PRIMS Full-text transcription (HTML)
Achtzig erlaͤuterte Grund-Fragen /
in welchen Die Lehre der Evangeliſch-Lutheri - ſchen Kirche von dem Mittler-Ampt JEſu Chriſti und deſſen Einfluß zu einem heili - gen Leben wider ihre Feinde uͤberhaupt, inſonderheit aber wider den beruffenen Johann Conrad Dippel, der ſich zum Beweiß ſeiner wunderlichen Gemuͤhts - Neigung bishero Chriſtianum Democritum genannt / ſolchergeſtalt befeſtiget / daß die dahin gehoͤrige Warheiten nach Vernunft und Schrift ausein - ander hergeleitet / folglich in einer nohtwendi - gen Verbindung und unuͤberwindlichen Gewißheit dargeſtellet werden / Denen / die mit dergleichen ſchaͤdlichen Lehren zum Argen verſuchet worden / zur Warnung; ſchwachen Seelen zur Befeſtigung und neu-angehenden Predi - gern / um denen heutigen Zweiffelmachern deſto gruͤndlicher begegnen zu koͤnnen / zu mehrerm Nachſinnen mitgetheilet
Zu finden Luͤbeck und Hamburg.

Dem Hochwuͤrdigen und Hochwol - gebohrnen Herrn / HERRN Elaus Reventlow / Des Koͤniglichen Daͤniſchen Or - dens vom Dannebrog Rittern / Jhro zu Daͤnnemarck Norwegen glorwuͤrdigſt-regierenden Koͤnigl. Majeſtaͤt hochanſehnlichem Cam - mer-Herrn und Hochbetrautem Stifts-Amtmann uͤber Aalborg / Wie auch Des hohen Stifts zu Luͤbeck wuͤr - digſtem CANONICO, Meinem hoͤchſtgeneigten Herrn und vorneh - men Hohen Goͤnner.

Hochwuͤrdiger und Hochwolge - bohrner Hr. Stifts-Amtmann / hoͤchſtgeneigter Herr!

EW. Excellence uͤberreiche ich nach der unter denen Gelehrten an - genommenen Gewohnheit ge - genwaͤrtige Schrift, als einen Beweiß meiner gegen Deroſelben tragenden Hochachtung und nie auszuloͤſchen - den Liebe und Zuneigung. Jch habe ſelbige verfertiget, um die wichtigſten Glaubens-Lehren unſerer Evangeli - ſchen Kirchen gegen einem zur Genuͤ - ge bekannten, heftigen Verfolger der - ſelben zu verthaͤdigen und meyne alſo eine gute Sache fuͤr mir zu haben. Es iſt angenehm in dergleichen Zwi - ſtigkeiten alſobald einen Schieds -MannZu-Schrift.Mann und Richter zu kennen, und ich bin uͤberfuͤhrt, daß Ew. Excellence hiezu eine vollenkommene Faͤhigkeit beſitzen. Jch trete der Warheit in keine Wege zu nahe, weñ ich oͤffentlich bekenne, daß man Dero Urtheil weder partheyiſch noch ungegruͤndet wuͤrde finden. Die - ſe Urſache koͤnte ſchon mein Unterneh - men, da ich dieſe geringe Arbeit Ew. Excellence zueigne, fuͤr ſich rechtfertigen. Sie iſt es aber nicht allein. Der kraͤf - tigſte Bewegungs-Grund nimmt ſei - nen Urſprung aus einer zaͤrtlichen Leydenſchaft meines Gemuͤhts. Die Empfindung von Ew. Excellence lieb - reichen Zuneigung gegen meine Per - ſon und wuͤrcklich genoſſenen Wohl - thaten lieget mir ſo tieff im Hertzen, daß die Entlegenheit des Orts Dero Auffenthalts ſelbige ſo wenig auszu - loͤſchen vermag; als wenig der Ablauf der Zeiten ſolche hat hinweg nehmen koͤnnen. Es geben ſich jezuweilen gluͤckliche Umſtaͤnde in unſerm Leben an, welche in den gantzen Uberreſt deſ -ſelbenZu-Schrift.ſelben einen Einfluß haben: wenig - ſtens ſich von denen uͤbrigen Bege - gnuͤſſen mercklich unterſcheiden. Mir iſt die Gelegenheit, da ich Ew. Excellence zuerſt bekannt geworden, allezeit als die Vortheilhaftſte, die ich in der Welt gehabt, vorgekommen: wenigſtens kan ich ruͤhmen, daß ſolche zu mei - nen zeitlichen Wohlſeyn einen merckli - chen Grund gelegt. Die Weißheit, ſo alle menſchliche Dinge nach heiligen Geſetzen regieret, hat es gefuͤget, daß eben zu der Zeit, da ich meine Academi - ſchen Studia auf der wehrten Kieliſchen Univerſit aͤt, die Gott im Segen erhalte! geendiget, und um eine Gelegenheit, wie bey meinen wenigen Mitteln der - ſelben Wachsthum ferner moͤgte be - fordert werden, bekuͤmmert war, Ew. Excellence unvermuhtet meiner Unterweiſung und Aufſicht anbefoh - len wurden. Andern gereicht derglei - chen Bedienung zur Muͤhe und Laſt. Sie laͤſt unterweilen weder Zeit noch Luſt uͤbrig, fuͤr ſich an dem Schatz der Wiſſenſchaften etwas zu gewiñen. JchimZu-Schrift.im Gegentheilhabe aus derſelben Ver - gnuͤgen und Vortheile geſchoͤpfft. Jch bin im Zweiffel, ob Ew. Excellence mehr durch meinen Unterricht, als ich durch Dero bey denen Jahren ungewoͤhnli - che Begierde zum Wiſſen und natuͤr - liche Scharffſinnigkeit bin erbauet worden. Dieß hat mir Anlaß gegeben, vielen Dingen gruͤndlich nachzuſinnen, auf welche ich vielleicht niemahls ge - rahten waͤre. Jch habe auf ſolche Art aus denen Bemuͤhungen Ew. Excellence von meinen wenigen Wiſ - ſenſchafften mitzutheilen, allemahl ei - nen mercklichen Gewinn gezogen. Dieſer iſt unſtreitig groß geweſen: aber ich vergleich ihn nicht mit dem Vergnuͤgen / ſo ich aus Dero Umgang geſchoͤpffet. Jch habe ſolche vier Jahr genoſſen / die mir gewiß wie einzele Tage geworden. Ew. Excellence Ge - muͤhts-Neigungen ſind von der Beſchaffen - heit / daß ſie ſolche angenehme Wirckung ha - ben muͤſſen. Jch habe ſie dazumahl und auch nachhero ſo treflich und edel gefunden / als ſie immer in einer menſchlichen Seele koͤnnen ge - funden werden. Es wird alſo unmoͤglich ſeyn / daß der Eindruck davon ſich aus mei -nemZu-Schrift.nem Geiſt ehe kan verlieren / bis die Erinne - rung der irrdiſchen Dinge durch meine letzte Veranderung auch ihre Veranderung wird leiden muͤſſen. Je groſſer dieſer iſt / deſtowe - niger habe ich Umgang nehmen koͤnnen / einen oͤffentlichen Beweiß davon zu geben. Dabey iſt dieß mein hertzlicher Wunſch zu GOTT / daß Er Ew. Excellence mit Dero hoͤchſtge - ſchaͤtzten Frau Gemahlin bey dem Antritt des einſtehenden neuen Jahres und fernerhin in einem geſegneten Wohlſtande wolle erhalten / der ich in voͤlliger Uberfuͤhrung von Dero un - ſchaͤtzbaren Gewogenheit in geziemender Ehr - erbietung bis an meine Vermoderung ver - harre Hochwuͤrdiger und Hochwol - gebohrner Herr Stifts - Amtmann / Hoͤchſtgeneigter Herr / Ew. Excellence

Ploͤn / den 22 Dec. 1731. gehorſam-verpflichteter Diener und Fuͤrbitter bey Gott PETRUS HANSSEN.

1

Vorrede.

WJllkuͤhrliche Meynungen und noht - wendige Warheiten haben in ſich einen weſentlichen Unterſchied, und werden auf gantz verſchiedene Art in der See - len gezeuget und empfunden. Es iſt alſo moͤglich, daß man dieſelbe kennen und von einander unterſcheiden kan: ob es gleich ſchwer iſt und denen Wenigſten gelingt, dieſen Un - terſchied zu bemercken und einzuſehen. Will - kuͤhrliche Meynungen haben ihren Grund in einer leeren Einbildung: bey nohtwendigen Warheiten hingegen iſt eine voͤllige Uberzeu - gung in dem Verſtande. Die Einbildung unterdeſſen hat einige Aehnlichkeit mit der U - berzeugung, und wird bey dem groͤſten Hauf - fen vor dieſelbe angenommen. Die Meiſten glauben von Dingen, die ſie ſich ſelbſt nur alſo vorgemahlt, uͤberzeuget zu ſeyn. Es iſt auch nichts ſchwerer, als die Merckmahle, wornach man die Uberzeugung von der Ein - bildung unterſcheiden muß, jemanden beyzu - bringen. Gleichwohl kan man in Erfindung und Beurtheilung der Warheit, ohne hievon einen deutlichen Begrif zu haben, ohnmoͤg - lich gluͤcklich fortkommen, noch etwas Rechtes ausrichten. Eben daher, daß ſo wenige die - ſen Unterſchied kennen, geſchiehet es, daß vieleaJrr -2Vorrede. Jrrthuͤmer vor Warheiten, und allerley ab - geſchmackte Einfaͤlle gar vor goͤttliche Einge - bungen angenommen und ausgegeben wer - den. Man verthaͤdiget jezuweilen die unge - reimtſten Meynungen bis aufs Blut, und zwei einander offenbar widerſprechende Saͤtze, da - von einer nohtwendig falſch ſeyn muß, werden ſolchergeſtalt verfochten, daß einjeder den ſei - nigen vor unuͤberwindlich, und denjenigen vor blind, einfaͤltig und verſtockt haͤlt, der ſol - ches nicht annehmen oder auf einige Weiſe in Zweiffel ziehen wil. Es iſt aber denen Men - ſchen nicht genug, daß ſie ſelber irren und den Wachsthum ihrer innerlichen Vollenkom̃en - heit hindern; ſondern ſie haben auch den ſchaͤd - lichen Wahn, ob waͤren ſie verbunden, ihre Ein - faͤlle andern zugleich bekannt zu machen, und ihren Nechſten die Fruͤchte ihrer Einbildung genieſſen zu laſſen. Alſo laſſen ſie ſichs recht ſauer werden, das Reich der Finſternuͤs zu vermehren, und ſie meynen Wunder, was ſie vor eine heilſame Arbeit ausgerichtet, wenn ſie einige bloͤde Geiſter an ſich ziehen und denen - ſelben ihre After-Begriffe beybringen koͤnnen. Sie ſuchen dieſes mit mehrerm oder wenigerm Eyfer ins Werck zu richten, nach dem ihr Zweck und Vorſatz ſolches zu erfodern ſcheinet, und dieſer hat gemeiniglich ſeinen Grund in demWil -3Vorrede. Willen des Fleiſches: Die Begierde, einen groſſen Namen in der Welt zu haben; wegen beſonderer Einſichten und Schaͤrffe des Ver - ſtandes bewundert zu werden; denen, welchen man uͤbel wil, Verdruß und Unruh zu erre - gen und auch jezuweilen nach Befindung der Umſtaͤnde denen Einfaͤltigen das Geld aus dem Beutel zu locken, macht die Menſchen emſig, ſinnreich und hitzig, ihre ſelbſterwehlte Begriffe als unuͤberwindliche Warheiten zu verthaͤdigen, und ohne Schaam und Scheu mit Mund und Schriften auszubreiten. Ge - ſchiehet ſolches mit einer muntern Schreib - Art, mit einem Spiel-Werck ſchoͤnklingen - der Woͤrter und Redens-Arten, wenn ſie gleich unverſtaͤndlich und nichts bedeuten; mit dem Zeugnuͤß eines Eyfers fuͤr die War - heit; der Liebe zu dem Heyl anderer Men - ſchen; der verbindlichkeit GOttes Ehre aus - zubreiten; ſo finden ſolche Leute nicht nur bey vielen Aufmerckſamkeit, ſondern auch bey et - lichen Glauben und Beyfall. Und diß iſt eben nicht zu bewundern. Die wenigſten haben ein Gefuͤhl der Warheit: dahingegen iſt der groͤſte Hauffen zur Leichtglaͤubigkeit, zu Neue - rungen und zu Veraͤnderungen geneigt. Die Menſchen wollen ſich immer verbeſſern; ſolt es auch ſelbſt in der Religion und denena 2Glau -4Vorrede. Glaubens-Lehren ſeyn. Das Neue wird ihnen bald alt: und ſo bald es ihnen alt zu ſeyn daucht, wollen ſie was neues haben.

Und warlich hierin liegt der Grund, wie von vielen andern Jrrthuͤmern; alſo inſon - derheit von denen Ketzereyen und irrigen Meynungen, welche in Lehren, die das ewige Wohl der Menſchen angehen, ausgebruͤtet werden. Ein jeder nimmt Theil an denen Lehren von der Seligkeit. Niemand wird vorſetzlich ewig elend werden wollen. Alſo iſt es an ſich unmuͤglich, daß ein Menſch, welcher glaubt, daß eine Seligkeit zukuͤnftig ſey, nicht auch ſolte wuͤnſchen, dieſelbe zu er - langen: folglich auch den Weg und die Mit - tel zu wiſſen, wie ſolches geſchehen moͤge. Daher koͤmmts, daß die meiſten Menſchen auf die Religion und was darin gelehrt wird, fuͤrnemlich wenn ſich Neuerungen darin her - vor thun, aufmerckſam ſind. Nachdem nun dieſelbe leichtglaͤubig und argwoͤhniſch, ſo laſſen ſie ſich blenden und einnehmen. Solches wiſſen dann andere, die etwas ſchlau ſind und gerne einen groſſen Namen haben wollen, ſich zu Nutz zu machen. Auf ſolche Art kan man in keinen Wiſſenſchaften leichter von der Warheit abgefuͤhret werden, als in de - nen, die das ewige Wohl der Seelen ange -hen;5Vorrede. hen; und man hat in keiner Lehre ſich ſorg - faͤltiger in acht zu nehmen, als eben in der, die unſere Religion und Glauben betrift. Und da gilt fuͤrnemlich die Regul des Apoſtels, daß wir uns bemuͤhen ſolten hinan zu kommen zu einerley Glauben und Erkaͤnntnuͤß des Soh - nes Gottes und ein vollkommen Mann wer - den, der da ſey in der Maaß des vollenkom - menen Alters Chriſti. Eph. IV. 14. Dieſes a - ber wird nicht geſchehen moͤgen, es ſey dann, daß man das Willkuͤhrliche von dem Noht - wendigen, und das Falſche von dem Wah - ren zu unterſcheiden geſchickt ſey. Und es iſt nicht nnmoͤglich unter Gottes Beyſtand die - ſe Geſchicklichkeit zu erlangen. Zwar der Un - terricht, welchen bloſſe Vernunft hievon gibt, iſt unzulaͤnglich, und die Begriffe, welche wir uns durch Huͤlffe derſelben von Lehr-Saͤtzen, ſo hieher gehoͤren, machen, ſind mit der Furcht des Gegentheils verknuͤpft, und laſſen folg - lich die Seele in Zweifel und Ungewißheit. Niemand wird durch eigenes Nachſinnen, er ſey noch ſo ſtarck an Gaben des Verſtandes, zur Erkaͤnntnuͤß des Heyls, die da iſt in Ver - gebung der Suͤnden, gelangen. Die Erfah - rung hat es auch zur Gnuͤge erwieſen, daß ſol - ches auſſer Menſchen Kraͤften geweſen. Al - lein dieſem Mangel hat GOtt ſelbſt abge -a 3holf -6Vorrede. holffen. Von ihm iſt die Schrifft eingege - ben, die uns | unterweiſen kan zur Seligkeit. 2 Tim. III. 15, 16. GOTT thut auch ſeinem Zweck allemahl ein Genuͤge. Alſo muͤſſen alle Warheiten, die uns ſelig machen, darin enthalten ſeyn. Sie muͤſſen ſolchergeſtalt darin enthalten ſeyn, daß Seelen, die mit Aufmerck - ſamkeit ſie ſuchen, ſelbige unfehlbahr finden. Man kan ſich die Lehre, welche uns von der Seligkeit einen zulaͤnglichen Unterricht geben ſoll, nicht anders als eine Zuſammenfaſſung unveraͤnderlicher Warheiten, die ihren Grund in denen goͤttlichen Vollenkommenheiten, folglich in ſeinem Weſen haben, vorſtellen. Man pfleget dieſelbe die Ordnung des Heyls zu nennen. Dieſe iſt es, welche in GOttes Wort verfaßt. Wer von derſelben wil ein zulaͤngliches und uͤberzeugendes Erkaͤnntnuͤs haben, muß es in dieſem Wort ſuchen: Gott laͤßt keine Seele irren, die nicht irren wil. Er wil, daß alle Menſchen ſollen zur Erkaͤnntnuͤs der Warheit kommen. 1 Tim. II. 4. Alſo kan es an Zulaͤnglichkeit der Mitteln auf ſeiner Seiten nicht fehlen: thut dann der Menſch auch das, was an ſeiner Seiten unumgaͤng - lich geſchehen muß, ſo wird die Uberzeugung gewißlich folgen. Worin diß aber beſtehe, ſolches wird ſich aus nachfolgenden in etwasbe -7Vorrede. beurtheilen laſſen. Die Glaubens-Warhei - ten von unſerer Seligkeit muͤſſen freylich in Gottes Wort geſuchet werden: es iſt aber dabey fuͤr ſich klar, daß ſolches ſuchen ohne den rechten Gebrauch unſerer Seelen Kraͤfte un - moͤglich geſchehen koͤnne: ja in der Schrift wer - den viele Warheiten, die mit der Ordnung des Heyls eine genaue Verbindung haben, als ſolche, die man aus dem Licht der Natur mit zulaͤnglicher Uberfuͤhrung erkennen kan, voraus geſetzt. Eine jede Uberzeugung alſo, die in der Seele entſtehen ſoll, muß entweder aus der Vernunft oder aus der Schrift den Urſprung nehmen. Die Uberzeugung aus bloſſer Vernunft kennet man bey dem nohtwendigen Beyfall. Man muß die Warheit ſolchergeſtalt empfinden, daß es nicht in unſer Gewalt ſtehe, dieſelbe mehr zu leugnen. Die hoͤchſte Stuffe der Uberzeugung iſt, wenn wir uͤberfuͤhrt, daß das Gegentheil unmoͤglich.

Mit der Uberzeugung aus der Schrift muß es der Natur der Sachen nach freylich eine andere Beſchaffenheit haben. Hie kommt es darauf an, daß wir unter denen Woͤrtern und Redens-Arten uns die Begriffe machen, welche die Verfaſſer darin haben ausdruͤcken wollen. Sie haben ihre Begriffe in Woͤrter, und der Leſer muß die Woͤrter wiederum ina 4Be -8Vorrede. Begriffe verwandeln. Die wenigſten Woͤr - ter aber ſind in ihren Bedeutungen beſchraͤn - cket und abgemeſſen. Jhre Bedeutungen ſind auch, wie nach vielen andern Umſtaͤn - den, alſo auch nach dem Ablauf der Zeiten, vielfaͤltig veraͤndert. Daher kommen die man - nigfaltige und ſich offt untereinander wider - ſprechende Erklaͤrungen der Schrift. Daher kommen die viele Secten der Chriſtenheit, da eine jede vermeynet ihre angegebene Grund - ſaͤtze aus der Schrift beweiſen zu koͤnnen. Daher kommen die unzehlbare beſondere Re - ligions-Meynungen, die viele critiſche und phi - lologiſche Anmerckungen und Streitigkeiten, welche ſo viel hundert Jahr gedauret haben, und auch, ſo lang Gelehrten auf Erden ſind, dauren werden. Diß ſolte zwar denjenigen, der mit reiner Liebe zur Warheit nach dem Wege des Heyls forſcht, beynahe zaghaft machen, ob es auch uͤberall moͤglich, eine voͤlli - ge Uberzeugung von dem, was Gottes Geiſt zu unſerer Seligkeit darinn lehren wollen, aus ſelbiger zu erlangen. Es iſt bekannt, daß die Lehrer der Roͤmiſchen Kirche uns deſſen gerne bereden wollen, wie es auch die Grundſaͤtze ihrer Religion erfordern. Al - lein auch dieſer Meynung kan man ohne Nachtheil der Warheit nicht beypflichten. GOtt kan unmoͤglich wollen, daß ſo viel an9Vorrede. ihm, die Menſchen in unaufloͤßlichen Zwei - feln ſollen ſtecken bleiben; es widerſpricht dem Zeugnuͤß, daß er wolle, ſie ſollen zur Er - kaͤnntnuͤs der Warheit kommen. Der Be - griff von ſeiner Vollenkommenheit laͤſt uns glauben, daß er ſeinen Sinn ſo klar, als moͤglich, ausdrucken und auf die begreiflichſte Art mit uns reden wolle. Je weniger uns je - mand zu betriegen gedencket, deſto deutlicher redet er. So bald einer ohne Noht figur - lich, dunckel und uneigentlich redet, laͤſt er von ſich den Argwohn, daß er ſeinen Leſer will in Ungewißheit laſſen. Daraus aber fol - get, daß man die Woͤrter und Redens-Ar - ten der Schrift in der eigentlichſten Bedeu - tung nehmen muͤſſe, welche ſie leyden koͤn - nen, das iſt, ſolchergeſtalt, wie ſie gewoͤhnlich in der Welt gebraucht werden, und wie ſie ſich dem Zuſammenhang nach am fuͤglichſten gebrauchen laſſen. Hauptſaͤchlich iſt dieſes zu beobachten, wenn man ſich von denen Grund - Lehren der Seligkeit will zuverlaͤßige Begrif - fe machen. Man wuͤrde ſich in Ewigkeit der - gleichen nicht machen koͤnnen, wenn menſch - licher Verſtand erſt daran kuͤnſteln und wie die Woͤrter zu verſtehen, ausfuͤndig machen ſolte. Ein jeglicher wuͤrde ſeine Auslegung fuͤr die Beſte halten; wie es leyder! alſo in dera 5Welt10Vorrede. Welt taͤglich erfahren wird. Ein jeder pocht auf ſeinen Verſtand und wo iſt der Richter, der uns ſagen kan, wer den Beſten hat? Wann man ſolchemnach dieſen Satz als richtig annimmt, daß es der H. Scribenten Vorſatz muͤſſe geweſen ſeyn, die ihnen von dem Geiſtes Gottes mitgetheilte ſeligma - chende Weißheit auf die verſtaͤndlichſte Art, ſo nur immer moͤglich, auszudruͤcken, ſo koͤn - nen wir nicht mehr zweifeln, daß das, was nohtwendig aus dem Zuſammenhang ihrer Rede folgen und man bey dem eigentlichen und natuͤrlichen Gebrauch ihrer Woͤrter ſich gedencken muß, auch warhafftig ihre Mey - nung geweſen. Auf ſolche Art iſt eine Uberzeugung aus der Schrift moͤglich und zwar eine ſolche Uberzeugung die uns keine Furcht des Gegentheils zuruͤck laͤſt. Und ſolche beſteht eben darin, daß es nicht in un - ſerer Wahl, zu glauben, daß ſie einen andern Begrif haben ausdruͤcken wollen. Alſo ken - net man die nohtwendige Warheiten. Alle - brige Begriffe ſind willkuͤhrliche Meynungen: es ſtehet in menſchliche Freyheit, wie lang man ſie behalten und wenn man ſelbige aͤndern und abſchaffen will. Sie ſind im Grunde nichts als leere Einbildungen.

Man nennet eine Geſellſchaft von Men -ſchen11Vorrede. ſchen, welche ſich zu einerley Grund-Lehren von der Seeligkeit bekennen und die weſent - liche Stuͤcke des aͤuſerlichen Gottesdienſt mit einander auf gleiche Art beobachten, eine Kirche. Da nun vermoͤge des Vorherge - henden nur eine von GOtt beſtimmte Ord - nung des Heyls ſeyn kan, ſo iſt auch nur eine Zuſammenfaſſung derjenigen Warheiten, die dieſe Grund Lehren ausmachen, moͤglich: folg - lich kan nur eine wahre und rechtglaͤubige Kir - che ſeyn, und eben die Reinigkeit der Lehre gibt ihr den weſentlichen Vorzug und iſt ihr eigent - liches Kennzeichen:(1)Jch gerahte durch eine Folge meiner Gedan - cken auf die Warheit / welche von unſern Gottesgelehrten wider die Lehrer der Roͤmiſchen Kirchen verthaͤdiget wird / daß nemlich das einzige und eigentliche Kennzeichen der wah - ren Kirche die Reinigkeit der Lehre ſey: es geben zwar etliche den rechten Gebrauch der H. Sacramenten als das Zweyte an / es hat aber der gruͤndl. Theologus, Joh Gerhardus ſchon an - gemerckt / daß ſolche von dem erſten nicht ab - zuſondern / ſondern vielmehr mit ſelbigem ei - nerley ſey. Seine Worte davon ſind dieſe: eum pura verbi pradicatio legitimum ſacra - mentorum uſum iucludat (ſiquidem ſacramen - tum eſt verbum aliquod viſibile) cumque nonſit Wer alſo die wahreKir -12Vorrede. Kirche kennen will, der muß die Richtigkeit ihrer Lehren pruͤfen und die Glaubens-Be - kaͤnntnuͤſſe, welche die Glieder derſelben vor wahr halten, nach Gottes Wort beurthei - len. Diß iſt das eintzige Mittel fuͤr uns ſelbſt eine Uberzeugung zu erlangen und die goͤttli - che Warheiten von menſchlichen Einbildun - gen zu unterſcheiden. Es kommt alles dar - auf an, daß man Vernunft und Schrift von einander abzuſondern und jedes recht zu ge - brauchen wiſſe. Wer dieß nicht in acht nimmt; der kan niemals fuͤr Verfuͤhrung und Jrrthuͤmer ſicher ſeyn: und wo jemand noch uͤber dem einen Lehrer abgeben will, ſo kan er nichts als bloſſe Phantaſien und ſelbſt - erwehlte Meynungen zu Marckt bringen. Gleichwohl gibt es eine Art Schwaͤrmer, die, da ſie weder an Vernunft noch Schrift ſich wollen binden laſſen, dennoch eine voͤlligeUber -(1)ſit eadem ſacramentorum, quam eſt verbi & fidei ad ſalutem necesſitas (ſiquidem eccleſia Iſraelitica per 40. annos in deſerto circumciſio - nem intermiſit) ideo ſi ſtricte velimus loqui, poſſet una tantum propria & eſſentialis eccle - ſiæ nota conſtitui, videlicet pura verbi prædi - catio, cujus appendix eſt legitimus ſacramen - torum uſus. L. Theol. Tom. V. 25. de eccleſ. p. m. 832. 13Vorrede. Uberzeugung von ihren ſelbſterwehlten Mey - nungen zu haben ruͤhmen: die ſich gaͤntzlich uͤberreden, daß ſie es allein ſind, durch wel - che der Welt ein neues Licht koͤnne aufgehen: und ſich einbilden mehr als andere Menſchen erleuchtet zu ſeyn. Sie geben vor einen Schatz der Weißheit in ihnen ſelbſt zu beſt - tzen, ob ſie gleich keine Merckmahle als ihren eigenen Wahn davon angeben koͤnnen. Sie ſind auch dabey jezuweilen reich an Einfaͤllen, wie ein unzubereiteter Acker an Unkraut, und das ſcharffe Gefuͤhl von ihren Vollenkom - menheiten, welches gleichſam eine Gemuͤhts - Kranckheit, daran ſolcher Art Leute groͤſten - theils nieder liegen,(2)Gemeiniglich ſind diejenige / welche ſich wider die rechtglaͤubige Kirche aufgelehnet und in Glaubens-Sachen allerley neue Meynungen ausgebruͤtet / von Hochmuht und Ehrgeitz ge - trieben worden. Von denen alten Ketzern als Simone Mago, Menandro, Cerintho, Neſto - rio, Valentino, Montano, Novato, Sabbatio, Tatiano, Paulo Samoſateno und andern iſt ſol - ches zur Gnuͤge bekandt. Euſeb. H. E. L. II. c. XIII. L. III. c. XXIII. & XXV. Socr. H. E. L. VII. c. XXIX. & XXXII. Budd. Diſſ. de Valent. hæreſi § IV. Hornb. ſumma controv. p. 405 & 406. Dieſer Trieb iſt bey vielen ſo ſtarck geweſen /daß macht, daß ſie ſolcheals14Vorrede. als Glaubens-Articul der Welt mit Gewaltauf -(2)daß er alle Empfindungen von Schaam und Wohlſtand in ihnen toͤdtet und ausloͤſcht. Da ſich ſonſt niemand findet / der ſich ruͤhmen wil / ſo ruͤhmen ſie ſich ſelbſt: und ſolches auf eine ſo unverſchaͤmte Art / daß der Geſtanck davon kaum zu erdulden. Jnſonderheitfindet man dieß an den ſogenannten Fanaticis und Enthuſiaſten. So ſchaͤmet ſich Z. E. der beruffene David Joris nicht / vorzugeben / er habe alle Geheim - nuͤſſe ohne alle Buͤcher allein aus hoher goͤttlicher Offenbahrung und aus dem Anſchauen des unbedeckten Angeſichtes ſeines Gottes gelernet / er muͤſſe alle Menſchen / hohe und niedrige / kleine und groſſe / gelehrte und ungelehrte ermah - nen / daß ſie ihn / als einen gebohrnen Gottes von Himmel / einen Ambaſſadeur und Geſandten Gottes / einen Fortbrin - ger dieſes neuen Lichts in der andern Gebuhrt erkennen / zu ihm kommen / ſich von ihm als die unmuͤndigen Kindlein lehren und ohne Wiederdencken ſagen laſſen / wo ſie nicht ewig wollen unter-und verlohren gehen. Geſtaltſam derſelbe / der ſeiner Lehre widerſpricht / die rechte Suͤnde in den H. Geiſt begehe. Jeſſenii aufgedeckte Larve D. J. p. 99. Es klingt auch hochmuͤhtig genung / wenn Val. Weigel ſeinenguͤld -15Vorrede. aufdringen wollen. Jezuweilen ſind auchdie(2)guͤldnen Grif alſo anfaͤngt: Jn dem Na - men unſers HErren JEſu Chriſti ſchreib ich dieß Buͤchlein / darinnen auch die Ein - faͤltigen ſo weit im Verſtande gebracht werden / daß ſie uͤberwinden und treiben koͤnnen / viel hochgelehre Doctores und Welt-Gelehrte uͤberzeugen / daß viele Hochgelehrte in Blindheit ſitzen in allen dreyen Facultæ ten. So ſind es gleichfals nicht die ſchlechſten Lobſpruͤche / welche die Anthoi - nette Burignon ſich ſelbſt beylegt und von ih - ren Anhaͤngern beylegen laͤſt: wenn es von ihr heiſſt / ſie ſey eine Mutter der Kirchen / eine Mutter der Glaͤubigen: eine Fontei - ne des lebendigen Waſſers / davon die Stroͤme ſich ausbreiten werden in die gantze Welt; ob ſie zwar nie einige Buͤ - cher leſe / haben ſie doch die Wiſſenſchaft aller Dinge / kein Engel im Himmel koͤnne ihr was lehren: ſie habe die Ca - pacite, daß wenn ſie es noͤhtig haͤtten / die gantze Welt zu regieren / ohne Zweifel wuͤrde ihr GOtt Beyſtand thun: ja es ſey ihr geſagt / daß ſie bequem ſey / die gantze Welt zu regieren / da ſie damahlen nur von 20 Jahren geweſen. Jo. Bur - chardi Anmerckungen uͤber A. B lehren p. 107, 108. Jch uͤbergehe aus Liebe zurkuͤrtze die uͤbrigenPra -16Vorrede. die Umſtaͤnde in der Welt, daß ſolche Leute Glauben und Anhang finden. Die heilſame Lehre muß alſo auf ein Zeitlang denen Jrrthuͤ - mern weichen und allerley willkuͤhrliche, zum theil thoͤrichte Meynungen nehmen den Platz ein, wo die goͤttliche Warheit wohnen ſollte. Eshaben ſo gar Leute, davon ich gewißlich glaͤu - be, daß ſie entweder Ertzboͤſewichter oder auch auf einen gewiſſen, ob gleich nicht eben ſo gar mercklichen Grad im Kopf verruͤckt geweſen, zum theil gantze Secten, zum theil eine Menge Verehrer und Bewunderer nachgelaſſen. Wer das verwirrte Gezeug, ſo Böhm, Weigel, Fel - genhauer, Meth, Stiefel, David Joris, Daut, Römling, Tennhard, Nic. Storch. Andres Carlſtadt, ja eben die Burignon, Elias Prætorius oder Chriſt. Hohburg und viele andere zum theil zu Papier gebracht,zum(2)Pralereyen / mit welchen Felgenhauer, Meth, Stiefel, El. Brætorius, Storch / Carlſtadt, Th. Munſter, Joh von Leyden, Knipper dolling, Hans Engelbrecht und andere dergleichen Schwaͤr - mer mehr ſich ſelbſt haben ſchmuͤcken und fuͤr der Welt groß machen wollen. Daß es Joh. Conr. Dippeln nach dem Exempel dieſer Leute / die zum Theil ſeine Vorgaͤnger geweſen / weder an Gaben noch Luſt fehle / ſeinen Ruhm zu verkuͤndigen / davon werden wir unten einige Proben anzufuͤhren Gelegenheit haben.17Vorrede. zum Theil muͤndlich hinterlaſſen, mit Auf - merckſamkeit erweget; der wird faſt genoͤhti - get, auf dieſen Argwohn zu gerahten. (3)Es ſcheinet dieſe Meynung zwar hart zu ſeyn: ſie hat aber in der Sachen ſelbſt ihren Grund. Es gibt viele Arten des Wahnwitzes / da Leute im Kopf unrichtig / ob man ſie nicht eben darf in Ketten und Banden ſchlieſſen. Man leſe nur obgedachter Leute Schriften mit Auf - merckſamkeit und bemuͤhe ſich ihre Woͤrter und Redens-Arten in Begriffe zu brin - gen / und ſehe / was alsdann heraus kommt. Bey denen meiſten laͤuft es auf ein general Ge - ſchwaͤtz aus / da ſie den Wahn / ſo ſie ſich einmahl im Kopf geſetzt / auf allen Blaͤttern wieder - holen und dabey mancherley Woͤrter auf eine unſinnige Art verbinden / darunter ſich ſo un - moͤglich etwas gedencken laͤſt / als unmoͤglich die Verfaſſer ſelbſt etwas kluges darunter haben gedencken koͤnnen. Etliche haben den wunder - lichen Zuſtand ihres Geiſtes durch allerley Seltſamkeiten ſelbſt verrahten. Was iſt nicht das vor eine Grille / daß Jacob Böhme durch das Anſehen des Centri in einer zinnern Schuͤſ - ſel zum erſtenmahl erleuchtet worden? Daß Val. Weigel wuͤnſcht auf eine halbe Stunde ein Klotz zu werden / um wie ein Prophet und A - poſtel zu ſeyn? Daß Joh. von Leyden ihm ſelbſt eine dreyfache Crone aufſetzt? Daß Knipper -dol -bGleich -18Vorrede. Gleichwohl iſt keiner unter dieſen, der nicht ſei - ne Liebhabere gefunden. Es gibt Leute von verſchiedenem Geſchmack: darum kan denen, die gerne Haͤupter neuer Secten werden wol - len, wenn ſie ſonſt nur von geiſtlichen Sa - chen einiges Geſchwaͤtz machen koͤnnen und dabey die noͤhtige Verwegenheit und Ge - muͤhts-Haͤrte haben, ihr Anſchlag nicht leicht - lich misgelingen. (4)Der H. Hieronymus iſt zwar der Meynung / quod nullus posſit adſtruere hæreſin, niſi qui ardentis ingenii eſt & habet dona naturæ, quæ a Deo artifice ſunt creata. Er fuͤhrt dabey die beyden groſſe Ketzer den Valentinum und Mar - cionem als Exempel an. Comm. in Hoſ. c. X. EsDie Exempel von JacobBöhm(3)dolling, wenn ſeine Gemeine beyſammen ge - weſen / oben auf die Leute geſprungen / ihnen auf den Koͤpffen herum gekrochen / ſie ange - blaſen und geſagt: Nehmet hin den H. Geiſt. Daß Nic. Storch ruͤhmt / der Engel Gabriel haͤtte im Traum mit ihm geredt / daß die Bou - rignon glaubt / ſie waͤre geſchickt / die gantze Welt zu regieren / daß Andr. Carlſtadt einen grauen Bauren-Rock anzeucht / Holtz zu Marckt fuͤhret und Pfefferkuchen / Brandt - wein / Spiegel und Neſtel zu Kemberg feil hat. Wo ſolche Dinge vorgehen / da muß es gewiß mit dem Gehirn nicht die rechte Beſchaffen - heit haben.19Vorrede. Böhm und Johann von Leyden beweiſen, daß diß Schuſtern und Schneidern gelungen, ob gleich ihre Weißheit nichts mehr im hinterhalt gehabt, als was man von dergleichen Leuten er - warten koͤnnen.

So weit gehet die Schwachheit der Menſchen, und ſolchergeſtalt laſſen ſie ſich von mancherley Wind der Lehre wie - gen und waͤgen. Unterdeſſen iſt es nicht zu ſtreiten, daß demſelben an Erkaͤnntnuͤs der Warheit zur Beforderung ſeiner zeitlichen und ewigen Wohlfahrt ein groſſes gelegen. Der Mangel deſſelben thut ihm nicht bloß an dem Jrrdiſchen, ſondern auch an der Seelen ſchaden. So lieb ſolchemnach jemanden ſeine Seligkeit iſt, ſo viel Fleiß hat er darauf zuwen - den, daß er nicht durch Schalckheit und Teuſche - rey moͤge verfuͤhret werden, daß er den Gradb 2der(4)Es hat aber dieſer Satz unſtreitig ſeine Abfaͤl - le. Die Erfahrung hat es leyder! zu oft ge - lehrt / daß Leute von ſchlechtem Verſtande und von noch ſchlechterer Gelehrſamkeit Ketze - reyen mit mercklichen Fortgang angefangen: wenn ſie ſonſt nur eine geſchmeidige Zunge / und ein fertiges Maul gehabt. Von dem groſſen Ketzer Neſtorio gibt uns Socrates dieß Zeugnuͤß. H. E. c. XXXII. 20Vorrede. der Uberzeugung, haben moͤge, welcher nach Beſchaffenheit ſeiner Seelen-Kraͤfte immer kan erlanget werden. Ein jeder muß die War - heit nach aͤuſerſtem Vermoͤgen ſuchen: es iſt aber auch ein jeder verbunden, die Ausbrei - tung der Warheit nach aͤuſerſtem Vermoͤgen zu befordern. Man muß keine Seele ver - fuͤhren laſſen, die man fuͤr der Verfuͤhrung er - halten und bewahren kan. Der Grund des Geſetzes, welches uns verbindet, des Nech - ſten irrendes Vieh zurecht zu bringen. Deut. XXII. 1. verbindet uns vielmehr den Nechſten ſelbſt, wenn wir es verhuͤten koͤnnen, nicht im Jrrthum zu laſſen. So jemand irren wuͤr - de von der Warheit und jemand bekehret ihn, der ſoll wiſſen daß wer den Suͤnder bekehret hat von dem Jrrthum ſeines Wegens, der hat einer Seelen von dem Tode geholffen. Jac. V. 19, 20. Diejenige aber ſind hierzu in - ſonderheit verpflichtet, welche ſich zu oͤffent - liche Lehrer haben beſtellen laſſen. Es waͤre ein ſchaͤndlicher Betrug, wenn man ſolche Dinge wolte lehren, davon man ſelbſt nicht uͤberfuͤhrt: es waͤre aber auch eine unverant - wortliche Kaltſinnigkeit, wenn man die Leh - re, welche man prediget und davon man - berfuͤhrt iſt, wollte des Jrrthums verdaͤchtig und ſich ſelbſt zum Luͤgen-Prediger machenlaſ -21Vorrede. laſſen. Das Vermoͤgen, die Widerſprecher zu ſtraffen, gehoͤretzu denen Eigenſchaften eines rechtſchaffenen Biſchofs. Tit. I. 9. So hat auch derjenige, welcher Lehren prediget, die durch ein oͤffentliches Anſehen in der Kirchen ange - nommen, wo nicht mehr, doch eben ſo viel Recht, dieſelbe zu verthaͤdigen, als ein anderer hat, ſie anzufeinden. Die Pflicht, ſo man der Warheit fuͤr ſich ſchuldig, erheiſchet die - ſes: und das Amt verdoppelt dieſe Verbind - lichkeit. So kan ich auch nicht abſehen, war - um oͤffentliche Lehrer ſchuldig ſeyn ſollten, al - lerley Schmaͤhungen, ob waͤren ſie falſche Leh - rer und Suͤnden-Evangeliſten, von unarti - gen Leuten, die an ihrem Gehirn verwundet, uͤber ſich ergehen zu laſſen, wenn ſie ſo lehren, wie ſie in ihrem Hertzen glauben: und ſo glau - ben, wie ſie aus dem geſchriebenen Wort un - terrichtet und nach demſelben zu glauben ge - zwungen werden. Jn Dingen, die das Er - kaͤnntnuͤß angehen, ſteht es nicht in eigener Wahl und Willkuͤhr, eines jeden Meynung beyzupflichten. Uberdem ſieht die Einfalt dem Laͤſterer tief ins Maul: wenn der eine laͤſtert und beſchuldiget, und der andere ſchweigt, ſo glaubt der dritte, daß es mit der Beſchuldigung ſeine Richtigkeit habe. Auchb 3die -22Vorrede. dieſe Anmerckung verbindet denjenigen, der in einem oͤffentlichen Lehr-Ampt ſteht, das, was er prediget, gegen die Widerſprecher zu verthaͤdigen: fuͤrnemlich, wenn dieſe ihren Vor - trag darauf einrichten, daß ſie die Lehrer bey ihren Zuhoͤrern als ſolche, die ſelbige betriegen wollen, moͤgen verdaͤchtig machen. Die Men - ſchen ſind, wie zu andere Fehlern, alſo auch zum Argwohn ſehr geneigt. Wie wenig Muͤhe koſtet es, einem ungleiche Gedancken von jemanden beyzubringen? Alſo koͤnnen boßhafte Gemuͤhter leichtlich verurſachen, daß die Welt von denen oͤffentlichen Lehrern, was ihre Lehre und Ampt betrift, ohne Grund Arges gedencket, und viele, ob ſie gleich ſich nicht oͤffentlich wider dieſelbe auflehnen, doch ein geheimes Mißtrauen faſſen. Dieß iſt a - ber allezeit von ſchaͤdlicher Folge und Wir - ckung. Wie kan man diejenige erbauen, wel - che ſich haben einbilden laſſen, daß wir ſelbſt kein Erkaͤnntnuͤß von dem Wege zur Selig - keit haben, daß wir in denen wichtigſten Glau - bens-Articuln irren und ſolche Lehren vortra - gen, welche die Menſchen ſicher machen und zur Gottloſigkeit verfuͤhren. Kein Evange - liſcher Lehrer kan ſein Ampt und Religion ohne Nachtheil ſeiner Hirten-Treu verachtenlaſ -23Vorrede. laſſen. Es iſt ihm ſo gar nicht zu veruͤblen, wenn er angefochtene Glaubens-Warheiten nach dem Vermoͤgen, ſo GOtt darreicht, zu verthaͤdigen bemuͤht iſt; daß er vielmehr ver - moͤge der Pflicht, ſo aus ſeiner Seelen-Sor - ge entſteht, ſolches nach aͤuſerſten Kraͤften ins Werck zu richten verbunden. Der iſt kein getreuer Knecht ſeines Herrn, welcher ſchweigt, wenn er in dem Stande iſt, zur Befeſtigung der Warheit, zur Erhaltung der Schwach - glaͤubigen, und zu Wiederbringung der Jr - renden unter Gottes Gnade und Beyſtand etwas ausrichten zu koͤnnen.

