PRIMS Full-text transcription (HTML)
Die Vagabunden.
Vierter Band.
Die Vagabunden.
Roman in vier Bänden
Vierter Band.
Breslau,Verlag von Trewendt & Granier. 1852.
[1]

Achtundſechszigſtes Kapitel.

Roſalie, die Luftſchifferin und deren wahrhaftige Geſchichte.

Wie oft, mein guͤtiger Leſer, haben wir in dieſem Buͤchlein unſeren Helden ſchon beobachtet, wenn er wieder zu wandern begann. Jch wage nicht zu behaupten, aber ich wuͤnſche, daß es mir gelungen waͤre, deutlich darzuſtellen, wie er von Jahr zu Jahr an Einſicht und Verſtande reifer, aus vielen Pruͤfun - gen immer beſſer aus mancherlei unſauberen Ver - haͤltniſſen und Umgebungen immer gereinigter her - vorging. So wollt ich ihn an Dir, mein Leſer, voruͤberfuͤhren; doch wie geſagt, ich weiß nicht, ob ich es vermocht habe. Mag mir aber bisher Vieles in meiner Schilderung mißrathen, das Beſte mit - unter in der ſchwachen Feder ſitzen geblieben ſein; Eines wirſt Du mir, bei’m ſtrengſten Tadel zugeſte - hen muͤſſen: daß Anton durch die letzten Ereigniſſe einen großen Schritt in reife, maͤnnliche Selbſtbeherr -Die Vagabunden. IV. 12ſchung gethan, daß er nun ſchon Rechte erworben habe, ſich Mann zu nennen. So geleiten wir den jungen Mann mit der Theilnahme, die wir ſeinen Jrrwegen bisher widmeten, auf dem letzten, den er in dieſer Weiſe antritt; der ihn, will’s Gott, zum Ziele fuͤhren ſoll, wenn die Hinderniſſe beſiegt ſind, die ſich ihm noch entgegenſtellen werden.

Geht er doch eigentlich zum Erſtenmale, ſeitdem er wandert, einem beſtimmten Ziele entgegen. Weiß er doch eigentlich zum Erſtenmale, ſeitdem wir ihn kennen, wohin er will.

Und zwei Genien umſchweben ihn; zwei ſanfte Frauenbilder begruͤßen ihn taͤglich. Wenn die Fruͤh - lingsſonne den Morgen heraufbringt, ſieht er Hedwig im Geiſte vor ſich, hoͤrt aus bluͤhenden Gebuͤſchen ihre Stimme ihm zurufen: hoffe nur! Wenn der Abend in gruͤner Ferne daͤmmert, iſt es der Mutter bleiches Angeſicht, aus Wolken laͤchelnd, welches ihm wiederholt: ja, hoffe!

Warum ſollt er nicht hoffen?

Auch wachten mit jeder Meile, die er weiter in’s Land, in den Fruͤhling hinein that, jugendliche Hei - terkeit, angeborner Frohſinn, dankbare Lebensluſt in Anton’s Herzen mehr und mehr auf. Krankenlager,3 Todtenbahre mit all ihren ſchwarzen Trauerfloͤren blieben bei jedem Schritte ſeines Weges undeutlicher hinter ihm zuruͤck; die zuͤrnenden Worte, die Hed - wigs Vater gegen ihn ausgeſtoßen, verhallten wie ferner Donner. Er vernahm nur der Tochter Lie - besſchwuͤre, hoͤrte nur der Mutter ſegnende Verhei - ßungen, empfand nur Hoffnung und Zuverſicht.

Wenn ſeine Seele im vergangenen Winter zwi - ſchen ahnungsvollem Antheil fuͤr eine kranke Frau und zwiſchen ſchwaͤrmeriſcher Liebe fuͤr ein vorwurfs - freies Maͤdchen getheilt, einen hoͤheren Schwung genommen, ſich ſo zu ſagen der irdiſchen Sinnenwelt enthoben hatte, ſo kehrte ſie jetzt, aus ſolchem ſeltſam bedraͤngenden Widerſpruche befreit, zu ihren fruͤheren weltlichen Anforderungen zuruͤck; freute ſich des jun - gen, kraͤftigen Koͤrpers, den ſie beherrſchte und ſtrebte, von ihm getragen, behaglichem Daſein entgegen. Das alte Wort, daß einer ſchoͤnen Seele am wohl - ſten ſei in einem ſchoͤnen Leibe, durfte an unſerem Freunde ſeine ganze Wahrheit bewaͤhren.

Wer ihn ſo ruͤſtig daher wandeln ſah, konnte ihn fuͤr einen Halbgott halten.

Fuͤr etwas dergleichen ihn anſehen zu wollen, ſchienen denn auch die Weiber und Maͤdchen, die ihn1*4willkommen hießen, wenn er nach ruͤſtiger Wande - rung die Herberge ſuchte. Die freundlichſten Worte wurden vor allen Gaͤſten ihm gegoͤnnt, das Beſte ihm gebracht, das reinſte Lager ihm bereitet. Schon regte ſich wieder des Vagabunden Uebermuth in ihm, nur daß der Gedanke an eine ſchwere Stunde ſich laſtend darauf legte und ihn niederdruͤckte. Dieſe Stunde, wo er der Frau Graͤfin ſeiner verſtorbenen Mutter Brief in eigene Haͤnde zu uͤbergeben gelobt hatte, war der ſchwarze Fleck in freier Wandertage Sonne; vor dieſer Stunde fuͤrchtete ſich Anton. Doch die Furcht war ihm dienlich; ſie hielt ihn in Maaß und Gewicht; ſie verlieh ihm den milden Ernſt, welcher einen jungen Mann ſo trefflich kleidet.

Daß er aber nicht ohne Abentheuer bleibe, daß der Gegenwart ein buntes Zeichen wildbewegter Ver - gangenheit nicht fehle; auch dafuͤr ſorgte das Schick - ſal.

Er hatte des eigentlichen Vaterlandes Grenzen bereits uͤberſchritten und berechnete ſchon mit bangem Vorgefuͤhl den Tag, wo er die Stadt erreichen wuͤrde, die er ſich auserſehen, um, ſeiner Mutter Anweiſung gemaͤß, die Kunſt eines Schneiders in Anſpruch zu nehmen, der ihn bekleide, wie er geziemend vor der5 Graͤfin erſcheinen ſolle. Die Hauptſtadt wollte er durchaus nicht beruͤhren, aus Beſorgniß, ſich dort unnuͤtz aufzuhalten und dadurch die gefuͤrchtete ſchwere Stunde noch weiter hinauszuſchieben, die ihm jetzt ſchon ſo ſchwarz drohte, daß er ſie nicht raſch genug herbeiwuͤnſchen konnte, damit ſie nur uͤberſtanden werde; gut, oder uͤbel! Er ließ alſo das alte Br. mit ſeinen Thuͤrmen zur Seite und ſchlug einen Feld - pfad ein, der ihn in gerader Linie auf die Straße braͤchte, die zu ſeinem Ziele fuͤhrte. Es war gegen Abend, doch immer noch heller Tag. Ein Sonntag. Auf den Feldern lag feierliche Stille, nur von der Lerche Vesperlied belebt; kein Menſch zu ſehen, ſo weit das Auge reichte. Anton ſpuͤrte ſchon die weiche, wehmuͤthige Stimmung uͤber ſich kommen, die gegen Abend ſich bei ſo vielen Menſchen anmeldet und zwar, im Verkehre der Geſelligkeit uͤberſchrieen, in ungeſtoͤr - ter Einſamkeit deſto maͤchtiger zu werden pflegt. Sein Blick verfolgte eine hochaufſteigende Lerche, ſo weit, daß ſie ihm beinahe ſchon entſchwand, als er uͤber ihr einen groͤßeren Gegenſtand im blauen Raume wahrnahm, den er fuͤr einen Raubvogel hielt. Doch zeigte die Lerche nichts von aͤngſtlicher Beſorgniß, wirbelte vielmehr ihren Hymnus muthig fort. Erſt6 als ſie ſatt von Singen war, ließ ſie ſich zu ihrem Neſte nieder. Der Gegenſtand in der Hoͤhe nahm immer zu an Umfang das war kein Raubvogel ... er ſenkte ſich ... ſeine Formen traten deutlicher her - vor ... Anton erkannte einen Luftball. Nach und nach ſonderte ſich das Schiff, welches dieſer Ball trug, vor ſeinen Blicken deutlich ab ... Fahnen flat - terten, ... eine menſchliche Geſtalt bewegte die Fah - nen ... das Geſicht wurde kenntlich ... es war ein Frauenzimmer!

Eine Luftſchifferin! rief er aus; eine Luftſchifferin, die aus der zweiten Reſidenz des Landes in die Wol - ken emporſtieg und ſich nun zu mir herablaͤßt; zu mir ganz allein! Denn ſo viel ich ſehen kann, iſt außer mir Niemand hier zu ſehen. Wie raſch ſie ſinkt! Ja, das iſt nicht anders; mit dem Steigen geht es nicht ſo geſchwind. Jetzt bin ich ſchon im Stande, ihre Zuͤge zu unterſcheiden; ſie iſt huͤbſch nun wirft ſie einen Anker aus, er greiſt nicht ein, ſchnell ihr zu Huͤlfe!

Anton hing ſich an den herabgeworfenen Strick. Der Ballon machte Miene, ſich noch einmal zu heben, trug auch die neu hinzugekommene Laſt wirklich ein paar Schritte uͤber den Boden hin; doch Anton ließ7 nicht los und bald hatte ſich die letzte Spur von Widerſetzlichkeit verloren. Die Gondel wurde an einen Feldbirnbaum befeſtiget, die ſchoͤne Luftſchifferin erreichte, uͤber Antons Kopf, Schultern, Ruͤcken klet - ternd, unverſehrt den Erdboden.

Das war Huͤlfe in der Noth! rief ſie aus; waͤret Jhr, guter Freund, nicht herbeigekommen, wer weiß, ob der Oſtwind mich nicht bis nach jenem Gehoͤlz getrieben und mir den Ballon in den Baumzweigen beſchaͤdiget haͤtte. Nun aber ſetzt Eurem guten Werke die Krone auf und rennt nach dem naͤchſten Dorfe, mir einen Bauerwagen und einige Arbeitsleute her - beizurufen, damit wir vor Nacht in’s Reine kommen. Jch werde Euch fuͤr Eure Muͤhe anſtaͤndig bezahlen.

Womit? fragte Anton.

Womit? die Frage klingt verzweifelt naiv; womit bezahlt man ſonſt, als mit Gelde? Oder herrſcht hier zu Lande ein anderer Brauch?

Es kommt darauf an, Madame, wen man bezahlt, und wer bezahlen ſoll.

Seht doch! Jhr ſpitzt Eure Redensarten gewal - tig zu. Seid Jhr ein Schneider?

Jhr meint, weil ich mein Raͤnzel auf dem Buckel trage, muͤßt ich ein Handwerksburſche ſein? Aber ſo8 gut iſt’s nicht mit mir beſtellt. Jch bin nur ein Landſtreicher von Profeſſion und gegenwaͤrtig ohne Gewerbe.

Und was fuͤr Laͤnder habt Jhr neuerlich durch - ſtrichen? Von wannen kommt Jhr? wohin geht Jhr?

Nicht alle Leute ſind ſo gluͤcklich, auf derlei Fra - gen erwiedern zu koͤnnen: vom Himmel auf die Erde! wie eine gewiſſe Dame. Jch muß geſtehen, daß ich von Paris uͤber Turin und Nizza geraden Weges hierher ſtiefelte, Euch an dieſem Platze die Hand zu bieten.

So habt Jhr mich erwartet? Nicht uͤbel. Jhr ſcheint beſſer unterrichtet vom Strom der Luͤfte, als ich, die ihm Folge leiſten muß. Sollt es mich doch nicht wundern, wenn Jhr mir einreden wolltet, wir waͤren alte Bekannte?

Und das ſind wir, in der That. Jch glaube, Euren Namen zu kennen, und Euch.

Leicht moͤglich: Jhr habt in irgend einem Nacht - quartier ein Zeitungsblatt erwiſcht, welches meine heutige Luftfahrt verkuͤndet.

Mit nichten. Davon hab ich nichts gehoͤrt, noch geleſen. Auch bin ich nicht im Stande, Euch zu ſagen, wie Euer jetziger Name lautet; denn ich ſehe einen9 Trauring an Eurer Hand, und ſo vermuth ich, daß Jhr nach Eurem Gatten heißet. Doch in der Taufe empfingt Jhr den Namen Roſalia und nach Eurem Vater wurdet Jhr Sanchez genannt. Wer Roſalie Sanchez einmal geſehen hat, wer von ihr angeblickt wurde, wie ich Unwuͤrdiger, der kann ſie unmoͤglich vergeſſen; der muͤßte ſie wieder kennen, und wenn ſie auf einem feurigen Drachen angeritten kaͤme, mit einer Suite von Allem, was die liebe Hoͤlle an nied - lichen Teufelchen beſitzt.

Wenn’s noch lange ſo fortgeht, holdſeliger Land - ſtreicher, bin ich geneigt, Dich ſelbſt fuͤr einen Teufel zu halten. Das iſt die originellſte Entrevue, das ſonderbarſte Rendez-vous, deſſen ich mich aus meiner Praxis erinnere. Aber Deiner, mein Unerklaͤrlicher, kann ich mich wahrhaftig nicht erinnern. Haͤtten wir uns naͤher gekannt, ich will nicht nein ſagen, denn ich bin meiner Sache nicht gewiß, ſo wird ſich das ſpaͤter finden. Fuͤr jetzt wiederhol ich meine Bitte; der Tag geht zu Ende.

Jch eile zu gehorchen. Bald ſehen Sie mich wieder mit Wagen, Pferden, Eſeln und andern Men - ſchen. Bewahren und bewachen Sie ſo lange, wenn ich auch eine Bitte wagen darf, die Laſt meiner10 Schultern. Dort rauchen Schornſteine; das halbe Meilchen iſt bald zuruͤckgelegt.

Anton warf ſein Felleiſen zu Roſaliens Fuͤßen und flog queerfeldein dem fernen Doͤrflein zu.

Wie er auch ſeine Schritte foͤrdern mochte, doch war die Dunkelheit ſchon eingebrochen, bis er mit den nur muͤhſam aus der Schenke zu holenden Bauern angefahren kam. Roſalie, die ſich aus ſeinem Fell - eiſen ein Kopfkiſſen gemacht, ſchlief ruhig unter dem alten Birnbaum, deſſen Bluͤthen wie Schnee im reinen Oſtwinde auf ſie herabſaͤuſelten. Das Wiehern der luſtigen Pferde, das Raſſeln des Leiterwagens, das Geſchrei, womit die ſtaunenden Landleute den noch immer in der Luft ſchwankenden, wenn auch ſchon hoͤchſt abgemagerten Ballon begruͤßten, erweckte ſie nicht. Erſt als Anton ihr einen herzhaften Kuß auf die im Schlafe laͤchelnden Lippen druͤckte, ermun - terte ſie ſich. Jhre erſte That nach dem Erwachen war dieſe, daß ſie dem Kuͤſſenden eine derbe Ohrfeige gab; dann ſagte ſie freundlich: nun, Landſtreicher, ſeid Jhr wieder da?

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Unter ihrer Leitung, und indem ſie thaͤtig half, wurde der Luftball bei Sternenſchein voͤllig entleert, zuſammengepackt, aufgeladen; die ganze Geſellſchaft nahm auf Strohbuͤndeln Platz; dann ging es guter Dinge dem Dorfwirthshauſe entgegen, wo eine Schaar muͤſſiger Sonntagsgaffer des ungewoͤhnlichen Beſu - ches harrte.

Sie warf das Geld mit vollen Haͤnden aus, han - delte nicht mit den Leuten, entließ Alle, die ihr Bei - ſtand geleiſtet, zufrieden und dankbar.

Wie ſteht es aber jetzt mit meinem Landſtreicher? fragte ſie; in welcher Muͤnze ſoll ich dieſen befrie - digen?

Jch habe Euch, erwiederte Anton, eine Probe des Muͤnzfußes, der in meinen Staaten gilt, auf die Lippen gepraͤgt; in dieſer Gattung moͤgt Jhr weiter zahlen.

Nicht doch, mein Lieber; das waͤre Falſchmuͤnzerei und mein Gemal

O der der iſt nicht hier!

Freilich nicht. Und Euch die Wahrheit zu geſte - hen, er iſt uͤberhaupt nicht mehr vorhanden.

Jhr ſeid Wittwe?

Seit einem Jahre. Mein armer Mann hat den12 Hals gebrochen, indem er aus derſelben Gondel her - abſtuͤrzte, die mich heute trug.

Und Jhr wagt ...

Thorheiten! Seid Jhr ein rechtſchaffener Vaga - bund, ein tapferer Landſtreicher, und wollt nach ſol - chen Kleinigkeiten fragen? Schweigen wir davon. Fahrt lieber in Euren Erzaͤhlungen fort, die Jhr auf dem Leiterwagen ſo heiter begonnen. Wir ſtanden eben bei Laura, die Euch neidiſch in die Seite ſtieß, als ich Euch einige unſchuldige Onilladen lanzirte. Was iſt aus dem ſchoͤnen Weibe geworden? Habt Jhr Euch wieder geſehen?

Das ſind lange Geſchichten, reizende Roſalie; lange, langweilige, traurige Geſchichten, zu denen dieſe Nacht nicht ausreichen duͤrfte. Und morgen muͤſſen wir uns trennen; Jhr kehrt in die Hauptſtadt zuruͤck, ich habe ein ernſtes, ſchweres Geſchaͤft zu beſtellen, von deſſen Erfolg meine ganze Zukunft abhaͤngt. Dann hat der Spaß ein Ende. Laßt mich dieſe Stunden noch heiter verbringen; erzaͤhlt mir von Euch, von Euren Triumphen, Liebſchaften, Eurer Ehe; wie Jhr vom Seil in die Gondel geſtiegen ſeid; wo Euer Vater, Eure Schweſtern geblieben ſind? Setzt Eure Lippen in Bewegung. Dieſe muͤſſen mich13 nun einmal bezahlen, und darf’s nicht mit Kuͤſſen ſein, laßt es mit Worten geſchehen.

Roſalie ſchwieg einige Minuten, waͤhrend welchen ſie Anton betrachtete. Dann hub ſie in ernſthafterem Tone, wie bisher, an:

Jch weiß nicht, warum es mir unmoͤglich iſt, die Verſtellung, ja die Luͤge, worein ich mich vor allen Menſchen huͤlle, die ich auch Jhnen entgegentrug, jetzt laͤnger fortzuſetzen. Eine Empfindung eigener Art, weiß ich doch kaum, ob ich ſie Mitleid nennen ſoll? draͤngt mich, gegen Sie aufrichtig zu ſein. Vielleicht entſpringt ſie aus einer Ahnung, daß die Frivolitaͤt, die Sie zu zeigen erſtreben, nicht minder erheuchelt ſei, als jene, mit welcher ich prahle; daß auch Jhr Herz von heißen Schmerzen zerriſſen iſt, daß auch uͤber Jhr junges Haupt Jammer, Noth, Elend und Verzweiflung ſchon ihre gluͤhenden Scha - len ausgegoſſen haben, wie uͤber das meine. Fort mit der Luͤge! Fort mit erquaͤlter Luſtigkeit, mit frechen Witzen. Sehen Sie mich, wie ich bin, und wenn es Jhnen weh thut, in einen ſolchen Abgrund des Gra - mes zu ſchauen, dann um ſo beſſer fuͤr Sie. Mir iſt nicht mehr zu helfen. Jhnen kann ich vielleicht nuͤtzen, waͤr es auch nur dadurch, daß, mit meinem Ungluͤck14 verglichen, das Jhrige Jhnen wie Gluͤck erſchei - nen wird.

Als Sie mich in D. ſahen, kann ich beinahe vier - zehn Jahre alt geweſen ſein. Das Jahr zuvor hatte mein Vater mich an einen reichen Ruſſen verkauft. Jn dieſen wenigen Worten iſt die Geſchichte meiner Jugend enthalten. Jch fuhr fort, zu ſuͤndigen, nicht, weil mich Leidenſchaft oder Neigung trieb, ſondern nur aus Eitelkeit, aus Luſt am Schlechten, Gemeinen, Niedrigen. Es fehlte nicht an Verehrern, die ich, Einen wie Alle, verhoͤhnte, denen ich Geſchenke abſchwatzte und uͤber die ich mich, je vornehmer und reicher ſie waren, deſto lieber und ausgelaſſener luſtig machte in vertrautem Umgange irgend eines kecken Schulknaben, eines Lehrjungen, eines Jokei’s. Mit ſechszehn Jahren ſtand ich auf einer ſo niedrigen Stufe der Verderbtheit, daß ich kaum noch tiefer haͤtte ſinken koͤnnen. Dabei wurd ich immer ſchoͤner. Es ſcheint Naturen zu geben, die im Laſter aͤußerlich gedeihen und ſich nur kraͤftiger bluͤhend daraus ent - falten, wie manche uͤppige Frucht am goldenſten und duftigſten aus Miſt emporwaͤchst. Jch ward ange - ſtaunt wie ein Wunder von Schoͤnheit, Gewandtheit, Koͤrperkraft, Bravour auf dem Seile und Korruption. 15Mehr als die vorhergehenden Eigenſchaften brachte die letzte mich en vogue. Es gab einen foͤrmlichen Wettſtreit unter den Maͤnnern von Ton, jungen wie alten, wer zuerſt und zumeiſt erproben ſolle, wie weit meine Frechheit reiche. Mitten in dieſe Nacht und Finſterniß eines verworfenen Daſeins fiel ein Strahl des Lichtes und der Liebe; ein Engel, der Mitleid und Erbarmen gefuͤhlt, weil ſo viel Schoͤnheit und Geiſt (das klingt Jhnen ſehr anmaßend, nicht wahr? dennoch hab ich ein Recht, es zu ſagen); im Koth untergehen ſolle, fuͤhrte mir ein Herz ent - gegen: ein Herz! Das Einzige, was mir noch Nie - mand geſchenkt, niemand nur gezeigt hatte. Rohe, ſelbſtſuͤchtige Begierde hatte mir Gold uͤber Gold geboten, welches ich verachtete, nahm, verſchwendete, um verachtet zu werden. Hier forderte beſcheidene Liebe ein Herz fuͤr das ihre, und mit Schauder mußte ich entdecken, daß ich des Tauſches unwuͤr - dig ſei.

Der junge Mann, deſſen Bekanntſchaft ich in einer belgiſchen Stadt machte, war von Geburt und Bildung ein Deutſcher, nach ſeiner Eltern Tode von einer hier verheiratheten, kinderloſen Tante aufgenom - men worden und ſtand im Begriff, ſeine Studien als16 Phyſiker, Chemiker, Techniker zu vollenden, wonach er eine Stellung in Bruͤſſel, oder gar Paris zu finden dachte. Er ſah mich und faßte fuͤr mich jene gluͤhende Paſſion, die mit verderblicher Gewalt ſich bisweilen eines jungen Mannes um ſo furchtbarer bemaͤchtiget, wenn er ſelbſt noch ganz unverdorben iſt. Da er keinen Begriff haben konnte von meiner Schlechtig - keit, weil er uͤberhaupt nicht zu ahnen vermochte, daß es Teufel meiner Gattung in dieſer Geſtalt und in ſo zarter Jugend auf Erden gebe, ließ er kein Mittel unverſucht, ſich mir zunaͤhern. Jch, ſeine Schuͤch - ternheit durchſchauend, kam ihm ſittſam entgegen, war ſchlau genug, ihn uͤber mich und meine Eigen - ſchaften zu taͤuſchen, ſpielte die Vorwurfsfreie, die nur aus Liebe fuͤr ihn ſich ſchwach zeige und ſchloß auf dieſe Art ein Buͤndniß, welches ihn begluͤckte, welches er fuͤr ein unaufloͤsliches betrachtete. Dies that ich, weil ein ſolches Spiel mir neu war; anfaͤng - lich ohne tiefere Empfindung. Ja, ich verſpottete ſeine Leichtglaͤubigkeit, indem ich ihm Treue ſchwur. Aber das dauerte nicht lange. Der wahren, aufrich - tigen Feuergluth heißer Liebe widerſteht fuͤhlloſe Haͤrte zuletzt doch auch nicht. Waͤhrend ich noch waͤhnte, dies Verhaͤltniß zu beherrſchen und ihn von mir zu17 ſtoßen, ſobald es mir noͤthig ſcheinen wuͤrde, war Reinhard ſchon der Herr meines Willens geworden. Jch ging ernſtlich mit mir zu Rathe und ich entdeckte, daß ich fuͤr ihn empfand, was ich noch nie empfunden. Zuerſt erſchrak ich vor mir und meinen Gefuͤhlen: ſah ich doch meine wilde Freiheit gefaͤhrdet! Jch wollte mich losreißen; ich verſuchte, ihm untreu zu werden. Vergebliche Muͤhe! Die Wahrheit brach durch, das Reich der Luͤge war zerſtoͤrt, die Suͤnde lag blos und nackt in ihrem Schlamme zu meinen Fuͤßen ich gehoͤrte ihm! Doch zugleich begriff ich, daß ich ſeiner Achtung, ſeiner Treue, daß ich Seiner nicht wuͤrdig ſei! Und dies durft ich ihm nicht verſchweigen. Der Arme! Wie bleich und erſchuͤttert ſtand er vor mir, als ich meine Bekenntniſſe ihm ablegte, als ich ihm enthuͤllte, wen er Geliebte nenne!? Nein, ich ſchonte mich nicht. Tritt mich in den Koth, aus dem Du mich erhoben haſt, rief ich ihm zu; wirf mich zuruͤck in den Pfuhl, dem ich entſtiegen bin, Deine reine Seele durch den Hauch dieſes Athems zu beflecken; toͤdte mich, aber verzeihe mir! Und er hob mich auf und ſagte nur: Was Du warſt, bevor Du mich kannteſt, darf ich nicht richten, noch verdammen; die Frage iſt nur, was Du warſt, ſeitdem ich Dich liebe,Die Vagabunden. IV. 218was Du wurdeſt, ſeitdem Du mich liebſt; was Du ſein wirſt und willſt, ſo lange wir uns lieben werden? Und deshalb frag ich Dich: biſt Du mir treu gewe - ſen von der Stunde an, wo Du mein warſt? Willſt Du mir treu ſein und bleiben, aus frohem Herzen und freiem Willen, bis zum Tode? Und kannſt Du dieſe Frage mit einem entſchiedenen Ja beantworten, jetzt, zu dieſer Stunde, ſo werd ich um ſo ſicherer an Dich glauben, je ungeheurer Deine freiwilligen Geſtaͤndniſſe ſind; werde um ſo feſter an Dir halten, je hoͤher Du Dich zu erheben vermochteſt durch Deine und meine Liebe. Trennen von Dir kann ich mich nicht mehr. Erwiederſt Du Nein, dann ſprichſt Du mein Todesurtheil, doch ſterbend will ich Dich noch ſegnen, daß Du Wahrheit geſprochen. Kannſt Du Ja ſagen, dann iſt es unſer beider Leben.

Jch ſagte Ja! Jch durfte es ſagen, mit gutem Gewiſſen.

Mein Vater ſah die Liebſchaft, die ſeine eintraͤg - lichſte Tochter mit einem unbemittelten Studenten unterhielt, nicht guͤnſtig an. Noch unguͤnſtiger mußte eine Geliebte, die ſich allabendlich auf dem Seile ſchwang und ihre Reize unweiblich zur Schau trug, Reinhards religioͤſen, buͤrgerlichen Verwandten erſchei -19 nen. Gedruͤckt, geſcholten, geſtoͤrt von beiden Seiten, entſchloſſen wir uns zur Flucht. Reinhard hatte ſchon fruͤher mancherlei Verſuche gemacht, ſich gewagten Theorieen hingegeben, die Luftſchifffahrt betreffend. Einem Charakter von ſeiner Energie war das Buͤcher - Leben ſtets laͤſtig geweſen. Jhn trieb es, zu wagen, zu gewinnen! Ein beſtimmter Zweck nur hatte ihm gefehlt, nach Auſſen zu ſtreben. Dieſer zeigte ſich nun. Er brach ſeine Ketten, ich die meinen, wir ent - wichen miteinander. Was wir an Geld und Geldes - werth beſeſſen, wurde verwendet, ſeine Plaͤne auszu - fuͤhren. Jn einer franzoͤſiſchen Grenzſtadt, wo wir einen ſtillen Zufluchtsort gefunden, begann und voll - endete der in allen mechaniſchen Geſchicklichkeiten geuͤbte Reinhard ſeinen großen Luftballon, mit viel - faͤltigen neuen Verbeſſerungen ausgeſtattet, die er ſelbſt erſonnen. Seine erſte Probefahrt unternahm er, ohne ſie vorher oͤffentlich anzukuͤndigen. Da ſie uͤber alles Erwarten guͤnſtig ausfiel, ließ er ihr bald eine zweite folgen, welche ein anſehnliches Publikum verſammelte und uns eine gute Einnahme brachte. Von nun ſchien uns Alles gelingen zu wollen. Wir durchreiſeten ganz Frankreich, England, und in allen Staͤdten erndtete Reinhard Geld und Ruhm. Die Beſorgniſſe, die ich2*20anfaͤnglich gehegt, wenn ich ihn ſein Leben einem ſo gebrechlichen, duͤnnen Fahrzeuge anvertrauen ſah, ſchwand gaͤnzlich durch die Macht der Gewohnheit. Wie zu einem Spaziergange durch Feld und Flur ſah ich ihn zu jeder neuen Luftfahrt ſich ruͤſten, winkt ich ihm laͤchelnd: viel Vergnuͤgen nach, wenn er von muthiger Freude ſtrahlend emporſtieg. Jch liebte ihn mit einer Jnnigkeit, die ſich durch Worte nicht beſchrei - ben laͤßt; ich lebte nur in ihm, nur in meiner Anhaͤng - lichkeit fuͤr ihn. Seine Sanftmuth legte meinen uͤblen Gewohnheiten den mildeſten Zwang auf: ich beſſerte mich, ich wurde gut, weil es mich gluͤcklich machte, ihm zu gehorchen, ihm nachzuſtreben. Jch glaube nicht, daß auf dieſer Erde noch zwei Menſchen leben, die ſo gluͤcklich mit einander ſind, als ich mit ihm war. Wir waren nie getrennt, auch nicht auf Viertelſtun - den, außer wenn er in die Luft ſtieg. Und daß ich, waͤhrend er die blauen Raͤume durchflog, auf der Erde weilen mußte, ohne ihn, blieb die einzige Einwendung, die ich gegen ſeine Wagniſſe vorzubringen wußte. Jch beneidete die Wolken, durch welche er drang, ich fuͤhlte Eiferſucht gegen die Adler, die ſich ihm naͤhern durften. Da ſchlug er mir vor, ihn zu begleiten, halb ſcherzend, und war nicht wenig erſtaunt, als ich ſeinen21 Vorſchlag feurig ergriff. Er durfte ſein Anerbieten nicht mehr zuruͤcknehmen, ich ließ ihm keine Ruhe. Wir gingen ohne Aufſchub an die Arbeit, einen zwei - ten groͤßeren Ballon zu bauen; ſchon der naͤchſte Sommer fand uns bereit, die gemeinſchaftliche Reiſe anzutreten. Jch zaͤhlte vor Ungeduld Stunden und Minuten: der Gedanke, mit ihm vor Aller Blicken mich erheben, mir ſagen zu duͤrfen, er iſt Dein, Du biſt ſein und ſo ſchwebt ihr, ein ſeliges Paar, zu den Sternen hinauf, machte mich ſchon im Voraus raſend vor Entzuͤcken. Wenn ich dabei, wider Willen, an Gefahr denken mußte, ſo dacht ich nichts als meinen unſern Tod. Und Tod mit ihm! Was konnte das Anderes ſein, als Leben? Jch fuͤrchtete nicht den Tod an Reinhards Seite; ich forderte ihn hoͤhniſch her - aus ... und er uͤbte die furchtbarſte Rache.

Wir ſtiegen vor einer unermeßlichen Schaar von Gaffern, die dem jugendlich-ſchoͤnen Paare laute Bewunderung zollten. Jm Augenblicke, wo man die Stricke losließ und der umfangreiche Luftball ſich maͤchtig hob, umſchlang ich mit dem linken Arme den Geliebten, mit dem rechten ſchwenkt ich uͤber den Rand der Gondel hinaus eine Fahne, wie triumphi - rend uͤber unſer Gluͤck.

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Obwohl wir mit ungemeiner Schnelligkeit empor - flogen, regte ſich doch in mir nicht eine Spur von Beſorgniß; je hoͤher wir drangen, deſto wohler fuͤhlt ich mich und in dieſem Gefuͤhle uͤberſah ich, daß Rein - hard unruhig, ja aͤngſtlich wurde. Endlich aber konnte mir, trotz meiner uͤbermuͤthigen Stimmung, nicht laͤnger entgehen, wie er ſich vergebens bemuͤhte, das Ventil, welches hoch oben am Ballon angebracht iſt, zu oͤffnen. Auf meine Frage, wozu, erklaͤrte er mir, der Ballon ſei zu ſtark gefuͤllt, es habe ein Verſehen ſtattgefunden und nun koͤnne er die Klappe, durch welche der Ueberfluß an Gas ausſtroͤmen ſolle, nicht oͤffnen, weil die Schnuͤre ſich verwickelt haͤtten. Was kann uns geſchehen? fragt ich, ohne mit der Stimme zu beben.

Wir fliegen immer hoͤher, ſpracher, und indem er ſich zu truͤbſeligem Laͤcheln zwang, fuhr er fort: moͤglicherweiſe gelangen wir in die Sonne! Laß uns im Monde bleiben, rief ich ihm zu, der Mond iſt der Stern der Liebe doch kaum hatt ich dieſe Worte geſprochen, als auch ſchon unſer Flug gehemmt ſchien und wir, zuerſt langſam, dann immer ſchneller, ſanken. Jch ſah Reinhard forſchend an. Er wies23 nach oben der Ballon war geborſten, durch einen großen Riß entleerte er ſich unglaublich ſchnell.

Wir ſchwebten uͤber einer oͤden, menſchenleeren Waldſtrecke. Um dieſe zu vermeiden, und wo moͤglich eine freie Flaͤche zu gewinnen, bevor wir den Boden erreichten, wurde aller Ballaſt ausgeworfen; doch vergebens: die Erleichterung der Laſt ſtand in keinem Verhaͤltniß zur Abnahme der tragenden Kraft; dieſe wurde von Augenblick zu Augenblick geringer; unſer Fallen glich beinah einem Sturze; mir vergingen faſt die Sinne, Reinhard behielt vollkommene Faſſung. Er band ſich das Ende eines Strickes, nachdem er das entgegengeſetzte an die Gondel befeſtiget, um den Leib, erſah den Moment, wo wir eine Luͤcke im Walde unter uns hatten, ſprang tollkuͤhn hinab, erreichte mit ſeinen Fuͤßen gluͤcklich den Erdboden und wendete jetzt alle Kraͤfte an, den Ballon bis zum naͤchſten Baume zu zerren, an deſſen Stamm er ſich klammern und ſodann den Strick befeſtigen wollte. Doch er hatte nicht berechnet, daß von dem Gewicht ſeiner eigenen Schwere befreit, daß zerriſſene Gewebe ſich noch ein - mal erheben koͤnne. Dies geſchah, und mit ſo tuͤckiſcher Gewalt, daß der Ungluͤckliche in fruchtloſem Wider - ſtreben vom Boden aufgezogen wurde. Jch ſtreifte24 uͤber die Wipfel der hohen Baͤume hin und zerrte den gemißhandelten Leib meines Geliebten hinter mir her; ehe ich noch mit blutenden Fingern den Knoten geloͤ - ſet, den er in ſeiner Todesangſt fuͤr mich doppelt feſt um die Gondel geſchlungen, war ſein Haupt ſchon zerſchellt an den Aeſten der ſtarren, fuͤhlloſen Baͤume. Die Gondel blieb in Zweigen haͤngen. Jch kletterte hinab. Jch band den Leichnam los. Jch warf mich uͤber ihn ...

Das Uebrige ergiebt ſich von ſelbſt. Jch brauche Jhnen nicht zu erklaͤren, hoff ich, warum ich die Luftſchifferei fortſetze. Die Leute waͤhnen, weil es ein eintraͤgliches Gewerbe ſei fuͤr eine ſo junge, ſchoͤne Wittwe. Was kuͤmmern mich die Leute? Sie haben geſehen, wie gering ich das Geld achte. Jch wage mein Leben in der Erinnerung an den, der auf dieſe Weiſe das ſeinige verlor; ich wuͤnſche zu ſterben, gleich ihm. Jch denke nur Seiner, wenn ich abge - ſchieden von dieſem Erdgewuͤhl, hoch uͤber Eurem Jammer in Luͤften hauſe. Dann glaube ich, ſeine Naͤhe zu fuͤhlen und eines Tages, mein ich, wird er kommen, mich zu ſich zu rufen. Vor den Menſchen zeig ich mich luſtig, keck, vielleicht frech! Warum ſoll ich mich dem Geſindel zeigen, wie ich bin? Sie ver -25 ſtehen mich nicht; ich habe als Kind ſchon gelernt, Jung und Alt zu verachten. Daß ich Jhnen mein Herz geoͤffnet ... kaum weiß ich ſelbſt, warum. Viel - leicht verdienen Sie’s nicht? Doch es iſt geſcheh’n! Und nun leben Sie wohl. Jch danke Jhnen noch einmal fuͤr Jhren Beiſtand; er war mir willkommen. Denn, ſuch ich ſchon den Tod, ſiegt doch in ſolchen Augenblicken immer wieder des Lebens eingeborener Trieb. Auch will ich nicht unten, nicht auf dem ſchlechten Erdboden enden. Mein Reich iſt die freie Luft. Hoͤrt Gott mein Gebet, dann ſendet er mir einen ſeiner Blitze, der mich in Feuer huͤllt, wenn um mich her die ſchwarzen Wolken krachen. Viel Gluͤck, Vagabund, auf die Reiſe! Jetzt geh ich ſchlafen.

Neunundſechszigſtes Kapitel.

Wie Anton wirklich auf’s Schloß Erlenſtein gelangt und ſeinen leiblichen Vater kennen lernt. Antoinettens Brief an Graͤfin Julia. Der junge Graf ſtellt ſich zur Unzeit ein. Anton entſagt jeder Hoffnung.

Anton ſtand vor den eiſernen Gittern des Schloſſes Erlenſtein. Gewiß waren es die Urenkel jener großen Hunde, von denen ſeiner Mutter Handſchrift berich - tet, die ihn heute ſchmeichelnd begruͤßten, wie deren26 menſchenfreundliche Vorfahren dereinſt die arme Antoi - nette begruͤßt hatten.

Auch das Geſchlecht der Beſitzer hat ſeitdem gewechſelt und wenn es nicht Urenkel ſind, denen er entgegentreten ſoll, iſt es doch der Sohn jener ſtren - gen, edlen Graͤfin, welchem er nun (als Sohn) Vater - liebe abgewinnen will.

Den Wanderburſchen hat er im Gaſthauſe gelaſſen. Jn ſchwarzem Kleide, wie man zum Feſte geht, mit der Haltung eines fein gebildeten Mannes, naͤhert er ſich den Stufen, vor denen damals ſeine Mutter um Einlaß bat.

Er fragt zunaͤchſt nach der Graͤfin, fuͤr die das Schreiben der Verſtorbenen beſtimmt iſt. Ein Kam - merdiener nicht mehr der graue, treue Diener und Vertraute der Familie, denn er iſt laͤngſt geſchieden, ſeiner alten Herrſchaft zu folgen, giebt ihm kund, daß die Graͤfin abweſend ſei, auf einem Ausflug nach ihrem lieben Sophienthal begriffen. Der Graf ſei zu Hauſe und er koͤnne gemeldet werden, obwohl Seine graͤflichen Gnaden leidend waͤre.

