PRIMS Full-text transcription (HTML)
Virginia oder die Kolonie von Kentucky.
Mehr Wahrheit als Dichtung.
Herausgegeben vonJerta.
Erſter Theil. Mit einem Kupfer von Bollinger.
Berlin, beiAuguſt Ruͤcker. 1820.
[1]

An die Leſer.

Erſter Theil. [1][2][3]
Anders mahlt mit ihrem Zauberbilde
Anders ſich in jedem Kopf die Welt.
An dem Jndusſtrande und am Belt
Schmuͤcken andre Blumen die Gefilde.
Andre Regung bringt der Fruͤhlingsmorgen,
Andere die duͤſt’re Winternacht.
Was der Dichter, ſcheinbar frei, gedacht,
Mußte oft von der Umgebung borgen.
Zuͤrnt ihr mir? Daß ich ein Bild gewaͤhlet
Aus der Ungluͤcksjahre wuͤſtem Drang?
Wo der Nebel mit dem Lichte rang,
Mit der Wahrheit, Jrrthum ſich vermaͤhlet?
Zuͤrnet nicht, ich hab es nicht erfunden,
Nur empfangen von der Außenwelt,
Und, zur Schau, im Rahmen aufgeſtellt,
Jn der Muße launevollen Stunden.
[4]
Auch die Heldinn wollet mir nicht ſchelten,
Die ein ahndungsvoller Tag gebar,
Und geſpenſt’ge Bilder der Gefahr
Hin geſcheucht zu fernen fremden Welten.
Wo ſie irrte, fand ſie viel Geſpielen
Jn der Zeiten dunklem Labyrinth.
Doch ihr Wahn, er war der Flammen Kind,
Welche in der Menſchheit Glorie ſpielen.
Und ſie flieht der Selbſtſucht harte Bande,
Jhre Wahrheit flieht die Heuchelei,
Jhren Hochſinn, ihre zarte Treu,
Rettend in dem fernen Friedenslande.
Sendet ihr im friſchen Morgenwinde
Mild den Wunſch der Euch den Buſen dehnt,
Daß ſie, was Jhr alle ſucht und ſehnt,
Das verlorne Eden, wieder finde.
[5]

Virginia, oder die Kolonie von Kentucky. Erſter Theil.

[6][7]

Virginia an Adele.

Wie wirſt Du erſchrocken ſeyn, arme Adele, als Du mein Zimmer leer fandeſt? Wie ver - ſtohlen und mit immer ſteigender Angſt wirſt Du Dich nach mir erkundigt haben, faſt mehr fuͤrchtend meine Spur zu finden, als ſie zu ver - lieren. Glaube mir, dieſe Vorſtellung hat mich ſehr gequaͤlt. Gern haͤtte ich Dir mein Vor - haben vertraut. Es waͤre mir ſo ſuͤß geweſen, mich noch ein Mahl ſcheidend an die Bruſt zu legen, an der ich oftmals meine ſtummen Thraͤ - nen barg! Aber wie durft ich wagen, die Laſt dieſes Geheimniſſes auf Deine zarte Seele zu waͤlzen. Woher haͤtteſt Du die Faſſung ge - nommen, Deiner Mutter das gewoͤhnliche, kind - lich froͤhliche Maͤdchen zu zeigen? oder mit Un -8 befangenheit dem Spaͤherblicke Deines Vaters zu begegnen? Nein, ich konnte Dir dieſe Angſt nicht erſparen, ich glaube vielmehr, ich habe ſie abgekuͤrzt. Waͤhrend Du ſorglos ſchliefeſt, dann ahndeteſt, hoffteſt, zweifelteſt, trennten uns ſchon Berge und Thaͤler; ach! und wenn Du dieſen Brief erhaͤltſt, liegt das Welt - meer zwiſchen uns, und ich bin außer der Ge - walt der Menſchen, nur in der Gewalt Got - tes und ſeiner Elemente. Jhm, dem Allmaͤch - tigen, uͤbergebe ich mich; nur der Willkuͤhr der Menſchen widerſtrebt mein Herz, es hat zu viel unter ihren rohen Haͤnden gelitten. Jhre trium - phirenden Blicke koͤnnten mich bis in’s Grab treiben. Triumphirend? woruͤber denn? War’s ihr Verdienſt? O nein! Jhre Schlechtigkeit, ihre Raͤnke haben wohl mitgewirkt, deſſen moͤ - gen ſie ſich nicht uͤberheben. Aber auch die Schlechtigkeit ihrer Gegner, die Selbſtſucht Al - ler, zufaͤllige Ereigniſſe, was weiß ich? Am Ende Gott. Wohl, wohl! Ohne ſeine Zulaſ - ſung geſchieht nichts. Aber warum er es zu - laͤßt? wozu? da liegt’s. Mit der Beantwor - tung ſind die meiſten ſo fertig da, als habe9 der Ewige mit ihnen daruͤber berathſchlagt, und nur wenige fuͤhlen es lebendig, daß irren das ge - meine Loos der Sterblichen iſt, daß das Warum vielleicht erſt halb in kuͤnftigen Jahrhunder - ten, ganz erſt in der Ewigkeit begriffen wird. So viel aber iſt mir Armen klar, daß alles dieß nimmermehr geſchah, damit die P s und O s wieder in den Vorſaͤlen der Bour - boniden glaͤnzen moͤchten, oder die M s und R s auf ihren ehemaligen Schloͤſſern wieder ſchwelgen und Bauern quaͤlen koͤnnten. Noch viel weniger damit die Guͤter der Montorins und Polignys durch die Haͤnde Deiner ein - fachen Virginia und des zierlichen Louis ver - maͤhlt wuͤrden. Vergib mir, theure Adele! er iſt Dein Bruder; aber hat er Dein Herz? Und wenn ſelbſt nimmer, nimmer! Und wohnte auch in meiner Seele kein fremdes Bild, nimmer! nimmer! Er iſt nicht der Sohn meines Vaterlandes, wie wollte er mein Gefuͤhl verſtehen, wie das ſchonen koͤnnen, was er ver - dammt? O mein armes verrathenes, zerriſſenes, verlaſſenes Vaterland! auch Virginia muß dich verlaſſen, mit blutendem Herzen verlaſſen. Waͤre10 ſie ein Mann, ſie wuͤrde bleiben und kaͤmpfen; vielleicht koͤnnte ſie dir noch etwas nuͤtzen, und waͤrs auch nur mit ihrem Blute. Aber ein Weib, ein unterjochtes Weib? qualvolles, nutz - loſes Leben; da zu ſtehen im Kampf der Parteien, beobachtet in jeder Miene, gemiß - handelt um jeder unfreiwilligen Thraͤne, bearg - wohnt um jedes Wort, am meiſten beim dul - denden Schweigen! Nein, Vaterland, ich muß dich verlaſſen! Schweigen koͤnnte ich. Aber nein, ich ſoll reden, reden in ihrem Sinne. Nicht genug. Eine Bekehrungsgeſchichte mei - nes Jnnern muͤßte ich erluͤgen, verdammend anklagen meine angebohrnen Gefuͤhle, abſchwoͤ - rend darthun die ererbten Anſichten meines trefflichen Vaters. Ungluͤckliches Weib! Der Mann kaͤmpft fuͤr ſeine Meinung und macht ſich Bahn; das Weib ſoll keine Meinung ha - ben. Wie oft, froͤhliche Adele, habe ich Dich beneidet, daß Deine Gedanken nur den en - gen Raum zwiſchen der letzten Oper und dem naͤchſten Ball durchliefen; und doch ſtrafte mich ſogleich ein (wie mir ſchien) beſſeres Selbſt - gefuͤhl. Du begriffſt mich nicht, wenn Du meine11 Wange erblaſſen, mein Auge weinen ſahſt; doch liebten wir uns ſo herzlich, Du mit dem kindlich unbekuͤmmerten Gemuͤth, ich mit der Erkenntniß, daß nur zufaͤllige Umſtaͤnde uns ſo verſchieden gebildet, und Liebe und Guͤte, ſelbſt das ungleichſte binden koͤnnen. O, meine Adele! noch immer ſeh ich Dich, als Du zum erſten Mahl uͤbers Meer heruͤber gekommen warſt, und an der Hand Deiner Mutter in unſer Zimmer tra - teſt, ein freundliches, engelſchoͤnes Kind, kaum acht Jahr alt. Wie flog mein Herz Dir da entgegen, der juͤngeren lieblichen Schweſter; wie dankte ich dem Vater, daß er Euch durch ſei - nen raſtloſen Eifer die Ruͤckkehr bewirkt. O, waͤret Jhr doch nimmer wieder geſchieden! Dann haͤtteſt Du mich ganz verſtehen lernen mit zunehmenden Jahren, und ſpaͤtere Ereig - niſſe waͤren dir nicht unbekannt. So aber riß die Lebenswoge uns ſchon wieder aus einander, als du kaum das zwoͤlfte Jahr vollendet, und dem ſeltenen, gefaͤhrlichen Briefwechſel war nichts bedeutendes zu vertrauen, weniger noch dem ſtets beobachteten Geſpraͤch in den letzten Monden unſerer Wiedervereinigung. Und doch12 treibt mich ein unwiederſtehlicher Drang, Dir mein ganzes Jnnerſtes zu zeigen. Jch folge ihm; die Einſamkeit einer Seereiſe gibt mir volle Muße.

Ja, eine Seereiſe. Und weit, ſehr weit. Jn das Land der Freiheit ſchiffe ich hinuͤber. Wo mein Vater als Juͤngling kaͤmpfte unter dem Panier der Freiheit, wo mein hochherziger Oheim, fuͤr ſie blutend, ſtarb, da iſt mein zweites Vaterland. Amerika! Amerika! Schon erhebt ſich ein friſcher Oſtwind, Alles eilt an Bord. So lebe denn wohl Adele! Dieſer Brief muß ans Land. Ach, zum letzten Mahle ſehe ich den muͤtterlichen Boden, der mich gebar; ſeine freundlichen Rebenhuͤgel, das frohe Treiben im Hafen von Marſeille. Zum letzten Mahle ſchallen die muntern Lieder der Fiſcher zu mir heruͤber. O, es iſt ſchwer von der Heimath zu ſcheiden! Schwer, wie das Sterben! Sterben iſt ja auch nur eine Reiſe nach unbekannter Kuͤſte, ohne Wiederkehr. Lebe wohl, Adele! Lebe wohl, mein Frankreich!

13

Dieſelbe an dieſelbe.

Auf der Höhe von Gibraltar.

Die Sonne taucht freundlich aus den Fluthen herauf. Sie beleuchtet meinen Blicken zum letzten Mahle das daͤmmernde Europa. Thraͤnen benetzen meine Wangen, unwillkuͤhrlich ſtrecke ich meine Arme nach dem heimiſchen Geſtade aus! ach, es ſchwindet von Minute zu Minute weiter zuruͤck. Jch weine, ja, Adele, ich weine! Die Weiblichkeit behauptet ihre vollen Rechte, und draͤngt den maͤnnlichen Muth in den Hinter - grund. Jch habe mich auf einige Augenblicke in die Kajuͤte gefluͤchtet, um mich in der Ein - ſamkeit recht aus zu weinen. Große Schmerzen beruhigt der Menſch nur durch ſich ſelbſt, er erhebt ſich nur durch eigne Kraft. Die mitlei - digen Troͤſter, welche ſich auf dem Verdeck um mich her verſammelten, thaten mir nur weher. Wie kann man ſo in’s allgemeine hin zuſpre - chen, wo man die feinſten Urſachen der Ruͤh - rung nicht kennt, wohl ſelbſt ausgeſprochen nicht kennen wuͤrde! Wie will man den verwandten Ton treffen, um dieſen Mißklang in Einklang14 aufzuloͤſen! Sogar der freundliche Kapitaͤn ver - wies mich nur an mich ſelbſt, als er mir mit ſeiner ſchoͤnen Stimme voll Ruͤhrung ſagte: Liebe, ſchoͤne Miß, ſie verlaſſen ein Land voll Unruhe und Verwirrung; mein Vaterland, das heilige Land der Freiheit, wird ſie als Tochter aufnehmen, und dieſe bangen Thraͤnen trocknen. Betrachten ſie mich als ihren Bruder, und ge - bieten ſie uͤber Alles, was dieſer Bruder ſein nennt. Guter Mann! es iſt nicht das Ge - fuͤhl des Verlaſſenſeyns, was mich beklemmt. Jn den Saͤlen der Tuillerien wuͤrde ich mir viel verwaiſ’ter erſcheinen.

Siehe, meine Thraͤnen ſind waͤhrend des Schreibens getrocknet, und mein Muth kehrt zuruͤck. Jch muß wieder hinauf, damit der lange Aufenthalt in dem verſchloſſenen Raume mir nicht nachtheilig werde. Jch will nicht ſee - krank werden, wenn es irgend zu vermeiden iſt. Krankheit wirkt auf den Geiſt, aber der Geiſt beherrſcht mehr noch den Koͤrper. Der meinige ſoll ſich aufheitern und ſtark ſeyn. Nur noch einen Abſchiedsblick nach der Wiege mei - ner Kindheit, nach den Graͤbern meiner Lieben;15 dann theilnehmend gelebt mit der Gegenwart, und die Vergangenheit noch ein Mahl wieder - holt fuͤr meine Adele.

Unſer Leben gleicht des Jaͤgers Traͤumen,
Der am waldbekraͤnzten Huͤgel ruht.
Er entſchlief am milden Strahl der Sonne,
Von der Liebe, von der Jagden Wonne,
Und erwachet in der Stuͤrme Wuth.
Sohn des Huͤgels, morgen wirſt du fragen:
Was verloͤſcht Ronkatlins hellen Schein?
Hat das Meer den gluͤh’nden Stern verſchlungen?
Selmas Bardenharfen ſind verklungen,
Toskars Tochter klaget dort allein!
Ach, Malwina wandelt zu der Halle,
Staubumſchleiert lehnen Schild und Speer.
Es empfaͤngt ſie geiſterhaftes Grauſen,
Kleiner Menſchen Soͤhne drinnen hauſen,
Jhre Helden findet ſie nicht mehr.
Bald auch kehren Lutas ſanfte Maͤdchen,
Ohne die Geſpielinn von der Jagd,
Wenden ihren Thraͤnenblick voll Trauern
Nach Torluthas moosbewachſ’nen Mauern,
Wo der Eichen Flamme nicht mehr lacht.
16

Du ſiehſt, liebe Adele, daß Oſſian mein treuer Begleiter iſt. Wie haͤtte ich den ver - geſſen? er iſt ja ein Geſchenk von Dir. Jmmer ſchon war er mein Lieblingsdichter, und jetzt iſt er mir uͤber Alles theuer, das liebſte Gut, welches ich aus dem Schiffbruche gerettet. Erſt jetzt verſtehe ich ihn ganz, und bei ſeinen Klag - geſaͤngen ſchweigt mir das Leid im Buſen. Oft ſtehe ich noch Abends einſam am Maſte gelehnt, und betrachte die Gewoͤlke, welche der untergegangenen Sonne nachziehen. Dann will mich’s oft beduͤnken, als lagerten die Helden vergangener Zeiten auf ihrem roͤthlichen Saum. Theure Geſtalten! ihr begleitet Virginia nach dem Lande, wo ſie einſt ruhen wird unter dem mooſigen Steine, den die Hand eines Fremd - lings mitleidvoll auf ihren Huͤgel legt. Doch nicht von meinem Grabe wollte ich mit Dir reden, traute Adele, als ich dieſes neue Blatt anfing, ſondern von meinem Eintritt in das Le - ben, und wie ich das wurde, was ich bin.

Meinen17

Meinen Vater haſt Du gekannt, den ſchoͤ - nen, herrlichen Mann. Du erinnerſt Dich noch ſeines hohen maͤnnlichen Wuchſes, ſeiner ſtol - zen Stirn, ſeiner Adlernaſe, der ſanften gro - ßen blauen Augen, des freundlichen Mundes. Du weißt noch, wie ernſt und feſt, wie wild und freundlich er zu gleicher Zeit war. Als juͤngerer Sohn des Ritters von Montorin, fuͤr die Rechtsgelehrſamkeit beſtimmt, ſtudierte er auf dem Kollegium zu Aix als der Freiheits - kampf in Amerika alle Herzen der europaͤiſchen Jugend in Bewegung ſetzte. Sein aͤlterer Bru - der, ſchon fruͤher im Militaͤr angeſtellt, wußte es dahin zu bringen, daß er zu einem Regimente verſetzt wurde, welches, im Laufe des Krieges, zur Verſtaͤrkung der franzoͤſiſchen Huͤlfstruppen ein - geſchifft werden ſollte. Lange hatte ſich ein Oheim, deſſen Erbe er war, dieſem Wunſche auf das lebhafteſte wiederſetzt. Der jugendliche Enthuſiasmus ſiegte. Vor ſeiner Einſchiffung muͤnſchte der aͤltere den juͤngern Bruder noch zu ſehen, und nahm einen kleinen Umweg uͤber Aix. Hier ergriff nun meinen Vater das un - widerſtehliche Verlangen, den geliebten BruderErſter Theil. [2]18in dieſen ehrenvollen Kampf zu begleiten. Plu - tarch und Xenophon hatten den kaum erſt ſech - zehnjaͤhrigen Juͤngling zum Manne gereift. Er raffte zuſammen, was ſich ohne Aufſehen fort - bringen ließ, und folgte heimlich dem Bruder, um als Freiwilliger den Feldzug mit zu machen. Sie erreichten gluͤcklich den Hafen von Mar - ſeille, wo die Flotte bereit lag, ſie aufzuneh - men. Mit leichtem Herzen verließen ſie Frank - reich. Dieſelben Wellen, die immer hin und wieder kehren, auf deren Ruͤcken unſer Wa - ſhington dahin tanzt, dieſelben trugen ſie froͤh - lich zu dem erſehnten Ziele.

Mit hochklopfendem Buſen landeten die Juͤng - linge, und begannen den Kampf gegen die Macht des ſtolzen Englands. Drei Jahre fochten ſie neben einander, mit wechſelndem Gluͤcke, doch umſchwebte meiſtens der Sieg ihre Fahnen. Jhre Heldenherzen riſſen ſie zu jeder ſchwieri - gen Unternehmung voran. Wo die Gefahr war, fochten die Bruͤder. Bei Eutav wankte das Bataillon, welches der aͤltere als Oberſt kommandirte, auf einen Augenblick. Ein moͤr - deriſches Kartaͤtſchenfeuer der Englaͤnder trennte19 die Glieder; da entriß mein Oheim dem wei - chenden Faͤhnrich das Panier: Wer mich liebt und die Ehre, rief er der folge mir! Freiheit und Sieg! Freiheit und Sieg! Mit dieſen Worten ſtuͤrmte er im raſchen Laufe ge - gen die feindliche Batterie vor. Freiheit und Sieg! rief mein Vater; Freiheit, Sieg und unſer Oberſt! toͤnte es durch alle Glieder. Man ſtuͤrmte ihm nach. Die Batterie war genom - men, aber toͤdlich verwundet erreichte mein edler Oheim das Ziel ſeiner Anſtrengung. Ein Schuß in die Bruſt hatte ihn ſchon im halben Laufe getroffen. Er hielt die linke Hand feſt auf die Wunde gedruͤckt, um das fließende Blut noch einige Augenblicke aufzuhalten, pflanzte mit bebender Rechte die flatternde Fahne neben dem feindlichen Geſchuͤtz auf, und ſank dann ſterbend nieder. Mein Wunſch iſt erfuͤllt, ſagte er mit ſchwacher Stimme, der Sieg iſt unſer. Freiheit und Menſchenrechte habe ich dieſem dereinſt gluͤcklichem Lande erkaͤmpfen hel - fen. Weine nicht, mein Bruder, weinet nicht, Kameraden, ich ſterbe den ſchoͤnſten Tod. Mit dieſen Worten hauchte der jugendliche Held in*20den Armen des Bruders ſeine große Seele aus. Nur ein einfacher, kleiner Huͤgel konnte uͤber ſeine irdiſchen Reſte errichtet werden, aber ſein Pantheon iſt der Ort, wo er fiel, und mit heiliger Ehrfurcht, wie die Spartanerinn zu dem Paſſe von Ther - mopylaͤ, werde ich dahin wallen. Er kaͤmpfte nicht den zweideutigen Kampf fuͤr Land und Beſitzthum, er focht fuͤr fremdes Gluͤck, fuͤr die Menſchheit, fuͤr den Gott im Buſen. Jn den Jahren des Genuſſes, ließ er ein glaͤnzen - des Loos daheim, und hohe Erwartungen; trug in Wuͤſten alle Beſchwerden und Muͤhſeligkei - ten des Krieges, um fuͤr ein fremdes gedruͤck - tes Volk zu kaͤmpfen. Jndem ich mir ihn ſo vergegenwaͤrtige, fuͤhle ich, was Ahnenſtolz iſt, und wie er entſpringt. Ja, ich bin ſtolz auf ihn, auf den edlen nicht auf den adeligen Menſchen. Urſpruͤnglich waren beide Worte nur eins. Wehe! daß man in der Folge Zei - chen und Sache trennen mußte.

Nach dem Frieden kehrte mein Vater nach Frankreich zuruͤck. Er fand den alten Herzog, ſeinen Oheim, tief gebeugt, uͤber den Verluſt ſeines Lieblings, wurde aber, als nunmehriger21 Erbe, mit allen Zeichen der Werthſchaͤtzung em - pfangen, bei Hofe vorgeſtellt, bewundert und mit Schmeicheleten uͤberhaͤuft. Die Frauen fanden ihn unbeſchreiblich ſchoͤn, den Maͤnnern gebot er Ehrfurcht, ein Theil der juͤngern, nicht ſehr be - guͤnſtigten, ſchloß ſich mit Begeiſternng an ihn an. Der Oheim that zweckmaͤßige Schritte, und er - hielt die ſehr nahe Ausſicht zu einer anſehnlichen Hofbedienung fuͤr ihn. Mein Vater liebte aber den Hof nicht, ſo wenig man auch hinter ſei - nem gefaͤlligen, zarten Benehmen, welches der Abdruck ſeines menſchenfreundlichen Herzens war, ſeine Abneigung ahndete. Der Oheim war hoͤchſt unangenehm uͤberraſcht, als ihm mein Vater mit Feſtigkeit erklaͤrte, er werde ſich niemahls an den Hof feſſeln. Nun beſtand der Oheim darauf, ihm ein Regiement zu kaufen. Mein Vater unterdruͤckte die Aeußerungen ſeiner Ge - danken uͤber dieſes unrechtmaͤßige Verfahren, und weigerte ſich gleichfalls, ſcheinbar aus dem Grunde, weil er den Soldatenſtand nicht liebe. Man fand dieſe Abneigung hoͤchſt ungereimt an einem jungen Helden, der nur eben mit fri - ſchen Lorbern heimgekehrt war. Mein Vater aber22 erwiederte, es ſey ganz ein anderes fuͤr Frei - heit und Menſchenrecht in den Kampf zu ziehn, als auf Paraden zu glaͤnzen, und, als Soͤld - ling, voͤllig fremden Zwecken zu dienen. Man verſtand einander faſt gar nicht. Der Neffe wuͤnſchte, zu ſeinen Studien zuruͤck zu kehren, und mit ſeinen geliebten Griechen und Roͤmern zu leben; der Oheim nannte dieß Pedanterie und Verkehrtheit, wodurch er eben fuͤr die hoͤ - here Welt und ſeine glaͤnzenden Entwuͤrfe ver - dorben worden, und dem feinern Leben immer mehr entfremdet wuͤrde. Die Spannung ſtieg zwiſchen Beiden, ſo ſehr mein Vater ſich auch Muͤhe gab, durch kindliche Zuvorkommenheit, dieſe Unzufriedenheit zu bekaͤmpfen. Endlich erhielt mein Vater die Einwilligung, auf einige Zeit, ein kleines Gut in der Provence beſuchen zu duͤrfen, welches er von ſeiner Mutter geerbt, und ſeit ſeiner erſten Kindheit nicht geſehen hatte. Er verließ in den erſten Fruͤhlingsta - gen das geraͤuſchvolle Paris, wie der Vogel den Kaͤfich. Er hatte dort wohl Freunde ge - funden, aber die Luft, welche ſie gemeinſchaft - lich umfangen hielt, war ſo ſchwuͤhl, daß ſie das23 freie Aufathmen gar ſehr erſchwerte. Jetzt ſog er wieder die junge Bruſt voll friſcher Lebens - luſt und frohen Muth.

Du haſt Chaumerive geſehen, am noͤrdlichen Ufer der Durance, dieſen ſchoͤnen Schauplatz meiner frohen Jugend. Gewiß gedenkſt Du noch des blumigen Thales, das ſich, mit Reben - huͤgel umkraͤnzt, laͤngs den Ufern dahin zieht. Vor allen aber des dunklen Fluſſes, der vor unſrer Wohnung ſtroͤmt, von zahlloſen Fiſcher - barken bedeckt; denn gewiß iſt Dir die kuͤhne Wallfarth noch im Gedaͤchtniß, welche wir beide eines Nachmittags, auf ſeinem gruͤnen Uferwall unternahmen, um ſeinen Ausfluß in die Rhone zu ſehn. Wir gelangten dahin; aber ſchon be - gann die Sonne zu ſinken, als wir, gefeſſelt von dem großen Schauſpiel, an die Ruͤckkehr dachten, wo Dir dann Dunkelheit und Ermuͤ - dung manche Thraͤne auspreßten. Hierher be - gab ſich mein Vater. Freilich war es damals bei weiten nicht ſo reizend, als Du es gefun - den. Seit laͤnger als zwoͤlf Jahren von dem24 Beſitzer vernachlaͤſſigt, waren die Gebaͤude ver - fallen, die Gaͤrten verwildert, die Felder und Weinberge nur fuͤr den augenblicklichen Nutzen beſtellt. Mangel und Schmutz blickten aus den einzelnen Huͤtten hervor, und blaßgelbe Geſtal - ten, in Lumpen gehuͤllt, verrichteten traͤge die noͤthigen Frohnarbeiten. Doch die Natur war gleich uͤppig. Die wilde Durance tanzte eben ſo trotzig daher. Die dunkeln Oliven ſchattir - ten eben ſo anmuthig mit der friſchen Zitrone, und Tymian und Lawendel dufteten ſelbſt von oͤden Triften.

Es bedurfte nur feſten Willen, Einſicht und Geſchmack, um mit geringen Aufopferungen ein Paradies zu ſchaffen, welches ſpaͤterhin jedes Auge entzuͤckte. Mein Vater hatte ſchon im Augenblicke der Ankunft ſeinen Entſchluß ge - faßt. Er entließ den reich gewordenen Paͤch - ter, mit einer angemeſſenen Verguͤtung, ver - theilte den groͤßten Theil des Ackers unter ſeine Bauern, gegen eine jaͤhrliche geringe, von ihnen ſelbſt beſtimmte Pacht, und hob alle Zeichen der Dienſtbarkeit auf. Er ſtellte ſich den erſtaun - ten Menſchen, nur als ihren Freund und Rath -25 geber dar, und gewann alle Herzen. Jeder - mann griff muthig zur Arbeit, und die entwor - fene Verbeſſerung ruͤckte mit Rieſenſchritten vor. Der Weinbau wurde ganz auf die Huͤgel be - ſchraͤnkt, dort aber um ſo ſorgfaͤltiger betrieben. Es wurden fuͤr die Kelter nur gleichzeitig rei - fende Gewaͤchſe von verwandten Eigenſchaften gepflanzt. Der Oelbaum wurde nur ſparſam zwiſchen den Reben geduldet, und bekraͤnzte meiſt nur den Ruͤcken der Hoͤhen und die noͤrdliche Seite. Die Ebenen wurden mit Wei - zen beſaͤet, und ſorgfaͤltig von den ſchattenden Baͤumen und dem wuchernden Geſtraͤuche gerei - nigt. Die ſumpfigen Wieſen und Triften, laͤngs dem Fluſſe, wurden durch zweckmaͤßige Graͤben trocken gelegt und, durch Ausrottungen ein ſehr großer Theil Acker fuͤr den faſt unbekannten Kartoffelbau gewonnen. Auf dem magerſten Theil des Landes wurden Maulbeer-Pflanzungen angelegt, und Pommeranzen, Zitronen und alle uͤbrigen Obſtarten in den Gaͤrten mit großer Sorgfalt gezogen. So wurde durch kluge Son - derung dieſes mannigfaltigen, ſonſt durch ein - ander geworfenen Anbaues derſelben Grund -26 flaͤche, ein zehnfacher Ertrag abgewonnen. Ueppig wallte der goldne Weizen, wo ihn ſonſt der Maulbeerbaum und das Geſtraͤuch erſtickte, und der freie Weinſtock lieferte den koͤſtlichſten Wein. Die entwaͤſſerten Triften naͤhrten zahlreiche und kraͤftige Herden, wo ſonſt nur einige magere Kuͤhe des Paͤchters weideten. Jetzt nahm der Landmann, durch Vorſchuͤſſe meines Vaters un - terſtuͤtzt, an allen Theil, und Wohlſtand kehrte in ſeine reinliche Huͤtte zuruͤck, Geſundheit und Kraft ſprach ſich in ſeiner regſamen Geſtalt aus, und jene liebenswuͤrdige Froͤhlichkeit, welche den guten Provenzalen ſo eigenthuͤmlich iſt. O, wie wurde aber auch mein Vater von ſei - nen treuen Unterthanen geliebt! Seine Aus - ſpruͤche waren Orakel, ſeine Felder und Berge wurden am beſten bearbeitet, ſeine Bauten un - glaublich ſchnell ausgefuͤhrt, und bei den Aus - zahlungen entſtand nur Streit daruͤber, daß er zu viel geben, und der Arbeiter zu wenig nehmen wollte.

Welche hohe Zinſen trugen die kleinen, anfangs gemachten Aufopferungen! Wie wur - de ihm ſeine Leutſeligkeit in der Folge mit27 Wucher vergolten! Wie ruͤhrend aber war es auch, den edlen Mann im Kreiſe ſeiner Unter - thanen zu erblicken. Doch liebte er dieſe Be - nennung nicht; er nannte ſie nur ſeine Freunde. Jch bin aͤrmer als ſie, pflegte er zu ſagen, ich bedarf ihrer Huͤlfe mehr, als ſie der mei - nigen, denn ich bin weniger abgehaͤrtet, und mir ſind ſo viele Beduͤrfniſſe anerzogen, deren Entbehrung ſie gar nicht gewahr werden. Der fein gebildete Mann, deſſen geiſtreiche Unter - haltung von Hoͤflingen bewundert wurde, war mit dieſen Kindern der Natur ſo einfach als ſie. Er ſtimmte ſeine Begriffe zu den ihrigen herab, um dieſe zu lenken, legte oft geſel - lig Hand an bei ihren Arbeiten, miſchte ſich in ihre Spiele, und erfreute ſich herzlich bei ihren froͤhlichen Scherzen. Bei jedem trau - rigen, ja nur ruͤhrenden, Anlaß fuͤllte ſich au - genblicklich ſein blaues Auge mit Thraͤnen, welche er jedoch ſorgfaͤltig zu verbergen ſuchte. Er half, wo er konnte, und troͤſtete, wo keine Huͤlfe war. So trat er wie ein Halbgott unter dieſe gedruͤckten, vernachlaͤſſigten Menſchen und ein neuer Morgen brach an fuͤr dieſes kleine freund -28 liche Thal. Dem Vater ſelbſt ſchien ein ſchoͤ - nerer Lebensmorgen aufgegangen. Jm lieblich - ſten Wechſel flogen die Tage, flogen Sommer und Herbſt dahin. Die Muſen beſuchten ihn am winterlichen Kamine, deſſen Geſimſe es nie an friſchen Blumen gebrach. Hier ahmte er denn oft Anakreons Lieder nach beim ſchaͤu - menden Becher voll ſuͤßen, feurigen Moſtes, oͤfter noch die heimiſchen Geſaͤnge der alten Trouba - dours. So durch Einſamkeit und Dichtkunſt zur Liebe vorbereitet, fanden ihn die erſten entzuͤk - kenden Tage des neuen Fruͤhlings. Man hatte in Paris vergebens auf ſeine Ruͤckkunft gewar - tet, der Herzog hatte vergebens ſchriftlich dar - auf gedrungen; mein, ſich zu gluͤcklich fuͤhlen - der Vater, hatte immer aus zu weichen gewußt, indem er ſeine Gegenwart als nothwendig zur Vollendung der begonnenen Bauten darſtellte. Dieſe ſchilderte er ſo pomphaft, daß der Her - zog, von Ehrgeitz ergriffen, unaufgefordert große Summen uͤberſchickte, damit Provence und Languedoc von der Pracht ſeines Hau - ſes reden moͤchten. Wie weit aber war das, was mein Vater ausfuͤhrte, von dieſen ſtolzen29 Anſichten entfernt! Zwar hoͤchſt geſchmackvoll wa - ren die neuen Schoͤpfungen, aber auch eben ſo einfach; die Wohnung, von maͤßiger Groͤße, war nur fuͤr eine haͤuslich gluͤckliche Familie berechnet, in den Gaͤrten Schoͤnheit mit Nuͤtzlichkeit ge - paart. Die erſparten Summen kamen ihm gut zu Statten, ſeinen laͤndlichen Freunden auf zu helfen, und ſeinem neuen Wirthſchaftſyſteme Schwung zu geben. Gegen das Ende des Kar - navals hatten ſeine Pariſer Freunde beſtimmt auf ſeine Gegenwart gerechnet, und ihm vielfaͤltig ihre Erfindungen fuͤr die letzten Maskenbaͤlle mitgetheilt, woran er theilnehmen ſollte. Er lehnte ihre Einladungen ab; doch veranlaßten ſie ihn zu dem Einfall, zum Faſtnachtabend nach Aix zu reiſen, um der dortigen Maskera - de beizuwohnen. Mit innigem Vergnuͤgen be - trat er dieſe Stadt wieder, wo ſein Geiſt die erſte Nahrung erhalten, und wo noch ſo viele ſeiner Jugendgeſpielen lebten. Mancher von ihnen, der ſonſt mit ihm in einer Klaſſe ge - wetteifert hatte, riß jetzt auf der Redner - buͤhne des Parlements durch ſeine feurige Beredtſamkeit hin. Einer derſelben ich nenne30 ihn bei ſeinem Vornamen Victor der Sohn eines Kaufmannes, jetzt Parlaments-Advokat, ein feuriger, unternehmender Kopf, deſſen Herz fuͤr alles Große ſchlug, und der, mit Auf - opferung ſeiner ſelbſt, fuͤr das Recht kaͤmpfte, war außer ſich vor Freuden, ſeinen Leo wieder zu ſehn, und lud ihn, fuͤr die Nacht, in das Haus ſeines Vaters ein. Zuvor wollten ſich beide Freunde noch auf dem Orbitello treffen, und ſich des Maskengetuͤmmels freuen. Luſt und Leben empfing meinen Vater auf dieſem ent - zuͤckenden Corſo, mit welchem ſich kaum die Bou - levards von Paris meſſen koͤnnen. Die Baͤu - me bluͤhten, die Fontainen ſprangen, und bei jedem Schritt umringten ihn huͤpfende kleine Maͤdchen, reichten ihm duftende Straͤuße und baten um Zuckerwerk fuͤr die Schwalbe. Er ging froͤhlich auf dieſe alt griechiſche Luſt ein, und fuͤllte und leerte unaufhoͤrlich ſeine Taſchen fuͤr dieſe lieblichen kleinen Geſchoͤpfe. So ge - langte er zur mittleren Fontaine, wo er ſchon in der Entfernung ſeinen Freund erkannte, an ſeinem Arme hing ein Maͤdchen in der Tracht der Baͤuerinnen von Arles, dieſer faſt griechi -31 ſchen Kleidung, welche ſo ſchoͤn ſteht. Das kurze Unterkleid war aus blasrother Seide, und das Drolet oder Oberkleid aus dunkelgruͤnem Sam - met, um die dunklen Locken wand ſich ein Tuch in gleicher Farbe mit Gold durchwirkt. Schuh - ſchnallen und Armſpangen waren mit den ſchoͤn - ſten Edelſteinen beſetzt, und um den blendend wei - ßen Hals hingen blaßrothe Korallen. So erſchien dieſe Nymphengeſtalt zum erſten Male den ent - zuͤckten Augen meines Vaters. Sie ward meine Mutter! Du verzeihſt mir gewiß, daß ich bei dieſer Veranlaſſung etwas umſtaͤndlicher er - zaͤhle, als es wohl noͤthig iſt. Dieſer Moment entſchied ja uͤber das Leben zweier mir ſo un - endlich theuern Perſonen, und uͤber mein Da - ſeyn. Mein Vater war als Troubadour geklei - det, und Victor ſtellte ihm ſeiner Schweſter vor. Der Eindruck, den beide auf einander machten, war uͤberraſchend, und als man ſich in der Morgenfruͤhe trennte, waren beide von dem Gefuͤhl durchdrungen, daß Leben ohne einander Tod ſey!