Es iſt zur Gnuͤge bekannt, was die Prote - ſtantiſche Kirche uͤberhaupt, inſonderheit aber die Evangeliſch-Lutheriſche vor einen Feind und Verfolger nun ſchon uͤber dreißig Jahr an dem beruffenen Johann Conrad Dippel gehabt: wie er ſich mit der groͤſten Verwegenheit ge - gen die Glaubens-Warheiten derſelben auf - gethuͤrmet; wie er ſolche allerley groben und Seelen-verderblichen Jrrthuͤmer beſchuldiget; wie er als ein anderer Saulus wider die Diener des HErrn mit Draͤuen und Morden ge - ſchnaubet, und, wenn es in ſeinem Vermoͤgen geſtanden, alle Evangeliſche Gemeinden gern aufgewiegelt haͤtte, ihren Lehrern entweder dieb 4Haͤl -24Vorrede. Haͤlſe zu zerbrechen, oder ſie doch zum wenig - ſten zum Lande hinaus zu ſchaffen. Es iſt nicht weniger bekannt, daß unterſchiedliche ge - ſchickte Lehrer unſerer Kirchen ſich, wie es auch die Noht erforderte, demſelben in oͤffentlichen Schriften widerſetzet und mit buͤndigen Be - weißthuͤmern dargethan, daß nicht die in un - ſere Symboliſchen Glaubens-Buͤchern ent - haltene: ſondern ſeine aufgegriffene Lehrſaͤtze offenbar wider die Zeugnuͤſſe der Schrift und der erſten Vaͤter der Kirchen Jeſu Chriſti. Dieß aber hat ſo gar nicht ſeinen ſteifen Sinn brechen und ihn bewegen koͤñen, die Warheit zu erkeñen und als ein verirrtes Schaaf zu der Heerde, da - von er ſich unnoͤhtiger Weiſe abgeſondert, wie - derum zuruͤck zukehren, daß er vielmehr noch bis auf die gegenwaͤrtige Stunde wider den Sta - chel leckt. Es iſt auch wohl keine Hofnung, daß bey einem ſolchen Menſchen, der von Vorur - theilen, groſſer Einbildung und gewiſſen aͤuſ - ſerlichen Umſtaͤnden gantz und gar uͤberwaͤlti - get iſt, jemals etwas werde ausgerichtetwerden. Jch wuͤnſche zwar und bete zu GOtt, daß er wiederum moͤge zur Erkaͤnntnuͤß der Warheit kommen: ich zweifle aber, ob es wuͤrde geſche - hen, wenn auch ſelbſt von denen Apoſteln je - mand von den Todten auferſtuͤnde. Pauluswuͤr -25Vorrede. wuͤrde aus eben dem Grund, da er die Evan - geliſche Lehrer alſo nennet, von ihm ein falſcher Apoſtel und Suͤnden-Evangeliſt geſcholten werden: dafern er dabey wuͤrde bleiben, daß ſein Vortrag von denen goͤttlichen Warhei - ten in eigentlicher und natuͤrlicher Bedeu - tung anzunehmen. Das ſicherſte waͤre al - ſo, ſich nach der Regul des Apoſtels zu verhalten: Einen ketzeriſchen Menſchen mey - de, wenn er einmahl und abermahl ermahnet iſt, und wiſſe, daß ein ſolcher verkehret iſt, und ſuͤndiget, als der ſich ſelbſt verurtheilet hat. Tit. III. 10, 11. Wenigſtens iſt die Meynung, ſo ich von mir ſelbſt hege, nicht ſo groß, daß ich glauben ſolte, dasjenige bey ihm ausrichten zu koͤnnen, was andre vergeblich verſucht. Unterdeſſen halte ich davor, es werde nicht ohne allen Nutzen ſeyn, meine wenige Anmer - ckungen von dem Ungrund der Dippelſchen Lehrſaͤtze und wie ſolche nichts als willkuͤhrli - che Meynungen ſind, kund zu machen. Wuͤr - cken ſolche gleich keine Aenderung in dem Ge - muͤhte desjenigen, wider welchen ſie gerichtet, ſo koͤnnen ſie vieleicht andern Seelen zu ih - rer Erbauung erſprießlich ſeyn: und ich bin gern zufrieden, wenn dieſelbe nur zu mehrern Nachſinnen in denen ſeligmachenden Grund -b 5Leh -26Vorrede. Lehren einem oder dem andern Gelegenheit geben. Meine Sorge geht hauptſaͤchlich dahin, daß ich uͤber meinem wenigen getreu ſeyn und mein Pfund nicht in einem Schweiß Tuch vergraben moͤge. Jch glaube, darum rede ich. Waͤre ich ſolchergeſtalt uͤberfuͤhrt, daß die Lehre, welche ich nach Anleitung goͤttlicher Schrift und unſerer daraus genom̃enen Glau - bens-Buͤcher und Formuln der Bekaͤnntnuͤſſe bißhero geprediget, irrig und ſeelenverderb - lich; wie ich uͤberzeuget bin, daß ſelbige war - haftig und daß diejenige, welche darnach glauben und leben, des Wegens zur Seelig - keit nimmermehr verfehlen werden; ſo wollte ich gewis fernerhin ein Schloß an meinen Mund legen und ein Siegel auf mein Maul druͤcken. Das muͤſte eine niedertraͤchtige See - le ſeyn, welche uͤm des Brodts willen ſollte Luͤgen predigen und die Menſchen zu ſchaͤd - lich Jrrthuͤmern verfuͤhren. Die wenigſten Menſchen ſind Prediger und darum ſterben ſie doch nicht von Hunger. Das oͤffentliche Lehr-Amt hat ohne dem nicht ſo viele Herr - ligkeiten an ſich, als die Welt ſich aͤuſſerlich davon einbildet. Wenigſtens hab ich es nicht ſo gefunden. Jch ſchreibe alſo lediglich zur Ver - thaͤdigung der Warheit, die ich in meinemAmpt27Vorrede. Ampt bißhero oͤffentlich geprediget und zwar ſolchergeſtalt, wie dieſelbe ſich nach Ver - nunft und Schrift in meiner eigenen Seele gezeuget: und ich uͤberlaſſe es deiner Pruͤfung, mein Leſer, ob ſich dieſelbe eben ſo in deiner Seelen zeugen wird. Wo dieſes geſchiehet, ſo wirſt du mir von ſelbſten beyfallen; auſſer dem aber verlange ich deinen Beyfall nicht. Man kan denſelben niemanden abpochen o - der abbetteln: und ein Vernuͤnftiger wird weder das eine noch das andere zu thun be - gehren. Menſchen, die ihre Meynungen an - dern mit Gewalt wollen aufdringen, und de - nen es darum zu thun, daß ſolche geglaubt und vor richtig angenommen werden, verrah - ten ihre fleiſchliche Triebe und eigennuͤtzige Abſichten. Mein Zweck geht nicht wei - ter, als daß ich uͤberhaupt denen, die die Warheit, ſo ihre Seelen kan ſelig machen, lieb haben, zu einer naͤhern Einſicht nach mei - nem wenigen Vermoͤgen Gelegenheit gebe; inſonderheit aber meine Glaubens-Genoſſen in der Gewißheit, daß die Religion, zu wel - cher wir uns bekennen, die ſeligmachende ſey, ſtaͤrcken, mithin darthun moͤge, daß die Be - ſchuldigungen, ſo J. C. Dippel ihr aufbuͤrden will, gantz und gar ohne Grund, daß er we -der28Vorrede. der Vernunft noch Schrift auf gehoͤrige Art gebrauche. (5)Wir haben oben erinnert / daß / wenn ein Be - weiß aus bloſſer Vernunft uͤberfuͤhrend ſeyn ſoll / ſo muß er den Verſtand zum Beyfall noͤh - tigen. Es muß darin gewieſen werden / daß das Gegentheil nicht moͤglich / und es uͤberall nicht in unſerer Gewalt ſtehe / den bewieſenen Satz zu leugnen. Dergleichen Beweiſe wird J. C. Dippel nicht einen einzigen in ſeinen Schrif - ten zeigen koͤnnen. Er ſpricht zwar viel von Mathemati ſchen Beweiſen; es wuͤrde aber ſchlecht mit der Mathematic in dem Fall be - ſtellet ſeyn / wann ſie keine buͤndigere Art zu ſchlieſſen haͤtte. Uberhaupt fehlt es durch und durch in ſeinen Schriften an Erklaͤrung der Woͤrter. Haͤtte er / was man in GOtt un - ter dem Namen Liebe / Gerechtigkeit / Gnade / Zorn und dergl. ſich vorzuſtellen habe: imgl. was er unter Jrrdiſch / Futter / Verleugnung und dergl. wolle verſtanden wiſſen / erklaͤret; ſo wuͤrde er ſich in dem La - byrinth ſeiner eigenen Gedancken nicht ſol - chergeſtalt verlohren und aus bloſſen Woͤrtern / welchen er nach leerer Einbildung Schrancken geſetzt / Folgerungen gemacht haben. Uber - dem ſetzt er Dinge / davon das Gegentheil gar zu moͤglich / als gewiß und ausgemacht hin /dieDaß folglich ſeine Lehrſaͤtze,noht -29Vorrede. nohtwendig willkuͤhrl. Meynungẽ ſeyn muͤſſen und daß bey ihm, ſo viel man aus ſeinen Schrif -ten(5)die gewiß kein vernuͤnftiger Menſch, es ſey dann / daß er ſie mit Wunderwercken bewieſe / ihm zutrauen kan. Zur Probe dienet nach - folgender Diſcurs: Jn der Gemeinſchaft mit GOtt findet der ſonſt hungrige und na - ckende Geiſt wiederum ſeine wahre Spei - ſe / und durch das einziehen oder genieſ - ſen ſolcher Speiſe bekleidet er ſich mit einem neuen geiſtl. Licht-Leib / in welchem er nach Ablegung der fleiſchlichen Huͤtten wohnen koͤnne und nicht bloß erfunden werde. dem. theol. p. 107. Auf eben ſolche Art handelt er mit der Schrift. Wann man ihre Woͤrter und Redens-Arten in der eigentlichſten und natuͤrlichen Bedeu - tung nimmt; ſo iſt ſie von keiner Meynung weiter entſernet / als derjenigen / welche ſich J. C. Dippel von dem Mittler-Ampt JEſu Chriſti und deſſen Wirckungen in den Kopf geſetzt. Gleichwohl drehet er ſie ſolchergeſtalt / daß ſie dieſelbe beweiſen ſoll und muß. Redet der Heyland ſelbſt von der Vergebung der Suͤnden / als der eigentlichen Frucht ſeines verdienſtlichen Todes / und befiehlet / man ſoll dieſelbe als eines der wichtigſten Stuͤcke ſei - ner Lehren nach ſeiner Himmelfahrt unter al -len30Vorrede. ten ſehen kan, weder das Vermoͤgen noch der Vorſatz ſey, die Warheit in ihren Quellenzu(5)len Voͤlckern predigen. Luc. XXIV. 47. ſo ſagt er / das thue Chriſtus nur deswegen / weil er unter dem Volck gebohren / ſo von GOtt den verkehrten Concept gehabt / als ob er ein erzuͤrnter Raͤcher und Richter waͤre. l. c. p. 105. Stellet uns die Schrift die Erloͤſung / Ver - ſoͤhnung / Fuͤrbitte und Vergebung der Suͤn - den als eine Frucht des Todes JEſu Chriſti fuͤr; ſo ſagt er / es waͤren viele von den ange - nommenen falſchen Ideen der von GOtt ab - gekehrten Menſchen hergeleitete Redens-Arten in die Schrift eingeſchlichen / und von den H. Scribenten gebrauchet und angewendet wor - den / nicht eben / wie ſich ſelbige bey der Sachen / wovon ſie geſagt worden / in der That befinden / ſondern wie ſie nach menſchlicher Weiſe von denen gefaſſet werden koͤnnen / welche ſich von denen Vorgefaßten und in der Jugend ein - geſogenen Einbildungen nicht alſobald und gleichſam in einem Augenblick abbringen laſ - ſen. l. c. p. 171. Haͤlt der Apoſtel dafuͤr / daß ſo einer fuͤr alle geſtorben / ſo ſind ſie alle geſtor - ben 2 Cor. V. 14. und beſtaͤtiget damit die War - heit / daß weil der Creutzes-Tod JESU ein verdienſtlicher Todt / ſo wuͤrden alle die / davor er denſelben geſchmecket / angeſehen / als wennſie31Vorrede. zu pruͤfen und in ihren eigentlichen Gruͤnden zu unterſuchen; daß er endlich ſelbſt ſeine Leh - re in der Ausuͤbung luͤgen ſtraffe, und mit ſei - nen Wercken verleugne. Jch habe mir inſon - derheit fuͤrgeſetzt, zwey Saͤtze wider J. C. Dippel zu behaupten, von welchen er das Gegentheil unſtreitig in ſeinen Schriften lehret. Der Er - ſte iſt dieſer: GOtt, der eben ſo viel Recht hat,die(5)ſie ſolchen ſelbſt empfunden; ſo weiß er ſich alſo zu helffen / daß er ſagt / es wuͤrde das / was ge - ſchehen ſoll / als bereits geſchehen vorausge - ſetzt / um die nohtwendige Erfuͤllung / daß das / was das Haupt im Fleiſche vollfuͤhret / auch den Gliedern zu vollbringen gebuͤhre / beſtaͤndig einzuſchaͤrffen. l. c. p. 167. Sind das nicht ſeltſame Erklaͤrungen? Kan auch der hoch - muͤhtigſte Pabſt ſich groͤſſerer Freyheit gebrau - chen? Laͤſt ſich nicht ein jeder Satz auf ſolche Art aus der Schrift behaupten und auch wi - derlegen? Werden nicht die Glaubens-Lehren ſolchergeſtalt ein Spielwerck menſchlicher Sin - nen? Werden ſie nicht dem Geſpoͤtt der Laͤ - ſterer ausgeſetzt? Laſſen ſie nicht die Bloͤden in ewiger Furcht und Zweiffel? Muͤſſen nicht tauter leere / willkuͤhrliche Meynungen daraus gezeuget werden? und heiſt das nicht / die Re - ligion laͤſtern und mit denen Glaubens-War - heiten Muhtwillen treiben?32Vorrede. die Ubertreter ſeiner Gebote zu ſtraffen; als er Macht gehabt, die freye Handlungen der Menſchen in dieſen ſeinen Geboten unter der Wahl des Beſten einzuſchrencken, da er von dieſem ſeinen Recht wolte nachlaſſen, Gnade beweiſen und die Suͤnde vergeben, hat ſol - ches in ſeinem Sohn Chriſto JEſu dergeſtalt bewerckſtelliget, daß an ihm, als dem Mittler zwiſchen GOtt und den Menſchen, in ſeinem ſchmertzlichen Leyden und ſchmaͤhligen Creu - tzes-Todt das Mißgefallen GOttes an der Suͤnde offenbar, zugleich aber ſeine Gnade und mit derſelben dieſe Warheit der Welt kund geworden, daß wir an Chriſto haben die Erloͤſung durch ſein Blut, nemlich die Vergebung der Suͤnden. Der Andere aber iſt folgender: Die Lehre von dem Mittler-Ampt JEſu Chriſti, wie ſolche in der Evangeliſchen Kirche vorgetragen wird, verfuͤhret die Men - ſchen ſo gar nicht zur Ruchloſigkeit und einem unheiligen Leben, daß ſie vielmehr die aller - kraͤftigſten Bewegungs-Gruͤnde zu einem gottſeligen Wandel in ſich faſſet. Dieſe bee - den Saͤtze halte ich vor nohtwendige und un - betriegliche Warheiten. Um aber ſolches mit Gruͤnden darzuthun, habe ich gegenwaͤrtige achtzig Grund-Fragen zu Papier gebracht,und33Vorrede. und die darin enthaltene Saͤtze mit Erlaͤute - rung zum Theil bewieſen, zum Theil deutlich gemacht; und eben zur | Wahl dieſer Methode haben mir die von J. C. Dippel ans Licht ge - ſtellte 153 Fragen, welche ſeiner ſo genandten veræ demonſtrationi Evang. einverleibt, Anlas gegeben. Jn denenſelben halte ich mich ſo lang bey dem Licht der Natur auf, biß uns ſol - ches zu dem Erkenntnuͤs unſers innerlichen Verderbens und Elendes bringt, damit der Menſch von der Warheit, daß ihm ein Hey - land und Mittler noͤhtig ſey, ſelbſt durch die Vernunft moͤge uͤberzeuget werden. Die Fol - gende halten nach denen Lehren goͤttlicher Schrift die Begriffe von der Natur und Kraft des Mittler-Ampts JEſu Chriſti in ſich, wie dadurch die Schmertzen des Gei - ſtes, ſo aus dem Gefuͤhl der Suͤnden ent - ſtehen, weggenommen und hingegen allerley ſeelige Empfindungen in glaͤubigen Seelen gewirckt werden. Aus dieſen wird in denen uͤbrigen die Verbindlichkeit zu einem goͤttli - chen Wandel her geleitet und dabey ſchließlich die Schaͤdlichkeit und Unrichtigkeit der Dippel - ſchen Lehren gewieſen. Jch habe, was den Vor - trag betrift, mehr darauf gedacht, wie ich al - les mit deutlichen Woͤrtern moͤchte vortragencals34Vorrede. als mich in allerley dunckeln und kuͤnſtlichen Ausdruͤckungen verſtecken: damit es dem Leſer nicht ſauer wuͤrde, bald von meinen Gedan - cken Begriffe zu erlangen. Die Warheit iſt niemahls ſchoͤner, als wenn ſie ſich nackt ſehen laͤſt. Ob ich meinem Vorſatz ein Ge - nuͤge gethan, und Vernunft und Schrift auf die Art gebrauchet, welche ich ſelbſt als ein Mittel zur Uberzeugung zu gelangen, angege - ben, daruͤber ſolt du, mein Leſer, ſelbſt das Ur - theil faͤllen und dieſes falle aus, wie es wol - le, ſo wirſt du mich niemals desfals mißver - gnuͤgt und verdrießlich finden. Jch ſehe ja taͤglich, was Menſchen thun, wie ſie ſich in Beurtheilung anderer Gedancken von ihren Neigungen treiben laſſen: und ich verlange nicht, daß man mir ſoll etwas neues machen. Doch damit du dich hierin nicht uͤbereilen moͤ - geſt, ſo erinnere ich wollmeinend, eine jede Frage ſo wohl nach ihrem Jnnhalt als nach ihrem Zuſammenhang mit denen vorherge - henden, recht einzuſehen und zu pruͤfen. Zwar was den Mann betrift, gegen welche dieſe Schrift inſonderheit gerichtet; ſo iſt er frey - lich von denen, die gar keinen Widerſpruch vertragen koͤnnen. Er handelt mit ſeinen Gegnern nicht allein unfreundlich; ſondernauch35Vorrede. auch grolliſch, giftig und boßhaftig. Seine Urtheile haben nicht das kleinſte Fuͤncklein von Beſcheidenheit und Sanftmuht. Es beweiſen ſolches ſeine Schriften uͤberhaupt: inſonderheit aber diejenige, welche mir eben dazumahl, als ich nachſtehende achtzig Fragen bereits zum Abdruck fertig hatte, erſtlich zu Ge - ſicht gekommen, und darin er ſeine ſogenannte veram demonſtrationem Evangelicam gegen Hrn. Neumeiſter und Hrn. D. Lange verthaͤdigen wol - len. Es iſt darin aller Gift ausgeſpien, den ſein unartiges Gemuͤht nur ſammlen koͤnnen. Sie iſt mit ſolcher Frechheit und auf eine ſo un - ſaubere Art abgefaßt, daß ein ehrliebend Ge - muͤht nohtwendig einen Abſcheu darob em - pfinden muß. Jch habe keine Urſache, zu glauben, daß ich ein beſſeres Schickſal haben werde. Das aber hoffe ich, es werde ſolches meine Gemuͤhts-Ruhe in keine Wege ſtoͤ - ren. Haͤtte ich mir davor einige Furcht ge - macht, ſo wuͤrde ich gewiß die Feder nicht wi - der ihn angeſetzet haben: den Frieden der See - len und die Ruhe des Gemuͤhts habe ich viel zu lieb, als daß ich ſelbige auf ſolche Art ſolte in die Waage ſetzen. Jch halte ſie fuͤr un - ſchaͤtzbare Guͤter und den beſten Theil in mei - nem Leben. So ſtehet es mir auch gar zu deut -c 2lich36Vorrede. lich vor Augen, wie es bey ſolchen Leuten in ihren Abſichten und Gemuͤhts-Neigungen ge - gruͤndet ſeyn muͤſſe, daß ſie von allen Seiten, wie die Ketten-Hunde, um ſich beiſſen, um al - ſo etliche zu ſchrecken, etliche an ſich zu ziehen, ihnenſelbſt aber Durchbruch und Raum zu ma - chen: und um des Willen, wird es mich um deſtoweniger kraͤncken, da ich weiß, daß es nach dem Zuſammenhang ihrer Neigungen alſo geſchehen muß. Was in dergleichen Faͤllen die Pflichte des Chriſtenthums erfordern, ſol - ches habe ich in meinen Betrachtungen vom Tugendhaften Leben Part. II. p. 56. 177. und 275. mit wenigen abgehandelt, und ſolches werde ich mir ſelbſt zur Richtſchnur dienen laſſen. Solte es unterdeſſen Joh. Conr. Dippeln gefallen meine Grund-Fragen zu beantwor - ten; ſo kan ſolches auf eine zwiefache Art, da bey einer jeglichen ein beſonderer Vorſatz ſeyn wird, geſchehen. Entweder mit einer Empfin - dung der Warheit oder mit einem Gefuͤhl des Verdruſſes und Widerwillens. Jſt das Letz - tere, ſo wird er ſich nicht bemuͤhen meinen Ge - dancken zu folgen; ſondern vielmehr hin und wieder einen oder den andern Satz aus der Connexion herausbrechen, ſolchen mit ſtachlich - ten Woͤrtern und heilloſen Redens-Arten un -ter37Vorrede. ter einer Geſtalt verſtellen, welche dieſelbe kan bey Leuten, die ſuperficiell ſind und denen doch die Ohren nach etwas neues jucken, wo nicht laͤcherlich, doch verhaßt machen. Er wird dar - auf gedencken, ob nicht auſſer dem Barbaro und Antibarbaro noch ein Name auszuſinnen, wel - cher hiezu koͤnne dienlich ſeyn. Auf den Fall wird er, wie ich zu GOtt hoffe, mich ſo geſin - net finden, wie der Meiſter geweſen, dem diene. Jch werde gewiß ohne aͤuſſerſte Noht nicht wie - der ſchelten. Nicht, daß ich mich nicht ſo wohl ſolte fuͤhlen, wie andere Menſchen: ſon - dern bloß der Lehre des Heylandes den Ruhm des Sieges zu laſſen. Jch habe auf ſeinẽ Winck Empfindungen, die mir viel tieffer ans Hertz gelegen, und denen ich gewiß gern ein Genuͤge gethan haͤtte, verleugnet: und ich hoffe dieſe unter ſeinem Beyſtand um deſto leichter zu be - ſiegen. Sollte aber J. C. Dippel mich das Recht der Menſchlichkeit genieſſen laſſen, und davor halten die Sache, woruͤber geſtritten wird, ſey noch nicht ſo voͤllig ausgemacht, wie er ſich ein - bildet; ſo bitte ich mir dieſes aus, daß er die Woͤrter, darauf alles ankommt, vorher fein er - klaͤre und ſich alſo aus dem Stand der duncklen Begriffe herausſetze. Es iſt mit denen, wel - che zwar viel, aber dabey verwirrt und dun -c 3ckel38Vorrede. ckel dencken, fuͤrnemlich, wenn ſie dabey viel Ein - bildung haben, ſchwer auszukommen. Koͤn - te ich mir immittelſt die Hoffnung machen, daß an J. C. Dippels Seele irrgends etwas aus - zurichten und ſelbige der Uberzeugung faͤhig waͤre; ſo wolte ich mir die Muͤhe nicht ver - drieſſen laſſen, die hierin verhandelte Lehre nach der Methode, welche bey denen Mathematicis ge - brauchlich, ſo viel es die Beſchaffenheit der Materie leiden will, vorzuſtellen. Er ſpricht doch hin und wieder von Mathematiſchen Demon - ſtrationen, ob gleich der Begriff, ſo er biß hie - her davon hat, noch duͤſter und unvollſtaͤn - dig. Allein es iſt zu befuͤrchten, daß dieſe Arbeit mit aller uͤbrigen bey ihm duͤrfte ver - lohren ſeyn. Gegen Empfindungen, die aus einem boͤſen Willen kommen, koͤnnen die buͤn - digſten Vernunft Schluͤſſe und klarſten Zeug - nuͤſſe der Schrift nichts ausrichten. Uber - dem ſind die Wunden der Einbildung ge - meiniglich unheilbar. Um ihm gleichwohl Gelegenheit zu geben, ſeinen erwaͤhlten Lehr - ſaͤtzen gruͤndlicher nachzuſinnen und durch ei - ne genauere Betrachtung derſelben auf beſſere Gedancken zu kommen, will ich ihm ſchließ - lich dieſe Frage, welche aus der innerſten Natur und Beſchaffenheit ſeiner Lehre ge -nom -39Vorrede. nommen, zur Eroͤrterung aufgeben: Auf welche Art nemlich das Jrrdiſche in dem innerſten Grunde muͤſſe verleug - net und vor nichts geachtet werden, damit GOtt die Nahrung oder wie die Dippelſche Art zu reden iſt, das Fut - ter unſers unſterblichen Geiſtes wer - den moͤge?

Gefaͤllt es ihm, dieſelbe zu beantworten und ſeine davon habende Einſicht der Welt kund zu machen; ſo kan er ſolches gelegentlich mir eroͤfnen: und verpflichte ich mich ein gleiches zu thun. Jch uͤberlaß es ſeiner Wahl, ob wir dieſe Abhandlung in der gemeinen Lehr-Art, oder nach der, ſo unter denen Mathe - maticis angenommen, vortragen wollen. Jm - mittelſt koͤnten dieſe unſere Betrachtungen zu einer von ihm zu beſtimmenden Zeit zugleich ans Licht treten und ſich dem Urtheil der Welt unterwerffen. Vielleicht iſt dieß noch ein Weg ihm ſeine Vorurtheile zu benehmen und von der Religion, die er bißhero ſo hef - tig verfolget, beſſere Gedancken beyzubringen. Die Einbildungs-Krafft kan uns ungemein betriegen. Uns kommen oft Dinge ſo deut - lich und gewis vor, daß man ſich ehe ſollte das Leben nehmen, als des Jrrthums uͤber -reden40Vorrede. reden laſſen, und die Zeit entdeckts doch, daß wir gar ſehr gefehlet und uns ſelbſt betro - gen haben. Dafern aber dieſe Wirckung wegen unuͤberwindlicher Haͤrte ſeines Sinnes nicht erfolgen ſollte, ſo kan es doch dazu die - nen, daß er lerne ſeine Schwaͤche erkennen und laſſe von ſeiner unmaͤßigen Einbildung und hochmuͤhtigen Gedancken fahren welches gewis ſeiner Seelen hoͤchſt heilſam und er - ſprießlich ſeyn wuͤrde. Hochmuht und Einbil - dung machen allemahl den Menſchen unge - ſchickt, daß er ſich weder am Verſtande noch Willen beſſern kan. Mein hertzlicher Wunſch, mein Leſer, iſt der, daß GOtt dich fuͤr derglei - chen und andern Laſtern bewahren, in der Er - kenntniß der Warheit erhalten und zugleich geſchickt machen wolle, ſolche von Jrrthuͤ - mern und willkuͤhrlichen ſchaͤdlichen Einbil - dungen wohl zu unterſcheiden. Gehabe dich wohl. Geſchrieben Ploen, den 24. Dec. 1731.

Grund -
1

Grund-Fragen / Jn welchen die wichtigſte Glaubens-War - heiten der Evangeliſch-Lutheriſchen Kirche, inſonderheit die von dem Mittler-Amt JEſu Chriſti und deſſen Wuͤrckungen befe - ſtiget werden.

I. Ob der menſchliche Verſtand ſich einen vollſtaͤndigern Begriff von GOtt machen koͤnne / als dieſen / daß er das Weſen, welches alle Voll - kommenheiten auf die vollenkommen - ſte Art beſitzet?

Erlaͤuterung.

DJeſe Beſchreibung unterſcheidet das goͤttliche Weſen von denen uͤbri - gen Dingen und faſſet zugleich die Gruͤnde in ſich / aus welchen man deſſen Eigenſchafften kan herleiten: welches eben dasjenige iſt / ſo zu einer gruͤndlichen Beſchreibung erfordert wird. So erwecken auch die Woͤrter / ſo bald ſie nur verſtanden werden / ſolche Begriffe / welche nicht nur allem / was der menſchli - che Verſtand von GOtt gedencken kan / nachzu - ſinnen / Gelegenheit geben; wie ſich ſolches aus demAfol -2folgenden wird erkennen laſſen / ſondern ſetzen auch denſelben in ſolche Verfaſſung / daß weder Abgoͤtterey noch Atheiſterey darin Eingang und Platz finden moͤge. Die Abgoͤtterey machet ſich einen unanſtaͤndigen und die Atheiſterey gar kei - nen Begriff von GOtt: beedes aber wird dem - jenigen nicht moͤglich ſeyn / der dieſe Beſchreibung recht verſtanden.

II. Ob man unter dem Namen ei - ner Vollenkommenheit ſich etwas anders gedencken koͤnne / als was wuͤrcklich und gut iſt / und wir in uns ſelbſt wahrnehmen und unter - ſcheiden / als Z. E. exiſtiren / leben / erkennen / empfinden / wollen / koͤn - nen / wircken und dergleichen?

Erlaͤuterung.

Jch nehme die Woͤrter wuͤrcklich und gut ſenſu metaphyſico, und wil daſſelbe damit andeu - ten / was man ſonſt entia poſitiva & realia nennet. Wie kein anderer Fall moͤglich / Begriffe von Dingen / die wuͤrcklich ſind / zu erlangen / als daß wir auf das / was in uns vorgehet / genau mer - cken / und was ſich in einer Sachen unterſcheiden laͤſt / ſorgfaͤltig aus einander legen; ſo haben wir auch natuͤrlicher Weiſe keine andere Gelegenheitetwas3etwas von GOtt zu gedencken; als daß wir die Wuͤrcklichkeiten / ſo in uns Grentzen haben / in ihm ohne Grentzen uns vorſtellen. Unterdeſſen wird damit nicht geſagt / wie es denn auch keineswe - ges folget / daß nicht noch mehrere Vollkommen - heiten / als davon wir die Fußſtapffen in uns ſelbſt finden / in GOtt ſeyn koͤnnen. Niemand weiß / was in GOtt iſt / ohne der Geiſt GOttes. 1 Cor. II. 11. GOtt hat uns etliche in ſeinem Wort geoffenbahret / dahin wir die ewige Zeugung des Sohnes aus dem Weſen ſeines Vaters rechnen koͤnnen.

III. Ob nicht aus dieſer von GOtt gegebenen Beſchreibung folge / daß er auf die vollenkommenſte Art exi - ſtire / lebe / erkenne / empfinde / wolle / koͤnne / wircke und dergleich en?

Erlaͤuterung.

Es muß ſich niemand verwundern / daß wir die Exiſtentz GOttes aus der von ihm gegebenen Beſchreibung folgern: denn dieſe iſt alſo beſchaf - fen / daß die Exiſtentz nohtwendig darin mit be - griffen. Hieher gehoͤret in gewiſſer Maaſſe das Axioma des Ariſtotelis: In æternis non differt eſſe à poſſe. Daruͤber venerabilis Beda in axiom. phi - loſophicis dieſe Anmerckung hat: ſenſus eſt, quicquid in eo, quod vere & proprie æternum eſt, cujusmodiA 2qui -4quidem ſolus Deus eſt, eſſe poteſt, idipſum etiam eſt. Eſt enim Deus purus actus, in quo nulla potentia ad intra &c. Was gar nicht iſt / kan keine Vollen - kommenheit haben / und die Exiſtentz iſt der Ord - nung nach die erſte unter den Realitæten. Wer ſolchemnach die Gottheit leugnen wil / muß zeigen / daß dieſe Beſchreibung etwas Widerſprechendes in ſich faſſe / das iſt: daß ein ſolches Weſen un - muͤglich ſey / welches nimmermehr wird geſche - hen koͤnnen. Der Begriff von der vollenkom - menſten Art der Exiſtence iſt in dem Begriff von der Exiſtentz der Dinge gegruͤndet. Eben daher / daß Dinge exiſtiren / folget unwidertreiblich / daß etwas auf die vollenkommenſte Art exiſtiren muͤſ - ſe. Ein Atheiſt muß alſo darthun / daß gar nichts exiſtire oder daß er und / was um ihn iſt / auf die vollenkommenſte Art exiſtire und ſchon eine Gott - heit ſey: in beeden Faͤllen aber wird ſeine Muͤhe vergeblich ſeyn und von der Groͤſſe ſeiner Thor - heit zeugen.

IV. Ob nicht ſolchemnach Gott noht - wendig muͤſſe exiſtiren; in hoͤchſter Seligkeit leben; alles moͤgliche er - kennen; das Beſte immerdar wol - len; alles / was er will / koͤnnen; und endlich ohne Aufhoͤren nachder5der Beſchaffenheit ſeiner Eigen - ſchafften auf die vollenkommenſte Art wuͤrcken?

Erlaͤuterung.

Alles dieſes flieſſet aus dem Begriff der vol - lenkommenſten Art / nach welcher GOtt alle Vol - lenkommenheiten beſitzt. Die hoͤchſte Stuffe der Exiſtentz iſt die / daß etwas von und durch ſich ſelbſt beſtehe und es folglich unmoͤglich ſey / daß es nicht exiſtiren ſolte. Auf ſolche Art hat GOTT den Grund und die Urſach ſeiner Exiſtentz in ihm ſelbſt / es wuͤrde uͤberall nichts ſeyn koͤnnen / wenn GOtt auf ſolche Art nicht waͤre. Die Exiſtentz der endlichen Dinge iſt zufaͤllig; darum iſt es moͤg - lich / daß ſie auch nicht exiſtiren / folglich kan ihre Exiſtence nur aus der Erfahrung erkannt werden: dahin gegen die Exiſtentz Gottes ſchon in dem er - ſten Begriff von ihm gegruͤndet / und folglich der Demonſtration faͤhig iſt.

Wie GOtt alſo auf die vollenkommenſte Art / d. i. nohtwendig exiſtiret; ſo lebet er auch auf die vollenkommenſte Art / welches wir mit dem Na - men der hoͤchſten Seligkeit ausgedruͤckt. Das Leben Gottes muß alſo von dem Leben der Men - ſchen nach der Art / wie er ihm ſelbſt bewuſt iſt und wie er ſich empfindet / unendlich weit unter - ſchieden ſeyn / folglich laͤſſet ſich davon nicht reden oder ſchreiben. Man kan ihm weder Leidenſchaf - ten noch Gemuͤhts-Bewegungen zueignen: un -A 3ter -6terdeſſen laͤſt ſich doch eine Gleichguͤltigkeit in ihm nicht gedencken / als welche mit dem wollen / waͤh - len / wircken / ſtraffen / belohnen und dergl. nicht beſtehen kan. So folget es auch keines weges / daß dergleichen Beſchaͤftigungen ſeinen Ruhſtand ſtoͤren moͤgen. Einen je hoͤhern Grad menſchli - cher Vollenkommenheiten jemand beſitzt; deſto - weniger werden die auſerliche Beſchaͤfftigungen ihn verunruhigen moͤgen: und GOTT / der alle Vollenkommenheiten beſitzet / wird darum / daß in ſeinen Geſchoͤpffen Veraͤnderungen ſich eraͤugen / in dem Genuß ſeiner innerlichen Gluͤckſeligkeit kei - nen Wechſel mercken / ungeacht ſein Verhalten gegen dieſelbe nach dieſen Veraͤnderungen einge - richtet und abgemeſſen werden muß: Dieß giebt eben denen Menſchen Gelegenheit ſich unterſchied - liche Aeuſerungen des goͤttlichen Willens zu ge - dencken / und denenſelben unterſchiedliche Namen / als Liebe / Gerechtigkeit / Zorn / Barmhertzigkeit und dergl. beyzulegen. Und dieß macht / daß Gott ſeinen vernuͤnfftigen Geſchoͤpffen in etwas begreif - lich wird. Wenn GOtt gegen alles dasjenige / ſo auſſer ihm / gantz gleichguͤltig; wenn ſein Verhal - ten gegen Gut und Boͤſes einerley; ſo wuͤrde ſich nichts von ihm gedencken laſſen / er wuͤrde gantz unerkenntlich werden / und der Begriff von einem ſolchen Weſen wuͤrde gar verſchwinden. Es wird ſich unten bemercken laſſen / daß die unrichtige Gedancken / welche J. C. Dippel ſich von GOtt in die - ſem Fall gemacht / ihm zu ſeinen Jrrthuͤmern unddenen7denen wider die Evangeliſche Warheit ausge - ſtoſſenen bittern Reden Gelegenheit gegeben.

V. Ob nicht / da GOtt von und durch ſich ſelbſt beſtebt und in hoͤchſter Se - ligkeit lebt / er das / was er iſt und was er beſitzt / von Ewigkeit muͤſſe geweſen ſeyn und es auch beſeſſen haben; dergeſtalt / daß ſeine Selig - keit weder zuwachs noch abnahme / folglich uͤberall keine Veraͤnderung leide?

Erlaͤuterung.

Die in dieſer Frage enthaltene Warheit iſt ſo klar / daß ſie keiner Erlaͤuterung bedarff / und auch von niemand / der eine Gottheit erkennet / kan in Zweiffel gezogen werden.

VI. Ob indeſſen / da aus der Vollen - kommenheit des goͤttlichen Weſens folget / daß er wircken muß: (quæſt. 3. & 4.) und aber an und in ihm ſelbſt zur Vergroͤſſerung ſeiner Vollen - kommenheiten nicht wircken kan;A 4(quæſt. 8(quæſt. 5.) ſeine Kraft und Neigung zu wircken nicht in andern Weſen / die auſſer ihm ſind und welche wir Geſchoͤpffe nennen / muͤſſe ihr Ziel finden?

Erlaͤuterung.

Weil in GOtt alles auf die vollenkommen - ſte Art iſt / ſo muß auch alles bey ihm in der vol - lenkommenſten Wirckung ſeyn. Sein Verſtand hat alſo ein einſchauendes und / daß ich / um mich recht zu erklaͤren / ſo reden moͤge / ein voͤllig-aus - gewickeltes Erkaͤnntnuͤs: Er erkennet alles / was ſeiner Natur nach erkannt werden kan / es ſey in der Reihe der moͤglichen oder der wuͤrcklichen Warhei - ten: oder wie der ſel. Hr. von Leibnitz es ausdruckt: er erkennet alle moͤgliche Welten. Sein Wille neiget ihn / demjenigen / was er der Exiſtentz faͤhig zu ſeyn erkannt hat / dieſelbe in der Ubereinſtim - mung mit der von ihm erkannten beſten Ordnung zu geben: und da es ihm an Macht nicht fehlen kan / ſo muß es auch zu ſeiner Zeit die Wuͤrcklich - keit erreichen. Alſo folget aus dem Begriff von denen goͤttlichen Vollenkommenheiten / daß in ihm eine immerwaͤhrende Neigung ſey zu wircken / wel - che ſich nach der Faͤhigkeit der Creaturen aͤuſſert und die Wuͤrcklichkeit erreichet. Epicurus hat dieſes der Gottheit abſprechen wollen / und zwar deswegen / weil er eine ſolche Beſchaͤfftigung mitdem9dem Begriff einer vollenkommenen Seligkeit nicht reimen koͤnnen / er hat ſich dabey eingebildet / daß in ihm weder Zorn noch Guͤte / weil dieſes Unvol - lenkommenheiten. Zweiffelsfrey / weil er es bey Menſchen alſo gefunden: gerade als wenn die menſchliche Unvollenkommenheiten mit dem / was in GOtt vorgeht / eine Aehnlichkeit haͤtten. Sein Lehrſatz von GOTT iſt dieſer:〈…〉〈…〉. quod beatum atque immortale eſt, neque ipſum, otia habet, neque alii præbet: quo fit, ut neque ira, neque gratia tangatur, nam hujusmodi omnia infirmitatis ſunt. Laert. in vita Epic. L. X. Seg. 139. p. m. 661. ex ed. M. Meibomii. Der Marcus Meibomius urtheilet in ſeiner Anmerckung uͤber dieſen Ort gar vernuͤnfftig: Hoc Epicurus ut homo vanus opinatur. Denn in der That iſt es nichts mehr als eine Meynung / die ſich derſelbe willkuͤhrlich gemacht: und ſolte man bald denen Beyfall geben / welche Cicero anfuͤhrt: Video non - nullis videri, Epicurum, ne in offenſionem Athe - nienſium caderet, verbis reliquiſſe Deos, re ſuſtuliſſe. de Nat. Deor. L. I. Aus ſolchen Reden / der gleichen Epicurus von GOtt gibt / zeugen ſich nur ſchlechte Begriffe / die / wo ſie nicht alle Empfindung von der Gottheit ausloͤſchen / doch gewiß ſehr wenige davon uͤbrig laſſen. Dieß hat eben das goͤttliche Weſen voraus / daß / ungeacht GOtt in denen Ge - ſchoͤpffen nach derſelben unterſchiedenen Faͤhigkei -A 5ten10ten und Verhaͤltnuſſen unterſchiedliche Veraͤn - derungen wircket / er doch in ihm ſelbſt unveraͤn - dert bleibt: welches auch nichts Widerſprechen - des in ſich faſt.

VII. Ob aber daher / daß bey Gott eine immerwaͤhrende Neigung zu wir - cken und die Geſchoͤpffe / ſo er der Exiſtentz faͤhig zu ſeyn erkannt / her - vorzubringen / (quæſt. 6.) nohtwen - dig folge / daß er von Ewigkeit her muͤſſe erſchaffen und Creaturen hervor gebracht haben?

Erlaͤuterung.

Uber die Fragen: Ob die Welt ewig ſey? Ob ſie in ihrer vollkommenen Geſtalt oder nur der Materie nach von Ewigkeit ſey? Ob ſie fuͤr ſich und ihrer Natur nach ewig / oder ob ſie zufaͤllig und von GOtt von Ewigkeit her ſey erſchaffen? iſt ſchon vor langer Zeit unter denen Weltweiſen geſtritten worden. Was man hierin dem Ariſto - teli beymeſſe / iſt bekannt genug. Gaſſendus meynt / es waͤren alle heydniſche Philoſophi darin einig / daß die Materie / daraus die Welt gemacht / vor - her geweſen / weil aus nichts nichts wird. Phyſ. Sect. I. L. I. c. 6. Auguſtinus in ſeinem Buch de hæreſibus c. LIX. ſetzet die Seleucianos und Hermia -nos11nos in die Reihe der Ketzer und fuͤhrt von ihren Jrrthuͤmer dieſe zuerſt an / daß ſie vorgeben / die Materie / daraus die Welt gemacht / ſey nicht von GOtt erſchaffen / ſondern mit GOtt gleich ewig. L. Danæus in ſeinen Anmerckungen uͤber dieſen Ort haͤlt nicht ohne Grund davor / daß der Hermias, von welchen die Hermiani den Namen fuͤhren / mit dem Hermogene, deſſen Jrrthum von der Ewig - keit der Welt-Materie Tertullianus in einem be - ſondern Werck widerlegt / und ihn und ſeine An - haͤnger daher Materlanos nennet / einerley ſey. Auch in denen neuern Zeiten iſt die Frage: Ob und wie die Welt ewig ſeyn koͤnne? nicht ununterſucht ge - blieben. Etliche Theologi, welche es nicht vor un - moͤglich halten / daß die Welt ewig ſeyn koͤnne / und daß man es bloß aus der Offenbahrung wiſ - ſe / ſie habe in der Zeit einen Anfang genommen / wollen / daß ſie nichts deſtoweniger zufaͤllig ſey und von GOtt herab hange. Sie machen einen Unterſcheid inter æternitatem cum ſucceſſione & in - ter æternitatem ſine ſucceſſione, und wiederum in - ter æternitatem extrinſecam, contingentem & de - pendentem & inter æternitatem intrinſecam, abſo - lutam & independentem. Jene legen ſie der Welt und dieſe GOtt bey. Poiret wil gar / man ſolle deswegen die Welt nicht ewig nennen / wenn man gleich ſagte / daß ſie allezeit geweſen waͤre und kein Augenblick in derſelben verhanden / fuͤr welches ein anderes vorher gegangen. Quamvis hoc eſſet, ſind ſeine Worte / nihilominus mundus tempora -rius12rius eſſet & dependens neque hoc quicquam DEI æternitati aut potentiæ detraheret. cogit. rat. de Deo, anima & malo L. III. c. 16. n. 9. Der Hr. Hoff - Raht Wolff lehret / daß / wenn GOtt gleich die Welt von Ewigkeit hervorgebracht haͤtte / ſo waͤre ſie doch in dem Verſtande nicht ewig / wie GOtt ewig iſt: Denn ſie waͤre in einer unendlichen Zeit / hingegen GOtt ſey auſſer der Zeit. Metaphyſ. §. 1075. Er berufft ſich / in dem etliche dieſe Lehre vor gefaͤhrlich ausgegeben / auf andere / die eben dieß behauptet / inſonderheit auf den ſel. Scheibler, der deutlich genug ſagt: poteſt Deus rem aliquam ab æter - no creare, quod nec ſit repugnantia ex parte creantis, nec ex parte creati, nec ex parte ipſius creationis, talia autem, quæ repugnantiam non involvunt, Deo poſſibilia ſunt. vid. Wolfii Anmerckungen uͤber ſei - ne Metaphyſ. §. 420. Mir daucht aber / der ſel. Scheibler hat hier einen Satz als gewiß hingeſetzt / den er nohtwendig vorher beweiſen ſollen / daß nemlich die Creatur einer ewigen Schoͤpffung faͤ - hig ſey. Wenn dieß waͤre / ſo waͤre keine Urſach zu begreiffen / warum ſie nicht von Ewigkeit ſolte ſeyn erſchaffen worden. Vielmehr folget daher / daß die Welt ewig ſeyn muͤſſe: in dem GOtt dasjeni - ge / wozu er von Ewigkeit zulaͤngliche Urſachen hat und welches auch von Ewigkeit der Natur der Sachen nach geſchehen kan / muß von Ewigkeit her verrichtet haben. Andere haben ſich bemuͤht / mit Gruͤnden / die ihren Wehrt und Buͤndigkeit haben / darzuthun / daß die Geſchoͤpffe ſo wenigder13der unendlichen Dauer / als der Unermeßlichkeit faͤhig / und daß / wie ſie in ihrem Umfang nicht un - begrentzt ſind / ſie auch in der Zeit einen Anfang haben nehmen muͤſſen. Richard Bentley hat in einer Rede / da er die Atheiſterey aus dem Urſprung und dem Verband der Welt widerlegt / hieruͤber viel ſchoͤne Gedancken / davon ich dieſe zur Probe hieher ſetzen wollen: pone æternam durationem mundi præteritam, infinitasque telluris circa ſolem revolutiones annuas; at de menſtruis lunæ circa ter - ram & diurnis terræ circa proprium axem revolu - tionibus, quæ per hypotheſin prioribus illis coævæ ſtatuuntur, licebit quærere, ipſæ quoque finitæ ſint, an infinitæ? Non utique finitæ: quippe nu - merus finitus infinito major eſſet, prout 12 vel 365 unitate ſunt majora: at neque infinitæ, duo enim vel tria infinita ſeſe magnitudine excederent, prout annus menſem, vel uterque diem excedit. Utrolicet ergo modo hypotheſis capiatur repugnans eſt & im - poſſibilis. Bentley ſtult. & irration. Atheismi ex verſione latina Jablonski p. m. 294.

VIII. Ob nicht ein jegliches Geſchoͤpff ſein eigenthuͤmliches Weſen haben muͤſſe / davon der Begrif von Ewig - keit her in dem goͤttlichen Verſtan - de / wornach er deſſen Eigenſchaff -ten14ten beſtimmet und demſelben in der Schoͤpffung mittheilet?

Erlaͤuterung.

Unter dem Weſen ſtellen wir uns dasjenige vor / wodurch eine Sache das iſt / was ſie iſt / und wel - ches folglich ſie von allen uͤbrigen Dingen unter - ſcheidet. Es kan alſo nicht gewaͤhlet noch ge - macht werden: es gruͤndet ſich in dem Satz des Widerſpruchs / daß eine Sache unmoͤglich zu - gleich ſeyn und nicht ſeyn koͤnne. Das Weſen eines Dinges hat ſeine innerliche Beſtimmung und Nohtwendigkeit und iſt ein ſo fern der Idee nach / die davon in dem goͤttlichen Verſtande iſt / ewig. Dieſes iſt unter dem bekannte canone metaphyſico: eſſentiæ rerum ſunt æternæ laͤngſt gelehret worden. Die Eigenſchafften der Dinge / die Faͤhigkeiten / die Kraͤffte und dergl. ſind hierin gegruͤndet. Wer dieſes leugnen wil / muß ſagen / daß die Weſen der Dinge willkuͤhrlich und folg - lich ein jegliches allerley ſeyn und allerley Eigen - ſchafften annehmen koͤnne und daraus muͤſſen viele ungereimte und gefaͤhrliche Lehren flieſſen. Es wuͤrde folgen / daß Recht koͤnte Unrecht / Finſter - niß Licht und 3 mahl 3 fuͤnf ſeyn / wenn es GOtt ſo gewollt. Herr Bayle hat viele Schwierig - keiten gegen die Guͤte Gottes in Anſehung des Boͤſen / ſo in der Welt iſt / gemacht; die er nicht wuͤrde gemacht haben / wenn er erkannt / daß GOtt vermoͤge dieſer Warheit / die er doch ſonſthoch -15hochzuhalten ſcheinet / dem Menſchen alles gege - ben / was ſein Verſtand in dem menſchlichen We - ſen gegruͤndet zu ſeyn erkannt hat: wie ſolches aus deſſen 19 Philoſophiſchen Lehr-Saͤtzen / die Herr Leibnitz in ſeiner Theodice widerlegt / zur Gnuͤge erhellet. Herr Hoff-Raht Wolff hat angemerckt / daß der Begriff von dem willkuͤhr - lichen Weſen der Dinge den Engellaͤnder John Lock auf die Gedancken gebracht / es ſey moͤglich / daß die Materie von GOtt eine Krafft zu geden - cken empfaͤngen koͤnne / welches auſſer allem Zweiffel ein gefaͤhrlicher Jrrthum und fuͤr einen ſolchen Mann eine groſſe Ubereilung. Wolfens Anmerck uͤber ſeine Metaphyſ. §. 264. Der Lehr - Satz von dem nohtwendigen Weſen der Dinge giebt Gelegenheit / ſich von GOtt / deſſen Raht - ſchluͤſſen auch allen Wercken der Gnade und Ge - rechtigkeit anſtaͤndige Begriffe zu machen. Es nimmt ſeinen Geſchoͤpffen allen Vorwand / ſich un - ter einigem Schein uͤber ihm zu beſchweren. Es wird ſich in den folgenden bemercken laſſen / daß dieſe Meynung mit denen Glaubens-Lehren unſer Evangeliſchen rechtglaͤubigen Kirchen eine noht - wendige Verknuͤpffung habe.

IX. Ob nicht / da GOTT auf die vollenkommenſte Art wircket / (quæſt. 4.) nohtwendig folgen muͤſſe /daß16daß Er einer jeglichen Creatur alles gebe / was dieſelbe vermoͤge ihres Weſens anzunehmen faͤhig?

Erlaͤuterung.

Man kan ſich keine andere Grentzen / die ſich GOTT in Beſtimmung der Eigenſchafften der Creaturen und derer ihnen zuzutheilenden Guͤter fuͤrgeſetzt / als eben die Faͤhigkeit / ſo in ihrem We - ſen gegruͤndet / (Erlaͤut. quæſt. 8.) vorſtellen. Gott iſt ein unerſchoͤpfliches Meer von Guͤtern: und da / ſo viel an ihm / der Vorſatz / ſolche mitzuthei - len / kein Ziel hat; ſo gibt er ſo lang / bis ſein Ge - ſchoͤpff nicht mehr faſſen kan. Es heiſt nimmer: Der Schoͤpffer kan und wil nicht mehr geben; ſondern: Das Geſchoͤpff kan nicht mehr anneh - men. Darum muͤſſen alle Dinge ſo vollenkom - men ſeyn / als ſie ihrer Natur nach haben werden koͤnnen. Der Herr von Leibnitz hat gar wohl angemerckt / daß der Hr. Bayle ſich ohne Urſach die Frage als ſchwer vorgeſtellt: Ob GOtt vollen - kommenere Dinge haͤtte ſchaffen koͤnnen / als er gemacht. Theod. p. II. §. CCIII. Wenn eine Sache alles hat / was in ihrem Weſen gegruͤndet / ſo iſt ſie vollenkommen. Es kan GOtt weder am Vermoͤgen noch Willen fehlen / einem jeden Ge - ſchoͤpff ſolches alles zu geben.

X. Ob man dieſe Aeuſſerung desgoͤtt -17goͤttlichen Willens oder den Vor - ſatz einem jeglichen Geſchoͤpff das - jenige zu geben / was es anzuneh - men faͤhig / nicht mit Grund koͤnne eine Liebe nennen / und ob ſich un - ter dem Namen der Liebe etwas anders begreiffen laſſe?

Erlaͤuterung.

Man kan die Liebe / in ſo fern ſolche in dem Willen eines vernuͤnftigen Weſens ihren Wohn - ſitz hat / eine Empfindung der Zuneigung nennen: in ſofern aber ſich dieſelbe aͤuſſert und zum Vor - theil des geliebten geſchaͤftig iſt / unter einem Vor - ſatz andere gluͤcklich zu machen / vorſtellen. GOtt thut ihm ſelbſt in aller ſeiner Arbeit eine vollenkommene Genuͤge / und alſo iſt nichts gewiſ - ſers / als daß Er eine Zuneigung und Wolgefal - len an ſeinen Wercken habe. Gen. I. 31. Pſ. CIV. 31. Sap. XI. 25. Ob aber und wie ſolche und an - dere Aeuſſerungen des goͤttlichen Willens gegen ſeine Geſchoͤpffe von ihm empfunden werden; ſol - ches laͤſt ſich wohl durch einen menſchlichen Ver - ſtand nicht einſehen und erkennen. Man muß ſolchemnach die Liebe Gottes ſowohl / als die uͤbri - ge Aeuſſerungen ſeines Willens denen Wirckun - gen nach anſehen: und ſo iſt ſie eben der Vorſatz einem jeglichen Geſchoͤpff alles zu geben / was ſie nur annehmen kan und wil. Jnſonderheit ver -Bdie -18dienet ſolcher den Namen der Liebe in Anſehung der - jenigen Geſchoͤpffe / welche ſich empfinden / ſich ihrer Empfindungen bewuſt / und folglich einer Gluͤck - ſeligkeit fahig ſind: ſolchemnach kan man die Lie - be Gottes gegen den Menſchen beſchreiben / daß ſie ſey ein Vorſatz / demſelben alles zu geben / was er nur immer annehmen kan und wil. Wer ſich dieſen Begriff von der Liebe Gottes macht / wird die Unrichtigkeit der Gedancken / ſo J. C. Dippel ſei - nem Leſer davon ſuchet beyzubringen / leichtlich pruͤfen und erkennen koͤnnen. Dem Vorſatz Got - tes / die Menſchen gluͤcklich zu machen / wird nicht nur von den Schrancken ihrer Natur / ſondern auch von ihrem wollen und nicht wollen Gren - tzen geſetzt. Jer. V. 25.

XI. Ob nicht / da die Erfahrung zur Gnuͤge zeiget / daß ein Geſchoͤpff fuͤr dem andern Eigenſchaften und Gaben beſitze / ſolches von denen unterſchiedenen Faͤhigkeiten des Geſchoͤpffs / (quæſt. 8. & 9.) keines - weges aber aus dem unumge - ſchrenckten Willen des Schoͤpffers herzuleiten?

Erlaͤuterung.

Es handeln diejenige unſtreitig unvorſichtig /wel -19welche die Vollenkommenheit der Geſchoͤpffe aus dem unumgeſchrenckten und unbedingten Wil - len des Schoͤpffers herleiten / und die Faͤhigkeit der Creatur niemahls in Betracht ziehen. Wenn etliche ſich nicht ſcheuen zu fragen: ſolte nicht die hoͤchſte Macht / wenn ſie mit einer unendlichen Guͤtigkeit verknuͤpfft iſt / ihr Werck mit Guͤtern erfuͤllen und uͤberſchuͤtten? vid. Leibnitz Theodic. P. II. §. CLI. p. 386. ſo kommt es mir vor / als wenn ſie ſprechen: ſolte nicht GOtt lauter Ge - ſchoͤpffe / die alle Vollenkommenheiten auf die vol - lenkommenſte Art beſitzen / d. i. lauter Goͤtter her - vor gebracht haben? Auf ſolche Art koͤnte eine jeg - liche Creatur ſich einbilden / ſie waͤre befugt / zu be - gehren / GOtt gleich zu ſeyn. Es war dieß der erſte Jrrthum / darin der Verfuͤhrer unſere Eltern ſtuͤrtzte. Gen. III. 5. Kein vernuͤnftiger Menſch wird ſich alſo uͤberreden / daß GOtt einer Crea - tur unbegrentzte Vollenkommenheiten haͤtte bey - legen koͤnnen / wenn er nur gewollt. Hat aber eine jegliche derſelben ihre Grentzen / ſo muß ja eine Richtſchnur ſeyn / wornach ſeine Weißheit und Guͤte dieſelbe beſtimmt und abmißt / und wo koͤn - nen dieſe anders als in dem Weſen der Dinge und der darin gegruͤndeten Faͤhigkeit geſetzet wer - den. Jndeß iſt es doch lediglich auf den Willen GOttes angekommen / die Dinge / von deren Natur und Weſen ſein Verſtand von Ewigkeit her Begriffe gehabt / in der Zeit zur Exiſtentz zu bringen und ſie zu ſeine Creaturen zu machen. B 2Sei -20Seine Vollenkommenheiten / welche ihn allein dazu bewegt / haben ihn auch bewegen muͤſſen / einer jeglichen dasjenige zu geben / was er ſeiner Weiß - heit nach erkannt / daß es den hoͤchſten Grad ih - rer Vollenkommenheit wuͤrde ausmachen. Alſo iſt ein jegliches in ſeiner Art und nach dem Ver - band mit dem gantzem in Betracht des / was der Schoͤpffer daran gethan / vollenkommen und er ſelbſt folglich ohne Tadel. Keines ſeiner Wer - cke kan ſich mit Grund uͤber ihn beſchweren / viel - mehr muͤſſen alle uͤberhaupt und ein jegliches in - ſonderheit zu ſeinem Ruhm gereichen.

XII. Ob nicht daher folge / daß GOtt / wie einer jeglichen Creatur / alſo auch dem Menſchen alle Eigen - ſchaften / die in ſeinem Weſen ge - gruͤndet / mitgetheilt / und zu - gleich den immerwaͤhrenden Vor - ſatz habe / einem jeglichen inſonder - heit alles Gute zu geben / was er annehmen kan und wil?

Erlaͤuterung.

Man muß ſich den Menſchen erſt uͤberhaupt oder nach ſeiner Menſchlichkeit und dann auch inſon - derheit oder wie wir ſie in der Welt finden / vor -ſtel -21ſtellen. Nach der erſten Betrachtung hat ihm GOtt alles gegeben / was zur Menſchlichkeit ge - hoͤret / dahin man nebſt andern die Kraft zu erken - nen und zu wollen / die Freyheit des Willens / die Faͤhigkeit nach einer Richtſchnur zu leben / die Moͤglichkeit zu ſuͤndigen / und dergl. rechnen kan. GOtt konte ihm von dieſen nichs vorenthalten / ohne die Menſchlichkeit zu zernichten / welches die - jenige nicht einſehen / welche meinen / es waͤre eine groͤſſere Guͤte geweſen / wenn GOtt den Menſchen alſo gemacht haͤtte / daß er uͤberall nicht haͤtte ſuͤn - digen koͤnnen. Was die Menſchen / wie wir ſie in der Welt finden / betrift; ſo werden wir gantz unterſchiedliche Grade der Eigenſchafften an de - nenſelben gewahr. Einer hat fuͤr dem andern an innerlichen und aͤuſerlichen Guͤtern vieles voraus. Dieſe unterſchiedene Stuffen beſtimmet freylich GOtt / und er kan ſie auch mindern und mehren / doch braucht er dazu niemals eine unumgeſchrenck - te Macht. Er handelt allezeit nach gerechten und zulaͤnglichen Urſachen und Bewegungs-Gruͤnden: und darum kan man nicht zweifeln / daß er in al - lem / was er mit denen Menſchen zur Vermehrung ihres Wolſtandes fuͤrnimmt / es ſey ordentlich o - der auſſerordentlich / Natur oder Gnade / ſich nach derſelben Faͤhigkeit / wie auch nach der Gelegenheit / die ſie ihm geben / um das Gute von ſeiner Hand zu empfangen / richte.

XIII. Ob nicht aus der ErfahrungB 3deut -22deutlich genug zu bemercken / daß nicht alle Bewegungen in dem Menſchen nach einem unuͤberwind - lichen Geſetz der Natur geſchehen / (mechanice & ſecundum leges motus) ſondern daß viele derſelben in unſe - rer Gewalt / da wir gewiſſe Ver - richtungen vornehmen oder laſſen / aus zweyen gleichmoͤglichen Din - gen eines waͤhlen und das andere verwerffen / auch denen Vorſtellun - gen / Bewegungs-Gruͤnden und Gnaden-Wirckungen / die unſere Seele zu gewiſſen Beſchaͤftigun - gen neigen / oder davon zuruͤck hal - ten moͤgen / widerſtehen koͤnnen / und daß folglich der Menſch eine geſetzfaͤhige Creatur ſey?