Anton ſchwankt. Seine zuckenden Fingerſpitzen halten das Schreiben, welches er ſchon, wie eine vor - zuzeigende Beglaubigung in Bereitſchaft hat; der27 Kammerdiener ſieht es, erbietet ſich, es dem Grafen einzuhaͤndigen. Anton zoͤgert; er duͤrfe es nur in die Haͤnde der Graͤfin legen, ſagt er. Dem Diener kommt ſein Benehmen befremdlich vor; ehe noch ein beſtimm - ter Entſchluß ausgeſprochen wurde, erfaͤhrt Anton, daß er angemeldet ſei und daß der Graf ihn erwarte.

Jn einem großen Eckzimmer des oberen Stock - werkes, mit offener Ausſicht nach einem friſch-gruͤnen - den Park, den Krankenſtuhl an’s Fenſter geſchoben, von Hunden umlagert, ſitzt, liegt vielmehr Graf Guido auf Erlenſtein, ein Mann von etlichen und vierzig Jahren und begruͤßt den von ſtreitenden Empfindun - gen faſt betaͤubten Anton mehr erſtaunt, als unfreund - lich, obgleich die Zuͤge des maͤnnlich-ſchoͤnen, durch einen uͤberlangen Reiterbart abgetheilten Angeſichtes, deutlich zeigen, daß gerade in dieſer Stunde die Fuß - gicht einen heftigen Anfall auf des Leidenden gute Laune unternimmt. Was dem Kammerdiener gleich bei Antons Erſcheinen auffiel, verfehlt jetzt auch nicht, ſichtbare Wirkung auf den Gebieter zu machen: es iſt die Aehnlichkeit zwiſchen Vater und Sohn. Der letztere, deſſen unſtaͤter Blick in einen großen Wand - ſpiegel faͤllt und ſich darin neben dem Grafen erblickt, faͤhrt erſchrocken zuruͤck, ohne paſſende Worte fuͤr eine28 Anrede zu finden. So ſchauen ſich Beide ſchweigend an, bis der Kammerdiener ſich zuruͤckgezogen und die Thuͤre hinter ſich geſchloſſen hat.

Sie haben, wie ich hoͤre, einen Brief fuͤr meine Gemahlin? Von wem kommt er? Und was will er?

Es iſt ein Brief, den meine Mutter kurz vor ihrem Tode ſchrieb, den ich perſoͤnlich uͤberreichen ſoll, nach ihrem letzten Willen.

Hieß Jhre Mutter Antoinette? Antoinette Hahn?

Ja, Herr Graf!

So biſt Du mein Sohn!

Bei dieſen, nicht ohne Ruͤhrung ausgerufenen Worten hielt der Graf dem jungen Manne die Hand entgegen, wie wenn er ſie ihm reichen wollte. Anton trat einen Schritt vor, ergriff die Hand und fuͤhrte ſie ehrerbietig an ſeine Lippen.

Graf Guido betrachtete ihn lange, als ob er ihn im Geiſte mit einem Abweſenden vergleichen wollte, dann ſchuͤttelte er wehmuͤthig den Kopf, ſtieß einen tiefen Seufzer aus und verſank in trauriges Nach - ſinnen, woraus er ſich mit unverkennbarer Muͤhe aufraffte.

Jch habe kein Geheimniß vor meiner Frau, Anton; Graͤfin Julie weiß Alles, was ich von Dir und Deiner29 Mutter ihr zu ſagen wußte. Du begehſt alſo keine Verletzung gegen den Wunſch der Verſtorbenen, wenn Du mir das Schreiben mittheilſt, welches ſie Dir hinterließ. Jch will es leſen, ehe wir weiter mit ein - ander verhandeln.

Anton uͤberreichte den Brief ſeinem Vater. Als dieſer die Aufſchrift erblickte, ſchien er ſich der Hand - ſchrift zu erinnern, die ihm dereinſt ſo theuer geweſen. Er ſagte leiſe: armes Maͤdchen! Dann las er:

Graͤfin Julia! Wenn Jhre Freundin, die Frau des Paſtors in Sophienthal, noch am Leben iſt, wie ich hoffe, mag ſie Jhnen beſtaͤtigen, daß nicht lange Zeit vor Jhrer Vermaͤhlung ein verlorenes Maͤdchen im Paſtorhauſe uͤbernachtete und von dort aus ein Briefchen an den Grafen Guido, Jhren damaligen Braͤutigam, richtete. Dieſes Maͤdchen, welches Jhnen als eine arme Verwandte der Paſtorin vorgeſtellt ward, bin ich. Nach Sophienthal war ich gekommen, um Sie zu ſehen; um zu erfahren, ob die begluͤckte Nebenbuhlerin, der ich weichen muͤſſen, meinen Haß verdiene! ob meine Liebe! Jch hoͤrte Sie, Graͤfin, ich ſah Sie, und ich entſagte. Voll von Jhrem Bilde, desgleichen ich zu jener Zeit noch nicht geſehen hatte, desgleichen mir auch im Laufe meines elenden Lebens30 nicht weiter begegnet iſt, ſchrieb ich Jhrem kuͤnftigen Gatten und gab ihm ſeine Schwuͤre zuruͤck, ſeine Frei - heit, mit dem einzigen Vorbehalte, daß er ſich beſtrebe, Jhrer wuͤrdig zu werden.

Jch zweifle nicht, daß er dieſe meine Bedingung redlich erfuͤllt hat; an Jhrer Seite konnte er ja nicht anders. Und da eine gluͤckliche Ehe volles Vertrauen bedingt, ſo wird Guido Jhnen unfehlbar von den Verirrungen ſeiner Jugend, wird Jhnen auch von mir erzaͤhlt haben. Deshalb darf ich nicht fuͤrchten, Zwietracht zu erregen, wenn ich jetzt von meinem Sterbebette zu Jhnen rede; wenn ich Jhnen meinen Sohn den Sohn Jhres Gatten empfehle! Jch habe in unweiblichem Hochmuth, in eitlem Zorn, Eltern und Kind verlaſſen; habe das Daſein einer liebloſen Mutter, einer undankbaren Tochter, unter gold’nen Flittern und glaͤnzendem Elend, im Wider - ſtreit mit meines Herzens beſſerer Stimme gefuͤhrt, bis zuletzt Krankheit und Lebensuͤberdruß, an der Hand des Mangels, mich dem offenen Grabe uͤber - lieferten. An ſeinem Rande ſtehend, wurde mir noch ein Zeichen ewiger Gnade und Erbarmung zu Theil: Gott ſandte mir meinen Sohn, daß er die letzten Tage der Sterbenden durch ſeine Naͤhe, durch ſein31 Mitleid verklaͤre. Gott ſandte ihn mir, ich ſende ihn der Graͤfin Julia! Er hat in unſtaͤten Wanderungen, in Thorheiten und Jrrthuͤmern ein reines Herz bewahrt. Er iſt wuͤrdig, durch Graͤfin Julia ſeinem Vater an’s Herz gelegt zu werden. Gott hat es alſo gefuͤgt. Sie verkennen dieſe Fuͤgung nicht; deſſen bin ich gewiß und ſo ſterb ich ruhig und gern. Der Segen einer armen Suͤnderin dringe aus duͤrftiger Todtenſtube in Jhres Schloſſes Hallen.

Antoinette.

Guido hatte dieſen Brief laut vorgeleſen, mit feſter Stimme, gleichſam um ſich den Jnhalt und die Bedeutung deſſelben recht in’s Gemuͤth zu fuͤhren. Er ſagte dann zu Anton:

Es war nicht unſere Schuld, daß von unſerer Seite nichts fuͤr Dich geſchehen konnte; weder meine Schuld, noch meiner ſeligen Mutter, am allerwenig - ſten meiner guten Frau, die, nachdem ſie durch mich von Deiner Exiſtenz erfuhr, tief bekuͤmmert war, nicht fuͤr Dich ſorgen zu duͤrfen. Deine Mutter hatte es alſo gewollt: die furchtbarſte Drohung ward durch ſie an jeden Verſuch geknuͤpft, den wir gewagt haͤtten, Dir huͤlfreich zu ſein. Auch waͤhnte ich Dich, mit ihr, in weiter Ferne. Jetzt biſt Du hier und ich freue32 mich deſſen. Daß Julia Dir Mutter werde, bedarf es der dringenden Mahnung dieſes Briefes nicht. Du ſelbſt ſollſt beſtimmen, was wir fuͤr Dich thun, in welche Formen wir unſere Pflichten fuͤr Dich klei - den duͤrfen. Fuͤr’s Erſte bleibe einige Tage hier, daß ich Dich, daß ich Deine Vergangenheit kennen lerne. Unterdeſſen kehrt die Graͤfin aus Sophienthal heim, und dann ...

Dieſe Rede ward unterbrochen durch das Geraͤuſch eines am Schloſſe vorfahrenden Wagens, dem der Graf aufmerkſames Gehoͤr zuwendete, wobei der Ausdruck aͤngſtlicher Beſorgniß ſeine bisher freund - lichen Mienen verduͤſterte. Er hieß Anton nach dem Vorzimmer gehen und einen Diener herbeirufen; als dieſer kam, fragte er haſtig: wer war’s? und als der Diener entgegnete: der junge Graf! warf ſich Guido halb zornig, halb niedergeſchlagen in ſeinen Lehnſtuhl zuruͤck, laut ausrufend: Den fuͤhrt ein boͤſer Geiſt um dieſe Stunde nach Hauſe!

Anton begriff, daß er in einem Sohne ſeines Vaters, den eine ſolche Aeußerung empfing, keinen Bruder zu erwarten habe, und fragte beſcheiden, ob er ſich entfernen ſolle?

Graf Guido winkte ihm, zu bleiben.

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Geſchehen muß es doch, erfahren muß er doch, daß Du lebſt und Anſpruͤche haſt, zu leben. Beſſer heut als ſpaͤter! Vielleicht kommen wir mit einem Sturme durch! Anton, Du wirſt in dieſem Hauſe etwas erblicken, was ſelten iſt: einen Sohn, den ſeine eigene Mutter (gegen alle Welt nur Huld und Guͤte) geringſchaͤtzt, meidet, haßt, ſo weit ſie haſſen kann! einen Sohn, den ſein Vater abgoͤttiſch liebte, verzog, ſich uͤber den Kopf wachſen ließ, und den er nun fuͤrchtet, wie man nur einen grauſamen Tyrannen fuͤrchten kann, weil die Affenliebe fuͤr ihn noch nicht beſiegt iſt; einen Sohn endlich, der, die Selbſtſucht in Perſon, fuͤr keinen Menſchen ein Herz hat, fuͤr ſeine Eltern am Wenigſten; der in Muͤßiggang und Wildheit die Zeit verſchwendet und ſich hier nur blik - ken laͤßt, wenn er Geld braucht. Jch hatte nur noch eine Hoffnung fuͤr ihn; er ſollte die Tochter aus einer Familie heirathen, mit der ich verwandt bin; einer Familie, wo ſtrenge Sitte und frommer Ernſt vor - herrſchen. Dort ſollte er die weitlaͤuftigen, etwas derangirten Beſitzthuͤmer uͤbernehmen, mit meinem Gelde nachhelfen, durch Thaͤtigkeit und Fleiß, unter ſeiner Schwiegereltern Obhut auf eine andere Bahn geleitet werden; wir hofften, das wuͤrde ihn erman -Die Vagabunden. IV. 334nen und zu ſich ſelbſt bringen; ihn ſchien es auch anzulaͤcheln, daß er dadurch ſein eigener Herr, Herr eines Hauſes und einiger großer Landguͤter werden koͤnne. Doch Alles zeigte ſich als kurzer Traum, aus welchem ſeine ploͤtzliche Ruͤckkehr, verbunden mit der determinirten Erklaͤrung: die Braut gefalle ihm nicht, uns erweckte. Seitdem treibt er es aͤrger als je.

Anton hatte ſchon im Sinn, nach dem Tauf - namen des ungerathenen Soͤhnchen zu fragen, weil er ſich Gewißheit ſchaffen wollte, ob eine duͤſtre Ahnung, die ihm bei dieſer Schilderung durch’s Ge - daͤchtniß zog, wahr werden koͤnne. Doch wurde ihm dieſe unangenehme Muͤhe erſpart, denn Graf Louis trat haſtig ein.

Was will dieſer Menſch? rief er, mit der Reit - gerte auf Anton deutend, eh er noch einen Gruß fuͤr ſeinen Vater gefunden. Der Vater entgegnete mit faſt erkuͤnſtelter Heftigkeit: Dieſer Menſch iſt Dein Bruder!

War Graf Erlenſtein ſchon einmal verheirathet, eh er meiner Mutter die Hand reichte? Wie?

Graf Guido verſtummte vor Gram und Zorn.

Einen Baſtard ſoll ich doch nicht etwa Bruder nennen? Jch begreife nicht, mein Vater, wie ſie mir35 eine Zumuthung dieſer Art machen moͤgen! Noch weniger aber kann ich begreifen, wie Sie einem Bur - ſchen ſeiner Art hier Eintritt geſtatten? Ein Her - umtreiber und Gaukler, ein Knecht und Menagerie - Waͤrter; ein Vagabund, der ſchlechter Streiche hal - ber vor der Polizei aus einer Stadt in die and’re flie - hen muß, der ſich in vornehme Haͤuſer ſtiehlt, als Muſikant, als Tanzmeiſter, und dann entweicht, wenn er ſich erkannt ſieht?! Schicken Sie ihn fort, mein Vater, ſonſt laſſ ich ihn binden und unſere Amtsdiener bringen ihn nach der Kreisſtadt.

Graf Guido warf ſeine Augen von Louis auf Anton, von Anton auf Louis, als wenn er beide fra - gen wollte, ob und woher ſie ſich kennten. Louis ſchaͤumte vor Wuth. Anton fand Kraft ſich zu beherrſchen, zu ſchweigen; doch war er noch nicht ſo weit Herr uͤber ſich, ruhig zu ſagen, was ſagen zu wollen, er ſich bereits entſchloſſen fuͤhlte.

Der Vater hatte unterdeſſen Antoinettens Brief zuſammengefaltet und denſelben, um ihn den Blicken ſeines rechtmaͤßigen Sohnes und Erben zu ent - ziehen, unter anderen Papieren verborgen.

Noch einmal hub Louis an: wird der Landſtrei - cher nun bald ſeiner Wege gehen?

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Noch einmal wendete Guido einen bittenden Blick auf Anton, der ſo viel ſagen ſollte, als: recht - fertige Dich!

Dieſer nahm das Wort:

Herr Graf, ich habe nur die Befehle meiner ſter - benden Mutter ausgefuͤhrt, da ich hier, mit innerli - chem Widerſtreben eindrang. Sie haben mich liebe - voll aufgenommen, ich danke Jhnen fuͤr die vaͤterlich - edlen Abſichten, die Sie mir kund gethan; ich nehme, ſcheidend, Achtung und kindliche Verehrung fuͤr Sie in meinem Herzen mit mir fort; aber ich muß ſchei - den. Jch kann und darf mich zwiſchen Sie und Jhren Sohn nicht draͤngen. Die Theilnahme, die Sie mir, nah oder fern goͤnnen wollten, muͤßte ewigen Zwieſpalt herbeifuͤhren. Von Verſoͤhnung zwiſchen ihm und mir kann niemals die Rede ſein. Er haßt mich auf Leben und Tod; er weiß, warum er es thut; er hat Recht mich zu haſſen. Jch geb es ihm von ganzer Seele zuruͤck. Doch er iſt Jhr Sohn, er iſt der Sohn der Graͤfin Julia, und ich weiche ihm. Leben Sie wohl mein mein Herr Graf!

Anton, bleibe, bleibe bei mir! Er liebt uns nicht. Du haͤtteſt mich geliebt und ich Dich. Rei -37 nige Dich von den Anklagen, die er gegen Dich vor - gebracht und bleibe bei uns!

Jch kann ihn nicht Luͤgen ſtrafen. Es iſt wahr, daß ich eines Vagabunden leben fuͤhrte; es iſt wahr, daß ich mir als Knecht und Gaukler mein Daſein friſtete. Wenn ich dennoch mehr werth bin, als er, wenn ich meine Ehre dennoch beſſer bewahrte, als er, ſo ſind meine Ehre und mein Werth zu hoch uͤber ihm, um mich auf einen Wort ſtreit mit ihm einzu - laſſen. Einen andern jedoch darf ich in dieſen Raͤu - men mit ihm nicht beginnen, denn er iſt der Sohn des Hauſes. Jſt es ihm an jedem andern Orte gefaͤl - lig ... er weiß, wie ich meine Sachen ausfechte, auch ohne Waffen. Gewiſſen Helden gegenuͤber genuͤgt der Stock. Noch einmal, Herr Graf, leben Sie wohl und ſein Sie gewiß, daß ich Jhnen in Liebe und dankbarer Anhaͤnglichkeit ergeben bleibe.

Anton hoͤrte noch im Vorzimmer den Grafen mit ſchmerzhafter Anſtrengung Anton, Anton! rufen. Aber er kehrte nicht mehr zu ſeinem Vater zuruͤck und verließ das Schloß.

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Siebenzigſtes Kapitel.

Worin Anton niedergeſchoſſen wird und ſich beinahe verblutet. Herr Schkramprl tritt noch einmal auf und gerade im rechten Augenblicke. Anton’s Wunde iſt nicht toͤdtlich. Schkramprl legt ſich auf die Diplomatie.

Anton brachte eine ſchlafloſe Nacht im Dorf-Gaſt - hauſe zu. Doch erhob er ſich, nachdem er ſein ganzes Geſchick ernſt und ruhig durchgedacht, mit vollkomm - ner Reſignation vom ſchlechten Lager und ſchaute gefaßten Muthes in den goͤttlichen Fruͤhlingsmorgen hinaus. Was iſt’s weiter, ſprach er zu ſich ſelbſt, eine getaͤuſchte Hoffnung mehr! Und hab ich nicht dennoch dabei gewonnen? Meiner armen Mutter letz - ten Willen hab ich erfuͤllt, ſo gut ich vermochte; denn daß Graͤfin Julie abweſend, iſt nicht meine Schuld; und einen Mann, der mir das Leben gab, den ich beinahe haßte, vor dem ich mich fuͤrchtete, hab ich nun kindlich lieb; trage ſein Andenken mit mir, wie das eines guthmuͤthigen, gefuͤhlvollen Men - ſchen, den ſeine Schwaͤche ungluͤcklich macht, den ich mehr bemitleiden als anklagen darf. Jch kann mei -39 nen Vater lieben, ich kann meine Mutter ſelig prei - ſen, weil ſie’s uͤberſtanden hat, folglich bin ich reicher als ich jemals war; und fuͤr das Uebrige wird der Vormund weiter ſorgen, dem ich mich anvertraute, da ich Liebenau verließ. Aber Hedwig? Der Weg den ich jetzt wieder einſchlagen muß, fuͤhrt mich nicht zu ihr. Diesmal hat der Blick einer Sterbenden nicht den Schleier der Zukunft zu durchdringen ver - mocht; Deine Prophezeiung, Du arme Mutter, geht keineswegs in Erfuͤllung und Deines unſtaͤten Sohnes Erbtheil bleibt der alte Fluch, welcher ſtaͤrker wirkt, als Dein Segen, als meines Vaters guter Wille.

Mit aͤhnlichen Gedanken ging Anton munter durch die Waldungen, ohne recht zu wiſſen wohin. War es ihm doch gleichguͤltig. Lag ihm doch nur daran, ſo ſchnell wie moͤglich aus dem Gebiete der graͤflichen Beſitzungen ſich zu entfernen. Er fragte einige Holz - leute, die ihm einzeln begegneten, wie weit er noch habe? Sie bezeichneten ihm die Grenze, die er binnen einer Viertelſtunde erreichen werde, wenn er maͤßig fortſchreite. Je naͤher ſie ruͤckte, deſto dringender wurde ſeine Beſorgniß; eine Angſt, die er ſich gar nicht zu erklaͤren wußte, ſchnuͤrte ihm die Bruſt zu -40 ſammen; eine Ahnung, als drohe ihm etwas Furcht - bares. Er athmete leichter auf, als er am Grenz - pfahle ſtand, der die graͤflichen Farben und oben auf eine Tafel trug mit den Worten: Herrſchaft Erlen - ſtein. Unter dieſem Pfahle machte der Wanderer Halt, ließ die Laſt von ſeinen Schultern gleiten und wollte eben am Rande eines gruͤnbewachſenen Gra - bens ſich zur Ruhe niederlaſſen, als er, etwa dreißig Schritt von ſich, hinter einem Wachholdergeſtraͤuch das Geſicht des Grafen Louis hervorblicken ſah. Zwiſchen den Zweigen, von der Fruͤhlingsſonne beſchienen, flimmerte der Lauf einer Kugelbuͤchſe.

Anton’s erſter Gedanke war, ſich hinter den Grenzpfahl zu fluͤchten, doch augenblicklich verwarf er ihn. Vor einem ſolchen Gegner flieh ich nicht, war der naͤchſte Gedanke. Nach jenem Geſtraͤuch gewendet, bot er gleichſam die Bruſt dar, auf welche ſchon der Buͤchſenlauf ſich richtete.

Hund, jetzt will ich Dir zeigen, wie ich meine meine Haͤndel ausfechte!

Dieſe Worte vernahm Anton noch, .... ein Blitz vom Schießgewehre ... ein heftiger Schmerz in der Naͤhe des Herzens ... Nacht um ihn ... und er lag blutend am Boden.

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Du verſprachſt mir Ruhe, Mutter; Gottlob, nun find ich ſie.

Nachdem er es gemurmelt, verlor er die Beſinnung.

Als er wieder zu ſich kam, ſtand die Sonne ſchon ziemlich hoch. Seine Wunde blutete, er fuͤhlte ſich unendlich matt, aber dabei fuͤhlte er auch, daß er nicht daran ſterben duͤrfe, wenn ihm Huͤlfe zu Theil werde, eh es zu ſpaͤt ſei. Doch woher ſollte hier die Huͤlfe kommen? Kein lebendiges Weſen zeigte ſich, außer den kleinen Waldvoͤgelein, die neugierig um ihn herflatterten und ſanfte Klagetoͤne ausſtießen, wie wenn ſie Mitleid mit ihm haͤtten. Der Schmerz, den die Wunde ihm verurſachte, wurde mit jeder Minute heftiger, ſchien aber gering, gegen den Schmerz ver - glichen, den ſeine Seele fuͤhlte uͤber des feigen Moͤr - ders That.

Jeder Verſuch, ſich aufzurichten, mißlang. Ein Tuch, gegen die Wunde gepreßt, ſaugte ſich an und hemmte die Blutung.

So lag er nun und ergab ſich in’s Unvermeid - liche. Ohne bewußtlos zu ſein, verfiel er in jene Apathie der Entſagung, wo jedes Beſtreben endet, wo jeder Wunſch erliſcht, wo froͤſtelndes Fieber mit halb42 wolluͤſtigem Schauer durch alle Glieder rieſelt, wo die Außenwelt verſchwindet und im Uebergang vom Wachen zum Traume unſere Einbildungskraft thun kann, was ihr beliebt. Dieſe nun fuͤhrte an ſeinem innern Auge alle Perſonen voruͤber, mit denen er in Beruͤhrung geſtanden, zeigte ihm Freund und Feind; erweckte ihm Abneigung oder Wehmuth, je nachdem die Erſcheinungen waren. Sein alter Arzt fand ſich, der ihn nach ſeinem Sturze gepflegt, und unterſuchte die Wunde; Adele verband ſie mit kunſtfertigen Haͤn - den; Kaͤthchen labte ihn durch einen Schluck friſchen Waſſers, wonach ſeine Zunge lechzte; Amelot trieb Laura mit Schlaͤgen von des Verwundeten Seite; Antoinette, an des Grafen Guido Arm, beugte ſich muͤtterlich uͤber ihn; Adelheid lief voruͤber und lachte; Baͤrbel zeigte ihm jammervoll ihre blutigen Arme, der ſchwarze Wolfgang riß ſie fort; Hedwig blickte hinter jenem Geſtraͤuche hervor, aus welchem Louis nach ihm geſchoſſen und neben ihr ſtand eine ſchoͤne Frau in tiefer Trauer, die Anton nie geſehen, die er aber ſogleich fuͤr Graͤfin Julie erkannte; Theodor ſteckte das erdfahle Todtenantlitz aus einem Grabhuͤ - gel und rief ihm zu: Liebenau iſt Dein! Die kleinen Voͤgel um ihn her verwandelten ſich in große Kraͤ -43 hen, die ihn verfolgten, weil ſie ihn fuͤr Koko hielten; der indianiſche Baͤr brach aus dem Dickicht hervor, ſeinen Freund zu ſchuͤtzen, doch der wilde Tiger zer - riß den Baͤren; ſchon hob er eine Tatze, um auch in Anton’s verwundete Bruſt die ſcharfen Krallen zu ſchlagen, da erſchien mit einer Keule bewaffnet der Rieſe Schkramprl, ſchmetterte den Tiger zu Boden, kniete neben Anton hin und rief ſo laut, daß alle kraͤchzenden Kraͤhen entflogen: Bei den zwei Koͤpfen meines hoffnungsvollen Sohnes, hier liegt Freund Antoine!

Anton oͤffnete die Augen, alle Bilder ſeiner Fie - berphantaſie verſchwanden; nur Schkramprl blieb in Wirklichkeit neben ihm, denn er war es.

Mein langer Goͤnner, von wannen kommt Jhr, mich ſterben zu ſehen? fragte der Verwundete mit laͤchelndem Gefluͤſter.

Hier handelt ſich’s nicht darum, woher ich komme, ſondern einzig wie wir Euch fortbringen. Wohin? das weiß ich ſchon. Heilige Barmherzig - keit, liegt der ſchoͤnſte Reiter hier in ſeinem Blute wie ein wildes Schwein, und wenn ich nicht voruͤber kam, war’s vielleicht geſchehen um ihn! Allons, Peterl, mach lange Beine, reiß aus, und ſchnurſtracks44 zuruͤck zum Herrn Foͤrſter; ich laß ihn beſchwoͤren bei den Geiſtern aller Ratzen und Maͤuſe, die ich in ſei - nem Hofe getoͤdtet, er ſoll Knecht und Magd mit einer großen Miſttrage herausſchicken; und lege Stroh darauf und ſtiehl ihm ein Paar Federkiſſen aus ſeinem Bett! Lauf, Peterl, was Du kannſt; der Herr iſt mein beſter Freund! Seht Jhr, wie der Junge fliegt? Die fuͤrſtliche Foͤrſterei liegt ganz in der Naͤhe. Und das Pferdegluͤck: der Pflaſterkaſten vom Schuͤtzenbataillon, des Foͤrſters leiblicher Bru - der, iſt auf Beſuch dort. Es konnte ſich gar nicht ſchoͤner zuſammenpaſſen. O, Schkramprl iſt ein großer Mann, er trifft zu rechter Zeit ein, Tod und Leben liegen in ſeiner Hand. Gift fuͤr die Verbre - cher, Balſam fuͤr die Tugendhaften. Blickt auf die - ſen Ranzen, Antoine: Arſenik, um eine ganze Raͤu - berbande an Bauchgrimmen verrecken zu laſſen. Soll er ſchlucken, ſoll er zappeln, Euer Moͤrder! Sagt mir, wer Euch angeſchoſſen! Jch finde ihn und wenn er im tiefſten Mauſeloche ſteckte!

Jch kenn ihn nicht, ich weiß nicht, wer es war! Dieſe Luͤge ſtieß Anton mit heftigſter Anſtrengung aus. Dann ließ er ſein Haupt in Schkramprl’s Schoos zuruͤckſinken, wo er ruhig lag, bis der aus45 dem Foͤrſterhauſe erbetene Beiſtand anlangte. Der Foͤrſter und deſſen Bruder, der Bataillonsarzt, begleiteten die Traͤger. Unter ihrer Aufſicht wurden die beſten Anſtalten getroffen, die Wunde jedoch vor - her ſorgſam beſichtigt, ehe man den Leidenden in eine andere Lage brachte. Der Bataillonsarzt, mit jenem ſcharfen Blick, den eine auf Schlachtfeldern angeuͤbte Sicherheit gewaͤhrt, rief luſtig aus: das nenn ich mir doch eine Kugel, die Lebensart verſteht; dringt in der Naͤhe des Herzens ein (wo ſie allerdings einen tuͤch - tigen Preller gegeben und zuruͤck empfangen haben mag), ſchleicht ſich dann zwiſchen Rippen und Haut beſcheiden durch, und als ob ſie wuͤßte, daß ſie inwendig nichts zu ſuchen hat, macht ſie ſich gleich wieder einen Ausweg ins Freie.

Alſo keine Lebensgefahr, Bruder? fragte der Foͤr - ſter. Keine, war die Antwort. Sechs Wochen, oder ſo etwas, unter guter Pflege, das iſt Alles.

Und Anton’s Wunden wurde nach allen Regeln der Kunſt verbunden. Dann ſetzte ſich der Zug lang - ſam in Bewegung.

Schkramprl drang mit flehentlichen Bitten in den Foͤrſter, er moͤge ihm geſtatten, als Krankenpfleger ſo lange im Forſthauſe zu weilen, bis Herr Antoine46 wieder auf den Beinen ſei. Dabei pries er Antoine’s Talente und Vorzuͤge, ſtellte ſeine Liebenswuͤrdigkeit in das hellſte Licht und wurde nicht muͤde von jenen Zeiten zu erzaͤhlen, wo ſie Beide, Antoine und Schkramprl als Sterne reinſten Lichtes am Himmel der reiſenden Kuͤnſtlerwelt glaͤnzten. Der Foͤrſter, ein braver, ſchlichter Waldmenſch, der bei all ſeiner praktiſchen Tuͤchtigkeit und inmitten eines abgeſchloſ - ſenen Lebens, heitern Sinn und froͤhliche Friſche bewahrte, nahm des naͤrriſchen Schwaͤtzers gutmuͤ - thige Uebertreibungen freundlich auf. Er hatte ſich ſchon geſtern, wo der wandernde Kammerjaͤger denn bis zu dieſem ſoliden Beruf war unſer Rieſe erniedriget worden, ihm ſeine Dienſte angeboten, nicht wenig an ihm erluſtiget; hatte auch einen Ver - trag mit ihm abgeſchloſſen, vermoͤge deſſen Herr Schkramprl den vollen Preis fuͤr ſeine totale Ver - tilgung ſaͤmmtlichen hochfuͤrſtlichen Ungeziefers im Forſthofe erſt dann empfangen ſolle, wenn nach Ab - lauf einiger Monate die Prozedur ihre unzweifelhafte Nachwirkung bewaͤhrt habe. Zu dieſem Endzweck haͤtte Schkramprl ja doch bisweilen wieder einſpre - chen und zum Rechten ſchauen muͤſſen. Auf einen Eſſer mehr kommt es in einer großen Landwirthſchaft47 ohnedies nicht an und der bleiche, maͤnnlich duldende, freundlich leidende Anton, hatte durch ſein ſtoiſches Verhalten bei’m Unterſuchen der Wunde, wie durch ſeine beſcheidenen, dankbaren Worte den Foͤrſter ſchon fuͤr ſich gewonnen. Es wurden alſo gar keine Schwierigkeiten gemacht. Anton’s Lager bereitete man in einem Dachſtuͤbchen, neben jenem, welches die Jaͤgerburſchen bewohnten; Schkramprl erhielt ein Bett bei Anton; Peter wurde ausgeſendet, um in der ganzen Nachbarſchaft umherzuſpuͤren, wo Maͤuſe und Ratten zu vertilgen ſeien und empfing den Auftrag Berichte daruͤber an ſeinen Herren abzuſtatten, der ſein Amt als menſchenfreundlicher Krankenwaͤrter mit ſeinem Geſchaͤft als mauſefeindlicher Zauberer zu ver - einen hoffte; des Foͤrſters Bruder unterwies ihn auf das Genaueſte in allen Huͤlfeleiſtungen, die beim Rei - nigen und Verbinden der Wunde noͤthig waren und verſprach außerdem, einen Tag um den andern aus ſeiner Garniſon einen Spazierritt zum Forſthauſe zu machen, ſo lange es noͤthig ſei. Der Foͤrſter aber ſetzte ſogleich einen Bericht an die Behoͤrde auf, den er ſeinem Bruder, dem Arzte, zur baldigen Beſorgung, mitgab.

Gegen Abend ſtellte ſich das heftigſte, als unver - meidlich vorherverkuͤndigte Wundfieber ein, gegen48 welches der ſcheidende Arzt alle zweckmaͤßigen Vor - kehrungen und Milderungsmittel angeordnet hatte; welches alſo Niemand erſchreckte. Anton phanta - ſirte heftig und mengte wunderliche Dinge durchein - ander, behielt aber dennoch, ſogar im exaltirteſten Zuſtande, Willenskraft uͤbrig, keine Silbe ſich ent - ſchluͤpfen zu laſſen, die ſein Verhaͤltniß zu der graͤfli - chen Familie auf Erlenſtein andeuten konnte. Da - gegen ergingen ſich ſeine lebhaften Traͤume, gleichſam luſtwandelnd, in allen Richtungen des verfloſſenen Lebens, von Luſt zu Gram, von Gluͤck zu Leiden uͤberſpringend. Dadurch regte er, weil er die Namen von Perſonen und Orten im bunteſten Wechſel durch - einander warf, den redeluſtigen Schkramprl auf, mit hineinzuſchwatzen, ſeine eigenen Abentheuer mit den Phantaſieen des Kranken zu vermiſchen, ihn an Toll - heit zu uͤberbieten. Die Jaͤgerburſchen, nur durch eine duͤnne Wand von ihnen getrennt, wußten zuletzt nicht, wer groͤßeren Unſinn ſchwatzte, ob der Kranke im Fieber, ob der Waͤrter, der dem Kranken Luͤge uͤber Luͤge erzaͤhlte.

Gegen Morgen ſtellte ſich Ruhe ein, mit ihr, durch ſie der Schlaf. Und als die Gerichtsperſonen, durch der Foͤrſters Rapport entboten, in den Hof ein -49 fuhren, erwachte unſer Freund zu neuem, klaren Leben.

Jede Gefahr ſchien beſeitiget.

Jn dem Verhoͤre, welches man mit ihm anſtellte, blieb er dabei, daß der Menſch, der nach ihm geſchoſ - ſen, den er nur undeutlich durchs Gebuͤſch geſehen, ihm fremd ſei; daß er ihn durchaus nicht beſchreiben oder bezeichnen koͤnne; daß er keine Ahnung habe, welche Abſicht dieſer That zum Grunde gelegen; und daß von ſeinen Habſeligkeiten, die er unberuͤhrt beim Erwachen neben ſich gefunden, nichts fehle. Der Richter, deſſen Schreiber, der Foͤrſter ſchuͤttelten die Koͤpfe, und beruhigten ſich endlich bei der Anſicht, es koͤnne wohl ein Raubanfall beabſichtiget, die Aus - fuͤhrung deſſelben aber durch Dazwiſchenkunft des Zeuge Schkramprl verhindert worden ſein, welche den Raubmoͤrder veranlaßt habe, die Flucht zu ergrei - fen. Dieſe Meinung fand um ſo mehr Beifall, da Anton ſich wohl huͤtete, beizubringen, welch eine Friſt zwiſchen Louis Schuß und Schkramprl’s Erſcheinen gelegen. Das Reſultat der Unterſuchung lautete auf einen in dieſen Gegenden umherſchweifen - den, hoͤchſt gefaͤhrlichen, gaͤnzlich unbekannten Boͤſe - wicht, fuͤr deſſen Habhaftwerdung die ForſtbeamtenDie Vagabunden. IV. 450außergewoͤhnliche Mittel anzuwenden, auch ſich des - halb mit dem graͤflich Erlenſtein’ſchen Wirthſchafts - Amt in’s Einvernehmen zu ſetzen haben wuͤrden.

Welchen Erfolg dieſe außergewoͤhnlichen Mit - tel ſammt ihren Patrouillen, Streifereien, naͤcht - lichem Aufgebot umliegender Gemeinden und aͤhnlichen Unternehmungen erzielten, brauchen wir, als Einge - weihte, nicht erſt anzudeuten. Der Thaͤter blieb unentdeckt, wurde bald vergeſſen und es redete ſchon Niemand mehr von ihm, als Anton’s Wunde lange noch nicht geſchloſſen war.

Schkramprl ging ab und zu, verfolgte Meilen - weit in die Runde, Alles was Maus und Ratte heißt, kehrte treulich zu Anton zuruͤck, benahm ſich als Ge - huͤlfe des Wundarztes ſo vorſichtig, exakt und puͤnkt - lich, daß dieſer, wenn er Zeit fand, ſelbſt zu kom - men, dem Rieſen alle moͤglichen Lobſpruͤche ertheilte; ihm ſogar einen Platz im Lazareth anbot, welches Anerbieten jedoch ſchnoͤde zuruͤckgewieſen wurde, weil eine ſolche Stelle mit der perſoͤnlichen Freiheit nicht vereinbar ſei. Als Vagabund bin ich geboren, hab ich gelebt, will ich ſterben; auf einem Flecke verbleiben, iſt meinen Anlagen und Faͤhigkeiten zu - wider; ich wuͤrde ſogar hier, wo Freundſchaft und51 Cameraderie mich feſſeln, nicht aushalten, wenn ich nicht zwiſchen durch Erlaubniß haͤtte, meine alten Beine in Bewegung zu ſetzen und umherzu - ſchnuͤffeln!

Dies letztere that Schkramprl wirklich und zwar nicht nur um Ratten, ſondern auch um Neuigkeiten auszuſpuͤren. Anton iſt ſelbſt nicht klar daruͤber geworden, ob es eigene Neugier geweſen, die den Rie - ſen dazu angetrieben, oder ob das Beduͤrfniß bei ihm vorwaltete, Neuigkeiten und Klatſchereien zu erzaͤhlen? Er ſelbſt behauptete das Letztere, indem er verſicherte, ihm ſei es durchaus gleichguͤltig zu wiſſen, oder nicht zu wiſſen, was die Bewohner umliegender Doͤrfer und Schloͤſſer thaͤten. Jhm liege lediglich daran bei ſeiner Heimkehr den Patienten durch leb - haftes Geſpraͤch zu amuͤſiren; der eigene Lebenslauf und eines Rieſen Schickſale waͤren ausgepreßt wie eine Zitrone, deshalb muͤßten nun andere Menſchen und andere Schickſale an die Reihe!

Anton hoͤrte ihm haͤufig zu, ohne auf ihn zu hoͤren; waͤhrend Schkramprl’s Geſchwaͤtz waren Anton’s Gedanken gewoͤhnlich bei Hedwig. Der Erzaͤhler, der die Tugend beſaß, mit Leib und Seele bei der Sache zu bleiben, achtete nicht darauf, ob4*52man ihn hoͤrte, wenn er nur ununterbrochen reden durfte. Damit war beiden Theilen geholfen.

