle Einheit, und dieß iſt hier ein Grundſatz, ohne den es faſt thoͤricht ſeyn wuͤrde, auf dieſe Erklaͤ - rungsarten zu denken: warum koͤnnte nicht in ihr und in ihrer Kraft, als in Einem Subjekt, eine dergleichen Mannichfaltigkeit von Beſchaffenheiten gedacht werden? Sie iſt doch nicht bloß die ſubſtanzielle Kraft des Ge - hirns, wenn ſie ein eigenes fuͤr ſich beſtehendes Weſen iſt. Wenn es denen, die nicht Metaphyſiker ſind, et - wan zu ſchwer ankommt, ſich in dem Einfachen eine Mannichfaltigkeit vorzuſtellen, ſo ſteht es ihnen frey, dieſem Dinge eine ideelle Ausdehnung beyzulegen, wodurch die ſinnliche Vorſtellung in der Phantaſie er - leichtert wird.

Sowohl in der Seele, als in dem Gehirn, kommt eine ſolche Aſſociation der nachgebliebenen Spuren zu Stande, daß ſie ſich einander unmittel - bar erneuern koͤnnen. Die Seele kann von einer intellektuellen Jdee zu der andern in ihr uͤbergehen, ohne daß ein Eindruck von dem Gehirn dazwiſchen komme; und im Gehirn kann eine Schwingung die andere her - vorziehen, ohne daß die Seele durch ihre Aktion ſie er - regen duͤrfe.

Wenn eine materielle Jdee im Gehirn erneuert wird, ſo erfolgt wegen der Vereinigung des Organs mit der Seele, und ihrer ununterbrochenen Wirkung und Ruͤckwirkung auf einander die intellektuelle Vor - ſtellung in der Seele; und alsdann iſt eine ganze Vor - ſtellung da, die als gegenwaͤrtig gefuͤhlt und gewahr - genommen werden kann. Aber die Jdee in der Seele wird mehr oder minder entwickelt, je nachdem die Seele ſelbſt minder oder mehr ſich der Aktion des Gehirns uͤberlaͤßt, und ihre Kraft ſelbſtthaͤtig anwendet, die geiſtige Modifikation ihrer Kraft anzunehmen. Aeuſ - ſert die Seele dagegen ein Beſtreben, eine andere in - tellektuelle Jdee hervorzuziehn, und mit dieſer die ihrT 5entſpre -298XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenentſprechende Gehirnsbeſchaffenheit, und hat ſie Staͤrke genug, dieß Beſtreben zur vollen Aktion zu bringen: ſo kann die Wirkung der erſtern materiellen Gehirns - bewegung auf ſie nur ſchwach und unendlich geringe ſeyn. Wie viele von den Gehirnsſchwingungen moͤgen nicht wohl wiedererneuert werden, ohne daß ſie zugleich in der Seele die dazu gehoͤrigen materiellen Jdeen in der Maße hervorbringen, daß eine klare und beobacht - bare Vorſtellung zu Stande kommt?

Wiederum, wenn die Seelenbeſchaffenheit in der Seele ſich entwickelt, ſo erfolget auch durch die ununter - brochene Aktion der Seele aufs Gehirn die ihr entſpre - chende ſinnliche Bewegung in dieſem, und es entſteht eine Vorſtellung, die gewahrgenommen werden kann; um deſto mehr, deſto leichter und geſchwinder, je mehr das Gehirn aufgelegt iſt, die dazu gehoͤrigen ſinnlichen Bewegungen zu erneuern, und je weniger andere Ur - ſachen andere entgegengeſetzte Schwingungen veranlaſ - ſen. Wie viele innere Aktionen mag die Seele wohl bey ſich ſelbſt vornehmen, und wie oft wohl in ihrem Jnnern wirkſam ſeyn, Jdeen zuſammenſetzen und trennen, ohne daß wir um dieſe einzelnen Aktionen et - was wiſſen, weil wir ſie nicht fuͤhlen koͤnnen?

Dieſe Hypotheſe erklaͤrt die Aeußerungen der Seele von allen Seiten; ſie laͤßt uns des Menſchen Groͤße und Schwaͤche begreifen; begreifen, wie wenig die Seele ohne Koͤrper iſt, und wie ſehr ſie von allen Urſachen abhaͤngt, die in jenen einen Einfluß haben; und auch auf der andern Seite, wie wenig das Gehirn ohne Seele iſt, und wie ſehr es von den Urſachen abhaͤngt, die auf die Seele wirken. Sie macht den Unterſchied zwiſchen unwillkuͤrlichen Vorſtellungen und zwiſchen denen, die von unſerer Selbſtbeſtimmung abhangen, begreiflich; und erklaͤret, wie zwiſchen der Staͤrke des Gehirns und der Staͤrke der Seele, ſo unentbehrlichdie299im Menſchen. die eine zu der andern iſt, und ſo innig ſie einander be - gleiten, dennoch ein Unterſchied vorkomme, der in den innern Empfindungen ſich unmittelbar bemerklich macht. Mit einem Wort, dieſe Hypotheſe haͤngt mit allem dem zuſammen, was uns bisher von der Natur unſers Seelenweſens aus Beobachtungen bekannt iſt.

Beweiſe, daß dieſe Vermuthung mehr als Ver - muthung ſey, weiß ich nicht. Aber um doch ſo viel als moͤglich zu ihrer Beſtaͤtigung aufzuſuchen, habe ich uͤber die thieriſche Natur bey dem Menſchen eine Be - trachtung angeſtellet, aus der ein analogiſcher Beweis fuͤr ſie gefuͤhret werden kann. Dieß hat die folgende Digreſſion veranlaſſet.

IX. Verſuch aus der Analogie der Seelennatur des Menſchen mit ſeiner thieriſchen Natur, die Einrichtung der erſtern aufzuklaͤren.

Erſte Abtheilung.

  • 1) Worinn die Analogie der Seelennatur und der thieriſchen Natur in dem Men - ſchen beſtehe? Weſentliche Beſtandtheile der thieriſchen Natur.
  • 2) Wie die Seelenkraft mit der Koͤrper - kraft in der thieriſchen Natur in Vereini - gung bey den thieriſchen Bewegungen wirke. Die thieriſchen Bewegungen haben eine Verbindung mit einander in dem Koͤr - per, und auch eine vermittelſt der Seele.
  • 3) Fragen uͤber die beſtimmte Art dieſer Zu - ſammenwirkung. Wie weit die Seelen -kraft300XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenkraft die Koͤrperkraͤfte und dieſe jene erſe - tzen koͤnnen?
  • 4) Von den bloß organiſchen Bewegungs - reihen. Einige ſind natuͤrlich nothwen - dig; andere ſind zufaͤllig entſtanden.
  • 5) Es aſſociiren ſich organiſche Bewegungen in dem Koͤrper, wie Vorſtellungen in der Seele.
  • 6) Charakter der bloß organiſchen Bewe - gungsreihen.
  • 7) Wie weit die Seele bey dieſen mitwirke, und ihre Verbindung von der Seelenkraft abhange?
  • 8) Fortſetzung des vorhergehenden.
  • 9) Von den willkuͤrlich aſſociirten Bewe - gungen.
  • 10) Wie weit es organiſche Aſſociationen in dem Koͤrper gebe, die zu den willkuͤrli - chen Reihen gehoͤren; und ob die organi - ſchen Reihen, ohne Beywirkung der Seele, durch die Koͤrperkraͤfte hervorgebracht wer - den koͤnnen?
  • 11) Wie weit die Aktion der Seele und der Koͤrperkraͤfte ſich hiebey einander modificiren; und wie ferne die Bewegungsreihen durch die letztern allein, oder durch die Seele allein, erfolgen koͤnnen?
  • 12) Von den uͤbrigen Bewegungsreihen, die zum Theil willkuͤrlich, zum Theil bloß or - ganiſch ſind.

13) Ob301im Menſchen.

  • 13) Ob es der Analogie der Natur gemaͤß ſey, die Jnſekten und andere unvollkommene Thiere fuͤr ſeelenloſe Weſen zu halten? Von dem Uebergange von beſeelten zu un - beſeelten Weſen.

1.

Bey der thieriſchen Natur des Menſchen, die ihm inſofern zukommt, als er ein aus dem Seelen - weſen und aus einem organiſirten Koͤrper zuſammenge - ſetztes Ganze iſt (oben I.), ſind freylich noch ſo manche Dunkelheiten zuruͤck, daß, wenn wir aus der Analogie derſelben mit der Natur des Seelenweſens uns die Einrichtung des letztern begreiflicher zu machen ſuchen, dieß anfangs den Schein haben kann, als wollte man in einer unergruͤndlichen Tiefe einen feſten Boden ſuchen, von dem man in eine andere Tiefe hinabſteigen koͤnne. Wer kennt die Natur der organiſchen Kraͤfte in dem Koͤrper, oder der Nervenkraͤfte, und ihre innige Verbindung mit der Seele, als dem vorſtellenden und denkenden Weſen? Und da man dieſe nicht kennet: ſo ſcheint ſolche auch nicht gebraucht werden zu koͤnnen, um die Art der Verbindung zwiſchen den beiden we - ſentlichen Beſtandtheilen des Seelenweſens ſich vorſtel - lig zu machen. Aber dennoch hat der Fleis der ſcharf - ſinnigen Phyſiologen und Aerzte, (und ich habe ſchon vorhin geſagt, wie hoch ich beſonders die Bemuͤhun - gen des Hrn. D. Unzers ſchaͤtze, die er in ſeiner klaſ - ſiſchen Schrift, der Phyſiologie der thieriſchen Natur, angewendet hat;) etwas entdecket, das ſo be - ſchaffen iſt, daß, wenn wir die beiden Seiten des See - lenweſens nur auf dieſelbige Art zu beobachten Gelegen - heit| haͤtten, wir wenigſtens uͤber die vorgedachten Hy - potheſen von dem Sitze der Vorſtellungen und derPhan -302XIII. Verſuch. Ueber das SeelenweſenPhantaſie zu einiger ziemlichen Wahrſcheinlichkeit ge - langen wuͤrden, ob gleich immer noch in andern Hin - ſichten die Vereinigung des Jchs mit ſeinem Organ ein verſtecktes und vielleicht nie zu enthuͤllendes Geheimniß bleiben mag. Man hat Gelegenheiten gehabt, die thieriſche Natur unter Umſtaͤnden zu beobachten, wo es, wenn nicht voͤllig evident, doch ſehr wahrſcheinlich iſt, daß nur Einer ihrer weſentlichen Theile bey ihren Aeuſ - ſerungen wirkſam war. Was die Seele ohne Koͤrper in Hinſicht ſolcher Wirkungen vermag, die das Zuthun von beiden erfodern, das konnte man haͤufig genug be - obachten; nur gab dieß allein nicht Licht genug. Aber man hat nachher auch Erfahrungen gehabt von dem, was der Mechanismus des Koͤrpers in Hinſicht derſel - bigen Wirkungen ausrichtet, wo man gewiß iſt, daß die vorſtellende und wollende Seele keinen Antheil dar - an haben, und das Jhrige wie ſonſten nicht beytragen konnte. Und dieſe Fakta zeigen auf eine naͤhere Art, wozu jeder der gedachten beiden Beſtandtheile der thie - riſchen Natur, allein fuͤr ſich, vermoͤgend ſey. Da dieß es eben iſt, was wir vor der Hand nur bey der Seelen - natur in Hinſicht der Vorſtellungen aufſuchen, ſo oͤffnet ſich hier allerdings eine Ausſicht vor uns, wenn wir glauben, der Analogie nachgehen zu duͤrfen. Viel - leicht iſt es nur ein matter Schimmer, der durchfaͤllt; aber auch dieſer iſt doch ein willkommenes Licht, wo es ſonſten ſtockfinſter iſt.

Die Analogie der Seelennatur und der thieri - ſchen Natur im Menſchen iſt der Standort, von dem die Betrachtung ausgehen ſoll. Hiebey aber will ich in Hinſicht auf dasjenige, was ich von der letztern, als nunmehr zu einer phyſiſchen Gewißheit gebrachten, und aus Beobachtungen hoͤchſtwahrſcheinlich gefolgerten Ein - ſicht anfuͤhren werde, mich uͤberhaupt auf die mehrge - dachte Unzerſche Phyſiologie, und auf die vonHerrn303im Menſchen. Herrn Unzern gebrauchte Halleriſche Phyſiologie beziehen. Wo es auf Beobachtungen ankommt, die auf Zeugniſſen beruhen, da habe ich mich bemuͤhet, ſo weit ich gekonnt, zu den erſten Augenzeugen zuruͤckzu - gehen. Allein ich will hiemit nicht ſagen, daß ich in dem ganzen Lehrbegriffe mit dem Hrn. Unzer voͤllig uͤbereinſtimme. Jch gebrauche eigentlich nur ſeine Be - obachtungen, und die aus dieſen gezogenen Allgemein - ſaͤtze, die mir als ſolche vorkommen, denen man eine phyſiſche Gewißheit zuſchreiben koͤnne. Ueberhaupt iſt zu bedenken, daß nur die erſten Linien in unſrer Wiſ - ſenſchaft von der thieriſchen Natur gezogen, und dem Fleiße der kuͤnftigen Beobachter noch das meiſte uͤber - laſſen ſey; indem theils hie und da die Anzahl der Bey - ſpiele noch unzulaͤnglich zu ſeyn ſcheint, allgemeine Saͤ - tze darauf zu bauen; theils auch noch an vielen die ge - nauern Beſtimmungen fehlen, ohne welche ſie nur Halb - wahrheiten ſeyn koͤnnen, worauf ich ſelbſt in dem Fol - genden bey einigen von ihnen aufmerkſam zu machen ſu - chen werde.

Die Seelennatur der Menſchen beſtehet aus der Verbindung zweyer Weſen und Kraͤfte; aus der Seele naͤmlich im pſychologiſchen Verſtande, oder dem unkoͤr - perlichen Jch, und aus dem Vorſtellungswerkzeuge. Beide wirken in Vereinigung mit einander, und eine Seelenaͤußerung, die beobachtet und unterſucht worden, iſt eine Wirkung des ganzen Seelenweſens, und iſt in dieſem Ganzen, ſo, daß beide Arten von Kraͤften, die Kraft der Seele, und die koͤrperlichen Kraͤfte des Organs oder des Gehirns, das Jhrige dazu beytragen.

Nun iſt die thieriſche Natur des Menſchen auf eine aͤhnliche Art etwas zuſammengeſetztes, davon die Seele im phyſiologiſchen Verſtande, das iſt, das geſammte fuͤhlende, vorſtellende, denkende und wollende Weſen den Einen, und der organiſirte Koͤrper mitNerven -304XIII. Verſuch. Ueber das SeelenweſenNerven - und Muskelkraͤften, das iſt, der ganze thie - riſche Koͤrper mit allen ſeinen innern und aͤußern Theilen, nur das Vorſtellungswerkzeug ausgenommen, den zweeten weſentlichen Beſtandtheil ausmachet. Der organiſirte Koͤrper hat vermoͤge der Organiſation ſeine eignen koͤrperlichen Kraͤfte; und die Seele hat die ihrigen, die man Vorſtellungskraͤfte, oder mit Hrn. Unzer Seelenkraͤfte nennen kann, ſo wie jene im Gegenſatz Nervenkraͤfte; obgleich die eigentlichen Nervenkraͤfte, die von beſonderer Natur ſind, noch wiederum von den bloß mechaniſchen Kraͤften, das iſt, von ſolchen, die wir auch bey unorganiſchen Koͤrpern und Materien antreffen, unterſchieden werden koͤnnen, und auch in gewiſſen Hinſichten unterſchieden werden muͤſſen. Zu jenen gehoͤren die Empfindlichkeit in den Nerven und die Reizbarkeit in den Muskeln, die uns zur Zeit noch ſehr unbekannt, und groͤßtentheils bloß Eigenſchaf - ten der Thiere ſind; obgleich allerdings auch einigen Pflanzen, und einigen Theilen anderer Pflanzen, ein gewiſſer Grad davon zuzukommen ſcheinet. *)S. des Hrn. Medicus Aufſatz, von der Neigung der Pflanzen ſich zu begatten, in der Hiſt. et Comment. Acad. Theodoro-Palatinae Vol. III. S. 116. Jnglei - chen die Rede des Grafen Joh. Baptiſt von Corolo, uͤber die Reizbarkeit einiger Blumen, uͤberſetzt in dem Naturforſcher, 6. Stuͤck S. 216. ff.Die Wirkungen aller dieſer koͤrperlichen Kraͤfte aber, ſie moͤ - gen bloß mechaniſche ſeyn, oder aus der Organiſation entſpringen, oder nur der vollkommnern Organiſation der thieriſchen Koͤrper eigen ſeyn, beſtehen bey dem Menſchen uͤberhaupt theils in Bewegungen, die ſie in dem Koͤrper hervorbringen, und theils in den innern Jmpreſſionen, die ſie der Seele zufuͤhren, wodurch dieſe ihrer Natur gemaͤß modificiret und zur Thaͤtig - keit erreget wird.

Hier305im Menſchen.

Hier haben wir alſo die Analogie der Seelen - natur mit der thieriſchen. Was in jener die un - koͤrperliche einfache Seele iſt, das iſt in dieſer das ganze Seelenweſen; und was in jener das Seelenorgan iſt, das ſind in dieſer die Kraͤfte des organiſirten Koͤrpers und beſonders die Nervenkraͤfte. Jn der Seelenna - tur wirket das Jch mit ſeinem koͤrperlichen Organ in Verbindung, und die Wirkungen ihrer vereinigten Kraft ſind theils Seelenveraͤnderungen, theils ſinnliche Bewegungen in dem Organ; in der thieriſchen Na - tur wirket das Seelenweſen mit ſeinem organiſirten Koͤr - per in Verbindung, und die Wirkungen davon ſind theils Veraͤnderungen des Seelenweſens ſelbſt, theils thieriſche Bewegungen in dem Koͤrper, und zu beiden Arten dieſer Wirkungen kommen die beiden Grundkraͤfte der thieriſchen Natur zuſammen. Beide wirken, wenn Empfindungen und Triebe in der Seele entſtehen, und beide wirken vereiniget, wenn thieriſche Bewegungen in dem Koͤrper erfolgen. Aber da dieſe Zuſammenwirkung nur von der Seite zu betrachten iſt, wo ſie uns zu einem analogiſchen Begriffe von dem Kon - kurs der Seele zu den Veraͤnderungen des Seelenweſens fuͤhren kann: ſo wird man ſie am meiſten nur von der - jenigen Seite anzuſehen haben, an der die thieriſchen Bewegungen in dem Koͤrper von ihr abhangen. Sie iſt auch an dieſer Seite, wenn nicht uͤberhaupt etwas mehr bekannt, als an der andern, wo ſie Veraͤnde - rungen in dem Seelenweſen hervorbringet: doch durch einige neuern Beobachtungen in ſo ferne etwas bekann - ter geworden, daß ſich zu unſerer Abſicht aus ihr etwas folgern laͤſſet. Da Seelenkraͤfte und Nervenkraͤfte ſich zu thieriſchen Bewegungen vereinigen: ſo hat es ſich ge - zeigt, daß faſt dieſelbigen oder doch aͤhnliche Wirkun - gen erfolgen, wo Eine oder die andere Art derſelben ih - ren gewoͤhnlichen Beytrag nicht geleiſtet hat; und daßII Theil. Uda,306XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenda, wo ſonſten nur Eine allein oder doch vornaͤmlich zu wirken pfleget, zuweilen die andere jener ihrer Stelle in etwas erſetzen koͤnne. Dieß iſt es eben, was uns uͤber die Art ihrer Verbindung etwas naͤheres ſehen, und wovon ſich der Aehnlichkeit wegen auf eine gleiche Be - ziehung der Seele auf ihr Organ in der Seelennatur, etwas wahrſcheinliches folgern laͤßt.

2.

Wenn von aͤußern Gegenſtaͤnden Eindruͤcke auf un - ſern Koͤrper, es ſey unmittelbar auf die empfindlichen Nerven oder auf die reizbaren Muskeln gemacht wer - den; die Reizbarkeit mag von der Empfindlichkeit der Nerven urſpruͤnglich abhangen, oder eine eigene hetero - gene Grundkraft ſeyn, wie ſie in den Beobachtungen er - ſcheint: ſo erfolgen auf die von außen auffallenden Ein - druͤcke ganze Reihen von Veraͤnderungen und Bewegun - gen, die innerhalb des Menſchen vor ſich gehen, und von denen hier beſonders diejenigen in Betracht zu zie - hen ſind, die ſich mit einer koͤrperlichen Bewegung en - digen, welche man als das letzte Glied in ſolchen Rei - hen anſehen kann. Jch ſehe unvermuthet einen Stein vom Dach auf mich zufallen, und hoͤre dieſen Schall; ich fahre zuſammen und ſpringe aus dem Wege. Hier haben wir eine ſolche Reihe von Veraͤnderungen, die mit einer Jmpreſſion auf die Nerven des Geſichts und des Gehoͤrs anfieng, und ſich mit der Bewegung endigte, mit der ich wegſprang. Alsdenn beſinne ich mich wieder, und es entſtehet eine neue Reihe. Ferner: eine Arzney kommt in den Magen und wirket; und es erfolget eine Ausleerung. Dieß iſt wiederum eine Reihe von Veraͤnderungen, die ſich von der Aktion ei - ner aͤußern Urſache auf den Koͤrper anfaͤngt, und da - von das letzte Glied, als ihr Ende, eine Bewegung in dem Koͤrper iſt.

Solche307im Menſchen.

Solche Reihen von Veraͤnderungen machen gleich - ſam einen Fluß aus, der an den Stellen in den Koͤrper hineintritt, wo der erſte Eindruck geſchieht, und da wiederum herausgehet, wo die letzte Bewegung erfolget, die ſie beſchließet. Die Nerven ſind die Kanaͤle deſſel - ben in dem Koͤrper, oder doch die vornehmſten von die - ſen. Jede unterſchiedene Reihe nimmt ihren eigenen Weg, der aber den Lauf einer andern Reihe durchſchneiden, ſich mit der letztern vereinigen, auch nur auf eine Stre - cke fort mit ihr zuſammenfließen, und ſich nachher wie - der von ihr trennen kann.

Eine ſolche Reihe kann gaͤnzlich innerhalb des orga - niſirten Koͤrpers liegen, und alsdenn iſt ſie eine Rethe bloß koͤrperlicher Veraͤnderungen. Der Eindruck ſteiget, um auf des Hr. Unzers Art mich auszudru - cken, in den Nerven hinauf bis an einen oder den andern Nervenknoten, und wendet ſich von da zu einem andern Nerven hin, bis in die Theile der Maſchine, worinn die letzte Bewegung hervorgebracht wird. Solch ein Durch - gang ſetzet gewiſſe thaͤtige Kraͤfte in den Faſern und Fi - bern voraus, welche koͤrperliche Kraͤfte ſind. Wie die - ſe aber beſchaffen ſind, und wie es uͤberhaupt bey dieſer Mittheilung und Fortpflanzung der Bewegungen zugehe, und nach welchen Geſetzen ſie erfolgen, da ſie den Geſe - tzen der gemeinen Mechanik nicht unterworfen ſind, ſo weit wir ſie bis jetzo kennen, das gehoͤret hier nicht her weiter zu unterſuchen.

Wenn aber ein Eindruck von außen auch Gefuͤhl und Empfindung und Kraftbeſtimmung in der Seele erreget, ſo iſt auch eine Reihe von Veraͤnderungen da, die bis zum Gehirn hinauf, und durch und uͤber die Seele gehet. Dieſe kann kuͤrzer und laͤnger ſeyn; aus einer Jmpreſſion auf die Seele, und aus einer Zuruͤck - wirkung der Seele auf das Organ beſtehen, worauf denn ein neuer Druck gegen den Koͤrper folgen muß;U 2oder308XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenoder auch weiter in der Seele herumgehen, naͤmlich zu - erſt eine Empfindung bewirken, dann die Vorſtellungs - kraft und das Ueberlegungsvermoͤgen erwecken, und nach einer Reihe von Ueberlegungen eine Willensaͤußerung her - vorbringen. Ueberhaupt aber faͤngt jede ſolche Reihe, ſo weit ſie in der Seele iſt, mit einer Jmpreſſion auf die Seele an, und muß, woferne ſie von einigem Ein - fluß auf die nachher im Koͤrper erfolgenden Veraͤnderun - gen ſeyn ſoll, ſich mit einer Aktion der Seele auf den Koͤrper endigen, welche in einer Anwendung ihrer thaͤ - tigen Kraft beſtehet. Denn wenn ſie bloß angenommen und gefuͤhlet, auch wohl uͤberdacht wird, ohne daß eine Veraͤnderung im Koͤrper von dem Zuthun der Seele erfolget: ſo verhaͤlt die Seele ſich bey ihr bloß wie ein muͤßiger Zuſchauer, auf den nicht zu rechnen iſt, wenn die phyſiſchen Verknuͤpfungen zu unterſuchen ſind.

Es eraͤugnet ſich oft genug, daß die Seele eine Be - wegung hervorbringen will, und ſich dazu bemuͤhet, die dennoch auf ihr Beſtreben nicht erfolget. Aber wir koͤn - nen dieſe Faͤlle hier uͤbergehen und nur auf ſolche Ruͤck - ſicht nehmen, wo das geſchieht, wenigſtens zum Theil geſchieht, was die Seele will, und wohin ſie ihre Kraft anwendet; und wo alſo der Erfolg zum Theil als eine Wirkung von ihrer bewegenden Kraft abhanget. Jn der Seele ſelbſt machen die Jdeenreihen in dieſen Faͤllen gleichſam die Leiter aus, uͤber und durch welche die Fortpflanzung geſchieht, wie die Nerven in dem Koͤrper bey den Bewegungen. Und dieſelbige Jmpreſſion oder Empfindung in der Seele kann mit demſelbigen Wollen, oder mit derſelbigen Kraftaͤußerung auf den Koͤrper, durch mehrere verſchiedene Jdeenreihen verbunden ſeyn, und auch hier bald uͤber einen laͤngern bald einen kuͤrzern Weg fortgehen.

Um den allgemeinen Geſichtspunkt, aus dem ich die Sache vorſtellen will, deſto mehr zu beſtimmen,wollen309im Menſchen. wollen wir zunaͤchſt auf ſolche Bewegungen ſehen, die wir unter dem Namen der thieriſchen unterſcheiden, weil wir aus dem Gefuͤhl es zu wiſſen glauben, daß ſie von den vereinigten Seelen - und Koͤrperkraͤften abhan - gen. Diejenigen, die zuverlaͤßig bloß mechaniſch oder organiſch mit ihrem erſten Reiz in Verbindung ſtehen, ſollen nachher vorgenommen werden. Sehen wir alſo die ganze Reihe der Veraͤnderungen durch, von dem Ein - drucke an, der ſie zuerſt erreget, bis auf die letzte Bewe - gung, die ſie beſchließet: ſo muß zwar zwiſchen dieſen eine Verbindung und Mittheilung ſtatt finden, die uͤber das Gehirn und durch die Seele gehet; und durch die - ſen Weg wird ſie gefuͤhrt, ſo oft ſie thieriſch verrichtet, das iſt, durch den Einfluß der Seele beſtimmt wird.

Aber wir koͤnnen uns als moͤglich vorſtellen, daß der erſte Theil einer ſolchen Reihe, den man den hin - eingehenden nennen kann, mit dem folgenden, der wieder herausgehet, auf eine zweyfache Art verbunden ſey, und gleichſam durch zween Kanaͤle in den letzten uͤber - gehen koͤnne, davon Einer ganz allein in dem Koͤrper lieget, außer der vorftellenden und wollenden Seele, der andere aber uͤber die Seele gehet. Die beiden Ver - aͤnderungsreihen moͤgen nun in allen ihren Gliedern, die zwiſchen dem erſten und dem letzten liegen, von einan - der unterſchieden ſeyn, oder auch beide ſo weit ſie in den Koͤrper fallen dieſelbigen ſeyn, ſo daß diejenige, wel - che uͤber die Seele gehet, nur bey dem Eintritt in die - ſelbe, das iſt, bey der Empfindung von der zwoten ab - weichet, und wiederum bey dem Austritt aus der See - le, das iſt da, wo die Bewegungskraft der Seele ſich auf den Koͤrper aͤußert, mit ihr ſich vereiniget. Die ſo gleich anzufuͤhrenden Beobachtungen lehren, daß man ſich auf dieſe Art die Sache vorſtellen koͤnne, ja faſt vor - ſtellen muͤſſe. Denn wenn man nur eine Verbindung allein mittelſt der Seele bey den thieriſchen Reihen an -U 3nehmen310XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſennehmen wollte: ſo wuͤrde dasjenige ſich nicht zeigen koͤn - nen, was bey verſchiedenen nunmehro außer Zweifel ge - ſetzet iſt; wenn aber eine ſolche zweyfache Verbindung angenommen wird: ſo kann die thieriſche Bewegung, die auf einen Eindruck erfolget, entweder allein mit - telſt der Seele verbunden ſeyn, oder auch auf beide Ar - ten zugleich, ſo daß die Mittheilung durch den Weg ge - het, der gaͤnzlich in dem Koͤrper lieget, und zugleich auch durch den, der uͤber die Seele gehet, und bey je - nem von der Aktion der Koͤrperkraͤfte, bey dieſem von der Seelenkraft abhaͤnget. Jn ſolchen Faͤllen aber, wo die hineingehende Bewegung, die auf einen aͤußern Ein - druck erfolget, mit der herausgehenden Bewegung, nur allein in dem Koͤrper, ohne durch die Seele zu ge - hen, verbunden iſt, da erfolget ſie bloß organiſch; und wenn ſie ſonſten eine thieriſche Veraͤnderung iſt, ſo wird ſie alsdenn doch nicht thieriſch, das iſt, durch die thieriſche Natur, ſondern allein durch die Organiſa - tion des Koͤrpers hervorgebracht.

Nun hat man Beobachtungen von Thieren, die des Kopfs und des Gehirns, und wie man alſo mit Wahrſcheinlichkeit annehmen kann, auch zugleich der Seele beraubt geweſen ſind, und demunerachtet auf gewiſſe ſinnliche Eindruͤcke auf den Koͤrper gewiſſe Be - wegungen hervorgebracht haben, die ſonſten thieriſch ſind, oder nach unſern ſonſtigen Erfahrungen dafuͤr ge - halten werden muͤſſen, ſo daß es, wenn nicht die offen - bare Beobachtung es lehrte, ſchwer ſeyn wuͤrde zu glauben, daß ſie anders als mittelſt des Gehirns und der Seele erfolgen koͤnnten. So kriechet, um nur ein paar Beyſpiele zur Erlaͤuterung anzufuͤhren, eine Schildkroͤte noch lange Zeit fort und lebet, nachdem ihr der Kopf abgeſchnitten worden iſt. Enthauptete Flie - gen putzen ſich noch mit ihren Vorderfuͤßen, gerade ſo, als wenn der Kopf noch an ſeiner Stelle ſaͤße, und flie -gen311im Menſchen. gen davon. Den Grillen nimmt man den Kopf ab, und dennoch locken ſie durch das Schwirren ihrer Fluͤ - gel einander zur Begattung, und gewiſſe Schmetterlin - ge ſollen ſich ſogar, einer aͤhnlichen Beraubung unerach - tet, wirklich begatten, wenn ſie nur vorhero, welcher Umſtand hier wohl zu bemerken iſt, dergleichen ſchon mehrmalen in dem Leben verrichtet, und alſo dieſer Handlung gewohnt ſind. Wenn der Kopf des Thiers fehlt, ſo fehlet auch der Zuſammenhang zwiſchen dem erſten Eindruck und den herausgehenden Bewegungen, der in dem Kopfe und in der Seele ſeyn konnte; und da dennoch die Verbindung nicht gaͤnzlich aufhoͤret, ſo iſt es offenbar, daß außer dem Gehirn in dem organiſchen Koͤrper und in den Nerven ein Konduktor vorhanden ſeyn muͤſſe, durch welchen die Reihe von Eindruͤcken und Bewegungen fortgepflanzet werden.

Dagegen giebt es eine Menge von Beyſpielen, daß auf eine lebhafte Einbildung und auf das damit verbun - dene Wollen der Seele, ohne einen vorhergegangenen koͤrperlichen Eindruck, ſolche Bewegungen in dem thie - riſchen Koͤrper erfolgen, die ſonſten nur entſtehen, wenn ein ſie bewirkender Eindruck von außen vorhanden iſt. Hieher gehoͤren faſt alle Wirkungen der Einbildungs - kraft, wovon die Aerzte ſo viele beſondere Erfahrungen haben. So hat z. B. jemanden getraͤumet, daß er ein Purgirmittel eingenommen; und es iſt entſtanden, was ſonſten nur von der Arzney gewirket wird. Ein anderer hat Brod in Geſtalt der Pillen genommen, wo - mit ihn der Arzt hintergangen hatte; und es iſt eine Ausleerung erfolget auf eine ſolche Art, wie wahre Pil - len ſie hervorgebracht haͤtten. Dieſe letzte Erfahrung iſt hier noch mehr entſcheidend, als die vorhergehende. Denn bey jener konnte es etwas zweifelhaft ſeyn, ob die Vorſtellung im Traume die wahre Urſache von der koͤr - perlichen Bewegung geweſen, ſondern nicht vielmehrU 4nur312XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſennur eine begleitende Wirkung einer andern koͤrperlichen Urſache ſey, welche die Phantaſie zu gleicher Zeit in Bewegung geſetzet, da ſie der Koͤrper zur Ausleerung reizte. Aber bey der letztern Beobachtung faͤllt dieſer Zweifel weg. Denn es iſt uͤber die Maße unwahr - fcheinlich, daß der durch uͤberſilberte Brodkoͤrner zum Purgiren gebrachte Kranke, ohne den Gebrauch dieſes Scheinmittels, durch andere Naturkraͤfte eben zu der Zeit und auf ſolche Art von der Verſtopfung befreyet worden waͤre.

Dieſe und unzaͤhlig andere Beobachtungen lehren offen - bar, daß gewiſſe Veraͤnderungsreihen, die ſonſten nur mechaniſch erfolgen, und nur in dem organiſirten Koͤr - per ihre Verbindung haben, ſo daß die Seele ſich ſelbſt nur fuͤr eine Zuſchauerin bey ihnen zu halten pfleget, dennoch in einer Kommunikation unter einander ſtehen, die von der Seele abhaͤngt. Denn es zeiget ſich ja, daß, wenn nur eine Vorſtellung in der Seele hervorge - bracht werden kann, welche der Empfindung an Lebhaf - tigkeit und Staͤrke nahe kommt, ſo moͤge der koͤrperli - che Eindruck von außen und deſſen phyſiſche Folgen, ſo weit ſie den hineingehenden Theil der ganzen Reihe und die Urſache der wiederherausgehenden Bewegungen aus - machen, fehlen, dennoch aus der Seele her die heraus - gehenden Bewegungen in den Nerven und Muskeln bewirket werden koͤnnen. Dieß lehret auch nebenher, was Stahl vielleicht nur zu weit getrieben hatte, daß ein großer Theil unſerer koͤrperlichen Veraͤnderungen, die wir fuͤr bloß mechaniſche oder organiſche anzuſehen pflegen, in der That thieriſche Veraͤnderungen ſind.

3.

Dieſe Beobachtungen geben zwar dem allgemeinen Begriffe von der thieriſchen Natur, nach welchem ſie aus einer Vereinigung zwoer ungleichartiger Kraͤfte, naͤm -lich313im Menſchen. lich der Seelenkraͤfte und der Nervenkraͤfte beſtehet, eine naͤhere Beſtimmung, indem ſie uns lehren, daß bey gewiſſen Wirkungen die Eine Gattung von Kraͤften die Stelle der andern, bis auf eine gewiſſe Graͤnze hin, erſetzen und Bewegungen hervorbringen koͤnne, die ſonſten nur beiden in Verbindung zugehoͤren. Allein ehe davon eine beſtimmte Anwendung auf die Seelen - natur gemacht wird, muß die Erfahrung umſtaͤndlicher noch uͤber folgende Punkte befragt werden.

1) Sollte wohl jedesmal, wo der erſte Eindruck auf die Empfindungswerkzeuge geſchieht, und dar - auf eine Bewegung in dem organiſirten Koͤrper des lebenden Thiers erfolget, eine phyſiſche Verbindung des erſten Eindrucks mit ihrer Wirkung in dem Koͤr - per allein vorhanden ſeyn koͤnnen? Und wenn es bey einigen Arten von Eindruͤcken auf die Sinnglieder, und unter gewiſſen Umſtaͤnden ſich ſo verhaͤlt, was ſind dieß fuͤr welche? Oder iſt auch in ſolchen Faͤllen jedes - mal zugleich eine andere Verbindung da, welche uͤber die Seele gehet, ſo daß der Eindruck auf die Nerven, eine Jmpreſſion in der Seele, dieſe eine Kraft - aͤußerung der Seele, und dieſe wiederum die koͤr - perliche Bewegung hervorbringe? Sind dieſe bei - den Verbindungen zugleich ſchon von Natur vorhan - den, ſind ſie ſchon das erſtemal vorhanden, da auf einen Eindruck eine Bewegung erfolget? Oder kann etwan Eine oder die andere von dieſen Verbindungen mit der Zeit zu Stande kommen, und eine Wirkung der Uebung und Gewohnheit werden, wenn die naͤm - liche Reihe von Veraͤnderungen mehrmalen vorhanden geweſen iſt?

Es verſtehet ſich dabey von ſelbſt, daß unter dem aͤußern Eindruck auf das Empfindungswerkzeug zugleich auch ein jeder Reiz begriffen wird, den man dem Or - gan außer dem Gehirn beybringet, wenn gleich die rei -U 5zende314XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenzende Urſache nicht außer dem Umfange unſers Koͤr - pers, ſondern innerhalb deſſelben iſt, wie bey den in - nern koͤrperlichen Gefuͤhlen, bey der Empfindung des Hungers, des Durſtes, der Kopfſchmerzen, des Wohl - befindens und des Uebelſeyns, und ſo ferner.

2) Wo beide dieſe Verbindungen nach der Ausſage der Beobachtungen vorhanden ſind, wie wirken ſie als - denn in Vereinigung mit einander? und in wie weit kann der Fluß, der uͤber die Seele gehet, denjenigen, der in dem Koͤrper ſeinen Weg hat, modificiren, ver - ſtaͤrken oder aufhalten?

3) Jn wie weit kann die Kommunikation auf dem Einen Wege allein unterhalten werden, ſo daß die Be - wegung auf den Eindruck erfolget, wenn gleich der an - dere Weg zum Theil oder gaͤnzlich verſperret iſt? Unter welchen Umſtaͤnden und Bedingungen koͤnnen Vorſtel - lungen und Seelenkraft da, wo der koͤrperliche Ein - druck und alſo die gewoͤhnlichen wirkenden Nerven - kraͤfte fehlen, daſſelbige oder das aͤhnliche hervorbrin - gen? Und wiederum, unter welchen Umſtaͤnden koͤn - nen allein die Nervenkraͤfte oder die organiſchen Urſachen, ohne Empfindung in der Seele und ohne Ge - hirn, den mangelnden Beytrag, der von den Kraͤften des Seelenweſens abhaͤngt, erſetzen? Es iſt nicht zweifelhaft, daß dieß uͤberhaupt moͤglich ſey, wie aus den vorherangefuͤhrten Erfahrungen, und aus einer Menge anderer, zum Theil auch aus den Unzerſchen Raiſonnements klar iſt. Aber es iſt um die genauern Bedingungen zu thun, die man wiſſen muß, wenn wir uͤber dieſen Beytrag der beiden Arten von Kraͤften zu einer thieriſchen Verrichtung beſtimmter urtheilen, und daraus eine analogiſche Jdee von der Vereinigung des Jchs und des innern Organs der Vorſtellung her - ausbringen wollen. Vielleicht koͤnnte die Erſetzung der Seelenkraͤfte durch die Nervenkraͤfte und dieſer durchjene315im Menſchen. jene, ob ſie gleich uͤberhaupt vorhanden iſt, dennoch ſo eingeſchraͤnkt ſeyn, daß ſie ſo gut, als gar nicht vor - handen angeſehen werden muͤßte. Wer die Unzerſche Phyſiologie ſtudirt hat, wird auf dieſe Fragen die Antworten fuͤr viele Faͤlle darinnen angetroffen haben. Da ich ſolche aber ſelbſt aus den Beobachtungen fuͤr mich aufgeſucht, ſo ſey es mir auch erlaubt, ſie auf meine eigene Art herzuſetzen.

4.

Es werden gemeiniglich die koͤrperlichen Bewe - gungen in zwo Klaſſen gebracht; in die unwillkuͤrli - chen, mechaniſchen, und in die willkuͤrlichen. Aber ſobald man nur ein wenig auf die große Mannichfaltig - keit von beiden aufmerkſam iſt, muß man bemerken, daß die mehreſten von ihnen, ſowohl von denen, die zu den unwillkuͤrlichen, als von denen, die zu den willkuͤr - lichen gerechnet werden, beides, dem Einfluſſe des Wil - lens, und den Geſetzen der Organiſation unterworfen, und nur darinn von einander unterſchieden ſind, daß bey der Einen Gattung die Seele, bey der andern der Mechanismus des Koͤrpers, die vornehmſte und meiſt beſtimmende Urſache ſey. Jhr Unterſchied beruhet alſo auf dem Mehr oder Minder in dem Verhaͤltniſſe, worinnen die Seelenkraͤfte und Koͤrperkraͤfte in ihrer Vereinigung gegen einander ſtehen. Daher giebt es zwiſchen denen, die am meiſten unwillkuͤrlich, und de - nen die am meiſten willkuͤrlich ſind, unzaͤhlige Mittel - arten, die zwiſchen den beiden aͤußerſten ſtehen, und bald der Einen, bald der andern Gattung naͤher ſind. Das naͤmliche kann von unſern Reihen von Veraͤnderungen in dem Koͤrper geſagt werden. Aber wenn man die beiden Gattungen unterſucht, welche die aͤußerſten ſind, und die am weiteſten von einander abſtehen, ſo iſt es leichter die Natur der mittlern Arten zu begreifen.

Die316XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen

Die organiſchen Reihen von Veraͤnderungen lie - gen ganz in dem Koͤrper, ſind eine Folge des Or - ganismus, und werden durch organiſche Kraͤfte hervor - gebracht. Einige von ihnen ſind natuͤrlich noth - wendig. Man reize oder ſteche die Muskel; ſo zieht ſie ſich zuſammen, und dehnt ſich wieder aus, wechſels - weiſe. Es falle ein ſtarkes Licht auf die Augen; und der Stern verenget ſich. Man bringe ein Brech - oder Purgirmittel in den Magen; und es erfolget auf dieſe Eindruͤcke eine Ausleerung durch die Naturkraͤfte des Koͤrpers, ſo nothwendig als eine Wagſchale niederſtei - get, wenn man ein Uebergewicht in ſie leget, oder als die Uhr in Bewegung geſetzt wird, wenn man ihre Feder ſpannet, oder ihr Gewicht aufziehet.

Jn dieſen, die natuͤrlich nothwendig ſind, iſt der Eindruck die beſtimmende Urſache; und die erfolgte Bewegung iſt ihre beſtimmte Wirkung. Jener be - ſtimmt nicht nur die Groͤße der Bewegung, ihre Ge - ſchwindigkeit und Dauer, ſondern auch das Glied des Koͤrpers, in welchem ſie hervorgebracht wird. Der Magen wird durch das Medikament zu einer krampf - haften Bewegung gereizet, und dieſe Bewegung gehet weiter in die Gedaͤrme. Das Licht, das auf die Augen faͤllt, wirket in den Stern des Auges auf eine beſtimm - te nothwendige Weiſe.

Es giebt andere organiſche aber doch zufaͤllige Verbindungen, die nicht voͤllig, noch allein, durch die Natur der Maſchine, ſondern auch durch zufaͤllige aͤuſ - ſere Umſtaͤnde und durch die dermalige Lage des Koͤr - pers gegen andere Dinge beſtimmt werden, welche vor - handen ſind, wenn die erfolgte Bewegung bewirket wird. Der Schmerz in einem Gliede empoͤrt das ganze Ner - venſyſtem. Jſt aber der Koͤrper ſo feſt eingewickelt, wie ein Kind in ſeinen Windeln, und haͤtte er nur al - lein die Fuͤße frey, ſo wird er mit den Fuͤßen um ſichſtoßen,317im Menſchen. ſtoßen, und es wird eine Bewegung entſtehen, die viel - leicht nicht erfolgt ſeyn wuͤrde, wenn der Koͤrper ſich in einer Lage befunden haͤtte, in der er ſeine Glieder mit voͤlliger Freyheit haͤtte gebrauchen koͤnnen.

Wenn dieſelbige aͤußerliche Veranlaſſung mehrma - len wiederum vorhanden iſt zu der Zeit, wenn auch eben - derſelbige Eindruck wiederum auffaͤllt: ſo entſtehet eine groͤßere Leichtigkeit, eine Bewegung in einem be - ſtimmten Gliede mit dieſem Eindrucke zu verbinden, die endlich zur Fertigkeit und Gewohnheit wird. Denn auf dieſe Art wird eine Aſſociation von zwoen, ihrer Na - tur nach eben nicht mit einander verknuͤpften, Veraͤnde - rungen zu Stande gebracht. Dergleichen Gewohnhei - ten ſetzen ſich ſehr geſchwind in uns feſt, wie man bey den Kindern gewahrnimmt. Von Natur iſt es wohl nicht beſtimmt, daß der rechte Fuß zuerſt vorausgeſetzet werde, wenn wir aufſtehen und fortgehen, ſondern es iſt groͤßtentheils eine zufaͤllig entſtandene und feſtgeſetzte Gewohnheit. Ein Kind, das eine Sache haben will, die man ihm vorhaͤlt, oder zu einer Perſon hinwill, aͤuſ - ſert anfangs nur ein unbeſtimmtes Beſtreben ſeines Koͤrpers zur Bewegung; allein man darf nur Ein oder etliche mal ſeinen Arm nach der Sache hingefuͤhret, und dieſe ihm in die Hand gegeben haben, ſo wird es in der Folge bey einem naͤmlichen Beſtreben ſich zu bewegen die Arme ausſtrecken und mit den Haͤnden faſſen wollen.

5.

Aus dieſen Beyſpielen kann man ſchon vermuthen, was aus ſo vielen andern offenbar wird, daß es naͤmlich eine Aſſociation organiſcher Bewegungen in dem Koͤrper gebe, die darinnen der Aſſociation der Vor - ſtellungen in der Seele aͤhnlich iſt, daß mehrere Bewe - gungen, deren eine die andere nicht nothwendig be - ſtimmt, ſich dennoch in eine Verbindung ſetzen, ſo daßeine318XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſeneine die andere wieder erwecken und nach ſich ziehen kann, ob ſie gleich anfangs zufaͤlliger Weiſe auf einan - der erfolgt ſind. Wie weit ſich dieſe koͤrperliche Aſ - ſociation der Bewegungen erſtrecke, ob ſolche eben ſo weit gehe, als die Aſſociation der Jdeen, und ob auch hier die nachfolgende Bewegung die vorher - gehende, eben ſo wie die vorhergehende ihre nachfol - gende, erwecken koͤnne, wie es bey den aſſociirten Jdeen geſchieht: das iſt noch naͤher zu unterſuchen. Denn wenn ein gewiſſer Eindruck einmal eine gewiſſe Wir - kung gehabt hat, die nicht nothwendig mit ihr verbun - den war: ſo iſt ſie doch die unbeſtimmte phyſiſche Urſa - che deſſelben geweſen; und es iſt begreiflich, wenn ſie mehrmalen nach einander auf einerley Art zu einer be - ſondern Wirkung, durch gewiſſe begleitende Umſtaͤnde, gelenket worden iſt, wie ſie nun kuͤnftig, auch wenn die - ſe Umſtaͤnde fehlen, dieſelbige Richtung nehmen koͤnne. Die Begierde des Kindes zu einem Objekt, das man ihm vorhaͤlt und ihm angenehm machet, wirkte an - fangs nur einen unbeſtimmten Trieb in dem ganzen Koͤrper ſich zu bewegen, der aber durch zufaͤllige Um - ſtaͤnde vorzuͤglich in den Arm oder in die Fuͤße geleitet wurde. Wenn nun nachher ein ſolches Beſtreben wie - der vorhanden iſt, ſo findet der Trieb denſelbigen Weg als den leichteſten vor ſich, der ſchon gebahnt iſt; und die Bewegung erfolget in ihrer Richtung, weil die Kraft hier die wenigſten Hinderniſſe antrift. Aber wenn nun eine ſolche Bewegung in den Haͤnden und Fuͤßen durch andere Urſachen, etwan durch Kraͤmpfe, oder ſonſten hervorgebracht wird, ſollte dieſe wohl in die Gefaͤße zuruͤcktreten, aus denen die ehemalige Bewe - gung hervorgieng, und in dieſen auch die vormaligen Veraͤnderungen erwecken? Sollte wiederum eine Be - gierde etwas zu nehmen oder zu faſſen erreget werden; und noch weiter zuruͤck, in den Werkzeugen des Ge -ſichts,319im Menſchen. ſichts, auf welche der Eindruck von dem Gegenſtande fiel, der vorher die Begierde und den Trieb zur Bewe - gung der Haͤnde hervorbrachte, etwan aͤhnliche Schwingungen reproducirt werden? Die Phantaſie reproduciret doch in der Seele die Jdee von einer Ur - ſache bey der Jdee von ihrer Wirkung.

Daß es uͤberhaupt eine Aſſociation organiſcher Bewegungen im Koͤrper gebe, iſt, wie ſchon erin - nert, außer Zweifel. Um nur einiges zum Beweis an - zufuͤhren, ſo kann man ſich auf die ganze Menge zufaͤl - liger koͤrperlicher Gewohnheiten berufen, die jeder Menſch in ſeinen Minen und Geberden, in der Stel - lung des Koͤrpers, in dem Gange und in ſeiner Art ſich zu bewegen und zu handeln annimmt. Man triſt in ihnen allen gewiſſe angereihete koͤrperliche Bewegun - gen an, die ihrer Natur nach einander nicht hervorbrin - gen, noch ſo auf einander folgen. Bacon hat es ſchon angemerket, daß, wenn einmal das Gebluͤt durch eine zufaͤllige Urſache, durch eine Empfindung oder Vorſtel - lung, in eine beſondere Wallung gebracht iſt und ſich erhitzet hat, man nachhero bey einem aͤhnlichen Zuſtan - de des Koͤrpers eine Anwandlung von neuem erhitzet zu werden finde, wenn gleich die ehemalige Vorſtellung in der Seele nicht da iſt, die das erſtemal das Austre - ten der Kraͤfte veranlaßte. Gewiſſe Perſonen, die an einem Tage nach der Mahlzeit eine Veranlaſſung ge - habt hatten ſich heftig zu erzuͤrnen, wurden den fol - genden Tag nach der Mahlzeit wiederum von uͤbler Lau - ne befallen, bey der ſie ihre Anwandlung zum Zorn mit Muͤhe zuruͤckhielten, ob ſie gleich alsdenn an das Ge - ſchehene des vorigen Tages nicht gedachten, oder doch nur nebenher ſichs einfallen ließen. Noch mehr wird man ſich hiervon uͤberzeugen, wenn man auf die Schwie - rigkeiten Acht hat, die ein jeder antrift, der ſich von gewiſſen ſchon eingewurzelten koͤrperlichen Gewohnheitenlosma -320XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenlosmachen will. Alsdenn erfaͤhret man, daß die Be - wegungen in dem Koͤrper oft wider das Beſtreben der Seele, die ſolche zuruͤckhalten will, ihren gewohnten Gang gehen. Und wenn man gleich hiebey den Ver - dacht haben wollte, daß dieſe Aſſociation vielleicht nicht bloß organiſch ſey, ſondern von einer Verbindung der Vorſtellungen in der Seele abhaͤnge, ſo faͤllt ſolcher doch weg, wenn man ſolche Beyſpiele betrachtet, der - gleichen ich nachher anfuͤhren will, wo die Wirkung die - ſer Aſſociation der Bewegungen auch bey enthaupteten Thieren vorkommt.

Nun aber deucht mich, duͤrfe man nur auf dieſelbi - gen Erfahrungen aufmerkſam ſeyn, um zu ſehen, daß dieſe organiſche Aſſociation auch darinn der Jdeenver - knuͤpfung in der Phantaſie aͤhnlich ſey, daß die Bewe - gungen ſich in der umgekehrten Folge erwecken, in der ſie zuerſt entſtanden ſind. Jch habe oben (VIII. 3.) an - gefuͤhrt, in wie ferne dieſe Veraͤnderung der Ordnung in den Reproduktionen auch bey den Vorſtellun - gen in der Seele ihre Grenzen habe, und daß die Jdeen allemal leichter und natuͤrlicher der Ord - nung der Empfindungen folgen, als in einer andern. So iſt es auch bey den koͤrperlichen Bewegungen. Wie in den Jdeen die Urſache Wirkung, und dieſe jene wird, ſo erreget auch in den aſſociirten Bewegungen die nachfolgende die vorhergehende, oder eigentlich die Anwandlung zu ihr, wovon eigentlich nur die Rede iſt. Die wirkliche Bewegung iſt hier, was bey den Vorſtellungen die Empfindung iſt, und der Anſatz dazu, der Anfang oder die Anwandlung derſelben iſt das Parallel von der bloßen Vorſtellung, die ſich eben ſo auf ihre Empfindung beziehet. Nun erreget aber die Empfindung von der Wirkung nur die Vor - ſtellung von der Urſache, nicht ihre Empfindung ſelbſt; daher kann man auch bey den aſſociirten Bewegungennicht321im Menſchen. nicht mehr erwarten, als daß die Eine, welche gegen - waͤrtig iſt, die Anwandlungen zu der zwoten hervor - bringe. Und dieß lehret die Erfahrung. Wer ſich an - gewoͤhnet hat, gewiſſe Handlungen mit einem Theile des Koͤrpers mit gewiſſen Bewegungen anderer Theile zu begleiten, wird die letztern nicht leicht wiederholen, ohne ein Beſtreben zu empfinden, auch die erſtern vor - zunehmen, ohnerachtet dieſe vor jenen vorhergegangen ſind. Der Organiſt hat anfangs mit den Fingern auf dem Klavier ſpielen gelernet, und nachher auf der Or - gel die Bewegungen mit den Fuͤßen damit verbunden. Sobald er ſich auf eine Bank ſetzet, und die Fuͤße ſo beweget, als wenn er aufs Pedal tritt, ſo wird ſeine Ge - wohnheit ihn auch reizen, mit den Fingern ſo zu ſchla - gen, als wenn er die Klaves der Orgel vor ſich haͤtte.

6.

Gehen wir wiederum zuruͤck zu den organiſchen Reihen, die als eine eigene Gattung hier angenom - men worden ſind, ſo finden wir bey ihnen einen zweyfa - chen Charakter. Einmal ſollen ſie ihren Grund allein in den Kraͤften des organiſchen Koͤrpers haben, und durch dieſe bey der Lage, worinnen ſich der Koͤrper befindet, voͤllig beſtimmt werden, ohne daß die Seele zur Verbindung der Wirkung mit ihrer Urſache etwas beytrage; oder doch ſo daß, wenn ſie auch dabey thaͤ - tig iſt, ſie doch keinen weitern Einfluß darinn hat, als inſofern ſie durch ihre Aktion die wirkſame organiſche Kraft in dem Koͤrper uͤberhaupt in Thaͤtigkeit erhaͤlt. Wenn die Arzney in dem Koͤrper wirket, oder das Kind, durch einen ſtarken Knall erſchuͤttert, zuſammenfaͤhrt und aͤngſtlich thut: ſo ſind dieß darum und inſoferne or - ganiſche Veraͤnderungsreihen, weil die Seele entweder gar keinen Antheil daran hat, und hoͤchſtens nicht mehr als Zuſchauerin derſelben iſt, oder wenn ſie auch als einII Theil. XGlied322XIII. Verſuch. Ueber das SeelenweſenGlied der ganzen Reihe mitwirket, dennoch davon die Urſache nicht iſt, daß gerade eine ſolche Bewegung auf einen ſolchen Eindruck erfolget. Dieſe letztere Verbin - dung haͤngt allein von dem Zuſammenhange der Nerven, und von der Organiſation ab. Auf dieſe Art ſtellen wir uns wenigſtens die Verbindung in ſolchen Reihen vor, die von der Willkuͤr der Seele unabhaͤngig ſind. Daß es aber in dem Menſchen dergleichen bloß organiſche Reihen gebe, oder doch ſolche, die ihnen nahe kommen, wird ſich aus dem folgenden offenbaren.

Jhr zweeter Charakter iſt dieſer: Sie ſind nur be - ſtimmt in Hinſicht der Art der Bewegung und der Art und Weiſe der Aktion, welche erfolget, nicht aber in Hinſicht des aͤußern Gegenſtandes, wor - auf die Aktion gerichtet wird. Die durch organiſche Kraͤfte beſtimmten Bewegungen koͤnnen weiter durch ihre koͤrperlichen Urſachen nicht beſtimmt ſeyn, als nur inſoferne, daß in gewiſſen Theilen des Koͤrpers ge - wiſſe Beſtrebungen und Bewegungen erfolgen; nicht dahin, daß dieſe beſonders auf ein gewiſſes Objekt ge - richtet ſind. Alle organiſche Handlungen ſind alſo nur der Form nach beſtimmt, das iſt, in ſo weit ſie in ge - wiſſen Thaͤtigkeitsarten und Kraftaͤußerungen beſtehen. Ein hitziger Kopf wird auf der Gaſſe an den Arm ge - ſtoßen; er faͤhrt auf, und greift nach ſeinem Degen. Er wuͤrde unter andern Umſtaͤnden einen Stock oder eine Peitſche ergriffen haben, da ſeine Bewegung nach dem Degen, als einem beſondern Werkzeuge ſeiner Rache, durch die entſtandene Leidenſchaft, und die dadurch er - regte organiſche Aktion des Koͤrpers nicht beſtimmt ſeyn konnte. Hiezu, daß ſeine Bewegung nach dem Degen gieng, war eine Jdee in der Seele nothwendig, die ſich zu dem Hange ſich zu vertheidigen geſellen mußte. Alſo giebt es in dieſer Handlung eine Reihe von Ver - aͤnderungen, die nicht gaͤnzlich zu den organiſchen ge -hoͤren323im Menſchen. hoͤren kann. Jn der Seele unterſcheidet man die Trie - be, wohin auch die angebornen, oder die Jnſtinkte zu rechnen ſind, als bloße Beſtrebungen zu gewiſſen Thaͤtigkeitsarten, von den Begierden, welche auf be - ſtimmte Objekte gerichtet ſind. Die bloß organi - ſchen Vewegungen ſind in dem Koͤrper daſſelbige, was Trieb und Jnſtinkte in der Seele ſind.

An und fuͤr ſich iſt es doch nicht unmoͤglich, wie die Liebhaber der mechaniſchen Phyſiologie es ſich vorſtellen, daß es dergleichen bloß organiſche Folgen von Ver - aͤnderungen in dem Koͤrper gebe, woran auch in dem lebenden Thiere die Seele nicht den geringſten Antheil hat, die ſie nicht fuͤhlet und noch weniger gewahr - nimmt. Geſetzt aber, man wollte hierinn nach Stahls Grundſaͤtzen denken, und jede Veraͤnderung in dem Koͤr - per des lebenden Thiers fuͤr eine wahre thieriſche Ver - aͤnderung anſehen, woran die Seele als fuͤhlendes, und der Koͤrper als bewegendes, Weſen einigen Antheil habe: ſo iſt ſo viel offenbar, daß die Beywirkung der Seele bey denen Veraͤnderungen, die wir fuͤr die unwillkuͤr - lichſten halten, ſehr eingeſchraͤnkt und unbedeutend ſeyn muͤſſe. Man kann alſo den Beytrag der Seele allen - falls nur als einen ſolchen anſehen, der in der Theorie zwar als wirklich vorhanden angenommen werden muͤſſe, aber in der Anwendung fuͤr nichts geachtet werden koͤn - ne. Die Seele iſt bey ihnen, wenn ſie ſolche fuͤhlt und erkennet, bloß Zuſchauerin und hoͤchſtens nichts mehr, als was die Seele in dem Gehirn nach der Bonneti - ſchen Hypotheſe iſt, die in einigen Faͤllen das Vermoͤ - gen beſitzet, die ſinnlichen Bewegungen in den Fibern, welche ſich ſelbſt aneinander reihen, zu verſtaͤrken und zu ſchwaͤchen. Aber dazu iſt die Seele nicht faͤhig, daß ſie ſolche von neuem aus ſich bewirken, oder die Ord - nung, in der ſie nach der Struktur des Koͤrpers erfol - gen, auf eine andere Art umaͤndern koͤnnte, als inſo -X 2ferne324XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenferne ſie, durch ihre ſtaͤrkere oder ſchwaͤchere Ruͤckwir - kung auf den Koͤrper, neue Aktionen der organiſchen Kraͤfte veranlaßte.

Dieſer Unterſcheidungsmerkmale unerachtet iſt es doch ſchwer in einzelnen Faͤllen es genau zu beſtimmen, welche Bewegungsreihen und welche Theile in ihnen als bloß organiſch oder triebartig anzuſehen ſind. Die Schwierigkeiten werden noch groͤßer, wenn man dieje - nigen, die allein durch die Organiſation des Koͤrpers, und zwar nothwendig beſtimmt ſind, von denen, die anfangs ihren erſten Grund in der zufaͤlligen Lage des Koͤrpers gehabt, und ſich nachher feſtgeſetzet haben, das iſt, die natuͤrlich nothwendigen von den hin - zugekommenen, unterſcheiden will. Daß wir den rechten Fuß vor dem linken vorausſetzen, und die rechte Hand mehr und fertiger gebrauchen als die linke, iſt nicht von Natur nothwendig, gehoͤret aber zu den Hand - lungsweiſen, woran der Koͤrper ſich ohne Zuthun der Seele gewoͤhnt hat; und daß ein hungriges Kind nach einer Sache mit den Haͤnden greift, muß ebenfalls zu der letzten Art gerechnet werden. Die natuͤrlich noth - wendigen organiſchen Fertigkeiten machen ohne Zweifel nur die kleinſte Klaſſe aus. Das Herz zie - het ſich zuſammen, wenn es gereizet wird, auch noch, nachdem es von dem Koͤrper getrennet iſt; und die Muskeln an dem in Stuͤcken zerſchnittenen Fiſche gera - then noch in krampfhafte Bewegungen. Der Stern im Auge verenget ſich bey einem ſtarken Lichte. Der Magen und die Gedaͤrme werden durch die Speiſen zu ihren wurmfoͤrmigen Bewegungen gereizet und derglei - chen mehr. Dieß ſind organiſch nothwendige Wir - kungen.

Dagegen ſind noch jetzo die beruͤhmteſten Phyſiolo - gen mit ſich daruͤber nicht einig, ob das Athemholen eine bloß organiſche Wirkung des Koͤrpers ſey? Einigehalten325im Menſchen. halten die Beywirkung der Seele dazu fuͤr nothwendig. Wenn dieß nur dahin erklaͤrt wird, daß der Trieb in der Seele, der aus der Beaͤngſtigung entſtehet, wenn der Umlauf des Bluts gehindert wird, die allgemeine Urſache ſey, welche die organiſchen Kraͤfte des Koͤrpers in Bewegung ſetzet: ſo wuͤrde dieſer Antheil der Seele nicht hindern, daß die Reihe von Veraͤnderungen, wo - durch die Bruſtmuskeln auf einen Eindruck des Gebluͤts in Bewegung kommen, nicht eine bloß organiſche Reihe ſeyn koͤnnte, in der die Wirkung von der Urſache der Struktur des Koͤrpers gemaͤß beſtimmt wird. Durch jenen allgemeinen Einfluß der Seele in die Koͤrper - kraͤfte, wird ſie nichts mehr, als eine den Koͤrper be - lebende Kraft, dergleichen die vis vegetativa der Al - ten war. Sie kann inſoweit als eine mittelbare Koͤr - perkraft angeſehen werden, die aber den Wirkungen keine Form noch Richtung giebt. Auf eine aͤhnliche Art laͤßt ſich auch das Saugen der Kinder erklaͤren. Wenn man aber der Seele noch mehr von dieſen Wirkungen zuſchreibet, und ſie die organiſchen Kraͤfte in eine Rich - tung bringen ſoll, die ſie ſonſten vermoͤge der Struktur des Koͤrpers und des vorhergegangenen Eindruckes nicht genommen haben wuͤrden: ſo giebt man Erklaͤrungen, wodurch das Athemholen und das Saugen unter die willkuͤrlichen Bewegungen geſetzet wird.

Der zweete Charakter der organiſchen Bewegungen, daß ſie nur bloß in Hinſicht der Thaͤtigkeitsarten be - ſtimmt ſind, iſt auch nicht mehr als ein ſo genanntes verneinendes Merkmal. Jede koͤrperliche Bewegung zu einem beſtimmten Gegenſtande hin, wie das Greifen nach dem Degen, den Jemand an der Seite traͤgt, gehoͤrt bey den Menſchen inſofern zu den willkuͤrlichen Bewegungen, welche eine Vorſtellung dieſes Gegen - ſtandes in der Seele vorausſetzen, und die von dieſer Vorſtellung entweder wirklich regieret werden, oder dochX 3im326XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenim Anfang von ihr gelenket worden ſind, ehe die Ge - wohnheit ſo zu handeln ſich befeſtiget hatte. Bey dem Menſchen, ſage ich, verhaͤlt es ſich ſo, wie die Erfah - rung lehret. Das hungrige Kind ſauget an dem Zucker, den man ihm in den Mund ſtecket; aber es wird an ei - nem Steine nagen, wenn man ihm dieſen hingiebt. Wenn es aber in der Folge nach dem Zucker und nicht nach dem Steine greift: ſo ruͤhrt dieß nicht daher, weil ſein Naturtrieb fuͤr ſich auf jenes Objekt geſtimmt iſt, ſon - dern daher, weil eine Vorſtellung der Seele, die es aus ſeinen vorigen Empfindungen erlanget hat, es dahin lenket.

Es iſt außer Zweifel, je genauer der Natur - trieb zu gewiſſen Arten von Thaͤtigkeiten beſtimmt iſt, deſto mehr iſt er auch zugleich auf die ihm angemeſ - ſenen Gegenſtaͤnde gerichtet; wie ein Koͤrper, der nach einer geraden Linie mit großer Heftigkeit fortgeht, nur auf das Objekt trift, das ihm in dieſer einzigen Rich - tung vorlieget, nicht auf andere. Die Dinge, auf welche die Kraft nicht wirken kann, ſtoßen ſie zuruͤck, und deſto mehr, je weniger ſchicklich ſie fuͤr ſie ſind; und eben dadurch fuͤhren ſie ſelbige auf die ſchicklichen Objekte hin. Dieß iſt ein Grundſatz, der es zum Theil wenig - ſtens begreiflich macht, wie die Jnſtinkte der Thiere ihre Gegenſtaͤnde ſo richtig treffen koͤnnen, auch ohne daß eine Vorſtellung ſie leite. Was bey dem Men - ſchen Begierde iſt, oder ein Beſtreben auf ein vor - geſtelltes Objekt zu wirken, das iſt bey den Thieren oft nur ein blinder Trieb, der nicht ſowohl auf den Ge - genſtand gerichtet iſt, als nur auf eine gewiſſe Art der Thaͤtigkeit, und nur darum auf das gehoͤrige Objekt trift, weil dieß es allein iſt, was ſeinen Trieb befriedi - gen kann. Das Kind kennet die Speiſe nicht, die ihm geſund iſt, und wuͤrde den Arſenik ſo gut in den Mund nehmen, als Zucker; aber der Hund, bey dem der Ge -ruch327im Menſchen. ruch den Hunger leitet, wird durch die Verbindung meh - rerer Eindruͤcke, die zuſammen auf ſeinen Jnſtinkt wir - ken, beſtimmter und ſtaͤrker zu der Nahrung geleitet, die ihm dienlich iſt. Es iſt begreiflich, wie der Jn - ſtinkt unter der bloßen Leitung des Gefuͤhls ſicherer ge - hen kann bey den Thieren, als der unbeſtimmtere Trieb der Menſchen, den die Vorſtellungen lenken ſol - len. Dahero koͤnnen auch manche Reihen von Eindruͤ - cken und Bewegungen bey den Thieren bloß organiſch, oder nur allein der Thaͤtigkeitsart nach, beſtimmt ſeyn, die nun, wenn das Gefuͤhl dazu kommt, auch deswe - gen in Hinſicht der Objekte beſtimmt werden, weil ſie es ſo genau in Hinſicht der Art zu handeln ſind. Man kann dergleichen alsdenn zwar nicht fuͤr begierdenar - tig aber doch fuͤr begierdenaͤhnlich anſehen, weil durch die bloßen Gefuͤhle bey ihnen eben daſſelbige be - wirket wird, was bey dem Menſchen durch leitende Vor - ſtellungen ausgerichtet wird.

Aber auch allein bey den Menſchen laͤßt ſich nicht ſagen, daß alle natuͤrlichen Reihen von ſinnlichen Ein - druͤcken und Bewegungen, die auf keinen beſondern Ge - genſtand außer uns hingerichtet ſind, zu den inſtinktar - tigen Bewegungen zu rechnen ſind. Denn wenn z. B. der Reuter auf dem Pferde ſitzet; der Fechter einen Degen in der Hand haͤlt: ſo bringet die Fertigkeit in dieſen koͤrperlichen Handlungen gewiſſe Arten von Be - wegungen hervor, die, ob ſie gleich noch auf kein be - ſonders Objekt beſtimmt ſind, dennoch von gewiſſen Vorſtellungen gelenket werden, und ſich auf dieſelbige Art aͤußern, wie die Begierden. Daß der Reuter ſei - ne Fuͤße und Arme ſo und nicht anders haͤlt, iſt eine Wirkung der Gewohnheit, und erfolget doch mittelſt ei - ner Vorſtellung, welche ſeine Bewegungskraft regieret; zwar mehr vermittelſt einer Vorſtellung von der Hand - lung ſelbſt, die bey ihm mit Fertigkeit erwecket wird,X 4als328XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenals durch eine Vorſtellung von dem gegenwaͤrtigen Ob - jekt derſelben; aber doch gleichwohl durch Vorſtellungen, ſo daß dieſe Aktionen zu den inſtinktartigen organiſchen nicht gerechnet werden koͤnnen, wenn man auch an - nimmt, es ſey die Reihe der aſſociirten Bewegungen ſelbſt in dem Koͤrper zur Fertigkeit geworden. So ei - ne Aſſociation wuͤrde doch eine Wirkung von der dazwi - ſchengetretenen vorſtellenden Kraft ſeyn, welche im Anfange die nachfolgende Bewegung an ihren vorherge - henden Eindruck geknuͤpfet haͤtte.

7.

Laßt uns nun zuerſt bey dieſer Klaſſe von Bewe - gungsreihen in dem Koͤrper, die bloß organiſch ſind, die Antworten auf die obigen Fragen (N. 3.) aus den Erfahrungen aufſuchen. Wie weit haͤngt die Verknuͤ - pfung in ihnen von der Seele ab, oder wie weit kann die - ſe durch ihr Wollen und Beſtreben die organiſchen Kraͤf - te hierinn erſetzen? Dieß wird uns auf eine Folgerung fuͤhren, die in dem analogiſchen Schluſſe von der thieri - ſchen Natur auf die Seelennatur gebraucht werden kann.

Es iſt in dieſen Reihen eine Verbindung zwiſchen dem verurſachenden Eindrucke und der erfolgten Be - wegung, die nur durch den Koͤrper gehet. Aber bey einigen von ihnen zum mindeſten iſt doch auch zu - gleich eine Verbindung zwiſchen ihnen, die uͤber die Seele gehet; ſo daß der erſte Eindruck auf die orga - niſchen Kraͤfte des Koͤrpers von einem Gefuͤhl in der Seele, und die erfolgende Bewegung von einer be - ſtimmten Kraftanwendung oder von einem Wollen der Seele, begleitet wird.

Dieſer Satz wird nach allen ſeinen Theilen durch die Erfahrungen beſtaͤtiget.

Was329im Menſchen.

Was zuerſt die natuͤrlich nothwendigen Reihen be - trift, wo auf gewiſſe Eindruͤcke und Reize gewiſſe Be - wegungen erfolgen, die lediglich nach den Geſetzen der Organiſation mit jenen verbunden ſind: ſo bedarf es des - wegen kaum, daß man die Faͤlle nennt, ſo bekannt ſind ſie. Die Speiſen reizen den Magen. Darauf erfolget eine wurmfoͤrmige Bewegung der Gedaͤrme, und darauf eine Ausleerung, der Einrichtung des Koͤr - pers gemaͤß. Aber die Seele empfaͤngt davon Em - pfindungen und Vorſtellungen, und verbindet damit ihr Wollen. Das Herz und einige Muskeln ziehen ſich nach dem Tode des Menſchen zuſammen, zum Beweis, daß die Reizbarkeit eine Kraft ſey, welche dem beſeelten Koͤrper fuͤr ſich zukomme, und daß ſie thaͤtig ſey, auch wenn ſie des allgemeinen Einfluſſes der Seele, als der belebenden Kraft, entbehren muß. Bey andern organi - ſchen Bewegungen kann die Seelenkraft weniger ent - behrlich ſeyn; aber auch daraus wird nicht folgen, daß jene nicht deswegen doch allein in dem organiſchen und belebten Koͤrper bloß durch die Koͤrperkraͤfte bewirket werden koͤnnen. Sollte dieß letztere einigem Zweifel unterworfen ſeyn, ſo muͤßte man vielleicht diejenigen Bewegungsreihen ausnehmen, die nicht allein durch die Organiſation nothwendig ſind, ſondern anfangs gewiſſe zufaͤllige Umſtaͤnde erfodert haben, ehe die Aſſociation ſich feſtgeſetzt hat. Vielleicht moͤchte man ſagen, iſt in dieſen Faͤllen dieſelbige dunkle Empfindung in der Seele, und daſſelbige Beſtreben ihrer Kraft, welche zuerſt die nachfolgende Bewegung veranlaßt hat, auch immer - fort dieſelbige Zwiſchenurſache, die ſie beſtimmt, ohne daß wir es gewahrwerden. Allein die nachfolgen - den Betrachtungen heben alle Zweifel hieruͤber.

Erſtlich iſt ſo viel gewiß, daß alle ſolche Rei - hen vorher inſtinktartig ſich aſſociirt haben, ehe ſie auf irgend eine Weiſe mittelſt der vorſtellenden KraftX 5der330XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſender Seele in Verbindung gebracht, und alſo dem Wil - len der Seele haben unterworfen werden koͤnnen. Denn da bey dem Menſchen alle Vorſtellungen, und auch die Vorſtellungen von den Handlungen unſers Koͤrpers, aus Empfindungen entſtehen:*)Zehnter Verſuch. II. ſo muͤſſen die Bewegungen der Arme in dem Kinde, das Stoßen und Schlagen, worinn ſich der Wehrtrieb aͤußert, eben ſo wie die Ver - aͤnderungen der Minen im Geſichte, vorher von ſelbſt aus bloßem Jnſtinkt entſtanden ſeyn, ehe davon eine Vorſtellung gemacht werden, und ehe das Kind nun nach einer Vorſtellung ſich dazu beſtimmen, das iſt, ſie wollen koͤnne. Es giebt keine willkuͤrliche Handlung, die nicht eine unwillkuͤrliche geweſen iſt, oder aus un - willkuͤrlichen beſtehet, ſo wie es keine Phantaſie giebt, die nicht aus Empfindungsvorſtellungen herruͤhrt.

Nun iſt dieſer Umſtand freylich noch nicht entſchei - dend. Denn ohne ein Stahlianer zu ſeyn, hat man doch immer die Einwendung fuͤr ſich, daß es wohl die Seele ſeyn koͤnne, welche durch ein inſtinktartiges Be - ſtreben, wozu ſie in dem Kinde durch die unangenehme Jmpreſſion der Beleidigung gebracht wird, auf den Koͤrper wirke, und ihn zu den Bewegungen beſtimme, die die Vertheidigung erfodert. Auf dieſe Art moͤchte hier doch die Reihe uͤber die Seele gehen, und alſo ein urſpruͤngliches Mittelglied, welches den hineingehenden Eindruck mit der herausgehenden Bewegung verbindet, in der Seele ſelbſt ſeyn, das niemals in den Koͤrper uͤbergetragen werden koͤnnte.

Man wird, wenn man auf mehrere ſolche Faͤlle Acht hat, und auf die ununterbrochene genaue Vereini - gung der Seele mit ihrem Koͤrper Ruͤckſicht nimmt, wohl nicht eben geneigt werden zu glauben, daß viele ſolcher organiſchen Reihen zu ſtande kommen ſollten, ohne daß ſie auch zugleich uͤber und durch die Seele eineVer -331im Menſchen. Verbindung erlangten, welche in einem Gefuͤhl und in einer inſtinktartigen Aktion auf den Koͤrper beſtehe. Aber da die Aktion in der Seele in dieſem Fall doch bloſ - ſer Jnſtinkt, und ein blindes Beſtreben iſt, das der Natur der Seele und der Jmpreſſion auf ſie gemaͤß iſt, ſo wird man es auch wahrſcheinlich finden, daß es eben ſo wohl eine Folge der bloßen Organiſation ſeyn koͤnne, wenn ſolche Bewegungen auf ſolche Eindruͤcke erfolgen, zumal da die Seele ſie oft mit allem ihren Beſtreben dagegen nicht zuruͤckhalten oder abaͤndern kann.

Aber aller Zweifel uͤber dieſen Punkt verſchwindet, wenn wir zweytens ſehen, daß ſolche feſtgeſetzte und zur Gewohnheit gewordene organiſche Reihen auch in enthaupteten Thieren auf eine aͤhnliche Art erfolgen, wo man keinen Verdacht haben kann, daß die Seele die Ordnung und Folge in ihnen beſtimme. Dieſe Er - fahrungen ſind entſcheidend, wenn ſich gleich nicht aus allen ihre hiſtoriſche Richtigkeit in den beſondern Umſtaͤnden vorausgeſetzt! daſſelbige mit gleicher Deutlichkeit ſchließen laͤßt. Wenn enthauptete Thiere ſich nach dem Verluſt des Kopfes noch mit einander be - gatten, und die Fliegen ſich putzen, und ſo thun, als wenn ſie ihre Nahrung aufſammeln, ſo iſt es doch evi - dent, zumal aus dem erſten Beyſpiel, daß organiſche Aſſociationen entſtanden ſind, und ſich allein in dem Koͤrper feſtgeſetzt haben. Da die Begattung der ent - haupteten Grillen nur alsdenn erfolgt, wenn ſie vorher in ihrem Leben dieſe Handlung mehrmalen unternom - men haben, ſo kann auch nicht einmal gedacht werden, daß hier etwan nichts mehr als eine natuͤrlich noth - wendige Bewegung erfolge, die von den zufaͤlligen Umſtaͤnden unabhaͤngig ſey. Es iſt dieſe Bewegungs - reihe offenbar hinzugekommen, und die Gegenwart des Objekts und andere zufaͤllige Umſtaͤnde haben anfangs das Jhrige zu ihrer Verbindung beygetragen. Wennein332XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenein enthaupteter Menſch, dem man einen Degen durch die Bruſt ſtoͤßt, die Arme auf die naͤmliche Art zuſam - menſchlaͤgt, wie einer, der ſich beklaget: ſo deucht mich, dieſer Vorfall gehoͤre gleichfalls zu denen, welche die Wirklichkeit ſolcher Aſſociationen in dem Koͤrper auſ - ſer Zweifel ſetzen. Aber wenn das Beyſpiel von Karl dem Zwoͤlften angefuͤhrt wird, der die Hand an den Degen legte, als die Kugel ihn toͤdtete: ſo kann man hier wie in manchen andern Faͤllen vermuthen, daß die - ſe Bewegung des Arms keine bloß organiſche Hand - lung, ſondern eine wahre Seelenaͤußerung in dem Au - genblick des Sterbens geweſen ſey. Denn ſo ſchnell der Tod auch ihn uͤberraſchte, ſo fand doch die Seele noch Zeit genug, die gewohnte Vorſtellung vom Ver - theidigen in ſich zu erwecken, und den dazu gehoͤrigen Druck in den Arm zu bringen.

Dieſe letztere Art der zufaͤlligen organiſchen Verbin - dungen zeiget alſo auch deutlich, daß in dem Koͤrper ſelbſt gewiſſe Leichtigkeiten zu handeln aus vorherge - henden Handlungen entſtehen, und ſich miteinander verbinden. Bey den natuͤrlich nothwendigen Aktionen entſteht die nachfolgende Bewegung aus ihrem vorherge - henden Reize das zweytemal wie das erſtemal, weil ſie in einer urſachlichen beſtimmten Verknuͤpfung ſind; aber bey jenen wird etwas erlernet, wie die vorzuͤgliche Ge - ſchicklichkeit die rechte Hand zu gebrauchen. Anfangs war in dem linken Arm eben ſowohl ein Weg, wo die bewegende Kraft hinfließen konnte, als in dem rechten; aber die oͤftere Uebung mit dem letztern machte ihn fuͤr den Durchfluß der Lebensgeiſter offener und leichter.

8.

Alſo giebt es hier eine organiſche Reihe von Bewegungen in dem Koͤrper, die in dem Koͤrper unter ſich verbunden ſind, aber auch zugleich mittelſt ei -ner333im Menſchen. ner begleitenden Reihe von Empfindungen, Vorſtellun - gen und Wollen in der Seele zuſammenhangen. Daß nun 2) die letztere Reihe in der Seele in die herausge - henden Bewegungen einen Einfluß habe, und ſolche durch ihre Beywirkung verſtaͤrken oder ſchwaͤchen koͤn - ne, iſt zu ſehr bekannt, als daß ich die Erfahrungs - beweiſe daruͤber anfuͤhren duͤrfte. Die meiſten Beob - achtungen von der Macht der Einbildungskraft uͤber den Koͤrper beweiſen dieſen Einfluß. Vor einigen Jahren benachrichtigten die oͤffentlichen Blaͤtter von einem Eng - laͤnder, daß ers in ſeiner Gewalt habe, nach Gefallen wie tod zur Erde zu fallen, den Athem ſtillſtehend zu machen, und andre aͤußerliche Zeichen eines Verſtorbe - nen anzunehmen, und ſich nachher von ſelbſt wieder zu erwecken. Wir wollen etwas abrechnen fuͤr das Ueber - triebene der Einbildungskraft in allen Sachen, die in das Wunderbare gehen, und es bleibet doch genug uͤbrig, um daraus zuſehen, welche Gewalt die Seele uͤber ihre unwillkuͤrlichſten Lebensbewegungen ſich ver - ſchaffen koͤnne.

Ueberdieß bemerket man hiebey, daß die Seele in ſolchen Faͤllen, wo ſie die natuͤrlichen Bewegungen aus Eigenmacht und Willkuͤr modificiret, dieſe Wirkung nicht durch einen unbeſtimmten Trieb hervorbringe, wo - mit ſie die Kraͤfte des Koͤrpers etwan anſtrenget oder zuruͤckhaͤlt; ſondern daß ihr Einfluß alsdenn von einem eigentlichen Wollen abhange. Sie hat alsdenn Vor - ſtellungen von gewiſſen Bewegungen in ſich, welche den natuͤrlichen Bewegungen des organiſirten Koͤrpers ent - gegengeſetzt ſind, und ſie beſtrebet ſich nach dieſen Vor - ſtellungen zu wirken, das iſt, die Vorſtellungen, als die erſten innern Anfaͤnge der Aktionen in voͤllige Aktionen zu entwickeln.

3) Was endlich die dritte Frage betrift: ob und wie ferne die begleitende Beywirkung der Seele und ihr334XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen ihr Wollen die Stelle der organiſchen Kraft in dem Koͤrper vertreten, und dieſelbigen Bewegungen her - vorbringen koͤnne, wenn die Koͤrperkraft dazu nicht vorhanden, oder nicht wirkſam genug iſt? ſo lehret eine Menge von Erfahrungen es uͤberzeugend, daß man daran nicht zweifeln koͤnne. Die Macht der Einbil - dungskraft uͤber den Koͤrper, am meiſten bey empfind - lichen, bey hypochondriſchen und hyſteriſchen Perſonen, und andern, bey denen das Nervenſyſtem in Unord - nung und die Phantaſie allzu lebhaft iſt, erſtrecket ſich in der That ſo weit, daß ſie Wirkungen in dem Ner - venſyſtem und dadurch in dem Koͤrper darſtellet, die ſon - ſten nur von koͤrperlichen Urſachen zu entſtehen pflegen. Jndeſſen verdienet doch auch hiebey die Anmerkung nicht uͤbergangen zu werden, daß ein großer Theil der Beyſpiele, die man als Beweiſe gemeiniglich dafuͤr an - fuͤhret, wenn man ſie genauer betrachtet, die Sache nicht außer Zweifel ſetzen. Es iſt wohl zu unterſchei - den, ob die Einbildungskraft und das Wollen der Seele die wahre bewegende Urſache ſey, die als phyſiſche Koͤr - perkraft wirket, oder ob die Einbildung nur die Aktion der reizenden Koͤrperkraͤfte begleite; und ob es nicht der gewoͤhnliche Mißgriff der Urſachen ſey, wenn der letztern das zugeſchrieben wird, das in der That einer andern Urſache, die in dem Koͤrper ſelbſt lieget, zukommt? Ein wolluͤſtiger Juͤngling hat im Traum Phantaſien, die bey ihm aͤhnliche Ausleerungen verurſachen wie die aͤhnlichen Empfindungen bey dem Wachenden. Einem an - dern traumet eine Purganz eingenommen zu haben, und dieſe Vorſtellung thut ihre Wirkung, als wenn es wirk - lich geſchehen waͤre. Jch habe es oben ſchon erinnert, daß in ſolchen Faͤllen wohl ein innerer Reiz in dem Koͤr - per vorhanden ſeyn moͤge, der organiſch die Theile des Koͤrpers auf eine aͤhnliche Art in Bewegung ſetzt, wie der gewoͤhnliche ſinnliche Eindruck, deſſen Gegenwartman335im Menſchen. man aber nicht gewahrnimmt, weil die begleitenden Einbildungen das Gefuͤhl deſſelben vor uns ſelbſt verſte - cken. Denn es kann ſeyn, daß die Phantaſie ſelbſt nur durch den koͤrperlichen Reiz erwecket wird, und die See - le zum Wollen beſtimmet, wodurch vielleicht der Effekt der koͤrperlichen Urſache verſtaͤrket wird, ohne daß ſie ſelbſt doch die vornehmſte Urſache der erfolgenden Bewe - gungen dadurch werde. Ohne Zweifel verhaͤlt es ſich oft ſo. Und alle dieſe Beyſpiele fallen unter den Be - weiſen aus, die man fuͤr einen ſolchen Einfluß der Phantaſie anfuͤhret, als derjenige iſt, von dem hier ge - redet wird.

Dennoch bleiben ſo viele Fakta uͤbrig, daß die Sa - che ſelbſt im geringſten dadurch nicht zweifelhaft wird, wenn man auch nur lauter ſolche Beyſpiele auslieſt, wobey entweder gar kein Verdacht ſtattfindet, daß auſ - ſer der Phantaſie keine andere reizende Urſache vorhan - den ſey, oder wo doch jene offenbar den vornehmſten An - theil an der entſtandenen Wirkung hat. Aber wenn man auf dieſe Art die beweiſenden Fakta genau auslieſt, und dann aus ihnen ein allgemeines Reſultat herauszie - het, ſo kann man die Erſetzung der koͤrperlichen Kraͤfte durch Seelenkraͤfte, da wo ſie geſchieht, uͤberhaupt nicht anders, als fuͤr unvollſtaͤndig und mangelhaft er - klaͤren. Die Kraft der Seele erſetzet die organiſche Kraft im Koͤrper, aber nur in einigem Grade. Sie kann nicht auf die Laͤnge fort, nicht voͤllig ihre Stelle vertreten; und wenn es Beyſpiele giebt, in denen die Phantaſie in aller Hinſicht an Lebhaftigkeit, Staͤrke und Dauer in den Koͤrper ſo wirket, wie koͤrperliche Eindruͤcke, ſo gehoͤren ſolche zu den außerordentlichen und ſeltenſten.

Wenn eine Perſon ſich bey dem Anblick einer Spei - ſe erbricht, in der ſie eine tode Fliege antrift, ſo iſt nun zwar außer Zweifel, daß dieſe Wirkung einer bloſ -ſen336XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenſen Einbildung zugeſchrieben werden muͤſſe. Jnglei - chen, wenn man einer ekelhaften und empfindſamen Per - ſon es ſaget, das Fleiſch, welches ſie gegeſſen habe, ſey Hundefleiſch geweſen, wie es wirklich nicht geweſen iſt: ſo wird man Anwandlungen von Uebelkeiten bey ihr ſe - hen, die ihre Urſachen nur in der Phantaſie haben koͤn - nen. Wenn ein Menſch von Brodkrumen, die man ihm in der Geſtalt der Pillen gegeben hat, purgirt, und ein Hund, der vor Kaͤlte zittert, ſich des Abends in den Mondſchein hinleget, und nun Haut und Glieder ſtille haͤlt, als ob er die Sonnenwaͤrme empfaͤnde: ſo haben wir hier ſolche Beobachtungen, die es evident machen, daß die Kraft der Seele daſſelbige vermoͤge, was ſon - ſten die organiſche Kraft der Nerven verrichtet. Dieſe Macht der Einbildungskraft aͤußert ſich am ſtaͤrkſten bey Perſonen von gar zu großer Lebhaftigkeit, und be - ſonders bey denen, die mit Nervenkrankheiten behaftet ſind; daher die Charletans in ihren Wunderkuren bey dieſen Leuten am gluͤcklichſten ſind, ſo wie uͤberhaupt bey dem gemeinen Haufen, der ſeiner Phantaſie ſich ohne Einſchraͤnkung uͤberlaͤßt, wenn ſie einmal aus ihrer na - tuͤrlichen Graͤnze heraus iſt. Und alsdenn erfahren ſol - che Perſonen reelle Wirkungen einer wahren phyſiſchen Kraft, die in der Seele lieget, welche bey andern ſtaͤr - ker uͤberlegenden Perſonen, die ihre Phantaſie zuruͤckhal - ten, nicht erfolgen. Der gute Glaube hilft den Kranken, wie eine Arzeney. Daher man ſich nicht wundern darf, daß ſie ſich auf ihre Empfindung mit dem ſtaͤrkſten Be - wußtſeyn berufen. Es giebt ganze Zeitalter und Laͤn - der, die fuͤr dergleichen Wirkungen der Phantaſie em - pfaͤnglicher ſind, als andere. Aber genauer alle dieſe Erfahrungen angeſehen, ſo wird man bey den mehreſten es bald aus den Folgen unterſcheiden koͤnnen, ob es die na - tuͤrliche koͤrperliche Urſache oder nur ihre Stellvertre - terin, die Einbildung, ob eine wahre Arzney oder diePhan -337im Menſchen. Phantaſie geheilet habe? Die Beſſerung, welche von der letztern kommt, iſt, die meiſten Male wenigſtens, mehr im Anfang nur ſcheinbar, als reell, dauert ſelten auf die Laͤnge, und erfodert, daß dieſelbige Ueber - redung in ihrer erſten Staͤrke erhalten werde. Hat hingegen die Arzney geholfen, ſo erfolget die Vorſtel - lung, daß man geheilet ſey, von ſelbſt und leicht; aber es iſt ein anderes, wenn das Gefuͤhl der Einbildung fol - gen ſoll. Jndeſſen will ich zum Ueberfluß es noch ein - mal erinnern, daß, wenn ich dieſe Erſetzung der organi - ſchen Urſachen durch die Phantaſie, oder der Nerven - kraͤfte durch Seelenkraͤfte, fuͤr unvollſtaͤndig und mangel - haft erklaͤre, ich nur darauf zuruͤckſehe, was uͤberhaupt und was die meiſten Male geſchieht, ohne es leugnen zu wollen, daß in einigen beſondern Faͤllen ſelbige nicht vollſtaͤndig ſeyn ſollte. Denn wenn gleich allemal eini - ger Unterſcheid hiebey ſtattfinden muͤßte, wie es die Erfahrungen im Durchſchnitt auch lehren, ſo folget doch nicht, daß dieſer Unterſchied jedesmal ſehr merklich ſey. Er kann dem ſchaͤrfſten Beobachter entwiſchen. Viel - leicht fuͤhlet ein Kranker, den Gaßner kurirt hat, ſich eben ſo gut geneſen, als der, dem eine Arzney geholfen hat; und wenn Mesmer einer Perſon Erſchuͤtterungen durch den Magnet in der Ferne beybringet, ſo wird ſie vielleicht eben ſo reell und ſtark beweget, als wenn ſie einen elektriſchen Stoß empfunden haͤtte. Nicht das Raiſonnement ſondern die Beobachtungen, aber die richtigen, wobey der pruͤfende Verſtand, nicht die Ein - bildungskraft, zuſiehet und vergleichet, muͤſſen es leh - ren, wie weit und in welchen Faͤllen dieß gehe? und es darf keine Erfahrung darum gelaͤugnet werden, weil die Macht der Phantaſie die Graͤnzen des Gewoͤhnli - chen bey ihr uͤberſchritten haben muͤßte. *)Zehnter Verſuch. III. 5.Am oͤfter -II Theil. Yſten338XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenſten und gewoͤhnlicherweiſe iſt ſie in Hinſicht der koͤrper - lichen Bewegungen, was eine elektriſche Erſchuͤtterung in unſern kuͤnſtlichen Verſuchen gegen ein Erdbeben iſt; aber zuweilen iſt ſie das, wenigſtens kann ſie es ſeyn, was die große Elektricitaͤt der Natur bey dem letztern iſt, und dann wuͤrde ſie fuͤr die Wirkung nicht mehr zu ſchwach ſeyn.

Wenn die Phantaſie oder Seelenkraft die ſonſten natuͤrlich nothwendigen Bewegungsreihen hervorbrin - gen kann, wo die organiſchen Urſachen fehlen: ſo iſt es noch mehr begreiflich, wie ſie bey der zwoten Art, in welcher die Verknuͤpfung durch zufaͤllige Umſtaͤnde zu - erſt veranlaſſet worden iſt, und beſonders in ſolchen, wo die nachfolgende Bewegung von einer Selbſtbeſtim - mung der Seele abhaͤnget und fuͤr ſich unſerer Will - kuͤr unterworfen iſt, den fehlenden koͤrperlichen Ein - druck erſetzen koͤnne. Es iſt nicht aus Jnſtinkt ſon - dern aus angenommener Gewohnheit, daß wir die Hand vorhalten, wenn Jemand uns nach dem Kopf ſchlaͤget; und dieſe Bewegung mit der Hand iſt willkuͤrlich, da - her koͤnnen wir ſolche eben ſo gut verrichten, wenn wir uns nur einbilden, daß Jemand ſchlaͤget, als wenn es wirklich geſchieht. Wenn hingegen die erfolgende Be - wegung fuͤr ſich nicht willkuͤrlich oder es doch nicht in der Maße iſt, wie ſie vorgenommen wird, ſondern ihre ei - gene Diſpoſition in dem Koͤrper erfodert: ſo kann ſie mittelſt der Phantaſie nicht ſo leicht, wenigſtens ge - woͤhnlich nicht, hervorgebracht werden, als wenn der reizende koͤrperliche Eindruck vorhanden iſt. Mit der linken Hand kann ich zwar ſchreiben, aber mit aller moͤg - lichen Anſtrengung der Einbildungskraft und des Wol - lens weder ſo fertig noch ſo leſerlich, als mit der rechten; darum, weil die Bewegung mit jener zwar uͤberhaupt willkuͤrlich iſt, aber nicht ſo die Fertigkeit ſie auf dieſe oder jene Art zu bewegen, welche außer der Vorſtellungund339im Menſchen. und dem Wollen der Seele noch eine gewiſſe Dispoſi - tion in dem Koͤrper vorausſetzet.

9.

Dieß war die Eine Klaſſe von Reihen koͤrperlicher Veraͤnderungen, die am mindeſten durch die Seele verbunden ſind. Laſſet uns nun noch die aͤußerſten auf der entgegengeſetzten Seite, das iſt, diejenigen, die am meiſten durch die Seele zuſammenhangen, oder die willkuͤrlichſten, aus demſelbigen Geſichtspunkte be - trachten.

Zu den willkuͤrlichen Reihen gehoͤren uͤberhaupt alle diejenigen, in welchen die Verbindung in ihrer Fol - ge, ohne Dazwiſchenkunft der Vorſtellungskraft und des Beſtrebens in der Seele, nicht entſtanden iſt. Der Zu - ſammenhang zwiſchen der vorhergehenden und nachfol - genden Bewegung gehet alſo entweder allein durch die Seele, oder ſie hat doch durch dieſe zuerſt gehen muͤſſen, ehe eine organiſche Anreihung in dem Koͤrper entſtan - den iſt. Bey dem Menſchen gehoͤren alle koͤrperliche Handlungen, worinn ſich Begierden aͤußern, die auf vorgeſtellte Gegenſtaͤnde gerichtet ſind, zu dieſer Klaſſe, und, wie ſchon oben erinnert iſt, auch das Greifen nach dem Degen bey dem Kriegsmann, der unvermuthet uͤberfallen wird. Aber es giebt auch willkuͤrliche Fer - tigkeiten, in welchen nicht nur die Vorſtellungen von den Objekten, worauf ſie gerichtet ſind, zufaͤllig und willkuͤrlich ſind, ſondern auch die Vorſtellungen von der Handlungsweiſe in der Seele, wodurch ſie beſtimmet werden, wie die Fertigkeit zu malen, zu tanzen, zu ſchreiben, und ſo ferner alle unſere erworbenen Geſchick - lichkeiten, die ihren Sitz in dem Koͤrper haben.

Zu ihrem Unterſcheidungsmerkmal gehoͤret auch die - ſes, daß die nachfolgende Bewegung, welche auf den Eindruck oder auf das Wollen der Seele erfolget, fuͤrY 2ſich340XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenſich allein betrachtet, eine willkuͤrliche Bewegung ſey, die durch eine Aktion der Seele auf den Koͤrper, wenn die Vorſtellung von der Bewegung gegenwaͤrtig iſt, hervorgebracht werden kann. Es hindert aber nicht, wenn ſie gleich auch ſonſten unter andern Umſtaͤn - den durch eine bloß im Koͤrper liegende Urſache gewir - ket wird. Jn konvulſiviſchen Krankheiten erfolgen oft aͤhnliche Bewegungen des Koͤrpers, der Fuͤße und der Haͤnde, wie die willkuͤrlichen ſind; aber dennoch haͤngt das Springen des geſunden Menſchen von der Eigen - macht und der Willkuͤr der Seele ab.

Einige von ſolchen willkuͤrlichen Bewegungsreihen haben vielleicht nichts mehr, als Eine oder ein paar ſim - ple Vorſtellungen in der Seele, zu ihrer Aſſociation erfo - dert. Der Menſch iſt hungrig; ihm wird eine Speiſe vorgeſetzt, die ihm ſchmecket. Von dieſer Speiſe em - pfaͤngt er eine Vorſtellung, und in einem aͤhnlichen Falle ſtrecket er die Hand nach ihr zuerſt hin. Eine Vorſtel - lung, die aus der vorigen Empfindung zuruͤckgeblieben war, ohne eine weitere Selbſtthaͤtigkeit der vorſtellen - den Kraft, ohne Ueberlegen und Nachdenken, reichet hin das Gelenk auszumachen, welches die beſondern Theile der ganzen Reihe zuſammenbringet.

Es giebt andere, in welchen die erſte Anreihung eine gefliſſentliche Auſmerkſamkeit und eine ſehr merk - liche Anwendung der Denkkraft erfodert hat. Es ſind klare und deutliche Vorſtellungen, Vergleichungen, Fol - gerungen und Raiſonnements erfodert worden, ehe die Fertigkeiten im Reden, Schreiben, Malen, Tanzen, Fechten und dergleichen erlanget ſind. Aus dieſen letz - tern kann man die Beyſpiele nehmen, wenn man ſehen will, was in ſolchen enthalten iſt, die am meiſten will - kuͤrlich ſind.

10. Die -341im Menſchen.

10.

Dieſe Fertigkeiten in willkuͤrlichen Bewegungen er - fodern:

1) Eine Fertigkeit in der Seele, die dazu ge - hoͤrigen Vorſtellungen zu reproduciren. Dieß iſt das Geiſtige in ihnen, oder der Antheil der Seele bey ihnen.

Es bedarf dieß keiner weitern Beſtaͤtigung. Der Spieler kann nicht zunehmen an Geſchicklichkeit, wofern nicht auch ſeine Fertigkeit in der Seele groͤßer wird, die Folge der Noten und der Toͤne in der Vorſtellung ſchnell zu faſſen, und ſchnell die noͤthigen Aktionen der Bewe - gungskraft hervorzubringen. Die Zauberkraft in der Hand, die lebloſe Koͤrper beſeelt oder durch Toͤne das Herz zerſchmelzt, hat ihren innern Sitz in der maͤchti - gen Phantaſie; und ſelbſt dauert ſie noch fort, wenn gleich die Hand gelaͤhmet iſt und die entſprechenden Bewegungen nicht mehr darſtellen kann.

Aber ob denn auch 2) zugleich in dem Koͤrper ei - ne organiſche Fertigkeit, ſolche Bewegungen auf - einander folgen zu laſſen, vorhanden ſey, das iſt, ob auch in dem Koͤrper eine Verbindung der aufeinander folgenden einzelnen willkuͤrlichen Bewegungen ſtatt - finde, mittelſt welcher ſie ſich erwecken koͤnnen? Ob der Ausdruck philoſophiſch richtig ſey, wenn man zuwei - len von dieſer Art von Handlungen ſaget, daß ſie uns voͤllig mechaniſch ſind? dieß iſt hier der vornehmſte Punkt.

Es ſcheinet ſolches im Allgemeinen nicht bezweifelt werden zu koͤnnen, und zwar aus folgenden Gruͤnden.

Um eine Fertigkeit im Schreiben, Tanzen, Spie - len und ſo weiter zu erlangen, iſt es nicht genug, die dazu gehoͤrige Reihe von Vorſtellungen in der Seele ſich ſo bekannt zu machen, daß ihre Reproduktion uns leicht werde; man muß auch ſelbſt handeln und ſich uͤben. Theils freylich darum, weil ohne die Handlung vorzunehmen auch die Vorſtellung von ihr nicht an -Y 3ſchaulich342XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenſchaulich genug werden kann, um ein beſtimmtes Be - ſtreben dazu in der Seele hervorzubringen. *)Zehnter Verſuch. II. 4.Eine ſol - che Jdee ſetzet die wirkliche Verrichtung gewiſſermaßen voraus; aber es iſt doch nicht allein dieß die Urſache, welche die Uebung nothwendig machet. Es iſt noch ei - ne andere da. Ohne Uebung koͤnnen die Glieder des Koͤrpers die noͤthige Geſchwindigkeit zu den Bewegun - gen nicht erlangen. Denn da anfangs Arbeiten von der Art bald ermuͤden und unangenehme Empfindungen in dem Koͤrper hervorbringen, die ſich verlieren, wenn die Uebung fortgeſetzet wird, ſo iſt es offenbar, daß auch in dem Koͤrper eine gewiſſe Dispoſition, ſolche Bewe - gungen aufeinander anzunehmen, hervorgebracht wer - de, die eine wahre Aſſociation derſelben iſt.

Solche Beyſpiele zeigen dieß am deutlichſten, in welchen wir uns der obgedachten Redensart bedienen, daß uns etwas ſchon mechaniſch ſey. Und je mehr die Uebung einfoͤrmig und auf einerley Objekt einge - ſchraͤnket iſt, deſto ehe wird ſie dieſes. Die Finger, die Fuͤße und auch die Zunge, wenn Jemand ganz gelaͤufige Formeln herſaget, laufen nicht nur vor der Re - flexion ſondern zuweilen auch ſo gar vor der Vor - ſtellung voraus, obgleich nur auf eine geringe Strecke. Man wird es am beſten gewahr, wenn man einige der - gleichen willkuͤrliche Fertigkeiten ſich wieder abgewoͤh - nen will.

Ferner wird dieß in Hinſicht einiger Handlungen dadurch außer Zweifel geſetzt, daß ſolche auch von ent - haupteten Menſchen noch vorgenommen worden ſind. Einige Menſchen haben mit den Armen gezuckt, als wenn ſie ſich der Bande entledigen und die Haͤnde zum Gebrauch frey machen wollten; die Hand hat nach et - was gegriffen, und die Beine haben ſich in die Hoͤhe richten wollen. Wenn nun gleich dieſe Handlungennicht343im Menſchen. nicht zu denen gehoͤren, die in dem hoͤchſten Grade will - kuͤrlich ſind und auch nicht lange fortgeſetzet werden, ſo ſind es doch ſolche, die uͤberhaupt willkuͤrlich waren, und in denen der Zuſammenhang mittelſt der Vorſtel - lungskraft der Seele zu Stande gekommen iſt. Dieſe Reihen ſind von denen, welche zu den Kunſtfertigkeiten gehoͤren, nicht ihrer Natur nach ſondern nur darinn unterſchieden, daß ſie aus einer geringern Anzahl von willkuͤrlich angereiheten Aktionen beſtehen, als dieſe. Daher iſt man wohl berechtiget, aus den gedachten Er - fahrungen zu ſchließen, daß, wenn zwey naͤchſte Glie - der einer ganzen Reihe ihre organiſche Verbindung in dem Koͤrper haben, die naͤmliche Verbindung auch wohl durch eine laͤngere Reihe hindurch gehen koͤnne, obgleich eine groͤßere Uebung erfodert wird, ehe dieſe laͤngere Reihe ſich feſtſetzet.

Aber die Beyſpiele von dergleichen Handlungen bey andern enthaupteten Thieren, deren ich ſchon oben ge - dacht habe, ſind nicht alle ohne Unterſchied geſchickt, dieß letztere zu beweiſen. Man muß ſie wohl pruͤfen, eh man ſie zum Grunde leget. Es kann zweifelhaft ſeyn, ob ſie bey dieſen Thieren jemals willkuͤrliche Hand - lungen geweſen ſind, wie ſie bey dem Menſchen es ſind, da bey den Thieren manche Bewegungen organiſch noth - wendig und Wirkungen des blinden Jnſtinkts ſeyn koͤn - nen, die bey dem Menſchen die Dazwiſchenkunft der Vorſtellungen und der Eigenmacht der Seele erfodern. Gleichwohl ſind viele doch entſcheidende Beweiſe. So viel erhellet doch aus dem Begatten der ihrer Koͤpfe be - raubten Schmetterlinge, wenn ſie nur ſolches vorher bey ihrem Leben mehrmalen verrichtet haben, daß ein organiſirter Koͤrper auch ſehr zuſammengeſetzte Gewohn - heiten annehmen koͤnne. Die menſchliche Organiſation wird alſo auch dazu aufgelegt ſeyn, wenn gleich in ei - nem mindern Grade.

Y 411.344XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen

11.

3) Daß die beiden Reihen in der Seele und in dem Koͤrper einander modificiren, und bey der Anwendung der Fertigkeiten zu Huͤlfe kommen, iſt außer Zweifel. Einige ſind, ſo zu ſagen, mehr bloß koͤrperlich, andere mehr geiſtig; wovon der Unterſchied der freyen und der mechaniſchen Kuͤnſte abhaͤngt; aber beides iſt in je - der Geſchicklichkeit eines Virtuoſen zuſammen. Gar - rik koͤnnte nicht Garrik ſeyn ohne ein feines lebhaftes und in dem Koͤrper allgegenwaͤrtiges Gefuͤhl; nicht oh - ne die maͤchtige Phantaſie, die jede fremde Denkungs - art und Lage anſchaulich und in ihrer individuellen Be - ſtimmtheit auffaßt, und ſich leicht in ſelbige verſetzet. Aber eben ſo gewiß iſt es auf der andern Seite, daß je groͤßer und ſtaͤrker die Uebung mit dem Koͤrper iſt, die Handlungen deſto mehr mechaniſch werden, ſich im Koͤrper ſelbſt anreihen und ohne Anſtrengung der Seele hervorgebracht werden. Die Fertigkeit in dem Koͤr - per iſt ein weſentliches Stuͤck der ganzen menſchlichen Fertigkeit, davon das zweyte in der Seele iſt. Daß dieſe beiden zuweilen getrennt ſind, wenn entweder der Koͤrper oder der Geiſt nicht in der gehoͤrigen Dispoſi - tion ſich befindet, lehret die Erfahrung; und daher be - darf es alſo keiner weitern Beſtaͤtigung, daß nicht Eins dem andern hinderlich oder foͤderlich ſey, und die Wir - kung deſſelben erleichtere oder erſchwere.

Aber was endlich 4) die Frage betrift, ob die Aſſo - ciation der Bewegungen im Koͤrper wohl jemals allein hinreichend ſeyn koͤnne die Bewegungen hervorzubrin - gen, und alſo die Beywirkung der Vorſtellungskraft der Seele durch Koͤrperkraͤfte erſetzet werden koͤnne, oder dieſe durch jene? ſo habe ich vorher ſchon geſagt, daß wir hieruͤber aus den Beobachtungen zur Zeit noch nicht entſcheiden koͤnnen. Aus den mir bekannten Erfahrun -gen345im Menſchen. gen weiß ich nichts beſtimmteres herauszubringen, als folgende Saͤtze.

Die Fertigkeit in der Seele kann nicht voͤllig den Mangel der Fertigkeit in dem Koͤrper erſetzen. Ein Genie ſpielet, malet, tanzet zwar das erſtemal beſ - ſer als der Stuͤmper, der ſich lange Zeit darinn geuͤbt hat; und der Virtuoſe ſpielet die Aria vom Blatte leich - ter und richtiger weg, als ein anderer, der ſie vielmal durchgeſpielt hat. Dieß beweiſet ſo viel, daß es ei - nen gewiſſen Grad der Fertigkeit gebe, der, ohne eine Aſſociation der Bewegungen in dem Koͤrper zu erfodern, von der Jdeenaſſociation in der Seele abhange; aber dennoch waͤchſet auch die Fertigkeit des Virtuoſen in Hinſicht einzelner Handlungen durch die Wiederholung und Uebung, und da giebt es einen gewiſſen Grad der Fertigkeit in dem, was uns gelaͤufig iſt, der von dem Koͤrper abhaͤngt und durch die Phantaſie nicht erſetzet werden kann. So will ich hier nur verſtanden ſeyn. Denn wer wuͤrde ſonſten laͤugnen, daß Geſchicklichkeiten, deren Hauptſitz in der Seele iſt, nicht auch in einem ſol - chen Grade von dieſer letztern allein abhaͤngen, daß man vergleichungsweiſe allerdings ſagen koͤnne, es han - ge die Fertigkeit ſelbſt von der Seele ab.

Noch weniger kann die koͤrperliche Aſſocia - tion in dem Menſchen ſo ſtark werden, daß ſie den Mangel der Jdeenaſſociation in der Seele voͤllig erſetzen koͤnnte. Wo iſt ſo eine Erfahrung, die dieſes erweiſe? Der Virtuoſe muß auch bey den leichtſten Stuͤcken doch mit ſeinem Geiſte gegenwaͤrtig ſeyn, ſo wie wir auf dem bekannteſten Spatziergange noch immer die Augen gebrauchen muͤſſen, um auf dem We - ge zu bleiben.

Dieß ſind die beiden beſtimmten Saͤtze, die wir aus den Beobachtungen nehmen koͤnnen. Jm uͤbrigen aber giebt es allerdings eine etwanige Erſetzung derY 5Seelen -346XIII. Verſuch. Ueber das SeelenweſenSeelenkraͤfte durch die Koͤrperkraͤfte, welche bey einigen weiter gehet, als bey andern, je nachdem die Handlun - gen beſchaffen ſind und ſich auf die thieriſchen Kraͤfte beziehen. Jn einigen macht die Fertigkeit im Koͤrper ſo wenig aus, und kann ſo wenig allein die Bewegungs - reihen hervorbringen, als die Einbildungskraft Speiſen verdauen kann. Hingegen richtet ſie alsdenn, wenn uns etwas mechaniſch geworden iſt, mehr aus, niemals aber alles allein. Sollte die Reihe von Bewegungen, welche ein Spieler vornimmt, ſo voͤllig mechaniſch wer - den koͤnnen, daß er ſo automatiſch wie Vaucanſons Floͤ - tenſpieler eine Aria hervorbraͤchte? Eben darum, weil der menſchliche Koͤrper zu ſo mannichfaltigen Bewegun - gen und Abaͤnderungen aufgelegt iſt, muß es nothwen - dig ſchwerer werden, daß eine gewiſſe beſtimmte Rei - he von Bewegungen von einiger Laͤnge, deren einzelne Theile nur zufaͤllig verknuͤpft ſind, ſich ſo gaͤnzlich ma - ſchinenmaͤßig fortſetze. Wenn z. B. einmal die Finger bey dem Spieler in die gehoͤrige Lage gegen ſein Jn - ſtrument gebracht, und die Koͤrperkraͤfte aufgezo - gen ſind, ſo muͤßten die nachfolgenden Bewegungen durch die Organiſation in ihrer beſtimmten Ordnung hervorkommen. Dieß iſt nicht zu erwarten, da es bey dem Menſchen ſo leicht moͤglich iſt, aus dieſer Ordnung herauszukommen, und auf verwandte Bewegungen auszuſchweifen. Hier ſind, ſo zu ſagen, der Kanaͤle und Gaͤnge fuͤr die bewegende Kraft zu viele, als daß ſie eine beſtimmte Richtung treffen ſollte. Es iſt we - nigſtens unwahrſcheinlich, daß irgend eine unſerer Kunſt - fertigkeiten bis zu dieſem Grade hin mechaniſch werden koͤnne.

Wenn nicht von ganzen Reihen ſolcher zufaͤllig aſſo - ciirten Bewegungen, ſondern nur von einzelnen kleinen Theilen in ihnen, die Rede iſt, ſo iſt es ein anders; dieſe moͤgen auch noch aus zufaͤlligen und anfangs will -kuͤrli -347im Menſchen. kuͤrlichen Verknuͤpfungen beſtehen: aber es iſt doch leicht zu begreifen, daß hiebey wenn ſie fuͤr ſich einzeln genom - men werden, eine voͤllige Erſetzung der Seelenkraͤfte durch die Koͤrperkraͤfte nicht unmoͤglich ſey. Jn der That iſt es dieſes, was die vorhin angefuͤhrten Bey - ſpiele von dem, was in dem enthaupteten Menſchen vor - gehet, beweiſen. Bey ihnen iſt es, wo die angenom - mene Gewohnheit zur wahren Natur wird. Weil ſol - che einzelne Verbindungen ſo oft in den zuſammengeſetz - tern Reihen als Theile vorkommen: ſo wird ihre Aſſo - ciation auch vorzuͤglich feſt und unaufloͤslicher. Aber von dieſen kann man auf die ganzen Reihen nicht ſchlieſ - ſen, die nach Abſicht und Plan angelegt ſind, derglei - chen zu den Kunſtfertigkeiten gehoͤren. Denn ob nun zwar daraus die allgemeine Moͤglichkeit erhellet, daß, was bey kuͤrzern Reihen geſchieht, auch bey laͤngern an ſich moͤglich ſey: ſo iſt es doch gewiß, daß das letztere in der menſchlichen Organiſation ſo viele Hinderniſſe fin - det, daß es niemals zu Stande kommt. Und von dem, was wirklich geſchieht, iſt hier nur eigentlich die Frage. Warum ſollte der organiſirte menſchliche Koͤrper nicht dazu aufgelegt ſeyn, wozu die Automata geweſen ſind, die Menſchenwitz erfunden hat? Vielleicht iſt die Or - ganiſation wirklich bey einigen Thieren ſo wirkſam. Aber darum kann ich doch die Leibnitziſche Harmonie nicht fuͤr die wahre Vorſtellung von unſerer Natur halten, ob ſie gleich nicht unmoͤglich iſt, und der Schoͤpfer wohl ei - nen Koͤrper haͤtte machen koͤnnen, der ohne Seele eben das verrichte, was der unſrige nur unter ihrem Einfluß thun kann.

12.

Es ſcheint mir unnoͤthig zu ſeyn die Bewegungs - reihen, die zwiſchen den beiden aͤußerſten Arten derſel - ben fallen, naͤmlich zwiſchen den meiſt willkuͤrlichen undden348XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenden meiſt organiſchen, nun noch beſonders zu betrach - ten. Man kann aus dem Vorhergehenden leicht uͤber - ſehn, zu welchen Schlußſaͤtzen man in Hinſicht ihrer ge - langen wuͤrde. Ueberdieß ſind ſchon vorhero Bemer - kungen eingeſtreuet, die dieſe letztere Mittelgattung al - lein betreffen.

Jndeſſen iſt es nicht undienlich, noch einmal die Mannichfaltigkeit der Bewegungsreihen mit einem Blick zu uͤberſehen. Es giebt erſtlich Reihen, die urſpruͤnglich durch die Organiſation in dem Koͤrper beſtimmt werden. Zu dieſer Verbindung in dem Koͤrper kommt nachher ein Zuſammenhang mittelſt der Seele. Aber dieſer letztere bleibet der zweete Theil, der am wenigſten bedeu - tet, und den Abgang von der organiſchen Verbindung im Koͤrper nie voͤllig erſetzen kann. Es giebt zweytens Bewegungen, die offenbar zuerſt durch die Seele an - einander gereihet worden ſind. Dazu kommt nachher eine aͤhnliche Aſſociation in dem Koͤrper, welche die Da - zwiſchenkunft der Seele zum Theil, aber nicht gaͤnzlich, entbehrlich macht.

Man wird nach der Analogie der Natur von ſelbſt vermuthen, daß der groͤßte Theil von allen Bewegungs - reihen, die wir bey dem Menſchen antreffen, zwiſchen dieſen falle, wie die Erfahrung lehret, daß es wirklich iſt. Die Verknuͤpfung kann vom Anfang an theils durch die Seele, theils durch den Koͤrper zugleich, zu Stande gekommen ſeyn, ſo daß der Antheil beider Art von Kraͤften mehr in Gleichheit ſtehe. Und dieſe koͤnn - ten die eigentlich thieriſchen Reihen genennet werden. Daß aber unter ihnen ſelbſt eine große Mannichfaltig - keit ſtattfinden werde, da das Verhaͤltniß, worinn See - len - und Koͤrperkraͤfte bey ihnen wirkſam ſind, auf unendlich verſchiedene Art beſtimmet ſeyn kann, iſt als - denn von ſelbſt offenbar. Von dieſen eigentlich thieri - ſchen Aeußerungen laͤßt es ſich am erſten erwarten, daßſie349im Menſchen. ſie zuweilen von dem Koͤrper ohne Seele verrichtet wer - den; und auch umgekehrt, daß die Seelenkraft ſie in ihrer Ordnung hervorbringen koͤnne, wenn gleich die gewoͤhnliche vorhergehende und beſtimmende Urſache im Koͤrper nicht vorhanden iſt. Hier haben wir den Grund - ſtrich in der Jdee von der thieriſchen Natur des Men - ſchen; von der Seite ſie angeſehen, wo ſie uns auf ei - nen analogiſchen Grund fuͤhret, uns von dem Seelen - weſen eine aͤhnliche Vorſtellung zu machen.

13.

Es laͤßt ſich nun auch wohl begreifen, daß eine Beywirkung der Seele zu den thieriſchen Bewegun - gen, welche in dem Menſchen die kleinſte iſt, eben ſo groß ſeyn koͤnne, als ſie bey andern Thieren iſt, wenn ſie die groͤßte iſt. Vielleicht iſt der Einfluß der Seele zu unſern bloß organiſchen Bewegungen noch eben ſo groß, als der Einfluß der Seele bey der Auſter bey ſolchen Bewegungen iſt, die ſie am meiſten in ihrer Ge - walt hat, oder die am meiſten von ihrer Seelenkraft abhangen. Vorzuͤgliche Eigenmacht und Selbſtthaͤtig - keit in der Seele, und eine vorzuͤgliche relative Groͤße ihres Einfluſſes in die ganze thieriſche Natur iſt Eine von den Eigenheiten des Menſchen. Wir finden die - ſen ſchon nicht ſo groß, auch bey den vollkommenſten Thieren, die dem Menſchen am naͤchſten zu ſtehen ſchei - nen. Von welchem Grade mag nun wohl dieſe relative Wichtigkeit der Seelenkraft (das dominium monadis dominantis) in den Jnſekten und Gewuͤrmen, und endlich in den Polypen, in den Stein - und Pflanzen - thieren ſeyn? Jn den Pflanzen findet ſich nach der Jdee, die wir von ihnen haben, nichts als bloße koͤr - perliche Organiſation. Denn wir finden ihre we - ſentliche Kraft, als das Princip ihres Wachſens und Lebens, nicht ſo in Einem Theile vereiniget, als bey denThie -350XIII. Verſuch. Ueber das SeelenweſenThieren, wo das Gehirn der Sitz des thieriſchen Princips iſt. Bey den Pflanzen iſt ſolches mehr durch die ganze Maſſe des organiſchen Koͤrpers verthei - let; und da koͤnnen wir auch keine Seele antreffen, wo - fern wir nicht mehrere Seelen durch den ganzen Koͤrper zerſtreut annehmen und jedem Zweige fuͤr ſich die ſeinige beylegen wollten. So ſtellen wir uns wenigſtens die Sache nach unſern Erfahrungsbegriffen vor.

Muͤſſen wir nun auch auf dieſelbige Art uͤber einige Thierarten raiſonniren? Hr. D. Unzer haͤlt es fuͤr wahrſcheinlich, daß es ſich bey vielen von ihnen, die zu den Jnſekten und Gewuͤrmen gehoͤren, bey den Polypen und Zoophyten eben ſo verhalte, und daß dieſe weiter nichts als organiſirte Weſen ohne Seele ſind. Der ſcharfſinnige Mann meinet, es ſey dieß deſto wahrſcheinli - cher, je deutlicher es aus ſeinen Betrachtungen uͤber die thieriſche Natur erhelle, wie alle Handlungen, die von den erwaͤhnten unvollkommenen Thieren verrichtet wer - den, durch die bloße Organiſation des Koͤrpers erfolgen koͤnnen, ohne daß es einer vorſtellenden und wollenden Seele dazu beduͤrfe. Wenn die Frage von der Moͤg - lichkeit iſt, ſo habe ich oft bezeugt, daß ſolche nicht ge - laͤugnet werden kann; aber wenn man auf die uͤbrige Analogie der Natur Ruͤckſicht nimmt: ſo deucht mich, es ſey in dieſer Hypotheſe der Punkt der Seelenloſig - keit in der Stufenlinie der organiſirten Weſen etwas zu hoch hinaufgeſetzt. Weſen, in denen entweder ein eigentliches Gehirn iſt, oder wo gewiſſe Theile vorhan - den ſind, die deſſen Stelle vertreten, ſollten doch auch noch als ſolche angeſehen werden, denen man eine See - le, oder ein Seelenweſen zuſchreiben muͤßte. Denn in dieſem Fall ſind ſie noch organiſche Einheiten, die ir - gendwo Einen Mittelpunkt der von außen auffallenden Eindruͤcke, und der von innen herausgehenden Thaͤtig - keiten in ſich haben. Und dieß ſcheinet noch bey den Poly -pen351im Menſchen. pen ſtattzufinden, denen Hr. Bonnet ein Jch zu - ſchreibet.

Jndeſſen mag es ſich hiemit verhalten, wie es wol - le: ſo meine ich doch, man muͤſſe es als einen Grund - ſatz annehmen, daß die Natur auch da keinen Sprung mache, wo ſie von den Beſeelten zu den Unbeſeelten heruntergehet. Auch dieſer Ue - bergang beſtehet in einer Abaͤnderung von Stufen und Graden. Jch erwehne hier dieſes Satzes insbeſondere, weil ich meine, daß, wenn man die Betrachtungen uͤber den Charakter der Menſchheit in dem eilften Ver - ſuche mit denen vergleichet, die in dem gegenwaͤrtigen uͤber die Natur des Seelenweſens vorkommen, es nun - mehro einleuchte, wie wahrſcheinlich dieß ſey, und zu - gleich wie man ſich ſolches vorſtellen muͤſſe. Je mehr naͤmlich Eine von den ſubſtanziellen Einheiten, welche zuſammengenommen das Princip des Lebens und der Thaͤtigkeit der ganzen Organiſation enthalten, vor den uͤbrigen hervorſticht, deſto mehr iſt dieſe Sub - ſtanz ein Jch, oder eine Seele; aber deſto mehr ſie den uͤbrigen gleich iſt und mit ihnen eine einfoͤrmige Mate - rie ausmacht, deſto mehr naͤhern ſich die Weſen, denen eine unkoͤrperliche Seele zukommt, denen, deren Seelen - weſen nur koͤrperlich iſt. Je mehr aber nun dieſes koͤr - perliche Seelenweſen zwiſchen die uͤbrigen Theile der or - ganiſirten Materie vertheilet iſt, und den groͤbern ſicht - baren Partikeln des Ganzen jeder ein beſonderer Theil des gedachten Princips beywohnet, und je geringer die Ver - bindung der Theile unter ſich zu einem wirkſamen Gan - zen iſt; deſto mehr verliehret ſich die thieriſche Ein - heit in der Organiſation, und deſto naͤher kommt das Ganze der ſimpeln unbeſeelten Organiſation, die wir in den Pflanzen antreffen. Wir koͤnnen alſo folgende Stufen unterſcheiden: Jchheit, oder die Hervorra - gung und Herrſchaft einer ſubſtanziellen wahren Einheit;das352XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſendas Beſeeltſeyn, wenn das Seelenweſen gleich nur ein beſonderes koͤrperliches Weſen iſt. Bis hieher ge - het noch die thieriſche Natur. Ferner, die unbeſeelte Organiſation; und endlich bloßer Mechanismus; welcher letztere auch wiederum nur in der geringern Mannichfaltigkeit der zuſammengeſetzten Theile, und in der geringern Anzahl ihrer verſchiedenen Beziehungen aufeinander, von der Organiſation ſelbſt verſchieden iſt. Organiſation iſt unendlichvielfach zuſammenge - ſetzter Mechanismus.

Gemeiniglich uͤberſchlagen wir die Mittelſtufe, wel - che zwiſchen der unbeſeelten Organiſation und zwi - ſchen der vollkommenen Thierheit, oder Jchheit, lie - get, indem wir vorausſetzen, daß ein Weſen, welches nicht bloß organiſirt iſt wie die Pflanzen, nothwendig auch eine einfache Seele, als ein Jch, in ſich habe, wo - hin alle Eindruͤcke von außen, als in einen phyſiſchen Mittelpunkt zuſammengehen. Dieß hat, wenn ich nicht irre, manche Dunkelheiten in unſern Begriffen von den Polypen, Pflanzenthieren und andern unvoll - kommenen Thierarten veranlaſſet. Denn auf einer Seite finden wir mehr bey ihnen als die bloße Organi - ſation der Pflanzen; und auf der andern Seite verwi - ckeln wir uns in Schwierigkeiten, wenn wir ihnen ſol - che einfache Seelen zuſchreiben, wie die unſrige iſt. Jch will es den ſcharfſinnigen Betrachtungen des Hr. Bonnets*)Ueber die organiſirten Koͤrper 2ter Th. Kap. III. gern einraͤumen, daß ſich dieſe Schwie - rigkeiten heben laſſen; und noch mehr ſagen: Es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß in allen Weſen, in welchen wir ein von dem groͤbern Koͤrper unterſchiedenes See - lenweſen antreffen, auch wiederum in dieſem letztern ei - ne hervorragende einfache Subſtanz, und alſo eine Jchheit ſey. Allein man bedenke, wie unendlich die Natur die Verhaͤltniſſe abwechſele. Sollte nichtwohl353im Menſchen. wohl das Verhaͤltniß, worinn das Seelenweſen, als die weſentliche Kraft der thieriſchen Organiſation, gegen die uͤbrige organiſirte Materie ſtehet, groͤßer ſeyn koͤnnen, als das Verhaͤltniß des Jchs in dieſem Seelenweſen ge - gen den koͤrperlichen Beſtandtheil deſſelben? Kann al - ſo nicht die Jchheit oder die Herrſchaft der einfachen Seele ſo unbedeutend ſeyn, daß ſie faſt fuͤr nichts zu achten iſt, wenigſtens nicht merklich iſt, wo doch das geſamte koͤrperliche Seelenweſen merklich genug als das Princip des Lebens und der Thaͤtigkeit hervorraget? Da waͤre denn die angegebene Mittelſtufe.

Daruͤber darf man ſich nicht wundern, wenn es uns ſo ſchwer oder gar unmoͤglich wird, die wirklichen We - ſen in der Welt an ihre gehoͤrigen Stellen in der allge - meinen Stufenleiter hinzuſetzen. Haͤnget etwan die zwote Stufe der bloß materiellen Seelenweſen da an, wo wir die ſich ſelbſt aus ihren Stuͤcken wieder voͤllig er - gaͤnzenden Weſen antreffen? und gehet ſie etwan herunter bis auf die Pflanzen, und noch etwas in das Natur - reich hinein? Dieß iſt außerordentlich ſchwer zu be - ſtimmen, und wir koͤnnen zufrieden ſeyn, wenn wir nur einigermaßen die Graͤnzen der verſchiedenen Ord - nungen auffinden. Ohnedieß ſind der Unterſchiede in den Graden weit mehrere in der Natur, als wir zu be - merken im Stande ſind. Und hieraus folget die Ver - muthungsregel, die von einigen großen Naturforſchern ſchon aus den Erfahrungen gezogen iſt: daß, wenn wir eine Weſensart antreffen, deren Natur von den uͤbrigen bekannten ſehr merklich abweichet, ſicher zu vermuthen ſey, daß es noch mehrere geben werde, die dieſer in ihren Eigenheiten aͤhnlich ſind. Denn da hier die Abweichung in den Graden merklich iſt, ſo wird es noch andere geben, bey denen ſie geringer iſt, die wir aber mit der letztern, weil ſie ihr allzu nahe kommt, fuͤr einerley anſehen muͤſſen.

II Theil. ZWas354XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen

Was insbeſondere die Frage betrifft: ob wir aus unſern Beobachtungen und nach der Analogie der Na - tur irgend einer Gattung von Weſen, die wir unter dem Thierreich begreifen, eine Seele abzuſprechen und ſie fuͤr unbeſeelte blos organiſirte Koͤrper anzuſehen berechtigt ſind? ſo will ich, ohne ſolche zu entſcheiden, nur eine allgemeine Reflexion daruͤber hinzuſetzen.

Die Empfindlichkeit und die Bewegung aus einer Eigenmacht ſind die beiden aͤußern Charaktere der Thierheit, die wir haben, und warum wir Poly - pen und Thierpflanzen fuͤr wahre Thiere anſehen. Es iſt auch nicht zu zweifeln, daß dieſe beyden Eigenſchaf - ten nicht in einer gewiſſen Beziehung mit der innern Einheit des Ganzen, und mit dem Uebergewicht einer regierenden Subſtanz, in der Organiſation ſtehen ſollten; nur iſt die Frage, in welcher? Und dieſe beiden letztern Eigenſchaften haben wahrſcheinlicher wei - ſe wiederum ein gewiſſes Verhaͤltniß auf die Vollkom - menheit der Organiſation ſelbſt. Aber da wir keinen Maasſtab zu der Empfindlichkeit und der Spontaneitaͤt beſitzen, und auch unſere Jdee von der Vollkommenheit der Organiſation ſo ſchwankend und unbeſtimmt iſt, ſo wird alles, was wir hierbey thun koͤnnen, auf eine ohn - gefaͤhre Schaͤtzung hinausgehen, die aber dennoch in gleicher Maße, wie andre ohngefaͤhre Ueberſchlaͤge unſe - re Einſichten auf klaͤren, wenn wir nur aus den Beob - achtungen alle Data mit moͤglichſtem Fleiße aufſuchen. Herr Unzer kann alſo Recht haben, daß es den em - pfindlichen und willkuͤrlich ſich bewegenden Jnſekten an einer Seele fehle, wenn es erweislich iſt, daß die Uberwichtigkeit Einer Subſtanz, oder die Ein - heit in dem Princip des Lebens, ſchneller und in groͤßern Graden bey den niedriger ſtehenden Weſen ab - nehme, als jene Eigenſchaften die Empfindlichkeit und Spontaneitaͤt, und die Vollkommenheit der Organiſa -tion.355im Menſchen. tion. Und dieß iſt es, wovon Herr Unzer die Moͤglich - keit nicht blos angenommen, ſondern aus Erfaͤhrungen bewieſen hat. Zwar nichts mehr als die Moͤglichkeit; aber dieſe iſt hier ſo wichtig, daß aus ihr die Folge ge - zogen werden kann, es ſey die vollkommene Ani - malitaͤt, in der eine einfache Seele iſt, viel we - niger aus der Groͤße der ſcheinbaren Empfindlich - keit und der Spontaneitaͤt zu ſchließen, als aus andern Kennzeichen, z. B. aus der Einheit des or - ganiſirten Ganzen, und aus der Empfindlichkeit der Lebenskraͤfte in Einem Gehirn. Wenigſtens darf man nach jenen erſtern allein nicht urtheilen.

Man hat es bemerket, daß die Vollkommenheit der Organiſation in den unvollkommenen Thierarten abnehme. Dieſe Vollkommenheit wird alsdenn aber theils nach der Menge und Mannichfaltigkeit der Thei - le, woraus der organiſirte Koͤrper beſteht, theils nach der Einheit oder der genauen Verbindung dieſer Theile untereinander, geſchaͤtzet. Die Organiſation des Poly - pen, die faſt ganz Magen iſt, nach des Hrn. Bon - nets Ausdruck, iſt unvollkommener und einfoͤrmiger, als ſie in den vierfuͤßigen Thieren iſt. Und wie iſt ſie in dem Bandwurm und in allen uͤbrigen Thieren, die ſich ſelbſt aus Stuͤcken wieder ergaͤnzen? Nun ſcheint es, wenn wir die vierfuͤßigen Thiere mit den einfoͤrmi - ger organiſirten vergleichen, auch wahrſcheinlich zu wer - den, daß auch die Seelenartigkeit mit der Voll - kommenheit der Organiſation im Verhaͤltniß ſtehe. Dem Hunde kann man ſein Jch oder ſeine dominirende Einheit nicht mit ſolcher Wahrſcheinlichkeit abſprechen, als dem Polypen, in welchem das Princip der Anima - litaͤt mehr ein in allen Punkten des Koͤrpers verbreite - tes unter ſich aber vereinigtes Ganze iſt, und wo es ſchwer iſt, einen Theil zu finden, den man als den Sitz der vornehmſten und herrſchenden Einheit anſehenZ 2koͤnne.356XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenkoͤnne. Aber wenn man nun auch die ſich nicht er - gaͤnzenden Thiere unter einander vergleicht; und darun - ter gehoͤren auch viele Jnſekten, welche nach des Herrn Unzers Hypotheſe bloße Organiſationen ſind: wie aͤn - dert ſich alsdenn die Jchheit und die thieriſche Einheit mit der Vollkommenheit in der Zuſammenſetzung der fuͤhlbaren Materie? Nehmen jene und dieſe mit ein - ander ab, und in welchem Verhaͤltniſſe? und iſt die Abnahme an der innern thieriſchen Einheit in den Jnſekten ſchon ſo groß, daß man dieſe fuͤr bloße Orga - niſationen anſehen kann? oder, wenn ſie noch Thiere ſind, doch nur fuͤr unvollkommene, die kein eigentliches Jch beſitzen, und nur von einer materiellen Lebens - kraft beſeelt ſind? Vielleicht das letztere; aber viel - leicht nicht. Wir tappen hier noch im Dunkeln; wir kennen die Beziehungen der thieriſchen Beſchaffenheiten auf einander zu wenig, und haben alſo bisher noch zu unſichere Data, uͤber das Beſeelt - und Unbeſeeltſeyn der Weſen zu urtheilen. Da ſolches unmittelbar nicht beobachtet werden kann, ſo laͤßt es ſich nicht anders als nur mit einiger Wahrſcheinlichkeit aus den Verhaͤltniſ - ſen deſſelben zu den in die Sinne fallenden Eigenſchaften, naͤmlich zu der Empfindlichkeit und Spontaneitaͤt und der aͤußerlichen Vollkommenheit der Organiſation in dem Koͤrper muthmaßen; und dazu gehoͤren allgemeine Grundſaͤtze, welche die Analogie der Natur beſtimmen. Bey den Thieren, welche dem Menſchen am naͤchſten ſtehn, iſt doch die Herrſchaft der Seele und alſo die Jch - heit merklich ſchwaͤcher, weil die Groͤße darinn eine der vornehmſten Eigenheiten des Menſchen ausmacht. Wenn nun auch die koͤrperliche Struktur der Thiere, und ihre Organiſation in den groͤbern Theilen in eben der Maße unvollkommen waͤre, wie es ſonſten geglaubt ward: ſo haͤtten wir Eine von den allgemeinen Re - geln, wodurch ein Verhaͤltniß der innern Thierheit undder357im Menſchen. der aͤußerlich empfindbaren Eigenſchaften derſelben er - kannt wuͤrde. Aber Hr. Moſcati hat den Vorzug der menſchlichen Organiſation zweifelhaft gemacht. Wie vieles iſt in dem Thierreich noch fuͤr den Philoſophen zu ſuchen.

Zwote Abtheilung.

  • 1) Analogiſcher Schluß von der thieriſchen Natur des Menſchen auf ſeine Seelennatur.
  • 2) Eine Folgerung daraus.

1.

Wenn die bonnetiſche Erklaͤrungsart von der Art, wie die Seele wirket, und von dem Sitze der Vor - ſtellungen richtig iſt, ſo wird das einfache Jch zu allen ſinnlichen Bewegungen des Gehirns, oder zu den ma - teriellen Jdeen, nichts mehr beytragen, als in der thie - riſchen Natur das Seelenweſen beytraͤgt zu den bloß or - ganiſchen Bewegungen in dem Koͤrper. Dieſe wer - den von der Seele gefuͤhlt, wenn ſie gegenwaͤrtig ſind; und wenn die Seele noch weiter dabey thaͤtig iſt, ſo verſtaͤrket oder ſchwaͤchet ſie ſolche dadurch, daß ſie ihre Kraft auf andere ſich ihr darbietende weniger oder mehr anwendet. Das innere Organ der Seele hingegen, oder das Gehirn, thut nach eben dieſem Syſtem bey den Gehirnsveraͤnderungen daſſelbige, was die Koͤrper - kraͤfte bey den inſtinktartigen Bewegungen in der thie - riſchen Natur.

Nach der gemeinen Erklaͤrungsart muͤßte die Seele zu allen ſinnlichen Gehirnsveraͤnderungen ſo beywirken, wie das Seelenweſen zu den willkuͤrlichſten Bewe - gungen, die nur durch die von Vorſtellungen beſtimmte Seelenkraft auf einander folgen. Das Gehirn muͤßte keinen weitern Antheil daran haben, als daß es ein ge -Z 3ſchmei -358XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenſchmeidiges und der Seele unterworfenes Organ iſt, oh - ne daß es fuͤr ſich allein die materiellen Jdeen anreihe. Und da es ſolche Jdeen nicht in ſich haben ſoll, ſo kann es auch zu den Reproduktionen nicht einmal ſo viel bey - tragen, als die Organiſation des Koͤrpers zu den Kunſt - fertigkeiten, bey welchen uns die Erfahrung lehret, daß doch in dem Koͤrper ſelbſt gewiſſe Leichtigkeiten zu den Bewegungen durch die Uebung erzeugt werden. Wel - che von dieſen beyden Hypotheſen man alſo waͤhlen mag, ſo muß man eingeſtehen, daß die Analogie zwiſchen der aus Erfahrungen etwas bekannten thieriſchen Natur und der Seelennatur in dem Menſchen wegfalle.

Es iſt die dritte Mittelidee von der Beſchaffen - heit des Seelenweſens, die ich oben (VIII. 4.) vorge - tragen habe, welche, wenn ſie die richtige waͤre, dieſe Analogie in ihrem ganzen Umfange beſtaͤtigen wuͤrde, und welche wiederum aus der letztern bewieſen ſeyn wuͤrde, wenn man dieſe vorausſetzet. Ohne noch zu beſtimmen, wie weit die Wahrſcheinlichkeit einer ſolchen Analogie uͤberhaupt wohl gehe, wollen wir die Folgen betrachten, die aus ihr gezogen werden koͤnnen.

1) Es giebt in dem Koͤrper des lebenden Men - ſchen pur mechaniſche Bewegungen, woran das Seelenweſen entweder gar keinen oder doch keinen an - dern Antheil nimmt, als in ſo fern es den Koͤrper und deſſen Kraͤfte belebet. Und hierunter giebt es einige, die die Seele nicht einmal fuͤhlet, wenigſtens nicht deut - lich empfindet, und die ſie alſo auch ſich nicht mit Be - wußtſeyn vorſtellen und wollen kann. Aber ſolche gehoͤ - ren auch nicht zu den thieriſchen Bewegungen.

Eben ſo gehen in dem innern Seelen-Organ Be - wegungen vor ſich, die es als einen Theil des Koͤrpers ausbilden, ernaͤhren und erhalten, die aber nicht zu den ſinnlichen Bewegungen gehoͤren, und nicht em - pfunden noch vorgeſtellet werden. Die Seele hat anihnen359im Menſchen. ihnen keinen andern Antheil, als in ſo fern ſie uͤberhaupt die belebende Kraft des Koͤrpers entweder ſelbſt iſt, oder ſie reizet und in Wirkſamkeit ſetzet.

2) Jede thieriſche Bewegung muß eine Wir - kung der koͤrperlichen Kraft geweſen ſeyn, ehe die Seele ſich ſolche hat vorſtellen und nach dieſer Vorſtel - lung wollen koͤnnen.

Eben ſo und auch mit der naͤmlichen Einſchraͤnkung, die dieſer Satz hat, muß auch jede ſinnliche Bewe - gung, die in dem Gehirn durch die Kraft der Seele erwecket werden kann, vorher durch einen Eindruck ir - gend einer Urſache auf das Organ, der Struktur des letztern gemaͤß, bewirket worden ſeyn. Alle unſre Vor - ſtellungen entſtehen aus den Empfindungen; der Dichtkraft ihre Gerechtſame ungekraͤnkt. Von die - ſem Erfahrungsſatze iſt das, was hier behauptet wird, eine Folge.

3) Es entſtehen in dem Koͤrper durch die Wiederho - lung einerley Art von thieriſchen Bewegungen gewiſſe Leichtigkeiten zu aͤhnlichen Bewegungen, oder gewiſſe bleibende Spuren vorhergegangener Bewegungen. Sie entſtehen bey allen Arten ohne Ausnahme; bald erfo - dern ſie eine ſtaͤrkere Uebung, bald eine ſchwaͤchere, zu - weilen ſetzen ſie ſich ſchon das erſtemal feſt.

Das Parallel zu dieſen ſind die Leichtigkeiten im Gehirn zu den einmal empfangenen ſinnlichen Bewe - gungen, das iſt, die ruhenden materiellen Jdeen.

4) Jn den organiſchen Bewegungsreihen brin - get der Eindruck auf die Nerven die nachfolgende Be - wegung organiſch hervor, und beſtimmet die Nerven - kraft auf dieſe Art und in der Richtung zu wirken. So oft der naͤmliche Eindruck wieder vorhanden iſt, entſte - het auch dieſelbige Wirkung, wenn ſonſt nichts in den Weg kommt, es mag aus den vorhergehenden Aktionen ſchon eine naͤhere Diſpoſition dazu entſtandenZ 4ſeyn360XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenſeyn oder nicht. Aber jedesmal bleibet aus einer ſolchen Bewegungsreihe eine Spur zuruͤck, und dadurch wird es moͤglich, daß dieſelbige Bewegung von neuem wie - der hervorgebracht werden kann, wenn gleich ihre erſte Urſache fehlet, oder nicht voͤllig ſo, wie vorher, in ih - rer erſten Beſtimmtheit vorhanden iſt.

Jn dem Gehirn finden ſich Eindruͤcke oder Reize, woraus gewiſſe ſinnliche Bewegungen organiſch hervor - gebracht werden. Jede materielle Jdee, die ins Ge - hirn durch eine Jmpreſſion von außen gebracht wird, erreget daſelbſt noch andre Bewegungen, und reizet es zu gewiſſen Thaͤtigkeiten, oder unterdruͤckt ſolche. Dieſe Folgen der erſtern materiellen Jdeen ſind alsdenn mit den Jdeen verbunden, und kommen wieder mit ihnen in der Reproduktion hervor, weil ſie ſelbſt eben ſo wie die ſie veranlaſſenden Jdeen in dem Gehirn eine Diſpo - ſition zur leichtern Ruͤckkehr hinterlaſſen.

5) Die Seele vermag ſehr vieles auch uͤber die bloß organiſchen Bewegungen, und ihre Phantaſie kann, obgleich auf eine unvollkommene Art, ſie hervor - bringen, wenn die ſonſtigen Urſachen im Koͤrper nicht vorhanden ſind? Die Seele erhaͤlt Vorſtellungen von ihnen, und wirket durch dieſe Vorſtellungen auf den Koͤrper, und bringet die Bewegungen hervor.

Eben ſo iſt es wahrſcheinlich; daß das immate - rielle Jch bey allen Arten von Vorſtellungen, auch bey denen, die es am wenigſten in ſeiner Gewalt hat, ſelbſt in ſich gewiſſe innere Modifikationen ſeiner Kraft empfange, und dieſe auch oft aus ſich ſelbſt wieder er - wecke, und dadurch eben die zugehoͤrige ſinnliche Bewe - gung im Gehirn hervorbringe.

6) So wie es organiſche Aſſociationen von thieriſchen Bewegungen aller Arten in dem Koͤrper giebt, und auch ſolche, die zu den willkuͤrlichſten Handlungen gehoͤren; welche aber in Hinſicht der Fe -ſtig -361im Menſchen. ſtigkeit und Beſtimmtheit, mit der ſie an einander ge - knuͤpft ſind, verſchieden ſind: ſo verrathen die Beob - achtungen bey unſern unwillkuͤrlichen Vorſtellungen, die anfangs willkuͤrlich in uns hineingebracht ſind, hernach aber wider unſern Willen uns vorſchweben, daß es mit den ſinnlichen Bewegungen im Gehirn eine aͤhn - liche Bewandniß habe; daß auch dieſe ſelbſt in dem Ge - hirn zuſammenhalten, ſo daß eine die andre hervorzieht, ehe noch die Aktion der Seele dazu kommt, welche an - fangs die Aſſociation zu Stande gebracht hat.

7) Aber wie bey den willkuͤrlichen Bewegungen, die zu den Kunſtfertigkeiten gehoͤren, die Vorſtellun - gen in der Seele und ihre Folge die vornehmſten Ur - ſachen ſind, wodurch die Folge der koͤrperlichen Bewe - gungen beſtimmt wird, welche nur auf eine unvollkom - mene Art durch die organiſche Aſſociation in dem Koͤr - per erſetzet werden kann: ſo iſt es auch bey der Repro - duktion der willkuͤrlichen Vorſtellungen vornehmlich und eigentlich die Folge der intellektuellen Jdeen in unſerm Jch, wovon die Folge der dazu gehoͤrigen materiellen Jdeen im Gehirn beſtimmt wird; und die organiſche Verknuͤpfung dieſer materiellen Jdeen im Gehirn iſt unfaͤhig, ſie in gleicher Maße und Ordnung wieder hervorzuziehen, wenn ihre Verbindung nicht von der Reproduktion der Seelenbeſchaffenheiten, die dieſe durch ihre Eigenmacht bewerkſtelliget, geleitet und re - giert wird. Man ſehe nur die Verwirrung, die in unſern Vorſtellungen herrſchet, wenn die Seele nicht Herr uͤber ſich ſelbſt iſt!

8) Die Vorſtellungen von einzelnen koͤrperlichen Handlungen entſtehen anfangs in der Seele ſo, daß die Veraͤnderung in dem Koͤrper vor der Jdee vorher - gehet; aber wenn dieſe Vorſtellungen einmal vorhan - den ſind, ſo werden ſie oͤfters reproducirt, noch ehe je -Z 5ne362XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſenne wieder erneuert werden, und alsdenn giebt es in der Seele einen unmittelbaren Uebergang von der Einen Vorſtellung zur andern.

Es iſt alſo wahrſcheinlich, daß es ſich mit den in - tellektuellen Jdeen in unſerm Jch eben ſo verhalte; daß ſie in einer eigenen Verbindung unter ſich in der unkoͤrperlichen Seele ſind, und hier eine nach der an - dern erwecket werden, und alsdenn die ihnen zugehoͤri - gen materiellen Jdeen in dem Gehirn nach ſich her - vorziehen, ohnerachtet jede von ihnen, fuͤr ſich ge - nommen, anfangs nur in der Folge einer materiellen Gehirnsveraͤnderung in die Seele hineingekommen iſt.

Endlich 9) ſo wie in den Kunſtfertigkeiten, die ſich das Menſchenthier durch Fleiß und Uebung erwir - bet, theils eine Fertigkeit in der Seele und ihrer vorſtellenden und bewegenden Kraft enthalten iſt, theils auch eine organiſche Fertigkeit in dem Koͤr - per, davon jene dieſe beſſer, als dieſe jene, erſetzen kann: ſo wird auch jedwede erlangte Vollkommenheit der Seele, ihres Verſtandes und ihres Willens theils ei - ne Erhoͤhung und Vervollkommnung der Kraft der immateriellen Seele oder der ſubſtantiellen Ein - heit, das iſt, unſers Jchs ſelbſt ſeyn, theils eine Ein - richtung des Gehirns und ſeiner Fibern, die es zu einem beſſern Werkzeuge fuͤr die Seele macht. Unſer Jch ſammelt alſo ſeine bleibenden intellektuellen Jdeen und Fertigkeiten auf, verſtaͤrket, erhoͤhet, vervollkommnet ſeine innere ſubſtanzielle Kraft, und behaͤlt ſolche unab - haͤngig von ihrem Gehirn, wie die Seele des Spielers ihre Geſchicklichkeit, Toͤne zu denken, auch wenn ſeine Finger nicht mehr geſchmeidig genug ſind, um ſie her - vorzubringen. Und jene Geſchicklichkeit des imma - teriellen Jch iſt das Vornehmſte in allen See - lenfertigkeiten, und kann die Fertigkeit des ganzen Seelenweſens aͤußern, wenn die koͤrperliche Gehirns -fer -363im Menſchen. fertigkeit verloſchen iſt, ob ſie gleich den Mangel der letztern nicht vollkommen erſetzen kann. Ein Tonkuͤnſt - ler hatte das Gehoͤr im Alter verloren, und ſpielte des - wegen doch ſo richtig, als wenn er hoͤrte. Dieß that die innere Geſchicklichkeit ſeiner Vorſtellungskraft, wel - che die aͤußern Jmpreſſionen zum Theil entbehrlich machte.

Kann man nicht hieraus noch weiter dieſe Folge ziehen, daß unſer im Vorſtellen, Denken und Wir - ken fertig gewordnes Jch auch in dem Fall, wenn ihm ſein gebrauchtes Organ entzogen und ein andres dafuͤr gegeben wuͤrde, dem die Diſpoſitionen des erſtern fehlen, ſonſten aber von eben ſo beugſamer Natur iſt ſie anzu - nehmen; daß, ſage ich, alsdenn unſer Jch in dieß neue Organ ſeinen Fertigkeiten gemaͤß wirken und ſich ſolches bald wiederum, ſo wie das vorige, einrichten wuͤrde? Ein Menſch ohne Haͤnde wußte durch einen geſchickten Ge - brauch ſeiner beiden abgeſtumpften Arme, die er nahe aneinander bringen konnte zierlich zu ſchreiben und ſo gar Federn zu ſchneiden. Es wuͤrde nicht unmoͤglich ſeyn, daß ein Virtuos mit den Fuͤßen auf dem Klavier ſpielen lernte. Dieſe Beyſpiele beſtaͤtigen den obigen analogiſchen Schluß.

Man konnte bey einer Schwierigkeit anſtoßen. Der Spieler kann ſich doch immer ſeiner vormals ge - ſpielten Stuͤcke erinnern, ob er gleich, wenn ihn der Koͤrper verlaͤßt, nicht ſpielen kann. Muͤßte die Seele, wenn das Gehirn ihr auch nicht zu Huͤlfe kommt, den - noch bey ihren eigenen intellektuellen Jdeen nicht daſſel - bige vornehmen koͤnnen? und erfodert nicht die Analo - gie, daß ſie es koͤnne? Aber alsdenn koͤnnte das Ge - daͤchtniß nicht ſo ſehr von dem Koͤrper abhaͤngig ſeyn, wie die Erfahrung lehrt, daß es wirklich iſt.

Jch antworte zuerſt, die Analogie erfodere dieß nicht, ſondern vielmehr das Gegentheil. Man mußdie364XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſendie Vergleichung nur auf die gehoͤrige Art anſtellen. So wenig ein Spieler, deſſen Finger gelaͤhmt ſind, Toͤne hoͤren, und ein Maler Werke ſeiner Haͤnde ſehen kann, wenn dieſe unbrauchbar ſind, ſo wenig kann auch die Seele von ihren eignen innern Thaͤtigkeiten und in - tellektuellen Jdeen ein Gefuͤhl haben, wenn die ent - ſprechenden Gehirnsbewegungen nicht vorhanden ſind. Denn wenn das Jch gleich intellektuelle Jdeen in ſich hervorzieht und bearbeitet: ſo kann es doch nichts fuͤh - len, als nur die Wirkungen deſſelben außer ſich in dem Gehirn, wo jene ſich abdrucken; und dieſe fehlen, wenn es an den materiellen Jdeen mangelt. Wenn man ſich ja vorſtellen will, daß ſie doch auf ſich ſelbſt eine unmit - telbare Aktion verwenden muͤßte, welche einem Aktus des Selbſtgefuͤhls aͤhnlich ſey: ſo muͤßte man doch nach denſelbigen Grundſaͤtzen zugeben, daß dieſe Aktion kein voͤlliges Selbſtgefuͤhl ſeyn koͤnne, ſondern ſich hoͤchſtens zu dem wirklichen Gefuͤhl verhalte, wie die Einbildung von einer Sache ſich zu einer Empfindung verhaͤlt. Haben wir aber eine Jdee von einer ſolchen Aktion, eine ſolche Einbildung des Gefuͤhls, die nichts vom Gefuͤhl mit ſich verbunden hat? Denn jede Art von Einbildung und Vorſtellung, die wir kennen gelernet haben, iſt von uns als eine gegenwaͤrtige Modifikation unſerer ſelbſt empfunden worden. Was wuͤrde ſie fuͤr uns geweſen ſeyn, wenn ſie nicht empfunden worden waͤre? Noch eine Einbildung, vielleicht ein Bild in uns, aber ohne Bewußtſeyn? Wenn das iſt, was haben wir denn fuͤr einen Grund zu laͤugnen, daß es dergleichen Nach - hall des Selbſtgefuͤhls nicht wirklich in der Seele gebe, wenn wir ſolches gleich nicht gewahrnehmen koͤnnen?