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Die Liebe, dieſe Bluͤthenzeit des Lebens, dieſer Silberblick auf ſeines Stromes Wellen iſt nirgend maͤchtiger, als unter dem ſchoͤnen proven - zaliſchen Himmel, dem Vaterlande der Lieder. Hier nur vereinigt ſie Feuer und Zartheit in gleichem Maße, hier nur iſt ſie die einzige große Angelegenheit des Lebens. Auch meine Aeltern fuͤhlten ſie, vom erſten Augenblick, als ſolche. Leo athmete nur fuͤr ſeine Klara, und Klara dachte nur ihn. Victor war hoch erfreut uͤber das Buͤndniß zweier ihm ſo theuren Weſen, und ſeine ſiegende Beredtſamkeit riß den Vater mit ſich fort, der wohl anfangs etwas von Standesunterſchied bemerkte. Der Zeitgeiſt ent - faltete ſchon ſeine Schwingen, und fand beſon - ders in den beiden Freunden begeiſterte Herolde. Sie hatten fruͤher nur in der idealen Welt der Alten gelebt, und ſich von je Abkoͤmmlinge alt - griechiſcher Kolonien getraͤumt. Leo hatte in Amerika den Standesunterſchied, welcher ſei - nem ſanften Herzen niemahls zugeſagt, als un - bedeutend anſehen lernen, und Victors ſtolzes Selbſtgefuͤhl wurde davon beleidigt. So ſtand der Verlobung der beiden Liebenden kein Hin -derniß33derniß weiter im Wege, und Leo eilte auf Fluͤgeln der Liebe nach Chaumerive, um die noͤ - thigen Anſtalten zum Empfange ſeiner jungen Gattinn zu treffen. Er ſchrieb ſeinem Oheime mit aller kindlichen Zaͤrtlichkeit eines Sohnes und dem Entzuͤcken eines gluͤcklichen Braͤuti - gams, und bat um ſeinen Segen. Er ſaͤhe, fuͤr den ſchlimmſten Fall, wohl einer Unzufrieden - heit, einer Mißbilligung des ſtolzen Herzogs ent - gegen, doch hielt er dieſes fuͤr kein Hinderniß ſeines Gluͤcks, da er die Volljaͤhrigkeit erreicht hatte, und Chaumerive ſein unbeſtrittenes Ei - genthum war. Mochte doch der Herzog ihm die Erbſchaft ſeines Namens und ſeiner Guͤter entziehen, ſie waren niemals das Ziel ſeiner Wuͤnſche geweſen. Wie befremdet aber war er, als ihm ein Kourier die Antwort des Her - zogs uͤberbrachte, der ihn im ungemeſſenſten Zorn einen Niedertraͤchtigen nannte, der die Ehre ſeines Hauſes beſchimpfe, ihm befahl, ſo - gleich dieſe entehrende Verbindung fuͤr immer auf zu geben, und ſich zu ihm nach Paris zu verfuͤgen. Mein Vater war empoͤrt uͤber die - ſen Befehl. Er fuͤhlte ſich Mann, und wardErſter Theil. [3]34wie ein Knabe geſcholten. Daß er dieß nicht ſey, beſchloß er zu zeigen. Er reiſte ungeſaͤumt nach Aix, und beſchleunigte die Anſtalten zu ſeiner Vermaͤhlung. Er fuͤhlte zu zart, um ſeiner Clara und ihrer Familie, durch Mitthei - lung des erhaltenen Schreibens, truͤbe Stunden zu verurſachen. Er gedachte Claren kuͤnftig nach und nach mit der Spannung oder dem Bruche zwiſchen ihm und dem Oheime bekannt zu machen, da er annahm, ſie werde davon, bei dieſer Entfernung von Paris, in ihrem kleinen Paradieſe wohl nicht beruͤhrt werden. Am Ende ſieht der Oheim auch wohl die Sache, wenn ſie geſchehen, anders an, dachte er, als jetzt, wo er ſie noch zu hintertreiben hofft, und ſo uͤberließ ſich der gluͤckliche Leo, ohne Sorge, der Seligkeit ſeines neuen Standes. Wenig Tage nach der Vermaͤhlung, fuͤhrte er die geliebte Clara in ſeine Heimath. Die Bewohner von Chaumerive empfingen ihre ſchoͤne Frau, wie ſie ſie nannten, gleich einer Koͤniginn, und die freundliche Clara beſaß ſchon in den erſten Ta - gen alle Herzen, eben ſo unumſchraͤnkt, als ihr Leo. Du haſt, meine geliebte Freundinn,35 noch nach vielen Jahren geſehen, wie dieſes edle Paar geliebt wurde. Jeder Tag erhoͤhte ihr Gluͤck, denn an jedem Tage entdeckte einer an dem andern mehr liebenswuͤrdige Eigen - ſchaften. Schoͤne, ſelige Zeit! die nur zu bald endete, und nie in dieſer Reinheit wiederkehrte.

Kaum waren einige Monde, wie eben ſo viel gluͤckliche Augenblicke geſchwunden, als in einer rauhen Novembernacht ein ſtarkes Ge - raͤuſch meinen Vater aus den Armen ſeiner Gattinn aufſchreckte. Fackeln erleuchteten den Hof, er ſieht im Schein derſelben einen ver - ſchloſſenen Wagen halten, und in demſelben Augenblick treten Polizeibeamte zu ihm ein. Man zeigt ihm eine Lettre de cachet vor, und bemaͤchtigt ſich ſeiner Perſon. Kaum ver - goͤnnte man dem uͤberraſchten Ungluͤcklichen Zeit ſeine Lippen noch ein Mahl auf den Mund ſei - ner ohnmaͤchtigen Gattinn zu druͤcken. Man reißt ihn mit Raͤubereile hinunter. Am Wa - gen haben ſich einige wenige ſeiner erwachten Leute geſammelt. Sie wollen den geliebten*36Herrn mit ihrem letzten Blutstropfen verthei - digen; man donnert ſie im Namen des Koͤ - nigs zuruͤck, der Wagen wird verſchloſſen, und dahin rollt er unaufhaltſam der furchtbaren Ba - ſtille zu. Mein Vater, mein armer betaͤubter Vater allein, und fuͤr den Augenblick ohne Aus - ſicht auf Rettung. Aber er hatte eine maͤnn - liche Seele, und dieſe verzweifelt nie. Der Mann wagt auch den mißlichſten Kampf mit dem Schickſal, und gibt die Hoffnung des Sieges nur mit dem letzten Lebensfunken auf. Wer vermoͤchte aber wohl die Verzweiflung ſeiner ungluͤcklichen Klara zu ſchildern, als ſie von ihrer tiefen Ohnmacht erwachte! Noch nach ſpaͤten Jahren gerieth ſie außer ſich, wenn ſie von dieſer fuͤrchterlichen Nacht ſprach. Sie umklammerte dann unwillkuͤhrlich meinen Vater mit krampfhafter Staͤrke, als fuͤrchte ſie, ihn aufs neue zu verlieren, und Thraͤ - nen und Kuͤſſe uͤberſtroͤmten ſein Geſicht. Damals fehlte der Ungluͤcklichen ſogar die Wohlthat der Thraͤnen. Stumm, gleich ei - nem Marmorbilde, ſaß ſie da. Jhre Kam - merfrau handelte an ihrer Statt, und ſandte37 einen treuen Bothen zu Pferde nach Aix. Vic - tor ſchaͤumte vor Wuth, er uͤberſah mit einem Blick den ganzen Zuſammenhang, und zugleich fuͤhlte er in ſeinem Buſen Kraft zu helfen, und ſelbſt mit den Machthabern in die Schranken zu treten. Er verſah ſich mit Geld und Wech - ſeln, nahm Kourierpferde, und flog zu ſeiner an - gebeteten Schweſter. Hier erſchien er, wie ein rettender Engel. An ſeiner hohen Kraft rich - tete ſich die Troſtloſe muͤhſam auf. Er hauchte ihr einen Theil ſeiner Hoffnung ein, und be - gab ſich ungeſaͤumt mit ihr nach Paris.

Jede zuruͤckgelegte Station belebte den Muth der ungluͤcklichen Frau, ſie kam ja dem Gelieb - ten naͤher, und ſchon allein in den Ringmauern derſelben Stadt mit ihm zu leben, ſchien ihr ein Gluͤck gegen jene ſchreckliche Entfernung. Victor hoffte noch zuverſichtlicher. Die Nota - blen waren verſammelt, alle Deputierte ſeiner Provinz waren ihm bekannt und befreundet, er durfte auf ihre kraͤftigſte Unterſtuͤtzung rechnen. Seine Angelegenheit ſchien ihm die Sache der ganzen Menſchheit; wie konnte man ihm Ge - rechtigkeit verſagen? Jn dieſer Stimmung kam38 das Geſchwiſterpaar in Paris an. Klara ver - langte durchaus in einem Gaſthofe, der Ba - ſtille ſo nahe als moͤglich, zu wohnen, denn es ſchien ihr unbezweifelt gewiß, daß ihr Gemahl ſich in derſelben befinde. Victor fand es frei - lich ſehr moͤglich, daß er nach einem anderen, weit entfernten, feſten Schloſſe gebracht worden ſey; doch widerſprach er der Trauernden nicht, und gewaͤhrte ihr gern den ſchwachen Troſt. Er ſelbſt fing ſeine Nachforſchungen mit raſtloſem Eifer an. Er ſprach mit ſeinen Freunden, ging nach Verſaille, um den Grafen von Mirabeau, einen alten Freund ſeines Hauſes, auf zu ſu - chen. Ueberall fand er die herzlichſte Theilnahme und den beſten Willen zu helfen; doch war die Sache ſo leicht nicht, als er gewaͤhnt. Alles kam darauf an, zu erfahren, wohin der Gefangene ge - bracht worden, und hieruͤber gelangte man durch - aus nicht zur Gewißheit. Zwar hatte man von Chaumerive den Weg nach Paris genommen, ſo viel hatte man in der Nachtbarſchaft erfahren; ob man aber nicht ſpaͤterhin dieſe Straße ver - laſſen, wer konnte das verbuͤrgen? Der Herzog, welcher am erſten Auskunft zu geben vermochte,39 war faſt unzugaͤnglich. Er weigerte ſich durch - aus Victor zu ſehen, ließ ihn jederzeit abweiſen, ſo oft er auch die Verſuche, ihn zu ſprechen, er - neuerte. Nicht gluͤcklicher waren die Bemuͤhungen derer, welche ihr Rang in ſeine Zirkel fuͤhrte. Der alte Hofmann ſtellte ſich voͤllig unwiſ - ſend. Nach vielen mißlungenen Schritten brachte es Mirabeau dahin, daß Victor eine geheime Audienz beim Koͤnige erhielt. Der Monarch ſchien zwar geruͤhrt bei der lebhaften Schilde - rung des jungen Mannes, doch meinte er, man muͤſſe die Anſichten eines herzoglichen Hauſes auch beruͤckſichtigen, deſſen Haupt einer ſeiner aͤlteſten und treuſten Diener ſey. Alles, was man zuletzt erhielt, war ein Befehl an den Gouverneur der Baſtille, daß, wenn ſich ein Gefangener dieſes Namens in ſeinem Gewahr - ſam befinde, dieſem, unter gehoͤriger Vorſicht, eine Zuſammenkunft mit ſeiner Gattinn und ſei - nem Schwager zu geſtatten. Mit dieſem theu - ren Papier eilten die Hoffnungsvollen in die finſtern Mauern. Klarens Herz ſchlug laut vor ungeſtuͤmer Freude. Aber o Schrecken! dem Gouverneur war dieſer Name gaͤnzlich unbe -40 kannt. Er ſchlug nach vielen Weigerungen die Regiſter vom Monat November auf, doch ver - gebens. Victor entdeckte zwar, bei einer raſchen Wendung, daß um dieſe Zeit ein junger Mann eingebracht worden, aber Name und Wohnort trafen nicht zu. Klara verlangte, voll ahnden - den Gefuͤhls, dieſen Unbekannten zu ſehen, aber der Gouverneur ſchlug es mit Feſtigkeit ab. Der Befehl laute nur auf eine beſtimmte Per - ſon, alles uͤbrige ſey gegen ſeine Pflicht. Hart von Natur, und mehr noch durch Gewohnheit, weigerte er ſich auch nur die mindeſte Auskunft uͤber dieſen Unbekannten zu geben. So verließ man dieſen Ort des Schreckens voͤllig unver - richteter Sache. Klara mit der feſten Ueber - zeugung, der Unbekannte ſei ihr Gemahl, Vic - tor zweifelhaft. Neue Verſuche, neue Hinder - niſſe. Dem Koͤnige war ſchwieriger beizukom - men. Er hielt es fuͤr unmoͤglich, daß Jemand unter fremden Namen gefangen ſaͤße, und ver - weigerte eine Erlaubniß, dieſen Fremden zu ſehn, weil Staatsgeheimniſſe dabei gefaͤhrdet werden koͤnnten. Am Ende gab er einen aͤhnlichen Be - fehl fuͤr St. Vicenz, und die Geſchwiſter rei -41 ſeten dahin, obwohl Klara keinen Erfolg davon hoffte. Die Nachforſchungen waren wieder ver - geblich. So ging der Winter, und der groͤßte Theil des Fruͤhlings voruͤber. Meine arme Mutter ruͤckte ihrer Entbindung immer naͤher, und verſank immer tiefer in Gram. Jhre einzige Erholung war, auf dem Platze vor der Baſtille auf und nieder zu gehn, und die duͤſtern Mauern an zu blicken, die ihr Alles umſchloſſen. Jhr Bruder konnte ſie zu keinem andern Spaziergange mehr bereden. Man kannte ſie hier ſchon, und nannte ſie nur die ſchoͤne Trauernde; Jedermann betrachtete ſie mit Theil - nahme. Jhr Bruder traf jetzt nur auf lebhaft beſchaͤftigte und bewegte Gemuͤther; die Span - nung zwiſchen den Notablen und dem Hofe ſtieg aufs hoͤchſte, und die Gaͤhrung war allgemein, in ihr ging alles Einzelne unter. Auch Victor, ob er gleich das Schickſal ſeines Freundes nie aus den Augen verlor, warf ſich doch mit Feuer in die oͤffentlichen Angelegenheiten. Jhm war klar, daß eine große Umwaͤlzung der Dinge unvermeidlich und nothwendig ſey. Die Hoffnung fuͤr ſeinen Leo knuͤpfte er an das all -42 gemeine Wohl, und raſtloſer als einer arbeitete er, an der neuen Organiſation.

So kam der Julius heran, dieſer ſo oft beſchriebene, und in der Weltgeſchichte ewig merkwuͤrdige Monat. Meine Mutter wurde von all dem Treiben um ſie her, nur ſehr we - nig gewahr, ihr tiefer Kummer machte ſie un - empfaͤnglich fuͤr die Außenwelt. Sie hoͤrte es kaum, wenn man ſie bedauerte, und Voruͤber - gehende ſie laut ein Opfer der Tyrannei nann - ten. Tief in ſich gekehrt ging ſie auch am 14ten Julius Mittags auf ihrem gewoͤhnlichen Spaziergange auf und nieder, und es dauerte lange, ehe das Herbeiſtroͤmen einer zahlloſen Volksmenge ſie aufmerkſam machte. Man um - ringt ſie, Weiber und Maͤdchen umwinden ſie mit dreifarbigen Baͤndern auch Du ſollſt ge - raͤcht werden! rufen ſie. Das Getuͤmmel nimmt zu. Von allen Seiten das Geſchrei: Nieder mit der Baſtille, nieder! Kanonen werden aufgepflanzt, die Thuͤrme vom Zeughauſe und vom Garten werden eingeſtoßen, Loͤcher in die43 Mauern gebrochen. Meine Mutter faͤngt an zu begreifen, was vorgeht, ſie zittert vor Schreck und Freude, ſie ſinkt auf die Knie und ſtreckt die Arme nach dem fuͤrchterlichen Gefaͤngniſſe aus; die Sinne vergehen ihr, die mitleidigen Umſtehenden ſind kaum im Stande ſie gegen den gewaltſamen Andrang der Menge auf einige Augenblicke zu ſchuͤtzen. Da arbeitet ſich Vic - tor durch das dichteſte Gedraͤnge, faßt ſeine ohnmaͤchtige Schweſter in ſeine Arme, draͤngt ſich mit Rieſenkraft ruͤckwaͤrts, und traͤgt ſie in ihre Wohnung zuruͤck. Sie ſchlaͤgt die Augen auf, aber in demſelben Momente ſtellen ſich auch heftige unbekannte Schmerzen ein, alles verkuͤndigt eine beſchleunigte Entbindung. Vic - tor ruft um Huͤlfe, er uͤbergibt ſie der Sorg - falt der Frauen, ſpricht ihr Muth ein und ſelige Hoffnung, und eilt zuruͤck, wohin Begei - ſterung und Pflicht ihn rufen. Er legt mit der Staͤrke eines Raſenden Hand an, er iſt der Zweite in der Breche. Wuͤthend packt er ei - nen der Jnvaliden, er muß ihm die Eingaͤnge zu den Gefaͤngniſſen zeigen, und ohne auf die uͤbrigen Ereigniſſe zu achten, iſt ſein einziges44 Streben, die Thuͤren dieſer hoͤlliſchen Behaͤl - ter zu oͤffnen. Werkzeuge ſind ſchnell gefunden, auch huͤlfreiche Arme in Menge. Man befreit eine ziemliche Anzahl der ungluͤcklichen Schlacht - opfer tyranniſcher Willkuͤhr, doch findet ſich kein Leo. Endlich weicht eine beſonders ſtark befe - ſtigte Thuͤr, und mein Vater ſtuͤrzt dem freude - ſchwindelnden Victor in die Arme. Freiheit iſt das erſte Wort, welches aus beider Bruſt ſich hervordraͤngt, das zweite Klara! Lebt ſie? ruft mein Vater. Sie iſt hier! ſchreit mein Oheim! und ſo machen ſich Beide, feſt umſchlungen, un - aufhaltſam Bahn durch die theilnehmende Menge. Sie erreichen faſt athemlos Klaras Wohnung. Meine Mutter lag blaß und erſchoͤpft im Bette, ich ruhte an ihrer Bruſt. Seit wenig Minu - ten hatte ich das Licht der Welt erblickt. Mein Vater ſtuͤrzte knieend an dem Bette nieder. Jn ſprachloſer Freude hing er an den Lippen der Geliebten, und uͤberſtroͤmte ihre Haͤnde mit Thraͤnen und Kuͤſſen. Dann nahm er mich in ſeine Arme, und druͤckte mich, gewaltſam ſchluch - zend, an ſein Herz. Ploͤtzlich hob er mich hoch in die Hoͤhe, und rief laut und feierlich:45 Virginia, Virginia! du theures Pfand der neuen Freiheit! Roms Virginia ſprengte durch ihren Tod Roms Bande; du verbuͤrgſt mir durch den Augenblick deiner Geburt die Freiheit dei - nes Vaterlandes, und knuͤpfeſt mich mit tauſend neuen Banden an daſſelbe. Er legte mich wieder auf das Bett, und ſeine Rechte ſegnend auf meine Stirn. Victor kniete tief erſchuͤttert ne - ben ihm, und legte ebenfalls ſeine Hand, wie zum Schwur, auf mein Haupt. Freiheit und Vaterland! Freiheit und Gleichheit! ſprach er mit hohem Ernſte. Vaterland, Freiheit und Gleichheit! ſprach mein Vater ihm nach. Dann ſchlugen beide Maͤnner kraͤftig die Haͤnde in einander, und umarmten ſich. Laͤchelnd und ſelig ſah meine Mutter auf dieß erhabene Schau - ſpiel herab. Sieh, Adele, ſo wurde ich gebo - ren. Koͤnnte ich es jemals ertragen, daß man den 14ten Julius mit Schmaͤhungen belegt? wuͤrden die Deinen mein Feſt jemals mit gu - tem Herzen feiern wollen? Nein, Virginia, die erſtgeborne Tochter der Freiheit, muß in einem freien Lande ſterben.

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Von dieſem Zeitpunkt an waren meine Ael - tern auf immer vereinigt und gluͤcklich. Die Begebenheiten, die den Thron erſchuͤtterten, hat - ten ihr Gluͤck gegruͤndet. Konnte die dankbare Erinnerung daran, ſie jemals verlaſſen? konn - ten ſie jemals vergeſſen, daß die Deſpotie die erſten friſcheſten Bluͤthen dieſes Gluͤckes abge - ſtreift? Mein Vater theilte nunmehr ſeine Zeit zwiſchen den Freuden ſeiner Haͤuslichkeit und den ernſten Bemuͤhungen fuͤr das oͤffent - liche Wohl. Er erneuerte ſeine fruͤheren Ver - bindungen, und knuͤpfte neue. Sein Einfluß wurde bei den Berathſchlagungen und Entwuͤr - fen von ſegensreichem Nutzen. Auch auf ſeine Familie wendete er ſeine zaͤrtlichſte Sorge. Sein edles Herz mochte nur Boͤſes mit Gutem ver - gelten, und ſein uͤberlegener Verſtand floͤßte ihm gegen die Verkehrtheiten der Menſchen mehr Mit - leid als Zorn ein. Er verſuchte den alten Her - zog zu ſehn, und hoffte ihm in dieſer Kriſis nuͤtzlich zu werden. Aber der erbitterte Mann wich allen ſeinen Bemuͤhungen aus, und war einer der erſten, welche die Sache ihres Va - terlandes und ſeinen heiligen Boden verließen. 47Naͤchſtdem war meines Vaters erſter Weg zu Deiner Mutter. Er hatte dieſe, ſeine einzige Schweſter, zwar wenig gekannt, aber er liebte ſie mit bruͤderlichem Herzen. Sie war, als er nach Amerika ging, noch ein zartes Kind, und befand ſich ſchon im Kloſter St. Cyr zur Er - ziehung. Nach ſeiner Zuruͤckkunft hatte er ſie mehrere Mahle dort beſucht, und ſich ihrer auf - bluͤhenden Schoͤnheit und ihres ſanften We - ſens gefreut. Aber ein Sprachgitter bleibt immer eine Scheidewand zwiſchen liebenden Geſchwiſtern, welche, wenn auch nicht die Liebe mindert, doch die Vertraulichkeit hemmt. Mein Vater war ſchon in Chaumerive, als er erfuhr, daß der Herzog Deine Mutter an den Hof gebracht, wo ſie vielen Beifall ernte. Um die Zeit ſeiner eigenen Verheirathung hoͤrte er, ſie werde ſich mit dem Herzog von P. vermaͤh - len. Er ſchrieb ihr, ſie antwortete ihm zwar zaͤrtlich, doch ſehr ſchuͤchtern, und deutete auf den Zorn des Oheims, und auf die Beſchraͤn - kung, worein ihre nahe bevorſtehende Verbin - dung ſie zu verſetzen drohe. Sie pries ihn gluͤcklich, als Mann ſein Schickſal einiger Ma -48 ßen ſelbſt beſtimmen zu koͤnnen, und wuͤnſchte ihm herzlich Gluͤck, doch warnte ſie ihn zugleich mit maͤdchenhafter Furchtſamkeit. Zu dieſer ge - liebten Schweſter flog nun mein Vater. Sie empfing ihn mit der lebhafteſten Freude, aber ihr Herz beklemmten aͤngſtliche Sorgen. Jhr Gemahl hatte ihr wenige Stunden zuvor ange - kuͤndigt, daß die Prinzeu entſchloſſen waͤren, uͤber die Graͤnze zu gehen, in Hoffnung, daß der groͤßere Theil des Adels ihnen folgen werde, und daß man von dort aus den Anmaßungen des dritten Standes vernichtend begegnen koͤnne. Er hatte ihr befohlen, ſich reiſefertig zu halten, um ihm zu folgen. Sie befand ſich im neun - ten Monat ihrer Schwangerſchaft, liebte ihre Umgebung, und fuͤrchtete den unbekannten rau - hen Norden. So ſank ſie weinend in die Arme ihres bekuͤmmerten Bruders. Der Her - zog Dein Vater trat kurz darauf ins Zimmer. Die Begruͤßung der beiden Schwaͤger war kalt und foͤrmlich. Mein Vater lenkte ſogleich das Geſpraͤch auf das Jntereſſe der Zeit, der Dei - nige wich ihm mit ſtolzer Hoͤflichkeit aus, oder ſprach mit wegwerfender Anmaßung ab. Jenerbe -49beſchwor ihn zwar, wenigſtens Ruͤckſicht auf ſeine kraͤnkelnde Gattinn zu nehmen, fand aber kein Gehoͤr. Seine redlichen Anerbietungen zu ſichern - den Maßregeln, in Betreff der Guͤter, fuͤr den ſchlimmſten Fall, wurden mit Mißtrauen, ja faſt mit Hohn, zuruͤck gewieſen. Denſelben Er - folg hatte ſein edler Wille bei ſeinem Oheim, dem Herzog, auch er verſpottete jede Aeußerung von Beſorgniß und wies jede, ihm angebotene Dienſtleiſtung, in den beleidigendſten Ausdruͤcken, zuruͤck. Dennoch hat mein Vater dieſen Undank - baren in der Folge, wider ihren Willen, die groͤßten Dienſte geleiſtet, indem er ihre Guͤter, unter Mitwirkung einiger ſeiner bewaͤhrteſten Freunde, durch Scheinkaͤufe groͤßten Theils rettete, und ihnen von Zeit zu Zeit einen Theil der Einkuͤnfte, mit großer perſoͤnlicher Gefahr, uͤberſendete. Fuͤr jetzt konnte er fuͤr die geliebte Schweſter nichts weiter thun, als daß er ihr die Verguͤnſtigung aus - wirkte, nach England zu gehen, wohin er ihr Paͤſſe verſchaffte. Victor beſorgte, durch die Handels - verhaͤltniſſe ſeines vaͤterlichen Hauſes, eine ſchnelle und bequeme Ueberfahrt, eben ſo Anweiſung bedeutender Summen auf Londoner Haͤuſer. Erſter Theil. [4]50So wurde deine gute Mutter, wider ihren Wil - len und mit einer grauſamen Eile, wie die Um - ſtaͤnde ſie forderten, aus ihrem Vaterlande und aus den Armen ihres kaum wiedergefundenen Bruders geriſſen .. Kaum hatte ſie den eng - laͤndiſchen Boden betreten, als ihre Niederkunft heran nahete, und ſie Deinen Bruder Louis gebahr.

Die Revolution ging nun ihren raſchen Gang. Mein Vater und ſein Freund ſchwammen in Seligkeit, alle die Traͤume ihrer fruͤheren Juͤng - lingstage, in die Wirklichkeit heraus treten zu ſehen. Beſchluͤſſe wurden gefaßt, Grundſaͤtze wurden aufgeſtellt, welche die Bewunderung der Welt erregten. Europa ſah eine herrliche Mor - genroͤthe aufgluͤhen, und der groͤßere Theil ſei - ner Bewohner jauchzte ihr entgegen. Arme Sterbliche! ihr haͤttet bedenken ſollen, was ſchon die Erfahrung dem Landmann lehrt, daß das hochflammende Roth im Oſten, auf einen ſchwuͤlen Gewittertag deutet. Das ganze Heer menſch - licher Leidenſchaften miſchte ſich ins Spiel, und51 verfaͤlſchte die reine Begeiſterung, welche das große Werk begonnen. Die Edlen unter den Volksfuͤhrern, befanden ſich in der Lage des Siſyphus, der Stein rollte wieder bergab, wenn ſie ihn bis zur Hoͤhe gewaͤlzt zu ha - ben glaubten, und viele wurden von ſeinem ge - waltſamen Sturz zerſchmettert. Mein Vater redete und handelte muthig fuͤr ſeine Ueberzeu - gung, aber er ſahe mit Schmerz daß das begon - neue Werk nicht nach ſeinem ſanften edlen Sinne zu beendigen ſey. Er hatte in ſeiner großen Seele der Menſchheit einen hoͤheren Grad der Reife zugetraut, als er jetzt fand. Mirabeau ſtarb, die Jacobiner organiſirten ſich, und die Parteien fingen an ſich zu bekaͤmpfen. Der Hof und das Ausland trieben ihr finſteres Spiel, und verwirrten die geheimen Faͤden des Gewe - bes ſo kuͤnſtlich, daß man bei den meiſten un - glaublichen Begebniſſen, nicht mit Gewißheit ſagen konnte, von welcher Seite die wirkſam - ſten Schlaͤge gekommen. Sicher haͤtte deſſen un - geachtet mein Vater den Kampf nicht geſcheut; doch meine Mutter zitterte fuͤr den theuern ſchon ein Mahl verlorenen Gatten. Sie beſchwor*52ihn taͤglich, dieſen unſichern Schauplatz zu ver - laſſen, und ſie zuruͤck zu fuͤhren in ihre gluͤckliche Heimath. Er konnte auf die Laͤnge, ihren Thraͤnen nicht widerſtehen; auch zog ihn die Sorge fuͤr ſeine verlaſſenen Anlagen und fuͤr das Wohl ſeiner Bauern zuruͤck nach Chau - merive, Victor blieb in Paris. Sein Feuer - geiſt fand ſich am Rande des Vulkans in ſei - nem Elemente.

Jn Chaumerive legte nun mein Vater alle Auszeichnungen ſeines Standes voͤllig ab. Die Wappen wurden uͤberall abgenommen, die Li - vreen abgeſchafft. Man richtete ſich bequem, aber ſehr einfach, ein. Mein Vater verſammelte die ſaͤmmtlichen Bewohner, nannte ſie ſeine guten Freunde und Nachbarn, erklaͤrte ſich ganz fuͤr ihres Gleichen und bat ſie, ihn nie mehr gnaͤ - diger Herr, ſondern ſchlechtweg Buͤrger zu nen - nen. Die guten Leute erſtaunten, doch waren ſie ſchon an einen hohen Grad von Leutſeligkeit und Gleichheitsſinn bei meinem Vater gewoͤhnt, und liebten ihn nun nur um ſo ſtaͤrker. Sie leg - ten ihm Rechenſchaft ab von ihren Haushalt, waͤhrend ſeiner Abweſenheit. Sie hatten ſeine53 Aecker, gleich den ihrigen, beſtellt, und den Er - trag gewiſſenhaft bewahrt. Mein Vater bezeigte ihnen ſeine lebhafte Dankbarkeit, und die guten Menſchen glaubten ſich ihm verpflichtet. Es knuͤpften ſich die ſchoͤnen Bande der gegenſeiti - gen Liebe und des Vertrauens immer feſter, und trotzten allen nachfolgenden Stuͤrmen der Zeit. So unruhvoll und blutig auch die folgen - den Jahre fuͤr Frankreich geweſen ſind, mein friedliches Thal, die Wiege meiner Kindheit, iſt, Dank der Sinnesart meines guten Vaters! im - mer ſo ruhig und gluͤcklich geblieben, als laͤge es auf einer Jnſel des ſtillen Oceans.

Der benachbarte Adel nannte ihn anfangs einen Tollhaͤusler, und wich ihm aus; ſpaͤter - hin hielt er ihn fuͤr einen Schlaukopf, und ſuchte oft ſeine Vermittelung. Erkannt haben ihn nur Wenige; man hielt fuͤr Klugheit, was nur Vernunft und Gefuͤhl war.

Jn dieſer ſchoͤnen Umgebung, an der Hand der Liebe, ging ich meine erſten Schritte, hier wurde mein Geiſt ſich ſeiner bewußt. Meine Aeltern machten zu meiner Erziehung keine kuͤnſt -54 lichen Anſtalten, man uͤberließ mich der Natur, und dem guten Beiſpiele. Liebe, die zaͤrtlichſte aufopferndſte Liebe umgab mich, und erzeugte in mir tiefes, reges Gefuͤhl. Mein Geiſt bedurfte kei - nes Sporns, er entwickelte ſich uͤberaus fruͤh - zeitig, und ſchaffte ſich Nahrung. Jch lernte faſt von ſelbſt leſen, in einem Alter, wo andere Kinder kaum einige Worte im Zuſammenhange ausſprechen. Meine Mutter ſchaffte mir Pup - pen an und anderes Spielgeraͤth, ich wußte eben nichts damit anzufangen, und warf es bald bei Seite, traurig fragend Was ſoll Vir - ginia nun machen? Meine Mutter begriff dieſe Eigenheit nicht, und verlor oft die Geduld. Mein Vater erhielt, durch einen Zufall, ein altes Werk, welches meine kindiſche Aufmerkſamkeit auf ſich zog. Es war eine Weltgeſchichte, durchweg in Kupfern bildlich dargeſtellt, der Text dane - ben in veraltetem, doch kraͤftigem Styl. Jch beſah eifrig die wirklich ſchoͤnen Kupfer, und verlangte ihre Erklaͤrung; meine Mutter verſtand ſich we - nig darauf, und fertigte mich mit Auslegungen ab, welche ſie fuͤr mein Alter paſſend glaubte, die mir aber nicht genuͤgten. Jch wendete mich55 an meinen Vater, und dieſer erklaͤrte mir die Bil - der einfach, aber wahr. Jch hing an ſeinen Lippen, und wollte ihn nimmer wieder laſſen; aber der gute Vater mußte doch oft abweſend ſeyn, und ich blieb dann mit meinem lieben Buche allein. Wenn du erſt leſen kannſt, troͤ - ſtete mich der Vater, dann kannſt du dir die Geſchichten ſelbſt erklaͤren. Das war ein Blitz - ſtrahl in meine Seele geworfen. Jch uͤbte mich unermuͤdet, und in kurzen las ich fertig in meiner lieben Geſchichte. Nun war meine Be - ſchaͤftigung gefunden, ich fuͤhlte keine Leere mehr. Alle Zeit wo ich nicht im Freien herumſprang oder mit meinen Aeltern plauderte, ſaß ich bei dem Buche. Jch las und las wieder; Begriffe reihten ſich an Begriffe, und ich verſtand, ich fuͤhlte was ich geleſen. Jch kann im eigentlichſten Sinne ſagen, ich bin unter den Heroen der Vorwelt herangewachſen. Sie waren meine Vorbilder, dienten mir zum Maßſtab fuͤr die Ereigniſſe der Gegenwart. Unter meinen fruͤheſten Erinnerungen iſt mir eine Szene leb - haft gegenmaͤrtig geblieben, welche dieſe meine Heroenbilder erregten. Jch mochte vier Jahr56 alt ſeyn, und mein geliebter, ach uͤber alles ge - liebter Emil, ein Jahr, als Frankreich von den ſremden Armeen hart bedraͤngt wurde. Victor war an die Graͤnze geeilt, das Vaterland zu vertheidigen, und mochte meinen Vater wohl aufgefordert haben, ein Gleiches zu thun. We - nigſtens war ein Brief angekommen, deſſen Jn - halt auf meinen Vater einen wichtigen Eindruck gemacht zu haben ſchien. Er war unruhig, theilte Befehle aus, traf mancherlei Anſtalten, und ſchien mit einem großen Vorhaben be - ſchaͤftigt. Das ganze Haus war in einer aͤngſt - lichen Bewegung, und niemand wollte und konnte ſich um mich bekuͤmmern. Jch fluͤch - tete, wie immer in aͤhnlichen Faͤllen, zu mei - nem Buche. Zufaͤllig hatte ich eben das Ku - pfer aufgeblaͤttert wo Leonidas den Paß von Termopylaͤ vertheidigt, als mein Vater in den Saal trat, und hinter mir ſtehen blieb. Sie ſtarben fuͤr das Vaterland! ſagte er nach einer kleinen Pauſe, und legte die Hand auf meinen Kopf: dreihundert Helden wehrten der großen Perſermacht den Eintritt in das heilige Land der Freiheit! Jch hatte mich umgewendet,

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57 und ſchauete nach ihm auf. Zwei große ſchwere Thraͤnen hingen in ſeinen Augen. Sie thaten nur ihre Pflicht! ſagte er, und fuhr mit der Hand uͤber die Thraͤnen, laͤchelte mich an, und wiederholte: ſie thaten was ſie mußten! Da kam meine Mutter herein, Emil auf dem Arme. Sie war ſehr bleich, und hatte geweint. Schwei - gend zog ſie den Gatten zum Sopha, ſetzte das Kind auf ſeinen Schoß, und ſich neben ihn. Sie umſchlang ihn, weinte heftig, und rief end - lich im Ton der Verzweiflung: dieſen huͤlfloſen Kleinen koͤnnteſt Du verlaſſen? mich? mich? und ſank an ſeine Schulter. Mein Vater um - faßte ſie mit Zaͤrtlichkeit, redete ihr zu, ſprach viel von Pflicht und Nothwendigkeit. Der Knabe laͤchelte unbefangen drein, und ſpielte mit des Vaters Locken. Mich mochte die Grup - pe, an das Bild von Hektors Abſchied erinnern, ich ſchlug es auf, und ſah ernſthaft, bald auf Hektor, bald auf den Vater. Endlich richtete ſich meine Mutter wieder auf, und blickte mich an. Virginia! rief ſie, umarme die Knie dei - nes Vaters! flehe ihn, daß er uns nicht verlaſſe! Die Frau da, antwortete ich in meinem kin -58 diſchen Sinn, und zeigte auf das Bild, die Frau da weint nicht, daß der Vater ſeine Pflicht thun muß. Sie haͤlt ihn nicht, Virginia darf ihn auch nicht halten. Roͤmermaͤdchen! rief mein Vater, und riß mich in ſeinen Arm. Aber ein verzweiflungsvoller Blick meiner Mutter fiel auf mich, und in demſelben Augenblick ſank ſie leb - los zu Boden. Jch ſtuͤrzte mich mit Geſchrei und Thraͤnen uͤber ſie hin. Mein Vater hob ſie in ſeine Arme, ſie wurde zu Bett gebracht, und ein heftiges Fieber kuͤndigte ſich mit den bedenk - lichſten Zeichen an. Jhre Krankheit dauerte lange, und ſie wurde nur dadurch am Leben erhalten, daß mein Vater ihr das feierliche Ver - ſprechen ablegte, ſie niemals zu verlaſſen. Mei - nem Vater mußte es ſchwer geworden ſeyn, ſein Pflichtgefuͤhl, im Kampf mit der Liebe, zum Schweigen zu bringen. Manche ſeiner ſpaͤtern unfreiwilligen Aeußerungen deuteten darauf. Doch nahm er ſich ſehr in Acht, meine Mutter das mindeſte davon merken zu laſſen. Ueber Ge - fuͤhle dieſer Art war ich in der Folge ſeine ein - zige Vertraute. Jn dem Herzen meiner Mut - ter ſchien ſich, durch dieſen Vorfall, eine leiſe59 Abneigung gegen mich feſt geſetzt zu haben. Jch entſinne mich, daß man mich in den erſten Wo - chen ihrer Krankheit ſorgfaͤltig abhielt, ſie zu ſehen, und daß ich viel daruͤber geweint. Auch waͤhrend ihrer Geneſung war ſie anfangs nicht ſo guͤtig gegen mich, als ſonſt; uͤberhaupt lenkte ſich ihre Zaͤrtlichkeit mehr auf meinen Bruder. Jch bemerkte dieß wohl, aber ohne Neid; denn ich ſelbſt liebte den holden Emil uͤber Alles. Du haſt ihn wenig gekannt, den freundlichen herzigen Knaben. Er war immer heiter, immer voll Scherz und Froͤhlichkeit, und dabei ſo bieder und treu. Wie haͤtte man ihn nicht lieben ſollen! Ueberdieß war er ja ein Knabe, und ſchien mir ſchon deßhalb jedes Vor - zugs werth, je hoͤher mir nach und nach die Wirkſamkeit und Thatkraft des Mannes erſchien. Jch weinte nur zuweilen im Stillen daruͤber, daß ich ein Maͤdchen war, eins der unbedeutenden We - ſen, von welchen die Geſchichte ſo wenig ſagt, waͤhrend die Thaten der Maͤnner jedes Blatt fuͤllen. Nur als Opfer werden ſie genannt. Jphigenia, Virginia, nur Opfer fuͤr große Zwek - ke. So glaubte ich, leidende Gedult ſey die60 nothwendige Eigenſchaft des Weibes; aber mein leidenſchaftliches Gemuͤth ſtand mit dieſer Stimmung im ewigen Widerſpruch, und ſtoͤrte die Harmonie in meinem Karakter. Mein Va - ter wurde ſehr aufmerkſam auf mich, und fing an, ſich mit Ernſt um meine Bildung zu be - kuͤmmern. Von ihm lernte ich ſchon fruͤh eng - liſch, ſpaͤterhin auch etwas deutſch. Jch las unſere vorzuͤglichſten Dichter und auch die der Auslaͤnder, in ihrer Sprache. Mein Gemuͤth war fruͤh poetiſch geſtimmt, wozu wohl der provenzaliſche Himmel vieles beitrug. Doch waren es nicht die leichten Liebeslieder meiner Landsleute, woran ich Geſchmack fand, mir ſtell - te ſich alles zuerſt von der erhabenen Seite dar. Eine Ode uͤber den Krieg, war meine erſte, ſehr geheim gehaltene Arbeit; ſo weit ich mich ihrer erinnere, freilich ſehr fehlerhaft, doch durchaus ohne Vorbild. Ueberhaupt war ich meiſt ſehr ernſt und in mich gekehrt, woruͤber mich die kleinen Maͤdchen, meine Geſpielen, oft neckten. Jch ſchwaͤrmte wohl mit ihnen umher, und hatte ſie alle von Herzen lieb, aber ich war doch nie ſo ganz Kind als ſie. Es machte mir Freude61 Blumen mit ihnen zu pfluͤcken und Kraͤnze zu winden, lieber aber ſaß ich doch mit meinem Vater Abends unter unſern Kaſtanienbaͤumen, und blickte nach dem zahlloſen Sternenheere des dunkelblauen Himmels auf. Da war ich uner - ſchoͤpflich an Fragen, und mein guter Vater antwortete ſo gern. Er nannte mir die Stern - bilder, machte mich aufmerkſam auf die Unzaͤhl - barkeit der Sonnenſyſteme, auf die Unendlichkeit des Raumes und der Zeit, und knuͤpfte daran den Begriff von der uͤberſchwaͤnglichen Groͤße und Erhabenheit des Schoͤpfers. Oft uͤberraſchte uns noch die Mitternacht bei dieſen Geſpraͤchen, uͤber welche meine Mutter laͤngſt eingeſchlafen war. Sie liebte dieſe Unterhaltungen nicht ſehr, ſahe auch meine fortſchreitende Ausbildung nicht allzugern.