Anders jedoch geſtalteten ſich die Dinge, als der Kammerjaͤger von Schloß Erlenſtein wiederkehrte, wohin ihm ſein in der Nachbarſchaft verbreitetes Renommé eine, durch Peterl uͤberbrachte, Aufforderung zugezogen. Ohne zu ahnen, wie tief ſein Zuhoͤrer da beruͤhrt werde, machte er eine traurige Schilderung der dortigen Verhaͤltniſſe mit welchen er durch Dienſt - boten und Landleute bekannt worden war. Zwiſchen Vater und Sohn ſollten ſchreckliche Auftritte vorge - fallen ſein, deren Schuld von ſaͤmmtlichen Dorfbe - wohnern auf den Sohn geworfen und dem Vater nur in ſofern zugeſchoben wurde, als er viel zu nach - giebig und gut gegen den boͤſen Buben geweſen waͤre. Einzig und allein die Autoritaͤt der Graͤfin, von wel - cher Alle und Jeder wie von einem Weſen hoͤherer Gattung redeten, wende bis jetzt noch das Aeußerſte ab; wozu es jedoch beinahe ſchon gekommen ſein ſollte, nachdem ein fremder junger Herr, waͤhrend ihrer Abweſenheit, auf dem Schloſſe bei’m Grafen war und mit dem Sohne in heftigen Wortwechſel gerieth. Seitdem darf der junge Graf des Vaters Zimmer nicht mehr betreten; er treibt ſich fluchend53 und laut laͤſternd bei den Beamten herum; der Vater iſt kraͤnker geworden, ſo daß man fuͤr ſein Leben be - ſorgt ſein muß; die Mutter, mit himmliſcher Sanft - muth und Wuͤrde, ſucht zwiſchen beiden zu vermit - teln; das ganze Hausperſonale iſt in verſchiedene Partheien zerſpalten, die ſich wechſelſeitig auch an - feinden; die Wirthſchaft geht d’ruͤber und d’runter; die Hunde ſchleichen mit geſenkten Ohren knurrend vor der Schloßtreppe auf und ab; und die Ratzen ſind ſo frech geworden, daß ſie in vorvoriger Nacht einem im Stalle ſchlafenden Roßwaͤrter die große Zehe des rechten Fußes angefreſſen haben. Fuͤr die Ratten, fuͤgte Schkramprl hinzu, hab ich Rath ge - ſchafft und ihnen das Beiſſen einſtweilen vertrieben; aber fuͤr die Herrſchaften weiß ich keinen. Das beſte Mittel waͤre freilich, wie der Kammerdiener meinte, wenn man dem jungen Herren auch ein Rattenpuͤl - verchen in den Wein ruͤhrte? Doch, wer mag ſo etwas riskiren? Es iſt unterſagt, wie ich gehoͤrt habe. Sonſt waͤr’s ſo uͤbel nicht, denn der Patron iſt von einer herausfordernden Unverſchaͤmtheit. Nannte er mich doch Er! Solch ein Buͤrſchchen! Mich, den Rieſen Schkramprl! Jch hab es ihm aber wieder gegeben. Monsieur le Comte, ſagt ich 54 und was fuͤr Augen machte der hohlaͤugige, ausge - mergelte Juͤngling, weil ein Rattenfaͤnger, ein Kam - merjaͤger ihn franzoͤſiſch haranguirte, ich bin weder Jhr Stiefelputzer, noch Jhr Hausknecht; ich bin ein freier Kuͤnſtler, den Seine graͤflichen Gnaden, Dero Herr Vater auf Sein Schloß entbieten laſſen, weil man es daſelbſt vor Ungeziefer nicht mehr aushalten konnte. Jch vermag nicht allein Ratten und Maͤuſe zu vertreiben; ich bin auch Meiſter einiger anderer Geheimniſſe und wo man mich unwuͤrdig behandelt, verſteh ich Rache zu uͤben. Ehrlich geſagt, ich dachte mir bei dieſer ſuͤperben Phraſe weiter gar nichts, als ihm einen Schreck einzujagen, indem ich auf die alte Fabel anſpielte, daß die Kammerjaͤger Gewalt beſitzen ſollen, Maͤuſe und Ratten wie eine egyptiſche Landplage zu vermehren. Der junge Herr Graf muß es aber anders ausgelegt haben, denn er ver - faͤrbte ſich ſiebenmal in einer Minute und ging ſeiner Wege, ohne mir zu antworten, woraus ich zu ſchließen geneigt bin, er habe irgend eine Niedertraͤch - tigkeit veruͤbt, deren Entdeckung er fuͤrchtet und von welcher ſein ſchlechtes Gewiſſen ihn glauben laͤßt, ich ſei zufaͤllig dahinter gekommen!

Freund Schkramprl, ſprach Anton, der dieſen55 Vortrag ſeines geſpraͤchigen Pflegers mit beſonderer Aufmerkſamkeit verfolgt hatte, ich bin Euch unend - lichen Dank ſchuldig geworden, fuͤr die liebevolle Sorgfalt, ſo Jhr an mich wendet; wollt Jhr aber Eurem Werke die Krone aufſetzen, dann verſprecht und gelobt mir, Euch um die Verhaͤltniſſe in Schloß Erlenſtein weiter nicht zu bekuͤmmern, vorzuͤglich in ſofern dieſelben jenen jungen Grafen Louis betreffen. Jch, nun ja, ich will’s nicht leugnen, ich kenne ihn; er und ich hatten einſtmals in B. eine unſanfte Begegnung miteinander; ich habe gegen ihn gefehlt und es liegt mir, aus wichtigen Gruͤnden, ſehr viel daran, daß er von mir nichts erfahre; wie ich Euch denn auch erſuche, mir von ihm nichts weiter mitzu - theilen. Glaubt mir, es iſt um ſo beſſer fuͤr mich und ich bitte Euch herzlich, mir dieſe Gefaͤlligkeit zu erweiſen.

Schkramprl verſprach augenblicklich, was von ihm verlangt wurde. Kaum jedoch hatte er Anton’s Lager verlaſſen und wieder das Freie erreicht, als er ausrief: ſo will ich doch ein Schurke ſein und gehaͤngt werden, wie ein raͤudiger Hund, wenn ich dies Ver - ſprechen halte! Dahinter ſteckt mehr, als auf den erſten Blick ſcheint. Sie kennen ſich .... ſie waren56 Feinde ... Antoine kam aus der Richtung von Erlenſtein, als ich ihn im Graben fand .... Schkramprl, nimm Dich zuſammen!

Einundſiebenzigſtes Kapitel.

Anton erklaͤrt, daß er mit dem Leben abgeſchloſſen habe und keinen Wunſch mehr hege, als in ſein Haͤuschen nach Liebenau heimzukehren. Schkramprl billiget dieſen Wunſch und beſtaͤrkt ihn darin.

Anton’s Geneſung machte ſichtbare Fortſchritte. So weit es ihm die ſehr erſchoͤpften Kraͤfte geſtatten wollten, durfte er das Krankenzimmer verlaſſen und im Schatten des kleinen Baumgartens ſich laben an warmer, freier Luft. Auch bezeichnete des Foͤrſters Bruder ſchon die nahe Friſt, wo er, gaͤnzlich geheilt, ſeine Wanderung fortſetzen duͤrfe. Den Foͤrſter ſelbſt anlangend, bekuͤmmerte weder er, noch ſeine Bur - ſchen, ſich um den uͤbrigens mit wahrer Gaſtfreund - ſchaft behandelten Fremden. Sie hatten keine Zeit dazu. Bei’m Gehen und Kommen reichte der bied’re alte Graubart ſeinem Gaſte die Hand, mit einem ſtets gleichen, wohlwollenden: wie geht’s? und zeigte ſich nur verdruͤßlich, wenn Anton der Beſchwerden Erwaͤhnung that, die er in’s Forſthaus gebracht. 57Dann ſuchte Foͤrſter Wolff ſeine furchtbarſten Waid - mannsfluͤche hervor und gebot ihm Ruhe. Jch habe drei Soͤhne, pflegte er zu aͤußern, die ſich durch die Welt ſchlagen muͤſſen; jeder von ihnen kann ehrlicher Leute Beiſtand gebrauchen; und was muͤßte unſer Herrgott in ſeinem himmelblauen Waldrevier von mir halten, wenn ich einem armen Teufel verwei - gern wollte, was ich im Falle der Noth fuͤr meine Jungen von ihm erbitte? Haltet Euer Maul, und thut es nur auf, wenn Jhr Hunger habt, der ſich hoffentlich bald wieder bei Euch einſtellen wird.

Schkramprl befolgte die ihm gegebene Weiſung ſcheinbar ſehr gehorſam. Er nannte den Namen Erlenſtein nicht mehr und gab ſich das Anſeh’n, wie wenn jeder Verkehr zwiſchen ihm und den Schloß - Ratten abgebrochen waͤre. Auch zeigte er ſich ern - ſter, dabei ergebener, theilnehmender als anfaͤnglich. Er ſchwatzte nicht mehr ſo viel verworrenes Zeug untereinander, gedachte der Vergangenheit nur wenn Anton das Geſpraͤch darauf lenkte, bemuͤhte ſich da - gegen, ſo oft wie moͤglich von der Zukunft zu reden, und Anton gewiſſermaßen auszuforſchen: auf was? und wohin ſeine Gedanken gerichtet waͤren? Was meint ihr wohl, Antoine, fragte er unter Anderem,58 was moͤchtet ihr Euch wohl wuͤnſchen, wenn ein Zau - berer, oder um im Laufe der natuͤrlichen Begebenhei - ten zu bleiben, ein Kaiſer, Koͤnig, Herzog was es nun waͤre, Euch unbedingte Erfuͤllung jedes recht herzhaften Wunſches im Voraus zuſagte? Was wuͤrdet ihr dann verlangen? Thut mir die Liebe und ſagt mir das. Nur, daß die Zeit vergeht, die hier im Forſthauſe, ohne Schmeichelei geſagt, niedertraͤch - tig langſam vom Flecke kommt. Sagt mir’s. Jch baue gern Luftſchloͤſſer. Jhr nicht?

Jch auch, erwiederte Anton. Und fruͤher liebt ich, ſie aufzurichten bis an die Wolken. Jetzt wuͤrd ich mich mit kleineren Wuͤnſchen begnuͤgen; freilich immer noch zu groß, immer noch viel zu hoch und ſtolz, fuͤr die Stellung die mir auf Erden angewieſen bleibt. Jch wuͤrde, wenn wir denn doch nun einmal wie die Kinder ſpielen, ſo mag es ſein, wuͤrde mir wuͤnſchen, daß Liebenau, jenes heimliche, traute Dorf, wo ich meine Knabenjahre verlebte, mit ſeinen Feldern und ach, ſeinen Waͤldern, mein waͤre; mein wirkliches Eigenthum. Daß ich dort einzoͤge, als ſchuldenfreier, wohlhabender Beſitzer.

Dann wuͤrde ich (ziemlich weit von hier, doch wenn man Geld hat, kann man ſchnell reiſen) einen59 Beſuch abſtatten, bei einem wuͤrdigen, rechtlichen, wenn auch ſtrengen Manne und dieſen um die Hand ſeiner Tochter bitten. Und wenn er Ja ſagte, die Tochter ſagt nicht Nein wuͤrd ich ſie heimholen, nach Liebenau, und wuͤrde mich mit ihr trauen laſſen in der kleinen Dorfkirche; und wuͤrde ſie lieb haben; wuͤrde mit ihr vereint, die Armen beſchenken, ihnen im Winter Holz geben und Brot, und warme Roͤcke; wuͤrde ſchoͤne Baͤume anpflanzen; wuͤrde ein ſchlich - ter Landmann ſein, begluͤckt und zufrieden. Wuͤrde meiner alten Großmutter Grab

Na, ſeid ſo gefaͤllig, und fangt zu heulen an, daß ich etwa auch weinen muß, was ſich fuͤr einen in Ruheſtand getretenen Rieſen durchaus nicht ſchickt! Deshalb fragt ich nicht nach Euren Wuͤnſchen, um auf den Friedhof zu gerathen. Die Ausſicht auf Hochzeit und Ehebett koͤnnte mir ſchon beſſer gefal - len. Alſo, das waͤren Eure Wuͤnſche? Na ſchoͤn, nun weiß man’s doch und kann ſich bei Gelegenheit danach richten.

Ja, Schkramprl, das waͤren meine Wuͤnſche, wenn ich noch daͤchte, wie ich vor einigen Monaten, wie ich ſeit Piſa gedacht habe. Jetzt iſt das hin und todt. Doch dem theuren Liebenau werd ich des -60 halb nicht ungetreu. Ein dummer, eitler, unerfah - rener Korbmacherjunge lief ich davon; ein gedemuͤ - thigter, entſagender junger Mann kehr ich zuruͤck. Es iſt beſchloſſen, die alberne falſche Schaam iſt beſiegt. Waͤhrend ich hier darniederlag hab ich es durchdacht und erwogen nach allen Seiten, ... es iſt das Beſte, was ich thun kann. Großjaͤhrig bin ich jetzt; die Beweiſe vom Tode meiner Mutter, mein Taufzeugniß, Alles hab ich, ſchwarz auf weiß. Meiner Großmutter Erbſchaft anzutreten, werden die Gerichte mich nicht mehr hindern; des Kurators bin ich ledig; das kleine Haͤuschen, wo ich Koͤrbe flocht, iſt mein; das Gaͤrtchen dabei. Dort will ich fleißig arbeiten, ruhig leben, wie ein armer Kerl, der ich bin. Moͤgen ſie mich ein Wenig auslachen! Moͤgen ſie mich hohnnecken und verſpotten, daß ich von mei - ner Reiſe um die Welt wie ein Bettelmann wieder - kehre; moͤgen ſie mich Vagabund ſchelten und was ſie wollen, wenn ſie ſehen, daß ich friedlich mei - nen Weg gehe, Niemand belaͤſtige, werden ſie mich wieder lieb haben, wie ſie damals den ehrlichen An - ton lieb hatten. Jch will ja nichts als Frieden, Ruhe, Einſamkeit. Die Welt iſt todt fuͤr mich. Jch habe genug von der Welt. Und wenn ich in Liebe -61 nau ſterbe, unbeachtet, vielleicht unbeweint, komm ich doch wenigſtens neben diejenige zu liegen, die mir

Himmel ſackerment, Antoine, Jhr ſeid ja wie verſeſſen auf Graͤber. Jch habe nichts gegen Euren Plan; im Gegentheil, ich lobe ihn; ich find es char - mant, daß ihr Eure Villa in Beſitz nehmen wollt, und lade mich im Voraus bei Euch ein, auf ein Glaͤs - chen Duͤnnbier; doch bleibt mir mit den Graͤbern vom Halſe! Jn Eurem Grabe koͤnnt ich Euch bei’m beſten Willen nicht beſuchen, weil ich nicht Platz darin faͤnde; fuͤr mich muß es eine halbe Elle laͤnger ſein, als fuͤr Euch, kleine Zwerge .... Dabei faͤllt mir mein Huſar ein. Beſinnt Jhr Euch noch auf ihn und ſeine beiden Weiber?

Auf Alles, Schkramprl, auf Alles. Jetzt aber goͤnnt mir Ruhe. Der Bau des Luftſchloſſes hat mich angegriffen. Jch will zu ſchlafen verſuchen; will verſuchen zu traͤumen zu traͤumen, wie ſchoͤn es ſein wird, wenn ich wieder einziehe in meine Huͤtte!

Kaum ſah er ſeinen jungen Liebling im feſten Schlummer, als der Rieſe mit Rieſenſchritten davon eilte. Das wird Jhr willkommen ſein! rief er aus und verlor ſich im Walde.

62

Zweiundſiebenzigſtes Kapitel.

Anton verläßt das Forſthaus und deſſen Bewohner und tritt die Wanderſchaft nach Liebenau an. Raſttage in St. Ein Deklamator. Ein Portrait - maler. Man will ihn durchaus baroniſiren. Schkramprl’s Peterl.

Zweimal ſchon, im Laufe dieſer Erzaͤhlung, haben wir Anton, unſern Helden, vom Krankenlager ſich erheben ſehen und ihn mit unſern guten Wuͤnſchen in’s neue Streben und Leben begleitet. Heute, wo er zum drittenmale vom Tode erſteht, nimmt er ſelbſt ſo geringe Hoffnungen, ſo anſpruchsloſe Erwartun - gen auf ſeine kleine Reiſe mit, daß wir uns bedenk - lich fragen muͤſſen: laͤuft es darauf hinaus? Jſt der arme Junge darum ſo unſanft hin und hergeworfen worden, hat er darum ſo viel erlebt, geirrt, gelitten, daß er am Ende aller Enden ſich gluͤcklich ſchaͤtzen muß, nur wieder einkriechen zu duͤrfen, von wo er ausging? Sollen die Erfahrungen, die er gemacht, die Bildung, die er gewonnen, die Kenntniſſe die er ſich erwarb, ſoll das Alles nun vorhanden ſein, damit er in ſeiner Großmutter niederer Huͤtte Koͤrbe flechte? Eine Beſchaͤftigung, die ihm vor ſechs Jahren, wo er in voller Uebung war, unzweifelhaft beſſer gelang, als ſie ihm jetzt gelingen wird?

Und doch, wir muͤſſen es eingeſtehen, was bleibt63 ihm uͤbrig? Thut er nicht am Beſten, ſich in ſtille Vergeſſenheit zu fluͤchten, dem Leben zu entweichen, und dem Laͤrm des Lebens? Scheint er nicht vom Schickſal dazu beſtimmt, jeder Hoffnung entſagen zu muͤſſen? Verfolgt ihn das Ungluͤck nicht bei jedem Schritte, den er, vom Gluͤcke gelockt und getaͤuſcht, zu unternehmen wagte? Jmmer beſſer, daß er auf der kleinen Erdſcholle, die er ſein nennt, das lang - ſam hinwelkende, lebloſe Leben einer verkuͤmmernden Pflanze durchmache, als daß er auf’s Neue in gefaͤhr - liche Konflikte gebracht, ihnen unterliege und ein ſchmachvolles Ende nehme.

Ja, ich verſtehe ſeine Sehnſucht nach Liebenau, nach ſeinem Haͤuschen, nach Einſamkeit! Jch begreife ſeinen Ueberdruß an Allem was Menſchen heißt, und Welt, und Leben! Jch hoͤre deutlich den Wiederhall eines Liedchens, welches er ſummte und ſang, waͤh - rend er, noch matt und ſchwach, ſein Buͤndel ſchnuͤrte und deſſen letzte Zeile ſich immer wiederholte: Bin müde, bin müde, laßt ſchlafen mich geh’n!

Schkramprl hatte ihm bereits Lebewohl geſagt, und er hatte nur fluͤchtigen Abſchied genommen, unter dem Vorwande, daß unzaͤhlige Beſtellungen und Einladungen ihn riefen, daß Milliarden von Ratten64 und Maͤuſen, dem Verderben geweiht, ſeiner myſtiſchen Todesurtheile harreten. Anton aber war der Mei - nung, daß dieſer Vorwand eben nur ein Vorwand ſei, durch welchen der gutmuͤthige Rieſe ferneren Dank - ſagungen, vorzuͤglich jedoch der ihm zugedachten Ent - ſchaͤdigung, oder Belohnung habe entgehen wollen. Ein zartfuͤhlender, großmuͤthiger Rattenfaͤnger! Vielleicht kann ich’s ihm doch dereinſt vergelten, was er fuͤr mich gethan? Vielleicht ſucht er mein Haͤus - chen auf, um darin zu ſterben!

Der Foͤrſter und ſeine Burſchen begleiteten Anton bis an ihres Waldes Grenzen. Seit den letzten Tagen wollt es ihn beduͤnken, wie wenn ſein Gaſt - freund ein anderes Weſen gegen ihn angenommen haͤtte, als derſelbe waͤhrend der verfloſſenen zwei Monate an den Tag gelegt. Und jetzt, auf dem Wege durch den Wald trat dieſe Veraͤnderung unver - kennbar hervor. Die derbe, treuherzige Freundlich - keit eines von eigener Amtswuͤrde uͤberzeugten Beam - ten war verſchwunden, an ihre Stelle eine faſt ver - legene Artigkeit getreten, die ſich, bei wiederholten Ausbruͤchen von Anton’s Dankgefuͤhl, nicht mehr an grobe Zuruͤckweiſung deſſelben wagte, ſondern ein verbindlich-ablehnendes Schweigen entgegenſtellte. 65Auf ſein dringendes Befragen, ob man ihm zuͤrne, wurden dunkle, unverſtaͤndliche Andeutungen erwie - dert, die von wunderbaren Verhaͤltniſſen ſprachen und zuletzt befuͤrchten ließen, ſein Beſuch bei’m Gra - fen von Erlenſtein koͤnne den Bewohnern des Forſt - hauſes kund geworden ſein. Deshalb gab er ferne - res Befragen auf, ſtattete nochmals den innigſten Dank fuͤr alle Wohlthaten ab und ſchied von dem wackeren Foͤrſter, der ſich, ſcheidend, ſeiner Gunſt empfahl.

Meiner Gunſt? Entweder mein guter alter Goͤnner hat heute fruͤh zu tief in ſein Flaͤſchchen geguckt, oder Schkramprl, der Schelm, hat einen ſeiner ſchlechten Spaͤße gemacht und den leichtglaͤubi - gen Waldmaͤnnern aufgebunden, ſie beherbergten einen Prinzen, der Jnkognito reiſen will. So etwas ſieht ihm aͤhnlich, dem langen Ungethuͤm!

Und er wandelte ruͤſtig fort in den bluͤhenden Sommer hinein. Er vergaß, daß er ſo lange Bett und Zimmer gehuͤtet, daß er nur kleine Gaͤnge zur Probe unternommen hatte. Jhn trieb die Ungeduld nach Liebenau; trieb ihn zuruͤck in die alten, halbver - geſſenen, eben deshalb mit jungem Lebensdufte in ſeiner Seele aufbluͤhenden Tage der Kindheit, wieDie Vagabunden. IV. 566wenn es in ſeiner Macht ſtaͤnde, wieder ein Kind zu werden; die Anſpruͤche, die er an ſich, an ſeine Umge - bungen ſtellen gelernt, aufzugeben, an den Nagel zu haͤngen, wo ſein Knabenjaͤckchen hing und wo nun ſein Reiſeranzen haͤngen ſoll.

Armer Anton! Weißt Du denn nicht, daß Du jenen Raͤumen entwachſen biſt; entwachſen auf jede Weiſe? Deinem maͤnnlich-ausgebildeten, ſchlanken Koͤrper wird der Großmutter Stuͤbchen ein Kerker ſein und Deine Seele, die jetzt nur Ruhe traͤumt, wird ſich an dieſes Kerkers Waͤnden ſchwer verletzen, ſobald ſie wieder ſich zu regen beginnt, dem bunten Schmetterlinge aͤhnlich, der mit aͤngſtlichem Geflatter an eines Fenſters Glasſcheiben den feinen Farbenduft von ſeinen Fittigen ſtreift! Warum eilſt Du ſo ſehr Deinem Grabe entgegen? Dem Grabe Deiner Jugend, Deiner noch lange nicht beſiegten Lebensluſt?

Und er wanderte ruͤſtig fort, bis er dieſer unzeiti - gen Anſtrengung unterlag. Nur mit dem letzten Aufgebot ſeiner ganz erſchoͤpften Kraͤfte erreichte er noch das kleine Staͤdtchen St., etwa zwei und eine halbe Meile von Liebenau entfernt, nach ſeiner Be - rechnung. Dort mußte er liegen bleiben; nicht etwa, wie ſeine Abſicht geweſen, uͤber Nacht, um des andern67 Tages ſein Ziel zu erreichen, ſondern wirklich, wie ein Kranker unterweges liegen bleibt, eines Arztes beduͤrftig. Er nahm ein kuͤhles Zimmer im ſchlichten Gaſthofe, machte ſich bequem und war gerade im Begriff, nach einem Diener zu rufen, der ihm den Herrn Doktor herbeiſchaffen moͤge, als die Stu - benthuͤr ſich langſam oͤffnete und Schkramprl’s klei - ner Peterl mit liſtigen Augen hereinſchielte.

So hab ich mich doch nicht getaͤuſcht, da ich unterweges Dich einigemale vor und neben mir zu erblicken glaubte! rief Anton aus; zum Teufel, Junge, wo kommſt Du her?

Mein Herr hat in der Gegend zu thun, und weil wir im Forſthauſe, wo er Euch noch einmal zu ſprechen wuͤnſchte, erfuhren, daß Jhr ſchon aufge - brochen ſeid, und weil er ſelbſt keine Zeit mehr hatte, hieß er mich Euch nachlaufen und mich erkundigen, wie’s mit der Geſundheit ſteht? Aber Jhr habt ſo lange Schritte gemacht, daß ich mit meinen kurzen, dicken Beinen kaum folgen konnte. Nun bin ich da und ſoll nur fragen, ob Jhr ’was beduͤrft?

Dein Herr iſt ein großer Narr, Peterl, aber dane - ben der uneigennuͤtzigſte, treu’ſte Freund, den Gott belohnen moͤge; und Du biſt ein braver Burſch. Geh,5 *68mein Sohn, forſche nach dem beſten Arzt im Staͤdt - chen, und ſollt es nur Einen beſitzen, ſo iſt dieſer gewiß der beſte; den bringe mir. Denn mir iſt gar nicht gut und ich moͤchte doch friſch und geſund in meiner Heimath eintreffen.

Das hat der Herr gleich geſagt, daß Jhr Euch uͤbernehmen werdet; deshalb hat er mich auf die Lauer geſchickt. Habt keine Sorge; ich beſtelle den Arzt und dann folg ich dem Herrn und bring ihm Nachricht.

Damit verſchwand Peterl, der wohlgenaͤhrte.

Bald erſchien ein Arzt, der, verſtaͤndig genug, des Kranken Uebelbefinden fuͤr das erkannte, was es war; ihm ein laues Fußbad verordnete, einfache nie - derſchlagende Mittel verſchrieb, fuͤr einige Tage Ruhe anempfahl und baldigen Wiederbeſuch verſprach; dies Alles in einer Weiſe, wie wenn er den Patien - ten kenne, und ihn im Voraus ſchon von ſeiner Ankunft unterrichtet, erwartet habe.

Gott mag wiſſen, was das wieder bedeutet! ſagte Anton, waͤhrend er ſein Nachtlager beſtieg; bald werd ich mir vorkommen, wie die Hauptperſon eines recht unnatuͤrlichen Romanes, die uͤberall beobachtet, verfolgt, begleitet, uͤberwacht, als Mittel fuͤr unbe -69 kannte Zwecke benuͤtzt wird, ohne jemals zu erfahren, was mit ihr geſchieht. Es giebt ſolche Romane, und wenn ich vom Geſchick auserſehen war, einen ſolchen mit mir ſpielen zu laſſen, bedau’re ich nur, daß der Beginn ſich bis jetzt verſpaͤtet hat, wo ich auf dem naͤchſten Wege nach Hauſe mich befinde. Romantik waͤre mir dienlich und lieb geweſen, da mir der Ver - ſucher vom Eichberg herab die Schaͤtze des Landes zeigte; von nun an muß ich mir die Romantik vom Halſe halten und die Romane. Aber was zerbrech ich mir den ſchwachen Kopf mit Muthmaßungen, wenn ich die Loͤſung zur Hand habe. Schkramprl hat ſich wieder ein Spaͤschen gemacht; ſein Bote war es ja, der den Arzt herbeirief. Ja, ja, Schkramprl iſt ein ſeltener Freund aber ein großer Narr!

Dieſe Wahrheit wiegte unſern ermatteten Freund in Schlaf.

Doch ſchon mit dem fruͤhen Morgen wurd er aufgeweckt durch ſeltſame Toͤne im benachbarten Zim - mer, von denen er, noch ſchlaftrunken, anfaͤnglich kaum zu entſcheiden vermochte, welchem Gebiete der Thierkunde jenes Weſen angehoͤren duͤrfte, dem ſie entſtiegen. Es war dabei im Spiele das Geſchnatter des Staares, das Gekraͤchz des Raben, das Gebruͤll70 des Eſels, das Meckern des Ziegenbocks, das Geſtoͤhn der Unke und das Gebell des Hundes. Erſt nachdem der Halberwachte hin und wieder einzelne Worte, dann ſogar ganze Zeilen verſtand, die alten Freunden gleich ſein Gedaͤchtniß mahnten, fing er zu begreifen an, daß er ſich eines Nachbars erfreue, welcher mit allen Modulationen des umfaſſendſten Sprechorganes, deklamatoriſche Morgenuͤbungen anſtelle.

Schiller ward nicht geſchont, Tiedge heftig gemiß - handelt, Koſegarten mußte mit einigen Naturſchilde - rungen herhalten, A. W. Schlegels Arion lieferte einen großmuͤthigen Delphin, durch welchen Anton an Herrn Zara’s Robbe erinnert wurde; ſogar die Braut von Korinth ſtieg aus ihrem Grabe, und wollte nicht weichen, bis das Geklapper des Kaffee - geſchirres ſie vertrieb, wo ſie verſtummte vor der Dienſtmagd des Gaſthauſes. Letztere ſtellte ſich denn auch bald bei Anton ein, nach ſeinen Beduͤrfniſſen zu forſchen; auf ſein Befragen vernahm dieſer aus ihrem Munde, daß ſein Nachbar ein ſogenannter Theekla - mater ſei, der heute allhier in St. eine Sauaree veranſtalten werde, zu welcher ſich ſaͤmmtliche Hono - ratioren einfinden, auch viele Gutsbeſitzerfamilien aus der Nachbarſchaft erſcheinen wuͤrden.

71

Wieder eine Sorte von Vagabunden, die mir noch nicht begegnet iſt, ſagte Anton. Ein reiſender Dekla - mator: Nach dem Proͤbchen zu urtheilen, wie es durch die Waͤnde zu mir drang, muß er ein gewalti - ger Kuͤnſtler ſein, denn von Natur war nichts zu ſpuͤ - ren, waͤhrend er ſich uͤbte. Aber ich will ihn hoͤren, heute Abend. An weiter gehen iſt bei meiner Mat - tigkeit noch nicht zu denken; ſo mag dies die letzte oͤffentliche Schauſtellung ſein, der ich noch beiwohne, bevor ich mich wieder hinter meine Koͤrbe verſchanze. Gewiß, ich will ihn hoͤren, und ſein Publikum ſehen.

Der Arzt, der, wo moͤglich, noch artiger auftrat, als geſtern, billigte Anton’s Vorſatz, mindeſtens noch einen Tag der gemaͤchlichſten Ruhe zu widmen und fragte ihn, was fuͤr einer Gelegenheit er ſich ſpaͤter bedienen wolle, um weiter zu reiſen?

Dieſer hier, antwortete Anton, indem er auf ſeine Fuͤße zeigte.

Der Arzt laͤchelte pfiffig vor ſich hin und meinte, der Poſthalter beſitze eine ſehr bequeme gelbe Chaiſe, in guten Federn.

Kann ſein, entgegnete Anton, aber ich habe nicht ſo viel Geld uͤbrig, um mit Extrapoſt zu fahren.

72

Erwarten vielleicht eigene Gelegenheit?

Habe ſie ſchon, Herr Doktor, wie geſagt; habe ſie ſchon in dieſen Beinen.

Belieben zu ſcherzen!

Herr, was wollen Sie mit Jhren Andeutungen? Mit dieſen verſteckten Winken? Halten Sie mich fuͤr etwas Anderes, als ich bin, das heißt, fuͤr etwas Anderes als einen armen, hergelaufenen Burſchen, der jeder Eitelkeit und jedem Anſpruch entfliehend, die nied’re Huͤtte ſeiner Heimath aufſucht, ſo ſind Sie im Jrrthum. Jch bin ein Korbflechter, der Arbeit braucht, und wenn Sie in Jhrer Wirthſchaft zerbrochene Koͤrbe haben, die ich ausbeſſern kann, dann laſſen Sie mich Jhr Honorar fuͤr aͤrztliche Bemuͤhungen abarbeiten; Sie ſollen ſehen, wie ich es ernſtlich meine.

Der Arzt wurde ſtutzig. Die innerſte Ueberzeu - gung in Anton’s Worten ſing an, ihn irre zu machen. Schon ſtand er im Begriff, ſich auf Erklaͤrungen ein - zulaſſen, da ging die Stubenthuͤr auf, eine aben - theuerlich aufgetakelte Frauenperſon trat ein; ſie begann mit feierlich-tremulirender Stimme:

Der Ruf Jhrer Huld, gnaͤdiger Herr, dringt, roſenduftigen Zephiren gleich, in die Laubengewinde73 der Kunſt, deren Prieſter mit wonnereicher Zuverſicht erlabend; ſo drang er auch zu uns und von ihm ermuthiget, ſendet mein Gatte, der, angegriffen von den erſchuͤtternden Morgenſtudien, einer nothwendi - gen Schlummerſtunde ſich hingiebt, mich, die liebende Gattin, mit dieſem Programme zu Jhnen, um Sie einzuladen, daß Sie ihm heute Abend Jhrer Gegen - wart Ehre goͤnnen moͤgen. Obwohl partheiiſch fuͤr ihn, und wehe der Gattin, die es nicht waͤre fuͤr den Gefaͤhrten ihres Lebens, darf ich doch, ohne Partheilichkeit, behaupten, daß er das Ueberſchwaͤng - liche leiſtet als deutſcher Kunſtredner, als Veredler heiligſter Gefuͤhle, als Verbreiter poetiſcher Schoͤnhei - ten. Leider noch ſind die Behoͤrden, deren Sorgfalt oͤffentliche Geſchmacksbildung anvertraut wurde, tief im Dunkeln uͤber die Verdienſte meines Gatten; lei - der noch muß er als Beguͤnſtigung von einzelnen Schulvorſtehern erbitten, daß ſie ihm erlauben, die junge Welt durch ſeiner Donnertoͤne Gewalt zu erſchuͤttern, wofuͤr jeder Zuhoͤrer die geringe Summe von zwei Groſchen entrichtet, waͤhrend alle Bierfied - ler beſſer bezahlt werden. Aber lange kann das nicht mehr dauern. Wir reiſen jetzt nach der Reſidenz; dringende Empfehlungen werden bewirken, daß mein74 Gatte, mein Mortimer, bei Hoſe deklamire und dann, o nein, lang lebe der Koͤnig, es freue ſich, was oben athmet im roſigten Licht, nein, dann kann es nicht fehlen, daß ihm Auszeichnung, Belohnung und Rang zu Theil werden; er wird, ich zweifle nicht, feſt gemauert in der Erden ſteht mein Glaube, eine Anſtellung erhalten als koͤniglicher Kunſtredner und wirklicher Ober-Gefuͤhls-Veredler fuͤr Gymna - ſien und Buͤrger-Schulen. Um dies erreichen, um in der ſtolzen Reſidenz unſerer wuͤrdig auftreten zu koͤnnen, machen wir gegenwaͤrtige Kunſtreiſe und rechnen auf Maͤcene, die Jhnen aͤhnlich, gnaͤdiger Herr ...

Madame, unterbrach ſie Anton, es war ohnedies mein Wille, das Deklamatorium dieſes Abends zu beſuchen; und ich hoffe, ich werde dies duͤrfen, ohne die Titel zu fuͤhren, mit denen Jhre freigebige Ein - bildungskraft mich ſchmuͤckt. Gewiß werd ich mich einſtellen und mein Scherflein zu Jhrer glorreichen Ausſtattung fuͤr die Reſidenz um ſo ſicherer beitragen, als wir alte Bekannte ſind.

Waͤr es moͤglich? Haͤtten die Schlangenwin - dungen meiner Laufbahn die Jhrige ſchon einmal durchkreuzt?

75

Jch glaube nicht zu irren, wenn ich mir die Frei - heit nehme, Sie an einen jungen Burſchen zu erin - nern, deſſen Waͤſche Jhrer beſonderen Sorgfalt ſich erfreuen durfte, waͤhrend er als Diener in einer Menagerie angeſtellt war. Oder ſollte die alte, beruͤhmte Stadt D. nicht das Gluͤck haben, Jhre Vaterſtadt zu ſein?

Madame wurde feuerroth, ſtammelte ſehr verle - gen die Verſicherung heraus, daß ſie niemals in D. geweſen ſei, daß es taͤuſchende Aehnlichkeiten gebe, daß ihr Gemal ſie erwarte u. ſ. w. Dann warf ſie noch einen pruͤfenden Blick auf den gnaͤdigen Herrn, ſchien ſich des ehemaligen Antoine bei Madame Simonelli wirklich zu erinnern, und eilte beſchaͤmt in die Arme ihres Mortimer’s.

Der Arzt, offenbar ſtutzig gemacht in ſeinen zuverſichtlichen Vorausſetzungen, wußte doch nicht recht, wie er einen Menageriewaͤrter, der die an einen gefuͤhlsveredelnden Kunſtredner verehelichte Waͤſche - rin aus D. kannte und von ihr erkannt wurde, mit dem geheimnißvollen Kranken in Eines verflechten ſolle, dem er Ehrfurcht gezollt und zog ſich, nachdem er ſeine Rathſchlaͤge beſtens wiederholt und ein Hono - rar empfangen hatte, ebenfalls vom Schauplatze fort.

76

Doch ſo gut war es nicht gemeint, daß Anton des - halb ſich ungeſtoͤrt erſehnter Einſamkeit, ernſtem Nach - ſinnen haͤtte hingeben duͤrfen. Bald meldete ſich ein reiſender Portraitmaler, der ebenfalls auf den gnaͤ - digen Herrn Baron ſpekulirte, uͤber deſſen Anrede ſich aber der Angeredete nicht mehr aͤrgerte, weil er nun außer Zweifel war, daß Peterl, um wie ein wuͤr - diger Schuͤler Schkramprl’s auf - und abzutreten, ihn geadelt habe.

Der Maler kuͤndigte ſich mit eigenem Munde als ein luͤderliches Genie an. Jch weiß, ſo aͤußerte er ſich gleich bei ſeinem Eintritt, es muß uͤbles Vor - urtheil erwecken, wenn der Kuͤnſtler ſich in den Knei - pen kleiner Staͤdte Durchreiſenden anbietet; der Fremde iſt berechtiget, einen Kleckſer zu erwarten, einen talentloſen Pfuſcher, unfaͤhig an groͤßeren Orten mit Ehren zu beſtehen. Jch bin eine Ausnahme. Jch meide große Staͤdte, nicht weil ich den Vergleich mit anderen Portraitmalern fuͤrchten muͤßte, ſondern lediglich deshalb, weil es mich anekelt mit ihren Anmaßungen und Prahlereien in die Schranken zu treten. Dieſe geleckten und geſchleckten Pinſel, die vierundzwanzig Sitzungen brauchen fuͤr ein langwei - liges Oelbild, welches Sie gut gemalt nennen, in77 welchem aber ſogar der eigene Hund ſeinen Gebieter nicht wieder erkennt, es vielmehr anbellt wie den Mann im Monde, wohnen in ſchoͤnen moͤblirten Zim - mern, haben Atteliers, ſeidene Schlafroͤcke, geben vor, Hiſtorienmaler zu ſein, laſſen ſich mitunter Profeſſo - ren ſchimpfen, haben Schuͤler und heißen Akademiker. Mir ſind dieſe Charlatanerieen zuwider. Jch halte, da nun einmal die großen Meiſter Todes verbli - chen, um nicht wieder aufzuſtehen, keinen von uns Lebendigen fuͤr wuͤrdig, Bilder zu malen mit der Anmaßung auf lange Dauer; halte kein Geſicht, wie ſie jetzt herumlaufen, fuͤr wuͤrdig, mit dem Anſpruch auf Verewigung kontrefeit zu werden, bin vielmehr der Meinung, unſere miſerable Gegenwart ſolle ſich mit der Gegenwart begnuͤgen, dem Augenblick ſein Recht thun und damit Baſta! Deshalb mal ich in Waſſerfarben, friſch, bunt, keck, aber raſch, in fuͤnf - undvierzig Minuten; dabei treff ich wie aus dem Spiegel geſtohlen. Wenn ein jugendliches Antlitz, wie das Jhrige, ſich auf meinem Bildchen erblickt, freut es ſich uͤber ſich ſelbſt, verſchenkt ſich mit Luſt und hat den Troſt, nach einigen Jahren, wo dem Original die Jugend und Schoͤnheit zu entweichen beginnt, keine niederſchlagenden Vergleiche mehr zu78 fuͤrchten, denn bis dahin iſt meine Malerei laͤngſt an Luft und Sonne verblichen, verloͤſcht, unkenntlich geworden. Folglich triumphirt das Original uͤber die Kopie. Wie gefaͤllt Jhnen das? Drei Thaler zahlt der Plebs, Standes-Perſonen zahlen nach Belieben. Nehmen Sie Platz, ſetzen wir uns; Sie bleiben, auch ſitzend, in meinen Augen eine Standes-Perſon.