Will man gegen dieſes analogiſche Raiſonnement etwan die Maxime anfuͤhren, auf welche ich ſelbſt in dem Vorhergehenden bey mehrern Gelegenheiten gewie - ſen habe: daß naͤmlich die Aehnlichkeiten in der Na - tur365im Menſchen. tur jedesmal Unaͤhnlichkeiten in Graden und Stufen bey ſich haben: ſo koͤnnte man freylich zweifeln, ob es erlaubt ſey, das Verhaͤltniß des Seelenweſens zu dem Koͤrper in der thieriſchen Natur in gleicher Maße, auf die Beziehung des Jchs zu ſeinem materiellen Or - gan in dem Seelenweſen, zu uͤbertragen? Allein die - ſer Zweifel wird groͤßtentheils durch folgende Betrach - tungen gehoben.

Laß nur zunaͤchſt allein von der Analogie ſelbſt die Rede ſeyn, ſo wuͤrde doch folgen:

1) Daß, wenn nun das angezeigte Verhaͤltniß nicht von gleicher Groͤße in der Seelennatur wie in der thie - riſchen iſt, der Einfluß des Jchs in ſein Organ in je - ner, eben ſo wohl noch groͤßer und ſtaͤrker ſeyn kann, als der Einfluß des geſamten Seelenweſens in die Orga - niſation bey den thieriſchen Handlungen iſt, als ſolcher geringer und ſchwaͤcher ſeyn kann, das iſt: das wahre Syſtem der Natur, welches zwiſchen der gemei - nen und der Bonnetiſchen Hypotheſe faͤllet, kann eben ſo wohl jener naͤher liegen als dieſer.

2) So wuͤrde doch bey dem Unterſchiede in den Stufen das Verhaͤltniß ſelbſt nach ſeinen Beſchaffen - heiten das naͤmliche ſeyn, wie die Analogie es mit ſich bringet; ſo wuͤrden alſo doch Spuren von den Em - pfindungen in der unkoͤrperlichen Seele zuruͤckbleiben, und von ihrer Kraft reproducirt werden koͤnnen, wie in dem Seelenweſen Jdeen von den thieriſchen Handlungen ſind und wieder erwecket werden. Mit einem Wort, Vorſtellungen und Phantaſie wuͤrden, es ſey in wel - chem Grade es wolle, ihren Sitz in unſerm Jch ſelbſt haben.

Allein366XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen

Allein, was ferner nicht zwar die Wahrſcheinlichkeit des analogiſchen Schluſſes, aber doch des Schlußſatzes ſelbſt, beſtaͤtiget, iſt die oben ſchon angefuͤhrte durchgaͤn - gige Uebereinſtimmung der Erfahrungen. Jede der uͤbrigen Hypotheſen ſtieß auf irgend einer Seite bey den Beobachtungen an; dieſe nirgends bey keiner.

2.

Hat das bisherige Raiſonnement einigen Werth, den es, wie ich meine, doch wirklich hat, zumal ſo lan - ge wir noch keine Hypotheſe haben, die beſſer beſtaͤtiget iſt: ſo ſiehet man von ſelbſt, wie wenig die Meinung einiger Philoſophen wahrſcheinlich ſey, nach der ſie eine Thierſeele, in den Koͤrper eines andern verſetzet, die Seele des Menſchen in den Koͤrper des Hundes, oder die Hundsſeele in das Gehirn des Menſchen, in ihrer neuen Wohnung ſo fort eben ſo handeln laſſen, wie ſie in ihrer vorigen Werkſtatt gehandelt hat. Sie ſoll nicht einmal ihre Veraͤnderung im geringſten gewahr - nehmen. Die Bonnetiſche Vorſtellung fuͤhret zu ei - nem ſolchen Schlußſatze. Aber nach der letztern Hypo - theſe muͤßte die Seele ihre vorher erlangten Geſchicklich - keiten und Ungeſchicklichkeiten in ihre neue Wohnung mitnehmen. Man gebe dem Hunde einen Pinſel zwi - ſchen ſeine Pfoten, und ſetze ihn vor das Palet hin; wird er ein Gemaͤlde machen? Eben ſo unvermoͤgend iſt ſeine Seele auch in dem menſchlichen Gehirn zu den Verrichtungen, wozu Pinſel und Palet vom Maler ge - braucht werden.

Doch genug von einer Materie, die noch groͤſten - theils im Dunkeln liegen bleibet, wenn ich auch glauben duͤrfte, es ſey das Licht, worinnen ſie hier an Einer ih - rer Seiten erſcheinet, keine falſche Blendung der Phan - taſie. Es iſt unnoͤthig, dieſe Unterſuchungen denenzur367im Menſchen. zur Fortſetzung zu empfehlen, welche uͤber den Menſchen nachdenken, da ſie ihrer Wichtigkeit und Fruchtbarkeit wegen von ſelbſten ihre Aufmerkſamkeit auf ſich ziehen wird, wie ſie es jederzeit gethan hat. Welch ein Ge - winn fuͤr den menſchlichen Verſtand, wenn die letztge - folgerte Jdee von unſerer Seele zu einer phyſiſchen Ge - wisheit gebracht werden koͤnnte, ohne bloß Hypotheſe und nur durch die Analogie beſtaͤtiget zu ſeyn. Sie iſt eine ſo heilſame Arzney fuͤr Verſtandskrankheiten, daß es die Muͤhe wohl verlohnt, ihrentwegen Gebuͤſche und Waͤlder zu durchſtreichen und Felſen zu beklettern, wenn ſie ſonſt nicht zu finden iſt.

Vier -368XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

Vierzehnter Verſuch. Ueber die Perfektibilitaͤt und Entwickelung des Menſchen. Vorerinnerung uͤber die Abſicht dieſes Verſuchs.

Erſter Abſchnitt. Von der Perfektibilitaͤt der Seelennatur und ihrer Entwickelung uͤberhaupt. Zweeter Abſchnitt. Von der Entwickelung des menſchlichen Koͤrpers. Dritter Abſchnitt. Von der Analogie der Entwickelung der Seele mit der Entwickelung des Koͤrpers. Vierter Abſchnitt. Von der Verſchiedenheit der Menſchen in Hinſicht ihrer Entwickelung. Fuͤnfter Abſchnitt. Von den Graͤnzen der Entwickelung und von der Wiederabnahme der Seelenkraͤfte. Sechster Abſchnitt. Von der fortſchreitenden Entwickelung des menſchlichen Geſchlechts. Siebenter Abſchnitt. Von der Beziehung der Vervollkommnung des Menſchen auf ſeine Gluͤckſeligkeit.

Vor -369und Entwickelung des Menſchen.

Vorerinnerung uͤber die Abſicht dieſes Verſuchs.

Die Natur des Menſchen entwickelt ſich, waͤchſt und gedeihet unter den verſchiedenſten Umſtaͤnden, unter jedem Himmelsſtrich, bey der unterſchiedenſten Nahrungs - und Lebensart; in etwas auch außer der Geſellſchaft; in den verſchiedenſten Verfaſſungen der Geſellſchaft, in der Wildheit, der Barbarey, der Ver - feinerung und der Auf klaͤrung; mit einem Worte, in den verſchiedenſten Beziehungen auf die aͤußeren Gegenſtaͤn - de, auf die Koͤrper, auf die Thiere und auf andre Men - ſchen. Aber eben ſo mannichfaltig iſt die innere Form, welche die Natur unter dieſen verſchiedenen Umſtaͤnden annimmt; verſchieden ſind die Richtungen, worein die Grundkraͤfte und gemeinſchaftlichen Vermoͤgen gebracht werden; mannichfaltig die Grade und Stufen der Staͤrke und Schwaͤche und der Wirkſamkeit in den Kraͤften, und mannichfaltig die Verhaͤltniſſe und Be - ziehungen der Kraͤfte auf einander, und die ſogenannten abgeleiteten Kraͤfte und Fertigkeiten, die von jener Ver - ſchiedenheit der innern Verhaͤltniſſe abhangen. Von einem großen Theile dieſer Verſchiedenheiten iſt es offen - bar, daß ſie in aͤußern Urſachen ihren Grund haben, wenn ſolcher gleich bey einigen nicht ſo ſehr einleuchtet.

Es gehoͤrt zu der Naturgeſchichte des Men - ſchen / dieſe Verſchiedenheiten und zunaͤchſt diejenigen, die ſich an ſeinem Koͤrper zeigen und in die Sinne fal - len, aufzuſuchen, zu vergleichen, und aus ihnen die Eigenheiten ganzer Haufen, Voͤlker, Geſchlechter her - auszunehmen, und durch dieſe als Unterſcheidungs - merkmale die Menſchen in Gattungen, Arten und Claſ - ſen abzutheilen, ſo weit naͤmlich, als hier eine Gattungs - verſchiedenheit ſtattfindet. Denn ich bin ſehr uͤber - zeugt, daß ſie alle Eines Geſchlechts ſind, in demII Theil. A aSinne370XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtSinne des Wortes, worinn die Naturkuͤndiger es mei - ſtentheils zu nehmen pflegen, und daß die ganze Ver - ſchiedenheit in den Menſchenarten nichts anders als eine Abaͤnderung oder Varietaͤt ſey.

Die Geſchichte der Menſchheit hat zur Abſicht, uns die Veraͤnderungen in dem aͤußern Zuſtande darzu - ſtellen, welche das ganze Geſchlecht erlitten hat, und wo - durch es in ſeinen mannichfaltigen Arten das geworden iſt, was es itzo iſt. Es ſcheint indeſſen, als wenn man bey dem haͤufigen Gebrauche des Wortes, Geſchichte der Menſchheit, das ſeit einigen Jahren ein Lieb - lingswort geworden iſt, ſowol die erſt gedachte natuͤrli - che Geſchichte der Menſchen, als die Geſchichte der Menſchheit in der letztern Bedeutung zuſammenfaſſe. Der vortreffliche Plan einer allgemeinen Geſchichte der Menſchheit, den Herr Jſelin entworfen, und die erſte Linie davon mit ſcharfem Beobachtungsgeiſt gezogen hat, iſt noch mehr eine Philoſophie uͤber die Geſchichte, als Geſchichte ſelbſt; ſo wie des Herrn Home bekannte Verſuche nur einzelne aber ſehr wichtige Beytraͤge ent - halten, die ſowol auf die Naturgeſchichte des Menſchen, als auf die Geſchichte ſeiner Ausbildung ſich beziehen. Bisher beſtehet noch alles, was wir hiervon haben, in Fragmenten, und eine vollſtaͤndige Geſchichte der Menſchheit iſt auch vor der Hand nicht zu erwarten. Jndeſſen machen auch die einzelnen Theile derſelben eine Geſchichte aus, die fuͤr Menſchen, fuͤr Philoſophen, fuͤr Geſetzgeber, die fruchtbarſte, lehrreichſte und meiſt pragmatiſche iſt, welche ſeyn kann.

Es waͤre ſehr gut, wenn das eigentliche Hiſtoriſche, die reinen Beobachtungen, und die Erzaͤhlung der Be - gebenheiten mehr von den Raiſonnements abgeſondert, und wenn dann jenes fuͤr ſich mit kritiſcher Sorg - falt aus der buͤrgerlichen Geſchichte, aus der Geſchich - te der ſchoͤnen Kuͤnſte und Wiſſenſchaften, vorzuͤg -lich371und Entwickelung des Menſchen. lich aber aus den Nachrichten der Reiſenden geſammelt wuͤrde. Unſere Schluͤſſe ſind noch nicht Geſchichte. Eine Sammlung von den letztern allein waͤre darum zu wuͤnſchen, weil jetzo viele und große Werke durch - zuſehen ſind, um die Quelle zu haben, wozu man doch nothwendig zuruͤck muß, wenn man die Menſch - heit in ihren Geſtalten mit eigenen, nicht durch fremde Augen ſehen will.

Meine Abſicht iſt hier einige Betrachtungen uͤber die entwickelte menſchliche Natur vorzulegen, die entwe - der aus der Geſchichte der Menſchheit geradezu genom - men werden koͤnnen, oder wenn ſie aus pſychologiſchen Gruͤnden haben geſchloſſen werden muͤſſen, doch durch die Geſchichte beſtaͤtiget werden. Wenn man die ver - ſchiedenen Formen, die der Menſch annimmt, verglei - chet, und beſonders ſoll hier nur auf die Formen ſeiner Seelennatur geſehen werden, ſo muͤſſen uns die Fragen auffallen: was iſt doch wohl der innere Menſch in al - len dieſen verſchiedenen Modifikationen? Wie weit geht ihre Verſchiedenheit? Dringt ſolche bis auf die Natur und ihre Grundkraͤfte? Was nehmen dieſe an, was bekommen ſie? Werden ſie erhoͤhet, geſtaͤrkt, verfei - nert; oder erniedriget, geſchwaͤchet, geſtumpfet? Er - halten ſie etwas Bleibendes, wenn Fertigkeiten erzeuget werden; oder iſt alles, was durch die Entwickelung hinzukommt, nur eine Bekleidung mit einer aͤußern Huͤl - ſe, die, wenn ſie wiederum abfaͤllt, die Grundkraft in demſelbigen Zuſtande zuruͤcklaͤßt, wie ſie vorher war? Sind es bleibende innere Beſchaffenheiten? Beſtehen ſie denn in Realitaͤten oder in Maͤngeln, in Verbeſſerun - gen oder Verſchlimmerungen der Natur? Was hat eine Form hierinn vor der andern voraus? Jſt ſo zu ſagen weniger Menſchheit in dem Menſchen, der ein Neuſeelaͤnder iſt, als in dem Jndividuum, das zu den aufgeklaͤrten Britten gehoͤrt? Und wenn das WohlA a 2und372XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtund Weh, die Gluͤckſeligkeit und die Ungluͤckſelig - keit empfindender und denkender Weſen eine Groͤ - ße hat, die | ſich auf die innere Realitaͤt ihrer Natur bezieht: wie iſt dieſe Beziehung beſchaffen, und wie weit kann jene nach dieſer geſchaͤtzet und gemeſſen werden? Die Unterſuchung uͤber dieſe Fragen muß in der That uns erſt den wahren Werth zeigen, den man den unterſchiedenen Geſtalten der entwickelten Menſch - heit zuſchreiben kann; und alsdenn auch den Werth, die Wichtigkeit und das Verdienſt der Menſchenfreunde, die ſich bemuͤhen, Kenntniſſe, Sitten, Vernunft und Tugend uͤber das Geſchlecht zu verbreiten, zu erheben und zu befeſtigen. Jch ſage den wahren Werth von dieſen; denn auch hier hat die Einbildungskraft nur zu oft etwas Eitles, das bloß Schein iſt, hinzugeſetzt. Es gehoͤrt dieß zu einem Theil der Anthropologie, aber eigent - lich liegt es ganz außer der Geſchichte der Menſchheit.

Herr Verdier*)Recueils de memoires & d obſervations ſur la per - fectibilité de l’homme par les agens phyſiques & par Mr. Verdier. Paris 1772 - 1775. Ob nach den ſechs Sammlungen, die ich geleſen, noch mehrere her - ausgekommen ſind, iſt mir nicht bekannt. hat in ſeinen Beobachtungen uͤber die Perfektibilitaͤt des Menſchen die Entwickelung von einer andern Seite betrachtet, naͤmlich in ſo fern ſie ei - ne Wirkung von den aͤußern Urſachen und Umſtaͤnden iſt, die auf den Menſchen wirken. Die Abſicht die - ſes Schriftſtellers geht auf die praktiſchen Folgen, die man daraus zu einer vollkommenen Erziehung herleiten kann. Das Phyſiſche, oder die eigentliche Natur der Entwickelung des Menſchen iſt zwar hier und da von ihm beruͤhrt, und man |wird manche vortreffliche Be - merkungen bey ihm finden, die hieher gehoͤren; aber ei - gentlich war es ſeine Sache nicht, dieß zu unterſuchen. Ueber -373und Entwickelung des Menſchen. Ueberhaupt ſind die allgemeinen Ausſichten dieſes Mannes ſchoͤn; nur bey den beſondern Ausfuͤhrungen kommt manches vor, das weit beſtimmter von andern ſchon geſagt iſt. Allemal aber kann die Frage: was kann aus dem Menſchen werden, und was und wie ſoll man es aus ihm machen? nur gruͤndlich und beſtimmt beantwortet werden, wenn die theoretiſche: was iſt der Menſch? was wird er und wie wird ers in den Umſtaͤn - den und unter dem Einfluſſe der moraliſchen und phyſi - ſchen Urſachen, unter denen er in der Welt ſich befindet? vorher beſtimmt und deutlich beantwortet iſt. Die Ur - ſache, warum ſo manche Vorſchrift der Moral und der Erziehungskunſt entweder zu unbeſtimmt, oder zu ein - ſeitig, und in der That nur eine Halbwahrheit iſt, iſt dieſe, daß man die Ausſicht uͤber den Menſchen nicht genug erweitert, und die Vervollkommnung unſrer Na - tur nicht an allen ihren Seiten und in allen ihren Thei - len und Geſtalten aufſucht, wie ſie doch in der wirkli - chen Welt vorkommt.

Erſter Abſchnitt. Von der Perfektibilitaͤt der Seelennatur und ih - rer Entwickelung uͤberhaupt.

I. Ob der Anwachs des Seelenvermoͤgens al - lein in einer Vermehrung der Jdeen und Jdeenreihen beſtehe? Search’s Gedanken hieruͤber.

Das Seelenweſen im Menſchen beſitzet gewiſſe Grundkraͤfte, Anlagen und Vermoͤgen, die ihm zukommen, wenn der Menſch auf die Welt geſetzt wird: es ſey nun, daß ſie zu ſeiner unveraͤnderlichen Urkraft gehoͤren, oder waͤhrend der Entwickelung des Koͤrpers im Mutterleibe erzeuget ſind; und dann moͤgen ſieA a 3Kraͤfte374XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtKraͤfte der einfachen Seele ſeyn, oder von der Organi - ſation des Gehirns abhangen; man darf hier den Men - ſchen nur nehmen, wie er Menſch iſt. Unter dieſe gehoͤrt das Vermoͤgen, ſich veraͤndern zu laſſen und zu fuͤhlen, nebſt der innern Selbſtthaͤtigkeit, die vervoll - kommentlich iſt, und ſich vergroͤßern und verſtaͤrken laͤßt. Es iſt anderswo*)Jm eilften Verſuch. gezeiget worden, wenn man die Aeußerungen der Naturkraft in der menſchli - chen Seele ſo weit zerg liedert, als es, meiner Meinung nach, angehet, ſo komme man auf ein einfaches Prin - cip, worunter die erſten Grundkraͤfte gebracht werden koͤnnen; und dieß Princip iſt ein Vermoͤgen zu fuͤhlen und mit perfektibler Selbſtthaͤtigkeit zuruͤckzuwirken. Aber hier erfodert es mein Zweck gar nicht, bis ſo weit zuruͤck zu gehen. Es iſt genug bey den erſten Sproſſen dieſer Grundkraft, naͤmlich bey dem Gefuͤhl der Denk - kraft, und der Thaͤtigkeitskraft, oder dem Gefuͤhl, dem Verſtande und dem Willen, ſtehen zu bleiben, und dieſe fuͤr die erſten Grundkraͤfte anzunehmen. Alle uͤbrigen Faͤhigkeiten, die in der entwickelten Seele ge - funden werden, ſind abgeleitete Vermoͤgen, welche aus jenen, durch die Erhoͤhung, Verſtaͤrkung unb Ver - laͤngerung in verſchiedenen Richtungen, und durch neue Verbindungen unter ihnen entſtanden ſind.

Es ſey indeſſen hier ein fuͤr allemal erinnert, daß, wenn ich |dieſe vorgenannten Vermoͤgen, das Gefuͤhl, den Verſtand und den Willen als Grundkraͤfte anfuͤhre, dieß nicht ſo viel heißen ſolle, als wenn ich meine obige Analyſe der Seelenvermoͤgen**)Jm zehnten Verſuch. hier nun ſchon als un - bezweifelt richtig vorausſetzen und darauf die folgenden Betrachtungen bauen wolle! Dieß nicht. Jedem Pſychologen ſey es vergoͤnnt, ſein eigenes Syſtem zumGrun -375und Entwickelung des Menſchen. Grunde zu legen. Nur da ich die Ordnung in meinen Gedanken einmal jenen Begriffen von den Grundkraͤf - ten angepaßt habe, ſo muß es mir erlaubt ſeyn, ſolchen auch hier nachzugehen. Um nicht misverſtanden zu werden, will ich es wiederholen, daß ich dieſelbigen Woͤrter, Receptivitaͤt, Gefuͤhl, Verſtand und Willen, auch hier in demſelbigen Sinne nehme, wie ſie oben in dem zehnten Verſuche beſtimmt worden ſind. Die Art und Weiſe, wie die Grundkraͤfte ſich entwickeln, wie die Moͤglichkeit etwas zu thun oder zu leiden, die bloße Empfaͤnglichkeit in eine naͤhere Anlage zu etwas, und dann die Anlage in ein Beſtreben oder Tendenz, und das Beſtreben in eine Fertigkeit uͤbergehe; ingleichen wie, umgekehrt, die Fertigkeit wiederum in Anlage und die Anlage in Receptivitaͤt zuruͤckgehe; das iſt, die Art, wie die Jntenſion und Umfang in den Kraͤften und Vermoͤgen veraͤndert, vergroͤßert oder geſchwaͤcht wer - de, und wie man dadurch zu allgemeinen Geſetzen der Ausbildung und Entwickelung gelange: das muß zuerſt aus Beobachtungen uͤber den Menſchen genommen, und durch Beobachtungen beſtaͤtiget werden. Dieſe Unterſu - chung iſt unabhaͤng von jedweder Ordnung, worinn die Vermoͤgen ſich entwickeln, und auch darauf kommt es nicht an, welche von ihnen man eigentlich fuͤr die erſten Beſtandtheile des Keims der Seele halten wolle.

Die erſte Frage, die hiebey vorkommt, worinn naͤmlich der Anwachs eines Vermoͤgens beſtehe, kann, zumal wenn zufoͤderſt auf die Verſtandesvermoͤgen ge - ſehen wird, nicht deutlicher ins Licht geſetzet werden, als wenn ich die Meinung des Herrn Search hieruͤber mit ſeinen eignen Worten*)Licht der Natur. Erſter B. S 66. der deutſchen Ueber - ſetzung. anfuͤhre. Wenn wir unſern Ver - ſtand, ſagt dieſer Philoſoph, durchs Studiren ver -A a 4 beſ -376XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt beſſern und erweitern, ſo thun wir in Abſicht auf un - ſer Vermoͤgen nichts. Denn das muͤſſen wir laſſen, wie es uns die Natur gab. Kein Fleiß kann unſere natuͤrlichen Faͤhigkeiten vergroͤßern oder vermindern; wir koͤnnen nur blos einen groͤßern Vorrath von Ma - terialien fuͤr ſie ſammeln, damit ſie ſich beſchaͤfftigen koͤnnen. So hauet jemand einen Wald nieder, um ſeine Ausſichten zu erweitern; er giebt ſeinen Augen kein groͤßeres Vermoͤgen zu ſehen, ſondern er oͤffnet ihnen nur ein weiteres Feld, uͤber welches ſie aus - ſchweifen koͤnnen.

Sollte es ſich ſo mit unſerm Verſtande verhalten, ſo koͤnnte man leicht ſchließen, es verhalte ſich aller Wahrſcheinlichkeit nach auch nicht anders bey dem Ge - fuͤhl und bey der Thaͤtigkeitskraft, oder dem Willen. Worinn wuͤrde alsdenn die innere Vervollkommnung der Seele beſtehen? Die Kraͤfte bleiben dieſelben in ihrem Jnnern, ſo wie ſie von Natur ſind; dieſelbigen an Staͤrke und Ausdehnung. Nur dadurch, daß un - ſere Empfindungen vermehrt werden, und wir mehrere und mannichfaltigere Vorſtellungen erlangen, und meh - rere und laͤngere Jdeenreihen ſich feſtſetzen, empfaͤngt die Kraft eine geraͤumigere und ſtaͤrkere Wirkungsſphaͤ - re, uͤber welche ſie ſich verbreiten kann. Jhr Zuwachs an Staͤrke, Umfang und Tiefe, oder wenn wir etwa noch mehrere Diviſionen in den Seelengroͤßen unterſchei - den wollen, wuͤrde nicht blos von den Jdeenreihen ab - hangen, ſondern auch in dieſen beſtehen, und weiter in der Seele ſelbſt nichts ſeyn.

Nun kann zwar, um Searchen nichts aufzubuͤrden, was er nicht ſagt, aus ſeinen angefuͤhrten Worten al - lein noch nicht gefolgert werden, daß er die Jdee, die er ſich hier von der Vervollkommnung des Verſtandes macht, fuͤr einen allgemeinen Begriff von der Vervoll - kommnung aller Seelenkraͤfte gehalten wiſſen wolle. Denn377und Entwickelung des Menſchen. Denn der Verſtand iſt bey ihm nur ein leidendes Ver - moͤgen gewahrzunehmen, und eine Art des Gefuͤhls. Die thaͤtigen Aeußerungen der Ueberlegungskraft gehoͤ - ren alleſammt mit der ganzen wirkſamen Kraft der See - le zu ihrem Willen. Jſt alſo gleich jenes leidentliche Gefuͤhl von einer unveraͤnderlichen Groͤße, daß es weder Vermehrung noch Erhoͤhung weiter annimmt, als in Hinſicht der Objekte, worauf es wirket, ſo kann es ſich vielleicht bey dem thaͤtigen Vermoͤgen der Seele anders verhalten. Allein, ohne die Vorſtellung dieſes Philo - ſophen weiter zu pruͤfen, waͤre es doch ſchon etwas, wenn ſich die Sache in Hinſicht eines unſerer Vermoͤ - gen auf dieſe Art verhielte, wovon man mittelſt der Ana - logie auf die uͤbrigen ſchließen koͤnnte.

Man kann wohl Eins oder das andere unſerer Ver - moͤgen durch eine Abſonderung im Verſtande, aus den uͤbrigen ſo herausnehmen, daß es zufolge dieſer Ab - ſtraktion als eine unveraͤnderliche Einheit angeſehen wer - den muß, wenn man alle Veraͤnderungen, die ſolches in Graden und Stufen annimmt, auf andere Vermoͤ - gen uͤbertraͤgt. So iſt zum Exempel die Seele ein Weſen, das Eindruͤcke in ſich aufnimmt, ſolche fuͤhlet, und dann ſelbſtthaͤtig zuruͤckwirket. Wenn nun das Vermoͤgen des Gefuͤhls, durch eine Abſtraktion, bloß auf das Vermoͤgen zu reagiren eingeſchraͤnkt und die wirkſame Seelenkraft nur allein an der Seite angeſehen wird, wie ſie eine zuruͤckwirkende Kraft iſt, ſo hindert nichts, bey der Seele eben ſo wie bey dem Koͤrper anzu - nehmen, daß die Ruͤckwirkung allemal ſo groß ſey, wie die Wirkung, und daß folglich in dem Vermoͤgen des Gefuͤhls keine innere Groͤße entſtehen, ſondern ſolches nur ſtaͤrker oder ſchwaͤcher auf mehrere oder wenigere Ge - genſtaͤnde angewendet werden koͤnne, je nachdem meh - rere und ſtaͤrkere Einwirkungen da ſind. Aber iſt denn darum die Empfaͤnglichkeit der Seele oder ihr Vermoͤ -A a 5gen378XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtgen ſich veraͤndern zu laſſen, und zuruͤckzuwirken aller innern Erhoͤhung unfaͤhig? Wird es nicht nach der Er - fahrung wirklich vergroͤßert? Waͤchſet nicht auch die innere Modifikabilitaͤt, die Aufgelegtheit mehrere und mannichfaltigere Eindruͤcke anzunehmen, und leichter ſie anzunehmen? Es haͤnget nichts von willkuͤrlichen Ab - ſtraktionen und darauf gegruͤndeten Vorſtellungsarten ab, ſondern von Beobachtungen, die allein daruͤber be - lehren koͤnnen.

II. Naͤhere Unterſuchung uͤber den Anwachs bey den thaͤtigen Vermoͤgen.

  • 1) Beobachtungen, welche zu beſtaͤtigen ſchei - nen, daß die Erhoͤhung der Vermoͤgen zu Fertigkeiten allein in den erworbenen Jdeen - reihen beſtehe.
  • 2) Andere Beobachtungen, welche mit dieſer Hypotheſe nicht ſo gut zu vereinigen ſind.
  • 3) Wenn ein Vermoͤgen in Fertigkeit uͤber - geht, ſo empfangen a) die Jdeen von den Objekten eine Leichtigkeit wiedererweckt zu werden. b) Die Vorſtellungen von den Aktionen ſelbſt, die theils eine Reproduk - tion der die einzelnen Aktionen begleitenden Empfindungen, theils eine Wiederholung der ehmaligen Kraftaͤußerungen, in ſich faſ - ſen, werden leichter erweckbar.
  • 4) Genaue Vergleichung der Beobachtungen uͤber den Zuwachs der Vermoͤgen durch die Uebung. Was in dieſem Zuwachs enthal - ten ſey.

5) Zwo379und Entwickelung des Menſchen.

  • 5) Zwo Folgen aus dem Vorhergehenden. Von dem vorzuͤglichen Nutzen, den das Le - ſen der Originalſchriftſteller hat. Von dem Nutzen der Metaphyſik, als einer Ue - bung der Verſtandskraͤfte.
  • 6) Wie weit die Erhoͤhung eines Seelenver - moͤgens ſich uͤber andere Vermoͤgen aus - breite!
  • 7) Von der Schwaͤchung der Vermoͤgen durch allzu ſtarke Anſtrengung.

1.

Die thaͤtigen Seelenvermoͤgen, die alsdenn beſon - ders Faͤhigkeiten heißen, wenn ſie vorzuͤglich groß ſind, werden durch eine angemeſſene Uebung erhoͤ - het und zu Fertigkeiten gemacht. Man kann die in - ſtinktartigen Handlungen, wozu uns die Fertigkeiten an - gedohren zu ſeyn ſcheinen, hier bey Seite ſetzen. Der Philoſoph, der Mathematiker, der Schachſpieler, der Maler und ſo weiter, wird das, was er iſt, nicht ohne vorhergegangene Uebung. Von den Poeten und an - dern Kuͤnſtlern, und uͤberhaupt von ſolchen Fertigkeiten, die auf einer vorzuͤglichen Wirkſamkeit der Phantaſie be - ruhen, iſt man gemeiniglich der Meinung, ſie muͤßten geboren, nicht gemacht werden. Aber man hat laͤng - ſtens bemerkt, daß ſich daſſelbige von allen Arten der vorzugsweiſe ſogenannten Genies, und auch von den philoſophiſchen und mathematiſchen Genies, behaupten laſſe. Die Leibnitze, die Newtons, die Euler, die Bernoullis muͤſſen eben ſowohl geboren werden, als die Homere und Virgile. Und es iſt eben ſo gewiß, daß die lebhafte Phantaſie ohne hinzukommende An - ſtrengung und Uebung keinen ausgebildeten großen Poe - ten mache, als eine angeborne vorzuͤgliche Ueberlegungs -kraft380XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtkraft den Philoſophen. Jede Fertigkeit hat ihre Ue - bung erfodert; an allen hat das gefliſſentliche und wie - derholte Beſtreben, mit dem natuͤrlichen Vermoͤgen zu wirken, ſeinen Antheil. Sie haben alle, ohne Aus - nahme, außer dem, was in ihnen natuͤrliche Anlage iſt, etwas, mehr oder minder, was hinzugekommen und erworben iſt. Dagegen es auch wiederum keine einzige Fertigkeit giebt, von ſolchen, die ihrer ausnehmenden Groͤße wegen ihren Beſitzer zu einem großen Mann machen, die nicht etwas in ſich habe, was anders wo - her ruͤhrt, als aus dem, was der Fleiß verſchaffen kann. Jndeſſen iſt ſo viel nicht zu laͤugnen, daß bey verſchiede - nen Faͤhigkeiten hierinn nicht einiger Unterſchied den Graden nach ſtattfinde. Einige Fertigkeiten hangen allerdings mehr von der natuͤrlichen Anlage, andere mehr von der Uebung ab, als andere. Es kann naͤm - lich das Verhaͤltniß, worinn die natuͤrliche Groͤße des Vermoͤgens zu der erworbenen ſtehet, die es durch Ue - bung erhaͤlt, verſchieden ſeyn, und iſt es ohne Zweifel. Und da ſcheint es, als wenn in Hinſicht der ſogenann - ten hoͤhern Verſtandskraͤfte, Fleiß und Uebung mehr vermoͤge, um ſie zu ſtaͤrken und zu erhoͤhen, als bey der ſinnlichen Vorſtellungskraft, und beſonders bey der Dichtkraft. Man erzaͤhlet von Newton, er habe von ſich ſelbſt geſagt, wenn er etwan dieß und jenes tiefer und beſſer einſaͤhe als andere: ſo ſey die Urſache davon allein dieſe, daß er muͤhſamer und anhaltender nachge - forſchet habe. Der große Mann verkannte wohl in etwas ſeine angeborne Vorzuͤglichkeit, wie Genies am Verſtande gemeiniglich beſcheiden ſind. Aber New - ton redete doch nach ſeinem Gefuͤhl, und ſein Urtheil uͤber ſich ſelbſt iſt ein Beweis, daß er mit allen ſeinen angebornen Talenten ohne unablaͤſſiges Nachdenken nicht Newton wuͤrde geworden ſeyn.

Wenn381und Entwickelung des Menſchen.

Wenn man dieſe gemeinen Erfahrungen, die man bey der Erziehung in Menge haben kann, von Fertig - keiten, welche durch Uebung erzeuget werden, genauer an - ſiehet: ſo findet ſich dabey doch manches, das wohl in Betracht zu ziehen iſt, ehe man das Jnnere, was in dieſer Entſtehungsart liegt, aus ihnen ſchließen kann. Die Uebung iſt eine Anwendung des Vermoͤgens, das von Natur, oder wenigſtens vorher vorhanden iſt. Jed - wede einzelne Handlung von der Art, daß ſie die Wirk - famkeit deſſelbigen Vermoͤgens oder derſelbigen Kraft erfodert, kann als ein Theil der ganzen Uebung des Vermoͤgens angeſehen werden. Aber ſie iſt doch nur dann in dem eigentlichen Sinn des Worts eine Ue - bung, wenn ſie auf eine ſolche Art unternommen wird, daß aus ihr eine Erhoͤhung des Vermoͤgens erfolget, oder daß der vorher erlangte Grad der Fertigkeit durch ſie erhoͤhet, oder doch in ihrer Groͤße, die ſie ſchon hat, erhalten werde. Soll dieß aber eine Folge der Hand - lung ſeyn, ſo muß auch, wie die Erfahrung lehret, die Kraft mit einem gewiſſen angemeſſenen Grade der Jn - tenſion wirken, und weder zu ſchwach noch zu ſtark da - bey gebraucht werden. Wer ohne eine merkliche An - ſtrengung oder ohne den gehoͤrigen Grad der Aufmerk - ſamkeit etwas verrichtet, gewinnt fuͤr ſein Vermoͤgen ſelbſt wenig oder nichts. Die Anſtrengung muß bis an eine gewiſſe Graͤnze gehen, wo ſie anfaͤngt unange - nehm und ſchmerzhaſt zu werden. Und ſo ſehr ſchaͤdlich iſt es auch nicht, wenigſtens nicht bey einer ſtarken Kraft, wenn ſie dann und wann einmal etwas daruͤber hinaus| gehet. Die Kraft, welche geſtaͤrkt und ge - ſchaͤrfet werden ſoll, muß auch bearbeitet und angegrif - fen werden. Dagegen kann auch allerdings auf der an - dern Seite zuviel geſchehen. Eine zu ſtarke, und noch mehr eine anhaltende Ueberſpannung der Kraͤfte ſchwaͤ - chet ſie, und ſetzet das Vermoͤgen, das vorher ſchon dawar,382XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtwar, auf eine Zeitlang, zuweilen auf immer, herunter. Allzugroßer Fleiß iſt, ſogar fuͤr ein Genie, erſtickend. Dieß Maaß der angemeſſenen Uebung iſt, wie ſichs von ſelbſt verſteht, nicht eben daſſelbige fuͤr Alle, und muß bey jedem Jndividuum nach dem Selbſtgefuͤhl beſtim - met werden.

Es ſind ferner bekannte Erfahrungen, daß ein Ver - moͤgen zu einer gewiſſen Art von Handlungen unge - mein ſtark und maͤchtig gemacht ſeyn kann, ob es gleich zu einer andern ſchwach und ungeſtaͤrkt geblieben iſt. Und dieß finden wir ſogar in ſolchen Faͤllen, wo die Thaͤtigkeiten, in denen das Vermoͤgen ſich aͤußern ſoll, einander aͤhnlich und nahe verwandt ſind; und noch mehr auch da, wo die Art der Thaͤtigkeit, und die Form der Handlungen, gaͤnzlich oder doch beynahe die - ſelbigen ſind, und ihr Unterſchied allein in den Objekten liegt, womit die Kraft ſich beſchaͤftiget, oder welches hier gleichviel iſt, in den Jdeen von dieſen Objekten. Wenn Newton in der Philoſophie nicht ſo tief noch ſo ſcharf raiſonnirte, als in der Mathematik; wenn uͤber - haupt ein mathematiſches und philoſophiſches Genie in einem Kopf nicht gut vertragbar ſind, obgleich Ver - ſtand und Vernunft dieſelbigen Seelenfaͤhigkeiten ſind, die in beiden arbeiten; (eine Bemerkung die jedoch nur gewiſſermaßen richtig iſt;) wenn Klopſtocks Staͤrke in der erhabenen Dichkunſt ihm keine gleiche Staͤrke in den Arbeiten des ſpielenden und beluſtigenden Witzes giebt, obgleich Phantaſie und Dichtkraft die wirkende Urſache in beiden iſt, und ſo ferner: ſo ſind wir mit ſolchen Ver - ſchiedenheiten zu bekannt, als daß ſie uns befremden. Aber wenn wir ſehen, daß jemand eine große Fertigkeit in einer Art von Handlungen bey gewiſſen Gegenſtaͤn - den beſitzet, und dennoch bey andern von neuem lernen und nur nach und nach ſich die Fertigkeiten erwerben muß|; ohnerachtet das, was er bey den letztern Sachenzu383und Entwickelung des Menſchen. zu thun hat, eben das iſt, was ihm bey andern ſo leicht und gelaͤufig war: ſo ſcheinen dieß Erfahrungen zu ſeyn, welche den Gedanken beſtaͤtigen, daß alle Seelenfertig - keiten bloß in Fertigkeiten beſtehen, Jdeen und Jdeen - reihen von gewiſſen Sachen zu erwecken. Wenigſtens ſcheinen jene Erſcheinungen aus dieſer Vorausſetzung am leichteſten erklaͤrt zu werden. Man bringe den Geo - meter bey das Schachſpiel, lehre ihn die Grundſaͤtze des Spiels, und laſſe ihn ziehen: wie viel wird er, ſeiner Gewohnheit dergleichen Ueberlegungen zu machen ohn - erachtet, im Anfange kluͤger ziehen, und wie weniger ſich verſehen, als jedweder Anfaͤnger von gutem natuͤr - lichen Verſtande? Dagegen es Virtuoſen im Schach - ſpiele giebt, die in ihren uͤbrigen Handlungen und Ur - theilen keine hervorragende Verſtandeskraͤfte beweiſen. Mir iſt das Exempel von einem Menſchen bekannt, der durch ſeinen anhaltenden Fleiß in der Algeber fortkam, ob er gleich ſonſten eine ſo mittelmaͤßige Faſſungskraft beſaß, daß er eher unter die Stumpfkoͤpfe als unter die Genies haͤtte gezaͤhlt werden muͤſſen.

Haͤufiger ſind die Beyſpiele, wo Fertigkeiten von andern getrennt ſind, in denen die Wirkungsarten nicht dieſelbigen, ſondern nur mit einander verwandt ſind; wo eine etwas unterſchiedene Art der Thaͤtigkeit zu ihnen erfodert wird, obgleich das in beiden geſchaͤfftige Grundvermoͤgen der Seele noch eben daſſelbige iſt. Der Gelehrte kann am Verſtande hervorragen, ohne daß ſeine Empfindſamkeit in gleichem Maße verfeinert ſey; und nur zu oft iſt die Bemerkung, die Hume uͤber den großen Bacon gemacht hat, auch auf andere anpaſſend, daß ein tief eindringender Verſtand und Staͤrke des Geiſtes und des Herzens, woraus Muth und Thaͤtig - keit in aͤußern Handlungen entſpringen, voneinander getrennet ſind. Der Mann von feinem Verſtande be - ſitzt noch lange nicht den Geiſt des Mannes in Geſchaͤf -ten,384XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtten, der das Einzelne zu umfaſſen weiß, noch die feſte Stirn deſſelben. Dagegen ſteht der letztere dem Phi - loſophen nach an der feinern Scharfſinnigkeit wie dem Geometer an eindringender Schlußkraft, und dem Dich - ter an Phantaſie und Witz. Alle dieſe Handlungen und Fertigkeiten ſind doch Wirkungen derſelbigen Grundkraft der Seele, und beruhen, die eine wie die andere, auf einer innern Groͤße dieſer Kraft, welche in allen wirkſam iſt. Wie kann denn die eine Fertigkeit fehlen, wo die andere vorhanden iſt, wenn nicht dieſe Verſchiedenheit anderswo ihre Urſache hat? Der Schluͤſſel zu dieſen Erſcheinungen, moͤchte Hr. Search ſagen, liegt darinnen: die verſchiedenen Fertigkeiten beſtehen in den verſchiedenen Jdeenreihen, welche hin - zukommen und ſo viele verſchiedene Werkzeuge der Grundkraft ausmachen, deren ſie ſich bedienen kann. Jndem ſie ſich dieſe verſchafft und zubereitet, erlangt ſie ihre Fertigkeiten zu gewiſſen Handlungen, die nach der Verſchiedenheit der Jnſtrumente verſchieden ſind.

Dieſe Erklaͤrung bekommt einen noch groͤßern Schein, wenn man ſiehet, wie weit man wirklich mit ihr ausreichet, um die Entſtehung der Fertigkeiten zu erklaͤren. Es muß nothwendig, wenn nicht alles, doch ſehr vieles von den Jdeenreihen abhaͤngen, die, wie mehrmalen ſchon bemerket worden iſt, in der Seele das naͤmliche ſind, was die Nerven und Muskeln in dem Koͤrper. Wer ſich mit einer Art von Geſchaͤfften oder mit einer Wiſſenſchaft bekannt macht, deſſen Beſtreben geht dahin, die Begriffe von den Sachen zu faſſen, und dieſe Begriffe nach ihren Verhaͤltniſſen und Bezie - hungen auf einander zu verbinden und aneinander zu rei - hen. Waͤchſet nun die Fertigkeit eine Reihe von Ge - danken und Schluͤſſen zu uͤberſehen, und geht alſo dieſe Verrichtung leichter und ſchneller vonſtatten: ſo ſind es die erworbenen Jdeenreihen, welche ſich leicht undſchnell385und Entwickelung des Menſchen. ſchnell darſtellen, und eben dadurch die Reflexion in den Stand ſetzen die Verbindungen auch zwiſchen den ent - fernten Jdeen und ihren Folgen augenblicklich wahrzu - nehmen, die ein anderer nicht finden kann, dem dieſe Jdeenreihen fehlen. Der letztere iſt genoͤthigt eine Jdee nach der andern mit Muͤhe hervorzuziehen, und zu ver - gleichen; wie es auch wohl dem Manne von großer Fertigkeit in ſolchen Stunden begegnet, worinn, wie wir ſagen, der Geiſt traͤge iſt. Die Phantaſie iſt als - denn nicht aufgelegt, ihr Spiel mit den Jdeenreihen mit der gewoͤhnlichen Leichtigkeit vorzunehmen.

2.

Aber dennoch wuͤrde es zu uͤbereilt geſchloſſen ſeyn, wenn man es hiedurch ſchon als entſchieden anſehen woll - te, daß der Zuwachs unſerer Vermoͤgen in nichts mehr beſtehe, als in neuen Jdeenreihen, die hinzukommen. Zum mindeſten muͤßte dieſe Behauptung vorher viel naͤ - her beſtimmt werden, ehe ſie ſo ſchlechthin angenommen werden kann. Denn aus den angefuͤhrten Erfahrungen ergiebt ſich doch nur ſoviel, daß zur Erzeugung einer Fertigkeit allerdings eine Anreihung von Vorſtellungen unentbehrlich ſey; aber es zeiget ſich nicht, daß dieſe letztere alles ausmache, was in der ganzen Fertigkeit lieget.

Laßt uns nur etwas naͤher die Wirkungen bemer - ken, welche aus der Uebung der Vermoͤgen in uns entſtehen. Alsdenn wird es ſich deutlich genug zeigen, daß ſelbige noch tiefer in die Kraft und in die Vermoͤgen ſelbſt eindringe, und hier einen innern Zuſatz bewirke, der etwas anders iſt, als die Fertigkeit Jdeen von den Gegenſtaͤnden zu erwecken. Man kann zunaͤchſt nur ſolche Beyſpiele nehmen, die bey der Erhoͤhung der Ver - ſtandeskraͤfte gefunden werden. Ohnedieß laſſen ſich inII Theil. B bdieſem386XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtdieſem die allmaͤligen Fortſchritte und das Mannichfal - tige, was dabey vorkommt, am leichteſten beobachten.

1) Es iſt ein großer merklicher Unterſchied, den man auch innerlich fuͤhlet, ob jemand eine geometriſche Demonſtration nur allein mit dem Gedaͤchtniſſe gefaßt, oder ſie mit dem Verſtande durchgedacht habe. Die Wirkungen, welche in beiden Faͤllen entſtehen, und in dem Verſtandesvermoͤgen aus der Arbeit zuruͤckblei - ben, ſind ſehr unterſchieden. Jn dem erſtern Fall mag man ſich die Begriffe und Saͤtze, welche man erlernet hat, in ihrer Verbindung untereinander noch genauer, vollſtaͤndiger und tiefer eingepraͤgt haben, als in dem letztern, aber man wird ſich auch nach der Uebung noch eben ſo wenig aufgelegt finden, ſelbſt einen Beweis fuͤr den Lehrſatz aufzuſuchen, als man es vorher war; und wenn man zu einer folgenden Demonſtration uͤbergehet: ſo iſt es um nichts leichter geworden, nun dieſe zu be - greifen. Jm andern Fall hingegen, wenn der Ver - ſtand mehr im Denken gearbeitet hat, als das Gedaͤcht - niß in Auffaſſung der Jdeen, zeiget ſich eine viel andere Wirkung. Wer die erſte Haͤlfte einer Wiſſenſchaft durchgedacht hat, findet die zwote viel leichter: nicht ſo, der ſie auswendig lernet; auch wenn jener weniger im Gedaͤchtniſſe aufbehalten hat, als dieſer, findet er doch, daß er ſich in Hinſicht des folgenden vorgearbeitet habe.

2) Die Uebung des natuͤrlichen Verſtandes in den Sprachen, Kuͤnſten und in der Geſchichte ſind, wie die Erfahrung lehret, eine Vorbereitung deſſelben zu den hoͤhern Wiſſenſchaften. Nun mag es wohl ſeyn, daß ein Kopf in einer Erkenntnißart weit fortgehen, und in einer andern zuruͤckbleiben kann: aber es iſt wider die Erfahrung zu behaupten, daß die Anwendung des Verſtandes bey einer Wiſſenſchaft nicht etwas hinterlaſ - ſe, wodurch die natuͤrliche Faͤhigkeit zu einer andern verſtaͤrket und erhoͤhet werde, auch da, wo die erſternBegrif -387und Entwickelung des Menſchen. Begriffe in die letztern wenig Einfluß haben. Die |Geo - metrie ſchaͤrfet die Vernunft, auch fuͤr Wiſſenſchaften, in denen keine geometriſchen Begriffe vorkommen. Die Reden des Cicero kann man leſen, wie ſie der Mann lieſt, der aus ihnen nur Worte und Redensarten in ſein Gedaͤchtniß eintraͤgt. Allein wer dem großen Manne nachzudenken und nachzuempfinden weiß, in der Anordnung und in der Verbindung der Begriffe, in dem Vergleichen und in dem Bemerken ihrer mannichfaltigen Beziehungen auf einander, und ihm alſo auch nicht blos nachgehet, ſondern auch gewiſſermaßen nachzumachen ſich beſtrebet, der mag den ihm in der Folge ganz gleichguͤl - tigen Jnhalt ſeiner Schriften vergeſſen, und nur we - nig Latinitaͤt aus ihm behalten, und wird dennoch nicht nur ſeine Ueberlegungskraft geſtaͤrket, ſondern auch uͤberdieß einen Partikel von dem Geiſte dieſes Mannes in ſich abgeleitet fuͤhlen, das iſt: er wird Regungen, An - wandlungen, Triebe und Beſtrebungen in ſich fuͤhlen, Sachen, die ihm vorkommen, auf eine aͤhnliche Art zu behandeln, ſo ſehr dieſe Sachen auch von denen, womit Cicero zu thun hatte, verſchieden ſind. Dieſe Ver - aͤhnlichung mit ſeinem Original iſt zuverlaͤſſig etwas mehr in der Seele, als eine Aufſammlung von Jdeen und Jdeenreihen, welche letztern in viel groͤßerer Maße beydenen zuruͤckgeblieben ſind, die auswendig gelernt ha - ben. Es gehoͤren unzaͤhlig viel andere Erfahrungen hieher. Die naͤmliche Denkart und der naͤmliche Geiſt, den ein Menſch aus ſeiner Kunſt oder aus ſeinem Ge - werbe annimmt, verbreitet ſich auch uͤber ſeine Spiele und Zeitvertreibungen und uͤber ſeine geſammte Auf - fuͤhrung zuweilen mehr, zuweilen weniger.

3) Je naͤher zwo Arten von Geſchaͤfften einander in Hinſicht der vorzuͤglich dabey thaͤtigen Vermoͤgen und der Art und Weiſe, wie ſolche wirken, aͤhnlich ſind,B b 2deſto388XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtdeſto offenbarer iſt es, daß die in der einen erworbenen Geſchickllchkeit das Vermoͤgen zu der zwoten zugleich in etwas geſtaͤrket habe. Jn jeder Uebung des Ver - ſtandes iſt zugleich eine Uebung der Selbſtthaͤtigkeit der Seele enthalten. Was hieraus folget, daß naͤmlich die Erhoͤhung des Verſtandes zugleich auch die Selbſt - macht der Seele uͤber ſich, und alſo die Beherrſchung unſerer ſelbſt befoͤrdern muͤſſe, wird wiederum unmittel - bar durch die Beobachtung beſtaͤtiget. Die Frage, die man aufgeworfen hat, ob jemals an einem Men - ſchen ein großer feiner Verſtand und ein laſterhaftes Herz bey einander geweſen ſey, konnte, da ſie ſehr un - beſtimmt war, ſowohl bejahend als verneinend beant - wortet werden. Denn was fuͤr unvertragbare Dinge ſind nicht oft in einer menſchlichen Seele beyſammen. Allein ſo viele kluge und einſichtsvolle Boͤſewichter es auch gegeben haben mag, ſo iſt es doch außer Zweifel, daß der durch Nachdenken an Verſtand und Urtheils - kraft erhoͤhte Kopf in unzaͤhligen Faͤllen mehr Gewalt uͤber ſich und uͤber ſeine lebhaften Vorſtellungen beſitze, und oft ſeine ſtaͤrkſten Begierden im Zaum halten koͤn - ne, vielmehr als der ſchwache Kopf, dem jede auf - fallende Empfindung das Ruder des Gemuͤths aus den Haͤnden ſtoͤßt. Jener kann ſich, zum mindeſten auf ei - ne Zeitlang, und unter Umſtaͤnden, die ihn ſonſten ſehr in Bewegung ſetzen, faſſen; wenn gleich eine tief im Jnnern liegende Leidenſchaft am Ende ihn ſo gut wie andre unwiderſtehlich beherrſchet. Daraus aber, daß ein geuͤbter Verſtand bey gewiſſen Arten von Sachen ſich ſchwaͤcher beweiſet, als bey andern, und oft weni - ger ausrichtet, als ein ungeuͤbter, kann ohne große Be - hutſamkeit nicht geſchloſſen werden, daß ſeine erlangte Fer - tigkeit an einer Seite ihm keine Geſchicklichkeit, ſich auch auf dieſer Seite zu zeigen gegeben hat. Und daß er durchaus nicht groͤßer am innern Verſtandsvermoͤgen gewordenſey,389und Entwickelung des Menſchen. ſey, kann ganz und gar aus ſolchen Beyſpielen nicht ge - folgert werden. Denn es iſt aus vielen andern Gruͤn - den begreiflich, warum ein Mann vom Verſtande den - noch zu gewiſſen Arbeiten nicht aufgelegt iſt, die doch am meiſten auf Verſtand ankommen. Eine geheime Unluſt ziehet oft die Aufmerkſamkeit eines ſolchen von ei - ner Sache ab. Zuweilen liegt auch in ſeinen erſten Grundideen, oder in dem erſten Anfange der Art da - bey ſich zu benehmen, ein Fehler, der ſeine wirkſame Kraft in eine falſche Richtung bringet, ohne daß er ſelbſt es bemerke; und dann faßt und begreift er nicht, was einem andern leicht und deutlich iſt, deſſen Ver - ſtand weit ſchwaͤcher iſt, als der ſeinige. Das Genie macht die meiſtenmale alles nur mittelmaͤßig oder ſchlecht, wobey es nicht ganz angegriffen wird. Und der beſte Kopf verwickelt ſich in Zweifel und Knoten, die er ſich ſelbſt gemacht, und zuweilen aus zu großer Lebhaftigkeit geſchnuͤret hat. Dieß kann eine Unge - ſchicklichkeit veranlaſſen, die aber nur bloß dem Scheine nach aus Unvermoͤgen und Schwaͤche zu entſtehen ſcheint, wenn ſie nach ihrer aͤußerlich bemerkbaren Wir - kung beurtheilet wird, die aber wirklich in einer zu gro - ßen Staͤrke ihren wahren Grund haben kann. Ueber - dieß iſt es ſehr begreiflich, daß ſelbſt die große Menge von Vorſtellungen einer Klaſſe, welche ein Menſch be - ſitzet, ſehr leicht ein Hinderniß werde neue Jdeen von andern Objekten anzunehmen, die ſich auf jene wenig oder gar nicht ſo beziehen, wie es erfodert wird, wenn die Einbildungskraft ſie leicht an die vorhandenen anle - gen ſoll, die alſo mit mehr Muͤhe gefaßt werden, als es geſchehen waͤre, wenn die erſtern den Kopf nicht ſchon eingenommen haͤtten. Auch bringet ſelbſt die uns ſchon gelaͤufig gewordene Art und Weiſe, zu denken und zu handeln, eine gewiſſe Lenkung der Kraft nach einer Seite hervor, ſobald dieſe, durch irgend eine UrſacheB b 3gerei -390XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtgereizet iſt; und dieſe ihr zu gelaͤufige Richtung macht es ſchwer, nach einer andern Seite hin ſich zu aͤußern, wie doch nothwendig iſt, um Geſchaͤffte von einer andern Gattung zweckmaͤßig zu betreiben. Die meiſtenmale wird man bey ſich ſelbſt eine oder die andre dieſer Urſa - chen antreffen, und alsdenn dieſe dem Scheine nach entgegenſtehenden Erfahrungen in der That zur Beſtaͤ - tigung des Satzes, daß eine jede Uebung einer Seelen - kraft bey irgend einer Art von Gegenſtaͤnden eine Staͤr - ke in ihr hinterlaſſe, die ſich auch bey andern verſchiede - nen Handlungen beweiſen kann, uͤbereinſtimmend finden.

Dieſe Beobachtungen ſcheinen mir wenigſtens der obigen Vorſtellung, daß der Auwachs unſerer Seelen - vermoͤgen nur in einer Vergroͤßerung ihres Spielraums, oder in der Vermehrung und Erweiterung ihrer Jdeen von den Objekten beſtehe, eben ſo ſehr zu widerſtreiten, als die zuerſt angefuͤhrten ſolche zu beſtaͤtigen ſcheinen. Die Frage iſt, wenn man beide vergleichet und etwas genauer aufloͤſet, ob ſich nicht ein beſtimmter Begriff von der innern Krafterhoͤhung daraus abziehen, oder wenigſtens durch ſie beſtaͤtigen laſſe?

3.

Jede Fertigkeit im Denken und Handeln, von de - nen naͤmlich, die wir uns durch Uebung erwerben, ent - haͤlt zweyerley. Zuerſt eine gewiſſe Leichtigkeit, die Jdeen von den Gegenſtaͤnden zu erwecken, mit denen die Kraft ſich beſchaͤfftiget. Dieſe Leichtigkeit macht, daß die Fertigkeit eine beſondere Fertigkeit in Hinſicht ſolcher Sachen und Gegenſtaͤnde iſt. Alsdenn zweytens eine Leichtigkeit die Vorſtel - lung von der Aktion ſelbſt zu erwecken und zur Em - pfindung zu machen. Dieß letztere iſt das Jnnere derſelben, und macht eigentlich die Fertigkeit in Hin -ſicht391und Entwickelung des Menſchen. ſicht der Art und Weiſe zu handeln aus. Es iſt dieſes gewiſſermaßen in dem erſtern verwickelt, indeſſen doch davon in ſo weit unterſchieden, daß die eine dieſer beiden Leichtigkeiten ſehr groß ſeyn kann, wo die andere |nur ſchwach iſt. Wenn der Anwachs der Vermoͤgen in einer vergroͤßerten Leichtigkeit Jdeenreihen zu erwecken geſetzt werden ſollte, ſo muͤßte man unter den Jdeen nicht die Jdeen von den Gegenſtaͤnden der Aktion, ſondern die Jdeen von den Aktionen ſelbſt, verſte - hen. Alsdenn wuͤrde man wirklich Einen von den we - ſentlichen Beſtandtheilen, die in dem Zuwachs des Ver - moͤgens liegen, angeben. Jndeſſen doch auch noch nicht Alles. Denn die Fertigkeit erfodert nicht allein, daß die Vorſtellung von der Aktion leicht wiedererwe - cket werde; ſie erfodert auch, daß dieſe wiedererweckte Vorſtellung leicht zu einer vollen Empfindung erhoben werden kann.

Die Jdee von einer Aktion faßt aber wiederum nicht nur die Vorſtellung von Gefuͤhlen und Empfindungen in ſich, die mit der Kraftaͤußerung verbunden ſind, ſol - che begleiten und auf ſie folgen, ſondern auch eine Wie - derholung der Aktion ihrem Anfange nach, in ſol - cher Maße, wie eine Einbildung eine wiederzuruͤckkeh - rende Empfindung iſt. Eine Fertigkeit die Jdeen der Aktion zu erwecken, ſetzet alſo auch theils eine Leichtig - keit voraus, die Empfindungen zu reproduciren, welche die Anwendung der Kraft begleiten; theils eine andere, die Kraft ſelbſt in den Zuſtand ihrer ehemaligen Beſtre - bungen und Wirkſamkeit wieder zuruͤckzuſetzen, in dem ſie waͤhrend der Aktion ſich befunden hatte, doch nur in der Maße, wie in einer Einbildung die ehemalige Em - pfindung wiederum vorhanden iſt. Aber die Fer - tigkeit ſelbſt enthaͤlt noch etwas mehr. Denn da muß es nicht allein leicht ſeyn, die Jdeen von der Aktion, das iſt, ihren erſten Anfang wieder zu erneuern; ſondernB b 4es392XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtes muß auch leicht ſeyn, dieſe Jdeen zur Empfindung zu machen, und die ganze ehemalige Wirkſamkeit wie - derum in dem Jnnern hervorzuziehen. Jn den ver - ſchiedenen Stufen, welche dieſe letztere Leichtigkeit an - nimmt, und um welche ſie groͤßer wird, beſtehet der ei - gentliche Zuwachs oder die Erhoͤhung des Vermoͤgens und der thaͤtigen Kraft. Da ſie vorher nur bloßes Vermoͤgen war wirken zu koͤnnen, ſo hat ſie eine Leichtigkeit ſo zu wirken empfangen, das iſt, eine Vergroͤßerung derſelbigen poſitiven Beſchaffenheit oder Realitaͤt in ihr, wovon das Vermoͤgen auf eine ſolche Art wirken zu koͤnnen abhaͤngt. Die Beobachtungen, woraus man ſieht, daß dieſe angefuͤhrten Beſtandtheile in unſern Fertigkeiten wirklich enthalten ſind, habe ich oben in dem zehnten Verſuche beygebracht;*)Erſter Band, zehnter Verſuch. III. daher ich hier nur blos fuͤr noͤthig gehalten habe, die Hauptpunkte zu wiederholen, ohne die obigen Betrachtungen noch einmal anzuſtellen.

4.

Nimmt man dieſen Begriff vor ſich, und verglei - chet alsdann die verſchiedenen Erfahrungen von den Wirkungen, die aus dem Gebrauch unſerer Vermoͤgen bey gewiſſen Objekten entſpringen, ſo kommen wir von ſelbſt auf die folgenden Bemerkungen, die ſowol die Art, als die Natur der Vervollkommnung der Kraͤfte ange - ben. Jch will aber auch hier wiederum nur zunaͤchſt auf die Verſtandesvermoͤgen Ruͤckſicht nehmen, bey de - nen das Allgemeine am leichteſten bemerket wird, und davon das Aehnliche bey den uͤbrigen Vermoͤgen ſich ohne Muͤhe finden oder nach der Analogie anneh - men laͤßt.

1) Jede393und Entwickelung des Menſchen.

1) Jede Uebung einer Verſtandesfaͤhigkeit, bey ir - gend einer Art von Objekten, verſchafft uns Jdeen - reihen von dieſen Gegenſtaͤnden und von ihren Beziehungen auf einander, und eine Leichtigkeit dieſe Jdeen zu erwecken. Wir werden mit den Sachen bekannt; ihre Verknuͤpfungen werden uns gelaͤufig; oh - ne Anſtrengung haben wir ſie in ihren Folgen und Ver - bindungen vor uns, und uͤberſehen ihre vorher unbe - kannten Verhaͤltniſſe gegen einander. Dieſe Jdeenrei - hen ſind der erſte Antheil, den die Einbildungskraft und das Gedaͤchtniß an den Fertigkeiten hat, der ſich aber auch nothwendig wiederum verlieret, ſobald wir die Sachen vergeſſen haben.

2) Es hinterlaͤßt eine jede Anwendung unſerer Kraft auch eine Vorſtellung von der Aktion ſelbſt. Soviel iſt reine Erfahrung. Dieſe Vorſtellung iſt von den Jdeen, welche wir von den Objekten haben, ver - ſchieden; und in ſo weit iſt es außer Zweifel, daß et - was mehr in uns bewirkt werde, als die Leichtigkeit Jdeen von den Objekten zu erneuern. Die Vorſtellung von der Aktion iſt aber, wie vorher erinnert worden, eine ſchwache Anwandelung von der Aktion ſelbſt. Sie iſt eine Leichtigkeit in dem Vermoͤgen, die ehemalige Aktion wieder in dem Jnnern anzufangen. Wenn die - ſe groͤßer wird, ſo geht ſie uͤber in eine Leichtigkeit die Vorſtellung in Empfindung zu verwandeln; wie uͤberhaupt in Hinſicht der innern Veraͤnderungen der Seele, die Vorſtellungen von ihnen als abweſenden Ge - genſtaͤnden von der wiederholten Empfindung derſelben, oder die Wiedervorſtellung von der Wiederem - pfindung, den Graden nach unterſchieden iſt, doch ſo, daß zu den letztern ein gewiſſes begleitendes Gefuͤhl aus dem Koͤrper hinzukommt, ohne welches die Wiedervor - ſtellung noch immer nur in den Graͤnzen einer Vorſtel -B b 5lung394XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtlung bleibet. *)Erſter Verſuch. VIII. Wenn die Vorſtellung von einer Aktion mit Bewegungen der innern Gehirnsfibern ver - bunden iſt, oder gar allein darinn beſtehen ſollte, ſo wuͤr - de eine Wiederholung derſelbigen Aktion eine ſtaͤrkere Bewegung derſelbigen Fibern ſeyn, die ſchon anfaͤngt auswaͤrts herauszugehen, und die aͤußern Theile des Koͤrpers zu aͤhnlicher Bewegung zu reizen. Entſtehet aber auch in dieſen diejenige Bewegung, welche zu der wirklichen Vollziehung der Handlung erfodert wird, ſo iſt auch die ganze volle Aktion wieder da. Eine Fertig - keit in einer Aktion erfodert alſo eine Leichtigkeit, dieſe Bewegungen zu erwecken.

3) Jede Uebung, die zunaͤchſt nur ein beſonderes Seelenvermoͤgen entwickelt, hinterlaͤßt eine Wirkung, welche ſich auch uͤber andere Vermoͤgen ausbreitet, und in einiger Maße wenigſtens uͤber die geſammte Seelen - kraft. Was den Verſtand ſtaͤrket im Urtheilen, erhoͤht auch die Vernunft im Schließen. Wer ſeine Leiden - ſchaften bezaͤhmet, macht auch ſeine Denkkraft maͤchti - ger. Die Kraft wird aufgelegter, auf andre Arten und in andern Richtungen hervorzugehen, wenn ſie in einer Art der Thaͤtigkeit erhoͤher iſt. Man muntere den Menſchen nur von einer Seite auf; dieß giebt ihm eine Lebhaftigkeit an allen. Wird das Gedaͤchtniß geſtaͤrket, ſo bekommt die Einbildungskraft eine groͤßere Faſſung, und kann, in die gehoͤrige Richtung gelenket, auch als ſelbſtthaͤtige Dichtkraft ſich beweiſen.

Die große Bekanntſchaft mit den Objekten, und die Staͤrke in den Jdeen von der Aktion ſelbſt, laſſen ſich in den Beobachtungen ganz deutlich von einander unterſcheiden, da ſie bey einerley Art von Uebungen zwar beide entſtehen, aber in ſehr verſchiedenem Maße und in ungleichem Verhaͤltniſſe, ſo daß ihr innerer Unter - ſchied nicht verkannt werden kann. Es kommt hiebeydarauf395und Entwickelung des Menſchen. darauf an, auf welche Weiſe die Kraft bey einer Aktion gelenket wird. Die Anwendung des Verſtandes ver - mehret zuweilen die Einſichten, und ſtaͤrket das Ver - moͤgen ſelbſt nicht, oder doch nur auf eine unmerkliche Art: zuweilen verhaͤlt ſichs umgekehrt; der Verſtand wird geſtaͤrket, aber die durchgedachten Kenntniſſe wer - den vergeſſen. Man findet Knaben, die es in geome - triſchen Demonſtrationen weit gebracht haben, und mit ziemlicher Fertigkeit im Schach ſpielen, und dennoch ſonſten bey ihren Beſchaͤfftigungen nicht mehr Uebungs - kraft beweiſen, als andere Kinder. Es war Gedaͤcht - niß und Jmaginationswerk. Man konnte in einem Beyſpiele einem Knaben andere Figuren und Zeichen vorlegen, als er das erſtemal gebraucht hatte, und er fuͤhrte die Demonſtration dennoch gut aus. Dieß ward von verſchiedenen Perſonen als ein Beweis angeſehen, daß es hier wirklich der Verſtand und nicht das Ge - daͤchtniß ſey, welches bey der Demonſtration wirkte. Aber wenn mans genauer anſah: ſo wars doch nicht ganz alſo. Einige Vernunft war darunter; aber das Meiſte beſtand in einer Fertigkeit der Phantaſie, nach dem Geſetze der Aehnlichkeit ein Rechnungserempel wie das andere zu bearbeiten, daß es doch mehr auf eine ſinnliche Erwartung aͤhnlicher Faͤlle, als auf eine Wir - kung der Ueberlegungskraft hinauslief. Mancher hat die Vernunftlehre und die allgemeine Philoſophie ſtu - dirt, die Begriffe, und auch in ihrer Verbindung, ge - faßt; und dennoch beſtehet das Meiſte bey ihm mehr in Jdeen von den Objekten und in Jdeenreihen, als in aufgeſammelten Jdeen von den Aktionen ſelbſt. Man nimmt es leicht bey ſich gewahr; wenn man eine Wiſ - ſenſchaft bloß um der Kenntniſſe der Sachen willen er - lernet: ſo richtet man die ganze Aufmerkſamkeit auch faſt allein nach dieſer Seite hin, und wird gelehrter oh - ne verſtaͤndiger zu werden. Es iſt ganz etwas anders,die396XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtdie Geometrie zu ſtudiren, um ſich mit ihren Lehrſaͤtzen bekannt zu machen; etwas anders, ſie zu ſtudiren, um aus ihr eine anſchauliche Vorſtellung von dem Gange des menſchlichen Verſtandes in dieſer Wiſſenſchaft zu bekommen; und endlich ganz ein anders, ſie ſo zu trei - ben, daß Verſtand und Vernunft durch ſie geſchaͤrfet werden. Bey der Jugend, meine ich, ſollte man we - der das Erſte noch das Zweyte, ſondern das Letzte die Hauptabſicht ſeyn laſſen. Dieſe Vorſchiedenheit in den Wirkungen haͤngt von der Art und Weiſe ab, wie die Verſtandeskraft wirket, und von der Verſchiedenheit der Richtungen, die ſie nimmt; aber dieſe wiederum von dem Zwecke, den man ſich vorgeſetzt hat, und auf den man waͤhrend der Aktion am meiſten hinſieht.

Das Letztere verdient eine naͤhere Erlaͤuterung. Wenn mir eine Demonſtration vorgelegt wird, und es iſt mir nur allein um das letzte Reſultat zu thun: ſo mag ich noch immer die Folge der Saͤtze und ihren Zu - ſammenhang durchgehen, allein ich richte die ganze Auf - merkſamkeit auf den letztern Satz, bemuͤhe mich dieſen zu faſſen und ihn ſo zu merken, daß ich mich leicht wie - der auf ihn beſinnen koͤnne. Die Vernunft, als das Vermoͤgen den Zuſammenhang einzuſehen, hat wenig und mit geringer Jntenſion gearbeitet. Daher iſt auch nur eine ſchwache Spur von ihrer Wirkſamkeit zuruͤck - geblieben, und der Zuwachs am Vermoͤgen entweder gar nichts, oder doch von geringer Erheblichkeit.

Wenn es aber die Abſicht iſt, die Demonſtration ſelbſt zu faſſen, nicht bloß ihren Schlußſatz: ſo kann doch wiederum der groͤßte Theil der Arbeit dahin gehen, daß ich die aufeinander folgenden Saͤtze in ihrer Ord - nung faſſe und bemerke, und ſie dann wie eine Jdeen - reihe der Phantaſie einpraͤge. Allein man iſt alsdann wiederum nicht ſehr ſtark mit der Denkkraft wirkſam. Die Saͤtze werden nicht, einer nach dem andern heraus -gearbei -397und Entwickelung des Menſchen. gearbeitet, ſondern die Denkkraft nimmt nur die Folge - rungen mit ihren Grundſaͤtzen zuſammen, findet jene von dieſen abhaͤngig, und darinn beſtehet ihre Einſicht; aber ſie folgert ſelbſt nicht, ſie macht ſelbſt keine Ver - knuͤpfung, geht nicht mit ihrer Eigenmacht von dem Grundſatz zum Folgeſatz fort, wie der Mann thun muß - te, der die Demonſtration zuerſt erfinden ſollte. Es iſt nur ein Nachfolgen, nicht urſpruͤngliches Selbſtden - ken; und der Erfolg davon iſt alsdenn auch, daß die Demonſtration zum Theil nur wie eine Geſchichte im Gedaͤchtniß verwahret wird. Ohne Zweifel iſt doch die Jntenſion des Verſtandes, womit der Erfinder die De - monſtration gedacht hat, ungleich ſtaͤrker geweſen, als ſie in dem Aktus iſt, womit ein anderer ſie ihm nur nachdenket. Und dennoch iſt die letztere Arbeit kein bloſ - ſes Nachbeten; denn es iſt eigene Forſchung, und eigene Einſicht, was auf ſolche Art erlanget wird; aber es iſt ſo zu ſagen nicht ſo tief eingehende Einſicht.

Es giebt auch unter den nachdenkenden Philoſophen und Mathematikern eine gewiſſe Gattung, die man eben ſo wenig ohne Ungerechtigkeit fuͤr Nachbeter anſehen, als ihnen die Ehre ſelbſtdenkender originellen Koͤpfe ein - raͤumen kann. Sie ſind gewiſſermaßen Mitteldinge zwiſchen beiden. Man wird oft bemerken, daß die letz - tern, wenn es darauf ankommt die Gedanken anderer zu faſſen und von andern zu lernen, dem Scheine nach einen Vorzug vor den ſtaͤrkſten Selbſtdenkern haben. Denn es iſt aus der Richtung, die ihre Kraft zu neh - men pflegt, zu begreifen, daß ſie die richtigen Gedan - ken anderer, die ihnen vorgehen, ſchneller und leichter durchſehen und faſſen, und ſie wirklich auch einſehen, und ſich von ihrer Richtigkeit uͤberzeugen koͤnnen, als ein anderer, der gewohnt iſt mehr ſelbſt zu denken. Der letztere wird auch da, wo er einem Vorgaͤnger folget, doch wenigſtens die ganze Aktion des Denkens ihm nach -machen398XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtmachen und zuweilen wohl gar mit noch groͤßerer An - ſtrengung des Geiſtes arbeiten, als der Erfinder gethan hat. Sein Begreifen iſt aber alsdann auch ein ſelbſt - thaͤtiges Begreifen des Verſtandes. *)Vierter Verſuch. VII. 2. Siebenter Verſuch. I. 1.

Bey einzelnen Urtheilen, ſo gar bey einzelnen Jdeen, treffen wir die naͤmliche Verſchiedenheit an. Eine Ver - bindung zwoer Jdeen in der Phantaſie, die von andern zu Stande gebracht iſt, annehmen, und die in ihnen von andern ſchon kennbar gemachten Beziehungen ge - wahrnehmen, iſt nur ein Stuͤck von dem ganzen Ge - ſchaͤffte der Denkkraft, das derjenige gehabt hat, der je - ne Verhaͤltniſſe zuerſt dachte, und ſie vielleicht nur erſt nach vielen ſelbſtthaͤtigen Beſtrebungen zu Stande brachte.

Wer eine Wiſſenſchaft als Logiker oder als Pſycho - loge ſtudirt, und alſo insbeſondere das Verfahren des Verſtandes und die Aktus der Denkkraft beobachten und bemerken will, iſt ohne Zweifel genoͤthiget, ſolche auch ſelbſt vorzunehmen. Jhm kann es daher auch nicht ge - nug ſeyn, die uͤbergedachten Sachen in ihrer Verbin - dung zu faſſen, ſondern er muß ſich auch Jdeen von den beziehenden Aktus der Reflexion verſchaffen, und des - wegen die Empfindungen von ihnen zu erlangen ſuchen. Jndeſſen, da es bey dieſer Abſicht nicht ſo ſehr darauf ankommt, daß es ihm vorzuͤglich leicht werde die Ak - tus ſelbſt zu verrichten, ſondern nur darauf, daß er die Vorſtellungen von ihnen gegenwaͤrtig haben koͤnne: ſo kann er auch damit abkommen, daß er nur auf die hin - terbleibenden Spuren der Aktionen in ihm aufmerkſam ſey, ſolche wohl voneinander unterſcheide, und ſich ei - nige Leichtigkeit erwerbe, dieſe als die Vorſtellungen von den Aktionen zu erwecken. Hiebey erlaubet ſeine Ab - ſicht ſtehen zu bleiben. Der letzte Schritt, naͤmlich der Uebergang von der Vorſtellung der Aktion zu der Aktionſelbſt,399und Entwickelung des Menſchen. ſelbſt, das iſt, die Erhebung der ſchwachen Anfaͤnge zur vollen Handlung, enthaͤlt eine Fortſetzung und er - weiterte Anſtrengung des naͤmlichen Beſtrebens, und ſetzet auch in dem Koͤrper einen Uebergang der Bewe - gung aus den innern Fiebern des Gehirns in die aͤußern Organe voraus, welche zu der Aktion gebraucht werden, wenn dieſe zu den aͤußern Handlungen gehoͤret. Dieß iſt es aber, was ſich auch derjenige leicht zu machen ſu - chet, der ſich Fertigkeiten aus ſeiner Uebung verſchaf - fen will, und mehr zu dieſem Zwecke, als zu einem an - dern die Verſtandskraͤfte in den Wiſſenſchaften anwen - det. Hiezu werden nicht bloß leichter erweckbare Spu - ren der Handlungen erfodert, ſondern auch vollere, tie - ſer eingehende und intenſiv ſtaͤrkere, ſolche naͤmlich, wel - che leicht in Empfindungen uͤbergehen.

Die Erfahrung lehret, daß von dieſen verſchiedenen Folgen und Wirkungen, die aus der Anwendung unſe - rer Vermoͤgen entſtehen, bald die eine Art bald die andere vorzuͤglich vorhanden iſt, und beſtaͤtiget alſo zu - gleich ihre reelle Verſchiedenheit. Uebrigens kann keine von ihnen gaͤnzlich fehlen, wo die uͤbrigen ſind. Jede Uebung des Verſtandes gewaͤhret Einſichten in die Na - tur der Sachen, die man durchdenket, giebt Kenntniſſe von der Art des Verfahrens, und hinterlaͤßt eine Fer - tigkeit in den Kraͤften. Die Verſchiedenheit iſt in dem Mehr und Weniger.

Wiederum, wenn auch dieſe verſchiedenen Leichtigkei - ten von einander ſo abhangen, daß im Fall Eine von ihnen ſich gaͤnzlich verloren haͤtte, die uͤbrigen auf keine Weiſe ſich weiter zeigen koͤnnten, geſetzt auch daß ſie wirklich der Kraft noch ankleben: ſo iſt es doch gleich - falls Erfahrung, daß Eine von ihnen vieles von ihrer Staͤrke oder Stufe verlieren kann, ohne daß eine Schwaͤchung in den uͤbrigen bemerkt werde. Die Lehr - ſaͤtze der Geometrie koͤnnen vergeſſen werden; allein derHang400XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtHang des Verſtandes zu genau beſtimmten Begriffen und zum Eindringen in den Zuſammenhang der Kennt - niſſe kann in ſeiner ganzen Groͤße beſtehen und ſich bey andern Objekten thaͤtig beweiſen.

5.

Zwo Anmerkungen begegnen mir hier, denen ich nicht ausweichen will. Da alle Kenntniſſe, die von den alten und neuern Erfindern zuerſt gelehret ſind, von ihren Nachfolgern geſammlet, leichter geordnet, faßli - cher gemacht, und endlich kurz gefaßt in die neuern Lehr - buͤcher gebracht ſind: ſo kann derjenige, dem es nur um die Kenntniſſe ſelbſt zu thun iſt, wenig Urſachen haben zu den erſten Quellen zuruͤckzugehen. Sollte es alſo nunmehr zu nichts nuͤtzen, die Schriften der erſten Er - finder ſelbſt zu leſen? Ohne Zweifel iſt ſolches in man - cher Hinſicht unnoͤthig. Denn warum ſoll ich mit meh - rerer Muͤhe und Weitlaͤuftigkeit da Kenntniſſe holen, wo ſie mit Jrrthuͤmern und Vorurtheilen vermiſcht, zer - ſtreut und in Unordnung liegen, wenn ich ſie anders - wo beyſammen, gelaͤutert und in einer lichtvollen Ver - bindung haben kann, wofern es nicht etwa meine Ab - ſicht iſt die Geſchichte der Kenntniſſe zu ſtudiren? Aber man wuͤrde ſich gar ſehr irren, wenn man glau - ben wollte, daß dorten in den aͤltern Schriften nichts zuruͤckgeblieben ſey, was man nicht von den Neuern auch erlernen koͤnnte. Der ſpuͤrende Geiſt der Erfin - der iſt zuruͤckgeblieben. Wer dieſen kennen, etwas da - von einziehen, oder die natuͤrliche Anlage dazu verſtaͤr - ken will, muß ſie ſelbſt ſtudiren. Das Eigene in ih - rer Art die Sachen zu denken, zu verbinden, von dem einem zum andern uͤberzugehen, dasjenige eben was es oft ſchwer macht ſie zu verſtehen, noͤthiget den, der ihnen nachdenket, zu mancherley Verſtandeshaͤtigkei - ten, die er ſonſten nicht gebraucht haͤtte, und zuweilenzu401und Entwickelung des Menſchen. zu Anſtrengungen, welche eben ſo groß ſind, als die Staͤr - ke, womit die Erfinder dachten. Daher entſtehen Ein - druͤcke auf die Kraft, wodurch ſie dem Erfindungsgeiſte aͤhnlich wird, und die man vergebens bey den nachfol - genden Schriftſtellern ſuchet, von denen nur bloß das Erfundene geordnet iſt. Es iſt ohne Zweifel unnoͤthig, um die mathematiſche Kenntniß zu erlangen, die man aus Archimedes Schriften ſchoͤpfen kann, ihn ſelbſt zu leſen. Man hat alles das itzo vollſtaͤndiger und leichter in den neuern Lehrbuͤchern. Aber ich verſpreche dem, der den Archimedes durchdenkt, einen Zuwachs am geome - triſchen Geiſte, den ich ihm nicht verſprechen kann, wenn er die neuern analytiſchen Einkleidungen derſelben Saͤ - tze durchrechnet. Man ſtudire Newtons principia, und dann die neuern analytiſchen Demonſtrationen der - ſelben, und man wird den Unterſchied fuͤhlen. Jn - deſſen folget daraus keinesweges, daß die Bemuͤhung, die Wiſſenſchaften leichter und faßlicher zu machen, we - niger nutzbar ſey, und weniger geſchaͤtzet zu werden ver - diene. Man muͤßte die Kuͤrze des Lebens, die Schwaͤ - che der Kraͤfte und die Menge und Weitlaͤuftigkeit der Wiſſenſchaften nicht wohl uͤberdacht haben, wenn man jene nicht mit dem waͤrmſten Dank erkennen wollte.

Die zwote Anmerkung iſt dieſe. Die Philoſophen haben von ihrer allgemeinen Grundwiſſenſchaft ehedem die Meinung geheget, ſie ſey das letzte Mittel den Ver - ſtand zu heben und zu ſtaͤrken. Plato ſprach von einer Organika des Verſtandes, und Ariſtoteles ſuchte ſie in ſeinen allgemeinen Spekulationen, die nachher den Na - men der Metaphyſik erhielten. So gaͤnzlich iſt dieſes, wie mich deucht, kein leerer Wahn. Giebt es ja ein geiſtiges Mittel, bey unſerm Verſtande ſo etwas zu leiſten, als das Bewaffnen bey den Magneten iſt: ſo ſind es gewiß die allgemeinen Fertigkeiten, welche durch ein wohleingerichtetes Studium der Vernunftlehre undII Theil. C cder402XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtder Grundwiſſenſchaft, mit einander verbunden, erhal - ten werden. Denn da die erſtere das Wie, die zwote das Was, welches bey allen Arten von Sachen und Gegen - ſtaͤnden gedacht, uͤberlegt und erforſchet werden kann, im Allgemeinen darſtellet: ſo fuͤhret die Uebung in dieſen all - gemeinen Asuſichten von ſich ſelbſt auf eine naͤhere Art zu den beiden Fertigkeiten, worinn die allgemeine Ver - ſtandesſtaͤrke beſtehet. Zuerſt ſind die in ihnen bearbei - teten Begriffe allgemeine Notionen des Verſtandes, die in allen beſondern Arten von Kenntniſſen vorkommen, und deren Verbindung in der Phantaſie den Verſtand gleichſam mit allgemeinen Faſern und Formen erfuͤllet, woran jedwede Gattung von den naͤher beſtimmten Jdeen ſich leichter und ſchneller anleget, indem dieſe im - mer einige Elemente enthalten, die in jenen auch ſind, und alſo ſelbſt mit ihnen zuſammenfallen. Dieß ver - ſchafft alſo eine Leichtigkeit in der Vorſtellungskraft, Jdeen und Begriffe zu faſſen. *)Erſter Verſuch. XIV. Hiezu kommt zwey - tens, daß eben dieſe Allgemeinheit der Jdeen es nicht zulaͤßt, daß ſie fuͤr ſich uns intereſſiren; weswegen die Art der Thaͤtigkeit des Verſtandes, indem man ſie faßt, uͤberdenkt und verbindet, uns von ſelbſt wichtiger wird, als die Saͤtze ſelbſt, die man herausbringet. Und dieß lenket die Denkkraft mehr dahin, daß ſie zu ihrer Ue - bung und Verſtaͤrkung arbeitet, als fuͤr das Gedaͤcht - niß. Jndeſſen iſt es gewiß, daß von dieſer letzten Sei - te betrachtet, das Studium der Mathematik viele Vor - zuͤge vor der Metaphyſik haben wuͤrde, wenn die An - wendung der Reflexion in der erſtern nicht einfoͤrmiger waͤre, als in den philoſophiſchen Wiſſenſchaften. Jn den letztern muß die hoͤhere Erkenntnißkraft auf alle moͤg - liche Art wirkſam ſeyn, und jede ihrer Wirkungsarten kommt mehrmalen vor und ſo, daß ohne eine gewiſſe Jntenſion der Kraft die Abſicht, die man ſich macht,nicht403und Entwickelung des Menſchen. nicht erreicht werden kann. Daraus entſtehet eine mannichfaltigere und mehrſeitige Fertigkeit, die den Namen einer allgemeinen Verſtandesſtaͤrke noch mit groͤßerm Rechte verdient, als die Fertigkeit bloß Groͤſ - ſen zu vergleichen. Jch breche dieſe Betrachtung hier ab, meine aber, daß dieß die Grundſaͤtze ſind, wornach man die weſentliche Ordnung der Kenntniſſe, in Bezie - hung auf die Vervollkommnung des Verſtandes, feſtſe - tzen muͤſſe, woruͤber Hr. Verdier verſchiedenes ſehr gut erinnert hat.

6.

Was endlich die dritte Wirkung betrift, die oben (N. 4.) als eine Folge von der Vervollkommnung einer Seelenfaͤhigkeit angefuͤhrt iſt, naͤmlich, daß die an ei - ner Seite erlangte Staͤrke ſich uͤber den ganzen Um - fang der Seelenkraͤfte verbreite, und auch die uͤbrigen erhoͤhe: ſo meine ich, es duͤrfe zu den vorher daruͤber gemachten Anmerkungen (2.) nur wenig hinzugefuͤgt werden. Die Erfahrung ſetzet dieß außer Zweifel. Ue - berhaupt hat man hier ſchon die allgemeine und bekannte Beobachtung vor ſich, wenn man auf den allmaͤligen Fortgang der Entwickelung bey Jndividuen ſo wohl, als bey ganzen Voͤlkern ſieht, die in der bekannten Sentenz liegt, didiciſſe fideliter artes emollit mores, nec ſinit eſſe feros. Wo die Kuͤnſte und Wiſſenſchaf - ten bluͤhen, da iſt der Boden zu der Verfeinerung der Sitten, zur Erhoͤhung der Empfindſamkeit und zur Ausbildung des Herzens bearbeitet. Die Ausbildung an Einer Seite fuͤhret auf andere. Jede Geſchicklich - keit, die das Kind verraͤth, und wenns auch nur die Fertigkeit im Laufen und im Springen iſt, giebt dem verſtaͤndigen Erzieher ein Mittel an die Hand, nicht nur ſeine Neigungen zu lenken, ſondern auch die An - wendung anderer Vermoͤgen zu befoͤrdern und zu er -C c 2leichtern.404XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtleichtern. Zuweilen ſtehen einige wilde Fertigkeiten zwar im Wege andere hinzupflanzen, und da iſt die Kunſt des Erziehers eine wahre und ſchwere Kunſt. Aber dennoch laͤßt ſichs thun, und es kommt nur darauf an, daß die naͤmliche innere Wirkſamkeit, die ſich an einer Seite von ſelbſt offenbaret, durch Umſtaͤnde gelei - tet wird, ſich anderswohin auszulaſſen. Und eben dieß, daß eine jede Fertigkeit durch die geſchickte Wen - dung zu einer andern werden kann, beweiſet, daß die Staͤrke der Kraft, welche ſich in jener zeigte, auch zu - gleich eine Staͤrke der geſammten Grundkraft enthaͤlt.

Daß es ſo viele einzelne Beyſpiele giebt, die dieſer Behauptung entgegenzuſtehen ſcheinen; daß Leute von großen Einſichten des Verſtandes wenig oder gar kein Gefuͤhl von dem haben, was ſchoͤn oder haͤßlich, wohl - anſtaͤndig oder niedrig iſt; daß es andere giebt, die bey einer feinen Empfindſamkeit einen ſchwachen Verſtand beſitzen, und noch ſchwaͤcher ſind, wenn ſie ſich ſelbſt in ihren Handlungen regieren ſollen; daß bey einigen dieſe Ungleichheit, die Staͤrke an Einer und die Schwaͤche an der andern Seite, ſo weit gehet, daß ſie pſychologi - ſche Paradoxa werden: hebt den allgemeinen Erfah - rungsſatz nicht auf, ſondern beſtimmt ihn nur naͤher, und darf uns uͤberhaupt ſo ſehr nicht befremden. Der Einfluß einer einſeitigen Vervollkommnung in das Ganze der Seele iſt oft an ſich nur geringe, zuweilen unbemerkbar, vielleicht ſo ſehr, daß man ihn nur in der Theorie fuͤr etwas, in der Anwendung aber fuͤr Nichts, anſehen kann. Es giebt unzaͤhlig viele Urſachen, die ſeine Wirkung zuruͤckhalten und ſchwaͤchen koͤnnen. Nicht zu ſagen, daß wirklich zuweilen nur ein Schein von Unvermoͤgen vorhanden iſt, und daß ſelbſt die zu große Staͤrke der Kraft einen Grund des Unvermoͤgens zu gewiſſen Handlungen ausmacht, wie ſchon vorher (3.) erinnert iſt. Ueberdieß aber iſt es auch wohl begreiflich,daß405und Entwickelung des Menſchen. daß die Entwickelung eines einzigen Vermoͤgens, wenn ſolche uͤber ein gewiſſes Maß gehet, der Entwickelung und Ausbildung im Ganzen ſchaͤdlich werden koͤnne. Dieß geſchieht nur zu haͤufig, und verdienet unten noch etwas naͤher betrachtet zu werden. Es muͤſſen alſo noth - wendig viele Exempel da ſeyn, daß Perſonen an Einer Seite ſehr entwickelt ſind, die es an andern wenig oder gar nicht ſind. Aber deßwegen bleibet es fuͤr ſich und ohne Ausnahme wahr, daß jede wahre Perfektion der Seele uͤber ihre ganze Natur ſich ausbreitet. Es geht den pſychologiſchen Geſetzen wie den Geſetzen der Mecha - nik. Der erſte Grundſatz, wornach jedweder Koͤrper ſeine Bewegung, die er hat, immerfort behalten ſoll, bis eine aͤußere Urſache ſie abaͤndert, iſt voͤllig allge - mein ohne Ausnahme, obgleich kein einziger Koͤrper, dem wir Bewegungen beybringen, ſolche unveraͤnder - lich behaͤlt. Die Ausnahmen haben ihre Urſachen, welche in der Regel ſelbſt ſtehen, und ſind eigentlich keine Aus - nahmen.

7.

Wie die Seelenvermoͤgen bey ihrem Gebrauche zu - nehmen, und durch eine angemeſſene Uebung geſtaͤrket werden: ſo nehmen ſie wieder ab durch den Nichtge - brauch, und werden geſchwaͤcht durch einen ſol - chen Gebrauch, der uͤbertrieben und unmaͤßig iſt. Was es mit ihrer Abnahme fuͤr eine Bewandniß habe, welche dem Anwachs entgegenſtehet, und ob ſolche wie eine Einwickelung anzuſehen ſey, ſoll noch unten beſon - ders unterſucht werden. Aber die eine Art der Schwaͤ - chung, welche durch eine uͤbertriebene Anſtrengung ent - ſtehet, laͤßt ſich hier ſchon am fuͤglichſten erlaͤutern.

Es iſt ein Geſetz in dem Koͤrper und auch in allen Organen der Seele, daß jede zu ſtarke Spannung eine Erſchlaffung hinterlaͤßt. Daraus folget ſchon, daß Vor -C c 3ſtellun -406XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtſtellungen, die einmal das Organ uͤber die Maße ange - griffen haben, nachher entweder gar nicht, oder doch nicht mit derſelbigen Leichtigkeit wiedererwecket werden koͤnnen. Dieß verurſacht fuͤr die Seele ein Unvermoͤ - gen, mit ſolchen Jdeen ſich zu beſchaͤfftigen. Es gilt aber dieſes eben ſo wohl von ſolchen ſinnlichen Bewe - gungen im Gehirne, die zu den Jdeen von den Ak - tionen gehoͤren, als von denen, die materielle Jdeen der Gegenſtaͤnde ſind.

Mit dieſer Erklaͤrung begnuͤgt man ſich gemeini - glich. Aber ſo wohl der wahrſcheinlichſte Begrif von un - ſerm Seelenweſen, als auch ſelbſt die Erfahrungen ma - chen es wenigſtens vermuthlich, daß noch etwas mehre - res, und zwar etwas Geiſtiges in der Seele ſelbſt, dahin - ter ſtecke. Die Schwaͤche, welche von einer zu ſtarken Anſtrengung herruͤhret, erfodert noch ein Mittel mehr, wenn ſie gehoben werden ſoll, als Ruhe in dem Organ, wodurch wahrſcheinlich die koͤrperliche Folge die meiſten Male gehoben wird. Denn es iſt außerdieß erfoder - lich, daß der unuͤberwindliche Widerwille, den wir ge - gen eine Handlung gefaßt haben, unter der wir erliegen muͤßten, durch eine Veraͤnderung in der Jdeenaſſocia - tion gehoben werde, die ſich feſtſetzte, wo die Ermuͤdung zu ſtark war.

Die allzuſtarke Anſtrengung kann zuerſt ſchon kei - nen Zuwachs an Vermoͤgen hervorbringen, weil jede Aktion, ſobald ſie zu heftig wird, aufhoͤret eine ſelbſt - thaͤtige Aktion der Seele zu ſeyn. Die Jdeen von den Objekten moͤgen uns noch vorſchweben, und in ih - ren Beziehungen auf einander noch gegenwaͤrtig ſeyn, und ſich verbinden und trennen; aber wenn uns, wie wir ſagen, der Kopf zu warm wird, und das Gebluͤt bey der Geiſteswirkung ſich erhitzet: ſo iſt die Bearbei - tung der Jdeen nun mehr ein Werk des Gehirns und ein Spiel der aufgebrachten Lebensgeiſter, als eineWir -407und Entwickelung des Menſchen. Wirkung der Eigenmacht der Seele. Dieſe wird alſo mit ihrer Kraft wenig oder gar nicht mehr angewendet und geuͤbt.

Dieß iſt es aber nicht alles. Die Uebertreibung iſt nicht nur unnuͤtz zur Staͤrkung, ſondern auch ſo gar ſchaͤdlich. Sie hinterlaͤßt nicht bloß eine Unluſt zu der Sache, ſondern ein Unvermoͤgen, das bisweilen ſo weit gehet, daß wir nicht einmal an die Arbeit denken, noch weniger ſie wollen koͤnnen. Es braucht aber bis da - hin nicht zu gehen, und es iſt doch oft ein Unvermoͤgen da ſie wirklich zu verrichten.

Es iſt ein anders, wenn wir durch eine zu lang an - haltende Beſchaͤfftigung uͤber einer Arbeit ermuͤden, und ihrer uͤberdruͤßig werden, alsdenn von ihr ablaſſen und ſie nicht wieder vornehmen moͤgen noch koͤnnen, bis wir uns zerſtreut und erholet haben. Und ein anders iſt es, wenn wir uͤberhaupt unfaͤhig zu ihr geworden ſind. Jndeſſen ſind dieſe beiden Wirkungen, nebſt noch einigen andern, die hiebey vorkommen, nur den Graden nach unterſchieden. Das Weſentlichſte iſt eben daſſelbige, naͤmlich eine Erſchoͤpfung der Kraft, oder ein Unvermoͤgen, welches eine Folge von ihrer zu ſtarken Anwendung iſt.

Wir ſind zuweilen der Arbeit nur fuͤr jetzo uͤber - druͤßig.

Jn einem andern Fall haben wir einen anhaltenden Widerwillen gegen ſie gefaßt.

Dieſer Widerwille iſt zuweilen ſo ſtark, daß wir nicht einmal lebhaft an ſie denken moͤgen.

Zuweilen koͤnnen wir zwar an ſie denken, nur mit der lebhaften Vorſtellung von ihr uns nicht lange be - ſchaͤfftigen, und ſind unvermoͤgend ſie zu verrichten.

Dieſe Verſchiedenheiten entſtehen daher. Das Un - angenehme hat ſich zuweilen nur durch aͤußere Umſtaͤnde mit der Handlung verbunden, und klebet ihr als einerC c 4indivi -408XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtindividuellen Handlung in der Vorſtellung an, doch ſo, daß es nur auf einige Zeit bey ihr bleibet, nachher aber von ſelbſt ſich davon abſondert. Dieß geſchieht in ſol - chen Faͤllen, wo wir, durch Abwechſelung oder Ruhe er - friſchet, von neuem mit Munterkeit und Vergnuͤgen zu ihr zuruͤckkehren.

Ein andermal hat ſich das Unangenehme tiefer ein - geſogen, und klebet der Vorſtellung von der Aktion dauerhafter an. Alsdenn wird es auch wieder erneuert, ſo bald die letztere ſo lebhaft wird, daß ſie anfaͤngt Nachempfindung oder wiederholte Handlung zu wer - den. Die Abneigung gegen ſie muß alsdenn fortdau - ernder ſeyn.

Das Unangenehme kann mit der Handlung ſo tief und ſo innig verbunden worden ſeyn, daß auch die bloſ - ſe Vorſtellung von der Aktion, als ein Anſatz zu ihr, davon durchdrungen iſt. Dieß findet alsdenn Statt, wenn wir nicht einmal an ſie ohne Widerwillen denken moͤgen.

Dennoch kann dieſe Abneigung, uns mit ihr auch nur in der Vorſtellung zu befaſſen, uͤberwindlich ſeyn. Wenn dieß iſt: ſo fuͤhlen wir noch in uns ein Vermoͤ - gen uns mit ihr zu beſchaͤfftigen, ob wir ſolches gleich nicht gebrauchen. Wir moͤgen und wollen ſie nicht, aber wir koͤnnen ſie wollen, und auch verrichten, wenn wir wollten. Das, was uns fehlet, iſt nur die Luſt da - zu, nicht die Kraft.

Dagegen wenn wir uns ganz unvermoͤgend dazu finden: ſo iſt der Widerwille unuͤberwindlich; und um - gekehrt, wenn die Abneigung nicht uͤberwunden wer - den kann: ſo fuͤhlen wir, daß wir nicht vermoͤgend ſind ſie vorzunehmen. Wir fuͤhlen eine innere Gewalt, die uns zuruͤckhaͤlt; wir werden geklemmt, gedruckt; und wenn wir dennoch einen Verſuch machen und uns anſtren - gen: ſo entftehen Schmerzen, die uns zuruͤcktreiben. Zuwei -409und Entwickelung des Menſchen. Zuweilen entſtehen dieſe ſchon, wenn nur der Gedanke von der Handlung in uns aufſteiget.

Dieſer unuͤberwindliche Widerwille hat noch dazu die Folge, daß wir die Vorſtellungen in uns zu - ruͤckhalten und zu unterdruͤcken ſuchen, deren Erweckung uns zur Thaͤtigkeit reizen moͤchte. Wir wickeln ſolche ein, ſo viel wir koͤnnen, indem wir die Aufmerkſamkeit davon abziehen, und dagegen auf andere richten, die uns jene aus dem Sinne bringen.

Wenn der zum Theil oder gaͤnzlich unuͤberwind - liche Widerwille als das Weſentliche in dem Un - vermoͤgen angenommen wird, was aus der zu ſtarken Anſtrengung der Kraͤfte entſpringet, ſo ferne ſolches in der Seele ſelbſt iſt: ſo iſt auch zu begreifen, wie ein ſol - ches Unvermoͤgen und eine ſolche Schwaͤche von dem Unvermoͤgen einer noch ungeuͤbten und unent - wickelten Kraft unterſchieden ſey, welchen Unterſchied das Gefuͤhl uns lehret; ingleichen wie jene von der Ab - nahme der Kraͤfte verſchieden iſt, die das Alter hervor - bringet. Wo die Kraft ungeuͤbt und ungeſtaͤrkt iſt, da fehlet auch die anſchauliche Vorſtellung von der Aktion; aber da nicht, wo die Ermuͤdung auf die Arbeit folget. Wenn auch eine Fertigkeit darum, weil ſie lange ohne Uebung geblieben iſt, etwas geſchwaͤcht worden iſt: ſo finden wir gleichfalls, daß auch die Jdee von der Aktion an ihrer Voͤlligkeit und Staͤrke verloren hat. Aber ſo verhaͤlt ſichs nicht, wenn ein unuͤberwindlicher Wider - wille ſie in der Seele zuruͤckhaͤlt. Jn dieſem Fall iſt die Vorſtellung von der Aktion vorhanden, nur kann ſie nicht hervorgehen, weil wir ſelbſt dagegen ſtreben, ſo bald ſie durch irgend eine andere Aſſociation von Jdeen ſich zu regen anfaͤngt.

Jſt nicht alſo eben dieſes, naͤmlich unuͤberwind - licher Widerwille, das, was die Schwaͤchung der Kraft aus zu ſtarker Anſtrengung in derC c 5Seele410XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtSeele ſelbſt ausmacht? Es ſtimmet wenigſtens die Beobachtung damit uͤberein, wenn wir auf die Mit - tel ſehen, wodurch ſie zuweilen gehoben wird.

Hat das koͤrperliche Werkzeug ſeine ehemalige Kraft, die es durch die zu heftige Spannung verloren hatte, wieder erlanget, wozu Ruhe und Zerſtreuung die beſten Mittel ſind: ſo iſt auch kein Schmerz aus dem Koͤrper mehr damit verbunden, wenn die Aktion von neuem vor - genommen wird. Alsdenn iſt nur noͤthig, das Unver - moͤgen in der Seele zu heben. Aber wir finden, daß alsdenn es auch nur darauf ankomme, daß die ehemali - ge Jdeenaſſociation, die ſich feſtgeſetzet und die Erin - nerung von Schmerzen mit der Jdee von der Aktion ver - einiget hatte, geaͤndert werde; entweder daß die erſte - re von der letztern getrennet, oder daß eine andere Vor - ſtellung von uͤberwiegendem Vergnuͤgen hinzugeſetzet und dadurch jene uͤberzuckert werde, oder daß beides ge - ſchehe. Aber zugleich erhellet auch daraus, daß dieß letzterwehnte pſychologiſche Mittel noch erfoderlich iſt, wenn gleich ſonſten die phyſiſche Schwaͤche in dem Or - gan gehoben, und daß die letztere nicht alles allein aus - mache, ſondern außer ihr noch ein ihr entſprechendes Unvermoͤgen in der Seele vorhanden ſey.

Daß aber eine unuͤberwindliche Abneigung in der Seele ein wahres phyſiſches Unvermoͤgen ſey etwas zu verrichten, welches ſo weit gehet, als der Widerwille unbezwingbar iſt, iſt eine Folge des bekannten Geſetzes ihrer Natur. Sie fliehet das Widrige und muß es fliehen, woferne ſie nicht auch das Widrige uͤberwinden kann. Dieß iſt nicht von ihrem Wollen abhaͤngig, ſon - dern von ihrem Vermoͤgen, ob ſie gleich ſonſten aller - dings die phyſiſche Kraft beſitzet, oder das innere wirk - ſame Princip, das ſich ſelbſtbeſtimmet, wenn man will - kuͤrlich will oder nicht will. Aber dieſes Princip beſitzet nicht anders ein Vermoͤgen dieſes oder jenes zu wollen,als411und Entwickelung des Menſchen. als wenn es in ſich erweckbare Vorſtellungen hat, auf die es ſich nur anwenden darf. *)Zwoͤlfter Verſuch. X. XII. Solche Vorſtellun - gen ſind zwar da, wenn die Abneigung unuͤberwindlich iſt; aber die ſich beſtimmende Kraft wird zuruͤckgehalten, daß ſie ſolche nicht hervorziehen oder doch nach ihnen ſich nicht eigenmaͤchtig beſtimmen kann, da ſie vielmehr leidentlich nach der entgegengeſetzten beſtimmt wird.

Wenn die Abneigung gegen die Aktion nicht unuͤber - windlich iſt: ſo iſt auch dieß aus Ermuͤdung entſtandene Unvermoͤgen noch nicht als eine voͤllige Ohnmacht anzu - ſehen. Es kann uns etwas ſehr ſchwer ſeyn, iſt aber doch moͤglich durch unſere Kraͤfte, ſo wie dieſe derzeit ſind. Kann alſo jene Abneigung gehoben werden, es ſey nun, daß die dazu erfoderlichen Vorſtellungen ſchon vorhanden ſind; oder daß ſie durch eine Bearbeitung der vorhandenen, die in unſerer Gewalt iſt, gemacht wer - den koͤnnen; oder daß wir unſern Eigenſinn bis ſo weit ſtaͤrken koͤnnen: in irgend einem dieſer Faͤlle iſt mehr ein ſchwaches Vermoͤgen als ein gaͤnzlicher Mangel deſſel - ben vorhanden.

Giebt man auf die oft ſchleunigen Veraͤnderungen acht, die ſich in Hinſicht auf die beſondern Vermoͤgen oder Unvermoͤgen zu gewiſſen beſtimmten Arten von Handlungen bey den Menſchen eraͤugnen, wenn auf ein - mal die Jdeenverknuͤpfungen bey ihnen merklich veraͤn - dert werden: ſo zeiget ſich, daß auch dasjenige Unver - moͤgen, wovon hier die Rede iſt, zu ſolchen gehoͤre. Sind nur die phyſiſchen Folgen in dem koͤrperlichen Or - gan weggeſchaft, welche die Ueberſpannung zuruͤckließ, damit nicht Schmerzen aus dem Koͤrper entſtehen, wenn das Organ von neuem gebraucht werden ſoll: ſo hat man ſich in Hinſicht des Widerwillens ſo viel oder ſo wenig in ſeiner Gewalt, als man mehr oder minder uͤber die Jdeenaſſociation und Leidenſchaften Herr iſt. Aber412XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtAber wie es auch iſt, ſo fuͤhret uns doch dasjenige, was bey dem Unvermoͤgen aus zu ſtarker Anſtrengung be - merket wird, nicht auf eine Verminderung oder Er - ſchwaͤchung in dem thaͤtigen Grundprincip der Seele, ſondern bloß auf ein Hinderniß, welches der Grundkraft es verwehret auf eine gewiſſe Weiſe zu wirken, das iſt, in einer gewiſſen Richtung hervorzugehen. Jn dem koͤrperlichen Organ kann die Elaſticitaͤt ſelbſt durch die zu ſtarke Spannung geſchwaͤcht ſeyn. Allein dieſe iſt nur die Kraft des Zuſammengeſetzten, die eine Wir - kung von den Kraͤften der einfachen Beſtandtheile iſt, und von der Menge der letztern und ihrer Verbindung miteinander abhaͤngt. Die abſoluten Kraͤfte der einfa - chen Theile dagegen bleiben dieſelbigen, und leiden nichts, wenn gleich die Fiber zerriſſen wuͤrde.

III. Von der Erhoͤhung der leidenden Vermoͤgen der Seele, der Receptivitaͤt, des Gefuͤhls und der Empfindſamkeit.

  • 1) Von der Erhoͤhung der aͤußern Sinne. Was hierinn liegt, iſt auch in der Vervoll - kommnung der uͤbrigen leidenden Vermoͤgen der Seele enthalten.
  • 2) Die erlangten Jdeenreihen von den Objek - ten machen Zuͤge und Eindruͤcke bemerkbar, welche es fuͤr ſich weniger oder gar nicht geweſen ſeyn wuͤrden.
  • 3) Es entſtehet eine Leichtigkeit dergleichen Ein - druͤcke anzunehmen und auf ſie zu reagiren, welche von der Leichtigkeit die Jdeen von den Gegenſtaͤnden zu erneuern unterſchieden iſt.

4) Die413und Entwickelung des Menſchen.

  • 4) Die Verfeinerung einer Seite unſerer lei - denden Vermoͤgen verbreitet ſich uͤber alle.

1.

Da jede einzeln beobachtbare Kraftaͤußerung der Seele aus einem Thun und Leiden zuſammenge - ſetzt iſt, und alle geiſtige Vollkommenheiten des Men - ſchen eine gewiſſe Staͤrke ſeiner thaͤtigen und leidenden Vermoͤgen in ſich halten: ſo erfodert eine deutliche Vor - ſtellung von der Entwickelung der Seele, daß man die - ſe auch von ihrer zwoten Seite kennen lerne, und ſehe, ob und wie ferne die paſſiven Vermoͤgen etwas anzu - nehmen und ſich modificiren zu laſſen, das iſt, die Re - ceptivitaͤt der Seele, einer Erhoͤhung und Vergroͤßerung faͤhig ſeyn. Hiebey koͤnnte vielleicht die obige Erlaͤute - rung aus dem Search uͤber die Verbeſſerung des Ver - ſtandes, die er von dem Geſichte hernahm, anpaſſen - ſender ſcheinen, daß naͤmlich unſere natuͤrliche Vermoͤ - gen unveraͤndert bleiben wie ſie ſind, und nur die Mit - tel und Gegenſtaͤnde, wodurch und worauf ſie ſich aͤuſ - ſern, vervielfaͤltiget und vermehret werden. Aber auch hier iſt dieſe Vorſtellung nicht voͤllig richtig, wenn wir nur genauer erwegen, was wirklich geſchieht. So gar die aͤußern Sinnglieder, beſonders die Augen und Oh - ren, werden durch die Uebung gewiſſermaßen geſtaͤrket und vollkommener gemacht. Das Auge bleibet doch nicht ganz unveraͤndert, wie es uns angeboren iſt. Selbſt die Uebung, die von der bloßen Natur veranlaſ - ſet wird, beſſert das Organ bey dem Gebrauch. Das Auge waͤchſt nicht allein in der Kindheit, ſondern be - kommt auch eine etwas andere Figur, und wird geſchick - ter die Bilder von den Gegenſtaͤnden aufzunehmen. *)Haller Elem. phyſiol. T. V. Lib. XVI. ſect. II. §. 7. 12. 15.Und414XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtUnd was durch unſer eigenes willkuͤrliches Bemuͤhen ſich hierinn ausrichten laͤßt, weiß man aus bekannten Er - fahrungen, da die aus Gewohnheiten entſtandenen Ver - ſchlimmerungen, wenn ſie nur nicht gar zu ſehr einge - wurzelt ſind, gehoben oder wenigſtens etwas gemildert werden koͤnnen. Die Verſtaͤrkung des Geſichts in dem Jaͤger, der weit in die Ferne ſehen lernt, und in dem Maler, der in der Naͤhe beſſer ſieht, haͤngt doch auch von der Uebung ab. Allein was die Staͤrke des Sin - nes betrift, inſoferne dieſer ein Vermoͤgen der Seele iſt, die mittelſt des Organs entſtandenen Eindruͤcke zu faſſen, und nach ihrer Verſchiedenheit zu faſſen, zu fuͤh - len und gewahrzunehmen: ſo iſt ſolche etwas anders, als die etwanige Verbeſſerung, die in den aͤußern Or - ganen vor ſich gehen mag. Wenn ein Kenner die klein - ſten Theile eines Gemaͤldes mit einem Blicke faſſet, da - von neun Zehntheile einem andern entwiſchen: ſo folget daraus nicht, daß das Auge des erſtern ſchaͤrfer ſey; ſo wenig als bey dem Kraͤuterkenner die Vortreflichkeit des Organs die Urſache davon iſt, daß er die kleinen Merk - zeichen der Pflanzen ſo leicht gewahr wird, die Andere nur mit Muͤhe ſehen, wenn ſie von jenem gewieſen wer - den. Daſſelbige gilt von der Verfeinerung der uͤbrigen Sinne, des Gehoͤrs, des Geruchs, des Geſchmacks und des Gefuͤhls.

Beobachtet man dieſe Wirkungen der Uebung bey den aͤußern Sinnen genauer, ſo kommt man auf aͤhnliche Bemerkungen, wie oben, da der Anwachs in den thaͤti - gen Vermoͤgen betrachtet ward. Hat man aber von der Art der Entwickelung oder Erhoͤhung bey den Sinnen einen deutlichen Begrif, ſo ergiebt ſich von ſelbſten, daß man davon auf die uͤbrigen Receptivitaͤten, Gefuͤhlsar - ten und auf die geſammte Empfindſamkeit eine An - wendung machen koͤnne. Es verhaͤlt ſich bey der einen Art der paſſiven Vermoͤgen, wie bey der andern, undwenn415und Entwickelung des Menſchen. wenn einiger Unterſchied vorkoͤmmt, ſo kann ſolcher nur in Graden und Stufen beſtehen.

2.

Durch die Uebung der Sinne bey einer Gattung von Gegenſtaͤnden werden Jdeenreihen erzeuget; und dieſe ſind das Mittel Eindruͤcke von außen empfindbar und beobachtbar zu machen, die fuͤr ſich die Aufmerk - ſamkeit der Seele nicht auf ſich gezogen haͤtten. Die Aehnlichkeit der Eindruͤcke, oder Zuͤge, in mehrern Jmpreſſionen vereiniget ſie, und macht, daß eine ſich ausnehmende Vorſtellung davon entſtehet. Jſt alſo in ei - ner gegenwaͤrtigen Jmpreſſion ein Eindruck, der ſchon mehrmalen vorgekommen iſt, ſo wird auch das Gefuͤhl der vergangenen aͤhnlichen bey ihm wiedererweckt, und dadurch der gegenwaͤrtige Eindruck verſtaͤrket. Dieß ziehet die Aufmerkſamkeit dahin, und die klare Em - pfindung entſteht leichter und ſchneller. Was der Spinne die Faden ihres Gewebes ſind, die bis an die Mitte hin, wo die Spinne ſitzet, erſchuͤttert werden, wenn eine Fliege die aͤußerſten Theile beruͤhret, das ſind in der Seele ihre aufgeſammelten Bilder und Jdeenrei - hen. Ein Blick auf die Bluͤhte, auf die Farbe, Figur, Laͤnge, Dicke, Breite einer Pflanze, oder eines Blat - tes, oder nur irgend Eins von dieſen Stuͤcken, erwecket in der Phantaſie des Botanikers die Jdee des Ganzen, kommt dem ſchwachen Eindrucke des Lichts auf die Au - gen zu Huͤlfe, und laͤßt ihn Alles auf einmal deutlich ſehen. Jn allen aͤhnlichen Faͤllen haͤngt eine ſolche be - ſondere Scharfſichtigkeit, bey gewiſſen Gattungen von Sachen, offenbar von den vorhandenen Jdeenreihen ab, die ſich auf dieſe Sachen beziehen.

3. Doch416XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

3.

Doch iſt es dieß nicht allein. Es entſtehet mit ei - ner Fertigkeit des Sinnes zugleich auch eine Leichtigkeit, auf die aͤhnliche Art modificirt zu werden; und dieſe macht eine Erweiterung und Verfeinerung der Empfaͤng - lichkeit in der Seele aus. Es entſtehet naͤmlich eine Leichtigkeit, Eindruͤcke ſolcher Art ſchneller anzunehmen und diejenige Reaktion gegen ſie zu aͤußern, die einige fuͤr das Fuͤhlen und Empfinden halten. Die Seele lernt, ſo zu ſagen, ſich gegen ſolche ſie modificirende Objekte zu oͤffnen, ſich in ſolcher Lage ihnen bloß zu ſtel - len, daß ſie die Eindruͤcke auf die beſte Weiſe empfaͤngt; und wenn man dieß letztere etwan ihrer thaͤtigen Kraft zuſchreiben wollte, ſo wird ſie doch auch ſelbſt als ein lei - dendes Weſen von dieſer Seite empfindlicher. Die Art, wie ſie an Empfaͤnglichkeit und an Empfind - lichkeit zunimmt, iſt uͤberhaupt dieſelbige, wie al - les, was in ihr Anlage iſt, hervorgeht und erhoͤ - het wird. Jedwede Empfindung hinterlaͤßt eine Spur von ſich, auch ſoferne ſie eine Empfindung oder gefuͤhlte Modifikation in der Seele iſt, nicht bloß inſofern ſie insbeſondere eine Jmpreſſion von dieſem oder jenem Gegenſtande iſt, worauf ſie ſich beziehet. Denn was auch immer in der Seele von einem aͤußern Eindrucke entſtehen mag, und was auch das Anneh - men dieſes Eindrucks ſey: ſo wird ſie doch modificirt, und dieſe Modifikation hat ihre bleibende Spur in ihrem Zuſtande und in ihren Kraͤften, die nur, inſoferne ſie ſich auf die erſte Modifikation und deren aͤußere Urſa - che bildlich beziehet, die Vorſtellung von dem Objekt iſt, eigentlich aber eine Vorſtellung von dem urſpruͤnglichen Gefuͤhl ſelbſt ausmacht, und die Anlage modificirt zu werden vergroͤßert, oder zu einer Leichtigkeit macht. Dieß iſt die Erhoͤhung des Gefuͤhlsvermoͤgens.

Jn417und Entwickelung des Menſchen.

Jn dem Anwachs der Gefuͤhlsvermoͤgen ſind alſo zwey Stuͤcke von einander zu unterſcheiden. Die ver - groͤßerte Leichtigkeit eine beſondere Art von Ein - druͤcken leichter zu faſſen, und eine vergroͤßerte Leichtigkeit uͤberhaupt Eindruͤcke aufzunehmen und auf ſie zuruͤckzuwirken. Jenes iſt die ver - groͤßerte Empfindlichkeit in Hinſicht auf die mehr - malen empfundenen Objekte; dieſes iſt die vergroͤßerte Leichtigkeit zu empfinden, ohne Ruͤckſicht auf dieſe oder jene beſtimmten Gegenſtaͤnde. Beide beziehen ſich auf die naͤmliche Art auf einander, wie bey den Fertigkeiten der thaͤtigen Kraͤfte die Fertigkeit, die Jdeen von den Gegenſtaͤnden, und die Fertigkeit, die Jdeen von den Handlungen der Seele zu erwecken. Beide ſind bis auf eine Graͤnze unzertrennlich. Denn eine vergroͤßerte Empfindlichkeit in dem Vermoͤgen ſelbſt, als eine Leich - tigkeit zu empfinden und auf eine aͤhnliche Art zu em - pfinden, iſt auch eine Leichtigkeit in einen vorigen Zu - ſtand zuruͤckzukommen. Dieß iſt die vergroͤßerte Em - pfindlichkeit in Hinſicht gewiſſer Objekte ebenfalls. Aber ſie iſt doch nur zum Theil einerley. Denn da die letztere davon abhaͤngt, daß die vorher empfangene Vorſtellung von einem Objekte leicht erwecket wird und ſich mit dem gegenwaͤrtigen Eindruck von demſelben verbindet: ſo er - fodert ſie auch nichts mehr als eine Leichtigkeit eine Vor - ſtellung zu reproduciren; dagegen die erhoͤhete Empfind - lichkeit in dem Vermoͤgen erfedert, daß der ganze vor - malige Zuſtand, die ganze Empfindung, leicht zuruͤck - kehre. Die Vorſtellung aber iſt nur ein Theil von dem ehemaligen Zuſtande, und eigentlich mehr eine ſchwache Anwandlung von einem Theile oder Zuge aus ihm, als eine wahre Zuruͤckkehr deſſelben. Die Empfindlich - keit gegen Zorn und Liebe kann daher beſtehen, wenn gleich die Leichtigkeit, an die ehemaligen Objekte dieſer Leidenſchaften zu denken, vergangen iſt. Jene iſt eineII Theil. D dLeichtig -418XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtLeichtigkeit die individuelle Modification anzunehmen, nicht ſowohl von der Seite, als ſie den Stof der Vor - ſtellung von der empfundenen Beleidigung oder dem Freundſchaftsdienſte hergab, als vielmehr in Hinſicht ih - rer uͤbrigen Beſchaffenheiten, wodurch ſie eine ſolche Empfindung ward. So verhaͤlts ſich auch in den uͤbri - gen Faͤllen.

Wenn man alſo die Erfahrungen, die man von der Erhoͤhung und Verſtaͤrkung unſerer Gefuͤhlsvermoͤgen hat, naͤher beleuchtet: ſo findet man die Verſchieden - heit der gedachten beiden Wirkungen in ihnen ganz deut - lich. Nicht jedwede Uebung des Gefuͤhls befoͤrdert in gleichem Maße die Leichtigkeit in den Vorſtellungen, und den Zuwachs des Vermoͤgens. Es kommt auch hiebey ſehr auf die verſchiedene Richtung an, in der die Seele wirket, wenn ſie Eindruͤcke aufnimmt und fuͤhlet. Der uͤbet ſein Gefuͤhl an den Schoͤnheiten der Malerey, um ein Kenner der Gegenſtaͤnde zu werden, die ſchoͤn und haͤ[ß]lich ſind, das iſt, deren Empfindung Vergnuͤgen oder Unluſt hervorbringet. Ein anderer kann dieſe Empfindungen als Aeſthetiker oder als Pſy - cholog aufſuchen; und noch ein anderer kann mehr die Empfindſamkeit an dem Schoͤnen und den Geſchmack zu erhoͤhen ſich beſtreben. Bey den moraliſchen Ge - fuͤhlen zeiget ſich die naͤmliche Verſchiedenheit. Und dieſe verſchiedenen Wirkungen ſind allerdings mit einan - der in einem gewiſſen Grade verbunden, und alle deſto groͤßer, je mehr man ſich mit der Beſchauung und Empfindung der Objekte, durch deren Eindruͤcke ſie ent - ſtehen, beſchaͤfftiger; aber es iſt ſehr gewoͤhnlich, daß eine oder die andere in Vergleichung mit den uͤbrigen weit| zuruͤckbleibet. Mancher Mann vom Stande weiß, was Anſtaͤndigkeit und Feinheit in den Sitten iſt; und ſehr viele wiſſen, was recht und unrecht, loͤblich oder tadelhaft iſt, mehr, weil man ſie von Jugend aufgegen419und| Entwickelung des Menſchen. gegen ſolche Sachen empfindlich gemacht hat, als weil ihr Gefuͤhl der Anſtaͤndigkeit und Feinheit uͤberhaupt ſo ſtark ſey, daß ſie darum von dieſen Eigenſchaften leb - hafter und ſchneller als andere geruͤhret werden ſollten. Wer hieruͤber nur ein wenig nachdenken will, wird auf manche praktiſche Folgerungen kommen, die bey der Erziehung, und beſonders bey der Ausbildung des Her - zens der Kinder, wichtig ſind. Jch ſetze noch die Erin - nerung hinzu, wenn die Leichtigkeit in einen gewiſ - ſen paſſiven Zuſtand, und alſo auch in eine vormalige Empfindung, verſetzt zu werden eine Vorſtellung von der Empfindung genennet wird: ſo laͤßt ſich auch die Erhoͤhung unſerer leidentlichen Vermoͤgen als eine Folge betrachten, die von der Aufhaͤufung ſolcher Vorſtellun - gen entſtehet, und eine Jdeenaſſociation dabey gedenken. Aber wenn das Wort Vorſtellung nur fuͤr ſolche Spuren aufbehalten ſeyn ſoll, die aus der Selbſtmacht der Seele wiedererwecket werden koͤnnen: ſo hat die Seele nur in ſo weit Vorſtellungen, als ſie ſich in ihren ehemaligen Zuſtand ſelbſt verſetzen kann, ohne daß die erſte Urſache, welche ſie in der Empfindung modificir - te, vorhanden iſt. Die Leichtigkeit, von dem Eindruck derſelben Urſache eine aͤhnliche Veraͤnderung anzuneh - men, iſt eine Leichtigkeit von einem kleinern Grade, als es die iſt, ſich ſelbſt wieder ſo zu veraͤndern, oder we - nigſtens ſich ohne das Zuthun der erſten oder einer aͤhn - lichen Urſache, bey einer mehr entfernten Veranlaſſung da - zu, ſich wieder eben ſo veraͤndern zu laſſen. Daher iſt es begreiflich, wie die Seele jene Leichtigkeit nur in Hin - ſicht einiger Zuͤge ihrer erlittenen Veraͤnderung beſitzen koͤnne, die ihr in Hinſicht der uͤbrigen fehlet. Sie kann eine Vorſtellung des Objekts aus ſich hervorbrin - gen, aber die Empfindung nicht, die unendlich mehr in ſich enthaͤlt.

D d 2Dieſe420XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

Dieſe Beziehung der Entwickelung der Gefuͤhlsver - moͤgen auf die vorſtellende Kraft leitet auf manche Fol - gen, die ich uͤbergehe. Nur Eine will ich beruͤhren. Unſere gegenwaͤrtigen Eindruͤcke von aͤußern Objekten hangen, außer allem uͤbrigen, auch von unſerer innern Empfaͤnglichkeit ab. Es koͤnnen alſo auch dieſe Ein - druͤcke anfangs in der Kindheit nicht dieſelbigen an Staͤr - ke und Lebhaftigkeit geweſen ſeyn, wie ſie in der Folge ſind, wenn wir die Sinne ſchon geſtaͤrket haben. Wir koͤnnen nicht immer Farben, Toͤne und ſo ferner, ſo geſehen und gehoͤret haben, als wir ſie nachher em - pfinden, und auch diejenigen Zuͤge in ſolchen Eindruͤcken nicht, die nun unſere ſinnlichen Vorſtellungen ſind. Jeder Eindruck ſtehet in Beziehung auf die vorherge - hende aͤhnliche, und jede Vorſtellung auf die vorherge - hende. Jn dieſem Verſtande giebt es keine reinen Em - pfindungen mehr, die naͤmlich ſchlechthin allein von den aͤußern Urſachen abhangen ſollten.

4.

Endlich beſtaͤtiget es die Erfahrung hier bey dem leidenden Vermoͤgen der Seele, was ſie bey dem thaͤti - gen lehret, daß naͤmlich jede Erhoͤhung, Ausdehnung, Verfeinerung der Receptivitaͤt der Seele an einer Seite ſich uͤberhaupt auf ſie ausbreite, und zugleich ihre ganze Empfaͤnglichkeit vergroͤßere. Dieß iſt die dritte allge - meine Wirkung, die aus der Uebung unſerer innern Gefuͤhlsvermoͤgen entſpringet. Der Geſchmack an den Schoͤnheiten des Gefuͤhls wirkt in den geſammten Ge - ſchmack des Menſchen auf eine naͤhere oder entferntere Art, merklich oder unmerklich, und bringt zum minde - ſten eine ſtaͤrkere Diſpoſition hervor, auch die Schoͤnhei - ten des Gehoͤrs und anderer Sinne lebhafter zu fuͤhlen. Ueber die ſcheinbaren Ausnahmen, die hiebey ſtattfin - den, kann das naͤmliche geſagt werden, was ich vorherbey421und Entwickelung des Menſchen. bey dem thaͤtigen Vermoͤgen angefuͤhrt habe, und hier nicht wiederholen will. Die Weiber auf Otaheite ſcheuen ſich in Geſellſchaft der Maͤnner zu ſpeiſen, und ſind in dem uͤbrigen die ſchamloſeſten auf der Welt. Solche Paradoxien laſſen ſich erklaͤren, ohne das allge - meine Princip zuruͤckzunehmen.

IV. Worinn die Entwickelung der menſchlichen Na - tur beſtehe.

  • 1) Allgemeiner Abriß von dem Gange, den die Entwickelung der Seelenvermoͤgen nimmt.
  • 2) Unterſchied zwiſchen den abſoluten und rela - tiven Vermoͤgen, und zwiſchen der Ausbil - dung an jenen und an dieſen.
  • 3) Ob und wieferne die Entwickelung der See - le als eine eigentliche Evolution, oder als eine Epigeneſis, zu betrachten ſey?
  • 4) Fortſetzung des Vorhergehenden. Die Seelenentwickelung nach dem Bonnetiſchen Syſtem.
  • 5) Es iſt ſchwer hieruͤber zu entſcheiden, und nicht anders, als durch die Analogie aus der Entwickelung des menſchlichen Koͤrpers.
  • 6) Wie weit zu den beſondern Faͤhigkeiten an - geborne Anlagen einzuraͤumen ſind, oder nicht?

1.

Die vorhergehenden Betrachtungen laſſen uns die ein - zelnen Schritte in der Entwickelung der Seele et - was deutlicher ſehen. Den allgemeinen Gang aber, den die Entwickelung nimmt, und die Ordnung undD d 3Folgen,422XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtFolgen, worinn die Vermoͤgen ſich ausbilden, iſt aus der Geſchichte des Menſchen bekannt. Die Seele nimmt Eindruͤcke von außen an, wirkt auf ſie zuruͤck, fuͤhlet ſie| angenehm oder widrig, und wird hiedurch gereizet, außer ſich heraus zu wirken, und den Koͤrper zu veraͤn - dern. Dieſe erſten einfachen Folgen machen, ſo zu ſagen, die Grundfaſern aus. Sie werden verſtaͤrket, verlaͤn - gert, ausgebreitet und vervielfaͤltiget von allen Seiten her; dann mit einander auf manche Art verbunden; und daraus erwaͤchſet der an Gefuͤhl, Empfindſamkeit, Vor - ſtellungskraft, Vernunft und Thaͤtigkeit ausgebildete Menſch. Jede Empfindung hinterlaͤßt eine Leichtigkeit ſie wieder anzunehmen; jeder Eindruck von jedem Ob - jekt eine Leichtigkeit das Bild von dieſem wiederzuerwe - cken. Jede Empfindung ſtaͤrkt alſo das Gefuͤhl und zugleich die Vorſtellungskraft.

Jeder afficirende Eindruck, davon die erſten es ohne Zweifel nur in einem geringen Grade obgleich kei - ne voͤllig gleichguͤltige ſind, hinterlaͤßt ein Beduͤrfniß, ihn von neuem zu haben, wenn er angenehm geweſen iſt, und ihm zu entgehen, wenn er widrig war. Dieß Be - duͤrfniß verurſacht Triebe und einen Hang zur Thaͤtig - keit, welche durch die Handlung ſelbſt geſtaͤrket werden.

Jede Gefuͤhlsaͤußerung, jede Thaͤtigkeit hinterlaͤßt einen Zuſatz zu der Selbſtthaͤtigkeit der Seele. Denn wenn das Gefuͤhl eine Leichtigkeit annimmt wiederer - neuert zu werden: ſo iſt dieß ein Beweis, das die Mo - difikation nicht oͤhne die Beywirkung des modificirten Weſens zu Stande gebracht worden iſt; ſie verſchwin - det daher auch nicht gaͤnzlich, wenn die aͤußere Urſache zu wirken aufhoͤret, wie etwa das Licht ſich mit der Sonne entzieht. Die hinterbliebene Spur von der Veraͤnderung vergroͤßert die Modifikabilitaͤt der See - le und ihre Empfaͤnglichkeit, und zugleich die Mitwir - kung ihrer ſelbſtthaͤtigen Kraft.

Hunger423und Entwickelung des Menſchen.

Hunger und Durſt und Schmerzen des Koͤrpers, die von dem Druck und der Bewegung der aͤußern Dinge, und von der Einrichtung des Mechanismus ab - hangen, ſind die erſten Beduͤrfniſſe der Natur. Die erſten thieriſchen Begierden gehen alſo auch alle dahin, dieſe abzuwenden. Die Jnſtinkte in dem Koͤrper ſo zu wirken, daß der Schmerz geſtillet werde, machen die erſten thieriſchen Triebe zur Erhaltung und Gegenwehr aus, und aus dieſen werden Begierden, wenn die Ge - genſtaͤnde bekannt ſind und die Vorſtellungen von dieſen ſie leiten. Daher werden auch die Vermoͤgen der See - le zu ſolchen Handlungen, welche auf die Stillung des Hungers und des Durſtes gerichtet ſind, die erſten Fer - tigkeiten in dem Willen und die erſten Leidenſchaften.

Wenn der Koͤrper bis zu einem gewiſſen Grad aus - gewachſen hat, ſo ſtellet ſich ein neues Gefuͤhl, eine neue Unruhe und ein neuer Trieb ein, oder gehet doch zum wenigſten alsdenn ſichtbar hervor, naͤmlich der Trieb zur Fortpflanzung.

Jede Entwickelung des Gefuͤhls iſt mit einer Ent - wickelung der vorſtellenden Kraft vergeſellſchaftet; und indem dieſe letztere mehr ſelbſtthaͤtig und frey wird, of - fenbaret ſich auch die ſelbſtthaͤtige Zuruͤckwirkung auf die von einander geſonderten Vorſtellungen, das iſt, die Gewahrnehmung der Verhaͤltniſſe als die Wir - kung der Denkkraft.

Das Kind, das ſeinen Hunger und Durſt geſtillet hat, und von keinen koͤrperlichen Schmerzen beunruhi - get wird, verfaͤllt wieder in Unthaͤtigkeit und ſchlaͤft ein, ſo lange weder ſeine Empfaͤnglichkeit, noch ſeine Selbſt - thaͤtigkeit, merkliche Fortſchritte gethan hat. Aber ſo - bald es an beiden reizbarer geworden iſt, empfindet es auch die Eindruͤcke der feinern Sinne, beſieht glaͤnzen - de Koͤrper, und horcht auf den Geſang der Voͤgel; und ſiehe da, es wird gewahr, daß auch in dieſen Eindruͤ -D d 4cken424XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtcken ein Vergnuͤgen liege. Die im Empfinden geuͤbte Kraft nimmt die Eindruͤcke ſchon ſtaͤrker auf, und iſt zugleich empfindlicher in Hinſicht ihrer Uebereinſtim - mung mit dem innern Zuſtande und der innern Veraͤn - derungen, die darauf folgen. Aber dieß neue Vergnuͤ - gen verurſacht auch neue Beduͤrfniſſe und neue Triebe. Wenn das Kind ſich ſatt gegeſſen hat: ſo nimmt es ſei - ne Puppe und ſpielet damit. Die Luſt in dieſen Ein - druͤcken iſt eine andere Empfindung, als die Luſt, die es in dem Eſſen empfunden hatte; jene klebet zwar an den Geſichts und Gehoͤrseindruͤcken, weil ſie ſolche beglei - tet und auf ſie folget, aber gewiß nicht, weil das vo - rige Vergnuͤgen aus dem Genuß des Eſſens nur vermit - telſt einer Jdeenaſſociation wiedererweckt wird, noch weil es von den Empfindungen des Geſchmacks nun auf die Eindruͤcke des Geſichts und des Gehoͤrs uͤbergetragen wird. Jndeſſen haben die vorhergegangenen ſtaͤrkern Empfindungen des Geſchmacks und des Gefuͤhls das Empfindungsvermoͤgen vorbereitet, und es der feinern und ſchwaͤchern Eindruͤcke der obern Sinne empfaͤnglich gemacht, oder wenigſtens die ſchon vorhandene natuͤrli - che Empfaͤnglichkeit dazu erhoͤhet.

Die Wirkungen dieſer neu entdeckten Vergnuͤgen aus den feinern Sinnen muͤſſen freilich wieder un - merklich werden, wenn Schmerzen, Hunger und Durſt, das iſt, ein andrer thieriſcher Trieb von neuem ſich einſtellet und den Menſchen einnimmt. Dazu ſind ſie zu ſchwach, ſich gegen dieſe zu halten. Elende Voͤlker, die alles thun muͤſſen um nur zu le - ben, und wenn ſie dieß gethan haben, voͤllig ermuͤdet ſind, merken nicht auf die Schoͤnheit des Himmels, noch auf die harmoniſchen Toͤne der Voͤgel. Aber ſo bald wiederum die Saͤttigung erfolget iſt, und die thaͤ - tige Kraft nur nicht ſo ganz erſchoͤpft iſt, daß ſie noch einige Regungen behalten hat, ſo ergreift ſie mit deſtomeh -425und Entwickelung des Menſchen. mehrerer Staͤrke die uͤbrigen Unterhaltungen, die der Menſch ſchon entdecket hat; und eine mehrmalige Wiederholung ihres Genuſſes ſtaͤrkt die Geſchicklich - keit ſie zu genießen, und vergroͤßert die Begierde auf ſie.

Der Uebergang zu den innern Gefuͤhlen unſerer ſelbſt, zu den Gefuͤhlen, die aus den Verhaͤltniſſen unſrer Veraͤnderungen auf den gegenwaͤrtigen Zuſtand unſerer Kraͤfte entſpringen, geſchieht nach dem naͤmli - chen Geſetze auf dieſelbige Weiſe. Aber ein großer Theil von den letztern kommt nur ſpaͤt hervor, weil ſchon ein hoͤherer Grad der innern Selbſtthaͤtigkeit da - zu gehoͤret, mit ſich ſelbſt ſich zu beſchaͤfftigen. Die Gefuͤhle des Wahren, des Schoͤnen, des Guten, zeigen ſich daher nur dann erſt, wenn die Beziehun - gen der Eindruͤcke, die von den Gegenſtaͤnden und Handlungen abhangen, in uns lebhaft gefuͤhlt werden. Dieß ſind feinere Gefuͤhle, wozu die Seele ohne vor - hergegangene Bearbeitung ihres Jnnern wenig Em - pfaͤnglichkeit hat. Jndeſſen traͤgt doch jedwede vorige Ent - wickelung des Gefuͤhls etwas dazu bey, auch dieſe zu ha - ben, indem ſie die Grundkraft aufgelegt macht, unter vor - theilhaften Umſtaͤnden in neuen Wirkungsarten hervor - zubrechen, wozu ſie ihrdie Diſpoſition entweder beybringt, oder ſolche ſo weit erhoͤhet, daß ſie nun als naͤhere An - lage ſich zeigen kann. Aber das Vergnuͤgen, wie der Verdruß, das unſern innern Empfindungen beywoh - net, kommt aus ihnen ſelbſt, und lieget in ihnen, und wird in ihnen ſelbſt zubereitet, wenn gleich die aͤußere Empfindung ſolches vermittelſt der Jdeenaſſociation vergroͤßert, und oft genug auch die Veranlaſſung iſt, wodurch man auf jene aufmerkſam wird. *)Erſter Band, zweyter Verſuch. VI. 4.

Nach den eigennuͤtzigen Empfindungen zeigen ſich die |geſelligen und wohlthaͤtigen, die aus Mitge -D d 5fuͤhl426XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtfuͤhl entſpringen. Wenn das Kind ſich ſatt gegeſſen hat, ſo liebkoſet es ſeine Geſpielen, trauert und wei - net mit ihnen, und giebt ihnen von ſeinem Brod ab. Selbſtgenuͤgſamkeit und Zufriedenheit iſt der Boden, worauf das Gefuͤhl unſerer ſympathetiſchen Bewegun - gen fortkommt. So lange eigene Noth den Men - ſchen preſſet, bekuͤmmert er ſich wenig um andrer Wohl, wenigſtens nicht weiter als inſoferne dieß ihm zum Mittel dienet, ſein eigenes zu befoͤrdern. Groß - muth und Beſorgniß fuͤr andrer Gluͤck bey armen Leu - ten, die ſelbſt Noth leiden, verraͤth theils eine vor - zuͤgliche lebhafte Empfindſamkeit, theils eine Staͤrke und Furchtloſigkeit der Seele, welche derjenigen ihre uͤbertrifft, die nur alsdenn großmuͤthig ſind und Mit - leiden beweiſen, wenn ihre eigenen Beduͤrfniſſe im Ueberfluſſe geſtillt ſind. Aber dennoch ſiehet man, daß eine gewiſſe Zufriedenheit mit ſich ſelbſt dazu er - fodert wird; man muß ſeine eigne Noth vergeſſen, wenn das Herz ſich frey fuͤr andre oͤffnen ſoll. Auf - geraͤumtes Weſen macht den Menſchen zur Wohlge - wogenheit gegen andre geneigt. Kein Wunder. Jn ſolchem Zuſtande der innern Ruhe werden die unei - gennuͤtzigen ſympathetiſchen Bewegungen, das Gefal - len an andern, das Mitgefuͤhl mit andrer Leid und Freude, lebhafter erreget; das Gefuͤhl hat Zeit, darauf zu achten, und die darinn liegende feine, aber durch - dringende, Wolluſt zu ſchmecken und zu bemerken. Je ſtaͤrker das Gefuͤhl, die Phantaſie und die ſelbſttthaͤ - tige Kraft mehr in den Selbſtempfindungen und in den Wirkungen der Eigenliebe, die auf uns ſelbſt ge - het, erwecket iſt, deſto ſtaͤrker wirket auch die nach - ahmende Kraft, und deſto lebhafter werden ihre innern Wirkungen empfunden.

Dieß iſt alſo das Geſetz der Ausbildung des Men - ſchen an ſeiner Seelennatur, und iſt dem aͤhnlich,wornach427und Entwickelung des Menſchen. wornach der Koͤrper waͤchſt. Gefuͤhle und Vorſtel - lungen ſind der Nahrungsſaft, welcher der Grund - kraft zugefuͤhret wird, ſelbige reizet und in Thaͤtigkeit ſetzet, wovon anfangs die Wirkung ſich allein nur auf das Gefuͤhl einſchraͤnkte. Jede thaͤtige Aeußerung der Kraft ſtaͤrket ſie ſelbſt. Das, was nur Anlage und Moͤglichkeit war, wird Diſpoſition, Faͤhigkeit, Trieb, Fertigkeit, ſo wie die Leichtigkeit zu wirken anwaͤchſet. Der Uebergang von bloßer Fertigkeit zur naͤhern Anlage oder Diſpoſition beruhet nach dem gemeinen Begriffe darauf, daß zu der erſten noch etwas von außen hinzukommen muͤſſe, um in die letz - tere uͤberzugehen. Die weitern Schritte geſchehen auf die naͤmliche Art. Nur unterſcheiden ſie ſich dar - inn, daß nicht immerfort die folgenden Grade der Leichtigkeit eine Beywirkung von aͤußern Urſachen, oder doch nicht in dem gleichen Grade, erfodern. Denn wo ſchon merkliche Faͤhigkeit iſt, da kommt es nur am meiſten auf das an, was in der Kraft ſelbſt liegt, naͤm - lich auf die eigenmaͤchtige Aeußerung und Anwen - dung derſelben, welche wir alsdenn, wenn wir uns eine Faͤhigkeit vorſtellen, innerlich fuͤr ſo ſtark anſe - hen, daß ſie ſelbſt ſich beſtimmen und ſich forthelfen, und ſich die noch zur vollen Fertigkeit fehlenden Stufen der Leichtigkeit verſchaffen kann. Aber wo noch nichts mehr vorhanden iſt, als bloßes Vermoͤgen, bloße Moͤglichkeit, oder bloße und ſchwache Anlage, da iſt auch noch ein Geburtshelfer noͤthig, der der Faͤ - higkeit forthelfe, oder eigentlich zu reden, noch eine aͤußere Urſache, die durch ihren Einfluß uns reize und erwecke.

Es giebt hierinn eine Stufenleiter von dem bloßen Vermoͤgen an bis zu der volligſten Fertig - keit, auf der man einige Grade |durch die erwaͤhnten Benennungen von Anlagen, Faͤhigkeiten, Geſchick -lichkei -428XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtlichkeiten und Fertigkeiten bemerklich machet. Aber da ein jeder dieſe Grade nur nach ſeinem eigenen Ge - fuͤhl beſtimmet, ſo iſt es natuͤrlich, daß es uns bey dem Gebrauch der erwaͤhnten Woͤrter ſo gehe, wie es uns gehen wuͤrde, wenn wir ohne Thermometer, blos aus unſern Empfindungen die Grade der Waͤrme und Kaͤlte angeben ſollten. Der niedrigſte Punkt iſt das bloße Vermoͤgen, als Moͤglichkeit zu wirken betrachtet. Dieſe erfodert ſchlechthin noch etwas, das anderswo - her zu ihr kommen muß, ehe ſie weiter erhoben werden kann. Der hoͤchſte Punkt iſt die Fertigkeit; und in dieſer ſtellen wir uns die Kraft vor, als eine ſolche, welche nur Veranlaſſungen haben darf, um aus ſich ſelbſt hervorzuwirken.

Die paſſiven Vermoͤgen der Seele wachſen eben - falls von Empfaͤnglichkeiten an, bis zu leichtern Di - ſpoſitionen und zaͤrtlicher Empfindlichkeit; und der Nahrungsſaft zu dieſen liegt gleichfalls in den Gefuͤh - len, die der Menſch durch die Einwirkung der aͤußern Dinge empfaͤngt. Dieſer Saft verbreitet ſich durch das ganze Naturvermoͤgen mehr oder weniger und die Leichtigkeit, ſich modificiren zu laſſen und etwas an - zunehmen, wird vergroͤßert. So waͤchſet die Seele auf, bis ſie das empfindſame, vorſtellende, denkende, thaͤtige und freye Weſen wird, das ſich in dem ausge - bildeten Menſchen darſtellt.

Weiter will ich aber hiebey nicht zuruͤckgehen, als bis auf die Grundvermoͤgen der Natur, die ihrer An - lage nach in dem neugebornen Kinde vorhanden ſind. Sie beſtehen in dem Vermoͤgen zum Fuͤhlen, zum Vorſtellen, zum Denken und zum Handeln. Dieß iſt der Keim, von dem die Periode der Entwickelung anfaͤngt, die ich hier betrachte. Jſt dieſe angeborne Natur ſchon eine entwickelte Natur; ſind ihre Ver - moͤgen ſchon gewachſene entwickelte Vermoͤgen: ſo lie -get429und Entwickelung des Menſchen. get der entfernte Keim, als der Anfang zu dieſen außer der Graͤnze, wohin wir durch Erfahrungen kom - men koͤnnen. Wohin aber Raiſonnements und Muth - maßungen uns bringen, davon iſt vorher geſagt, wor - auf ich zuruͤck verweiſe. *)Jm eilften Verſuch.So viel iſt indeſſen ſehr wahrſcheinlich, daß die embryoniſche Entwickelung vor der Geburt im Weſentlichen von der nach der Ge - burt nicht unterſchieden ſey; wohl aber in Graden, und beſonders darinne, daß bey jener die Beywirkung der aͤußern Urſachen noch mehr nothwendig ſey, als bey dieſer. Jch werde gleich eine Frage beruͤhren muͤſſen, die es veranlaſſen wird, dieß etwas naͤher zu betrach - ten. Nur noch ein paar ſonſt bekannte Bemerkun - gen, die ich ihrer genauen Verbindung mit dem Vor - hergehenden wegen, wieder in Erinnerung brin - gen will.

Die Vermoͤgen der Seele erfodern auch koͤrperliche Kraͤfte, Staͤrke, Beugſamkeit, Geſchmeidigkeit und Spannkraft, und wie ſie heißen, und welche ſie ſeyn moͤgen, in den Organen der Seele, ſowohl in den in - nern als aͤußern. Ohne dieſe koͤnnen die Seelenkraͤfte ſich nicht aͤußern. Da nun auf den Koͤrper koͤrperli - che Urſachen wirken, ſo haͤngt die Entwickelung der Seelenfaͤhigkeiten auch von dieſen koͤrperlichen Urſa - chen mit ab. Die Erfahrungen ſind bekannt, die dieſes beſtaͤtigen. Ein großer Versmacher in der er - ſten Haͤlfte dieſes Jahrhunderts, denn Poet war er nicht und eigentlich nur ein Reimer, erhielt die Reim - und Versfaͤhigkeit waͤhrend eines Fiebers, das ihn zu einem Poeten aus dem Stegreif machte. Ueber jede Materie ſprach er in Verſen, ſobald er ſich in den noͤ - thigen Enthuſiasmus geſetzt hatte. Perſonen, die ihm oͤfters zugehoͤrt, haben mich verſichert, er habedas430XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtdas Geſicht verzerret und mit dem Munde geſchaͤumet, ſo oft er ein Gedicht von einiger Laͤnge herdeklamiren wollen. Nach den Proben zu urtheilen, die mir von ihm bekannt geworden ſind, war dieſe Geſchicklichkeit kaum ſo viel, als die Leichtigkeit, ein gereimtes Quod - libet herzuſagen, die jeder Menſch von einiger Lebhaf - tigkeit des Geiſtes beſitzet, oder ſich doch erwecken kann, wenn er ſich uͤben will, und es ihm dann nicht drauf ankommt, ob das, was er uͤber |eine Sache ſa - get, Sinn oder Unſinn ſey. Aber bey dieſem Manne war ſie von einer ausnehmenden Groͤße, und gehoͤrte zu den ungewoͤhnlichen Wirkungen einer koͤrperlichen Urſache auf die Seele. Man hat mehrere Beyſpiele, daß Krankheiten und andre Zufaͤlle die Seelenfaͤhig - keiten erhoͤhet und geſchwaͤcht haben; und von dem beruͤhmten Mabillon wird erzaͤhlt, er habe ſich nach einem Falle auf den Kopf trepaniren laſſen muͤſſen, ſey aber nach dieſer Operation ein Genie geworden, da er vorher ein ſtumpfer Kopf geweſen. Gleichwohl iſt zur Zeit nur wenige Hoffnung da, daß man zuver - laͤſſige Mittel gegen die Schwaͤche und Krankheiten der Seelenorgane und zur Verbeſſerung beſonderer Faͤhigkeiten entdecken werde; außer denen naͤmlich, die uͤberhaupt dienlich ſind, die Geſundheit und beſon - ders das Nervenſyſtem zu erhalten. Denn in dieſer Hinſicht geben die vernuͤnftigen Aerzte Anweiſung, ſo ſehr auch die Kunſt bey den Nervenkrankheiten ſonſt noch zuruͤck iſt. Aber vor den Kuͤnſteleyen der Char - latane, wodurch das Gedaͤchtniß und der Verſtand geſtaͤrket werden ſoll, warnet man mit vielem Rechte. Die pſychologiſchen Mittel, naͤmlich eine zweckmaͤßig eingerichtete Uebung der Vermoͤgen, ſind das einzige, das wir in unſerer Gewalt haben.

Es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß, indem die Seele ſich entwickelt, auch eine entſprechende Erhoͤhung undEnt -431und Entwickelung des Menſchen. Entwickelung in den organiſchen Kraͤften|des Gehirns vor ſich gehe. Doch laͤßt ſich dieß nicht geradezu aus den Erfahrungen ſchließen. Der Spieler nimmt an Geſchicklichkeit zu, nicht ſein Jnſtrument, das ſo blei - ben kann, wie es einmal iſt, dennoch aber ſein Jn - ſtrument iſt, ohne deſſen Beytrag kein Ton hervor - gebracht wird. So koͤnnte es in unſerm Seelenweſen auch ſeyn. Jndeſſen iſt es nach der wahrſcheinlichſten Hypotheſe von demſelben eine Folge, daß das Gehirn als Seelenorgan mit den Kraͤften der Seele ſelbſt ſich entwickele. Man kann noch weiter nach der Analo - gie muthmaßen, daß es auch mit dieſer Entwickelung des Gehirns, aber nur inſofern es Organ der Seele iſt, im Allgemeinen auf eine aͤhnliche Art zuge - he, wie mit der Erhoͤhung der Seelenvermoͤ - gen. Denn wenn es wahrſcheinlich iſt, daß es ſowohl permanente Spuren der empfangenen ſinnli - chen Eindruͤcke in dem Gehirn giebt, wie in der See - le:*)Dreyzehenter Verſuch, 2te Abtheilung. I. ſo kann auch mittelſt derſelben auf gleiche Weiſe nicht nur die Leichtigkeit, ſolche Eindruͤcke zu erneuern und die ehemaligen Bewegungen in etwas wiederzuer - wecken, erzeuget werden, ſondern auch eine Leichtigkeit, ſolche das Zweytemal mehr und geſchwinder von außen anzunehmen, das iſt, jeder Eindruck aufs Organ kann es empfaͤnglicher gegen andere aͤhnliche machen, und ſeine wirkſame Nervenkraft erhoͤhen.

2.

Aus dem, was vorher uͤber die Vergroͤßerung der Seelenvermoͤgen bemerkt iſt, folget von ſelbſt, daß man einen Unterſcheid zu machen habe, zwiſchen dem Zu - wachs an Kenntniſſen und Jdeenreihen, wovon die re - lativen Vermoͤgen abhangen, diejenigen naͤmlich, die ſich auf die Bearbeitung beſonderer Arten von Gegen -ſtaͤnden432XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtſtaͤnden beziehen; und zwiſchen dem Anwachs der ab - ſoluten Vermoͤgen, in ſo ferne ſie Faͤhigkeiten ſind, auf gewiſſe Weiſe zu wirken, ihr Objekt ſey welches es wolle. Die Jdeenreihen ſind eine Armatur des Ver - moͤgens; ſie geben Fertigkeiten in beſondern Arten von Kenntniſſen und Handlungen. Jeder Gelehrte urtheilt am fertigſten uͤber Sachen, die zu ſeinem Fache gehoͤ - ren, ohne deswegen mehr Verſtand zu beſitzen; und jeder Handwerker iſt Meiſter in ſeiner Arbeit, obgleich ſeine Kraͤfte, welche dadurch thaͤtig ſind, nichts vor ebendenſelbigen Kraͤften in andern Menſchen voraus ha - ben. Anfangs nimmt mit den Kenntniſſen von den Objekten das Vermoͤgen, auf ſolche Objekte zu wirken, und zugleich die abſolute Groͤße der Kraft zu; es waͤch - ſet das Materielle mit der Form der Handlung. Aber, wie es ſcheint, nicht in gleicher Maße. Denn die Kin - desſeele entwickelt in den erſten Jahren die Vermoͤgen ſtaͤrker, als die Kenntniſſe. Jn der Folge der Jahre hoͤret aber die Zunahme der Vermoͤgen auf, wenn gleich die Kenntniſſe im Wachſen noch fortfahren. Die Ein - ſichten vermehren ſich noch lange in dem Mannsalter, ohne daß die Verſtandesvermoͤgen ſelbſt an innerer ab - ſoluten Staͤrke, die ſich zeigen muͤßte, wenn das Vermoͤgen auf ganz neue Objekte verwendet wuͤrde, merklich groͤßer werden ſollten. Die Seelenkraͤfte haben wie die Koͤrperkraͤfte ihre natuͤrlichen Perioden, und er - reichen ihr Maximum, von dem an ſie wiederum abneh - men. Das Geſicht und das Gehoͤr wird an ſich nicht ſtaͤrker, wenn die Jugend zuruͤckgeleget iſt. Die Phantaſie und die Leidenſchaften erreichen ihre groͤßte Hoͤhe, ehe die Vernunft voͤllig zur Reife kommt. Und alsdenn moͤgen die Thaͤtigkeiten fortdauren; man mag die Kraft uͤben, ſich mit ihren mannichfaltigen Wirkun - gen bekannter und ſich ſolche gelaͤufiger machen: ſo koͤn - nen neue relative Fertigkeiten erhalten werden; aber dieinnere433und Entwickelung des Menſchen. innere Jntenſion der Vermoͤgen erhaͤlt keinen merklichen Anwachs mehr. Newtons natuͤrlicher Verſtand war vielleicht vor ſeinem dreyßigſten Jahre eben ſo maͤchtig, anhaltend und eindringend, als nach ſeinem funfzigſten, obgleich die Einſichten und Arbei - ten ſich erſtaunlich vermehrt hatten. Sollte das Feuer der Dichtkraft in Klopſtock nicht wohl eben ſo ſtark gebrannt haben, zu der Zeit, da er ſeine Meſſia - de anfieng, als da er ſie endigte? Jn einer gewiſſen Hinſicht werden die beiden Arten des Zunehmens ein - ander gar hinderlich, wie die gemeine Erfahrung leh - ret. Schulwitz erſtickt oft den Mutterwitz, und eine allzuſtarke Aufhaͤufung der Jdeen im Gedaͤchniß, ſetzet den natuͤrlichen Verſtand mehr herunter, als ſie ihm auf hilft.

