PRIMS Full-text transcription (HTML)
Virginia oder die Kolonie von Kentucky.
Mehr Wahrheit als Dichtung.
Herausgegeben vonJerta.
Erſter Theil. Mit einem Kupfer von Bollinger.
Berlin, beiAuguſt Ruͤcker. 1820.
[1]

An die Leſer.

Erſter Theil. [1][2][3]
Anders mahlt mit ihrem Zauberbilde
Anders ſich in jedem Kopf die Welt.
An dem Jndusſtrande und am Belt
Schmuͤcken andre Blumen die Gefilde.
Andre Regung bringt der Fruͤhlingsmorgen,
Andere die duͤſt’re Winternacht.
Was der Dichter, ſcheinbar frei, gedacht,
Mußte oft von der Umgebung borgen.
Zuͤrnt ihr mir? Daß ich ein Bild gewaͤhlet
Aus der Ungluͤcksjahre wuͤſtem Drang?
Wo der Nebel mit dem Lichte rang,
Mit der Wahrheit, Jrrthum ſich vermaͤhlet?
Zuͤrnet nicht, ich hab es nicht erfunden,
Nur empfangen von der Außenwelt,
Und, zur Schau, im Rahmen aufgeſtellt,
Jn der Muße launevollen Stunden.
[4]
Auch die Heldinn wollet mir nicht ſchelten,
Die ein ahndungsvoller Tag gebar,
Und geſpenſt’ge Bilder der Gefahr
Hin geſcheucht zu fernen fremden Welten.
Wo ſie irrte, fand ſie viel Geſpielen
Jn der Zeiten dunklem Labyrinth.
Doch ihr Wahn, er war der Flammen Kind,
Welche in der Menſchheit Glorie ſpielen.
Und ſie flieht der Selbſtſucht harte Bande,
Jhre Wahrheit flieht die Heuchelei,
Jhren Hochſinn, ihre zarte Treu,
Rettend in dem fernen Friedenslande.
Sendet ihr im friſchen Morgenwinde
Mild den Wunſch der Euch den Buſen dehnt,
Daß ſie, was Jhr alle ſucht und ſehnt,
Das verlorne Eden, wieder finde.
[5]

Virginia, oder die Kolonie von Kentucky. Erſter Theil.

[6][7]

Virginia an Adele.

Wie wirſt Du erſchrocken ſeyn, arme Adele, als Du mein Zimmer leer fandeſt? Wie ver - ſtohlen und mit immer ſteigender Angſt wirſt Du Dich nach mir erkundigt haben, faſt mehr fuͤrchtend meine Spur zu finden, als ſie zu ver - lieren. Glaube mir, dieſe Vorſtellung hat mich ſehr gequaͤlt. Gern haͤtte ich Dir mein Vor - haben vertraut. Es waͤre mir ſo ſuͤß geweſen, mich noch ein Mahl ſcheidend an die Bruſt zu legen, an der ich oftmals meine ſtummen Thraͤ - nen barg! Aber wie durft ich wagen, die Laſt dieſes Geheimniſſes auf Deine zarte Seele zu waͤlzen. Woher haͤtteſt Du die Faſſung ge - nommen, Deiner Mutter das gewoͤhnliche, kind - lich froͤhliche Maͤdchen zu zeigen? oder mit Un -8 befangenheit dem Spaͤherblicke Deines Vaters zu begegnen? Nein, ich konnte Dir dieſe Angſt nicht erſparen, ich glaube vielmehr, ich habe ſie abgekuͤrzt. Waͤhrend Du ſorglos ſchliefeſt, dann ahndeteſt, hoffteſt, zweifelteſt, trennten uns ſchon Berge und Thaͤler; ach! und wenn Du dieſen Brief erhaͤltſt, liegt das Welt - meer zwiſchen uns, und ich bin außer der Ge - walt der Menſchen, nur in der Gewalt Got - tes und ſeiner Elemente. Jhm, dem Allmaͤch - tigen, uͤbergebe ich mich; nur der Willkuͤhr der Menſchen widerſtrebt mein Herz, es hat zu viel unter ihren rohen Haͤnden gelitten. Jhre trium - phirenden Blicke koͤnnten mich bis in’s Grab treiben. Triumphirend? woruͤber denn? War’s ihr Verdienſt? O nein! Jhre Schlechtigkeit, ihre Raͤnke haben wohl mitgewirkt, deſſen moͤ - gen ſie ſich nicht uͤberheben. Aber auch die Schlechtigkeit ihrer Gegner, die Selbſtſucht Al - ler, zufaͤllige Ereigniſſe, was weiß ich? Am Ende Gott. Wohl, wohl! Ohne ſeine Zulaſ - ſung geſchieht nichts. Aber warum er es zu - laͤßt? wozu? da liegt’s. Mit der Beantwor - tung ſind die meiſten ſo fertig da, als habe9 der Ewige mit ihnen daruͤber berathſchlagt, und nur wenige fuͤhlen es lebendig, daß irren das ge - meine Loos der Sterblichen iſt, daß das Warum vielleicht erſt halb in kuͤnftigen Jahrhunder - ten, ganz erſt in der Ewigkeit begriffen wird. So viel aber iſt mir Armen klar, daß alles dieß nimmermehr geſchah, damit die P s und O s wieder in den Vorſaͤlen der Bour - boniden glaͤnzen moͤchten, oder die M s und R s auf ihren ehemaligen Schloͤſſern wieder ſchwelgen und Bauern quaͤlen koͤnnten. Noch viel weniger damit die Guͤter der Montorins und Polignys durch die Haͤnde Deiner ein - fachen Virginia und des zierlichen Louis ver - maͤhlt wuͤrden. Vergib mir, theure Adele! er iſt Dein Bruder; aber hat er Dein Herz? Und wenn ſelbſt nimmer, nimmer! Und wohnte auch in meiner Seele kein fremdes Bild, nimmer! nimmer! Er iſt nicht der Sohn meines Vaterlandes, wie wollte er mein Gefuͤhl verſtehen, wie das ſchonen koͤnnen, was er ver - dammt? O mein armes verrathenes, zerriſſenes, verlaſſenes Vaterland! auch Virginia muß dich verlaſſen, mit blutendem Herzen verlaſſen. Waͤre10 ſie ein Mann, ſie wuͤrde bleiben und kaͤmpfen; vielleicht koͤnnte ſie dir noch etwas nuͤtzen, und waͤrs auch nur mit ihrem Blute. Aber ein Weib, ein unterjochtes Weib? qualvolles, nutz - loſes Leben; da zu ſtehen im Kampf der Parteien, beobachtet in jeder Miene, gemiß - handelt um jeder unfreiwilligen Thraͤne, bearg - wohnt um jedes Wort, am meiſten beim dul - denden Schweigen! Nein, Vaterland, ich muß dich verlaſſen! Schweigen koͤnnte ich. Aber nein, ich ſoll reden, reden in ihrem Sinne. Nicht genug. Eine Bekehrungsgeſchichte mei - nes Jnnern muͤßte ich erluͤgen, verdammend anklagen meine angebohrnen Gefuͤhle, abſchwoͤ - rend darthun die ererbten Anſichten meines trefflichen Vaters. Ungluͤckliches Weib! Der Mann kaͤmpft fuͤr ſeine Meinung und macht ſich Bahn; das Weib ſoll keine Meinung ha - ben. Wie oft, froͤhliche Adele, habe ich Dich beneidet, daß Deine Gedanken nur den en - gen Raum zwiſchen der letzten Oper und dem naͤchſten Ball durchliefen; und doch ſtrafte mich ſogleich ein (wie mir ſchien) beſſeres Selbſt - gefuͤhl. Du begriffſt mich nicht, wenn Du meine11 Wange erblaſſen, mein Auge weinen ſahſt; doch liebten wir uns ſo herzlich, Du mit dem kindlich unbekuͤmmerten Gemuͤth, ich mit der Erkenntniß, daß nur zufaͤllige Umſtaͤnde uns ſo verſchieden gebildet, und Liebe und Guͤte, ſelbſt das ungleichſte binden koͤnnen. O, meine Adele! noch immer ſeh ich Dich, als Du zum erſten Mahl uͤbers Meer heruͤber gekommen warſt, und an der Hand Deiner Mutter in unſer Zimmer tra - teſt, ein freundliches, engelſchoͤnes Kind, kaum acht Jahr alt. Wie flog mein Herz Dir da entgegen, der juͤngeren lieblichen Schweſter; wie dankte ich dem Vater, daß er Euch durch ſei - nen raſtloſen Eifer die Ruͤckkehr bewirkt. O, waͤret Jhr doch nimmer wieder geſchieden! Dann haͤtteſt Du mich ganz verſtehen lernen mit zunehmenden Jahren, und ſpaͤtere Ereig - niſſe waͤren dir nicht unbekannt. So aber riß die Lebenswoge uns ſchon wieder aus einander, als du kaum das zwoͤlfte Jahr vollendet, und dem ſeltenen, gefaͤhrlichen Briefwechſel war nichts bedeutendes zu vertrauen, weniger noch dem ſtets beobachteten Geſpraͤch in den letzten Monden unſerer Wiedervereinigung. Und doch12 treibt mich ein unwiederſtehlicher Drang, Dir mein ganzes Jnnerſtes zu zeigen. Jch folge ihm; die Einſamkeit einer Seereiſe gibt mir volle Muße.

Ja, eine Seereiſe. Und weit, ſehr weit. Jn das Land der Freiheit ſchiffe ich hinuͤber. Wo mein Vater als Juͤngling kaͤmpfte unter dem Panier der Freiheit, wo mein hochherziger Oheim, fuͤr ſie blutend, ſtarb, da iſt mein zweites Vaterland. Amerika! Amerika! Schon erhebt ſich ein friſcher Oſtwind, Alles eilt an Bord. So lebe denn wohl Adele! Dieſer Brief muß ans Land. Ach, zum letzten Mahle ſehe ich den muͤtterlichen Boden, der mich gebar; ſeine freundlichen Rebenhuͤgel, das frohe Treiben im Hafen von Marſeille. Zum letzten Mahle ſchallen die muntern Lieder der Fiſcher zu mir heruͤber. O, es iſt ſchwer von der Heimath zu ſcheiden! Schwer, wie das Sterben! Sterben iſt ja auch nur eine Reiſe nach unbekannter Kuͤſte, ohne Wiederkehr. Lebe wohl, Adele! Lebe wohl, mein Frankreich!

13

Dieſelbe an dieſelbe.

Auf der Höhe von Gibraltar.

Die Sonne taucht freundlich aus den Fluthen herauf. Sie beleuchtet meinen Blicken zum letzten Mahle das daͤmmernde Europa. Thraͤnen benetzen meine Wangen, unwillkuͤhrlich ſtrecke ich meine Arme nach dem heimiſchen Geſtade aus! ach, es ſchwindet von Minute zu Minute weiter zuruͤck. Jch weine, ja, Adele, ich weine! Die Weiblichkeit behauptet ihre vollen Rechte, und draͤngt den maͤnnlichen Muth in den Hinter - grund. Jch habe mich auf einige Augenblicke in die Kajuͤte gefluͤchtet, um mich in der Ein - ſamkeit recht aus zu weinen. Große Schmerzen beruhigt der Menſch nur durch ſich ſelbſt, er erhebt ſich nur durch eigne Kraft. Die mitlei - digen Troͤſter, welche ſich auf dem Verdeck um mich her verſammelten, thaten mir nur weher. Wie kann man ſo in’s allgemeine hin zuſpre - chen, wo man die feinſten Urſachen der Ruͤh - rung nicht kennt, wohl ſelbſt ausgeſprochen nicht kennen wuͤrde! Wie will man den verwandten Ton treffen, um dieſen Mißklang in Einklang14 aufzuloͤſen! Sogar der freundliche Kapitaͤn ver - wies mich nur an mich ſelbſt, als er mir mit ſeiner ſchoͤnen Stimme voll Ruͤhrung ſagte: Liebe, ſchoͤne Miß, ſie verlaſſen ein Land voll Unruhe und Verwirrung; mein Vaterland, das heilige Land der Freiheit, wird ſie als Tochter aufnehmen, und dieſe bangen Thraͤnen trocknen. Betrachten ſie mich als ihren Bruder, und ge - bieten ſie uͤber Alles, was dieſer Bruder ſein nennt. Guter Mann! es iſt nicht das Ge - fuͤhl des Verlaſſenſeyns, was mich beklemmt. Jn den Saͤlen der Tuillerien wuͤrde ich mir viel verwaiſ’ter erſcheinen.

Siehe, meine Thraͤnen ſind waͤhrend des Schreibens getrocknet, und mein Muth kehrt zuruͤck. Jch muß wieder hinauf, damit der lange Aufenthalt in dem verſchloſſenen Raume mir nicht nachtheilig werde. Jch will nicht ſee - krank werden, wenn es irgend zu vermeiden iſt. Krankheit wirkt auf den Geiſt, aber der Geiſt beherrſcht mehr noch den Koͤrper. Der meinige ſoll ſich aufheitern und ſtark ſeyn. Nur noch einen Abſchiedsblick nach der Wiege mei - ner Kindheit, nach den Graͤbern meiner Lieben;15 dann theilnehmend gelebt mit der Gegenwart, und die Vergangenheit noch ein Mahl wieder - holt fuͤr meine Adele.

Unſer Leben gleicht des Jaͤgers Traͤumen,
Der am waldbekraͤnzten Huͤgel ruht.
Er entſchlief am milden Strahl der Sonne,
Von der Liebe, von der Jagden Wonne,
Und erwachet in der Stuͤrme Wuth.
Sohn des Huͤgels, morgen wirſt du fragen:
Was verloͤſcht Ronkatlins hellen Schein?
Hat das Meer den gluͤh’nden Stern verſchlungen?
Selmas Bardenharfen ſind verklungen,
Toskars Tochter klaget dort allein!
Ach, Malwina wandelt zu der Halle,
Staubumſchleiert lehnen Schild und Speer.
Es empfaͤngt ſie geiſterhaftes Grauſen,
Kleiner Menſchen Soͤhne drinnen hauſen,
Jhre Helden findet ſie nicht mehr.
Bald auch kehren Lutas ſanfte Maͤdchen,
Ohne die Geſpielinn von der Jagd,
Wenden ihren Thraͤnenblick voll Trauern
Nach Torluthas moosbewachſ’nen Mauern,
Wo der Eichen Flamme nicht mehr lacht.
16

Du ſiehſt, liebe Adele, daß Oſſian mein treuer Begleiter iſt. Wie haͤtte ich den ver - geſſen? er iſt ja ein Geſchenk von Dir. Jmmer ſchon war er mein Lieblingsdichter, und jetzt iſt er mir uͤber Alles theuer, das liebſte Gut, welches ich aus dem Schiffbruche gerettet. Erſt jetzt verſtehe ich ihn ganz, und bei ſeinen Klag - geſaͤngen ſchweigt mir das Leid im Buſen. Oft ſtehe ich noch Abends einſam am Maſte gelehnt, und betrachte die Gewoͤlke, welche der untergegangenen Sonne nachziehen. Dann will mich’s oft beduͤnken, als lagerten die Helden vergangener Zeiten auf ihrem roͤthlichen Saum. Theure Geſtalten! ihr begleitet Virginia nach dem Lande, wo ſie einſt ruhen wird unter dem mooſigen Steine, den die Hand eines Fremd - lings mitleidvoll auf ihren Huͤgel legt. Doch nicht von meinem Grabe wollte ich mit Dir reden, traute Adele, als ich dieſes neue Blatt anfing, ſondern von meinem Eintritt in das Le - ben, und wie ich das wurde, was ich bin.

