PRIMS Full-text transcription (HTML)
Die Vagabunden.
Dritter Band.
Die Vagabunden.
Roman in vier Bänden
Dritter Band.
Breslau,Verlag von Trewendt & Granier.1852.

Fünfzigſtes Kapitel.

Eine barmherzige Schweſter.

Was giebt es dort, wo die Leute ſich zuſammen draͤngen?

Jſt ein Ungluͤck geſchehen?

Eine Pruͤgelei vielleicht!

Oder ein Diebſtahl!

Sie ſind ſo keck, dieſe Spitzbuben! Hat man den Thaͤter ergriffen?

Nicht doch, es iſt ein Kranker!

Oder ein Trunkenbold!

Ein junger Menſch, wie bleich er ausſieht!

Wie er die Augen verdreht!

Er leidet wahrſcheinlich an Kraͤmpfen!

Er kommt aus einem Eſtaminet*)So wurden zur Zeit ſchmählicher Tyrannei diejenigen Kaffeehäuſer in P. genannt, wo Tabak geraucht werden durfte ausnahmsweiſe. Jetzt ſoll das anders ſein und über - all die Freiheit herrſchen, Geſtank zu verbreiten und Qualm..

Ha ha ha, er hat zu ſtarke Cigarren geraucht!

Ob man ihn denn nicht fortſchaffen wird?

Die Vagabunden. III. 12

Ah bah, er ſoll ſeinen Rauſch im Freien aus - ſchlafen.

Ja wohl, unter blauem Himmel.

Der Abend iſt mild.

Doch wir werden Gewitter haben!

Deſto beſſer, ſo erfriſcht ihn der Regen.

Seht, was dringt da durch’s Gewuͤhl?

Zwei fromme Schweſtern!

Gehorſamer Diener, das iſt die neue Schweſter, die Antonina!

Sie ſoll uͤber’s Meer gekommen ſein, eine Miſſio - nairin, ſagt man.

Die Erſte dort?

Die ſich Bahn bricht zu dem Kranken.

Wahrlich das iſt ſie! Gottes Segen uͤber dieſe. Sie iſt eine Heilige!

Ob ſie eine Heilige ſein will, weiß ich nicht; aber daß ſie eine Wohlthaͤterin der Kranken und Armen iſt, weiß die ganze Stadt.

Seht, ſie kniet bei ihm nieder.

Sie ergreift ſeine Hand.

Sie ſtreicht ihm die Locken aus der Stirn.

Sie fluͤſtert ihm in’s Ohr.

Er ſchaut ſie an.

3

Heilige Mutter Gottes, er laͤchelt.

Still, jetzt ſpricht er.

Habt ihr vernommen, Nachbarin, was er ſagte?

Deutlich, jede Silbe.

Nun was war’s denn?

Jch bin im Himmel, hat er geſagt; Gott ſendet mir ſeine Engel.

Der arme Menſch, er phantaſirt!

Er weiß nicht, was er redet!

Doch, wenn er jene einen Engel nennt, weiß er wohl, was er redet!

Schweſter Antonina erhebt ihre Stimme.

Seid ruhig, laßt ſie ſprechen.

Wie?

Ob wir ihn tragen wollen?

Ja, gern.

Wenn es die fromme Schweſter wuͤnſcht, herzlich gern.

Da Frau, nimm meinen Stock.

Greift an, Gevatter Bonnard.

Und auch ihr, Mathieu!

Das verſteht ſich, fuͤr Schweſter Antonina durch’s Feuer!

Es lebe Schweſter Antonina!

1 *4

Und ihrer Vier trugen Anton mitleidvoll und vor - ſichtig. Schweſter Antonina ſchritt neben ihnen her.

Einundfünfzigſtes Kapitel.

Ein Krankenſaal. Adele und Antonina. Drei Deutſche in Paris. Carino’s Teſtament.

Es war ein langer, hochgewoͤlbter Saal. Am Ende deſſelben brannte vor dem Altar-Bilde der heil. Eliſabeth die ewige Lampe. Zwei Reihen wohlge - haltener Lagerſtaͤtten, jede von der anderen durch den Zwiſchenraum einiger Fußbreiten getrennt, nahmen die Seitenwaͤnde ein. Die Kranken ſorglich gepflegt, mit jeder Bequemlichkeit verſehen, von jeder Labung erfriſcht die des Arztes Vorſicht ihnen nur geſtatten wollte, ſchliefen oder ſtoͤhnten, je nachdem ihr Zuſtand es mit ſich brachte. Dienende Schweſtern gingen ab und zu, dort Arzeneien reichend, hier Troſt und freundliche Worte ſpendend.

Bei Anton’s Bett ſaß Schweſter Antonina: Nichts als Erſchoͤpfung, Elend, Gram, Hunger! verſichert unſer Arzt! Hunger? Du armer Freund!

Er ſchlaͤft. Mag er ſchlafen, ich wache fuͤr ihn. O mein Gott, wie gnaͤdig warſt Du mir!

5

Als der Morgen anbrach ſchlug Anton die Augen auf.

Adele! ſprach er; Adele! Endlich gefunden!

Und leiſe wurde ihm geantwortet: Adele iſt geſtor - ben. Jch bin die Schweſter Antonina.

Anton blickte umher in den Raͤumen die ihn auf - genommen. Er wußte nicht mehr, wie er hierher kam! Aber er begriff, wo er war. Er begriff, wer ihn von der Straße, wo er huͤlflos lag, aufgehoben und vor qualvollem Hungertode, vor Wahnſinn geborgen. Doch eben ſo begriff er mit jenem ſchar - fen Ahnungsvermoͤgen der Seele, welches haͤufig durch koͤrperliche Leiden, vorzuͤglich aber in Zuſtaͤnden ohnmaͤchtigſter Ermattung ſich bis zum Hellſehen ſteigert, was mit Adelen vorgegangen; erinnerte ſich, jetzt erſt, wo er wiederum daniederlag! jener Aeußerungen, die ſie damals an ſeinem erſten Krankenlager von der heil. Jungfrau und von einem Geluͤbde gethan.

Sie war alſo entwichen, um der Welt und ihm zu entfliehen; hatte ſich hier dem Beruf hingegeben, in welchem ſie Troͤſtung ſuchte fuͤr ihres Lebens Weh! Und nun hatte er ſie gefunden, nur um zu erfahren, daß er ſie fuͤr immer verloren, daß Adele Jartour todt ſei fuͤr ihn.

6

Dabei jedoch mußte er ſich ſagen, war er von ihr gefunden worden, um gerettet zu werden.

Gerettet! Wofuͤr gerettet? fuͤgte er unglaͤubig, an ſich ſelbſt verzweifelnd hinzu; fuͤr welchen End - zweck? Was ſoll ich dem Leben fuͤrder nuͤtzen? Was das Leben mir?

Sehr langſam, mit aͤußerſter Behutſamkeit durf - ten die Staͤrkungsmittel angewendet werden, welche dieſem durch Ausſchweifungen, wildes Leben, Ver - zweiflung, und endlich Mangel und Noth an den Rand des Grabes geworfenen Koͤrper, die vorige Jugendkraft wieder geben ſollten.

Auch war ſolch eiſerner, unerſchuͤtterlicher Wille wie der einer Schweſter Antonina noͤthig, um den flehenden Bitten des Kranken zu widerſtehen, wenn er uͤber unerſaͤttlichen Hunger klagte und ſich, um dieſen zu ſtillen, mit den ſpaͤrlichſten Gaben zu begnuͤ - gen hatte. Ein ernſter Blick der frommen Pflegerin reichte aber jedesmal hin, ſein Murren in dankbares Gebet zu verwandeln.

Und wie eine Prophezeihung wohlthuenden Gene - ſens ſtroͤmte erquickendes Gefuͤhl ihm durch die Adern, ſobald er ihren Schweſter-Namen von Andern aus - ſprechen hoͤrte, oder ihn ſelbſt ausſprach.

7

Antonina! Da ſie dieſen Namen erwaͤhlte, hat ſie meiner gedacht!

Jn dem Bette zunaͤchſt dem ſeinigen ſiechte ein junger deutſcher Landsmann, ein armer Handwerker, fuͤr welchen der Arzt keine Hoffnung mehr gab. Jn dem Grade wie Anton ſich der Geſundheit naͤherte, zehrte ſich der dahin ſterbende Tiſchlergeſell ſichtlich ab und ſchwand dem fruͤhzeitigen Ende zu. Sie wechſelten bisweilen deutſche Gruͤße miteinander; Zauberklaͤnge aus heimathlicher Gegend.

Der Tiſchler, ſeiner guten alten Mutter einziges Kind, war ihr davon gegangen, die Welt zu ſehen! Jn Paris war er in luͤderliche Geſellſchaft gerathen und hatte ſich, ſeinem eigenen Ausdruck nach auf die ſchlechte Seite gelegt. Und auf dieſer ſetzte er mit bitter’m Scherze hinzu, bleib ich nun liegen, bis ſie mich auf den Ruͤcken legen.

Wie ſie zum Letztenmale mit einander redeten fragte der Tiſchler ob Anton nicht große Sehnſucht empfaͤnde nach ſeiner Mutter!

Jch habe keine, erwiederte dieſer.

Wenn ich meine Mutter noch einmal ſehen koͤnnte, dann wollte ich gerne ſterben, ſprach der Tiſchler.

8

Sie entſchlummerten Beide.

Jn der Nacht wurde Anton aufgeweckt von einem heiſeren durchdringenden Zuruf ſeines Nachbars: Herr Landsmann, ich ſehe meine Mutter, ſie iſt bei mir!

So iſt er wenigſtens im Traume gluͤcklich, fluͤſterte Anton.

Des Morgens, wie ſie ihm Arzenei reichen woll - ten, fanden ihn die verpflegenden Schweſtern todt. Er hatte ſeine Mutter noch einmal geſehen.

Anton blieb einen ganzen Tag ohne Nachbar.

Jn der darauf folgenden Nacht, gegen Morgen, wurde ein Kranker gebracht. Schweſter Antonina trug Sorge, daß er in das leere Bett neben Anton gelegt werde. Sie gab dieſem zu verſtehen, der neue Ankoͤmmling kenne ihn; habe den Wunſch geaͤußert, mancherlei Mittheilungen zu machen. Bis jetzt ſei er in ſeiner Wohnung verpflegt worden, nachdem jedoch die fromme Schweſter die ihn daſelbſt unter ihrer Aufſicht gehabt, die uͤblen Umgebungen in jenem Hauſe geſchildert, ſei der Transport hierher verfuͤgt worden. Leider nur zu ſpaͤt; denn die nahe bevorſtehende Aufloͤſung laſſe ſich nicht mehr bezweifeln.

Anton war ſehr begierig zu erfahren, welche Mit -9 theilungen das ſein koͤnnten? Wer derjenige waͤre, der ihm ſie machen wolle? Und woher Antonina vermuthe, daß ſie ihm gaͤlten?

Das iſt hoͤchſt einfach, antwortete dieſe. Jch war ſelbſt in dem jammervollen Gemach, wo er bis heute krank gelegen, um Obacht zu geben auf ſein Eigenthum und, was er etwa noch beſaͤße, fuͤr ihn zu retten. Da fand ich ein Blatt Papier in großen Schriftzuͤgen mit Bleiſtift beſchrieben. Es ſind deutſche Buchſtaben darunter, die ich nicht kenne. Doch zwei Woͤrter, mit franzoͤſiſchen Lettern ſprangen mir in’s Auge: Anton und Liebenau. Da ich nun, ſagte ſie wehmuͤthig laͤchelnd von meiner Freundin Adele dieſe beiden Namen oft nennen hoͤrte, ſo benuͤtzte ich einen lichten Augenblick des Fiebernden, ihn zu befragen. Aus ſeinem eifrigen Wunſch, denjenigen zu finden, an welchen dieſe Zuſchrift begonnen wor - den, entnahm ich, daß etwas Wichtiges fuͤr Sie daran geknuͤpft ſein koͤnne. Dieſe Entdeckung veranlaßte mich, den Sterbenden noch hierher ſchaffen zu laſſen, was ich nur muͤhſam, nur mit Huͤlfe maͤchtigen Ein - fluſſes durchſetzen konnte.

Das Blatt! Um Gotteswillen, Adele Anto - nina, das Blatt!

10

Hier iſt es.

An einen genannten Anton aus Liebenau in , der ſich wahrſcheinlich noch hier befindet.

Es wird gebeten, nach meinem Tode, dieſe Zeilen deutſch und franzoͤſiſch oͤffentlich der Finder erwirbt (unleſer - liche Stellen) eines Sterbenden, deſſen Schuld genaue Nachricht, Herkunft Aufenthalt ſeines Vaters beſſere Verhaͤltniſſe Tod ſeiner Mutter. Einzige Mitwiſſerin des Geheimniſſes Turin oder Piſa Dona assoluta

Carino? der Sterbende iſt Carino! rief Anton ſo laut, daß es in den hohen Hallen des Krankenſaales wiederſchallte.

Und ein von Leiden entſtelltes, todtenaͤhnliches Antlitz richtete ſich empor:

Ah, biſt Du es, mein Knabe? Deſto beſſer. Vor Schluß der Scene, eh noch der Vorhang nie - derfaͤllt. Er bedeckt nichts Gutes. Haſt Du des ewigen Ritter’s Gluck ewige Grabſchrift geleſen? Il préferait les muses aux syrenes! Bei mir hieß11 es umgekehrt: il préferait les syrenes aux muses! Jn Welſchland hauſen die Syrenen. Zieh auch gen Welſchland! Zum ſchiefen Thurme. Bring ihr meinen Abſchiedsgruß, meine Bitte um Verzeihung. Sie meinte es treu; ſie war keine Syrene; ſie iſt eine Muſe! Eine verkannte. Das Große wird immer verkannt, ſo lang es lebt. Komm, Anton, nimm die Geige, mein alter Oheim der Paſtor wuͤnſcht es auch. Spiel mir ein deutſches Lied ein deutſches, eh ich ſterbe. .... Die Saiten zerſchnitten? Nimm meine Geige! Wie, verſetzt? Ja ſo. Hier iſt Gold, loͤſe ſie mir ein! Jetzt ſpiele .... ſchoͤner Ton! Sie geht einſammeln, mit dem Hute des Bettlers .... Nun laß uns fingen dreiſtimmig: ſie, ich, du: Es ritten drei Reiter zum Thore hinaus, Ade Ade Ade!

Und auf dem Lager worauf der arme deutſche Tiſchlergeſell geſtorben, that auch der Neffe des ehr - lichen Paſtors von Liebenau, der vielgereiſete Vir - tuoſe und Muſikdirektor Carino ſeinen letzten Athem - zug, indem er mit brechender Stimme jene Volks - weiſe ſang, die Anton einſt ihm vorgeſpielt.

Sie begruben ihn wie jeden Anderen.

12

Anton’s Wiederherſtellung wurde befoͤrdert durch dies Ereigniß. Mit dem Streben nach einem neuen, wenn auch fernen und ihm faſt unerreichbaren Ziele, drang friſches Leben in ſeine jugendlichen Glieder. Schweſter Antonina naͤhrte des Juͤnglings kuͤhne Hoffnungen. Sie zeigte ihm mit allerlei bedeutungs - vollen Winken die Moͤglichkeit im Hintergrunde ſeiner uͤbrigens ſo finſter umhuͤllten Zukunft; ſie deu - tete ihm an, daß dieſelben maͤchtigen Haͤnde, welche ihr ſo raſch und gewaltig zur Erfuͤllung ihrer from - men Wuͤnſche behuͤlflich geweſen, durch paſſende Ver - mittelung in Anſpruch genommen, auch ſeine Zwecke zu foͤrdern bewegt werden koͤnnten.

Wenn ſie ſich bei dieſen ſchmeichleriſchen Ver - heißungen im Geheimniſſe huͤllte, ſo machte das ſei - nen wiedererwachenden Glauben keinesweges ſchwan - kend. Denn was Adele ſprach, durfte nur Wahr - heit ſein; ein Dunkel in welches Antonina ſich huͤllte, mußte zur Klarheit fuͤhren. Er uͤberließ ſich ihr! Ueberließ ſich dem Glauben an ihr Herz; der Achtung fuͤr ihren Verſtand; dem Vertrauen auf Gott; dem Gefuͤhle wiederkehrender Geneſung und Jugendkraft. So ausgeruͤſtet haͤtte er die Stunde ſeiner Befreiung aus dem Krankenhauſe gar nicht erwarten koͤnnen,13 waͤre ſie nicht zugleich wie die Stunde ewiger Tren - nung von Adele vor ihm erſchienen.

Als Schweſter Antonina ihm verkuͤndigte, daß dieſe Stunde geſchlagen, was Anton, vor Wonne und Schmerz bebend, vernahm, gab ſie ihm auf, den Wagen zu beſteigen, welcher draußen ſeiner harre, und ſich in jene kleine Wohnung zu verfuͤgen, wo er ſich zuletzt aufgehalten habe und wo jetzt Alles fuͤr ihn vorbereitet ſei. Dort moͤge er behutſam das Daſein des Geſundeten beginnen, die ſchoͤnen Nach-Sommer - Tage zu maͤßigen Spaziergaͤngen benuͤtzen und ſich durch einfache Koſt kraͤftigen. Fuͤr die Mittel haben unbe - kannte, oder doch ungenannte milde Goͤnner geſorgt. Jhre alten Wirthsleute ſind unterrichtet, was Sie beduͤrfen. Das Uebrige wenn wir uns wiederſehen.

Sehen wir uns wieder, Adele?

Antonina wird mit einer ihrer Schweſtern bei Jhnen vorſprechen, um nothwendige Anordnungen wegen einer Reiſe nach Jtalien zu treffen; einer Reiſe die Anton thun muß. Bis dahin, Adieu! Und ver - lieren ſie nicht die Geduld, denn es zeigen ſich noch mancherlei Schwierigkeiten. Aber wir wollen alle uͤberwinden, und wir werden es.

14

Zweiundfünfzigſtes Kapitel.

Der Geneſende und die Polizei. Wie Anton durch ſeine Geſandtſchaft aus dem Franzöſiſchen wieder zurück in’s Deutſche überſetzt wird. Letzter Abſchied von Adele.

Die alten Leute empfingen Anton wieder eben ſo herzlich, als da er zum Erſtenmale zu ihnen zuruͤck - gekehrt war. Zugleich dankten ſie voll Erkenntlich - keit fuͤr die Unterſtuͤtzungen, welche er waͤhrend ſeiner Krankheit ihnen habe zufließen laſſen. Es war nicht ſchwer, auch hierin Antonina’s frommes fuͤrſorgendes Walten zu erkennen; nicht minder ſichtbar zeigte ſich daſſelbe in ſeinem Kaͤmmerlein, in Kleidung, Waͤſche, Ordnung und Aufbewahrung ſaͤmmtlicher Papiere.

Ja, Alles dies hab ich ihr zu verdanken, ſprach er; ihrer ſchweſterlichen Liebe. Aber wird es dieſer wohl auch moͤglich werden, mich aus dieſer Stadt, aus dieſem Lande zu bringen? Noch immer haͤngt ein Schwert uͤber meinem Haupte; eine unvorſich - tige, voreilige Bewegung, die mich, meinen Namens - tauſch meinem geſetzwidrigen Aufenthalt verraͤth, .... und es faͤllt; faͤllt, und ſchneidet mir jede Hoffnung ab, die Spuren weiter zu verfolgen, die Carino’s Andeutung mir zeigte. Jm engen Kerker, umgeben von niedrigen Verbrechern, wie der verworfenſte Landſtreicher behandelt, werd ich vergeblich nach15 Jtaliens Himmel mich ſehnen, wohin bange Hoffnung jetzt meine Seele zieht. Abermals wird wuͤſtes Fieber mich auf’s Krankenlager werfen, ach, und keine Antonina, keine Adele wird mit Engels-Fittigen mir kuͤhlenden Troſt zuwehen. Waͤr es nicht beſſer, von ihren milden Worten beruhiget, zum himmliſchen Frie - den hinuͤber gegangen zu ſein! Daß ich jetzo begraben laͤge, wo Carino liegt und mein armer Tiſchler!

Anton blieb viel daheim, holte im Tagebuche emſig nach, was er verſaͤumt durch Baͤrbels Umgang, durch ſeine Krankheit, fuͤllte alle Luͤcken aus, ſchrieb die erſteren Blaͤtter in’s Reine und lebte auf dieſe Weiſe ſein junges Leben noch einmal durch. Nur im Schutze der Abend-Daͤmmerung wagte er ſich hinaus an die Luft. Jn jedem Begegnendem der ihn eines Blickes wuͤrdigte, waͤhnte er den Verfolger fuͤrchten zu muͤſſen; den Diener der Gewalt, der ihn zur Rechenſchaft ziehe.

Es war wieder Herbſt geworden. Faſt ein Jahr verſtrichen, ſeitdem er in Paris eingewandert. Fuͤr ihn, welch ein Jahr!

Von Adele keine Kunde. Kein Zeichen, daß er noch hoffen duͤrfe! Tag auf Tag verging; ſeine Beſorgniſſe nahmen ſtuͤndlich zu.

16

Von einem der fluͤchtigen Abendſpaziergaͤnge heim - kehrend, findet er ſeine theilnehmenden Wirthsleute aͤngſtlich, einſilbig, unruhig. Er ſieht ihnen an, daß ſie ihm eine Mittheilung machen moͤchten, daß ſie es nicht wagen. Haſtig dringt er in ſie und vernimmt nach langem Zoͤgern: ein Mann von unheilverkuͤn - dendem Ausſehn iſt da geweſen, hat ſtreng-forſchend nach einem jungen Menſchen ſich erkundiget, welcher von den barmherzigen Schweſtern hier eingemiethet ſei und er will noch dieſen Abend wiederkehren.

So iſt es denn um mich geſchehen, ruft Anton. Lebt wohl ihr guten Freunde, Gott ſei mit Euch und lohne eure Liebe fuͤr mich; und wenn Schweſter Antonina nach mir zu fragen kaͤme, beſtellt ihr meine Gruͤße, meldet ihr: Anton ſchmachte im Gefaͤngniß!

Jm Gefaͤngniß! wiederholten beide Alte, zwiſchen Widerwillen und Mitleid getheilt; Sie? im Gefaͤngniß!

Zugleich oͤffnet ſich die Thuͤr; jenes haͤmiſche Geſicht erſcheint vor ihnen, welches Anton erblickt zu haben ſich erinnert, als er, um ſeinen raſenden Hun - ger zu ſtillen, einer Troͤdlerin das ſchwarze ſeidene Halstuch zum Verkaufe darbot.

17

Sie werden mir augenblicklich zum Herrn Kom - miſſair folgen, ſagte der Mann.

Anton ſchuͤttelt ſeinen Wirthen die Haͤnde, empfiehlt ihnen noch einmal den Abſchiedsgruß fuͤr die fromme Schweſter und geht, feſt entſchloſſen vor Gericht die volle reine Wahrheit zu ſagen, den ſchwerſten Gang ſeines Lebens.

Der Kommiſſair, ein ergrauter Mann, empfing ihn ernſt, maß ihn mit pruͤfendem Blick und fragte ſodann: wiſſen Sie, warum Sie bei mir ſind?

Jch kann es mir denken, erwiederte Anton.

Nun, ſo ſagen Sie es mir aus Jhrem eigenen Munde; ich will wiſſen, wie Sie ſelbſt Jhre Lage beurtheilen.

Anton wurde durch dieſe Aufforderung, trotz ſei - nes redlichſten Willens wahr zu ſein, doch in toͤdt - liche Verlegenheit geſetzt, ob er die Gruͤnde angeben ſolle und duͤrfe, die ihn zunaͤchſt nach Paris gezogen? Mußte er dann nicht eingeſtehen, daß er ſich Adelens wegen mit einem falſchen Paß hierher gewagt? Und ſtand nicht zu beſorgen, daß er durch alle hierher gehoͤrigen Bekenntniſſe Schweſter Antonina und derenDie Vagabunden. III. 218heiligen Ruf verletze? Nach langem Beſinnen hub er an: Sie haben mich feſt nehmen laſſen, weil Sie wiſſen, daß ich es bin, der eines Fluͤchtlings Reiſepaß benuͤtzend, mich in dieſes Land, in dieſe Stadt ein - geſchlichen; weil Sie wiſſen, daß ich hier einen Win - ter lang in ſchlechter, wenn auch prunkvoller Umge - bung verkehrte; daß ich jetzt durch mildthaͤtige Seelen vom Tode errettet, ohne Mittel, ohne Ausſicht, plan - los in’s Blaue hinein vegetire; weil Sie einen Va - gabunden meiner Gattung nicht dulden wollen; weil Sie fuͤr noͤthig finden, mich in’s Gefaͤngniß zu werfen.

Was der junge Mann fuͤr ſtolze Plaͤne hegt! Wir ſcheinen noch nicht gaͤnzlich hergeſtellt von ſchwarzen Fiebertraͤumen! Nein, mein Kind, ſo ſchlimm ſteht es nicht. Wohl iſt mir bekannt, und ich waͤre ein ſchlechter Beamteter auf meinem Platze, wenn ich davon keine Kenntniß haͤtte, daß Sie nicht derſelbe Antoine ſind, auf deſſen laͤngſt abgelau - fenen Ausweis Sie durch die Barrièren drangen. Eben ſo wenig, wie Sie ein gewiſſer Baron mit unmoͤglichem Namen ſind, der allerdings auf meinem ſchwarzen Regiſter ſteht und der zur guten Stunde ſich entbaroniſirte, um wieder ein ſchlichter Antoine zu werden. Auch haben wir unſere Augen, denn19 ich zaͤhle vielerlei Augen im Dienſte, auf Jhnen, ſeitdem Sie bei dem alten kinderloſen Paare einzogen. Das ſind die beiden ehrlichſten armen Menſchenhaͤute in ganz Paris, die keine verdaͤchtigen Subjekte beher - bergen wuͤrden. Jch weiß, woran wir ſind mit An - ton Hahn aus Liebenau. He? Dennoch waͤr es Jhnen am Ende ſchlecht bekommen, mit Teufels Gewalt ein Antoine bleiben zu wollen, wenn nicht hoͤheren Ortes Einſprache fuͤr Sie erhoben worden waͤre. Jhrem Verſtande will ich uͤberlaſſen, daruͤber nachzuſinnen, wie, durch wen, auf welche Weiſe die - ſelbe laut geworden ſein mag! Uns genuͤgt, daß wir ſie vernommen. Was ich Jhnen jetzt amtlich zu berichten habe, iſt Folgendes: Wir koͤnnen Herrn Anton Hahn, der uͤbrigens von einem Franzoſen pro - noncirt nicht anders klingt, als Antoine, in Paris nicht gebrauchen. Wir ſtellen ihn ſeiner Ambaſſade zur Verfuͤgung. Dieſe iſt bereits von Allem in Kennt - niß geſetzt, was ihr zu wiſſen dienlich und handelt mit meinem Chef in Uebereinſtimmung. Zum Sekre - tair Jhres Geſandten haben Sie ſich morgen fruͤh zu begeben, ihm dies verſiegelte Schreiben zu uͤberreichen und von ihm werden Sie das Weitere vernehmen.

2 *20

Aber wenn er mich nach meiner Heimath zuruͤck - weiſet?

Nun, was verlangen Sie mehr? Ou peut on être mieux, qu’au sein de sa famille?

Ach, Herr Kommiſſair, ich habe keine Familie und keine Heimath.

Armer Junge! Nur Muth; gehen Sie dreiſt, wohin die Adreſſe dieſes Briefes Sie weiſet. Er kommt von maͤchtiger Hand. Mehr darf ich nicht ſagen. Vielleicht verſchafft er Jhnen Erlaubniß, den Weg einzuſchlagen, auf welchem Sie eine Heimath ſuchen koͤnnen.

Sie ſind unterrichtet, mein guͤtiger Herr? Sie ſind

Jch bin von der Polizei. Damit Baſta. Und dies Schreiben iſt, .... o junger Freund, Sie thaten ſehr wohl, die Protektion frommer Schweſtern bei frommen Perſonen zu gewinnen. Ohne dieſe moͤcht ich fuͤr nichts ſtehen. Jetzt Finger auf den Mund, und gluͤckliche Reiſe!

Anton konnte nicht ſogleich in ſein Kaͤmmerchen heimkehren. Er fuͤhlte das Beduͤrfniß, erſt noch in21 freier Luft zu athmen und zu dem blauen Raume empor zu ſchauen, wohin wir arme Sterbliche unſer feuchtes Auge richten, wenn wir in Schmerz oder in Freude des Ewigen beduͤrfen.

Das koſtbare Schreiben ruhete auf ſeiner Bruſt; ſein Herz ſchlug maͤchtig dagegen.

Jch werde reiſen duͤrfen! Jch werde Jtalien ſehen! Jch werde jene Frau finden, die mir Kunde geben kann von meiner Mutter Tod, von meines Vaters Leben, vielleicht von ſeiner Reue, ſeiner Liebe .... Und abermals Adele!

Die alten Wirthsleute erwarteten ihn beim matten Laͤmpchen in Seelenangſt mit ruͤhrender Theilnahme. Weinend umhalſete er beide: Jch bin gerettet! Jch bin frei! Alles iſt gut!

Und ſie falteten ihre welken Haͤnde und dankten dem lieben Gott.

Beim Geſandtſchafts-Sekretair ſollte Anton, wie er ſich am andern Morgen zu ihm begab, nicht vor - gelaſſen werden. Der Diener betrachtete veraͤchtlich die abgenuͤtzte Kleidung des zu Meldenden und ſagte: Sie muͤſſen waͤhrend unſerer Amtsſtunden wieder -22 kommen; auf ſeinem Zimmer empfaͤngt der gnaͤdige Herr keine Geſchaͤftsbeſuche. (Vorzuͤglich keine Lands - leute, die ausſehen, als ob ſie betteln wollten! haͤtte er muͤſſen hinzuſetzen.)

Anton zeigte ſein Schreiben vor und entſchuldigte das fruͤhe Eindringen durch die ihm zu Theil gewor - dene Weiſung des Polizei-Beamten.

Der Diener riß ihm den Brief aus der Hand, trug ihn muͤrriſch hinein, Anton blieb im Vor - zimmer, und waͤhrend der einen Minute, wo er allein blieb, zogen finſtre Wolken uͤber die Sonne ſeiner Hoffnung. Wenn, ſeufzte er, der Beamte mich getaͤuſcht haͤtte? Wenn ....

Bitte nur einzutreten! Und der Diener oͤffnete die Pforten der Gnade mit hoͤflichſter Verbeugung.

Ein junger, feiner Herr im Morgenkleide trat Anton freundlich entgegen, das bewußte Schreiben hielt er, geoͤffnet, in der einen, in der anderen Hand verſchiedene andere Papiere, auf welche er, waͤhrend er ſprach, abwechſelnd blickte.

Sie ſind Anton Hahn aus dem Dorfe Liebenau bei * im ***? Sie haben Jhre Reiſe-Dokumente ver - loren? Sie wollen einen neuen Paß haben? Aber Sie muͤſſen, bevor Sie in unſer Vaterland zuruͤckkeh -23 ren, zur nothwendigen Herſtellung Jhrer Geſundheit, wie dieſes aͤrztliche Atteſt beſagt, durchaus einige Zeit in milderen Klimaten verleben. Es iſt Jhnen der Aufenthalt in Nizza, oder Piſa verordnet. Seine Excellenz hat mich beauftragt, Jhre Angelegenheit nach Jhren Wuͤnſchen[und]Beduͤrfniſſen zu ordnen. Jhr Paß iſt ausgeſtellt, er lautet uͤber Turin und Piſa nach Hauſe. Excellenz meinte, es wuͤrde Jhnen lieb ſein, an keinen Zeitraum gebunden zu werden. Deshalb hab ich hier geſagt: guͤltig auf die Dauer der Reiſe; ſo haben Sie unterweges keine Quaͤlereien zu befuͤrchten. Nun tragen Sie Sorge fuͤr die noͤthi - gen Viſen und reiſen Sie gluͤcklich.

Anton huͤtete ſich wohl, den einzelnen Unrichtig - keiten in des Herrn Sekretairs Vortrage zu wider - ſprechen, oder uͤber andere, ihn in Erſtaunen ſetzende Punkte deſſelben dies Erſtaunen an den Tag zu legen. Er nahm das ihm vom Himmel fallende Gluͤck mit moͤglichſter Faſſung auf, verbeugte ſich in beſter Form, wie es Laura’s Zoͤgling gebuͤhrte, richtete ein behut - ſam, auf Schrauben geſtelltes Wort der Erkenntlich - keit an die zuvorkommende Legation und ſchwebte ſodann, beinah ohne die Stufen der Treppen zu24 beruͤhren, wie ein in Wonne verklaͤrter Geiſt ohne Leib davon.

Jn ſeiner Behauſung erwarteten ihn zwei fromme Schweſtern. Eine davon war Antonina.

Anton wollte ſich ihr zu Fuͤßen werfen. Sie wußte dies zu verhindern[.]

Jch habe wenig Zeit,[flüſt]erte ſie ihm zu (damit die Anweſenden nicht deutlich verſtehen ſollten), wir muͤſſen eilen. Jhre Angelegenheiten werden hoffent - lich geordnet ſein?

Und Alles, Alles dank ich Jhnen! rief Anton.

Dem Himmel, mein Lieber; ſagen Sie: dem Himmel, der oftmals in einem Uebermaß von Erbar - men unſere Vergehungen und Schwaͤchen als Mittel anwendet, uns Gutes erreichen zu laſſen, damit wir doppelt beſchaͤmt ſein moͤgen. Jch will Jhnen nicht verſchweigen, Antoine, Jhre Sache ſtand ſchlecht, Jhre Freiheit war gefaͤhrdet, mancherlei Anklagen erhoben ſich gegen Sie, den ſchutzloſen Fremdling. Da muß nun ein armes Maͤdchen, welches jetzt der Welt und ihren betruͤgeriſchen Freuden entſagt hat, zu jener Zeit, wo es noch der Welt angehoͤrte, in vertrautem Umgange gelebt haben mit einem ſehr hohen, großen, maͤchtigen Herren. Und dieſer Herr25 muß des Maͤdchens Angedenken bewahrt haben, feſter und inniger wie ſolche Herren ſonſt das Bild eines leichtſinnigen, oft verachteten Geſchoͤpfes zu bewahren pflegen. Zu ſeinem Ohre muß die Buͤßerin gluͤcklich den Weg finden; ihre Bitten werden erhoͤrt und der Freund iſt gerettet. [So]wollt es der Himmel, deſſen Werkzeug ich ward. Jhnen iſt nicht beſtimmt, in Mangel und Elend unterzugehen. Jhnen iſt, ſo ſagt mir die Stimme Gottes, die meine Seele erfuͤllt, ein gluͤckliches langes Leben beſchieden; darum ſollen Sie die Schule der Pruͤfungen durchirren, ſollen erfahren und empfinden, was Leiden ſind, was Thraͤ - nen und Kummer gelten, damit Sie einſt in Jhrem Wirkungskreiſe fuͤr die Leiden und Thraͤnen Anderer ein mitfuͤhlendes Herz bewahren. Und nun ziehen Sie jetzt, mein guter Freund, in ein neues Land, ſuchen Sie die verheißene Heimath. Zwar ahnet mir, daß Sie noch fern vom Ziele ſind, daß noch traurige Tage Jhrer harren, ... aber auch dieſe werden uͤber - lebt werden und aus Kaͤmpfen wird der Friede her - vorgehen.

Wir beide finden uns auf Erden nicht mehr. Dies iſt das letzte Lebewohl. Mich ruft die Pflicht. Gottes Huld fuͤr mich iſt unendlich, weil Er mir vergoͤnnt26 hat, Jhnen beizuſtehen. Jch will dankbar ſein fuͤr dieſe Huld; ich will von heute an in jedem Leiden - den Antoine ſehen; will einen jeden lieben wie wie meinen Bruder.

Sie reichte ihm die Hand, ließ eine kleine Summe Goldes in die ſeinige g[leite]n, wobei ſie ſagte: ein beſcheidenes Reiſegeld, von frommen Damen fuͤr mei - nen Kranken erbeten; denn ich bin arm.

Dann machte ſie das Zeichen des Kreuzes, nickte den beiden Alten zu, reichte der ſie begleitenden Schweſter den Arm und ging.

Dreiundfünfzigſtes Kapitel.

Wie Anton allerlei neue Anſichten vom Leben bekommt. Turin. Jean und das Rhinozeros. Zara und ſein Seekalb. Nizza. Eine Verſoͤhnung. Wie Anton ein Univerſal-Erbe werden ſoll.

Ueber Chalons (sur Saône) und Lyon ging An - ton bis Chambery zuſammen mit einigen Savoyar - den, die in ihre Huͤtten heimkehren wollten, nachdem ſie durch die Welt vagabundirend ein kleines Beſitz - thum errungen.

Seine Kaſſe war zu ſchwach beſtellt, um anders als auf dieſe Art zu reiſen.

27

Der Herbſt war ſchoͤn. Das Felleiſen, worin er ſeine Habſeligkeiten beherbergte, hing wohl ſchwer, doch bequem zu tragen auf ſeinem ſtarken Ruͤcken und er mußte laͤcheln, wenn er es mit jenem ungeſchickten Buͤndel verglich, welches ihn vor vier Jahren bei ſei - ner Flucht aus dem Haͤuschen der Großmutter ſchier zu Boden gezogen. Von den Folgen der Krankheit empfand er nichts mehr. Die Jugendkraft, die ihn neu belebt und belebend durchſtroͤmte, ſpottete jeder Anſtrengung, jeder Ermattung. Seine Tagebuchblaͤt - ter ſauber abgeſchrieben und wohlgeordnet gaben nur noch ein maͤßiges Heft, das wenig Raum einnahm. Auch die Violine, ſeine alte treue Begleiterin und Troͤſterin ſeit P., wo er ſie kaufte, wo ſie ihm ein - ſame Winterabende verkuͤrzte, machte diesmal die Fußwanderung in leichtem Gewande von Wachs - leinen mit. Von den Buͤchern freilich hatte er ſich losſagen muͤſſen: deutſche, franzoͤſiſche, engliſche, an die ſich vielerlei Erinnerungen gekettet. Doch troͤſtete ihn die Hoffnung auf italieniſchen Erſatz, dem er ja recht eigentlich entgegen ging. Hernach verſteh ich ſchon vier Sprachen! ſagte er, ſich ſelbſt beruhigend uͤber den Verluſt jener papierenen Freunde, welche ihm durch manche ſchwere oder leere Stunde geholfen.

28

Wenn man keine Buͤcher hat, muß man haͤufig mit Menſchen vorlieb nehmen; nur tritt der Unter - ſchied ein, daß man bei Buͤchern pruͤfend ſondern, die guten auswaͤhlen, die ſchlechten ungeleſen laſſen darf, waͤhrend man, was Menſchen betrifft, beſonders auf Reiſen, und zu Fuße wie unſer Anton, nicht allzu - reichliche Auswahl findet.

Jm Allgemeinen mag, was ſehr oft von Buͤchern gilt, auch haͤufig von Menſchen gelten: daß die aͤlte - ren vorzuziehen ſind.

Anton hielt ſich auf dieſer Reiſe an einen Savo - yarden, der gut ſein Vater ſein konnte, Thomas mit Namen. Von dieſem ließ er ſich erzaͤhlen, wie es ihm auf ſeiner nicht allzubequemen Pilgerfahrt ergan - gen. Thomas war, ein winziges elternloſes Knaͤblein ausgewandert, ohne Schutz, ohne Geld, ohne Kraft, ohne Erfahrung; Thomas hatte ſich durch betteln, dienen, arbeiten, ſparen bis zum Beſitz einer Dreh - Orgel emporgeſchwungen; Thomas hatte ſpaͤter mit dieſer Orgel ein von ihm erſonnenes, durch eigene Finger ausgeſchnittenes, luſtig eingerichtetes Schat - tenſpiel vereiniget; Thomas hatte im Laufe von zwanzig Jahren ein huͤbſches, kleines Vermoͤgen geſammelt; Thomas hatte ſein Theater ſammt Orgel -29 Spiel an zwei jugendliche Nachfolger verkauft, die der neuen Firma Thomas und Kompagnie keine Schande bringen ſollten, wie er hoffte; Thomas kehrt nun in das Gebirgsdorf zuruͤck, welches ihn geboren, um in demſelben irgend ein freundliches Haus zu kaufen, aus deſſen Thuͤre ihm vor fuͤnfund - dreißig Jahren milde Haͤnde vielleicht ein Stuͤckchen ſchwarzen Brotes zugeworfen; Thomas iſt entſchloſ - ſen, die Tochter eines wohlhabenden Nachbarn heim - zufuͤhren, wobei er die Verſicherung ertheilt, die Schoͤnſte im Kirchſpiel ſei eben gut genug fuͤr ihn.

Anton lauſchte den Erzaͤhlungen des einfachen, aufrichtigen Mannes, wie einem Evangelium. Er wußte nicht, was er mehr bewundern ſollte an Tho - mas: ob die gluͤcklichen Erfolge ſeiner Bemuͤhungen, ob die Seelenruhe, die in dieſen Erfolgen nicht nur nichts Erſtaunliches erblickte, ſondern dieſelben ſogar fuͤr ganz natuͤrlich und billig hinnahm. Solches Selbſtvertrauen, geſtuͤtzt auf praktiſche Gewandtheit, auf Kenntniß der Umgebungen, erſchien dem Liebe - nauer Kinde beneidenswerth. Er fing an, zu ahnen, daß es Menſchen gebe, die mit ſcharfen Blicken Weg und Steg zu ihrem Ziele verfolgen, ohne ſich irre machen zu laſſen durch Alles, was bluͤht und fliegt,30 ſchwebt und flattert; waͤhrend wieder andere Men - ſchen ihr ſchwaͤrmeriſches Auge nicht abwenden koͤnnen von Blumen, Voͤgeln, Wolken und Sternen, dabei jedoch uͤber jeden Stein ſtolpern, ſo auf der Straße liegt.

Daß Thomas zu der erſteren Gattung gehoͤre, unterlag fuͤr ihn keinem Zweifel. Daß er ſelbſt ein Weniges mit der zweiten verwandt ſei, fuͤhlt er anzunehmen ſich geneigt. Doch eben ſo geneigt fuͤhlte er ſich, zu erlernen, was ſich eben lernen laſſe. Er ſchied nicht von Freund Thomas, ohne ſich mancherlei erprobte Lebensregeln in’s Gedaͤchtniß gepraͤgt zu haben.

Jn Turin war natuͤrlich ſeine erſte Sorge, ein - gedenk zu ſein, daß dieſe Stadt auf Carino’s, im Todesfieber geſchriebenen, halb verwiſchten Abſchieds - blatte leſerlich zu finden geweſen. Auch wurde ihm ſehr leicht, Nachricht einzuziehen von dem Gegen - ſtande ſeiner Forſchung. Signora Carina, noch vor einem Jahre bevorzugter Liebling hieſiger Opern - kenner und Freunde, hatte bei ihrem letzten Auftritt kein Gluͤck gemacht; zum Theil, wie Einige ihm ſag -31 ten, durch Nachwirkung des Pariſer Fiasko. Man vermuthete ſie in Piſa. Auch dies traf mit Carino’s Angabe zuſammen und Anton beſchloß, ihr am naͤch - ſten Tage dorthin nachzuziehen.

Den leeren Nachmittag benuͤtzte er, ſich Turin zu betrachten; da fand er, uͤber Straßen und Plaͤtze ſtreifend, unerwartet einen Bekannten aus der Lehr - jungenzeit ſeines Vagabundenthumes: den rothbaͤrti - gen Jean von Mama Simonelli.

Dieſer hatte ſich von der Gebieterin getrennt, weil ſie beim Einkauf der neuen Menagerie uneinig geworden. Er theilte ſeinem ehemaligen Kameraden die Geſchichte dieſer Trennung folgendermaßen mit:

Jſt dieſe Frau verblendet! Jſt ſie trotzig! Wuͤthet ſie gegen ihren eigenen Vortheil! Sie moͤgen ent - ſcheiden, Antoine. Wir finden in London ein Thier, welches eine ganze Menagerie aufwiegt; ein Thier, welches ſeit Jahrhunderten, mit kurzen Worten zu ſagen, ſeit der Suͤndfluth, auf dem Kontinent nicht fuͤr Eintrittsgeld gezeigt wurde; ein Thier, auf wel - chem Noah’s juͤngſter Sohn durch die Fluthen geſchwommen, ohne ſich die Stiefeln naß zu machen; ein Thier, gegen welches zwoͤlf Elephanten eben ſo viele junge Hunde waͤren; ein Thier, welches zu32 warten und zu pflegen, mit welchem im vertraulichen Umgang zu ſtehen ich mich ſo ſtolz fuͤhle, als ob eine aͤgyptiſche Pyramide meine eigene leibliche Mutter ſei! Der Beſitzer dieſes hoͤheren Weſens auf vier Beinen iſt mit Blindheit geſchlagen, erklaͤrt ſich bereit, fuͤr elende zehntauſend Pfund Sterling es her - zugeben. Befand ich mich in der Lage der Madame Simonelli, welche dazumal als kinderloſe Hausfrau in Londons Gaſſen umherirrete, eine neue Familie ſuchend, zum Erſatz fuͤr jene, die das Feuer ihr geraubt, ſo wuͤrde ich dieſes Thieres Beſitz erſtrebt haben, es haͤtte mein werden muͤſſen, und haͤtte ich ſollen die zehntauſend Pfund à zwanzig Prozent von der Krone England ausleihen, oder beim alten Rothſchild ein - brechen, oder den Lord Mayor in einer Schildkroͤten - Suppe erſaͤufen. Sie jedoch, Madame Simonelli, fuͤr welche zehntauſend Pfund Sterling ſo viel ſind, wie fuͤr mich zehn Pfund Virginia-Kanaſter, was thut ſie? Sie verſchmaͤht meinen Rath, verlacht mein Flehen, nennt mich einen ſentimentalen Fanfaron, einen Jean cul! Du biſt ein Fantaſt, ruft ſie mich an; wie koͤnnt ich mein und meiner Tochter Vermoͤ - gen an das Leben eines einzigen Jndividuums wagen? Wenn es ſtuͤrbe, waͤr ich eine Bettlerin! So33 ſpricht eine Simonelli. Als ob die Ehre nicht auch etwas waͤre! Genug, ſie kauft Loͤwen, Tiger, Hyaͤ - nen, Affen und ſo weiter, den alten abgeſtandenen Kuͤchenzettel. Ein Anderer o es thut mir weh um meine alte Simonelli ſchließt dieſen großen Handel. Was blieb mir uͤbrig? Jch konnte nicht bei ihr bleiben; ich trennte mich mit ſchwerem Herzen, das will ich nicht leugnen; aber ich trennte mich und folgte dem Rhinozeros.

Anton fuͤgte ſich ſehr gern der Einladung des begeiſterten Mannes und ließ ſich durch ihn bei dem gewaltigen, ein ganzes Vermoͤgen aufwiegenden Thiere einfuͤhren. Selten mag es ſein, ſprach er, obwohl der Preis auch ein ſeltener iſt; doch ſchoͤn kann ich es nicht finden, lieber Jean; beim beſten Willen nicht.

Nicht ſchoͤn? ſchrie Jean, indem er verzwei - flungsvoll ſeinen rothen Bart raufte; Sie auch, Antoine, finden es nicht ſchoͤn, der Sie unter Thieren ſich herangebildet, entwickelt haben, der Sie wiſſen koͤnnten, was ſchoͤn iſt? Nun, alle Heiligen erbarmen ſich meiner! Wenn das nicht ſchoͤn iſt, was giebt es dann Schoͤnes in der Schoͤpfung? Jch finde es ſchoͤ - ner, als des Nachtwaͤchters aͤlteſte Tochter in K. Mehr vermag ich nicht zu ſagen.

Die Vagabunden. III. 334

Jch kannte jenen Gegenſtand Deiner Liebe nicht, verſetzte Anton. Dein Vergleich aber, in meiner beſchraͤnkten Anſicht von Schoͤn und Nichtſchoͤn, gereicht der Dame Deines Herzens nicht zu beſonde - rem Vortheil. Was mich betrifft, verzeih mir Gott die Suͤnde, ich kann das Rhinozeros nicht anblicken, ohne an Onkel Naſus zu denken.

An Jhren Onkel? Gut, Herr Antoine. Mag dieſer Onkel leben, oder todt ſein; wenn er unſerem Rhinozeros aͤhnlich ſah, war er ein wuͤrdiger Mann!

Anton hatte keine Urſache, dem Rothbart zu ver - ſchweigen, daß ſein Weg ihn nach Piſa fuͤhre; auch hielt falſche Schaam ihn nicht ab, einzugeſtehen, wie der Staub der Landſtraße, die Laſt eines Felleiſens und die Muͤdigkeit verwoͤhnter Fuͤße auf die Laͤnge wenig zum Vergnuͤgen des Reiſenden beitruͤgen; wie er ſehr zufrieden ſein wollte, wenn ſeine Finanzen ihm geſtatteten, auf einige Tage mit dem Rhinozeros zu tauſchen, welches in eigenem Wagen, von zwoͤlf Roſſen gezogen, als großer Herr reiſete. Jch wollte, verſicherte er, mit einem Sechstheil dieſer Ehren35 mich begnuͤgen und mit zwei Poſtpferden vorlieb nehmen.

Bis Nizza, meinte Jean, wird ein Freund von mir Sie gern mitnehmen; es iſt ein Venetianer, ein gewiſſer Zara, der mit einem Seekalb Geſchaͤfte macht; ſo viel ich weiß, bricht er in dieſer Nacht von hier auf. Er hat ſein eigenes Fuhrwerk und Sie wer - den bequem ſitzen. Wenn’s Jhnen recht iſt, fuͤhr ich Sie gleich zu ihm, wir haben jetzt keine Zuſchauer hier und fuͤr einen Augenblick kann ich ſchon abkommen.

Der gutmuͤthige Jean geleitete ſeiner ehemaligen Herrſchaft ehemaligen Liebling zu Herrn Zara’s zelt - artigem Etabliſſement, ſtellte ihn als ihres Gleichen vor und erbat ſich freundlich-zuſagende Erfuͤllung des Geſuches.

Das Seekalb, die eigentliche Hauptperſon, Ernaͤh - rer des Herrn Zara und deſſen dienenden Gehuͤlfen, der eigentliche pater familias, lag auf dem Rande ſeines Waſſerbehaͤlters, Bruſt und Kopf heraus - gelehnt wie ein Kapuziner*)Phoca monacus? Anm. d. S. , gaͤhnte aus Leibeskraͤf -3 *36ten, nieſete verſchiedene male, ohne nachher ein Schnupftuch zu benuͤtzen; reichte auf Befehl des Gebieters dem Liebenauer eine Vorderpfote; ſagte: Papa! (wodurch es aber nicht ſowohl, daß Anton ſein Erzeuger ſei, als vielmehr daß es in ſeiner Sprachausbildung, zarten Menſchenkindern vergleich - bar, eben noch nicht weiter gediehen war, andeuten wollte;) zog ſich dann ins Waſſer zuruͤck; waͤlzte ſich in ſelbigem wie ein vollgeſogener Blutegel umher, ſtieß ein heiſeres Geſchrei aus, wodurch es deutlich zu verſtehen gab, daß ein Gericht Fiſche große Gnade vor ſeinen ſchoͤnen Augen finden werde. Herr Zara, in ſo weit bibelfeſt, wie es die Lehre vom Schweiße des Angeſichts worin wir unſer Brot eſſen ſollen betraf, erfuͤllte dieſen Wunſch nicht unbedingt, ſon - dern verſicherte, die Fiſche koͤnnten erſt ſervirt werden, nachdem Monsieur le moine ſich als Tonkuͤnſtler gezeigt. Das Seekalb ſpie nicht Feuer und Flamme, wohl aber Gewaͤſſer, machte endlich gute Miene und boͤſes Spiel, indem es mit ſeinen Pfoten der ihm vor - gehaltenen Guitarre einige Klagetoͤne entriß und bat ſich unmittelbar nach dieſer muſikaliſchen Beluſtigung ſeine Fiſche aus, die ihm zugeworfen wurden (wie37 andern Kuͤnſtlern die Lorbeerkronen) und die es mit großer Geſchicklichkeit in der Luft auffing.