Wie das zugehe? warum nicht jedwede der fol - genden Kraftaͤußerungen eben ſowohl eine Spur hinter - laſſe, wodurch die Leichtigkeit, ſo zu wirken, vergroͤſ - ſert wird, wie die erſtere, da ſie die Vorſtellungen von den Objekten vermehret? laͤßt ſich aus dem obi - gen erklaͤren. Die Spur, welche von einer Seelen - aͤußerung zuruͤckbleibet, kann immer zwar noch ein etwas ſeyn, ſo groß die Fertigkeit ſchon iſt, aber des - wegen doch etwas ſehr geringes, ein unbemerkbares, ein unendlichkleines. Wenn ſchon eine große Fertigkeit vorhanden iſt, ſo beſteht die Aeußerung derſelben mehr in einer paſſiven Reproduktion der Jdeenreihen, als in einer Anſtrengung der thaͤtigen Kraft ſelbſt. Daher kann fuͤr ſich der Zuwachs der Fertigkeit nicht groß ſeyn. Denn Unthaͤtigkeit ſchwaͤcht die erworbe - nen Fertigkeiten. Es kann alſo in einer Aktion ſo we - nig Selbſtthaͤtigkeit der Seele enthalten ſeyn, daß ſolches kaum hinreicht, um nur die vorige Groͤße zu erhalten. Uebrigens aber kann man auch nicht ſchlieſ - ſen, daß eine Kraft, die ſo viele und mannichfaltigeII Theil. E ere -434XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtrelative Fertigkeiten angenommen hat, und nun alſo in einer oder der andern Richtung etwan nicht mehr mit der Maͤchtigkeit wirket, wie vorher, deswegen ſchon im Ganzen abgenommen haben muͤſſe. Jſt die Kraft des Weinſtocks im Ganzen geringer, wenn ſie ſich im Sommer durch Blaͤtter, auch neue Zweige und angeſetzte Trauben verbreitet, als im Fruͤhling, wenn ſie uͤberfließet und den Saft heraustreibet? Dieß al - lein kann es verhindern, daß der gereifte Verſtand nicht ſo ſtark mehr bey einzelnen Sachen ſich beweiſet, die ihm neu ſind, als er ſich dabey bewieſen haben wuͤrde, wenn er weniger in die Menge ſeiner Jdeen - reihen ſich zertheilet haͤtte.

3.

Wenn ein jeder Anwachs der Seele an einer Sei - te ſich uͤber ſie verbreitet, und ihre Kraft auch in an - dern Richtungen rege macht, was wirket ſie denn? Bringet ſie ein neues Vermoͤgen hervor, oder ſtaͤr - ket und erhaͤlt ſie nur das ſchon in der Natur vorhan - dene Vermoͤgen dahin, daß es, ſobald ein guͤnſtiger Umſtand hinzukommt, ſich aͤußern und hervorgehen kann? Das iſt mit andern Worten die Frage, die man in Hinſicht des Koͤrpers mit beſonderm Fleiße un - terſuchet, und in Hinſicht der Seelenentwickelung noch in ihrem ganzen Umfange nicht einmal aufgeworfen hat: ob naͤmlich die Ausbildung der Vermoͤgen eine Evo - lution ſchon vorhandener Naturanlagen, oder eine Epigeneſis ſey, die neue Vermoͤgen hervorbringt, wozu vorher nicht mehr als die Empfaͤnglichkeit ſie an - nehmen zu koͤnnen vorhanden war. Die deutſchen Philoſophen ſind faſt alle Epigeneſiſten bey der Seele, wie die deutſchen Phyſiologen Evolutioniſten bey dem Koͤrper ſind. Hutcheſon, Reid, Beattie, Os - wald, am meiſten aber Home legen viele angeborneGrund -435und Entwickelung des Menſchen. Grundgefuͤhle dem Menſchen bey. Außer dem Ge - fuͤhl des Schoͤnen und des Haͤßlichen, des Rechten und Unrechten, des Lobenswuͤrdigen und des Tadel - haften, findet Oswald noch ein Gefuͤhl vom Daſeyn Gottes in ihm. Man kann diejenigen, die ſolche be - ſtimmte Gefuͤhle annehmen, als Vertheidiger der phy - ſiologiſchen Evolution anſehen. Denn nach ihrer Vorſtellung muͤſſen die Anlagen zu den verſchiedenen Arten der Empfindſamkeit oder der Thaͤtigkeit von Natur, ihren Anfaͤngen nach im Kleinen, in der See - le ſchon neben einander enthalten ſeyn, wie nach der Jdee des Herrn Bonnets, in dem befruchteten Ey und in dem keimenden Samen die Kanaͤle und Gefaͤße des ganzen Koͤrpers, ihrer Form und den Anlagen nach gehoͤlet ſind. Und wie nach eben dieſem Evolu - tionsſyſtem die Ausbildung des Koͤrpers nichts anders iſt, als eine Vergroͤßerung in der Laͤnge, Breite und Dicke, eine Ausdehnung und Vermehrung der Maſſe, ohne daß neue Formen hinzukommen, davon nicht die Grundzuͤge vorher da ſind: ſo ſind es auch nach jenen Begriffen die Arten der Thaͤtigkeit, die Gefuͤhle, und die dazu gehoͤrigen Vermoͤgen in der Seele. Es iſt eine Folge aus dieſem Syſtem, daß, wenn die Ge - ſchichte des Menſchen uns lehret, es mangele einigen Jndividuen an beſondern ſinnlichen und moraliſchen Gefuͤhlen, welche doch bey andern ſind, wie ſie es von ganzen Voͤlkern lehret und bey unſern Kindern uns taͤglich beobachten laͤßt, die Urſache davon dieſe ſey, daß die natuͤrlichen ſchwachen Anlagen unentwickelt ge - blieben, durch Hinderniſſe |zuruͤckgehalten, oder durch die ſtaͤrkeren Gefuͤhle anderer Beduͤrfniſſe unterdruͤ - cket worden ſind. Nur die Gefuͤhle ſelbſt muͤſſen von Natur allen Menſchen gemein ſeyn, ohne daß die naͤ - hern Vermoͤgen dazu, als neue Vermoͤgen, in der Ent - wickelung hinzugekommen waͤren. Wenn man hie -E e 2bey436XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtbey ſo weit auf die beſondern Gefuͤhle herunter geht, als Home es gethan hat, ſo muß man auch wohl ge - ſtehen, daß es wenige oder gar kein Jndividuum ge - be, bey dem nicht irgend Eines oder das andere von den feinern Gefuͤhlen zuruͤckbliebe, das doch bey an - dern ſich ſtark entwickelt.

4.

Nach der Hypotheſe des Herrn Bonnets von der Natur unſers Seelenweſens hat jeder ſaͤmmtliche Ein - druck von den einzelnen Gegenſtaͤnden ſeine eigene Fi - ber, die ihn aufnimmt und eine materielle Vorſtel - lung davon in ſich behaͤlt, und nur allein das Affici - rende bey jeder Vorſtellung hat ſeinen Grund in der Art und Weiſe, in der Staͤrke und Schwaͤche, wie die Fiber von dem Eindruck geruͤhrt wird. Der Grund, warum die hellrothe Farbe angenehm iſt, liegt darinnen, weil die Fiber, welche die rothen Strahlen aufnimmt, eine Modifikabilitaͤt beſitzet, auf eine ſchickliche Art von ihnen ſinnlich erſchuͤttert zu werden. Eine andre Fiber iſt die, welche eine ſolche Anlage in Hinſicht einer andern Farbe hat. Auf gleiche Weiſe verhaͤlt ſichs bey den Toͤnen. Die Diſ - poſition einer Fiber iſt der Grund von dem Gefallen an den Toͤnen der Trompete; die Diſpoſition einer an - dern die Urſache von dem Gefallen an dem Schall der Trommel und ſo ferner. So viele angenehme und widrige Empfindungen, ſo viele Fibern, auf deren Anlagen die Diſpoſitionen beruhen, von dieſen Ge - genſtaͤnden afficirt zu werden. Es iſt alſo die Zahl der Empfindniſſe in der Seele, als Anlagen und Ver - moͤgen betrachtet, ſo groß, als die Zahl der afficirenden Vorſtellungen ſelbſt. Nun iſt ferner nach dem Evo - lutionsſyſtem eben dieſes Philoſophen, jede Fiber im Kleinen ſchon in dem erſten Keim des Menſchen ent -halten,437und Entwickelung des Menſchen. halten, und alſo noch mehr in dem Koͤrper des gebor - nen Kindes. Zu welcher unendlichen Anzahl ange - borner unterſchiedener Gefuͤhle fuͤhret dieſe Vorausſe - tzung nicht; da ſo gar die bloße Verſchiedenheit der Ob - jekte ſchon eigene unterſchiedene angeborne Gefuͤhlsver - moͤgen erfodert? *)Dreyzehnter Verſuch VII. 5.

Es koͤnnen zwar, ich rede nach dieſer Hypotheſe, mehrere Gefuͤhle, am erſten ſolche, bey denen kein anderer Unterſchied als blos in den Gegenſtaͤnden be - merklich iſt, z. B. das Gefuͤhl der Muſik und das Gefallen an hellen glaͤnzenden Sachen, das man bey allen Nationen ohne Ausnahme antrifft, in Ein allge - meines Vermoͤgen aufgeloͤſet werden. Dieß einzige Vermoͤgen iſt dann dasjenige, was an allen dieſen Empfindungen nur auf verſchiedene Objekte, auch et - wa durch unterſchiedene Organe und in unterſchiedenen Richtungen, ſich verſchiedentlich aͤußert. Aber iſt eine ſolche Reduktion etwas anders als eine Abſtraktion, da man das Aehnliche mehrerer einzelner Vermoͤgen heraus nimmt, und aus dieſen ein beſonderes Ver - moͤgen bildet? Macht die aͤhnliche Beſchaffenheit mehrerer Fibern Eine Fiber aus? Wenn die naͤmliche Fiber das rothe Licht und das Blaue aufnaͤhme, und aus derſelbigen Urſache von dieſer und von jener Far - be gefaͤllig modificirt wuͤrde: ſo wuͤrde man ſagen koͤn - nen, es ſey Ein und daſſelbige Vermoͤgen, das in beiden Empfindungen ſich zeiget, ſo oder anders, nach dem Unterſchiede der Objekte. Allein ſo verhaͤlt es ſich nicht bey jener Vorausſetzung. Das Gemeinſchaft - liche in den Gefuͤhlen iſt nicht die Quelle von allen be - ſondern Gefuͤhlen, die aus jenen entſpringen, und die - ſe letztern ſind ſo wenig Verlaͤngerungen von jenen, alsE e 3eine438XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤteine Fiber, die neben der andern lieget, dieſelbige verlaͤngerte Fiber iſt.

Jndeſſen faͤllt darum das Reſultat aus der Aufloͤ - ſung der Vermoͤgen, worinnen ihre Aeußerungen auf einige wenige allgemeine Grundkraͤfte gebracht werden, nicht weg. Alles, was die Seele leidet und thut, kann zuletzt im Fuͤhlen, Vorſtellen, Denken und Wol - len beſtehen; alle ihre Vermoͤgen koͤnnen nichts an - ders, als nur in Hinſicht der Richtungen, die daſſel - bige Grundprincip nimmt, und in Hinſicht der Gegen - ſtaͤnde verſchieden ſeyn, und, dieſen Unterſchied abge - rechnet, der Form und Wirkungsart nach dieſelben ſeyn. So viel will jene Reduktion nur ſagen. Aber mehr auch nicht. Sie kann eine andre Frage nicht entſcheiden, die, wenn man gleich die blos objektivi - ſche Verſchiedenheit bey Seite ſetzet, noch uͤbrig iſt. Wohin ſoll man die Verſchiedenheit in den Richtun - gen und Seiten bringen, an welchen die uͤberall ein - foͤrmig wirkende Kraft hervorgehet? Jſt das Vermoͤ - gen, nach einer Richtung zu wirken, nicht eben ſowohl eine eigene Anlage fuͤr ſich, als jeder Kanal oder jede Fiber, wodurch dieſe Richtung beſtimmt wird, ein eigener Kanal oder eine eigene Fiber iſt? Jſt jene nicht ein eigener Grundzug in der Seele? Wenn es den Otaheitern von Natur an dem Zuge fehlet, der zu dem Gefuͤhl der Schamhaftigkeit bey gewiſſen na - tuͤrlichen Handlungen gehoͤrt, ſo werden ſie bey aller Aufklaͤrung, die ihnen beygebracht werden moͤchte, und bey aller Verfeinerung des Gefuͤhls, ſo wenig von dieſer Schamloſigkeit befreyet werden, als ein Blinder ſehend wird, wenn er an ſeinen uͤbrigen Sin - nen und am Verſtande ſchon ein Saunderſon wuͤrde.

5. Bey439und Entwickelung des Menſchen.

5.

Bey allem dem, was von einigeu deutſchen Philo - ſophen gegen die angebornen Gefuͤhle mit vieler Scharfſinnigkeit erinnert worden iſt, hat dennoch dieſe Sache in ihrem Jnnern viele Dunkelheiten; und ich halte die voͤllige Entſcheidung daruͤber, ob und wie weit zu einem beſondern Gefuͤhle etwas eigenes in der Anlage der Natur nothwendig erfodert werde, in manchen Faͤllen fuͤr ſehr ſchwer, und in einigen iſt ſie vielleicht gar nicht zu finden. Soll aber uͤberhaupt zwiſchen den Vermoͤgen in der entwickelten Mannes - ſeele, und zwiſchen den erſten Anlagen in der Kindes - ſeele, eine Vergleichung angeſtellet und dann beſtimmt werden, ob jene aus dieſen, als aus Anfangslinien, nur entwickelt, oder auf ſie als hinzugekommene Ver - moͤgen gewachſen ſind: ſo entſtehet eine Unterſuchung, die von eben dem Umfang iſt, und auch vielleicht eben ſo viel vorher erfodert, um ſich von beyden Sei - ten recht zu verſtehen, als der Streit uͤber die ver - ſchiedenen Syſteme bey der Generation des Koͤrpers. Am Ende kann bey der Seele hieruͤber ſchwerlich et - was anders ausgemacht werden, als durch die Analo - gie von der Entwickelungsart des Koͤrpers. Jm All - gemeinen wird man dieſe Schwierigkeit begreifen, wenn man auf die Gruͤnde, deren ſich die Vertheidi - ger der beſondern Gefuͤhle bedienen, und auf die Art, wie ſie dieß thun, zuruͤckſiehet. Man unterſcheide, was die Beobachtung fuͤr ſich lehret, und was aus der Analyſe der Seelenvermoͤgen geſchloſſen wird. Wenn die letztere als dunkel und unerwieſen von den Verthei - digern der angebornen Gefuͤhle bey der Entſcheidung nicht zugelaſſen wird, ſo laſſen ſich die bloßen Erfah - rungen, die ihnen entgegenſtehen, auf eine aͤhnliche Art erklaͤren, wie Herr Bonnet die EinwendungenE e 4gegen440XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtgegen das Evolutionsſyſtem bey den Koͤrpern zu heben ſucht. Giebt es Gefuͤhle, von denen wir keine Spur in den Kindern antreffen, die doch durch den Unterricht in ihnen entſtehen, wie z. B. unſere jungen Kinder ſo ſchamlos ſind, als die Weiber auf Otaheite: ſo wer - den ſie ſagen, daß das Gefuͤhl deswegen doch ſeinen erſten, aber auch unſichtbaren, Anlagen nach vorhanden ſey, wie die zarten Gefaͤße des Thiers in dem Ey, die nicht eher in die Augen fallen, als bis die Entwickelung zu einem gewiſſen Grade gekommen iſt. Wenn die Erfahrung zeiget, daß es auch erwachſene Menſchen giebt, bey de - nen dieſes oder jenes leidende oder thaͤtige Vermoͤgen der Seele zuruͤckgeblieben iſt, weil es ihnen an gewiſſen Vorſtellungen oder Jdeenverknuͤpfungen fehlt, die an - dere bekommen haben, ſo iſt wiederum die Antwort bey der Hand: nicht an den beſondern Anlagen der Natur, die hiezu gehoͤren, habe es gemangelt, ſondern an der noͤthigen Nahrung, wodurch die Anlagen haͤtten entwi - ckelt werden muͤſſen, die in den Jdeenverknuͤpfungen enthalten ſind. Denn dieſe und alle uͤbrige Eindruͤcke, die von außen kommen, moͤgen immer das ſeyn, was die unentbehrliche Nahrung bey dem Koͤrper iſt, ohne welche er nicht waͤchſet; und dennoch folget nicht, daß irgend eine neue Form in dem Jnnern der Seele durch ſie erzeuget werden koͤnne, die nicht ſchon in der Natur im Kleinen vorhanden war. Vielleicht entſcheidet die pſychologiſche Analyſe der Vermoͤgen beſſer? Mit der Erfahrung verbunden wuͤrde ſie ohne Zweifel entſchei - den, wenn ſie nur tief genug in das Jnnere eindringen, und vollſtaͤndig deutliche Begriffe von dem, was das Eigene dieſer oder jener Vermoͤgen ausmacht, geben koͤnnte. Das Gefuͤhl des Guten, des Schoͤnen, des Anſtaͤndigen iſt doch nichts, ſagt man, als das allge - meine Gefuͤhl der Luſt und des Schmerzens; und ihr Eigenes haͤngt nur davon ab, daß das Grundgefuͤhldurch441und Entwickelung des Menſchen. durch gewiſſe Jdeenaſſociationen auf diejenige Art von Veraͤnderungen, und auf die Seite von ihnen geleitet werde, die in den beſondern Gefuͤhlen die Gegenſtaͤnde des Vermoͤgens ſind. Aber, kann man antworten, iſt nicht auch das Vermoͤgen zu ſehen, daſſelbige Empfin - dungsvermoͤgen, womit wir hoͤren, nur auf die Eindruͤ - cke des Lichts auf die Augen angewendet? Und wuͤrden wir uns nicht deswegen doch irren, wenn wir ſchließen wollten, ein Weſen, welches fuͤhlen kann, braucht wei - ter nichts als den Eindruͤcken des Lichts ausgeſetzet zu ſeyn, um zu ſehen, ohne eine eigene Anlage ſeiner Na - tur mehr zu haben? Laß Adam im Paradies ohnge - fehr ſo raiſonnirt haben, als ihn Buͤffon raiſonniren laͤßt; laß ihn, ohne noch ſich ſelbſt von ſeinen Kraͤften zu unterſcheiden und die verſchiedenen Organe zu kennen, ſeine innere menſchliche Empfindungen verglichen, auf - geloͤſet und zergliedert haben: wird er nicht glauben muͤſ - ſen, wenn er den Baum ſiehet und den Geſang eines Vogels hoͤret, daß dieſe Veraͤnderungen nur darinn un - terſchieden ſind, daß verſchiedene aͤußere Urſachen auf ihn wirken? Daß, um dieſe zween Eindruͤcke zu em - pfangen, verſchiedene Einrichtungen in ihm, an ver - ſchiedenen Seiten, als ſo viele beſondere Gaͤnge zu ſei - nem Jnnern erfodert werden, wird er vielleicht ſo wenig vermuthen, als er darauf verfallen kann, daß um eine Roſe und eine Nelke zu riechen zwo verſchiedene Fi - bern in feiner Naſe noͤthig ſind, wie Hr. Bonnet be - hauptet. Man ſieht die Anwendung leicht. Moͤchte nicht etwan jede der auch nahe verwandten Gefuͤhlsarten ihre beſondere Einrichtung in der Seele, an unterſchie - denen Seiten in ihr, erfodern, wodurch allein es moͤg - lich wird ſolche Eindruͤcke, welche die Gegenſtaͤnde die - ſer Gefuͤhle ſind, abgeſondert anzunehmen, oder derje - nigen Jdeenverknuͤpfung faͤhig zu werden, die dazu er - fodert wird? Und wuͤrden denn dieſe beſondern An -E e 5lagen442XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtlagen nicht die beſondern angebornen Gefuͤhle und Vermoͤgen ſeyn? Man mag dieſem Einwurf ſo viel oder ſo wenig Kraft zuſchreiben, als man wolle: ſo ſiehet man doch den Ausweg, durch den der Verthei - diger des pſychologiſchen Evolutionsſyſtems ſich aus dem Gedraͤnge der Beobachtungen und der Zergliederungen der Seele, die man ihm entgegenſtellet, herauswickeln kann.

6.

Aber wenn nun gleich hieruͤber das Wenigſte entſchie - den werden kann, oder nicht anders als aus der Analo - gie mit der Entwickelungsart der koͤrperlichen Vermoͤ - gen, von der es auch noch an einem voͤllig beſtimm - ten Begriffe fehlet: ſo laͤßt ſich doch etwas feſtſetzen, und zwar ſo viel als zu den praktiſchen Folgerungen hin - reichet, um deren willen man die Frage beſonders in Hinſicht der moraliſchen Gefuͤhle: ob Natur oder Erziehung ſie hervorbringe? ſo ſcharf unterſucht hat. Denn

1) lehret die Erfahrung ſo viel: worinn auch das angeborne Gefuͤhl der Schoͤnheit, der Tugend und des Anſtandes beſtehen mag, ſo kann ſolches doch nicht zu ſolchen Naturanlagen gerechnet werden, die ſich von ſelbſt unter allen Umſtaͤnden entwickeln, wo ſich nur die Menſchheit entwickelt. Die Anlagen zu dem Kopf und zu den Fuͤßen des Menſchen in dem Embryon ſind Anlagen, die nicht zuruͤckgehalten werden koͤnnen, wenn nicht die ganze Entwickelung zuruͤckbleiben ſoll. Und ſo verhaͤlt es ſich im Durchſchnitt bey den Anlagen zu den gewoͤhnlichen Sinngliedern, obgleich in Hinſicht dieſer letztern die Ausnahmen ſchon haͤufiger ſind. Aber der Menſchenfreſſer und der Otaheite, und ſo viele an - dere uns bekannt gewordene Voͤlker, ja wir duͤrfen nicht ſo weit gehen, da wir unſere eigene Kinder vor Augenhaben,443und Entwickelung des Menſchen. haben, lehren es ſehr deutlich, daß eine Menge von Begierden und Abneigungen, die wir der Natur zu - ſchreiben, ihr nicht in der Maße zugehoͤre, daß ſie ſol - che hervortreiben muͤßte, wenn nicht Jnſtruktion und Anfuͤhrung hinzukaͤme. Die letztere iſt zum mindeſten von einem ſo wichtigen Einfluß, daß ohne ſie das na - tuͤrliche Gefuͤhl ſich nicht offenbaret, aber durch ſie her - vorgezogen wird, woferne nicht Urſachen dagegen wir - ken, die ſich in den meiſten Faͤllen entdecken laſſen. Al - ſo iſt die bildende Kraft der Eindruͤcke, die hinzukom - men, ſo maͤchtig, und das, was ohne ſie in der Natur vorhanden iſt, ſo unwirkſam, daß wir nicht einmal aus - machen koͤnnen, ob das letztere etwas mehr als die bloße Moͤglichkeit anzunehmen, bloße Empfaͤnglichkeit, oder ob es ſchon ein beſtimmter Trieb in der Natur ſey nach einer Seite hin hervorzugehen? Und da nun uͤberdieß der Urſprung unſerer moraliſchen Gefuͤhle allein aus dem allgemeinen Gefuͤhl, und aus den Jdeen und Jdeen - verknuͤpfungen, die der Seele zugefuͤhret werden, er - klaͤret werden kann, ſo weit wir ſie entwickeln koͤnnen, wie die Philoſophen in ihren Unterſuchungen daruͤber be - wieſen haben; ſo iſt man, wenigſtens in der Anwendung, befugt, die angebornen Anlagen wegzulaſſen. Man kann ſich vergewiſſern, daß ſolche in jedem vollſtaͤndig organiſirten Menſchen vorhanden ſind, in der Maße, wie ſie ſich als Naturtriebe beweiſen. Die Erziehung und Anfuͤhrung iſt es aber, welche dem Menſchen in Hinſicht ſeiner moraliſchen Gefuͤhle ſeine Form giebet. Der Abſcheu vor Menſchen - und Pferdefleiſch iſt eben ſo wenig natuͤrlich bey uns, als der Abſcheu vor dem Och - ſenfleiſch bey den Banianen.

2) Es giebt ſo viele beſondere, nur relative Ver - moͤgen, deren Eigenheit von den Jdeen der Gegenſtaͤn - de abhaͤnget, und bey denen es alſo ſo unwahrſcheinlich iſt, daß diejenigen, welche ſolche nicht erlangen, ihrernicht444XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtnicht empfaͤnglich ſeyn ſollten, als es iſt, daß einem Men - ſchen mit geſunden Augen der Sinn fehlen ſollte fuͤr ſicht - bare Sachen, die ihm niemals vorkommen. Der Fiſcher auf Nordſeeland, der nicht den geringſten neubegierigen Blick auf die vor ihm vorbeyfahrenden Englaͤnder warf, die ihm freylich neu genug ſeyn mußten, hat doch wohl einen Sinn dazu gehabt ſie anzugaffen, und das Uner - wartete dieſes Anblicks zu fuͤhlen, ſo gut wie ſeine Lan - desleute. Solche Vermoͤgen und Fertigkeiten alſo, de - ren Eigenes blos objektiviſch iſt, koͤnnen ſchlechthin nicht als beſondere Naturvermoͤgen angefuͤhret werden, zu - mal wenn um die dazu gehoͤrigen Objekte zu faſſen, nur eben ſolche Sinne erfodert werden, als alle andere Men - ſchen beſitzen. Der Neuſeelaͤnder, der Wurfſpieße, Kaͤhne und Schnitzwerk verfertigen kann, hat auch das Vermoͤgen, ein englaͤndiſcher Schifszimmermann, Buͤchſenmeiſter und ein Bildhauer zu werden. Es iſt daſſelbige Vermoͤgen, was jenen und dieſen macht, wie das Ueberlegungsvermoͤgen, das ein Schachſpieler uͤbet, dieſelbige Faͤhigkeit iſt, womit die Geometrie erlernet wird.

3) Aus der Geſchichte der Menſchheit kann es als entſchieden angeſehen werden, daß die obige erſte An - merkung auf alle beſondre Arten der menſchlichen Ver - moͤgen, ſogar auf die Vernunftfaͤhigkeit, ausgedehnet werden muͤſſe. Jſt naͤmlich von ſolchen Anlagen in der Natur die Rede, die bey allen moͤglichen Verſchieden - heiten der aͤußern Umſtaͤnde ſich entwickeln, wo der Menſch mit ſeinen gewoͤhnlichen Sinngliedern aufwaͤch - ſet: ſo lehren die Beyſpiele von den außer der Geſell - ſchaft verwilderten Jndividuen, daß auch ſogar die Denkkraft zuruͤckbleiben kann, und daß nur allein das Gefuͤhl und die vorſtellende Kraft in der Seele ſo be - ſtimmt ſind, wie die Anfangspunkte zum Kopf und zu den Gliedern in dem Embryon, ſo ſtark treibende Keimenaͤmlich,445und Entwickelung des Menſchen. naͤmlich, daß ſie ſchlechthin hervorgehen, wo der allge - meine Entwickelungstrieh ſeine Wirkung hat. Noch beduͤrfen ſie die Eindruͤcke von außen, wie eines Nah - rungsſaftes. Aber jedwede Nahrung, welche nur uͤber - haupt die Natur entwickelt, iſt zugleich auch fuͤr ſie eine ſchickliche Nahrung.

Jndeſſen ſind wir durch nichts berechtiget, daraus, daß es an ſo ſtarken Anlagen zu den beſondern Thaͤtig - keitsarten in der Natur mangelt, den Schluß zu ziehen, daß in Hinſicht dieſer gar nichts mehr als bloße Recep - tivitaͤten vorhanden ſind. Der Sprung von ſich ſelbſt hervordraͤngenden Trieben bis zur bloßen Moͤg - lichkeit, ſich auf gewiſſe Weiſe formen zu laſſen, iſt zu groß, und hat unendliche Zwiſchenſtufen. Und hiebey ſcheinen die Erfahrungen von einigen Genies es doch zum mindeſten wahrſcheinlich, wenn nicht voͤllig gewiß, zu machen, daß wir in Hinſicht einiger Arten zu fuͤh - len, zu denken, zu handeln, in der angebornen Natur gewiſſe Diſpoſitionen annehmen muͤſſen, die naͤhere Anlagen genannt werden koͤnnen, ob ſie gleich zu ihrer Entwickelung, wenn dieſe merkbar ſeyn ſoll, beſonderer Eindruͤcke von außen beduͤrfen. Fontaine hoͤrte eine Fabel vorleſen, und ward ein Fabeldichter. Dieß wuͤr - de er ſo wenig durch dieſe Empfindung des Gehoͤrs ge - worden ſeyn, als Vaucanſon durch das Anſchauen einer Uhr ein Mechanicker, und als irgend ein anderes Genie bloß durch ein Muſter, das ihm vorkommt. Jn dem Jnnern muß der Zunder ſchon gelegen haben, der durch dieſe Funken von außen in Feuer gerieth.

Ueberhaupt muß es wiederholet werden, daß unſe - re Jdee von der Grundkraft der Seele, als von einer ſelbſtthaͤtigen Kraft zu fuͤhlen, nichts als ein allge - meiner Begrif ſey, der das individuelle Seelenweſen bey weitem nicht in ſeiner ganzen Beſtimmung darſtellet. Jede Seele iſt, ſo wie der Menſch geboren iſt, manmag446XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtmag bloß die Organiſation, oder die einfache Subſtanz mit ihrem Organ zuſammendenken, oder jeden Theil beſonders nehmen, ein vollſtaͤndig beſtimmtes wirkli - ches Weſen; und ſeine Kraft zu fuͤhlen und Vorſtellun - gen zu machen, zu denken, zu handeln iſt desgleichen, und in Hinſicht aller ihrer Beſchaffenheiten, die ſie haben kann, durchgaͤngig beſtimmt. Sie iſt nicht bloß Kraft uͤberhaupt zu fuͤhlen, ſondern Kraft auf dieſe oder jene individuelle Art zu fuͤhlen, das iſt mit andern Wor - ten, ſie hat eine Anlage zu dieſen beſondern Arten des Gefuͤhls. So hat ſie eine unendliche Menge von An - lagen an allen ihren Seiten, und, ſo zu ſagen, in allen ihren Punkten, die, wenn ſie mit einander verglichen werden, alle zuſammen Anlagen zum Fuͤhlen und zur Wirkſamkeit in dem Koͤrper, aber doch unter ſich von einander verſchieden ſind, davon jede ihr eigenes hat, und jede der Art und den Graden nach, mehr oder min - der, ſtaͤrker oder ſchwaͤcher, beſtimmt iſt, und daher auch ſchwerer oder leichter zuruͤckgehalten, unterdruͤcket, veraͤndert werden kann. Hierauf ſind die bloßen Moͤglichkeiten gegruͤndet, die nur als Vermoͤgen in actu primo, in potentia remota, remotiori, propiori und ſo weiter, nach der Sprache der Alten, oder als Moͤglichkeiten, oder Receptivitaͤten anzuſehen ſind. Dieß iſt die beſtimmte richtige Jdee von der wirklichen Natur, worauf Erfahrung und Vernunft hinfuͤhren.

Wenn nun dieſer Saame aufkeimet und hervor - waͤchſet: welche von ihren Vermoͤgen und Fertigkeiten ſind denn als Entwickelungen der vorhandenen An - lagen zu betrachten, und welche ſind fuͤr neu aufge - wachſene oder hinzugekommene zu halten? Zu den letztern kann man wohl nicht mehr rechnen, als ſol - che, in deren Hinſicht in der Natur nichts als bloße Empfaͤnglichkeit vorhanden war; zu jenen aber ſol - che, in deren Hinſicht beſtimmtere Anlagen da ſind,die447und Entwickelung des Menſchen. die, vergroͤßert, die aufgewachſenen Vermoͤgen ausma - chen. Aber welche von den beſondern Vermoͤgen der Menſchheit gehoͤren zu jener, welche zu dieſer Klaſſe? Das iſt, wie weit war Anlage dazu in der Natur vor - handen, oder wie weit bloße Moͤglichkeit? Und wenn die Anlage ſchwach iſt, wie weit kann ſie heruntergeſe - tzet werden, um in eine bloße Moͤglichkeit uͤberzugehen? Und wie weit kann bey einem Jndividuum Anlage ſeyn, was bey dem andern dieſen Namen nicht verdienet?

Jch muß mich ſehr irren, oder es fehlet an der Auf - raͤumung dieſer Begriffe, wenn man noch in der allge - meinen Vorſtellungsart von der Bildung und dem Aus - wachſen der organiſirten Weſen ſo weit von einander ab - gehet, als es in dem Syſtem der Epigeneſis und der Evolution geſchieht, da man ſich doch von beiden Sei - ten die Beobachtungen einraͤumt, wovon der allgemeine Begrif abſtrahirt werden ſoll. Dazu kommt, daß un - entwickelte und nicht voͤllig beſtimmte Begriffe Mißver - ſtaͤndniſſe veranlaſſen, und dann nebenher auch falſche Zuſaͤtze, die in dem bloßen Erfahrungsbegriffe nicht lie - gen, ſondern durch Folgerungen aus der Metapher des Ausdruckes damit verbunden ſind, welches deſto leichter geſchieht, je mehr die nur einſeitige Vorſtellung fuͤr eine vollſtaͤndige gehalten wird. Solche Nebenideen, einmal fuͤr nothwendige Folgen angenommen, verwi - ckeln die Vernunft in neue Schwierigkeiten. Hievon, deucht mich, finden ſich viele Spuren bey dem bonneti - ſchen Entwickelungsſyſtem; und ich haͤtte mir es allein darum erlaubt, uͤber dieſe Hypotheſe einige Anmerkun - gen anzufuͤhren, wenn auch die Jdee von der Entwi - ckelung unſers Koͤrpers weniger mit der Jdee, die man ſich von der Entwickelung der Seele zu machen hat, in Verbindung ſtuͤnde, als ſie wirklich ſtehet. Es laͤßt ſich etwas Aufhellung in dieſer von jener erwarten.

Zwee -448XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

Zweeter Abſchnitt. Von der Entwickelung des menſchlichen Koͤrpers.

I. Vorerinnerung.

Wieferne die Bildung organiſirter Koͤrper unaus - forſchlich iſt? Abſicht der gegenwaͤrtigen Be - trachtung.

1.

Ehe ich mich in dieſe Betrachtung uͤber die Entwicke - lung des Koͤrpers einlaſſe, muß ich zweyerley vor - her erinnern.

Jch habe die Schwierigkeiten gefuͤhlt, welche bey einer Unterſuchung vorkommen, wo auf Einer Seite von Haller und Bonnet den ganzen Umfang der bisher bekanntgewordenen Erfahrungen vor Augen ver - glichen, und nach der reifſten Ueberlegung urtheilten, es ſey der Begrif von einer Entwickelung, der das Verfahren der Natur darſtelle, und wo auf der andern Seite Wolf,*)Theoria generationis. der ſo tief in die Natur der Generation eindringet, daß es Muͤhe koſtet ihm nachzukommen, eben dieſelbigen Fakta vor Augen hat, und dennoch den Ausſpruch thut, es ſey nicht die Evolution, ſondern der Begrif von der Epigeneſis, die richtige Vorſtellung. Andere große Maͤnner, Buffon, Needham, haben ſich nicht ganz zu der einen noch zu der andern Parthey geſellet, ſondern ſich ſelbſt eine eigene Jdee davon ab - ſtrahirt. Jch will von der Autoritaͤt anderer, die ſich entweder fuͤr das eine oder das andere Syſtem erklaͤren, nichts ſagen. Wo ſolche Maͤnner ſchon erkannt haben und unter ſich uneinig ſind, da wird man doch nicht vermu -then,449und Entwickelung des Menſchen. then, wenigſtens habe ich es nicht vermuthet, daß die Sache leicht zu entſcheiden ſey. Meine Behutſamkeit, welche eine Folge von dieſer Ueberzeugung war, iſt noch dadurch vergroͤßert, daß ich nicht nach eigenen Beobach - tungen urtheilen kann. Jch habe die Gelegenheit nicht gehabt, in die innere Werkſtatt der ſich entwickelnden Natur hineinzuſehen, noch weniger Verſuche zu machen und die Wirkungen derſelben zu zergliedern, ſondern die - ſe hoͤchſtens nur von der Außenſeite etwas beobachten koͤnnen. Das Selbſtſehen hat große Vortheile. Es enthaͤlt immer einige, wenn gleich nicht allemal deutli - che Winke fuͤr die Urtheilskraft, die dem entgehen, der nur aus fremden Zeugniſſen die Fakta kennet, und nach den von andern aufgenommenen Protokollen urtheilen ſoll. Jndeſſen habe ich mich damit getroͤſtet, daß der Philoſoph, der uͤber die Geſchichte der Menſchheit denket, ſich die meiſtenmale in aͤhnlichen Umſtaͤnden befindet. Und dazu kommt, daß die Autopſie, ſo wie ſie auf einer Seite vieles voraus hat um dem Verſtande auf das rech - te Gleis zu helfen, auf der andern durch ihre Lebhaftig - keit oft hinderlich wird, alle Seiten der Sache zugleich zu faſſen und in ſich gegenwaͤrtig zu erhalten. Jch muß es geſchehen laſſen, wenn man mich dieſes Man - gels wegen fuͤr keinen gebuͤhrenden Richter erkennet: aber fuͤr mich ſelbſt geſtehe ich, daß ich dadurch zwar aͤußerſt behutſam aber nicht furchtſam gemacht ſey.

Das zweyte, was ich vorher zu ſagen habe, iſt, daß man ſich beſtaͤndig an den Zweck erinnere, den man ha - ben kann, wenn man uͤber die Natur der Bildung und der Entwickelung nachforſchet. Dieſe Wirkung der Natur, iſt von einer Seite betrachtet, was das Beſondere betrift, unerforſchlich und ein Geheimniß, und wird es vielleicht auch immer bleiben. Ein Haller ſiehet etwas mehr, naͤher, deutlicher als ein anderer; aber hat der große Mann irgend die Entſtehung auch nur ei -II Theil. F fnes450XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtnes Theils an unſerm Koͤrper, nur der Haare, der Naͤ - gel, ſo deutlich gemacht, daß wir ihm nicht mit ſeinen ei - genen Worten zurufen koͤnnten:

Jns Jnnre der Natur dringt kein erſchaffner Geiſt,
Zu gluͤcklich, wenn er nur die aͤußre Schale weiß!

Wenn Hr. Bonnet ſelbſt ſo oft dieſelbige Erinne - rung einſchaͤrfet, und dennoch es weitlaͤuftig zu behau - pten ſucht, daß alle Erzeugung nur eine Entwickelung des vorhandenen Keims ſey: ſo muß er unter dieſer letztern etwas geſucht haben, das ſich entdecken laͤßt, wenn auch das Geheimniß der Erzeugung nicht enthuͤllet wird. Es iſt naͤmlich nur um einen allgemeinen Begriff zu thun, um einen allgemeinen Begriff von der Art, wie die Na - tur bey den organiſirten Koͤrpern fortgehet, wenn ſie ſol - che aus dem Keim hervorzieht und in ihrer ſichtbaren Groͤße darſtellet? Was ſind das fuͤr Weſen, fuͤr Kraͤf - te in dem Keim? Welche Wirkungsgeſetze befolgen ſie? Nach welchen Richtungen, und auf welche Weiſe wirken ſie, im Anfange und in jedem andern Moment des Wachſens? Wer kennt ſie dazu genug, um weiter et - was ſagen zu koͤnnen, als daß es dergleichen wirklich gebe, die zuſammengenommen den organiſirten Keim ausmachen? Die innern Theile deſſelben ſind uns ſo wenig bekannt, daß wir nur allein aus der Verſchieden - heit eines Menſchen und eines Pferdes ſchließen, daß auch der befruchtete und ſich entwickelnde Keim zu bei - den unterſchieden ſey, ohne beſtimmter in den Keimen ſelbſt dieſe Unterſchiede angeben zu koͤnnen. Nicht davon iſt die Rede, wie in dem Ey die Subſtanzen, die ſol - ches ausmachen, auf einander wirken, ihren Kraͤften und Lagen gemaͤß, wenn das Huhn entwickelt wird; wer kann ſolche angeben? ſondern nur davon, inwiefern ſie, was ſie auch ſind, da ſind, und wieferne ſie in der Lage bey einander ſind, welche dieſe auch ſey, die eineBezie -451und Entwickelung des Menſchen. Beziehung auf die Lage der groͤßern Theile in dem ent - wickelten Huhn hat? Die Urſachen in dem Keim moͤ - gen unbekannt ſeyn, ihre Wirkungen desgleichen, wie ihre Wirkungsgeſetze: aber in welcher Beziehung ſtehen jene innern Urſachen der Bildung auf die Bildung, welche hervorgebracht wird? Wir wollen uns gerne mit einer allgemeinen Jdee von der Organiſation, von der Erzeugung, dem Wachsthum und der Fortpflanzung behelfen, ohne das Beſondere zu ergruͤnden. Man darf kein Uhrmacher ſeyn, und kann doch einen Begriff von dem Mechanismus haben, wenn dieß gleich noch der beſondere Begriff von dem Me - chanismus einer Uhr nicht iſt. Nur die Außenlinien von dem Plan der Natur ſollen gezogen werden. Macht die Natur, wenn ſie organiſirte Weſen hervorbringet, neue organiſirte Theile, durch eine Zuſammenſetzung aus einer Materie, die nicht organiſirt war; mittelſt eines vorhandenen organiſirten Koͤrpers, der die Form hergab, oder ohne dieſen? oder entſtehen nirgends neue organiſirte Maſſen; ſondern ſind ſolche, welche zu ent - ſtehen ſcheinen, nichts anders als dieſelbigen, die ſchon im Kleinen und unſichtbar vorhanden waren, und die nur verlaͤngert, verdickt, verfeſtiget, ſichtbar geworden ſind? Wenn aus dem Saamen eine Pflanze, und in dieſer wiederum ein neuer Saamen erzeuget wird, iſt denn dieſer letztere Saamen von neuem gemacht worden? oder war er ein Theil des erſten Keims, der vergroͤßert und hervorgezogen nun den neuen Saamen ausmacht, in welchem aͤhnliche Theile eingewickelt liegen, die auf eine aͤhnliche Weiſe entwickelt werden? Oder wie ge - ſchieht es ſonſten, daß organiſirte Weſen ihres Gleichen hervorbringen? Dieß iſt es nur, was man zu erken - nen ſucht. Es iſt die Beziehung, welche die Keime zu den entwickelten Koͤrpern haben, ob und in wie weit die letztern den erſtern aͤhnlich oder unaͤhnlich ſind, oderF f 2 wie452XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt wie weit die Bildung und Form in dieſen von der Or - ganiſation in jenen abhange? Dieß Allgemeine ſoll wenigſtens hier mein Ziel ſeyn, da ich das Naͤhere, ſowohl was die Ordnung der Theile betrift, die ſich ent - wickeln, als auch die Art und Weiſe, wie ſie aus ihren Anlagen hervorgehen, den großen Maͤnnern uͤberlaſſe, die ſich mehr mit dem innern Bau der organiſirten We - ſen bekannt zu machen Gelegenheit gehabt haben.

II. Von dem Princip der Bildung in organiſirten Koͤrpern und von Keimen.

  • 1) Allgemeiner Grundſatz.
  • 2) Verſchiedene Perioden in der Entwickelung organiſirter Weſen.
  • 3) Die vornehmſte bildende Urſache bey den organiſirten Weſen liegt in dem Keim. Be - griff vom Keim nach dem Hr. Bonnet.
  • 4) Begriff vom Keim nach dem Hr. Wolf.
  • 5) Erinnerung uͤber die weſentlichen Bildungs - gruͤnde nach dem Hr. Wolf.
  • 6) Von Modellen, Patronen, Formen in dem buͤffoniſchen Syſtem. Von unvollſtaͤndi - gen Keimen.
  • 7) Von der organiſchen Konkretion.
  • 8) Von der generatione æquivoca, wie weit ſolche unvernuͤnftig iſt.
  • 9) Von den unorganiſchen Konkretionen und der Bildung uͤberhaupt.

1.

Es ſind zween Grundſaͤtze, von welchen alle Neuern, die uͤber die Generation der organiſirten Weſen philo - ſophirt haben, ausgegangen ſind; diejenigen naͤm -lich,453und Entwickelung des Menſchen. lich, die ſich nicht geradezu auf eine bildende Naturkraft berufen, von der ſie weiter nichts wiſſen, als daß ſie bilde, ohne auch nur das Gering - ſte von der Art dieſer Bildung daraus erklaͤren zu koͤnnen.

Der erſte von dieſen Grundſaͤtzen iſt das Axiom des Verſtandes, daß ohne Grund und Urſache Nichts entſtehet. Denn wenn dieſes Princip auf die organi - ſchen Koͤrper angewendet wird, ſo heißt es ſo viel: der Saame, der befeuchtete Keim und die Nahrung, die ihm nach und nach zugefuͤhrt, an den beſtimmten Ort und auf die beſtimmte Weiſe zugeſuͤhrt und mit ihm vereiniget wird; oder, wenn wirs unter dieſe zwey Stuͤ - cke bringen, der Keim nach ſeinen innerlichen und aͤußerlichen Beſchaffenheiten, und das, was zu ihm hinzukommt, enthaͤlt zuſammen den voͤllig hinrei - chenden Grund von der Entwickelung, und be - ſtimmt die innere Form, Groͤße und Bildung des Koͤrpers, der erzeuget wird.

2.

Die ganze Geſchichte der Entwickelung eines or - ganiſirten Weſens kann in drey Perioden getheilt werden. Die erſte geht bis auf die Keimung, den Anfang der Entwickelung des befruchteten Saamens. Wie wird der Keim gebildet, und wie wird er be - fruchtet? Die zwote faßt die Erzeugung und Bildung in ſich, in welcher die Form des Dinges nach ſeinen unveraͤnderlichen Theilen feſtgeſetzet und kennbar feſtgeſetzet wird, ſo daß es die verlangte Ge - ſtalt in der ganzen Folge ſeines Daſeyns beybehaͤlt; ſo weit wenigſtens, daß die weitere Entwickelung nur eine Vergroͤßerung iſt. Dieß iſt bey dem Men - ſchen und dem Huhn die embryoniſche Periode, bis zur Geburt. Auf dieſe folget die dritte Periode desF f 3Aus -454XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtAuswachſens, welche ihren naͤchſten Abſatz da hat, wo in dem organiſirten Weſen wiederum reife Saamen und Keime zu ſeines Gleichen geformet ſind, und von hier an ſich bis ans Ende des Lebens erſtrecket.

Dieſe Abtheilung wuͤrde vielleicht weniger zweck - maͤßig ſeyn, wenn von den Jnſekten, Polypen und vielen Pflanzenarten die Rede iſt. Sie iſt zunaͤchſt nur bey den Menſchen und den Thieren zu gebrauchen. Gleichwohl enthaͤlt ſie ſo viel Allgemeines, als ihre jetzige Abſicht erfodert, naͤmlich die Schritte in dem Fortgange der Bildung zu unterſcheiden, deren einzelne Betrachtung uns am leichteſten zu dem Allgemeinbe - griffe von der organiſchen Entwickelung fuͤhren kann. Dieſe Perioden hangen ohne dieß genau aneinander, und machen eine Reihe von Begebenheiten aus, die in einander fließen, und bey aller ſcheinbaren Verſchie - denheit, die wir in der Art des Fortgangs anzutreffen glauben, dennoch ſo ſehr einander aͤhnlich ſind, daß, wenn man die Art der Entwickelung in Einer derſelben voͤllig und deutlich faſſet, allein ſchon die Analogie es wahrſcheinlich machen wuͤrde, daß ſolche dem Weſent - lichen nach ebendieſelbige in allen uͤbrigen ſey. Aber zu - gleich kann die ſcheinbare Verſchiedenheit, welche man, von außen die Sache betrachtet, zwiſchen der erſten Zubereitung des Keims, zwiſchen der Erzeugung oder Bildung und zwiſchen dem Auswachſen gewahr wird, auch ſchon auf die Vermuthung fuͤhren, daß in der, dem Weſentlichen nach, ſich immer gleichen Wirkungs - art der Natur eine Verſchiedenheit an Graden und Stufen vorkommen muͤſſe, und daß hierinn wohl die Urſache zu der Verſchiedenheit ſeyn koͤnne, die man aͤußerlich gewahr nimmt.

3.

Der zweete allgemeine Grundſatz, den ſowohl Hr. Wolf als Hr. Bonnet einraͤumet, ſo ſehr verſchie -dener455und Entwickelung des Menſchen. dener Meinung ſie auch ſind, wenn ſie ihn naͤher be - ſtimmen, iſt dieſer: Ein organiſirtes Weſen entſte - het aus einem Keim. Und ein Keim iſt, nach ei - nem allgemeinen Begriffe, der ſich mit der Epigene - ſis ſo gut wie mit der Evolution vertraͤgt, ſo ein Koͤrper, worinn das bildende Princip, das iſt, der Grund der nachſolgenden Bildung, ganz oder doch vornehmlich enthalten iſt, und der zugleich ſelbſt zu der Subſtanz des organiſirten Weſens gehoͤret, das aus ihm entwickelt wird. Es iſt nothwendig, auf die Beſtandtheile dieſes Begriffs zu achten, wenn man ſelbſt Misverſtaͤndniſſe vermeiden und es bey andern ſehen will, wie weit ſolche bey ihren Streitig - keiten Einfluß haben.

Herr Bonnet hat ſich daruͤber mehrmalen er - klaͤrt: der Keim, ſagt man, (dieß ſind ſeine eigenen Worte) iſt der Grundriß und das Modell von dem organiſirten Koͤrper. Ein Begriff, der nicht ge - nau genug kann beſtimmet werden. Entweder muß man es auf ſich nehmen, die Bildung der Organen mechaniſch zu erklaͤren, welches uͤber die Kraͤfte der geſunden Philoſophie gehet; oder man muß anneh - men, es enthalte der Keim ſchon wirklich im Klei - nen alle weſentlichen Theile der Pflanze oder |des Thiers in ſich, das er vorſtellet. *)Ueber die organiſirten Koͤrper, I. Theil, Art. 35.

Nach dieſer Erklaͤrung legte Herr Bonnet keine andern Theile der Pflanze und des Thiers in den Keim, als nur die weſentlichen, das iſt, nach ſei - nen uͤbrigen Erlaͤuterungen, diejenigen, wovon die Form, die Art der Zuſammenſetzung und Verbindung in der organiſirten Materie abhaͤngt. Er nennt dieſe Verbindungsarten Formen, Maſchen, vergleichet ſie mit dem Aufzug eines gewebten Zeuges; die Nahrungstheile, welche hinzukommen, machen dieF f 4Ma -456XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtMaterie aus, fuͤllen die Maſchen aus, und ſind das, was der Einſchlag bey dem Weber iſt. *)Ebendaſelbſt, Art. 14. 83.Der Keim iſt organiſirt und enthaͤlt alle Formen des ganzen organiſirten Koͤrpers in ſich. Die Nahrung formet nicht. Die Theile, welche hervorgehen, haben zwar Verhaͤltniſſe und Beziehungen gegen einander, die in ſo weit von der Maſſe oder von der Anhaͤufung der Materie abhangen, wodurch Groͤße, Feſtigkeit und Figur beſtimmt wird, als es dabey auf die Groͤße der Theile ankommt; aber wenn man abſondert, was eigentlich Verhaͤltniſſe der Maſſen ſind, ſo muß in Hinſicht aller uͤbrigen Beziehungen der Keim den Grund zu ihnen enthalten, und in deſſen Elementen eine verhaͤltnißmaͤßige Verſchiedenheit liegen, welche in den Verhaͤltniſſen der entwickelten Theile nur ſichtbar wird und hervorgeht.

Herr Bonnet will dennoch nicht, daß man ſich im Keime den Abriß des Thiers oder der Pflanze im Kleinen vorſtellen ſolle. Er erklaͤrt dieſe Jdee fuͤr unrichtig, und laͤugnet, daß er dieß habe ſa - gen wollen. Seine letztere Erklaͤrung von einem Keim, die er in der Vorrede zu ſeinem vortrefflichen Buch uͤber die organiſirten Koͤrper gegeben hat, be - ſtimmet nichts weiter, als daß der Grund der Bil - dung voͤllig in dem Keim liege, oder daß die Bil - dung des Ganzen ſchon in der Bildung des Keims enthalten ſey. Durch den Keim , ſagt er, verſtehe ich jegliche Vorherverordnung, jegliche Vorherbil - dung der Theile, die durch ſich ſelbſt vermoͤgend iſt, das Daſeyn einer Pflanze oder eines Thieres zu be - ſtimmen. Jch behaupte aber deßhalb nicht, daß die Knoͤpfchen an den Ausſchoͤßlingen der Armpoly - pen ſchon an ſich ſelbſt Polypen im Kleinen, und unter der Haut der Mutter verſteckt ſind, ſondern daß457und Entwickelung des Menſchen. daß darinn gewiſſe ſolchergeſtalt praͤorganiſirte Par - tikeln vorhanden ſind, aus deren Entwickelung ein Polyp entſtehen kann.

Aber wie? wenn die ganze Form des entwickelten Koͤrpers ſchon in dem Keim enthalten iſt; wenn die Entwickelung nichts anders als eine Erweiterung, eine Ausdehnung der Fibern iſt, die ſchon da ſind, nur ei - ne Vergroͤßerung derſelben durch die Nahrung, die die Maſſe vermehret, ohne neue Formen hineinzubringen: warum ſollte man denn nach dieſer Vorſtellungsart nicht berechtigt ſeyn zu ſagen, der Keim enthielte das ganze Thier und die ganze Pflanze mit ihren Theilen im Kleinen in ſich?

Die Antwort gab Herr Bonnet dadurch:*)Ueber die organiſirten Koͤrper, I Th. Art. 36, 37. Jn - dem die Theile vergroͤßert werden, bekommen ſie Ver - haͤltniſſe ihrer Groͤße nach, die ſie vorher nicht hatten. Die Ausfuͤllung von der Nahrung geht nicht in allen Maſchen oder Formen in gleichem Verhaͤltniß vor ſich; einige werden mehr, andre weniger am Umfang und an Soliditaͤt vergroͤßert. Der Grund hiezu liegt zwar in ihnen ſelbſt, aber doch auch in dem Ueberfluß oder in dem Mangel der Saͤfte, die ſich fuͤr ſolche Maſchen ſchicken; einige davon koͤnnen ſich ſo zuſammenziehen, daß ſie ſich zu verlieren ſcheinen. Nun entſteht zwar das ausgebildete Weſen durch die bloße Vergroͤße - rung der Formen in dem Keim, und jeder Theil in jenem hat ſeinen Anfangspunkt und ſeine erſte An - lage in dem Keim; allein da doch die Verhaͤltniſſe der Theile ihren Groͤßen nach ſich aͤndern, ſo konnte man darum das Thier im Kleinen in dem Keim nicht ſu - chen, weil dieſer Ausdruck nicht nur die Anfaͤnge der Theile, ſondern auch daſſelbige Verhaͤltniß der Groͤße und Geſtalt zwiſchen den Anfaͤngen und zwiſchen den Theilen ſelbſt zu enthalten ſcheinet.

F f 5Herr458XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

Herr Bonnet hat ſich nirgend auf eine deut - liche Auseinanderſetzung der Begriffe von Form, Aus - dehnung und Vergroͤßerung eingelaſſen, noch darauf wie die Ausdehnung ohne Vermehrung der Formen, das iſt, wie ſeine Evolution von einer Ausdehnung mit Vermehrung der Formen unterſchieden ſey. Was ſind weſentliche Theile einer Pflanze und eines Thiers? Wie unterſcheidet man dieſe von dem, was bloße Maſſe und Groͤße iſt? Dieſe Fragen hat er nir - gends beantwortet; und es iſt auch darum ſchon kein Wunder, daß in dem allgemeinen Begriffe von ſeiner Entwickelung ſo viele dunkle Stellen bleiben mußten, die doch in den Folgerungen aus ſeiner Hypotheſe uͤberſehen wurden.

So viel iſt indeſſen gewiß, daß das Eigene dieſer Hypotheſe nicht ſowohl darauf beruhet, daß der Grund der Ausbildung allein in dem Keim liege, als auf dem Grundſatz, daß alle Formen in dem Keim ſchon enthalten ſind, und alſo alles, was zur Bildung des Thiers und der Pflanze gehoͤret, nur das ausgenom - men, was von der Menge der Materie und den außern Umſtaͤnden abhaͤngt. Dieſe beiden Saͤtze ſind nicht ſo deutlich unterſchieden worden, als es geſchehen muß Der Saame des Eſels iſt eine mitwirkende Urſache von der Geſtalt des Mauleſels. Daher erhaͤlt er auch einen Grund der Bildung. Aber was er dazu bey - traͤgt, beſtehet nicht darinnen, daß er neue Formen hervorbringet, ſondern darinn, daß er die vorhande - nen Formen oder Maſchen auf eine andre Art und in einem andern Verhaͤltniſſe ausbildet, als der Saame von dem Hengſte es gethan haben wuͤrde. Jn dem Keime ſind alle Formen vorhanden, und auch ſelbſt die Beziehung, in der ſie ausgebildet werden, hat groͤßtentheils ihren Grund in dem Keim. Dennoch iſt dieſe Beziehung nicht ſo voͤllig in und durch denKeim459und Entwickelung des Menſchen. Keim beſtimmt, daß nicht die hinzukommende Mate - rie, je nachdem ſie mehr oder weniger fuͤr beſondere Formen ſich ſchickende Partikeln enthaͤlt, daran etwas abaͤndern koͤnnte.

4.

Herr Wolf legt gleichfalls in die Keime der Pflanzen und der Thiere die weſentliche Kraft, wel - che zwar nicht allein aber doch einen Theil des weſent - lichen Princips der Vegetation und der Ausbildung des organiſirten Koͤrpers ausmacht. Die weſentli - che Kraft (vis eſſentialis) iſt die unbekannte, dem Saamen, dem Ey, aus jeder erſten Anlage des Thiers und der Pflanze beywohnende Kraft die Nahrungs - ſaͤfte anzunehmen, zu ſammlen und durch die Theile und Partikeln des Keims gehoͤrig zu verbreiten, hie und da in dem Jnnern deſſelben abzuſetzen und heraus - zutreiben. *)Theoria Generat. edit. nov. 1774. §. I. 241, 243. ſqq.

Alſo iſt auch hier in dem Keim ein weſentlicher Bildungsgrund; nur daß dieſer es nicht allein iſt, der die ganze Bildung beſtimmt. Denn es iſt ein zweytes weſentliches Princip in der Gerinnbarkeit (Solide - ſcibilitaͤt) der Saͤfte, die im Anfang fluͤſſig ſind, aber leichter oder ſchwerer, geſchwinder oder langſamer, mehr und weniger, gerinnen, ſich verdicken und ver - feſtigen. Dieſe beiden Stuͤcke, die weſentliche Kraft in dem Keim und die Solideſcibilitaͤt in den Saͤften, nennet Herr Wolf die weſentlichen Bildungsgruͤnde, und ſieht ſie als die erſtern Ur - gruͤnde an, die den zureichenden Grund der erfolgen - den Bildungen enthalten ſollen. Hiezu kommen nun noch andere Gruͤnde, welche er acceſſoria nennet. Die Waͤrme und die Luft, welche von auſſen wirken,ſieht460XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtſieht er als einen zufaͤlligen aͤußerlichen Grund an (ac - ceſſorium accidentale;) die Struktur der Gefaͤße, die blaſenartige Struktur derſelben in den Pflanzen, und der Mechanismus des reizbaren Herzens und der Puls - adern, mit der davon abhangenden Bewegung der fluͤſ - ſigen Theile in den Thieren, wird als ein hinzukom - mender doch weſentlicher Bildungsgrund betrach - tet. Aber ſo weſentlich dieſer letztere auch iſt, ſo ſoll ſolcher doch ſelbſt nichts weiter als eine Folge von jenen erſtern ſeyn. Denn die weſentliche Kraft in dem Keim und die Beſchaffenheit der Saͤfte, die ihm zugefuͤhret werden, machen die beſtimmende Grundkraft aus, wo - von in den Pflanzen das blaſige Weſen, und in den Thieren der erſte Mechanismus hervorgebracht wird.

5.

Ueber die Ordnung der Bildungsgruͤnde, die Hr. Wolf hier annimmt, laͤßt ſich, wie ich meine, eine wohlgegruͤndete Erinnerung machen, ehe man ſich auf die Beobachtungen einlaſſen darf, da die Sache noch mehr und faſt allein auf Raiſonnement beruhet. Es mag die Beſchaffenheit der Nahrungsſaͤfte ſo vieles von dem geſammten Bildungsgrunde ausmachen, und ſo vielen Einfluß in die Form des zu bildenden Koͤrpers haben, als man wolle: ſo iſt es doch nicht nur natuͤrli - cher ſich vorzuſtellen, daß die ſchickliche Vertheilung der Saͤfte von einer vorherbeſtimmten Struktur des Keims abhange, als die erſte Struktur von der Ver - theilung der Saͤfte herzuleiten; ſondern es iſt jenes auch nothwendig. Die Beobachtungen, ſo ferne ſie etwas entſcheiden, ſind fuͤr das erſtere, und die Vernunftgruͤn - de ſind ganz dafuͤr; dafuͤr naͤmlich, daß die Vorherbil - dung des Keims, das iſt eine gewiſſe Organiſation in demſelben, oder eine Lage ſeiner Theile unter einander derGrund461und Entwickelung des Menſchen. Grund ſey, warum die Saͤfte ſo und nicht anders ver - theilet werden.

Hr. Wolf haͤlt die weſentliche Kraft und die Be - ſchaffenheit der Saͤfte fuͤr den zureichenden Grund der Bildung und glaubt, daß auch die erſte Anlage zur Organiſation eine Wirkung ſey, die davon abhaͤnge, daß Saͤfte, die in einem gewiſſen Grade gerinnbar ſind, von einem Wachstriebe bearbeitet werden, der einen ge - wiſſen Grad der Staͤrke und des Anhaltens beſitzet. Allein hierinn ſcheinet der forſchende Mann ſich offenbar geirret zu haben. Nicht zu ſagen, daß ſelbſt die ver - ſchiedenen Grade in der weſentlichen Kraft ſich von neuem auf eine gewiſſe Verbindung der Partikeln in der Maſ - ſe, der ſie beywohnet, beziehen muͤſſen, ſo bald man ſich einen verſtaͤndlichen Begriff davon machen will: ſo iſt auch die angegebene Urſache zu unbeſtimmt, in Hinſicht auf ihre Wirkung, die ſie hervorbringen ſoll. Hr. Wolf*)§. 93. haͤlt das Problem fuͤr aufloͤslich: Aus der gegebenen Groͤße oder Staͤrke der vertheilenden und treibenden Kraft in einer Pflanze, und aus dem gege - benen Grade der Gerinnbarkeit in den Saͤften, die Figur der Pflanzen zu beſtimmen. Allein, genauer betrachtet, kann keine beſtimmte Aufloͤſung auf dieſe Art erwartet werden, da die data unzureichend und zu unbe - ſtimmt ſind. Denn wenn man ſelbſt die von ihm ſo ſcharf beobachteten Beyſpiele der Vegetation des weißen Kohls und der Blaͤtter der Kaſtanie anſieht: ſo zeiget ſich ja ſogleich bey dem Anfange der Vegetation eine Verſchie - denheit in der Struktur des neuen Anwuchſes, in den Richtungen, welche die aus dem Vegetationspunkte her - vordringenden Saͤfte nehmen, und in der Lage, die ſie bekommen, wenn ſie gerinnen. Beides ſetzet nothwen - dig eine eigene Beſchaffenheit und Lage der Partikeln gegen einander auf der Flaͤche voraus, wo ſie hervor -dringen.462XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtdringen. Wenn der Wachstrieb in einem Keim zwey - mal ſo groß iſt als in einem andern: ſo begreife ich, wie dieſelbigen Saͤfte zweymal ſo ſtark und auch weiter herausgetrieben werden, ehe ſie zur Gerinnung gelan - gen; und wiederum, wenn die Saͤfte in dem einen ſchwerer zu bewegen ſind und doppelt ſo leicht gerinnen: ſo begreife ich, wie bey einem gleich großen Triebe in der Lebenskraft dennoch die Pflanze mehr in der Dicke als in der Laͤnge wachſen muͤſſe; und endlich, wenn bei - de, die Kraft und die Gerinnbarkeit der Saͤfte, ver - ſchieden ſind, wie davon nothwendig ein geſchwinderes oder langſameres Wachſen, entweder mehr in der Weite als in der Laͤnge, oder umgekehrt, abhange, und alſo auch Mannichfaltigkeiten in der Form der hervorgetrie - benen Theile erzeuget werden koͤnnen und muͤſſen. So weit hat Hr. Wolf, aus dieſen beiden Stuͤcken, viele Verſchiedenheiten in den Figuren der Pflanzen ganz wohl begreiflich gemacht. Denn wie ſollte ſich nicht aus ſolchen zween wichtigen Beſtandtheilen der ganzen zu - reichenden Urſache ſehr vieles in ihrer Wirkung erklaͤ - ren laſſen! Allein, wenn nun die Saͤfte aus dem Ve - getationspunkt in einer Pflanze mehr nach der einen Seite hin, mehr in einer Richtung, als in einer andern hervorgehen, mehr Neigung haben ſich auf dieſe Art zu - ſammenzulegen, als auf eine andere? Woher die - ſes, und warum ſind dieſe Richtungen, die der Wachs - trieb nimmt, nicht bey allen Pflanzen dieſelbigen? Ent - weder iſt davon der Grund in den aͤußern Dingen, die den Keim umgeben, in ſeiner Lage gegen andere Koͤrper, die dem Ergießen der Saͤfte in einer Richtung mehr widerſtehen als in einer andern, wie z. B. die Pflan - zen ſich von den Gegenden abwenden, wo ihnen der freye Zugang der Luft und des Lichts verwehret iſt;*)Bonnet ſur l uſage des feuilles. oder man muß zu der Figur des Vegetationspunktes, aus demder463und Entwickelung des Menſchen. der Saft hervordringet, mit einem Wort, zu einer La - ge der Theile in dem Keim, das iſt, zu einer gewiſſen Vorherbildung im Keim zuruͤckgehen, um den beſtim - menden Grund dieſer verſchiedenen Richtungen aufzufin - den. Zu dem erſtern ſo zufaͤlligen Umſtande wird Hr. Wolf ſeine Zuflucht nicht nehmen, um eine ſo beſtaͤn - dige Beſchaffenheit, als die Figur der Pflanzen und ih - rer Blaͤtter iſt, daraus zu erklaͤren. Wenn das aber nicht angeht, ſo werden wir wiederum zu einer innern Vorherbildung, der Organiſation des Keims gefuͤhret, die eben ſo nothwendig und ſo weſentlich zu dem erſten beſtimmenden Princip der Bildung gerechnet werden muß, als die weſentliche Kraft und die Gerinnbarkeit der Saͤfte.

Jch will nichts von dem Ausſpruch der Beobach - tungen ſagen. Denn es kommt darauf an, was man daraus ſchließet, da ſie uͤber dieſe, nur durch Vernunft zu erforſchende Sache unmittelbar nicht zeugen koͤnnen. So viel iſt indeſſen außer Zweifel, daß ſie alle auf das Reſultat hinfuͤhren, es muͤſſe die Beſchaffenheit und die Menge der Saͤfte die ein organiſirter Koͤrper zu ſeinem Wachſen gebraucht, mehr von ſeiner Struktur und von den ihm beywohnenden Kraͤften abhangen, und durch dieſe zu einer dienlichen Nahrung zubereitet werden, als daß umgekehrt die Struktur des Koͤrpers von der angemeſſenen Nahrung abhangen ſollte. Verſchiedene Pflanzen ziehen verſchiedene Saͤfte aus einerley Boden und aus einerley Waſſer. Jch ſage damit nicht, daß nicht auch die Beſchaffenheit der Saͤfte die Figur modi - ficire. Dieß geſchieht wirklich, und man kann zugeben, daß, da die erſte Nahrung des Keims ſchon voͤllig zube - reitet in dem Kern des Saamens vorhanden iſt, auch vielleicht die Organiſation des Keims, welche in dem er - ſten Anfange der Vegetation vorhanden iſt, noch nicht ſo ſtark befeſtiget ſey, daß ein roher Saft durch ſie diegehoͤri -464XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtgehoͤrige Zubereitung erlangen koͤnne: doch koͤnnte dieß auch eben ſo wohl an der Schwaͤche der weſentlichen Kraft liegen, als an der Schwaͤche in der Organiſation. Man gebe aber zu, daß allerdings in dem Anfange die zubereiteten Saͤfte mehr auf die erſte Form des Keims wirken, und ihn mehr beſtimmen, als nachher, wenn ſich die Form des Koͤrpers ſchon verfeſtiget hat: dennoch deucht mich, werde man durch keine Gruͤnde dahin kom - men, die ganze Struktur bloß fuͤr eine Wirkung von der Kraft und der Beſchaffenheit der Saͤfte zu halten, woferne nicht ſchon eine beſondere Anlage zu dieſer Struktur vorher da iſt; ſie ſey nun in dem Keim, oder in dem, was wir die erſte Nahrung in dem Kern nen - nen. Daraus haͤtte Hr. Wolf ſchließen ſollen, ent - weder daß außer der weſentlichen Kraft und der Gerinn - barkeit der Saͤfte noch eine gewiſſe Vorherbildung der Partikeln in dem Keim zu dem erſten weſentlichen Bildungsgrunde gehoͤre, oder wenn er nur zween da - von fuͤr die erſten Gruͤnde anerkennen wollte, daß viel - mehr die Beſchaffenheit der Saͤfte als die Anlage zur Struktur fuͤr ein principium acceſſorium zu hal - ten ſey.

6.

Nach dem vorher gegebenen Begriffe von einem Keim, ſoll dieſer ſelbſt ein Beſtandtheil desjenigen Koͤr - pers werden, der durch ſeine Ausbildung hervorgehet. Ein Modell alſo, eine Patrone, oder eine Form, welche zum Grunde lieget, und worinn oder wornach der organiſirte Koͤrper gebildet werden moͤchte, koͤnnte nicht mit dem Namen eines Keims zu dieſem Koͤrper belegt werden. Die Formen des Hr. von Buffon ſind in ſo weit keine Keime. Aber wenn ein gewiſſer Anfangspunkt angenommen wird, der in etwas ſchon vorher gebildet iſt, und in ſo fern Einen von den Gruͤn -den465und Entwickelung des Menſchen. den der nachfolgenden Bildung in ſich haͤlt: ſo kann man ihm den Namen des Keims beylegen, wenn man zwiſchen vollſtaͤndigen und unvollſtaͤndigen Keimen unterſcheiden, und den Begrif von einem Keim auch noch auf dieſe ausdehnen will. Denn wenn dieſer An - fangspunkt, als die Grundanlage des organiſirten Koͤr - pers, nun gleich erſt durch den Zufluß der Saͤfte aus dem organiſchen Koͤrper, wovon jene Anlage ein Theil iſt, ausgebildet werden muß; und wenn dieß auch auf eine ſolche Art vor ſich gehet, als Hr. von Buffon es angegeben hat, naͤmlich daß jedes Glied und jeder Theil des ganzen Koͤrpers etwas von Saͤften und Nahrung nach der Anlage hinſendet, daſelbſt ſeiner eigenen Struk - tur gemaͤß abſetzet, und ſie erſt zu einem vollſtaͤndigen Keim in Hinſicht der nachfolgenden Bildung machen muß: ſo wuͤrde doch die erwehnte erſte Grundanlage, oder der erſte Anfangspunkt, zwo weſentliche Eigenſchaf - ten eines Keims beſitzen. Naͤmlich er wuͤrde ein Prin - cip der Bildung enthalten, wenn gleich nicht das vor - nehmſte, und noch weniger das vollſtaͤndige, und auch ſelbſt zu der Subſtanz des aus ihm entwickelten Koͤrpers gehoͤren. Solche Keime kann man fuͤglich unvoll - ſtaͤndige Keime nennen. Das Evolutionsſyſtem ſchlieſ - ſet alle unvollſtaͤndige Keime und alle Modelle, die nichts mehr als dieß ſind, aus. Wenn jedwede Bil - dung eine Entwickelung der in der Anlage ſchon vorhan - denen Formen iſt: ſo muß auch jeder organiſirte Koͤr - per, der entſtehet, einen Keim haben, in welchem der voͤllig beſtimmende Grund der Bildung enthalten iſt. Dieß ſind aber weder die Modelle, noch die un - vollſtaͤndigen Keime. Allein was die einzelnen Erklaͤ - rungen betrift, die Hr. Bonnet aus ſeiner Evolutions - hypotheſe, von den Pfropfreiſern in den Pflanzen und Thieren, von dem Zuſammenwachſen des Sporns mit dem Hahnenkamm und von einigen thieriſchen Erzeu -II Theil. G ggungen466XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtgungen gegeben hat: ſo iſt es eine andere Frage, ob ſolche ſich mit der Hypotheſe von unvollſtaͤndigen Keimen nicht vereinigen ließen? ob Hr. Bonnet das, was die Natur hier wirket, und was er richtig bemerkt und rich - tig beſchrieben hat, auch ſo richtig auf ſeine Jdee von der Evolution aus einem vollſtaͤndigen Keim bezogen, und uͤberall eine gleichartige Entwickelung gefunden ha - be? und ob nicht dieſe Phaͤnomene auf die Jdee von unvollſtaͤndigen Keimen oder bloßen Modellen zuruͤckfuͤhren? Davon unten mehr. Die Faͤlle, wo un - vollſtaͤndige Keime vorkommen, moͤgen vielleicht in der Natur wirklich vorhanden ſeyn.

7.

Wenn ein organiſcher Koͤrper auf eine aͤhnliche Art durch eine organiſche Konkretion entſtehen koͤnnte, wie die Kryſtallen der Salze, der philoſophiſche Baum und andere Bildungen im Mineralreich: ſo wuͤrden die obigen Begriffe von Keimen, wie die von Modellen und Patronen, hiebey wegfallen. Wenigſtens wuͤrden die Keime nicht nothwendig ſeyn, ob man ſie gleich noch gewiſſermaßen damit verbinden koͤnnte. Nach der buf - foniſchen Hypotheſe von der Erzeugung der Keime ſoll nach der Stelle hin, wo die Erzeugung geſchieht, eine Wirkung von allen weſentlichen Theilen des ganzen or - ganiſirten Koͤrpers ſich ergießen, ſo daß jedes Glied et - was ſich auf ſeine Struktur beziehendes dahin ſchicke und ablege. Hieraus ſoll eine Zuſammenſetzung entſte - hen, welche der Natur des Ganzen, deſſen Theile in ihrer Lage und Beziehung auf einander dazu ihren Bey - trag liefern, angemeſſen und alſo ein Extrakt der gan - zen Organiſation iſt. Man kann es eine organiſche Abformung nennen, weil das, was gebildet wird, da es ein auf alle weſentliche Theile des bildenden Koͤr - pers ſich beziehender Extrakt deſſelben iſt, auch eine Artvon467und Entwickelung des Menſchen. von Abbildung deſſelben ausmacht. Auch Hr. Bon - net ſtellet ſich die Saamenfeuchtigkeit als eine Vermi - ſchung vor, die Theile enthaͤlt, welche ſich auf alle Thei - le des ganzen Koͤrpers beziehen. Jn dieſem Fall wuͤr - de vielleicht nicht einmal eine gewiſſe Form oder Patro - ne, worein dieſer Extrakt eingegoſſen wird, nothwen - dig ſeyn. Nur irgend ein ſchicklicher Ort, der ihn faſ - ſen und erhalten kann, wie es noͤthig iſt um die orga - niſch zuſammengefuͤgten Partikeln nicht aus ihrer Lage kommen zu laſſen, dieß waͤre genug, ohne daß die Struktur dieſes Gefaͤßes zugleich etwas in der Bildung beſtimmte. Die Patrone, worein das ungebildete fluͤſ - ſige Metall gegoſſen wird, beſtimmt die Figur der Sta - tue; aber ein ſchon gebildeter obgleich noch weicher Thon kann in der Luft gedoͤrrt oder im Feuer gebrannt wer - den, ohne daß die ihn umgebenden Koͤrper und die Stelle, wo er hingeſetzet wird, etwas weiter an ſeiner Figur ab - aͤndern. Jn der buffoniſchen Hypotheſe, die ſich hieruͤber nicht deutlich genug erklaͤret, koͤnnte ſo wohl die erwaͤhnte Zuſammenſetzung in der Miſchung der fluͤßigen Saamen, als eine gewiſſe Feſtigkeit in dem Gefaͤße, worinn das Gemiſche entſtehet, erfodert wer - den, weil das letztere fuͤr ſich allein zu fluͤßig iſt, um in ſeiner Verbindung ſich zu erhalten. Hr. Bonnet hat dieſe organiſche Konkretion des Hr. von Buffon mit vielen Gruͤnden beſtritten. Einige davon wuͤrden es nothwendig machen, daß die Hypotheſe noch naͤher beſtimmt werde, wenn ſie bey allen Erzeugungen an - wendbar ſeyn ſollte; und einige beweiſen, daß ſie wahr - ſcheinlich den Fehler habe, den vielleicht die uͤbrigen auch haben, daß ſie naͤmlich zu einſeitig iſt. *)Art. 124. 175.Z. B. woher kommen in der Frucht Theile, die weder bey dem Vater noch bey der Mutter ſind, wie in den BaſtartenG g 2der468XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtder Bienen? Mich deucht, dieß iſt erklaͤrt, ſobald Hr. von Buffon hinzuſetzet, was ein Vertheidiger ſei - ner Meinung als eine Folge anſehen koͤnnte, die aus ſeinen Grundſaͤtzen von ſelbſt fließet, daß eben dieſe neuen Theile aus einer Verbindung von einem Theile des Va - ters und einem Theile der Mutter entſtehen, welche die - ſen letztern, einzeln genommen, nicht aͤhnlich, ſondern ein mittleres Ganzes ſind, ſo etwas, als die Diagonalbe - wegung in Beziehung auf die Seitenbewegungen iſt, woraus ſie entſtehet.

Doch hierauf will ich mich nicht einlaſſen. Nur ei - nen Vorwurf muß ich beruͤhren, weil der Begriff von der organiſchen Konkretion dadurch aufgeklaͤret wird. Wie kann naͤmlich in die Miſchung der Saa - men, nach der buffoniſchen Jdee, ein Extrakt von einem Theil des Koͤrpers hinkommen, der dem organi - ſirten Ganzen fehlet? Wie kann der Hottentott Kin - der mit zwo Hoden erzeugen? und Eltern, denen Ar - me und Beine fehlen, ein Kind mit vollſtaͤndigen Glied - maßen?

Die Antwort hierauf ergiebet ſich, ſo bald man den Unterſchied zwiſchen dem unmittelbaren und mittel - baren Einfluſſe macht. Jeder Theil im Koͤrper wir - ket auf die Theile zu, die nach dem Mittelpunkt hinge - hen, wo die abgeſonderten und bildenden Saͤfte zuſammen - kommen. Dieſer Mittelpunkt iſt in den Organen der Zeugung. Aber nicht jeder Theil des Koͤrpers wirket auf dieſe Stelle unmittelbar. Jſt alſo die Organiſation in den Zeugungstheilen einmal feſtgeſetzt; laufen die Fibern aus den uͤbrigen Theilen des Koͤrpers auf eine ge - wiſſe Weiſe dahin zuſammen, und fuͤhren ſie in einer ge - wiſſen Richtung die Saͤfte dahin: ſo kann die Lage die - ſer innern unmittelbar bildenden Theile wohl dieſelbige bleiben, wenn gleich ihre aͤußerlichen Enden abgeſchnitten ſind. Fehlet der Fuß: ſo wird dadurch in den Zeu -gungs -469und Entwickelung des Menſchen. gungstheilen keine Veraͤnderung entſtehen, ſo lange die Lage der Gefaͤße von der aͤußerſten Stelle an, wo der Fuß abgenommen iſt, bis in die Zeugungsglieder hin dieſelbe iſt. Wenn nur dieſe letztern innern Theile bey der Zeugung eben ſo mit Saͤften erfuͤllet werden, eben ſo ſich ergießen und wirken wie vorher: ſo wirkt die zunaͤchſt formende Maſchine noch auf dieſelbige Weiſe, wie ſie ſich auf die ganze Struktur des vollſtaͤndigen Koͤrpers bezieht. Hr. Bonnet nennet die Zeugungs - theile Urbilder der vornehmſten Eingeweide des Thiers. *)Art. 90.Dieß koͤnnen ſie nach der buffoniſchen Vorausſetzung ebenfalls ſeyn. Es folget alſo aus dem gedachten Einwurfe, ſo wie aus den bekannten uͤbrigen Erfahrungen, die wir von der Fortpflanzung gewiſſer zufaͤllig entſtandener Beſchaffenheiten haben, nichts mehr als ſo viel, daß eine naͤhere Beſtimmung zu der erwaͤhnten Hypotheſe zugeſetzt werden muͤſſe. Nicht je - der Theil darf nothwendig eine Partikel, die in ihm ſelbſt zubereitet iſt, nach dem Erzeugungsorte hinſenden; es iſt genug, wenn jeder Theil mittelſt anderer Zwiſchen - gefaͤße alſo wirket, daß eine dieſer Wirkung entſpre - chende Partikel nach dem Mittelpunkte geleitet wird. Und wenn nun ein aͤußerer Theil fehlet: ſo kann ſeine Wir - kung wohl durch eine andere Urſache erſetzt werden, die auf die Zeugungstheile auf eine aͤhnliche Weiſe wirket. Mit einem Wort, dieſe Jdee von einer organiſchen Zu - ſammenſetzung iſt, wenn ſie ein Traum iſt, wie Hr. Bonnet ſie nennet,**)Art. 175. ein wohl zuſammenhangender Traum, der die Ueberlegung eines Wachenden erfodert.

8.

Der needhamiſche Begriff von der Erzeugung ent - haͤlt wie der buffoniſche eine organiſche Konkre -G g 3tion. 470XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤttion. Nur wird dieſe ſchon etwas weiter ausgedehnet, oder doch ſo unbeſtimmt vorgetragen, daß hiebey nicht ſo ausdruͤcklich, wie bey der buffoniſchen, eine vorexiſti - rende Organiſation zu der Bildung einer neuen erfodert wird. Jch ſage, nicht ſo deutlich ſey dieſes beſtimmt. Denn Hr. Needham hat ſich wirklich ſo unbeſtimmt ausgedruckt, daß er ſelbſt Schuld daran iſt, wenn man ihm den Vorwurf, die alte verworfene generationem æquivocam wieder einfuͤhren zu wollen, gemacht hat. *)Obſervat. microſcopiques. Wie weit die Meinung des Hrn. Etatsr. Muͤllers uͤber die Entſtehungsart der Jnfuſionsthierchen, in der Vorrede zu der Hiſtoria ver - mium p. 1. ſich dieſer naͤhere oder nicht, will ich hier nicht unterſuchen. Es iſt meine Meinung nicht, ein kritiſches Verzeichniß der verſchiedenen Hypotheſen uͤber die Zeugung zu liefern, ſondern die Reihe der allgemei - nen Vernunftbegriffe vorzulegen, wornach dieſe Mei - nungen uͤberſehen, verglichen, und wenn man die Fak - ta aus der Naturgeſchichte damit verbindet, beurthei - let werden muͤſſen. Denn es wird ſich bald zeigen, daß letzteres faſt allein, etwas weniges ausgenommen, nur mittelſt der Erfahrung geſchehen koͤnne.

Jndeſſen iſt es doch auch vorher auszumachen, was und wie viel in dieſem letztern Vorwurf enthalten ſey? Soll die ungleichartige Erzeugung (generatio æquivoca) eine Erzeugung organiſcher Weſen aus un - organiſirter Materie ſeyn, ohne daß eine vorhergebildete organiſirte Urſache ſolche zuſammenbringe? Sollen Jnſekten aus der Vermoderung entſtehen, das iſt, We - ſen, die organiſirt ſind, zuſammengeſetzt werden aus ei - ner Materie, die es nicht iſt, und die regellos oder doch nicht nach den Geſetzen einer Organiſation beweget wird? Dieß hieße ſo viel als, Ordnung ſoll aus Un - ordnung entſtehen, Regelmaͤßigkeit aus Regelloſigkeit, im Grunde, ein Etwas aus Nichts. Bis ſo weit iſt die ungleichartige Erzeugung ein Unding vor der Ver -nunft.471und Entwickelung des Menſchen. nunft. Denn auch da, wo nur eine Maſchine theil - weiſe aus Stuͤcken, die einzeln fuͤr ſich keine Maſchi - nen ſind, zuſammenkommt, wird doch erfodert, daß die Urſachen, welche die Theile an einander fuͤgen, nach gewiſſen Geſetzen neben und aufeinander wirken, und daß in dieſer Art zu wirken und in ihrer Lage und Ver - bindung ein Grund von der Ordnung in der Wirkung vorhanden ſey. Es mag Eine Menſchenhand die Ma - ſchine verfertigen oder mehrere, ſo muͤſſen in den Be - wegungen, welche dieſe Haͤnde nehmen, und welche zu - ſammen als die naͤchſte vollſtaͤndige Urſache der Zuſam - menfuͤgung der Maſchine zu betrachten ſind, gewiſſe Verhaͤltniſſe und Beziehungen vorkommen, die der La - ge und Ordnung der Theile in der Maſchine entſprechen und eben ſo viele Regelmaͤßigkeit in ſich faſſen, als in der Wirkung enthalten iſt. Organiſation erfodert alſo entweder organiſche Urſachen, oder nach den Geſetzen der Organiſation vereinigt wirkende Urſachen.

Allein bis hieher geht auch nur das Widerſprechen - de in der generatione æquivoca, was ſie ſchlechthin vor der Vernunft verwerflich macht. Die letztere wuͤrde die Grenzen ihrer Gerichtsbarkeit uͤberſchreiten, wenn ſie ſich weiter wagen und wahre moͤgliche Erzeugungs - arten, die dieſer ungereimten vielleicht etwas aͤhnlich ſe - hen koͤnnen, mit ihr verwechſeln und eben ſo beurtheilen wollte. Da wo nur die Frage iſt, ob eine Hypotheſe ein Traum oder eine phyſiſche Wahrheit iſt, eine Vor - ſtellung von der wirklichen Natur oder von bloßen Moͤglichkeiten, da faͤngt die Gerichtsbarkeit der Beob - achtungen an.

Wer eine organiſche Konkretion behauptet, es ſey nun, daß er gewiſſe Modelle oder Formen annimmt, in deren Bildung der Grund von der Art der Zuſam - menfuͤgung lieget; oder ſich als moͤglich vorſtellet, es werde ein ganzer Haufe von Urſachen, deren jede fuͤrG g 4ſich472XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtſich allein wie eine unorganiſche Bewegungskraft han - delt, in einer ſolchen Lage und Ordnung mit einander vereiniget, daß ein Ganzes und ein ſo regelmaͤßiges Ganzes daraus werde, wie die organiſirten Koͤrper ſind, wenn ihre Wirkungen auf einer Stelle als in einem Mit - telpunkt vereiniget werden: wer dieſe Jdee behauptet, ſaget nichts, das fuͤr ſich widerſprechend iſt. Buffons Meinung kann ich keines Widerſpruchs beſchuldigen. Unorganiſch ſind zwar die bewegten Kuͤgelchen, woraus nach ſeiner Jdee das organiſirte Ganze entſtehet; aber die Art ihrer Verbindung iſt organiſch; ſie wird durch das organiſche Modell und die vorhergehenden Formen beſtimmt. Man muß eingeſtehen, das jedes organi - ſirte Weſen zuletzt aus nicht organiſirter Materie beſte - het, wofern man nicht mit der Organiſation, wie mit der Zuſammenſetzung der Materie, ins Unendliche fort - gehen will, wie man ſonſten wohl in einer gewiſſen Hin - ſicht thun koͤnnte. Aber man kommt jederzeit, wenn das Organiſche in das Unorganiſche aufgeloͤſet wird, auf dieſe wichtige Folge zuruͤck, daß nicht mehr in der Wir - kung enthalten ſeyn kann, als in der Urſache, und alſo eine Organiſation in dieſer vorausgeſetzt werde, wo eine ſolche in der Wirkung iſt. Und ſo ſieht man, daß al - lerdings aus eben den Vernunftgruͤnden, wodurch die ungleichartige Erzeugung ein Unding wird, folge, daß jede neue Organiſation in der Natur eine ihr entſpre - chende gleich große Organiſation vorher erfodere, die Faͤlle naͤmlich ausgeſchloſſen, wenn ein verſtaͤndiges Weſen unmittelbar die Materie formen und organiſiren wuͤrde. Es kann ſich aber die vorher vorhandene Orga - niſation in Einem der bildenden Principe allein befin - den, oder in mehrern, oder in allen zuſammen; ſie kann in einem oder in mehrern vorzuͤglich, oder in allen in gleichem Grade verbreitet ſeyn. Nur muß nir - gends Organiſation entſtehen, wo keine vorhanden iſt,und473und Entwickelung des Menſchen. und nicht etwan unkoͤrperliche Weſen nach deutlichen Einſichten oder nach einem dunkeln, in ihren Vorſtel - lungen liegenden Plane, wie Maupertuis ſichs von der Seele vorſtellete, die ihren Koͤrper bilden ſollte, die Organiſation der Materie unmittelbar ertheilen.

9.

Die Bildungen in dem Mineralreich ſind, wie die Zuſammenſetzung bey den kuͤnſtlichen Maſchinen, in ſo weit von den organiſchen Konkretionen unterſchie - den, als ihre Wirkungen, die ſie hervorbringen, das iſt: ſo weit als Salze, Steine, Metalle und Maſchi - nen von organiſirten Koͤrpern es ſind. Gleichwohl giebt es doch einen Allgemeinbegriff von der Bildung und ein allgemeines Geſetz der Bildung, das von ihnen allen abſtrahirt und als die Vorſtellung von dem Gemeinſchaftlichen und Aehnlichen in allen angeſehen werden kann, und durch die naͤhere Beſtimmung deſſen, was dabey auf eine Groͤße und auf eine Vielheit an - kommt, in das beſondere Geſetz der organiſchen Bil - dung uͤbergehet. Wenn man ſich auf eine plaſtiſche Na - tur berief, ſo hieß dieß offenbar nichts mehr, als man gab an, daß eine Urſache der Bildungen in der Natur vorhanden ſey, die man nicht kenne. Was das ſchlimm - ſte war, denn ſonſten wuͤrde dieſe Art zu philoſophiren eben nicht fehlerhaft geweſen ſeyn, man glaubte etwas erklaͤret zu haben und bis auf den erſten Urgrund ge - kommen zu ſeyn, und ſchnitt alles weitere Forſchen nach einer deutlichen Vorſtellung von der Entſtehungsart die - ſer Konkretionen dem Verſtande ab. Dieß hatte die gewoͤhnliche Folge, daß man an einem verwirrten Schein nagte, ohne einmal den Verſuch zu machen ihn aufzuloͤſen, und uͤber ſelbigen und ſeine Beſchaffenheiten raiſonnirte, die nichts objektiviſches und reelles waren, ſondern allein in der Undeutlichkeit des Meteors im Ver -G g 5ſtande474XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtſtande ihren Grund hatten. Die Unwiſſenheit zu ge - ſtehen, wo man nichts weiß, und nicht weiter in die Aufforſchung der erſten Urſachen ſich einzulaſſen, als Erfahrung und Vernunft noch leuchten oder ſchimmern, und gegen Vermuthungen mistrauiſch zu ſeyn, das ſind ſonſten Pflichten eines bedachtſamen Naturforſchers.

Alle dieſe Bildungen ſind Zuſammenfuͤgungen ge - wiſſer Theile zu Einem Ganzen, welche nach gewiſſen Regeln und in einer gewiſſen Ordnung erfolgen. Es iſt ein Princip dieſer Bildung vorhanden, welches in den zuſammengehenden Theilen der Materie und in ihrer Lage gegen einander, die ſie vorher hatten, ehe ſie vereiniget wurden, enthalten war, oder auch weiter zu - ruͤck lag in den Urſachen und Kraͤften, wovon ihre Be - wegungen zu Einer Stelle hin abhangen. Da die Salztheilchen in Kryſtallen anſchießen, wenn das Waſ - ſer, worinn ſie aufgeloͤſt ſind, abdampfet: ſo muß dieß nothwendig in ihren innern Anziehungskraͤften und in der Lage, in der ſie aufgeloͤſet in dem Menſtruum bey einander liegen, ſeinen Grund haben. Jhre Kraͤfte, womit ſie auf einander wirken, ſtehen alſo in ſolchen Stellungen und Beziehungen gegen einander, daß da - rinn der Grund von der Richtung lieget, die ſie bey ih - rer Vereinigung nehmen, das iſt, der Grund von der Art und von der Ordnung, worinn ſie zuſammenkom - men. Hier iſt alſo der geſammte Grund der Bildung zertheilet durch alle Partikeln, die in ihrer Lage bey ein - ander als ein geordnetes Ganzes zu betrachten ſind. Denn aus der Verwirrung als aus einem Chaos die Regelmaͤßigkeit erklaͤren wollen hieße ſo viel, als Et - was aus Nichts begreiflich machen.

Wird nun dieſer Allgemeinbegriff von dem Bil - dungsgrunde naͤher beſtimmt, ſo kann ſolches erſt - lich in Hinſicht der Groͤße der Ordnung und der Regelmaͤßigkeit geſchehen. Jn den organiſchen Koͤr -pern475und Entwickelung des Menſchen. pern iſt die Mannichfaltigkeit der Theile, die verbunden werden, und der Arten, wie ſie es werden, unendlich groß in Vergleichung mit der, die in den Kunſtmaſchinen und in den mineraliſchen Koͤrpern vorkommt; unend - lich groß, wenigſtens in Ruͤckſicht auf unſern Verſtand, der das Verhaͤltniß der Mannichfaltigkeit und Regel - maͤßigkeit, welches in den groͤßten Kunſtwerken des menſchlichen Witzes, ingleichen in den Salzen und mi - neraliſchen Konkretionen vorhanden iſt, zu derjenigen, die in einem einfachen Theil einer Pflanze lieget, nicht ausmeſſen kann. Die Organiſation iſt ein unend - lich zuſammengeſetzter Mechanismus. Allein dieſer Unterſchied, ſo unendlich groß er iſt, kann doch als ein Unterſchied an Groͤße und Vielheit betrachtet werden.

Ferner kann der Allgemeinbegriff der Bildung da - durch naͤher beſtimmt werden, daß eine Ungleichheit zwiſchen den bildenden Urſachen in Ruͤckſicht ihres Bei - trages zu der Form vorhanden iſt. Vielleicht haben alle Salztheilchen in ihrer Lage einen gleichen Antheil an der Figur der Kryſtalle, die aus ihrer Verbindung entſtehen; vielleicht beſtimmt Eins dieſe Figur mehr, als das andere, entweder ſeiner innern Beſchaffenheiten, oder nur ſeiner Lage wegen. Laß Eins von dieſen Thei - len vor den uͤbrigen einen Vorzug als Miturſache ha - ben; laß dieſen Vorzug in dem Jnnern, in den Kraͤf - ten, in der Maſſe, oder in der Verbindung des erſten Grundſtoffs in ihm, oder ſonſten wo, gegruͤndet ſeyn: ſo iſt es ſchon ein vorzuͤgliches Princip der Bil - dung, eine Form oder ein Keim, wenn dieſer Theil zugleich ein Beſtandtheil desjenigen wird, was in der Bildung hervorkommt. Je mehr der Vorzug als Bildungsgrund in einer der zur Bildung beywirkenden Urſachen zunimmt, und je geringer der Antheil iſt, den die uͤbrigen daran haben, deſto mehr paſſet auf jene derBegriff476XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtBegriff von einem Keim. Dieſer Keim iſt ein voll - ſtaͤndiger Keim, und ein Keim zu einem organiſir - ten Koͤrper, wenn der vornehmſte oder voͤllige Grund der Form in ihm iſt, und zwar zu einer Form, welche ſelbſt eine Organiſation iſt. Dieß Verhaͤltniß in den beywirkenden Urſachen hat unendlich viele Grade, wo - von die Stufen in der Stufenleiter der Bildungen ab - hangen. Dieſe Leiter faͤngt von den einfachſten Anzie - hungen an, und geht bis zu der hoͤchſten Evolution nach der bonnetiſchen Vorſtellung hinauf, nach welcher alle Formen des Gebildeten in dem Keime liegen, und alles uͤbrige, was mit dem Keim verbunden wird, nur die Maſſe vergroͤßert, aber nicht die geringſte neue Form hervorbringet.

III. Von den verſchiedenen Arten, wie Formen in or - ganiſirten Koͤrpern entſtehen koͤnnen.

  • 1) Was hier Formen heißen, wenn neue Formen entſtehen? und wenn die ſchon vor - handenen nur veraͤndert werden? Wie die Vergroͤßerung eines organiſirten Koͤrpers ohne Vermehrung ſeiner Formen moͤglich ſey?
  • 2) Das Eigene in der bonnetiſchen Evolution haͤngt von dem Grundſatze ab, daß keine neuen Formen entſtehen, und faͤllt mit dieſem Grundſatze weg.
  • 3) Fortſetzung des Vorhergehenden.
  • 4) Unter welchen Bedingungen mit der Ver - mehrung der Maſſe neue Formen entſtehen muͤſſen.
  • 5) Wenn neue Formen entſtehen koͤnnen, ſogiebt477und Entwickelung des Menſchen. giebt es mehrere Arten, wie ſie entſtehen koͤnnen. Von der Epigeneſis, von der Ap - poſition der Theile, und von der nicht durch - gaͤngigen Evolution. Unterſchied zwiſchen den Perioden der Bildung, des Auswach - ſens und der Fortdauer.

1.

Hr. Bonnet wiederholet es ohne Unterlaß, die Nah - rung forme nicht, vergroͤßere nur, und es entſte - hen keine neuen Formen. Aber was heißt denn for - men, und nur allein formen, und worinn iſt die Form von der Maſſe unterſchieden? Hier iſt ein Punkt der aufzuhellen iſt, und den Hr. Bonnet haͤtte aufhellen ſollen, ehe er allgemeine Folgerungen aus ſei - nem Syſtem zog. Die witzige Vergleichung der Form mit den Maſchen giebt einiges Licht, aber keinen deut - lichen und beſtimmten Begriff von der Sache. Was gehoͤrt zur Form der Knochen, welche ſchon in dem Keim liegen ſollen? was zu ihrer Materie, die durch die Nah - rung hinzukommt? Formt denn nicht der Saame des Eſels den Keim der Stute? Nein, ſagt Hr. Bonnet, die Theilchen in der Saamenfeuchtigkeit des Eſels ent - halten nur mehr von den Elementen, woraus die Ohren beſtehen, als der Saame des Hengſtes. Jn dem Keim der Stute war ſchon die Anlage, oder gleichſam ein Strich zu den Ohren des Pferdes, eine gewiſſe Ma - ſche, die dazu gehoͤrte. Dieſer Strich wird nur ſtaͤrker aufgetragen, wird mehr ausgebildet, bekommt einen hoͤhern Grad des Entwickelungstriebes und mehr Ma - terie. Die Maſche wird ſtaͤrker gedehnet. Es wach - ſen alſo in dem Mauleſel laͤngere Ohren hervor; dage - gen die Maſchen, die zu der Bildung des Schwan - zes gehoͤren, vertrocknen, weil ſie zu wenig gedehnetwerden.478XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtwerden. *)Art. 40.Es liegt zwar in dem Saamen des Eſels der Grund von einer Bildung, die ſonſten bey der Ent - wickelung des Keims nicht entſtanden ſeyn wuͤrde, wenn der Saame des Hengſtes ſtatt ſeiner den Keim befeuchtet haͤtte; aber dieſe abweichende Bildung iſt von der natuͤrlichen nicht der Form nach, ſondern der Groͤße nach, unterſchieden.

Die Form der organiſirten Materie kann nur in der Art und Weiſe, wie die Partikeln mit einander ver - bunden ſind, wie ſie auf einander wirken, wie ſie gegen einander liegen, alſo in ihrer Lage, Ordnung und Ver - knuͤpfung geſucht werden.

Ferner muß jeder Koͤrper zuletzt aus Materie beſte - hen, deren einzelne Partikeln fuͤr ſich betrachtet nichts mehr als Materie ſind, das iſt, ohne Organiſation, als welche nur auf ihrer Verbindung beruhet. Es mag die Materie ins Unendliche theilbar ſeyn, wie ſie es ohne Zweifel in einem gewiſſen Verſtande iſt, wenigſtens in Hinſicht auf unſere menſchliche Faſſungskraft; und es mag alſo auch die Menge ihrer letzten Beſtandtheile groͤßer ſeyn, als wir auf irgend eine Art beſtimmen, oder durch irgend eine Zahl ausdruͤcken koͤnnen, und aus dem naͤmlichen Grunde die Organiſation ſo weit gehen, als man will, und ins Unendliche: ſo muß doch ein organiſirter Koͤrper als ein ſolcher vorgeſtellet wer - den, in welchem einzelne unorganiſche Partikeln auf eine gewiſſe Art mit einander verbunden ſind. Und die be - ſtimmte Art ihrer Verbindung macht ihre Organiſa - tion aus.

Wenn nun die Maſſe oder Materie in einem ſolchen Koͤrper vermehret wird, ſo werden die hinzukommenden Partikeln mit den vorhandenen verbunden; und da die letzten Elemente wenigſtens undurchdringlich ſind, ſomuͤſſen479und Entwickelung des Menſchen. muͤſſen die neuen Partikeln ſich zwiſchen den vorhande - nen anſetzen und alſo die Zwiſchenraͤume zwiſchen jenen einnehmen. Eine Linie, eine Faſer, wir koͤnnen uns die einfachſte, die moͤglich iſt, vorſtellen, wird verlaͤn - gert oder verdicket: ſo iſt es ja nothwendig, daß, wo - ferne dieſe Vergroͤßerung nicht allein an ihrem aͤußern Umfang durch eine aͤußerliche Appoſition der neuen Materie an die vorhandene geſchieht, die neuen Partikeln zwiſchen die Partikeln der vorhandenen Fiber gebracht werden, und daſelbſt die vorhandenen leeren Stellen einnehmen, oder doch, wenn alles dicht bey einander war, ſich zwiſchen ihnen eindraͤngen muͤſſen.

Wenn eine ſolche Faſer nur aus drey unorganiſchen Partikeln beſtehet, aus einem Anfangs - Mittel - und Endpunkte, ſo wird ſie durch die Einverleibung einer oder zwoer Partikeln aus vier oder mehrern beſtehen. Jſt nun hiedurch zugleich eine neue Form entſtanden, da die neue Partikel mit den vorhandenen auf eine ge - wiſſe Art verbunden worden? Auf welche Art kann ei - ne Jntusſuſception geſchehen ſeyn, ohne eine Vermeh - rung der Formen, und wie kann die Veraͤnderung bloß in Ausdehnung und Vergroͤßerung der Maſſe beſtehen?

Dieß wird deutlich, wenn der Begriff von der Form beſtimmt iſt. Jn der Jdee von einer Maſche lieget dieſer Allgemeinbegriff, daß die Form eine ſol - che Art der Verbindung unorganiſcher Materie ſey, welche ein Gefaͤs, oder ein Organon, ein Werkzeug, ein Jnſtrument ausmache, das iſt: ſo ein Ganzes, durch deſſen Zuſammenſetzung und Struktur gewiſſe Arten von Bewegungen moͤglich werden, die es ſonſten nicht ſind.

Die unorganiſchen Partikeln moͤgen immer noch wie Sandkoͤrner, wie Salz, Erd-Waſſer-Luft - und Feuerelemente, aus vielen andern Theilen beſtehen und durch deren Vereinigung ein Ganzes ausmachen:ſo480XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtſo iſt zwar, wo etwas Zuſammengeſetztes iſt, auch eine gewiſſe Art der Zuſammenſetzung; aber wenn dieſe Art der Verbindung nichts mehr iſt, als eine Ver - einigung zu einem Ganzen, zu einem Stuͤck, oder einer Maſſe, die dadurch weder einer andern innern Bewe - gung in ihren Theilen mehr faͤhig wird, als ſie vorher war, noch einer andern aͤußern Bewegung, welche ih - rer Figur wegen ihr beygebracht oder durch die Figur bewirket werden kann: ſo iſt dieſe gleichfoͤrmige Verei - nigung mehrerer Theile zu einem Klumpen nichts, als eine Vergroͤßerung der Maſſe, aber keine Zubereitung des vergroͤßerten Ganzen zu einer neuen Bewegung, die durch ſelbiges moͤglich wird, und es vorher nicht war. Es kann ein vergroͤßertes Ganzes jetzo mit mehr Maſſe wirken, und alſo mehr Quantitaͤt der Bewegung anneh - men; aber es kann keine neuen Bewegungen in andern Richtungen annehmen, als wozu es vorher aufgelegt war. Solche Arten gleichfoͤrmiger Verbindungen der Materie, die nur groͤßere Partikeln ausmachen, ſind keine organiſche Formen; und man nennet ſie auch beſſer bloße Vereinigungen, als Zuſammenſe - tzungen. Organiſche Formen ſind ſolche Verbin - dungsarten der unorganiſchen Partikeln, wodurch Be - wegungen moͤglich werden, die es ſonſten durch die bloße Vereinigung der Materie nicht ſind.

Mehr iſt hier nicht noͤthig, als die Verbindungs - arten, welche eigentlich Formen heißen koͤnnen, von den Verbindungsarten der Materie mit Materie uͤber - haupt zu unterſcheiden, und das Unterſcheidungsmerk - mal feſtzuſetzen. Es iſt alſo unnoͤthig die Entwickelung dieſes Begriffs weiter zu treiben, als dieſe Abſicht es er - fodert. Sonſten weiß ich wohl, wie viel noch zur voͤl - ligen Eroͤrterung deſſelben zu thun iſt. Die Begriffe von dem Mechanismus und von dem Jnſtrument, werden von den Philoſophen ſo verſchiedentlich erklaͤrt,daß481und Entwickelung des Menſchen. daß es dem einen eben ſo leicht iſt zu beweiſen, jeder Koͤrper ſey eine Maſchine, als es dem andern iſt ſol - ches zu laͤugnen. Man nimmt auch nicht allemal auf das Mehr oder Weniger Ruͤckſicht; und was die Haupt - ſache iſt, unterſcheidet nicht genau genug, ob von den wirklichen Koͤrpern in der Welt die Rede iſt, oder von allen Arten derſelben, wovon wir uns in der Metaphy - ſik Begriffe machen. Denn wenn Leibnitz ſagt, daß jeder Koͤrper nicht nur eine Maſchine, ſondern auch ein organiſirtes Ganzes ſey: ſo iſt das eine Behauptung, woruͤber man aus Beobachtungen mehr als aus Be - griffen urtheilen muß. Es genuͤget hier, die Organi - ſation fuͤr einen unendlich zuſammengeſetzten Mechaͤnis - mus zu halten, die das Princip ihrer Bewegungen in ſich hat; und alſo darf auch eine organiſche Form von einer Art der Zuſammenſetzung der Theile in der Maſchine, welche gleichfalls die Wirkung hat, daß da - durch Bewegungen, der Figur der Theile gemaͤß, moͤg - lich werden, welche bloß durch die Maſſe von beiden Theilen es nicht ſind, nicht weiter unterſchieden werden, als daß die organiſche Form ſich beſonders auf den organiſirten Koͤrper beziehe. Die einfachſte organiſche Form wuͤrde nichts mehr ſeyn, als eine einfache mecha - niſche Form.

Dieß vorausgeſetzt iſt es begreiflich, wie ein orga - niſirter Koͤrper mehr Materie in ſich aufnehmen und wachſen koͤnne, ohne daß neue Formen in ihm entſte - hen. Denn wenn die Materie, welche als ſeine Nah - rung hinzukommt, bloß ſeine vorhandenen unorgani - ſchen Theile vergroͤßert, aber ihre Anzahl nicht ver - mehret: ſo koͤnnen auch nicht mehr Formen entſtehen, als ſchon vorhanden ſind. Die einfachſte Elementarfi - ber habe zwiſchen ihren drey Partikeln, woraus ſie beſte - he, zwey Zwiſchenraͤumchen, die als Fugen oder Ma - ſchen anzuſehen ſind, wohin Materie geſetzt werden kann;II Theil. H hund482XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtund ſie laſſe ſich an dieſen zwo Stellen erweitern. Kommt nun eine fremde | Materie dazwiſchen; denn am Ende muß doch das Hinzugekommene ſich zwiſchen den Partikeln ſetzen, die ſchon da ſind wie vorher ſchon erinnert iſt, weil die einfachſten Theile undurchdring - lich ſind: ſo kann daraus in einem Fall weiter nichts entſtehen, als daß jene erſtern drey Partikeln, oder ei - nige von ihnen an Maſſe vergroͤßert werden, wenn ſich die fremde Materie mit ihnen zu groͤßern Beſtandthei - len vereiniget. Jn dieſem Fall wird auch die Zahl der Fugen nicht vermehret; es ſind nur noch zwo vorhan - den, wie vorher, obgleich die einzelnen Theile vergroͤßert worden ſind. Alſo iſt auch die Zahl der Formen noch dieſelbige. Eben ſo kann ſich, nach Hr. Bonnets Aus - druͤcken, fremde Materie in die Maſchen oder Fugen ſetzen, ſolche anfuͤllen, ihre Seiten ausdehnen und das Ganze vergroͤßern, ohne die Zahl der Fugen zu vermeh - ren. Die hineingetretene Materie mag als eine Maſſe angeſehen werden, die von den Fibern der Maſche, wel - che jene umfaſſet, unterſchieden iſt. Allein da ſie doch mit dieſen Fibern, eben ſo wie unter ſich, nur nach den Geſetzen der Kohaͤſion, des Anziehens, der Elaſtici - taͤt und andern, denen die Atome der Materie als Ma - terie unterworfen ſind, verbunden wird; nicht aber auf eine ſolche Art, wie die Fibern der Maſche es unter ſich ſind: ſo bringet jene Materie keine neue Fuge oder Form, ſondern nur eine Vergroͤßerung der vorhandenen Maſche, hervor. Denn die Verbindungsart ihrer Par - tikeln unter ſich und mit den Fibern der Maſche iſt ſo, daß durch dieſe neue Zuſammenſetzung keine neue Be - wegung moͤglich wird, die von der Art und Weiſe der Verbindung abhaͤngt.

Allein es giebt einen zweeten Fall. Nehmen wir wiederum die einfachſte Fiber zum Beyſpiel, die zwi - ſchen ihren Beſtandtheilen a, b, c, zwo Fugen habenmag,483und Entwickelung des Menſchen. mag, welche von fremder Materie ausgefuͤllet werden, ſo daß die Fiber verlaͤngert wird: ſo koͤnnen die fremden Partikeln d, e, die ſich zwiſchen a und b und zwiſchen b und c einſetzen, nicht allein die unorganiſchen Beſtand - theile der Fibern vergroͤßern, ſondern auch die Anzahl ſolcher Theile vermehren, aus deren Verbindungsart or - ganiſche Formen erzeuget werden. Laß d mit den bei - den a und b, wozwiſchen jene Partikel zu liegen kommt, auf eine aͤhnliche Art verbunden werden, wie a und b vorher ſind: ſo entſtehet zwiſchen a und d und zwiſchen d und b eine aͤhnliche Fuge, es ſey ein ringfoͤrmiger Zwiſchen - raum, oder eine jede andere, von jedweder Figur. Dieß wird eine Raute oder eine Maſche ſeyn, eben ſo wie die zwiſchen a und b urſpruͤnglich vorhan - dene es war. Und die Zahl der Fugen und der Formen iſt nur in der Fiber um Eins vermehret. Sollte die ganze Fiber, die hier vorausgeſetzt wird, bloß als ein un - organiſcher Beſtandtheil des organiſchen Koͤrpers ange - ſehen werden: ſo wuͤrden denn freylich die Arten, wie ih - re anfaͤnglichen Theile bey einander ſind, keine organi - ſchen Formen, keine Fugen und Maſchen ſeyn; und denn wuͤrden auch die neuen Verbindungen der hinzuge - kommenen Theile dergleichen nicht ſeyn; und ſo wuͤrde durch die aͤhnlichen Verbindungen nur die Zahl der Zwi - ſchenraͤumchen in den unorganiſirten Fibern vermehret worden ſeyn. Allein wenn man die erſte Fiber mit ih - ren drey Partikeln anſieht als eine organiſirte Fiber, und ſich ihre Zwiſchenraͤumchen wie Fugen oder Maſchen vorſtellet: ſo wird auch durch die aͤhnliche Anſetzung der in ſie eindringenden Materie die Zahl dieſer Maſchen vermehret ſeyn. Es ſind alſo neue Maſchen entſtanden, die den vorhandenen aͤhnlich ſind. Da haben wir alſo ei - ne Art, wie neue Formen entſtehen: wenn naͤmlich die Materie welche hinzukommt, auf eine aͤhnliche Art mit derjenigen verbunden wird, welche da iſt, als dieſe esH h 2unter484XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtunter ſich war, wo ſie durch ihre Verbindung Fugen, Maſchen oder Formen ausmacht. Die neue Verbin - dung darf auch nicht ganz der vorhandenen aͤhnlich ſeyn; ſie muß nur ſich auf ſie beziehen, gleiche Mannichfaltig - keit in ſich faſſen, von gleichen Kraͤften abhangen, und von der vorhergehenden Form, in ſo ferne dieſe eine or - ganiſche Form iſt, beſtimmt werden. So viel wird erfodert, daß durch die Art, wie die hinzukommende Partikel mit vorhandenen Partikeln verbunden wird, ein Ganzes entſtehet, deſſen Verbindungsart es aufgelegt macht gewiſſe Bewegungen anzunehmen oder hervorzu - bringen, die von ſeiner Maſſe allein nicht abhangen.

Man koͤnnte ſchon ſagen, daß neue Formen entſtehen, wenn nur die vorhandenen veraͤndert wer - den. Aber es wird die Zahl der Formen dadurch nicht vermehret. Und da die Umaͤnderung der Formen zum Theil wenigſtens in der vorhandenen Form gegruͤndet iſt: ſo muß die Redensart, daß neue Formen entſtehen, fuͤr dieſe Metamorphoſen nicht gebraucht werden.

2.

Die bonnetiſche Hypotheſe von der Entwicke - lung, die man zum Unterſchiede von einer andern etwas eingeſchraͤnkteren Entwickelung, welche unten vorkommen wird, die durchgaͤngige Entwickelung nennen kann, beruhet in Hinſicht deſſen, was ihr eigen iſt, auf dieſem Grundſatz, daß keine neuen Formen entſte - hen. Wenn jede Erzeugung ſo wohl einzelner organi - ſcher Theile als ganzer organiſirter Koͤrper nichts iſt, als eine Entwickelung, das iſt, als eine Vergroͤßerung der Maſſe, mit etwaniger Veraͤnderung der Formen und der Figur: ſo kann dasjenige, was als naͤhrende Mate - rie in den Keim gebracht und ſeinen Theilen aſſimilirt wird, nur allein die Groͤße der vorhandenen unorgani - ſchen und auf gewiſſe Arten zuſammengeſetzten Parti -keln485und Entwickelung des Menſchen. keln veraͤndern, aber ſie kann nicht mehrere ſolcher Par - tikeln machen. So erklaͤret ſich auch Hr. Bonnet: Die Elemente der Fibern ſind der Boden, der die Partikeln des Nahrungsſaftes annimmt. Die Gleich - artigkeit dieſer Partikeln mit den Elementen macht ſie geſchickt, mit ſelbigen vereiniget zu werden. *)Art. 14. Alsdenn ſind alle Fugen, Maſchen und Zuſammenſetzungsarten urſpruͤnglich, obgleich in unſichtbarer Geſtalt, in dem er - ſten Keime vorhanden. Die Nahrung durchdringet die - ſen Keim; ſeine Elemente vergroͤßern ſich, es ſey von innen oder von außen; die leeren Raͤume werden ausge - fuͤllt, und der Umfang des Ganzen erweitert. Das gewachſene Element iſt aber, ſo wie es da iſt, nicht mehr als Ein unorganiſches Element des Ganzen. Denn die innere Art der Zuſammenſetzung ſeiner Theile, und die Verbindung der Nahrungspartikeln in ihm, macht kei - ne organiſche Form aus.

Es folget hieraus, daß die Keime, welche aus ei - nem Keim hervorgehen, ihren Formen und Anlagen nach, alle in dem erſten Keim ſchon geſteckt haben muͤſ - ſen, aus dem ſie hervorgehen. Denn auch bey jedem einzelnen Keim iſt die Erzeugung nichts mehr, als eine Vergroͤßerung der Grundelemente. Jeder Keim iſt al - ſo ſeiner Anlage nach ſchon unmittelbar in dem erſtern Keim enthalten. Der Anlage nach, denn nicht nur al - le organiſche Formen ſind vorhanden geweſen, ſondern auch die ſo geformten Partikeln. Und wenn gleich die erſten urſpruͤnglichen Elemente waͤhrend der Erzeugung herausgehen, und die Vergroͤßerung von einem groͤßern Zufluß als Abfluß herruͤhret, ohne daß auch nur Ein Element der Materie beſtaͤndig darinnen bliebe: ſo iſt doch das Ganze ſeiner Form nach immer daſſelbe. Es iſt kein organiſcher Theil im Ganzen, keine Fiber ſoH h 3klein,486XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtklein, die nicht ſchon in ihren erſten Anfaͤngen mit ih - rer beſtimmten Form in dem Keim exiſtirt habe. Was hinzugekommen iſt, beſteht in unorganiſcher Materie, die ſich fuͤr die Partikeln des Keims ſchicket, oder ſich auf ſie ſo bezieht, daß ſie mit ihnen zu groͤßern unorga - niſchen Beſtandtheilen des Ganzen vereiniget werden kann.

Dieß gilt nicht nur von allen ſolchen Theilen, die zugleich entwickelt werden; es muß auch von allen uͤbri - gen gelten, die nach und nach aus dem Keim hervorge - hen. Nicht nur die Blaͤtter, Zweige, Bluͤhten, Saa - men, welche zugleich an dem Baum ſind, haben ihre Anlagen in dem Saamen gehabt; ſondern auch, wenn jene abfallen, oder durch Gewalt davon getrennet wer - den, und dann neue ſich entwickeln, ſo haben dieſe letz - tern ihre beſondern Anlagen in demſelbigen Saamen gehabt. Die erſten Anlagen ſind herausgegangen und verloren; es entwickeln ſich neue, die aus andern auf eine aͤhnliche Art vereinigten Partikeln beſtehn.

Die bonnetiſche Hypotheſe iſt eine einfache Hypo - theſe. Sie kann die Einbildungskraft erſchrecken, weil ſie eine ins Unendliche gehende Theilbarkeit der Materie, eine unendliche Menge von unorganiſchen Partikeln, und eine unendliche Menge von Zuſammenſetzungsarten, von Fugen und Zwiſchenraͤumchen vorausſetzet; eine un - endliche, in dem Verſtande wie eine Groͤße es iſt, die von uns nicht umfaſſet, noch durch unſere endliche Zah - len beſtimmt werden kann. Aber dieß macht ſie nicht unwahrſcheinlich, wenigſtens bewieſe es ihre Unrichtig - keit nicht. Naturæ vis atque maieſtas in omnibus mo - mentis fide caret, ſi quis modo partes eius, ac non totam complectatur animo. *)Plinii N. H. Lib. VII. cap. I. Die Vernunft muß es zugeben, daß es in dem Werke des Unendlichen, ſol -che487und Entwickelung des Menſchen. che Unendlichkeiten gebe; und auch die Einbildungskraft gewoͤhnt ſich, wenn wir mit der Natur bekannt werden, an Vorſtellungen, die ſich ins Unendliche verlieren, und findet nachher da, wo ſie anfangs anſtoͤßt, einen Grund mehr fuͤr die Wahrſcheinlichkeit des Gedankens.

3.

Hingegen faͤllt die ganze Folgerung von dem Ein - ſtecken der Keime in einander weg, nebſt mehrern, die aus der durchgaͤngigen Entwickelung fließen, ſo bald man einraͤumt, daß auf irgend eine Art, durch die Ver - einigung der naͤhrenden Materie mit dem Keim, neue Formen in dieſem entſtehen koͤnnen. Entſtehen neue Formen, ſo mag man noch einen Unterſchied zwiſchen weſentlichen oder urſpruͤnglichen Formen machen, die in dem Keim ſchon enthalten ſind, und zwiſchen den folgenden, die aus dieſem mittelſt der hinzukom - menden Materie erzeuget werden; man mag noch im - mer behaupten, es liege der Grund der folgenden neuen Formen in den erſten urſpruͤnglichen, und der Keim enthalte das Princip der Bildung, wovon es abhaͤngt, daß die naͤhrende Materie auf die beſtimmte Art aufge - nommen, vereiniget und veraͤhnlichet wird: ſo wird doch auch etwas von dieſem Grunde der Bildung in die Na - tur der Nahrung gelegt, die ſich vereinigen und veraͤhn - lichen laͤßt. Es iſt nicht mehr alles durchgehends eine Entwickelung der Formen und Vergroͤßerung der Maſſe. Alsdenn koͤnnen zu den erzeugten und hinzugekommenen Formen, die nur mittelbar in den erſten weſentlichen gegruͤndet ſind, auch diejenigen gerechnet werden, die in den neuen Keimen ſind. Nach der vorhergehenden Hypotheſe muß die Zahl der Formen und die Zahl der unorganiſchen Partikeln, welche in einem reif geworde - nen Saamenkorn enthalten iſt, ſo unendlich groß ſolche noch ſeyn mag, dennoch ein faſt unendlich kleiner TheilH h 4von488XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtvon den Formen und von der Menge der unorganiſchen Beſtandtheile der Organiſation, die in dem erſten Saa - men war, ausmachen, aus dem der neue Saame ent - wickelt iſt. Der neue Saame und der erſte Saame koͤnnen an Materie gleich ſeyn; aber jener hat nicht mehr Formen und nicht mehr organiſirte Partikeln, (wenn gleich dieſe letztern groͤßer an Maſſe ſind,) als der Theil von dem erſten Saamen in ſich faßte, welcher der Keim zu dem zweeken war. Und dieß war nur ein unendlich kleiner Theil des Ganzen. Dagegen wenn neue For - men entſtehen, ſo ſind auch die neuen Keime eben ſo reichhaltig an Formen, und haben eben ſo viele organiſch verbundene Beſtandtheile, als der iſt, aus deſſen Ent - wickelung ſie entſtanden ſind.

Nicht das Unendliche, wozu Bonnets Hypotheſe fuͤhret, iſt, wie ich ſchon erinnert habe, ein wichtiger Grund gegen ihre Wahrſcheinlichkeit; fuͤr mich wenig - ſtens nicht. Aber hier iſt einer, der mir wichtig ſcheint. Jhr zufolge ſoll man glauben, der reife Saame einer Pflanze ſey, an Menge von Formen und von organiſch verbundenen Partikeln, demjenigen unendlich ungleich, aus dem er gewachſen iſt. Jn der Natur ſoll eine un - endliche Menge von Formen alle Augenblicke auſgeho - ben und vernichtet werden. Denn dieß geſchieht, wenn die ſchon entwickelten Formen durch die Faͤulniß ausein - ander gehen; und es ſollen keine neuen wieder erzeuget werden. Dieß macht die Hypotheſe unwahrſcheinlich, und deswegen fodre ich Beweiſe aus der Beobachtung, wenn ich ſie nur fuͤr wahrſcheinlich halten ſoll. Und die - ſe Beweiſe finde ich nicht. Denn die Data der Erfah - rung, welche fuͤr die Evolution ſind, und von Hr. Bon - net erklaͤret werden, beweiſen zwar eine Entwickelung, aber nicht eine ſolche, worauf dieſer Philoſoph ſeine all - gemeinen Raiſonnemens und ſeine Folgerungen bauet. Dieß will ich nachher deutlicher zeigen.

Man489und Entwickelung des Menſchen.

Man muß von dieſer durchgaͤngigen Entwicke - lung ſchon abweichen, ſobald man zugiebt, daß mit der Vergroͤßerung der Maſſe zugleich eine Vermeh - rung derſelbigen Formen, oder eine Erzeugung aͤhn - licher Formen, verbunden ſey. Jch will nur einen Theil von der oben ſchon angeſtellten Betrachtung wie - derholen. Laß eine Fiber ausgedehnet werden nur in der Laͤnge. Die Verbindung ihrer urſpruͤnglichen Ele - mente laͤßt alſo Zwiſchenraͤume, oder nimmt doch eine Ausdehnung an. Dieſe Zwiſchenſtelle laß als eine ge - wiſſe Fuge oder Maſche betrachtet werden. Nimmt man nun an, daß zwiſchen zwey zunaͤchſt an einander liegende Elemente, a und b, eine fremde Partikel aus dem Nahrungsſaft gebracht, und auf dieſelbige Weiſe mit a und b verbunden werde, und nun in ſie auf eine aͤhnliche Art wirke, als dieſe Elemente vor ihrer Abſon - derung auf einander wirkten: ſo ſind aus einer Fuge zwo geworden. Die Verbindung von c mit a giebt Eine, und c mit b die zwote. Es iſt nicht ſchwer zu begreifen, wenn die urſpruͤngliche Fuge zwiſchen a und b eine gewiſſe Figur gehabt hat, die zum Exempel ring - foͤrmig geweſen iſt, und alſo einen Raum umſchloſſen hat, wodurch ſie der ſinnlichen Jdee von einer Maſche noch naͤher gekommen iſt: ſo habe die darzwiſchen ge - brachte Partikel c nur gleichfalls eine aͤhnliche Maſche gemacht, wofern ſie anders nun eine Partikel von eben der Art iſt, wie die Elemente a und b und auf dieſelbige Art mit a und b verbunden worden iſt, als dieſe |es un - ter ſich waren. Es iſt offenbar, wenn nur eine ſolche Vermehrung aͤhnlicher Verbindungsarten der fuͤr ſich unorganiſchen Theile zugegeben wird, ſo wird die Zahl dieſer Theile und auch zugleich der Formen in dem Koͤr - per vermehret. Wo wuͤrden denn die Schluͤſſe bleiben, die aus der Jdee der durchgaͤngigen Evolution gezogen ſind? Wenn neue Formen in der Erzeugung entſte -H h 5hen,490XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤthen, auch nur durch eine Vermehrung der ur - ſpruͤnglichen, ſo kann man natuͤrlich fragen, wie viele von den Formen in dem entwickelten Koͤrper ſind, die zu dieſen erzeugten gerechnet werden muͤſſen? Wie viele ſind urſpruͤnglich verſchiedene Formen? wie viele nur, die einer vorhergehenden aͤhnlich, die nur eine Ver - mehrung derſelbigen Form ſind? Nicht jede von die - ſen iſt fuͤr ſich urſpruͤnglich in dem Keim, ſondern die ganze Menge deſſelben zuſammen hat nur Eine, die in dem Keim exiſtiren darf. Sind nicht alle Blaͤtter eines Baums, alle Zweige, alle Bluͤhten, alle Fruͤch - te und Keime, die zugleich hervorwachſen und die auf einander folgen, aͤhnliche Formen, welche in dem Keim nicht mehr als Eine Anlage zu Einem Zweig, Eine zu Einem Blatt, Eine zu Einer Bluͤhte, und ſo wei - ter vorhererfodern? Und dann ferner, wenn die For - men in den Zweigen mit denen in den Blaͤttern, und dieſe letztern mit denen in den Bluͤhten, und dieſe wie - derum mit denen in der Furcht verglichen werden, und alle aͤhnliche Formen nur als Erzeugungen aus Einer urſpruͤnglichen weſentlichen Form betrachtet werden: wie viele Formen bleiben uͤbrig, die man in dem Keim als urſpruͤngliche und verſchieden annehmen muß? Nicht Eine mehr, als in dem neuen erzeugten Keime eben ſo enthalten ſind, wie ſie in dem erſtern waren. Der Begriff von den weſentlichen Theilen einer Pflanze oder eines Thiers wird derſelbige ſeyn mit dem Be - griffe von dieſen urſpruͤnglichen Formen, oder Grund - formen.

4.

Es kann die Maſſe eines organiſirten Koͤrpers ver - groͤßert werden, ohne Vermehrung der Formen; aber jene ziehet unter gewiſſer Bedingung doch dieſe als eine nothwendige Folge nach ſich. Jch will es hier nur erin -nern,491und Entwickelung des Menſchen. nern, aber es wird unten bey der Anwendung auffal - lend, daß es eines der wichtigſten Momente in der Hy - potheſe der Evolution aufklaͤrt, wenn man noch naͤher die Bedingungen und Saͤtze aufſucht, auf die man ge - bracht wird, wenn die Vergroͤßerung der Maſſe auf ei - ner Seite ohne Vermehrung der Formen, auf der an - dern die Vermehrung der Formen als eine Folge von der Vermehrung der Maſſe, ſoll gedacht werden.

Soll eine Vergroͤßerung der Maſſe keine neuen Formen hervorbringen: ſo muß ſie entweder nur die un - organiſchen Beſtandtheile vergroͤßern, es ſey nun durch ein Einſaugen und eine Ausdehnung, oder durch ein An - ſetzen von außen, oder wenn auch die Zahl ſolcher Be - ſtandtheile vergroͤßert wird: ſo muͤſſen dieſe weder unter ſich, noch mit den urſpruͤnglichen Elementen, anders zuſammengehen, als wie Materie ſich an Materie den Geſetzen der Materie gemaͤß anleget. Wenn ein Schwamm ſich voll Waſſer ſauget, oder ein haͤnfener Strick von Duͤnſten durchnaͤßt wird, oder verſchiedene Haarroͤhrchen eine fluͤſſige Materie einnehmen: ſo haben wir Beyſpiele von ſolchen Anfuͤllungen, ohne daß dadurch die Zahl der geformten Gefaͤße vermehrt werde. Hier - aus ergiebt ſich zugleich auch der Begriff, den man ſich von der Aſſimilation der Nahrung in den Pflanzen und Thieren zu machen hat. Daß die Saͤfte aufgenommen, zubereitet, vertheilet und an ihre gehoͤrigen Oerter und Gefaͤße gebracht werden, haͤngt von der Form des gan - zen Koͤrpers ab; aber wenn dieß geſchehen iſt, und die Nahrungspartikeln ſich nun einſaugen, die Fugen aus - fuͤllen, oder die Seiten der Fugen verlaͤngern: ſo ver - binden ſie ſich und hangen zuſammen mit der Materie der geformten Theile, worinn ſie aufgenommen ſind und unter ſich ſelbſt, und machen nur unorganiſche Verbindun - gen. Die Veraͤhnlichung der Nahrung mit den ur - ſpruͤnglichen Elementen geht alsdenn nicht weiter alsdahin,492XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtdahin, daß dieſe Elemente ſich vergroͤßern, wie ein Tropfen Waſſer, der ſich mit einem andern vereiniget, und dadurch zu einem groͤßern Tropfen wird.

Dennoch muß doch die Form eines Gefaͤßes, einer Fiber, einer Maſche, einer Raute; man kann dieſe Bilder gebrauchen, um den beſtimmten Begriff von der Form feſt zu halten! in die Art, wie die fremden hinzukommenden Partikeln ſich anlegen, einen Einfluß haben. Die Geſtalt der Roͤhren beſtimmet die Geſtalt des Fluͤßigen, das in ſie hineintritt, und die Figur der Zwiſchenraͤume in dem Schwamme die Figur des Waſſers, das in dieſen Raͤumen haͤnget, wenn der Schwamm damit erfuͤllet iſt. Laß das Waſſer in die - ſen Raͤumen erſtarren, und dann wieder herausgebracht werden: ſo haben wir eine geformte Maſſe, welche durch die Form der Raͤume gemacht iſt, wie die gegoſ - ſene erkaltete Statue aus Metall durch die Patrone, worinn ſie gegoſſen iſt. Die Erzeugung neuer Formen in organiſchen Koͤrpern, fuͤhret alſo zu gewiſſen Voraus - ſetzungen, die, wenn ſie als Bedingungen angenommen werden, die Folge nach ſich ziehen, daß nothwendig neue organiſche Formen entſtehen muͤſſen. Man neh - me an, daß die naͤhrenden Partikeln von eben der Art ſind, wie die in dem Koͤrper ſchon geformten Elemente, das iſt, daß ſie dieſelbigen Kraͤfte beſitzen, ſich auf die - ſelbige Art vereinigen koͤnnen unter einander, wie dieje - nigen, woraus die vorhandenen organiſchen Theile be - ſtehen; und dieß iſt nichts mehr, als was auch in der Hypotheſe von der Evolution eingeraͤumet wird: folget nun nicht nothwendig, daß dieſe neuen Partikeln durch die Form eines Gefaͤßes in eine aͤhnliche Lage gegen ein - ander kommen, wie die vorhergeformten Partikeln in dem Gefaͤße es ſelbſt ſind, oder doch in eine ſolche Lage, in der ſie vereiniget ein anderes Gefaͤs von einer aͤhnli - chen innern Zuſammenſetzung ausmachen? Jſt dießnur493und Entwickelung des Menſchen. nur moͤglich, ſo koͤnnen neue Formen entſtehen. Die - ſe moͤgen den vorhandenen ſo aͤhnlich ſeyn, daß man den Zuwachs nur als eine Vervielfaͤltigung der letztern an - ſehen kann, oder auch ſo von den vorhandenen abweichen, daß ſie neue und verſchiedene Gefaͤße ſind. Laß z. B. eine vorhandene Maſche oder Form ringfoͤrmig ſeyn, und laß innerhalb eines ſolchen Ringes Materie gebracht werden, die ſich, eben ſo wie die Elemente des Ringes, verbinde, und entweder in die Runde oder in einer an - dern Lage ſetze: ſo haben wir eine neue Fuge, die eben ſo wohl eine Form iſt, wie die erſtere es war. Ein Tropfen Queckſilber vereiniget ſich mit einem andern Tropfen, und es entſtehet ein groͤßerer Tropfen, der mit dem Druck des Fingers wiederum in zwey zerthei - let werden kann. Laß die unorganiſchen Beſtandtheile der einfachen Fibern ſelbſt noch keine Maſchen in ſich haben, ſondern etwan die Seitenlinien der Maſchen ausmachen; ſo nehme man nur an, daß ſie die Nah - rungspartikeln ſo mit ſich vereinigen, wie ein Tropfen den andern, und daß alſo ein Druck oder Stoß ſie der Laͤnge nach ſpalten koͤnne: ſo haben wir eine Moͤglichkeit, wie aus einer Fiber zwo werden von einer aͤhnlichen Be - ſchaffenheit. So muß ja die Vermehrung an unor - ganiſchen Theilen, wenn ſolche der Form der vor - handenen Organiſation gemaͤß geſchieht, noth - wendig gewiſſe Verbindungsarten nach ſich ziehen, welche ſelbſt wiederum organiſche Formen ſind.

Es iſt freylich nicht einmal die Wahrſcheinlichkeit, vielweniger die Wahrheit eines phyſiſchen Syſtems, bloß auf der metaphyſiſchen Moͤglichkeit der Sache ge - nugſam gegruͤndet. Allein die Moͤglichkeit muß doch vorausgeſetzt werden koͤnnen. Und in dem gegenwaͤr - tigen Fall verdienet ſie deſto mehr Aufmerkſamkeit, da der Vertheidiger der durchgaͤngigen Evolution, welche die Erzeugung neuer Formen ablaͤugnet, ſo oft ge -noͤthiget494XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtnoͤthiget iſt, zu dieſem Aeußerſten ſeine Zuflucht zu neh - men, daß die Erzeugung neuer Formen unerklaͤrlich und unmoͤglich ſey. Hr. Bonnet hat ſich dieſes Grun - des oͤfters bedienet; die Entſtehung eines organiſirten Koͤrpers auf eine andere Art, als durch die Evolution, ſey unbegreiflich und ungereimt. Es verhaͤlt ſich bey - nahe hiemit, wie mit der leibnitziſchen Harmonie, und dem berkeleyiſchen Jdealismus, die ihre großen Erfinder mit dem ſtaͤrkſten Argument zu befeſtigen ſuch - ten, wenn ſie demonſtrirten, Leibnitz, daß die Ein - wirkung, Berkeley, daß die Exiſtenz der Materie un - moͤglich ſey. Beide Syſteme halten ſich nicht, wenn dieſe Demonſtration wegfaͤllt. Jch zweifele ob die bon - netiſche ſich halten koͤnne, wenn ſein Grundſatz weg - faͤllt, daß keine andere Hypotheſe außer der ſeinigen moͤglich iſt.

5.

Wenn einmal die Erzeugung neuer Formen als moͤglich angenommen wird: ſo giebt es auch mehrere verſchiedene Arten dieſer Erzeugung. Daraus entſtehen die naͤhern Beſtimmungen, die man den Hypotheſen von der Generation hinzuſetzen kann. Selbſt |die orga - niſche Konkretion iſt alsdenn nicht ganz ausgeſchloſſen. Aber zugleich wuͤrde es bey jener Vorausſetzung unwahr - ſcheinlich ſeyn, daß die Natur ſich nur einer von dieſen verſchiedenen Arten, neue Formen zu bilden, allein bedie - nen ſollte. Einige von ihnen will ich noch beruͤhren, die naͤmlich, welche man vorzuͤglich zur Erklaͤrung der Ge - neration gebraucht hat; doch nur ſolche, |welche als - denn noch vorkommen, wenn ſchon ein organiſirter Keim vorhanden iſt, der ſich entwickelt. Von den Ent - ſtehungsarten neuer Keime iſt oben genug angefuͤhret.

Die naͤhrende, vergroͤßernde, entwickelnde Mate - rie geht in das Jnnere des Keims hinein (per intusſuſ -ceptio -495und Entwickelung des Menſchen. ceptionem), und wird von innen wieder herausgebracht, wenn eine neue Form entſtehet, und das Ganze vergroͤſ - ſert wird. Die aͤußere Figur kann entweder zugleich veraͤndert werden, oder dieſelbige bleiben. Daß die Erzeugung der Thiere und Pflanzen die Jutusſuſce - ption der Nahrung erfodere, und von innen heraus ge - ſchehe, behauptet ſowohl Hr. Wolf als Hr. Bonnet. Es giebt auch keine Beobachtung bey organiſchen Er - zeugungen aus einem Keim, die auf ein bloßes Anſe - tzen von außen, oder eine bloße Juxtapoſition der naͤhrenden Partikeln zu den geformten, hinfuͤhret.

Jn dem Jnnern muͤſſen freylich die naͤhrenden Par - tikeln ſich an die daſelbſt vorhandenen anſetzen. Das Eindringen der Nahrung in die Elemente des Keims kann nicht weiter gehen, als dieſe letztern Zwiſchenraͤum - chen haben. Sind ſie bis ins Unendliche hin locker, ſo kann die Einſaugung ins Unendliche gehen. Die letz - ten Elemente der Materie ſind undurchdringlich, und ihre Verbindung beſtehet in einer Nebenanſetzung, die mit wechſelſeitiger Wirkung auf einander verbunden iſt. Jn den Keimen, als ſchon geformten Ganzen, gehen die neuen Theile, die aͤußerlich ſichtbar werden, von innen heraus. Dieß iſt ein allgemeiner Erfahrungsſatz.

Von der Entſtehung der Formen durch das aͤußere Anſetzen haben wir Beyſpiele, in dem Anſchießen der Kryſtalle und in andern unorganiſchen Bildungen, aber keine bey den organiſirten Koͤrpern. Aber dennoch leh - ret uns auch hier das Zuſammenwachſen der Wunden in den Thieren und Baͤumen, ingleichen die organiſchen Pfropfungen in den Pflanzen, das Aufſetzen des Hah - nenſporns auf ſeinem Kamm und dergleichen, daß zween organiſche Koͤrper zuerſt von außen mit einander zuſam - menkleben und anhaͤngen, dann ſich jeder von innen her entwickeln, und darauf eigentlich zuſammenwachſen und Ein organiſches Ganze ausmachen, davon ein Theil alsein496XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtein neuer Anſatz zu dem andern angeſehen werden kann. Dieſe Beyſpiele ſind zugleich die Beyſpiele von organi - ſchen Konkretionen. Allein hier iſt nur eigentlich die Rede von der Ausbildung ſchon geformter Keime.

Es kann aber auch die vergroͤßernde Materie ſich von außen um den Keim anlegen, und alsdenn von in - nen her mittelſt eines aus dem Keim hervordringenden Saftes geformet werden, ſo daß jene vorher bloß um - gebende Materie nachher ein Theil des organiſirten Gan - zen wird.

Hr. Wolf hat ſeine Epigeneſis, bey verſchiede - nen Theilen des menſchlichen Koͤrpers, die dem Em - bryon zuwachſen, nach dieſer Jdee angewendet. Es treten Saͤfte durch die weſentliche Kraft des Keims ge - trieben, aus ihm heraus, und durchdringen, in gewiſ - ſen Richtungen, eine fluͤſſige aber nicht organiſche Sub - ſtanz, die den Keim umgiebt. Daraus entſtehen Ka - naͤle, deren Waͤnde durch die Gerinnbarkeit der Saͤfte befeſtiget werden. Dieß giebt Gefaͤße, die alſo aus ei - ner Materie beſtehen, welche zum Theil ſchon vorher um den Keim herumlag. *)Theor. generat. 229. 240.Allein eben dieſe Materie, welche um den organiſirten Punkt herumliegt, wird ſchon als ein Theil des ganzen Keims von Hrn. Wolf an - geſehen; ſie iſt vorher ſchon aus dem Keim ſelbſt hervor - gedrungen, da ſie ſich an ihm anlegte. Vielleicht will Hr. Wolf dieß auch von der allererſten Nahrung ver - ſtanden haben: daß naͤmlich dieſe nicht eher, als bis ſie vorher in den Keim hineingebracht und wiederum aus ihm herausgetrieben worden iſt, geſchickt ſey, ſich mit Kanaͤlen durchziehen und organiſiren zu laſſen.

Weiter, wenn die neuen Formen von innen herauswachſen, ſo kann dieß wiederum auf eine zwey - fache Art geſchehen.

Die497und Entwickelung des Menſchen.

Die hervortretenden Saͤfte moͤgen nun ſchon zu - gleich die neuen Formen ſelbſt ſeyn, da ſie in beſtimm - ten Richtungen, in beſtimmter Menge und mit der Ge - ſchwindigkeit heraustreten, wies die Form des Keims, die Figur und Bildung an der Stelle, wo ſie ſich als an einer Baſis| anlegen, das iſt, die Figur und Bil - dung des Vegetationspunkts, ingleichen die Kraft des Keims und die Beſchaffenheit der Saͤfte ſelbſt mit ſich bringt; oder ſie moͤgen anfangs excernirt, und dar - auf erſt organiſirt werden: ſo kann beides auf eine ſol - che Art geſchehen, daß der vorige Umfang des praͤexi - ſtirenden Keims nicht ausgedehnet und erweitert wird. Alsdenn findet eine Appoſition Statt. So ſtellte ſich Wolf zuerſt das Anwachſen in dem Embryon und die Excretion der Saͤfte in den neuen Blaͤttern zum Theil vor. Er aͤnderte aber nachher ſeine Meinung. *)§. 240. Nov. th. gener. §. 228. Schol. edit. nov. 1774.

Der große daͤniſche Naturkuͤndiger Hr. Etatsrath Muͤller behauptet, daß der Anwachs der Schnecken - haͤuſer auf dieſe Art geſchehe. **)S. die Vorrede zum Vol. II. der Hiſtor. vermium terr. S. XXV.

Der weſentliche Grundſatz, der das Syſtem der Evolution und der Epigeneſis unterſcheidet, iſt die Entſtehung neuer Formen, die in jenem gelaͤugnet, in dieſem behauptet wird. Es giebt eine andere Jdee von der Evolution, die einige fuͤr die allgemeine Evolution angeſehen haben, welche ſich ſehr wohl mit der Epige - neſis vereinigen laͤßt.

Wenn die neue Form, der neue Sproß, der Theil, oder das Gefaͤs, in dem Jnnern des Keims, unter der Oberflaͤche deſſelben bereitet wird, und nicht heraustritt, ohne dieſe Oberflaͤche zu dehnen und mit ſich zu neh -II Theil. J imen,498XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtmen, ſo geſchieht eine Ausdehnung des aͤußern Umfangs von innen her. Jeder neue Theil, der hervorſprieſſet, hat in ſeinem Umfange Partikeln mitgenommen, die zu dem Umfange des ſich entwickelnden Koͤrpers in dem vorhergehenden Zuſtande vor der neuen Excretion des Theils gehoͤrten. Dieß iſt eine Evolution von in - nen, die mit der Epigeneſis beſtehen kann. Und nur dieſe kann unmittelbar aus den Beobachtungen, ſo wohl in den Pflanzen als thieriſchen Koͤrpern, bewieſen werden. Aber wenn daſſelbige bey allen innern Veraͤn - derungen und Bildungen, bey jedem neuen Anwachs, auf die aͤhnliche Weiſe vorkommt, und alle hinzukom - mende Nahrung in ſchon vorhandene Partikeln und Fibern hineindringet, ſie erweitert und vergroͤßert: ſo kann eine ſolche durchgehends ſich erſtreckende Evolution auf Bonnetiſch erklaͤret werden, ſo naͤmlich, daß kei - ne neuen Formen dadurch entſtehen.

Endlich, damit ich noch dieſes beruͤhre, kann die Vergroͤßerung durch die Evolution in der Maſſe vor ſich gehen, daß die Verhaͤltniſſe der Theile und Glieder des organiſirten Koͤrpers, in ihrer Laͤnge, Breite, und Di - cke, beſtaͤndig dieſelbigen bleiben. Jn dieſem Fall iſt das entwickelte ſich immer aͤhnlich. Aendert ſich dagegen das Verhaͤltniß der einzelnen Theile, nehmen einige Fibern mehr in der Laͤnge, andere mehr in der Breite zu, dehnen ſich einige weniger aus, andere mehr, gehen einige Faͤcher ganz zuſammen und verlieren ſich: ſo iſt nicht zu verwundern, daß eine ſo große Umaͤnde - rung der aͤußern Geſtalt herauskommt, als man wirk - lich bey dem allmaͤligen Auswachſen des Embryons ge - wahr wird.

Herr Bonnet will nicht, daß man den Keim, | als das Thier oder die Pflanze im Kleinen, nach allen ihren Theilen anſehen ſolle; darum nicht, weil ſich das Verhaͤltniß der urſpruͤnglichen Formen veraͤndert. Dennoch499und Entwickelung des Menſchen. Dennoch hat dieſe Abaͤnderung, nach ſeiner eigenen Erklaͤrung, ihren vornehmſten Grund in einer vorher ſchon vorhandenen Beziehung der urſpruͤnglichen Thei - le des Keims auf einander, obgleich die Nahrung hierinn Einfluß hat, indem ſie einige Formen vorzuͤg - lich vor andern vergroͤßern kann. Die Elementarfi - bern der Knochen z. B. muͤſſen ſchon urſpruͤnglich mehr Feſtigkeit beſitzen, oder doch zum wenigſten mehr So - lideſcibilitaͤt, und unfaͤhiger ſeyn gedehnt zu werden, als die Elemente der Haͤute der Gefaͤße. *)Art. 37.

Die Perioden der Bildung, des Auswachſens und der Fortdauer unterſcheiden ſich bey den Thieren und Pflanzen aͤußerlich am meiſten an den verſchiede - nen Graden, worinn die ſich entwickelnden Koͤrper ſich aͤhnlich bleiben oder unaͤhnlich werden. Jn dem em - bryoniſchen Zuſtande geht die groͤßte Veraͤnderung in der Figur und Geſtalt vor; waͤhrend des Auswach - ſens von der Kindheit bis zur Mannheit bleibet ſich das Ganze mehr aͤhnlich. Es kommen wenige ganz neue Theile mehr hervor, doch noch einige, und ihre relativen Groͤßen veraͤndern ſich in etwas, immer we - niger, je naͤher die Entwickelung an ihre hoͤchſte Stu - fe kommt. Jſt endlich der Koͤrper voͤllig ausgewach - ſen, ſo bleibet das Ganze wie es iſt, und auch die Vergroͤßerung hoͤrt auf. Die Fortdauer in dieſem Beharrungsſtande iſt eine ununterbrochene gleichfoͤr - mige Verminderung und Vermehrung der Materie, die ſo weggehet und ſich ſo wieder anſetzet, daß die Verhaͤltniſſe an Groͤße und Figur in allen Theilen die - ſelbigen bleiben. Die Entwickelung geht indeſſen ih - ren Gang fort, und wir wiſſen es zu gut, daß es kei - nen voͤlligen Stillſtand in irgend einer Form gebe, und daß es nur die ſchwaͤchere, in kurzer Zeit nicht zu be -J i 2merken -500XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtmerkende Veraͤnderung iſt, welche wir fuͤr die Beſtaͤn - digkeit anſehen.

IV. Einige allgemeine Anmerkungen uͤber die verſchie - denen Entſtehungsarten organiſirter Koͤr - per, beſonders uͤber das Evolutionsſyſtem.

  • 1) Es ſind zween verſchiedene Saͤtze; der erſte: Es entſtehen keine neue Formen, die nicht ſchon in dem Keim enthalten ſind; der zweete: Der Keim beſtimmt allein die Bildung, und beſtimmt ſie voͤllig.
  • 2) Die bonnetiſche Hypotheſe hat eine dunkle Stelle. Es iſt ſchwer, ein beſtimmtes Un - terſcheidungsmerkmal zwiſchen einer orga - niſchen Form anzugeben, und zwiſchen den unorganiſchen Verbindungsarten, die nothwendig entſtehen muͤſſen, wenn mehr Materie hinzukommt.
  • 3) Dieſe Hypotheſe kann nie durch die Erfah - rungen voͤllig bewieſen werden.
  • 4) Erfahrungen, welche zeigen, daß neue For - men durch die Verbindung anderer For - men entſtehen.
  • 5) Die Entſtehung neuer organiſcher For - men ſetzet eine Entwickelung ſchon vor - handener Formen voraus, und eine Ver - bindung derſelben. Dieſe Epigeneſis durch Evolution ſcheinet die allgemeine Entſtehungsart organiſirter Weſen zu ſeyn. Sie muß auch bey den organiſchen Kon - kretionen ſtattfinden.
1. Es501und Entwickelung des Menſchen.

1.

Es iſt hier weder nothwendig, noch thunlich, ſich in das Beſondere jeder dieſer Erzeugungsarten, oder vielmehr der Hypotheſen daruͤber einzulaſſen, und ſolche mit den Beobachtungen zu vergleichen. Aber einige all - gemeine Anmerkungen will ich anfuͤgen, woraus ich fuͤr den Philoſophen, der nur das Allgemeine in der Phy - ſiologie der organiſirten Koͤrper ſuchet, faſt denſelbigen Nutzen erwarte. Am meiſten wird es darauf ankom - men, wie groß die Wahrſcheinlichkeit des Evolutions - ſyſtems ſey? Wenn einmal angenommen wird, daß neue Formen erzeuget werden: wer wird alsdenn dar - uͤber zweifeln, ob ſolche nicht auf mehr als Eine Art ent - ſtehen, da die verſchiedenen Entſtehungsarten im Grunde nur in Graden von einander abgehen, wobey eher Man - nichfaltigkeit als Einfoͤrmigkeit zu vermuthen iſt. Viel - leicht geht es andern bey der Leſung der bonnetiſchen Schrift, eben ſo wie mir. Sehe ich auf die Menge von Erfahrungen bey allen Thieren und Pflanzen, deren Ausformung von ihrem Keim an man beobachtet hat: ſo ſehe ich Fakta, die nicht nur durch die Evolution er - klaͤret werden, ſondern faſt nothwendig auf ſie hinfuͤhren. Die Hypotheſe wird mir ſo ſehr wahrſcheinlich, als ich den Scharfſinn ihres Urhebers bewundere. Bonnet iſt, ſo viel ich weiß, der erſte, der den unterſcheidenden Grundſatz der Evolution in ſeinem ganzen Umfange uͤber - ſehen, und mit den Beobachtungen verglichen hat. Sehe ich dagegen auf die Folgen, wozu dieſe Hypotheſe hinleitet, und dann auf die uͤbrigen Erſcheinungen, auf die Wiederergaͤnzungen abgeſchnittener Glieder, auf das Wiederauswachſen der Stuͤcke von Polypen und Wuͤr - mern zu ganzen Thieren, auf die Vereinigung aufge - pfropfter Zweige mit dem Baum, auf das Zuſammen - wachſen der Wunden in Thieren und Pflanzen, auf die thieriſchen Pfropfungen, u. ſ. f. ſo deucht mich, die Hy -J i 3potheſe502XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtpotheſe von den Keimen und deren Entwickelung ſey all - zuſchwer anzubringen. Was Hr. Bonnet und andere geſehen haben, nehme ich ohne die geringſte Bedenklich - keit fuͤr richtige Beobachtungen an; aber was er in die - ſen Beobachtungen mit dem Verſtande geleſen hat, finde ich nicht darinn. Es iſt vielleicht jetzo noch nicht moͤg - lich, alle verſchiedene Erfahrungen auf Einen Grundſatz zu bringen. Wer weiß, wie viel mehrere und noch mehr von einander abweichende kuͤnftig noch entdeckt werden moͤgen?