Meinen17

Meinen Vater haſt Du gekannt, den ſchoͤ - nen, herrlichen Mann. Du erinnerſt Dich noch ſeines hohen maͤnnlichen Wuchſes, ſeiner ſtol - zen Stirn, ſeiner Adlernaſe, der ſanften gro - ßen blauen Augen, des freundlichen Mundes. Du weißt noch, wie ernſt und feſt, wie wild und freundlich er zu gleicher Zeit war. Als juͤngerer Sohn des Ritters von Montorin, fuͤr die Rechtsgelehrſamkeit beſtimmt, ſtudierte er auf dem Kollegium zu Aix als der Freiheits - kampf in Amerika alle Herzen der europaͤiſchen Jugend in Bewegung ſetzte. Sein aͤlterer Bru - der, ſchon fruͤher im Militaͤr angeſtellt, wußte es dahin zu bringen, daß er zu einem Regimente verſetzt wurde, welches, im Laufe des Krieges, zur Verſtaͤrkung der franzoͤſiſchen Huͤlfstruppen ein - geſchifft werden ſollte. Lange hatte ſich ein Oheim, deſſen Erbe er war, dieſem Wunſche auf das lebhafteſte wiederſetzt. Der jugendliche Enthuſiasmus ſiegte. Vor ſeiner Einſchiffung muͤnſchte der aͤltere den juͤngern Bruder noch zu ſehen, und nahm einen kleinen Umweg uͤber Aix. Hier ergriff nun meinen Vater das un - widerſtehliche Verlangen, den geliebten BruderErſter Theil. [2]18in dieſen ehrenvollen Kampf zu begleiten. Plu - tarch und Xenophon hatten den kaum erſt ſech - zehnjaͤhrigen Juͤngling zum Manne gereift. Er raffte zuſammen, was ſich ohne Aufſehen fort - bringen ließ, und folgte heimlich dem Bruder, um als Freiwilliger den Feldzug mit zu machen. Sie erreichten gluͤcklich den Hafen von Mar - ſeille, wo die Flotte bereit lag, ſie aufzuneh - men. Mit leichtem Herzen verließen ſie Frank - reich. Dieſelben Wellen, die immer hin und wieder kehren, auf deren Ruͤcken unſer Wa - ſhington dahin tanzt, dieſelben trugen ſie froͤh - lich zu dem erſehnten Ziele.

Mit hochklopfendem Buſen landeten die Juͤng - linge, und begannen den Kampf gegen die Macht des ſtolzen Englands. Drei Jahre fochten ſie neben einander, mit wechſelndem Gluͤcke, doch umſchwebte meiſtens der Sieg ihre Fahnen. Jhre Heldenherzen riſſen ſie zu jeder ſchwieri - gen Unternehmung voran. Wo die Gefahr war, fochten die Bruͤder. Bei Eutav wankte das Bataillon, welches der aͤltere als Oberſt kommandirte, auf einen Augenblick. Ein moͤr - deriſches Kartaͤtſchenfeuer der Englaͤnder trennte19 die Glieder; da entriß mein Oheim dem wei - chenden Faͤhnrich das Panier: Wer mich liebt und die Ehre, rief er der folge mir! Freiheit und Sieg! Freiheit und Sieg! Mit dieſen Worten ſtuͤrmte er im raſchen Laufe ge - gen die feindliche Batterie vor. Freiheit und Sieg! rief mein Vater; Freiheit, Sieg und unſer Oberſt! toͤnte es durch alle Glieder. Man ſtuͤrmte ihm nach. Die Batterie war genom - men, aber toͤdlich verwundet erreichte mein edler Oheim das Ziel ſeiner Anſtrengung. Ein Schuß in die Bruſt hatte ihn ſchon im halben Laufe getroffen. Er hielt die linke Hand feſt auf die Wunde gedruͤckt, um das fließende Blut noch einige Augenblicke aufzuhalten, pflanzte mit bebender Rechte die flatternde Fahne neben dem feindlichen Geſchuͤtz auf, und ſank dann ſterbend nieder. Mein Wunſch iſt erfuͤllt, ſagte er mit ſchwacher Stimme, der Sieg iſt unſer. Freiheit und Menſchenrechte habe ich dieſem dereinſt gluͤcklichem Lande erkaͤmpfen hel - fen. Weine nicht, mein Bruder, weinet nicht, Kameraden, ich ſterbe den ſchoͤnſten Tod. Mit dieſen Worten hauchte der jugendliche Held in*20den Armen des Bruders ſeine große Seele aus. Nur ein einfacher, kleiner Huͤgel konnte uͤber ſeine irdiſchen Reſte errichtet werden, aber ſein Pantheon iſt der Ort, wo er fiel, und mit heiliger Ehrfurcht, wie die Spartanerinn zu dem Paſſe von Ther - mopylaͤ, werde ich dahin wallen. Er kaͤmpfte nicht den zweideutigen Kampf fuͤr Land und Beſitzthum, er focht fuͤr fremdes Gluͤck, fuͤr die Menſchheit, fuͤr den Gott im Buſen. Jn den Jahren des Genuſſes, ließ er ein glaͤnzen - des Loos daheim, und hohe Erwartungen; trug in Wuͤſten alle Beſchwerden und Muͤhſeligkei - ten des Krieges, um fuͤr ein fremdes gedruͤck - tes Volk zu kaͤmpfen. Jndem ich mir ihn ſo vergegenwaͤrtige, fuͤhle ich, was Ahnenſtolz iſt, und wie er entſpringt. Ja, ich bin ſtolz auf ihn, auf den edlen nicht auf den adeligen Menſchen. Urſpruͤnglich waren beide Worte nur eins. Wehe! daß man in der Folge Zei - chen und Sache trennen mußte.

Nach dem Frieden kehrte mein Vater nach Frankreich zuruͤck. Er fand den alten Herzog, ſeinen Oheim, tief gebeugt, uͤber den Verluſt ſeines Lieblings, wurde aber, als nunmehriger21 Erbe, mit allen Zeichen der Werthſchaͤtzung em - pfangen, bei Hofe vorgeſtellt, bewundert und mit Schmeicheleten uͤberhaͤuft. Die Frauen fanden ihn unbeſchreiblich ſchoͤn, den Maͤnnern gebot er Ehrfurcht, ein Theil der juͤngern, nicht ſehr be - guͤnſtigten, ſchloß ſich mit Begeiſternng an ihn an. Der Oheim that zweckmaͤßige Schritte, und er - hielt die ſehr nahe Ausſicht zu einer anſehnlichen Hofbedienung fuͤr ihn. Mein Vater liebte aber den Hof nicht, ſo wenig man auch hinter ſei - nem gefaͤlligen, zarten Benehmen, welches der Abdruck ſeines menſchenfreundlichen Herzens war, ſeine Abneigung ahndete. Der Oheim war hoͤchſt unangenehm uͤberraſcht, als ihm mein Vater mit Feſtigkeit erklaͤrte, er werde ſich niemahls an den Hof feſſeln. Nun beſtand der Oheim darauf, ihm ein Regiement zu kaufen. Mein Vater unterdruͤckte die Aeußerungen ſeiner Ge - danken uͤber dieſes unrechtmaͤßige Verfahren, und weigerte ſich gleichfalls, ſcheinbar aus dem Grunde, weil er den Soldatenſtand nicht liebe. Man fand dieſe Abneigung hoͤchſt ungereimt an einem jungen Helden, der nur eben mit fri - ſchen Lorbern heimgekehrt war. Mein Vater aber22 erwiederte, es ſey ganz ein anderes fuͤr Frei - heit und Menſchenrecht in den Kampf zu ziehn, als auf Paraden zu glaͤnzen, und, als Soͤld - ling, voͤllig fremden Zwecken zu dienen. Man verſtand einander faſt gar nicht. Der Neffe wuͤnſchte, zu ſeinen Studien zuruͤck zu kehren, und mit ſeinen geliebten Griechen und Roͤmern zu leben; der Oheim nannte dieß Pedanterie und Verkehrtheit, wodurch er eben fuͤr die hoͤ - here Welt und ſeine glaͤnzenden Entwuͤrfe ver - dorben worden, und dem feinern Leben immer mehr entfremdet wuͤrde. Die Spannung ſtieg zwiſchen Beiden, ſo ſehr mein Vater ſich auch Muͤhe gab, durch kindliche Zuvorkommenheit, dieſe Unzufriedenheit zu bekaͤmpfen. Endlich erhielt mein Vater die Einwilligung, auf einige Zeit, ein kleines Gut in der Provence beſuchen zu duͤrfen, welches er von ſeiner Mutter geerbt, und ſeit ſeiner erſten Kindheit nicht geſehen hatte. Er verließ in den erſten Fruͤhlingsta - gen das geraͤuſchvolle Paris, wie der Vogel den Kaͤfich. Er hatte dort wohl Freunde ge - funden, aber die Luft, welche ſie gemeinſchaft - lich umfangen hielt, war ſo ſchwuͤhl, daß ſie das23 freie Aufathmen gar ſehr erſchwerte. Jetzt ſog er wieder die junge Bruſt voll friſcher Lebens - luſt und frohen Muth.

Du haſt Chaumerive geſehen, am noͤrdlichen Ufer der Durance, dieſen ſchoͤnen Schauplatz meiner frohen Jugend. Gewiß gedenkſt Du noch des blumigen Thales, das ſich, mit Reben - huͤgel umkraͤnzt, laͤngs den Ufern dahin zieht. Vor allen aber des dunklen Fluſſes, der vor unſrer Wohnung ſtroͤmt, von zahlloſen Fiſcher - barken bedeckt; denn gewiß iſt Dir die kuͤhne Wallfarth noch im Gedaͤchtniß, welche wir beide eines Nachmittags, auf ſeinem gruͤnen Uferwall unternahmen, um ſeinen Ausfluß in die Rhone zu ſehn. Wir gelangten dahin; aber ſchon be - gann die Sonne zu ſinken, als wir, gefeſſelt von dem großen Schauſpiel, an die Ruͤckkehr dachten, wo Dir dann Dunkelheit und Ermuͤ - dung manche Thraͤne auspreßten. Hierher be - gab ſich mein Vater. Freilich war es damals bei weiten nicht ſo reizend, als Du es gefun - den. Seit laͤnger als zwoͤlf Jahren von dem24 Beſitzer vernachlaͤſſigt, waren die Gebaͤude ver - fallen, die Gaͤrten verwildert, die Felder und Weinberge nur fuͤr den augenblicklichen Nutzen beſtellt. Mangel und Schmutz blickten aus den einzelnen Huͤtten hervor, und blaßgelbe Geſtal - ten, in Lumpen gehuͤllt, verrichteten traͤge die noͤthigen Frohnarbeiten. Doch die Natur war gleich uͤppig. Die wilde Durance tanzte eben ſo trotzig daher. Die dunkeln Oliven ſchattir - ten eben ſo anmuthig mit der friſchen Zitrone, und Tymian und Lawendel dufteten ſelbſt von oͤden Triften.

Es bedurfte nur feſten Willen, Einſicht und Geſchmack, um mit geringen Aufopferungen ein Paradies zu ſchaffen, welches ſpaͤterhin jedes Auge entzuͤckte. Mein Vater hatte ſchon im Augenblicke der Ankunft ſeinen Entſchluß ge - faßt. Er entließ den reich gewordenen Paͤch - ter, mit einer angemeſſenen Verguͤtung, ver - theilte den groͤßten Theil des Ackers unter ſeine Bauern, gegen eine jaͤhrliche geringe, von ihnen ſelbſt beſtimmte Pacht, und hob alle Zeichen der Dienſtbarkeit auf. Er ſtellte ſich den erſtaun - ten Menſchen, nur als ihren Freund und Rath -25 geber dar, und gewann alle Herzen. Jeder - mann griff muthig zur Arbeit, und die entwor - fene Verbeſſerung ruͤckte mit Rieſenſchritten vor. Der Weinbau wurde ganz auf die Huͤgel be - ſchraͤnkt, dort aber um ſo ſorgfaͤltiger betrieben. Es wurden fuͤr die Kelter nur gleichzeitig rei - fende Gewaͤchſe von verwandten Eigenſchaften gepflanzt. Der Oelbaum wurde nur ſparſam zwiſchen den Reben geduldet, und bekraͤnzte meiſt nur den Ruͤcken der Hoͤhen und die noͤrdliche Seite. Die Ebenen wurden mit Wei - zen beſaͤet, und ſorgfaͤltig von den ſchattenden Baͤumen und dem wuchernden Geſtraͤuche gerei - nigt. Die ſumpfigen Wieſen und Triften, laͤngs dem Fluſſe, wurden durch zweckmaͤßige Graͤben trocken gelegt und, durch Ausrottungen ein ſehr großer Theil Acker fuͤr den faſt unbekannten Kartoffelbau gewonnen. Auf dem magerſten Theil des Landes wurden Maulbeer-Pflanzungen angelegt, und Pommeranzen, Zitronen und alle uͤbrigen Obſtarten in den Gaͤrten mit großer Sorgfalt gezogen. So wurde durch kluge Son - derung dieſes mannigfaltigen, ſonſt durch ein - ander geworfenen Anbaues derſelben Grund -26 flaͤche, ein zehnfacher Ertrag abgewonnen. Ueppig wallte der goldne Weizen, wo ihn ſonſt der Maulbeerbaum und das Geſtraͤuch erſtickte, und der freie Weinſtock lieferte den koͤſtlichſten Wein. Die entwaͤſſerten Triften naͤhrten zahlreiche und kraͤftige Herden, wo ſonſt nur einige magere Kuͤhe des Paͤchters weideten. Jetzt nahm der Landmann, durch Vorſchuͤſſe meines Vaters un - terſtuͤtzt, an allen Theil, und Wohlſtand kehrte in ſeine reinliche Huͤtte zuruͤck, Geſundheit und Kraft ſprach ſich in ſeiner regſamen Geſtalt aus, und jene liebenswuͤrdige Froͤhlichkeit, welche den guten Provenzalen ſo eigenthuͤmlich iſt. O, wie wurde aber auch mein Vater von ſei - nen treuen Unterthanen geliebt! Seine Aus - ſpruͤche waren Orakel, ſeine Felder und Berge wurden am beſten bearbeitet, ſeine Bauten un - glaublich ſchnell ausgefuͤhrt, und bei den Aus - zahlungen entſtand nur Streit daruͤber, daß er zu viel geben, und der Arbeiter zu wenig nehmen wollte.