Jhre Kindheit hatte ſie, nach der Sitte der Zeit, in einem Kloſter verlebt. Weibliche Ar - beiten, etwas leſen und ſchreiben, und haͤufige Religionsuͤbungen waren dort alle zu erlangen - den Kenntniſſe geweſen. Mit dieſen hatte ſie ausgereicht, und nun in meinem Vater das Gluͤck ihres Lebens gefunden; daher bildete ſie ſich ein, alles, was daruͤber, ſey uͤberfluͤſſig, wo62 nicht gar vom Uebel. Mein Vater ließ ſich nicht gern mit ihr in Eroͤrterungen uͤber dieſen Punkt ein. Er liebte ſie von ganzem Herzen, und ſie verdiente es im hohen Grade. Sie war ſchoͤn und voll Grazie, hatte das beſte Herz von der Welt, liebte ihn uͤber Alles, war unermuͤdet, fuͤr ſeine kleinen Beduͤrfniſſe be - ſorgt, eine gute Mutter, eine gute Hausfrau, eine Wohlthaͤterinn der Duͤrftigen. Was haͤtte das Herz eines Mannes noch mehr fordern koͤnnen? Auch fuͤhlte ſich das Herz meines Vaters voͤllig befriedigt. Doch ſein philoſo - phiſcher Geiſt empfand nach und nach im - mer mehr das Beduͤrfniß eines Weſens, das in ſeine Jdeen eingehen, mit dem er ſich uͤber die Gegenſtaͤnde unterhalten koͤnnte, die ihm die wichtigſten waren. Er hatte oft ver - ſucht, ſie dafuͤr auszubilden, aber mit wenig Erfolg.

Jn mir drang ſich ihm ein bildſamer Stoff, ganz von ſelbſt auf, und mit ſchoͤpferiſcher Liebe legte er Hand an, ohne auf die Menge der Bedenklichkeiten Ruͤckſicht zu nehmen, welche ihn allenfalls davon haͤtten abmahnen koͤnnen. Emil,63 drei Jahre juͤnger als ich, wurde bald mein treuer Spielgefaͤhrte; wir waren ein Herz und eine Seele. Mein Vater ſchien ſeine Zaͤrtlich - keit ganz gleichmaͤßig zwiſchen uns zu theilen, ſo wie ſeine belehrende Sorgfalt. Es war aber ſehr natuͤrlich, daß ich einen ſtarken Ver - ſprung behielt, auch war der Knabe immer mehr in der Sinnenwelt, als in der Jdeen - welt zu Hauſe. Es gibt Augenblicke, wo ich ihn deßhalt gluͤcklich preiſe. Aber ach, die Richtung unſrer Seele liegt außer unſrer Macht, geſchieht ſchon, ehe wir uns dieſer bewußt wer - den, und iſt faſt angebohren.

Wir trieben uns fleißig in der umliegenden Gegend umher, und ſpielten manches verwegene Spiel; ich, im romantiſchen Sinne ritterlicher Vor - zeit, er, nach wilder Knabenart. So ſchaukelten wir uns oft in einem Fiſchernachen auf der wilden Durance, und arbeiteten uns mit Stangen laͤngs den Uferkruͤmmungen hin; Emil, um ſeine Kraͤfte zu meſſen, mit der Gewalt des Stro - mes, oder um ein Entenneſt auf zu ſuchen, im Schilfe; ich, weil ich in Gedanken Kolumbus begleitete, eine neue Welt zu entdecken, und in64 einer unbekannten Bucht zu landen. Mein Vater kaufte nach einigen Jahren die Laͤn - dereien eines benachtbarten Kloſters, nachdem die - ſes laͤngſt aufgehoben, und feil geboten war. Der Großvater in Aix war geſtorben, und ein Theil des Vermoͤgens meiner Mutter konnte nicht vortheilhafter genutzt werden. Dieſe fuͤhlte wohl anfangs einige Gewiſſensſcrupel daruͤber, doch wußte ſie der Weltgeiſtliche unſres Kirch - ſprengels, ein konſtitutioneller Prieſter, aber ein eben ſo rechtſchaffener, als aufgeklaͤrter Mann, zu beruhigen und zu heben.

Ueberdieß bildete ſich bei meiner Mutter der Sinn fuͤr Erwerb und Beſitz mit den Jah - ren immer mehr aus. Sie wurde eine aͤußerſt emſige Wirthinn, und ging in die geringſten Klei - nigkeiten ein. Mein Vater ließ ſie gewaͤhren; ſein Gluͤck ruhete nur auf das Ganze. Jhm war nicht darum zu thun, was er perſoͤnlich gewann, ſondern wie viel allgemeiner Wohlſtand, durch dieſe oder jene Anlage, verbreitet werden konnte. Fuͤr dieſe ſeine hoͤheren Zwecke aber war er raſtlos thaͤtig, und ſein vergroͤßerter Wirkungs - kreis ließ ihm bald nur wenig Zeit zum Unter -richt65richt fuͤr uns uͤbrig; daher er ſich, wiewohl un - gern, entſchloß, von ſeinem lieben Emil ſich zu trennen. Er brachte ihn nach Aix zu einem ſeiner aͤlteſten Schulfreunde, welcher dort Pro - feſſor am Lyceum war. Meine Mutter war mit dieſer Trennung ſehr uͤbel zufrieden; es be - ruhigte ſie nur wenig, daß ihr Liebling ſich in den Haͤnden eines der rechtſchaffenſten, edelſten Maͤnner ſeiner Zeit befand, und ſich in deſſen Fa - milie bald ſo einheimiſch, als in unſerm Hauſe fuͤhlte. Mir ſelbſt koſtete dieſer Abſchied un - zaͤhlige Thraͤnen, doch richtete ich mich an dem Gedanken auf, daß es zum Beſten meines Bruders ſey, ja ich beneidete ihn um ſein Loos. Er ſollte ja Griechiſch und Lateiniſch ler - nen, und konnte einſt die Werke der Alten in der Urſprache leſen, mein hoͤchſter Wunſch. Fuͤr Emil war dieſe Ausſicht nicht ſo reizend. Er hatte kein gutes Wortgedaͤchtniß, und das Er - lernen fremder Sprachen wurde ihm ſehr ſchwer; dagegen rechnete er mit Leichtigkeit, und machte Fortſchritte in der Mathematik.

Erſter Theil. [5]66

Mit dieſem geliebten Bruder ſchien der Ge - nius der Freude aus unſerem Hauſe gewichen. Weine Mutter vergrub ſich, um ihrem Schmerze zu entfliehen, nur tiefer in Geſchaͤfte. Sie fing an ſehr mißfaͤllig zu bemerken, daß mir ein, ihr gleicher, Sinn fuͤr das kleine haͤusliche Thun und Treiben fehle. Sie wollte mich durch Verweiſe dazu antreiben, es mangelte ihr aber Geduld, auch ward ſie, bei ihrer raſchen Thaͤtigkeit, behindert, mich durch allmaͤhliche Ge - woͤhnung dazu tuͤchtig zu machen. Es fehlte mir nicht an gutem Willen, aber ich wußte es durchaus nicht an zu ſtellen, und ein harter Vor - wurf, bei einer kleinen Unbeholfenheit, ſcheuchte mich auf laͤngere Zeit von den Geſchaͤften. Jch fluͤchtete mich in einen einſamen Winkel, zu meinen Buͤchern. Sie ſchalt dann zwar heftig auf das Leſen; doch mochte ſie es mir nicht ganz verbieten, weil mein Vater es in Schutz nahm, und ihren unwilligen Aeußerun - gen immer eine ruhige Freundlichkeit entgegen ſetzte. Klaͤrchen, liebes Klaͤrchen, pflegte er zu ſagen, wollteſt du denn, daß alle Baͤume Deines Gartens nur einerlei Art waͤren? Der67 Apfelbaum iſt nuͤtzlich, aber auch die Granate in ihrer Bluͤthe, die Zierde des Gartens. Laß doch Virginien gewaͤhren; willſt du gewalt - ſam in ihre Eigenthuͤmlichkeit eingreifen, ſo zer - ſtoͤrſt Du ihre innere Harmonie. Er ver - ſuchte nun, ſeiner Seits, mich in Thaͤtigkeit zu ſetzen, und mit weit beſſerem Erfolg. Er hatte große Maulbeerpflanzungen angelegt, und richtete einen Theil der Kloſtergebaͤude fuͤr den Seidenbau ein. Alle Kinder der Landleute auf ſeinen Beſitzungen, wurden aufgeboten zur Wartung und Pflege der Seidenraupen. Die Arbeit war leicht, und auch die Kleinſten konn - ten Blaͤtter ſammeln und den Wuͤrmern vorle - gen. Kraftloſe Greiſe und Muͤtterchen, welchen der Feldbau zu ſchwer war, halfen dabei. Der ſehr anſehnliche Ertrag, wurde gleichmaͤßig ver - theilt, und erhoͤhete den Wohlſtand der ganzen Ge - gend. Jch fuͤhrte, unter Anleitung des Vaters, die Oberaufſicht, und ganz zu ſeiner Zufrieden - heit. Mit der Morgenſonne war ich auf, und immer aufmerkſam auf den Gang der Ge - ſchaͤfte, behende und geſchickt in allen Hand - griffen. Beim Abhaſpeln der Seide war ich*68die fertigſte und ſorgſamſte Arbeiterinn. Mit gleichem Erfolge ſtellte er mich bei der Wein - leſe an, wo ich dafuͤr ſorgte, daß die Beeren, behutſam und eigen, von der Traube gekaͤmmt wurden, welches unſerem Wein, einen großen Vorzug, vor allen Weinen der Provinz gab. Bei allen ſolchen Geſchaͤften, welche nur Tage - oder Wochenlang dauerten, und in großer Ge - meinſchaft betrieben wurden, war ich uner - muͤdet thaͤtig, und in hohem Grade ver - gnuͤgt und froͤhlich. Wir ſangen Romanzen und Rundgeſaͤnge, erzaͤhlten Maͤrchen und No - vellen, immer brachte ich neue mit, und Jung und Alt liebte mich herzlich. Aber wenn ich wieder zuruͤck trat, in den alltaͤglichen Gang des haͤuslichen Lebens, da fuͤhlte ich meine Thaͤtig - keit ploͤtzlich gelaͤhmt. Die kleinen, immer wie - derkommenden Sorgen des Haushalts vermochten nicht, meine Seele zu fuͤllen, und mein Geiſt kehrte heißhungrig in die Jdeenwelt zuruͤck.

Nicht die Geſchichte der vergangenen Zeiten allein war es jetzt, was mich beſchaͤftigte, ich nahm an den Begebenheiten unſerer Tage den lebhafteſten Antheil. Von meiner fruͤheſten69 Kindheit an, hatte ich mich gewoͤhnt, alles nach den Muſtern der Alten zu beurtheilen, und ſo mußten meine Anſichten ganz verſchieden ſeyn von den Anſichten derer, welche von einem andern Standpunkt auf die Dinge ſahen. Mein Vater ſchien in demſelben Falle geweſen zu ſeyn. Als des gutmuͤthigen Ludwig Haupt unter der Guil - lotine fiel, ſah ich ihn tief betruͤbt. Es iſt trau - rig, ſagte er, daß es bis dahin kommen mußte! O haͤtte der edle Koͤnig ſich doch gleich anfangs losmachen koͤnnen von den anerzogenen Be - griffen, ſich mit Aufrichtigkeit der Sache des Volks angeſchloſſen es waͤre um vieles an - ders und beſſer geworden. Aber es war faſt in ſeiner Lage unmoͤglich, der Einfluß ſeiner Umgebungen war zu maͤchtig, die Raͤnke der Ausgewanderten, und ihrer Verbuͤndeten wa - ren zu eingreifend, es konnte faſt nicht anders enden. Er fiel als ein großes Opfer der Frei - heit, ein reines ſchuldloſes Opfer! Moͤge es die unterirdiſchen Goͤtter verſoͤhnen! Die Nachwelt nennt ihn mit Recht einen Heiligen.

Die Schreckenszeit erfuͤllte meinen Va - ter mit Grauſen. Sie war aber durch die70 hohe Erbitterung der verbuͤndeten Maͤchte, faſt unvermeidlich herbei gefuͤhrt worden. Die Jn - tegritaͤt der jungen Republik ſchien faſt nicht anders zu retten, als, wenn es ſeyn muͤßte, mit Aufopferung eines großen Theils, der ge - genwaͤrtigen Generation. Die Umſtaͤnde trafen ſchrecklich zuſammen, und die Menſchlichkeit mußte der Vaterlandsliebe weichen. Daneben kam ſo oft die Erhaltung der Einzelnen mit der Erhaltung der Nation in Streit, und die - ſer wird faſt niemahls ohne Blut geſchlichtet.

Meines Vaters ſanftes, menſchliches Herz litt ſchmerzlich waͤhrend dieſer Zeit, und er dankte dem Himmel fuͤr den Entſchluß, ſich ſchon fruͤh in die laͤndliche Stille gefluͤchtet zu haben; doch tadelte er auch die haͤrteren Naturen nicht, welche es verſuchten, das maſt - und ſteuer - loſe Schiff des Vaterlandes durch die ſchaͤu - mende Brandung zu fuͤhren. Er gedachte oft der beiden Brutus, von welchen der eine ſeine Soͤhne hinrichten ließ, weil ſie einer Verbindung mit dem verbannten Tarquinius ſich ſchuldig ge - macht, der andre den Dolch in den Buſen ſeines71 Freundes, vielleicht ſeines Vaters, ſtieß, als die - ſer die Republik vernichten zu wollen ſtrebte. Das Schickſal der Girondiſten erregte ſeine Theilnahme im hoͤchſten Grade. Meiſt waren alle ſeine Freunde, edle Maͤnner, voll redlichen Eifers fuͤr das Beſte des Vaterlandes, und voll Einſicht, es fehlte ihnen aber die Feſtigkeit ihrer Gegner, und ſie mußten unterliegen, in einem Zeitpunkte, wo Frankreich der Kraftfuͤlle vorzuͤg - lich bedurfte. Haͤtten ſie ſich dem Vaterlande, durch kluges Zuruͤckziehen bis zum Friedens - ſchluß erhalten, ſie wuͤrden es begluͤckt haben. Mich ergriff beſonders das Schickſal der Buͤr - gerinn Roland. Oft habe ich in ſpaͤtern Jahren geweint, wenn ich den ewig unvergeßlichen, ei - ner Roͤmerinn wuͤrdigen Brief las, welchen ſie aus dem Gefaͤngniſſe geſchrieben. Selbſt Char - lotte Corday meine gefeierte Heldinn, uͤber - traf dieſes große Weib an Karakterſtaͤrke nicht.

Als Robespierre geſtuͤrzt wurde, athmete Frankreich freier. Die Menſchheit muß ſich ſei - nes Todes freuen, ſagte mein Vater, ſie wird ihm fluchen, er war ein Tyrann; und doch glaubte72 er, es zu ihrem Beſten zu ſeyn. Er war kein Heuchler, nur ein tugendhafter Schwaͤrmer, doch ſeine Tugend war hart und rauh.

Waren gleich, nach der Kataſtrophe vom 9ten Thermidor, die Elemente bei weiten noch nicht beruhigt, ſo hatten doch die fuͤrchterlichſten Aus - bruͤche des Vulkans nachgelaſſen, und, vertrau - ter mit ihnen geworden, achtete man der nach - folgenden, immer ſchwaͤcheren Erſchuͤtterungen wenig. Jedes Auge faſt wendete ſich dem Krie - gesſchauplatze zu, wo der Ruhm uͤber den fran - zoͤſiſchen Fahnen ſchwebte. Der alte kriegeriſche Geiſt meines Volkes erwachte in neuer Staͤr - ke, Galliens Ritterzeiten kehrten wieder. Auch in unſrem friedlichen Thale wurde meiſten Theils nur vom Kriege geredet. Unſere Knaben war - fen Ball und Kreiſel bei Seite, und ſpielten Kriegesſpiele, unſre Maͤdchen ſangen den Mar - ſeiller Hymnus. Mein Vater las oͤfter, als ſonſt, die Zeitungen in Geſellſchaft ſeines Freun - des, unſers trefflichen Pfarrers, und ihre be - geiſterten Geſpraͤche dauerten bis ſpaͤt in die73 Nacht hinein; ich wurde nicht muͤde, ihnen zuzuhoͤren. Selbſt eine fleißige Zeitungsleſerinn geworden, ſtand ich oft ſchon mit der Sonne auf, um dem Poſtboten des naͤchſten Fleckens entgegen zu gehn, die Blaͤtter ſchnell zu durchlau - fen, und dem Vater ſchon beim Erwachen eine frohe Siegesnachricht zurufen zu koͤnnen. Von allen dieſen fruͤheren Begebenheiten machte der Uebergang uͤber die Bochetta den ſtaͤrkſten Ein - druck auf mich. Hannibal hatte, zur Verwun - derung der Roͤmer, dieſe unwegſame Straße betreten, kein Heerfuͤhrer nach ihm es ge - wagt. Nun war Buonaparte der zweits kuͤhne Sterbliche, welcher ſich hier Bahn brach. Die - ſes einzige, damals ſo angeſtaunte Unternehmen, ſtellte mit einem Schlag den jugendlichen Helden in Rieſengroͤße vor meine Phantaſie. Alle Heroen der Vorwelt. bei deren Thaten mein junges Herz gepocht, traten jetzt, in ein einziges Bild verſchmolzen, ins Leben, in die Wirklichkeit heraus. Meine Einbildungskraft ſchmuͤckte die - ſes herrliche Bild mit allen Reizen maͤnnlicher Schoͤnheit, und ſtellte es als Jdol auf den Altar meines Herzens.

74

Du wirſt lachen, Adele, aber bedenke daß ich in der Provence gebohren bin, wo man fruͤher und heißer empfindet, als in deinem kalten Eng - land, bedenke daß Geſaͤnge der Troubadours meine Wiegenlieder waren, und daß ich in der Jdeen - welt, unter Heroenbildern aufwuchs. Die Ver - goͤtterung meines Helden ſchallte mir aus jedem Munde entgegen; mein Vater und der Pfarrer waren von Bewunderung fuͤr ihn durchdrungen, und dieß ſteigerte meine Neigung bis zur Schwaͤr - merei. Jch weiß, Adele, nach deiner leichten Sin - nesart, ſpotteſt du uͤber dieſe abentheuerliche Liebe, aber ich erroͤthe nicht. Jch ergoͤtze mich noch in dieſen Augenblick an den verblichenen Farben jener Gefuͤhle und wuͤrde die ganze Wirklichkeit meines jetzigen Lebens um die Traͤume meiner Kindheit geben. Jch ſchaͤme mich ſelbſt nicht, dir mein kindiſches Opfer zu erzaͤhlen, deſſen Grund ich damals, ſo wie uͤberhaupt meine Neigung, tief verhehlte. Als mein Held nach Aegypten ging, erbebte ich; noch mehr, als unſre Flotte geſchlagen, und ihm der Ruͤckweg abgeſchnitten ſchien. Da ſchlich ich mich eines Abens in die entlegene Waldkapelle, und kniete vor dem Altar75 der heiligen Jungfrau nieder. Es daͤmmerte ſchaurig um mich her, die epheuumrankten, bunt - gemahlten Fenſterſcheiben, ließen nur ſpaͤrlich, das Licht der untergehenden Sonne ein. Mitten im Gebet ſchnitt ich meine langen, ſchoͤnen Lok - ken ab, legte ſie auf den Altar, und ſprach laut das Geluͤbde aus, mein Haar nicht eher wieder wachſen zu laſſen, es nicht eher wieder mit Blumen zu ſchmuͤcken, bis er zuruͤckgekehrt ſey, den ich dem Schutz der Gebenedeiten und allen Heiligen empfahl. Jndem ich mich auf - richtete, brach ein Strahl der ſcheidenden Sonne durch ein Fenſter hinter mir, und roͤthete das Angeſicht der Jungfrau, welche mir zu laͤcheln ſchien. Voll freudiger Hoffnung ging ich nach Hauſe, wo mich Alle mit Erſtaunen empfingen. Hocherroͤthend geſtand ich, mein Haar auf dem Al - tar der Jungfrau geopfert zu haben, und gab ſtok - kend als Grund an, ein Mahl geleſen zu haben, daß die griechiſchen Maͤdchen, beim Austritt aus der Kindheit eine Locke den Grazien zu opfern pfleg - ten. Meine Mutter ſchalt ſehr heftig und konnte ſich gar nicht zufrieden geben. Mein Vater ſchien den Sinn meines Opfers zum Theil zu ahnden. 76Er legte laͤcheld die Hand auf meinen Scheitel. Kleine Schwaͤrmerin ſagte er, vielleicht dach - teſt du auch an jene Weiber, welche ihr Haar zu Bogenſehnen hergaben, als Opfer fuͤr das Va - terland! Ergluͤhend kuͤßte ich ſeine Hand. Be - ruhige dich, fuhr er fort, die Geluͤbde der Un - ſchuld ſind gewiß der Gottheit angenehm.

Um gleich in der Reihefolge dieſer Neigung zu bleiben, will ich hier erzaͤhlen, was ſich erſt zwei Jahre ſpaͤter begab. Jch hatte mein zwoͤlftes Jahr angetreten, unſer Emil war ſeit einigen Wochen von uns geſchieden, um, wie ich ſchon fruͤher geſagt, in Aix erzogen zu wer - den. Vuonaparte war aus Aegypten zuruͤckge - kehrt, er hatte das von Factionen zerriſſene Vaterland gerettet, die Flamme des graͤulichen Buͤrgerkrieges geloͤſcht, und mit kraͤftiger Hand das Steuerruder des Staates gefaßt. Auf ihn gruͤndeten alle Parteien ihre Hoffnungen. Die Gemaͤßigten hofften feſte Ordnung und Geſetz - lichkeit, und taͤuſchten ſich nicht; die Republi - kaner Freiheit man ließ ihnen ſo viel davon in Form und Weſen, als ſich nur mit der Groͤße des Reichs, und dem Grade ſeiner mo -77 raliſchen Bildung vertrug; die Ausgewander - ten Wiederherſtellung der alten Zeit, und der Bourbons ſie mußten ſich betriegen; die Ariſto - kraten, die Ehrgeizigen Glanz und Wuͤrde ſie haben davon mehr durchgeſetzt, als gut war. Der erſte Konſul wurde von ganz Frankreich vergoͤttert. Der kuͤhne Held ging wieder uͤber den Simplon, auf unwegſamen Pfaden, ſein treues, begeiſtertes Heer, trug das Geſchuͤtz auf den Schultern hinuͤber. Der Sieg bei Marengo wurde erfochten, und die Voͤlker Jtaliens wurden frey. Jedes Gemuͤth wel - ches ſich von dem klaſſiſchen Boden angezo - gen fuͤhlte, war leidenſchaftlich bewegt; man hoffte die Nachkommen der Griechen und Roͤ - mer wuͤrden aus ihrem langen Schlaf erwachen.

Wir hatten die fruͤhe Weinleſe begonnen, als der Sieger bei Marengo, von ſeinem Zuge zuruͤck kehrte. Er hatte, aus Laune, vielleicht auch um dieſen Landſtrich naͤher kennen zu ler - nen, die gerade Straße verlaſſen, gedachte bei Avignon uͤber die Rhone und durch Langue - doc erſt nach Paris zu gehn. Ein Zufall fuͤhrte ihn nach Chaumerive. Mein Vater beeilte ſich78 dem erſten Conſul ſeinen Gluͤckwunſch zu brin - gen. Er hatte dieſen, als Juͤngling, in den erſten Monden der Revolution kennen gelernt, und Gelegenheit gehabt, ihm einen Dienſt zu er - weiſen. Buonaparte erinnerte ſich deſſen ſogleich, als er meinen Vater erblickte, und zeigte ſich demſelben aͤußerſt verbindlich und liebenswuͤrdig. Er unterrichtete ſich uͤber ſeine ganze Lage und naͤheren Verhaͤltniſſe, und pries ihn gluͤcklich in ſeinem unbekannten, ruhigen Leben. Mir wird es ſo gut nie werden! ſetzte er mit einem tieferem Athemzuge hinzu, ich bin an Jxions Rad gebunden.

Jndem kam ich von den Weinbergen daher. Jch hatte die ſchoͤnſten Trauben und Pfirſichen, welche meine Mutter ſo ſehr liebte, in ein Koͤrbchen geſammelt, und fuͤr dieſe mitgebracht. Jm Vorbeigehn an einem Lorbergebuͤſch, hatte ich einige der ſchoͤnſten Zweige gepfluͤckt, ſie ſpielend zu einem vollen Kranze gewunden, und uͤber die Fruͤchte gelegt. Virginia! rief mein Vater mir entgegen dein Lieblingswunſch iſt erhoͤrt. Du ſiehſt hier den groͤßten Helden des Jahr - hunderts vor dir. Wie vom Blitze geruͤhrt79 blieb ich ſtehen. Er war es, Er! der Gedanke meiner einſamen Stunden, der Traum mei - ner Naͤchte. Wie aͤhnlich meinem Bilde, und wie unaͤhnlich zugleich? Du haſt ſein Gemaͤhlde von David geſehen, es gleicht; nur freundlicher war ſein Mund, ſein Laͤcheln bezaubernd. Eben ſo liebenswuͤrdig hatte meine Phantaſie ihn ge - mahlt, nur groͤßer die Verhaͤltniſſe. Aber was ſie ihm nicht zu geben vermocht, war die Ho - heit ſeines Auges, dieſer Herſcherblick, welcher mich im Nu, ſo tief und klein vor ihn ſtellte, daß ich die Augen nicht zu erheben wagte. Jch, die gebohrene Republikanerinn, und ſtolz auf Freiheit, Gleichheit und Menſchenwerth, kniete vor ihm nieder, ohne zu wiſſen was ich that, und legte das Koͤrbchen mit dem Kranze zu ſeinen Fuͤßen. Er hob mich mit einiger Verlegenheit auf, kuͤßte mich auf die Stirn, nahm den Korb, und dankte in abgeriſſenen Worten fuͤr die feine Ueberraſchung. Virginia ſtellte in dem Augenblicke das dankbare Vaterland dar, ſagte mein Vater. Jch bin dem Vater - lande viel groͤßere Dankbarkeit ſchuldig, erwie - derte der Held, indem eine freundliche Neigung80 gegen mich, den Worten Doppelſinn gab. Wollte der Himmel, ſetzte er hinzu, und nahm eine Traube, daß meine Lorbern, fuͤr daſſelbe immer von ſo ſuͤßen Fruͤchten begleitet ſeyn moͤchten! Bald darauf reißte er ab, indem er meine Gabe eigenhaͤndig zum Wagen trug, aus welchem er mich noch mehrere Mahle, mit Hand und Blick gruͤßte. Jch blieb in einer ſehr veraͤnderten Stimmung zuruͤck. Meine Phantaſie ſchwieg, aber ich fuͤhlte mich von einer Ergebenheit durchdrungen, welche ich bei meiner freien Erziehung, ſelbſt nicht fuͤr meinen Vater empfunden. Dieſer war mit der Szene nicht ſo ganz zufrieden. Die Ueberreichung des Lorbers und der Fruͤchte war ganz huͤbſch, ſagte er, ich haͤtte ſie aber ſtehend dargebracht. Jch konnte nicht anders, erwiederte ich, eine hoͤhere Macht warf mich nieder, wie vor dem Beherrſcher des Erdkreiſes.

Der Nachklang jenes Gefuͤhls hat immer - fort in meiner Seele leiſe getoͤnt, als dieſer kleine Vorfall in meinem Kreiſe laͤngſt vergeſſen war, und ich ſelbſt ſeiner kaum mehr gedachte. Ueberhaupt iſt vorherrſchende Eigenſchaft meinesGemuͤths,81Gemuͤths, daß es ein Mahl empfangene Eindruͤcke mit faſt ſtarrer Treue bewahrt. Jch kann durch - aus nicht wechſeln mit Neigung und Abneigung, vielleicht mit daher, weil meine Neigung ſo ganz frei von aller Selbſtſucht entſteht. Die Welt liebt und haßt nur nach eigenem Vortheil; ſie ver - goͤttert, was ihr zu frommen ſcheint, verdammt, was ihr ſchaͤdlich zu werden droht; und ſcheint ſie auch ein Mahl fuͤr eine Jdee zu handeln, gewiß liegen hinter dieſer Jdee, Wohlleben, Glanz und Putz, als Grundurſachen derſelben tief verſteckt.

Ruhe, Wohlſtand und Ordnung wurde im - mer mehr in Frankreich hergeſtellt und geſichert. Das Volk fuͤhlte ſich geehrt und gluͤcklich; es wuͤnſchte ſich den Schutzgott ſeines Gluͤcks auf immer zu erhalten, und kam den Wuͤnſchen Na - poleons entgegen, welcher endlich den Kaiſertitel annahm, und ſich mit allem Glanze des Thrones umgab, wodurch er ſich vielleicht einen ſiche - rern, Ehrfurcht gebietenden Standpunkt ge - gen das Ausland und ſeine Raͤnke zu geben glaubte. Gewiß hatte deſſelben raſtloſe EinwirkungErſter Theil. [6]82den groͤßten Antheil an dieſer Kataſtrophe. Die Ausgewanderten und ihre Verbuͤndeten ſahen ſich in ihren Erwartungen getaͤuſcht, und ſchnaubten Rache. England fuͤrchtete fuͤr ſeine Alleinherr - ſchaft uͤber die Meere, wenn Frankreich, unter der Regierung eines kraͤftigen Geiſtes, die Huͤlfsquellen benutzen lernte, welche die Natur ihm verliehen; und folglich wendete es ſeinen ganzen Einfluß auf dem feſten Lande dazu an, den gefaͤhrlichen Nebenbuhler nieder zu druͤcken. Der Kontinent iſt nur zu willig geweſen, in ſeine Abſichten einzugehen, und wahrſcheinlich wird erſt nach einem halben Jahr - hundert einleuchten, welche Fehlgriffe man gethan.

Mein Vater war uͤber dieſe neuen Ereig - niſſe betroffen und verſtimmt. Er hatte ſich fuͤr die Jdee eines erſten Konſuls den großen Waſhington zum Muſter genommen. Der Pfar - rer redete ihm auf vielfache Weiſe zu; er machte ihn aufmerkſam auf die große Verſchiedenheit in der Lage der beiden Reiche. Dort bil - dete ſich erſt ein Staat, ſprach er, hier war einer zerſtoͤrt. Amerika war menſchenarm, die Geiſteskultur dort noch nicht ſehr ausgebreitet,83 und die Sitten waren einfach. Welch ein Unterſchied in Frankreich, wo Uebervoͤlkerung, Ueberbildung und Luxus die hoͤchſte Reibung hervor bringen mußten. Amerika war durch Meere geſichert, Frankreich rings von ſchelſuͤchtigen, ſchlagfertigen Nachbarn umgeben, es bedurfte eines Heldenarmes, zu ſeiner Aufrechthal - tung. Aber dieſer Fuͤhrer durfte nicht dem Wechſel unterworfen bleiben, wenn die innere Ruhe nicht gefaͤhrdet werden ſollte; er mußte mit Glanz umgeben werden, weil leider Eitel - keit, die Schoßſuͤnde meines Volkes iſt.

So weit der Pfarrer. Er ehrte vorzuͤglich Napoleon, weil dieſer die Religion ſchuͤtzte und aufrecht hielt; auch meine Mutter nahm deß - halb lebhaft ſeine Partei. Mein Vater ehrte die Religion, und das hoͤchſte Weſen mit der groͤßten Jnnigkeit; er behauptete aber, jene be - duͤrfe keines beſonderen Schutzes, der herſchende Kultus ſey nur das Kleid, nicht das Weſen der Religion. Jch ſchwieg zu allen dieſen Ver - handlungen, aber meine Ueberzeugung war auf Seiten des Pfarrers. Damahls hatte ich die Geſchichte Caͤſars und ſeines Zeitalters flei -*84ßiger als je ſtudiert. Jch konnte zwar dem Brutus meine Achtung nicht verſagen, es leuchtete mir aber ein, daß er von dem neidiſchen Kaſ - ſius und ſeinen Mitverſchworenen irre geleitet worden, und daß er uͤber ſeine gruͤbelnde Phi - loſophie das Studium ſeines Volkes, und ſei - ner Zeit verſaͤumt habe. Eines Caͤſars bedurfte Rom; es mordete ihn, und fiel in die Haͤnde eines liſtigen Octavius.

So viel man aber auch ſtritt, ob Napoleon haͤtte die Krone annehmen ſollen, ſo hoͤrte ich doch nie einen Zweifel, gegen die Rechtmaͤßig - keit des Beſitzes. Der Thron war durch den Geſammtwillen des Volkes, ſchon ſeit faſt zehn Jahren erledigt, und der jetzige Jnhaber hatte ihn, nachdem er das Reich vom Untergange gerettet, mit Zuſtimmung der Mehrzahl beſtie - gen. Wenige Dynaſtien werden ihren Urſprung aus einer beſſeren Quelle herleiten koͤnnen. Daß der Thron noch Praͤtendenten hatte, konnte dem Volke kein Hinderniß ſcheinen, da es die An - ſpruͤche dieſer nicht anerkannte; ja ſelbſt das Ausland konnte nicht ohne Heuchelei dieſen Grund, als Urſache ſeiner Abneigung, angeben;85 denn die Geſchichte erhaͤlt noch in ſehr friſchem Andenken, daß die Moralitaͤt von Europa ſich gar nicht beleidigt fand durch die harte Zu - ruͤckweiſung und Zuruͤckſetzung der engliſchen Praͤ - tendenten. Daß Napoleon aus keiner fuͤrſtlichen Familie her ſtammte, konnte der Mehrzahl des Volkes kein Aergerniß ſeyn. Der Freiheitsgeiſt unterwirft ſich lieber dem Genie als der Geburt; nur Neid und Ehrgeitz fragten ganz in geheim: warum nicht Jch? Die Fuͤrſtenhoͤfe freilich hatten, von ihrem Standpunkte, aus eine andre Anſicht. Jhren Dienern und Anhaͤngern iſt Moſes Schoͤpfungsgeſchichte bloß deßhalb eine Fabel, weil, nach ſeiner Erzaͤhlung, nur ein Men - ſchenpaar geſchaffen wurde. Gern moͤchten ſie den Mythos der Schoͤpfung dahin ausbilden, daß Gott Fuͤrſten, Adel, Prieſter, Buͤrger und Bauern, jedes als ein eigenes Geſchlecht, geſchaf - fen, wie Woͤlfe, Fuͤchſe, Haſen und Schafe. Mir hat immer ſo geſchienen, als habe dieſe An - ſicht das Ungluͤck der Welt gemacht. Wirkun - gen und Ruͤckwirkungen ſind einander ſo un - aufhaltſam gefolgt und begegnet, daß die Mit -86 welt ſchwerlich, ohne Partheilichkeit, daruͤber ein Endurtheil ſprechen kann.