Das alſo, was bey dem Evolutionsſyſtem vor - kommt, wenn man es ſcharf zu pruͤfen ſich vornimmt, iſt, daß man dieſe beiden Saͤtze wohl unterſcheide: Es entſtehen keine neue Formen, ſondern die For - men, welche in dem Keim ſind, werden entwickelt; und der zweete Satz: Der Keim beſtimmet die Bil - dung des organiſchen Koͤrpers voͤllig, und beſtim - met ſie allein. Hr. Bonnet hat nicht immer beide genau unterſchieden, wie oben (II. 1.) erinnert worden iſt. Der Keim des Pferdes in der Stute beſtimmet doch nicht allein die Bildung des Mauleſels, auch nach ſeiner Jdee, weil die in jenem enthaltenen Formen zum Pferde ſich in einem andern Verhaͤltniſſe auswickeln, wenn ein Mauleſel erzeuget wird, obgleich alle Formen des Mauleſels in dem Pferdekeim, in der Stute, nach dieſer Hypotheſe, enthalten ſind. Daſſelbige findet ſtatt bey allen Baſtarten; und ohne Zweifel iſt dieß auch die Urſache mancher Mißgeburten.

2.

Es ſollen nach dieſer Hypotheſe keine neue organi - ſche Formen entſtehen. Allein wenn nun neue Ma - terie hinzukommt, die das Ganze nicht bloß am Um - fange ſondern auch an Maſſe vergroͤßert, ſo iſt es doch nothwendig, daß auch Verbindungen entſtehen. Wie,wann503und Entwickelung des Menſchen. wann und warum ſind dieſe neuen Verbindungsarten, dieſe Formen, die Oeffnungen oder Zwiſchenraͤumchen, wie wir ſie nennen, welche zwiſchen den Partikeln der Nahrung unter ſich, oder zwiſchen dieſen und den Ele - menten des Keims entſtehen, keine organiſche For - men, keine Netze, Ringe, Maſchen, denen aͤhnlich, die ſchon da ſind, oder unaͤhnlich? Jch verweiſe auf das, was ich um dieſen Unterſchied zwiſchen neuen organiſchen Formen, und zwiſchen bloß unorganiſchen Zuſammenſe - tzungen der Elemente, oben (III. 1. u. 4.) geſagt habe, da Hr. Bonnet hieruͤber nicht anders als in Gleichniſ - ſen geredet hat. Beym erſten Anblick ſcheinet es leicht begreiflich zu ſeyn, daß die urſpruͤnglichen Netze und Maſchen ſich anfuͤllen koͤnnen, ohne daß neue Maſchen hinzukommen; und wann die Elementarfibern mit ihren Maſchen nach einer andern Vergleichung dieſes Man - nes, der ſeine Begriffe ſo ſchoͤn zu bezeichnen weis, der Aufzug oder die Kette (Chaine) zu dem Gewebe ſind:*)Art. 83. ſo ſcheint es, man koͤnne die Nahrungstheilchen, die ſich in dieſe Maſchen ſetzen, ſehr faßlich als den Einſchlag zum Zeuge betrachten. Allein wenn man die Sache naͤher anſieht und bedenket, daß die Aufnahme und Ver - bindung der naͤhrenden Partikeln, der Form der Maſche gemaͤß geſchehe und, wegen der durchgaͤngigen Ver - knuͤpfung aller Theile eines organiſirten Koͤrpers, der Struktur des Ganzen gemaͤß ſeyn muͤſſe: ſo iſt es ſchwer zu begreifen, wie ſich eine Maſche anfuͤlle, ohne daß in ihr die Materie ſich maſchenfoͤrmig verbinde; im - gleichen wie eine Fiber ſich verlaͤngere, ohne daß aͤhn - liche Theile zwiſchen ihren vorigen Stuͤcken auf eine aͤhn - liche Art eingeſchaltet werden, und wie ſie ſich verdicke, ohne daß ihre einfachen Zaſern vermehret werden. Dieſe Vergroͤßerung ſcheint ſo natuͤrlich eine Vermehrung derJ i 4Formen504XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtFormen nach ſich zu ziehen, als in einem Waſſertropfen, wenn ein naheliegender kleiner Tropfen ſich damit ver - einiget, nun zugleich auch die Summe aͤhnlicher Zwi - ſchenraͤumchen und aͤhnlicher Lagen der in - und auf ein - ander wirkenden Partikeln vermehrt ſeyn muß. Der Einſchlag muß hier zugleich die Kette vergroͤßern. Das mindeſte zu ſagen, ſo iſt in dem Evolutionsſyſtem hier eine ſehr dunkle Stelle; und dennoch iſt es dieſe, wor - auf alles Eigene deſſelben beruhet, und worauf die wich - tigen Folgerungen ſich gruͤnden, die man daraus gezo - gen hat.

3.

Dieſe Evolutionshypotheſe kann niemals vollſtaͤn - dig aus Beobachtungen bewieſen werden. Hr. Bonnet hat alles gethan, was ein ſcharfſinniger Mann, der ſie einmal angenommen hatte, thun konnte, da er die große Menge von Erzeugungen, die ihr entgegen zu ſeyn ſchie - nen, ſo zu erklaͤren geſucht, daß ſie ſich mit ihr wenig - ſtens zuſammenbringen laſſen. Ob das Anwachſen neuer Theile von innen heraus geſchehe; ob es ſo geſchehe, daß jedesmal eine Verlaͤngerung, Erweite - rung und Verdickung ſchon vorhandener Theile dabey vorgehe; oder ob auch irgendwo ein Theil durch eine bloße Appoſition der von innen hervorgetriebenen Saͤfte, die nachher geformet werden, entſpringe: das iſt wor - uͤber die Beobachtung entſcheiden kann, und in vielen Faͤllen entſchieden hat. Aber dieß wuͤrde nur eine Ent - ſcheidung uͤber diejenige Evolution geben, die mit der Epigeneſis beſtehen kann. (III. 5.) Kommen deswe - gen nicht neue Formen in dem Jnnern hervor? und iſt nicht das Hervorſtoßen neuer Zweige und die Ausdeh - nung der Oberhaut vielmehr eine Folge von den, in dem Jnnern aufgehaͤuften, und hier ſchon geformten Mate - rien, die ſich in ſolche Lagen geſetzt haben, die ſich Raumzu505und Entwickelung des Menſchen. zu machen ſuchen? Es verhalte ſich damit wie es wolle, unſer Auge kann ſchwerlich jemals ſo tief eindringen, wenigſtens iſt es nicht ſo tief gedrungen, um aus dem, was es nicht ſieht, geradezu ſchließen zu koͤnnen, daß es nicht da ſey.

4.

Es ſcheinen einige Beobachtungen doch ſchlechthin auf den Satz zu fuͤhren, daß neue Formen entſtehen, und zwar dadurch, daß mehrere, ſich entwickelnde, ver - ſchiedene Formen zuſammengehen, und eben durch dieſe ihre Verbindung neue Formen machen.

Hierzu rechne ich die Beyſpiele von dem Zuſammen - wachſen der gepfropften thieriſchen und Pflanzentheile mit ihren Staͤmmen. Es waͤchſt der Sporn eines Hahns auf ſeinem Kamm und wird zum Horn, und die Wun - den an Thieren und Baͤumen wachſen zuſammen. Die Erklaͤrungen, welche Hr. Bonnet uͤber dieſe Erſcheinun - gen gegeben hat,*)Kap. XII. ingl. Art. 271. halte ich fuͤr richtig, nur nicht fuͤr vollſtaͤndig. Der Wulſt an dem Pfropfreis, der Cal - lus und das Horn, das aus dem Sporn entſtehet, ſind nichts als Entwickelungen von Fibern, die ſchon da ſind; und wenn wir der Deutlichkeit wegen nur bey dem letztern Beyſpiele ſtehen bleiben, ſo iſt das Horn eben daſſelbige mit dem auf eine etwas andere Art entwi - ckelten Sporn, der, von ſeiner natuͤrlichen Stelle abge - ſchnitten und auf den Kamm des Hahns gepfropft, hier gleichſam in einen neuen Boden verſetzt iſt, wo er an - dere Saͤfte antrifft, die nun den Sporn zu einem Horn entwickeln. Jngleichen wenn das eingeſenkte Pfropf - reis in den Stamm hineinwaͤchſt, ſo geſchieht ſolches durch eine Entwickelung ſeiner Fibern.

J i 5Aber506XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

Aber iſt es dieß alles, was hier vorgehet? Kommt das neue Horn auf dem Kamm des Hahns nicht in eine Verbindung mit den Gefaͤßen des Kamms, und dadurch mit dem Kopf und mit dem ganzen Koͤrper des Hahns? und kommt es nicht in eine naͤhere Verbindung damit, als die Verbindung iſt, worinn eine Pflanze mit dem Boden ſtehet, aus dem ſie ihre Nahrung ziehet? Ge - hen nicht in jenem Fall die ſich entwickelnden Faſern in dem Sporn, mit den ſich entwickelnden Gefaͤßen in dem Kamm in ein Ganzes zuſammen? und machen nicht alſo dieſe ſich einander begegnenden und ſich vereinigenden Fibern ein neues organiſches Ganzes aus? Jſt nicht da - durch eine neue, aus ihrer Vereinigung entſtandene Form geworden? Vereiniget ſich nicht auf eine aͤhnliche Weiſe der gepfropfte Zweig mit dem Stamm zu Einem orga - niſchen Ganzen, zu einem Baum? Und wie iſt dieſes begreiflich oder moͤglich, wenn nicht die Netze, Maſchen und Rauten aus dem Stamme und aus dem Pfropfreis ſich ineinander ſchlingen, ſich vereinigen und dadurch neue Formen und Gefaͤße machen, durch welche die Saͤfte nachher uͤbergehen, die ſich Stamm und Zweig einander mittheilen? Dieſe Zwiſchennetze oder Canaͤle koͤnnen doch nicht durch die Entwickelung allein entſtanden ſeyn, ſondern erfodern nothwendig außer dieſer eine Verbin - dungsart der Gefaͤße, die ſich entwickeln, und dann zu - ſammengehen und vereinigen. Soll etwan die genaue Vereinigung der zuſammengewachſenen Koͤrper gelaͤug - net, oder ſoll ſie fuͤr nichts mehr als eine ſolche Verbin - dung gehalten werden, worinn die Erde, welche die Wurzeln eines Baums umgiebt, mit dieſen Wurzeln ſtehet? Hier iſt kein Aneinanderwachſen. Die Erde und die Wurzeln machen kein organiſches zuſammenge - wachſenes Ganzes aus. Kann es gelaͤugnet werden, daß jenes mehr ſey?

Die507und Entwickelung des Menſchen.

Die Erfahrung lehret, daß die Verbindung zwi - ſchen zuſammengewachſenen Theilen an den Stellen, wo ſie ſich vereiniget haben, oftmals ſtaͤrker iſt, als ſelbſt die Theile, welche zuſammengewachſen ſind, an ſich waren. Die Stelle des Bruchs an dem Knochen, wo die getrenn - ten Theile wieder zuſammengebracht ſind, iſt ſo ſtark und ſtaͤrker, als der Knochen vor dem Bruch an eben der Stelle war. So wenig ein Zweig, der nicht gepfropfet iſt, von dem Stamm abgeſondert werden kann, ohne Zerreißung einiger Faſern, ſo wenig laͤßt ſich dieſes mit dem gepfropften auch thun. Das Wenigſte alſo, was man aus den angefuͤhrten Beobachtungen ſchließen kann, iſt, daß neue organiſche Ganze durch die Vereinigung organiſcher Theile entſtehen koͤnnen, indem dieſe, jeder fuͤr ſich allein, ſich entwickeln und dann zuſammengehen. Es giebt alſo eine Art, wie organiſche Formen erzeuget werden, die ihr Daſeyn der Vereinigung mehrerer Fi - bern verdanken, und vorher nicht exiſtirt haben.

Dieſe angefuͤhrten Fakta ſind ſolche, welche zu der Jdee, daß neue Formen entſtehen, nothwendig hinfuͤh - ren. Die Menge der uͤbrigen, worauf große Natur - kuͤndiger ihren Begriff von der Epigeneſis gebauet ha - ben, ſind faſt alle von der Art, daß ſie zur Beſtaͤtigung deſſelbigen Begriffs zu gebrauchen ſind. Es mehret ſich die Anzahl der Falten, der Faͤcher und Abtheilungen in den Blaͤttern, wenn ſie auswachſen, und der Ringe an den Wuͤrmern, deren abgeſchnittene Enden wieder an - wachſen. *)Bonnets Abhandl. aus der Jnſektologie von Hr. Goͤtze uͤberſetzt S. 196.Dieß wird zwar alles von Hr. Bonnet fuͤr nichts anders als fuͤr eine neue Entwickelung von Ringen angeſehen, wozu die Grundformen ſchon vor - handen waren; aber es iſt nirgends von ihm auf dieſe Art vollſtaͤndig erklaͤrt worden. Man begreift ihreEntſte -508XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtEntſtehung gewiß leichter, wenn man annimmt, daß auch zugleich neue Formen entſtehen, indem die Maſſe des organiſirten Koͤrpers vergroͤßert wird.

5.

Die Natur ſcheinet uns alſo Eine Entſtehungsart neuer Formen offenbar genug vor Augen zu legen. Jn den angefuͤhrten Beyſpielen ſind es aͤußere und ganz zu - faͤllige Umſtaͤnde, die ihre Erzeugung veranlaſſen. Jſt dieſe Entſtehungsart neuer Formen, naͤmlich durch die Entwickelung der vorhandenen Formen und durch ihre Verbindung, wirklich vorhanden: ſo hat man ſchon ge - nug, um den unwahrſcheinlichen Folgerungen, beſon - ders von dem Einſtecken der Keime in einander, auszu - weichen, die mit dem Syſtem der durchgaͤngigen Evo - lution verbunden ſind. Zugleich macht dieſe Entſte - hungsart es begreiflich, wie neue Gefaͤße und Abaͤnde - rungen in der Strucktur auch durch aͤußere Umſtaͤnde veranlaßt werden koͤnnen, die durch die Vorherbildung im Keim zwar moͤglich waren, aber nicht durch ſie be - ſtimmt ſind. Dieß iſt ein ſehr wichtiger Unterſchied.

Ob dieß die einzige Art ſey, wie neue Formen ent - ſtehen, oder nicht, iſt eine neue ſchwere Frage. Kann nicht auch eine neue Bildung, in dieſem oder jenem Thei - le eines Thiers oder einer Pflanze, durch die oben er - klaͤrte Appoſition entſtehen, wie der Hr. Etatsrath Muͤller die Erzeugung der Schneckenhaͤuſer erklaͤret, und, was ich dem Urtheil dieſes großen Mannes zu - traue, richtig erklaͤret? Hr. Wolf, der auf dieſelbige Art manche Gefaͤße in dem menſchlichen Koͤrper entſte - hen ließ, hat, wie oben erinnert worden iſt, ſeine Mei - nung in etwas geaͤndert. Soll ich indeſſen eine Muth - maßung wagen, die ſich mir von ſelbſt dargeboten hat, da ich die verſchiedenen Beobachtungen uͤber die Erzeu - gung organiſirter Koͤrper geleſen und uͤberdacht habe: ſogeſtehe509und Entwickelung des Menſchen. geſtehe ich, daß mir kein Beyſpiel von ſolchen neuen Gefaͤßen, die mit der vorhergehenden Organi - ſation ein neues organiſirtes Ganzes ausmachen, erinnerlich ſey, wo nicht zugleich auch eine Entwicke - lung vorgegangen, und wo die neue Form nicht bloß aus einer Verbindung mehrerer ſich entwickeln - der Theile, die an einander gebracht ſind, entſtanden ſeyn koͤnne. Jch will dieß deutlicher erklaͤren. Man unterſcheide zween Faͤlle. Wenn bloß eine gewiſſe Ma - terie, auf eine gewiſſe Art, oder in einer gewiſſen Form und Ordnung, aus dem organiſchen Koͤrper hervorge - het, abgeſetzet wird und dann in dieſer Form erhaͤrtet, wie bey den Schalen der Schnecken, bey den Naͤgeln und bey den Hoͤrnern der Thiere, und ſonſten: ſo kann man dieſen neuen Anwachs faſt fuͤr nichts anſehen, als fuͤr eine bloße geformte Materie, die zwar mit dem Koͤr - per vereiniget iſt und in ſo weit durch Gefaͤße mit ihm zuſammenhaͤngt, aber fuͤr ſich innerlich kein organiſirter Koͤrper mehr iſt, noch als ein neues Gefaͤs in demſelben zu betrachten. Es iſt wahrſcheinlich, daß ſolche Theile durch eine Appoſition entſtehen, oder durch eine Excre - tion gewiſſer Saͤfte nach einer Stelle hin, welche da - ſelbſt gerinnen und verhaͤrten, und allmaͤlich, wie die Naͤgel, weiter hervorgeſchoben werden. Dieß kann nun, von einer Seite betrachtet, eine Evolution ſeyn, naͤmlich in demjenigen Gefaͤße, welches die Beſtand - theile dieſer unorganiſchen Theile hervortreibet. Viel - leicht aber iſt es auch nicht einmal eine eigentliche Evo - lution in dieſem Gefaͤße, ſondern eine bloße Excretion der Saͤfte; wiewohl in den meiſten Faͤllen eine Evolu - tion vorkommt.

Allein dagegen wird man vielleicht kein Beyſpiel eines eigentlichen Gefaͤßes in den Thieren oder Pflan - zen finden, welches nicht eine Evolution ſchon vorhan - dener Gefaͤße erfodere, und wenn es neu entſtanden iſt,510XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt iſt, anders als durch die Verbindung mehrerer ſolcher ſich entwickelnder Theile entſtanden ſey. Dieß iſt, meiner Meinung nach, der große Satz, den man aus allen Beobachtungen, die Hr. Bonnet geſammlet hat, und aus ſeinen ſpeciellen Erklaͤrungen abſtrahiren kann. Es lieget das alles bey weitem nicht darinnen, was die - ſer Philoſoph in ſeiner Jdee von der Evolution zuſam - mennimmt; aber es zeiget ſich die große Wichtigkeit des Begriffs von der Evolution, und lehret, daß die Natur, wenn ſie organiſirte Weſen oder Gefaͤße for - met, uͤberall eine Entwickelung vorhandener Gefaͤße ver - anſtalte, wenn gleich noch etwas mehreres hinzukommt, um die ganze Arbeit zu vollenden.

Es iſt faſt nicht moͤglich irgend eine organiſche Konkretion (II. 9.) ſich vorzuſtellen, eine ſolche naͤmlich, wodurch eine Organiſation entſteht, und nicht bloß eine unorganiſche Materie geformet wird, wenn man nicht die organiſirenden Urſachen, die ſich zu der neuen organi - ſchen Form vereinigen, als ſich entwickelnde Urſachen gedenket, die ſich vereinigen, indem ſie ſich entwickeln. Denn wenn jede dieſer Urſachen nur bloße unorganiſche Materie abſetzet, und dieſe Materie geordnet und verei - niget wird: ſo entſtehen zwar Excretionen, dergleichen die Steine in den thieriſchen Koͤrpern ſind, aber keine organiſchen Gefaͤße; wenigſtens iſt es ſchwer zu begrei - fen, wie ſie dazu werden koͤnnten.

Hr. Bonnet hat es oft wiederholt, es ſey unmoͤg - lich das Entſtehen organiſirter Koͤrper, und auch der einfachſten Formen oder Maſchen, mechaniſch zu erklaͤ - ren. Jn manchen Hinſichten kann man dieſe Berner - kung fuͤr richtig halten. Die mechaniſche Zuſam - menfuͤgung iſt unendlich einfach, in Vergleichung mit je - der organiſchen, und kann daher die Mannichfaltig - keit in der Verbindung nicht hervorbringen, welche in der letztern enthalten iſt. Aber man koͤnnte ihm noch ineiner511und Entwickelung des Menſchen. einer weitern Bedeutung Recht geben. Wenn eine neue Form, eine neue Fiber oder eine neue Raute bey derje - nigen oder innerhalb derjenigen entſtehen ſoll, die ſchon vorhanden iſt: ſo folget aus den obigen Betrachtungen (III. 1. 4. ) daß dieſes allerdings geſchehen koͤnne und ge - ſchehen muͤſſe, wenn die hinzugekommene Materie auf eine ſolche Art aneinander gebracht wird, wie es der Na - tur der ganzen formenden Organiſation gemaͤß iſt. Denn in dieſem Fall muß ihre Verbindung unendlich mannich - faltig und organiſch ſeyn. Wenn ferner die hiebey vor - kommende Wirkungsart naͤher betrachtet wird, ſo kom - men wir auch auf mehrere naͤhere Beſtimmungen, die hiebey moͤglich ſind. Die zuſammengebrachte Materie kann von den formenden Gefaͤßen ſo nebeneinander ge - legt werden, es koͤnnen z. E. die Saͤfte aus allen Poris einer Fiber abgeſondert und dann ſo vereiniget werden, daß ſie nun ſelbſt eine neue Fiber ausmachen, wie die Ap - poſition es erklaͤret. Und wenn das naͤmliche an allen Seiten einer Maſche oder Raute geſchieht, ſo wird eine neue Maſche oder Raute gebildet ſeyn. Wenn es ſo iſt, ſo geht hier nichts vor, als eine Vereinigung der auf eine ſchickliche Art abgeſonderten Saͤfte, ohne eine Ent - wickelung der Formen oder Fibern, welche da waren und formten. Allein wenn man nun zugleich auf den vorher gemachten Unterſchied zwiſchen einer bloß un - organiſchen Excretion, und zwiſchen einer neuen organiſchen Form, Ruͤckſicht nimmt: ſo wird man es doch nicht ſo leicht begreiflich finden, wie die letztere auf die erwehnte Weiſe erzeuget werde? Dagegen wenn die vorhandenen Fibern ſich entwi - ckeln, die Materie inwendig in ſich aufnehmen, ſich veraͤhnlichen, dann ſich ausdehnen und hie und da Sproſ - ſen hervortreiben, die, indem ſie hervorgehen, mit ein - ander zuſammenkommen, ſich fuͤgen und zu einer Fiber, Raute, Maſche, ſich verbinden: ſo iſt es leichter zu be -greifen512XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtgreifen, wie daraus eine neue Maſche entſtehen koͤnne. Jch ſage nicht, es ſey unmoͤglich, daß neue Formen ohne Entwickelung der vorhandenen durch eine Appoſi - tion entſtehen; aber ich ſage, es ſey begreiflicher, wenn man jene zu Huͤlfe nimmt. Je einfacher die neuen or - ganiſchen Formen ſind, deſto mehr mag ihre Erzeugung eine bloße Appoſition ſeyn, und deſto weniger von einer Entwickelung enthalten; ſo wie bey andern umgekehrt das meiſte eine Evolution ſeyn kann. Aber ich meine, die Hypotheſe von der Epigeneſis durch Evolution ſey ſo allgemein, daß auch da, wo die ſimpelſte organiſche Form gemacht, wo nur zwiſchen den vorhandenen Rin - gen oder Gliedern, in der einfachſten organiſirten Fiber, ein neuer Ring, oder ein neues Glied, eingeſtecket wer - den ſoll, die Evolution nicht ausgeſchloſſen werden muͤſſe. Und dieß iſt es, was durch die Beobachtungen wahr - ſcheinlich wird. Es iſt naͤmlich ſo gut als erwieſen, daß in einigen Faͤllen, wo organiſche Koͤrper zu einem Gan - zen zuſammenwachſen, (4.) eine Evolution der vorhan - denen Fibern geſchehe, und daß dieſe in ihren verlaͤngerten, hervorgetriebenen und entwickelten Sproſſen ſich vereini - gen, und dadurch die neuen Formen hervorbringen. Daher iſt es nun der Analogie der Natur gemaͤß, daß beide dieſe Wirkungsarten, in verſchiedenen Graden und Verhaͤltniſſen, aber doch beide zuſammen in jeder Erzeu - gung neuer Theile, ſie moͤgen den vorhergehenden formen - den aͤhnlich oder unaͤhnlich ſeyn, vorkommen werden.

V. Naͤhere513und Entwickelung des Menſchen.

V. Naͤhere Betrachtung der letzterwehnten Hypothe - ſe von der Epigeneſis durch die Evolution.

  • 1) Dieſe Hypotheſe vertraͤgt ſich mit allen Be - obachtungen.
  • 2) Sie laͤßt eine Erzeugung neuer Theile zu, ohne daß eigene Keime zu ſolchen vorhan - den ſind. Von Wiederergaͤnzungen.
  • 3) Sie laͤßt zu, daß Keime erzeuget werden.
  • 4) Wie ferne die neuentſtehenden Formen ſich auf den Keim beziehen, aus deſſen Entwi - ckelung ſie hervorgehen. Jn Hinſicht eini - ger Formen beſitzet der Keim nichts mehr als bloße Empfaͤnglichkeit.
  • 5) Was Anlage, Hang, Tendenz und Trieb zu etwas ſey. Was weſentliche oder un - abaͤnderliche Naturtriebe und Formen ſind.
  • 6) Wie die weſentlichen Formen in dem Keim beſtimmt ſind, nach der Hypotheſe der Evo - lution und nach der Epigeneſis.
  • 7) Wie bloße Vermoͤgen in naͤhere Anlagen, und dieſe in Tendenzen uͤbergehen.
  • 8) Allgemeine natuͤrliche Geſchichte der Er - zeugung und Entwickelung organiſirter Weſen.

1.

Laßt uns den letztern Begriff von einer Epigeneſis durch die Evolution, oder von der Evolution, welche durch neue Verbindungen neue Formen hervor - bringet, eine Weile vor uns ſtellen. Ohne daß ich den geringſten Hang haͤtte, die Zahl der Hypotheſen uͤberII Theil. K kdie514XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtdie Entſtehung organiſirter Koͤrper zu vermehren, bietet ſich mir dieſe doch bey der Vergleichung der Beobach - tungen von ſelbſt ſo natuͤrlich dar, wie ſich jemals eine andere ihrem Erfinder dargeboten hat. Jch habe es alſo der Muͤhe werth gehalten, ſie etwas naͤher zu be - leuchten, und von mehrern Seiten zu betrachten. Nach meinem lebhaften Gefuͤhl von der Schwaͤche menſchli - cher Kraͤfte, wenn es darauf ankommt, die Natur zu entziffern, auch nur ſo weit, daß uns ihre groͤbſten Buchſtaben, nur ihre allgemeinen Aufſchriften leſerlich werden, bin ich darauf gefaßt zu erfahren, daß Maͤn - ner von ausgebreiteter Einſicht entdecken, es ſey auch dieſe Jdee ſo einſeitig und unvollſtaͤndig wie alle uͤbri - gen, wenn nicht ganz ein Jrrthum.

Daß es irgends eine neue Form in einem organiſirten Koͤrper, die ſelbſt Organiſation enthaͤlt, geben ſollte, welche auf eine andre Art, als durch die Entwickelung vorhergehender und in neue Verbindungen gebrachter Formen entſtanden ſey, iſt nach dem, was in dem letz - tern Abſatz davon geſagt worden, unwahrſcheinlich. Jch wiederhole zum Theil die letzten Gedanken. Es entſte - het etwas in den organiſirten Koͤrpern durch die bloße Ausfuͤhrung gewiſſer Saͤfte aus gewiſſen Gefaͤßen, in - dem ſolche Saͤfte ſich anſetzen und verdicken. Aber was durch dieſe bloße Appoſition erzeuget wird, kann ſchwer - lich fuͤr ſich etwas Organiſirtes ſeyn. Denn es iſt ja nicht jeder Theil eines organifirten Koͤrpers ſelbſt etwas Organiſirtes. Die Erfahrung zeiget, ſo viel ich weiß, kein einziges Beyſpiel vor, das dagegen waͤre. So fern ſelbſt in den Auswuͤchſen organiſirter Koͤrper eine Orga - niſation vorhanden iſt, wie bey den Naͤgeln, und bey den Schalen, Hoͤrnern und ſo weiter vorkommen mag, in ſo fern findet ſich auch, daß ſie aus einer Ent - wickelung vorhandener Theile entſtehen. Bis dahin geht das Wahre in der bonnetiſchen Hypotheſe. Da -gegen515und Entwickelung des Menſchen. gegen moͤgen unorganiſche Ableger, fremde Konkretio - nen in den Thieren und Pflanzen durch die Appoſition der von innen hervorgetretenen Theile erwachſen. Und noch mehr, es moͤgen dergleichen vorkommen, die ſo - gar in einer Juxtapoſition gewiſſer Partikeln von außen an die Gefaͤße ſelbſt, oder an die von innen hervorgetre - tenen Saͤfte, ihren Urſprung haben. Dieß kann mit dem Vorhergehenden beſtehen. Aber entſtehen auch neue ſelbſt organiſirte Theile anders, als durch die Ent - wickelung und Verbindung der ſich entwickelnden Ge - faͤße?

Es iſt wahrſcheinlich, daß es keinen einzigen unor - ganiſchen Anſatz in einem organiſirten Koͤrper gebe, wo - bey nicht mehrere Wirkungsarten zuſammenkommen. Giebt es ein Geſchwuͤr, ein Gewaͤchs oder irgend eine Konkretion in dem menſchlichen Koͤrper, welche nicht zum Theil eine Ausdehnung irgend eines Gefaͤßes erfo - dere, und zugleich auch durch das Anſetzen der Saͤfte von innen, und gewiſſer Partikeln von außen, erzeuget werde? Jn dieſem Falle muß ihre Entſtehungsart zu der Evolution oder zu der Appoſition gerechnet werden, je nachdem das meiſte und vornehmſte von der einen oder der andern abhaͤnget. Jndeſſen darf doch keine von dieſen Wirkungsarten fuͤr die alleinige gehalten werden, wenn man ſich einen vollſtaͤndigen Begriff von der Er - zeugung eines ſolchen Theils machen will.

2.

Dieſe Hypotheſe von der Erzeugung neuer Formen laͤßt zu, daß Theile in einem organiſirten Koͤrper ent - ſtehen, wozu kein beſonderer Keim vorhanden war. Jn ſo weit nimmt ſie die Fakta auf, die fuͤr die Epige - neſis ſtreiten. Ein Keim iſt nicht da, wenn nicht ſchon ein gewiſſer organiſirter Koͤrper da iſt, der ein Beſtand - theil des ſich entwickelnden Ganzen wird, und in ſichK k 2das516XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtdas Princip der Bildung concentrirt hat, oder wenig - ſtens den vorzuͤglichſten Theil deſſelben beſitzet. Wozu aber ſolche Keime in den Polypen, woraus abgeſchnit - tene Schwaͤnze und Koͤpfe wieder entwickelt werden? wozu beſondere Keime zu den abgeriſſenen Scheeren der Krebſe, zu den Ringen in den Wuͤmern, die das Meſ - ſer weggenommen hat, und zu den Fuͤßen in dem Sa - lamander? Dieſe ſcharfſinnige Metaphyſik des Hrn. Bonnets uͤber die Urſachen, warum aus dem Keim in Polypen dann nur das Kopfende entwickelt wird, dann das Schwanzende, wenn jenes oder dieſes abgeſchnitten iſt, kann ganz wegfallen. Es bedarf der ſich ergaͤnzen - de Kopf keinen Keim, ſo wenig als der Schwanz. Wollte man ja hier ſich des Ausdrucks von Keim be - dienen, ſo muͤßte man ſagen, der zuruͤckgebliebene Schwanz des Polypen ſey der Keim, woraus der Kopf hervorwaͤchſet; und der zuruͤckgebliebene Kopf ſey der Keim zu dem Schwanz, ſo wie der ganze verſtuͤmmelte Salamander der Keim zu dem abgeſchnittenen und wie - deranwachſenden Fuß iſt. Denn an der Stelle, wo der Schnitt geſchehen iſt, vereinigen ſich die Enden der Gefaͤße zu einem Ganzen, und dieß Ganze wird, indem jene ſich entwickeln und verlaͤngern und ihre Theile von neuem ſich in gewiſſen Lagen vereinigen, zu dem neuen Fuß ausgewickelt.

3.

Dieſe Hypotheſe laͤßt zu, daß die neuen Saamen und Keime, welche in den Pflanzen und Thieren er - zeuget werden, neu hervorgebrachte organiſirte Koͤrper ſind, von eben der Art, wie diejenigen, aus denen ſie entſtanden, und daß ſie eben ſo voll von Formen und Materie ſind, wie jene. Es iſt auch eben ſo wenig durch die Erfahrung bewieſen, als es eine nothwendige Folge dieſes Begriffs iſt, was Hr. Bonnet nach ſeinerHypothe -517und Entwickelung des Menſchen. Hypotheſe als einen Grundſatz anſehen mußte, daß naͤm - lich jedes organiſirte Ganze, und jeder Theil, auf ein - mal nach allen ſeinen Formen, Netzen, Maſchen vor - handen ſeyn und hervorgebracht werden muͤſſe. Der Einſchlag zu der Kette kann in dem Gewebe der Natur zugleich auch wiederum Kette werden; und die Ausdeh - nung der einzelnen Rauten in den Netzen die Rauten ſelbſt vermehren, ſo wie das Netz im Ganzen vergroͤſ - ſert wird.

Es gehoͤret zu der Naturlehre es naͤher aus Beob - achtungen zu beſtimmen, wie ferne die Anlage des thie - riſchen Koͤrpers in den Eyern enthalten ſey? und wie viel der maͤnnliche Saame zu dem vollſtaͤndigen frucht - baren und ſich entwickelnden Keim beytrage? Es ſcheint auf einer Seite entſchieden zu ſeyn, daß das Thier im Ey (pullus in ovo)*)Bonnet v. d. organiſ. Koͤrp. Art. 142. u. ff. enthalten iſt. Aber ob es eben ſo entſchieden iſt, daß der ganze befruchtete Keim mit allen ſeinen Formen dem Weibchen allein zugehoͤre? ob der Saame des Maͤnnchens nichts weiter hinzuthue, als den Reiz, und die Kraft zur Entwickelung, und die erſte zubereitetſte Nahrung zum Wachſen? dieß iſt eine andere Frage. So viel lehret die Erfahrung bey den Baſtarten und bey den Abweichungen in der Struktur des Koͤrpers, die in gewiſſen Familien, ſo wohl von dem Vater als von der Mutter, auf die Kin - der gehen, daß auch in demjenigen, was von dem Man - ne hinzukommt, etwas enthalten ſeyn muͤſſe, woraus Formen werden, die ſonſten nicht entſtanden ſeyn wuͤr - den. Hr. Bonnet erklaͤret dieß aus der Verſchieden - heit der Verhaͤltniſſe, worinn die vorhandenen Formen ſich entwickeln. Aber wenn einmal angenommen wird, daß neue Formen entſtehen, ſo kann eben ſo wohl die Vereinigung der Saamenfeuchtigkeit mit dem Ey inK k 3den518XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtden Formen des letzten Modifikationen hervorbringen, die wie neue Formen zu betrachten ſind.

Das Syſtem des Hrn. Grafen von Buffon ging dahin, daß die Erzeugung der Thiere von verſchiedenen Geſchlechten durch eine organiſche Konkretion ge - ſchehe. Die Feuchtigkeiten aus beyden Geſchlechten, die jede aus belebten Atomen beſtehen, ſollten ſich verei - nigen. Aus dieſer Vereinigung ſollte die organiſirte Anlage zum Thier werden, die nach der Befruchtung den Anfang des Embryons ausmacht. Jch glaube, daß die Beobachtungen, welche Hr. Bonnet dagegen ange - fuͤhret hat, hinreichen, die Unrichtigkeit, oder wenig - ſtens die Unwahrſcheinlichkeit, dieſer Jdee zu beweiſen. Denn das Ey enthaͤlt ſchon den Abriß von den Theilen des Hahns, auch vor der Befruchtung. Aber wenn von Moͤglichkeiten aus den Begriffen die Rede iſt, ſo getraue ich mir nicht, dieſe Meinung ſo weit wegzuwer - fen, als Hrn. Bonnet es gethan hat. Es kommt ſehr darauf an, wie ſie naͤher beſtimmt wird. Sollte die Saamenfeuchtigkeit im Maͤnnchen, welche, auch nach des Hr. Bonnets Erklaͤrung, als ein Extrakt ſeines ganzen Koͤrpers anzuſehen iſt,*)Art. 39. und ſo vielerley Arten von Elementen enthaͤlt, als ſich im Keime befinden, nicht etwan ein organiſirter Auswurf desjenigen Koͤr - pers ſeyn, wovon er entſtehet? kann er nicht in dem Moment der Erzeugung entwickelt, nach der Entwicke - lung von ihm abgeſondert, und mit dem organiſirten Ey zu einem neuen Ganzen verbunden werden? Soll - te nicht das Ey in demſelbigen Augenblick durch eine ſtarke Aktion des organiſirten Koͤrpers eine Entwickelung annehmen? Auf dieſe Art ließe die Erzeugung ſich noch immer, als eine neue Produktion einer gewiſſen Form durch die Vereinigung mehrerer ſich entwickeln -der519und Entwickelung des Menſchen. der Theile, anſehen. Jch halte es nicht fuͤr wahrſchein - lich, daß es voͤllig ſo ſey. Es naͤhert ſich dieſe Entſte - hungsart zu ſehr der bloßen Appoſition, und es ſcheinet das große Werk der Erzeugung bey den Thieren mehr in einer Evolution zu beſtehen, die in dem Keim in dem Weibchen anfaͤngt. Eine andere Entſtehungsart neuer Organiſationen anzunehmen, als dadurch, daß ſich ent - wickelnde Theile auf eine neue Art vereiniget werden, da - zu fehlet es gaͤnzlich an Gruͤnden. Daher die buffo - niſche Meinung hoͤchſtens eine Meinung iſt, die et - was moͤgliches vorausſetzet. Man ſieht aber doch, wie nahe die eine Art zu erklaͤren der andern gebracht werden koͤnne, wenn man ſie genauer entwickelt. Die Excre - tionen unorganiſcher Materien aus organiſirten Koͤrpern bringen keine Organiſation hervor. Allein wenn das, was auf beyden Seiten in dem einen und in dem andern Geſchlecht abgeſondert wird, nichts anders als entwi - ckelte und organiſirte Theile ſeyn ſollten, ſo koͤnnte ihre Verbindung unter einander eine neue Organiſation aus - machen, die von jedem einzeln nimmermehr haͤtte bewir - ket werden koͤnnen.

Dasjenige, was Keim des Thiers iſt, es befinde ſich in dem Maͤnnchen oder in dem Weibchen, hat durch eine Vereinigung mehrerer nach einem gewiſſen Punkte gerichteter organiſcher Fibern, die ſich, indem ſie ent - wickelt wurden, ſo zu ſagen, dahin zuſammenbogen, entſtehen koͤnnen. Jſt der Saame oder das Ey die Grundlage, welche die Anfangspunkte zu allen ſich ent - wickelnden Fibern, auf eine gewiſſe Weiſe neben einander liegend, in ſich faßt, ſo koͤnnen dieſe Fibern, wenn ſie ſich bey der Ausbildung des Thiers oder der Pflanze vergroͤßern und verlaͤngern, auseinander gehen und in unzaͤhligen Richtungen divergiren, aber dennoch eine urſpruͤnglich ihnen anklebende Tendenz beybehalten, nach Einem ſolchen Vereinigungspunkte wieder zuſammenzu -K k 4laufen.520XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtlaufen. Der Keim, der ſich entwickelt, iſt die Stelle wo ſie ausgehen; und die Punkte am Eyerſtock ſind vielleicht die Stellen, wohin ſie wieder zuſammenlaufen. Jn dieſen Zeugungstheilen iſt gleichſam der Mittelpunkt der ganzen Organiſation. Sie ſelbſt, als die Werkzeu - ge, welche zunaͤchſt zu dieſem Mittelpunkte hinfuͤhren, ſind ohnedieß mit ſo bewundernswuͤrdiger Kunſt einge - richtet, daß man ſie nach Hrn. Bonnets Ausdruck als Urbilder*)Art. 90. der vornehmſten Eingeweide des Thiers anſehen kann. Wenn das iſt, ſo wird die obige Vor - ſtellung von dem Keim, als von einem Brennpunkte der Organiſation, beſtaͤtiget.

4.

Nach der bonnetiſchen Evolutionshypotheſe ent - haͤlt der Keim alle weſentlichen Theile des ganzen Koͤr - pers. Dieß heißt in der That eben ſo viel, als alle Formen, die in demſelben vorkommen, nur |die Materie nicht. Es erlaubet zwar dieſer Begriff, daß die Figu - ren, die bey der Ausbildung entſtehen, bey den Baſtar - ten und Mißgeburten von der Nahrung und von aͤußern Umſtaͤnden beſtimmet werden, zum Theil wenigſtens; aber dieſe neuen Abaͤnderungen der Organiſation haben allein ihren Urſprung in den verſchiedenen Verhaͤltniſſen, in welchen die urſpruͤnglichen Formen im Keime ſich ausdehnen. Damit muß doch ſo viel auch eingeraͤumet werden, daß der Keim in Hinſicht einiger Geſtalten des organiſirten Koͤrpers, welche abgeaͤndert werden koͤnnen, ſich nicht voͤllig ſo verhalte, als in Hinſicht anderer, die nur auf Eine Art vorhanden ſeyn, und ohne Zerſtoͤrung des ganzen Keims keine Veraͤnderung leiden koͤnnen.

Solche Verſchiedenheiten unter den Bildungen be - ſonderer Theile, davon einige durch den Keim voͤlligund521und Entwickelung des Menſchen. und einfoͤrmig beſtimmt ſind, andere weniger, in Hin - ſicht deren der Keim bloß ein Vermoͤgen beſitzet ſie an - zunehmen, finden ebenfalls ſtatt, wenn die Epigeneſis durch die Entwickelung zum Grunde geleget wird; und in dieſer letztern Hypotheſe in derſelbigen Maße, nicht mehr oder weniger als in der erſten; nur mit dem Unterſchiede, daß bey der letztern die Abaͤnderungen der - geſtalt als neue hinzugekommene Formen angeſehen wer - den, da ſie in dem Evolutionsſyſtem nur Abaͤnderungen der Verhaͤltniſſe ſind, worinn die urſpruͤnglichen For - men ſich entwickeln. Diejenigen Formen, welche durch die Organiſation des Keims voͤllig und auf dieſelbige Art beſtimmt ſind, machen die weſentlichen und un - veraͤnderlichen Formen der Organiſation aus; die uͤbrigen ſind zufaͤllige, außerweſentliche, veraͤn - derliche.

Dieſe Unterſcheidung, und ihre genauere Beſtim - mung, verbreitet ſo viel Licht uͤber unſern Begriff von der Generation, daß man in jeder Hypotheſe, die man annimmt, dabey nothwendig verweilen und ſie ſo deut - lich als moͤglich auseinanderſetzen muß. Der Keim iſt als ein wirkliches Ding in aller Hinſicht beſtimmt, und in ſo ferne gegen keine einzige von den Modifikatio - nen voͤllig gleichguͤltig und unbeſtimmt, die in dem naͤchſtfolgenden Augenblick der Entwickelung durch ſeine innere Struktur, und durch den Einfluß der Nahrung und der uͤbrigen aͤußern Umſtaͤnde, in ihm hervorge - bracht werden. Jedwede noch ſo zufaͤllige Veraͤnderung hat mehr oder minder Beziehung auf ſeine dermalige Einrichtung; iſt ihr mehr oder minder gemaͤß, oder mit andern Worten: die bildenden aͤußern Urſachen, welche dazu beywirken, aͤndern die ſchon vorhandene Richtung der innern Lebens-und Entwickelungskraͤfte, und die dadurch beſtimmte Lage der Theile, mehr oder weniger. Woraus folget, daß, ſo indifferent auch die hinzukom -K k 5mende522XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtmende Modificirung in Hinſicht der innern Vermoͤgen und Anlagen im Keim ſcheinen mag, ſie es dennoch nicht ganz vollkommen iſt. Man muß ſich vorſtellen, es ſey entweder eine Anlage dazu in dem Keim, oder ein Hang, vorhanden geweſen, wenn ſie ihm gemaͤß iſt; oder wenn ſie ihm nicht gemaͤß iſt, eine Keluktanz dagegen, welche uͤberwunden worden iſt. Der Keim beſitzet alſo zu jeder neuen Form, oder zu jeder neuen Entwickelung ſeiner Formen, entweder eine Anlage oder ein Unvermoͤ - gen. Beides aber faßt mehr in ſich, als eine bloße Receptivitaͤt, ſolche von fremden Urſachen anzu - nehmen.

Gleichwohl hindert dieß nicht, in der Anwendung dieſer allgemeinen Betrachtung auf die Erfahrungen, den Keim mit allen ſeinen Anlagen in Hinſicht man - cher neuen Modifikationen, die ihm in dem naͤchſtfolgen - den Moment beygebracht werden, als gleichguͤltig an - zuſehen. Seine naͤhere Beſtimmtheit zu der Einen, oder zu der entgegengeſetzten, kann ſo unendlich geringe ſeyn, daß ſolche mit allen ihren Folgen niemals bedeu - tend genug wird, um beobachtet werden zu koͤnnen. Sie gehoͤret alſo zu ſolchen Dingen, die zwar in der Theorie, wie andre individuelle Verſchiedenheiten, nicht ganz ein Nichts ſind, in der Anwendung aber und bey der Be - obachtung aus der Acht gelaſſen werden moͤgen. Dieſe Bemerkung berechtiget uns, eine eigene Art von Mo - dificirungen des Keims als eine ſolche anzuſehen, in Hinſicht derer nichts mehr als bloße Empfaͤnglich - keit, bloßes leidendes Vermoͤgen ſie anzunehmen, und Vermoͤgen ſie zu entbehren, in ihm und in ſeinen ur - ſpruͤnglichen Formen vorhanden iſt.

5.

Aber was nun die uͤbrigen betrifft, zu welchen in ihm ſchon eine naͤhere Anlage vorhanden iſt, oder einemehr523und Entwickelung des Menſchen. mehr beſtimmte Unfaͤhigkeit: wie unendlich verſchie - den an Graden und Stufen kann die Beſtimmtheit da - zu nicht ſeyn?

Jede naͤhere Beſtimmtheit kann ſchon eine Anlage genannt werden, und dieſe eine Faͤhigkeit, inſoferne ſie beſonders in den wirkſamen Kraͤften geſetzt wird.

Eine noch ſtaͤrkere Anlage iſt ein Hang, wenn uͤberhaupt die innern Beſtimmungen, die Lage der Theile und die Beziehung der Kraͤfte auf einander mehr da - hin gehen, daß dieſe als eine andere Form entwickelt wird. Dieſer Hang wird Tendenz, wenn es beſonders auf die Richtung der thaͤtigen Kraͤfte dabey ankommt. Ein noch hoͤherer Grad der Tendenz wird Naturtrieb, Jn - ſtinkt.

Je hoͤher dieſe Grade der Beſtimmtheit zu einer Form ſind, deſto weniger laͤßt ſich ſolche durch den Ein - fluß der aͤußern mitbildenden Urſachen abaͤndern. Der Keim muß eine deſto groͤßere Gewalt leiden, je ſtaͤrker ſeiner Anlage entgegengearbeitet wird. Wenn die Be - obachtungen an den Baſtarten und Mißgeburten, und die wir von den auf die Kinder fortgepflanzten Beſchaf - fenheiten der Eltern haben, uns nicht lehrten, daß es wiederum unter dieſen, durch den Keim beſtimmten Formen, noch eine große Verſchiedenheit gebe: ſo moͤchte man ſich vielleicht berechtiget halten, die naͤhern Be - ſtimmungen dieſer Unterſchiede fuͤr leere metaphyſiſche Subtilitaͤten zu halten. So aber ſind die Beobachtun - gen fuͤr uns unverſtaͤndlich, wenn man an dieſe Subti - litaͤten nicht will.

Entweder laͤßt die Naturanlage ſich abaͤndern, ohne daß der Keim geſtoͤret und ſeine Entwickelungskraft vernichtet werde, oder ſie iſt ſo unabaͤnderlich, daß Hin - derniſſe, welche die Entwickelung in einer gewiſſen Form unmoͤglich machen, zugleich auch die ganze Entwickelung aufheben. Die Formen von der letztern Art gehoͤrenvor524XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtvor allen uͤbrigen zu den weſentlichen Formen und zu denen, welche allein und vollkommen durch die Orga - niſation des Keims beſtimmt ſind. Theile, die keinem menſchlichen Weſen, auch den Mißgeburten nicht, ge - fehlet haben und fehlen koͤnnen, ſind ohne Widerrede weſentliche Formen. Welche Theile gehoͤren aber hieher in dem menſchlichen Koͤrper? Dieß wuͤrde durch die Vergleichung zu beſtimmen ſeyn. Das Herz und deſſen Trieb iſt nach dem Urtheil des groͤßten Koͤrper - kenners, des Hrn. von Haller,*)Memoire II. ſur le poulet. Sect. IV. ſchlechthin unentbehr - lich zur Entwickelung der Frucht. Das Herz gehoͤrt alſo zu den erſten weſentlichen Formen des Keims vom menſchlichen Koͤrper.

Allein nach einer neuern Beobachtung einer ſieben - monatlichen Mißgeburt,**)Der Verfaſſer der Beſchreibung dieſer Mißgeburt, welche 1776 zu Leipzig bey Boͤhmen herausgekommen iſt, meinet, daß ſie vielleicht noch wohl habe leben koͤnnen. Dieß iſt ſchwer zu glauben. Er zieht auch noch andere Folgen daraus gegen das Evolutions - ſyſtem, die damit eben ſo vereiniget werden koͤnnen, wie die uͤbrigen Erfahrungen von Mißgeburten. Man wird freylich der Epigeneſis geneigt, wenn man dieſe betrachtet: aber dennoch kann die letztere nicht voͤllig dadurch bewieſen werden. Hr. Bonnet weis auch die Mißgeburten aus der Evolution zu erklaͤren. welche zu Halle im Jenner 1775 ohne Hals, Bruſt, Arme, Herz, Luftroͤhre, Lunge, Zwerchfell, Leber, Milz, Nieren, zur Welt gekommen iſt, ſcheinet es, als wenn auch nicht einmal ein Herz, ſo wenig als irgend einer dieſer Theile, ſo ſchlechterdings nothwendig in dem Jnnern des Keims beſtimmt ſey, daß keine Entwickelung ohne in ſolche For - men ſtatt finden koͤnne. Eine vollkommene Entwicke - lung kann nicht ohne ſie ſeyn.

Man525und Entwickelung des Menſchen.

Man kann noch weiter gehen. Formen die noth - wendig ſind, wenn der Keim bis zur lebendigen Ge - burt entwickelt werden ſoll, ſind dennoch entbehrlich, wenn die Entwickelung noch unvollkommener, und doch noch eine Art von Entwickelung bleiben ſoll. Soll - ten nicht in den ſogenannten Mondkaͤlbern Beweiſe liegen, daß ein Anfang von Entwickelung vorgehen koͤnne, obgleich ſolche bald in Unordnung gerathe und endlich in eine bloße Appoſition, aus der nur ein unor - ganiſches Gewaͤchs entſtehet, ſo weit noch etwas entſte - het, veraͤndert werde? Hieraus folget nun zwar ſo viel, daß ſelbſt die zur vollſtaͤndigen Frucht unentbehrlichen For - men dieß nur in einer gewiſſen Beziehung ſind, und daß ſolche durch den Keim nur in einer gewiſſen Maße be - ſtimmt ſind. Einige ſind es ſo ſtark, daß jene ſich ohne ſie gar nicht entwickeln kann; andere ſind es ſo weit, daß keine lebendige Frucht in den Thieren ohne ſie erzeu - get wird; andere in der Maße, daß ohne ſie keine le - bendige Frucht entſteht, die ſich zu erhalten im Stande iſt; noch andere ſo weit, daß ohne ſie keine vollſtaͤn - dige Frucht, mit Zeugungsvermoͤgen begabt, entſtehen kann. Ein großer Theil der Mißgeburten iſt unfaͤhig, ſich zu erhalten. Aber die Baſtarte beſtehen, ohne Ver - moͤgen ihr Geſchlecht fortzupflanzen. Jndeſſen kann man hiebey die letztere Nothwendigkeit, naͤmlich zu ei - ner vollſtaͤndigen Frucht, mit Recht als eine gewiſſe Einheit anſehen. Formen, die dazu unentbehrlich ſind, muͤſſen fuͤr weſentliche Formen, und ihre Beſtimmung durch die Organiſation im Keim als eine weſentliche und hinreichende Beſtimmung derſelben betrach - tet werden. Alsdenn werden im Gegentheil alle uͤbrige, ohne welche das Thier und die Pflan - ze ein vollſtaͤndiges, ſich und ſeine Art fortpflanzen - des, Weſen ſeyn kann, unter die zufaͤlligen und auſ - ſerweſentlichen Formen gehoͤren, die zwar mehr oderminder526XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtminder durch den Keim beſtimmt ſind, aber doch nicht in ſolcher Maße, daß die vollſtaͤndige Ausbildung ver - hindert wird, wenn aͤußere Urſachen ſie abaͤndern.

6.

Solche Verſchiedenheiten in den Formen muß das Evolutionsſyſtem eben ſowohl anerkennen, als die Epi - geneſis, obgleich jene nur neue Verhaͤltniſſe in der Aus - dehnung der urſpruͤnglichen Formen des Keims findet, wo die letztere neu entſtandene Formen annimmt. Aber in der Art und Weiſe, wie die weſentlichen Formen in dem Keim beſtimmt ſind, weichen beide von einander ab. Jede Form, welche entwickelt wird, iſt nach der Evolution ſchon vorhanden, und wird nur vergroͤßert an Maſſe. Der Grund, warum ſie ſo ſtark oder ſo ſchwach entwickelt wird, lieget auch in der Beſchaffenheit der Fi - bern, und in ihren urſpruͤnglichen Beziehungen auf ein - ander, aber ſo, daß dieſer Grund durch den Einfluß aͤußerer Urſachen veraͤndert werden kann. Die Fibern, welche zu Knochen werden ſollen, haben urſpruͤnglich ei - ne groͤßere Verbindungskraft, als die zu Muſkelfibern beſtimmt ſind. Die Anfangspunkte zu dem Schwanze und den Ohren in dem Keim des Pferdes ſtehen, in Hinſicht ihrer Entwickelungskraft, in einem innern Ver - haͤltniſſe zu einander. Das Verhaͤltniß in den letztern wird veraͤndert, wenn die Befruchtung des Keims von dem Eſel geſchieht; und in Hinſicht jener giebt es eben - falls zufaͤllige Urſachen, welche die groͤßere Solideſcibi - litaͤt in den urſpruͤnglichen Knochenfibern in der Folge der Entwickelung aufheben koͤnnen.

Nach dem Begriffe von der Epigeneſis erfodern die weſentlich beſtimmten Formen gleichfalls gewiſſe Anla - gen in dem Keim ſo eingerichtet, daß, wenn Nahrunghinzu -527und Entwickelung des Menſchen. hinzukommt und die vorhandenen Fibern ſich entwi - ckeln, dann aus einander gehen, oder zuſammenſchlagen und neue Formen machen, ſolches auch in der Richtung und in der Maße geſchehen muͤſſe, als es wirklich ge - ſchieht. Wenn nun die weſentlichen Fibern im Keim, bey dem Auswachſen, ſich in verſchiedene Richtungen ausdehnen, von einander abgehen und dem Umfang des Koͤrpers mancherley Geſtalten geben: ſo haben ſie dennoch eine Tendenz mit ihren Enden wiederum an den Stellen, wo die neuen Keime und Saamen zu - bereitet werden, als zu ſo vielen Sammlungspunkten zuſammenzugehen, und durch ihre Vereinigung neue Keime und Saamen daſelbſt anzulegen. Dieſe Ten - denz iſt zum Theil ſchon in der urſpruͤnglichen Bezie - hung gegruͤndet, welche die erſten Anfaͤnge der Fibern in dem Keim gegeneinander haben; theils wird ſie durch andere zwiſchen ihnen liegende Materien und Partikeln, wodurch jene verbunden ſind, beſtimmet. Jn ſo weit giebt es eine gewiſſe urſpruͤngliche Form, welche der Grund von derjenigen iſt, die durch ſie beſtimmt wird.

Aber kann dieſe Grundeinrichtung in dem Keim, vermoͤge deren ſeine ſich entwickelnden Theile wiederum in einem aͤhnlichen Keime zuſammengehen, ein Keim zu dem neuen Keim heißen? eine beſondere Anlage, woraus bloß durch die Entwickelung wiederum ein neuer Keim wird? Dieß letztere iſt ein Zuſatz des Witzes und der Einbildungskraft, wodurch die Evolutionshypo - theſe ihr Unterſcheidungsmerkmal empfangen hat. Viel - leicht moͤchte Herr Bonnet, da er die Ausdruͤcke: durch die Bildung des Keims beſtimmt ſeyn, und, der Form nach ſelbſt in dem Keim exiſti - ren, mit einander ſo abwechſelt, daß es ſcheint, als wenn beide ſeinen Sinn auf gleiche Weiſe ausdruͤckten, mit der obigen deutlichen Erklaͤrung, wie die weſentli - chen Formen nothwendig durch die Organiſation imKeim528XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtKeim beſtimmt ſind, zufrieden geweſen ſeyn, und ſol - ches fuͤr eben das gehalten haben, was er nur mit an - dern Worten ſagte und von einer andern Seite vor - ſtellte. Jſt der urſpruͤngliche Grund von der Tendenz der Fibern, ſich weiter zu Keimen zu vereinigen, ſich an mehrern Stellen zugleich zu mehrern Keimen zu vereinigen, nicht ſelbſt eine gewiſſe urſpruͤngliche Ten - denz gegeneinander? oder ſind es nicht mehrere ſolche Tendenzen, wenn mehrere Vereinigungen in der Folge geſchehen? und ſind jene urſpruͤngliche Tendenzen nicht urſpruͤngliche Formen, und im Kleinen das, was nach - her im Großen entſtehet? und alſo Anlagen zu den neuen Keimen? Man koͤnnte hinzuſetzen, daß nach der allge - meinen Analogie zwiſchen einem beſtimmten Grunde und zwiſchen dem, das durch ihn beſtimmt wird, das letztere als eine Abbildung von dem erſtern, und das erſtere als ein Anfang von dem letztern, und als ein Grund - riß von ihm angeſehen werden muͤſſe. *)Erſt. Verſuch. II. Allein wenn man, ſo wie es ſeyn muß, die Begriffe deutlich zu be - ſtimmen ſucht, ſo wird man finden, die Phantaſie habe etwas von dem Bilde des Ausdrucks dem Eigentlichen der Sache beygemiſchet.

Denn wenn in dem Keim nichts mehr iſt, als der beſtimmende Grund zu einem neuen Keim, oder zu jedwedem andern Gliede, Theil oder Form des entwi - ckelten Koͤrpers, ſo heißt dieß weiter nichts, als ſo viel: wenn der ſo gebildete Keim die gehoͤrige Nahrung ein - ziehet und unter die aͤußern Umſtaͤnde geſetzet iſt, ohne welche ſeine Entwickelung nicht vor ſich geht, ſo wird ſeine innere Einrichtung die Folge haben, daß die ſich entwickelnden Fibern in Richtungen kommen, die zu dem neuen Theil noͤthig ſind. Der neue Keim iſt alſo in dem alten beſtimmt, in ſo ferne die aus demalten529und Entwickelung des Menſchen. alten herausgehenden Fibern beſtimmt ſind, auf dieſel - bige Art und in eine aͤhnliche Lage wieder zuſammen - zulaufen, als diejenige war, die ſie in der Grundlage hatten, aus der ſie hervorgingen. Der Keim enthaͤlt das Princip der Bildung in ſich, nicht aber die Bil - dung ſelbſt. Ueberdieß iſt das Bildungsprincip in ihm von der Art, daß um ſeine Folgen zu haben, auch eine ihm anpaſſende Nahrung zugefuͤhret werden, und es ſelbſt in einer ſolchen Lage ſeyn muß, die ihm Freyheit laͤßt ſeiner innern Wirkſamkeit gemaͤß ſich auszudehnen. Denn, ohne einen Einfluß der aͤußern Urſachen, iſt jenes ſo wenig hinreichend ſich auf die beſtimmte Art zu ent - wickeln, als der Saame zu einer Pflanze aufkeimen kann, wenn er nicht in ein ſchickliches Erdreich gebracht wird. Wie uͤberhaupt die Natur des Menſchen nir - gends allein iſt, und nirgends abgeſondert von dem Ein - fluß aͤußerer Dinge, ſondern nur immer in der Verbin - dung mit andern das wirkt, was ſie wirkt: ſo verhaͤlt es ſich auch mit dem innern Prircip der Bildung in dem Keim. Wenn ſolches fuͤr den beſtimmenden Grund der Bildung angeſehen wird, wie es iſt, ſo kann es dennoch in keinem andern Sinn es ſeyn, als ſo ferne es den in - nern und den vornehmſten Grund enthaͤlt, aus dem das Weſentliche bey der Bildung begreiflich iſt; nicht aber, weil es der alleinige Grund iſt, der alles er - klaͤret.

Das innere Bildungsprincip zu der Organiſation ſe - tzet außer Zweifel eine gewiſſe Organiſation in ſich ſelbſt voraus. Aber wie viel anders iſt es: die beſtimmte Form oder Verbindungsart der Partikeln ſchon ſelbſt in ſich haben, und: eine ſolche Verbindung in ſich haben, die jene hervorbringet, wenn ſie ſich entwickelt? Wo das letztere ſtattfindet, da koͤnnen neue Formen hin - zukommen zu den erſten, welche da ſind, und dieſen aͤhnlich oder unaͤhnlich ſeyn. Eine Form kann, indemII Theil. L lMaterie530XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtMaterie hinzukommt, dieſe Materie auf eine aͤhnliche Art anſetzen und ſich verdoppeln. Alsdenn iſt die Grundform A von der bewirkten Form A unterſchieden der Zahl nach, wenn wir das Uebrige bey Seite ſetzen; und es ſind alſo zwo Formen da, an ſtatt Einer. Und dieſe Zahl aͤhnlicher Formen kann weiter anwachſen, weil die bildenden Kraͤfte in der erſtern und nun auch in der zwoten Form fortdauern und fortwirken, wenn es nur an Materie nicht fehlet. Bey den unaͤhnlichen Formen, die ſich erzeugen, kann es ſich eben ſo verhal - ten. Tauſend Blaͤtter und tauſend Saamenkoͤrner werden, auf dieſelbige Art, aus derſelbigen Pflanze her - vorgetrieben, wie Ein Blatt und Ein Korn. Es iſt nur die fortdaurende Wirkſamkeit derſelbigen Kraft zu wachſen, und der fortdaurende Zufluß von Nahrung, wovon dieſe Mehrheit aͤhnlicher Formen abhaͤngt, und wodurch in den warmen Laͤndern die Baͤume mehrmalen im Jahr Blaͤtter und Fruͤchte treiben, wenn ihnen die verdorrende Hitze der Sonne die vorhergehenden entzo - gen hat. Aber dieſe Mehrheit der Produkte fuͤhret auf keine Mehrheit der ſich entwickelnden Grundformen, wie es nach der bonnetiſchen Hypotheſe ſeyn muͤßte, ſon - dern nur auf eine wiederholte Entwickelung derſelbigen Formen. Jſt die Form B, welche aus der erſtern Form A erzeuget wird, von dieſer unterſchieden, ſo beſitzet die letztere zwar die hervorbringende Kraft zu der Form B, aber ſie enthaͤlt nicht die Form B ſelbſt in ſich. Die ent - wickelnde Kraft der Form A, welche den Partikeln, wor - aus A beſtehet, beywohnet, hat ihren Grund theils von den Kraͤften dieſer Partikeln, am meiſten aber von ihrer organiſchen Verbindung unter einander. Wenn nun neue Materie hinzukommt, deren Partikeln, fuͤr ſich einzeln genommen, mit wirkenden Kraͤften, wie jene, begabet ſind: ſo muß, indem dieſe vereiniget werden zu der Form B, auch eine treibende entwickelnde Kraft inder531und Entwickelung des Menſchen. der letztern Form B entſtehen, aus der von neuem An - waͤchſe hervorgehen koͤnnen. Es iſt hieraus klar, daß die weſentlichen Theile eines Thiers und einer Pflan - ze, naͤmlich diejenigen, von deren Vorherbildung die Art der Entwickelung am meiſten abhaͤngt, in dem Keim enthalten ſind. Und was die Grundzuͤge jeder einzelnen Theile des entwickelten Koͤrpers betrift, z. E. die Grundzuͤge des Kopfs, der Haͤnde, der Fuͤße u. ſ. w. ſo ſind ſolche gleichfalls in Hinſicht der Gruͤnde, wo - durch ſie beſtimmet werden, in dem Keim enthalten; nur ſie ſelbſt ſind nicht darinnen. Will man ſich von dem Keim des Ausdrucks bedienen, daß ſolcher ein Jn - begriff aller weſentlichen Theile des organiſchen Koͤrpers ſey, ſo muß dieß nur ſo viel heißen: er faſſe ſolche, ihren Beſtimmungsgruͤnden nach, in ſich; daß iſt, er habe ſie auf eine ſolche Art in ſich, wie etwas im Keim enthalten iſt.

Hr. Bonnet hat einige Beobachtungen, die es deutlich zu zeigen ſcheinen, daß jeder organiſche Theil eines Koͤrpers, der hinzu waͤchſt, ſogleich ganz mit al - len ſeinen weſentlichen Zuͤgen vorhanden ſey, und auf dieſe Art ſich ſehen laſſe, ſo bald der Theil ſelbſt ſichtbar wird, als einen ſeiner wichtigſten Gruͤnde angeſehen, die er der Epigeneſis entgegenſetzen koͤnnte. Sollte ein or - ganiſirter Koͤrper allmaͤlich wachſen, durch die Ver - mehrung ſeiner neuen Formen: warum findet ſich denn nicht einmal der Koͤrper des Schmetterlings ſchon gebil - det, ohne daß es ſeine Fluͤgel auch ſind? Es geht dieß ſogar auf die Bildungen im Mineralreich uͤber. Denn es iſt nicht wahrſcheinlich, daß die Kryſtalle nur allmaͤ - lig, Stuͤck nach Stuͤck, ſich aneinander ſetzen; ſondern man muß nach den Beobachtungen ſagen, daß jede un - terſchiedene Figur auf einmal ganz zu Stande kommt, durch ein einziges Zuſammenſchieben ſeiner Theile. Es iſt alſo ein wahrſcheinlicher analogiſcher Grund bey denL l 2organi -532XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtorganiſchen Koͤrpern da, zu ſchließen, daß, ſo wie alle weſentliche Formen eines Theils auf einmal zugleich ſichtbar werden, wenn das Ganze es wird, ſo werden ſie auch in unſichtbarer Geſtalt jederzeit alle neben ein - ander vorhanden geweſen ſeyn.

Jch habe oben ſchon erinnert, wenn man bloß bey dem Beobachteten ſtehen bleibt, ſo laſſe ſich nicht ſagen, daß alle Formen in dem ausgebildeten Theile ſchon in dem erſten Anſatze darzu bemerkbar ſind. An dem wiederauswachſenden Fuſſe des Salamanders ſieht man zwar, da wo er hervorgeht, auch bald die Stelle, wo die Zehen herausgehen wollen; doch ſind dieß nur die erſten Anſaͤtze zu den Zehen, und nicht die Zehen ſelbſt. Allein, wenn man auch jenem analogiſchen Schluſſe die ganze Guͤltigkeit einraͤumt, ſo deucht mich, es duͤrfe nicht mehr eingeraͤumet werden, als daß in dieſen erſten ſichtbaren Anſaͤtzen der organiſirten Theile auch zugleich die weſentlichſten Zuͤge dieſer Theile enthalten ſind, die das Uebrige in dem Ganzen mittelbar oder unmittel - bar beſtimmen. Es ſind doch immer nur die Anlagen zu den Theilen in der Anlage zu dem Ganzen enthal - ten. Und dieſe Anlagen ſind Formen, die nicht unmit - telbar ſchon die Anfangspunkte aller nachfolgenden For - men ſind, ſondern von vielen Formen nur die mittelba - ren Gruͤnde enthalten. Die Anlagen zu allen beſon - dern Formen des Ganzen ſollen unmittelbar in dem Keim ſeyn, nach der bonnetiſchen Evolution. Aber es giebt auch Anlagen, wenn jeder die Form beſtim - mender Grund eine Anlage zu dieſer Form heißen ſoll, die es nur mittelbar ſind, die naͤmlich zunaͤchſt Anla - gen zu gewiſſen Formen ſind, welche, wenn ſie hervor - gehen, wiederum die naͤchſten Anlagen zu andern wer - den. Mich deucht alſo, die Beobachtungen an den Zwiebelgewaͤchſen,*)Bonnet a. a. O. Art. 127. wo man Zwiebel in Zwiebel bisauf533und Entwickelung des Menſchen. auf die dritte und vierte Generation antrift, lehren zwar eine gewiſſe Evolution der Theile, die aber eben ſo wenig die durchgaͤngige Evolution als ihre Folgen be - weiſet, die man in Hinſicht der Einſchließung der Kei - me aus ihr gezogen hat.

7.

Es hat weniger Schwierigkeiten, die Entſtehungs - art ſolcher Formen zu begreifen, welche nicht ſo beſtimmt, wie die weſentlichen Formen, in der Vorherbildung des Keims gegruͤndet ſind. Jch meine naͤmlich, es laſſe ſich ſolches im Allgemeinen begreifen, und weiß wohl, daß dieß Metaphyſiſche in der Sache nur unendlich wenig von dem individuellen Phyſiſchen iſt, welches letztere ſich nicht erſchoͤpfen laͤßt. Jſt der Grund zu einer Bil - dung im Keim nicht ſo ſtark beſtimmend, oder iſt gar in jenem, in Hinſicht auf eine beſtimmte Form, nichts mehr als eine bloße Empfaͤnglichkeit vorhanden: ſo wird dieſe Empfaͤnglichkeit in eine Diſpoſition oder in eine Anlage, und die Anlage in eine naͤhere Anlage und in Tendenz, und die Tendenz in eine Fertigkeit uͤber - gehen, und die letztere zur zwoten, feſten und unveraͤn - derlichen Natur werden, wenn die hinzukommende Nah - rung, die den Keim entwickelt, mit ſeinen Partikeln ſich vereiniget, die Kraͤfte derſelben durch aͤhnliche Kraͤfte vermehret und dadurch die Kraft des Ganzen verſtaͤr - ket und ſie in den Richtungen, worinn ſie wirken, und in ihren gleichmaͤßigen Verhaͤltniſſen gegen einander befeſtiget. So viel die Nahrungstheile, welche hinzu - kommen und in die vorhandenen geformten Partikeln wir - ken, gleichmaͤßig mit jenen wirken, und in uͤbereinſtim - mender Richtung wirken, in ſo ferne entſtehen keine neue Formen, ſondern nur Evolutionen, Vergroͤßerungen, Befeſtigungen der vorhandenen Formen. Jede Mehr - heit des Aehnlichen macht Groͤßen aus, in der Koͤrper -L l 3welt534XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtwelt wie in der Geiſterwelt, in der Phyſiologie wie in der Pſychologie. Darinn beſteht der Uebergang von ſchwachen Anlagen zu ſtaͤrker beſtimmten Trieben. Jn ſo fern dagegen die neuen, in der ſich vereinigenden Materie enthaltenen Kraͤfte weniger mit den vorhandenen Kraͤften uͤbereinſtimmen, und vielmehr ihre Richtungen abaͤndern, was theils durch die innere Staͤrke der neuen Kraͤfte, theils durch ihre Menge geſchehen kann: ſo muß auch daraus die Folge entſtehen, daß zunaͤchſt und unmittelbar das Verhaͤltniß der urſpruͤnglichen Fibern veraͤndert werde, daß einige in groͤßer Maße befeſtiget, verlaͤngert und verdichtet werden, und andere in einer geringern, als es den innern Kohaͤſionskraͤften der vor - handenen Fibern gemaͤs war; und endlich, daß, wenn nun dieſe ſich entwickelnden Formen auf ihre Art zuſam - mengehen und neue Formen machen, dieſe letztern als neue Formen anders ausfallen, als es zufolge der Be - ziehung der Kraͤfte in der anfaͤnglichen Organiſation ge - ſchehen ſeyn wuͤrde.

8.

Die vorhergehenden Betrachtungen vereinigen ſich zu dem folgenden allgemeinen Begriffe von der Naturge - ſchichte der organiſirten Koͤrper, von denen wir wiſſen, daß ſie aus Saamen oder Eyern gebildet werden. Es leiden aber die beſondern Theile dieſes Abriſſes noch ver - ſchiedene naͤhere Beſtimmungen; und wenn man dieſe auf die gehoͤrige Weiſe abaͤndert, ſo laͤßt ſich die allge - meine Jdee auch auf die uͤbrigen organiſchen Weſen an - wenden, bey welchen entweder die naͤmlichen Perioden nicht vorkommen, oder doch nicht ſo merklich unterſchie - den ſind. Etliche Hauptveraͤnderungen fallen bey gewiſ - ſen beſondern Arten organiſcher Koͤrper nahe zuſammen und in einander, oder erfolgen gar zu gleicher Zeit, diebey535und Entwickelung des Menſchen. bey andern Gattungen durch eine merkbare Zeitfolge ge - trennet ſind.

Zuerſt wird ein Keim, oder eine Anlage, bereitet, die aber unvollſtaͤndig iſt. Dieß iſt der unbefruchte - te Keim oder Saame, von dem die Naturforſcher es aus - machen moͤgen, ob er in dem Weibchen oder in dem Maͤnnchen vorhanden ſey? Jenes haben ſie durch eine große Jnduktion wahrſcheinlich gemacht.

Die erſte Anlage entſtehet durch die Vereinigung der ſich entwickelnden und dazu vorher gebildeten Fibern, Theile, Gefaͤße, in einem entwickelten organiſchen Koͤr - per. Wenn es Eyer in Eyern wie Zwiebeln in Zwie - beln giebt, ſo ſieht man, daß eine voͤllige Entwicke - lung eines Koͤrpers nicht noͤthig ſey, um in ſich eine Anlage zu einem neuen Keim zu bilden. Es braucht keines beſondern Keims zu dieſer erſten Anlage des neuen Keims. Was in der Reproduktion, als wel - che eine neue Erzeugung iſt, vorgeht, kann uns zum Beyſpiel fuͤr die uͤbrigen dienen. Da naͤmlich, wo ein Theil abgeſchnitten iſt, vereinigen ſich die Gefaͤße, es entſtehet ein Wulſt, ein Huͤbelchen, ein Knoͤpfchen, wie Hr. Bonnet es deutlich und genau geſehen und beſchrie - ben hat. *)a. a. O. zweet. Th. Art. 245. 246.Dieſer Wulſt, dieß Huͤbelchen iſt mehr als eine bloße Ausdehnung und Entwickelung vorherda - ſeyender Fibern. Es enthaͤlt ſchon eine neue Verbindung derſelben, und iſt in ſo fern eine neue Form. Der ganze Grund zur Bildung dieſes Anfangs iſt vertheilt durch alle Fibern, Saftdruͤſen, Gefaͤße, welche dieſe Vereinigung bewirken. Aber einige von den ſich verei - nigenden Gefaͤßen haben ohne Zweifel mehr als andere Antheil an dem ganzen formenden Grunde. Hr. Bon - net hat richtig bemerkt, daß die neuen Anwuͤchſe keine Verlaͤngerungen des abgeſchnittenen Strunks ſind, ſon -L l 4dern536XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtdern aus der Mitte der Narben oder des Wulſtes hervorgehen, und alſo innerlich ſchon in ihren erſten Knoͤpfen ſich gebildet, oder wie er ſagt, ihren Keim gehabt haben.

Die erſte Hervorbringung des Keims koͤnnte alſo als eine Art von organiſcher Konkretion angeſe - hen werden. Wenigſtens kommt ſie dieſer Entſtehungs - art am naͤchſten, unter allen den nachfolgenden Arten des Wachſens bey organiſirten Weſen. Es beſtehet naͤm - lich die Erzeugung des Keims, wie jede andere, aus Entwickelung und Vereinigung. Aber weil die letztere es iſt, wovon hier das Vornehmſte abhaͤngt, ſo koͤnnte man das Ganze von dieſer Seite als eine organiſche Kon - kretion anſehen. Denn es iſt oben erinnert worden (IV. 5.) daß auch dieſe eine Entwickelung vorausſetze, ob ſie gleich weſentlich| und ihrem Begriff nach, eine Verbin - dung des Entwickelten enthaͤlt. Weg aber mit aller generatione æquivoca, in ſo fern ſolche eine Organiſa - tion aus Nichtorganiſation entſtehen laͤßt. (II. 8. 9. IV. 5.)

Dieß iſt die erſte Periode. Die zwote faßt die Befruchtung oder die Vervollſtaͤndigung des Keims in ſich. Sie iſt bey allen Thieren die kuͤrzeſte, und auch eigentlich nur der Anfang und die Begruͤn - dung der nachfolgenden Entwickelung.

Ein unvollſtaͤndiger Keim, der wenigſtens es in ſo weit iſt, als ihm Kraft oder Reiz zur neuen Ent - wickelung fehlet, empfaͤngt die nothwendige Entwicke - lungskraft. Dieſer Zuſatz kann mehr oder weniger ent - halten; kann bloß Reiz zur Thaͤtigkeit ſeyn, der die vorher ſchon in dem Keim vorhandene Kraft aufweckt und wirkſam macht. Es kann neue Kraft ſelbſt ſeyn, was hinzukommt. Es iſt mehr als zu wahrſcheinlich, daß zugleich auch eine naͤhrende Materie hinzu gebracht wird; und nicht nur dieß, ſondern daß auch durch dieſe Nahrung das in dem Keim vorhandene Bildungsprincipnaͤher537und Entwickelung des Menſchen. naͤher beſtimmt, modificirt und zum Theil abgeaͤndert wird. Bey allen Thieren von zwey verſchiedenen Ge - ſchlechtern ſcheinet der Beytrag des einen Geſchlechts, zu dem Keim in dem andern, den letzterwehnten Ein - fluß zu haben. Sollte auch dieſer Schritt noch auf die aͤhnliche Art, wie der vorhergehende, als eine organiſche Konkretion vorgeſtellet werden koͤnnen, wie Hr. v. Buf - fon und andere behaupten? Sollte nicht der Zuſatz zu dem formenden Princip, der von dem Saamen des Mannes herruͤhrt, die Haͤlfte des ganzen Bildungsgrun - des ausmachen? Dennoch iſt hier ſchon weniger Ver - bindung als Entwickelung, worauf es ankommt. Die Befruchtung iſt wahrſcheinlich nur eine Ergaͤnzung des Keims, wobey es am meiſten auf die vorherdaſeyende Bildung deſſelben ankommt. Sie iſt die naͤchſt groͤßte Veraͤnderung des Keims nach ſeinem erſten Entſtehen.

Hierauf erfolget die Bildung des organiſchen Koͤrpers nach ſeinen Haupttheilen in dem embryo - niſchen Zuſtande. Das formende Princip liegt nun noch mehr in dem Keim. Dieſer beſtimmet die Bil - dung, und zwar deſto ſtaͤrker, nothwendiger, feſter, je mehr die entſtehenden Theile und Formen zu den we - ſentlichen gehoͤren. Die beiden großen Operationen der Natur, welche die allgemeinen Beſtandtheile ihrer orga - niſirenden Wirkſamkeit ſind, Entwickelung und Ver - bindung zu neuen Formen, das iſt, Entwickelung und Epigeneſis, ſtehen, ſo zu ſagen, noch in einer Gleich - heit gegen einander, und kommen gleich oft und gleich ſtark vor. Die vorhandenen Fibern vergroͤßern ſich in ihren Beziehungen auf einander, und ihre verlaͤngerten, verdickten und verfeſtigten Theile ſetzen ſich in neue La - gen gegen einander.

Auf die Bildung folget die Periode des voͤlligen Auswachſens bis dahin, daß in einem Geſchlechte neue Keime geformet ſind, denen nichts mehr als dieL l 5Befruch -538XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtBefruchtung fehlet, und daß in dem andern Geſchlech - te das Vermoͤgen zu befruchten zur Reife gelanget iſt. Sie gehet naͤmlich bis zur Mannbarkeit. Jn dieſer Pe - riode trift man zwar noch beides an, Entwickelung und Epigeneſis; aber der Zuſaͤtze von neuen Formen werden weniger, und das meiſte beſtehet in der Vergroͤßerung der ſchon vorhandenen. Von hier an geht faſt alles wei - ter durch bloße Entwickelung.

Niemals hoͤret indeſſen das Zuwachſen neuer For - men ganz und gar auf, ſo wenig als die Entwickelung. Aber wenn die Organiſation ihr Groͤßtes erreichet hat, und nun eine Zeitlang in dieſern Zuſtande beharret, ſo wirken die Kraͤfte, welche vergroͤßern und verbinden, nicht ſtaͤrker, als die ihnen entgegenſtehenden Urſachen, die beide Wirkungen aufheben.

Es iſt die letzte Periode des Einſchrumpfens und der Trennung noch uͤbrig, welche ſich mit dem Tode endiget, die ich hier aber uͤbergehen will, weil davon unten noch etwas vorkommen muß.

Dritter539und Entwickelung des Menſchen.

Dritter Abſchnitt. Von der Analogie der Entwickelung der Seele mit der Entwickelung des Koͤrpers.

I. Das koͤrperliche Werkzeug der Seele entwickelt ſich auf dieſelbige Art, wie der organiſirte Koͤrper. Und die Seele ſelbſt entwickelt ſich auf eine analoge Art.

Es giebt hier wiederum einen Weg uͤber den Koͤrper zu der Seele, und es wird deſto mehr hey der ge - genwaͤrtigen Betrachtung erlaubt ſeyn denſelben zu be - treten, da ein Theil unſers Seelenweſens zugleich ein Theil des organiſirten Koͤrpers iſt, von dem wir mit groͤßter Wahrſcheinlichkeit annehmen koͤnnen, daß er in derſelbigen Folge und nach denſelbigen Geſetzen gebildet und entwickelt werde, wie der uͤbrige Koͤrper. Was die ſubſtanzielle Einheit betrifft, das immaterielle Weſen, was unſer Jch ausmacht, ſo iſt es widerſinnig, inner - halb deſſelben ſich eine Entwickelung einer Organiſation vorſtellen zu wollen, dergleichen bey dem Koͤrper vor - kommt; eben ſo widerſinnig als es ſeyn wuͤrde, die Aus - bildung des organiſirten Gehirns mit den Veraͤnde - rungen zu verwechſeln, die alsdenn in den Kraͤften der einfachen Beſtandtheile des Gehirns vorgehen. Bey den letztern faͤllt, mit der koͤrperlichen Groͤße und Zuſam - menſetzung, auch die Jdee von koͤrperlicher Vergroͤſſe - rung und Ausdehnung weg, wofern wir uns nicht et - wan dieſer Ausdruͤcke bloß metaphoriſch bedienen, oder ihnen allgemeine tranſcendente Begriffe unterlegen, die ſich ſowohl auf die Entwickelung der immateriellen Kraͤfte als auf die Entwickelung der Koͤrper erſtrecken. Jndeſ - ſen da die Veraͤnderung in der Verbindung der einfa -chen540XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtchen Beſtandtheile eine Modifikation in den Kraͤften und Vermoͤgen des Einfachen nach ſich ziehet, und dieſe Kraͤfte und Beſchaffenheiten in dem Jnnern der Sub - ſtanzen, in Hinſicht ihrer intenſiven Groͤßen und ihrer innern Beziehungen aufeinander, eben ſowohl einer Veraͤnderung faͤhig ſind, als die zuſammengeſetzten or - ganiſirten Koͤrper:*)S. dreyzehnten Verſuch IV. 2. ſo laͤßt ſich in der unkoͤrperlichen Seele nicht nur eine gewiſſe Ausbildung in dem Jnnern, ſondern auch eine gewiſſe Aehnlichkeit in der Folge und in den Geſetzen dieſer Ausbildung gedenken, die auf die Entwickelung des Gehirns in einer beſtaͤndigen Bezie - hung ſtehet.

Dieß iſt der Grund, und auch zugleich die Graͤnze, der Analogie zwiſchen der Entwickelung der Seele und des Koͤrpers. Schluͤſſe und Folgerungen die hierauf, aber nur nicht auf etwas, das außerhalb dieſer Graͤnze liegt, gebauet werden, muͤſſen zu Vermuthungen fuͤh - ren, welche, wenn ſie mit den Folgen uͤbereinſtimmen, die man aus der Beobachtung ziehen kann, dieſe letztern beſtaͤtigen und wiederum durch dieſe beſtaͤtiget werden. Jene gewinnen eine Wahrſcheinlichkeit, nicht nur ſo ferne ſie bloß eben daſſelbige lehren, was die Erfahrung lehret, ſondern auch da, wo ſie weiter gehen und uns noch einen Schritt naͤher zu dem Jnnern der Natur hinbringen.

II. Von dem Seelenweſen im Keim. Die imma - terielle Seele kann nicht entſtehen wie der Koͤr - per. Aber der Keim des menſchlichen Seelen - weſens kann entſtehen.

Der Keim des Menſchen und des menſchlichen See - lenweſens entſtehet, und kann entſtehen, durch eine Vereinigung der ſich entwickelnden Gefaͤße in dem or -ganiſchen541und Entwickelung des Menſchen. ganiſchen Koͤrper, die auf Eine Stelle, als auf einen Endpunkt der ganzen Organiſation hingehen, wie ſie ih - rer Vorherbildung gemaͤß beſtimmet ſind. Die erſte Anlage zum Keim waͤchſt aus durch die Einnahme mehrerer Materien, durch ihre Vertheilung und durch neue Vereinigungen der ſich ausdehnenden Partikeln. So entſtehet das einfache Weſen nicht; ſo kann es nicht entſtehen. Allein da jene Bildung des Keims auch die Folge nach ſich ziehen kann, daß Eins oder das andere von den einfachen Weſen, die ſeine Beſtandtheile ſind, derjenigen Lage in Hinſicht der uͤbrigen naͤher geruͤckt werde, wo es Raum gewinnt ſeine innern Kraͤfte aus - zudehnen, und zur herrſchenden Subſtanz in dem Kreiſe von Weſen zu werden, unter denen es vorher als eines ihres gleichen verwickelt war: ſo laͤßt ſich inſofern eine Erhebung unſers Jchs zu einer menſchlichen Seele gedenken. Und dieſe Erhebung wuͤrde denn darinn beſtehen, daß theils eine Wirkungsſphaͤre fuͤr die Subſtanz zubereitet, theils auch durch die ihr daſelbſt gegebenen Eindruͤcke ihre Grundkraft vorzuͤglich zur Wirkſamkeit gereizet werde.

Die Befruchtung des Keims iſt eine Vervollſtaͤn - digung deſſelben, beſonders in Hinſicht ſeiner neuen Ent - wickelungskraft, die ihm entweder durch ſie beygebracht, oder da ſie vorher nur bloßes Vermoͤgen war, durch eine maͤchtige Reizung wirkſam und thaͤtig gemacht wird. Es iſt dieſe Veraͤnderung naͤchſt der erſten Zubereitung der Anlage die wichtigſte, die den Keim betrifft. Kann ſie nicht zugleich eine entſprechende wichtige Erweckung, oder Aufmunterung, in der Kraft des einfachen Weſens mit ſich verbunden haben? Muß ſie es nicht? Oder geht etwan gar die Seele von dem Vater in den Keim des Weibchens uͤber, und ſetzet ſich hieſelbſt in die fuͤr ſie zubereitete Lage? Wer will hier den Weg der Na - tur zu errathen ſich getrauen? Aber vielleicht mag mandoch542XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtdoch mehr geneigt ſeyn zu glauben, daß die Befruch - tung des Keims nur eine vorzuͤgliche Erweckung der in - nern Kraft der Seele zur Folge habe, und daß ihre La - ge und ihr Wirkungskreis vorher in dem Keim ihr ſchon bereitet geweſen ſey.

Wenn in Hinſicht des Koͤrpers dem maͤnnlichen Saamen nichts weiter zukommt, als daß er die Anlage in dem Weibchen anfachet, belebet und ihm die erſte Nahrung zur Ausbildung giebet: ſo wuͤrde man auch der Befruchtung in Hinſicht der Seele nichts mehr zuſchrei - ben muͤſſen, als daß die Grundkraft derſelben gereizet und erwecket werde. Man kann ihr aber mehr beylegen, wenn man will. Man kann annehmen, daß, beſon - ders in Hinſicht des Seelenweſens, die Befruchtung mehr oder minder modificire, nachdem das erzeugte Jn - dividuum dem Vater oder der Mutter am Geſchlechte aͤhnlich wird. Jn keinem Falle folget daraus etwas, was nur ein wahrſcheinlicher Grund gegen die Jmma - terialitaͤt der Seele ſeyn wuͤrde.

III. Jdee von der angebornen Seelennatur. Vermoͤ - gen, Anlagen, Jnſtinkte in derſelben.

Jn dem embryoniſchen Zuſtande des Menſchen, in welchem der Koͤrper ſeine voͤllige Bildung empfaͤngt, wird ohne Zweifel das Werkzeug der Seele und mit die - ſem die Urkraft der Seele ſelbſt eine aͤhnliche erhalten. Die Wirkung hievon fuͤhret endlich zu dem Zuſtande der Seele hin, worinn ſie ſich bey der Geburt befindet. Und dieſer Zuſtand ihrer leidenden und thaͤtigen Vermoͤ - gen und Kraͤfte macht die angeborne Seelennatur aus.

Dieſe Natur, ſo modifikabel ſie auch iſt, hat inſo - fern ihre feſtgeſetzten Kraͤfte, Triebe und Emrichtun -gen,543und Entwickelung des Menſchen. gen, die zu gewiſſen weſentlichen Formen bey ihrer weitern Entwickelung hinfuͤhren, und ſolche nothwendig beſtimmen. Sie kann entweder gar nicht, oder ſie muß auf ſolche Art, wie es dieſen weſentlichen Anlagen gemaͤß iſt, entwickelt werden. Denn daß die Kinderſeele ſollte Baͤr - oder Schafſeele werden koͤnnen, iſt eben ſo we - nig moͤglich, als daß ſein Koͤrper vier Fuͤße und Wolle bekommen kann, wenn gleich manche Aehnlichkeiten von Baͤren und Schafen, der Seele wie dem Koͤrper, unter ſolchen ungluͤcklichen Umſtaͤnden, worunter einige Jndividuen geweſen ſind, aufgedruckt werden moͤchten.

Und wenn wir noch weiter zuruͤckgehen, bis zu der Einrichtung der Seele in dem Anfang der Entwickelung des Embryons, ſo deucht mich, man koͤnne der Analo - gie auch hier folgen, und ſich eine in gleicher Maße be - ſtimmte Natur in der Seele vorſtellen, wie man in dem befruchteten Keim des Koͤrpers annehmen muß. Aus dieſem letztern wird entweder nichts, wenigſtens nichts Beſtehendes, oder es wird ein menſchlicher Koͤrper dar - aus, wenn er gleich monſtroͤs ſeyn mag. Auf gleiche Weiſe iſt die derzeitige Anlage der Seele ſo weit be - ſtimmt, daß ſie entweder gar nicht erweitert und entwi - ckelt wird, oder zu einer fuͤhlenden, vorſtellenden und ſelbſtthaͤtigen Menſchenſeele entwickelt werden muß.

Das Seelenweſen und in demſelben das unkoͤrper - liche Jch muß, woferne wir eine wirkliche Subſtanz nicht mit einer Abſtraktion verwechſeln, voͤllig und in aller Hinſicht beſtimmt ſeyn, wie es die Organiſation des Koͤrpers iſt. Aber ſo wie dieſe Beſtimmtheit, auch nur in Hinſicht auf die Modifikationen betrachtet, welche der Koͤrper zunaͤchſt und unmittelbar annehmen kann, bey ihm in verſchiedenen Graden mehr oder minder veraͤnderlich iſt; in Hinſicht auf einige nur in ei - ner bloß paſſiven Empfaͤnglichkeit beſtehet, in Hinſicht auf andere in ſchwachen Anlagen, bey andern in naͤ -hern544XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤthern Diſpoſitionen, bey einigen in feſtbeſtimmten Trie - ben, und bey einigen in unveraͤnderlichen Richtungen; und wie alſo die mancherley Veraͤnderungen, welche hin - zukommen, mehr oder weniger von der Wirkung der aͤußern Urſachen abhangen: ſo muͤſſen auch in der Seele die individuellen Beſchaffenheiten, und die Anlagen zu neuen Beſchaffenheiten, mehr oder weniger veraͤnderlich, und alſo mehr oder weniger dem Einfluß der aͤußern Ur - ſachen unterworfen ſeyn. Die innern Principe im Koͤr - per beduͤrfen uͤberhaupt zu ihrer Thaͤtigkeit des Einfluſ - ſes der Dinge von außen; und hierinn giebt es keine Ausnahme. Aber wenn es auf die Art und Staͤrke ankommt, wie und womit ſie wirke: ſo ſind ſie es mehr oder minder ſelbſt, die ſich beſtimmen; oder ſie werden mehr oder minder von aͤußern Urſachen fortgeholfen und geleitet. Es ſtimmen die Beobachtungen mit den Schluͤſſen aus der Analogie uͤberein, um eben daſſelbige von den Seelenkraͤften anzunehmen.

Jn dem Koͤrper des Kindes iſt die ganze Anlage zu dem Manne, in Hinſicht der verſchiedenen Glieder und deren Verhaͤltniſſe unter einander, deutlich vorhanden; ſo manches auch hierinn, noch bey dem Auswachſen, auf eine andere Weiſe modificiret werden kann. Sollte in der Seele der Kinder nicht eben ſo viel von der Seele des Mannes enthalten ſeyn, ob es gleich aͤußerlich nicht ſo deutlich auffaͤllt, auch vielleicht nur darum nicht be - merkt wird, weil wir es nicht ſo genau beobachten? Hie - bey wuͤrde ich aus andern Gruͤnden nicht abgeneigt ſeyn, zu glauben, daß die Modifikabilitaͤt der Kinder in Hinſicht der Seele noch um einen Grad groͤßer ſey, als ſie es bey dem Koͤrper iſt. Nicht alle Theile des Koͤrpers beſitzen eine gleiche Beugſamkeit und ohne Zweifel iſt das Organ der Seele das allerbeugſamſte. Und vielleicht iſt es alſo die Seele ſelbſt noch mehr.

Die545und Entwickelung des Menſchen.

Die ariſtoteliſche Vorſtellung von der Seele, daß ſie wie eine tabula raſa ſey, mochte Locke gegen Leib - nitzen inſoweit vertheidigen koͤnnen, als noch keine von den beſondern Arten der Empfindungen und Eindruͤcke auf ſie geſchrieben ſind, die ſie nach der Geburt erſt durch die aͤußern Sinne empfaͤngt. Aber ſchwerlich laͤßt ſich behaupten, daß ſie nicht ſollte eben ſo voͤllig beſtimmt und modificirt ſeyn vor der Geburt, als ſie nachher iſt, und daß ſie nicht ſchon Spuren von der Einwirkung der aͤußern Urſachen in ſich aufbehalten habe, wie ſie nachher aufnimmt. Wie weit aber ihre vorhergegan - genen embryoniſchen Gefuͤhle oder Modifikationen und Beſtimmungen eine Beziehung auf die nachfolgenden Empfindungen von Farben, Toͤnen, Geruchs-Ge - ſchmacks - und Gefuͤhlsarten haben? wie aͤhnlich oder unaͤhnlich jene dieſen ſind? und ob und wie viel etwan die Seele, mittelſt ihrer innern, ihr angebornen Modi - fikationen, von der noch noͤthigen Einwirkung der aͤußern Urſachen auf die Sinnglieder entbehren und ſolches aus ſich erſetzen koͤnne? ob und wieferne die vorzuͤglichen Anlagen zu einer oder der andern Gattung von Eindruͤ - cken und Empfindungen, von der Beziehung der em - bryoniſchen Veraͤnderungen auf die nachherigen, abhange? dieß ſind andere Fragen. Sie waren die wichtigſten in dem alten Streit uͤber angeborne Jdeen, und ſind doch am wenigſten eroͤrtert worden. Endlich ſcheinen die von beiden Seiten angefuͤhrten Erfahrungen ſo viel in Gewißheit zu ſetzen, daß, wenn gleich die aͤußern Em - pfindungen ſchlechthin einen Einfluß der aͤußern Objekte erfodern, und alſo inſoweit keinesweges angeboren ſind, doch die Natur mittelſt der vorhergehenden Mo - difikationen zu jenen vorbereitet und dazu aufgelegt ge - macht ſey: imgleichen, daß die Verſchiedenheit in den natuͤrlichen Anlagen in jenen embryoniſchen Eindruͤcken zum Theil ihren Grund habe.

II Theil. M mWas546XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

Was und wie viel aber in dem Begriffe von der an - gebornen Natur der Menſchen befaſſet werden muͤſſe, kann bey der Seele nicht anders als bey dem Koͤrper, naͤmlich aus Beobachtungen und durch die Aufloͤſung und Vergleichung derſelben, entſchieden werden. Hier ſchließet ſich alſo die gegenwaͤrtige Betrachtung an die Unterſuchungen, die ich hieruͤber in dem eilften Verſuche angeſtellt habe. Die Kindesſeele in dem Kindeskoͤrper iſt ein Weſen, welches gewiſſe Arten von Veraͤnderun - gen aufnehmen, bearbeiten und zum Theil ſelbſtthaͤtig bewirken kann. Wenn die Philoſophen ihre Natur - kraft als eine empfindende, vorſtellende, ausdenkende Kraft anſehen; oder wenn wir nach Anleitung der obigen Aufloͤſung ihre Kraft als eine perfektible, ſelbſtthaͤtige und fuͤhlende Kraft betrachten, und auf dieſe Grundbe - ſchaffenheiten ihre Vermoͤgen zum Fuͤhlen, zum Vor - ſtellen, zum Denken und zum Handeln zuruͤckfuͤhren: ſo iſt doch gewiß, daß dieſe Jdee von der Natur noch weiter nichts als das Formelle, naͤmlich die Art zu wir - ken und die Richtung in der innern Kraft dieſes Weſens, darſtellet. Nun aber hat ſie auch gewiſſe Modifikatio - nen, und iſt aufgelegt andere aufzunehmen, die ihr durch die Einrichtung der Organen, und nach der Lage des Koͤrpers in der Welt, beygebracht werden. Worinn be - ſtehet das Materielle dieſer ihrer Beſchaffenheiten, die ſie hat, und das Materielle in den Anlagen zu den Ein - druͤcken, die ſie nun ſo empfangen kann, daß ſie ſolche fuͤhlet, ſich vorſtellet und abſondert? Sie iſt z. B. auf - gelegt Eindruͤcke von dem Lichte durch die Augen, von Toͤnen durch die Ohren, und ſo ferner, zu empfangen. Sollte ſie nicht auch wohl zu den Eindruͤcken des ſechſten Sinnes in gleicher Maße geſchickt ſeyn, wenn ſie nur mit Werkzeugen verſehen waͤre, die ſich darauf beziehen? Jm Grunde haben wir von dem materiellen angebornen Zuſtande, oder von ihren derzeitigen Beſchaffenheitenſchlech -547und Entwickelung des Menſchen. ſchlechterdings keine Vorſtellung, da wir keinen Sinn haben, durch welchen wir ſolche erhalten koͤnnten. Was unſere Vermoͤgen betrifft, die wir in uns ſelbſt uns vor - ſtellen, ſo ſind die Jdeen davon Abſtraktionen aus den innern Empfindungen der Thaͤtigkeiten, die wir alsdenn verrichten, wenn wir uns ſelbſt zu beobachten im Stande ſind. Dieſe moͤgen vielleicht von ſolchen Abſtraktio - nen, als wir von den Seelenthaͤtigkeiten erlangen wuͤr - den, wenn wir die erſten Kraftaͤußerungen der Kindes - ſeele beobachteten, beynahe, wenn nicht voͤllig, ſo ſehr verſchieden ſeyn, als es die jetzigen Empfindungen von den embryoniſchen Eindruͤcken vor der Geburt ſind. Die aͤußern Empfindungen durch die Sinnglieder wer - den das, was ſie jetzo fuͤr uns ſind, naͤmlich ſolche Ein - druͤcke auf ſolche Art gefuͤhlet, erſt durch die Wiederho - lung. Der erſte Eindruck von dem, was wir Roth nennen, moͤchte vielleicht, wenn wir ihn ganz allein in uns haben koͤnnten, ſo wie er auf die friſchen Sinnglie - der faͤllt, die durch keine vorhergehende Eindruͤcke be - arbeitet und vorbereitet ſind, fuͤr nichts weniger als fuͤr Roth erkannt werden koͤnnen. Die ſchon empfind - lich gemachten Fibern im Auge nehmen nun den Ein - druck des rothen Lichts ihrer Empfindlichkeit gemaͤß auf; und dieſer Eindruck iſt es, den wir den Eindruck des rothen Lichts nennen. Was iſt ſolcher in dem neuge - bornen Kinde?

M m 2IV. Die548XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

IV. Die Ausbildung der Seele beſtehet in einer Epi - geneſis durch Evolution. Die Art, wie der Koͤrper ſich entwickelt, wird aus der Entwi - ckelung der Seele erlaͤutert.

Was endlich bey der Entwickelung des Koͤrpers die Nahrung iſt, das ſind bey der Seele die Em - pfindungen. So wie jene in den Koͤrper aufgenommen, durch ihn vertheilet und mit ihm vereiniget wird, und dann die Fibern ausdehnet und vergroͤßert: ſo werden die Eindruͤcke von außen, und von innen, in die Seele aufgenommen und den ſchon vorhandenen Beſtimmun - gen ihrer Natur einverleibet. Die entwickelten Fibern im Koͤrper dehnen ſich in gewiſſe Richtungen, die ver - ſchieden ſind, je nachdem ſie in verſchiedenen Verhaͤlt - niſſen, in der Laͤnge, Breite und Dicke zunehmen. Daraus entſtehen Veraͤnderungen in der Lage derſelben gegeneinander, welche neue Verbindungen und Formen veranlaſſen. Das Aehnliche davon nehmen wir in der Seele bey ihren Vorſtellungen und Handlungen gewahr. Jede neue Empfindung, und jede neue Vorſtellung, ver - bindet ſich mit den vorhergehenden und wird nach dem Geſetz der Aehnlichkeit und der Coexiſtenz an ſie gereihet. Daraus entſtehet eine Vergroͤßerung, und zwar eine Verſtaͤrkung oder Vergroͤßerung an Jntenſion, inſo - weit die hinzukommenden Empfindungen den vorhan - denen aͤhnlich ſind, weil ſie inſoferne zuſammenfallen. Es wird eine Erweiterung oder Ausdehnung daraus, inſoferne die neuen zum Theil von den aͤltern verſchie - den ſind, ſich zwiſchen dieſen ſetzen und die Vorſtel - lungsreihen verlaͤngern. Aber dieſe Ausdehnungen geben zugleich Gelegenheit zu neuen und mehrfachen Verbindungen der Reihen unter einander. Hierauswerden549und Entwickelung des Menſchen. werden neue Verknuͤpfungen, die durch jene leidentli - chen Verbindungen der Jdeen in der Phantaſie veran - laſſet, und durch die ſelbſtthaͤtige Dichtkraft befeſtiget, auch zum Theil durch die letztere ſelbſt gemacht wer - den. *)Erſter Verſuch XV. 9.

Die leidentlichen Eindruͤcke reizen die Kraft der Seele zur Thaͤtigkeit; und aus dieſen Grundwirkun - gen erwachſen die naͤhern Anlagen und endlich die Fer - tigkeiten in der Kraft. Eigentlich ſind es die leident - lichen Empfindungen fuͤr ſich allein, welche die Nah - rung unſerer Vorſtellungen, in Hinſicht ihres Stoffs oder ihrer Materie, hergeben. Dagegen die darauf folgenden Kraftaͤußerungen, welche durch ſie veranlaſſet werden, dasjenige ſind, was die thaͤtigen Vermoͤgen der Seele zum Denken und zum Handeln wachſen macht. Bey der Ausbildung der Seele laͤßt ſich eher gewahrnehmen, daß ſie in einer Epigeneſis beſtehe, die durch die Evolution veranlaſſet wird, als bey der Aus - bildung des Koͤrpers. Und ohne Zweifel iſt dieß die Urſache, warum die Pſychologen faſt alle Epigeneſiſten geblieben ſind, da man in der Phyſiologie die Evolu - tion angenommen hat.

Aber wie die Entwickelung des Koͤrpers die Ent - wickelungsart der Seele, wenigſtens in etwas, aufklaͤrt: ſo finden wir hingegen bey der letztern einen Umſtand, der, wenn wir ihn analogiſch gebrauchen, uns wiederum zur Vergeltung einiges bey der Entwickelung des Koͤr - pers deutlicher zeigen kann. Die Art, naͤmlich wie die Seelenvermoͤgen wachſen, iſt folgende. Jede Empfin - dung hinterlaͤßt eine Spur von ſich, welche eine Leich - tigkeit auf die vorige Art ſich nachmals entweder mo - dificiren zu laſſen, oder ſelbſt zu modificiren, zur Folge hat, oder auch in dieſer Leichtigkeit ſelbſt beſtehet. DieM m 3aͤhnli -550XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtaͤhnlichen Empfindungen und ihre aͤhnlichen Spuren vermehren die intenſive Groͤße oder Staͤrke eines und deſſelbigen Vermoͤgens; die verſchiedenen aber, bey denen die Aehnlichkeit noch merklich iſt, verbinden ſich mit einander, und machen alsdenn die extenſive Groͤße oder die Ausdehnung der Kraͤfte aus. Heterogene Jdeen hingegen, wobey die Verſchiedenheit groß iſt und die Aehnlichkeit unmerkbar, erzeugen verſchiedene Faͤhigkeiten, und entgegenſtehende ſuchen ſich ein - ander aufzuheben.

Wenn daſſelbige Geſetz des Wachſens auch in Hinſicht des organiſirten Koͤrpers zum Grunde gele - get wird, ſo giebt uns ſolches einen etwas mehr be - ſtimmten Begriff von der Art, wie die Gefaͤße im Koͤr - per verlaͤngert, erweitert, verdichtet und feſter und haͤr - ter werden, und von der Aſſimilation der Saͤfte. Die Nahrungstheilchen, welche ſich fuͤr jedes Gefaͤß ſchicken, ſind in den Speiſen enthalten. Gewiß wohl nicht ſo, wie es nach der Homoiomorie des Anaxa - goras ſeyn ſollte, wenn man anders die Meinung die - ſes Philoſophen richtig gefaßt hat, daß naͤmlich die Knochen durch kleine Knochen, die Adern durch kleine Adern, und das Blut durch kleine Blutkuͤgelchen, ver - groͤßert werden, die in den Speiſen ſchon zubereitet ge - weſen ſind, und durch die Verdauungskraͤfte nur herausge - zogen werden. Aber doch ſo, daß die Speiſen Ele - mente enthalten, die den Elementen der Gefaͤße aͤhnlich und chemiſch mit ihnen verwandt ſind. Durch dieſe, welche es voͤllig ſind und daher mit jenen zu groͤßern Partikeln vereiniget werden, wachſen die Gefaͤße an Staͤrke. Durch andere, die ſich zwar auch mit ihnen verbinden, aber nicht ſo innig und ſtark vereinigen, wer - den ſie verlaͤngert und erweitert. Diejenigen dagegen, welche den vorhandenen mehr unaͤhnlich ſind, geben Gelegenheit zur Ausbreitung und Zerſtreuung nach ent -gegen -551und Entwickelung des Menſchen. gegengeſetzten Richtungen. So weit laͤßt ſich die Ent - wickelung der vorhandenen Formen, und die der Ver - mehrung aͤhnlicher Formen, begreiflich machen.

Ferner treffen wir in der Art, wie neue Jdeen - aſſociationen in der Phantaſie entſtehen, einen Grund an, die Entſtehung neuer Formen in den Fibern des Gehirns, und uͤberhaupt in dem organiſchen Koͤr - per, uns auf eine aͤhnliche Weiſe vorzuſtellen. Die neuen Aſſociationen und die ſelbſt geſchaffenen Jdeen entſtehen durch Trennung und Aufloͤſung, und dann durch Verbindung und Vermiſchung. Die erſtern Arbeiten ſind nur die Vorbereitungen, indem das Neue in den Formen eigentlich durch die neuen Verbindun - gen, Vereinigungen und Vermiſchungen hervorkommt.

Dieſe neuen Verbindungen entſtehen, ſo oft zwo Vorſtellungen zugleich gegenwaͤrtig ſind, oder zunaͤchſt[auf einander] folgen und bearbeitet werden. Die gleich - zeitige Bearbeitung derſelben verurſacht ihre Verbin - dung. Man kann, wenn es um ein allgemeines Prin - cip zu thun iſt, alle neuen Jdeenverbindungen ſich vor - ſtellen, als wenn ſie eine Folge von einer Coexiſtenz der Jdeen in uns ſind. *)Erſter Verſuch XV. 2. 8.Daſſelbige Geſetz finden wir wieder bey den organiſchen Aſſociationen der Bewegun - gen in dem Koͤrper. Sinnglieder und Bewegungs - glieder, die zugleich gebraucht werden, aſſociiren ſich, ſo daß die Bewegungen in dem einen die in dem andern wiedererwecken. **)Dreyzehnter Verſuch IX. Erſte Abtheilung 10.Daraus laͤßt ſich das allgemeine Geſetz fuͤr die Koͤrper, wie fuͤr die Seele, folgern: daß Gefaͤße, die ſich zugleich entwickeln und aneinander liegen, ſich auch miteinander zu verbinden, zu ver - miſchen, zu vereinigen und gleichſam zu anaſtomiſi - ren geneigt werden. Jedes Gefaͤß dehnet ſich fuͤrM m 4ſich552XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtſich ſelbſt aus und waͤchſt. Es kann nicht fehlen, daß bey dieſem Beſtreben nicht mehrere Faſern ſeitwaͤrts einander begegnen ſollten. Anfangs begegnen ſich bloß die innern Bewegungen in ihnen, wodurch ihre Theile erſchuͤttert und in der Lage etwas geaͤndert werden. Dieß iſt nothwendig, auch da wo nur eine Vergroͤße - rung ſtatt finden ſoll, indem die eindringenden Nah - rungspartikeln Platz haben muͤſſen, wo ſie abgeſetzet werden koͤnnen. Haben ſich nun dieſe Erſchuͤtterungen zwoer benachbarten Fibern, wie zween Kreiſe auf dem Waſſer, einander beruͤhret und endlich gar bey wieder - holter Wallung einander durchkreuzet: ſo iſt zugleich auch, indem eine Spur dieſer Bewegungen zuruͤckbleibt, der Anfang zu einer Zwiſchenfiber gemacht, welche von der einen zur andern gezogen wird, dann| beyde verbin - det, und nun eine neue Maſche oder eine neue Raute in dem Netz zwiſchen ihnen macht.

Die wachſende Kraft in dem Koͤrper, die ani - ma vegetativa des Ariſtoteles, oder die weſentliche Kraft bey dem Hr. Wolf, zeiget ſich alſo als ein Analogon von der vorſtellenden, aſſociirenden und dich - tenden Kraft der Seele. Wir nennen die letztere eine Vorſtellungskraft: aber man muß ſich beſcheiden, daß dieſer Name nichts mehr als eine allgemeine und unbe - ſtimmte Wirkungsart von ihr angebe, nichts mehr als einen allgemeinen Zug, der etwan ſo viel ſagen will, als wir von der Entwickelungskraft des Koͤrpers wiſſen, daß auch dieß eine Kraft ſey die Nahrung aufzunehmen, zu vertheilen, mit ſich zu vereinigen und ſich dadurch zu erweitern, zu vergroͤßern und neue Theile anzuſetzen. Wie unendlich viel mehr beſtimmtes iſt in der menſch - lichen Entwickelungskraft vorhanden, wovon wir keine Vorſtellung haben, oder ſie doch wenigſtens durch den erwehnten Charakter nicht angeben?

V. Vom553und Entwickelung des Menſchen.

V. Vom Unterſchiede der Grundvermoͤgen und der abgeleiteten Vermoͤgen.

Grundvermoͤgen und abgeleitete Vermoͤgen in der Seele beziehen ſich auf eine aͤhnliche Art auf einander, wie die Grundformen in dem Keim des Koͤr - pers auf die hinzukommenden Formen in dem ausgebil - deten Koͤrper. Zu den abgeleiteten gehoͤret zuerſt al - les, was ſein Unterſcheidungsmerkmal nur von Graden und Stufen hat, oder wobey es auf ein Mehr oder We - niger ankommt; aber ferner auch alle Vermoͤgen, wo - bey ſich findet, wenn man ſie aufloͤſet, daß ſie aus an - dern einfachern zuſammengeſetzt ſind, und daß dieſe Zu - ſammenſetzung eine Folge von der Vergroͤßerung in den einfachen iſt, die ſich vereinigen. Denn wo es ſo iſt, da moͤgen zwar die unterſchiedenen Vermoͤgen, nicht bloß der Objekte wegen, ſondern auch in Hinſicht den Art und Weiſe zu wirken, etwas Eigenes an ſich ha - ben: ſo ſind ſie dennoch nur mittelbare Folgen von der erſten Anlage der Seele, weil eine Entwickelung von dieſer vorhergehen muß, ehe ſie auf jene neue Weiſe zu - ſammenwachſen und das neue Vermoͤgen hervortrei - ben kann. Wenn nur diejenigen abgeleiteten Vermoͤ - gen fuͤr verſchiedene gehalten werden, die mehr als bloß den Graden nach von einander verſchieden ſind, ſo koͤnnen wir die letzterwehnten fuͤr neu erzeugte Vermoͤ - gen anſehen, dagegen diejenigen als entwickelte betrach - ten, die allein durch die Vergroͤßerung der erſten Anla - gen entſtehen. Die abgeleiteten Vermoͤgen, muͤſſen alsdenn insbeſondere als hinzugekommene angeſehen werden, wenn ſie, außer der innern Einrichtung der Seele und den Naturanlagen, noch den Einfluß der aͤuſ - ſern Urſachen zu ihrer Beſtimmung erfodern. Denn daferne ſie ſtark genug, wenn gleich nur mittelbar, durchM m 5die554XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtdie angeborne Konſtitution der Seele beſtimmt ſind ſo und nicht anders hervorzugehen: ſo gehoͤren ſie zu den abgeleiteten zwar, aber doch zu den natuͤrlichen.

Es entſcheidet alſo nunmehr die Analogie uͤber den Punkt, der oben (erſter Abſchnitt IV. 3-6. ) bis hieher ausgeſetzet worden iſt: naͤmlich ob man abgeleitete Ver - moͤgen in der Seele zugeben muͤſſe, wozu weiter keine beſondern Anlagen in der angebornen Natur vorhanden ſind, als hoͤchſtens nur die Receptivitaͤt dazu? Auch die Empfaͤnglichkeit zu einem gewiſſen Vermoͤgen kann erzeuget ſeyn, wie ſie in Hinſicht ſolcher entferntern Ver - moͤgen iſt, wozu der Menſch nur alsdenn erſt aufgelegt wird, wenn er andere vorher empfangen hat. Es be - ſtehet folglich nicht alle Ausbildung der Seele in einer Entwickelung ſchon vorhandener Formen.

Vierter555und Entwickelung des Menſchen.

Vierter Abſchnitt. Von der Verſchiedenheit der Menſchen in Hinſicht ihrer Entwickelung.

I. Ueber die angeborne Verſchiedenheit der Menſchen.

  • 1) Einige Verſchiedenheiten in der Natur giebt es auch in Hinſicht der Seelenkraͤfte. Ge - gen Helvetius.
  • 2) Wie weit die Verſchiedenheit in den Men - ſchengattungen ein Unterſchied in der Art oder nur eine Varietaͤt ſey? Von der Ver - ſchiedenheit der Abſtammung. Princip der Specifikation.
  • 3) Von den Urſachen, welche die Natur mo - dificiren. Wie gewiſſe Eigenſchaften des Koͤrpers und der Seele ſich fortpflanzen.
  • 4) Fortſetzung des vorhergehenden. Von dem Einfluß, den die Einbildungskraft in die Fortpflanzung der Nationalcharaktere hat.

1.

Wenn man einen Blick auf die mannichfaltigen For - men wirft, worinn die Menſchheit in verſchiede - nen Laͤndern und zu verſchiedenen Zeiten, und um uns herum, in verſchiedenen Umſtaͤnden, ſich darſtellet: ſo wird es bey einer nur etwas aufmerkſamen Verglei - chung, nicht ſchwer ſeyn die Urſachen zu entdecken, von deren Einfluß dieſe Abweichungen, in Hinſicht der Vermoͤgen und Kraͤfte und Seiten, abhangen. Allein deſto mehrere Schwierigkeiten wird man an - treffen, wenn dieſe Verſchiedenheiten ihrer Groͤße nach geſchaͤtzet, gewuͤrdiget, und die Verhaͤltniſſe derſie556XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtſie bewirkenden Urſachen nach | der Staͤrke ihres Ein - fluſſes beſtimmt werden ſollen. Denn ſobald man durch die aͤußern Geſtalten, welche die Huͤlle der innern Kraͤfte ſind, hindurchſieht: ſo ſcheinet es, man finde den einen Menſchen ſo wie den andern, und ihre Aehnlich - keit komme uns groͤßer vor als ihre Unaͤhnlichkeit, oder dieſe ſey groͤßer als jene, je nachdem man die eine oder die andere am lebhafteſten ſich vorſtellet, oder auch, je nach - dem man die Seite auswaͤhlt, von der man die Menſch - heit anſieht. Jndeſſen koͤmmt es doch hiebey am mei - ſten auf Groͤßen an, wenn man philoſophiſch uͤber den relativen Werth der Menſchen und ihre Vervollkomm - nung, wie uͤber die Wichtigkeit der Mittel und Vorkeh - rungen zu dieſer letztern urtheilen und, weil kein eigent - liches Meſſen moͤglich iſt, zu einer vernuͤnftigen Schaͤ - tzung gelangen will. Die unendlich weitlaͤuſtige Mate - rie uͤber die wirklichen Verſchiedenheiten in der Menſch - heit, die uns die Geſchichte derſelben ſehen laͤßt, will ich hier nicht von neuem vornehmen. Meine Abſicht iſt nur gewiſſe beſtimmte Grundſaͤtze aufzuſuchen, die, wie ich glaube, einigermaßen zur Richtſchnur dienen koͤnnen, wenn die Vergleichung zugleich mit einer vernuͤnftigen Wuͤrdigung verbunden ſeyn ſoll.

Aber hiebey iſt doch die alte, oft unterſuchte, oft ſchon bejahete und oft wieder verneinte oder in Zweifel gezoge - ne, Frage nicht vorbeyzugehen: ob es eine angeborne Naturverſchiedenheit gebe? ob es angeborne National - charaktere, und bey den Jndividuen eines Volks indi - viduelle Charaktere gebe? welche Verſchiedenheiten in der Naturanlage ſind, wenn man naͤmlich allein auf die Seelennatur Ruͤckſicht nimmt? Denn in Hinſicht des Koͤrpers muͤßte man der Erfahrung zu offenbar wider - ſprechen, wenn man dem Mohrenkinde die angeborne Anlage zur ſchwarzen Farbe ablaͤugnen wollte. Jn Hinſicht der Seele aber und ihrer Faͤhigkeiten hat Hel -vetius557und Entwickelung des Menſchen. vetius mit verſchiedenen andern eine vollkommene na - tuͤrliche Gleichheit zu beweiſen geſucht. Auch Hr. Ver - dier tadelt es, als einen Misbrauch des Worts Natur, wenn man ſich auf ſie beruft, die Abweichungen unter den Menſchen zu erklaͤren. Der letztere redet ſo, als wenn er die ganze Ausbildung, am Koͤrper wie an der Seele, bloß fuͤr eine Wirkung von den aͤußern Urſachen anſaͤhe. *)Second Recueil de Memoires et d obſervations ſur la perfectibilité de l homme. p. 1-38.Was beide dieſe Schriftſteller hieruͤber ge - ſagt haben, und beſonders die beſtreitenden Gruͤnde des Helvetius, koͤnnen am Ende uns zwar zur Warnung dienen, die angeborne Verſchiedenheit nicht zu groß zu ſchaͤtzen; aber ſie erweiſen nichts weniger, als daß ganz und gar keine vorhanden ſey. Viele haben ſie unſtrei - tig uͤbertrieben, und der Natur zur Laſt gelegt, was der mangelhaften und fehlervollen Erziehung zuzuſchreiben iſt. Und darum lobe ich den paradoxen Verfaſſer, der, indem er die der gemeinen Meinung entgegengeſetzte Seite der Sache ergriffen und auch dieſe uͤbertrieben hat, andern Gelegenheit giebt, die Mitte, wo die Wahrheit liegt, deſto leichter und deutlicher zu ſehen. Jeder Menſch, vorausgeſetzt daß er voͤllig organiſirt iſt, dieß iſt das immer wiederzuruͤckkehrende Rai - ſonnement des Helvetius; kann eben daſſelbige er - lernen, was andere erlernet haben, wenn man nur die Kunſt verſteht, ſeinen Verſtand durch alle noͤthige Mit - telbegriffe auf die letztern Schlußſaͤtze hinzufuͤhren. Je - de Einſicht loͤſet ſich in eine Reihe unmittelbarer Urtheile auf. Und ſolche unmittelbare Vergleichungen der Jdeen zu faſſen, iſt der Kopf des Einfaͤltigen ſo gut aufgelegt, als das Genie eines Leibnitz. Der einzige von Hel - vetius in der Rechnung uͤberſehene Umſtand iſt, wie ich anderswo ſchon bemerket habe, dieſer: daß nicht je -der558XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtder Kopf jedes unmittelbare Urtheil gleich geſchwind faßt. Und wenn nun zwar bey einzelnen Urtheilen die - ſer Zeitunterſchied unmerklich iſt, ſo offenbaret er ſich ge - nug bey einer laͤngern Reihe derſelben. Man konnte auf eine aͤhnliche Art beweiſen, daß die Schnecke und der Laͤufer eine gleiche Geſchwindigkeit beſitzen muͤſſen. Den Unterſchied am Verſtande leitet Helvetius aus dem Unterſchied an Leidenſchaften her, und ſetzet von neuem voraus, daß alle Menſchen von Natur gleich ſtar - ker Leidenſchaften faͤhig ſind; daß alſo nur die Leiden - ſchaft des Einfaͤltigen haͤtte auf Verſtandesthaͤtigkeiten, durch aͤußere Veranlaſſungen, in demſelbigen Grade er - reget werden duͤrfen, wie bey den philoſophiſchen Genies, die den innern Trieb zum Nachdenken fuͤhlen, um einen großen Denker aus dem gemacht zu haben der nun ein Dummkopf iſt. Dieß heißet eine Wirkung aus einer an - dern erklaͤren, die ihr aͤhnlich iſt und denſelbigen Grund hat. Denn dieß, daß in dem Einfaͤltigen die Begier - de zu Verſtandesbeſchaͤftigungen ſo ſchwach iſt, und durch die ganze Kunſt der Anweiſung nicht bey ihm er - reget werden kann, die doch bey andern von ſelbſt her - vorbricht, iſt, eben ſo wie der ſchwache Gebrauch der Kraͤfte ſelbſt, eine Folge von ihrer natuͤrlichen Schwaͤ - che, die alle Anſtrengung muͤhſam und verdruͤslich macht. Helvetius Beweis iſt wenigſtens noch ſo man - gelhaft, als er vorher war. Er ſetzet voraus, daß die Empfaͤnglichkeit der Menſchen, in Hinſicht der Luſt und Liebe zu den verſchiedenen Seelenaͤußerungen, von Na - tur bey allen gleich ſey. Eine eben ſo unwahrſcheinli - che Vorausſetzung, als daß die angebornen Vermoͤgen gleich ſind.

Die angeborne Verſchiedenheit beſtehet freylich nur in einem Unterſchied an Stufen und Graden, nicht da - rinn, daß Eins von dem Grundvermoͤgen der Seele in irgend einem voͤllig organiſirten Menſchen fehlen ſollte. So559und Entwickelung des Menſchen. So viel muß zugegeben werden, und wird zugegeben, und ſo viel beweiſen die Gruͤnde aus der Erfahrung. Man koͤnnte noch wohl etwas mehr einraͤumen, naͤmlich, daß der angeborne Unterſchied der Seelen vielleicht un - ter den wilden und unkultivirten Voͤlkern etwas gerin - ger ſey, als unter den polizirten, wie die Farben der wilden Thiere von Einem Geſchlecht einander aͤhnlich ſind, wenn die zahmen hierinn ſehr von einander abwei - chen. Aber dennoch fuͤhret die Erfahrung dahin, daß es bey jenen wie bey dieſen Jndividuen gebe, die der Anlage nach Dummkoͤpfe, Gecken und Schurken ſind, wie natuͤrliche Klugkoͤpfe und Rechtſchaffene. Wie weit dieſe natuͤrlichen Anlagen gehen, iſt eine andere Frage? Nur wenn man nichts mehr behauptet, als daß es uͤberhaupt eine ſolche Verſchiedenheit gebe, daß ſolche merklich ſey und einen merklichen Einfluß in die Ausbildung des Menſchen habe, ſo deucht mich, dieß ſey nicht bloß wahrſcheinlich, ſondern auch gewiß.

Denn ſo iſt erſtlich die Analogie von der Verſchie - denheit des Koͤrpers ein ungemein wichtiger Grund, ei - ne aͤhnliche, wenn gleich etwas mindere, Ver - ſchiedenheit bey der Seele zu vermuthen.

Zweytens beſtaͤtigen die Erfahrungen aller derer, die ſich mit der Erziehung und Ausbildung der Kinder beſchaͤftigen, daſſelbige. Vielleicht iſt kein einziger un - ter ihnen, der ſich nicht hievon uͤberzeuget habe. Jch will mich nur auf die geſchickten und eifrigen Erzieher berufen, die es ſich recht angelegen ſeyn laſſen, die be - ſten Huͤlfsmittel der Erziehungskunſt anzuwenden. Die Schwierigkeiten, die ſie bey einzelnen Kindern an - treffen, gewiſſe Gefuͤhle, Thaͤtigkeiten und Geſinnun - gen aufzuwecken und zu ſtaͤrken, welche doch bey andern von ſelbſt hervorbrechen, dringet ihnen die Ueberzeu - gung ab, daß auf der natuͤrlichen Anlage vieles beruhe; daß Naturell kein leeres Wort ſey, ſondern eine reeleBeſchaf -560XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtBeſchaffenheit, deren Beytritt oder Widerſtrebung ſie bey ihren Arbeiten an den Kindern mehr als zu viel em - pfinden. Man mag immerhin ſagen, jedes Jndivi - duum habe dieſelbigen Faͤhigkeiten des Gefuͤhls, des Ver - ſtandes und Herzens; es koͤnne alſo an eben der Seite ausgebildet werden, wie ein anderes. Das wohl: aber beſitzet es dieſe Anlagen in gleichem Grade der Lebhaftig - keit und Staͤrke? Man wird leicht bemerken, wenn man die Werke der Genies vergleichet, daß die Fein - heit des Geſchmacks an Werken des Witzes und der Kunſt, die zaͤrtliche Neigung zu dem, was wahr, was gerecht und anſtaͤndig iſt und dergleichen, etwas mehr in der Seele zum Grunde habe als ein gemeines Gefuͤhl fuͤr ſolche Verhaͤltniſſe, das allen Menſchen zukommt, oder durch Erziehung in alle gebracht werden kann. Nicht jeder, der aufgelegt iſt Verſe zu machen, hat die Anlage zum epiſchen Dichter; nicht jeder, der ſo viel Ueberlegungskraft beſitzet als zu dem gemeinen Men - ſchenverſtand erfodert wird, iſt aufgelegt ein Vaucan - ſon, ein Newton oder ein Leibnitz zu werden. Wer kann ſich hier den großen Beytrag der angebornen Staͤrke der innern Natur wegraiſonniren laſſen? Ein anders aber iſt es, der Natur alles zuſchreiben.

Jn Hinſicht der Nationalcharaktere mag es viel ſchwerer ſeyn, ſolche Erfahrungen beyzubringen, aus welchen die angeborne Verſchiedenheit ſo offenbar erhelle. Wie wuͤrden ſich z. E. die Kinder der Paraguayer ver - halten, wenn ſie, von ihrer erſten Geburt an, in Eu - ropa erzogen und europaͤiſch unterrichtet wuͤrden? Soll - ten nicht die kleinern Eigenheiten, die ihrem Naturell ankleben, unkenntlich werden muͤſſen? Es iſt zu glau - ben, daß ſie es wuͤrden; aber wenn man dabey acht haͤt - te, auf die Schwierigkeiten, die ein Erzieher bey dieſen mehr als bey europaͤiſchen Kindern antrift, um ſie wie dieſe zu bilden: ſo muͤßte ſich die Wirkung ihres Na -turells561und Entwickelung des Menſchen. turells gar ſehr bemerken laſſen. Die Meinung des Hr. Paw, daß die Stupiditaͤt der Amerikaner, auch noch in ihren Nachkommen, als ein Erbfehler ſich offenbare, iſt eine wahrſcheinliche Vermuthung; aber es iſt doch ſchwer, durch Erfahrungen dieß voͤllig zu beweiſen. Charlevoix*)Geſchichte von Paraguay I Th. 5. B. bezeuget ſonſten von den Jndianern in Paraguay, daß, ob ſie gleich geſchickt genug waͤren nach - zumachen, was man ihnen vorzeiget, ſie doch keine Faͤ - higkeit ſpuͤren laſſen etwas neues zu erfinden, die er ſonſten wohl nicht unangemerkt gelaſſen haben wuͤrde, da er ihren Verſtand fuͤr eine uͤbernatuͤrliche Wirkung ſeiner Religion anſah.

2.

Jn Hinſicht der Naturverſchiedenheit unter den Menſchen iſt die erſte hier vorkommende Frage: ob ſol - che ſo weit gehe, daß ſie verſchiedene Menſchenarten hervorbringe? Denn wenn der Unterſchied, den man in allen mannichfaltigen Gattungen von Menſchen auf der Welt antrift, nur allein eine Wirkung von dem Ein - fluß aͤußerer Urſachen und Umſtaͤnde iſt: ſo faͤllt es von ſelbſt weg, daß ſolche fuͤr eine Geſchlechtsverſchie - denheit oder Verſchiedenartigkeit gehalten werden kann. Aber wenn die Unterſcheidungsmerkmale aus der Natur ſelbſt entſpringen, ſo muß eine Verſchieden - heit an der Art zugegeben werden. Daher giebt es einen Weg, die angeborne Verſchiedenheit zu beſtim - men, wenn es ausgemacht werden kann, wie weit die Verſchiedenheit in den Menſchengattungen gehe, die wir unter ihnen antreffen?

Alle Menſchen ohne Ausnahme ſind Weſen Einer Natur und Eines Geſchlechts, Eines Bluts. Dieß kann eben ſo ſehr von ihnen in Hinſicht ihrer See -II Theil. N nlennatur562XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtlennatur behauptet werden, als es in Ruͤckſicht auf ih - ren Koͤrper erwieſen iſt. Allein dennoch bleiben andere Fragen uͤber die Grenzen dieſer Verſchiedenheit zuruͤck, und beſonders daruͤber, wie ſolche eine Wirkung aͤußerer Urſachen ſeyn koͤnne? Sind es nur Spielarten oder Varietaͤten, was heißet dieß? Home hat, ohne den Begriff von der Art zu beſtimmen, den er ſeiner Ge - wohnheit nach fuͤr einen einfachen natuͤrlichen Begriff haͤlt, deſſen naͤhere Entwickelung unnoͤthig ſey, eine Verſchiedenartigkeit zwiſchen ihnen zu behaupten geſucht, die ſo weit gehet, daß ſie unmoͤglich von Einem und demſelbigen Paar abſtammen koͤnnen. *)Außer dem, was bey den Geſchichtſchreibern der Na - tur, beſonders bey Buffon, von der Verſchiedenheit der Menſchengattungen vorkommt, und in einem kernhaf - ten Auszug, mit kritiſcher Auswahl, in der Beſchrei - bung der Thiere des Hr. Hofr. Schrebers ſich findet, verdient die kleine Schrift des Hr. Prof. Blumenbachs, de generis humani varietate nativa liber ſingularis, hier beſonders angefuͤhret zu werden.Das Unbe - ſtimmte und Dunkle in dieſem Begriff von den Arten und Spielarten iſt es eben, was ihn ſo ſchwankend macht, was die Verwirrung unterhaͤlt und uns nicht einmal deutlich ſehen laͤßt, wie viel oder wie wenig aus den Erfahrungen ſich ſchließen laſſe? Mancher Grund wird gebraucht, der richtig genug iſt, um zu erweiſen, daß die Menſchenarten nichts mehr als Spielarten ſind, der aber nicht beweiſet, daß ſie zu Einer Abſtammung gehoͤren, oder nur gehoͤren koͤnnten? Denn ob ſie wirklich aus Einem Paar abſtammen, iſt eine Thatſa - che die aus der Geſchichte bewieſen werden muß. Hr. Home hat allerdings Gruͤnde beygebracht, die das letz - tere etwas zweifelhaft machen koͤnnten, bis ſie naͤher un - terſucht ſind. Aber zugleich hat er geglaubt, durch eben dieſe Gruͤnde auch ihre Verſchiedenheit in der Gat -tung563und Entwickelung des Menſchen. tung oder in der Art bewieſen zu haben. Dieſe Unbe - ſtimmtheit in den Gemeinbegriffen von Arten und Gat - tungen der natuͤrlichen Dinge, oder in der Sprache der Metaphyſiker, der Mangel an einem beſtimmten Princip der Specifikation, wozu doch ſchon der Grund geleget iſt, macht hier einige vorlaͤufige Erklaͤ - rungen nothwendig. Man mag ſie anfangs nur als Worterklaͤrungen anſehen. Wenn man aber die Erfah - rungen damit vergleicht, ſo zeiget ſich bald, daß ſie wah - re Unterſchiede wirklicher Dinge ſind. Es wird aber der Menſch hier nach ſeiner ganzen zuſammengeſetzten Natur betrachtet, als ein Weſen, das aus Seele und Koͤrper beſtehet. Denn dasjenige, was ſich von ſeiner Verſchiedenartigkeit in Hinſicht der Seelennatur ſagen laͤßt, muß groͤßtentheils aus der Analogie gefolgert wer - den, wenn gleich nachher in den Faktis noch einiges, das beſonders zur Beſtaͤtigung der letztern dienet, gefun - den wird. Ueberhaupt ſehen wir bey dem Begriff der Einartigkeit und Verſchiedenartigkeit, in ſo ferne von wirklichen Gegenſtaͤnden die Rede iſt, darauf: ob und auf welche Weiſe die Dinge, die wir anfangs in verſchiedene Klaſſen bringen und vergleichen, in Din - ge derſelbigen Klaſſe uͤbergehen und veraͤndert wer - den koͤnnen. *)Erſter Verſuch XVI. 2. 3.

Menſchen, deren Verſchiedenheit allein von aͤuſ - ſern Urſachen abhaͤngt, von denen ihre angeborne Natur modificirt wird, machen nur Eine Art aus. Denn wenn dieß iſt, ſo laſſe man den Menſchen von ei - ner Klaſſe mit ſeiner angebornen Natur demſelbigen Einfluß der naͤmlichen aͤußern Urſachen, von der Ge - burt an, ausgeſetzet werden: und er wird umgeformet zu einem Menſchen einer andern Klaſſe. Jn dieſem Fall kann der Unterſchied zwiſchen ihnen nichts mehr alsN n 2eine564XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤteine zufaͤllige Verſchiedenheit, keine Verſchiedenheit an der Art, ſeyn.

Geht dieß bey jedem einzelnen Jndividuum an, ſo iſt nicht einmal eine Naturverſchiedenheit da. Dieß iſt die eigentliche zufaͤllige Verſchiedenheit. Man kann ſie nicht einmal Varietaͤt nennen.

Aber wenn eine ſolche Umaͤnderung von aͤußern Ur - ſachen bey einzelnen Jndividuen nicht moͤglich iſt; wie z. B. das Kind eines Negern, unter weiße Men - ſchen gebracht, und wie ein anderes Kind in den Nord - laͤndern erzogen, dennoch die ſchwarze Farbe nicht ver - lieret: ſo faͤngt hier ſchon eine Naturverſchiedenheit an, eine Verſchiedenheit naͤmlich, die ihren Grund in angebornen Beſchaffenheiten hat.

Deswegen iſt es doch moͤglich, daß das Geſchlecht in ſeinen folgenden Generationen, durch den fortwaͤhren - den Einfluß der aͤußern Urſachen von Kindern auf Enkel und Urenkel, ſeine vorigen Eigenheiten verliere. Vielleicht wird das erſte Paar von Negerkindern, in Norden verſetzt und großgemacht, nur etwas gebleicht; aber wenn es ſich unter demſelbigen Klima fortpflanzet, ſo werden ihre Kinder ſchon weißer, und die dritte, vier - te oder eine der folgenden Generationen mag vielleicht endlich alle Spuren der erſten Abſtammung verlieren.

Dieß iſt eine Naturverſchiedenheit, die aber noch dieſelbige Abſtammung zulaͤßt. Es iſt Ab - artung, die entweder eine Ausartung oder eine Ver - edelung iſt, nachdem die Veraͤnderung vom Beſſern zum Schlimmern geſchieht, oder von dieſem zu jenem. Es iſt zufaͤllige Geſchlechts - oder Familienver - ſchiedenheit. Die weißen, ſchwarzen, rothen, brau - nen Farben und die uͤbrigen Verſchiedenheiten in der Natur koͤnnen zu dieſer Klaſſe gehoͤren. Und es iſt aus manchen Gruͤnden wahrſcheinlich, ohne Ruͤckſicht auf die Geſchichte, daß ſie zufaͤllig entſtanden ſind.

Wenn565und Entwickelung des Menſchen.

Wenn es dagegen unmoͤglich iſt, daß eine ſolche Veraͤnderung eines Geſchlechtes in ein anderes durch aͤußere Urſachen allein bewirket werden kann; wenn eine Vermiſchung der Jndividuen der Einen Klaſſe mit den Jndividuen der andern hinzukommen muß: ſo haben wir ſchon eine groͤßere Verſchiedenheit, die ſie als Menſchen von verſchiedenen Arten anſehen laͤſſet. Und dann ſind es Spielarten, Varietaͤten, nach der in der Naturgeſchichte ſchon ziemlich feſtgeſetzten Bedeutung dieſer Woͤrter. Vorausgeſetzt, wie hier ge - ſchieht, daß die Vermiſchung der Arten fruchtbare Kin - der gebe, die ſich wiederum ſo wohl unter ſich, als mit denen von der Vater - und Muttergattung, fruchtbar verbinden koͤnnen.

Dieſe Verſchiedenheit muß mit der naͤchſtvorherge - henden nicht verwechſelt werden. Wenn die Afrikaner und Europaͤer ſolche Spielarten ſind und einander nicht naͤher kommen, ſo koͤnnen ſie unmoͤglich dieſelbigen Stammeltern haben. Denn wenn ſie dieſe gehabt ha - ben, ſo iſt ihre Verſchiedenheit eine Wirkung der aͤußern Urſachen, die auf die Reihe der Generationen nach und nach gewirkt, und die jetzigen Charaktere in ihnen be - ſeſtiget haben. Der Einfluß dieſer Urſachen iſt aber durch die Laͤnge der Zeit ſo ſtark geworden und hat ihre Wirkung ſo tief der Natur eingepraͤgt, daß, wenn die ſchon modificirten Jndividuen den entgegengeſetzten Ur - ſachen bloß geſtellet werden, das Eigene von ihnen nicht anders als mit der Zeit, in der Folge der Generatio - nen gehoben werden kann. Dagegen wenn der Unter - ſchied durchaus nicht ohne Vermiſchung der Saamen zu heben iſt, ſo kann ſolcher auch nicht entſtanden ſeyn, oh - ne eine urſpruͤngliche Verſchiedenheit der Saamen und der Stammeltern.

Hier hoͤrt die Einartigkeit auf, und hier iſt auch die Grenze der Verſchiedenheit der wirklichen Menſchen -N n 3gattun -566XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtgattungen auf der Erde. Weiße und Schwarze, Weiße und Rothe, haben allenthalben fruchtbare Nachkommen erzielet, die entweder ihr eigenes Geſchlecht als Mulat - ten und Kreolen fortgepflanzet, oder ſich wiederum in Eines von den erſten urſpruͤnglichen Geſchlechtern verlo - ren haben. Jndeſſen kann man aus dieſem Grunde Homes Meinung, von einer Verſchiedenheit an Abſtam - mung, nicht widerlegen. Dazu gehoͤret eine Unterſu - chung, die mit mehrern Schwierigkeiten verbunden iſt.

Wenn man die weitern Grade der Verſchiedenartig - keit beſtimmen will, muß man die Beyſpiele aus dem uͤbrigen Thierreiche vor Augen haben. Das Naͤmliche, was hier von dem Unterſchiede der Menſchen geſagt iſt, kann allgemeiner geſagt und auf das Thierreich uͤber - haupt, ſo weit als eine Fortpflanzung durch die Verbin - dung zweyer Geſchlechter vor ſich geht, und auch gewiſ - ſermaßen auf die Pflanzen, uͤbergetragen werden. Aber ich erinnere nur beylaͤufig, weil es meine Abſicht nicht iſt, das Princip der Specifikation in ſeiner ganzen Allgemeinheit und in allen ſeinen Anwendungen aufzu - ſuchen, daß man bey den uͤbrigen Weſen des animali - ſchen Reiches, und bey den Pflanzen, andere Beſtim - mungsgruͤnde der Verſchiedenheit und der Affinitaͤten in den Arten und Geſchlechtern habe und gebrauchen muͤſſe.

Wenn eine Verſchiedenartigkeit vorhanden iſt, ſo wird aus der Vermiſchung keine Frucht erzielet; die das Princip der Fortpflanzung vollſtaͤndig in ſich habe. Jnzwiſchen kann ſolches auf eine unvollkommene Weiſe vorhanden ſeyn.

Die Frucht kann ſich nicht fruchtbar vermiſchen mit ihres Gleichen, aber doch mit Jndividuen, die zu der Art des Vaters oder der Mutter gehoͤren. Dieß iſt eine Stufe der Baſtarten. Sie ſetzet in den zeugenden Aeltern eine Verſchiedenheit an der Art vor -aus,567und Entwickelung des Menſchen. aus, aber auch eine Verwandſchaft, und kann alſo noch mit ihr zu Einer Gattung gerechnet werden, wenn die Bedeutung dieſes Worts nicht ſchon anders beſtimmet iſt. Weſen von Einer Gattung, und von nahe verwandter Art wuͤrden alſo ſolche ſeyn, die nicht ganz unfruchtbare Baſtartarten durch ihre Vermiſchung erzielen wuͤrden.

Eine Baſtartart, die ſich unter ſich, mit ihres Gleichen nicht fortpflanzen kann, aber es doch kann, wenn ſie ſich mit einer von den Arten verbindet, durch deren Vermiſchung ſie entſtanden iſt, offenbaret dadurch eine Schwaͤche der Zeugungskraft, welche dennoch kein gaͤnzliches Unvermoͤgen iſt. Jn jedem Jndivi - duum iſt dieſe Kraft geſchwaͤcht; ſolche ſchwache Kraͤf - te zuſammen geben keine Frucht; aber wenn die ge - ſchwaͤchte Baſtartkraft mit der ungeſchwaͤchten in der natuͤrlichen Art ſich vereiniget, ſo iſt noch Zeugungs - kraft vorhanden, welche fortpflanzen kann. Die neue Halbbaſtartart wuͤrde endlich zu der vollkommenen Gat - tung wiederzuruͤckgebracht werden koͤnnen. Ob es welche von dieſer Gattung von Weſen gebe? ob das Maulthier mit der Stute, und der Bardot mit der Eſelin, ſich fruchtbar vermiſchen koͤnnen? iſt bisher noch ungewiß, da man an den beruͤchteten Jumars, bey der genauern Unterſuchung, nichts anders als wahre Bardots, die Frucht aus einem Pferde und einer Eſelin, gefunden hat. *)Blumenbach l. c. S. 12. in ſine. Buffon allg. Geſchich - te d. Natur 7 Th 2. B. S. 204. u. ſ. f.Gleichwohl mag Buffon nicht Unrecht haben, wenn er eine ſolche Vermiſchung fuͤr moͤglich haͤlt. Es iſt dieß die erſte Stufe in der Verſchiedenartigkeit, und wuͤrde die naͤchſte Verwandſchaft der verſchiedenen Arten ausmachen.

Aber wenn die erzeugte Frucht gar kein Vermoͤgen der Zeugung beſitzet, wie bey den meiſten Baſtarten,N n 4ſo568XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtſo ſind die zeugenden Weſen als verſchiedenartig oder als am Geſchlecht verſchieden zu betrachten. Jndeſ - ſen da dieſe ſich noch mit Wirkung begatten, ſo koͤnnen ſie als Weſen Einer Gattung angeſehen werden, oder als ſolche, deren Geſchlechter verwandt ſind.

Unſere Beobachtungen reichen noch lange nicht hin, auch in dem groͤßern Thierreich, dasjenige ſchon fuͤr na - tuͤrlich unmoͤglich zu erklaͤren, wovon bisher noch kein Beyſpiel vorgekommen iſt oder durch kuͤnſtliche Verſu - che hat erhalten werden koͤnnen. Zwiſchenſtufen laſſen ſich uͤberall vermuthen. Daher muß wenigſtens in ei - ner allgemeinen Betrachtung, wie die gegenwaͤrtige iſt, der Grad von Geſchlechtsaffinitaͤt bemerket werden, der noch ſchwaͤcher iſt, als zwiſchen denen, die lebendige Baſtarte durch ihre Vermiſchung bewirken. Dieß iſt ſie, wenn die Vermiſchung nicht ganz unwirkſam iſt und etwas organiſches beſchaffet, aber ſo daß dieß nur empfangen, nicht zur Vollkommenheit entwickelt werden kann. Ariſtoteles bezeuget ſolches von der Mauleſelin. Allein dieſe iſt ſchon ſelbſt eine Baſtartart, uͤber deren Affinitaͤt nicht aus ihrer Frucht ſondern aus ihrem Ur - ſprung geurtheilet werden muß. Die natuͤrlichen Ge - ſchlechte ſind noch in etwas verwandte Geſchlechte, wenn Eins des Andern auch nur bis ſo weit empfaͤnglich iſt.

Von hier an hoͤrt auch die Verwandtſchaft auf. Die fruchtloſen Belegungen,*)Blumenbach am angez Orte. S. 13. die bloß durch die aͤußere Struktur der Zeugungstheile moͤglich gemacht werden, koͤnnen keinen Grund abgeben, darauf eine Verwandſchaft der thieriſchen Naturen zu gruͤnden waͤre. Jedoch ich breche die allgemeine Betrachtung hier ab, die ſchon weiter fortgefuͤhret iſt, als meine Abſicht es erfoderte, und kehre zuruͤck zu der Verſchiedenheit in dem Men - ſchengeſchlechte.

3. Die -569und Entwickelung des Menſchen.

3.

Dieſer Verſchiedenheit ſind die Grenzen ſchon an - gewieſen, zwiſchen denen ſie faͤllt. Es iſt Ein und daſſelbige Geſchlecht, und die Menſchenarten ſind nur Spielarten. Auf der andern Seite iſt ihre Verſchiedenheit eine wahre Naturverſchiedenheit, die bey einzelnen Jndividuen durch den Einfluß der aͤußern Ur - ſachen nicht gehoben werden kann. So weit entſcheidet die Erfahrung, ſo daß kein Zweifel uͤbrig iſt.

Aber hier liegt uns die Natur dieſer Verſchiedenheit noch nicht ganz im Hellen. Ein anders iſt es, wenn man fragt, ob die Varietaͤt unter den Menſchen eine Verſchiedenheit in der Abſtammung erfodere, oder ob ſolche bey Einer Abſtammung von demſelbigen Paar habe entſtehen koͤnnen?

Dieß voͤllig aufzuklaͤren wuͤrde erfodert:

  • 1) Daß die vorhandenen Abweichungen an Farbe, Groͤße, Statur und Bildung des ganzen Koͤrpers und gewiſſer einzelner Theile geſammelt wuͤrden. Dieß iſt von den obengenannten Geſchichtſchreibern des Men - ſchen ſo weit geſchehen, als es zu dieſer Abſicht ge - nug iſt.
  • 2) Daß von allen dieſen Abweichungen aus der Er - fahrung gezeiget werde, nicht nur daß ſolche bey ein - zelnen Jndividuen durch aͤußere Urſachen zufaͤllig entſte - hen, ſondern auch daß ſolche mit der Fortpflanzung uͤbergehen, ſich in den Nachkommen immer mehr feſt - ſetzen und ſtaͤrker werden koͤnnen.
  • Und 3) daß dieſe Umaͤnderung einer Varietaͤt in die andere moͤglich ſey, ohne Vermiſchung der Jndivi - duen von der einen mit den Jndividuen von der andern.

Die Data, welche die Erfahrung bis jetzo gegeben hat, ſcheinen mir doch hinlaͤnglich zu ſeyn, wenigſtens mit einer uͤberwiegenden Wahrſcheinlichkeit zu entſchei -N n 5den,570XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtden, daß die Verſchiedenheit der Menſchen mit der Ab - ſtammung von Einem Geſchlecht beſtehen, daß ihre er - ſte Veranlaſſung bey den Jndividuen aus dem Ein - fluß der aͤußern Urſachen, und die Fortpflanzung derſel - ben aus den bey der Zeugung wirkſamen natuͤrlichen Kraͤften, voͤllig erklaͤret werden koͤnne. Es kommt wohl am meiſten nur darauf an, wie man die ſchon bewaͤhr - ten Fakta gebrauchet, wenn man Schluͤſſe daraus ziehen will. Jndeſſen hat man allerdings noch Gruͤnde ge - nug, mehrere Erfahrungen aufzuſuchen, um die Sache vollkommen zu beſtaͤtigen. Dieſe Unterſuchung wuͤrde eine eigene Abhandlung erfodern, wenn ſie ausfuͤhrlich vorgenommen werden ſollte. Jndeſſen da das Meiſte daruͤber ſchon von den einſichtsvollen Maͤnnern geſagt iſt, die ich vorher genannt habe, und beſonders von dem Hrn. Profeſſor Blumenbach, und da ohnedieß meine Abſicht mich einſchraͤnkt: ſo will ich nur eine Art von Nachleſe in einigen kurzen Anmerkungen halten, und auch dieß nicht einmal, ſondern vielmehr nur eine An - zeige geben, wo und wie ſolche angeſtellet werden koͤnne.

Zunaͤchſt aber macht die Art, wie manche den Ein - fluß der aͤußern Urſachen zu beſtimmen ſuchen, eine all - gemeine Erinnerung noͤthig. Das Klima und die Lebens - art modificiren ſonder Zweifel den menſchlichen Koͤrper, und ſeine Farbe und Groͤße. Wenn nun einige die Schwaͤrze der Neger der Hitze des Klima zuſchreiben, wovon die Haut wirklich gefaͤrbet wird, ſo glaubet Ho - me berechtiget zu ſeyn dieſen Einfluß zu laͤugnen, weil die Neger ihre Farben von Geſchlecht zu Geſchlecht, auch unter dem gemaͤßigten Himmel in Nordamerika, behalten. Die Braminen und die Banianen, die ſich nicht mit andern Nationen vermiſchen, haben und be - halten ihre weiße Farbe, ohnerachtet ſie unter einem Himmelsſtrich leben, der eben ſo heiß iſt, als das Kli - ma an der malabariſchen Kuͤſte und in andern Neger -laͤndern571und Entwickelung des Menſchen. laͤndern in Afrika. *)Niebuhrs Reiſebeſchreibung nach Arabien, Erſter Band, S. 450.Solcher Jnſtanzen fuͤhret man mehrere an. Sind dieß Beweiſe, daß die Hitze nicht eine von den Urſachen, und zwar eine der vornehmſten, von der Farbe der Neger ſeyn koͤnne? Daß ſie ent - weder nicht die alleinige ſey, oder daß ihre Wirkungen ſich ſchwaͤchen oder aufheben laſſen, iſt nur, was aus dieſen entgegenſtehenden Beyſpielen erhellet. Es iſt, wie man aus andern Gruͤnden vermuthen kann, auch nicht ſowohl der groͤßte Grad der Waͤrme einer rei - nen Luft, ſondern vielmehr die Hitze einer Luft, die mit Duͤnſten verſchiedener Art und beſonders mit oͤligen und fetten Duͤnſten erfuͤllet iſt, welche zu der Schwaͤrze der Haut am meiſten beytraͤgt. Ohne Zweifel wird durch die Reinlichkeit und durch oͤſteres Baden, bey ei - nigen Voͤlkern, ihr Einfluß auf die Farbe geſchwaͤcht. Ueberhaupt aber erinnert man ſich nicht genug daran, daß man eben ſo wenig ſchließen koͤnne, es muͤſſe an der Urſache fehlen, weil ihre Wirkung nicht da iſt, als man unbedingt auf die Wirkung folgern kann, wenn die Ur - ſache vorhanden iſt. Denn die Urſache kann beſtehen und wirken, und dennoch durch viele ihr entgegengeſetzte Kraͤfte gehindert werden, ihren Einfluß merklich zu ma - chen. Dieß iſt ein Grund mehr vorſichtig zu ſeyn, ehe man mit Sicherheit eine urſachliche Verbindung zwi - ſchen Phaͤnomenen, die einander begleiten oder auf einander folgen, feſtſetzen kann. Eine Erfahrung allein, ſo umſtaͤndlich ſie auch ſeyn mag, iſt dazu nicht hinrei - chend. Es werden in jedem Falle Vergleichungen meh - rerer Faͤlle hiezu erfodert. Jn der Arzneywiſſenſchaft iſt man uͤberzeugt, wie ſchwer es ſey, ſich vor dem Mißgreifen der Urſachen zu huͤten. Jch meine nicht, daß es ein Paradoxon ſey, wenn man behauptet, daßſolches572XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtſolches in der Wiſſenſchaft vom Menſchen, die man aus der Erfahrung nimmt, eben ſo ſchwer ſey, es mag von den Urſachen die Rede ſeyn, die auf ſeinen Koͤrper, oder von denen, die auf ſeine Seele wirken.

Dieß vorausgeſetzt, ſo meine ich, wir haben wirk - lich ſchon ſo viele bewaͤhrte Beobachtungen von den vor - kommenden Abweichungen der Menſchen, daß folgen - der Erfahrungsſatz daraus erhelle.

Es giebt keine Abweichung verſchiedener Voͤlker von einander, an Farben, an Bildung. an Groͤße, die nicht einzeln auch bey Jndividuen ſolcher Gattungen, deren Unterſcheidungsmerkmal ſie nicht iſt, durch zu - faͤllige Urſachen hervorgebracht ſey, oder durch Kunſt hervorgebracht werden koͤnne. Es kann hinzuge - ſetzet werden, daß es noch mehrere Abweichungen bey den Jndividuen gebe, als jemals bey ganzen Voͤlkern allgemein zu Nationalcharakteren geworden ſind.