Welche hohe Zinſen trugen die kleinen, anfangs gemachten Aufopferungen! Wie wur - de ihm ſeine Leutſeligkeit in der Folge mit27 Wucher vergolten! Wie ruͤhrend aber war es auch, den edlen Mann im Kreiſe ſeiner Unter - thanen zu erblicken. Doch liebte er dieſe Be - nennung nicht; er nannte ſie nur ſeine Freunde. Jch bin aͤrmer als ſie, pflegte er zu ſagen, ich bedarf ihrer Huͤlfe mehr, als ſie der mei - nigen, denn ich bin weniger abgehaͤrtet, und mir ſind ſo viele Beduͤrfniſſe anerzogen, deren Entbehrung ſie gar nicht gewahr werden. Der fein gebildete Mann, deſſen geiſtreiche Unter - haltung von Hoͤflingen bewundert wurde, war mit dieſen Kindern der Natur ſo einfach als ſie. Er ſtimmte ſeine Begriffe zu den ihrigen herab, um dieſe zu lenken, legte oft geſel - lig Hand an bei ihren Arbeiten, miſchte ſich in ihre Spiele, und erfreute ſich herzlich bei ihren froͤhlichen Scherzen. Bei jedem trau - rigen, ja nur ruͤhrenden, Anlaß fuͤllte ſich au - genblicklich ſein blaues Auge mit Thraͤnen, welche er jedoch ſorgfaͤltig zu verbergen ſuchte. Er half, wo er konnte, und troͤſtete, wo keine Huͤlfe war. So trat er wie ein Halbgott unter dieſe gedruͤckten, vernachlaͤſſigten Menſchen und ein neuer Morgen brach an fuͤr dieſes kleine freund -28 liche Thal. Dem Vater ſelbſt ſchien ein ſchoͤ - nerer Lebensmorgen aufgegangen. Jm lieblich - ſten Wechſel flogen die Tage, flogen Sommer und Herbſt dahin. Die Muſen beſuchten ihn am winterlichen Kamine, deſſen Geſimſe es nie an friſchen Blumen gebrach. Hier ahmte er denn oft Anakreons Lieder nach beim ſchaͤu - menden Becher voll ſuͤßen, feurigen Moſtes, oͤfter noch die heimiſchen Geſaͤnge der alten Trouba - dours. So durch Einſamkeit und Dichtkunſt zur Liebe vorbereitet, fanden ihn die erſten entzuͤk - kenden Tage des neuen Fruͤhlings. Man hatte in Paris vergebens auf ſeine Ruͤckkunft gewar - tet, der Herzog hatte vergebens ſchriftlich dar - auf gedrungen; mein, ſich zu gluͤcklich fuͤhlen - der Vater, hatte immer aus zu weichen gewußt, indem er ſeine Gegenwart als nothwendig zur Vollendung der begonnenen Bauten darſtellte. Dieſe ſchilderte er ſo pomphaft, daß der Her - zog, von Ehrgeitz ergriffen, unaufgefordert große Summen uͤberſchickte, damit Provence und Languedoc von der Pracht ſeines Hau - ſes reden moͤchten. Wie weit aber war das, was mein Vater ausfuͤhrte, von dieſen ſtolzen29 Anſichten entfernt! Zwar hoͤchſt geſchmackvoll wa - ren die neuen Schoͤpfungen, aber auch eben ſo einfach; die Wohnung, von maͤßiger Groͤße, war nur fuͤr eine haͤuslich gluͤckliche Familie berechnet, in den Gaͤrten Schoͤnheit mit Nuͤtzlichkeit ge - paart. Die erſparten Summen kamen ihm gut zu Statten, ſeinen laͤndlichen Freunden auf zu helfen, und ſeinem neuen Wirthſchaftſyſteme Schwung zu geben. Gegen das Ende des Kar - navals hatten ſeine Pariſer Freunde beſtimmt auf ſeine Gegenwart gerechnet, und ihm vielfaͤltig ihre Erfindungen fuͤr die letzten Maskenbaͤlle mitgetheilt, woran er theilnehmen ſollte. Er lehnte ihre Einladungen ab; doch veranlaßten ſie ihn zu dem Einfall, zum Faſtnachtabend nach Aix zu reiſen, um der dortigen Maskera - de beizuwohnen. Mit innigem Vergnuͤgen be - trat er dieſe Stadt wieder, wo ſein Geiſt die erſte Nahrung erhalten, und wo noch ſo viele ſeiner Jugendgeſpielen lebten. Mancher von ihnen, der ſonſt mit ihm in einer Klaſſe ge - wetteifert hatte, riß jetzt auf der Redner - buͤhne des Parlements durch ſeine feurige Beredtſamkeit hin. Einer derſelben ich nenne30 ihn bei ſeinem Vornamen Victor der Sohn eines Kaufmannes, jetzt Parlaments-Advokat, ein feuriger, unternehmender Kopf, deſſen Herz fuͤr alles Große ſchlug, und der, mit Auf - opferung ſeiner ſelbſt, fuͤr das Recht kaͤmpfte, war außer ſich vor Freuden, ſeinen Leo wieder zu ſehn, und lud ihn, fuͤr die Nacht, in das Haus ſeines Vaters ein. Zuvor wollten ſich beide Freunde noch auf dem Orbitello treffen, und ſich des Maskengetuͤmmels freuen. Luſt und Leben empfing meinen Vater auf dieſem ent - zuͤckenden Corſo, mit welchem ſich kaum die Bou - levards von Paris meſſen koͤnnen. Die Baͤu - me bluͤhten, die Fontainen ſprangen, und bei jedem Schritt umringten ihn huͤpfende kleine Maͤdchen, reichten ihm duftende Straͤuße und baten um Zuckerwerk fuͤr die Schwalbe. Er ging froͤhlich auf dieſe alt griechiſche Luſt ein, und fuͤllte und leerte unaufhoͤrlich ſeine Taſchen fuͤr dieſe lieblichen kleinen Geſchoͤpfe. So ge - langte er zur mittleren Fontaine, wo er ſchon in der Entfernung ſeinen Freund erkannte, an ſeinem Arme hing ein Maͤdchen in der Tracht der Baͤuerinnen von Arles, dieſer faſt griechi -31 ſchen Kleidung, welche ſo ſchoͤn ſteht. Das kurze Unterkleid war aus blasrother Seide, und das Drolet oder Oberkleid aus dunkelgruͤnem Sam - met, um die dunklen Locken wand ſich ein Tuch in gleicher Farbe mit Gold durchwirkt. Schuh - ſchnallen und Armſpangen waren mit den ſchoͤn - ſten Edelſteinen beſetzt, und um den blendend wei - ßen Hals hingen blaßrothe Korallen. So erſchien dieſe Nymphengeſtalt zum erſten Male den ent - zuͤckten Augen meines Vaters. Sie ward meine Mutter! Du verzeihſt mir gewiß, daß ich bei dieſer Veranlaſſung etwas umſtaͤndlicher er - zaͤhle, als es wohl noͤthig iſt. Dieſer Moment entſchied ja uͤber das Leben zweier mir ſo un - endlich theuern Perſonen, und uͤber mein Da - ſeyn. Mein Vater war als Troubadour geklei - det, und Victor ſtellte ihm ſeiner Schweſter vor. Der Eindruck, den beide auf einander machten, war uͤberraſchend, und als man ſich in der Morgenfruͤhe trennte, waren beide von dem Gefuͤhl durchdrungen, daß Leben ohne einander Tod ſey!

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Die Liebe, dieſe Bluͤthenzeit des Lebens, dieſer Silberblick auf ſeines Stromes Wellen iſt nirgend maͤchtiger, als unter dem ſchoͤnen proven - zaliſchen Himmel, dem Vaterlande der Lieder. Hier nur vereinigt ſie Feuer und Zartheit in gleichem Maße, hier nur iſt ſie die einzige große Angelegenheit des Lebens. Auch meine Aeltern fuͤhlten ſie, vom erſten Augenblick, als ſolche. Leo athmete nur fuͤr ſeine Klara, und Klara dachte nur ihn. Victor war hoch erfreut uͤber das Buͤndniß zweier ihm ſo theuren Weſen, und ſeine ſiegende Beredtſamkeit riß den Vater mit ſich fort, der wohl anfangs etwas von Standesunterſchied bemerkte. Der Zeitgeiſt ent - faltete ſchon ſeine Schwingen, und fand beſon - ders in den beiden Freunden begeiſterte Herolde. Sie hatten fruͤher nur in der idealen Welt der Alten gelebt, und ſich von je Abkoͤmmlinge alt - griechiſcher Kolonien getraͤumt. Leo hatte in Amerika den Standesunterſchied, welcher ſei - nem ſanften Herzen niemahls zugeſagt, als un - bedeutend anſehen lernen, und Victors ſtolzes Selbſtgefuͤhl wurde davon beleidigt. So ſtand der Verlobung der beiden Liebenden kein Hin -derniß33derniß weiter im Wege, und Leo eilte auf Fluͤgeln der Liebe nach Chaumerive, um die noͤ - thigen Anſtalten zum Empfange ſeiner jungen Gattinn zu treffen. Er ſchrieb ſeinem Oheime mit aller kindlichen Zaͤrtlichkeit eines Sohnes und dem Entzuͤcken eines gluͤcklichen Braͤuti - gams, und bat um ſeinen Segen. Er ſaͤhe, fuͤr den ſchlimmſten Fall, wohl einer Unzufrieden - heit, einer Mißbilligung des ſtolzen Herzogs ent - gegen, doch hielt er dieſes fuͤr kein Hinderniß ſeines Gluͤcks, da er die Volljaͤhrigkeit erreicht hatte, und Chaumerive ſein unbeſtrittenes Ei - genthum war. Mochte doch der Herzog ihm die Erbſchaft ſeines Namens und ſeiner Guͤter entziehen, ſie waren niemals das Ziel ſeiner Wuͤnſche geweſen. Wie befremdet aber war er, als ihm ein Kourier die Antwort des Her - zogs uͤberbrachte, der ihn im ungemeſſenſten Zorn einen Niedertraͤchtigen nannte, der die Ehre ſeines Hauſes beſchimpfe, ihm befahl, ſo - gleich dieſe entehrende Verbindung fuͤr immer auf zu geben, und ſich zu ihm nach Paris zu verfuͤgen. Mein Vater war empoͤrt uͤber die - ſen Befehl. Er fuͤhlte ſich Mann, und wardErſter Theil. [3]34wie ein Knabe geſcholten. Daß er dieß nicht ſey, beſchloß er zu zeigen. Er reiſte ungeſaͤumt nach Aix, und beſchleunigte die Anſtalten zu ſeiner Vermaͤhlung. Er fuͤhlte zu zart, um ſeiner Clara und ihrer Familie, durch Mitthei - lung des erhaltenen Schreibens, truͤbe Stunden zu verurſachen. Er gedachte Claren kuͤnftig nach und nach mit der Spannung oder dem Bruche zwiſchen ihm und dem Oheime bekannt zu machen, da er annahm, ſie werde davon, bei dieſer Entfernung von Paris, in ihrem kleinen Paradieſe wohl nicht beruͤhrt werden. Am Ende ſieht der Oheim auch wohl die Sache, wenn ſie geſchehen, anders an, dachte er, als jetzt, wo er ſie noch zu hintertreiben hofft, und ſo uͤberließ ſich der gluͤckliche Leo, ohne Sorge, der Seligkeit ſeines neuen Standes. Wenig Tage nach der Vermaͤhlung, fuͤhrte er die geliebte Clara in ſeine Heimath. Die Bewohner von Chaumerive empfingen ihre ſchoͤne Frau, wie ſie ſie nannten, gleich einer Koͤniginn, und die freundliche Clara beſaß ſchon in den erſten Ta - gen alle Herzen, eben ſo unumſchraͤnkt, als ihr Leo. Du haſt, meine geliebte Freundinn,35 noch nach vielen Jahren geſehen, wie dieſes edle Paar geliebt wurde. Jeder Tag erhoͤhte ihr Gluͤck, denn an jedem Tage entdeckte einer an dem andern mehr liebenswuͤrdige Eigen - ſchaften. Schoͤne, ſelige Zeit! die nur zu bald endete, und nie in dieſer Reinheit wiederkehrte.

Kaum waren einige Monde, wie eben ſo viel gluͤckliche Augenblicke geſchwunden, als in einer rauhen Novembernacht ein ſtarkes Ge - raͤuſch meinen Vater aus den Armen ſeiner Gattinn aufſchreckte. Fackeln erleuchteten den Hof, er ſieht im Schein derſelben einen ver - ſchloſſenen Wagen halten, und in demſelben Augenblick treten Polizeibeamte zu ihm ein. Man zeigt ihm eine Lettre de cachet vor, und bemaͤchtigt ſich ſeiner Perſon. Kaum ver - goͤnnte man dem uͤberraſchten Ungluͤcklichen Zeit ſeine Lippen noch ein Mahl auf den Mund ſei - ner ohnmaͤchtigen Gattinn zu druͤcken. Man reißt ihn mit Raͤubereile hinunter. Am Wa - gen haben ſich einige wenige ſeiner erwachten Leute geſammelt. Sie wollen den geliebten*36Herrn mit ihrem letzten Blutstropfen verthei - digen; man donnert ſie im Namen des Koͤ - nigs zuruͤck, der Wagen wird verſchloſſen, und dahin rollt er unaufhaltſam der furchtbaren Ba - ſtille zu. Mein Vater, mein armer betaͤubter Vater allein, und fuͤr den Augenblick ohne Aus - ſicht auf Rettung. Aber er hatte eine maͤnn - liche Seele, und dieſe verzweifelt nie. Der Mann wagt auch den mißlichſten Kampf mit dem Schickſal, und gibt die Hoffnung des Sieges nur mit dem letzten Lebensfunken auf. Wer vermoͤchte aber wohl die Verzweiflung ſeiner ungluͤcklichen Klara zu ſchildern, als ſie von ihrer tiefen Ohnmacht erwachte! Noch nach ſpaͤten Jahren gerieth ſie außer ſich, wenn ſie von dieſer fuͤrchterlichen Nacht ſprach. Sie umklammerte dann unwillkuͤhrlich meinen Vater mit krampfhafter Staͤrke, als fuͤrchte ſie, ihn aufs neue zu verlieren, und Thraͤ - nen und Kuͤſſe uͤberſtroͤmten ſein Geſicht. Damals fehlte der Ungluͤcklichen ſogar die Wohlthat der Thraͤnen. Stumm, gleich ei - nem Marmorbilde, ſaß ſie da. Jhre Kam - merfrau handelte an ihrer Statt, und ſandte37 einen treuen Bothen zu Pferde nach Aix. Vic - tor ſchaͤumte vor Wuth, er uͤberſah mit einem Blick den ganzen Zuſammenhang, und zugleich fuͤhlte er in ſeinem Buſen Kraft zu helfen, und ſelbſt mit den Machthabern in die Schranken zu treten. Er verſah ſich mit Geld und Wech - ſeln, nahm Kourierpferde, und flog zu ſeiner an - gebeteten Schweſter. Hier erſchien er, wie ein rettender Engel. An ſeiner hohen Kraft rich - tete ſich die Troſtloſe muͤhſam auf. Er hauchte ihr einen Theil ſeiner Hoffnung ein, und be - gab ſich ungeſaͤumt mit ihr nach Paris.

Jede zuruͤckgelegte Station belebte den Muth der ungluͤcklichen Frau, ſie kam ja dem Gelieb - ten naͤher, und ſchon allein in den Ringmauern derſelben Stadt mit ihm zu leben, ſchien ihr ein Gluͤck gegen jene ſchreckliche Entfernung. Victor hoffte noch zuverſichtlicher. Die Nota - blen waren verſammelt, alle Deputierte ſeiner Provinz waren ihm bekannt und befreundet, er durfte auf ihre kraͤftigſte Unterſtuͤtzung rechnen. Seine Angelegenheit ſchien ihm die Sache der ganzen Menſchheit; wie konnte man ihm Ge - rechtigkeit verſagen? Jn dieſer Stimmung kam38 das Geſchwiſterpaar in Paris an. Klara ver - langte durchaus in einem Gaſthofe, der Ba - ſtille ſo nahe als moͤglich, zu wohnen, denn es ſchien ihr unbezweifelt gewiß, daß ihr Gemahl ſich in derſelben befinde. Victor fand es frei - lich ſehr moͤglich, daß er nach einem anderen, weit entfernten, feſten Schloſſe gebracht worden ſey; doch widerſprach er der Trauernden nicht, und gewaͤhrte ihr gern den ſchwachen Troſt. Er ſelbſt fing ſeine Nachforſchungen mit raſtloſem Eifer an. Er ſprach mit ſeinen Freunden, ging nach Verſaille, um den Grafen von Mirabeau, einen alten Freund ſeines Hauſes, auf zu ſu - chen. Ueberall fand er die herzlichſte Theilnahme und den beſten Willen zu helfen; doch war die Sache ſo leicht nicht, als er gewaͤhnt. Alles kam darauf an, zu erfahren, wohin der Gefangene ge - bracht worden, und hieruͤber gelangte man durch - aus nicht zur Gewißheit. Zwar hatte man von Chaumerive den Weg nach Paris genommen, ſo viel hatte man in der Nachtbarſchaft erfahren; ob man aber nicht ſpaͤterhin dieſe Straße ver - laſſen, wer konnte das verbuͤrgen? Der Herzog, welcher am erſten Auskunft zu geben vermochte,39 war faſt unzugaͤnglich. Er weigerte ſich durch - aus Victor zu ſehen, ließ ihn jederzeit abweiſen, ſo oft er auch die Verſuche, ihn zu ſprechen, er - neuerte. Nicht gluͤcklicher waren die Bemuͤhungen derer, welche ihr Rang in ſeine Zirkel fuͤhrte. Der alte Hofmann ſtellte ſich voͤllig unwiſ - ſend. Nach vielen mißlungenen Schritten brachte es Mirabeau dahin, daß Victor eine geheime Audienz beim Koͤnige erhielt. Der Monarch ſchien zwar geruͤhrt bei der lebhaften Schilde - rung des jungen Mannes, doch meinte er, man muͤſſe die Anſichten eines herzoglichen Hauſes auch beruͤckſichtigen, deſſen Haupt einer ſeiner aͤlteſten und treuſten Diener ſey. Alles, was man zuletzt erhielt, war ein Befehl an den Gouverneur der Baſtille, daß, wenn ſich ein Gefangener dieſes Namens in ſeinem Gewahr - ſam befinde, dieſem, unter gehoͤriger Vorſicht, eine Zuſammenkunft mit ſeiner Gattinn und ſei - nem Schwager zu geſtatten. Mit dieſem theu - ren Papier eilten die Hoffnungsvollen in die finſtern Mauern. Klarens Herz ſchlug laut vor ungeſtuͤmer Freude. Aber o Schrecken! dem Gouverneur war dieſer Name gaͤnzlich unbe -40 kannt. Er ſchlug nach vielen Weigerungen die Regiſter vom Monat November auf, doch ver - gebens. Victor entdeckte zwar, bei einer raſchen Wendung, daß um dieſe Zeit ein junger Mann eingebracht worden, aber Name und Wohnort trafen nicht zu. Klara verlangte, voll ahnden - den Gefuͤhls, dieſen Unbekannten zu ſehen, aber der Gouverneur ſchlug es mit Feſtigkeit ab. Der Befehl laute nur auf eine beſtimmte Per - ſon, alles uͤbrige ſey gegen ſeine Pflicht. Hart von Natur, und mehr noch durch Gewohnheit, weigerte er ſich auch nur die mindeſte Auskunft uͤber dieſen Unbekannten zu geben. So verließ man dieſen Ort des Schreckens voͤllig unver - richteter Sache. Klara mit der feſten Ueber - zeugung, der Unbekannte ſei ihr Gemahl, Vic - tor zweifelhaft. Neue Verſuche, neue Hinder - niſſe. Dem Koͤnige war ſchwieriger beizukom - men. Er hielt es fuͤr unmoͤglich, daß Jemand unter fremden Namen gefangen ſaͤße, und ver - weigerte eine Erlaubniß, dieſen Fremden zu ſehn, weil Staatsgeheimniſſe dabei gefaͤhrdet werden koͤnnten. Am Ende gab er einen aͤhnlichen Be - fehl fuͤr St. Vicenz, und die Geſchwiſter rei -41 ſeten dahin, obwohl Klara keinen Erfolg davon hoffte. Die Nachforſchungen waren wieder ver - geblich. So ging der Winter, und der groͤßte Theil des Fruͤhlings voruͤber. Meine arme Mutter ruͤckte ihrer Entbindung immer naͤher, und verſank immer tiefer in Gram. Jhre einzige Erholung war, auf dem Platze vor der Baſtille auf und nieder zu gehn, und die duͤſtern Mauern an zu blicken, die ihr Alles umſchloſſen. Jhr Bruder konnte ſie zu keinem andern Spaziergange mehr bereden. Man kannte ſie hier ſchon, und nannte ſie nur die ſchoͤne Trauernde; Jedermann betrachtete ſie mit Theil - nahme. Jhr Bruder traf jetzt nur auf lebhaft beſchaͤftigte und bewegte Gemuͤther; die Span - nung zwiſchen den Notablen und dem Hofe ſtieg aufs hoͤchſte, und die Gaͤhrung war allgemein, in ihr ging alles Einzelne unter. Auch Victor, ob er gleich das Schickſal ſeines Freundes nie aus den Augen verlor, warf ſich doch mit Feuer in die oͤffentlichen Angelegenheiten. Jhm war klar, daß eine große Umwaͤlzung der Dinge unvermeidlich und nothwendig ſey. Die Hoffnung fuͤr ſeinen Leo knuͤpfte er an das all -42 gemeine Wohl, und raſtloſer als einer arbeitete er, an der neuen Organiſation.