Meinem Vater ſchienen ſich nach und nach dieſelben Bemerkungen auf zu draͤngen. Er hatte den Frieden von Amiens benutzt, um perſoͤnlich beim erſten Konſul Eure Ruͤckkehr aus zu wirken, ein Beweis, wie ſehr er den maͤchtigen Mann ehrte, keinen andern haͤtte er darum gebeten. Jhr wurdet von der Liſte der Ausgewanderten geſtrichen.

Deine gute Mutter benutzte die ertheilte Erlaubniß, um ihrer geſchwaͤchten Geſundheit willen, und um ihren geliebten Bruder wieder zu ſehn, mit vieler Freude; dein Vater gab ſeine Einwilligung, wahrſcheinlich aus oͤkonomi - ſchen und politiſchen Ruͤckſichten, und ſo kamſt Du, meine geliebte Adele, mit Deiner Mut - ter zu uns. Welch ein Feſt gab das in un - ſerem Hauſe! ein neues Leben ging fuͤr uns Alle auf. Jch war damals vierzehn, Du noch nicht viel uͤber acht Jahr alt, aber wie innig ſchloſſen wir uns an einander! Es war nicht der Begriff der Blutsverwandtſchaft allein, was mich ſo an Dich kettete, ob wir uns gleich87 Beide laͤngſt im Stillen eine Schweſter ge - wuͤnſcht, und dieſe nun in einander fanden. Meine Eigenthuͤmlichkeit trug vieles zu un - ſerem zaͤrtlichen Verhaͤltniſſe bei. Es war eine Eigenheit an mir, daß die Geſellſchaft der Maͤdchen meines Alters mir ſelten zuſagte; viel lieber hoͤrte ich den Geſpraͤchen ernſthafter Maͤnner zu, oder ſpielte mit den kleineren Maͤdchen, welche ſich durch dieſen Vorzug ſehr geſchmeichelt fuͤhlten, und mit anbetender Liebe an mir hingen. Alle Kinder in unſern Doͤr - fern verſammelten ſich liebkoſend um mich her, wo ich mich blicken ließ, und ich wurde ihres frohen Getuͤmmels niemals muͤde, nie muͤde, ihre kindiſchen Fragen zu beantworten. Mit liebender Sorgfalt nahm ich mich ihrer an, be - lehrte ſie, ſchmuͤckte ſie, und wußte ihnen hun - derterlei kleine Freuden zu bereiten. Kurz, naͤchſt der Jdeenwelt zog mich die Kinderwelt, am meiſten an.

Nun erſchienſt Du, das ſchoͤnſte Kind, wel - ches ich jemals geſehen. Dein blaues Auge, Deine goldenen Locken, und die zarte weiße Geſichtsfarbe unterſchied Dich von allen unſern88 provenzaliſchen Maͤdchen. Der kalte, engliſche Ernſt hatte in Dir die franzoͤſiſche Lebhaftig - keit zur ſanfteſten, einnehmendſten Heiterkeit gemaͤßigt. Uns allen kamſt Du vor, wie ein Engel auf einem Gemaͤhlde. Deiner Seits fan - deſt Du wieder die hoͤchſte Freude an unſerm ſuͤdlichen Leben, Dir war wie den Kindern ſeyn mag, welche man lange gewickelt, und denen man nun auf ein Mal ihre Bande loͤſt. Dir ſchienen, wie Deine Mutter ſich ausdruckte, Fluͤgel ge - wachſen zu ſeyn. Haͤtteſt Du doch immer bei uns bleiben koͤnnen! Aber ſo waren es nur drei kurze Jahre, welche wir vereint blieben, unzertrennlich dieſe ganze Zeit uͤber. Deine Mutter ging nach Paris und knuͤpfte dort, nach dem Willen Deines Vaters, viele ihrer alten Bekanntſchaften wieder an; Du bliebſt unterdeſſen in unſerm Hauſe, wo Du ganz als zweite Tochter behandelt und geliebt wur - deſt. Du haſt es kennen gelernt unſer gluͤckli - ches Haus; Dir brauche ich es nicht zu wie - derholen, wie Liebe und Zufriedenheit darin herrſchten. Du kennſt des Vaters freundlichen Ernſt, ſeine belehrenden Geſpraͤche, ſeine launi -89 gen Scherze, wenn er die oft zu geſchaͤftige Mutter mit Gutmuͤthigkeit neckte. Du weißt, wie ſorgſam die treue Mutter war, wie ſie Dich lieb gewann, und manche kleine Ver - nachlaͤſſigung nachſahe, wenn ich ſie um Dei - netwillen beging. Du haſt den herrlichen Emil geſehen, wenn er waͤhrend der Ferien uns zu be - ſuchen kam. Du weißt, mit welcher grenzenlo - ſen Freude er empfangen wurde, nachdem er ſchon Mondenlang vorher den Tag, faſt die Stunde ſeiner Ankunft beſtimmt hatte. Du weißt, mit welchem Jubel die Dienſtleute, Einwohner und die Kinder des Dorfes herbei eilten, um den Allgeliebten zuerſt zu begruͤßen. Wie war er da unaufhoͤrlich bemuͤht, uns Vergnuͤgen zu be - reiten, unſre Spiele und Taͤnze zu beleben, unſre Geſaͤnge mit ſeinem ruͤhrenden Floͤten - ſpiel zu begleiten. Er war die Seele unſres jugendlichen Kreiſes. Du wurdeſt bald das Jdeal ſeines jungen Herzens, und Dein Bild hat ihn bis zum letzten Schritte begleitet. O, daß das Herrliche und Schoͤne ſo ſchnell ver - gaͤnglich iſt! waͤhrend das Gemeine und Schlechte alle Stuͤrme uͤberdauert. Treffliche Menſchen90 ſind gleich zarten Blumen, ſie koͤnnen dem gluͤ - henden Strahle des Mittags, und dem eiſigen Hauche des Nordens nicht wiederſtehen. Das Unkraut wuchert fort. Welch ein Unkraut muß Deine Virginia ſeyn, daß ſie den Verluſt all ihrer Lieben uͤberleben konnte? Sie ſteht da wie die einſame Diſtel auf Schottlands oͤder Heide, welche der verlaſſene Saͤnger der Vor - zeit ſo ruͤhrend in der Nacht ſeiner Schwer - muth beſingt.

Jch kann uͤber jenen Zeitraum ſehr kurz hinweg eilen, Du haſt damals alles gemein - ſchaftlich mit mir erlebt, auch war es in Bezug auf uns, nicht viel Merkwuͤrdiges. Unſre Tage floſſen gleichfoͤrmig und froͤhlich dahin; unſre Herzen ſchlugen ruhig, ungeachtet Du anfingſt in das jungfraͤuliche Alter hinuͤber zu gehn, wel - ches ich ſchon angetreten hatte. Dank ſey meinem Vater, deſſen Sorgfalt unſerm Geiſte immer einen erhabenen Vorwurf zu geben wußte, ſo wie er unſeren Vergnuͤgungen die Kindlichkeit zu erhalten verſtand. Deine Mutter kehrte91 nach einiger Zeit zu uns zuruͤck, ſie hatte weder Neigung noch Geſchick, fuͤr die Plane deines Va - ters zu wirken. Sie war in Paris auf das beſte empfangen, man gedachte allgemein ihrer Aus - wanderung nicht, weil der Kaiſer, aus wohlwollen - der Ruͤckſicht fuͤr meinen Vater es ſo zu wollen ſchien. Die ehemalige Herzoginn von Rochefou - cauld eine ihrer Jugendfreundinnen, ſtellte ſie der neuen Kaiſerinn vor, und die guͤtige Joſephine nahm ſie mit all der Liebenswuͤrdigkeit auf, welche in ihrem ſchoͤnen Gemuͤthe lag. Sie war im Herzen tief geruͤhrt von der erfahrnen zarten Behandlung, und aͤußerte dieß in ihren Erzaͤhlungen ſo mannigfaltig. Gegen Deinen Vater hat ſie dieß aber in ihren Briefen nicht gewagt. Sie ſuchte ihn nach ihrer Art dadurch zu beſaͤnftigen, daß ſie in ſeine Vorſtellungsart einging, wohl wiſſend, wie ſehr es ihn aufbrin - gen wuͤrde, daß ſie ſeine Zwecke meiſt verfehlt. Seine Antwort, welche erſt ſpaͤt und, wegen des wieder ausgebrochenen Krieges, auf Umwe - gen, zu uns gelangte, athmete Zorn und Miß - muth. Er befahl deiner Mutter, unverzuͤglich mit Dir zuruͤck zu kehren. Gern haͤtte die ge -92 horſame Gattinn Folge geleiſtet, aber alle Ver - bindung mit England, war auf das ſtrengſte ge - hemmt; ſelbſt Briefe dahin zu befoͤrdern war mit großer Schwierigkeit verknuͤpft. So ver - zoͤgerte ſich, zu unſrer Freude, dieſe gefuͤrchtete ſo oft angeſetzte und eben ſo oft vereitelte Ab - reiſe bis zum Jahre 1806, wo man endlich wagte, den Ruͤckweg durch Deutſchland, uͤber Hamburg anzutreten. Schmerzhafte Trennung von allen Seiten! Wir zerfloſſen in Thraͤ - nen. Meine lebhafte Mutter ſchalt mitten in ihren Thraͤnen, auf den Krieg, ſchmaͤhete den Koͤnig von England, die Ausgewanderten, die Revolution, ja ſelbſt den Kaiſer. Sie warf alles durcheinander, und ſuchte bei jedem Leiden, im - mer eine naͤchſte Urſache, an welcher ſie ſich ihres heftigen Gefuͤhls entladen konnt. Mein Vater und Deine Mutter hielten ſich lange ſprachlos umarmt; ſie fuͤhlten, es war die letzte Umar - mung fuͤr dieſes Leben. Ungeachtet eine Ahn - dung dieſer Art, in ihrer Lage, recht ſehr natuͤr - lich war, ſo konnte doch damahls wohl niemand glauben, auf welche unwahrſcheinliche Weiſe ſie in Erfuͤllung gehen ſollte.

93

Eure Abreiſe ließ lange eine unausfuͤllbare Luͤcke in unſerm haͤuslichen Daſeyn zuruͤck. Vor - zuͤglich litt meine ſonſt ſo ſtarke Faſſung einen gewaltigen Stoß. Dein Brief, welchen Du mir von Hamburg aus ſchickteſt, war das erſte freu - dige Ereigniß, welchem mein Herz entgegen ſchlug; und doch war dieſer Brief ſelbſt, ſo traurig, daß er mir tauſend Thraͤnen entlockte. Du fuͤhlteſt die Trennung ſo ſehr als ich; Du hatteſt Dich in dem froͤhlichen Frankreich ſchon gaͤnzlich eingebuͤrgert; England und Deine fruͤ - heren Verbindungen waren Dir ſo fremd ge - worden, ja es hatte ſich ſogar eine gewiſſe Abnei - gung gegen jenes Jnſelland in Dir feſtgeſetzt, ſeit Du in unſerm Hauſe taͤglich uͤber ſeinen unredli - chen, engherzigen Kaufmannsgeiſt reden gehoͤrt. Daneben ſchilderteſt Du mir mit den dunkelſten Farben eines trauernden Gemuͤthes, die Szenen des Elends, welche Dir auf deiner Reiſe, als Folge des Krieges, bemerkbar geworden; auch hier litt meine Seele mit Dir. Wehe dem Volke uͤber deſſen Fluren die blutige Erys hin - ſchwebt! Der Soldat kann der Halmen nicht ſchonen, uͤber welche ſein raſtloſer Fuß hineilt. 94Die Selbſterhaltung, dieſes erſte Geſetz in der organiſchen Natur, zwingt ihn in den Natur - zuſtand zuruͤck, wo die Guͤter gemein ſind, und die Staͤrke zuerſt Beſitz ergreift. Hier kann von keiner Moralitaͤt die Rede ſeyn. Die Ur - ſache der Kriege kann allein vom Moraliſten be - urtheilt werden; gewoͤhnlich aber iſt ſie ſo ver - wickelt, daß nicht leicht ein buͤndiges Urtheil ge - ſprochen werden kann.

Vorzuͤglich iſt dieß mit Frankreichs Kriegen, ſeit dem Ausbruch der Revolution, der Fall. Frankreich hatte nichts feindſeliges gegen ſeine Nachbarn im Sinn, es brach nur das Joch, deſſen Laſt ihm, je laͤnger, deſto unertraͤglicher wurde. Es war bisher von der Willkuͤhr Ein - zelner gedruͤckt worden, mithin ſehr natuͤrlich, daß wenn dieſer Druck aufhoͤren ſollte, die Willkuͤhr dieſer Einzelnen vernichtet werden mußte. Da ſchrien nun die Einzelnen Feuer, und die Nachbarn ergriffen die Gelegenheit mit Begierde, in das verſchloſſene Haus einzudrin - gen, unter dem Vorwande, zu loͤſchen. Aber mit95 welchem Rechte? Die Bewohner verbrannten nur einen Theil ihrer, durch Krankheit verpeſte - ten Kleidungſtuͤcke und Geraͤthe, und wuͤrden ſchon allein Herr des Feuers geworden ſeyn, haͤtten die unberufenen Helfer nicht die Thuͤren ge - ſprengt, und ſo, durch die Zugluft, die Flamme zum wuͤthenden Ausbruch angefacht. Haͤtten ſie doch draußen zur Sicherung ihrer eige - nen Gebaͤude, ihre Loͤſch-Anſtalten nach Be - lieben in Thaͤtigkeit geſetzt, niemand wuͤrde es ihnen verargt haben. Aber die Verletzung des Hausrechts empoͤrte die Bewohner, ſie warfen die Eindringenden auf die Straße hinaus, und verfolgten ſie bis in ihre eigenen Haͤuſer, Wieder - vergeltung zu uͤben. Nun war der Daͤmon des Krieges losgelaſſen, und keine menſchliche Macht vermochte ihn wieder zu feſſeln. Er kehrt nicht ſo gehorſam zuruͤck, als der zahme Falke, der auf den Ruf des Traͤgers ablaͤßt von ſeiner Beize, und ſich ſtill wieder mit ſeiner Nebel - kappe bedecken laͤßt. Darum ſollten die Fuͤrſten zittern, wenn ſie ein Krieges-Manifeſt un - terſchretben. Die Rachgier der Angreifer wuchs mit jedem Verluſt, und ihre Friedens -96 ſchluͤſſe, von der Erſchoͤpfung herbeigefuͤhrt, wur - den bey der Unterzeichnung in geheim von ihnen nur als Waffenſtillſtaͤnde betrachtet. England wußte die Empfindlichkeit der alten Dynaſtien immer in Athem zu erhalten, es ſparte weder Geld, noch Vorſpiegelungen, ſie immer zu neuen Anſtrengungen zu reizen, und zog allein Nut - zen aus der allgemeinen Verblendung. Zu ſpaͤt wird das Feſtland beklagen, was es, dieſem Handels-Deſpoten gegenuͤber, verſehen. Verge - bens hat die Republik, vergebens ſpaͤterhin oft der Kaiſer die Hand zum Frieden gebo - ten; man verweigerte ihn, oder ſchloß ihn mit falſchem Herzen. Frankreich mußte immer fuͤr ſeine Selbſterhaltung, fuͤr ſeine Freiheit fechten; um nicht Geſetze anzunehmen, mußte es ſich in die Lage ſetzen, ſelbſt Geſetze zu ge - ben; ſeine Eroberungen waren mehr Noth - wehr als Ehrgeitz. Die Fuͤrſten hatten den Streit begonnen, die Fuͤrſten ſetzten ihn fort, aber die Voͤlker empfanden am haͤrteſten ſeine blutige Geißel. Die Maſſe gleicht dem Kinde, welches den Tiſch ſchlaͤgt, woran es ſich ſtieß, und ſo war es ein leichtes Spiel, Frankreichals97als die Urſache aller Uebel zu verſchreien, welche die Zeit mit ſich fuͤhrte.

Von dieſem Abſchnitte meines Lebens an, ge - woͤhnte ich mich, faſt eben ſo viel zu ſchreiben, als ich bisher geleſen. Jch war gewohnt Dir alle klei - nen, mich betreffenden Ereigniſſe zu erzaͤhlen, ſo - gar alles, was ich bei dieſer und jener Veranlaſ - ſung gedacht und empfunden hatte. Dieſe liebe Ge - wohnheit ſetzte ich ſchriftlich fort, und man haͤtte ein eigenes Packetboth fuͤr meine Korreſpondenz einrichten koͤnnen. Da es aber uͤberall keins gab, ſo mußte von Zeit zu Zeit ein großer Theil mei - ner, in Hoffnung geſchriebnen Briefe den Flam - men geopfert werden. Jch war dann jedes Mahl ſehr traurig, aber niemahls unwillig. Das Kon - tinentalſyſtem leuchtete mir zu ſehr ein, als daß ich mich nicht gern jeder, daraus entſpringenden, Unannehmlichkeit unterzogen haͤtte, ſo empfindlich ſie meinem Herzen auch war. Mein Vater nannte dieſe Maßregeln weiſe und wohlthaͤtig in ihren ſpaͤteren Folgen, ſowohl fuͤr Frankreich, als fuͤr das uͤbrige feſte Land, wenn man ſie allgemein mit gutem Willen ergreife. Meine wirthſchaft -Erſter Theil. [7]98liche Mutter war ſehr dagegen, weil der Preis der Kolonialwaaren dadurch in die Hoͤhe ging; ſie wurde aber von dem Triumvirate uͤber - ſtimmt, welches aus meinem Vater, dem guten Pfarrer und mir beſtand. Wir waren zu jeder Entſagung bereit, und unerſchoͤpflich in Erfin - dung von Surrogaten. Jch fing an, alle dien - lich ſcheinenden Blumen und aromatiſchen Blaͤt - ter, bei ihrem zarten Hervortreiben, ſorgſam zu trocknen, und es gelang mir, durch vieles Ver - ſuchen und Zuſammenſetzen, eine Miſchung zu treffen, welche dem chineſiſchen Thee ſehr nahe kam. Mein Vater pflanzte Farbekraͤuter, und legte eine Fabrik von Zucker aus Runkelruͤben an; Mir machte es große Freude, bei dieſer Anlage, durch Aufſicht, mit zu wirken. Der Pfarrer legte ſich fleißig auf Bienenzucht, und erfand eine Vor - richtung, dem Geſpinſte des Flachſes eine groͤ - ßere Vollkommenheit zu geben. So ſahen wir ruhig auf die Jſolirung des Kontinents, und den Verluſt der ehemaligen Kolonien. Wir be - kaͤmpften den Erbfeind mit unblutigen Waffen. Lehre und Beiſpiel pflanzten ſich immer weiter fort; Nationalinduſtrie ward uͤberall belebt,99 brachte Nationalwohlſtand hervor, und der Sieg war entſchieden, haͤtte der allgemeine Feind nicht unter den andern Voͤlkern verblendete Helfer gefunden. Auf mich hatte dieſer kleine Krieg einen eben ſo vortheilhaften Einfluß als auf Frankreich, er weckte mich zur Thaͤtigkeit. Bis dahin war ich nur unterbrochen koͤrperlich be - ſchaͤftigt geweſen, von jetzt an war ich raſtlos aufmerkſam, daß Alles auf das beſte geſchah, daß man haushaͤlteriſch wirthſchaftete, das Fehlende ergaͤnzte, das Vorhandene vervollkommnete. Jch wendete die Lehre, welche die Nation erhielt, auch auf mich als Einzelweſen an, daß man nur dadurch ſich unabhaͤngig erhaͤlt, wenn man alle ſeine Beduͤrfniſſe ſelbſt befriedigen lernt. Alle die mechaniſchen Fertigkeiten, welche Du juͤngſt mit einigem Erſtaunen an mir wahr genommen, haben jener Richtung meiner Anſicht ihren Urſprung zu danken. Da ſich ſo wenig Gelegenheit abſe - hen ließ, einen ordentlichen Briefwechſel mit Dir an zu fangen, ſo belebte ich wenigſtens die ſchrift - lichen Unterhaltungen mit meinem Bruder, welche, groͤßten Theils, Dich zum Gegenſtande hatten. Er bewahrte Dein Bild in treuem Herzen, und*100naͤhrte zugleich die angenehme Hoffnung Dich auf irgend eine Weiſe bald wieder zu ſehen. Naͤchſt dieſem reichhaltigen Stoffe, unterhielt er mich, fleißig von einem Freunde, welcher um vier Jahre aͤlter war als er. Mucius war der Sohn ſei - nes vaͤterlichen Lehrers. Beim Eintritt in das Haus deſſelben fuͤhlten ſich beide ſchon ſehr zu einander hin gezogen, doch war damahls der Un - terſchied der Jahre, bei der fruͤher fortgeſchritte - nen wiſſenſchaftlichen Bildung des Freundes noch ſehr bemerklich; aber Emils ſchoͤnes Gemuͤth und ſeine ſchnell reifende Vernunft glichen den Abſtand nach und nach voͤllig aus. Von ſeinem Freunde hatte mein Bruder mir unaufhoͤrlich zu erzaͤhlen, und es wurde mir bald Gewohnheit, am Schluſſe meiner Briefe ihm einen Gruß an ſeinen Pilades aufzutragen. Mucius erwiederte dieſe Aufmerkſamkeit, durch einige ſehr artige Verſe, welche er unter einen Brief meines Bru - ders ſchrieb. Jch antwortete durch ein kleines Gegengedicht, ebenfalls in einem Briefe an Emil, und ſo entſpann ſich ein mittelbarer Brief - wechſel, welcher mich, durch ſeine romantiſche Natur, unendlich reizte. Die Artigkeit ging in101 Gefuͤhl uͤber, und ein dunkles Sehnen bemaͤch - tigte ſich unſrer Herzen.

Schon als Du noch bei uns wareſt, freuteſt Du Dich der Gewohnheit meines Vaters, beim An - fange jedes Fruͤhlings eine kleine Reiſe mit uns zu machen; nach Deiner Abreiſe wurden dieſe Ausfluͤge in jedem Jahre wiederholt und erwei - tert. Wir hatten Marſeille und Hieres, dann Genf und ſeine ſchoͤnen Umgebungen beſucht. Die Geſundheit meiner Mutter hatte eben ſo viel Antheil an dieſen Reiſen, als das Vergnuͤ - gen. Sie hatte beſonders im Winter des Jah - res 1808 ſehr an Nervenzufaͤllen gelitten, weß - halb wir uns fruͤher als gewoͤhnlich auf den Weg machten, um nach dem Rathe der Aerzte, nach Montpellier zu gehen. Wir nahmen un - ſeren Weg uͤber Beaucaire und durchſchnitten dann die Bergkette gerade auf Bellegarde, wo mein Vater ein Geſchaͤft abzuthun hatte. Es war in den erſten Tagen des Februars, die Nordſeite der Berge war noch hin und wieder mit Schnee bedeckt, aber in den Thaͤlern ſproßte ſchon das uͤppigſte Gruͤn, Veilchen und wilde102 Hyazinthen bluͤhten an den ſonnigen Abhaͤngen, die majeſtaͤtiſchen dunklen Tannen trieben ſchon ihre goldgruͤnen Sproſſen, Finken und Graſe - muͤcken jubelten durch die neubelaubten Gebuͤ - ſche. Schon waren wir nahe am Ziel unſeres naͤchſten Ruhepunktes, man konnte ſchon von einer hoͤheren Stelle des Weges, die Thurm - ſpitze von Bellegarde erblicken, als beim Hin - abfahren in einen Hohlweg, der Wagen um - warf. Wir kamen zwar faſt ohne alle Beſchaͤdi - gung davon, aber der Wagen hatte eine deſto ſtaͤrkere erhalten, ſo daß es ſchlechterdings un - moͤglich war, ſich ſeiner ferner zu bedienen. Wir mußten uns alſo entſchließen, bis zum naͤchſten Dorfe zu Fuße zu gehen, wobei der Vater und ich, meine vor Schreck halbtodte Mutter fuͤhrten. Jm Wirthshauſe war gar kein Aufenthalt moͤglich, aber der Foͤrſter, wel - cher am Ende des Fleckens wohnte, nahm uns mit herzlicher Gaſtfreiheit auf. Er bot ſo - gleich eine Menge Bauern auf, unſre Sachen vom Wege zu holen, und unſeren Wagen bis zur Schmiede zu ſchleppen. Jch wuͤrde ihnen zur Fortſetzung ihrer Reiſe mein eigenes Fuhr -103 werk anbieten ſagte er wenn ich ſolches nicht meinem Neffen entgegen geſendet haͤtte, welcher mich heut zu beſuchen kommt. Sie werden ſich daher ein Nachtlager bei mir gefallen laſ - ſen muͤſſen. Mein Vater nahm das in Hin - ſicht meiner Mutter dankbar an. Er ſelbſt aber entſchloß ſich, ein Poſtpferd zu beſteigen, und ſo, mit dem Poſtillion, noch heute nach Bellegarde zu reiten, von wo er uns am an - dern Morgen, mit einem Wagen, abzuholen verſprach. Jch wurde mit meiner Mutter auf ein Oberzimmer gefuͤhrt. Sie fuͤhlte ſich ſo an - gegriffen, daß ſie ſich ſogleich zu Bette legen mußte, und da ich nach einiger Zeit Neigung zum Schlaf bei ihr gewahr wurde, ſo ging ich, wie ſie zu wuͤnſchen ſchien, wieder hinunter ins Wohnzimmer. Die Daͤmmerung war in: deſſen hereingebrochen, ohne daß ich es bei dem Geſchwaͤtz der aͤlteſten Tochter des Foͤrſters, ſonderlich bemerkt haͤtte. Sie machte mich zwar darauf aufmerkſam, doch ſetzte ſie hinzu, der Vater liebt dieſes trauliche Feierſtuͤndchen, und ſieht nicht gern, wenn wir fruͤh Licht an - zuͤnden. Ein Wagengeraͤuſch im Hofe machte104 uns aufmerkſam. Da kommt der Vetter! rief das Maͤdchen, und huͤpfte aus der Thuͤr. Sie kehrte bald mit dem Foͤrſter und einem Frem - den zuruͤck, deſſen Geſtalt ich nur ſehr ſchwach in der Daͤmmerung unterſcheiden konnte. Der Foͤrſter machte ihn mit meiner Anweſenheit im Zimmer bekannt, und erzaͤhlte die Geſchichte unſe - res Mißgeſchicks, woruͤber mir der Fremde ſein Bedauern in herzlichen Worten und mit einer ſehr ſchoͤnen Stimme bezeugte. Das Geſpraͤch fiel dann auf allgemeinere Gegenſtaͤnde. Wiſ - ſen Sie wohl, lieber Oheim, ſagte ploͤtzlich der Fremde, daß ſie mich vielleicht zum letzten Mahle ſehen? Wie das? fragte dieſer. Jch gehe in einigen Wochen, vielleicht Tagen, zur Armee ab, und wuͤnſchte nur, ihnen Lebewohl zu ſa - gen. Du Soldat? rief der Oheim, das haͤtte ich nimmer gedacht. Alſo hat dich das fatale Loos doch getroffen, nachdem es Dir ſchon zwei Mahl voruͤber gegangen? Jch habe ſeine Entſcheidung nicht wieder abgewartet, ſagte der Fremde, ich habe mich freiwillig dazu beſtimmt. Freiwillig? rief der Foͤrſter mit Erſtaunen. Un - moͤglich kannſt du, nach deiner Lebensweiſe, Nei -105 gung zum Soldatenſtande fuͤhlen. Wenn auch nicht dieſe, ſo doch Neigung, das Vaterland zu vertheidigen. Du mochteſt ja niemahls meinen Fuͤchſen den Krieg erklaͤren, und wenn ich dich, beim Treibjagen, aufmerkſam auf deinem Poſten glaubte, fand ich dich mit dem Virgil in der Hand nachlaͤſſig am Baume gelagert, die Buͤchſe ne - ben Dir. Oder mit Tirtaͤus Kriegsliedern, Oheim. Wollt Jhr ewig ſchlafen, den Schlaf des Feigen? weckt Euch nimmer der Nachbarn Hahn, nimmer der Schwaͤcheren Muth? Aber woher denn ſo auf ein Mahl dieſe Aen - derung? Du wirſt doch nicht nach Spanien wollen, um von auflauernden Buſchkleppern ge - mordet, oder von Weibern vergiftet zu werden? Nein Oheim. Jch ahnde den Volkswillen, ſo unklug er auch ſeyn mag. Aber die Kriegsflam - me droht ſchon wieder, von Seiten Oeſtreichs; England blaͤſt mit vollen Backen in den immer glimmenden Zunder, man glaubt uns dieß Mahl in einen Hinterhalt fallen zu laſſen. Napoleon iſt in Spanien, hinter ſeinem Ruͤcken will man Frankreich angreifen, welches er ſonſt mit dem flammenden Schwerte, wie der Engel den Ein -106 gang des Paradieſes, bewacht; aber nur zu bald werden ſie das gefuͤrchtete Antlitz des Raͤ - chers ſehen. Unterdeſſen muß Frankreichs ganze Heldenjugend ſich erheben, daß der Fuͤhrer ein ſchlagfertiges Heer finde.

Der Fremde ſprach dieſe Worte mit einem ſolchen Nachdruck, daß ein freudiger Schauer durch meine Nerven bebte. Des Maͤdchens Hand zitterte in der meinigen. Ach! rief ſie mit ſchluchzender Stimme, ihr boͤſen Maͤnner redet vom Kriege, wie von einem Vogelſchießen, ihr denkt nur an den Ruhm, ohne an die Thraͤnen zu denken. Was nuͤtzt uns Armen des Kaiſers Macht und Ruhm; noch ein Mahl ſo lieb wollte ich ihn haben, wenn er fried - fertiger waͤre, und nicht ſo eroberungſuͤchtig.

Liebe Marie, ſagte der Fremde mit einiger Heftigkeit, du redeſt wie ein Weib, und ver - ſtehſt es nicht. Napoleons Ruhm, iſt Frank - reichs groͤßte Staͤrke, ſeine Macht iſt des Vater - landes Sicherheit. Man moͤchte gern dieß freie Land wieder in die Feſſeln des verfloſſenen Jahrhunderts ſchmieden, welche wir nur von Hoͤrenſagen kennen, da ſie faſt mit unſrer Ge - burt zerbrochen wurden.

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Jch habe ſie wohl gekannt, redete der Foͤr - ſter dazwiſchen, und um ſie ab zu wehren, wollte ich ſelbſt noch meinen alten Kopf den feindli - chen Reihen gegenuͤber ſtellen. Um wie viel mehr wir Juͤnglinge! fuhr der Fremde fort: welche Elende waͤren wir, wenn wir nicht unſer Herzblut hingeben wollten fuͤr unſer Vaterland und ſeine Verfaſſung, unter deren Schatten wir er - wuchſen, fuͤr den Kaiſer, der die Wunden der Revolution heilte, den Buͤrgerkrieg endete, und den Ruhm der Nation auf den hoͤchſten Gipfel erhob. Jeder Buͤrger fuͤhlt ſich Theilnehmer dieſes Ruhms; ſollte es nicht auch ein weib - liches Herz?

Dieſe Apoſtrophe an mein Geſchlecht, reizte mich zum Mitgeſpraͤch, ich druckte mei - nen Freiheitsſinn und meine gluͤhende Vater - landsliebe in lebhaften Worten aus. Der Fremde ſchien mich mit Bewunderung zu hoͤ - ren, es waren ſeine eigenen Begriffe, welche er aus einem fremden Munde vernahm. Mir ging es eben ſo, ich glaubte mein eigenes Jch zu hoͤren. Jeder von uns ſetzte haͤufig, im Feuer des Geſpraͤchs, den angefangenen Pe -108 rioden des andern fort, genau mit denſelben Worten, welche dieſer eben laut werden laſſen wollte. Es war etwas uͤbernatuͤrliches in dieſer Ueber - einſtimmung. Die beiden andern ſchwiegen voll Erſtaunen ſtill, wir beide redeten allein, und ver - gaßen auch, daß es außer uns noch Weſen gab. Da wir uns nicht ſehen konnten, ſo waren es nur die Geiſter, welche ſich erkannten, und eine, wie uns ſchien, ſchon fruͤher geknuͤpfte Freundſchaft fortſetzten. Jch fuͤhlte mich auf eine unbegreifliche, und mir bis dahin voͤllig unbekannte, Weiſe zu dem Fremden hin ge - zogen. Daß er in demſelben Falle ſey, be - wies die immer zunehmende ruͤhrende Weich - heit ſeiner Stimme. Jch war aufgeſtanden, und hatte mich, unbewußt, dem großen Tiſche genaͤhert, welcher, mit einer gewirkten Decke behangen, in der Mitte des Zimmers ſtand, der Fremde hatte, von ſeiner Seite, daſſelbe ge - than. So mochten wir vielleicht eine Stunde gegenuͤber geſtanden haben; fuͤr uns gab es keine Zeit. Tiſch und Dunkelheit trennten uns, wir aber fuͤhlten uns vereint, und unſre, in ein - ander verſchlungenen Seelen durchflogen, gemein -109 ſchaftlich, den endloſen Raum der Schoͤpfung, jede Anſicht aus demſelben Punkte, in demſel - ben Lichte betrachtend. Finſter, ſtockfinſter war es geworden, fuͤr uns war es ſonnenhell. Da trat endlich die Foͤrſterinn mit Licht herein, und ſtellte es auf den Tiſch. Wir ſtarrten uns ſprachlos eine Secundelang an, dann hoben wir in demſelben Augenblicke die Arme, und Mu - cius! Virginia! toͤnte im Nu von beider Lippen. Er war es, der Niegeſehene; ich, die von ihm Ungekannte. Die Foͤrſterfamilie ſtaunte uns an, wir mußten endlich das Raͤthſel loͤſen, und er - zaͤhlen. Da war nun des Wunderns kein Auf - hoͤren. Wunderbar ſind die Wege des Herrn! ſagte die Foͤrſterinn; ja es iſt Gottes Schickung liſpelte mit einem leiſen Seufzer Marie; der alte Foͤrſter ſchuͤttelte uns treuherzig die Haͤnde. Jhr habt mich ordentlich geruͤhrt, mit euerm Geſpraͤche, Kinderchen, ſagte er, mir wars als ſey ich in der Kirche. Nun Mutter trag auf, vom Beſten was das Haus vermag, ich weiß doch Du haſt dem Mucius ſeine Leibeſſen berei - tet, ich will auch den Koller nicht ſchonen. Haͤtte ich doch nicht gedacht daß wir ein ſo viel -110 faches Feſt feiern ſollten, Willkommen - und Ab - ſchieds -, Freuden - und Trauerfeſt zugleich, und wer weiß was noch fuͤr ein Feſt! nun, nun, der Herr lenke alles nach ſeinem Willen, dann iſt es auch zu unſerm Beſten. Er luͤftete das lederne Kaͤppchen ein wenig, zuͤndete dann den Wachs - ſtock an, nahm den Kellerſchluͤſſel und eilte hin - aus. Mutter und Tochter beſchickten emſig den Tiſch. Mucius ſetzte ſich neben mich, uns fiel beiden kein Wort ein uͤber das ſeltſame Zuſam - mentreffen, wir waren alte Bekannte. Wir ſprachen viel von Emil; in dieſem theuern Gegenſtande trafen unſre Seelen am innigſten zuſammen. Wir wiederholten hundert Mahl, wie ſehr wir ihn liebten, und hoͤrten es von einan - der mit eben ſolchem Entzuͤcken, als gaͤlte dieſe Verſicherung uns. Bei Tiſche erhielt ich mei - nen Platz zwiſchen Oheim und Neffen, neben Mucius ſaß Marie. Die arme Marie war die einzige, welche nicht ſo heiter ſchien, als ſie bei meiner Ankunft war, doch wurde ſie es um etwas mehr, nachdem der Vater oͤfters auf einen gluͤcklichen Feldzug angeſtoßen, und ſie darauf ihrem Nachtbar Mucius hatte Beſcheid thun111 muͤſſen. Auch auf meine gluͤckliche Reiſe wurde getrunken. Ob Sie die Reiſe nach Montpellier fortſetzen werden, iſt ſehr die Frage, ſagte ploͤtz - lich Mucius: ihr Herr Vater mag das mor - gen entſcheiden. Wir ſahen ihn alle verwun - dert an, und baten um Erklaͤrung. Heute nicht, ſagte er ablehnend, laßt uns die Zukunft ſtill bedecken, und des heutigen Abends rein genie - ßen. Damit ſtimmte er einen froͤhlichen Rund - geſang an, und der Abend wurde bis ſpaͤt in die Nacht verlaͤngert und heiter beſchloſſen. Jch begab mich in einem geiſtigen Rauſche, woran der Wein keinen Antheil hatte, zu Bette, und ſchlummerte erſt in der Morgendaͤmmerung zu ſeligen Traͤumen ein.