Jch bin noch niemals portraitirt worden, ant - wortete Anton, und wenn auch meine Kaſſe ungleich mehr der duͤnnen Boͤrſe des fußwandernden Hand - werksburſchen, als der eiſernen Chatouille einer reiſen - den Standes-Perſon aͤhnelt, moͤcht ich doch, pour la rareté du fait, Jhren Pinſel in Anſpruch neh - men. Legen Sie, bitt ich, das Bildchen ſo klein als moͤglich an, damit es ...

Jn Briefform verſendet werden koͤnne? Verſtehe! Ein Wort genuͤgt. Nur bitt ich um fuͤnfzehn Minu - ten mehr, als ackordirt war. Jn einer Stunde ſind Sie erloͤſet. So, dies Blatt wird paſſend ſein. Unten eines Fingers Breite leerer Raum, damit etliche Worte darunter geſchrieben werden koͤnnen, nicht wahr? O ich kenne mein Handwerk. Sie waren krank, will mich beduͤnken. Angenehme, ſchmachtende Blaͤſſe, ſehnſuͤchtige Hingebung! Jch ſpare an theu -79 rer rother Geſichtsfarbe. Die Augen ſind die Haupt - ſache bei Jhnen. Wiſſen Sie, daß Sie wunderbar ſchoͤne Augen fuͤhren, Herr Baron? Viel zu tief, viel zu geiſtreich fuͤr einen Baron.

Der Teufel iſt ein Baron, Herr!

Jch weiß, ich weiß, ich kenne meinen Goͤthe ſo gut wie mein Handwerk. Der Teufel iſt Baron, ſieh her, das Wappen, das ich fuͤhre; es ſteht feſt, jeder Teufel von einiger Bedeutung muß Baron ſein, ſonſt waͤr er nicht hoffaͤhig in der Hoͤlle; aber nicht jeder Baron iſt umgekehrt ein Teufel, wie der Augenſchein lehrt.

Sie koͤnnten mir einen Dienſt erweiſen, Beſter, wenn Sie mir ehrlich ſagen wollten, wer Jhnen geſagt hat, daß es ein Barons-Angeſicht ſei, dem Sie gegen - waͤrtig Aufmerkſamkeit widmen.

Wer? Je nun, er; Jhr Diener, Jhr Heiduck, Jhr Leib-Rieſe; der alte Mann mit der jugendlichen Quaͤkſtimme: er ſandte mich zu Jhnen.

Schkramprl? der Kerl iſt toll.

Doch wohl nur bei Nordnordweſt? Wenn der Wind ſuͤdlich iſt, kann er einen vornehmen Herrn von einem Vagabunden unterſcheiden.

Sie ſind mir zu gelehrt, Herr Maler.

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Shakſpeare Hamlet!

Schon recht. Schkramprl iſt ein Schlingel, der ſich ſchlechte Spaͤße mit mir erlaubt und ſeinem Pagen Peterl will ich die Ohren abreißen, wenn er mir noch einmal in die Haͤnde geraͤth.

Welche Jammertoͤne in Jhrer Nachbarſchaft!

Ein reiſender Deklamator, der ſich fuͤr heut Abend uͤbt. Kennen Sie ſeine Gemahlin?

Jhn und ſie! Das edle Paar wirkte jenſeit des Waſſers, ich meine auf der polniſchen Seite, bei einer reiſenden Schauſpielertruppe mit, wo ich ſie mehrmals bewundert habe. Die Truppe hat ſich aufgeloͤſet, in Folge innerlicher Zerſetzung. Herr Mortimer treibt ſein Weſen ſelbſtſtaͤndig fort. Hoͤren Sie nur, wie er’s treibt!?

Und die Gattin? Giebt ſie den Hoͤrern nichts zum Beſten?

Sie ſitzt an der Kaſſe. Mein Himmel, lieber Baron, bitte, die Augen ein Wenig nach Oben! wir wollen Alle leben; der Eine gut, der And’re ſchlecht. Sie begreifen das nicht. Aber ich .... wahrhaftig, mir iſt ſogar ein ſolcher Deklamator begreiflich. Das heißt: von ſeiner Seite. Weniger von der Seite Derer, die ſich einſtellen, ihn zu hoͤren.

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Und giebt es Deren?

Es giebt Deren. Glauben Sie mir, bei der Mehrzahl jener zweibeinigen Geſchoͤpfe, die ſich das Recht anmaßen, Menſchen genannt zu werden, kommt es nur darauf an, ſie einzuſchuͤchtern, ihnen frech ent - gegen zu treten, ſie in Grund und Boden zu ſprechen. Geſchmack, eigenen, ſelbſtſtaͤndigen Geſchmack beſitzen und uͤben die Wenigſten; ſogar unter denen, die ſich fuͤr gebildete Leute halten, iſt er ſelten. Das kommt einem rohen, unverſchaͤmten Luͤmmel, von Jhres Nachbars Gattung, zu Gute. Er redet ihnen ein, daß er ein Kunſt redner ſei und Niemand fragt, ob es wahr iſt. Die Zeit wird ihnen freilich fuͤrchterlich lang waͤhrend ſolchen Deklamatoriums, aber ich fuͤrchte, ſie wuͤrde ihnen noch laͤnger werden, wenn der Mann wirklich gut, einfach und natuͤrlich vor - truͤge, waͤhrend er jetzt gerade das Gegentheil thut. Jch habe gefunden, daß verhaͤltnißmaͤßig alles Nie - dere, Schlechte, Gemeine auf Erden die beſte Auf - nahme findet.

Das iſt aber eine traurige Anſicht von der Welt; und gar fuͤr einen Kuͤnſtler.

Die Welt iſt auch nicht luſtig, Herr Baron; ich finde ſie ſehr traurig fuͤr einen Kuͤnſtler: warum ſollDie Vagabunden. IV. 682ich ſie nicht traurig anſeh’n? Daß heißt: warum ſoll ich nicht eine traurige Anſicht von ihr hegen, voraus - geſetzt, daß dieſe Anſicht meiner Froͤhlichkeit keinen Eintrag thut. Und das thut ſie nicht; denn ich bin immer guter Dinge, ſogar dann, wenn ich kein Geld habe. Das will viel ſagen, wie? Doch das kennen Sie nicht.

Anton brach in ein ſo herzliches Lachen uͤber dieſe Behauptung aus, daß der Maler ihn dringend erſu - chen mußte, ſeinen Bewegungen Einhalt zu thun. Es wird ohnedies bald uͤberſtanden ſein, ſetzte er hinzu.

Auch war die erbetene Stunde kaum verſtrichen, als ein handgroßes, heit’res Bildchen vollendet war, dem nur ein Blinder den Vorzug lebendigſter Aehn - lichkeit haͤtte abſprechen koͤnnen. Natuͤrlich war es nur ſkizzirt, aber ſo ſicher und feſt ſtand es da .... man konnte nichts Vollendeteres in dieſer hingewor - fenen Manier denken.

Wie leid thut es mir, ſagte Anton, daß ich nicht bin, wofuͤr mich zu halten, Jhnen beliebte. Jch wuͤrde dies reizende Spiel Jhrer geſchickten Hand mit Goldſtuͤcken bedecken, um Sie wuͤrdig zu bezahlen. Aber wahrlich, wenn ich Jhnen entrichte, was Sie83 vorhin Jhren feſtſtehenden Preis nannten, ſo empfan - gen Sie gerade die Haͤlfte meines Kapitals.

Und bin damit zufrieden, ohne jedoch der Großmuth Hinderniſſe in den Weg werfen zu wollen. Laſſen Sie uns einen Vertrag ſchließen. Heute uͤber ein Jahr, oder ſpaͤter, wie mich der Wind treibt, beſuch ich Sie auf Jhrer Beſitzung und hole mir die Summe nachtraͤglich ab, deren Sie mein fluͤchti - ges Talent heute wuͤrdig fanden. Sind Sie damit einverſtanden? Ja? So empfehl ich mich und wandle fuͤrbaß, denn ich habe noch einige heimliche Buͤrger - toͤchterangeſichter zu liefern. Alſo, auf Wiederſehen in Liebenau!

Dreiundſiebenzigſtes Kapitel.

Wie unſer Held wieder dahin zurückkehrt, von wo wir ihn ausgehen ſahen. Tieletunke und die Turteltaube. Der neue Gutsherr von Liebenau.

Jch erlaſſe meinen Leſern großmuͤthig das unver - meidliche Deklamatorium. Hat ſich Anton doch auch die groͤßere Haͤlfte deſſelben geſchenkt und noch vor Tagesanbruch, mit neugeſtaͤrkten Kraͤften, aber nichts deſto weniger vorſichtig und langſam gehend, ſeine letzte Tagereiſe nach der Heimath angetreten.

Er beruͤhrte jetzt, bei der Wiederkehr, die Grenzen6 *84des Liebenauer Forſtes nicht von der Seite des Fuchs - winkels, wo er ausgegangen; vielmehr bog er in jenen Fußpfad ein, der mit der Straße zur Hauptſtadt in Verbindung ſteht. Dort hatte Onkel Naſus ein Jahr vor Antons Flucht kleine Birken anpflanzen laſſen. Die jungen Staͤmmchen, die man zeitig abgeſchnitten, waren bereits in dicke Geſtraͤuche umgewandelt, welche voll belaubt, den großen Hau mit laͤchelndem Gruͤn bedeckten. Unzaͤhlige Finken ſangen dort ihr Morgenlied. Ueber die Schonung hinaus drehte bei ſanften Winde die alte wohlbekannte Muͤhle ihre breiten Fluͤgel. Der Muͤller ſteckte den weißbeſtaub - ten Kopf zum kleinen Guckloche heraus. Von dem Flecke wo Anton dies ſah, iſt noch ein halbes Stuͤnd - chen bis an’s Dorf. Es war ihm unmoͤglich, dieſes kurze Stuͤck Weges jetzt gleich zuruͤckzulegen. Seine innere Bewegung uͤberwaͤltigte ihn. Er ſetzte ſich an den Rand des Grabens, welcher die Birkenſchonung von einem Stuͤck Brachfeld trennte. Ueber dieſes kamen Schaafe gezogen, hinter ihnen Schaͤfer und Hunde. Der Schaͤferknecht mit ſeinem langen, blaſ - ſen Geſicht und den weißlich-blonden Locken konnte kein anderer ſein, als des alten Schaͤfers juͤngſter Sohn, Gottlieb, einſt Gottliebel genannt, ein Geſpiele85 aus der Kinderzeit. Er gruͤßte Anton wie einen Fremden und ging voruͤber; die Hunde knurrten und Gottlieb mußte ſie beſchwichtigen.

Es wird mich Niemand mehr erkennen, im gan - zen Dorfe nicht, ſeufzte Anton, ſo wenig wie Schaͤ - fers Gottliebel. Meine Großmutter, die wuͤrde mich erkennen, aber die iſt begraben. Es iſt auch freilich bald ſieben Jahre her, daß ich fortlief, ſieben Jahre! Mir kommt’s vor, als wenn es ſiebenzig waͤren, ſo Vielerlei iſt mir begegnet, daß ich es gar nicht durchdenken kann, ohne ſchwindlich zu werden; wenigſtens heute nicht. Und dann wieder, wenn ich nach dem Dorfe ſchaue, nach dem Kirchthurm, da iſt mir wieder, als waͤren’s kaum ſieben Tage, daß ich abweſend war. Zuletzt laͤuft Alles auf Eines hinaus, und wenn der Menſch erſt todt iſt, machen ſiebenzig Jahre nicht mehr aus, wie ſiebenzig Minuten, ſechs - zig auf die Stunde gerechnet. Wie geſagt, zuletzt laͤuft Alles auf eins hinaus und iſt Alles nur Ein - bildung: Freude und Schmerz, Gluͤck und Elend, Trennung und Wiederſehen. Die ganze Geſchichte iſt nicht werth, daß man ſich plagt, abaͤngſtiget, betruͤbt. Was war’s nun, daß ich mir damals ein - bildete, hier koͤnnt ich’s nicht laͤnger aushalten, ich86 muͤßte die Welt, muͤßte das Leben kennen lernen. Was war’s anders, als Einbildung? Jetzt hab ich die Welt geſehen, Menſchen und Leben geſehen, und bin ich nun gluͤcklicher? Da ſitz ich wieder, von wo ich ausging, um nichts kluͤger ... ei ja, kluͤger doch. Wohl, wohl, um Vieles kluͤger. Oder iſt es nicht ſchon ein Zeichen zunehmender Klugheit, daß in dem - ſelben Augenblicke, wo ich die Birken betrat, eine Stimme in meinem Herzen wach wurde, die mir mei - ner ſeligen Großmutter Worte in’s Gedaͤchtniß rief: auf daß Du friedlich lebeſt und dereinſt in Frie - den ſterbeſt. Alles Andere iſt dummes Zeug.

Dieſe Worte, an denen ich zweifelte, deren Sinn ich nicht zu begreifen vermochte, wenn die alte Frau ſie mir predigte, toͤnen mir heute, an dieſer Stelle, wie ein Evangelium der Huld, des Troſtes. Jch verſtehe jetzt, was ſie damit meinte. Und dies Ver - ſtaͤndniß hab ich mir draußen erſt errungen, folglich bin ich kluͤger geworden, es iſt keine Frage; folglich waͤr ich nicht vergebens gewandert; folglich werd ich und muß ich jetzt aushalten in der beſchraͤnkten niedrigen Zukunft, die vor mir liegt. Und darum denn nicht lange getroͤdelt! Auf, Anton! dort hinein, wo ſich das Dorf wie in einen Zipfel nach dem Walde87 zu verliert; dort hinuͤber, am Ziegelofen vorbei, liegt dein Erbtheil, dein Haͤuschen, dein Garten, deine Welt. Vorwaͤrts, und ohne Murren!

Er hob ſich, den letzten, ſchweren Gang zu thun. Da er ſich dem Gartenzaun naͤherte, war es ihm, als ſchluͤpfte Jemand, vor ihm ſich verbergend, durch die Stachelbeerſtraͤuche des Nachbars und er glaubte Peterl zu erkennen, welchem er die Ohren hatte abrei - ßen wollen, was er aber jetzt vergaß und den Jun - gen laufen ließ.

Er ſtand vor ſeiner Großmutter Haus, vor der offenen Hinterthuͤr, die nach dem ſauber gehaltenen Gaͤrtchen fuͤhrte. Jn dieſem hatte ſich gar nichts ver - aͤndert, außer daß die juͤngeren Baͤume maͤchtig gewachſen waren. Er trat in den kleinen Hausflur, wo er jeden Nagel, jedes Brett wieder erkannte. Alles war ſtill. Er ſchritt bis an die Stubenthuͤr, er klopfte ſchuͤchtern an ... es durchrieſelte ihn ſo etwas, wie eine Erinnerung, daß die braune Baͤrbel erzaͤhlt haͤtte, Fraͤulein Ottilie bewohne ſein Haus, als Mie - therin. Nun lauſchte er auf ihr Herein! doch liße ſich nichts vernehmen. Er oͤffnete in Gottes Namen. Da war keine Seele im Zimmer. Bett, Schraͤnke, Stuͤhle, Geſchirr ſtanden, wie bei der Großmutter88 Tode. Er wagte ſich bis in ſeine Kammer. Sein Handwerkszeug lag in ſchoͤnſter Ordnung, der letzte Korb, den er begonnen, ſtand unvollendet, wie er ihn gelaſſen. Auf einem kleinen Tiſchchen unterm Fen - ſter ſtand der Kaͤfig, den er fuͤr ſeine Turteltaube geflochten, worin er das zahme Thierchen auf’s Schloß getragen. Die Taube ſaß darin. Er oͤffnete den Kaͤfig, um ſie zu ſtreicheln, ſie war leblos, war todt, ausgeſtopft, auf ihre Stange feſtgenagelt. Oben am Kaͤfig, von einem blauen Baͤndchen umſchlungen hing das Blatt mit ſeinen Abſchiedsverſen. Kein Zweifel, Ottilie bewohnte noch dieſes Haus. Sie war ihm und ſeinem Andenken treu geblieben; dieſe Ueberzeugung ſprach ihn aus jedem Winkelchen der niedern Raͤume an. Aber er .... hatte er wohl ſeit Lauras erſtem Blicke ihrer nur gedacht?

Kaum; und wenn es geſchah, mit taͤglich zuneh - mender Gleichguͤltigkeit.

Und heute ſollte er ſie wiederſehen!

Und wenn ſie ihn fragte: wie iſt es Anton, bringſt Du mir die kindlichen Gefuͤhle Deines reinen Her - zens rein und herzlich wieder mit? Jſt Tieletunke noch die ſie Dir war?

Was konnte er dann erwiedern?

89

Namenloſe Angſt bemaͤchtigte ſich ſeiner. Eiligſt will er das Haus verlaſſen .... an der Vorderthuͤr tritt ſie ihm entgegen. Kaum erkennt er ſie, ſo auf - fallend hat ſie gealtert. Groß, mager, bleich, wie ein Geſpenſt ſteht ſie vor ihm. Sein Anblick uͤber - fliegt ihr Antlitz mit einem Purpurſchein der Freude; ſie verjuͤngt ſich, wie durch Zauber. Doch verraͤth ſonſt kein Ausruf, keine uͤbereilte Bewegung, was in ihr vorgeht. Laͤchelnd reicht ſie ihm nur die Hand und wie wenn ſie ſich geſtern getrennt haͤtten, ſpricht ſie freundlich:

Nun, Anton Hahn, ſeid Jhr wieder in Liebenau?

Fraͤulein Ottilie gnaͤdige Baroneſſe ich bin ſo erfreut ... und Sie in dieſem Haͤuschen? Die - ſes Gluͤck fuͤr mich ....

Schwatzt keinen Unſinn, Anton. Es war ein Gluͤck fuͤr mich, in dieſem Hauſe wohnen zu koͤnnen; ich hab es gemiethet, es iſt paſſend fuͤr eine alte Jungfer. Nun kehrt Jhr zuruͤck, wollt Euer Eigen - thum in Beſchlag nehmen und ich werd es raͤu - men. Darauf bin ich ſchon vorbereitet, denn ich dachte mir’s, Jhr wuͤrdet uͤber kurz oder lang wieder heim - kehren. Laßt mir Zeit bis morgen. Jch zieh aus Liebenau fort. Meine Anſtalten ſind getroffen.

90

Jch ſoll Sie vertreiben, Fraͤulein Ottilie? Nim - mermehr.

Naͤrriſcher Menſch, kann es denn anders ſein? Euer Haͤuschen ſteht leer, der Gerichtshalter will es vermiethen, ich ziehe ein. Jhr kommt wieder, ich ziehe aus und mache dem Beſitzer Platz. Reden wir nicht weiter davon. Heute geht in’s Wirthshaus, ſchlaft auf friſchem Heu ... und morgen nehmt Eure Sachen in Empfang.

Ach, wenn ich nur nicht ſo arm wieder kaͤme, aͤrmer als ich auszog, und wenn ich mir’s nur getraute ... ich moͤchte wohl ... aber, Fraͤulein Tiele - tunke ... ich weiß halt nicht ...!

Anton, gieb mir die Hand! Du biſt ein gutes, ehrliches Herz. Damit genug! Geh Deiner Wege, bis morgen. Suche den Herrn Kurator auf. Dein Vormund iſt begraben. Morgen raͤum ich Dein Haus! Kein Wort weiter. Geh!

Sie hat mich verſtanden, murmelte Anton im Gehen. Und ich verſtand ſie auch. Sie weiſet meinen Antrag zuruͤck, im Haͤuschen zu bleiben und mich wie - der ziehen zu laſſen; ſie will dies Opfer von mir nicht annehmen; ihr Stolz hat ſie noch nicht verlaſſen, auch in ihrer Armuth nicht. Da bleibt fuͤr jetzt nichts91 uͤbrig, als das Wirthshaus. ’s war auch albern von mir, zu glauben, ich wuͤrde das Neſt leer finden und mich nur gleich ſo hineinſetzen koͤnnen. ’s war eine indirekte Beleidigung gegen den Kurator meiner minorennen Erbſchafts-Maſſe. Nein, ſolche Hôtels laͤßt man nicht unbeſetzt. Ha ha, ich muß lachen, da ſteht Anton Hahn mitten in der Hauptgaſſe, in den Linden, dem Graben, den Boulevards von Liebenau, vor ſeinem eigenen Palaſte, und kein Hahn kraͤht nach Herrn Hahn, kein Hund begruͤßt ihn, kein Menſch kennt ihn mehr! Kaͤmpfte nicht Wehmuth mit mir, wie mit einem ſchwachen Maͤdchen und trieb mir heiße Thraͤnen in’s Auge, da ich die lange Dorfgaſſe betrat? Und jetzt iſt’s wie weggeblaſen, das ſuͤße, weiche Gefuͤhl der Heimkehr; jetzt kommt die Wirklichkeit und ſchickt mich in’s Wirthshaus, wo die Flegel bei Bier und Schnaps ſitzen, Karten ſpielen; wo ſie mich anſtarren werden, wie die Kuh das neue Thor ... und gute Nacht: ſuͤße Wehmuth, ſanfter Thraͤnenthau, Wonne des Schmerzes; gute Nacht Alles, was Poeſie heißt. Jch bin uͤberzeugt, wend ich mich nach dem Kirchhofe, um meiner Alten Grab zu ſehen und auf dieſem die wohlthaͤtige Stimmung wiederzufinden, die ich brauche und wuͤnſche, dann haben die Schul -92 jungen das Gitterthor aufgelaſſen und ein Schwein liegt am Grabe und wuͤhlt den Huͤgel mit ſchmutzigem Ruͤſſel auf. Da macht Tieletunke den Fenſterfluͤgel zu; ich bin ihr mit meinem Anblick zur Laſt, wie es ſcheint? Wohlan, ich kann auch anderswo dieſe auf - erbaulichen Selbſtgeſpraͤche fortſetzen. Und darum will ich, um nur gleich das Schlimmſte hinter mir zu haben, das Dorf entlang zum Herrn Kurator gehen, mich bei ihm anmelden, wie ſich gebuͤhrt. Bei dieſer Gelegenheit werf ich im Voruͤbergehen auch ein Blick - chen nach dem alten, lieben Schloß. Wer mag darin hauſen? Haͤtte doch Fraͤulein Ottilie befragen ſollen.

Und Anton ging langſam durch’s Dorf, voll Erwartung, wer von alten Bekannten ihm begegnen, wer der Erſte ſein werde, der ihn erkenne, der ſich ſei - ner erinnern moͤge. Doch wie er ſeine Augen forſchend rechts und links, hinuͤber und heruͤber nach Haͤuſern und Huͤtten ſendete, ... nirgend kam ihm ein menſchliches Weſen in den Wurf. Alles wie aus - geſtorben.

Endlich uͤberholte er den voͤllig zuſammengekruͤmm - ten, uralten Tiſchler Fiebig, denſelben, der damals den Sarg fuͤr den ſchwarzen Wolfgang geliefert; der93 Greis ſchlich am Stabe ſo langſam fort, daß er ſich kaum vom Flecke zu bewegen ſchien. Dabei war er faſt erblindet. Anton ſprach ihn an: wohin des Weges, Vaͤterchen?

Auf’s Schloß, Landsmann; auf’s Schloß.

Und ſo allein, ohne Fuͤhrer?

Sind alle vorauf; konnten’s nicht erwarten.

Was denn? Giebt’s ’was zu ſeh’n?

Die neue Herrſchaft, halt!

Die neue Gutsherrſchaft haͤlt ihren Einzug? Alſo iſt Liebenau wieder verkauft worden?

Der Herr van der Helfft iſt verſtorben, Lands - mann, draußen, weit weg. Hat viel Prozeſſe hinter - laſſen! Sie haben Akten geſchrieben, multum; mul - tum viel, Landsmann. Vor acht Taͤgen war Ver - kaufs-Termin. Hoch fortgegangen: Hundert fufzig - Tauſend. Viel Geld das, aber gleich deponirt, pure Pfandbriefe. Reicher Kerl, der Kaͤufer!

Wie heißt er denn?

Weiß nicht! Weiß niemand nicht. Hat ſich nicht benamſet. Sein Affenkate iſt mit Vollmacht gekom - men: General-Spezial-Vollmacht. Heute wird er ſich zeigen. Neugierig; Alle neugierig im ganzen Dorfe. Sagen, ’s waͤr ein Fremder, einer aus der94 neuen Welt. Kurios, ob er ein ſchwarzes Geſicht hat? He? Wollt Jhr mitkommen, Landsmann?

Meinetwegen; ich will Euch unterſtuͤtzen, Vaͤter - chen, dann geht’s raſcher.

Sie eilten, ſo geſchwind wie Anton’s Beihuͤlfe den Urgroßvater Tiſchler fortſchieben konnte, auf’s Schloß. Am Einfahrtsthore des Hofes, und diesmal vollkommen deutlich und ſicher, daß er ſich nicht taͤuſche, erblickte Anton wiederum Schkramprl’s Peterl, der, ſobald er ihn erblickte, wie ein Pfeil in den Hofraum hineinſchoß.

Der alte Fiebig hatte die Wahrheit geſagt: die ganze Gemeinde ſchien verſammelt. Dicht zuſammen - gedraͤngt ſtanden Jung und Alt, daß die wohlbekannte Wilde-Weinlaube, die als gruͤnender Bogengang zum Schloſſe fuͤhrt, Kopf an Kopf bedeckte. Die beiden Fluͤgel der großen Haus-Pforte ſtanden weit auf. Jn derſelben, damit alle Leute ihn ſehen ſollten, ſaß der Gerichtshalter an einer mit Teppichen behan - genen Tafel, worauf vielerlei Aktenſtuͤcke, Doku - mente und die Grund - wie Hypothekenbuͤcher des Dorfes Liebenau lagen. Rechts vom Gerichtshalter ſaß eine ſchoͤne, ernſte Dame, von etwa vierzig Jah - ren, in tiefer Trauer. Links von ihm ſaßen zwei95 Advokaten, deren Einer die Verwaltung der van der Helfft’ſchen Konkurs-Maſſe, der Andere die Rechte des neuen Kaͤufers zu vertreten hatte, welcher letztere noch nicht angelangt und auf deſſen Ankunft jeder - maͤnniglich erwartungsvoll geſpannt war. Einen Schritt tiefer, doch immer noch hoch genug, um uͤber - all geſehen zu werden, befanden ſich auf den zur Pforte fuͤhrenden Stufen die Beamten des Gutes, Verwalter, Foͤrſter, auch Schulz und Gerichtsmaͤnner, an ihrer Spitze der Herr Paſtor, in welchem Anton ſogleich ſeinen Jugendſpielen, den ſogenannten Paſtor - Puſchel , erkannte. Hoch uͤber dieſe Koͤpfe ragte der graue Kopf des Rieſen Schkramprl hervor. Und gleichwie ein grau-bemooſeter Kirchthurm, hoͤher als die hoͤchſten Daͤcher neben ihm, aus ſeinem Glocken - haupte ein Zeichen ertoͤnen laͤßt, wenn eine laͤngſt - erſehnte Perſon ihren Einzug haͤlt, ſo gab Schkramprl jetzt ein Zeichen, da er Anton am Eingang der Bogen - laube erſcheinen ſah. Er nickte jener Dame in Trauer - kleidern ehrfurchtsvoll bejahend zu. Alſobald gab dieſe dem neben ihr ſitzenden Gerichtshalter einen Wink. Dieſer erhob ſich und augenblicks ſchwieg das Geſumme und Geplauder unter den Dorfbewohnern. Aller Augen richteten ſich nach dem Juſtitiarius , den ſie96 lieb hatten, weil er ſie ſtets freundlich behandelte und gar manchen entſtehenden Prozeß durch vermittelnde Rathſchlaͤge im Keime toͤdtete. Dieſer hub an:

Jhr wißt ſchon, Jhr guten Leute, daß Liebenau verkauft iſt. Die Sequeſtration hat ein Ende. Jn dieſem alten Hauſe wird wieder ein Beſitzer wohnen und wie zu hoffen ſteht, Einer, der ſein Geld nicht auf Reiſen und in großen Staͤdten vergeuden, ſondern hier bleiben, auf ſeinem Eigenthum leben, die Wirth - ſchaft verbeſſern, die Waldungen ſchonen, in Eurer Mitte weilen, Euch ein freundlich-geſinnter Herr, in Tagen der Noth ein Troͤſter und Helfer ſein will. Er iſt zwar ein reicher Mann, denn er hat, wie die vor uns liegenden Papiere nachweiſen, die bedeutende Kaufſumme durch ſeinen Herrn Bevollmaͤchtigten baar und richtig bei den Behoͤrden deponiret. Doch iſt er zugleich ein Mann, der weder verwoͤhnt, noch hoch - muͤthig, keineswegs in Pracht und Ueberfluß auf - gewachſen, vielmehr vom Schickſale gepruͤft, das Leben kennen lernte. Er weiß, was Armuth und Elend ſind. Er wird es nicht vergeſſen, jetzt, wo er reich und gluͤcklich iſt. Er wird ein Herz fuͤr Euch haben. Er war ein guter Junge, das weiß ich. Er wird ein guter Mann ſein, das hoff ich. Jch kannte97 ihn vor beinahe ſieben Jahren. Jhr kanntet ihn auch und hattet ihn lieb. Moͤge er Eurer Liebe wuͤrdig bleiben. Die hieſige Gemeinde macht eine Ausnahme von den meiſten in der Nachbarſchaft. Unter Euch hat ſich noch am reinſten der laͤndlich-fromme Sinn, die ſchlichte Einfalt und anhaͤngliche Treue unſerer Vorfahren aufrecht erhalten. Moͤg er Euch vertrauen, damit Jhr ihm vertrauen koͤnnt. Und ſomit uͤbergebe ich ihm, aus Auftrag ſeiner edlen Wohlthaͤterin, die Eures Herren Mutter heißen und ſein will, das Dominium Liebenau, nebſt den dazu gehoͤrigen Vor - werken, Hoͤfen und geſammtem Jnventarium. Er trete vor und zeige ſich der verſammelten Gemeinde.

Tiefes Schweigen ahnungsvolle Erwartung unter allen Anweſenden.

Anton hoͤrte, ohne zu faſſen; er wußte, was um ihn her ſich begab; er vernahm den Aufruf, der nur ihm gelten konnte; aber er regte ſich nicht.

Ploͤtzlich lief ein Gefluͤſter durch die Reihen. Die Zunaͤchſtſtehenden waren durch Peterl aufmerkſam gemacht worden, auf den jungen Mann, der den alten Fiebig hierher geleitet, den einzigen Fremden in der ganzen Verſammlung. Sie ſtießen ihre Nachbarn mit den Ellbogen an und deuteten auf ihn. Bald warenDie Vagabunden. IV. 798Aller Augen nach ihm gerichtet. Einige Frauen erin - nerten ſich dunkel ſeiner Zuͤge. Hier und da klang ein: Anton! Anton, der Korbmacherjunge! Der Enkel der Mutter Gokſch! aus dem Gedraͤnge.

Ohne daß es ihnen geboten ward, druͤckten ſie ſich dichter zuſammen und bildeten eine freie Gaſſe, vom Eingang der Bogenlaube, wo Anton ſtand, bis zum Eingang in’s Schloß.

Anton blieb regungslos.

Da erhob ſich die Dame in Trauerkleidern, ſtieg die Stufen hinab und ſchritt, wie eine Ueberirdiſche, ſo ſtolz, ſo ſanft, ſo weiblich bis dahin, wo Anton ſtand. Freundlich loͤſete ſie ſeine Hand vom Arme des alten Tiſchlers Fiebig und fuͤhrte ihn dann zuruͤck, bis an die Gerichtstafel.

Anton fuͤhlte, wie die Frau zitterte.

Doch als ſie die Stufen neben ihm hinanſtieg, hatte ſie ſich bereits ermannt. Mit feſter Stimme ſprach ſie, und laut, daß auch die Fernſtehenden es deutlich vernahmen:

Der Gemeinde von Liebenau ſtell ich meinen Pflegeſohn Anton Hahn vor, als ihren neuen Guts - herrn. Gott ſegne ſeinen Einzug!

Graͤfin Julia! rief Anton.

99

Deines Vaters Wittwe! erwiederte ſie.

Die Dorfleute ſchrieen froͤhlich erſtaunt durch - einander.

Die Kinder jauchzten.

Der Rieſe Schkramprl weinte und jauchzte wie ein kleines Kind. Dann ſtieg er auf einen Stuhl, zeigte ſich dem verſammelten Volk, und indem er auf ſeine Bruſt mit beiden Faͤuſten ſchlug, bruͤllte er unaufhoͤrlich: ipse feci!

Vierundſiebenzigſtes Kapitel.

Wie Anton mit ſeiner ſeligen Großmutter redet und wie Herr Schkramprl das Geſpräch unterbricht. Schkramprls Forderungen und wie er ſich bezahlt macht. Gräfin Julia erklärt nochmals ihres Gatten Sohn für ihren eigenen.

Der Sommertag iſt hinabgeſunken hinter die dun - kelblauen Waldſtreifen. Anton ſitzt im Zimmer, wo Onkel Naſus ſtarb. Daͤmmerung um ihn her und ernſte Einſamkeit, die er aufgeſucht, um die er flehent - lich gebeten. Er will, er muß allein bleiben. Draußen hat er wohl Geraͤuſch vernommen, hat Gehen und Kommen hoͤren, Wagen rollen, Diener laufen, er achtet auf nichts; von Geſchaͤften durfte Niemand mit ihm reden. Von ſeinen Beamten, vom Gerichts -7 *100halter, von allen Leuten erbat er mit aufgehobenen Haͤnden, wie der Bettelknabe um einen Pfennig, nur Ruhe; nur Einſamkeit!

Doch war er nicht allein.

Und wer, ſo fragen wir, wer von Allen, denen wir, mit ihm, in dieſem Buche begegnet ſind, die wir, mit ihm, kennen, vielleicht lieben, vielleicht haſſen lernten, wer war denn jetzt bei ihm waͤhrend dieſer heiligen Daͤmmerſtunde?

Ach, wer denn ſonſt, als ſeine Großmutter! Sie, ſie allein. Ja, ſie lebte vor ihm, er ſah ſie, ſie ſprach mit ihm, ſie ſtand vor ſeinem Seſſel, legte die duͤrre, zitternde Hand auf ſeine Locken und er ſchaute ſie weinend an und lispelte traurig: Zuͤrnſt Du mir nicht? Liebſt Du noch Deinen boͤſen, wilden, leicht - ſinnigen Anton? Ja, Großmutter, es iſt wahr, ich habe Dich vergeſſen; habe Dein Angedenken in mei - ner Seele verbleichen laſſen, wie die Unſchuld meiner Kinderzeit. Jch bin ſchlecht geweſen, undankbar, und wenn Du kamſt, mich zu mahnen an Deine Abſchieds - ſtunde, hab ich Dir nicht Rede geſtanden. Es iſt wahr. Doch liebſt Du mich noch, und ich liebe Dich auch; niemals hab ich aufgehoͤrt, Dich zu lieben, das fuͤhl ich heute, fuͤhl ich jetzt mehr, als je. Alles101 dank ich Dir, Dir allein: Deiner Muttertreue, Dei - ner Sorgfalt, Deinem Beiſpiel, Deinem Segen. Ja, Deinem Segen. Wie ſagte der gute Paſtor damals an Deinem Grabe zu mir: Deiner Großmutter Segen wird Dich begleiten durch’s Leben; welche Verſuchungen, Leiden, Pruͤfungen Dir vorbehalten ſind, zuletzt wirſt Du uͤber Alle ſiegen und gluͤcklich ſein, ſo gewiß die Seele ſelig iſt, deren Leichnam hier begraben liegt. Ja, ſo ſprach er ... und ich habe Dein Grab noch nicht beſucht? Zuͤrne mir nicht, Großmutter; ich komme in dieſer Nacht, wenn ſie alle ſchlafen, daß mich Niemand ſieht. Leider hab ich’s oft verſaͤumt, im Elend, im tiefſten Grame, meine Zuflucht zu Dir zu nehmen, Troſt zu ſuchen bei Dir; jetzt aber, im Gluͤcke, welches uͤber mich kommt, wie wenn es mich erſticken wollte, jetzt mußt Du mich aufrecht erhalten; das Andenken an Dich! Das Andenken meiner Kindheit!

So redete, ſo traͤumte Anton in die Abenddaͤm - merung hinein, mit einer Lebhaftigkeit, als ob wirk - lich die alte Mutter Gokſch vor ihm ſtaͤnde.

Unterdeſſen war die Stubenthuͤr unbemerkt auf - gegangen, der Rieſe Schkramprl hatte ſich leiſe her - eingeſchlichen und fragte nun in den duͤnnſten Toͤnen102 ſeiner abgenuͤtzten Fiſtelſtimme: mit wem kann der Herr reden? er iſt allein?

Jeden anderen Stoͤrer dieſer heiligen und hoch - geweihten Abendfeierſtunde wuͤrde der neue Gutsherr hart angelaſſen und wahrſcheinlich zum Erſtenmale in ſeinem Leben gegen ihn verſucht haben, den Herren geltend zu machen. Gegen Schkramprl war es ein Anderes. Blieb ihm auch noch immer der eigentliche Gang, den die wunderbare und zauberhaft raſche Ent - wickelung ſeiner Schickſale genommen, raͤthſelhaft und in ihrer letzten Wendung unergruͤndlich, ſo konnte doch uͤber den Vermittler dieſer ganzen Angelegenheit kein Zweifel obwalten. Nur Schkramprl konnte die Graͤ - fin uͤber ihn, ſeine Verwundung, ſeine Wuͤnſche, ſeine Anhaͤnglichkeit an Liebenau, ſeine Geneſung unter - richtet, nur er konnte durch getreue Botſchaften, durch aufmerkſame (von Peterl unterſtuͤtzte) Beobachtungen jeden ſeiner Schritte verfolgt, gelenkt, und dadurch den ergreifenden Auftritt herbeigefuͤhrt haben, der im Angeſicht einer feſtlich verſammelten Gemeinde dem neuen Beſitzer ſein Eigenthum ſicherte. Anton fuͤhlte folglich das Beduͤrfniß, gegen den Mann, der einen ſo maͤchtigen Einfluß auf ſein Leben geuͤbt, ſich dank - bar, erkenntlich zu erweiſen und ſich mit ihm uͤber alle103 naͤheren Umſtaͤnde auszuſprechen, wobei er auf die oft erprobte Redſeligkeit des rieſigen Kammerjaͤgers rechnete. Wider alles Erwarten fand er ſich diesmal getaͤuſcht. Zuvoͤrderſt wies Schkramprl jede Beloh - nung zuruͤck. Jch habe zu leben, ſprach er. Seitdem ich die phantaſtiſchen Grillen von Rieſenthum, Zwer - gen, wilden Maͤnnern, zahmen Thieren aufgegeben und mich aus der Poeſie des Vagabundenweſens in die Realitaͤt der Proſa begeben habe; ſeitdem ich in Giften wirke und ein ſolider Staatsbuͤrger geworden bin, der ſeine Konzeſſion und ſeinen Gewerbſchein bezahlt, find ich mein Auskommen, erhalte aus jeder Apotheke Arſenik à discrétion, und naͤhre mich red - lich; brauche alſo keine Unterſtuͤtzung und waͤre ein gemeiner Kerl, wenn ich mich vom gnaͤdigen Herrn von Liebenau beſchenken ließe. Worauf Hochdieſel - ben hindeuten, mir auf Jhrer Herrſchaft das Gnaden - brot zu geben und mich gleichſam zu Tode fuͤttern zu wollen, erkenn ich zwar Dero Geſinnung dankerfuͤllt an, bedau’re jedoch, fuͤr jetzt keinen Gebrauch davon machen zu koͤnnen, ſintemalen ich weder Sitzefleiſch genug habe, um an einem Orte zu bleiben, vielmehr des Wanderns ſehr beduͤrftig bin; noch Luſt verſpuͤre, bald zu ſterben, vielmehr leben und unzaͤhlige Ratten104 vergiften moͤchte. Kann demnach die mir zugedachten Gnadenbezeigungen durchaus nicht annehmen, bitte, dafuͤr an deren Statt mir drei andere zu bewilligen, wie folgt: Erſtens, daß mein ehemaliger Kamerad Antoine, jetzt Herr von, auf, in, zu Liebenau, den kleinen muntern Burſchen Peterl, der ſo zu ſagen mein Sklave war, in Dero Dienſte nehmen und ſel - bigen durch Guͤte, Milde, Sanftmuth, Liebe, nebſt dazu gehoͤriger, wohl-applizirter Reitpeitſche, aus einem kecken, nichtsnuͤtzigen Tagedieb, als welcher er in meinem Umgang wurde, zu einem braven Reit - knecht und dermaleinſt tuͤchtigen Kutſcher auszubil - den, als wozu beſagter Schlingel Neigung und Luſt verraͤth.