Jean naͤherte ſich Anton und ſagte ihm leiſe: Zara iſt ein braver Burſche und ich bin ihm recht gut; aber geſtehen Sie ſelbſt, Herr Antoine, ob ein ſolcher Verkehr mit einem quasi-Fiſche nicht die Menſchheit entwuͤrdiget? Jch bemitleide meinen Freund. Frei - lich wohl, nicht alle Menſchen koͤnnen bei einem Rhi - nozeros angeſtellt ſein, denn es giebt zu viele Men - ſchen, die Lebensunterhalt ſuchen und im Verhaͤltniß viel zu wenig Rhinozeroſſe; auch muͤſſen Unterſchiede auf Erden ſtatt finden; ich begreife das .... Doch dieſer Unterſchied iſt zu groß: er ſtoͤrt die Freund - ſchaft. Ein Fiſch! es iſt entſetzlich. Addio, Zara, rief er mitleidsvoll; und: gute Reiſe, Herr Antoine! Dann ſchritt Jean ſeines Weges, ſo ſtolz, als als ob er ſelbſt ein Rhinozeros waͤre.

Der Moͤnchsrobbe in Schilf-Decken gehuͤllt lag in ſeinem Reiſe-Cubiculum; der Knecht, eine Art Caliban, neben ihm. Zara mit Anton ſaßen auf dem Verdeck des ſeltſam konſtruirten Wagens. So roll - ten ſie, von gewechſelten Pferden befoͤrdert, raſch38 dahin. Mit jedem Poſtſteine den ſie zuruͤckließen mehrte ſich Anton’s Erwartung: was er durch Sig - nora Carina vernehmen ſolle. Sie war es, wie er vermuthete, ſie auf Erden allein, die ihm das Ende ſeiner Mutter, den Namen ſeines Vaters, ja, was noch wichtiger wurde: die ihm Wege und Mittel zur Ausgleichung, zur Verſoͤhnung mit dieſem bezeichnen konnte. Nur in dieſer Hoffnung gewann die Kennt - niß von ſeines Vaters Aufenthalte Werth fuͤr ihn; nur durch die Entdeckung, daß vaͤterliche Geſinnung den Mann beſeele, der ihm bisher ein Fremder geblieben!

Einen Vater, der ſich ſchaͤmt, mich anzuerken - nen, mag ich eben ſo wenig kennen lernen, als ich jemals die ſelige Großmutter nur mit einer Silbe gefragt habe, wie er heißt und wo er wohnt! So waͤre gar meine arme Mutter nicht, wie wir waͤhn - ten, bei der großen Ueberſchwemmung in N. umge - kommen? Sie waͤre vielleicht in fremde Laͤnder ent - flohen? Vielleicht nach Jtalien, wo Carino’s Gefaͤhr - tin mit ihr bekannt geweſen? Und ruͤhrte von dieſer letzteren etwa die Zuſchrift her, die meiner Großmut - ter Ende herbeifuͤhrte?? ....

Bei ſolchen Fragen, welche Anton waͤhrend Zara39 ununterbrochen ſchlief, an ſich ſelbſt richtete, ohne Ausſicht auf Beantwortung, außer durch den Mund der Erſehnten, mußte wohl ſeine Ungeduld eine ſchwer zu beherrſchende werden.

Jn Nizza trennte er ſich dankbarlichſt von dem Beſitzer des gebildeten Seekalbs, nahm ein Stuͤbchen fuͤr ſich allein, wuſch, erquickte, ſtaͤrkte ſich beſtens und trat ohne Aufſchub, Ranzen ſammt Geige auf dem Ruͤcken, den Wanderſtab in der Hand, die Fußreiſe wieder an. Er hatte kaum ſein Wirthshaus verlaſſen, als ein langſam fahrender Vetturino ihn anrief, befragte wohin er gehe und ihm, nachdem Anton Piſa genannt, den Vorſchlag machte, ſeinen Kutſcher - Sitz mit ihm zu theilen, gegen maͤßige Bezahlung. Denn auch er fuhr gen Piſa, war von einem kranken Herren, der fuͤr ſich und einen Kammerdiener das Jnnere der Kutſche gemiethet, aufgenommen; behielt aber die Verguͤnſtigung fuͤr das Kabriolet einen Paſſa - gier zu erwerben. Anton, welcher bereits mehrere Beſtandtheile der italieniſchen Sprache aufgeleſen und ſich zu eigen gemacht, verſtand ſich mit Petrillo ſo ziemlich; ſie wurden bald Handels einig; dem Felleiſen wie der Geige wies man ſichere Plaͤtze zu40 und unſer Freund, ſein gutes Gluͤck preiſend, beſtieg den Bock.

Waͤhrend der Vetturin zum Erſtenmale anhielt, ſtieg des Reiſenden Kammerdiener aus dem Wagen, naͤherte ſich Anton und redete dieſen franzoͤſiſch an: Mein Herr hat mir befohlen, Sie zu fragen, ob Sie vielleicht vorziehen, bei ihm im Wagen Platz zu neh - men? Er wuͤnſcht ſehr, ſich mit Jhnen zu unterhal - ten. Er kennt Sie und Sie kennen ihn. Jch ſoll mit Jhnen den Sitz bei’m Kutſcher tauſchen. Mein Herr wuͤrde ſelbſt abgeſtiegen ſein, Jhnen dieſen Vor - ſchlag zu machen, doch iſt er zu leidend und ſchwach.

Anton hatte keine Urſach einer ſo artigen Bitte nicht nachzugeben. Er that ohne Aufſchub, was von ihm gewuͤnſcht wurde. Wie er in den Wagen ſtieg fand er ſich neben einem Manne von ſehr krankem und verſtoͤrtem Ausſehn, der bei dem milden, faſt heißen Herbſt-Wetter in einen dicken Mantel ver - mummt, von Kiſſen und Polſtern jeder Art umgeben und geſtuͤtzt ſaß. Beim erſten Anblick erkannte der Einſteigende die entſtellten Zuͤge nicht wieder, was er durch ſeine zweifelhafte Begruͤßung zu verſtehen gab. Doch der Kranke kam ſeinem Gedaͤchtniß zu Huͤlfe indem er ihn anſprach.

41

Sogleich rief Anton: Herr van der Helfft? Sie? ....

Und Theodor entgegnete: Sie ſtaunen, daß ich Sie zu mir bitten ließ? Nach Allem was zwiſchen uns ſich zugetragen und den Gebraͤuchen zu Folge wie ſie unter gebildeten Menſchen auf Erden herrſchen duͤrften wir uns nur mit Piſtolen in der Fauſt wie - der begegnen, oder muͤßten uns vermeiden. Jch weiß das. Doch weiß ich auch, daß dieſe Gebraͤuche nur fuͤr lebende, lebendige Menſchen gelten; der Todte iſt nicht mehr verpflichtet, ſich ihnen zu fuͤgen. Und ich bin ein todter Menſch. Daß ich noch rede aͤndert nichts in der Sache. Jch bin ein Leichnam.

Als ich Sie neben dieſer Kutſche wandernd Jhres Weges ziehen ſah und Sie augenblicklich erkannte, regte ſich der verzeihliche Wunſch in mir, mit Jhnen zu beſprechen, was uns Beide ſo nahe beruͤhrt. Erſt auf meine Veranlaſſung wurden Sie durch Petrillo aufgefordert, die kleine Reiſe mit uns zu machen. Jetzt hoff ich, Sie werden meine Bitte erfuͤllen: Sterbenden pflegt man, wo moͤglich, nichts abzu - ſchlagen. Laſſen Sie mich erfahren, was Sie und Jhr Verhaͤltniß zu ..... zu der Todten angeht. Ohne Ruͤckſicht, ohne Zuruͤckhaltung, ohne Schonung! 42Sagen Sie mir die volle Wahrheit. Schlimmer kann ſie ja doch nicht ſein, als der Ausgang den ſie herbeigefuͤhrt hat. Doch auch das Schlimmſte iſt mir willkommen, weil ich klar ſehen will. Sie erweiſen mir, wenn Sie dies thun, einen großen Dienſt; und waͤre wie ich vermuthen darf, Jhr Gewiſſen nicht voͤllig rein gegen mich, ſo duͤrfte Jhnen ſelbſt erwuͤnſcht ſein, ſich durch dieſes mir gewidmete Opfer zu erleichtern.

Anton war tief ergriffen. Nur allzu lebhaft empfand er das Gewicht des ihm gemachten Vor - wurfs; um deſto lebhafter, je maͤßiger die Anklage geſtellt wurde. Er beichtete. Vom erſten Abende an, wo er Baͤrbel im großen franzoͤſiſchen Theater geſehen, bis zum letzten, wo er den in Luͤften verhal - lenden Ruf ſeines Namens, auf der Flucht vor ihr und ihrer wild-gluͤhenden Leidenſchaft, durch die Nacht zittern gehoͤrt.

Alſo auch Sie, hub nach langem Schweigen der Kranke an, alſo auch Sie waren bezaubert, verzaubert vielmehr durch die unerforſchliche Macht dieſes teuf - liſchen Engels? Bei Jhnen auch erloſch dieſes Zau - bers furchtbare Gewalt, als der ſchoͤnſte Koͤrper zer - ſchmettert, verſtuͤmmelt, grauenhaft entſtellt, die falſche Seele ausgehaucht? Nun, ſagt ich nicht, Jhre43 Bekenntniſſe wuͤrden mir Troſt verleihen? Das iſt ſchon geſchehen. Was Sie mir jetzt entdeckt: die Abhaͤngigkeit in welcher auch Sie wider eigenen Willen verharren mußten; die fortdauernde Anſpannung aller Sinne und ſinnlichen Erregungen, worin dies ſchlaue Geſchoͤpf auch Sie zu erhalten verſtanden; der Abſcheu, den Sie vor ihr hegten, immer wieder beſiegt durch die kindiſche Furcht ihr zu mißfallen und ihren Groll zu erwecken; mehr noch als dies Alles jene Erſchoͤpfung aller geiſtigen und leiblichen Kraͤfte, nachdem Sie ſich frei und den Zauber verbannt fuͤhl - ten; der Wahnſinn, der Sie zu beherrſchen drohte; die Todeskrankheit, der Sie faſt unterlagen; .... ich finde mich in dieſen Zuſtaͤnden wieder, mich und mein Geſchick. Nur mit dem einen Unterſchiede, daß Sie am Rande des Grabes, durch Jugend und Gene - ſung gerettet, umkehren durften, ſich dem Leben wie - der zuzuwenden; und daß ich hinabſteigen werde in die kalte, finſtere, einſame Grube; jung, mit dem Wunſche zu leben!

So weit iſt es noch nicht, ſtammelte Anton.

Freilich nicht! Leider nicht! Es kann noch ziem - lich lange dauern, bis dies Automaten-Daſein, das ich fuͤhre, verliſcht. Und iſt das nicht um ſo trau -44 riger? Die Aerzte wiſſen nicht mehr, was ſie mit mir beginnen ſollen! Die Pariſer ſchickten mich nach Nizza. Jn Nizza, um mich nur los zu werden, prie - ſen ſie mir Piſa. Jch weiß im Voraus, auch in Piſa kann ſich’s mit mir nicht aͤndern. Jch werde auch dort nicht aushalten. Da hab ich meine Leute ent - laſſen, die ſaͤmmtlich treuloſe Betruͤger und Verbuͤn - dete jener erbaͤrmlichen Spiel-Geſellen waren, mit denen meine eigene Verblendung mich verbuͤndet hatte. Jch habe meine Wagen verſchleudert, meine Pariſer Einrichtung hingeworfen, jeden Luxus von mir ent - fernt, nicht um zu ſparen, denn fuͤr wen ſollt ich das? Nur weil mich anekelt, worin ich aufwuchs. Es regte ſich in meinem Jnnern giftiger Neid gegen die Armen, die auf ſich allein angewieſen, ſich durch die Welt ſchlagen; die Ueberdruß, Langeweile nicht kennen: die noch empfaͤnglich ſind fuͤr Luſt und Freude. Denen wollt ich es gleich thun, ah, ich vergaß, daß man dazu Kraft und Geſundheit braucht; daß der Kranke, Elende, wenn er arm iſt, zwiefach leidet; daß Reichthum doch manche Linderung gewaͤhrt; ... aber ich rede immer von meinem Reichthum, als wuͤßt ich ſo ſicher, daß ich ihn noch beſitze! Das werd ich erſt erfahren, wenn ich heimkehre. Meine45 Unordnungen, Baͤrbels wahnwitzige Verſchwendungs - wuth, die Nichtswuͤrdigkeit der ſogenannten Freunde, haben meine Verhaͤltniſſe dermaßen verwirrt, daß ich mich ſelbſt nicht mehr auskenne. Schleicht der Tod, den ich in dieſen Gliedern ſpuͤre, ſo langſam fort wie bisher; zoͤgert er noch ſehr lange bis er mir an’s Herz tritt, dann kann’s vielleicht geſchehen, daß ich als Bettler ſterbe, wie jener Vagabund in meinem Liebenauer Walde, fuͤr deſſen Begraͤbniß Sie damals ſorgten und meine Gabe zuruͤckwieſen. O, ich weiß noch, was Sie mir in’s Ohr raunten: heben Sie Jhr Gold fuͤr die braune Baͤrbel auf!

Theodor, ſagte Anton, moͤchte die Thraͤne in mei - nem Auge Jhnen Buͤrgſchaft geben fuͤr mein Herz. Wollen Sie mir verzeihen, was ich an Jhnen freveln half? Koͤnnen Sie’s?

Gern, erwiederte Theodor, der ihm die magere, zitternde Hand hinſtreckte. Gern und von ganzer Seele. Jch waͤre zu tadeln, wenn ich ferner gegen Sie grollte. Nein, ich habe kein Recht dazu. Jch, von allen Menſchen, am Wenigſten, weil ich die Uebermacht am Beſten kenne, deren Verfuͤhrung Sie unterlagen. Wenn Sie an mir gefrevelt haben, ſo begingen ſie den Frevel ja nur an einem Jhnen gleich46 guͤltigen Menſchen, der kalt, hochmuͤthig, lieblos auf Sie herab ſah. Jch ſelbſt bin weit ſtraͤflicher, denn ich habe unendlich groͤßeren Frevel an mir begangen, habe mich ſelbſt zerſtoͤrt, und blieb dabei der Betro - gene, Verhoͤhnte, waͤhrend Sie geliebt wurden. Sie ſind alſo eher zu entſchuldigen als ich. Laſſen Sie uns Freunde ſein. Wir muͤſſen es werden; wir ſind es eigentlich ſchon. Eben weil wir ſo wuͤthende Feinde waren, weil unſere Feindſchaft entſprang aus einer Leidenſchaft fuͤr ein Weſen daͤmoniſcher Gat - tung; weil wir an einem Tage das ſchmaͤhliche Joch los geworden ſind, in einer und derſelben Stunde.

Bleiben Sie bei mir. Sie ſtehen allein in der Welt, im Leben. Jch gehe dem Tode entgegen und bin auch allein. Harren Sie bei mir aus, bis ich ſterbe. Sie ſollen mein Erbe ſein! Und rette ich aus der großen Hinterlaſſenſchaft, die ein zaͤrtlicher, ach, allzuzaͤrtlicher! Vater mir hinterließ, nichts als Jhr Heimathdorf, unſer Liebenau, ſo iſt das fuͤr Sie, der gar nichts beſitzt, ſehr viel. Das ſoll Jhr Eigenthum werden, wenn Sie mich bis zu meinem Tode nicht mehr verlaſſen wollen. Gott hat uns hier zuſammengefuͤhrt, daß meine Leiden durch Jhre47 liebe Gegenwart gemildert wuͤrden. Verhaͤrten Sie Jhr Gefuͤhl n[ic]ht gegen dieſen Fingerzeig von Oben; begluͤcken Sie mich durch Jhre Zuſage; willigen Sie ein, mein Erbe zu werden! Wir halten uns nicht in Piſa auf; wir reiſen ohne Aufſchub heim; wir eilen ſo viel meine Schwaͤche geſtattet nach Liebenau. Mich duͤnkt im Schatten unſerer Waͤlder muͤßte ſich’s ſanft und ruhig ſterben laſſen! Anton, willſt Du bei mir bleiben, als Freund und Bruder?

Mich ruft eine heilige Pflicht nach Piſa, antwor - tete Anton, ſehr ernſt geſtimmt durch die wunderbare Wendung die dies Geſpraͤch unerwartet genommen. Jch ſoll dort wie ich hoffe Nachrichten empfangen uͤber mich, meine Herkunft, meine Vergangenheit und Zukunft. Koͤnnen Sie ſich entſchließen, ſo lange zu verweilen, bis alle Schritte gethan ſind, die ich dort zu thun mir vorgeſetzt, dann bin ich bereit, Sie fuͤrder zu begleiten; bin bereit, bei Jhnen auszuharren und durch bruͤderliche Pflege an Jhnen gut zu machen und zu ſuͤhnen, was nicht Verzauberung, Theo - dor, beluͤgen wir uns nicht; nein, was Leichtſinn, heißes Blut, ungeſtuͤme Jugend geſuͤndiget. Von dem großmuͤthigen, aber unausfuͤhrbaren Gedanken, mich zu Jhrem Erben einzuſetzen, werden Sie in48 ruhiger Stimmung zuruͤckkommen. Sie haben, das weiß ich durch Baͤrbel, in Holland Verwandte von muͤtterlicher Seite, welche ſich mehrmals bittend an Sie gewendet

Die ich nicht kenne! die ſich nur um meinen Vater bekuͤmmerten, wenn ſie Geld verlangten; die reichlich, mit vollen Haͤnden laͤngſt abgefunden ſind. Sehr entfernte Verwandte, die geſetzlich gar keinen Anſpruch machen koͤnnen, ſo bald mein Teſtament einen anderen Univerſal-Erben einſetzt. Und dieſer Erbe iſt Anton. Anton wird Herr von Liebenau, ſo wahr und gewiß ich auf Gottes Gnade hoffe im Leben wie im Tode.

Vierundfünfzigſtes Kapitel.

Wie der Tod in Piſa eine Erbſchaft wegſchnappt.

Mit dem Felleiſen auf dem Buckel, ſtaubig, matt, des Laufens uͤberdruͤßig, hatte unſer Held in Piſa einzuziehen vermeint. Jetzt ſaß er in ſanft ſchaukeln - der Kutſche, welche am beſten Hôtel vorfuhr und welche er nach gluͤcklich zuruͤckgelegter Fahrt mit einem hohen, vornehm eingerichteten Wohnzimmer ver -49 tauſchte, das man ihm auf Theodor’s Befehl ange - wieſen. Morgen, ſprach dieſer da ſie ſich trennten, morgen fruͤh werd ich meinen letzten Willen auf - ſetzen und die hieſige Magiſtrats-Behoͤrde erſuchen, den Akt mit ihrem Zeugniſſe zu beglaubigen. Wir haben noch weit bis zur Heimath und wer weiß, was geſchieht! Jetzt freu ich mich des Abends, der Ruhe, meines Lagers. Seit Paris, ſeit Baͤrbels Tode, ſeit meiner Krankheit hab ich noch keinen ſo ertraͤglichen Tag gehabt, wie dieſen letzten mit Dir, Anton. Deine Naͤhe wirkt wohlthaͤtig auf mich. Schon hat ſie mir leichteren Sinn gegeben, vielleicht giebt ſie mir auch ruhigen Schlaf! Gute Nacht! Und das Uebrige morgen, beim Erwachen!

Seitdem ſie ſich in Nizza gefunden, waͤhrend der Reiſe bisher hatten ſie jede Minute im Wagen, oder im Gaſthofe mit einander zugebracht. Jetzt in Piſa erſt trennten ſie ſich, jeder ſein Nachtlager ſuchend und da erſt fand Anton Zeit und Gelegenheit, allein und ungeſtoͤrt dieſe neue Richtung ſeines Lebenslaufes in’s Auge zu faſſen und des Weiteren daruͤber nach - zudenken. Allerdings hob ſich ſeine Bruſt von banger Freude beſtuͤrmt hoch empor, als er durchdachte was Theodor ihm verheißen. Habſucht und EigennutzDie Bagabunden. III. 450moͤgen dem Menſchen noch ſo fern liegen, unmoͤglich doch kann es ohne Wirkung bleibe[n a]uf einen ver - waiſeten Juͤngling von lebhaftem Geiſte, wenn man ihm zuruft: Du warſt ein Bettler ohne Hoffnung, ich mache Dich zum wohlhabenden Manne! Nehmen wir an, was ich in ſeine Seele und ſein Gemuͤth hinein anzunehmen berechtiget bin, es wuͤrde ihn fuͤr den Augenblick mehr geſchmerzt, als begluͤckt haben, Theodor zu beerben, zu dem er ſich jetzt hinge - zogen fuͤhlte, ſo duͤrfen wir doch daneben annehmen, daß die Ausſicht, in ſeinem unvergeßlichen Liebenau, als Freund und Adoptivbruder des Gutsherrn einzu - ziehen, zu wohnen, wirken zu helfen, ihn beſeeligen mußte. Meine lieben Waͤlder werd ich begruͤßen, das Grab meiner Alten, unſer Haͤuschen, ...... dacht er. O Gott, woran dachte Anton nicht, da er an die Heimath dachte!? Mag Theodor geneſen! Mag ich erſt nach vielen Jahren die heimathlichen Fluren ererben, die er mir beſtimmt; mag er mich meinetwegen uͤberleben! Liebenau gehoͤrt ja ſchon mir, iſt ſchon mein Eigenthum, wenn ich nur vor - wurfsfrei und ohne Sorgen dort athmen darf.

Lange ſtritten dieſe freundlichen Bilder mit ſeiner51 Muͤdigkeit und ſpaͤt erſt ſchlief er ein, um freundlich fort zu traͤumen und ſpaͤt zu erwachen.

Wiederholte heftige Schlaͤge gegen ſeine Thuͤr weckten ihn aus behaglichen Halbſchlummer, dem er ſich willig noch uͤberlaſſen. Unwillig ſprang er in die Hoͤh, zu oͤffnen; der Cameriere ſtand mit aͤngſtlichem Geſicht vor ihm:

Befindet ſich der Diener des Kavaliers in deſſen Begleitung Sie anlangten, vielleicht bei Jhnen, mein Herr?

Jch bin allein, wie Sie ſehen, und der Diener muß bei ſeinem Herrn zu finden ſein.

Das iſt es eben, was mich beſorgt macht. Vor Tages Anbruch weckte dieſer Menſch unſere Leute und begehrte, daß man ihm das Hausthor oͤffne, weil ſein Herr, der ploͤtzlich kraͤnker geworden ſei, aͤrztlicher Huͤlfe beduͤrfe. Man ließ ihn hinaus, ohne erſt zu fragen, ob er, fremd in dieſer Stadt, einen Arzt zu finden wiſſe! Nach Verlauf einer halben Stunde iſt er zuruͤckgekehrt, mit einem Menſchen von verdaͤchti - gem Ausſehn, den unſer Portier nicht kannte, der ſich aber fuͤr einen Arzt ausgab. Mit dieſem iſt er nach dem Schlafgemach ſeines Herren gegangen. Eine Stunde ſpaͤter ſind beide herausgekommen, beide in4*52Maͤntel gehuͤllt, und der ſchlaftrunkene Portier, der mir dafuͤr buͤßen ſoll, hat ſie ungehindert wieder aus dem Hauſe gelaſſen, obwohl er jetzt ſelbſt eingeſtehn muß, er meine bemerkt zu haben, daß beide unter den Maͤnteln Chatouillen und Portefeuille’s trugen. Die Zimmer des gnaͤdigen Herrn ſind verſchloſſen, der Diener nirgend zu finden, und auf unſer ſtaͤrkſtes Pochen antwortet niemand. Deshalb hielt ich’s fuͤr angemeſſen, bei Jhnen Rath einzuholen.

Anton kleidete ſich ſchleunigſt an und folgte dem Cameriere uͤber einen Vorſaal nach Theodor’s Zim - mern. Es wurden Nachſchluͤſſel geholt, man oͤffnete die Thuͤre leicht, da innen weder ein Schluͤſſel ſteckte, noch ein Riegel vorgeſchoben war.

Jm Vorzimmer ſah es unordentlich aus; die Koffers geoͤffnet, Waͤſche, Kleider, andere Gegen - ſtaͤnde lagen durcheinander am Boden.

Sie traten in’s Schlafgemach.

Theodor lag todt in ſeinem Bette, in der rechten Hand eine Schreibfeder in der Linken einen Bogen Papier feſthaltend. Offenbar hatte der Tod ihn uͤbermannt, waͤhrend er noch zu ſchreiben ſich bemuͤhete.

Seine Kaſſette und vielerlei Kleinigkeiten, welche53 Anton auf der Reiſe bei ihm geſehen zu haben ſich erinnerte, fehlten.

Es wurde nach Polizeibeamten geſendet.

Unterdeſſen naͤherte ſich Anton in aufrichtiger Betruͤbniß der Leiche. Er war weit entfernt, da er ihr wehmuͤthig in’s gebrochene Auge blickte, an ſich ſelbſt und daran zu denken, wie dieſer ſchnelle Tod ſo viele jungkeimende Hoffnungen mit kalter Hand erſtickt habe. Doch wurde er, ohne es zu wollen, daran erinnert, als er ſich uͤber’s Bett neigte, um die Schriftzuͤge zu leſen, welche das Blatt in Theodor’s Hand enthielt. Er las:

Noch bei klarem Bewußtſein und Herr meiner Gedanken, fuͤhl ich den Tod mir nahen. Jch ſetze daher meinen letzten Willen feſt und ernenne zum Univerſal-Erben meines Vermoͤgens, namentlich der Herrſchaft Liebenau, meinen Pfleger, Freund und Herzens-Bruder Ant ..........

Hier hatte die Kraft des Sterbenden nicht mehr ausgereicht.

Anton zog das Blatt leiſe aus den ſtarren Fin - gern, druͤckt es an ſeine Lippen und legte es dann in ſeine Brieftaſche, neben die ihm von Carino hinter - laſſenen Zeilen.

54

Das zweite Teſtament in kurzer Zeit, ſprach er. Gebe Gott daß meine Erbſchaft durch das erſte gluͤcklicher ausfallen moͤge!

Fünfundfünfzigſtes Kapitel.

Wie Signora Carina abermals nicht zu finden iſt. Lipinski, der Virtuoſe. Geronimo und deſſen Kameele.

Waͤre Anton nicht durch gerichtliche Unterſuchun - gen, worin er mit ſeinen Zeugen-Ausſagen und Nach - weiſungen eine ſehr wichtige Rolle ſpielte, nebenbei auch noch durch die Anſtalten zu Theodor’s Begraͤb - niß in Anſpruch genommen worden; haͤtte er ſich ſeinen eigenen Angelegenheiten widmen und das Ziel ſeiner Reiſe verfolgen koͤnnen; wie vortheilhaft waͤre das fuͤr ihn geweſen. Denn die Frau die er ſuchte, von deren Bekanntſchaft er ſo viel erwartete, befand ſich allerdings noch in Piſa, waͤhrend Theodor’s Leiche Veranlaſſung zu mancherlei Bedenklich - keiten gab.

Der Diener, welchen der Verſtorbene in Nizza gemiethet, war mit ſaͤmmtlichem Vorrath von baarem Gelde und Pretioſen entwichen. Kein Zweifel, daß er auf dieſe Gelegenheit vorbereitet, nur ihrethalb den55 beſchwerlichen Dienſt eines Krankenpflegers uͤber - nommen. Er ſowohl wie ſein naͤchtlicher Begleiter wurden fruchtlos verfolgt.

Große Schwierigkeiten ſtellten ſich der Beerdigung des Nichtkatholiken entgegen, die Anton gern recht feierlich angeordnet haͤtte, was ihm aber durchaus nicht gelang. Theodor wurde zu Grabe getragen, wie der ſchwarze Wolfgang. Der braunen Baͤrbel drittes und letztes Opfer war auserſehen, ſeinen beiden Vorgaͤngern einzig und allein das letzte Geleite zu geben.

Durch dieſe unvermeidlichen Abhaltungen wurde Anton verhindert, die erſten Tage fuͤr ſich und ſeine Zwecke zu benuͤtzen. Sobald er Theodor’s Leiche unter die Erde gebracht, verließ er das Hôtel, in welchem aus eigenen Mitteln zu leben ihm nicht geziemen wollte, zog in ein geringes Haus, und begann jetzt, was er bisher verſaͤumen muͤſſen. Leider war es ſchon zu ſpaͤt. Signora Carina entmuthiget durch ihre Unfaͤlle hatte nicht mehr gewagt, vor einem italieniſchen Parterre zu erſcheinen. Duͤrftig, muthlos, leidend, war ſie einem Unternehmer in den Weg gelaufen, der mehrere herunter gekommene Kuͤnſtler und Kuͤnſtlerinnen ihrer Art mit verſchiedenen56 Anfaͤngern vereinigte, um zu erproben, ob italieniſche Geſangs-Methode und Sprache Reiz genug uͤben wuͤrde, dieſem zuſammengeſtoppelten Vereine in mittleren und kleineren Staͤdten Deutſchland’s bei - faͤllige Geltung, ihm aber Einnahmen zu verſchaffen! An dem Morgen deſſelben Tages wo Anton ſeinem Liebenauer Gutsherren Theodor van der Helfft die letzte Ehre erwieſen, war Signora Carina abgereiſet und zwar mit der Kurier-Poſt, weil ſie vertrags - maͤßig zur beſtimmten Stunde in Wien eintreffen mußte, wo der wandernde Jmpreſario ſammt uͤbrigem Perſonale ſie zur gemeinſamen Weiterreiſe erwartete.

Wie Anton dieſe niederſchlagende Kunde ver - nahm, war ſein Erſtes, der Erſehnten eben ſo raſch nacheilen zu wollen! Doch mußt es wohl beim Wollen verbleiben, denn ſeine Kaſſe fand ſich leer: ihn allein, ſeine Armuth hatten die mannigfachen, durch aͤcht italieniſche Prellereien erzwungenen Neben - Ausgaben fuͤr Theodor’s Beerdigung getroffen. Das Gericht, welches ein Jnventar der noch vorhandenen, nicht geſtohlenen Effekten entworfen, die Theodor’s Hinterlaſſenſchaft bildeten, verſtand ſich zu keinem Zuſchuſſe fuͤr unnuͤtze Dinge; vielmehr ſchienen die ſubalternen Beamten, die in dieſer Sache walteten,57 weit nuͤtzlicher zu finden, daß man den Lebendigen (das heißt ihnen) zuwende, was dem Todten gewiß gleichguͤltig ſei. Und ſo wurde denn der um ſeine ſchoͤnſten Hoffnungen abermals betrogene Anton durch den Tod ſeines neuerworbenen Goͤnners in peinigende Noth und Entbehrung verſetzt, anſtatt, wie der Sterbende beabſichtiget, durch ihn zum wohl - habenden Gutsbeſitzer zu werden. Daß er die duͤnne Boͤrſe fuͤr Theodor’s Sarg und Grabſtaͤtte leeren muͤſſen, ſchmerzte ihn nicht; vielmehr gab es ihm eine fromme Beruhigung, dies Opfer der juͤngſt geſchloſ - ſenen Verſoͤhnung mit einem ungluͤcklichen Gegner gebracht zu haben. Daß er aber dadurch die Moͤg - lichkeit verloren ſah, der Carina nachzueilen, das erfuͤllte ſeine Seele mit Gram.

Jetzt iſt es wohl vorbei, ſprach er, mit jeder guͤnſtigen Ausſicht fuͤr mich! Dieſe letzte Taͤuſchung war die grauſamſte. Sie ſcheint uͤber mich verhaͤngt als Strafe fuͤr meine Pariſer Verirrungen und Schlechtigkeiten. Verdient mag ſie ſein, aber hart iſt ſie nicht minder. Ja ſie iſt grauſam. Zuͤchtige Deinen Suͤnder, ewige Macht; laſſe ihn das ſchwerſte Gewicht Deines Raͤcherarmes fuͤhlen, ... aber locke ihn nicht erſt ſpoͤttiſch auf heitere Huͤgel von denen58 er in lachende Fluren blickt, um ihn ſodann deſto tiefer in den Staub des Weges zu ſtoßen. Strafe und Hohn, das iſt zu viel!

Ja, der Staub des Weges! Weiter bleibt mir nichts uͤbrig. Und ſo wandre weiter, armer Teufel; wandre und ſchlucke Deinen Staub!

Anton ſtand am Fenſter in ſeiner beſcheidenen Oſteria. Rings um ihn her ſchwieg Alles. Das Gaſtzimmer ſchon leer, die wenigen Reiſenden, die gleich ihm Unterkunft geſucht, ſchliefen. Er konnte ungeſtoͤrt ſinnen. Seine Todten zogen an ihm voruͤber. Er gedachte ihrer letzten Worte. Da gedachte er auch Carino’s. Seiner zunaͤchſt, weil dieſer ihm nach Piſa beſchieden. Und er beſann ſich, daß der arme Mann ſingend geſtorben; daß die Melodie, welche Anton der Korbmacherjunge damals dem fremden Herrn vor Onkel Naſus Schloſſe vor - geſpielt, aus der Bruſt des Verſcheidenden nach - geklungen habe. Als wenn er dem Verewigten ein Requiem ſchuldig ſei und dieſe Schuld jetzt in tiefer ſtiller Nacht abtragen muͤſſe, holte er ſeine Geige aus ihrem wachsleinenen Reiſemantel hervor, lehnte ſich in die Fenſtermauer und ſpielte das alte deutſche59 Volkslied ſtummen ſteinernen italieniſchen Palaͤſten vor, die da in den Sternenhimmel hinein ſchauten. Ueberall herrſchten Schlaf und Schweigen. Nur ihm gegenuͤber in dem oberen Stockwerk eines hohen Hauſes ſchimmerte Licht durch zwei Fenſter, deren eines auch offen ſtand. Es beduͤnkte ihn, als rege ſich’s da druͤben! Und wirklich, er hatte kaum die Weiſe ſeines Liedes einigemale durchgegeigt, ſo riefen von dort heruͤber ſchon die Klaͤnge einer ihm ant - wortenden Violine. Aber welch einer! Und was fuͤr Klaͤnge!? Die ſeinigen galten ihm dagegen ſo duͤnn, ſo marklos, daß er beſchaͤmt inne hielt und lauſchte.

Welche Kraft! Welche Fuͤlle! Welcher Wohl - laut: rief er aus, ließ ſeinen Bogen ſinken und trank mit durſtigem Ohre. Nicht lange blieb der Kuͤnſtler im anderen Hauſe bei Anton’s Melodie; er fing an zu variiren, ging ſonach in Doppelgriffe und Kadenzen uͤber, arbeitete ſich durch kuͤhne Uebergaͤnge, und ließ aus chaotiſchem Gewirre von Toͤnen, wie aus einem Korbe voll durcheinander geworfener Blaͤtter und Bluͤthen unerwartet eine ganz einfache Volksweiſe dringen, die dem ſingenden Vogel vergleichbar, aus60 jenem bunten Gemiſch aufſtieg in die dunkelblaue Nacht.

Das war eine polniſche Melodie. Eines jener ſeelenvoll-ſchwermuͤthigen Lieder aus dem Volke der Sarmaten, welches auch bei Tanz und Spiel zu klagen ſcheint! Anton kannte dies Lied, von ſeinem Aufenthalte in P. wo er es oft vernommen. Nach - dem der Fremde geendet, wiederholte er auf ſeinem Jnſtrument, was er jetzt von jenem gehoͤrt: es war, wie wenn ein Kind mit duͤnner, ſchwacher Stimme die kraͤftige Fuͤlle eines Mannes nachzuahmen ver - ſucht.

Doch ſchien der Mann Freude zu finden am kind - lichen Geſange, denn er gab ihm Antwort zuruͤck.

So begruͤßten ſie ſich durch Toͤne, und Toͤne ſchlangen ein unſichtbares Band zwiſchen zwei Seelen, die ſich ſonſt nicht kannten.

Laͤnger denn eine Stunde waͤhrte dieſer Austauſch der Gefuͤhle.

Am naͤchſten Morgen bewarb ſich Anton um Aus - kunft uͤber ſeinen naͤchtlichen Freund. Es ſei ein Profeſſor der Muſik, ſagte man ihm; ein Reiſen - der, ein Englaͤnder, welcher kuͤrzlich dort eingezogen ſei und fleißig ſtudire, naͤmlich geige.

61

Ein Englaͤnder? Ein Landsmann Kaͤthchen’s? Mit dem darf ich es wagen. Jch gehe, mich ihm vorzuſtellen.

Er wurde freundlich empfangen und ſprach den Fremden im reinſten Engliſch an, wie es ihm nur irgend zu Gebote ſtand.

Der Fremde antwortete auf Franzoͤſiſch, daß er ihn nicht verſtehe.

Das liegt an der vermaledeiten Ausſprache, dachte Anton und erklaͤrte ihm, wie er eigentlich ein Deutſcher ſei.

O, die Deutſchen lieben und verſtehen Muſik, erwiederte der Fremde; ſie treiben das gruͤndlich. ich ſpreche auch Deutſch. Wenn Sie wollen, wir reden Deutſch.

Und ſind Englaͤnder!

Jch? nein, ich bin Pole!

Ein Pole? Ach, deshalb ſpielen ſie polniſche Lieder ſo goͤttlich!

Sie haben mich gehoͤrt?

Jn dieſer Nacht.

Sind Sie mein vis-à-vis?

Jch muß mich ſchaͤmen es einzugeſtehen vor einem ſolchen Meiſter.

62

O ich bitte, mein Herr!

Das hab ich nicht geahnet, daß in dieſem kleinen Jnſtrument Toͤne wohnen koͤnnten, wie Sie daraus hervorholen? Es war mir um’s Herz, als wenn der Himmel mit ſeinen Sternen die Woͤlbung einer hohen Kirche ſei und hier bei Jhnen das Chor worauf die Orgel ſteht. Von dieſer Kraft und Gewalt hatte ich keinen Begriff. Jhre Hand muß von Eiſen ſein und Jhr Bogen von Stahl, aber die Finger Gold.

O ich bitte, mein Herr!

Wenigſtens ſind die Toͤne die Sie hervorbringen Gold und das reinſte welches jemals floß. Machen Sie einen armen Teufel gluͤcklich, lieber Herr. Laſſen Sie mich noch etwas hoͤren, und zugleich ſehen! Und wenn Sie das glaͤnzendſte Publikum verſammeln um ſich her, ſie werden kein empfaͤnglicheres finden und kein dankbareres.

Der Blick womit Anton dieſe Bitte begleitete verfehlte ſeine Wirkung nicht.

Waͤhrend des Spieles murmelte der entzuͤckte Hoͤrer mehrmals: Armer Carino! freilich war’s eines Bettlers Geige worauf ich ihn hoͤrte!

Wie das Stuͤck beendet war ſagte Anton: zu danken, mit Worten zu danken, vermag ich nicht;63 jedes Wort aus meinem Munde, wenn es Sie preiſen wollte, muͤßte albern klingen.

Der Fremde bot ihm das Jnſtrument dar und forderte ihn auf, ſich nun auch zu zeigen?

Das kann nur ihr Scherz ſein. Jch ſtehe vor Jhnen, wie ich einmal vor einem großen Schauſpieler ſtand. Was der mir ſagte mit ſcharfen eindringlichen Lehren und Worten, mich zuruͤckzuweiſen von jener Pforte an die meine Keckheit voreilig pochte, Sie haben mir’s heute in Toͤnen geſagt. Meine Geige hat Feiertage von nun an. Wenigſtens will ich mich nicht mehr vermeſſen, anders aufzuſpielen, als zum Tanze, oder bei Nacht, wenn Alles ſchlaͤft und ich mich allein hoͤre

Und nur ein Freund wacht, gegenuͤber, der Ant - wort giebt? ſprach der Kuͤnſtler mit liebenswuͤrdiger Herzlichkeit.

Anton naͤherte ſich einem Tiſche worauf Muſika - lien, andere Papiere, Viſitenkarten lagen und eine der letzteren ergreifend, fragte er: darf ich? Er nahm ſie und las: Charles Lipinski.

Lipinski! Nun, ich will dieſen Namen in meinem Herzen tragen: er ſoll darin eingegraben ſtehen neben dem Namen: Ludwig Devrient. Sagen Sie mir 64 aber aufrichtig, ihre innerſte Meinung, kann es auf Erden noch einen groͤßeren Geiger geben, wie Sie ſind?

O ich bitte, mein Herr! Wenn Sie ſchon moͤchten hoͤren Paganini.

Paganini? Wer iſt Paganini?

Jch kann ihnen das nicht ſagen. Man vermag nicht zu beſchreiben, was iſt Paganini; man muß ihn erleben. Sie werden reiſen?

Nach Deutſchland zuruͤck, antwortete Anton mit unterdruͤcktem Seufzer.

Vielleicht Sie werden begegnen Paganini, bevor Sie ſich trennen von Jtalien, welches er hat noch nicht verlaſſen wollen. Verſaͤumen Sie ihn nicht und wenn Sie ſollten machen einen Umweg von vielen Meilen. Jch werde gehen nach Paris; wann reiſen Sie?

Noch heute, oder morgen.

Vielleicht, daß Sie ihn treffen in Modena, vielleicht noch in Lucca! Erlauben Sie.

Lipinski nahm die Viſitenkarte aus Anton’s Hand, ergriff eine Feder und fragte: Jhr Name, ich bitte?

Antoine, Anton!

65

Das will ſagen hier zu Lande Antonio?

Und er ſchrieb unter Charles Lipinski die franzoͤſiſchen Worte: empfiehlt ſeinen jungen Freund Antonio der Guͤte des Maëſtro Nicolo Paganini.

Bei San Roſſore unweit Piſa liegt eine Sand - flaͤche, von Eichen, Erlen, Brombeerhecken, Diſtel - geſtraͤuchen ſo ſparſam durchwachſen, daß ſie im Ganzen ein recht artiges Bildchen arabiſcher Wuͤſte - neien giebt. Dort werden ſeit Jahrhunderten Ka - meele erzogen. Und weil das Kameel, dem Schafe gleich, Vielweiberei treibt; weil fuͤr viele Frauen ein Gatte genuͤgt, ſo verkauft man gern den jungen maͤnnlichen Nachwuchs, findet jedoch in der Umgegend ſelten Kaufluſtige, da kein Landmann ſich danach ſehnt, ſeine Baumanlagen durch dieſe ſonſt brauch - baren Thiere verwuͤſten zu laſſen.

Von dort alſo haben die meiſten Kameeltreiber ihre ungluͤcklichen, gequaͤlten Opfer abgeholt, die wir in unſerer Kindheit, poetiſcher Ahnung voll, fuͤr Aſiens oder Afrika’s Kinder hielten, wenn wir ſie nach dem dumpfen Schlag der Trommel, beim ſchril -Die Vagabunden. III. 5.66lenden Pfiff der eintoͤnigen Floͤte durch die Gaſſen ziehen ſahen.

Ein Transport ſolcher Geſchoͤpfe, dazu verflucht, die ſchauluſtige Jugend deutſcher kleiner Staͤdte und Doͤrfer zu begeiſtern, brach unter Leitung des Laͤnder - und Voͤlker-kennenden, ſchlauaͤugigen Veroneſers Geronimo von Piſa auf, wie eben der teſtamentariſch ein - und ſogleich wieder ab-geſetzte kuͤnftige Guts - herr von, auf und zu Liebenau mit Felleiſen und Knotenſtock ſehr entmuthiget angetreten, wohin der Pariſer Paß ihn wies, ohne die Luftkur vornehmer Kranker in Nizza oder Piſa uͤber Winter abzuwarten.

Sein Humor regte ſich, da er die Karawane hin - ter ſich her mit einer zu den Wolken hinauf wirbeln - den Staubwolke anwachſen ſah und ſeit langer Zeit zum Erſtenmale, trieb es ihn, wieder als Poet auf - zutreten.

Zum Thor hinein, als Kavalier;
Zum Thor hinaus, als Trampelthier!

dichtete er, mehr poetiſch-erhaben und ſchoͤn, als naturhiſtoriſch wahr, da Trampelthiere von Kameelen gaͤnzlich geſonderte Weſen ſein ſollen.

Jhr habt ja keinen Affen, rief er dem Signor Geronimo entgegen, wobei er ſich auf gutes Gluͤck67 der franzoͤſiſchen Sprache bediente. Euch fehlen Affen, und ohne Affen huſt ich auf die Kameele. (Wie jener Mann, ſetzte er auf Deutſch hinzu, von den Krammetsvoͤgeln meinte, ohne Aepfelmus. )

Die Vagabunden aͤhneln auch darin den Diplo - maten, daß ſie faſt ohne Ausnahme, Franzoͤſiſch ver - ſtehen. Franzoͤſiſch iſt die Sprache der Kabinette und der Landſtreicher. Mit ihr kommt man durch die ganze Welt. Geronimo antwortete franzoͤſiſch: Leider beſitz ich noch keinen Affen; will ſich Eure Excellenz vielleicht als Affe bei mir verdingen?

Warum das nicht? ſagte Anton, dem in dieſem Augenblicke eine trotzige Wonne, eine verzweifelte uͤbermuͤthige Luſtigkeit wie Feuer durch alle Adern zog; warum das nicht, wenn Jhr ſonſt ein gut Stuͤck Geld daran wendet? Jch bin ein paſſabler Orang - Utang ſollt ich meinen!

Bis zum Orang-Utang, ſo hoch verſteigen wir uns nicht, lachte Geronimo. Wir ſind zufrieden, wenn wir einen tuͤrkiſchen Affen zu Kauf finden, haͤtt er auch in Gibraltar’s Felſen ſeinen verehrten Erzeu - ger. Fuͤr jetzt aber muß ich noch warten, bis gute Einnahmen den Saͤckel gefuͤllt, der von meinem An - kaufe leer iſt. Fuͤr dieſe drei Kameele habe ich dem5*68Herrn Verwalter von San Roſſore, die heilige Jungfrau ſegne den Mann, wenn ihn der Teufel nicht freſſen wollte, weil er ſogar fuͤr dieſen zu zaͤh waͤre! vierhundert ſchwere Gulden zahlen muͤſſen. Das geht auf’s Lebendige, mein Theuerſter. Hingegen ſeh ich auf Eurem Ranzen die Fiedel haͤngen! Seid Jhr, wie ich vermuthe, ein wandernder Muſikant, und habt Jhr Luſt, die Reiſe mit mir zu machen als Spielmann, ſo ſoll es Euer Schade nicht ſein. Mein Kleiner ſchlaͤgt die Trommel und dazu muͤßte ſich eine Geige, duͤnn und hell geſtrichen, abſonderlich gut ausnehmen. ’s waͤr auch ganz ’was Neues und wuͤrde dem Volke hier, dem Kameele keinen Eindruck machen, manches Geldſtuͤck entlocken, weil ſie verſeſſen ſind hier zu Lande auf Muſik. Koͤnnt Jhr tuͤchtig geigen, dann zieht mit mir, vorausgeſetzt, daß Jhr nichts Beſſeres vorhabt.

Was koͤnnt ich Beſſeres vorhaben, als unter Eurem Szepter, hoͤchſt wuͤrdiger und erlauchter Va - gabundenfuͤrſt, Kameele zu treiben, und dieſen gott - gefaͤlligen, aͤcht bibliſchen Thieren bei ihren Schwen - kungen mit meiner Fiedel unter ihre Hoͤker an’s Herz zu greifen? Ja, ich will mich verdingen bei Euch, als Knecht; will mir einbilden, weiſer Patriarch ich,69 muͤßte bei Euch dienen um eine ſchoͤne Rahel! Es wird mir zu beſonderem Vergnuͤgen gereichen, wieder mit Vieh zu verkehren, ſeitdem ich im Umgang mit Men - ſchen nicht allzu gluͤcklich war. Offen geſtanden umſchwebten mich bei meinem Einzug in Piſa ganz andere Ausſichten, und wenn mir von Heerden traͤumte, ſo waren dies Rinder und Schafe, von meinen Hirten gehuͤtet. Doch was thut’s? Jetzt werd ich ſelbſt ein Hirte. Alſo: Topp, ich trete in Euren Dienſt und bin Kameeltreiber!

Legt Euer Gepaͤck hier in dieſen Korb; da giebt’s Platz. Die Geige huͤbſch oben auf, damit ſie keinen Schaden nimmt. Nun ſeid Jhr leicht; nun laßt uns ruͤſtig wandern und nehmt den Kameelſchritt zum Muſter fuͤr Eure zarten Fuͤße. Je ſchneller wir aus Piſa’s Dunſtkreis gelangen, deſto beſſer fuͤr uns: hier ſind Kameele zu alltaͤgliche Waare! Dann, mit ſich ſelbſt redend, ſetzte Geronimo hinzu: es iſt ein huͤbſcher Burſch und wenn er nur ertraͤglich ſpielt und wenn er nicht verruͤckt iſt, woruͤber ich erſt in’s Klare kommen muß, ſo hab ich einen gluͤcklichen Griff gethan und mir einen unſchaͤtzbaren Kameraden gewonnen.

70

Sechsundfünfzigſtes Kapitel.

Paganini.

Schon im erſten Nachtquartier hatte Anton mit ſeinem Geigenſpiel des muſikliebenden Geronimo gan - zes Herz bezwungen. Der rohe Thierfuͤhrer der uͤbrigens fuͤr einen aufmerkſam-beobachtenden Men - ſchenkenner vielleicht Zweifel dargeboten haben duͤrfte, ob dieſe zur Schau getragene Rohheit nicht mehr Kunſt enthalte, als Natur? ſchmolz in Wehmuth hin bei ſanften und melancholiſchen Melodieen. War er doch auch einmal jung geweſen! Hatte doch auch ſeine Kindheit eine Heimath gehabt! Es erging ihm, wie es allen Menſchen ergeht, jedem in eigener Art: mag die Rinde, die Wetter und Wind und Staub und Regen um unſere Bruſt gelegt, noch ſo derb und dick ſein, bei Sonnenuntergang, in daͤmmernder Abendſtunde traͤumen wir wieder von harmloſer Kin - derzeit; und waͤhrend ſolcher Traͤume ſchleicht ſich durch irgend welch verborgenes Winkelchen die ſuͤße Macht des Liedes unvermerkt bei uns ein. Wer dieſe Stimmung in uns hervorzubringen weiß, den gewin - nen wir lieb.

Jn Lucca, wenn Anton’s Tagebuch nicht irrt,71 denn es traͤgt die Spuren der Fußwanderung und iſt unſicher und ſchwankend in Beziehung der italieniſchen Reiſe; in Lucca machten ſie in einer Vorſtadt Halt; wie Anton vermuthete, weil Geronimo heimliche Ge - ſpraͤche zu pflegen hatte, mit verſchiedenen Perſonen, die moͤglichſt unbemerkt kamen und gingen, und ſich ſogar den Blicken des Reiſegefaͤhrten zu entziehen ſuchten, welcher natuͤrlich diskret genug war, ſie gar nicht zu beachten.

Es war noch zeitig am Tage; die Kameele hatte Anton in einem großen Stalle untergebracht und ver - ſorgt; nun ſaß er bei einem Glaſe Wein in der Schenkſtube, da geſellte ſich Geronimo wieder zu ihm, erzaͤhlte vielerlei Schwaͤnke und Raͤnke aus ſeinem Wanderleben, was Anton gern hoͤrte, weil es ihn reizte, Vergleiche mit ſich anzuſtellen, Unterſchiede aufzuſuchen und in manchen Erniedrigungen des um ſo viel aͤlteren Mannes ſtillſchweigend eine Erhebung ſeiner ſelbſt zu entdecken und auszufinden. So waren ſie guter Dinge. Einige Gaͤſte der Schenke geſellten ſich an ihrem Tiſche zu ihnen, hoͤrten Geronimo ſchwatzen und nickten ſich bisweilen mit einem Zeichen des Einverſtaͤndniſſes pfiffig-laͤchelnd zu. Der Spre - cher verkuͤndete ihnen, daß ſein junger Kamerad ein72 Wunder ſei; ein Violinvirtuoſe, wie es noch nie und nirgend einen gegeben, der dem Zuhoͤrer Thraͤnen in’s Auge zu holen verſtehe, und wenn er ſie mit ſeinem Geigenbogen aus den Schuhſohlen heraufpumpen ſolle.