Mein Vater war fruͤh angekommen, ich fand ihn ſchon am Bette meiner Mutter als ich mein Kaͤmmerchen verließ; er war ernſt, und meine Mutter in einiger Unruhe. Jch umarmte beide, und eilte hinunter, um ihr Geſpraͤch nicht zu ſtoͤren, mehr noch, warum ſollte ich es leugnen? um Mucius einen guten112 Morgen zu wuͤnſchen. Jch traf ihn im Wohn - zimmer, und ſein Auge ſtrahlte mir entgegen. Der Vater iſt ſo ernſt, ſagte ich nach einigen freundlichen Reden, hat er ſie ſchon geſehen? Ja wohl, erwiederte er, meine Nachricht hat ihn ernſt geſtimmt. Welche Nachricht? rief ich. Sie wird es nicht erſchrecken, ſagte er, indem er liebkoſend meine Hand nahm, Emil begleitet mich ins Feld. O, meine Mutter! rief ich voll Schrecken. Fuͤr dieſe habe ich gezittert, ſagte er, doch ſie wird ſich in das Unvermeidliche fin - den. Emil iſt ſechzehn Jahre, das Loos kann ihn in kurzen treffen; warum alſo nicht ein Opfer freiwillig bringen, welches fruͤher oder ſpaͤter doch unabaͤnderlich gebracht werden muß! jetzt geht er an der Hand der Freundſchaft, wer weiß ob es ihm ſpaͤterhin ſo gut wird; auch iſt er unwi - derruflich entſchloſſen, und war im Begriff, gleich nach meiner Abreiſe, ſelbſt nach Chaumerive zu gehen, um ſeinen Entſchluß kund zu thun. Wir muͤſſen zuruͤck! rief ich haſtig. Allerdings, ſagte er: ihr Herr Vater bereitet die Mutter dazu vor. Ach meine arme, arme Mutter! klagte ich, wie wird ſie es uͤberleben! Sie bleiben ihr,ſagte113ſagte Mucius, und trocknete mir ſanft die Augen. Er iſt ihr Liebling, fuhr ich fort, und verdient es zu ſeyn. Beide verdienen es! Beide! rief Mucius, indem er meine Hand mit Heftigkeit an ſeine Lippen druͤckte. Gluͤcklicher Emil! ſetzte er hinzu, und eine Thraͤne glaͤnzte in ſeinen dunkelbraunen Augen: gluͤcklicher Emil, Engel weinen um dich! ich Ungluͤcklicher habe keine Schweſter! Jch will auch die ihrige ſeyn, ſagte ich, und meine Thraͤnen floſſen ſtaͤrker. Vir - ginia! rief er im Ausruf des Entzuͤckens, und ſchlang den Arm mich, ich ſank im Uebermaß des Gefuͤhls an ſeine Bruſt. Unſre Lippen be - gegneten ſich unwillkuͤhrlich; wir hielten uns lange in ſprachloſer Seligkeit umarmt. O, das Leben iſt ſchoͤn! rief endlich Mucius: es will mich halten mit all ſeinem Zauber; gerade da ich es aufs Spiel ſetzen will, entfaltet es mir ſeine ſchoͤnſten Bluͤthen. Aber nicht dem Feigen wuͤrde dieſes holde Auge laͤcheln, nein, ich muß kaͤm - pfen um ſo ſchoͤnen Preis! Wird Virginia den Sieger lieben? fragte er mit Schmeicheltoͤnen. Ewig! entgegnete ich. Mein? Dein riefen wirErſter Theil. [8]114beide aus einem Munde, und eine zweite Um - armung beſiegelte den Bund fuͤr die Ewigkeit.

O, ſeliges Gefuͤhl, wenn zwei Seelen, welche der Schoͤpfer aus einem Lichtfuncken gebildet, ſich finden und ſich verbinden auf ewig! Die Gegen - wart und ihre kleinen Verhaͤltniſſe verſchwinden dem trunkenen Auge, es ſieht nur aufwaͤrts zum Quell des Lichts. Auch meine Thraͤnen waren ploͤtz - lich verſiegt, und mein Herz jauchzte in geheim mitten unter den Aeußerungen der allgemeinen Beſorgniß. Die Thraͤnen meiner Mutter tha - ten mir wehe, ich machte mir Vorwuͤrfe daß ich ſo gluͤcklich war, aber ich konnte es nicht aͤndern, ich war gluͤcklich.

Es wurde beſchloſſen, daß wir ſogleich die Ruͤckreiſe nach Chaumerive antreten wollten, um den geliebten Emil ſo bald als moͤglich an unſer Herz zu ſchließen; Mucius war ſogleich entſchloſſen, uns zu begleiten. Der Oheim ſchuͤt - telte ihm zum Abſchiede kraͤftig die Hand: du biſt ein braver Junge, ſagte er, thu deine Pflicht, und Gott ſey mit dir, Mucius! Mit115 dem Schilde, Oheim, oder auf dem Schilde! entgegnete dieſer langſam, mit Nachdruck. Mu - cius Scaͤvola! rief mein Vater und ſchloß ihn mit feuchten Augen an ſeine Bruſt. Marie weinte heftig als er ſie zum Abſchied kuͤßte, dann umarmte ſie mich, ſahe mich einen Au - genblick nachdenkend an, ein halbes Laͤcheln ſchwebte auf ihrem leidenden Geſichte, ſie ſchuͤt - telte leiſe den Kopf, als wollte ſie ſagen: keine wird ihn haben! Sie trocknete muthig ihre Thraͤnen, und ſchmiegte ſich ſanft reſignirt an ihren Vater.

Unſre Ruͤckreiſe war nicht erfreulich. Meine Mutter war meiſtens leidend und in ſich gekehrt, ſo viel Muͤhe ſich auch die Maͤnner gaben ſie zu beruhigen; mein leuchtendes Auge ſchien ihr wundes Gefuͤhl oftmahls zu verletzen. Auf der andern Seite aber war es mir eine hohe Freude, zu bemerken, wie mein Vater mit jeder Mi - nute mehr Gefallen an meinem Geliebten fand. Er erzaͤhlte ihm ſeinen amerikaniſchen Feldzug, und verjuͤngte ſich mitten unter den Bildern ſeiner Jugend. Dein Bruder fiel! ſeufzte meine Mutter. Fuͤr ſeine Ueberzeugung, fuͤr*116eine gute Sache, und von allen ſeinen Kamera - den beweint! rief mein Vater, kann das laͤngſte Leben einen ſo ſchoͤnen Tod aufwiegen? Auch ein Leben voll Liebe nicht? fragte meine Mut - ter, und druͤckte zaͤrtlich ſeine Hand. Das Leben iſt ſchoͤn, erwiederte er, und umarmte ſie, aber der Heldentod des Juͤnglings iſt es nicht minder. Wohl iſt er zu beneiden, ſagte Mucius, wenn ein ſchoͤnes Auge um ihn weint; er lebt dann in dieſen koͤſtlichen Thraͤnen ein ſeliges Leben! Eine dunckle Wolke flog bei dieſen Wor - ten durch meine Seele, aber muthig ſcheuchte ich ſie hinweg. Gluͤckliches Geſchlecht, ſagte ich, das handelnd eingreifen kann in die gro - ßen Weltbegebenheiten! Preiſe das deine gluͤck - lich, antwortete mein Vater, dem ein kleinerer Kreis bezeichnet wurde; es hat keine ſchmerz - liche Wahl, kann nicht ſchwanken zwiſchen den Pflichten fuͤr ſein Haus, und fuͤr ſein Land. Jch erkenne es mein Vater, ſagte ich, ſeine Hand kuͤſſend. Jch verſtand recht gut, was an ſeinem Geiſte voruͤber ging.

Wir trafen in Chaumerive faſt zugleich mit dem theuern Emil ein. Meine Mutter ſchloß117 ihn leidenſchaftlich in ihre Arme, und ſchien noch einige Hoffnung zu hegen, ihn zuruͤck zu halten; doch uͤberzeugte ſie ſeine ruhige Hal - tung, und meines Vaters beſtimmte Erklaͤ - rung, ſehr bald, daß ſie ſich dem Unvermeid - lichen ergeben muͤſſe. Sie that es mit der be - ſten Faſſung von der Welt, augenſcheinlich in der Abſicht, das Herz ihres Lieblings nicht ſchwer zu machen. O Allmacht der muͤtterlichen Liebe, welche Wunder bringſt du hervor! Meine arme Mutter, ſonſt ſo heftig in den Aeußerun - gen ihres Schmerzes, gewann es uͤber ſich, ihrem Sohn immer ein heiteres Geſicht zu zeigen, waͤhrend ihr Herz aus tauſend Wunden blutete. Sie war raſtlos mit ſeinen kleinen Beduͤrfniſſen beſchaͤftigt, und ſprach ſogar ſcherzend von ſei - ner baldigen ſiegreichen Ruͤckkehr. Nur in der Stille des Morgens, hoͤrte ich oft ihr Schluch - zen, im anſtoßenden Kabinett, und bemerkte, wenn ſie in das Wohnzimmer trat, auf ihrer blaſſern Wange, Spuren friſch vergoſſener Thraͤnen, wel - che ſie jedoch ſorgfaͤltig zu tilgen ſuchte, wenn die Fruͤhſtuͤcksſtunde heran nahte. Mit zaͤrtlicher Achtſamkeit forſchte der Sohn oft auf ihrem118 lieben Geſichte, und bat dann mit ſeiner ſchmei - chelnden Stimme: ſey nicht traurig liebe Mut - ter! Sie laͤchelte jedes Mahl, und leugnete es zu ſeyn. So floſſen uns noch vierzehn ſchmerzlich-ſuͤße Tage dahin. Emil bemerkte bald das zaͤrtliche Verhaͤltniß zwiſchen ſeinem Freunde und mir, welches wir auch gar nicht zu verhehlen ſtrebten. Er zog uns beide in ſeine Arme. Jch halte des Lebens groͤßte Schaͤtze an meiner Bruſt! ſagte er. Alle? fragte ich ſchalkhaft. Lebend, und im Bilde! erwiederte er. Jch fuͤhlte, daß er, zugleich mit mir, Dein Bild an ſich druͤckte, welches, meinem Buſen entfallen, an meiner rechten Seite hing. Jm Uebermaß meiner Liebe fuͤr den theuren Bruder, und im Gefuͤhl meines eigenen Gluͤcks, nahm ich die Kette mit Deinem Bilde von mei - nem Halſe, und ſchlang ſie um den ſeinigen. Es ſey deine Aegide, ſagte ich, und ſchuͤtze dein liebes Herz! Er war außer ſich vor Ent - zuͤcken und Dankbarkeit. Ein muthiges Herz wird dagegen ſchlagen, ſagte er, bis es zu klo - pfen aufhoͤrt. O nichts vom Stillſtehen dieſes Herzens! bat ich, von dem Gedanken erſchuͤt -119 tert. Nun, nun, ſagte er laͤchelnd, mir fluͤſtert dieß oft eine leiſe Ahndung zu, doch gehe ich darum nicht weniger muthig dem Feinde ent - gegen. Sage einſt Adelen, ſetzte er ernſt hinzu, ich haͤtte ſie geliebt, bis zum letzten Hauch geliebt. Seine Stimme verſagte ihm auf einen Augenblick, aber ploͤtzlich richtete er ſich mit ru - hig freundlichem Geſichte aus meiner Umar - mung auf. Er ſchien mir, als ich zu ihm auf - ſah, mit einem Mahle um ein betraͤchtliches groͤßer. Voll aufgeregter Aengſtlichkeit warf ich mich in Mucius Arme: fluͤſtert dir die Ahn - dungsſtimme auch? fragte ich zitternd. Nur Freudiges verkuͤndigt ſie mir, ſagte er, und um - ſchlang mich. Sey ruhig, meine Virginia, das Gluͤck iſt dem Muthigen hold! wir werden uns Alle, und freudig, wiederſehn. Der Ausſpruch des Geliebten iſt ja wie die Stimme von Do - dona, auch in meine Bruſt rief ſie die Hoff - nung zuruͤck.

So brach der Abſchiedsmorgen heran. Zum letzten Mahle begruͤßte die Sonne bei ihrem120 Aufgang, eine zaͤrtlich vereinte, gluͤckliche Fami - lie. Mein Vater war weich und freundlich, meine Mutter blaſſer als je, aber anſcheinend ruhig und gefaßt. Emil betrieb lebhaft die Zu - ruͤſtungen zur Abreiſe, und laͤchelte jedem von uns zu, um uns ſeine Bewegung zu verbergen. Mucius, nur mit ſeiner Liebe beſchaͤftigt, wendete die aufmerkſamſte Sorgfalt an, meinen Muth aufrecht zu halten. Ach ich bedurfte des Bei - ſtandes nur zu ſehr! Jn Gefahr, die beiden geliebteſten Gegenſtaͤnde meiner Zaͤrtlichkeit auf immer zu verlieren, verließ mich mein ſonſtiger Heldenſinn und das liebende Maͤdchen kaͤmpfte fruchtlos mit ſeinen Thraͤnen. Mein Vater ſah den Kampf in meiner Seele, und guͤtig, wie er immer war, wollte er mir einen ſtuͤtzenden Troſt geben. Zaͤrtlich ergriff er Emils und Mucius Haͤnde, und rief mit bewegter Stim - me: Meine beiden Soͤhne! O ich bin ein reicher Vater! ich weihe an einem Tage zwei Soͤhne dem Vaterlande. Seyd einer des an - deren Schutzengel, bleibt einander treu mit huͤlfreicher Liebe, bleibt euch treu im Leben und im Tode! Das Band der Freundſchaft121 knuͤpfte ſchon laͤngſt eure Herzen, ich fuͤge in dieſer feierlichen Stunde noch ein, wo moͤglich, ſchoͤneres, hinzu, das bruͤderliche. Sobald ihr zuruͤckkehrt, werde Mucius Virginiens Gatte. Wir waren Alle uͤberraſcht von dieſen Worten, und jeder aͤußerte ſeine Bewegung auf verſchie - dene Weiſe. Mucius warf ſich mit ſtuͤrmiſcher Freude in meines Vaters Arme, ich ſank ſchluch - zend zu ſeinen Fuͤßen, Emil umfaßte ſeinen Freund, meine Mutter ſah ſtaunend vom So - pha auf die Gruppe, und ſtreckte die Hand nach uns aus. Sie hatte, einzig mit der Reiſe ihres Sohnes beſchaͤftigt, weniger auf unſer Verhaͤltniß geachtet, und es war ihr daher ziemlich fremd geblieben; doch hatte auch ſie Mucius liebgewonnen, um ſeiner ſelbſt willen, und als Emils Freund. Als wir daher beide vor ihr niederknieten und um ihren Segen ba - ten, ſegnete ſie uns mit der freudigſten Ruͤh - rung. Emil kuͤßte ſie dafuͤr, kindlich ſchmei - chelnd. Da nahm ſie ſeine Hand, legte ſie in die ſeines Freundes und ſagte: ich gab ihnen die theure Tochter, und ihren Haͤnden vertraue ich den geliebten Sohn, ſchuͤtzen Sie ihren122 Bruder. Mit meinem Blute! rief Mucius, und preßte Emil in ſeine Arme. Seyn Sie ohne Sorgen, verehrte Mutter, ich bringe ihn geſund zuruͤck; an ſeiner Hand, oder niemahls wieder kehre ich heim. Dieſe unerwarteten Sce - nen hatten uns Allen einen heroiſchen Schwung gegeben, welcher uns leichter uͤber die ge - fuͤrchtete Abſchiedsſtunde hinweg trug. Die Pferde ſtanden ſchon lange bereit, der Poſtil - lion hatte ſchon mehrere Mahl ins Horn ge - ſtoßen, da ergriff Mucius raſch die Hand ſei - nes Freundes. Wir muͤſſen ſcheiden! ſagte er muthig: lebt wohl Vater und Mutter! lebe wohl Virginia! wir kehren bald zuruͤck. Er kuͤßte uns der Reihe nach, mit Eile, und ließ Emilen kaum die Zeit, ein gleiches zu thun. Der arme gute Emil! Blaͤſſe uͤberzog ſein Geſicht, doch ſchwebte noch das gewohnte Laͤcheln dar - auf, wir druͤckten ihn an uns, er ſagte uns Lebe - wohl. Mit feſten Schritten folgte er dann ſeinem Freunde, welcher ihn raſch mit ſich fort - riß. Jn wenigen Minuten waren ſie unſeren Blicken entſchwunden, die beiden hohen Juͤng - lingsgeſtalten. Ach, auf immer!

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Meine Mutter ſah ihnen unverwandt nach, und als der Wagen unſern Blicken nicht mehr ſichtbar war, ſank ſie ohnmaͤchtig nieder. Die Sorge um ſie, und ihre Pflege, zogen meinen Vater und mich von unſern eigenen Empfin - dungen ab. Wir thaten alles um ſie zu zer - ſtreuen und auf zu heitern, aber mit geringem Erfolg. Mein Vater beſtand eifrig darauf, die unterbrochene Reiſe wieder anzutreten, die Mut - ter war aber dazu nicht zu bewegen. Wenn Emil wiederkehrt, werde ich von ſelbſt geneſen, ſagte ſie, kommt er nicht zuruͤck, nun dann ſie brach ab, nach einer Pauſe ſetzte ſie hin - zu: ich wuͤrde ja an jedem andern Orte ſeine Briefe ſpaͤter erhalten. Dieſe Briefe waren von jetzt an die einzige Nahrung, welche die ſchwache Flamme ihres Lebens erhielt; unſre Liebkoſungen nahm ſie freundlich auf, und er - wiederte ſie auch, aber ihre Thraͤnen floſſen ſelbſt in den Armen ihres geliebten Gatten.

Als die Schlacht von Eßlingen bekannt wurde, ſtieg die Angſt meiner Mutter auf das124 hoͤchſte. Sie ſahe jede Nacht ihren Sohn, verwundet oder tod, in ihren Traͤumen. Um - ſonſt wendete mein Vater alle Vernunftgruͤnde an; doch wenn das Herz heftig leidet, dann wird es von den Troͤſtungen des Verſtandes, nur belei - digt. Jch bin keine Roͤmerinn! ſagte ſie mit Heftigkeit. Und haſt kein Vaterland? fragte mein Vater. Moͤge es doch zertruͤmmern, rief ſie, wenn ich nur meinen theuern Sohn und euch behalte! Klara, liebe Klara, ſagte mein Vater, ſanft verweiſend, der Schmerz tobt aus dir, du wirſt dich wieder finden. Die Pflicht uͤber Alles! Kein Gut der Erde troͤſtet uns, wenn dieſe verletzt wird.

Jch, meines Theils, ſuchte gar nicht ſie zu troͤſten, ich weinte mit ihr. Mein armes Herz ſchwankte zwiſchen Hoffnung und Furcht, ich haͤtte ſelbſt des Troſtes bedurft; aber das Schauſpiel des unbegraͤnzten muͤtterlichen Schmer - zes gab mir feſte Haltung. Jch gelobte mir, im Stillen, den etwanigen Schlaͤgen des Schick - ſals mit mehr Faſſung zu begegnen. Endlich, nach mancher vergeblichen Bemuͤhung um Nach - richt, langte ein Brief von den beiden Gelieb -125 ten an, und gab meiner Mutter das Leben wieder; auch mir und dem Vater ſank ein ſchwerer Stein vom Herzen, und unſer Muth erhielt ſich auch waͤhrend der folgenden Zeit. Die Freunde waren an jenem heißeu Tage im hef - tigſten Feuer geweſen, und ihre Kameraden rechts und links gefallen, ſie jedoch unverſehrt geblieben. Dieß ſchien uns ein beſonderer Schutz des Himmels zu ſeyn, und wir ſahen ſie als ein paar Geweihete an, denen keine Kugel nahen duͤrfe. Die Mutter war nicht ganz ſo muthig, aber ſie hoffte auf ſchnellen Frieden, und betete inbruͤnſtig zu Gott.

Die Schlacht von Wagram erfuhren wir durch einen Brief von Mucius. Er hatte dem ſchnellfuͤßigen Geruͤchte doch zuvor zu kommen ge - wußt. Mit Begeiſterung lobte er den Muth und die ſchnelle Geiſtesgegenwart Emils, welcher ſogar Gelegenheit gehabt, vom Kaiſer bemerkt, und ge - lobt zu werden. Leider aber, hieß es am Schluß ſeines Berichts, iſt der geliebte Bruder gegen den Ausgang der Schlacht, am Fuße verwundet worden, doch iſt durchaus keine Gefahr, und wir gedenken bald wieder bei unſeren Lieben einzutreffen. Emil126 ſelbſt fuͤgte einige Zeilen hinzu, worin er uns bat, ganz ohne Sorgen zu ſeyn. Wir bedauerten den Geliebten, doch waren wir nicht allzu be - ſorgt. Eine leichte Fußwunde, meinte mein Vater, dabei ſey keine Gefahr, und meine Mut - ter dankte Gott, aus tief aufathmender Bruſt, daß er es ſo gnaͤdig gefuͤgt. Auf jeden Fall war nun ihr Liebling geborgen. Selbſt wenn, gegen alle Wahrſcheinlichkeit, noch ein Mahl geſchlagen wurde, er war in Sicherheit. Sie fing an, ſich ſichtlich zu erholen, nahm wieder an den Geſchaͤften den thaͤtigſten Antheil, und erheiterte uns Alle durch ihre muntern Einfaͤlle und ihre frohe Laune. Schon ſeit Jahren hatte ſie nicht mehr die Laute beruͤhrt, aber jetzt ergriff ſie oft die meinige, und ſang uns mit ihrer ſchoͤnen Stimme die artigſten Lieder. Mein Vater fuͤhlte ſich in die erſten Tage ſei - ner Liebe zuruͤck verſetzt, und war wieder ſelig und lebendig, wie damahls. Der gute Pfarrer, und unſre wenigen Hausfreunde freuten ſich mit uns. Jch ſelbſt ſchwamm in einem Meere von Wonne, beſonders da bald darauf ein zweiter Brief eintraf, welcher ſchon auf dem127 Ruͤckmarſch geſchrieben war. Mucius meldete uns, daß er eine zufaͤllige Unterredung mit dem Kaiſer gehabt habe, in welcher er ihm uͤber ſich und ſeinen verwundeten Freund, in der Kuͤrze, Auskunft gegeben. Der Kaiſer habe ſich meines Vaters erinnert, und ihm eigenhaͤndig fuͤr Emil das Kreutz der Ehrenlegion und den Ab - ſchied als Kapitaͤn zugeſtellt. Was ſie junger Mann betrifft, hatte er hinzugefuͤgt, ſie koͤn - nen jetzt gehen wohin das Herz ſie ruft, ich bin ihrer gewiß; wenn ich und das Vaterland ih - rer beduͤrfen, ſo kehren ſie zum zweiten Mahle freiwillig unter meine Fahnen zuruͤck.

Goldne Worte! welchen froͤhlichen Rauſch verbreiteten ſie uͤber unſer ganzes Haus! Emil ſchrieb auch, ſeine Wunde war noch nicht heil, aber er achtete ihrer nicht, ſein liebendes Herz und die Sehnſucht ſeines Freundes, trieben ihn zur Heimath. Sein ſchoͤnes Herz ſprach ſich ſo liebevoll in jeder Zeile aus, er freute ſich kindlich uͤber die empfangenen Ehrenzeichen, aber mehr um ſeiner Aeltern, als um ſeinetwil - len, wohl auch um Deinetwillen, denn er fuͤgte triumphirend hinzu: die Aegide, Virginia, hat128 mein Herz treulich beſchuͤtzt. Guter, herrlicher Bruder! ſo brav, ſo liebend, ſo treu! nur En - gel koͤnnen dir gleichen! Engel, jetzt deine Ge - ſellſchafter, deine troͤſtenden Gefaͤhrten!

Meine Mutter war nun geſchaͤftig wie Mar - tha, und froͤhlich wie die Tochter Jephta, am Tage der Ruͤckkehr. Sie ſchmuͤckte und ordnete das ganze Haus zu dem frohen Empfange. Daneben beſchaͤftigte ſie ſich mit meiner Aus - ſtattung, und ſcherzte freundlich mit mir uͤber meinen Brautſtand und die nahe Verbindung. Jch beruͤhrte kaum die Erde, ich ſchwebte in den Gefilden der Seligen, und doch hatte ich nie die irdiſchen Geſchaͤfte puͤnktlicher und ſorg - ſamer verrichtet. So werden alle Faͤhigkeiten der Seele und ihres Organs, des Koͤrpers, durch die Liebe und die Freude erhoͤhet, ja ver - doppelt!

Die Zeit der Weinreife ruͤckte heran. Jch war ſchon in den Bergen, und ordnete die ver - ſchiedenen Vorbereitungen zur Leſe an. Die Sonne ging hinter einer entfernteren Bergſpitzenieder,129nieder, und krauſe roͤthliche Woͤlkchen gaben ihr das Geleite. An einem gruͤnen Abhange gelagert, blickte ich froͤhlich auf die magiſchen Beleuchtungen, welche einzelne Sonnenſtrahlen noch rechts und links uͤber die ſchoͤne Landſchaft warfen. Jch hatte eben einen Grashalmenkranz geknuͤpft auf Mucius Wiederkehr in den naͤch - ſten Tagen, er war ſehr erwuͤnſcht und bejahend ausgefallen. Jn der Froͤhlichkeit meines Herzens pfluͤckte ich neben mir die Blumen welche ich erreichen konnte, und reihete ſie, halb leiſe eine von Petrarcas zaͤrtlichen Stanzen ſingend, zum Kranz, auf welchen Thraͤnen der Wonne tropfend nieder fielen. Da gewahrte ich, als ich das Auge wieder uͤber die Landſchaft erhob, in der Entfernung, einen Landmann, welcher, einen Bothenſtab in der Hand, eilig den Weg zum Berge daher ſchritt. Sein Anblick er - griff mich ploͤtzlich mit einem ahndenden Ge - fuͤhl, mein Herz klopfte voll bangen Schrek - kens, je naͤher er mir kam, es war als wenn ein grauſes Schickſal auf mich zu ſchritt. Ach, nur zu grauſend, zu entſetzlich war, was mir nahte! Der Bothe reichte mir einen Brief,Erſter Theil. [9]130er war von Mucius Hand, von Mucius lieber Hand, und dennoch wagte ich nicht, ihn zu oͤffnen; auf ſo ungewoͤhnlichem Wege, und ich wagte nicht zu fragen, ich war mir ſelber unbegreiflich. Endlich faßte ich, in gewaltſamer Anſtrengung, den Muth, das Siegel mit zitternder Hand zu loͤſen. Schon die erſten Zeilen dieſes Un - gluͤckbriefes, ſchmetterten mich zu Boden. Noch in dieſem Augenblicke, nach fuͤnf Jahren, ver - ſagt mir die Feder faſt den Dienſt, kaum kann ich mich entſchließen, Dir das fuͤrchterliche Wort zu wiederholen, welches mich damals, gleich ei - nem Blitzſtrahle aus heiterer Luft vernichtete. Emil tod! mehr ſah ich nicht. Eine tiefe Ohn - macht warf mich auf die Blumen nieder. Ein lauter Ruf des erſchrockenen Bothen, hatte mei - nen Vater herbeigezogen, welcher ſich in der Naͤhe befand. Er hatte den mir entfallenen Brief aufgehoben, und erfuhr ſo, unvorbereitet wie ich, die ſchreckliche Nachricht.

Ungluͤcklicher Vater was mußt du bei die - ſer fuͤrchterlichen Bothſchaft empfunden haben! Dein einziger Sohn! dein Stolz! Jn der131 Bluͤthe zerſchmettert die Hoffnung deines Al - ters! Die Natur hatte ſich mitleidig meiner er - barmt, und durch einen todtenaͤhnlichen Schlum - mer, meinem Leiden auf einige Minuten Still - ſtand geboten. Die einzige Ohnmacht meines Lebens. Sie mochte lange gedauert haben, denn es fing ſchon an zu daͤmmern, als ich in den Ar - men meines Vaters erwachte. Er war ſehr blaß, doch mit Beſonnenheit um mich beſchaͤf - tigt. Emil! rief ich, als das Bewußtſeyn mir klar zuruͤckkehrte, Emil! mein Emil! und ein Strom von Thraͤnen ſtuͤrzte aus meinen ſtarren Augen. Mein Vater verbarg ſein Angeſicht, doch fuͤhlte ich an dem Zittern ſeines Armes, wie be - wegt er innerlich ſeyn mußte. Aber nur einige Mi - nuten lang, dann ſahe er wieder mit Faſſung auf mich nieder. Virginia, ſagte er mit liebkoſen - der Stimme, Virginia, mein ſtarkes Maͤdchen, erhole dich. Thraͤnen gebuͤhren dem lieben, dem edlen Sohn und Bruder, aber wir haben noch lange Zeit ihn zu beweinen, jetzt rufen nahe Sorgen unſre ganze Thatkraft auf. O, meine Mutter! rief ich ſchmerzlich. Fuͤr ſie*132fuͤrchte ich am meiſten, ſagte er. Darum faſſe dich, mein Kind. Auch muͤſſen wir ja Mucius ſehen. Mucius? fragte ich, wo iſt er? Haſt du nicht ſeinen Brief geleſen? erwiederte er. Nichts als die ſchrecklichen Worte! Mache dich mit ſeinem ganzen Jnhalt bekannt, und komme langſam nach, ich gehe voran, und be - reite Alles vor. Gott ſtaͤrke uns!

Nach dieſen Worten ging er langſam den Huͤgel hinunter, und uͤberließ mich meiner ei - genen Kraft. Laut brachen meine Thraͤnen, meine Klagen aus, doch kehrte mir bald einige Beſonnenheit zuruͤck. Ploͤtzlich fiel mir, wie durch Eingebung, eine Stelle aus Nathan den Weiſen in den Sinn. Jch hatte mehreres aus dieſem Leſſingiſchen Meiſterwerke, zur Ue - bung der deutſchen Sprache, uͤberſetzt, jetzt ſagte ich mir dieſe Stelle halblaut unwillkuͤhrlich vor.

Und doch iſt Gott!
Doch war auch Gottes Rathſchluß das! Wohlan!
Komm! uͤbe, was du laͤngſt begriffen haſt;
Was ſicherlich zu uͤben ſchwerer nicht,
Als zu begreifen iſt, wenn du nur willſt.

Schluchzend, doch mit Begeiſterung, ſtreckte ich meine Arme hoch zum Himmel, und rief: Jch133 will! willſt Du nur, daß ich wolle! Still und gen Himmel blickend, ſetzte ich dieſen Ge - danken einige Augenblicke fort, und fuͤhlte mich wunderbar geſtaͤrkt und erhoben. Der Odem des Ewigen ſchien mich zu umwehen. Da ſtieg der Mond in voller Pracht hinter dem Thau - gewoͤlk empor, und verbreitete ſanfte Tageshelle um mich her. Mein Blick fiel auf den Brief, welcher entfaltet mir zur Seite lag, und durch deſſen Blaͤtter der Abendwind fluͤſterte. Jch nahm, und las mit leidlicher Faſſung, was die Verzweiflung geſchrieben. Die zu fruͤh ange - tretene Reiſe in dieſer heißen Jahreszeit, hatte Emils anſcheinend leichte Wunde ſehr ver - ſchlimmert. Er blieb in Frankfurt am Wund - ſieber erkrankt. Bald geſellte ſich ein boͤsarti - ges Nervenfieber hinzu. Vergebens wendete Mucius die treueſte Sorgfalt an, vergebens rief er die thaͤtigſte Huͤlfe herbei, die Aerzte gaben we - nig Hoffnung, ſie erklaͤrten, der noch nicht voll - endete ſtarke Wachsthum des Kranken, habe, verbunden mit den Muͤhſelkeiten des Feldzugs, die Natur zu ſehr erſchoͤpft, ſie verſage die Un - terſtuͤtzung. So ſchlummerte der holde Juͤng -134 ling ſanft und bewußtlos, zu einem ſchoͤneren Leben, hinuͤber, beklagt und geliebt, ſelbſt von denen, welche ihn nur in ſeiner Krankheit kann - ten. Die Toͤchter des Wirthes weinten um den ſchoͤnen Todten, und gelobten, Roſen um ſeinen ſtillen Huͤgel zu pflanzen. Mucius hatte, die Erlaubniß ſeines Feldherrn benutzend, den Dienſt ſchon verlaſſen, um ſeinen Freund zu uns zu geleiten, wo ihm die Myrthen der Liebe winkten. Jetzt fiel ihm der Gedanke zentner - ſchwer auf das Herz, ohne den Geliebten, den Pflege - und Schutzbefohlenen, vor der verzwei - felnden Mutter zu erſcheinen. Es ſchien ihm unmoͤglich unſern vereinten Jammer zu tragen. Angſt und Verzweiflung trieben ihn, bei einem Regimente wieder Dienſte zu nehmen, welches durch Frankfurt nach Spanien marſchirte. Er wollte den Tod ſuchen. Jetzt ſchrieb er mir aus einer Entfernung von wenigen Meilen, er fuͤhle ſich nicht ſtark genug mich noch ein Mahl zu ſehen, auch erlaubten es ſeine Dienſtverhaͤlt - niſſe nicht. Er ſagte mir ewiges Lebewohl, und fuͤgte nur ganz von ungefaͤhr hinzu, der Marſch135 gehe uͤber Bellegarde, und er hoffe ſeinen Oheim noch ein Mahl zu umarmen.

Jm Nu verſtand ich jetzt was der Vater gemeint. Wir muͤſſen hin! rief ich und ſprang auf, wir muͤſſen hin! und dahin flog ich, mit des Windes Eile unſrer Wohnung zu. Jm Hofe wurde ein Reiſewagen bereitet. Jch ſtuͤrzte haſtig ins Zimmer. Wir muͤſſen hin! ja wir muͤſſen hin! Freilich, ſagte mein Vater, indem er mir ein Zeichen gab, und den Finger an die Lippen druͤckte. Jch ſchwieg, und ſuchte mich zu ſammeln. Meine Mutter ſtand uns abge - wandt einige Kleidungſtuͤcke zuſammen legend, ſie wandte ſich um, da ſie meine Gegenwart bemerkte, ſie war ſehr bleich, und ihre Glieder zitterten. Weißt Du das Ungluͤck ſchon? fragte ſie. Jch ſchwieg und bedeckte das Geſicht mit beiden Haͤnden. Wir muͤſſen hin! fuhr ſie fort, vielleicht iſt noch Rettung moͤglich. Jch merkte mit innerem Beben, daß ſie das ſchrecklichſte noch nicht wußte. Sie trieb mich, etwas Waͤ - ſche zu packen, ich gehorchte zum Scheine. Nach einer halben Stunde ſaßen wir alle drei im Wagen, und fuhren der furchtbaren Entwicke -136 lung entgegen. Meine Mutter ſprach unauf - hoͤrlich von der traurigen Lage ihres Sohnes, gefaͤhrlich krank, ſo fern von den Seinen, ohne zarte weibliche Pflege, voll Sehnſucht nach uns. Jch ſchluchzte und ſchwieg. Dann kam ſie auf den Gedanken, man habe ſie gleich an - fangs uͤber ſeine Wunde getaͤuſcht, es ſey viel gefaͤhrlicher geweſen, er ſey graͤßlich verſtuͤmmelt. Jhre Einbildungskraft erhitzte ſich, und ſchuf ſchreckliche Bilder ſeines Zuſtandes. Mein Va - ter wiederſprach nicht, und wies ſie nur ſanft auf den Willen des Ewigen hin, ohne welchen kein Haar von unſerm Haupte falle. Es wollte keine Wirkung thun auf ihren ſonſt ſo religoͤſen Sinn, ſie haderte mit Gott und den Menſchen. Ein Kruͤppel auf Lebenszeit! rief ſie heftig, un - nuͤtz der Welt, ſich ſelber eine Laſt! Freilich ſagte mein Vater, einem Zuſtande wie du ihn ſchilderſt, waͤre der Tod vor zu ziehn, wuͤrde es in die Wahl des Menſchen geſtellt. Er mahlte das Bild der Moͤglichkeit noch weiter aus. Nein, lieber tod! ſchrie meine Mutter, lieber tod! Herr des Him - mels hoͤre mich! kann ich ihn nicht mehr gluͤck - lich ſehn, ſo nimm ihn mir! ich will ihn lieber137 miſſen, als daß er leide. Klara! theure geliebte Klara, bat mein Vater, gedenke dieſes Aus - ſpruchs, gedenke deines Geluͤbdes. Das Schick - ſal koͤnnte dich maͤchtig ergreifen. Jch buͤckte mich auf ihre Knie nieder, und uͤberſtroͤmte ſie mit meinen Thraͤnen. Sie verſank in tiefes Schweigen, wir ſchwiegen alle. So fuhren wir den uͤbrigen Theil der Nacht hin - durch, bis die Morgenroͤthe hervorbrach. Die erſten Strahlen des Lichts regten meine Mutter wieder zu einigem klaren Bewußtſeyn auf. Sie betrachtete bald die Gegenſtaͤnde am Wege mit Aufmerkſamkeit, bald forſchte ſie auf unſern Geſichtern. Mir wollte das Herz zerſpringen, und der Vater mußte ſich faſt immer ſeitwaͤrts wenden, um den ſchrecklichen Kampf ſeines Jn - nern zu verbergen. Ploͤtzlich fuhr ſie mit dem Kopf zum Schlage hinaus und ſah ruͤckwaͤrts. Die Sonne ſandte eben ihre erſten Purpurſtrah - len herauf. Sie fuhr erſchrocken zuruͤck. Wir fahren der Sonne nicht entgegen, ſagte ſie faſt vernichtet, gegen Abend kann Frankfnrt nicht liegen. Wohin fuͤhrt ihr mich? fragte ſie ſtaͤr - ker, und faßte krampfhaft die Hand meines138 Vaters. Die Stimme verſagte ihm den Dienſt. Wohin fuͤhrt ihr mich? Virginia, bei deiner Seligkeit! wohin? Nach Monthameau ſtammelte ich leiſe. Sie warf irre Blicke wechſelnd auf uns. Dort kann er nicht ſeyn, ſtieß ſie endlich hervor, er iſt tod. Du ſagſt es, brachte muͤh - ſam mein Vater hervor, indem er erſchoͤpft zu - ruͤck ſank, und das Geſicht mit ſeinem Tuche verhuͤllte. Auch mich laß eine Huͤlle uͤber dieſe ſchreckliche Scene werfen. Den hoͤchſten Schmerz vermag keine Feder zu beſchreiben, wie ihn kein Pinſel zu mahlen wagen ſollte. O Adele, wie leicht traͤgt ſich eigenes Leiden, gegen das zerrei - ßende Mitgefuͤhl bei dem Schmerze geliebter Perſonen! der Jammer meines eigenen friſch - blutenden Herzens wurde in jenen Stunden kaum von mir empfunden.