Zweitens, daß der Herr von Liebenau mir geſtat - tet, alljaͤhrlich mindeſtens einmal auf dem Schloſſe einzuſprechen und zu verfolgen, zu vernichten, zu toͤd - ten, mit Stumpf und Stiel, mit Rumpf und Schwanz auszutilgen, was da heißet Ratten, Maͤuſe, Wanzen, Laͤuſe, Schaben, Schwaben und Grillen mit meinen Zauber-Pillen! wobei ich mir ausdruͤcklich bedinge, ein fuͤr mich eigens erbautes Bettgeſtell vor - zufinden, in welchem ſich ein Rieſe behaglich aus - ſtrecken, und in welchem derſelbige, wenn es zum105 Ende mit ihm kommt, den Tod fein gemaͤchlich erwar - ten, freundliche Pflege hoffen und einen Blick anhaͤng - licher Liebe, wohlwollender Geſinnung geben und empfangen kann, ehe denn er die Geſichtsfenſterlein pour toujours zuſchleußt; was ich bei Ratten, vulgo Ratzen, krepiren nenne, bei unſer Einem: ſterben. Nur der Ausdruck iſt verſchieden, die Sache bleibt ſich gleich. Drittens, endlich, begehre und verlange ich, als Entſchaͤdigung fuͤr die Stiefelſohlen, ſo ich mir auf meinen Maͤrſchen zwiſchen Schloß Erlenſtein und jenem Forſthauſe abgelaufen, das wohlgetroffene Por - trait eines gewiſſen ehemaligen Antoine, jetzt gnaͤdi - gen Herrn auf Liebenau; denn ich habe den reiſenden Portrait-Maler nur deshalb in den Gaſthof nach St. geſchickt, weil ich dies Bildchen fuͤr mich haben will, um es ſtets bei mir zu tragen und durch ſeinen An - blick an den einzigen klugen Streich, den ich in mei - nem langen Leben vollfuͤhrte, erinnert zu werden; auf daß es mir moͤglich ſei, mit einiger Achtung vor mir ſelbſt noch ſo lange weiter zu leben, bis der ange - kuͤndigte letzte Beſuch in Liebenau durchaus noͤthig wird. Dieſe drei Bitten wuͤnſchte ich jetzt gleich durch Wort, Handſchlag und That erfuͤllt zu ſehen, wonach ich mich augenblicklich zuruͤckziehen moͤchte,106 indem eine goͤttliche Dame mit Euch zu reden wuͤnſcht.

So weit Schkramprl.

Und Anton lachte nicht. Waͤr es nicht ſchon dunkel geweſen, der Rieſe haͤtte Thraͤnen geſehen in den großen Augen ſeines jungen Freundes.

Anton ſuchte das Bild hervor, reichte es ihm, gab ihm die Hand und ſagte: Wort, Handſchlag und That!

Dann trennten ſie ſich.

Ein Diener der Graͤfin Julie brachte Leuchter mit Wachskerzen.

Gleich darauf kam die Graͤfin, ſichtbar zur naͤcht - lichen Abreiſe gekleidet. Der lange ſchwarze Trauer - ſchleier umhuͤllte die hohe Geſtalt. Draußen hoͤrte man vor ihrem Reiſewagen die Roſſe wiehern.

Anton gedachte der Beſchreibung, die ſeine arme Mutter von Graͤfin Julia gemacht. Er fand Alles beſtaͤtiget, nur daß mit den Jahren anmuthige Jugend-Huld ſich in wuͤrdevollen Ernſt umgewandelt.

Die herrliche Frau nahm einen Lehnſtuhl ein und winkte Anton, ſich ihr gegenuͤber zu ſetzen.

Junger Mann, ich darf Dich Sohn nennen; ich hab ein Recht dazu, denn mein Sohn iſt todt, 107 mein Gemahl iſt todt ich ſtehe allein. Du biſt des Verſtorbenen Kind, biſt das Kind eines ungluͤck - lichen Weibes, welches ſterbend Dich an mein Herz legte: Du biſt mein Sohn. Als ſolcher mußt Du wiſſen, was geſchehen iſt, ſeitdem Du Deinen Vater zum Erſtenmale zum Letztenmale geſehen; mußt wiſſen, welches furchtbare Geſchick uͤber uns herein - gebrochen; mußt Deinen Theil des Ungluͤcks auf Dich nehmen und tragen, wie er Dir gebuͤhrt; mußt erfahren, warum ich der Welt und ihrem Geraͤuſch entſagend, mich in tiefe Zuruͤckgezogenheit begeben und dort nur Gott, mir und guten Werken leben will. Als Du Deinen Vater verlaſſen, brach zwi - ſchen ihm und ſeinem ehelichen, meinem Sohne, ein graͤßlicher, unkindlicher Zwiſt aus. Graf Louis war ein ungerathener, ein herzloſer Sohn. Jch, ſeine Mutter, ſage das. Jndem ich es Dir ſage, bricht mein Herz. Aber ich verſchweige nichts, denn zwiſchen uns darf kein Geheimniß walten, Anton! Seines Vaters Nachſicht hatte ihn verdorben, ihn zum fruͤh-gereiften, fruͤh-verlorenen Knaben werden laſſen. Meine Gegenwirkungen blieben ohne Kraft, ohne Erfolg. Doch waͤr es unmoͤglich, daß irrege - leitete vaͤterliche Liebe und Schwaͤche einen ſolchen108 Boͤſewicht heranziehen konnten, wenn nicht ſchon in des Kindes innerſtem Weſen der Grund dazu gelegen haͤtte. Woher dieſe Keime der Verworfenheit mei - nem Sohne kamen? Welche finſtere Macht meinem einzigen Kinde ſie eingepflanzt? Nun, der Himmel weiß, daß ich es nicht weiß. Dir, Anton, iſt bekannt, weß Geiſtes Dein Halbbruder geweſen. Die Abſicht, Dich zu ermorden, hat das Siegel auf ſeine Unthaten gedruͤckt.

Von Sophienthal zuruͤckkehrend, fand ich Deiner Mutter erſchuͤtterndes Schreiben, fand ich den Gra - fen, meinen Gemahl, ſterbend. Was zwiſchen ihm und Dir, was zwiſchem ihm und Louis vorgefallen, that er mir ſcheidend kund, empfahl Dich meiner Obhut, verfluchte unſern Sohn ... und ſtarb.

Als Louis ſeines Vaters Tod erfuhr; als der Arzt, gerechten Unwillens voll, ihm ruͤckſichtslos erklaͤrte, er ſei es, der den Vater umgebracht, ſeinen raſchen Tod herbeigefuͤhrt, da ſchien in ihm, dem Liebloſen, eine Umwandlung vorzugehen. Er warf ſich zu meinen Fuͤßen und begann, dies verſtockte Herz zu oͤffnen. Frevel auf Frevel floß uͤber ſeine zucken - den Lippen; ich ſchauderte vor ihm aber es war mein Sohn. Jch ſuchte den wilden Erguß fruchtloſer109 Reue zu mildern; ſein Vertrauen zu befeſtigen; ihm zu ſagen, daß der Mutter Segen des Vaters Fluch loͤſen koͤnne; und weil, ſagte ich ihm, wahre Reue ſich darin kund gebe, daß man durch ſie und in ihr gut zu machen ſuche, was ſich noch auf Erden gut machen laſſe, ſo moͤge er damit beginnen, Dich, den Ausgeſtoßenen, durch ihn Vertriebenen, aufzuſuchen, zu verſoͤhnen, ſich Dir bruͤderlich-liebend zuwenden und ſeines Vaters Ehrenſchuld am Sohne ſeines Vaters ausgleichen.

Da ſprang er auf, ein grauenhaftes Bild ver - zweifelnder Raſerei. Es iſt zu ſpaͤt, rief er aus, ich hab ihn ermordet!

Jch bin keine Dame nach der Mode, Anton, die zu ihrem Riechflaͤſchchen greift, wenn ein ausſaͤtziger Bettler die Hand nach ihr ausſtreckt; ich falle nicht in Ohnmacht, wenn ich Blut fließen ſehe; ich habe nicht gejammert und gewinſelt uͤber haͤusliche Leiden, an denen mein Eheſtand reich war; ich kann koͤrper - liche Schmerzen ertragen, und ich konnte oftmals laͤcheln, wenn Schmerzen der Seele in mir brannten; ich leide nicht an ſchwachen Nerven, und bin, wenn ſchon als Graͤfin geboren und im Glanze aufgewach - ſen, ein ſtarkes Weib. Aber weißt Du, Anton, ſei -110 nen einzigen Sohn bekennen zu hoͤren, daß er ein Brudermoͤrder ſei, iſt auch einem ſtarken Weibe zu viel. Jch will’s nicht leugnen, Anton, mir vergin - gen die Sinne.

Als ich wieder zu mir kam, ſpuͤrt ich ſo etwas von Blutgeruch; ſah ich, wie durch grauen Morgen - nebel, ein hoͤlzernes Geruͤſt, auf welchem ein großer Mann ſtand, der ein glaͤnzendes Beil ſchwingt und dann ein dumpfer Schlag auf hoͤlzernen Block, und ein blaſſes Haupt, welches faͤllt, und man erkennt die Zuͤge dieſes Hauptes, dieſe ſtarren Augen haben Dich angelaͤchelt, als dieſe Lippen an der Mutter Bruſt lagen, mit einem Worte: es iſt Dein Sohn, den ſie als Moͤrder auf einem Schaf - fotte hinrichten mußten Du begreifſt, Anton, mein Erwachen war nicht ſuͤß!

Da mußt ich es denn als Gnade Gottes preiſen, wie ſie mir Nachricht brachten, Graf Louis habe ſich mit ſeines ſeligen Vaters Kugelbuͤchſe, ... mit jenem Gewehre, welches Deine Bruſt bedrohte, ... mit dem habe er ſich, maͤnnlich und feſt, ſein eigenes Herz durchſchoſſen, und ſei gefunden worden im Schloß - garten auf einer Bank, auf der ich zu ſitzen liebte. Sie hieß die Roſenbank.

111

Dort lag er noch. Dort fand ich ihn .... Ver - zeihe mir, Anton, die Klage um ihn, der Dich ermor - den wollte. Er war mein Sohn.

Von Dir erfuhr ich nun durch den ſeltſamen Menſchen, den Du weißt; der zwiſchen Dir und mir mit unermuͤdlicher Gutmuͤthigkeit lief, horchte, forſchte, berichtete. Erfuhr, daß Du lebſt, ruhig leideſt, daß Du den Thaͤter nicht kenneſt! O, Anton, als ich dies erfuhr, da wurdeſt Du mein Sohn! Du wollteſt, Du konnteſt entſagen, verſchweigen, ſcho - nen! Und ſo lebt außer Dir und mir kein Menſch, dem es bekannt waͤre, daß Louis dem Scharfrichter zuvor kam.

Der groͤßere Theil von Deines Vaters Beſitzthuͤ - mern iſt Fidei-Kommiß und faͤllt, nach ſeines einzi - gen Erben Tode, einer juͤngeren Linie anheim. Zur Erbin ſeines Allodial-Vermoͤgens macht mich ſein Teſtament; es koͤnnte bedeutend ſein, wenn Louis nicht wie ein Wahnſinniger gewirthſchaftet haͤtte. Jetzt reicht es kaum zum Ankauf Deines Gutes hin, doch hab ich von meinem muͤtterlichen Erbtheil das Fehlende ergaͤnzt und Liebenau iſt Dein, Dein eigen, ſchuldenfrei, wenn auch nicht im beſten Zuſtande. 112Aber Du biſt jung und wirſt herſtellen, was ſeit Jah - ren vernachlaͤßiget wurde und verfiel.

Mir bleibt Sophienthal, das freundliche, ſtillab - gelegene Dorf, in welchem ich geboren ward, wo meine Eltern begraben liegen, woran kein Fluch haf - tet, kein Blutfleck, kein uͤbler Gedanke, ja nicht der Hauch einer ſchlechten Nachrede. Dort, wo Deine arme Mutter mich vor meiner Vermaͤhlung ſah, wo ſie Vertrauen in mich ſetzen lernte; dort werd ich leben, einfach, fleißig, nur im Umgange mit meiner lieben Freundin, der Frau des Paſtors. Fern von geraͤuſchvollen Freuden, werde ich, wie es der Wittwe, wie es der verwaiſeten Mutter eines Selbſtmoͤr - ders gebuͤhrt, Troſt und Freude darin ſuchen und fin - den, daß ich fuͤr Anderer Gluͤck wirken darf. Dort auch hoffe ich von meinem lieben Pflegeſohne und durch dieſen zu vernehmen, daß er gereiniget von den Flecken einer wirren, nicht tadelloſen Vergangenheit, ſich zu vorwurfsfreiem Wandel, zu ehrenhafter Fuͤh - rung ſeiner Angelegenheiten erhebt. Wie feſt ich immer entſchloſſen bin, meine Thuͤre zu ſchließen vor allen Eindringlingen, welche meinen Frieden ſtoͤren koͤnnten, Dir, Anton, wird ſie offen ſein. Wenn Du Rath einer muͤtterlichen Freundin, wenn Du in Schmerz113 oder Freude ein Herz ſuchſt, dem Du das Deine ausſchuͤtten koͤnneſt, ſo komm und ſuche mich auf.

Und nun begieb Dich zur Ruhe. Die Begeben - heiten dieſes Tages haben Dich, den erſt Geneſenden, heftig angegriffen. Segne Gott Deine erſte Nacht in dieſem Hauſe mit ſanftem, erquickendem Schlum - mer! Jch reiſe ab. Mein Tagewerk hier iſt gethan. Denke in Liebe Deines verſtorbenen Vaters, bete fuͤr meinen Sohn und vertraue auf Deiner Pflege - mutter Freundſchaft.

Anton, als die Graͤfin nun vom Seſſel aufge - ſtanden war, naͤherte ſich ihr, beugte ſich uͤber ihre Haͤnde und kuͤßte dieſe.

Sie umſchlang ihn mit beiden Armen, druͤckte einen heißen Kuß auf ſeine Stirn und ſagte nur noch: Abel, bete fuͤr Kain!

Dann ging ſie raſchen Trittes hinaus, wo ihre Diener auf dem Flure harrten.

Anton geleitete ſie bis zur Kutſche. Der Mond ging eben leuchtend auf.

Der neue Gutsherr von Liebenau entſchlummerte unter ſanften Thraͤnen, wie er ſie nicht mehr geweint hatte, ſeitdem Mutter Gockſch geſtorben war.

Die Vagabunden. IV. 8114

Fünfundſiebenzigſtes Kapitel.

Wie Anton ſich ſeiner erſten Liebe lebhaft erinnert, da er noch Korbmacher war und von dieſer abermals einen Korb erhält. Heimliches Geſpräch mit Ottilie. Peterl als Kurier.

Der Morgen des erſten Tages, welchen der Be - ſitzer von Liebenau als ſolcher daſelbſt zubrachte, war dem Empfange ſeiner Geſpielen gewidmet. Paſtor Julius Karich und Verwalter Robert Karich, ſammt ihren Ehehaͤlften Miez und Linz, ſtellten ſich dienſtbefliſſen und ergebenſt ein. Anton zitterte vor dieſer erſten Beſprechung; es war ihm eben ſo peinlich, als es ihm noch immer unbegreiflich blieb, daß er, der Korbmacherjunge, die Toͤchter des gefuͤrch - teten Onkel Naſus in ſeinem Schloſſe als ſchlichte Buͤrgerfrauen bei ſich ſehen ſollte. Er ging ihnen bebend entgegen, voll Furcht, ſeiner unverſtellten Herzlichkeit koͤnne Bitterkeit, oder Hohn das Wort im Munde erſticken. Doch nichts dergleichen. Die niedrige Geſinnung beider Frauen that ſich in demuͤ - thiger Artigkeit kund; es fehlte nicht viel, ſo leckten ſie dem gnaͤdigen Herren die Haͤnde. Puſchel und Rubs ſtellten ſich dagegen ſehr zu ihrem Vortheil ver - aͤndert dar. Die Maͤnnlichkeit ihres Weſens kleidete115 ſie wohl und es war uͤber beide, beſonders aber uͤber den jungen Prediger, eine milde, theilnehmende Freude verbreitet, die in ihrer wortkargen Jnnigkeit lebhaft an den verſtorbenen Vater, Antons unvergeß - lichen Lehrer, erinnerte. Er ließ ein ſchnellbereitetes Mahl auftragen, wozu er ſie als Gaͤſte einlud.

Kaum hatten die erſten Glaͤſer das Geſpraͤch belebt, als auch ſchon Tieletunkes Name von den Schweſtern genannt wurde, offenbar in der Abſicht, zu erfahren, was der Herr fuͤr ſeine Jugendliebe noch fuͤhle, oder nicht mehr fuͤhle. Dabei verhehlten Beide durchaus nicht, daß ſie mit Ottilien auf feind - ſeligem Fuße lebten, ſeitdem dieſe ſich ihrer Verheira - thung offen entgegengeſtellt, auch nachher den Umgang mit ihnen foͤrmlich abgebrochen. Sie geſtanden ihrerſeits Abneigung gegen die ſtolze Per - ſon ein, und es bedurfte nur geringer Kenntniß des menſchlichen, vorzugsweiſe des weiblichen Herzens, um zu durchſchauen, daß ein Schwager, wie Anton jetzt war, ihren Neid erregen werde; daß ſie den Gutsherrn der alten Jungfer, wie ſie Ottilien ein fuͤr allemal nannten, nicht goͤnnten. Durch dieſe Richtung des Geſpraͤches verſchwand die Heiterkeit der kleinen Tiſchgeſellſchaft, der Paſtor wie der8*116Verwalter eilten, dies empfindend, zu ihren Berufs - geſchaͤften und nahmen natuͤrlich die Frauen mit.

Anton blieb wieder allein, den Nachklaͤngen die - ſer peinlichen Unterhaltung anheim gegeben. Er ging laͤnger als eine Stunde auf und ab, die großen Raͤume mit großen Schritten durchmeſſend; bald ſprach er laut, bald verſank er in Sinnen, dann riß er die Fenſter auf und ſtarrte in’s Gruͤne; endlich lief er hinaus in die Wilde-Wein-Laube, ſtellte ſich auf den Fleck wo er vor Carino gegeigt, blickte nach der Hausthuͤr, hinter welcher ſie ſtand als ſie ihm die Kußhand nachſchickte; ſodann begab er ſich wieder in ſein Wohnzimmer, warf ſich in einen Lehnſtuhl, be - deckte ſein Geſicht mit den Haͤnden und ſeufzte laut: ach, daß doch Graͤfin Julia hier waͤre; daß ich mit ihr ſprechen, daß ich ihre Meinung hoͤren koͤnnte! Die Schweſtern erwarten’s. Sie erwarten’s mit grollendem Neide, aber gerade, daß ſie dieſen nicht verbergen konnten, daß ſie mir ihn zeigten, zeigt mir auch meine Pflicht. Jch habe ſie geliebt; ſie liebt mich noch. Sie lebt ja nur dieſer Liebe. Jn mei - nem Hauſe wohnt ſie, verkehrt mit keiner Seele, die ausgeſtopfte Turteltaube iſt ihr Umgang, der Kaͤfig, den ich geflochten, ihr Altar, meine kindiſchen Verſe117 ihr Evangelium; ſie treibt Abgoͤtterei mit ihrer Jugend-Liebe. Und dieſe hat ſie dem armen Knaben treu bewahrt, von welchem der Stolz ſie doch trennte und fern hielt. Der arme Knabe iſt ein reicher Mann geworden; er hat ſie vergeſſen, verrathen, waͤhrend ſie ihm treu blieb; was kann er jetzt anders thun, als hingehen, um ihre Hand zu werden! Die Schweſtern erwarten’s, .... um wie viel mehr muß ſie’s erwarten. Sie haͤlt mich fuͤr edel; hielt ſie mich doch dafuͤr, wie ich Koͤrbe flocht, um’s Geld. Jch habe zu bewaͤhren, daß ich es blieb, trotz allem Wechſel der Zeit und der Umſtaͤnde. Und ich liebe ſie auch noch. O, keine Frage, ich liebe ſie noch. Wie ſang doch jener franzoͤſiſche Saͤnger in der Pariſer komiſchen Oper:

mais on revient toujours
à ses prémiers amour’s!

Freilich, freilich, on revient toujours. Jch bin wie - der heim gekommen und hab auch meine erſte Liebe wieder gefunden. Und ſie iſt auch noch recht huͤbſch. Recht huͤbſch! daß ſie ein wenig aͤlter geworden ſeit - dem, dafuͤr kann ſie nicht; wir werden alle aͤlter. Und daß Hedwig juͤnger iſt und ſchoͤner als ſie, iſt auch nicht Ottiliens Schuld. Wer heißt mich denn118 uͤberhaupt an Hedwig denken? An Hedwig, wo ich an Ottilien denken ſoll? Zwiſchen mir und ihm hieß der alte Rittmeiſter ſie waͤhlen, und ſie waͤhlte den Vater. Sie that Recht! Jch will auch Recht thun. Jch gehe zu Tieletunke und werbe um ihre Hand. Die Tochter des Onkel Naſus hat die erſte und vornehmſte Anwartſchaft darauf, Gebieterin zu werden in dieſem Schloſſe!

Anton ahnete wohl wie nothwendig es ſei, dieſen Entſchluß raſch auszufuͤhren, wenn die Ausfuͤhrung nicht an wiederkehrender Unſchluͤſſigkeit zu Schanden werden, wenn ſich Hedwig’s Lockenkopf nicht noch einmal zwiſchen ihn und die Braut ſeiner Pflicht draͤngen ſollte. Er machte Anſtalt zum gehen, da meldete man ihm den alten Korbmacher, ſeinen Feind, ſeinen Brodneider; den gefuͤrchteten Kurator, den er im Taumel der Begebenheiten ſchon ganz vergeſſen.

Dieſer ſtellte ſich ein, Rechnung zu legen. Jn der Linken hielt er ein leinenes Saͤckchen mit großen und kleinen Geldſtuͤcken angefuͤllt; in der Rechten ein Packet Rechnungen; ſeinen Hut hatte er demuͤthig auf der Thuͤrſchwelle in eine Ecke geſchoben. Er holte Athem, zu einer langen, winſelnden Anrede.

Anton unterbrach ihn und ſchnitt ihm das Wort119 ab. Mein beſter Herr Kurator, ſagte er zu ihm, der Gerichtshalter hat mir bereits mitgetheilt, daß Alles in Ordnung iſt.

Jch quittire, in beſter Form, uͤber Eure Rechnun - gen. Was die Muͤhwaltung betrifft, die mein klei - nes Eigenthum Euch gemacht, ſo nehmt als Bezah - lung dafuͤr den Ertrag der vergangenen Jahre an. Behaltet den Ueberſchuß, den Jhr mir einhaͤndigen wolltet; Jhr koͤnnt ihn gebrauchen; denn ich weiß am Beſten, wie wenig ein Korbmacher in Liebenau erwirbt und ich glaube nicht, daß jetzt beſſer und prompter gezahlt wird, als vor ſieben Jahren.

Damit entließ er den Neidhart, der nun auf ein - mal der groͤßte Verehrer und Lobredner wurde. Jch hab es immer vorhergeſagt, aͤußerte der alte Eſel dann im Kretſcham , daß in dem Korbmacherjun - gen etwas mehr ſteckte; ſchon wie er fortlief, ſprach ich, ihr ſollt ſehen, der kommt wieder, und wie!?

Gegen Abend pochte Anton bei Tieletunke leiſe an. Mit feſter Stimme rief ſie herein! Jch hab Euch erwartet, Anton Hahn!

Erwartet, Fraͤulein Ottilie?

Erwartet. Setzt Euch und ſagt mir, was Jhr zu ſagen kommt. Jch bin begierig, es zu hoͤren.

120

Hier, in dieſem Zimmer, gnaͤdiges Fraͤulein, iſt meine Großmutter geſtorben.

Kurz vor ihrem Tode ſind Sie gekommen, die alte Frau zu beſuchen, ihr ein Labſal zu bringen, Abſchied von ihr zu nehmen. Bei’m Weggehn hat es ſich gefuͤgt, daß Sie meine Turteltaube lobten, das Thierchen zu beſitzen wuͤnſchten. Dann wieder hat es ſich ſo gefuͤgt, daß Jhr Herr Vater, der Baron und meine Großmutter, die Kantorswittwe in einer und derſelben Stunde zur Ruhe beſtattet wurden. Am Grabe meiner Wohlthaͤterin haben Sie mir Lebe - wohl geſagt. Seitdem haben wir uns nicht wieder geſehen. Wie ich Liebenau verlaſſen mußte, trug ich Jhnen die Taube auf’s Schloß mit ein paar gereim - ten Zeilen dann lief ich fort. Da ſind denn Jahre vergangen, ich hab vielerlei erlebt, Gutes und Schlimmes; hab vielerlei gethan, leider mehr Schlimmes, als Gutes ... aber im Herzen bin ich eigentlich unveraͤndert geblieben; bin immer noch der Anton von damals. Alſo hat mich’s denn auch wie - der hierher getrieben, nach meiner Heimath, wo mir der Friede bluͤhte; wo meine Kindertraͤume wandeln; wo meiner Jugend erſte Liebe aus jedem Strauche guckt. Hierher! Und da treff ich nun ein, matt und121 muͤde, ach, Fraͤulein Ottilie, ſo muͤde! .. und das Erſte was mein Auge ſieht, in jener Kammer d’rin, wo ich ſo oft um Sie geweint, das iſt meine Taube, mein Kaͤfig, meine Reime.

Nehmen Sie mir’s weiter nicht ungnaͤdig; wie ich das erblickte, dacht ich bei mir: ſie hat dich lieb gehabt ... und ſie hat dich noch lieb! Doch ich war der arme Vagabund, der zu Jhnen von ſolchen Din - gen nicht reden durfte; dem Sie den Mund verſiegelt hatten, mit Jhrem Abſchiedskuſſe auf der Mutter Grabe ... Folglich that ich wie Unverſtand und ging wieder. Nun ſchuͤttet der Himmel ein ganzes Fuͤllhorn reicher Gaben uͤber mich aus, daß ich ver - dutzt um mich her ſchaue; und Graͤfin Julia fuͤhrt mich in Onkel Naſus altes Schloß, ſpricht zu mir: ich bin Deine Mutter und dies Schloß iſt Dein! Fraͤulein Ottilie, da war’s, wie wenn die Turtel - taube noch einmal auflebte und gurrte: Tiele - tunke! So bin ich alſo hierher gekommen, zu fragen, ob ich mich nicht getaͤuſcht habe? zu fragen, ob die Taube Recht hat? Und ob Ottilie Liebenau fuͤr ihr Eigenthum, und ſeinen gegenwaͤrtigen Be - ſitzer mit in den Kauf annehmen will?

Jch habe Sie erwartet, Anton. Auch dieſen122 Antrag hab ich erwartet. Wie ich vernommen, was geſtern auf dem Schloſſe geſchehen, wußte ich, daß Anton Hahn kommen wuͤrde, mir ſeine Hand zu bie - ten. Jch wuͤrde mich auch betruͤbt haben, um ſeinetwillen, wenn er es nicht gethan. Denn es iſt ſeines guten, edlen Herzens wuͤrdig; iſt des Antons wuͤrdig, den ich liebte ſeit meinen Kinderjahren, den ich heute noch liebe, unveraͤndert, wie ich ihn lieben werde bis zum letzten Lebenshauche. Mein Gott, wie ſollt ich’s anfangen, Dich nicht zu lieben, Anton; Dich, Du Wonne und Schmerz meines ganzen trau - rigen Lebens. Ja, ja, ſo wahr ich lebe, ich liebe Dich! Aber, ſo wahr ich lebe, Du liebſt mich nicht. Jch war Deiner Knabenzeit Morgentraum ... der Mann hat ausgetraͤumt. Du haſt gelebt drauſſen, und geliebt, und vergeſſen und wieder geliebt ... wie koͤnnt es anders ſein. Jch mußte Dir gleich - guͤltig werden. Nun kommſt Du heim, da regen ſich die begrabenen Erinnerungen im Schooße der Erde; ſaͤuſeln herauf durch Gras, daß die duͤnnen Halme zittern und kleine Angerbluͤmchen weinen. Die ſanfte Abendmelodie ruͤhrt Dich Du nimmſt Vergangen - heit fuͤr Gegenwart? ... Aber Du liebſt mich nicht. Was auch ſollteſt Du an mir lieben? Die ſtolze Toch -123 ter des Baron’s, die Dich von ſich wies? Die mit ihrer heißen Leidenſchaft fuͤr den armen Korbflechter in der Bruſt, ſich kalt und vornehm von der Welt zuruͤck zog, von den Jhrigen, und hier in Deiner Huͤtte verkuͤmmerte, verblich, alt und haͤßlich wurde vor der Zeit? Mitleid konnteſt Du fuͤr ſie haben, Mitleid, Theilnahme, Großmuth, aber keine Liebe! Da biſt Du, guter Junge, und willſt das duͤrre, ver - kommene Bettelfraͤulein heim holen, auf ihrer Vaͤter Schloß, damit ſie an Dir und Deiner Jugend und Deinen Lebensfreuden haͤnge, wie ein Todtengeripp? Wo haſt Du Deine fuͤnf Sinne, daß Du nur eine Sekunde lang waͤhnen mochteſt, Deine kleine Tiele - tunke werde ſich ſo ſehr verleugnen? Werde ein Ehebuͤndniß eingehen, zu welchem Rechtlichkeitsge - fuͤhl, kindliche Anhaͤnglichkeit Dich leiten? Jch habe Dich zu lieb, Anton, um Deine Frau zu werden! Und ehrlich geſagt, ich bin zu ſtolz, um Dich jetzt zum Manne zu nehmen, wo Du ein reicher junger Herr biſt, ich eine verbluͤhte, arme Jungfrau. Stolz, und immer Stolz! wirſt Du ausrufen. Mag ſein. Der Stolz iſt mein Erbtheil und in meiner Armuth iſt er mein Reichthum! Jch danke Dir, Freund aus der Kindheit, Jugendgeſpiele, lieber, lieber Anton! 124Jch danke Dir fuͤr Deinen redlichen Willen, Deinen treuen Sinn. Damit Du ſiehſt, daß die arme Tiele - tunke nicht hochmuͤthig iſt, bei ihrem Stolze, will ſie eine Bitte an Dich richten. Du biſt der einzige Menſch auf Erden, den ich jemals um etwas bat. Jch bitte Dich, mir Deiner Großmutter Haͤuschen zu ſchenken, vielmehr, es mir zu laſſen, damit ich es bewohne, bis ich ſterbe! Geſtern haͤtt ich dieſe Bitte nicht gewagt, denn geſtern noch hatteſt Du ſelbſt nicht, wo Du Dein Haupt hinlegen konnteſt. Heute hat ſich das geaͤndert. Du bewohnſt die Mauern, in denen ich aufwuchs; laſſe mich da - gegen die kleinen Raͤume bewohnen, die Deine ſchoͤn - ſten Jahre umſchloſſen. Nein, Anton, das Gluͤck der Kindheit kehrt uns nie mehr wieder!

Und wenn’s dem Herrn von Liebenau danach zu Muthe iſt, mag er ſeinen Weg manchmal nehmen nach dem Hauſe der Mutter Gokſch. Eine liebende Großmutter wohnt nicht mehr darin, aber eine treue, aufrichtige, uneigennuͤtzige Freundin wird er hier finden, ſo lange die alte Jungfer lebt. Ja, auch dann darf er mich beſuchen, wenn er verheirathet iſt. Ach, mein Spiegel ſagt mir wohl, daß eine junge ſchoͤne Frau auf mich nicht eiferſuͤchtig werden wird,125 wir koͤnnen’s ihr dreiſt geſtehen, daß ihr Herr Gemahl mein Liebhaber, daß ich ſein Braͤutchen war, als er noch keine Struͤmpfe trug und Stiefeln fuͤr Luxus hielt. Ja, er wird kommen, ſie wird kommen, mein kleines Nonnenkloſter mit ihren froͤhlichen Geſichtern zu ſchmuͤcken; und ihre Kinder werden ſie mir brin - gen; die werden mich Tante Tieletunke nennen, wer - den alle Blumen im Gaͤrtchen abreißen, alle Fruͤchte von Strauch und Zweig ſchuͤtteln, werden das ganze Haus umkehren, und ich werde ſie niemals auszan - ken, denn es ſind Anton’s Kinder. Und wenn ein Maͤdchen darunter iſt, heißt es Ottilie, denn ich hab es uͤber die Taufe gehalten, hab es mit meinen Thraͤnen noch einmal getauft, doch es ſind Freu - denthraͤnen. Und Jhr alle werdet mich lieb haben und ich Euch! Nicht wahr, Freund Anton? Es waͤre Alles vorhanden, was wir brauchen zum haͤuslichen Gluͤcke ... wo iſt die junge Frau?

Anton ſchlug die Augen nieder.

Er liebt! rief Ottilie aus, indem ſie freudig ihre Haͤnde zuſammenſchlug; er liebt! ich ſeh es an die - ſem verſchaͤmten Schweigen. Er liebt eine And’re und er kam, ſeine Hand mir anzubieten! Da iſt die Luft nicht rein; da haͤngen graue Wolken! Geſchwind,126 Anton, heraus mit der Sprache; oͤffne mir Dein Herz. Sieh, guter Freund, der Herbſt iſt vor der Thuͤr, der Winter folgt ihm und die arme Tieletunke braucht einen Kuppelpelz. Jch moͤcht ihn mir verdienen; ſoll ich? Muth, Anton, Muth und Vertrauen! Denk, ich waͤr die alte Mutter Gokſch; rede mit mir, wie Du mit ihr reden wuͤrdeſt, wenn ſie an meiner Stelle ſaͤße. Entdecke mir, was Dich bekuͤmmert. Wozu hat man denn ſonſt ſeine Freunde? Und thuſt Du’s nicht, ſo denk ich, Du willſt mir die Freundſchaft aufkuͤndigen.

Jn dieſem Augenblicke laͤuteten ſie auf dem Kirch - thurme die Abendglocke. Dieſe Toͤne drangen mit ihrem alten Zauber in Antons Herz. Eine unwider - ſtehliche Ruͤhrung bemaͤchtigte ſich ſeiner. Faſt wil - lenlos ſprach er Hedwigs Namen aus.

Hedwig heißt ſie? entgegnete Ottilie; das iſt recht ſchoͤn, doch mir nicht genug. Jch will mehr wiſſen.

Und Anton fing an, zu erzaͤhlen ...........

Es war tief in der Nacht, als er auf’s Schloß zuruͤckkehrte.

127

Was Fraͤulein Ottilie uͤber dieſen zarten Gegen - ſtand weiter mit ihm verhandelt und beſprochen? Jch weiß es nicht. Jm Tagebuche findet ſich daruͤber nichts Naͤheres verzeichnet. Jch weiß nur, daß Anton am andern Morgen ſogleich Peterl herbeirufen ließ, welcher kleine Pferdefreund ſich nach Schkramprls Abmarſch im Stalle heimiſch zu machen gewußt.

Peterl, fragte er ihn, weißt Du Schloß Erlen - ſtein?

Bin ich doch oft genug dort geweſen!

Trau’ſt Du Dich, den Weg zu finden?

Bei Nacht!

Peterl, trau’ſt Du Dich, den Weg von Erlenſtein nach Sophienthal zu finden?

War auch in Sophienthal!

Du biſt ein Engel. Peterl, trau’ſt Du Dich, durch Nacht und Nebel nach Erlenſtein zu reiten und von dort, wenn die Frau Graͤfin nicht mehr daſelbſt weilte, nach Sophienthal? Ohne Aufenthalt?

Jch trau mich’s!

Kannſt Du reiten, Peterl?

Ja!

Haſt Du ſchon geritten?

Nein!

128

So wirſt Du vom Pferde fallen.

So ſteig ich wieder hinauf!

Und wenn’s Dir weglaͤuft?

Jch halt’s feſt!

Wir wollen verſuchen.

Meinetwegen!

Anton begab ſich mit Peterl in den Hof und ließ ein gutes Pferd ſatteln. Unterdeſſen hatte Peterl ſich reiſefertig gemacht und bat um Geld zur Zehrung fuͤr ſich und das Pferd. Dann ſchwang er ſich hinauf, wie ein Affe ſo raſch, machte einige Volten im beſten Reiterſtyl, ſprengte dann in kurzem Galopp vor den Herrn und fragte:

Wird’s gehen?

Schlingel, Du haſt ſchon geritten!

Herr Schkramprl hat mich von den Reitern genommen.

Warum luͤgſt Du?

Jch wollte dem gnaͤdigen Herrn eine Ueber - raſchung machen.

Du biſt ein braver Kerl, Peterl. Hier iſt Reiſe - geld; hier in dieſem ledernen Taͤſchchen iſt ein Brief an Graͤfin Julia Erlenſtein in Erlenſtein, oder in129 Sophienthal. Auf dieſen bringſt Du mir eigenhaͤn - dige Antwort der Graͤfin! Und bis wann?

Darf ich das Pferd zu Schanden reiten?

Pfui, Peterl; wenn wir gute Freunde bleiben ſol - len, darfſt Du mir ſolche Fragen nicht thun. Jn mei - nem Dienſte ſoll niemals ein Pferd zu Schanden gejagt werden.

Deſto beſſer; ſo ſchon ich meine Sitzgelegen - heit. Jetzt iſt’s acht Uhr: heute morgen uͤbermorgen Abend um dieſe Zeit! He, heppla, heidonc!

Die Stallleute und Pferdeknechte ſchlugen ein lautes Gelaͤchter auf uͤber den kleinen Peterl, der da auf dem großen Roſſe zum Thore hinausflog.

Anton kehrte nachdenklich in ſein Schloß zuruͤck und wiederholte mehr als zwanzig Male: ich bin ſehr neugierig, was Graͤfin Julia mir antworten wird!

Die Vagabunden. IV. 9130

Sechsundſiebenzigſtes Kapitel.