Hoͤrt auf, ſagte Einer, haltet uns nicht fuͤr Nar - ren. Wer ein ſolcher Meiſter waͤre auf vier Saiten, wie Jhr den jungen Herren ſchildert, der brauchte nicht Kameele zu fuͤhren von Piſa in’s Land der Barbaren. Zuletzt wollt Jhr uns glauben machen, er uͤbertreffe den Paganini!

Was wißt Jhr von Paganini, guter Freund? ſchrie Anton, der lebhaft emporſprang. Habt Jhr ihn jemals gehoͤrt? O ich bitte, erzaͤhlt mir von ihm.

Natuͤrlich hab ich ihn gehoͤrt und werd ihn heute wieder hoͤren; und wenn Jhr Luſt habt, ihn auch zu hoͤren, ſo ſaͤubert Euer Gewand, legt reine Waͤſche an, kaͤmmt und glaͤttet eure ſchoͤnen Locken, dann geht mit mir zur Stadt, wo heute Abend im großen Opern - hauſe Nicolo Paganini ein Konzert giebt.

Corpo di Dio, ich bin auch dabei, ſagte Gero - nimo.

Anton ſtuͤrzte nach dem Stall, um zwiſchen drei Kameelen Toilette zu machen.

73

Geronimo, Anton und der philharmoniſche Vor - ſtaͤdter begaben ſich mit einander nach dem Konzerte. Der Vorſtaͤdter hatte ſeinen Bratenrock angelegt. Geronimo ſah aus, wie ein Handwerksmann von groͤberem Zuſchnitt, ſo zwiſchen Schmied und Zimmermann, der ſich ſonntaͤglich geputzt. Anton dagegen wie ein vornehmer junger Herr im Reiſekleid.

Dem ſcharf geuͤbten Auge Geronimo’s entging dieſer Unterſchied nicht. Er machte den Vorſtaͤdter aufmerkſam darauf, waͤhrend dieſer an ſeiner Seite hinter dem ungeduldig voranlaufenden Anton her - keuchte:

Was meint Jhr zu meinem Burſchen? habt Jhr dergleichen ſchon geſehen in unſerem Gewerbe? Fuͤr was haltet Jhr ihn?

Jch halte ihn, erwiederte der Vorſtaͤdter, fuͤr einen Englaͤnder; was ſie einen Lord nennen, der die Wette einging, ſo und ſo lange als Knecht bei einem Kameel - treiber zu dienen. Wenn die Zeit um iſt und er hat ſeine Wette gewonnen, treffen die Equipagen ein, und Diener mit Haarbeuteln, und er iſt wieder ein Lord. Man muͤßte ſie nicht kennen, dieſe Englaͤnder! Sie ſind alle toll.

Aber er iſt kein Englaͤnder; er iſt ein Deutſcher.

74

Englaͤnder, Deutſcher! Das kommt auf Eines heraus; Chriſten ſind ſie alle zuſammen nicht und Eng - land wie Deutſchland ſind Jnſeln im Nordmeere, wo die Eis-Polen ſchwimmen; das grenzt ſogar an Rußland.

Euch beliebt das anzunehmen, Blume der Weis - heit von Lucca; doch erlaubt mir, der ich Deutſchland ſchon zweimal durchzog, die demuͤthige Einwendung, daß ihr euch irret. England und Deutſchland ſind wirklich zwei ganz verſchiedene Laͤnder.

Meinetwegen, aͤußerte der unſichere Geograph; zu den Barbaren gehoͤren die Einwohner da wie dort, denn ſie ſind keine Jtaliener.

Antons Sprachtalent hatte ſchon ſeit Turin genug aufgefaßt, daß er mit Huͤlfe ſeiner lateiniſchen Erin - nerungen vom Liebenauer Paſtor her einer italieni - ſchen Unterhaltung folgen konnte. Er wendete ſich um und ſagte zum Vorſtaͤdter: Jhr habt’s getroffen; ich bin ein deutſcher Graf, doch meine Herrſchaften liegen in England. Wollt Jhr mir tauſend Dukaten darauf leihen?

Wenn ich ſie haͤtte, mit Wonne, antwortete Jener, aber ich habe nicht ſo viele Lire.

Dann geht es Euch mit Euren Dukaten, wie mir mit meinen Herrſchaften, lachte ihm Anton freundlich zu.

75

Sie draͤngten ſich in’s Schauſpielhaus. Dort zeigte Alles ein feſtlich Geſicht. Die vornehme Welt in Glanz und Schmuck, die Maſſe feierlich bewegt. Auf jedem Antlitz ſtand zu leſen: ich werde ihn hoͤren!

Den erſten Nummern des Konzertes ward wenig Aufmerkſamkeit vergoͤnnt. Ouvertuͤre und Geſang gingen wirkungslos voruͤber.

Dann trat eine Pauſe ein; eine erwartungsvolle Stille herrſchte im Saale; Anton lauſchte, ob man nicht ein Notenpult bringen werde! Nein! Die Fluͤgelthuͤren gehen auf .... ein langer, bleicher Mann erſcheint, die Violine unter’m Arm .... es erhebt ſich ein Jauchzen, Schreien, Stampfen, Klatſchen, Ju - beln, daß die Mauern beben! Scheinbar gleichguͤltig dagegen und ſchwankenden Schrittes ſchlendert der Kuͤnſtler vor; (er verbeugt ſich, wie meine Ka - meele, wenn ſie uͤbler Laune ſind, ſagt Geronimo) die Jntroduktion, zu welcher ſein Bogen einige - male den Takt giebt, hebt an, .... ſie geht zu Ende .... aus den Augen des blaſſen Angeſichtes ſchießen zwei Flammen, ... der erſte Strich ertoͤnt ...

Jch will mich wohl huͤten, weiter zu beſchreiben!

Es war ſeine eigene Kompoſition, die Meiſter76 Nicolo vorgetragen. Das Adagio rein, edel, einfach; das Rondo heiter, friſch, lieblich; voll Melodie, An - muth, neckiſcher Grazie und mit Bizarrerieen und Kaprizen ausgeziert, die wie Schmetterlinge und gol - dene Jnſekten in Blumen gaukeln.

Nach Beendigung des Tonſtuͤckes, waͤhrend der Sturm des Entzuͤckens immer lauter und anhaltender nachbrauſete, ward er in die Hofloge beſchieden. Man ſah, wie alle ihm huldigten. Er, ſeine Geige unter’m Arme, nahm das hin, als koͤnnte es nicht anders ſein. Nur da ſchoͤne Damen ihm die Haͤnde zum Kuſſe reichten, legte er ſeine Geige bei Seite auf einen Stuhl, um die dargebotenen Finger dankbarer faſſen und kuͤſſen zu koͤnnen.

Anton verlor keine ſeiner Bewegungen. Anton bemerkte auch, daß eine junge Schoͤne ſich an des Meiſters Geige zu thun machte. Durch ſehr natuͤr - liche Gedankenverbindung fiel Tieletunke ihm ein und wie dieſe mit ihrer Scheere ihn außer Stand geſetzt, ſeine eigene Violine vor Carino erklingen zu laſſen, ſo daß er des Fremden ſeine ergreifen muͤſſen. Auf Paganini’s Jnſtrument, fluͤſterte er, waͤre das unmoͤglich: aus dieſem wuͤrden Funken blitzen, mich davon zu vertreiben, wenn ich mich daran wagen wollt.

77

Das zweite Stuͤck des Konzertgebers war ange - kuͤndiget als: Militairiſche Sonate, ohne Begleitung des Orcheſters. Es begann nach duͤſterer Einleitung mit dem Thema aus Mozart’s Figaro non piu andrai.

Schon nach den erſten Bogenſtrichen platzte eine Saite.

Wie wird das werden? dachte Anton.

Paganini ſpielte fort.

Jetzt ſprang die zweite Saite.

Paganini achtete nicht darauf und ſpielte fort auf zwei Saiten.

Kaum waren noch einige Takte voruͤber, ſo riß ſchwirrend auch die dritte.

Nur die G-Saite hielt ſich.

Auf dieſer ſetzte er ſein Muſikſtuͤck fort, ohne ein Zeichen von Verlegenheit zu geben. Ja, es war, wie wenn er den Mangel dreier Saiten nicht bemerkte. Er ging aus dem Mozartiſchen heroiſchen Motiv in eine wunderlich-monotone Klage uͤber*)Hier ſcheint Anton’s Tagebuch in einem Jrrthum. So viel ich mich erinnern kann, kam bei Paganini’s Sonate mili - taire jene jammernde Klage als Einleitung und dann erſt das Motiv aus Figaro. A. d. V. ; er ſtoͤhnte,78 jammerte, heulte in hohen und tiefen Toͤnen; er wimmerte den Hoͤrern in die innerſte Bruſt, umſchlang ihnen Herz und Seele mit ſeinem Weh; er weinte auf dieſer einen Saite, daß alle, die ihn vernahmen, mit ihm weinen mußten; er kaͤmpfte, wie gegen unſichtbare finſtre Maͤchte und rief die andern Men - ſchen auf, mit ihm zu kaͤmpfen; er ſpottete ſeiner eigenen Qualen und quaͤlte die Entzuͤckten. Es war, wie wenn ein Teufel vor Gottes Throne winſelnd flehe, daß er wieder Engel werden duͤrfe, was er einſt - mals geweſen und woran er die Erinnerung noch nicht verloren.

Die Wirkung dieſes in ſolcher Weiſe noch nie ver - nommenen Spieles war ſo gewaltig, daß am Schluſſe der Elegie kein Menſch ſich regte. Eine Minute ver - ging, der Beifall wagte nicht, dieſelbe Luft zu erſchuͤttern, in welcher Paganini’s Klagelied noch ſchwebte. Erſt nach langem Schweigen athmeten die zuſammengeſchnuͤrten Lungen wieder auf und machten ſich frei in fanatiſchem Viva!

Man wollte behaupten, die Saiten waͤren abſicht - lich durchſchnitten worden, um einem nicht allzu getreuen Liebhaber große Verlegenheit zu bereiten! Eiferſucht habe die Scheere gelenkt! Als dieſe Anſicht79 in Anton’s Naͤhe laut wurde, gedachte er ſogleich jener Schoͤnen, die er bei der Violine bemerkt hatte, waͤhrend Nicolo andere Haͤnde kuͤßte, anderen Goͤn - nern huldigte.

Naͤrrin, ſammt ihrer Eiferſucht, rief einer der Umſtehenden; und wenn ſie die G-Saite auch ent - zwei geſchnitten, ſo haͤtte er ſich von ſeinen langen Haaren ausgerauft und auf dieſen gegeigt, der Parze und ihrer Scheere zum Trotze. Viva Paganini!!

Auf der offenen, in ein Orcheſter umgewandelten Buͤhne ging es lebhaft zu. Viele Perſonen verließen den Zuſchauer-Raum, um ſich an Paganini zu draͤn - gen und ihm Lobeserhebungen in’s Geſicht zu werfen.

Wohin? fragte Geronimo ſeinen jungen Gefaͤhr - ten, als derſelbe eiligſt entwich.

Zu ihm! erwiederte Anton.

Plagt den Jungen der Teufel? ſprach Geronimo zum Vorſtaͤdter; wo nimmt er den Muth her, ſich unter Fuͤrſten und Grafen zu miſchen?

Es wird ſchon ſo ſein, wie ich vermuthete, aͤußerte der Vorſtaͤdter; Jhr habt einen hochgebore - nen Knecht bei Eurem Vieh. Seht doch, er macht ſich Platz, er gelangt bis zu ihm, er nimmt ein kleines Portefeuille aus der Bruſttaſche, er80 zieht eine Karte heraus: ſolch ein glattes Ding, worauf die Vornehmen und Reichen ihre Namen ſetzen, in Kupfer geſtochen ...

Bei allen Heiligen, der Maëſtro erkennt ihn an. Kaum hatte er geleſen, ſo umarmte er den Jungen. Kommt mit mir, Freund, laßt uns gehen. Heute zu Nacht muß ich meine Thiere ohne ſeine Beihuͤlfe ver - ſorgen, mit dem Kleinen. Der große Burſche iſt unter die Grafen gegangen.

Anton, durch jenen dunklen Drang geleitet, der uns dem Wunderbaren entgegen treibt, der uns die Naͤhe großer Kuͤnſtler ſuchen und wuͤnſchen laͤßt, ohne daß wir gruͤndliche Urſachen fuͤr ſolche Wuͤnſche auf - zuweiſen vermoͤchten, war denn auch richtig durch das Gewuͤhl verehrender, lobpreiſender Damen und Her - ren, welche ſich Sonnen gleich um eine Haupt-Sonne drehten, bis zu dieſer gelangt. Er, der aͤrmſte, kleinſte Wandelſtern auf irrer Bahn ſchweifend, fuhr planlos zwiſchen Planeten, Monde, Trabanten jedes Kalibers. Wie er dem Zauberer Nicolo Paganini gegenuͤber - ſtand, wußt er nicht, was er ſagen oder thun ſolle. Er bot ihm nur Lipinski’s Karte dar. Sobald81 Paganini den Namen Lipinski geleſen, umarmte er den Ueberbringer, wandte ſich zu den Umſtehenden und verkuͤndete des jungen Polen Lob und Preis, als des Einzigen von allen Virtuoſen des Auslandes, welche ihm bekannt worden, vor deſſen Genius er unbe - grenzte Achtung hege*)Eigene Worte Paganini’s, aus ſeinem Munde ver - nommen. H. . Ein Theil dieſer Auszeich - nung ſchien gewillt, auf Anton uͤberzugehen, nur daß man nicht wußte, wer und was der Empfohlene ſei. Paganini hatte ihn umarmt, ſo zaͤrtlich, wie wenn der Empfohlene der Empfehlende ſelbſt waͤre. Doch was nun mit ihm beginnen?

Sie ſind auch Kuͤnſtler? lautete die an ihn gerich - tete Frage, von deren Beantwortung das fernere Verhalten abhaͤngig gemacht werden ſollte.

Der Befragte, der waͤhrend Paganini’s Spiel den bei Lipinski ſchon gefaßten Vorſatz erneuert hatte, nie mehr den Bogen in die Hand zu nehmen, haͤtte jetzt nicht Ja erwiedern koͤnnen, um alle Schaͤtze der Erde. Er fuͤhlte ſich ſo gering, ſo duͤrftig, ſo nich - tig, daß er ſich mit einem rohen irdenen Gefaͤße ohne Jnhalt verglich, werthlos und leer, dem nichts Beſſe -Die Vagabunden. III. 682res zu thun bliebe, als demuthsvoll in ſich zu zerfallen und vor aller Welt in den Staub heimzukehren, aus dem es entſtand. Er uͤberſchaute den Kreis, der ſie beide umgab, aus dem viele Blicke ſich nach ihm rich - teten, in Erwartung, den Namen eines Virtuoſen von hohem Range aus dem Munde zu vernehmen, welchem Paganini’s Lippen den weihenden Bruderkuß gegeben.

Dann ſagte er, ohne Bitterkeit, ohne Ziererei, ganz einfach und natuͤrlich:

Jch bin der Knecht des Kameeltreibers Gero - nimo.

Ein lautes Gelaͤchter folgte dieſer Erklaͤrung. Nur Paganini blieb ernſt.

Aber wie kamen Sie zu Lipinski?

Er hoͤrte mich geigen, bei Nacht, und ich ihn; ich ſuchte ihn auf.

Und er empfiehlt Sie mir? Dahinter muß mehr ſtecken; Sie muͤſſen ihn entzuͤckt haben. Da, ſpielen Sie auf meiner Violine (er vergaß die zerriſſenen Saiten!) laſſen Sie mich hoͤren, was Sie koͤnnen. Wenn’s danach iſt, ſollen Sie mein Schuͤler werden.

Daß Gott mich davor behuͤte! Auch wenn ich etwas mehr waͤre, als ein Stuͤmper, vor Jhnen, auf dieſem Jnſtrument, muͤßt ich doch als ſolcher erſcheinen. 83Warum den Herrſchaften hier zum Gegenſtande des Spottes dienen? Wer Jhnen gegenuͤber Muth und Hoffnung in ſich fuͤhlt, Jhnen nachzufolgen, muß entweder ein eitler Narr ſein, oder ein Genie, wie Lipinski. Daß ich dies letztere nicht ſein ſollte, lag im Willen des Schoͤpfers. Daß ich mich nicht wie ein Narr gebehrde, liegt in meinem eigenen Willen. Deshalb empfangen Sie Dank fuͤr Jhre Großmuth und leben Sie wohl.

Anton ging.

Ein vielſtimmiges Bravo, Braviſſimo! folgte dem Knechte des Kameeltreibers Geronimo.

Geronimo kam aus dem Stalle, woſelbſt er ſeinen Kameelen einige Pfund Heu vorgeworfen, gerade zu rechter Zeit in’s Gaſtzimmer, um zu verhindern, daß Anton. ſeine Violine vernichte. Jn einer Art von wahnſinniger Schwaͤrmerei hatte unſer Freund noch einmal das Liedchen von den drei Reitern darauf geſpielt; beim letzten Tone warf er die Vertraute ſei - ner Leiden zur Erde. Schon erhob er den Fuß, ſie zu zertreten, da oͤffnete Geronimo die Thuͤre, ſtieß ihn zuruͤck, hob die Geige auf, unterſuchte aufmerkſam bei6*84Lampenlichte, ob ſie nicht etwa bereits Schaden genommen, legte ſie dann unverſehrt auf den Tiſch und ſprach freundlich: Antonio, ich verſtehe Dich. Wenn auch in Deinen Augen nur ein Thierfuͤhrer, fuͤhl ich doch italieniſches Blut in meinen Adern und dieſes verkuͤndet mir, was in Dir vorgeht. Aber ſei kein Narr. Fuͤr uns beide ſpielſt Du gut genug, und fuͤr die Leute, die Dich in der Gaſſe bewundern werden, auch. Warum die Geige zerſchmettern, die uns Geld bringen kann? Sieh die Sterne dort oben! die koͤnnen wir auch nicht in die Hand nehmen; ſollen wir deshalb keine Lampen und Kerzen mehr brennen? Die Sterne macht der liebe Gott, die Kerzen machen wir Menſchen; ohne Kerzen muͤßten wir manchen langen Abend im Finſtern ſitzen. Laß Deine Fiedel am Leben; iſt ſie kein Stern fuͤr die Welt, iſt ſie doch eine Kerze fuͤr Dich. Und jetzt komm zur Ruhe. Unſere Kameele ruhen gleichfalls.

85

Fuͤnfundfuͤnfzigſtes Kapitel.

Anton iſt wiederum in Gefahr ſich ſelbſt zu verlieren. Ein Carbonaro.

Geronimo wußte ſchon, was er wollte, wenn er Anton abhielt, die Geige zu vernichten, auf deren Wirkung er gerechnet, um die Proſa der Kameeltrei - berei mit einigem Zucker muſikaliſcher Poeſie zu beſtreuen. Wie ſie ſich erſt wieder auf dem Marſch befanden, ſetzt er ihm ſeine Anſichten auseinander: ſei wer Du willſt, ſtamme meinetwegen von hohen Eltern, .... denn daß Du nicht auf der Straße gefunden wurdeſt, merk ich wohl; Eines iſt ſicher: Du biſt ohne Geld, ohne Mittel, ohne Ausſichten; ein Vagabund wie man ihn nur verlangen kann. Dein Schickſal hat Dich mit mir zuſammen gefuͤhrt. Das Schickſal thut nichts vergebens; bei Allem was geſchieht waltet eine hoͤhere Abſicht. Deshalb muͤſ - ſen wir die Dinge nehmen, wie ſie ſind und Vortheil zu ziehen ſuchen aus jeder Schickung. Jch will mei - nen Vortheil durch Dich ſuchen, das ſag ich Dir geradezu, ohne Hinterhalt. Haſt Du etwas Anderes vor, weißt Du beſſere Auskunft fuͤr Dich, dann ſag’s eben ſo ehrlich und wir trennen uns. Meinſt Du aber auch, daß unſere Vortheile ſich vereinigen laſſen,86 ſo mußt Du Alles thun, ſie foͤrdern. Was ich von Dir verlange iſt Folgendes: Wir laſſen Dir eine huͤbſche, kleidſame Tracht machen, die Deine Perſon heraushebt; ein bischen knapp, bunt und abentheuer - lich, wie ſich’s fuͤr den Thierfuͤhrer ſchickt. Dieſe legſt Du an in jeder Stadt, in jedem groͤßeren Flecken, wo wir mit den Kameelen auf Straßen und Plaͤtzen erſcheinen. Da geigſt Du, waͤhrend mein Kleiner einſammelt und ich die Thiere ihren Kreislauf machen laſſe. Des Abends zaͤhlen wir die Kaſſe, ſo lange bis ich mein Kapital heraus habe, ziehſt Du ein Vier - theil; ſpaͤter trittſt Du in ein Drittheil. Gegenſei - tige Aufkuͤndigung von einer Woche zur anderen. Das iſt klar und deutlich, will ich hoffen? Und nun entſcheide Dich: Ja, oder Nein.

Geh und beſtelle den Schneider, ſagte Anton feſt entſchloſſen; ich will mir die Affengarderobe anmeſ - ſen laſſen. Man muß nichts halb thun. Zog ich bis jetzt im halben Scherze mit Dir herum, mag’s nun meinethalb ganzer Ernſt werden. Jch will gei - gen! Lipinski hoͤrt mich nicht und Paganini hat mich laͤngſt vergeſſen. Jch bin entſchieden: Ja!

tel brille au sécond rang, qui s’éclipse au premier!

pflegte Anton hohnlachend auszurufen, wenn Weiber87 und Maͤdchen, ohne der Kameele und ihres Beſitzers zu achten, ſich um ihn ſchaarten, mit allen Zeichen der Bewunderung fuͤr ſeine Toͤne, noch mehr aber fuͤr ſeine Schoͤnheit. Modena, Mantua, Verona, Roveredo, ſammt vielen Plaͤtzen von geringerem Namen wurden zu eben ſo vielen Schauplaͤtzen des Triumphes fuͤr ihn. Und ſo tief iſt auch in beſſeren Naturen die liebe perſoͤnliche Eitelkeit eingewurzelt, daß dieſe Erfolge ihn ſchmeichelnd beruͤhrten; daß ihre Wirkung ihn taub und blind machte, gegen die Entwuͤrdigung worein er zu verſinken begann. Dazu geſellten ſich noch fluͤchtig voruͤber gehende Liebeshaͤn - del, die ſich knuͤpften und loͤſeten von einem Tage, von einem Orte zum anderen; die durch bunten Wechſel, fuͤr ihn etwas Fremdes und Neues, ſein Haupt mit wuͤſtem Rauſch umnebelten, waͤhrend das Herz ſtumm dabei blieb und fuͤhllos.

So verging der Winter. Geronimo zoͤgerte abſichtlich ſo lange, ob nur deshalb, weil er das mil - dere Klima ſeines Vaterlandes fruͤher nicht verlaſſen wollte? Ob deshalb, weil allerlei heimliche und geheimgehaltene Geſchaͤfte, Beſorgungen, Zuſammen - kuͤnfte da und dort ihn feſſelten? daruͤber ſann der in Leichtſinn und Lebensgenuß verlorene Anton nicht88 nach. Jhm genuͤgte das Bewußtſein, daß ſich Gero - nimo ohne ihn und ſein Spiel nicht gehalten haben wuͤrde; er fuͤhlte ſich den Liebling der Bevoͤlkerung; die Kameele waren zu Nebenfiguren herabgeſunken, ſie wuͤrden nicht das Futtergeld eingebracht haben. Auch wurde er mit Erkenntlichkeit behandelt. Er hatte ſtets das ſauberſte Lager, den beſten Biſſen, den reinſten Wein, die huͤbſcheſten Maͤdchen und als Wuͤrze die freundlichſten Worte von Momolo. *) Momolo verkleinerndes Liebkoſungswort für Geronimo.

Mit dem Fruͤhlinge zugleich hielten ſie ihren Ein - zug in Deutſchland.

Und hier kam Anton zur Beſinnung.

Bei den erſten deutſchen Worten, wie ſie aus den Kreiſen gaffender Hoͤrer an ſein Ohr ſchlugen, erwachte in ihm das Gefuͤhl der Beſchaͤmung, welches er bis - her zu uͤbertaͤuben geſucht, aber ſo maͤchtig, daß er es nicht mehr zu beherrſchen, nicht mehr abzuweiſen vermochte. Was in fremder Sprache an ihm vor - uͤbergezogen, wie wenn es einem Fremden gelten ſollte, das beruͤhrte nun in heimathlichen Klaͤngen, wenn ſchon mit abweichendem Dialekt und Accent89 ausgeſprochen, ihn ſelbſt in eigener Seele. Jn Jta - lien hatte er mit luͤſternem Behagen ausrufen hoͤren: o, wie gut er ſpielt! Wie lieblich er ausſieht! Welch ein ſchoͤner Menſch! Jn Deutſchland ſchnitt es ihm wie ein Meſſer durch’s Herz, wenn ſie um ihn her murmelten: Seht nur den Geiger; ſchade um den huͤbſchen Burſchen!

Und wohlgethan waͤr es geweſen, wenn er, ſei - nen beſſeren Empfindungen gehorſam, hier gleich den Vertrag mit Geronimo aufgehoben haͤtte: ſein Antheil am Baarbeſtande der Kaſſe belief ſich ſchon auf mehr als hundert Silbergulden. Damit konnt er, weiter wandernd, ein gutes Stuͤck Weges machen. Doch ſeine Gutmuͤthigkeit ließ ihn zoͤgern und zoͤgern und abermals war ihm beſchieden, den bitterſten Bodenſatz des Kelches zu leeren. Frei ſollt er wie - der werden von den jetzigen Banden, aber ohne den Lohn ſeiner Erniedrigung davon zu tragen.

Sie befanden ſich auf dem Wege aus Tyrol nach M. Schon ſeit Trient, wo Geronimo wiederum naͤchtlich-heimliche Unterredungen gepflogen und nachher mehrere Briefe verbrannt hatte, bemerkte Anton wie er zerſtreut, verſtoͤrt, unruhvoll ſei. Sogar mit der Violine, die den muſikliebenden Veroneſen90 ſonſt immer aus ſchweigendem Gruͤbeln in heitere oder ſanfte Stimmung zu bringen vermochte, gelang es nicht mehr. Auf wiederholte Fragen ſchuͤttelte er nachdenklich den Kopf und ſagte nur: ich fuͤrchte, diesmal geht es ſchief! Weiter ließ ſich nichts aus ihm herausbringen.

So eben hatten ſie den Gipfel einer kleinen Anhoͤhe erreicht. Vor ihnen lag eine Stadt. Zu beiden Sei - ten der Straße zogen ſich Gebuͤſche und Waldungen in’s Thal hinab.

Die Kameele, vom Kleinen gefuͤhrt ſchritten voran und naͤherten ſich faſt den erſten zerſtreuten Haͤuſern der Vorſtadt. Geronimo und Anton gingen neben einander her.

Warum ſchleppſt Du heute Dein Felleiſen, Antonio?

Als wir die Thiere traͤnkten, nahm ich’s aus dem Korbe, um eine Zeile in meinem Tagebuche nachzu - tragen. Dann hab ich’s auf den Schultern behal - ten ich weiß ſelbſt nicht recht, warum? der Kleine mit den Kameelen war glaub ich ſchon vorauf? ’s iſt uͤbrigens nicht ſchwer. Meine Kleidungsſtuͤcke liegen meiſt im Kaſten.

Und Dein Geld?

91

Du weißt ja, daß ich nichts aus der Kaſſe ent - nommen habe. Das Haus Momolo iſt mir ſicher.

Das koͤnnte Dich doch taͤuſchen. Vielleicht ſteht dies Haus ſeinem Sturze naͤher, als Du meinſt? Jſt Dir bekannt, was man unter einem Carbonaro begreift?

So ziemlich; hoͤrt ich doch oft genug davon reden.

Dieſe Carbonari leben nicht auf dem beſten Fuße mit einer andern Sorte von Leuten, welche Sbirren genannt werden. Und wenn es ſich nun traͤfe, daß ein Agent beſagter Carbonari’s zu was immer fuͤr einem Zwecke, unter was immer fuͤr einer Maske, ſich auf Reiſen befaͤnde; daß irgend ein Ver - raͤther ſeine Ankunft vorher gemeldet haͤtte; daß man Jagd auf ihn machte; .... biſt Du nicht der Anſicht, man werde nicht unterlaſſen, auch ſeine Kaſſe in Beſchlag zu nehmen?

Sollteſt Du? ....

Jch ſollte ſo eigentlich nicht. Aber Freund Antonio, Du weißt aus eigener Erfahrung, man thut nicht immer was man ſollte; man thut haͤufig, was man wollte; da laͤuft Allerlei mitunter, was92 verboten iſt. Heute noch, ſobald wir im Quartiere ſind, werden wir rechnen und Du wirſt an Dich neh - men, was Dein iſt. Vielleicht auch was mein iſt, denn beſſer ..... Heilige Jungfrau, ſchon zu ſpaͤt! Sie halten den Kleinen mit den Kameelen an. Lebendig erwiſchen ſie mich nicht. Addio Theuerſter! Laufe was Deine Fuͤße Dich tragen, ſonſt heißt ’s: mit gefangen, mit gehangen. Auf Wiederſehen im Himmel!

Geronimo war ſchon im Gebuͤſche verſchwunden. Anton that wie er und ſuchte Heil in der Flucht. Die Abenddaͤmmerung beſchuͤtzte ihn.

Achtundfünfzigſtes Kapitel.

Wie Anton ſich durch die Flucht rettet. Ein Haſe als Tambour. Herr Käſtner.

Jm Walde, bei finſt’rer Nacht, allein, muͤde, hungrig, abgeaͤngſtet ſuchte Anton ein Ruheplaͤtzchen und als er dies eingenommen, fing er zu uͤberlegen an, was nun geſchehen ſolle. Er hatte die Wahl: zuruͤckzukehren nach dem Orte, wo man ſich ihrer Kameele bemaͤchtiget, ſich der Behoͤrde zu ſtellen und93 heraus zu begehren was von ſeinem Eigenthume bei Momolo’s Hab und Gut ſich befand; Oder: ſich weiter zu ſchlagen und noͤthigenfalls zu betteln. Fuͤr den erſten Entſchluß ſprachen ſeine vollkommene Unſchuld, ſeine gaͤnzliche Unwiſſenheit in Allem was politiſche Verbindung heißt und gerechte Anſpruͤche, wie er ſie an die gemeinſchaftliche Kaſſe machen durfte. Fuͤr den zweiten dagegen eine nicht ungegruͤndete Befuͤrchtung, daß er ſich jedenfalls langwieriger Unterſuchungshaft ausſetzen und wahrſcheinlich doch nichts davon haben werde, da Geronimo’s Eigen - thum als eines fluͤchtig gewordenen Verurtheilten im Ganzen konfiszirt werden konnte, ohne Ruͤckſicht auf Anſpruͤche eines Dritten.

Nach langem Hin - und Herſinnen blieb er endlich dabei ſtehen: Mein Reiſepaß befindet ſich gluͤcklicher - weiſe unter den Papieren im Felleiſen, welches ich, wie durch eine Ahnung veranlaßt, bei mir behielt. Die Viſen ſind in Ordnung. Das iſt wieder ein Wink! Als Anton Hahn zieh ich unangefochten mei - nes Weges. Von meinem Gewerbe ſind die ſicht - baren Spuren unter Momolo’s Gepaͤck verblieben; niemand wird mir anmerken, daß ich Kameelfuͤhrer war. So kann ich von einer Stadt zur andern lang -94 ſam wandern, kann nach der Carina forſchen, bleibe mein eigener Herr und kann als ſolcher verhun - gern, wo es mir beliebt. Freilich wohl verlier ich das ſchoͤne Geld, und die Geige mit der ich’s erwarb und meine Sonntagskleider, ... jedoch die Affen - jacke bin ich auch los und das iſt durch die uͤbrigen Verluſte noch nicht zu theuer bezahlt. Wer weiß, warum es ſo kommen mußte! Antonio mag bei Antoine und bei dem Baron de la Vannière begra - ben bleiben. Jetzt gilt’s, dem armen Anton durch - zuhelfen.

Auf dieſe Uebereinkunft mit ſich ſelbſt folgte beruhigende Gewißheit. Sobald nur erſt die Zwei - fel ſchwinden, ſtellt ſich Friede ein. Die laue Nacht wurde ſanft durchſchlafen. Haͤtte der leere Magen den Traͤumer nicht gemahnt, ſich zu erheben, wer weiß wie lange noch in den bluͤhenden Mai hinein unſer junger Hahn ſein Morgenlied zu kraͤhen gezoͤ - gert! Dicht neben ſeiner Schlummerſtaͤtte rieſelte ein klarer Quell. Er badete Angeſicht, Bruſt und Fuͤße, nahm aus dem Ranzen reine Waͤſche, ſuchte die kleine Buͤrſte hervor, mit ihr jedes Staͤubchen vom leichten Rock zu kehren und ſo erfriſcht ſuchte er einen Aus - weg aus dem Walde, deſſen Schutz er nicht mehr zu95 beduͤrfen glaubte; wobei er jedoch darauf achtete, diejenige Richtung zu verfolgen, die ihn immer wei - ter und weiter aus dem Bereiche ſeiner mit Beſchlag belegten Kameele fuͤhrte. Es dauerte auch gar nicht lange, ſo betrat er einen von Baumwurzeln durch - ſchlungenen, holperigen Fahrweg, wo in uralten tiefausgehoͤhlten Loͤchern und Pfuͤtzen liebende Froͤſche und Kroͤten mit melancholiſchen Wonne-Toͤnen und Paarweiſe den Fruͤhling feierten. Ein gruͤner Fuß - pfad, vom ſchoͤnſten Wald-Raſen-Teppich durchſaͤumt, zog ſich neben der ausgefahrenen Straße her, wie das Leben eines jugendlichen, noch nicht enttaͤuſchten Poeten, neben dem buͤrgerlichen Verkehre der Alltags - welt. Nur Schade, daß derlei Fußſteige zuletzt immer wieder in die allgemeine Heerſtraße muͤnden und daß man bei Zeiten einbiegen muß, will man ſich nicht auf der entgegengeſetzten Seite in dem von Dornen durchwachſenen, undurchdringlichen Dickicht verlaufen.

Anton’s Magen war ſehr leer. Aber ſein Herz war ſehr voll. Und eigentlich voll Freude, wozu doch eben wenig Anlaß vorhanden ſchien! Dennoch erfreute er ſich des ſchoͤnen Morgens aus frohem Her -96 zen; denn des Menſchen Herz iſt ein wunderlich Ding.

Mitten in ſeine genuͤgſame Freude hinein rauſchte ein Trommelwirbel, deſſen Echo im Walde ringsum gar ſchauerlich wiedertoͤnte.

Was Teufel, ſagte Anton, haben ſie ein Kom - mando ausgeſendet nach meinem Freunde Momolo? Das waͤre doch hoͤchſt fatal, wenn ich den Bajonet - ten gerade entgegenliefe, um mich daran aufzuſpießen, gleich einem dieſer (trunkne Liebeshymnen ſingenden) Froͤſche! Was beginnt nun ein kluger Feldherr? Dem verdammten Trommelwirbel kann kein menſchliches Ohr anhoͤren, von wannen er kommt, weil er in allen Buͤſchen, aus allen Ecken wiederhallt, wie ein Donnerwetter im Gebirge. Außerdem haben ſie wahrſcheinlich die ganze Gruͤnlichkeit umſtellt, viel - leicht gar mit Wildnetzen? Sapperment, Momolo muß ein wichtiger Kohlenbrenner ſein, daß ſie ſeinet - wegen mit allen Fahnen in’s Feld rucken. Aber ich, wie komm ich zu der Ehre? Jch fuͤhle mich ſo unwich - tig, man kann ſich gar nicht unwichtiger fuͤhlen; ich bin ihnen das Waſſer nicht werth, welches ſie mir im Kerker Schanden halber darreichen muͤſſen, des Brotes nicht erſt zu gedenken. Jch mache kei -97 nen Anſpruch auf die Auszeichnung fuͤr einen Carbo - naro, Demagogen, Weltverbeſſerer zu gelten. Jch bin ein ſimpler Hahn, und kein galliſcher, ja nicht einmal ein galliger, ſondern ein ſanfter, deutſcher, friedlie - bender, liebenauer, der die bunten Federn, welche er in Frankreich und Jtalien aufſteckte, laͤngſt wieder abgelegt hat. Schon wieder ein Wirbel? So trommle Du und der Henker! Wahrſcheinlich ruft er zerſtreute Truppen zuſammen, damit ſie mich voͤllig umzingeln. Wie der Kerl ſo vortrefflich das Kalbsfell ruͤhrt! daß muß wenigſtens ein Tambour - Major ſein! Ja, da hilft nichts, ich will mich erge - ben. Niederſchießen, ohne Urtheil und Recht koͤnnen ſie mich doch nicht. Vorwaͤrts Marſch, dem Feind entgegen! Von dort raſſelt’s; d’rauf und d’ran!

Wird die Himmelkreuzſackerment’ſche Beſtie jetzunder bald aufhoͤren zu trummeln, oder ich reiß ihr Gott ſtraf mich ’nen Loͤffel vom Kopfe runter, ver - wuͤnſchtes Beeſt was Du biſt!

Die Wirbel verſtummten.

Nein. Ein Tambour-Major kann es doch nicht ſein, aͤußerte Anton, als er jene Drohung vernahm; gegen einen ſolchen wuͤrde der Kommandant der Exe - kutions-Armee ſich aͤhnliche Ausdruͤcke nicht erlauben.

Die Vagabunden. III. 798

Jetzt machte der Weg eine Biegung. Hier muͤſſen ſie ſtehen bei Gott, da ſeh ich die Trommel.

Das hatte ſeine Richtigkeit. Eine Trommel hing vor Anton. Doch nicht an einem lebendigen Men - ſchen. Eine große Trommel an den duͤrren Aſt eines krummen, halbverwitterten Baumſtammes aufge - haͤngt. Auf dem zur Erde geſenkten Stamme ſaß ein Haſe. Wie dieſer Anton erblickte, fing er auf’s Neue zu trommeln an, heftiger denn vorher; ſeine beiden Vorderlaͤufe arbeiteten mit unerhoͤrter Fertig - keit und zwar gab er fuͤr den Augenblick das Allarm - Signal zum Beſten, womit man bei naͤchtlichen Feuersbruͤnſten ſchlafende Einwohner zu ermuntern pflegt.

Abermals erhub ſich die zuͤrnende Stimme und mit den Fluͤchen die ſie voranſendete faſt zugleich traf der Beſitzer dieſer Stimme, ein wohlbeleibter Mann in gruͤner Jagd-Pekeſche ein, offenbar ent - ſchloſſen, ſeine fruͤhere Drohung wahr zu machen und den Trommler am Gehoͤr zu beſchaͤdigen. Als er Anton erblickte, ſtutzte er und fragte: Herr Jeſus, wo kommen Sie denn her?

Dieſelbe Frage wag ich Jhnen vorzulegen. Ein Wanderer an und fuͤr ſich ſcheint mir weniger merk -99 wuͤrdig, als ein Mann der mit den Thieren des Wal - des auf dieſem Fuß ſteht! Woher, wenn ich fragen darf

Da ſehen Sie die Beſcheerung!

Jn einem der tiefſten und umfangreichſten Loͤcher dieſer waldumwachſenen Straße, man darf behaup - ten, daß die Straße in ihrer totalen Breite auf jener verhaͤngnißvollen Stelle nur ein Loch war lag von truͤben Wellen umſpuͤlt ein Wagen, jenen Gebaͤu - den nicht unaͤhnlich in und mit denen Anton’s Freunde und Feinde dereinſt am Strande der Flammen Raub wurden. Wenn ich ſage er lag , ſo bedien ich mich gedankenlos einer herkoͤmmlichen Phraſe, die das Bild ſchlecht bezeichnet. Jch muͤßte ſagen er ſtand; doch ſeiner gewoͤhnlichen Stellung als Wagen wenig entſprechend, ſtand er auf dem Kopfe; mindeſtens ſtreckte er ſeine Fuͤße, die Raͤder, zum Himmel empor, von dieſem Huͤlfe flehend. Wie es erreicht worden ſei, dieſen gaͤnzlichen Umſturz der Dinge zu bewirken, wuͤrde Anton bei allem Aufgebote der Einbildungs - kraft nicht begriffen haben, waͤre ihm die bildliche Auseinanderſetzung des Pekeſchen-Mannes nicht ent - gegen gekommen.

Jch hab geſchlafen, ſeh’n Sie, denn ich war7 *100muͤde. Der Schurke, der Johann kutſchirt, ſeh’n Sie. Hier kommt er an’s Loch. Anſtatt gerade durch zu fahren, denn das iſt das Beſte bei ſo tiefen Loͤchern, will der Eſel raͤndeln und raͤndelt da oben ’nauf uͤber die Wurzeln, bis er gluͤcklich auf den umgeſtuͤrzten Baum kommt, wo ich jetzt die Trummel aufgehaͤngt habe. Von der rechten Seite geh’n die Raͤder uͤber den Baumſtamm, von der linken ſchwimmen ſie im Loche, ſehn Sie, folglich verſteht der Wagen unrecht, faͤngt an zu kippen und kippt aber auch gleich kopf - uͤber. Und ich kippe mit und erwache im Schlamme, ſeh’n Sie

Jch ſehe.

und konnte nicht einmal fluchen, denn ich hatte das Maul voll Lehm und Waſſer. Und der Johann ſehn Sie

Wo iſt der Johann? den ſeh ich nicht.

Ja, wo iſt der Johann? Fortgelaufen iſt er, in die Waldung, ſehn Sie. Er hatte ohnedies ſein Kerb - holz voll; da hat er ſich aus dem Staube gemacht, ſo lange ich noch nicht bei Verſtande war. Jch bin froh, daß ich das luͤderliche Tuch los bin, ſeh’n Sie, wenn ich nur hier Rath wuͤßte? Die Hirſche ſind geborgen, die ſtehen da im Graſe angebunden. Ein Haſe iſt101 auch gerettet, der ſitzt bei ſeiner Trummel. Was aus den andern geworden iſt, ſeh’n Sie, das weiß ich nicht. Wie Sie um die Ecke bogen, war ich gerade dabei, langſam auszupacken, ſeh’n Sie.

Da bin ich ja wohl erwuͤnſcht gekommen? Darf ich Jhnen meine Huͤlfe anbieten?

Bei dieſen Worten legte Anton Ranzen und Stab neben den Haſen, der ihn ſchmunzelnd betrach - tete und ſodann den Ranzen eifrig beſchnupperte.

Nach und nach wurden die einzelnen Beſtand - theile des halbverſunkenen Jnventariums an’s Land gebracht. Ein Haſe hatte den Hals gebrochen, weil ihm ein ſchwerer Kaſten in’s Genick geſunken war. Der andere ſprang, als man ihm Luft gemacht, sain et sauf zu ſeinem noch lebenden Kameraden auf den Baum und begann das Feſt ſeiner Lebensrettung ſogleich durch leidenſchaftliche Trommelſchlaͤge zu feiern, als welcher Ausdruck des Wohlbehagens ihm ernſtlich unterſagt werden mußte.

Dem eigentlichen Wagengeſtell, wie es leicht her - ausgezogen und auf die Beine gebracht werden konnte, war kein Leid widerfahren. Dagegen hatten die hohen Korbgeflechte, die zum Aufenthaltsorte fuͤr die Hirſche auf Kunſtreiſen dienten, ſchwere Beſchaͤdigungen102 erlitten, indem die Seitenwaͤnde von oben bis unten auseinander geborſten waren. Hier zeigte ſich unſer Korbmacher aus Liebenau in alter Glorie. Mit eini - gem Handwerkszeug, wie ein Vagabund von Profeſ - ſion desgleichen ſtets im Kaͤſtchen des Kutſcherſitzes bei ſich fuͤhrt, und Zuziehung verſchiedener Baum - zweige, die der Wald, ſo wie verſchiedener Stricke, die der Pekeſchen-Mann lieferte, ging Anton ruͤſtig an’s Werk; nicht ohne ſich vorher durch ein kaltes Fruͤhſtuͤck geſtaͤrkt zu haben. An Proviſion war kein Mangel und auch eine volle Weinflaſche unbeſchaͤdi - get aus dem Schiffbruche auf’s Trockene gerettet.

Der groͤßte Theil des Tages verging mit Herſtel - lung einzelner Schaͤden. Anton bot uͤberall huͤlfreiche Hand, wobei er ſich ſo willig und geſchickt zeigte, daß ihm Dank, Lob und Lebensmittel in Fuͤlle verabreicht wurden. Als er im Laufe der wechſelnden Geſpraͤche einfließen ließ, wie er planlos durch die Welt ſchweife, ohne andere Abſicht, als moͤglichſt viele Staͤdte zu beruͤhren, wo er im Stande ſei, Erkundigungen ein - zuziehen uͤber eine Perſon, die er zu finden ſtrebe; und als er nicht verhehlte, daß die Mittel zu ſolcher Entdeckungsreiſe ihm ſo gut wie gaͤnzlich abgingen,103 da machte der Mann in der gruͤnen Jagd-Pekeſche ihm einen ſchuͤchternen Vorſchlag in folgender Anrede:

Sie ſind mir ſo zu ſagen zu vornehm, ſeh’n Sie; denn ich kann nicht klug werden aus Jhnen, weil Sie ſo gelehrt reden, und doch ſind Sie eigentlich ein Korbmacher und ſagen, Sie haͤtten gedient! Da weiß ich nicht, wie ich mit Jhnen d’ran bin. Aber wenn Sie ſonſt wollten, denn Pferdeknecht, oder Kutſcher iſt wieder ’was Anderes, ſeh’n Sie. Wer in meinen Dienſt geht, der hat mit Kuͤnſtlern zu thun. Was meine Haſen ſind, ſeh’n Sie, das haben Sie gehoͤrt; die Hirſche ſind dreſſirt wie Pferde und meine Pferde ſind ſo klug, daß ihnen nur die Sprache fehlt. Und den Johann nehm ich nicht wieder auf, ſeh’n Sie; durchaus nicht. Er iſt ein Taugenichts, der Kerl, und bleibt einer. Jch heiße Kaͤſtner, ſeh’n Sie, von der b ... ſchen Grenze. Alle Jahre ſechs Monate auf der Kunſtreiſe und ſechs Monate zu Hauſe. Und junge Haſen will ich bald wieder haben, das iſt Leichtigkeit. Denn ich gebrauche mehr wie zwei. Einer muß trum - meln, ſeh’n Sie, und zwei muͤſſen Schildwach ſtehn; und ſie wechſeln ab untereinander; das iſt alleben die Kunſt, ſeh’n Sie.

Herr Kaͤſtner, antwortete Anton, wie Sie mit104 mir daran ſind, ſollen Sie bald wiſſen. Jch bin bereit, den Dienſt als Burſche bei Jhnen anzunehmen, unter der Bedingung, daß ich von einem Tage zum andern das Recht behalte, Sie wieder zu verlaſſen. Eben ſo koͤnnen Sie mich fortſchicken, wann es Jhnen gut duͤnkt. Daß ich anders rede, mich anders benehme und ausdruͤcke, wie Jhr Johann, darf Sie nicht irre machen; nichts deſtoweniger werd ich meine Schul - digkeit thun und ich denke, wir werden mit einander zufrieden ſein.

Sehr zufrieden, ſagte Kaͤſtner, ſehr; ich bin ſchon zufrieden mit Jhnen, ſeh’n Sie, heute den gan - zen Tag.

Die Hirſche waren in ihre Koͤrbe gebracht, die Haſen in ihre Kiſte, die kuͤnſtleriſch-gebildeten drei Roſſe, an Pegaſus im Joche erinnernd, wieder vor den Wagen gelegt, welcher ſeinen Kampf mit den unerforſchlichen Tiefen der Waldſtraße weiter aus - fechten ſollte; Kaſtner und Anton ſaßen bereits .... da erſchien Johann der Fluͤchtling. Er verſicherte, ſein Entweichen habe keinen andern Grund gehabt, als Huͤlfe herbeizuholen, die er nun doch leider nicht gefunden.

Kaͤſtner rief alle Nymphen und Dryaden des105 Waldes zu Zeuginnen auf, daß Johann ein frecher Luͤgner ſei, zahlte ihm ſein Wochenlohn, warf ihm ſein Buͤndel zu, empfahl ihm, ſich einen Galgen mit freundlicher Ausſicht zu ſuchen, woran er ſich haͤngen laſſe und ſchloß mit einem Winke auf Anton, der ihn bereits erſetzt habe.

Johannes ſchied mit tuͤchtigem Fluche.

Die Haſen in der Kiſte trommelten einen Tuſch.

Die Pferde ſetzten ſich in Bewegung.

Neunundfuͤnfzigſtes Kapitel.

Langes und langweiliges Umherziehen. Käſtner will aus Anton einen Eidam machen. Adelheid. Anton verſucht einen Roman, kommt aber nicht zu Stande.

Jch werde meine Leſer nicht belaͤſtigen durch Auf - zaͤhlung groͤßerer, wie geringerer Orte, woſelbſt Kaͤſt - ners Roſſe ſtaunenden alten Jungfern durch grazioͤſes Kopfnicken nah bevorſtehenden Hochzeitskuchen ver - ſprachen, oder durch Scharren ihrer Vorderfuͤße das Lebensalter jener Holden um etliche und zwanzig fluͤchtige Fruͤhlinge zu niedrig taxirten; wo Kaͤſtner’s Hirſche als kuͤhne Feuerwerker auftraten und Buͤchſen losbrannten, wie wenn ſie Jaͤger waͤren, nicht Hirſche;106 wo ſeine Haſen ſich ſelbſt uͤbertrafen vor der Trommel, dann durch Reifen ſprangen und Schnupftuͤcher appor - tirten, wie wenn ſie Hunde waͤren, nicht Haſen; wo Anton in einer gleichfalls gruͤnen Jagd-Pekeſche die Thiere aus dem Stall in den Saal uͤber die Stiegen hinauf und wieder hinab geleitete; .... es laͤßt ſich weiter nichts Troͤſtliches ſagen von dieſem Sommer.

Daß jene aus Truͤmmern zuſammengeſetzte italie - niſche Opern-Unternehmung, mit welcher die Carina nach Deutſchland gezogen ſein ſollte, des Weges nicht gekommen, den Kaͤſtner mit ſeinen Thieren verfolgte, das beſtaͤtigte ſich uͤberall, wo Anton Nachfrage hielt; er ward endlich muͤde zu fragen, wie zu hoffen. Er ſtarb nach und nach fuͤr Alles ab, worin ein Menſch in ſeinen Jahren etwa Freude ſucht. Wie er bei Ge - ronimo jenſeit der Alpen ein ſinnlich - und erotiſch - wildes, doch nicht unpoetiſches Leben gefuͤhrt, ſo ging er jetzt als vollkommenſtes Bild eines jungen Phili - ſters neben ſeinem philiſterhafteſten Urbilde einher: Zwei gruͤne Jagd-Pekeſchen, eine dick und breit, die andere duͤnn und ſchlank; in der einen befand ſich der Herr, in der andern der Diener; aber Herr und Die - ner dienten nur einer Herrin, der lobenswertheſten Proſa. Sie thaten ihre Arbeit, nahmen maͤßiges Geld107 ein, ließen Pferde, Hirſche, Haſen die alten Kuͤnſte machen, erholten ſich bei einem Glaſe Duͤnnbier, ſpiel - ten unterweilen eine Partie langen Puff, gingen mit den Huͤhnern ſchlafen und Anton Hahn lernte ſogar aus einer langen langen Tabak-Pfeife ſchmauchen.