Anfangs wollte die Mutter als ſie wieder zu einiger Beſinnung kam, durchaus umkehren, ſie wollte Mucius nicht ſehn. Willſt du den treuen Pfleger deines Sohnes nicht an dein Herz ſchließen? fragte mein Vater ſanft verwei -139 ſend, willſt du den treuen Juͤngling nicht hoͤ - ren, der dir die letzten Gruͤße ſeines Bruders bringt? willſt du nicht hoͤren, wie er ſtarb? Dieſe Vorſtellungen wirkten, und wir kamen gegen Abend in Monthameau an.

Bleicher Schrecken mahlte ſich auf allen Geſichtern als man uns erblickte. Mucius gluͤhete einen Augenblick auf in Freude, als er, beim Eintritt in das Zimmer, mich erblickte. Aber nur einen Augenblick. Blaͤſſe des Todes ſcheuchte den roͤthlichen Schimmer hinweg, er ſtuͤrzte au - ßer ſich zu den Fuͤßen meiner Mutter, und rief in Toͤnen der Verzweiflung: ich bringe ihn nicht zuruͤck! Halb bewußtlos ſank die Mutter auf ſeine Schulter hinab. Alles ſchluchzte, und es verging eine geraume Zeit, ehe ein Wort die Grabesſtille unterbrach. Nach und nach loͤſte ſich dann freilich, der ſtarre Schmerz in laute Klagen auf. Es wurde gefragt und erzaͤhlt, und die Mitternacht ruͤckte heran bei traurigen Geſpraͤchen. Die Natur forderte endlich ihre Rechte, und Schlaf ſank auf die muͤde gewein - ten Augen herab. Die Morgenſonne weckte uns zu neuem Jammer. Mir insbeſondre ſtand der140 herbe Schmerz der Trennung von Mucius be - vor. Du haſt noch nie geliebt, meine Adele, Du haſt alſo keine Vorſtellung von dem Schmerz, dem Geliebten ein ewiges Lebewohl zu ſagen. Ach! und wir fuͤhlten klar und lebendig, es ſey das letzte Mahl fuͤr dieſe Welt daß unſre Herzen an einander ſchlugen, unſer Ohr die ſuͤ - ßen Toͤne der geliebten Lippen vernahm. Aber das Schickſal, das unerbittliche, hatte kein Er - barmen mit unſerm Jammer. Es mußte ge - ſchieden ſeyn. Muctus mußte dem Regimente nacheilen, der Ehre die Liebe weichen; er warf ſich halb ſinnlos auf das Pferd, und war in einem Augenblick fuͤr immer verſchwunden, der leuchtende Stern auf meiner Lebensbahn fuͤr immer erloſchen! Marie ſchloß mich laut wei - nend in ihre Arme. Ungluͤckliche Marie! un - gluͤcklichere Virginia! rief ſie mit tiefem Jammer. Wir haben ihn beide verloren! ſagte ich und druͤckte ſie an meine Bruſt. Mein Vater er - griff zaͤrtlich meine Hand. Fuͤr Virginia fuͤrchte ich nicht, ſagte er mit Vertrauen, ihr maͤnnli - cher Geiſt wird das unvermeidliche tragen ler -141 nen. Dieſe einfachen Worte von dem verehrten Munde, erhoben meine ſinkende Kraft, ich ver - ſchloß meinen Gram tief im Buſen, und ver - mochte es, mich huͤlfreich und theilnehmend mit meiner ungluͤcklichen Umgebung zu beſchaͤftigen. Viel lernt der Menſch im Leiden, es iſt das ei - gentliche Seelenbad. Groß iſt die Kraft des Menſchen, wenn er nur den Willen hat ſie auf zu rufen. Nicht den Schlaͤgen des Schickſals erliegt der Muth, er wird nur von der eignen Schwaͤche gelaͤhmt. Unſre Ruͤckreiſe war jam - mervoll, ſo viel Beruhigung uns auch die wei - nende Familie des guten Foͤrſters nachgewuͤnſcht. Noch troſtloſer war unſre Ankunft in Chaume - rive, in den herzlichen Thraͤnen jedes Einwoh - ners ſpiegelte ſich aufs neue, unſer unerſetzlicher Verluſt. Meine Mutter kleidete das ganze Haus in Trauer, und ließ jeden Morgen eine Seelen - meſſe fuͤr den theuren Todten leſen. Ach, die Ruhe ihrer eignen Seele ſtellte keine Meſſe her! Mein Vater ließ ſie gewaͤhren, ſo wie er die ihr anerzogenen Begriffe nie beſtritt. Er hatte den Grundſatz, uͤberſinnliche Dinge muͤſſe Jeder nach ſeiner Einſicht abmachen. Seine eigne Ueber -142 zeugung hatte ſich immer frei von Menſchenſatzun - gen erhalten. Jch wuͤnſchte, ſagte er mit leiſem Kopfſchuͤtteln, der Glaube der Kirche und ihr vor - geſchriebenes Zeremonial koͤnnten dieſes liebe ge - brochene Herz heilen! Er traf gar keine Anſtalten fuͤr ſeinen Gram, aber er gab ſich emſiger ſei - nen Geſchaͤften hin, und ſuchte, mehr als je, den Wohlſtand und die geiſtige Ausbildung der Gemeinde zu befoͤrdern, und allmaͤhlig kehrte eine ſanfte Heiterkeit in ſein Gemuͤth zuruͤck. Nur wenn ſein Auge auf meine Mutter traf, truͤbte ſich ſein Blick. Jch ſuchte ſeinem Bei - ſpiele zu folgen, auch zwang mich die Lage der Umſtaͤnde, den tiefen ſtillen Gram zu zuͤgeln.

Meine Mutter wurde immer ſchwaͤcher, ſie nahm an keinem irdiſchen Geſchaͤfte mehr Theil, und lebte nur noch ihren Andachtsuͤbungen. Vergebens ſuchten wir ſie auf alle Weiſe zu erheitern, ſie war nicht wieder fuͤr das Leben zu gewinnen. Mir lagen nun die Geſchaͤfte des Haushalts ob, und unbeſchraͤnkt in dieſem Kreiſe, lernte ich mich bald darein finden. So ſchwand mir der Winter truͤbe, aber nicht all - zulangſam voruͤber. Mucius hatte mehrmahls143 geſchrieben; er war mit ſeiner Lage nicht zu - frieden. Er achtete die Kraft der Spanier und haßte die Triebfedern, wodurch dieſe ge - ſpannt wurde. Dieß brachte ihn mit ſich ſelbſt in Streit. Sehnlich wuͤnſchte er der engliſchen Macht entgegen gefuͤhrt zu werden, welcher er, mit ungetheiltem Sinn, feindlich begegnen wuͤrde. Uebrigens erhob ſich ſein jugendliches Herz all - maͤhlig wieder zur Hoffnung. Er wuͤnſchte, und rechnete darauf mich wieder zu ſehen.

Der neue Fruͤhling war hoffnungs - und ſe - gensreich in Frankreich eingezogen. Eine hohe Nationalfreude belebte Jedermann, bis zu den Huͤtten herab begruͤßte man einander mit fro - hem Jubel. Ganz Frankreich jauchzte der jun - gen ſchoͤnen Kaiſerbraut entgegen, dieſem ſanf - ten Friedensengel, der kuͤnftigen Mutter eines ſtarken Geſchlechts.

Auch in unſerm kleinen Kreiſe wurde faſt von nichts, als von dieſer frohen Begebenheit geſprochen. Mein Vater nahm daran all den Antheil, den er immer an dem Wohl ſeines144 Landes, und dem Ruhm unſers gekroͤnten Hel - den zu nehmen pflegte. Meine Mutter aber ſchien dieſe Froͤhlichkeit nur zu ſchmerzen. Zu ſpaͤt, ſeufzte ſie, mußte ich ein ſo theures Opfer bringen, damit der Friede einzoͤge! O, Mutter! rief ich im Auflodern meiner alten Begeiſte - rung, Emil ſtarb, weil ſeine Tage gezaͤhlt wa - ren. Waͤre es aber moͤglich, daß die Gottheit ein Menſchenopfer annaͤhme fuͤr Frankreichs Frieden, Freiheit und Gluͤck, ſo wollte ich ja, mit tauſend Freuden, noch heute mein Blut tro - pfenweiſe dafuͤr vergießen! Mein Vater druͤckte mir ſchweigend die Hand, meine Mutter ſahe mich mit ſtarren Blicken an, ſchuͤttelte dann langſam den Kopf, faßte nach ihrem Roſen - kranz, und verſank wieder in ſtillen Gram.

Die Tage der allgemeinen Freude, wurden uns Tage der Trauer. Mitten unter den Ver - maͤhlungsfeierlichkeiten ſtarb meine arme gute Mutter in meinen Armen. Mein Vater kaͤmpfte maͤnnlich mit ſeinem herben Schmerz. Er kuͤßte den kalten Mund der Geliebten mit zaͤrtlicher Wehmuth. Ruhe ſanft holde Klara! ſagte er, die Erdenleiden druͤcken jetzt dein armes Herznicht145nicht mehr, ſtiller Friede ruht auf deiner rei - nen Stirn, ich will nicht klagen, da du gluͤck - lich biſt, ich will mich deines Friedens freuen. Auch ich empfand, wie er, ich weinte um ihren Verluſt, aber ich freute mich ihrer Ruhe, und ſchmuͤckte ihren Sarg mit den bunteſten Kin - dern des Fruͤhlings. Ach! oft noch, wenn ich ihren Huͤgel mit Roſen umkraͤnzt, habe ich ſie gluͤcklich geprieſen, daß der Tod ſie ſo fruͤh ge - gegen die Stuͤrme der Zeit in ſeine dunkle Wohnung gerettet. Jhrer Seele fehlte die ideale Richtung und der muthige Wille, wo - mit man allein ſo ungeheure Schickſale zu be - ſtehen vermag.

Einſamer und ſtiller lebten wir nun fort, aber ruhig und heiter. Wir freueten uns des allge - meinen Wohls und ſtrebten nach Kraͤften es zu foͤrdern. Mucius Briefe blieben im Herbſte des Jahres 1810 ploͤtzlich aus, und auch die genaueſten Erkundigungen konnten uns keine Nachricht verſchaffen. Lange ſchon war ich auf ſeinen Verluſt vorbereitet, doch ſchmerzte er mich darum nicht weniger tief. Meine Seele wehrte ſich lange, daran zu glauben, bis meh -Erſter Theil. [10]146rere zuruͤckkommende Soldaten ſeines Regiments uns verſicherten, ſie haͤtten ihn, bei der Einnahme von Victoria auf der Bruͤcke vordringen und, den Adler in der Hand, die Freiwilligen des Corps auf - munternd hinuͤber fuͤhren ſehen. Auf der Mitte aber ſey er uͤber das niedrige Gelaͤnder herabge - draͤngt und unfehlbar von dem reißenden Strome verſchlungen worden, da man ihn nicht wieder geſe - hen habe. Nun war es entſchieden, mir blieb nichts zu hoffen, nichts zu fuͤrchten uͤbrig, ſo glaubte ich wenigſtens, und richtete mich an dieſem traurigen Troſte gewaltſam auf. Jetzt bin ich nichts als deine Tochter! rief ich, und warf mich um meines Vaters Hals. Wir bleiben uns, ſagte er, und druͤckte mich zaͤrtlich an die Bruſt, Auch er trauerte ſchmerzlich uͤber den Verluſt des wackern Juͤnglings, er hatte ihn als Sohn geliebt. Wir redeten oft von den lieben Ver - lorenen, und labten uns an der Erinnerung ihres irdiſchen Daſeyns. Das iſt das Loos des Schoͤnen auf der Erde, ſagte mein Vater, daß es ſchnell verbluͤht!

So verlebten wir unſere Wintertage. Jch147 ſpielte die Harfe fleißiger als je, und ſang manches neue Lied, das fuͤr unſere Lage paßte und meinen Vater erfreuete. Dieſer ſuchte ſeine Studien wieder hervor, ſetzte mit mir den Un - terricht in den neueren Sprachen eifrig fort, oder uͤberſetzte fuͤr mich die trefflichſten Stellen der Klaſſiker. Das Studium der Geſchichte, be - ſonders der aͤltern, fuͤllte regelmaͤßig unſere Abendſtunden, wobei es nicht an Vergleichun - gen fehlte, welche mancher neuerlich aufgeſtellten Meinung nicht ſehr guͤnſtig waren. Jch be - ſchaͤftigte mich daneben aufs emſigſte mit kuͤnſt - licher Stickerei und Weberei, wobei mich mein Vater laͤchelnd mit Penelope verglich.

Als die Hirtenfloͤten wieder durch die Thaͤ - ler toͤnten, huͤpfte auch ich wieder kindlich froh uͤber die blumigen Matten. Das leichte Blut meiner Heimath verleugnet ſich nicht lange in dem jugendlichen Herzen, es wirft die ſchwarze, truͤbe Miſchung hinaus, und huͤpft froͤhlich durch die Adern; ſo auch bei mir. Wenn ich zum Sternenhimmel aufſah, und weinend an meinen Mucius dachte, ſo entzuͤckte mich doch bald das Floͤten der Nachtigallen, und der*148tauſendſtimmige Chor der Abendvoͤgl umher. Die Balſamduͤfte der Bluͤthengebuͤſche zogen lindernd in meine Bruſt, und der ſchmeichelnde Abend - wind trocknete mein feuchtes Auge. Wenn ich Blumen pfluͤckte, das Grab der Mutter und Emils theures Bildniß zu kraͤnzen, ſo erfreute mich ihr Farbenſchmelz, und ich wand mir ſchon wieder, ſpielend, diejenigen in das Haar, deren Anblick den Vater erfreute. Seinem Arbeits - tiſche ließ ich ſie nimmer fehlen, und bei jeder Mahlzeit ſchmuͤckte ich ſorgſam die Tafel da - mit. Den Taͤnzen unſerer Doͤrferinnen entzog ich mich nicht mehr, die Beſuche meiner nach - barlichen Geſpielinnen erwiederte ich willig, und ſtimmte heiter in die jugendliche Froͤhlichkeit ein. Mein Vater freute ſich meiner Heiterkeit. Der Muth, womit ich den Gram bekaͤmpfte, und dem feindſeligen Leben eine freundliche Seite abgewann, lag ſo ganz in ſeiner eigenen Seele. Kein Wunder, ich war ja ſein Zoͤg - ling. Wie leicht war es mir damahls, mich aufrecht zu halten, an eine ſo ſtarke Stuͤtze gelehnt! Wie wenig ahndete ich damahls, daß das Schickſal mich ſo bald an meine eigene149 Kraft verweiſen wuͤrde! Die feſte Geſundheit, und die noch jugendliche Kraft meines Vaters ga - ben mir kindliche Sicherheit, und Ruhe, Zufrie - denheit und Wohlſeyn herrſchten in dem ganzen mir bekannten Lebenskreiſe. Haͤtte ich es den - ken koͤnnen, daß dieß mein letzter froher Fruͤh - ling, wenigſtens der letzte, auf meines Frank - reichs lieben Fluren, in den bluͤhenden Thaͤlern mei - ner ſchoͤnen Provence ſeyn wuͤrde? denken konnte ich es nicht, aber meine Seele ſchien ein dunkles Vorgefuͤhl zu hegen. Denn liebender, als je, hing ich mich an jeden mir irgend werthen Gegen - ſtand, als koͤnnte er mir uͤber Nacht entriſſen werden. Mit durſtigen Zuͤgen trank ich jede Naturſchoͤnheit, jede Fruͤhlingsluſt, wie der hei - tere Sterbende noch begierig den Duft der Bluͤ - then und die Strahlen des Lichts empfaͤngt. Selbſt da blieb ich noch lebensfroh, als ſchon mein Vater bisweilen beſorgt den Kopf ſchuͤt - telte. Jch hoͤrte wohl von einem neuen Krie - geszuge gegen Norden, aber ich hatte ja dabei nichts zu verlieren. Jch war unter Kriegern aufgewachſen, wie Frankreichs ganze Jugend; uns konnte das Wort Krieg nicht in dem Grade erſchrek -150 ken, als es wohl Voͤlker erſchreckt, welche lange der Ruhe des Friedens genoſſen. Frankreich war im Jnnren gluͤcklich, und blickte, vertrauend und ſicher, auf ſeinen kuͤhnen Helden. Das Heer liebte den Kampf, und die jungen Konſcribirten er - gaͤnzten, es im Gefuͤhl der National-Ehre, mei - ſtens mit viel gutem Willen. Fand ſich mitunter eine Ausnahme, ſo nannte meiſten Theils die oͤffentliche Meinung ſeinen Namen hoͤchſt mißbilli - gend. Frankreichs Sicherheit in ſeiner Macht! das war ſeit faſt zwanzig Jahren das Loſungswort. Die Nachwelt wird richten, wenn ein Jrrthum dabei obgewaltet, ſie wird ſcheiden, was die Um - ſtaͤnden, was Willkuͤhr herbeigefuͤhrt, was Ehr - geiz, was Nothwehr. Aber nur erſt an ferne Jahrhunderten kann der Unterdruͤckte appelli - ren, die Gegenwart hat die Glaͤſer zu ſtark ge - faͤrbt. Mir ſchien fuͤr den Augenblick das Unternehmen gigantiſch und fabelhaft, ein neuer Alexanderzug nach Jndien. Aber auf wel - chem Wege? mir ſchauderte wenn ich mir ihn mahlte! tief hinein nach Norden, durch Rußlands Schneegefilde, durch ſeine menſchenleeren ewig wuͤſten Steppen. Wie dankte ich Gott, daß151 nicht Mueius, nicht Emil dieſen abentheuerli - chen Zug begleiten durften, welchen ich mir ſo gefahrvoll und ſchrecklich dachte. Nichts deſto weniger wurde meine fruchtbare Einbildungs - kraft dieß Mahl noch von der Wirklichkeit uͤber - troffen; ein ſeltner Fall. Doch troͤſtete ich mich wieder damit, daß ganz Deutſchland mit uns im Bunde war. Dieſe Nachbarn des eiſigen Nordens, waren ja mit ſeinen Beſchwerlichkei - ten vertraut, wußten ihnen zu begegnen, und konnten unſern Kriegern ſehr huͤlfreich ſeyn.

Sommer und Herbſt des Jahres 1812 ver - ſtrichen uns abwechſelnd unter Beſchaͤftigungen und Vergnuͤgen. Man trank in dem lieblichen Weine der vorigen Leſe die Geſundheit der Heerfuͤhrer und manches einzelnen Kriegers, man hoffte zuverſichtlich, ſie bald und ſiegreich wieder zu ſehn, nur mein Vater ſchien leiſe Zweifel zu hegen. Er hatte in einem Briefe an Victor, welcher jetzt einen hohen Rang beklei - dete, ſeine Beſorgniſſe ausgeſprochen. Ba! ant - wortete dieſer, es iſt ja nicht unſer Lehrwerk! Die Sehne wird zu lang gedehnt, ſagte mein Vater, der Stuͤtzpunkt iſt zu fern, ſie reißt. 152Denken ſie an die Roͤmerzuͤge nach dem entfern - ten Albion, troͤſtete unſer Abendgenoſſe, der freundliche Pfarrer. Und rechnen ſie Pohlen, welches ſich voll Freiheitshoffnung und Rachgefuͤhl erhebt, fuͤr Nichts? es iſt als ein zweiter Stuͤtz - punkt anzuſehn. Zu ſchwach! ſagte mein Vater. O, mein Vater! rief ich: in einem Volke dem dieß geboten wurde, muß jeder Einzelne ein Held werden. Mein armes Polen! nicht erobert, nein mitten im Frieden durch einige Federſtriche maͤchtiger Nachtbarn, zertheilt, zerriſſen, dann das ſtraͤubende Volk gleich einem Rebellenhaufen behandelt. Und gleichwohl beruft man ſich auf Moralitaͤt und Gerechtigkeit, wenn das Eiſen nicht maͤchtig genug iſt.

Der Winter trat auch bei uns fruͤher und unfreundlicher ein, als gewoͤhnlich. Jedes rauhe Luͤftchen preßte mir einen leiſen Seufzer aus. Wie kalt mag es im Norden ſeyn? dachte ich. O, dieſer unſelige Winter! Wie viel Thraͤnen hat er Frankreichs Muͤttern und Braͤuten ge - koſtet! Vernichtet das ſchoͤnſte Heer von Europa! 153Die Nachricht traf wie ein Donnerſchlag das ganze Reich. Jch erſtarrte vor Schrecken und Graus. Selig ſind die Todten! rief ich mit aufgehobnen Armen: ſie haben dieſe Tage nicht geſehen. Wohl ſind ſie ſelig zu preiſen! ſagte mein Vater, und Thraͤnen benetzten ſein maͤnn - liches Auge. Frankreichs Heldenbluͤthe gefallen, ſein kriegeriſcher Ruhm befleckt! o Tage des Jammers! Aber nichts nuͤtzen weibiſche Thraͤ - nen, fuhr er fort, ſich die Augen trocknend es muß gehandelt werden, daß wir uns wieder aufrichten von dem tiefen Fall. Jn den Ta - gen der Gefahr muß jeder ſich um ſo feſter an den Fuͤhrer ſchließen; nur vereinter, muthiger Wille und aufopfernder Sinn koͤnnen retten, wo Kluͤgeln und Abſondern ins Verderben fuͤhren.

Sein maͤnnlicher Sinn, wurde bald der allge - meine, wenigſtens dem Anſcheine nach. Der ungluͤckliche Kaiſer fand ein treues Volk wieder, welches ſeinen eigenen Schmerz vergaß, um den verehrten Herrſcher zu troͤſten. Er hatte nichts verloren.

Ein neues Heer zog bald dem nahenden Feinde entgegen und, in geſpannter Erwartung,154 wendeten ſich alle Blicke gen Oſten. Deutſch - land fiel ab von dem Bunde mit uns, dieſe Vormauer gegen den andringenden Koloß des Nordens war nicht mehr. Tief ſchmerzte dieſer Abfall mein Volk. Mancher ſchmaͤhte die tapfern Deutſchen, doch ich theilte dieſe Anſicht nicht. Die Deutſchen hatten Recht, ſobald ſie bloß den Druck des Augenblicks in Betracht zogen; und wie konnten ſie anders? Die Laſt des Krieges hatte Jahrelang jeden Ein - zelnen gedruͤckt, ſein Urſprung war vergeſſen und von der Menge unbeachtet, der Sinn fuͤr Freiheit und Menſchenrecht allgemeiner und lebhafter geworden. Sie fuͤhlten ſich gefeſſelt, klagten Frankreich deßhalb an, erhoben ſich in ihrer Kraft, wie einſt gegen das Joch der Roͤ - mer, und ſiegten wie damahls. Gebe Gott, daß ihre blutige Saat ihnen goldene Fruͤchte trage! der Volkswille iſt mir etwas Ehrenwer - thes und deßhalb achte ich die daraus ent - ſprungenen Großthaten der Deutſchen, wie tief auch die Wunden ſind, welche ſie mir und meinem Frankreich ſchlugen. Moͤge das Gefuͤhl ihrer Kraft nie wieder in ihnen ent -155 ſchlummern, ſo gelingt ihnen vielleicht einſt, was Frankreich vergebens gewollt.

Mein Vater ſahe dem immer naͤher ſich heran - waͤlzenden Ungewitter des Krieges mit ernſten Blicken entgegen. Er traf Vorkehrungen welche ich oft nicht ganz begriff, beſchraͤnkte unſere Ausgaben, und ſuchte die Einnahme auf jede Weiſe zu erhoͤhen, ſelbſt durch Verkaͤufe, welche nicht voͤllig den Werth der Dinge erreichten. Die Zeit wird boͤſe, ſagte er, man kann der baaren Huͤlfsquellen nicht zuviel haben. Dabei war er der puͤnktlichſte Zahler jeder oͤffentli - chen Abgabe, der freigebigſte, bei jedem freiwil - ligen Beitrage. Alle Verguͤnſtigungen, welche er ſchon laͤngſt den Einwohnern auf unſern Beſit - zungen zugeſtanden, ſuchte er gerichtlich auf Kin - der und Kindeskinder hinaus ſicher zu ſtellen, und bewies darin eine Aengſtlichkeit, welche mich in Verwunderung ſetzte. Ueberhanpt handelte und redete er oft in dem Sinne eines Sterbenden der ſeine Rechnung mit der Welt und dem Him - mel abſchließt, obſchon er bluͤhend und in Lebens - fuͤlle vor mir ſtand. Wenn ich ihn dann aͤngſtlich umarmte und ihm fragend ins Auge ſahe, blickte156 er mich heiter an. Meine Virginia, ſagte er, wird begreifen was noth thut, wenn es noth thut; und wird tragen was Pflicht und Ehre gebieten. O, mein Vater rief ich, nach ſo großen Verluſt, was kann ich noch verlieren? Verliere nur dich ſelbſt nicht, ſo haſt du nichts verloren! ſagte er ernſt. Und ewig hallt dieß Wort in meiner Seele wieder.

Es war ein rauher Novembertag, der Sturm heulte durch den Saͤulengang des Gebaͤudes, und jagte die Blaͤtter der hohen Ulmen an unſern Fenſtern voruͤber; wir hatten uns zum freundlich leuchtenden Kamine gefluͤchtet, als der Pfarrer fruͤher und eiliger, als gewoͤhnlich, in das Zimmer trat. Wiſſen Sie? fragte er aͤngſt - lich. Was? fragten wir. Das Geruͤcht iſt boͤſe, ſagte er ſtockend, die Feinde haben den Rhein - uͤbergang gewagt, und keinen Widerſtand ge - funden. Wir ſchwiegen in ſtarrer Beſtuͤrzung. So erfuͤllt ſie ſich denn, brach endlich mein Va - ter aus, jene dunkle Ahndung, welche ich bis - her wie ein formloſes Nachtgeſpenſt auf mich zuſchreiten ſahe, welche ich weder mir ſelbſt klar zu machen, noch andern mit zu theilen wagte! 157Jetzt iſt es entſchieden, und jeder Franzoſe muß einſehen, daß ihm nur Eins zu thun uͤbrig bleibt: jede Fauſt muß ſich bewaffnen, den Thron zu ſchuͤtzen und den eigenen Heerd. Er ſchwieg und blickte erwartungsvoll auf uns. Mir ſtockte die Sprache. Und du, Virginia? fragte er nach einer Pauſe, du aͤußerſt nichts? Auch du, mein Vater? fragte ich zitternd. Bin ich nicht des Vaterlandes Sohn? ſagte er. Sein edelſter! rief ich, und mein Muth kehrte wie - der. Ja, mein Vater, ich ſehe was du mußt, und keine weibiſche Thraͤne ſoll dich hindern. Sorge nicht um deine Tochter, ſie wird zu ſterben wiſſen. Auch zu leben, hoffe ich, ſagte er, und zog mich an ſeine Bruſt. Dem Un - gluͤcke durch den Tod entlaufen, iſt eine feige Flucht, ſie entehrt, und nur die Schande darf man nicht uͤberleben. Verſprich mir, muthig fort zu wirken, dich an die eigene Kraft zu hal - ten, auch wenn die letzte Stuͤtze bricht, und dir ſelber treu zu bleiben in dieſen Zeiten des Ver - raths. Jch ſchwoͤre, mein Vater! rief ich ſchluch - zend: ich ſchwoͤre deiner werth zu bleiben durch alle Zeiten! Jhr frommer Sinn wird ſie158 ſtaͤrken, mein Fraͤulein, ſagte der wackre Pfar - rer. Virginia traͤgt das Goͤttliche im Buſen das uͤber alle Form erhaben iſt, erwiederte mein Vater. Geruͤhrt und begeiſtert hob ich die Haͤnde gen Himmel, und rief: Jch will! willſt du nur, daß ich wolle.

Nun trieb mein Vater eifrig zu ſeiner Be - waffnung. Ein Theil unſrer Dienerſchaft und viele der Einwohner folgten ſeinem Beiſpiel. Man hoffte anfangs eine allgemeine Land - wehr eingerichtet zu ſehn, ſie kam aber, we - nigſtens in unſern ſuͤdlichen Provinzen, nicht zu Stande. So muͤſſen wir denn das Heer ver - ſtaͤrken, ſagte mein Vater, und machte ſich zur Abreiſe bereit. Laß mich mit dir gehen Vater! flehte ich. Weiber gehoͤren nicht in den Kampf, ſagte er, ihre Theilnahme an kriegeriſchen Auf - tritten iſt eine Unnatur, welche ſich nur entſchul - digen laͤßt, wenn ſie unfreiwillig dazu gezwun - gen werden. Auch erbebt mein Jnneres vor Blut nnd Mord, erwiederte ich; aber laß mich dir wenigſtens nahe ſeyn, daß ich oft von dir159 hoͤre, du biſt ja mein Alles auf der Welt. Nun wohl, entgegnete er, wir reiſen zuſammen, zuvoͤrderſt nach Paris. Dieß iſt der Punkt wo - hin die Feinde ſtreben, das Herz des Staats, von dort muß auch die Vertheidigung aus - gehn. Der alte ehrliche Antoine und deine treue Mannon ſollen uns begleiten. Jch traf meine Anſtalten, und der Vater verſah mich reich - lich mit Gelde fuͤr eine lange Abweſenheit. Am Abend vor unſerer Abreiſe befahl er mir, die Leute zeitig zur Ruhe zu ſchicken, und wenn alles ſchliefe auf ſein Zimmer zu kommen; ich gehorchte. Als ich bei ihm eintrat, hatte er ein Kaͤſtchen offen auf dem Tiſche ſtehen. Siehe Virginia, ſagte er, hier iſt was ich laͤngſt fuͤr Zeiten der Noth geſpart, unſre einfache Lebens - weiſe machte mir es moͤglich. Hier ſind fuͤnf - tauſend Napoleond’or, und eine gleiche Summe in amerikaniſchen Staatspapieren. Sollte ich das Ende dieſes Kampfes fuͤr unſre Unabhaͤn - gigkeit nicht erleben, und das Vaterland ſich in Geldverlegenheit befinden, dann hilf du, ſtatt mei - ner; gib dem Kaiſer, was des Kaiſers iſt, unter der von ihm hergeſtellten und geſchuͤtzten Ordnung160 wurde es erworben. Geht alles, was ich nim - mer denken mag, geht alles in Truͤmmer, nun ſo rette dich ſelbſt. Er ſchloß das Kaͤſtchen, lud es, ſchwer tragend, auf ſeine Schulter, reichte mir eine Blendlaterne und Werkzeug, und wir gingen ſchweigend den Weg zur Kapelle. Hier nahmen wir das Marienbild herunter, oͤffneten eine unbemerkbare Hoͤlung des Gemaͤuers, ſcho - ben das Kaͤſtchen hinein, ſchloſſen ſie eben ſo unbemerkbar wieder, und hingen das Bild an ſeine Stelle. Werde ich dieſe heilige Staͤtte wieder ſehen? fragte leiſe mein Herz. Jch ſank kniend auf die Stufen des Altars, und betete: Du Ewiger gib mir Kraft! Darum flehe auch ich, Du Unerforſchlicher! rief mein Vater, und kniete neben mich. Der Anblick erſchuͤtterte mich tief, ich hatte nie ihn ſo bewegt geſehn. O, fuhr er in ſeiner betenden Betrachtung fort, Deine Wege ſind dunkel; die Frage Warum? draͤngt ſich auf jede Lippe, und jeder beantwortet ſie nach ſeiner Einſicht, und wie es ihm ſelbſt frommt. Jch weiß, daß alle Einſicht nur menſch - liche, und irren das allgemeine Loos der Sterb - lichen iſt; doch bleibt das beſte Wiſſen, undder161der reinſte Wille immer die einzig ſichre Richt - ſchnur; auch ich folge ihr, der Ausgang ſteht bei dir. Segne mein Vaterland! doch muß es jetzt untergehen zum Wohl kuͤnftiger Geſchlech - ter, zum Wohl der ganzen Menſchheit, ſo gib uns zur Entſagung Kraft, und laß uns edel fallen.

Er erhob ſich muthig, und zog auch mich in ſeine Arme empor. Wir gingen geſtaͤrkt und mit neuen Vertrauen in unſre Wohnung zuruͤck, um uns durch Ruhe zu kraͤftigen fuͤr den ſchmerz - lichen Abſchied.

Weinend umringten uns am Morgen die Be - wohner der umliegenden Gegend. Es war eine einzige große Familie welche von ihrem Vater Abſchied nahm. Segenswuͤnſche erfuͤllten die Luft; die junge Mannſchaft welche freiwillig Dienſte nehmen wollte, ſtand ebenfalls bereit, ſie hatte ſich beritten gemacht und wollte uns be - gleiten, doch nur unter meines Vaters Anfuͤh - rung fechten. Die Greiſe gaben den Juͤnglingen kraͤftige Ermahnungen mit, und ſelbſt die Muͤt - ter zitterten nicht fuͤr das Leben ihrer Soͤhne, ſon - dern empfahlen ihnen nur Sorgfalt fuͤr die Erhal - tung ihres guten Herrn. Beſchuͤtzet unſern Va -Erſter Theil. [11]162ter, beſchirmt ihn mit Gefahr, mit Aufopferung, eu - res Lebens! riefen ſie uns noch lange nach. Mein Vater war tief geruͤhrt, und meine Thraͤnen floſſen reichlich. Der Weg nach Paris war mit Truppen bedeckt, welche aus allen Richtun - gen zu den Armeen eilten. Mein Vater war lange unſchluͤſſig, welcher er ſich anſchließen ſollte; indeſſen ſetzten wir unſern Weg fort, weil er mich erſt in die Hauptſtadt, als den ſicherſten Aufenthalt, geleiten wollte. Wir langten an ei - nem heitern Tage vor derſelben an. Zu jeder an - deren Zeit wuͤrde mich der Anblick ſo vieler Pracht und des wogenden Getuͤmmels mit Entzuͤcken erfuͤllt haben, jetzt aber war meine Seele zwi - ſchen ſchreckender Gegenwart und banger Ahn - dung getheilt. Doch gewann Paris, in geſchicht - licher Hinſicht, bald ein Jntereſſe fuͤr mich, welches mich in etwas von meiner eignen Gegenwart abzog. Alle Erzaͤhlungen aus den Tagen mei - ner Kindheit vergegenwaͤrtigten ſich mir. Hier war der Schauplatz jenes großen Trauerſpiels welches ehemals mit ſeinen Graͤuelſcenen, mit ſeinen Großthaten, mich wechſelnd mit Schau - der und mit Freudenthraͤnen erfuͤllte. Wie oft163 hatte ich mich hierher gewuͤnſcht! Jetzt war ich da, und maͤrchenhaft ſchien mir die rauhe Wirklichkeit. Hier hatte die furchtbare Baſtille geſtanden; dort war aber auch wieder die ſchreck - liche Guillottine permanent thaͤtig geweſen. Die - ſen alterthuͤmlichen Dom hatte man damahls zum Tempel der Vernunft geweiht; dort erhob ſich im großen reinen Styl das majeſtaͤtiſche Pantheon. Welche Gegenſtaͤnde den Geiſt zu beſchaͤftigen! Mich wunderte aber nichts ſo ſehr, als daß die Pariſer zwiſchen dieſen Denkmaͤhlern ſo leicht - ſinnig umher laufen konnten, haſchend nach Tand und leeren Zerſtreuungen, nach dem Ge - nuß des Augenblicks. Mein Erſtaunen wuchs, als ich ſie, in dieſen ernſten Tagen der Bedraͤng - niß, ſcherzen und witzeln hoͤrte. Es that mir wehe, mein Herz blutete.