Wir haben unter den Europaͤern Beyſpiele von den platten Naſen und aufgeworfenen Lippen der Neger; ſchwarze Kinder von weißen, kleine Kinder von großen Eltern, und umgekehrt, langgewachſene rieſenfoͤrmige Kinder von Eltern, deren Groͤße kaum an die mittlere Laͤnge reichet. Wir kennen vielleicht noch nicht die Ur - ſachen alle, wodurch ſolche Abweichungen entſtehen. So gewiß auch das Klima, die Nahrung und die Lebensart darunter gehoͤren, ſo gewiß ſcheinet es doch auch zu ſeyn, daß die Frucht ſchon im Mutterleibe gewiſſen zufaͤlligen Veraͤnderungen unterworfen iſt, wovon wir die wirken - den oder veranlaſſenden Urſachen zur Zeit noch nicht ken - nen. Die Familien mit ſechs Fingern, mit laͤnglichen Pupillen,*)Blochs mediciniſche Bemerkungen. und hundert aͤhnliche beſtaͤtigen dieſes.

Daß ſolche zufaͤllig entſtandene Abweichungen ſich zuweilen fortpflanzen und auf eine ganze Familie ſichverbrei -573und Entwickelung des Menſchen. verbreiten, iſt ebenfalls offenbar. Und man kann wie - derum ſagen, daß viel wichtigere Abweichungen bey ein - zelnen Familien erblich werden, als unter den groͤßern Gattungen von Menſchen vorkommen. Denn ſogar beſondere Krankheiten, oder naͤhere Anlagen dazu, wer - den fortgepflanzet.

Aber weil dieſe Beſonderheiten ſich doch in den fol - genden Generationen wieder zu verlieren pflegen, ſo iſt die allgemeine und beſtaͤndige Verſchiedenheit zwiſchen den Menſchengattungen dadurch noch nicht begreiflich gemacht. Hiezu werden erſtlich allgemeine Urſachen erfodert, die auf alle Jndividuen von einer Race wirken; und zweytens beſtaͤndig wirkende Urſachen, um die Eigenheiten fortzupflanzen. Und hier iſt es auch, wo man gemeiniglich mit den Beweiſen fuͤr den zufaͤlligen Urſprung der Abweichungen etwas zu kurz kommt. Wenn die Luft, der Boden, die Nahrung, die Lebens - art oder auch die Kunſt, die die Koͤpfe bey einigen Voͤl - kern platt macht, die Ohren verlaͤngert, die Haut taͤt - towirt, bey den Chineſern die Fuͤße der Frauenzimmer verkleinert und die Hottentotten einer Hode beraubet; wenn dieß die alleinigen und entſcheidenden Urſachen von der Farbe, Groͤße und Bildung eines Volkes ſind: ſo wuͤrden wir freylich begreifen, warum alle Jndividuen, die dem Einfluſſe dieſer Urſachen ausgeſetzet ſind, ihre Wirkungen erfahren. Die Wirkung muͤßte ja ſo all - gemein ſeyn, als die Urſachen. Aber nicht zu ſagen, daß es daraus noch nicht begriffen wird, warum dieſel - ben Eigenſchaften erblich werden: ſo wiſſen wir doch aus ſo vielen Beyſpielen, daß die angefuͤhrten Urſachen, das Klima naͤmlich und die Nahrung, veraͤndert werden koͤn - nen, ohne daß ſich die ihnen zugeſchriebenen Wirkungen verlieren; imgleichen daß jene Urſachen oͤfters eine ſol - che Wirkung nicht hervorbringen; woraus, wie vorher erinnert iſt, doch ſo viel geſchloſſen werden kann, daßſie574XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtſie es nicht ſind, welche allein wirken, ſondern daß noch eine andere vorhanden ſey, die ſich mit ihnen vereinige. Vielleicht iſt alsdenn dieſe letztere, die zu jenen nicht ge - hoͤrt, eine von den vornehmſten, wovon die Beſtaͤndig - keit und Allgemeinheit in den Nationalcharakteren ab - haͤngt.

Vergleichen wir die Fakta in Hinſicht der National - charaktere, ſo finden wir vielleicht keinen einzigen Un - terſchied, bey dem nicht die aͤußern allgemeinen Urſa - chen, Klima, Nahrung, Lebensart und auch gewiſſe angefuͤhrte Gewohnheiten, die Koͤrper zu bilden einen Einfluß haben ſollten, und zwar einen ſo merklichen, daß ſie ſolche entweder zuerſt veranlaſſen oder doch un - terhalten koͤnnen, wenn ſie einmal bey den Stammel - tern durch beſondere Zufaͤlle hervorgebracht ſind. Dieß iſt von der Farbe, von der Groͤße, von der Feſtigkeit gewiſſer Theile entſchieden. Es wird auch dadurch auſ - ſer Zweifel geſetzet, weil dieſelbigen Urſachen bey den Thieren in ſolchen Gegenden, und zum Theil auch bey den Pflanzen, aͤhnliche Veraͤnderungen hervorbringen. Es muß vermuthet werden, daß da, wo es an einer allgemeinen Urſache fehlet, wodurch die zufaͤlligen indi - viduellen Abweichungen unterſtuͤtzet werden, dieſe letztern ſich auch bald wieder verlieren, ohne zu allgemeinen Nationalcharakteren zu werden. Denn ſo geht es bey den Beſonderheiten unter uns, die ſich nur hoͤchſtens auf einige Generationen in einigen Familien erhalten. Dieſe Vermuthung wird durch die Erfahrung beſtaͤtiget. Es iſt außer Zweifel, daß da, wo der Einfluß ſolcher allgemeinen Urſachen, welche ihre Wirkſamkeit uͤber al - le Jndividuen erſtrecken, aufhoͤret, auch die Wirkun - gen zum Theil ſich verlieren; ich beziehe mich auf die Beyſpiele, die Hr. Blumenbach hieruͤber geſamm - let hat.

Jndeſ -575und Entwickelung des Menſchen.

Jndeſſen wuͤrde es dennoch nicht ganz unerklaͤrbar ſeyn, wenn etwa auf einer abgeſonderten Jnſel oder in einem Lande, deſſen Bewohner ſich nie mit andern vermiſcht haben, eine Eigenheit bey den Bewohnern gefunden werden ſollte, die von keiner der allgemeinen aͤußern Urſachen abhaͤnget. Was man z. B. von den geſchwaͤrzten Menſchen, auf der Jnſel Formoſa und an - derswo, erzaͤhlet, mag uͤbertrieben ſeyn, wofuͤr ichs hal - te; aber mich deucht doch, man habe keine Gruͤnde, die - ſe Nachrichten insgeſammt fuͤr Fabeln zu erklaͤren. *)Blumenbach am angez. Orte S. 93. Es ſind einige Zeugniſſe darunter von Gewicht.Es iſt ganz wohl moͤglich, daß eine ungewoͤhnliche Ver - laͤngerung des hintern Knochens in einer Familie durch einen Zufall, wie ſechs Finger an den Haͤnden, entſtan - den ſey, und daß eine ſolche Abweichung ſich verbreitet und erhalten habe, wenn dieſe Familie ohne Vermi - ſchung mit andern zu einem kleinen Volke gewachſen iſt. Sie haͤtte ſich durch eine Verbindung mit fremden all - maͤlig wieder verlieren muͤſſen. Ueberhaupt machen ſolche Beyſpiele keine große Ausnahme von der obigen Regel, daß Abweichungen, die national werden, in allgemeinen aͤußern Urſachen einen Grund haben muͤſſen, die ſolche befoͤrdern und erhalten.

Es iſt nicht ſchwer aus dieſen aͤußern Urſachen zu erklaͤren, wie die Verſchiedenheiten zuerſt entſtanden ſind, noch auch, wie ſie von Geſchlecht zu Geſchlecht fortgehen, wenn die erſten Urſachen fortwirken. Aber eine Schwierigkeit iſt uͤbrig. Wie, wenn die Urſachen weggenommen werden? Wenn die Familie, bey de - nen ſie entſtanden ſind, in ein anderes Klima und in ei - ne andere Lebensart verſetzet, und ihre Koſt veraͤndert wird? Man koͤnnte ſich vielleicht darauf berufen, daß ſolche Eigenheiten nicht ſo leicht vergehen als entſtehen;daß576XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtdaß nur die ſchwarze Farbe der Neger in dem noͤrdli - chen Amerika zur Zeit noch fortwaͤhre, aber ſich doch von ſelbſt in den folgenden Generationen verlieren muͤſſe. Allein dieſe Antwort wird ſchwerlich gnuͤgen. Es ſind der Beyſpiele zu viel, welche es beſtaͤtigen, daß Eigen - ſchaften ſich fortpflanzen und erhalten, wo man keine Wirkung von den aͤußern Urſachen mehr finden kann. Wenn auch etwas darauf gerechnet wird, daß ihre Wir - kung, die ſie ehemals gehabt haben, noch fortbeſtehe; ſo muͤßte doch ſolche nicht ſo unausloͤſchlich der Natur aufgedruckt ſeyn, daß ſie gegen den Einfluß ſolcher Ur - ſachen, die ihr entgegenwirken, ſo ſtark und ohne Ver - aͤnderung aushalten koͤnnte, als die Erfahrung lehret, daß ſie wirklich aushaͤlt. Sie muß alſo anderswoher unterſtuͤtzt werden. Mich deucht, man wird nicht nur darauf gefuͤhret, ſondern faſt gezwungen anzunehmen, es gebe, außer jenen Eindruͤcken von dem Klima, der Nahrung, der Lebensart und den uͤbrigen aͤußern Urſa - chen noch eine andere, die in dem Menſchen ſelbſt ſey, die nicht nur zu jenen hinzukomme, ſondern auch insbe - ſondere bey der Fortpflanzung wirke, und ſo maͤchtig wirke, daß ſie fuͤr ſich allein denſelbigen Effekt auf die Natur entweder hervorbringen oder ſolchen doch erhalten koͤnne, wenn er ſich einmal feſtgeſetzet hat.

4.

Eine ſolche Urſache finden wir wirklich in dem Men - ſchen ſelbſt. Es iſt ſeine Nachbildungskraft, oder Einbildungskraft, welche letztere doch eigentlich nur ein Theil von ihr iſt. Die, Art wie dieſe wirket und wie ſie den Menſchen an Seele und Koͤrper modificirt, iſt anderswo erklaͤret. *)Zehnter Verſuch III. 5.Daß ſie bey der Erzeugung maͤchtig ſey und auf die erſte Bildung des Embryonswirke,577und Entwickelung des Menſchen. wirke, iſt, wie ich meine, nicht zweifelhaft. Ob ſie auch in der Folge nach der Empfaͤngniß, in den erſten Monaten der Schwangerſchaft, etwas vermoͤge, und insbeſondere ob ſie die Urſache der ſogenannten Mutter - maͤler ſey, iſt wohl etwas zweifelhafter; obgleich auch hier die Wahrheit in der Mitte zu liegen ſcheinet. Wenn es nur allein auf das Wie hierbey ankaͤme, wobey doch die mehreſten Aerzte den meiſten Anſtoß ge - funden haben: ſo deucht mich, die obige Analyſis wuͤrde zureichen die Moͤglichkeit im Allgemeinen zu begreifen. Aber wieweit dieſe maͤchtige Bildungsurſache im Men - ſchen wirklich gehe, wie groß ihre Kraft, oder wo ſie begraͤnzet iſt? das muͤſſen die Fakta beſtimmen. Gleich - wohl wird man doch ihren Einfluß bey der erſten Zeu - gung des Kindes nicht verkennen. Und hiebey wuͤrde das, was in Hinſicht der Pferde fuͤr unbezweifelt ge - halten wird, einen analogiſchen Beſtaͤtigungsgrund ab - geben.

Man wird in dieſer Meinung, daß die Einbil - dungskraft der Eltern bey der Zeugung einen Einfluß in die Bildung des Kindes, wenn nicht allemal habe, doch haben koͤnne, und die meiſtenmale wirklich hat, noch mehr beſtaͤrkt, wenn man die verſchiedenen koͤrper - lichen Beſchaffenheiten, die am gewoͤhnlichſten auf die Kinder uͤbergehen, naͤher betrachtet, und mit den be - kannten Geſetzen der Einbildungskraft vergleichet. Denn eben ſolche Beſchaffenheiten, welche am leichte - ſten uͤbergehen, ſind es auch, die am lebhafteſten em - pfunden und am lebhafteſten reproducirt werden. Was am oͤfterſten und am leichteſten erblich wird, iſt die Geſichtsbildung und andere aͤußere Geſtalten, die in die Augen fallen. Hiernaͤchſt ſind es auch Fehler in der Ausſprache, wie in einigen Familien das Unvermoͤ - gen den Buchſtaben R auszuſprechen; bey welchem letz - tern denn nun freylich auch die Nachahmung in der er -II Theil. O oſten578XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtſten Jugend vieles beytraͤgt. Ferner gehen Gebrechen und Krankheiten uͤber, die dem Gefuͤhl am meiſten ge - genwaͤrtig ſind und ſolches waͤhrend der Zeugung leb - haft ruͤhren. Dagegen andere Beſonderheiten der El - tern, deren Wirkungen nicht ausnehmend empfunden, oder lebhaft eingebildet werden, ſich ſeltener fortpflanzen.

Hawkesworth hat, in der Geſchichte der neueſten Reiſen nach der Suͤdſee,*)Dritter Theil S. 391. eine Bemer - kung gemacht, die, da ſie ohne Zweifel eine richtige Be - obachtung iſt, die Mitwirkung der Einbildungskraft ungemein beſtaͤtiget. Wenn zween Englaͤnder in ihrem Vaterlande ſich verheyrathen, und alsdenn nach den Kolonien nach Weſtindien ziehen, ſo findet man an ih - ren dorten erzeugten und gebornen Nachkommen die charakteriſtiſche Farbe und Geſichtsbildung der Kreolen. Kehren die Eltern in der Folge wieder nach ihrem Va - terlande zuruͤck, ſo wird man jene Merkmale bey den Kindern, die ſie hier zeugen, nicht antreffen. Und dennoch iſt gemeiniglich die Lebensart ſolcher Leute, zu Hauſe und in der Fremde, dieſelbige, daß faſt nichts mehr als der Unterſchied der Luft, des Waſſers und der Lebensmittel, welche letztern doch auch groͤßtentheils von derſelbigen Art bleiben, uͤbrig iſt, worinn man die Ur - ſache dieſer Verſchiedenheit an den Kindern ſuchen koͤnn - te, und ſie ſchwerlich finden wird. Man erwaͤge hie - bey, wie ſo oft in der phyſiſchen Lage der Eltern eine viel groͤßere Verſchiedenheit vorgehe als dieſe, ohne daß ſich davon in den Kindern eine Wirkung offenbare: ſo kann man es ſchwerlich in Abrede ſeyn, daß die er - waͤhnten Unterſcheidungsmerkmale in den Kindern den aͤußern phyſiſchen Urſachen allein nicht zuzuſchreiben ſind. Sollte es wohl zweifelhaft ſeyn, daß der taͤgliche An - blick gewiſſer Menſchengeſtalten der Phantaſie Bildereindruͤcke,579und Entwickelung des Menſchen. eindruͤcke, die ihr waͤhrend der Zeugung gegenwaͤrtig ſind und die alsdenn thaͤtige Koͤrperkraft ſo beſtimmen, daß davon Folgen in der Frucht entſtehen? Ein ge - ſchickter Naturforſcher hat, aus der Mitwirkung der thieriſchen Einbildungskraft, bey den Hunden die große Verſchiedenheit, die ſich in dieſer Thiergattung findet, zu erklaͤren geſucht. *)Hr. Joh. Theoph. Friſchen. Siehe deſſen Abhand - lung von den Urſachen der vielerley Bildungen und Groͤßen der Hunde, in dem Naturforſcher 7tes St. S. 52.Vielleicht iſt dieß zu viel. Viel - leicht thut die Einbildungskraft nur etwas, nicht alles. Aber wenn die Beobachtung richtig iſt, daß ſo gar die gewaltſame Verkuͤrzung der Ohren und des Schwanzes erblich wird: ſo wuͤrden die uͤbrigen Gruͤnde, deren ſich Hr. Friſchen bedienet hat, worunter dieſer einer der vornehmſten iſt, daß der Sinn des Geſichts von den Hunden vorzuͤglich gebraucht wird Dinge zu unterſchei - den, und daß die Abweichungen, welche in der Farbe, in den Haaren und in der Bildung entſtehen, faſt alle in die aͤußern Sinne fallen, ungemein beſtaͤrket wer - den. Man kann dieſen Thieren eine vorzuͤgliche Leb - haftigkeit der Einbildungskraft nicht abſprechen; und was noch hinzugeſetzt werden muß, ihre Natur iſt fuͤr ſich ausnehmend biegſam und geſchickt mancherley Ab - aͤnderungen anzunehmen. Jnzwiſchen mag es ſich bey den Thieren verhalten, wie es wolle, ſo iſt bey dem Menſchen dieſer Einfluß ſchwerlich gegen die vielen Be - obachtungen, wozu die innere Moͤglichkeit aus der Na - tur der Nachbildungskraft kommt, in Zweifel zu zie - hen. Man kann es fuͤr keine Einwendung von Erheb - lichkeit anſehen, daß der Einfluß der Einbildungskraft nicht bey allen gleich groß noch bey allen merklich iſt. Auch kann man ſich darauf nicht berufen, daß ſie ſoO o 2viel580XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtviel nicht vermag, wenn wir mit Vorſatz und Fleiß ſie anſtrengen. Wenn die Phantaſie ſo thieriſch wirkt, als ſie im Nachbilden wirkt, ſo wird ſie gewiß nicht von Willkuͤr regiert. Sie iſt alsdenn Jnſtinkt, und wirket wie die Kraft der Nerven von ſelbſt, auf welche Ueberlegung und Eigenwille nicht anders als nur in der Ferne und ſehr mittelbar etwas ausrichten kann.

Aus dem Einfluſſe dieſer innern Urſache werden wiederum andere Phaͤnomenen in der Geſchichte der Menſchheit begreiflich. Warum erhalten ſich dieſelbi - gen Charaktere eines Volks, welche zuerſt durch aͤußere phyſiſche Urſachen entſtanden ſind, unter Umſtaͤnden, die jenen Urſachen entgegenwirken? Home ſchloß ſo: da die Negern in dem kaͤltern Nordamerika ihre Farbe behalten, ſo muͤſſen ſie ein eigenes verſchiedenes Men - ſchengeſchlecht ſeyn. Aber nicht zu ſagen, daß aller - dings die einmal feſtgeſetzte Schwaͤrze fuͤr ſich ſelbſt ſchon, einige Generationen durch, der Natur noch an - kleben muß, ſo iſt es ein großer Unterſchied, ob eine Menge von Schwarzen untereinander bleiben, oder ob ſie bey einzelnen Paaren unter lauter Weiße zerſtreuet werden? Sie koͤnnen viele Jahrhunderte durch unver - aͤndert ſich erhalten, wann ſie beyſammen ſind; dage - gen wenn jedes Paar abgeſondert wuͤrde, und jedes neue Paar Kinder, die vom neuen verbunden werden ſollten, von Geburt an nur lauter Europaͤer um ſich ſaͤhen; und waͤre ein ſolcher Verſuch durch mehrere Generatio - nen fortgeſetzt worden: ſo waͤre die Frage, ob ſie nicht faſt eben ſo geſchwind in vollkommene Europaͤer in der fuͤnften oder ſechſten Generation uͤbergehen moͤchten, als es geſchieht, wenn die Samenvermiſchung mit den Europaͤern dazu kommt? Daß die Samenvermiſchung hiezu ganz unentbehrlich ſey, hat Hr. Home nicht be - wieſen. Und doch iſt es begreiflich, wie die Farbe ohne ſelbige ſich ſo lange unter den Negern in Nordame -rika581und Entwickelung des Menſchen. rika erhalten koͤnne? Der einzelne Menſch modificirt ſich leicht nach dem Volk, unter dem er lebet. Dagegen eine ganze Geſellſchaft, die unter ſich zuſammenhaͤngt, eine Kolonie ausmacht, die ihren urſpruͤnglichen Cha - rakter, den ſie aus dem Vaterlande mitbringet, ſo bald und ſo leicht nicht ableget. *)Der aus Sachſen gebuͤrtige Lange, den die Englaͤnder auf der Jnſel Savu antrafen, hatte ſich mit einer Jn - dianerinn verheirathet, und war faſt in nichts mehr ein Europaͤer als in der Kleidung, welche er Amtshalber beybehalten mußte. Den Sitten, der Denkungsart und Lebensart, zum Theil auch den Farben nach, war er ganz Jndianer. Dagegen behalten die Eingebornen von den Jnſeln um Java herum zu Batavia ihren Na - tionalcharakter, ihre Sprache und Bildung, ſo weit ſie auch von ihrem Vaterland entfernet ſind, und ſo ſehr ihr Stand und Lebensart veraͤndert iſt. (Neueſte Rei - ſen nach der Suͤdſee zter Th. S. 361.) Dergleichen Exempel giebt es viele.

Jch habe nur die Data von dem obgedachten Bewei - ſe angeben wollen. Wer ihn vollſtaͤndig ausfuͤhren will, wird beſtaͤtigende Beyſpiele in großer Menge antreffen. Das Reſultat davon iſt: die Verſchiedenheit unter den Menſchen liegt nun zwar bey den Jndividuen in der an - gebornen Natur; aber ſie iſt doch nicht ſo groß, daß ſie uns noͤthige, das Zeugniß der aͤlteſten und ehrwuͤrdig - ſten Geſchichte in Zweifel zu ziehen, welche ſagt, daß alle Menſchen von denſelben Ureltern abſtammen.

O o 3II. Von582XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

II. Von den Urſachen, welche die menſchliche Natur ausbilden, und deren Verhaͤltniß gegen - einander.

  • 1) Die Bildungsgruͤnde bey den Menſchen ſind die Naturanlage, die phyſiſchen Um - ſtaͤnde, das Beyſpiel und die eigentliche Er - ziehung.
  • 2) Wie ſtark der Einfluß der Natur ſey in Vergleichung mit den hinzukommenden aͤuſ - ſern Urſachen?
  • 3) Von der Macht der vollkommenſten Er - ziehung.
  • 4) Wichtigkeit der aͤußern Umſtaͤnde. Vom Geiſt der Staͤnde.
  • 5) Wie weit die Entwickelung der Seelen - kraͤfte der eigentlichen Erziehung zuzuſchrei - ben ſey?

1.

Die neuern Schriftſteller haben es eingefuͤhrt, alle aͤußere, phyſiſche und moraliſche Urſachen, welche die natuͤrliche Anlage durch ihren Einfluß ausbilden und ihr diejenige Form geben, die in dem ausgebildeten Menſchen vorkommt, unter dem Namen der Erzie - hung zu begreifen. Natur und Erziehung machen alsdenn den Menſchen zu dem, was er iſt. Aber wenn gleich ohne Verwirrung ſo verſchiedene Dinge, als die eigentliche Erziehung und die Umſtaͤnde ſind, gleiche Namen haben koͤnnen: ſo iſt es dennoch in mehr als ei - ner Hinſicht noͤthig, die mancherley Urſachen, die man dadurch in Einer großen Klaſſe zuſammennimmt, von einander zu unterſcheiden und jede beſonders zu erwe -gen.583und Entwickelung des Menſchen. gen. Einige von ihnen ſind in unſerer Gewalt, andere nicht; die meiſten ſind es zum Theil. Um alſo auf eine beſtimmtere Weiſe einzuſehen, was und wie viel durch menſchlichen Fleiß und durch die willkuͤrlichen Veranſtaltungen zur Erziehung auszurichten ſey, iſt die verhaͤltnißmaͤßige Staͤrke dieſer verſchiedenen Urſachen gegen einander zu erwaͤgen.

1) Erſtlich gehoͤren zu dieſen aͤußern Urſachen die zufaͤlligen Umſtaͤnde. Hierunter ſind alle Ver - haͤltniſſe und Beziehungen auf die aͤußere Welt begrif - fen, worunter der Menſch ſich von der Geburt an be - findet. Die koͤrperlichen Gegenſtaͤnde, die Luft, die Waͤrme, die Nahrung, von der Milch der Mutter an, wirken auf die reizbaren Muskeln des Koͤrpers und auf die empfindlichen Nerven, und erregen Bewegun - gen, und Empfindungen, und Leidenſchaften und Triebe. Aber auch die moraliſchen und politiſchen Beziehungen des Menſchen auf Menſchen, und die hievon entſprin - genden Beziehungen auf die lebloſen und beſeelten Ob - jekte, gehoͤren hieher; die rechtlichen Vermoͤgen, Reich - thum und Armuth, Herrſchaft und Knechtſchaft, Frey - heit und Sklaverey und dergleichen. Helvetius hat den Einfluß aller dieſer Umſtaͤnde auf die Ausbildung des Menſchen die Erziehung des Zufalls genannt. Jndeſſen wirket doch der Menſch auf den Menſchen noch auf eine eigene Art, auf die in gleicher Maße kein anders Weſen in der Welt, weder Thiere noch un - beſeelte Koͤrper, auf ihn wirken koͤnnen. Der Menſch iſt ein Muſter fuͤr Menſchen zur Nachahmung. Alles uͤbrige macht nur gewiſſe phyſiſche Eindruͤcke auf die Muskeln und Sinnglieder, und ruͤhret dadurch die in - nere Kraft der Seele; aber der Anblick des Menſchen wirket außer dieſem auf das Nachbildungsvermoͤgen mit einer ſich auszeichnenden Staͤrke. Er bringt eine Form und Nachbildung hervor, ohne daß weder der,O o 4welcher584XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtwelcher vorgeht, noch der andere, der ihm nachmacht, ſolches wiſſe oder wolle. Dieſes innere ſympathetiſche Band zwiſchen Menſchen und Menſchen iſt bey der Ausbildung des Kindes, und in der Entwickelung ſeiner Vermoͤgen, ſo maͤchtig, daß der Einfluß davon, ohner - achtet er unter dem allgemeinen Einfluß der aͤußern Um - ſtaͤnde begriffen iſt, beſonders als die Ausbildung durch Beyſpiele bemerket zu werden verdienet.

2) Die zwote Klaſſe der ausbildenden Urſachen kann unter dem Namen der Erziehung begriffen wer - den, wenn man damit uͤberhaupt alle gefliſſentlich zur Ausbildung der menſchlichen Natur in der Jugend ver - anſtaltete Einrichtungen bezeichnet. Sie iſt die phy - ſiſche Erziehung, inſoferne ihre Abſicht auf die Kraͤfte des Koͤrpers, auf die mechaniſchen Kraͤfte, und auf die thieriſchen Vollkommenheiten in den Werkzeugen des Empfindens und der willkuͤrlichen Bewegung, ge - richtet iſt, und inſoferne koͤrperliche Mittel hiezu ge - braucht werden. Sie iſt die geiſtige, die morali - ſche und intellektuelle, inſoferne ſie unmittelbar die Bildung der Seelennatur mittelſt der Vorſtellungen zum Zweck hat. Sie iſt Anfuͤhrung, Unterricht. Jenes, wenn der Menſch unter Umftaͤnde geſetzet wird, die ihm zur Anwendung ſeiner Vermoͤgen Gelegenheit geben, wenn dieſe Vermoͤgen alsdenn zur Thaͤtigkeit mittelſt ſinnlicher Vorſtellungen gereizet werden, und wenn man ihm alsdenn die Handlung vormacht. Sie iſt Unterricht, Jnſtruktion, inſoferne man den Weg uͤber den Verſtand nimmt und Kenntniſſe und Regeln, die von der Ueberlegungskraft gefaßt werden, beybringet. Sie wird aber naͤhere Anweiſung, wenn Anfuͤhrung zur Ausuͤbung mit Unterricht verbun - den wird. Sonſt faßt auch wohl die Anweiſung uͤberhaupt nichts mehr in ſich, als daß man dem An - zuweiſenden die Gegenſtaͤnde ſeiner Thaͤtigkeit vor -ſtellet.585und Entwickelung des Menſchen. ſtellet. Jn dieſem Fall iſt ſie weniger als die An - fuͤhrung.

Jn einer engern Bedeutung wird das Wort Er - ziehung genommen, wenn man von einzelnen Perſo - nen ſagt, daß ſie ohne Erziehung ſind;[od]er von ganzen Voͤlkern, daß ſie ihre Kinder ohne Erziehung laſſen, ob ſie ſolche gleich zu ihrer Lebensart und zu ihren Gewer - ben und Kuͤnſten anfuͤhren. Jn dieſen Redensarten ſchraͤnkt man das Wort Erziehung ein, auf die zur Entwickelung der hoͤhern Erkenntnißkraͤfte und zu einem hoͤhern Grade der Verfeinerung abzielen - den Einrichtungen.

Ueberhaupt aber iſt die Erziehung ein Werk der Kunſt, nach Plan und Abſicht eingerichtet. Jnſoweit wird ſie der Ausbildung der Natur, oder der Erziehung der Natur entgegengeſetzt, die zwar nach der Abſicht des Schoͤpfers bey der Welt auf den Menſchen wirket, ſeine Natur entwickelt und ihn ausbildet, aber von der Abſicht und dem Fleiße der Menſchen nicht abhaͤngt. Es laufen dieſe beiden Urſachen, Kunſt und Natur, oft ſo in einander, daß es unmoͤglich wird, ihre Graͤnzen genau zu beſtimmen, und zu ſagen, welcher von beiden eine Wirkung zuzuſchreiben ſey?

Die Wirkung, welche die aͤußern Urſachen in Ver - bindung mit der innern Naturkraft hervorbringen, be - ſtehet in der Entwickelung des Menſchen, oder in ſeiner Ausbildung. Dieſe letztere iſt eine Kultipi - rung des Menſchen, wenn ſie die Entwickelung der hoͤ - hern Verſtandskraͤfte, wodurch Menſchen von den Thie - ren unterſchieden ſind, und die davon abhaͤngende Erhe - bung und Verfeinerung ſeiner Sinne und Neigungen hervorbringet. Die wilden Voͤlker, die wir von den kultivirten Nationen unterſcheiden, entwickeln ihre koͤr - perlichen und thieriſchen Kraͤfte, das Vermoͤgen |zum Laufen, Schwimmen, Springen, und zum Theil auchO o 5ihre586XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtihre Sinnglieder, in einem hohen Grade. Aber kul - tivirt iſt eine Nation nur, inſoferne ſie Einrichtungen beſitzet, die einen hoͤhern Gebrauch der Ueberlegungs - kraft und des Nachdenkens vorausſetzen. Ein hoͤhe - rer Grad der Kultur iſt Polizirung. Denn was zu der Einrichtung der buͤrgerlichen Staatsverfaſſung und Polizey gehoͤret; kann nur alsdenn eingefuͤhret werden, wenn der Menſch ſich als Menſch, als ein vernuͤnftiges und nach Ueberlegung handelndes Weſen, in einem merkbaren Grade thaͤtig beweiſet. Den barbariſchen Voͤlkern ſpricht man zwar nicht die Kultur, aber doch die Polizirung ab. Noch iſt die Aufklaͤrung bey einem Volke, und bey den Jndividuen, als ein hoͤhe - rer Grad der Entwickelung des Verſtandes durch Kuͤn - ſte und Wiſſenſchaften, als ein hoͤher ſtehender Punkt auf dem Stufenmeſſer der Menſchheit, zu bemerken. Aber wo iſt hier das Jnſtrument, das uns dieſe Grade angiebt, und ſie genau angiebt? Denn wenn wir keine Genauigkeit verlangen, ſo weiß der aufgeklaͤrte Men - ſchenverſtand ohngefehr die Vergleichung zu machen. Er unterſcheidet ſtark genug den polizirten Europaͤer von dem Barbaren an der afrikaniſchen Kuͤſte, und dieſen auch wiederum von dem Wilden in Nordamerika und Neuſeeland.

Die innere Natur alſo, die aͤußern Umſtaͤnde, das Beyſpiel und die Erziehung ſind die Urſachen, von deren vereinigten Wirkungen es abhaͤngt, daß jedes Jndividuum das wird, was es wirklich iſt. Allein da die Wirkungen dieſer verſchiedenen Urſachen ſo ſehr in einander laufen, zuweilen mit einander zuſammentreffen, und ſich vereinigen und verſtaͤrken, zuweilen ſich einan - der entgegenarbeiten, ſich hindern und unterdruͤcken; da an derſelbigen Wirkung bald die eine, bald die an - dere, den groͤßten Antheil hat, und eine den Mangel der andern erſetzen kann: ſo darf es uns nicht| wundern,wenn587und Entwickelung des Menſchen. wenn ſo oft falſch raiſoniret, die wahre Urſache verfehlet, oder doch die Groͤße ihres Einfluſſes verkannt wird. Dieß wird ſo oͤfterer geſchehen, wo man die Gruͤnde der Den - kungsarten, der Staatsverfaſſungen, der Geſetze, der Sitten, bey ganzen Voͤlkern zu beſtimmen geſucht und allgemeine Ausſpruͤche daruͤber gewagt hat. Montes - quieu fand die Urſachen von allen dieſen in dem Klima, und glaubte ſie darinn faſt allein zu finden. Andere ſu - chen den Grund von der Denkungsart und den Sitten in der Staatsverfaſſung. Einige ſchreiben mehr der Anlage der Natur zu. Andere leiten alles von den Um - ſtaͤnden und der Erziehung ab. Eine Nation ſoll ta - pfer von Natur ſeyn, die andere feig; und dieß ſoll man finden, wenn man Wilde gegen Wilde, oder unpoli - zirte oder halb polizirte gegen aͤhnliche haͤlt, z. B. die Bewohner einer Suͤdſeeinſel gegen die Bewohner einer andern. Eine Nation hat einen unuͤberwindlichen Hang zur Unabhaͤngigkeit; die andere beugt gerne ihren Na - cken ins Joch: Bey dieſer findet ſich eine uneingeſchraͤnk - te Gaſtfreyheit, bey der andern toͤdtender Haß gegen Fremde, als ein Nationalcharakter, oder wird vielmehr dafuͤr von einigen gehalten. Home findet darinn eine angeborne Verſchiedenheit. *)Einige von den Neuſeelaͤndern blieben, bey dem Anblick des englaͤndiſchen Schiffes, aus Furchtſamkeit in der Ferne; andere naͤherten ſich und fingen ſogleich Feind - ſeligkeiten an, ſobald ſie die Fremden anſichtig wurden. Ein anderer wandte nicht die geringſte Aufmerkſamkeit auf ſie. Dagegen kamen andere ohne Einladung mit der vertrauteſten und freundſchaftlichſten Miene an Bord. Solche verſchiedene Begegnung widerfuhr den Englaͤn - dern auch an andern Kuͤſten. (Neueſte Seereiſen zter Theil.) Dieſe einzige Beobachtung iſt hinreichend zu zeigen, wie wenig Hr. Home berechtiget geweſen, aus dem Betragen verſchiedener Wilden gegen Fremde ei -nenWie unrichtig wird nichtoft588XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtoft von einer aͤhnlichen Wirkung auf die naͤmliche Urfa - che geſchloſſen, und wiederum dieſelbige Wirkung er - wartet, wo dieſelbige Urſache vorhanden iſt? da doch zu dem letztern noch ein Umſtand mehr erfodert wird, naͤmlich daß auch dieſelbige Urſache ohne Hinderniß in einem Falle ſich aͤußern koͤnne, wie in dem andern. Und nicht einmal zu ſagen, daß ſo manches fuͤr Urfache und Wirkung angeſehen wird, was bloß durch einen Zufall bey einander iſt. Daraus entſtehen alsdenn unrichtige Gemeinſaͤtze, die man fuͤr Erfahrungsſaͤtze haͤlt. Man hat in der Politik die Frage aufgeworfen, ob ſie ihre Maximen aus dem Lauf der Welt hernehmen, oder ſie auf vernuͤnftige Einſicht gruͤnden ſolle? Wer weder ein blinder Empiriker, noch ein romanhafter Projekt - macher ſeyn will, muß nothwendig zugleich ſehen und uͤberlegen, die Beobachtungen mit Vernunft pruͤfen, aus den gepruͤften Erfahrungen einfache Grundſaͤtze ab - ziehen und ſo die Wirkungen jeder bildenden Urſache ein - zeln aus Erfahrungen beſtimmen, und alsdenn ihre Staͤr - ke und Groͤße und ihre Beziehungen auf einander, wie ferne ſie ſich unterſtuͤtzen und zuruͤckhalten, befoͤrdern oder hindern, zu ſchaͤtzen ſuchen; und wenn dieß geſche - hen iſt, die Grundſaͤtze wiederum auf die Beobachtun - gen anwenden. Wenn dieſe Vergleichung der allge - meinen Grundſaͤtze und der einzelnen Faͤlle fortgeſetzet wird, ſo kommt man auf den wahren Weg zu ſichern Erfahrungserkenntniſſen, das iſt zu ſolchen, worinnen jedweder Gemeinſatz ſeine gehoͤrigen Beſtimmungen und ſeinen wahren Umfang hat.

2. Wenn

*)nen Schluß auf ihren Nationalcharakter, und aus die - ſem wiederum auf ihre verſchiedene Abſtammungen zu machen, und inſonderheit Gaſtfreyheit und Haß gegen Fremde fuͤr angeborne Unterſchiede der Wilden anzuſehen.

589und Entwickelung des Menſchen.

2.

Wenn man die verſchiedenen formenden Urſachen mit einander vergleichet, ſo iſt die erſte wichtige Frage dieſe: Wie viel vermag die Natur? was und wie viel muß dieſer beygelegt werden?

Die Seelennatur in dem neugebornen Kinde mag vielleicht keine voͤllig ſo ſtark beſtimmte Anlage zu der Seele des Erwachſenen ſeyn, als ſein Koͤrper es iſt in Hinſicht des ausgebildeten Koͤrpers. Dennoch hat jene in ihren weſentlichen Trieben, Jnſtinkten und Vermoͤ - gen ihre unveraͤnderlichen Eigenſchaften, ohne welche die Seele ſich gar nicht entwickeln kann; ihre ſtarken Anlagen, ohne welche ſie ſich gewoͤhnlicherweiße nicht entwickelt, und die ſie unter jeden Umſtaͤnden aͤußert; und endlich ihre bloßen Moͤglichkeiten, die leichter veraͤn - dert werden, aber doch auch ſchon auf ihre Art be - ſtimmt ſind.

Hr. Verdier legt dem neugebornen Kinde keine Seelenfaͤhigkeit mehr bey als dieſe, daß es ſaugen und einſchlucken kann. Dieß beides hat das Kind ſeiner Meinung nach ſchon im Mutterleibe erlernet. Er be - merkte, daß die Urſache, warum ein zu fruͤh gebornes Kind nicht erhalten werden konnte, dieſe war, weil es die Geſchicklichkeit nicht hatte, zu ſaugen und ſeine Mus - keln zum Hinunterſchlucken zuſammenzuziehen. Der phyſiſche Reiz, den die Milch auf die innern Theile des Mundes und des Gaumens macht, iſt fuͤr ſich allein nicht ſtark genug die Muskeln zu dieſen Bewegungen zu bringen. Dazu gehoͤret ſeiner Meinung nach ſchon eine Art von Uebung, welche das Kind im Uterus ge - habt habe. So wuͤrde denn doch ein angebornes Ver - moͤgen, und wenn auch nur Eins dergleichen, da ſeyn, das in dem Embryonenſtande ſchon zur Fertigkeit ge - worden iſt. Jſt dieß, ſo fuͤhrt uns die Analogie inHinſicht590XIV. Verſ. Ueber die PerfektibiliaͤtHinſicht der uͤbrigen Vermoͤgen auf eine aͤhnliche Folge - rung. Auch dieſe muͤſſen erhoͤhet worden ſeyn, wenn ſchon in einem mindern Grade? Sind ſie in dem neu - gebornen Kinde nicht ſo weit gekommen als das Vermoͤ - gen zu Saugen, ſo werden doch andere Aeußerungen von ihnen vorhanden ſeyn, auch wenn ſie zu ſchwach ſind, um von uns bey den Kindern bemerkt zu werden.

Wenn wir mehrere Gelegenheiten haͤtten den Men - ſchen kennen zu lernen, wie er außer der Geſellſchaft mit ſeines Gleichen entwickelt wird, wie wir, die wenigen, auch nicht einmal ſcharf genug beobachteten, Faͤlle von den unter Thieren wild gewordenen Kindern ausgenommen, nicht haben: ſo wuͤrden wir aus der Erfahrung es beſſer geradezu beurtheilen koͤnnen, was und wie viel ſeine Natur fuͤr ſich allein vermoͤge. Denn in dieſen Umſtaͤnden fallen die Wirkungen des Beyſpiels von andern Menſchen und der Erziehung gaͤnzlich weg; und bloß die Wirkungen der Natur und des phyſiſchen Einfluſſes der aͤußern Dinge bleiben uͤbrig. Jndeſſen koͤnnen die genauen Beobachtungen der Taubſtummen, denen man eine Sprache beybringet, mit den uͤbrigen Faktis, die man hat, zuſammengenommen, einigermaſ - ſen dieſen Mangel erſetzen. Und wenn alsdenn noch von demjenigen Gebrauch gemacht wird, was die Verglei - chung und Aufloͤſung der menſchlichen Naturkraͤfte leh - ret: ſo iſt es außer Zweifel, daß die Grundvermoͤgen, das Gefuͤhl, die Vorſtellungskraft und die Denkkraft, wie auch die Triebe zur Erhaltung, der Wehrtrieb, der Ver - mehrungstrieb und der Hang zur Geſelligkeit fuͤr bloße Wirkungen der Natur zu halten ſind, die keine Kunſt und keine Erziehung einpfropfen wuͤrde, wenn ſie nicht aus dem innern Princip von ſelbſt hervorſproͤſſen. Sie ſind Naturtriebe, die zwar durch den Einfluß der aͤußern Umſtaͤnde mehr oder minder gedruͤcket, |zuruͤckgehalten oder befoͤrdert, und geſchwinder zur Ausbildung ge -bracht,591und Entwickelung des Menſchen. bracht, und auf verſchiedene Arten gelenket und beſtim - met werden, aber durch alle aͤußere Urſachen nicht haͤt - ten hineingelegt werden koͤnnen, wenn ſie nicht von Na - tur vorhanden waͤren.

Die Schwierigkeit aber, die Grade und Stufen der innern Beſtimmtheit der Natur in Hinſicht der ver - ſchiedenen Vermoͤgen und Neigungen anzugeben, blei - bet wie ſie iſt. Denn davon haͤngt es ab, ob und in welcher Maße, und durch welchen Grad von aͤußerer Einwirkung, das innere Angeborne veraͤnderlich ſey. Als man vor einigen Jahren die Veraͤnderlichkeit der na - tuͤrlichen Neigungen, durch die Veranlaſſung, welche die Preisfrage der berliner Akademie gab, unterſuchte, ward dieſe Materie mit vielem Scharfſinn und Fleiß behandelt. Das Allgemeine hiebey iſt damals ſchoͤn und vollſtaͤndig auseinander geſetzt worden. *)Man ſehe die Preisſchrift des Hr. Cochius uͤber die natuͤrlichen Neigungen, nebſt den vortreflichen Unterſu - chungen, welche das Acceſſit erhielten und jenen zugefuͤ - get ſind.Einige Neigun - gen ſind unausloͤſchlicher, als andere. Einige ſind es bey einzelnen Perſonen mehr, als andere. Aber welche es uͤberhaupt bey allen ſind, und in welchen verſchiede - nen Graden ſie es ſind, und wie weit ſie von Umſtaͤnden und Erziehung abhangen, daruͤber iſt in jedem Fall ſchwerer etwas zu entſcheiden, ſobald man auf die beſon - dern Unterſcheidungsmerkmale der Koͤpfe und der Gemuͤ - ther Ruͤckſicht nimmt. Es kann nicht das Objektiviſche in den Faͤhigkeiten und Vermoͤgen ſeyn, wovon die Re - de iſt, ſondern nur das Subjektiviſche. Die Jdeen von den Gegenſtaͤnden und Kenntniſſen ſind nicht ange - boren; aber es iſt das Formelle in der Art der Thaͤtig - keit der Kraͤfte, in der Groͤße, Lebhaftigkeit, Staͤrke, Dauer, womit fie wirken und die erſten Gefuͤhle bear -beiten,592XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtbeiten, angeboren, woraus die verſchiedenen Verhaͤltniſſe in der Empfindſamkeit, in der Einbildungskraft, in dem Verſtande, in dem Mitgefuͤhl und in den Thaͤtigkeitstrie - ben und ihren Beziehungen auf einander entſpringen. Mehr als nur gewiſſe Stufen und Grade in den Ver - moͤgen kann man nicht fuͤr Natur halten. Der Tatar iſt kein geborner Reuter, der Britte kein geborner See - fahrer, und der Wilde kein geborner Schwimmer oder Jaͤger, und kein Genie iſt es von Natur in einer an - dern Hinſicht, als der vorzuͤglichen Aufgelegtheit wegen ſo etwas zu werden.

So viel glaube ich, koͤnne man aus der Geſchichte der Menſchheit jetzo als voͤllig beſtaͤtiget abziehen. Wenn gleich der natuͤrliche Charakter ſowohl in Hinſicht des Gemeinſchaftlichen, das zum Charakter des Volks ge - hoͤret, als auch in Hinſicht der individuellen Eigenhei - ten, bey einigen Jndividuen ohne Zweifel ſtaͤrker und feſter gezeichnet iſt als bey andern: ſo iſt doch die Naturanlage nie ſo ſtark und ſo hervordringend und in - ſtinktartig, daß ſie nicht durch die vereinigte Wirkung der phyſiſchen Umſtaͤnde, der Beyſpiele und der Er - ziehung geaͤndert und wenigſtens bis zum Unbemerk - baren heruntergeſetzt werden koͤnne, wenn naͤmlich alle dieſe aͤußern Urſachen der natuͤrlichen Diſpoſition entgegen ſind. Es giebt wohl keinen Menſchen von einem ſo hohen Muthe, der nicht ein Feiger und Nie - dertraͤchtiger haͤtte werden koͤnnen, wenn er von der Kindheit an ein Negerſklave geweſen, und mit Krank - heiten des Koͤrpers geplaget, unter Mangel und Elend in der Geſellſchaft von gleich Elenden, ſein Daſeyn haͤt - te fortſchleppen muͤſſen? Karl des zwoͤlften unbezwing - baren Sinn brach ein Wundfieber auf ſeiner Flucht nach Bender. Was wuͤrde aus einem Keime des Leibnitz geworden ſeyn, wenn er in der Einſamkeit auf einer Jnſel, wie Selkirk, erwachſen waͤre? Wennman593und Entwickelung des Menſchen. man es in ſeiner Gewalt haͤtte, alle Veranlaſſungen, die das Genie reizen, ihm zu entziehen, und dagegen ſolche, die andere von Natur ſchwaͤchere Seelenvermoͤgen bey ihm reizen, verſchaffen koͤnnte; und zugleich mit Unter - richt und Beyſpiel der vorzuͤglichen Geiſteskraft entge - genarbeiten wuͤrde: ſollte dann die natuͤrliche Anlage nicht nachgeben muͤſſen? Ein Kind aus den wildeſten Voͤlkern, und ein Kind von der beſten Anlage, aus der menſchlichen Geſellſchaft verſtoßen und eingekerkert, was wuͤrde es werden? Der Menſch iſt das geſchmei - digſte Weſen, und ſeine modifikable Natur iſt weicher wie Wachs. Die Faͤhigkeiten bleiben zuruͤck, die Grundkraft gewoͤhnet ſich nach einer andern Richtung hin, und verſtopfet ſich ſelbſt den Ausbruch nach der erſtern, die ihm ſonſt am leichteſten war. Die Ge - ſchichte der Menſchheit beſtaͤtiget es, daß unſere Natur alle Formen annimmt, die ihr durch die aͤußern Urſa - chen gegeben werden.

Aber kann das Morenkind weiß werden? Haͤtte jeder Dummkopf eine kluge, jeder Unmenſch eine em - pfindſame Seele, und jeder Boͤſewicht ein Rechtſchaffe - ner, werden koͤnnen, unter andern Umſtaͤnden? Jch antworte, wenn alle aͤußere Umſtaͤnde zuſammen ihren Einfluß zu dieſer entgegengeſetzten Form vereiniget haͤt - ten, ſo wuͤrde daran kein Zweifel ſeyn. Nur ſo viel ſcheinet aus den Erfahrungen gefolgert werden zu koͤn - nen, die man dagegen anfuͤhrt: daß wenn die Natur - anlage nur einige guͤnſtige aͤußere Umſtaͤnde auf ihrer Seite hat, und ihr nur allein die eigentliche Erzie - hung entgegenſtehet, ſo werde ſie bey manchen Jndi - viduen noch ſtark genug ſeyn, um ſich mit einem un - ausloͤſchlichen Merkzeichen zu offenbaren. Und wenn gar das Beyſpiel andrer Menſchen hinzukommt, ſo iſt die entgegengeſetzte kuͤnſtliche Anfuͤhrung vollends zu ſchwach, um ſie ganz zuruͤckzuhalten. Aber ich ſucheII Theil. P phier594XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤthier zuerſt einen feſten Punkt. Das iſt dieſer: wenn ſich die aͤußern Urſachen alle zuſammen gegen die Na - tur vereinigen, ſo muß ſie unterliegen. Die Krank - heit, wie die Geſundheit, eines Kindes von Jugend auf gehoͤret ebenfalls dahin. Krankheiten koͤnnen auch die Moren weiß machen. Wenn die Natur der Seele ſo ſtark in ihren Eigenheiten beſtimmt iſt, als die Farbe der Haut, ſo will ich nicht laͤugnen, daß, um ſie zu ver - aͤndern, nicht zuweilen beſondere Urſachen wirken muͤß - ten. Sie iſt in Hinſicht ihrer Formen, die ſie annimmt, was die Diſpoſition der Oberflaͤche der Koͤrper in Hin - ſicht ihrer verſchiedenen Farben iſt, womit ſie erſchei - nen. Jn dem bloß rothen Lichte iſt jeder Koͤrper roth, in dem blauen blau, nur nicht in gleichem Grade der Lebhaftigkeit und Staͤrke. Aber wenn das Licht aller Arten zugleich auffaͤllt, ſo wirft der Scharlach die ro - then, und der Jndigo die blauen Stralen ſo vorzuͤg - lich zuruͤck, daß man nur allein dieſe gewahr wird. Eben ſo verhaͤlt ſich die Menſchheit in dem Kinde in Hinſicht der aͤußern Umſtaͤnde.

Da haben wir zugleich die Urſachen, warum der angeborne Charakter ſo ſelten, oder faſt niemals, un - kenntlich gemacht wird, beſonders in denen, wo er ſich an Staͤrke ausnimmt. Die phyſiſchen Umſtaͤnde, wel - che auf die Naturkraft wirken, ſind faſt uͤberall, was das zuſammengeſetzte Sonnenlicht fuͤr die gefaͤrbten Koͤrper iſt, das alle Arten von Stralen enthaͤlt. Der bloße Gebrauch der Sinne, in der Geſellſchaft mit Men - ſchen, giebt Nahrungsſaͤfte fuͤr faſt alle angeborne See - lenvermoͤgen, und gewaͤhrt dem einen wie dem andern eine Gelegenheit zu wirken, ſich zu uͤben und zu ſtaͤr - ken. Das Genie bricht hervor bey den mindeſten Ver - anlaſſungen; bey jedem Volke unter jedem Himmels - ſtriche auf eine eigene Art. Nun mag die Anfuͤhrung und das Beyſpiel anderer, die man ihm zum Muſtervorhaͤlt,595und Entwickelung des Menſchen. vorhaͤlt, dagegen arbeiten: es wird zwar etwas ausge - richtet; aber alle beide ſind zu ohnmaͤchtig uͤber die Na - tur, die durch die phyſiſchen Beziehungen geſtaͤrket wird, Herr zu werden. Wenn die Erziehung der Umſtaͤnde, daferne ſie hier einmal ſo darf genennet werden, mit dem Unterrichte und dem Beyſpiele uͤbereinſtimmt, ſo ſind ſie zuſammen allmaͤchtig; aber Eins von den letztern allein kann zwar etwas die Wirkung der uͤbrigen, die mit der Natur uͤbereinſtimmen, ſchwaͤchen, allein den Ausbruch der Natur nie ganz zuruͤckhalten. Der Anfang des Sprechens iſt ein Werk der Natur, unter gewiſſen Umſtaͤnden, welche faſt nirgends fehlen, wo Menſchen mit Menſchen in Geſellſchaft ſind. Aber ein weiterer Fortgang der Sprache erfodert, daß die erſten Anfaͤnge durch Beyſpiel und Anfuͤhrung ſich feſtſetzen und verbreiten, und daß der neue Zuſatz an Worten von andern aufgefangen und unterhalten wird. Es verhaͤlt ſich gleichermaßen mit den uͤbrigen Naturfaͤhigkeiten.

3.

Hieraus laͤßt ſich eine Folgerung ziehen, die Hr. Verdier zum Grundſatz, in ſeinem Vorſchlag der voll - kommenſten Erziehung, genommen hat. Hat man bey dem Kinde von der Geburt an die aͤußern Urſachen, die auf den Koͤrper und die Sinne wirken, in ſeiner Gewalt; kann man ihren Eindruck verſtaͤrken oder maͤßi - gen, mindern oder vermehren; kann man die Reiz - barkeit in den Muskeln und die Empfindlichkeit in den Nerven, wie die Abſicht es mit ſich bringet, durch phy - ſiſche Mittel erhoͤhen oder ſchwaͤchen; und kann, wie es in einiger Maße wohl moͤglich iſt, dieſe phyſiſche Er - ziehung ſchon vor der Geburt, vielleicht von der Erzeu - gung ſchon anfangen, und in der Folge eine moraliſche und intellektuelle Erziehung hinzukommen, welche Bey - ſpiele und Unterricht jedesmal in der Maße anbringtP p 2und596XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtund ſo auf die Seele des Kindes in jedem Grade wirk - ſam macht, wie man es haben will: ſo kann freylich die Erziehung Herr uͤber die Natur werden, welche der vereinigten Macht aller dieſer Urſachen nachgeben muß. Sie wird ſich dennoch darinn beweiſen, daß ſie die Ar - beit hier oder dorten durch ihre Widerſetzlichkeit ſchwe - rer macht. Aber iſt eine ſolche kuͤnſtliche Zuſammen - ordnung aller aͤußern Urſachen moͤglich? Kann die Kunſt auch jemals Herr uͤber die Zufaͤlle werden, die den Sinnen taͤglich vorkommen und die Muskeln rei - zen? Wie will man verwehren, daß ein Kind nichts mehr und nichts weniger und nichts anders ſieht, hoͤ - ret u. ſ. w. als die Kunſt es will. Lobenswerth iſt die Abſicht des Hrn. Verdier und anderer, die daran ar - beiten. Es iſt außer Zweifel, daß ſehr vieles geſchehen kann. Nur iſt zu bedenken, daß auf der andern Seite auch die Kunſt in eine ſchaͤdliche Kuͤnſteley uͤbertrieben werden kann. Es giebt hiebey ein vielleicht ſchwer zu findendes Maß. Und wir haben bey allen unſern Pla - nen, die wir entwerfen, einen zu großen Hang zum Ein - ſeitigen. Wir erreichen vielleicht unſere Abſicht, und wir erreichen etwas gutes; aber wir verfehlen auch wich - tigere Vortheile auf der andern Seite. Jndeſſen wuͤr - den wir hieruͤber beſtimmtere Einſichten erlangen, wenn wir die Wirkſamkeit der bildenden aͤußern Urſachen naͤ - her, und jedweder fuͤr ſich, zu beſtimmen im Stande waͤren.

4.

Da die individuellen Naturen der Kinder unter - ſchieden ſind, einige empfindlicher und beugſamer, an - dere traͤger und ungelenkſamer ſind: ſo kann auch die Wirkung, welche die Umſtaͤnde, das Beyſpiel und der Unterricht haben, nicht bey allen von gleicher Staͤrke ſeyn. Jndeſſen ließe ſich doch ein gewiſſes mittleresMaß597und Entwickelung des Menſchen. Maß fuͤr ihre Wirkſamkeit feſtſetzen, wenn man dieje - nigen Naturen, die ſich beſonders auszeichnen, uͤbergeht, und nur den Eindruck, den ſie auf den uͤbrigen großen Haufen der Menſchen, auf das Volk und die Nation im Ganzen, machen, in Betracht ziehet. Oder, wenn auch hiezu die Beobachtungen nicht einmal hinreichen, ſo kann doch vielleicht die verhaͤltnißmaͤßige Staͤrke der einen, in Vergleichung mit der andern, im Allgemeinen angegeben werden; wie ſolches vorher bey der Verglei - chung der Natur und der aͤußern Umſtaͤnde zuſammen geſchehen iſt. Solche Saͤtze wuͤrden in der Philoſophie uͤber die Menſchheit Grundſaͤtze ſeyn. Jch werde dieſe Materie nur obenhin beruͤhren. Das Klima hat fuͤr ſich einen ungezweifelten Einfluß auf den Koͤrper, und durch dieſen auf die Seele, auf den Charakter, auf das Genie. Die Lebensart und die Nahrungsmittel haben den ihrigen. Die Regierungsform iſt in mancher Hin - ſicht maͤchtiger, als jene. Aber in welcher und wie groß iſt das Uebergewicht im Durchſchnitt? Anders wirkt der Stand der Wildheit, anders der Stand der Bar - barey, auf die Natur; anders die Verhaͤltniſſe in den polizirten Staaten; auf eine andere Art die Freyheit, auf eine andere die Sklaverey. Reichthum, Armuth, Gewalt, Herrſchaft, Schwaͤche, Unterwuͤrfigkeit, Dummheit und Aufklaͤrung, der Regierſtand, der Lehr - der Wehr - und Naͤhrſtand u. ſ. f. Jeder dieſer Um - ſtaͤnde hat ſeinen eigenen Geiſt. Das, was von der bloßen Nachahmung abhaͤngt, mag hiebey eingeſchloſ - ſen oder abgeſondert werden. Jeder Zuſtand iſt ein ei - genes Nahrungsmittel zur Ausbildung gewiſſer Seiten und Vermoͤgen der Natur, und bringet eine eigene Form in ihr hervor. Es giebt kein Jndividuum, in deſſen Charakter nicht einige Zuͤge ſeyn ſollten, die von dem ununterbrochenen und unvermerkten Einfluſſe des aͤußern Zuſtandes abhangen. Ein hoͤheres ſelbſtthaͤtiges GenieP p 3kann598XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtkann ſich uͤber ſeine Zeiten und uͤber ſeine Nation in mancher Hinſicht erheben. Dieß iſt ſchon etwas ſelte - nes. Aber wo iſt der Menſch, der nicht manches eigene von dem Charakter ſeiner Zeit, ſeines Volks und ſeines Standes behalten haͤtte, auch wo er deſſen Fehler eingeſe - hen und ſich davon zu befreyen geſucht hatte? Die Nach - bildungskraft wirket unwiderſtehlich, und hat ihre kennt - lichen Wirkungen.

Noch mehr. Jeder Zuſtand hat auch ſeinen ihm eigenen Geiſt, der auf einer oder der andern Seite eine Ausbildung wirket, die in der Maße in keinem andern gewirket wird. Denn da jeder verſchiedene Zuſtand auch ſeine verſchiedenen Gefuͤhle und Empfin - dungen verurſachet, ſo fuͤhret er auch eigene Jdeen, Kenntniſſe und Vorurtheile mit ſich, locket die Seelen - faͤhigkeiten auf eine eigene Art hervor, und beſchaͤfftiget ſie in einer eigenen beſtimmten Beziehung auf einander. Daher entſtehen Beduͤrfniſſe, Geſinnungen und Be - gehrungen in einem beſtimmten Verhaͤltniſſe auf ein - ander, das der Beziehung und Verbindung der Ein - druͤcke auf die innern und aͤußern Sinne angemeſſen iſt. Dadurch bekoͤmmt die modifikable Natur die un - terſchiedenen Formen, davon jede ſowohl eine Realitaͤt als einen Mangel enthaͤlt, die in den andern Formen entweder fehlen oder doch in der naͤmlichen Maße in dieſen nicht vorhanden ſind. Dieß, ſage ich, gilt ſowohl von Vollkommenheiten als Maͤngeln. Die Unerſchro - ckenheit in Leib - und Lebensgefahren findet ihren beſten Boden in der Schiffahrt und in dem Soldatenſtande. Der hohe edle Sinn, die Großmuth und Wohlthaͤtig - keit wird in dem Beſitz von Vermoͤgen, von Macht und Unabhaͤngigkeit am leichteſten gezogen. Die Ener - gie des Verſtandes und des Willens waͤchſet in der Freyheit und beym Widerſtande am ſchnelleſten. Und ohne Zweifel iſt Armuth und Sklaverey eine gute Schulefuͤr599und Entwickelung des Menſchen. fuͤr die Demuth, die Beſcheidenheit, die Begreifung ſeiner ſelbſt, und uͤberhaupt fuͤr diejenige Beugſamkeit in der Denkungsart, dem Willen und den Sitten, die fuͤr ſich eine Realitaͤt der menſchlichen Natur iſt. Der Mann von Geſchaͤfften hat weniger Anlaß, der hoͤhern Verſtandeskraft diejenige Feinheit und den Umfang zu geben, wohin das beſtaͤndige Nachdenken in den Wiſ - ſenſchaften ſie bey den Gelehrten bringen kann. Da - gegen findet der letztere in ſeinen Geſchaͤfften auch weit ſeltner die Gelegenheiten, den Muth und die Entſchloſ - ſenheit des Herzens zu erhoͤhen. Bey den unkultivir - ten Voͤlkern ſind es mehr die koͤrperlichen Kraͤfte, als die Geiſtesfaͤhigkeiten, die entwickelt werden. Aber da doch auch jene nicht koͤnnen erhoͤhet werden, ohne daß ihre Empfindungskraft an irgend einer Seite in gleicher Maße ſtark wuͤrde: ſo meyne ich, man koͤnne behaupten, was die Geſchichte der Menſchheit beſtaͤtiget, daß es nirgends ein Volk gebe, ſo wild und elend es im Gan - zen auch ſeyn mag, ſelbſt die Bewohner des Feuer - landes und die Neuhollaͤnder nicht ausgenommen, aus deren Verfaſſung nicht an irgend einer Seite eine Ausbildung der Seelennatur entſtehe, welche bey an - dern Voͤlkern nicht iſt, oder doch in dem Grade der Staͤrke und Groͤße nicht iſt, und die doch fuͤr ſich zu den menſchlichen Vollkommenheiten gehoͤret. Wer in den polizirten Staaten das Jnnere der verſchiedenen Staͤnde betrachtet, wird gleichfalls in jedem derſelben eine beſondere Entwickelung der Menſchheit antreffen, die er in andern vermiſſet. Man kann dieſe Anmer - kung fortſetzen auf jedes einzelne Jndividuum. Nur daß der eigene Vorzug oft unmerklich wird. Es iſt mit der Ausbildung des Menſchen, wie mit ſeinem Wohl. Beides findet ſich in allen Staͤnden nur auf unterſchie - dene Arten modificirt. Es iſt nichts als Standes - ſtolz, aus einſeitigen Begriffen, wenn der GelehrteP p 4ſich600XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtſich, ſeiner vorzuͤglichen Erhoͤhung der Erkenntnißkraft wegen, auf die oberſte Staffel der Menſchen ſetzt. Wir moͤgen Stufenfolgen unter den Menſchen annehmen, die durch die Groͤße der Menſchheit charakteriſirt| wer - den; aber jede Klaſſe behaͤlt doch etwas eigenes auch an Vollkommenheit. Die hoͤhern faſſen eine groͤßere Summe von menſchlichen Realitaͤten in ſich. Nur keine hat alles Gute beyſammen, was die niedrigern beſitzen.

Welch ein Projekt wuͤrde es ſeyn, der innern Menſch - heit durch alle ihre abſtechende aͤußere Zuſtaͤnde nachzu - gehen, und die Empfindungen, Geiſteserhoͤhungen, Ge - muͤthsfaͤhigkeiten und Willenskraͤfte aufzuſuchen, die in jedem derſelben vorzuͤglich entwickelt werden; und dann bey jeder das Unterſcheidende in den Graden der Jntenſion, der Ausdehnung und Dauer der Vermoͤ - gen, der leidentlichen und thaͤtigen, und in ihren dar - aus entſpringenden Beziehungen auf einander zu beob - achten. Die Zukunft kann vielleicht eine ſo reizende voll - ſtaͤndige Geſchichte der Menſchheit erwarten, und eine Moral, die auf dieſe gegruͤndet iſt; wenn nicht etwan der jetzige Eifer in der Unterſuchung des Menſchen nach - laſſen ſollte. Wer ſteht dafuͤr, daß nicht auch das Studium des Menſchen das Schickſal der Modeſtudien haben werde? Der Verfaſſer des philoſophiſchen Bauers und des philoſophiſchen Kaufmanns hat zwar nicht die Abſicht gehabt, den Geiſt dieſer bei - den Staͤnde, davon Cicero den erſtern fuͤr die beſte Schule der Weisheit, naͤchſt dem Studium der Philo - ſophie, erklaͤrte, zu zeichnen; aber er hat ſehr viele von den wichtigſten Grundzuͤgen deſſelben ſcharf genug beob - achtet. So ein Unternehmen iſt nicht leicht. Wer nicht, außer einem feinen Beobachtungsgeiſt, Menſchen - kenntniß und philoſophiſchen Scharfſinn beſitzet, und in einer Lage iſt, worinn ihm das Jnnere eines Standesvor601und Entwickelung des Menſchen. vor Augen lieget, der halte ſich nicht berufen darzu, von dem Charakter deſſelben, und insbeſondere von ſeinem Einfluß auf die Seelennatur, etwas mehr als hoͤchſtens einen Schattenriß zu machen.

5.

Wird die natuͤrliche Entwickelung der kuͤnſtli - chen, oder der Schulentwickelung, ſo entgegengeſetzt, daß unter jener alles begriffen wird, was durch die aͤuſ - ſern phyſiſchen Umſtaͤnde und durch die von ſelbſt wirken - de Nachbildungskraft, in der Geſellſchaft und im Um - gang mit Menſchen, bewirkt wird, die letztere dagegen nur die Wirkungen des Unterrichts und der gefliſſent - lichen Uebung in ſich faſſet: ſo laſſen ſich uͤber das Ver - haͤltniß dieſer beiden manche Vemerkungen machen, die erwogen zu werden verdienen. Davon will ich nur eine anfuͤhren. Aber ich verſtehe, wie geſagt, alsdenn unter der Erziehung nichts mehr, als was gemeiniglich darun - ter begriffen wird. Wenn dieſe bis auf die phyſiſche Erziehung ausgedehnet wird, und ſich nach den Vor - ſchriften des Hrn. Verdier aller aͤußern Urſachen bemei - ſtern und ſie nach Abſicht und Plan zur Wirkſamkeit bringen kann, ſo wird auch ihre Wirkung vergroͤßert.

Die abſolute Groͤße, zu der die Seelenvermoͤ - gen gelangen, iſt mehr die Wirkung von der natuͤrli - chen Ausbildung, als von dem Unterricht und der re - gelmaͤßigen Uebung. Dagegen die relativen Ver - moͤgen und Fertigkeiten, die Kraft auf dieſe oder je - ne Gegenſtaͤnde ſchicklich anzuwenden, mehr eine Wir - kung des Fleißes und der eigentlichen Erziehung ſind. Die Sinne erreichen ihre Staͤrke und ihren Umfang bey den Kindern von ſelbſt durch eine eigenmaͤchtige, faſt ab - ſichtsloſe, Anwendung der innern Vermoͤgen auf die em - pfundenen Gegenſtaͤnde. Der Maler ſiehet zwar ein Gemaͤlde ſchaͤrfer an, und ein Tonkuͤnſtler hoͤret undP p 5bemerket602XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtbemerket ſchneller die Toͤne. Das Geſicht des Erſtern und das Gehoͤr des letztern gewinnet dabey wohl im Gan - zen auch etwas an groͤßerer abſoluter Staͤrke, aber doch keine ſo beſondern Grade, die vorzuͤglich zu bemerken waͤren. Auf die naͤmliche Art ſproſſen die allgemeinen menſchlichen Leidenſchaften in den Jndividuen, ohne ei - nen eigen darauf verwandten Fleiß, von ſelbſt hervor, und kommen zu ihrer innern Staͤrke. Die Erziehung bearbeitet und lenket ſie auf dieſe oder jene Objekte; aber an ihrer innern abſoluten Staͤrke, mit der ſie her - vorbrechen, wird dadurch, wenn etwas, doch nur das wenigſte hinzugeſetzt. Es verhaͤlt ſich auf gleiche Art bey der Vorſtellungskraft, der Phantaſie, dem Ver - ſtande, der Empfindſamkeit und der Thaͤtigkeit zum Han - deln. Der Schulwitz und der Mutterwitz werden in der gemeinen Sprache einander entgegengeſetzt. Der Mutterwitz iſt nicht das bloße angeborne Vermoͤgen, ſondern das ſo ausgebildete Vermoͤgen, wie es durch den Jnſtinkt und durch die Umſtaͤnde von ſelbſt gewor - den iſt. Unter dem Schulwitz begreift man das, was die Erziehung hinzuſetzet. Man ſtelle die Vergleichung an zwiſchen denen, bey welchen die Vermoͤgen durch den Unterricht kultivirt ſind, und andern, die ſich ſelbſt un - ter den Umſtaͤnden und durch ihr eigenes Nachbilden ent - wickelt haben. Die witzigen Einfaͤlle der letztern, ihre geſcheuten Urtheile und Raiſonnements, ihre ſtarke und feine Empfindſamkeit, verrathen ſich ſo deutlich, daß man nicht lange zweifelhaft bleiben kann, es fehle dem Diamant nichts mehr als die aͤußere Politur, um ſich in einem gleichen Glanze zu zeigen. Denn dieſe Poli - tur iſt es nur, was die kuͤnſtliche*)Siehe oben II. 3. und III. 4. Erziehung hinzufuͤ - get. Aber freylich iſt dieß ein Zuſatz von großer Wich - tigkeit.

Die603und Entwickelung des Menſchen.

Die Urſache hievon darf nicht weit gefucht werden. Die Erhoͤhung der Faͤhigkeiten an ihrer abſoluten Groͤße haͤnget mehr von den dunkeln, innern und aͤußern, Ge - fuͤhlen ab, und von den unaufgeloͤſten Vorſtellungen, die den Gefuͤhlen nahe kommen, als von entwickelten Jdeen der Gegenſtaͤnde, die der Unterricht beybringet. Jedes Menſchenkind, das innerlich und aͤußerlich voll - ſtaͤndig organiſirt iſt, empfaͤngt auch alle Arten von Eindruͤcken und Empfindungen. Und wenn die Geſell - ſchaft, in der es lebet, die naͤmliche iſt, ſo hat es auch die naͤmlichen Muſter vor Augen. Dieſe Empfindun - gen reizen ſeine innere Kraft zur Thaͤtigkeit, und hin - terlaſſen Spuren von den Aktionen, welche ſich eindruͤ - cken und ſo uͤber die ganze Kraft ausbreiten, daß ſie neue Diſpoſitionen und Vermoͤgen machen. Dagegen die entwickelten Kenntniſſe, welche der Unterricht ge - waͤhret, mehr nur in der Anhaͤufung von beſondern Vor - ſtellungen beſtehen, die die Aufmerkſamkeit und das Beſtreben der Seele auf ſich ziehen, wie die Kanaͤle den Strom. Die gefliſſentliche Uebung iſt uͤberdieß in den meiſten Faͤllen nur allein und einzig auf beſondere Geſchicklichkeiten eingerichtet. Die Uebung im Tanzen und im Reiten gehet am meiſten dahin, daß der Koͤr - per zu beſondern Stellungen und Bewegungen geſchickt werde. Damit iſt nun zwar zugleich eine Staͤrkung in allen koͤrperlichen Kraͤften uͤberhaupt verbunden, aber dieſe letzterwehnte Wirkung von ihr iſt ſo allgemein, daß ſie auch durch jede andere Uebung der Koͤrperkraft, durchs Gehen, Laufen, Springen, Tragen, erhalten werden kann, die von Zeit und Umſtaͤnden veranlaßt werden und die man unternimmt, ohne Abſicht eine beſondere Fertigkeit zu erwerben. Es ſoll dadurch nichts weniger als der Werth der kuͤnſtlichen Erziehung, und ihre Macht auch auf die Entwickelung der abſoluten Kraͤfte, vermindert werden. Jndem ſie den Geiſt auf gewiſſeGegen -604XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtGegenſtaͤnde leitet, durch dieſe ihn beſonders reizet und uͤbet, ſo giebt ſie ja auch Veranlaſſungen, ſein Vermoͤ - gen hervorzuziehen und vorzuͤglich zu entwickeln. Al - lein ſo wie ſie jetzo gemeiniglich noch iſt, lehret die Er - fahrung, daß ſie keine Genies aus ſchwachen Koͤpfen machen kann, noch thaͤtige Seelen aus traͤgen Gemuͤ - thern. Jede Perſon vom Verſtande, von Lebhaftigkeit und Geiſtesſtaͤrke, hat allemal mehr ſich ſelbſt durch die ihr vorgekommenen Veranlaſſungen ausgebildet, als von der regelmaͤßigen Erziehung ihren Vorzug erhalten. Aber man ſcheinet auch in unſern Schulen zur Zeit darauf abzuzielen, daß die Natur in die Form komme, die man ihr geben will, nicht aber ſo ſehr, daß ſie ſelbſt an ihren Kraͤften erhoͤhet werde.

Hierinn kann nun ohne Zweifel vieles gebeſſert wer - den, wozu auch der Anfang ſchon gemacht wird. Wenn die phyſiſche Erziehung zu der intellektuellen hinzukommt, ſo wird ſie maͤchtiger werden; allein dennoch nicht ſo allmaͤchtig, als Hr. Verdier zu glauben ſcheinet. Die Kunſt hat ihre engen Grenzen bey einem Weſen, bey dem die Natur ſo wichtig iſt, als der Menſch iſt. Die vollkommenſte Erziehung wird nie aus ihm einen Engel machen, ſo wie er bey der ſchlechteſten nie zum Thier herunterſinket. Und es iſt auch hier wohl moͤglich, daß die Kunſt ſich zu viel eindringe und ſchaͤdlich werde. Auf einer Seite iſt es freylich außer Zweifel, wie ſchon geſagt iſt, daß wenn die Erziehung ſich aller aͤußern Urſachen, die auf den Koͤrper und auf die Sinne wirken von der Geburt an bemaͤchtigen koͤnnte, ſo wuͤrde ſie die Na - tur unter ihre Gewalt bringen, und den Charakter der Natur, was aber auch ihr aͤußerſtes iſt, unkenntlich machen. Allein auf der andern Seite beſtehet auch ih - re groͤßte Staͤrke faſt allein nur darinn, daß ſie relative Geſchicklichkeiten bildet. Die abſoluten Vermoͤgen muͤſ - ſen ſich groͤßtentheils von ſelbſt entwickeln; und da kanndie605und Entwickelung des Menſchen. die Kunſt, wenn ſie nach einer Seite hin die Natur uͤbertreibet, ſchaͤdlich werden. Man ſehe ihre Wirkung nur etwas naͤher an. Das Geſicht kann allerdings durch eine ſchickliche Uebung etwas beſſer gewoͤhnet wer - den, in der Ferne und in der Naͤhe zu ſehen, auch die Sachen leichter und beſſer zu faſſen. Das Gehoͤr kann etwas zaͤrter gemacht werden, und ſo die uͤbrigen Sinne; auch die Einbildungskraft, der Verſtand und die Thaͤtig - keitskraft. So viel iſt gewiß. Aber wie viel ſollte nun wohl die Kunſt hinzuſetzen, wenn z. B. das Gefuͤhl, wie Hr. Verdier vorſchlaͤgt, mittelſt gewiſſer Jnſtru - mente noch naͤher auf das Unterſcheiden der Farben, das Gehoͤr mittelſt eines Monochords auf die Verſchieden - heit der Toͤne, gefuͤhret wird? Sollte ſie die Seelenver - moͤgen weit uͤber die Grenzen bringen, zu der dieſe von ſelbſt, ohne beſondere Lenkung, inſtinktartig gelan - gen, wenn ihnen nur dieſelbigen Gelegenheiten gelaſ - ſen werden? Nun kommt dazu, daß jedwede Richtung, die man der thaͤtigen Kraft an einer Seite giebt, ſie von andern Seiten und Aeußerungen abziehet; daß man, um die Kraͤfte auf die beſte Art zu ſtaͤrken, ſie nicht uͤbertreiben duͤrfe, und ſie alſo doch nicht viel mehr durch Zwang bey einer Beſchaͤftigung feſſeln muͤſſe, als ſie fuͤr ſich ſelbſt aus innerer Neigung ſich damit unterhalten mag. Deßwegen kann auch die Kunſt nicht ſo ſehr viel mehr, als daß ſie den Kraͤften die angemeſſenen Objekte verſchaffet und ihnen ſolche vorhaͤlt. Wenn Ruhe noͤ - thig ſey und Abwechſelung, und in welchem Grade die Kraft angeſpornet und in welcher Beziehung ein Ver - moͤgen gegen das andere geuͤbt werden muͤſſe, um die beſte Entwickelung in der geſammten Natur zu veran - ſtalten: das kann in jedem Jndividuum, zumal bey den Kindern, mehr das innere Selbſtgefuͤhl, als es von ir - gend einem Erzieher, bey der groͤßten Aufmerkſamkeit auf die Untergebenen, ſollte genau aus den aͤußern An -zeigen606XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtzeigen geſchloſſen werden koͤnnen. Wie ſchwer wuͤrde alſo hiebey das Maß zu treffen ſeyn, wenn man nicht der Natur ſelbſt vieles uͤberlaſſen wollte? Jſt es nur um einſeitige Geſchicklichkeiten zu thun, ſo iſt es ein an - ders; aber ſoll die ganze Naturkraft erhoͤhet werden, ſo entſtehen ſo oft Kolliſionen zwiſchen den beſondern Ge - ſchicklichkeiten und relativen Fertigkeiten, daß es eben ſo uͤbertrieben ſeyn wuͤrde zu behaupten, die Kunſt wiſſe allemal den beſten Ausweg zu treffen, als ihr alles hie - bey abzuſprechen. Die menſchliche Natur iſt biegſam, aber auch vielſeitig. Das erſte macht, daß die Erzie - hung ſo vieles kann; das letztere iſt der Grund, daß ſie ohne große Vorſichtigkeit leicht ſchaͤdlich wird.

Es iſt ſchwer, beſtimmter hieruͤber zu urtheilen. Jndeſſen deucht mich, wenn man die Beobachtungen mit dem vergleicht, was man von der Natur des Men - ſchen weiß, ſo laſſe ſich dieß noch hinzuſetzen. Die Kunſt kann zweyerley. Erſtlich, den Naturkraͤften die Gegen - ſtaͤnde vorlegen, wodurch ſie gereizet werden und wir - ken. Dann noch zweytens, beſonders die Vermoͤgen der Seele auf dieſe oder jene Art reizen und, durch eine ge - ſchickte Verſtaͤrkung der natuͤrlichen Eindruͤcke von den Objekten, ſie auf ſolche hinlenken. Dieß iſt die Len - kung der Kraͤfte. Durch beides vermag ſie etwas, aber mehr durch das letztere, als durch das erſtere. Sie vermag etwas uͤber die abſoluten Kraͤfte, ſie ver - mag etwas uͤber ihre Beziehung auf einander, wovon die Form abhaͤngt, welche der Menſch annimmt. Sie vermag mehr in Hinſicht der letztern als der erſtern. Dieß wird durch folgende Betrachtungen beſtaͤtiget.

Wenn man Kinder von Jugend auf in dunkle Oer - ter einſperrte, daß ſie nichts ſaͤhen und nichts hoͤrten, ſo blieben ſie zuruͤck. Wenn ſie in der einfoͤrmigſten Le - bensart, und in ſolcher Seelenunthaͤtigkeit wie die Cali - fornier aufwachſen, ſo werden ſie auch bey dem Mangelan607und Entwickelung des Menſchen. an Eindruͤcken, die ihre Kraͤfte reizen, Kinder an der Seele bleiben, wenn gleich ihre Koͤrper auswachſen. So ſind auch die Californier. Sie bleiben unter dem polizirten Europaͤer zuruͤck, nicht nur in beſondern Kuͤn - ſten und Geſchicklichkeiten, die von der Einbildungs - kraft und von dem Verſtande abhangen; ſondern ſie ſind auch in ihrer ganzen Denkungsart mehr Kinder, in Ver - gleichung mit jenen. Sie ſind alſo weniger erhoͤhet an abſoluten Seelenkraͤften, an Empfindſamkeit, an Vor - ſtellungskraft, an Thaͤtigkeit. Da iſt alſo auch offen - bar, daß die Erziehung, indem ſie mehrere und man - nichfaltigere Gegenſtaͤnde verſchaffet, vieles zur Entwi - ckelung beytrage. Gleichwohl hat ſich doch auch bey der erwehnten Voͤlkerſchaft gezeigt, daß ihre Erniederung unter den Europaͤern doch nicht ſo groß ſey, wenn man auf den natuͤrlichen Verſtand ſiehet und auf die Staͤrke der Neigungen, als wenn man auf die relativen Ver - moͤgen und auf die Kuͤnſte ſiehet, die von allgemeinen Kenntniſſen abhangen.

Dennoch kann auch die Kunſt von dieſer Seite zu viel thun. Die Mannichfaltigkeit der Gegenſtaͤnde und Sachen, die man ſo zu ſagen auf die aͤußern Sinne und dadurch auf das innere Gefuͤhl ſpielen laͤßt, muß in einer gewiſſen Graͤnze bleiben, wenn nicht mehr eine ſchaͤdliche Zerſtreuung als Aufweckung des Kopfs ent - ſtehen ſoll. Wird die Mannichfaltigkeit der Eindruͤcke zu groß, ſo erhalten die einzelnen Kraͤfte ihre gehoͤrige intenſive Staͤrke nicht. Es ſollen zu viel Vermoͤgen auf einmal angebauet werden. Die Erfahrung lehret nicht, daß ein Menſch, der mehr geſehen und gehoͤret, der mehr geleſen hat als ein anderer, auch in gleicher Maße an natuͤrlichem Verſtande und an Ueberlegungs - kraft Vorzuͤge bekommen habe. Er kann zu viel Ab - wechſelung in den Empfindungen haben, um die ein - zelnen ſtark genug zu faſſen und daruͤber zu denken. Die608XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtDie Natur iſt reich genug, ſelbſt in Californien und in Neuholland, um die zur Auswickelung aller Seelen - vermoͤgen noͤthigen Nahrungsſaͤfte herzugeben, wenn gleich nicht ſo uͤberfluͤßig damit verſehen, als in den polizirten Staͤdten. Die Hauptſtaͤrke der kuͤnſtlichen Er - ziehung wird immer darinn beſtehen, daß die Naturkraͤf - te auf beſondere Arten und in gewiſſer Ordnung gerei - zet werden, und daß zu dem Ende der Eindruck, den die aͤußern Objekte von ſelbſt machen, durch die Kunſt verſtaͤrket werde, wie es noͤthig iſt, um die Traͤgheit zu uͤberwinden. Hierauf beruhet das meiſte von dem, was ſie in der Erhoͤhung der abſoluten Kraͤfte ausrichtet. Daher iſt auch dieß die Hauptſache. Denn ſind einmal die Anlagen aufgewecket, und die Kraͤfte thaͤtig: ſo wird, was ihre Leitung auf beſondere Objekte zu beſondern Geſchicklichkeiten betrift, ſo wird das allermeiſte darinn beſtehen, daß man ſolche der Natur in der gehoͤrigen Stellung vorhalte, und dann es ihr uͤberlaſſe, ſich mit denen und ſo weit zu befaſſen, wie ſie fuͤr ſich es am an - gemeſſenſten findet. Jch ſage das allermeiſte. Denn es verſteht ſich, theils daß, da Luſt zur Thaͤtigkeit zu erwecken iſt, man auch da, wo man keinen vorzuͤglichen Hang zu einer Art von Gegenſtaͤnden mehr als zu an - dern gewahrnimmt, die Kraͤfte doch zu einigen reizen muͤſſe, wie man im Anfang bey allen Kindern thun muß; theils auch daß nicht ganz alles dem Eigenwillen, oder Selbſttriebe, zu uͤberlaſſen ſey. Nur iſt zu bemer - ken, daß hiebey die Kuͤnſteley zu ſtark werden, und ſo gut das Genie unterdruͤcken, als ihm aufhelfen kann. Das mehreſte aber, was man durch die Lenkung der Vermoͤ - gen allein ausrichtet, beſtehet in den erhoͤheten Kunſtge - ſchicklichkeiten, nicht ſo wohl in der Erhoͤhung der Kraͤfte.

Man kann dieß durch die Erfahrung beſtaͤtiget fin - den, wenn man die gut und ſchlecht angefuͤhrten Bauer - kinder auf dem Lande mit den unerzogenen und wohler -zogenen609und Entwickelung des Menſchen. zogenen in der Stadt, und dann jene und dieſe unter ſich, in Vergleichung ſetzet. Aber da der natuͤrliche Unter - ſchied der Koͤpfe hierinn einen großen Einfluß hat, ſo iſt es noͤthig eine Menge von einzelnen Faͤllen zuſammen - zunehmen, um die Vergleichung nach einem mittlern Durchſchnitt machen zu koͤnnen. Es giebt ſo gut unter den aufs beſte angefuͤhrten, als unter den gar nicht erzo - genen, verſchlagene, verſtaͤndige und witzloſe und einfaͤl - tige. Die unerzogenen Koͤpfe auf dem Lande ſind mehr in Unthaͤtigkeit und Einfoͤrmigkeit aufgewachſen, und dahero auch gemeiniglich mehr noch an Kraͤften des Gei - ſtes uͤberhaupt, als an beſondern Geſchicklichkeiten, zu - ruͤck. Die ſchlechterzogenen Gaſſenjungen in den Staͤd - ten dagegen ſind verſchlagen und witzig genug, weil die Gegenſtaͤnde von außen und das Treiben der Aeltern ſie gezwungen haben thaͤtig zu werden. Eben ſo ſehlet den guten angefuͤhrten Knaben vom Lande die Lebhaftig - keit und ſchnelle Faſſungskraft, und die Geſchmeidig - keit der Seele wie des Koͤrpers, die bey denen in der Stadt eine Wirkung von der Mannichfaltigkeit der ſinn - lichen Eindruͤcke iſt. Dagegen ſie an geſetztem Weſen und feſter Ueberlegungskraft, und uͤberhaupt an aus - dauernder Staͤrke der Vermoͤgen etwas voraus haben. Hiebey zeiget ſichs, was die Kunſt durch die Verman - nichfaltigung der wirkenden Gegenſtaͤnde thun kann. Haͤlt man die unerzogenen Stadtbewohner gegen die gut erzogenen, ſo zeiget ſich die Wirkung von der gefliſſentli - chen Leitung der Kraͤfte mehr abgeſondert, und man fin - det auch, daß die Vorzuͤge der erzogenen groͤßtentheils in der Form und in den kuͤnſtlichen Geſchicklichkeiten be - ſtehen. Jch wiederhole es, daß ich durch dieſe Bemer - kung nichts mehr wolle, als nur der uͤbergroßen Kuͤnſte - ley bey der Erziehung vorbeugen, die vielleicht im Gan - zen, wenigſtens ſo bald, nicht zu beſorgen iſt, weil es zur Zeit an nuͤtzlicher Sorgfalt und Kunſt nur allzu ſehrII Theil. Q qnoch610XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtnoch mangelt. Der Werth der Erziehung ſoll nicht her. untergeſetzt werden, die ſo viel zur Vervollkommnung der Menſchheit ausrichtet, davon jeder kleinſte Zuwachs einen unſchaͤtzbaren Werth hat.

III. Von den verſchiedenen Formen der Menſchheit.

  • 1) Stand der Wildheit, der Barbarey und der Verfeinerung.
  • 2) Wie weit diefe als Stufen der Menſchheit zu betrachten ſind?
  • 3) Wie ſich dieſe Zuſtaͤnde auf einander be - ziehen.

1.

Gehen wir von der Betrachtung der Urſachen, die die Natur bilden, zu ihren Wirkungen ſelbſt uͤber, ſo finden wir dieſe in den mannichfaltigen Formen, in denen die Menſchheit in ihren unterſchiedenen Zuſtaͤnden ſich uns darſtellet. Aber da meine Abſicht nicht weiter ge - het, als auf allgemeine Grundſaͤtze und auf allgemeine Vergleichungen, ſo will ich aus der bekannten Geſchich - te der Menſchheit nur einige beſonders ſich auszeichnende Verſchiedenheiten der Formen ausheben. Und hier ſtellt ſich zuerſt die Verſchiedenheit dar, die man im Stande der Wildheit, der Barbarey und der Kul - tur antrift. Zwar ſind dieſe Abtheilungen und Stufen eigentlich mehr Verſchiedenheiten und Stufen in der Ge - ſellſchaft, als Verſchiedenheiten in den Naturen der einzelnen Menſchen. Allein jener ihre Verſchiedenheit verbreitet eine ihr entſprechende Verſchiedenheit uͤber dieſe. Der Wilde iſt es in Hinſicht der Nationalcharaktere ſo - wohl fuͤr ſeine Perſon, als er es iſt als Mitglied ſeiner Geſellſchaft; und der Barbar iſt ſowohl als ein einzel -ner611und Entwickelung des Menſchen. ner Menſch ein Barbar, als er es iſt wie Buͤrger ſeines Staats. Dieß hat freylich viele Ausnahmen. Es giebt unter den Wilden einzelne Perſonen, deren Verſtand und Geiſteserhabenheit den kultivirten Europaͤer be - ſchaͤmet, und die, zum Theil auch in Sitten, viel Fein - heit und Anſtaͤndigkeit beweiſen; und unter den Bar - baren hat man die ſanfteſten und zaͤrtlichſten Gefuͤhle angetroffen. Dennoch aber hat der groͤßte Haufe das Gepraͤge der Nation.

Jndeſſen moͤchte es hiemit ſeyn, wie ihm wolle, ſo kann doch die Wildheit, die Barbarey und die Verfei - nerung des Charakters bey den Jndividuen auf dieſel - bige Weiſe unterſchieden werden, wie bey den ganzen Geſellſchaften. Und in dieſer Hinſicht kommen ſie hier am meiſten in Betracht.

Jn dem Stande der Wildheit ſind es die aͤußern Sinne und die koͤrperlichen Kraͤfte, die am meiſten geſtaͤrkt und entwickelt werden. Die hoͤhern Kraͤfte der Seele bleiben verhaͤltnißmaͤßig dagegen zuruͤck. Man findet faſt bey allen Wilden eine Geſchicklichkeit im Lau - fen, Schwimmen, im Laſtentragen und dergleichen. Oder man bewundert ihr ſcharfes Geſicht, ihr weit reichendes Gehoͤr, oder ihren ſpuͤrenden Geruch. Viele beſitzen mehr koͤrperliche Staͤrke als die Europaͤer, die gegen jene verlieren wuͤrden, wenn ſie, ohne ihre beſſern Waffen, Mann fuͤr Mann mit ihnen kaͤmpfen ſollten. Aber am Verſtande ſind die Wilden Kinder, unter de - nen ein kultivirter Europaͤer das iſt, was ein kluger Mann unter einem Haufen unerfahrner Juͤnglinge. Die Wildheit hat indeſſen ihre Stufen, in denen das Haupt - merkmal derſelben, naͤmlich, Kindheit in der Seele bey der ſtaͤrkſten Mannheit am Koͤrper, auf un - zaͤhlich mannichfaltige Art modificirt iſt.

Von dem ganz ungeſellſchaftlichen Stande der Menſchen und der Form, die ſeine Natur in dieſem an -Q q 2nimmt,612XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtnimmt, laͤßt ſich nicht viel ſagen. Nach den wenigen Datis zu urtheilen, die man hat, ſo muͤßte in den mei - ſten Faͤllen eine von den aͤußerſten Stufen der Wildheit herauskommen. Die Seele kann ſich wenig entwickeln, wenn der Menſch der Beyſpiele an ſeines Gleichen be - raubet iſt. Es koͤnnten ſogar die koͤrperlichen Vermoͤ - gen zuruͤckbleiben, wenn die aͤußern Umſtaͤnde darnach ſeyn wuͤrden. Hat die Natur ſelbſt fuͤr Speiſe und Trank geſorgt, und macht die Waͤrme der Luft die Be - deckung unnoͤthig: welche Triebfedern wuͤrden denn uͤbrig bleiben, ſich auch nur im Laufen und Springen, Kaͤm - pfen und Vertheidigen zu uͤben, wenn nicht etwan die wilden Thiere ſolches nothwendig machten? Dagegen wo die Nahrung ſo muͤhſam geſucht werden muß, als von Shelkirk auf der Jnſel Juan Fernandenz, da muß der Koͤrper gebraucht werden. Das außer aller menſch - lichen Geſellſchaft aufwachſende Kind koͤnnte nie Thier - pflanze, oder ein Baͤr-ein Schaf-ein Waldmenſch wer - den, wie es in einigen Beyſpielen geworden iſt. Es iſt bey einigen der ganz verwilderten Kinder bemerket, daß ſie wahnſinnig geweſen und alſo zu den vollſtaͤndig organiſirten Jndividuen nicht haben gerechnet werden koͤnnen. Daher, koͤnnte man glauben, laſſe ſich aus ſol - chen Beyſpielen nicht ſchließen, daß die vollkommene Anlage zum vernuͤnftigen Menſchen ſoweit ausarten koͤnne. Jch will bey allen Exempeln, die man gehabt hat, dieſen Zweifel guͤltig ſeyn laſſen. Dennoch giebt weder die Erfahrung, noch die Vernunft, einen Grund an die Hand zu vermuthen, daß das innere Princip der Seele bloß aus angeborner Thaͤtigkeit ſo weit hervordrin - gen ſollte, daß es ſich bis zur hohen Verſtandeskraft und zum Nachdenken erheben koͤnnte. Dieſe Moͤglich - keit ſcheinet auch bey den vorzuͤglichſten Jndividuen eine Erdichtung zu ſeyn.

Als613und Entwickelung des Menſchen.

Als die naͤchſte Hauptſtufe, die auf die Wildheit folgt, kann man die Barbarey anſehen. Sie enthaͤlt eine Entwickelung der ſinnlichen Vorſtellungskraft und der Begierden und Leidenſchaften, die davon ab - hangen. Aber die hoͤhere Ueberlegungskraft iſt zuruͤck. Sie iſt die Seelennatur in ihrem Juͤnglingsſtande, wo - bey der Menſch von Seiten der koͤrperlichen Kraͤfte voͤl - lich zum Mann wird. Zu den bloß thieriſchen Jnſtink - ten, worauf der Wilde eingeſchraͤnkt iſt, geſellen ſich bey den Barbaren alle Begierden, die durch die Phanta - ſie erreget werden. Jn dieſem Zuſtande muß auch die hoͤhere Denkkraft ſchon merklich ſich offenbaren; nur die Sinnlichkeit iſt zu ſtark und zu herrſchend, als daß die Ueberlegung und Vernunft den Willen regieren koͤnne. Es iſt eine natuͤrlichn Folge hievon, daß auch unter kul - tivirten Voͤlkern der groͤßte Theil der Einzelnen Barba - ren ſeyn wuͤrden, wenn nicht ſelbſt die Einrichtung der Geſellſchaft, die Geſetze und Sitten gewiſſe Vorurthei - le und Gewohnheiten auf ſie verbreiteten, wodurch die Sinnlichkeit gemaͤßiget und der vernuͤnftigen Ueberle - gung ein ſtaͤrkerer Einfluß in die Denkungsart, und noch mehr in die aͤußern Handlungen, verſtattet wuͤrde. Denn was den Poͤbel bey den aufgeklaͤrteſten Voͤlkern von den Barbaren unterſcheidet, iſt nicht ſo ſehr die in - nere Einrichtung der Erkenntnißkraͤfte und des Willens, obgleich in etwas, als vielmehr die aͤußern Modifika - tionen, welche den Leidenſchaften von außen durch die Sitten aufgedruckt werden, indem jene hervorgehen. Die Handlungen ſind milder, gerechter, menſchlicher, wenn es die Herzen nicht ſind. Und auch dieſe letztern ſind und werden es doch einigermaßen durch die Ruͤck - wirkung aus den Handlungen.

Wenn die Entwickelung der hoͤhern Verſtandes - kraͤfte den Grad erreicht, wo ſie deutliche und vernuͤnf - tige Ueberlegung wird, und als ſolche die GeſinnungenQ q 3und614XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtund den Willen regieret, da iſt die Menſchheit in dem kultivirten Zuſtande. Dieſe Erhoͤhung und Verfeine - rung der Vernunft iſt mit einer gleichmaͤßigen Ver - feinerung der Empfindungen und der Sitten verbunden, und erzeuget die innere Freyheit und Selbſtbeherrſchung des Willens. Die unzaͤhligen Stufen und Nuͤancen, die zwiſchen dieſen und den vorhergehenden Zuſtaͤnden fallen, nebſt denen, die in jeder Abtheilung wiederum vorkommen, uͤbergehe ich; nur meyne ich, der eigent - liche Grund der gemachten Abtheilung muͤſſe in dem angegebenen Unterſcheidungsmerkmal geſucht werden. Jn dem kultivirten Zuſtande iſt die Seelennatur der Menſchen in dem Mannsalter. Jn der kultivirten Menſchheit koͤnnen leicht einige Unterabtheilungen be - merkt werden, die als hervorragende Modifikationen derſelben ſich unterſcheiden und ſo viele verſchiedene Zweige von ihr ſind. Es iſt nicht undienlich darauf einen Blick zuwerfen, um der ſo gewoͤhnlichen, partheiſchen und ungerechten Wuͤrdigung derſelben, wenn ſie mit einander verglichen werden, vorzubeugen. Wenn die geſtaͤrkte ſelbſtthaͤtige Denkkraft der Seele ſich am innigſten mit dem Gefuͤhl verbindet, und mehr in dieſem Grundvermoͤgen als in einem andern ſich ausbreitet: ſo entſtehet daraus eine Form der Menſchheit, die man ihres vorzuͤglichen Beſtandtheils wegen die Empfindſamkeit nennen |kann, worunter Perſonen von Geſchmack oder feinem Ge - ſchmack zu rechnen ſind. Eben dieſelbige kann ſich am mei - ſten in der vorſtellenden Kraft, und beſonders in der dich - tenden Phanlaſie, ausbreiten. Alsdenn erzeuget ſie die Form, die man die Feinheit der Phantaſie, oder die Lebhaftigkeit in einem vorzuͤglichen Grade, nennen kann. Wenn ſie ſich in der Urtheilskraft und in dem Schluß - vermoͤgen am ſtaͤrkſten offenharet, ſo entſtehet daraus die Form, die vorzugsweiſe Verſtaͤndigkeit iſt. End - lich wenn man der Abtheilung der Grundvermoͤgen wei -ter615und Entwickelung des Menſchen. ter nachgeht, kann ſie ſich am vorzuͤglichſten mit der Thaͤtigkeitskraft oder der ſich ſelbſt modificirenden See - lenkraft, das iſt, mit dem Willen in der Bedeutung, worinn dieſer dem Gefuͤhl und der Erkenntnißkraft ent - gegengeſetzt wird, vereinigen. Alsdenn gebieret ſie die Staͤrke und Thaͤtigkeit in Handlungen, die man thaͤtigen Perſonen zuſchreibet. Die Empfindſam - keit, die Lebhaftigkeit, die Verſtaͤndigkeit und die uͤberlegende Thaͤtigkeit ſind gleichſam die Kardinal - punkte in der kultivirten Menſchheit.

2.

Von dieſer Seite die Menſchheit betrachtet, inſo - ferne auf die Groͤße der hoͤhern Seelenkraͤfte Ruͤckſicht genommen wird, giebt es eine gewiſſe Stufenleiter in ihr. Der bloß auf Empfindungen eingeſchraͤnkte Menſch ſtehet auf der niedrigſten Staffel. Er iſt der ſinnlichſte Menſch, bey dem der natuͤrliche Vorzug der menſchlichen Natur am wenigſten entwickelt iſt. Da - gegen die erhabenen Menſchen, deren Gefuͤhl verfeinert, deren vorſtellende, denkende und handelnde Kraft lebhaft wirkſam iſt, und die dennoch Seelengroͤße beſitzen ſich ſelbſt und ihre Leidenſchaften zu beherrſchen, die oberſte Stufe einnehmen. Das Eigene der Menſchheit beſtehet in Selbſtthaͤtigkeit der Seele, die in der feinen Ver - nunft und in der Selbſtmacht uͤber ſich am ſtaͤrkſten entwickelt iſt. Gleichwohl verhaͤlt es ſich mit dieſer Stufenleiter, wie mit den Stufenleitern der natuͤrlichen Dinge uͤberhaupt. Es iſt ein Verhaͤltniß der Dinge aufeinander, das nur bloß inſofern fuͤr eine Unterord - nung gehalten werden kann, als man die Objekte von einer Seite und in einer gewiſſen Ruͤckſicht betrachtet. Macht man die Stufen nach dem Mehr oder Weni - ger an Selbſtthaͤtigkeit der Seele, und ſoll die Groͤße dieſer Selbſtthaͤtigkeit das Maß der menſchlichenQ q 4Vollkom -616XIV. Verſ. Ueber die PerfektibiliaͤtVollkommenheit ſeyn, ſo iſt die angegebene Beziehung eine Rangordnung, in der die von einer hoͤhern Klaſſe auch groͤßer ſind an innerer menſchlichen Realitaͤt, als die von der niedrigern. Aber wenn man den Geſichts - punkt veraͤndert, bleibt alsdenn noch dieſelbige Ordnung? oder kann ſie etwan ſich gar umkehren, daß dasjenige, was oben ſtand, unten hinkommt? Jſt der Menſch ganz ſelbſtthaͤtige Seele? und ſind alle ſeine reellen Kraͤfte, Vermoͤgen, Vollkommenheiten, nur Grade in der Selbſtthaͤtigkeit? Sind ſie alle Seelenrealitaͤten? Dieß iſt wenigſtens eine Frage, die man nicht ſo gerade hin beantworten kann. Nimmt man die ganze Summe aller geiſtigen und koͤrperlichen Vermoͤgen, aller thieri - ſchen und vernuͤnftigen Kraͤfte, im Gefuͤhl, in der Vor - ſtellungs-und Denkkraft und in dem Willen, nebſt der Bewegungskraft, die in die Glieder des Koͤrpers wirket; und ſieht man dieſen ganzen Jnbegriff von Kraͤften und Vermoͤgen als die ganze Realitaͤt der menſchlichen Natur an: ſo wird auch der Wilde und der Barbar vielleicht nicht mehr ſo niedrig unter den Kultivirten heruntergeſetzt werden muͤſſen, als vorher, da die Groͤße der Menſchheit allein nach der Groͤße der ſelbſtthaͤtigen Denkkraft geſchaͤtzet ward. Sollte die koͤrperliche Kraft der Organiſation und die aͤußere Sinnlichkeit zum Maß - ſtab genommen werden, ſo muͤßte im Durchſchnitt der Kultivirte dem Barbaren und unter dem Wilden nach - ſtehen. Dieß wird noch eine Betrachtung uͤber den verhaͤltnißmaͤßigen Werth der menſchlichen Realitaͤten erfodern. Aber vorher will ich noch einmal auf die Beziehung der obgedachten Stufen und auf die Art, wie Jndividuen von einer zu der andern ſich erheben, einen Blick werfen.

3.

Jn der niedrigſten Stufe der Sinnlichkeit werden weniger Triebe und weniger Denkvermoͤgen entwickelt. Aber617und Entwickelung des Menſchen. Aber deſto groͤßer iſt oft die Staͤrke und Heftigkeit, mit der ſie ſich aͤußern. Der Wilde riechet oft feiner als ein Spuͤrhund, ſiehet mit ſeinem Auge wie ein Luchs, und kommt an Geſchicklichkeit zu ſchwimmen den Fi - ſchen gleich. Die Seele, die ſich nur an Einer oder an wenigen Seiten entwickelt, kann ihre ganze Macht in dieſer Richtung anwenden. Vielleicht giebt es keinen aͤußern Sinn, woran der Menſch nicht die Thiere, die ſonſt am beſten damit verſehen ſind, uͤbertreffen koͤnnte, wenn ſeine Seele mit nichts anders als mit den Ein - druͤcken auf einzelne Sinnglieder beſchaͤfftiget wuͤrde. Es iſt die Groͤße des Umfangs und die Mannichfaltig - keit der menſchlichen Wirkſamkeit, was die thaͤtige Kraft verbreitet und ihre intenſive Staͤrke bey einzelnen Aeußerungen ſchwaͤchet. Die Mittel, die den Men - ſchen von der groben Sinnlichkeit zu der feinern erhe - ben, und ihn aus einem bloß empfindenden zu einem ſiunlich imaginirenden Weſen machen, beſtehen am Ende darinn, daß die zu heftigen und, ſo zu ſagen, zu ſehr verdichteten Gefuͤhle und Triebe an Staͤrke ge - ſchwaͤcht, und an Ausdehnung vergroͤßert und verman - nichfaltiget werden. Das letztere geſchieht, indem ſie aufgeloͤſet, entwickelt und auf mancherley Art von Ge - genſtaͤnden und Handlungen geleitet werden. Aber es iſt nothwendig, daß eine Art von gewaltſamer Einſchraͤn - kung vorhergehe und die Wildheit baͤndige, oder ihr einen Zaum anwerfe. Die neuern Erfahrungen des edelmuͤthigen Cooks, auf ſeiner Reiſe nach der Suͤd - ſee, haben es beſtaͤtiget, was die Alten ſchon gelehret hatten, und nur durch gewiſſe Scheingruͤnde zweifelhaft gemacht worden war, daß es nothwendig ſey, zuerſt den Wilden Furcht beyzubringen, ehe ſich etwas mit ihnen anfangen laſſe. Die Furcht kultivirt ſie nicht, ſie iſt auch nicht in einem hoͤhern Grade noͤthig, als nur hin - reichet, die wilden Ausbruͤche der Naturtriebe, die mitQ q 5der618XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtder Geſellſchaft unbeſtehbar ſind, aufzuhalten. Denn wenn ſie ſtaͤrker wird als dieſe Abſicht erfodert, ſo un - terdruͤckt ſie die Kraft und den Muth der Natur. Wei - ter beſſert ſie auch nicht; denn ſie erreget keine Luſt zur Thaͤtigkeit. Alsdenn muß das ſinnliche Vergnuͤgen gebraucht werden, um die Kraͤfte zu reizen, das iſt, man muß den Menſchen mit mehrern und feinern Ar - ten der Vergnuͤgungen bekannt machen, als ſein bloß thieriſcher Jnſtinkt vorher ausſuchte. Man gewoͤhne den in Reſpekt geſetzten Wilden an die Ergoͤzungen der Muſik. Man lehre ihn mehrere Mannichfaltigkeit in dem Geſchmack an Speiſen. Beſonders ſuche man ihn auf die Schoͤnheiten der Malerey aufmerkſam zu ma - chen. Und warum ſollte der Sinn des Geruchs zu - ruͤckbleiben? Dieſe neuen Empfindungen werden neue Beduͤrfniſſe, und dieſe neue Begierden, hervorbringen. Dadurch wird die Phantaſie an mehrern Seiten gerei - zet, und alſo zertheilt. Alsdenn kann eine Begierde gebraucht werden, um die andere im Zaum zu halten.

Hiedurch wird der Menſch nun freylich noch nichts mehr, als ein etwas feineres ſinnliches Weſen. Soll er von dieſer Stufe, welche die zwote iſt, von der erſten rohen Wildheit an weiter zu der hoͤhern, zur Freyheit und Vernunft, gebracht werden, ſo ſind Maßregeln er - fo derlich, die man auf folgende reduciren kann. Den heftigen Leidenſchaften muͤſſen aͤußere Hinderniſſe ent - gegengeſetzt werden, die ſie aufhalten, wenn ſie in Be - wegung ſind, und die Veranlaſſungen ſie zu reizen ent - zogen werden. Dann muß die Leidenſchaft in mehrere einfache zertheilet werden, dadurch daß man ihre Gegen - ſtaͤnde vervielfaͤltiget. Jndem dieß geſchieht, gewinnt die Ueberlegungskraft Zeit dazwiſchen zu kommen, und ſich bey den lenkſamer gewordenen Trieben ſelbſtthaͤtig zu beſchaͤftigen. Hiezu kommt der Unterricht, durch den man unmittelbar auf die Ueberlegungskraft wirket, ſiereizet,619und Entwickelung des Menſchen. reizet und mittelſt entwickelter und vernuͤnftiger Jdeen - reihen ſtaͤrket. So mit dem Menſchen verfahren, und beſonders mit dem Kinde bey der Erziehung: ſo muͤßte die Abſicht, die man hat, ſeltener verfehlet werden. Aber die Kunſt beſteht darinn, das rechte Maß bey je - dem Mittel zu treffen und ſie alle zu vereinigen. Ge - meiniglich wird auf Eins davon alles geſetzt, mit Ver - nachlaͤßigung der uͤbrigen. Oder man laͤßt ſie gar ge - gen einander und gegen die Abſicht wirken. Die Aus - bildung des Menſchen beſtehet in zwo Operationen. Man reize ſeine Naturkraͤfte zu mannichfaltigen Thaͤ - tigkeiten, und ordne ſie. Aber da es unter dieſen Kraͤf - ten einige natuͤrliche Jnſtinkte giebt, die von ſelbſt ſo ſtark ſind, als ſie in Verbindung mit den uͤbrigen ſeyn muͤſſen, und die zu leicht ein Uebergewicht bekommen und die Vollkommenheit des vernuͤnftigen Weſens zer - ſtoͤren: ſo muß bey dieſen auch mehr die Abſicht dahin gehen, daß ſie gemaͤßiget als daß ſie geſtaͤrket werden. Gleichwohl ſind dieſe Triebe die wichtigſten im Men - ſchen, der nicht Menſch noch Geiſt ſeyn kann, ohne Thier zu ſeyn. Es iſt ein falſcher Grundſatz, ſeine geiſtige Natur auf die Zerſtoͤrung oder Schwaͤchung der thieriſchen bauen zu wollen. Aber es iſt eben ſo gewiß, daß das Thieriſche und Sinnliche gemaͤßiget werden muß, wenn das Vernuͤnftige empor kommen ſoll. Sonſten waͤchſt der Menſch wie die Baͤume zu ſtark ins Holz, und treibet keine Fruchtzweige.

Hiebey kommt in dem Praktiſchen das große Pro - blem vor; wie maͤßiget man die thieriſchen Jnſtinkte, ohne ſie zu ſchwaͤchen? Das iſt ein beſonderer Fall von der allgemeinen Aufgabe: wie regiert man den Menſchen, ohne ſeinen Muth zu ſchwaͤchen? wie wird ihm Demuth beygebracht, ohne ihn niedertraͤch - tig zu machen? wie macht man ihn bedachtſam, ohne ihn ſchuͤchtern werden zu laſſen? Sollte es nicht auchin620XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtin Hinſicht der bloß thieriſchen Jnſtinkte ein Mit - tel geben ſie zu verfeinern, ohne ſie zu ſchwaͤchen? Es giebt Begierden in dem Menſchen, die nicht ſo ſehr zuruͤckgehalten werden koͤnnen, daß ſie nicht wie aufge - ſchwollene Stroͤme uͤbertreten und verheeren. Sollte man dieſen nicht, durch gewiſſe Reihen von Jdeen und Empfindungen, Nebencanaͤle graben koͤnnen, in welche ſie in ſolchem Falle ſich zertheilen und ſchwaͤchen muͤßten? Wer unſere witzreichen, ſchluͤpfrigen Schriftſteller vor dem Richterſtuhl der Vernunft und der Tugend zu ver - theidigen oder zu entſchuldigen haͤtte, muͤßte, wie mich deucht, an dieſen Punkt ſich halten. Wenn dieſe eben zu der gedachten Abſicht gearbeitet haͤtten, oder doch obgleich unvollkommene Verſuche gemacht, die Jn - ſtinkte durchs Zertheilen zu verfeinern? moͤchte ich ihre Rechtfertigung nicht auf mich nehmen. Aber ſo viel will ich nur erinnern, daß es eine Seite giebt, von der die ſtrengen Beurtheiler anakreontiſcher Lieder, ko - miſcher Erzaͤhlungen, eines großen Theils in dem vor - treflichen Agathon, mancher Stellen in Sternes empfind - ſamen Reiſen, und dergleichen Schriften, die Sache nicht angeſehen haben und doch haͤtten anſehen ſollen. Es iſt eine unlaͤugbare Erfahrung, daß die mannich - faltig modificirte Begierde mehr in der Gewalt der Vernunft iſt, als der rohe unentwickelte Naturtrieb. Die Leckermaͤuler bey den Speiſen ſind gemeiniglich maͤſ - ſiger im Eſſen als andere, denen ohne Unterſchied alles ſchmeckt. Und auch wenn der Hunger ihre Delikateſſe uͤberwaͤltiget, ſo halten ſie ſich doch laͤnger zuruͤck von Speiſen, die nicht nach ihrem ſonſtigen Geſchmack ſind, als die letztern. Das Naͤmliche nimmt man bey der Liebe und bey andern Leidenſchaften wahr. Giebt es ei - ne Menge von Bildern in der Phantaſie, die mit der Begierde verbunden ſind, die ſich ihr darſtellen, ſo bald ſie ſich reget, und ſie dann nach verſchiedenen Seitenauf621und Entwicklung des Menſchen. auf verſchiedene Gegenſtaͤnde leiten: ſo iſt zwar ſo viel gewiß, daß ſie auf einer Seite dadurch reizbarer gewor - den iſt; aber auf der andern auch biegſamer, ſo daß die Vernunft ſie leichter zerſtreuen, andere Begierden ihr entgegenſtellen und eher ihren Ausbruch hindern kann. Wir haben ferner die bekannte Erfahrung, daß man ei - ner in Affekt geſetzten Perſon am leichteſten beykomme, wenn man mit ihr in denſelben Affekt bis auf eine ge - wiſſe Weite hinein gehet, dem Schein nach wenigſtens, und ihr dadurch ſchmeichelt. So macht man ſie auf uns aufmerkſam, und locket die Ueberlegungskraft her - vor, die der geliebkoſeten Neigung, wie einem wildge - wordenen Thier, endlich den Zuͤgel uͤber den Kopf wirft und ſie baͤndiget. Sollte nicht eine ſolche Kunſt bey den ſtarken Trieben des Menſchen moͤglich ſeyn? bey ſolchen, die man nicht unterdruͤcken noch ſchwaͤchen darf noch kann, und deren gewaltſame Ausbruͤche eine der ſtaͤrkſten Quellen von dem Ungluͤck der Menſchheit ſind? Man wird von ſelbſt begreifen, daß es ganz ein anders ſey, durch grobe ſinnliche Vorſtellungen die Begierde ohne Noth zu reizen und ihre Wut zu vergroͤßern; und ein ganz anders, durch gewiſſe feinere und ſanftere Wallungen im Herzen, die man veranlaſſet, ſie dem Schein nach zu liebkoſen und zu unterhalten, wenn ſie von ſelbſt ſich reget, aber zugleich ſie mit ſo vielen leb - haften, feinern Phantaſien und vernuͤnftigen Reflexio - nen zu durchweben und zu umgeben, daß ſie darinn verwickelt und vertheilet wird. Jch beruͤhre dieſe Ma - terie hier nur im Vorbeygehen. Aber gewiß iſt es doch auch, daß, zum Beyſpiel, die Romanen des Richard - ſons die Liebe auf eine ſolche Art bearbeiten, die keinen Schaden bringen kann, wenn ſie gleich auf der andern Seite auch nicht mit ſolcher pſychologiſchen Staͤrke auf dieſen Naturtrieb wirken, als man von einer noch et - was ſtaͤrkern Art ſie zu behandeln vielleicht erwartenkoͤnnte.622XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtkoͤnnte. Jndeſſen iſt es eben ſo gewiß, daß niemand, der nicht mit großer und inniger Kenntniß des menſchli - chen Herzens die waͤrmeſte Rechtſchaffenheit verbindet, die unverruͤckt der Tugend getreu bleibet, wenn ſie gleich zuweilen den Schein annimmt, als gehe ſie zu ihren Feinden uͤber, ſich fuͤr berufen halten duͤrfe auf dieſe Art an dem Menſchen zu arbeiten, wie Sterne und Wieland es zuweilen gethan haben. Man iſt denen, die ſich an ein ſo ſchweres Unternehmen wagen und, ob ſchon wider ihre Abſicht, mehr Schaden als Vortheil ſtiften, wenig Nachſicht ſchuldig, noch weniger als den mittelmaͤßigen Dichtern. Der Arzt der mit heroi - ſchen Arzneyen nur unvorſichtig umgehet, verdient den ſchaͤrfſten Tadel. Doch muß man auch ſo billig ſeyn und den Schaden oder den Nutzen, den ſie ſtiften, nicht nach der Einbildung ſolcher Leute ſchaͤtzen, die nach ih - ren einſeitigen und engen Begriffen urtheilen.

IV. Von| der einſeitigen Vervollkommnung des Men - ſchen.

  • 1) Zu weit getriebene Vervollkommnung an ei - ner Seite kann der Vollkommenheit der Na - tur im Ganzen ſchaͤdlich werden.
  • 2) Wie das Maß der Vervollkommnung an einer Seite zu beſtimmen ſey, wo dieſe in Ruͤckſicht auf die Vollkommenheit des Gan - zen ein Groͤßtes iſt?

1.

Um den Werth der innern Menſchheit in den verſchie - denen Formen, in denen ſie vor uns lieget, nur ei - nigermaßen mit Vernunft zu ſchaͤtzen, muß auf alle ver - ſchiedene Seiten, an denen der Menſch vervollkommnetwerden623und Entwickelung des Menſchen. werden kann, Ruͤckſicht genommen werden. Das erſte, was hiebey in Betracht zu ziehen, iſt die einſeitige Perficirung und der Werth derſelben in Hinſicht auf das Ganze im Menſchen. Obgleich die Grundvermoͤ - gen der Seele, das Gefuͤhl, die Denkkraft und der Wille in der genaueſten Verbindung ſtehen und wech - ſelſeitig einander erheben, ſo daß keines von ihnen er - weitert oder verſtaͤrket wird, ohne daß die uͤbrigen An - theil daran nehmen: ſo iſt doch nichts gewiſſer, als daß die Entwickelung der Vermoͤgen nicht bey zwey Jndi - viduen in demſelbigen Verhaͤltniß vor ſich gehe. Hier waͤchſet eine Faͤhigkeit zu einer außerordentlichen Hoͤhe, da andere unter der Stufe zuruͤckbleiben, wozu ſie in dem gemeinen Menſchenverſtande gebracht ſind. Bey den beſondern Vermoͤgen kann dieſe Verſchiedenheit ſo weit gehen, wie an den Baͤumen, bey denen ein Zweig ganz abſtirbt, indem ein anderer deſto ſtaͤrker treibet. Ohne Zweifel iſt in der Anlage der Natur ſchon der er - ſte Grund zu dieſen verſchiedenen Verhaͤltniſſen, worun - ter einige ſolche Mißverhaͤltniſſe | ſeyn koͤnnen, daß man ſie fuͤr geiſtige Mißgeburten halten kann. Groͤßten - theils aber haͤngt dieß von den aͤußern hinzukommenden Urſachen bey der Entwickelung ab. Wie bey den Koͤr - pern das Gebluͤt und die Nahrungsſaͤfte zu heftig nach einem Theil hingetrieben und dadurch eine Mißgeſtalt veranlaßt werden kann, ſo koͤnnen auch die aͤußern Urſachen auf eine Kraft der Seele ſo ſtark wirken, daß andere zu ſehr zuruͤckbleiben. Alsdenn moͤgen an ei - ner Seite glaͤnzende Vorzuͤge entſtehen, aber an der an - dern ſind ſo viele Maͤngel und Schwachheiten damit ver - bunden, daß infelix operis ſumma daraus wird. Dieß ſind einſeitige Perficirungen. Fontaine, der naive Fa - beldichter, iſt, wenn ſeine Biographen nichts uͤbertreiben, im gemeinen Leben ein einfaͤltiger Menſch geweſen. Der Mann vom groͤßten Verſtande, der große Staatsmann,der624XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtder Held, aufgelegt zu heroiſchen Thaten, der Mann von dem richtigſten und feinſten Geſchmack und vom zaͤrteſten|moraliſchen Gefuͤhl, iſt mit dieſen einzelnen Voll - kommenheiten noch kein großer Menſch in aller Hinſicht.

Die Seelenvermoͤgen unterſtuͤtzen ſich und helfen ſich nur fort bis zu einer gewiſſen Grenze. Alsdenn hindern ſie ſich und unterdruͤcken einander. Jede na - tuͤrliche Anlage will auch unmittelbar gereizet ſeyn, um entwickelt zu werden. Eine zu ſtarke Beſchaͤftigung des Einen Vermoͤgens muß alſo fuͤr ſich dem andern ſchon dadurch hinderlich werden, daß es ihm die Zeit und Gelegenheit entziehet, thaͤtig zu werden. Wird die Liebe fuͤr eine beſondere Art von Beſchaͤftigungen zur Leidenſchaft, ſo feſſelt ſie die Kraͤfte in Hinſicht auf an - dere. Das Herz bleibet oft unbearbeitet, wo alles Be - ſtreben auf die Anfuͤllung des Kopfs und des Gedaͤcht - niſſes hingehet. Jſt nun vollends ein Vermoͤgen ſchon zur Fertigkeit geworden, und ſind andere dagegen in ihrer natuͤrlichen Schwaͤche geblieben, ſo wird jenes ſich noch mehr bey allen Gelegenheiten hervordringen, die uͤbri - gen zuruͤckhalten, und alſo die Ungleichheit zwiſchen ih - nen vergroͤßern. Es waͤchſet auch die Unluſt an Arbei - ten, wozu wir weniger geſchickt ſind. Die Aeußerun - gen mit der vorzuͤglichen Kraft ſind mehr angenehm, und ziehen auch mehr die neuen hinzukommenden Jdeen wie einen Nahrungsſaft an ſich, und entwenden ſie den uͤbri - gen, die hiedurch ſo gar auch den Grad von Staͤrke, den ſie durch die ſich allgemein verbreitende Kraft der Seele und durch vorhergegangene zufaͤllige Urſachen erlangt hatten, wieder verlieren koͤnnen. Sie werden wie mit Roſt uͤberzogen, und ſtumpf. Jndeſſen kommt es hiebey wiederum auf ein gewiſſes Maß an. Es brin - get noch der Geſundheit des ganzen Koͤrpers keinen Schaden, wenn beſondere Glieder mehr gebraucht wer - den und dadurch mehr Feſtigkeit und Staͤrke erhalten,als625und Entwickelung des Menſchen. als andere. Dieß iſt vielmehr oft dem Ganzen nuͤtzlich. Eben ſo kann auch die vorzuͤgliche Kultur einzelner See - lenvermoͤgen der ganzen Natur zum Vortheil gereichen. Oder doch wenigſtens vermindert dieß nicht nothwendig, noch allemal, die Groͤße der Vollkommenheit im Ganzen. Das Gebluͤt dringet bey der Anſtrengung des Kopfs ſtaͤrker zum Gehirn. Dieß iſt fuͤr ſich noch keine Krank - heit, wenn es nicht in dem Uebermaße geſchieht, daß andern Theilen die nothduͤrftige Nahrung entzogen und das, zum Leben und zur Geſundheit erfoderliche, Ebenmaß der Bewegungen in der Maſchine geſtoͤret wird. Aber uͤber dieſe Grenze hinaus wird es ſchaͤdlich und toͤdtend. Daſſelbige gilt bey der Seele. Die vorzuͤglichſten Na - turanlagen moͤgen am meiſten kultiviret werden, wenn nur die uͤbrigen auch ſo viel Uebung haben, als ihrem Verhaͤltniſſe gemaͤß iſt.

Man hat uͤber die Politeſſe die Anmerkung gemacht, daß ſie nur bis auf eine gewiſſe Grenze eine wahre Vollkommenheit ſey. Dieß iſt eine allgemeine Ei - genſchaft aller beſondern menſchlichen Geſchicklichkeiten, Fertigkeiten und Tugenden. Es giebt keine einzige Naturanlage in dem Menſchen, auch nicht in der See - le, keine Faͤhigkeit der Einbildungskraft und des Ver - ſtandes, keine Art des Gefuͤhls und der Empfindſam - keit, keine Wirkungsart des thaͤtigen Willens, in de - ren Perficirung es nicht ein gewiſſes Maß gebe, das ohne Schaden des Ganzen, und ohne ſich ſelbſt wieder - um zu ſchwaͤchen, nicht uͤberſchritten werden darf. Auch die Weisheit hat ihr Maß; und Horazens Ausſpruch: Inſani ſapiens nomen ferat, æquus iniqui, Vltra, quam ſatis eſt, virtutem ſi petat ipſam. enthaͤlt einen pſychologiſchen Lehrſatz. Wird z. E. die Denkkraft uͤberſpannet, ſo entſtehet in der Empfindſam - keit und in der thaͤtigen Kraft des Willens eine Schwaͤ -II. Theil. R rche626XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtche und eine Unordnung, die dem Gelehrten leider nur allzu bekannt iſt. Und dieſe iſt nicht nur ein Mangel einer großen Vollkommenheit, ſondern wird auch wie - derum ſelbſt dem Vermoͤgen zum Nachdenken ſchaͤdlich. Jede uͤbertriebene Kraft verdirbt ſich ſelbſt. Wer zu viel lieſet, es iſt dieß eine bekannte Erfahrung, und mehr Bilder und Begriffe ins Gedaͤchtniß haͤufet, als die Ueberlegungskraft in Ordnung ſetzen kann, brin - get in dem Gehirn einen Zuſtand hervor, den man in dem Koͤrper Ueberladung nennet. Die uͤbermaͤßige Be - ſchaͤfftigung der Einbildungskraft iſt, weder fuͤr den Ver - ſtand, noch fuͤr das Gedaͤchtniß vortheilhaft, noch we - niger fuͤr die Einſichten. Hat man bey beſondern Ver - anlaſſungen einmal zu viel und zu anhaltend geleſen, ſo iſt man genoͤthiget eine Zeit nachher gar nichts zu leſen, bis man fuͤhlet, daß der gehoͤrige Ton des Gehirns wie - der hergeſtellet ſey.

Die uͤbertriebene einſeitige Vervollkommnung des Gefuͤhls und der Empfindſamkeit iſt nicht minder ſchaͤdlich. Wer kann dieß ſchoͤner und richtiger ſagen, als es Hr. Sulzer geſagt hat? *)Jn ſeinem bekannten Woͤrterbuch; Art. Empfind - ſamkeit. Allzu empfindliche Perſonen laſſen ſich von jedem Verdruß und von jeder Freude zu lebhaft erſchuͤttern, und verrathen ſowohl eine Schwaͤche am Verſtande, als an Thaͤtigkeit des Willens.

Auch die Triebe und Begierden der Seele zu Handlun - gen koͤnnen unproportionirlich ſtark geſpannt ſeyn? Gemei - niglich ſieht man die Neigungen, die Entſchluͤſſe und Hand - lungen als Wirkungen des Gefallens oder des Misfal - lens an, oder als Wirkungen der Bewegungsgruͤnde, die den letztern als ihren Urſachen entſprechen, und ſich alſo in ihrer Staͤrke nach den vorhergehenden Gemuͤths - bewegungen richten ſollen. Allein man hat aus vielenGruͤn -627und Entwickelung des Menſchen. Gruͤnden gezweifelt, ob es ſo ſey. Wenn alles uͤbrige gleich iſt, ſo entſpricht auch ohne Zweifel die Groͤße der Kraftbeſtimmung zur Thaͤtigkeit und der Aktion der Groͤße des Eindrucks, den die Motiven machen. Aber wie ein Koͤrper, der ein Princip der Bewegung in ſich hat, durch einen ſchwaͤchern Stoß von außen in eine weit heftigere Bewegung gebracht werden kann, als ein anderer, deſſen innere Kraft ſchwaͤcher iſt: ſo kann auch wohl die wirkſame Seelenkraft bey einem durch ein ſchwaches Motiv lebhafter bewegt werden, als bey einem andern durch ein ſtaͤrkeres. Die Bewegungsgruͤnde ſind doch nur veranlaſſende Gruͤnde, keine wirkende Ur - ſachen. Die Kraft, welche wirket, iſt in der Seele, und iſt von dem Bewegungsgrunde nur modificirt. Der letztere wirket nicht wie das Gewicht an der Wage, ſon - dern allenfalls nur wie ein Schlag auf eine elaſtiſche Saite, oder wie der Funke auf das Pulver. Die Groͤſ - ſe der Aktion haͤngt ſo wohl von der vorhergehenden Spannung des thaͤtigen Princips ab, ehe dieß von dem Motiv beſtimmet wird, als von der Groͤße des Ein - drucks, der durch das Motiv hinzukommt und die Kraft lebendig macht, oder ſie nur lenket. Es kann auch in der Thaͤtigkeitskraft der Seele ein Misverhaͤltniß mit ihrer vorſtellenden Kraft und mit dem Gefuͤhle ſtatt - finden, wie ſich auch oft genug in den Handlungen zei - get. Vorſtellungen und Empfindungen, die in Ver - gleichung mit andern ungemein ſtumpf und kraftlos ſind, ſetzen bey einigen die ſtaͤrker geſpannten Begierden in Bewegung, und wirken feſte Entſchluͤſſe und ein hart - naͤckiges Anhalten, die zuweilen in der Seele das ſind, was die konvulſivifchen Bewegungen in den zu ſtark ge - ſpannten Muſkeln. Bey eben dieſen eigenſinnigen Per - ſonen zeiget ſich oftmals ein ſtumpfes Gefuͤhl, und ei - ne nicht viel auf einmal umfaſſende Phantaſie, die beide nicht vermoͤgend waͤren, durch die vorzuͤgliche Lebhaftig -R r 2keit628XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtkeit des Antriebes die Kraft ſo ſtark auf das Objekt zu richten, wenn dieſe nicht innerlich vorzuͤglich darnach ge - ſtimmt waͤre. Aber die innere Diſpoſition ſo ſich zu aͤußern, als es bey einem ſolchen Gegenſtande geſchieht, macht, daß auch die mattere Reizung hinreichet die Kraft zur Anwendung zu bringen. Hiezu kommt nun, daß eben derſelbigen Urſachen wegen die Kraft, wenn ſie einmal in eine Richtung gebracht iſt, ſich hartnaͤckig in derſelben erhaͤlt. Denn das ſtumpfere Gefuͤhl und die traͤgere Vorſtellungskraft kann nicht ſo leicht entge - gengeſetzte Gefuͤhle und Vorſtelluͤngen herbeyfuͤhren, die als ein Gegengewicht den Eindruck von den gegenwaͤr - tigen ſchwaͤchen und die hervorgehenden Triebe aufhal - ten koͤnnten.

2.

Eine ſchwere Frage iſt es, wie die Grenze zu finden ſey, bis wohin die Perficirung eines Vermoͤgens gehen duͤrfe, ohne das Ebenmaß in der Entwickelung aller zu ſtoͤren, das zur beſten Vervollkommnung des ganzen Menſchen und zur laͤngſten Erhaltung deſſelben erfodert wird? Die Vollkommenheit an einer Seite wird als - denn ein Groͤßtes, in Hinſicht der Vollkommenheit des Ganzen. Denn bis hieher erhoͤhet ſie die letztere; aber daruͤber hinaus mindert ſie ſie. Hierauf laͤßt ſich ſchwerlich eine beſtimmte Antwort geben, die zugleich allgemein auf alle einzelne Perſonen paßte. Das gehoͤ - rige Maß kann ſo wenig bey allen Jndividuen daſſelbi - ge ſeyn, als es das Maß im Eſſen, Trinken, im Laufen und in andern koͤrperlichen Uebungen iſt. Doch giebt uns gemeiniglich das Selbſtgefuͤhl, ſowohl bey dem Ge - brauch der Seelenkraͤfte als des Koͤrpers, einen Wink, wenn es Zeit ſey mit der Wirkſamkeit einzuhalten. Die Beſchaͤftigung wird alsdann unangenehm. Auf dieſe Stimme muß man merken, mit eben der bekanntenEin -629und Entwickelung des Menſchen. Einſchraͤnkung bey den Uebungen des Geiſtes, als des Koͤrpers; daß naͤmlich auch die natuͤrliche Traͤgheit nicht geſtaͤrket wird.

Man kann ſicher ſeyn, daß man alsdenn ſchon uͤber die gehoͤrige Graͤnze hinaus ſey, wenn der Hang zu ei - ner beſondern Art von Thaͤtigkeit zu einer Leidenſchaft wird, die uns wider Willen fortreißet, auch dann, wenn wir mit andern Kraͤften wirken wollen.

Die Vernunft und Ueberlegung muß das Uebrige thun. Selbſtkenntniß fuͤhret auch hierinn zur Weisheit. Je mehr wir den Menſchen unterſuchen, je mehr ſehen wir den innern Werth deſſelben und ſeine Beziehung auf die aͤußere Welt, und deſto mehr die menſchliche Gluͤckſeligkeit und das beſte Maß von Ausbildung, das uns in unſrer Lage zu Theil werden kann. Dieß muß die Zwecke beſtimmen, die wir uns ſetzen. Mehr laͤßt ſich im Allgemeinen hieruͤber nicht ſagen. Der Menſch iſt an vielen Seiten perfektibel. Seine ganze Voll - kommenheit wird groͤßer, wenn man ihn von mehre - ren Seiten bearbeitet, als wenn alles nur auf die Er - hoͤhung einer oder der andern beſondern Faͤhigkeit ge - richtet wird. Hr. Home hat die Anmerkung ge - macht,*)Geſchichte der Menſchheit. 1 B. 5 |V. S. 126. u. f. daß die Menſchen in ſolchen Laͤndern kluͤger und verſtaͤndiger ſind, wo jedes Jndividuum mehrere und verſchiedene Geſchaͤfte und Kuͤnſte betreibet, als in ſolchen, wo jeder ſich mit Einer Art von Arbeiten allein beſchaͤfftiget. Die Urſache davon iſt offenbar. Der letztere arbeitet gedankenlos, wenn die einzelne Fertigkeit einmal erworben iſt. Der erſtere aber wird genoͤthiget, auf mehrere Art nachzuſinnen und zu uͤberlegen. So verhaͤlt es ſich mit der ganzen Perficirung des Menſchen. Die Einſeitige iſt den Naturanlagen weniger gemaͤß, als die mehrſeitige, bey der die Vermoͤgen in demje -R r 3nigen630XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtnigen Ebenmaß erhoͤhet werden, wodurch der Einfluß von jedem einzeln auf das Ganze der Seelenkraft am groͤßten wird. Es iſt nie zu vergeſſen, was der Menſch iſt. Er iſt nicht bloß ein empfindendes Weſen; nicht bloß ein phantaſirendes Weſen; nicht bloß ein nachden - kendes, nicht bloß ein aͤußerlich thaͤtiges Weſen; nicht Geiſt allein, nicht Thier, noch weniger Koͤrper allein: ſondern ein Menſch.

Dagegen wuͤrde die kuͤnſtliche Erziehung auch auf der andern Seite zu viel thun, wenn aus dem Grund - ſatze, daß der Menſch an allen Seiten gleichfoͤrmig aus - gebildet werden muͤſſe, die Abſicht dahin gerichtet wuͤr - de, ihm alle Arten von Geſchicklichkeiten in gleichem Grade zu verſchaffen und ihn zuruͤckzuhalten, wenn man faͤnde, daß er Eine derſelbigen ſich vorzuͤglich zu er - werben geneigt ſey. Man kann es nicht tadeln, ſon - dern muß es als eine Verbeſſerung der Erziehung anſe - hen, daß man nicht bloß die Seele und den Verſtand, ſondern auch die Sinne und den Koͤrper, bey der Ju - gend zu bilden ſucht. Es iſt ohne Zweifel ein richtigerer Grundſatz, daß man ſie von allen Seiten angreifen und bearbeiten muͤſſe, als wenn lauter Crichtons*)Joſeph Criton, oder eigentlich Crichton, ein Schott - laͤnder, war ein außerordentliches Wunder von menſchli - cher Vollkommenheit, im ſechszehnten Jahrhundert; ein allgemeines Genie, nicht nur in Hinſicht aller See - lenfaͤhigkeiten, ſondern auch in allen koͤrperlichen Ge - ſchicklichkeiten, im Fechten, Reiten, Tanzen; und faſt ein realiſirtes Jdeal des vollkommenſten Menſchen. Man ſehe die Dedikation des Aldus Manutius von ſeiner Aus - gabe der Paradoxen des Cicero; imgleichen Moreri in ſ. Woͤrterbuch. Ohne Zweifel iſt in der Erzaͤhlung etwas uͤbertrieben. Jndeſſen erhellet ſoviel, daß Crichton ein außerordentlicher und an allen Seiten ausgebildeter Menſch geweſen ſey. aus ih - nen gemacht werden ſollten. Aber nachher iſt es nichtmehr631und Entwickelung des Menſchen. mehr moͤglich, alle Arten von Anlagen in gleichem Maß zu befoͤrdern, ohne ſie alle zuruͤckzulaſſen. Wer eines oder das andere Vermoͤgen vorzuͤglich ausgebildet hat, beſitzet zugleich an der Jdee, die er von der Art zu han - deln in dieſem ſeinem Fache hat, ein Jdeal, das ihm in Hinſicht der uͤbrigen Vermoͤgen eine Richtſchnur iſt, wenn er auch dieſe zu kultiviren ſucht, und wornach er wirklich jedesmal zu handeln ſich beſtrebet, ſo oft die Gelegenheit und Umſtaͤnde ihn dazu bringen. Allein auch dieß bey Seite geſetzt: ſo enthaͤlt die vorzuͤgliche Staͤrke eines Vermoͤgens ſchon eine hoͤhere Anſtren - gung der ganzen Naturkraft in ſich, beſonders in denen Vermoͤgen, die mit der Meiſterfaͤhigkeit in naher Verbindung ſtehen, als ſonſten da ſeyn kann, wo kei - ne Kraft mit mehr als mittelmaͤßiger Jntenſion zu wirken gewohnt iſt. Dahero ſind auch die beſondern Genies, einige Faͤlle ausgenommen, die ſich aus dem Vorhergehenden begreifen laſſen, zwar nicht zu allen Ar - ten von Geiſtesgeſchaͤfften gleich aufgelegt, aber doch zu den meiſten uͤbrigen in einem groͤßern Maße, als es die kleinen allgemeinen Geiſter ſind, die zu allem et - was, aber zu keinem vorzuͤglich, geſchickt ſind. Einer vorzuͤglichen Faͤhigkeit zu Einer Art von Handlungen fehlet gemeiniglich nichts mehr, als die Richtung auf an - dere Gegenſtaͤnde, um ſich auch von einer andern Seite ſo vorzuͤglich zu zeigen. Der Menſch kann als Menſch von allen Seiten entwickelt werden, aber nur nach den Geſetzen eines endlichen Weſens, das, um vollkommener zu werden, theilweiſe es werden muß, und das eben ſo wenig alles auf einmal werden, als alles auf einmal ſeyn, kann.

R r 4V. Wie632XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

V. Wie die innere Groͤße der Menſchheit in ihren verſchiedenen Formen zu ſchaͤtzen ſey.

  • 1) Die abſolute phyſiſche Vollkommenheit des Menſchen. Jnnere Groͤße und Werth der Menſchheit in dem Menſchen.
  • 2) Wie ferne die koͤrperlichen Vollkommenhei - ten Beſtandtheile der geſammten menſchli - chen Vollkommenheit ſind.
  • 3) Die Vollkommenheit der menſchlichen Na - tur haͤngt von der Vollkommenheit der See - le ab.
  • 4) Der Werth der koͤrperlichen Kunſtfertig - keiten haͤngt von der Groͤße der Selbthaͤtig - keit ab, die in ihnen wirket.
  • 5) Die Groͤße in den Seelenkraͤften haͤngt von der Groͤße der innern Selbſtthaͤtigkeit ab.
  • 6) Der innere Werth des Genies und des Charakters haͤngt gleichfalls von der Selbſt - thaͤtigkeit der Seele ab. Von dem innern Werth der Tugend.
  • 7) Eine Folge hieraus, wenn Genies von ver - ſchiedener Gattung mit einander verglichen werden.
  • 8) Von dem Werth der Wahrheit im Ver - ſtande.
  • 9) Fortſetzung des Vorhergehenden.

1.

Jch komme zu einer Betrachtung, die, ſo kalt und ab - ſtrakt auch das Reſultat davon iſt, das ich hier und dazu auszugsweiſe vorlege, dennoch nur allzuſehr auf -gelegt633und Entwickelung des Menſchen. gelegt iſt, das Herz mit Empfindungen zu erfuͤllen. Wer kann, nach Popes ſtarker Erinnerung, die Sce - nen der Menſchheit durchwandern und bey dieſer er - ſtaunlichen Mannichfaltigkeit der Geſtalten und Formen, in welchen die menſchliche Natur in den wirklichen Men - ſchen geleitet, gelocket, getrieben oder gezwungen iſt, den Blick ſo feſthalten, daß die Ueberlegung nicht durch die allenthalben her ſich aufdringenden Empfindungen ir - re werde? Wenn man in dieſer großen Sphaͤre auf - ſuchen will, was hoch und niedrig, gerade und ſchief, Schein und Wahrheit, hochachtungswuͤrdig und ver - aͤchtlich, des Wuͤnſchens und Verwuͤnſchens werth iſt, und Menſchen mit Menſchen in dieſer Hinſicht vergleicht: ſo wird man ihre Unterſchiede groß oder klein, wichtig oder unwichtig finden, je nachdem der Standort niedri - ger oder hoͤher iſt, aus dem man ſie uͤberſiehet. An - fangs ſcheinet der Vorzug des Menſchen vor dem Men - ſchen unuͤberſehlich, ſo lange die Ausſicht noch ſehr ein - geſchraͤnkt iſt. Nehmen wir die Stellung hoͤher, ſo wird er geringer; und noch weiter hinauf, ſo iſt das ganze Geſchlecht ein Jnſektenhaufe, den man in der Ferne ſieht, wo die Vorzuͤge und Unterſchiede der Jndividuen verſchwinden. Es giebt endlich eine mittlere Stelle, wo dieſe Verhaͤltniſſe uns ſo vorkommen, wie ſie muͤſſen, wenn unſere Wuͤnſche und Beſtrebungen in dem Grade der Staͤrke und Thaͤtigkeit erhalten werden ſollen, die unſere Beſtimmung erfodert. Es iſt uͤber - fluͤßig zu erinnern, wie verſchieden der Maßſtab, die Wage und die Glaͤßer ſind, wornach hiebey geurthei - let werden kann. Welches ſind denn die richtigen? Denn mit ſolchen ſollte doch die uͤberlegende Vernunft verſehen ſeyn. Der kuͤhnen Einbildungskraft des Dich - ters, im Pope und im Antipope, mag man es erlauben, nach dem bloßen Gefuͤhl zu urtheilen. Koͤnnen wir den beſtimmten Maßſtab zu menſchlichen VollkommenheitenR r 5nicht634XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtnicht finden, ſo laͤßt ſich doch wohl einſehen, was noͤthig iſt um einen ſolchen zu haben. Und auch dieß giebt ſchon eine Anleitung zum vorſichtigen Vergleichen. Es wird hieruͤber nur etwas von dem Weſentlichſten der Sache beruͤhret werden.

Der wirkliche Menſch hat als ein wirkliches reelles Weſen einen abſoluten Jnbegriff von reellen Be - ſchaffenheiten, Kraͤften, Vermoͤgen, Faͤhigkeiten und Geſchicklichkeiten in ſich, die ſeine abſolute phyſi - ſche Realitaͤt ausmachen. Das, was man in der Sprache der Metaphyſik ein Etwas, oder etwas Re - elles etwas Poſitives nennt, wird ſonſten durch das Wort Vollkommenheit oder Gut ausgedrucket. Die Groͤße ſeiner abſoluten phyſiſchen Realitaͤt macht ſeinen innern abſoluten phyſiſchen Werth aus. Wenn alle Kraͤfte und Vermoͤgen der Seele und des Lei - bes aufgezaͤhlet, und die Groͤße von jeden beſtimmt wuͤrde, ſo halte man an dieſe Summe von Realitaͤten das Maß von dem abſoluten Werth des Menſchen.

Solch eine abſolute phyſiſche Realitaͤt kommt auch jedem Thier, jedem empfindungsloſen Koͤrper, jedem Elemente, jedem wirklichen Dinge, zu. Aber wenn das Weſen, was ſie beſitzet, ohne Gefuͤhl und Empfindung iſt, ſo iſt auch ſeine Realitaͤt nicht fuͤr ihn eine Realitaͤt, die naͤmlich von ihm ſelbſt genoſſen wuͤrde. Sie iſt eine bloß phyſiſche Realitaͤt in ihm und an ihm, und kann eine relative Vollkommenheit in Hinſicht auf andere Weſen ſeyn; aber in Hinſicht auf ſich ſelbſt iſt ſie nichts mehr als die Vollkommenheit des Metalls, das zu einer Repetiruhr zuſammengeſetzt iſt. Die ſich ſelbſt nicht fuͤhlende Kraft kann an ſich groͤßer oder kleiner ſeyn und werden; und in ſo weit iſt der Zuſtand, in dem ſie ſich befindet, in Hinſicht auf die innere Groͤße ihrer Na - tur nicht gleichguͤltig. Allein fuͤr ſich ſelbſt iſt es ihr gleichguͤltig, ob ſie groͤßer oder kleiner iſt, weil ſie keinJntereſſe635und Entwickelung des Menſchen. Jntereſſe dabey hat, wenn ſie erhoͤhet oder geſchwaͤcht wird.

Jn dem empfindenden Weſen, wie der Menſch iſt, werden die phyſiſchen Realitaͤten zu Gegenſtaͤnden des Gefuͤhls, und alſo zu Vollkommenheiten fuͤr das Weſen ſelbſt, zu Quellen ſeines Wohls und ſeines Wehs, und alſo Guͤter oder Uebel in einer beſtimmtern Bedeu - tung. Es iſt nicht zu zweifeln, daß nicht jede phyſiſche Realitaͤt, wie jedweder ihnen entgegengeſetzte Mangel, in dem fuͤhlenden Weſen, mittelbar oder unmittelbar dem Gefuͤhl vorkommen, und alſo angenehme oder un - angenehme Empfindungen veranlaſſen werde. Daher auch die phyſiſchen Beſchaffenheiten, von dieſer Seite be - trachtet, inſoferne ſie in das Wohl oder Weh, in die Gluͤckſeligkeit oder Ungluͤckſeligkeit, einen Einfluß haben, auch eine reſpective Groͤße und einen reſpectiven Werth, oder eigentlich, eine innere Nutzbarkeit er - halten, den man im Anfang von jenem abſoluten phyſi - ſchen Werthe unterſcheiden muß. Denn wenn gleich die Betrachtung uͤber den Menſchen zuletzt auf das Re - ſultat fuͤhrt, daß jede ſeiner phyſiſchen Realitaͤten in dem Grade genoſſen wird, der ihrer phyſiſchen Groͤße ent - ſpricht: ſo ſind doch der Umſtaͤnde zu viele, unter wel - chen eine phyſiſche Realitaͤt Schmerzen, und ein wah - rer Mangel Vergnuͤgen, wenigſtens auf eine Zeitlang, durch eine Blendung der Einbildungskraft hervorbrin - gen kann, daß man zuerſt jene fuͤr ſich und ihre Groͤße zu betrachten hat, ehe man auf ihre Genießbarkeit hin - ſiehet. Wenn das Mannichfaltige bey einer Sache ſo groß iſt wie hier, ſo werden die Begriffe leicht ſchwan - kend. Es iſt um Verwirrung zu verhuͤten noͤthig, im Anfang einen einzigen feſten Geſichtspunkt zu ſuchen, aus dem ſie ſich am einfachſten und leichteſten uͤberſehen laͤßt. Und hiezu dienen uns die angefuͤhrten Abſtrak - tionen. Hernach koͤnnen ſolche einſeitige Betrachtun -gen636XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtgen (denn mehr ſind ſie nicht, wenn ſie bloß auf abge - ſonderten Begriffen beruhen,) verglichen, verbunden und aus ihnen ein mehr vollſtaͤndiger Begriff von dem Gan - zen gemacht werden.

Der innere Werth der einzelnen Menſchen, und jeder menſchlichen Realitaͤt, iſt auch von dem aͤußern oder relativen Werth derſelben unterſchieden. Wie nuͤtzlich iſt eine phyſiſche Realitaͤt im Menſchen fuͤr an - dere Weſen, und beſonders fuͤr andere Menſchen, mit denen er in Verbindung ſtehet? Wie weit befoͤrdert ſie anderer phyſiſche Vollkommenheiten, oder anderer Wohl? wie weit unmittelbar oder mittelbar, wie weit nothwendig oder zufaͤllig? Das Verdienſt um die Men - ſchen und um die Welt hat ein anderes Maß, als die innere Vollkommenheit des Menſchen. Von dieſem relativen Werth kann hier die Rede noch nicht ſeyn. Ueber jene abſolute Groͤße der Menſchheit aber will ich einige Anmerkungen hinzuſetzen.

2.

Die phyſiſchen Realitaͤten des Koͤrpers, Geſund - heit, Staͤrke und Geſchmeidigkeit, und andere, gehoͤ - ren zu den menſchlichen Realitaͤten, da ſie, theils unent - behrlich, theils reiche Quellen von angenehmen Gefuͤhlen ſind. Sie haben alſo auch ihren innern reſpektiven Werth fuͤr jedes einzelne Jndividuum, das ſie beſitzet. Ueberdieß ſind die erworbenen koͤrperlichen Geſchicklich - keiten im Laufen, Springen, Reiten, Schwimmen und ſo weiter, von vermiſchter Art, nicht bloß Fertig - keiten im Koͤrper, ſondern auch Realitaͤten der Seele, Fertigkeiten und Staͤrke in ihrer vorſtellenden und han - delnden Kraft. Aber wenn auch dieſes letztere bey Seite geſetzt wird, ſo muß man doch, aus dem ſchon angefuͤhr - ten Grunde, auch die bloß koͤrperlichen Vollkommenhei - ten in Anſchlag bringen, wenn die innere Groͤße desMen -637und Entwickelung des Menſchen. Menſchen geſchaͤtzet werden ſoll. Sie ſind als Be - ſtandtheile ſeiner phyſiſchen Realitaͤt anzuſehen. Sie ſind Werkzeuge und Mittel, die Kraͤfte der Seele in Thaͤtigkeit zu ſetzen und ihre Vergroͤßerung zu befoͤr - dern. Sie haben einen reſpektiven Werth wegen ihres Einfluſſes auf die Empfindungen. Und uͤberdieß iſt der Koͤrper ſelbſt ein Beſtandtheil des Menſchen. Auch der gemeine Verſtand ſchaͤtzet ſie fuͤr ſich betrachtet. Koͤr - perliche Staͤrke und Groͤße erreget Achtung fuͤr den der ſie beſitzet, und der Verluſt der Gliedmaßen wird fuͤr eine Verſtuͤmmelung des Menſchen angeſehen, wie auch der Kaſtrate nach den gemeinen Begriffen kein voͤlliger Menſch mehr iſt.

Soll alſo Menſch mit Menſch, und die Groͤße der Menſchheit in einem Subjekt mit der Groͤße der Menſchheit in dem andern, verglichen werden: ſo wird das Urtheil zwar falſch ſeyn, wenn man, wie ein Skla - venhaͤndler oder wie Soldatenwerber, nur Koͤrper ge - gen Koͤrper haͤlt. Aber es wird gleichfalls auf der an - dern Seite einſeitig ſeyn, wenn nur allein auf Seelen - kraͤfte gerechnet wird. Sollten die koͤrperlichen Vorzuͤ - ge, welche die Wilden gemeiniglich vor den Polizirten voraus haben, fuͤr nichts gelten, wenn man ſie mit die - ſen zur Vergleichung bringet. Das waͤre ſogar gegen das Gefuͤhl der vernuͤnftigen Reiſenden. Man moͤchte ſich jener ihre koͤrperliche Staͤrke und Geſchwindigkeit wuͤnſchen, wenn ſie nur ohne Nachtheil anderer Voll - kommenheiten zu erlangen waͤre.

Da iſt alſo der Grundſatz, bey dem man in der Anthropometrie anfangen muß. Es giebt Realitaͤ - ten in der Seele, es giebt Realitaͤten am Koͤr - per; die Summe von beiden zuſammen macht die ganze Groͤße der Menſchheit aus. Aber dieſe beiden Arten von Perfektionen ſind ſo verſchiedener Na - tur, als es die Seele und der Koͤrper ſelbſt ſind. Dar -um638XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtum iſt es unmoͤglich zu beiden eine gemeinſchaftliche Ein - heit zu finden, ſo lange man ſie fuͤr ſich betrachtet. Des - wegen laͤßt ſich auch die ganze Menſchheit in Einem gegen die ganze Menſchheit in dem andern niemals rich - tig ſchaͤtzen, wenn nicht etwan die Groͤße der angeneh - men und unangenehmen Empfindungen, die mit ihrem Beſitz oder mit ihrem Mangel verbunden ſind, zum gemeinſchaftlichen Maß zu gebrauchen iſt. Jndeſſen iſt es doch noͤthig, ſich hieruͤber beſtimmtere Begriffe zu machen. Denn wenn es freylich auf einer Seite ein Fehler iſt die koͤrperlichen Vollkommenheiten zu ſehr her - unterzuſetzen, ſo wuͤrde es doch auch auf der andern Sei - te eine Erniedrigung der Menſchheit ſeyn, ſie in Ver - gleichung mit den Seelenvollkommenheiten zu ſehr zu er - heben. Die Betrachtung des Menſchen von ſeinen bei - den Seiten kann uns doch nahe an der Mitte halten, wo die wahre Grenze zwiſchen dem Zuviel und Zuwenig iſt.