O, wenn Laura ihn ſo geſehen! ...

Ja, wenn er ſich nur ſelbſt haͤtte ſehen koͤnnen, wie man einen Dritten ſieht! ... Welchen Effekt wuͤrde er auf ſich ſelbſt hervorgebracht haben!

Wohl ſagte er bisweilen, wenn er die Gegenwart mit ſeiner Vergangenheit verglich: es kommt nur noch auf ein Jahr an, bis ich voͤllig verdumme; dann iſt Alles in Ordnung und ich hege dann weiter keine Wuͤnſche mehr, und habe kein Beduͤrfniß; hoͤch - ſtens etwa einen Hund. Es muͤßte aber ein ſolider Hund ſein, wie ich.

Kaͤſtner zeigte ſich um ſo zufriedener mit Anton, je aͤhnlicher ſich dieſer ihm zeigte. Sie fuͤhrten ein friedfertiges, ſtilles, gaͤhnendes Daſein mit einander. Auch bezahlte der Herr den Diener gut, ſeinen Umſtaͤnden gemaͤß. Weil aber die Umſtaͤnde den Ein - nahmen gemaͤß gewoͤhnlich ſchlecht waren, ſo konnte auch die gute Bezahlung nur eine ſchlechte ſein. An - ton klagte nicht. Er hatte Alles frei und erhielt bis -108 weilen ein Stuͤck Geld, wenn die Kaſſe ertraͤglich gefuͤllt war. Dabei ſparte er und legte einen Thaler zum anderen.

Kaͤſtner ſah das mit Vergnuͤgen, belobte und ermunterte ihn, ſo fortzufahren. Sie ſind ein ordent - licher junger Mann, ſprach er oftmals zu ihm, und wir paſſen zuſammen, ſeh’n Sie, und wer weiß, was noch geſchieht! Mit den Thieren wiſſen Sie gut um - zugehen, haben Geduld dazu. Naͤchſtens ſollen Sie verſuchen, ſelbſt eine Vorſtellung zu geben; ich kann mich auf Sie verlaſſen. Alt bin ich auch, vielleicht ſetz ich mich bald zur Ruhe. Jch hab ein kleines Haus mit Garten und Acker auf dem Lande, ſeh’n Sie, nicht gar weit von E. Wir ſpielen uns jetzt immer naͤher darauf hin. Meine Tochter, mein ein - ziges Kind, fuͤhrt die Wirthſchaft. Gefallen Sie ihr ſo gut, wie Sie dem Vater gefallen, nu, ſeh’n Sie, ich haͤtte nichts dagegen. Wie geſagt: wer weiß, was geſchieht!

Dieſes wer weiß, was geſchieht? ging durch haͤufige Wiederholung bei Anton in Fleiſch und Blut uͤber; es verwuchs mit ihm und ſeinem einfoͤrmigen Leben. Er gewoͤhnte ſich an den Gedanken, ein der - bes einfaches Landmaͤdchen wie ſeine Frau, ſich wie109 den Beſitzer eines freundlichen Hauſes zu betrachten. Mit jeder Meile, welche ihn den Kaͤſtneriſchen Do - mainen zufuͤhrte, malte er ſich die jugendliche Ver - walterin huͤbſcher und wuͤnſchenswerther aus. Daß ſie Adelheid heiße, wie der Vater ihm vertraut, verlieh ihr aus der Ferne ſchon einen gewiſſen Zauber: wer hinderte ihn, eine Adelheid Adele zu nennen?

Wie beinahe fuͤr jeden Menſchen gewiſſe Monate, ja Tage des Jahres in ihrer Wiederkehr niemals ohne Bedeutung bleiben, ſo ſcheint ſich bei Anton der No - vember hervorzuthun, weil der Anfang deſſelben immer einen Wendepunkt ſeines Geſchickes bezeichnet. Jn den erſten Tagen dieſes Monats hat unſerer Wanderer Liebenau verlaſſen; in den erſten Tagen des Novem - ber verbrannte die Menagerie der Simonelli; im No - vember war es, wo Adele Jartour ſich von ihm trennte; im November, wo Kaͤthchens gefaͤhrliche Neigung ihn einſam und freudlos nach Paris trieb; im November, wo mit Theodor eine kuͤhne Hoffnung fuͤr ihn begraben ward.

Und heute, da der verhaͤngnißvolle Tag ihm ſeit der Trennung von Liebenau zum fuͤnftenmale wieder -110 kehrt, heute haͤlt er ſeinen Einzug in dem Gebirgs - doͤrfchen, allwo ſein Herr und Meiſter vielleicht Schwiegervater heimiſch iſt; wo Adelheid ihm entgegen treten ſoll; wo, wenn anders menſchlichen Plaͤnen und Vorausſetzungen zu vertrauen waͤre, ſein ruhelos-wandelbares Daſein nach und nach uͤbergehen wird in friedfertige Einfoͤrmigkeit des auf kleiner Erd - ſcholle vegetirenden Menſchenlebens.

Ein ſolcher Uebergang konnte nur durch Vermit - telung der Tochter vom Hauſe ſtattfinden; nur wenn Kaͤſtners Wunſch in Erfuͤllung ging, wenn Anton Adelheids Gatte wurde, war ihm dieſe kleine Hei - math beſchieden. Darum auch duͤrfen wir ihn nicht ſchelten, daß er mit geſpannter Ungeduld dem erſten Erſehen entgegenharrte. Ueber des Kindes Alter war der Vater bis jetzt eben ſo ſtumm geblieben, als uͤber ihre etwaigen perſoͤnlichen Vorzuͤge. Er hatte ſich begnuͤgt, ihre Wirthſchaftsfuͤhrung zu preiſen, ihre Haͤuslichkeit zu ſchildern, die Strenge ihres Re - gimentes in helles Licht zu ſtellen. Dadurch entſtand in Antons Phantaſie ein greller Umſchlag. Aus dem derben, einfachen, doch huͤbſchen und ſanften Land - maͤdchen, wie er ſich’s erſt traͤumen wollen, wuchs ihm durch des Vaters Schilderungen nach und nach111 ein robuſter, beſenſchwingender Hausdrache auf, uͤber die Jugendbluͤthe weit hinaus; unerbittlich gegen Magd und Knecht; ſparſam bis zum Geiz und mit einer Grenadierſtimme verſehen.

Eine ſolche wird mich furchtbar pantoffeln, dachte er.

Mag er nun fuͤr ſich ſelbſt weiter reden.

Einige Blaͤtter aus Antons Tagebuche.

Die Thiere ſind gluͤcklich untergebracht und wir auch. Der Herr hat ſein großes Zimmer im Erd - geſchoß bezogen, wo es von zahmen Waldvoͤgeln wimmelt. Jch bewohne ein Giebelſtuͤbchen gegen Abend hinaus. Mein Fenſter iſt wie der Rahmen zu einem Gemaͤlde: lauter Berge vor mir mit dunkel - gruͤnen Tannen; wundervoll! Das andere Giebel - ſtuͤbchen, gegen Morgen gelegen, bewohnt die Adel - heide.

Aber da hab ich mich einmal geirrt, wie ich mir im Voraus eine Jdee von ihr gemacht. Nichts trifft zu, außer der geſunden Geſichtsfarbe. Sie iſt mehr klein, als groß; mehr ſchlank, als dick; mehr zart, als plump. Ein artiges, natuͤrliches Ding, und recht112 huͤbſch. Hoͤchſtens neunzehn Jahre. Es iſt erſtaun - lich, wie ein ſolches Maͤdchen das ganze Weſen ſo gut in Ordnung erhaͤlt. Sie koͤnnte mir wohl gefallen, wenn ich ihr zufaͤllig irgendwo begegnete, ohne ſonſt von ihr zu wiſſen. Jetzt iſt ſie mir gleichguͤltig und wird es mir auch bleiben, fuͤrcht ich, blos weil ich weiß, daß ihr Vater ſie mir zur Frau beſtimmt. Der Gedanke, daß ich ihr Ehemann werden ſoll, ſtellt ſich zwiſchen ſie und mich, wie der große Schornſtein, der aus der Kuͤche herauf durch’s Dach fuͤhrt, zwiſchen unſern beiden Giebelſtuͤbchen ſteht.

Wenn ſie mir nur nicht gar zu zaͤrtlich entgegen - kommt! Das koͤnnte mich in ſchreckliche Verlegenheit ſetzen. Solch ein armes Maͤdel vom Lande, das doch einen Anflug von Bildung beſitzt, oder wenig - ſtens eine Ahnung, wie es außer den Bengeln in ihrem Dorfe noch andere junge Maͤnner auf Erden giebt, muß natuͤrlich Einen, der aus der Fremde kommt und einen andern Zuſchnitt hat, mit verliebten Augen anſehen.

Sie ſoll mir nur Zeit laſſen. Es kann ſich mei - netwegen Alles finden, wenn nun einmal uͤber mich verhaͤngt iſt, hier mein Leben zu beſchließen.

Erſt muß ich mich acclimatiſiren.

113

Es iſt fuͤrchterlich langweilig hier in dem lieben V. Bei ſchlechtem Wetter wie heute iſt’s gar aus!

Papa Kaͤſtner will mich durchaus zum Abrichten der Thiere abrichten. Nicht zufrieden, daß ich bereits erlernt habe, ſeine Schuͤler bei oͤffentlichem Examen mit Glanze vorzufuͤhren, verlangt er auch, ich ſoll begreifen, wie man die Langohren unterrichtet. Den drei jungen Haſen, die er als kuͤnftigen Erſatz zur Auswahl aufgenommen, fuͤr jenen beim großen Um - ſturz im Walde von der Kiſte erſchlagenen, welcher letztere, nebenbei geſagt, ſich ſehr zaͤh verſpeiſete, da wir ihn braten ließen, diene ich gewiſſermaßen als Hauslehrer, oder wie man bei uns zu Lande ſagt Hofemeiſter. Es ſind bornirte Koͤpfe.

Adelheid geht um mich herum, wie die Katze um den heißen Brei. Bis jetzt wagt ſie noch kaum, mich anzuſprechen. Gott ſei Dank!

Endlich hab ich eine Geige aufgetrieben; ſie iſt zwar nicht viel werth, aber ſie klingt doch.

Es regnet unaufhoͤrlich. Jetzt wuͤnſchte ich den Waldweg zu paſſiren, wo ich Papa Kaͤſtner kennen lernte; aber zu Nachen.

Die Vagabunden. III. 8114

Wenn nur erſt Schnee kommen moͤchte. Die Berge mit ihren hohen Tannen muͤſſen im Winter - ſchmuck herrlich ſein!

Heute fruͤh iſt ein Hirſchkalb eingebracht worden, welches den Studien gewidmet werden ſoll; ſtellt ſich noch ſehr ungebehrdig an.

Herr Kaͤſtner iſt verdruͤßlich. Wenn ich ihn frage, was ihm fehlt, ſo ſchiebt er alle Schuld auf das Hirſchkalb, welches nicht begreifen will. Jm Ganzen bin ich zufrieden mit ſeiner uͤblen Laune, denn ſie verhindert ihn, zutraulich mit mir zu ſchwatzen und das gewiſſe Projekt in Anregung zu bringen. Je weiter ſich die Sache hinausſchiebt, deſto angenehmer iſt es mir.

Nun haͤtten wir ja den lieben Winter: ellenhoch liegt der Schnee. Es ſieht wunderhuͤbſch aus. Doch mit dem Anblick muß ich mich auch zufrieden ſtellen. Von ſpazieren geh’n iſt keine Rede mehr. Man ver - ſinkt bis uͤber die Huͤften.

Wer jetzt ſeine Buͤcher noch haͤtte! Die Zeit wird mir mitunter ſehr lang!

115

Die Adelheid iſt eigentlich ein recht huͤbſches Maͤdchen. Wenn ſie nur nicht fuͤr mich beſtimmt waͤre, und ich fuͤr ſie; das raubt ihr in meinen Augen viel von ihren Reizen.

Und daß ſie weiß, daß ich weiß, der Vater will ſie mir geben, darin liegt die Proſa des Verhaͤlt - niſſes. Sie ſelbſt, ſo ſehr ſie wuͤnſchen mag, unter die Haube zu kommen, haͤlt es gar nicht erſt der Muͤhe werth, einen Liebeshandel anzuſpinnen. Die Gewiß - heit, wie es werden wird, laͤßt auch ſie ruhig erſchei - nen. Denn daß der Alte ihr ſeinen Plan eroͤffnet hat, leidet keinen Zweifel. Jch entnehme das aus einzelnen Worten, die beiden gelegentlich entſchluͤpfen, wenn ſie ſich unbeachtet glauben.

Die Acker-Wirthſchaft iſt recht huͤbſch.

Am Ende, wenn Papa ſich zur Ruhe ſetzt, kuͤnf - tig daheim bleibt und mich alljaͤhrlich mit den Thieren auf einen Ausflug entlaͤßt, kann ich mir die Heirath gefallen laſſen. Jch verbau’re dann doch nicht ganz und gar, ſehe immer wieder die große Welt, erlebe Mancherlei und halte nachher wieder ein Weilchen bei meiner kleinen Frau Gemahlin aus.

Es iſt halt ein Leben wie ein anderes. Aber8*116Buͤcher muß ich mitbringen, wenn ich kuͤnftig zuruͤck - kehre.

Jch bin, bei Lichte betrachtet, ein rechter Narr! Da langweil ich mich nun, wie ſich nur meine Haſen in ihrem dunklen Verſchlage langweilen koͤnnen, und thue doch nichts dafuͤr, etwas Leben in dieſe Einfoͤr - migkeit zu bringen, wozu ich doch die ſchoͤnſte Gele - genheit zur Hand haͤtte! Ein Maͤdel wie Adelheid geht ſtuͤndlich um mich herum, wohnt mir gegenuͤber, Thuͤr an Thuͤr den alten Schornſtein bei Seite geſetzt, und ich weiche ihr aus. Warum? Weil ihr Vater mir geſagt hat, daß ich ſeiner Tochter Ehe - mann werden ſoll.

Jſt das ein vernuͤnftiger Grund? Werd ich nicht Zeit genug haben, mich geſetzlich zu langweilen, wenn ich in Wahrheit verheirathet bin? Und waͤr es nicht geſcheidter, die Gegenwart zu benuͤtzen, ohne an die Zukunft zu denken? Eine Liebſchaft hinter dem Ruͤcken des Vaters anfangen; mich ihr naͤhern und ſie ver - traulich machen, ohne vom Eheſtand zu reden; den Liebhaber ſpielen, wie wenn ich von meinen Berech - tigungen keine Ahnung haͤtte, und ſo gewiſſermaßen wie mein eigener Nebenbuhler auftreten? das117 muͤßte doch eine kleine Unterhaltung gewaͤhren. Das Maͤdchen verlangt es nicht beſſer; man ſieht’s ihr an. Sie wirft mir haͤufig verſtohlene Blicke zu, die deut - lich ſagen: wenn mit Dir nur zu ſprechen waͤre, ich moͤchte Dir allerlei eroͤffnen.

Sie muß mich fuͤr einen rechten Stock halten, ohne Augen, ohne Gefuͤhl.

Auch taͤuſch ich mich gewiß nicht, wenn ich annehme, der Alte will nichts Entſchiedenes thun, bis ich nicht durch die erſte Reiſe, die er mich allein unter - nehmen laͤßt, meine Brauchbarkeit fuͤr’s Geſchaͤft an den Tag gelegt habe. Eher wird er nicht Ernſt machen mit der Verlobung, das ſeh ich ſchon.

Nun, deſto beſſer. So bleibt mir ja Zeit genug fuͤr einen kleinen Roman. Morgen fang ich an, ihn zu ſpielen.

Sie hat’s gemerkt! Jhre Augen wurden noch einmal ſo groß, da ich ſie im Voruͤbergeh’n auf der Treppe anſprach und ſie fragte, wann wir ein trau - liches Viertelſtuͤndchen verplaudern koͤnnten? Erwie - dert hat ſie nichts. Mein Roman hat begonnen.

Das iſt ſeltſam. Sie weicht mir aus, mit einer118 Gewandtheit, die der geuͤbteſten Kokette jeder großen Stadt Ehre machen wuͤrde.

Wo das die Frauenzimmer lernen? Die Kunſt muß mit ihnen geboren werden. Jch wollte, es waͤre mit meinen Haſen auch ſo.

Uebrigens hat ſie Recht. Wenn ſie mich anſpor - nen und in Feuer bringen will, ſchlaͤgt ſie den kluͤgſten Weg ein. Jetzt intereſſirt ſie mich ſchon ein wenig.

Ah par exemple, das iſt zu ſtark! Heute beim Eſſen ſchieb ich meinen Fuß in die Naͤhe des ihrigen und druͤcke ganz beſcheiden und ſanft dagegen; da ruft ſie laut: iſt der haͤßliche Kettenhund ſchon wieder im Zimmer? will er gleich hinaus!

Jn demſelben Augenblicke heulte Karo draußen und raſſelte mit der Kette an ſeiner Huͤtte. Papa Kaͤſtner ſagte zu ihr: Du biſt wohl gar unklug?

Solch eine Kroͤte!

Na, warte Maͤdel, Du ſollſt mir’s buͤßen!

Jch habe ſie gluͤcklich allein erwiſcht, wo ſie dem Gefluͤgel Futter ſtreute. Jch machte ihr einen ſpoͤtti - ſchen Vorwurf, daß ſie mich mit dem Hunde verwech - ſeln wollen. Sie hob den Blick bittend zu mir auf119 und ſeufzte: ach, wenn ich reden duͤrfte! Die dumme Magd ſtoͤrte uns.

Aber Du ſollſt nicht vergebens geſeufzt haben, kleine Adelheid. Du ſollſt reden duͤrfen, und ich will Dich hoͤren und erhoͤren.

Sie wehrt ſich gegen die Liebe, wie ein Ster - bender gegen den Tod. Hilft doch nichts, mein Taͤubchen, zapple wie Du willſt, der Aar wird Dich bald in ſeinen Krallen halten. Und troͤſte Dich: ſie ſind nicht rauh und ſcharf, dieſe Krallen; Du ſollſt nur Gutes und Liebes von ihnen erdulden.

Jch bin entſchloſſen. Heute Abend, wenn Alles ſchlaͤft, ſchleich ich mich um den Schornſtein herum zu ihr hinuͤber.

Das konnt ich freilich nicht wiſſen, daß ſie ſich von Jnnen verriegelt. Darauf waͤr ich in hundert Jahren nicht gekommen.

Ob ſie das ſchon zu thun pflegte, ehe Papa Kaͤſt - ner mich mitbrachte? Jch wette, nein. Warum haͤtte ſie’s thun, vor wem ſich verwahren ſollen? Nur mei - netwegen kann es geſchehen. Sie vermuthete alſo meinen Beſuch? Sie ſetzt folglich ſchon voraus, daß120 ſie etwas von mir zu fuͤrchten hat? Und dieſe Vor - ausſetzung zeigt am deutlichſten, wie es mit ihr ſteht. Denn man ſucht niemand hinter einer Thuͤre, wenn man nicht Luſt empfindet, ſich ſelbſt dahinter zu ver - ſtecken. Bei all dem war’s nicht angenehm, wieder umkehren zu muͤſſen. Laut zu pochen durft ich doch nicht wagen. Jch hab die ganze Nacht nicht ge - ſchlafen.

Nicht moͤglich, mit ihr zu ſprechen ohne Zeugen. Beim Abendeſſen faßt ich mir ein Herz, in Vaters Gegenwart zu fragen, ob ſie immer bei verſchloſſener Thuͤre ſchlafe?

Der Alte that, als hoͤrt er’s nicht.

Sie erwiederte, das wiſſe ſie ſelbſt nicht; manch - mal riegle ſie ſich ein, manchmal nicht, wie’s ihr nun gerade einfiele. Jetzt bin ich doch neugierig, was ihr heute beim Schlafengeh’n einfallen wird. Der Alte weiß nicht, woran er mit uns beiden iſt. Er glaubt, ich mag das Maͤdchen nicht; das macht ihn aͤrgerlich.

Solche Nacht goͤnn ich keinem Spitzbuben! Adelheid hat ſich abermals eingeſperrt und ich war ſo feſt uͤberzeugt, ſie wuͤrde mich nun einlaſſen. So feſt,121 daß es mich faſt verdroß, wieder abziehen zu muͤſſen. Jch klopfte ſogar, fragte, ob ſie ſchon ſchliefe, und erhielt keine Antwort. Da fuhr ich wuͤthend zuruͤck und quaͤlte mich dann in meinem Bette ab, ohne eine Stunde zu ſchlafen. Das Maͤdel iſt doch dumm. Wenn ſie darauf ausgeht, mich um ſo ſicherer zum heirathen zu bringen, ſollte ſie ſich nicht ſo ſproͤde anſtellen. Jm Gegentheil: wollte ſie ſich gar nicht zieren und ſich zeigen, wie’s ihr um’s Herz iſt, hin - gebend, ohne alle Sperenzien, dann wuͤrde ich’s viel - leicht hernach fuͤr meine Pflicht halten, ſie zum Altare zu fuͤhren. Jetzt mag ſie ſich eiſerne Thuͤren vor ihr Schlafgemach ſchmieden laſſen und Schloͤſſer daran legen, wie vor eine fuͤrſtliche Landes-Haupt-Kaſſe, ich belaͤſtige ſie nicht mehr. Jch rede auch nicht mehr mit ihr und thue uͤberhaupt gar nicht, als ob ich wuͤßte, daß ſie ein Frauenzimmer iſt.

Mag ſie’s haben!

Was verdirbt ſie mir meinen Roman!

Sie moͤchte fuͤr’s Leben gern, daß ich wieder mit ihr ſpraͤche, mich ihr naͤherte. Man ſieht’s ihr an, ſie lauert nur darauf. Aber da kann ſie lange lauern. Nicht eine Silbe.

122

Der Alte thut auch den Mund nicht auf. Wir drei fuͤhren eine lebhafte Unterhaltung. Heute den ganzen Tag haben wir nichts geſprochen. Jch glaube, unſere Haſen reden mehr mitſammen.

Jetzt eben hat ſie ihre Thuͤr in’s Schloß fallen laſſen, wie mit Abſicht, daß ich’s hoͤren ſollte.

Wahrſcheinlich wuͤnſcht ſie, ich moͤchte wieder anpochen und etwa um Einlaß flehen, wie ein kleiner Junge, den die Mama hinausgeworfen. Nichts da, Jungfer Alheit die Gans!

Wenn ich nur wuͤßte, was ſie immer noch in ihrer Stube treibt, nachdem ſie ſich eingeriegelt, ein - gehaͤkelt, eingekettelt, eingeſchloſſen hat? Das dauert manchmal noch eine volle Stunde, wo ich bis heruͤber ſie hoͤre Stuͤhle ſchieben, Tiſche ruͤcken. Jch muß ſie doch belauſchen. Morgen fruͤh, ſobald ſie hinabgegan - gen iſt in ihre Wirthſchaft, werd ich einen Bohrer nehmen und mir ein Guckloch einrichten. Nur, daß die Zeit vergeht. Schlafen kann ich ohnedies nicht.

Das Obſervationsloch iſt gut gerathen; ich kann ihr Stuͤbchen uͤberſehen. Jch hab es mit einem123 Stuͤckchen Holz verſtopft von derſelben Farbe, wie die Thuͤr. Heute Abend wird’s benuͤtzt.

Das muß man ihr laſſen, reinlich iſt ſie. Treibt die ein Waſchen und Baden! Und bei der Kaͤlte! Ganze Fluthen ſchwemmt ſie uͤber ſich.

Sie erinnerte mich an Zara’s Seekalb, wie ihr die Augen funkelten und die Haare trieften. Nur daß jenes nicht ſo weiße Haut hat und nicht ſo ſchoͤn gebaut iſt.

Es giebt Frauenzimmer, die erſt recht ſchoͤn wer - den durch Putz und Kleidung; bei Adelheid iſt das umgekehrt.

Es war ein reizender Anblick!

Haͤtte mich nicht ſo furchtbar in die Fuͤße gefroren, waͤr er mir noch ſchoͤner geweſen. Aber ich konnte doch nicht anders hinuͤber ſchleichen, als auf den Struͤmpfen, ſonſt haͤtte ſie mich ja kommen hoͤren.

Der Teufel ſelbſt hat mir gerathen, das Loch zu bohren. Nun hab ich gar keinen Schlaf mehr und keine Ruhe. Mag ich die Augen ſchließen wie ich will, immer ſeh ich ſie, wenn ihr das Waſſer uͤber den Nacken rinnt .....

124

Liegt es an meinem ſchlechten Gewiſſen, denn Unrecht bleibt es, das muß ich ſelbſt geſtehen, ein Maͤdchen im Schlafgemach alſo zu belauſchen; oder liegt es daran, daß ihre koͤrperlichen Vorzuͤge mir gefaͤhrlich zu werden anfangen? ich empfinde neben dem Groll, der mich bisher gegen ſie ſchweigen ließ, jetzt auch einige Verlegenheit. Je mehr ſie meine Phantaſie des Abends und bei Nacht beſchaͤftiget, deſto mehr ſuch ich ihr den Tag uͤber auszuweichen. Uebri - gens kann das nicht ſo fortdauern und ein Ende muß gemacht werden. Das Einfachſte und Leichteſte waͤre allerdings, daß ich mich erklaͤrte; daß ich dem Vater eroͤffnete: ich will Jhren Wunſch erfuͤllen. Damit waͤre auch der Adelheid geholfen, die nicht weiß, wie ſie ſich dreh’n und winden ſoll, um ihre Liebe zu beherrſchen. Sie ſeufzt manmal ſo aus dem Tiefſten heraus, daß ich foͤrmlich erſchrecke; dann wird ſie’s gewahr und erſchrickt auch; und dann macht ſie ſich im Stalle, oder ſonſt wo zu ſchaffen, daß ſie mir nur aus den Augen kommt. Der Vater wartet nur auf mein erſtes Wort; er iſt zu zartfuͤhlend, ſie mir wie - derholt anzutragen. Jch ſehe deutlich, wie er oft gern reden moͤchte und es wieder hinunter ſchluckt.

125

Ja, was ſoll ich thun? Soll ich ... Nein, das waͤre Feigheit, ſich hinter einen Geiſtlichen und hinter den heiligen Eheſtand zu verkriechen, weil man auf eigene Hand nicht gleich vom Fleck gekommen iſt. Wegen eines Nachtriegels an einer Schlafkammerthuͤr werd ich mir doch nicht die Schmach anthun, das bischen Poeſie, was mir noch bluͤht, eh ich in die ewige Proſa hineintrete, ſpurlos verduͤften zu laſſen! Zum Heirathen iſt noch immer Zeit! Erſt muß ſie mir ſagen, wie heiß ihre Liebe zu mir iſt, ohne daß der Backofen geheizt wird fuͤr Hochzeitkuchen.

Haben mir’s doch ganz Andere geſagt?!

Solch ein albernes Dorf-Ding!

Jch halt es nicht mehr aus! Wozu mich vor mir ſelbſt verſtellen? Auf dieſe Blaͤtter hab ich Alles geſchrieben, was in und mit mir vorgegangen iſt, ſeitdem ich denken kann. Waͤr es doch kindiſch, wenn ich mich diesmal verleugnen wollte.

So mag es denn hier ſtehen: ich bin in meinen eigenen Schlingen gefangen; ich bin verliebt in den kleinen Satan. Jch liebe ſie nicht, aber ich bin wahn - ſinnig verliebt. Jch bebe vor dem Gedanken, daß ich ihr Ehemann ſein werde, daß ich uͤberhaupt ein126 Ehemann werden ſoll, und doch denk ich nichts Anderes, wie ſie, und koͤnnte die ganze Nacht vor ihrer Thuͤre froͤſteln und klappern, wenn ſie nicht im Finſtern zu Bett ginge.

Seit acht Tagen bin ich Willens, mich vor Schla - fenszeit in ihr Zimmer zu ſchleichen, damit ſie mich ſchon darin finde, wenn ſie die Pforte vor mir ver - ſchließen will, .... doch es iſt, als erriethe ſie meine Abſichten; denn ſie verliert ſich allabendlich ſo ſchlau und raſch aus Vaters Wohnzimmer, waͤhrend ich noch bei ihm ſitze, daß ich ohne Gewalt nicht vermag, ihr den Vorrang abzugewinnen. Eil ich dann hin - auf, ſo hoͤr ich ſie, ſo lang ich noch auf der Treppe bin, oben den Riegel ſchon vorſchieben. Der ver - fluchte Riegel! der ſoll mich am laͤngſten verdroſſen haben.

Heute wird Nachtriegel und alles, was Eiſen - werk an ihrer Thuͤre heißt, vernichtet; ſo zwar, daß ſie nicht mehr kapabel iſt, ſich einzuſperren. Dem Schluͤſſel dreh ich im Schloſſe den Bart ab. Mag ſie dann Kaſten und Tiſche vorſchieben, die muͤſſen meiner Gewalt weichen.

127

Waͤhrend ſie das Abendbrot bereitet, geh ich an’s Werk. Geſchehe dann, was wolle!

Jch ſchwoͤre mir’s: heute oder nie!

Pfui, der Schande!

Damit die Schande vollkommen und mir zugleich eine Lehre ſei fuͤr’s kuͤnftige Leben, will ich zur Strafe meiner dummen Jungen-Eitelkeit woͤrtlich nieder - ſchreiben, was mir widerfahren iſt. Wahr und auf - richtig.

Nachdem ich geſtern, waͤhrend ſie in der Kuͤche ſchaffte, meinen Plan ausgefuͤhrt, den Stubenſchluͤſſel im Schloſſe zerbrochen, den Nachtriegel abgezwickt, das kleine Vorlegekettchen ausgeriſſen, begab ich mich zum Eſſen hinunter, doch ohne viel Appetit. So lange wir beim Tiſche ſaßen, verſchlang ich nur ſie mit den Augen; mochte keinen andern Biſſen; dachte nur, wie ich bei ihr eindringen wollte.

Sie raͤumte ab, wie gewoͤhnlich; ſagte dem Vater gute Nacht, wie gewoͤhnlich; ging zur Ruhe, wie gewoͤhnlich.

Kaum konnte ſie nach meiner Berechnung in ihrem Zimmer ſein, als ich desgleichen aufbrach.

128

Wie mir das Herz ſchlug, in Erwartung, die kleine Treppe hinauf.

Weil ich ihr Zeit laſſen wollte, ſich erſt auszuklei - den, ſchielte ich nur ſeitwaͤrts nach ihrer Stubenthuͤr und trat in die meinige, um dort zu harren.

Wer ſaß da ſchon, lebendig und leibhaftig?

Sie! Sie ſelbſt! Adelheid!

Jch wußte gar nicht, was das bedeute! Doch ſie ließ mich nicht im Zweifel; ſie ſprach mich an:

Jhr habt das Schloß an meiner Thuͤr verdorben, wahrſcheinlich, weil ihr mehreremale vergeblich daran geruͤttelt habt, um einzudringen. Schade um das Schloß. Wenn Jhr unter vier Augen mit mir zu reden wuͤnſchtet, durftet Jhr’s nur ſagen; ich hab ja auch mit Euch zu reden. Eure Schuld allein, daß es nicht ſchon laͤngſt geſchehen. Jetzt bin ich hier; nun koͤnnt ihr ſprechen.

Die Seelenruhe des Maͤdchens machte mich irre. Jch ſtotterte etwas von getaͤuſchter Hoffnung, von Ueberraſchung in ihrem Gemach, von einſamem Lager, von zaͤrtlichem Beſuche und ſo dergleichen; brachte jedoch nichts Rechtes zu Stande, weil ſie mich dabei anſah, wie Papa Kaͤſtner ſeinen juͤngſten Hirſch,129 wenn der nicht Achtung giebt beim Lernen, und wenn die Reitpeitſche ſchon wackelt.

Sie ließ mich ausſtottern und fing hierauf wieder an: Jch dachte mir’s beinah, daß Jhr eine ſolche Un - verſchaͤmtheit im Sinne habt, darum bin ich lieber gleich heruͤber gekommen, ſtatt mich niederzulegen. Sagt mir nur, was Euch einfaͤllt? Eh ein junger Burſch ein Maͤdel bei Nacht beſucht, muß er doch ſicher ſein, ob ſie ſeinen Beſuch haben will? Und daß ich Euch nicht will, wuͤßtet ihr ſeit Eurem erſten Tritt in’s Haus, wenn Jhr nicht ein eitler Geck waͤret, wie ſie wahrſcheinlich draußen hundertweiſe umherlaufen. Bei uns werden ſie ausgelacht. Der Vater hat mir’s kund gegeben, daß er Euch meine Hand ſo zu ſagen verſprochen. Jch hab dem Vater darauf erklaͤrt, daß ich Euch nicht mag. Er wollte Euch das nicht ſelbſt eroͤffnen, wollte ſein Wort nicht zuruͤcknehmen; wir haben uns faſt verzuͤrnt Euretwegen, er und ich. Jhr ſeid der Stein des Anſtoßes im Hauſe. Zu Anfang dacht ich, Jhr werdet mit Euch reden laſſen, bemuͤhete mich, freundlich zu ſein, die gute Stunde abzuwarten, Jhr habt’s falſch verſtanden in Eurer hochmuͤthigen Einbildung. Nun moͤchtet Jhr mir gar Gewalt anthun? Jch will Euch ’was ſagen: koͤnnt Jhr meinenDie Vagabunden. III. 9130Vater etwa noch beſchwatzen mit Euren ſchoͤnen Redensarten, daß er mich zwingt, Euch zu heirathen und muß ich, nun gut, ſo muß ich. Jn die Kirche moͤgt Jhr mich ſchleppen, das weiß ich nicht. Und ein Ja faͤhrt mir vielleicht auch heraus, wenn mich der Vater in’s Genick ſchlaͤgt. Aber in mein Bett kommt Jhr nicht, Mosje Anton, weder nachher, noch vorher. Eher zerkratz ich Euch das glatte Geſicht mit den Naͤgeln und reiß Euch die frechen Augen aus dem Kopfe. Jch bin kein ſchwaͤchliches Stadtfraͤulein; ich bin ein handfeſtes Weibsbild. Mich uͤbertoͤlpelt Jhr nicht; ich weiß, um was es ſich handelt. Es waͤr auch eben nicht das Erſtemal, daß ich zur Nacht Be - ſuch gehabt; nur der Rechte muß es ſein. Damit Jhr’s wißt, des Foͤrſters aͤlteſter Sohn, der Wilhelm, iſt mein Liebſter und kommt zu mir in die Heirath, wenn der Vater verreiſet. Der iſt mir der Rechte. Ein ſchmucker Burſch aus unſeren Bergen, nicht ein Herumſtreicher aus fremden Landen, der meinem leicht - glaͤubigen Vater vorfaſelt und fabelt. Alſo laßt Euch Euer Geluͤſten vergeh’n. Denn der Wilhelm verſteht auch keinen Spaß nicht. Und nun moͤgt Jhr’s unten klatſchen, das vom Wilhelm! ’s iſt mir auch nichts d’rum. Jch geh ſchlafen. Laßt Jhr Euch bei meiner131 Thuͤr ſpuͤren, ſo mach ich Laͤrm und Gott ſei Euch gnaͤdig!

Darauf begab ſie ſich ſonder Haſt und Eil, auch ohne Zorn und Heftigkeit zu verrathen, nach ihrem Schlafzimmer und ich blieb in einem Zuſtande zuruͤck, den Worte nicht ſchildern koͤnnen. Wuth, Beſchaͤ - mung, ... mir war, als haͤtt ich auf oͤffentlichem Markt die Ruthe bekommen. Stundenlang ſaß ich, ohne mich zu regen. Erſt der Froſt trieb mich in’s Bett. Spaͤt, mit dem ſpaͤten klaren Wintertage ſucht ich mich zu ermannen.

Jch wartete beim Fruͤhmal, bis Adelheid, die ſich uͤbrigens benahm, wie wenn zwiſchen uns nichts vorgefallen waͤre, des Vaters Wohnzimmer ver - laſſen. Dann ergriff ich das Wort, nicht ohne Beſorg - niß, der Alte werde aufbrauſen uͤber mein Beſtreben, vermitteln zu wollen. Denn dieſes Amt hatte ich mir aufgebuͤrdet, eine Buße fuͤr meine Schuld.

Doch da ſollt ich, um gruͤndlich geheilt zu wer - den, die zweite Beſchaͤmung erleben. Mit ſichtbarer Freude nahm der Schwiegervater die Entſagung ſei - nes Eidams auf:

Jch hatte mich voreiliger Weiſe verpflichtet ehen Sie, und wußte nicht, wie ich mich zuruͤckziehen9 *132ſollte. Darum war ich die Zeit uͤber ſo muͤrriſch, ſeh’n Sie. Denn das Maͤdel iſt unterdeſſen einig geworden mit Foͤrſters Wilhelm, ſeh’n Sie; alſo das paßte nicht. Jetzund geben Sie mir mein Wort gut - willig zuruͤck und eine groͤßere Freude koͤnnten Sie mir zum Feſte nicht machen. Da werden wir den Wilhelm und ſeinen Vater gleich einladen und da kann zum heiligen Abend Verlobung ſein, ſeh’n Sie.

Jch billigte dieſe Entſchließung. Zugleich ſprach ich die meinige aus, morgen fruͤh den Dienſt des Herrn Kaͤſtner zu verlaſſen. Meine Kuͤndigung wurde ange - nommen.

Jetzt will ich mein Raͤnzel packen und mor - gen ........

Sechszigſtes Kapitel.

Wie Anton ſein Geburtsfeſt begeht.

Am vierundzwanzigſten Dezember gegen zehn Uhr Morgens brach Anton auf. Der Abſchied von Papa Kaͤſtner war kurz, doch herzlich. Adelheid gab ihm die Hand und ſagte: nichts fuͤr ungut, jetzt ſind wir gute Leute zuſammen.

Aber nicht bei ſammen, ſagte Anton.

133

Er wanderte von den Bergen der Ebene zu.

Gegen Mittag kehrte er in einem Wirthshauſe ein, um Speiſe und Trank zu nehmen, ohne ſich auf - zuhalten.

Nachmittags ſchlug das Wetter um, wurde wei - cher, die Sonne ging in weißlich-grauen Wolken unter, die ſie ſcheidend roͤthete. Schnee fiel in ſanften Flocken.

Um fuͤnf Uhr Abends gelangte Anton zu einem offenen Staͤdtchen, welches faſt nur aus einer Gaſſe beſtand.

Jn allen Haͤuſern und Haͤuschen ſah man Kerzen auf Weihnachtsbaͤumen.

Er zog abermals weiter. Wo haͤtt er auch raſten ſollen? Fuͤr ihn gruͤnte kein Weihnachtsbaum, fuͤr ihn brannte keine Kerze.

Ein kurzes Stuͤck Weges hinter dem Landſtaͤdt - chen erhob ſich dicker, dichter Wald, den Waldungen um Liebenau aͤhnlich: meiſt Nadelhoͤlzer; alte, ſchoͤne Baͤume, von Schnee und Eiszapfen geziert.

Der Himmel wurde wieder blau, die Luft rein; die Sterne blitzten und glaͤnzten. Die Eiszapfen an den Baͤumen flimmerten.

Der ganze große Wald trug ein weißes Kleid.

134

Alles war ſtill und feierlich.

Bis zehn Uhr, ſagte Anton, geh ich langſam durch den Wald; es iſt zu ſchoͤn.

Er ging laͤchelnd, wehmuͤthig-froh geſtimmt, ohne zu wiſſen, warum er froh ſei.

Jhm war um’s Herz, als ging er ſeinem Gluͤcke zu.

Mitten im Walde lag eines Forſtwaͤrters Woh - nung; eine hoͤlzerne, einfache Huͤtte, doch feſt gebaut.

Anton guckte durch’s Fenſter in’s Gemach. Auf dem Heerde loderten Kienſpaͤhne. Mitten im Zimmer, um den grob-gezimmerten Tiſch, ſaßen drei ſchlafende Kinder, ihre Koͤpfe auf die Tafel gelegt.

Auf dem Tiſche ſtand ein Tannenbaum, mit her - abgebrannten duͤnnen Kerzchen.

Die Mutter, beim Spinnrad vor dem Heerde, ließ auch ſchlummernd ihr Haupt ſinken. Das Rad ſtand ſtill.

Der Waldbelaufer ſaß nicht fern vom Fenſter und blies dicke Rauchwolken aus einer kurzen hoͤlzernen Tabakspfeife.

Sein brauner Hund ſtand neben ihm, die Schnauze auf des Mannes Knie gelegt.

135

Man hoͤrte deutlich den Schlag der verraucherten Wand-Uhr.

Da war es unſerem Anton, wie wenn die ſelige Mutter Gokſch hinter ihm ſpraͤche:

Heute vor dreiundzwanzig Jahren biſt Du zur Welt gekommen.

Jn dieſem Augenblicke knurrte der Hund; die Frau erwachte; der Mann fuhr aus ſeinen Traͤumen auf; Anton klopfte an’s Fenſter und bat, ſie moͤchten ihm erlauben, dieſe Nacht bei ihnen zuzubringen.

Die arme Frau oͤffnete ihm ſogleich die Thuͤr.

Er trat hinein.

Gelobt ſei Jeſus Chriſtus, ſprach die Frau.

Die drei Kinder hoben ſchlaftrunken ihre blonden Lockenkoͤpfe und ſagten wie aus einem Munde: in Ewigkeit!

136

Einundſechszigſtes Kapitel.

Der Hund des Aubri ꝛc. Göthe. Herr Lemonier-Mirabel de la Garde, de la Tour d’Auvergne. Anton wird wieder Spielmann. Tanzſtunden. Wie die ſchöne Hedwig ihm eine Uhr uͤberreicht und was daran hängt.

Anton erreichte nach mehrtaͤgigem Wandern eine Stadt von groͤßerer Ausdehnung. Vor dem Thore angelangt, fragte er, ob es nicht einen Weg gaͤbe, der ihn hinter ſelbiger herumfuͤhrte. Denn er fuͤhlte nicht die geringſte Luſt, ſich in ſeinem Reiſe-Aufzuge zwiſchen all die geputzten Leute zu draͤngen, welche den ſchoͤnen, winterhellen Neujahrstag des Jahres 182* auf der Straße feierten, indem ſie ſich und ihre neuen Kleider ſpazieren fuͤhrten. Der Thorwaͤrter verſicherte ihn, der Weg um die Stadtmauer herum ſei vom geſtrigen Schneeſturm dermaßen verweht, daß er verſinken muͤſſe bis uͤber die Huͤften, wenn er ſich beikommen laſſe, ihn einzuſchlagen.

Es blieb keine Wahl. Er mußte in die kleine Reſidenz eintreten. Mit dem Bewußtſein, nach einige Goldſtuͤcke in der Taſche zu fuͤhren, troͤſtete er ſich uͤber den Gegenſatz, den ſeine Kleidung zu den Weihnacht-beſchenkten Einwohnern, zu ihren Pelz - verbraͤmten Maͤnteln und Roͤcken bildete. Er fragte nach dem beſten Gaſthauſe. Man bezeichnete meh -137 rere. Den Elephanten erwaͤhlte der ehemalige Thier - fuͤhrer. Ein Baͤr, ſprach er, waͤre mir noch lieber geweſen, ſollte es auch ein blauer ſein; dagegen wohn ich von nun an nicht mehr in einem Hirſch, und wenn’s ein goldener waͤre.

Der Elephant ſah unſeren Freund anfaͤnglich ein Bischen uͤber die Achſel an; das ſchlechteſte Stuͤb - chen, ſo unter ſeines Ruͤſſels Szepter lag, oͤffnete ſich fuͤr Anton. Jhm, der ſeit ſechs Tagen durch Schnee und Feld, von Dorf zu Dorf ſich umherge - ſchlagen, duͤnkte dies armſelige Gemach mit ſeinem eiſernen Oefchen ein Prunkzimmer, ſehr geeignet, einige Tage der Ruhe, der Ueberlegung zu widmen und von dort Entſchluͤſſe fuͤr ferneren Lebenswandel mit zu nehmen. Wie uneigentlich, ſagte er, nach - dem er trocknes Holz in den gluͤhenden Ofen nachge - legt und ſich behaglich auf das dreibeinige Kanapee geſtreckt, wie uneigentlich redet man doch von dem Lebenswandel der meiſten Menſchen, die da un wan - delbar an ihrer Scholle kleben, in ihren Laͤden feil - ſchen, in ihrem Amte regieren, neben ihrer Eltern Grabe modern. Wandeln ſie durch’s Leben? O nein, das Leben wandelt durch ſie und ſie ſpuͤren’s manchmal kaum. Jch dagegen, ſeitdem ich Liebenau138 verlaſſen, darf mich wirklich ruͤhmen, einen Lebens - wandel gefuͤhrt zu haben, und obenein nach gewoͤhn - lichen Begriffen, einen ſchlechten. Aber wenn ich mich ehrlich frage, ob ich ſchlecht dabei geworden bin, darf ich eben ſo ehrlich antworten: noch nicht! Doch will ich auch nicht ableugnen, daß es die hoͤchſte Zeit waͤre, dem Dinge ein Ende zu machen; ſonſt ſteh ich fuͤr nichts. Mir iſt um’s Herz, als waͤre nun der Wende - punkt erreicht: nur noch ein Jahr bis zur Volljaͤh - rigkeit!? Dann ſoll der ganze Mann da ſtehen! Ach, und ich komme mir ſo oft noch wie ein Junge vor! Und wenn ich an Adelheid denke, wie ein recht dum - mer Junge!

Wau wau! machte jetzt im anſtoßenden Nebenzimmer eine derbe Hundeſtimme, wie wenn ſie den dummen Jungen beſtaͤtigen wollte. Dann folg - ten weibliche Schmeicheltoͤne, die wieder mit allerlei Drohworten abwechſelten; hernach lies eine heiſere Maͤnnerſtimme ſich vernehmen, die abſcheuliche Schmaͤhungen gegen Gott und Menſchen ausſtieß; dazwiſchen erklang die Weiberſtimme, zornig, im hoͤchſten Affekt, und rief: Pack ihn, greif ihn, mein Thierchen; ſo ſchoͤn! An der Bruſt! Beſſer! Schuͤttle ihn! Wirf ihn zu Boden, den niedertraͤchti -139 gen Moͤrder, zerreiße ihm den Rock! Hier ſprang Anton vom dreibeinigen Kanapee auf, nahm ſeinen Reiſeſtock zur Hand und wollte ſchon durch kraͤftigen Fußtritt jene Thuͤre ſprengen, welche ihn vom Schau - platz eines blutigen Verbrechens trennte, als ein freundliches: Bravo, mein Hundchen! ertoͤnte, ſo - dann harmoniſches Geklapper von Tellern und Loͤffeln erklang und, wie es ſchien Hund, Dame, Moͤr - der ſich froͤhlich und guter Dinge zum Speiſen begaben.

Heute hat er’s vortrefflich gemacht; heute ſoll er ein großes Stuͤck Fleiſch haben! Dieſe ver - ſoͤhnlichen Worte entquollen, zwiſchen jedem ein Loͤffel voll Suppe als Gedankenſtrich, dem heiſe - ren Munde des Moͤrders.

Jn Anton ging das Bewußtſein auf, abermals mit Seinesgleichen in Beruͤhrung zu gerathen. Er wendete ſich fragend an die Dienſtboten des Hau - ſes und erfuhr, daß ſein Nachbar niemand anderes ſei, als der auf Kunſtreiſen begriffene, beruͤhmte Hund des Aubri de Montdidier, der die renomirteſten, auf Gaſtrollen umherreiſenden Schauſpieler in vielen Dingen uͤbertreffe, vorzuͤglich aber in dem Triumpfe, welchen ſeine Kunſt uͤber die verwoͤhnte, veraͤnde - rungsſſuͤchtige Maſſe des ſchauluſtigen Publikums140 davon getragen. Dieſes, bei anderen Schauſpielern auf haͤufigen Wechſel, neue Stuͤcke, verſchiedenartige Charaktere erpicht, habe fuͤr die Leiſtungen dieſes Schafpudels eine ſo kindliche Pietaͤt, daß es nicht muͤde werde, ihn ſtets nur in einer und derſelben Rolle zu bewundern; daß es ihm zu Gefallen ſogar den menſchlichen Appendix von heiſerem Moͤrder und edler Mutter ſich gefallen laſſe, weil es in letzteren die zweibeinigen Pflege-Eltern des vierbeinigen Mei - ſters verehre.

Kann es etwas Unbegreiflicheres auf Erden geben, als dies ſogenannte Publikum?

Und dann, ſo fuͤgte der geſpraͤchige Haus - knecht des Gaſthofes zum Elephanten hinzu, dann muͤſſen Sie auch bedenken, was fuͤr Krabalen der Hund auszuſtehen gehabt, bis er auf unſerm Hof - theater ſpielen durfte! Das war erſchrecklich! Der Direktor hat ſich mit Haͤnden und Fuͤßen dagegen geſtemmt. Durchaus wollt er’s dem armen Vieh nicht vergoͤnnen. Aber die Schauſpieler, die mit dem Hunde reiſen, haben ſich hinter die Madame J. geſteckt, die iſt gut mit unſerm Gnaͤdigſten und die hat es gluͤcklich durchgeſetzt. Nu hat der Hunde - feind die Direktion niedergelegt! Als ob das ein141 Ungluͤck waͤre! Es wird ohne ihn auch gehen und wir haben doch den Hund gehabt, ſo gut wie jede andere Reſidenz und brauchen uns nicht mehr zu ſchaͤmen, daß wir zuruͤckgeblieben ſind!

Jſt der abgegangene Direktor auch ein Schau - ſpieler? fragte Anton, ziemlich gleichguͤltig.

Gott behuͤte, erwiederte der Hausknecht; der iſt ein Dichter: der Und jetzt hoͤrte unſer Freund einen Namen, an deſſen Klang ſich fuͤr ihn der zwie - fache Zauber: jugendlicher Liebestraͤume und erſter poetiſcher Eindruͤckte knuͤpfte; einen Namen, in deſſen Gefolge eine Welt von Liedern wach wurde, die nur im Gedaͤchtniß ſchlummernd eines Wortes bedurften, um friſch aufzuleben; einen Namen, den Anton tau - ſend - und aber tauſendmal gedacht, ausgeſprochen, ſeitdem er ihn kannte, ohne daran zu denken, daß er einem Lebenden gehoͤre; daß Derjenige, der ihn trug, uͤberhaupt jemals gleich anderen Menſchen auf Erden gelebt habe! Wenn Anton auf dem Titelblatt eines gedruckten Buches dieſen Namen geleſen, war ihm ſtets unmoͤglich geweſen, denſelben in ſeiner Phan - taſie mit irgend einer Perſoͤnlichkeit in Verbindung zu bringen; dieſer Geiſt, gerade weil derſelbe das Rein - Menſchliche in allen Tiefen und Hoͤhen durchdrun -142 gen, ſchien ihm ſo wenig an eine koͤrperliche Form gebunden, daß Anton’s Einbildungskraft ſich kein Jndividuum dabei vorſtellte. Jhm war es die Dicht - kunſt ſelbſt, die zu ihm redete durch den lebensreich - ſten deutſchen Dichter. Und jetzt ſollt er vernehmen, daß in dieſer kleinen Stadt, wohin ſein Wanderſpiel ihn geworfen, dieſer noch als Menſch unter gewoͤhn - lichen Menſchen lebende Poet, die armſeligen Placke - reien und Qualen anderer Geſchoͤpfe mit erdulde; daß Er es nicht verſchmaͤht habe, dem leichtſinnigen Treiben der Bretterwelt Fuͤhrer zu ſein! daß ein Hund Jhn verdraͤngt habe! Anton haͤtte den Hausknecht umarmen moͤgen!