Welches das letzte ſein könnte, wenn nicht nothwendigerweiſe noch einige andere hintend’rein folgen müßten.

Durch Hedwigs kindliche Aufopferung, ſorgfaͤltige Pflege, hatte ſich der Rittmeiſter nach und nach wieder ſoweit erholt, daß er, von ihr und ſeiner Kruͤcke unter - ſtuͤtzt, alltaͤglich einen kleinen Spaziergang machen konnte. Wer die beiden Leute mit einander gehen ſah, mußte die liebliche Tochter fuͤr ein hochbegluͤcktes Maͤd - chen, den Jnvaliden aber fuͤr einen Verbrecher halten, dem ſein boͤſes Gewiſſen nicht eine heitere Stunde, nicht eine froͤhliche Minute goͤnnte. Sie laͤchelte, ſchwatzte, war unermuͤdlich in kleinen Aufmerkſamkeiten fuͤr ihn, nickte jedem Voruͤbergehenden freundlich zu, kurz, gab ſich foͤrmlich Muͤhe, oͤffentlich darzuthun, und ihrem Vater zu zeigen, wie zufrieden ſie ſich fuͤhle. Er dagegen, indem er jede ihrer Bewegungen aͤngſtlich beobachtete, keinen Blick von ihr verwendete, benahm ſich nicht anders, wie wenn ſie die Kranke, Gebrech - liche, er ihr Fuͤhrer und Arzt ſei, der nur aufzumerken habe, ob nicht vielleicht ein heftiger Ausbruch des lauernden Uebels bevorſtehe. Dabei ſtoͤhnte der alte Mann, fuhr ſich haͤufig mit der Hand uͤber die feuch - ten Augen, ſeufzte wieder, druͤckte der Tochter zaͤrtlich131 den Arm, ſtreichelte ihre Locken und fragte unzaͤhlige - male im Laufe eines Tages: haſt Du den lahmen Kruͤppel, den grauſamen Vater, den barbariſchen Kerkermeiſter wirklich noch ein Bischen lieb, Hedwig?

Es war ruͤhrend mit anzuſchauen, wie ſie ſich bemuͤhte, ihn zu taͤuſchen, die Sehnſucht ihres Her - zens vor ihm zu verbergen und frohen Muthes zu ſcheinen, wo doch die arme Seele im Grame ſchier verging.

Doch er ließ ſich nicht taͤuſchen; er wußte nur zu gut, woran er glauben ſollte; wußte nur zu gut, daß mit Anton ſeines ſanften Maͤdchens Freude fuͤr immer entwichen ſei! Ach, wie oft ſchon, ſeit jener ſchwarzen Stunde, wo er, von heftigen Schmerzen gequaͤlt, das halbverroſtete Schwert gegen ihn zuͤckte, und ſie zwi - ſchen ihm und ſich waͤhlen hieß; ... wie oft ſeitdem hat er es bitter bereut, ſo gewaltſam gehandelt, ſo ruͤckſichtslos jeden Vorſchlag zur Guͤte abgewieſen, jede Ausgleichung unmoͤglich gemacht zu haben! Dabei vermied er, des Verwieſenen Namen auszu - ſprechen. Er behandelte Hedwig wie eine Kranke, und dabei pflegte ſie ihn, fuͤhrte ihn, die gute Tochter, wie eine Mutter ihr ſchwaͤchliches Kind. So lange er, durch ſeine Schmerzen muͤrriſch gemacht, ſie mit9*132uͤbler Laune marterte, war ihr beſſer; fuͤgte ſie ſich leichter in die Trennung von Anton. Seitdem er ſanft, dankbar, guͤtig die freundlichſte Theilnahme, ja Reue zeigte, fand ſie kaum mehr Kraft, ſich neben ihm aufrecht zu erhalten. Die Weichheit des ſonſt ſo ſtrengen Mannes loͤſete ſie voͤllig auf.

Sie gingen, ſie wankten vielmehr aus, des lauen Abendes froh zu werden. Beide, Vater wie Tochter, liebten jene Wege nicht, wo die Kleinſtaͤdter zu luſt - wandeln pflegten, weil er ſeine krummen Glieder, ſie ihren Gram nicht gern zur Schau trugen. Sie hiel - ten ſich deshalb gewoͤhnlich nach einem kleinen Waͤld - chen hin, zu welchem kein Gaſthaus mit Bier und Spiel die ehrſame Einwohnerſchaft lockte. Dort hin - aus ging’s beim Armen-Spittel voruͤber, wo Dreher ſich eingekauft. Weiter hinaus noch lag das ehemalige Hochgericht, jetzt eine Ruine, und dieſem gegenuͤber ein ſchlechtverwahrter Begraͤbniß-Platz, zunaͤchſt fuͤr die Hoſpitaliter, daneben auch fuͤr Fremde beſtimmt, die auf dem ſchoͤnen, Garten-aͤhnlichen Friedhofe der Buͤrgerſchaft nicht Platz finden konnten. Dort auch lag Antoinette begraben, was Hedwig nicht wußte, weil ſie in jenen Tagen nichts geſehen und gehoͤrt, als ihres Vaters Leiden.

133

Sie gingen alſo langſam ihren Abendgang. Da ſie ſich dem Maͤnner-Hoſpital naͤherten, brachten zwei Armen-Diener einen ſchlechten Sarg auf einer ſchmutzigen Trage heraus und ſchwatzten dabei roh und poͤbelhaft. Dann ſetzten ſie ſich in Bewegung nach dem Begraͤbnißplatz, was aber ſehr langſam von Statten ging, da die Laſt ſchwer und ſie alte kraft - loſe Maͤnner waren. Der Rittmeiſter und Hedwig folgten der Leiche, ohne daß ſie es wollten. Sie muß - ten, da ſie nicht voraneilen konnten, hinter den keu - chenden Traͤgern herziehen.

Hm, ſagte der Rittmeiſter, wenn’s Dir ſonſt recht iſt, Hedwig, geh’n wir vollends mit bis auf den Kirchhof. Der arme Teufel hat keine Seele gehabt, die ihm die letzte Ehre erwieſe. Wollen wir’s thun.

Gern, lieber Vater, antwortete Hedwig.

Wen begraben wir denn hier? fragte der Ritt - meiſter die Traͤger.

Den Puppenkomoͤdianten, Herr Obriſtwacht - meiſter, das verſoffene Schwein, Gott hab ihn ſelig!

Hedwig zuckte unwillkuͤhrlich mit der Hand, die des Vaters Arm ſtuͤtzte; dieſer erwiederte den Druck, ohne eine Silbe zu reden.

134

Sie gelangten durch die verfallene Umzaͤunung bis an das offene Grab, wo der Todtengraͤber, ſeine Schnapsflaſche zur Hand, den Traͤgern entgegenrief: Wie lange ſchleppt Jhr denn an dem alten Bier - faſſe?

Die Traͤger ſetzten ihre Laſt weg und baten den Todtengraͤber um einen Schluck aus ſeiner Flaſche.

Dann warfen ſie den Sarg in die Erde und mach - ten ſich auf den Ruͤckweg.

Waͤhrend der Todtengraͤber die Oeffnung wieder zuſchaufelte, wobei der Rittmeiſter ihn andaͤchtig, ſei - ner eigenen Gebrechlichkeit gedenkend, beobachtete, war Hedwigs Aufmerkſamkeit auf ein Kreuz des benachbarten Grabes gerichtet. Auf dieſem ſtand in ſchwarzen Lettern zu leſen: Antoinette.

Wer liegt hier daneben, Todtengraͤber? fragte ſie.

Des Komoͤdianten ſein Weib!

Die kranke Frau!? fluͤſterte Hedwig.

Und der Rittmeiſter ſprach: wir wollen nach Hauſe gehen.

135

Zu Hauſe ſaßen ſie lange ſtumm und betruͤbt.

Hedwig, hub der Alte an, ich habe ſeinen Namen nicht genannt, ſeitdem ich mit dem Schwerte zwiſchen Euch getreten bin, wie der Straf-Engel, der die erſten Menſchen aus ihrem Paradieſe vertrieb. Jch habe Dich aus dem Deinigen vertrieben. Und Du klagſt nicht! Du ſchweigſt und ſchluckſt Gram und Thraͤnen hinab. Mir waͤre beſſer, ich laͤge beim Puppenſpieler und der Antoinette, als daß ich den ſprachloſen Jam - mer mit anſehen muß. Sprich nur, weine nur, mache mir nur Vorwuͤrfe, ich bitte Dich um Gotteswillen! Tadle meine Grauſamkeit, meinen Hochmuth, meine Haͤrte mit harten Worten, damit ich Worte finde, mich gegen Deine Anklagen zu vertheidigen! Wenn Du ſo ſchweigend duldeſt, werd ich an mir ſelbſt irre und komme mir vor, wie ein Boͤſewicht. Hab ich denn wirklich ſo Unrecht gethan?

Du haſt Recht gethan, mein Vater, und alles Unrecht iſt auf meiner Seite. Deshalb ſchweig ich. Wie ſollt ich mich auch vertheidigen? Hab ich nicht, von meiner Jugend und Unerfahrenheit irre gefuͤhrt, einem jungen Manne Gehoͤr gegeben, der es unmoͤg - lich gut meinen konnte? Der mein kindiſches Vertrauen mißbrauchen wollte fuͤr ſeine herzloſen Zwecke? Ja,136 ich liebte ihn. Liebte ihn ſchon damals, da er unſern alten Tanzlehrer begleitete; liebte ihn, wie vielleicht nur ein Kind, denn was bin ich anders geweſen, lieben kann: ſo rein, ſo innig, ſo wahr! Jn der Erinnerung an ihn lebte ich, von ihm getrennt. Jn meiner heiligen Liebe lebte ich, als Du ihn in’s Haus brachteſt. Jch bedachte nicht, daß er ein heimathloſer Abentheurer ſei! Jch ſah in ihm nur den beſcheidenen, wohlerzogenen, anmuthigen Freund. Von den Gefah - ren, die mir drohten, hab ich keine Ahnung gehabt. Und wollte in den letzten Tagen meines Zuſammen - lebens mit ihm eine ſolche Ahnung aufkommen, ſo wurde ſie immer wieder zuruͤckgedraͤngt durch die unbeſchreiblichen Gefuͤhle, die ſeine Gegenwart in mir erregten. Warum ſoll ich’s Dir verſchweigen, Dein Zorn gegen uns machte mich ſehr ungluͤcklich, und waͤreſt Du damals nicht auf den Tod krank geweſen, haͤtteſt Du nicht Deiner Tochter Pflege bedurft; haͤtt ich Dich verlaſſen duͤrfen, ohne Dich zu morden, wer weiß, was ich in jenem ſchauderhaften Momente gethan, wo Du mir die Wahl ließeſt? Ja, damals klagt ich Dich an! Ach, die Zeit hat mich belehrt, daß Du keine Klage verdienſt, nur Dank! Denn, ſprich ſelbſt, wuͤrde der Menſch, den ich liebte, von137 dem ich mich geliebt waͤhnte, ſo lange geſchwiegen haben, wenn ſein Herz des meinigen ſich wuͤrdig hielte? Wuͤrde er, deſſen Namen ich nicht mehr aus - ſprechen will, der vor Deiner Drohung entfloh, wie ein Feiger, eben ſo feig geweſen ſein, wenn ſein red - licher Wille, ſeine gute Abſicht, ſeine treue Geſinnung fuͤr mich ihm Waffen, gute, gerechte Waffen dargebo - ten haͤtte? Sein Verſtummen klagt ihn an, und rechtfertiget Dich! Mag mein Herz bluten, mag meine Seele ſich graͤmen, fuͤr Dich hab ich nur Verehrung, Liebe, Gehorſam; fuͤr Dich, mein Vater, hab ich nur kindliche Hingebung. Dieſe Dir zu beweiſen, goͤnne mir. Begehre nicht ferner, daß wir zwei uns trennen ſollen, daß ich einen Platz, ſei es der glaͤnzendſte, in einem großen Hauſe aufſuche! Laß mich bei Dir. Nur bei Dir iſt Troſt fuͤr verra - thene Liebe; nur an des Vaters Bruſt wohnt Friede fuͤr meine Bruſt; nur indem ich Dich huͤte, mich in Dir vergeſſe, kann ich vergeſſen lernen, wie ſehr ich ihn liebte, wie ich ihn immer noch liebe.

Der Rittmeiſter luͤftete den gruͤnen Schirm, der ſeine kranken, einſt von einer Granate geblendeten Augen verdeckte, um ſich die Thraͤnen beſſer trocknen zu koͤnnen.

138

Weine nicht! rief Hedwig, es iſt Dir ſchaͤd - lich, Deine armen Augen ſind immer entzuͤndet.

Weine nicht! entgegnete der Vater; weine nicht! Wie oft muͤßt ich Dir das zurufen! Du weinſt ſo viel. Meinſt Du, ich hoͤre das nicht? Laß mir auch die Freude; ſolche Thraͤnen ſind Freudethraͤnen; ſie gelten der beſten Tochter, die ich Unwuͤrdiger gar nicht verdiene; und wenn ſie den Augen weh thun, ſo hole der Teufel die Augen; dem Herzen thun ſie wohl. Oder glaubſt Du, ich haͤtte kein Herz?

Horch, Vater, ein Poſthorn! Ein Reiſe - wagen! Vier Pferde vor. Sie halten bei der Poſt!

Es wird der Diviſionsgeneral ſein; er geht zur Truppenuͤbung. Na, da mußt Du mir wohl die gute Uniform herausſuchen; da heißt’s morgen fruͤh ſeine Aufwartung machen. Ja, der Herr General! War Faͤhndrich, da ich ſchon Lieutenant war! Jetzt iſt er General und ich bin ein alter, armer Kruͤppel. Aber, weißt Du was, Hedwig? Seine Tochter iſt eine kalte, hochnaſige Dame! Jch tauſche nicht mit Jhnen, lieber General. Behalten Sie Jhre Wuͤrde und laßt mir meine Hedwig! Daß Du’s nur weißt: in ſein Haus, zu ſeinen Enkelchen ſollteſt Du kom - men, als Gouvernante. Er iſt ein braver Kamerad,139 hatte mir’s verſprochen, wollte mir den Vorzug goͤn - nen. Jetzt, nichts da; jetzt bleiben wir beiſammen und morgen ſag ich’s ihm.

Dann will ich Dir die Uniform herzlich gern hervorſuchen, Vater, will ſie ausklopfen und buͤrſten, als ob der Koͤnig hier waͤre; denn ſobald ich bei Dir bleiben darf, iſt mein liebſter, mein einziger Wunſch erfuͤllt; ja, mein einziger: ich habe jetzt keinen ande - ren mehr.

Der Rittmeiſter holte wieder einen von den tiefen Seufzern aus der Bruſt heraus, mit denen er ſeit einigen Monaten ſehr freigebig war und ſetzte hinzu: wollte Gott, Du duͤrfteſt noch andere Wuͤnſche hegen, waͤrmere, Deiner Jugend und Schoͤnheit mehr ange - meſſene! Wollte Gott, Du duͤrfteſt ſie hegen und ich koͤnnte ſie erfuͤllen!

Kaum hatte er dieſe Worte ausgeſprochen, als man weibliches Gefluͤſter und das Geraͤuſch eines Maͤnnertrittes auf dem Flur vernahm; bald nachher wurde angepocht. Hedwig ging, zu oͤffnen. Ein Stubenmaͤdchen aus dem Gaſthofe ſtand vor der Thuͤr und indem ſie einen Livreediener mit den Worten: hier iſt’s! vorſchob, lief ſie verlegen und eilig davon.

Der Diener fragte nach dem Rittmeiſter. Hedwig140 ließ ihn eintreten. Er meldete ſeinen Herrn an, der um eine Unterredung mit dem Herrn Rittmeiſter bitte, in einer fuͤr beide Theile wichtigen Angele - genheit.

Das muß ein Jrrthum ſein, ſagte der Rittmei - ſter, ich wuͤßte wahrlich keinen Menſchen, fuͤr welchen eine Unterredung mit mir von Wichtigkeit ſein koͤnnte. Wie heißt Jhr Herr?

Hahn.

Und ſein Stand?

Gutsbeſitzer.

Und er kommt?

Von Liebenau.

Wenn Sie ſicher ſind, daß er mich wirklich auf - ſucht, ſo ſagen Sie ihm, es wird mir eine Ehre ſein, ihn zu empfangen. Keine Jdee, Hedwig, wer die - ſer Mann, was er ſein mag, was er von mir will? Hahn von Liebenau!? Haſt Du dergleichen jemals gehoͤrt?

Niemals, lieber Vater!

So iſt er’s am Ende geweſen, der da mit Extra - poſt anlangte, nicht unſer General. Vier Pferde, ſag - teſt Du? Hm, Hahn von Liebenau ſcheint hoch zu fliegen, ſcheint ein reicher Hahn zu ſein!? Aber was141 ſucht dieſer Hahn in meinem Korbe? Bei einem zuſammengehauenen Rittmeiſter auf Halb-Lieute - nants-Sold? Unerklaͤrlich. Jch glaub ich hoͤr ihn ſchon.

Geh Hedwig, laß uns allein; ich fuͤrchte, der Hahn kraͤht mir ſchlechtes Wetter, oder ſonſt ’was Schlimmes. Mir iſt ſo unruhig zu Muthe wie vor meiner erſten Schlacht.

Geh, Hedwig, laß mich mit ihm allein.

Hedwig gehorchte. Und im Gehen ſagte ſie: ich weiß nicht, Vater, was Du haſt? Mir iſt nun gerade zu Muthe, als ob dieſer Hahn gutes Wetter pro - phezeih’te?

Sie hatte kaum das Zimmer verlaſſen, um ſich nach der Kuͤche zu begeben, da trat Anton durch die Thuͤr vom Flure herein.

Der Rittmeiſter machte Miene ſich zu erheben; Anton bat ihn dringend, ſitzend zu bleiben.

Jhre Stimme klingt mir ſehr bekannt, doch halb blind wie ich bin, ſeh ich Sie nicht deutlich und weiß wahrlich nicht, ob ich Sie ſchon fruͤher ſah und kannte!

Sie kannten mich, Herr Rittmeiſter. Da wir142 uns zuletzt ſahen, verwuͤnſchten Sie mich und wieſen mir, als einem Unwuͤrdigen, Jhre Thuͤr.

Menſch Sie Anton

Anton, derſelbe Anton, den Sie zu ſich beriefen, damit Jhre Tochter mit ihm franzoͤſiſch rede; der - ſelbe, den Sie als Verfuͤhrer fortſchickten, damit er niemals wiederkehre! Derſelbe und dennoch ein An - derer. Daß ich mich vor Jhnen zu zeigen wage, mag Jhnen Buͤrgſchaft ſein, ich komme mit ehr - lichen Abſichten, mit gutem Willen. Nicht als ob es dem armen Anton daran gefehlt haͤtte, ſo lang er noch der arme Anton war. Ach nein, der Wille war immer gut, die Liebe immer auf richtig und rein; doch wodurch konnt ich das beweiſen in meiner Stel - lung, ein Landſtreicher ohne Mittel, ohne Ausſichten! Sie trieben mich hinaus in die weite Welt, und ich gehorchte, ich ging; ich bemuͤhte mich, zu vergeſſen. Da wendet ſich mein Schickſal: was ich ſeit ſieben Jahren fuͤr einen unerfuͤllbaren Traum gehalten, was ich in nebelhafter Ferne wie Thorheit betrachtet, ſenkt ſich auf einmal als Wahrheit, als Wirklichkeit zu mir herab. Jch finde einen Vater, eine Mutter oͤffnet mir die Arme, ich werde ein wohlhabender143 Mann, ich bin ſelbſtſtaͤndig, frei, Herr meiner Zu - kunft. Und der erſte Gebrauch, den ich von dieſer Freiheit, dieſer Selbſtſtaͤndigkeit des Beſitzes mache, iſt der, daß ich zu Jhne eile; daß ich Jhre Hand ergreife, Verzeihung erflehend fuͤr den Leichtſinn, aus dem Jhr Zorn, Jhre gerechte Entruͤſtung mich auf - ſchreckte; daß ich komme, Sie zu fragen, ob Jhre Tochter fuͤr mich empfindet, wie ſonſt? daß ich den Vater bitte, bei Hedwig mein Freiwerber zu wer - den.

Der Rittmeiſter hielt die dargebotene Hand mit der Rechten feſt, mit ſeiner Linken ſtreichelte er ſie und zitterte dabei ſo heftig, daß Anton ihn aͤngſtlich befragte, ob er einen Fieberanfall befuͤrchte. Der alte Soldat jedoch fand keine zuſammenhaͤngenden Worte: Ueberraſchung, grauſamer Vater geweſen, Ehre, guter Ruf, gehorſame Tochter, Thraͤ - nen, Liebe kann’s nicht glauben, zu großes Gluͤck, arme Hedwig Herr Graf, Herr Graf! Dann fing er laut zu ſchluchzen an wie ein klei - nes Kind und ſank mit krampfhaftem Zucken dem erſchrockenen Anton in die Arme.

Dieſer ſchrie aͤngſtlich nach Hedwig.

144

Als Hedwig aus der Kuͤche herbeiſtuͤrzte, fand ſie den geliebten Vater am Herzen ihres Geliebten.

Reiſen wir geraden Weges nach Liebenau? fragte am andern Morgen der Rittmeiſter, der wie neu gebo - ren durch ſeines Kindes Gluͤck uͤbergluͤcklich ſchien.

Geraden Weges, ſagte Anton.

Und iſt es wahr, fragte wieder Hedwig, indem ſie von den großen Koffern weglief, welche die Leute aus dem Gaſthauſe von Antons Reiſe-Kutſche abgeſchraubt und die jetzt eiligſt gepackt werden ſoll - ten, iſt es wahr, daß Sie geſtern Abend noch zwei Eſtafetten fortgeſchickt haben, Anton?

Vollkommen wahr: die eine direkt nach Lie - benau, die andere nach Sophienthal.

An die Graͤfin?

An Graͤfin Julia.

Hedwig ſah ihn an, als wollte ſie ſagen: ich kann mir ſchon denken, warum dieſe Stafetten geſendet wurden; es iſt wegen der Voranſtalten fuͤr .... aber eh ihre Gedanken noch Worte wurden, ſtand ſie ſchon wieder zwiſchen Vache und Koffer, ihre und des Vaters Waͤſche zu ordnen.

145

Was fuͤr eine Geborene iſt Jhre Pflegemutter, mein theurer Graf?

Beſter Vater, Sie nennen mich immer Graf

Graf, oder Anton, oder lieber Sohn, wie ſich’s grade fuͤgt. Warum ſollt ich Sie nicht Graf nennen?

Weil ich’s nicht bin.

Ja, ſind Sie denn nicht wirklich adoptirt?

Nein, durchaus nicht. Mein Vater iſt geſtor - ben, ehe noch die Vermittelung ſeiner Gemahlin

Freund, Sie fuͤhren doch ſeinen Namen?

Seinen Namen. Jch heiße Hahn.

Ganz richtig. Und hieß denn Jhr Herr Vater anders.

Sie verlangen doch nicht, daß mein Vater Hahn geheißen haben ſoll?

Allerdings, Anton, wie denn ſonſt? Hab ich ihn doch ſelbſt gekannt, den guten, wunderlichen Grafen, der ein koͤnigliches Vermoͤgen, ein ungeheures Beſitz - thum in ſeiner Leidenſchaft fuͤrs Theater durchge - bracht hat. Ja, lieber Sohn, ich hab ihn gekannt: zuerſt, wie er als Kavalier aus dem Mecklenburgi - ſchen nach der Reſidenz kam, die beruͤhmteſten Mit - glieder des Hoftheaters zu ſich einzuladen, daß ſie beiDie Vagabunden. IV. 10146ihm Gaſtrollen geben und ſich mit Gold uͤberſchuͤtten laſſen mußten; dann, ſpaͤterhin, wie die Millionen bereits verſchwunden waren, und er, um ſeine Thea - terwuth zu ſtillen, mit reiſenden Truppen das Land durchzog, gleich einem gewoͤhnlichen Theaterprinzi - pal, dabei immer generoͤs, liebenswuͤrdig, immer Kavalier ...

Beſter Vater, mir ſchwindelt der Kopf, von wem ſprechen Sie?

Beſter Schwiegerſohn, von Jhrem Vater, von dem weltbekannten Grafen Hahn.

Nun, dann bin ich nicht von dieſer Welt, denn mir iſt er wirklich nicht bekannt.

Sie ſind nicht der Sohn des Grafen Hahn aus Mecklenburg, oder Holſtein, oder ich weiß nicht, wo ſeine Herrſchaften lagen und liegen? Genug, meines alten Hahnes, Sie junger Hahn?

Mein natuͤrlicher Vater hieß Graf Erlenſtein.

Alſo meine Kombinationen, die plauſibelſten die man machen kann, waͤren falſch geweſen? Er iſt nicht der junge Hahn Hedwig, hoͤre doch, er iſt nicht der Sohn des Grafen

Hedwig, einen Pack Waͤſche auf dem Arme, rief aus dem Nebenzimmer hinein: mir iſt voͤllig gleich,147 weſſen Sohn er iſt, lieber Vater, wenn er nur iſt, wie er iſt.

Nein, ich kann mich nicht zu Gute geben, ſolch eine logiſche Folgerung fallen zu laſſen. Jch habe Sie, mein theurer Anton, als einen jugendlichen Vagabunden, noch obenein als theatraliſchen denn Puppenkomoͤdie gehoͤrt auch zum Theater kennen gelernt. Als dieſen hab ich Sie ſo zu ſagen aus dem Hauſe gejagt, nachdem ich Sie muͤhſam hereinberu - fen. Nun kehren Sie mir zuruͤck, als Gutsbeſitzer, als natuͤrlicher Sohn eines Grafen, als reicher Erbe, als Pflegeſohn einer Graͤfin, als ein Hahn ... ja, wer haͤtte da nicht einen Fahneneid ſchwoͤren moͤgen, daß Sie kein Anderer ſein koͤnnten, als der von ſeines Vaters freiwilligem Vagabundenthume unfreiwillig angeſteckte Sohn?

Es thut mir leid, Vater, Jhre Hedwig nicht zur Graͤfin machen zu koͤnnen. Das heißt, um Jhret - willen thut es mir leid, wofern Jhnen dieſer Titel angenehm geweſen waͤre. Jch bin nur kapabel, eine Madame Hahn vom Altare zu fuͤhren. Doch die - ſes Geſpraͤch fuͤhrt mich auf einen Wunſch zuruͤck, den ich gern erfuͤllt ſaͤhe, bevor wir aufbrechen: daß Sie10*148Hedwig erlauben moͤchten, mich auf den kleinen Begraͤbnißplatz zu begleiten ...

Wo Jhr alter Puppenſpieler liegt? Ja, wir haben ihn geſtern begleitet. Geht in Gottesnamen, mir ſchenkt Jhr wohl den Marſch!

Hedwig ging an Antons Arme den Weg, den ſie geſtern an ihres Vaters Seite gemacht. Heute ging ſie raſcher und mit anderen Empfindungen.

Da ſie draußen angekommen waren, ſprach Hed - wig, auf den friſchaufgeworfenen Grabhuͤgel deutend: Hier liegt Dein Puppenſpieler.

Und hier, ſagte Anton, mit dem Finger die Auf - ſchrift Antoinette beruͤhrend, hier unter dieſem Kreuze liegt meine arme Mutter.

Der Paſtor Julius Karich in Liebenau hielt ſeine Sonntags-Predigt. Die andaͤchtigen Zuhoͤrer ver - dienten heute dieſen Namen weniger als ſonſt. Denn auf heute war Erndtekranz angeſagt. Knechte und Maͤgde dachten an nichts Anderes. Vergebens bemuͤhte ſich der Prediger ihre Aufmerkſamkeit zu feſ - ſeln, ſie waren im Herzen ſchon beim Feſte und ſogar die aͤlteren Dorfbewohner fragten ſich bedenklich: was149 ſoll das werden? Heute iſt Erndtekranz und der neue Gutsherr iſt von ſeiner Reiſe noch nicht heim? Die ganze fromme Verſammlung war weltlich zerſtreut. Dieſe weltliche Zerſtreuung nahm maͤchtig zu, da man waͤhrend der Predigt verſchiedene Equipagen bei der Kirche vorbeirollen hoͤrte.

Der Herr kommt, murmelten die jungen Burſche.

Und er bringt Gaͤſte mit, fluͤſterten die Maͤdchen.

Der Paſtor ſagte: Amen!

Waͤhrend er die uͤblichen Kirchengebete verlas, kam der Schullehrer Kickelier ſammt ſeinem Sohne und Gehuͤlfen Gottfried Kickelier und ſie breiteten einen wunderpraͤchtigen Teppich, wie noch niemals ein Liebenauer geſehen, uͤber die Stufen des Altars. Auch Herbſtblumen aller Art und Gattung wurden ausgeſtreut.

Jſt Hochzeit? fragten ſich die Weiber in den Baͤnken und Kirchſtuͤhlen.

Wer macht denn Hochzeit? ſagte die Frau Verwalterin, ihre Schweſter, die Frau Paſtorin, mit dem Ellbogen ſtoßend.

Er hat mir nichts geſagt, antwortete die Paſto - rin, ihrem Gatten einen zornigen Blick auf die Kan - zel ſendend, trotz ſeines Amts-Ornates.

150

Als der Prediger Karich in den vorgeſchriebenen Gebeten an die Stelle gelangte, wo des Gutsherrn gedacht wird, fuͤgte er hinzu: und ſeine Braut.

Ein Gemurmel des Erſtaunens ging durch die Kirche.

Der Prediger fuhr fort: Als Verlobte empfeh - len ſich der Gnade Gottes und der Fuͤrbitte dieſer chriſtlichen Gemeinde und werden hiermit aufgeboten zum Erſten -, Zweiten - und durch Dispenſation des Hohen Konſiſtorii zugleich zum Drittenmale: Herr Anton Hahn, Herr auf und zu Liebenau mit Fraͤu - lein Hedwig von Lubenski, einziger Tochter des kgl. Rittmeiſter von der Armee, Herrn Friedrich von Lubenski. Sollte Jemand wider dieſe Verbindung noch etwas einzuwenden haben, der melde ſich bei Zeiten und am gehoͤrigen Orte, ſchweige aber nachher. Der Himmel gebe den Verlobten ſeinen Segen.

Es waͤre einem Jeden, der wider dieſe Ehe erheb - liche Einwendungen auf dem Herzen gehabt haͤtte, wirklich ſchwer geworden, dieſelben an gehoͤrigem Orte vorzubringen, denn ſchon oͤffneten ſich die Fluͤ - gelthuͤren der Kirche und das Brautpaar wurde ſichtbar.

Gluͤcklicherweiſe war Niemand zugegen, der Luſt151 oder Beruf gehabt, ſich aufzulehnen. Miez wie Linz hatten zwar, bevor der Name der Braut ertoͤnte, einige unſchweſterlich-neidiſche Beſorgniſſe gehegt, doch da es nur nicht Ottilie war, ſich ſogleich wieder beruhiget.

Graͤfin Julia, den durch ſeine ehrenvollen Wun - den geſchmuͤckten Brautvater ſorgſam fuͤhrend, machte in ihrer tiefen Trauer einen gewaltigen und erſchuͤt - ternden Eindruck, den jedoch Hedwig’s heit’re braͤut - liche Erſcheinung ſogleich in einen froͤhlichen umwan - delte. Ottilie ging, als Brautjungfer, neben ihr. Stolz und ernſt wie immer, ſtrahlte doch ihr bleiches, mageres Angeſicht von theilnehmendem Gluͤcke.

Paſtor-Puſchel uͤbertraf alle Erwartungen, die Anton auf ihn geſetzt. Er ſprach einfach, natuͤrlich und wahr. Er rief der ganzen Gemeinde das Bild des Korbmacherjungen Anton in’s Gedaͤchtniß; er erinnerte die Leute daran, daß dieſer junge freundliche Mann, der jetzt als Gutsherr, als Braͤutigam einer liebens - wuͤrdigen Jungfrau vor dieſem Altare ſtehe, dereinſt, wie er ein armer Junge, ein verwaiſeter Fremdling hieß, der Liebling des Dorfes geweſen ſei. Und warum, ſagte er, ſollte er dies nicht bleiben, jetzt, wo ihm Gelegen - heit ward, Eure Liebe von damals zu vergelten?

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Und dann fuͤhrte der junge Geiſtliche, mit unge - heuchelter Ruͤhrung, mit einer von innerſter Bewe - gung bebender Stimme, zwei Namen vor, die unver - geſſen in aller Herzen lebten: die alte Mutter Gokſch, des Braͤutigams Großmutter, und ſeinen eigenen Vater, den guten Paſtor Karich. Sie beide, ſprach er, haben unſerem Herren und Freunde ſcheidend ihren Segen hinterlaſſen; an ſeiner Großmutter Grabe verkuͤndete mein Vater dem weinenden Juͤng - ling eine gluͤckliche Zukunft, und heute ſteht der Sohn vor dieſem Altare, um emporzurufen: Vater, Deine Verheißungen ſind Wahrheit geworden.

Die Dorfleute weinten recht nach Herzensluſt.

Als die Ringe gewechſelt wurden, ſteckte der Paſtor an Hedwig’s Finger denſelben Ring, den Anton ſeiner verſtorbenen Mutter auf ihr Geheiß von der Hand geſtreift. Denn ſo hatte ſie es gewollt.

Und die Sonne ſtand hoch und klar am blauen, reinen Himmel, da der lange Zug aus der Kirche ſich nach dem Schloſſe hin bewegte.

Um vier Uhr Nachmittags brachten ſie den Erndtekranz

153

Bis in die Laube hinaus wogte die Menge der Doͤrfner.

Die Muſikanten blieſen den Polniſchen. Graͤfin Julia ſprach: meine Trauerkleider unterſagen mir, den Tanz zu eroͤffnen; Hedwig ſoll mich vertreten und den Vortaͤnzer werd ich ihr zufuͤhren. Dies geſagt, machte ſie ſich Bahn durch das Gewuͤhl, wel - ches ehrfurchtsvoll vor ihr ſich oͤffnete. Ueber alle Koͤpfe ragte ein grauer Kopf hervor, dem Rieſen Schkramprl gehoͤrig. Dieſen holte ſie herbei, daß er mit Hedwig tanze! Ohne ihn, ſagte die Graͤfin zu Hedwig, waͤren wir heute nicht hier.

Der Rittmeiſter hinkte neben Ottilien her, die zu Anton hinuͤber rief: Seit ſieben Jahren, mein erſter Tanz.

Alſo gleich ſprang Anton unter die Muſikanten, ergriff eine Geige und ſpielte zum Tanze auf, wie vor ſieben Jahren. Ottilie trocknete die Thraͤnen aus laͤchelnden Augen.

Schkramprl ſagte zu Hedwig: der Teufel ſoll mich holen, Madame, wenn ich eine ſo ſelige Stunde im Leben gehabt habe, ſeitdem mein Sohn mit zwei Koͤpfen auf die Welt kam. Aber weinen und tanzen zugleich, iſt wirklich eine Rieſenarbeit!

154

Der Ball dauerte nicht gar lange.

Die Maͤgde zogen ſammt ihren Taͤnzern nach dem Wirthshauſe.

Jm Schloſſe wurde zeitig Nacht.

Die Bewohner lagen um zehn Uhr ſchon alle in ihren Betten.

Die Neuvermaͤhlten auch.

Siebenundſiebenzigſtes Kapitel.

Wie Hedwig und Anton mit ihren Flitterwochen bis über Winter ausreichen, der Frühling aber Tod und Trauer bringt.

Es iſt mir bei der Anſchauung von Dramen und bei der Leſung von Romanen ſtets auffaͤllig geweſen, mit der Vermaͤhlung des Helden, oder erſten Lieb - habers die Dichtung enden zu ſehen; als ob nun damit Alles erſchoͤpft, als ob mit dem Jawort wel - ches die endlich an’s Ziel gelangten Liebenden vor dem Altare ausſprechen, nun auch ſchon jede weitere Negation beſiegt, jedes Ziel erreicht waͤre? Selt - ſamer Brauch, den die Verfaſſer faſt immer befolgen, der alſo doch in den befriedigten Anſpruͤchen der Leſe - welt wurzeln muß!

Was mich betrifft, ſo bin ich entgegengeſetzter155 Meinung, ich kann mir nicht helfen. Jch moͤchte, wenn ich mich mit einem Menſchen und ſeinem Schick - ſale im Buche durch Dick und Duͤnn geſchlagen und ihn nun endlich bis zu ſeiner Verheirathung mit einer Geliebten begleitet habe, fuͤr mein Leben gern wiſſen, wie es ihm und ihr ſpaͤterhin wohl erging? Wie ſie mit einander gelebt? Und ob die Ehe, auf welche ſie beide und ich mit ihnen drei Baͤnde lang warten muß - ten, denn eine gluͤckliche geworden iſt? Durch wen aber ſoll ich das erfahren, wenn mir’s der Autor nicht ſagt? An die betreffenden Perſonen zu ſchreiben will ſich ſelten ziemen, auch wenn man ihre Adreſſen wuͤßte; denn Fragen dieſer Art ſind ſchwierig zu ſtel - len und oft noch ſchwieriger zu beantworten.

Da es mich nun jedesmal verdruͤßlich macht, meine Neugier in aͤhnlichen Faͤllen unbefriedigt zu ſehen, ſo denk ich, es koͤnnte unter meinen Leſern manche geben, die meinen Geſchmack theilen? Und da ferner das alte Spruͤchwort:

Was Du nicht willt, daß Dir geſchicht,
Das thu auch keinem Andern nicht,

mir von Kindheit auf eingepraͤgt worden iſt, ſo halt ich es fuͤr meine Schuldigkeit die Feder des Biogra - phen nicht ſogleich nach der Hochzeit hinzulegen; viel -156 mehr ſelbige noch einmal friſch zu ſchneiden und unſer ſchoͤnes juͤngſt vermaͤhltes Paar zu verfolgen in ſeine Flitterwochen; ſogar daruͤber hinaus.

Sie waren ſehr ſchoͤn dieſe Flitterwochen.

Man denke nur: ſanfter Herbſt, laͤndliches Still - leben, kurze herrliche Tage, lange traute Abende! Und als nun der Winter kam; als der Schnee ſo reinlich und weiß die Fluren deckte; als die gruͤnen Tannenwaͤlder rauſchten; als Anton den kleinen Rennſchlitten lenkte und von der neben ihm ſitzenden, in einen unermeßlichen Baͤrenpelz vermummten Hed - wig kaum ein Drittel des Geſichtes uͤbrig blieb, wo - mit ſie dem Geliebten zulaͤchelte; als Peterl’s Beine faſt zu kurz waren, auf den Kuffen des ſchmalen Schlittens Fuß zu faſſen, er aber dennoch fuͤrchterlich mit der großen Peitſche knallte, daß alle alten Wei - ber des Dorfes durch die kleinen Fenſterlein guckten; als Anton vor ſeiner Mutter Haͤuschen anhielt und Hedwig aus dem Fell des brummigen Baͤren mit Nachtigallenſtimme Ottilien einlud, ſie moͤchte zum Thee auf’s Schloß kommen; als Anton ſodann, heim - gekehrt, die rothbaͤckig-gefrorene Frau an der Hand, in Rittmeiſters Zimmer ging und ſie ſchon auf dem Gange den Vater lachen hoͤrten uͤber Schkramprl,157 der vor ſeinem Ruhebette ſaß und log was das Zeug hielt. Als Schkramprl bei Hedwigs Eintritt auf - ſprang ihr die Hand zu kuͤſſen und eiligſt in den Stall lief, um einige verſpaͤtete Ratzen nachtraͤglich aus ſei - nen Fallen zu nehmen, die er dann fuͤr Peterl braten wollte, von dem er ſchwur, der Junge freſſe Ratzen, wie ein Chineſe. Als Anton ſich in ſein Arbeitszim - mer begab, einige nothwendige Briefe zu ſchreiben. Als Hedwig von ihm Abſchied nahm, wie wenn er nach Auſtralien zoͤge. Als Ottilie eintraf. Als der Theetiſch vor Rittmeiſters Sopha geſchoben wurde und die Frauenzimmer ihre Arbeit zur Hand nahmen. Als Anton die ſeinige vollendet hatte und nun flehent - lich um einen Loͤffel Arac in den Thee bat, den ihm Hedwig durchaus nicht geben wollte, weil ſie meinte, Thee mit Arac ſei nicht geſund. Als der Rittmeiſter ihr Recht gab, und verſicherte, Arac mit Thee ſei freilich geſuͤnder. Als der Stadtbote, beſchneit und bereift, wie wenn er mit Zucker beſtreut waͤre, die Zeitungen brachte und einen Brief von Graͤfin Julia, worin dieſe ihre kleine Hedwig kuͤßte, und Otti - lien ihre Freundin nannte, und den Rittmeiſter ihren wuͤrdigen Freund und Anton ihren lieben Sohn! O welche Flitterwochen waren dies!