Perſoͤnliche Bekanntſchaft veranlaßte meinen Vater, ſich mit ſeinen Untergebenen dem Corps des Marſchalls Marmont an zu ſchließen, mehr noch die Sage, daß der Marſchall beauftragt ſey, Paris zu decken. Mich hatte er zu der rechtſchaffe -*164Familie gebracht, bei welcher meine Mutter wohnte, als ſie mich gebahr. Die Wirthinn war ſeitdem verwitwet, und lebte mit ihren beiden Toͤchtern, meines Alters, ſtill und eingezogen. Sie erkannte meinen Vater nach einigen Erlaͤuterungen, und konnte ſich nicht genug freuen, das kleine Maͤd - chen wieder zu ſehen, welches ſie bei deſſen Ge - burt zuerſt auf ihrem Schoße gewiegt. Sie ſind an einem merkwuͤrdigen Tage gebohren lie - bes Kind, ſagte ſie; noch immer hoͤre ich den Donner des Geſchuͤtzes, und das Vivatrufen im Augenblick ihrer Geburt. Wahrlich, ſo wird keine Prinzeſſinn begruͤßt! Wir andern Weiber ſchreckten immer zuſammen bei dem Laͤrmen; und als nun Jhr Vater ins Zimmer ſtuͤrzte, und frei war ach, du mein Gott! wir weinten alle wie die Kinder. Aber wir liebten auch die ſchoͤne blaſſe, ungluͤckliche Frau von ganzem Her - zen. Nun, wo iſt ſie denn, die gute Mutter? Uns traten Thraͤnen in die Augen bei dieſer zuverſichtlichen Frage. Die darauf folgenden Erzaͤhlungen daͤmpften die Frende der ehrlichen Frau gar ſehr, und unſre vernarbten Wunden brannten von neuen. Mein Vater empfahl mich165 der wuͤrdigen Matrone zur muͤtterlichen Aufſicht. Sorgen ſie nicht, ſagte ſie, ſie ſoll meine dritte Tochter ſeyn, und mein Augapfel. Verlaſſen ſie ſich auf mich, und wehren ſie uns nur tapfer den Feind ab. Unſer armer Kaiſer, Gott ſegne ihn! kann ſich faſt nicht mehr all der Gegner erwehren. Ja, das iſt keine Kunſt; viele Hunde ſind des Loͤwen Tod, ſagt das Spruͤchwort. So ſchwatzte ſie immer fort, waͤhrend ſie uns in mein Zimmer fuͤhrte; es war daſſelbe in wel - chem meine Mutter mich gebahr. Mit un - nennbaren Empfindungen warf ich mich auf das Bett, wo ehemahls meine arme Mutter ſo viele Thraͤnen geweint. Wohl dir, rief ich aus, daß du jetzt dem Erdenſchmerz entnommen biſt! Was wuͤrde dein Herz erleiden, haͤtteſt du auch dieß noch erlebt!

Meine gute Wirthinn und ihre freundlichen Toͤchter thaten alles moͤgliche, mich nach der Abreiſe meines Vaters zu erheitern. Mannon ſchloß ſich mit ihrer gewohnten Liebe an mich; der ehrliche Antoine ging taͤglich auf die Feld - poſt, ſich nach Briefen fuͤr mich zu erkundigen, welche ich auch recht oft erhielt. Der Vater hatte166 mehreren gluͤcklichen Gefechten beigewohnt, und ſprach mir viel Muth ein. Die Nachrichten von der großen Armee lauteten guͤnſtig: der Kaiſer ſah ſich wieder ſtark genug, gegen den Rhein vorzuruͤcken; man hoffte daß die Feinde ihm folgen wuͤrden und muͤßten, und daß ſo, das Kriegstheater uͤber unſere Graͤnzen hinaus ver - legt werden wuͤrde. Eitle menſchliche Hoffnung, truͤgliche Berechnungen des endlichen Verſtandes! im Buche des Schickſals ſtand es anders ge - ſchrieben, als in den Operationsplanen eines er - fahrenen Kriegsraths. Der Feind ruͤckte, un - bekuͤmmert um ſeinen gefaͤhrdeten Ruͤckzug, mit ſeiner ganzen Macht auf Paris, und der Mar - ſchall Marmont mußte auf Vertheidigung den - ken; er beſetzte die feſte Stellung von Mont - martre. Mein Vater kam bei dieſer Gelegen - heit noch ein Mahl in die Stadt, mich mit ſei - ner Gegenwart zu erfreuen. Jn ſeiner Geſell - ſchaft befand ſich ein junger Pohle, von den Lanziers, jetzt Adjoint des Marſchalls, ein junger ſchoͤner Mann voll Feuer und Muth, dem Kaiſer von ganzen Herzen ergeben. Die natuͤrliche Leutſeligkeit und Zuvorkommenheit167 meines Vaters, machte ihn vorzuͤglich fuͤr Fremde ſehr anziehend, welchen er auch ſeiner Seits im - mer eine beſondre Aufmerkſamkeit widmete, ein Zug in ſeinem Karakter welcher mir immer ſehr ſchaͤtzbar geweſen iſt. Er liebte gewiß ſein Vaterland und ſeine Mitbuͤrger mit gluͤhen - der Seele, wovon ſein ganzes Leben und ſein Tod unwiderſprechliche Beweiſe gegeben haben. Er war ſtolz, ein Franzoſe zu ſeyn, doch war er nicht eitel es zu ſeyn, er erkannte den Werth eines jedes fremden Volkes, und konnte dieſe vor - nehme Abſonderung durchaus nicht leiden, welche viele fuͤr Vaterlandsliebe ausgeben. Wir ſind ja alle Kinder eines Vaters, pflegte er zu ſagen, und noch immer zeigt dieſer guͤtige Vater, durch ſeinen gleichvertheilten Segen, daß wir ihm, im Ganzen, alle gleich wohlgefaͤllig ſind. Wir ſchlagen uns wie unartige Kinder um das Spiel - geraͤth, ich hoffe aber, wir werden einſt vernuͤnf - tig genug werden, um uns alle mit Bruderliebe zu umfaſſen. Freilich, ſo lange die Flegeljahre noch dauern, muß jeder die Partei deßjenigen nehmen, mit welchem er eine gemeinſchaftliche Mutter hat, oder, welcher der ſchwaͤchere iſt, oder,168 welcher ihm am meiſten Recht zu haben ſcheint; er muß aber nie vergeſſen, daß er mit den Gegnern einen gemeinſchaftlichen Vater hat, und iſt die Fehde voruͤber, ſo eifre jeglicher dem an - dern nach im Guten, und lege nicht durch Maulen, oder kindiſches Prahlen, neuen Grund zum Streit. Ja haͤtte ich nur ein einziges Stuͤckchen Brot zu geben, ich wuͤrde es dem hungernden Fremden, vor allen, reichen; denn der einheimiſche Bruder faͤnde eher eine zweite Huͤlfs - quelle, als der, welchem des Hauſes Gelegen - heit ganz unbekannt iſt. So dachte und fuͤhlte mein edler Vater, wenige werden ihm gleichen. O, koͤnnte ich ſein ſchoͤnes Bild mahlen in der Stunde des Abſchiedes! wie er da ſtand mit dem feſten ruhigen Heldenblick. Freundlich trock - nete er mir die Augen, und ſtrich mir die Locken von der Stirn. Arme Virginia, ſagte er, du biſt ſchlimmer daran, als wir; wir handeln, du mußt das Schickſal leidend erwarten. Du haſt den meiſten Muth vonnoͤthen. Schaue jeder Gefahr ſtandhaft und beſonnen entgegen, und ſie wird kleiner werden. Jch laſſe dich in einer Lage zuruͤck, wo ich fuͤr jedes andern Weib zit -169 tern wuͤrde, fuͤr dich zittre ich nicht, du wirſt dir ſelbſt treu und Herr deines Schickſals blei - ben. Ja, mein Freund, ſagte er, ſich gegen den Pohlen wendend, in dieſer Maͤdchenſeele liegt mehr Roͤmerſinn und maͤnnliche Staͤrke, als in mancher unſrer Waffengefaͤrthen. Der Fremde verbeugte ſich gegen mich, mehr ehrfurchtsvoll als hoͤflich; mein Erroͤthen zu verbergen, em - pfahl ich ihm meinen Vater. Sie machen mich ſtolz mein Fraͤulein! ſagte der Juͤngling, und druͤckte meine Hand an ſeine heißen Lippen: nicht des Kaiſers Ehre allein wird mich in die - ſen heißen Tagen begeiſtern, Virginia ſey mein Feldgeſchrei! vergoͤnnen ſie ihrem Ritter, ihre Farbe zu tragen. Jch erſtaunte bei dem Ernſt, womit er dieſe Worte ausſprach. Laͤchelnd ſtreifte ich das blaue Band aus meinen Haaren, und reichte es ihm; er kuͤßte es mit Begeiſterung, und ſchlang es um ſeinen Hals. Dieſes kleine romantiſche Spiel hatte einige heitere Licht - ſtrahlen uͤber die duͤſtre Abſchiedsſcene gewor - fen, und wehrte das Vorgefuͤhl ab, welches ſonſt mein Herz zerſprengt haben wuͤrde. Jch trennte mich von beiden, faſt in der Stimmung,170 mit welcher, in den Liedern unſrer Troubadours, ehemahls die Damen ihre Ritter zur Schlacht ziehen ſahen. Mein beſonnener Vater unterhielt freundlich dieſen Scherz; Doch als er mich zum letzten Mahl umarmte, fuͤhlte ich ein leiſes Zittern in ſeinen Armen, welches mich ploͤtzlich wie ein ungeheurer, ſtechender Schmerz durch - bebte. Aber ſogleich gefaßt, ſetzte er den wohl - thaͤtigen Scherz fort, indem er laͤchelnd ſagte, So lebt wohl mein Fraͤulein und gedenkt unſrer in eurem Gebet. Damit ſchwang er ſich aufs Pferd, und verſchwand ſchnell meinen Blicken. Der junge Pohle kuͤßte den Zipfel des blauen Bandes, neigte ſich, und folgte ihm mit Blitzes - ſchnelle.

Da war ich nun wieder allein, unter lieben freundlichen Menſchen zwar, aber doch allein. Damahls war mir dieß peinlicher als jetzt. Von meiner Kindheit an war mir wenigſtens der Vater geblieben, mit welchem ich meine Gedan - ken austauſchen konnte, welcher ſie verſtand, bil - ligte oder befriedigend berichtigte. Das ſollte von171 nun an nicht mehr ſeyn. Der kleine Kreis welcher mich umgab, vermochte nur untergeord - nete Anſichten zu faſſen, man berechnete ob die Lebensmittel theurer werden wuͤrden; dar - uͤber hinaus, ſehnte ich mich auch nicht, denn das leichtſinnige Rennen und Fahren, das Draͤn - gen zu Theatern und andern Schauſpielen, be - leidigte mich fuͤr den Augenblick in tiefſter Seele. Eben ſo empoͤrend war es mir, wie die vor - nehme und reiche Welt, ſchaarenweiſe davon eilte und, die Sache ihres Landes feig verloren gebend, nur darauf dachte, ſich und ihre Schaͤtze in Sicherheit zu bringen. Die Zeichen der Zeit ſind boͤſe, dachte ich mit Kummer.

Meine haͤufigſten, liebſten Spaziergaͤnge wa - ren die Boulewards aux Italiens; hier war ich dem Montmartre naͤher, ja ich wagte mich zur weilen, von Antoine und meinen Geſellſchafterin - nen begleitet, bis an die Barrieren. Nach weni - gen Tagen vernahm ich Kanonendonner, erſt fern dann naͤher; bald erfuͤllten kriegeriſchen Sce - nen die Vorſtadt Montmartre waͤhrend die ei - gentliche Stadt ziemlich ruhig war. Dieſer Kontraſt war mir auffallend, wenn wir gingen172 und kamen. Hier eine geputzte Welt welche nach den Tullierien, nach den Champs-ellisées luſtwandelte; dort Truppen-Abtheilungen aller Art, Proviantwagen, Geſchuͤtz, bewaffnete Buͤr - ger, kommend und gehend, Marketender zu Fuß und zu Pferde, alles eilend, laͤrmend, und zwiſchen all dieſem Geraͤuſch Artillerieſalven, von deren Gewalt die Erde zu beben ſchien. Mir war dieſe Scene ſo neu, und ich wurde ſo ſonderbar davon ergriffen daß ich faſt meine perſoͤnliche Lage daruͤber vergaß. Die Toͤchter meiner Wirthinn beſchworen mich, bei allen Hei - ligen, mit ihnen nach Hauſe zu gehen, ſie wa - ren voll Furcht und Schrecken, ich aber, wie gefeſſelt an dieſen Schauplatz, haͤtte ihn gern noch weiter hinaus verlegt. Ja, wenn ich nach - gab, um die Forderungen der erſchoͤpften Natur zu befriedigen, ſo fand ich in der ſicheren Woh - nung durchaus keine Ruhe, es zog mich unwi - derſtehlich zuruͤck nach jener Gegend. Dachte ich einen Augenblick nach, ſo war ich mir ſelbſt unerklaͤrlich. Krieg und Schlachten hatten ſonſt nur einen geſchichtlichen Reiz fuͤr mich, niemals konnte ich die ausfuͤhrliche Erzaͤhlung ei -173 nes Augenzeugen, ohne inneres Leiden, anhoͤren; die Beſchreibung einer Wunde verurſachte mir den heftigſten Schmerz an dem eigenen unver - letzten Gliede, und niemals hatte ich mich entſchlie - ßen koͤnnen, auch nur eine Taube oder ein Huhn ſchlachten zu ſehen. Und jetzt, dem Blutvergießen ſo nahe, oft blutenden Verwundeten begegnend, und ich lebte noch? Zu erklaͤren mag es nicht ſeyn, doch fuͤhre ich es an wie es ſich in der That verhielt. Die Beſorgniß um den Vater regte ſich oft lebhaft in meinem Herzen, aber der Eindruck welchen das Ganze auf mich machte, die Groͤße des Augenblicks ließ ſie nie uͤberwiegend werden. So ging und kam ich, in geſpannter Erwartung, theilte den ein - zelnen Verwundeten meine Tuͤcher und mein Geld mit, und hegte noch immer die Hoffnung eines ſieg - reichen Ausganges, als ſchon das Geruͤcht ſich verbreitete, man habe Koſacken bis dicht an die Barrieren ſtreifen ſehen.

Nun war kein Verweilen mehr. Man riß mich mit Gewalt fort nach unſrer Wohnung. Jetzt erſt, da ich daheim war, in den eingeſchoſ - ſenen Zimmern, ergriff mich die quaͤlendſte Un - ruhe. Eine ploͤtzliche Stille folgte auf den174 Donner des Geſchuͤtzes; die Straßen wurden minder geraͤuſchvoll, und oͤder; jeder fragte mit banger Neugier den Nachbar um Nachrichten, dieſe waren widerſprechend, und unſicher. Da ließ ſich ploͤtzlich Pferdegalopp die Straße hin - auf vernehmen, ahndungsvoll ſtuͤrzte ich an das Fenſter. Es war der junge Pohle, welcher, mit Staub bedeckt, vom Pferde ſprang. Ein furcht - bares Vorgefuͤhl warf mich regungslos auf einen Seſſel, ſein Anblick ſagte mir das ſchrecklichſte, noch ehe er die Lippen oͤffnete. Verzweiflung rang in ſeinen Zuͤgen, und Blaͤſſe war an die Stelle ſeiner Jugendroͤthe getreten. Er ſank zu meinen Fuͤßen. Verloren! hauchte er muͤh - ſam hervor. Mein Vater? rief ich faſt erſtik - kend. Er zog ein Portefeuille mit dem Bild - niſſe meiner Mutter aus ſeinem Buſen. Das letzte Andenken des Edlen, und ſein Lebewohl! ſagte er kaum vernehmbar. Jch war vernichtet, ich hatte keine Thraͤnen. Ach, fuhr er fort, ihr Vater ſtarb beneidenswerth! die Schlacht, ſie war noch nicht entſchieden, und die Hoffnung noch auf unſrer Seite. Mit ſeinem Leben175 hoffte er den Ruhm und die Freiheit ſeines Vaterlandes erkaͤmpft zu haben. Es iſt vorbei!

Jch druͤckte heftig das blutbefleckte Andenken an meinen Mund, und ſank vor Schmerz zu - ſammen. Die Frauen eilten mir zur Huͤlfe. Auf ihre Fragen erfuhren wir, ach nur zu fruͤh! die fernern Begebenheiten. Man hatte ſchimpf - lich kapitulirt. Frankreichs Ehre und die Kaiſer - krone wankten; ſo viel vernahm ich. Mein Fraͤu - lein rief der junge Pohle und druͤckte meine kalte Hand an ſeine Bruſt, ich war ſehr kuͤhn, und hegte eine große Hoffnung! Ein Tranm er war zu ſchoͤn! ich bin herabgeſtuͤrzt aus allen meinen Himmeln. Verlaſſen muß ich die kaum Gefun - dene, zu ihm ruft mich die Pflicht, er bleibt mein Herr, ihn waͤhlte ich mir zum Stern! der Tod nur trennt mein Schickſal von dem ſeinen.

Jch ermannte mich auf einen Augenblick, das Feuer des Juͤnglings regte meine Lebens - kraft ein wenig auf. Gehen ſie, ſagte ich, gehen ſie, wohin Pflicht und Ehre ſie rufen, meine Achtung begleitet ſie. Jch neigte mich zu ihm nieder, er druͤckte mich leidenſchaftlich an ſeine Bruſt. Jch gehe um ihrer werth zu bleiben,176 rief er, leb wohl fuͤr dieſe Welt! ich ſah ihn nie wieder. Matt, und in dumpfer Fuͤhl - loſigkeit, fiel ich in die Arme meiner weinenden Mannon zuruͤck.

Jch uͤbergehe die zerreißenden Empfindungen der naͤchſten Stunden; ſie waren ſchrecklich. Keine lindernde Thraͤne wollte meinen brennen - den Schmerz kuͤhlen, mein Gehirn brachte nur verworrene graͤßliche Bilder hervor. Da erbarmte ſich die Natur, die guͤtige, meiner, und rettete meine Sinne durch eine betaͤubende Krank - heit. Lange habe ich in Fieberhitze gelegen, dem Anſcheine nach, ein Raub des Todes, und nur allmaͤhlig und ſchwach ordnete ſich mein Bewußt - ſeyn wieder. Jn dem Zuſtande eines Kindes, welches die Groͤße ſeines Verluſtes noch nicht ganz begreift, lernte ich den meinigen faſſen und er - tragen. Er, der meines Lebens Sonne gewe - ſen, war nicht mehr! mir grauete in der fin - ſteren Nacht, in welcher ich allein gelaſſen war. Aber wie Kinder plaudern, wenn ſie ſich fuͤrch - ten, ſo redete ich leiſe mit ihm, der mir immergegen -177gegenwaͤrtig ſchien. Jch hoͤrte viel reden von den Vorfaͤllen des Tages; mein Antheil daran verſtaͤrkte ſich nur langſam, doch waren meine Beobachtungen genau, und meine Anſichten un - veraͤndert. Man aͤußerte ſich uͤberall mit der Be - hutſamkeit, an welche man ſich ſeit der Schrek - kenszeit gewoͤhnt hatte, doch merkte ich leicht an den ſeichten Troſtgruͤnden, womit man einan - der das Unabaͤnderliche in ein vortheilhaftes Licht zu ſtellen ſuchte, wie ſehr man des Troſtes beduͤrfe. Jch vermied jede Aeußerung uͤber das, was mich, naͤchſt meinem perſoͤnlichen Verluſte, ſo ſchmerzlich bewegte, theils aus koͤrperlicher Schwaͤche, theils weil ich es fuͤr zwecklos hielt, da eine ohnmaͤchtige Weiberſtimme zu erheben, wo Millionen Maͤnnerſtimmen ſchweigen muß - ten; aber mit dem Geiſte meines Vaters ſetzte ich in Gedanken dieſe Geſpraͤche fort. Die Sache des Volkes iſt verloren, ſagte ich, und die Sache der Fuͤrſten ſiegt, nach zwanzigjaͤh - rigem Blutvergießen. Daß der große Mann des Jahrhunderts verlaͤſtert wird, iſt natuͤrlich und liegt ſchon in ſeiner Groͤße. Flecken und Maͤhler erſcheinen an einer Rieſenfigur groͤßer,Erſter Theil. [12]178und Pigmeen finden den Guliwer abſcheulich. Sein groͤßtes Verbrechen aber ſcheint mir immer zu ſeyn, daß er, im Volke gebohren, ſich den Weg zum Throne gebahnt, und das Volk ihn da - rauf beſtaͤtigt hat. Waͤre er ein gebohrener Fuͤrſt, man wuͤrde ihn in der Geſchichte uͤber alle Hel - den der Vorzeit erheben, und ihm ſeine Erobe - rungen nicht als Verbrechen anrechnen. Daß Regierungen durch ſolche Beſitzergreifungen nicht befleckt werden, beweiſen ja noch in den neue - ſten Zeiten die Eroberungen Rußlands gegen Suͤden und Oſten, die Handlungsweiſe der Englaͤnder in Oſtindien und die Theilung von Pohlen. Der Beſiegte traͤgt ſein Schickſal mit Groͤße und eben dieß verbuͤrgt mir die Staͤrke ſeines Geiſtes; ein eitler Ehrgeiziger wuͤrde dar - unter erliegen, doch er, in ſeinem ſtolzen Selbſt - gefuͤhl, wuͤrde ſich noch in Feſſeln erhaben duͤn - ken und frei!

Mehrere Wochen noch, blieb ich, durch einen Zuſtand von Schwaͤche, im Bette feſtgehalten, und auch dann noch konnte ich nur auf einzelne Stunden im Wohnzimmer, auf einem Sopha, dem kleinen Familienkreiſe unſres Hauſes bei -179 wohnen. Jn demſelben hatte ſich, waͤhrend mei - ner Krankheit, eine große Veraͤnderung zugetra - gen. Ein junger deutſcher freiwilliger Jaͤ - ger war bei uns einquartiert, und in kurzen einheimiſch geworden. Seine Bekanntſchaft that mir wohl und wehe, ſein Stand, ſeine Ju - gend und ſeine liebenswuͤrdige Sanftheit und Beſcheidenheit erinnerten mich nur zu lebhaft an meinen lieben Emil. So wuͤrde er jetzt ſeyn! dachte ich, und tauſend ſchmerzliche Betrach - tungen draͤngten ſich meinem leidenden Gemuͤ - the auf. Thraͤnen fuͤllten meine Augen, wenn ich den ſchoͤnen Juͤngling anſahe, und doch ſahe ich ihn ſo gern in ſeiner edlen Haltung. Seine ihn beſuchenden Kameraden, waren nicht alle ihm gleich, manche kindiſch eitel, unbil - lig, anmaßend, und großpraleriſch; er zeich - nete ſich durch Geiſtesbildung, Beſcheidenheit und Billigkeit des Urtheils aus. Daß er eben ſo tapfer ſey, davon gaben ihm ein rother Streif uͤber der Stirn, und ein noch etwas ſtei - fer Fuß das Zeugniß; er hatte bei Luͤtzen ta - pfer gekaͤmpft, und zwei Wunden davon getra - gen. Bald merkte ich, daß zwiſchen dem ſchoͤ -*180nen Freiwilligen und Henrietten, der zweiten Tochter des Hauſees, ſich eine innige Nei - gung entſponnen hatte. Die Aelteſte, Nancy, war mit einem, im Civil-Dienſt angeſtellten Lands - manne verſprochen, und ſahe die wachſende Zunei - gung ihrer Schweſter mit mißbilligenden Augen an. Es kam daruͤber bald, in meiner Gegen - wart, zu Familien-Streitigkeiten. Mein Gott ein Ketzer! ſeufzte die gute fromme Mutter. Jſt er nicht ein edler Menſch, liebes Muͤtter - chen? ſagte ich beſaͤnftigend, iſt er nicht ſo brav als menſchlich im Reden und Handeln? ſpricht er nicht von ſeinen Aeltern und Geſchwiſtern mit der zarteſten Ehrfurcht und Liebe, und von Gott, in zufaͤlligen Aeußerungen, mit Vertrauen und Dankbarkeit? Alles ſchoͤn mein Kind, alles ſchoͤn, erwiederte die gute Alte, es iſt ein lieber, guter Menſch, auch nicht unbemittelt, wie man hoͤrt, aber er hat doch nicht den rechten Glauben. Daruͤber kann nur Gott entſcheiden, antwortete ich, die Formen ſind Menſchenwerk. Es koſtete mir viele Muͤhe, das Gewiſſen der frommen Frau zu beruhigen, doch kam ich damit noch leich - ter zu Stande, als das leidenſchaftliche Vorur -181 theil der heftigen Nancy zu beſiegen. Ein Frem - der! rief ſie mit Erbitterung, ein Feind! Jſt er uns fremd? iſt er uns feindſelig gute Nancy? fragte ich. Mein Himmel wie kannſt du ſo reden? ſagte ſie heftig. Kannſt Du denn wiſ - ſen ob nicht gerade ſein Gewehr auf die Bruſt deines Vaters gezielt? Und haͤtte dieß wirklich der Zufall gefuͤgt, erwiederte ich, mit einiger An - ſtrengung, ſo wuͤrde ich ihn darum nicht weni - ger ſchaͤtzen. Das Schickſal ſtellte ſie einander gegenuͤber; ſie thaten beide ihre Pflicht, ver - fochten beide ihre Meinung und die Sache ih - res Fuͤrſten, es war nichts perſoͤnliches in dieſem Streit; und ſetzen ſchon die Gebraͤuche des Zwei - kampfs feſt, daß ſich nach Beendigung deſſelben Sieger und Beſiegte umarmen, ſo ſollte dieß noch eher nach beendigten Voͤlkerfehden geſchehen. Die Deutſchen hatten Recht, ſie fuͤhlten ſich gefeſſelt, ſprengten die Ketten, erhoben ſich in ihrer Kraft, bewaffneten ſich, und beſiegten unſre bewaffnete Macht. Kannſt du ihnen das verargen? wir haͤtten daſſelbe gethan, ja wir haben, aus Freiheitsdrang und aͤngſtlicher Beſorgniß fuͤr unſre Aufrecht - haltung, noch ganz andre Dinge gethan. Nein,182 ich werde die Deutſchen immer bewundern und lieben! Jch ſage noch mehr: waͤre unſre maͤnnliche Jugend Deutſchlands Heldenjugend gleich gewe - ſen, es ſtaͤnde beſſer um uns. Und nun zumahl dieſer edle Juͤngling, unſer Gaſtfreund, und wir, unkriegeriſche Weiber.

So verfocht ich taͤglich mit Eifer die Sache der Liebenden. Der Fremde mochte manches davon, durch Henrietten, erfahren haben, er bezeugte die zarteſte Theilnahme fuͤr das liebe kranke Fraͤulein, wie er mich nannte. Spaͤter hin hatte ich die Freude zu hoͤren, daß Hen - riette ihn in ſeine Heimath begleiten wuͤrde, und es gewaͤhrte mir einen großen Troſt, zu glauben, daß ich einigen Autheil an dem er - wuͤnſchten Ausgang ihres Schickſals gehabt.

Bei den allen wurde mir der Aufenthalt in Paris unertraͤglich. Das Geraͤuſch betaͤubte, und die Karakterloſigkeit der Einwohner aͤrgerte mich. Jch ſehnte mich nach der Stille von Chaumerive zuruͤck, mir dem taͤuſchenden Troſt - gefuͤhl, als wuͤrde ich dort meine alte Welt wie -183 derfinden; meine Schwaͤche verhinderte mich aber immer noch, Anſtalten dazu zu treffen. Auch meine Mannon ſehnte ſich im Stillen zu den harmloſen Taͤnzen unſres Doͤrfchens zuruͤck. An - toine, der ehrliche Antoine, welcher ſchon ſo lange im Dienſte unſers Hauſes geweſen, und mich noch auf den Armen getragen hatte, betruͤbte ſich herz - lich uͤber den Verluſt ſeines guten Herrn, und uͤber meinen Schmerz. Er war es, welcher ploͤtzlich meinem Schickſale eine unvorhergeſehene Wen - dung gab. Ohne ihn waͤre ich in einigen Ta - gen abgereiſt, waͤre vielleicht noch lange vergeſ - ſen geblieben, und in einer andern Lage, anders berathen, wuͤrde ich vielleicht einen anderen Plan befolgt haben, als ihn mir die Umſtaͤnde jetzt aufgedrungen. Du weißt, liebe Adele, wie der ehrliche Alte, in den Tuillerien herumſchlen - dernd, Dich und Deine Mutter erblickte, die Schweſter ſeines theuern Herrn. Er war außer ſich vor Freude. Durch ihn erfuhrt ihr meine Anweſenheit, und wenig Minuten darauf hielt euer Wagen vor unſrer Thuͤr. Jch in euren Armen, welches Entzuͤcken fuͤr mein verwaiſtes Herz! Auch uͤberließ ich mich demſelben anfangs184 mit Trunkenheit, bis ſich Wehmuth unſrer ge - meinſchaftlich bemaͤchtigte. Nachdem wir lange mit einander geweint und geklagt hatten, kuͤndigte mir Deine Mutter an, daß ſie mich am folgenden Morgen abholen wuͤrde, und daß ich in ihrem Hotel wohnen ſollte. Jch verſprach bereit zu ſeyn, ob ich gleich eine dunckle Abneigung dagegen in mir ſpuͤrte. Meine guten Hausgenoſſen hoͤr - ten mit Betruͤbniß von dieſer Veraͤndrung. Der Glanz eurer Erſcheinung, und der Titel Graͤfinn, unter welchem Deine Mutter von mir zu ihnen ſprach, hatte die armen Leute ganz ſchuͤchtern gemacht. Es koſtete mir viele Muͤhe ſie zu uͤberzeu - gen daß ich die alte Virginia ſey, und bleiben wolle. Sie weinten alle recht herzlich, als ich am andern Tage mit Deiner Mutter davon fuhr.

Jm Hotel angelangt, fuͤhrte mich deine Mut - ter in ihr Kabinett, und nachdem ſie mich zaͤrtlich umarmt, und mir ihre muͤtterliche Liebe zugeſichert hatte, machte ſie mir bekannt, daß ſie mich ihrem Gemahl, dem Herzoge, vorſtellen werde, mit welchem ſie ſchon meinetwegen geſprochen, und ihn zu meinem Vortheil geſtimmt habe. Jch kann es Dir unmoͤglich beſchreiben, welchen wi -185 drigen Eindruck dieſe fremde, vornehme Wendung auf mich machte. Wie wurde mir aber erſt, als ſie fortfuhr: Der Herzog weiß bloß im allgemeinen, daß dein Vater tod iſt, ich muß dich aber bitten, es ihm und Jedermann zu verhehlen, daß er, mit den Waffen in der Hand, die Sache unſers Koͤ - nigs bekaͤmpfend, geſtorben. Es koͤnnte uns nach - theilig ſeyn in der Gunſt des Hofes, und wuͤrde dem Herzog aͤußerſt mißfallen. Jch erſtarrte. O mein Vater! brach ich endlich ſchluchzend aus, kann man von deiner Tochter verlangen, deine Vater - landsliebe und deine heldenmuͤthige Aufopferung zu verlaͤugnen? Sey vernuͤnftig, Virginia, ſagte Deine Mutter: die Dinge haben ſich ſehr veraͤn - dert, du wirſt dich darein finden lernen, und die eingeſogenen Vorurtheile ablegen. Mein guter Bruder war, durch Umſtaͤnde, in eine ſchlechte Sache verflochten worden, friede ſey mit ſeiner Seele! Gern will ich im Stillen mit dir uͤber ſeinen Verluſt weinen; aber ich unterſage dir, mit muͤtterlichem Anſehn, mich nicht oͤffentlich in Verlegenheit zu ſetzen. Jch werde ſchweigen, wenn man mich nicht ausdruͤck - lich fragt, ſagte ich entruͤſtet, und die mit Ruͤh -186 rung begonnene Unterredung endete ziemlich lau. Sobald gemeldet wurde, daß der Herzog ſicht - bar ſey, wurde ich, von deiner Mutter begleitet, zu ihm in den Saal gefuͤhrt. Er empfing mich recht artig, ſtellte ſich mir als das Haupt der Familie, durch das Teſtament des Großoheims vor, und verſicherte mich ſeines vaͤterlichen Schut - zes. Er umging jede fruͤhere Beziehung, und ſagte mir vieles ſchmeichelhafte uͤber ſein Ver - gnuͤgen, mich in die große Welt einzufuͤhren, wo ich gewiß mit Erfolg auftreten wuͤrde. Dann, fuͤgte er, ſich gegen deine Mutter wendend, mit Bedeutung, hinzu: Sie werden Sorge tragen, daß unſre Nichte mit all dem Glanze auftritt, welcher ihren Annehmlichkeiten und unſerm Range gebuͤhrt. Jch liebe die trauri - gen Farben nicht, fuhr er, mit einem Blick auf mich, fort, ſie rauben den ſchoͤnen Wangen alles Feuer. Dann entließ er uns, mit einer hoͤf - lichen Wendung. Ganz betaͤubt von dieſen be - fremdenden Scenen kam ich auf mein Zimmer, wo Du mir in die Arme flogſt. Du warſt die Alte, meine herzige Adele. Deine Liebko - ſungen, deine heiteren Scherze beruhigten mein187 empoͤrtes Gemuͤth. Dein Bruder Louis ließ ſich melden, um die Bekanntſchaft ſeiner ſchoͤnen Couſine ſo ſchnell als moͤglich zu machen. Du warſt Zeuge, wie ſein Benehmen und ſeine Ma - nieren mir auffielen, und lachteſt mehrmahls laut auf, uͤber meine verlegene Befremdung. Ja, man wirft im Auslande unſern Landsleuten Frivolitaͤt und Leichtſinn vor, und wohl leider nicht mit Unrecht, wie ich ſeit meinem Aufent - halt in Paris mit Unwillen wahrgenommen habe; hier aber uͤberbot ein Auslaͤnder alle Muſter welche ich bisher in dieſer Art geſehen. Wie froh war ich, als ihn ſeine Vergnuͤgungen von uns riſſen, ganz gegen ſeine Neigung, wie er tauſend Mahl ſchwur. Jetzt fing ich an auf zu athmen, und mich ein wenig in dieſer neuen fremden Welt zu finden. Tauſend Stimmen in meinem Jnnern riefen, daß ſie nimmer, nim - mer die meinige werden koͤnne; doch war ich entſchloſſen, ſie naͤher ins Auge zu faſſen, und reiflich zu erwaͤgen, was mir zu thun von - noͤthen ſey. Wir verlebten nun unſre Tage ganz angenehm, unter uns, indem wir uns durch Muſik und Leſen aufheiterten. Deine Mutter war188 meiſtens ſo guͤtig und libreich, wie in jenen ſchoͤnen Tagen in meiner Provence. Mein Herz neigte ſich wieder kindlich zu ihr; als Du aber in Deiner ſchauluſtigen Art, vorſchlugſt, einen na - hen Spaziergang zu beſuchen, oder ins Theater zu fahren, und ſie ſich weigerte, weil ich in Trauer ſey, welches ich anfangs dankbar fuͤr zarte Scho - nung hielt, jedoch ſie mir bald darauf mit einer kleinen Verlegenheit, den Vorſchlag machte, ob ich mich nicht wenigſtens weiß kleiden wolle, indem die Tracht Aufſehn errege und ich ihr durch deren Ablegung einen Gefallen erzeigen wuͤrde, da konnte ich mich nicht enthalten in groͤßter Lei - denſchaft mit Hamlet auszurufen: O Himmel, ein vernunftloſes Thier wuͤrde laͤnger getrauert ha - ben! Deine Mutter ſchwieg beſchaͤmt. Das Ver - trauen war wieder vernichtet, obſchon es mir am andern Tage vor Augen lag, daß ſie, gegen ihr Gefuͤhl, nur nach der Vorſchrift deines Va - ters, handle.

Der Herzog, vergib mir Adele daß es mir nicht moͤglich iſt, Deinen Vater anders zu nen - nen, er war mir fremd, kuͤndigte ſich mir als189 ſolcher an, und wurde in eurer Familie ſelbſt, faſt nicht anders genannt; der Herzog welcher meh - rere Tage auswaͤrts geſpeiſt hatte, erſchien naͤm - lich bei der Mittagstafel. Bald bemerkte ich, daß er oͤfters finſtere mißfaͤllige Blicke auf mich warf. Nach aufgehobener Tafel naͤherte er ſich mir, und noͤthigte mich in ein Fenſter zu treten. Warum noch immer in dieſer Farbe, gegen welche ich mich ſchon anfangs mißbilligend erklaͤrt habe? fragte er, mit gebietender Stimme. Die Zeit der Trauer iſt noch nicht voruͤber, ſtotterte ich. Trauer paßt nicht fuͤr dieſe Zeit! ſagte er herriſch, waͤre auch der Todte erſt geſtern begraben; Trauer - zeichen ſind zweideutig, und ſie ſollen, wenigſtens in meinem Hauſe, nicht geſehen werden. Zudem ſollen ſie am Montage der Prinzeſſinn vorge - ſtellt werden, bereiten ſie ſich gehoͤrig dazu vor. Jch wollte etwas erwiedern, er ließ mich aber nicht zu Worte kommen. Jch meine es gut mit ihnen, Graͤſinn Nichte, fuhr er etwas mil - der fort, aber ſie muͤſſen ſich zu fuͤgen wiſſen. Er entfernte ſich aus dem Zimmer. Jch wankte nach dem meinigen; Deine Mutter folgte mir, und umarmte mich, mit einiger Ruͤhrung. Jch190 haͤtte es dir gern erſpart, ſagte ſie, aber du wollteſt meine Winke nicht verſtehen. Jch brach in Thraͤnen aus. Beruhige dich, liebe Virginia, ſagte ſie, wir Weiber ſind ja ein Mahl zum ge - horchen gebohren, gib dieſen kleinen Eigenſinn auf. Eigenſinn! o Himmel und Erde! Du kamſt dazu und liebkoſeteſt mich mit Deiner gutmuͤthi - gen Art, redeteſt mir ſo freundlich zu, daß ich am Ende eure Friedensvorſchlaͤge annahm, mich, wenn ich außerhalb meines Zimmers erſchiene, bunt zu kleiden, und mich oͤffentlich und in Geſell - ſchaft mit heiterem Geſichte zu zeigen. O, welch ein Opfer brachte ich der bittenden Freundſchaft, und mit welcher Sehnſucht eilte ich in meine Einſamkeit zuruͤck, um meine ſchwarzen Gewaͤn - der anzulegen, und mich von ganzer Seele be - truͤben zu koͤnnen! Welch ein Wechſel fuͤr mich! ich, die nie den Schein des Zwanges gefuͤhlt hatte, frei aufgewachſen war, wie das Reh des Wal - des, nun umgarnt mit tauſend Netzen und noch keinen Ausgang gewahrend!