Steht es alſo um die Goͤtter dieſer Erde, rief er aus; ſind auch ſie dem Elend unterworfen, Staub - gebor’ne zu heißen? Nun, dann waͤr es ja Zeit, zu laͤcheln bei eigenem Jammer und von Allem was ſich mit uns begiebt, nur die luſtige Seite herauszukeh - ren. Das will ich von nun an, aber ſehen will ich Jhn, bevor ich meinen Stab weiter ſetze!

Und er ſah ihn; ſah ihn des anderen Morgens am Fenſter ſtehen, es oͤffnen, einen Athemzug aus reiner Winterluft ſchoͤpfen, ſein Auge zum hellen kal - ten Neujahrshimmel hinauf heben! und nachdem143 Anton dies geſehen, fragte er ſich: was haͤtt ich noch im Elephanten zu ſchaffen?

Er verließ die Stadt.

Da er die nicht entfernte Grenze ſeines Vaterlan - des uͤberſchritt und ſich den uͤblichen und beliebten Zeremonieen des Viſitirens unterwerfen mußte, machte er durch ſein Erſcheinen den Grenzwaͤchtern Mancherlei zu denken. Sie konnten ſich’s nicht erklaͤ - ren, wie ein junger Burſch, den man ſeinem Aeuße - ren nach fuͤr einen wohlkonditionirten Handwerksge - ſellen halten mußte, zu einem Pariſer Legations-Paß von ſo unumſchraͤnkter Dauer gekommen ſei? Ein Kontroleur richtete an ihn die halb neugierige, halb amtliche Frage, was er in benachbarter Reſidenz begonnen, was er dort geſucht habe? Und wie Anton erwiederte, er ſei blos deshalb dort geweſen, um den Verfaſſer von Wilhelm Meiſter’s Lehrjahren per - ſoͤnlich kennen zu lernen, weil er bei dieſem ein neues Buch unter dem Titel: Anton Hahn’s Wander - jahre beſtellen wollen, ſo ſah man ihn zweifelnd an: ob er fuͤr einen Wahnſinnigen, oder fuͤr den natuͤr - lichen Sohn des Herrn Aſtor in Amerika gelten ſolle, welcher letztere ſich vorgeſetzt habe, von den 145 Mil - lionen Dollar’s ſeines Vaters ein von der Bank144 gefallenes Millioͤnchen auf dieſer Fußreiſe in Thaler zu uͤberſetzen! Um ſicher zu gehen, behandelte man ihn mit Auszeichnung; doch als weder Thaler noch Dollars zum Vorſchein kamen, ſchlug ſich die Mehr - zahl der Beobachter auf die Seite des Wahnſinns und gab das Kind der Liebe und der amerikaniſchen Millionen auf.

Um ſo viel leichter wanderte unſer Held von dannen.

Er gelangte, einen Ruͤckſchritt machend, nach E., woſelbſt er, unter jeder Bedingung, ein Unterkom - men ſuchen wollte. Noͤthigenfalls war er entſchloſ - ſen, in ein dort liegendes Regiment als gemeiner Soldat einzutreten, wohl bekannt mit den Ausſich - ten, die einem ſolchen im Frieden bluͤhen konnten, zog er die langweilige Einfoͤrmigkeit des Garniſon - dienſtes endlich doch der Heimkehr nach Liebenau bei Weitem vor. Er ſah ſich bereits, einen Liebling ſei - nes Hauptmanns, zum Unteroffizier befoͤrdert und gefiel ſich gar nicht uͤbel, wenn er zur Parole ging und aus allen Fenſtern die ſchoͤnen Toͤchter des Lan - des nach ihm blickten. Mitten in dieſe beſcheidenen Traͤume hinein ſprengte freilich das laͤngſt verblichene, nun wieder auflebende Bild des Kunſtreiters Antoine145 und rief ihm zu: Unter die Fußlatſcher *) Fußlatſcher nennt man hier und da ſpottweiſe und im Gegenſatz zur Kavalerie, die Jnfanteriſten. wirſt Du doch nicht gehen, Bruder Herz? Wofuͤr gaͤb es Huſaren, Dragoner und Kuͤraßreiter?

Aber ihm war weder beſchieden des Reiters Saͤ - bel, des Uhlanen Lanze, des Grenadiers Muskete, noch des Jaͤgers Buͤchſe zu ergreifen; den Violinbo - gen wollte ſein Schickſal ihm noch einmal in die Hand legen.

Gleich nach ſeiner Ankunft machte er die Be - kanntſchaft eines alten Tanzlehrers, des Herrn Lemonier-Mirabel de la Garde, de la Tour d’Auvergne. Als dieſer ſich ihm, umhuͤllt vom Rauchqualm des engen Gaſtzimmer’s, vorgeſtellt und genannt, ſelig einer franzoͤſiſch-redenden Zunge zu begegnen, erbat Anton ſich die Verguͤnſtigung, beſagten Namen um ⅘tel abkuͤrzen und ihn ſchlecht - weg Mirabel nennen zu duͤrfen, was huldreichſt bewilligt wurde.

Herr Mirabel hat ſeine Schuͤler und Schuͤlerinnen ſtets im Dunkel daruͤber gelaſſen, ob er ein Auswan - derer, den die Revolution vertrieben, ob er ein Deſer - teur jener Armee ſei, welche die Revolution verſecht. Die Vagabun den. III. 10146Denn ſeine eigenen Erzaͤhlungen ſchwankten zwiſchen beiden Moͤglichkeiten hin und her. Eben ſo unklar blieb die junge huͤpfende Welt uͤber das Lebensalter ihres Vortaͤnzers, der vor ſechszig Jahren, und dieſe mag er wirklich gezaͤhlt haben, wenn er bei guter Laune war, bis auf achtzig, neunzig, ja hundert ſtieg. Da gab er dann auch wohl nicht undeutlich zu verſtehen, es ſei nicht wahr, daß jener erſte Grena - dier Frankreichs , der tapfere Latour d’Auvergne, im Kampfe geblieben; es gaͤbe noch Leute, die das Gegentheil beweiſen koͤnnten, wenn ſie und er nicht Gruͤnde haͤtten, daruͤber zu ſchweigen. Er war ſonſt ein luſtiger gutmuͤthiger Menſch, der ſeinen Me - nuet mit feiner Haltung ſtrich, wobei er zierlich genug mit einer kleinen Geige aufſpielte. Fuͤr große Staͤdte war er laͤngſt aus der Mode; deshalb zog er ſeit Jah - ren im Lande umher, den Winter in Mittelſtaͤdten, den Sommer auf Doͤrfern zubringend, woſelbſt er die Toͤchter ſchwachbeſoldeter Beamten in der verfuͤhreri - ſchen Kunſt unterwies, wohlhabenden Buͤrgerſoͤhnen durch ihren Tanz in die Augen zu ſtechen. Als Anton ihn kennen lernte, befand er ſich in peinlicher Ver - legenheit wegen ſeines Orcheſters, dem er bisher ſelbſt und allein vorgeſtanden; was aber jetzt unmoͤglich147 wurde, weil die Gicht ſich der alten Finger zu bemaͤch - tigen drohte.

Faͤnd ich nur einen Menſchen von Bildung und anſtaͤndigem Benehmen, der mich zu meinen Lektionen begleitete; denn mit einem Muſikanten von gewoͤhn - lichem Schlage iſt mir nicht gedient. Franzoͤſiſch muß er ſprechen, ein Auslaͤnder muß er ſcheinen, ſonſt iſt’s um mich geſchehen. Jn den Haͤuſern, wo ich unter - richte, koͤnnen ſie nichts Deutſches brauchen, eben weil ſie echte Deutſche ſind.

Anton ließ ſich’s nicht zweimal ſagen. Er bot ſich zum Geiger dar und verſprach gebrochenes Deutſch. Hab ich Kameele in Gang gebracht, ſagte er zu ſich ſelbſt, warum ſollt ich Herrn Mirabel’s Schuͤle - rinnen nicht tanzen machen?

Der Akkord war bald geſchloſſen. Mirabel gab deutlich zu verſtehen, daß er auf die Anmuth ſeines jungen Muſikers ſichere Hoffnung eines reichen Zu - wachſes an tanzluſtigen Damen gruͤnde. Sie wurden einig uͤber ein Dritttheil des Lektion-Geldes, welches dem Orcheſter zufallen ſolle.

Dieſe neue Poſition waͤre von allen bisher behaup - teten unbedenklich unſeres Helden bedenklichſte gewor - den, haͤtte nicht das Erlebniß mit Kaͤſtners Adelheid10*148ſeine Eitelkeit ſo tief gedemuͤthigt, ja, ihn faſt maͤd - chenſcheu gemacht, ſo daß aus ſeinen Augen, wenn Mirabel mit Dutzenden von halb - und ganz erwachſe - nen Maͤdchen ſich um ihn und ſeine Violine umher ſchwenkte, kaum ein Blick der Erwiederung den unzaͤhligen Blicken zu Theile ward, welche ſich fra - gend nach dem intereſſanten Geiger wendeten. Moch - ten ſie doch huͤpfen, laͤcheln, kichern, erroͤthen mich ſoll keine mehr fuͤr einen Narren halten! ſagte er.

Freilich wohl plagte ihn nicht ſelten die Lange - weile, wenn er Tag fuͤr Tag dieſelben Taͤnze ſtreichen mußte. Er kannte Mirabel’s deutſches Woͤrterbuch ſchon in - und auswendig. Mehr grâce, mes dames! ick bitten ihn pour l’amour de Dieu, Sie ßlag um ſick mit ihr Arm wie Windmuͤhl! Kopfen ßuruck, Bruſt aus, Magen einwendick, linke Hinterfuße nit nackßleppe; Sie geb nit Acktung, Sie chagrinir alte hundertjaͤhrick Mirabel, daß muß ſterb in Bluͤt von ſein Jahr!

Das war der Text, den Anton melodramatiſch zu begleiten hatte.

Unter den verſchiedenen Gruppen huͤbſcher und haͤßlicher, grazieuſer wie plumper Jungfraͤulein, die ſich in verſchiedenen Haͤuſern zu verſchiedenen Stun -149 den und Tagen vereinigten, befand ſich eine, in dem Hauſe einer Majorswittwe, die ſich vor allen uͤbrigen auszeichnete, weil dort wohlerzogene, beſcheidene, niedliche Kinder, mit ihren Muͤttern, von dieſen uͤber - wacht, erſchienen. Sie bildeten eine Quadrille von vier Paaren. Doch waren nur ſieben Muͤtter bei dem Unterrichte zugegen. Das achte Maͤdchen, das ſchoͤnſte, reifſte, beſcheidenſte von allen hatte keine Mutter mehr, ſie kam unbegleitet und allein. Sie wurde Hedwig genannt. Wer und was ihr Vater ſei, blieb Anton unbekannt. Zu fragen, uͤberhaupt von ihr zu ſprechen blieb ihm unterſagt. Mit wem haͤtte er von dieſem Maͤdchen ſprechen ſollen? Mit dem alten, prahlenden, luͤgenden Schwaͤtzer, dem er diente? O nein, das waͤre eine Entweihung geweſen. Er begnuͤgte ſich, ſie ſchweben zu ſehen, denn ſie ſchwebte, wo die An - deren ſprangen oder gingen. Er begnuͤgte ſich, bis - weilen eine Silbe von ihren Lippen zu vernehmen, wenn ſie wortkarg und ſanft den luſtigen geſpraͤchigen Mitſchuͤlerinnen eine Antwort ertheilte. Er fuͤhlte, was er noch keinem weiblichen Wefen gegenuͤber gefuͤhlt: ein begluͤckendes Bewußtſein ihrer Naͤhe, ohne die geringſte Beimiſchung irdiſcher, eitler, oder kecker Wuͤnſche. Die Entfernung von ſeiner im150 Schmutze des Lebens befleckten Perſoͤnlichkeit, bis zu ihr, die ihm ein Vorbild kindlicher Unſchuld und Rein - heit erſchien, duͤnkte ihn ſo weit, daß ein Gedanke an Annaͤherung nicht in ihm aufſteigen konnte. Wenn ſie ihn anſah, was allerdings bisweilen geſchehen mochte, ſchlug er beſchaͤmt die Augen zu Boden, aber auch dann empfand er den beſeligenden Zauber der ihrigen, bis tief in die innerſte Seele. Dann zit - terten die Toͤne ſeines Jnſtrumentes wunderbar und er legte in die leichten, tauſendmal geſpielten Tanz - weiſen einen Ausdruck, wie noch kein Muſikant gethan, der je vor ihm aufgeſpielt hat.

Wenn man ſich mit allen Kraͤften, Erwartungen, mit aller Sehnſucht auf eine beſtimmte Stunde rich - tet, die woͤchentlich nur zweimal ſchlaͤgt; wenn man in dieſe ſechszig Minuten eine ganze Welt von Be - wunderung, Verehrung, Begeiſterung, Entzuͤckung und Entſagung zu draͤngen weiß; wenn man die uͤbrigen Tage der Woche nur als Ergebniß leerer Stunden und Minuten betrachtet, die lediglich zu verrinnen haben, damit jene eine Stunde bald wie - der erſcheine ..... dann ſollte jeder glauben, der etwas Aehnliches noch nicht durchgemacht, muͤſſe dem unge - duldig Harrenden die Zeit fuͤrchterlich lang werden!? 151Merkwuͤrdig, dem iſt nicht ſo. Niemals verfliegen die Tage raſcher, als in ſolchem Zuſtande. Es iſt, wie wenn auch die Zeit vom Fieber des Patienten ange - ſteckt, ihren Pulsſchlag mit dem ſeinen verdoppelte, um nur bald wieder zu der Stunde der Weihe zu gelangen.

Was Wunder, wenn drei Monde ſo geſchwind fuͤr Anton wechſelten, daß er, als ſie dahin waren, nur vierundzwanzig Stunden durchlebt zu haben waͤhnte! Denn vierundzwanzig Stunden hatte Herr Mirabel den jungen Maͤdchen im Hauſe der Majorswittwe ertheilt; vierundzwanzigmal hatte Anton ſeinen Bo - gen daſelbſt gefuͤhrt; vierundzwanzigmal hat er Hed - wig geſehen. Und nun ſchlaͤgt die letzte dieſer ſeligen Stunden, und drei Monate ſcheinen ein einziger Tag geweſen zu ſein!

Sagt mir, was ihr wollt und koͤnnt, ihr Vertreter des wirklichen, genießenden Lebens; die hoͤchſte Wonne unſeres Daſeins liegt doch in Dem, was wir lieben, weil es ſchoͤn iſt, weil wir es lieben muͤſſen, ohne Hoffnung, ohne Wunſch des Beſitzes. Sehnſucht ohne Abſicht das iſt Liebe. Alles Andere iſt etwas Anderes.

Als die letzte Lektion beendet war, uͤberreichten152 die jungen Damen ihrem alten, wunderlichen Lehrer ein außerordentliches Geſchenk, welches mit dem ſtipulirten, hoͤchſt maͤßigen Stundengelde nichts ge - mein haben und dem duͤrftigen Manne eine unver - hoffte Freude machen ſollte. Nachdem ſie ſich dieſer angenehmen Pflicht mit den regelrechteſten Knixen, wie Mirabel ihnen dieſelben ſcheltend beigebracht, zierlich entlediget, ſteckten ſie alle acht die Koͤpfe zuſammen, debattirten, naͤherten ſich dann den ſieben Muͤttern, fluͤſterten abermals, wobei man immer nur die Worte: nein, ich nicht; durchaus nicht! ver - nahm, bis ſich dieſe einzelnen Verneinungen ploͤtzlich zu einer allgemeinen Bejahung geſtalteten, welche laut und deutlich ertoͤnte: ja, ja, Hedwig!

Anton hatte ſchon die Thuͤre in der Hand, ſich zu empfehlen. Da holten ihn die Maͤdchen zuruͤck. Sie - ben Haͤnde faßten ſeine Arme, ſeinen Rock, mit jugend - licher Luſtigkeit, und ſie geleiteten ihn, wie in einem erzwungenen Triumphe, zum Halbkreiſe der ſieben Muͤtter, vor welchem Hedwig, ein in Papier gehuͤll - tes Paketchen in zitternden Haͤnden haltend, ſehr ver - legen und aͤngſtlich ſtand.

Wir wollen Jhnen danken fuͤr Jhre Muͤhe ... und wir wuͤnſchen, daß dieſe Uhr Jhnen unterhalten -153 dere Stunden zeigen moͤge, als unſere Tanzſtunden Jhnen gegeben.

Mit dieſer furchtſam-geſtotterten Anrede uͤbergab ſie ihm das Paͤckchen und zog ſich eiligſt zuruͤck.

Anton vermochte gar nichts zu erwiedern, ver - beugte ſich ſtumm, verließ das Haus, welches jemals wieder zu betreten er keine Ausſicht hatte, rannte nach ſeinem Stuͤbchen, ſchob die huͤbſche Uhr gleichgültig fort und pruͤfte nur die, in ein zweites Papier gehuͤllte, ſeidene Schnur, die kunſtreich geſchlungen, ohne Zwei - fel von den zarten Fingern einer dieſer Schuͤlerinnen herruͤhrte.

Wenn ich wuͤßte, ob Hedwig ?

Er ergriff noch einmal das Blatt. An der aͤußer - ſten Ecke deſſelben, kaum lesbar, in kleinſten Schrift - zuͤgen, ſtand ein H ...

Anton kuͤßte das Blatt, legte es in ſeine Brief - taſche, hing die Schnur um ſeinen Hals, ſteckte die Uhr, daran befeſtiget, in die Weſtentaſche, ging einige - male heftig auf und ab und ſagte dann: Jetzt iſt es Zeit, aufzubrechen und dieſe Stadt zu verlaſſen.

154

Zweiundſechszigſtes Kapitel.

Mirabel nimmt ſeinen Geiger mit auf’s Land, wo dieſer Belfall findet, jener den Tod. Anton ſetzet das Geſchäft weiter fort. Wie er einem alten Gegner begegnet, der noch ſehr jung iſt.

Mirabel kam Antons Wuͤnſchen zuvor. Der Fruͤh - ling trieb ihn ohnehin aus der Stadt, auf laͤndilche Weide. Sie ſchloſſen einen neuen Vertrag, erneuer - ten vielmehr den alten und ſagten dem lieben E. Valet.

Von ihrem Leben auf den Landſchloͤſſern, in den Beamtenhaͤuſern, die beide nun wechſelnd bezogen und nach vierwoͤchentlichem Aufenthalte wieder ver - ließen, iſt wenig zu berichten, was unſern Anton angeht. Jmmer die alte Leier: gedankenloſes Her - geigen der alten Tanzmelodieen; dann aber, ſobald dieſes uͤberſtanden: Einſamkeit im Feld, im Freien, im Gruͤnen. Da lebte der junge Mann recht eigent - lich ſeiner maͤnnlichen Entwickelung; da lernte er denken, indem er verglich, erwog, und ſinnend an ſich bildete.

Was ihn umgab, ließ ihn gleichguͤltig. Was er durchlebt hatte, galt ihm nur in ſofern noch fuͤr wichtig, als er die Eindruͤcke zu erforſchen ſtrebte,155 welche Vergangenheit ihm bleibend hinterlaſſen. Was er noch durchleben werde, glaubte er mit Faſſung erwarten zu duͤrfen.

Es iſt gleichviel, meinte er, was mir begegnet; nur darauf kommt Alles an, wie ich dem Unvermeid - lichen begegne; wie es mich findet!

Es gelang ihm, jener einfoͤrmigen, leeren Exiſtenz, mit welcher, um des lieben Broterwerbs Willen, die ſchoͤne Jahreszeit gleichſam vergiftet wurde, eine heit’re Stirn entgegenzuſtellen; ſeine Verpflichtungen gegen Mirabel und deſſen Schuͤlerwelt zu erfuͤllen, wie wenn er ſie noch ſo gern erfuͤllte; und niemand durch truͤbe Mienen oder muͤrriſches Weſen entgelten zu laſſen, daß er nicht mehr in Hedwigs Naͤhe lebte.

Wenn jemals ein junger Mann den Beinamen: der Liebenswuͤrdige verdiente, ſo war dies unſer Freund, jetzt nachdem er im Feuer der Leidenſchaften, des Grames, der Entſagung dreifach gelaͤutert, jene maͤnnlich-heit’re Ruhe gewonnen, die durch milden Ernſt ſo wohl thut, die uns an erfahrenen Weltmaͤn - nern bezaubert, die aber bei Juͤnglingen, welche erſt im Begriff ſtehen, Maͤnner zu werden, unter die ſel - tenſten Vorkommenheiten gehoͤrt, und zwar aus einfachen, natuͤrlichen Gruͤnden! Schade nur, daß156 Antons gegenwaͤrtige Stellung ſo wenig Gelegenheit darbot, dieſe ſeine Liebenswuͤrdigkeit in ihr volles Licht zu ſetzen: Diejenigen aus den laͤndlichen Umgebun - gen, mit denen ſein Verhaͤltniß ihn in Verkehr brachte, wußten das nicht zu wuͤrdigen, was an ihm außer - ordentlich war; und diejenigen, die befaͤhigt geweſen waͤren, ihn zu erkennen, kamen mit dem Geiger des Herrn Mirabel durchaus nicht in Beruͤhrung; ſie begnuͤgten ſich, zu ſagen: Aus welchem Waſſer muß doch eine ſo laͤcherliche Perſonage, wie unſer alter Tanzmeiſter, dieſen Muſikanten gefiſcht haben? Der junge Menſch ſieht manchmal d’rein, als ob er jemand waͤre!

So ruͤckten die Hundstage heran mit ihrer druͤcken - den Hitze.

Jean Paul, in, ich weiß nicht welchem, ſeiner humoriſtiſchen Stillleben, ſegnet das Andenken des braven Mannes, der die Schulferien dieſer gluͤhenden Tage erfand, und moͤchte ſeinen Schaͤdel kuͤſſen. Wir ſelbſt wiſſen uns auf den Werth derſelben gar wohl zu beſinnen und wenn wir ſie, als Schuͤler, uns ver - goͤnnten, ſo vergoͤnnen wir ſie, in reiferen Jahren, zwiefach den armen, gepeinigten Lehrern. Mirabel ſollte ſie nicht genießen. Jm Gegentheil, fuͤr ihn157 worden ſie Tage doppelter Anſtrengung. Denn aus den geſchloſſenen ſtaͤdtiſchen Schulen ergoſſen ſich frei - gelaſſene Schuͤler in Stroͤmen nach allen Richtungen ihrer laͤndlichen Heimath; und waͤr es den wilden Knaben zu heiß geweſen, im engen Raume des Gym - naſiums uͤber alten Autoren zu ſitzen, ſo konnte die gluͤhendſte Sonne doch keine Temperatur zu Stande bringen, welche das bewegliche Voͤlkchen verhindert haͤtte, ſich mit Muͤhmchen, Baſen und Schweſtern herumzuſchwenken. Die Tanzlektionen kamen nun erſt recht in Gang. Monſieur Mirabel hatte alle Haͤnde und Fuͤße voll zu thun. Dieſen gewaltſamen Anſtrengungen war der alte Herr nicht mehr gewach - ſen. Jn einer Nachmittagsſtunde, wo der Thermo - meter nach Réaumuͤr einundzwanzig Grad uͤber Null im Schatten deklarirte, ruͤhrte den Unermuͤdlichen der Schlag. Der Dorfbader ließ das Blut des wohl - beleibten Greiſes zwar ſchonungslos fließen, doch vergebens. Herr Lemonier-Mirabel de la Garde, de la Tour d’Auvergne verhauchte ſein hundert - jaͤhriges Leben im Kreiſe ſtaunender Schuljungen, die ihn mit feuchten Augen umſtanden, denn ſie hatten den alten Narren gern gehabt. Die letzten Worte des Sterbenden waren: main droite!158 main gauche! les cavaliers en avant! et vive l’Empere ...!

Sie ließen ihn begraben.

Aber die Welt hat es an ſich, daß ſie auch auf Graͤbern tanzt. Und es ward an Anton die Frage gerichtet, ob er nicht zu den kuͤnftigen Tanzſtunden weiter aufſpielen wolle? Man werde verſuchen, ſich ohne Lehrer zu uͤben. Anton, als Knabe in Liebenau ſchon fuͤr einen guten Taͤnzer bekannt; Anton, von Laura’s zaͤrtlicher Aufmerkſamkeit gebildet; Anton, mit Mirabels ganzer Schulweisheit bis in die klein - ſten Fluͤche hinein vertraut, warf ſich ohne Weiteres zum Erben des Verblichenen auf. Da konnten Eltern, Knaben und Maͤdchen ſich nicht genugſam verwun - dern und konnten es nicht genuͤgend loben, wie der unbewegliche Geiger, der bisher nichts geruͤhrt als Arm und Bogen, jetzt mit Einem Male Leben gewann, Lebendigkeit, Ausdruck und Sprache! Wie ſo ganz anders, denn Herr Mirabel, er dem Tanze Sinn und Bedeutung verlieh; wie die Grazien auf ſeinen Ruf erſchienen, der tobenden Schaar Ordnung und Maͤßigkeit beizubringen. Anton war wieder ein Antoine geworden, allen fruͤher gefaßten Vorſaͤtzen zuwider; und haͤtte nicht Hedwigs Schnur auf ſeinem159 Herzen gelegen, ſich ſanft an die Bruſt ſchmiegend, wer weiß, ob Antoine ſich unter den Schuͤlerinnen nicht eine Laura herausgefunden?

Anton fand keine, weil er keine ſuchte. Dagegen ergoͤtzte ihn die Beobachtung, wie in dem jungen her - anwachſenden Voͤlkchen ſich Alles zeigte, wenn auch in verkleinertem Maßſtabe, Alles, was dieſe Erde und ihre Bewohner in Haß und Liebe, in Edel - muth und Neid bewegt. Er wurde, ohne danach zu ſtreben, der Vertraute jener halb ſchon verderbten, halb noch ſchuldloſen Neigungen, die das Maͤdchen zum Knaben zogen, die den Knaben in Feindſchaft gegen einen kleinen Nebenbuhler entbrennen ließen.

Ein Tanzlehrer man laͤchle nicht! iſt fuͤr die ſich entwickelnde Jugend vielleicht der wichtigſte von allen Lehrern. Nicht, daß er auf edle Gefuͤhle großen und nuͤtzlichen Einfluß uͤben koͤnnte! Wohl aber, indem er, leichter wie jeder andere Lehrer, durch Wort, Beiſpiel und That die ſchaͤdlichſte Einwirkung auf ſeine Schuͤler, wie Schuͤlerinnen geltend zu machen Gelegenheit findet. Deshalb, ſag ich, iſt er wichtig; das heißt: es iſt fuͤr Eltern und Erzieher wichtig, zu wiſſen, wem ſie ihre Pflegebefohlenen anvertrauen, wenn es auch ſonſt, nach Vieler Anſicht, hoͤchſt un -160 wichtig ſcheinen moͤchte, ob das Tanzen uͤberhaupt gelehrt werde, oder nicht? Anton hatte dieſe Bemer - kung ſchon gemacht, waͤhrend er nur Orcheſter war, und hatte deshalb das Benehmen der ſieben Muͤtter in E., welche ſtets als Obſervationskorps zugegen geweſen, hoͤchlichſt billigen muͤſſen. Deſto mehr glaubt er ſich wundern zu duͤrfen, jetzt auf dem Lande in recht vornehmen und vornehm thuenden Familien, wie auch in minder anſpruchsvollen Haͤu - ſern, eine bis an Leichtſinn grenzende Gleichguͤltigkeit zu finden. Man uͤberließ die junge Welt ſich ſelbſt und ihm bei den Lektionen.

Wie gut, daß er Hedwig’s Schnur auf dem Her - zen trug!

Es befanden ſich unter den Schuͤlerinnen einige Maͤdchen, die ſchon erwachſen und bei all ihrem ade - ligen Hochmuth herablaſſend genug waren, den zum Tanzlehrer befoͤrderten Violinſpieler auf eine faſt zu - dringliche Weiſe auszuzeichnen. Anton that hier zum Erſtenmale in ſeinem Leben Blicke in die wirkliche vornehme Welt, denn was ihm zu Baͤrbels Zeiten davon vor Augen gekommen, konnte nicht dafuͤr gelten.

Da man ihn mit den Hausoffizianten ſpeiſen161 ließ, war auch dafuͤr geſorgt, daß er uͤber Alles, was er geſehen und was ihm etwa noch dunkel geblieben waͤre, weil ſeine angeborene Ergebenheit ihn verhin - derte das Schlimmſte zu glauben, die unumwunden - ſten Auslegungen empfing.

Nun, ſagte er manchmal des Abends, wenn er von Stunden geben und Muſik machen ermuͤdet ſein Lager ſuchte, mag es ſonſt ſein, wie es will in der hohen Geſellſchaft, Eins ſteht feſt: bei Guillaume’s ging es in gewiſſen Punkten kaum ſo toll zu. Und was die ſtolzen Damen hier herum betrifft, ſind unſere Reiterinnen im Vergleich mit ihnen wahre Tugendſpiegel geweſen, der armen Adele gar nicht zu gedenken.

Es war ſchon ſpaͤt im Herbſte, da er, nach Been - digung aller vom ſeligen Mirabel abgeſchloſſenen und auf ihn uͤbergegangenen Engagements in dieſer Ge - gend, einige Meilen weiter auf eine große Beſitzung verſchrieben ward, wohin man ihn, mehr ſeiner ange - nehmen Erſcheinung und ſeines entſprechenden Be - tragens halber, als wegen ſeiner Talente fuͤr den Tanz, beſtens empfohlen. Er dankte dem guten Gluͤcke, aus all den Schlingen, die Alt und Jung, von der Gnaͤdigſten bis zur Kammerkatze herab ihmDie Vagabunden. III. 11162legen wollen, mit heiler Haut und unausgekratzten Augen entkommen zu ſein und begab ſich nach dem Orte ſeiner neuen Beſtimmung, wo er im Oktober anlangte.

Hier wehete ihm ein anderer Geiſt entgegen. Von Frivolitaͤt, wie er ſie kuͤrzlich kennen gelernt, ſchien hier keine Spur zu entdecken; vielmehr waltete eine faſt herrnhutiſche Neigung zu froͤmmelnder Strenge vor, in welcher aber durchaus keine Heuchelei zu be - merken war. Der ernſte Ton des Hauſes reichte bis auf die Dienſtboten, die ſaͤmmtlich ein wenig erſtaunt d’rein blickten, einen Juͤnger ſuͤndlicher Tanzluſt auf - nehmen zu muͤſſen. Das Raͤthſel loͤſete ſich doch bald. Die mittlere Tochter des Gutsherren (Anton fand ſich durch die Dreizahl der Toͤchter an Liebenau erinnert, wiewohl ſonſt nicht die geringſte Aehnlich - keit der Verhaͤltniſſe auffiel) ſollte Braut werden; der Braͤutigam wurde, wie die Dienſtboten ſich ausdruͤckten: auf Brautſchau erwartet. Und da dieſe Verbindung, des unſeligen Geldes wegen, erwuͤnſcht, ja nothwendig erſchien, ſo hatten ſich die frommen Eltern entſchloſſen, von ihren religioͤſen Anſichten einmal abzugehen und den Toͤchtern in aller Eil einen Anhauch von weltlichem Firniß zukommen zu163 laſſen. Binnen drei Wochen, denn nach Ablauf dieſer Friſt wurde Graf Louis erwartet, ver - langte man, daß Antoine Wunder gewirkt und den Schweſtern, hauptſaͤchlich der zum Opfer auserwaͤhl - ten, beigebracht haben ſolle, was bis auf dieſen Augenblick wie unnuͤtze, vielleicht ſtraͤfliche Taͤndelei, gar nicht geuͤbt worden war. Er ſelbſt nannte die Unterrichtsſtunden, die er, natuͤrlich in Gegen - wart von Mutter und unterſchiedlichen alten Tan - ten, den linkiſchen, verlegenen, bleichſuͤchtigen Maͤdchen taͤglich dreimal zu ertheilen hatte, eine Pferde-Arbeit. Und er mußte ſich haͤufig uͤber dem ſuͤndlichen Wunſche ertappen, daß es ihm vergoͤnnt ſein moͤge, nur ein Bischen von den frivolen Anla - gen ſeiner kuͤrzlich verlaſſenen Schuͤlerinnen auf die unbewegliche, lebloſe Kaͤlte der jetzigen zaubern zu koͤnnen, ſollt es auch mit Gefahr fuͤr der Letzte - ren Sittſamkeit geſchehen!

Hedwig war doch gewiß ein Muſterbild von jungfraͤulicher, zuͤchtiger Tugend. Aber wie gewandt war ſie dabei, wie grazioͤs, die beſte Taͤnzerin von allen achten! Dieſe Drei tanzen wie bleierne Voͤgel. Gott verzeih mir’s, ich glaube, ſie haben krumme Beine, weil ſie ſo viel auf den Knieen beten muͤſſen!

11 *164

Durch dergleichen Betrachtungen verſuchte ſein Unmuth ſich Luft zu machen. Doch die Erleichte - rung blieb nur gering, und er ſehnte ſich ſehr unge - duldig nach der baldigen Ankunft des verheißenen Brautwerbers, die ihn ſeiner Lehrerwuͤrde entbinden und ihm geſtatten wuͤrde, nach E. zuruͤckzukehren, wo er ebenfalls verſuchen wollte, die Erbſchaft Mira - bels zu uͤbernehmen. Denn in E. lebte Hedwig, und wenn er auch auf ſie nicht mehr als Schuͤlerin rechnen durfte, war es doch ſchon ein Gluͤck, in einer Stadt mit ihr zu weilen, ihr vielleicht bisweilen zu begegnen, ihr vielleicht gar zeigen zu koͤnnen, daß die ſchwarze Schnur ..... Wenn nur der junge Graf ſchon in’s Schloß fuͤhre! ſtoͤhnte er von einer Tanzlektion zur andern.

Und wie wenn ſein Stoͤhnen das Geſchick erweicht haͤtte, der Erſehnte traf wirklich um eine Woche fruͤ - her ein, als man darauf gerechnet; kam ſo uner - wartet und uͤberraſchend, daß er zum Schrecken der Mutter, zum Schauder beider Tanten, mitten in eine Tanzſtunde platzte.

Bitte, ſich nicht ſtoͤren zu laſſen, meine Schoͤ - nen hier hielt er inne. Es iſt ſchwer zu entſchei - den, ob er den Faden dieſer etwas nach Billardzim -165 mer und Reitſtall ſchmeckenden Anrede abriß, weil er die Schoͤnen nicht ſchoͤn fand, oder ob er ver - ſtummte, weil er einen ferngeglaubten, toͤdtlich-gehaß - ten Gegner in Anton vor ſich erblickte?

Anton erkannte ſeinerſeits auf den erſten Blick das einſt in B. mit Adelen’s Fahnenſtock gezuͤchtigte Graͤflein. Er begriff ſogleich, daß hier ſeines Blei - bens nicht ſei, benuͤtzte den guͤnſtigen Vorwand der unterbrochenen Tanzlektion, um ſich zuruͤckzuziehen und hatte nichts Eiligeres zu thun, als ein Schrei - ben an den Herrn des Hauſes aufzuſetzen, worin er ſich entſchuldigte, daß er genoͤthiget ſei, ploͤtzlich abzu - reiſen und ſo den Unterricht abzukuͤrzen. Als er dies Briefchen einem alten Diener uͤbergab, konnte er nicht umhin, an denſelben noch eine Frage zu richten, ob denn wirklich dieſer kindiſch ausſehende, wuͤſte Juͤngling als kuͤnftiger Braͤutigam erſchienen ſei? Der Alte, eingeweiht in die Familien-Verhaͤltniſſe, beſtaͤtigte es und gab Gruͤnde dafuͤr an: Von Seiten ſeiner Herrſchaft die ſchon erwaͤhnte Nothwendigkeit, Geldruͤckſichten zu nehmen; von Seiten der Eltern Louis die Hoffnung, daß ihr leichtſinniger Sohn in ſo ernſten und ſtrengen Umgebungen auf die Bahn der Froͤmmigkeit und Tugend zuruͤckgefuͤhrt werden166 ſolle! Anton konnte ſich kaum ſo weit beherrſchen, daß er ein lautes Hohngelaͤchter unterdruͤckte; er verließ den treuherzigen Betbruder in Livree und begab ſich nach dem Dorfe, wo er ein Fuhrwerk miethete, wel - ches ihn und ſeinen Kram noch an dieſem Nachmit - tage fortſchaffen ſollte; er beſtellte daſſelbe, um kein Aufſehn zu machen, an eine Hinterthuͤr des Gartens, ſchlich ſich dann auf ſein Zimmer, wo er zuſammen - packte, rief einen Hausknecht zu Huͤlfe und machte ſich mit dieſem und ſeinem Gepaͤck auf den Weg, um den beſtellten Wagen unbemerkt zu erreichen. Leider mußten ſie hinter einem Bosquet voruͤber, in wel - chem Louis mit den Damen, welche die letzten Strah - len einer matten Herbſtſonne genießen wollten, bei’m Theetiſch ſaß. Der alte Diener hatte kurz vorher Anton’s Scheidebrief uͤberreicht; es wurde daruͤber geredet. Anton hoͤrte ſeinen Namen, winkte dem Hausknecht weiter zu gehen, und blieb einen Moment lauſchend ſtehen. Er hoͤrte, wie Mutter und Toͤchter, ihn lobend und ſeinen raſchen Entſchluß bedauernd, keine Urſache dafuͤr zu finden wußten. Graf Louis, in uͤbermuͤthiger Laune, in welche er durch die Ent - fernung eines Feindes verſetzt war, der, wenn er hier blieb und redete, ihm ſehr ſchaͤdlich werden konnte,167 meinte ſich berufen, eine Urſache anzugeben, und waͤhnte dieſe Gelegenheit zur Herabſetzung des Ab - weſenden und zur Erhebung ſeiner eigenen Tapfer - keit benuͤtzen zu duͤrfen. Er gab alſobald ein Maͤhr - chen zum Beſten, welches ihn als glorreichen Sieger uͤber Anton darſtellte, den er mit dem Beinamen eines Vagabunden, luͤderlichen Herumtreibers, durch - gepruͤgelten Haͤndelmacher’s reichlich beſchenkte. Anton vergaß ſeine guten Vorſaͤtze, ſich durchaus nicht zwi - ſchen dieſe Perſonen ſtellen zu wollen; von verzeih - lichem Zorne uͤbermannt, trat er vor und fuͤhrte, ohne Schonung gegen einen prahleriſchen Luͤgner, die Ver - theidigung ſeiner Ehre, indem er die reine Wahrheit erzaͤhlte. Dieſer gegenuͤber blieb Graf Louis ſtumm: ſein Schweigen wurde zum Anklaͤger und Richter fuͤr ihn in der Meinung der Damen.

Welche Folgen dieſe Szene gehabt und kuͤnftig noch haben ſollte, werden wir im weiteren Verlaufe unſerer Erzaͤhlung erfahren. Fuͤr jetzt genuͤgt uns, Anton’s naͤchſte Schickſale zu verfolgen und wir gelei - ten ihn nur bis zu ſeinem laͤndlichen Stuhlwagen, in welchem er ohne Weiteres die Reiſe nach E. antrat.

168

Dreiundſechszigſtes Kapitel.

Anton kehrt zur Stadt zurück, wo er Hedwig nicht mehr findet und ſein Geſchäft alſobald niederlegt. Puppenſpiel. Die kranke Frau.

Mit der feſten Abſicht, ſich um eine Erlaubniß fuͤr Tanz-Unterricht bei der Behoͤrde zu melden, traf Anton in der Stadt ein, aus welcher vor einem hal - ben Jahre Hedwig’s Bild und Andenken ihn beglei - tet. Zuerſt aber fand er es angemeſſen, jener Majors - wittwe, in deren Hauſe er ſo ſchoͤne Stunden, in Anſchauen und frommer Bewunderung verſenkt, durchlebt, ſeinen Beſuch zu machen, ihr ſeinen Plan mitzutheilen und um ihren guten Rath zu bitten. Daß die Hoffnung, uͤber Hedwig etwas zu erfahren, im Grunde des Herzens ſchlummernd, ihn hauptſaͤch - lich zu dieſem Beſuche antrieb, entdeckte er ſelbſt erſt, als von ihr die Rede war. Doch welch ein Gefuͤhl durchdrang ihn, da er vernehmen mußte, der alte Hauptmann, ihr Vater, in Folge ſchwerer Wunden zum ferneren Dienſte voͤllig untauglich, ſei verabſchie - det worden, habe E. verlaſſen und habe ſich in eine andere kleinere Stadt, man wußte nicht, welche? begeben, um ſich einzuſchraͤnken und ſparſamer haus - zuhalten. Hedwig war fort. Er ſollte ſie nicht169 mehr ſehen. Seine Plaͤne loͤſeten ſich in Rauch auf. Er entdeckte nun gar nicht erſt ſeiner Goͤnnerin, daß er im Sinne gehabt, den Winter uͤber als Tanzleh - rer in E. zu verleben; er empfahl ſich ihr und ſchied fuͤr immer. Meinte auch E. an ſelbigem Tage zu verlaſſen! Doch mit Nichten.

Er ging, nur an Hedwigs Abreiſe denkend, nie - dergeſchlagen und entmuthigt durch die Gaſſen da fiel ſein Blick auf den an der Ecke eines Hauſes klebenden Anſchlagezettel, welcher die Darſtellung einer Genoveva, Pfalzgraͤfin in Trier verkuͤndigte. Dieſer Anblick brachte das Gefuͤhl in ihm hervor, wie wenn man bei’m Aufraͤumen in irgend einem alten Kaſten irgend ein altes Spielwerk aus der Kinderzeit findet und dadurch an unzaͤhlige Begebenheiten erin - nert wird, die laͤngſt vergeſſen und begraben, mit wehmuͤthigem Laͤcheln wieder auferſtehen, uns geiſter - haft zu begruͤßen. Bei naͤherer Betrachtung ſah er, daß die Vorſtellung der Genoveva geſtern ſtatt gefun - den. Auch war es ein Puppentheater. An der naͤch - ſten Straßenecke fand er den heutigen Zettel. Dieſer verkuͤndigte das Schauſpiel: Der verlorene Sohn. Obwohl er ſich von einem Puppenſpiele nicht viel verſprach, beſchloß er dennoch, den verlorenen Sohn170 zu hoͤren. Waltete doch ein Geſchick uͤber ihm, worin auch ſo etwas vom verlorenen Sohne ſich entdecken ließ, wenn gleich ſehr verſchieden von dem bibliſchen Vagabunden. Bei meiner Heimkehr, ſprach er be - truͤbt, wuͤrde Niemand ein fettes Kalb ſchlachten; Niemand in Liebenau; ſogar Tieletunke nicht.

Je geringer die Anſpruͤche geweſen, die Anton in das Marionetten-Theater des Herrn Dreher mitge - bracht, deſto groͤßer war ſein Erſtaunen, dieſelben in jeder Art uͤbertroffen zu ſehen; nicht zu reden von dem uͤberraſchenden Mechanismus der meiſterlich ge - fuͤhrten Figuren; von der zierlichen Ausſtattung der kleinen Buͤhne; wirkte hauptſaͤchlich die Dichtung ſelbſt ſo gewaltig auf unſern Freund, daß ſein poeti - ſches Gemuͤth voͤllig davon bezaubert wurde.

Jn reizend-naiver Einfalt hat das alte Volks - ſchauſpiel jenen ewigen Stoff aufgefaßt und behan - delt. Was ein Dichter von modernem Zuſchnitt wie allegoriſche Andeutung genommen haben wuͤrde, das tritt hier mit kindlicher Treuherzigkeit als wirklich und wahr vor die Sinne. Wenn der verlorene Sohn in Folge ſeiner wilden Ausſchweifungen ſo tief geſun -171 ken iſt, daß er als Schweinehirt in wuͤſter Gegend Mangel dulden muß, da verwandelt ſich das Brot, womit er ſeinen Hunger ſtillen moͤchte, unter den zit - ternden Haͤnden in harten Stein; da grinzen ihm ſtatt jener Aepfel, die er vom Baume zu pfluͤcken trachtet, kleine Todtenkoͤpfe entgegen; da rinnt aus dem Felſenquell, der ihn laben ſoll, ſobald er ſich duͤrſtend nahet, fluͤſſiges Feuer hervor; alles dies, weil der Fluch gekraͤnkter Eltern ihm folgt. Und wie er nun matt und kraftlos zur Erde taumelt, in einen Schlaf, der Ohnmacht ſcheint, zu verfallen, da naht ihm ein Ungethuͤm, welches aus dem Boden ſteigt, haͤlt ihm die Reihe ſeiner Vergehungen vor und raunt ihm kraͤchzend in’s Ohr: ich bin die Verzwei - felung! Dann windet ſich der Elende, erwacht aus Traumes Qualen, fleht den Himmel reuig um Gnade an und alſobald verſchwindet die ſchwarze Ver - zweifelung, die Erde ſchlingt ſie ein und von Roſen - gewoͤlk getragen ſchwebt ein freundlicher Engel herab, der lispelt liebevoll: ich bin die Hoffnung! Und kaum hat der verlorene Sohn dieſe troͤſtende Stimme vernommen, fuͤhlt er Kraft, ſich zu erheben, den Heimweg anzutreten und zu den Fuͤßen der Eltern Vergebung zu ſuchen.

172

Wie in allen Puppenſpielen, iſt der ernſthaft gemeinten Hauptfigur auch in dieſem Stuͤcke Kas - perle als Begleiter beigegeben; der Chorus der Ro - mantik, der mit derben, treffenden, ironiſchen Witz - worten gleichſam die Moral der Fabel explizirt. Er iſt der treue Diener; macht alle dumme Streiche des Herren mit, obgleich er ſich und ihn verſpottend warnt; beſucht mit ihm willige Dirnen; bleibt nicht zuruͤck, wo der Spieltiſch lockt; laͤßt ſich bei’m Schen - ken den Becher fuͤllen und klagt nur, daß es ein ſchlechtes Haus ſei, weil man ihnen beſoffenen Wein gereicht; haͤlt ſich aber, Dank ſei es ſeiner humoriſtiſchen und dabei kerngeſunden Hannswur - ſten-Natur, ſtets uͤber Waſſer und bewahrt auch im groͤßten Ungluͤck, wie er’s mit dem ſcharfgetadelten, dennoch geliebten Gebieter theilt, heit’re Laune genug, aus allem Jammer das Luſtige herauszufinden. Ja, Kasperle iſt es zuletzt, der den heimkehrenden, in Lumpen gehuͤllten Bettler bei den Eltern anmeldet, dieſe ſchonend vorbereitet und ihnen ſogar den tiefſten Grad vergangenen Elendes ſchalkhaft beſchreibt, indem er ihnen vertraut, ihr Herr Sohn ſei auf der Jnſel Sumpfus Koͤnig einer wilden Voͤlkerſchaft geweſen, die in niederen Huͤtten gewohnt habe und173 hoͤchſt wahrſcheinlich aus Frankreich abſtamme, weil ſaͤmmtliche Unterthanen, wenn das Horn des Herr - ſchers zur Weide rief, ſtets mit oui! oui! geant - wortet.

War nun im Wiedergeben der tragiſchen Perſo - nen Manches mangelhaft, weil es, bei nur zwei hin - ter den Gardinen redenden Darſtellern, an Stimmen - wechſel fehlte, ſo wurde doch der Kasperle mit einer Vollkommenheit geſprochen, und der unſicht[ba]re Sprecher wußte zugleich der ſichtbaren, beweglichen, poſſierlichen Puppe ſo entſprechende Leitung dabei angedeihen zu laſſen, daß Anton einen gluͤcklichen Abend zubrachte. Er vergaß Hedwig und ſeine fromme Sehnſucht nach ihr. Er verſenkte ſich mit Seele und Leib in die Aktion der Puppen; er glaubte an ſie. Ja ſelbſt den falſchen Pathos, den Herr Dreher ſeinem zaͤrtlichen Vater, ſeinem ruchloſen Sohne angedeihen ließ, mußte der begeiſterte Bewun - derer dieſer ihm neuen Kunſtgattung preiſen; er fand das nothwendig fuͤr ein Marionettenſpiel. Dagegen durchrieſelte ahnungsvoller Schauer ſein Herz, wenn die Weiberſtimme eintrat. Die Klage der Mutter um den verlorenen Sohn erſchuͤtterte ihn, wie nichts ihn erſchuͤttert, ſeitdem er Ludwig Devrients Schewa ver -174 nommen; er zuͤrnte mit ſeinen Nachbarn, die dumm lachten, wo ihm Thraͤnen in’s Auge traten. Bei den Worten: ich bin die Hoffnung! uͤberkam ihn eine Ruͤhrung, die er kaum bemeiſtern konnte, und die ſeine naͤchſten Umgebungen, bei einem Marionetten - ſpiel, komiſch fanden, die aber auf ihn ſelbſt ſo nach - dauernd wirkte, daß er ſich nicht von E. trennen mochte, ohne wenigſtens noch einer Vorſtellung im Puppentheater beigewohnt zu haben. Jch bin ein wunderlicher Menſch, geſtand er ſich ehrlich ein: Spontini’ſche große Oper mit aller Macht und Pracht hat mich kalt gelaſſen, wiewohl ich auch ein Stuͤckchen Muſikus bin; und dieſe Beluſtigung, Dienſtmaͤg - den und kleinen Kindern zunaͤchſt gewidmet, regt mich auf, wie wenn es eine Tragoͤdie waͤre. Einen guten Theil zu ſolcher Exaltation traͤgt freilich auch die weibliche Stimme bei, die da mit hinein redet; ſie klingt, als ob ſie einer alternden Frau angehoͤre, und doch iſt mir noch keines ſchoͤnen Maͤdchens oder Wei - bes Stimme ſo innig zu Herzen gedrungen; (Hed - wig’s immer ausgenommen, wie ſich von ſelbſt ver - ſteht). Jch muß dieſe Stimme wieder hoͤren und muß die Frau kennen lernen, die mit wenig ſchlichten175 Toͤnen ſo viel Wirkung auf mich hervorbringt. Wahr - ſcheinlich wird es Madame Dreher ſein.

Zu rechter Zeit beſann er ſich, daß Puppenſpieler doch unbezweifelt zu den Vagabunden gehoͤren, und daß es ihm frei ſtehe, ſein Recht als ſolcher benuͤtzend, das Handwerk zu begruͤßen. Herrn Dreher fand er nicht zu Hauſe; der Mann, deſſen Dialekt ſchon den Altbaiern verrieth, beſonders wenn er ſeinen Kas - perle ſprach, zeigte ſich auch in ſo weit der Hei - math getreu, daß er fleißig zu Biere ging, obgleich er keinen Krug leerte, ohne jammervoll-ſehnſuͤchtige Klagelieder zu ſtoͤhnen; denn das bairiſche Bier war dazumal noch nicht in’s Ausland gedrungen; der Fortſchritt war noch nicht ſo weit gediehen. Er klagte alſo, er ſehnte ſich, aber er trank .... und blieb nicht beim Biere ſtehen.

Madame Dreher ſaß am Naͤhtiſch, ein Purpur - gewand mit goldenen Borten zu ſchmuͤcken, fuͤr ihren zwei Schuh langen Kriegs-Obriſten, den weltberuͤhm - ten Herrn Holofernes; es ſollte die Belagerung von Bethulia aufgefuͤhrt werden. Wie Anton ein - trat, ſprang ſie auf, als ob ſie gewaltig vor ihm erſchrocken ſei; ihre bleichen Wangen wurden noch bleicher; ihre dunklen großen Augen ergluͤhten in176 unheimlichem Feuer; ſie betrachtete den Eintretenden mit peinlich-ſcharfen Blicken, als wollte ſie ſich, nach - dem ſie nun erſt uͤberzeugt, daß er es wirklich ſei, ſich auch verſichern, ob er nicht augenblicklich wieder ver - ſchwinden werde. Theils dieſe krankhafte Aufmerk - ſamkeit auf jede ſeiner Bewegungen, theils eine unbe - ſtimmte Erinnerung, die kranke, elend ausſehende Frau ſchon einmal irgendwo begegnet zu haben, ohne doch im Entfernteſten zu ahnen: wie? wo? und wann? dies machte Anton ſo verlegen, daß er dringend nach Herrn Dreher fragte, als wenn er dieſem die wichtig - ſten Mittheilungen zu bringen haͤtte.