Erlaͤuterung.

Der Begriff von menſchlicher Freyheit kan nicht anders als durch die Erfahrung erlanget werden. Sie hat ihren Grund in dem Willen / und gehoͤrt alſo zu denen Dingen / die der Menſchin23in ihm ſelbſt empfinden muß. Es koſtet auch nicht viele Muͤhe / dieſelbe wahrzunehmen und zu erken - nen. Wir mercken in uns Bewegungen / die gantz auſſer unſerer Gewalt / als Z. E. den Umlauf des Gebluͤts / die Verdauung der Speiſen / aller - ley Auswurff der Natur und dergl. Man kan da - hin rechnen alle Empfindungen / die leidend in uns entſtehen / als Hunger und Durſt / Kaͤlte und Waͤr - me / Schlaf und Muͤdigkeit und dergl. Wir be - mercken aber auch in uns Veraͤnderungen / mit welchen es nicht alſo beſchaffen. Es ſind viele Ar - ten der Bewegungen lediglich in unſerer Gewalt / da wir uns hie oder dazu entſchlieſſen / unſere Glie - der ſo oder anders gebrauchen / dieſe oder jene Ver - richtungen vornehmen koͤnnen. So gewiß es nun iſt / daß dieſe beyde Gattungen der Bewegung nicht von einerley Art / ſondern vielmehr unend - lich von einander unterſchieden / ſo wenig darf man an der menſchlichen Freyheit zweiffeln. Zwar was die Wahl der Mittel zu unſerer Seligkeit betrifft / ſo ſteht ſolche freylich nicht in menſchli - cher Gewalt. Die Verderbnuͤs / darin wir durch den Fall gerahten / iſt ſo groß / daß wir / was das Ewige betrifft / weder das Wollen noch Vollbrin - gen haben. Phil. II. 13. Unſere Evangeliſche Kir - che verwirfft alſo billig auf der einen Seite die Jrr - thuͤmer derer / welche vorgeben / daß des Menſchen Wille zu allerley Schande und Laſter mit Gewalt gezwungen werde: auf der andern aber verab - ſcheuet ſie auch die groben Lehren der Pelagianer, dieB 4da24da meinen / daß der Menſch aus eigenen Kraͤften ſich koͤnne zu GOtt wenden / das Geſetz vollen - kommentlich halten / und das ewige Leben erwer - ben. Sie haͤlt nicht weniger die Meinungen der Semipelagianer, der Maſſilienſer, der Papiſten / Synergiſten / Enthuſiaſten und anderer / welche dem Menſchen in ſeinem natuͤrlichen Zuſtand einige Kraft an ſeiner Seligkeit zu wircken beylegen / mit Grund vor irrig. form. conc. art. II. de lib. ar - bitr. p. 677. edit. Rechenb. Ob nun zwar auf ſolche Art dem Menſchen die Freyheit / durch ſich ſelbſt bekehrt zu werden und den Weg zum Leben zu fin - den / abgeſprochen wird; ſo bleibt ihm doch die Freyheit durch ſich ſelbſt nicht bekehrt zu werden / und der Gnade / welche ſich hiezu geſchaͤftig erweiſt / Widerſtand zu thun. Hulſem. diſpp. III. de aux. gratiæ quæſt. VII. theſ. I. §. 4. GOtt braucht in der Bekehrung des Menſchen eine zulaͤngliche / aber keine unuͤberwindliche oder / wie es etliche ausdruͤ - cken / allmaͤchtige Gnade. Es wuͤrde aus dem Werck der Bekehrung ein mechanismus ſpiritualis und der bekehrte Menſch in primo termino con - verſionis ein automa ſpirituale ſeyn. Es iſt nicht zu begreiffen / wie es mit der Menſchlichkeit zuſam - men zu reimen / wenn etliche in der Reformirten Kirche lehren / daß der Gnade Gottes von dem Menſchen in actu primo & ſecundo nicht moͤge wi - derſtanden werden / d. i. daß diejenige / an welchen GOtt mit ſeiner Gnade wircket / nicht nur wuͤrck - lich allemahl bekehret werden; ſondern daß es auchnicht25nicht in ihren Vermoͤgen ſtehe / dieſe Bekehrung zu hindern. Nach einer ſolchen Meynung haben die Menſchen weder wollen noch nicht wollen. Alſo werden in der Synod. Dordracena diejenige ausdruͤcklich verworffen / qui docent, hominem DEO & Spiritui S. regenerationem ejus intendenti & regenerare ipſum volenti, ita poſſe reſiſtere & a - ctu ipſo ſæpe reſiſtere, ut ſui regenerationem pror - ſus impediat. art. VIII. Janſenius, von dem bekañt / daß er die irreſiſtibilitatem gratiæ paſſivam als ein beſonderer Verehrer des Auguſtini, mit demſelben verthaͤdiget / bezeuget / daß die Lehren des Auguſtini von der Meynung des Calvini gantz und gar un - terſchieden / und ſolches eben darum / weil dieſer lehret / daß es in des Menſchen Gewalt nicht ſtuͤn - de / der Gnade zu widerſtehen / davon Auguſtinus das Gegentheil geglaubt. Potentia diſſentiendi, ſagt Janſenius, non repugnat actuali gratiæ, motio - ni & conſenſui, quamvis fieri nequeat, ut actualis diſſenſus cum actuali DEI motione jungatur. vid. Janſenii Auguſtinus L. VIII. c. XXI. p. m. 376. Es ſcheint aber die Anmerckung / welche andere ſchon gemacht / nicht ohne Grund zu ſeyn / daß Janſenius nur darum habe davor angeſehen ſeyn wollen / ob ſey er in dieſer Lehre von der Meynung Calvini gantz unterſchieden / damit er ſich bey ſeinen Glau - bensgenoſſen deſtoweniger Haß erwecken moͤchte. Walchs Einl. zu den Rel. Streitigk. c. III. §. 2. p. 237.

B 5XIV. 26

XIV. Ob nicht / da der Menſch vermoͤ - ge der Freyheit auf unterſchiedliche Art und Weiſe ſein Thun und Laſ - ſen einrichten und ſeinen Willen be - ſtimmen kan / unter allen moͤgli - chen eine muͤſſe die Beſte und Vol - lenkommenſte ſeyn?

Erlaͤuterung.

Der in dieſer Frage enthaltene Satz wird von dem / der ihn recht einſieht / nicht geleugnet werden moͤgen. Die Wuͤrckungen unſerer Thaten geben zur Genuͤge zu erkennen / daß ſie / was die Guͤte derſelben betrifft / ſich nicht einander gleich ſind. Es kan unmoͤglich einerley ſeyn / ob man ſeines Nechſten Weib beſchlaͤfft oder daſſelbe von der Unkeuſchheit abmahnet: ob man jemand ſein Geld nimmt / oder ihm einen Allmoſen rei - chet: ob man jemand Wunden ſchlaͤgt / oder ihm dieſelbe verbindet. Sind alſo die Thaten nicht von gleicher Art; ſo muͤſſen etliche in ihrer Gat - tung die Beſten ſeyn / welche wir tugendhaft nennen: daß ſie aber ſolche werden / muß kein ei - niger Umſtand / der ihre Vollenkommenheit aus - macht / fehlen. Schomeri Theol. mor. C. II. §. 3. Sie ſind alſo von denen uͤbrigen / die man Laſter - hafft nennet / wie das Vollenkommene von demUn -27Unvollenkommenen / das iſt / weſentlich und noht - wendig unterſchieden. Sie haben ihre moralita - tem intrinſecam und ſind in dem goͤttlichen Ver - ſtande ſchon von Ewigkeit her als Gut erkannt. Daher halten auch einige Gottes-Gelehrte und zwar mit Grund davor / das Principium: man muͤſſe das Gute thun und das Boͤſe laſſen / ſey eben ſo allgemein / als dieſes: es koͤnne unmoͤg - lich ein Ding zugleich ſeyn und nicht ſeyn. Dann - haueri Hodoſoph. phæn. VI. p. 311.

XV. Ob nicht / da GOtt auf die vol - lenkom̃enſte Art und folglich das Beſte will / nohtwendig folgen muͤſſe / daß es ihm nicht allein un - moͤglich gleichguͤltig ſeyn koͤnne / wie der Menſch ſich ſeiner Freyheit gebrauche; ſondern auch wolle / daß er ſeinen Willen auf die beſtmoͤg - lichſte Art beſtimmen ſolle?

Erlaͤuterung.

Der Herr Hof-Raht Wolf hat die War - heit / daß GOtt die Menſchen verbinde / Tugen - haft zu leben / und alſo / wie er redet / aus dem Geſetzt der Natur auch ein goͤttliches Geſetz wer - de / aus dieſer Erfahrung / daß durch GOttesVer -28Verhaͤngnuͤs auf gute Handlungen Gluͤcksfaͤlle / auf boͤſe aber Ungluͤcksfaͤlle erfolgen / beſtaͤtigen wollen. Von der Menſchen Thun und Laſſen c. I. §. 30. Die Sache iſt an ihr ſelbſt richtig genung und ſtimmet auch mit GOttes Wort - berein / nur darin findet ſich eine Schwierigkeit / daß dieſe Erfahrung nicht ſo in die Augen leuch - tet / daß man allem Widerſpruch damit begeg - nen moͤge. Wir ſuchen den Grund der Ver - bindlichkeit in der Beſchreibung / die wir von GOtt gegeben / vermoͤge welcher er allezeit das Beſte auf die vollenkommſte Art wil / daher ihm unmoͤglich etwas gleichguͤltig ſeyn kan. Wer kan ſich von GOtt die Gedancken machen / daß er uns Vermoͤgen / Gelegenheit und Guͤter / wo - durch wir unſern und anderer Menſchen Wohl - ſtand befordern koͤnnen / ohne Abſicht koͤnne gege - ben haben? So braucht dieß auch ja wohl keinen weitlaͤuftigen Beweiß / daß durch einen willkuͤhr - lichen Gebrauch derſelben nicht nur unſer eigenes / ſondern auch anderer Menſchen gluͤcklich ſeyn gehindert und geſtoͤret werde / und ſo muß von ſelbſt folgen / es ſey GOttes will / daß wir un - ſern Willen in allem Thun und Laſſen auf die beſtmoͤglichſte Art beſtimmen ſollen / welches man in GOtt Gerechtigkeit nennet.

XVI. Ob nicht dieſer Wille GOttes der allerernſtlichſte ſeyn muß / der -ge -29geſtalt / daß man ſich alles / was nur das Gemuͤht innerlich verbin - den und zugleich behutſam und ſorgfaͤltig machen kan / von GOtt vorſtellen muͤſſe?

Erlaͤuterung.

Dieſe Frage bringet uns auf den Haß GOt - tes wider das Boͤſe und gibt zu erkennen / daß die Urſache / welche macht / daß er das Beſte ernſt - lich wil / auch machen muͤſſe / daß er an denen / die ihm hierin zuwider / ein Misgefallen trage. Die - ſes Misgefallen aber kan man ſich nicht als ei - ne Leidenſchaft in ſeinem Weſen / wie es bey Men - ſchen iſt / ſondern nur der Wirckung nach in der Seelen des Ubertreters vorſtellen. GOTT empfindet daſſelbe nicht auf menſchliche Art: Er laͤſt es aber diejenige nachdruͤcklich fuͤh - len / an denen er es traͤgt. Wann das nicht waͤre / ſo koͤnte man nicht ſagen / daß dieſer Wil - le GOttes der ernſtlichſte und kraͤftigſte. Die Gottloſen wuͤrden ungeſcheut uͤber ihm ihr Ge - ſpoͤtt treiben / und ſich an ſein Gebot vielwe - niger als an den Befehl eines irrdiſchen Regen - ten kehren. Ja der Unterſcheid unter boͤſen und guten wuͤrde ewig unkennbar bleiben. Die Vol - lenkommenheit in GOtt erfordert alſo / daß wir uns ihn als einen ſolchen vorſtellen / den alle Welt als den groͤſten Wolthaͤter zu lieben / aber auch alsden30den ernſtlichſten und gerechteſten Richter zu fuͤrch - ten Urſache hat. Der Herr v. Leibnitz wil zwar / daß es zweydeutig / wenn man ſagt / die Liebe zur Tugend und der Haß gegen die Laſter in GOtt ſey unendlich / in dem nach ſeiner Meynung ſo dann kein Laſter in der Welt ſeyn wuͤrde: Theod. P. II. §. CXVII. Ob dieſes folge weiß ich nicht; das aber / meyne ich / koͤnne mit Grund von GOtt geſagt werden / daß er das Gute auf die vollen - kommenſte Art liebe und das Boͤſe auf eben die Art haſſe. Die Schrift bringt uns eine ſolche Meynung von GOtt bey. Exod. XX. 5. Deut. IV. Pſ. V. 5. VII. 12 und an unzehligen Ortern mehr. Es iſt mir / wenn ich auch wolte / nicht moͤglich zu glauben / daß die Schrift hierin hat mehr figur - lich reden wollen / als wenn ſie von der Liebe GOttes Zeugnuͤſſe gibt. Es iſt alſo eine leere Einbildung / welche ſich J. C. Dippel. macht / als wenn eigentlich in GOtt nichts als lauter Liebe / die uͤbrigen Eigenſchaften als Zorn / Haß / Eyfer / und dergleichen wuͤrden ihm nur menſchlicher Weiſe beygelegt: weil er ſonſt in ſeinem Weſen wuͤrde geaͤndert werden. Es iſt bereits erinnert / (Erlaͤuterung quæſt. 4.) daß man dieſe Dinge nicht als Leydenſchaften und Gemuͤhts-Bewe - gungen muͤſſe anſehen: die wuͤrden freylich Ver - aͤnderungen in ihm machen. Wer wolte aber ſol - GOtt zu ſchreiben? Die Liebe iſt ſo wenig eine Leiden ſchaft in ihm / als der Haß: und alſo kan weder das eine noch das andere ihn veraͤndern:eben31eben der Unterſchied / welcher ſich unter den Men - ſchen in Anſehung ihres moraliſchen Zuſtandes befindet / macht / daß GOtt auf verſchiedene Art ſich gegen ſie verhalten muß / wo wir uns nicht ein Numen Epicureum vormahlen wollen. Und gewiſſer Maaſſe ſcheinet die Meynung des Epi - curi mehr Aehnlichkeit mit der Vernunft zu ha - ben / als dieſe des Dippels: denn um ſeinen Be - griff von dem goͤttlichen Ruheſtand nicht zu ver - letzen / ſpricht er ihm ſowohl die Liebe als den Haß ab. 〈…〉〈…〉. Jn dem er wol eingeſehen / daß / wenn man ihm das eine von die - ſem beymißt / es ungereimt ſeyn wuͤrde / das andere in Abſicht auf die vernuͤnftige Creaturen zu leug - nen. Die Urſache / ſo ihn bewegt / das Gute und Vollkommene an ſeinen Geſchoͤpffen zu lieben / muß ihn auch bewegen / das Boͤſe und die moraliſche Unvollenkommenheiten zu haſſen. Jmmittelſt hat ſich Epicurus eine unnoͤhtige Sorge gemacht / daß dadurch der goͤttliche Ruhſtand werde geſtoͤret werden / wie auch kein Grund und Urſache verhan - den / warum dieſe unterſchiedliche Aeuſſerungen des goͤttl. Willens eine Veraͤnderung in ſeinen Ei - genſchaften machen ſolten, Solchemnach ficht J. C. Dippel mit ſeinem eigenen Schatten / wenn er quæſt. 6. & 7. fragt: Ob GOtt in ſeinen Eigen - ſchaften durch den Abfall der Creatur ſey geaͤn - dert worden? Ob man ſich eine Abwechſel des Lichts und der Finſterniß / oder Zorn / Haß und Rache in Gott ohne eine Laͤſterung ſeines We -ſens32ſens koͤnne einbilden? Wo hat jemals ein Lehrer der Evangeliſchen Kirchen dem goͤttlichen Weſen Gemuͤhts-Bewegungen oder Leidenſchaften beyge - legt? GOtt muß ſich freylich anders gegen die U - bertreter ſeiner Gebote / als die / ſo ihn fuͤrchten / ver - halten: wie aber kan daher folgern / daß Er als - dann in ſeinen Eigenſchaften muͤſſe veraͤndert wer - den / oder daß ein Wechſel des Lichts und der Fin - ſterniß in ihm vorgehe? muͤſte man ſich nicht viel - mehr lauter Finſterniß in GOtt einbilden / wenn er ſich gegen gut und boͤß auf gleiche Art verhiel - te? erfordert es nicht ſeine Vollenkommenheit / daß er eines von dem andern nach deſſen innern Beſchaffenheit unterſcheide? muͤſſen nicht unter - ſchiedliche Dinge auch unterſchiedliche Namen ha - ben? Nennet man dann nicht das Verhalten ge - gen die Frommen mit Grund eine Liebe / gegen die Gottloſen aber einen Haß? iſt es nicht ſolchemnach ein unbeſonnener Diſcours, weñ Dippel in ſeiner 8ten Frage ſich nicht entbloͤdet vorzugeben / die Benen - nungen von Zorn / Haß / Rache und dergl. waͤ - ren aus der Eigenſchaft und Jrrthum der Creatur genommen / deren Begriff ſich Gott ſelbſt zuweilen accommodiret und zu ihren Be - ſten ſich herunter gelaſſen / um durch beyge - brachte Furcht und Schrecken das in etwas zu erhalten / was ſonſt durch Uberzeugung der weſentlichen Warheit nicht koͤnte ſo leicht bey Blinden und Unartigen zum Effect ge - bracht werden? Gehen die uneigentliche Redender33der Schrift ſo weit / ſo wird es nicht moͤglich ſeyn jemanden zu uͤberzeugen / daß ſie jemals eigentlich rede: denn was bleibt vor ein Merckmahl uͤbrig / dabey man die eigentliche Reden von denen unei - gentlichen unterſcheiden moͤge? ſo weit geht der Hochmuht etlicher Leute / daß ſie gern GOtt ſelbſt zum Luͤgner machen / wenn ſie nur ihren Wahnſaͤtzen koͤnnen dadurch ein Anſehen zu We - ge bringen. So faͤllt auch hiemit die ungegruͤnd - te Folgerung / welche J. C. Dippel. gar Mathema - tiſch zu nennen ſich nicht ſchaͤmet / uͤbern hauffen. Er meynet / es folge / daß wenn in GOtt reeller Zorn und reelle Rache zufinden / er die Welt nicht nur neceſſario haben ſchaffen muͤſſen / ſondern auch in derſelben das Boͤſe zum Vorſchein bringen / um ſo wohl immerwaͤhrende Vor - wuͤrffe ſeines Zorns als ſeiner Erbarmung und Liebe zu haben. Verthaͤdigung der veræ dem. Ev. p. 15 & 16. Er haͤtte ſehr wohl gethan wenn er eine Beſchreibung von dem / was er un - ter reellen Zorn und Rache verſtehe / gegeben / ehe er daraus Schluͤſſe gemacht. Es iſt ohne dem eine Eigenſchaft der bloͤden Geiſter / daß ſie aus Woͤrtern / die nicht erklaͤrt ſind / Schluͤſſe ma - chen. Zorn und Rache in GOtt ſind Aeuſſerun - gen ſeines Willens / welche ſich auf das moraliſche Verhalten der Menſchen beziehen: es iſt alſo un - ter dieſem und jenen eine Verknuͤpffung als zwi - ſchen der Urſache und ihren Wirckungen; nicht aber umgekehrt. Die Urſache des Haſſes iſt nichtCin34in GOtt / ſondern in dem Geſetzfaͤhigen Geſchoͤpf / wenn er dieſe Faͤhigkeit mißbraucht. Was haſ - ſenswuͤrdig iſt / kan GOtt nicht lieben: es waͤre wider ſeine Vollenkom̃enheit (quæſt. 1) die Schrift lehret eben ſo davon. Num. XI. 33. Mich. VII. 9. Rom. II. 5. 8. Eph. V. 6. 2 Theſſ. I. 6. 10.

XVII. Ob nicht alſo der Wille Gottes dieſen Satz: Man ſoll aus denen freyen Handlungen allezeit die Beſten, das iſt diejenige, welche mit der goͤttli - chen Abſicht uͤbereinkommen, zur Aus - uͤbung bringen, und die derſelben zu - wider, unterlaſſen; zu einem ewi - gen und unwandelbahren Geſetz mache?

Erlaͤuterung.

Es iſt noͤhtig bey dieſer Gelegenheit zu zeigen / was man ſich unter dem Wort: Geſetz / eigentlich vorzuſtellen habe. Das Geſetz iſt ein Befehl eines Oberen / zu deſſen Erfuͤllung derſelbe diejenige / ſo ihm zu gehorchen ſchuldig / auf eine zulaͤngliche Art nach der Groͤſſe ſeines Vermoͤgens verbindet. Es iſt alſo von einem Raht ſehr unterſchieden. Das Geſetz iſt eine Wuͤr - ckung der rechtmaͤßigen Gewalt: der Raht aber eine Folge der Freundſchaft: die Unterlaſſung desGe -35Geſetzes gibt dem Geſetzgeber gerechte Urſachen zu ſtraffen / die Verſaͤumung des Rahts ſchadet nicht weiter / als daß der Vortheil / ſo wir durch deſſen Annahme vielleicht erlanget haͤtten / verlohren wird. Es wird ſich alſo leicht beurtheilen laſſen / ob die Erklaͤrungen des goͤttlichen Willens von dem Thun und Laſſen der Menſchen als Geſetze / oder als heylſame Rahtſchlaͤge anzunehmen. Ge - hoͤren ſie zu der letzten Gattung / ſo wird es GOtt genug ſeyn / wenn der gute Erfolg von ſeiner Ab - ſicht und gutem Willen ein Zeugnuͤs ablegt: Er wird die Veraͤchter derſelben nicht weiter zu ſtraf - fen begehren / als daß ſie die Fruͤchte ihrer Thor - heit genieſſen. Und dahin gehet wohl die Mey - nung der meiſten Weltweiſen. Sind es aber Ge - ſetze / ſo wird GOtt als ein Geſetzgeber damit nicht zufrieden ſeyn / ſondern nach der Groͤſſe ſeiner Macht ſolche Mittel gebrauchen muͤſſen / welche zulaͤnglich ſind / die geſetzfaͤhige Creatur zur Aus - uͤbung ſeines Willens zu verbinden. Seine Macht aber geht ſoweit / daß er kan Leib und Seel ver - derben in die Hoͤlle Matth. X. 28. und es iſt in dem Begriff von ſeinen Vollenkommenheiten gegruͤn - det / daß er ſolche an denen / die ſich ſeinen Gebo - ten freventlich widerſetzen / nach dem Grad ihrer Boßheit muͤſſe ſehen und offenbar werden laſſen. Es erfordert es die allgemeine Liebe zu ſeinen Wer - cken / nach welcher es ihm unmoͤglich gleichguͤltig ſeyn kan / ob derſelben Vollkommenheit und Wol - ſtand befordert oder geſtoͤret wird. (Erl quæſt. 15.) C 2Men -36Menſchen / die ihre Freyheit mißbrauchen und de - nen goͤttlichen Befehlen zuwider handeln / befor - dern nicht nur ihr eigenes / ſondern auch anderer Menſchen Verderben / und wie koͤnte man ſagen / daß GOtt auf die vollenkommenſte Art handelte / wenn er ſolches ungeſtrafft geſchehen und nicht vielmehr ſolche Begriffe unter den Menſchen ließ / welche ein kraͤftiges Gefuͤhl der Verbindlichkeit / nach Regul und Richtſchnur zu handeln / in ihrem Gemuͤht zu erwecken vermoͤgend. Alſo macht der Wille Gottes dasjenige / ſo in allen menſchlichen Handlungen das Beſte iſt / zu einem Geſetz: folg - lich kan kein Geſetz ohne GOtt ſeyn / und in ſofern bin ich mit dem Hn. Hof-Raht Wolf nicht einer - ley Meynung / daß die Natur fuͤr ſich uns koͤnte verbinden / oder daß ein Geſetz der Natur wuͤrde ſtat finden / wenn auch kein GOtt waͤre. moral. c. I. §. 20. Daß der gelehrte Grotius eben die Gedan - cken gehabt / iſt bekannt genug. Prolegom. tr. de jure belli & pacis §. 11. & 12. Er ſetzt aber auch ei - ne Verbindlichkeit / die aus dem freyen Willen Gottes kommt / derſelbe zur Seiten: Der Aus - druck / den er davon gibt / iſt ſo beſchaffen / daß meinem Beduͤncken nach / man ſich nicht wohl ei - nen deutlichen Begriff davon machen kan. Jch bin allerdings der Meynung daß / weil zwiſchen Gut und Boͤß ein weſentlicher Unterſchied / (Er - laͤut. quæſt. 14.) auch ein Atheiſt denſelben einſehen / und eines von dem andern unterſcheiden koͤnne. Wiewohl dieß in vielen Umſtaͤnden auch ſeine Ab -faͤlle37faͤlle hat / indem die notiones morales mit dem Be - griff von der Gottheit gar genau verwand / aber daher folget nicht / daß er eine Verbindlichkeit fuͤhle / das Gute fuͤr dem Boͤſen zu erwehlen. Ein Atheiſt richtet in der Wahl der freyen Handlun - gen freylich ſein Augenmerck auf die Beforderung ſeines Gluͤckſtandes: er nimmt aber / wenn das / worinn ſein Gluͤckſtand beſtehe / ſoll beurtheilet werden / allemahl ſein Fleiſch und Blut mit zu raht. Und dieß muß in den meiſten Faͤllen mehr als die Vernunft bey ihm zu ſagen haben. Die Vernunft wird keinen Grund fuͤrbringen / welchen die Leidenſchaft von Fleiſch und Blut nicht leicht - lich wird uͤbern Hauffen werffen / und dieß wird bey allen Vorfaͤllen den Sieg behalten. Man weiß ja / was die Haupt-Neigungen vor Gewalt in dem menſchlichen Gemuͤht haben; welche ge - wiß / wenn nicht Furcht und Ehrerbietung fuͤr dem hoͤchſten Weſen ſolche im Zaum halten / nach dem Einwenden der Vernunft nicht viel fragen werden / welches Hr. Wolf auch ſelbſt wohl ein - geſehen. Moral. P. III. c. I. §. 656. Ein rechtes Gefuͤhl der Verbindlichkeit muß in Anſehung der guten Thaten von Freude und Zufriedenheit; in Anſehung der Boͤſen von Unruh / Schmertz und Mißvergnuͤgen begleitet werden / welches ſich bey einem Atheiſten / in ſofern er ein ſolcher iſt / nicht wohl finden kan. Uberdem iſt es unſtreitig wahr / daß die Empfindungen von der Gottheit / und die derſelben zu erweiſende | Pflichte zu denenC 3ewi -38ewigen moraliſchen Warheiten / welche die menſch - liche Gluͤckſeligkeit durch ſich ſelbſt befordern / mit gehoͤren / wie der Hr. Hof-Raht Wolf ſelbſt leh - ret / daß das Geſetz der Natur die Menſchen auch zur Erkaͤnntnuͤs GOttes verpflichte l. c. §. 657. folglich muſte ſich ein Atheiſt / wenn die Natur ihm koͤnte Geſetze geben / verbunden erachten koͤnnen / GOtt zu erkennen und zu ehren / welches ſich nicht wil begreiffen laſſen.

XVIII. Ob nicht dieſer Wille GOttes oder das / was in allem das Beſte ſey / durch bloſſe Vernunft aus dem vollenkom̃enſten Gebrauch / Wir - ckung und Nutzen eines jeglichen Dinges muß erkannt werden?

Erlaͤuterung.

Dieſe Frage gibt mir Gelegenheit / meine wenige Gedancken uͤber eines der ſchwerſten Leh - ren in dem Recht der Natur / dvvon auch unter denen Sitten-Lehren vielfaͤltig iſt geſtritten wor - den / zu eroͤffnen. Sie kommen faſt alle darin uͤber - ein / daß der Wille Gottes das moraliſch Gute zu einem Geſetze mache / und im Gegentheil das entge - gen geſetzte Boͤſe verbiete: nur fragt ſichs / woraus man den Willen Gottes oder das / was in allem das Beſte / ſoll erkennen. Hugo Grotius und nachihm39ihm Samuel Pufendorf haben gemeynet / man koͤn - ne aus dem Natur-Licht nicht wiſſen / daß Got - tes Wille weitergehe als auf die Socialitet und das allgemeine Band menſchlicher Geſellſchaft / aus welchem Begriff ſie alle beſondere Pflichte / wiewohl etliche mit groſſem Zwang / berleiten wollen: dieſe haben zwar unterſchiedliche Nachfol - ger gefunden / doch ſind auch etliche von denen - ſelben hernach auf andere Gedancken gerahten / unter welchen inſonderheit das Exempel des Hn. Geheimten-Rahts Chriſtiani Thomaſii bekannt iſt. Vielleicht habe ich Gelegenheit bey Herausgabe des dritten Theils meiner Betrachtungen von einem Tugendhaften Leben rechtglaͤubiger Chriſten in einer kleinen Einleitung zu der vernuͤnftigen und Chriſtl. Sitten-Lehre meine Anmerckungen hieruͤber etwas ausfuͤhrlicher mitzutheilen: diß - mahl will ich ſolche in der Enge kuͤrtzlich zuſam - men faſſen.

Die Erfahrung zeiget / daß uns des andern Wille entweder durch Worte oder durch Mi - nen und Gebehrden oder durch Thaten und Wercke kund werde: auf andere Faͤlle weiß ich mich nicht zu beſinnen / die nicht zu einem von dieſen dreyen ſolten koͤnnen gerechnet werden. Die Art / durch gewiſſe Minen und Gebehrden ſeinen Willen kund zu machen / hat nur in weni - gen Dingen und dazu bloß bey dem Menſchen / als deſſen Geiſt mit einem Coͤrper / der die Ge - muͤhts-Neigungen auszudrucken faͤhig / verbnndenC 4iſt40iſt Raum und Statt / und kan alſo GOtt auf keine Weiſe beygeleget werden. Daß GOtt durch Woͤrter ſeinen Willen bekannt machen koͤnne / hat nichts Widerſprechendes in ſich und iſt auch wuͤrcklich geſchehen: allein da ſolches nicht in der Ordnung der Natur gegruͤndet und folglich nicht allgemein; ſo iſt diß nicht der Weg / vermittelſt wel - che wir durch Huͤlffe bloſſer Vernunft zur Erkaͤnnt - nuͤs des goͤttl. Willens gelangen moͤgen. Solchem - nach bleibt nichts uͤbrig / als daß man aus den Wercken GOttes ſeinen Willen beurtheile. Jch ſetze als unſtreitig feſt / daß GOtt bey allen ſei - nen Wercken ſeine Abſichten habe / welche auf die Erhaltung einer allgemeinen Abſicht / die keine an - dere als der vollenkommenſte Gluͤckſtand ſeiner ver - nuͤnftigen Creaturen nach dem Maaß ihrer Faͤ - higkeit ſeyn kan / abzielen muß: ich nehm dabey als gewiß an / daß ſolche auf die beſtmoͤglichſte Folge und Wirckung eines jeden Dinges gerich - tet / und daß es / damit ſolcher erreichet werde / auf den rechten Gebrauch menſchlicher Freyheit mit ankomme: und daraus folgere ich dann dieſen Satz: GOtt will / daß der Menſch ſich bey einer jeglichen Sache ſeiner Freyheit alſo ge - brauche / damit daraus die beſte Wirckung / ſo moͤglich iſt / erfolge. Z. E. der Menſch hat ein ſcharffes Gefuͤhl von ſeinem Leben: der vollenkom̃en - ſte Nutzen davon iſt der / daß er lang / geſund und in dem Stand der Zufriedenheit lebe; ſo geht die goͤttliche Abſicht / in dem GOtt dieſe Empfin -dung41dung ins Gemuͤht gelegt / dahin / daß der Menſch ſo lang / ſo geſund und ſo vergnuͤgt leben moͤge / als moͤglich / und folglich wil er auch / daß der Menſch ſoll ſeine freye Handlungen ſo einrichten / daß dieſe ſeine Abſicht moͤge erreichet werden: der Menſch iſt alſo verbunden / aus der Erfahrung und / wie es ſonſt geſchehen mag / ſorgfaͤltig an - zumercken / was ſein leben kan lang / geſund und vergnuͤgt erhalten und was er ſeines Theils dazu beyzutragen vermoͤgend: daraus folgt / daß alles dasjenige / was ſein Leben verkuͤrtzet / elend und mißvergnuͤgt machet / nicht nur ihm ſelbſt / ſondern auch andern von GOtt verboten ſey. Diß wird uns in viele beſondere Pflichte tieffer hineinfuͤhren / als ſich mancher wohl fuͤrſtellt: mir iſt es genug / wenn ich den Jnhalt der Frage nur in etwas hiemit erlaͤutert habe. Sonſt erfordert die Sache ſelbſt freylich eine weitere Ausfuͤhrung.

XIX. Ob nicht diejenige / welche ihre freye Handlungen nicht nach de - nen goͤttlichen Abſichten beſtim - men / oder in allen vorkommenden Faͤllen das Beſte waͤhlen / wider das Geſetz Gottes / ſo er in der Na - tur vorgeſchrieben / handeln?

C 5Er -42

Erlaͤuterung.

Der hierin enthaltene Satz folgt unſtreitig aus denen vorhergehenden / und unſer Heyland hat ihn ſelbſt in ſeiner allervollenkommenſten Sit - ten-Lehre zulaͤnglich beſtaͤtiget. Er ſagt: Darum ſollt ihr vollkommen ſeyn / gleich wie euer Vater im Himmel vollkommen iſt. Matth. V. 48. Die Reden JEſu / welche vor dieſe Woͤrter hergehen / geben einen deutlichen Beweiß / daß die Abſicht ſeines Vaters auf das / was in allem Thun und Laſſen der Menſchen / das Beſte iſt / gerichtet ſey. GOttes eigene Vollenkommenheit erfordert / daß er uns zu dem Beſten verbinde: eine jede That / die in ihren moraliſchen Umſtaͤnden haͤtte beſſer ſeyn koͤnnen / taugt fuͤr GOtt nicht / und in ſofern iſt er der vollenkommenſte Geſetzgeber.

XX. Ob nicht die freye Handlungen der Menſchen GOTT deſtomehr mißgefallen muͤſſen; je weiter ſol - che von ſeiner Abſicht entfernet?

Erlaͤuterung.

Die moraliſche Guͤte und Vollenkommenheit einer freywilligen Handlung an ſich betrachtet / kan zwar keine Stuffen haben: man kan ſie nicht ehe gut nennen / bis man alle Umſtaͤnde dabey fin - det / welche ihre innerliche Schoͤnheit ausmachen - (Erlaͤut. quæſt. 14.) Doch kan man meinem Be -duͤn -43duͤncken nach mit Grund ſagen / daß einerley Hand - lung bey dem einen tugendhafter ſey / als bey dem andern. Die moraliſche Unvollenkommenheit einer That aber waͤchſt und hat ſowohl in ihr ſelbſt Stuffen; als man auch ſagen kan / daß einerley Handlung bey dem einen laſterhafter ſey / als bey dem andern. Etliche ſind in ſich viel ſchaͤdlicher / etliche kommen mehr aus Einfalt als Boßheit / et - liche mehr aus Boßheit als aus Einfalt / alſo ha - ben laſterhaffte Thaten unzaͤhlige Stuffen. Dieß kommt mit der Schrifft uͤberein / als welche lehrt / daß eine Suͤnde groͤſſer ſey / dann die andere. Matth. XII 31. Joh. XIX. 11. So hat auch ein Menſch fuͤr dem andern unzehlbare innerliche und aͤuſſerliche Vortheile / die ſeine Verantwortung in Anſehung ſeiner Thaten nicht wenige vermeh - ren. Matth. XI. 21. Joh. XV. 22. Da es nun (Er - laut. quæſt. 17.) GOtt nicht gleichguͤltig ſeyn kan / wie der Menſch ſich ſeiner Freyheit gebrauche / ſo muͤſſen die boͤſe Thaten ihm nach dem Grad ih - rer Boßheit mißgefallen; wie ihm die guten ange - nehm und wolgefaͤllig ſind.

XXI. Ob das Misgefallen Gottes an dem moraliſchen Boͤſen oder der Suͤnde ſich nicht nohtwendig muͤſ - ſe aͤuſſern / und ob ſolches auf einean -44andere Art als in Schmertz und Mißvergnuͤgen in der Seele des U - bertreters ſeiner Gebote geſchehen koͤnne?

Erlaͤuterung.

Da in GOtt keine Leidenſchafften ſind / (Er - laͤut. quæſt. 4.) ſo kan das Mißgefallen an dem Boͤſen und was in demſelben gegruͤndet / als Zorn / Eyfer / Rache nicht der Empfindung nach in dem goͤttl. Weſen ſeyn. Es waͤre eine Einfalt / wenn man in ſolchen Faͤllen von Menſchen auf GOtt ſchlieſſen / und von dem / was in ihm vorgeht / nach ihrem Gefuͤhl urtheilen wolte. Weil indeſſen das Mißgefallen Gottes an dem moraliſchen Boͤ - ſen etwas wuͤrckliches iſt / und nicht mag in Zwei - fel gezogen werden (quæſt. 20.) ſo muß er es an der abweichenden Creatur kennbar machen / und zwar ſolchergeſtalt / daß auch ſeine uͤbrige vernuͤnff - tige Geſchoͤpffe ſolches mercken / und etliche dar - aus Bewegungs-Gruͤnde nehmen koͤnnen / in dem Vorſatz / ſeinen Abſichten gemaͤß zu wandeln / zu beharren; andern aber Gelegenheit gegeben wer - de / die Vollenkommenheiten des Schoͤpffers mehr und mehr einzuſehen und zu verehren. Wann es denn damit ſeine Richtigkeit hat / daß das goͤttl. Mißgefallen an dem moraliſchen Boͤſen ſich an der abweichenden Creatur aͤuſſern und kennbar machen muͤſſe; ſo kommt es auf die Frage an / auf welche Art ſolches geſchehen koͤnne. Und da mußfrey -45freylich der die Wirckung fuͤhlen / welcher dazu Urſache gegeben. Dieſe Wirckung kan kein an - derer ſeyn / als Schmertz und Mißvergnuͤgen in der Seele des Ubertreters. Der Ubelſtand des Geiſtes iſt denen Gottloſen die ſicherſte Uberfuͤh - rung / daß ihr Weſen dem HErrn nicht gefalle. Die Zeugnuͤſſe der Schrifft ſtimmen hiemit voͤl - lig uͤberein. Sie lehret / daß der erſte und gewiſſe Schade / welche denen Suͤndern aus ihren Miß - handlungen zuwaͤchſt / der ſey / daß ſie den Frieden der Seelen verlieren. Die Gottloſen, ſpricht der HERR, haben keinen Frieden. Eſaiæ XLVIII. 22. Wir finden auch / daß denen / welche aus ihrem ſuͤndlichen Stande wiederum zu GOtt zuruͤck kehren / die Ruhe der Seelen ver - beiſſen wird / zum Zeugnuͤs / daß ſolche durch die Abweichung von dem Gebot des Allerhoͤchſten ſey verlohren worden. ſiehe Jer. VI. 16. Matth. XI. 29. Wenn ich aber hie behaupte / daß das goͤttl. Miß - gefallen an der Suͤnde ſich in der Seele des Suͤn - ders aͤuſſere; ſo wird damit keinesweges geſagt / daß nicht auch ſolches in mancherley aͤuſſerlichen Truͤbſalen und Leyden / ſo denen Gottloſen wi - derfaͤhrt / geſchehe. Es bezeuget ſolches die Er - fahrung und GOttes Wort. Prov. XI. 31. XIII. 21. Eccl. II. 26. Es kan aber nicht zu einem zu - laͤnglichen Merckmahl des goͤttl. Mißgefallens dienen / weil auch die / ſo mit aller Sorgfalt nach den Geboten GOttes wandeln / von aͤuſſerlichen Leiden und Ungluͤcksfaͤllen nicht ſicher ſind. Jchweiß46weiß alſo nicht / ob die Gluͤcksfaͤlle / welche auf gu - te / und die Ungluͤcksfaͤlle / welche auf boͤſe Hand - lungen folgen / als Bewegungs Gruͤnde koͤnnen angeſehen werden jene zu vollenbringen und die - ſe zu unterlaſſen / wie dieſes der Herr Hoff-Raht Wolf lehret. Moral. c. I. §. 30. und zwar deswe - gen weil GOtt ſelbige miteinander verknuͤpfft / und folglich ſein Wolgefallen an dem Guten / und ſein Mißgefallen an dem Boͤſen darin kund macht. Dieſer beruͤhmte Weltweiſe hat die Einwuͤrffe / ſo dagegen koͤnnen gemacht werden / nach ſeiner Scharffſinnigkeit ſelbſt gar wohl eingeſehen. ib. §. 31. Mein groͤſter Zweiffel / denn ich dagegen hege / iſt der / daß die Erfahrung: es folgen auf gute Handlungen Gluͤcksfaͤlle / auf boͤſe aber Un - gluͤckfaͤlle nicht allgemein: welches der Hr. Hoff - Raht Wolf ſelbſt erkennet / wenn er ſagt / daß es gar oft geſchehe l. c. §. 30. Aber auch das kan man kaum annehmen. Es folgt ſo leicht auf eine gute Handlung ein Ungluͤcksfall / als auf eine boͤſe. So weit Menſchen-Auge ſiehet / iſt die Zahl der Tugendhafften / ſo aͤuſſerlich leiden / wohl ſo groß / als die Zahl der Laſterhafften. Wenigſtens iſt es nicht ſo kennbar / daß der Menſch ſolte den Unter - ſchied mercken koͤnnen. Cicero hat eben diß an - gemerckt: Dies deficiat, ſi velim numerare, quibus bonis male evenerit, nec minus, quibus improbis o - ptime, de N. D. L. III. Nach meiner wenigen Einſicht halte ich davor / daß man das goͤttliche Mißgefallen an dem moraliſchen Boͤſen viel ſiche -rer47rer aus dem Begriff von der Vollenkommenheit des goͤttl. Weſen koͤnne herleiten / wie hier geſche - hen. So viel aber iſt dabey gewiß / daß da es mit dem innerlichen Zuſtand der Gottloſen an ſich ſchlecht beſchaffen: ſolches durch aͤuſſerliche Truͤbſa - le nohtwendig muͤß vermehret werden: und da wir ſolche in der Welt finden / ſo kommt uns die Erfahrung zur Befeſtigung dieſer Warheit zu Huͤlffe: denn es waͤre nicht zu begreiffen / wie Misvergnuͤgen / Traurigkeit / Kummer und Elend koͤnte auf Erden ſeyn / wenn der Menſchen freye Handlungen in allen Umſtaͤnden mit denen goͤttl. Abſichten uͤbereinſtimmeten.

XXII. Ob dieſe Aeuſſerungen des goͤtt - lichen Mißgefallens nicht als wuͤrckliche Straffen von GOtt an - zuſehen / in welcher die Vollenkom - menheit / welche wir Gerechtigkeit nennen / ſich voͤllig offenbahret und kennbahr macht?

Erlaͤuterung.

Um den Begriff und die Warheit von denen wuͤrcklichen Straffen der Suͤnden deutlich zu machen / wird es noͤhtig ſeyn / vorher eine kurtze Erklaͤhrung von des Menſchen wahrem Gluͤck - ſtande nach dem Zweck der gegenwaͤrtigen Ab -han -48handelung mitzutheilen. Der menſchliche Gluͤck - ſtand / wenn wir ſolchen dem Genuß nach betrach - ten / iſt nichts anders als eine beſtaͤndige Folge angenehmer Empfindungen unſers Geiſtes / aus welchen niemahls Unangenehme den Urſprung nehmen und entſtehen koͤnnen. Alſo ſtoͤret eine jede ſchmertzliche Empfindung unſern Gluͤck - ſtand / und wird mit Recht ein Ubel des Leidens genannt. Dieß Ubel iſt um deſto groͤſſer / je we - niger es dazu dienen kan / daß wir wiederum zu dem Genuß angenehmer und ſel. Empfindungen gelangen moͤgen / und wenn es dem Menſchen da - zu gar nicht dienlich / ſo iſt es ein Ubel in dem aͤuſ - ſerſten Grad / und macht den Menſchen voͤllig e - lend und unſelig. Hieraus laͤſt ſich nun beur - theilen / was man eigentlich eine Straffe nennen koͤnne. Sie iſt ein Stand ſchmertzlicher Empfin - dungen / darin Gott die Ubertreter ſeiner Gebo - te gerahten laͤſt / um ſein Mißgefallen an dem Boͤſen zu offenbaren. Weil aber die ſchmertzliche Empfindungen oder das Ubel des Leydens von zweyerley Gattung / da man zu der einen diejeni - ge rechnen kan / welche dazu dienen / daß wir wie - derum zu den Stand des Vergnuͤgens gelangen: zu der andern aber diejenige / welche darzu nicht beforderlich ſeyn koͤnnen; ſo laͤſſet ſich daher be - urtheilen / wie feſt der Unterſcheid inter juſtitiam punitivam correctivam & vindicativam gegruͤndet ſey. Daſich nun in beeden Gattungen das goͤttl. Mißgefallen uͤber dem moraliſchen Boͤſen aͤuſſernmuß.49muß; (Erlaͤut. quæſt. 21.) ſo iſt es offenbahr / daß eine Gerechtigkeit / die das Boͤſe / weil es Boͤſeiſt / be - ſtraft / wie andere Vollenkom̃enheiten in dem goͤttl. Weſen gegruͤndet ſeyn muͤſſe. Selbſt die Gerech - tigkeit / welche durch die / ſo das Recht haben ande - re zu regieren verwaltet wird / nimmt aus derſelben den Urſprung / und urtheilet der Hr. Baron v. Leibnitz gar recht / daß GOtt dieſe Straf-Gerechtig - keit durch ſolche ausuͤbe. Theod. P. I. §. LXXIII. Wann er aber an eben dem Ort dieſe Straf-Ge - rechtigkeit wider die Socinianer und den Hobbeſium behauptet / daß ſie nemlich in einer gewiſſen Convenientz gegruͤndet / die nicht allein den Be - leidigten / ſondern auch die Weiſen / die ſie ſe - hen / befriedigen; ſo daucht mir / daß dieß nichts anders ſagen wolle / als daß GOTT das Boͤſe ſtraffe / um ſeinen eigenen Vollenkommenheiten gemaͤß zu handeln / und ſeinen vernuͤnfftigen Ge - ſchoͤpffen Gelegenheit zu geben / ſich von ihm ſolche Gedancken zu machen / welche in ihrem Geiſt eine Zufriedenheit wircken. Solches wird auch da - durch beſtaͤtiget / daß er davor haͤlt / es ſey eine gewiſſe Schadloßhaltung eines Geiſtes dar - unter / den die Unordnung wuͤrde beleidiget haben / wenn nicht durch die Straffe die Ord - nung wieder hergeſtellet wuͤrde. Theodic. P. I. §. 73. Dieſem ſey / wie es wolle / ſo bleibet dieß ge - wiß / daß / da das moraliſche Boͤſe in der Welt / man ohne Nachtheil der goͤttl. Vollenkommenheit nicht anders glauben koͤnne / als daß er ein MißgefallenDdar -50daran tragen und folglich es beſtraffen muͤſſe. Sind dieſe Gedancken von der goͤttl. Straffe des mora - liſchen Ubels richtig und gewiß; ſo muß die Mey - nung / welche ſich J. C. Dippel von derſelben ge - macht / irrig und verwirrt ſeyn. Er kan gar nicht leugnen / daß das Ubel des Leydens in der Welt ſey: er wil aber keinesweges / daß ſolches als ein Wirckung und Folge des goͤttl. Mißgefallens an dem Boͤſen anzuſehen. Nach ſeiner Meynung ſind der groͤſte Theil der Leyden natuͤrliche Straf - fen und folgen fuͤr ſich ſelbſt aus der Suͤnde: der - geſtalt daß GOtt uͤberall nichts dazu beytrage / die eigentlichen Straffen / ſagte er / machen ohne Zuthun einer andern Creatur oder des Schoͤpf - fers den Suͤnder zeitlich ſowohl als ewig un - gluͤckſelig und elend. vera demonſtr. Theol. p. 86. ſie kommen aus der Suͤnden ſelbſt und nicht von GOtt dem hoͤchſten Gut. p. 91. Wann aber dem Menſchen etwas begegne / was ohn ſein Zuthun dem eigenen Leben beſchwerlich / ſo ſeyn ſolches gar keine Straffen / ſondern in der That die groͤſte Wohlthaten / die GOtt der Creatur in ihrem ausgelaſſenen Lauff zum Verderben beweiſen kan / um ſie in ſich ſelbſt zuruͤck zu fuͤhren / und ihren Geiſt auf die ewi - gen Guͤter zu lencken. p. 86. Deßfals glaubt er auch / daß GOtt in der Suͤndfluht das aͤuſ - ſerſte Mittel ſeiner Liebe vorgekehrt / den Geiſt mit Gewalt aus dem Verderben der irr - diſchen Luͤſte zu reiſſen. p. 13.

Es51

Es ſind alſo hierin zwey Haupt-Jrrthuͤmer enthalten: erſtlich / daß die natuͤrliche Straffen der Suͤnden nicht von GOtt alſo beſtimmt: und denn daß die von GOtt erwehlte Straffen nicht aus goͤttlichen Mißgefallen an dem boͤſen / ſondern aus Liebe / um die abgewichene Creatur wieder zu ſich zu ziehen / den Urſprung nehmen. Was den erſtern Jrrthum betrifft / ſo antwor - te ich darauf / daß J. C. Dippel ſelbſt nicht weiß / worin dieſe natuͤrliche Straffen eigentlich beſte - hen / wenigſtens hat er ſie wunderlich beſtimmt: Sie ſollen beſtehen in einem elenden Futter und ſehr geringen Speiſe / die den Menſchen niemals recht vergnuͤgen kan und allezeit Be - gierde / Unruhe / Furcht und Zweiffel / Zorn und Neid auch mitten in dem Lauff des irr - diſchen Genuſſes in ihm von ne uen erwecket. Er haͤtte aber erklaͤren ſollen / was dieß vor eine Speiſe ſey: Vielleicht waͤre er / wenn er ſolchem recht nachgedacht / auf beſſere Gedancken gerahten. Jch wil ſie / um nur verſtaͤndlich davon reden zu koͤnnen / ſchmertzliche Empfindungen des Gei - ſtes nennen / und dann frage ich: woher kommt die Ubereinſtimmung der ſuͤndlichen Thaten mit denen ſchmertzlichen Empfindungen der Seelen? Sind ſie von ohngefehr? oder durch einen wei - ſen Schluß zuſammen geordnet? das Erſtere wird ja wohl niemand ſagen duͤrffen / als der da glaubt / daß alles von ohngefehr: iſt das Letztere / ſo iſt es offenbar / daß GOtt die Ubereinſtim -D 2mung52mung muͤſſe geordnet haben. Dieſe vorherbe - ſtimmte Harmonie unter denen Laſtern und dem Ubel des Leidens iſt nicht ſo ſchwer zu begreiffen; als die / welche nach der Meynung des Hn. von Leibnitz zwiſchen Leib und Seele ſeyn ſoll. Theod. P. I. §. LXXIV. Aber wir haben uns hiebey noch auf eine andere Art uͤber J. C. Dippel zu beſchwe - ren. Er wil nicht / daß die natuͤrliche Straffen der Suͤnden von GOtt kommen: er bringt uns aber dagegen den Begriff von GOtt bey / als wenn er an der Suͤnde oder dem Abfall ſelbſt Urſache. Jn meinem Augen iſt es eine wunder - liche und faſt Gotteslaͤſterliche Lehre / wenn. J. C. Dippel ſagt / daß GOtt dem Menſchen den Einfluß ſeiner Seeligkeit auf eine Zeit entzo - gen / um durch dieſen Mangel ihm bekannt zu machen / daß er als ein Geſchoͤpff ſeine Se - ligkeit nicht aus ſich ſelbſt beſitze / ſondern von einem andern muͤſſe herabhangen / um gluͤckſelig und vergnuͤgt zu ſeyn und daß der Menſch in dieſem ſtatu penuriæ ſich durch Ver - fuͤhrung des Teufels haͤtte verleiten laſſen ꝛc. p. 81. Nach denen Dippelſchen Grund-Lehren frage ich: Was hat GOtt daran gelegen ſeyn koͤnnen / ob der Menſch wuͤſte / woher er ſeine Seligkeit haͤtte? denn ſiehet GOtt in ſeinen Be - muͤhungen / die Creatur gluͤcklich zu machen / nicht auf ſich ſelbſt / wie J. C. Dippel lehret / warum ſollte er wollen / daß ſie eben wiſſen muͤſten / von wel - chem ſie ihre Seligkeit haͤtten? Fuͤr mich aber frageich:53ich: wie iſt eine Seligkeit in der vernuͤnfftigen Creatur zu begreiffen / daß dieſe nicht ſolte wiſſen / woher ſolche den Urſprung nehme? Zu dem Ge - nuß einer Seligkeit gehoͤren eben ſo wohl Be - griffe / als Empfindungen. Was den andern Lehr-Satz betrifft / daß die von GOtt verhaͤngte Straffen nicht aus einem Misgefallen GOttes an dem moraliſchen Boͤſen / ſondern aus Liebe den Urſprung nehmen / ſo iſt an deſſen Unwar - heit ſo wenig zu zweiffeln / als deutlich wir quæſt. 15, 16, 17, 20. und 21. dargethan / daß die Straffe des Boͤſen in dem Begriff von denen goͤttlichen Vollenkommenheiten gegruͤndet. Jch glaube nicht / daß J. C. Dippel im Stande iſt / die - ſes Verband der Begriffe zuzerreiſſen. Wir werden aber Gelegenheit haben / die Warheit / daß GOtt das / was haſſenswuͤrdig iſt / nicht lieben koͤnne (Erlaͤut. quæſt. 16.) in dem folgenden noch mehr zu beſtaͤrcken und daß ſolches denen goͤttl. Vollenkommenheiten nicht nachtheilig ſey / darzuthun.