158

Hedwig liebte Anton wie ihre erſte, ihre taͤglich zunehmende, ihre letzte Liebe; wie nur ein junges Weib lieben kann, dem das Gluͤck zu Theil wurde, den Jnbegriff ihrer unſchuldigſten, jungfraͤulichſten Neigung und Sehnſucht im Gatten umarmen zu duͤrfen. Wenn ſolche Liebe, ſolche Anhaͤnglichkeit uͤberhaupt jemals erloͤſchen kann, ſo darf man bei - nahe mit Gewißheit annehmen, der Gemahl habe ſie durch ſeine Schuld erſtickt. Was aber Anton haͤtte anwenden muͤſſen, um Hedwig’s Herz, Gemuͤth und Seele von ſich abzuwenden, das weiß ich wirk - lich gar nicht; meine Phantaſie iſt zu duͤrftig, Moͤg - lichkeiten dafuͤr auszuſinnen. Dennoch zweifelte der in ſeinen Anſpruͤchen unerſaͤttliche Honig-Mond-ſuͤch - tige bisweilen an der begehrten Ausſchließlichkeit die - ſes Beſitzes, weil die Geliebte ſich durch keine Gewalt ehelicher Liebe von Erfuͤllung kindlicher Pflichten abhalten ließ. Aus dieſen Zweifeln ging eine kleine Eiferſucht hervor; eine ganz kleine, junge, niedliche, mit welcher Hedwig ſpielend fertig wurde, weil eiñ Wort von ihr, ein Blick genuͤgten, das Scheuſaͤlchen in die Flucht zu ſchlagen, in den Win - kel zu treiben, wo es ſich verbergen mußte, und eben nur ſo viel Macht behielt, der gluͤhend’ſten Zaͤrtlich -159 keit gleichſam einen Sporn einzudruͤcken, der ſie nur um deſto mehr belebte. Denn Anton achtete und liebte ſeinen Schwiegervater auch und er ſelbſt wuͤrde endlich Hedwig getadelt haben, wenn ſie neben ihm und um ſeinetwillen im Stande geweſen waͤre, den Rittmeiſter zu vernachlaͤſſigen. Was fuͤr ihn der Vater ſeiner Frau, das war fuͤr dieſe Ottilie. Hed - wig liebte Ottilien als eine Freundin, achtete ſie als einen großmuͤthigen Charakter, als ein geiſtreiches Maͤdchen, aber ſie konnte ihr doch niemals ga[nz]vergeſſen, daß ſie einſt Anton’s Tieletunke war. Es genuͤgte dieſen kindiſchen Beinamen nur auszu - ſprechen, damit Hedwig, ſei es auch blos auf einen Moment, unruhig werde. Sie hatte dieſer Empfin - dung, die ſie ſelbſt eine hoͤchſt alberne nannte, nie - mals Hehl: ſie meldete ſich ſelbſt, die ehrliche Seele, jedesmal wenn’s ihr geſchah. Du, ſagte ſie dann, Du, Ottilie, es iſt kaum fuͤnf Minuten her, da bil - dete ich mir ein, ich koͤnnte eiferſuͤchtig auf Dich ſein?

Worauf Ottilie zu entgegnen pflegte: warum das nicht? die Eiferſucht hat ſchon kluͤgere Leute dumm gemacht.

Dann lachte Hedwig und fragte: bin ich dumm? Und Ottilie antwortete: geh, Du biſt nicht klug.

160

Und dann lachten ſie beide. Und Anton kam dazu und kuͤßte Hedwig.

Ottilie aber ſprach: den Kuß muͤßt er mir nun geben wenn ich nicht Verſtand gehabt haͤtte, fuͤr ihn und fuͤr mich.

Anton kuͤßte Ottiliens Hand.

Ottilie rief: ſieh’ſt Du, wie dankbar er mir iſt, daß ich ihn nicht feſthielt?

Dann hinkte der Rittmeiſter herein und ſeine[To]chter umſchlang ihn mit beiden Armen und ſagte: Du biſt mein guter, treuer Vater, Du machſt mir niemals Aerger.

Außer wenn ich Deine Anbeter mit dem Saͤbel in die Flucht ſchlage!

Und Hedwig machte ſich vom Vater los, neigte ſich zu Anton, fuhr ihm in die Locken, ſchuͤttelte ihn und fluͤſterte: hab ich ihn doch!

So verging der Winter.

Und der Fruͤhling kam wieder; der boͤſe Fruͤh - ling! Wie er laͤchelnd, mit Bluͤthen umkraͤnzt, ſei - nen Einzug haͤlt, Leben verheißend und Luſt, doch im Herzen birgt er den Tod, der Heuchler!

Sie hatten einen Gang in’s friſche Gruͤn gemacht, Die Maiſonne brannte wie im Auguſt. Die Luft161 war ſchwuͤl und ſchwer. Sie ſuchten den Schatten des nahen Buchenwaͤldchens.

Anton und Hedwig gingen voran, und plauder - ten von ihren Hoffnungen. Hedwig wollte wiſſen, ob ihr Kind, wenn es zur Welt kaͤme, ihr, oder ſei - nem Vater aͤhnlich ſehen werde? Oder Beiden? Ob es blaue Augen haben werde, oder braune? Ob es ein Anton ſein werde, oder eine Julia denn nach unſerer guten Graͤfin muß es heißen. Ja, gewiß. Und iſt’s ein Junge, muß er Julius heißen, nicht Anton. Es iſt auch beſſer, daß er nicht nach dem Vater genannt werde, ſchon der Verwechslungen wegen. Nehmen wir an, ich ſagte eines Morgens zu Ottilien: ich habe wenig geſchlafen, mein Anton hat die ganze Nacht geſchrieen, was muͤßte ſie von Dir denken?

Ottilie, den Rittmeiſter fuͤhrend, folgte ihnen. Ein aͤngſtlicher Ausruf aus ihrem Munde, ſtoͤrte Hedwig’s zaͤrtliches Geplauder. Sie wendeten ſich: Hedwig’s Vater lag am Boden, Ottilie knieete neben ihm. Ein Gewitter zog in der Ferne herauf. Der alte Soldat ſchien todt. Hedwig’s herzdurch - ſchneidendes Jammergeſchrei weckte ihn noch einmal aus ſeiner Betaͤubung. Er verſuchte die Augen zuDie Vagabunden. IV. 11162oͤffnen, die ihn Umgebenden zu erkennen, reichte Anton und Ottilien die zitternden Haͤnde und zog dann Hedwigs Kopf an ſeine Bruſt:

Jm Freien! Jm Fruͤhling! Jm Mai! Kano - nendonner! Letzte Schlacht! Mein Kind, mein Sohn, habt Euch lieb!

Nach drei Tagen wurde der Rittmeiſter begraben, wo Ottiliens Eltern ruhen, Anton’s Großmutter, der gute Paſtor Karich und auch der ſchwarze Wolf - gang.

Am Abende des Begraͤbnißtages gebar Hedwig ein todtes Kind.

Achtundſiebenzigſtes Kapitel.

Welches in wenig Worten ſehr viel enthält.

Sie erholte ſich, Dank ſei es ihrer Jugendkraft, bewundernswuͤrdig ſchnell.

Als ſie zum Erſtenmale des Vaters Grab beſuchte, ſagte ſie zu Anton: nun hab ich Dich allein! Wende Dich niemals von mir!

Dieſes Wort aus der tiefſten Fuͤlle eines ſchmerz - lich-verwundeten, doch innig-liebenden Herzens163 geſprochen, geſtaltete ſich, auf eigenthuͤmliche Weiſe, zu einem Fluche um, der ſich gegen Anton’s Gluͤck und Zufriedenheit richtete.

Anton hatte ſchon bei’m Erwachen des Fruͤhjahrs die Ahnung einer ihm unklaren Bangigkeit gehabt; einer Unruhe, die ihm fortwaͤhrend hinaustrieb, auch ohne beſtimmten Zweck, ſein Gebiet nach allen Rich - tungen zu durchſtreifen. Zu Wagen, zu Pferde, wie zu Fuße! Es fehlte ihm etwas; er konnte nicht aus - finden, was es ſein moͤge. Der ploͤtzliche Tod ſei - nes Schwiegervaters, die Krankheit Hedwig’s, der Schmerz uͤber den Verluſt eines ſchon vor der Geburt geſtorbenen Kindes, dies Alles hatte ſeinen Gedan - ken eine andere Richtung gegeben.

Hedwig’s weibliche Klage und Bitte am Grabe des Rittmeiſters brachte ihn wieder auf die gefaͤhrliche Gruͤbelei, in die er vor einem Monat verſenkt geweſen.

Was kann mir denn fehlen, fragte er ſich, mir, den das Gluͤck mit Gaben uͤberhaͤuft? Daß mein Schwiegervater ſterben, bald ſterben wuͤrde, wußt ich, als ich Hedwig heimfuͤhrte; Gott hat ihm das letzte Lebensjahr nur noch geſchenkt, damit er ſich freuen duͤrfe, ſeine Tochter verſorgt zu ſehen. Nicht11*164daß er uns verließ, darf ich beklagen; nur zu danken haben wir, daß er uns noch ſo lange geliehen ward! Daß mein Kind das Licht dieſer Sonne nicht erblickte, iſt die natuͤrliche Folge von Hedwigs kindlicher Liebe; ſie befindet ſich wieder wohl und wird kuͤnftig auch eine begluͤckte Mutter ſein. Jch bin reich, unabhaͤn - gig, jung, kann Gutes ſchaffen in meinem Wirkungs - kreiſe; die Bewohner von Liebenau haben mich gern; ich liebe meine Frau, meine Frau liebt mich .... was kann mir denn fehlen? Wie, wenn es die Frei - heit waͤre? Nun hab ich Dich allein! Wende Dich niemals von mir! Gewiß, ſie hat Recht: ſie iſt mein ſchoͤnes, gutes, treues Weib; ſie hat Recht, von mir Treue zu fordern, bis uͤber’s Grab! Und doch, wie wenn es der Bedanke waͤre, ſo unaufloͤslich gefeſ - ſelt zu ſein, der mich beunruhigte? Es waͤre ſchreck - lich, dennoch iſt es nicht unmoͤglich. Jch war elend, das iſt richtig; ein armſeliger, umhergeworfener Vaga - bund! Jch ſehnte mich nach Ruhe, nach einer Hei - math. Nun hab ich beides, hab es in uͤberreich - lichem, jeden Wunſch uͤberſteigendem Maaße; .... und nun entbehr ich, was mich damals quaͤlte, jene Freiheit der Armuth, deren Heimath die ganze große Erde heißt!? Vie errante, est chose enivrante!165 ſingt der franzoͤſiſche Chanſonier, deſſen Lieder ich in Paris kennen lernte. Wohl wahr! Jn dieſem Rauſche ſind mir ſieben Jahre verflogen, ſieben Jahre voll Noth und Luſt. Die Noth iſt vergeſſen, die Luſt wirkt nach. Sie uͤberfaͤllt mich bisweilen, daß ich nur gleich aufſpringen und davon laufen moͤchte, uͤber alle Berge hinaus! Jch weiß ſehr gut, ich wuͤrde nicht lange laufen; ich wuͤrde bald wieder heimkehren nach meinem lieben Liebenau; aber ich haͤtte die Luſt doch gebuͤßt; ich haͤtte doch wieder einmal vom Schaume der vollen Jugendfreiheit genippt. Fuͤr einen Gatten ſchickt ſich das nicht. Jch ſoll ein Mann ſein; ein ernſter, wuͤrdiger Gutsbeſitzer; darf meine Gemahlin nicht verlaſſen; muß nach der Wirth - ſchaft ſehen; die Beamten kontroliren; muß im Geſchirr des ſoliden Lebens ziehen; darf nicht uͤber den Strang ſchlagen; bin glebae adscriptus; bin Sklave meines Reichthum’s, Sklave meiner Liebe! und gute Nacht perſoͤnliche Freiheit!

Gerathe nur erſt Einer auf derlei bedenkliche Fra - gen: er wird ſich bald in eine recht gut-organiſirte, rebelliſche Widerſetzlichkeit hineingefragt haben. Und gar erſt, wenn er die entſtehende Mißſtimmung, ſei es auch in der edelſten Abſicht, vor derjenigen166 verheimlicht, welche die unſchuldige Urſache derſelben iſt. Wer vor ſeiner Frau ein Geheimniß hegt (ich rede begreiflicher Weiſe nur von ſolchen Geheimniſſen, die auf das eheliche Verhaͤltniß Bezug haben), der erzieht eine Schlange an ſeiner Bruſt, welche ihm uͤber kurz oder lang das Herz anfreſſen kann.

Anton beging dieſen Wahnſinn. Er verbarg vor Hedwig jene Unruhe, die ein geſpenſtiges Phantom, Freiheit genannt, ihm erregte; er zwang ſich, heiter und unbefangen zu erſcheinen; er erkuͤnſtelte froͤh - lichſte Laune; er verdoppelte ſeine zaͤrtlichſten Auf - merkſamkeiten fuͤr ſie: damit ſie nur nichts merke! Der Thor!! Es waͤre beſſer geweſen, ihr Alles zu ſagen, die volle, reine Wahrheit. Die Wahrheit iſt immer das beſte, auch wenn ſie das ſchlimmſte iſt. Haͤtt er ſich die Skrupel von der Seele geredet, ein ganzes verdorbenes Jahr haͤtt er ſich erſparen koͤnnen.

Doch er ſchwieg, log, litt. Und es waͤhrte nicht lange, ſo empfand Hedwig, daß er ſie taͤuſche. Doch ſchwieg auch ſie. Und auch ſie litt.

So gingen ſie laͤchelnd, liebend und leidend neben einander her.

Ottilie aber ſchuͤttelte den Kopf und ſagte: mit167 meinen Leutchen im Schloſſe iſt nicht Alles in Ord - nung. Seit des Vaters Tode gefallen ſie mir nicht. Das muß der Graͤfin berichtet werden.

Neunundſiebenzigſtes Kapitel.

Wie Anton ſeine Schnitter beſucht und von den Mägden gebunden wird. Er will ſich nicht binden laſſen und möchte wieder frei ſein. Die Schenke an der Straße nach Polen.

Die Erndte hatte begonnen. Anton ritt von einem Vorwerk, von einem Felde zum andern, ſeine Arbeiter zu begruͤßen und ſich von den Maͤgden der Hofegaͤrtner binden zu laſſen; der alten guten Sitte getreu, nach welcher, bei Eroͤffnung der Erndte - zeit der Gutsherr, ſobald er ſich draußen zum Erſten - male blicken ließ, mit bunten Baͤndern um den Arm geſchmuͤckt wurde; wofuͤr er natuͤrlich ein reichliches Geſchenk zu ſpenden nicht verſaͤumen durfte.

Die Hofegaͤrtner von Liebenau und den dazu gehoͤrigen Wirthſchaftshoͤfen wollten von der ihnen freigeſtellten Abloͤſung der ſogenannten Robotpflich - tigkeit durchaus keinen Gebrauch machen. Sie fan - den es ihrem Vortheile angemeſſener, des Gutsherrn Fruchtfelder zu maͤhen, die Garben zu binden im Schweiße ihres Angeſichtes und dafuͤr den Zehn - ten, den ihnen gebuͤhrenden Arbeitslohn, in Empfang168 zu nehmen, als nachzuahmen, was viele Gemeinden in der Nachbarſchaft bereits gethan hatten. Der alte Vormaͤher vom Oberhofe ließ ſich daruͤber etwa ſo aus:

Jſt’s nicht geſcheidter, wir tragen Gluͤck und Ungluͤck, gute Jahre und Mißwachs zu gleichen Thei - len mit dem Dominium, ſtatt daß wir Tageloͤhner vorſtellen und uns in Gelde bezahlen laſſen? Jetzt kommt der Herr, oder meinetwegen der Verwalter, und fragen, was meint Jhr, Leute, wollen wir hauen, oder warten wir noch? Oder wo fangen wir heuer an? Oder was meint Jhr vom Wetter? Wird’s heim - lich bleiben? Nu ja, warum ſollen ſie uns nicht fra - gen; ’s iſt ja unſer eigener Vortheil, wenn’s gut geht und wir bringen das Biſſel Gottesſegen trocken unter Dach. Jch arbeite doch lieber, wenn ich fuͤr mich mit arbeite. So ’n Tageloͤhner fragt den Gukuk danach, was verdirbt, oder nicht. Und ſeinen Lohn verſauft er und im Winter hat er nichts zu freſſen.

Deshalb hatten ſich dit Liebenauer noch nicht von ihren Hofedienſten abgeloͤſet, und bewahrten auf dieſe Weiſe noch ein letztes Reſtchen patriarchaliſcher Ueber - lieferung in ihren Huͤtten, auf ihren Feldern, in ihren Herzen.

169

Anton plauderte mit ihnen, herzlich und ver - traulich.

Der Eine nannte ihn Herr Gokſch, der Andere Hahn, ein Dritter Musje Anton und ein altes Gaͤrt - ner*)Gärtner wurden in jenen Gegenden alle ländlichen Hausbeſitzer genannt, die nicht wirkliche Bauern waren, und wurden in Frei - und Hofegärtner getheilt. -Weib redete ihn gar: geſtrenger Herr Korb - macher von Ober-Liebenau! an, woruͤber er ſo heftig lachte, daß alle Maͤdel mit zu lachen anfingen und fuͤnf Minuten lang keine Hand anlegten, bis der Vor - maͤher fragte: Habt Jhr nu bald ausgekichert, Jhr dummen Frauvoͤlker?

Anton ſah einen Seitenweg, laͤngſt dem friſchge - maͤh’ten Stoppelfelde, den man, ſo lange die Frucht ſtand, nicht bemerkt hatte, und fragte, wohin dieſer fuͤhre?

Ueber die Wieſen, auf die Landſtraße nach Polen! lautete die Antwort.

Behuͤt Euch Gott, Jhr Leute, rief er aus, trieb ſein Pferd an und flog dieſen Weg entlang. Jn einer halben Stunde war der Graben erreicht, den er einſt uͤberſpringen mußte, als er den Fußpfad von Eich -170 berg herab die große Straße ſuchte, um bei ſchlechtem Novemberwetter auf Reiſen zu gehen. Heute, am ſchoͤnſten Erndtetage quaͤlten ihn nur Hitze und Staub, den ſeines Roſſes Galopp aufjagte. Doch das hin - derte ihn nicht, dem Wirthshauſe zuzuſprengen, in welchem er damals ſeine erſte Raſt gehalten. Eine krankhafte Ungeduld bemaͤchtigte ſich ſeiner, noch ein - mal auf der Bank am Ofen zu ſitzen, auf welcher ihm der Milchkaffee ſo gut behagt, den er mit Koko theilte; die Wirthin wieder zu ſehen, die ihm verſtoh - len ſeine Locken geſtreichelt; ſich in den Anblick jenes Gaſtzimmers zu verſenken, welches in ſeiner Erinne - rung von Roſenſchimmer ſuͤßeſter Jugend-Poeſie ſtrahlte. Er vergaß in fieberhafter, kindlicher Freude, daß ſie zu Hauſe mit dem Eſſen auf ihn warten, daß Hedwig in Beſorgniß gerathen, Alles im Schloſſe unruhig werden koͤnne. Er jagte wie raſend durch Mittagshitze und Staubwolken dem Ziele ſeiner Phantaſie entgegen.

Da iſt das Dorf erreicht. Dort liegt das erſehnte Haus. Er muß mit voller Gewalt ſein Pferd zuruͤck - halten, um die halbnackten Kinder nicht zu uͤberreiten, die vor der Thuͤre, dicht an der Straße, ein Luft - und Sand-Bad genießen. Dem Hausknecht, der ſo171 eben die Pferde vor einem Frachtwagen traͤnkte, wirft er ſeines Thieres Zuͤgel zu, ſchaͤrft ihm ein, es lang - ſam auf und ab zu fuͤhren, damit es ſich gehoͤrig abkuͤhle und eilt dann in die Schenke.

Das große, duͤſt’re Gemach iſt leer und ſtill. Nur Millionen von Fliegen ſummen ihr eintoͤniges Kla - gelied.

Anton wirft ſich auf die Bank hinter’m Ofen, eine Wehmuth kommt uͤber ihn, die ihm unerklaͤrlich iſt, die er dennoch nicht bewaͤltigen kann und kaum vermag er die Thraͤnen zuruͤckzuhalten, die ihm das Herz ſchwellen.

Die Wirthin tritt ein. O, wie iſt ſie alt gewor - den, wie haͤßlich; wie nachlaͤſſig in ihrer Kleidung. Es ſind ihre ſechs Kinder, die draußen im Staube des Weges ſpielen. Sie hat vom Hausknecht gehoͤrt, daß ein fremder Herr zu Pferde gekommen, bei ihr eingekehrt ſei. Sie fragt, womit ſie ihm dienen koͤnne? Anton bittet ſich einen Kaffee aus. Die Wir - thin ſtutzt: ſie entſchuldiget ſich, daß es langſam damit gehen werde, weil das Mittagsmahl laͤngſt voruͤber und kein Feuer auf dem Heerde brennt. Anton erklaͤrt, er wolle gern warten und hier weilen. Die Frau ſieht ihn mehrmals fragend an, und geht172 ſinnend hinaus, dreht ſich aber in der Thuͤr noch ein - mal nach ihrem raͤthſelhaften Gaſte um.

Wie ſie in ihrer Vorrathskammer Kaffee und Zucker zuſammenſucht, erblickt ſie durchs Fenſter einen wandernden Scheerenſchleifer, der von Schweiße triefend, auf ſeiner Karre ſitzend mit dem Hausknecht Worte wechſelt uͤber das Pferd, welches dieſer herum - fuͤhrt, und ſie hoͤrt deutlich wie der Schleifer ſagt: dem gnaͤdigen Herrn von Liebenau, druͤben; ich hab ihn vorgeſtern ſelbſt darauf reiten ſeh’n.

Hm, wie kommt der zu uns? Da muß ich ſchon ein Loth Kaffee mehr nehmen, daß er ſtark wird!

Anton iſt bereits aus Wehmuth in unruhige Auf - regung uͤbergegangen. Er durchlaͤuft die Schenk - ſtube, wie im Kampfe mit ſeinen widerſtrebenden, ſich ſelbſt widerſprechenden Empfindungen. Zum Erſtenmale, ſeitdem er Hedwig Gattin nennt, will ſich ein Zweifel bei ihm geltend machen, ob er Recht gethan, ſich zu verheirathen? Ob ſein ganzes Weſen uͤberhaupt fuͤr den nothwendigen Zwang des Ehe - ſtandes paſſe? Ob er nicht gar durch ſein Vagabun - denleben fuͤr haͤusliches Gluͤck, fuͤr friedliche Ruhe verdorben ſei; eben ſo unfaͤhig, dabei auszuharren, wie der Rieſe Schkramprl, der unmittelbar nach des173 Rittmeiſters Tode wieder den Ranzen auf den Ruͤcken nahm? Und der Anblick dieſer Schenkſtube fuͤhrt ihn der Vergangenheit zu, die er jetzt noch in ſeinem Gedaͤchtniß mit ſo lebhaften Farben erblickt, als ob ſie Gegenwart waͤre. Er beſteigt noch einmal den Wagen des Fleiſchhauers, er tritt in die Menagerie der Simo - nelli, er ſieht Laura, er liebt ſie; ... er ſucht neue Abentheuer; als wohlhabender Reiſender, nicht mehr als armer Vagabund, zieht er jetzt durch die Welt; knuͤpft andere Bekanntſchaften; genießt jetzt erſt ſein Leben! ... Er vergißt, welch heilige, welch ſuͤße Bande ihn an ſeine Heimath feſſeln; er verraͤth in dieſem Augenblicke ſchon ſeine Frau, indem er ihrer nicht gedenkt.

Die Wirthin bringt den beſtellten Kaffee. Der gnaͤdige Herr ſoll verzeihen, daß es ſo lange dauerte, bis er bedient wurde!

Kennt Jhr mich, gute Frau?

Ei freilich; Sie ſind der gnaͤdige Herr von Lie - benau.

Und wo habt Jhr mich kennen lernen?

Der Schleifer hat’s dem Hausknecht geſagt, ſonſt wuͤßt ich’s nicht.

Und Jhr ſelbſt habt mich niemals geſehen?

174

Bin mein Leben nicht nach Liebenau gekommen.

Beſinnt Euch nicht auf mich?

Es iſt mir wohl ſo, gleich, wie ich den Herrn hinter’m Ofen ſitzen ſeh’n, hatt ich einen Gedanken, es koͤnnte Einer ſein unmoͤglich!

Was fuͤr Einer?

Nu, halt Einer, der vor vielen Jahren ein - mal hier durchwanderte. Ein huͤbſches, junges Blut. Hab oft an ihn gedacht.

Mit einem Papagey auf dem Ruͤcken?

Weiß Gott, der Herr weiß es! Sollte doch ... ja, meiner Seele, es iſt naͤmliche Perſon ſo ſeid Jhr nicht der Herr von Liebenau? So ſeid Jhr mein armer, huͤbſcher Wanderburſch, an den ich ſo oft gedacht hab!? Nein, was doch Alles auf Erden vor - geht, ’s iſt entſetzlich! Muß ich Euch noch wieder - ſehen! Freilich, dazumal war ich eine leidliche Frau, noch nicht lange unter der Haube. Jetzt bin ich ein altes Weib geworden, das machen die vielen Kinder, die ſchwere Arbeit. Aber Jhr ſeid deſto ſchoͤner, nur ein Biſſel blaß im Angeſicht, aber das laͤßt vornehm. Und zu Pferde ſeid Jhr gar! Treibt Jhr Euch noch immer ſo herum?

175

Nein, nicht mehr, das hat ein Ende: ich bin ver - heirathet.

O weh, da habt Jhr alſo Euer Kreuz auch ſchon auf dem Ruͤcken. Da heißt’s: gute Nacht, Freiheit! Und noch ſo jung ... Na, Gott genade der armen Frau!

Anton ſagte eilig Lebewohl und wollte fort. Zu rechter Zeit fiel ihm ein, daß er den Kaffee nicht bezahlt habe. Er kehrte um.

Jhr habt ihn ja nicht einmal gekoſtet.

Gleichviel; hab ich ihn doch beſtellt und Euch die Muͤhe gemacht; wir muͤſſen rechnen!

Ja, Herr, das muͤſſen wir! Wartet nur.

Die Wirthin entfernte ſich.

Anton verwuͤnſchte, daß er ſich zu erkennen gege - ben und dadurch ein Geſpraͤch herbeigefuͤhrt habe, wel - ches den Sturm ſeines Jnnern vermehrte. Er wollte um jeden Preis die unheimliche Schenkſtube verlaſſen und der Wirthin, ohne ihre langweilige Berechnung abzuwarten, ein paar Thaler auf den Tiſch werfen! Siehe da, ſeine Taſchen fanden ſich leer, die Feld - arbeiter hatten Alles empfangen, was er bei ſich getragen.

So muß ich mich mit meiner Uhr ausloͤſen, rief176 er, und begab ſich hinaus, die Wirthin aufzuſuchen; dieſe trat im Hausflur ihm entgegen und reichte ihm ein ſchweres Lederſaͤckchen hin. Auf den erſten Blick erkannte er die kleine Reiſekaſſe, die er aus ſeiner Großmutter Verlaſſenſchaft zuſammengeſtellt und hier vergeſſen hatte; deren Verluſt ihn zum Diener in einer Menagerie gemacht, folglich ſeinem ganzen Lebenslauf die erſte, entſcheidende Richtung gegeben.

Wir haben die Muͤnzſorten auseinandergeklaubt, gezaͤhlt und berechnet, Gold wie Silber, mein Mann und ich. Es iſt Alles aufgeſchrieben auf dem Zettel - chen, wie viel d’rin ſteckt und macht neununddreißig Thaler, dreizehn Groſchen. Jhr werdet’s finden, bei Heller und Pfennig. Es war wohl eine harte Ver - ſuchung, denn manchmal geht’s hier ſchmal zu, wenn keine Einkehr iſt und kein Verdienſt; vollends jetzt, ſeitdem ſie druͤben eine Chauſſee gebaut haben, und alles Fuhrwerk druͤben geht. Aber ich bin ſtandhaft geblieben und hier habt Jhr Euer Eigenthum.

Anton beſtieg ſein Pferd. Dann gab er dem alten, gebeugten Hausknecht, der es gehalten, einen harten Thaler. Den ledernen Beutel aber, ſammt ſeinem uͤbrigen Jnhalt, warf er den ſpielenden Kin -177 dern zu. Kauft Eurer Mutter einen Jahrmarkt, ſprach er.

Herr, Herr, was thut Jhr?

Er war laͤngſt hinter einer Staubwolke ver - ſchwunden.

Achtzigſtes Kapitel.

Der zweite Winter im Liebenauer Schloſſe. Anton ſucht ſein Tagebuch wie - der hervor und wir leſen einzelne Blätter deſſelben. Hedwig wird Mutter und bezahlt dies Glück beinah mit ihrem Leben.

Das Leben im Schloſſe zu Liebenau geſtaltete ſich von einem Tage zum andern immer unfreundlicher und kaͤlter. Fruͤhzeitiger, regnichter Winter trug bei, es zu verduͤſtern. Anton machte in der Angſt ſeines Herzens einigemale den Vorſchlag: ſie moͤchten einige Monate in der großen Stadt zubringen. Dagegen erklaͤrte ſich Hedwig entſchieden. Mir, in meinen Umſtaͤnden, ſagte ſie, iſt haͤusliche Ruhe noͤthig, die ich in der Stadt entbehren muͤßte. Bis Ende Mai oder Anfang Juni erwart ich meine Entbindung; nach der Krankheit des vergangenen Fruͤhjahrs bin ich es mir und dem Kinde ſchuldig, mich zu ſchonen. Die Vergnuͤgungen der Stadt locken mich nicht, undDie Vagabunden. IV. 12178ſogar wenn ſie es thaͤten, muͤßte ich ſie unter den jetzi - gen Verhaͤltniſſen meiden. Was ſoll ich in jenem Geraͤuſch, wenn es mir keine Freude macht?

Ottilie, gewoͤhnlich Zeugin dieſer Geſpraͤche, haͤtte gern gehoͤrt, daß Hedwig ihren Weigerungen noch ein Wort der Aufforderung fuͤr Anton beigefuͤgt, und ihm vorgeſchlagen haͤtte, er, ſeinerſeits, moͤge allein gehen und Zerſtreuungen aufſuchen. Sie war begie - rig, wie er ſolchen Vorſchlag aufgenommen haͤtte. Doch daran dachte Hedwig nicht. Sie, in ihrer Unſchuld, vermochte nicht zu ahnen, daß es außerhalb ſeines Hauſes Freuden fuͤr Denjenigen geben koͤnne, ohne welchen es fuͤr ſie keine Freude gab. Nicht ſelbſtſuͤchtige Mißgunſt, nur Unerfahrenheit ließ ſie daruͤber ſchweigen. Ottilie jedoch, die aus Antons Mienen las und verſtand, was ſeine Lippen zuruͤck - hielten, ſuchte Hedwigs Weigerung noch von einer andern Seite zu unterſtuͤtzen. Sie erklaͤrte ſich unum - wunden gegen die Gewohnheit vieler Gutsbeſitzer, den Winter uͤber ihrer laͤndlichen Einſamkeit zu ent - fliehen; ſie leitete, mit ſehr verſtaͤndig entwickelten Gruͤnden, aus dieſem Gebrauch eine lange Reihe von Mißbraͤuchen und Uebeln her, die nicht wenig dazu beitruͤgen, die Angelegenheiten im Kleineren wie im179 Groͤßeren zu verwirren. Das Auge des Herrn, des Beſitzers, ſagte ſie, ſoll auch im Winter ſehen, for - ſchen, pruͤfen und walten; auch im Winter giebt es eine Menge laͤndlicher Beſchaͤftigungen, die Niemand beſſer leiten und regeln mag, als er ſelbſt. Seine Beamten, die Bewohner des Dorfes, Schaͤfer, Pferde - knechte, Kuhmaͤgde und Ochſenjungen, Alle, bis auf den Geringſten, ſollen wiſſen, daß er da iſt; daß er dem Schlage der Holzaxt, daß er dem hellen Klange der Dreſchflegel, daß er dem Schnurren des Spinn - rades lauſcht; ſie ſollen wiſſen, daß in jenem Stuͤb - chen, wo der Lichtſchein hinter den Vorhaͤngen ſchim - mert, ihr Brodherr bei ſeiner Frau ſitzt und den langen Winterabend nach vollbrachter Arbeit traulich verplaudert. Sie ſollen wiſſen, daß die alte frierende Frau aus dem Dorfe ſich dort oben eine Karre voll Holz, daß die hungernden Bettelleute ein tuͤchtig Stuͤck Brot, daß der kranke Greis eine Flaſche Wein erbitten kann, bei der Herrſchaft. Mein verſtorbener Vater hatte wohl viele Fehler und ich bin die letzte, ihn zu vertheidigen, dennoch war er, trotz ſeiner Haͤrte und Heftigkeit, beliebt bei den Leuten im Dorfe. Warum? Weil er dreißig Jahre lang mit ihnen, unter ihnen, bei ihnen lebte; weil er nichts weiter ſein12 *180wollte, wie ein Landmann, gleich ihnen; weil er, mit all ſeinem Fluchen und Schreien, nicht hindern konnte, daß drei Toͤchter in ſeinem Namen, wenn auch ohne ſein Geheiß, kleine Gaben mit eigenen Haͤnden reichten und auch durch tiefen Schnee die Haͤuſer aufſuchten, wo Krankheit oder Noth ſich nach Huͤlfe ſehnte. Sein Nachfolger (Jhr Vorgaͤnger, Anton) warf das Geld mit vollen Haͤnden unter die Armen des Dorfes, ohne daß er ſich dadurch bei ihnen beliebt gemacht haͤtte; fragen Sie heute nach Theo - dor van der Helfft, ſo wird kein Menſch in Liebenau ihn anders bezeichnen, als: der vorige Herr, der immer auf Reiſen war und auch auf Reiſen ſtarb. Hedwig hat nur allzu Recht, wenn ſie entſchloſſen iſt, auch uͤber Winter hier zu bleiben; dieſen Winter, wie immer.

Nachdem Ottilie einigemal in dieſem Sinne gere - det, ſtand bei Anton die Ueberzeugung feſt, die beiden Frauenzimmer haͤtten ſich heimlich miteinander gegen ihn verbuͤndet. Er ſchwieg und dachte nur: o, meine Freiheit!

Vielleicht waͤre dieſer Gedanke, an ſich ſchon gefaͤhrlich genug, zu einem unheilbringenden gewor - den, wenn nicht Antons Gutmuͤthigkeit und liebevolle181 Geſinnung fuͤr Hedwig in der Sanftmuth dieſer mild-weiblichen Natur immer wieder neue Nahrung gefunden und dadurch jeden moͤglichen Ausbruch von Ungeduld oder Heftigkeit verhindert haͤtte. Sie gin - gen, er und ſie, neben einander her, ſo vorſichtig, ſo ſchonend, ſo ruͤckſichtsvoll, ſie, als ob ſie ahnete, daß in Antons Herzen ein wunder Fleck verborgen ſei; er, als ob er verhuͤten wolle, daß die Frau ent - decke, wo und warum er leide.

Ottilie ſuchte freilich zu vermitteln und that es mit Geiſt, Gemuͤth und gutem Willen.

Da machte ſich’s denn ertraͤglich; aber auch nur ertraͤglich.

Waͤhrend dieſes Winters ordnete Anton ſeine Tagebuͤcher. Wenn Hedwig ihn in ſeine Wirthſchafts - rechnungen, Monatsſchluͤſſe und Forſt-Ausweiſe ver - graben waͤhnte, erging er ſich bei Froſt und Schnee im warmen Gemache weilend, in der Zeit des Vagabundenlebens. Man ſollte meinen, die erneuerte Erinnerung an all das uͤberſtandene Elend muͤſſe ihm ſein gegenwaͤrtiges Gluͤck erſt im hellſten Lichte vor die Augen geſtellt haben. Jm Gegentheil: was ihn, da er es wandernd ertrug, wie eine ſchwere Laſt bedruͤckt, das duͤnkte ihm jetzt ein verlorenes Gluͤck;182 aus den Blaͤttern, die er uͤberlas, wehete ein fruͤh - lingslauer Zauberhauch und immer und immer wie - derholte ſich der leiſe Ausruf: ich liebe Hedwig und ich bin gluͤcklich, daß ſie mein Weib iſt; aber es war doch ſchoͤn, als ich frei war!

Ohne daß er es wollte, ja ſogar, indem er es zu vermeiden ſuchte, trug ſich eine Faͤrbung davon in die Briefe uͤber, die er an Graͤfin Julia nach Sophien - thal zu richten niemals unterließ. Dieſe aber ſchien abſichtlich keine Kenntniß davon nehmen zu wollen. Aus ihren Antworten, welche Hedwig wie Ottilie laſen, ging immer nur hervor, welchen Antheil ſie an dem haͤuslichen Gluͤcke ihrer theuren Liebenauer nehme. Ottilien dagegen ſchrieb ſie nur: man koͤnne jetzt nichts thun, als ſchweigen und hoffen; zur Entbin - dung werde ſie ſich perſoͤnlich einſtellen, und erſt nach dieſer, wenn Alles gluͤcklich voruͤber, ſei es an der Zeit, zu reden und zu handeln.

Gott gebe, ſeufzte Ottilie, daß ſie meinem alten Anton den Kopf zurecht ſetzt; wenn die Graͤfin es nicht vermag, dann iſt Alles vergebens.

Wir ſprachen ſo eben von ſeinen Tagebuͤchern und daß er dieſelben, in zerſtreuten Heften und Blaͤttern, wieder ordnend, durchleſe. Bei dieſer Gelegenheit183 duͤrfen wir auch einige kurze Auszuͤge geben von den Bemerkungen dieſes Winters; denn Anton ſetzte ſein Journal fort. Wir waͤhlen aus jedem Monate immer nur ein Blaͤttchen.

Voriges Jahr freu’te ich mich uͤber den heran - nahenden Winter; das truͤbe Novemberwetter mit ſeinem grauen Himmel, ſeinen kurzen Tagen entzuͤckte mich[;]meinetwegen haͤtten die Abende noch laͤnger ſein duͤrfen; ich konnt es gar nicht erwarten, daß Licht und Lampe brannten; daß ich bei Hedwig ſaß und mich unſerer Abgeſchloſſenheit und Ruhe freu’te. Unſerer Trennung von dem Geraͤuſch der Welt, in welche Niemand ſich hinein wagte, als etwa nur Ottilie, die man mit ihren geiſterhaft-leiſen Tritten und Bewegungen kaum hoͤrt.