Mein Mann kommt erſt eine Stunde vor Beginn der Vorſtellung heim; wenn Sie ſich ſo lange gedul - den koͤnnten? ...

Und bei dieſen Worten zitterte die Frau vor Erwartung, was er darauf erwiedern werde.

Sie ſcheinen ſich ſehr uͤbel zu befinden, ſprach er; vielleicht iſt es Jhnen angenehmer, wenn ich mich jetzt entferne, um ſpaͤter nachzufragen? Jch habe durchaus kein Geſchaͤft mit Jhrem Manne. Mich fuͤhrte nichts hierher, als die Freude, die ich geſtern beim Anhoͤren des verlorenen Sohnes empfunden, und der Trieb, dieſe Freude dem Schoͤpfer derſelben mitzutheilen.

177

Vielleicht wuͤrde mein Mann nicht verſtehen, was Sie damit ſagen wollen. Ja, er wuͤrde vielleicht argwoͤhnen, es verberge ſich Spott hinter Jhrer Theil - nahme. Fuͤr den Mechanismus ſeiner kleinen Figuren iſt er, gelobt zu werden, gewoͤhnt. Die Stuͤcke, die wir auffuͤhren, haͤlt er ſelbſt fuͤr albernes Zeug und wuͤrde ſich, fuͤrcht ich, wundern, wenn man kaͤme, ihm das Gegentheil zu ſagen.

Nicht moͤglich! Wie iſt er dann im Stande, ſo vortrefflich zu reden und namentlich dem Kasperle einen ſolchen Grad von Vollkommenheit einzuhauchen?

Mit dem Kasperle iſt es ein Anderes; der geht ihm von Herzen: das iſt der eigentliche Ausdruck ſei - ner eigenthuͤmlichen, vaterlaͤndiſchen Derbheit und Schelmerei. Wie Sie ihn den Kasperle ſprechen hoͤrten, hoͤre ich ihn ſelbſt ſtuͤndlich mit mir ſprechen. Dagegen ſind ihm die ernſten Perſonen unſerer Schau - ſtuͤcke zur Laſt; was er mit Helden, Koͤnigen, Vaͤtern und Liebhabern eigentlich anfangen ſoll, weiß er nie - mals. Fruͤher hat er einen Gefaͤhrten gehabt, einen verungluͤckten Schauſpieler, der dieſe Parthieen uͤber - nommen und durchgefuͤhrt. Dieſer Mann jedoch iſt ihm entlaufen, hat ihn boͤslich verlaſſen und ſeine erſte Frau bei Nacht und Nebel mit ſich genommen. Die Vagabunden. III. 12178An die Stelle der Letzteren bin ich getreten; der Platz des tragiſchen Schauſpielers iſt noch nicht aus - gefuͤllt. Jch wuͤnſchte ſehr, daß ſich jemand dafuͤr faͤnde; wir wollten ihn gut bezahlen. Mein armer Mann muß ſich ſchwer anſtrengen: die Fuͤhrung und Lenkung der Puppen iſt keine Kleinigkeit; ſie nimmt alle Koͤrperkraͤfte in Anſpruch, und daneben ſo viel zu reden, greift furchtbar an. Fuͤr einen Mann von bei - nahe ſiebenzig Jahren iſt das zu viel. Jch bin ſo lei - dend und ſchleiche ſo matt und hinfaͤllig einher, daß ich wenig thun kann, ſeine Muͤhen zu erleichtern. Gerade heute bin ich recht beſorgt, wie es geh’n wird; ich befand mich ſchon den Tag uͤber ſchlechter als bis - her, und dann iſt noch noch ein unerwartetes Ereigniß dazu gekommen, welches mich ſehr ergriffen hat. Nun ſoll ich, weil in dem heutigen Stuͤck ver - ſchiedene Figuren zugleich erſcheinen, meinem Manne die Leitung der Judith abnehmen, was ich gar nicht verſtehe, und was er leicht ohne Beihuͤlfe abmachen koͤnnte, wenn nicht ſeine Aufmerkſamkeit zugleich auf die vielen Nebenperſonen, die er ſprechen laſſen muß, in Anſpruch genommen waͤre.

Anton, der ſich anfaͤnglich vor den großen, ſtarren, auf ihn gehefteten Augen ein wenig entſetzt, wurde179 nach und nach durch die heiſere, umſchleierte, vielleicht eben deshalb ſo tief in ſein Herz dringende Stimme der kranken Frau fuͤr ſie gewonnen. Jene Wehmuth, die ihn geſtern Abend beruͤhrt, da ſie im Namen der figurirenden Puppen geredet, ſtellte ſich jetzt wieder bei ihm ein, wo ſie in ihrem eigenen Namen zu ihm ſprach. Er bot ſich freundlich dar zu der gewuͤnſchten Aushuͤlfe und erklaͤrte ſich bereit, einige Rollen zu uͤbernehmen, moͤchten es nun belagerte Jſraeliten, moͤchten es Kriegeshelden ſein, aus der Truppe des Holofernes, ſo man ſeinem geringen Darſtellungs - talente anvertrauen wolle.

Die Frau laͤchelte ihn durch Thraͤnen an.

Deuten Sie auf einen Scherz, den Sie ſich heute mit ſich und mit uns machen wollen? Oder verbirgt ſich hinter Jhrem Anerbieten eine Abſicht fuͤr die Zukunft? Sie muͤſſen dieſe letztere Frage nicht uͤbel nehmen; weiß ich doch ſogar nicht, wen ich die Ehre habe, bei mir zu ſehen und in wie fern Jhre Verhaͤltniſſe dieſe meine unbeſcheidene Auslegung Jhres vielleicht unuͤberlegten Anerbietnes geſtatten? Waͤr es moͤglich, daß Sie

Hier ſtockte ihre Stimme, von Thraͤnen bedraͤngt. Zugleich ſtrahlte ihr abgemagertes, in Gram und Leid12*180verfallenes Geſicht in freudiger Verklaͤrung, ſo daß Anton auf’s Neue in Schrecken gerieth und die vor - eilige Aeußerung faſt bereuend, ſchon wieder an ſchnel - len Ruͤckzug dachte.

Da trat, im rechten Augenblick, Herr Dreher ein.

Gegenſeitig fanden Eroͤrterungen Statt; das Geſpraͤch wurde fortgeſetzt, nur auf andere Weiſe, indem es aus dem Gebiete des Ueberſchwaͤnglichen auf irdiſchen Grund und Boden gelangte. Anton machte kein Geheimniß daraus, daß er ohne Ziel und Zweck ſei; daß er die Tanzmeiſterei, die ihn anwidere, aufgegeben habe, nachdem die einzige Veranlaſſung, die er dafuͤr gehabt, nicht mehr vorhanden. Er geſtand ehrlich, daß er bei ſeinem Beſuche noch nicht an die Moͤglichkeit gedacht, hier als dritter Mann eintreten zu koͤnnen; daß aber jetzt, wo er einen Blick hinter den Vorhang gethan, alte, verklungene Traͤume von poetiſcher Theaterluſt in ihm erwachten; daß er es um ſo leichter faͤnde, ſie wenn auch nur verſuchs - weiſe zu erfuͤllen, weil er als Puppenſpieler nicht mit ſeiner eigenen Perſon bezahlen, weil er nicht befuͤrchten duͤrfe, ſich ungeſchickt, oder unbegabt, wie einen ſchlechten Darſteller, Preis zu geben.

Laſſen Sie mich, rief er aus, gleich heute181 mein Probeſtuͤck ablegen: vertrauen Sie mir einige Roͤllchen an. Wo iſt das Buch, aus welchem Sie ſpielen? Jch will’s eiligſt uͤberleſen und dann moͤgen Sie entſcheiden, ob Sie mich gebrauchen koͤnnen.

Ein Buch? antwortete Herr Dreher; ein Buch, mein Lieber, giebt es nicht; weder die Bela - gerung von Bethulia, noch irgend ein ander Stuck iſt aufgeſchrieben. Wir Puppenſpieler ſind eine alte Zunft, ein Ueberbleibſel aus die finſtre Zeiten! Bei uns erbt ſich’s von Vater auf Sohn, Einer lernt vom Andern auswendig und hernach traͤgt man die ganze Geſchichte im Kopf mit ſich herum. Jeder von uns hat muͤſſen einen Schwur ablegen, daß er nie - mals eine Zeile niederſchreiben will, damit’s nicht in unrechte Haͤnde kommt, die uns das Brot wegneh - men. Jetzund leben unſerer vielleicht noch vier,[oder]drei, von der Nuͤrnberger Schule. Wenn wir aus - geſtorben ſind, ſterben unſere Komoͤdien mit uns aus. Denn das Geluͤbde muͤſſen wir halten. Bei mir fin - det ſich nach meinem Tode auch nicht eine Silbe vor, nicht gedruckt, nicht geſchrieben. Jn Berlin freilich haben ſie einen Kollegen von mir garſtig betrogen. Da ſind die Gelehrten hinterd’rein geweſen und haben ſich den Doktor Fauſt ſo oft vorſpielen laſſen, daß ſie182 endlich das ganze Stuͤck mit Bleifedern waͤhrend der Auffuͤhrung auf Papier gebracht, und Einer Horn glaub ich war ſein Name, hat’s gar drucken laſſen. Das nenn ich geſtohlen. Uebrigens hat auch ein gewiſſer Goͤthe einen Fauſt gemacht, aber das iſt dummes Zeug: reim Dich, oder ich freß Dich; lau - ter unverſtaͤndlicher Bombaſt; und nicht einmal der Kasperle kommt in ſelbigem Goͤthe vor. Der iſt aber da am allernoͤthigſten; denn wann ich keinen Kasperl nicht hab, wer ſoll mir dann die Teufel necken, ihnen Seſſel und Tiſch in’s Geſicht ſchleudern, ſie auf die Schwaͤnz treten, wenn er’s nicht thut? Das ſind meine allerſchoͤnſte Scenen! Aber was ich ſagen wollt wegen Jhnen, Herr Hahn, ſeh’n Sie, das muͤſſen wir uns reiflich uͤberlegen. Hinter meine Gardinen, i[n]mein kleines Laboratorium, darf kein Fremder einen Blick thun; das iſt wider unſere Zunftgeſetze. Wollen Sie ſich ganz und gar zum Puppenſpieler machen; wollen Sie einen Eid ablegen, ſich in alle Regeln zu fuͤgen, na, wir werden ſehen. Einen Sohn hab ich nicht .... wie geſagt, wir werden ſehen. Morgen reden wir mehr davon; heute ſchauen Sie wieder zu ... und Du, Nettel, mach Dich zurecht und geh an die Kaſſe, es iſt Zeit, daß wir uns richten!

183

Die Belagerung von Bethulia machte bei Weitem keinen ſo großen Eindruck auf Anton, als der verlorene Sohn geſtern gethan, denn das elegiſch - ſentimentale Element fehlte gaͤnzlich. Das Ding ſchien ironiſch gemeint, von Anfang bis zu Ende. Doch floß es von praͤchtigen Spaͤßen uͤber und wenn Kasperl das Nachtlager des Herrn Ochſofernes , nachdem Judith dieſem das Haupt abgeſaͤbelt, vom Blute triefend erblickt und die Anſicht hegt: der Alte habe zu viel rothe Wein g’ſoff’n! ſo mußte Anton, er mochte wollen oder nicht, in das jauchzende Gelaͤch - ter der Vergnuͤglinge vom dritten Platze einſtimmen. Judith bewegte durch ihre Toͤne wohl auch wieder ſein Herz, doch wollte, ſeitdem er die vom Tode ſchon gezeichnete Trauergeſtalt der Sprecherin geſehen, deren heroiſcher Kraftaufwand ihm weniger zuſagen. Mit einem Wort: er drang heute tiefer in die Maͤn[gel]des Ganzen ein, vielleicht auch, weil man ihn auf - merkſam auf dieſelben gemacht, und dachte ſich, waͤh - rend er ſah, hoͤrte, beobachtete, mehrmals an den Platz hinter den Dekorationen, feſt uͤberzeugt, es werde ihm gelingen, viele dieſer Maͤngel zu beſeitigen, wenn er mitwirken duͤrfe. Aus dieſer Zuverſicht entwickelte ſich allmaͤhlig der Wunſch, in Drehers Zunft aufgenom -184 men zu werden. Mit dieſem Wunſche ging er ſchla - fen, wie mit einem Spielwerk, welches dem Kinde mit in’s Bett gegeben wird und uͤber Nacht war dem großen Kinde der Wunſch an und in das Herz gewach - ſen. Als Anton erwachte, mußte er ſich verwundern uͤber ſeinen innern Zuſtand; er vermochte nicht, ſich Rechenſchaft daruͤber zu geben; aber eben ſo wenig vermochte er ihn zu aͤndern. Jhn zog das Puppen - ſpiel mit ſeinen poetiſch-raͤthſelhaften, wie kindiſch - albernen Myſterien maͤchtig an; ihm war zu Sinne, als winke ihm, dem Heimathloſen, im Halbdunkel jener buntbemalten Leinwandſtreifen eine Heimath; als waͤren die kleinen, an Draͤthen ſchwebenden Zerr - gebilde lebendige Geſchoͤpfe, die ihm entgegenriefen: komm, Bruder, ſpiele mit uns, wir ſind Deine Geſchwiſter; leih uns Wort und Hand, wir fuͤhren Dich zur Mutter nach Hauſe!

Unerforſchlicher Zauber der Phantaſie, wenn kaum verſtandene, dunkle Ahnungen aus dem Herzen auf - ſteigen, den zweifelnden Verſtand irre zu machen, daß er ſich endlich gefangen giebt und glauben lernt an er weiß ſelbſt nicht was!? So glaubte Anton, es wuͤrde eine angeſtrengte Beſchaͤftigung als Puppen - ſpieler die Leere ausfuͤllen koͤnnen, die ihn quaͤlte. Jn185 ſeiner Vorliebe fuͤr dieſe Jdee uͤberſchaͤtzte er auch den literariſchen und aͤſthetiſchen Werth jener alten Dich - tungen, die ihm wie Geſaͤnge des Homer duͤnkten, weil ſie nur durch lebendige Tradition von Munde zu Munde forterbten. Jn dem fleißigen Erlernen dieſer Dramen, in der Foͤrderung mechaniſcher Geſchicklich - keit, die er zu ſeines neuen Meiſters Unterſtuͤtzung erwerben wollte, in dem Umgange mit der kranken, ihm ſo ruͤhrend zu Gemuͤth redenden Frau, welche auch fuͤr ihn ungewoͤhnliche Theilnahme an den Tag legte; endlich aber: in trotziger Verbiſſenheit gegen Weltlauf und Erden-Geſchick, zuruͤckgezogen hinter den Tummelplatz der Puppen, geſchuͤtzt und verdeckt gegen den Anblick Neugieriger, ſpottend, ſcheltend, den Menſchen derbe Wahrheiten zu ſagen in Anderer Namen in all dieſen Ausſichten und Erwartungen erblickte der Wanderer ſein Heil; traͤumte ſich ſo tief in das bevorſtehende Gluͤck, daß er feſt entſchloſſen wurde, Dreher’s Gegeneinwendungen zu beſiegen, moͤchten ſie noch ſo gruͤndlich ſein.

Er fand eine treue, wirkſame Bundesgenoſſin an der Frau. Fuͤr ſie ſchien Anton’s Eintritt in das Geſchaͤft, mithin auch in die Zunft, ein unerlaͤßliches Beduͤrfniß, wenn ſie weiter leben, wenn man von ihr186 verlangen wolle, daß ſie fernerhin dafuͤr arbeiten ſolle.

Sie erklaͤrte geradezu, daß ſie von der unbeding - ten Aufnahme des jungen Mannes, von ſeinem Zu - ſammenleben und Sein mit ihnen, ihre eigene weitere Theilnahme abhaͤngig mache, wobei denn, obgleich nur andeutungsweiſe, zur Sprache gelangte, daß Frau Dreher keinesweges die Gattin des Herrn Dreher ſei. Letzterer wußte zu wohl, was er und ſeine Pup - pen an der armen ſanften Dulderin beſaßen. Sie bekleidete ſeine Koͤnige und Bettler mit Geſchmack und Fleiß; ſie hielt die Lampen in Ordnung; ſie ſorgte fuͤr’s Hausweſen; und ſie ſprach ſaͤmmtliche Frauen - und Maͤdchen-Rollen mit jenem ruͤhrenden, zitternden, verſchleierten Tone, der jedes Hoͤrers Herz bewegte.

Jhr, die keine Freude mehr hatte, noch ſuchte; die keine Forderung machte, Herrn Dreher ſonſt in Allem gewaͤhren ließ, ihr konnte die einzige, erſte an ihn gerichtete Bitte nicht verweigert werden. Anton wurde, nachdem er den uͤblichen Eid abgelegt und unverbruͤchliches Schweigen beſchworen, in die alt - loͤbliche Zunft deutſcher Puppenſpieler als Lehrjunge aufgenommen.

187

Sieben Wochen darauf vollendete er, indem er ſeinen fuͤnfundzwanzigſten Geburtstag beging, ſein vierundzwanzigſtes Lebensjahr. Ein volljaͤhriger Lehr - ling!

An dieſem Tage, als am heiligen Abende, ſpielte das Puppentheater nicht.

Herr Dreher hatte ſich nicht abhalten laſſen, auch das Chriſtfeſt im Bierhauſe zu feiern. Anton ſaß bei der kranken Frau (nicht anders redet er von ihr in ſeinen Tagebuͤchern) und ſie ging mit ihm einige Rollen aus dem Gedaͤchtniß durch, die er in dem Schauſpiele Don Juan, der ſteinerne Gaſt uͤber - nehmen ſollte, welches auf den erſten Feiertag angeſetzt war. Das Gedaͤchtniß des Lernenden gab jenem der Lehrenden wenig nach. Sie hatte in der kurzen Friſt von etwa zehn Monaten, die ſie mit Dreher verlebte, ſein ganzes Repertoir vollſtaͤndig erlernt; Anton behielt jede Tirade, wenn er dieſelbe aus ihrem Munde zweimal vernommen, woͤrtlich in der Erinnerung, ſo daß ihm keine Silbe fehlte. Die Vorbereitungen fuͤr Don Juan bedurften alſo wenig Zeit. Dann, bei Einbruch der Dunkelſtunde begannen die vertraulichen Mittheilungen, die Antons Vergangenheit betrafen, zu welchen die kranke Frau ſeit ſeinem Eintritt in’s188 Puppenſpiel den jungen Mann auf unwiderſtehliche Weiſe veranlaßt hatte. Sie wurde nicht muͤde, ihn um die kleinſten, ſcheinbar nichtigſten Ereigniſſe ſeines Lebens zu befragen; ihn auszuforſchen bis auf den Grund ſeiner Seele. Und ſie that dies mit ſo theil - nehmender Lebhaftigkeit, mit ſo beſcheidener Freund - ſchaft, mit ſo liebevoller Wuͤrde, daß jede Falte in unſeres Freundes Herzen ſich vor dieſer innigen Milde oͤffnete; daß er die geheimſten Regungen und Gedan - ken offenbarte. Wenn von ſeiner Mutter die Rede kam, und nur dann machte der Zuhoͤrerin Be - nehmen einen unangenehmen Eindruck auf den Erzaͤh - ler. Denn waͤhrend die kranke Frau Mitleid, Nach - ſicht, billige Verzeihung und chriſtliche Theilnahme allen Perſoͤnlichkeiten angedeihen ließ, die Antons Lebensweg durchkreuzt haben, gegen ſeine arme Mut - ter kannte ſie kein Erbarmen; fuͤr ihr unmuͤtterliches Betragen zeigte ſie weder Schonung, noch Rechtfer - tigung. Sie ſagte das Haͤrteſte von ihr; mit deſto ſchaͤrferer Zunge, je lebhafter Anton die Vertheidigung der Verſtorbenen uͤbernahm, ſo daß es ihm bisweilen vorkam, als vermehre ſie die Anklagen nur, um den Vertheidiger immer waͤrmer zu machen. Wenn er aber dann ſich ſelbſt tadelte und die Anklagen gegen189 ſich richtete, daß er denn doch nicht energiſch genug verfahren ſei, um den Aufenthalt der Carina zu erkun - den und jene Spuren zu verfolgen, auf denen er etwas Naͤheres von ſeiner Mutter und ihrem Ende vielleicht erfahren haben wuͤrde; dann bedeutete man ihn alles Ernſtes, dieſer Vorwuͤrfe und Selbſt - quaͤlereien ſich zu entſchlagen, da es keinem Zweifel unterliege, daß die uͤbel zuſammengeworfene Saͤnger - geſellſchaft, mit welcher die Carina ihr letztes Heil verſuchte, gleich nach ihrer Ankunft in Deutſchland aufgeloͤst und verſprengt worden, die Carina jedoch elend zu Grunde gegangen ſei. Dies, verſicherte die kranke Frau, wiſſe ſie mit unumſtoͤßlicher Gewißheit, durch glaubwuͤrdige Zeugen; er moͤge ihrem an hei - liger Eidesſtatt gegebenen Worte vertrauen: jede Bemuͤhung, die Geſuchte anderswo aufzufinden, muͤſſe fruchtlos bleiben.

An dem Abende, den wir zunaͤchſt ſchildern, war Anton, von ſeiner Zuhoͤrerin geleitet, wieder in die erſten Tage ſeines Lebens, bis zu ſeiner Geburt zuruͤck - gegangen. Was er aus den Mittheilungen der Mut - ter Gokſch erfahren, das erzaͤhlte er nun, ohne daran zu denken, daß heute wiederum heiliger Abend ſei. Die Dunkelſtunde trat ein. Die Fenſter in der190 ſchmalen Gaſſe glaͤnzten im Wiederſchein unzaͤhliger Lichter auf gruͤnen Baͤumen und Pyramiden. Anton kam in ſeiner Erzaͤhlung auf die Stelle, wo die gute Frau Hahn den Angſtſchrei ihrer Tochter herab droͤh - nen hoͤren, wo ſie den ehrlichen Kantor bei ſeinem Weihnachts-Aufbau im unteren Zimmer allein gelaſſen, wo ſie ſich in Todesangſt zu ihrer Tochter hinauf begeben, und wo ſie ihn gefunden, den kleinen, kleinen Anton: das Kind der Liebe, des Grames, der Verzweiflung!

Heute vor vierundzwanzig Jahren! ſagte die kranke Frau.

Ein eiſiger Froſt ging bei dieſen Worten durch Antons Glieder.

Es iſt kalt im Zimmer, ſoll ich Holz nachlegen? fragte er.

Nein, Anton, erwiederte ſie. Jch friere, weil mein Leben langſam erliſcht, der warme Ofen kann mir nicht helfen. Laſſen Sie mich frieren und ſterben. Aber gehen Sie, ſuchen Sie Jhr Kaͤmmerlein. Jch habe Jhnen Abendbrot und Wein hinuͤber geſtellt und eine kleine Gabe von uns zum Chriſtfeſt. Sie haben mir den ganzen Tag geſchenkt; verderben Sie ſich nicht auch den heutigen Abend mit mir. Schreiben191 Sie druͤben, leſen Sie; unterhalten Sie ſich, wie es Jhrem Geiſte angemeſſen iſt, den ich wuͤrdige und erkenne, wenngleich meine Bitten Theil daran gehabt, Sie in dieſe geringe Umgebung zu verlocken. Glauben Sie mir’s, lieber Anton, ich haͤtte das nicht gethan, wenn ich nicht wuͤßte, daß es nicht lange dauern wuͤrde. Mein Tod iſt nahe, der alte Dreher kann ohne mich nicht mehr weiter. Es geht zu Ende mit dieſem Leben und mit dieſem Puppenſpiel, die ſich beide aͤhneln. Daß ich Sie an mich zu feſſeln ſuchte, geſchah nicht allein aus Eigennutz, der von Jhrem Umgange Troſt, letzte Lebensfreude hoffte und empfing. Es geſchah nicht allein fuͤr mich es geſchah auch fuͤr Sie: fuͤr Jhre Zukunft! Fuͤr Jhr Gluͤck! Fuͤr Jhrer Seele Frieden! Das klingt Jhnen jetzt noch wie Faſeleien einer Fieberkranken? Mag ſein! Wenn mein Auge geſchloſſen, wenn dieſer Mund ſtumm iſt, wird Jhnen deutlich werden, was heute Wahnſinn ſcheint. O mein guter Anton, Sie ſchrei - ben nicht allein Memoiren; die kranke Frau ſchreibt auch welche. Ja, lachen Sie nur. Dieſe Kritzelei wird Jhr Erbtheil von mir ſein. Und Sie werden, wenn Sie darin blaͤttern, mehr wie einmal ausrufen:192 Nun iſt mir’s doch lieb, daß ich der Aermſten den Abend ihres duͤſtern Lebens freundlich erleuchtet habe. Gute Nacht, lieber Anton.

Vierundſechszigſtes Kapitel.

Wie Hedwig wieder gefunden und wie Anton deren Sprachlehrer wird. Junge Liebe. Der zornige Rittmeiſter und der trunkene Puppenſpieler.

Der Aufenthalt in E. ging mit den Weihnachts - feiertagen zu Ende. Anton verließ ſehr gleichguͤltig eine Stadt, in der Hedwig laͤngſt nicht mehr weilte.

Sie ſchlugen ihr Theater jetzt abwechſelnd in ver - ſchiedenen kleineren Orten auf. Der alte Herr nahm zuſehend ab; es war, als ob mit dem taͤglichen Erloͤ - ſchen von ſeiner Frau Lebenskraͤften auch die ſeinigen dahinſchwaͤnden. Er ließ Anton ſtuͤndlich mehr gewaͤhren; bald lenkte dieſer die Faͤden des ganzen Puppenſpieles, ſprach die meiſten ernſthaften Rollen, nur ſeinen Kasperle ließ ſich der graue Meiſter nicht nehmen und dieſen haͤtte auch Anton ihm ſtreitig zu machen nimmer gewagt. Aber wie nutzbar der neue Zunftgenoſſe ſich zeigte, wie umfaſſend ſeine Kenntniß des mechaniſchen und geiſtigen Apparates in wenig Monden geworden, dennoch gab es zwiſchen193 ihm und dem Lehrherrn haͤufig Streitigkeiten, ſobald der Juͤngling den Meiſter meiſtern, Aenderungen machen, oder Neuerungen einſchwaͤrzen wollte. Jhm war unter Andern auch die Beſorgung der Anſchlage - zettel anvertraut, die er natuͤrlich auf Grund der alten, ſchon vorhandenen drucken ließ. Auf einem derſelben befand ſich im Perſonenverzeichniß ein Prie - ſter aufgefuͤhrt, mit der Bezeichnung: Mufti, Ober - bramine in Rom! Dieſe Zuſammenſtellung dreier hoͤchſt getrennter Kirchen in Eine ſchien dem Schuͤler des wohlwuͤrdigen Paſtors von Liebenau denn doch gar zu kuͤhn, aber als er ſich Einwendungen dagegen erlaubte, wurde Herr Dreher ſehr ungehalten: ſo hat es bei meinem Vater geheißen, rief er zornig aus, und ich bin nicht ſiebenzig alt geworden, um mich von meinem Lehrbuben korrigiren zu laſſen!

Dergleichen Zwiſtigkeiten, die ſtets durch weibliche Vermittelung ausgeglichen wurden, abgerechnet, ging Alles friedlich und ſtill ſeinen Weg fort. Die kranke Frau, wie ſie von Tage zu Tage an Koͤrperkraft und Geſundheit verlor, gewann ebenſo von Tage zu Tage in Antons Meinung und Anhaͤnglichkeit. Je genauer und vertrauter ſein Verkehr mit ihr wurde, deſto auf - richtiger lernte er ihr Gemuͤth, ihren Verſtand, ihrDie Vagabunden. III. 13194Wiſſen verehren. Lieb freilich waͤre es ihm geweſen, haͤtte ſie ſich offenherziger gegen ihn erweiſen, haͤtte ſie ihm, der ja doch ſein ganzes Leben ehrlich und ruͤckſichtslos vor ihr entfaltete, auch bisweilen einen Blick in ihre Vergangenheit goͤnnen wollen. Eine Vergangenheit, die gewiß hoͤchſt intereſſant und von bedeutenden Erlebniſſen, Erfahrungen, Schickſalen voll war. Doch darin blieb ſie unerbittlich: ſie wich jeder Mittheilung daruͤber aus und verwies den Fra - genden ſtets auf ihren baldigen Tod. Dann, pflegte ſie zu ſagen, wenn ich auf der Bahre liege, wird mein Leben klar vor Antons Blicken liegen; eher nicht, lie - ber junger Freund! Sie ſollen mir gut ſein und blei - ben, ſo lange ich noch athme. Wer weiß, ob dies der Fall waͤre, wenn Sie mein Daſein genau durchſchau - ten! Goͤnnen Sie der Kranken den Schleier, der ihre traurigen Geheimniſſe birgt. Bin ich erloͤſet von der Laſt meines gebrechlichen Leibes, bin ich todt, ſo wer - den Sie, das weiß, das hoff ich, mir und meinem Andenken eine Thraͤne des Mitgefuͤhls widmen und dieſe Thraͤne wird jene ſchwarzen Flecken verloͤſchen, welche meine Schriftzuͤge enthuͤllen ſollen. Bis dahin halten Sie mich fuͤr eine Bedauernswuͤrdige, die viel gefehlt hat, die ſchwer buͤßen mußte, die Jhnen aber195 treu, muͤtterlich zugethan bleibt bis zum Grabe und uͤber’s Grab!

Darauf ließ ſich nichts mehr ſagen; ſowohl Bit - ten als Forderungen mußten da verſtummen. Anton begnuͤgte ſich, ſeiner lebensſatten Freundin die Ver - ſicherung zu wiederholen, daß er um jenen von ihr geſtellten Preis niemals etwas Naͤheres von ihrer Vergangenheit erfahren moͤge.

O dennoch, dennoch! rief ſie aus. Sollten Sie Jhre Jugend in den Thorheiten verderben, denen Sie jetzt obliegen? Das waͤre ja fuͤrchterlich fuͤr Sie, und noch fuͤrchterlicher fuͤr mich, die den groͤßten Theil der Schuld traͤgt, daß Sie bei uns blieben. Nein, Anton, Jhnen winkt eine beſſere Zukunft. Wie ich Sie kennen und erkennen gelernt, ſind Sie der Mann, ſich Bahn zu brechen, wohin ich Jhnen durch meine Handſchrift den Weg zeigen darf. Es ſoll mein Teſtament ſein!

Mit Teſtamenten, aͤußerte Anton ſehr klein - laut, hab ich kein Gluͤck, wie Sie wiſſen. Moͤchten Sie lange leben!

Leben fluͤſterte die kranke Frau. Ja, leben! Wenn man lebte!? Nennen Sie das Leben, was ich fuͤhre?

13 *196

Darauf blieb er die Antwort ſchuldig.

Und er begab ſich hinter die Buͤhne, ſie ſetzte ſich an den Kaſſentiſch.

Das neue Jahr hatte uͤbel begonnen fuͤr Drehers Kaſſe. Jm Staͤdtchen, wo ſie nach E. zuerſt ihr Gluͤck verſuchen wollen, war es gar nicht gegangen; im naͤchſten, wo ſie jetzt weilten, ging es ſchwach; der Zuſpruch blieb ſehr gering. Eines Abends ſtand An - ton, der hinter der Szene bereits alle Utenſilien zurecht gelegt und alſo bis zum Beginn des Schauſpiels noch eine muͤßige Viertelſtunde hatte, am Eingange des Saales, die ſparſam erſcheinenden Ankoͤmmlinge muſternd. Ein Offizier, an einem Kruͤckenſtock muͤh - ſam forthinkend, kam langſam die Treppe herauf; ihn fuͤhrte ſorgfaͤltig ein junges Maͤdchen. Die Be - leuchtung war ſo ſchwach, daß unter dem engen Win - terhute die Zuͤge der Dame nicht zu erkennen waren. Aber ihr Wuchs, ihre Geſtalt, ihre Bewegung, Alles erinnerte Anton an Hedwig. Er ſagte ſich: ſie iſt es nicht! Sie kann es nicht ſein! Wie kaͤme ſie hierher? Wenn ſie im Staͤdtchen wohnte, wuͤrde ich es laͤngſt wiſſen: nein, ſie iſt es nicht!

197

Dennoch zitterte er, als ſie, die ihm keinen Blick zuwendete, weil ſie nur fuͤr den verſtuͤmmelten Vater Augen zu haben ſchien, mit dieſem und dieſen unter - ſtuͤtzend, an ihm vorbeiging.

Madame Dreher rief von der Kaſſe zu ihm hin - auf, er moͤge Sorge tragen, daß der Herr Hauptmann in der erſten Reihe gute Plaͤtze finde. Dies geſchah in franzoͤſiſcher Sprache, die ſie immer anwendeten, wenn ſie vor Fremden etwas mit einander zu ſprechen hatten. Anton erwiederte, es ſei kein Platz mehr leer, doch wolle er eiligſt Stuͤhle herbeiſchaffen, und bat den Hauptmann, ſich ſo lange zu gedulden. Als er nun die Stuͤhle brachte, und als der ehrwuͤrdige Jn - valide ſich niedergelaſſen und ihm freundlich gedankt hatte, knuͤpfte derſelbe noch ein Geſpraͤch mit ihm an, ihn befragend, wie er doch zu der vortrefflichen fran - zoͤſiſchen Ausſprache gekommen und ob er vielleicht gar ein Franzoſe ſei?

Das nicht, ſagte Anton, aber ich bin viel mit Franzoſen umgegangen; habe auch einige Zeit in Paris verlebt, ſetzte er ſeufzend hinzu.

Da ſprach der Offizier: Sie koͤnnten einem alten, armen Haudegen große Freude machen, junger198 Mann, wenn Sie ihn morgen beſuchen wollten. Jch habe eine Bitte an Sie zu richten.

Anton erklaͤrte ſich gern bereit, bat ſich des Haupt - manns Adreſſe aus, da ertoͤnte Herrn Drehers Glocke hinter dem Vorhang, als Anfangsſignal fuͤr’s Orcheſter, und der Gehuͤlfe fand eben nur noch Zeit, zu verſprechen, daß er ſich morgen gegen Mittag ein - finden werde. Er mußte auf ſeinen Poſten eilen, ohne entdeckt zu haben, welch niedliches Geſicht hinter dem haͤßlichen Winterhute verborgen ſein moͤchte.

Die Vorſtellung dieſes Abends wurde mehrmals unterbrochen und nur kuͤmmerlich zu Ende gebracht, weil die kranke Frau voͤllig zuſammenſank. Man kann denken, mit welchem Herzen ſie und der alte Dreher die Scherze vorbrachten, welche der aufzufuͤh - renden Poſſe gehoͤrten. Auch Anton war vom herz - lichſten Mitleid fuͤr ſeine leidende Freundin bewegt und rannte noch bei Nacht, einen Arzt herbeizuholen, der nach langem vielfaͤltigen Ausfragen, Pulsfuͤhlen und Bedenken, mit bedenklichem Kopfſchuͤtteln davon ging, ohne ſich beſtimmt auszuſprechen. So viel ſtand am naͤchſten Morgen feſt, auch ohne eines Arztes Ausſpruch, daß die Kranke, die ſich ſo lange Gewalt angethan und ſich muͤhſelig herumgeſchleppt, nun199 außer Stande ſei, ferner dergleichen zu verſuchen; daß ſie darnieder liegen und daß fuͤr’s Erſte jede Hoffnung aufgegeben werden muͤſſe, die Puppen-Darſtellungen fortzuſetzen. Anton ging, die fuͤr dieſen Tag ſchon fertigen Zettel aus der Druckerei zuruͤckzuholen. Dann ruͤſtete er ſich zu dem Beſuche, den er geſtern Abend zugeſagt; Herr Dreher begab ſich in’s Bierhaus, um ſeinen Kummer zu ertraͤnken. Die kranke Frau blieb allein mit einer Magd.

Der ſogenannte Hauptmann, eigentlich ein Ritt - meiſter, erwartete ſchon geſtiefelt und geſpornt Antons Ankunft und ging ihm, ſo ruͤſtig als die zuſammen - geſchoſſenen und gehauenen Gliedmaßen geſtatten wollten, entgegen. Ohne lange Vorrede kam er auf den Zweck dieſes Geſpraͤches: Sehen Sie, mein Lieber, ich bin als Rittmeiſter verabſchiedet, ſtehe jedoch auf halben Lieutenants-Sold, denn weiter hat mich’s der Feind nicht bringen laſſen; und daß ich als ſolcher kein Vermoͤgen zuruͤckgelegt habe, werden Sie begreifen. Nun hab ich ein einziges Kind, eine Tochter, dieſelbe, die mich geſtern Abend begleitete; die iſt ſo arm, wie ihr Vater, und wenn ich ſterbe, iſt ſie noch aͤrmer. Da ſind wir denn einig geworden, ſie und ich, ſie ſoll verſuchen, eine vortheilhafte Stelle200 als Gouvernante in einem großen, guten Hauſe zu erhalten. Dafuͤr hat ſie ſich ausgebildet. Bei ihrem Fleiße, ihrer Umſicht, ihren Anlagen wird ihr das leicht. Sie weiß auch Franzoͤſiſch, ſo gruͤndlich, wie man’s nur aus Buͤchern erlernen kann, und beim Schreiben wird ſie gewiß keinen Fehler machen. Aber mit dem Sprechen, da ſitzt’s! Hier, in dem ver - fluchten kleinen Neſte, wo ich der Erſparung wegen zu leben gezwungen bin, verſteht kein Teufel etwas davon, und der einzige Sprachlehrer, der hier herum laͤuft, hat eine Ausſprache, wie eine ſpaniſche Kuh. Jch ſelbſt, obgleich ich lange genug in Frankreich umhergeworfen wurde, habe mehr mit dem Saͤbel geredet, als mit der Zunge, und gerade nur ſo viel gelernt, um zu hoͤren, ob Einer gut oder ſchlecht aus - ſpricht. Die Ausſprache aber iſt fuͤr eine Gouvernante die Hauptſache. Mag es mit Rechtſchreibung und Grammatik noch ſo ſchwach beſtellt ſein, wenn ſie nur den Pariſer Accent hat, ſo ſteht ſie gleich hoch in Ehren. Sie reden, das hab ich geſtern vernom - men, wie ich jemals an Ort und Stelle habe reden hoͤren; das kann ich Sie verſichern. Jch haͤtte Sie, als Sie Jhrer Madame an der Kaſſe zuriefen, Sie wollten Stuͤhle fuͤr uns beſorgen, gleich am liebſten201 hinter die Ohren geſchlagen, ſo vortrefflich redeten Sie und ſo feſt war ich fuͤr den Augenblick in der Taͤuſchung befangen, ich befaͤnde mich in Paris und Sie waͤren Einer von unſern Feinden. Nun, ſehen Sie, geht mein Wunſch dahin, Sie moͤchten, ſo lange Sie ſich in dieſem Neſte aufhalten, meiner Tochter taͤglich einige Parlirſtunden ertheilen; mit ihr ſchwaz - zen und ſie ſchwatzen machen, und ihr dabei ſagen, wo ſie fehlt. Fordern Sie dafuͤr, was Sie wollen; ich werd es erſchwingen: die Sache iſt mir zu wichtig und eine ſolche Gelegenheit findet ſich nicht wieder.

Herr Rittmeiſter, ſagte Anton, meine Forderung kann gar nicht in Betracht kommen; ich bin reichlich bezahlt durch Jhr Vertrauen und bin gern bereit, ihm zu entſprechen. Auf einen langen Aufenthalt in dieſem kleinen Staͤdtchen hatten wir freilich nicht gerechnet. Seit geſtern Abend jedoch ſcheint er ſich unerwartet verlaͤngern zu wollen. Die Frau meines Prinzipals iſt gefaͤhrlich erkrankt, an Weiterreiſen iſt nicht zu denken. Wer weiß, wie weit ſich das hin - auszieht. Jch werde folglich hier ohne Beſchaͤfti - gung ſein und ſtehe immer zu Dienſten.

Es thut mir leid um Jhre Prinzipalin, doch da202 ich ihr nicht helfen kann, ſo iſt mir’s herzlich lieb, daß ſie hier krank wurde, ſtatt in einem anderen Neſte. Das iſt ein wahres Gluͤck fuͤr uns. Komm heraus, Hedwig, Du kannſt Deine Uebungen ſogleich beginnen.

Bei dem Namen Hedwig ſprang Anton vom Stuhle auf, den der Rittmeiſter ihm dargeboten. Der Vater haͤtte in des jungen Mannes Geſicht leſen koͤn - nen und muͤſſen, was in ihm vorging, wenn er nicht gerade nach der Thuͤr des Nebenzimmers gewendet, die Tochter wiederholt gerufen haͤtte. Hedwig war in der Kuͤche beſchaͤftiget, deshalb erſchien ſie nicht auf den erſten Ruf. Unterdeſſen fand Anton Zeit, ſich zu ſammeln. Er beſchloß, ſein Verhalten von dem der jungen Dame abhaͤngig zu machen und nur dann ihrer fruͤheren Bekanntſchaft zu denken, wenn ſie es thue. Aber gleich bei ihrem Eintritt uͤberzeugte er ſich von zwei Umſtaͤnden. Erſtens, daß ſie, dem Vater gegenuͤber, die Tanzſtunden in E. oder viel - mehr den Gehuͤlfen des ſeligen Mirabel ignoriren wolle. Zweitens, daß ſie ihn erwartet, ihn geſtern ſchon erkannt, ihn wahrſcheinlich ſchon ſeit ſeiner An - kunft bemerkt und vielleicht nur deshalb den Vater veranlaßt haͤtte, das Puppenſpiel zu beſuchen,203 worauf der gute Herr ſonſt wohl nicht gerathen ſein wuͤrde.

Waͤre ſie nun dem neuen Sprachlehrer wie einem alten Bekannten entgegengetreten; haͤtte ſie unbefan - gen ausgerufen: ei, monsieur Antoine, finden wir uns hier wieder? dann duͤrfte er, des heimlich empfangenen Uhrbandes nur wie einer maͤdchenhaft - kindiſchen Gabe gedacht und keine ferneren Folgerun - gen daran geknuͤpft haben. Weil ſie ihn aber wie einen Fremden empfing, durfte Anton ſich zugeſtehen, daß er ihrem Herzen kein Fremder geblieben ſei. Sie berechtigte ihn, ein Geheimniß mit ihr vor ihrem Vater zu hegen; ſie liebte ihn!!

Welch ein reizendes Leben nun fuͤr unſeren Hel - den begann, das wag ich nicht beſchreiben zu wollen. Man muͤßte jung ſein und all der ſuͤßen Thorheiten noch faͤhig, die da getrieben wurden. Der Rittmei - ſter in ſeinem Lehnſtuhl, mehr liegend als ſitzend, gab ſich bei’m Beginn jeder Sprechſtunde das An - ſeh’n eines aufmerkſamen Zuhoͤrers; eines Kritikers nicht allein, auch eines Cenſor’s, der pruͤfen wollte, was fuͤr Gegenſtaͤnde die jungen Leute mit einander abhandelten? Dieſe, ſo lange er die Augen offen hielt, trugen beſtens und ſchlau genug (denn auch das204 reinfte, ſittſamſte Maͤdchen wird in ſolchen Faͤllen liſtig und ſchlau!) dafuͤr Sorge, ihn vollkommen ſicher zu machen. Jn ſolchem Gefuͤhle der Sicher - heit, klaͤglich gelangweilt von ihren faden Diskurſen, ſchlief der tapfere Krieger regelmaͤßig ein, und wenn ſie ihn ſchnarchen hoͤrten; wenn ſeinem Halſe die unharmoniſchen Toͤne entquollen, die ihr Fluͤſtern uͤberboten, welche Melodie, welcher Nachtigallen - geſang waͤre ihnen denn anmuthiger erſchienen? Dann tauſchten ſie Erinnerungen, Gedanken, Ge - fuͤhle gegenſeitig aus. Dann zog Anton zehnmal in einer Minute ſeine Uhr hervor, ohne ſie anzublicken, nur um die ſchwarze Schnur an ſeine Lippen zu preſſen. Dann erzaͤhlte Hedwig unzaͤhligemale, und immer wieder auf’s Neue von ihm dazu aufgefor - dert, wie ſie ihn gleich am erſten Tage ſeiner Ankunft durch ihre Gaſſe ſchreiten ſah; wie ſie nicht Ruhe gefunden, bis ſie erfahren, wo und warum er hier weile. Ach, ſie dachten nicht der Gegenwart, nicht des Betruges, den ſie an einem angebeteten Vater uͤbten; ſie gedachten nicht der Zukunft, die ihren menſchlichen Anſichten und Erwartungen gemaͤß nur Gram verhieß; ſie lebten beide nur in der Vergan - genheit; in der unſchuldigen Sehnſucht, die ſie ſich205 aus der Ferne bewahrt, die aber nichts an ihrer Unſchuld eingebuͤßt, ſeitdem ſie ſich taͤglich gegenuͤber ſaßen.

Wenn ſodann der Vater aufwachte; zuerſt mit fragenden, weitaufgeriſſenen Augen umherſtarrte, als wollte er den Terrain rekognosziren; wenn er dann fragte: hab ich geſchlafen? und die Tochter laͤchelnd erwiederte: ein Wenig, lieber Vater! wenn Anton ſich ehrerbietig empfahl, dringend auf - gefordert, ſich morgen Nachmittag wieder einzufin - den! ... eine Aufforderung, die wahrlich unnuͤtz war! ... wenn er nun hochbegluͤckt heimging und einen Himmel im Herzen vor das Lager der kranken Frau trat! ... Welch ein Gegenſatz!

Und dennoch weilte der in Liebe gluͤhende Anton auch gern bei ihr, wo der Tod aus jedem Zuge des ſchon entſtellten Angeſichtes redete. Dennoch hoͤrte die Sterbende mit regem Antheil ſeine Geſtaͤndniſſe, begleitete jedes Wort, welches ihr uͤber Hedwig geſagt wurde, mit aufmerkſamer Empfaͤnglichkeit. Es war, wie wenn ſie ſcheidend von dieſer Erde, einen Bund ſegnen wollte, den ſie nicht mehr mit leiblichen Augen ſehen, deſſen ſie ſich vielleicht in einer andern Welt geiſtig freuen duͤrfte. Sie war206 es, die mit fieberheißen Lippen Anton Troſt und Hoffnung zuſprach, wenn er hoffnungslos andeutete, daß er kein begluͤckendes Ende fuͤr ſeine Liebe erwar - ten koͤnne, weil er ein Ausgeſtoßener, ein heimath - loſer Baſtard, ein armer Vagabund ſei.

Geduld, Geduld! rief ſie dann bisweilen und Anton wußte nicht, ob dieſer Zuruf ihm und ſeiner Liebe, ob er der armen Leidenden gelten ſolle, die ihn an ſich ſelbſt richte.

Er hielt treulich bei ihr aus; pflegte ſie liebevoll und heiter; ſo daß ſie oft mit ihren brennenden Haͤn - den die ſeinigen ergriff, dankbar zum Munde fuͤhrte und mit einem unbeſchreiblichen Ausdruck zu ihm ſagte: Was Du mir gethan, haſt Du Dir ſelbſt gethan! Dieſe Naͤchte, Anton, werden Sie, wenn ich todt bin, um alle Schaͤtze der Welt nicht verkaufen wollen.

Er aber dachte bei ſich: ſie phantaſirt!

So getheilt zwiſchen Krankheit und friſche Jugend, zwiſchen Tod und Liebe, brachte Anton einige Monate zu. Der arme Dreher, ohne Ein - nahme von ſeinem Erſparten zehrend; den Verluſt der Frau, die ihm fuͤr ſein Geſchaͤft, in welches ſie ſich ſo raſch eingerichtet, unentbehrlich war, voraus -207 ſehend; ſelbſt von Alter und Schwaͤche gebeugt, gab ſich der ungluͤcklichen Leidenſchaft des Trunkes nun zwiefach hin, um in ſchwerem Rauſche ſein Elend minder zu ſpuͤren; er lag von fruͤh bis zur ſpaͤten Nacht in den Schenkſtuben. Fuͤr ihn zeigte die Kranke wenig Mitleid. Laßt ihn, ſprach ſie, wenn Anton ſeine Verirrungen bedauerte, laßt ihn gewaͤh - ren; auf dieſe Weiſe beſchleuniget er ſeinen Tod und daran thut er wohl; denn ohne mich kann er ja doch nichts mehr anfangen. Laßt ihn trinken und ſterben!

Schon konnte man im Monat Maͤrz Vorboten des Fruͤhlings wahrnehmen; ſchon plauderten Hed - wig und Anton von Schneegloͤckchen, Veilchen und Aurikeln; da fingen die Narben des Rittmeiſters auch zu mahnen an, daß der Winter ſich zum Abzuge ruͤſte. Das war, wie er verſicherte, ſeit acht Jahren um dieſe Zeit immer geſchehen, doch niemals noch ſo heftig als heuer. Gichtiſche Anfaͤlle geſellten ſich den gewoͤhnlichen Leiden bei. Bald war er nicht mehr faͤhig, ſein Schlafgemach zu verlaſſen, und die franzoͤſiſchen Sprechuͤbungen der jungen Leute gingen von nun an ohne Gegenwart eines Zeugen vor ſich. Dieſes Alleinſein haͤtte nichts Gefaͤhrliches gehabt, waͤren beide ſchon bei’m Beginn ihrer Zuſammenkuͤnfte ſich208 ſelbſt uͤberlaſſen geweſen. Jn einem unbedingten Vertrauen, welches der Vater ihm gegoͤnnt, wuͤrde Anton die heilige Verpflichtung gefunden und erkannt haben, niemals, auch nur mit einer Silbe aus den Grenzen verehrender Reſignation heraus zu gehen. Doch weil der Rittmeiſter ſich als Wachtpoſten auf - geſtellt hatte, weil Anton ſich beargwohnt ſah, was Wunder, daß er wie Hedwig den Schlaf des Waͤchters benuͤtzten und ſich Dinge ſagten, die (beide vielleicht) in deutſcher Sprache zu ſagen nicht Muth gehabt haͤtten, die aber jetzt, wo ſie als Uebung im Reden galten, immer weiter fuͤhrten und eine Ver - traulichkeit erzeugten, vor der Anton ſelbſt erſchrack, da er zum Erſtenmale ganz allein mit Hedwig war.

Und Hedwig iſt auch nicht mehr das reine Kind, wie wir es im einundſechszigſten Kapitel angedeutet. Schon damals, wo ſie einen ſo kuͤhnen Schritt wagte, dem namenloſen Geiger ihres Tanzmeiſters heimlich ein Geſchenk von eigener Haͤnde Arbeit zuzuſtecken, hatte ſie mit dieſem Schritte einen bedenklichen Ueber - gang aus der Unſchuld aͤtheriſcher Traͤume in die Gefahr der Wirklichkeit gethan. Laͤnger als ein hal - bes Jahr hatte ſie Zeit gehabt, die freudloſen Tage, die ihr an der Seite eines vereinſamten, lebensmuͤ -209 den Vaters dahinſchlichen, mit Anton’s Bilde aus - zufuͤllen. Nun war er ſelbſt gekommen, und Alles war gekommen, wie wir’s geleſen haben; duͤrfen wir uns wundern, wenn wir den vierundzwanzigjaͤh - rigen Lehrer zu den Fuͤßen ſeiner ſechszehnjaͤhrigen Schuͤlerin knieend finden, ihr geſtehend, daß er durch ſie erſt wahre Liebe kennen lernte; daß er nur ſie im Herzen trage, ſeitdem er ſie geſehen; daß er ohne ſie nicht weiter leben wolle; und wie denn all jene ſtets wiederkehrende Verſicherungen lauten, die der Dumme dumm, der Kluge manchmal noch duͤmmer, der Lie - benswuͤrdige mit Anmuth, der Plumpe toͤlpelhaft, der Gute ehrlich, der Hinterliſtige ſchlau, jeder auf ſeine Weiſe vorbringt, ohne daß ein beſonderer Unter - ſchied bei Einem oder dem Andern zu bemerken waͤre.