So kam der Julius heran, dieſer ſo oft beſchriebene, und in der Weltgeſchichte ewig merkwuͤrdige Monat. Meine Mutter wurde von all dem Treiben um ſie her, nur ſehr we - nig gewahr, ihr tiefer Kummer machte ſie un - empfaͤnglich fuͤr die Außenwelt. Sie hoͤrte es kaum, wenn man ſie bedauerte, und Voruͤber - gehende ſie laut ein Opfer der Tyrannei nann - ten. Tief in ſich gekehrt ging ſie auch am 14ten Julius Mittags auf ihrem gewoͤhnlichen Spaziergange auf und nieder, und es dauerte lange, ehe das Herbeiſtroͤmen einer zahlloſen Volksmenge ſie aufmerkſam machte. Man um - ringt ſie, Weiber und Maͤdchen umwinden ſie mit dreifarbigen Baͤndern auch Du ſollſt ge - raͤcht werden! rufen ſie. Das Getuͤmmel nimmt zu. Von allen Seiten das Geſchrei: Nieder mit der Baſtille, nieder! Kanonen werden aufgepflanzt, die Thuͤrme vom Zeughauſe und vom Garten werden eingeſtoßen, Loͤcher in die43 Mauern gebrochen. Meine Mutter faͤngt an zu begreifen, was vorgeht, ſie zittert vor Schreck und Freude, ſie ſinkt auf die Knie und ſtreckt die Arme nach dem fuͤrchterlichen Gefaͤngniſſe aus; die Sinne vergehen ihr, die mitleidigen Umſtehenden ſind kaum im Stande ſie gegen den gewaltſamen Andrang der Menge auf einige Augenblicke zu ſchuͤtzen. Da arbeitet ſich Vic - tor durch das dichteſte Gedraͤnge, faßt ſeine ohnmaͤchtige Schweſter in ſeine Arme, draͤngt ſich mit Rieſenkraft ruͤckwaͤrts, und traͤgt ſie in ihre Wohnung zuruͤck. Sie ſchlaͤgt die Augen auf, aber in demſelben Momente ſtellen ſich auch heftige unbekannte Schmerzen ein, alles verkuͤndigt eine beſchleunigte Entbindung. Vic - tor ruft um Huͤlfe, er uͤbergibt ſie der Sorg - falt der Frauen, ſpricht ihr Muth ein und ſelige Hoffnung, und eilt zuruͤck, wohin Begei - ſterung und Pflicht ihn rufen. Er legt mit der Staͤrke eines Raſenden Hand an, er iſt der Zweite in der Breche. Wuͤthend packt er ei - nen der Jnvaliden, er muß ihm die Eingaͤnge zu den Gefaͤngniſſen zeigen, und ohne auf die uͤbrigen Ereigniſſe zu achten, iſt ſein einziges44 Streben, die Thuͤren dieſer hoͤlliſchen Behaͤl - ter zu oͤffnen. Werkzeuge ſind ſchnell gefunden, auch huͤlfreiche Arme in Menge. Man befreit eine ziemliche Anzahl der ungluͤcklichen Schlacht - opfer tyranniſcher Willkuͤhr, doch findet ſich kein Leo. Endlich weicht eine beſonders ſtark befe - ſtigte Thuͤr, und mein Vater ſtuͤrzt dem freude - ſchwindelnden Victor in die Arme. Freiheit iſt das erſte Wort, welches aus beider Bruſt ſich hervordraͤngt, das zweite Klara! Lebt ſie? ruft mein Vater. Sie iſt hier! ſchreit mein Oheim! und ſo machen ſich Beide, feſt umſchlungen, un - aufhaltſam Bahn durch die theilnehmende Menge. Sie erreichen faſt athemlos Klaras Wohnung. Meine Mutter lag blaß und erſchoͤpft im Bette, ich ruhte an ihrer Bruſt. Seit wenig Minu - ten hatte ich das Licht der Welt erblickt. Mein Vater ſtuͤrzte knieend an dem Bette nieder. Jn ſprachloſer Freude hing er an den Lippen der Geliebten, und uͤberſtroͤmte ihre Haͤnde mit Thraͤnen und Kuͤſſen. Dann nahm er mich in ſeine Arme, und druͤckte mich, gewaltſam ſchluch - zend, an ſein Herz. Ploͤtzlich hob er mich hoch in die Hoͤhe, und rief laut und feierlich:45 Virginia, Virginia! du theures Pfand der neuen Freiheit! Roms Virginia ſprengte durch ihren Tod Roms Bande; du verbuͤrgſt mir durch den Augenblick deiner Geburt die Freiheit dei - nes Vaterlandes, und knuͤpfeſt mich mit tauſend neuen Banden an daſſelbe. Er legte mich wieder auf das Bett, und ſeine Rechte ſegnend auf meine Stirn. Victor kniete tief erſchuͤttert ne - ben ihm, und legte ebenfalls ſeine Hand, wie zum Schwur, auf mein Haupt. Freiheit und Vaterland! Freiheit und Gleichheit! ſprach er mit hohem Ernſte. Vaterland, Freiheit und Gleichheit! ſprach mein Vater ihm nach. Dann ſchlugen beide Maͤnner kraͤftig die Haͤnde in einander, und umarmten ſich. Laͤchelnd und ſelig ſah meine Mutter auf dieß erhabene Schau - ſpiel herab. Sieh, Adele, ſo wurde ich gebo - ren. Koͤnnte ich es jemals ertragen, daß man den 14ten Julius mit Schmaͤhungen belegt? wuͤrden die Deinen mein Feſt jemals mit gu - tem Herzen feiern wollen? Nein, Virginia, die erſtgeborne Tochter der Freiheit, muß in einem freien Lande ſterben.

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Von dieſem Zeitpunkt an waren meine Ael - tern auf immer vereinigt und gluͤcklich. Die Begebenheiten, die den Thron erſchuͤtterten, hat - ten ihr Gluͤck gegruͤndet. Konnte die dankbare Erinnerung daran, ſie jemals verlaſſen? konn - ten ſie jemals vergeſſen, daß die Deſpotie die erſten friſcheſten Bluͤthen dieſes Gluͤckes abge - ſtreift? Mein Vater theilte nunmehr ſeine Zeit zwiſchen den Freuden ſeiner Haͤuslichkeit und den ernſten Bemuͤhungen fuͤr das oͤffent - liche Wohl. Er erneuerte ſeine fruͤheren Ver - bindungen, und knuͤpfte neue. Sein Einfluß wurde bei den Berathſchlagungen und Entwuͤr - fen von ſegensreichem Nutzen. Auch auf ſeine Familie wendete er ſeine zaͤrtlichſte Sorge. Sein edles Herz mochte nur Boͤſes mit Gutem ver - gelten, und ſein uͤberlegener Verſtand floͤßte ihm gegen die Verkehrtheiten der Menſchen mehr Mit - leid als Zorn ein. Er verſuchte den alten Her - zog zu ſehn, und hoffte ihm in dieſer Kriſis nuͤtzlich zu werden. Aber der erbitterte Mann wich allen ſeinen Bemuͤhungen aus, und war einer der erſten, welche die Sache ihres Va - terlandes und ſeinen heiligen Boden verließen. 47Naͤchſtdem war meines Vaters erſter Weg zu Deiner Mutter. Er hatte dieſe, ſeine einzige Schweſter, zwar wenig gekannt, aber er liebte ſie mit bruͤderlichem Herzen. Sie war, als er nach Amerika ging, noch ein zartes Kind, und befand ſich ſchon im Kloſter St. Cyr zur Er - ziehung. Nach ſeiner Zuruͤckkunft hatte er ſie mehrere Mahle dort beſucht, und ſich ihrer auf - bluͤhenden Schoͤnheit und ihres ſanften We - ſens gefreut. Aber ein Sprachgitter bleibt immer eine Scheidewand zwiſchen liebenden Geſchwiſtern, welche, wenn auch nicht die Liebe mindert, doch die Vertraulichkeit hemmt. Mein Vater war ſchon in Chaumerive, als er erfuhr, daß der Herzog Deine Mutter an den Hof gebracht, wo ſie vielen Beifall ernte. Um die Zeit ſeiner eigenen Verheirathung hoͤrte er, ſie werde ſich mit dem Herzog von P. vermaͤh - len. Er ſchrieb ihr, ſie antwortete ihm zwar zaͤrtlich, doch ſehr ſchuͤchtern, und deutete auf den Zorn des Oheims, und auf die Beſchraͤn - kung, worein ihre nahe bevorſtehende Verbin - dung ſie zu verſetzen drohe. Sie pries ihn gluͤcklich, als Mann ſein Schickſal einiger Ma -48 ßen ſelbſt beſtimmen zu koͤnnen, und wuͤnſchte ihm herzlich Gluͤck, doch warnte ſie ihn zugleich mit maͤdchenhafter Furchtſamkeit. Zu dieſer ge - liebten Schweſter flog nun mein Vater. Sie empfing ihn mit der lebhafteſten Freude, aber ihr Herz beklemmten aͤngſtliche Sorgen. Jhr Gemahl hatte ihr wenige Stunden zuvor ange - kuͤndigt, daß die Prinzeu entſchloſſen waͤren, uͤber die Graͤnze zu gehen, in Hoffnung, daß der groͤßere Theil des Adels ihnen folgen werde, und daß man von dort aus den Anmaßungen des dritten Standes vernichtend begegnen koͤnne. Er hatte ihr befohlen, ſich reiſefertig zu halten, um ihm zu folgen. Sie befand ſich im neun - ten Monat ihrer Schwangerſchaft, liebte ihre Umgebung, und fuͤrchtete den unbekannten rau - hen Norden. So ſank ſie weinend in die Arme ihres bekuͤmmerten Bruders. Der Her - zog Dein Vater trat kurz darauf ins Zimmer. Die Begruͤßung der beiden Schwaͤger war kalt und foͤrmlich. Mein Vater lenkte ſogleich das Geſpraͤch auf das Jntereſſe der Zeit, der Dei - nige wich ihm mit ſtolzer Hoͤflichkeit aus, oder ſprach mit wegwerfender Anmaßung ab. Jenerbe -49beſchwor ihn zwar, wenigſtens Ruͤckſicht auf ſeine kraͤnkelnde Gattinn zu nehmen, fand aber kein Gehoͤr. Seine redlichen Anerbietungen zu ſichern - den Maßregeln, in Betreff der Guͤter, fuͤr den ſchlimmſten Fall, wurden mit Mißtrauen, ja faſt mit Hohn, zuruͤck gewieſen. Denſelben Er - folg hatte ſein edler Wille bei ſeinem Oheim, dem Herzog, auch er verſpottete jede Aeußerung von Beſorgniß und wies jede, ihm angebotene Dienſtleiſtung, in den beleidigendſten Ausdruͤcken, zuruͤck. Dennoch hat mein Vater dieſen Undank - baren in der Folge, wider ihren Willen, die groͤßten Dienſte geleiſtet, indem er ihre Guͤter, unter Mitwirkung einiger ſeiner bewaͤhrteſten Freunde, durch Scheinkaͤufe groͤßten Theils rettete, und ihnen von Zeit zu Zeit einen Theil der Einkuͤnfte, mit großer perſoͤnlicher Gefahr, uͤberſendete. Fuͤr jetzt konnte er fuͤr die geliebte Schweſter nichts weiter thun, als daß er ihr die Verguͤnſtigung aus - wirkte, nach England zu gehen, wohin er ihr Paͤſſe verſchaffte. Victor beſorgte, durch die Handels - verhaͤltniſſe ſeines vaͤterlichen Hauſes, eine ſchnelle und bequeme Ueberfahrt, eben ſo Anweiſung bedeutender Summen auf Londoner Haͤuſer. Erſter Theil. [4]50So wurde deine gute Mutter, wider ihren Wil - len und mit einer grauſamen Eile, wie die Um - ſtaͤnde ſie forderten, aus ihrem Vaterlande und aus den Armen ihres kaum wiedergefundenen Bruders geriſſen .. Kaum hatte ſie den eng - laͤndiſchen Boden betreten, als ihre Niederkunft heran nahete, und ſie Deinen Bruder Louis gebahr.

Die Revolution ging nun ihren raſchen Gang. Mein Vater und ſein Freund ſchwammen in Seligkeit, alle die Traͤume ihrer fruͤheren Juͤng - lingstage, in die Wirklichkeit heraus treten zu ſehen. Beſchluͤſſe wurden gefaßt, Grundſaͤtze wurden aufgeſtellt, welche die Bewunderung der Welt erregten. Europa ſah eine herrliche Mor - genroͤthe aufgluͤhen, und der groͤßere Theil ſei - ner Bewohner jauchzte ihr entgegen. Arme Sterbliche! ihr haͤttet bedenken ſollen, was ſchon die Erfahrung dem Landmann lehrt, daß das hochflammende Roth im Oſten, auf einen ſchwuͤlen Gewittertag deutet. Das ganze Heer menſch - licher Leidenſchaften miſchte ſich ins Spiel, und51 verfaͤlſchte die reine Begeiſterung, welche das große Werk begonnen. Die Edlen unter den Volksfuͤhrern, befanden ſich in der Lage des Siſyphus, der Stein rollte wieder bergab, wenn ſie ihn bis zur Hoͤhe gewaͤlzt zu ha - ben glaubten, und viele wurden von ſeinem ge - waltſamen Sturz zerſchmettert. Mein Vater redete und handelte muthig fuͤr ſeine Ueberzeu - gung, aber er ſahe mit Schmerz daß das begon - neue Werk nicht nach ſeinem ſanften edlen Sinne zu beendigen ſey. Er hatte in ſeiner großen Seele der Menſchheit einen hoͤheren Grad der Reife zugetraut, als er jetzt fand. Mirabeau ſtarb, die Jacobiner organiſirten ſich, und die Parteien fingen an ſich zu bekaͤmpfen. Der Hof und das Ausland trieben ihr finſteres Spiel, und verwirrten die geheimen Faͤden des Gewe - bes ſo kuͤnſtlich, daß man bei den meiſten un - glaublichen Begebniſſen, nicht mit Gewißheit ſagen konnte, von welcher Seite die wirkſam - ſten Schlaͤge gekommen. Sicher haͤtte deſſen un - geachtet mein Vater den Kampf nicht geſcheut; doch meine Mutter zitterte fuͤr den theuern ſchon ein Mahl verlorenen Gatten. Sie beſchwor*52ihn taͤglich, dieſen unſichern Schauplatz zu ver - laſſen, und ſie zuruͤck zu fuͤhren in ihre gluͤckliche Heimath. Er konnte auf die Laͤnge, ihren Thraͤnen nicht widerſtehen; auch zog ihn die Sorge fuͤr ſeine verlaſſenen Anlagen und fuͤr das Wohl ſeiner Bauern zuruͤck nach Chau - merive, Victor blieb in Paris. Sein Feuer - geiſt fand ſich am Rande des Vulkans in ſei - nem Elemente.