XXIII. Ob nicht der Begriff der Uber - einſtimmung unſerer Thaten mit dem goͤttlichen Geſetz / welchen wir ein gutes Gewiſſen nennen / mit einer angenehmen: und der Ab -D 3wei -54weichung von demſelben / welchen man ein boͤſes Gewiſſen nennet mit einer ſchmertzlichen Empfin - dung des Gemuͤhts verknuͤpffet ſey?

Erlaͤuterung.

Die hierin enthaltene Warheit kan nicht an - ders als aus der Erfahrung erkannt werden / und es wird nur eine kleine Aufmerckſamkeit dazu er - fordert / daß wir ſolche bemercken moͤgen. Wir werden dieſe Wirckungen unſerer guten und boͤ - ſen Thaten an uns und andern alſo wahrnehmen / wie ſolche von andern Leuten zu allen Zeiten ſind erkannt worden. Es koͤnte hievon eine groſſe Anzahl Zeugnuͤſſe heydniſcher Poeten und Welt - weiſen angefuͤhret werden / wenn es unſer Zweck waͤre / den Leſer mit Weitlaͤuftigkeiten aufzu - halten. Jn Dingen / davon unſere eigene Er - fahrung uns kan gewis machen / koͤnnen wir fremder Zeugnuͤſſe leicht entbehren. Wie man ſich auch nicht daran zu kehren hat / wenn gleich einer oder der andere wollte die Stiche des Ge - wiſſens leugnen / oder ſich mercken laſſen / als wenn man ſolche niemahls gefuͤhlet haͤtte. Es waͤre eine Einfallt / ſeinen eigenen Empfindungen we - niger zu trauen / als ſolchen Leuten. Man weiß ja zur Gnuͤge / wie geneigt die Menſchen ſind / nicht nur andere / ſondern auch ſich ſelbſt zube -55betriegen. So hat auch meinem Beduͤncken nach der Einwurff nichts auf ſich / daß die Gewiſſens - Stiche / wie die Furcht uͤberhaupt / von der Er - ziehung und dem / was in der Jugend von GOtt / Geſetz / Himmel und Hoͤlle dem Menſchen beygebracht und gelehret worden / den Urſprung nehmen. Das Gefuͤhl des Gewiſſens entſteht nicht willkuͤhrlich: man kan ſich ſelbiges nach Ge - fallen weder machen noch ausloͤſchen. Es gehoͤ - ret zu denen Dingen / die ſich leidend / das iſt / ge - gen alles unſer Wollen und oft gegen allen vor - ſetzlichen Widerſtand in der Seelen zeugen. Wie viele loͤſchten ſolches gerne aus / wenn es ihnen moͤglich waͤre? Wider Dinge / die in einer ſo le - bendigen Erfahrung gegruͤndet / laſſen ſich keine Zweiffel machen / und es koͤnnen uͤberall keine Ein - wendungen dagegen etwas gelten. Man koͤnte ſonſt den Leuten weis machen / daß eſſen / trincken und ſchlaffen nur von der Erziehung kaͤme und eine leere Gewohnheit waͤre / oder ihnen wie der Engellaͤnder Asgill gar einbilden / es waͤre ein Vor - urtheil / daß die Menſchen ſterben muͤſten / es kaͤme nur auf den Glauben an / ſo wuͤrden ſie ewig le - ben koͤnnen.

XXIV. Ob nicht die Empfindungen ei - nes boͤſen Gewiſſens / welche wir kuͤnftighin Gewiſſens-Stiche nen -D 4nen56nen werden / zu denen Schmertzen gehoͤren / in welchen ſich das goͤttl. Misgefallen an dem Boͤſen in der Seele des Ubertreters aͤuſert; folg - lich als eine wuͤrckliche Straffe von GOtt anzuſehen?

Erlaͤuterung.

Daß ein boͤſes Gewiſſen mit ſchmertzlichen Empfindungen verſellſchafftet / ſolches iſt in der vorigen 23ſten Frage bewieſen: daß in ſchmertzli - chen Empfindungen in der Seele des Ubertreters ſich das goͤttl. Mißgefallen an dem Boͤſen aͤuſern muͤſſe / erhellet aus der 21ſten Frage / und da in der 22ſten dargethan / daß ſolche Aeuſſerungen / als wuͤrckliche Straffen von GOtt anzuſehen / ſo muß die Sache ſelbſt richtig und wahr ſeyn. Man kan alſo mit Warheit ſagen / daß eine jede Suͤn - de und Mißhandlung ihre Straffe bey ſich habe: und daß GOtt auf friſcher That ſein Mißgefal - len an dem Boͤſen zu erkennen gebe. Die Ge - wiſſen-Stiche ſind in dem eigentlichſten Verſtan - de die natuͤrliche Straffen der Suͤnden und koͤn - nen viel ſicherer davor angenommen werden / als aͤuſſerliche Leyden und Lebens-Beſchwerlichkeiten. Dieſe ſind nicht allemahl mit boͤſen Wercken ver - knuͤpfft. Leute / die verſchmitzt und argliſtig / koͤn - nen viele Boßheiten ausuͤben / ehe ihr aͤuſſerlicher Wohlſtand mercklichen Schaden leidet / und ſiedie57die Wirckungen davon an ihrem Leibe fuͤhlen; der innerliche Gluͤckſtand des Geiſtes aber wird alſobald geſtoͤret. Und eben durch die Wun - den des Gewiſſens wird der Ubertreter viel unſe - liger / als er durch alles aͤuſſerliche Leyden werden kan: eigentlich kan man wegen aͤuſſerlicher Truͤbſal nur denjenigen elend nennen / welcher dabey kein gutes Gewiſſen und kein freudiges Zeugnuͤß in ſei - nem Geiſt hat. Cicero hat hierin nach ſeiner Einſicht eine ſchoͤne Anmerckung: Morte, ſagt er / aut dolore corporis aut luctu animi aut offenſione judicii hominum miſerias ponderamus, quæ, fateor, humana eſſe & multis viris bonis accidiſſe: ſceleris autem pœna triſtis & præter eventus, qui ſequuntur, per ſe ipſa maxima eſt. L. II. de leg. Eben dieſer kluge Heyde hat auch die Warheit erkannt / daß gegen die Zeugnuͤſſe des Gewiſſens keine menſch - liche Kunſt und Vermoͤgen etwas koͤnne ausrich - ten: daß der Menſch / ob er noch ſo gerne wil / ſich weder derſelben entſchlagen / noch ſonſt auf einige Art dieſelbe ausloͤſchen und zernichten moͤge. Si qui, ſind ſeine Worte / ſatis opibus hominum con - tra conſcientiam ſepti eſſe & muniti videntur, deo - rum tamen numen horrent: easque ipſas ſolicitudi - nes, quibus corum animi noctes diesque exeduntur a diis immortalibus ſupplicii cauſa importari putant. L. I. de finibus B. & M.

XXV. Ob nicht die Gewiſſens-SticheD 5na -58natuͤrlicher Weiſe ſo lang in der Seelen bleiben muͤſſen / als die Er - innerung der boͤſen Thaten / dar - aus ſolche den Urſprung genom - men / dauret?

Erlaͤuterung.

So lang die Urſache eines Dinges in ihrer voͤlligen Kraft iſt / ſo lang muß auch die Wir - ckung darin bleiben. Die Zeit iſt nur ein aͤuſerli - cher Umſtand der Dinge. Was an ſich boͤſe iſt / kan durch die Laͤnge der Zeit nicht gut werden. Eine laſterhafte That bleibt ewig eine laſterhafte That. Da nun der Begriff davon das boͤſe Ge - wiſſen macht (quæſt. 23.) ſo muß dieſes in der See - len bleiben / ſo lang jener nicht ausgeloͤſcht. Daß aber dieſer natuͤrlicher Weiſe nicht ausgeloͤſchet werde / davon uͤberzeuget uns die Erfahrung. Zwar iſt nicht alles / was der Menſch begangen / allezeit in wuͤrcklichen Vorſtellungen der Seelen gegenwaͤrtig: doch kommt bey gewiſſen Gelegen - heiten bald dieſes / bald jenes in unſere Erinnerung / daß wir keine Urſache haben / uns zu uͤberreden / es werde dasjenige / was einmahl in unſerm Geiſt iſt / ſich iemals aus demſelben verlieren. Es ver - leuret ſich die Erinnerung eines Dinges um deſto - weniger / je mehr Merckmahle ſolches hat: da nun die laſterhaffte Thaten Stuffen haben / ſo muͤſſen die groͤbſten Suͤnden die mercklichſtenſeyn:59ſeyn: folglich muß derſelben Vorſtellung der Seelen inſonderheit gegenwaͤrtig bleiben. Wel - ches auch die Erfahrung beſtaͤtiget.

XXVI. Ob / da die Erinnerung der boͤ - ſen Thaten ewig dauret / nicht auch die ſchmertzliche Empfindun - gen des Geiſtes / ſo aus denenſel - ben den Urſprung nehmen / folg - lich die Gewiſſens-Stiche natuͤr - licher Weiſe ewig dauren muͤſſen?

Erlaͤuterung.

Um von der in dieſer Frage enthaltenen Warheit uͤberzeuget zu werden / kommt es ledig - lich darauf an / daß man von der Unſterblichkeit der Seelen uͤberfuͤhret ſey. Es iſt uͤber derſel - ben zu allen Zeiten unter denen Weltweiſen viel - faͤltig geſtritten worden. Etliche haben groſſe Buͤcher davon geſchrieben / bey welchen offt die Muͤhe groͤſſer als der Nutz geweſen. Der Be - weiß / den der Hr. Hoff-Raht Wolf davon gibt / iſt nach meiner Empfindung deutlich und uͤber - zeugend. Metaph. §. 925, 926. Jnſonderheit dienet die Warheit / daß der Zuſtand der See - len nach dem Tode des Leibes mit dem in Leben verknuͤpft ſey / und folglich der erſtere den andern wieder ins Gedaͤchtniß bringe / gar ſehr / meinenSatz60Satz zu beſtaͤtigen. Dann da auf ſolche Art Be - griffe und Empfindungen in der Seelen bleiben / ſo iſt es nicht zu begreiffen / warum die ſchmertz - liche Empfindungen folglich auch die Gewiſſens - Stiche mehr als die angenehmen ſollten natuͤr - licher Weiſe ſich verlieren und gaͤntzlich ausgeloͤ - ſchet werden. Solchemnach hat die Vernunft ſo gar keinen Grund zu muhtmaſſen / daß GOtt werde aufhoͤren / ſein Mißgefallen an dem morali - ſchen Boͤſen nach dem Tode kennbar zu machen; daß ſie vielmehr um vieler Urſachen willen / welche dießmahl anzufuͤhren / wider unſern Zweck ſeyn wuͤrde / befuͤrchten muß / es werde ſolches auf eine viel mercklichere Art geſchehen. Wann ich un - terdeſſen ſage / daß ſolches natuͤrlicher Weiſe nicht geſchehen koͤnne; ſo wil ich damit andeuten / daß ſolche Hinwegnehmung der Gewiſſen-Stiche und uͤbriger Seelen-Schmertzen nicht zu denen gantz unmoͤglichen Dingen gehoͤre. Es hat nichts Widerſprechendes in ſich / daß GOtt nicht ſolte koͤnnen Mittel erfinden / das Gewiſſen von denen todten Wercken und deſſen ſchmertzlichen Folgen zu reinigen / und dabey doch ſein Mißgefallen an dem Boͤſen kund zu machen. Wir ſind Gottlob! aus ſeinem Wort unterrichtet / daß ſolches zum Preiß der goͤttl. Gnade geſchehen ſey.

Jmmittelſt laͤſt ſich hieraus beurtheilen / wie J. C. Dippels Meynung von denen Straffen der Suͤn - den / wie ſich ſolche nach dem Tode aͤuſſern wer - den / unmoͤglich anderswo als in ſeinem Gehirnkoͤn -61koͤnne Grund haben. Nachdem er ſich das Vor - urtheil in den Kopff geſetzt / daß die Straffen der Suͤnden nicht von GOtt / dem hoͤchſten Gut / ſon - dern aus der Suͤnde ſelbſt kommen; ſo wil er deſ - ſen Moͤglichkeit / erklaͤren / und gibt davon nachſte - hendes Exempel / welches wir mit ſeinen eigenen Woͤrtern hieher zu ſetzen nicht wol umgehen koͤñen. Ein Geitziger / ſpricht er / welcher unter allen laſterhafften Monſtris das allerabſcheulichſte und grauſamſte iſt / der hier dabey Gelegenheit gehabt / als eine obrigkeitl. Perſohn / durch Concuſſiones und Unterdruͤckung der Untergebenen ſeine boͤſen Begierden zu pouſſiren / und viele zu berauben / er - wecket durch dieſes Verfahren in allen denen / ſo er belei - diget / Grimm und Rache; ſtirb nun ein ſolcher Raub-Vo - gel in ſolchem elenden Zuſtand ſeines Geiſtes / ſo bleiben doch nach dem Tode ſeine Begierden und ſein Vergnuͤgen bey ſeinem Schatz; er wird immer denſelben noch bewah - ren mehr ſchachern und zuſammen ſcharren wollen / und deswegen unter dem Conſortio der Verdammten / Kraͤ - mer und Juden / oder Clienten aufſuchen / an welchen er einigen Profit koͤnne machen; kommen ihm dann in ſolcher Raſerey die vors Geſicht / die er beleidiget / betrogen / be - raubet und geſchunden / und die in ihrem gefaſten Zorn und Rachgier gegen ihn ebenfalls ſich unſeelig gemacht / und ihre Hoͤlle gebauet / ſo werden ſie den in der Welt ge - fuͤrchteten groſſen Geitz-Teufel gar ungnaͤdig anfallen / weil er nunmehr ihnen gleich iſt / und keine Henckers-Knechte mehr zu ſeinen Gehuͤlffen hat; ein jeder wird das ſeine mit Schelten und Ungeſtuͤhm fordern / das arme Geſinde den vorenthaltenen Lohn / und das entzogene gebuͤhrende Eſſen und Trincken / Schneider / Schnſter / Maurer / Schmidt / Zim - mermann / Kramer / Jude / Chriſt / und alle / die ein ſolcher durch extorquirte Accorde oder Weigerung der veraccor - dirten Summen beknebelt und beraubet hat / werden zuſam - men gegen ihn conſpiriren / und demſelben allen erſinnli - chen Schimpff und Plage wiederum anthun.

Die -62

Dieſes iſt recht eine vollenkommene Probe von J. C. Dippels willkuͤhrlichen Lehren. Jn der Schrift ſind nicht die geringſte Spuren von einem ſolchen Zuſtande und Umgang der verdammten See - len unter einander zu finden: und in der Na - tur wird er eben ſo wenig einige Merckmahle an - zeigen koͤnnen / daraus ſich ſolcher ſchlieſſen laͤſt. Die Sache iſt ſo beſchaffen / daß ſie keiner Wi - derlegung bedarf: denn ſonſt konte jederman begehren / man ſolte ihm ſeine Traͤume wider - legen / oder er wuͤrde ſolche vor wahr halten. Un - terdeſſen iſt es eine groſſe Unverſchaͤmtheit und ein Zeichen eines mercklichen Mangels an der Urthei - lungs-Kraft / daß J. C. Dippel ſich uͤber reden kan / ſein Anſehen gehe ſoweit / daß die Menſchen alles / was er nur nach den erſten Einfaͤllen gedenckt und ohne Pruͤfung hinſchreibt / als unbetriegliche Glau - bens-Articul annehmen muͤſſen; und daß er ihnen koͤnne weiß machen / was er wolle Das ſcharffe Gefuͤhl von eigenen Meynungen kan ſie nicht wahr / wohl aber die Erfinder verwegen machen / ſolche als Warheiten andern aufzudringen. Sie thun ſolches mit deſto groͤſſerer Verwegenheit / je mehr es ihnen am Judicio fehlet: ſie wuͤrden ſonſt leicht einſehen und beurtheilen / daß jetzo die Zeitennicht ſind / da die Menſchen ſich durch Wahn und Woͤr - ter blenden laſſen.

XXVII. Ob nicht die Erfahrung zulaͤng -lich63lich beſtaͤtige / daß die Handlungen der Menſchen groͤſtentheils dem goͤttlichen Geſetz / auch wie es von bloſſer Vernunft erkant wird / zu - wider / folglich boͤſe und laſterhaft?

Erlaͤuterung.

Die meiſten Begriffe / welche ſich von ſelbſt in der Seelen zeugen / ſind falſch und irrig / und der groͤſte Theil der Menſchlichen Empfindungen und Gemuͤhts-Neigungen laſterhafft: nach die - ſen aber richtet ſich das Thun und Laſſen der Menſchen. Die Natur treibt niemahls zum gu - ten. Man findet auch bey denen Menſchen ſo gar keinen Vorſatz und Eyfer / dieſen Trieben zu widerſtehen und ſolche durch tugendhaffte Ent - ſchlieſſungen zu uͤberwinden; daß ſie vielmehr groͤ - ſten theis lediglich nach dem Gefuͤhl ihrer Sin - nen handeln und auf nichts weniger / als die Wahl des beſten gedencken. Dieſes iſt ſo of - fenbar / daß diejenige / welche nur eine maͤßige Aufmerckſamkeit auf die menſchlichen Dinge ge - wandt / es bald haben einſehen und erkennen koͤn - nen. Horatius haͤlt den fuͤr den beſten / der die wenigſten Laſter hat: welches ein Beweiß / daß ſeine Meynug von den menſchlichen Tugenden uͤberaus klein muͤſſe geweſt ſeyn.

vitiis nemo fine naſcitur: optimus ille eſt, qui minimis urgetur. Serm. L, I. Sat. III.

Se -64

Seneca mercket an / daß wir die Laſter eben darum verthaͤdigen / weil wir ſie lieb haben / und ſolche viel lieber entſchuldigen als uns davon loß machen. vitia noſtra, quia amamus, defendimus & malumus excuſare illa, quam excutere. Epiſt. CXVI. Plutarchus hat gar erkannt / daß die Laſter tief in dem menſchl. Gemuͤht eingewurtzelt und daß es ſchwer - lich in unſern Kraͤften ſtehe / ſich davon loß zumachen. facile mala ſe exoneret muliere, qui quidem vir fit, non mancipium. Vitiis vero tuis non licet remiſſo nuncio juſſisque ſuas res habere, ſeorſim vivere li - beratum iis & quiete frui. Vitium enim in ipſis ha - bitans viſceribus atque inhærens noctesque diesque Absque face exurit, crudæ mandatque Senectæ. libell. de virt. & vitiis. Dergleichen Zeugnuͤſſe finden ſich in denen Schriften der Heyden in ſolcher Men - ge / daß man zur Gnuͤge erkennen kan / es ſey die Meynung unter den Meiſten geweſen / daß alle Menſchen von Natur zum Boͤſen geneigt / und daß / wo ſonſt eine Beſſerung moͤglich / doch ſehr viel Fleiß / Arbeit und Muͤhe erfordert werde / das menſchliche Gemuͤht zur Tugend zu neigen / und zur Ausuͤbung des Guten geſchickt zu machen. Wir finden die Menſchen noch ſo beſchaffen / wie ſie uns von denen Alten beſchrieben worden: und der be - treugt gewiß ſich ſelbſt und andere / der anders leh - ret / und wuͤrde der H. Schrift ins Angeſicht wi - derſprechen. 1 Reg. VI. 46. Prov. XX. 9. Pred. VII. 21. Rom. III. 23. 1 Joh. I. 8. Die gantze Welt liegt im Argen. 1 Joh. V. 19.

XXVIII. 65

XXVIII. Ob nicht ſolchemnach alle Men - ſchen die Wirckungen des goͤttli - chen Misgefallens an dem morali - ſchen Boͤſen an ihrer Seelen fuͤhlen / und ſolches in denen Stichen des Gewiſſens und in der quaͤlenden Furcht wegen ihres Zuſtandes nach dem Tode mercken muͤſſen?

Erlaͤuterung.

Die Warheit des in dieſer Frage enthalte - nen Satzes kan vermoͤge der vorhergehenden unmoͤglich in Zweiffel gezogen werden. Man kan dieſelbe / wenn jemanden damit gedienet / gar leicht in einem foͤrmlichen Beweiß ſolcher geſtalt darſtel - len: die freye Handlungen aller Menſchen ſind groͤſten Theils dem goͤttl. Geſetz zuwider / oder / welches einerley / ſie ſind von ſeiner Abſicht entfer - net / (quæſt. 27.) ſolche muͤſſen GOtt mißgefallen (quæſt. 20.) Dieß Mißgefallen aͤuſert ſich in Schmertz und Mißvergnuͤgen an der Seele des Ubertreters / (quæſt. 21.) zu denenſelben gehoͤret die Empfindung eines boͤſen Gewiſſens (quæſt. 24.) ſolche dauret auch nach dem Tode. (quæſt. 26.) Solchemnach muͤſſen alle Menſchen Stiche des Gewiſſens und auch eine quaͤlende Furcht wegen ihres Zuſtandes nach dem Tode fuͤhlen.

EDie -66

Dieſe Furcht bezieht ſich zwar vermoͤge des vorhergehenden auf die fortwaͤhrende Dauer der Gewiſſens-Unruh; aber damit iſt nicht ausge - macht / daß nicht GOtt ſein Mißgefallen an de - nen boͤſen Wercken der Menſchen in andern Gat - tungen der Leyden nach der Groͤſſe ihrer Boßheit ſolte koͤnnen offenbahren. Es iſt unſtreitig / daß die goͤttliche Straf-Gerechtigkeit in dem gegen - waͤrtigen Leben ſich nicht gantz deutlich und vol - lenkommen bemercken und erkennen laſſe / warum ſolte dañ die Vernunft nicht mit Grund muhtmaſ - ſen / daß ſolches nach dem Tode auf eine Art / die Gott fuͤr allen ſeinen vernuͤnftigen Geſchoͤpffen verherr - liget und ſie ſelbſt voͤllig zufrieden ſtellt / geſchehen werde? Uberdem hat es nichts Widerſprechendes in ſich / daß die Menſchen / wenn ſie einmahl von dem Wege der Gerechtigkeit abgewichen / ſich im - mer mehr in ihren boͤſen Wercken verſtricken / folglich ihr Elend und Schmertzens-Stand im - merdar vergroͤſſern und vermehren. Die Urſache / welche macht / daß der Menſch in dieſem Leben ſuͤndiget / kan auch machen / daß er nach dieſem Le - ben ewig ſuͤndige: folglich ewiglich in dem Stand der Finſterniß und ſchmertzlicher Empfindung ſei - nes Geiſtes bleibe. Welches diejenige / ſo in den gegenwaͤrtigen Zeiten die ſogenannte Wieder - bringung aller Dinge ſo gar eyfrig verthaͤdigen / wohl erwegen und bemercken moͤchten. Alſo er - kennet bloſſe Vernunft das Elend und die Gefahr / worin der Menſch ſich von Natur befindet / unddaß67daß er in Betracht ſeiner Fehler und Unvollen - kommenheiten an das Zukuͤnftige nicht ohne Furcht und Grauen gedencken koͤnne.

XXIX. Ob nicht alſo offenbar / daß das Geſetz der Natur den Menſchen ſchon verdamme / wenigſtens ihn wegen ſeines zukuͤnftigen Zuſtan - des in Furcht und Zweiffel laſſe?

Erlaͤuterung.

Die hierin begriffene Warheit iſt aus dem vorhergehenden klar genug. Das Eintzige / was et - wa dagegen moͤchte eingewandt werden / waͤre die - ſes / daß / wenn ja Gott ſein Mißgefallen an dem mo - raliſchen Boͤſen vermoͤge ſeiner Vollenkommenheit muͤſte offenbaren / ſo wuͤrde es doch nur an denen geſchehen koͤnnen / die ſich ſeinen Willen frevent - lich widerſetzt / und ſeine Gebot aus der Acht ge - laſſen: Mit denen aber / welche dasjenige gethan / was ihnen zu thun moͤglich geweſen / werde Gott / weil er auch auf die vollenkommenſte Art guͤtig iſt / zufrieden ſeyn. Die Sache waͤre aus der Ver - nunft richtig. Da muß freylich der Satz gelten: ultra poſſe nemo obligatur. Jch befuͤrchte aber / daß man denjenigen / der auch nur denen Forde - rungen des natuͤrlichen Geſetzes ein Genuͤge gethan / nicht werde auf Erden finden. Es wird nur eine kleine Pruͤfung noͤhtig ſeyn / um uns zu uͤberzeugen / daß wir haͤtten mehr thun ſollen undE 2koͤn -68koͤnnen. Es lebt kein Menſch auf Erden / der das thut / was er thun kan. Paulus lehret / daß Got - tes Zorn vom Himmel auch uͤber die Heyden wer - de offenbar werden / weil ſie des Lichts / ſo ihnen geſchienen / nicht ſo gebraucht / wie ſie gekonnt haͤt - ten. Er nennet ſie desfals〈…〉〈…〉, die nicht in dem Stande / daß ſie ſich ſelbſt entſchul - digen oder entſchuldiget werden koͤnnen. Eben der Apoſtel ſagt ausdruͤcklich / daß / wenn ſie nur darauf geachtet / ſie von GOtt und goͤttl. Dingen viel anſtaͤndigere Begriffe haͤtten haben / und ihm auf eine viel heiligere Art dienen koͤnnen. Rom. I. 28. Ja daß ſie auſſer dem Erkaͤnntnuͤs des geoffenbahrten Geſetzes ſchon ſo viel geſuͤndi - get / daß ſie deswegen verlohren gehen. c. II. 12.

XXX. Ob dieſes nicht vielmehr geſche - hen muͤſſe / wenn GOtt in dem ge - offenbahrten Geſetz nicht bloß das / was die Vernunft recht zu ſeyn er - keñet / ſondern noch vieles / ſo inſon - derheit die innerliche Vollenkom - menheit des Geiſtes angeht / dar - an die Vernunft nicht gedencken koͤnnen / befiehlet / zum deutlichen Beweiß / daß er das Gute auf die vollenkommenſte Art wolle?

Er -69

Erlaͤuterung.

Was die Vernunft aus dem Begriff / daß GOtt das gute auf die vollenkommenſte Art wolle / folgert / das lehrt die Schrifft mit deut - lichen Worten. Sie redet von ſeiner Liebe alſo / daß man ihn als das hoͤchſte Gut und die Quelle aller Seligkeit zu lieben / ſich verpflichtet erkennen muß; ſie redet aber auch ſolchergeſtalt von ſeiner Ge - rechtigkeit / daß man ihn als den allerernſthafftſten Geſetzgeber zu fuͤrchten Urſache hat. Sie leh - ret / daß die Luſt und Begierde boͤſes zu thun e - ben ſo wohl als die That ſelbſt verboten ſey. Rom. VII. 7. daß die Menſchen nicht nur von ih - ren Thaten; ſondern von jeglichem unnuͤtzen Wort ſollen Rechenſchaft geben. Math. XII. 36. daß GOtt ſo gar den Raht der Hertzen werde offenbahren. 1 Cor. IV. 5. Daß Er unſere Miſſe - that fuͤr ſich und unſere unerkannte Suͤnden ins Licht fuͤr ſeinem Angeſicht ſtelle. Pſalm XC. 9. Es wird alſo dem Begriffe / welchen die Vernunft ſich von GOtt macht / daß auf Ubertretung und Suͤnde deſſen Gericht und Straffe folge / in der Schrifft ſo gar nicht wiederſprochen / daß viel - mehr derſelbe vergroͤſſert und in voͤllige Klarheit geſetzet wird. Sie redet eben ſo nachdruͤcklich von dem Zorn GOttes als von ſeiner Liebe. Es iſt ſolchemnach ein Jrrthum / wenn J. C. Dippel meynet / es ſey die Beſchreibung Johannis; daß GOtt die Liebe ſey / in der Abſicht auf die Crea - turen die zulaͤnglichſte und vollenkommenſte. veraE 3de -70demonſtr. Theol. p. 9. Zwar ſo viel an GOtt iſt / geht ſein Vorſatz allemahl dahin / alle ſeine Ge - ſchoͤpffe gluͤcklich zu machen (quæſt. 12.) es werden ihm aber in der wuͤrcklichen Ausuͤbung nicht nur von derſelben Faͤhigkeit / ſondern auch von ihrem Willen Grentzen geſetzt. (quæſt. 12.) Durch ei - nen boͤſen Willen / oder den Misbrauch der Freyheit kommt das moraliſche Boͤſe in die Welt / welches ſeiner Natur nach haſſenswuͤrdig iſt: ſolches aber zu lieben / waͤre eine Unvollen - kommenheit / die man ſich in GOtt nicht ohne Laͤſterung ſeines Weſens gedencken kan. GOtt befordert das Wohlſeyn ſeiner Creaturen ſolcher - geſtalt / daß ſeine Vollenkommenheiten allezeit in voͤlligem Glantz bleiben. Solchemnach ſind die Woͤrter Johannis, daß GOtt| die Liebe ſey / eben ſo wenig eine zulaͤngliche Beſchreibung von GOtt / als wenn Paulus ſagt: Unſer GOtt iſt ein verzehrend Feuer. Ebr. XII. 29. Es iſt an beyden Oertern eine figuͤrliche Rede; davon die eine vorſtellig macht / daß GOtt auch die vollenkom - menſte Art liebe / die andere aber daß er auf die vollenkommenſte Art zuͤrne: das iſt / daß er zuͤr - ne nach gerechten und heiligen Urſachen auf eine Art / welche die Beſchaffenheit ſeiner goͤttl. Natur erfordert. Es wird alſo hiemit nicht nur dasjenige beſtaͤtiget / was wir bereits erinnert / daß nemlich der Zorn ſo wenig als die Liebe in GOtt eine Gemuͤhts-Bewegung (Erl. quæſt. 4. & quæſt. 21.) ſondern daß ſolcher gar als eine Folge ſei -ner71ner Vollenkommenheiten anzuſehen. Und hier - an iſt uͤm deſto weniger zu zweiflen / als gewis es iſt / daß es an einem irrdiſchen Monarchen als eine Tugend anzuſehen / wenn er gegen Boßhei - ten und Laſter / die den aͤuſſerlichen Ruhſtand ſtoͤren / an denen / die ſolche ausuͤben / ſeinen Ernſt und Zorn in einer zureichenden Straffe ſehen laͤſt / ohne desfals Bewegungen zu empfinden. Und warum ſollte ein weiſer Mann nicht ſo weit uͤber ſeine Leydenſchaften Meiſter werden / daß er ſein Misgefallen uͤber dem / ſo er zu beſtraffen verpflichtet / ohne das Gemuͤthe dabey zu verunru - higen / nachdruͤcklich koͤnte zu Tage legen? Je mehr uns alſo unſer Hertz uͤberzeuget / daß etwas haſ - ſenswuͤrdiges an uns ſey; deſto weniger koͤnnen wir von der Gewogenheit GOttes eine Uberzeu - gung haben: und ſein Zorn iſt gewiß uͤber uns / wo die Suͤnde in unswohnet. Die Ubertreter muͤſſen die Folgen ihrer Mißhandlung an der Seelen fuͤhlen und ſie haben Urſache zu fuͤrchten / daß ſie ſolche kuͤnftigbin noch empfindlicher fuͤh - len und erfahren werden.

XXXI. Ob nicht dieſes nebſt vielen an - dern Zeugnuͤſſen mit dem Spruch des Apoſtels beſtaͤtiget werde: Das Geſetz richtet nur Zorn an / Rom. IV. 15. da deſſen MeynungE 4nach72nach der Bedeutung der Woͤrter und Beſchaffenheit der Sachen nohtwendig dieſer ſeyn muß / daß das Geſetz ein Gefuͤhl des goͤttl. Zorns in dem Gemuͤht wuͤrcke und zuruͤck laſſe?

Erlaͤuterung.

Die Meynung des Flacii, daß das Geſetz ei - gentlich den Zorn und einen Widerwillen gegen GOtt wircke (videEj. Clav. Scripturæ P. II. p. m. 410.) kan wohl nicht verthaͤdiget werden. Das Geſetz verlanget nichts / als was dem Menſchen heilſam und gut iſt Rom. VII. 12. und alſo kan kein vernuͤnf - tiger Menſch wider GOTT murren / daß er ihm daſſelbe fuͤrgeſchrieben: ſo kan ich auch darin ihm nicht beyfallen / daß des Apoſtels Meynung ſey / das Geſetz offenbahre Gottes Zorn: denn dieſes geſchiehet in der Ausfuͤhrung ſeiner allgemeinen und beſondern Gerichte. Es bleibt alſo nichts - brig als das Gefuͤhl des goͤttl. Zorns im Gewiſ - ſen / welches auſſer Zweiffel von dem Geſetz gewir - cket wird: dieß Gefuͤhl iſt eine Folge der Erkaͤnnt - niß unſerer Suͤnden / und dieſe kommt durchs Ge - ſetz. Rom. III. 20. Der Sinn des Apoſtels / wie ſichs aus dem Zuſammenhang mit dem vorherge - henden erkennen laͤſt / gehet dahin / daß der Menſch aus dem / was er nach Gottes Geſetz gethan / ſo gar keinen Grund nehmen koͤnne / ſich allerley Gu -tes73tes von GOtt zu verſprechen / daß er vielmehr ſei - nen Zorn und Mißgefallen in dem Gewiſſen fuͤh - len muͤſſe. Die Anmerckung des Vict. Strigelii druckt die Meynung des Apoſtels gar wohl aus / wenn er ſchreibt: lex iram operatur i. e. pavores, triſtes fremitus in corde & exitioſos dolores in ſenſu judicii & iræ divinæ. Hypomn. in LL. Novi Teſt. Cap. IV. ad Rom.

XXXII. Ob nicht die Schriften Alten und Neuen Teſtaments dasjenige / was wir in dem vorhergehenden aus bloſſer Vernunft von denen Straffen der Suͤnden und der dar - in ſich offenbahrenden Gerechtig - keit Gottes gefolgert / mit deutli - chen Zeugnuͤſſen beſtaͤtige / und noch uͤberdem / was bloſſe Vernunft nicht wiſſen kan / kund mache / daß nemlich ein Gericht zukuͤnftig ſey / in welchem GOtt ſeine Gerechtig - keit auf das Vollenkommenſte will offenbahren und einem jeden nach ſeinem Verdienſt vergelten?

E 5Er -74

Erlaͤuterung.

Wir haben quæſt. 21. dargethan / daß das goͤttliche Mißgefallen an der Suͤnde ſich an der Seele des Ubertreters in Schmertz und Mißver - gnuͤgen aͤuſſern muͤſſe: quæſt. 24. daß die Gewiſ - ſens-Stiche zu dieſen Seelen-Schmertzen mit ge - hoͤren / und quæſt. 26. daß dieſelbe auch nach dem Tode und zwar ewig dauren werden. Daß die Schrift das Erſtere lehre / ſolches iſt bereits in der Erlaͤuterung der 22ſten Frage bewieſen / und was daſelbſt angefuͤhrt / kan auch zum Beweiß des 2ten Satzes dienen. Was aber das Letztere betrifft / daß nemlich die Gewiſſens-Unruhe auch nach dem Tode in der Seelen bleibenwerde; ſo iſt nebſt andern das Zeugnuͤß Eſaiæ XLIV. 24. Jhr Wurm wirdnicht ſterben / und ihr Feuer wird nicht verloͤſchen alle - zeit als zulaͤnglich dieſe Warheit zu beweiſen an - geſehen worden. Eine groſſe Anzahl der Vaͤter und anderer frommen Gottes-Gelehrten haben dieſen Spruch und zwar mit gutem Grund von der fort - daurenden Gewiſſens-Angſt erklaͤret. Joh. Gerhar - dus fuͤhret davon unterſchiedliche Zeugnuͤſſe an / Loc. Theol. XXX. § 51. p. 610. ſq. aus welchen ich aus Liebe zur kuͤrtze nur das von unſerm ſel. Luthero, weil es nach ſeiner Art / das iſt / kraͤftig und nachdruͤcklich abgefaßt / anfuͤhre: animus æger ac male ſibi conſcius ſemper eſt infernus, qui nihil aliud erit, quam ipſa conſcientia mala. Si Diabolus non haberet ream conſcientiam, eſſet in cœlo. Ea vero accendit flammas inferni & exſuſcitat horribi. les75les cruciatus & erynnias in corde. Enarrat. c. 45. Gen. tom. 4. f. 155.

Was aber die Warheit betrifft / daß ein Ge - richt uͤber alle moraliſche Handlungen der Men - ſchen zukuͤnfftig ſey; ſo kan dabey nichts anders erinnert werden / als daß man die Zeugnuͤſſe. Pred. III. 17. c. XII. 14. Eſai: XXX. 18. Dan. VII. 10. Joh. V. 27, 29. Act. XVII. 31. Act. XXIV. 25. 2 Petr. II. 4. Hebr. IX. 17. Jac. II. 13. Epiſt. Judæ v. 14, 15. nachſehe; ſo wird es dem / der die H. Schrifft vor GOttes Wort haͤlt / an derſelben zu zweiffeln nicht moͤglich ſeyn.

XXXIII. Ob nicht ſolchemnach die Furcht und Gewiſſens-Angſt / welche be - reits aus Ubertretung des Geſetzes der Natur den Urſprung nim̃t und als eine Wirckung des goͤttl. Miß - gefallen an dem moraliſchen Boͤſen in der Seelen gefuͤhlet wird / um ein merckliches durch Erkaͤnntnuͤß des geoffenbahrten Geſetzes und der darin verkuͤndigten Strafen der Suͤnden muͤſſe vermehret werdenund76und diejenige / welche ſich nicht ſelbſt verſtocken / deſto empfindlicher quaͤlen und verunruhigen?

Erlaͤuterung.

Je mehr der Menſch von dem Haß GOttes wider die Suͤnde und deſſen Rahtſchluß / ſolchen in ſeinem Gericht voͤllig zu offenbaren / uͤberfuͤh - ret; deſtoweniger kan er in ihm ſelbſt ruhig und zufrieden ſeyn. Denn je genauer er ſeinen mora - liſchen Zuſtand durchſucht / deſtomehr ſtrafbares wird er an ihm ſelbſt gewahr / und er kan ſich leicht vorſtellen / daß GOtt noch unzehliges / das von der Richtſchnur des Vollenkommenen ab - weicht / an ihm werde finden / welches er ſelbſt aus Einfalt oder Nachlaͤßigkeit uͤberſiehet. Auf ſolche Art kommt durchs Geſetz Erkaͤnntnuͤß der Suͤnden Rom. III. 20 aber eben mit dem Er - kaͤnntnuͤß der Suͤnden vergroͤſſert ſich die Unruh des Gewiſſens und die Furcht fuͤr dem zukuͤnfti - gen Gericht: folglich muß das Gefuͤhl unſers geiſtlichen Elends und das Erkaͤnntnuͤß von dem gefaͤhrlichen Zuſtand unſerer Seelen auch mit dem Erkaͤnntnuͤß des goͤttlichen Willens zunehmen und nach der Uberfuͤhrung / welche wir von ſeinem Ernſt in Beſtraffung des Boͤſen haben / wachſen. Daher aber muß Niemand die Folge machen / daß diejenige / welche uͤberall von GOttes Geſetz nichts wiſſen oder ſolches aus dem Sinn ſchla -gen77gen und ſich in ihren boͤſen Wegen verſtocken / viel beſſer daran waͤren als diejenige / welche ſich Tag und Nacht in demſelben uͤben und dem / was darin zur Ubung eines H. Wandels gelehret wird / mit Sorgfalt nachſinnen. Der groͤſte Atheiſt waͤre auf ſolche Art der gluͤcklichſte / denn von dem - ſelben haben wir oben (Erlaͤut. quæſt. 17.) ange - merckt / daß er / in ſo fern er ein ſolcher / uͤber ſeine boͤſen Thaten in Abſicht der moraliſche folge der - ſelben keine Unruh / Schmertz und Mißvergnuͤ - gen empfinde. Jn der That aber ſind ſolche Leu - te in einem gefaͤhrlichen Zuſtande / ſie haben eine Aehnlichkeit mit denen / die im hitzigen Fieber lie - gen und vor Raſerey weder die Staͤrcke der Kranck - heit empfinden noch die Gefahr / darinn ihr Le - ben ſteht / erkennen. Jhr Unglaube und Sicherheit hebt die Warheit der Sachen nicht auf. Es kan eine kleine Veraͤnderung in ihrem Leben vor - gehen / welche das Gewiſſen aufweckt und ihnen deſto mehr Angſt und Quaal verurſacht / je groͤſ - ſer ihre Sicherheit geweſen. Es ſteht nicht in menſchlicher Willkuͤhr / allezeit ein Atheiſt zu ſeyn. Wie es auch unmoͤglich / daß der menſch die Be - griffe von Gerechtigkeit / Geſetz / Straffe / Beloh - nung / Himmel und Hoͤlle von ſeinen Geiſt im - merdar entfernen / und folglich das Gefuͤhl des Gewiſſens nach Gefallen ausloͤſchen koͤnne. (Erlaͤuterung quæſt. 23.) Eine ſolche Ver - ſtockung iſt nichts als eine unſelige Frucht der geiſtlichen Blindheit. Es liegt nur daran / daßdem78dem Menſchen die Augen geoͤffnet werden / zu ſe - hen / wie weit der Wille GOttes von unſerer Heiligung in dem geoffenbahrten Geſetz gehe und wie ernſtlich derſelbe ſey; ſo wird er die Tieffe ſei - nes Verderbens bald mercken und dabey erkennen / daß er der Natur nach in einem Stande ſey / da ihm Huͤlffe noht iſt.

XXXIV. Ob das Wort Gnade, wenn es dem Recht entgegen geſetzet wird / etwas anders als einen Nachlaß von ſolchem Recht bedeuten koͤnne / es beſtehe denn dieſer Rachlaß / wor - in es wolle?

Erlaͤuterung.

Es iſt noͤhtig dieſem Wort ſeine eigentliche Schrancken zu ſetzen / damit man ſich in dem fol - genden fuͤr dem wilkuͤhrl. Gebrauch deſſelben huͤten und alle Verwirrungen vermeyden moͤge. Es kan wohl nicht geſtritten werden / |daß eben der Grund / ſo jemanden ein Recht gibt / andern Geſetze vorzu - ſchreiben und ihre freye Handlungen zu beſchren - cken / demſelben auch Macht ertheile / diejenige / ſo zu gehorchen ſchuldig / durch zulaͤngliche Mit - tel dazu anzuhalten. Alſo entſpringt aus dem Recht Geſetze zu geben / die Macht die Ubertreterder -79derſelben zu beſtraffen. Es iſt aber fuͤr ſich klar / daß dieſe Macht nicht fort eine Verbindlichkeit in ſich faſſe / daß der Geſetzgeber dieſelbe ohn Unterſchied muͤſte ausuͤben und es ihm keineswe - ges erlaubt ſey / davon nachzulaſſen und jemanden / die nach dem Geſetz verwirckte Straffen zu ſchencken. Imperatori, ſpricht Auguſtinus, licet revocare ſententiam & reum mortis abſolvere & ei ignoſcere, quia non eſt ſubjectus legibus, qui ha - bet in poteſtate leges ferre. Seneca gibt zwar von dieſer Gnade eine richtige Beſchreibung / wenn er ſagt: venia eſt pœnæ meritæ remiſſio. L. de Clem. c. VII. er meynet aber / daß es einem Weiſen nicht zuſtehe / ſolche zu ertheilen. Ei ignoſcitur / ſind ſeine Worte / qui puniri debuit, ſapiens autem ni - hil facit, quod non debet. Es hat aber Hugo Grotius de Jure B. & P. Lib. II. c. XX. §. XXI. bereits angemerckt / daß dieſer Grund ſehr ſchwach und betrieglich. Wie kan daher / daß der Ubertreter ſchuldig iſt / die Straffe zu leyden / folgen / daß der Geſetzgeber ſchuldig ſey / dieſelbe von ihm zu nehmen: es wuͤrde auf eben ſolche Art folgen / daß weil der Schuldiger ſchuldig iſt zu bezahlen / der Glaͤubiger auch ſchuldig und gehal - ten waͤre / die Bezahlung anzunehmen. Es muͤſ - ſen hoͤhere und wichtigere Gruͤnde ſeyn / dafern dieſer Satz des Senecæ ſolte bewieſen werden. Es ſcheinet auch / als wenn er ſelbſt hierin gewancket / denn wenn er den Neronem will zur Gnade undSanft -80Sanftmuht bereden / ſo ſagt er unterandern / er ſolle bey ſich ſelbſt gedencken: occidere contra legem nemo non poteſt, ſervare nemo præter me. l. c. cap. V. doch es iſt mein Vorhaben / nicht ſo wohl die Sache ſelbſt / in wie weit ein Regent denen Ubertrettern ſeiner Gebote die verwirckte Strafen zu erlaſſen befugt ſey / zu unterſuchen / als vielmehr darzuthun / daß das Wort Gnade in ſeinem eigentlichen Verſtande einen Nachlaß von dem Recht andeute und auch alſo gebraucht wer - de. Ein gar ſchoͤnes Zeugnuͤß / ſo ſich hieher ſchickt / fuͤhret Grotius aus dem Favorino an. l. c. §. XXII. 2. 〈…〉〈…〉〈…〉〈…〉, ea, quæ dicitur clemen - tia apud homines, eſt tempeſtiva relaxatio de ſum - mo jure. Jmmittelſt iſt hieraus offenbahr / daß niemand koͤnne Gnade erweiſen / noch in einem ei - gentlichen Sinn gnaͤdig genannt werden / als der Recht hat / Geſetze zu geben. Jn ſofern iſt der Unterſchied / welcher unter dem Richter als Ver - waltern der Gerechtigkeit und unter dem Regen - ten / der die Geſetze gibt / gemacht wird / gantz rich - tig: alia eſt conditio magiſtratuum, quorum cor - ruptæ videntur eſſe ſententiæ, ſi ſint legibus mitio - res: alia divorum principum poteſtas, quos decet acrimoniam ſeveri juris inflectere. Symmachus Lib. X. ep. 63.

XXXV. 81

XXXV. Ob man nicht / da GOtt unſtrei - tig ſo viel Macht hat / den Ubertre - ter ſeiner Gebote zu ſtraffen / als er Rechtgehabt / die freye Handlungen der Menſchen unter der Wahl des Beſten in ſeinem Geſetz einzuſchren - cken / den Nachlaß von dieſem Recht oder / welches einerley / den goͤttli - chen Willen / die Suͤnde zu verge - ben / ſich zu erſt unter dem Namen der Gnade GOttes vorſtellen muͤſſe?

Erlaͤuterung.

Die Warheit des in dieſer Frage enthalte - nen Satzes iſt vermoͤge deſſen / was in dem vor - hergehenden erwieſen / nicht zu ſtreiten. Wer das / was quæſt. 15, 20, 22, 32, 33, und 34. erwie - ſen / zuſammen haͤlt / wird ihm ſelbſt leicht einen foͤrmlichen Beweiß davon machen koͤnnen. Uber - dem wird ſie dem Jnnhalt nach mit deutlichen Woͤrtern in der Schrifft gelehret. Es iſt einer - ley / ob ſie ſagt: GOtt laͤſt von ſeinem Recht und Macht nach / die Ubertreter ſeiner Gebot zu ſtraf - fen / oder ob ſie ſpricht: Er handelt nicht mit unsFnach82nach unſern Suͤnden / und vergilt uns nicht nach unſerer Miſſethat. Denn ſo hoch der Himmel uͤber der Erden iſt / laͤſſet er ſeine Gnade walten uͤber die / ſo ihn fuͤrchten. Pſ. CIII. 10, 11. So iſt es auch einerley / ob man ſagt: GOTT beweiſet Gnade / oder ob es heißt: Er ver - gibt die Suͤnde. Und alſo gehoͤren hieher alle Spruͤche der Schrift / die von Vergebung der Suͤnden handeln / als mit welchen dieſelbe durch und durch angefuͤllet iſt. Es iſt ſolchemnach ein un - verſtaͤndiges Urtheil / wenn J. C. Dippel ſagt / es ſey ein abſurder Sinn / wenn man das Wort Gnade alſo gebraucht. (Vorrede der Verthaͤdi - gung der veræ demonſtr. Evang.) Wie es gleichfals ein Jrrthum iſt / wenn er vorgibt / daß die Schrift unter dem Wort Gnade nur das Werck der Er - neurung andeute. Wann er ja andere Oerter der Schrift / in welchen der Gnade GOttes ge - dacht wird / dahin drehen und zwingen wil / ſo kan ers doch unmoͤglich bey denen thun / da die Vergebung der Suͤnden / als ein Werck der - ſelben angefuͤhret wird / wie ſolches geſchiehet: Rom. III. 24, 25. Eph. I. 6, 7. Rom. V. 20. Ebr. IV. 16. ſq. Die Warheit / daß GOtt aus Gnaden und Erbarmung Suͤnde vergebe / iſt ſo deutlich in denen Schriften alten und neuen Teſtaments enthalten / daß es demjenigen / ſo dieſelbe ohne Vorurtheile lieſet / ſo unmuͤglich iſt / daran zu zwei - feln; als wenig es in unſern Kraͤften ſteht / zu glau - ben / es ſey Mitternacht / wenn die Sonne uns - ber dem Haupte leuchtet.