Der erſte Kniefall wurde mit gebuͤhrendem Entſetzen ab - und zuruͤckgewieſen. Eine ſtumme Gebehrde deutete mit beredeter Drohung nach des Vaters Krankenzimmer und legte dem Sprachluſti - gen Schweigen auf. Man trennte ſich kalt, ver - ſtimmt.

Der zweite Kniefall war von ſtummen Hand - kuͤſſen begleitet. Er brachte ſchon nicht mehr die abſchreckende Wirkung von geſtern hervor.

Die Vagabunden. III. 14210

Der dritte ging in eine Umarmung uͤber, die urſpruͤnglich beſtimmt geweſen war, ein trotziges Los - reißen, Aufſpringen, Entfliehen zu werden, die aber den armen Kindern unter den Haͤnden umſchlug.

Nun war es aus! Vorbei mit Anton’s Beſchei - denheit, vorbei mit Hedwig’s Zuruͤckhaltung. Sie kam vom Schmerzenslager des Vaters, er vom Sterbebett der kranken Frau: beide geruͤhrt, ergriffen, erregt durch den Anblick des bitterſten Leidens, beide aus duͤſtern Krankengemaͤchern in ein kleines, freund - liches Stuͤbchen, wo ſie aufathmeten, Herz an Herz!

Ach, ſie fragten nicht mehr, was aus ihnen und ihrer Liebe werden ſolle? Sie behielten nur Sinn fuͤr das, was ſie ſich waren. Jhre Liebe bluͤhte aus den traurigen bedruͤckenden Umgebungen ihres Daſeins empor, wie eine weiße, ſtrahlende Waſſerlilie auf truͤbem Sumpfe. Und wenn die franzoͤſiſche Zunge dienlich geweſen, ihnen fortzuhelfen uͤber die peinliche Verlegenheit der erſten Geſtaͤndniſſe, ſo konnte ſie doch nicht mehr ausreichen fuͤr das Beduͤrfniß der Seelen, die ſich ſehnten, in einander aufzugehen, eine Seele zu werden. Nein, ſie ſprachen Deutſch mit einander. Die Laute der theuren Mutterſprache mußten ihnen verkuͤnden, was Eines fuͤr das Andere211 fuͤhlte. Jch liebe Dich! hieß ihr Loſungswort. Und an dieſes knuͤpfte ſich eine Fuͤlle anderer Worte, reich an Wohllaut und Kraft, wie nur die Liebe ſie erfindet, die aber arm und kalt klingen, wenn eine Feder ſie nachſchreiben will.

Sie ſtirbt; weiß Gott, ſie ſtirbt! Sie will ihn noch einmal ſehen; iſt er hier? Dieſer furchtbare Ausruf ſchreckte eines Tages die Gluͤcklichen ausein - ander. Mit wahnſinnigen Blicken eines aus ſeinem Taumel aufgeſtoͤrten Trunkenboldes polterte der greiſe Puppenſpieler durch die eine Thuͤr in’s Zim - mer. Anton, Hedwig in ſeinen Armen haltend, fuhr auf und ſah jetzt erſt, daß auch die andere Thuͤr offen ſtand. Jn ſeinen Soldaten-Mantel gehuͤllt, einen Saͤbel in der Rechten, ſchwankte der Rittmeiſter her - ein. Er hatte unbemerkt das Geſpraͤch der Lieben - den belauſcht.

Elender, ſchrie er, den Saͤbel zuͤckend, nach Anton gewendet: Verraͤther, Verfuͤhrer! Du ver - dienteſt den Tod; doch verdienſt Du nicht von der Hand eines Braven zu ſterben. Und Du Hedwig, waͤhle: Du ziehſt mit ihm, und haſt keinen Vater mehr! Oder Du folg’ſt mir, kehrſt ihm den Ruͤcken und er betritt nimmer dieſe Schwelle!

14 *212

Hedwig wand ſich ſchweigend aus Anton’s Armen und neigte ſich demuͤthig vor ihrem Vater.

Anton folgte dem Puppenſpieler.

Fünfundſechszigſtes Kapitel.

Die kranke Frau nimmt Abſchied von Anton und ſtirbt. Der Puppenſpieler verfällt in Säufer-Wahnſinn. Anton erkennt in der Todten Signora Carina und eröffnet ihren ſchriftlichen Nachlaß.

Es war, wie Dreher geſagt: die kranke Frau lag im Sterben. Sie ſtreckte ſehnſuͤchtig beide Haͤnde ihm entgegen, da er eintrat. Zuͤrne mir nicht, daß die kalte Hand des Todes Dich abruft aus dem Arm der Liebe, guter Anton! von ihr geſegnet, wirſt Du gluͤcklicher in jenen zuruͤckkehren.

Nie mehr, erwiederte Anton.

Er wollte nicht’s weiter ſagen, doch drang die Leidende in ihn, woͤrtlich zu erzaͤhlen, was vorgefal - len ſei. Jch werde, ſprach ſie, den Tod ſo lange noch zuruͤckdraͤngen; ich will ſo lange leben. Rede!

Nachdem Anton den letzten Auftritt zwiſchen ihm und Hedwig’s Vater in wenig Worten geſchildert, richtete ſich die Sterbende empor:

Verzweif’le dennoch nicht! Bleib ihr treu und hoffe! Rath und Huͤlfe zeigt Dir mein Teſtament. 213Und nun, keinen Abſchied, keine Schwaͤche mehr; ich will ſtark ſein im Tode; ſei Du’s im Leben! Wenn ich kalt bin, ſtreife dieſen Ring von meinem Finger und trag ihn, bis Du Dich mit Hedwig verbindeſt. Dann mag ſie ihn tragen. Denn ſie wird Deine Gattin, Anton! obgleich Du Dich von dieſem Ort entfernen mußt, ſobald ich begraben bin, ich, und jener da, der mir bald folgen wird. Sieh’ſt Du, wie ſtumpf und verloren er vor ſich hinbruͤtet? Goͤnn ihm fuͤr ſeine letzten Stunden mitleidige Fuͤrſorge; um meinetwillen!! Was ich fuͤr Dich niedergeſchrie - ben ... liegt in meinem hoͤlzernen Koffer, ... noch andere Papiere dabei, die fuͤr Dich von Wichtigkeit ſind ... gieb mir die Hand .... ich danke Dir! Jch ſegne Dich! Fluche nicht Deiner .......

Sie ſchwieg. Anton beugte ſich zu ihrem Munde, um weiter zu hoͤren. Sie redete nichts mehr. Jmmer feſter umſchloß ſie mit ihren zuckenden Fingern ſeine Hand; immer ſchwaͤcher wurden ihre Athemzuͤge; ... noch ein tiefer, wehklagender Seufzer ...

Und er loͤſete ſeine Finger aus denen des Leich - nam’s, mit denen ſie ſich verſchlungen hatten, trat von der Seite zu Fuͤßen des Lagers, blickte das ver - fallene Angeſicht theilnehmend an .... und wie ein214 Zauber ſchien ihm jetzt erſt aus den Zuͤgen, welche der letzte Augenblick umgewandelt, die Erinnerung aufzudaͤmmern, daß er dieſe Frau gekannt habe, fruͤ - her ſchon, ehe noch er den Puppenſpieler aufgeſucht! Dieſes Antlitz mahnte ihn an Paris! Nur daß die Krankheit mit ihren Qualen es bis zur Unkenntlich - keit entſtellt, nur daß der Tod mit ſeiner Verſoͤhnung es wieder kenntlich gemacht: ja, die Geſuchte, Erwar - tete, Verheißene lag vor ihm; es war die Carina!

Sogleich ſtuͤrmte er, Hedwig’s Vater, ſogar Hed - wig und die Trennung von ihr vergeſſend, mit Fra - gen in den armen Greis, der von Gram und Trunk gebeugt, gleichguͤltig auf die Huͤlle der Gefaͤhrtin ſtierte. Dieſer ſchuͤttelte nur das graue Haupt und brummte: Sie iſt hin; todt iſt todt! kein Kasperle mehr!

Weiter war nichts herauszubringen.

Erſt wollte Anton zornig werden uͤber die thie - riſche Stumpfheit des alten Menſchen. Bald jedoch dachte er wieder an der Dahingeſchiedenen Bitte, fuͤr die letzten Stunden dem Huͤlfloſen mitleidige Fuͤr - ſorge zu goͤnnen; er bezwang ſeinen Widerwillen und brachte den Puppenſpieler zu Bette.

Dann rief er Leute aus dem Hauſe herbei und215 traf Anſtalten, wie ſie in ein Todtenzimmer gehoͤren. Unterdeſſen war die Leiche kalt geworden. Er legte ſeine Hand auf ihre Stirn .... Desdemona! ſprach er, jenes Abend’s gedenkend, wo Theodor grauſam genug die Feindſeligkeiten wider eine gemiß - handelte Saͤngerin neu hervorgerufen. Desdemona, jetzt koͤnnen ſie Dir keine Schmach mehr zufuͤgen; und er, Dein Gegner, iſt auch dieſer Welt der Feind - ſchaft entruͤckt. Werden Eure Seelen ſich begegnen in der Welt des ewigen Friedens?

Er blieb nachdenklich bei der Leiche ſtehen, nun fiel ihm wieder ein, daß er ihren Ring an ſich nehmen ſolle, wenn ſie kalt ſei; mit leichter Muͤhe ſtreift er ihn vom abgemagerten Finger. Es war ein ſchwerer, doch einfacher goldner Reif, ohne jede Verzierung, außer einem Plaͤttchen, welches ſich oͤffnen ließ. Jnwendig waren Lettern eingegraben. Anton hielt ihn an das Licht. Er las: Eva.

Einige Minuten hindurch blieb Anton unter dem Gewicht dieſes Namens in dieſem Ringe gleichſam erdruͤckt, ohne zu denken; ohne denken zu koͤnnen. Erſt allmaͤhlig, eines um das andere, ſtiegen einzelne Bilder, Menſchen, Erinnerungen, Worte in ihm auf, die ſich an einander reiheten und ihn zuruͤckfuͤhrten216 auf den Abend, wo Großmutter Gockſch ihm zum Erſtenmale die Geſchichte ſeiner Mutter mitgetheilt. Der Ring, den der Kantor Hahn ſeiner geliebten Tochter geſchenkt, zum Andenken, zum Lohn fuͤr ihren Geſang im Oratorium!! Eva hatte er hineingraben laſſen!

Und dieſe Carina, durch welche mir Kunde ver - ſprochen ward von meiner Mutter? Dieſe kranke Frau, zu der ich, von unerklaͤrlicher Gewalt mich hingezogen fuͤhlte; die mir immer ſagte, nach ihrem Tode wuͤrd ich mein Gluͤck preiſen, ſie gepflegt zu haben? Was zoͤgr ich noch? Jhre Papiere! Jhr Teſtament!

Mit zitternden Haͤnden erbrach er den Koffer, ergriff die bezeichneten Papiere und las die Beſtaͤti - gung deſſen, was der Ring ihn ahnen laſſen.

217

Sechsundſechszigſtes Kapitel.

Worin Antons Mutter dem Sohne eine kurze Schilderung ihres Lebens hinterläßt.

Der unbarmherzige Brief, den Deines Vaters Mutter, die ſtolze Graͤfin mir geſendet, hatte meinen tiefen, demuͤthigen Schmerz in wilden Zorn verwan - delt. Mein gerechter Stolz erhob ſich gegen die unwuͤrdige Anklage, die mich hinſtellte, als haͤtte Eigennutz mich Deinem Vater in die Arme gefuͤhrt. Jch eilte zu den Bildhauerleuten, um bei dieſen mei - nem Herzen Luft zu machen und zu erforſchen, in wie weit ſie meine Liebe fuͤr den jungen Grafen benutzt und ihn auf meine Rechnung und in meinem Namen betrogen haben koͤnnten. Die Leute ſtaunten nicht wenig, da ſie mich bei dem naͤchtlichen Unwetter ein - treten ſahen und die Chriſtine ſagte mit frechem La - chen zu ihrer Mutter: jetzt wird der Graf auch nicht weit ſein! Jch aber rief: vom Grafen iſt jetzt nicht die Rede, lediglich von mir und Euch, und welchen Handel Jhr mit mir und ihm vorgehabt. Jſt es wahr, was mir ſeine alte ſtolze Mutter ſchreibt? Und nun hielt ich ihnen vor, daß ſie von Guido Geld und Geſchenke genommen, die fuͤr mich erbeten und218 beſtimmt geweſen waͤren; fragte ſie, ob ſie dieſe Frechheit wirklich begangen haͤtten? Sie laͤugneten gar nicht. Die Bildhauerin meinte: wofuͤr denn ſonſt haͤtt ich kuppeln ſollen, wenn ich’s nicht fuͤr’s Geld gethan; und weil meine Chriſtel Dir den Jun - ker ließ, ſo durfte ſie wohl die Geſchenke ſtatt Dei - ner nehmen. Etwas mußte ſie doch haben!

Gut, ſagt ich, wenn Jhr denn ſchaamlos genug ſeid, Eure eigene Schlechtigkeit zu geſtehen, ſo ver - hehlt die Wahrheit nicht vor der alten Graͤfin; gebt mir eine Schrift, worin Jhr erklaͤrt, daß nichts von Allem, was durch Eure Haͤnde ging, jemals in die meinigen kam; beſtaͤtigt mir, daß ich auch nicht die geringſte Gabe, nicht das kleinſte Geſchenk vom Gra - fen Guido erhielt. Da muͤßten wir ſehr dumm ſein, nahm nun der Bildhauer das Wort, wenn wir eine ſolche Schrift ausſtellen wollten; die koͤnnte uns ſchlecht bekommen; was geſchenkt iſt, iſt einmal geſchenkt und kein Wort mehr davon! Zugleich wies er mir die Thuͤr.

Chriſtine bat, ſie moͤchten mich bei dem furchtba - ren Regenguſſe nicht fortſchicken. Jedoch ich ging; eh ich das Zimmer verließ, wendete ich mich noch einmal nach den drei Leuten um und ſchrie mit dem219 Jammertone meiner Verzweiflung: Seid verflucht, vor Gott und Menſchen, Jhr ſchlechtes Volk!

Sonach taumelte ich hinaus, ſtieg die ſteile Ufer - treppe empor und wie ich auf der Bruͤcke angelangt war und vernahm das Rauſchen der ſteigenden Fluth, hoͤrte die Wogen anſchlagen gegen die ſteinernen Pfei - ler, und rings umher herrſchte tiefe Nacht, ſo uͤber - fiel mich eine rechte Sehnſucht, Ende zu machen mit dieſem Leben voll Kummer und Schmach. Dich, mein Anton, wußt ich geborgen, in den Haͤnden Dei - ner Großmutter. Und die Wellen, je hoͤher ſie an - ſchwollen und ſtiegen, deſto lauter ſchienen ſie mir zuzurufen: finde Ruhe in unſerem Schoos! Nur die großen Eisſchollen, die krachend an wankenden Holz - boͤcken ſich brachen, entſetzten mich, daß ich nicht gleich zu ſpringen wagte. Man hoͤrte nichts als das Brau - ſen des Fluſſes, das Rauſchen des Regens, der in Stroͤmen goß. Kein menſchliches Weſen ließ in den oͤden Gaſſen ſich ſpuͤren; in den Haͤuſern verloͤſchten Feuer und Lichter; außer wo ſie tiefer unten am Ufer wohnten, hielten ſich Leute wach, aus Beſorgniß wegen der Fluth. Nur da, wo ſie es am noͤthigſten gehabt haͤtten, auf der Wache zu ſein, weil ſie am tiefſten gelegen waren, bei’m Bildhauer machten ſie220 Nacht; ich ſah den letzten Schimmer an ihren Fen - ſtern verloͤſchen und rief ihnen noch einmal meine Verwuͤnſchungen als Schlaflied von der Bruͤcke hinab! Der Gedanke, daß ſie, die mich ſo elend gemacht, ruhig ſchlafen mochten, gab mir neuen Grimm gegen mich und mein Schickſal. Jch ſchwang mich auf das Bruͤckengelaͤnder hinauf, gerade neben dem katholiſchen Steinbilde, welches den heil. Nepomuck darſtellt. Jch umfaßte den naßkalten Johannes und ſchrie in ihn hinein, wie ich es oftmals aus Chriſti - nen’s heuchleriſchem Munde vernommen, heiliger Johannes von Nepomuck bitte fuͤr mich! Dies aus - gerufen, nahm ich einen Anſatz und wollte mich in den Tod ſtuͤrzen .... da erſcholl der Klang eines Poſthorn’s, die Gaſſe entlang die zur Bruͤcke fuͤhrt. Jch wußte, daß um dieſe Stunde kein Poſtwagen abging; dennoch hoͤrte ich deutlich das Raſſeln der Raͤder durch den betaͤubenden Laͤrm des Waſſers. Ein Poſthorn, bei der Nacht ertoͤnend, hatte fuͤr mich von Kindheit auf immer etwas Verlockendes: der Trieb zu reiſen, andere Laͤnder zu ſehen, verband ſich dabei mit einer unbeſchreiblichen Wehmuth. Es war mir, wie wenn dieſer alte, liebe Ton mich zuruͤckhielte im Leben, wie wenn er mir zuriefe: ſuche den Tod221 noch nicht, du biſt noch zu jung! Der Poſtillon kam[kam]heran; es war der alte Chriſtian, ſeit laͤnger als dreißig Jahren im Dienſte beim Poſthalter. Jch rief ihm zu: Chriſtian, wohin fahrt Jhr? Mein Gott, rief er, ſteht ein menſchliches Weſen auf der Bruͤcken - mauer bei dem Wetter, oder iſt es ein Geiſt? Jch bin es, ſagt ich, des Kantors Nettel und wohin fahrt Jhr? Nicht fahren, ſprach er, ich bin eine reitende Staffette, aber weil mein Brauner auf dem Ruͤcken wund gedruͤckt iſt, hat der Poſthalter verlaubt, daß ich in die Briefkarre einſpanne; ich muß ſchnell fah - ren reiten wollt ich ſagen denn ich ſoll raſcher in G. ſein, wie das große Waſſer, weil ich’s ihnen unten anmelden ſoll, daß es kommt und im Briefe von Herrn Landrath ſteht’s auch geſchrieben, daß ſie’s weiter hinunter melden laſſen, in’s flache Land hin - ein. Aber Nettel, was wollen Sie bei’m heiligen Nepomuck? Sie haben gewiß ſchlechte Gedanken!

Ja, Chriſtian, die hab ich; rette mich, nimm mich mit Dir!

Und ich ſprang zu ihm auf ſeine Karre, der Braune griff aus, wir flogen in die Nacht, in den Thauſturm und die Regenguͤſſe hinein.

Mir war eingefallen, daß uͤber G. der Weg nach222 Erlenſtein fuͤhrt, wo Guido’s Eltern hauſeten. Zu denen trieb mich mein beleidigtes Ehrgefuͤhl. Seiner Mutter wollt ich die Antwort auf ihre ſchriftlichen Anklagen und Verlaͤumdungen muͤndlich bringen; dann erſt wollt ich ſterben.

Als wir vor dem Thore von G. anlangten, ließ der alte Chriſtian mich abſteigen. Jch war ſo durch - naͤßt und meine Kleidung ſo feucht und ſchwer, daß ſie mich faſt darniederzog. Chriſtian verſprach, der Mutter Nachricht von mir zu geben, ihr zu ſagen, wohin ich gegangen und daß ich bei Zeiten heimkeh - ren wolle. Er hat ſein Verſprechen nicht erfuͤllen koͤnnen; denn auf dem Ruͤckwege nach N. iſt er an einer tiefen Stelle der Straße, die ſchon unter Waſ - ſer ſtand, als wir kamen, ſammt ſeinem Braunen ertrunken. Die Kunde von dieſem Ungluͤcksfall gelangte nach G., bevor ich es verließ. Jch hatte daſelbſt ein Unterkommen fuͤr die Nacht gefunden, wo ich mich waͤrmen, und Waͤſche wie Kleider trocknen durfte; es war in der Vorſtadt bei einem Gerber Namens Karich. Er und ſeine Frau hatten Mit - leid und Erbarmen fuͤr mich, obgleich ſie nur Einiges von meinem traurigen Schickſal durch mich erfuhren. Sie nahmen Theil an einer Familie, die durch ihr223 Kind Kummer erlebte, da ihr Sohn ihnen auch Kum - mer machte; er war vor einigen Jahren entlaufen und die armen Eltern hatten nichts mehr von ihm vernommen. Der Vater beklagte faſt noch mehr als den Verluſt des Sohnes die Schande, die derſelbe uͤber ſeinen Namen gebracht. Meinen Bruder, den Herrn Paſtor, rief er weinend aus, den trifft es gar zu hart! Er meinte niemand anders, als den guten Prediger in Liebenau, welcher Dir, mein Anton, ſpaͤterhin Unterricht ertheilte. Wie doch die ver - worrenen Faͤden irdiſcher Schickſale ſo haͤufig von einem Vereinigungspunkte ausgehen, ohne daß wir ſelbſt es wiſſen! Und wie ſie, nach langer Sonde - rung, ſich dann wieder zuſammenfinden, ohne daß wir es ahnen. Du ſollſt weiter leſen.

Der niedergebeugte Mann hatte bei ſeinem eige - nen Gram immer noch Theilnahme fuͤr den Gram Anderer. Deshalb hielt er mich in ſeinem Hauſe feſt bis das Unwetter einigermaßen ausgetobt; ſeine Frau verſorgte mich mit reiner Waͤſche und er gelei - tete mich dann am dritten Tage ſelbſt auf den Weg nach Schloß Erlenſtein.

Unterwegs vernahmen wir ſchon die Zerſtoͤrungen, die das raſende Waſſer in N. angerichtet; ein reiſen -224 der Bilderhaͤndler, der Heilige und Roſenkraͤnze ver - kaufte, erzaͤhlte mir, wie das Bildhauer-Haͤuschen von Fluthen und Eisſchollen zerſtoͤrt worden ſei; wie die Bewohner umgekommen waͤren und ſammt ihnen, die Tochter des ehemaligen lutheriſchen Kantors, die ſolche Strafe des Herrn fuͤr ihre Ketzerei auf die unſchuldigen Bildhauerleute herabgerufen.

Du kannſt denken, was Deine Mutter dabei empfand.

Nachdem der arme Gerber Karich einige Meilen mit mir gegangen war, uͤbergab er mich der Fuͤrſorge eines hauſirenden Glaſers, der von Ort zu Ort zog, um zerbrochene Fenſterſcheiben herzuſtellen, den er als ehrlichen Mann kannte und den ſein Weg in die Naͤhe des Schloſſes fuͤhrte. Neben dieſem wandelte ich, voll Dank im Herzen fuͤr den ehrlichen Karich, ſchweigend und ernſt dahin. Er keuchte unter der Laſt ſeines ſchweren Kaſtens mit Glasplatten; mich bedruͤckte die Laſt, die auf meiner Seele lag. Gegen Abend wies der Glaſer mit ſeinem Stabe in einen langen offenen Waldweg, der aus dem dunklen Gruͤn der Nadelhoͤlzer in’s Freie fuͤhrte und ſprach: dort liegt das Schloß! Man ſah Lichter aus der Ferne heruͤberſchimmern. Er ging gerade aus, ich bog225 in den Seitenweg ein. Je naͤher ich dem prachtvol - len Gebaͤude kam, deſto verzagter wurden meine Schritte; endlich blieb ich gar ſtehen. Jch uͤberlegte mir noch einmal recht genau, was ich ſagen wollte und weil ich dabei die ganze Geſchichte meines Jam - mers in der Erinnerung durchmachen mußte bis auf den kuͤrzlich empfangenen Brief der alten Graͤfin, fand ich meinen gerechten Zorn, mit dieſem auch mei - nen Muth wieder. Jch gelangte durch zerſtreute Gaͤrten und Haͤuſer, in denen graͤfliche Beamte zu wohnen ſchienen, bis in eine Art von Vorhof, deſſen eiſerne Gitter noch offen ſtanden. Große Hunde ſprangen mir entgegen, aber ehe ich nach Zeit gewann, meine entſetzliche Furcht vor dieſen ungeheuren Thie - ren durch einen Angſtſchrei kund zu geben, ſchmiegten ſie ſich ſchon an mich und zeigten ſich ſo zaͤrtlich, daß mir alle Angſt verging. Sie fuͤhrten mich gleichſam, waͤhrend ſie bald voranliefen, bald wieder zuruͤckkehr - ten und an mir emporſprangen, wodurch ſie mich faſt zu Boden geworfen haͤtten, bis an eine mit Saͤulen umgebene freie Marmortreppe, deren breite Stufen zum Haupteingang zu fuͤhren ſchienen. Oben an der offenen Hausthuͤr ſtand ein Diener in Livree. Jch zoͤgerte, weiter zu gehen. Ein ſchwarz gekleideterDie Vagabunden. III. 15226Mann mit gepudertem Haar trat zu dem Diener und fragte: was giebt’s? Eine Bettlerin, Herr Haus - hofmeiſter, war die Antwort. Dieſer Jrrthum regte mich auf. Nein, keine Bettlerin, ſagte ich; wenn auch eine Bittende.

Gleichviel, erwiederte der Haushofmeiſter, kom - men Sie nur herauf!

Jch folgte dieſer freundlichen Aufforderung, wurde gemeldet und ohne Aufſchub in ein Vorzimmer geru - fen, wo der Haushofmeiſter mich warten hieß, bis die Frau Graͤfin erſcheinen wuͤrde. Es brannte hel - les Feuer in einem hohen Kamin, wodurch das große Gemach in ſo weit erleuchtet ward, daß man die Zuͤge des Geſichtes nothduͤrftig unterſchied; mehr nicht. Der alte Mann warf mir forſchende Blicke zu, ſchien aber doch nicht recht klar zu ſehen, denn er zeigte ſich ungeduldig, bis ein Lakai mit etlichen Arm - leuchtern eintrat. Darauf wurde ich von oben bis unten betrachtet und ich merkte dem Beobachter ab, daß er fuͤr ſein Leben gern mich uͤber den Zweck meines Hier - ſeins ausgefragt haͤtte, was er aber nicht wagte, weil es ihm, wie allen andern Dienern des graͤflichen Hauſes ſtreng unterſagt war. (Das erfuhr ich ſpaͤter, beim Gaͤrtner.) Faſt ſchon entſchloſſen, ſeiner Neugier227 zuvor zu kommen, wollt ich mich ihm entdecken, da kam der Lakai zuruͤck, oͤffnete raſch die zwei Fluͤgel einer Seitenthuͤr und rief dem Haushofmeiſter zu: die Excellenz-Frau. Und nun erblickt ich ſie, die Mutter Deines Vaters, Anton! Die gefuͤrchtete, ſtolze, herzloſe Frau, die ich zu finden erwartet hatte, wie ihr Brief ſie mir im Geiſte gezeigt: majeſtaͤtiſch, kalt, vornehm, in ſeidenen Gewaͤndern einherrau - ſchend, unzugaͤnglich fuͤr den Armen, unerbittlich! Doch was erblickten meine Augen? Eine etwas gebuͤckte, mehr kleine als große, freundliche Dame von etwa fuͤnfzig Jahren, einfach und ſchlicht geklei - det, in ein graues Gewand, um Kopf und Schultern einen ſchwarzen Spitzenſchleier hangend, wie man es haͤufig auf alten Bildern ſieht. Was willſt Du, mein armes Kind? ſagte ſie, nachdem ſie mich mit einem Winke der Hand begruͤßt. Dieſe, im ſanfte - ſten Tone an mich gerichtete Frage, der Gedanke, daß es Guido’s Mutter ſei, die mich mein Kind anredete, .... ich ſank zu ihren Fuͤßen und ergriff ihre Hand, ſie zu kuͤſſen. Dieſe entzog ſie mir heftig und murmelte dabei: nicht knieen, huͤbſch aufſtehen und ruhig mit mir reden; ich liebe ſolche Szenen nicht, ſie erwecken mir Argwohn, als ob ich’s mit15 *228Komoͤdianten zu thun haͤtte. Dein ehrliches, blaſſes und verkuͤmmertes Geſicht wird beſſer zu meinem Herzen ſprechen, wie Fußfaͤlle und ſolche Albernheiten. Sage mir, was Du bei mir ſuchſt?

Gerechtigkeit, erwiederte ich.

Die Graͤfin trat einen Schritt zuruͤck, gleichſam ahnend, wer ich ſein koͤnne. Sie mußte ſich erſt faſſen, bevor ſie wieder zu reden vermochte. Dann fragte ſie weiter: Bei mir? und gegen wen?

Gegen die Mutter des Grafen Guido, ſprach ich beſcheiden, doch feſt; gegen ihre grauſamen Vorwuͤrfe, die ich nicht verdiene.

So iſt ſie die Kantors-Tochter!? ſagte die Graͤfin.

Und der Haushofmeiſter, naͤher zutretend, ſprach: ich habe mir’s gedacht, Excellenz.

Der Lakai war nicht mehr im Zimmer.

Sie muß uͤberaus frech ſein, hub die Graͤfin wieder an, oder Sie muß ein ſehr gutes Gewiſſen haben, daß ſie ſich bis zu mir wagt. Rede Sie, ich will Sie hoͤren!

Nun machte ich Gebrauch von dieſer Erlaubniß, im weiteſten Sinne des Wortes. Von dem erſten Blicke, den Dein Vater mit mir gewechſelt, wo ich229 im Oratorium geſungen, bis zu meinem naͤchtlichen Beſuche im Bildhauerhaͤuschen, wo ich die ſchlechte kuppleriſche Sippſchaft verflucht und Gottes Strafe uͤber ſie herabgerufen, ſtellte ich der Graͤfin das auf - richtigſte Bild meines Lebens dar. Als ich an die Kunde kam, wie fuͤrchterlich raſch mein Fluch in Erfuͤllung gegangen und wie die Familie unter den Truͤmmern des Hauſes, welches meine Schande auf - erbaute, durch die Fluth umgekommen ſei, bebte die Dame und verbarg ihr Geſicht in beide Haͤnde. Wir ſchwiegen lange Zeit. Jch hoͤrte den alten Haushof - meiſter leiſe ſchluchzen. Erſt als ich dieſen Ausbruch geruͤhrten Mitgefuͤhls vernahm, fand auch ich eine Thraͤne.

Die Graͤfin weinte nicht. Sie ergriff wieder das Wort: Du luͤgſt nicht, Antoinette; das iſt gewiß. Sage mir jetzt offen und ehrlich: hat er Dir die Ehe verſprochen, bevor er Dich verfuͤhrte?

Jch antwortete: vorher und nachher, Euer Excel - lenz, ſo wahr ein Gott lebt.

Abermals bedeckte ſie ihr Geſicht mit ihren Haͤn - den und jetzt weinte ſie auch. Jch habe Dir Unrecht gethan, Maͤdchen, ich bitte Dich um Verzeihung. Leider trag ich keine Schuld. Leider!

230

Jch moͤchte ſie lieber auf mich nehmen, anſtatt Dir ſagen zu muͤſſen, daß Graf Guido mich getaͤuſcht hat. Mein Schreiben an Dich war nur die Folge ſeiner falſchen, entſtellenden Erzaͤhlungen. Die Mut - ter kann jetzt nichts mehr thun: Deine Sache gehoͤrt vor die Maͤnner. Du magſt entſcheiden, ob ich mei - nen Gemal zum Richter aufrufen ſoll. Jch will Dir nicht verſchweigen, daß er krank, ſehr krank iſt; daß die Aerzte fuͤr ſein Leben fuͤrchten. Er iſt aber auch heftig und ſtreng; er iſt gerecht und im Punkte der Ehre unerſchuͤtterlich. Hat unſer Sohn Dir ſein Wort gegeben, ſo wird der Vater ihn nicht davon entbin - den. Das ſchwoͤr ich Dir! Es wird meines Gatten Tod ſein doch das kann auch mich nicht hindern, Dir Dein Recht werden zu laſſen. Hoͤchſtens kann ich mit ihm ſterben und das will ich gern. Beſtimme Du, was geſchehen muß!

Jch ſagte nichts weiter, als: Graf Guido hat zu beſtimmen, nicht ich!

Ruft meinen Sohn, Haushofmeiſter; oder nein, laßt ihn rufen. Jhr bleibt hier und ſeid Zeuge von jeder Silbe, die zwiſchen ihr und mir gewech - ſelt wird.

231

Der Haushofmeiſter zog eine Glocke, ein Diener trat ein.

Die Graͤfin befahl, ihren Sohn aus ſeinen Gemaͤchern herab zu rufen.

Waͤhrend wir ihn erwarteten, ging ſie mit ver - ſchraͤnkten Armen raſchen Schrittes in dem großen Gemache auf und ab.

... Jch ſollte ihn ſehen! ...

Wie ich ſeine Sporen klirren hoͤrte, fing ich an zu zittern, ich meinte, ich muͤſſe umſinken. Der Haus - hofmeiſter wollte mich ſtuͤtzen, doch die Graͤfin wies ihn von mir, faßte meinen Arm, fuͤhrte mich dem Ein - gange zu, und als Dein Vater eintrat, rief ſie ihm entgegen: Guido, wer hat mich betrogen, Du, oder dieſes Maͤdchen?

Dein Vater, mich an ſeiner Mutter Seite erblickend, ſchien einen Augenblick zweifeln zu wollen, ob Wirklichkeit ſei, was er ſah. Doch die Graͤfin wiederholte ihre Frage, noch eindringlicher und dro - hender, wie zuvor:

Jch will wiſſen, wer gelogen? Sie oder Du?

Jch, meine Mutter, erwiederte Dein Vater mit niedergeſchlagenen Augen.

Dann hab ich fuͤr’s Erſte nicht mitzuſprechen,232 und ihr Beide muͤßt Eure Sache mit einander abma - chen. Wie ſie dies geſagt, ließ ſie ſich vom Haus - hofmeiſter einen Seſſel zuſchieben, und in dieſem Platz nehmend, wendete ſie ſich an mich, indem ſie auf den graukoͤpfigen Mann deutete: vor ihm haben wir kein Geheimniß, er gehoͤrt zum Hauſe; hat ſchon mei - nem ſeligen Vater gedient.

Guido’s Niedergeſchlagenheit war ſo traurig anzuſehen, daß ich dabei faſt meines eigenen Elendes vergaß und nur Mitleid empfand fuͤr ihn. Jch machte ihm alſo gar keine Vorwuͤrfe, ſondern fragte nur, warum er mich bei ſeinen Eltern in ein falſches Licht geſtellt, und die Reinheit meiner Liebe fuͤr ihn durch unbegruͤndeten Argwohn niedrigen Eigennutzes befleckt habe?

Das war niedertraͤchtig von mir, gab er zur Ant - wort, und ich ſchaͤme mich meiner feigen Luͤge. Recht - fertigen kann ich mich nicht, aber ich will jetzt wenig - ſtens die Wahrheit eingeſtehen. Seitdem ich mich von Dir getrennt, habe ich erfahren, daß meine Empfindung fuͤr Dich nichts Anderes geweſen iſt, als jugendliche Taͤuſchung der Sinne; ich habe jetzt erſt die wahre Liebe in ihrem ganzen Umfange kennen gelernt. Die junge Dame, welche ich mit Bewilli -233 gung ihrer und meiner Eltern Braut nennen darf, waͤre niemals die Meinige geworden, wenn mein Vater geahnet haͤtte, daß fruͤhere Verſprechungen und Geluͤbde auf mir laſten. So adelſtolz mein wuͤrdiger Vater immer ſein mag, ſtehen doch ſein Gerechtig - keitsſinn und ſein Ehrgefuͤhl uͤber ſeinem Stolze. Er wuͤrde mir, wenn er gewußt, wie niedertraͤchtig und falſch ich an Dir handelte, Antoinette, nur freigeſtellt haben, mir eine Kugel durch den Kopf zu ſchießen, oder Dich zum Altare zu fuͤhren. Meine Liebe fuͤr Comteſſe Julie iſt ſo rein, ſo innig, ſo unbeſieglich, daß ich, nachdem einer Deiner Briefe in meines Vaters Haͤnde fiel, mir keinen andern Rath wußte, als dies Verhaͤltniß zu Dir wie eine fluͤchtige leicht - erkaufte Liebelei darzuſtellen, fuͤr welche man geneigt war, mir Verzeihung zu goͤnnen. Das konnte nicht geſchehen, ohne Dich ſchmaͤhlich zu verleumden; das habe ich gethan. Du kommſt, Dich zu raͤchen? Thu es. Jn Deiner Macht liegt es, meines Lebens und meiner Liebe Gluͤck zu vernichten. Folge Deinem gerechten Zorn. An meinem Leben liegt mir nichts, ohne Julie; meine Liebe zu dieſer kann nur mit meinem Leben erloͤſchen.

234

So ſprach Dein Vater.

Sobald ich erſt wußte, daß ich nicht geliebt ſei, fand ich mich ſelbſt wieder. Jch war, fuͤr den Moment wenigſtens, vollkommen ruhig. Haͤtten Sie, Herr Graf, ſagte ich, ſich die Muͤhe geben wollen, mir dies Bekenntniß ſchriftlich abzulegen, ſo wuͤrden Sie mir einen beſchwerlichen Weg, Jhrer Excellenz eine ſchlimme Stunde und ſich ſelbſt eine große Beſchaͤ - mung erſpart haben. Jch kam durch Sturm, Regen - ſtroͤme und Nacht hierher, weil ich waͤhnte, Jhr Herz gehoͤre mir und es werde Jhrem Herzen wohlthun, die Geliebte wider kraͤnkenden Argwohn gerechtfertigt zu erblicken. Da Sie mein Anklaͤger waren gegen wen moͤcht ich mich jetzt noch rechtfertigen? Sie wol - len mich los ſein? Jhr Wunſch iſt erfuͤllt. Da Sie mich nicht lieben, ſind Sie frei! Jch wende Jhnen auf ewig den Ruͤcken, und verflucht ſei ......

Hier fuhr die alte Graͤfin ſchreiend von ihrem Seſſel auf. Sie gedachte meiner vor wenig Minuten vernommenen Erzaͤhlung, wie mein Fluch an den Bildhauerleuten in Erfuͤllung gegangen.

Mit gefalteten Haͤnden beſchwur ſie mich, inne zu halten.

Jch ſagte zu ihr: fuͤrchten Sie nichts, Frau Graͤ -235 fin; nicht Jhrem Herrn Sohne, nicht Jhrem Hauſe ſollte es gelten. Verflucht ſei, wollte ich ausrufen, die Stunde, wo Sie mir geſagt, daß Sie mich lieb - ten; verflucht die Stunde, wo ich eitel genug war, an Jhre Liebe zu glauben, an Jhr Herz, an Jhr Wort! Das wollt ich Jhrem Sohne zurufen. Aber der Fluch ſollte auf mich, auf mein eigenes Haupt zuruͤckfallen. Und mit dieſem Fluche belaſtet, verlaß ich das Schloß, nicht, um in unſere Huͤtte, in unſere Heimath zuruͤckzukehren. Jch ſehe die Meinigen nicht mehr wieder, mein Kind nicht wieder

Dies Kind, ſein Kind, es ſoll das meinige ſein, ſprach die Graͤfin; ich will Sorge tragen

Das werden Sie nicht, unterbrach ich ſie feſt; Sie werden nichts fuͤr dieſes Kind thun. Aus Jhren Haͤnden wird ihm keine Gabe zugewendet werden. Jch, ich, ſeine Mutter, unterſage das. Ehe ich dulde, daß Sie ſich des armen Geſchoͤpfes annehmen, eher ſtirbt es durch mich!

Schaudernd wendete ſich die Graͤfin ab. Dein Vater warf ſich zu ihren Fuͤßen ...

Jch ging; ich ging, kraͤftig durch meinen Zorn, mit hochaufgerichtetem Haupte aus dieſem Gemach, aus der Vorhalle des Schloſſes. Draußen begruͤßten236 mich wieder die großen Hunde; ſie geleiteten mich freundlich bis an das eiſerne Gitter. Dort kehrten ſie um und ich war allein.

Jch ſtarrte lange in die fliegenden, zerriſſenen Wolken, die der Abendwind vor ſich her trieb; ſtarrte hinein, ohne zu denken. Mein erſter Gedanke war, da mir wieder Gedanken kamen, an Dich, Anton! Ach, und daß ich es Dir eingeſtehen muß, ich fuͤhlte Haß gegen Dich! Das Bild Deines Vaters ver - miſchte ſich in meiner kranken Seele mit dem Deini - gen. Verzeihe mir, Anton!

Was ich wollte? Was ich beginnen ſollte?

Jch wußt es ſelbſt nicht. Jch wußte nur, daß ich entſchloſſen ſei, nie mehr heimzukehren, nie mehr meine Eltern, nie mehr mein Kind zu ſehen. Jch ſchaͤmte mich, eingeſtehen zu muͤſſen, daß er mich ver - rathen, verlaſſen habe; daß ſein freier Wille, nicht ſeiner Verhaͤltniſſe Zwang, ihn von mir geſchieden. Jch hatte keinen Willen ſonſt, keine Abſicht, keinen Wunſch, keine Hoffnung, ... nur ein Beduͤrfniß empfand ich, ein unabweisliches: die junge Graͤfin, ſeine Braut zu ſehen, die er Julie nannte; die ihn belehrt, was wahre Liebe ſei!

Warum? Warum ich ſie ſehen wollte? Um,237 einem wilden Thiere aͤhnlich, wuͤthend in ihr Antlitz mich zu ſtuͤrzen, und ihr die Augen auszureißen, die meinem Verderben geleuchtet! Oder, um ihre Kniee zu umfaſſen, mich im Staube vor ihr zu winden?? Faſt galt beides mir gleich, wenn ich ſie nur ſah!

Waͤhrend ich noch ſtand, kam ein kleiner, freund - licher Mann auf mich zu, ging einigemale um mich herum und fluͤſterte mir dann zu: Sie ſind’s ja doch, Mamſellchen, die ich ſuche; der Herr Haushofmeiſter ſchickt mich, daß ich nach Jhnen ſehen ſoll und Sie in mein Haͤuschen fuͤhren; wir kriegen noch ſchlecht Wetter auf die Nacht. Jch bin der Gaͤrtner.

Er faßte meine Hand und ich ließ mich ohne Widerſtand von ihm nach ſeiner Wohnung fuͤhren, wo eine kleine Frau, noch viel kleiner als er, uns empfing und auf ein leiſe geſprochenes Wort von ihm mir ſogleich ein Kaͤmmerchen neben ihrem niedern, von altem Geraͤthe uͤberfuͤllten Wohnſtuͤbchen anwies. Es wurde mir ein Lager zurecht gemacht, ſie brachten mir eine warme Weinſuppe, und nachdem die kleine Frau mich auch mit Waͤſche verſehen, zog ſie ſich eiligſt zuruͤck in ihr Gemach, wo ich ſie mit ihrem Manne lange noch eintoͤnig plaudern und murmeln hoͤrte. Aus dem mir angewieſenen Kaͤmmerchen fuͤhrte238 noch eine andere Thuͤre als jene, durch welche wir vom Wohnzimmer herein gekommen waren: eine Glasthuͤre. Jch blickte durch die Scheiben und ſah in ein großes, unermeßlich langes Orangen-Haus mit einem hoch zur Decke gruͤnendem Wald von Zitronen - und Pomeranzen-Baͤumen. Draußen kaͤmpfte der bleiche Mond mit wilden Regenſchauern und ſtreifen - den Schneewolken, da drinn war es ſo ſtill, ſo heimlich, ſo bluͤhend-duftig. Es zog mich hinein, wie in ein gelobtes Land. Das iſt Jtalien, rief ich aus, und wandelte unter den herrlichen Baͤumen. Der Mond ſchimmerte bisweilen durch’s dunkelgruͤne Laub.

Jch habe mir vorgeſetzt, Dir, meinem Sohne, eine Beichte abzulegen in dieſen Zeilen; Dir nichts zu verſchweigen, Anton! Deshalb muß ich auch hier die Wahrheit geſtehen. Sie wird Dir unglaublich ſcheinen.

Kannſt Du es faſſen, daß in meine Verzweiflung, in die Vernichtung, die vor einer Stunde uͤber mich hereingebrochen, jetzt ſchon neue Lebensluſt mit nie - geahneten Hoffnungen und Regungen blickte, dem Monde gleich, durch zerriſſenes Gewoͤlk. Ja, indem ich verſtoßen, elend, heimathlos, ein irrender Fluͤcht - ling umherſchwankte; vom Geliebten verleugnet, von den Eltern geſchieden durch meinen trotzigen Entſchluß,239 von meinem Kinde unmuͤtterlich getrennt, durch ſtraͤf - lichen Jngrimm; indem ich nur Mangel, Gefahr, Tod vor mir ſah, weh’te mich aus den Duͤften dieſes Prachthauſes eine uͤppig-verlockende Luft mit Zauber - hauche an; rief mir eine luͤſterne Stimme zu: Auch Du wirſt noch leben und lieben!

Das iſt der entzuͤckende Leichtſinn der Jugendkraft, der mich damals durchſtroͤmte; den ich heute, wo ich, ein ſterbendes Weib, dieſe Zeilen muͤhſelig zu Papiere bringe, ſelbſt nicht mehr begreife. Doch ſeiner zu erinnern vermag ich mich noch; vermag ich mich noch ſo deutlich, daß ich ſagen moͤchte: dieſe fuͤrchter - lichſte Nacht meines Lebens war zugleich die goͤtt - lichſte. Das klingt wahnſinnig, Anton, und dennoch iſt es wahr.

Erſt als ich vor Ermattung, im ſtrengſten Sinne des Wortes, nicht mehr ſtehen konnte, ſucht ich mein Lager und verſank ſogleich in todtaͤhnlichen Schlaf. Und als ich aus dieſem ſpaͤt am Tage aufwachte, war die naͤchtliche Bezauberung verſchwunden; ich erwachte zum ganzen, unverhuͤllten Jammer der Wirklichkeit.

Die Gaͤrtnerleute ſchienen beauftragt, mir allerlei Anerbietungen zu machen. Jch wußte ihnen auszu -240 weichen und wies jede Annaͤherung, in ſofern ſie gol - dene Entſchaͤdigungen betraf, ſo ſtolz von mir ab, daß ich beide gaͤnzlich einſchuͤchterte. Dagegen wurd es mir leicht, den ehrlichen gutmuͤthigen Menſchen abzu - fragen, wo Deines Vaters Braut lebe. Es war nicht weit von Erlenſtein; kaum drei Meilen entfernt. Nun wußte ich genug und ich machte mich auf den Weg, verwildert und wuͤſt, wie ich ausſah, eine rechte Land - laͤuferin. Der kleine Gaͤrtner und ſeine kleine Frau wagten nicht, mir Widerſtand zu leiſten. Sie ent - ließen mich mit Achſelzucken und Thraͤnen, als woll - ten ſie ſagen: ſie rennt in ihr Verderben, ſie iſt verruͤckt!

Jch langte in Sophienthal wieder mit der Abend - daͤmmerung an. Das Dorf beſteht aus einer langen Gaſſe, in deren Mitte die Kirche liegt. Das herr - ſchaftliche Schloß, mitten in einem waldartigen Park befindlich, war nicht zu erblicken. Vor einem huͤbſchen Hauſe, der Kirche gegenuͤber, ſtand eine junge Frau, welche, da ſie mich erblickte, mir ſchon von Weitem entgegenrief: Sind Sie es, Graͤfin Julie? Jch gab keine Antwort. Als ich mich naͤherte, wich ſie erſchrocken zuruͤck. Jch glaubte in ihr die Gattin des Predigers zu erkennen, weil ſie das ſtattlichſte Haus und ſo nahe der Kirche bewohnte; deshalb redete ich241 ſie an: Frau Paſtorin, fliehen Sie nicht vor mir; es iſt keine zudringliche Bettlerin, die vor ihnen ſteht. Goͤnnen Sie mir nur zwei Worte.

Augenblicklich faßte ſie wieder Muth, ſo wie ſie meine Stimme vernommen. Sie betrachtete mich erſtaunt und fragte, womit ſie mir dienen koͤnne?

Mein Wunſch mag Jhnen albern erſcheinen, wie mein Erſcheinen verdaͤchtig. Dennoch wag ich Sie zu bitten. Wer ich bin, was mich hierher fuͤhrt, und ſo, und jetzt? das ſind Fragen, die nur mich beruͤhren, die ihnen durchaus gleichguͤltig ſein koͤnnen. Jch habe nur ein Ziel: dieſes iſt, jene junge Dame von Angeſicht zu ſehen, welche ſie zu erwarten ſchei - nen. Geſtatten Sie mir, bei Jhnen zu verweilen, bis Graͤfin Julie kommt? Verſprechen Sie mir, mich als eine Verwandte, die Jhnen unerwartet auf kurzen Beſuch, von irgend wo in’s Haus kam, vorzuſtellen? Geben Sie mir Gelegenheit, die Comteſſe reden zu hoͤren? Sie erweiſen mir dadurch eine große Wohl - that, eine Wohlthat, von deren Bedeutung Sie kei - nen Begriff haben koͤnnen! Mir, und vielleicht der jungen Graͤfin auch. (Ja, blicken Sie mich nur for - ſchend an.) Sie ſind eine Freundin Juliens?

Die Vagabunden. III. 16242

Die Paſtorin ſprach angſtvoll: ich liebe ſie wie eine Schweſter, verehre ſie wie eine Mutter! Droht ihr Gefahr?

Vielleicht, erwiederte ich raſch. Vielleicht haͤngt ihr Schickſal an dieſem Augenblick. Vielleicht bin ich es, wie arm und bemitleidenswerth ich Jhnen erſcheine, die uͤber die Zukunft dieſer jungen, reichen Erbin zu entſcheiden hat. Alles haͤngt von dem Ein - druck ab, den ihre Perſoͤnlichkeit auf mich macht. Jſt es ein abſtoßender, verletzender, ſpricht aus ihren Zuͤgen kein Herz, aus ihren Worten keine Seele, dann ſteh ich fuͤr nichts; eben ſo wenig, wenn ich ſie nicht kennen lerne; denn ich haſſe ſie, aus guten Gruͤnden, ohne ſie zu kennen. Sie muͤßte mich erſt zwingen, ſie zu lieben, damit ich liebend ihr weiche!

Die Paſtorin ahnete vielleicht, welch ein Daͤmon mich treibe? Sie hatte wohl gar Kunde von meinem Daſein? Das weiß ich nicht. Aber ſo gewiß war ſie ihrer Sache, daß ſie augenblicklich auf meinen Vor - ſchlag einging. Treten ſie ein, ſagte ſie; mein Mann iſt gluͤcklicherweiſe verreiſet; Comteſſe Julie will, wenn ſie mit einigen Krankenbeſuchen im Dorfe fer - tig iſt, auf ein Stuͤndchen zu mir kommen. Jch243 erwarte ſie hier. Sie moͤgen uns im Wohnzimmer erwarten. Ordnen Sie Jhr Haar, nehmen Sie mein Maͤntelchen um, welches auf dem Bette liegt, ſetzen Sie ſich mit meiner Stickerei ans Fenſter. Sie ſind meines Oheims Tochter, Louiſe; ſind ein ſchuͤch - ternes Maͤdchen, verlegen, ohne viele Worte; beſu - chen mich auf einen Tag fuͤr das uͤbrige wird der liebe Gott ſorgen.