Jn Chaumerive legte nun mein Vater alle Auszeichnungen ſeines Standes voͤllig ab. Die Wappen wurden uͤberall abgenommen, die Li - vreen abgeſchafft. Man richtete ſich bequem, aber ſehr einfach, ein. Mein Vater verſammelte die ſaͤmmtlichen Bewohner, nannte ſie ſeine guten Freunde und Nachbarn, erklaͤrte ſich ganz fuͤr ihres Gleichen und bat ſie, ihn nie mehr gnaͤ - diger Herr, ſondern ſchlechtweg Buͤrger zu nen - nen. Die guten Leute erſtaunten, doch waren ſie ſchon an einen hohen Grad von Leutſeligkeit und Gleichheitsſinn bei meinem Vater gewoͤhnt, und liebten ihn nun nur um ſo ſtaͤrker. Sie leg - ten ihm Rechenſchaft ab von ihren Haushalt, waͤhrend ſeiner Abweſenheit. Sie hatten ſeine53 Aecker, gleich den ihrigen, beſtellt, und den Er - trag gewiſſenhaft bewahrt. Mein Vater bezeigte ihnen ſeine lebhafte Dankbarkeit, und die guten Menſchen glaubten ſich ihm verpflichtet. Es knuͤpften ſich die ſchoͤnen Bande der gegenſeiti - gen Liebe und des Vertrauens immer feſter, und trotzten allen nachfolgenden Stuͤrmen der Zeit. So unruhvoll und blutig auch die folgen - den Jahre fuͤr Frankreich geweſen ſind, mein friedliches Thal, die Wiege meiner Kindheit, iſt, Dank der Sinnesart meines guten Vaters! im - mer ſo ruhig und gluͤcklich geblieben, als laͤge es auf einer Jnſel des ſtillen Oceans.

Der benachbarte Adel nannte ihn anfangs einen Tollhaͤusler, und wich ihm aus; ſpaͤter - hin hielt er ihn fuͤr einen Schlaukopf, und ſuchte oft ſeine Vermittelung. Erkannt haben ihn nur Wenige; man hielt fuͤr Klugheit, was nur Vernunft und Gefuͤhl war.

Jn dieſer ſchoͤnen Umgebung, an der Hand der Liebe, ging ich meine erſten Schritte, hier wurde mein Geiſt ſich ſeiner bewußt. Meine Aeltern machten zu meiner Erziehung keine kuͤnſt -54 lichen Anſtalten, man uͤberließ mich der Natur, und dem guten Beiſpiele. Liebe, die zaͤrtlichſte aufopferndſte Liebe umgab mich, und erzeugte in mir tiefes, reges Gefuͤhl. Mein Geiſt bedurfte kei - nes Sporns, er entwickelte ſich uͤberaus fruͤh - zeitig, und ſchaffte ſich Nahrung. Jch lernte faſt von ſelbſt leſen, in einem Alter, wo andere Kinder kaum einige Worte im Zuſammenhange ausſprechen. Meine Mutter ſchaffte mir Pup - pen an und anderes Spielgeraͤth, ich wußte eben nichts damit anzufangen, und warf es bald bei Seite, traurig fragend Was ſoll Vir - ginia nun machen? Meine Mutter begriff dieſe Eigenheit nicht, und verlor oft die Geduld. Mein Vater erhielt, durch einen Zufall, ein altes Werk, welches meine kindiſche Aufmerkſamkeit auf ſich zog. Es war eine Weltgeſchichte, durchweg in Kupfern bildlich dargeſtellt, der Text dane - ben in veraltetem, doch kraͤftigem Styl. Jch beſah eifrig die wirklich ſchoͤnen Kupfer, und verlangte ihre Erklaͤrung; meine Mutter verſtand ſich we - nig darauf, und fertigte mich mit Auslegungen ab, welche ſie fuͤr mein Alter paſſend glaubte, die mir aber nicht genuͤgten. Jch wendete mich55 an meinen Vater, und dieſer erklaͤrte mir die Bil - der einfach, aber wahr. Jch hing an ſeinen Lippen, und wollte ihn nimmer wieder laſſen; aber der gute Vater mußte doch oft abweſend ſeyn, und ich blieb dann mit meinem lieben Buche allein. Wenn du erſt leſen kannſt, troͤ - ſtete mich der Vater, dann kannſt du dir die Geſchichten ſelbſt erklaͤren. Das war ein Blitz - ſtrahl in meine Seele geworfen. Jch uͤbte mich unermuͤdet, und in kurzen las ich fertig in meiner lieben Geſchichte. Nun war meine Be - ſchaͤftigung gefunden, ich fuͤhlte keine Leere mehr. Alle Zeit wo ich nicht im Freien herumſprang oder mit meinen Aeltern plauderte, ſaß ich bei dem Buche. Jch las und las wieder; Begriffe reihten ſich an Begriffe, und ich verſtand, ich fuͤhlte was ich geleſen. Jch kann im eigentlichſten Sinne ſagen, ich bin unter den Heroen der Vorwelt herangewachſen. Sie waren meine Vorbilder, dienten mir zum Maßſtab fuͤr die Ereigniſſe der Gegenwart. Unter meinen fruͤheſten Erinnerungen iſt mir eine Szene leb - haft gegenmaͤrtig geblieben, welche dieſe meine Heroenbilder erregten. Jch mochte vier Jahr56 alt ſeyn, und mein geliebter, ach uͤber alles ge - liebter Emil, ein Jahr, als Frankreich von den ſremden Armeen hart bedraͤngt wurde. Victor war an die Graͤnze geeilt, das Vaterland zu vertheidigen, und mochte meinen Vater wohl aufgefordert haben, ein Gleiches zu thun. We - nigſtens war ein Brief angekommen, deſſen Jn - halt auf meinen Vater einen wichtigen Eindruck gemacht zu haben ſchien. Er war unruhig, theilte Befehle aus, traf mancherlei Anſtalten, und ſchien mit einem großen Vorhaben be - ſchaͤftigt. Das ganze Haus war in einer aͤngſt - lichen Bewegung, und niemand wollte und konnte ſich um mich bekuͤmmern. Jch fluͤch - tete, wie immer in aͤhnlichen Faͤllen, zu mei - nem Buche. Zufaͤllig hatte ich eben das Ku - pfer aufgeblaͤttert wo Leonidas den Paß von Termopylaͤ vertheidigt, als mein Vater in den Saal trat, und hinter mir ſtehen blieb. Sie ſtarben fuͤr das Vaterland! ſagte er nach einer kleinen Pauſe, und legte die Hand auf meinen Kopf: dreihundert Helden wehrten der großen Perſermacht den Eintritt in das heilige Land der Freiheit! Jch hatte mich umgewendet,

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57 und ſchauete nach ihm auf. Zwei große ſchwere Thraͤnen hingen in ſeinen Augen. Sie thaten nur ihre Pflicht! ſagte er, und fuhr mit der Hand uͤber die Thraͤnen, laͤchelte mich an, und wiederholte: ſie thaten was ſie mußten! Da kam meine Mutter herein, Emil auf dem Arme. Sie war ſehr bleich, und hatte geweint. Schwei - gend zog ſie den Gatten zum Sopha, ſetzte das Kind auf ſeinen Schoß, und ſich neben ihn. Sie umſchlang ihn, weinte heftig, und rief end - lich im Ton der Verzweiflung: dieſen huͤlfloſen Kleinen koͤnnteſt Du verlaſſen? mich? mich? und ſank an ſeine Schulter. Mein Vater um - faßte ſie mit Zaͤrtlichkeit, redete ihr zu, ſprach viel von Pflicht und Nothwendigkeit. Der Knabe laͤchelte unbefangen drein, und ſpielte mit des Vaters Locken. Mich mochte die Grup - pe, an das Bild von Hektors Abſchied erinnern, ich ſchlug es auf, und ſah ernſthaft, bald auf Hektor, bald auf den Vater. Endlich richtete ſich meine Mutter wieder auf, und blickte mich an. Virginia! rief ſie, umarme die Knie dei - nes Vaters! flehe ihn, daß er uns nicht verlaſſe! Die Frau da, antwortete ich in meinem kin -58 diſchen Sinn, und zeigte auf das Bild, die Frau da weint nicht, daß der Vater ſeine Pflicht thun muß. Sie haͤlt ihn nicht, Virginia darf ihn auch nicht halten. Roͤmermaͤdchen! rief mein Vater, und riß mich in ſeinen Arm. Aber ein verzweiflungsvoller Blick meiner Mutter fiel auf mich, und in demſelben Augenblick ſank ſie leb - los zu Boden. Jch ſtuͤrzte mich mit Geſchrei und Thraͤnen uͤber ſie hin. Mein Vater hob ſie in ſeine Arme, ſie wurde zu Bett gebracht, und ein heftiges Fieber kuͤndigte ſich mit den bedenk - lichſten Zeichen an. Jhre Krankheit dauerte lange, und ſie wurde nur dadurch am Leben erhalten, daß mein Vater ihr das feierliche Ver - ſprechen ablegte, ſie niemals zu verlaſſen. Mei - nem Vater mußte es ſchwer geworden ſeyn, ſein Pflichtgefuͤhl, im Kampf mit der Liebe, zum Schweigen zu bringen. Manche ſeiner ſpaͤtern unfreiwilligen Aeußerungen deuteten darauf. Doch nahm er ſich ſehr in Acht, meine Mutter das mindeſte davon merken zu laſſen. Ueber Ge - fuͤhle dieſer Art war ich in der Folge ſeine ein - zige Vertraute. Jn dem Herzen meiner Mut - ter ſchien ſich, durch dieſen Vorfall, eine leiſe59 Abneigung gegen mich feſt geſetzt zu haben. Jch entſinne mich, daß man mich in den erſten Wo - chen ihrer Krankheit ſorgfaͤltig abhielt, ſie zu ſehen, und daß ich viel daruͤber geweint. Auch waͤhrend ihrer Geneſung war ſie anfangs nicht ſo guͤtig gegen mich, als ſonſt; uͤberhaupt lenkte ſich ihre Zaͤrtlichkeit mehr auf meinen Bruder. Jch bemerkte dieß wohl, aber ohne Neid; denn ich ſelbſt liebte den holden Emil uͤber Alles. Du haſt ihn wenig gekannt, den freundlichen herzigen Knaben. Er war immer heiter, immer voll Scherz und Froͤhlichkeit, und dabei ſo bieder und treu. Wie haͤtte man ihn nicht lieben ſollen! Ueberdieß war er ja ein Knabe, und ſchien mir ſchon deßhalb jedes Vor - zugs werth, je hoͤher mir nach und nach die Wirkſamkeit und Thatkraft des Mannes erſchien. Jch weinte nur zuweilen im Stillen daruͤber, daß ich ein Maͤdchen war, eins der unbedeutenden We - ſen, von welchen die Geſchichte ſo wenig ſagt, waͤhrend die Thaten der Maͤnner jedes Blatt fuͤllen. Nur als Opfer werden ſie genannt. Jphigenia, Virginia, nur Opfer fuͤr große Zwek - ke. So glaubte ich, leidende Gedult ſey die60 nothwendige Eigenſchaft des Weibes; aber mein leidenſchaftliches Gemuͤth ſtand mit dieſer Stimmung im ewigen Widerſpruch, und ſtoͤrte die Harmonie in meinem Karakter. Mein Va - ter wurde ſehr aufmerkſam auf mich, und fing an, ſich mit Ernſt um meine Bildung zu be - kuͤmmern. Von ihm lernte ich ſchon fruͤh eng - liſch, ſpaͤterhin auch etwas deutſch. Jch las unſere vorzuͤglichſten Dichter und auch die der Auslaͤnder, in ihrer Sprache. Mein Gemuͤth war fruͤh poetiſch geſtimmt, wozu wohl der provenzaliſche Himmel vieles beitrug. Doch waren es nicht die leichten Liebeslieder meiner Landsleute, woran ich Geſchmack fand, mir ſtell - te ſich alles zuerſt von der erhabenen Seite dar. Eine Ode uͤber den Krieg, war meine erſte, ſehr geheim gehaltene Arbeit; ſo weit ich mich ihrer erinnere, freilich ſehr fehlerhaft, doch durchaus ohne Vorbild. Ueberhaupt war ich meiſt ſehr ernſt und in mich gekehrt, woruͤber mich die kleinen Maͤdchen, meine Geſpielen, oft neckten. Jch ſchwaͤrmte wohl mit ihnen umher, und hatte ſie alle von Herzen lieb, aber ich war doch nie ſo ganz Kind als ſie. Es machte mir Freude61 Blumen mit ihnen zu pfluͤcken und Kraͤnze zu winden, lieber aber ſaß ich doch mit meinem Vater Abends unter unſern Kaſtanienbaͤumen, und blickte nach dem zahlloſen Sternenheere des dunkelblauen Himmels auf. Da war ich uner - ſchoͤpflich an Fragen, und mein guter Vater antwortete ſo gern. Er nannte mir die Stern - bilder, machte mich aufmerkſam auf die Unzaͤhl - barkeit der Sonnenſyſteme, auf die Unendlichkeit des Raumes und der Zeit, und knuͤpfte daran den Begriff von der uͤberſchwaͤnglichen Groͤße und Erhabenheit des Schoͤpfers. Oft uͤberraſchte uns noch die Mitternacht bei dieſen Geſpraͤchen, uͤber welche meine Mutter laͤngſt eingeſchlafen war. Sie liebte dieſe Unterhaltungen nicht ſehr, ſahe auch meine fortſchreitende Ausbildung nicht allzugern.

Jhre Kindheit hatte ſie, nach der Sitte der Zeit, in einem Kloſter verlebt. Weibliche Ar - beiten, etwas leſen und ſchreiben, und haͤufige Religionsuͤbungen waren dort alle zu erlangen - den Kenntniſſe geweſen. Mit dieſen hatte ſie ausgereicht, und nun in meinem Vater das Gluͤck ihres Lebens gefunden; daher bildete ſie ſich ein, alles, was daruͤber, ſey uͤberfluͤſſig, wo62 nicht gar vom Uebel. Mein Vater ließ ſich nicht gern mit ihr in Eroͤrterungen uͤber dieſen Punkt ein. Er liebte ſie von ganzem Herzen, und ſie verdiente es im hohen Grade. Sie war ſchoͤn und voll Grazie, hatte das beſte Herz von der Welt, liebte ihn uͤber Alles, war unermuͤdet, fuͤr ſeine kleinen Beduͤrfniſſe be - ſorgt, eine gute Mutter, eine gute Hausfrau, eine Wohlthaͤterinn der Duͤrftigen. Was haͤtte das Herz eines Mannes noch mehr fordern koͤnnen? Auch fuͤhlte ſich das Herz meines Vaters voͤllig befriedigt. Doch ſein philoſo - phiſcher Geiſt empfand nach und nach im - mer mehr das Beduͤrfniß eines Weſens, das in ſeine Jdeen eingehen, mit dem er ſich uͤber die Gegenſtaͤnde unterhalten koͤnnte, die ihm die wichtigſten waren. Er hatte oft ver - ſucht, ſie dafuͤr auszubilden, aber mit wenig Erfolg.

Jn mir drang ſich ihm ein bildſamer Stoff, ganz von ſelbſt auf, und mit ſchoͤpferiſcher Liebe legte er Hand an, ohne auf die Menge der Bedenklichkeiten Ruͤckſicht zu nehmen, welche ihn allenfalls davon haͤtten abmahnen koͤnnen. Emil,63 drei Jahre juͤnger als ich, wurde bald mein treuer Spielgefaͤhrte; wir waren ein Herz und eine Seele. Mein Vater ſchien ſeine Zaͤrtlich - keit ganz gleichmaͤßig zwiſchen uns zu theilen, ſo wie ſeine belehrende Sorgfalt. Es war aber ſehr natuͤrlich, daß ich einen ſtarken Ver - ſprung behielt, auch war der Knabe immer mehr in der Sinnenwelt, als in der Jdeen - welt zu Hauſe. Es gibt Augenblicke, wo ich ihn deßhalt gluͤcklich preiſe. Aber ach, die Richtung unſrer Seele liegt außer unſrer Macht, geſchieht ſchon, ehe wir uns dieſer bewußt wer - den, und iſt faſt angebohren.

Wir trieben uns fleißig in der umliegenden Gegend umher, und ſpielten manches verwegene Spiel; ich, im romantiſchen Sinne ritterlicher Vor - zeit, er, nach wilder Knabenart. So ſchaukelten wir uns oft in einem Fiſchernachen auf der wilden Durance, und arbeiteten uns mit Stangen laͤngs den Uferkruͤmmungen hin; Emil, um ſeine Kraͤfte zu meſſen, mit der Gewalt des Stro - mes, oder um ein Entenneſt auf zu ſuchen, im Schilfe; ich, weil ich in Gedanken Kolumbus begleitete, eine neue Welt zu entdecken, und in64 einer unbekannten Bucht zu landen. Mein Vater kaufte nach einigen Jahren die Laͤn - dereien eines benachtbarten Kloſters, nachdem die - ſes laͤngſt aufgehoben, und feil geboten war. Der Großvater in Aix war geſtorben, und ein Theil des Vermoͤgens meiner Mutter konnte nicht vortheilhafter genutzt werden. Dieſe fuͤhlte wohl anfangs einige Gewiſſensſcrupel daruͤber, doch wußte ſie der Weltgeiſtliche unſres Kirch - ſprengels, ein konſtitutioneller Prieſter, aber ein eben ſo rechtſchaffener, als aufgeklaͤrter Mann, zu beruhigen und zu heben.