Was83

Was aber J. C. Dippel noch uͤberdem hinzu - fuͤgt / daß die Vaͤter der erſten Kirchen keine an - dere als die Gnade der Erneuerung erkannt; ſol - ches iſt ebenmaͤßig wider die kundbare Warheit. Die Zeugnuͤſſe / welche der Hr. Paſtor Neumeiſter zum Beweiß / daß die Welt durch Chriſtum mit GOtt verſoͤhnet / und wir allein durch ſein Blut und Tod gerecht werden / aus denen Vaͤtern der erſten Kirchen anfuͤhret (Widerl. Chriſt. Demo - criti p. 122. ſq. ) koͤnnen auch zum Theil als Be - weißthuͤmer der gerechtmachenden Gnade Gottes angeſehen werden: und es koͤnten leichtlich noch mehre / die die Gnade der Vergebung der Suͤn - den deutlich lehren / angefuͤhret werden / wenn es nicht unſer Vorſatz / alle Weitlaͤuftigkeiten / ſo viel moͤglich / zu vermeyden. Jmmittelſt kan ich doch nicht Umgang nehmen / die Unwarheit des nach - folgenden Diſcurſes mit wenigen dar zu thun. Der gantze Diſput gegen die Pelagianer ſpricht J. C. Dippel, lauft allein dahin aus / daß dieſer Haupt - und Grundſatz des gantzen Chriſtenthums (nemlich daß die Gnade Gottes uns von Suͤnden befreye / oder wie in unſerer Kirchen mit mehrer Deutlichkeit geredet wird / den Menſchen erneuere) gegen Sie vindiciret werde. Man leſe den gantzen Auguſtinum durch und durch / und ſuche ob er einen andern Sinn von der Gnade habe / oder ſich einen andern Chriſtum zur Seligkeit einbilde / als der in der That das wiederum her - geſtellet / was durch den Fall verlohren / undF 2was84was weder das Geſetz und der Buchſtabe noch unſer eigen Werck kan zu Wege bringen. Bey dieſen Worten erinnere ich zu erſt beylaͤuffig / daß in der Evangeliſchen Kirche auch kein ander Chri - ſtus zur Seligkeit gelehret werde / als der in der That das wieder herſtellt / was durch den Fall ver - lohren. Durch den Fall iſt nebſt andern Guͤtern die Ruhe der Seelen / der Friede mit GOtt / die Freudigkeit des Gewiſſens verlohren; und die hat Chriſtus hergeſtellt / in dem er die Urſache dieſer Seelen-Ubel / nemlich die Suͤnde auf ſich ge - nommen / ſolche in ſeinem Leyden gebuͤſſet / mithin Gnade bey GOtt und die Vergebung derſelben erworben. Und es nichts gewiſſers / als daß der H. Auguſtinus dieſe Gnade / welche ſich auf die Suͤnden / ſo bereits begangen ſind / beziehet und dieſelbe vergibt / in ſeinen Schriften gelehret habe. Man betrachte nur nachfolgende Zeug - nuͤſſe. Um der ungelehrten Willen / die durch die Dippelſche Lehre entweder gaͤntzlich verfuͤhret / oder auch in Verwirrung geſetzet / wil ich dieſelbe ver - teutſcht zugleich hinzufuͤgen. Sie koͤnnen auf ſol - che Art ſelbſt beurtheilen / wie J. C. Dippel mit ih - ren Seelen zu Werck gehe / und wie viel Redlich - keit man ſich bey ihm vorzuſtellen habe. Gratia DEI, ſind des Auguſtini Worte / tribuit in hac vita ſtudium præcepta ſervandi & eadem, ſi quid in illis minus ſervatur, ignoſcit. L. III. c. 7. contra duas e - piſt. Pelag. Die Gnade Gottes gibt uns in die - ſer Welt den Vorſatz und Eyfer die Gebote zuhal -85halten; und eben dieſelbe verzeiht es uns / wenn wir nicht alles halten koͤnnen. Gratia DEI eſt, qua nobis donantur peccata, ut reconciliemur DEO: pax autem, qua reconciliamur DEO. in expoſ. epiſt. ad Galatas c. I. Weil dieſes denen Worten nach in dem Teutſchen nicht gar zu deutlich ſeyn wuͤr - de / ſo muß es ich dem Sinn nach alſo uͤberſetzen: Das nenne ich Gottes Gnade / wenn er uns die Suͤnde ſchencket / daß wir mit ihm verſoͤh - net werden; das aber nenne ich Frieden / wenn dieſe Verſoͤhnung wuͤrcklich geſchiehet. Er er - klaͤret ſich ſelbſt / wie er ſolches wil verſtanden wiſſen / wenn er ſchreibt: ubicunque dixi, gratiam eſſe in remiſſione peccatorum; pacem vero in reconciliatio - ne DEI, non ſic accipiendum eſt, ac ſi pax ipſa & re - conciliatio non pertineat ad gratiam generalem, ſed quod ſpecialiter nomine gratiæ remiſſionem ſignifi - caverit peccatorum. Lib. I. retract. c. 25. Allent - halben / wo ich ſage / daß die Gnade beſtehe in der Vergebung der Suͤnden / der Friede aber in der Verſoͤhnung mit GOtt / will ich es nicht ſo verſtanden wiſſen / als wenn der Friede ſelbſt und die Verſoͤhnung nicht zu der allgemeinen Gnade gehoͤren / ſondern / daß inſonderheit un - ter dem Namen Gnade die Vergebung der Suͤnden angedeutet werde. Diligam te Domi - ne & gratias agam & confitear nomini tuo: quo - niam tanta dimiſiſti mihi mala, nefaria opera mea. Gratiæ tuæ deputo & miſericordiæ tuæ, quod pecca - ta mea tanquam glaciem ſolviſti: gratiæ tuæ deputoF 3&86& quæcunque non feci mala. quid enim non face - re potui, qui etiam gratuitum facinus amavi! & o - mnia mihi dimiſſa eſſe fateor, & quæ mea ſponte fe - ci mala & quæ te duce non feci. Confeſſ. L. II. c. 8. 1. Jch muß dich HErr / lieben / dir dancken und deinen Namen bekennen; da du mir ſolche groſſe Suͤnden und boßhaffte Wercke verge - ben. Jch ſchreibe es deiner Gnade und Barm - hertzigkeit zu / daß du meine Suͤnden / als das Eiß aufgeloͤſt. Auch was ich nicht Boͤſes gethan / ſchreib ich deiner Gnade zu; denn was haͤtte ich nicht noch thun koͤnnen / da ich an Laſtern / die mir nicht den geringſten Vor - theil gebracht / ein Gefallen gehabt? und ich bekenne / daß mir ſolches alles vergeben / ſo wohl was ich fuͤr mich ſelbſt boͤſes gethan / als auch was ich unter deiner Fuͤhrung nicht gethan habe. Er nennet ſo gar die Gabe fromm zu wandeln gratiam ſecundam und unterſcheidet ſie von der Gnade des Berufs / welche mit der von der Vergebung der Suͤnden im Grunde ei - nerley. Lib. de prædeſt. & gratia. c, XI.

Was das vorgeben J. C. Dippels betrift / als wenn der gantze Diſput des H. Auguſtini gegen die Pelagianer dahin auslauffe / daß er die Gnade der Erneurung gegen dieſelbe vindicire; ſo iſt ſolches wohl in keine Wege zu bewundern. Pela - gius hat die gratiam remiſſionis oder juſtificationis niemahls geleugnet. Darin aber jemand mit uns einig iſt / kan er ja nicht widerleget werden. Die87Die Meynung des Pelagii gieng dahin / daß / was die vergangene Suͤnden betraͤfe / ſo komme es / weil das Vermoͤgen der Natur und der Wille des Menſchen nicht koͤnne machen / daß geſchehene Dinge ungeſchehen ſeyn / lediglich auf GOttes Gnade an / dieſelbe auszuloͤſchen und zu verge - ben: und darin faͤllt ihm Auguſtinus bey / wie er auch wuͤrcklich daran nicht unrecht lehret. Cum dicunt Pelagiani, hanc eſſe ſolam non ſecundum merita noſtra gratiam, qua homini peccata di - mittuntur: illam vero, quæ datur in fine, i. e. vi - tam æternam, meritis noſtris præcedentibus reddi, re - ſpondendum eſt eis. Si enim merita noſtra ſic intellige - rent, ut etiam ipſa dona DEI eſſe cognoſcerent, non eſſet reprobanda iſta ſententia. Libr. de gratia & lib. arbitrio c. 6. Wenn er aber dabey lehret / daß der Menſch ohne den goͤttlichen Beyſtand in dem Wege der Gottſeligkeit unſtraͤflich wandeln oder ſich uͤberall aus eigenen Kraͤfften zu GOtt wenden koͤnne / daß er die Gnade der Rechferti - gung erlange; ſo iſt ſolches ein verwerflicher Jrr - thum / der billig in der Kirchen verdammet iſt. Auguſtinus lehret gantz recht / daß / wie wir in der 5ten Bitte des H. Vater unſers um die Gnade der Rechtfertigung bitten; ſo geſchehe ſolches in der 6ten um die Gnade der Erneurung oder des goͤttl. Beyſtandes / uns inskuͤnfftige fuͤr Suͤnden zu huͤten. Siehe Janſenii Auguſtinum T. I. Lib. V. c. XXII.

F 4XXXVI. 88

XXXVI. Ob nicht der Begriff und die Empfindung von dieſer Gnade o - der dem Willen Gottes / die Suͤnde zu vergeben / das eintzige ſey / wel - ches dem Gefuͤhl unſerer Suͤnden / denen Stichen des Gewiſſens und der quaͤlenden Unruh in Anſehung des Zukuͤnftigen kan Widerſtand thun / und dadurch ſolche auch wuͤrcklich ausgeloͤſchet und hinweg genommen werden?

Erlaͤuterung.

Der beruffene Naturaliſt Eduard Baron Her - bert de Cherbury, welcher auch zu der Zahl derjeni - gen zu gehoͤren ſcheinet / die ſich durch ein zu ſtarckes Gefuͤhl von der ſchaͤrffe ihres Verſtandes verfuͤh - ren laſſen / allerley neue Meynungen in der Reli - gion auszubruͤten / (Kortholt de tribus Impoſt. magnis Sect. I. §. 11.) meynet / daß es zulaͤnglich ſey / die Schmertzen des Geiſtes / ſo ausdem moraliſchen Ubel enſtehen / mit Reu und Schmertz zu daͤmpffen. Unter denen 5 Articuln / welche nach ſeinem Wahn die gan - tze Welt fuͤr wahr und ungezweiffelt halten muß / iſtdieſer89dieſer der vierte: dolendum eſſe propter peccata ab iisque reſipiſcendum. de. Rel. Gent. c. 1. Wie aber durch eine bloſſe Reue ein Begriff in un - ſerm Geiſt koͤnne erwecket werden / daß GOtt die vergangene Suͤnden nicht wolle achten / ſonderndie - ſelbe mit ihren Wirckungen von dem Geiſte weg - nehmen; ſolches iſt ſo wenig von ihm gewieſen; als ſchwerlich ein menſchlicher Verſtand abſehen kan / wie es koͤnne erwieſen werden. Ein irrdi - ſcher Monarch wuͤrde ſeine Liebe zu dem Guten und ſeinen Eyfer fuͤr die Gerechtigkeit bey der Welt ſehr verdaͤchtig machen / wann er auf bloſſe Reue einem jeden Miſſethaͤter wolte die verwirckte Straffe ſchencken; und was ſoll man ſich dann von GOtt in dieſem Fall vor Begriffe machen? Die Reue gehoͤret fuͤr ſich ſchon zu dem Schmertz / der mit dem Gefuͤhl eines boͤſen Gewiſſens ver - bunden; wie kan ſie denn geſchickt ſeyn / daſſelbe zu heilen: mir daucht / es waͤre eben ſo / als wenn man ſagen wollte / daß eine faule Wunde durch die Schmertzen / ſo man darin fuͤhlet / geheilet wuͤrde. Es wuͤrde / wenn eine bloſſe Reue den innerlichen Zuſtand des Geiſtes koͤnte beſſern / folgen / daß der Menſch in ſeinen Begriffen und Empfindungen / die Leidend entſtehen / etwas koͤn - te aͤndern / welches eben ſo unmoͤglich / als ſein Weſen ſelbſt zu zernichten.

Der Hr. Hoff-Raht Wolf hat hierin viel gruͤndlichere und beſſere Einſichte. Er lehret / daß dieß das ſicherſte Mittel waͤre die Gewiſſens -Biſſe90Biſſe zu heilen / wenn man entweder das ge - ſchehene koͤnte ungeſchehen machen / das iſt / den Menſchen in einen ſolchen Stand ſetzen / dar - in er anzuſehen iſt / als wenn er das Boͤſe nicht begangen noch das Gute unterlaſſen haͤt - te / oder wenn man ihm zu einer voͤlligen Vergeſſenheit des geſchehenen verhelffen koͤn - te. Er merckt dabey gar wohl an / daß die Chriſtl. Religion ſich eines ſolchen Mittels ruͤhmen koͤnne und desfals einen Vorzug nicht nur fuͤr der Weltweißheit / ſondern auch fuͤr allen andern Religionen habe. moral. §. 113. Der Ubertreter kan nicht anders in ſolchen Stand geſetzet wer - den / als durch eine voͤllige Vergebung aller ſeiner Miſſethaten / und das beruht lediglich auf GOt - tes Gnade.

XXXVII. Ob nicht ſolchemnach der Be - griff von der Gnade Gottes un - ter allen / die unſer Geiſt in ſeinem gegenwaͤrtigen Zuſtande anzuneh - men und zu beſitzen faͤhig / der Aller - koͤſtlichſte und der Wirckung nach der Angenehmſte ſeyn muͤſſe?

Erlaͤuterung.

Der Wehrt und die Koͤſtlichkeit menſchlicher Begriffe kan nicht anders als nach der Art / wieſolche91ſolche / unſern wahren Gluͤckſtand zu befordern / vermoͤgend ſind / oder in die Empfindungen un - ſers Geiſtes einen Einfluß haben / beurtheilet werden. Da nun unſer Gluͤckſtand durch ſchmertz - liche Empfindungen geſtoͤret wird: (Erlaͤut. quæſt. 22.) Dieſe Empfindungen aber aus der Suͤnde den Urſprung nehmen / in Betracht / daß ſie das innerſte des Geiſtes betreffen und natuͤr - licher Weiſe ewig dauren / (quæſt. 26.) die allerſchmertzlichſten ſeyn muͤſſen; ſo iſt fuͤr ſich offenbar / daß kein Begriff in die Empfindungen unſers Geiſtes einen ſtaͤrckern Einfluß haben koͤnne / als welcher uns von der Vergebung der Suͤnden uͤberzeuget. Dieß aber thut der Begriff von der Gnade GOttes (quæſt. 36.) und alſo muß ſolche unter allen der Koͤſtlichſte ſeyn. Alle Verwir - rungen und Unruhe / welche aus dem Geſuͤhl un - ſerer Gebrechlichkeiten / aus denen Stichen des Gewiſſens / aus der Furcht in Anſehung des zukuͤnftigen Gerichts entſpringen / muͤſſen ſich noht - wendig verlieren / wenn wir uͤberzeugt / daß wir ei - nen gnaͤdigen GOtt haben. Jſt GOtt fuͤr uns / wer mag wider uns ſeyn? Rom. VIII. 31.

XXXVIII. Ob nicht / da die Vernunft un - moͤglich wiſſen kan / daß GOtt dem Ubertreter ſeiner Gebote wol - le die Miſſethat vergeben und dieda -92daher entſtandene Stiche des Ge - wiſſens mit allen uͤbrigen Straf - fen gaͤntzlich hinweg nehmen / es dem Menſchen an dem koͤſtlich - ſten Begriff und der heilſamſten Erkaͤnntnuͤß natuͤrlicher Weiſe fehlen muͤſſe?

Erlaͤuterung.

Die Vernunft erkennet / daß das goͤttl. Mißge - fallen an dem moraliſchen Boͤſen ſich nohtwendig aͤuſern und offenbaren muͤſſe. (quæſt. 21.) Da ſie nun unmoͤglich ſich auf einen andern Fall / als daß ſolches an dem Ubertreter ſelbſt geſchehe / (Er - laͤuter. quæſt. 21.) beſinnen kan; ſo iſt offenbar / daß ſie nicht mit dem geringſten Schein der Warheit koͤnne muhtmaſſen / GOtt werde die Suͤnde / die wuͤrcklich geſchehen iſt / als nicht ge - ſchehen anſehen und die daher erregte Unruhe im Gewiſſen mit denen uͤbrigen unſeligen Wir - ckungen hinwegnehmen. Wolte man dagegen ein - wenden / daß GOtt auch auf die vollenkommenſte Art liebe und in ſo fern gar geneigt ſeyn muͤſſe / ſeine vernuͤnftige Geſchoͤpffe von ihrem unſeligen Zuſtande zu befreyen / wenn ſie es ſonſt von ihm begehren und ihn darum demuͤhtig anflehen: ſo iſt bereits darauf geantwortet. (Erlaͤut. quæſt. 30. p. 70.) Uberdem hat man wohl zu uͤberlegen / ob GOttdas /93das / was alſo verlanget wird / ohne Nachtheil ſeiner Vollenkommenheit thun koͤnne. Eine Lie - be / die GOtt bewegen ſoll / etwas zu thun / ſo den Begriff / daß er das gute ernſtlich wolle / zweiffelhafft und dunckel macht; kan man ſich in ihm nicht gedencken. Wer ſich einbildet / GOtt werde vermoͤge ſeiner Liebe die laſterhafte Thaten der Menſchen / ſo oft ſie es nur begehren / als nicht geſchehen anſehen; der eignet ihm einen ſolchen Sinn zu / welchen man ſich in keinem irrdiſchen Richter ohne deſſen Nachtheil vorſtellen kan. Judex damnatur, cum reus abſolvitur. P. Syr. Die Lie - be kan ſo wenig die Aeuſſerungen des goͤttlichen Mißgefallens an dem Boͤſen aufhalten / als wenig ſie kan machen / daß geſchehene Dinge ungeſchehen werden. Nach dem dieß in der Natur des Men - ſchen gegruͤndet / daß er durch eine Beſtimmung ſeiner Handlungen nach dem goͤttlichen Geſetz ſoll gluͤcklich werden / das iſt / zu dem Genuß ſeli - ger Empfindungen gelangen; ſo iſt es fuͤr ſich klar / daß die Liebe Gottes / wenn ſie wolte den Menſchen / der nicht dem Willen Gottes gemaͤß gewandelt / bloß auf ſein Verlangen und ohne Zwiſchenkunft eines ſolchen Begriffs / der ihm bey der Gnade den goͤttlichen Ernſt kund macht / in einen ſeligen Zu - ſtand ſetzen / die gantze moraliſche Harmonie und weiſe Ubereinſtimmung der Dinge ſtoͤren und zer - nichten / folglich eine unumgeſchrenckte Gewalt zu gebrauchẽ / ihn bewegen muͤſte. Alſo bleibt der Uber - treter goͤttl. Gebote / ſo lang ihm dieß Erkaͤnntnuͤßfeh -94fehlet / in dem Stand des Schmertzen und der Verdammnuͤs. Da nun die Vernunft ſolches fuͤr ſich nicht erlangen kan / ſo muß es dem Men - ſchen an dem koͤſtlichſten Begrif in ſeinem natuͤr - lichen Zuſtande mangeln. Es gehoͤret hieher / was in der Erlaͤuterung der 30ſten Frage abgehandelt worden.

XXXIX. Ob nicht dieſer Begriff denen Heyden wuͤrcklich gemangelt / wel - chem Mangel ſie durch allerley ſelbſterwaͤhlte / aber von denen Ver - nuͤnftigen unter ihnen als unzu - laͤnglich erkannte Mittel abzuhelf - fen geſucht?

Erlaͤuterung.

Die hierin enthaltene Warheit umſtaͤndlich abzuhandeln / iſt dieſer Raum viel zu enge. Weil aber / um den Zuſammenhang unſerer Begriffe deſto deutlicher darzuſtellen / es die Nohtdurfft er - fordert / derſelben zu erwehnen; ſo wollen wir das Noͤhtigſte / ſo viel zu unſerm Vorhaben dienlich / anfuͤhren. Es iſt unſtreitig / daß die Opffer bey denen Heyden ein wichtiges Stuͤck ihres Gottes - dienſtes geweſen / und unter andern auch die Ver - ſoͤhnung derer Goͤtter zum Zweck gehabt. Eben das Wort Litare, wenn es von dem Opffer ge -braucht95braucht wird / deutet an / daß ſolches von guter Wirckung geweſen und daß die Goͤtter durch ſelbi - ges verſoͤhnet worden. Kipping. antiqu. Rom. L. I. c. XI. §. IX. Jhre Prieſter beurtheilten esaus dem Ein - geweide und machten den Leuten kund / ob ſie ſich Gnade oder Zorn zu verſprechen haͤtten. Wenn das erſte Opffer keine gute Anzeige gab / ſo ſchlachte - ten ſie mehrere / um durch die Menge die Goͤtter zu verſoͤhnen. Suetonius erzehlt in dem Leben des Julii Cæſaris, daß dieſer Monarch eben dergleichen ge - than / da aber alle Opffer lauter Zorn der Goͤtter und nichts als Ungluͤck gedrohet / ſey er verdrieß - lich geworden / und habe das eine mit dem andern verachtet. L. I. c. 81. Damit auch allerley unziemli - che und das Gewiſſen verunreinigende Thaten nicht moͤchten hinderlich ſeyn / ſowohl die Opffer als auch andere Stuͤcke des Gottesdienſtes zum Gefallen ihrer Goͤtter zu verrichten; ſo waren ſie bedacht / ſich von denenſelben vorhero zu reinigen / und meyn - ten / ſolches wuͤrde geſchehen / wenn ſie ſich mit rei - nem flieſſenden Waſſer wuͤſchen. Es geben ſol - ches nachfolgende Zeugnuͤſſe zu erkennen:

Tu Genitor cape ſacra manu patriosque penates, Me bello e tanto digreſſum ac cæde recenti Attrectare nefas, donec me flumine vivo Abluero. Virg. L. II. Æneid.

imgleichen

omne nefas, omnemque mali’purgamine cauſam credebant noſtri tollere poſſe ſenes Ovid. L. II. faſtorum.
wie96

wie auch

Purâ cum veſte venite & manibus puris ſumite fontis aquam. Tibull. L. II. eleg. I.

Wiewohl nun dieſes weſentliche Stuͤcke des heyd - niſchen Gottesdienſtes waren / ſo konte doch der Aberglaube die Sinnen der Verſtaͤndigen nicht ſolchergeſtalt benebeln / daß ſie nicht die Unzulaͤng - lichkeit derſelben in Abſicht deſſen / ſo dadurch ſolte gewircket werden / haͤtten erkennen ſollen. Zwar macht ſich Jamblichus in ſeinem Buch de myſteriis Ægyptiorum viele Muͤhe / die Urſachen zu erfinden woher die Opffer koͤnnen ihre Kraft haben / und wozu ſie nuͤtzen: ſie ſind aber ſo beſchaffen / daß ſie denjenigen / der nach der Warheit forſcht / voͤllig uͤberfuͤhren / daß ſolche thoͤricht und unnuͤtz gewe - ſen. Porphyrius haͤlt es vor eine Gottloſigkeit / die Thiere zu ſchlachten und denen Goͤttern zu opf - fern. Er meynet die Opffer der Thiere waͤren nur eine Nahrung vor die Dæmones, oder ſchaͤd - liche Geiſter / welche man dadurch zu ſeinem Scha - den an ſich zoͤge. L. II. de abſtinentia animalium. Das Urtheil / ſo Dionyſius Cato von denen Opf - fern faͤllt / iſt bekannt genug:

Cum ſis ipſe nocens, moritur cur victima pro te? Stultitia eſt morte alterius ſperare ſalutem L. IV. diſt. 15.

Ovidius lehret / daß Treu und Redlichkeit denen Goͤttern mehr als Opffer gefalle:

Non bove mactato cœleſtia Numina gaudent, ſed quæ præſtanda eſt & ſine teſte, fides. Epiſt. 18.
97

Eben derſelbe haͤlt es vor eben ſo thoͤricht / wenn man ſich einbildet / ein wenig Waſſer koͤnne die Laſter und innerliche Flecken des Geiſtes wegneh - men.

Ah nimium faciles! qui triſtia crimina cædis flumineâ tolli poſſe putatis aquâ. faſt. Lib. II.

Aus dieſen Zeugnuͤſſen laſſen ſich nachfolgen - de Warheiten unſtreitig und deutlich erkennen / daß nemlich unter denen Heyden geglaͤubt worden / etliche Thaten der Menſchen waͤren boͤß und la - ſterhaft; durch dieſelben wuͤrden die Goͤtter erzuͤr - net; die Folge davon waͤren allerley Plagen und Truͤbſale; dieſe hoͤrten auf / wenn die Goͤtter wie - derum verſoͤhnet; ſolche wuͤrden nicht ehe verſoͤh - net / als bis die Suͤnde hinweggenommen; ſolche wuͤrden weggenommen durch Reinigung und Opffer. Jn dem nun die Vernuͤnftigen unter denen Heyden die Art / wodurch letzteres nach dem angenommenen Wahn ſolte bewerckſtelliget wer - den / vor ungereimt und unzulaͤnglich und zwar mit Grund halten muͤſſen; unterdeſſen aber die E - xiſtentz des moraliſchen Boͤſen nicht leugnen koͤn - nen / ſo folgt von ſelbſt / daß ſie von der Art / wie man mit GOtt wegen begangener Suͤnde koͤnne verſoͤhnt und von denen Flecken derſelben gereini - get werden / keinen uͤberzeugenden Begriff haben koͤnnen / und folglich der koͤſtlichſten Warheit ent - behren muͤſſen. Jmmittelſt hat J. C. Dippel nach meiner wenigen Einſicht gar keine Urſache / ſich /Gwenn98wenn er die Zurechnung des Todes JEſu Chriſti hallſtarrig leugnet / mit dem Spruch des Catonis breit zu machen. veræ dem. p. 236. Dieſer kon - te kein anderes Opffer als was aus dem Blut de - rer Thiere zubereitet wurde / erkennen / und folg - lich nicht abſehen / was darin vor Kraft waͤre / die Suͤnden weg zu nehmen. Was hat aber ſolches vor eine Gleichheit mit dem Blut des groſſen Ho - hen-Prieſters? J. C. Dippel ſolte ſich ſchaͤmen / Dinge / die der Ehre des Sohnes Gottes ſo nach - theilig / auf eine ſo unbedachtſame Art in den Tag hinein zu ſchreiben.

XL. Ob die Condition, die verlohrne Seligkeit wieder zu erlangen / abſei - ten der abgewichenen Creatur dieſe ſeyn koͤnne / daß ſie vermoͤge der an - erſchaffenen Freyheit / die verkehrte Liebe von ſich ſelbſt und denen Ge - ſchoͤpffen durch den Weg der Ver - leugnung loß reiſſe / und das hoͤch - ſte Gut wiederum uͤber alles liebe und ſuche?

Erlaͤuterung.

Dieſe Frage habe ich unumgaͤnglich zwi - ſchen einruͤcken muͤſſen / um einige Vorurtheileund99und wuͤſte Begriffe / die J. C. Dippels Seele ver - duͤſtern und von dem rechten Wege abfuͤhren / anzuzeigen. 1) Bildet er ſich GOtt ein / als eine Nahrung und Futter des Geiſtes und ſetzet in dem Genuß deſſelben die Seeligkeit: p. 80. 2) lehret er daß wir dieſes Futters durch die Liebe GOttes genieſſen muͤſſen. p. 9. 3 ) Meynet er / der Menſch koͤnne nach anerſchaffener Freyheit dieſes un - ſterbliche Futter verlaſſen und ſeine falſche Begier - den in der Creatur zu ſaͤttigen ſuchen und eben daher entſtehe ſein Verderben und Verdamnis p. 82. 4 ) Doch behalte er unterdeſſen die anerſchaffene Freyheit / und koͤnne / wenn ihm das Futter in der Creatur nicht mehr ſchmeckt oder auch ſonſt bit - ter geworden / wieder GOtt als das rechte Fut - ter ſuchen / p. 11. quæſt. 10. 5) dazu gebe ihm GOtt ſelbſt conſilia medica in dem Gebot von der Liebe p. 12. 6) und weñ der Menſch ſich darnach verhalte / ſo koͤnnen ihm die vorhergehende Suͤnden nicht ſchaden; vielmehr komme er wieder zu dem Genuß der Seligkeit. Seht da die Grundlage von dem gantzen Dippelſchen Syſtemate!

Bey dem erſten Satz will ich nur dieſes we - nige erinnern / daß GOtt / um die Nahrung un - ſers Geiſtes zu ſeyn / wenn ich ja mit J. C. Dippel ſo reden ſoll / auch unſer Geſetzgeber hat werden / das iſt / die gantze Ordnung in ſeinen Geſetz vor - ſchreiben muͤſſen / nach welcher wir zu dem Genuß der ſeligen Empfindungen / welche in Abſicht auf ihn in der Seelen gewircket werden / gelangen. G 2Jch100Jch nehme auch aus dem andern an / daß wir in dem Stande der Unſchuld durch die Liebe Gottes und des Nechſten uns in dem Genuß der ſeligen Empfindungen nicht nur wuͤrden erhalten; ſon - dern auch mehr und mehr gewonnen haben: ich glaube aber dabey / daß dieſe Liebe in der Beſtim - mung unſerer freyen Handlungen nach dem Sit - ten-Geſetz / ſo GOtt nicht nur dem Menſchen ins Hertz geſchrieben / ſondern auch beſonders durch Moſen in zehn Haupt-Geboten geoffenbaret: ſonſt aber in goͤttlicher Schrift dem innerlichen Sinn nach weitlaͤuftig erklaͤret / ausgeuͤbet wird. Jch gruͤnde mich hierin auf das Zeugnuͤß des Heylan - des Matth. XXII. 37-40. und frage J. C. Dippel ſelbſt / ob er ſich auf eine einzige Lebens-Pflicht be - ſinnen koͤnne / die nicht darin verfaßt / oder ob er auſſer dieſen einen Begriff kan nahmhaft machen / der in der Notion der Liebe enthalten ſeyn ſolte / und nicht auch in dem Geſetz des Allerhoͤchſten ausgedrucket waͤre. Daher folgt / daß / wenn man ja die wunderliche Redens-Arten / der Menſch habe in der Creatur durch den Abfall ein fal - ſches Futter geſucht / will dulden; doch nichts anders darunter koͤnne verſtanden werden / als daß der Menſch ſeine freye Handlungen nach de - nen Neigungen des Fleiſches beſtimme / folglich von Gottes Gebot abweiche. Was aber die - brigen No. 4. 5. und 6. angezeigte Saͤtze betrift / ſo ſind ſolche uͤberall falſch und irrig. Eine Frey - heit haben / die verkehrte Liebe von ſich ſelbſt undde -101denen Geſchoͤpffen loßzureiſſen / und das hoͤchſte Gut uͤber alles zu lieben / heiſt / wenn man nach der Sachen eigentlichen Beſchaffenheit reden will / nichts anders; als ein voͤlliges Vermoͤgen beſi - tzen / das Gute eben ſo vollenkommen und leicht zu thun / als das Boͤſe. Pelagius hat niemals groͤ - ber von der menſchlichen Freyheit nach dem Fall geredt. Wie aber Pelagius eben deswegen keine Gnade der Erneurung vor noͤhtig hielte; ſo muß ſie auch in dem Dippelſchen Syſtemate unnuͤtz und vergeblich ſeyn. Es kan alſo / was J. C. Dippel von der Erloͤſung JEſu Chriſti ſchreibt / daß ſol - che lediglich auf eine Befreyung von der Neigung zu ſuͤndigen gerichtet ſeyn ſoll / nicht anders als ein fruchtloſer Diſcurs angeſehen werden. Wie iſt ein Fall moͤglich / in welchem derjenige / ſo in voͤlli - ger Freyheit ſteht / eines Erloͤſers gebraucht? Die hieher gehoͤrige Lehren und ſelbſt die Beſchreibung vom Glauben ſind nach der Verwirrung / ſo in J. C. Dippels Geiſt wohnet / alſo abgefaßt / daß man dar - aus nicht anders begreiffen kan / als daß man Chri - ſto ſoll alles bringẽ / was man von ihm begehrt; man ſoll ſich ſelbſt erloͤſen / um von ihm erloͤſet zu werden; man ſoll ſich verleugnen und die Suͤnde verlaſſen / damit er die Suͤnde mit der Wurtzel hinwegnehme. Es iſt aber auch die Sache ſelbſt falſch und irrig. Die Schrift redet von dem menſchlichen Unvermoͤ - gen in dem Geiſtlichen gar zu deutlich. Gen. VI. 5. Rom. VII. 14, 19, 23. 2 Cor. III. 5. 1 Cor. II. 14. Gal. V. 17. &c. Uberdem iſt eine ſolche FreyheitG 3nicht102nicht nur wider alle Erfahrung / ſondern auch an ſich ſelbſt ungereimt. Sich ſelbſt und die Geſchoͤpf - fe verkehrt lieben / zeiget einen falſchen Wahn im Verſtande / und eine unreine Empfindung in dem Willen an / und iſt alſo auſſer Zweiffel eine Kranck - heit des Geiſtes: GOtt uͤber alles / und ſich ſelbſt nebſt dem Nechſten in behoͤriger Ordnung lieben / iſt eine Folge reiner Begriffe und tugendhafter Em - pfindungen / folglich eine Staͤrcke und Vollenkom - menheit des Geiſtes. Dafern nun der Menſch ſich ſelbſt von der verkehrten Liebe koͤnte loßreiſſen / und GOtt uͤber alles lieben; ſo muͤſte er in dem Stande ſeyn / daß er ſich an dem innerlichen nach Wolgefallen koͤnte kranck und geſund machen: welches lauter wuͤſte Gedancken.

Wenn auch vorhero erinnert / daß GOtt / um die Nahrung unſers Geiſtes zu ſeyn / zugleich unſer Ge - ſetzgeber habe werden / das iſt unſere freye Handlun - gen unter der Wahl des Beſten einſchrencken muͤſ - ſen; (quæſt. 17) ſo folget daher / daß / wenn der Menſch gleich den Vorſatz faßt / die Suͤnden-Wege zu ver - laſſen / dennoch die vorher begangene Suͤnden ih - re ſchaͤdliche Wirckungen in dem Geiſt behalten muͤſſen / wie wir ſolches bereits dargethan. (Erlaͤut. quæſt. 28.) Solchemnach iſt es ein offenbarer gro - ber Jrrthum / daß GOtt nicht eigentlich Suͤn - den vergebe / und daß keine Suͤnden / die vorher geſchehen / fuͤr ihn uns unwuͤrdig machen ſein An - geſicht zu ſuchen / (veræ demonſtr. Evang. p. 105.) oder wie es eigentlich ſolte heiſſen / daß die Suͤndein103in der Seelen / die ſich inskuͤnftige nicht mehr da - mit wil beflecken / ihre Wirckung von ſelbſt ver - liere. Es folget eben ſo / als wenn man wolte be - haupten / daß darum / weil einer anfaͤngt / ordent - lich zu leben / die vorige Unordnung nicht mehr wer - de ſchaden / ob er ſich gleich Gicht und Schwindſucht bereits auf den Halß gebracht. Jch hoffe / es werde derjenige / ſo dieſen Gedancken recht nachſinnet / und ſolche mit dem vorhergehenden zuſammen haͤlt / die Betrieglichkeit der Dippelſchen Grundſaͤtze bald einſehen und beurtheilen.

XLI. Ob ein anderer Fall moͤglich ſey / einen Begriff von der Gnade Got - tes zu erlangen / als daß er ſich ſelbſt erklaͤre / er wolle die begangene Suͤnden als nicht geſchehen anſehẽ / die dadurch verwirckte Straffen aufheben / und die verlohrne Ruhe der Seelen wieder herſtellen?

Erlaͤuterung.

Die Vernunft kan nichts wiſſen / als was die Erfahrung lehret und durch einen nohtwendigen Zuſammenhang der Dinge folgen und in einan - der gegruͤndet ſeyn muß. Auf ſolche Art erkennet ſie / daß die Schmertzen des Geiſtes eine Folge derG 4Uber -104Ubertretung goͤttlicher Gebote / da jene in dieſen als eine Wirckung in der Urſache gegruͤndet. (quæſt. 21.) Unterdeſſen iſt es nicht unmoͤglich / daß GOTT den Menſchen koͤnne in den Stand ſe - tzen / da er ihn kan anſehen / als wenn er nicht geſuͤndiget haͤtte. Dieß aber beruht auf den Schluß ſeines Willens. Wann nun ein ſolcher Schluß ſo wenig / als der Grund / ſo ihn bewegt / denſelben zu faſſen / der Vernunft bekannt ſeyn kan; ſo iſt es gewiß / daß GOTT ſelbſt ſolchen muͤſſe kund machen / und ſich daruͤber erklaͤren / ob er wolle Gnade fuͤr Recht gehen laſſen. Man ſie - het hieraus / wie genau die Offenbahrung mit der Gnade verbunden ſey.

XLII. Ob nicht GOTT / wenn er den Gnaden-Schluß faßt / den Men - ſchen in einen Zuſtand zu ſetzen / da er die begangene Suͤnden / als nicht geſchehen kan anſehen / dennoch ge - recht und ein Feind der Suͤnden bleibe?

Erlaͤuterung.

Die Feindſchaft Gottes wider die Suͤnde iſt in ſeinen Vollenkommenheiten gegruͤndet (quæſt. 20.) und kan folglich nicht anders / als mit der Suͤnde ſelbſt aufhoͤren: da es nun unmoͤglich / daßdie105die Suͤnde / ſo geſchehen iſt / kan ungeſchehen wer - den / ſo iſt es unſtreitig / daß die Feindſchaft Got - tes wider die Suͤnde zu allerzeit und folglich auch / wenn er den Schluß gefaßt / ſolche zu vergeben / bleiben muͤſſe.

XLIII. Ob nicht / wenn GOtt / auch in dem er Gnade beweiſen will / ein Feind der Suͤnden bleibet / (quæſt. 42.) die goͤttliche Gerechtigkeit / o - der der Haß wider die Suͤnde nebſt der Gnade oder der Vergebung der Suͤnden muͤſſe offenbahr und kund werden?

Erlaͤuterung.

Die goͤttliche Gerechtigkeit faſſet den Begriff in ſich / daß GOtt das moraliſche Boͤſe an dem Ubertreter ſtraffen muͤſſe. (quæſt. 22.) Die Gnade hingegen / daß er dieſe Straffe wolle erlaſſen und mit der Suͤnde vergeben. (quæſt. 35.) Jn dem alſo eines das andere aufzuheben ſcheinet: ein Be - griff aber den andern ſo wenig ausloͤſchen muß / als eine Eigenſchaft die andere kan aufheben; ſo folget / daß / wenn GOtt gleich Gnade beweiſen will / ſeine Gerechtigkeit dennoch muͤſſe kund wer - den.

G 5XLIV. 106

XLIV. Ob nicht / in dem der Begrif von der Gerechtigkeit Gottes bey dem von der Gnade / wenn GOtt ſolche erzeigen will / muß erhalten wer - den / (quæſt. 43.) ſolches durch Zwi - ſchenkunft eines Begrifs / welcher die Moͤglichkeit kund macht / ge - ſchehen muͤſſe?

Erlaͤuterung.

Es iſt bald zu begreiffen / daß der Begriff von der goͤttlichen Gerechtigkeit mit dem von der Gna - de ohne Zwiſchenkunft eines dritten in der See - len nicht koͤnne beſtehen. Vermoͤge der Gerech - tigkeit handelt GOtt nach Recht; (quæſt. 22.) vermoͤge der Gnade gibt er von dem Recht nach. (quæſt. 35.) Die Gerechtigkeit aͤuſſert ſich in ſchmertzlichen Empfindungen: (quæſt. 21.) Die Gnade hingegen nimmt dieſelbe weg. Weil nun die Gerechtigkeit auf ſolche Art von der Gnade wuͤrde verdunckelt werden; ſo muß ein Begriff dazwiſchen kommen / welcher ſolches verhuͤte / und beyde Begriffe in einer Klarheit / welche die goͤtt - liche Vollenkommenheiten erfordern / erhalte.

XLV. Ob nicht dieſer Begrif inſonder -heit107heit muͤſſe kund machen / wie das goͤttliche Mißgefallen an dem mo - raliſchen Boͤſen ſich koͤnne aͤuſſern / wenn gleich der Ubertreter von de - nen Folgen und Wuͤrckungen deſ - ſelben erloͤſet und befreyet wird?

Erlaͤuterung.

Die goͤttliche Gerechtigkeit wird durch den Begriff / daß das goͤttliche Mißgefallen an dem moraliſchen Boͤſen ſich nicht werde aͤuſern / verdun - ckelt / (Erl. quæſt. 44.) Da nun die Gnade die Wir - ckungen dieſes Mißgefallens von der Seele des Ubertreterswegnimmt; (quæſt. 35.) ſo folget / daß in dem Begriff / welcher zeigt / wie die Gerechtig - keit bey der Gnade koͤnne in Klarheit bleiben / auch die Art / wie das goͤttl. Mißgefallen an dem Boͤ - ſen koͤnne offenbahr werden / ohne daß die Seele des Ubertreters ſelbſt ſolches empfinde / enthalten ſeyn muͤſſe. Solchergeſtalt faſſen dieſe Fragen den Grund von dem Werck der Erloͤſung in ſich und zeigen klaͤrlich an / daß die Vernunfft / ob man gleich durch ihre Huͤlffe nicht zu deſſen Erkaͤnntniß ge - langen mag / ſolches ſo gar nicht theatraliſch und ungereimt finde / daß vielmehr der Begriff von der Gnade darin herrlich kund gemacht und zum Preiß des allerhoͤchſten Weſens in voͤllige Klarheit geſe - tzet wird. Es kommt alſo lediglich aus einer bloͤ -den108den Einſicht her / daß J. C. Dippel die Lehre von der Gnade und dem Werck der Erloͤſung mit ſolcher Hefftigkeit laͤſtert. Dieſer Boßheit-volle Menſch gehoͤret unſtreitig zu denen welche von ei - ner Sachen urtheilen / ehe ſie ſelbige begreiffen: und das laͤſtern / was ſie nicht verſtehen. Er hat es nicht nur in der Theologie ſondern auch in andern Wiſſenſchaften fuͤrnemlich in denen mathemati - ſchen gewieſen.

XLVI. Ob JEſus Chriſtus zu einem andern Zweck in dieſe Welt geboh - ren / als daß in ihm der goͤttliche Rahtſchluß von der Gnade und der Vergebung der Suͤnden ſolte ausgefuͤhret und geoffenbahret werden?

Erlaͤuterung.

Wir kommen allmaͤhlig zur Haupt-Sache und zur Betrachtung der heimlichen verborgenen Weißheit Gottes / welche GOtt verordnet hat vor der Welt zu unſer Herrlichkeit. 1 Cor. II. 7. Chri - ſtus JEſus iſt die Perſon / darin und durch wel - che uns ſolche kund gemacht und davon auch die Religion / in welcher ſolche gelehret wird / die Chriſtliche heiſſet. Es kommt hie inſonderheit auf die Frage an / wovor man dieſen Chriſtum an -zu -109zuſehen habe / welches der Zweck ſeiner Zukunft auf Erden und warum er in dieſe Welt gebohren. Die Lehre und Meynung unſerer Evangeliſchen Kir - che iſt davon dieſe / daß er gekommen uns von der Suͤnde / die unſer Gewiſſen verunreiniget hat / zu befreyen und fuͤr GOtt gerecht zu machen / zu wel - chem Ende er ſolche auf ſich genommen / und auch derſelben Straffe unter goͤttl. Gericht gefuͤhlet / dergeſtalt / daß / wie die goͤttliche Straf-Gerech - tigkeit an ihm ſich geoffenbahret / auch die / welche ſein Verdienſt ſich im Glauben zu eigenen / Gna - de bey GOtt und Vergebung aller ihrer Suͤnden folglich die Seligkeit haben ſollen. Gerh. L. Theol. L. XIX. §. 37. p. m. 965. Da nun die Ver - nunft uͤberall von keinem Chriſto weiß / ſo muß der Bericht von dem Zweck des Lebens JEſu le - diglich aus denen Zeugnuͤſſen / welche uns in de - nen Schrifften der Evangeliſten und Apoſteln ge - laſſen / genommen werden. Wir finden alſo / daß der Engel / ſo ſeine Gebuhrt verkuͤndiget / auch ſei - nen Namen / daß er JEſus heiſſen ſolte / bekannt macht / dieſe Urſache der Benennung hinzufuͤgend: Er wird ſein Volck ſelig machen von ihren Suͤn - den. Matth. I. 21. Johannes, der Vorlaͤuffer JE - ſu Chriſti zeiget auf ihn mit Fingern und ſagt: Siehe / das iſt Gottes Lamm / welches der Welt Suͤnde traͤgt. Joh. I. 29. Eben derſelbe zeuget / daß wir von ſeiner Fuͤlle Gnade um Gnade ge - nommen. Er erklaͤret den Begriff von der Gna - de auf eine ſolche Art / welche mit dem / was wirin110in dem vorhergehenden behauptet / (quæſt. 35.) voͤllig uͤbereinkommt / wenn er ſagt: Das Geſetz iſt durch Moſen gegeben / die Gnade und Warheit iſt durch JEſum Chriſtum worden. Joh. I. 16, 17. Der Heyland ſelbſt lehret / der Zweck ſeiner Zukunft ſey / ſelig zu machen / das verlohren iſt. Matth. XVIII, 11. Er ruft deswegen die Muͤhſelige und Beladene zu ſich / und verheiſt ihnen Erquickung. Matth. XI. 28. Er lehret / daß er eben ſo werde erhoͤhet wer - den / wie Moſes in der Wuͤſten eine Schlange er - hoͤhet / auf daß alle / die an Jhn glaͤuben nicht ver - lohren werden / ſondern das ewige Leben haben. Joh. III. 14, 15. Wenn er nach ſeiner Aufferſte - hung denen Juͤngern den Haupt-Jnnhalt der Schrift erklaͤrt / inſonderheit was den Grund und die Urſache ſeines Leydens und Sterbens be - trifft / ſo fuͤgt er unter andern hinzu / es ſey auch dieß darin gegruͤndet / daß er muͤſſe predigen laſ - ſen Buſſe und Vergebung der Suͤnden unter al - len Voͤlckern. Luc. XXIV. 47. Eben dieſen Be - griff von dem Zweck des Lebens JEſu haben auch ſeine Apoſtel gehabt und nach demſelben gepredi - get und gelehret. Petrus, da er den Jnnhalt der Chriſtl. Religion in der kuͤrtze zuſammen faſt / ſa - get: es zeugen von JEſu alle Propheten / daß durch ſeinen Namen alle / die an ihn glauben / Verge - bung der Suͤnden empfahen ſollen. Act. X. 43. Paulus lehret / daß wir an Jhm die Erloͤſung ha - ben durch ſein Blut / nemlich die Vergebung der Suͤnden. Col. I. 14, Eph, I. 7. Daß GOtt in Chri -ſto111ſto geweſen / und die Welt mit ihm verſoͤhnet und ihnen ihre Suͤnde nicht zugerechnet. 2 Cor. V. 19. Petrus, daß Chriſtus unſere Suͤnde geopf - fert habe an ſeinem Leibe auf dem Holtz. 1 Petr. II. 24. Johannes, daß das Blut JEſu Chriſti des Soh - nes GOttes uns rein mache von allen Suͤnden. 1 Joh. I. 7. und wiederum: daß / ob jemand ſuͤndi - ge / wir einen Fuͤrſprecher bey dem Vater haben JEſum Chriſtum / der gerecht iſt / und derſelbi - ge ſey die Verſoͤhnung fuͤr unſere Suͤnde. Nicht allein fuͤr unſere ſondern auch fuͤr der gantzen Welt. 1 Joh. I. 1, 2. Durch Chriſti Blut die Er - loͤſung und Vergebung der Suͤnden haben / kan nichts anders bedeuten / als daß in dem Blut Chriſti die Urſache ſey / daß uns die Suͤnden nicht zugerechnet werden. Wenn geſagt wird: Chriſtus habe unſere Suͤnde geopffert an ſeinem Leibe auf dem Holtz / ſo muͤſſen ſie auf ihn ſeyn gelegt wor - den / welches nicht anders als durch eine Zurech - nung geſchehen koͤnnen. Es waͤre nicht moͤglich zu begreiffen / wie das Blut Chriſti uns koͤnne rein machen von Suͤnden / wenn er die Leyden / bey welchen ſolches vergoſſen / um unſerer Suͤnde willen nicht empfunden haͤtte und ſie uns in einer von GOtt geſtiffteten Ordnung zugeeignet wuͤr - den. Ein Fuͤrſprecher fuͤr den / der da ſuͤndiget / bey GOtt ſeyn / ſetzt voraus / daß wir um unſerer Suͤnde willen allerley Straffen von ihm als ei - nem gerechten Richter zu befuͤrchten haben: eine Verſoͤhnung fuͤr die Suͤnde ſeyn / kan nichts an -ders112ders bedeuten / als den Zorn und die Ungnade / ſo wir mit der Suͤnde verdienet / abkehren und auf - heben. Je mehr ich dieſe Zeug nuͤſſe der Schrift mit reiner Liebe zur Warheit erwege / deſtoweni - ger ſteht es in meiner Wahl / zu zweifeln / daß die Vergebung der Suͤnden / welche wir durch JE - ſum Chriſtum haben / nicht ſolte von denen Suͤn - den zu verſtehen ſeyn / welche bereits begangen / und die ihre unſelige Wirckung in der Seelen ausgelaſ - ſen. Wo alſo in denen vorangefuͤhrten Oertern das Wort〈…〉〈…〉 gebraucht wird / da deutet es allerdings eine Abſchaffung und Tilgung der Suͤnden an. J. C. Dippel widerſpricht damit nicht der Evangeliſchen Warheit (Verthaͤdigung veræ demonſtr. Evang. p. 177.) Dafernes aber heiſſen ſoll: Chriſtus ſetzet uns in den Stand / daß wir kuͤnftig nicht mehr ſuͤndigen / (dahin wol freylich die Dippelſche Gedancken gehen / ob er ſie gleich nicht ſo deutlich ausgedruckt /) ſo ſage ich offenbar / daß ſolches unter denen vorangefuͤhrten Spruͤchen unmoͤglich koͤnne verſtanden werden. JEſus und ſeine Apoſtel haͤtten gantz anders reden muͤſſen / wenn ſie den Begriff der Welt hatten beybringen wollen. Einem die Suͤnde vergeben / und einem das Vermoͤgen ſchencken nicht mehr zu ſündigen ſind zwey Redens-Arten / die zwey weit von einander unterſchiedene Begriffe in der Seelen zeugen. Merck hie den Grund / mein Leſer / warum der boßhafte Mann die Evangeliſche Lehrer Suͤnden-Evange - liſten nennet / die einen ſolchen Chriſtum predi -gen /113gen / der vielmehr ein Teufel und Verſucher zum Argen den Gemuͤhtern werden muß / als eine Urſache der Seligkeit. (vera demonſtr. Ev. p. 112.) Sie haben eben ſo viel geſuͤndiget / als derjenige / welcher / da jemand zu ihm ſagt: er wol - le ihm ſeine Schuld erlaſſen / nicht hat rahten koͤn - nen / daß es ſo viel heiſſe: Er wolle ihn in den Stand ſetzen / daß er kuͤnftig keine Schulden mehr mache.

XLVII. Ob nicht dieſer goͤttliche Raht - ſchluß in Chriſto JEſu ſolcherge - ſtalt ausgefuͤhret / daß Er die Suͤn - den aller Menſchen auf ſich nehmen und derſelben ſchmertzliche Wir - ckung an ſeiner Seelen ſowohl / als an dem Leibe in allerley Marter und dem ſchmaͤhligen Creutzes - Tod fuͤhlen und empfinden muͤſſen?

Erlaͤuterung.

Was wir in der gegenwaͤrtigen und etlichen der folgenden Fragen von Chriſto und dem Zweck ſeiner Zukunfft auf Erden angefuͤhret / wird uns denjenigen Begrif / welcher die Moͤglichkeit zeiget / wie GOtt kan Suͤnde vergeben und doch ſein Mißgefallen an derſelben offenbaren / (quæſt. 44.) Hkund114kund machen. Jndem aber das Wiſſen aus bloſſer Vernunft hie gaͤntzlich aufhoͤret; (Erlaͤut - quæſt. 41.) ſo muß man / um das wahre Erkaͤnnt - nuͤß davon zu erlangen / ſich lediglich an die Zeug - nuͤſſe der Schrift halten. Aus derſelben hat der um die Evangeliſche Kirche wollverdiente Herr Paſtor Neumeiſter die Warheit / daß JEſus Chriſtus fuͤr uns und unſere Suͤnden genug ge - than / ſolchergeſtallt bewiefen / daß tauſend Dip - pels ſolches uͤbern Hauffen zu werffen / nicht ver - moͤgend (vide Neumeiſters feſtgegruͤndter Be - weiß ꝛc. p. 1-81.) Es hat zwar J. C. Dippel ſich eine weitlaͤuftige Muͤhe gemacht / die Lehre / ſo Eſaias in dem 53ten Capitel von des Meſſiæ Ley - den und deſſen Urſachen vortraͤgt / weil ihm ſol - che ins Angeſicht widerſpricht / nach ſeinem Be - griff zu drehen: er bildet ſich dabey ein / er ha - be Luchſen-Augen und die Orthodoxen waͤren lauter Nacht-Eulen. (Verthaͤd. veræ demonſtr. E - vang. p. 142.) er hat aber wohl zu pruͤfen / ob das / was er in dem Eſaia zu finden meynet / nicht bloß in ſeinem eigenen Gehirne ſey. Wie oft bilden ſich Menſchen ein / daß ſie das / was lediglich in ih - rer Phantaſie gegruͤndet / auſſer ſich ſehen. Man ſiehet es offt genug an denen / die am Gehirn verwundet oder im hitzigen Fieber liegen. Jch bin der Meynung / daß die H. Scribenten nicht nur ehrliche Leute geweſen / ſondern auch aus GOttes beſondern Trieb geſchrieben. Jch glau - be / daß die Begriffe ſich nach ihren Reden / nicht a -ber115ber ihre Reden nach unſerm Begriff ſich richten muͤſſen. Jch bleibe dabey / daß man ihren Vor - trag in der eigentlichſten Bedeutung / die ſolcher ley - den kan / nehmen muͤſſe. (ſiehe unſere Vorrede p. 9. & 10.) Wenn alſo Eſaias ſagt: Er iſt um unſerer Miſſethat willen verwundet und um unſerer Suͤnde willen zuſchlagen / die Straffe liegt auf ihn / auf daß wir Frieden haͤtten und durch ſeine Wunden ſind wir geheilet / c. LIII. 5. 6. So kan ich nach natuͤrlicher Bedeutung der Woͤrter mir keinen andern Begriff daraus machen / als daß Chriſtus die Wunden / Schlaͤge und Straffen gefuͤhlt / welche auf Suͤnden / die wir begangen / folgen muͤſſen. Wenn Johannes ſpricht: Siehe das iſt Gottes Lamm / welches der Welt Suͤnde traͤgt. Joh. I. 29. So kan ich nicht anders dencken / als daß er mit dem Pro - pheten Eſaia einerley von Chriſto haben lehren wollen. Wenn Paulus lehrt; GOtt hat den / der von keiner Suͤnde gewuſt / fuͤr uns zur Suͤnde gemacht / auf daß wir wuͤrden in ihm die Gerechtigkeit / die fuͤr GOtt gilt. 2 Cor. V. 1. 2. 3. ſo zeuget ſich von ſelbſt in meiner Seelen die Meynung / daß Chriſto / der fuͤr ſich keine Suͤnde begangen / unſere Suͤnden ſeyn zu - gerechnet: denn wie iſt ein anderer Fall moͤglich / daß er fuͤr uns kan zur Suͤnde gemacht werden? (Erlaͤut. quæſt. 46.) Es mag alſo J. C. Dippel ſelbſt urtheilen / ob nicht ſein Zorn nicht allein ohnmaͤchtig / ſondern auch unvernuͤnfftig / wann erH 2die116die Lehrer der proteſtantiſchen Kirche vor Nacht - Eulen ſchilt. Es kan unmoͤglich ein Fehler / viel - weniger eine Boßheit ſeyn / wenn man eine Rede ſo verſteht / wie die Worte lauten. Daß aber / wenn man die Reden der Schrifft von Chriſto als Mittlern ſo nimmt / wie in dem vorhergehen - den geſchehen / nichts ungereimtes und wider - ſprechendes heraus komme / ſolches wird der Ver - band der gegenwaͤrtigen Fragen hoffentlich zur Gnuͤge zu erkennen geben.