Die Organiſation der Materie im Koͤrper, die Ue - bereinſtimmung aller Theile zum Ganzen, die Wunder in den Werkzeugen der Sinne; der Mechanismus, die Groͤße, die Veſtigkeit, die Beugſamkeit in den Werk - zeugen der Bewegung; dieß ganze Meiſterſtuͤck der Schoͤpfung mag, fuͤr ſich allein betrachtet, einen unend - lich großen Jnbegriff von phyſiſchen Realitaͤten ausma - chen: ſo kann doch das Mehr oder Weniger hierinnen dasjenige nicht ſeyn, wodurch der Menſch mehr oder weniger ein Menſch wird. Dadurch wird nicht einmal das Thier mehr oder weniger ein Thier. Die Voll - kommenheit der Maſchine iſt nur eine Vollkommenheit in Hinſicht auf ihren Gebrauch und auf den Zweck, wo - zu ſie gebraucht werden kann. Wenn das Auge bey einer geringern Groͤße und bey einer einfachern Struktur uns eben die Dienſte leiſten koͤnnte, die es leiſtet, ſo wuͤrden wir in der unendlichen Mannichfaltigkeit und Feinheit ſeiner Theile ehe eine unnuͤtze Kuͤnſteley an -treffen,639und Entwickelung des Menſchen. treffen, als eine wahre Vollkommenheit. So verhaͤlt ſichs mit allen uͤbrigen Beſchaffenheiten des Koͤrpers. Seine phyſiſche Realitaͤt beſtehet in der Verbindung der Theile und in ihrer Uebereinſtimmung zu der Einheit des Thiers, als welches ſein Endzweck iſt. Sie iſt de - ſto groͤßer, je mehrere und mannichfaltigere Abſichten dadurch erreicht werden koͤnnen.

Die Vollkommenheiten des Koͤrpers koͤnnen alſo in keiner andern Hinſicht fuͤr menſchliche Vollkommenheiten geachtet werden, als in ihrer Beziehung auf die empfin - dende Seele. Dadurch werden ſie Beſtandtheile des empfindenden Thieres. Sie ſind theils Mittel und Ur - ſachen der Luſt oder Unluſt, theils Mittel und Werkzeu - ge, wodurch die Seelenvermoͤgen ſich aͤußern und ent - wickelt werden. Aus dieſer Beziehung muß ihr Werth beſtimmet werden.

Es iſt dieß eine zweyfache Beziehung, welche die Realitaͤt der Organiſation auf die Realitaͤt des Thieres hat. Erſtlich iſt jene eine Quelle von Empfindungen, ſie iſt genießbar fuͤr die Seele; dann aber auch zweytens brauchbar fuͤr ſie, zur Vermehrung ihrer abſoluten Rea - litaͤten. Sehen wir allein auf das erſte, und nennen bloß davon das, was eine phyſiſche Realitaͤt iſt, eine Vollkommenheit: ſo muͤſſen mit dieſer Benennung eben ſo wohl die koͤrperlichen Realitaͤten in der Organiſation, als ſelbſt die Realitaͤten der Seele, belegt werden. Das Wohlſeyn des Koͤrpers wird unmittelbar genoſſen, be - ſonders wenn von dem Wohlſeyn der innern Organe der Seele, die doch auch zu dem Koͤrper gehoͤren, die Rede iſt. Und geſetzt auch, woruͤber hier nichts entſchieden werden darf, es ſey allemal der Zuſtand der Seele, was zunaͤchſt und mittelbar gefuͤhlet wird: ſo haͤngt doch die - ſer ſo unmittelbar von dem Zuſtande der innern Organe ab, daß es auf Eins hinaus laufen wuͤrde, ob man das Koͤrperliche fuͤr ein Mittel zu genießbaren Modifikatio -nen,640XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtnen, oder fuͤr ſolche ſelbſt, halten wollte. Man koͤnnte ſagen, auch die Seelenkraͤfte, die nur in ihren Wir - kungen empfunden werden, waͤren auch nur mittelbar zu genießen, in demſelbigen Sinn, wie die gute Beſchaf - fenheit der innern Organe. Warum ſollte denn dieſe mehr eine bloß relative Vollkommenheit heißen, als je - ne? Wenn man bloß aus dieſem Geſichtspunkt die Sa - che anſieht, ſo iſt kein Grund dazu vorhanden. Sie ſind beide genießbar. Den Graden nach moͤchten denn die koͤrperlichen nur immer unter den unkoͤrperlichen ſtehen.

Sieht man hingegen auf die zwote Beziehung, ſo koͤnnen wir die Realitaͤten des Koͤrpers fuͤr nichts anders anſehen, als fuͤr ſo etwas, das bloß einen aͤußern Werth hat, und nur allein in Relation auf die Seele eine Vollkommenheit iſt. Wir ſetzen es in der Jdee vom Thiere ſchon voraus, daß die Seele der Mittelpunkt deſſelben ſey, auf den ſich das Uebrige des Ganzen beziehe. Das Reelle, das bloß phyſiſch Reelle, ohne Ruͤckſicht auf die Genießbarkeit, die phyſiſche Staͤrke und Men - ge der Kraͤfte und Vermoͤgen in der Seele, wird als die abſolute Realitaͤt oder Vollkommenheit in dem Thier betrachtet. Daher iſt die Organiſation nur gut oder ſchlecht, vollſtaͤndig oder mangelhaft, beſitzet Realitaͤt oder Negation, Vollkommenheit oder Unvollkommen - heit, je nachdem ſie Urſache und Mittel iſt, die See - lenkraͤfte zu entwickeln und das innere phyſiſche Reelle in unſerm Jch zu vergroͤßern, oder das Gegentheil zu veranlaſſen. Nur ſo weit iſt das zum ſcharfen Sehen eingerichtete Auge etwas Gutes fuͤr das Thier, inſofern es mit dem Sinn in der Seele uͤbereinſtimmet, und den Seelenvermoͤgen zu wirken angemeſſen iſt; nur ſo weit, ſind Arme und Haͤnde, ohne Ruͤckſicht auf die Gefuͤhle von ihnen und durch ſie, Realitaͤten im Menſchen, als ſie Werkzeuge ſind, wodurch die wollende und handeln - de Kraft hervorgehen und ſich auf eine gewiſſe Art, nacheiner641und Entwickelung des Menſchen. einer beſtimmten Seite hin, entwickeln kann, was ohne dieſe Werkzeuge nicht moͤglich waͤre.

Wenn die Einrichtungen der Organiſation nicht dazu dienen, daß die durch ſie und in ihnen wirkende Seele ein wirkſameres und ſo zu ſagen groͤßeres Weſen iſt, als ohne ſie: ſo moͤgen ſie noch genießbar ſeyn, wie die aͤuſ - ſern Gegenſtaͤnde, und in ſo weit Guͤter und Vollkom - menheiten fuͤr das empfindende Weſen; allein phyſiſche abſolute Realitaͤten des Thiers ſind ſie nicht. Wenn der Menſch mit Fluͤgeln und Federn verſehen waͤre und mit dem Vermoͤgen ohne Reſpiration zu leben, wie das Kind vor der Geburt und der Fiſch unterm Waſſer: ſo moͤchte dieß eine Vollkommenheit in der menſchli - chen Organiſation mehr geweſen ſeyn, die uns zu Erd - und Waſſer-und Luftthieren zugleich gemacht haͤtte. Allein es iſt eine andere Frage, ob es einen Zuwachs an Menſchheit ausgemacht haben wuͤrde? Gewiß nicht, wenn die Seele keine Vermoͤgen hat, die ſich zu dieſer Maſchine gepaßt haͤtten, wodurch ſie ſolche zu ihrer Er - haltung, oder zu ihrer Vervollkommnung, haͤtte gebrau - chen koͤnnen. Das Menſchengeſchoͤpf moͤchte viel - leicht vollkommener dadurch ſeyn, aber der Menſch nicht, nicht einmal das Thier.

Jch ſage das Geſchoͤpf, welches Menſch iſt, moͤch - te ein vollkommneres Ding ſeyn, wenn es auch fliegen und im Waſſer leben koͤnnte. Man kann auf den Ge - danken kommen, daß es an einem thieriſchen Koͤrper Theile und Einrichtungen gebe, die nicht zum Gebrauch des Thieres ſelbſt gemacht ſind, wenigſtens nicht haupt - ſaͤchlich dazu, ſondern vielmehr fuͤr andere Weſen, fuͤr Mitgeſchoͤpfe. Jedes Thier beſitzet Theile, die nicht ſowohl fuͤr das Jndividuum als vornehmlich fuͤr das ganze Geſchlecht ſind. Die wir davon kennen, gerei - chen freilich auch alle zugleich zur Vollkommenheit, oder zum Wohl der Einzelnen ſelbſt. Aber es kann dochII Theil. S sſolche642XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtſolche geben, die fuͤr die Jndividuen, ſo wohl in Hin - ſicht ihrer Vervollkommnung als ihres Wohls, gleich - guͤltig ſind, und nur ihre Beziehung auf die Gattung haben. Wer weiß, ob nicht viele ſich gar nur auf ent - ferntere Gattungen von Weſen beziehen? Die unend - liche Verkettung der Mittel und Zwecke in der Schoͤp - fung laͤßt dieß ſehr vermuthen. Jeder Theil des Gan - zen iſt Mittel und Zweck zugleich; und beides in Hin - ſicht aller uͤbrigen Dinge, bey denen ein Zweck ſtattfin - den kann. Solche Realitaͤten oder Vollkommenheiten in dem organiſirten Koͤrper wuͤrden doch zu der Thier - heit nicht gehoͤren, ob ſie gleich noch immer als Voll - kommenheiten in dem Dinge, was Thier iſt, betrachtet werden koͤnnen.

3.

Bey dem, was Seelenvollkommenheit bey dem Menſchen iſt, kann und muß doch wiederum dasjenige, was der unkoͤrperlichen Seele fuͤr ſich zukommt, von demjenigen, was ihr in ihrer Vereinigung mit dem menſchlichen Koͤrper gehoͤrt, inſoferne ſie ein durch die - ſen und in dieſem fuͤhlendes und thaͤtiges Weſen iſt, un - terſchieden werden. Man muß ſolche allgemeine Be - trachtungen von allen Seiten faſſen, ſo viel man kann. Wenn z. B. ein hoͤherer Geiſt in ein menſchliches Ge - hirn geſetzt wuͤrde, das fuͤr ihn ein unſchickliches Denk - gefaͤß ſeyn muͤßte, ſo moͤchte er als Seele eines menſch - lichen Koͤrpers vielleicht eine ſchlechte Figur machen. Bey ſeiner groͤßern innern Vollkommenheit koͤnnte ein ſolches Weſen ein ſchwacher Menſch ſeyn. Laͤßt ſich doch von einigen Menſchen mit Grund in einem gewiſſen Verſtande ſagen, daß ſie zu viel Geiſt ſind, um recht gute Menſchen zu ſeyn. Die Menſchheit, als Menſch - heit, iſt doch nur deſto groͤßer und vollkommener, je groͤſ -ſer643und Entwickelung des Menſchen. ſer die Realitaͤt der Seele iſt, die ſich in ihrer Verbin - dung mit dem menſchlichen Koͤrper aͤußern kann.

Dieß haͤngt nur zwar wiederum zum Theil von der Organiſation ab. Aber da doch dieſer fuͤr ſich allein keine abſolute Vollkommenheit zugeſchrieben werden kann, ſondern ſie nur gut iſt wie ein Jnſtrument, in Ruͤckſicht auf das Weſen, dem ſie brauchbar ſeyn ſoll: ſo kom - men wir wiederum zu dem Grundſatz, daß endlich alle innere abſolute Realitaͤt der menſchlichen Natur in der unkoͤrperlichen Einheit, in der Seele, in der Groͤße und Staͤrke ihrer Kraͤfte und Vermoͤgen, die ſich durch den Koͤrper aͤußern koͤnnen, zu ſuchen ſey. Je mehr und je groͤßere entwickelte Gefuͤhlsvermoͤgen dieſe beſitzet; je groͤßer, lebhafter und vielſeitiger ihre Vorſtellungskraft und ihre Reflexion iſt; je groͤßer und mannichfaltiger ih - re aͤußere Thaͤtigkeit, und je groͤßer ihre Selbſtmacht uͤber ſich: deſto reeller, deſto vollkommener fuͤr ſich, iſt die Menſchheit in dem Menſchen.

Jn der Seele als in einer einfachen Subſtanz ſind ihre wirklichen Kraͤfte, und deren Grade und Stufen, et - was Abſolutes und Reeles. Sind nun dieſe Grade veraͤnderlich, ſo laͤßt ſich in ihr eine Vermehrung oder Vergroͤßerung dieſes Poſitiven und Reelen den - ken, das alsdenn in einer Vergroͤßerung ihrer Sub - ſtanz beſtehet.

Dem Zuſammengeſetzten kann fuͤr ſich, als einem ſolchen, keine abſolute Vollkommenheit oder nur Reali - taͤt zukommen. Denn es iſt nichts Abſolutes fuͤr ſich. Sehen wir auf Maſchinen und auf die ganze Koͤrper - welt, ſo kann dieſen, wenn wir von der Brauchbarkeit fuͤr empfindende Weſen abſtrahiren, keine Realitaͤt, auch keine phyſiſche, beygelegt werden, die nicht in den einfa - chen Subſtanzen ſey, aus denen das Zuſammengeſetzte beſtehet. Sind dieſe von einer unveraͤnderlichen Groͤße, ſo iſt es gleichviel in Hinſicht ihrer, ob ſie in OrdnungS s 2verbun -644XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtverbunden ſind, oder verwirrt und zerſtreuet liegen. Jſt dieß nicht ſo gleichguͤltig in Hinſicht ihrer, ſo muß die eine Art der Verbindung mehr zur Vergroͤßerung der innern Staͤrke der Grundkraͤfte in den Subſtanzen beytragen, als die andere. Alsdenn muͤſſen aber die Grundkraͤfte ſelbſt veraͤnderlich an innern Groͤßen ſeyn. Es iſt offenbar, wenn eine Maſchine mit einer andern, und eine Organiſation mit einer andern, verglichen und dabey keine Ruͤckſicht auf ein anderes Weſen genommen wird, das von ihr unterſchieden und in ſo weit außer ihr iſt, ſo koͤnne der einen vor der andern kein Vorzug an innern Realitaͤten zugeſchrieben werden, als in dieſen zweyen Hinſichten. Die eine iſt groͤßer an Materie, an der Menge von Subſtanzen und von poſitiven Kraͤften und Vermoͤgen; die andere enthaͤlt weniger. Die eine befoͤrdert, durch die Ordnung und Harmonie in der Lage der Subſtanzen, die Erhoͤhung ihrer veraͤnder - lichen Groͤßen an ſubſtanziellen Kraͤften und abſoluten Beſchaffenheiten; die andere dagegen nicht. Sind die Groͤßen in den einfachen Weſen unveraͤnderlich, ſo faͤllt die letztere Verſchiedenheit weg.

Ob und wie ferne der Koͤrperwelt ohne Ruͤckſicht auf empfindende Weſen eine Vollkommenheit oder Realitaͤt zugeſchrieben werden koͤnne? ob ſich dieſe fuͤr ſich als ein Zweck des Schoͤpfers vorſtellen laſſe? ſind Fragen, worauf ich mich hier nicht einlaſſen kann, deren Beant - wortung indeſſen jene allgemeine Betrachtung vorausſe - tzet. Jch fuͤrchte, die mehreſten, die hieruͤber entſchie - den, haben die analogiſche Vorſtellungsart von der Ver - bindung der Zwecke und der Mittel in dem goͤttlichen Verſtande, die wir aus der unſrigen nehmen, etwas zu weit getrieben. Jch will lieber eine Anwendung des Obigen auf die Beurtheilung der menſchlichen Natur machen.

Die645und Entwickelung des Menſchen.

Die Organiſation des Menſchen wird ausgebildet und vervollkommnet mit ſeiner Seele. Was kann ihr aber widerfahren, als daß ſie mehrere Beſtandtheile be - kommt, und eine andere Lage und Ordnung der Theile. Beides kann nicht anders, als nur ſo ferne es ein Mit - tel zur Vervollkommnung der Seele iſt, fuͤr eine Ver - vollkommnung der menſchlichen Natur gehalten werden. Wenn man nicht etwan dieſe fuͤr reeller darum halten wollte, weil ſie an Maſſe zunimmt; in welchem Fall die Vergroͤßerung der Realitaͤt, die aus dem Wachſen der groͤbern Theile des Koͤrpers entſpringt, mehr auf ſich haben wuͤrde, als die Entwickelung der feinen Gefaͤße im Gehirn. Sollte die Seele nicht einer innern Ver - mehrung ihrer abſoluten Kraͤfte und Vermoͤgen faͤhig ſeyn, in welchem Fall man in den Beſtandtheilen des Gehirns dergleichen noch weniger ſuchen wuͤrde: ſo koͤnn - te nirgends eine wahre Vergroͤßerung an abſoluten Rea - litaͤten ſtattfinden. Was wuͤrde denn die Vervollkomm - nung ſeyn? Nichts als eine ſolche Einrichtung der Organiſation, vielleicht auch der innern Seelenkraͤfte, die mehr angenehme Empfindungen hervorbraͤchte. Auſ - ſer dieſer geſchieht nichts, als etwan dieß, daß mehr wirkſame Materie in dem Gehirn, oder in dem Ganzen, was man den Menſchen nennet, aufgehaͤufet wird.

Nach dem pſychologiſchen Syſtem des Hrn. Bon - nets, des Hrn. Storchs und anderer, wo die Seele eine zwar unkoͤrperliche, aber bloß empfindende und das Gehirn belebende, Kraft iſt, kann keine andere Vor - ſtellung von der Vervollkommnung der menſchlichen Na - tur gemacht werden, als die zuletzt angefuͤhrte. Die Vergroͤßerung der Realitaͤten iſt bloß eine Vergroͤße - rung |an Kraͤften in der Organiſation. Die Seele iſt an ihrer Urkraft, und an Graden der Selbſtthaͤtigkeit unveraͤnderlich. Wie ſollten es die einfachen Weſen nicht ſeyn, die das innere Organ ausmachen? KannS s 3alſo646XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtalſo die Kraft der Natur erhoͤhet werden, ſo iſt dieß nur durch eine Vermehrung wirkſamer Weſen moͤglich, die ſich mit den anfaͤnglichen Beſtandtheilen des Organs verbinden, und nun das ganze Seelenweſen zu einem groͤßern Jnbegriff wirkſamer Weſen machen. Dieß wuͤrde die Erhoͤhung unſerer Selbſtthaͤtigkeit, des Ver - ſtandes, der Empfindſamkeit und ſo ferner, ausmachen. Wenn dieſe Philoſophen nun zugleich dieß ihr Seelen - weſen zu einem unaufloͤslichen Ganzen machen, das ſo wenig jemals wirklich aufgeloͤſet wird, als die einfache Subſtanz es werden kann, ſo fließen aus ihrer Hypo - theſe in Hinſicht der Zukunft dieſelbigen Folgen, wie aus einer andern. Alsdenn beſteht der ganze Unter - ſchied zwiſchen ihrer Jdee von der Vervollkommnung der menſchlichen Natur, und derjenigen, die ich hier feſtzuſetzen geſucht habe, darinn, daß ſie das zu perfici - rende Weſen, worinnen zuletzt die Vergroͤßerung des Reellen, der Kraͤfte und Vermoͤgen geſetzet wird, als etwas Zuſammengeſetztes ſich vorſtellen, und die Stufen - erhoͤhung der Vermoͤgen als eine innere Vermehrung an Materie oder an Theilen, die außer einander und fuͤr ſich beſtehbare Weſen ſind, erklaͤren; dagegen bey der andern Vorausſetzung ſolche eine Vergroͤßerung einer unkoͤrperlichen Groͤße in der Subſtanz der Seele ſelbſt iſt. Jm uͤbrigen koͤnnen ſie eben ſo von der Vollkom - menheit der menſchlichen Natur in ihrem Jnnern reden, und die Vervollkommnung der Seele (des beſeelten Or - gans) von den Vollkommenheiten im Koͤrper unterſchei - den, und dieſe auf jene eben ſo beziehen, als nach der gewoͤhnlichen Jdee von der Seele.

4.

Jener Taͤnzer, der von ſich geſagt haben ſoll, die Welt habe nur Einen Alexander und nur Einen Veſtris, dachte etwas zu hoch von der Wichtigkeit ſeiner Kunſt. Der647und Entwickelung des Menſchen. Der große Schwimmer auf Otaheite, den die Englaͤn - der bewunderten, haͤtte wohl ſo etwas aͤhnliches von ſich denken koͤnnen. Gleichwohl iſt doch auch eine außeror - dentliche Schaͤtzung außerordentlicher Geſchicklichkeiten nicht unbeſtimmt zu tadeln, wenn es gleich nur koͤrper - liche Geſchicklichkeiten find, und zunaͤchſt und faſt allein nur zum Vergnuͤgen dienen. Unter beſondern Umſtaͤn - den mag es richtige Empfindung ſeyn, wenn man die Summen bedauert, die Saͤngern und Taͤnzern gegeben werden. Aber iſt es deßwegen ſo unangemeſſen, wenn ein Regent oder die Nation die Geſchicklichkeiten ſeiner Veſtris, ſeiner Gabrielis, wie ſeiner Garriks, hoch ſchaͤ - tzet, und hoch bezahlet? Und iſt es wohl allein die Seltenheit ſolcher Kuͤnſte, die den innern Werth davon, wenn gleich den Preis, machet? Es verhalte ſich in Hin - ſicht des letztern, wie es wolle, ſo muß man immer ge - ſtehen, auch in den koͤrperlichen Fertigkeiten, liege ein innerer Vorzug an geiſtiger Vollkommenheit, die einen innern vorzuͤglichen Werth hat. Dieſer ſchaͤtzet das na - tuͤrliche Gefuͤhl. Die Fertigkeiten durch den Koͤrper zu wirken ſind zum Theil Fertigkeiten in der Seele, im Gefuͤhl, in der Einbildungskraft, auch in dem Verſtan - de, inſoferne große Gegenwart des Geiſtes dazu erfo - dert wird. Dieß iſt ſo gar von denen wahr, die man ſonſten zu den ſchoͤnen Kuͤnſten nicht rechnet, weil man ſie mehr fuͤr koͤrperlich haͤlt. Es iſt eine Regel ohne Ausnahme: daß ohne Genie niemand ein Virtuoſe wird, es ſey worinn es wolle. Das Mittelmaͤßige erfodert im Spielen, Tanzen, Fechten, Schwimmen, Springen, Malen u. ſ. w. eben keinen großen Kopf; aber hervorragende Fertigkeit iſt nicht moͤglich, wo es am lebhaften Gefuͤhl und an feuriger Jmagination feh - let. Es ſollen lange Reihen von Jdeen ſchnell uͤberſe - hen, lange Reihen kleiner, aber unzaͤhlig mannichfalti - ger, organiſcher Bewegungen in angemeſſener StaͤrkeS s 4und648XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtund Richtung erhalten werden, willkuͤrlich, durch die Kraft der Seele, die zu ſolchen Wirkungen gewiß nicht geſchickt ſeyn kann ohne beſondere innere Staͤrke und Selbſtmacht uͤber ſich, um ſich in ſich ſelbſt zu faſſen und außer ſich in dem Koͤrper uͤberall gegenwaͤrtig zu ſeyn. Jn dieſer innern Groͤße an Seelenvermoͤgen be - ſteht die innere Realitaͤt der Kuͤnſte. Einige ſind frey - lich mehr koͤrperlich, mehr bloß organiſch, die aber den - noch, wie erinnert worden, Seelenfertigkeiten erfodern. Aber in andern, die als Kuͤnſte und ſchoͤne Kuͤnſte von den mechaniſchen unterſchieden werden, iſt die große Feinheit und Deutlichkeit der Jdeen ein wichtiger weſentlicher Beſtandtheil. Die Fertigkeit des Seiltaͤn - zers und des Schwimmers enthaͤlt beides, eine organi - ſche Aſſociation von koͤrperlichen Bewegungen und Jdeen - reihen. Nur ſind die letztern weder ſo lebhaft, noch ſo auseinandergeſetzt, als diejenigen, die der Virtuoſe in der Muſik gegenwaͤrtig haben und behalten muß. Dar - aus folget auch, daß wenn eine Rangordnung in den Kuͤnſten gemacht werden ſollte, die ihrem innern Ver - haͤltniſſe entſpraͤche, ſo muͤßte auf die Groͤße des gei - ſtigen Antheils in ihnen geſehen werden. Je mehr der Geſchmack aufgeklaͤrt iſt, deſto mehr richtet ſich auch das Vergnuͤgen, das man aus ihnen hat, nach eben dieſer Groͤße der Seelenthaͤtigkeit in ihnen. Und dann wird auch das Urtheil von ihrem Werth dieſem ange - meſſener. Es ſollte es wenigſtens ſeyn, wenn nicht auf andere Umſtaͤnde geſehen werden muß. Die Seltenheit es zu haben, erhoͤhet den Werth des an ſich mindern Vergnuͤgens. Und bey den mechaniſchen Kuͤnſten giebt ihre Nothwendigkeit ihnen einen Werth, der ſie, im Ganzen betrachtet, weit wichtiger macht als die ſchoͤnen.

5. Aber649und Entwickelung des Menſchen.

5.

Aber wenn es nun Seelenvermoͤgen ſind, die man mit einander vergleichen will: wo iſt denn das Maß, die Grade der Vollkommenheit zu beſtimmen, die in ih - nen liegt? Wonach kann die Groͤße der Seelennatur, wel - che in einer Form enthalten iſt, mit der in einer andern verglichen werden? Wir haben zwar eine allgemeine Regel, daß die Vollkommenheit der Seele deſto groͤßer ſey, je groͤßer die Summe der Realitaͤten iſt, welche herauskommt, wenn man die Kraͤfte und Vermoͤgen, jede einzelnen nach ihrer intenſiven, extenſiven und pro - tenſiven Groͤße geſchaͤtzet, zuſammennimmt. Was nutzet aber eine ſolche unbeſtimmte Regel, wenn ver - ſchiedenartige Kraͤfte, die Empfindſamkeit, die Vor - ſtellungskraft, die Denkkraft und die Wirkſamkeit in ſich und außer ſich, eine im Verhaͤltniß zu der andern, zu wuͤrdigen ſind? Wo iſt z. E. mehr Seelengroͤße, in dem Dichtungsvermoͤgen, in dem Gedaͤchtniß, oder in der Ueberlegungskraft? Wenn alle dieſe Kraͤfte zu - gleich in einem Jndividuum groͤßer ſind als in einem an - dern, ſo iſt auch ohne Zweifel in jenem eine groͤßere Menſchheit; aber wie ſoll die Ausgleichung gemacht werden, wenn einer an dieſer, ein anderer an einer an - dern, Seite Vorzuͤge hat? Wie wenn Vorzuͤge an Ver - ſtandeskraft mit Vorzuͤgen am Herzen zu vergleichen ſind? Welches iſt alsdenn mehr oder weniger ſchaͤtz - bar? nach welchem Maßſtab, und aus welchem Grunde? Bis zu einer genauen Vergleichung wird es hierinn nie - mals kommen. Aber dennoch iſt es fuͤr unſere prakti - ſchen Urtheile wichtig, daß man den Grund aufſuche, wornach auch das gemeine Gefuͤhl in ſolchen Faͤllen zu ſchaͤtzen pfleget. Jſt die Tugend und Rechtſchaffenheit nicht eine ſchaͤtzbarere Eigenſchaft, als Witz? Jſt der geſunde Verſtand nicht mehr werth, als ein ſchoͤner Ver - ſtand? Sollte dieß Urtheil des gemeinen Gefuͤhls undS s 5der650XIV. Verſ. Ueber die Perfektibiliaͤtder Moral wohl unrichtig ſeyn? Und wenn es es nicht iſt, worauf beruhet es?

Die groͤßere Modifikabilitaͤt und groͤßere Selbſt - thaͤtigkeit der Seele iſt das Unterſcheidungsmerkmal der Menſchheit. Jene beſtehet in dem Vermoͤgen Veraͤnderungen anzunehmen. Je leichter, je mehrere, je mannichfaltigere, je feſter die Seele ſolche in ſich auf - nehmen kann, deſto groͤßer iſt extenſive und intenſive ihre Receptivitaͤt, die hier Empfindſamkeit heißen mag. Setzen wir dieſe, als ein Vermoͤgen zu beiden, der Selbſtthaͤtigkeit, als einem Vermoͤgen zu wirken, entgegen: ſo ſind ſie ſo heterogener Natur, daß keine Ver - gleichung zwiſchen ihnen ſtattfindet. Allein in| diefer Abſtraktion kann auch jene nicht einmal fuͤr etwas Poſi - tives oder fuͤr eine Realitaͤt gehalten werden, woferne nicht darauf geſehen wird, daß ſie eine Folge von poſi - tiven und reellen Beſchaffenheiten iſt. Die Vermoͤgen ſich modiſiciren zu laſſen ſind ſo, wie ſie bey der Seele ſind, mitwirkende Vermoͤgen und gruͤnden ſich in den thaͤtigen. Sie gehoͤren alſo zu der Selbſtthaͤtigkeit der Seele. Wenn man ſie alſo nur nicht bloß in ihrer formellen Abſtraktion nimmt, ſondern beide ſo nimmt, wie ſie in concreto in der Seele ſind, ſo laſſen ſie ſich unter einen gemeinſchaftlichen Begriff von Graden und Stufen in dem reellen ſelbſtthaͤtigen Princip brin - gen. Und alsdenn kommt man zu einem allgemeinen fruchtbaren Grundſatz, der aus der Natur des Men - ſchen fließet: Je groͤßer die Selbſtthaͤtigkeit der Seele iſt, in deſto groͤßerm Maße iſt das Eigene der Menſch - heit vorhanden. Von allen Vorſchriften der Mo - ral, die ſich auf die Tugend beziehen, iſt dieß am Ende der Geiſt und die Hauptſumme: Menſch erhoͤhe deine innere Selbſtthaͤtigkeit.

Jn dem heftigſten Affekt iſt ohne Zweifel, ſowohl in den Bewegungen der Seele als in den Bewegun -gen651und Entwickelung des Menſchen. gen des Koͤrpers, ein hoͤherer Grad der Thaͤtigkeit und der Bewegung, als bey ſolchen Handlungen, die aus ruhiger Ueberlegung vollzogen werden. Wenn der Loͤwe in Wut iſt, und in Wut zerreißet, ſo wirket eine groͤßere Kraft, als wenn ein Menſch mit voller Ge - genwart des Geiſtes von ſeinen Armen und Beinen Ge - brauch machet. Die Groͤße der Thaͤtigkeit iſt fuͤr ſich nicht das Maß der Selbſtthaͤtigkeit in der Rede. *)Eilfter Verſuch III. 3.Jn dem Affekt iſt die Bewegung in den Vorſtellungen heftig, aber ſie kommt mehr aus dem Gehirn als aus der Selbſtbeſtimmung der Seele, die hier mehr leidet als thut. Und die Staͤrke des Koͤrpers iſt keine innere Staͤrke der Seele. Man koͤnnte auch hier noch einmal, wie oben, den Menſchen von drey verſchiedenen Seiten betrachten, naͤmlich als Menſchengeſchoͤpf, als Thier und als Menſch. Jn der Groͤße des Menſchengeſchoͤpfs koͤmmt auch ſein Koͤrper und deſſen Vollkommenheit in Betracht. Als Thier beſtehet ſeine Vollkommenheit in den Vermoͤgen und Kraͤften, die aus der Vereinigung der beiden Beſtandtheile entſpringen. Allein als Menſch beſtehet ſeine Groͤße in dem Grade der Empfindlichkeit und in dem Grade der Selbſtmacht, womit ſeine Seele aus ihrem eigenen innern Princip etwas zu wirken ver - mag. Je mehr alſo ſelbſtthaͤtige Wirkungskraft in der Seele iſt, und je mehr die Einrichtung und die Kraͤfte der Organiſation zu dieſem Zwecke ſich ver - einigen, deſto groͤßer iſt die Menſchheit im Men - ſchen.

Dieß iſt auch das Maß, deſſen ſich ſowohl der ge - meine Menſchenverſtand, der nur dem Gefuͤhl folget, als die entwickelte Vernunft bedienet, und das fuͤr das richtige erkannt wird, wenn man den Menſchen un - terſucht.

6. Nach652XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

6.

Nach dieſem allgemeinen Grunde ſollte auch als - denn unſer Urtheil ſich richten, wenn der Werth der be - beſondern Vollkommenheiten des Geiſtes, des Ver - ſtandes und des Willens geſchaͤtzet wird. So geſchieht es auch die meiſten Male in den Ausſpruͤchen des unver - dorbenen Verſtandes, der ohne Raiſonnement aus ent - wickelten Grundſaͤtzen, bloß nach Anleitung eines feinen Gefuͤhls, denket; wenn naͤmlich von dem innern und abſoluten Werth ſolcher Eigenſchaften die Rede iſt. Denn was ihren relativen Werth unter gewiſſen Um - ſtaͤnden und in Hinſicht auf uns ſelbſt betrifft, ſo haͤngt ſolcher von aͤußern und zufaͤlligen Urſachen ab, wie bey allen andern Sachen, denen wir einen Werth beylegen. Dieſen ſetze man hier bey Seite, und ſehe auf das Jn - nere der Sachen. Warum iſt die hohe Dichtungskraft eine Vollkommenheit, die wir wie etwas Goͤttliches ſchaͤtzen? Was giebt ihr ihre innere Wuͤrde, die uns mit Bewunderung gegen den Mann erfuͤllet, der eine ſol - che Welt von Jdeen hat ſchaffen und ordnen koͤnnen? Es iſt offenbar die große innere Staͤrke der Vorſtellungs - kraft in der Seele. Die Menge und die Groͤße der Bilder, welche die Phantaſie mit Leichtigkeit gegenwaͤr - tig haͤlt und bearbeitet, beweiſen die Staͤrke der vor - ſtellenden Kraft. Aber wenn dieſe nicht als ſelbſtthaͤ - tiges Seelenvermoͤgen wirket, und durch ihre eigene Wirkſamkeit Ordnung und Uebereinſtimmung zu einem Zweck in die Bilder bringet, ſo iſt die Gegenwart der Bilder, die aus andern Urſachen herruͤhrt, nichts als eine Art von Raſerey, und das Vermoͤgen ſolche zu haben nichts weiter, als eine Kraft des Gehirns, oder des zum Gehirn hindringenden Gebluͤts, wodurch die Bilder empfundener Gegenſtaͤnde erneuert und unter einander geworfen werden. Die Vorſtellungen in der Meßiade, einzeln herausgenommen, in ihre Elementeaufge -653und Entwickelung des Menſchen. aufgeloͤſt und dann unter einander in ein Chaos ge - miſcht, oder nur hie und da in der Ordnung der Em - pfindung, in der ſie ehedem theilweiſe in die Phantaſie hineingebracht worden ſind, in kleinere Haufen ver - ſammlet: was wuͤrde dieß fuͤr ein Ganzes ſeyn, und welch eine Vollkommenheit ſolchen Unſinn zu traͤumen? Ein großer Verſtand iſt ein weſentlicher Beſtandtheil eines großen Genies. Dieß iſt mit andern Worten ſo viel, als: die thaͤtige Vorſtellungskraft muß aus Ei - genmacht der Seele ſeyn. Nur dadurch, daß ſie viele, mannichfaltige, lebhafte und ſtarke Vorſtellungen ſelbſt - thaͤtig erwecken, aufloͤſen, vermiſchen, nach Abſicht und Plan ſolche ſtellen und verbinden und ordnen kann, zeiget ſie ſich als die Schoͤpferkraft, die wahre Seelen - groͤße iſt. Je mehr dieſe Selbſtthaͤtigkeit in ihrer Wir - kung ſich offenbaret, deſto lebendiger iſt das Gefuͤhl ih - rer Groͤße, das uns die Bewunderung und Verehrung fuͤr das Genie abzwinget.

Eben ſo iſt es Selbſtthaͤtigkeit der Seele und eine ausnehmende Groͤße derſelben, welche das Weſen der Tugend ausmacht. Haben die Moraliſten Recht, wenn ſie die Wuͤrde der Tugend, die Rechtſchaffenheit des Charakters, als die hoͤchſte menſchliche Vollkom - menheit ausgeben, und ſie uͤber die Staͤrke des Ver - ſtandes und uͤber die Lebhaftigkeit der Dichtkraft erhe - ben: ſo muß ſie als eine phyſiſche Realitaͤt des Men - ſchen betrachtet, ſo groß ſeyn und groͤßer, als die uͤbri - gen. So iſt es. Eine genauere Entwickelung ih - rer Natur lehret, daß ſie in Vergleichung mit andern den hoͤchſten Grad der innern Selbſtthaͤtigkeit erfodere. Sie enthaͤlt, man mag die Erklaͤrung der Tugend einrichten wie man will, zweyerley. Gutar - tigkeit und Rechtſchaffenheit in den Geſinnungen, unt Herrſchaft der Seele uͤber ſich ſelbſt. Jenes iſt die Richtung auf das Gute und Beſte der Menſchheit, dasiſt,654XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtiſt, auf das Wohl unſerer ſelbſt und anderer, wozu als zu einem Brennpunkt die verſchiedenen Selbſtbeſtimmun - gen des Willens in dem Tugendhaften zuſammenlaufen. Die letztere beſtehet in dem ſelbſtthaͤtigen Vermoͤgen, die Kraͤfte, Triebe und Beſtrebungen mit innerer Freyheit zu dieſem Ziel zu lenken und anzuwenden. Wenn der Dichter vielbefaſſende Vorſtellungen bearbeitet, der Be - obachter Gefuͤhle und Empfindungen, und der Denker allgemeine Begriffe: ſo wirkt in allen dieſen Thaͤtigkeiten die innere Selbſtmacht der Seele. Aber die Vorſtel - lungen bey dieſen letzterwaͤhnten Arbeiten, die das Objekt der wirkſamen Kraft ſind, moͤgen immer ihre Staͤrke und Lebhaftigkeit haben und in ſo weit eine ſtarke Kraft erfodern, die ſie ſtellen und regieren ſoll: ſo kommen ſie doch in dieſem Stuͤck denen nicht gleich, welche bey der Ausuͤbung der Tugend uns vorliegen. Hier ſind es mehr intereſſante Vorſtellungen, die ſich auf uns ſelbſt beziehen, auf das Gemuͤth wirken und uns bewegen. Die ideelle Welt des Dichters beſteht in Dichtungen, von denen er weiß, daß ſie ſeine Geſchoͤpfe ſind; fuͤr ſich ſind es Sachen, die ihn nichts angehen. Desglei - chen ſind auch die Gegenſtaͤnde des Beobachters und des Denkers Dinge, die ihm fuͤr ſich gleichguͤltig ſind, und deren Verhaͤltniſſe und Beziehungen man ſo nimmt, wie man ſie findet, die auch anders ſeyn moͤchten, als ſie ſind, ohne uns unmittelbar zu ruͤhren. So bald ſie unſere Eigenliebe erregen, uns afficiren und auf un - ſere Triebe wirken, ſo gehoͤret die Kraft, die ſie maͤßi - get und leitet, zu der Selbſtthaͤtigkeit, welche Tugend iſt. Die Kraft des Dichters regieret große Vorſtellun - gen; aber die Selbſtmacht des Tugendhaften beherr - ſchet Empfindungen und dunkele ſinnliche Vorſtellun - gen, die faſt durchaus in Ruͤhrungen beſtehen, den Wil - len motiviren und zu Affekten hervordraͤngen. Laß in einzelnen Faͤllen die Dichtkraft eben ſo ſtarke Arbeit ha -ben655und Entwickelung des Menſchen. ben als die ſelbſtthaͤtige Tugend, ſo iſt es doch außer Zweifel, daß die letztere im Ganzen einen ſo viel groͤßern Grad an Selbſtmacht der Seele enthalte, als mehr da - zu erfodert wird, anſchauliche Jdeenreihen von intereſſi - renden Objekten zu erwecken und, wie es dienlich iſt, zu verdunkeln, und dann die aufſteigenden Triebe der thaͤti - gen Kraft einzuſchraͤnken, zuruͤckzuhalten und zu unter - druͤcken, nachdem erkannte Pflicht und Rechtſchaffen - heit es heiſchet, als zu den Beſchaͤftigungen des Dich - ters und den Spekulationen des Philoſophen nicht noͤthig iſt. Die gemeine Sentenz: wer ſich ſelbſt bezwingen koͤnne, ſey ſtaͤrker als der, der Voͤlker uͤberwindet und Veſtungen erobert, enthaͤlt eine große pſychologiſche Wahrheit.

Die Kunſt ſich zu verſtellen, die in der Ge - ſchicklichkeit beſtehet, die Ausbruͤche der innern Geſin - nungen und Begierden in Worten, in Mienen, Augen - bewegungen und Geberden zuruͤckzuhalten, erſodert alsdenn, wenn der Affekt in dem Jnnern ſchnell entſteht, ohne Zweifel eine vorzuͤgliche Gegenwart des Geiſtes. Es ſoll ein Strom in ſeinem Lauf gehemmet werden, der ſich mit Heftigkeit ergießet. Jn ſo weit iſt die Ver - ſtellungskunſt eine große Kunſt. Eine Unwahrheit in Worten zu ſagen iſt leicht; aber die Augen und das Geſicht etwas anders ſagen laſſen, als in der Seele ge - genwaͤrtig iſt, erfodert zugleich eine Gewalt uͤber die Vorſtellungen, deren Gegenwart verhindert werden muß. Aber dennoch haͤngt die ganze innere Groͤße dieſer Kunſt bloß von der Gewalt uͤber ſich ſelbſt ab, welche ſie erfo - dert. So ferne iſt ſie der Tugend aͤhnlich. Aber dieſe Aehnlichkeit liegt auch nur oben auf, und iſt nichts mehr als eine Larvenaͤhnlichkeit. Die Gewalt uͤber die aͤußern Ausbruͤche der Leidenſchaften iſt das Wenigſte von der Gewalt uͤber die Leidenſchaften ſelbſt. Sie hat die Tiefe und Staͤrke der letztern nicht, und iſt ſo ſchwer nicht zuerler -656XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤterlernen, da ſie ſelbſt durch eine innere Leidenſchaft un - terſtuͤtzet wird. Sie kann mit der Seelenſtaͤrke in der Tugend nicht anders verglichen werden, als die Maske mit der Perſon. Die Tugend beſteht nicht allein dar - inn, daß eine Leidenſchaft durch eine andere gebaͤndiget wird; denn dieß iſt nur eine Nothhuͤlfe der noch unge - ſtaͤrkten Tugend: ſondern darinn, daß die Seele, bloß durch die Vorſtellung von dem, was Recht und Pflicht iſt, geſtaͤrkt, ſchon in ſich ſelbſt die Kraft beſitze, ihre Jdeenreihen und Bewegungen im Jnnern zu ſtaͤrken, zu ſchwaͤchen und zu lenken.

Dieſe innere Selbſtmacht der Seele uͤber ihre Em - pfindniſſe und Triebe, dieß Vermoͤgen nach deutlichen Jdeen ſie zu regieren, iſt das Weſen und der wahre Geiſt der Tugend. Wenn man ihr dieſe entzieht, ſo bleibet zwar noch die Gutartigkeit der Triebe und Begierden, ihre Harmonie unter ſich, und mit der Zufriedenheit des Menſchen und mit dem Wohl der Geſellſchaft, uͤbrig, und beſitzet einen großen, beſonders relativen, Werth, und es iſt auch deswegen als das zweyte weſent - liche Stuͤck der Tugend zu betrachten. Aber dennoch iſt dieß letztere fuͤr ſich allein nur der Koͤrper, nur das Ve - hiculum der Tugend. Wo es allein iſt, da macht es nur Temperaments-und Gewohnheitstugend aus, die ein Gluͤck fuͤr ihren Beſitzer iſt, nur das Gut des ſelbſt - thaͤtigen Weſens nicht iſt, was in der wahren Tugend liegt. Dieſe muß, ſo unvollkommen auch menſchliche Tugenden ſeyn moͤgen, doch wenigſtens in einigem Grade, das Vermoͤgen nach Vernunftideen von dem, was gut iſt, ſich zu beſtimmen enthalten. Und nach dieſem Grade richtet ſich ihr innerer, abſoluter Werth am meiſten. Wenn man alles herausziehen wuͤrde, was hiezu gehoͤret, ſo koͤnnte nichts uͤbrig bleiben, als eine gewiſſe Beziehung der natuͤrlichen Empfindniſſe, der Jdeen und der ihnen entſprechenden Diſpoſitionen derthaͤtigen657und Entwickelung des Menſchen. thaͤtigen Kraft auf die Zufriedenheit und auf das Wohl der Menſchen. Eine ſolche natuͤrliche oder erworbene Stimmung in dem Jnnern iſt und bleibet, fuͤr ſich ſelbſt betrachtet, eine Vollkommenheit, iſt eine Urſache ange - nehmer Empfindungen, und alſo in mehr als einer Hin - ſicht eine Realitaͤt des Menſchen. Jſt ſie erworben, mehr als bloßes natuͤrliches Verhaͤltniß, ſo iſt ſie eine Wirkung erhoͤheter Selbſtthaͤtigkeit, und enthaͤlt alſo auch das erſte Stuͤck der Tugend. Fehlet ſie, ſo iſt dieß ein ſichrer Beweis, daß die Leidenſchaft regieret und der Geiſt ſchwach iſt. Denn auch die großen klu - gen Boͤſewichter ſind im Jnnern zerruͤttet, und an der vornehmſten Seite der Seele Ohnmaͤchtige, phyſiſch Schwache. Bosheit iſt wahre Schwaͤche an Selbſt - thaͤtigkeit. Und dennoch macht dieſe Gutartigkeit das Reelle der Tugend nicht aus. Es kann ſogar, wo ſie allein ohne Selbſtthaͤtigkeit iſt, eine Quelle von Unvoll - kommenheiten und Uebeln ſeyn. Jſt natuͤrliche Gutar - tigkeit da, ſo iſt ein beſſerer Boden da fuͤr die Tugend. Wo von Natur ein feineres Gefuͤhl iſt, da ſprießt auch die natuͤrliche Humanitaͤt hervor, die den Menſchen zu vielen Tugendfertigkeiten naͤher aufgelegt macht, als an - dere es ihrer natuͤrlichen oder von Jugend auf ihnen ein - gepflanzten Hartherzigkeit wegen nicht ſind. Man kann dieſelbige Erinnerung bey allen beſondern Tugenden, bey dem Muth, der Gerechtigkeit, der Maͤßigkeit u. ſ. f. wiederholen. So eine gluͤckliche Sache die naͤher da - hin fuͤhrenden Anlagen der Natur ſind, ſo ſind dieſe fuͤr ſich doch nur gewiſſe Formen des Kopfs und des Her - zens, die auf gewiſſen feſtgeſetzten Jdeenaſſociationen beruhen, wie die Gewohnheiten. Und inſoferne ſie nur dieß ſind, gehoͤren ſie eben ſo viel zu der Organiſation, als zu der Seele ſelbſt, die dadurch noch keine innere vorzuͤgliche Groͤße an Selbſtmacht beſitzet. Jch rede nicht von der Schwaͤche der menſchlichen Tugend, ſon -II Band. T tdern658XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtdern von ihrer Natur. Die eine Nation iſt gaſtfrey, leutſelig, dienſtfertig; die andere zeichnet ſich durch ih - ren Haß gegen Fremde aus. Man kann daraus allein nicht ſchließen, daß jene groͤßere Menſchen ſind, als dieſe. Nur ſoferne dieſe Tugenden wahre Tugenden ſind, und in groͤßerer Staͤrke des Gefuͤhls und der Selbſtthaͤtig - keit der Seele beſtehen, das iſt, ſoferne ſie Wirkun - gen der Vernunft ſind, beweiſen ſie auch, daß ihre Beſitzer innerlich groͤßere und vollkommnere Menſchen ſind. Das zahm gemachte, abgerichtete, thaͤtige Men - ſchenthier iſt von dem ſich ſelbſt bezaͤhmenden, regie - renden und aus Eigenmacht der Seele wirkſamen, Men - ſchen ſehr unterſchieden. Nur die innere Geiſtesgroͤße iſt es, die den Weiſen zu dem erhabenſten und hochach - tungswuͤrdigſten der ſichtbaren Geſchoͤpfe Gottes macht.

7.

Es giebt noch einen andern Geſichtspunkt, woraus die Tugend, der Verſtand und die ſtarke Vorſtellungs - kraft mit einander verglichen werden koͤnnen. Herr Wieland hielt den Geiſt des Shakeſpear fuͤr groͤßer als den Geiſt des Newton. Aber welch eine Wage und welche Gewichte gehoͤren dazu, zween ſolche Geiſter gegen einander abzuwaͤgen. Hat Hr. Wieland Newtons eindringende Vernunft ſo anſchaulich gekannt, als die vordringende Phantaſie des Shakeſpear? Jch glaube, er habe den Ausſpruch des gemeinen Verſtan - des gegen ſich. Ein tiefer Verſtand erreget, ich meyne, wenigſtens bey den meiſten, einen hoͤhern Grad der Hochachtung als eine vielſeitige und ſtarke Vorſtellungs - kraft; ſo wie hohe Tugend noch uͤber den hohen Ver - ſtand geachtet wird. Alle Seelenvermoͤgen haͤngen zum Theil von der Organiſation des Koͤrpers ab, und ſind von dieſer Seite betrachtet koͤrperlich; aber ſie ſcheinen es doch nicht alle in gleicher Maße zu ſeyn. Die Leb -haftig -659und Entwickelung des Menſchen. haftigkeit und Staͤrke der ſinnlichen Vorſtellungskraft beruhet noch in einem Grade mehr auf der Beywirkung des Gehirns, als der hoͤhere Verſtand und als die Tu - gend. Es iſt ſchwer und faſt unmoͤglich, den Antheil von jedem beſtimmt anzugeben. Allein ſo viel iſt doch gewiß, daß deutliche Jdeen mehr eine Wirkung von dem innern ſelbſtthaͤtigen Princip der Seele ſind, als undeutliche und verwirrte; und daß uͤberhaupt Jdeen und Begriffe, inſoferne ſie Gedanken ſind, mehr von der Eigenmacht der Seele herruͤhren, als inſoferne ſie in bildlichen Vorſtellungen beſtehen. Das Hauptge - ſchaͤffte der Vernunft iſt dieß, daß ſie Beziehungen und Verhaͤltniſſe macht, und Deutlichkeit bewirket. Da - durch bearbeitet ſie die Empfindungen und die Bilder. Dagegen iſt das Hauptgeſchaͤffte der Phantaſie und der Dichtkraft, daß ſie Bilder aufnimmt, erwecket, trennet, aufloͤſet, verbindet und zuſammenſetzet. Zu dieſem iſt der Beytrag des Organs groͤßer, als zu den Aktionen der eigentlichen Denkkraft, worinn die Wirkungen des Ver - ſtandes und der Vernunft beſtehen. Jndeſſen reichet dieſes noch nicht weiter, als daß man nur uͤberhaupt den Verſtand mehr als die Dichtkraft, und die Tugend mehr als den Verſtand, fuͤr eine eigentliche Wirkung der Selbſtthaͤtigkeit anſehen koͤnne. Es iſt aber lange nicht genug, um in einzelnen Faͤllen uͤber verſchiedenartige Genies, wie Shakeſpear und Newton, zu urtheilen. Dieß wird ſich noch deutlicher zeigen, wenn vorher auch die innere Groͤße der Seele, die in der Empfindſam - keit nicht Ueberſpannung, welche Schwaͤche iſt, lieget, nach demſelben allgemeinen Grundſatz vergli - chen iſt.

Die Vermoͤgen, welche wir als bloße Empfaͤng - lichkeiten anſehen, wie das Gefuͤhl und die Empfind - ſamkeit, halten wir, wie oben erinnert iſt, nicht wei - ter fuͤr innere Realitaͤten der Seele, als inſoferne ſieT t 2ſelbſt660XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtſelbſt in thaͤtigen Vermoͤgen etwas zu wirken beſtehen, oder darinn ihren Grund haben. Denn daß z. B. die Seele von den Eindruͤcken des Lichts modificirt werden kann, hat ſeine Urſache in den Werkzeugen des Geſichts, wenigſtens ſo ſehr, daß, was nun außer dieſem in der innern Modifikabilitaͤt an poſitiver Beſchaffenheit enthal - ten iſt, ein thaͤtiges Vermoͤgen ſeyn muß, gegen ſolche Eindruͤcke zuruͤckzuwirken und ſie aufzunehmen. So ſehen wir uͤberhaupt die groͤßere oder ſchwaͤchere Modi - fikabilitaͤt der Seele mehr als eine Folge von der Orga - niſation an, als von einer groͤßern oder geringern Quan - titaͤt in der Urkraft der Seele; und inſoferne wir auf dieſe letztere zuruͤckgehen, ſo iſt es die Groͤße der Selbſt - thaͤtigkeit, die auch hier der Empfaͤnglichkeit ihre Rea - litaͤt giebt.

Da nun aber dieſe Modifikabilitaͤt, und das davon abhaͤngende Gefuͤhl, und die Empfindſamkeit doch mehr von der Bey[w]irkung des Koͤrpers in ihren Aeußerungen abzuhangen, und alſo nicht in gleicher Maße ſelbſtthaͤti - ge Seelenwirkungen zu ſeyn ſcheinen, als es die thaͤtige Vorſtellungskraft, die Vernunft und die Freyheit im Handeln iſt: ſo iſt ein richtiger Grund vorhanden zu der Rangordnung der menſchlichen Vollkommenheiten, die der gemeine Verſtand macht, der die Fertigkeiten zu fuͤh - len und zu empfinden im Durchſchnitt unter den uͤbrigen ſetzt. Es iſt dieſelbige Grundkraft der Seele, welche ſich als Gefuͤhl oder Empfindungskraft, als Vorſtel - lungskraft, als Denkkraft und als thaͤtiger Wille von verſchiedenen Seiten beweiſet; allenthalben in Verei - nigung mit dem Koͤrper und durch deſſen Beywirkung, aber doch ſo, daß dieſelbige Grundkraft in der Seele einen ſtaͤrkern Antheil an der ganzen Aktion in dem ei - nen Fall als in dem andern hat. Von dieſer Seite machen wir alle Vollkommenheiten gleichartig, indem wir661und Entwickelung des Menſchen. wir ſie als verſchiedene Grade oder Stufen einer und derſelbigen abſoluten Realitaͤt betrachten.

Dieß reichet bey weitem nicht hin verſchiedenartige Genies zu vergleichen, wie in den erwaͤhnten Faͤllen. Jn jedem Genie wirken alle Kraͤfte der Seele zuſam - men. Die Grundkraft iſt uͤberall beſchaͤfftiget, nur daß die Seiten verſchieden ſind, an denen ſie hervorgehet. Sie wirket hier in groͤßerer Ausdehnung, dort mit groͤßerer Staͤrke, dort haͤlt ſie laͤnger an. Wenn Sha - keſpear eine Welt von Bildern, und von weitbefaſ - ſenden Bildern bearbeiten, und nicht bloß mit der Vor - ſtellungskraft bearbeiten, ſondern auch mit der Reflexion Licht und Deutlichkeit in ſie bringen, und ihre entfern - teſten und verſteckten Aehnlichkeiten mit einem Blick gewahrnehmen ſoll: ſo muß Newtons Geiſt die zwar feinern, aber auch einfachern, Begriffe des Verſtandes anhaltend und mit großer intenſiver Staͤrke auseinan - derloͤſen. Wo iſt hier ein Maßſtab, die Groͤße der Wirk - ſamkeit in beiden zu meſſen und zu ſagen, wo mehr oder weniger iſt? Nur wenn die ganze Wirkſamkeit im menſchlichen Seelenweſen in beiden gleich waͤre, ſo koͤnnte man hinzuſetzen, es ſey die Selbſtthaͤtigkeit der unkoͤrperlichen Seele in dem letztern groͤßer als in dem erſtern. Wenn man |dem feinen Gefuͤhl und dem großen Beobachtungsgeiſt, ingleichen dem Vorzug am Gedaͤchtniß, Gerechtigkeit widerfahren laſſen will: ſo muß auf eine aͤhnliche Art auf alle Dimenſionen, wor - innen die Grundkraft ſich dabey beweiſet, geſehen wer - den. Ueberhaupt erhellet hieraus, daß es noch wohl angehe, ein Genie einer Art mit einem Genie derſelbigen Art zu vergleichen; das Empfindſame mit dem Empfind - ſamen; ein Dichtergenie mit einem andern; ein philo - phiſches mit einem philoſophiſchen, und ein thaͤtiges mit einem thaͤtigen. Dieſe Vollkommenheiten ſind homogen. Aber ungleichartige Vorzuͤge koͤnnen nicht anders gegen -T t 3einander662XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤteinander geſchaͤtzet werden, als durch eine Reduktion auf ein allgemeines Maß, das wir nicht anwenden koͤnnen. Wenn uns dieſe Betrachtung nicht lehret den Menſchen gegen den Menſchen zu meſſen: ſo wird ſie doch zur Beſcheiden - heit und Demuth fuͤhren koͤnnen, wenn es unſerer Eigen - liebe einfaͤllt uns, einiger Vorzuͤge an Einer Seite we - gen, ſo hoch uͤber andere Menſchen wegzuſetzen.

8.

Es iſt faſt nicht moͤglich, wenn man die Menſchheit in ihren mannichfaltigen Formen uͤberſieht, und beſonders, wenn die Abſicht dabey iſt pragmatiſche Folgerungen uͤber das, was wahres Gut in ihr iſt, aus der Betrach - tung abzuziehen, daß uns nicht die Frage aufſtoßen ſoll - te: worinn eigentlich der Werth unſers Wiſſens und der Erkenntniß, und was hier noch mehr zu - ruͤck iſt, der Wahrheit beſtehe? und nach welchen Grundſaͤtzen ſolcher zu ſchaͤtzen ſey? Allein es iſt ſchon genug hieruͤber geſagt, und die Sache faſt ſo voͤllig eroͤr - tert, daß ich nur einiges, ſo viel mein gegenwaͤrtiger Zweck nothwendig macht, davon ausziehen darf. Die Wahrheit iſt von einem unendlichen Werthe fuͤr uns. Dieß kann nicht genug geſagt werden, um der Gleich - guͤltigkeit willen gegen ſie. Aber dennoch iſt ſie es nur in gewiſſen Hinſichten, und mit Einſchraͤnkungen. Dieß kann auch nicht genug geſagt werden, um des Fanatis - mus willen.

Jede Kenntniß, jede Jdee, jede Vorſtellung macht, als eine Form der Seele, fuͤr ſich die Vorſtellungskraft aufgelegter andere zu faſſen, die mit ihr Aehnlichkeit haben und ſich auf ſie beziehen. Jn ſoweit iſt ſie eine Verſtaͤrkung der Seelenvermoͤgen. Jede Jdee erreget auch Empfindungen, die theils unmittelbar angenehm oder widrig, oder auch einen Einfluß auf das Herz ha - ben, und alſo Bewegungsgruͤnde zu weitern Thaͤtigkei -ten663und Entwickelung des Menſchen. ten und Faßungen des Gemuͤths werden. Die Kennt - niß hat alſo, außer ihrem theoretiſchen Nutzen, den ſie darinn leiſtet, daß ſie zur Einſicht anderer Dinge dien - lich iſt, auch noch die unmittelbare praktiſche Wir - kung, daß ſie die Summe des Vergnuͤgens oder des Verdruſſes vermehret; und dann die mittelbare, daß, da ſie Furcht oder Hoffnung, Muth oder Niederſchla - genheit, giebet, zur Wirkſamkeit reizet und die innere Vervollkommnung der Seele befoͤrdert.

Ein Theil von dieſen Wirkungen und Folgen be - ruhet darauf, daß die Kenntniß eine Kenntniß von be - ſtimmten Sachen iſt. Ein anderer aber, und beſon - ders ihr Einfluß auf die Ausbildung der Verſtandeskraͤf - te, hat nicht ſowohl darinnen ſeinen Grund, daß wir uns gewiſſe Gegenſtaͤnde vorſtellen, als vielmehr in den zugleich erhaltenen Vorſtellungen von den Denkarten und Denkthaͤtigkeiten, wodurch die Vermoͤgen der Ver - ſtandskraft zu Fertigkeiten erhoben werden. Daher iſt es leicht zu erklaͤren, wie die Erhoͤhung und Ausbildung des Verſtandes, und die Vermehrung und Aufhaͤu - fung von Gelehrſamkeit, zwey unterſchiedene Dinge ſind, die nicht oͤfters in einem gleichen Verhaͤltniſſe ne - ben einander gehen. Es giebt eine Grenze, uͤber wel - che hinaus der Kopf mit gelehrter Kenntniß uͤberladen wird. Alsdenn leidet der natuͤrliche Menſchenverſtand durch die zu große Aufſammlung von Jdeen im Ge - daͤchtniß, und wird mehr davon geſchwaͤcht als geſtaͤr - ket. Die Menge der Vorſtellungen ſchadet der Deut - lichkeit und Ordnung, und die uͤbertriebene Begierde nach Sachkenntniſſen wird eine Veranlaſſung, daß die zuruͤckbleibenden Spuren von den Denkarten, das iſt, die Vorſtellungen von den Aktionen der Kraͤfte, weniger bearbeitet, und alſo die Kraͤfte ſelbſt weniger entwickelt und geſtaͤrket werden. Schulwitz kann den Mutterwitz ſchwaͤchen.

T t 4Wenn664XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

Wenn dieß uͤberhaupt die Wirkung der Kenntniß auf den Menſchen iſt, was hat denn die wahre vor der falſchen voraus? Was hat der Verſtand oder das Herz der neuern Aſtronomen, die ſich das Weltgebaͤude nach dem richtigern kopernikaniſchen Syſtem vorſtellen, vor dem Kopf und dem Herzen der Alten voraus, die noch die Erde zum Mittelpunkt machten, und die Son - ne um jene laufen ließen? Jn dem Verſtande des ei - nen iſt eine Modifikation, wie in dem Verſtande des an - dern. Jſt dieſer Unterſchied aber mehr als eine Ver - ſchiedenheit in dem Gepraͤge zwoer Muͤnzen, deren innerer Werth dadurch weder groͤßer noch kleiner wird?

Jſt der innere Umfang, die Staͤrke, die Deutlich - keit, die Lebhaftigkeit, die Tiefe, bey einer wahren und falſchen Jdee, bey einem richtigen und unrichtigen Ur - theil, von gleicher Groͤße: ſo hat doch der wahre Ge - danke, bloß in Ruͤckſicht auf den Verſtand betrachtet, an ſich ſo viel vor dem falſchen voraus, daß er den kuͤnfti - gen Anwachs wahrer Einſichten erleichtert, und dadurch zu einer Quelle von angenehmen Empfindungen wird, die aus der Uebereinſtimmung der Vorſtellungen ent - ſpringet. Jndeſſen kann im uͤbrigen der eine ſo viele Beſchaͤfftigung und Nahrung fuͤr den Verſtand erhal - ten, als der andere. Der Vorzug iſt, alles uͤbrige auf beiden Seiten gleich genommen, und den Einfluß aufs Herz und auf die Handlungen bey Seite geſetzet, ohne Zweifel auf der Seite der Wahrheit. Wenn auch gleich ein Jrrthum zu neuen Jrrthuͤmern, alſo zu neuen Gedanken, leitet, wie eine Wahrheit zu neuen Wahrhei - ten: ſo iſt es doch am Ende ein unabaͤnderliches Schick - ſal des Jrrthums, daß er in Widerſpruͤche mit ſich ſelbſt geraͤth, wenn anders der Verſtand in ſeinen Kenntniſ - ſen fortgehet. Dieß verurſachet Verdruß, der mit der Wahrnehmung des Widerſpruchs und mit dem Be - wußtſeyn, daß man ſich geirret habe, verbunden iſt. Jndeſſen665und Entwickelung des Menſchen. Jndeſſen kann auch auf der andern Seite die falſche Vorſtellung, eben weil ſie falſch iſt und ſich mit an - dern Kenntniſſen, die nach und nach hinzukommen, nicht vertraͤgt, ein deſto groͤßerer Reiz fuͤr die Reflexion ſeyn ſich ſtaͤrker anzuſtrengen, um aus ihrer Verlegen - heit herauszukommen. Aber dieß iſt doch nur ein zu - faͤlliger Vortheil, den die Wahrheit in groͤßerer Maße auch leiſten kann. Es bleibet doch immer die wahre Vorſtellung ein fruchtbarer Saamen, der nuͤtzliche Fruͤchte traͤgt, die man ſuchet; dagegen die falſche, wenn ſie fruchtbar iſt, Unkraut im Verſtande hervor - bringet. Allein, ſo wie man nicht ſagen kann, daß das Unkraut an ſich ein unvollkommneres Gewaͤchſe iſt, als das Kraut, wenn man nicht auf den Nutzen fuͤr Men - ſchen ſiehet, ſo kann man auch nichts mehr uͤber den Vorzug der Wahrheit vor dem Jrrthum ſagen, von der Seite betrachtet, wie beide auf den Verſtand wirken, als daß jene kuͤnftig ein Vergnuͤgen mehr gewaͤhren wer - de als dieſer, oder doch uns einen Verdruß erſparen, den wir bey dem Jrrthume uͤber kurz oder lang empfin - den muͤſſen; vorausgeſetzt, daß der Jrrende bey ſei - nem Jrrthume ſich der Sache eben ſo gewiß haͤlt, als der die wahre Kenntniß hat. Wahrheit oder Einbil - dung, Glaube oder Aberglaube, richtige oder falſche Vorurtheile, wenn man nicht auf die Folgen ſieht, die ſie auf das Gemuͤth und aufs Herz haben, ſo iſt dasje - nige, wovon ihr abſoluter Werth beſtimmt werden kann, mehr ihre innere Form, die ſie als Kenntniß haben, als das Unterſcheidende, was ſie als Wahrheit haben. Wie viel mehr oder weniger ſind ſie Modifikationen der Er - kenntnißkraͤfte? Wie reichhaltiger, voller, ſtaͤrker ſind ſies, und wie viel mehr oder weniger beſchaͤfftigen, uͤben und erhoͤhen ſie die phyſiſchen Kraͤfte des Verſtan - des, die unmittelbar bey ihrer Bearbeitung wirken? So weit entwickeln und erhoͤhen ſie den Menſchen vonT t 5dieſer666XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtdieſer Seite. Jſt die innere Groͤße, der Umfang und der Jnhalt, die Deutlichkeit und Ordnung der Vorſtel - lungen und Gedanken dieſelbige, ſo wird, in dieſer Ab - ſtraktion betrachtet, ein Jrrthum ſo viel Realitaͤt enthal - ten koͤnnen, als eine Wahrheit.

Es iſt gar nicht unnuͤtz, beide einmal in dieſer Ab - ſtraktion zu vergleichen. Hat gleich jede Kenntniß in jedem Jndividuum, außer ihrem innern Gehalt, auch ihre Folgen auf die Empfindungen, auf das Gemuͤth und auf die thaͤtigen Kraͤfte mittelbar oder unmittelbar, und iſt alſo auch jedesmal mehr oder minder, auf eine naͤhere oder entferntere Art, pragmatiſch: ſo giebt es doch viele wichtige Faͤlle in der Geſchichte der Menſch - heit, wo der obige Grundſatz gebraucht werden kann, und gebraucht werden muß, wenn man richtig urthei - len will. Es koͤnnen Kenntniſſe gleichguͤltig ſeyn, wenn ſchon nicht im genaueſten Verſtande, doch ſo weit, daß ihr Unterſchied unerheblich iſt; und die eine iſt richtig, die andere unrichtig. Da iſt jener Grundſatz, der ihren innern Werth beſtimmt. Es koͤnnen ferner wich - tige pragmatiſche Kenntniſſe, ſo gar ſolche, die, wegen ihres vorzuͤglichen und nahen Einfluſſes auf die Empfin - dungen und auf die Einrichtung des Menſchen, im Verſtande und Willen, auf einzelne Perſonen und auf die Geſellſchaft, vorzuͤglich pragmatiſche heißen muͤſſen, in dieſen ihren Wirkungen einander gleich ſeyn, obſchon wiederum die eine eine Wahrheit, und die andere ein Jrrthum iſt. Vergleichen wir denn hier den Werth der Wahrheit mit dem Werth des Jrrthums, ſo wuͤrde, dieſes letztern Einfluß gleich geſetzet, der Vorzug der er - ſtern darinn beſtehen, daß ſie nicht veraͤndert werden duͤrfte, dagegen bey dem Jrrthum der Traum nicht ewig dauern kann. Jm uͤbrigen aber wird, unter derſel - bigen Vorausſetzung, der obige Grundſatz zur Beſtim - mung ihrer innern Realitaͤt gebraucht| werden muͤſſen. Als -667und Entwickelung des Menſchen. Alsdenn laͤßt ſich, nach dem ſchon erwehnten Gleichniß, die Eine wie die andere, als eine Form, oder ein Ge - praͤge des Verſtandes anſehen, wovon der Werth des Metalls zu unterſcheiden iſt. Nur zuweilen iſt jenes, wegen ſeiner relativen Vollkommenheit, mehr als die Materie ſelbſt werth.

Nun koͤnnen wir zwar, wenn wir die Kenntniſſe der Menſchen ſo nehmen, wie ſie ſind, ſelten ſolche Faͤlle finden, wo man annehmen duͤrfte, daß die Folgen und Wirkungen auf ihre Vervollkommnung nicht beſſer und nicht ſchlechter geweſen waͤren, wenn ſtatt der wahren Jdee eine falſche, und umgekehrt, im Verſtande gele - gen haͤtte. Aber dagegen ſind die Faͤlle deſto haͤufiger, und man kann ſagen, es iſt allgemein: daß ſo wohl die Gluͤckſeligkeit, als die Vervollkommnung, mit ihrem Gegentheil in einem ganz andern Verhaͤltniſſe ſtehe, als die Wahrheit und Falſchheit in den Kenntniſſen. Und dieß nicht bloß zufaͤllig, weil ſie ſolche nicht anwen - den, wie ſie doch koͤnnten, ſondern auch da, wo ſo viele Folgen und Vortheile aus ihnen gezogen werden, als es naͤmlich nach der Beſchaffenheit des Verſtandes und der uͤbrigen innern und aͤußern Umſtaͤnde angeht. Denn davon, was an und fuͤr ſich wohl moͤglich waͤre, kann nicht die Rede ſeyn. Man ſehe zum Beyſpiel nur dar - auf, was die wahre und falſchen Religionen auf den groͤß - ten Haufen der Menſchen fuͤr Wirkungen haben, und natuͤrlicher Weiſe, wenn man auf ihren Zuſtand Ruͤck - ſicht nimmt, haben koͤnnen. Man wird finden, keine iſt durchaus unfruchtbar; es ſind dieß die allerangele - gentlichſten Kenntniſſe; und die Faͤlle, wo ſie ſo viel wie faſt nichts wirken, wollen wir nicht in Anſchlag brin - gen. Aber findet man, daß der innere Vorzug an Menſchheit da ſo viel groͤßer iſt, wo die Vorſtellungs - kraft von richtigen, als da, wo ſie von falſchen, Formen beſetzet iſt? Wie viele macht die wahre Kenntniß, inſoferne668XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtſoferne ſie wahr iſt, neugieriger und nachforſchender, oder zufriedener, ruhiger, muthvoller, weiſer, kluͤger, gerechter, maͤßiger, gefaͤlliger, freundſchaftlicher? Es iſt der unausloͤſchliche Vorzug der Wahrheit, daß ſie zu dieſen gluͤcklichen Wirkungen die Urſache enthalte; aber ſo ſie genommen, wie ſie in den meiſten Menſchen iſt, hat ſie dieſe Folgen nicht ſo, daß der Jrrthum ſie auch nicht haben koͤnnte.

Worinnen beſtehet nun, wo es ſo iſt, ihre Vorzuͤg - lichkeit vor dem Jrrthum, als in den Folgen, die ſie an ſich haben kann, kuͤnftig haben wird, aber gegen - waͤrtig doch nicht hat, und darinn, daß, wenn einmal eine voͤllige Berichtigung des Verſtandes bewirkt wer - den ſoll, die wahre Einſicht ungeaͤndert bleibet, die fal - ſche aber weggeſchafft werden muß. Sonſten haͤngt alles davon ab, wie weit beide Erkenntniſſe vielbefaſſende Modifikationen der Seele ſind, oder ſich auf groͤßere oder ſchwaͤchere Kraͤfte beziehen.

Wenn hier nur der Vorzug zu betrachten iſt, der dem Menſchen aus dem Beſitz der Wahrheit erwaͤchſet, ſo iſt zwar davon die Rede nicht, ob ſie nicht auch zu - weilen unter zufaͤlligen Umſtaͤnden weniger nuͤtzlich wer - den koͤnne, als der Jrrthum, und ſogar ſchaͤdlicher; allein dennoch muß dieſe Betrachtung nicht ganz uͤber - gangen werden, wenn man ſich genugſam gegen die einſei - tigen Urtheile derer verwahren will, die den Jrrthum im Verſtande fuͤr eine weit groͤßere Unvollkommenheit halten, als die Schwaͤche der Kraͤfte, und als, bis wohin einige wirklich gegangen ſind, die Verſtimmung des Herzens und der Begierden. Die Geſchichte leh - ret es, daß die fruchtbarſten Wahrheiten durch beyge - miſchte Jrrthuͤmer und durch aͤußere Umſtaͤnde, die die Seele beſtimmen, erſticken, verderben und ſchaͤdlich werden, und ſo oft bey ganzen Voͤlkern es geworden ſind. Hingegen haben Jrrthuͤmer, Vorurtheile undAber -669und Entwickelung des Menſchen. Aberglauben durch zufaͤllige Verbindungen eine hoͤhere Entwickelung der Seele und Geiſteserhebung und Zu - friedenheit hervorgebracht. Es giebt troſtreiche Jrrthuͤ - mer, in der Maße, wie es die Wahrheit an ihrer Stel - le nicht geweſen waͤre. Jch fuͤrchte nicht, daß ein nach - denkender Leſer dieß, was ich hieruͤber geſagt habe, miß - deuten werde. Der Werth der Wahrheit iſt unſchaͤtz - bar, und bey einigen unendlich groß. Aber ſie beſitzet fuͤr ſich allein keine magiſche Kraft, den Menſchen beſ - ſer oder gluͤcklicher zu machen. Was ſie thut, wirket ſie durch ihre Folgen. Sie kann ihn gluͤcklicher machen, ohne ihn beſſer zu machen. Spinoza war kein unvoll - kommnerer Menſch durch ſeinen Jrrthum, als ſeine Gegner, die ihn widerlegten. Allein er war ein un - gluͤcklicher Menſch, inſofern er der Zufriedenheit, des Troſtes und der erhabenen Freude beraubt war, die aus dem erſten, groͤßten und gewiſſeſten Grundſatz der Religion entſpringet. Ohne dieſe kann der Nachden - kende nicht gluͤcklich ſeyn. Die Wuͤrde der Wahrheit muß ſo wenig heruntergeſetzet werden, daß vielmehr die kleinſte Berichtigung der Kenntniſſe zu ſchaͤtzen iſt, weil die an ſich unerheblich ſcheinende Wahrheit in Ver - bindung mit großen Entdeckungen oft ſehr nahe ſtehet. Aber es muß die Wahrheit, inſofern ſie Erkenntniß iſt, von der Wahrheit, ſo fern ſie eine richtige Erkennt - niß iſt, unterſchieden werden. Die Fruchtbarkeit der Erkenntniß und ihre Brauchbarkeit kann ſie haben, in ſofern ſie in Vorſtellungen und Gedanken beſtehet, wenn ſolche gleich unrichtig ſind. Als Wahrheit hat ſie et - was, das ſie brauchbar macht, was ſie als Jrrthum nicht hat. Dieß, aber auch dieß nur, macht ihren abſoluten Vorzug vor dem Jrrthum aus. Das iſt es, was ich hier behaupte. Da wo ſie nicht gebraucht wird, wie in traͤgen oder einfaͤltigen Menſchen, die nicht uͤber - legen noch vergleichen, was uͤber die rohen ſinnlichenJdeen670XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtJdeen hinausgehet, da kann der ganze Werth der Wahrheit nicht anders als nach den Folgen beurtheilet werden, welche die Jdeen als Jdeen, ohne Ruͤckſicht darauf, ob ſie richtig oder unrichtig ſind, in dem Her - zen und in den Handlungen hervorbringen. Bey ſol - chen Perſonen iſt Wahrheit und Jrrthum von gleichem Werthe, wenn ſie das Herz mit gleich guten Geſinnun - gen und Empfindungen anfuͤllen. Nur allein in Hin - ſicht der Folge, wenn die Vervollkommnung weiter geht, bleibet der oben angefuͤhrte Vorzug der Wahrheit eigen, wenn dieſe gleich gegenwaͤrtig ſo abgeſondert im Ver - ſtande, oder eigentlicher im Gedaͤchtniſſe, liegt, daß ſie den Menſchen weder beſſer noch gluͤcklicher macht.

10.

Dieſe Anmerkung kann dem wohlthaͤtigen Beſtre - ben, unſere Mitmenſchen, die im Finſterniß und Aber - glauben ſind, zu dem Licht der Religion zu bringen, nicht das geringſte von ſeinem wahren Werthe beneh - men. Nur den falſchen Glanz nimmt ſie weg, womit die Phantaſie unvernuͤnftiger Zeloten das Proſelyten ma - chen uͤbertuͤncht hat. Wo nichts weiter auszurichten iſt, als daß die Jdeen in dem Kopf mit andern Jdeen, Bilder mit Bildern, getauſcht werden, die den Verſtand nicht mehr aufklaͤren und das Herz nicht beſſer machen, als beides vorher war, die den Menſchen im Leben nicht zufriedener, und im Sterben nicht ruhiger und hoff - nungsvoller machen, als er es bey ſeinen Vorurtheilen vorhero war: da iſt die Abſicht, welche erreicht wird, zu unwichtig fuͤr die Mittel, die auf ihn zu verwenden ſind. So iſt es unſtreitig in manchen Faͤllen geweſen. Der Verſuch, die Religionsideen eines Menſchen zu aͤndern, iſt ein an ſich mißlicher und bey Leuten, die nicht ſelbſt denken koͤnnen, gefaͤhrlicher Verſuch. Man verwundert ſich im Jnnerſten, wenn man dieſe Begriffeangreift,671und Entwickelung des Menſchen. angreift, und kann nicht ſicher ſeyn, daß man die Wun - de wieder heilen werde. Bey dem allergroͤßten Theil derer, die von den Europaͤern zur Annahme ihrer Religion ge - bracht und zu oft mit Verleugnung der Menſchlichkeit gezwungen worden ſind, iſt nicht mehr erreicht worden, als ſo eine unfruchtbare Umaͤnderung einiger Vorſtellun - gen. Bey manchen iſt im Anfang die ganze Bekeh - rung nicht einmal ſo weit gegangen, und ſchlechthin nur auf die Umaͤnderung aͤußerer Ceremonien einge - ſchraͤnkt geweſen. Dieß iſt der klare Ausſpruch der Geſchichte. *)Die Wogutzoi, ein Volk in Sibirien, das auf Befehl des Fuͤrſten Gagarin getauft worden war, hatten vor ihrer Bekehrung einen Goͤtzen, der auf einem Baume hieng, vor dem ſie niederfielen, die Augen gen Him - mel aufhuben und mit lauter Stimme heulten, ohne zu wiſſen, was ſie durch dieß Heulen verſtunden, nur daß ein jeder auf ſeine Art heulete. Nach ihrer Be - kehrung hoben ſie gleichfalls ihre Augen gen Himmel. Aber als ſie gefragt wurden: ob ſie dabey wuͤßten, daß daſelbſt ein Gott ſey, der alle Handlungen und ſogar die Gedanken des Menſchen ſiehet: ſo antworteten ſie ſchlechtweg, daß der Himmel zu weit uͤber ihnen ſey, um zu wiſſen, ob daſelbſt ein Gott ſey oder nicht, und daß ſie keine ande[re]Sorge haͤtten als ſich Eſſen und Trinken anzuſchaffen. Man fragte ſie, ob ſie jetzt nicht mehr Zufriedenheit in dem Dienſte des lebendigen Got - tes empfaͤnden, als ſie ehemals in der Finſterniß der Abgoͤtterey gehabt? Sie antworteten, daß ſie eben keinen großen Unterſchied ſaͤhen, und ſich nicht viel um ſolche Sachen bekuͤmmerten. Home (Geſchichte der Menſchheit; Erſter Th. 3 B. 3 V. S. 213. der deut - ſchen Ueberſ. ) erzaͤhlet dieſes aus Lorenz Langens Be - ſchreibung ſeiner Reiſe von Petersburg nach Pekin im Jahr 1715. Was wuͤrden Tauſende der von den Spa - niern bekehrten Amerikaner, und wenn wir nicht ſo weit gehen, von den alten Sachſen, die zur Taufe in die Fluͤſſe durch Soldaten gejagt wurden, auf aͤhnliche Fragen viel beſſers haben antworten koͤnnen?Jſt es denn ſo ſehr zu bedauern, wennder672XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtder Miſſionseifer heut zu Tage etwas erkaltet? Gleich - wohl muß auch die andere Seite ſolcher Bekehrungen nicht uͤberſehen werden, an der ſie wohlthaͤtiger und fruchtbarer erſcheinen. Wenn auch die neue Wahrheit in tauſenden wie auf einen Felſen faͤllt, oder wie am We - ge: ſo werden dieſe doch bloß dadurch, daß ſie wahre Jdeen ſtatt falſcher erhalten, nicht ſchlechter noch un - gluͤcklicher. Und einige einzelne Perſonen giebt es doch, bey denen der Saame einen guten Boden antrift. Die Hauptſache iſt aber dieſe, daß, indem die Religions - meynungen gebeſſert werden, zugleich auch das groͤßte Hinderniß gehoben wird, das der weitern Kultur und Auf - klaͤrung im Wege ſtehet. Dummheit und Aberglaube iſt die maͤchtigſte Schutzgoͤttin der falſchen Religionen, und zugleich ein Riegel gegen die Entwickelung der Menſch - heit. Das erſte, obgleich verunſtaltete Chriſtenthum hat doch bey den rohen Voͤlkern in Norden den Weg zur Aufklaͤrung gemacht. Noch mehr iſt die neuere Re - ligionsveraͤnderung zum wahren Fortkommen des geſun - den Verſtandes in Europa ein Werkzeug geweſen. So iſt es bey jedem Volke, das in der Kultur fortruͤcket. Soll die Aufklaͤrung feſten Grund faſſen, ſo muß das Nachdenken ſich auf Religionsgrundſaͤtze erſtrecken koͤn - nen. Sonſten wird es ſchwerlich[la]nge und ſtark intereſ - ſiren, daß Reiz und Aufmunterung genug dazu vorhan - den ſey. Die Wiſſenſchaften bey den Saracenen muß - ten nothwendig unterliegen, da ſie mit dem Grundſatze des Aberglaubens zu kaͤmpfen hatten, was nicht im Ko - ran ſtehe, ſey zu wiſſen unnuͤtz oder ſchaͤdlich, und da dieſer Grund ſtehen blieb. Noch weniger iſt zu erwar - ten, daß rohere Voͤlker weit kommen koͤnnten, ehe nicht ihre Religionsbegriffe gereiniget ſind.

Es ſcheinet auch wirklich in den meiſten Faͤllen der kuͤrzeſte Weg zu ſeyn, wenn die Kultur der Wilden und Barbaren bey der Religion zuerſt angefangen wird. Es673und Entwickelung des Menſchen. Es iſt recht gut, wenn man ſagt, es ſey doch ſchickli - cher, ſie vorher zu guten und vernuͤnftigen Menſchen zu machen, ehe man ſie zu Chriſten zu erheben ſuchet; wenn jenes nur nicht unmoͤglich waͤre, ohne dieſes, we - nigſtens ohne ihnen die aͤußere Form von Chriſten zu geben. Die meiſten ſind der Lebensart, den Sitten und dem Zwang der Geſetze bey geſitteten Voͤlkern eben ſo abgeneigt, als ihren Religionslehren. Jene macht in ihren Augen eine Sklaverey aus. Jſt nun ihre Reli - gion etwas verbeſſert, ſo iſt doch ihre moraliſche Seite in etwas rege gemacht, und es entſtehen Empfindungen und Ueberlegungen, die neue Arten von Beduͤrfniſſen, von Begierden und ihrer Befriedigung verurſachen, wodurch der Geſchmack an der mehr zuſammengeſetzten Lebensart und an den moraliſchen Beziehungen der Buͤrger in po - lizirten Geſellſchaften vorbereitet wird. Ohne Zweifel kann die Kultur in umgekehrter Ordnung geſchehen. Waͤren ſie vorher an Sitten, Verfaſſungen, Gewerbe und Kenntniſſe der polizirten Voͤlker gewoͤhnt, ſo waͤ - re auch der Weg geoͤfnet zur Berichtigung der Religions - begriffe. Nur iſt die Frage, ob der Plan, nach der erſtern oder nach der letztern Ordnung, beſonders die Wilden, zu bearbeiten, der leichteſte und der zuverlaͤſſig - ſte ſey? Vielleicht in den meiſten Faͤllen nach der erſtern. Es muß in Wahrheit ſchwer ſeyn, den rohen und freyen Wilden, der wenig Beduͤrfniſſe fuͤhlet und dieſen leicht abhilft, der ſich durch ſeine Muſik, und ſeine Taͤnze, und durch ſein Schmauchen zu ergoͤtzen weiß, aus ſeiner traͤ - gen Unabhaͤngigkeit herauszuziehen, und ihn durch die Vergnuͤgungen, die man ſeinen Sinnen und ſeiner Ein - bildungskraft in polizirten Verfaſſungen verſchaffen kann, maͤchtig genug zu ruͤhren, um dieſe mit ihren Unbe - quemlichkeiten fuͤr die ſeinigen zu vertauſchen. *)So fand es Carl Beatty, ein vernuͤnftiger Miſſionair,derDa iſtII Theil. U unoch674XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtnoch wohl eine Umaͤnderung der Religion ehe und leich - ter zu hoffen.

Aber ſind die Umſtaͤnde nicht uͤberall die naͤmlichen? Es bleiben Faͤlle genug uͤbrig, wo die Kultur nicht un - mittelbar bey der Religion anfangen darf, ſondern eine andere Richtung nehmen kann, wie ſie in vielen Laͤn - dern Europens, wie ſie ſelbſt bey den Griechen und Roͤ - mern und andern etwas aufgeklaͤrten Voͤlkern des Al - terthums, wirklich genommen hat, die ihrer falſchen Religion ohnerachtet aufgeklaͤrter geweſen ſind, als die meiſten chriſtlichen Nationen nicht ſind. Doch muß man hiebey nicht vergeſſen, daß die erſten Lehrer dieſer Voͤlker allemal den Anfang bey den Religionsbegriffen gemacht haben. Und dazu faͤllt uns auch die Anmer - kung auf, daß in jedem Fall eine Freyheit der Vernunft im Denken uͤber Religionslehren, und eine Toleranz, bis zu einer gewiſſen Stufe unentbehrlich geweſen ſey, wenn ein Volk zu einer allſeitigen Aufklaͤrung gelanget iſt; wenn wir naͤmlich die Erhebung des vernuͤnftigen Theils im Menſchen, der ſich in freyen und großen Unterſuchungen uͤber den Menſchen und deſſen Bezie - hungen auf Gott und die Welt beweiſet, hinzurechnen, und die Kultur nicht bloß auf eine gewiſſe Seite des Menſchen, auf eine oder die andere Kunſt, auf Fein - heit der Sitten und Lebensart, und auf Politik ein - ſchraͤnken. Jene zur Aufklaͤrung nothwendige Freyheit vertraͤgt ſich aber durchaus mit keiner falſchen, auf bloße Autoritaͤt ſich ſtuͤtzenden Religion, die immer etwas von ihr zu befuͤrchten hat, ſondern nur mit derjenigen, die alle Unterſuchung aushaͤlt. Die Aufklaͤrung derGriechen*)der 1766 von den Synoden zu Neuyork und Philadel - phia an die Jndianer auf der Grenze von Penſylvanien geſchickt ward. Siehe das Tagebuch ſeiner zween - monatlichen Reiſe, uͤberſetzt 1771.675und Entwickelung des Menſchen. Griechen und Roͤmer that doch ihrer Goͤtterlehre Ab - bruch. Haͤtten dieſe Landesreligionen mit ihrer ganzen Staͤrke gewirket, und waͤren nicht dem Princip des Fa - natismus, das, wie Sokrates Beyſpiel lehret, in ihnen lag, durch eine Verwickelung mancher Umſtaͤnde und durch die Vernunft der Obrigkeiten Schranken geſetzt worden, ſo wuͤrde die Aufklaͤrung nie ſo weit gekommen ſeyn.

Dagegen lehrt auch die Geſchichte, daß bey ſolchen Voͤlkern, wo die Kultur zuerſt bey andern Sachen, bey Kuͤnſten, bey der Handlung, den Geſetzen und Sitten angefangen, und von da weiter auf die tiefer liegenden Vorurtheile der Religion ſich verbreitet hat, der Weg zum Ziel zwar laͤnger geweſen und langſamer dahin gefuͤhrt, aber auch nicht ſo mit Blut gefaͤrbt, ſondern ruhiger und ſanfter geweſen ſey, ohne Unordnung und Zerruͤttung des Staats. Dorten iſt auch die Kultur mehr unter dem Volke ausgebreitet worden. Eine Wahrheit, die den Bekehrungseifer nicht aufheben, ſondern nur maͤſ - ſigen und vernuͤnftig machen kann. Das richtige Maß zeiget ſich dem wahren Menſchenfreunde von ſelbſt, wenn es ihm nur nicht darum zu thun iſt, die Menſch - heit in gewiſſe Formen gepreßt zu ſehen, ſondern dar - um, daß ſie beſſer und gluͤcklicher werde.

U u 2V. Von676XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

V. Von der Gleichheit der Menſchen in Hinſicht ih - rer innern Vollkommenheit.

  • 1) Es giebt eine gewiſſe Gleichheit unter den entwickelten Menſchen.
  • 2) Naͤhere Beſtimmung, wie weit dieſe Gleich - heit gehe.
  • 3) Wie weit ſie ſich auf Bloͤdſinnige erſtrecke?
  • 4) Grenzen der allgemeinen Gleichheit der Menſchen, und Folgen derſelben.

1.

Die vorhergehenden Betrachtungen uͤber die Realitaͤ - ten der menſchlichen Natur ſind zwar, ſo wie ſie da liegen, zu allgemein und unbeſtimmt, um auf die Geſchichte der Menſchheit auf eine naͤhere Art zur Wuͤr - digung von dieſer angewendet zu werden. Aber wenn doch einmal der Grundſatz befeſtiget iſt, daß die wahre Groͤße der Menſchheit in den Jndividuen von der Groͤße der Selbſtthaͤtigkeit der Seelen abhange: ſo laͤßt ſich jene in ihren vornehmſten Verſchiedenheiten nicht mit ma - thematiſcher Genauigkeit abwaͤgen, aber doch einiger - maßen vergleichen; ſo weit wenigſtens, als es zu ei - nigen wichtigen praktiſchen Folgerungen hinreichet, die man aus einer ſolchen Vergleichung ziehen kann. Man nehme jenen Grundſatz als einen Maßſtab in die Hand, und richte nun den Blick auf das Ganze der Menſchheit, auf die Mannichfaltigkeit der Gattungen, der Voͤlker und der Jndividuen. Welch ein unuͤberſehbares Feld, das kaum die begeiſtertſte Einbildungskraft umfaſſet! Verſchiedene vortrefliche Philoſophen haben ſchon Ver - gleichungen zwiſchen Menſchen und Menſchen angeſtel - let, da ſie uͤber die Geſchichte der Menſchheit gedacht haben. Aber wenn wird hier noch der Stoff fehlen zugroßen677und Entwickelung des Menſchen. großen und fruchtbaren Betrachtungen? Jch kann mei - ne Abſicht nicht weiter ausdehnen, als dahin, daß ich nur bey einigen ſich auszeichnenden Stellen mich etwas verweile, die es vor andern verdienen wiederholt und aufmerkſam unterſucht zu werden. Es faͤllt zuerſt auf, daß es unter den Menſchen, aller ihrer Verſchiedenheit ohngeachtet, eine gewiſſe allgemeine Gleichheit an innerer menſchlichen Realitaͤt gebe. Dieß iſt nicht bloß die angeborne Gleichheit der Natur, ſondern ſie iſt auch noch da, wenn man ſie in ihrer Ausbildung gegen einander haͤlt. Um deſto leichter zu ſehen, was dieſe Gleichheit auf ſich habe, laßt uns ſolche Jndivi - duen auswaͤhlen, bey welchen die Verſchiedenheit am groͤßten iſt, die alſo am ſtaͤrkſten von einander abſte - chen. Man ſetze einen Patagonier, oder einen Be - wohner des Feuerlandes, einen Neuſeelaͤnder oder Neu - hollaͤnder auf einer Seite, auf der andern einen Cook, oder Banks, oder Seelaͤnder; auf einer Seite den kindereinfaͤltigen Kalifornier, und auf der andern den Abbe Chappe d’Auteroche, der den Durchgang der Venus durch die Sonne bey ihnen beobachtete; Conda - mine gegen einen Jndianer am Amazonenfluß; Frank - lin gegen einen Huronen; Maupertuis gegen einen Lappen. Und in der That brauchen wir ſoweit die Beyſpiele nicht zu ſuchen. Wir haben aͤhnliche in der Naͤhe. Mit einem Wort: man vergleiche den Aufge - klaͤrteſten mit dem Wildeſten, nur mit dieſer Bedin - gung, daß der letztere mit allen geſunden Sinnen verſe - hen ſey und ſie ſo zu brauchen gelernet habe, als es in der roheſten Geſellſchaft moͤglich iſt. Nur die wenigen einzelnen ungluͤcklichen Menſchengeſchoͤpfe, die ganz auſ - ſer aller menſchlichen Geſellſchaft unter Thieren entwi - ckelt waren, muß man hier weglaſſen. Einige von ih - nen ſind wahnſinnig geweſen, und koͤnnen alſo zu den vollſtaͤndig organiſirten nicht gerechnet werden. DieU u 3uͤbrigen,678XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtuͤbrigen, wenn nicht gar bey allen ein innerer verborge - ner Fehler in der Organiſation geweſen iſt, lehren zwar, wie weit die Naturanlage zur Menſchheit zuruͤckbleiben kann; aber ihrer ſind ſo wenige, und dieſe gehoͤren zu ſehr zu den außerordentlichen, als daß man auf ſie Be - tracht nehmen duͤrfe, wenn von der wirklichen Menſch - heit die Rede iſt.

2.

Es iſt unmoͤglich, daß auch der roheſte Menſch zu einem fertigen Gebrauch ſeiner Sinne gelangen kann, ohne zugleich ſein Ueberlegungsvermoͤgen zu uͤben und zu ſtaͤrken. Bey den Thieren geht dieß wohl an; aber bey dem Menſchen iſt es eine Folge ſeiner Natur, daß man auf einen guten Menſchenverſtand ſchließen muß, wo man ihn ſeine Sinne richtig gebrauchen ſieht. Die - ſe Fertigkeit, nach den Eindruͤcken auf die Sinne uͤber die Objekte zu urtheilen, kann nicht erlanget werden, oh - ne daß Jdeen angereihet, verglichen, auf einander be - zogen und wahrgenommen ſind. Nun ſind die Wilden in dieſem Stuͤck ſo wenig unter den Kultivirten, daß ihnen vielmehr faſt durchgehends ein Vorzug vor dieſen, an der einen oder der andern Seite der Sinnlichkeit, zu - geſchrieben wird. Sie reichen weit mit den Augen, ſie ſehen ſcharf und hoͤren genau. Viele von ihnen be - ſitzen einen weit ſpuͤrenden Geruch. Dazu trift man bey allen dieſelbigen Gemuͤthsbewegungen und Leiden - ſchaften an wie bey uns, von allen Gattungen, Liebe, Haß, Freundſchaft, Feindſchaft, Furcht und Hoff - nung, Niedergeſchlagenheit und Muth. Sie beſitzen auch ihren Grad von Ehr - und Ruhmliebe. Jhre Lei - denſchaften wirken mit der heftigſten Jntenſion, aber freylich weniger auseinandergeſetzt und eingeſchraͤnkter am Umfang, weil die kleine Anzahl der Objekte, die ſiein679und Entwickelung des Menſchen. in Bewegung ſetzen, geringe und, wie ihre Beduͤrfniſſe, einfacher ſind.

Und auch die thaͤtige Kraft der Seele, wodurch die Bewegungen des Koͤrpers regiert werden, muß bey ihnen keine geringere Staͤrke haben, als bey den kulti - virteſten Menſchen. Beweiſe davon ſind ihre unnach - ahmlichen Fertigkeiten im Laufen, Springen, Schwim - men, Werfen und dergleichen. Es iſt alſo offenbar, daß kein Grundvermoͤgen der Seele bey ihnen unentwi - ckelt geblieben ſey. Jedes derſelben iſt zu einem Gra - de von Umfang und Staͤrke gelanget. So zeigt ſichs bey ihrem Gefuͤhl, bey ihrer vorſtellenden Kraft, ihrer Denkkraft, ihrem thaͤtigen Vermoͤgen zu handeln. Al - les iſt entwickelt und gewachſen. Eben ſo wenig fehlet ihnen Aufmerkſamkeit auf ſinnliche Sachen, die ſie be - arbeiten, und auf ihre Geſchaͤfte. Alſo auch das Ver - moͤgen nicht, die Reflexion bey Sachen laͤnger und anhaltender zu beſchaͤfftigen.

Unter den aͤußern Sinnen der Menſchen ſcheinen in - deſſen der Geſchmack und das koͤrperliche Gefuͤhl bey den Wilden und Barbaren am ſchwaͤchſten zu ſeyn. Man hat ſie gegen die grauſamſten Qualen unempfindlich ge - funden. Dieß mag eine Staͤrke im Koͤrper zum Grunde haben; aber es iſt doch eine allzugroße Abhaͤrtung, wel - che nothwendig das Selbſtgefuͤhl der Seele verhindern muß die noͤthige Feinheit zu erlangen, wodurch es die hoͤ - hern Seelenkraͤfte zur Thaͤtigkeit reizet. Die zu große Empfindlichkeit des Koͤrpers iſt zwar auf der einen Sei - te auch ein Hinderniß, das die Seele nicht ſtark werden laͤßt; aber auf der andern vertraͤgt ſich eine große Unem - pfindlichkeit eben ſo wenig mit der Ausbreitung der Ver - nunft. Soll das innere Gefuͤhl, und beſonders dasjeni - ge Gefuͤhl der Vorſtellungen und der Verhaͤltniſſe, wel - ches das Unterſcheidungsvermoͤgen und die hoͤhere Denk - kraft erwecket, zu einiger Lebhaſtigkeit kommen, ſo iſtU u 4ein680XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtein gewiſſer Grad von Empfindlichkeit in dem Nerven - ſyſtem erfoderlich, der die zu große Abhaͤrtung der Muſkeln im Wege ſteht. Jndeſſen kann man auch aus der Gefuͤhlloſigkeit des Koͤrpers in Hinſicht gewiſſer Ar - ten von Eindruͤcken, wie man z. B. bey den Bewoh - nern des Feuerlandes antrift, die halb nacket Froſt und Schnee ausſtehen, noch nicht ſchließen, daß ſie allge - mein ſey. Dieſelbigen Menſchen koͤnnen vielleicht ein ſcharfes Gefuͤhl in den Fingern haben. Man hat noch keine Unterſuchungen daruͤber angeſtellt, wie gut ſie ſich im Dunkeln in ihrem Lande und Wohnungen durch das Gefuͤhl in den Haͤnden fortzuhelfen wiſſen.

Die Aufmerkſamkeit auf ſich ſelbſt und auf ihre ei - genen Vorſtellungen iſt es, woran es in dieſem Stande der Sinnlichkeit und der Dummheit am meiſten fehlt. Sie fuͤhlen ihre innern Veraͤnderungen, ihre Gemuͤths - bewegungen, was ihnen behaglich oder unbehaglich iſt, wie wir. Aber dieß Jnnere zu vergleichen, wie Sa - chen, die den aͤußern Sinnen vorliegen, das iſt eine Arbeit, von der der rohe Menſch am wenigſten zu wiſ - ſen ſcheint. Gleichwohl iſt es doch nicht ſo ſehr eine Schwaͤche an Vorſtellungskraft, oder am Bewußtſeyn, oder Schwaͤche einer ſelbſtthaͤtigen Phantaſie. Sie beweiſen ein vortrefliches Gedaͤchtniß in einigen Sachen, und eine Erfindungskraft an ihren Bogen, Pfeilen, Kaͤhnen, Stricken, die ſie mit den ſchlechteſten Jnſtru - menten verfertigen, und davon einige einen Witz zeigen, der dem Witz eines europaͤiſchen Baumeiſters gleich kommt. Der gedachte Mangel an Reflexion uͤber ſich ſelbſt liegt mehr in der Richtung, die die vorſtellende und fuͤhlende Kraft erhaͤlt, indem ſie faſt niemals auf die Bemerkung des Jnnern gefuͤhrt wird. Eben dieſes hindert auch die Anwendung der hoͤhern Verſtandeskraͤfte. Es laͤßt ſich ein aͤhnlicher Grund von dem Mangel der innern Selbſt - thaͤtigkeit angeben. Die wahre Freyheit der Seele, dieuͤber681und Entwickelung des Menſchen. uͤber ſich und ihre Leidenſchaften gebieten kann, muß da fehlen, wo die Sinnlichkeit herrſchet und wo die Ver - nunft nur ſchwach iſt. Der rohe Menſch vergißt ſich ſelbſt bey jeder Anwandelung von Affekt. Jede Leiden - ſchaft ſteiget in ihnen auf, wie ein zuſammengehaltenes Feuer, weil es ihr an Gelegenheit fehlt ſich auszubreiten und zu ſchwaͤchen. Daher wiſſen ſie ſo wenig von der aͤußern Zuruͤckhaltung ihrer Begierden. Jndeſſen ſieht man doch aus vielen Beyſpielen, wie weit ihre Verſtel - lungskunſt und Falſchheit gehe; und dieß iſt wiederum ein Beweis, daß ihre Selbſtthaͤtigkeit nicht ſo ganz un - vermoͤgend ſey, ſich zu zwingen und zu regieren. Viel - mehr da ihre Leidenſchaften fuͤr ſich ſo wuͤtend ſind, ſo koͤnnte man ſchließen, daß jene ziemlich groß ſeyn muͤſſe, wenn ſie den aͤußern Ausbruch zuruͤckzuhalten vermag. Aber ſie vermag dieß nur, wo ſie von einer noch ſtaͤr - kern Leidenſchaft unterſtuͤtzet wird, wo z. B. Furcht und Rachſucht ſie beſelet. Daher auch dieſes etwanige Ver - moͤgen ſich zu regieren von der hoͤhern Selbſtmacht der Seele uͤber ſich weit entfernt iſt. Es verſteht ſich, daß dieß nicht ſo viel heiße, daß die Grundkraft der Tugend ganz und gar bey ihnen unwirkſam ſey. Wenn man erwaͤgt, wie viel Schwaͤche dieſe bey den kultivirteſten Menſchen noch hat, ſo wird man wiederum den Abſtand zwiſchen dieſen und jenen merklich vermindert finden. Jm Ganzen aber die Vergleichung gemacht, hat der kultivirte Menſch eine innere Welt fuͤr ſich, die weit ein - geſchraͤnkter in dem Wilden iſt.

Wenn man dieß geſagte zuſammennimmt, ſo ſchei - net es doch, es laſſe ſich daraus eine Folge ziehen, die von großer Erheblichkeit iſt, naͤmlich: daß der Grad der Entwickelung und Erhoͤhung in der Seele, |von der Geburt an bis ſo weit, als ſolche in |einem| der niedrigſten aber ſonſt voͤllig aufgewachſenen Wilden vorhanden iſt, gerechnet, einen groͤßern Fortgang |inU u 5 der682XIV. Verſ. Ueber die Perfektibiliaͤt der Vervollkommnung der Menſchheit ausmache, als derjenige iſt, der noch uͤbrig ſeyn wuͤrde, wenn die in - nere Vollkommenheit in dem Wilden von dieſer Stu - fe an zu ihrer Stufe in dem beſten Menſchen ge - bracht werden ſollte. Jch meine dieß ohne Beden - ken behaupten zu koͤnnen, ob es gleich auf Groͤßen und auf eine Schaͤtzung dabey ankoͤmmt. So viele Vor - ſtellungen und Kraftaͤußerungen noch fehlen, ehe die letzterwehnte Fortruͤckung beſchaffet wuͤrde; und mags auch ſeyn, daß ſie bey den meiſten Jndividuen in dieſem Leben nicht mehr moͤglich iſt: ſo muß man doch auch ge - ſtehen, daß dem neugebornen Kinde noch viel mehr feh - let, ehe es zu einem Neuhollaͤnder werden kann. Wie groß, wie lang, wie wichtig iſt nicht dieſer Schritt von der Kindheit bis zum Mannsalter. Sollte dieſer, wenn er nicht ſchon in dem dreyßigſten Jahr des Lebens unter der Anweiſung der Natur vollendet waͤre, wohl noch einmal im Leben des Menſchen vorgenommen werden koͤnnen? Wo es aber unmoͤglich iſt bey einzelnen Jndi - viduen, daß ein Wilder die Kultur noch annehme, da hat ſolches zum Theil auch darinn ſeinen Grund, weil ihm gewiſſe Eigenſchaften an einer Seite genommen werden muͤßten, die den neuen hinderlich ſind, und die nicht alle fuͤr Maͤngel und Unvollkommenheiten koͤnnen geachtet werden. Jede Form hat ihre Unvollkommen - heiten. Jſt der Charakter des Wilden nicht mehr ge - ſchmeidig genug, um ein Europaͤer zu werden, ſo mag es daran liegen, weil er ſtarke Thaͤtigkeiten an einer Seite hat, die in Hinſicht auf die uͤbrigen zu groß und eben deßwegen nicht zu bezaͤhmen ſind.

Man iſt alſo berechtiget, dieſen Grundſatz anzuneh - men: Die Ausbildung der Menſchheit in allen ihren unterſchiedenen Formen, worinnen ſie in vollorganiſirten und erwachſenen Jndividuen ſich zeigt, iſt bis auf einen Grad hin allenthal -ben683und Entwickelung des Menſchen. ben von gleicher Groͤße; und dieſe Gleichheit an ausgebildeter menſchlicher Realitaͤt iſt groͤſ - ſer als die Ungleichheit, die bey denen, welche auf der niedrigſten Stufe ſtehen, und denen, die zu der hoͤchſten gelangt ſind, uͤbrig bleibet. Das Menſchengeſchlecht iſt als ein Wald aus Baͤumen anzu - ſehen, die von gleicher Gattung und von gleichem Alter ſind. Sie ſind an Hoͤhe und Dicke ungleich, aber nur ſo, daß einige mit ihrem Gipfel einige Fuß hervorra - gen, da ſie bis auf zehnmal ſoviel gleich ſind. Es iſt keine Waldung von Baͤumen und Geſtraͤuchen verſchie - dener Gattungen, deren einige wie Cedern ihr Haupt erheben, andere wie niedrige Gebuͤſche an der Erde krie - chen. Wenigſtens iſt jenes erſtere Gleichniß paſſender, als dieß letztere.

3.

Bey den vollſtaͤndig organifirten Kindern iſt die Gleichheit der Natur, im Verhaͤltniß auf die zufaͤl - lige Ungleichheit, noch groͤßer, als die Gleichheit bey den Entwickelten im Verhaͤltniß auf die Ungleich - heit iſt. Jene Gleichheit faͤllt aber weg, wenn Fehler in der Organiſation bey gewiſſen Jndividuen vorhanden ſind. Dadurch leidet die Gleichheit eben noch nicht ſo ſehr, wenn es etwa einem Jndividuum an einem oder dem andern von den aͤußern Sinnen fehlet. Dieſer Mangel auf der andern Seite kann durch eine groͤßere Schaͤrfe in einem andern Sinne erſetzet ſeyn. Der Blind - oder Taubgeborne iſt von einer Seite weniger Menſch als ein anderer, der alle Sinne hat. Den - noch bewies der junge Englaͤnder, den Chelſeden heilte, einen ſo feinen natuͤrlichen Verſtand, daß man ihm viel - leicht manche menſchliche Realitaͤten zugeſtehen mußte, die vielen Sehenden von ſeinem Alter fehlten. Dage - gen iſt Wahnſinn, Verruͤckung, Verſtandloſigkeit, einmehr684XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtmehr weſentlicher Mangel an Menſchheit. Jhre Groͤſ - ſe haͤngt von der Groͤße der Realitaͤt in dem Seelenwe - ſen ab. Jſt nun die Organiſation des Koͤrpers, inſo - fern ſie das Werkzeug der Seele ausmacht, fehlerhaft, ſo giebt es einen gewiſſen Grad dieſes Mangels, der vor andern verdienet bemerket und, ſo viel moͤglich, feſt beſtimmet zu werden. Das iſt dieſer, wo die Organi - ſation bis dahin fehlerhaft iſt, daß die Seele ihre Selbſt - thaͤtigkeit dieſe Eigenſchaft der Menſchheit nicht anwenden und daher nicht ausbilden kann. Solche elende Perſonen koͤnnen nicht aus der Klaſſe der Men - ſchen ausgeſtrichen werden. Dieß ſind und bleiben ſie. Aber ſie gehoͤren nicht mehr zu der Klaſſe der ausgebil - deten Menſchen; nicht zu der Klaſſe derer, bey wel - chen die Selbſtthaͤtigkeit und Freyheit ſich weiter entwi - ckelt haͤtte, als ſie von Natur war. Sie iſt in ihrem Keim als Anlage geblieben. Solche Perſonen koͤnnen nicht als freyhandelnde betrachtet werden. Jeder ande - re Fehler im Koͤrper, der die Folge nicht hat, daß er den Menſchen um ſeine Selbſtſtaͤndigkeit bringt, kann ihm auch den Rang eines freyen ſelbſtthaͤtigen Weſens nicht benehmen, noch die Rechte und Befugniſſe, die ſeine gleichen Nebengeſchoͤpfe ihm, als einem ſolchem, zu - geſtehen muͤſſen.

4.

Daß alle Menſchen von Natur einander gleich ſind, iſt eine große, lang verkannte und noch itzo nur dem kleinſten Theil der Menſchen einleuchtende Wahr - heit. Es gehoͤret zu den Vorzuͤgen unſers Jahrhun - derts, daß die erhabenſten unter den Menſchen, Jo - ſeph und Catharina, die Richtigkeit derſelben bezeuget haben. Allein dieſe Gleichheit von Natur iſt doch mit derjenigen nicht zu verwechſeln, welche zwiſchen den aus - gebildeten Menſchen ſtattfindet. Die letztere iſt, alsGleich -685und Entwickelung des Menſchen. Gleichheit, nicht mehr ſo groß als jene. Die Menſchen zeigen ſich wie die Pflanzen deſto mehr von einander ver - ſchieden, je weiter jeder auf ſeine Art in der Ausbildung kommt. Aber wie weit die letztere gehe und wie begren - zet ſie ſey, erhellet zugleich aus demſelbigen Grundſatz, der die Gleichheit ſelbſt beſtimmet. Wenn alle voͤllig organiſirte und erwachſene Menſchen zu einer und derſel - bigen Klaſſe ſelbſtthaͤtighandelnder gehoͤren, ſo giebt es doch eine Stufenverſchiedenheit, die ihre großen Folgen hat, wie die Gleichheit ſelbſt. Die phyſiſchen Verhaͤlt - niſſe der Dinge ſind die erſten urſpruͤnglichen Gruͤnde zu den moraliſchen und rechtlichen Verhaͤltniſſen. Aber ſo wie die phyſiſche Gleichheit der Menſchen eine Gleichheit der Rechte zur Folge hat: ſo muß auch eine phyſiſche Ungleichheit in den Graden eine Ein - ſchraͤnkung der moraliſchen und rechtlichen Gleichheit nach ſich ziehen. Wenn die Gleichheit der Menſchen ver - kannt wird, ſo wird Stolz, Menſchenverachtung, Un - terdruͤckungsgeiſt und Tyranney genaͤhrt. Allein Miß - kenntniß der Grenzen dieſer Gleichheit kann einen gewiſ - ſen menſchenfeindlichen Fanatismus erzeugen, der in ſeinen Folgen vielleicht eben ſo ſchaͤdlich werden moͤchte, als jene entgegengeſetzten Fehler geworden ſind; wenns nur moͤglich waͤre, daß er eben ſo leicht und ſo weit ſich ausbreiten koͤnnte. Zum Gluͤck iſt dieß letztere nicht ſehr zu beſorgen. Der ſtolze Gedanke, daß andere Men - ſchen weniger werth ſind, als wir und die, welche uns am naͤchſten und aͤhnlichſten ſind, findet im Ganzen viel leichter und mehr Beyfall, als der Gedanke, daß wir auch die Verachteteſten als unſers Gleichen zu be - trachten haben. Und darum kann die alles unparthey - iſch beurtheilende Vernunft geruhig daruͤber ſeyn, daß man die Einſchraͤnkungen der Gleichheit nicht finden ſoll - te, da die Eigenliebe ſolche mit Eifer aufſuchet. Jn - deſſen erfodert es die gerechte Wahrheit, ohne welchedie686XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtdie Menſchenliebe Schwaͤrmerey iſt, daß die Ungleich - heit ſowohl geſchaͤtzet werde, als die Gleichheit. Die Ungleichheit in den Stufen iſt nicht unerheblich. Der Vorzug des Verſtaͤndigen vor dem Einfaͤltigen, des Aufgeklaͤrten vor dem dummen Barbaren, des Geſitte - ten vor dem Ungeſitteten, des Tapfern vor dem Feigen, und, welcher Unterſchied in ſeinen Folgen der allerwich - tigſte iſt, des Rechtſchaffenen vor dem Boͤſewicht, iſt unſchaͤtzbar und alles unſers Verlangens und Beſtre - bens wuͤrdig. Der Brittiſche Matroſe, der eben noch nicht hoch in der Klaſſe der kultivirten Menſchen ſtehet, iſt auf Neuſeeland oder am Feuerlande ein großer her - vorragender Mann, von innerer Wuͤrde. Es iſt der auffallendſte Beweis von dem natuͤrlichen Vorzuge des Menſchen vor den Thieren, wie Buffon ſagt, daß jener dieſe ſich unterwuͤrfig machen kann, die Thiere aber den Menſchen nicht. So groß iſt zwar der Vor - zug des Kultivirten vor dem Wilden nicht; aber etwas davon iſt vorhanden. Er weiß doch, ſeiner ſchwaͤchern Kraͤfte des Koͤrpers ohnerachtet, die Wilden zu zwin - gen, zu regieren und nach ſeinen Abſichten zu lenken, wie der Wilde bey den Thieren es vermag. Die kulti - virten Voͤlker haben in allen Welttheilen mit einer Hand - voll Menſchen unzaͤhliche Haufen von unkultivirten un - ters Joch gebracht. *)Der Hr. von Paw hat es in ſeinen recherches ſur les Americains als einen Hauptgrund der vorzuͤglichen na - tuͤrlichen Dummheit der Amerikaner angegeben, daß Reiche, als Mexico und Peru, von einer ſehr gerin - gen Anzahl von Spaniern erobert worden ſind. Aber man vergleiche die Nachrichten von den erſten Erobe - rungen der Portugieſen an der oͤſtlichen Kuͤſte von Afrika und in Oſtindien, ſo findet man Beyſpiele von Siegen, die den ſpaniſchen in Amerika gleich ſind. Man koͤnnte auf eine aͤhnliche Art hieraus folgern, dieEinwoh -Man kann alſo zwar ganz rich -tig687und Entwickelung des Menſchen. tig behaupten, daß die Menſchen an innerer Wuͤrde und Groͤße, in ihrem ausgebildeten Zuſtande, einander gleich ſind. Nur daß es eine ungemeine Ausſchwei - fung der Phantaſie ſeyn wuͤrde, wie der Verfaſſer des Alfreds erinnert, wenn jemand aus jener allgemeinen Gleichheit der einzelnen Perſonen, die zu einer Geſell - ſchaft verbunden ſind, ſchließen wollte, ſie muͤßten auch alle gleiche Rechte und Befugniſſe auf andere in den Geſellſchaften haben, und daß der Unterſchied der Staͤn - de ſeiner Natur nach eine Ungerechtigkeit enthalte.

Aber ferner, wenn man die Verſchiedenheit der Menſchen und den Abſtand an der innern Entwickelung des Geiſtes, wovon einige in dieſem Leben zuruͤckblei - ben, mit denjenigen Guͤtern vergleichet, welche die Vor -ſehung*)Einwohner der Neuen Welt waͤren nicht mehr ausge - artet geweſen, als die Jndianer, die ſich von den Por - tugieſen bezwingen ließen. Beides beweiſet nichts mehr, als das gewoͤhnliche große Uebergewicht der po - lizirten Voͤlker und diſciplinirter Armeen uͤber Barbaren und Wilde, beſondere Nebenurſachen bey Seite geſetzt. Dazu beſaßen die Oſtindianer ſchon den Gebrauch des Feuergewehrs, da die Mexikaner und Peruaner außer der Volksmenge nichts anders als Pfeile, Bogen und Aexte den Spaniern entgegen zu ſtellen hatten. Sonſten iſt es wohl aus verſchiedenen Begebenheiten zu erſehen und auch leicht zu begreifen, daß die Wildheit in der Neuen Welt im Ganzen ausgebreiteter, und da, wo ſie am ſtaͤrkſten war, noch ſtaͤrker geweſen iſt, als bey den unkultivirten Voͤlkern in der alten Welt. Jene hatten viele Jahrhunderte durch, vor der ſpaniſchen Entde - ckung, mit keinem polizirten Staate in einer Verbin - dung geſtanden. Selbſt die Peruaner und Mexikaner, die kultivirteſten unter ihnen, hatten es doch damals ſo ſehr hoch in der Kultur nicht gebracht. Jn der al - ten Welt war mehr Licht und mehrere Verbindung der Voͤlker, daß auch die entfernteſten einige Lichtſtra - len erhielten, die die Geiſtesfinſterniß auch da, wo ſie am groͤßten war, doch etwas mildern mußten.688XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtſehung durch die Einlenkung der Begebenheiten in der Welt gewaͤhren kann, und hiebey auf die Abſicht und Beſtimmung des Menſchengeſchlechts Ruͤckſicht nimmt: ſo giebt die gedachte Gleichheit in der Ausbildung an den weſentlichſten Stuͤcken einen Grund zu glauben, daß die Abſicht der Vorſehung bey allen in ſolcher Maße erreichet werde, daß das, was zuruͤckbleibet, keinen Zweifel gegen die goͤttliche Fuͤrſorge auch fuͤr die Elendſten der Erden gruͤnden kann. Hier iſt es ein merkwuͤrdiger Satz: was wirklich bey allen errei - chet wird, iſt das weſentlichſte, und groͤßer und wich - tiger, als das, was nicht erreichet wird, und was ehe noch und leichter hinzukommen kann, als das erſtere, was bewirket iſt. Hieraus koͤnnen freylich nicht alle Fragen beantwortet werden, die man bey der allgemei - nen Vorſehung aufgeworfen hat. Aber laßt uns anneh - men, was man annehmen muß, daß die innere Ver - vollkommnung des Geiſtes Einer der Hauptzwecke ſey, warum Gott die menſchliche Seele in die gegenwaͤrtige Verknuͤpfung geſetzt! Dieſer Zweck wird bey allen Jn - dividuen in ſeinen weſentlichſten Stuͤcken erhalten. Selbſt in dem Boͤſewicht erfolgt einige Entwickelung der Naturkraͤfte, obgleich mit einer Zerruͤttung im Jn - nern. Dieß fuͤhret doch zu einigen Folgen, die in der Theodicee von Wichtigkeit ſind. Die groͤßte Stufen - verſchiedenheit unter den Menſchen iſt nun kein Grund mehr zu ſchließen, daß der guͤtige Vater der Menſchen lieber ſie gar nicht haͤtte werden, als ſo haͤtte werden laſ - ſen ſollen, wie ſie zum Theil ſind. Eben dieſelbige iſt nicht mehr ſo wichtig, daß man es mit dem Begriff von ſeiner Guͤte unvereinbar finden ſollte, daß nicht mehrere und kraͤftigere Mittel von der Vorſehung veran - ſtaltet worden, als es wirklich in der Welt geſchehen iſt, um dieſe Verſchiedenheit zu heben.

Auch689und Entwickelung des Menſchen.

Auch drittens folget aus der vorherbeſtimmten Gleich - heit ſo viel, daß man nicht glauben kann, es ſey irgend ein Menſch blos als Mittel zu der Gluͤckſeligkeit eines andern, als zu einem Zwecke, in die Welt geſetzt. Je - des Jndividuum iſt ſelbſt fuͤr ſich Zweck und Abſicht, und berechtiget ſein eigenes Wohl als einen Theil des Ganzen anzuſehen, und das Wohl eines andern eben ſo, ohne daß jenes dieſem untergeordnet ſey. Kein Menſch iſt ſo ganz um des andern willen vorhanden, ſo wenig als er blos um eines andern willen entwickelt wird.

Auch die rechtliche Gleichheit zwiſchen entwickelten Menſchen iſt eine Folge der phyſiſchen Gleichheit. Jeder erwachſene voͤllig organiſirte Menſch beſitzt nicht nur innere Selbſtthaͤtigkeit und Unabhaͤn - gigkeit, ſondern auch eine aͤußere in ſeinen Handlun - gen. Dieſe iſt ſein Eigenthum, und kann ohne Ge - waltthaͤtigkeit, weder ihm gaͤnzlich entzogen, noch weiter eingeſchraͤnkt werden, als die Natur und die Abſicht der geſellſchaftlichen Verbindung oder das allgemeine Be - ſte es nothwendig machen. Es war eine ungeheure Verletzung der Menſchlichkeit, da die Europaͤer ſich fuͤr berechtigt hielten, die wilden und barbariſchen Bewoh - ner der entdeckten Laͤnder zu berauben, aus ihrem Be - ſitze zu verjagen, zu Sklaven zu machen, zu ihrer Re - ligion zu zwingen und ſie ganz zu ihrem Eigennutz zu gebrauchen. So mag der Menſch mit den wilden Och - ſen in den Ebenen von Paraguay umgehen. Denn da - zu berechtiget ihn, im Fall er ihre Haͤute oder ihr Fleiſch gebrauchen kann, ſeine natuͤrliche Beziehung auf die Thiere. Aber gegen Menſchen ſtehet der Menſch in an - dern Verhaͤltniſſen. Wenn es Voͤlker gegeben haͤtte, die wirklich ſolche Thiere in menſchlicher Geſtalt gewe - ſen, wofuͤr man die Einwohner auf Domingo ausgab, oder wenn es noch ſolche giebt, die ſchlechthin nicht an -II Theil. X xders690XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtders als unmuͤndige Kinder anzuſehen ſind: ſo mag man einige Befugniſſe in Hinſicht auf ſie mehr haben, als man bey andern haben wuͤrde, die an Selbſtthaͤtig - keit der Seele uns gleich ſind. Aber wie weit geht denn dieſe Befugniß? Man kann ſie aus Menſchenliebe, ohne ihren Willen und auch wohl mit Gewalt, bezaͤhmen und zu Menſchen, das iſt, zu ſelbſtthaͤtigen Weſen, ma - chen, wenn ſie es nicht ſind. Denn wenn ſie dieß ſchon ſind, ſo wuͤrde es eine Ungerechtigkeit ſeyn, ihnen etwas als eine Wohlthat mit Gewalt aufzudringen, die ſie dafuͤr nicht erkennen koͤnnen. Aber wenn ſie nun ſo weit gebracht ſind, daß ſie ſich ſelbſtthaͤtig nach Vorſtel - lungen beſtimmen und regieren: worauf iſt denn das Recht der Europaͤer gegruͤndet, wenn dieſe ſich anmaſ - ſen, fuͤr die auf ſie verwandte Bemuͤhung ſie auf im - mer als Sklaven zu behalten? Jſt man dazu mehr befugt, als der Vater es iſt ſeinen Sohn, den er, bis er volljaͤhrig ward, unter ſeiner Gewalt gehabt, auf Zeitlebens unumſchraͤnkt zu beherrſchen? Wenn die Vernunft es billiget, daß man Voͤlker, die ganz ohne Geſetze und wild, ohne buͤrgerliche Regierung, leben, durch gelinde Mittel vereinigen, in eine Staatsver - faſſung bringen und dann dafuͤr zur Belohnung auf immer die Oberherrſchaft uͤber ſie behaupten will: ſo iſt doch gewiß, daß dieſe Befugniß weder zu weit ausge - dehnt, noch die Beherrſchung zu einem ewigen Deſpo - tismus gemacht werden darf, wenn die Grenzen nicht uͤberſchritten werden ſollen. Wie erſtaunlich iſt aber nicht oft die Wuͤrde der Menſchheit verkannt, wo ſie in einer Farbe und unter Geſtalten ſich zeigte, worinn der Europaͤer nicht gewohnt war ſie zu ſehen? Jndeſſen wird wohl das Recht des Staͤrkern noch lange das Ge - ſetz bleiben, wornach entſchieden wird. Es iſt der Grundſatz der unaufgeklaͤrten Begierden. Die Schiff - leute auf dem Endeavour unter dem Oberbefehl des Hr. Cook691und Entwickelung des Menſchen. Cook glaubten, daß es gerecht ſey auf einen Jndia - ner zu ſchießen, der ihnen ihre Sachen entwenden wollte; aber darinn ſahen ſie auch keine Ungerechtigkeit, wenn ſie die Gaͤrten dieſer Leute pluͤnderten. Jhr menſchen - freundlicher Befehlhaber belehrte ſie durch Strafen ei - nes andern. Nach welchen Grundſaͤtzen konnte aber eben dieſer einſichtsvolle Mann es fuͤr gerecht halten, ein Land im Namen ſeines Herrn in Beſitz zu nehmen, das ſeine Einwohner hatte, die nicht von ſelbſt geneigt wa - ren ſich einer fremden Herrſchaft zu unterwerfen, und entweder in Freyheit lebten, oder doch in einer wilden Verfaſſung, in der ſie zufrieden waren. Ein anderes iſt es, wenn man bloſes Erdreich und wuͤſtes Land antrift. Vielleicht ſollen dergleichen feyerliche Beſitznehmungen nichts mehr als Ceremonien ſeyn, die eine Nation der andern nachmacht. Nicht eben in der Abſicht, ſich da - durch einen rechtmaͤßigen Titel zur Beherrſchung des ent - deckten Volks zu erwerben, ſondern nur um zu erklaͤ - ren, daß man keinem andern in Zukunft mehr Recht darauf einraͤume, als man ſelbſt verlanget, wenn gleich die Anſpruͤche von allen gleich ungegruͤndet ſind. Ue - berhaupt muß das, was ſich uͤber die Rechtmaͤßigkeit des europaͤiſchen Verfahrens in Hinſicht der Voͤlker in den uͤbrigen Welttheilen ſagen laͤßt, ſich auf die phyſi - ſchen Verhaͤltniſſe gruͤnden, wenn dieſe richtig beſtimmt ſind. Dabey iſt nicht zu laͤugnen, daß in einzelnen Faͤl - len ſo manche verwickelte Umſtaͤnde vorkommen, daß ſo wohl der Grund, als ſeine Folgen, ſchwer zu beurthei - len ſind.

X x 2VII. Von692XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

VII. Von dem Werth des aͤußern Zuſtandes in Hinſicht auf die Vervollkommnung des Menſchen.

  • 1) Die aͤußern Umſtaͤnde haben einen relati - ven Werth, inſofern ſie Mittel ſind, die Vervollkommnung der Menſchheit zu befoͤr - dern.
  • 2) Wie fern die aͤußern Umſtaͤnde in Hinſicht auf die innere Vervollkommnung gleichguͤl - tig ſind.
  • 3) Fortſetzung. Allgemeine Anmerkung uͤber die Vorzuͤglichkeit gewiſſer Verfaſſungen.
  • 4) Die Vervollkommnung des Menſchen geht weiter in polizirten Staten, als in der Bar - barey und Wildheit.

1.

Dieſelbigen Bemerkungen, worauf die obige Verglei - chung der Menſchen in Hinſicht ihrer innern Ent - wickelung fuͤhret, ſtoßen uns vom neuen auf, wenn man auf ihre aͤußere Verſchiedenheit, auf die Beziehungen auf andere Menſchen und die Koͤrperwelt, einen Blick wirft. Auch dieſe aͤußern Zuſtaͤnde und ihr Werth koͤn - nen aus einem zweyfachen Geſichtspunkte betrachtet wer - den. Jſt die Frage, ob der Zuſtand eines Deutſchen beſſer ſey, als der Zuſtand eines Neuhollaͤnders oder ei - nes Negers, und warum und wiefern er es ſey: ſo kann man entweder auf den Einfluß ſehen, den er auf ſein Wohl hat, auf die Maße von Zufriedenheit und ange - nehmen Empfindungen, die er bewirket, oder auch auf ſeinen Einfluß in die Ausbildung und Vervollkommnung der Natur. Das iſt mit andern Worten: man kanndas693und Entwickelung des Menſchen. das Aeußere betrachten, inſofern es den Menſchen gluͤck - licher, oder inſofern es ihn beſſer, macht. Denn ich ſehe dieſe beiden Geſichtspunkte hier noch als verſchieden an, und ich glaube, daß ſie zunaͤchſt ſo angeſehen wer - den muͤſſen; wenigſtens ſo lange, bis ſich aus der Beziehung der Gluͤckſeligkeit auf die Vervollkommnung ergeben moͤchte, daß beides entweder einerley oder doch unzertrennlich beyſammen iſt.

Die Naturanlage und die aͤußern Umſtaͤnde ma - chen beide zuſammen die volle Urſache aus, welche die Entwickelung in den Jndividuen beſtimmt. Es wird aus den obigen Betrachtungen*)Viertet Abſchnitt, II. 2. Anhang zum eilften Ver - ſuch, IV. wahrſcheinlich, daß jene bey den hervorragenden Menſchen die vornehmſte ſey, von der am meiſten abhaͤngt.

Die aͤußern Umſtaͤnde koͤnnen, fuͤr ſich betrachtet, durchaus keinen Werth haben. Nur allein ihre Rela - tion auf das Jnnere, und inſofern ſie Mittel ſind die - ſes vollkommner zu machen oder zu verſchlimmern, wenn noch auf die Gluͤckſeligkeit nicht geſehn wird, macht ih - ren Werth oder Unwerth aus. Aber wenn nun aus der Geſchichte und Erfahrung ihr Werth zu wuͤrdigen iſt, ſo muß man die Beywirkung der natuͤrlichen Anlage bey Seite ſetzen, den Einfluß von dieſer, ſo viel moͤglich iſt, abſondern, und dann fragen, wie viel mehr oder weni - ger dieſer oder jener aͤußere Zuſtand die Entwickelung der Natur befoͤrdern oder hindern koͤnne? Es giebt große Seelen unter den Wilden und an der Kuͤſte von Afrika, und kleine niedrige Geiſter in den aufgeklaͤrteſten Laͤndern. Dieß berechtiget uns nicht zu ſchließen, daß es fuͤr die Vervollkommnung der Menſchheit gleichguͤltig ſey, in welcher Verfaſſung ſie leben. Epiktet war ein ſo großer Mann in der Sklaverey, als Antonin aufX x 3dem694XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtdem Thron. Wer wird daraus folgern, daß die Skla - verey eben ſo gut geſchickt ſey, die menſchlichen Geiſtes - vermoͤgen zu entwickeln, als der Stand eines Regenten?

Jn das Beſondere kann ich mich hiebey nicht einlaſ - ſen, wenigſtens nicht ausfuͤhrlich. Dieſe Arbeit iſt zu groß, und zu meinen jetzigen Abſichten nicht erfoderlich. Nur bey allgemeinen Anmerkungen muß ich ſtehen blei - ben, auf die man, als auf Grundſaͤtze, zuruͤckzuſehen hat, wenn auf der einen Seite die wahren Vortheile der aͤußern Umſtaͤnde erkannt, und auf der andern auch der uͤbertriebenen Einbildung von ihrem Werth und dem verachtenden Stolz, womit man gern auf andere her - abſieht, die nicht ſo vortheilhaft geſetzt ſind, vorgebeugt werden ſoll.

2.

Jn allen Umſtaͤnden, unter denen Menſchen auf der Erde leben, entwickeln ſich die natuͤrlichen Vermoͤ - gen bis dahin, daß der Menſch auf die Stufe eines ſelbſtthaͤtigen Weſens kommt, unter den Polen, unter dem Aequator, im Jaͤger - und Fiſcherſtande, beym Eigenthum und Landbau, in Staaten - und Familienge - ſellſchaften, in Duͤrftigkeit und im Ueberfluß, in der Freyheit oder in der Sklaverey. Allenthalben giebt es Empfindungen, Beduͤrfniſſe und Reize fuͤr die Kraͤfte der Seele, wodurch ſie thaͤtig werden. Jſt der Menſch zu dem maͤnnlichen Alter gelangt, ſo iſt ein Schritt in der Entwickelung der Seele vollendet, der der groͤßte und ſchwerſte von denen iſt, die in dieſem Leben auf der Erde zu thun ſind. Jnſofern ſind auch alle aͤußere Zu - ſtaͤnde einander gleich, bey aller ihrer ſonſtigen Verſchie - denheit. Es liegt, ſo zu ſagen, ein Grad von Entwi - ckelungskraft in allen, der groͤßer iſt, als der Ueber - ſchuß derſelben, wo ſie am groͤßten iſt, vor derjenigen, wo ſie am kleinſten iſt. Man kann ebenfalls auch hierdie695und Entwickelung des Menſchen. die Anmerkung wiederholen, die oben uͤber den Geiſt der Staͤnde gemacht iſt,*)Vierter Abſchnitt, II. 4. daß naͤmlich jeder Zuſtand etwas Eigenes in ſeinem Einfluß auf die Entwicke - lung habe, was man als einen Vorzug bey ihm an - ſehen muß. Jeder fuͤr ſich enthaͤlt Veranlaſſungen, Eines oder das andere von den menſchlichen Vermoͤgen mehr und vorzuͤglicher zu entwickeln, als die uͤbrigen. Aber auch daraus folgt nichts weniger, als daß ſie alle gleich gut ſind. Es kann eine blos thieriſche Voll - kommenheit, oder gar nur eine mechaniſche Fertigkeit im Koͤrper ſeyn, die in der wilden Lebensart ausneh - mend erhoͤhet wird, deren Werth in Vergleichung mit der innern Seelengroͤße, am Gefuͤhl und Vernunft, ge - ringe iſt.

Wenn man den Werth der aͤußern Zuſtaͤnde blos nach den Veranlaſſungen und Gelegenheiten ſchaͤtzen will, die ſie dem Entwickelungstriebe der Seele geben, und nicht auch das mitrechnen will, daß ſolche Veranlaſſun - gen in dem einem Fall mehr thaͤtig und wirkſam ſind, fuͤr ſich ſtaͤrker eindringen und bewegen, als in dem andern: ſo vergleicht man ſie von einer Seite, wo ſie mehr einan - der gleich ſind. Jn jedem Zuſtande, in jeder Beſchaͤff - tigung und Lebensart wirken die aͤußern Objekte auf die Sinne, mit unzaͤhligen Eindruͤcken, welche die menſch - lichen Kraͤfte beſchaͤfftigen, wenn ſie nur die Aufmerk - ſamkeit auf ſich ziehen, und wahrgenommen werden. Der Fuhrmann ſieht eine Mannichfaltigkeit in den Be - wegungen ſeiner Pferde, worauf er ſeine Augen geheftet hat, davon der Reiſende in dem Wagen nichts weiß. Waͤre jener ſo lebhaft, wie der Tanzmeiſter, der bey dem Anſchaun eines ſchoͤnen Schritts im Tanzen aus - rief: Wie viel Wunder in einem Pas? vielleicht ge - rieth er auch zuweilen in Entzuͤckung uͤber die ſchoͤnen Schritte ſeiner Pferde.

X x 4Es696XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

Es giebt keine aͤußere Empfindung, die nicht ein unendlich vielfaches enthaͤlt. Es kommt nur auf einen Geiſt an, der ſich ſtark und lebhaft faßt, und auf Um - ſtaͤnde, die ſeine Kraft auf ſie hinlenken. Aber es iſt dennoch ein ganz anders ſich bey einer Sache unter - halten zu koͤnnen, wenn die innere Kraft ſtark genug iſt, ſich die in ihr liegenden kleinen Veranlaſſungen dazu zu Nutz zu machen; und ein anderes ſo von ihr geruͤhrt zu werden, daß man aufmerkſam werden und ſich mit ihnen beſchaͤfftigen muß. Jn dieſem letztern liegt die lebendige Kraft, womit das Aeußere auf das Jnnere wirket. Jenes bietet ſich nicht blos ihr dar, ſondern dringet ſich auf, und noͤthiget den Geiſt zur Ruͤckwir - kung und Thaͤtigkeit. Jn dieſem Umſtande hat eben die groͤßte Verſchiedenheit der aͤußern Verfaſſungen ih - ren Grund.

Man kann, was die aͤußern Situationen des Gei - ſtes betrifft, noch dieß hinzuſetzen. Es giebt eine große Verſchiedenheit unter ihnen, die nichts mehr iſt als eine bloße Verſchiedenheit, und die nichts mehr als nur eine Verſchiedenheit in der Ausbildung zur Folge hat, ohne daß die eine von der andern an innerer Realitaͤt etwas voraushabe. Wer kann ſagen, wie viel mehr oder weniger die Geſchaͤffte des Staatsmanns, die Kaufmann - ſchaft, der Soldatenſtand, der Landbau, die Schiff - fahrt, das Studiren, die Kuͤnſte, und ſo mehrere, welche alle Seelenthaͤtigkeiten erfodern, im Ganzen den Menſchen, nach allen Seiten betrachtet, auswickeln? Jede von ihnen bringet ihre eigene Form hervor, und befoͤrdert eine Entwickelung, die, von einer Seite den Menſchen betrachtet, einen Vorzug ausmacht. Aber zum wenigſten iſt es ſchwer, wenn man den Einfluß die - ſer Staͤnde von allen Seiten uͤberſehen und das ganze Maß von Entwickelung, das jeder auf gleich kraͤftige Art hervorbringet, unpartheyiſch beurtheilen will, dar -uͤber697und Entwickelung des Menſchen. uͤber zu entſcheiden, wie viel vorzuͤglicher die Wirkung des Einen vor dem andern ſey? Es iſt dieß vielleicht unmoͤglich. Der zufaͤlligen Beſchaffenheiten, die hin - zukommen, und doch zu dem eigentlichen Geiſt der Staͤnde nicht gehoͤren, ſind zu viele. Dieſe muͤſſen doch abgeſondert werden, wenn man ihren innern Werth be - ſtimmen will.

3.

Dieß iſt genug, um den Standesſtoltz zu unterdruͤ - cken. Aber es wuͤrde uͤbertrieben ſeyn, hieraus zu fol - gern, die innere Vervollkommnung laſſe ſich in jedem aͤußern Zuſtande, in gleicher Maße, und gleich leicht erlangen; eben ſo uͤbertrieben, als die Behauptung des Zeno und des Epikurs von ihrem Weiſen war, der eben ſo gluͤcklich ſeyn ſollte im Elend als im Ueberfluß, im Gefaͤngniß als in der Freyheit, in dem Ochſen des Phalaris, als auf dem weichſten Lager. Das Gefuͤhl widerſpricht ſolchen uͤberſpannten Grundſaͤtzen zu laut. Es gieng ein Rechnungsfehler hiebey vor. Der An - theil, den die Eindruͤcke der aͤußern Sinne an dem Wohl und Weh des Menſchen haben, ſo lange er in dieſer Welt lebt, war zu niedrig angeſchlagen. Eben ſo wuͤrde es auch ſeyn, wenn man es zum Grundſatz machen wollte: die Entwickelung der Menſchheit gehe gleich gut von ſtatten, bey jedweden aͤußern Beziehun - gen, daferne nur der innere Trieb in allen von der naͤm - lichen Staͤrke ſey. So viel auf das angeborne Genie auch ankommt, ſo kann doch daruͤber kein Zweifel mehr ſeyn, daß die aͤußern Umſtaͤnde den Geiſt zuruͤckhalten und unterdruͤcken, oder hervorziehen und aufmuntern. Vielleicht wenn ſchon ein Anfang in der Entwickelung nach einer Richtung hin gemacht iſt, und alſo nicht mehr die bloße Natur ſondern geſtaͤrkte Diſpoſition vorhan - den iſt: ſo moͤgen die aͤußern Beziehungen in HinſichtX x 5auf698XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtauf das weitere Fortſchreiten weniger bedeuten, aber niemals ſind ſie ganz gleichguͤltig. Wenn der Baum ſchon im Schuß iſt, ſo kommt er auch in einem Boden fort, worinn er im Anfange ſeines Wachſens erſtickt ſeyn wuͤrde. Und dennoch iſt ihm niemals die Beſchaf - fenheit des Bodens gleichguͤltig. Jn einigen Faͤllen iſt dieſer Einfluß des Aeußern auf das Jnnere auffallend.

Es iſt gewiß, daß die Seele zuruͤckbleibet, wo das thieriſche Leben allzu muͤhſelig iſt. Wenn der Menſch alles Beſtreben anwenden muß um ſich Nahrung zu verſchaffen, wie ſollte er Zeit haben die hoͤhere Denk - kraft zu uͤben? Jn der elenden Verfaſſung der Be - wohner des Feuerlandes ſind zwar Beduͤrfniſſe genug, die zur Thaͤtigkeit treiben, aber ſie ſind zu dringend und zu hinreißend, als daß auch die ſchwaͤchern ſollten bemerkt werden. Der Jaͤger, der Fiſcher, der alle Tage darauf ſinnen muß, um nicht zu verhungern, kann auf die an - genehmen Eindruͤcke nicht achten, die aus den ſchoͤnen, weiten, abwechſelnden und erhabenen Ausſichten der Natur entſtehen, noch ſich an dem Geſang der Voͤgel ergoͤtzen. Die feinere Empfindſamkeit wird alſo weni - ger entwickelt. Daher auch die Vorſtellungskraft nicht, und noch weniger die Denkkraft. Die Erfahrung be - ſtaͤtigt dieſes. Jagende und fiſchende Voͤlker, die ſich nur kuͤmmerlich ernaͤhren, bleiben ungemein an innerer Selbſtthaͤtigkeit der Seele, an Empfindſamkeit und an Vernunft zuruͤck. Nur die Koͤrperkraͤfte werden geuͤbt und entwickelt. Als Shelkirk auf Juan Fernandez Ziegen greifen mußte, um zu eſſen, erwarb er ſich die Geſchicklichkeit, wie eine Ziege zu ſpringen und auf Felſen zu klettern; aber er verlor dagegen den groͤßten Theil ſeiner Sprache und der Vernunft.

Dagegen wuͤrde der gaͤnzliche Mangel an koͤrperli - chen Beduͤrfniſſen, oder ein Ueberfluß an Sachen, wo - mit man ihnen abhilft, noch ehe man ſie fuͤhlet, viel -leicht699und Entwickelung des Menſchen. leicht eine Wirkung haben, die noch ſchlimmer waͤre. Woher ſollte hier Reiz und Trieb zur Wirkſamkeit ent - ſtehen? Es kommt zwar weniger auf Beduͤrfniſſe des Koͤrpers als auf Beduͤrfniſſe des Geiſtes an, bey der Entwickelung der hoͤhern Vermoͤgen. Die letztern koͤnnen nicht wohl ehe lebhaft genug empfunden werden, ehe nicht die erſtern zum Theil ſchon gehoben ſind. Sollen die Triebe der Großmuth ſich entfalten, ſo muß die Sorge fuͤr ſich das Herz nicht zu ſehr beſchaͤftigen. Allein dennoch ſind jene im Anfange nothwendig. Die geiſtigen Beduͤrfniſſe, die aus Sympathie entſtehen oder aus Begierde nach Ehre und Ruhm, ſind es, die mehr unmittelbar die Seelenkraͤfte ſpannen; aber ehe ſie ſtark genug zu dieſer Abſicht gefuͤhlet werden, muͤſſen die thieriſchen Triebe ruhen. Wenn dagegen dieſe letztern nicht den erſten Anſtoß zur Thaͤtigkeit gegeben haben, und die Seele nicht durch das Gefuͤhl koͤrperlicher Unbehaglichkeit gereizet worden iſt, in den erſten Em - pfindungen ihre Gefuͤhlskraft auszudehnen und zu ſtaͤr - ken: wie ſoll dieſe ſich bis zu dem Selbſtgefuͤhl jener in - nern Beduͤrfniſſe der Phantaſie und des Herzens erhe - ben? Zu allen Leidenſchaften die durch Beyſpiel und Anfuͤhrung erzeuget werden, und weder aus dem Hun - ger und Durſt noch aus dem Vermehrungstrieb ent - ſpringen, liegen die erſten Antriebe in den erwaͤhnten koͤrperlichen Beduͤrfniſſen, und in denen, die zunaͤchſt an dieſe letztern angraͤnzen. Bey den wenigſten Men - ſchen wuͤrde nicht einmal ein Ehrgeiz entſtehen, wenn niemals ein Mangel an den erſten ſinnlichen Ergoͤtzun - gen gefuͤhlt worden waͤre. Home ſagt:*)Geſchichte des Menſchen Erſt. Th. 1 B. 8 V. S. 397. Jn dem wilden Stande iſt der Menſch beynahe nur ganz Koͤr - per, und hat einen gar geringen Gebrauch ſeiner Seele. Jn dem Stande der Verderbniß durch700XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt durch Schwelgerey und Wolluſt hat er weder Leib noch Seele.

Ueberhaupt iſt jedes Aeußerſte, in irgend einer Sache, das Groͤßte und das Kleinſte, der Vervollkomm - nung des Menſchen hinderlich. Die ſtarke Hitze, wie der Froſt, wenn man ihren Eindruͤcken nicht entgehen oder ſie nicht mildern kann, halten beide die Wirkſam - keit der Seele zuruͤck. So in allen Stuͤcken.

Unter dem Aberglauben kann die Menſchheit nicht gedeihen. Die Furcht feſſelt die edelſten Triebe der hoͤhern Ueberlegungskraft und des Herzens. Er be - nimmt dem Menſchen die Zuverſicht zu ſich ſelbſt, ohne welche doch die Eigenmacht der Seele ſich nie mit ihrer ganzen Staͤrke aͤußern kann. Dazu zwingen ſeine Ge - ſetze den Willen, und heben die eigene Macht auf bey Handlungen, woran der Menſch am meiſten ſeine Ueber - legung und ſeine Freyheit uͤben und ſtaͤrken ſollte. Ohne Glauben dagegen und ohne Religion, was wuͤrde als - denn aus dem Menſchen? Wo die Religionsideen feh - len oder unwirkſam ſind, da fehlen die maͤchtigſten Trieb - federn der Seele, und zwar die Triebfedern zu Beſtre - bungen, wovon die groͤßten und erhabenſten Vollkom - menheiten im Verſtande und im Herzen abhangen.

Die Sklaverey ſetzt den Menſchen herunter, und wenn ſie mit dem Aberglauben verbunden iſt, machet ſie ihn zu einem ſo niedrigen Weſen, als er werden kann. Der Deſpotismus wirket auf die Selbſtthaͤtigkeit in aͤußerlichen Handlungen; der Aberglaube auf die Thaͤ - tigkeit in den innern. Beide alſo vereiniget, gehen ge - rade dem weſentlichen Vorzuge der Menſchheit entgegen. Jſt Furcht das herrſchende Princip in der Seele, ſo kann weder die innere Geiſtesſtaͤrke noch die Gluͤckſelig - keit vorzuͤglich etwas werth ſeyn. Dieß iſt aber die Wir - kung des Deſpotismus, und die Folge der Sklaverey. Alles, was jene noch zulaͤßt, beſteht in dem aͤußern ſinn -lichen701und Entwickelung des Menſchen. lichen Vergnuͤgen, das dem Sklaven zu Theil werden kann, und ihn, wenns hoch kommt, zu einem gluͤcklichen Thiere, nie aber zu einem gluͤcklichen ſelbſtthaͤtigen Men - ſchen macht.

Die gaͤnzliche Unabhaͤngigkeit dagegen kann eben ſo wenig mit der menſchlichen Vervollkommnung be - ſtehen. Ohne einigen Zwang von außen kann wenig - ſtens der Menſch im Anfange ſeiner Ausbildung nicht gluͤcklich ſeyn. Und ehe er dahin kommt, daß er ſich ſelbſt regieren lernet, wuͤrden Traͤgheit und Sinnlichkeit die Kraͤfte der Natur ſchon zu ſehr geſchwaͤcht und verdorben haben, als daß ſie einen vorzuͤglichen Grad von einer Staͤrke und Vollkommenheit mehr annehmen koͤnnten. Die einzelnen Ausnahmen ſind allzu ſelten, als daß ſie in Anſchlag gebracht werden koͤnnten. Wie viele wuͤrden aber auch im Beſitze der erlangten Geiſtesguͤter bleiben, wenn alle Einſchraͤnkung der Begierden von außen gehoben wuͤrde? Voͤlker ohne Geſetze und ohne Obrigkeit, wozu doch auch die Familienregierung zu rechnen iſt, muͤſſen durchaus nur einfache Begierden haben, und alſo auch nur auf eine einfache und niedrige Art ſich ausbilden, wie die Geſchichte beſtaͤtiget. Es iſt allenthalben das ſchwer zu treffende Mittel, das uns zu unſerm Beſten am anpaſſendſten iſt.

Jndeſſen iſt es uͤberhaupt richtig, daß der Menſch nur da, wo er unabhaͤngig von andern und ohne Zwang handelt, nur inſofern als ein ſelbſtthaͤtiges Weſen handele. Die innere Unabhaͤngigkeit von Leidenſchaften und Hinderniſſen der Begierden iſt unendlich wichtiger, als die aͤußere Freyheit. So ſehr iſt kein Menſch Skla - ve von einem andern, daß nicht auch ſogar in ſeinen aͤußern Handlungen beſondere Beſtimmungen und Ein - richtungen genug auf ſeine Willkuͤr ankommen ſollten; deſto mehr, je groͤßer ſeine innere Freyheit des Geiſtes iſt. Uebrigens iſt das Beduͤrfniß ſelbſtthaͤtig handelnzu702XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtzu koͤnnen, ein feineres Seelenbeduͤrfniß, das nicht alle gleich ſtark und lebhaft fuͤhlen, weil dieß Gefuͤhl ent - wickelte Empfindſamkeit oder vorzuͤgliche innere Selbſt - thaͤtigkeit vorausſetzet. Es iſt ohne Ausnahme bey al - len Menſchen ſchwaͤcher, als das Gefuͤhl der thieriſchen Beduͤrfniſſe. Bey den mehreſten iſt es auch nicht ein - mal ſo ſtark, als die Beduͤrfniſſe der Sinnlichkeit und der Phantaſie. Der ſtarke Hang zur Unabhaͤngigkeit, den man bey wilden Voͤlkern antrifft, iſt groͤßtentheils nur eine Folge ihrer Traͤgheit und Unbiegſamkeit, und der daraus entſtehenden Abneigung gegen jedes Unge - wohnte, was ſie noͤthiget ſich etwas Gewalt anzuthun. Dieſe laͤßt ſie jedwede Einſchraͤnkung, die eine Umaͤn - derung in ihren Arten zu denken und zu handeln nach ſich ziehet, als einen Verluſt ihrer Freyheit anſehen. Es iſt Widerwille gegen Arbeitſamkeit, Ordnung und zweckmaͤßige Ausbildung. Bey andern iſt die vorgege - bene Freyheitsliebe mehr ein Hang ſich Anſehen, Macht, Vergnuͤgen und Vorzuͤge zu verſchaffen. Bey vielen kom - men mehrere Urſachen zuſammen. Es ſind ſehr wenige, die Freyheit und Unabhaͤngigkeit aus wahrer Geiſtes - groͤße ſchaͤtzen, weil ſie ein Beduͤrfniß fuͤhlen, wo ſie ge - zwungen ſind anders als ſelbſtthaͤtige Weſen, ohne oder wider eigene Einſicht zu handeln. Dieſe ſind es auch nur, die der Freyheit ihren wahren Werth beylegen. Unbiegſa - me Wilde, die ſie nicht entbehren koͤnnen, entſagen ihr zwar auch nicht, ohne durch ſtarke thieriſche Beduͤrfniſſe dazu gezwungen zu ſeyn. Aber wo auch nur eine Noth ſie dringet, oder eine ſtaͤrkere Begierde ſich des Herzens auf einen Augenblick bemaͤchtiget, da geben ſie ſie leicht weg, oder ſetzen ſie aufs Spiel, wie der alte Deutſche that. Ein großer Theil der Menſchen moͤchte ſie ſo wohlfeil, wie Eſau ſeine Erſtgeburt, verkaufen. Von den allermeiſten laͤßt ſie ſich erhandeln, wenn nur Ver - gnuͤgen, Ehre, Macht und Reichthum mehr oder we -niger703und Entwickelung des Menſchen. niger dafuͤr geboten werden kann. Denn es gehoͤret Verſtand, Empfindſamkeit und Geiſtesgroͤße dazu, leb - haft zu begreifen, wozu ſie eigentlich genutzet werden koͤnne. Eine andere Frage iſt es, ob es wohl gethan ſey ſie zu kaufen, wenn man kann, und ob man auch die freywillige ſklaviſche Unterwerfung eines Menſchen annehmen muͤſſe? wie weit und ob man ſie laͤnger be - halten ſolle, als ihr eigenes Wohl es heiſchet? Wer den Menſchen zu einer Abſicht zwinget, wozu es genug geweſen waͤre ihm zu rathen, der beraubet ihn einer Gelegenheit ſeine Selbſtthaͤtigkeit zu uͤben. Es iſt ein allgemein anerkanntes Princip der Moral, daß man das Wohl der Menſchen nach Moͤglichkeit befoͤrdern ſolle. Aber es iſt nicht minder ein allgemeines wahres, obgleich minder erkanntes Princip, daß man ſich moͤg - lichſt beſtreben muͤſſe, ſie zu ſelbſtthaͤtigen Menſchen zu machen.