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Fuͤr den Augenblick gab ich der Nothwen - digkeit nach, und ließ mich einfuͤhren in dieſe fremde Welt. Jhr alle waret nun voll Beſorg - niß fuͤr mein erſtes Auftreten, und eifrig be - muͤht, mir Muth ein zu ſprechen. Jch mußte in - nerlich laͤcheln, denn er fehlte mir nicht. Wohl fuͤhlte ich Widerſtreben, aber keine Aengſtlich - keit. Was euch imponirte ließ mich im Gleich - gewicht. Auch ſchien man allgemein uͤberraſcht von meiner ruhigen Beſonnenheit. Jch war in den ſpiegelglatten Saͤlen des Hofes, unter hoffaͤhige Leute, mit meinem ſicheren Gange, eine fremde Erſcheinung. Aber wie faſt immer das Fremde Gluͤck macht, ſo wurde auch ich nicht unguͤnſtig aufgenommen, ja es haͤtte vielleicht nur bei mir geſtanden, zu einer gewiſſen Be - ruͤhmtheit zu gelangen, wenigſtens unterhielt mich Dein Bruder unaufhoͤrlich von dem glaͤn - zenden Eindruck, welchen ich gemacht; mir wurde aber mein Gluͤck mit jedem Tage unertraͤglicher. Es war mir gleich unmoͤglich die Maske der Un - terwuͤrfigkeit vor zu nehmen, oder in Schmaͤhungen gegen die verfloſſenen Zeiten einzuſtimmen. Die ewig witzelnde, ſchaale Unterhaltung, welche, in192 derſelben Viertelſtunde, vom Ball zur Politik, und von der neueſten Mode zur neueſten Mord - that uͤberſpringt, war mir in tiefſter Seele zu - wider.

Es war bei meinem wahrhaftigen Charak - ter wohl nicht moͤglich, die Eindruͤcke ganz zu ver - bergen welche ich in der Geſellſchaft empfing. Einige unſrer Tiſchgenoſſen, um ſich, meiner Kaͤlte wegen, an mir zu raͤchen, machten ſich das boshafte Vergnuͤgen, mich oft in Verlegenheit zu ſetzen, indem ſie meine Meinung uͤber dieſe und jene der neueſten Begebenheiten zu hoͤren wuͤnſchten. Jch ſuchte mich zwar immer geſchickt heraus zu wickeln, um weder meine eigene Meinung zu ver - laͤugnen, noch der fremden wehe zu thun, aber meine Maͤßigung machte die Angreifer nur kuͤh - ner. Selbſt Dein Bruder geſellte ſich nicht ſel - ten zu ihnen. Der Herzog warf, bei ſolchen Vorfaͤllen, wuͤthende Blicke auf mich, und Deine Mutter hielt mir in geheim lange Strafreden, welche mir wehe thaten, ohne mich zu uͤberzeu - gen. Sie ging immer deutlicher mit dem Plane gegen mich heraus, welchen ich ſchon ſeit eini - ger Zeit geahndet hatte, mich an Louis zu ver -maͤhlen.185[193]maͤhlen. Du gehoͤrſt zu unſrer Familie, ſagte ſie, und mußt deine Geſinnungen ganz nach den unſrigen zu aͤndern ſuchen. Jch fuͤhlte mich empoͤrt von dieſen anmaßenden Zumuthungen, und meine Erwiederungen mochten keine große Unterwuͤrfigkeit ausdrucken. Man fing an, mich immer haͤufiger zu ſchmaͤhen und zu kraͤnken, Dein Bruder nahm ein zuverſichtliches, herri - ſches Betragen an. Er nannte mich oft ſeine ſchoͤne Zukuͤnftige, und behandelte meine Pro - teſtationen als Scherz. Dann hielt er uns, mit altkluger Miene, lange Vorleſungen uͤber die Pflichten unſers Geſchlechts als Gattinnen, wel - che mit meinen Begriffen ſehr wenig uͤbereinſtimm - ten. Du lachteſt ihn geradezu aus, brachteſt ihn aus der Faſſung, und mich zum laͤcheln; mir war aber das Ganze nichts weniger als laͤcherlich.

Jn den Stunden der Einſamkeit fing ich ernſtlich an, darauf zu denken, mich dieſer druͤckenden Lage zu entziehen. Nach Chau - merive zuruͤck zu kehren, und dort, wenn auch nicht gluͤcklich, doch ruhig zu leben, fand ich ſehr einfach. Jch waffnete mich mit meinem ganzen Muth, um dieſen EntſchlußErſter Theil. [13]186[194]dem Herzoge bekannt zu machen, nachdem Deine Mutter ihn ſchon, als einen kindiſchen Einfall, auf - genommen, und mir gerathen hatte, nicht weiter daran zu denken. Jch ließ mich foͤrmlich beim Herzoge melden. Ruhig trug ich ihm den Wunſch vor, in den naͤchſten Tagen nach meiner Hei - math abzureiſen. Er ſchwieg einen Augenblick betroffen, dann antwortete er an ſich haltend: ich denke, Graͤfinn, Sie haben kein andres, als mein Haus. Jch werde es mit den dankbar - ſten Empfindungen verlaſſen, erwiederte ich, aber der Aufenthalt meiner Kindheit fordert mich unwiderſtehlich zuruͤck. Es iſt Zeit dieſen ro - mantiſchen Hang abzulegen antwortete er ich werde Sorge tragen daß ihr Jntereſſe dort aufs beſte wahrgenommen werde; ich werde ei - nen ſicheren Geſchaͤftsmann dahin ſenden welcher alles regulirt, und was ſie ſich etwa noch von dort her wuͤnſchen, haben ſie nur die Guͤte zu beſtimmen. Jch ſahe ihn waͤhrend einer kleinen Pauſe mit großen Augen an, dann ſagte ich beſcheiden, aber nachdruͤcklich: Chaumerive und ſeine nachbarlichen Beſitzungen waren meines Vaters rechtmaͤßiges Eigenthum, und ich bin187[195] muͤndig. Die Toͤchter großer Familien ſind dieß niemahls, erwiederte er, und ich bitte nicht zu vergeſſen, daß ich die Ehre habe, das Haupt der unſrigen zu ſeyn. Jhnen meine Achtung zu bezeugen, Herr Herzog, legte ich Jhnen mei - nen Entſchluß vor, ſagte ich mit vieler Ruhe. Den ſie auch ohne meine Zuſtimmung ausfuͤhren zu koͤnnen glauben? rief er zornig aber ich ſage ihnen, ſie werden es nicht wagen, meine trotzige Republikanerinn! mein Arm reicht weit, und dem Koͤnige muß daran liegen, daß der Glanz ſeiner Getreuen, durch reiche Erbinnen, erhoͤhet werde, ich habe deßhalb ſchon Einleitun - gen getroffen. Jhre Hand iſt meinem Sohne beſtimmt, dieſes Buͤndniß ſtellt alle Parteien zufrieden, und ihre Meinung iſt darin von kei - nem Gewicht; Toͤchter hoher Abkunft werden immer nach den Geſetzen der Convenienz ver - maͤhlt. O Gott! ich bin nicht von hoher Abkunft, rief ich aus. Man wird einen Schleier uͤber die Vergangenheit werfen; erwiederte er ſie wer - den vom Hofe nur als die Enkelinn des Herzogs von Montorin angeſehen werden, ſuchen ſie ſich dieſer Gnade wuͤrdig zu machen, und vor allen*188[196]ſcheuen ſie meinen Zorn. Damit entließ er mich. Jch kam ganz verſtoͤhrt in mein Zimmer zuruͤck, wo ein heftiger Thraͤnenſtrom meine gepreßte Bruſt erleichterte. Deine Mutter erſchien bald darauf. Ungluͤckliche, ſagte ſie, warum mußteſt du dir eine ſo unangenehme Scene zuziehn, und um welcher kindiſchen Grille willen! Haͤtteſt du einen Augen - blick nachgedacht, ſo wuͤrdeſt du ſelber eingeſehen ha - ben, wie unſchicklich es ſey, allein nach Chaumerive zu reiſen. Nach deiner Vermaͤhlung wird Louis gewiß die Gefaͤlligkeit haben, dich auf einige Wochen dahin zu fuͤhren. Sie ſetzen da einen Fall liebe Tante, ſagte ich, welcher meiner Seele ſehr fremd iſt. Fremd? rief ſie, und warum? wenn ich bitten darf. Louis liebt dich, das wuß - teſt du laͤngſt, und worauf koͤnnte ſich bei dir eine Abneigung gegen ihn gruͤnden? er iſt jung und liebenswuͤrdig, er ſichert dir einen hohen Rang in der Geſellſchaft; uͤberdieß aber iſt dieſe Heirath in der Familie ein Mahl beſchloſſen, und ich hoffe, daß du wenigſtens ſo viel Erziehung haben wirſt, um zu wiſſen, daß du deiner Familie Gehor - ſam ſchuldig biſt. Meine Aeltern welche ihn zu fordern ein Recht hatten, haben ihn nie an mir189[197] vermißt, antwortete ich gefaßt: aber gewiß wuͤr - den dieſe theuren Aeltern niemahls uͤber meine Hand verfuͤgt haben, ohne mein Herz zu Rathe zu ziehen. Ja, ja, ſagte ſie, mein Bruder dachte freilich etwas buͤrgerlich; in unſerm Stande kann aber davon die Rede nicht ſeyn. Jch will doch nicht hoffen, daß dein Herz ſchon eingenommen iſt? etwa fuͤr einen kleinen Emporkoͤmmling von ehe - mahls? ich rathe dir, ihn in der Stille daraus zu verbannen, es koͤnnte ihm leicht ein ſchlim - mes Spiel machen. Jch ſchwieg, denn ob ich gleich die verſteckte Drohung nicht zu fuͤrchten hatte, ſo war mir Mucius Name, und meine Liebe zu heilig, um ſie hier auszuſprechen. Deine Mutter glaubte in meinem fortdauernden Stillſchweigen und in meiner ruhiger werden - den Miene ein guͤnſtiges Zeichen zu ſehn; ſie glaubte mich zum Nachgeben geſtimmt, und verließ mich mit vieler Zufriedenheit, indem ſie mich wiederholt umarmte, und mich ihre gute Tochter ihre vernuͤnftige Virginia nannte ſie irrte ſehr. Jn meiner Seele arbeitete ſich der Vorſatz empor, dieſe Feſſeln, um jeden Preis,190[198] zu brechen, und dieſer muthige Gedanke gab mir Feſtigkeit und Ruhe.

Sobald ich allein war, fing ich an, uͤber Mit - tel nachzudenken, durch welche ich zum Ziele ge - langen koͤnnte, und ich befand mich in einem ziemlichen Labyrinthe.

So ſehr ich auch von der Rechtmaͤßigkeit meiner Forderung, und von meinem Anſpruch auf Unabhaͤngigkeit uͤberzeugt war, ſo wußte ich doch nicht, wie weit die Gewalt der Willkuͤhr gehen koͤnnte. Jch hatte in meiner Kindheit zu viel von Machtſpruͤchen, und Gewaltſtreichen dieſer Art gehoͤrt und geleſen, als daß ſich mir nicht die Moͤglichkeit haͤtte aufdringen ſollen, man werde zu einer Zeit, wo man eifrig dar - nach zu ſtreben ſchien, das Alte ganz wieder her zu ſtellen, ohne Bedenken, dazu wieder ſeine Zu - flucht nehmen. Auf weſſen Schutz konnte ich hof - fen? meine Gegner waren von der ſiegenden, meine Freunde von der unterdruͤckten Partei. Wen ſollte ich mit dem gefahrvollen Amte meiner Vertheidigung belaſten? Verſperrte ich mir nicht191[199] nicht, bei einem offenbaren Auflehnen, im un - gluͤcklichen Falle, jeden Weg der Rettung? Bald begriff ich, mein einziges Heil liege nur in der Flucht, und nur meinem eignen Muthe duͤrfe ich mich vertrauen. Sobald ich hieruͤber mit mir einig war, fuͤhlte ich mich beruhigt, und erſchien wieder unter euch, mit meiner gewohn - ten Heiterkeit, wodurch ihr alle auch uͤber mein Vorhaben getaͤuſcht worden ſeyd. Jm ſtillen fuhr ich jedoch zu beobachten fort, und bald wurde mir klar, daß ich faſt wie eine Ge - fangne gehuͤthet werde. Man hatte mir eine zweite Kammerfrau gegeben, und meine Man - non ziemlich uͤberfluͤſſig zu machen geſucht. An - toine wurde mit Penſion, entlaſſen um nach ſei - ner Heimath zuruͤck zu kehren, und kam um mir zum Abſchiede die Hand zu kuͤſſen, Deine Mutter war dabei zugegen. Aber vorbereitet darauf, druͤckte ich ihm, indem ich ihm einige Goldſtuͤcke zum Andenken ſchenkte, unvermerkt einen kleinen Zettel in die Hand, worin ich ihm befahl, bis auf weitere Nachricht, auf dem naͤch - ſten Dorfe zu verweilen. Mit Behuthſam - keit fand ich nun Gelegenheit, Mannon mein192[200] mein Vorhaben zu entdecken. Die Schlauheit des Maͤdchens glich ihrer Treue; ſie war ſchnell orientirt, und ſpielte ihre Rolle vortrefflich, denn auch ſie ſehnte ſich eben ſo nach den Blumenufern der Durance zuruͤck, als ich mich nach Freiheit. Reichlich durch mich mit Geld verſohen, fing ſie ihr Spiel damit an, daß ſie ſich ſehr ſchau - und tanzluſtig ſtellte, und mit einigen Bedienten der Nachbarſchaft die oͤffentlichen Oerter beſuchte, woruͤber ſie einige Mahl ſich meine Mißbilligung und ernſtliche Verweiſe deiner Mutter zuzog. So bald ſie ſich in dieſes Licht geſtellt hatte, nuͤtzte ſie die angenommene Meinnng uͤber ihre Gaͤnge, um Antoine aufzuſuchen, und alles mit ihm zu verabreden. Sie kam oft ſpaͤt nach Hauſe, wo - bei ſie ſich immer von einem jungen Menſchen be - gleiten ließ, und dann dem aufſchließenden Schwei - zer ſchmeichelte, damit er ihr ſpaͤtes Ausbleiben ver - ſchweigen ſolle. Jhn zu beſchwichtigen, brachte ſie ihm mehrere Abende nach einander ein Flaͤſchchen Madera mit, welches ihr, wie ſie ſagte, ihr Liebha - ber verehrt habe, der die Aufſicht uͤber ſeines Herrn Weinkeller fuͤhre; der Wein ſey ihr zu hitzig meinte ſie, der Schweizer fand ihn dagegen ſehr nach193[201] ſeinen Geſchmack. Nachdem ſie ihn ſo einige Tage ſicher gemacht hatte, miſchte ſie eines Abends einen leichten Schlaftrunk unter den Wein, deſ - ſen Wirkung ſchnell aber nur von kurzer Dauer ſeyn ſollte, und erquickte beim Nachhauſekom - men den wartenden. Jch war durch einige Winke benachrichtiget und lag wachend in mei - nem Bette. Schnell ſtand ich auf, warf nur eine Unterkleidung uͤber, huͤllte mich in ein gro - ßes Tuch, und ſo ſchlichen wir behuthſam die Treppe hinab. Der Schweizer lag gluͤcklich im tiefſten Schlaf, Mannon nahm den Schluͤſſel, oͤff - nete, und wir erreichten gluͤcklich die Gaſſe. An der naͤchſten Ecke erwartete uns Antoine mit einem Wagen. Mannon hatte fuͤr Kleider, Antoine fuͤr einen Paß, auf ſich und zwei Toͤchter lau - tend, geſorgt. So kamen wir ohne Hinderniß aus den Barrieren, und ich athmete tief auf, als die Steinmaſſe hinter mir lag, welche fuͤr mich ein Gefaͤngniß geweſen war. Vergib mir, theure Adele, es that mir wohl wehe, Dich ver - laſſen zu muͤſſen, aber das Gefuͤhl der Freiheit uͤberwog jede andre Empfindung. Selbſt mei - nen großen Verluſt und das Ungluͤck meines194[202] Vaterlandes fuͤhlte ich in dieſen Augenblicken nur ſchwach.

Wir eilten ſchnell vorwaͤrts, und goͤnnten uns kaum die nothwendigſte Raſt. Doch glaubte ich, ſelbſt bei dieſem Voruͤberfluge, zu bemerken, daß die Stirnen uͤberall tiefer gefurcht waren, als in Paris. Dieß that mir einiger Maßen wohl; denn haͤtte ich laͤnger in der Hauptſtadt gelebt, ich glaube ich haͤtte mein Volk haſſen gelernt. Jch hatte mich ſehr davon entwoͤhnt, mich uͤber etwas zu aͤußern, und beobachtete dieß auch waͤhrend der Reiſe. Doch hoͤrte ich auch ei - nen Poſtmeiſter waͤhrend des Pſerdewechſelns, ganz ohne Veranlaſſung ſagen: Hier kam er durch als er von Frejus kam, um das Reich zu retten; damahls ahndete ich nicht, daß ich ihm noch ein Mahl Pferde geben wuͤrde, um aus ſeinem geretteten Reiche in die Verbannung zu gehen. Die tiefbewegte Stimme des Mannes erſchuͤtterte mich. Er ſtand an der Schwelle des Greiſenalters; weinend und ſchweigend reichte ich ihm die Hand. O, mein Fraͤulein, ſagte er, in - dem er ſie zwiſchen den ſeinigen druͤckte, ich habe im Kampfe fuͤr das Vaterland drei Soͤhne ver -195[203] loren, wackre Jungen, aber ich troͤſtete mich, denn Frankreich war groß und gluͤcklich. Soll all das Blut, welches der Freiheit geopfert wurde, vergebens gefloſſen ſeyn? Jch verbarg ſchluch - zend das Geſicht, und zeigte mit der Hand gen Himmel. Wohl, mein Fraͤulein, ſagte er, Gottes Wege ſind nicht unſre Wege, und dem Sterb - lichen geziemt Entſagung.

Hoch ſchlug mein Herz als ich den Ventoux in weiter Ferne erblickte, noch hoͤher, als die weißen Gemaͤuer von Chaumerive ſichtbar wurden. Der Wagen fuhr mir zu langſam, ich verließ ihn, und flog mit Windeseile auf dem Fußpfade dahin. Mir war als muͤßte ich all die lieben Verlorenen wieder finden. Ach, ich fand ſie nicht! Aber ein treues Voͤlkchen fand ich wieder, das mich mit ausſchweifender Freude umarmte, fragte und hoͤrte, und dann theilneh - mend mit mir weinte um meinen Vater und um mein Vaterland. Erquickende Thraͤnen, welche mein verarmtes Herz wieder an die Menſchheit banden! O haͤtte ich hier bleiben koͤnnen, ge -196[204] trennt von der uͤbrigen Welt, und vergeſſen! Aber dieß durfte ich nicht hoffen; ſelbſt der Pfar - rer, deſſen Rath ich einholte, fuͤrchtete fuͤr die Sicherheit meines Aufenthalts, und ſah wenig - ſtens viel Unruhe und Verdruß voraus. So mußte ich denn mit ſchwerem Herzen mich los - reißen von der Wiege meiner Kindheit. Wei - nend beſuchte ich noch ein Mahl jedes Plaͤtzchen der Erinnerung, kraͤnzte zum letzten Mahle das Grab meiner Mutter, mit Sommerblumen, und verſchloß mich dann in mein Zimmer, um mei - nen Muth in der Einſamkeit zu ſtaͤrken. Mein altes Bilderbuch fiel mir in die Angen, ich nahm es mechaniſch heraus, und ſchlug es auf. Bald traf ich auf Seenen, wie Athens und Roms Helden ruhig in die Verbannung gingen, wie das ganze Volk der Meſſenier, von dem ſtolzen Sparta beſiegt, ſeine geliebte Heimath verließ, um an Siciliens Kuͤſte, und unter dem gluͤck - lichen Himmel meiner Provonce, ſeine Freiheit und ſeine Sitten zu retten. Klein und unbedeu - tend erſchien mir mein eigenes Schickſal gegen dieſe Beiſpiele; ich war wieder die Alte, be - ſonnen und ruhig. Jch packte das Wenige zu -197[205] ſammen, was ich mit mir zu nehmen gedachte, und ließ eines Abends den Pfarrer bitten, mir zu helfen, um meine Angelegenheiten zu ordnen. Sobald es finſter geworden war, ging ich, in ſeiner und Antoines Begleitung, zur Kapelle, wo mein Vater, im ahndungsvollen Gefuͤhl der Zukunft jenes Vermaͤchtniß nieder gelegt hatte. Wir zogen das Kaͤſtchen aus ſeiner ſichern Verborgenheit, und der ehrliche Antoine trug es in mein Zim - mer. Darauf kniete ich auf den Stufen des Altars nieder, ſchmerzliche Erinnerungen dran - gen auf mich ein, und meine Standhaftigkeit wollte mich verlaſſen; doch der ehrwuͤrdige Pfar - rer ſtaͤrkte mich, durch die Hinweiſung auf eine ewige Vorſicht, und ertheilte mir ſeinen Seegen. Er fuͤhrte mich in mein Zimmer zuruͤck, und, waͤhrend Antoine Pferde beſorgte, und den Wa - gen packte, beauftragte ich ihn mit allen den An - denken, welche ich fuͤr meine Getreuen zuruͤck ließ, dann trennten wir uns weinend von ein - ander. Er war ſeit meiner Kindheit ein treuer Freund meines Hauſes geweſen; mir war, als ob ich in ihm einen zweiten Vater verloͤre. Aber ihn hielt die Pflicht ſeines Amtes zuruͤck,198[206] mich trieb die Pflicht der Selbſterhaltung hin - weg, wenigſtens der Erhaltung meines beſſeren Selbſt. Jn finſtrer Nacht reiſte ich ab; es waͤre mir zu ſchwer geworden, mich von der wei - nenden Menge zu trennen, ja unertraͤglich faſt, die geliebten Gegenden ſo allmaͤhlig entſchwin - den zu ſehen.

Jch reiſte ganz allein mit Antoine, welcher mich bis Marſeille geleiten ſollte. Gern waͤre er mir auch weiter gefolgt, aber ich mochte ihn nicht von ſeinen Kindern trennen, ſo wie ich denn auch meine gute Mannon unmoͤglich ihren Aeltern entziehen konnte, und ihr deßhalb das weitere meines Vorhabens verſchwieg. Jch ließ ihr eine gute Ausſteuer zuruͤck, welche ſie jedoch bei ihrer Anhaͤnglichkeit, nur wenig getroͤſtet haben wird.

Bei meiner Ankunft in Marſeille erkundigte ich mich ſogleich im Hafen, und fand ein ſegel - fertiges amerikaniſches Schiff, welches nur auf den erſten guͤnſtigen Wind wartete, um die Anker zu lichten. Der Kapitaͤn, aus Philadelphia, hatte eine von den einnehmenden Phiſiognomien, welche ſogleich Vertrauen erwecken. Jch trug ihm mei - nen Wunſch vor, und er war ſogleich bereit -199[207] willig, mir einen bequemen Platz in der Kajuͤte ein - zuraͤumen, ja er war ſo lebhaft beſorgt fuͤr mich, daß er in mich drang, ſein Schiff ſofort zu be - ſteigen, um jede Nachfrage zu vereiteln. Jch ließ alſo meine Sachen an Bord bringen, und trennte mich von meinem treuen Antoine, welchem ich ein ſorgenfreies Alter zugeſichert hatte, mit der ſchmerz - lichſten Ruͤhrung, und mit der Bitte auf einem weiten Umwege in unſre Heimath zuruͤck zu kehren.

Nun war ich allein, zum erſten Mahle ganz allein, in fremder Umgebung. Kein Gegenſtand, kein Geſicht erinnerte mich an eine bekannte Ver - gangenheit. Der Eindruck war neu, und erfuͤllte mich mit inniger Wehmuth. Alles, was ich verlaſ - ſen hatte, was mir war entriſſen worden, verlor ich erſt in dieſen Augenblicken. Jch bedurfte eines Weſens, in deſſen treue Bruſt ich meine Klagen ausſtroͤmen konnte. Du warſt mir dieſe ge - liebte treue Seele. Gewiß wirſt Du dieſe Blaͤt - ter, wenn ſie zu Dir gelangen, nicht ohne das regeſte Mitgefuͤhl leſen. Sie enthalten meine200[208] Rechtfertigung wenn ich deren bei Dir bedarf. Auch bei deiner Mutter werden ſie mich ent - ſchuldigen, wie ich zu hoffen wage. Ungern nehme ihren Zorn mit in die neue Welt hinuͤber, ſie wird mir ewig die geliebte Schweſter mei - nes theuern Vaters bleiben. Bringe ihr mein zaͤrtlichſtes Lebewohl und ſage ihr, Virginia ſey nur ungluͤcklich, nicht undankbar. Was den Herzog betrifft, fuͤr den bin ich tod, und die Erbſchaft meiner Beſitzungen, wird ihn hoffent - lich uͤber mein fruͤhes Ende troͤſten. Louis hat mich gewiß ſchon laͤngſt vergeſſen. Seine Nei - gung war wohl nur ein Kind der Konvenienz; er erreicht jetzt ſeinen Wunſch, ohne die laͤſtige Zugabe, welche ihm doch vielleicht oft fuͤhlbar geworden waͤre, und kann durch eine neue, glaͤnzende Verbindung, ſeinen eigenen Glanz noch um vieles erhoͤhen.

Euch gehoͤrt nun Chaumerive. Ach, Adele, ſey Du der Schutzgeiſt meiner verlaſſenen Freunde! Du biſt ja auch unter ihnen gluͤcklich geweſen. Deiner guten Mutter empfehle ich ſie gleichfalls, es waren ja die Kinder, die Freunde ihres wahr - haft edlen Bruders, deſſen Nahme noch von denEnkeln,201[209]Enkeln, mit Liebe genannt werden wird. O, meine Adele, wenn du in den ſchoͤnen Sommermonden durch dieſe lieblichen Thaͤler wandelſt, ſo gedenke meiner! Sprich mit meinen Getreuen oft von mir, und bringe ihnen meinen Gruß. Wenn du in der Geißblattlaube ruheſt und die tanzende Durance betrachteſt, und es liſpelt ein leiſes Luͤft - chen durch die Bluͤthen, ſo denke, es iſt die Stimme deiner Virginia. Jhr Geiſt wird dich immer umſchweben; ja aus den Gefilden der Seligen, wuͤrde er noch zu dieſen lieben Gegen - den zuruͤck kehren.

Dieſen langen Brief Dir zu ſchreiben, mein Leben noch ein Mahl an mir voruͤber gehen zu laſſen war mir Beduͤrfniß. Aber nur in ſeinen Hauptmomenten habe ich es Dir dargeſtellt, nur die Grundzuͤge angegeben. Jch habe vermieden, manche Gegenſtaͤnde und Er - eigniſſe zu beruͤhrern, weil ſie mit fremden Perſonen in Beziehung ſtanden. Jn einer Zeit, wie die unſrige, muß man ſehr behuthſam ſeyn, um niemand der Verfolgung auszuſetzen. Nun aber habe ich abgeſchloſſen mit dem alten Leben,Erſter Theil. [14]202[210]ein neues Daſeyn beginnt fuͤr mich; und wie der Sterbende, all den irdiſchen Tand hinter ſich laͤßt, ſo laſſe ich Europas verworrene An - gelegenheiten hinter mir. Jch hoffe kuͤnftig nur darauf zuruͤck zu ſchauen, wie ein abgeſchiedener Geiſt auf die Welthaͤndel, welche ihn nicht mehr beruͤhren.

Ueber meine Reiſe will ich Dir nun noch einiges mittheilen. Von dem Schauſpiel, welches das Meer gewaͤhrt, brauche ich Dir nichts zu ſagen, Du haſt von Hamburg aus einen kleinen Be - griff davon, obſchon das Weltmeer viel ergrei - fender, als die Nordſee iſt. Auch die Fahrt auf demſelben ſoll angenehmer ſeyn, wie Seefahrer verſichern; die Wellen brechen ſich nicht ſo kurz, und das Schwanken des Fahrzeuges iſt weniger beſchwerlich. Dieſem Umſtande muß ich es wohl mit zuſchreiben, daß ich gar nichts, von der Seekrankheit empfunden habe, welche Du mir ſo fuͤrchterlich geſchildert haſt. Auch trat ich ihr mit ſtarkem Willen entgegen, brachte meine ganze Zeit, in den erſten Tagen, auf dem Verdeck zu, nahm zweckmaͤßige Nahrungsmittel,203[211] und vermied, die von dem Uebel ergriffenen Paſſa - giere zu ſehn. So blieb ich geſund, und erhielt mir den Muth deſſen ich nur zu ſehr bedurfte. Nach und nach, befreundete ich mich mit der Equipage, und Jedermann fing an, ſich fuͤr das verlaſſene Maͤdchen zu intereſſiren. Der Kapitaͤn beſon - ders, beweiſt mir die herzlichſte Freundſchaft, die nahe an Zaͤrtlichkeit graͤnzt. Er heißt Elli - ſon; ſein Vater, ein Kaufmann dieſes Nah - mens, iſt Chef eines anſehnlichen Handlungshau - ſes, in Philadelphia. Elliſon hat mir das Verſpre - chen abgewonnen, bei ſeinen Aeltern zu wohnen; dorthin, an dieß bekannte Haus, kannſt Du Deine Briefe ſchicken, wenn Du es moͤglich machſt, mir zu ſchreiben. Elliſon iſt groß und ſchoͤn gebauet, ſein blaues Auge blitzt von Feuer, ſeine Mutterſprache iſt die engliſche, doch ſpricht er auch fertig franzoͤſiſch; in beiden Sprachen druckt er ſich kurz, und kraͤftig aus, und iſt ſehr unterhaltend, und belehrend, ohne eben geſpraͤchig zu ſeyn. Seine Geſellſchaft hilft mir vorzuͤglich die Laͤnge der Seereiſe verkuͤrzen So oft ich meine Kammer verlaſſe, wo ich auf das zierlichſte eingerichtet bin, und taͤg -204[212] lich einige Stunden mit ſchreiben zubringe, hat ſeine Aufmerkſamkeit, mir ein kleines Feſt berei - tet. Ein ſchmackhaftes Mahl, ein Spiel, ein Fiſchfang, ein Matroſentanz und mehr derglei - chen wechſeln mit einander ab. Auch kleine Konzerte geben wir, wobei Deine Freundinn mit ihrem Harfenſpiel und ihrer Stimme, viel unverdiente Ehre einerntet. Unſre Reiſegeſell - ſchaft beſteht aus zwei Kaufleuten aus New - York, einem jungen Mahler aus der Schweiz, und zwei Florentinerinnen, Mutter und Toch - ter, welche dem Manne und Vater nachreiſen, der ſich in der Havannah etablirt hat, alles freiſinnige, wenigſtens tolerante Menſchen. Waͤhrend der ganzen Reiſe, gab es nicht eine ein - zige politiſche Streitigkeit; unſrere Tage floſ - ſen ſchnell und angenehm dahin. Auf St. He - lena nahmen wir Erfriſchungen ein. Ein origi - neller Felſen mitten in der großen Waſſerwuͤſte. Jch erging mich in ſeinen uͤppigen Thaͤlern, und traͤumte mir die Moͤglichkeit, mit einer kleinen aus - erwaͤhlten Geſellſchaft von Freunden, abgeſchieden von der ganzen Welt, hier gluͤcklich zu leben. Es moͤchte wohl thunlich ſeyn, die ſchon ſchwierige Landung, auf immer unmoͤglich zu machen.

205[213]

Unweit dieſer Jnſel hatten wir das erha - bene Schauſpiel eines Seeſturms, fuͤr mich hoͤchſt wichtig und erwuͤnſcht. Jch ſehe Dich den Kopf ſchuͤtteln, meine zarte, furchtſame Adele, aber mir iſt nun ein Mahl dieſe Freude an gro - ßen wilden Naturbegebenheiten, angebohren. Schon als kleines Kind freute ich mich wenn die Durance aus ihren Ufern brach, und bey je - dem Gewitter nahm mich mein Vater mit hin - aus, waͤhrend die Mutter ſich aͤngſtlich verbarg. Er machte mich aufmerkſam auf die Schoͤnheit, wie auf den Segen dieſer Erſcheinung, und zeigte mir die Zufaͤlligkeit und ſeltene Gefahr des Blitzes, wie er uͤberhaupt, mich es als laͤcher - lich anſehen lehrte, immer die Gefahren des Le - bens zu bedenken und zu vermeiden. So ſaß ich als Kind, ruhig unter meinem Platanus, wenn der Donner uͤber mir krachte. Es ſtehen ja hunderte dieſer Baͤume rings um dieſen, dachte ich, warum ſollte der Strahl gerade ihn treffen? und thut er es, ſo war es mir be - ſtimmt, und er koͤnnte mich eben ſo leicht im Bette toͤdten. Jetzt freute ich mich der hoch thuͤrmenden Waſſerberge, des heulenden Or -206[214] kanes, der Behendigkeit unſerer Matroſen, des verdoppelten Lebens um mich her, und ich legte mich am Abend, ſo ruhig in meine Hangmatte nieder als ſonſt zu Bett. War ich nicht in der Hand Gottes, wie immer und uͤberall? Was zitterſt Du Adele? biſt Du denn ſicherer auf dem feſten Lande? O nein. Jhr alle ſteht auf einem gluthſchwangern Vulkane, traue ſeiner Stille nicht, er kann ſich in jedem Augenblicke oͤff - nen, und euch alle in ſein Flammenmeer hinunter ſchlingen. Jſt ein Schiffbruch fuͤrchterlicher? Verſchlaͤnge mich der Ocean, ſo waͤre mei - ner gezaͤhlten Tage letzter abgelaufen. Wuͤrfe mich eine freundliche Welle an das Ufer, ſo waͤre mir ja der Guͤter hoͤchſtes, das Leben, und mein friſcher Muth gerettet; denn glaube nicht, daß ich um die verſunkenen Schaͤtze trauern wuͤrde. Der Jnhalt meines Kaͤſtchens iſt nicht die Baſis meiner Sicherheit, mein eigner Jn - halt iſt es. Vier Sprachen, Muſik und andre Fruͤchte einer ſorgfaͤltigen Bildung, ſichern mir ein bequemes Fortkommen in der vornehmen Welt, in der buͤrgerlichen, manche Geſchicklich - keit, welche außer Europa noch neu ſeyn duͤrfte,207[215] als die italieniſche Strohflechterei, die Perlwe - berei, u. ſ. w. Und fuͤr die laͤndliche Verhaͤlt - niſſe habe ich in den letzten Jahren ſo viel Kenntniſſe, und Fertigkeiten erworben, um uͤber - all, wo nicht belehrend, doch nuͤtzlich zu ſeyn. Mehr als dieß, ſichert mich meine Anſicht von dem Leben und ſeinen Verhaͤltniſſen. Fuͤr mich gibt es keinen Standesunterſchied, und ich kann auf jedem Platze zufrieden leben, wo ich nur im Jnneren ich ſelber bleiben darf.

Da ſind wir nun bis nahe an das Ziel unſrer Reiſe gelangt. Die Kuͤſte der neuen Welt, liegt ſchon in blauer Ferne vor uns. Ein duͤnner Ne - belſchleier iſt daruͤber gebreitet, es iſt der Schleier meiner Zukunft. Mit hochklopfendem Herzen blicke ich dahin, was birgt er mir? Zu fuͤrch - ten habe ich nichts, denn ich ſtehe allein. Wer nichts zu verlieren hat, kann nur gewinnen in dem ewigen Wechſelſpiele des Lebens.

Aber was iſt zu gewinnen, wenn man nichts zu wuͤnſchen weiß? Elliſon ſteht neben mir auf dem Verdeck, und betrachtet mich mit208[216] gluͤhenden Blicken, doch mein Auge wechſelt ruhig, zwiſchen dem Anblick der blauen Berge, und der raſchen Stroͤmung des Delaware, an deſ - ſen Muͤndung wir Anker geworfen haben. Ein Theil unſrer Reiſegeſellſchaft wird uns hier verlaſ - ſen, wir aber ſteuern laͤngs den Kuͤſten hin, um in die Bay zu gelangen, welche hinauf nach Phi - ladelphia fuͤhrt. Von dort her ſchreibe ich Dir wieder. Fuͤr jetzt lebe wohl. Jetzt will ich, ohne Unterbrechung und Stoͤrung, die neuen Eindruͤcke in mir aufnehmen, welche mich um - ringen und erwarten. Pſyche landet an Ache - ron; wird ſie die Lethe finden? Gewiß! Und Alles will ſie hineintauchen in die dunklen Wel - len, nur nicht die Bilder ihrer Lieben, und nicht Dein Bild, meine traute Adele. Bewahre Du das meinige, und verſuche, mir zu ſchrei - ben, Lebe wohl! Lebe gluͤcklich! Lebt Alle wohl! Und Du mein Frankreich ſey gluͤcklich! Tau - ſend, tauſend Lebewohl von deiner

Virginia.

Ende des erſten Theils.

About this transcription

TextVirginia oder die Kolonie von Kentucky
Author Henriette Frölich
Extent231 images; 34442 tokens; 7657 types; 238454 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationVirginia oder die Kolonie von Kentucky Mehr Wahrheit als Dichtung Erster Theil Henriette Frölich. Jerta (ed.) . [2] Bl., 208 S. : Frontisp. (Kupferst.). RückerBerlin1820.

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Berlin SBB-PK, Yw 8831-1/2

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; Belletristik; Roman; core; ready; china

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  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
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ImprintBerlin 2019-12-09T17:30:33Z
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