XLVIII. Ob nicht ſolchemnach die Leyden JEſu / welche ſich in einem ſchmaͤh - ligen Creutzes-Tod geendiget / als eine Wirckung der goͤttl. Straf - Gerechtigkeit anzuſehen / darin GOtt bey dem Fuͤrſatz / Gnade zu beweiſen / ſein Mißgefallen an der Suͤnde oͤffentlich hat wollen kund machen?

Erlaͤuterung.

Auch die in dieſer Frage enthaltene War - heit glaube ich nach der Schrifft. Dieſelbe lehret: Chriſtus ſey um unſerer Suͤnde willen dahin gegeben. Rom. IV. 25 Er habe fuͤr unſere Suͤn - de gelitten / der Gerechte fuͤr die Ungerechte. 1 Petr. 1171 Petr. III. 8. Er ſey fuͤr uns geſtorben / da wir noch Suͤnder waren. Rom. V. 8. Er ſey fuͤr unſere Suͤnde geſtorben nach der Schrift. 1 Cor. XV. 3. Er habe von Gottes Gnade fuͤr alle den Tod geſchmeckt. Hebr. II. 9. Dieſe Spruͤche laſſen uns nicht zweifeln / daß die Ley - den JEſu als eine Folge unſerer Suͤnden anzuneh - men: die Natur der Sachen leydet es auch nicht anders. Die Suͤnde iſt die alleinige Urſache der innerlichen Traurigkeit und Seelen-Schmertzen. (Erlaͤut. quæſt. 21.) Wo dieſe empfunden wird / da muß die erſtere gegenwaͤrtig ſeyn / weil Wir - ckung und Urſache unmoͤglich koͤnnen geſchieden werden. Da nun Chriſtus ſelbſt keine Suͤnde gethan; ſo muͤſſen ſeine Leiden / in welchen er auch die tieffſte Seelen-Traurigkeit geſchmecket / nach dem Zeugnuͤs der Schrifft eine Folge un - ſerer Suͤnden ſeyn. Als Suͤnder konte er nicht leiden; ſo hat er als ein Suͤnden-Buͤſſer / als ein Buͤrge / als ein Mittler zwiſchen GOtt und den Menſchen leiden muͤſſen. Dieſe Leiden und der Tod JEſu Chriſti koͤnnen nach dem Dippelſchen Syſte - mate nicht den geringſten Nutzen haben. Sie koͤnnen die conſilia medica: Liebe GOtt uͤber al - les und deinen Nechſten als dich ſelbſt / weder begreiflicher machen / noch den Bewegungs - Grund / warum der Patient ſolches ſoll annehmen / ſtaͤrcken. Darum wird es J. C. Dippel nicht we - nig ſauer / ſolche mit ſeinem Syſtemate zu verein - baren. Er ergreifft alſo das allgemeine Mittel /H 3eine118eine Sache zu behaupten / die ſich nicht behaupten laͤſt. Er verſteckt ſich in allerley dunckeln Woͤrtern und verwirret dem Leſer die Begriffe / weñ er ſchreibt: Chriſtus habe die angenommene und zum Erſtling oder Hertzog der Seligkeit erwaͤhlte Menſchheit durch alles Leyden und den ſchmaͤhligſten Tod hindurch zur goͤttli - chen Herrlichkeit gefuͤhret / um als Durchbrecher den Grund und Eckſtein zu legen / auf welchen und in welchem alle zur Seeligkeit muͤſſen erbauet und ein Tempel des hoͤchſten Gutes oder GOttes werden. vera demon - ſtrat. theol. p. 102. und wiederum: Chriſtus ſelbſt hat nichts verdienet noch verdienen koͤnnen / weder vor ſich ſelbſt oder ſeine eigene Menſchheit / noch vor an - dere: ſondern hat durch Gehorſam und Leyden / durch abſtinentz und Verleugnung des Jrrdiſchen ſeine ange - nommene Menſchheit in das goͤttl. Weſen verſetzet / nicht als durch Verdienſte / ſondern als durch unumgaͤngliche Medieinen und Conditiones die verlohrne Seligkeit wiederum die Creatur einzufuͤhren. l. c. p. 105. Jch bekenne ger - ne / daß meine Seele nicht geſchickt iſt / unter dieſen Woͤrtern etwas kluges zu gedencken: ſo habe ich auch nicht ſo viel Leichtglaͤubigkeit / daß ich meine Vernunft unter dem Gehorſam Dippels kan gefan - gen nehmen / und ihm Dinge zutrauen / die nur in ſeinem Gehirn die exiſtentz haben.

XLIX. Ob nicht die eigentliche und von GOtt abgezielte Wirckung der Ley - den und des Todes JEſu Chriſti dieſe ſeyn ſoll / daß er dem Suͤnder /wenn119wenn dieſer ſolches in der vorge - ſchriebenen Ordnung begehret / koͤn - ne ſeine Suͤnden erlaſſen / ſein Ge - wiſſen von denen Flecken derſelben reinigen / und ihn in ſeinem Gericht anſehen / als wenn er nicht geſuͤn - diget haͤtte?

Erlaͤuterung.

Daß der beruͤhmte Schul-Lehrer Thomas die Meynung gehabt / GOtt koͤnne ohne Zwiſchen - Kunfft eines Mittlers die Suͤnde vergeben; ſol - ches iſt aus nachfolgendem Zeugnuͤß zu erkennen: Deus poteſt ſine ſatisfactione remittere peccata, cum non habeat aliquem ſuperlorem. P. III. quæſt. 46. art. 3. Es iſt auch bekannt / daß etliche der Remonſtran - ten dieſer Meynung beypflichten. Walchs. Einleit. in die Religions-Streitigkeit. c. IV. §. IV. p. 451. Wer aber den Zuſammenhang der vorhergehen - den Grund-Fragen eingeſehen / wird leicht beurtheilen / daß der Grund derſelben viel zu ſchwach ſey. GOtt wird von ſeinen eigenen Vol - lenkommenheiten zu ſeinen Raht-Schluͤſſen und Wercken bewegt. Darum muß er allezeit ſolche Wege erwaͤhlen / darin dieſelbe am meiſten kenn - bar werden. Solches erfordert der Gluͤcksſtand ſeiner vernuͤnftigen Geſchoͤpffe / welcher um de - ſto mehr zunimmt / je mehr GOtt ihnen bekanntH 4oder120oder welches einerley / fuͤr ihnen verherrliget wird. Wir haben erwieſen / daß GOtt das moraliſche Gute ernſtlich wolle: (quæſt. 16.) und deswe - gen ſein Mißgefallen an dem moraliſchen Boͤſen muͤſſe offenbaren. (quæſt. 21.) Folglich die Suͤnde ohne Zwiſchenkunft eines ſolchen Begriffs / der bey der Gnade den goͤttlichen Ernſt kund macht / nicht koͤnne vergeben (Erl. quæſt. 38.) da nun Gott ein Mittel gefunden / ſein Mißgefallen an der gan - tzen Welt Suͤnde in Chriſto kund zu machen / (quæſt. 48.) ſo iſt es fuͤr ſich klar / ſolches muͤſſe darum geſchehen ſeyn / daß es an dem Suͤnder ſelbſt nicht geſchehen duͤrffe. Wie ſolchemnach ohne Zwi - ſchenkunfft eines Mitlers die Suͤnde nicht kan vergeben werden; ſo wird der Mittler jetzo als die Urſache der Vergebung der Suͤnden vorge - ſtellt: (Erlaͤut. quæſt. 46.) Folglich wird der Suͤn - der gewiß gemacht / daß er kan mit Freudigkeit hinzutreten zu dem Gnaden-Stuhl / Barmher - tzigkeit empfahen und Gnade finden / wenn ihm Huͤlffe noht iſt. Hebr. IV. 16. So lehren wir in un - ſern Glaubens-Buͤchern / davon ich nachfolgendes ſchoͤnes Zeugnuͤß nur will anfuͤhren. Evangelium cogit uti Chriſto in juſtificatione, docet, quod per - ipſum habeamus acceſſum ad Deum per fidem, do - cet, quod ipſum mediatorem & propitiatorem debea - mus opponere iræ Dei, docet fide in Chriſtum ac - cipi remiſſionem peccatorum & reconciliationem & vinci errores peccati & mortis. Apol. A. C. c. III. p. 121. edit. Rech.

L. 121

L. Ob nicht ſolchemnach der Hey - land der Welt mit Recht den Na - men eines Mittlers verdiene / in dem in ihm die Moͤglichkeit kund geworden / wie GOtt koͤnne Gna - de beweiſen / das iſt: die Suͤnde ver - geben / und doch ein Feind der Suͤn - den bleiben / das iſt: ſein Mißgefal - len an der Suͤnde offenbahren und kund machen?

Erlaͤuterung.

Der Begriff von der Gerechtigkeit kan bey dem von der Gnade nicht ohne Zwiſchenkunfft ei - nes dritten / welcher die Moͤglichkeit zeiget / erhal - ten werdẽ (quæſt. 44.) dieſe Moͤglichkeit iſt in Chriſto JEſu kund geworden (quæſt. 47, 48 & 49.) conf: Rom. VIII. 3. Alſo iſt es klar / wie Chriſtns als ein Mittler zwiſchen der Gerechtigkeit und Gna - de GOttes anzuſehen / nicht / als wenn er ſolche mit einander verſoͤhnet / wie der unartige J. C. Dippel dieſe ungereimte Meynung der Evangel. Kirchen wider alle Warheit aufbuͤrden will: (vera dem. theol. p. 229, ſondern weil durch Vollendung ſei - nes Mittler-Amts die Begriffe von denenſelben in voͤllige Klarheit geſetzet. Sein Mittler-Amt a -ber122ber beziehet ſich auf eine Feindſchafft zwiſchen GOtt und dem Menſchen / ſo durch des letzten Ubertretung entſtanden. Die Natur eines Mit - ler-Amts beſteht uͤberhaupt darin / daß zwiſchen zween Partheyen eine unter ihnen zu verhandelnde Sache alſo abgethan werde / daß ſie von beyden Seiten vergnuͤgt und zufrieden ſeyn moͤgen: inſon - derheit aber / daß der Friede unter beyden wieder - um hergeſtellet werde / wenn ſie in Mißverſtaͤnd - nuͤß und Uneinigkeit gerahten. Die Schrifft lehret / daß es mit dem Mittler-Amt JEſu Chri - ſti dieſe Beſchaffenheit habe: Der Menſch ſey durch Ubertretung und Suͤnde ein Feind Gottes geworden Rom. V. 10. ein Kind des Zorns Eph. II. 3. koͤnne fuͤr GOtt nicht bleiben. Pſalm. V. 5. muͤſſe durch Furcht des Todes ein Knecht in ſei - nem gantzen Leben ſeyn. Hebr. II. 14. Wo dieſer unſelige Zuſtand nicht uͤber ihm bleiben ſoll / ſo muͤſſe er GOtt wieder verſoͤhnet werden / und dieß Verſoͤhnungs-Werck ſey durch Chriſtum als Mittler zwiſchen GOtt und dem Menſchen vol - lendet. Man ſehe nachfolgende Oerter der Schrift und erwege mit Liebe zur Warheit / ob ſich ein an - der Sinn heraus bringen laſſe. Rom. V. 10, 11. VIII. 7. 2Cor. V. 18, 19. Eph. II. 16. Col. I. 20, 22.

LI. Ob nicht dieſer Begriff von dem Mittler-Amte JEſu Chriſti dasEr -123Erkaͤñtnis von den goͤttlichen Vol - lenkommenheiten in ſoweit ver - groͤſſere und verherrliche / daß man nebſt der Gerechtigkeit auch von der Gnade und Erbarmung Got - tes einen deutlichen Begriff kan haben?

Erlaͤuterung.

Eine Lebre / die uns Gelegenheit gibt / anſtaͤn - dig von GOtt und ſeinen Vollenkommenheiten zu gedencken / hat ſchon um deß willen einen be - ſondern Wehrt. Dieß thut aber die Evangeliſche Lehre von dem Mittler-Amt JEſu Chriſti. GOtt offenbaret darin eine Eigenſchafft / von welcher die Vernunfft aus eigener Krafft nichts wiſſen kan / (quæſt. 38.) er eroͤfnet aber damit einen neuen Schau-Platz ſeiner Vollenkommenheiten. Die Macht / Weißheit / Liebe / Gerechtigkeit / War - heit / Freundlichkeit und andere goͤttliche Eigen - ſchafften geben ſich hier auf eine Art zu erkennen / die uͤber alle Vernunft geht. Es werden unzeh - lige ſchoͤne Warheiten bey der Gelegenheit kund / welche in die Empfindungen des Hertzens beydes zum Troſt als auch zu einem heiligen Wandel den kraͤftigſten Einfluß haben. Es iſt mehr goͤttli - cher Reichthum darin / als J. C. Dippel bißhieher zu begreiffen geſchickt iſt. GOtt kan ihn aberleicht124leicht in den Zuſtand gerahten laſſen / daß er es zu begreiffen wuͤnſchet

LII. Ob nicht der Glaube das Mittel / ſo GOtt von denen fordert / welche des Nutzens von dem Mittler-Amt JEſu Chriſti wollen theilhaftig werden und auch die Bedingung unter welcher er uns deſſelben will theilhaftig machen?

Erlaͤuterung.

Die Sache iſt klar aus GOttes Wort / daß auch J. C. Dippel nicht Umgang nehmen koͤnnen / wenigſtens das Wort Glaube beyzubehalten. Wir werden aber in dem folgenden ſehen / daß er demſelben eine ſeltſame / unverſtaͤndliche und wider - ſinnige Bedeutung beylege.

LIII. Ob nicht zu dieſem Glauben / ſo wohl der Natur der Sachen als auch dem Bericht der Schrift nach zuerſt die Begriffe / welche die Be - ſchaffenheit des Mittler-Amts JEſu Chriſti bekannt machen /denn125denn eine Uberzeugung von derſel - ben Warheit und endlich die Em - pfindung des Hertzens / darin wir deſſen Kraft und Nutzen mercken / oder wie ſonſt gelehret wird / Er - kaͤnntnuͤs / Beyfall und Zuverſicht erfordert werde?

Erlaͤuterung.

Jn dem ordentlichen Gebrauch der Woͤrter heiſt Glauben die Begriffe / ſo wir uns ſelbſt von Dingen machen oder welche uns von andern bey - gebracht werden / vor wahr halten / und in ſo - fern iſt Erkaͤnntnuͤß und Beyfall ſchon in der Na - tur des Glaubens gegruͤndet. Es ſcheinet ſol - chemnach / als wenn zu dem ſeligmachenden Glauben nichts mehr erfordert werde / als ein zu - laͤngliches und mit Uberfuͤhrung verknuͤpftes Er - kaͤnntnuͤß von Chriſto als Mittlern / wie ſolches in der Schrifft gelehret und mitgetheilet wird. Die Papiſten wollen dem Glauben nicht mehr beylegen noch von dem zuverſichtlichen Vertrauen etwas wiſſen. Gerh. L. XIX. §. 70. Jndem aber dasjenige / was uns von dem Mittler-Amt JEſu Chriſti in der Schrift kund gemacht wird / ihn als den Stifter des Friedens mit GOtt und die Urſache der Seligkeit vorſtellet; ſo iſt es leicht einzuſehen / daß der Glaube nicht dadurch ſeligmachend wird /daß126daß wir Chriſtum als einen Mittler erkennen; wir muͤſſen ihn auch davor annehmen / und dieß kan nicht anders als mit Empfindungen des Hertzens oder einem zuverſichtlichen Vertrauen geſchehen. Die Wirckung des Mittler-Amts JEſu Chriſti ſind wuͤrckliche Guͤther der See - len / welche nicht bloß mit dem Verſtande begrif - fen / ſondern auch in dem Hertzen empfunden und geſchmecket werden muͤſſen. Chriſtus muß durch den Glauben wohnen in unſern Hertzen Eph. III, 17.

LIV. Ob ſolchemnach der ſeeligma - chende Glaube / wenn deſſen Ge - ſtalt in der Seelen angeſehen wird / etwas andersſey / als eine lebendige Empfindung von der Kraft des Mittler-Amts JEſu Chriſti an unſerer Seelen?

Erlaͤuterung.

Daß die Seeligkeit nicht bloß in Begriffen / ſondern auch in Empfindungen des Geiſtes beſtehe / iſt fuͤr ſich eine ausgemachte Sache: ſie macht al - le Vermoͤglichkeiten nach dem Grad ihrer Faͤhig - keit vollkommen. Die Mittel / welche uns da - hin bringen / muͤſſen nohtwendig mit derſelben eine Aehnlichkeit haben und uns / wenn wir inden127dem Beſitz derſelben ſind / zum wenigſten das ge - nieſſen laſſen / was die Uberzeugung von einem gewiß zu erlangenden Gut die Seele empfinden laͤſt. Die Krafft des Mittlers-Amts JEſu beſteht darin / daß wir Frieden mit GOtt / Verſicherung von ſeiner Gnade / Vergebung der Suͤnden / und Hoffnung des ewigen Lebens haben. Sobald die - ſe Guͤhter der Seelen bekannt gemacht und von ihr als noͤhtig / nuͤtzlich und heylſam erkannt wer - den / muß ſich auch eine Empfindung in derſel - ben zeugen / welche die rechte Vollenkommenheit des ſeligmachenden Glaubens ausmacht: ich Glaube heiſt alſo in dieſem Verſtande: ich em - pfinde an meinem mit Suͤnden und Ubertretung beſchwerten Gewiſſen die Krafft des Mittler - Amts JEſu in der Gnade GOttes / in der Ver - gebung der Suͤnden / in der beſiegten Furcht fuͤr dem zukuͤnftigen Gericht / in der Hofnung der ewigen Seeligkeit. Auf ſolche Art macht uns der Glaube hie in Hoffnung ſelig. Denn eben dieſe vorangefuͤhrte Gattungen der Empfin - dungen ſind auſſer Zweiffel die angenehmſten und folglich die koͤſtlichſten / ſo bey unſerm gegenwaͤr - tigen Zuſtand in der Seelen entſtehen koͤnnen.

Ob dieſer Begriff vom Glauben ein unge - gruͤndeter Wahn und abſurde Zuverſicht auf das Verdienſt Chriſti / welche die Unvernunft gau - ckelt / wie der tollkuͤhne Joh. Conr. Dippel in den Tag hinein ſchreibt / ſolches wird der Warheit liebende Leſer ſelbſt beurtheilen. Jch glaube / mankoͤnte128koͤnte es mit beſſerm Recht eine Gauckeley nen - nen / wenn er dieſe wunderliche Beſchreibung vom Glauben macht / daß er eine Reſignation un - ſers Willens / unſerer Luͤſte und naͤrriſchen Ver - nunft an ſeine Fuͤhrung oder eine Ubergebung und Uberlaſſung unſers Geiſtes an ſeine Gnadenreiche Bewirckung und ein zuverſichtliches Ausharren unter dieſer Bewirckung in dieſem Wege / in welchem wir das uns annoch unſichtbare und noch nicht voͤllig gefundene hoͤchſte Gut uns gleich - ſam preſent machen / getroſt ſeyn in dieſem dun - ckeln und ſchmahlen Gang und ſo endlich das En - de unſers Glaubens nemlich der Seelen Seligkeit davon tragen. l. c. p. 106. Das heiſt recht gauckeln / wenn man Woͤrter und Redens-Arten zuſam - men packt / die kein Menſch zuſammen reimen kan / die Dinge ſo beſchreibt / daß ſie gar unbegreiflich werden und die Woͤrter alſo verdreht / daß ſie kein Menſch verſtehen kan. Wer ſieht nicht / daß in dieſer Beſchreibung die Begriffe der Verleug - nung / der geiſtlichen Sanftmuht / der Gedult / der Beſtaͤndigkeit / der Hofnung und dergleichen in einander geworffen? Man erkennet daraus / daß J. C. Dippels Begierde einen neuen Reformatorem abzugeben mehr Grund in dem Willen als in dem Verſtande haben muͤſſe.

LV. Ob nicht die Kraft des Mittler - Amts JEſu Chriſti deſto nach -druͤck -129druͤcklicher in der Seelen muͤſſe em - pfunden werden; jemehr dieſelbe von ihrem geiſtlichen Verderben uͤberfuͤhrt und ſich an dem Gewiſſen von der Suͤnde gedruͤcket fuͤhlt?

Erlaͤuterung.

Die Suͤnde mit ihren unſeligen Wirckun - gen verurſacht den Ubelſtand des Geiſtes und ſetzt ihn inſonderheit wegen der Gewogenheit Got - tes in Furcht und Bekuͤmmerniß. (quæſt. 21.) ſo bald nun dieſelbe erkannt und in ihren Greueln eingeſehen wird / muß auch ihre Wirckung in der Seelen gefuͤhlet und gemercket werden / und zwar mehr und weniger / nach dem die Suͤnden groß oder klein und die Einſicht ſcharf oder ſchwach iſt. Dieſes Erkaͤnntnuͤß der Suͤnden und dieß Gefuͤhl von ihrer Schaͤdlichkeit laͤſſet uns den Wehrt und Nutzen des Mittler-Amts JEſu Chriſti erkennen und deſſen Kraft empfinden. Der Begriff / daß wir von ſeiner Fuͤlle Gnad um Gnade haben / nim̃t dem Begriff / daß wir mit unſern Suͤnden Zorn und Ungnade verdienen / alle Kraft und Wir - ckung: wo die Suͤnde maͤchtig worden / (ſie wird aber maͤchtig / wenn man ihre betruͤbte folgen im Gewiſſen fuͤhlet) da wird doch die Gnade viel maͤchtiger. Rom. V. 20. Das iſt / da wird die Frucht des Mittler-Amts JEſu noch viel kraͤf - tiger empfunden. Jn dem nun das ſchwacheJdem130dem ſtaͤrckern weichen muß / ſo behaͤlt die Empfin - dung von der Gnade den Sieg in der Seelen. Hieraus iſt offenbar / daß zu dem Glauben vieles erfordert werde und er / wie der Apoſtel ſpricht / nicht jedermanns Ding ſey. 2 Theſſ. III. 2. Es hat viel zu ſagen / ehe der Menſch dahin gebracht wird / daß er den ſuͤndlichen und Gottmißgefaͤl - ligen Zuſtand ſeiner Seelen einſiehet und das goͤttl. Gericht uͤber dieſelben in dem Gewiſſen fuͤh - let. So lang aber dies nicht geſchieht / kan er nicht glauben. Das Vorurtheil von eigener Ge - rechtigkeit ſtand dem Heyland in aͤuſerlicher Ver - waltung ſeines Lehr-Amts am meiſten im Wege. Die Phariſeer und Schriftgelehrten wolten eben deswegen / weil ſie davon angenom̃en / ihn nicht als den Helffer der Seelen annehmen. Daß die Zoͤllner und Suͤnder ſich inſonderheit zu ihm nahen / hat eben darin ſeinen Grund / daß ſie ihr Elend leichter fuͤhlen / und um deſto ehe geſchickt waren / den Nutzen des Evangelii an Muͤhſeligen und Belade - nen zu erkennen. Nach dem Ausſpruch des Erloͤſers beduͤrffen die Starcken des Artztes nicht ſon - dern die Krancken. Matth. IX. 12.

LVI. Ob es moͤglich ſey / die widrige Empfindungen unſers Geiſtes / welche aus Ubertretung und Suͤn - de den Urſprung nehmen auf eineande -131andere Art / als durch die Empfin - dung von der Kraft des Mittler - Amts JEſu Chriſti oder den Glau - ben an denſelben zu beſiegen und ob nicht dieſelbe dadurch wuͤrcklich be - ſieget und ausgeloͤſchet werden?

Erlaͤuterung.

Unruhe im Gewiſſen / Zweiffel an der Gewo - genheit Gottes / Furcht fuͤr ſeinem Gericht / Angſt / Mißvergnuͤgen und Traurigkeit ſind die gewiſ - ſe folgen der Suͤnden. Sie hangen in unzertrenn - licher Verknuͤpfung zuſammen. So lang die Suͤnde im Gewiſſen bleibt / muß es auch die un - ſelige Wirckungen fuͤhlen. Jn dem Zuſtande kan dem Menſchen nicht anders geholffen wer - den / als durch eine Uberzeugung / es ſey unſere Suͤnde alſo fuͤr GOtt bedecket / daß ſeine Ge - rechtigkeit dieſelbe nicht mehr an uns finde und folglich auch nicht ſtraffen werde. Dieſe Uber - zeugung aber gibt uns das Mitler-Amt JEſu Chriſti. Als Mittler laͤſt er ihm die Suͤnde zurech - nen / 2 Cor. V. 21. traͤgt dieſelbe Joh. I. 29. leidet dafuͤr 1 Petr. III. 18. nimmt auf ſolche Art dieſel - ben weg 1 Joh. III. 5. Und macht eine gantze Ver - aͤnderung in unſern Begriffen und Empfindun - gen / Rom. VIII. 1. an ſtatt der Anklage des Ge - wiſſens werden wir uͤberzeugt / es ſey keine Ver - dammung uͤber uns / und es koͤnne uns niemandJ 2ver -132verdammen. v. 34. Auſſer dieſen wird kein an - deres Mittel moͤglich ſeyn / die Schmertzen der Suͤnden wegzunehmen. J. C. Dippel, da er wohl merckt / daß durch den Begriff / welchen er von Chriſto denen Menſchen bey zubringen ſucht / nie - mand in Anſehung des zukuͤnftigen in eine wah - re Beruhigung koͤnne geſetzt werden / will lieber / daß man ſich auf Gnad und Ungnad ergeben / als auf die Leyden JEſu Chriſti / die das vollguͤltige Opfer fuͤr unſere Suͤnde / ſein Vertrauen ſetzen ſoll. Er achtets nicht / daß Leute ohne Troſt und Hoff - nung in Verzweifflung und Unglauben dahin ſterben / wenn er nur den Ruhm haben kan / ein neues Syſtema erſonnen und die alte Religion - bern Hauffen geworffen zu haben. Doch ich bin der Hoffnung / daß keiner / der ſeiner Seelen Ruhſtand liebt / ſich durch Großprahlen und Windmachen wird dergeſtallt verfuͤhren laſſen / daß er in der Hoͤllen-Gewalt begehrt zu bleiben / wenn er Gelegenheit ſiehet heraus zu kommen. Wer uns die Huͤlffe nimmt / ſo GOtt wider die Suͤnde gegeben / der laͤſt uns in den Stricken des Todes / in dem Gefuͤhl des goͤttlichen Zorns und in der Furcht / ewiglich verdammt zu werden. Es waͤre eine groſſe Thorheit / wenn man ſich uͤber - reden ließ / ein Loͤſegeld / ſo man in Haͤnden hat / um ſeinen Schuldherrn zu befriedigen / wegzuwerffen und es dagegen wollte darauf ankommen laſſen / ob er ohne daſſelbe uns die Schuld wolle erlaſſen oder ſein Recht wider uns gebrauchen.

LVII. 133

LVII. Ob nicht alle Empfindungen / welche den innerlichen Gluͤckſtand des Geiſtes ausmachen / als Wir - ckungen der Kraft des Mittler - Amts JEſu Chriſti anzuſeben / welche auſſer demſelben in der See - len nicht ſeyn koͤnten noch ſeyn wuͤr - den: mit dem Glauben aber / in ſo - fern ſolcher die Kraft des Mittler - Amts JEſu empfindet / ſich von ſelbſt in derſelben zeugen?

Erlaͤuterung.

Die Empfindungen / welche entſtehen aus U - berfuͤhrung von der liebreichen Zuneigung Gottes / von ſeiner heiligen Regierung und der darin ge - gruͤndeten weiſen Beſtimmung unſerer Lebens-Um - ſtaͤnde / von der Erhoͤrung unſers Gebets / von dem Nutzen unſers Creutzes / von dem Sieg in man - cherley Verſuchungen / von der Kraft denen Rei - tzungen zum boͤſen zu widerſtehen / von der Si - cherheit fuͤr dem letzten Gericht / von der zukuͤnfti - gen Seligkeit / machen unſtreitig den Gluͤckſtand unſers Geiſtes aus. Ohne dieſelbe iſt er in ei - nem unſeeligen Zuſtande. Die Seele aber kan von dieſem allen keine Uberfuͤhrung haben / ſo langJ 3ſie134ſie in der Feindſchafft Gottes ſteht oder das jeni - ge auf ſich hat / was GOtt haſſen muß. Danun die Feindſchafft GOttes mit ihrer Urſache durch das Mittler-Amt des Erloͤſers hinweggethan; ſo folget / daß vorangefuͤhrte Empfindungen lediglich aus demſelben entſpringen und von niemand koͤnnen geſchmecket werden / als der deſſen durch den Glauben theilhaftig geworden. Diß iſt zweifelsfrey der geiſtliche Seegen in himmliſchen Guͤtern durch Chriſtum Eph. I. 3. und der uner - forſchliche Reichthum Chriſti / welchen Paulus unter denen Heyden verkuͤndiget. Eph. III. 8. Der H. Auguſtinushat hiemit einerley Gedancken gehabt: tempus lætitiæ, quietis & felicitatis non venit de meritis noſtris, ſed de gratia ſalvatoris, aliud me - remur, aliud ſperamus, meremur mala, speramus bona. De tempore Serm. 151.

LVIII. Ob nicht dem Heyland der Welt / in ſofern er als Mittler zwiſchen GOtt und den Menſchen die Seele von ihrem Ubelſtand und geiſtlichen Kranckheit befreyet / der Name eines Artzten mit recht koͤnne beygeleget werden.

Erlaͤuterung.

Die eigentliche Verrichtung des Artzten be -ſteht135ſteht darin / daß er dem Ubelſtand des Leibes durch heilſamen Raht und nuͤtzliche Medicamenta zu Huͤlf - fe komme / und denſelben / ſo viel an ihm / aufhebe. Wann ſolchemnach dem Heyland der Name ei - nes geiſtl. Artztens ſoll zukommen / ſo muß gewie - ſen werden / daß er uns an der Seelen geholffen und deſſen Kranckheit hinweggenommen. Die Kranckheit / ſo man ſich in der menſchlichen Seel vorſtellen kan / iſt ein Ubelſtand / welcher aus irren und ſuͤndigen den Urſprung nimmt / und ſich ſo - wohl in Begriffen als Empfindungen aͤuſſert. Die Seele iſt alsdenn kranck / wenn ſie in Jrr - thuͤmern und Aberglauben ſteckt / von dem Wege der Gerechtigkeit abweicht / von Laſtern ſich beherr - ſchen laͤſt / folglich Unruh / Gewiſſens-Angſt / Trau - rigkeit / Furcht und Mißvergnuͤgen empfindet. Die Verrichtungen des geiſtl. Artzten muͤſſen alſo darin beſtehen / daß die Schmertzen der Seelen mit ihrer Urſache weggenommen / und die geiſtl. Ge - ſundheit und Staͤrcke wieder hergeſtellet werde. Dieſes eben thut unſer Heyland und Mittler. Um die Suͤnde von unſerm Gewiſſen zu nehmen / laͤſt er ſich dieſelbe zurechnen und uns von denen trau - rigen Wirckungen derſelben zu befreyen / traͤgt er unſere Kranckheit und ladet unſere Schmertzen auf ſich. Eſ. LIII. 5. Die goͤttliche Gerechtigkeit konte kein andere Mittel / als dabey ſie offenbar wuͤrde / annehmen. (quæſt. 49.) Darum muß er leyden / ſich Wunden ſchlagen laſſen / ſein Blut vergieſſen / und endlich am Creutz eines ſchmaͤhli -J 4gen136gen Todes ſterben. Deswegen ſagt die Schrift / daß ſein Blut die Suͤnde / als Urſache der geiſtli - chen Kranckheit wegnehme / 1 Joh. I. 7. und daß die Wunden / daraus ſolches gefloſſen / die rechte Medicin wider dieſelbe. 1 Petr. II. 24. Die Muͤh - ſelige und Beladene / welche der Heyland zu ſich ruft / koͤnnen keine andere ſeyn / als welche auf ſol - che Art an ihrer Seelen kranck ſind: und die Ver - heiſſung / daß ſie ſollen erquicket werden und Ru - he fuͤr ihre Seele finden / iſt dem Schmertz / ſo von begangenen Suͤnden verurſachet worden / ge - rade entgegen geſetzt. Bey dieſer Gelegenheit kan ich nicht Umgang nehmen / den Vortrag / in wel - chem J. C. Dippel die Lehre unſerer Kirchen von Chriſto als Seelen-Artzten ſuchet laͤcherlich zu ma - chen / und ſeinen davon gegebenen Begriff / kuͤrtz - lich zu pruͤfen. Er gibt vor / als wenn wir Chriſtum vor einen ſolchen Artzten anſehen / der imputative geſund mache und an unſerer Stat die Medicin einnehme. p. 36. & 104. Solches iſt aber im Grun - de falſch und irrig. Die Evangeliſche Kirche leh - ret / daß Chriſti Leyden und Tod uns von GOtt zur Gerechtigkeit zugerechnet: und wir dadurch nicht imputative, ſondern warhaftig an der Seelen geneſen. Durch die zugerechnete Gerechtigkeit JEſu Chriſti / wenn wir deſſen Kraft mit dem Glauben empfinden / wird unſere geiſtliche Kranck - heit / das iſt / aller Schmertz / welcher aus dem Ge - fuͤhl des goͤttlichen Mißgefallens an der Suͤnde den Urſprung hat / hinweggenommen: und dage -gen137gen die geiſtliche Geſundheit / d. i. alle ſelige Em - pfindungen / ſo aus dem Frieden mit GOtt / der Reinigkeit des Gewiſſens / der Hofnung des Zu - kuͤnftigen entſtehen / wiederum hergeſtellet. Alſo ſind die ſchmertzliche Empfindungen / welche aus irren und ſuͤndigen entſpringen / die geiſtl. Kranck - heit: angenehme Empfindungen aus einem gerei - nigten Gewiſſen / die geiſtl. Geſundheit: Chriſti Blut und Wunden / die Medicin: und Chriſtus / der dieſe Artzney an ſeinem H. Leibe ſelbſt zuberei - tet und auch dieſelbe fuͤrgeſchrieben / der Seelen - Artzt. Jch mag nicht weitlaͤuftig ſeyn / ſonſt koͤn - te ich dieſen Begriff leichtlich weiter ausfuͤhren. Du biſt unterdeſſen / mein Leſer / durch das wenige / was geſagt iſt / ſchon auf die Spuren gebracht / daß du von ſelbſt beurtheilen kanſt / wie verwirrt und dunckel auch in dieſem Fall die Dippelſche Ge - dancken ſind. Es faͤllt zugleich hiemit dasjenige / was er in ſeiner 85ten / 86ten und 87ten Frage zum Nachtheil der Evangeliſchen Kirche anfuͤh - ret / von ſelbſt uͤbern Hauffen. Chriſtus macht die geiſtlich-Krancken eben ſo warhaftig geſund / als er denen leiblichen Krancken in ſeinem Wandel auf Erden geholffen. Alſo konte Matthæus c. VIII. 17. den Spruch Eſaiæ LIII. 4. mit Grund auf die Verrichtungen JEſu deuten / da er allerley Kran - cken geſund machte. Die Kranckheit des Leibes iſt eben ſowohl als die Kranckheit der Seelen eine Folge der Suͤnden / und da der Heyland dieſe auf ſich genommen / ſo konte er auch in beyden RahtJ 5ſchaf -138ſchaffen. Mir daucht aber / der Nebel / welcher um J. C. Dippels Geiſt lieget / hat denſelben ſolcherge - ſtalt verduͤſtert / daß er nicht einſehen koͤnnen / es ſey ein groſſer Unterſcheid / einen Krancken geſund machen / oder einen in den Stand ſetzen / daß er nicht mehr darf kranck werden. (Erlaͤut. quæſt. 46.) Das Erſtere iſt die Pflicht eines Artzten / das Letz - tere aber wird niemand von ihm / in ſofern er ein ſol - cher iſt / begehren. Laſt uns aber ſeine Gedancken / warum Chriſtus als ein Artzt anzuſehen ſey / auch mit wenigen pruͤfen. Joh. Conr. Dippel wil / daß Chriſtus darum ein Artzt heiſſe / weil er dem von dem Schoͤpffer zu der Creatur abgefallenen Geiſt conſilia medica gibt / welche die Lebens-Reguln oder deutl. zu reden / die Sitten-Lehre des Heilandes ſind: Er ſelbſt habe auch durch Gehorſam und Leyden / durch Abſtinentz und Verleugnug des Jrrdiſchen ſeine angenom - mene Menſchheit in das goͤttl. Weſen verſetzt / nicht als durch Verdienſte / ſondern als durch unumgaͤngliche Medicinen und Conditiones die verlohrne Seligkeit wiederum in die Creatur einzufuͤhren / wie ſein duͤſterer Diſcurs lautet. vera demonſtr. evang. p. 104. Wenn man dieſes in begreifliche Saͤtze bringen wil / ſo kommen dieſe beyden heraus: Chriſti Sitten-Lehre ſind conſilia medica, und Chriſti Gehorſam und Leyden ſind unumgaͤngliche Medicinen. Chriſti Sitten-Leh - ren beſteht nach Dippels eigenem Geſtaͤndnuͤs in denen beeden Haupt-Gebohten: Liebe GOtt uͤber alles / und deinen Nechſten als dich ſelbſt. Wenn dieſes ein mediciniſcher Raht fuͤr die geiſtl. Kranck -139Kranckheit ſeyn ſoll / ſo iſt dieß auch ein conſilium medicum fuͤr einen leiblich Krancken: er ſoll auf - ſtehen / ſeine Verrichtungen vornehmen / thun / was ihm befohlen / und einer vollenkommenen Geſund - heit genieſſen. Es wird nicht leichtlich jemand ſo kranck ſeyn / der nicht einen ſolchen Medicum wird hertzlich verlachen und glauben / es muͤſte ihm / mit Dippel zu reden / in den Kopff geregnet ha - ben. Was aber den Satz betrift / daß Chriſtus durch Gehorſam und Leiden als durch unumgaͤng - liche Medicinen die verlohrne Seligkeit ſoll wie - derum in die Creatur einfuͤhren / ſo iſt ſolcher / da J. C. Dippel es nicht nach dem Begriff unſer Kir - chen will verſtanden haben / ein Raͤtzel und ein leeres Geſchwaͤtz aus der Imagination. Soll es aber ſo viel heiſſen / daß Chriſtus in ſeinem E - xempel gewieſen / durch welchen Proceß der Menſch die Seligkeit ſoll wieder erlangen / ſo wuͤrde man mit eben dem Recht das eine Medicin nennen koͤnnen / wenn der Medicus ſich kranck macht / um an ſeinem Exempel dem Patienten zuzeigen / wie man koͤnte geſund werden: welches lauter ver - wirrte und ungereimte Gedancken.

LIX. Ob ſolchemnach die Lehre von dem Mittler-Amt JEſu Chriſti und der Erloͤſung / die durch ihnge -140geſchehen / wie ſolcher in der Evan - geliſchẽ Kirchen vorgetragen wird / einen theatraliſchen Aufzug vorſtel - le / dem Weſen Gottes verkleiner - lich und der geſunden Vernunfte - ckelhaft ſey?

Erlaͤuterung.

Begriffe / die einen Einfluß in die Empfin - dungen unſers Geiſtes haben / ſind nicht theatra - liſch und wenn dieſelbe uns Gelegenheit geben / von denen goͤttlichen Vollenkommenheiten an - ſtaͤndig zu gedencken / ſo ſind ſie weder dem goͤttl. Weſen verkleinerlich noch der Vernunfft eckel - hafft. Da nun in dem vorhergehenden aus Vernunfft und klaren Zeugnuͤſſe H. Schrifft ge - wieſen / daß es mit der Evangeliſchen Lehre von dem Mittler-Amt JEſu Chriſti die Beſchaffen - heit habe / ſo kan J. C. Dippel nicht anders als ein Laͤſterer angeſehen werden / wenn er darauf mit allem Fleiß ſinnet / wie er ſolche mit denen bitter - ſten Woͤrtern ſchaͤnden und als laͤcherlich vor - ſtellen moͤge. Man kan es mit voͤlligem Recht eine Teufels-Sprache und ein Ochſen-Gebruͤll aus dem Reich der Finſternuͤß / nach ſeiner Art zu reden / (demonſtr. evang. p. 335.) nennen / wenn er ſchreibt: Der heutige Chriſtus / wie er angeſehen und geprediget wird / muͤſſe denen Gemuͤthern vielmehr ein Teufel und Verſucher zum Argen / als eine Urſach der Seligkeit wer -den141den. p 112. Es ſey eine erſchroͤckl. Erfindung des Teufels / daß Chriſtus / in dem er das vom Vater ihm aufgetrage - ne Verſoͤhuungs-Amt uͤbernommen / unſere Suͤnde ver - moͤge einer ſo genannten Zurechnung getragen und unſere Schwachheit auf ſich genommen / um ſelbige vermoͤge eben einer ſolchen Zurechnung wegzunehmen p. 162 daß Got - tes Gerechtigkeit und Barmhertzigkeit einen Mittler noͤ - thig gehabt / ſeyn nur Fratzen / Næniæ, theatraliſche Gau - ckel-Poſſen / ſondern gar / wenn man ſie genau erweget / Gotteslaͤſterungen. p. 229. Der hohe Artickul von der Satisfaction, Verſoͤhnung und imputirten Gerechtigkeit ſey eine Schweſter oder Tochter des fleiſchlichen oder beſtialiſchen orthodoxen Unverſtandes p. 230. Die Re - den ſind ſo giftig / grob und boßhaft / als ſie nur immer erſonnen werden koͤnnen / und in der That kommen ſie doch nur aus einem blinden Eyfer. Die vorhergehende Grund-Fragen geben ſolches zur Gnuͤge zu erkennen. Man hat zwar Urſache / die Thorheit ſolcher Leute zu verlachen / welche nach dem ſcharffen Gefuͤhl / ſo ſie von ihren Vollen - kommenheiten haben / nicht nur ihre unreiffe Ein - faͤlle vor lauter neue Weißheit halten / ſondern ſich auch einbilden / daß ſie wohl befugt ſind / Boͤ - ſe und Unnuͤtze zu werden / wenn man in den vo - rigen Zeiten nicht ſo geglaubt und auch auf ihren Winck nicht alſobald ſo glauben will / wie es mit ihrem Wahn uͤbereinſtimt. Sie nehmen eine abgeſchmackte Air an / als wenn ſie Herren uͤber die Gewiſſen und ſouveraine Monarchen uͤber die Religion waͤren. Man mag aber dabey den gegen - waͤrtigen Zuſtand der Kirchen Chriſti wohl be - ſeufzen / da man ſiehet / was die Hoͤlle von allenſeiten142ſeiten vor Verſuche thut / um das Reich der Finſternuͤß empor zu bringen und die Welt mit der Nacht des Unglaubens zu bedecken. Ein Vernuͤnftiger ſiehet gar zu wohl / daß in dem Dippelſchen Syſtemate ein vollſtaͤndiges Heyden - thum ſtecke. Denn dasjenige / was er Chriſto laͤſt und zueignet / iſt wenig mehr als ein Blend - Werck der Sinnen fuͤr die Einfaͤltigen / damit ſie nur deſto ehe gewonnen und verſtricket / wenigſtens nicht ſtutzig und bange fuͤr dergleichen Lehren ge - macht und folglich auf einmahl davon abge - ſchrecket werden.

LX. Ob man unter dem Namen der Liebe zu GOtt ſich einen andern Be - griff machen koͤnne / als daß ſie eine Empfindung einer Zuneigung zu dem Weſen, welches alle Vollenkommen - heiten auf die vollenkommenſte Art beſitzt, gezeuget durch den Begrif von dieſen Vollenkommenheiten und der - ſelben Einfluß in unſere Seligkeit?

Erlaͤuterung.

Nach dem in denen vorhergehenden Fragen kuͤrtzlich / doch wie ich hoffe / gruͤndlich erwieſen / daß alle ſelige Empfindungen unſers Geiſtes eine Folge und Wirckung desſeligmachenden Glaubensoder143oder der empfundenen Kraft des Mittler-Amts JEſu Chriſti ſey / wie ſolches in unſerer Evangeliſ. Kirchen bis hieher nach dem Sinn der Schrifft ge - lehret worden / ſo wird es noͤthig ſeyn in denen folgenden zu zeigen / in wie weit ſolche geſchickt ſey / die Seele zur Ausuͤbung des goͤttl. Willens zu neigen und ein kraͤftiges Gefuͤhl der Verbind - lichkeit / gottſelig zu leben / in derſelben zu erwe - cken. Jch hoffe unter GOttes Beyſtand ſelbiges alſo zu bewerckſtelligen / daß man erkenne / das Dippelſche Syſtema, ſo ſehr er auch davon prahlt und ruͤhmt / ſey nimmermehr geſchickt weder ein ſol - ches Gefuͤhl der Verbindlichkeit zu wircken noch die Pflichte der Gottſeligkeit in ſolchem Umfang darzuſtellen. Auf dieſe zwey Stuͤcke aber kommt es in der geiſtl. Sitten-Lehre alles an. Die gegen - waͤrtige und etliche der folgenden Fragen ſind dar - um voran geſetzt / damit der Begriff von der Liebe gegen GOtt moͤge deutlich gemacht und die Art / wie ſolche in der Seelen entſtehen und eine zulaͤng - liche Krafft erlangen muß / erkannt und zur Aus - uͤbung gebracht werden. Denn damit / daß man ſagt / man ſoll die verkehrte Liebe von ſich ſelbſt und den Geſchoͤpffen durch den Weg der Verleugnung loß reiſſen und das hoͤchſte Gut uͤber alles ſuchen dem. Evang. p. 11. wird der Menſch we - der Einſichte in die Pflichte der Gottſeligkeit und wie ſolche auszuuͤben noch ein Gefuͤhl der Ver - bindlichkeit erlangen. Wenn jemand 1000 Fo - lianten / die mit Dippelſchen / Böhmiſchen / Wei -gelia -144gelianiſchen und andern fanatiſchen Redens-Ar - ten von gaͤntzlicher Verſetzung der Sinnen p. 103. von Toͤdtung der Wurtzel der Suͤnden p. 104. von einem dem Lebens-Grunde proportionalen Futter p. 80. von einem Stand des Mangels und des Hungers / durch welche die Seele ohne Futter muß durchdringen und einige Zeit zwiſchen GOtt und der Creatur ohne Genuß ſowohl des hoͤchſten als des falſchen Gutes im Glauben hangen bleiben p. 95. von dem einziehen oder genieſſen einer Speiſe / dadurch ſich der Menſch mit einem neuen geiſtl. Lichtleib bekleidet p. 107. von einer neuen Ge - buhrt in welchem der Menſch zu ſeinem him̃liſchen Wohn-Hauß himmliſche Elementen aus der goͤtt - lichen Natur empfaͤhet / in welchen er ſo weſentlich ja noch viel weſentlicher geſchaͤfftig als in ſeinem zerbrechlichen Leibe p. 108. und was dergleichen ſeltſames Gewaͤſch mehr iſt / davon man aus der Imagination gantze Buͤcher leicht kan voll ſchreiben und doch nichts ſagen; wenn man ſage ich 1000 mit ſolchem Zeug angefuͤllte Folianten durchlaͤſe; ſo bin ich uͤberfuͤhrt / es wuͤrde doch nicht ein ei - niges Fuͤncklein reiner Liebe Gottes in der See - len dadurch angezuͤndet werden. Die Seligkeit des Geiſtes beſteht in einer Folge angenehmer Empfindungen / und dieſe koͤnnen nicht anders entſtehen als durch Begriffe / die uns ihren Ur - ſprung bekannt machen. Dazu aber koͤnnen ſolche verworrene Diſcourſe nicht dienen. Wer ſie noch ſo andaͤchtig lieſet / wird darum nichts kluͤger als er vorher geweſen.

LXI. 145

LXI. Ob nicht / da die Liebe Gottes durch den Begriff von ſeinen Vol - lenkommheiten und derſelben Ein - fluß in unſere Seligkeit in dem Geiſt gezeuget wird / (quæſt. 60.) die - ſelbe deſto reiner und kraͤftiger ſeyn muͤſſe / je gruͤndlicher und vollſtaͤn - diger die Begriffe von ſeinen Vol - lenkommenheiten?

Erlaͤuterung.

Es iſt in dieſer Frage nichts dunckeles und undeutliches und die darin enthaltene War - heit iſt ſo keñbar / daß es nicht einmahl in menſch - licher Freyheit ſteht / daran zu zweiflen. Jch halte es alſo vor unnoͤhtig zu deſſen Erlaͤuterung ein mehres beyzufuͤgen.

LXII. Ob nicht ſolchemnach die hoͤchſte Stuffe der Liebe gegen GOTT mit dem ſeligmachenden Glauben o - der der Empfindung der Kraft desKMitt -146Mittler-Amtes JEſu Chriſti in der Seelen muͤſſe gezeuget werden?

Erlaͤuterung.

Der Grad der Liebe richtet ſich nach der groͤſ - ſe des Begriffs von denen goͤttl. Vollenkommen - heiten / in ſo fern ſich dieſelbe zur Befoͤrderung un - ſerer Seeligkeit aͤuſern und geſchaͤfftig erweiſen. (quæſt. 61.) Nun iſt ohne den Begriff von dem Mittler-Amt JEſu Chriſti die Seele in Anſe - hung ihrer ſuͤndlichen Schwachheit voll Unge - wißheit / voller Gewiſſens-Stiche / voll furcht und Mißvergnuͤgens. (quæſt. 38.) Durch Huͤlffe die - ſes Mittlers aber haben die goͤttliche Vollen - kommenheiten ſich ſolchergeſtallt geoffenbahret / daß die Seele / wenn ſie der Fruͤchte ſeines Leydens durch den glauben theilhafftig geworden / auch bey denen ihr noch anklebenden ſuͤndlichen Schwachheiten voller Zuverſicht / voller Gewiſſens - Freudigkeit / voller Hoffnung / Vergnuͤgens und Troſtes ſeyn koͤnne. (quæſt. 67) Solchemnach hat GOtt ſeine Macht / Weißheit / Gerechtigkeit / Liebe / Gnad und Barmhertzigkeit alſo kund gemacht; daß wir unter dem Zuſtand des gegenwaͤrtigen Lebens keine Gelegenheit haben / koͤſtlicher von ihm zu ge - dencken. Da nun die Empfindungen unſers Gei - ſtes / welche deſſen Seligkeit in dieſer Welt aus - machen / derſelben Wirckungen; ſo iſt es nicht allein unmoͤglich / daß wir den nicht lieben ſollten / der uns alſo geliebet / ſondern die Liebe muß auch nachdem147dem Gefuͤhl der Wolthat kraͤftig und ſtarck wer - den. Wer nicht lieb hat / der kennet GOtt nicht. 1 Joh. IV. 8. Man leſe bey dieſer Gelegenheit mei - ne wenige Gedancken / welche ich in dem 1ſten Theil der Betrachtungen von einem tugendhaften Le - ben rechtgl. Chriſten p 45. p. 81. ſq. p. 271-280. mitgetheilt / ſelbige werden zu einer naͤhern Einſicht in dieſe Art der Warheiten etwas beytragen koͤñen.

LXIII. Ob nicht die Groͤſſe der Bemuͤ - hung / nach dem Willen GOttes zu wandeln / ſich nach der Stuffe der Liebe gegen GOtt richten muͤſſe / oder / welches einerlei / ob nicht die Bemuͤhung GOtt zu gefallen um deſto nachdruͤcklicher und kraͤftiger ſeyn muͤſſe / je groͤſſer die Liebe iſt / ſo wir zu ihm tragen?

Erlaͤuterung.