Ueberdieß bildete ſich bei meiner Mutter der Sinn fuͤr Erwerb und Beſitz mit den Jah - ren immer mehr aus. Sie wurde eine aͤußerſt emſige Wirthinn, und ging in die geringſten Klei - nigkeiten ein. Mein Vater ließ ſie gewaͤhren; ſein Gluͤck ruhete nur auf das Ganze. Jhm war nicht darum zu thun, was er perſoͤnlich gewann, ſondern wie viel allgemeiner Wohlſtand, durch dieſe oder jene Anlage, verbreitet werden konnte. Fuͤr dieſe ſeine hoͤheren Zwecke aber war er raſtlos thaͤtig, und ſein vergroͤßerter Wirkungs - kreis ließ ihm bald nur wenig Zeit zum Unter -richt65richt fuͤr uns uͤbrig; daher er ſich, wiewohl un - gern, entſchloß, von ſeinem lieben Emil ſich zu trennen. Er brachte ihn nach Aix zu einem ſeiner aͤlteſten Schulfreunde, welcher dort Pro - feſſor am Lyceum war. Meine Mutter war mit dieſer Trennung ſehr uͤbel zufrieden; es be - ruhigte ſie nur wenig, daß ihr Liebling ſich in den Haͤnden eines der rechtſchaffenſten, edelſten Maͤnner ſeiner Zeit befand, und ſich in deſſen Fa - milie bald ſo einheimiſch, als in unſerm Hauſe fuͤhlte. Mir ſelbſt koſtete dieſer Abſchied un - zaͤhlige Thraͤnen, doch richtete ich mich an dem Gedanken auf, daß es zum Beſten meines Bruders ſey, ja ich beneidete ihn um ſein Loos. Er ſollte ja Griechiſch und Lateiniſch ler - nen, und konnte einſt die Werke der Alten in der Urſprache leſen, mein hoͤchſter Wunſch. Fuͤr Emil war dieſe Ausſicht nicht ſo reizend. Er hatte kein gutes Wortgedaͤchtniß, und das Er - lernen fremder Sprachen wurde ihm ſehr ſchwer; dagegen rechnete er mit Leichtigkeit, und machte Fortſchritte in der Mathematik.

Erſter Theil. [5]66

Mit dieſem geliebten Bruder ſchien der Ge - nius der Freude aus unſerem Hauſe gewichen. Weine Mutter vergrub ſich, um ihrem Schmerze zu entfliehen, nur tiefer in Geſchaͤfte. Sie fing an ſehr mißfaͤllig zu bemerken, daß mir ein, ihr gleicher, Sinn fuͤr das kleine haͤusliche Thun und Treiben fehle. Sie wollte mich durch Verweiſe dazu antreiben, es mangelte ihr aber Geduld, auch ward ſie, bei ihrer raſchen Thaͤtigkeit, behindert, mich durch allmaͤhliche Ge - woͤhnung dazu tuͤchtig zu machen. Es fehlte mir nicht an gutem Willen, aber ich wußte es durchaus nicht an zu ſtellen, und ein harter Vor - wurf, bei einer kleinen Unbeholfenheit, ſcheuchte mich auf laͤngere Zeit von den Geſchaͤften. Jch fluͤchtete mich in einen einſamen Winkel, zu meinen Buͤchern. Sie ſchalt dann zwar heftig auf das Leſen; doch mochte ſie es mir nicht ganz verbieten, weil mein Vater es in Schutz nahm, und ihren unwilligen Aeußerun - gen immer eine ruhige Freundlichkeit entgegen ſetzte. Klaͤrchen, liebes Klaͤrchen, pflegte er zu ſagen, wollteſt du denn, daß alle Baͤume Deines Gartens nur einerlei Art waͤren? Der67 Apfelbaum iſt nuͤtzlich, aber auch die Granate in ihrer Bluͤthe, die Zierde des Gartens. Laß doch Virginien gewaͤhren; willſt du gewalt - ſam in ihre Eigenthuͤmlichkeit eingreifen, ſo zer - ſtoͤrſt Du ihre innere Harmonie. Er ver - ſuchte nun, ſeiner Seits, mich in Thaͤtigkeit zu ſetzen, und mit weit beſſerem Erfolg. Er hatte große Maulbeerpflanzungen angelegt, und richtete einen Theil der Kloſtergebaͤude fuͤr den Seidenbau ein. Alle Kinder der Landleute auf ſeinen Beſitzungen, wurden aufgeboten zur Wartung und Pflege der Seidenraupen. Die Arbeit war leicht, und auch die Kleinſten konn - ten Blaͤtter ſammeln und den Wuͤrmern vorle - gen. Kraftloſe Greiſe und Muͤtterchen, welchen der Feldbau zu ſchwer war, halfen dabei. Der ſehr anſehnliche Ertrag, wurde gleichmaͤßig ver - theilt, und erhoͤhete den Wohlſtand der ganzen Ge - gend. Jch fuͤhrte, unter Anleitung des Vaters, die Oberaufſicht, und ganz zu ſeiner Zufrieden - heit. Mit der Morgenſonne war ich auf, und immer aufmerkſam auf den Gang der Ge - ſchaͤfte, behende und geſchickt in allen Hand - griffen. Beim Abhaſpeln der Seide war ich*68die fertigſte und ſorgſamſte Arbeiterinn. Mit gleichem Erfolge ſtellte er mich bei der Wein - leſe an, wo ich dafuͤr ſorgte, daß die Beeren, behutſam und eigen, von der Traube gekaͤmmt wurden, welches unſerem Wein, einen großen Vorzug, vor allen Weinen der Provinz gab. Bei allen ſolchen Geſchaͤften, welche nur Tage - oder Wochenlang dauerten, und in großer Ge - meinſchaft betrieben wurden, war ich uner - muͤdet thaͤtig, und in hohem Grade ver - gnuͤgt und froͤhlich. Wir ſangen Romanzen und Rundgeſaͤnge, erzaͤhlten Maͤrchen und No - vellen, immer brachte ich neue mit, und Jung und Alt liebte mich herzlich. Aber wenn ich wieder zuruͤck trat, in den alltaͤglichen Gang des haͤuslichen Lebens, da fuͤhlte ich meine Thaͤtig - keit ploͤtzlich gelaͤhmt. Die kleinen, immer wie - derkommenden Sorgen des Haushalts vermochten nicht, meine Seele zu fuͤllen, und mein Geiſt kehrte heißhungrig in die Jdeenwelt zuruͤck.

Nicht die Geſchichte der vergangenen Zeiten allein war es jetzt, was mich beſchaͤftigte, ich nahm an den Begebenheiten unſerer Tage den lebhafteſten Antheil. Von meiner fruͤheſten69 Kindheit an, hatte ich mich gewoͤhnt, alles nach den Muſtern der Alten zu beurtheilen, und ſo mußten meine Anſichten ganz verſchieden ſeyn von den Anſichten derer, welche von einem andern Standpunkt auf die Dinge ſahen. Mein Vater ſchien in demſelben Falle geweſen zu ſeyn. Als des gutmuͤthigen Ludwig Haupt unter der Guil - lotine fiel, ſah ich ihn tief betruͤbt. Es iſt trau - rig, ſagte er, daß es bis dahin kommen mußte! O haͤtte der edle Koͤnig ſich doch gleich anfangs losmachen koͤnnen von den anerzogenen Be - griffen, ſich mit Aufrichtigkeit der Sache des Volks angeſchloſſen es waͤre um vieles an - ders und beſſer geworden. Aber es war faſt in ſeiner Lage unmoͤglich, der Einfluß ſeiner Umgebungen war zu maͤchtig, die Raͤnke der Ausgewanderten, und ihrer Verbuͤndeten wa - ren zu eingreifend, es konnte faſt nicht anders enden. Er fiel als ein großes Opfer der Frei - heit, ein reines ſchuldloſes Opfer! Moͤge es die unterirdiſchen Goͤtter verſoͤhnen! Die Nachwelt nennt ihn mit Recht einen Heiligen.

Die Schreckenszeit erfuͤllte meinen Va - ter mit Grauſen. Sie war aber durch die70 hohe Erbitterung der verbuͤndeten Maͤchte, faſt unvermeidlich herbei gefuͤhrt worden. Die Jn - tegritaͤt der jungen Republik ſchien faſt nicht anders zu retten, als, wenn es ſeyn muͤßte, mit Aufopferung eines großen Theils, der ge - genwaͤrtigen Generation. Die Umſtaͤnde trafen ſchrecklich zuſammen, und die Menſchlichkeit mußte der Vaterlandsliebe weichen. Daneben kam ſo oft die Erhaltung der Einzelnen mit der Erhaltung der Nation in Streit, und die - ſer wird faſt niemahls ohne Blut geſchlichtet.

Meines Vaters ſanftes, menſchliches Herz litt ſchmerzlich waͤhrend dieſer Zeit, und er dankte dem Himmel fuͤr den Entſchluß, ſich ſchon fruͤh in die laͤndliche Stille gefluͤchtet zu haben; doch tadelte er auch die haͤrteren Naturen nicht, welche es verſuchten, das maſt - und ſteuer - loſe Schiff des Vaterlandes durch die ſchaͤu - mende Brandung zu fuͤhren. Er gedachte oft der beiden Brutus, von welchen der eine ſeine Soͤhne hinrichten ließ, weil ſie einer Verbindung mit dem verbannten Tarquinius ſich ſchuldig ge - macht, der andre den Dolch in den Buſen ſeines71 Freundes, vielleicht ſeines Vaters, ſtieß, als die - ſer die Republik vernichten zu wollen ſtrebte. Das Schickſal der Girondiſten erregte ſeine Theilnahme im hoͤchſten Grade. Meiſt waren alle ſeine Freunde, edle Maͤnner, voll redlichen Eifers fuͤr das Beſte des Vaterlandes, und voll Einſicht, es fehlte ihnen aber die Feſtigkeit ihrer Gegner, und ſie mußten unterliegen, in einem Zeitpunkte, wo Frankreich der Kraftfuͤlle vorzuͤg - lich bedurfte. Haͤtten ſie ſich dem Vaterlande, durch kluges Zuruͤckziehen bis zum Friedens - ſchluß erhalten, ſie wuͤrden es begluͤckt haben. Mich ergriff beſonders das Schickſal der Buͤr - gerinn Roland. Oft habe ich in ſpaͤtern Jahren geweint, wenn ich den ewig unvergeßlichen, ei - ner Roͤmerinn wuͤrdigen Brief las, welchen ſie aus dem Gefaͤngniſſe geſchrieben. Selbſt Char - lotte Corday meine gefeierte Heldinn, uͤber - traf dieſes große Weib an Karakterſtaͤrke nicht.

Als Robespierre geſtuͤrzt wurde, athmete Frankreich freier. Die Menſchheit muß ſich ſei - nes Todes freuen, ſagte mein Vater, ſie wird ihm fluchen, er war ein Tyrann; und doch glaubte72 er, es zu ihrem Beſten zu ſeyn. Er war kein Heuchler, nur ein tugendhafter Schwaͤrmer, doch ſeine Tugend war hart und rauh.

Waren gleich, nach der Kataſtrophe vom 9ten Thermidor, die Elemente bei weiten noch nicht beruhigt, ſo hatten doch die fuͤrchterlichſten Aus - bruͤche des Vulkans nachgelaſſen, und, vertrau - ter mit ihnen geworden, achtete man der nach - folgenden, immer ſchwaͤcheren Erſchuͤtterungen wenig. Jedes Auge faſt wendete ſich dem Krie - gesſchauplatze zu, wo der Ruhm uͤber den fran - zoͤſiſchen Fahnen ſchwebte. Der alte kriegeriſche Geiſt meines Volkes erwachte in neuer Staͤr - ke, Galliens Ritterzeiten kehrten wieder. Auch in unſrem friedlichen Thale wurde meiſten Theils nur vom Kriege geredet. Unſere Knaben war - fen Ball und Kreiſel bei Seite, und ſpielten Kriegesſpiele, unſre Maͤdchen ſangen den Mar - ſeiller Hymnus. Mein Vater las oͤfter, als ſonſt, die Zeitungen in Geſellſchaft ſeines Freun - des, unſers trefflichen Pfarrers, und ihre be - geiſterten Geſpraͤche dauerten bis ſpaͤt in die73 Nacht hinein; ich wurde nicht muͤde, ihnen zuzuhoͤren. Selbſt eine fleißige Zeitungsleſerinn geworden, ſtand ich oft ſchon mit der Sonne auf, um dem Poſtboten des naͤchſten Fleckens entgegen zu gehn, die Blaͤtter ſchnell zu durchlau - fen, und dem Vater ſchon beim Erwachen eine frohe Siegesnachricht zurufen zu koͤnnen. Von allen dieſen fruͤheren Begebenheiten machte der Uebergang uͤber die Bochetta den ſtaͤrkſten Ein - druck auf mich. Hannibal hatte, zur Verwun - derung der Roͤmer, dieſe unwegſame Straße betreten, kein Heerfuͤhrer nach ihm es ge - wagt. Nun war Buonaparte der zweits kuͤhne Sterbliche, welcher ſich hier Bahn brach. Die - ſes einzige, damals ſo angeſtaunte Unternehmen, ſtellte mit einem Schlag den jugendlichen Helden in Rieſengroͤße vor meine Phantaſie. Alle Heroen der Vorwelt. bei deren Thaten mein junges Herz gepocht, traten jetzt, in ein einziges Bild verſchmolzen, ins Leben, in die Wirklichkeit heraus. Meine Einbildungskraft ſchmuͤckte die - ſes herrliche Bild mit allen Reizen maͤnnlicher Schoͤnheit, und ſtellte es als Jdol auf den Altar meines Herzens.

74

Du wirſt lachen, Adele, aber bedenke daß ich in der Provence gebohren bin, wo man fruͤher und heißer empfindet, als in deinem kalten Eng - land, bedenke daß Geſaͤnge der Troubadours meine Wiegenlieder waren, und daß ich in der Jdeen - welt, unter Heroenbildern aufwuchs. Die Ver - goͤtterung meines Helden ſchallte mir aus jedem Munde entgegen; mein Vater und der Pfarrer waren von Bewunderung fuͤr ihn durchdrungen, und dieß ſteigerte meine Neigung bis zur Schwaͤr - merei. Jch weiß, Adele, nach deiner leichten Sin - nesart, ſpotteſt du uͤber dieſe abentheuerliche Liebe, aber ich erroͤthe nicht. Jch ergoͤtze mich noch in dieſen Augenblick an den verblichenen Farben jener Gefuͤhle und wuͤrde die ganze Wirklichkeit meines jetzigen Lebens um die Traͤume meiner Kindheit geben. Jch ſchaͤme mich ſelbſt nicht, dir mein kindiſches Opfer zu erzaͤhlen, deſſen Grund ich damals, ſo wie uͤberhaupt meine Neigung, tief verhehlte. Als mein Held nach Aegypten ging, erbebte ich; noch mehr, als unſre Flotte geſchlagen, und ihm der Ruͤckweg abgeſchnitten ſchien. Da ſchlich ich mich eines Abens in die entlegene Waldkapelle, und kniete vor dem Altar75 der heiligen Jungfrau nieder. Es daͤmmerte ſchaurig um mich her, die epheuumrankten, bunt - gemahlten Fenſterſcheiben, ließen nur ſpaͤrlich, das Licht der untergehenden Sonne ein. Mitten im Gebet ſchnitt ich meine langen, ſchoͤnen Lok - ken ab, legte ſie auf den Altar, und ſprach laut das Geluͤbde aus, mein Haar nicht eher wieder wachſen zu laſſen, es nicht eher wieder mit Blumen zu ſchmuͤcken, bis er zuruͤckgekehrt ſey, den ich dem Schutz der Gebenedeiten und allen Heiligen empfahl. Jndem ich mich auf - richtete, brach ein Strahl der ſcheidenden Sonne durch ein Fenſter hinter mir, und roͤthete das Angeſicht der Jungfrau, welche mir zu laͤcheln ſchien. Voll freudiger Hoffnung ging ich nach Hauſe, wo mich Alle mit Erſtaunen empfingen. Hocherroͤthend geſtand ich, mein Haar auf dem Al - tar der Jungfrau geopfert zu haben, und gab ſtok - kend als Grund an, ein Mahl geleſen zu haben, daß die griechiſchen Maͤdchen, beim Austritt aus der Kindheit eine Locke den Grazien zu opfern pfleg - ten. Meine Mutter ſchalt ſehr heftig und konnte ſich gar nicht zufrieden geben. Mein Vater ſchien den Sinn meines Opfers zum Theil zu ahnden. 76Er legte laͤcheld die Hand auf meinen Scheitel. Kleine Schwaͤrmerin ſagte er, vielleicht dach - teſt du auch an jene Weiber, welche ihr Haar zu Bogenſehnen hergaben, als Opfer fuͤr das Va - terland! Ergluͤhend kuͤßte ich ſeine Hand. Be - ruhige dich, fuhr er fort, die Geluͤbde der Un - ſchuld ſind gewiß der Gottheit angenehm.