Dieſe Anerkennungen ſind nichts mehr, als einige hie und da geſteckte Grenzpfaͤhle in der weitlaͤuftigen Unterſuchung uͤber die beſte Lage des Menſchen zu ſeiner Entwickelung. Sie ſollen auch nichts mehr ſeyn. Jm Allgemeinen laͤßt ſich leicht ſagen, wie der aͤußere Zuſtand des Menſchen in dieſer Hinſicht ſeyn muͤßte. Laß ihn Beduͤrfniſſe haben und ſie fuͤhlen, aber ſolche, deren er ſich durch ſeine eigene Thaͤtigkeit erledigen kann; man bringe ihm Muth und Zuverſicht zu ſich ſelbſt bey, zum mindeſten die Hoffnung durch ſein Selbſtbeſtreben ſich gluͤcklich zu machen. Dieß ſind die Erfoderniſſe, wenn der Entwickelungstrieb gereizet werden ſoll. Je meh - rere und je mannigfaltiger die gefuͤhlten Beduͤrfniſſe ſind, und je mehr es Beduͤrfniſſe ſind, welchen abzuhelfen die innern und hoͤhern ſelbſtthaͤtigen Kraͤfte wirken muͤſ - ſen, je mehr ſie naͤmlich Seelen - und Geiſtesbeduͤrf - niſſe ſind, auf deren Gefuͤhl die koͤrperlichen Beduͤrf - niſſe hinleiten; und je mehr ſolche in einer angemeſſenenBezie -704XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtBeziehung auf ſeine Kraͤfte und Vermoͤgen ſtehen: de - ſto ſtaͤrker und ausgebreiteter wird die Menſchheit ſich entwickeln. Allein ſobald es zur naͤhern Beſtimmung dieſer allgemeinen Regel kommt, und nun auf die indi - viduellen Verhaͤltniſſe der Menſchen in der Welt und in der Geſellſchaft geſehen werden muß, ſo iſt alles voller Schwierigkeiten. Das Gefuͤhl der Beduͤrfniſſe und das Gefuͤhl der Kraͤfte ſoll in einem gewiſſen Verhaͤlt - niſſe zu einander ſtehen, wo leicht auf der einen oder der andern Seite zu viel oder zu wenig ſeyn kann. Auch die verſchiedenen Arten von Beduͤrfniſſen muͤſſen unter ſich ein ſchickliches Verhaͤltniß haben. Koͤrperliche Be - duͤrfniſſe ſollen da ſeyn, aber nicht in der Maße, daß der Menſch keine andern kennen lerne; nicht ſo dringen - de, daß ſie die thaͤtige Kraft immer und gaͤnzlich auf ſich ziehen und ſie verzehren, daß dieſe auf andere Dinge ſich nicht einlaſſen kann. Beduͤrfniſſe muͤſſen da ſeyn; aber auch Muth und Zuverſicht in dem Men - ſchen zu ſich ſelbſt. Werden jene allzu leicht gehoben, ſo geben ſie nicht Anſtrengung genug fuͤr die Selbſtthaͤ - tigkeit. Sind ſie allzu druͤckend, ſo verurſachen ſie Muthloſigkeit und Verzweiflung. Alsdenn laͤßt der Menſch mit ſich anfangen und machen was man will, und verliert auch den Reſt von innerer Selbſtmacht, den er noch beſaß. Die ſinnlichen Vergnuͤgungen koͤn - nen ſehr leicht uͤber ihr Maß gehen und ſchaͤdlich wer - den. Und dennoch bedarf der Menſch ihrer zu ſeiner Erquickung, und um Zutrauen zu ſich ſelbſt und zu ſeinen Kraͤften zu erlangen. Gleich ferne von Noth und Ue - berfluß war der Wunſch des Weiſen. Zwiſchen jedem Aeußerſten lieget die Mittelmaͤßigkeit, die den meiſten am angemeſſenſten iſt. Allein wie ſchwer iſt es hier, die Stufen und Grade zu beſtimmen? Wenn gleich die Grenze zwiſchen dem Zuviel und Zuwenig eine ge - wiſſe Breite hat, ſo daß es auf etwas mehr oder weni -ger705und Entwickelung des Menſchen. ger nicht ankommt: ſo iſt es dennoch auch ſchwer genug, und in einzelnen Faͤllen faſt unmoͤglich, nur das Aeuſ - ſerſte in dieſen Grenzen anzugeben. Gleichwohl wuͤrde ich es fuͤr einen vortreflichen Beytrag zu der Philoſophie uͤber den Menſchen anſehen, wenn man nach Anleitung des obigen allgemeinen Grundſatzes weiter gehen, ſeine Folgen entwickeln, und ſie mit der Geſchichte der Menſch - heit und mit der Geſchichte der Erziehung vergleichen wuͤrde.

Waͤren die natuͤrlichen Anlagen der Menſchen alle einander gleich, ſo wuͤrden auch dieſelbigen Umſtaͤnde, worunter das eine Jndividuum am vollkommenſten ent - wickelt wird, die ſchicklichſten fuͤr alle ſeyn. Aber dieſe Folge iſt, wie der Grundſatz, der Erfahrung entgegen. Es offenbaret ſich in ſo vielen Beyſpielen, daß die Er - ziehungsart und Umſtaͤnde, unter denen einige Koͤpfe ſo gut gedeihen als ſie koͤnnen, bey andern ein großes Hinderniß ſind das zu werden, was ſonſten aus ihnen werden konnte, und unter andern Umſtaͤnden vielleicht geworden ſeyn moͤchte. Schon deßwegen kann es keine allgemeine Erziehungsart geben, die nicht bey einigen Kindern ihres Zwecks verfehlen muͤßte, ſobald ſolche ge - nauer beſtimmt iſt. Man muß nur diejenige als eine allgemein gute anſehen, die ſich zu den mehreſten ſchicket.

4.

Noch eine Anmerkung, mit der ich ſchließe. Hr. Rouſſeau hat unſern polizirten Geſellſchaften viel Boͤ - ſes nachgeſagt. Sie machen den Menſchen ſeiner Mei - nung nach ungluͤcklicher, als er es von Natur ſeyn wuͤr - de. Haͤtte dieſer Philoſoph auf die phyſiſche Entwicke - lung uͤberall Ruͤckſicht genommen, wie er zuweilen that, ſo moͤchte er zwar auf der einen Seite manches aus der Liſte der Ungluͤckſeligkeiten weggeſtrichen, aber auf der andern vielleicht auch einen neuen fruchtbaren GemeinortII Theil. Y yzu706XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtzu Rednergruͤnden gefunden haben, wenn er, wie er ver - ſuchte, den kultivirten Europaͤer gegen den Hottentotten herunterſetzen wollte. Wie viel hat der erſtere an menſchlichen innern Realitaͤten vor dem letztern voraus? Jndeſſen wuͤrde am Ende nichts als eine ſchoͤne Dekla - mation herausgekommen ſeyn, wie es die iſt, da er die Vergleichung mehr in Ruͤckſicht auf ihre Gluͤckſeligkeit angeſtellet. Jch ſchaͤtze den ſcharfſehenden Mann, und glaube, man muͤſſe ihm Dank wiſſen fuͤr ſeine Arbeit. Er hat den Menſchen und ſeine Verhaͤltniſſe von einer Seite dargeſtellt, wo die Vorurtheile hinderten ihn zu betrachten, und die Eigenliebe der mehreſten ihn nicht einmal gern ſieht. Allein womit wuͤrde Rouſſeau beweiſen, daß Wildheit und Barbarey den Menſchen und ſeine Kraͤfte eben ſo vortheilhaft fuͤr ſeine innere menſchliche Groͤße entwickeln, als die Kultur durch Kuͤn - ſte und Wiſſenſchaften? Sein Waldmenſch, geſetzt auch, er konnte das ſeyn und bleiben, was er ihn ſeyn laͤßt, ſtehr doch wohl an innerer Vollkommenheit ſehr weit unter dem Menſchen in eingerichteten und polizirten Geſellſchaften zuruͤck? Die Wilden auf Nordholland und ihres gleichen, die doch um einen guten Grad wei - ter ſind als jener, ſind in Vergleichung mit den Kul - tivirten offenbar nichts mehr als Kinder, in Vergleichung mit Maͤnnern. Es iſt doch der niedrigſte Haufe un - ter uns, zu dem doch immer etwas von der Aufklaͤrung im Ganzen hinkommt, geſcheuter, uͤberlegender und, wenns darauf ankommt, eben ſo voller Entſchloſſenheit und Muth, als die Wilden uͤberhaupt alle ſind. Zum wenigſten haben die polizirten Geſellſchaften doch ihre hervorragenden Mitglieder voraus. So lehren es vor - her ſchon gedachte (VI. 4.) Fakta aus der Geſchichte.

Ob es nicht auch ein gewiſſes Aeußerſtes auf der andern Seite gebe? Ob nicht die Verfeinerung in der Geſellſchaft, die Vervielfaͤltigung der Beziehungen derMen -707und Entwickelung des Menſchen. Menſchen auf einander und ihrer Beziehungen auf die Koͤrperwelt, eine Grenze habe, uͤber welche hinaus ſie die Vervollkommnung der Natur verhindern und viel - leicht auch den Menſchen ungluͤcklicher machen koͤnne, das iſt eine Frage, die im Allgemeinen bejahet werden muß. Die ſchaͤdlichen Wirkungen zu weit getriebener Bequemlichkeiten ſind die Beweiſe davon. Allein wer beſtimmt die Grenzen?

So viel iſt außer Zweifel. Jn eingerichteten Ge - ſellſchaften und in den durch Kuͤnſte und Wiſſenſchaften verfeinerten Nationen ſind die Empfindungen mannich - faltiger, und geben dem Verſtande und dem Herzen ei - ne Ausdehnung, die der Barbar und der Wilde nicht hat. Dieſe kann, wie nicht zu laͤugnen iſt, der Erhoͤ - hung der Kraͤfte an Jntenſion hinderlich werden. Da - von liegt der Erfolg vor Augen. Alles, ohne Ausnah - me, hat in menſchlichen Dingen ſein Maß. Auch die Perfektibilitaͤt hat ihre Grenzen. Wie ſie zu ſehr zerſtreuet wird in mancherley Vermoͤgen, ſo muß die Staͤrke in einzelnen Kraͤften nothwendig etwas zuruͤck - bleiben. Die Nachkommen der alten Kaledonier moͤ - gen mehrere Kenntniſſe und Kuͤnſte beſitzen, als ihre Vaͤter, und in ihrer ruhigern Verfaſſung mannichfaltige - re Empfindungen und Faͤhigkeiten entwickeln als jene: aber der Geiſt der Alten, der ſich in Oſſians Gedichten zeiget, ein beſondres Phaͤnomen in der Geſchichte der Menſchheit, dieſer erhabene unuͤberwindliche Hel - denmuth, darf der Nachkommenſchaft zwar nicht fehlen, kann aber bey ihr ſeltener werden.

Die meiſten Voͤlker, die wir jetzo als kultivirte an - ſehen, ſcheinen noch ſehr weit von dem Punkt in der Kultur des Geiſtes entfernt zu ſeyn, wo dieſe anfangen konnte ſchaͤdlich|zu werden. Sie kann ohne dieß nur in - ſofern ſchaͤdlich werden, als ſie nach Einer Seite hin geht und mehr in den aͤußern Empfindungen ſtehen blei -Y y 2bet,708XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtbet, wenn die innere Kultur des Verſtandes, die Auf - klaͤrung des Menſchen uͤber ſich ſelbſt und uͤber ſeine Pflichten, verhindert wird; wenn die Wirkungen der Wiſſenſchaften und Kuͤnſte mehr ausſchließungsweiſe auf die Bequemlichkeit und Verſchoͤnerung des aͤußern Lebens, auf Speiſe, Kleidung und Wohnungen gelenket werden. Der innere Anbau der Seele, Einſichten des Verſtandes, Richtigkeit des Herzens und Herrſchaft uͤber ſich ſelbſt ſind Vollkommenheiten, davon nimmer - mehr in irgend einem Staat ein Uebermaß zu befuͤrch - ten iſt.

Jn der Wildheit und Barbarey ſind die Menſchen faſt alle einander gleich, die wenigen einzelnen ausgenom - men, die durch ihre hervorſtehenden Naturanlagen ſich auszeichnen. Je mehr die Geſellſchaft in der Kultur fortgeht, deſto ſtaͤrker wird die Verſchiedenheit zwiſchen den Jndividuen, weil der Einfluß der entwickelnden Ur - ſachen vorzuͤglich auf beſondere Staͤnde geleitet wird. Aber je mehr die Kenntniſſe und Kultur unter der Na - tion gemeiner werden, deſto mehr naͤhern ſich auch die Einzelnen wiederum einander. Die Lekture iſt das wirk - ſamſte Mittel zu dieſem Zweck, wenn ſie recht genutzt wird. Hierinn ſind die aͤußerſte Wildheit und die aͤuſ - ſerſte Kultur einander aͤhnlich. Unter den Wilden kann jederman Fuͤrſt und Anfuͤhrer ſeyn, der nur geſunde Glieder hat, und hoͤchſtens ein bischen Mutterwitz oder Munterkeit vor andern voraus. Eben ſo wuͤrde man, wenn die Aufklaͤrung des Verſtandes ſich allgemein ver - breitete, wiederum wie ehemals Generals von den Dreſchdielen, Dictators vom Pfluge und Staatsmaͤn - ner aus den Werkſtaͤten holen koͤnnen.

Fuͤnfter709und Entwickelung des Menſchen.

Fuͤnfter Abſchnitt. Von den Grenzen der Entwickelung und von der Wiederabnahme der Kraͤfte.

I. Von dem Aeußerſten in der Entwickelung der Seelenvermoͤgen.

  • 1) Vorerinnerung.
  • 2) Der Sinn, die Vorſtellungskraft und der Verſtand kommen in Hinſicht ihrer innern abſoluten Groͤße zu einer aͤußer - ſten Stufe, wo die weitere Entwicke - lung aufhoͤrt. Erfahrungen hieruͤber.
  • 3) Die Art, wie die Seelenvermoͤgen ihr Groͤßtes erlangen.
  • 4) Ob die Grenze der Entwickelung in den Seelenvermoͤgen weiter hinausgeruͤckt werden koͤnne?
  • 5) Von der Grenze der Perfektibilitaͤt in dem Menſchen, und von der Grenze der - ſelben in der Seele.
  • 6) Erinnerung uͤber das Maximum in den relativen Fertigkeiten.

1.

Der Menſch, von der Seite betrachtet, wie ſeine Na - tur ſich entwickelt und von der Schwaͤche des Kindes bis zur Staͤrke des Mannes ſich emporarbeitet, iſt ein ungemein ergoͤtzender Gegenſtand fuͤr die Betrach - tung. Wir finden darinn Gruͤnde, die uns Muth und Zutrauen einfloͤßen und uns froh daruͤber machen, daß wir Menſchen ſind. Allein wenn wir ihn nun bis uͤber den Mittag des Lebens hinaus begleiten, alsdann dieY y 3Abnahme710XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtAbnahme ſeiner Kraͤfte und die immer wachſende Schwaͤchung an Seele und Koͤrper anſehen, die ſich zu - letzt mit der Zerſtoͤrung der Natur endiget; die tauſen - derley Arten von unangenehmen Empfindungen und Schmerzen, die ihm inzwiſchen aufſtoßen und ſeiner letztern Periode beſonders ankleben, nicht einmal mitge - rechnet: ſo wird die Betrachtung ſo traurig und nie - derſchlagend, daß wir Urſache haben nach Hoffnungs - gruͤnden auf die Zukunft uns umzuſehen.

Wenn der Menſch ganz aus Koͤrper beſteht, ſo iſt dieß ſeine Naturgeſchichte. Er waͤchſet auf, entwickelt ſich, kommt zum Stillſtand, geht zuruͤck, und wird zerſtoͤrt. Und wenn es dieß alles iſt, ſo wuͤßte ich nicht, ob es nicht mehr Weisheit waͤre, hievon die Augen et - was leichtſinnig wegzuwenden, oder doch nur oben dar - uͤber hinzuſehen, als ſich um eine zu deutliche und an - ſchauliche Vorſtellung davon zu bemuͤhen. Macht uns das Nichtwiſſen dumm: ſo kann uns auch das For - ſchen nur Verdruß machen, wie Haller ſagt. Wie oft wuͤrde nicht ein anderer Ausſpruch von ihm wahr werden:

Daß, wer aus ſteifem Sinn, mit Schwermuth wohl be -
wehret,
Sein forſchend Denken ganz in dieſe Tiefen kehret,
Kriegt oft, fuͤr wahres Licht und immer helle Luſt,
Nur Wuͤrmer in den Kopf und Dolche in die Bruſt?

Aber da der Menſch in ſeinem Koͤrper ein unkoͤrper - liches Weſen von hoͤherer Art beſitzt, ſo verhaͤlt ſich die Sache anders. Man ſuche nur durch den aͤußern Schein, ſo viel man kann, das Jnnere zu ſehen: und ich hoffe, man werde finden, daß eben der Menſch, der in ſeinem Aufbluͤhen liebenswuͤrdig und in ſeiner Reife das hochachtungswuͤrdigſte unter den ſichtbaren Weſen iſt, noch in der letzten Periode ſeiner Abnahme als das ehrwuͤrdigſte erſcheinen werde.

2. Um711und Entwickelung des Menſchen.

2.

Um die Betrachtung einfach zu machen, iſt es im Anfang genug, nur eine Seite des Menſchen, nur al - lein ſeine vorſtellende und denkende Kraft, vorzu - nehmen. Denn was man hiebey antrift, indem ſie ab - nimmt, und die Art und Weiſe, wie ſolches ge - ſchieht, und wiefern es geſchieht, das laͤßt ſich nach - her leichter auf die uͤbrigen Seelenvermoͤgen anwenden.

Vor allen iſt hier wiederum auf den Unterſchied zwi - ſchen der abſoluten Staͤrke der Vermoͤgen und ihrer relativen Fertigkeiten, ſich auf dieſe oder jene Arten von Gegenſtaͤnden zu verwenden, Ruͤckſicht zu nehmen. Die letztern ſind deſto groͤßer, je mehr Jdeenreihen vor - handen ſind, die ſich auf die Gegenſtaͤnde beziehen. Je - ne beſtehen mehr in der innern Groͤße der thaͤtigen Kraft ſelbſt. Der Stoff der Vorſtellungen iſt aus den Em - pfindungen. Die ruhenden Vorſtellungen im Gedaͤcht - niſſe ſind gewiſſe Diſpoſitionen in dem Seelenweſen, auf gewiſſe Arten leicht modificirt zu werden. Die Groͤße in dem Vermoͤgen dieſe letztern Diſpoſitionen anzuneh - men und dann, wenn ſie einmal angenommen ſind, wiederzuerwecken, das iſt, von der Diſpoſition zu der wirklichen Aktion uͤberzugehen, dann die reproducirten Jdeen zu bearbeiten: die Groͤße hierinn macht die ab - ſolute Groͤße der Vorſtellungskraft aus. Setzet man voraus, dieſe Diſpoſitionen waͤren von einer glei - chen Anzahl und von einer gleichen Voͤlligkeit in zween Koͤpfen vorhanden, auch daß ſie, als Diſpoſitionen be - trachtet, mit gleicher Leichtigkeit, von einer gleichen Kraft reproducirt werden koͤnnten: ſo wird die Groͤße der ab - ſoluten Vermoͤgen nun hievon abhangen. Je ge - ſchwinder ſie die Vorſtellungen wiedererwecken kann; je voͤlliger ſie dieß kann; bey je mehrern, wozu ſonſten die Diſpoſitionen in ihr gleich ſind, ſie dieß zugleichY y 4kann;712XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtkann; je anhaltender ſie dieſe Aktion fortſetzen, und je mehr ſie neue Vorſtellungen und neue Verbindungen der Vorſtellungen aus einem gleichen Vorrath von Ma - terien dazu herausziehen, je ſchneller und je anhalten - der ſie ſolche ſchaffen kann: deſto groͤßer iſt die vorſtel - lende Kraft an ihrem innern abſoluten Vermoͤgen. Da die Art, wie die Vermoͤgen, ſowohl die abſoluten als die beſondern Geſchicklichkeiten, geſtaͤrket werden, in dem erſten Abſchnitt ausfuͤhrlich gezeiget worden iſt, ſo lege ich das Obengeſagte hier wieder zum Grunde.

Die Sinne, die Einbildungskraft, der Ver - ſtand, haben bekanntlich ihre natuͤrlichen Perioden in dem Menſchen, in denen ſie hervorgehen, auswachſen und ihre voͤllige Staͤrke erreichen, bey der ſie ſtehen bleiben, wie die Kraͤfte des Koͤrpers. Da man dieſe Bemerkung gemacht, hat man auf die abſoluten Ver - moͤgen geſehen. Die Sinne koͤnnen noch immer von neuen Objekten neue Eindruͤcke empfangen, ob ſie gleich ſelbſt an ſich weder ſchaͤrfer noch feiner werden. Die Phantaſie kann noch lange fort neue Reihen von Bil - dern anlegen, und der Verſtand neue Einſichten und Fer - tigkeiten in Wiſſenſchaften erlangen, wenn gleich kein Anwachs, wenigſtens kein merklicher Anwachs, in den Kraͤften mehr erfolget, wenn beide vielmehr ſchon uͤber den Zeitpunkt hinaus ſind, in dem ſie mit ihrer groͤßten Jntenſion gewirket haben.

Es iſt eben ſo bekannt, woran ich nur darum erin - nere, weil es hier gebraucht wird, daß der Zeitpunkt des Maximum in den Seelenvermoͤgen, ſo wenig als in den Kraͤften des Koͤrpers, bey allen Menſchen in daſſelbige Jahr des Alters falle. Die Augen erhalten ihre groͤßte Vollkommenheit im Durchſchnitt vor dem zwoͤlften; die Phantaſie ihre groͤßte Lebhaftigkeit vor dem dreyßigſten; und die Vernunft vor dem vierzigſten. Hiebey finden ſich aber manche Abweichungen, ſo wohlbey713und Entwickelung des Menſchen. bey ganzen Voͤlkern, als bey Jndividuen. Die Ent - wickelung geht bey einigen geſchwinder, bey andern lang - ſamer fort; und daher erfolgt auch die Reife und der Stillſtand fruͤher oder ſpaͤter. Jndeſſen findet ſich doch auch hierinn etwas allgemeines, bey allen, das uns auch wiederum auf die allgemeine Geſchlechtsgleichheit zuruͤck - fuͤhret. Aber es giebt auch Verſchiedenheit genug, die ſchon in der angebornen Natur, oder in den aͤußern Um - ſtaͤnden, oder in beiden, ihren Grund hat. Die fruͤh - zeitige Anfuͤhrung der Jugend thut hierzu ſehr viel, wie die Erfahrung lehret. Sie zeitiget die Ueberlegungs - kraft, durch die beſtaͤndige Uebung, in Kindern, die faſt allein in dem Umgang der ſchon geſetzten Erwachſenen gebildet werden, und beſchleuniget daher die natuͤrliche Muͤndigkeit einigermaßen. Dennoch aber iſt ihr Ein - fluß in Hinſicht der abſoluten Vermoͤgen nicht ſo groß, als in Hinſicht der beſondern Geſchicklichkeiten.

Dieß iſt freylich nur noch etwas ſehr Allgemeines und Unbeſtimmtes. Und viel mehr Beſtimmtes laͤßt ſich auch zur Zeit noch wohl nicht aus den Beobachtun - gen angeben. Dieſe ſind ſelbſt noch ſo unvollſtaͤndig, beſonders in Hinſicht der Grade und Stufen in den Wirkungen, worauf doch ſo vieles ankommt. Viel - leicht iſt zu hoffen, die Geſchichte der Erziehung, dieſer wichtige Beytrag zur Experimentalphyſik der Seele, mit der kaum ein Anfang gemacht iſt, werde uns kuͤnftig ſorgfaͤltigere und genauere Wahrnehmungen, auch wohl gar Verſuche, hieruͤber liefern. *)Hr. Ulloa ſagt von den Einwohnern zu Carthagena in Amerika, was auch andere ſchon vor ihm bemerkt ha - ben, daß ihr Verſtand ſich ausnehmend zeitig entwickle. Jhre Kinder von zwey Jahren ſprechen und handeln ver - nuͤnftiger, als ſie es anderswo von vier und fuͤnf Jah - ren thun. Jene beſitzen uͤberhaupt eine ſchnelle Faſ -ſungs -

Y y 53. Die714XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

3.

Die Art, wie die abſoluten Seelenvermoͤgen ihr Maximum erreichen, uͤber welches hinaus ſie nicht wach - ſen, laͤßt ſich zwar einſehen aus der Art, wie ſie ſich entwickeln; aber es hat dennoch dieſe Sache ihre Schwierigkeiten, die es noͤthig machen ſie etwas deutli - cher vorzuſtellen.

Die Groͤße der abſoluten Vermoͤgen haͤngt von der Groͤße der Diſpoſitionen ab, auf gewiſſe Weiſe zu wirken und ſich zu aͤußern. Die Fertigkeiten in ihnen ſo hervorzugehen, ſind durch die Wiederholung derſelbi - gen Kraftaͤußerungen entſtanden, indem die einzelnen Handlungen, jede ihre Spur, als eine Nachbildung oder Vorſtellung von ſich, zuruͤckließen, und dieſe ſich an - haͤuften und zu einer Groͤße, oder zu einer ſtarken,reich -*)ſungskraft, und machen daher auch große Schritte in der Kultur des Verſtandes, bis zum fuͤnf und zwanzig - ſten Jahr und daruͤber bis ans dreyßigſte. Aber von dieſem Alter an ſoll auch wiederum der Verſtand, wie der Fleiß, den ſie anwenden, ganz merklich abnehmen. Der genannte ſcharfſinnige Beobachter iſt der Meinung, dieſe Abnahme habe mehr ihren Grund in politiſchen und moraliſchen Urſachen, als in einer wahren Schwaͤ - che der Natur. Daſſelbige hatte ein anderer Spanier Benedictus Freyjoo vor ihm gleichfalls daruͤber ge - dacht. Allg. Geſch. der Reiſen B. 9. S. 28. Wenn die erwachſenen Amerikaner nichts haben, was ihren Fleiß unterhalten, und ſie reizen kann ihre Ueberle - gungskraft anzuſtrengen, ſo bleibet dieſe, da wo ſie iſt, und nimmt ab. Kommt nun noch hinzu, was wohl das wichtigſte iſt, daß ſie ſich Ausſchweifungen uͤberlaſ - ſen, die die Nerven ſchwaͤchen, ſo iſt es kein Wunder, daß ſie bald wieder ſtumpf werden. Bey einigen ein - zelnen Perſonen, wo dieſe moraliſchen Urſachen nicht waren, hat ſich auch die Staͤrke des Verſtandes bis ins Alter erhalten. Hr. Ulloa iſt ein Augenzeuge, und urtheilet mit Scharfſinn. Beides giebt ſeinen Gedan - ken ein großes Gewicht. Gleichwohl wenn das auchwahr715und Entwickelung des Menſchen. reichhaltigen Spur vereinigten. Es iſt hier naͤmlich die Rede von ſolchen Fertigkeiten, die nach und nach gewachſen ſind. Jn der That giebt es keine andern in der Seele. Selbſt das Athemholen und das Saugen iſt, nach einer oben ſchon angefuͤhrten Bemerkung des Hrn. Verdier,*)Sur la perſectibilité de l'homme. Recueil ſecond. nach und nach, obgleich vor der Ge - burt, erlernet. Und was die Fertigkeiten in den will - kuͤrlichen Bewegungen der Glieder betrifft, ſo iſt es jetzo durch die Beobachtung an den Kindern außer Zweifel geſetzt, daß ſie allmaͤlig erlanget werden. Jndeſſen wenn jemand eine oder die andere fuͤr ſo natuͤrlich anſe - hen wollte, daß ſie von den[e]rworbenen abgeſondert wer - den muͤßte, ſo wuͤrde ſolche auch in der gegenwaͤrtigen Betrachtung bey Seite zu ſetzen ſeyn.

Jedwede

*)wahr iſt, was er von der fruͤhzeitigen Entwickelung der Kinder bezeuget, ſo kann es doch keine ganz ungegruͤn - dete Vermuthung ſeyn, daß Klima, Naturanlage und Nahrung, nebſt andern nicht moraliſchen Urſachen, zu der vorzeitigen Wiederabnahme des Verſtandes beytra - gen. Es iſt doch ſehr wahrſcheinlich, daß die zeitige Entwickelung des Nervenſyſtems und der Seele von phyſiſchen Urſachen abhange. Sollte dieſen nicht etwas aͤhnliches bey der fruͤhern Abnahme zuzuſchreiben ſeyn? Der Trieb der Saͤfte, der anfangs ſtaͤrker zum Gehirn gieng, als bey andern Menſchen, kann nachher weni - ger dahin gehen. Dann wird Thaͤtigkeit und Munter - keit am Geiſte abnehmen. Wir haben auch unter uns Beyſpiele von fruͤhzeitigen Koͤpfen, die mit den Jahren wieder ſtumpf werden, obgleich bey manchen, wozu Grotius gehoͤrte, dieß nicht erfolget. Es iſt von den natuͤrlich fruͤhzeitigen die Rede. Wo dieß nicht ein Werk der Natur iſt, ſondern aus einer einſeitigen uͤber - triebenen Entwickelung des Verſtandes in der Erziehung herruͤhret, da wird man oͤfters des Hrn. Tiſſot Aus - ſpruch wahr finden, daß Kinder, die im zwoͤlften Jahr Maͤnner ſind, in dem vier und zwanzigſten wieder Kin - der werden.

716XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

Jedwede Fertigkeit, die durch Uebung entſtanden oder vergroͤßert iſt, nimmt wiederum ab, wird ge - ſchwaͤcht und verlieret ſich endlich, wenigſtens dem Scheine nach, wenn ſie einige Zeit nicht angewendet wird. Je groͤßer ſie iſt, deſto laͤnger erhaͤlt ſie ſich, auch wenn ſie nicht gebraucht wird. Aber wo ſie noch ſchwach iſt, da geht ſie deſto geſchwinder zuruͤck, wenn ſie nicht weiter kommt, oder man ſie nicht wenigſtens da zu halten ſucht, wo ſie iſt. Je ſeltener ein Ver - moͤgen gebraucht, und je weniger es mit Anſtrengung gebraucht wird, deſto geringer wird der Zuwachs, oder es erfolget gar eine Abnahme. Wo der Gebrauch es noch ſo ſehr vergroͤßert, als der Nichtgebrauch es ver - mindert, da ſind die Wirkungen von beiden einander gleich. Jſt eine groͤßere Zunahme nicht mehr moͤglich, ſo iſt die hoͤchſte Stufe da, welche die Kraft oder das Vermoͤgen erreichen kann.

Es iſt ferner ſehr begreiflich, daß der Zuwachs des Vermoͤgens, der aus den einzelnen Handlungen entſpringet, deſto geringer ſeyn muͤſſe, je groͤßer die Fertigkeit ſelbſt ſchon iſt. Das erſtemal erreget der Eindruck einer Sache eine ſtarke lebhafte Vorſtellung, die ſich feſt und tief eindruͤcket: das zweytemal wird die Vorſtellung voͤlliger, und auch das dritte und viertemal bekommt ſie noch einen merklichen Zuwachs. Aber wenn ſie oͤfters auf einerley Art wiederholet wird, verlie - ret ſie ihre Neuheit, und zieht die Aufmerkſamkeit nicht auf ſich wie vorher. Sie wird alſo nicht mehr mit glei - cher Anſtrengung der Kraft aufgenommen. Laß ſie nun zwar jedesmal ſich etwas tiefer eindruͤcken, ſo iſt doch ſo viel gewiß, daß die folgenden Zuſaͤtze nicht alle von glei - cher Groͤße ſind, und daß die Zunahme des Ganzen nicht in demſelbigen Verhaͤltniß fortgehe, wie die Sum - me der aͤhnlichen wiederholten Empfindungen. Wie es aber bey den Eindruͤcken von außen und ihren Spureniſt,717und Entwickelung des Menſchen. iſt, ſo verhaͤlt es ſich mit unſern Vorſtellungen von den Aktionen ſelbſt. Die Aktion, das erſtemal unternom - men, hinterlaͤßt eine ſehr lebhafte und ſtarke Spur in dem Gefuͤhl, und die erſtern Wiederholungen haben die - ſelbige Wirkung bis dahin, daß jene anfaͤngt uns voͤl - lig bekannt und gelaͤufig zu werden. Es iſt die Repro - ducibilitaͤt dieſer Vorſtellungen, worinn die Fertigkeit beſtehet. Wenn alſo gleich dieſe noch immer um etwas anwaͤchſt, ſo oft die Handlung wiederholet wird, ſo muß dieſer Anwachs zugleich ſo wenig betraͤchtlich werden, daß leicht eben ſo viel wiederum abgehen kann, wenn die Kraft eine Weile nicht gebraucht wird.

Jede veraͤnderliche Fertigkeit verlieret, wenn ſie zu einer gewiſſen Groͤße gebracht iſt, ſchon dadurch, daß ſie nicht jedesmal mit ihrer vollen Jntenſion gebrau - chet wird. Der ungebrauchte Theil hat geruhet, und wird geſchwaͤcht, mehr oder minder. Daher iſt es auch zur Erhaltung dieſer Fertigkeiten noͤthig, ſo mit ihnen zu arbeiten, als wenn ſie noch immer erhoͤhet wer - den ſollten. Wenn dieß nicht geſchieht, ſo kann das Vermoͤgen abnehmen, ob man gleich fortfaͤhret es anzu - wenden.

So wie die Kraft der Seele dieſe oder jene Vorſtel - lungen von Aktionen eigenmaͤchtig zu reproduciren zu - nimmt, ſo waͤchſet auch in den Vorſtellungen von den Objekten die Leichtigkeit ſich reproduciren zu laſſen. Aber je leichter die Jdeen fuͤr ſich zu reproduciren ſind, deſto weniger erfodern ſie das Beſtreben der Eigenmacht der Seele. Sie ſtellen ſich auf den erſten Wink von ſelbſt dar. Von dieſer leichtern Reproducibilitaͤt der Vorſtellungen von den Objekten haͤngt die Groͤße in un - ſern relativen Vermoͤgen ab, die ſich auf die beſondern Gegenſtaͤnde beziehen. Je groͤßer alſo dieſe werden, je mehr werden die Veranlaſſungen vermindert, fuͤr dieabſo -718XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtabſoluten Kraͤfte oder Vermoͤgen, ſich anzuſtrengen und zu ſtaͤrken.

Man nehme dieß zuſammen, ſo zeiget ſich ſelbſt in der Natur des Anwachſens eine innere Urſache, wel - che nicht zulaͤßt, daß die Kraͤfte ins Unendliche fortwach - ſen, ohne noch darauf zu ſehen, wie weit das koͤrperliche Organ der Seele und deſſen Einrichtung ihnen Grenzen ſetzt. Denn je groͤßer ein Vermoͤgen wird, deſto leich - ter wird es ſich zu aͤußern; und je leichter dieß iſt, deſto weniger wird es dabey angeſtrenget, und deſto mehr mindert ſich die durch vorhergehende Uebung ſchon erlangte Staͤrke deſſelben.

So iſt alſo, uͤberhaupt die Sache betrachtet, ein Stillſtand im Wachſen in dem Seelenweſen und deſſen Kraͤften nothwendig. Theilen wir aber dieſe Betrachtung, und ſehen die Vermoͤgen zuerſt von der Seite an, wie ſie in dem koͤrperlichen Organ ihren Sitz haben, und alsdenn von der andern, ſo ferne ſie Beſchaffenheiten der einfachen Seele ſind: ſo ergiebt ſich wiederum in beiden Hinſichten die Folge, daß in dem Menſchen jede Fertigkeit ihre hoͤchſte Stufe er - reichen muͤſſe, uͤber welche hinaus ein weiteres Wachſen unmoͤglich iſt. Jch rede naͤmlich nach der vorher ange - nommenen Hypotheſe von der Verbindung des Organs mit der Seele. Denn wenn die gewoͤhnliche Jdee von dem alleinigen Sitz der Vorſtellungskraft in der Seele vorausgeſetzt wird, ſo iſt es unnoͤthig zu dem, was ſchon geſagt iſt, noch etwas hinzuzufuͤgen.

Sehen wir auf den Grad der Leichtigkeit ſinnlich auf eine beſtimmte Art bewegt zu werden, welcher ſich in den Fibern des Organs befindet und zu der Fertigkeit in dem Menſchen gehoͤret: ſo verſteht es ſich von ſelbſt, daß es dabey eine Grenze geben muͤſſe, uͤber welche die Leichtigkeit nicht hinaus gehen kann. Sie mag beſte - hen, worinnen ſie wolle, je mehr ſie zunimmt, deſtomehr719und Entwickelung des Menſchen. mehr wird auch in der Fiber etwas gehaͤuft, was zu ei - ner koͤrperlichen Groͤße werden muß. Die Fiber wird alſo in dieſer Hinſicht wachſen, ſtaͤrker und feſter, und alſo auch unbiegſamer und unbeweglicher werden.

Betrachten wir das koͤrperliche Werkzeug in Ver - bindung mit der unkoͤrperlichen Seele, ſo wird die paſ - ſive Leichtigkeit in den Fibern ſich ſinnlich bewegen zu laſſen, oder die Leichtigkeit, womit die materiellen Jdeen hervorgehen, fuͤr ſich, wie vorher erinnert wor - den iſt, ein Hinderniß werden fuͤr die hoͤhere Anſtren - gung der Seelenkraft. Je leichter die materielle Jdee ſich darſtellet, und je leichter insbeſondere die Fibern ſind, welche zu den willkuͤrlichen Thaͤtigkeiten gehoͤren, deſto weniger iſt die Handlung eine Aeußerung von der Eigenmacht der Seele. Der Antheil des Organs an den Aktionen wird groͤßer. Aber auch deſto geringer der Reiz und die Nothwendigkeit fuͤr die Seele, ihr in - neres Princip dabey anzuſtrengen.

Vielleicht kommt aber ein anderes Reſultat heraus, wenn man die Vermoͤgen und ihre Fertigkeiten betrach - tet, inſofern ſolche in der Seele ſelbſt ſind? Davon nachher etwas mehr. Allein wie dem auch ſeyn mag, ſo iſt aus dem Vorhergehenden ſo viel offenbar, daß die innere Perfektibilitaͤt im Menſchen ihre natuͤrliche Grenze haben muͤſſe, wie die Entwickelung die ihrige haben muß. Wenn dieß von jeder Kraft und von je - dem Vermoͤgen beſonders betrachtet außer Zweifel iſt, ſo muß es auch bey allen und bey der geſamten Kraft der menſchlichen Natur ſtattfinden.

4.

Sollte aber die Grenze, wo das non plus ultra der menſchlichen Vermoͤgen iſt, nicht durch gewiſſe Mittel weiter hinausgeruͤckt werden koͤnnen? Zu dieſer Frage wird man veranlaſſet, wenn man auf dieUrſachen720XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtUrſachen ſieht, die jene feſtſetzen. Wenn die allzu große Leichtigkeit in den Jdeen bey der Vorſtel - lungskraft ein Grund wird, warum es dieſer an einer ſtaͤrkern Anſtrengung fehlet, wodurch ſie noch weiter er - hoͤhet wuͤrde: ſo ſcheint es ja, daß man den vorhande - nen Jdeenvorrath nur immer mit neuen Reihen zu ver - mehren trachten duͤrfe, um dem Vermoͤgen immer gleich ſtarke Beſchaͤfftigungen zu geben. Und daſſelbige ließe ſich auch bey den uͤbrigen anbringen. Man fuͤhre die Phantaſie auf neue Gegenſtaͤnde, die ſo wenig Bezie - hung auf die ihr ſchon gelaͤufigen haben, als es ſeyn kann; man lerne neue Sprachen um das Gedaͤchtniß zu ſchaͤrfen, und ſtudire neue Wiſſenſchaften fuͤr den Verſtand: allerdings laͤßt ſich auf dieſe Art etwas aus - richten. Hat man auf die einzelnen Faͤlle Acht, die man bey ſolchen Leuten antrift, welche noch in einem ziemlichen Alter manche ihnen neue Kenntniſſe ſich er - werben und auch Sprachen erlernen: ſo zeiget ſich, daß ſie zum mindeſten ihre Kraͤfte laͤnger in ihrer groͤß - ten Thaͤtigkeit erhalten, und auch wohl wirklich etwas weiter hinaufbringen, als es ſonſten geſchehen waͤre. Aber dennoch iſt auch die Wirkung davon nicht groͤßer, als man ſchon aus der Natur der Sache, ſo wie ſie in dem Vorhergehenden angegeben iſt, erwarten kann. Die Entwickelung der Kraͤfte kann nicht ins Unendliche ge - hen. Das Moment des Stillſtehens ruͤckt heran; und der Grund davon liegt in der Natur der koͤrperlichen Werkzeuge. Je mehr die Faſern des Gehirns ſchon geſtaͤrket ſind, deſto feſter, haͤrter, unbiegſamer und deſto ungeſchickter, neue Eindruͤcke anzunehmen, muͤſſen ſie werden. Und hiemit vergroͤßert ſich die Schwierig - keit zu reproduciren. Beides verurſacht eine natuͤrliche unuͤberwindliche Unluſt an ganz neuen Geiſtesarbeiten. Sprachen und Geſchichte wollen nicht mehr ſo gut in den Kopf hinein, wenn das Juͤnglingsalter voruͤber iſt. Faſt721und Entwickelung des Menſchen. Faſt alle Gedaͤchtnißſachen erfodern, daß ſchon in der Kindheit mit ihnen angefangen werde, oder daß doch aͤhnliche alsdenn erlernet ſind, wovon der Uebergang zu den neuen, der Aehnlichkeit wegen, leichter iſt, wenn naͤmlich eine ſich auszeichnende Fertigkeit darinn errei - chet werden ſoll. Jſt jemand uͤber das dreyßigſte Jahr, ſo gehoͤrt ſchon mehr als gemeine Geſchmeidigkeit des Verſtandes dazu, neue Wiſſenſchaften mit Fortgang zu ſtudiren, wozu nicht in den vorhererworbenen Kennt - niſſen die Samen ſchon enthalten ſind. Hr. Tiſſot hat ein warnendes Beyſpiel angefuͤhrt, wie ſehr ein Menſch der Natur Gewalt anthun muͤſſen, der in ſeinem vierzig - ſten Jahr anfing ſich auf Philoſophie und Mathematik zu legen. Wir ſammlen zwar von ſelbſt, ſo lange wir leben, immer neue Empfindungen auf, und machen immer neue Reihen und Faden von Gedanken in uns: aber es fallen auch viele von den vorher empfangenen wieder aus, oder werden doch verdunkelt und unerweck - bar, daß, wenn allein auf die erweckbaren Jdeenrei - hen geſehen wird, an deren Bearbeitung die Vorſtel - lungskraft ſich uͤben kann, ſolche weder an Menge, noch an Staͤrke, noch an Laͤnge, um ein merkliches mehr zu - nehmen, wenn die Entwickelung einmal ihre hoͤchſte Stufe erhalten hat.

5.

Die Urſachen, welche die Perfektibilitaͤt der See - lenvermoͤgen innerlich und natuͤrlich begrenzen, koͤnnen auf dieſe zwey, auf den Mangel an Gelegenheiten die Kraͤfte zu einer hoͤhern Anſtrengung zu bringen, und auf den Nichtgebrauch derſelben, gebracht werden. Alle uͤbrige Zufaͤlle bey Seite geſetzt, ſo muͤſſen dieſe allein nothwendig die Perfektibilitaͤt des Menſchen ein - ſchraͤnken. Jndeſſen iſt doch die Perfektibilitaͤt des Menſchen nicht die Perfektibilitaͤt der Seele, desII Theil. Z zunkoͤrper -722XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtunkoͤrperlichen Beſtandtheils ſeines Weſens; und die Ungleichartigkeit dieſer letztern und des koͤrperlichen Or - gans kann | uns wenigſtens ehe auf die Vermuthung fuͤhren, es werde bey der Seele, fuͤr ſich allein betrachtet, ſich anders verhalten, als in dem ganzen Menſchen, als daß in beider Hinſicht daſſelbige ſtattfinde. Zumal wenn man bemerket, daß die vornehmſten Hinderniſſe des Fortgangs in dem koͤrperlichen Theil ihren Sitz ha - ben. Allein koͤnnen nicht auch aͤhnliche und gleiche in der Seele ſelbſt vorhanden ſeyn?

Daß Fertigkeiten, welche einmal erworben ſind, durch die unterlaſſene Uebung geſchwaͤcht werden, iſt auſ - ſer allem Zweifel bey dem Menſchen. Aber es iſt nicht ſo leicht auszumachen, ob ſolches auch ſtattfinde, inſoferne ſie Beſchaffenheiten in der Kraft der Seele ſind? und wenn es hier auch etwas giebt, was eine Schwaͤchung zu ſeyn ſcheint, oder ihr entſpricht, ob es ſo etwas in dem Jnnern wirklich ſey, und was es hier ſey? Die Schuld davon kann allein an dem Organ liegen, und eine Folge von der Zuſammenſetzung ſeyn, die es mit ſich bringt, daß ein gewiſſer Grad der Be - wegbarkeit nicht lange in einer Fiber beſteht, wenn dieſe eine Zeit lang in Ruhe bleibt. Vielleicht ſetzen ſich, in - dem die Fiber ruhet, fremde neue Partikeln zwiſchen den vorhandenen an, und machen ſie ſteifer, oder doch wenigſtens durch dieſe Veraͤnderung in der Lage unge - ſchickter, in den vorigen Richtungen und mit derſelbigen Maße einander zu ſtoßen und zu erſchuͤttern. Wie, wenn es dagegen von der Seele wahrſcheinlich gemacht werden koͤnnte, daß ſie nie etwas von einer innern Rea - litaͤt verliere, die ſie einmal erhalten hat: ſo ließe ſich auch die Schwaͤche in ihren Vermoͤgen als eine bloß re - ſpektive Schwaͤche erklaͤren, die von der Beziehung eines Vermoͤgens auf andere abhaͤngt, deren uͤberwie - gende Staͤrke jenes ſich zu aͤußern nur hindert.

Was723und Entwickelung des Menſchen.

Was die zwote Urſache betrift, warum die Seelen - fertigkeiten nicht erhoͤhet werden koͤnnen, naͤmlich weil ihnen wegen der leichten Reproducibilitaͤt der empfange - nen Jdeen, und wegen der Ungeſchicklichkeit neue anzu - nehmen, die Gelegenheit entzogen wird ſich mit einer ſolchen Anſtrengung zu aͤußern, wie es die weitere Er - hoͤhung der Kraft erfodern wuͤrde: ſo kann auch dieſe nur bloß den menſchlichen Fertigkeiten an fernerem Wach - ſen hinderlich ſeyn, ohne in der Seele eine ſolche Wir - kung zu haben. Es wuͤrde das erſtere allein, daß naͤm - lich die ſchon empfangenen Vorſtellungen zu leicht von ſelbſt wieder ſich darſtelleten, nicht hindern, daß die Kraͤfte ſich an andern ſchaͤrfen koͤnnten, wenn das zwey - te nicht hinzukaͤme, naͤmlich die Ungeſchicklichkeit neue Eindruͤcke anzunehmen, und den Kraͤften friſche Rei - zungen zu verſchaffen. Aber muß dieſe Steifigkeit oder Unfaͤhigkeit auch der unkoͤrperlichen Einheit zukom - men, wenn ſie gleich in den Fibern des Gehirns eine nothwendige Folge ihrer Einrichtung und ihres Gebrauchs iſt? Und wenn etwas entſprechendes, ein Analogon von der koͤrperlichen Steifigkeit, in der Seele ange - nommen werden muß: ſo darf dieſes in dieſer eben kein reelles Unvermoͤgen zu neuen Eindruͤcken, oder eine Ver - minderung an Empfaͤnglichkeit ſeyn, ſondern kann, wie vorhero, wiederum als ein bloß reſpektives Unver - moͤgen erklaͤret werden, das daher entſpringet, weil die Seele auf andere Arten in einem hoͤhern Grade thaͤ - tig iſt.

Wenn die erſte Urſache, warum die Vergroͤßerung der Vermoͤgen aufhoͤren und in eine Abnahme uͤberge - hen muß, in der vergroͤßerten Feſtigkeit und Unbieg - ſamkeit der Fibern des Organs liegt: ſo ließe ſich ſo gar begreifen, daß die Kraͤfte in der Seele, als Seelen - beſchaffenheiten, noch fortwachſen koͤnnen, indem die Kraͤfte im Menſchen ſtillſtehen oder ſchon abnehmen. Z z 2Wird724XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtWird die Reproduktion der harmoniſchen Bewegungen in dem Koͤrper erſchweret, ſo wird auch die Erweckung der menſchlichen Vorſtellungen und der menſchlichen Seelenthaͤtigkeiten erſchweret. Denn dieſe letztern erfol - gen nicht, woferne nicht jene vorhanden ſind; und ohne das Gefuͤhl der begleitenden koͤrperlichen Bewegungen fuͤhlt und appercipirt die Seele ihre eigene Aktion nicht. Der Menſch wird alſo langſamer und minder lebhaft denken, wollen, handeln, wenn das Organ der Seele nicht mehr mit der vorigen Leichtigkeit ihm zu Dienſten iſt. Allein eben dieſe Schwierigkeit, das Organ gehoͤrig zu lenken, kann eine Veranlaſſung ſeyn, die Kraft des un - koͤrperlichen Jchs anzuſtrengen, zu uͤben und zu ſtaͤr - ken. Mag die ganze menſchliche Thaͤtigkeit gerin - ger ſeyn, als vorhero, ſo kann die Seelenthaͤtigkeit, als der immaterielle Antheil derſelben, groͤßer ſeyn. Es iſt alſo wenigſtens nicht ganz unmoͤglich, und mehr be - haupte ich hier nicht, daß auch noch in dem Alter, wenn das Feuer im Denken und Handeln nachlaͤßt und zu verloͤſchen anfaͤngt, die Staͤrke der innern Seelenkraft nicht nur dieſelbige bleibe, ſondern noch fortfahre erhoͤ - het zu werden.

6.

Die relativen Vermoͤgen, oder beſondere Ge - ſchicklichkeiten, muͤſſen gleichfalls im Menſchen ihr Ma - ximum erreichen, und erreichen es, wie die Erfahrung von allen Virtuoſen lehret. Doch iſt dieſer Punkt von dem Punkt des Groͤßten in den abſoluten Kraͤften unter - ſchieden. Die letztern haben oft genug ihre hoͤchſte Stu - fe ſchon erreicht, wenn die Fertigkeiten in gewiſſen be - ſtimmten Arten zu handeln nicht nur ſich vervielfaͤltigen und alſo an Ausdehnung zunehmen, ſondern auch an innerer Staͤrke und Geſchwindigkeit noch fortwachſen. Dieſer Wachsthum kann weit in die Periode der Ab -nahme725und Entwickelung des Menſchen. nahme der abſoluten Kraͤfte hineingehen. Es hangen die beſondern Geſchicklichkeiten von der Leichtigkeit ab, beſondere Jdeenreihen zu erwecken, und die erweckten Vorſtellungen von Aktionen in Empfindungen zu ver - wandeln, oder doch ſo voll und lebhaft zu erwecken, daß ſie leicht bey jeder Veranlaſſung in Empfindungen uͤber - gehen. Da man gemeiniglich alsdenn, wenn eine Ge - ſchicklichkeit an ihrer innern Jntenſion, an Staͤrke und Geſchwindigkeit bis zu einem gewiſſen Grad gebracht iſt, anfaͤngt, ſie mehr zu vermannichfaltigen als innerlich zu verſtaͤrken: ſo hat man auch ſelten Erfahrungen, wor - aus ſich ſehen ließe, wie weit ſie, in Hinſicht der Jnten - ſion, an ſich wohl getrieben werden koͤnnten, wenn je - mand ſich allein darauf legte, ſie von dieſer Seite zu vergroͤßern. Der Spieler ſucht mehrere neue Stuͤcke zu erlernen, wenn er mit einigen fertig iſt; und der Mann von Verſtande ſucht neue Kenntniſſe und Ein - ſichten. Dieß vereinzelt die allgemeine Geſchicklichkeit, und bringt ſie auf mehrere Gegenſtaͤnde, wodurch ſie als in ſo viele beſondere Kanaͤle geleitet und zertheilet wird. Es wird unangenehm, minder nuͤtzlich, ſo gar ſchaͤdlich, indem es ein Mißverhaͤltniß in der Seele her - vorbringt, wenn ein Menſch mit einem ewigen Einerley in der Vorſtellung und in dem Willen ſich befaſſen, und die Leichtigkeit, eine einzelne oder einige wenige |Fibern auf dieſelbige Art zu bewegen, aufs aͤußerſte treiben will. Jndeſſen muͤßte doch auch hierinn endlich eine Grenze ſeyn. Die Reizbarkeit und ſinnliche Beweg - lichkeit der Fibern hat ihre Grenze, woruͤber auch die Schnelligkeit im Oſcilliren, oder was fuͤr eine Art der Bewegung es auch iſt, nicht vergroͤßert werden kann.

Z z 3II. Von726XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

II. Von der Wiederabnahme der Seelenvermoͤgen uͤberhaupt.

  • 1) Vorerinnerung.
  • 2) Jn welchem Verſtande die Wiederabnah - me der Seelenvermoͤgen keine Wiedereinwi - ckelung der Seele ſeyn kann.

1.

Die Periode der Wiederabnahme in den Seelenver - moͤgen kann man faſt von demſelbigen Punkt an - nehmen, wo das Maximum in der Entwickelung er - langet iſt. Jndeſſen giebt es doch in der Seele wie in dem Koͤrper einen gewiſſen Stillſtand von einiger Zeit, der als ein Beharrungsſtand anzuſehen iſt, worinn die Zunahme und Abnahme einander gleich, oder doch nicht merklich ungleich ſind, die, wie es ſich bey allen fortſchreitenden und wiederabnehmenden Weſen verhaͤlt, ſchnell und in den kleinſten Graden mit einander ab - wechſeln. Dieß iſt des Menſchen Mittag. Die Kraͤf - te der Seele und des Koͤrpers erfahren ihre Fluth und Ebbe. Sie ſind an dem Morgen jeden Tages ſtaͤrker und munterer als am Abend. Sie erfahren noch mehr Abwechſelung, wenn der Menſch krank und wieder ge - ſund wird. Allein ſo lange der Stillſtand in dem Leben dauert, ſetzet ſich alles wieder ſo ziemlich in den Gleich - ſtand, daß Jahre vergehen, ehe die Abnahme merk - lich wird.

Die Abnahme in den Kraͤften des Koͤrpers, und die in den Seelenkraͤften, gehen gewiſſermaßen nebeneinander. Es lehret auch bey dieſer wie bey jener die Erfahrung, daß die Abnahme deſto zeitiger ein - tritt, je ſchneller die Entwickelung bis zu ihrem Groͤß - ten gegangen iſt. Dieß geſchieht gemeiniglich, ob -gleich727und Entwickelung des Menſchen. gleich Ausnahmen vorkommen. Dieſe und dergleichen Bemerkungen mehr, nebſt ihren Abweichungen und Verſchiedenheiten in den verſchiedenen Menſchenarten, gehoͤren zu der Naturgeſchichte des Menſchen, die ich hier uͤbergehe. Aber was die Art und Weiſe des Ab - nehmens an Seelenkraͤften betrift, und welchen Begriff man aus der Erfahrung ſich davon zu machen habe? ob es in einem Verluſt beſtehe, oder in einer Wieder - einwickelung? worinnen es beſtehe, inſofern es in dem Organ der Seele vor ſich geht? und was es in der Seele ſelbſt ſey? dieß ſind Hauptſtuͤcke in der Philoſophie uͤber den Menſchen, woruͤber ich wuͤnſchte, einiges Licht verbreiten zu koͤnnen.

2.

Die Abnahme der Seelenkraͤfte iſt eben ſo wenig eine Wiedereinwickelung der Vermoͤgen, als die Ahnahme des Koͤrpers ſo etwas iſt, wenn man ſich eine Ruͤckkehr in den ehemaligen Zuſtand der Jugend dar - unter vorſtellet, das iſt, in den Zuſtand, worinn die Seele vor der Entwickelung ihrer Vermoͤgen war, da ſie nur die Principe und Anlagen zu den nachherigen Vermoͤgen beſaß. Sonſten kann ſie anderer Beſchaf - fenheiten wegen, von gewiſſen Seiten betrachtet, wohl eine Einwickelung genennet werden. Man ſehe nur zuerſt auf das, was in dem Koͤrper geſchieht, wenn der Menſch alt wird. Es folgt keine Verjuͤngerung. Die entwickelte Form behaͤlt, den weſentlichen Stuͤcken nach, ihre einmal erlangte Groͤße, ihren Umfang und ihre Maſſe, und die Theile bleiben unter ſich in derſelbigen Lage und Ordnung, behalten dieſelbigen Verhaͤltniſſe auf - einander, wie ſie ſolche angenommen haben. Die we - nigen Veraͤnderungen in der Laͤnge und Groͤße, die Ver - kuͤrzungen der Faſern, ihre Verduͤnnung, und was man mehr noch unter dem Einkriechen des Alters begreift undZ z 4eine728XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤteine Folge von der Verhaͤrtung iſt, koͤnnen hiebey uͤber - ſehen werden. Jn dieſer vergroͤßerten Rigiditaͤt, oder in der verminderten Geſchmeidigkeit und Bewegbarkeit der Theile, beſtehet eben das Weſentliche des koͤrperli - chen Alterns. Dieſe iſt es, welche nicht zulaͤßt, daß die noch thaͤtige und treibende Lebenskraft mit der ehema - ligen Leichtigkeit die willkuͤrlichen Bewegungen hervor - bringen kann. Die uͤbrigen Symptome des Altwer - dens ſind Folgen von dieſer wachſenden Unbewegbarkeit. Dieſe hindert die Abſonderungen der Saͤfte und beſon - ders der Lebensgeiſter, welche wiederum eine Urſache wird, die die Rigiditaͤt vergroͤßert. Die Abnahme je - ner wirkſamen Materie macht, daß alle Bewegungen in der Maſchine ermatten, und die ſchon etwas ſtarrer ge - wordenen Theile durch das Anſetzen neuer feſter Parti - keln noch mehr ſich verhaͤrten. Beides nimmt alſo ab: die bewegende Kraft, und die Bewegbarkeit der Glieder. Ohne Zweifel die letztere zuerſt. Denn ſie iſt eine nothwendige Folge von dem Wachſen und ſelbſt von den Beſtrebungen und Wirkungen, die waͤhrend des Stillſtandes in den Fibern vor ſich gehen, wenn noch kein Grund vorhanden iſt, warum die Kraft verringert ſeyn ſollte. Aber bey welcher von beiden auch die Ab - nahme anfaͤngt, ſo hat die eine Urſache die andere zur Wirkung, die wiederum jene, wie in einem Kreiſe von Urſachen und Wirkungen, befoͤrdert.

Eben ſo wenig kann die Abnahme in den See - lenkraͤften, die naͤmlich das Alter mit ſich bringet, als eine Wiedereinwickelung in dieſem Verſtande vor - geſtellet werden. An dem Ausdrucke iſt nichts gelegen, wenn nur keine unrichtige Jdee durch ihn veranlaſſet wird. Keine Fertigkeit, kein Vermoͤgen, geht in die erſten Anlagen zuruͤck. Es giebt eine andere Abnahme der Vermoͤgen, die aus dem Nichtgebrauch entſtehet, auf welche die Jdee von einer Einwickelung mehr paſſet. Aber729und Entwickelung des Menſchen. Aber die Abnahme des Alters iſt von jener weſentlich unterſchieden, wie beide noch wiederum von derjenigen Schwaͤchung der Vermoͤgen verſchieden ſind, die aus Ermuͤdung oder aus andern zufaͤlligen Urſachen entſte - het. Wenn man jede dieſer Arten beſonders anſieht, ſo wird ſich zugleich manches bey der erſtern deutlicher be - merken laſſen.

III. Von der Abnahme der Kraͤfte, welche aus ihrem Nichtgebrauch entſpringet.

  • 1) Ob der Verluſt ehemals gehabter Kenntniſſe als eine Einwickelung angeſehen werden koͤnne?
  • 2) Verluſt der Vermoͤgen aus dem Nichtge - brauch.
  • 3) Was die Zuruͤckſetzung der Seele in den Zuſtand der Kindheit in ſich faſſe?

1.

Wir vergeſſen und verlernen ſchon manches in den Jah - ren, wo das Vermoͤgen ſich an etwas zu erinnern und zu handeln noch in ſeiner vollen Staͤrke iſt, und vielleicht noch groͤßer iſt, als es zu der Zeit war, da wir uns das Vergeſſene und Verlernte zum erſtenmal ein - praͤgten. Es iſt eine gemeine Erfahrung, daß Vorſtel - lungen, die in langer Zeit nicht erneuert werden, zu - mal wenn in dieſer Zwiſchenzeit eine Menge anderer hin - zukommen, die uns mehr intereſſiren, bis dahin in uns verloͤſchen koͤnnen, daß wir unvermoͤgend ſind, auch durch Anſtrengung des Gedaͤchtniſſes ſie wiederum zum Be - wußtſeyn zu erwecken. Dieß trifft alle Gattungen von Vorſtellungen, Jdeen und Gedanken; zunaͤchſt die Jdeen von den Gegenſtaͤnden; dann die VorſtellungenZ z 5von730XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtvon unſern Handlungen. Davon haͤngt die Schwaͤ - chung in den Vermoͤgen ab, die zunaͤchſt in den beſon - dern Geſchicklichkeiten, und dann in den abſoluten Kraͤf - ten, ſich offenbaret.

Die ruhenden Jdeen im Gedaͤchtniſſe beſtehen in gewiſſen Leichtigkeiten, auf ſolche Arten modificirt zu werden und gewiſſe Formen anzunehmen. Oder dieſe Leichtigkeit iſt eine Folge von jenen. Sie werden nicht wahrgenommen, ſo lange ſie nicht reproducirt werden; aber ſie ſind doch wahre Formen, Zuͤge, Beſchaffen - heiten der Seele, wenn ſie gleich auf ihrem tiefſten Bo - den, verſteckt, unterdruͤckt und unbemerkt ſich befinden moͤgen. Von dieſen ruhenden Jdeen kann man in ei - nem gewiſſen Verſtande ſagen, wie anderswo gezeiget worden iſt,*)Erſter Verſuch IV. daß ſie wiedereingewickelte Vorſtel - lungen ſind.

Wenn die Reproducibilitaͤt der Vorſtellungen, welche an Groͤße unendlich verſchieden ſeyn kann, ſo weit heruntergeſetzt iſt, daß wir unvermoͤgend ſind die Jdeen uns wieder gegenwaͤrtig zu machen; wenn wir dieß we - nigſtens nicht koͤnnen unter den gewoͤhnlichen Umſtaͤnden, unter welchen der Menſch ſich auf etwas beſinnet, ſo ſe - hen wir die Vorſtellung fuͤr verloſchen oder verloren an. Dieß eraͤuget ſich am meiſten bey den erſten Eindruͤcken in der Kindheit, und nachher bey allen denen, die wir zu fluͤchtig aufnehmen. Denn ſo wie jeder Eindruck auf jeden Sinn eine Zeitlaͤnge erfodert, in der er den Sinn ruͤhren muß, um empfindbarer fuͤr uns zu werden: ſo iſt auch fuͤr jede Art von Vorſtellungen noͤthig, daß un - ſer Perceptionsvermoͤgen ſich eine Weile damit beſchaͤff - tige, wenn ſie ſo gefaßt werden ſollen, daß ſie nachher von innen wiedererweckbar ſind.

Wenn731und Entwickelung des Menſchen.

Wenn Jdeen verloͤſchen, ſo iſt die Leichtigkeit ſie zu reproduciren heruntergeſetzt, und zwar dahin, daß die Seele unvermoͤgend iſt, aus innerer Kraft ſie wieder ſo zu erwecken, daß ſie ſich ihrer bewußt werde.

Dieſes Verloͤſchen koͤnnen wir alſo anſehen als eine Veraͤnderung, die derjenigen aͤhnlich aber nur ein hoͤ - herer Grad von ihr iſt, welche die Vorſtellungen erfah - ren, wenn wir ſie, da ſie uns gegenwaͤrtig klar vorſchwe - ben, zuruͤcklegen und verdunkeln, indem wir uns ſie aus dem Sinne ſchlagen, und Aufmerkſamkeit und Bewußt - ſeyn von ihnen abwenden. Ziehen wir ſie wieder aus dem Gedaͤchtniſſe hervor, ſo geſchieht etwas, das man eine Entwickelung nennen kann. Es war etwas in der Seele zuruͤckgeblieben, was durch ihre innere Kraft nur durfte vergroͤßert, verlaͤngert, verſtaͤrket und ausge - dehnt, das iſt, entwickelt werden, und ſeiner Form nach ſchon ganz darinnen enthalten war. Daher auch die entgegengeſetzte Veraͤnderung allerdings eine Einwicke - lung ſeyn muß, das iſt, eine Zuruͤckverſetzung in einen Zuſtand, in dem der Form nach alles liegt, was in dem vorhergehenden war, und nur Vergroͤßerung von der Kraft bedarf, um ihn wiederherzuſtellen. *)Erſter Verſuch IV. Jſt nun alſo das gaͤnzliche Vergeſſen nicht ein hoͤherer Grad der Einwickelung? Und da daſſelbige, was bey dem Vergeſſen der Vorſtellungen von Sachen vor - geht, daſſelbige oder doch das aͤhnliche von dem iſt, was in dem Verlernen gewiſſer Handlungen enthalten iſt: ſo kann das letztere, von dieſer Seite betrachtet, wie eine Einwickelung der Vermoͤgen angeſehen werden.

Sieht man das gaͤnzliche Vergeſſen und Verlernen an, als wenn alle Spuren der vorhergehenden Vor - ſtellungen und Fertigkeiten weggenommen wuͤrden, wie von der Tafel die Zuͤge, welche ſo voͤllig ausgeloͤſchetwerden,732XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtwerden, daß jene ſo rein und leer iſt, als vorher: ſo wuͤrde nun die Seele in Hinſicht ſolcher Vorſtellungen auf ihren erſten Zuſtand zuruͤckgebracht ſeyn, in dem ſie war, ehe ſie ſolche empfangen hatte. Sie wuͤrde nichts mehr als die Receptivitaͤt beſitzen ſie anzunehmen, keine naͤhere Diſpoſition, keine Anlage, die ſie durch ihre in - nere Kraft ausarbeiten koͤnnte, naͤmlich in Hinſicht auf ſolche, die ſie ohne Eindruͤcke von aͤußern Urſachen nicht bekommen konnte. Allein dieſe Veraͤnderung duͤrfte denn auch nicht weiter fuͤr eine Einwickelung gehalten werden, als vorher die Erlangung ſolcher Jdeen eine Entwickelung geweſen iſt. Wenn eine im Gedaͤchtniß ruhende Vorſtellung hervorgezogen wird, ſo iſt dieß eine Entwickelung; und daher iſt es auch Wiedereinwicke - lung, wenn ſie aus einer gegenwaͤrtigen in eine ruhende, aus der Region der klaren in die Region der dunkeln, verſetzet wird. Aber wenn eine neue Jdee durch die aͤußere Empfindung, oder uͤberhaupt durch den Einfluß aͤußerer Urſachen, hat bewirket werden muͤſſen: ſo iſt ein neuer Zuſatz in der Seele entſtanden, wenigſtens inſo - ferne, daß die Empfindung als eine Nahrung und als die Materie der Vorſtellung hinzugekommen iſt, die dann von innen zur Vorſtellung bearbeitet worden. Das alles zuſammen iſt denn doch mehr, als eine bloße Ent - wickelung deſſen, was ſchon vorhanden war. Wenn es aber ſich ſo mit der Erlangung der neuen Jdeen ver - haͤlt, ſo muß in dem gaͤnzlichen Verluſt derſelben auch ebenfalls etwas ſeyn, was noch mehr iſt als eine bloße Einwickelung.

Allein die Vorausſetzung, daß alle Spuren von dem, was wir vergeſſen und verlernet haben, verloſchen ſind, iſt gewiß unrichtig. Es ſind anderswo*)Dreyzehnter Verſuch VII. 6. ſchon Erfahrungen angefuͤhrt, die es wahrſcheinlich machen,daß733und Entwickelung des Menſchen. daß ſich keine Vorſtellung auch nur ſo weit verliere, daß nicht ihre Spur durch die Eigenmacht der Seele unter gewiſſen Umſtaͤnden wiedererweckt werden koͤnne, wenn ſie gleich dieß gewoͤhnlich nicht kann, und ſo oft und un - ter ſolchen Umſtaͤnden nicht kann, unter denen wir uns gemeiniglich auf etwas beſinnen, ſo daß wir ſie fuͤr ganz vergeſſen anzuſehen Urſach haben. Es ſtoßen uns noch mehrere Beobachtungen auf, die daſſelbige beſtaͤtigen. Die Alten erinnern ſich in ihren hohen Jahren oͤfters ſol - cher Dinge aus ihrer Kindheit, die ſie in ihrem mitt - lern Alter vergeſſen hatten, wenigſtens ſo, daß ſie da - mals ſich ihrer nicht zu erinnern wußten. Jndeſſen kann man gerne zugeben, daß der angefuͤhrte Grad der Vergeſſenheit wirklich ſtattfinde. Es moͤgen viele Vorſtellungen auf immer, das ganze Leben durch, un - erweckbar geworden ſeyn. Allein dennoch wuͤrde es wi - der die Analogie der Natur ſeyn, zu glauben, daß gar keine Spur, Wirkung oder Folge von ihnen mehr uͤbrig ſeyn ſollte. Die erſten Eindruͤcke der Jugend, und was wir in der Folge zu obenhin auffaſſen, um es fuͤr ſich ausgezeichnet und kennbar reproduciren zu koͤnnen, hat ſich gleichwohl in uns geſetzt, hat ſich mit andern nachfolgenden Eindruͤcken vereiniget, und dieſe befoͤrdert und ſtaͤrker gemacht. Wenn es nicht wiedererweckt werden kann, ſo iſt es nur zu ſehr mit andern verwickelt und| eingehuͤllet, um genug wieder abgeſondert und her - ausgehoben werden zu koͤnnen. Etwas davon iſt doch in uns zuruͤckgeblieben. Alsdenn wird das Vergeſſen und Verlernen in einer zuſtarken Einwickelung be - ſtehen, welche die Folge hat, daß die Kraft zu reprodu - ciren nicht mehr hinreichet, das Eingewickelte wie - der auszuwickeln, und es von den uͤbrigen abzuſon - dern; oder daß ſie die Hinderniſſe nicht uͤberwinden kann, die dieſer Wirkung im Wege ſtehen.

Es734XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

Es iſt fuͤr ſich klar, daß, was den Jdeen von Objekten im Gedaͤchtniſſe begegnet, auch den Vorſtellungen von Aktionen, und den erworbenen Fertigkeiten ſelbſt, be - gegnen koͤnne. So lehrt es ja auch die Erfahrung, daß beſondere Vermoͤgen, wenn ſie lange ohne Uebung geblieben ſind, wie die Kraft des Magneten, geſchwaͤcht werden, und dann noch nicht ſogleich wieder in ihrer vorigen Staͤrke da ſind, wenn man ſchon die erfoderlichen Jdeen - reihen von den Objekten erneuert hat. Die Ruhe iſt eine Erholung fuͤr die angeſtrengte Kraft; aber die laͤn - gere Unthaͤtigkeit ſchwaͤchet ſie.

Wenn eine ſolche Schwaͤche aus Unthaͤtigkeit in den beſondern Vermoͤgen entſtehet, ſo muß auch davon eine ſchwaͤchende Wirkung auf die uͤbrigen und auf ihre ganze Grundkraft ſich ausbreiten, aus einem aͤhnlichen Grunde, warum die Verſtaͤrkung eines Vermoͤgens die ganze Grundkraft verſtaͤrket, und auch in eben der Maße. *)Erſter Abſchnitt dieſes Verſuchs II. 6. III. 1.Jndeſſen kann dieſer Wirkung dadurch, daß ein anderes Vermoͤgen deſto mehr geſchaͤrfet und erhoͤhet wird, vorgebogen werden, und zwar ſo, daß die Grund - kraft der Seele im Ganzen noch immer an Staͤrke zu - nimmt. Jſt die Schwaͤchung in den Vermoͤgen nur nicht allgemein, ſo mag wohl die aͤußere Empfindlichkeit geringer werden, das Gedaͤchtniß und die Phantaſie leiden; aber es folget nicht, daß die Seelenkraft im Ganzen herunterkomme.

Ueberhaupt aber iſt es aus der Natur der Sache ſelbſt ſo leicht zu begreifen, als durch die Erfahrung zu beſtaͤtigen, daß die Vorſtellungen von den Aktionen und die Fertigkeiten zu handeln feſter ſitzen, als die Vorſtel - lungen von beſondern Objekten dieſer Thaͤtigkeiten. Habitus ſunt difficulter mobiles. Jene ſind viel oͤfte - rer, auch bey andern Gegenſtaͤnden als den vergeſſenen,wieder -735und Entwickelung des Menſchen. wiederholet und erneuert worden, und haben daher aus mehrern Vorſtellungen Nahrung und Staͤrkung gezo - gen, durch welche ſie auch alsdenn noch erhalten werden koͤnnen, wenn die Vorſtellungen von den vorzuͤglichſten Gegenſtaͤnden der Thaͤtigkeit verloren ſind. Je allge - meiner die Wirkungsarten ſind, in je mehrern beſondern Kraftaͤußerungen der Seele ſie vorkommen, deſto weni - ger koͤnnen ſie verlernet werden.

3.

Sollte die menſchliche Seele in den Zuſtand der erſtern Kindheit vor ihrer Ausbildung zuruͤckgeſetzt wer - den: ſo muͤßten nicht nur die Spuren von ihren erwor - benen Vorſtellungen und Fertigkeiten weggehen, ſondern es muͤßte auch ihre ehemalige Receptivitaͤt wieder er - neuert werden. Dadurch, daß ſie nach und nach mit vielen beſondern Jdeenreihen erfuͤllet ward, verlor ſich etwas von ihrer anfaͤnglichen Leichtigkeit anzunehmen, in Hinſicht gewiſſer Arten von Veraͤnderungen. Sie ward feſter, ſtaͤrker, ungelenkſamer, je mehr ſie an verſchie - denen Seiten entwickelt ward. Jede Form, die ſie empfaͤngt, oder die ſich feſter ſetzet, wird ein Hinderniß zu einer andern entgegengeſetzten Form. Jene große Geſchmeidigkeit aber iſt ein weſentliches Stuͤck der Ver - juͤngerung, wenn eine ſolche ſtattfinden koͤnnte. Wir finden ſie in der Abnahme des Alters nicht, nicht ein - mal in der ſogenannten Kindheit des Alters. Aber man trift etwas davon in dem Vergeſſen und Verlernen an. Wenn man viele Jdeen der Vergeſſenheit uͤber - giebt und ſie nicht mehr bearbeitet, ſo ſcheinet es, als wenn man Raum im Gedaͤchtniſſe zu andern mache. Gleichwohl haben jene immer etwas zuruͤckgelaſſen, das noch ſeine Stelle einnimmt, und doch ein merkliches Hin - derniß iſt, wenn neue hinzugeſetzt werden ſollen.

IV. Von736XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

IV. Von der Ermuͤdung der Seelenkraͤfte und ihrer Schwaͤchung aus andern zufaͤlligen Urſa - chen.

  • 1) Von der Ermuͤdung der Kraͤfte.
  • 2) Von ihrer Schwaͤchung aus andern Ur - ſachen.

1.

Die Ermuͤdung der Kraͤfte, welche aus einer zu ſtarken oder zu lang anhaltenden Anwendung der - ſelben entſtehet, iſt ebenfalls eine Art von Schwaͤche, aber verſchieden von der vorhergehenden, die aus Unthaͤtig - keit kommt. Wenn man zuerſt auf das ſieht, was die Ermuͤdung in dem Koͤrper ausmacht, ſo hat man eine naͤhere Anleitung das Weſentliche bey der Ermuͤdung der Seele zu bemerken. Der ermuͤdete Tagloͤhner legt ſich aufs Bett zur Ruhe, und iſt ſo wenig im Stande zu arbeiten, als ein Kind. Dennoch aber iſt er kein Kind. Er hat nicht mehr Luſt zur Arbeit, und will ſie nicht, weil er fuͤhlet, daß, wenn er auch wollen wuͤrde, ſein Wollen hoͤchſtens ein vergebliches Beſtreben ſeyn wuͤrde. Die Muskeln, als Werkzeuge der Bewegung, haben weder an Groͤße noch Staͤrke abgenommen, und es feh - let weder an den Vorſtellungen von den Handlungen, noch an dem Vermoͤgen innerlich ſolche zu reproduciren, lebhaft zu machen und die Handlung von neuem zu wollen, welches alles dem ſchwachen Kinde mangelt. Aber es fehlet an Vollbringungskraft, an der leben - digen Kraft, wodurch die Glieder ohne widrige Em - pfindungen beweget werden. Jſt es blos reine ſanfte Ermuͤdung, ſo iſt dieſer Mangel an thaͤtiger Kraft dasjenige, was ſie ausmacht. Allein gemeiniglich iſt ſie mit einer Steifigkeit in den gebrauchten Gliedernverbun -737und Entwickelung des Menſchen. verbunden. Und dieſe letztere iſt beſonders alsdenn das weſentliche Stuͤck, wenn die Ermuͤdung nur partial iſt, wie in dem, der ſo lange geſchrieben hat, daß ihm die Finger ſtarr ſind, und nun noch bewegende Kraft genug beſitzet, um zu gehen und zu ſpringen.

Die Steifigkeit iſt eine Folge des zu ſtarken oder zu lange anhaltenden Gebrauchs der Glieder auf eine ein - foͤrmige Art. Das Gebluͤt und die Saͤfte dringen zu haͤufig in die geſpannten Fibern, ſetzen ſich zwiſchen ih - nen, und benehmen ihnen die vorige Geſchmeidigkeit und Schnellkraft. Dieß kann nicht geſchehen ohne einen Aufwand von Kraͤften. Daher auch jede partiale Er - muͤdung etwas zu der Ermuͤdung im Ganzen beytraͤgt. Denn obgleich eine Abwechſelung mit der Arbeit in ei - nem ſolchen Falle eine wahre Erholung iſt, die uns ge - ſchickt macht, nachher die erſtere vom neuen zu verrichten: ſo iſt doch gewiß, daß woferne nicht inzwiſchen der ganze Koͤrper ſeine Ruhe gehabt und neue Kraft geſammlet hat, die zwote Wiederholung der erſtern Arbeit nicht mehr mit der gleichen Munterkeit geſchehen koͤnne, wo - mit dieſe das erſtemal verrichtet ward.

Auf eine aͤhnliche Art verhaͤlt es ſich mit der Er - muͤdung der Geiſteskraͤfte. Jſt ſolche nur in ei - nigen Vermoͤgen, ſo iſt ſie mehr eine Ungeſchicklichkeit, gewiſſe Vorſtellungsreihen und Thaͤtigkeiten auf die er - foderliche Art hervorzuziehen und mit einander zu ver - binden, die in den zu erweckenden Jdeen ſelbſt liegt, als daß es an dem wirkſamen thaͤtigen Princip mangeln ſollte, wodurch die Seele ſich zu ihren Handlungen be - ſtimmet. Denn wenn ſie mit ihren Beſchaͤftigungen nur abwechſelt, ſo findet ſie ſich noch thaͤtig genug zu vielen andern, wenn ſie gleich auch etwas an Munter - keit durch die erſte Beſchaͤfftigung, die ſie ermuͤdete, verloren hat. Allein wenn die Ermuͤdung, nachdem man vorher mehrmalen und auf vielerley Art abgewechſeltII Theil. A a ahat,738XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤthat, allgemein geworden iſt, ſo iſt ſie freylich auch mit einer Art von Steifigkeit in den beſondern Vermoͤgen verbunden: aber ſie beſtehet alsdenn uͤberhaupt doch mehr in dem Mangel an derjenigen wirkſamen Kraft, die die Aktionen nicht nur vorſtellen und wollen, ſondern auch wirklich verrichten muß. Jſt naͤmlich die Ermuͤ - dung nicht allzugroß, und iſt ſie weniger eine Erſchoͤ - pfung aus einer einfoͤrmigen Handlungsart, worauf die ganze Kraft verbraucht iſt, als eine Wirkung von man - nichfaltigen Thaͤtigkeiten, die nach und nach verrichtet ſind und die Kraft verbraucht haben, durch ihre Ver - ſchiedenheit aber veranlaßten, daß ein Vermoͤgen faſt ganz in Ruhe war, waͤhrend daß das andere wirkte: ſo hat ſich die erſtere Wirkung, die aus der zu lange anhal - tenden einfoͤrmigen Thaͤtigkeit entſpringet, groͤßtentheils wieder verloren. Und dann iſt nicht mehr die Unbieg - ſamkeit vorhanden, ſondern eine Erſchlaffung, die in einem Mangel an wirkſamer Kraft beſtehet. Was in den koͤrperlichen Gliedern die Steifigkeit und Er - ſchlaffung iſt, die Folge von einem zu ſtarken Zufluß der Saͤfte nach demſelben Theil, und dem darauf erfolg - ten zu ſtarken Ruͤckfluß, das iſt in der Seele die zu ſtarke Anhaͤufung der Vorſtellungen nach einer Hauptidee, und die darauf folgende zu ſchwere Reproducibilitaͤt derſelben. Es werden der Neben - vorſtellungen zu viele, die ſich mit der Hauptvorſtellung verbinden; alle beſondere Zuͤge der letztern werden um - geben mit kleinern zum Theil ſehr dunklen Vorſtellungen, die man inzwiſchen reproducirt, und mit neuen, die aus der Empfindung hinzukommen. Das Ganze wird da - durch ſo voll und mit andern ruhenden Vorſtellungen ſo ſtark verbunden, daß die Einbildungskraft unvermoͤgend iſt, ſie nach dem Gefallen der Seele darzuſtellen und zu wenden. Wenn hierauf die Ruhe folget, ſo muß die Wirkung dieſe ſeyn, daß die wiederverdunkelten Neben -ideen739und Entwickelung des Menſchen. ideen, wegen ihrer genauen Verbindung mit den Theilen der Hauptidee, viele von dieſen letztern zuruͤckhalten, ſo lange ſie nicht ſelbſt mit erwecket werden. Daher koͤn - nen zwar noch immer einige Theile der Hauptvorſtellung erneuert werden, aber nur wenige, die ſich ſo zu ſagen losreißen. Allein die Hauptidee kann nicht in ihrer Voͤl - ligkeit und Staͤrke gegenwaͤrtig gemacht werden, wenn nicht vom neuen alle uͤbrige zu ihr geſammlete auch her - vorgerufen wuͤrden, wozu die Kraft zu ſchwach iſt. Dieß iſt die Erſchlaffung in der Jdee, eine Unfaͤhigkeit an - ders, als nur mit gewiſſen mattausgedruckten Merkma - len, reproducirt zu werden.

Bey der Ermuͤdung werden alſo zwar inſoweit die Vorſtellungen und Vermoͤgen eingewickelt, als es ge - ſchieht, wenn eine Jdee im Gedaͤchtniß verwahret wird: aber nicht weiter; nicht in dem Grade, wie alsdenn, wenn etwas vergeſſen oder verlernet wird. Dazu iſt dieß Einwickeln nicht das Weſentliche der Ermuͤdung. Alle Spuren und alle Formen, Vorſtellungen von Ge - genſtaͤnden, Vorſtellungen von Handlungen, ſind noch vorhanden und erweckbar. Nur die thaͤtige Kraft feh - let, die jene wirklich erwecken und ſoweit erwecken ſollte, als die Abſicht es erfodert, und ſie nicht nur erwecken, ſondern auch bis zu Empfindungen ſie hervorziehen ſollte. Sobald dieſe Kraft ſich wieder eingeſtellet hat, ſo bedarf es keiner neuen Vorſtellungen und keiner neuen Uebung, um die vorigen Fertigkeiten aͤußern zu koͤnnen.

Die Kraftloſigkeit hat ihre verſchiedenen Grade, und kann daher mehr oder weniger in die Vermoͤgen ein - dringen, und von laͤngerer oder kuͤrzerer Dauer ſeyn. Aber wenn nach wiederhergeſtellter Munterkeit der Seele die Schwaͤche in dieſem oder jenem Vermoͤgen, das all - zuſtark angeſtrenget iſt, noch fortdauert: ſo iſt dieß ein Beweis, daß außer der bloßen Entziehung der wirkſa - men Kraft in dieſem Vermoͤgen eine beſondere Veraͤn -A a a 2derung740XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtderung vorgegangen ſey, und zwar in der Jdeenaſſocia - tion, inſoferne ſie in der Seele ſelbſt iſt, wie oben (Er - ſter Abſchnitt II. 7.) erklaͤret worden. Wie ferne aber die Ermuͤdung des menſchlichen Seelenweſens in der Seele ſelbſt oder in ihrem koͤrperlichen Organ ſeinen Sitz habe, iſt eine andere Frage, die noch unten beruͤh - ret werden ſoll.

2.

Außer den angefuͤhrten Urſachen von der Abnahme und dem Verluſte der Fertigkeiten, Vermoͤgen und Kraͤfte der Seele, giebt es noch eine Menge anderer, die zufaͤllig ſind, und theils nur eine voruͤbergehende, theils eine zeitlebens beſtehende, Schwaͤchung hervorbrin - gen. Ohne dieſe einzeln zu betrachten, wird es genug ſeyn ſie zuſammen unter einen allgemeinen Geſichts - punkt zu bringen, und dann nur diejenige, die mit dem Alter, als eine Folge der menſchlichen Natur herbeyge - fuͤhrt wird, beſonders zu erwaͤgen.

Jede Abnahme an erworbenen Fertigkeiten kann als eine verminderte Leichtigkeit, oder als eine Schwierigkeit Vorſtellungen zu reproduciren, betrachtet werden. Denn obgleich die hinzugekomme - nen Grade in den Vermoͤgen etwas in der Kraft ſelbſt ſind, wie mehrmalen erinnert iſt, naͤmlich gewiſſe in Leichtigkeiten uͤbergegangene Anlagen, die von der Leich - tigkeit die Jdeen von den Objekten zu erwecken unter - ſchieden und ſo gar noch etwas mehr ſind, als die Leich - tigkeiten Vorſtellungen von den Aktionen zu reprodu - ciren: ſo beſtehen ſie doch am Ende in Leichtigkeiten ſich in einen ehemaligen Zuſtand wieder zu ver - ſetzen, das iſt, diejenige Modifikation, Veraͤnderung, Richtung, Einſchraͤnkung oder Beſtimmung der Kraft anzunehmen, welche vorher da war. Da nun dieß letztere geſchieht, dadurch daß die aus der vorhergegan -genen741und Entwickelung des Menſchen. genen Aktion hinterbliebene Spur erwecket und vom neuen bis zur Empfindung erhoben wird: ſo erhellet deutlich genug, daß, ſo mancherley die Urſachen ſind, welche die Reproduktion der Vorſtellungen uͤberhaupt verhindern, erſchweren oder unmoͤglich machen, ſo viele gebe es auch, wodurch die Vermoͤgen und Fertigkeiten auf gewiſſe Arten zu handeln gehindert oder weggenom - men werden koͤnnen.

Was die blos natuͤrlichen Anlagen, zum Thun und zum Leiden, das iſt, die blos natuͤrlichen Vermoͤgen, betrifft, ſo iſt es klar, daß ſie denſelbigen Veraͤnderun - gen in gleicher Maße unterworfen ſind, wie die erwor - benen Fertigkeiten. Jene koͤnnen beſtehen, wo dieſe wegfallen. Aber ſie leiden, auch als Vermoͤgen in dem menſchlichen Seelenweſen betrachtet, durch alle Urſachen, welche eine Unfaͤhigkeit nicht mit einer Fertigkeit zu handeln, ſondern eine Unfaͤhigkeit ſolche anzunehmen, hervorbringen.

Wenn die erworbenen Fertigkeiten gelitten haben, ſo kann ſolches an den zu reproducirenden Vorſtellun - gen liegen, und alſo auch an den Werkzeugen und Mit - teln, die zu der Reproduktion erfodert werden. Die Vorſtellungen ſind entweder zu ſehr verloſchen oder zu ſehr unter andern verſteckt, oder ſie ſind auch ſelbſt fuͤr ſich zu ſteif und unbeweglich geworden, inſoferne ſie von den materiellen Jdeen in dem Gehirn abhangen. Die koͤrperlichen Organe zu den Jdeen koͤnnen entweder alle Spur des ehemaligen ſinnlichen Eindrucks verloren ha - ben, oder zu ſehr durch die vordringende leichtere Be - weglichkeit anderer Organe verhindert werden in Be - wegung zu kommen, oder ſie ſind zu ſteif geworden, oder auch, was man hiezu noch rechnen kann, ſie ſind zu ſehr erſchlaffet. Genug, ſie ſind außer Stand geſetzt, auf die vorige Art modificirt zu werden.

A a a 3Aber742XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

Aber auch kann die Schuld nicht an den Vorſtellun - gen und Organen, ſondern an der thaͤtigen Kraft des Seelenweſens, liegen, welche ſie nicht mit der erfoderli - chen Staͤrke in Bewegung ſetzen kann. Und in dieſem Fall kann wiederum die Schwaͤche der Kraft ſo weit ge - hen, daß nicht einmal die Vorſtellung von der Aktion, als ihr erſter ſchwacher Anfang in dem Jnnern, und alſo noch weniger ein Beſtreben zur Thaͤtigkeit, oder ei - ne Selbſtbeſtimmung des Willens, bewirket wird. So lange der Menſch noch etwas wollen, das iſt, eine Handlung ſich vorſtellen und ſich innerlich zu ihr be - ſtimmen kann, ſo lange beſitzt er auch noch einiges Ver - moͤgen dazu. Jſt es eine aͤußere Handlung mit dem Koͤrper, ſo fehlt nichts mehr, vorausgeſetzt daß die Selbſtbeſtimmung in der Seele ſtark und anhaltend ge - nug iſt, als das Aeußere in der Organiſation, was zur Ausfuͤhrung erfodert wird. Der Geiſt wirket alsdenn noch frey, wenn gleich nicht mehr in ungekraͤnkten Glie - dern. Jſt aber die Handlung eine innere Aktion der Seele im Vorſtellen und Denken, ſo iſt ebenfalls jenes uͤbrig gebliebene wirkſame Wollen eine Anzeige, daß das Vermoͤgen dazu als Vermoͤgen vorhanden iſt, ob es gleich an den Fibern des Organs fehlen mag, deren Bewegung jene Thaͤtigkeiten begleiten muß. Hat je - mand noch Neigung, und zwar innere Neigung mit an - ſchaulicher Vorſtellung der Sache, eine Reihe von Wahrheiten zu uͤberdenken, oder ſich auf Umſtaͤnde zu beſinnen, oder ſonſten Vorſtellungen und Gedanken zu erneuern und zu verbinden: ſo zeigt ſich, daß nicht das Vermoͤgen zum Nachdenken, oder die Einbildungskraft, oder die Phantaſie, zu ſchwach iſt, wenn gleich ihr Be - ſtreben den Effekt nicht hat. Hier liegt es an Hinder - niſſen, die in den zu erweckenden Vorſtellungen ſind.

Allein wie weit auch die Erſchwaͤchung der Seelen - vermoͤgen eindringt, ſo iſt es eine Folge aus der Naturdes743und Entwickelung des Menſchen. des menſchlichen Seelenweſens, daß jene den Menſchen treffen koͤnne, ohne das unkoͤrperliche Jch ſelbſt herunter - zuſetzen. Wenigſtens wuͤrde dieſes letztere ein Schluß ſeyn, uͤber deſſen Wahrſcheinlichkeit oder Unwahrſchein - lichkeit vorher aus analogiſchen Gruͤnden geurtheilt wer - den muß. Die Krankheit bringt den Menſchen um ſein Gedaͤchtniß, aber darum auch den Geiſt um das Ver - moͤgen, die Spuren ſeiner ehemaligen Veraͤnderungen aus ſich ſelbſt zu erneuern?

V. Von der natuͤrlichen Abnahme der Seelenvermoͤ - gen im Alter.

  • 1) Die Abnahme der Seele im Alter kann nicht nach dem Grad ihrer aͤußern Wirkſamkeit mittelſt des Koͤrpers beurtheilet werden.
  • 2) Von der Abnahme der koͤrperlichen Fertig - keiten, und der aͤußern Sinne.
  • 3) Die Abnahme der Seele im Alter kommt nicht von dem Verluſt ihrer Vorſtellungen, ſondern von der erſchwerten Reproducibili - taͤt derſelben.
  • 4) Warum die Alten ſich der Zeiten ihrer Ju - gend beſſer erinnern, als der neuern Bege - benheiten. Vergeſſene Vorſtellungen ſind ſolche, die unter andern Vorſtellungen ver - huͤllet ſind.
  • 5) Die in dem Alter vorhandenen ruhenden Vor - ſtellungen ſind etwas reelles. Ehrwuͤrdig - keit des Alters. Kindheit des Alters.
  • 6) Die Abnahme an Lebhaftigkeit des Geiſtes. Von der zunehmenden Unerweckbarkeit der Vorſtellungen.

A a a 47) Ob744XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

  • 7) Ob man aus der Abnahme an Thaͤtigkeit auf die Abnahme an Kraͤften und Vermoͤ - gen ſchließen koͤnne?
  • 8) Wie weit die Abnahme des Seelenweſens eine Abnahme der unkoͤrperlichen Seele ſey? Was die Analogie hievon lehre, und wie ferne die Erfahrungen damit uͤbereinſtim - men?

1.

Die Seelenvermoͤgen nehmen in derſelbigen Ordnung in dem Menſchen wieder ab, in der ſie entwickelt ſind: zuerſt die Sinne, dann die Einbildungskraft, dann der Verſtand, mit ihnen die davon abhangenden aͤußern Thaͤtigkeiten. Zufaͤllige Urſachen aͤndern frey - lich hiebey manches; aber doch iſt jenes der natuͤrliche Gang der Natur zum Alter und zum Tode, den die Zu - faͤlle verkuͤrzen, und etwas verdrehen, aber bey keinem Jndividuum unkenntlich machen.

Dieſe Abnahme muß nun zwar zuerſt von der Seite betrachtet werden, wo ſie ſich aͤußerlich in den Alten zei - get. Aber dieß iſt doch nicht, wobey man ſtillſtehen muß. Was geht in dem Jnnern des Seelenweſens vor? Auf welche Art, und in welchen Stufen ſteigen hier die Kraͤfte allmaͤlich herunter? Davon ſey hier die Rede. Die Seele des Alten macht ſich gewiſſermaſ - ſen von der aͤußern Welt los, und zieht ſich mehr in ſich ſelbſt zuſammen. Man wuͤrde ſich uͤbereilen, wenn man ſchließen wollte, ſie ſey ſo ſchwach und unthaͤtig in ihrem Jnnern geworden, als es nach dem ſchwachen Einfluß in die aͤußern Dinge mittelſt des Koͤrpers ſchei - nen moͤchte.

2.

Die Abnahme an den koͤrperlichen Geſchicklichkeiten, im Tanzen, Fechten, Reiten, Spielen, Malen undſo745und Entwickelung des Menſchen. ſo ferner, faͤllt uns mit der, die ſich in den aͤußern Sin - nen, im Gehoͤr und Geſicht, offenbaret, zuerſt auf. Und wenn man dasjenige zergliedert, was hiebey vorgeht, ſo kommt man auf die Spur zu dem, was in Hinſicht der uͤbrigen Vermoͤgen geſchieht, oder wenigſtens doch zu analogiſchen Vermuthungen.

Die Werkzeuge der Bewegungen und die Sinnglie - der, die leicht und ſchnell bewegbar ſeyn mußten, wenn die koͤrperlichen Geſchicklichkeiten beſtehen und die Sin - ne ihre Staͤrke und Lebhaftigkeit behalten ſollten, wer - den feſter, ungeſchmeidiger und ſteifer. Bey den Or - ganen der willkuͤrlichen Bewegungen iſt dieß am deut - lichſten, wenn man auch bey den Ohren und Augen et - wan daran zweifeln moͤchte, bey denen die Veraͤnde - rung weniger aͤußerlich merklich iſt. So bringt es be - kanntermaßen die Natur der Fibern in dem thieriſchen Koͤrper mit ſich. Nach denſelben Geſetzen, wornach der Koͤrper waͤchſet, wornach faſt ganz fluͤßige Saͤfte in weiche gallertartige, die gallertartigen in faſernartige, einige in knorpelartige und Knorpel in feſte Knochen uͤber - gehen, geht auch die nie ſtillſtehende Natur weiter. Durch die unaufhoͤrliche Aktion auf die Theile treibet ſie die Partikeln naͤher an einander, und verbindet ſie durch die dazwiſchen gebrachten neuen Nahrungstheile, und bringt dadurch das Verdicken, das Verfeſtigen und Ver - trocknen, in allen Theilen, endlich uͤber die Grenze hin - aus, wo Staͤrke und Biegſamkeit in dem vollkommen - ſten Verhaͤltniſſe ſich befanden.

Dieſe Steifigkeit iſt der Fehler, der in den Gliedern entſteht. Jm uͤbrigen behalten ſie ihre vorigen Geſtal - ten, Groͤße, Formen beynahe; auch beynahe dieſelbige Lage und Beziehungen auf einander, die ſie bey der Aus - bildung durch Natur und Kunſt erlanget haben. Die Spuren der vorigen koͤrperlichen Bewegungen, und der organiſchen Aſſociationen derſelben, gehen nicht weg. A a a 5Man746XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtMan kann auch den ſteifen Alten es oft genug anſehen, wie ſie ihren Koͤrper in den juͤngern Jahren geuͤbt ha - ben. Und ohne Zweifel liegen eben ſo wohl Zeichen und Merkmale von der Geſchicklichkeit im Spielen, Tanzen und Fechten, in ihren Fingern, Fuͤßen und Armen, wenn wir hierinn nur Phyſiognomiſten ſeyn koͤnnten, als die Abdruͤcke ihrer Denkarten und Leidenſchaften in ih - rem Geſicht; wenn auch gleich dorten die Zuͤge etwas undeutlicher und unleſerlicher fuͤr uns ſeyn moͤgen, als die letztern.

Es hat ſich gemeiniglich dieſe Abnahme an Beweg - barkeit in dem Koͤrper ſchon zeitiger eingeſtellt, als noch irgend eine Abnahme an den Fertigkeiten der Seele, die den innern Theil der menſchlichen, auch der koͤrperlichen, Fertigkeiten ausmachen,*)Dreyzehnter Verſuch. IX. Erſte Abtheil. 10. 11. verſpuͤret wird. Der Menſch muß es erſt aus dem Gefuͤhl erlernen, daß ſein Koͤrper nicht mehr ſo fort will, wie man ſich in der gemeinen Sprache ausdruͤckt, oder eigentlich, nicht mehr ſo gelenk - ſam und leicht beweglich iſt, als vorher, und als es der Vorſtellung, dem Wollen und Beſtreben der Seele ge - maͤß iſt. Er aͤußert alſo vorher dieſelbigen Beſtrebun - gen zu handeln, und merkt innerlich ſo wenig eine Schwaͤche, daß er im Anfang ſich durch ſeine Reflexion davon uͤberzeugen kann, die Schwaͤche liege nicht an ſei - ner Seele, welche noch nichts vergeſſen noch verlernet hat, ſondern an der Steifigkeit in den Gliedern. Ehe der Alte es gewiß wird, daß ein wahres Unvermoͤgen eingetreten, glaubt er eine Weile, es moͤchten nur zu - faͤllige Hinderniſſe da ſeyn. Er verſucht es ſchaͤrfer zu - zuſehen und aufmerkſamer zuzuhoͤren, wenn ſchon das Auge und Ohr gelitten hat, in der Meinung, es fehle an ſeiner Aufmerkſamkeit, daß die Empfindungen nicht mehr ſo lebhaft und deutlich ſind. Dieß laͤßt ſchließen,daß747und Entwickelung des Menſchen. daß, ſo viel die Vermoͤgen in der Seele betrift die Ak - tionen ſich vorzuſtellen, ſich dazu zu beſtimmen, inner - lich dieſe Vorſtellungen zur Empfindung zu erheben, die Sinnglieder zu lenken und auf die Eindruͤcke von auſ - ſen aufmerkſam zu ſeyn, ſolche noch in ihrer voͤlligen er - worbenen Staͤrke beſtehen muͤſſen; wenigſtens ſo viel ſich aus dem innern Gefuͤhl erkennen laͤßt. Und daraus folgt ferner, daß die Seelenvermoͤgen, die zu den Kunſt - ſertigkeiten des Koͤrpers gehoͤren, nicht nur noch einige Zeit ungeſchwaͤcht bleiben koͤnnen, wenn ſchon die Or - gane ihre vorigen Dienſte verſagen, ſondern noch wohl gar im Anfang etwas zunehmen, weil ſie gereizet wer - den mit einer groͤßern Jntenſion zu wirken, um das zu erſetzen, was von der Seite des Koͤrpers abzugehen anfaͤngt.

Aber wenn nun das Gefuͤhl es mehrmalen gelehrt hat, daß es vergeblich ſey, mit der Staͤrke und Lebhaf - tigkeit der juͤngern Zeit, und mit gleichem Erfolg, em - pfinden und wirken zu wollen, ſo faͤngt auch die wollen - de Seelenkraft an ſich einzuziehen. Es ermattet auch die Neigung zu dergleichen Kraftaͤußerungen. Da iſt dann auch das Ende der weitern Vervollkommnung der innern Geſchicklichkeit in der Seele.

Noch mehr. Die innere Fertigkeit in der Seele, die gehoͤrigen Vorſtellungen zu erwecken und zu wollen, iſt zuweilen in alten Leuten noch faſt in derſelbigen Staͤr - ke, wenn gleich der Koͤrper nicht erſt nun, ſondern ſchon lange und in einem hohen Grade, zur Ausfuͤhrung des Willens unfaͤhig geworden iſt. Ein alter Mann redet oͤfters von ſeinen Geſchicklichkeiten, die er in juͤngern Jahren erlernet hatte, mit einer Lebhaftigkeit, die es nicht zweifelhaft laͤßt, daß ſeine Vorſtellung davon noch anſchaulich, ſtark voͤllig, und lebhaft ſey; und ſeine Mie - nen drucken die Staͤrke ſeines Willens aus. Er wuͤrde daſſelbige noch jetzo verrichten, was er ehedem verrichtethat,748XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤthat, wenn die Unbiegſamkeit ſeiner Glieder und ihre Schwaͤche es nicht unmoͤglich machte. Jndeſſen muß doch auch in etwas die Fertigkeit in der Seele gemin - dert ſeyn, weil ſie lange ohne Uebung geblieben iſt. Und wir wuͤrden ohne Zweifel ſeine Vorſtellung von der Hand - lung, wenn man unmittelbar in ſie hineinſehen koͤnnte, nicht mehr ganz ſo voll, ſtark und lebendig in allen ihren Zuͤgen finden, als ſie ehedem geweſen iſt. Wenn man einen Maler, dem ein Zufall die Hand auf einige Zeit ſteif gemacht, mit einem andern, dem ſie vor Alter ſchon zittert, vergleichen koͤnnte, die beide gleich große Meiſter in ihrer Kunſt waͤren, ſo muͤßte ſich doch zei - gen, daß der erſtere nicht nur oͤftere Luſt zum Malen be - kaͤme, ſondern auch genauer und lebhafter die kleinen Wendungen mit der Hand und dem Pinſel ſich vorſtelle, als der zweete.

3.

Geht man auf dieſelbige Art den uͤbrigen Fertigkei - ten nach, und beſonders denen, die man mehr der See - le allein zuſchreibt, die in den innern Aeußerungen ihrer denkenden und wollenden Kraft beſtehen: ſo laͤßt ſich ebenfalls bemerken, daß ihre Abnahme von einer ſolchen erſchwerten Reproducibilitaͤt der Vorſtellungen anfange, die man mit einer Steifigkeit in den Jdeen vergleichen kann, wo auch ihr Sitz ſeyn mag, und daß dieſe wiederum die Verminderung an thaͤtiger Kraft zu reproduciren veranlaſſe, welche in der Folge hinzukommt. Die Abnahme der Vermoͤgen kann, wie vorher (IV. 2.) erinnert worden iſt, als eine ſchwergemachte Erweckbar - keit der Vorſtellungen betrachtet werden. Aber dieſe Schwierigkeit kann mehrere Urſachen haben. Sie ruͤh - ret entweder daher, weil die Kraft ſie zu erwecken zu ſchwach geworden, oder weil die Spuren ſich zu ſehr verloren haben, wie bey vergeſſenen und verlernten Sa -chen,749und Entwickelung des Menſchen. chen, oder auch aus einer innern Beſchaffenheit der vor - handenen Spuren, die in ihnen etwas aͤhnliches iſt von Erſtarrung oder Steifigkeit in den Fibern und die, ſo wie vorher (IV. 1.) geſagt worden iſt, pſychologiſch er - klaͤrt werden kann. Die thaͤtige Kraft kann ihre Mun - terkeit und Staͤrke behalten, und die Vorſtellungen fuͤr ſich ſo unterſcheidbar vorhanden ſeyn, als die Formen in dem Koͤrper, aber dennoch ihrer innern Beſchaffenheit wegen ſchwerer zu erwecken.

Dieß iſt in der Seele, wie in dem Koͤrper, der An - fang von der Abnahme der Kraͤfte. Wenn jene, der vorhergegebenen Erklaͤrung zufolge, als eine Wir - kung der zu ſtark in gewiſſen Hauptzuͤgen aufgehaͤuften und zu ſtark vereinigten dunklen Vorſtellungen angeſe - hen wird: ſo iſt ſie auch, wie die Steifigkeit in den Fi - bern des Koͤrpers, eine Folge von eben derſelbigen Wir - kungsart der Kraͤfte, wodurch die Vermoͤgen ſich entwi - ckeln. Sie wirken uͤber die Grenzen hinaus, wo die Reproducibilitaͤt der Jdeen ihr Maximum hat. So etwas iſt die Abnahme in dem Menſchen, und in dem menſchlichen Seelenweſen. Was ſie in der Seele ſelbſt iſt, davon nachher.

Die erſte Folge von dieſer Erſteifung der Vor - ſtellungen iſt, daß die Empfaͤnglichkeit der Seele zu neuen Eindruͤcken ſchwaͤcher oder ſtumpfer wird. Die neuen Modifikationen koͤnnen nicht mehr ſo leicht und ſo lebhaft aufgenommen werden, eben weil die vor - handenen Jdeen, an welche ſie gereihet werden muͤſſen, ſich nicht ſo leicht darſtellen, noch ſich an ſie anlegen, ſie anziehen und dadurch gleichſam in Empfang nehmen. Die Alten vergeſſen allein aus dieſer Urſache ſo leicht dasjenige, was ihnen begegnet, und dieß um deſto mehr, je weiter ſie in der Periode des Abnehmens fortgehen. Das Gedaͤchtniß wird ſchwach, inſofern es das Ver - moͤgen iſt die empfangenen Vorſtellungen ſo aufzube -wahren,750XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtwahren, daß ſie erwecket werden koͤnnen. Empfindun - gen ſind da, und die vorſtellende und denkende Kraft macht ſie zu Vorſtellungen und Gedanken. Aber dieſe Vorſtellungen und Gedanken fallen auf die Seele, wie der Same auf einen Felſen, wo er ſich nicht einwur - zeln kann. Denn weil ſolche neue Jdeen mit den uͤbri - gen vorhandenen nicht verbunden werden, ſo fallen die Mittel weg ſie zu erwecken; und wenn man ſie wieder zuruͤckbringt, ſo fehlt das vornehmſte Merkzeichen, wor - an die Seele ſich erinnern koͤnne, ſie gehabt zu haben. Man kann aber deswegen nicht ſchließen, wenn man der Analogie der Natur folgen will, daß dieſe letzthin - zugekommenen Jdeen gar keine Spur zuruͤcklaſſen. Wenn ein Stein auf einen Stein faͤllt, ſo bleibt ein Merkzeichen davon zuruͤck, obgleich jener in dieſen nicht eindringt. Der Menſch kann alſo noch im hoͤchſten Al - ter den Vorrath ſeiner ruhenden Vorſtellungen vermeh - ren, wenn gleich nicht die Summe derer, die erweck - bar ſind. Und hiemit ſtimmt die Erfahrung uͤberein. Die Alten befeſtigen ſich noch immerfort in gewiſſen Meynungen und Denkungsarten, und Gewohnheiten, wie die alten Baͤume fortfahren jaͤhrlich Ringe anzuſe - tzen, wenn gleich dieſer Zuwachs kaum mehr kenntlich und unterſcheidbar iſt.

4.

Es laͤßt ſich hieraus erklaͤren, warum die Alten ſich beſſer der vergangenen Zeiten ihrer Jugend erinnern, je leichter ſie vergeſſen, was ihnen gegenwaͤrtig iſt. Die Jdeen aus der Jugend haben ihre innere Reproducibi - litaͤt behalten, welche den neuen, die im Alter hinzu - kommen, fehlt. Weil nun die letztern die Seele nicht mehr ſo ſtark beſchaͤfftigen, daß jene dadurch verdunkelt wuͤrden, ſo hat ſie Anlaß in ihre innere Vorrathskam - mer zuruͤckzugehen, und ſich mit den alten zu thun zu machen. Dieſe Erfahrung kann hier wiederum zumBeweiſe751und Entwickelung des Menſchen. Beweiſe dienen, wie wenig Grund man habe daraus, daß dieſe oder jene Vorſtellungen unter gewiſſen Um - ſtaͤnden nicht reproducibel ſind, zu ſchließen, ſie koͤnn - ten niemals wieder erwecket werden. Jn dem mittlern Alter ſind uns unzaͤhlige Dinge aus der Jugend her entfallen, an die wir nicht nur nicht gedenken, ſondern auf die wir uns auch nicht beſinnen koͤnnen. Die Seele iſt alsdenn zu ſehr auf das Gegenwaͤrtige und Kuͤnftige gerichtet, und kann ihre Kraft zur Wiedererweckung des ſo wenig intereſſanten Vergangenen nicht verwen - den. Aber im Alter kommt ſie wiederum darauf zu - ruͤck. Einem gewiſſen Gelehrten von einigen ſiebenzig Jahren fielen die Regeln aus ſeinem Donat von ſelbſt ein, an die er in funfzig Jahren wohl dann und wann gedacht, aber die er ſchwerlich nach ihrem ganzen Jn - halt wiederholt hatte, oder auch nur wiederholen koͤnnen.

Allein eben dieſe Bemerkung bey dem Alter fuͤhret noch zu einer andern Folge, oder beſtaͤtiget ſolche doch und macht ſie ſehr wahrſcheinlich; zu dieſer naͤmlich: Jede Vorſtellung laͤßt nicht nur irgend eine Spur oder Folge von ſich in der Seele zuruͤck, ſondern jedwede, die einmal ſo weit eingepraͤgt iſt, daß ſie abgeſondert erweckbar geworden, behaͤlt auch dieſe ihre abgeſon - derte Erweckbarkeit und abſolute Erkennbarkeit auf immer, wenn gleich die Erinnerungskraft in einem gewiſſen Zuſtande unvermoͤgend iſt, ſowohl ſie zu erwe - cken, als ſie wieder zu erkennen. Wahrſcheinlich iſt es alſo, daß bloß vergeſſene Vorſtellungen, die nicht we - gen einer innern Steifigkeit in den Fibern unerweckbar ſind, es aus keiner andern Urſache ſeyn moͤgen, als weil ſie zu ſehr von andern klaͤrern verhuͤllt ſind, die ſie ein - faſſen und verdunkeln. Das Vergeſſene und Verlernte wuͤrde alſo wiederhergeſtellt werden, ſobald an der ſie zuruͤckhaltenden oder ſie unkenntlich machenden Jdeen - aſſociation etwas veraͤndert wuͤrde; vorausgeſetzt, daßdie752XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtdie wiedererweckende und darſtellende Kraft in der See - le fuͤr ſich ihre ehemalige Staͤrke und Munterkeit be - halten habe.

5.

Die Spuren ehemaliger Groͤße, Staͤrke und Wirkſamkeit in der Seele, welche im Alter, und an ſich kenntlich genug, zuruͤckgeblieben, obgleich nicht mehr erweckbar ſind, muͤſſen doch ohne Zweifel etwas Reelles in dem Menſchen ſeyn, wie es die entſpre - chenden Formen in den erſteiften und erſtarrten Glie - dern des Koͤrpers ſind. Jene ſind Erhoͤhungen, Er - weiterungen, reelle Zuſaͤtze der Grundvermoͤgen und Kraͤfte, alſo Zuſaͤtze an innerer Menſchheit. Jſt dieß nicht der natuͤrliche Grund der phyſiſchen Ehrwuͤr - digkeit der Alten, und auch der nicht mehr brauchba - ren Alten, die das gemeine Gefuͤhl bey allen nicht ganz barbariſchen Voͤlkern in ihnen antrifft? Dieß Gefuͤhl iſt bey polizirten Nationen durch die Erziehung erhoͤhet, ſonſt von Natur fuͤr ſich allein ſo ſtark und hervordrin - gend nicht, daß nicht ſtaͤrkere Triebe ſolches eben ſowohl als andere natuͤrliche Gefuͤhle, z. B. die Liebe zu den Kindern, unterdruͤcken koͤnnten. Aber es iſt deswegen doch natuͤrlich. Die vorigen Empfindungen, Beſtre - bungen und Thaten haben Zuͤge in dem innern Seelen - weſen gegraben, die noch uͤbrig ſind, auch in dem Al - ten, der nur muͤhſam ſeinen Koͤrper von der Stelle bringt. Jene ſind nicht mehr ſo brauchbar fuͤr die aͤuſ - ſere Welt, oder gar nicht, weil ſie nicht reproducibel ſind; aber dennoch nicht ganz und gar ohne Folgen und Wirkungen. Die alte ehrwuͤrdige Eiche, obgleich in - wendig ſchon zum Theil vermodert, iſt doch noch mehr Baum, wenigſtens mehr Holz, als das Reis, das aus der Erde hervorſchießt. Der Saft fließt nicht mehr ſo lebhaft in ſeinen Gefaͤßen, und dringt nicht mehr ſo voll ein in ſeine angeſetzten Ringe. Sind dieſe Ringe, dieMerk -753und Entwickelung des Menſchen. Merkmale ſeines Alters, deswegen nicht phyſiſche Thei - le ſeines koͤrperlichen Ganzen? Wir koͤnnen dieſe Aehn - lichkeit fortſetzen. So wenig der alte Baum wiederum zu einem Reis eingewickelt wird, ſo wenig paßt ſich auch dieſe Metapher auf das Altwerden des Menſchen. Die entwickelte Menſchheit wird nie wieder Kindheit.

Denn was die zwote Kindheit im hoͤchſten Al - ter betrifft, die auch durch andere Urſachen beſchleuni - get werden kann, ſo iſt der Unterſchied zwiſchen dieſer und der eigentlichen Kindheit in Hinſicht der Seele eben ſo groß, als ſie in Hinſicht des aͤußern Koͤrpers iſt. Man darf ſich uͤber die aͤußerliche Aehnlichkeit zwiſchen beiden nicht wundern, welche die Veranlaſſung gege - ben hat, jenen Zuſtand des Alters eine Kindheit zu nennen. Wenn die Steifigkeit in den Vorſtellungen ſich auch uͤber die Spuren von den ehemals ſtaͤrkern Thaͤ - tigkeiten, und beſonders von den Aktionen der Vernunft, die ſonſten am laͤngſten ihre Erweckbarkeit behalten, ausgebreitet hat: ſo wird es unmoͤglich, daß der Menſch ſich ſeiner erworbenen Jdeen bedienen, oder nur ſeines vorigen Zuſtandes ſich bewußt ſeyn koͤnne. Jſt nun die innere ſelbſtthaͤtige Kraft der Seele wirkſam, ſo iſt ſie doch ſo unvermoͤgend nach ihren erworbenen Vorſtellun - gen ſich zu aͤußern, als es das Kind iſt, das noch kei - ne Vorſtellungen hat. Dieß iſt eine Aehnlichkeit zwi - ſchen beiden, die nothwendig eine aͤhnliche Unvorſichtig - keit und Mangel an Ueberlegung und Klugheit in den Handlungen zur Folge haben muß. Sonſten iſt in dem Kinde keine entwickelte Kraft, keine erworbene Fertig - keit. Dieſe iſt in dem kindiſchen Alten; nur kann ſie nicht gebraucht werden. Dagegen iſt die Receptivitaͤt des Kindes und ſeine Faſſungskraft viel groͤßer, we - nigſtens an Extenſion. Denn man findet ſonſten auch bey den Alten, daß ſie noch immerfort neue Jdeen an - nehmen, die ſie aber gleich wiederum vergeſſen und dieII Theil. B b bſie754XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtſie ſo ſchwer und ungeſchickt annehmen, in Vergleichung mit der Leichtigkeit, womit das Kind etwas erlernt, als es die Steifigkeit ihrer Organen erwarten laͤßt. We - nigſtens iſt dieß ſo im Ganzen, obgleich bey einigen be - ſondern Vorſtellungen ſichs anders verhaͤlt und verhal - ten muß, weil das innere thaͤtige Princip in dem Alten, ſo weit es noch wirken kann, mit mehrerer Staͤrke und Feſtigkeit wirkt.

6.

Jndem die Unerweckbarkeit der Vorſtellun - gen zunimmt, muͤſſen auch die Reizungen zur Thaͤ - tigkeit von außen ſchwaͤcher werden. Die ſinnlichen Eindruͤcke fallen nicht mehr auf ſo bewegliche und reiz - bare Werkzeuge. Dadurch wird das Gefuͤhl des Koͤr - pers ſtumpfer, und dieß geht allmaͤlig weiter bis auf das Selbſtgefuͤhl der Seele. Denn je mehr der Kreis der erweckbaren Vorſtellungen eingeſchraͤnkt wird, deſto weniger und ſchwaͤcher ſind auch die innern Empfindun - gen. Es folgt hieraus von ſelbſt eine Abnahme an al - len empfindbaren Kraftaͤußerungen, oder eine Schwaͤ - che an der Kraft, inſoferne ſolche naͤmlich außer ſich hervorgeht und in ihren Wirkungen gefuͤhlt und wahr - genommen werden kann. So zeigt es die Erfahrung. Die Seele wird im Alter mehr von der Welt abgeſon - dert. Eine Menge von den kleinen Faͤden, wodurch ſie ſo zu ſagen herausgezogen ward, verdorren und loͤſen ſich. Dann zieht ſie ſich in ſich ſelbſt zuruͤck, und ſucht ihre Beſchaͤfftigung in dem Andenken voriger Zeiten und voriger Thaten. Aber auch endlich ermattet das Selbſtgefuͤhl, da ſeine Nahrung, die Empfindungen von außen, ihm entzogen werden. Dennoch muß auch hie - bey die obige Bemerkung nicht aus der Acht gelaſſen werden. Es iſt dieſe Verengerung des Kreiſes der Wirkſamkeit, oder dieß Einkriechen des Alters an der Seele, kein Verluſt der Vorſtellungen und keine Ver -minde -755und Entwickelung des Menſchen. minderung in dem Umfang deſſen, was ſie an Spuren ehemaliger Fertigkeiten geſammlet hat. Es iſt nur eine Einſchraͤnkung des Kreiſes, den die Kraft mit merkba - rer Wirkſamkeit durchdringen kann. Die Thaͤtigkeit, welche ſie ſelbſt empfinden und worinn ſie ſich und ihr Daſeyn fuͤhlen kann, iſt es, welche abnimmt. Daß ſie deswegen minder thaͤtig ſey in ihren innern unempfind - baren Wirkungen, kann hieraus noch geradezu nicht ge - ſchloſſen werden.

7.

Zuerſt verdient noch dieß eine genauere Erwaͤgung, wie weit ſich von der Abnahme an wirklicher Thaͤ - tigkeit oder wirkender Kraft auf eine Abnahme an Beſtrebungen, worinnen die Kraft gleichfalls wirkſam iſt, und an Vermoͤgen gefolgert werden koͤn - ne. *)Dreyzehnter Verſuch IX. Zwote Abtheilung 2.Wenn ſie nichts mehr ausrichtet, ſo will ſie doch vielleicht noch; und wenn ſie nicht mehr will, ſo kann ſie vielleicht doch wollen. Die lebendige, das Gehirn bewegende, die Vorſtellungen erweckende und wirklich etwas ausrichtende Kraft wird vermindert. Dieß kann allein ſeinen Grund in einem Widerſtande von außen haben, der nicht zu uͤberwaͤltigen iſt. Aber auch kann die treibende Kraft ſelbſt geſchwaͤcht ſeyn. Und in dieſem letztern Fall iſt noch beides moͤglich, ſo - wohl daß ſie auch als bloßes Vermoͤgen zu wirken und zur Wirkſamkeit ſich zu beſtimmen vermindert iſt, als auch daß ſie von dieſer Seite ihre vorige Beſchaffenheit behaͤlt. Das Gewicht in einer Wagſchale und die Ela - ſticitaͤt einer Stahlfeder bringen keine Bewegung her - vor, wenn jenem eine groͤßere Laſt entgegengeſetzt und dieſe zu ſtark geſpannt wird. Aber dennoch behaͤlt bei - des die vorige Kraft zu drucken und zu bewegen, und faͤhrt auch fort wie todte Kraft zur Bewegung zu ſtre - ben. Die Selbſtbeſtimmung der Seele zur Thaͤtigkeit,B b b 2das756XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtdas Wollen, kann als eine ſolche Preſſion betrachtet werden, welche eine wahre Aktion und Thaͤtigkeit iſt, obgleich ein Widerſtand von außen ihre Wirkung, die ſie haben wuͤrde, zuruͤckhaͤlt. Aber wenn nun ferner die Feder losgelaſſen und abgeſpannt wird, und alſo auch nicht einmal mehr druckt, ſo beſitzt ſie doch ihre vorige Elaſticitaͤt, als Vermoͤgen wiederum geſpannt zu wer - den und dann wiederum zu drucken. Wenn das Ge - wicht von dem Boden unterſtuͤtzt wird, ſo aͤußert es kei - nen Niſus mehr, eine Laſt an der andern Seite in die Hoͤhe zu heben. Und gleichwohl hat ſich in ſeinem in - nern Vermoͤgen nichts geaͤndert. Aehnliche Moͤglich - keiten muͤſſen bey der Seele nicht uͤberſehen werden. Sie kann ihr Vermoͤgen zum Wollen beybehalten, wenn ſie gleich nicht mehr will. Sie kann wollen und Ten - denzen aͤußern, wenn ſie gleich nichts mehr hervor - bringt.

Die Frage iſt nur, was ſich aus den Erſcheinungen von der Abnahme der Seele im Alter als muthmaßlich herausbringen laſſe? Die Hinderniſſe, welche in der Re - produktion der Vorſtellungen entſtehen, muͤſſen auch all - maͤlig die Begierde, oder das Beſtreben ſie zu erwecken, vermindern. Aber wie eine Leidenſchaft, welche ſelten Veranlaſſungen hat auszubrechen, und alſo auch ſelten ausbricht, dennoch im Herzen in großer Staͤrke lange beſtehen kann, und wenn ſie auch mit der Zeit geſchwaͤcht wird, dennoch bey weitem nicht innerlich in demſelbigen Verhaͤltniſſe abnimmt, wie ihre Ausbruͤche ſeltener wer - den: ſo koͤnnen auch die erworbenen Fertigkeiten zu re - produciren lange noch in ihrer Staͤrke vorhanden ſeyn, wenn gleich die Begierden ſie zu aͤußern ſeltener werden. Allein ſo deutlich ſich dieſer Unterſchied zwiſchen dem Mangel an wirklichen Kraftaͤußerungen, und dem Verluſt an Kraͤften und Vermoͤgen, fuͤr ſich auch zeigt, ſo kommt es doch nun vornehmlich auf ſichereAn -757und Entwickelung des Menſchen. Anzeigen aus Beobachtungen an, wenn man von dem, was in der Seele zuruͤckbleibt, mehr wiſſen will, als daß es ſo ſeyn koͤnne. So lange noch das Wollen da iſt, aͤußern ſich auch noch die Kraͤfte. Aber wenn auch kein Wollen mehr vorhanden iſt, wie erkennen wir denn das Daſeyn der Vermoͤgen, die ſich nicht mehr offen - baren und alſo nicht beobachten laſſen? Jch glaube al - lerdings, daß man ſich von den letztern auf eine aͤhnli - che Weiſe aus Beobachtungen uͤberzeugen koͤnne, wie man die Freyheit der Seele, inſoferne ſie ein Vermoͤ - gen iſt das Gegentheil von dem zu thun, was man thut, aus der Erfahrung beweiſen kann. *)Zwoͤlfter Verſuch II. 2. 3.Es iſt ein ge - wiſſes dunkles Gefuͤhl vorhanden, das, gehoͤrig gebraucht, uns lehren kann, daß wir Vermoͤgen zum Wollen ha - ben, wenn wir gleich wirklich nicht mehr wollen, dar - um, weil wir das Gewollte nur vergebens wollen wuͤr - den. Und dieß Gefuͤhl iſt bey der Abnahme der See - lenkraͤfte nicht ſelten. Allein ich meine, es ſey nicht noͤ - thig uns hier noch einmal auf dieſe etwas weitlaͤuftige Beweisart einzulaſſen. Wenn man zuſammennimmt, was die Natur der Sache und die Analogie nach dem wirklich aus Erfahrung Bewieſenen mit ſich bringt, ſo wird ſichs deutlich genug zeigen, daß dasjenige, was zu - ruͤckbleibt, wenn alle merkbare Thaͤtigkeit aufhoͤret, noch den Namen eines reellen Vermoͤgens verdiene, ob es gleich, von der andern Seite betrachtet, Unvermoͤ - gen heißen kann: ſo etwas naͤmlich, dem nichts fehlet an innerer Beſchaffenheit, um ſich als das vori - ge wirkſame Princip zu beweiſen, als daß es durch lebhafte Eindruͤcke von außen gehoͤrig geſpannt, und dann von keinem Widerſtande, der aus der Steifig - keit der Vorſtellungen entſpringt, gehindert werde. Was außer dieſen beiden Umſtaͤnden als ein innererB b b 3Grund758XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtGrund der Thaͤtigkeit zu einer lebendigen wirkenden Kraft erfodert wird, iſt vorhanden.

Dieß, ſage ich, iſt es, was die Analogie in Hinſicht des Seelenweſens wahrſcheinlich macht. Die Schwierig - keit Vorſtellungen zu erwecken entſteht zunaͤchſt nicht aus einer Schwaͤche der reproducirenden Kraft, ſondern aus objektiviſchen Hinderniſſen, die in den Vorſtellun - gen ſelbſt liegen, und in den Werkzeugen, deren Bewe - gung zur Reproduktion nothwendig iſt. Und wenn her - nach die Kraft ſelbſt abzunehmen ſcheint, ſo finden wir die Urſache davon in der abnehmenden Lebhaftigkeit der koͤrperlichen Gefuͤhle, wodurch ſie gereizet werden muß, und ohne welche ſie nichts mehr iſt als die ungeſpannte elaſtiſche Saite, deren Spannkraft ſich nicht eher aͤuſ - ſert, als bis ſie angezogen wird. Die ganze Natur des Abnehmens und die Symptome deſſelben fuͤhren bis da - hin, und auf nichts mehr. Wir haben alſo zum wenig - ſten keinen Grund, einen innern Verluſt am Vermoͤgen, durch ſtarke lebhafte Eindruͤcke gereizet thaͤtig zu wer - den und die ruhenden Vorſtellungen, wenn nur ihre in - nere Unerweckbarkeit gehoben waͤre, auf die vorige Art zu bearbeiten, anzunehmen. Waͤre die Seele bloß or - ganiſirtes Gehirn, ſo wird doch dieſer Theil des Koͤrpers eben ſowohl ſeine innern Formen behalten haben, als die aͤußerlichen ſichtbaren. Und in dieſen Formen wuͤr - de doch ſo viel liegen, daß, wenn nur Lebensgeiſter ge - nug hineinfloͤſſen, die den Reiz vermehrten, und dann die fremden hinzugeſetzten Partikeln, wodurch die Fibern ſteif geworden, auf die entgegengeſetzte Art wieder weg - geſchafft und dieſe wieder erweichet wuͤrden, das ehemali - ge lebhafte Spiel der Faſern von neuem von ſtatten gehen muͤßte, ohne daß neue Anſaͤtze und neue Auswickelungen dazu erfodert wuͤrden. Dieß waͤre doch das wenigſte. Soll - ten aber Vermoͤgen aufhoͤren wichtige und wahre Rea - litaͤten zu ſeyn, und eigene Beſchaffenheiten in derKraft,759und Entwickelung des Menſchen. Kraft, die einer andern nicht zukommen, wenn ſie gleich ſich nicht in Thaͤtigkeiten aͤußern? Das laͤßt ſich doch von menſchlichen Vermoͤgen uͤberhaupt nicht ſagen. So - krates und Caͤſar, im Schlafe und in der Ohnmacht, wirken weniger als ein wachendes Kind. Aber ſind des - wegen nicht in ſolchen ſchlafenden und in Ohnmacht lie - genden Menſchen andere und mehrere Realitaͤten, als in einem ſchlafenden Kinde? Und iſt, was bey jenen Weis - heit und wirkſame Kraft genennet wird, waͤhrend des thaͤtigkeitsloſen Zuſtandes, in ihnen nichts, was man nicht etwan einer Auſterſeele auch zuſchreiben koͤnnte? Wenn die Vermoͤgen nichts ſind, ſobald als aͤußere Um - ſtaͤnde es unmoͤglich machen damit zu wirken, ſo muͤß - ten in dem Menſchen, der aus einem tiefen Schlaf er - wachet, oder aus einer Ohnmacht zuruͤckkommt, und auch bey den gewoͤhnlichen Abwechſelungen im Wachen, Spruͤnge vorgehen; da er faſt in einem Augenblick aus einem verſtandloſen ein vernuͤnftiger Mann, aus dem ſchwaͤchſten der ſtaͤrkſte, und aus dem witzloſeſten ein Genie wird. Es iſt eine gar zu ſtarke Erfahrung, daß es viele Zeit und Muͤhe koſtet, auch Vermoͤgen zu er - langen, die alsdenn, wenn ſie unwirkſam ruhen, nichts anders ſind, als innere Beſchaffenheiten der Seele, da - von wir keine andere Begriffe haben, als daß ſie dadurch, wenn ſie rege gemacht und gereizet wird, auf beſtimmte Weiſe ſich aͤußert. Dieß muß ein wahres Etwas ſeyn.

8.

Dieß waͤre die Abnahme des Menſchen, als Men - ſchen, in ſeinem geſammten Seelenweſen. Das innere thaͤtige Princip bleibt, ſo lange der Menſch lebet, mit allen ſeinen Formen und Zuſaͤtzen, die es aufgenommen und unabhaͤngig von dem, was es von außen haben muß um thaͤtig zu ſeyn, behalten kann. Aber dennoch wird es in ſich ſelbſt ungeſchmeidig, ſich auf die vorige Art zu veraͤndern, naͤmlich ſo, daß es dieſe Veraͤnderun -B b b 4gen760XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtgen fuͤhle und ſich ihrer bewußt werde. Der aͤußere Ein - fluß entzieht ſich, womit der Reiz weggeht, ohne den es im Leben nicht thaͤtig iſt.

Jn dem koͤrperlichen Beſtandtheile des Menſchen beſtehen die Formen nicht laͤnger, als bis er aufgeloͤſet wird und zergehet. Alsdenn fallen alle Spuren, und was von den ehemaligen Veraͤnderungen uͤbrig iſt, von ſelbſt weg. Und wir finden nicht, wenigſtens in den beob - achtbaren Theilen des Seelenorgans nicht, daß vor die - ſer Zerſtoͤrung noch einmal eine Erneuerung ihrer vori - gen Biegſamkeit vor ſich gehe. Die Fibern werden nicht von neuem mit einer Lebenskraft durchdrungen, und wieder zum geſchmeidigen Organ gemacht. Wuͤrde nun daſſelbige Schickſal das unkoͤrperliche Weſen treffen, ſo wuͤrde alles das, was an Vorſtellungen und Vermoͤgen ſich in dem Menſchen erhalten hat, ſo gut als auf immer fuͤr ihn verloren ſeyn. So fruchtbar alſo der Begriff von den aufbewahrten Vermoͤgen, auf den die vorherge - hende Betrachtung gefuͤhret hat, auch ſeyn mag: ſo bringt uns ſolcher doch nur zu der aͤußerſten Pforte der Ein - ſicht, die noch zu ſuchen iſt, naͤmlich wie weit dieſelbige Unbiegfamkeit und Schwaͤche in das Jnnere des See - lenweſens eindringe, und ob und wie ferne unſer Jch ſelbſt davon leiden muͤſſe? Die Fackel der Beobachtung verloͤſcht hier, oder wirft doch nur einen ſchwachen Schimmer fuͤr die weiter gehende Vernunft, die ſich am Ende an die Analogie halten muß. Dieß iſt die Analo - gie, davon vorher ſchon Gebrauch gemacht worden iſt: die Analogie von der thieriſchen Natur im Menſchen auf die Natur ſeines Seelenweſens. Jſt die Seele nichts mehr, als ſie nach der Vorſtellung des Herrn Bon - nets iſt, naͤmlich die fuͤhlende und thaͤtige Gehirnskraft: ſo behaͤlt ſie keine Spuren ehemaliger Veraͤnderungen, und ſteht, wenn das ganze Organ aufgeloͤſet iſt, welches denn doch nach der bonnetiſchen Hypotheſe nicht geſehe -hen761und Entwickelung des Menſchen. hen wird, eben ſo bloß von allen erworbenen Fertigkei - ten und Vermoͤgen da, als ſie vor der Entwickelung war. Kann ſie dagegen, als ein Weſen fuͤr ſich, Spuren ihrer Modifikationen in ſich ſelbſt, wie gewiſſe bleibende Be - ſchaffenheiten, behalten; oder iſt ihr inneres Organ un - zerſtoͤrbar, worinn ihre Vorſtellungen geſammlet ſind: ſo kann ſie auch ihrer unbrauchbar gewordenen Kraͤfte, Vermoͤgen und Vorſtellungen wiederum bewußt wer - den, und damit wirken, wenn nur die Hinderniſſe weg - fallen, die der Reproduktion der Vorſtellungen im We - ge ſtehen.

Nach den vorher*)Dreyzehnter Verſuch IX. Abtheil. 2. dafuͤr angefuͤhrten Gruͤnden, die ich nicht wiederholen will, glaube ich hier annehmen zu koͤnnen, daß die ruhenden Vorſtellungen eben ſowohl Beſchaffenheiten der Seele ſind, als des Organs. Aus dem letztern faͤllt alles weg, wenn es aufgeloͤſet wird. Allein Aufloͤſung trifft die Seele nicht. Vielleicht auch nicht ganz den Koͤrper, nicht das innerſte, naͤchſte, un - mittelbare Werkzeug der Seele. Aber dieß letztere da - hin geſtellet, was kann unter der gedachten Vorausſe - tzung die Abnahme an Kraͤften im Alter in dem Jnnern der Seele ſelbſt ſeyn? Und wie weit wird das, wozu je - ne Vorſtellung leitet, durch die Erfahrungen beſtaͤtiget?

Erſtlich, die Abnahme an thaͤtiger Wirkungskraft kann das innere Princip der Seele nicht treffen. Die Kraft zu reproduciren und zu wirken bleibt dieſelbige wie ſie iſt, wenn ſie gleich nicht mehr als lebendige Kraft wirket, weil ſie nicht mehr von außen gereizet wird.

Zweytens, dieſelbige Grundkraft kann auch als lebendige Kraft fortfahren eben ſo thaͤtig in ſich ſelbſt zu ſeyn, als vorher. Sie kann die intellektuellen Vor - ſtellungen in der Seele erneuern, bearbeiten, ſich nach ihnen beſtimmen, wollen und ſich veraͤndern, mit glei -B b b 5cher762XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt cher Staͤrke und Lebhaftigkeit, ſogar mit groͤßerer Jn - tenſion, und alſo noch fortfahren innerlich ſich zu er - hoͤhen und vollkommener zu machen. Nur das klare Gefuͤhl und Bewußtſeyn dieſer Arbeiten fehlet, weil dazu eine Ruͤckwirkung des von ihr modificirten Gehirns er - fodert wird. Nur dieſe Ruͤckwirkung iſt geſchwaͤchet, oder doch nicht ſo auseinandergeſetzt, als ſie ſeyn muͤßte um ein deutliches Gefuͤhl zu verurſachen; und dieß da - her, weil das Organ ungeſchickt geworden iſt, die ſinnli - chen Bewegungen zu erneuern, und alſo nur ſo wie ein unbiegſamer Koͤrper mit einer zwar noch gleich ſtarken aber unentwickelten Aktion der Einwirkung der Seelen - kraft widerſtehet, und ſich nur unentwickelt dem Gefuͤhle darſtellet.

Drittens, was die Unerweckbarkeit der Vorſtel - lungen betrifft, die aus der Steifigkeit der Fibern des Organs entſtehet, ſo kann ſolche in der Seele entweder gar nicht ſeyn; oder wenn etwas Analoges dazu in ihr angenommen wird, um nirgends in der Harmonie eine Luͤcke zu laſſen: ſo muß ſie doch auch hier aus einer ana - logen Urſache entſtehen, wie in dem Organ, naͤmlich aus der zu ſtarken Aufhaͤufung der aſſociirten Nebenzuͤ - ge bey den Vorſtellungen. Es iſt alſo eine zu große Staͤrke in dem, was reproduciret werden ſoll, zu groß naͤmlich fuͤr die Kraft, welche erwecken ſoll. Dieſe be - darf groͤßere Reize von außen, um in ſtaͤrkere Thaͤtig - keit zu kommen, oder auch neue Veranlaſſungen zu an - dern Vorſtellungen, die ſie zwiſchen den aufgeſammle - ten, wie ein erweichendes oder aufloͤſendes Mittel, brin - gen und ſolche dadurch, um denſelbigen Ausdruck zu be - halten, wieder geſchmeidig machen kann. Jn den aͤuſ - ſern Theilen des Gehirns und dem uͤbrigen Koͤrper en - diget ſich die aus Alter entſtandene Steifigkeit mit der Zerſtoͤrung. Wenn hier eine neue Lebenskraft in die Fi - bern geleitet, das Erſteifte oder Verhaͤrtete davon durch -drun -763und Entwickelung des Menſchen. drungen, erweicht und biegſamer gemacht wuͤrde, ſo haͤtten wir eine Veraͤnderung, die derjenigen entſpricht, welche in der Seele immer moͤglich iſt, die niemals ei - ner ſolchen Wiederauflebung unfaͤhig wird. Und nur andere Beziehungen auf aͤußere Gegenſtaͤnde ſind noth - wendig, um ſie wirklich wieder aufzuleben.

Viertens, worinn aber auch die Unbiegſamkeit in der Seele beſtehen mag, ſo kann ſie den Graden nach nicht ſo groß ſeyn, als ſie bey den materiellen Vorſtel - lungen im Gehirn iſt. Denn ſo zeiget ſich, daß je mehr die Theile an dem menſchlichen Koͤrper ſo zu ſa - gen zu den aͤußern gehoͤren, deſto merklicher wird die Verhaͤrtung an ihnen, und deſto eher ſtellet ſie ſich ein. Der Menſch nach ſeiner thieriſchen Natur nimmt gewoͤhnlicher Weiſe, wenn nicht beſondere Zu - faͤlle dazwiſchen kommen, ſchleuniger ab, und in groͤßerm Verhaͤltniſſe, als an ſeinem innern Seelenweſen. Nach der Analogie wird alſo die Abnahme langſamer und ge - ringer ſeyn in der unkoͤrperlichen Einheit, dem wahren Mittelpunkt ſeiner Natur, als in den Fibern des ihn umgebenden Organs.

Fuͤnftens, dieſelbige Bemerkung laͤßt ſich bey der Abnahme an innerer Wirkſamkeit wiederholen. Dieſe kann in dem Geiſte nicht mit demſelbigen Schritte fort - gehen, wie in dem Menſchen, wie in dem koͤrperlichen Werkzeuge und in dem groͤbern Koͤrper. Wie die Er - fahrung lehret, daß die Seele noch lange ihre Feuer - kraft behaͤlt, und ſolches im Wollen und Verlangen be - weiſet, wenn ſchon der Koͤrper zum Ausfuͤhren nicht mehr ſo brauchbar iſt: ſo kann man nach der Analogie vermuthen, daß, wenn gleich allmaͤlig die Flamme aus - loͤſcht, der innere Funke im Mittelpunkte am laͤngſten ſeinen Schein, ſeine Waͤrme und ſeine Thaͤtigkeit behal - ten muͤſſe.

Ohne764XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

Ohne mich weiter auf die Folgen einzulaſſen, die hieraus mittelſt des Raiſonnements aus den Allgemein - begriffen von einfachen Weſen, von Kraͤften und Ver - moͤgen gezogen werden koͤnnen, will ich nur eine anfuͤh - ren, die naͤher bey dem bleibt, was aus Beobachtun - gen genommen wird. So lange der Menſch lebt, haͤngt die Thaͤtigkeit der Seele, ſo weit ſie naͤmlich fuͤhlbar und apperceptibel iſt, von dem Gefuͤhl aus dem Koͤrper ab, wodurch ſie gereizet werden muß. Und es ſcheint nicht, daß ſie vor dem Tode dieſer Abhaͤngigkeit ſich ent - laden koͤnne. Sollte ſich bey einer fortdauernden, ob - gleich unfuͤhlbaren, Wirkſamkeit der Seele in dem Jn - nern ihre Selbſtthaͤtigkeit nicht endlich ſo weit ſtaͤrken, daß ſie des Einfluſſes von außen nicht mehr bedarf? und wird ſie nicht ſchon immer geſtaͤrket, je mehr die Seele im Alter genoͤthigt wird, ſich in ſich ſelbſt zuruͤck - zuziehen? Es zeiget ſich doch die Moͤglichkeit hievon und die Art, wie ſolches, des aͤußern Scheins der zuneh - menden Schwaͤche ohnerachtet, geſchehen koͤnne. Und mehr will ich hier nicht behaupten. Denn wenn ſie auch wirklich an Wirkſamkeit und innerm Leben abnimmt, ſo kann ſie doch nie ihre Vermoͤgen noch ihre Vorſtel - lungen verlieren. Sie kann alſo aufs Aeußerſte nie wei - ter zuruͤckkommen, als bis an den Zuſtand, in welchem ſie zwar nicht lebendig thaͤtig iſt, wie vorher, aber doch auch nichts mehr als aͤußere Reize bedarf, um nicht nur wiederum zu wirken, ſondern auch mit ihrer vollen ent - wickelten Staͤrke und ihren erworbenen Fertigkeiten zu wirken. Es darf kein neues thaͤtiges Princip in ſie hin - eingebracht, ſondern die innere Kraft nur ſtark genug gereizt werden, um wieder zu ihrem vollen vorigen Le - ben erweckt zu werden. Es iſt unwahrſcheinlich, daß es zu einer voͤlligen innern Unwirkſamkeit jemals komme.

Erfahrungen hat man, wie ich mehrmalen einge - ſtanden habe, nicht, woraus ſich dieſe Vorſtellung voͤl -lig765und Entwickelung des Menſchen. lig erweiſen ließe. Aber je genauer man auf die Aeuſ - ſerungen des innern Lebens in den abnehmenden Jahren acht hat, deſto mehr trifft man Beobachtungen an, die mit ihr uͤbereinſtimmen und ſie unterſtuͤtzen, und keine, die ihr entgegen ſind. So weit iſt es wohl nie mit der Erſteifung der weichern Theile im Koͤrper gegangen, daß nicht das Gehirn, oder doch der innere Theil deſſel - ben, weich und fließend genug, um ſich auf mancherley Arten modificiren zu laſſen, geblieben waͤre. Laß es der Analogie gemaͤß ſeyn, daß ſich die Verfeſtigung durch die ganze Natur ziehe: ſo iſt es doch eben ſo ſehr ihr gemaͤß anzunehmen, daß die Austrocknung an der Quelle der Saͤfte am wenigſten und am ſpaͤteſten be - merkbar werden muͤſſe.

Man findet nicht nur, was vorher ſchon angefuͤhrt iſt, daß die Alten noch lange Beſtrebungen durch den Koͤrper aͤußern, wenn ſie nicht mehr wirken koͤnnen, und nur erſt aus wiederholten Erfahrungen lernen muͤſ - ſen, daß ihr Wollen vergeblich ſey, ehe ſie davon ab - laſſen; ſondern auch daß, wenn ſie ſchon ſich in ſich ſelbſt zuruͤckziehen, ſie dennoch lebhaft ihr Jch, deſſen Wollen und Beſtreben, und ſo gar das Unvermoͤgen, fuͤhlen und gewahrnehmen, und wohl eben ſo ſtark, als ehemals ihre munterſten Kraftaͤußerungen. Der Unterſchied dieſer Selbſtgefuͤhle ruͤhret nicht ſo wohl von dem verſchiedenen Grade der Jntenſion, als von der Ausdehnung und Deutlichkeit her, die von dem Unterſchiede der gefuͤhlten Objekte abhaͤngt. Dieß ſind in einem Fall lebhafte, allſeitige, mannichfaltige Kraftaͤuſ - ſerungen, und ihre zugehoͤrigen Wirkungen in dem Ge - hirn; und in dem andern bloße Beſtrebungen, die we - gen der Unbiegſamkeit des Organs keine ſo deutlich fuͤhl - baren Abdruͤcke von ſich hervorbringen. Und wenn das innere Gefuͤhl ſelbſt ſtumpf wird, ſo laͤßt ſich auch dieſeVeraͤn -766XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtVeraͤnderung ſo deutlich aus der Schwierigkeit vielbe - faſſende Vorſtellungen zu erwecken erklaͤren, daß man faſt nothwendig darauf gefuͤhrt wird anzunehmen, es ſey damit ſo, wie mit dem Gefuͤhl des Spielers, der es an der Schwaͤche der Toͤne und an ihrem Mißklang ge - wahrwird, daß ſein Jnſtrument nicht mehr fort will, aber doch auch dieſe Verſtimmung und den Widerſtand gegen ſeine Finger eben ſo ſtark fuͤhlt, als er vorher hoͤrte, daß es vortreflich ſey. Gehoͤr und Urtheilskraft in ihm ſind eben ſo thaͤtig bey dem letztern Gewahrnehmen, als bey dem erſtern. Auch bey den kindiſch gewordenen Alten, die ihren vorhergehenden Zuſtand mit dem gegenwaͤrti - gen nicht vergleichen koͤnnen, werden doch manche Ausbruͤche des innern thaͤtigen Princips bemerkt. Bey einigen hat man Anwandlungen von jugendlichem Muthwillen wahrgenommen; und der alte Mathema - tiker, deſſen ich ſonſten erwehnt habe, erfand noch in ſeiner zwoten Kindheit Demonſtrationen der euclidi - ſchen Lehrſaͤtze.

Sechster767und Entwickelung des Menſchen.

Sechster Abſchnitt. Von der fortſchreitenden Entwickelung des menſch - lichen Geſchlechts.

  • 1) Vorerinnerung. Es iſt ſchwer auszuma - chen, ob es eine fortſchreitende Vervoll - kommnung des ganzen Geſchlechts gebe.
  • 2) Ob eine Verbeſſerung der Naturanlagen zu erwarten ſey?
  • 3) Die Vervollkommnung im Geſchlecht kann nur wachſen durch die Verbeſſerung der aͤuſ - ſern Mittel, welche die Entwickelung be - foͤrdern.
  • 4) Einige Anmerkungen uͤber dieſe Vervoll - kommnungsmittel.
  • 5) Welche Arten von Kenntniſſen am meiſten die hoͤhern Seelenvermoͤgen in Thaͤtigkeit ſetzen?
  • 6) Welche Vortheile ſich von den jetzo vorhan - denen Vervollkommnungsmitteln fuͤr das allgemeine Beſte der Menſchheit erwarten laſſen?
  • 7) Urſachen, welche dieſe Erwartungen ſchwaͤ - chen.

1.

Die erheiternden Ausſichten in die Zukunft, womit Hr. Jſelin ſeine Geſchichte der Menſchheit be - ſchließt, und die ſchoͤnen Erwartungen, die der Verfaſ - ſer des Jahrs 2240 gemacht hat, davon jene auf eine immer groͤßere Vervollkommnung der Menſchheit, dieſe auf eine Aufklaͤrung und Veredelung derſelben in einigen beſondern Laͤndern, ausgehen, ſtechen ungemein gegendie768XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtdie duͤſtern Ahndungen vieler andern ab, die vielleicht noch jetzo nicht den kleinſten Theil der Stimmgebenden ausmachen, welche dem Poeten nachſagen:

Aetas parentum peior avis tulit
Nos nequiores, mox daturos
Progeniem vitioſiorem.

Soll man das eine hoffen, oder das andere fuͤrchten? Man wird es deſto leichter thun, je mehr man nur von einer Seite den gegenwaͤrtigen Zuſtand der Menſchheit uͤberſieht. Richtet man das Auge auf beides, auf die Vervollkommnungsmittel, welche da ſind, auf die Wirkſamkeit der Urſachen und Kraͤfte, von denen ſie ge - trieben werden, und dann auch auf die Hinderniſſe und Gegenkraͤfte, welche in der Natur des Menſchen eine nie verſiegende Quelle haben und, wenn gleich mit jedem Zeitalter uͤberwunden, doch in jedem folgenden vom neuen wieder da ſind und wirken; haͤlt man beides gegen ein - ander: ſo wird mans ſchwer finden, zu entſcheiden, wel - che Erwartung die gegruͤndetſte ſey, und noch ſchwe - rer die Groͤße ihrer Wahrſcheinlichkeit zu beſtimmen. Sollte es eine fortſchreitende Aufhellung, Entwicke - lung und Vervollkommnung in dem menſchlichen Ge - ſchlecht geben, und einen zur Seite gehenden Fortſchritt an Wohlfahrt und Gluͤckſeligkeit im Ganzen? Die letz - tere will ich hier noch abſondern. Mag denn dieſe Ver - edelung nur langſam fortgehen; mag es Perioden des Stillſtehens in ihr geben, oder gar ſolche, worinn ſie etwas zuruͤckgeht, die aber durch andere, in denen ſie ſchneller wieder fortwaͤchſt, erſetzt werden? Oder ſoll - te die Summe der menſchlichen Vollkommenheit und Gluͤckſeligkeit im Ganzen vielleicht eine beſtaͤndige Groͤße ſeyn, oder doch nur eine ſo wenig veraͤnderliche, daß hierauf nicht zu rechnen waͤre? Moͤchte denn gleich in beſondern Laͤndern und Gegenden eine Abwechſelungſeyn,769und Entwickelung des Menſchen. ſeyn, wie die Ebbe und Fluth im Waſſer, deſſen Men - ge in der Welt darum wenigſtens nicht ab oder zunimmt?

So viel kann man wohl ſagen, weil die Geſchichte hieruͤber deutlich ſpricht, daß es particulaͤre Verbeſ - ſerungen der Menſchheit in beſondern Laͤndern gebe, wie auch wiederum particulaͤre Verſchlimmerun - gen. Wo Staaten polizirt worden ſind, da hat die Menſchheit durch das wohlthaͤtige Licht der Kenntniſſe gewonnen, ſo viel auch noch Reſte von Barbarey und Wildheit zuruͤck ſind. Wie man die Vergleichung auch anſtellen mag, ſo haben wir keine Urſachen den Zuſtand unſers lieben Teutſchlandes zu den Zeiten des Tacitus zuruͤckzuwuͤnſchen: ſo viele kriegeriſche, große und heroi - ſche Seelen es damals auch gehabt haben, und ſo groß die Gluͤckſeligkeit in der damaligen barbariſchen Verfaſ - ſung der Geſellſchaften auch geweſen ſeyn mag. Nicht zu ſagen, und dieß iſt doch eine Hauptſache, daß die Menſchenmenge in unſerm Vaterlande jetzo groͤßer iſt: ſo glaube ich auch, ohne unſere Zeiten zu uͤberheben, laſſe ſich behaupten, daß es gegenwaͤrtig mehr wahren Hel - denmuth auch in koͤrperlichen Gefahren gebe, als vor - mals; wenn anders dieſe Tugend nach ihrem innern Werth, als eine Selbſtthaͤtigkeit der Seele, geſchaͤtzet und von Tollkuͤhnheit und Wut unterſchieden wird. Eben ſo gewiß hat auf der andern Seite die Menſchheit ſich in vielen Laͤndern verſchlimmert. Laß die Schluͤſſe truͤgen, die man von einzelnen hervorragenden Perſonen auf das Ganze eines Volks macht. Etwas wahres iſt doch darinn. Wo mehr Lichter ſind, und je ſtaͤrker ſie leuch - ten, deſto groͤßer iſt auch die Erhellung allenthalben, auf allen Stellen; der Raum der Erleuchtung mag ſo groß ſeyn als er wolle. Allein wenn man mit der Menge großer Leute, die das alte aufgeklaͤrte Griechenland auf - ſtellete, die Einrichtung der Staatsverfaſſung, die Geſetze, die Form der Erziehung und die Lebensart,II Theil. C c cwodurch770XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtwodurch die Menſchheit ausgebildet ward, zuſammen - nimmt: ſo kann ſein großer Vorzug vor dem jetzigen, das in Sklaverey und Unwiſſenheit verſenkt iſt, eben ſo wenig zweifelhaft ſeyn, als das Uebergewicht am aͤußern Wohlſtande, an Bequemlichkeit und an Vergnuͤgen der damaligen Zeiten und der jetzigen es iſt.

Laͤßt ſich nicht etwas aͤhnliches in Hinſicht des gan - zen Geſchlechts behaupten? Die Geſchichte zeiget uns daſſelbige in den aͤlteſten Zeiten in einem Zuſtande, den wir, mit dem gegenwaͤrtigen verglichen, die Kindheit der Welt nennen koͤnnen. Man hat daruͤber geſtritten, ob die Bevoͤlkerung vor zwey tauſend Jahren groͤßer ge - weſen ſey, als jetzo; und die Reſultate derer, die mit vieler Gelehrſamkeit hieruͤber Berechnungen gemacht, ſind verſchiedentlich ausgefallen. Aber wenn wir noch weiter zuruͤckgehen, ſo treffen wir doch nach Ausſage der glaubwuͤrdigſten Geſchichte auf Zeiten, worinn die Erde weit leerer an Menſchen hat geweſen ſeyn muͤſſen, als ſie nun iſt. Zwiſchen den beſſern aͤltern Zeiten und den jetzigen hat es eine mittlere Zeit der Finſterniß und der Barbarey gegeben, die faſt die ganze alte Welt bedecket und, das Vortheilhafte, was ſie hatte, nicht uͤberſehen, doch als ein Beyſpiel von Verſchlimmerung der Menſch - heit im Ganzen angefuͤhret werden kann. Es ſcheinet doch wenigſtens, als wenn die Geſchichte den erſtern Begriff von einer wachſenden Vervollkommnung der Menſchheit, die aber langſam zunimmt, auch wohl ihre Epochen hat, in denen ſie abnimmt und dennoch im Gan - zen groͤßer wird, mehr beſtaͤtige, als den zweeten von einer beſtaͤndigen Gleichheit des Ganzen. Sollten auch die kuͤnftigen Revolutionen ſo groß ſeyn, daß auf die Periode des Wachſens eine gleich große im Zuruͤckgehen folgen und einmal die erſte Kindheit der Welt wieder zuruͤckkehren muͤßte, wie es nach einigen kosmologiſchen Hypotheſen alter Philoſophen zu erwarten waͤre: ſo iſtwieder -771und Entwickelung des Menſchen. wiederum ſo viel gewiß, daß unſer gegenwaͤrtiges Zeit - alter zu der erſtern wachſenden Periode, die ſich mit un - ſerer Geſchichte anfaͤngt und noch ihr Ende nicht errei - chet hat, gerechnet werden muͤſſe, und daß daher auch noch ein fernerer Fortſchritt in der Vervollkommnung zu erwarten ſey.