Das Verlangen dem jenigen / ſo wir lieb ha - ben / zu gefallen / entſteht gleichſam als durch ein Gebot der Natur eben durch dieſe Empfindung / welche wir Liebe. nennen. Es kan bey demjenigen / welchem es gleichguͤltig iſt / ob ſeine Handlungen ſeinem Freunde angenehm oder verdrießlich / un - moͤglich eine wahre liebe ſeyn. Der Heyland ſelbſtK 2leh -148lehret / daß die Willfertigkeit / ſein Wort zu halten / aus der Liebe den Urſprung nehme. Joh. XIV. 23. und Johannes nimmt aus der Bemuͤhung / Gottes Wort zu halten / einen Beweiß / daß die Liebe gegen - wartig ſeyn muͤſſe. Wer ſein Wort haͤlt / in ſol - chem iſt warlich die Liebe GOttes vollkommen. 1 Joh. II. 5. Die Begriffe alſo / aus welchen die Liebe gegen GOtt in der Seelen gezeuget wird / wircken auch die GOttſeligkeit und was mit der - ſelben verbunden.

LXIV. Ob / da die Begriffe / welche ſich von ſelbſt in der Seelen zeugen / groͤſten theils falſch und irrig; und die meiſten Empfindungen und Gemuͤhts-Neigungen Laſterhaft / (quæſt. 27.) man ſich unter dem Na - men der Verleugnung ſein ſelbſt et - was anders vorſtellen koͤnne als eine Bemuͤhung dergleichen Empfin - dungen und Gemuͤhts-Neigungen, in ſofern uns ſolche zur Ausuͤbung deſſen, was dem goͤttlichen Willen zuwider, anreitzen durch entgegen ge - ſetzte Begriffe und Entſchlieſſungenzu149zu entkraͤften, zu uͤberwinden und gaͤntzlich auszutilgen.

Erlaͤuterung.

J. C. Dippel ſchwatzt ſehr viel vom verleugnen: er hat aber hievon ſo wenig / als von allen uͤbrigen goͤttl. Warheiten ein reines Erkaͤnntnuͤs. Er ſagt / man ſoll das / was uns noch amuſiret vor Koht achten und als Hindernuͤſſe des heils verfluchen p. 111. man ſoll durch Ver - leugnung ſein ſelbſt von den Luͤſten ſich extriciren p. 113. Der Glaube ſey ein innigſter und aus allen Kraͤften her - vor brechender Gehorſam und Verleugnung unſerer eige - nen Kraͤfften und des Willens / uͤm GOtt und ſeine Gna - den volle und heilſame Bewuͤrckung anzunehmen und zwar bergeſtallt / daß wir / in dem wir glauben / nicht nur unſer ſelbſt / ſondern allerdings dein eigen ſind / an welchen wir glauben oder welchem wir uns uͤberlaſſen p 180. 181. dieß mag ſo kraͤfftig / als es immer moͤglich / aus - gedruckt ſeyn; ſo ſieht man doch / daß es nichts als ſelbſt erſonnene willkuͤhrliche Diſcurſe, aus welchen niemand einen Begriff von der Verleugnung wird erlangen koͤnnen. Haͤtte J. C. Dippel erklaͤrt / worin das / was uns amüſirt / beſtehe: durch welche Begriffe eine Geringachtung deſſen in dem Ge - muͤthe entſtehe; wie das extriciren von den Luſten geſchehen muͤſſe: welches die Kraͤfte ſind / aus de - nen der Gehorſam ſoll hervor brechen / welches un - ſere eigene Kraͤfte / und worin ſolche von denen vorhergehenden unterſchieden; wie und ob ſolche koͤnnen verleugnet werden; und was dergl. mehr iſt / ſo haͤtte man koͤnnen mercken / daß er ſelbſt von dem / was er andern beybringen will / ein Erkaͤnnt -K 3nuͤß150nuͤß gehabt. Dieſes aber waͤre um deſto noͤhti - ger geweſen / je gewiſſer es iſt / daß das Dippelſche Syſtema auf dem Begriff von der Verleugnung groͤſten theils gegruͤndet Aber iſt es unmoͤg - lich andern von Dingen ein Erkaͤnntnuͤß beyzu - bringen / davon man ſelbſt keines hat. Jn ſol - chen Faͤllen iſt kein ander Mittel uͤbrig / als ſich in Woͤrtern zu verſtecken und dem Leſer einen Dunſt fuͤr die Augen zu machen. Man erken - net daher / daß dieß Syſtema mehr aus Woͤrtern als Begriffen zuſammen geſetzt ſeyn und daher viel - faͤltige Contradictiones, wie es auch der Augen - ſchein gibt / in ſich faſſen muͤſſe. Unſere in gegenwaͤr - tiger Frage gegebene Beſchreibung der Verleug - nug erweckt einen Begrif / der uns dazu dienen kan / daß wir / wie ſelbige in der Ausuͤbung vorzunehmen / wiſſen moͤgen; will man aber die Begriffe und Ent - ſchlieſſungen / wodurch die laſterhafte Gemuͤhts - Neigungen zu uͤberwinden / naͤher kennen / ſo muß man ſich daruͤber in der Sitten-Lehre Rahts erho - len / wie wir unſere Gedancken davon anderwerts eroͤfnet. Sonſt muß ich noch beylaͤufig erinnern / daß es eine der Ehre des Sohnes GOttes hoͤchſt - nachtheilige und an ſich ſuͤndliche Meynung ſey / ob habe der Heyland noͤhtig gehabt / die aus der geſchwaͤchten Maſſa der gefallenen Menſchen an - genommene Menſchheit durch die enge Pforte der Verleugnung zur herrlichkeit zu fuͤhren. de - monſtr. Evang. p. 22. Nach J. C. Dippels eigenen leh - ren ſoll man durch die Verleugnung von denenLuͤſten151Luͤſten ſich extriciren dem. evang. p. 113. was ſollen denn doch vor Luͤſte in der H. Seele JEſu ge - weſen ſeyn / davon er ſich haͤtte extriciren duͤrffen? J. C. Dippel macht ſich gar zu verdaͤchtig / daß er eine ſehr geringe Meynung von dem Heyland der Welt haben muͤſſe. Er macht zwar Gewaͤ - ſche genung von ihm und hat viel in Woͤrtern / weñ man es aber in Begriffe verwandelt / ſo merckt man / daß es auf nichts auslaͤuft. Wie muß der Fuͤrſt der Finſternuͤß mit ſeinem duncklen Reich ſich freuen / daß er ſolche Diener in der Welt hat? Wenn er ſelbſt in der geſtallt eines Engels des Lichts auf erden wandelte / ſo wuͤrde er es nicht liſtiger machen / um den Sohn GOttes von ſei - nem Thron zu ſetzen. Es iſt eine vollenkommene Liſt / wenn man denen Leuten kan einbilden / daß man ſie reich macht / in dem man ihnen dasjenige ranbt / was ſie noch haben.

LXV. Ob nicht / da die Verleugnung ſein ſelbſt eine Bemuͤhung / die Ge - muͤhts-Reigungen / welche uns zu dem / ſo dem goͤttl. Willen zu wider / reitzen / zu entkraͤften und zu uͤber - winden / dieſelbe uͤm deſto ernſtli - cher ſeyn muͤſſe; je kraͤftiger der Vorſatz iſt / GOtt zu gefallen.

K 4Er -152

Erlaͤuterung.

Der Vorſatz / gutes zu thun / waͤre nicht ernſtlich und kraͤftig / wenn man nicht bemuͤht waͤre / dem entgegen geſetzten boͤſen zu wider ſte - hen und die Neigungen / ſo uns dazu reitzen / aus dem Wege zu raͤumen. Es kommt alles auf das Gefuͤhl von unſerer Verbindlichkeit an. Die Be - griffe / welche dieſes erhalten / loͤſchen alle Ein - wuͤrffe von Fleiſch und Blut |aus / und treiben den Geiſt unaufhoͤrlich an / wider das Fleiſch zu kaͤmpfen.

LXVI. Ob nicht / da die Verleugnung ſein ſelbſt aus der Bemuͤhung GOtt zu gefallen / (quæſt. 65.) die Bemuͤhung GOtt zu gefallen aus der Liebe gegen GOtt / (quæſt. 63.) die Liebe gegen GOtt aus der Empfindung von der Kraft des des Mittler-Amts JEſu Chriſti oder dem ſeligmachenden Glauben (quæſt. 62) gezeuget wird / die Ver - bindlichkeit zu einem gottſeligen Wandel aus dem Glauben den Urſprung nehme?

Er -153

Erlaͤuterung.

Der Satz iſt in der Folge richtig und ſtimmt mit GOTTES Wort voͤllig uͤberein. Der Heyland nimmt aus der Liebe / die er ausge - uͤbt / einen Grund ſeine Nachfolger zur Gegen - Liebe anzumahnen. Gleich wie mich mein Va - ter liebet / alſo liebe ich euch auch. Bleibet in meiner Liebe. So ihr mein Gebot haltet / ſo bleibet ihr in meiner Liebe. Joh. XIV. 9. 10. Er erklaͤret ſelbſt / woriner ſeine Liebe zu erkennen gegeben und welches das groͤſte Merckmahl davon ſey. Niemand hat groͤſſere Liebe / denn die / daß er ſein Leben laſſe fuͤr ſeine Freunde. v. 13. Die Apoſteln brauchen ebenmaͤßig die Liebe / ſo in dem Werck der Erloͤſung kund geworden / als einen Grund / die Glaͤubigen zur Liebe gegen GOtt und den Nechſten zubewegen. Wandelt in der Liebe / gleich wie Chriſtus uns geliebet hat. Ephr. V. 3. Laſſet uns ihn lieben / denn er hat uns erſt geliebet. 1 Joh. IV. 19. Das iſt ſein Ge - bot / daß wir glauben an den Namen ſeines Sohnes JEſu Chriſti und lieben uns unter - einander. 1 Joh. III. 23. Es werden freylich auch aus denen uͤbrigen Wercken / in welchen Gott ſeine Liebe der Welt kund macht / Bewegungs - Gruͤnde zur Gegen-Liebe genommen: aber der vor - angefuͤhrte behaͤlt uͤm des willen den Vorzug - weil die Erloͤſung ſo wohl in Anſehung der Wirckung / als auch des Mittels / ſo GOtt dazu erwaͤhlet / das allergroͤſte Liebes-Werck. (Joh III. K 516.)15416.) Da nun deſſen Wehrt und Nutzen durch den Glauben empfunden wird (quæſt. 44.) So muß dieſe Art der Empfindung bereits in der See - len ſeyn / wenn die Liebe daſelbſt ſoll gezeuget wer - den. Man erkennet hieraus / wie der Glaube durch die Liebe thaͤtig ſey Gal. V. 6. indem es unmoͤg - lich iſt / daß er dieſe / wenn zeit und Gelegenheit da iſt / nicht wircken ſolte. Unſer Geiſt wird da - durch zaͤrtlich / eyfrig und behutſam gemacht / das - jenige auszuuͤben / was mit dem goͤttlichen Wil - len uͤbereinſtimmt / und daraus kommen gute Wer - cke / die man mit Grund Fruͤchte des Glaubens nennen kan.

LXVII. Ob nicht dieſe Verbindlichkeit / welche aus der Lehre von dem Mitt - ler-Amt JESU Chriſti / oder der Rechtfertigung des Glaubens ent - ſpringt / eine zulaͤngliche Kraft ha - be / das Hertz einzunehmen / und ob eine groͤſſere zu begreiffen und zu er - ſinnen?

Erlaͤuterung.

Wer ein ſtaͤrckeres Gefuͤhl von der Zuneigung gegen GOtt und ein groͤſſeres Verlangen / dieſel - be in denen Wercken ſehen zu laſſen / in dem Geiſt erwecken will; der muß uns die goͤttliche Vollen -kom -155kommenheiten auf eine Art bekannt machen / wel - che mehr Deutlichkeit und Nachdruck hat / als die / ſo in dem Werck der Erloͤſung geoffenbaret. Ob ſolches von Joh. Conr. Dippel geſchehen / ſolches - berlaͤſt man dem Urtheil des vernuͤnftigen Leſers. Der Begriff von der Liebe Gottes / welche in der Sendung ſeines Sohnes gegeben / wird durch deſ - ſen Wahn von Chriſto und ſeinen Verrichtungen zu unſer Seligkeit ungemein geſchwaͤcht: Ein ſol - cher Heyland / der in ſeinem Exempel zeiget / wie die Suͤnde muͤſſe beſieget werden; in unſerm Ge - wiſſen aber die begangene Suͤnden mit allen ih - ren Wirckungen zuruͤck laͤſt / thut uns eben ſolche Dienſte / als einer / der uns / wie wir durch einen tieffen Moraſt waden koͤnten / in ſeinem Exem - pel zeigen wolte / unterdeſſen aber uns in dem Schlamm / darinn wir bereits gerahten / ſtecken und liegen lieſſe. Jch bekenne aufrichtig / daß ich / ſo viel ich mich auch auf alle moͤgliche Faͤlle be - ſinne / nicht abſehen kan / was der Leydens-Proceß JEſu / wenn man ihn mit Dippelſchen Augen an - ſiehet / zur Vergroͤſſerung des Erkaͤnntnuͤſſes goͤtt - licher Vollenkommenheieen oder zur Bewuͤrckung des innerlichen Ruhſtands des Geiſtes dienen koͤnne. Alles / was ſich heraus bringen laͤſt / iſt dieß / er habe fuͤr ſich und uns zum Exempel gelit - ten. Was geht er uns aber dann mehr an / als andere Maͤrtyrer? Es wird wenig ſeyn / was wir hieraus zu unſerer Erbauung nehmen koͤnnen; zu unſerm Troſt aber iſt uͤberall nichts darin. Mankoͤn -156koͤnte ſelbſt von dem Tode des heydniſchen Socra - tis einen ſolchen bunten Diſcurs zu Wege bringen. J. C. Dippel wird nicht erklaͤren koͤnnen / wie der Creutzes-Tod JEſu uns zu gut koͤnne geſchehen ſeyn / wenn er nicht an unſere Staat denſelben ge - ſchmecket hat. (Erlaͤut. quæſt. 48.) Jn dem alſo J. C. Dippel den Begriff der Wohlthat / ſo uns in Chriſto JEſu widerfahren / wegnimmt; ſo muß auch die Verbindlichkeit / ſo daraus entſpringet / ausgeloͤſchet werden. Wir haben angemerckt / daß mit dem Begriff von dem Mittler-Amt JE - ſu Chriſti ein Erkaͤnntnuͤß von der Gnade Got - tes entſtehe / (quæſt. 51.) welches eine Eigenſchaft / die inſonderheit in unſer gluͤcklich ſeyn einen Ein - fluß hat. (quæſt. 36.) Folglich eine Liebe zu GOtt in der Seelen wircken muß. (quæſt. 60.) Weil nun auch dieſer Begriff von der Gnade / vermoͤge der Dippelſchen Lehre ſich verlieren muß; ſo muß das Gefuͤhl der Gegen-Liebe / ſo dadurch gewir - cket wird / nohtwendig mit vergehen. Denn nach ſeinem Vorgeben kan GOtt nicht beleidiget wer - den / ſo dependiren auch die Straffen der Suͤnden nicht von ihm. p. 86. Folglich kan er keine Suͤnde vergeben noch von dem Recht / dieſelbe zu beſtraf - fen nachlaſſen / und alſo keine Gnade beweiſen. (quæſt. 35.) Wie alſo J. C. Dippel dieſe und ande - re Begriffe / die in der That das Hertz ruͤhren und auch als Bewegungs-Gruͤnde / GOtt zu lieben in der Schrift vorgeſtellet werden / ſuchet zu verdun - ckeln und hinwegzunehmen / ſo meynet er alles da -mit157mit zu erſetzen / daß er ſagt / die Gebote: Du ſolt GOtt uͤber alles und deinen Nechſten als dich ſelbſt lieben / waͤren die conſilia medica, welche von GOtt als Artzten der abgewichenen Creatur gegeben / um die verlohrne Seligkeit wieder zu er - langen. (dem. evang. p. 11.) Daß aber ſolche Leh - re an ſich ungereimt und unzulaͤnglich / ſolches zei - get unſere gantze Abhandelung. Jmmittelſt iſt es eine kennbare Gemuͤhts-Schwachheit / wenn der hochmuͤhtige Mann glaubet / hierin eine neue Weißheit erfunden / und einen ſolchen Grund zur Gottſeligkeit gelegt zu haben / daß er ſich koͤnne mit der Hoffnung kitzeln / er werde es der Evangeliſchen Kirchen garaus machen. Die Macht der Fin - ſterniß / wie er ihre Lehre nennet / werde (vermuhtlich durch das in ihm aufgegangene Licht) ihren fata - len Periodum bald erreichet haben. p. 373.

LXVIII. Ob ſolchemnach die Lehre von dem Mittler-Amt JEſu Chriſti und der darin gegruͤndeten Recht - fertigung des Glaubens von ſol - cher Beſchaffenheit ſey / daß durch ſie die Menſchen von der Gottſelig - keit abgefuͤhret / in denen Suͤnden verhaͤrtet und ſicher gemacht / undin158in die Gefahr der ewigen Verdam̃ - nis geſtuͤrtzet werden?

Erlaͤuterung.

J. C. Dippel gebraucht die bitterſten Woͤrter / welche ſein boßhafter Sinn nur immer erdencken kan / um dieſe Lehre der Evangeliſchen Kirchen verhaßt zu machen / und ſie als eine Grund - Quelle aller Ruchloſigkeit / und als eine Urſache aller Schand und Laſter vorzuſtellen. Er ſagt: Der heutige Chriſtus / wie er angeſehen und gepredigt wird / muͤſſe vielmehr ein Teufel und Verſucher zum Ar - gen den Gemuͤhtern werden / als eine Urſache der See - ligkeit. p. 112. Es ſey eine erſchreckliche Erfindung des Teu - fels / daß Chriſtus / in dem er das von Vater ihm aufge - trageue Verſoͤhnungs-Amt uͤbernommen / unſere Suͤnde vermoͤge einer ſo genannten Zurechnung getragen und un - ſere Schwachheit auf ſich genommen / um ſelbige vermoͤge eben einer ſolchen Zurechnung wegzunehmen p. 162. Man ſoll dasjenige keinen ſeeligmachenden Glauben an Chri - ſtum / ſondern vielmehr ein vollgedruͤcktes / geruͤtteltes und uͤberfluͤßiges Maaß alles Unglaubens nennen / was nur ei - nen deckel der Boßheit / nemlich | Genugthuung und bloſe Zurechnung an ſtat des vollenkommenen Gehorſams und der wahren Liebe Gottes verlanget. p. 186. Mit dieſen und andern Expreſſionen iſt ſeine boßhafte Schrift / ſo er unter dem Titul vera demonſtratio Evangelica in die Welt geſchickt / durch und durch angefuͤllt / und in der Verthaͤdigung derſelben hat ers nicht beſſer gemacht. Da nun dieſes eine der Haupt - Beſchuldigungen / womit er der Evangeliſchen Kirchen meynet Schaden zu thun / ſo werde ichmichs159michs nicht verdrieſſen laſſen / hievon etwas aus - fuͤhrlich zu handeln. Man hat nach meiner we - nigen Einſicht / wenn man unterſuchen will / wie weit eine Lehre die Gottſeligkeit befordern koͤnne / auf dreyerley zu ſehen / einmahl auf den Umfang der Lebens-Pflichte / dann auf die Bewegungs - Gruͤnde und endlich auf die Zulaͤnglichkeit der Mittel / die uns in den Stand ſetzen / denen Pflichten ein Genuͤge zu thun. Auf mehrere Haupt-Begriffe / die darin koͤnnen unterſchieden werden / weiß ich mich nicht zu beſinnen. Sol - chemnach kan eine Lehre auf dreyerley Art denen Laſtern die Thuͤr oͤfnen: einmahl / wenn ſie macht / daß man Wercke / die fuͤr GOtt ſuͤndlich und ver - dammlich ſind / nicht vor ſolche haͤlt; dann / wenn ſie die Bewegungs-Gruͤnde ſchwaͤcht / welche uns zur Ubung eines Heil. Wandels treiben und den Vorſatz / die Hindernuͤſſe / ſo viel an uns / zu be - ſiegen / erhalten muͤſſen / und letztlich / wenn ſie uns das Erkaͤnntnuͤß verdunckelt von denen Gnaden - Mitteln / welche unſerer Schwachheit hierin zu Huͤlffe kom̃en. Wenn nun die Dippelſche Beſchul - digung ſoll Grund habẽ / ſo muͤſſen durch unſere Leh - ren von dem Mittler-Amt JEſu Chriſti / entweder die Pflichte der GOttſeligkeit beſchraͤncket (daß man etwa Dinge vor GOttgefaͤllig ausgebe / die es nicht ſind) / oder die Gruͤnde / die das Hertz zum Guten neigen ſollen / nicht kraͤfftig genug vorgeſtellet: oder das Erkaͤnntnuͤß von denen Huͤlffs-Mitteln verdunckelt werden. Kei -160Keines aber von dieſen allen geſchiehet. Jch biete J. C. Dippel Trutz einen von dieſen Saͤtzen mit Gruͤnden wahr zu machen. Was das Er - ſtere betrifft / ſo wird ſolches durch die That ſelbſt widerlegt. Wir treiben die Lehre von der Heili - gung ſo hoch / als es nach goͤttl. Schrifft nur im - mer geſchehen kan. Jch beruffe mich auf dasienige / was eine groſſe Menge geſchickter Maͤnner von unſerer und der Reformirten Kirchen hierin gear - beitet und der Welt dargelegt. Aus dem Be - griff von dem Mittler-Amt JEſu Chriſti laͤſt ſich alles herleiten / was von Tugenden nur immer ſchoͤnes kan gedacht werden. Wer ſich die Muͤ - he nehmen und meine wenige Betrachtungen von einem tugendhafften Leben rechtſchaffener Chri - ſten durchſehen will / wird ſchon daraus beurtheilen koͤnnen / daß man / an dieſer Warheit zu zweiffeln / keine Urſache habe. Ob J. C. Dippel in dieſer Gattung der Weißheit bis dahin etwas vollſtaͤn - digers gegeben / und ob nicht vielmehr ſein Erkaͤnnt - nuͤß davon duͤſter und verwirrt / ſolches mag der Warheit-liebende Leſer in ſeinem Schriften ſu - chen. Jch meines theils habe es nicht anders finden koͤnnen. Er ſagt: Der tieffe Grund von dem Gebot der Liebe waͤre bey denen meiſten unter den Juden verborgen geblieben: demon. evang. p. 14. Aber er ſelbſt hat gewiß ſchlechte Einſichten in dieſe Tieffe. Aus denen nackten Reden vom Verleugnen im inner - ſten Grunde / von gaͤntzlicher Verſetzung unſerer Sinnen und Begierden / | von einer Reſignation unſers Willens / un - ſerer Luͤſte und naͤrriſchen Vernunft an Gottes Fuͤhrung /und161und was dergleichen generalia mehr ſind / wird man weder fuͤr ſich eine Einſicht in den tieffen Grund von dem Gebote der Liebe erlangen / noch auch mercken koͤnnen / daß der / welcher ſie mit theilet / ſolche muͤſſe gehabt haben. J. C. Dippel hat uͤberall keinen Begriff von der Natur des moraliſchen Guten und denen Merckmahlen / wor - nach man ſelbiges beurtheilen muß. Der Di - ſcurs von einer abſurden Strenge des goͤttl. Ge - ſetzes gibt ſolches deutlich zu erkennen. Dem. Evang. p. 344. ſq. Das andere anlangend / ob vielleicht die Gruͤnde / ſo uns zur Gottſeligkeit treiben ſollen / durch die Lehre von der Rechtfertigung geſchwaͤ - chet werden / ſo ſcheint J. C. Dippel hierauf fuͤrnem - lich ſein Augenmerck zu richten. Nach ſeiner Mey - nung ſoll ſich die laſterhaffte Welt hinter dieſel - be verſtecken und ſolche zum Deckel der Boßheit machen. Jn wie weit dieſe Beſchuldigung gegruͤn - det / ſolches wird ſich aus nachfolgenden beurthei - len laſſen. Aller Wehrt der Bewegungs-Gruͤnde / die unſern ſinn zur Gottſeligkeit neigen / beſtehet dar - in / daß ſie vermoͤgend / ein Gefuͤhl der Verbind - lichkeit / GOtt zu lieben / in der Seelen zu erwecken. (quæſt. 63.) Die Liebe gegen GOtt wird durch Be - griffe von ſeinen Vollenkommenheiten / in ſofern ſolche einen Einfluß in unſere Seligkeit haben in uns gezeuget. (quæſt. 60.) Jn der Erloͤſung aber / welche durch das Mitler-Amt ſeines Sohnes ge - ſchehen / hat er dieſe Vollenkommenheiten / inſon - dern aber die Liebe herrlich kund gemacht (Erlaͤut. quæſt. 62.) conf. Rom. V. 8. Eph. V. 2. 1 Joh. LIV. 162IV. 9. 10. So unmuͤglich nun aus denen Begrif - fen / welche uns von der Liebe unſers Wohlthaͤters uͤberzeugen / ein Haß gegen denſelben gezeuget wer - den kan; ſo unm̃oͤglich kan aus der Lehre von dem Mitler-Amt Jeſu Chriſti oder der Rechtfertigung des Glaubens eine Ruchloſigkeit entſpringen: in dem dieſe nichts anders als eine Feindſchaft wi - der Gott und folglich der Liebe zu ihm ſchnur ſtracks zuwider. Das Bekaͤnntnuͤß der Evangel. Kirche von dieſer Lehre iſt ungemein ſchoͤn und unverbeſſer - lich: fides juſtificans eſt viva & ſolida fiducia in gra - tiam ſeu clementiam Dei adeo certa, ut homo millies mortem oppetere quam eam fiduciam ſibi eripi pate - retur. Et hæc fiducia atque agnitiodivinæ gratiæ & clementiæ lætos, animoſos, alacres efficit, tumerga DEum cum erga omnes creaturas, quam lætitiam & alacritatem Spiritus S. exitat per fidem. Inde ho - mo ſine ulla coactione promptus & alacris redditur, ut omnibus benefaciat, ommibus in ſerviat, omnia to - leret, idque in honorem & laudem DEI pro ea gratia, qua Dominus eum proſecutus eſt. Itaque impoſſi - bile eſt bona opera a vera fide ſeparare, quemad - modum calor urens & lux ab igne ſeparari non poteſt. form. conc. c. IV. p. 701 edit. Rech. Die Woͤrter ſind wehrt / daß ich ſie verteutſcht hinzu - fuͤge: Der gerechtmachende Glaube iſt eine le - bendige und gruͤndliche Zuverſicht auf die Gnade und Erbarmung Gottes / ſo voller Ge - wißheit / daß der Menſch tauſendmahl lieber den Tod wuͤnſcht / als daß er ihm dieſe Zu -ver -163verſicht ſolte rauben laſſen. Und dieſe Zuver - ſicht und Erkaͤnntnuͤß der goͤttlichen Gnade und Erbarmung macht die Menſchen froͤlich / muthig / und hurtig ſo wohl gegen GOtt als ſeine Geſchoͤpffe / welche Hurtigkeit und Freu - de der H. Geiſt durch den Glauben in ihnen erwecket. Alſo wird der Menſch ohne Zwang freudig und hurtig gemacht / daß er allen gu - tes thue / allen diene / alles dulde und dieß al - les zur Ehre und zum Lobe GOttes fuͤr die Gnade / da mit er ihn angeſehen. Alſo iſt es unmoͤglich / die guten Wercke von dem Glau - ben abzuſondern / wie eine brennende Hitze und das Licht vom Feuer nicht kan abgeſondert werden. So weit die Sonne leuchtet / iſt keine Sitten-Lehre / welche uns Bewegungs-Gruͤnde zu einem tugendhaften Wandel an die Hand gibt / davon die angefuͤhrte uͤbertroffen werde. Sie muͤſte uns groͤſſere Wercke / darin GOttes Liebe ſich geoffenbahret / kund machen: und die ſind nicht in der Reihe der moͤglichen Dinge. GOtt hat kein theureres Gut als ſeinen eingebohrnen Sohn: und der Glaube / welcher die Kraft und Wuͤrde dieſes Geſchencks empfindet / muß nohtwendig den Geiſt dazu bewegen / wozu er ſonſt nicht zu bewegen iſt. Sind alſo Menſchen / die ſich Evangeliſ. Chriſten neñen / aus ihre Religion aber Anlaß zum ſuͤndlichen Wandel nehmen; ſo iſt es ein Beweiß / daß ſie nicht nach derſelben Grund-Lehren / ſondern nach denen Trieben des Fleiſches handeln. Auf ſolche ArtL 2neh -164nehmen laſterhafte Menſchen aus der Langmuͤh - tigkeit Gottes noch vielmehr einen Schein-Grund / das Gemuͤht bey ihren Suͤnden einzuſchlaͤffern: Wie laͤſt ſich aber daher behaupten / daß GOttes Langmuht den Laſtern die Thuͤr oͤfne?

Jmmittelſt iſt es eine unſtreitige Warheit / daß nach der Beſchaffenheit des Dippelſchen Sy - ſtematis denen ſuͤndlichen Neigungen der Men - ſchen viel Raum und Platz gemacht werde. Es wird darin dem Heyland der Welt die Achtung / welche ihm als Mittlern zwiſchen GOtt und Menſchen gehoͤret genommen und davor ein Be - griff ſubſtituiret / der ihn ſo weit herunter ſetzt / daß er mit ſeinen Apoſteln und Maͤrtyrern faſt in ei - ne Claſſe kommt / und ihm wenig mehr uͤbrig bleibt als daß er etwa primus inter pares (Erl. quæſt. 67.) J. C. Dippel ſiehet die Vergebung der Suͤnden nicht als Gnaden-Werck Gottes an; Er meynet die begange Suͤnden fallen bey der Sinnes-An - derung von ſelbſt weg. Damit gehen alſo alle Begriff / die wir uns von Chriſto als dem Suͤn - den-Buͤſſer machen / auf einmahl fort. Sie koͤn - nen folglich auch das Gemuͤht nicht zur Gegen - Liebe bewegen. Alle Vorſtellungen / daß der Hey - land unter der Laſt unſerer Miſſethaten ſich fuͤr uns in den Todt dahin gegeben / gelten nichts. Da - mit ſind dann auch die Bewegungs-Gruͤnde / welche die Schrifft ſelbſt fuͤr die kraͤftigſten aus - gibt (2 Cor. V. 15. Eph. V. 2. Col. III. 5. Tit. II. 14.) verlohren. Dieſe Dippelſche Lehre mußuͤber165uͤber dem die Menſchen in den Wahn bringen / als wenn GOtt ſich gegen die Suͤnden gleich - guͤltig verhalte. Und auch dadurch wird die Ruch - loſigkeit nicht wenig geſtaͤrcket. Sollte die Lehre / daß GOtt / nach dem er ſeinen Haß wider die Suͤnde in denen Leyden des Suͤnden-Buͤſſers kund gemacht / und um deswillen dieſelbe vergebe / der Ruchloſigkeit Raum machen; was wird nicht diejenige thun / welche der Welt will einbilden / daß GOtt die geſchehene Suͤnden gar nicht achte: noch ſein Haß wider das moraliſche Boͤſe ſo - weit gehe / daß er ſolchen oͤffentlich duͤrffe offen - bahren. Endlich wird auch dieſe Meynung den boͤſen Willen der Gottloſen wohl ſtaͤrcken / aber nimmermehr brechen / daß nemlich auch die Aller - laſterhafteſten durch das ſchmertzhafte Gefuͤhl in dem feurigen Pfuhl ſich unter GOtt und ſeiner Liebe endlich werdenbeugen koͤnnen und folglich noch ein Ende ihrer Quaal zu hoffen haben. vera dem. evang. p. 117. Was je - mand wagt bey Vorſtellung einer groͤſſern Ge - fahr / das wagt er vielmehr bey einer Geringern.

Was endlich drittens die Lehre von denen Mit - teln betrift / wodurch die innerliche Kraft des Geiſtes geſtaͤrcket und der Menſch zu einem H. Wandel mehr und mehr geſchickt gemacht wird / ſo wird J. C. Dippel ſolche wohl laͤſtern; aber nichts mit Grund daran ausſetzen koͤnnen. Unſere Lehre von der Gnade der Rechtfertigung nimmt der von der Heiligung nicht einen Tittel von ihrer Vol - lenkommenheit. Wir ſchreiben GOtt beyde dasL 3Wol -166Wollen und auch das Vollenbringen zu. Wir lehren / daß GOtt mit denen dazu beſtimmten Gnaden-Mitteln / welche der Geiſt / ſein Wort / das Lehr-Amt / die H. Sacramenta / die Buſſe / das Gebet und dergleichen ſind / ſo wohl in den Ver - ſtand als in den Willen wuͤrcke. Wie aber J. C. Dippel mit dieſen goͤttlichen Warheiten zu Wercke gehe / alles in denenſelben durch einander miſche / folglich die Begriffe davon verdunckle / verwirre und zernichte / das wird der Augenſchein dem / der ſeine Schrifften lieſet / zu erkennen geben. Beſiehe unſere 73 Frage mit der Erlaͤuterung.

LXIX. Ob nicht vielmehr die Bemuͤ - hung / fuͤr Gott nach ſeiner Vor - ſchrift zu wandeln / deſto eyfriger ſeyn muͤſſe; je ſtaͤrcker der Glaube und je mehr die Kraft der Leyden JEſu an unſerer Seelen empfun - den wird?

Erlaͤuterung.

Nach dem Gefuͤhl der goͤttlichen Wohltha - ten waͤchſt die Staͤrcke der Liebe. (quæſt. 61.) Und nach dieſer richtet ſich die Bemuͤhung GOtt zu gefallen. (quæſt. 63.) Da nun in der Erloͤſung / die durch Chriſtum geſchehen / uns die groͤſte Wohlthat wiederfahren / ſo muß auch / in dem ſol -che167che durch den Glauben empfunden wird / die Liebe deſto groͤſſer ſeyn / je ſtaͤrcker der Glaube (quæſt. 62.) daher koͤnnen die / welche ohne Glauben ſind / GOtt nicht recht lieben. Die Verhaltnuͤß / welche zwiſchen ihnen und GOtt / und darauf die Vernunfft ſie fuͤh - ret / wirckt mehr Furcht als Liebe / wie dieß an dem erſten Menſchen nach ſeinem Fall wahrzunehmen. Gen. III. 10. Daß die Liebe nach der Staͤrcke des Glaubens zunehme / ſolches laͤſt ſich aus dem Spruch JEſu von der groſſen Suͤnderin be - urtheilen / wenn er ſagt: ihr ſind viele Suͤnde ver - geben / denn ſie hat viel geliebt. Luc: VII. 47. Jhre Thraͤnen und Salbung waren Beweiß - thuͤmer ihrer Liebe; aber auch eine Erklaͤrung ihres Glaubens: da ſie das von dem Heyland begehrt / was die gantze Welt nicht geben konte / nemlich daß er ſich ihrer Seelen moͤchte kraͤftig annehmen und ihre Suͤnden hinter ſich zuruͤcke werffen.

LXX. Ob nicht unterdeſſen auch ein wiedergebohrner Chriſt / ungeacht ſelbiger den beſten Vorſatz hat / der Suͤnde Widerſtand zu thun / auch wuͤrcklich geſchaͤftig iſt / die ihn zum Boͤſen neigende Leidenſchaften zu unterdrucken / oder / welches ei -L 4nerley168nerley iſt / ſich ſelbſt zu verleugnen; dennoch mannigfaltig fehle und fuͤr GOtt ſtraͤfflich bleibe?

Erlaͤuterung.

Die Warheit des hierin enthaltenen Satzes wird in der Schrift deutlich gelehret. Man ſehe Hiob XV. 14. Pſalm. XIX. 13. Prov. XX. 9. Rom. III 23. c. VII. 23. 1 Joh. I. 8. Ebr. XII. 1. und viel andere Orter mehr / welche von dem Verderben und ſuͤndlichen Zuſtande des Menſchen / auch im Stande der Bekehrung mit vielem Nachdruck reden: und da die Erfahrung hiemit voͤllig uͤber - einſtimmt / ſo kan man an derſelben um deſtowe - niger zweifeln. Wann wir das / was der Menſch nach dem Begriff des Vollenkommenen oder der goͤttlichen Abſicht ſeyn ſoll / mit dem / was er iſt / zuſammen halten / ſo wird ſich deſſen Elend bald erkennen laſſen.

LXXI. Ob dieſe Lehre / daß auch die wiedergebohrne Gottes Gebot nicht vollenkommentlich koͤnnen halten / folglich fuͤr demſelben ſtraͤf - lich bleiben / der Ubung der Gott - ſeligkeit nachtheilig ſey / und dieMen -169Menſchen dazutraͤg und verdrieß - lich mache?

Erlaͤuterung.

Jch leugne nicht / daß Menſchen koͤnnen ge - funden werden / welche die Lehre von der Unmuͤg - lichkeit / Gottes Gebot zu halten / auf Muhtwil - len ziehen: Fleiſchlich geſinnte Gemuͤhter machen alles zum Deckelihrer Boßheit. Sie machen die allerſeligſte Warheiten zu Schein-Gruͤnde / ſich zu ihrem Verderben zu verblenden. (Erlaͤute - rung quæſt. 68.) Sie mißbrauchen auf ſolche Art die Barmherhigkeit / Gedult und Langmuht Gottes / ja ſelbſt die theuren Leyden unſers allerhei - ligſten Erloͤſers. Daraus aber laͤſt ſich nichts wider die Warheit folgern. Man muß in ſol - chen Faͤllen auf die Natur der Sachen ſelbſt ſehen. Der Vorſatz / gottſelig zu leben / richtet ſich nach dem Gefuͤhl unſerer Verbindlichkeit: dieſe aber hat keines weges ihren Grund in unſerm Ver - moͤgen und Unvermoͤgen / ſondern in der Verhaͤlt - nus zu dem / der uns verbinden und verpflichten kan. GOtt verbindet freylich den Menſchen nicht weiter als die Menſchlichkeit geht; aber er be - trachtet ihn in der vollenkommenſten Geſtalt. Er verlangt von ihm alles / was zu ſeiner moraliſchen und geiſtlichen Vollenkommenheit gehoͤret: Fehlet dann etwas / ſo bleibet ſolches als eine Loſt im Ge - wiſſen / biß es durch die Suͤnden-tilgende Kraft des Blutes JEſu weggenommen. GOtt for -L 5dert170dert in ſeinem Geſetz alles / was einen vollenkom - menen Menſchen darſtellt / und was derſelbe bey dem rechten Gebrauch ſeiner Freyheit gedencken / wollen und ausuͤben wuͤrde. Wir ſollen voll - kommen ſeyn / gleich wie unſer Vater im Him - mel vollkommen iſt. Matth. V. 48. Jſt der Menſch durch den Fall in den Stand des Unvermoͤgens gerahten; ſo kan dadurch ſo wenig ſeine Verbind - lichkeit geſchwaͤchet werden / als unmoͤglich Got - tes Recht / den vollenkommenen Gehorſam zu fo - dern / deswegen wird aufhoͤren koͤnnen. Das Ge - fuͤhl ſuͤndlicher Schwachheiten macht die Wie - dergebohrne ſo gar nicht traͤge / daß ſie vielmehr wider dieſelbe deſto eyfriger kaͤmpffen und ſtreiten / je gewiſſer ſie uͤberzeugt / daß ſie durch den Bey - ſtand des H. Geiſtes mehr und mehr ſiegen und uͤberwinden werden. Es iſt ſolchemnach ein Be - weißthum ſowohl einer ſchlechten Einſicht in die goͤttliche Warheit / als auch einer groſſen Boßheit des Hertzens / wenn J. C. Dippel die Evangeliſche Lehre von menſchlichem Unvermoͤgen / dem Geſetz Gottes voͤlligen Gehorſam zu leiſten / zu denen fal - ſchen Lehren und hoͤlliſchen Meynungen / wie er ſie nennet / rechnet / durch welche Chriſtus ſo von ſeinem Thron herun - ter geſetzet / daß der heutige Chriſtus / wie er angeſehen und geprediget wird / vielmehr ein Teufel und Verſucher zum Argen deneu Gemuͤhtern werden muß / als eine Urſache der Seligkeit. dem. Evang. p. 112. Wie es auch einen ſehr duͤſtern und verworrnen Begriff von denen Gruͤnden / die uns zur Heiligkeit des Lebens bewe - gen ſollen / zu erkennen gibt / wenn er ſchreibt:So171So lang geglaubet wird / daß die limitirte und in den Schrancken einer confuſen Unvollkommenheit genugſam eingeſchloſſene Heiligkeit und Erueuerung der Orthodoxen nur beſtaͤndig als eine Frucht oder Folge der bereits er - langten und durch den Glauben nur Zurechnungs-Weiſe gegenwaͤrtigen Seligkeit angegeben und aufgeſtaͤngelt wird: ſo kan es nicht fehlen / es muͤſſen die hieraus nohtwendig ent - ſtehende giſtige und Seelen-verderbliche Jrrthuͤmer / die ſi - chern Gemuͤhter von dem einigen nohtwendigen und vorge - ſieckten wahren Ziel der wahren Seligkeit unaufhoͤrlich ab - kehren und ſelbige gleichſam zwingen / es bey dem vermeyn - ten Beſitz ſolcher eitlen und bloß in leerer Einbildung be - ſtehenden Guͤter bewenden zu laſſen. J. C. Dippel iſt ley - der! confus genug / ob er gleich nicht weiß / was man eigentlich confus nennen koͤnne / ſo wenig als er einen Begriff von dem Vollenkommenen und Unvollenkommenen hat. Daher ſchreibt er ſeine erſten Einfaͤlle in den Tag hinein / es mag begreif - lich oder unbegreiflich / wahr oder falſch ſeyn. Wo lehrt doch die Evangeliſche Kirche eine limitirte und in den Schrancken einer confuſen Unvollen - kommenheit eingeſchloſſene Heiligkeit und Erneue - rung? laſſet ſich ſolches wohl aus nachfolgenden Worten ſchlieſſen? cum autem homo per Spiritum S. renatus atque a lege, hoc eſt, a coactione legis li - beratus eſt, jamque Spiritu Dei agitur; tum ſecun - dum immutabilem Dei voluntatem in lege revela - tam vivit, & omnia, quatenus renatus eſt, libero & promto Spiritu agit, f, c. VI. p. m. 722. Heiſt das die Heiligkeit in den Schrancken einer confuſen Unvollenkommenheit einſchlieſſen / wenn man ſagt / der Menſch ſey nicht vermoͤgend / dasjenige zu thun /was172was er zu thun ſchuldig? Und wo wird von den Unſrigen gelehrt / daß die Seligkeit durch den Glau - ben zurechnungs-weiſe gegenwaͤrtig ſey? Wir lehren / daß wir durch den Glauben an Chriſtum empfangen Vergebung der Suͤnden / Frieden mit GOtt / Ruhe des Gewiſſens / Hoffnung der zu - kuͤnftigen Herrlichkeit. Dieſe Guͤter ſind nicht zurechnungs-weiſe gegenwaͤrtig / ſondern ſie werden wuͤrcklich empfunden und genoſſen. Welche Be - griffe geben oder nehmen wir alſo der Seelen / wel - che er giftige und Seelen-verderbliche Jrrthuͤmer nennen koͤnne / ſo die ſichern Gemuͤhter von dem ei - nigen nohtwendigen und vorgeſteckten wahren Ziel der wahren Seligkeit unaufhoͤrlich abkehren? Thut es der Begriff von der Gnade oder der Ge - rechtigkeit Gottes? Seelen / in welchen durch die Begriffe von dem goͤttlichen Vorſatz / die Men - ſchen ſelig zu machen / wie unſere H. Religion die - ſelben in der Vollendung des Wercks der Erloͤ - ſung darſtellt / kein Gefuͤhl der Verbindlichkeit / ihn uͤber alles zu lieben / entſpringt; werden ſich durch andere Vorſtellungen / ſie moͤgen ſeyn / von welcher Gattung ſie wollen / noch vielweniger gewinnen laſſen. (Erlaͤut. quæſt. 68.)

LXXII. Ob nicht alſo der Glaube an Chriſtum oder die Empfindung von der Kraft ſeines Mittler-Amtsauch173auch bey denen Wiedergebohrnen muͤſſe das Gefuͤhl von der Gnade Gottes und folglich den Seelen - Frieden wircken und erhalten?

Erlaͤuterung.

Die Suͤnde wohnet auch in denen Seelen der Wieder gebohrnen (quæſt. 70.) Alſo muß ſol - che entweder ihre Wirckung an denenſelben auslaſ - ſen / oder auch durch das Blut des Sohnes Got - tes / als das eintzige geiſtliche Reinigungs-Mittel (1 Joh. I. 7.) immerdar hinweggenommen werden. Das Erſtere kan nicht ſeyn; in dem keine Ver - dammung uͤber die / ſo in Chriſto JEſu ſind. Rom. VIII. 1. und alſo muß das Letztere folgen. Jn den Seelen der Wieder gebohrnen iſt alſo eine immer - waͤhrende Empfindung von der Kraft des Mittler - Amts JEſu Chriſti: das iſt / ſie ſtehen allezeit im ſeligmachenden Glauben / folglich in der Verfaſ - ſung / da ſie der goͤttl. Gnaden-Bewirckungen faͤ - hig: ihr Geiſt iſt immer hungrig und durſtig nach der Gerechtigkeit / immer voll Gefuͤhl menſchlicher Schwachheiten / aber auch immer voll Verlangen / davon erloͤſet zu werden / ihr Leben iſt eine beſtaͤn - dige Buß-Ubung / ein immerwaͤhrender Kampf wider die Suͤnde / ein unverruͤckter Lauff nach dem vorgeſteckten Ziel. Auf ſolche Art bleibt der Ge - nuß des Verdienſtes und der Leyden JEſu Chri - ſti ihnen allezeit gegenwaͤrtig. Dieß iſt der Grundihrer174ihrer Zuverſicht. Sie duͤrften nicht ſagen: Wer wil verdammen? wenn ſie nicht koͤnten hinzu - fuͤgen: Chriſtus iſt hie / derfuͤr uns geſtorben / ja vielmehr / der auch auferwecket iſt / welcher iſt zur Rechten Gottes und vertritt uns. Rom. VIII. 34.

LXXIII. Ob nicht unterdeſſen / da ſie we - gen der an ihrer Seelen ſich im̃erdar aͤuſſerden Kraft des Mittler-Amts JEſu Chriſti ſich verbunden erach - ten / ihn / als die Urſache ihrer See - ligkeit hertzlich zu lieben / (quæſt. 69.) folglich ſich in der Verleugnung ih - rer ſelbſt und in dem Kampf wider die Suͤnde ſtetig erfinden zulaſſen / (quæſt. 65.) der Heyland / ſo ſie ge - recht macht / auch zur Beforderung ihrer Heiligung ſich geſchaͤftig er - weiſe / indem er durch ſeinen Geiſt ſie an dem innerlichen ſtaͤrcket / und von der Herrſchaft der Suͤnden mehr und mehr befreyet?

Er -175

Erlaͤuterung.

Wie nach Jnnhalt der Lehre unſerer Evan - geliſchen Kirchen die Pflichte der Heiligung aus der Gnade der Rechtfertigung hergeleitet wer - den; ſo wird auch in derſelben behauptet / daß die Gnade der Erneuerung auf die Gnade der Recht - fertigung folge: und folglich nur die / welche in der Rechtfertigung ſtehen / geſchickt ſind die Erneue - rung anzunehmen. So bald die Seele gerechferti - get wird / muß ſie auch erneuert werden. Das letztere iſt mit dem erſtern genau verbunden / |in dem / da wir Gott verſoͤhnet werden / auch der Geiſt der Erneue - rung der Seelen geſchencket wird. Chriſtus ſua paſſione meruit nobis non tantum remiſſionem pec - catorum, verum etiam hoc, quod propter ipſius me - ritum datur nobis Spiritus S. ut renovemur ſpiritu mentis noſtræ. Hæc beneficia filii DEI dicimus quidem eſſe conjuncta, ita ut quando reconciliamur etiam detur Spiritus renovationis. Chemn. Examen eonc. Trid: P. I. de juſtific. p. m. 233. Unſere Symboliſchen Glaubens-Buͤcher reden von dieſer Lehre mit ſolchem Nachdruck / daß unmoͤglich ein mehres / wenn man ſonſten unter den Woͤrtern etwas reines und gruͤndliches gedencken will / davon kan geſaget werden. Sie lehren / daß der Vorſatz / in Suͤnden zu beharren / unmoͤglich mit dem wahren Glauben beſtehen koͤnne / f. c. p. 702. Sie verdammen diejenige / welche lehren / daß der Glaube nicht verlohren werde / und der H. Geiſt in dem Menſchen wohne / wenn er gleichmit176mit Wiſſen und Vorſatz ſuͤndiget. p. 591. Daß des H. Geiſt Werck in der Erneurung ſey / den Menſchen zu toͤdten und wieder lebendig zu ma - chen p. 721. daß er den erneuerten Menſchen treibe nach dem unwandelbaren Willen GOttes / der in dem Geſetz geoffenbaret / mit freyem und willigem Geiſt zu wandeln / dergeſtallt / daß ſolche Wercke nicht Wercke des Geſetzes / ſondern Wercke und Fruͤchte des Geiſtes zu nennen. p. 722. Daß dieſes Geſetz den allerreinſten und vollenkom - menſten Gehorſam fordere. p. 723. Desfals auch die vollenkommene Erneurung in dieſer Welt nicht geſchehen koͤnne / indem die ſuͤndliche Unart noch immer in dem Fleiſche und der alte A - dam in denen innerlichen und aͤuſerlichen Kraͤften allezeit hangen bleibe. p. 719. Unterdeſſen muͤſſe der Menſch in ſeinem gantzen Leben mit der Suͤn - de / die im Fleiſche uͤbrig bleibet / ſtreiten. artic. Smalc. p. 327. Jn welchem Streit der H. Geiſt uns allezeit zu Huͤlffe kommt / in dem er die ſuͤnd - liche Leydenſchaften in dem Hertzen toͤdtet und un - terdruͤcket und dagegen neue geiſtl. Bewegungen erwecket. Apol. A. C. p. 91. Dieſes ſind uͤberzeu - gende Beweißthuͤmer / daß in der Evangeliſchen Lehre die Erneurung des Menſchen in ihrer voͤlli - gen Geſtallt und nach allen Umſtaͤnden dargeſtellet werde. J. C. Dippel findet ſich auch / um der Warheit nicht offenbar ins Angeſicht zu ſeiner eigenen Be - ſchaͤmung zuwiderſprechen / genoͤhtiget / zu bekennen / daß die Symbola lehren / es werde der Stand der Gna - den und des zugerechneten Heils durch vorſetzliche Suͤndenver -177vernichtet und koͤnne ohne vorhergehende und beſtaͤndig fortgeſetzte Buſſe der wahre ſeligmachende Glaube nicht beſtehen. Damit er aber auf alle Weiſe verhuͤte / daß nicht jemand ſich noch einige gute Mey - nung von dem Eifer derſelben fuͤr die Heiligung machen moͤge / ſo fuͤgt er alſobald hiezu / daß nach unſern Lehren dieſes gantze zugerechnete Heil auf eine er - dichtete gar bequeme aͤuſerliche Scheinbuſſe und Bekeh - rung ſich wieder finde. dem. Evang. p. 192. Mit welchem Gewiſſen und aus welcher Abſicht J. C. Dippel ſolches koͤnne ſchreiben / daß mag der ehr - lichgeſinnte Leſer ſelbſt beurtheilen. Die Evan - geliſche Kirche verabſcheuet nichts mehr als eine Heuchel - und Scheinbuſſe. Apol. A. C. p. 322. ſq. Nachfolgendes Zeugnuͤß kan zur Anzeige dienen / was die Reformatores von der Buſſe vor Be - griffe gehabt. Hæc pœnitentia in Chriſtianis durat usque ad mortem, quia luctatur cum peccato reſiduo in carne per totam vitam, ſicut Paulus Rom. 7. oſten - dit, ſe belligerari cum lege membrorum ſuorum. &c. idque non propriis viribus, ſed dono Spiri - tus S. quod remisſionem peccatorum ſequitur & quotidie reliquias peccati purgat & expellit & in eo eſt, ut hominem purificet, rectificet, ſanctificet. A - pol. A. C. p. 328. Wie will J. C. Dippel hiebey den Namen eines aufrichtigen Mannes verthaͤ - digen? was ſoll man ſich von ſeiner ſo hochgeruͤhm - ten Heiligkeit vor Gedancken machen? Geben ſolche Proben nicht deutlich zu erkennen / daß Luͤgen / Prahlen und Laͤſtern Dippelſche Waffen ſind? Es wurde mit der Evangeliſchen Religion ſchlechtMbe -178beſtellet ſeyn / wenn ſie in der Lehre von der Erneue - rung / ungeacht J. C. Dippel ſolche zu dem alleini - gen Haupt-Articul der Chriſtlichen Religion ma - chen will / nicht mehr Licht und Erkaͤnntnuͤß / als ſeine willkuͤhrliche Diſcurſe davon geben / mit - theilte. (Erlaͤut. quæſt. 68.) Er verſuche einmahl / ob es moͤglich ſey / einen eintzigen Begriff anzuge - ben / daraus ſich erkennen laͤſt / die Evangeliſche Leh - re von der Erneuerung ſey unzulaͤnglich und man - gelhaft. Wie bald wird er mercken / daß die Ma - terie der Laͤſterung in dem Geſchwuͤr ſeiner Ein - bildung ſtecke? Wer die Weißheit ſucht / kan ſich niemals ungluͤckſeliger als an die Imaginanten ad - dresſiren. Sie bilden ihrem Leſer ein / daß ſie ſei - nen Geiſt aus ihrem Schatz mit einer nie erhoͤr - ten Weißheit fuͤllen wollen / und wenn er pruͤfet / worin es beſtehe / was er empfangen hat / ſo ſind es leere Einbildungen / wuͤſte Gedancken und un - geſunde Duͤnſte.