Um gleich in der Reihefolge dieſer Neigung zu bleiben, will ich hier erzaͤhlen, was ſich erſt zwei Jahre ſpaͤter begab. Jch hatte mein zwoͤlftes Jahr angetreten, unſer Emil war ſeit einigen Wochen von uns geſchieden, um, wie ich ſchon fruͤher geſagt, in Aix erzogen zu wer - den. Vuonaparte war aus Aegypten zuruͤckge - kehrt, er hatte das von Factionen zerriſſene Vaterland gerettet, die Flamme des graͤulichen Buͤrgerkrieges geloͤſcht, und mit kraͤftiger Hand das Steuerruder des Staates gefaßt. Auf ihn gruͤndeten alle Parteien ihre Hoffnungen. Die Gemaͤßigten hofften feſte Ordnung und Geſetz - lichkeit, und taͤuſchten ſich nicht; die Republi - kaner Freiheit man ließ ihnen ſo viel davon in Form und Weſen, als ſich nur mit der Groͤße des Reichs, und dem Grade ſeiner mo -77 raliſchen Bildung vertrug; die Ausgewander - ten Wiederherſtellung der alten Zeit, und der Bourbons ſie mußten ſich betriegen; die Ariſto - kraten, die Ehrgeizigen Glanz und Wuͤrde ſie haben davon mehr durchgeſetzt, als gut war. Der erſte Konſul wurde von ganz Frankreich vergoͤttert. Der kuͤhne Held ging wieder uͤber den Simplon, auf unwegſamen Pfaden, ſein treues, begeiſtertes Heer, trug das Geſchuͤtz auf den Schultern hinuͤber. Der Sieg bei Marengo wurde erfochten, und die Voͤlker Jtaliens wurden frey. Jedes Gemuͤth wel - ches ſich von dem klaſſiſchen Boden angezo - gen fuͤhlte, war leidenſchaftlich bewegt; man hoffte die Nachkommen der Griechen und Roͤ - mer wuͤrden aus ihrem langen Schlaf erwachen.

Wir hatten die fruͤhe Weinleſe begonnen, als der Sieger bei Marengo, von ſeinem Zuge zuruͤck kehrte. Er hatte, aus Laune, vielleicht auch um dieſen Landſtrich naͤher kennen zu ler - nen, die gerade Straße verlaſſen, gedachte bei Avignon uͤber die Rhone und durch Langue - doc erſt nach Paris zu gehn. Ein Zufall fuͤhrte ihn nach Chaumerive. Mein Vater beeilte ſich78 dem erſten Conſul ſeinen Gluͤckwunſch zu brin - gen. Er hatte dieſen, als Juͤngling, in den erſten Monden der Revolution kennen gelernt, und Gelegenheit gehabt, ihm einen Dienſt zu er - weiſen. Buonaparte erinnerte ſich deſſen ſogleich, als er meinen Vater erblickte, und zeigte ſich demſelben aͤußerſt verbindlich und liebenswuͤrdig. Er unterrichtete ſich uͤber ſeine ganze Lage und naͤheren Verhaͤltniſſe, und pries ihn gluͤcklich in ſeinem unbekannten, ruhigen Leben. Mir wird es ſo gut nie werden! ſetzte er mit einem tieferem Athemzuge hinzu, ich bin an Jxions Rad gebunden.

Jndem kam ich von den Weinbergen daher. Jch hatte die ſchoͤnſten Trauben und Pfirſichen, welche meine Mutter ſo ſehr liebte, in ein Koͤrbchen geſammelt, und fuͤr dieſe mitgebracht. Jm Vorbeigehn an einem Lorbergebuͤſch, hatte ich einige der ſchoͤnſten Zweige gepfluͤckt, ſie ſpielend zu einem vollen Kranze gewunden, und uͤber die Fruͤchte gelegt. Virginia! rief mein Vater mir entgegen dein Lieblingswunſch iſt erhoͤrt. Du ſiehſt hier den groͤßten Helden des Jahr - hunderts vor dir. Wie vom Blitze geruͤhrt79 blieb ich ſtehen. Er war es, Er! der Gedanke meiner einſamen Stunden, der Traum mei - ner Naͤchte. Wie aͤhnlich meinem Bilde, und wie unaͤhnlich zugleich? Du haſt ſein Gemaͤhlde von David geſehen, es gleicht; nur freundlicher war ſein Mund, ſein Laͤcheln bezaubernd. Eben ſo liebenswuͤrdig hatte meine Phantaſie ihn ge - mahlt, nur groͤßer die Verhaͤltniſſe. Aber was ſie ihm nicht zu geben vermocht, war die Ho - heit ſeines Auges, dieſer Herſcherblick, welcher mich im Nu, ſo tief und klein vor ihn ſtellte, daß ich die Augen nicht zu erheben wagte. Jch, die gebohrene Republikanerinn, und ſtolz auf Freiheit, Gleichheit und Menſchenwerth, kniete vor ihm nieder, ohne zu wiſſen was ich that, und legte das Koͤrbchen mit dem Kranze zu ſeinen Fuͤßen. Er hob mich mit einiger Verlegenheit auf, kuͤßte mich auf die Stirn, nahm den Korb, und dankte in abgeriſſenen Worten fuͤr die feine Ueberraſchung. Virginia ſtellte in dem Augenblicke das dankbare Vaterland dar, ſagte mein Vater. Jch bin dem Vater - lande viel groͤßere Dankbarkeit ſchuldig, erwie - derte der Held, indem eine freundliche Neigung80 gegen mich, den Worten Doppelſinn gab. Wollte der Himmel, ſetzte er hinzu, und nahm eine Traube, daß meine Lorbern, fuͤr daſſelbe immer von ſo ſuͤßen Fruͤchten begleitet ſeyn moͤchten! Bald darauf reißte er ab, indem er meine Gabe eigenhaͤndig zum Wagen trug, aus welchem er mich noch mehrere Mahle, mit Hand und Blick gruͤßte. Jch blieb in einer ſehr veraͤnderten Stimmung zuruͤck. Meine Phantaſie ſchwieg, aber ich fuͤhlte mich von einer Ergebenheit durchdrungen, welche ich bei meiner freien Erziehung, ſelbſt nicht fuͤr meinen Vater empfunden. Dieſer war mit der Szene nicht ſo ganz zufrieden. Die Ueberreichung des Lorbers und der Fruͤchte war ganz huͤbſch, ſagte er, ich haͤtte ſie aber ſtehend dargebracht. Jch konnte nicht anders, erwiederte ich, eine hoͤhere Macht warf mich nieder, wie vor dem Beherrſcher des Erdkreiſes.

Der Nachklang jenes Gefuͤhls hat immer - fort in meiner Seele leiſe getoͤnt, als dieſer kleine Vorfall in meinem Kreiſe laͤngſt vergeſſen war, und ich ſelbſt ſeiner kaum mehr gedachte. Ueberhaupt iſt vorherrſchende Eigenſchaft meinesGemuͤths,81Gemuͤths, daß es ein Mahl empfangene Eindruͤcke mit faſt ſtarrer Treue bewahrt. Jch kann durch - aus nicht wechſeln mit Neigung und Abneigung, vielleicht mit daher, weil meine Neigung ſo ganz frei von aller Selbſtſucht entſteht. Die Welt liebt und haßt nur nach eigenem Vortheil; ſie ver - goͤttert, was ihr zu frommen ſcheint, verdammt, was ihr ſchaͤdlich zu werden droht; und ſcheint ſie auch ein Mahl fuͤr eine Jdee zu handeln, gewiß liegen hinter dieſer Jdee, Wohlleben, Glanz und Putz, als Grundurſachen derſelben tief verſteckt.

Ruhe, Wohlſtand und Ordnung wurde im - mer mehr in Frankreich hergeſtellt und geſichert. Das Volk fuͤhlte ſich geehrt und gluͤcklich; es wuͤnſchte ſich den Schutzgott ſeines Gluͤcks auf immer zu erhalten, und kam den Wuͤnſchen Na - poleons entgegen, welcher endlich den Kaiſertitel annahm, und ſich mit allem Glanze des Thrones umgab, wodurch er ſich vielleicht einen ſiche - rern, Ehrfurcht gebietenden Standpunkt ge - gen das Ausland und ſeine Raͤnke zu geben glaubte. Gewiß hatte deſſelben raſtloſe EinwirkungErſter Theil. [6]82den groͤßten Antheil an dieſer Kataſtrophe. Die Ausgewanderten und ihre Verbuͤndeten ſahen ſich in ihren Erwartungen getaͤuſcht, und ſchnaubten Rache. England fuͤrchtete fuͤr ſeine Alleinherr - ſchaft uͤber die Meere, wenn Frankreich, unter der Regierung eines kraͤftigen Geiſtes, die Huͤlfsquellen benutzen lernte, welche die Natur ihm verliehen; und folglich wendete es ſeinen ganzen Einfluß auf dem feſten Lande dazu an, den gefaͤhrlichen Nebenbuhler nieder zu druͤcken. Der Kontinent iſt nur zu willig geweſen, in ſeine Abſichten einzugehen, und wahrſcheinlich wird erſt nach einem halben Jahr - hundert einleuchten, welche Fehlgriffe man gethan.

Mein Vater war uͤber dieſe neuen Ereig - niſſe betroffen und verſtimmt. Er hatte ſich fuͤr die Jdee eines erſten Konſuls den großen Waſhington zum Muſter genommen. Der Pfar - rer redete ihm auf vielfache Weiſe zu; er machte ihn aufmerkſam auf die große Verſchiedenheit in der Lage der beiden Reiche. Dort bil - dete ſich erſt ein Staat, ſprach er, hier war einer zerſtoͤrt. Amerika war menſchenarm, die Geiſteskultur dort noch nicht ſehr ausgebreitet,83 und die Sitten waren einfach. Welch ein Unterſchied in Frankreich, wo Uebervoͤlkerung, Ueberbildung und Luxus die hoͤchſte Reibung hervor bringen mußten. Amerika war durch Meere geſichert, Frankreich rings von ſchelſuͤchtigen, ſchlagfertigen Nachbarn umgeben, es bedurfte eines Heldenarmes, zu ſeiner Aufrechthal - tung. Aber dieſer Fuͤhrer durfte nicht dem Wechſel unterworfen bleiben, wenn die innere Ruhe nicht gefaͤhrdet werden ſollte; er mußte mit Glanz umgeben werden, weil leider Eitel - keit, die Schoßſuͤnde meines Volkes iſt.

So weit der Pfarrer. Er ehrte vorzuͤglich Napoleon, weil dieſer die Religion ſchuͤtzte und aufrecht hielt; auch meine Mutter nahm deß - halb lebhaft ſeine Partei. Mein Vater ehrte die Religion, und das hoͤchſte Weſen mit der groͤßten Jnnigkeit; er behauptete aber, jene be - duͤrfe keines beſonderen Schutzes, der herſchende Kultus ſey nur das Kleid, nicht das Weſen der Religion. Jch ſchwieg zu allen dieſen Ver - handlungen, aber meine Ueberzeugung war auf Seiten des Pfarrers. Damahls hatte ich die Geſchichte Caͤſars und ſeines Zeitalters flei -*84ßiger als je ſtudiert. Jch konnte zwar dem Brutus meine Achtung nicht verſagen, es leuchtete mir aber ein, daß er von dem neidiſchen Kaſ - ſius und ſeinen Mitverſchworenen irre geleitet worden, und daß er uͤber ſeine gruͤbelnde Phi - loſophie das Studium ſeines Volkes, und ſei - ner Zeit verſaͤumt habe. Eines Caͤſars bedurfte Rom; es mordete ihn, und fiel in die Haͤnde eines liſtigen Octavius.

So viel man aber auch ſtritt, ob Napoleon haͤtte die Krone annehmen ſollen, ſo hoͤrte ich doch nie einen Zweifel, gegen die Rechtmaͤßig - keit des Beſitzes. Der Thron war durch den Geſammtwillen des Volkes, ſchon ſeit faſt zehn Jahren erledigt, und der jetzige Jnhaber hatte ihn, nachdem er das Reich vom Untergange gerettet, mit Zuſtimmung der Mehrzahl beſtie - gen. Wenige Dynaſtien werden ihren Urſprung aus einer beſſeren Quelle herleiten koͤnnen. Daß der Thron noch Praͤtendenten hatte, konnte dem Volke kein Hinderniß ſcheinen, da es die An - ſpruͤche dieſer nicht anerkannte; ja ſelbſt das Ausland konnte nicht ohne Heuchelei dieſen Grund, als Urſache ſeiner Abneigung, angeben;85 denn die Geſchichte erhaͤlt noch in ſehr friſchem Andenken, daß die Moralitaͤt von Europa ſich gar nicht beleidigt fand durch die harte Zu - ruͤckweiſung und Zuruͤckſetzung der engliſchen Praͤ - tendenten. Daß Napoleon aus keiner fuͤrſtlichen Familie her ſtammte, konnte der Mehrzahl des Volkes kein Aergerniß ſeyn. Der Freiheitsgeiſt unterwirft ſich lieber dem Genie als der Geburt; nur Neid und Ehrgeitz fragten ganz in geheim: warum nicht Jch? Die Fuͤrſtenhoͤfe freilich hatten, von ihrem Standpunkte, aus eine andre Anſicht. Jhren Dienern und Anhaͤngern iſt Moſes Schoͤpfungsgeſchichte bloß deßhalb eine Fabel, weil, nach ſeiner Erzaͤhlung, nur ein Men - ſchenpaar geſchaffen wurde. Gern moͤchten ſie den Mythos der Schoͤpfung dahin ausbilden, daß Gott Fuͤrſten, Adel, Prieſter, Buͤrger und Bauern, jedes als ein eigenes Geſchlecht, geſchaf - fen, wie Woͤlfe, Fuͤchſe, Haſen und Schafe. Mir hat immer ſo geſchienen, als habe dieſe An - ſicht das Ungluͤck der Welt gemacht. Wirkun - gen und Ruͤckwirkungen ſind einander ſo un - aufhaltſam gefolgt und begegnet, daß die Mit -86 welt ſchwerlich, ohne Partheilichkeit, daruͤber ein Endurtheil ſprechen kann.

Meinem Vater ſchienen ſich nach und nach dieſelben Bemerkungen auf zu draͤngen. Er hatte den Frieden von Amiens benutzt, um perſoͤnlich beim erſten Konſul Eure Ruͤckkehr aus zu wirken, ein Beweis, wie ſehr er den maͤchtigen Mann ehrte, keinen andern haͤtte er darum gebeten. Jhr wurdet von der Liſte der Ausgewanderten geſtrichen.

Deine gute Mutter benutzte die ertheilte Erlaubniß, um ihrer geſchwaͤchten Geſundheit willen, und um ihren geliebten Bruder wieder zu ſehn, mit vieler Freude; dein Vater gab ſeine Einwilligung, wahrſcheinlich aus oͤkonomi - ſchen und politiſchen Ruͤckſichten, und ſo kamſt Du, meine geliebte Adele, mit Deiner Mut - ter zu uns. Welch ein Feſt gab das in un - ſerem Hauſe! ein neues Leben ging fuͤr uns Alle auf. Jch war damals vierzehn, Du noch nicht viel uͤber acht Jahr alt, aber wie innig ſchloſſen wir uns an einander! Es war nicht der Begriff der Blutsverwandtſchaft allein, was mich ſo an Dich kettete, ob wir uns gleich87 Beide laͤngſt im Stillen eine Schweſter ge - wuͤnſcht, und dieſe nun in einander fanden. Meine Eigenthuͤmlichkeit trug vieles zu un - ſerem zaͤrtlichen Verhaͤltniſſe bei. Es war eine Eigenheit an mir, daß die Geſellſchaft der Maͤdchen meines Alters mir ſelten zuſagte; viel lieber hoͤrte ich den Geſpraͤchen ernſthafter Maͤnner zu, oder ſpielte mit den kleineren Maͤdchen, welche ſich durch dieſen Vorzug ſehr geſchmeichelt fuͤhlten, und mit anbetender Liebe an mir hingen. Alle Kinder in unſern Doͤr - fern verſammelten ſich liebkoſend um mich her, wo ich mich blicken ließ, und ich wurde ihres frohen Getuͤmmels niemals muͤde, nie muͤde, ihre kindiſchen Fragen zu beantworten. Mit liebender Sorgfalt nahm ich mich ihrer an, be - lehrte ſie, ſchmuͤckte ſie, und wußte ihnen hun - derterlei kleine Freuden zu bereiten. Kurz, naͤchſt der Jdeenwelt zog mich die Kinderwelt, am meiſten an.