Kuͤnſte und Wiſſenſchaften ſind zwar ein Mittel, wo - durch die Vervollkommnung befoͤrdert wird; allein man wuͤrde ſich uͤbereilen, wenn man nach dem Grade der Erweiterung und Verbeſſerung derſelben die Grade der Vollkommenheit der Menſchen ſchaͤtzen wollte. Wenn dieß angienge, ſo ließe ſich der Vorzug unſrer Zeiten vor dem Alterthum, auch gegen Hr. Dutens behaupten. Wir ſind zum wenigſten in den Kenntniſſen, wobey voͤl - lige Gewißheit ſtattfindet, weiter gekommen, als die Griechen und Roͤmer waren. Dieß macht allein die Sache nicht aus. Es kommt dazu, daß der Fortgang in den Wiſſenſchaften und die Erweiterung derſelben et - was anders iſt, als die Verbreitung der Kenntniſſe un - ter den Jndividuen. Das Licht der Wiſſenſchaften giebt unſerm Jahrhundert eine glaͤnzende Seite. Dieſe iſt eben diejenige, wobey die Vervollkommnung anfangen muß. Allein dieſe eine Seite muß uns nicht blenden und abhalten weiter nachzuforſchen, wie tief die entwi - ckelnde Waͤrme eingedrungen, und wie weit ſie an allen Seiten hin ausgebreitet ſey?

2.

Waͤre es moͤglich, wozu einige uns Hoffnung ge - macht haben, daß die Naturanlagen in unſern Kin - dern verbeſſert werden koͤnnten: ſo ließe ſich ungemein viel zur Veredelung des kuͤnftigen Geſchlechts ausrichten. Jedes Jndividuum muß immer von demſelbigen Punkt anfangen, und hat dieſelbigen Stufen ſeiner Entwicke - lung vor ſich, die es von der unterſten an durchgehenC c c 2muß,772XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtmuß, ohne daß der Vater das Kind bey der Geburt ſo - gleich auf eine gewiſſe Hoͤhe hinſtellen koͤnnte. Gleiche Unwiſſenheit, gleiche Traͤgheit, gleich ſtarker natuͤrlicher Hang in den erſten Entwickelungen der Sinnlichkeit ſich zu verlieren, iſt in allen Kinderſeelen, bey den Nach - kommen ſowohl als bey den Voraͤltern. Koͤnnten nun die Kraͤfte und Vermoͤgen ſtaͤrker, lebendiger und trei - bender gemacht werden, ſo wuͤrden die ſo begluͤckten Nachkommen geſchwinder und weiter fortkommen. Die Sinne wuͤrden feiner und ſchaͤrfer ſeyn, beſonders das innere Gefuͤhl. Und dieß koͤnnte ohne eine Verfeinerung und Staͤrke in der innern Organiſation nicht ſtattfinden.

Die Erfahrung legt uns einige Beyſpiele von einer ſolchen Verbeſſerung der menſchlichen Natur vor, die, wenigſtens von einer Seite betrachtet, eine Veredelung heißen kann. Ganze Voͤlker werden durch die Vermi - ſchung mit andern, wie die Perſer durch ihre Verbin - dung mit den cirkaſſiſchen Weibern, groͤßer, ſtaͤrker und wohlgebildeter am Koͤrper. Viele Jndianer moͤgen von den kultivirten Europaͤern eine muntrere, geſchmeidigere und kluͤgere Nachkommenſchaft erhalten haben. Viel - leicht iſt die Wirkung an den Seelen der Kreolen eben ſo merklich, als an ihrer Farbe. Es giebt auch einzelne Beyſpiele, welche lehren, daß Vorzuͤge der Aeltern wie Gebrechen auf die Kinder uͤbergehen. Man hat ſich noch mehr durch die Analogie von den Thieren und Pflan - zen hierinn beſtaͤtiget. Man wende alle Sorgfalt auf die phyſiſche Erziehung der Kinder, die ſie verdienet, ſo wie man ſie hie und da bey Pflanzen und zahmen Thierarten verwendet. Und man muß es mit Vergnuͤ - gen bemerken, daß es jetzo anfaͤngt wirklich zu geſche - hen, was noch allgemeiner werden wird, je mehr die philantropiniſche Erziehung ſich ausbreitet. Man fange damit ſchon an vor der Geburt, von der Erzeugung, wie von vielen vorgeſchlagen iſt. Es iſt zu hoffen, daßdie773und Entwickelung des Menſchen. die heilſamen Wirkungen davon ſich bald merklich ma - chen werden. Die Aerzte ſagen es mit Gruͤnden, daß auf dem willkuͤrlichen Benehmen der Eltern, auf ihrer Lebensart, ihren Denkarten und Sitten vieles beruhe, wenn die Kinder ſchwach und kraͤnklich ſind. Ohne Zweifel liegt hier eine verſteckte und verkannte Quelle von unzaͤhligen Plagen der Menſchheit, die verſtopft werden koͤnnte, wenn jene Erinnerungen mehr Gehoͤr faͤnden. Kann aber die Natur der Nachkommen durch die Auffuͤhrung der Eltern verſchlimmert werden, ſo wird ſie in gleicher Maße auf der andern Seite durch eine entgegengeſetzte ſich verbeſſern laſſen.

Allein ſo viele Aufmerkſamkeit auch alle hieher gehoͤ - rigen wohluͤberlegten Vorſchlaͤge verdienen, und ſo viel gutes ſich von den Urſachen erwarten laͤßt, die man je - tzo anfaͤngt in Thaͤtigkeit zu ſetzen: ſo liegt doch ſelbſt in der Natur des Menſchen ein Grund, der die guten Er - wartungen davon ſchwaͤchen muß. Das nicht zu ſagen, daß eine ſolche Veredelung der Naturen bald ihre Gren - ze erreichen muͤſſe, zu der ſie kommen kann. Sie iſt keiner immer ſteigenden Progreſſion faͤhig. Denn wer wird hoffen, daß unſer Geſchlecht jemals zu einem Rie - ſengeſchlecht am Koͤrper und einem Engelgeſchlecht am Geiſte werden kann? Es kann jedwede Verbeſſerung der Art wohl nichts mehr als eine einſeitige Verbeſſe - rung ſeyn, die gar zu leicht eine Verſchlimmerung auf einer andern Seite entweder ſchon bey ſich fuͤhren, oder nach ſich ziehen muß. Geſetzt, unſere Kinder werden durch eine haͤrtere Erziehung geſuͤndere und ſtaͤrkere Maͤn - ner, und erzielen eine noch mehr herkuliſche Nachkom - menſchaft: iſt es zu erwarten, daß dieſe Koͤrperſtaͤrke mit einem gleichen Grade von Staͤrke der Vernunft be - gleitet ſey? Man wird nicht leicht zu viel ausrichten; darum darf daruͤber zur Zeit noch nichts erinnert wer - den. Allein geſetzt man erreichte die Abſicht in derC c c 3Maße,774XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtMaße, wie einige ſichs vorſtellen: wuͤrde nicht dieſe große Koͤrperkraft einen naͤhern Hang zur Sinnlichkeit und Wildheit annehmen, wenn ſie ganz allgemein wuͤr - de? und koͤnnte ſie nicht die Menſchheit nach einigen Generationen wieder tief in den rohen Zuſtand der Bar - barey und der Wildheit zuruͤckbringen? Das Ganze der Menſchheit gewinnt nur durch ein gewiſſes Eben - maß in den Kraͤften. Wir hoffen gar zu leicht zu viel, wenn wir dieß von unſern Beſtrebungen erwarten, die nur auf die eine oder andere Seite der Natur gerich - tet ſind.

Noch erheblicher aber iſt dieſes. Wenn wir nach der Analogie erwarten, daß eine Verbeſſerung in dem Menſchengeſchlecht moͤglich ſey, wie ſie es bey Thieren und Pflanzen iſt: ſo erinnert man ſich nicht, daß in dem Menſchen das, was er durch die Ausbildung wird, weit weniger in ſeinen Naturanlagen beſtimmt ſey, als bey den uͤbrigen organiſirten Weſen. Und nicht nur das, was er werden, ſondern auch das, was er wirken und wieder zeugen ſoll, haͤngt weit mehr von dem Zu - fall und von aͤußern Umſtaͤnden ab, die nicht in ſeiner Gewalt ſind. Daher muß es weit minder wahrſchein - lich ſeyn, daß ſtarke, geſunde, muntere und verſtaͤndige Eltern Kinder haben werden, die ihnen aͤhnlich ſind, als bey den Thier - und Pflanzenarten, daß vorzuͤgliche Saamen auch vorzuͤgliche Fruͤchte geben. Es waͤre un - gemein viel gewonnen, wenn die Naturanlagen in un - ſern Kindern verbeſſert wuͤrden; aber darauf ließe ſich doch nicht Rechnung machen, daß die ganze Wirkung davon ſich lange erhalten, und nicht ſchon in den naͤch - ſten Generationen wieder verloͤſchen wuͤrde. Jndeſſen hoͤrt auch die kleinſte Verbeſſerung in den Naturen nicht auf unſchaͤtzbar zu ſeyn.

3. Das775und Entwickelung des Menſchen.

3.

Das Wirkſamſte, was zur Verbeſſerung der Menſchheit in dem nachfolgenden Geſchlechte geſchehen kann, beruhet auf der Einrichtung und Feſtſetzung der aͤußern Urſachen, durch deren Einfluß die Natur - kraft am leichteſten und am vollkommenſten entwickelt wird. Die Schulanſtalten in der Welt, alle ausbil - dende Urſachen naͤmlich hierunter begriffen, koͤnnen ohne Zweifel etwas vortheilhafter fuͤr die Nachkommenſchaft gemacht werden. Das iſt es, wobey ſich das meiſte thun laͤßt, und wovon auch das meiſte zu hoffen iſt. Aber es verſteht ſich, daß hier nicht allein von der ei - gentlichen Erziehung die Rede ſey, ſo wichtig dieſe iſt, und ſo ſehr ſie als die Hauptſache angeſehen werden kann. Es gehoͤren auch ſolche Verfaſſungen und Ein - richtungen der Geſellſchaft, des Lebens und uͤberhaupt der aͤußern Umſtaͤnde dahin, deren Wirkung die Erzie - hung der Natur ausmacht. Dieſe ſind von einer ungemein großen Mannichfaltigkeit, und von ſolchem Umfang, daß alle Bemuͤhungen der Menſchenfreunde Raum genug finden daran zu arbeiten. Sollte die Ver - vollkommnung in dem ganzen Geſchlechte ſteigen, ſo muͤßte dieß am meiſten von der |Vortreflichkeit und von der Ausbreitung dieſer aͤußern Einrichtungen zu erwar - ten ſeyn. Hieruͤber will ich nur ein paar allgemeine Anmerkungen anfuͤgen. Sie werden wenigſtens als Winke dienen, wenn man einen Blick auf unſer Zeital - ter wirft, und dem naͤchſtfolgenden entweder Gluͤck wuͤn - ſchen oder es durch unſer zuvorkommendes Bedauren warnen will. Vielleicht findet man am Ende, eben ſo wenig ſehr uͤberwiegende Gruͤnde, eine goldene Zeit zu erwarten, als eine eiſerne. Dieß kann indeſſen den Ei - fer der Rechtſchaffenen um die Erhebung der Menſchheit nicht mindern. Sie mag im Ganzen nichts beſſer wer - den, als ſie gegenwaͤrtig iſt, ſo iſt Kraft und Thaͤtig -C c c 4keit776XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtkeit genug noͤthig, um nur zu verhindern, daß ſie nicht ſchlimmer werde. Und dieß, meine ich, ſey Belohnung genug fuͤr die Tugend, zu fuͤhlen, daß man beygewirkt habe die gute Verfaſſung zu erhalten.

4.

Die Einrichtungen, wovon die Entwickelung der Menſchheit abhaͤngt, koͤnnen uͤberhaupt in dieſe zwo Klaſſen gebracht werden. Einige gehen zunaͤchſt auf die Erhaltung und Vermehrung des Geſchlechts, und auf die Erleichterung des thieriſchen Lebens; andere ha - ben einen naͤhern und unmittelbaren Einfluß in die Ent - wickelung der Seelenkraͤfte. Man mag die erſtern als eigentliche Vervollkommnungsmittel, oder nur als vor - hergehende Erfoderniſſe, betrachten: in beider Hinſicht ſind ſie in einem gewiſſen Grade unentbehrlich, wenn der Menſch, als Menſch, und als vernuͤnftiger Menſch, ausgebildet und an Kraͤften und Vermoͤgen erhoͤhet wer - den ſoll. Wo das Leben ſo muͤhſelig iſt, und alle, oder die meiſten erſchoͤpfenden Beſtrebungen noͤthig ſind, um Hunger und Durſt zu ſtillen, ſich |gegen Gewalt und Schmerzen des Koͤrpers zu ſchuͤtzen, da kann der Geiſt ſich nicht erheben, den die dringendſten Beduͤrfniſſe der Natur unaufhoͤrlich von jedem hoͤhern Schwung zur Er - de zuruͤckziehen. Ruhe, Erholung und ſorgenloſe Stun - den, worinn das Herz ſich frey ausdehnen kann, ſind dem Menſchen unentbehrlich, um ſich als Menſch zu fuͤhlen, Muth zu faſſen, und ſeine Kraft auf noch an - dere Seiten hin und bey mehrern Gegenſtaͤnden zu ver - ſuchen, als bey den wenigen, worauf der bloße Unter - halt des Lebens ſie nothwendig hinzieht. Jn der That muͤſſen die dahin gehoͤrigen Veranſtaltungen, wenn auch ihre ganze Wirkung auf das eingeſchraͤnkt waͤre, wie es doch nicht iſt, was man zunaͤchſt und eigentlich bey ihnen zur Abſicht hat, naͤmlich das thieriſche Lebenbeque -777und Entwickelung des Menſchen. bequemer und angenehmer zu machen, gewiſſermaßen allen uͤbrigen, die naͤher auf die Erziehung, die Anfuͤh - rung und den Unterricht abzielen, vorgehen. Man biete keinem Volk den Unterricht und die Schulen an, ſo lan - ge nicht dafuͤr geſorgt iſt, daß es ſich ihrer bedienen kann, ohne dafuͤr zu hungern, nackt zu gehen, oder in Skla - verey zu ſchmachten. Jndeſſen giebt es auch auf der andern Seite hierinn ein Aeußerſtes. Die koͤrperlichen Beduͤrfniſſe muͤſſen nicht ganz fehlen. Sie ſind der erſte, und bey den meiſten auch in der Folge noch, der maͤchtigſte Reiz der Natur gegen die Traͤgheit. Jm Ganzen iſt die vortheilhafteſte Lage der Menſchheit da, wo die Erde gebauet ſeyn will im Schweiß des Ange - ſichts, aber die Arbeit auch mit noch etwas mehr belohnt, als mit dem blos Nothwendigen; beſſer als da, wo ſie kaum das Noͤthigſte ſich abzwingen laͤßt; und auch als da, wo ſie freywillig ohne Muͤhe alles hergiebt.

5.

Wenn das thieriſche Leben beſorget iſt, ſo folgen die Beduͤrfniſſe der Vorſtellungskraft und des Verſtandes. Dieſe entwickeln ſich aus den erſten ſinnlichen und thie - riſchen. Wenn der Menſch ſatt und ruhig iſt, will er auch innerlich unterhalten ſeyn. Aber da er im Anfange die Beſchaͤfftigungen des Selbſtgefuͤhls, der Vorſtel - lungskraft und des Denkens mehr fuͤr etwas anſieht, das zu ſeinen thieriſchen Abſichten nothwendig iſt, als was fuͤr ſich ſelbſt einen Werth haben und ihm ein be - ſonderes Leben und Wohl gewaͤhren koͤnne; und da der Geſchmack bey dem groͤßten Haufen, in dem nicht we - nigſtens Ehr - und Ruhmſucht angefachet wird, faſt be - ſtaͤndig dieſen uͤberwiegenden Hang zu dem Vergnuͤgen der groͤbern Sinne behaͤlt: ſo gehoͤren zu den Mitteln der Entwickelung diejenigen, die in ihm die feinern Be - duͤrfniſſe der Empfindſamkeit, der Phantaſie und des Verſtandes erregen, und ihm ſolche zu wichtigen Ange -C c c 5legen -778XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtlegenheiten machen koͤnnen. Dieß thun ſie aber, indem ſie durch ihren Einfluß ihn neue Ergoͤtzungen kennen lehren. Hier iſt zuerſt die Stelle der Kuͤnſte, am mei - ſten der ſchoͤnen, aber auch der mechaniſchen, inſoferne ſie die Einbildungskraft reizen, wenn gleich ihre Ein - druͤcke noch mehr ſtark und verwirrt, als fein und ent - wickelt ſind. So erfolgt der Uebergang, von dem Ge - ſchmack an dem bloß thieriſchen Wohl, zum Geſchmack an den Guͤtern der Einbildungskraft und der feinern Empfindſamkeit. Dieſer iſt fuͤr ſich ſchon wichtig, und auch natuͤrlich. Viele Jndividuen kommen bis dahin; und die daraus entſpringende Ausbildung kann bey ei - nem Volke ſehr allgemein werden, obgleich ſelten in ſol - cher Maße, als es zu der Zeit in Griechenland war, da auch der Poͤbel die Schoͤnheiten der Redekunſt zu beurtheilen wußte. Jeder Menſch von geſundem natuͤr - lichem Verſtande iſt der angenehmen Empfindungen faͤ - hig, welche Ordnung, Zierlichkeit, Schoͤnheit der Na - tur, die Harmonie der Toͤne, der Anblick der Gemaͤlde und Statuen, und die uͤbrigen Wirkungen der ſchoͤnen Kuͤnſte hervorbringen. Es verfolge ihn nur die Sorge fuͤr ſeinen und der Seinigen Unterhalt nicht; man laſſe ſeinem Geiſt einige ſorgenfreye Muße; und halte ihm dann Gegenſtaͤnde vor, die ihn ruͤhren, beſonders ſol - che, die, indem ſie beluſtigen, zugleich auch von einer Seite ihm als nuͤtzlich zum bequemern Leben ſich darſtel - len, und ihm auch darum intereſſant werden: ſo wird ſich die Neubegierde aͤußern, es wird ein Beduͤrfniß werden mehr zu erfahren, mehr zu lernen und mehr zu wiſſen, und Geſchichte und Kuͤnſte werden Lieblings - kenntniſſe ſeyn. Wenn der niedrige Haufe des Volks einigen ſo ſtumpf am Verſtande, ſo unbiegſam und ſo empfindungslos bey allem, was nicht den thieriſchen Sinn ruͤhret, vorgekommen iſt, daß es ihnen geſchie - nen, als wenn ſich weiter nichts mit ihm anfangen laſſe,als779und Entwickelung des Menſchen. als daß man ihn zu zahmen, und wenns aufs Beſte iſt, zu zufriedenen Menſchenthieren mache: ſo hat man ihm wohl nicht Gerechtigkeit widerfahren laſſen. Ein an - deres iſt es, wenn darum keine hoͤhere Abſicht bey ihnen erreichet wird, auch vielleicht nicht werden koͤnnte, weil in der aͤußern Verfaſſung der Welt keine Mittel ſind, mehr zu erreichen. Davon will ich nachher ſagen: nur daß man nicht glaube, es liege in der Natur des Poͤ - bels und in ſeinen nothwendigen koͤrperlichen Verrich - tungen die Unmoͤglichkeit beſſer gebildet zu werden.

Was endlich die Kultur der hoͤhern Verſtandeskraͤf - te und der ſich darauf beziehenden erhabenern Denkar - ten, Geſinnungen und Thaͤtigkeiten des Herzens, das iſt, die Entwickelung des innern geiſtigen Lebens betrifft, ſo ſind die Wiſſenſchaften die Mittel, wodurch ſelbige betrieben und ausgebreitet wird unter die Jndividuen. Allein wofern ihre Wirkung nicht ungemein einge - ſchraͤnket ſeyn ſoll, ſo iſt es noͤthig, daß beſonders die am allgemeinſten und am ſtaͤrkſten intereſſirenden Kennt - niſſe, die Religion und Moral, zu Gegenſtaͤnden einer freyen Unterſuchung fuͤr alle, die Verſtand beſitzen, ge - macht werden. Wo man dem Verſtande es wehret uͤber Sachen nachzudenken, die ſich auf die Religion, auf die innere Gluͤckſeligkeit, auf die Natur und Verhaͤlt - niſſe des Menſchen in der Welt, auf Geſetze und Ge - ſellſchaft beziehen, da nimmt man allen ihren uͤbrigen Unterſuchungen Geiſt und Leben; da iſt an keine Auf - klaͤrung des Volks zu gedenken. Die Geſchichte hat kein Beyſpiel, daß ſich die uͤbrigen Wiſſenſchaften, die ſich mit der koͤrperlichen Natur beſchaͤfftigen, lange erhalten und ſich weit uͤber die Nation verbreitet, und Licht im Verſtande und Moralitaͤt im Herzen allgemeiner ge - macht haben, wo Denken und Raiſonniren uͤber die Re - ligion, die Politik und Moral eine Suͤnde, und anders denken, als die einmal feſtgeſetzte Vorſchrift will, einVer -780XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtVerbrechen war. Solche Gegenſtaͤnde ſind es eben, wobey es dem Menſchen am fuͤhlbarſten wird, daß Ue - berlegen, Denken und Wiſſen fuͤr ſich ſelbſt eine Gluͤck - feligkeit ſey, und daß es ein inneres thatvolles Leben gebe, wozu die Kraͤfte in der Einſicht des Verſtandes liegen. Jn den alten Freyſtaaten, wie in einigen neu - ern, war es das Denken, Sprechen und Schreiben uͤber die Geſetze, und uͤber die Staatsverfaſſung und die dar - aus entſpringende lebhafte politiſche Geſchaͤfftigkeit, was bey dem groͤßten Theil der Buͤrger ihre vorzuͤgliche Ent - wickelung am Verſtande und Geiſt hervorbrachte. Aber im Ganzen iſt keines, was zu dieſer Abſicht ſo wirkſam ſeiner Natur nach iſt, und mit ſo großem Er - folg gebraucht werden kann, als die Religion. Sie iſt fuͤr jeden Stand und fuͤr jedwede Art von Umſtaͤnden. Sie greift den Menſchen von allen Seiten an, und wir - ket am ſtaͤrkſten auf ſeine edelſten Kraͤfte.

6.

An Mitteln und Urſachen fehlt es alſo in der Welt nicht, wodurch die Menſchheit vervollkommnet werden koͤnnte, wenn dieſe in Thaͤtigkeit geſetzt und jene auf die gehoͤrige Art gebraucht wuͤrden. Was waͤre nicht wohl moͤglich? Kann es nicht allenthalben dahin kommen, wohin der wohlthaͤtige Heinrich der Vierte in ſeinem Frankreich es zu bringen ſuchte, daß jeder Bauer am Sonntage ſein Huhn im Topf habe? Sollte ſichs nicht machen laſſen, daß auch der niedrigſte Menſch mit neun bis zehn Stunden Arbeit an jedem Tage ſo viel ver - diene, als er braucht, um ſich und die Seinigen ohne Sorgen zu ernaͤhren? Wenn dieß waͤre, ſo blieben ihm noch ſieben Stunden zu ſeinem Schlaf und ſieben zu ſeiner Erholung uͤbrig, in denen Witz und Verſtand be - ſchaͤfftiget und das Herz in edlen Trieben erweitert wer - den koͤnnte. Laͤßt ſich nicht etwas in dieſer Hinſicht von der Zukunft hoffen? Sollten nicht die edlen Bemuͤhun -gen,781und Entwickelung des Menſchen. gen, die auf die Bevoͤlkerung und auf die Vergroͤßerung des allgemeinen Wohlſtandes gerichtet ſind, ſich immer mehr uͤber die Erde ausbreiten und fruchtbarer werden?

Noch mehr. Was laͤßt ſich nicht erwarten, wenn man mit dem Eifer fuͤr die Erziehung der Jugend, der jetzo ſo rege gemacht iſt, fortfaͤhret? wenn die Verſu - che fortgeſetzt werden, die einige vortreffliche Maͤnner gemacht haben, die gemeinnuͤtzigen Kenntniſſe aller Art, beſonders aber die Wahrheiten der Religion und Mo - ral, ſo allgemein faßlich und intereſſant vorzutragen, daß ſie nicht nur dem gewoͤhnlichſten Menſchenverſtande auffallen, ſondern ihn zugleich zum weitern Nachden - ken erwecken? Man koͤnnte jetzo faſt ſchon eine Bauern - bibliothek zuſammenbringen, die zu ihrem Zweck ziem - lich vollſtaͤndig ſey. Die Hauptſache wird freylich dar - auf ankommen, daß der Menſch aufgemuntert werde, ſich als ein ſelbſtthaͤtiges und vernuͤnftiges Weſen zu fuͤhlen, und als ein ſolches zu handeln. Es muß ihm als eine Lehre ſeines Katechismus eingeſchaͤrfet werden, daß jeder nicht nur berechtiget, ſondern auch verpflichtet ſey, nach dem Maße ſeiner Zeit und Kraͤfte uͤber das, was er gelehret wird, zu denken, ſo gut er kann es zu unterſuchen, und durch Unterredungen mit andern ſich daruͤber zu belehren. Dabey muͤßte ihm geſagt wer - den, daß es nicht ſchaͤdlich oder gefaͤhrlich ſey, wenn er auch bey dieſem Verfahren auf einen Jrrthum gerathen ſollte, wofern er nur ſonſten redlich zu Werke gehe. Und da dieſe Denkungsart nicht allgemein werden, noch ſich lange erhalten kann, ohne daß die Freyheit des Gei - ſtes allgemein werde, die ſich im Reden und Schriften offenbaret: ſo iſt es von ſelbſt klar, in welcher Bezie - hung die letztere auf die Entwickelung und Aufklaͤrung der Menſchheit ſtehe. Daß unſere Zeiten auch hierinn ei - nen Vorzug haben, iſt nicht zu laͤugnen; ſo viele Urſa - chen noch zuruͤck ſeyn moͤgen, mit Tacitus Worten zuſagen:782XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtſagen: rara temporum felicitas, in quibus ſentire quae velis, et quae ſentias dicere, licet. *)Hiſtor. I. 1. 6.Jn vielen Laͤndern Europens wird doch die Vorſicht befolget, wel - che die große Monarchin Rußlands gegeben hat. Man treibet die Unterſuchung bey freyen und anzuͤglichen Schriften nicht zu weit, und ſieht wohl ein, daß der Verſtand dadurch Zwang und Unterdruͤckung leide, und nichts als Unwiſſenheit entſtehe, die Gaben des menſchlichen Verſtandes vernichtet und die Luſt zum Schreiben benommen werde. **)Catharinaͤ der Zweyten Jnſtruction zur Verfertigung eines neuen Geſetzbuches. 483. Dieſe Schrift iſt ſo - wohl ihres Jnhalts wegen, als weil ſie eine Stimme vom Thron enthaͤlt, eines der groͤßten Ehrendenkmaͤ - ler, welches ſich der Geiſt unſers Jahrhunderts errichtet hat. Daß ſo ein Buch, eine feſtliche Unterhaltung des Menſchenfreundes, von einer Souveraine hat koͤnnen geſchrieben werden, beweiſet mehr, daß die Menſch - heit ſich verbeſſere, als man daraus, daß die Leſung deſſelben in einigen Laͤndern verboten iſt, ſchließen kann, daß ſie ſich verſchlimmere.Mehrere Regenten und Regierungen verfahren nach dieſem Grundſatz. Nur die Grenzen jener Freyheit ſcheinen vielen noch zu ſchwer zu finden zu ſeyn. Denn man ſieht ein, daß die ganz uneingeſchraͤnkte Preßfreyheit zwar ein ſtarkes wirkſa - mes Mittel zur Aufklaͤrung und Vervollkommnung iſt; aber auch daß ſie ein heroiſches Mittel iſt, das die Bos - heit der Menſchen zu einem allgemeinen Gift machen kann. Dieſe Beſorgung hindert es ohne Zweifel in vielen Laͤndern bloß, daß man die alten Geſetze der Un - terdruͤckung lieber bey der Anwendung in einzelnen Faͤl - len maͤßiget, als ſie im Allgemeinen aufhebet. Allein eben dieß laͤßt hoffen, es werde der durch Philoſophie aufgeweckte und durch Geſchichte genaͤhrte Geiſt der eigenen und freyen Unterſuchung ſeinen Kreis erwei -tern,783und Entwickelung des Menſchen. tern, und immer mehr Licht und Aufklaͤrung uͤber die Menſchheit bringen.

Allein es giebt noch ein Haupterfoderniß mehr. Es erfuͤllet die Beſtimmung des Menſchen nicht, wenn man ihn zu einem gutgezogenen und gluͤcklichen Thiere macht. Er ſollte ein gluͤckliches ſelbſtthaͤtiges Weſen werden. Dieſer Zweck erfodert, daß ihm auch ſo viele aͤußere Unabhaͤngigkeit und Freyheit in ſeinen Handlun - gen gelaſſen werde, als das allgemeine Wohl erlauben will. Ohne dieſe aͤußerliche Buͤrgerfreyheit erſtickt auch die Freyheit des Verſtandes im Denken, welche ohnedieß nur bey wenigen der Weg iſt, der zu Erhoͤhung der Selbſtthaͤtigkeit der Seele genommen werden kann. Fuͤr ſich iſt es freylich moͤglich, daß die Menſchheit ſich auch in der Sklaverey entwickele. Aber Seelen, wie des Epiktets, ſind ſelten. Bey den meiſten faͤllt die Frey - heit des Geiſtes von ſelbſt weg, wenn der aͤußere Menſch gefeſſelt iſt. Man mag die Vortheile, die der Geiſt aus der Unterdruͤckung ziehen kann, berechnen wie man will, ſo entſtehet endlich das Reſultat, worauf Stern durch den Staar, der aus dem Bauer heraus wollte, gefuͤhret ward. Sklaverey unterdruͤcket Muth und Thaͤtigkeit. Aber wenn man glaubet, es gebe nur in Republiken das Klima, wo dieſe fruchtbare Witterung fuͤr die Menſchheit gefunden werde, ſo hat man zu - verlaͤßig die Sache zu einſeitig beurtheilet. Mag es ſeyn, daß gewiſſe Regierungsformen fuͤr ſich ſchaͤdlich ſind, wie es der Deſpotismus unlaͤugbar iſt; daß an - dere beſtimmten Staaten, Laͤndern, Voͤlkern, nach ihrer jezigen Denkungsart nicht angemeſſen ſind; der Unterſcheid wuͤrde zuletzt davon abhangen, wie viel leichter und natuͤrlicher die Menſchheit in der einen als in der andern erniedriget und verſchlimmert werde: ſo iſt es doch ein durch die Geſchichte beſtaͤtigter Grundſatz, daß es nicht ſo wohl die Form der Regierung als dieArt784XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtArt ſey, wie ſie verwaltet wird, wovon ihr Gutes und ihr Schlimmes abhaͤngt. Es hat Deſpotismus genug in Freyſtaaten gegeben, der die natuͤrliche Freyheit und das Eigenthum des Buͤrgers wenig geachtet. Dage - gen hat der Unterthan in Monarchien wahre Freyheit genoſſen, und genieſſet ſie noch, unter der Regierung der Geſetze, und was die Hauptſache iſt, (denn ſonſten giebt es auch eine Sklaverey unter Geſetzen) unter der Regierung ſolcher Geſetze, welche die natuͤrlichen Rechte, Beſitzungen und Freyheiten des Buͤrgers als ein Heilig - thum anſehen, worinn, das abgerechnet, was zu dem gemeinen Beſten aufgeopfert werden muß und wobey doch die Einzelnen am Ende gewinnen, außer dem Noth - fall kein Eingriff geſchehen darf. Je mehr die Auf - klaͤrung des Verſtandes und die Freyheit des Geiſtes zu - nimmt, deſto mehr, laͤßt ſich auch hoffen, werde dieſe Mil - de der Regierungen allgemeiner werden.

7.

Dieß ſind ſchoͤne Moͤglichkeiten. Das Bild von dem kuͤnftigen Zuſtande der Menſchheit, das ſie uns zeigen, wuͤrde ungemein reizend ſeyn, wenn jemand Luſt haͤtte es auszumalen. Viele Menſchenfreunde haben hierauf ihre Vorherſagung gegruͤndet, die Kultur der Menſchheit werde noch groͤßer und allgemeiner werden, als ſie jemalen auf der Erde geweſen iſt. Aber ſollte ihr edles Herz, welches vor andern ſo leicht das Gute hoffet, das es ſelbſt zu leiſten willig iſt, ihre Aufmerkſamkeit nicht zu weit von den großen Hinderniſſen abgezogen haben, die jenen wirkenden Urſachen entgegenſtehen? Wozu kann ein einzelner Menſch gemacht werden? Wel - cher Entwickelung iſt er faͤhig; welcher Aufklaͤrung und welches Wohls fuͤr ſich allein genommen? Dieß iſt eine andre Frage, als die folgende: was kann aus der gan - zen Menſchheit, aus dem ganzen Jnbegriff aller Jndivi - duen werden, die nebeneinander auf der Erde zu ver -voll -785und Entwickelung des Menſchen. vollkommnen und zu begluͤcken ſind! Es hat Europa, wie Herr Jſelin richtig bemerket, ſeinen geſitteten Zuſtand wenigen erleuchteten Einwohnern zu danken, die nicht den hundertſten, wer weiß welchen geringen, Theil al - ler Menſchenſeelen ausmachen. Sollte etwan die Na - tur unſers Geſchlechts es mit ſich bringen, daß es auf immer ſo bleiben muͤßte; daß die Summe der vorzuͤglich entwickelten und aufgeklaͤrten in Vergleichung derer, die da bleiben, wo der gemeine Haufe jetzo ſtehet, nur ſehr geringe ſey; und daß dieß Verhaͤltniß zum Vortheil des Ganzen wenig veraͤndert werden koͤnne?

Sehen wir auf die Menſchen, wie ſie von Natur ſind, ſo muͤſſen wir nach dem, was bis hieher die Ge - ſchichte und die taͤgliche Beobachtung gezeiget hat, glau - ben, daß unter ganzen Haufen immer nur ſehr wenige Jndividuen ſind, bey denen der ſelbſtthaͤtige Naturtrieb in der Seele vorzuͤglich ſtark ſey. Die groͤßte Menge beſteht aus ſolchen, deren Schwaͤche, Traͤgheit und Hang zu dem Sinnlichen verhaͤltnißmaͤßig zu groß iſt, fuͤr den Entwickelungstrieb in den hoͤhern Geiſteskraͤf - ten. *)Anhang zum eilften Verſuch. IV. Dieſe Klaſſe kann ſich nicht weit erheben. Nur ſtarke thieriſche Beduͤrfniſſe bringen ſie in Bewegung. Und wenn die Kraͤfte auch erwecket ſind, ſo werden ſie doch von dem Hang zu dem unthaͤtigen Vergnuͤgen der Sinne aufgehalten. Bey andern von lebhaftern Trieben, de - ren Anzahl ſchon kleiner iſt, erfolget eine etwas groͤßere Entwickelung in den feinern Vermoͤgen. Die koͤrperlichen Ergoͤtzungen der Sinne erfuͤllen ſie nicht; ſie ſuchen Guͤter der Einbildungskraft, und beſonders die Ehre. Aber dennoch wird das uͤberwiegende Gefuͤhl eigener Schwaͤ - che und Beduͤrfniſſe den Eigennutz unendlich mehr ſtaͤr - ken, als das Mitgefuͤhl fuͤr andere. Wenn ſich dasII Theil. D d dletztere786XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtletztere auch aͤußert, wird es doch von Eitelkeit und Stolz durchwebet ſeyn, die beide entſtehen, indem man das in - nere Leere an wahren Empfindungen durch Einbildungen zu fuͤllen ſucht. Es ſind endlich ſehr wenige, bey denen der Entwickelungstrieb in den hoͤhern Seelenkraͤften uͤber - wiegend iſt. So ein Boden muß aber da ſeyn, wenn die uneigennuͤtzige Luſt an anderer Wohl, und der Hang ſelbſtthaͤtige Menſchen um ſich zu haben und ſolche zu bilden, grundfeſt werden ſoll. Die wahre Großmuth ſetzet ein Gefuͤhl innerer Staͤrke und Sicherheit voraus. Wenn die Menſchenliebe nicht aus dieſer Quelle entſprin - get, ſo iſt ſie anfangs ein Ausfluß des Eigennutzes, der ſehr unrein iſt, doch aber durch Aufklaͤrung des Ver - ſtandes zu einer reinen Tugend gemacht werden kann. Bey den meiſten, vielleicht bey allen, mehr oder weniger, iſt nur erſt auf dieſe Weiſe dazu gemacht worden.

Will man auch hier ſagen, daß in Hinſicht der Na - turanlagen unter den Jndividuen kein Unterſchied ſey: ſo thut dieß wenig zur Sache. Es ſind doch, wie die Geſchichte aller Zeiten bisher gezeiget hat, Urſachen in der Welt vorhanden, welche eine gleiche Entwickelung in allen unmoͤglich machen; ſie moͤgen nun in den Natu - ren ſelbſt liegen, oder in den Umſtaͤnden und unvermeid - lichen Einſchraͤnkungen, die alsdenn entſtehen, wenn vie - le zugleich zu vervollkommnen ſind.

Wenn man auf den erſten Grund der Stufenver - ſchiedenheit, die ſich in der Entwickelung der Jndividuen findet, zuruͤckgeht, und ihn in dem Verhaͤltniß der Sinnlichkeit zu den hoͤhern vernuͤnftigen See - lentrieben aufſuchet, und dieß Verhaͤltniß ſo nimmt, wie es in dem ganzen Geſchlechte vorhanden iſt, ſo kann man kaum einmal wuͤnſchen, daß es gar zu ſehr veraͤn - dert werde. Noch weniger findet man Urſache, der Vorſehung daruͤber Vorwuͤrfe zu machen, daß es ſo ſey, wie es von Natur iſt. So lange der Menſch das iſt,was787und Entwickelung des Menſchen. was er iſt, naͤmlich ein thieriſches, obgleich ein vernuͤnfti - ges Weſen, und in einer Welt wie dieſe, die ihm we - der ſeinen Unterhalt, noch die Mittel zur hoͤhern Ent - wickelung giebt, ohne koͤrperliche Arbeit: ſo lange wird auch der Theil ſeines Wohls, der durch ſinnliche und thieriſche Kraͤfte beſchaffet werden muß, zu demjenigen, wozu hoͤhere ſelbſtthaͤtige Geiſtesvermoͤgen gehoͤren, ſich ſo verhalten, daß es zum Beſten des Ganzen immer nothwendig bleibet, daß jener mehrere ſind, daß ſie oͤf - terer und ſtaͤrkerer wirken, und daß alſo die Veranlaſſun - gen ſie zu entwickeln haͤufiger vorhanden ſind, als in Hin - ſicht der letztern. Es koͤnnte im Ganzen wohl des gei - ſtigen Weſens zu viel werden. Zum Gluͤck iſt dieß nun eben nicht leicht zu beſorgen; und gewiß nimmer - mehr ſo ſehr, daß die auf Aufklaͤrung der Vernunft und Verbreitung der Tugend abzielenden Beſtrebungen der Rechtſchaffenen uͤberfluͤßig werden koͤnnten.

Wenn man mit dieſer natuͤrlichen Ungleichheit der Menſchen verbindet, daß jedes Jndividuum ſeine Ver - vollkommnung von derſelbigen niedrigſten Stufe anfan - gen muß: ſo zeiget ſich eine unangenehme Ausſicht, welche die Hoffnung auf eine allgemeine Aufklaͤrung der Menſchheit verdunkelt. Hierzu kommt noch mehr, wenn man auf die Mittel ſelbſt ſieht, wodurch jene erhalten werden ſoll.

Die Vervollkommnungsmittel moͤgen einmal alle zur Anwendung gebracht ſeyn: ſo iſt es auch noͤthig, daß ſie immerfort in derſelbigen Staͤrke, und in derſel - bigen Richtung auf ihren Zweck erhalten werden. Son - ſten verlieren ſie ihre Wirkſamkeit gar bald. Jſt z. B. die Erziehung in einer Generation gut eingerichtet, ſo ſind es nicht allein Zufaͤlle, Landplagen, Verherungen, die ſie wiederum zuruͤckſetzen und zerſtoͤren koͤnnen; es iſt genug um ſie unwirkſam zu machen, daß ihr der Geiſt entzogen werde, der anfangs in den Anſtalten wirkte. D d d 2Alle788XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtAlle Vorſchriften und Einrichtungen im Schul - und Er - ziehungsweſen, ſo vortrefflich ſie ſeyn moͤgen, arten in ein mechaniſches, pedantiſches Weſen aus, das nur ge - wiſſe Formen aufdruͤcket, hoͤchſtens eine einſeitige Ent - wickelung ſchaffet, die nicht mehr den Werth der Ver - vollkommnung hat, worauf die erſte Einrichtung hin - zielte. Dann mag noch immer das Gedaͤchtniß mit ge - lehrten Kenntniſſen, das Herz mit kuͤnſtlichen Empfin - dungen, mit Standes - und Modenneigungen erfuͤllet werden: ſo kann die Vervollkommnung der Natur im Ganzen oftmals zuruͤckbleiben, wenn Geſchicklichkeiten, die Stand und Lebensart erfodern, andere verdraͤngen, die dem Menſchen, obſchon nicht dem Buͤrger, nuͤtzli - cher und wichtiger ſind.

So iſt es in allen uͤbrigen Einrichtungen zur Ver - beſſerung der Menſchheit. Dieſelbige Denkungsart, die ſich ihrer als Mittel zu dieſem Zweck bedienet, muß auch in ihnen fortwirken, wenn ſie bey aller ihrer gegen - waͤrtigen Guͤte nicht leicht und bald, obgleich einige fe - ſter ſind als andere, eine falſche Richtung nehmen ſollen. Nun aber iſt jenes die Denkungsart des klein - ſten Theils. Der groͤßere hat kein Jntereſſe an der Vervollkommnung der Menſchheit. Manche wuͤrden gar in einer Welt nicht leben moͤgen, wo alles herum kluͤger, tugendhafter und weiſer waͤre, als ſie ſelbſt ſind. Es iſt ein Gluͤck, daß ſolche ſo oft, ohne ihr Wiſſen und Willen, die Abſicht der Edelgeſinnten befoͤrdern helfen muͤſſen. Jm Ganzen dauert der Krieg ewig zwiſchen Vernunft und Unvernunft, zwiſchen Einſicht und Dummheit, zwiſchen Eigennutz und Wohlwollen, zwi - ſchen Weisheit und Thorheit, zwiſchen Tugend und Bosheit, zwiſchen Menſchenliebe und Unterdruͤckungs - geiſt; und die Zahl der Streiter auf beiden Seiten iſt gar ſehr ungleich.

So789und Entwickelung des Menſchen.

So kommt es auch bey jedem Vervollkommnungs - mittel auf ein gewiſſes Maß an, unter und uͤber dem es mehr ſchadet als frommet. Jſt das thieriſche Leben verſorget, ſo hat nun der Geiſt Muße ſeine uͤbrigen Vermoͤgen zu entfalten. Aber iſt das Noͤthige fuͤr den Koͤrper zu leicht erhalten, ſo kann der geſaͤttigte Menſch ſo leicht ſich der Traͤgheit ergeben oder auf niedre Wol - luſt gerathen, als ſich zu edlern Unterhaltungen erhe - ben. Hat er ſich jenes durch anhaltenden Fleiß ver - ſchaffet, und kann es auch nur durch die Fortſetzung der Arbeit erhalten werden: wie leicht iſt es, daß er bloß ein fleißiges, arbeitſames und genießendes Thier wird, aber auch nicht mehr, als das? Und hat er Ueberfluß und Muße: wie viel Unkraut ſchießt nicht auf, wodurch die Entwickelung der hoͤhern und feinern Vermoͤgen zu - ruͤckgehalten oder erſticket wird? Es giebt eine gewiſſe Grenze des Wohlſtandes, welche die angemeſſenſte iſt. Sie hat aber doch eine ziemliche Breite, ſo daß es auf einige Grade mehr oder weniger nicht ankommt, je nachdem die uͤbrigen moraliſchen Umſtaͤnde beſchaffen ſind. Gleichwohl lehret die Geſchichte, wie geſchwind ein Volk uͤber die gedachte Grenze wegſchreitet, und wie ſchnell die ſchaͤdlichen Wirkungen des Ueberfluſſes eintreten, ſo bald die Hinderniſſe der Entwickelungen, die aus Mangel und Armuth entſtehen, gehoben ſind. Am laͤngſten ſind noch diejenigen Voͤlker vor der mora - liſchen Verderbniß bewahret worden, deren aͤußerer Wohlſtand oͤfters kleinere Abwechſelungen erlitte, die ſeinen Gleichſtand nicht zu ſehr veraͤnderten.

Daſſelbige laͤßt ſich bey allen uͤbrigen Vervollkomm - nungsmitteln anmerken. Daher man leicht zu viel Gu - tes von der Zukunft hoffen kann. Aber warum denn auch duͤſtere Ahndungen? Dennoch iſt der Trieb zur Entwickelung an allen Seiten jetzo ſehr ſtark, wenig - ſtens ſo ſtark, als in einem andern Zeitalter; und ichD d d 3meine,790XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtmeine, man ſey berechtiget, das unſrige vergleichungs - weiſe das philoſophiſche zu nennen. Die Empfind - ſamkeit, die Phantaſie, der Verſtand und die vernuͤnf - tige Thaͤtigkeit werden vorzuͤglich erwecket, gereizet und erhoͤhet; zunaͤchſt in dem ſchreibenden und leſenden Pu - blikum, und von da aus weiter in dem uͤbrigen Haufen. Jedes fuͤr ſich allein kann uͤbertrieben und im Ganzen ſchaͤdlich werden. Dieß offenbaret ſich haͤufig genug. Jndeſſen wird es am meiſten darauf ankommen, daß keine von den beſondern einſeitigen Denkungsarten, die jetzo unter und durcheinander gaͤhren, zu ſehr herr - ſchend werde, und daß richtige Kenntniſſe von des Menſchen Natur und Beziehungen ſich mehr ausbrei - ten und feſtſetzen.

Siebenter Abſchnitt. Von der Beziehung der Vervollkommnung des Menſchen auf ſeine Gluͤckſeligkeit.

  • 1) Die Vervollkommnung des Menſchen und ſeine Gluͤckſeligkeit ſind in Verbindung, aber doch unterſchieden.
  • 2) Die Gluͤckſeligkeit kann nicht allein nach der Zufriedenheit geſchaͤtzet werden.
  • 3) Ob die Entwickelung der Menſchheit zu weit gehen koͤnne fuͤr ihre Gluͤckſeligkeit?
  • 4) Gedanken einiger Neuern uͤber die Grenze der Vervollkommnung, wenn dieſe der Gluͤckſeligkeit nicht ſchaͤdlich werden ſoll.
  • 5) Die Gluͤckſeligkeit der Menſchen beſtehet nicht ganz in dem unthaͤtigen Genuß ſinnli - cher Vergnuͤgungen.

6) Von791und Entwickelung des Menſchen.

  • 6) Von dem Vergnuͤgen aus der thaͤtigen An - wendung der Kraͤfte. Es iſt am groͤßten, wenn die Kraͤfte in der Maße angewendet werden, wie ſie zugleich am meiſten vervoll - kommnet werden.
  • 7) Von dem Grundgeſetz der angenehmen Ge - fuͤhle.
  • 8) Die Vervollkommnung des Menſchen macht ihn der Gluͤckſeligkeit empfaͤnglicher und ge - waͤhret ſolche ſelbſt.
  • 9) Die geſammte menſchliche Gluͤckſeligkeit kann nicht nach dem Grade innerer Voll - kommenheit geſchaͤtzet werden. Sie iſt zum Theil abhaͤngig von aͤußern Urſachen.
  • 10) Allgemeines Wohl der Menſchheit.
  • 11) Wieferne der Naturtrieb des Menſchen als ein Trieb zur Entwickelung zur Vollkom - menheit und zur Gluͤckſeligkeit anzuſehen iſt.
  • 12) Von dem Gefuͤhl der Vollkommenheiten, ohne Ruͤckſicht auf ihren Gebrauch.

1.

Die Gluͤckſeligkeit des Menſchen entſpringet aus ſeinen angenehmen Gefuͤhlen, und die Gefuͤhle inne - rer Vollkommenheiten ſind angenehm. So ſehr es da - her auffaͤllt, daß die erſtere von den letztern abhaͤngt, ſo iſt dieß doch nicht genug, um beyde fuͤr einerley zu halten, oder auch nur die Groͤße der einen nach der Groͤße der an - dern zu beſtimmen. Es giebt manche Vollkommenheiten, die man dafuͤr anſieht, als blieben ſie bey einzelnen Perſonen ohne Genuß, und die man, unter gewiſſen Vorausſetzun - gen, dafuͤr anzuſehen berechtiget ſeyn wuͤrde. Und auf der andern Seite kann die Einbildung ſo oft, ſo ſtark und ſoD d d 4lan -792XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtlange das wahre Gefuͤhl wirklich vorhandener Realitaͤten erſetzen, daß wenn nicht endlich der Unterſchied zwiſchen Schein und Wahrheit auch ſeine großen Folgen auf das Gefuͤhl haben muͤßte, das ertraͤumte Wohl fuͤr den Menſchen oft einen gleichen Werth haben muͤßte mit dem wahren, und zuweilen einen noch groͤßern. Dann wuͤrden die Menſchheit vervollkommnen, welches am Ende ſo viel iſt, als ihre Vermoͤgen und Kraͤfte erhoͤ - hen, und ſie begluͤcken, ſehr unterſchiedene Dinge ſeyn. Von einer Seite dieſe Beziehung zwiſchen Ver - vollkommnung und Gluͤckſeligkeit betrachtet, iſt ſie leicht erkannt. Aber wenn man den Menſchen und ſein Gluͤck ſo ganz nimmt, wie es wirklich iſt und dem uneinge - nommenen Beobachter ſich zeiget: ſo muß es auch ſo leicht nicht ſeyn, jenes Verhaͤltniß zu beſtimmen, da es ſelbſt in den Syſtemen der Philoſophen verſchiedentlich ange - geben iſt.

2.

Zufriedenheit iſt zur Gluͤckſeligkeit unentbehrlich. Aber wenn es behauptet wird, daß ſie mit ihr einerley ſey, ſo mag dieß vielleicht richtig ſeyn nach dem Begriff, den man alsdenn von ihr zum Grunde leget. Nur da, wo man Beyſpiele anfuͤhrt und Anwendungen davon macht, zeiget ſichs, daß man entweder von dem erſten Begriff abgehe, oder die angefuͤhrten Beyſpiele ſehr un - vollſtaͤndig betrachtet habe. Zufriedenheit, wie auch das Thier ihrer faͤhig iſt, iſt ein Ebenmaß zwiſchen den Begierden und ihrer Befriedigung, worinn kein Mangel empfunden wird. Und dann kann ſie mehr Abweſenheit des Schmerzens, als poſitive Gluͤck - ſeligkeit ſeyn, weil ſie eben ſo wohl aus der Schwaͤche der Begierden entſpringen kann, als aus der Befriedi - gung derſelben. Die unausgebildeten Kinder ſind in dieſem Sinne zufriedener als die vollkommenſten Men - ſchen. Der Neuhollaͤnder iſt es mehr als der Britte,der793und Entwickelung des Menſchen. der ihn beſuchte, und Rouſſeaus Waldmenſch mehr als der polizirte.

Waͤre Unempfindlichkeit und Mangel an regen Trieben ohne Beduͤrfniß und ohne Gefuͤhl derſelben, das Maß der Gluͤckſeligkeit: was verdienen die Freunde der Menſch - heit, die an ihrer Kultur arbeiten, und was hat ſelbſt Herr Rouſſeau verdienet, der durch ſeine Deklama - tion gegen die Kenntniſſe und Entwickelung etwas bey - getragen hat, dieß Uebel zu vergroͤßern. Anders iſt es freylich, wenn man mehr in die Jdee von Zufriedenheit hineinleget, und nicht bloß die Abweſenheit unbefriedigter Neigungen, ſondern die voͤllige Saͤttigung wirkſamer Triebe im Sinne hat, mit der daraus entſpringenden ſtaͤrkern Reizbarkeit gegen alle angenehme Eindruͤcke von außen, die Haller mit den Worten beſchreibet:

Waͤr unſer Herz von Sorgen leer,
So wuͤrde bald ein Wolluſtmeer
Aus jedem Huͤgel in uns fließen.

Jſt aber dieß letztere die Zufriedenheit der Thiere, der Kinder, der Wilden, und aller derer, deren Geiſteskraͤfte in Unwiſſenheit ſchlummern? Bey dem entwickelten Men - ſchen ſind freylich die Augenblicke einer uneingeſchraͤnk - ten Befriedigung ſehr ſelten. Die innere Thaͤtigkeit erzeuget aus ſich ſelbſt neue Begierden, ſo bald die vorher - gehende geſtillet iſt. Je mehr er Vorſtellungen und Ge - danken zuſammenhaͤufet, deſto weniger kann es an un - angenehmen Erinnerungen oder an traurigen Vorher - ſehungen fehlen, die ſich den Gefuͤhlen beymiſchen, und ihnen zum mindeſten einen Anſtrich vom Unangeneh - men geben. Allein deswegen koͤnnen dieſe doch nur un - erhebliche Diſſonanzen ſeyn, die das Gefuͤhl der Har - monie erhoͤhen. Und geſetzt, daß ſie auch mehr ſind, wie ſies nur zu oft ſind: ſo bleibet noch Uebergewicht des Vergnuͤgens genug da, um ſelbſt den Augenblick,D d d 5in794XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtin dem die Reflexion gemacht wird, wie gluͤcklich ein zufriedenes Kind iſt, uns ſelbſt ſchaͤtzbarer zu machen, als die Gluͤckſeligkeit in dem Kinde iſt, die wir bewun - dern. Wir wuͤnſchen die Ruhe und Sorgloſigkeit der Kinder und der Wilden; aber wir wollen unſere maͤnn - lichen Kraͤfte, unſere Kenntniſſe und unſer Leben des Verſtandes behalten. Wir wuͤnſchen nicht wiederum Kinder zu werden, noch zu dem Stande der Wildheit zuruͤck. Und wenn uns ſo ein Wunſch einmal im Ernſte entfaͤhrt, ſo iſt er ein Ausbruch einer Leidenſchaft, in der wir das, was wir wuͤnſchen, nur von einer Seite anſehen. Haller beſang die Gluͤckſeligkeit der Alpen - bewohner. Aber wie groß muͤßte wohl nicht der Theil der ganzen unbegrenzten Zufriedenheit und des Ver - gnuͤgens ſeyn, was dieſe Soͤhne der Natur genießen, wofuͤr der Dichter die Wolluſt, ſie beſungen zu haben, haͤtte vertauſchen ſollen, auch ohne ihren Werth durch Einbildung zu vergroͤßern? Es iſt ein Grundſatz, daß es nicht die Ruhe, die Schmerzenloſigkeit, oder ein Gleichmaß der Kraͤfte und ihrer Wirkungen ſey, ſon - dern die poſitive Groͤße, Staͤrke und Menge der Em - pfindungen, die nach dem Abzuge der unangenehmen Gefuͤhle uͤbrig bleiben, wornach die Groͤße und die Stufen der menſchlichen Wohlfahrt zu ſchaͤtzen ſind.

3.

Wenn das Maß der menſchlichen Vollkom - menheit zugleich das Maß der Gluͤckſeligkeit waͤre, ſo fiele die Frage von ſelbſt weg, ob auch die Menſch - heit zu ſehr vervollkommnet werden koͤnne, um gluͤcklich zu ſeyn? Es iſt behauptet worden,*)Rouſſeau diſcours ſur l’origine de l’inegalité &c. Wie - land Beytraͤge zur geheimen Geſchichte des Herzens. ein gewiſſer Grad der Entwickelung ſey der Menſchheit nuͤtzlich, aber esgebe795und Entwickelung des Menſchen. gebe auch eine Grenze, wo jene ſtehen bleiben muͤſſe, wenn ſie dieſe nicht mehr ungluͤcklich als gluͤcklich ma - chen ſolle. Dieß iſt eine Marime, die, ſo unbeſtimmt hingeworfen, ſich wohl erklaͤren laͤßt, die aber, in ei - nem andern Verſtande genommen, auf ſehr falſche Schluͤſſe leiten kann. Von welcher Entwickelung des Menſchen iſt die Rede? Von der Entwickelung des Verſtandes, und der Aufklaͤrung ſeiner Kenntniſſe? Von der Verfeinerung des Gefuͤhls und der Empfind - ſamkeit? Oder gar nur von einer Verfeinerung der aͤuſ - ſerlichen Sinnlichkeit und des geſellſchaftlichen Zuſtan - des, der Sitten, der Lebensart, der Kleidung, Nah - rung? So bald von der Entwickelung an Einer Seite allein die Rede iſt, ſo muß man eingeſtehen, wie oben erinnert iſt, daß ſolche ihre Grenze habe, uͤber welche hinaus ſie ſchaͤdlich wird, wenn ſie nicht zugleich an den uͤbrigen fortſchreittet. Wird ſie aber ſchaͤdlich, ſo muß ſie auch, es ſey im gleichen oder ungleichen Verhaͤltniſ - ſe, ungluͤcklicher machen.

Will man ſo viel ſagen, es gebe eine natuͤrliche Grenze der Vervollkommnung in dem Geſchlechte, wie in den Jndividuen, die eben darum von dem Urhe - ber der Natur geſetzt ſey, weil ein groͤßeres Maß dem Menſchen ſchaͤdlich werde, ſo iſt hiebey nichts zu erin - nern. Jn dem Menſchen giebt es ein Aeußerſtes, und weiter wird er nicht entwickelt. Vielleicht konnte er nicht weiter gebracht werden als Menſch. Vielleicht war es nicht gut ihn weiter zu treiben, um ihm auch Zeit zu laſſen, zu genießen. Vielleicht mußte der Menſch irgendwo ſtehen bleiben, damit die Seele in ihm weiter komme, oder die erlangte Bildung tiefer ſich einpraͤgen koͤnne. Wie ihm ſey, ſo iſt dieß Ziel uns doch nirgend andersher bekannt, als aus der Em - pfindung, daß wirs nicht uͤberſchreiten koͤnnen. So lange daher noch eine Verbeſſerung moͤglich iſt, ſo langemuß796XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtmuß auch nach ihr geſtrebet werden. Es giebt ein na - tuͤrliches Ziel des Lebens; deßwegen wir doch nicht zu fuͤrchten haben, ſolches zu uͤberſchreiten.

4.

Nach den Grundſaͤtzen des Hr. Rouſſeau wuͤrde die Entwickelung, wobey der Menſch am gluͤcklichſten waͤre, wohl aufhoͤren muͤſſen, wenn die thieriſchen Kraͤfte und die Sinnlichkeit ſo weit ſind, daß er, ſich zu erhalten, als Waldbewohner leben und ſein Geſchlecht fortpflanzen kann. So niedrig hat Hr. Wieland die Grenze der gluͤcklichſten Ausbildung nicht geſetzt. Der Menſch kann und muß mehr ſeyn, als ein gluͤckliches Thier. Aber das meinet der letztgenannte vortrefliche Schriftſteller, es gebe doch ein gewiſſes Maß der in - nern Entwickelung, wenn dieſe ſo ſeyn ſoll, wie ſie zu der hoͤchſten Gluͤckſeligkeit, der die menſchliche Natur faͤhig iſt, am beſten paßt. Die hoͤchſte Gluͤckſelig - keit, zu der alle Triebe der Natur, alle Beſtrebungen, und auch die Wuͤnſche des Herzens, zuſammenlaufen, beſtehe in dem reinen unthaͤtigen Genuß der ſinnli - chen Vergnuͤgungen, den weder Sorgen noch Schmer - zen unterbrechen. Dieſe Jdee liege in dem Menſchen, und ſey tief in der Einrichtung ſeiner Natur gegruͤndet. Was ein entſcheidender Beweis davon ſey, ſo duͤrfe man ſich nur erinnern, daß die aufgeklaͤrteſten Voͤlker ihre elyſeiſche Felder, ihre Paradieſe und ihre Himmel als einen ſolchen Zuſtand vorgebildet haben.

Jſt es ſo, iſt Sybarit zu ſeyn die hoͤchſte Gluͤckſe - ligkeit des Menſchen: ſo wird es auch moͤglich ſeyn, daß er allzu weiſe und allzu tugendhaft werde, um jener theilhaft zu werden. Darum darf er eben nicht der rohe Sohn der Natur bleiben. Das Wohlſeyn im Koͤrper muß beſorget, die Gegenſtaͤnde des Vergnuͤ - gens herbeygeſchaffet und der Sinn zum Genuß deſſel -ben797und Entwickelung des Menſchen. ben geſchaͤrfet werden. Dieß erfodert Kenntniſſe, Witz, Vernunft und Thaͤtigkeit. Und deſto mehr, je dauer - hafter die Seligkeit gemacht werden ſoll. Aber mehr Kultur, als dazu erfodert wird, iſt unnoͤthig, iſt uͤber - fluͤßig und wird ſchaͤdlich. Mehr zu ſuchen, und unbe - grenzet an der Vervollkommnung der Seelenkraͤfte zu arbeiten, um etwan noch kluͤger und rechtſchaffener zu werden, koͤnnte nicht beſſer ſeyn, als die Thorheit des alten Geizhalſes, der ſeine Kraͤfte verzehret um Schaͤtze zu haͤufen, die er nach aller Wahrſcheinlichkeit nie genießen wird.

5.

Allein es iſt nicht ſo. Jenes iſt nicht der Begriff von der Gluͤckſeligkeit, der im Herzen liegt, und auf den die Natur leitet. Jch will nichts ſagen von den Begriffen, die von den Philoſophen gelehrt ſind, die man hier vielleicht entweder als Fiktionen, die nicht aus der Natur, oder als ſolche, die nur aus der verkuͤnſtel - ten und mißgebildeten Natur abſtrahirt ſind, anſehen moͤchte. Man ſehe bloß auf die Aeußerungen und Wir - kungen der Naturtriebe bey dem gemeinen Haufen, in dem Ganzen der Menſchheit. Sollte wohl unthaͤtiger Genuß ſinnlicher Vergnuͤgungen das Ziel, und zwar das von der Natur geſteckte Ziel aller, ſeyn? Es kann es nicht ſeyn bey denen, die mit einer vorzuͤglichen An - lage zu Geiſtesthaͤtigkeiten oder zu Geſchaͤften verſehen ſind. Dieſe wuͤrden unbefriediget und ungeſaͤttiget blei - ben bey allem ſinnlichen Genuß, der ſo wenig ihre ganze Seligkeit ausmachen koͤnnte, als die platoniſche Speku - lation oder die ſtoiſche Aktivitaͤt dem Epikurer anpaſſet. Man kann etwas einraͤumen. Laß die Beobachtungen gezaͤhlet werden, und es dann ſeyn, daß neunzigen von hundert die Verfaſſung des Agathons in dem Garten der Danae, oder die Lebensart des Sir Mammon Epi -kurs798XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtkurs bey dem Johnſon, den Hr. Wieland anfuͤhrt, Himmel und Paradies zu ſeyn ſcheinen: ſo weiß der Menſch oft ſelbſt nicht, was er will und wuͤnſcht; und dennoch wuͤrden noch immer zehn uͤbrig bleiben, die ei - nen ſolchen Zuſtand auf immer unausſtehlich finden wuͤrden. Gegen die ſogenannten Dokumente aus der Geſchichte des Herzens laͤßt ſich manches erinnern. Dem erſchlafften Einwohner heißer Laͤnder gefaͤllt ein Paradies, das nichts als Sinnenwolluſt enthaͤlt, in aller Abſicht. Der Aſiater von hoͤherer Einbildungskraft ſetzet noch Beſchaͤfftigungen fuͤr die Phantaſie hinzu. Der Grie - che dichtete, dachte und raiſonnirte in ſeinem Elyſium. Der kriegeriſche Nordlaͤnder gieng im Vallhall auf die Jagd, und ſetzte den hieſigen Krieg mit Menſchen dor - ten mit den Thieren fort. Der Himmel iſt nicht bey allen Voͤlkern derſelbige, nur Schmerz und Kummer, und Mißvergnuͤgen aus Widerſtand und Einſchraͤn - kung, ſind uͤberall daraus verbannet; nicht ſo die ge - miſchten Empfindungen, nicht die Freudenthraͤnen, nicht einmal das Mitleid.

Die Beobachtung des Horaz*)Otium diuos rogat in patenti Prenſus Aegæo, Otium bello furioſa Thrace, Otium Medi pharetra decori. ad Grosphum. ()Ille, grauem duro terram qui vertit aratro, Perfidus hic caupo, nautæque, per omne Audaces mare qui currunt: hac mente laborem Seſe ferre, ſenes ut in otia tuta recedant, Aiunt. Serm. lib. I. () uͤber das allgemei - ne Beſtreben der Menſchen nach Ruhe und Muße iſt nicht unrichtig. Aber dieſe Muße iſt nicht Unthaͤtig - keit, nicht gaͤnzliche Ruhe, ſondern der leichte, ungehin - derte, ſchmerzenloſe Gebrauch der Kraͤfte. Die Men - ſchen wollen leben und des Lebens genießen; ſich beſchaͤf -tigen799und Entwickelung des Menſchen. tigen koͤnnen ohne Muͤhe, wenn die Kraͤfte munter ſind; und ruhen koͤnnen, wenn ſie muͤde ſind. Es iſt nicht zu verwundern, daß ſie waͤhrend der Anſtrengung und Unruhe glauben, alles was ſie wuͤnſchen, werde erhal - ten ſeyn, ſo bald ſie Ruhe haben und die Mittel beſi - tzen ohne Sorgen zu leben. Daß ſie Leben und thaͤtige Kraͤfte behalten, ſetzen ſie voraus, oder denken vielmehr nicht daran, daß ſie ſtumpf werden, und alsdenn, ob - gleich von Schmerzen frey, dennoch minder gluͤcklich ſeyn koͤnnen, als vorher. Die Empfindung der gegen - waͤrtigen Noth haͤlt den Gedanken ab, daß ihnen dann noch etwas fehlen koͤnne, wenn dieſe nur gehoben ſey, wie es uns uͤberhaupt geht, wenn wir mit Eifer nach ei - nem Ziele trachten. Wie oft haben ſich nicht auf eine aͤhnliche Art die Regenten verrechnet, die ſich ihrer Re - gierung entſagt, und nachher, von Langeweile gequaͤlet, mit Sehnſucht auf den verlaßnen Thron zuruͤckgeblickt. Warum denn? Die Mittel zu den Vergnuͤgungen der aͤußern Sinne, ſo viel ſie derſelben faͤhig waren, behiel - ten ſie in ihren Haͤnden. Aber es entſtand eine Leere in ihrem Herzen, und in ihrem Willen. Sie konnten nicht mehr in ſo großen Handlungen wirken, nicht mehr den Trieben und Neigungen nachgehen, nicht mehr in ſol - cher Staͤrke ſich zeigen, und ihre noch regen Kraͤfte ge - nießen wie vorher. Nichts iſt ein auffallenderer Beweis, daß der geſunde und muntere Menſch mit ſeinen Ver - moͤgen wirken und durch Thaͤtigkeit unterhalten werden muͤſſe, um gluͤcklich zu ſeyn, als die verſchiedenen Arten von Zeitvertreib, Spielen, Geſellſchaften, die man er - funden hat, um ſich freywillig gewiſſe Angelegenheiten zu machen, die vor der Langeweile ſchuͤtzen und weder durch eine zu heftige Anſtrengung, noch durch die Furcht vor Mangel, oder durch den Schmerz uͤber fehlgeſchla - gene Erwartungen, beſchwerlich ſind.

6. Wenn800XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

6.

Wenn man den Menſchen durch eine Abſtraktion nur blos von der Seite betrachtet, ſo fern er ein thaͤti - ges Weſen iſt, ſo wird man bald finden, daß ihn vervollkommnen eben ſo viel iſt, als ihn gluͤckſelig ma - chen; oder eigentlich, daß nur dadurch der Genuß ſeiner Thaͤtigkeit, oder ſein Vergnuͤgen aus der - ſelben, am groͤßten wird, wenn er ſeine Kraͤfte in der Maße anwendet, in der ſie am meiſten vervollkomm - net werden. So ein blos thaͤtiges Weſen iſt der Menſch zwar nicht. Er hat auch ſeine leidentlichen Ver - aͤnderungen, und iſt einer Gluͤckſeligkeit aus den letztern faͤhig, wie die aus den Eindruͤcken auf die Sinne iſt. Aber dennoch verdienet dieß als ein Grundſatz bemerkt zu werden, daß er, von einer Seite genommen, nicht gluͤckſeliger werden kann, als nach dem Maße, wie er vollkommner wird.

Der Genuß einer Thaͤtigkeit beſteht in einer ange - nehmen Empfindung derſelben. Wir empfinden nur leidentliche Veraͤnderungen, welche die Folgen von den vorhergegangenen Beſtrebungen ſind. *)Zweeter Berſuch. II. 5.Daher die bekannte Erfahrung, acti labores iucundi. Nicht ſo wohl die Arbeit, indem wir thaͤtig ſind, als ihre Nachempfindung und die Wiedervorſtellung von dem, was gethan iſt, bringt das angenehme Empfindniß her - vor, welches ein unthaͤtiger Genuß iſt. Die Arbeit fuͤr ſich allein iſt oft voller Muͤhe und voll Verdruß.

Dieß iſt zwar richtig. Allein es folget hieraus doch hoͤchſtens nicht mehr, als daß uͤberhaupt die Thaͤtigkeit dem Genuß der Thaͤtigkeit hinderlich werden koͤnne. Nur muß ſie es nicht allemal nothwendig ſeyn. Zuerſt ſind die Nachempfindungen unſerer Aktionen mit den Aktio -nen801und Entwickelung des Menſchen. nen ſelbſt innigſt vereiniget, ſo daß die Thaͤtigkeit von dem Gefuͤhle derſelben unzertrennlich iſt. Die Nach - empfindung faͤllt bald weg, wenn die Thaͤtigkeit ſelbſt auf hoͤret.

Was ferner den Genuß vergangener Thaͤtigkeiten in der Wiedervorſtellung betrifft, ſo iſt ſolcher al - lerdings oft groͤßer, als das Vergnuͤgen waͤhrend der Aktion ſelbſt war, weil dieſe Vorſtellung die vorherigen Empfindungen, mehr vereiniget und reiner von den be - gleitenden unangenehmen Empfindniſſen abgeſondert, obgleich jede derſelben einzeln genommen nur im ſchwaͤ - chern Grade, enthaͤlt, auch einige neue angenehme zu ihnen hinzuſetzet. *)Zweeter Verſuch VII. Daher wuͤrde eine ununterbro - chen fortgeſetzte Thaͤtigkeit, die keine Ruhepunkte ver - ſtattete, in denen der Menſch auf das Verrichtete zu - ruͤckſehen koͤnnte, den Genuß von ihr ſchwaͤchen und ver - draͤngen koͤnnen. Allein man wird doch finden, daß nur alsdenn der geſammte Genuß an Umfang, an Staͤrke und Dauerhaftigkeit am groͤßten ſey, wenn jene Ruhe - punkte da vorkommen, wo ſie den wirkſamen Kraͤften am angemeſſenſten ſind, und wo dieſe durch ſie eben am meiſten geſtaͤrket werden. Das Kind, welches gehen lernet, mag, wenn es zwey oder drey Schritte gethan hat, ſtill ſtehen, und laͤchelnd ſich umſehen, wie weit es gekommen ſey; dann wieder ein paar Schritte thun, und ſich von neuem umſehen und freuen. Fuͤr den ſtarken und muntern Mann hingegen iſt dieß nicht. Dieſer legt ſeinen langen Weg zuruͤck, und dann erneuert er allen - falls die Vorſtellung des Ganzen auf einmal. Sollte in der Vorſtellung des letztern, die voͤlliger und ſtaͤrker iſt, und in ſeinen Nachempfindungen von den einzelnen Thei - len waͤhrend der Aktion zuſammen nicht mehr Genuß enthalten ſeyn, als in den zertheilten und ſchwaͤchernII Theil. E e eEm -802XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtEmpfindniſſen, Nachempfindungen und Vorſtellungen des Kindes? und uͤberhaupt das Vergnuͤgen nicht groͤſ - ſer ſeyn, wo mehr anhaltende Thaͤtigkeit iſt, als wo ſie oͤfterer ohne Noth unterbrochen wird? vorausgeſetzt daß die Phantaſie nichts hinzu dichte und dadurch eitle Em - pfindniſſe verurſache. So lange der innere Trieb zur Wirkſamkeit fortdauert, wuͤrden die dazwiſchen fallen - den Empfindniſſe nur unangenehm ſeyn. Nur wenn die Kraft anfaͤngt matter zu werden, und die Fortſetzung der Aktion widrig wird, ſo iſt die Unterbrechung will - kommen, die der Seele Zeit laͤßt zuruͤckzuſehen und zu genießen. Jm Alter muß das beſte Vergnuͤgen aus dem Andenken verrichteter Thaten geſchoͤpfet werden. Aber ſo lange die Kraͤfte innerlich noch ſelbſtthaͤtig ſind, liegt in den begleitenden einzelnen Gefuͤhlen der Wirkſamkeit eine Luſt, die in Vergleichung mit derjenigen, welche die Erinnerung allein gewaͤhret, ſich ſo verhaͤlt, wie eine Em - pfindung zu einer Einbildung. Es wird auch durch das Anhalten der Thaͤtigkeit der Genuß aus der Wieder - vorſtellung nicht aufgehoben, ſondern nur etwas ausge - ſetzet, um in der Folge deſto ſtaͤrker zu werden.

Nun iſt aber eine ſolche Anwendung der Kraͤfte eben - dieſelbige, wodurch dieſe am beſten entwickelt werden. Sobald die Thaͤtigkeit ſchwaͤcher oder ſtaͤrker iſt, als es mit der dermaligen Beſchaffenheit der Kraft uͤberein - ſtimmt, uͤbet ſich die letztere nicht in der gehoͤrigen Ma - ße. *)Oben erſter Abſchnitt II. 4. 7.Es iſt zwar zuweilen dienlich, daß die Anſtren - gung bis zur Ermuͤdung und etwas uͤber die Grenze hinaus gehe, wo ſie anfaͤngt unangenehm zu werden, wenn man naͤmlich zum Zweck hat, daß die Kraft ge - ſtaͤrket werden ſoll. Aber dennoch giebt es auch hiebey eine Grenze, die wiederum dieſelbige iſt, als ſie da iſt, wo man auf den groͤßten Genuß Ruͤckſicht nimmt. Die erſtern kleinern Unbehaglichkeiten, die ſich zeigen, wenneine803und Entwickelung des Menſchen. eine Thaͤtigkeit anfaͤngt widrig zu werden, ſind nichts mehr als die Diſſonanzen in der Muſik, welche das Ge - fuͤhl der Harmonie erhoͤhen. Es gewinnt alſo noch das Vergnuͤgen, wie die Kraft ſelbſt, wenn die Aktion fort - geſetzt wird. Dagegen ſobald die Unluſt und der Ver - druß an ihr uͤberwiegend wird, ſo muß ſie aufhoͤren, wenn ſie das Vermoͤgen ſelbſt nicht mehr ſchwaͤchen als ſtaͤrken ſoll.

Wenn die Arbeit muͤhſelig und laͤſtig wird, ſo iſt es gewiß nicht allemal die Thaͤtigkeit ſelbſt, die dieß wird. Das Beduͤrfniß, welches man durch die Arbeit abwen - den will, die Furcht die Abſicht zu verfehlen, die zu gro - ße Sehnſucht nach ihr, der Zwang, dann auch die aͤuſ - ſern Hinderniſſe, die nicht zu uͤberwinden ſind und ein Gefuͤhl von Schwaͤche verurſachen, die Ueberſpannung der Kraͤfte und andere begleitende aͤußere und innere Empfindniſſe, die mehr von den Vorſtellungen der Ge - genſtaͤnde, mit denen man zu thun hat, als von dem Ge - fuͤhl der Aktion ſelbſt abhangen: dieß ſind die Urſachen, welche die Arbeit zum Uebel machen, die ohne ſie Luſt und Vergnuͤgen ſeyn wuͤrde, und deſto mehr dieß letzte - re ſeyn wuͤrde, je mehr ſie in der Maße vorgenommen wird, wie ſie zur Vervollkommnung der Kraͤfte gereichet.

Eine Einwendung bliebe vielleicht uͤbrig. Jede Thaͤ - tigkeit wird der Seele anfangs durch das Gefuͤhl eines Beduͤrfniſſes, welches widrig iſt, es entſtehe aus einer innern oder aͤußern zu ſtarken Spannung, abgenoͤthiget. Daraus moͤchte man folgern, jene ſey ihrer Natur nach jedesmal unangenehm, ſo daß nur die leidentlichen Veraͤnderungen allein fuͤr ſich angenehme Empfindniſſe gewaͤhren koͤnnten. Man kann antworten. Erſtlich iſt es nur im Anfang noͤthig, daß die natuͤrliche Traͤgheit durch ein widriges Gefuͤhl erwecket werde; nicht mehr ſo, wenn einmal das Angenehme in der Thaͤtigkeit und der Aus - fuͤhrung ſelbſt geſchmecket iſt, und man dieſe fuͤr ſichE e e 2ſelbſt804XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtſelbſt lieb gewonnen hat. *)Zehnter Verſuch. V. 7.Und dann zweytens, wenn es auch immer ſo waͤre, daß Thaͤtigkeit unmittelbar eine Folge einer unangenehmen Empfindung ſey: ſo iſt nun einmal die Natur eines Menſchen ſo, daß ohne thaͤtigen Gebrauch ſeiner Kraͤfte der allergroͤßte Theil ſeiner angenehmen Gefuͤhle, nicht nur derer, die unmittelbar auf Thaͤtigkeit folgen, ſondern auch der uͤbrigen, wegfal - len muͤßte. Die Thaͤtigkeit wuͤrde alſo angenehm ſeyn, wie alles iſt, was Schmerzen wegnimmt; und dieß im - mer in der Maße, wie die Kraft ſelbſt durch ihre An - wendung entweder geſtaͤrket oder erhalten wird.

7.

Die beſten Philoſophen haben geſagt, es ſey das Gefuͤhl der Vollkommenheit, oder das Gefuͤhl ungehinderter Thaͤtigkeit, die Quelle alles Vergnuͤ - gens. Hiebey iſt aber jede Unterhaltung der Seele, auch wenn ſie ſinnlich angenehme Empfindungen hat, als eine thaͤtige Beſchaͤfftigung von ihr im Gefuͤhl an - geſehen, oder man hat auch jede leidentliche Modifi - kation nach den Begriffen, worauf die Analyſis der Ver - moͤgen fuͤhret, in eine wirkſame Anwendung der Grundkraft aufgeloͤſet, ſo daß man den gemeinen Un - terſchied zwiſchen thaͤtigen und leidentlichen Veraͤn - derungen beyſeite geſetzet. Jch wuͤrde dieſe letztern lieber beybehalten. Denn wenn auch das Gefuͤhl von jeder Veraͤnderung keine wahre Aktion iſt: ſo ſind doch die uͤbrigen unterſcheidungsweiſe ſogenannten Aktionen des Vorſtellens, des Denkens, des Wollens und des Bewe - gens noch weiter hervorgehende Aktionen, und alſo Thaͤ - tigkeiten in einem vollern Sinn, als es das bloße Fuͤh - len und Empfinden iſt. **)Zweeter Verſuch II. 4. VIII. Eilfter Verſuch III. Zwoͤlfter Verſuch X. 4.Aber geſetzt auch, daß dieſer Unterſchied aufgegeben werde: ſo ſtoͤßt man doch bey denmenſch -805und Entwickelung des Menſchen. menſchlichen Vergnuͤgungen auf einen andern, der eben dieſelbigen Folgen hat. Einige Vergnuͤgen naͤmlich er - fodern durchaus die Einwirkung oder das Zuthun aͤuße - rer Weſen, und hangen von den Beziehungen des Men - ſchen auf aͤußere Dinge ab. Andere verſchaffet er ſich ſelbſt aus ſeiner innern Quelle, durch ſeine eigene Thaͤ - tigkeit. Dieß habe ich nur erinnert um Mißverſtaͤndniſ - ſen vorzubeugen. Denn ſonſten mag immer jede Unter - haltung der Seele und ihrer Kraͤfte eine Thaͤtigkeit ge - nennet werden.

Daruͤber ſind die Philoſophen unter ſich und mit dem gemeinen Verſtande einig, daß die Gluͤckſeligkeit des Menſchen aus der Summe ſeiner angenehmen Empfin - dungen entſpringe, die alsdann aber nur erſt ſo heißen kann, wenn ſie die Summe der entgegenſtehenden uͤber - wieget; und die als Gluͤckſeligkeit nur nach der Groͤße dieſes Uebergewichts geſchaͤtzet werden muß. Aber uͤber zwey Punkte gehen ſie von einander ab. Der erſtere da - von gehoͤret zur Seelenlehre: Was iſt die eigentliche Quelle des Vergnuͤgens? oder was iſt in jedem ange - nehmen Gefuͤhl die angenehm ruͤhrende, die ver - gnuͤgende Kraft, die Kauſalitaͤt des Vergnuͤgens, nach der Sprache der Alten? Der zweete gehoͤret zur Moral: Wie groß iſt der Antheil an dem geſamm - ten Wohl, den die verſchiedenen Arten der angeneh - men Empfindungen, welche durch die Sinne, die Ein - dildungskraft, den Verſtand und die aͤußere Thaͤtig - keit erhalten werden, dazu hergeben? Wie wichtig ſind dieſe Beſtandtheile, gegen einander verglichen? Jede Empfindung hat ihre innere Groͤße, ihre Laͤnge, Breite, Staͤrke, Dauer; jede befoͤrdert andere aͤhnliche, oder hin - dert ſie. Wie hoch ſoll jedwede Gattung geſchaͤtzet wer - den? Hier iſt der Maßſtab, den man in den verſchiede - nen Syſtemen gebraucht hat, ſehr verſchieden, welches zum Theil ſchon davon abhaͤngt, wie man die erſtereE e e 3pſycho -806XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtpſychologiſche Frage, uͤber die Urſache des Vergnuͤgens, beantwortet. Anders ſchaͤtzte ſie der Stoiker, anders der Epikuraͤer, zwiſchen welchen die Peripatetiker und nach ihnen Cicero das Mittel fand. *)De finibus bonorum et malorum. Sollte man nicht darinn ſchon einen Fehler begangen haben, daß man daſſelbige Verhaͤltniß bey allen Menſchen ohne Ausnahme als das ſchicklichſte feſtſetzen wollen? Bey den verſchiedenen Gattungen empfindender Weſen muß es doch verſchieden ſeyn. Denn fuͤr die Thierſeele gehoͤ - ret das Vergnuͤgen des Denkens nicht. Sollte nicht auch, obgleich in einem mindern Grade, darauf Ruͤckſicht bey den Menſchen genommen werden muͤſſen, ſo viel naͤmlich in der zufaͤlligen Verſchiedenheit ihrer individuellen Natu - ren gegruͤndet iſt? Damit faͤllt es nicht weg, daß es nicht eine allgemeine Moral gebe. Die weſentliche Aehnlich - keit ihrer Naturen giebt auch ihrer Gluͤckſeligkeit dieſel - bigen weſentlichen Beſchaffenheiten, und hat die allge - meine Aehnlichkeit ihrer Pflichten zur Folge.

Was aber die allgemeine Quelle des Vergnuͤgens und der Gluͤckſeligkeit betrifft, ſo will ich nur blos einige Anmerkungen herſetzen, die hierzu gehoͤren, ohne mich weder auf eine naͤhere Unterſuchung der Sache ſelbſt, noch auf eine Pruͤfung der verſchiedenen Gedanken der Philoſophen daruͤber, einzulaſſen. Jene ſollen nur allein die Abſicht haben, den zu einſeitigen Begriffen vorzu - beugen, zu welchen man auch hier, bey dem allgemei - nen Princip des Vergnuͤgens, das den gemeinſchaftli - chen Charakter aller angenehmen Gefuͤhle angeben ſoll, verleitet wird, ſo bald man nicht auf die ganze Vielſei - tigkeit unſerer Natur ſiehet.

1) Erſtlich hat jedes Gefuͤhl nur abſolute gegenwaͤr - tige Beſchaffenheiten der Seele zum Objekt, und noch naͤhere Veraͤnderungen unſers Zuſtandes. Denn die bleibenden Beſchaffenheiten, die Kraͤfte und Ver -moͤgen807und Entwickelung des Menſchen. moͤgen muͤſſen thaͤtig ſeyn, wenn man ſie empfinden ſoll. Sie werden nur empfunden, oder wenigſtens mit Bewußtſeyn nur empfunden, aus den Folgen und Wirkungen, die von ihnen in den Organen und von die - ſen zuruͤck in der Seele entſtehen Die ruhenden Ver - moͤgen, die wir in uns fuͤhlen, ohne daß wir ſie noch als thaͤtig empfinden, fuͤhlen wir dennoch in den erſten An - wandlungen zur Thaͤtigkeit, oder in ihren Elementarak - tionen. Jede Fortdauer eines Zuſtandes, inſofern ſol - che ein Objekt unſers Gefuͤhls ſeyn ſoll, enthaͤlt eine Reihe von Thaͤtigkeiten und Wirkungen, die vor un - ſerm Gefuͤhl wie ein Strom hinfließen, deren einzelne Theile auf einander folgen, entſtehen und vergehen. *)Zweeter Verſuch II. 4. 5. Zwoͤlfter Verſuch II. 2. 3. XII. 3.Aus dieſen Erfahrungsſaͤtzen geht von ſelbſt die Folge heraus, daß angenehme Gefuͤhle Gefuͤhle von Ver - aͤnderungen ſind. Auf dieſen Begriff laſſen ſich alle Objekte des Gefuͤhls bringen, wenn man gleich es oft bequemer finden kann, die bleibenden Beſchaf - fenheiten und die wirklichen Abaͤnderungen als verſchiedene Gegenſtaͤnde deſſelben aufzuzaͤhlen.

2) Es hat ein feiner und ſcharfſinniger Philoſoph **) bemerket, daß ſo wohl das ſtoiſche Princip, nach wel - chem alles Vergnuͤgen in Gefuͤhlen unſerer geiſtigen Vollkommenheiten beſtehen oder doch aus ſolchen ent - ſpringen ſoll, als auch das entgegengeſetzte epikuraͤiſche, welches alle angenehme Gefuͤhle fuͤr Gefuͤhle von dem Wohlſeyn der Organiſation erklaͤrt, oder daraus ablei - tet, die wahre Quelle derſelben nur von einer Seite an - gebe. Er nennet dieſe Grundſaͤtze ſtoiſche und epiku - raͤiſche, nicht in dem Sinne, als wenn ſie in dieſer Beſtimmtheit Lehrſaͤtze der Stoiker und Epikuraͤer ge -E e e 4weſen*)Neue Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und Kuͤnſte; dreyzehnter Band, Erſtes Stuͤck.808XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtweſen waͤren. Es wuͤrde wenigſtens ein verfeinerter Stoi - cismus, oder Epikuraͤismus heißen muͤſſen, wenn ſie in dieſer Bedeutung zum Grunde geleget wuͤrden. Der Menſch iſt Menſch, nicht bloß Seele, noch bloß Koͤr - per. Woraus folget, daß, ſo wie man mit den Voll - kommenheiten der Seele die Vollkommenheiten der Organiſation zuſammennehmen muß, um die ganze Vollkommenheit des Menſchen zu haben, ſo muß man auch ſowohl die Gefuͤhle aus dem Wohlſtande des Koͤr - pers anfuͤhren, als die aus dem Wohlſtande der Seele, wenn man nicht Eine, ſondern alle erſten Quellen der angenehmern Empfindniſſe haben will.

Jndeſſen hat die Aufloͤſung einiger Arten von ſinn - lichen Vergnuͤgungen ſo viel außer Zweifel geſetzt, daß mit den angenehmen Gefuͤhlen aus der Organiſation eine gewiſſe Thaͤtigkeit, oder wenn ſie nicht Thaͤtigkeit heiſ - ſen ſoll, eine volle, uͤbereinſtimmende Unterhaltung der Seele, von der Seite ihres Gefuͤhls, verbunden ſey. Bey den Ergoͤtzungen des Gehoͤrs und des Geſichts iſt in den Gegenſtaͤnden Mannichfaltigkeit und Einheit, und in dem Sinne der Seele mannichfaltige und leichte Beſchaͤff - tigung. Nach der Analogie kann man annehmen, daß auch in den uͤbrigen angenehmen Gefuͤhlen aus dem Koͤr - per eine entſprechende leichte und mannichfaltige Unter - haltung der Seele vorhanden ſey. Wir wollen immer eingeſtehen, daß gewiſſe Modifikationen des Koͤrpers unmittelbar angenehm ſind; naͤmlich daß das Gefuͤhl davon fuͤr ſich allein ein angenehmes Gefuͤhl ſey, ohne daß andere Gefuͤhle von Seelenvollkommenheiten hinzukommen, und es dazu machen muͤßten. Aber deßwegen faͤllt die Wahrſcheinlichkeit nicht weg, daß ſolche Gefuͤhle in der Seele ſelbſt eine Mannichfaltig - keit und Einheit enthalten, welche fuͤr ihre fuͤhlende Kraft eben das iſt, was die gefuͤhlten Bewegungen in dem Koͤr - per in Hinſicht auf die Organiſation ſind, naͤmlich Fol -gen809und Entwickelung des Menſchen. gen und Wirkungen ihres Wohlbefindens, und Beweiſe davon. Mag eine angenehme Empfindung der Voll - kommenheit der Seele im Ganzen ſchaͤdlich, und eine Folge von Schwaͤche und Unvollkommenheit ſeyn: ſo iſt ſie ihr es doch nicht in Hinſicht ihrer fuͤhlenden Kraft, noch eine Wirkung von ihrer Schwaͤche an dieſer Seite. Es verhaͤlt ſich mit dem Wohlſtande der Organiſation auf dieſelbige Weiſe. Es laͤßt ſich alſo das Gefuͤhl aus dem Wohlſeyn des Koͤrpers, auf die Seele zuruͤckge - fuͤhrt, anſehen als ein Gefuͤhl aus ihrem eigenen Wohl - ſeyn, oder als ein Gefuͤhl eines Zuſtandes in ihr, welcher eine Folge von der Unterhaltung der Gefuͤhlskraft iſt.

3) Kommt man nun zu der Frage, was das Un - terſcheidungsmerkmal der angenehmen und unange - nehmen Veraͤnderungen, oder vielmehr der Gefuͤhle von dieſen uͤberhaupt ſey: ſo iſt es nicht ſchwer, die verſchie - denen Begriffe der Philoſophen davon mit einander zu vereinigen, und mit dem einen oder dem andern Princip zur Noth auszukommen, wenn die Beobachtungen er - klaͤrt werden ſollen. Aber auf der andern Seite iſt es nicht nur ſchwer, ſondern vielleicht unmoͤglich, ein ſol - ches Princip anzugeben, das nicht etwas zu einſeitig ſey, und dem nicht einige Unzulaͤnglichkeit bei der An - wendung auf alle Arten der ſinnlichen, intellektuellen und moraliſchen Empfindungen vorgeworfen werden koͤnnte, auch ohne nach Art der ſeichten Zaͤnker nur ſchikaniren zu wollen. Vielfache leichte Unterhaltung iſt angenehm. Leichte Thaͤtigkeit der Kraͤfte, vielbefaſſen - de Beſchaͤftigung des Sinnes, giebt Vergnuͤgen. Je voller, mannichfaltiger, ausgedehnter, intenſiv ſtaͤrker die Modifikation iſt, die auf einmal gefuͤhlet wird, deſto groͤßer iſt, ſo zu ſagen, das gegenwaͤrtige Seyn der Seele, die, indem ſie ihre Veraͤnderungen fuͤhlt, ihr Daſeyn, oder ſich ſelbſt, fuͤhlt. Unthaͤtigkeit, Mangel an fuͤhlbaren Veraͤnderungen, giebt kein Gefuͤhl, iſt eineE e e 5Null.810XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtNull. Erſchwerte Thaͤtigkeit, Gefuͤhl des Widerſtan - des und der Schwaͤche, Zertheilung, Entziehung der Veraͤnderung, Verwirrung, geht uͤberhaupt dahin, das gleichzeitige Gefuͤhl zu mindern, zu ſchwaͤchen. Es iſt unangenehm. Man kann ſich mit andern ſcharfſinni - gen Philoſophen vorſtellen, der Schmerz entſtehe aus zu großer Spannung. Eingeſchloſſene Wirkſamkeit verurſacht Unruhe. Sie iſt Spannung von innen. Zu ſtarke Spannung von außen erweckt den eigent - lich ſogenannten Schmerz. Die Nachlaſſung, oder Entſpannung, dagegen ſey angenehm in der Seele, wie in dem Koͤrper. Sie entſtehet, wo die Kraft in Thaͤtigkeit ſich aͤußern kann, oder wo ſie von außen zur Ruhe kommt. Dieſe Jdee iſt fruchtbar. Es kommt auch darauf an, welche Vorſtellung von der Grundkraft man vorausſetzet. Hr. Cochius*)Preisſchrift uͤber die Neigungen. ſahe ſie fuͤr eine Ausdehnungskraft an, die ſich zu erweitern beſtrebet, wornach alles, was mit dieſem Triebe uͤber - einſtimmt, angenehm, was ihr widerſtrebet und ſie einſchraͤnken will, widrig ſeyn muß.

Alle dieſe und noch andere Begriffe von der vergnuͤ - genden Kraft unſerer Veraͤnderungen, die ich hier nicht weiter vergleichen will, fuͤhren doch endlich zu dieſer all - gemeinen Folgerung, oder muͤſſen dazu fuͤhren, wenn ſie nicht offenbar der Beobachtung zuwider ſeyn ſollen: daß es in jedem Fall nicht ganz allein von der abſoluten Beſchaffenheit der Veraͤnderung, die gefuͤhlet wird, ab - hange, daß ſie angenehm oder widrig iſt, ſondern daß es hiebey gleichfalls auf ihre Beziehung, auf den dermaligen Zuſtand der Seele ankomme, und folglich zum Theil auf dem letztern beruhe. Laß das aͤußere Objekt ſeine Mannichfaltigkeit und Einheit behalten, die es vorher hatte, da es ergoͤtzte, und laß es dieſelbigen Ein -druͤcke811und Entwickelung des Menſchen. druͤcke machen: es wird unangenehm ſeyn, nicht nur wenn angenehmere Gefuͤhle dadurch verdraͤngt werden, ſondern auch wenn die Kraft der Seele nicht darnach geſtimmt iſt, den Eindruck leicht aufzunehmen. Das gemaͤßigte Licht macht Schmerzen, wenn die Augen ſchwach ſind. Jſt ein Reiz zur Wirkſamkeit vorhan - den, und erfolget ein Beſtreben, das der Kraft abge - noͤthiget wird, ſo kommt es doch darauf an, in welchem Zuſtande dieſe ſich befindet. Sie wird Vergnuͤgen em - pfinden ſich zu aͤußern, wenn ſie rege und munter iſt: aber ihre eigene Thaͤtigkeit wird ihr zuwider ſeyn, nicht nur wenn ſie deßwegen einen ſtaͤrkern Trieb nach einer andern Seite hin zuruͤckhalten muß, ſondern auch wenn die innere Kraft ſo ſchwach iſt, daß ſie die Muͤhe ihres Beſtrebens fuͤhlet. Man mag dieſe Relation Uebereinſtimmung und Widerſpruch oder ſonſten nennen wie man will, ſo liegt in ihr der Grund, warum die gefuͤhlte Veraͤnderung angenehm oder unangenehm gefuͤhlet wird. Jn vielen Beobachtungen zeiget ſichs offenbar, daß, wenn die Veraͤnderung dem dermaligen Zuſtande der Seele, ihren Kraͤften und Vermoͤgen und ihren uͤbrigen Beſchaffenheiten angemeſſen iſt, ſie ſich mit ihnen vereinige, und die Maſſe des Abſoluten in ihr groͤßer mache, wodurch die Wirklichkeit der Seele groͤßer und ſie ſelbſt vollkommner wird. Jn dem ent - gegengeſetzten Falle aber wird der Umfang der Gefuͤhle vermindert*)Zweeter Verſuch, 4..

4) Wenn die Seele des Menſchen in dem Zuſtande der regen Wirkſamkeit ſich befindet, ſo iſt ſie ein Weſen, das ſich mit ſeinen Kraͤften und Vermoͤgen be - ſtrebet zu wirken und unterhalten zu werden. Die Kraͤfte ſtreben auf gewiſſe Arten thaͤtig zu ſeyn. Die Seele will wirken als Geiſt, als vorſtellendes,als812XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtals den Koͤrper beſeelendes Weſen. Sie will ſich auch ſo fuͤhlen; oder ihr Selbſtgefuͤhl ſucht ſeine Unter - haltungen aus den Folgen ihrer Thaͤtigkeiten und aus andern leidentlichen Veraͤnderungen. Dieſe einzelnen Beſtrebungen, jede in ihrer dermaligen Richtung und Groͤße, geben, ſo zu ſagen, ein gewiſſes mittleres Be - ſtreben nach einer mittlern Richtung von einer beſtimm - ten Staͤrke. Wenn man nun ſagen wollte, es ſey eine hinzugekommene Veraͤnderung angenehm oder un - angenehm, je nachdem ſie mit dieſer Hauptbeſtrebung der Seele mehr uͤbereinſtimmet, oder ihr mehr ent - gegen iſt, das iſt, mehr oder minder ſich zu ihr paſſet: ſo wuͤrde ich gegen dieſen Grundſatz, in ſofern er bloß ein allgemeines Princip ſeyn ſoll, und noch keine ge - nauere und deutlichere Beſtimmung dieſer Beziehung verlanget wird, nichts zu erinnern haben. Dennoch findet ſich ein Umſtand, worauf beſonders geſehen wer - den muß, wenn auch dieſes noch unbeſtimmte Merkmal nicht bloß einſeitig charakteriſiren ſoll.

Jn welchem Zuſtande befindet ſich die Seelenkraft, wenn ſie ermuͤdet und matt iſt? Jſt dieß bloße Schwaͤche, bloßer Mangel an Wirkſamkeit und Beſtre - ben, ſo iſt die Suͤßigkeit der Ruhe fuͤr den Muͤden nichts mehr als eine Entweichung der Schmerzen; aber kein poſitives Vergnuͤgen, da weiter nichts geſchieht, als daß die aus zu ſtarker Anſtrengung entſtandenen widrigen Gefuͤhle der Hinderniſſe und der Ohnmacht gehoben werden. Dieß ſcheint mir, obgleich große Philoſophen die Sache ſo erklaͤret haben, der Empfindung, die wir taͤglich beobachten koͤnnen, keine Gnuͤge zu thun. Jn dem Menſchen iſt die Traͤgheit zu einer Verrichtung mehr als die ſogenannte Kraft der Traͤgheit der Materie. Jene iſt eine wirkſame Abneigung gegen Arbeit, und mehr als ein bloßer Mangel an Wollen und an Wirk - ſamkeit; mehr als eine Gleichguͤltigkeit, zu der nur einReiz813und Entwickelung des Menſchen. Reiz fehlt, um in wirkliches Beſtreben uͤberzugehen. Jnsbeſondere findet ſich in der unangenehmen Traͤgheit, die mit der Ermuͤdung verbunden iſt, ein Beſtreben alles zu entfernen, was die Kraft reizen und rege ma - chen kann. Es ſcheint alſo der Hang zur Ruhe ein poſitiver Hang der Seele zu ſeyn, ſich aus dem Stande der Thaͤtigkeit und des Bewußtſeyns ihrer ſelbſt herauszuſetzen. Sie will nicht mehr fuͤhlen noch empfinden, oder unterhalten ſeyn, weil dieß alles ſie zu ſtark angreift. Jſt nun alles das ein poſitives Ver - gnuͤgen, was mit ihren dermaligen Beſtrebungen uͤber - einſtimmt, ſo wird auch dieſes dahin zu rechnen ſeyn, was ſie empfindet, wenn die aͤußern Eindruͤcke und die innern Bewegungen weggehen, die ihre Kraft zur Thaͤ - tigkeit reizen und ihre Entſpannung aufhalten. So ſcheint es mir wirklich ſich zu verhalten, obgleich die Richtung der Kraft alsdenn dahin gehet, ſich unthaͤtig zu machen, und, ſo zu ſagen, abzulaufen. Es iſt wenigſtens ſo, ſofern man ſich ſelbſt fuͤhlet. Denn ſonſt mag die Grundkraft immer nur ihre Richtung veraͤn - dern, wie die Pſychologen es erklaͤren, die die Seele im tiefſten Schlaf eben ſo ſtark beſchaͤftiget ſeyn laſſen, als im Wachen, nur daß ſie alsdenn mehr mit dem ganzen Jnbegrif ihrer dunkeln Vorſtellungen zu thun hat, als mit den hervorſtechenden klaren und deutlichen Gedanken, die ſie im Wachen bearbeitet. Eine Jdee, die ſelbſt nach den Anzeigen, welche man in den Beobachtungen findet, nicht unwahrſcheinlich, und gewiß nicht ganz und gar falſch iſt.

Jn Hinſicht des Koͤrpers iſt es nicht ſchwer ſich vor - zuſtellen, wie in ihm ein Trieb entſtehen koͤnne zu Ver - aͤnderungen, die ſeine Fibern entſpannen und ihn unthaͤ - tig machen. Die Kraͤfte der Organiſation erſchoͤpfen ſich, und es haͤufen ſich die Hinderniſſe gegen ihre wei - tere Wirkſamkeit. Dieß aͤndert durch eine Ruͤckwir -kung814XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtkung den Lauf der Saͤfte und der Geiſter, die ſich als - denn von den Theilen entziehen, welche nur durch ſie ihre bewegende Kraft haben. Daher entſteht der Trieb, wovon die Ruhe und Erſchlaffung eine Folge iſt. Aber auch in der Seele laͤßt der Trieb, ſich unthaͤtig zu ma - chen, ſich erklaͤren. Sie fuͤhlt die Schwaͤche und Er - ſtarrung ihres Koͤrpers, und die Schmerzen, wenn ſie ihre Beſtrebungen fortſetzen will. Sie muß alſo noth - wendig in eine andere Richtung ſich zu bringen ſuchen, wo ſie jenen Gefuͤhlen ausweicht. Dadurch kommt ſie von ſelbſt in diejenige, in der ſie den Koͤrper zur Ruhe bringt. Hat nun dieß neue Beſtreben ſeine Wirkung, entziehen ſich die Reizungen der Sinne und der Phanta - ſie: ſo fuͤhlt ſie dieſen Erfolg in ſich, und in ihrem Koͤr - per den neuen Zuſtand, der zu ſeinem Wohlbefinden gehoͤret und mit einer innigen Luſt verbunden iſt, ob - gleich waͤhrend der Empfindung die Empfindung ſelbſt an Staͤrke abnimmt und ausloͤſcht. Ohne Zweifel kom - men nun die aſſociirten Jdeen von der Erholung, und der darauf folgenden groͤßern Munterkeit hinzu, und verſtaͤrken die Sehnſucht nach der Ruhe. Aber die Ruhe iſt doch von Natur ſchon angenehm, und wird es nicht blos durch die Verknuͤpfung mit neuen Erwar - tungen.

8.

Ohne Ruͤckſicht auf das allgemeine Princip des Vergnuͤgens kann die Beziehung der Vervollkommnung des Menſchen auf ſeine Gluͤckſeligkeit beſtimmt werden, wenn ſolches bey den verſchiedenen Arten der angeneh - men Empfindungen, die als Beſtandtheile des geſamm - ten menſchlichen Wohls zu betrachten ſind, einzeln ge - ſchieht. Wenn nicht alle Vergnuͤgungen in gleicher Maße von der Vollkommenheit abhangen, ſo muß der verhaͤltnißmaͤßige Werth derer, die naͤher ſich auf ſie beziehen, gegen andere feſtgeſetzt werden. Dieß iſt einweſentli -815und Entwickelung des Menſchen. weſentliches Geſchaͤft in der Moral, davon ich hier nur etwas, das unmittelbar aus der allgemeinen Betrach - tung der menſchlichen Natur fließt, anfuͤhren will.

Es iſt fuͤr ſich ein Grundſatz, deſſen Richtigkeit auf - faͤllt, daß je mehr der Menſch vervollkommnet wird, einer deſto groͤßern Gluͤckſeligkeit werde er faͤhig. Seine Beſtrebungen werden vervielfaͤltiget und ver - ſtaͤrket, wie ſeine thaͤtigen Kraͤfte wachſen; und der Umfang und die Staͤrke ſeiner Empfindungen waͤch - ſet mit der Erhoͤhung ſeiner Empfindſamkeit, die wie - derum von der Ausbildung am Verſtande abhaͤngt. So gar die groͤbſten ſinnlichen Vergnuͤgungen, die ſich am meiſten nach den Eindruͤcken von aͤußern Urſachen richten, ſind bey Menſchen von ſtumpfem Geiſt und Ge - fuͤhl bey weitem das nicht, was ſie bey andern ſind.

Eben ſo klar iſt es, daß jede Erhoͤhung der Voll - kommenheiten der Natur eine Vermehrung eines innern Schatzes ſey, aus deſſen Beſitz die edelſten und feinſten Vergnuͤgungen entſtehen, die am tiefſten eindringen und am dauerhafteſten und unabhaͤngigſten von aͤußern Zufaͤl - len ſind. Jeder Zuwachs an innerer Menſchengroͤße macht die Quelle der Gluͤckſeligkeit groͤßer, und die letz - tere ſelbſt, weil die Quelle, wenn nicht immer gleich ſtark, doch in einiger Maße, ſich ergießen und genoſſen werden muß. Jn einem ſich ſelbſt fuͤhlenden Weſen, kann es keine nahe phyſiſche Realitaͤt geben, die, (ich will nicht ſagen, auf ewig verſteckt und un - gefuͤhlt in ihm bleibe, man moͤchte nur auf das gegen - waͤrtige Leben ſehen wollen, ſondern) ſo lange ſie da iſt, nicht unmittelbar und abgeſondert fuͤr ſich, oder doch mittelbar und in Verbindung mit andern, nicht als etwas angenehmes ſollte empfunden werden. Sie wird zum wenigſten ihren Einfluß in andere Ge - fuͤhle haben, und entweder Schmerzen lindern, die aus andern Unvollkommenheiten entſpringen, oder die Maſſeder816XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtder angenehmen Gefuͤhle fuͤr ſich vergroͤßern. Und das alles mehr oder weniger, nachdem ſie ſelbſt eine groͤßere oder geringere Realitaͤt iſt.

9.

Waͤre die Gluͤckſeligkeit des Menſchen von aͤußern Urſachen unabhaͤngig, ſo wuͤrde ſie blos nach der Groͤße der innern Vollkommenheit zu ſchaͤtzen, und Vervoll - kommnung und Begluͤckung einerley, ſeyn. Dieß iſt ſie nun zwar in Hinſicht ihrer ſchaͤtzbarſten Theile in großer Maße; aber ſie iſt es nicht in Hinſicht aller, und iſt es nicht gaͤnzlich in Hinſicht eines einzigen. Auch hie - rinnen giebt es unendlich verſchiedene Stufen des menſch - lichen Wohls, ſo wie ſichs bey den einzelnen Perſonen findet. Wie viel ſelbſtſtaͤndiger war die Seligkeit des ſtoiſchen Weiſen, als das faſt ganz auf aͤußern Eindruͤ - cken beruhende Gluͤck des Sybariten? Und dazwiſchen liegen viele mittlere Stufen. Eine vollkommene Un - abhaͤngigkeit von außen iſt aber keine moͤgliche Eigen - ſchaft des Menſchen, wenigſtens in dieſer Welt nicht. Die Vermoͤgen der Seele, als bloße Vermoͤgen be - trachtet, ſind das einzige, was unſerm Jch ſo eigen iſt, daß außer der Allmacht, die in das Jnnerſte dringt, nichts ihm ſolche entziehen kann. Sollen aber dieſe Ver - moͤgen lebendige Kraͤfte ſeyn und in Thaͤtigkeiten ſich offenbaren, welche gefuͤhlt und genoſſen werden: ſo muͤſ - ſen ſchon Reizungen von aͤußern Urſachen hinzukommen, oder doch Veranlaſſungen und ſchickliche Objekte der Kraft vorliegen. Der Beſitz der Vermoͤgen fuͤr ſich macht den Menſchen nicht gluͤcklich, ſondern ihre freye und ungehinderte Anwendung. Wo die letztere fehlt, da kann nur ein Beſtreben zu wirken vorhanden ſeyn. Wenn dieß iſt, ſo iſt freylich auch ein angenehmes Ge - fuͤhl von Staͤrke da, deſto lebhafter, je ſtaͤrker das Be - ſtreben iſt; aber es wird uͤberwogen von dem beglei - tenden Gefuͤhl des Widerſtands und des Unvermoͤgens. Und817und Entwickelung des Menſchen. Und obgleich das erſtere immer beſtehende angenehme Gefuͤhl das letztere unangenehme in etwas mindert, und nicht, was ſonſten einer ſchwaͤchern Empfindung wider - faͤhrt, zu einem Mittel wird, das entgegengeſetzte zu verſtaͤrken, ſo kann doch die ganze zuſammengeſetzte Em - pfindung eine wahre Quaal ſeyn. Eine große Kraft kann ſich in einer raſtloſen Leidenſchaft verzehren, ohne durch Gefuͤhle gluͤcklicher Erfolge erquickt zu werden.

Dieſe Verſchiedenheit der angenehmen Empfindun - gen, in Hinſicht ihrer Abhaͤngigkeit von der innern Verfaſſung des Menſchen und von aͤußern Umſtaͤnden, hindert es, daß man den Menſchen nicht in der gleichen Maße fuͤr gluͤckſelig halten kann, wie er innerlich voll - kommen iſt. Es kommt freylich nur noch darauf an, wie hoch wir die eine Gattung in Vergleichung mit der andern ſchaͤtzen? ob alles, was zu dem abhaͤngigen Wohl gehoͤrt, als etwas aͤußeres uns nichts angehen - des, oder doch als wenig bedeutendes, zu betrachten iſt? Nimmt man den Menſchen wie er iſt, ſo iſt die Selbſt - genuͤgſamkeit der Stoiker offenbar etwas uͤbertriebe - nes. Selbſt Verſtand und Tugend, als menſchliche Kraͤfte koͤnnen durch aͤußere Zufaͤlle zerſtoͤret werden, wenn ſie gleich als Vermoͤgen in der einfachen Seele un - gekraͤnkt bleiben. Wie wichtig ſind nicht Furcht und Hoffnung, die ein Menſch heget, fuͤr ſeine Gluͤckſelig - keit. Und dennoch haͤngen beide nicht blos von den Gra - den der Vollkommenheit in der Vorſtellungskraft, dem Verſtande und dem Herzen ab, ſondern auch von der Beſchaffenheit der Kenntniſſe, die uns durch die Umſtaͤnde und durch den Unterricht von den Sachen zugeſuͤhrt werden. Nicht gaͤnzlich, ſage ich; denn ſonſten ſtehen allerdings die Erwartungen der Zukunft mit der innern Vollkommenheit der Kraͤfte in Verbindung, und beru - hen auf dieſer, mehr als gemeiniglich geglaubt wird. Jnneres Gefuͤhl von Guͤte und Groͤße, zumal in denII Theil. F f fGe -818XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtGeſinnungen, iſt eine natuͤrliche Quelle der Hoffnung; und das Gefuͤhl von Schwaͤche erzeuget Furcht und Bosheit. Furcht und Hoffnung wirken wiederum auf die Vermoͤgen zuruͤck, und machen ſie lebendig. Aber wie viel haͤngt nicht ab von den zufaͤlligen Kenntniſſen, Ueberredungen, Einſichten, die durch eine gluͤckliche An - fuͤhrung eingefloͤßet ſind, und in einem andern Verhaͤlt - niſſe ihre ſeligen oder unſeligen Wirkungen aͤußern, als worinn die Verſtandeskraͤfte ſtehen, bey dem Glauben - den, dem Zweifler und dem, der ſich von dem Gegentheil uͤberzeugt haͤlt? Den Spinoza mußte doch bey allem ſeinen Verſtande ſein troſtloſes Syſtem um alle Freu - den bringen, welche die Ausſicht in die Zukunft giebt. Und den aufgeklaͤrteſten Weiſen des Alterthums, ſelbſt dem Sokrates, konnte die wankende Hoffnung, und das Dilemmatiſche: Entweder gluͤcklich oder nichts! die innige das ganze Herz ausfuͤllende Seligkeit nicht ver - ſchaffen, die durch die lebhaftere Ueberzeugung von der Ewigkeit auch bey weit ſchwaͤchern Seelen bewirkt wird. Ruhe und Gleichmuͤthigkeit war das hoͤchſte, was jenen ihr Bewußtſeyn innerer Guͤte geben konnte, das aber die hoͤchſte Stufe der Gluͤckſeligkeit nicht iſt. Ob man gleich ſonſten wohl behaupten kann, daß die poſitiven Vergnuͤgungen, die in lebhaftern Aufwallungen beſte - hen, der kurzen Dauer wegen, im Ganzen fuͤr den Menſchen in dieſem Leben von einem geringern Werthe ſind, als die ſich immer mehr gleichen ſanftern ruhigen Empfindungen.

Wir moͤgen die Sache von ſo vielen Seiten anſehen, als wir wollen, ſo zeigt ſich immer derſelbige Ausgang. So lange allein auf die Gluͤckſeligkeit geſehen wird, de - ren unſere Natur in dieſem Leben faͤhig iſt, ſind Gluͤck - ſeligkeit und die innere Vollkommenheit des Menſchen zwey verſchiedene Sachen. Nur die Hinſicht auf eine Zukunft kann uns berechtigen, beide fuͤr einerley zu hal -ten.819und Entwickelung des Menſchen. ten. Nach der erſten Beziehung zu urtheilen, wuͤrde ein ununterbrochener Fortgang in der innern Vervoll - kommnung den Menſchen nicht gluͤcklich machen, ſo wie noch weniger umgekehrt ein ununterbrochenes Vergnuͤ - gen ihn vollkommener macht. Wenn die Vervollkomm - nung des Menſchen als die vornehmſte Abſicht bey ihm angenommen wird, (denn auch der Genuß kann nicht ausgeſchloſſen werden,) ſo iſt das Ungluͤck, oder uͤberwiegender Schmerz, nicht blos des Leibes ſondern auch der Seele, ungemein nuͤtzlich. Es ſtrenget die Kraͤfte außerordentlich an, da ſie gegen Hinderniſſe kaͤmpfen, und entwickelt ſie, wenn ſie nur nicht ganz un - terliegen, das iſt, wenn der Menſch nur nicht zur Verzweifelung gebracht wird. Dieſer Fall iſt ausge - nommen. Und dennoch, wenn wir weiter zuruͤckgehen zu den Folgen der Anſtrengung, die in der unkoͤrper - lichen Seele bleiben, und dieſe von denen unterſchei - den, welche in dem Menſchen entſtehen: ſo kann auch die unter dem Leiden erliegende und verzweifelnde Seele, nachdem ihre ganze Kraft erſchoͤpfet oder zerſprenget iſt, von dieſer ſie ganz durchdringenden Erſchuͤtterung reelle Folgen, und wahre Erhoͤhungen der Vermoͤgen, em - pfangen haben, die aus ihrer Grundkraft nie ſich verlie - ren. Denn das eine Geiſteskraft ſich in dem Geiſte ſelbſt durch Thaͤtigkeit verzehren und aufloͤſen koͤnne, wie das Schickſal der organiſchen Kraͤfte im Koͤrper iſt, wird, das mindeſte zu ſagen, ſehr unwahrſcheinlich, wenn man darauf zuruͤckſieht, was es fuͤr eine Beſchaf - fenheit mit der Schwaͤchung der Seelenkraft habe, die aus Ueberſpannung entſteht. *)Erſter Abſchnitt. d. V. II. 7.

Dieſe Beziehung der Vervollkommnung auf das Wohl des Menſchen macht es ſo oft nothwendig, daß Schmerz gebrauchet werden muß um ihm wohl zu thun. Bey Beurtheilung der Vorſehung darf dieß nicht ver -F f f 2geſſen820XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtgeſſen werden. Aber daß ja die Menſchenfeindſchaft, die Bosheit und die Tyranney ſich nicht damit bedecke. Der offene Verſtand entreiſſet ihr dieſen Schleier. Schmerz ohne eine wahre Nothwendigkeit einem em - pfindenden Menſchen verurſachen, heißt ihn erbittern, ſo bald ers gewahr wird, daß mans thue, niemals ihn beſſern. Schmerz von außen kann uͤberhaupt nur Boͤſes, nur Hinderniſſe des Guten zuruͤckhalten, hoͤchſtens auch die traͤgen Kraͤfte zuerſt aufwecken und ihnen den erſten Stoß geben. Aber die Neigung zum Guten und die Luſt an Thaͤtigkeit erfodert, daß dieſe fuͤr ſich ſelbſt an - genehm werde und gefalle, der Gefuͤhle wegen, die mit ihr ſelbſt verbunden ſind. Wer den Menſchen vervoll - kommnen will, muß machen, daß ihm ſelbſt ſein eigenes Beſtreben darnach angenehm werde.

10.

Es hat die menſchliche Gluͤckſeligkeit in den verſchie - denen Jndividuen und in den verſchiedenen Voͤlkern, ſo wie ſie wirklich in der Welt iſt, eben ſo verſchiedene Geſtalten als die Menſchheit ſelbſt. Und wenn man ſie der Groͤße nach, die ſie in dieſen Formen hat, mit einander vergleichet, ſo findet man auch hier im Großen, was nachher geſagt iſt, daß ſie zwar nicht voͤllig, aber doch beinahe in demſelbigen Verhaͤltniß ſtehe, wie die innere Auswickelung und Vollkommenheit, zu der die Menſchheit gekommen iſt. Auch wird man leicht be - merken, daß es eine gewiſſe Gleichheit aller Menſchen in Hinſicht ihres Wohls gebe, die einigermaßen das Pa - rallel zu ihrer Gleichheit an Vervollkommnung iſt. Sollte man nicht uͤberdieß noch den gemeinſchaftlichen Grad der Menſchengluͤckſeligkeit fuͤr groͤßer und wichtiger halten muͤſſen, als den Stufenunterſchied bey den Jndividuen? Jch glaube, es laſſe ſich dieß eben ſo gut behaupten, als in Hinſicht der Entwickelung; wobey aber auch hier ſo wohl in Hinſicht einiger vorzuͤglich Elenden eine Aus -nahme821und Entwickelung des Menſchen. nahme zu machen iſt, wie bey der Entwickelung in Hin - ſicht derer, die nicht vollſtaͤndig organiſirt ſind. Es kommt auf eine Schaͤtzung an, wozu es uns an dem beſtimmten Maßſtab fehlet, und an dem Mittel ihn anzubringen. Daher mag auch das Reſultat bey meh - rern, die hieruͤber urtheilen, ſehr verſchieden ausfallen. Vorurtheile und Leidenſchaft und Phantaſie machen ei - ne genaue Vergleichung faſt unmoͤglich. Jndeſſen fin - det man, daß die Gefuͤhle des Lebens, der Wirkſamkeit, der Ruhe und des koͤrperlichen Wohlſeyns, welche die er - ſten Grundlagen aller Freuden ausmachen, durch die ganze Menſchheit verbreitet ſind, zu denen ſich auch Glaube und Hoffnung faſt allenthalben geſellet hat. Wenn man die Wirkungen hievon ſich etwas anſchauli - cher vorſtellet, und dann mit der Geſchichte vergleichet: ſo wird man ſich geneigt fuͤhlen, andern mehr Gleichheit mit uns einzuraͤumen, als die Einbildung beym erſten Blick fuͤr moͤglich haͤlt; ſo wichtig, alles unſers Be - muͤhens und Anſtrengens wuͤrdig und wuͤnſchenswerth auch dasjenige immer bleibet, was ein Volk vor dem andern und mehr noch Einzelne vor andern einzelnen voraus haben. Jſt es nicht moͤglich, Voͤlker aus ver - ſchiedenen Welttheilen, Geſittete und Wilde, genau ge - nug zu vergleichen, und ſich hiervon zu uͤberzeugen: ſo ſehe man nur auf die Verſchiedenheit, die man in der Naͤhe um ſich hat. Man wird dieſelbigen Reſultate finden, wenn man ohne Vorurtheil beobachtet. Jch breche von dieſer Materie hier ab, und ſchließe mit zwo Anmer - kungen, die ſich von ſelbſt darbieten, wenn man noch - mals auf den Menſchen in ſeinem Beſtreben nach Gluͤck - ſeligkeit und Vollkommenheit und auf die Wirkung deſ - ſelben einen Blick wirft.

11.

Man leget den Menſchen einen Naturtrieb zur Gluͤckſeligkeit, zu ſeiner Erhaltung, Vervoll -F f f 3komm -822XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtkommnung und Ausdehnung bey, ob man gleich bey allen ohne Ausnahme ſieht, daß die Natur, indem ſie dieſem Triebe nachgehet, eingeſchraͤnkt, heruntergeſetzt und ihrer angenehmen Gefuͤhle beraubet wird, und end - lich, wenn von den Menſchen die Rede iſt, untergehet. Jene Ausdruͤcke laſſen ſich wohl erklaͤren. Allein es ſcheint doch, als wenn man nicht allemal genug auf den ei - gentlichen urſpruͤnglichen Sinn derſelben zuruͤckſehe, und durch das Figuͤrliche in ihnen verleitet werde Neben - ideen hinzuzulegen, wozu man wenigſtens alsdenn kei - nen Grund findet, wenn man dieſe Saͤtze als unmittel - bare Grundſaͤtze der Erfahrung annimmt. Ein anders iſt es, wenn die erwaͤhnten Triebe nur allein der unkoͤr - perlichen Seele zukommen ſollen und als ſolche angege - ben werden, auf welche die Aufloͤſung der Seelenkraͤfte im Syſtem als auf ein letztes Princip hinfuͤhret.

Der Naturtrieb des Menſchen geht urſpruͤnglich auf Aeußerungen hinaus, die man nicht viel naͤher charak - teriſiren kann, als daß es menſchliche, der innern Be - ſchaffenheit der Natur und ihren Kraͤften angemeſſene, Thaͤtigkeiten ſind. Faſt jede beſtimmtere Erklaͤrung giebt ſie nur von einer Seite an. *)Eilfter Verſuch. I. 2.Der Menſch aͤuſ - ſert keine Beſtrebungen eines Vogels zum Fliegen, noch eines Fiſches zum Schwimmen, ſondern Beſtrebungen der Organiſation gemaͤß zu wirken, zu fuͤhlen, ſich et - was vorzuſtellen, zu denken und ſich ſonſten zu veraͤn - dern. Die Richtungen aber, welche dieſe Naturkraͤfte nehmen und behalten, die Objekte, auf welche ſie ſich lenken, oder wovon ſie ſich entfernen, werden durch Em - pfindniſſe beſtimmet, durch Schmerz und Vergnuͤgen. Sie neigen ſich, oder werden gezogen, zu dem hin, was angenehme Gefuͤhle giebt. Aus dieſen Gefuͤhlen ent - ſpringen die Vorſtellungen, wodurch wir die Gegenſtaͤn - de, die uns angenehm ſind, kennen lernen; und durchdie823und Entwickelung des Menſchen. die Verbindung dieſer Jdeen wird aus dem bloßen Jn - ſtinkt zur Thaͤtigkeit eine Neigung und Begierde zu den Objekten. Die von den Jdeen auf die Objekte ge - leiteten Triebe ſind Neigungen. Es entſtehen allgemeine Neigungen, die Neigung zum Vergnuͤgen uͤberhaupt, die Neigung zu dem, was uns erhaͤlt, was uns ſtaͤrket und vollkommener macht. Die letztern erfodern eine Verknuͤpfung von Jdeen. Was ſolche Wirkungen auf uns hat, iſt angenehm fuͤr ſich oder in ſeinen Folgen. Dieß macht es zum Objekt unſers von Jdeen geleiteten Triebes. Dennoch iſt Neigung und Trieb unterſchie - den, und oft leitet die Jdee zu einem Gegenſtande hin, wovon das ungeleitete, bloß durch dunkle Gefuͤhle be - ſtimmte, Beſtreben ſich abwendet.

Dieß Geſetz, welches die Richtung des Natur - triebes beſtimmt, berechtiget uns ihn einen Trieb zur Gluͤckſeligkeit zu nennen. Aber wenn durch dieſe Be - nennung eine noch naͤhere Beziehung der Objekte auf die Natur des Menſchen, als daß ſie angenehme Ge - fuͤhle in ihr verurſachen, ausgedruckt werden ſoll, ſo iſt es leicht mehr hineinzulegen, als nach der Erfahrung geſchehen kann. Macht das, worauf der Trieb geht, weil es angenehm iſt, wirklich gluͤcklich? Das doch nicht. Der Tod iſt oft in den Toͤpfen, aus denen wir begierig eſſen. Erweitert es auch nur unmittelbar in ſei - nen Folgen den Umfang unſerer angenehmen Gefuͤhle? Auch dieß oft nicht. Wir wollen zuweilen aller klaren Gefuͤhle uns entledigen, wenn wir muͤde ſind; und auch dieſer Erfolg iſt angenehm. Wir verlangen ihn, ob wir gleich vorher wiſſen, daß wir im Schlafe nichts empfin - den, und aller ſinnlichen Exgoͤtzungen beraubet ſeyn wer - den. Wir lieben den Schlaf, und ſuchen ihn aus einem Naturtriebe. Angenehm iſt freylich die Veraͤnderung, die wir zu bewirken uns beſtreben, in jedem Fall. Aber ſie iſt es zuweilen nur dermalen, nur von Einer Seite,F f f 4nur824XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtnur bey einer ſolchen beſtimmten Verfaſſung unſerer Kraft. So weit, kann man ſagen, ſey ſie auch der Na - tur angemeſſen. Aber nicht weiter. Nicht ſo, als wenn ſie es zu ihrer Erhaltung, zur Fortſetzung ihrer Wirkſamkeit, zu ihrem wahren dauernden Wohl ſey, oder ein wahres Mittel, die Summe ihrer angeneh - men Empfindungen im Ganzen ſo groß zu machen, als dieſe ſeyn kann. Oft iſt es ſo, und wenn der Menſch durch Ueberlegung ſeinen Naturtrieb regieret und ſtim - met, wird die Uebereinſtimmung des gegenwaͤrtigen Gefuͤhls mit dem, was wirklich nutzet, groͤßer, und ſein Trieb mehr ein Trieb zu ſeiner Gluͤckſeligkeit. Al - lein der blinde Naturtrieb geht in uns fuͤr ſich nicht ſo richtig und ſo ſicher, als der Jnſtinkt im Thiere, der doch in ſeinem natuͤrlichen Gang ebenfalls auf Schmer - zen und Tod hinfuͤhret, wie bey dem Menſchen.

Dennoch iſt darum der Ausdruck, der Natur - trieb gehe auf Gluͤckſeligkeit, das iſt, dahin, ſich immer die moͤglich angenehmſten Empfindungen zu ver - ſchaffen, nicht unrichtig. Die Feder beſitzet ein Be - ſtreben ſich auszudehnen, obgleich dieß Beſtreben deſto mehr geſchwaͤchet wird, je weiter die Feder ſich aus - dehnet, und endlich ganz aufhoͤret. Das Gewicht hat einen Hang zu fallen, und behaͤlt ihn, auch wenn es den Boden erreichet und ſtille liegt, auch wenn es zu - ruͤckſpringet und in die Hoͤhe ſteiget.

Weiter geht aber das Figuͤrliche im Ausdruck, wenn einige den Naturtrieb als einen Trieb zur Ausdeh - nung und Vervollkommnung ſich vorgeſtellet, und ihn ſo genennet haben. Soll jeder Trieb, als Trieb zu einer Thaͤtigkeit, zu einer Kraftaͤußerung, ein Ent - wickelungstrieb heißen: ſo muͤßten alle wirkſamen Kraͤfte mit dieſem Namen beleget werden; der Trieb ſich zu - ſammenzuziehen in einer geſpannten Darmſaite, eben ſo wohl als der Ausdehnungstrieb in der Feder, die mitGewalt825und Entwickelung des Menſchen. Gewalt zuſammengedruckt wird. Soll aber etwas cha - rakteriſtiſches des menſchlichen Naturtriebes angegeben werden, und zwar ſo ferne ſolcher ein Trieb des menſch - lichen Seelenweſens iſt; denn wenn von dem Trie - be des unkoͤrperlichen Beſtandtheils die Rede iſt, ſo ge - hoͤret viel Raiſonnement dazu, daruͤber zu urtheilen, wenn man nicht eine Hypotheſe annehmen will: was iſt denn dieſer Naturtrieb bey dem herannahenden Alter und in der Ermuͤdung? Der Menſch ſucht das, was ihn erhaͤlt und was ihn entwickelt, darum weil es ihm angenehm iſt; aber dann nicht mehr, wenn es aufhoͤret dieß zu ſeyn. Kann ein Weſen, das nicht zur Ewigkeit beſtimmt iſt, das ſich entwickeln, wachſen, ſtille ſtehen, dann wieder abnehmen und untergehen ſoll, kann dieß ſeiner Naturanlage gemaͤß ſo eingerichtet ſeyn, daß es unaufhoͤrlich fortfahre ſich zu entwickeln, auszudehnen und groͤßer zu machen? Nur im Anfang iſt der Trieb der Pflanzen ein ſich entwickelnder Trieb. Er aͤndert ſeine Richtung und wird ein Trieb ſich einzuwickeln. Des Menſchen Trieb leidet eine aͤhnliche Veraͤnderung. Wollte man auch hier den Ausdruck aus einem aͤhnli - chen Grunde rechtfertigen, wie den vorhergehenden: ſo muͤßte man ſagen koͤnnen, es ſey der Naturtrieb doch immer ein ſich entwickelnder Trieb, nur daß er ſich, wie die Elaſticitaͤt der Feder, im Entwickeln verzehre, auch oft auf aͤußere Dinge anſtoße, die durch ihre ſtaͤr - kere Ruͤckwirkung ihn einſchraͤnken. Aber dieß hieße ſo viel, als die ſcheinbare Veraͤnderung des Triebes, der aus einem Entwickelungstrieb in einen Trieb ſich einzu - ziehen uͤbergeht, als eine Veraͤnderung in der Richtung deſſelben anſehen, die bloß von aͤußern Urſachen und de - ren Einfluß abhaͤngt, ohne den Trieb ſelbſt zu aͤndern. Der Trieb der Feder bleibt immer ein Ausdehnungs - trieb, auch wenn ſie von einem Gewicht enger zuſam - mengedruckt wird. Jſt das genug? iſt es ein Erfah -F f f 5rungs -826XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtrungsſatz, daß es ſich ſo verhalte? Jſt nicht vielmehr die Sehnſucht zur Ruhe in dem Ermuͤdeten, und der Hang im zunehmenden Alter den Wirkungskreis zu verengern, die Empfindungen zu mindern, der Ge - ſchaͤffte ſich zu entſchlagen, ein poſitiver Hang ſich in ei - nen Zuſtand minderer Thaͤtigkeit zu ſetzen? Dieſelbige Feder, die ſich auszudehnen beſtrebet, wenn ſie zuſam - mengedruckt iſt, aͤußert auch ein Beſtreben ſich zuſam - menzuziehen, wenn ſie naͤmlich vorher voͤllig entſpan - net iſt, und dann wie eine Klavierſaite uͤber dieſe Gren - ze noch weiter herausgezogen wird. Es iſt dieſelbige Ela - ſticitaͤt in ihr der Grund von beiden Beſtrebungen; aber ohne die Sache einſeitig anzuſehen, kann die letzter - waͤhnte Aeußerung der Elaſticitaͤt, das Beſtreben ſich zuſammenzuziehen kein Ausdehnungstrieb genennet wer - den; oder denn was kommt es auf den Namen an? nicht in demſelbigen Sinn, mit Ruͤckſicht auf dieſelbige Art hervorzugehen, und nicht mit mehrerm Grunde, als er auch ein Zuſammenziehungstrieb heißen kann. Noch weniger, meine ich, gehe dieß bey dem menſchli - chen Naturtriebe an. Es iſt derſelbige, der ſich anfangs als Entwickelungstrieb, dann auf die entgegengeſetzte Weiſe offenbaret. Er hat daſſelbige Princip in der Na - tur zum Grunde, und es moͤgen auch beide Aeußerun - gen auf einen gemeinſchaftlichen generiſchen Begriff ge - bracht werden koͤnnen. Aber der Begriff von Entwi - ckelung wird alsdenn zu beſtimmt und zu einſeitig ſeyn.

12.

So gewiß es iſt, daß Kraͤfte und Vermoͤgen nur in ihren Wirkungen empfunden werden, ſo gewiß iſt es doch auch, daß ſie als in uns vorhanden, auch wenn man ſie nicht in der Maße anwendet, wie es ſeyn muß, wenn wir ſagen, daß ſie thaͤtig ſind und wirken, gefuͤh -let827und Entwickelung des Menſchen. let, und ihr Beſitz, ohne Ruͤckſicht auf den Nutzen, den ſie durch ihren Gebrauch gewaͤhren, angenehm ge - fuͤhlet werde. Dieß geſchieht, ſo bald nur Vorſtel - lungen von ihnen und von ihrem Werth erlanget ſind. Jnſofern iſt die Tugend, die groͤßte und edelſte aller Seelenvermoͤgen, fuͤr ſich ſelbſt ein Gut, das blos durch ſeinen Beſitz gluͤcklich macht, den man fuͤhlet und deſſen man ſich bewußt iſt. Und eben daſſelbige laͤßt ſich in ſeiner Maße von jeder Kunſt und Geſchicklichkeit ſagen, ſogar von koͤrperlichen Eigenſchaften, wie von Schoͤn - heit, Geſundheit und Staͤrke. So weit Eitelkeit, Stolz und Selbſtzufriedenheit reichet, das iſt, durch die ganze Menſchheit, zeiget ſichs, welch ſuͤßes, Geiſt und Muth erhebendes, Gefuͤhl in dem Bewußtſeyn liege, daß man dieſe oder jene ſcheinbare oder wahre Vollkom - menheit beſitze, wenn ſolche gleich nichts mehr iſt, als eine Macht, die man nicht gebrauchet, ſondern nur ge - brauchen kann.

Es darf nicht gelaͤugnet werden, was Helvetius und andere zu beweiſen geſucht, daß der erſte Grund von die - ſem angenehmen Gefuͤhl aus dem Beſitz eines Vermoͤ - gens in der Ruͤckſicht auf die Vortheile liege, die mit dem Gebrauch der Vermoͤgen verbunden ſind. Die Vorſtellung von dem Nutzen iſt mit dem Gefuͤhl des Vermoͤgens ſelbſt vereiniget. Aber dennoch macht jene dieß letztere nicht ganz aus. Die Jdeenaſſociation macht uns nur auf das Gefuͤhl der Kraͤfte aufmerkſam. So bald wir aber mit dieſem Gefuͤhl ſelbſt bekannter ſind, und ſolches etwas mehr verſtaͤrket und verfeinert haben, gewaͤhret es unmittelbar freudige Empfindungen, die das Herz erwaͤrmen, oft es entzuͤnden und zuweilen ver - brennen. Gemeiniglich nimmt der Menſch in Hinſicht ſeiner Vollkommenheiten die Denkungsart des Geizigenan,828XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtan, der im Anfang das Geld ſuchet, um es zu gebrau - chen, nachher aber um es zu beſitzen. Sie iſt un - gemein natuͤrlich*)Zweeter Verſuch I. 5. VI. 2. 3. Zehnter Verſuch II. 4.. Der Geiz iſt etwas unvernuͤnfti - ges, nur wegen des Objekts, worauf die Neigung faͤllt, und wegen des Uebermaßes; nicht deswegen, weil es unnatuͤrlich oder thoͤricht uͤberhaupt iſt, das Vergnuͤgen in den Urſachen und Mitteln zu finden, was man an - fangs nur in ihren letzten Wirkungen ſuchte.

Die Vorſtellung von einem Vermoͤgen, deſſen wir uns als des unſrigen bewußt ſind, enthaͤlt einen Auszug von allen den angenehmen Gefuͤhlen, die den Gebrauch deſſelben begleiten, und die wir entweder ſelbſt wirklich gehabt haben, oder uns durch eine Zuſammen - ſetzung aus Gefuͤhlen erdichten. Eine ſolche Vorſtellung iſt ſehr vielbefaſſend und maͤchtig, obgleich dunkel und unentwickelt. Fuͤhlen wir den Beſitz eines Vermoͤgens in uns, ſo iſt mit der Vorſtellung davon auch ein An - fang von Thaͤtigkeit verbunden, und zwar einer ſol - chen, die wir fuͤr die Wirkung und fuͤr das Merkmal der vorhandenen Kraft erkennen. Und dieſen Anfang fuͤhlen wir. Aus dieſem Gefuͤhl unſrer gegenwaͤrtigen Beſchaffenheit, vermiſcht mit der Vorſtellung von dem Vermoͤgen, entſpringet die angenehme Empfindung, die in dem Bewußtſeyn, als einem gegenwaͤrtigen klaren Gefuͤhl der Vollkommenheit, liegt. Dieſe Empfindung fehlet, wenn wir uns nur eine fremde Vollkommenheit vorſtellen, naͤmlich als eine ſolche, welche uns mangelt. Sonſten iſt jedwede Vorſtellung von einer Vollkommen - heit fuͤr ſich mit einem Vergnuͤgen verbunden, und dieß iſt deſto lebhafter, je anſchaulicher die Vorſtellung iſt. Denn829und Entwickelung des Menſchen. Denn eine ſolche Vorſtellung enthaͤlt angenehme wieder - erweckte Empfindungen. Allein dagegen iſt ſie auch theils fuͤr ſich allein, als Vorſtellung, ein nur mattes Bild, in Vergleichung mit der wirklich gefuͤhlten Thaͤtigkeit; theils wird das aus ihr entſtehende angenehme Empfindniß durch entgegengeſetzte unterdruͤcket. Laß ſie eine Vor - ſtellung von einer Thaͤtigkeit zum Objekt haben, und alſo eine Nachbildung von Thaͤtigkeit oder einen Anſatz dazu enthalten: ſo iſt ſelbſt dieſer Anſatz ſo ſchwach in Vergleichung mit dem ſtaͤrkern, den man fuͤhlet, wenn man in ſich ſelbſt die Thaͤtigkeit erneuert, wie es eine ſchwache Einbildung in Vergleichung mit ihrer Empfin - dung iſt. Wenn die vorgeſtellte Kraft oder Thaͤtigkeit uns nicht zukommt, ſo offenbaret ſich dieß ſogleich, in - dem wir nur den Verſuch machen, die Vorſtellung zur Empfindung zu erheben. Wir fuͤhlen Widerſtand, und Unvermoͤgen; und dieß Gefuͤhl des Mangels muß noth - wendig alsdenn ſtaͤrker ſeyn, als das angenehme Em - pfindniß aus der Vorſtellung fuͤr ſich iſt. Eben ſo ver - haͤlt es ſich bey allen unſern Vorſtellungen von Guͤtern und Vorzuͤgen, die wir uns als fremde, andern, nicht uns ſelbſt, zukommende gedenken.

Wir ſehen hieraus zugleich, wie es zugehe, daß uns die Vergnuͤgungen aus dem Beſitz der Kraͤfte und Vermoͤgen viel wichtiger ſind, als die einzelnen Ver - gnuͤgen, die uns ihre Anwendung in beſondern Faͤllen gewaͤhren kann. Jene entſpringen aus dem Gefuͤhl eines Ganzen; die letztern aus den Gefuͤhlen von einzel - nen Theilen, die aber alsdenn freilich mehr entwickelt und voller ſind, als dorten in dem Ganzen, und daher auch zuweilen eben ſo ſtark den Sinn beſchaͤftigen, als zur andern Zeit die ganze Vorſtellung von dem Vermoͤgen es thut. Dem Durſtigen kann ein einziger TrunkWaſſers,830XIV. Verſ. Ueber die PerfektibilitaͤtWaſſers, der ihn labet, derzeit wichtiger ſeyn, als der Beſitz einer Quelle. Aber im Durchſchnitt die Sache genommen, koͤnnen wir den einzelnen Genuß eines Ver - moͤgens nicht hoͤher ſchaͤtzen, als den Trunk, den wir genießen; dagegen das Vermoͤgen ſelbſt fuͤr uns den Werth einer ganzen Quelle hat, aus der man immer ſchoͤpfen kann. Man muß außerordentlich durſtig ſeyn, um dieſe fuͤr jenen hinzugeben. Das Gefuͤhl aus dem Beſitz iſt ein anhaltendes Gefuͤhl einer innern vielſeitigen Wirkſamkeit, wenn die letztere gleich nicht deutlich wahr - genommen wird. Das Gefuͤhl aus der einzelnen An - wendung iſt ein Gefuͤhl aus einer zwar ſtaͤrkern aber einſeitigen Kraftaͤußerung. Jenes tragen wir allent - halben mit uns herum, und wiſſen es, daß es nicht ſo von Zufaͤllen abhaͤngt, wie das letztere. Es hat ſich tief in uns feſtgeſetzet, und iſt zum Mittelpunkt von unzaͤhlig vielen Jdeenreihen geworden, die bey jeder Gelegenheit darauf zuruͤckfuͤhren und es erneuern.

Dieſe Empfindung ſeines eigenen Werths iſt bey dem Menſchen eine Folge ſeines ſeinern Selbſtge - fuͤhls, ſeiner Thaͤtigkeit und ſeines Bewußtſeyns. Man kann ein Analogon davon einigen Thieren zuſchreiben, die ein gewiſſes Zutrauen auf ſich und ihre Kraͤfte, Muth, Stolz und Eitelkeit auf eine aͤhnliche Art durch Geberden anzeigen, als der Menſch. Aber dazu iſt ihr Gefuͤhl zu koͤrperlich, zu grob und zu ſehr nur bloß Ge - fuͤhl der einzelnen Wirkungen ihrer Kraͤfte, als daß es, wie bey dem Menſchen, abgeſondert und in ein allge - meines Bild von dem Beſitz eines Vermoͤgens vereini - get werden koͤnnte. Daher iſt es auch nicht moͤglich, daß es bey dem Thier zu einem eigentlichen vorgeſtell - ten Zweck werde, ſich Vermoͤgen zu erwerben. Jn dem Menſchen wird es dazu leicht und natuͤrlich. Wirkoͤn -831und Entwickelung des Menſchen. koͤnnen dieß Gefuͤhl von dem Beſitz der Vollkommen - heit nicht entbehren, oder es fehlt uns die Zufriedenheit mit uns ſelbſt. Es entſteht ein Gefuͤhl des Leeren und des Mangels, das uns faſt zwinget, da wo es an wah - ren Empfindungen fehlet, den Raum des Herzens mit Einbildungen auszufuͤllen.

Opinion
Each want of happineß by Hope ſupply’d,
And each vacuity of ſenſe by Pride.
Pope.

Dennoch darf man ſich nicht wundern, wenn man ſieht, daß die Vorſtellung von dem Werth auch wahrer gefuͤhlter Vollkommenheit nicht bey allen Menſchen denſelbigen Grad der Staͤrke erlanget. Es ſind unend - lich viele Veranlaſſungen, die den Trieb der Natur mehr auf die einzelnen Empfindungen hinziehen, und es ver - hindern, daß die Vorſtellung von einer Seelenkraft und von dem Werthe derſelben lebhaft werde und ſich feſt - ſetze. Was bekuͤmmert ſich der weiche Wolluͤſtling um innere Geiſtesſtaͤrke, da er nur Freuden kennet, die von aͤußern Eindruͤcken kommen, und von der innern Quelle hoͤherer Guͤter weniger gefuͤhlet hat? Hat aber das Gefuͤhl an innerer Vollkommenheit ſich einmal feſtge - ſetzet: ſo laͤßt es ſich bis dahin erhoͤhen, daß die Be - gierde nach derſelben auch nicht einmal von dem Gedan - ken, wir werden vielleicht nie einen erheblichen Gebrauch von ihr machen, voͤllig vernichtet wird. Etwas muß ſie freilich dadurch geſchwaͤchet werden. So viel muß man zugeben, wenn man jemanden voͤllig uͤberzeugte, dieſe oder jene Geſchicklichkeit ſey ihm auf die Zukunft ganz unnuͤtz, und wenn man ihm dieſen Gedanken oͤf -ters832XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤtters wiederholet: ſo muͤſſe ſich endlich auch das vorige Gefuͤhl ihres Werths verlieren, wofern es nicht von Zeit zu Zeit durch andere Urſachen erneuert wird. Dieſen Erfolg wird man dennoch ſehr ſelten antreffen, wie man bey den Alten ſieht, die nach Ruhm und Gelde geizen, und oft genug von ihrer Vernunft erinnert ſind, daß ſie keinen Gebrauch davon machen koͤnnen. Die Tugend iſt ihr eigener Lohn, weil ſie unaufhoͤrlich im Jnnern genutzet werden kann. Aber ob ſie nach den ſtoiſchen Grundſaͤtzen ihr genugſamer Lohn ſey, ob ſie es bey allen Menſchen ſeyn koͤnne, iſt eine andere Frage? Sollte man wohl in allen Jndividuen ein ſolches Verhaͤltniß der leidenden und thaͤtigen Vermoͤgen, der niedern und der hoͤhern Kraͤfte, annehmen duͤrfen, als dazu erfodert wird, wenn das innere Gefuͤhl aus der Staͤrke und Richtigkeit der Neigungen und aus der Selbſtmacht der Seele uͤber ſich, ſtaͤrkere und lebhaftere Vergnuͤgungen gewaͤhren ſoll, als die leidentlichen Eindruͤcke auf die Sinne, und als die Bilder der Einbildungskraft aus aͤußern Empfindungen? Die ſtoiſche Moral war auch von dieſer Seite nur eine Moral fuͤr ſehr wenige. Bey den meiſten Menſchen iſt es durchaus noͤthig, daß eine Erwartung kuͤnftiger ſinnlicher Freuden, als das Ge - folge der Tugend, hinzukomme, wenn die letztere ihre Achtung behalten ſoll. Wo bliebe dieſe letztere, wenn die Tugend nicht die Verheißungen der Zukunft bey ſich fuͤhrte? Aber der Mann von edler und ſtarker Geiſtes - thaͤtigkeit vertauſchet demnach ſeine Tugend, Recht - ſchaffenheit und Weisheit mit keinem Paradies. Und dieß darf keine Wirkung von uͤberſpannten Begriffen ſeyn. Er kann nach der ruhigſten Abwaͤgung ſeiner Gefuͤhle ſo urtheilen. Jſt er voͤllig uͤberzeugt, ſie ſey nach dem Tode unnuͤtz, ſo koͤnnte es vielleicht vernuͤnf - tig ſeyn, um der Verlaͤngerung des Lebens willen, vonihr833und Entwickelung des Menſchen. ihr in einem oder dem andern Fall abzuweichen, das iſt, ſie ſo einmal aufzuopfern, daß er ſie nur in dieſem Au - genblick verloͤre, in dem folgenden aber ſie wieder an - naͤhme, wenn dieß moͤglich waͤre. Aber ſie ganz auf be - ſtaͤndig mit allen ihren Folgen aufzugeben: was wuͤrde ihm dieſen Verluſt auch in dem laͤngſten Leben erſetzen koͤnnen? Geſetzt indeſſen, es ſey nach kalter Ueberlegung ſein Vortheil, ſie ganz fahren zu laſſen, wenn er uͤberzeuget iſt, daß ſie ihm zu nichts mehr nuͤtz - lich werde, wenn er ſie nicht fahren laſſen wolle: ſo laſſe man ihn dagegen nur hieruͤber bloß zweifelhaft ſeyn, nicht gewiß es wiſſen, daß er ſie in Zukunft genießen werde! kann ihm denn wohl die kaͤlteſte Vernunft ra - then, ſie fuͤr irgend ein Gut der Erde hinzugeben?

Wohin zielt dieſe Einrichtung unſerer Natur? Der Trieb geht dem Vergnuͤgen nach, und wird auf dieſem Wege zur Entwickelung und Erhoͤhung der Kraͤf - te geleitet. Der Menſch gewinnt die letztere lieb, an - fangs ihrer angenehmen Folgen wegen in den aͤußern Gefuͤhlen, nachher ihrer ſelbſt wegen, und macht ſich ei - ne Abſicht aus ſeiner Vervollkommnung, als aus einer Aufſammlung von Schaͤtzen fuͤr die Zukunft. Die Be - gierde dieſe Schaͤtze zu beſitzen wird Leidenſchaft, und bleibet es, wenn gleich die Ausſicht auf die Zukunft ſich verdunkeit. Dieſe Richtung in unſern Trieben iſt ohne Zweifel durch Erziehung und Unterricht befoͤrdert. Aber auch ſelbſt in der Anlage der Natur findet ſich eine Be - ziehung der Vermoͤgen, die ſie einer ſolchen Lenkung nicht nur empfaͤnglich macht, ſondern von ſelbſt dahin treibt. Erfolget dieſelbe, ſo iſt dieß blos eine Entwi - ckelung der natuͤrlichen Einrichtung. Denn ſo viel iſt doch bey den Menſchen allgemein, und auch da, wo der Unterricht am wenigſten bedeutet. Jeder ſucht ſich dasII Theil. G g gLeben834XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt c. Leben angenehm zu machen, und verſchaft ſich dazu Ver - moͤgen und Kraͤfte, wovon ein großer Theil zwar nicht ganz ungenuͤtzet bleibet, aber doch, wenn ihr Gebrauch ſich mit dem Leben endiget, bey weitem ſo nicht genutzet wird, als er genutzet werden kann. Viele bleiben Mit - tel ohne Zweck. Mich deucht, es ſey auffallend, daß es auch hier in unſerer Natur Kraͤfte und Beſtrebungen gebe, die nach Punkten hingehen, welche jenſeits des Grabes liegen.

Ende.

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Druckfehler und Verbeſſerungen zum erſten Theil.

  • Vorrede S. XXXIII. Zeile 18. ſtatt Steife ließ Streifen
  • S. 10.Z. 24. ſtatt Gewicht l. Geſicht
  • S. 13.Z. 34. ſtatt Bezeichungen l. Beziehungen
  • S. 35.Z. 28. ſtatt eben l. nicht eben
  • S. 62.Z. 7. ſtatt nicht ſo l. ſo
  • S. 112.Z. 21. ſtatt iſt, l. iſt, erklaͤret werde
  • S. 116.Z. 8. ſtatt Gewalt l. Geſtalt
  • S. 134.Z. 10. ſtatt eine als die l. eine oder die
  • S. 140.Z. 2. ſtatt und l. haben, die
  • S. 155.Z. 29. ſtatt aus Einer l. in Einer
  • S. 170.Z. 22. ſtatt mit einander l. mit andern
  • S. 176.Z. 7. ſtatt Gehoͤre l. Gehirn
  • S. 185.Z. 28. ſtatt Gemuthlich l. Gemuͤthlich
  • S. 194.Z. 23. ſtatt aber iſt l. aber das letztere iſt
  • S. 237.Z. 26. ſtatt auf ſich l. aus ſich
  • S. 272.Z. 10. 11. ſtatt dem man noch die l. den man noch der
  • S. 303.Z. 23. ſtatt ſubjektiviſchen l. ſubjektivi - ſches
  • S. 303.Z. 25. ſtatt Denkung l. Denkkraft
  • S. 309.Z. 14. ſtatt darſtellet l. darſtellen
  • S. 309.Z. 15. ſtatt iſt l. ſind
  • S. 362.Z. 4. ſtatt mehrere beſondere l. mehrern beſondern
  • S. 366.Z. 3. ſtatt Form l. Formen
  • S. 370.Z. 32. ſtatt erfolgen l. erfolget
  • S. 379.Z. 14. ſtatt ohne l. als
  • S. 382.Z. 2 von unten, ſtatt haben l. hat
  • S. 387.Z. 28. ſtatt auch l. ſich auch
  • S. 396.Z. 2. ſtatt irgendwie l. irgendwenn
  • S. 450.Z. 21. ſtatt Bewendung l. Anwendung
  • S. 460.Z. 24. ſtatt Beziehung l. Bezeichnung
S. 471.[836]
  • S. 471.Z. 25. ſtatt Befoderniſſe l. Erfoderniſſe
  • S. 472.Z. 1. ſtatt denkende l. deckende
  • S. 499.Z. 18. ſtatt jenes l. jene
  • S. 526.Z. 4. ſtatt beachten l. trachten
  • S. 543.Z. 18. ſtatt Figur l. Fiber
  • S. 555.Z. 32. ſtatt eine l. keine
  • S. 591.Z. 30. ſtatt ſo muß l. muß
  • S. 612.Z. 21. ſtatt Gegenſtaͤnden l. Gegen - ſtaͤnde
  • S. 634.Z. 12. ſtatt etwas iſt l. etwas ſtark iſt
  • S. 656.letzte Zeile, ſtatt koͤnne l. kann
  • S. 661.Z. 2. ſtatt appoſita l. oppoſita
  • S. 694.Z. 14. ſtatt ſie den l. in den
  • S. 701.Z. 1. ſtatt lebendige l. lebhafte
  • S. 718.Z. 29. ſtatt hindenken l. hinlenken
  • S. 721.Z. 22. ſtatt und die l. die
  • S. 728.Z. 25. ſtatt vereinigen l. zerſtreuen
  • S. 734.Z. 28. ſtatt bey der l. leyder
  • S. 754.Z. 6. ſtatt jede durch ihre l. jedes durch ſeine
  • S. 754.Z. 9. ſtatt in der l. in denen
  • S. 763.Z. 16. ſtatt ſchon l. ſchoͤn
  • S. 767.Z. 22. ſtatt eher l. ihn eher
  • S. 767.Z. 34. ſtatt und l. aus
  • S. 769.Z. 16. ſtatt Sinnorgans l. Stimmor - gans
  • S. 783.Z. 6. ſtatt Urfaͤhigkeit l. Unfaͤhigkeit

About this transcription

TextPhilosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung
Author Johann Nicolaus Tetens
Extent870 images; 221559 tokens; 14171 types; 1575382 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationPhilosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung Zweyter Band Johann Nicolaus Tetens. . XXVI, 834 S., [1] Bl. WeidmannLeipzig1777.

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HAB Wolfenbüttel HAB Wolfenbüttel, M: Vb 634:2Dig: http://diglib.hab.de/drucke/vb-634-2b/start.htm

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Philosophie; Wissenschaft; Philosophie; core; ready; china

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  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
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ShelfmarkHAB Wolfenbüttel, M: Vb 634:2
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