LXXIV. Ob es die geringſte Wahrſchein - lichkeit habe / daß / wenn die Dippel - ſchen Begriffe in der Welt vor wahr angenommen und geglaubet wuͤrden / ſolches beſſere Menſchen wuͤrde machen / und die Gottſelig - keit auf Erden mehr befordern?

Er -179

Erlaͤuterung.

Eine Lehre kan den Wachsthum der Gott - ſeligkeit auf eine dreyfache Art befordern. (1.) wenn ſie die Lebens-Pflichte in ihrem Umfang ausfuͤhrlich darſtellt (2.) wenn ſie die wahre und uͤberwindende Bewegungs-Gruͤnde kund macht: (3.) wenn ſie die Mittel / welche uns zur Ausuͤbung der erkannten Pflichte geſchickt machen / anzeiget. (Erlaͤuterung. quæſt. 68.) Bey dem 1ſten thut die Dippelſche Lehr juſt nichts / denn ſie bleibt immer bey dem General-Satz: liebe GOtt und den Nech - ſten (Erlaͤut. quæſt. 60.) dagegen bringt ſie dem Menſchen einen irrigen Wahn bey / als wenn ſein Unvermoͤgen dem Umfang der Pflichte grentzen ſetze. dem. Ev. p. 16. folglich laͤſt ſie den Begriff von der Vollenkommenheit goͤttlicher Gebote in menſchlichen Wahn und Willkuͤhr. Die Dip - pelſche Lehre von denen Bewegungs-Gruͤnden taugt auch nichts. Die Liebe iſt die Quelle al - ler Gottſeligkeit (quæſt. 63.) alſo befordern die Bewegungs-Gruͤnde uͤm deſto mehr den Wachs - thum der Gottſeligkeit; je mehr ſie eine Liebe zu GOtt erwecken. Laſt uns ſehen / wie J. C. Dip - pel ſolches bewerckſtelliget! Er gibt das Gebot von der Liebe als ein conſilium medicum an / da doch ſolches den Stand einer vollenkommenen geiſtlichen Geſundheit voraus ſetzt. Eine Seele / die in dem Stande iſt / daß ſie kan GOtt uͤber al - les lieben iſt eben ſo wenig kranck / als derjenige / welcher alles kan verrichten / was die Natur ſei -M 2nes180nes Amts erfordert. (Erlaͤut. quæſt. 58.) Die Kranckheit des Geiſtes iſt ein Stand ſchmertzlicher Empfindungen aus irren und ſuͤndigen. (Erlaͤut. quæſt. 58) Suͤndigen iſt ein Beweiß / daß keine rei - ne Liebe GOttes in der Seelen ſey. (quæſt. 61.) Alſo muß die Liebe durch Begriffe erwecket werden / die uns GOtt als liebenswuͤrdig bekannt machen. Wo geſchicht dieſes von J. C. Dippel? Er wird ſa - gen: Das thue ich / in dem ich GOtt als das Futter des unſterblichen Geiſtes vorſtelle; und alſo heiſt bey mir: GOtt lieben / ſo viel / als ſein ge - nieſſen. Wohl! wie geſchicht aber der Genuß? wie wird GOtt ein ſolches Futter? muß dieß nicht nohtwendig erklaͤret werden / dafern nicht die Empfindung von der Liebe Gottes eben ſo dun - ckel bleiben ſoll / als dieſer General-Begriff iſt. Jch habe nicht umſomſt die dahin zielende Frage J. C. Dippeln zur Eroͤrterung aufgegeben. (Meine Vorrede p. 39.) Er wird wieder auf das Werck der Erloͤſung / wie es in unſerer Kirchen erklaͤret wird / gerahten muͤſſen oder alle ſeine Diſcurſe von der Liebe muͤſſen zu lauter Waſſer werden. (Erlaͤut. quæſt. 66.) Was endlich das 3te be - trift / ob J. C. Dippels Lehre die Mitel / welche uns zur Ubung der Gottſeligkeit geſchickt machen ſol - len / mit mehrer Deutlichkeit anzeige und vorſtelle; ſo iſt es auch mit derſelben ſchlecht beſtellt. Die H. Sacramenten gelten bey ihm wenig oder gar nichts. dem. evang. p. 55. ſq. Das Gebet hat nach ſeinem, Wahn eine Wirckung in dem / der es ver -richtet /181richtet / nicht aber bey demjenigen / zu welchem es gerichtet iſt. l. c. p. 51. von Chriſto ſagt er zwar / daß er uns von der Suͤnde ſelbſt errette und den Geiſt aus den Luͤſten dieſer Welt befreye und in das Himmli - ſche Weſen verſetze. p. 104. Fragt man aber genau nach / wie ſolches geſchehe / ſo kommt es wieder auf die Conſilia medica von der Liebe an. Alſo verlangt Chriſtus alles und gibt nichts. Er ſagt zwar: Chriſtus habe durch Gehorſahm und Leyden durch Abſti - nentz und Verleugnung ſeine augenommenen Menſchheit in das goͤttliche Weſen verſetzet / nicht als durch Verdienſte / ſondern als durch unumgaͤngliche Medicinen und Con - ditiones die verlohrne Seligkeit wiederum in die Creatur einzufuͤhren. Aber wer kan ſich hieraus den Begriff machen / daß ein ſolcher Chriſtus uns wozu nuͤtz ſey? (quæſt. 68. p. 164.) Alles / was ſich nach dieſem Di - ſcurs gedencken laͤſt / beſtehet darin / daß man an Chriſti Exempel / ſehen koͤnne / wie man die Tugend unter Creutz und Leyden uͤben muͤſſe. Nach dem Dippelſchen Syſtemate kan auch dem Menſchen zur Vermehrung ſeiner innerlichen Staͤrcke nichts ge - geben werden / denn vermoͤge der Freyheit hat er ſchon alles. Es fehlet ihm nicht am Vollenbrin - gen / wenn er nur das Wollen hat. Er kan / wenn er will. p. 17. Da nun ſolcher Jrrthum die Menſchen in dem Wahn von eigener Krafft er - haͤlt; ſo muͤſſen ſie die Mittel / wodurch ſolche ſoll geſtaͤrcket werden / gering achten. Jn dem ſie aber gleichwol ſchwach ſind; ſo muͤſſen ſie in ihrem natuͤrlichen Elende und Verderben ſtecken blei - ben. Alſo iſt ein Dippelſcher Chriſt ſo weit vonM 3GOtt182GOtt / als die Erde von dem Himmel iſt / und Chriſtus iſt ſo weit von ihm / als die Sitten-Leh - rer / ſo vor etliche 100 Jahr gelebt / von denen ſind / die jetzo ihre Lehren leſen oder hoͤren. Das muß treffliche Chriſten machen!

LXXV. Ob in J. C. Dippels Schrifften / einige Merckmahle zu finden / daraus man koͤnne urtheilen / daß er ſelbſt auch nur den erſten Anfang der Verleugnung gemacht oder ein Fuͤncklein von demjenigen Glau - ben habe / welcher nach ſeiner Mey - nung der ſeligmachende ſeyn ſoll / und ob nicht vielmehr aus ſelbigen erhelle / daß er noch unter der voͤl - ligen Herrſchafft derer ihm natuͤr - licher Weiſe anklebenden Laſter ſtehe?

Erlaͤuterung.

Dafern man den Wehrt einer Lehre nach dem Dienſt / welchen ſie ihrem eigenen Erfinder leiſtet / beurtheilen ſoll; ſo muͤſſen die Dippelſchen Lehr - Begriffe nichts taugen. J. C. Dippel mag ſeine Ge - laſſenheit und gute Abſicht ruͤhmen / wie er will;ſo183ſo wird doch kein Vernuͤnftiger ſich damit uͤberre - den laſſen / daß er auch nur eine einige Empfin - dung / welche die Natur gegen die Richtſchnur des Vollenkommenen in ſeinem Gemuͤhte zeuget / beſieget habe oder beſiegen wolle. Sein betra - gen iſt ſo Beſchaffen / wie man es von einem Mañ / der denen Trieben des Fleiſches allen Wil - len laͤſt / vermuchten kan. Es iſt in ſeinen Schriften / fuͤrnemlich in denẽ beyden letzten nichts Liebreiches / Billiges / Mildes / Mittleidiges / Hertzbezwingendes oder ſonſt etwas / das mit dem freundlichen Sinn JEſu die geringſte Aehnlichkeit hat: vielmehr findet man allenthalben die Spuren von eitler Einbildung / Hochmuht / Selbſt-Ruhm / Rachbe - gierde / Bitterkeit / Gering-Achtung anderer / Be - trieglichkeit / Frechheit / Grobheit / Laͤſterungen / und dergleichen. Einbildung und Hochmuht hat ſeinen Geiſt ſolcher geſtallt eingenommen / daß er davon blind und ſchwindelicht iſt. Dieſe ver - fuͤhrt ihn / daß er ſeine Einfaͤlle und willkuͤhrl. Ge - dancken vor goͤttl. Warheiten und was er aus ſeiner fruchtbaren Imagination hinſchreibt / vor De - monſtrationes will gehalten wiſſen. Er macht ſich nichts daraus / auf dem Titul-Blad des ſoge - nannten Grund-Riſſes zu einem Syſtemate theol. zuruͤhmen / daß das Weſentliche der Religion durch eine continuirliche Demonſtration ſelbſt der Vernunftbe - greiflich gemacht werde; wie er auch ſonſt ſehr | viel von Demonſtrationen und von Mathematiſch ſpricht / da doch der / welcher nur die Anfangs -M 4Gruͤnde184Gruͤnde der Mathematic eingenommen / mercken kan / daß J. C. Dippels Seele noch niemahls die Kraft einer wahren Demonſtration gefuͤhlet. Seine Prahlerey und Ruhmſucht zeiget ſich faſt auf allen Blaͤttern. Er ruͤhmt ſich / Schwierig - keiten aufloͤſen zu wollen / davon er den Schatten nicht erkannt. Man ſollte wunder dencken / was bey ihm vor Weißheit zu hohlen / wenn er in der tiefen Lehren von dem Urſprung des moraliſchen boͤſen ſagt: Wir wollen mit GOttes Gnade den Knoten ſo auf loͤſen / daß einjeder / der ſeinen Verſtand kan und will gebrauchen / bekennen ſoll / unſere Meynung koͤnnen al - lein dem Forſchenden Gemuͤht einiges Vergnuͤgen geben. dem. evang. p. 81. wenn man aber ſiehet / was her - aus kommt; ſo iſt eine eckelhaffte Grille / derglei - chen man leichtlich noch viele / wenn es wozu nuͤtz waͤre / aushecken koͤnnte. Was zeiget es nicht vor Ge - fuͤhl eigener Vollenkommenheit an / wenn er hoch - trabend ruͤhmet: ich baue meine Theologie nicht nur auf die Schrift / ja brauche meiſt lauter Worte der Schrift / ſondern lege ſie auch in ſolcher Connexion und Ordnung dar / daß die Vernunft ſelbſt muß convinciret werden und erkennen / daß dergleichen Nexus in keinem Syſtemate Theo - logiæ biß hieher zuſinden geweſen / ja es hat bißhieher faſt Niemand vor moͤglich gehalten / theologiſche Warheiten in ſolcher demonſtrativen evidence vorzulegen. Verthaͤ - digung p. 72. So hat er auch in Erzehlung deſ - ſen / was mit ihm in Schweden vorgegangen / nichts verſchwiegen / was nur zu ſeinem Ruhm gereichen kan und zum theil ſind es recht aͤrger - liche Dinge. Es klingt ungemein nach einer ver - dorbenen Phantaſie / wenn er ſich mercken laͤſt / eswaͤre185waͤre bey ſeiner Ankunfft daſelbſt ein ſolches Schre - cken unter denen Biſchoͤffen entſtanden / als wenn 100000 Ruſſen ins Land gefallen. Vorrede der dem. evang. p. 31. So ſind es auch hohe Ge - dancken / wenn er offentlich geſtehet / er ſey der voͤl - ligen Hofnung / die jetzo im Flor ſtehende Haupt - Religionen der Chriſtenheit / inſonderheit die Evangeliſch Lutheriſche werden bald untergehen und ſeine dagegen die Oberhand behalten. Er meynet / das Koͤnigreich Schweden ſoll dazu den Anfang machen und gibt desfals denen Evan - geliſchen Lehrern / um ihrer zu ſpotten / den Text zu erklaͤren auf: von Mitternacht wird ſich das Ungluͤck ausbreiten uͤber alle Lande. Vor - rede dem. evang. p. 6. Zwar geſchehen auch in dem / was die Religion untergeht / unterweilen ſeltſame Dinge (meine Vorrede p. 16.) aber da - bey habe ich das Vertrauen zu der unendlichen Guͤte GOttes / es werden die Haͤupter des menſch - lichen Geſchlechts in der Chriſtlichen Welt ſich nicht ſo ſehr verblenden laſſen / daß ſie oͤffentlich angenommene Lehren / die den innerlichen und aͤuſ - ſerlichen Ruhſtand befordern / gegen ſolche / wel - che alle Kennzeichen haben / daß ſie aus einer un - geſunden Seele den Urſprung nehmen / austau - ſchen. Seine Rach-Begierde hat keine andere Grentzen / als welche ihm die Ohnmacht ſetzt. Nachfolgendes Gezeugnuͤß kan uns eine kennbare Probe davon geben: alſo ſchrieb ich die hienechſt fol. gende Fragen / um ihnen| zu zeigen / daß ich auch Ketzer machen koͤnte, und nun ſie allzuſammen fuͤr falſche ApoſtelM 5und186und Jrrgeiſter noch von meinem Abſchied declarirte / denn ſie muſten doch dieſe wunderliche Haͤndel nicht gantz umſonſt angefangen haben. Vorrede dem. evang. p. 41. Seine Bitterkeit gibt ſich zu erkennen / wenn er die allergiftigſten Woͤrter gebraucht / die ihn nur zu er - ſinnen moͤglich / um ſeinen Widerwillen gegen die / welche es nicht nach ſeinem Siñ machen / auszudru - cken. Alſo nenneter den Hn. Probſt zu Chriſtianſtadt ein dummes und debouchirtes Thier. Vorrede dem. Evang. p. 21. Die Evangeliſchen Prediger hechelt er in Anſehung derer zu ihrem Unterhalt verord - neten Accidentien durch / mit der Frage des Judæ Iſcharioths: Was wolt ihr mir geben? Als wenn es ihm nicht gar zuwohl bekannt / daß dieſe Ein - richtung nicht auf ihren Willen beruhe / ſondern leydend muͤſſe angenommen werden. Den Hn. Paſtor Neumeiſter und Hn. Prof. Edzardi ſchilt er vor orthodoxe Litzen-Bruͤder und Karnſchieber. Vorrede p. 5. Wie er auch wohlgemeldten Hrn. Paſtorem und den Hn. D. Lange mit dem Namen Barbarus und Antibarbarus in ſeiner letzten Schrift zu verhoͤhnen ſucht. Seine Geringachtung an - derer und unartige Neigung jedermann zulaͤ - ſtern hat er leyder! mehr dann zu viel gewieſen. Ungeacht ſeine Erkaͤnntnuͤß in goͤttliche Warhei - ten ſuperficiell, duͤſter und verwirrt / ſo fuͤhrt er ſich doch in Beurtheilung anderer Meynungen ſo vornehm auf / als wenn ſeines gleichen niemahls auf Erden gelebt / und ob haͤtte er ein beſonderes Recht mit ſich auf die Welt gebracht / denen Leu -ten187ten ſeine Einfaͤlle als Glaubens-Articul aufzu - buͤrden. Er meynt / daß es in ſeinem Geiſt helle ſey und alle uͤbrige Menſchen im finſtern tappen / wenn ſie durch klare Zeugnuͤſſe der Schrift zuruͤck gehalten werden / ſein Syſtema vor wahr zu halten. dem. Evang. p. 39. Die Zeugnuͤſſe der Schrift ſind wahr und falſch nach ſeinem Gutduͤncken / er laͤſt aus und flickt hinein / was ihm wolgefaͤllt. So laͤſt er Z. E. bey dem Spruch Pauli 2 Cor. V. 20. die Woͤrter weg: und rechnete ihnen ihre Suͤn - de nicht zu. p. 293. Und in den Spruch JEſu Joh. VI. 63. flickt er das Wort Blut hinein / p. 230. um den Erloͤſer ſelbſt ſeine Worte verdrehen zu koͤnnen: Er erklaͤrt alſo die Schrift / wie ers nach ſeinen Vorurtheilen noͤhtig findet / und wann dieſes nicht gelingen will / daß etwa etliche Zeugnuͤſſe ſei - nen Wahnbegriffen gar zu deutlich widerſprechen / ſo ſpricht er gar / die Schrift ſcheine jezuweilen unter gewiſſen Abſichten das Gegentheil von dem / was ſie meynet / zu behaupten / p. 28. ſie rede nicht ſo / wie die Sa - che ſich fuͤr GOtt und einem erleuchteten Verſtande befin - det / ſondern wie ſie dem ſchwachen Begriff und bloͤden Verſtande des einfaͤltigen Volcks am beſten koͤnne beyge - bracht werden p. 49. Wer dann dieß auf J. C. Dip - pels hohes Wort nicht fort glauben wil und kan / der iſt blind / ohne Vernunft / orthodox naͤrriſch ꝛc. Es ſind aber nicht nur unſere Gottes-Gelehrten / unter welchen ihm faſt kein eintziger recht iſt / der Vorwurff ſeiner Laͤſterung; ſondern er faͤhrt auch uͤber andere groſſe Leute / als den Grotium, Male - branche, Des Cartes, Bayle, Leibnitz, Wolf undande -188andere mit ſolcher Unbeſcheidenheit her / ob waͤren ſie in Vergleich von ihm Kinder und A. B. C. Schuͤler. Jch bin zwar mit einigen in den mei - ſten / mit etlichen aber in verſchiedenen Stuͤcken nicht einerley Meynung / wie ich ſolches in dieſer kleinen Schrift bereits hin und wieder zu erken - nen gegeben / aber nichts deſtoweniger achte ich ih - re Verdienſte: ſie ſind zum theil ſehr gelehrte / zum theil ſcharf - und tiefſinnige Maͤnner / welche an Beleſenheit / Seelen-Kraͤften und der Welt geleiſteten wuͤrcklichen Dienſten Joh. Conr. Dippeln mercklich weit uͤberlegen. Daß ferner ſein Hertz nicht rein ſey und es ihm nichtdarauf ankomme / ſeinem Nechſten und auch der Warheit zum Nachtheil etwas in den Tag hinein zu ſchrei - ben / davon haben wir auch in dem vorhergehen - den Proben geſehen (Erlaͤut. quæſt. 35. p. 84. Er - laͤut. quæſt. 50. p. 121. Erlaͤut. quæſt. 73. p. 177.) Endlich zeiget ſich ſeine Frechheit und Grobheit in ſeinem gantzen Vortrag / wenn er allenthalben von Ochſen / Eſeln / Flegeln / naͤrriſch / Thorheit / abgeſchmackt / Unvernunft und dergl. auf eine Art / die ſich / wo ſonſt Warheit und Tugend etwas reelles iſt / unmoͤalich entſchuldigen laͤſt / in ſeine Schriften einmiſcht.

Dieſes alles ſind lauter offenbare Warheiten. Was ſieht man dann nun an J. C. Dippels Seele vor Wuͤrcknngen von der ſo hochgeruͤhmten Leh - re der Sinnes-Aenderung und der Verleugnung? Dafern Chriſtus nur ein Erloͤſer in dem Dippel -ſchen189ſchen Verſtande; ſo gehoͤret gewiß J. C. Dippel ſelbſt nicht zu der Zahl der Erloͤſeten. Es finden ſich nicht die geringſten Spuren / daß von denen Ge - ſetzen des Paradieſes etwas in ſeine Seele einge - ſchrieben ſey. Vielmehr iſt ſie in dem Stande / da ſie der Erloͤſung / die wir Chriſto als Mittlern beylegen / hoͤchſt beduͤrſtig. Wiewohl thaͤte er / wenn er ſich von der Warheit uͤberwinden ließ / dem Heyland die Ehre gebe / die ihm gehoͤret; ſich mit Thraͤnen fuͤr deſſen Fuͤſſen niederlegte / ihm ſein mit vielen Suͤnden beſudeltes Gewiſſen / da er manchem ohne Urſache Wehe gethan / und viele einfaͤltige Seelen ins Verderben geſtuͤrtzt / darſtel - te und dabey in wahrem Glauben anflehte / ſolches mit deſſen allerheiligſtem Blut zu waſchen und zu reinigen / mithin ſeine Seele die eigentliche Kraft ſeines Mittler-Amts empfinden zu laſſen. Biß hieher hat er gewißlich dieſelbe nicht geſchmeckt / und iſt auch / dafern er derſelbe bleibt / nicht geſchickt / ſolche zu ſchmecken. GOtt zerknirſche ſein Hertz / laß ihn ſein Elend und Verderben recht einſehen / und gebe ihm die Demuht und den Gehorſam des Geiſtes / welcher ihn dazu geſchickt kan machen. So lange ſolches nicht geſchiehet / iſt er auch nicht geſchickt / GOtt wolgefaͤllig zu wandeln / indem dieß eine Folge der Liebe / die Liebe aber eine Frucht des ſeligmachenden Glaubens. (quæſt. 61. & 63.)

LXXVI. Ob nicht bey ſo bewandten Um -ſtaͤn -190ſtaͤnden der Argwohn von ſelbſt entſtehen muͤſſe / daß J. C. Dippel - berall mit der Religion nur ein Ge - ſpoͤtt treibe / und daß er die durch ihn entſtandene Unruhe und Aergerniſ - ſe aus fleiſchlicher und ſuͤndlicher Abſtcht in der Kirchen erreget habe?

Erlaͤuterung.

Man erfaͤhret es leyder! gar zu oft / daß Leute eine unzeitige Achtung fuͤr ſich ſelbſt kriegen / und ſich von der Schaͤrffe ihres Verſtandes und denen be - ſonderen Gaben ihrer Tiefſinnigkeit eine groſſe Mey - nung machen. Wann ſie aber doch dabey mer - cken / daß ſie zu ſchwach in andern Wiſſenſchaften / die uͤber das Ziel der Windmacherey geſetzet ſind / etwas rechtes auszurichten; ſo machen ſie ſich ge - meiniglich an die Religion / und dieß um deſtomehr / weil jederman an derſelben Theil nimmt und man dadurch am erſten eine Aufmerckſamkeit in der Welt erwecken kan. Was ſind nicht vor vieler - ley Gattungen von laſterhaften Empfindungen / wornach ſich die Abſichten der Menſchen richten? Darum gehen viele auch ſelbſt mit der Religion boßhaft um. Etliche wollen ihrem hungernden Ehrgeitz auf ſolche Art Nahrung ſchaffen: Etliche Kitzeln ſich daran / daß ſie mit denen bloͤden Gei - ſtern / dergleichen es viele in der Welt gibt / koͤnnenihr191ihr Spiel-Werck treiben: etliche wollen gar aus der Schwachheit der Menſchen-Kinder / da ſie im - mer zu Neuerungen geneigt / Vortheile ziehen und ſich ihren Beutel zu nutz machen. Ob eine oder mehr von dieſen Trieb-Federn J. C. Dippels Geiſt in Bewegung erhalte / ſolches iſt GOtt dem al - leinigen Hertzens-Kuͤndiger am beſten bekannt. Das wird ihm aber kein vernuͤnftiger Menſch zutrauen / ob er gleich darauf ſchweret / daß er ſei - ne Schriften nach Anleitung ſeines von GOtt gedrungenen Gewiſſens der orthodox-naͤrriſch ſich auffuͤhrenden Welt zum beſten ans Licht ge - ſtellt dem. evang. p. 196. Die Begriffe verwir - ren / die Schrifft verdrehen / ſich ſelbſt ruͤhmen / an - dere dagegen ſchelten / laͤſtern und verhoͤhnen / ſind grobe fehler des Willens und Merckmahle eines boͤſen Hertzens. Dieſe haben ſo gar keine Kraft die Warheit auszubreiten / daß ſie vielmehr derſel - ben Fortgang mercklich ſtoͤren. Wie kan man dann von J. C. Dippel glauben / daß er wenigſtens doch eine gute Abſicht bey Ausbreitung ſeiner Lehre gehabt; wenn ja ſonſt dieſelbe irrig und mangelhaft? Es geht ihm aber hie / wie es oͤfters geht da er an dem einen Ort vergißt / was er an dem andern geſagt. Er iſt ſein eigener Ver - raͤther / daß ſeine Abſicht nicht rein und gut ſey. Er bekennet es von ſeinen in Schweden heraus - gegebenen 153. Fragen. Vorrede dem. evang. p. 41. So viel ſich aus aͤuſerlichen Merckmahlen ſchlieſſen laͤſt; ſo iſt es gar zu wahr / was die Ver -faſ -192faſſer der unſchuldigen Nachrichten von ihm ur - theilen / daß von GOtt ſeine Feder ſo wenig koͤn - ne getrieben ſeyn / als die / welche der ſpoͤttiſche Lucianus gefuͤhret. a. 1701. p. 68.

LXXVII. Was es mit der Chriſtlichen Religion und dem gantzen oͤffent - lichen GOttesdienſt wuͤrde vor ein Anſehen gewinnen / wenn J. C. Dip - pels Lehr-Saͤtze ſollten die Ober - hand kriegen / und ob nicht nach ſeinen Syſtemate der aͤuſſerliche Gottesdienſt gantz und gar wuͤr - de uͤberm Haufen fallen; die Chriſt - liche Religion aber dasjenige / worin ſie fuͤr andern Religionen der Welt treflich iſt und Vorzuͤge hat / gaͤntzlich verliehren muͤſſen?

Erlaͤuterung.

Weil man den Wehrt einer Sachen am be - ſten aus ihren Wirckungen erkennen kan; ſo nehm ich hie Gelegenheit kuͤrtzlich zu pruͤfen / ob das Dip - pelſche Syſtema, wo man es ſo zu nennen iſt / die Chriſtliche Religion mehr in ihrer wahren Geſtalt und Schoͤnheit darſtelle / als die Glaubens-Lehreund193und gantze Verfaſſung der Evangeliſch-Lutheri - ſchen Kirchen. Wann dieß nicht iſt / ſo waͤre es ja eine groſſe und Seelenverderbliche Thorheit / wenn man dieſe wollte fahren laſſen und jene er - greiffen. Man kan die Wirckungen der Religion theils nach dem innerlichen theils nach dem aͤu - ſerlichen betrachten. Die innerliche muͤſſen ſich bloß an der Seelen aͤuſern und koͤnnen alſo in nichts anders als reinen Begriffen und ſeligen Emp - findungen beſtehen. Die ſeligſte Empfindung iſt die von der Gnade GOttes (quæſt. 36.) und folglich der Begriff / ſo uns davon uͤberzeuget / der allerkoͤſtlichſte. (quæſt. 37.) Da es nun der Vernunft an dieſem Begrif fehlet. (quæſt. 38.) und folglich allen denen Religionen / welche ihren Ur - ſprung bloß aus Vernunfft und Menſchen-Witz haben / ſo laͤſt ſich leicht erkennen / worin der inner - liche Vorzug der Chriſtlichen Religion beſtehe. Es wird in derſelben der Begriff von der Gnade Gottes in eine voͤllige Klarheit geſtellt. (quæſt. 51.) Sie zeiget / wie GOtt aus dem aͤuſerſten Ver - derben und tiefſtem Elende des in Suͤnde und Ubertretung gefallenen Menſchen Gelegenheit ge - nommen / ſeine Vollenkommenheiten noch herrli - cher zu offenbaren. Sie lehret / wie mit dem Wil - len / nach welchem er die Einſchreckung unſerer Freyheit unter der Wahl des Beſten ernſtlich ver - langet (quæſt. 16.) der Vorſatz die Suͤnde zu ver - geben und den Ubertreter die Folge der ſelben nicht genieſſen zu laſſen / beſtehen koͤnne / das iſt / wie erNkoͤn -194koͤnne gerecht und auch barmhertzig ſeyn. Sie offenbahret / wie in dem Mittler-Amt JEſu Chri - ſti ſolches bewerckſtelliget (quæſt. 51.) und oͤfnet damit die rechte Quellen des Troſtes und der See - len-Ruhe / (quæſt. 56.) Sie gibt aber auch dabey zu erkennen / wie darin |die allerkraͤftigſte Ver - bindlichkeit zur Liebe gegen GOtt (quæſt. 62.) zu einem H. Wandel (quæſt. 63.) und zur Ver - leugnung ſein ſelbſt (quæſt. 65.) verborgen liege. Wer alſo der Chriſtl. Religion den Begriff von der Gnade nimmt / der nimmt ihr alles. Dieß aber thut J. C. Dippel. Er erkennet eigentlich kein Geſetz / folglich keine Suͤnde / folglich keine Beleidi - gung / folglich kein Mißgefallen in GOtt an der Suͤnde / folglich keine eigentliche Straffen / folg - lich kein Nachlaß der Straffen oder Vergebung der Suͤnden / folglich keine Gnade / folglich keinen Mittler und Heyland. Wir finden drey Haupt - Umſtaͤnde in dem Leben des Heylandes: er lehret / er wandelt heilig / er leydet. Weil ſolches Ge - ſchichte ſind / ſo ſieht Joh. Conr. Dippel keine Moͤg - lichkeit / wie er davon die Begriffe kan ausloͤſchen; alſo ſucht er ſie nach ſeiner Gewohnheit zu ver - dunckeln. Als Lehrer ſchreibt Chriſtus die we - ſentliche Geſetze des Paradieſes / wie er ſie nennet / denen Menſchen / die an ihn glauben / das iſt nach dem Dippelſchen Begriff / die ſchon heilig ſind / ins Hertz: und weil dieſe nicht eigentliche Gebote / ſon - dern nur conſilia medica, ſo koͤnne er auch desfals als ein Artzt angeſehen werden. Mit dem H. Wan -del195del geht es noch an / daß er ſich kan helffen. Da habe Chriſtus / der auch zur Suͤnde verſucht / als der andere Adam / einen vollenkommenen Wider - ſtand gethan / die Suͤnde im Fleiſch beſiegt / und damit den erſten Adam als welcher nicht in der Verſuchung beſtanden / nicht nur beſchaͤmet / ſon - dern auch gewieſen / wie man der Suͤnde voͤllig widerſtehen und ſich unbefleckt bewahren koͤnne: wenn es aber biß an die Leyden JEſu kommt / ſo iſt er in der Noth und muß ſich lediglich in Woͤr - tern verſtecken (Erlaͤut. quæſt. 48. p. 118.) Wann nun die Schrifft durch und durch voller Zeug - nuͤſſe / daß Chriſtus um unſerer Suͤnde willen ge - litten / und daß die Vergebung der Suͤnden und die Gewißheit von der Gnade GOttes die vollen - kom̃enſte Wirckung und eigentl. Frucht des Todes Jeſu Chriſti / ſo zerreiſſet / zerzerret / verdrehet / und er - klaͤret er die Schrifft / daß es ein Jammer iſt an - zuſehen. Wann dieß aber nicht Stich halten will / und etliche Zeugnuͤſſe ihm gar zu offenbar wider - ſprechen / ſo darf er ſich nicht ſchaͤmen zu ſagen / daß um ein und andern Spruchs willen / man kein Sy - ſtema woll zuſammenhangender Warheiten koͤn - ne uͤbern Hauffen werffen: ja er vergeht ſich ſo weit / daß er ſich oͤffentlich mercken laͤſt / die Schrift ſchei - ne unterweilen das Gegentheil von dem jenigen zu ſagen / was ſie meynet. Jmmittelſt will er doch / daß nach ſeinem Begriff Chriſtus ſoll ein Erloͤ - ſer heiſſen / und daß er allein recht von der Erloͤ - ſung lehre / die durch denſelben geſchehen: in demN 2Chri -196Chriſtus nach ſeinem Begriff die Suͤnde mit ih - rer Wurtzel weg nehme.

Es kommt hier aber darauf an / daß man ſich von der Moͤglichkeit / wie ſolches geſchehen koͤnne / einen reinen Begriff mache. Soll Chriſtus die Wurtzel mit der Suͤnde wegnehmen / ſo muß er den Menſchen in den Stand ſetzen / daß er gar nicht mehr ſuͤndige. Diß muͤſte geſchehen durch Vorſtellungen und Lehr-Begriffe oder durch unmittelbares Einwircken in den Geiſt. Das Letztere kan mit dem Dippelſchen Syſtemate nicht beſtehen und wenn es damit beſtehen koͤn - te / ſo wuͤrde J. C. Dippel die Moͤglichkeit der im - putation damit ungemein beſtaͤtigen. Sie kan a - ber weder mit ſeinem Begriff von der menſchlichen Freyheit / noch mit ſeiner Beſchreibung vom Glauben ſich zuſammen reimen. Vermoͤge der Freyheit im Dippelſchen Verſtande kan der Menſch / wenn er will / und alſo braucht er keine Mittheilung der Kraͤfte: (Erlaͤut. quæſt. 75. p. 182.) Vermoͤge des Glaubens muß der Heyland das Hertz ſchon mit Tugenden angefuͤllet finden / (Erl. quæſt. 40. p. 101.) und alſo darf er ſie nicht erſt dar in pflan - tzen. Es bleibt alſo das Erſtere uͤbrig / daß nem - lich die Suͤnde mit der Wurtzel durch Vorſtel - lungen und Lehr-Begriffe weggenommen wer - de. Wie weit ſolches geſchehe / das haben wir an J. C. Dippels Exempel geſehen (Erlaͤut. quæſt. 75.) geſetzt aber / es waͤre moͤglich / welches gleich -wohl197wohl wider die Natur der Sachen und alle Erfah - rung / was behaͤlt denn Chriſtus fuͤr andern Sitten - Lehren und Geſetz-Gebern voraus? nichts als daß etwa ſeine Sitten-Lehre vollſtaͤndiger waͤre. Was nuͤtzt ſein Marter / Todt und Leyden? nichts / als was uns die Leyden eines jeden Maͤrtyrers / der ſich bey ſeiner Marter loͤblich und tugendhaft ver - halten / nuͤtzen koͤnnen. (Erlaͤut. quæſt. 67.) Wenn wir aber gleichwohl finden / daß die von J. C. Dippel uns eingebildete Kraft und Freyheit nicht da ſey: daß es uns unter der Widergebuhrt eben ſo gehe / wie dem Paulo (daß dieſe Worte ſich auf ſeinen Zuſtand / da er noch nicht bekehret war / beziehen ſollten / ſolches wird kein Vernuͤnf - tiger ſich leicht einbilden laſſen) der das wollen hatte / aber das Vollbringen nicht fand / wenn wir unsvon allerley Suͤnden am Gewiſſen gedruckt fuͤhlen? wo finden wir dann Ruhe vor unſere Seele? Wann es biß dahin kommt / ſo wird mancher die goͤttliche Gnaden-Brocken gerne und begierig wieder ſuchen / die J. C. Dippel jtzo mit Fuͤſſen tritt.

Was das Aeuſſerliche in der Religion be - trift / ſo gehoͤret dahin die gantze Verfaſſung des oͤffentlichen Gottesdienſtes. Solcher begreift in ſich die Einrichtung des Lehr-Amts / die Verſam̃ - lung der Glaͤubigen an einem dazu erwehlten und oͤffentlich geheiligten Ort / die Predigt goͤttlichen Wortes / das Singen und Beten in der Ver -N 3ſamm -198ſammlung / die Ausſpendung der Sacramenten / den Gebrauch des H. Abendmahls und worin ſonſt die innerliche Empfindungen von GOtt und dem / was man ihm ſchuldig / koͤnnen zu Tage geleget werden. Diß alles aber wird und muß nach dem Dippelſchen Syſtemate aufhoͤren. Ein Dippelſcher Chriſt kan ſolche nichs anders als leere Prang-Sitten und Ceremonien anſehen. Aber auch dieſes muß eine ſeltſame folge und Wirckung haben. Es wuͤrde und muͤſte dahin kommen / daß keine Verſammlung / kein predigen / ſingen / und beten / kein Tauff und Abendmahl / und uͤberall keine aͤuſerliche Verrichtungen in der Kir - chen / ja gar keine ſichtbare Kirche waͤre: und ſol - chergeſtallt muͤſte ſich das innerliche unvermerckt mit verlieren. Wir koͤnnen die Menſchen nicht anders nehmen / als wir ſie auf Erden finden. Bey dem gemeinen Mann / welcher doch den groͤ - ſten Hauffen ausmacht / hat es mit denen Seelen - Kraͤſten die Beſchaffenheit / daß das Aeuſerliche eine Gelegenheit werden muß / das Jnnerliche immer - dar zu erwecken. Bey denen / die von ſich glau - ben / daß ſie fuͤr andern etwas an Seelen-Kraͤf - ten beſitzen / faͤngt die Selbſt-Liebe bald anzuwir - cken. Sie uͤberreden ſich leicht / daß ſie fuͤr ſich geſchickt ſind / eine Religion zu erfinden. Und ſo wuͤrde es mit denen Religions-Begriffen auf die Beſchaffenheit des Gehirns bey einem jeglichen ankommen. Man weiß / was dieſes / wenn derMenſch199Menſch ihm ſelbſt gelaſſen / vor ſeltſame Dinge ausbruͤtet. Was wuͤrde es nicht damit vor ei - nen Zuſtand auf Erden gewinnen? Es wuͤrden die Begriffe von denen Dingen / die ſich von de - nen Sinnen entfernen / als von GOtt / von Tugend / von Suͤnde / von Gericht / von Himmel / Hoͤll und dergl. willkuͤhrlich / aberglaubiſch / duͤſter und ver - wirrt werden und es waͤre zu zweiflen / ob die Welt mehr mit Phantaſten oder mit Leuten / die gar kei - ne Religion haben / angefuͤllet wuͤrde. Der Wei - ſe Heyland hat nicht ohne zureichende Gruͤnde die H. Sacramenta geſtiftet und den aͤuſerlichen Got - tesdienſt beybehalten / und durch ſeine maͤchtige Hand wird er dieſe theure Guͤter bewahren / daß ſie von Boßhaften Menſchen ſeiner Kirchen nicht geraubet werden.

LXXVIII. Ob nicht diejenige / welche die Lehre von der Gnade GOttes / die da iſt in Vergebung der Suͤnden / mithin von der eigentlichen Be - ſchaffenheit des Mittler-Amts JEſu Chriſti und der darin ge - gruͤndeten Rechtfertigung desN 4Glau -200Glaubens ſuchen zu zernichten / das menſchliche Geſchlecht derje - nigen Glaubens-Warheiten be - rauben / in welchen nicht |nur der Urſprung aller ſeeligen Empfin - dungen des Geiſtes verborgen / ſondern auch die Bewegungs-Ur - ſachen zu einem H. Leben gegruͤn - det / folglich viele Seelen in einen unſeligen Zuſtand wenigſtens ih - rer Bemuͤhung nach ſetzen?

Erlaͤuterung.

Die Begriffe und Empfindungen machen durch ihre Guͤte den Gluͤcksſtand unſers Geiſtes aus. Dieſer iſt um deſto groͤſſer / je heilſamer die Be - griffe und je angenehmer die Empfindungen ſind. Auf ſolche Art iſt der Begriff von der Gnade GOttes der allerkoͤſtlichſte und der Wirckung nach der angenehmſte. (quæſt. 37.) Darum eben iſt der natuͤrliche Zuſtand des Menſchen unſelig / weil wir ſolchen in demſelben nicht haben koͤnnen. (quæſt. 38.) Ohne dieſen bleibt die gantze Laſt der Suͤnden auf dem Gewiſſen liegen. (Erl. quæſt. 56.) Welches nicht nur den Menſchen in dieſer Welt elend macht / ſondern ihn auch wegen desZu -201Zukuͤnftigen in Furcht und Zweiffel laͤſt. (quæſt. 28.) Das muß denn freylich in vielen Seelen traurige Folgen haben. Es finden ſich viele Bloͤde / Furchtſame / Angefochtene / in Noht und Todt Kaͤmpffende / die gefaͤhrliche Entſchlieſ - ſungen faſſen und gar verzweiflen wuͤrden / wenn nicht in dem Begriff von der in Chriſto kund ge - wordenen Gnade / Troſt-Gruͤnde an die Hand ge - geben wuͤrden / dergleichen Seelen aufzurichten. Wer an ſolchen in dergleichen Faͤllen gearbeitet hat / weiß aus der Erfahrung / daß es kein abge - ſchmackter Troſt ſey / der hieraus geſchoͤpfft wird. Die da Leyde tragen / koͤnnen auf keine Art ge - troͤſtet werden. Auſſer dieſem Begriff waͤre dieß auch eine vergebliche Verheiſſung. Matth. V. 4. Die Apoſtel nehmen aus demſelben ihre Troſt - Gruͤnde. Act. X. 43. 2 Cor. V. 19. Col. II. 13, 14. 1 Pet. II. 24. 1 Joh. II. 1, 2, 12. 1 Theſſ. V. 14.

Aber auch die Gottſeligkeit kan bey dem Verluſt der Erkaͤnntnuͤß von der Gnade GOT - TES nicht beſtehen. Seelen / welche durch Vorſtellung von der unermeßlichen Liebe und Er - barmung Gottes / welche er in Chriſto JEſu hat laſſen kund werden und die lediglich auf das ewi - ge Wohl der Menſchen abzielet / nicht geruͤhret und erwaͤrmet werden / werden ewig kalt und von goͤttlicher Liebe leer bleiben. Man ſiehet hieraus / was das menſchliche Geſchlecht mit dem Verluſt des Begriffs von der Gnade Gottes vor einen unſaͤglichen Schaden leidet.

N 5LXXIX. 202

LXXIX. Ob man nicht alſo J. C. Dippeln und andern Schwaͤrmern von ſei - ner Art mit beſſerm Grund den Namen der Diebe und Moͤrder beylegen; als er den Spruch JEſu: Alle, die vor mir kommen, ſind Diebe und Moͤrder geweſen, dahin drehen koͤnne / (dem. evang. p. 61.) ob waͤren die Lehrer der Evangeliſchen Kir - che darunter mit begriffen?

Erlaͤuterung.

Die Verichtung dadurch der Dieb ein Dieb wird / iſt ſtehlen und rauben: wer alſo der Seelen von ihren Guͤtern etwas entwendet / der wird da - durch ein Seelen-Dieb. Dieſes aber thut J. C. Dippel. Er raubt der Seelen dasjenige / was der Heyland / als Mittler zwiſchen GOtt und den Menſchen erworben; er raubt ihr die Begriffe von der Vergebung der Suͤnden / von der Reinigung des Gewiſſens durch ſein blut / von der Gnade und Gewogenheit GOttes / von der Hoffnung der zu - kuͤnftigen Guͤter[:]er raubt ihr die Empfindungen aus welchẽ ihr Gluͤck - und Ruhſtand in dieſer Weltbe -203beſteht: Die Empfindung der Sicherheit / des Troͤ - ſtes / der Hertzens-Freudigkeit zu GOtt / und was ſonſten koͤſtliches und angenehmes durch den Be - grif von dem Mittler-Amt Jeſu Chriſti in der See - len gewircket und uns als Fruͤchte ſeines Leydens in der Schrift bekannt gemacht wird. Ein Moͤr - der ſucht das / was er gerne haben will und ſeine Leydenſchaft vergnuͤgt / mit dem Untergang und dem Verluſt des Lebens anderer Menſchen zu er - reichen. J. C. Dippel wird ein Moͤrder der See - len / wenn er ſie des geiſtlichen Lebens / ſo in der Glaubens-Vereinigung mit Chriſto beſteht / be - raubet; Er nimmt den Begriff von dem wahren Chriſto und ſucht der Welt einen andern von einem Chriſto beyzubringen / der ihr wenig oder gar nichts nuͤtze iſt. (Erlaͤut. quæſt. 68. p. 46.) welches der groͤſte Seelen-Mord / ſo da kan ausgeuͤbet werden.

LXXX. Ob wir nicht alſo Urſache ha - ben / unſern allertheurſten Glau - ben / inſonderheit / was die Lehre betrift von der Gnade Gottes / nach welcher er die Suͤnde vergibt / und vondem Mittler-Amt JEſu Chriſti / durch welches dieſelbe kundge -204geworden feſt zu halten und Gott inbruͤnſtig anzuruffen / daß er durch ſeinen H. Geiſt ſelbigen unter uns fernerhin lauter und rein bewah - ren auch allen Rotten und Aerger - nuͤſſen wehren wolle?

Erlaͤuterung.

J. C. Dippel ruͤhmt / daß ſeine wider die Evange - liſche Kirche in Schweden herausgegebene Fragen die Studioſos Theologiæ in Stockholm meiſt inficiret und die Nobiles und Officierer davon alſo uͤberzeuget / daß ſie auf den Betrug ihrer alten Religion geſchimpffet. præf. de - monſtr. Evang. p. 43. Dafern dem alſo / ſo waͤ - re es ein Beweiß / daß dieſe Leute den Wehrt ih - rer Religion / darin ſie erzogen / nicht erkannt: wie dann leyder! bey vielen / die ſich einbilden / daß ſie noch etwas mehr als leſen und ſchreiben koͤnnen / in gegenwaͤrtiger Zeit ein ſolcher Geiſt herrſcht / der ſie begierig macht / gegen ihre Religion / ehe ſie ſolche in ihren Gruͤnden gepruͤft und unter - ſucht / nicht nur Zweifel und Einwuͤrffe zu ma - chen / ſondern ſelbige wohl gar zu verhoͤhnen. Son - ſten bin ich der voͤlligen Zuverſicht / daß / wer bey - des die Evangeliſche und auch die Dippelſche Leh - ren eingeſehen / unmuͤglich die erſtere verlaſſen und die letztere erwaͤhlen koͤnne. Es waͤre eben ſo viel / als wenn einer aus einem vernuͤnftigenMenſch205Menſchen wollte ein Phantaſt werden / und ſeine Seele aus dem Stand der Ruhe in den Stand des Zweiffels / der Unruhe und der Verwirrung ſetzen.

Die ſicherſten Merckmahle / wornach man die Wuͤrde einer Religion beurtheilen kan / ſind mei - nes wenigens Ermeſſens die / daß ſolche erſtlich von GOTT und goͤttlichen Dingen anſtaͤndige und erleuchtende Begriffe mittheile / welche / ob ſie gleich weiter als das Natur-Licht und uͤber die Vernunft gehen; doch nichts Widerſprechendes oder das der geſunden Vernunft ſchnurſtracks zuwider / in ſich faſſen: dann / daß in derſelben die - jenige Warheiten bekannt gemacht werden / wel - che uns von der Art / wie wir nicht nur auf Er - den gluͤcklich werden / ſondern auch die zukuͤnftige Seligkeit nach Beſchaffenheit unſers gegenwaͤr - tigen Zuſtandes erlangen koͤnnen / alſo unterrich - ten / daß keine Furcht des Gegentheils uͤbrig bleibe / mithin die Seele von der Gnade Gottes / von Vergebung der Suͤnden / von der Sicher - heit wider Hoͤlle und Verdammnuͤs voͤllig verge - wiſſert werde: ferner / daß ſie uns zu einem H. Dienſt GOttes in allerley aͤuſerlichen heiligen Verrichtungen anweiſe / und endlich / daß ſelbige uns zu einem Heil. Wandel zulaͤngliche Bewe - gungs-Gruͤnde an die Hand gebe / ſolchergeſtalt / daß keine Tugend oder Lebens-Pflicht moͤglich ſey / welche ſie uns nicht auf das nachdruͤcklichſteanbe -206anbefehle / folglich in unſere aͤuſerliche ſowohl als innerliche Gluͤckſeligkeit den kraͤftigſten Einfluß habe. Sie muß alſo heilige und fromme Chriſten; aber auch gute Buͤrger und heilſame Glieder des Gemeinen Weſens machen. Wie weit die Evan - geliſch-Lutheriſche Religion dieß alles zu bewerck - ſtelligen Vermoͤgend / das wird derjenige erfah - ren / welcher dieſelbe in ihrer innern Natur und Beſchaffenheit gepruͤfet. Hat jemand den Vor - ſatz / die Warheit zu erkennen / welche ihn kan ruhig / fromm und ſelig machen / der wird ſich nimmermehr mit Grund beſchweren duͤrffen / daß ſie ihm keinen voͤlligen Bericht geben koͤnnen. Wollte GOtt / daß unſere Chriſten nur von dem / was in der E - vangel. Kirchen gelehret wird / ein rechtes Erkennt - nuͤß haͤtten und nach dieſem Erkenntnuͤß die Ent - ſchlieſſungen ihres Hertzens und die Bewegungen ihres Geiſtes beſtimmeten. Es wuͤrde denen / wel - che gern Haͤupter neuer Secten werden wollen / kein Schein und Vorwand uͤbrig bleiben / darunter ſie ſich verſtecken moͤchten. Allein nach dem gegen - waͤrtigen Zuſtand der Welt kan es wohl nicht anders ſeyn / als daß Rotten und Aergernuͤſſe bleiben / und nach denen Umſtaͤnden der Zeit und denen vielen Veraͤnderungen / ſo auf Erden vorgehen / ab und zunehmen muͤſſen. GOtt hat auch ſeine H. Urſachen / daß er es alſo geſchehen laͤſt: Doch kan er auch dieſes nach der unendli - chen Kraft / vermoͤge welcher alle menſchliche Din -ge207ge in ſeiner Hand ſind / maͤßigen / wenden / ſtoͤren / und wehren: der erhalte uns durch ſeinen Geiſt in der Warheit / die uns ſein Sohn ſelbſt gelehret hat und auch unſere Seelen kan ſelig machen: Er wolle auch alle Jrrige / Verfuͤhrte und Verfuͤhrer und unter denen auch Johann Conrad Dippeln auf den Weg der Warheit wieder bringen.

ENDE.

Nachfolgende Druckfehler / die den Sinn ver - duncklen / wolle der geneigte Leſer corrigiren.

Pag. 9. lin. 12. otia, ließ negotia. Pag. 34. lin. 2. er / ließ / es. Pag. 70. lin. 21. auch / ließ / auf. Pag. 91. lin. 6. aber / ließ / Aber / ſo. Pag. 183. lin. 8. vermuchten / ließ / vermuhten. Pag. 185. lin. 6. un - tergeht. ließ / angeht. Pag. 192. lin. 23. wo man es / ließ / wo es.

[208][209][210][211][212][213]

About this transcription

TextAchtzig erläuterte Grund-Fragen
Author Petrus Hanssen
Extent265 images; 47869 tokens; 7359 types; 335739 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationAchtzig erläuterte Grund-Fragen in welchen Die Lehre der Evangelisch-Lutherischen Kirche von dem Mittler-Ampt Jesu Christi und dessen Einfluß zu einem heiligen Leben wider ihre Feinde überhaupt, insonderheit aber wider den beruffenen Johann Conrad Dippel, der sich zum Beweiß seiner wunderlichen Gemühts-Neigung bishero Christianum Democritum genannt, solchergestalt befestiget, daß die dahin gehörige Warheiten nach Vernunft und Schrift auseinander hergeleitet, folglich in einer nohtwendigen Verbindung und unüberwindlichen Gewißheit dargestellet werden : Denen, die mit dergleichen schädlichen Lehren zum Argen versuchet worden, zur Warnung; schwachen Seelen zur Befestigung und neu-angehenden Predigern, um denen heutigen Zweiffelmachern desto gründlicher begegnen zu können, zu mehrerm Nachsinnen mitgetheilet Petrus Hanssen. . [4] Bl., 40, 207 S. s. e.LübeckHamburg1731.

Identification

Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Berlin SBB-PK, Ct 4540

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationGebrauchsliteratur; Theologie; Gebrauchsliteratur; Theologie; core; ready; china

Editorial statement

Editorial principles

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

Publication information

Publisher
  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-09T17:31:15Z
Identifiers
Availability

Distributed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial 3.0 Unported License.

Holding LibraryStaatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
ShelfmarkBerlin SBB-PK, Ct 4540
Bibliographic Record Catalogue link
Terms of use Images served by Deutsches Textarchiv. Access to digitized documents is granted strictly for non-commercial, educational, research, and private purposes only. Please contact the holding library for reproduction requests and other copy-specific information.