Jch ſchluͤpfte in’s Haus und that, wie mir gebo - ten. Kaum ſaß ich, den Strickſtrumpf in der Hand, auf dem mir angewieſenen Stuhl am Fenſter, ſo ging die Thuͤr auf und die Paſtorin trat ein mit der Erwarteten, Gefuͤrchteten. Wahrſcheinlich hatte mich die Beſchreibung, welche von Muhme Luiſe ſchon draußen im Hausflur gemacht worden, jeder Annaͤherung Seitens der jungen Graͤfin uͤberhoben. Sie nahm Platz neben ihrer Freundin auf dem Sopha, nachdem ſie mich freundlich begruͤßt und weiter nicht beachtet hatte. Ohne ſich durch meine Anweſenheit ſtoͤren zu laſſen, ſetzte ſie das Geſpraͤch mit der Paſto - rin fort, welches nur Armen-Angelegenheiten des Dorfes betraf. Sie ſagte unter anderem: ich kann Jhnen das Alles nicht erſparen, liebe Auguſte, und Sie muͤſſen mich geduldig anhoͤren; vielleicht iſt die16 *244Zeit nicht fern (hier bebte die ſonſt ſo feſte, klare Stimme ein Wenig!) wo ich mein liebes Sophien - thal verlaſſe. Wer weiß, wie oft, oder wie ſelten es mir vergoͤnnt ſein wird, aus den neuen, groͤßeren Kreiſen, in welchen ich mich kuͤnftig bewegen ſoll, hierher zu entfliehen! Aber meine Schuͤtzlinge, wenn ſie mich auch bisweilen vermiſſen werden, wie ich hoffe, ſollen darum doch nichts entbehren und Sie, gute Auguſte, haben mir nun einmal verſprochen, fuͤr mich einzutreten. Folglich darf ich Jhnen kein Detail erlaſſen.

Und nun ging ſie mit bewundernswuͤrdiger Kenntniß alle kleinen haͤuslichen Beduͤrfniſſe auf die Zuſtaͤnde der armen und kranken Familien ein, denen ſie ihre Fuͤrſorge geweiht. Jch kann Dir nicht mit Worten ausdruͤcken, Anton, welche Macht in dem Klange ihrer Stimme lag. Jch lauſchte jeder Silbe mit Entzuͤcken und vergaß voͤllig, daß es meine benei - dete, zwiefach begluͤckte Nebenbuhlerin ſei, die ſolches Entzuͤcken in mir hervorbrachte. Zweimal wollte die Paſtorin aufſtehen, um Licht zu holen; die Graͤfin unterſagte dies und lobte die Anmuth der traulichen Dunkelſtunde. Schon befuͤrchtete ich, ſie wuͤrde auf - brechen, ohne daß ich ein deutliches Bild von ihr mit245 mir nehmen koͤnnte. Aber da brachte gluͤcklicherweiſe eine Magd, mit der Meldung, daß ein Diener vom Schloſſe auf die gnaͤdige Comteſſe warte, zwei dicke, brennende Kerzen, die ſie auf den Tiſch vor dem Sopha ſtellte. Nun hatte ich den ganzen Anblick einer Schoͤnheit, wie ich ſie auf Erden nicht fuͤr moͤg - lich gehalten. Jch kann ſie nicht anders bezeichnen, als durch: Verklaͤrung! Wenn es jemals ein weibli - ches Weſen gab, dem nur zwei Seraphs-Fittige fehl - ten, um ein reiner ſtrahlender Engel zu heißen, ſo war es dieſe Julia. Sie ſehen und im Jnnerſten empfinden, daß dieſem Weſen gegenuͤber jede eitle Eiferſucht Verbrechen ſei, das war Eins. Jch hatte nur ein Gefuͤhl: wenn Guido vielleicht eine beſ - ſere, kluͤgere, mehr gebildete Gattin verdiente, als ich ihm werden koͤnnen, ſo verdiente dieſes Maͤdchen einen anderen Gatten; Jhrer war er nicht wuͤrdig, das mußt ich mir eingeſtehen, wie heiß ich ihn auch geliebt. Jch habe niemals ein ſolches Weib geſehen. und als ich ſie nun ſprechen ſah. Als dem ſeelen - vollen Tone, der mich waͤhrend der Dunkelſtunde ſchon begeiſtert, jetzt auch die lieblichen Zuͤge entſpra - chen, des Auges mildes Feuer, des zartgeformten Mundes Laͤcheln, da mußt ich wohl an mich halten,246 daß ich nicht wirklich anbetend vor ihr niederſank, ihre Kniee zu umfaſſen. Sie wuͤnſchte mir mit hold - ſeliger Guͤte gluͤckliche Reiſe und ging am Arme der Paſtorin. Welch ein Gang. So gehen irdiſche Menſchen nicht!

Wie die Hausfrau zu mir wiederkehrte, fand ſie mich in heißen Thraͤnen. Sie hatte zarten Sinn genug, zu ſchweigen und mich weinen zu laſſen. Dann bot ſie mir ein Nachtlager. Das nahm ich an und bat um Feder und Papier, welches die Magd mir brachte. Jch ſchrieb folgende Zeilen:

Graf Guido!

Graͤfin Julia hab ich geſehen; Sie ſind gerechtfertiget. Jch begreife, daß mich nicht mehr lieben kann, wer eine Luft mit ihr geathmet.

Sie haben mein Lebensgluͤck zerſtoͤrt; Gott verzeihe Jhnen! Jch vermag es nur dann, wenn Sie von nun an keinen andern Gedanken hegen, als diejenige gluͤcklich zu machen, die ſich Jhnen geben will. Darf ich dies glauben, ſo ſterb ich verſoͤhnt mit Jhnen.

Antoinette.

Dieſes Blatt gab ich am naͤchſten Morgen der247 Paſtorin, nachdem ſie es erſt geleſen und ich es her - nach verſiegelt, zur Beſorgung an den Grafen Guido von Erlenſtein.

Wollen Sie ſich umbringen? fragte mich, bleich vor Schreck und Angſt, die zitternde Frau.

Jch will weder in einen Fluß ſpringen, entgeg - nete ich ihr, noch ein Meſſer in meine Bruſt bohren, noch dies Tuͤchlein um meinen Hals ſchnuͤren, noch ſonſt gewaltſam meinem erbaͤrmlichen Leben ein Ende machen; das darf ich Jhnen geloben. Nicht weil mir die Luſt dazu fehlt, nein, nur der Muth. Aber ich will weiter ziehen und mich ſterben laſſen, ſei’s wo es ſei. Fragen Sie nicht, wohin ich mich wende! Jch weiß es nicht. Die Erde iſt groß und uͤberall, wo ein Sterblicher endet, findet ſich ein Grab. Gott ſegne Sie und Er ſegne Julien!

Die Paſtorin kuͤßte mich auf die Stirn und ich verließ ihr Haus.

Jch bin bis hierher ſehr ausfuͤhrlich geweſen in mei - nen Bekenntniſſen. Theils weil ich Dir deutlich darſtel - len wollte, mein theurer Anton, wie es geſchah, daß der Entſchluß, fuͤr todt zu gelten, ſo feſte Wurzel in mir faſſen konnte; theils weil ich Dich hinweiſen248 wollte auf jenes himmliſche Weſen, welches Deinem Vater Gattin wurde und durch deſſen Vermittelung, das iſt’s, was mich auf meinem Sterbelager mit troͤſtender Zuverſicht erfuͤllt, Du Dich mit ihm vereinigen kannſt.

Von nun an werde ich eilen muͤſſen, will ich an’s Ende dieſer Schilderung gelangen, bevor mein Ende mich erreicht.

Von jenem auflodernden Lebensmuthe, der in der duſtigen Nacht des bluͤhenden Glashauſes ſich regen wollen, war nichts mehr uͤbrig geblieben. Meine Eitelkeit, mein Selbſtvertrauen hatten, Graͤfin Julie gegenuͤber, einer troſtloſen Entſagung weichen muͤſ - ſen. Mit ihr verglichen kam ich mir niedrig, uner - zogen, gemein vor. Fragſt Du, ob ich in Wahrheit die Abſicht gehegt, mich ſterben zu laſſen? ſo kann ich heute keine beſtimmte Antwort mehr darauf erthei - len. Jch fuͤrchtete den Tod, dennoch waͤr er mir willkommen geweſen. Jch haßte das Leben, dennoch knuͤpfte ich von Stunde zu Stunde wieder unklare Hoffnungen an ſeine Fortdauer. Fuͤr’s Erſte eilt ich nur, heftigen Schrittes, aus dem Bereiche jener Orte zu gelangen, deren Bewohnern ich fuͤr eine Abge - ſchiedene gelten wollte; das war mein naͤchſter249 Wunſch. Jch hatte ein unbeſtimmtes Vorgefuͤhl, daß es anderer Gegenden beduͤrfe, ſollt ich ein neues Daſein beginnen, fremden Himmels, fremder Sit - ten, eines fremden Namens fuͤr mich. Die Kantors - tochter, die Geliebte des Grafen Guido, die Mutter des kleinen Anton (o ich bedauernswerthes Weib!) mußte wirklich geſtorben ſein, Allen die von ihr wußten, wenn dasjenige, was in mir noch lebendig waltete und ſtrebte, ſich auf irgend eine Art geltend machen wollte.

Mittlerweile war ich der Landesgrenze immer naͤher gekommen. Von der Nothwendigkeit eines ſchriftlichen Ausweiſes uͤber meine Perſon hatte ich eben ſo wenig Kenntniß, als Du mein Sohn gehabt, da Du bei der Simonelli anlangteſt, wie ich aus Deinen eigenen Erzaͤhlungen weiß. Du konnteſt, wenn Du mir von Deinem Leben berichteteſt, wohl nicht ahnen, mit welch eigenthuͤmlichen Empfindun - gen die Mutter allen Momenten lauſchte, wo das Schick - ſal des Sohnes Aehnlichkeit mit dem ihrigen zeigte.

Mir wurd es nicht ſo gut, den Paß einer Ent - wichenen zu erben, wie Du jenen des nach Rußland uͤbergetretenen Antoine. Jch hatte noch ſchwer zu lei - den, bevor ich dieſe kleinliche Noth uͤberwunden. Jch250 machte auf der Landſtraße die Bekanntſchaft zweier boͤhmiſchen Harfenmaͤdchen, die von einem jungen Menſchen begleitet, durch’s Land zogen. Sie redeten mich an, wie ihres Gleichen, und in meiner voͤlligen Rathloſigkeit nahm ich ihre Anerbietungen an, mit ihnen zu gehen. Sie machten mich in einem Dorf - wirthshauſe, wo ſie anhielten, ſingen, nachdem ich ihnen entdeckt, daß ich in Muſik und Geſang auf - gewachſen ſei. Jhre Freude uͤber meine Stimme und Vortrag war unverſtellt, wenn auch nicht uneigen - nuͤtzig, denn ſie ſetzten mir dringend zu, mit ihnen in Gemeinſchaft zu treten. Zu dieſem Zweck ſuchten ſie aus ihren Reiſebuͤndeln allerlei hervor, wodurch meine Tracht der ihrigen moͤglichſt aͤhnlich wurde, begruͤßten mich ſodann als Kameradin und zwangen mich, wenn Bitten und Verſprechungen Zwang genannt werden duͤrfen, ſie ferner zu begleiten. Unter ihrem Schutze kam ich freilich ohne Schwierigkeit von einem Ort zum andern, weil ſie uͤberall bekannt und ver - traut, gar nirgend angehalten, oder befragt wurden. Doch mußt ich dieſen Schutz theuer genug erkau - fen, da Maͤnner jedes Alters und Standes gegen mich denſelben freien Ton annehmen wollten, an den ſie bei meinen Gefaͤhrtinnen gewoͤhnt waren. 251Dieſen letzteren ſchien es ſehr zu gefallen, daß ich jede Zudringlichkeit mit Ernſt und muͤrriſchem Stolze abwies, nur meine Lieder ſang, uͤbrigens aber ſchwieg und mich in gar nichts miſchte. Sie geſtanden mir nebſt meinem Uebergewichte als Saͤngerin auch das - jenige eines ſittlichen anſtaͤndigen Benehmens zu, weil es mit ihrem gewoͤhnlichen Treiben ſich ſo am beſten vertrug. Die beiden Schweſtern, denn dies waren ſie, hielten ſich zuruͤck, wenn rohe Frechheit das Aeußerſte von ihnen begehren wollte; bis dahin jedoch erduldeten ſie ſo ziemlich Alles und von Jedem, und zwar mit dem ſchamloſen Eingeſtaͤndniß, fuͤr jeden heuchleriſchen Blick, fuͤr jeden geſtohlenen Haͤndedruck ein Geſchenk zu erwarten. Jhr Begleiter galt zugleich fuͤr ihren erklaͤrten und beguͤnſtigten Liebhaber; merk - wuͤrdig und unbegreiflich, fuͤr den Liebhaber beider Schweſtern, die beide, waͤhrend ſie ihm nicht geſtatte - ten, mit andern Maͤdchen ein Wort zu wechſeln, gegenſeitig keine Eiferſucht auf einander zeigten. Nepomuck, ſo hieß der junge Menſch, durfte ſchoͤn genannt werden; eine wilde, ſonnenverbrannte, ſchwarzlockige Schoͤnheit, die jedem Frauenzimmer von zarterem Gefuͤhl Angſt und Grauen einjagen mußte. Er trug, gleichwie er ohne Murren und mit252 eiſerner Koͤrperkraft die ſchwere Laſt eines Reiſeſackes neben der Harfe ſchleppte, ſchweigend, ohne Laͤcheln, duͤſteren Blickes, ſo auch die Liebes-Tyrannei der beiden Schweſtern. Sie behandelten ihn wie einen Sklaven, er duldete dies ohne Vorwurf, ohne Klage; dennoch entging mir nicht, daß er zuletzt der Herr und Gebieter ſei, dem die frivolen Maͤdchen ſklaviſch untergeben waren. Das Verhaͤltniß, in ſeiner uner - hoͤrten Seltſamkeit, waͤre fuͤr den beobachtenden Men - ſchenkenner hoͤchſt lehrreich geworden; mir konnt es natuͤrlich nur Schauder abgewinnen. Aber ich mußte mich fuͤr’s Erſte fuͤgen. Auch wurd ich gut und ruͤckſichtsvoll behandelt, ſo daß ich keine Urſache zu klagen fand.

Mucki, oder Muzi, wie Nepomuck abwechſelnd von den Schweſtern gerufen ward, ſchien ſich am Wenigſten um mich zu bekuͤmmern und trug eine kalte Gleichguͤltigkeit gegen mich zur Schau, die ich bisweilen, gerade ihrer Abſichtlichkeit wegen, fuͤr erkuͤnſtelt zu halten geneigt war. Mein Vorgefuͤhl hatte mich auch nicht getaͤuſcht.

Wir befanden uns ſchon weit in Boͤhmen auf dem Wege nach Prag, da geſchah es, daß eines Abends ein heftiger Zank zwiſchen ihm und den bei -253 den Maͤdchen ausbrach, deſſen Veranlaſſung mir ver - ſchwiegen blieb, weil er in ihrer Sprache gefuͤhrt wurde, von der ich nur wenige, einzelne Worte ver - ſtand. Wie gewoͤhnlich ſuchten die Drei ihr Nacht - lager auf einem Heuboden, mir ein Kaͤmmerlein im Hauſe uͤberlaſſend, und ich war doppelt froh, nicht in ihrer Naͤhe weilen und nicht Zeugin ihres Unfrie - dens bleiben zu muͤſſen. Es mochte eine halbe Stunde vor Sonnen-Aufgang ſein, als Mucki bei mir eindrang, mich zu erwecken, mir zu melden, daß die Schweſtern in Folge des mit ihm gehabten Zwi - ſtes ihn, waͤhrend er ſchlief, verlaſſen haͤtten, daß er ſeine Heftigkeit bereue, daß er entſchloſſen ſei, ſie wie - der einzuholen, daß wir ihnen nacheilen wollten und daß ich mich ruͤſten ſolle, mit ihm zu gehen.

Jch folgte ihm.

Es fiel mir nicht auf, daß er Wagen und Pferde im naͤchſten Orte fuͤr uns miethete; vielmehr fand ich begreiflich, daß er die Fluͤchtigen ſo raſch wie moͤglich zu erreichen wuͤnſchte. Was mich aber bald befrem - dete, war ſein Benehmen auf der Landſtraße: er blickte weder rechts noch links; er ſah nach denen, die er zu ſuchen vorgab, ſich nicht um; er ließ an keinem Wirthshauſe ſtill halten, um nach ihnen zu forſchen;254 er fragte keinen Begegnenden, ob man ſie geſehen? Er ſaß unbeweglich, mir gegenuͤber, und wie wenn er nachholen wolle, was er bisher, von den Schweſtern beobachtet, verſaͤumen muͤſſen, ſtarrte er mich auf eine Weiſe an, die mir bald keinen Zweifel mehr ließ, uͤber ſeine wahren Abſichten: Es waren nicht die bei - den Maͤdchen, die ihm entlaufen waren; er ſelbſt war es, der ihnen entfloh und mich entfuͤhrte. So war ich alſo in eines ungebildeten, leidenſchaftlichen Men - ſchen Gewalt gegeben. Doch gluͤcklicherweiſe miß - brauchte er dieſelbe nicht. Er gab mir deutlich zu verſtehen, daß er gar wohl den Unterſchied anerkenne, welcher zwiſchen mir und den Verlaſſenen ſtatt finde; daß er ſich von Jenen getrennt habe, mehr aus Ruͤck - ſicht fuͤr mich und um mich ihrer Gemeinſchaft zu entziehen; daß er mich eben ſo verehre, wie er die Schweſtern geringſchaͤtze; daß ich mich niemals uͤber ſeine Zudringlichkeit beklagen ſolle, und daß er es einzig und allein in meinen freien Willen ſtelle, ob ich ihm jemals naͤhere Rechte auf mich einraͤumen wuͤrde oder nicht? Fuͤr’s Erſte begnuͤgte er ſich, mein Diener zu ſein, nicht mein Begleiter. Sobald ich erſt daruͤber beruhiget, mich vor ſeiner Zaͤrtlichkeit nicht zu fuͤrchten brauchte, fand ich mich ſehr zufrie -255 den, des Umgangs mit uͤbermuͤthigen Weibern entho - ben zu ſein. Jch ließ mir genuͤgen an der augenblick - lichen Verbeſſerung meiner Lage, ohne der Folgen zu gedenken, welche doch uͤber kurz oder lang nicht aus - bleiben konnten. An reichen Gaben, die meiner Erſcheinung wie meinem Geſange gern geſpendet wurden, fehlte es nirgend. Wo ich mich, von Nepo - mucks Harfe begleitet, hoͤren ließ, gab man zu erken - nen, daß eine aͤhnliche Harfeniſtin noch nie gehoͤrt worden ſei.

Wir erreichten das Karlsbad, wo es, trotz dro - hender Kriegestroublen von Badegaͤſten wimmelte. Das furore, welches ich dort hervorbrachte, war uner - hoͤrt. Und wenn ich unterweges oftmals gewuͤnſcht, ich moͤchte Nepomuck’s Geſellſchaft mit Ehren uͤber - hoben ſein, ſo lernte ich ſie hier um deſto dankbarer ſchaͤtzen, weil ſie mich vor den allzukecken Anerbietun - gen reicher und vornehmer Herren doch einigermaßen ſicherſtellte.

Es befanden ſich vielerlei Muſikanten und ander - weitige Vagabunden in dem angefuͤllten Bade-Orte. Unter letzteren zeichnete ſich eine Venetianerin aus, die in der Kunſt des Glasblaſens den hoͤchſten Grad der Fertigkeit erreicht hatte, und die artigſten Spiele -256 reien in buntem Farbenſpiel an ihrem kleinen Blaſe - balg im Nu hervorzubringen verſtand. Jhr Gatte ließ ſie nicht allein Geld erwerben; auch er verſchaffte ſich huͤbſche Einnahmen, indem er ſogenannte Pano - ramen vorwies, die auf Deutſch geſagt in nichts Anderem beſtanden, als in einem großen Guckkaſten mit verſchiedenen Glaͤſern. Sein Schauplatz war von jenem der Glasſpinnerin abgeſondert, in einem anderen Hauſe befindlich. Jmmer erſt am Feier - abende fanden ſich die den Tag uͤber getrennten Ehe - leute zuſammen, um ſich und ihre Kaſſen zu vereini - gen. Mein Schickſal wollte, daß Nepomuck mich einigemale in dem Speiſeſaale des Gaſthauſes ſingen ließ, wo die Venetianer zu Abend ſpeiſeten. Beide wurden aufmerkſam auf meinen Geſang; ſie ſuchten ſich mir zu naͤhern, doch meines Begleiters Unfreund - lichkeit ſchreckte ſie zuruͤck. Dieſe ſeine Baͤrbeißigkeit war mir, wie bereits erwaͤhnt, ſehr willkommen, wenn ſie mich von faden Galanterieen befreite; hier verwuͤnſchte ich ihn, denn mein Gefuͤhl ſagte mir, daß die Jtaliener etwas Gutes mit mir im Sinne hatten.

Vielleicht wuͤrde die Abhaͤngigkeit von meinem Fuͤhrer, worein ich nothwendigerweiſe gerathen257 mußte, mich uͤber kurz oder lang doch in ſeine Arme gezogen haben, waͤre nicht die Stunde der Rettung von ſo ſchmaͤhlichen Banden unerwartet gewaltſam hereingebrochen. Die um meinetwillen verlaſſenen Schweſtern, durch Nepomuck ihrer ſchriftlichen Aus - weiſe beraubt, waren in Prag, bis wohin ſie unſere Spur vergeblich geſucht, feſtgenommen worden. Jhre Ausſagen hatten eine Art von Steckbrief zur Folge, welcher zwar Nepomuck zunaͤchſt, mich aber, als ſeine Gefaͤhrtin, mit beruͤhrte. Er wurde gefaͤnglich ein - gezogen. Mich wuͤrde daſſelbe Loos betroffen und man wuͤrde mich, als Auslaͤnderin, in meine Hei - math zuruͤckgeliefert haben, wenn nicht bereits mein Talent mir als Fuͤrſprecher gegolten. Unter Denen, die an meinen Liedern Freude gefunden, war der im Bade-Orte angeſtellte Polizeibeamte einer der Wohl - meinendſten. Er ſprach mit mir, wie nur ein guͤti - ger Vater ſprechen kann, und ohne in meine trauri - gen Geheimniſſe dringen zu wollen, gab er mir doch Muth und Vertrauen, daß ich ihm ſo viel erzaͤhlen konnte, als genuͤgte, meinen Abſcheu gegen erzwun - gene Heimkehr geltend zu machen. Vielleicht wuͤrde dennoch ſeine Beamtenpflicht uͤber ſein Mitgefuͤhl geſiegt haben, waͤre nicht die Glasblaͤſerin mit ihremDie Vagabunden. III. 17258Gatten vermittelnd dazwiſchen getreten. Dieſe bei - den Leute, die ſich auf langen Reiſen ſchon ein genuͤ - gendes Vermoͤgen geſammelt, ſtanden im Begriff, nach Venedig zuruͤck zu kehren; ſie erboten ſich, mich mit ſich zu nehmen und mir auf ihre Koſten diejenige kuͤnſtleriſche Ausbildung ertheilen zu laſſen, die mich befaͤhigen wuͤrde, eine Laufbahn als dramatiſche Saͤn - gerin anzutreten. Da ſie ſelbſt keine Kinder beſaßen, ſo konnte dies Anerbieten fuͤr eine Erklaͤrung gelten, mich zur Tochter annehmen zu wollen. So auch betrachtete der gutmuͤthige Beamtete dieſe Sache und ertheilte ſeine Einwilligung.

Von hier an, mein geliebter Sohn, beginnt Deine Mutter das Leben einer Opernſaͤngerin, mit ſeinen Eitelkeiten, Siegen, Triumphen und Verirrungen. Du weißt genug von der Welt, um Dir denken zu koͤnnen, welch ein Daſein ich fuͤhrte. Ein Jahr des Unterrichtes von einem trefflichen Singemeiſter, wie man ſie fuͤr aͤhnliche Zwecke wohl nur in Jtalien fin - det, hatte vollkommen hingereicht, mich bis zu dem - jenigen Grade der Vollendung auszubilden, deſſen meine natuͤrlichen Anlagen uͤberhaupt faͤhig waren. Jch debuͤtirte bei kleineren Unternehmungen in Staͤd - ten dritten Ranges mit Gluͤck. Man prophezei’te259 mir guͤnſtige Erfolge. Die guten Pflegeeltern ſtatte - ten mich gehoͤrig aus, mit Allem, was mir noͤthig war und entließen mich, als ſelbſtſtaͤndige Kuͤnſtlerin.

Du wirſt mir das Bekenntniß meiner Jrrthuͤmer im Einzelnen erlaſſen. Es kann Dir keine Freude machen, die Anklagen Deiner ſtrafbaren Mutter, von ihrer eigenen Hand niedergeſchrieben, zu leſen. Erlaube mir alſo uͤber dieſe Jahre meines ſogenann - ten Gluͤckes fluͤchtig andeutend hinzugleiten. Nur was fuͤr Dich von Wichtigkeit iſt, weil es ſich auf meine Empfindungen fuͤr Dich bezieht, werd ich noch umſtaͤndlich enthuͤllen, ohne Schonung gegen mich.

Von den Verhaͤltniſſen, die ich dem Leichtſinn, der im Kuliſſentreiben vorherrſcht, angemeſſen mit jungen Maͤnnern knuͤpfte, um ſie bei Anknuͤpfung eines neuen Engagements gedankenlos wieder aufzu - geben, nenne ich nur eines; theils, weil dieſes in ſei - nen Folgen bis an das Ende meiner Laufbahn nach - wirkte; theils, weil es in unmittelbarer Beziehung auf Dich, mein Sohn, ſteht. Ein Muſiker, der ſich den Namen Carino beigelegt, der jedoch eben ſo wenig ſeine deutſche Herkunft verleugnete, als Sig - nora Antonia die ihre vor ihm geheim halten wollte,17 *260ſuchte meine naͤhere Bekanntſchaft, die zu machen ihm deſto leichter wurde, weil er ſich bald als Landsmann kund gab; weil ich nach kurzer Unterhaltung in unſe - rer Mutterſprache den Sohn des ehrlichen Karich in ihm erkannte; des armen Gerbermeiſters, der mich bei meiner Flucht ſo vaͤterlich aufgenommen. Es machte auf dieſen leidenſchaftlichen jungen Mann tie - fen Eindruck, aus meinem Munde zu vernehmen, welch bittern Schmerz ſein Entweichen den armen Eltern verurſache! Leider durft ich ihm keine Vor - wuͤrfe machen; hatte leider kein Recht mehr, ihn zu tadeln, der ſeine Eltern betruͤbte, waͤhrend ich das Bewußtſein in meinem Buſen trug, nicht blos, gleich ihm, ein undankbares Kind, ſondern auch eine ſchlechte Mutter zu heißen; wobei ich doch aͤngſtlich und vor - ſichtig Sorge trug, weder meinen Geburtsort, noch den Namen meiner Eltern, oder ſonſt irgend etwas zu nennen, was Andere kompromittiren koͤnne. Gleiche Schuld, gleiches Leid, gleiche Reue, immer wieder durch die Macht des Augenblicks uͤber - waͤltiget! gleiche Liebe fuͤr die Tonkunſt, und daß ich’s nur geſtehe: gleicher Hang zum Leichtſinn fuͤhrte uns Beide in’s vertrauteſte Beiſammenleben. Jch galt fuͤr ſein Weib und nannte mich bald nach ihm261 Carina, als welche ich in der Saͤngerwelt meinen Ruf erwarb.

Verbindungen, die keinen andern Halt in und außer ſich tragen, als nur den freien, ungebundenen Willen derer, welche ſie ſchloſſen, dauern entweder bis zum Tode, oder ſie loͤſen ſich gewoͤhnlich bald mit Zwiſt und Unfrieden. Das letztere geſchah bei mir und Carino. Wir geriethen ſtreitend auseinan - der, wir trennten uns. Zufall oder Abſicht brachten uns wieder zuſammen und es wurde eine Verſoͤh - nung geſchloſſen, um ſie nach Verlauf einiger Wochen wieder zu brechen. Unſer Leben beſtand aus Liebe, Eiferſucht, Zank, Scheidung, Trennung, Wieder - ſehen, Vereinigung und Ungluͤck. Giebt es doch ſolche Ehen, auch mit dem Segen der Kirche!

Unterdeſſen, mein Sohn, wareſt Du zum Kna - ben herangewachſen, zum Juͤngling, ohne daß Deine liebloſe Mutter von Dir wußte; ohne daß ſie Deiner gedachte. Sie hielt Euch alle fuͤr todt und dieſer Jrrthum beruhigte ſie, verhaͤrtete ſie vielmehr gegen die haͤufig wach werdenden Regungen ihres Gewiſſens.

Nach ſo vielfaͤltig wiederholten Trennungen war es zwiſchen Carino und mir endlich zu einem entſchie - denen Bruche gekommen, der laͤnger dauerte, als262 bisher und nicht mehr heilen zu wollen ſchien. Daß er nach ſeiner Heimath reiſen, ſeine alten Eltern noch einmal ſehen, ſich mit ihnen verſoͤhnen wolle, erfuhr ich folglich nicht. Jch wuͤrde, waͤr es mir vorher und geworden, mein ſtarres Schweigen uͤber meine heimathlichen Zuſtaͤnde wahrſcheinlich gebrochen und den Carino beauftragt haben, ſich nach allen Einzel - heiten zu erkundigen. So hoͤrte ich nur von ſeiner gaͤnzlichen Ueberſiedelung nach Deutſchland, von einer Stelle, die er am Hofe eines kleinen Fuͤrſten angenommen und wovon er einigen ſeiner kuͤnſtleri - ſchen Freunde Wunderdinge ſchrieb. Jch goͤnnte ihm ſein Gluͤck und fand mich leicht in den Gedanken, ihn niemals wiederzuſehen. Doch bevor noch die Herbſt - voͤgel ihre Fluͤge und Zuͤge begannen, war er ſchon wieder in Jtalien, war er ſchon wieder bei mir und trat ein mit ſeinem gewoͤhnlichen Wahlſpruch, den er fuͤr dieſen Fall einem verwunderlichen Schauſpiele von Goͤthe (ſeinem Liebling unter allen Dichtern) zu entlehnen pflegte: Rinaldo wieder in den alten Ketten. Diesmal galt meine Freude uͤber die Ruͤckkehr des Freundes mehr als ſeiner Perſon, wahrlich ſeinen Erzaͤhlungen. Jndem ich zunaͤchſt nach ſeinen Eltern fragte, wozu ich ja zwiefach berech -263 tiget und verpflichtet war; indem er mir mit aufrich - tigen Thraͤnen ſchilderte, wie er nur ihre Graͤber beſuchen koͤnnen; fuͤhrte ihn der Fortgang ſeiner Reiſe - berichte auch nach Liebenau zum Oheim, dem alten Paſtor Karich. Mit der ihm eigenen Lebendigkeit, mit ſeinem Talent, dem Hoͤrer Menſchen und Umge - bungen anſchaulich zu machen, beſchrieb er mir ſei - nen Oheim, die Neffen, das Schloß, den Gutsherrn, deſſen drei Toͤchter, die Waͤlder um’s Dorf, den lan - gen Spaziergang, die Weinlaube, den lauen Som - mer-Abend bei kuͤhlem Trunke, den ſchoͤnen Korb - macherjungen, der ihn durch den Vortrag einer alten Melodie auf der Geige geruͤhrt habe ....

Schon wie er von der Großmutter dieſes jungen Burſchen geſprochen, an deren Haͤuschen ſie, das Dorf entlang vorbeizogen, und wo die Fraͤulein beſtellten: Anton ſolle auf’s Schloß kommen, ſobald er aus dem Walde heimkehre; ſchon wie er mir die alte Frau mit Worten malte, meinte ich in dieſem Bilde meine Mutter zu erkennen. Spaͤter, da er auf Dich kam, blieb mir faſt kein Zweifel mehr, daß dieſer Anton mein Anton, derſelbe ſei, den ich mit der Melodie von den drei Reitern ſo oft in Schlaf geſungen! Ja, er war es, er mußte es ſein. Mein264 Vater iſt geſtorben, und die Mutter ſammt dem Kinde iſt nach Liebenau gezogen; ſie iſt es; mein Kind iſt es, welche Carino geſehen. Von dieſem Gedanken wurd ich erfuͤllt. Jch goͤnnte den weite - ren Berichten des unermuͤdlichen, wenn auch liebens - wuͤrdigen Schwaͤtzers, nur noch wenig Gehoͤr; trach - tete einzig danach, ihn bald los zu werden und allein zu bleiben mit den Empfindungen, die ich mir ſo lange fern gehalten, die aber nun, ſich an mir raͤchend, mehr ſchmerzlich als wohlthaͤtig auf mich einſtuͤrmten. Meine wuͤrdige Mutter lebte noch! Mir lebte ein Sohn; ein hoffnungsvoller, begabter Sohn! Und ich

Damals war es, wo ich mich entſchloß, Deiner Großmutter zu ſchreiben, ihre Verzeihung anzuflehen. Waͤre mir huldvolle Antwort auf jenes Schreiben zu Theil geworden, ſo haͤtte ich, dies war mein Vor - ſatz, den Flitterkram und Prunk, der mich zu dieſer Zeit noch umgab, zu Gelde gemacht, und waͤre heim - gekehrt, in Eurer Huͤtte mit Euch zu leben, Euch zu dienen, Eure Magd zu ſein; nicht ihre Tochter, nicht Deine Mutter. Jch hatte mit Thraͤnen geſchrieben, mit blutigen Thraͤnen; ſo kruͤmmt und windet ſich der Wurm unter des Vogels Krallen, wie ich mich265 demuthsvoll flehend unter meines Schmerzes, unter meiner Reue Geſtaͤndniſſen wand; wie ich um ein Wort der Liebe bat. Es blieb aus, ich ſah mich verſtoßen, verflucht; und auf’s Neue ſiegten Trotz und Leichtſinn uͤber mein beſſeres Gefuͤhl. Bis - weilen fand ich mich geneigt, ein zweites Mal zu ſchreiben, mein Gluͤck ein zweites Mal zu verſuchen, weil ja doch der erſte Brief verloren ſein koͤnnte; denn ich hatte ihn nach N. unſerm ehemaligen Auf - enthalts-Orte richten muͤſſen, da Carino uͤber die Bezeichnung des Dorfes Liebenau, deſſen Name mehrfach vorkommt, nichts Naͤheres geſagt. Ja, ich begann verſchiedene neue Briefe, zerriß aber immer wieder den halb beſchriebenen Bogen, weil der Groll, unerhoͤrt geblieben zu ſein bei der erſten Bitte, mit jeder Zeile auflebte. Sie hat doch wohl Deinen Brief erhalten, ſie will nichts von Dir wiſſen; draͤnge Dich nicht auf! das waren meine unkind - lichen, ſchaͤndlichen Gegeneinwendungen.

Du haſt mir in Deinen traulichen und vertrauten Selbſtbekenntniſſen, mein geliebter Sohn, auch erzaͤhlt, daß mein Schreiben richtig in Deiner Groß - mutter Haͤnde gelangt iſt und welche Wirkung es gehabt. Du haſt der kranken Frau das Ende,266 das ſelige Ende Deiner Großmutter beſchrieben, nicht ahnend, was die Sterbende dabei empfunden. Ach Anton, ich zitt’re, Sie wiederzufinden, die uns Bei - den Mutter geweſen. Wird ſie ihr undankbares, treuloſes Kind nicht anklagen als ihre Moͤrderin vor Gottes Thron?

Was haͤtt ich nun weiter noch von mir zu ſagen; daß ich mich feſter an Carino ſchloß denn jemals, weil die erneuerte Mahnung an Mutter und Sohn, welche beide mein Frevel mir geraubt, mich das Be - duͤrfniß, einem Weſen auf Erden anzugehoͤren, furchtbar ernſt empfinden ließ. Er war zu gut - muͤthig, mich von ſich zu ſtoßen; mich deutlich mer - ken zu laſſen, daß ich ihm eine Laſt ſei; doch konnt ich es ahnen. Meine geprieſene Schoͤnheit ſchwand mit der Jugend; meine Stimme nahm ab; nur hoͤch - ſtes Aufgebot der Kunſtfertigkeit hielt mich noch. Jtaliens große Staͤdte, die mich in meiner Bluͤthe bewundert, hatten kaum noch Nachſicht fuͤr die alternde Kuͤnſtlerin; ich errang mir mit Noth und Muͤhe hier und da, was man einen succés d’estime nennt. Carino ſchlug vor, man moͤge es mit Paris verſuchen, wo er als Virtuoſe zu glaͤnzen waͤhnte. Jch fand unzaͤhlige Schwierigkeiten und Kabalen, die267 meine Debuͤts in’s Unendliche hinausſchoben. Er drang gar nicht durch neben Lafont Boucher und Anderen, und ſein brillanteſter Erfolg iſt, fuͤrchte ich, jener geweſen, den er auf dem Boulevard mit des Bettlers Geige errang. Du weißt, mein Sohn, wie wir uns dort begegneten; wie ich bei’m erſten Anblick von Deiner Erſcheinung ergriffen, in Dir den Liebe - nauer Korbmacher, in dieſem ein mir angehoͤriges Weſen ahnete. Du verſchwandeſt mir ſo zu ſagen unter den Augen. Alle Muͤhe, Dich wieder zu ent - decken, blieb vergebens. Endlich kam ich auf die halbverruͤckte Jdee, Du ſeiſt um jene Stunde, Gott weiß wo, geſtorben und mir als Geiſt, als anklagen - des Geſpenſt[e]rſchienen!

Meine Geſundheit ging ſchon ſehr bergab. Jch litt viel. Der Gram um Dich trug dazu bei; nicht minder Carino’s Ausſchweifungen, die durch das Mißlingen ſeiner Plaͤne immer wilder wurden. Jch ſah das niedrigſte Elend vor uns. Jch klagte und jammerte; das Schlimmſte, was ein Weib in meiner Lage einem ſolchen Manne gegenuͤber thun kann. Er mied meine Naͤhe und gerieth immer tiefer in’s Verderben.

Wie mein durch tauſend ſchwere Opfer erkaufter268 oͤffentlicher Auftritt ablief, haſt Du mit angeſehen. Die Schmach, die nie erlebte, bohrte ſich tief in mein eitles Herz, wo ſie ſo lange bohrte, einem giftigen Thiere aͤhnlich an meinem Leben fraß, bis ich von Deinen Lippen vernahm, daß eben jene Schmach dazu beigetragen, Dich aus entehrenden Banden zu befreien, Dir Rettung zu bringen. Auf meinem Sterbelager hab ich ſie gebenedeiet, habe Gott dafuͤr geprieſen, weil ſie meinem Sohne zu Gute kam.

Carino, der auf meinen Debuͤt die letzte ſeiner Hoffnungen gebaut, gerieth nun außer ſich. Seine Gutmuͤthigkeit unterlag der Wuth; er verlor ſich ſelbſt: er drohte mir mit Mißhandlungen. Jch mußte ihm entweichen.

Rath - und huͤlflos wandte ich mich nach Turin zuruͤck. Auch dort war meine Sonne untergegangen. Meine Zeit lag hinter mir.

Du weißt, daß es ein armſeliger Spekulant ver - ſuchen wollte, mit einer italieniſchen Oper Deutſch - land zu durchziehen. Da es ihm an Mitteln fehlte, Talente zu engagiren, ſo begnuͤgte er ſich mit Stuͤm - pern und mit einem Namen; dieſen letzteren ſollte ich hergeben. Er fand auch jenſeits den Klang nicht wieder, den er dieſſeits der Grenzen ſchon eingebuͤßt.

269

Die reiſende Unternehmung quaͤlte ſich muͤhſam von Ort zu Ort, um bald gaͤnzlich zu zerfallen. Der Jmpreſario entfloh bei Nacht und Nebel; ich blieb mit meinen leeren Anſpruͤchen zuruͤck, ohne Geld, ohne Ausſicht, ohne Stuͤtze, krank; ach, ſchon krank zum Tode.

Da traf ſich’s, daß der greiſe Puppenſpieler durch ſeines Gehuͤlfen Perfidie um Weib und Beiſtand gebracht wurde. Er hauſete in demſelben traurigen Gaſthofe, den ich bewohnte. Seine Verlegenheit, meine Noth fanden ſich. Mir blieb die Wahl, aus dem unbezahlten Bodenſtuͤbchen geworfen, zu ver - hungern, oder ſeinen Vorſchlag anzunehmen. Jch erwaͤhlte das Letztere und geſtattete ihm, daß er mich ſeine Frau nenne, vor den Leuten; gelobte ihm die Stelle der Entlaufenen bei den Marionetten zu uͤber - nehmen; dagegen mußte er mir geloben keiner Seele zu verrathen, daß ich eine herabgekommene italie - niſche Prima Donna ſei. Er hat ſein Wort gehal - ten, ich hielt das meinige.

Und da erſchienſt Du!

Ob ich Dich erkannte, ob ich gleich bei Deinem erſten Anblick wußte, wer Du ſei’ſt? Magſt Du es glauben oder nicht: Deine Mutter begruͤßte Dich als270 ihren Sohn! Und ſie legte in feierlicher Mitternacht vor ſich ſelbſt wie vor Gott einen heiligen Schwur ab, Du duͤrfeſt ſie erſt erkennen, wenn ſie ein Leich - nam geworden. Ja, das ſoll meine Buße ſein. Jm Augenblick des Verſcheidens noch will ich ſie feſthal - ten. Jch will hinuͤber gehen, ohne aus Deinem Munde das Wort: meine Mutter! vernom - men zu haben.

Aber Anton, wenn ich nun wirklich todt bin, wenn ich regungslos auf meinem Sterbebette liege, wenn Du dieſe Blaͤtter lieſeſt und bis an dieſe von meinen Zaͤhren verwiſchten Zeilen kommſt ... nicht wahr, dann halten Grauſen und Ekel Dich nicht zuruͤck? Dann ſenkſt Du Dein ſchoͤnes Haupt auf meinen Todtenkopf hernieder und giebſt den blauen, kalten Lippen einen kindlichen Verſoͤhnungskuß?

Jch werde ihn empfinden dieſen Kuß!

271

Siebenundſechszigſtes Kapitel.

Wie der Schöpfer der kleinen Puppenwelt ſeine Geſchöpfe vernichtet. Anton lieſet ſeiner Mutter letzten Willen und beſchließt die Ausführung deſſel - ben, ohne Hedwig Lebewohl zu ſagen.

Erſt nachdem die entſeelten Ueberreſte der kran - ken Frau in die Erde verſcharrt waren, bekuͤmmerte ſich Anton wieder um andere Dinge. Der alte Dre - her kam eigentlich nicht mehr zu ſich. Von ſeinem letzten Rauſche erwacht, gab er den Vorſatz zu erken - nen, daß er von nun an blos Waſſer trinken wolle und fuͤhrte, mit einer halb wahnſinnigen Konſequenz dieſen Vorſatz durch, obgleich der Arzt ihm ſagte, daß er auf dieſe Weiſe ſeinen Tod beſchleunige, weil ſeine Natur allzuſehr an ſtarke Getraͤnke gewoͤhnt ſei, um die gaͤnzliche Entbehrung derſelben uͤberdauern zu koͤnnen. Darauf brummte er nur: wenn ich ſoff, behaupteten Sie, ich beſchleunige meinen Tod; nun ich nicht mehr ſaufen will, ſagen Sie daſſelbe. Sie ſollen mich in Ruhe laſſen.

Darauf vernichtete er mit dumpfer, ſtumpfer Gleichguͤltigkeit den kuͤnſtlichen Mechanismus ſeiner Figuren, die er voͤllig zerſtoͤrte und unbrauchbar machte. Doch geſchah dieſer barbariſche Kindermord erſt dann, als Anton auf wiederholtes Befragen die272 wiederholte, ausdruͤckliche Erklaͤrung abgelegt hatte, er ſei unwiderruflich feſt entſchloſſen, das Gewerbe eines Puppenſpielers nicht weiter fort zu ſetzen.

Ein Anderer ſoll ſie nicht haben! murmelte der Greis und arbeitete mit groͤßerem Eifer an der Vernichtung ſeiner Lieblinge, der Marionetten, und ſeines Stolzes: der Maſchinerien, als er jemals Eifer und Fleiß auf deren Konſtruktion gewendet haben konnte. Nur mit dem Unterſchiede, daß Stun - den hinreichten, zu zerſtoͤren, was lange Jahre muͤh - ſam geſchaffen.

Merkwuͤrdig und zugleich erſchuͤtternd fuͤr den Zuſchauer wurde der Kampf, den der alte, halbwirrte Mechaniker mit ſeinem Liebling, ſeinem Schooskinde, ſeinem verzogenen, uͤbermuͤthigen Kaſperle einging. Nicht allein in meiſterhafter Durchfuͤhrung des vor - trefflich gehaltenen komiſchen Charakters hatte ſich des Meiſters Vorliebe fuͤr dieſe Figur immer kund gegeben. Auch der Bau der Figur ſelbſt war ungleich kunſtreicher, komplizirter, wie alle uͤbrigen. Die Puppe Kasperl, lenkſam, gewand und kraͤftig, bewegte ſich, von ihrem Schoͤpfer geleitet, wie ein lebendiger Menſch.

Und dieſe kuͤnſtlich ineinander gefuͤgten Glieder273 nun, deren luſtige Schwenkungen ſo haͤufig jubeln - den Beifall erregt hatten; dieſes altkluge Zwergen - geſicht mit dem beweglichen Munde, den rollenden Augen; dieſer ganze kleine Kerl ſollte nun zerſtoͤrt werden. Es ſchien eine Art von Menſchenmord.

Dreher ging an dieſen ſeinen Kasperle erſt ganz zuletzt, erſt nachdem rings umher ſchon aufgeraͤumt war. Und als er das lebloſe Ding, dem er ſo oft Leben, Geiſt, Humor eingehaucht, jetzt auf den Tiſch warf, ſchrie er laut auf: komm her, Bruder Kasperle, ich muß dich ſeciren!

Dann wieder kuͤßte der Greis das Puppenantlitz, laut ſchluchzend: mein Kasperle, mein Bruͤderl muß ſterben; legt’s mich zu ihm in’s Grab; was wird aus mir ohne meinen Kasperle?

Nach gethaner Arbeit verkaufte er, oder ließ er durch Anton verkaufen, was er an brauchbarem und unbrauchbaren Geraͤth, Kleidungsſtuͤcken der Verſtor - benen u. ſ. w. noch beſaß, raffte den beſcheidenen Ertrag zuſammen und kaufte ſich in ein am Orte befindliches Altes-Maͤnner-Hospital mit dieſem Suͤmmchen ein, wo man ihn gern aufnahm, in der Vorausſicht, daß er nicht mehr lange den erkauften Platz in Anſpruch nehmen werde. Sein AbſchiedDie Vagabunden. III. 18274von Anton war herzlich; es flackerte, da er ihm Lebe - wohl ſagte, noch einmal der Humor des Alten auf und ein geiſtiges Verſtaͤndniß deſſen, was die Ver - ſtorbene ihm und ſeinem Geſchaͤft, was Anton der Verſtorbenen geweſen, ſchien noch einmal das umne - belte Haupt fuͤr etliche Minuten zu erhellen. Dieſen lichten Moment gab er mit freundlichen Worten dem Scheidenden kund. Gleich darauf ſank er wieder in Apathie.

Anton hatte ſeiner Mutter Handſchrift und ander - weitigen Papiere bis nach dem Begraͤbniß unberuͤhrt gelaſſen. Jetzt muͤſſen wir einiges daraus und daruͤber nachtragen. Zuerſt den Schluß des Manuſcriptes:

Du findeſt, mein geliebter Sohn, in dem Pak - ket, welches dieſen Blaͤttern beiliegt, die wenigen Briefe, die Dein Vater mir geſendet, da er noch waͤhnte, mich zu lieben; auch Dein Taufzeugniß liegt eingeſchloſſen dabei. Der Gewohnheit, dieſe Briefe immer bei mir zu tragen, verdanke ich, daß ſie bei meiner Flucht nicht in N. zuruͤckblieben. Dieſe Briefe ſowohl, als auch das Zeugniß ſammt einem andern Blatte von der Hand unſeres alten Nach - mittags-Predigers zu N., koͤnnen Dir wichtig und nuͤtzlich werden, wenn Du, woran ich nicht zweifle,275 den letzten Willen Deiner Mutter befolgſt. Er beſteht darin: Du verlaͤſſeſt, ſobald meine irdiſchen Ueberreſte beerdiget und Deine Verpflichtungen gegen den alten Mann erfuͤllt ſind, der Dir Gelegenheit goͤnnte, Dei - ner Mutter die letzten Liebesdienſte zu erweiſen, die - ſes Staͤdtchen; verlaͤſſeſt es, ohne Dich vorher noch einmal bei Hedwig oder deren Vater zu zeigen. Wie Du mir den adel - und ſoldatenſtolzen Rittmeiſter geſchildert, wuͤrde fuͤr jetzt jeder Schritt nutzlos blei - ben und das arme Maͤdchen nur noch ungluͤcklicher, ihr den Kampf zwiſchen Liebe und Pflicht nur noch heißer machen. Begieb Dich alſogleich auf die Reiſe! Der blaue Papierumſchlag, der ebenfalls beigelegt iſt, enthaͤlt außer einigen in Banknoten umgeſetzten, redlich fuͤr Dich erſparten Thalern (zu Deiner Aus - ſtaffirung), ein verſiegeltes Schreiben an die Graͤfin Julie Erlenſtein. Dieſes bringe ihr ſelbſt; trage Sorge, daß man Dich bei ihr vorlaͤßt; frage nicht nach Deinem Vater, frage nur nach der Graͤfin. Jch weiß, daß ſie noch lebt. Jhr, nur ihr allein uͤber - gieb den Brief und laſſe Gott walten.

Jetzt hab ich nichts mehr zu ſchreiben und koͤnnte es auch nicht, denn ich fuͤhle mich ſterben. Jch hoffe noch Kraͤfte zu erſchwingen, um dies Packet zuſammen18 *276zu binden, und es in meinen Koffer zu legen. Dann ſoll Dreher Dich bei Hedwig abrufen.

Der Himmel gebe, daß es nicht zu ſpaͤt ſei, fuͤr Dich wie fuͤr mich!

Gehorche Anton! den Bitten Deiner ungluͤck[-]lichen Mutter. Sie liebt Dich! Sie liebt Dich un[d]fleht um Verzeihung!

Wenn ſie, ſprach Anton, mir gebot, nicht meh[r]vor Hedwig oder deren Vater zu erſcheinen, ehe ſi[e]noch erfahren, welch ernſte, traurige Wendung di[e]Dinge dort genommen, um wie viel mehr hab ic[h]jetzt nicht Urſach, dieſem Gebote Gehorſam zu leiſten[,]wo ich die furchtbaren Worte gehoͤrt, die des erzuͤrn[-]ten Rittmeiſters Drohung zwiſchen mich und di[e]Geliebte warfen. Ja, arme Mutter, Anton erfuͤll[t]Deinen letzten Willen: er ſcheidet von ſeiner Liebe[;]er iſt bereit, den ſchweren Gang anzutreten, deſſe[n]Ziel Du ihm vorgeſchrieben! Er will ein guter Soh[n]ſein und will Hedwig, das edle Maͤdchen, nicht hin[-]dern, ſich als gute Tochter zu zeigen. Du haſt Recht[,]Mutter; der liebe Gott mag walten!

Druck von Robert Riſchkowsky in Breslau.

About this transcription

TextDie Vagabunden
Author Karl von Holtei
Extent280 images; 47548 tokens; 10134 types; 331501 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationDie Vagabunden Roman in vier Bänden Dritter Band Karl von Holtei. . 276 S. Trewendt & GranierBreslau1852.

Identification

Staatsbibliothek München BSB München, P.o.germ. 644 hd-3/4

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; Belletristik; Roman; core; ready; china

Editorial statement

Editorial principles

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

Publication information

Publisher
  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-09T17:31:42Z
Identifiers
Availability

Distributed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial 3.0 Unported License.

Holding LibraryStaatsbibliothek München
ShelfmarkBSB München, P.o.germ. 644 hd-3/4
Bibliographic Record Catalogue link
Terms of use Images served by Deutsches Textarchiv. Access to digitized documents is granted strictly for non-commercial, educational, research, and private purposes only. Please contact the holding library for reproduction requests and other copy-specific information.