Nun erſchienſt Du, das ſchoͤnſte Kind, wel - ches ich jemals geſehen. Dein blaues Auge, Deine goldenen Locken, und die zarte weiße Geſichtsfarbe unterſchied Dich von allen unſern88 provenzaliſchen Maͤdchen. Der kalte, engliſche Ernſt hatte in Dir die franzoͤſiſche Lebhaftig - keit zur ſanfteſten, einnehmendſten Heiterkeit gemaͤßigt. Uns allen kamſt Du vor, wie ein Engel auf einem Gemaͤhlde. Deiner Seits fan - deſt Du wieder die hoͤchſte Freude an unſerm ſuͤdlichen Leben, Dir war wie den Kindern ſeyn mag, welche man lange gewickelt, und denen man nun auf ein Mal ihre Bande loͤſt. Dir ſchienen, wie Deine Mutter ſich ausdruckte, Fluͤgel ge - wachſen zu ſeyn. Haͤtteſt Du doch immer bei uns bleiben koͤnnen! Aber ſo waren es nur drei kurze Jahre, welche wir vereint blieben, unzertrennlich dieſe ganze Zeit uͤber. Deine Mutter ging nach Paris und knuͤpfte dort, nach dem Willen Deines Vaters, viele ihrer alten Bekanntſchaften wieder an; Du bliebſt unterdeſſen in unſerm Hauſe, wo Du ganz als zweite Tochter behandelt und geliebt wur - deſt. Du haſt es kennen gelernt unſer gluͤckli - ches Haus; Dir brauche ich es nicht zu wie - derholen, wie Liebe und Zufriedenheit darin herrſchten. Du kennſt des Vaters freundlichen Ernſt, ſeine belehrenden Geſpraͤche, ſeine launi -89 gen Scherze, wenn er die oft zu geſchaͤftige Mutter mit Gutmuͤthigkeit neckte. Du weißt, wie ſorgſam die treue Mutter war, wie ſie Dich lieb gewann, und manche kleine Ver - nachlaͤſſigung nachſahe, wenn ich ſie um Dei - netwillen beging. Du haſt den herrlichen Emil geſehen, wenn er waͤhrend der Ferien uns zu be - ſuchen kam. Du weißt, mit welcher grenzenlo - ſen Freude er empfangen wurde, nachdem er ſchon Mondenlang vorher den Tag, faſt die Stunde ſeiner Ankunft beſtimmt hatte. Du weißt, mit welchem Jubel die Dienſtleute, Einwohner und die Kinder des Dorfes herbei eilten, um den Allgeliebten zuerſt zu begruͤßen. Wie war er da unaufhoͤrlich bemuͤht, uns Vergnuͤgen zu be - reiten, unſre Spiele und Taͤnze zu beleben, unſre Geſaͤnge mit ſeinem ruͤhrenden Floͤten - ſpiel zu begleiten. Er war die Seele unſres jugendlichen Kreiſes. Du wurdeſt bald das Jdeal ſeines jungen Herzens, und Dein Bild hat ihn bis zum letzten Schritte begleitet. O, daß das Herrliche und Schoͤne ſo ſchnell ver - gaͤnglich iſt! waͤhrend das Gemeine und Schlechte alle Stuͤrme uͤberdauert. Treffliche Menſchen90 ſind gleich zarten Blumen, ſie koͤnnen dem gluͤ - henden Strahle des Mittags, und dem eiſigen Hauche des Nordens nicht wiederſtehen. Das Unkraut wuchert fort. Welch ein Unkraut muß Deine Virginia ſeyn, daß ſie den Verluſt all ihrer Lieben uͤberleben konnte? Sie ſteht da wie die einſame Diſtel auf Schottlands oͤder Heide, welche der verlaſſene Saͤnger der Vor - zeit ſo ruͤhrend in der Nacht ſeiner Schwer - muth beſingt.

Jch kann uͤber jenen Zeitraum ſehr kurz hinweg eilen, Du haſt damals alles gemein - ſchaftlich mit mir erlebt, auch war es in Bezug auf uns, nicht viel Merkwuͤrdiges. Unſre Tage floſſen gleichfoͤrmig und froͤhlich dahin; unſre Herzen ſchlugen ruhig, ungeachtet Du anfingſt in das jungfraͤuliche Alter hinuͤber zu gehn, wel - ches ich ſchon angetreten hatte. Dank ſey meinem Vater, deſſen Sorgfalt unſerm Geiſte immer einen erhabenen Vorwurf zu geben wußte, ſo wie er unſeren Vergnuͤgungen die Kindlichkeit zu erhalten verſtand. Deine Mutter kehrte91 nach einiger Zeit zu uns zuruͤck, ſie hatte weder Neigung noch Geſchick, fuͤr die Plane deines Va - ters zu wirken. Sie war in Paris auf das beſte empfangen, man gedachte allgemein ihrer Aus - wanderung nicht, weil der Kaiſer, aus wohlwollen - der Ruͤckſicht fuͤr meinen Vater es ſo zu wollen ſchien. Die ehemalige Herzoginn von Rochefou - cauld eine ihrer Jugendfreundinnen, ſtellte ſie der neuen Kaiſerinn vor, und die guͤtige Joſephine nahm ſie mit all der Liebenswuͤrdigkeit auf, welche in ihrem ſchoͤnen Gemuͤthe lag. Sie war im Herzen tief geruͤhrt von der erfahrnen zarten Behandlung, und aͤußerte dieß in ihren Erzaͤhlungen ſo mannigfaltig. Gegen Deinen Vater hat ſie dieß aber in ihren Briefen nicht gewagt. Sie ſuchte ihn nach ihrer Art dadurch zu beſaͤnftigen, daß ſie in ſeine Vorſtellungsart einging, wohl wiſſend, wie ſehr es ihn aufbrin - gen wuͤrde, daß ſie ſeine Zwecke meiſt verfehlt. Seine Antwort, welche erſt ſpaͤt und, wegen des wieder ausgebrochenen Krieges, auf Umwe - gen, zu uns gelangte, athmete Zorn und Miß - muth. Er befahl deiner Mutter, unverzuͤglich mit Dir zuruͤck zu kehren. Gern haͤtte die ge -92 horſame Gattinn Folge geleiſtet, aber alle Ver - bindung mit England, war auf das ſtrengſte ge - hemmt; ſelbſt Briefe dahin zu befoͤrdern war mit großer Schwierigkeit verknuͤpft. So ver - zoͤgerte ſich, zu unſrer Freude, dieſe gefuͤrchtete ſo oft angeſetzte und eben ſo oft vereitelte Ab - reiſe bis zum Jahre 1806, wo man endlich wagte, den Ruͤckweg durch Deutſchland, uͤber Hamburg anzutreten. Schmerzhafte Trennung von allen Seiten! Wir zerfloſſen in Thraͤ - nen. Meine lebhafte Mutter ſchalt mitten in ihren Thraͤnen, auf den Krieg, ſchmaͤhete den Koͤnig von England, die Ausgewanderten, die Revolution, ja ſelbſt den Kaiſer. Sie warf alles durcheinander, und ſuchte bei jedem Leiden, im - mer eine naͤchſte Urſache, an welcher ſie ſich ihres heftigen Gefuͤhls entladen konnt. Mein Vater und Deine Mutter hielten ſich lange ſprachlos umarmt; ſie fuͤhlten, es war die letzte Umar - mung fuͤr dieſes Leben. Ungeachtet eine Ahn - dung dieſer Art, in ihrer Lage, recht ſehr natuͤr - lich war, ſo konnte doch damahls wohl niemand glauben, auf welche unwahrſcheinliche Weiſe ſie in Erfuͤllung gehen ſollte.

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Eure Abreiſe ließ lange eine unausfuͤllbare Luͤcke in unſerm haͤuslichen Daſeyn zuruͤck. Vor - zuͤglich litt meine ſonſt ſo ſtarke Faſſung einen gewaltigen Stoß. Dein Brief, welchen Du mir von Hamburg aus ſchickteſt, war das erſte freu - dige Ereigniß, welchem mein Herz entgegen ſchlug; und doch war dieſer Brief ſelbſt, ſo traurig, daß er mir tauſend Thraͤnen entlockte. Du fuͤhlteſt die Trennung ſo ſehr als ich; Du hatteſt Dich in dem froͤhlichen Frankreich ſchon gaͤnzlich eingebuͤrgert; England und Deine fruͤ - heren Verbindungen waren Dir ſo fremd ge - worden, ja es hatte ſich ſogar eine gewiſſe Abnei - gung gegen jenes Jnſelland in Dir feſtgeſetzt, ſeit Du in unſerm Hauſe taͤglich uͤber ſeinen unredli - chen, engherzigen Kaufmannsgeiſt reden gehoͤrt. Daneben ſchilderteſt Du mir mit den dunkelſten Farben eines trauernden Gemuͤthes, die Szenen des Elends, welche Dir auf deiner Reiſe, als Folge des Krieges, bemerkbar geworden; auch hier litt meine Seele mit Dir. Wehe dem Volke uͤber deſſen Fluren die blutige Erys hin - ſchwebt! Der Soldat kann der Halmen nicht ſchonen, uͤber welche ſein raſtloſer Fuß hineilt. 94Die Selbſterhaltung, dieſes erſte Geſetz in der organiſchen Natur, zwingt ihn in den Natur - zuſtand zuruͤck, wo die Guͤter gemein ſind, und die Staͤrke zuerſt Beſitz ergreift. Hier kann von keiner Moralitaͤt die Rede ſeyn. Die Ur - ſache der Kriege kann allein vom Moraliſten be - urtheilt werden; gewoͤhnlich aber iſt ſie ſo ver - wickelt, daß nicht leicht ein buͤndiges Urtheil ge - ſprochen werden kann.

Vorzuͤglich iſt dieß mit Frankreichs Kriegen, ſeit dem Ausbruch der Revolution, der Fall. Frankreich hatte nichts feindſeliges gegen ſeine Nachbarn im Sinn, es brach nur das Joch, deſſen Laſt ihm, je laͤnger, deſto unertraͤglicher wurde. Es war bisher von der Willkuͤhr Ein - zelner gedruͤckt worden, mithin ſehr natuͤrlich, daß wenn dieſer Druck aufhoͤren ſollte, die Willkuͤhr dieſer Einzelnen vernichtet werden mußte. Da ſchrien nun die Einzelnen Feuer, und die Nachbarn ergriffen die Gelegenheit mit Begierde, in das verſchloſſene Haus einzudrin - gen, unter dem Vorwande, zu loͤſchen. Aber mit95 welchem Rechte? Die Bewohner verbrannten nur einen Theil ihrer, durch Krankheit verpeſte - ten Kleidungſtuͤcke und Geraͤthe, und wuͤrden ſchon allein Herr des Feuers geworden ſeyn, haͤtten die unberufenen Helfer nicht die Thuͤren ge - ſprengt, und ſo, durch die Zugluft, die Flamme zum wuͤthenden Ausbruch angefacht. Haͤtten ſie doch draußen zur Sicherung ihrer eige - nen Gebaͤude, ihre Loͤſch-Anſtalten nach Be - lieben in Thaͤtigkeit geſetzt, niemand wuͤrde es ihnen verargt haben. Aber die Verletzung des Hausrechts empoͤrte die Bewohner, ſie warfen die Eindringenden auf die Straße hinaus, und verfolgten ſie bis in ihre eigenen Haͤuſer, Wieder - vergeltung zu uͤben. Nun war der Daͤmon des Krieges losgelaſſen, und keine menſchliche Macht vermochte ihn wieder zu feſſeln. Er kehrt nicht ſo gehorſam zuruͤck, als der zahme Falke, der auf den Ruf des Traͤgers ablaͤßt von ſeiner Beize, und ſich ſtill wieder mit ſeiner Nebel - kappe bedecken laͤßt. Darum ſollten die Fuͤrſten zittern, wenn ſie ein Krieges-Manifeſt un - terſchretben. Die Rachgier der Angreifer wuchs mit jedem Verluſt, und ihre Friedens -96 ſchluͤſſe, von der Erſchoͤpfung herbeigefuͤhrt, wur - den bey der Unterzeichnung in geheim von ihnen nur als Waffenſtillſtaͤnde betrachtet. England wußte die Empfindlichkeit der alten Dynaſtien immer in Athem zu erhalten, es ſparte weder Geld, noch Vorſpiegelungen, ſie immer zu neuen Anſtrengungen zu reizen, und zog allein Nut - zen aus der allgemeinen Verblendung. Zu ſpaͤt wird das Feſtland beklagen, was es, dieſem Handels-Deſpoten gegenuͤber, verſehen. Verge - bens hat die Republik, vergebens ſpaͤterhin oft der Kaiſer die Hand zum Frieden gebo - ten; man verweigerte ihn, oder ſchloß ihn mit falſchem Herzen. Frankreich mußte immer fuͤr ſeine Selbſterhaltung, fuͤr ſeine Freiheit fechten; um nicht Geſetze anzunehmen, mußte es ſich in die Lage ſetzen, ſelbſt Geſetze zu ge - ben; ſeine Eroberungen waren mehr Noth - wehr als Ehrgeitz. Die Fuͤrſten hatten den Streit begonnen, die Fuͤrſten ſetzten ihn fort, aber die Voͤlker empfanden am haͤrteſten ſeine blutige Geißel. Die Maſſe gleicht dem Kinde, welches den Tiſch ſchlaͤgt, woran es ſich ſtieß, und ſo war es ein leichtes Spiel, Frankreichals97als die Urſache aller Uebel zu verſchreien, welche die Zeit mit ſich fuͤhrte.

Von dieſem Abſchnitte meines Lebens an, ge - woͤhnte ich mich, faſt eben ſo viel zu ſchreiben, als ich bisher geleſen. Jch war gewohnt Dir alle klei - nen, mich betreffenden Ereigniſſe zu erzaͤhlen, ſo - gar alles, was ich bei dieſer und jener Veranlaſ - ſung gedacht und empfunden hatte. Dieſe liebe Ge - wohnheit ſetzte ich ſchriftlich fort, und man haͤtte ein eigenes Packetboth fuͤr meine Korreſpondenz einrichten koͤnnen. Da es aber uͤberall keins gab, ſo mußte von Zeit zu Zeit ein großer Theil mei - ner, in Hoffnung geſchriebnen Briefe den Flam - men geopfert werden. Jch war dann jedes Mahl ſehr traurig, aber niemahls unwillig. Das Kon - tinentalſyſtem leuchtete mir zu ſehr ein, als daß ich mich nicht gern jeder, daraus entſpringenden, Unannehmlichkeit unterzogen haͤtte, ſo empfindlich ſie meinem Herzen auch war. Mein Vater nannte dieſe Maßregeln weiſe und wohlthaͤtig in ihren ſpaͤteren Folgen, ſowohl fuͤr Frankreich, als fuͤr das uͤbrige feſte Land, wenn man ſie allgemein mit gutem Willen ergreife. Meine wirthſchaft -Erſter Theil. [7]98liche Mutter war ſehr dagegen, weil der Preis der Kolonialwaaren dadurch in die Hoͤhe ging; ſie wurde aber von dem Triumvirate uͤber - ſtimmt, welches aus meinem Vater, dem guten Pfarrer und mir beſtand. Wir waren zu jeder Entſagung bereit, und unerſchoͤpflich in Erfin - dung von Surrogaten. Jch fing an, alle dien - lich ſcheinenden Blumen und aromatiſchen Blaͤt - ter, bei ihrem zarten Hervortreiben, ſorgſam zu trocknen, und es gelang mir, durch vieles Ver - ſuchen und Zuſammenſetzen, eine Miſchung zu treffen, welche dem chineſiſchen Thee ſehr nahe kam. Mein Vater pflanzte Farbekraͤuter, und legte eine Fabrik von Zucker aus Runkelruͤben an; Mir machte es große Freude, bei dieſer Anlage, durch Aufſicht, mit zu wirken. Der Pfarrer legte ſich fleißig auf Bienenzucht, und erfand eine Vor - richtung