Heuer iſt das anders und ich aͤrg’re mich uͤber mich ſelbſt. Aber kann ich dafuͤr? O, meine alte Großmutter hatte Recht: Gar Vieles, das Beſte vielleicht, wie das Schlimmſte, ward uns eingebo - ren. Wir koͤnnen’s bekaͤmpfen, manchmal beſiegen, aber ausrotten? Niemals!

Dem Himmel ſei Dank, daß die Gluͤckwuͤnſche184 des heutigen Tages uͤberſtanden ſind; die Gluͤckwuͤnſche und die Dankſagungen. Denn ich befinde mich in der ſeltſamen Lage, Vormittags Gratulationen und Gaben fuͤr mich in Empfang zu nehmen, weil ich meinen Geburtstag begehe; Nachmittags dagegen liegt mir, als Familienhaupt, die Sorge ob, Andere zu begaben, weil wir den heiligen Chriſt-Abend feiern. Voriges Jahr gewaͤhrte es mir eitles Vergnuͤgen, meine Beamten vor mir aufmarſchiren zu ſehen und mich von ihnen anwuͤnſchen zu laſſen. O vanitas vanitatum! Diesmal haͤtt ich ſie lieber hinaus - geworfen, Alle, den guten Paſtor-Puſchel aus - genommen, den ich liebe, weil er ein taͤuſchendes Ab - und Nachbild ſeines Vaters wird. Nachhaltiger wirkte die Luſt am Beſchenken der aͤrmeren Dorfleute. Ottilie und Hedwig hatten das praͤchtig hergerichtet und aufgebaut. Meine Frau benimmt ſich dabei wie ein Engel, den man anbeten moͤchte.

Mitten in dem Jubel und im Schimmer der unzaͤhligen Lichter fiel mir ein, daß ich vor zwei Jah - ren aus Kaͤſtners Haus im Gebirge wie ein begoſſe - ner Pudel fortlief, und wandernd, heimathlos, auf - gegeben, den Chriſt-Abend im tiefen Walde zubringen mußte. Und ſpuͤrt ich nicht heute, umgeben von185 Ueberfluß, Liebe, Gluͤck und Dank, eine Sehnſucht in mir nach jenem einſamen Elend?

Es iſt keine Frage: ich bin ein Narr!

Aber Schkramprl hat wohl Recht, daß er ſich nicht fixiren, daß er umherlaufen will, ſo lange ſeine langen Beine ihn tragen.

Man iſt nicht umſonſt Vagabund geweſen.

Heute hat es ein Aergerniß mit meinem Herrn Foͤrſter gegeben und das hat mir gut gethan: es hat mich aus dem Reich meiner haltloſen Traͤume zur unangenehmen Wirklichkeit herabgezwungen. Zum Erſtenmale, ſeitdem ich im Beſitz ſtehe, hab ich den Herrn gezeigt. Der Menſch iſt entlaſſen und da ſeine Vernachlaͤſſigungen, vielleicht Betruͤgereien, auch nicht einen Tag fortdauern duͤrfen, ſchon des Beiſpiels wegen, ſo hab ich ihm ſein Quartal auszahlen und die Amtswohnung heute noch raͤumen laſſen. Seinen Dienſt werd ich, bis ein Anderer eintritt, ſelbſt ver - ſehen. Vielleicht gefaͤllt mir die winterliche Abend - ſtille in unſeren Raͤumen beſſer, wenn ich ſie mir durch einen Tag im tiefen Schnee des Waldes errungen habe. Vielleicht hoͤren meine Gedanken auf, in der186 Welt umherzuſchweifen, wenn ich ſie beim Klang der Vesperglocke mit den Holzfaͤllern heimgeleite.

Das trifft ſich gluͤcklich: Da kommt Freund Schkramprl wieder einmal, um, wie er ſich huldreich ausdruͤckt, nach uns und unſern Stallratten zu ſehen, und bringt mir ein Bittſchreiben meines alten Wohl - thaͤters, des k. Foͤrſters Wolff. Der ehrliche Jſegrim geht mich an, ſeinem aͤlteſten Sohne, der ſeine Zeit im Jaͤgerkorps ausgedient hat und nun, als Ober - jaͤger entlaſſen, keine Stelle findet, unterbringen zu helfen. Gewiß, er ſoll die Foͤrſterei in Liebenau haben. Seine Zeugniſſe ſind vortrefflich und er iſt der Sohn ſeines Vaters, des braven Mannes, der mich bei ſich aufnahm, da ich ein angeſchoſſenes Stuͤck in ſeinen Wald wechſelte.

Fiat! Morgen des Tages empfaͤngt er das Anſtellungs-Dekret.

Schkramprl wird es ihm hintragen und es wird Freude ſein im alten Forſthaus!

Schkramprl fragt mich, wie ich es aushalte auf einem Flecke? Jch erwiederte ihm: willſt Du ſchwei - gen, verdammter Heide! Hab ich nicht ſchon boͤſes Blut genug in den Adern? Willſt Du auch noch bei -187 tragen, mir es wilder durcheinander zu jagen? Trolle Dich von Dannen und gieb mir Frieden!

Heute kam ein Gaſt in unſere Fluren, der mich mit ſeinem Laͤcheln aus der Faſſung brachte. Offen - bar hat er ſich verlaufen, iſt zu fruͤh eingetroffen und wird nicht weilen; die Seinigen werden ihn zuruͤck - rufen. Fuͤr’s Erſte hat er ſich in’s Buchwaͤldchen ſchlafen gelegt und ſchien hoͤchlich erſtaunt, daß die Baͤume noch ſo duͤrr ſind. Auch ſuchte er vergeblich nach Veilchen. Thor, wenn Du ſie nicht mitbrach - teſt, wir haben noch keine!

Er ſchlaͤft im Buchwaͤldchen; mir aber hat die - ſer erſte Fruͤhlingstag den Schlaf geraubt. Jch werde die ganze Nacht hindurch an ihn denken, an ſeine Wanderluſt; und wenn ich morgen fruͤh hin - komme, ihn aufzuwecken und ihn ein Stuͤck Weges zu begleiten, wird er laͤngſt auf und davon ſein.

Deſto beſſer. Jch wollte, wir haͤtten morgen das fuͤrchterlichſte Schneegeſtoͤber, welches mich wieder ein wenig niederduckte! Was ſollen mir die Boten der Freiheit? ich bin nicht mehr frei.

Graͤfin Julia meldet, ſie wolle mit Anfang Mai188 ihren Einzug in Schloß Liebenau halten und habe ſich ſo eingerichtet, daß ſie bei uns weilen koͤnne bis zur Taufe! Die edle, liebenswuͤrdige Frau! Wie freu ich mich, ſie wieder zu ſehen und zu hoͤren! Wahrlich, die Beſchreibung meiner ſeligen Mutter paßt noch immer auf ſie, obgleich ſeitdem mehr als ein Vierteljahrhundert vergangen iſt.

Die Gegenwart der Graͤfin ſollte, wie ich gehofft, beruhigend, wohlthaͤtig auf mich einwirken. Leider iſt dem nicht ſo. Jch fuͤhle mich noch ungeduldiger, als ehe ſie ankam. Wenn ſie ihr geiſtvolles Auge, wie fragend, auf mir weilen laͤßt, wird mir zu Muthe, als laͤſe ſie in meinem Jnnern! Als erriethe ſie, welch eine Thorheit mich martert! Und das aͤngſtiget mich; ich ſchaͤme mich vor ihr. Nein, ſie darf nicht ent - decken, daß der Vagabund in mir ſein Weſen treibt! Was wuͤrde ſie dazu ſagen, deren Großmuth mich ſo koͤniglich beſchenkte? Sie, der wir Alles verdanken! Sie darf nicht wiſſen, daß ich meines Gluͤckes unwuͤr - dig bin. Sie wuͤrde mir zuͤrnen. Oder ſie wuͤrde, nicht hoͤhniſch, denn das vermag ſie nicht, ſie wuͤrde mitleidig-laͤchelnd die Achſel zucken; und ich muͤßte189 vor Beſchaͤmung in den Erdboden ſinken. Nein, ſie darf’s nicht entdecken!

Welch ein Gefuͤhl! Jch bin Vater!! Ein Kind iſt da, welches lebt, athmet, die Augen oͤffnet! Und dies iſt mein, iſt Hedwig’s Kind!

Noch bin ich nicht im Stande, mir uͤber meine Empfindungen Rechenſchaft zu geben. Auch weiß ich nicht, was meine Freude ſtoͤrt! Jch vermag mich meiner ahnungsſchweren Beſorgniß um Hedwig kaum zu entſchlagen.

Jch muß zu dieſen Blaͤttern meine Zuflucht nehmen. So manchen heißen Gram hab ich in ein - ſamen Stunden dem Papiere anvertraut. Mag ſich auch jetzt die ſchwerſte Bangigkeit meiner Seele ſchrei - bend Luft machen. Hedwig iſt ſehr krank; ihre Mat - tigkeit nimmt mit jeder Stunde zu; ſchon laͤchelt ſie nicht mehr, wenn man ihr das Kind zeigt; ſchon erwiederte ſie kaum mehr den Druck meiner Hand. Die Graͤfin und Ottilie ſitzen mit ernſtem Schweigen vor ihrem Bette, mich ſehen Sie bedauernd von der Seite an. Der Arzt ſpricht von Hoffnung, die man nie ganz aufgeben duͤrfe, von unerwarteten190 Wundern, die eine gute Natur bewirkt! O, man kennt dieſe Sprache. Sie iſt die Einleitung in das große Trauerſpiel!

Alſo dieſe Strafe waͤre mir zuerkannt? Sie iſt furchtbar ſtreng; doch wehe mir, ich darf nicht laͤug - nen, daß ſie gerecht iſt! Auch unterliegend, muß ich’s bekennen: ich habe ſie verdient. Ja, ich habe ſie ver - dient, da ich wahnſinnig gemurrt und geklagt, daß ich meine Freiheit einbuͤßte; daß ich nicht mehr, wie fruͤher, ohne Pflicht, ohne Beruf planlos umher - ſchleudern und jeder Lockung des Augenblicks, ſei es immerhin die nichtigſte, frivolſte, nachgeben duͤrfe; daß ich meiner Jugend durch den Eheſtand beraubt ſei. Undankbar gegen Gott und Menſchen bin ich geweſen; ruchlos verkannt und geringgeſchaͤtzt hab ich die Fuͤlle von Segnungen, die mir Unwuͤrdigem zu Theil ward: und die zuͤrnenden Maͤchte hab ich auf - geſtoͤrt durch leichtſinnigen Frevel! Treue Liebe und Hingebung ſtanden mir zur Seite, ich ſehnte mich nach Freiheit! das heißt: ich wuͤnſchte mir die Tage zuruͤck, wo ich kein Herz, keine Seele mein nennen duͤrfen? Da wirſt Du nun bald empfinden, was es heißt, wieder allein ſteh’n. Da wirſt Du nun bald wieder frei ſein, Elender, und wirſt nicht wiſſen, was191 Du anfangen ſollſt mit Dir und Deiner Freiheit! Blutige Thraͤnen wirſt Du weinen, Thraͤnen frucht - loſer Reue, vernichtenden Jammers, wenn ſie die bleiche Geſtalt hinaustragen, die Dein liebendes Weib war, als Leben und Blut durch ihre Adern ſtroͤmte. Hedwig, Hedwig, nicht mehr leben? Todt, begraben ſein, die ſanfte, gute, ſchoͤne Hedwig!?

Jch zitt’re, wenn eine Thuͤre geht, daß ſie kom - men, mich zu holen, mir zu kuͤnden, ſie habe vollen - det. Jch zitt’re, wie der arme Suͤnder, wenn ſeine letzte Nacht vor dem letzten Morgen entflieht.

Sie ſchlief, da ich ſie verließ.

Dieſer Schlaf kann der Tod ſein, der ſie nie mehr erwachen laͤßt!

Aber es kann auch der Engel ſein, der ihr Gene - ſung bringt!

Ach, wenn es waͤre! Wenn morgen mit Tages Anbruch der Arzt ausriefe: ſie iſt gerettet!

Hoͤre mich, Du Ewiger, den wir Gott nennen, an den auch der Gottesleugner glaubt in ſeiner hochmuͤ - thigen Beſchraͤnkung, in ſeiner ſpitzfindigen Dumm - heit. Hoͤre mich, unerforſchliche Macht! Hier ſteht es in feſten, deutlichen Schriftzuͤgen, ein Zeichen mei - nes unerſchuͤtterlichen Willens, meiner innigſten192 Ueberzeugung. Nicht Angſt und Pein des Augen - blickes, nicht wandelbare Zerknirſchung, die vor Ge - fahren kriecht und im Staube ſich windet, nach uͤber - ſtandener Gefahr aber neu zu trotzen wagt! Nein, klares Wollen, aufrichtige Selbſterkenntniß, maͤnn - liche Beſonnenheit fuͤhrt meine Feder und ich gelob es mir, und Dir, Unſichtbarer! wenn Hedwig wieder auferſteht vom Grabe, wenn ſie noch ein - mal lebt und liebt, nie mehr wird ein kindiſcher Wunſch, ein eitles Trachten, eine bange Regung ſo viel Einfluß uͤber mich gewinnen, daß ich ihnen das Recht einraͤumte, ſich zwiſchen mich und meinen Frie - den zu ſtellen. Welche Traͤume im Herzen mir auf - tauchen moͤgen, das kann ich heute nicht wiſſen; aber daß ich ihrer Herr werde, daß ich als Sieger aus jedem Kampfe mit ihnen hervorgehe, das ſchwoͤr ich mit heiligem Eidſchwur, bei der qualvollen Pruͤfung dieſer Stunde. So gewiß, wie ich jetzt die Kraft fand, meine gluͤhendſten Zaͤhren zuruͤckzuhalten, mit hellem Blick und ſicherer Hand dieſe Worte zu ſchrei - ben, ſo gewiß will ich durchfuͤhren, was ich hier beſchworen!

193

Einundachtzigſtes Kapitel.

Jn weichem unſere Erzählung zu Ende gebracht wird und wie in Liebenau abermals die Linden blühen.

Drei Wochen ſind vergangen. Hedwig hat mit Bewilligung des Arztes ſich heute vom Lager weg auf einen großen, wundervollen Lehnſtuhl, ein Geſchenk der Graͤfin Julia, begeben. Dieſe, noch immer in Liebenau anweſend, weil ſie der Taufe bei - wohnen will, hat im Verein mit Ottilie jeden Hauch der Leidenden bewacht; iſt ihr in jenen bangen Naͤch - ten muͤtterlich treu zur Seite geſtanden, hat aber auch ſehr genau und ſcharf beobachtet, welchen Eindruck der drohende Verluſt ſeiner Frau auf Anton geuͤbt, mit welcher Stimmung dieſer aus den Todesaͤngſten her - vorging. Sie theilt ihre Meinungen daruͤber der treuen Ottilie mit und Beide ſagen: Gott ſei Dank! Er liebt ſie mehr als je!

Heute findet die Taufe ſtatt.

Paſtor-Puſchel erbot ſich, dieſe Handlung im Schloſſe vorzunehmen, doch Graͤfin Julia war dage - gen und beſtand darauf, daß es in der Kirche vor ſich gehe. Wenn wir Winter haͤtten und harte Kaͤlte, ſo wuͤrd ich den Paſtor ſelbſt erſuchen, das Kind imDie Vagabunden. IV. 13194Zimmer zu taufen, hatte ſie geaͤußert; aber jetzt, beim ſchoͤnſten Sommer, warum ſollen wir nicht eben ſo gut in die Kirche gehen, wie alle Leute aus dem Dorfe?

Die Hebamme traͤgt das Kind.

Graͤfin Julia und Ottilie folgen ihm.

Anton bleibt bei Hedwig zuruͤck.

Hedwig ſitzt, liegt vielmehr in ihrem Lehnſtuhl, der an’s off’ne Fenſter geſchoben ward, ſo daß ſie dem kleinen Zuge, der ihr Kind in die Kirche beglei - tet, mit den Angen folgen kann. Nun wendet ſie ſich zu Anton:

Mein theurer Freund, wir haben ein herzlich Wort mit einander zu ſprechen, vielmehr ich habe zu ſprechen, Du magſt mich guͤtig hoͤren. Doch eh ich beginne, bitt ich flehentlich, Du wolleſt nicht glau - ben, daß in dem, was ich Dir zu ſagen habe, irgend ein Vorwurf, eine Anklage gegen Dich enthalten ſei. Jm Gegentheil!

Jch bemerke ſchon ſeit .... o, ſchon ſeit meines Vaters Tode, daß Dir etwas fehlt. Anfaͤnglich machte mich dieſe Entdeckung ſehr ungluͤcklich, denn ich fuͤrchtete einige Tage hindurch, Du koͤnnteſt bereuen, mich zur Frau genommen zu haben und195 dann waͤre mir wohl nichts uͤbrig geblieben, als mei - nem Vater zu folgen. Doch Dein ganzes Beneh - men uͤberzeugte mich bald, daß Du mich liebſt, ach - teſt, daß ich (der Himmel ſei geprieſen!) Dir nicht zur Laſt bin; nein, daß es Dir nur der Eheſtand im Allgemeinen iſt; daß der Gedanke Dich peiniget, gebunden, feſtgehalten, an Haus und Hof und Weib gekettet zu ſein, waͤhrend Du doch gewoͤhnt wareſt, umherzuziehen, wie Wind und Wetter Dich trieben, Du mein lieber, geliebter Zigeuner. Mir iſt nicht entgangen, mein armer Anton, welche Muͤhe Du Dir gabſt, Dich zu beherrſchen, mich zu taͤuſchen. Aber das Auge der Liebe laͤſſet ſich nicht taͤuſchen. Jch empfand Deine Leiden, wie Du; ich machte Deine Kaͤmpfe in meinem Herzen mit. Dennoch unterſagt ich mir den Troſt, daruͤber mit Dir zu ſprechen. Jch dachte ſo: Entweder auch dieſes Kind, welches ich jetzt am Herzen trage, iſt dem Tode geweiht, nun, dann bin ich es auch; dann iſt er ohnedies wieder frei!! Oder das Kind lebt und ich lebe mit ihm (denn ich wußte, Gott wuͤrde mich nicht von dieſem Kinde trennen!) nun, dann iſt immer noch Zeit, mein Herz ihm zu oͤffnen; dann wird ſich der paſſende Moment ſchon finden. Dieſer Moment iſt eingetreten.

13*196

Bald bringt man mir mein kleines Maͤdchen zuruͤck, es hat einen Namen, es iſt ein menſchliches Weſen, es waͤchſt heran in meiner Sorge und Pflege, ich bin die gluͤcklichſte Mutter, die reichſte Frau auf Erden. Waͤr es nicht ſchaͤndliche Selbſtſucht von mir, ſtraͤfliche Ungenuͤgſamkeit, wollt ich zu all mei - nen Schaͤtzen auch noch die Herrſchaft uͤber Dich fuͤgen? Wollt ich auf Deine Liebe, Deine Redlich - keit trotzend, dich eigenſinnig feſthalten; Dich hin - dern, die Fluͤgel zu regen, die das Beduͤrfniß fuͤhlen, ſich zu entfalten? Sieh, das mußt ich Dir ſagen; es kommt mir aus der Seele! Sei frei! Sei, wie wenn Du kein Weib haͤtteſt! Zieh hinaus und reiſe! Treibe Dich in der weiten Welt umher! Durchſtreife Laͤnder und Meere! Mache was Du willſt, Anton; unternimm, wozu die Neigung Dich auffordert! Jch werde nicht klagen, nicht weinen, nicht grollen. Jch werde mit meiner Tochter hier bleiben, eine treue Hausfrau, eine gute Wirthin ſein und wenn Du wie - der einmal heimkehrſt, werd ich Dich eben ſo freund - lich, eben ſo unbefangen begruͤßen, wie ich geſtern that, als Du aus unſerem Walde heimkehrteſt. Denn daß Du manchmal kommen wirſt, nach Deiner Hed - wig zu ſchauen, Dein Kind zu kuͤſſen, das weiß ich.

197

Und fuͤrchte keine Eiferſuͤchteleien, Anton. Du biſt frei! vollkommen frei! Jch weiß, was ich ſage. Dir Zwang anlegen? Das waͤre noch ſchoͤner! Damit Du bei Dir ſelbſt denken lernteſt: hab ich deshalb das kleine Ding abgeholt aus ihrem Hunger und Kummer, daß ſie mir anhaͤnge wie eine Klette, die man nicht mehr abſchuͤtteln kann? Das waͤre noch ſchoͤner! Jch kenne nur Dich, ich habe nur Dich! Jch liebe nur mein Kind und Dich in ihm; fuͤr mich giebt es ſonſt keine Welt und ſoll keine geben. Dir aber ſoll die Welt offen ſteh’n mit Allem, was an Freuden darinnen fuͤr Dich bluͤht; wenn Du nur nicht vergeſſen willſt, daß Liebenau auch in der Welt iſt; daß dort auch Freuden fuͤr Dich bluͤhen: die klei - nen, frommen Freuden beſcheidener Haͤuslichkeit. Und das wirſt Du nicht vergeſſen! Alſo: ſei wieder frei!

Ottilie heißt Euer Maͤdchen, ſagte die Graͤfin, da ſie das neugetaufte Kind der Mutter in die Arme legte.

Nicht Julia? fragte Hedwig.

198

Ottilie, wiederholte die Graͤfin. Jch habe darum gebeten. Aber was hat Anton?

Anton ſtand hoch aufgerichtet neben Hedwig’s Lehnſtuhl; ſein Antlitz leuchtete, wie in hehrer Begei - ſterung; zwei große Thraͤnen liefen langſam uͤber ſeine Backen.

Er legte die Hand auf Hedwig’s Haupt und ſprach: daß ich eine gute, ſchoͤne, gebildete Frau habe, wußt ich ſchon. Daß Hedwig aber auch die kluͤgſte aller Frauen ſei, hat ſie mir heute bewieſen.

Ottilie warf der Graͤfin einen bedeutungsvollen Blick zu. Die Graͤfin laͤchelte:

Wir ſind nicht mehr noͤthig mit unſerer Ein - miſchung. Die Leutchen haben ſich ſelbſt verſtaͤn - diget.

Jch hab ihm nur geſagt, was mein Gefuͤhl mir eingab. Was er von meiner Klugheit redet, verſteh ich nicht, rief Hedwig.

Eben deshalb, mein Kind! Aus dem reinen Herzen einer ed’len Frau kann nur das Beſte kom - men; wahre, uneigennuͤtzige Liebe iſt die rechte Weis - heit.

Die Thuͤre ging auf; Schkramprl ſteckte den Kopf herein:

199

Jch ſoll den Maler melden, fragte der Rieſe, darf er kommen?

Und der junge, umherziehende Kuͤnſtler, den wir bei Anton im Gaſthausſtuͤbchen kennen gelernt, erſchien.

Sie verſprachen mir, hub er an, ein Portrait, in welchem ich Sie wiederzugeben trachtete, wenn auch in kleinſten Dimenſionen, mit Goldſtuͤcken zu bedek - ken, ſobald ich Sie auf Jhrer Beſitzung heimſu - chen wuͤrde; hier bin ich! Erkennen Sie mich noch? Gedenken Sie noch Jhres Verſprechens? Ehrlich geſagt, ich brauche Geld; ich will eine Reiſe nach Jtalien machen. Der Liebenauer Zuſchuß geht mir gerade noch ab. Doch bin ich bereit, etwas dafuͤr zu thun: Jhre Gemahlin haͤlt ein ſchlafendes Kind; Sie ſteh’n an den Seſſel gelehnt. Das giebt ein reizen - des Bildchen ....

Und ich will es beſitzen, ſagte die Graͤfin.

Der Maler ſchlug ſein fliegendes Attelier auf. Es ging ihm wunderſchnell von der Hand.

Die kleine Ottilie ſchlief ſanft.

Hedwig ſchmiegte ihren Kopf an Anton’s Arm.

Die große Ottilie und Graͤfin Julia nahmen auf200 dem Sopha Platz und ſahen mit freudiger Ruͤhrung auf die Gruppe.

Durch’s offne Fenſter herein drang von den Kro - nen der alten Baͤume das Summen unzaͤhliger Bie - nen, denn und darum ſchließe dieſe Erzaͤhlung, wie ſie begann, denn:

Die Linden ſtanden in voller Bluͤthe.

[201]

Anhang.

Enthaͤlt:

  • 1) Eine Nachſchrift des Verfaſſers.
  • 2) Ein Sendſchreiben des Herrn A. Hahn.
[202][203]

Nachſchrift des Verfaſſers.

Es mag im Winter 1841 / 2 geweſen ſein, als zu Wien ein Herr Faber das Wunderbarſte, was ich jemals geſehen und gehoͤrt, oͤffentlich zur Schau ſtellte: eine Sprachmaſchine, welche durch Taſten, wie bei’m Klaviere, in Bewegung geſetzt, einzelne Laute von ſich gab, aus denen ſich ganze, deutlich geſprochene Worte bildeten. Von Allem, was des Menſchen kunſtfertige Hand hervorgebracht, ſchien mir dieſe Maſchine, als Reſultat unbegreiflicher Kom - binationen, das Unbegreiflichſte. Wer ſein Leben damit zugebracht hat ſprechen zu lernen, fuͤr den muß ein ſolcher Einblick in die geheimnißvolle Werk - ſtatt des Goͤttlichſten was der Menſch hat, wodurch er ſich von ſaͤmmtlichen Geſchoͤpfen auszeichnet, mit ehrfurchtsvollen Schaudern durchdringen. Jch hatte204 fruͤher ſchon aͤhnliche Verſuche geſehen, die mehr oder minder hoͤchſt unvollkommen, mangelhaft, oder gar auf Charlatanerie und Taͤuſchung begruͤndet waren. Hier zeigte ſich nur ehrliche, redliche, bewunderns - wuͤrdige Kuͤnſtlerſchaft, die ſich von jeder Oſtentation fern hielt und vielleicht eben deshalb die Theilnahme der großen Menge nicht gewann. Herr Faber zaͤhlte ſo wenig Beſucher ſeiner uͤber alles Lob und uͤber jede Beſchreibung erhabenen Erfindung, daß er gerechte Urſache zur Klage hatte. Die große Stadt wußte eigentlich gar nichts von dem Wunder welches in ihren Mauern geſchah. Jch ſelbſt wuͤrde nichts davon erfahren haben, waͤre ich nicht aufmerkſam gemacht worden durch Grillparzer. Dieſer große Dichter, der bisweilen wie ein Traͤumender durch’s Leben geht und dem Geraͤuſch des Marktes oftmals gaͤnzlich entruͤckt ſcheint, bewahrt doch and’rerſeits ſo viel reine Kindlichkeit in ſeiner edlen Bruſt, daß er ſich uͤber Alles was ſchoͤn, groß, erhaben, bedeu - tend iſt, zu freuen vermag, wie ein Kind. Er war es, der mir befahl, zu Herrn Faber zu gehen; der mich dazu zwingen mußte, weil ich, Robertſon’s, (des Luftſchiffers; ich meine des Vaters) Sprech - maſchine im Gedaͤchtniß, kein Vertrauen dazu hatte. 205Und wie dankt ich meinem Meiſter Franz daß er mich gezwungen.

Eines Tages ſtand ich wiederum vor dem kleinen, unſcheinbaren Kaſten, aus welchem wirkliche, ge - ſprochene Worte hervorklangen, wie aus der Bruſt eines denkenden, redenden Weſens, Menſch geheißen, und verſank in aufrichtige Betruͤbniß uͤber die Un - dankbarkeit der Welt, die den Erfinder einer ſo merk - wuͤrdigen Sache Mangel leiden und verkuͤmmern laͤßt, waͤhrend ſie fuͤr tauſend Albernheiten Geld, Zeit und Lobſpruͤche zu eruͤbrigen weiß, da traten ein Herr und eine Dame ein, außer mir die einzigen Zuſchauer. Ohne Zweifel waren es Mann und Frau. Er, ein wohl konſervirter Vierziger, oder d’ruͤber; die Frau, obwohl ſichtbar uͤber die Dreißig hinaus, doch ſo jugendlich, maͤdchenhaft, ſchlank und zart, daß man kein anmuthigeres Weib denken konnte. Auch ſie wendeten ihren lebhafteſten Antheil dem bewundernswuͤrdigen Werke des Herrn Faber zu. Als ich erſt entdeckt hatte, weß Geiſtes Kind dies ſchmucke Ehepaar ſei, ließ ich meinen Klagen uͤber die Jndolenz des Publikums freien Lauf. Wie ich ſprach, ſahen Beide, die ſich bisher wenig um mich bekuͤmmert hatten, erſt ſich, dann mich fragend an206 und nachdem ſie fluͤſternd einige Worte gewechſelt, ſagte der Mann: Gewiß, fuͤr Sie muß dieſe Sprach - maſchine doppelten Werth haben. Der Accent, in welchem er dies ſagte, verrieth meinen Landsmann. Jch fragte, ob ich die Ehre haͤtte, von ihm gekannt zu ſein?

Wir haben Sie vor zwei Jahren in Berlin leſen hoͤren, erwiederte er, und darauf bezog ſich meine Vorausſetzung, daß Alles, was in’s Gebiet der Arti - kulation, der Sprach - und Sprechausbildung gehoͤrt, Sie beſonders intereſſiren muͤſſe. Uebrigens bin ich erſtaunt, Sie hier zu finden! Es iſt kaum einige Wochen her, daß ich von Jhrem Aufenthalte in einem Gebirgsdorfe las!

Mein Gott, ſagte ich, ſolch ein alter Vagabund von meiner Gattung iſt bald hier, bald dort.

Die ſchoͤne Frau lachte und ſtieß ihren Mann mit dem Arme. Er lachte auch. Das Wort Vagabund ſchien ſie zu amuͤſiren.

Dann wechſelten wir noch einige verbindliche Redensarten hin und her und trennten uns.

Einige Jahre ſpaͤter fand ich dieſe Wiener Bekannt - ſchaft in B. wieder. Es war im Cirkus der Kunſt -207 reiter-Geſellſchaft von Cuzent und Léjars, wo wir zuſammentrafen. Der Enthuſiasmus, in welchen ich durch den Anblick jener Reiterfamilie mich verſetzt fuͤhlte, war zu heftig, um in meiner Bruſt Raum zu finden; ich mußte meine Entzuͤckung mittheilen und ergoß mich in lebhafteſten Ausdruͤcken gegen die Bekannten aus Wien, die ebenfalls einſtimmten und uͤber die Anmuth der Madame Léjars, wie uͤber die Bravour der Demoiſelle Pauline Cuzent nicht genug des Lobes finden konnten. Als der Bruder dieſer Damen, Paul, ſein wohldirigirtes Orcheſter verließ, den Taktſtab des Kompoſiteurs mit der Peitſche des Stallmeiſters zu vertauſchen und ſeine fuͤnf Schimmel baͤndigend, die Bahn durchtobte, fragte meine holde Nachbarin ihren Gatten: meinſt Du, daß Monſieur Antoine es ſo weit gebracht haͤtte?

Sprich mir nicht von dem armen Teufel, Hed - wig, mit ſeinem langweiligen Violin-Solo. Von dergleichen hatten wir zu meiner Zeit keine Ahnung. Da glaubte man, das Aeußerſte ſei erreicht, wenn Furioſo auf zwei Pferden ſeinen Ritt machte!

Er ſagte dies ſo laut, daß ich jede Silbe verſtand. Mein Erſtaunen wahrnehmend, fuhr er fort:

Es muß Sie nicht Wunder nehmen, wenn ich208 mir das Anſeh’n eines Kenners gebe; das Recht dazu und meine Anſpruͤche auf Kennerſchaft ſind theuer genug erkauft. Jch habe auch einmal mitgemacht! Ja, ja; ſtarren Sie mich immer an, Herr von Holtei, ich war ſelbſt Kunſtreiter. Es iſt hier nicht der Ort, romantiſche Selbſtbekenntniſſe zu liefern, auch kneift mein ſanftes Weibchen mich unſanft in den Arm, damit ich ſchweigen ſoll. Alſo nur noch einen Vor - ſchlag in aller Eil, denn dort ſeh ich ſchon den maͤchtigen Schecken der himmliſchen Léjars (kneife nicht, Hedwig!) Sie muͤſſen mich in Liebenau beſuchen. Und das bald. Jch habe einige kuͤrzlich erſchienene Baͤnde ihrer Memoiren geleſen, deren Offenheit, natuͤrliche Plauderei, wenn ich ſo ſagen darf, mich auf den Gedanken gebracht hat, Jhnen eine literariſche Arbeit anzutragen, wozu Sie das Material aus meinen Haͤnden empfangen wuͤrden. Sie koͤnnen, wenn Sie erſt mit Jhrem Leben fertig ſind, an die Schilderung des meinigen gehen, welches nicht arm an allerlei Schickſalen iſt. Doch daruͤber iſt lange und viel zu plaudern. Alſo beſuchen Sie mich in meinen Waͤldern. Vielleicht erwacht noch ein - mal in Jhnen die Luſt am Vogelfang! Wir ſind ja ohnedies ſchon Bruͤder und Freunde in Shakeſpeare,209 deſſen Glorie Sie von Stadt zu Stadt predigen. Verſchmaͤhen Sie, alter Doͤrfner, unſer Dorf nicht. Mein Weib iſt nicht ſo boͤſe, wie ſie ſcheint, und wenn ſie mich auch jetzt furchtbar gezwickt hat, Jhnen wird ſie das freundlichſte Geſicht machen, um in der Biographie gut wegzukommen. Dafuͤr iſt ſie ein Frauenzimmer.

Jch empfing die Adreſſe meines neuen Freundes und gelobte, auch von ſeiner Hedwig guͤtig aufgefor - dert, mich einzuſtellen, ſobald es ſich ſchicken wolle.

Erſter Tag in Liebenau.

Es giebt Oktobertage, deren Schoͤnheit einen ganzen, naßkalten Sommer aufwiegt. An einem ſol - chen erreichte ich Liebenau, nicht ohne Muͤhe; denn mein Lohnkutſcher, nachdem wir einmal die Landſtraße verlaſſen, fuhr wenigſtens zehnmal irre. Mich erfuͤll - ten dieſe Jrrfahrten mit Seligkeit. Gott ſei Dank, dachte ich, endlich einmal ein Ort, zu welchem keine Chauſſee, keine Eiſenbahn fuͤhrt. Ein Ort, den man ſuchen muß! Der von Waldungen umgeben liegt, in denen wirkliche natuͤrliche Baͤume ſtehen und mitDie Vagabunden. IV. 14210denen man reden kann, wie mit Baͤumen von Alter und Erfahrung.

Da liegt das Dorf!

Ein Dorf, damals fuͤr mich ohne große Bedeu - tung; ein Dorf, von welchem ich nichts wußte, als daß mein guͤtiger Herr Anton Hahn daſelbſt hauſe, mit einer nicht mehr jungen, aber allerliebſten, lie - benswuͤrdigen Hedwig. Jch ſtieg am Schloſſe aus; er kam mir entgegen.

Mein Biograph!? O vortrefflich: Sie kommen mir, wie gerufen. Jch bin ganz allein, was man Strohwittwer nennt. Meine Frau kehrt erſt uͤber - morgen mit den Kindern zuruͤck. Sie iſt im Lande umhergereiſet. Erſt war ſie bei unſerer aͤlteſten Toch - ter, die ſeit einigen Monaten an einen Gutsbeſitzer in Sachſen verheirathet iſt; dann iſt ſie zu meiner Pflege - mutter nach Sophienthal, welche ſie uns hoffentlich mitbringt. Da werden Sie eine herrliche alte Frau kennen lernen. Heute und morgen leben wir als Junggeſellen.

Um Ein Uhr wurde die Suppe aufgetragen. Nach einem eben ſo ſchmackhaft-bereiteten, als laͤnd - lich-einfachen Male, forderte Anton mich auf, mit ihm eine Spazierfahrt zu machen.

211

Ein off’ner Jagdwagen fuhr vor die Wilde-Wein - laube. Der Kutſcher, ein kleiner, dicker Kerl, der ſeine vier Braunen vom Bock aus tuͤchtig zuſammen - hielt, fragte: wohin fahren wir?

Wohin Du willſt, Peterl! Nur weit! Jch habe mit meinem Gaſt zu reden!

Was Anton mir waͤhrend unſerer Spazierfahrt erzaͤhlt, brauch ich dem Leſer nicht wiederzuerzaͤhlen. Es war nur eine Einleitung zu ſeinem Tagebuche und deſſen Jnhalt kennt jeder, dem es gefallen hat, dieſes Buch bis hierher durchzublaͤttern.

Wir langten mit dem erſten Tone des Abend - gelaͤutes im Schloſſe wieder an.

Anton zog ſich in ſein Arbeitszimmer zuruͤck, nothwendige Geſchaͤfte zu beſorgen, weil in den naͤchſten Abenden, wenn erſt Weiber und Kinder eingetroffen waͤren, auf ungeſtoͤrte Ruhe nicht zu rechnen ſei.

Mir gab er ſeine Journalhefte und Notizen auf meine Gaſtſtube mit.

Begierig durch ſeine waͤhrend der Fahrt empfan - genen Andeutungen, ging ich eifrig uͤber die bunten Blaͤtter. Jch las die ganze Nacht hindurch.

14*212

Zweiter Tag.

Mit wie anderen Augen ſah ich, als dieſer ange - brochen war, Alles an, was mich umgab: Schloß, Garten, Laube, Hofraum, Kirchthurm, Alles!

Peterl ſtand vor dem ſogenannten Kutſchenſtalle und ſchalt einen Pferdejungen aus.

Jch lief hinab zu ihm. Peterl, unterbrach ich ihn, wo iſt jetzt der Rieſe Schkramprl?

Dort, Herr! ſagte Peterl und zeigte nach dem Friedhof bei der Kirche. Dann fuhr er fort, dem Jungen ſeine Untuchten vorzuhalten.

Es that mir ſehr leid, daß ich Schkramprl nicht mehr am Leben fand.

Als ich zu Anton an den Fruͤhſtuͤckstiſch gerufen wurde, betrat ich zum Erſtenmale ſein Arbeitszimmer, wo ein Blick auf Tafeln, Schraͤnke, Stuͤhle genuͤgte, um den Bewohner als fleißigen Leſer und zwar als einen mit der Literatur gleichen Schritt haltenden zu erkennen. Da er augenblicklich noch mit einem ſeiner Beamten beſchaͤftigt war und mich fuͤr eine Minute um Geduld erſuchte, bis ſein Geſpraͤch beendet ſei, ſo ergriff ich zwei Buͤcher, die auf der Chiffoniere bei ſeinem Sopha lagen: Judith und Genoveva 213von Fr. Hebbel. Jn beiden fand ich mehrere Stellen mit Strichen und Notabene’s, offenbar durch Antons Bleiſtift verſehen.

Wie nun der Beamte uns verlaſſen (ich glaube, es war Freund Rubs ?) und der Herr des Hau - ſes mich eingeladen hatte, den Kaffee mit ihm zu nehmen, ergriff er ſogleich das Wort in Beziehung auf jene Buͤcher:

Nicht allein, weil Hebbel mich als ſelbſtſtaͤndiger, origineller Poet intereſſirt, finden Sie dieſe beiden Dramen in meiner naͤchſten Naͤhe; es iſt auch der Stoff an und fuͤr ſich, der mich hier feſſelt. Sie haben vielleicht ſchon einen Blick in meine Tage - buͤcher geworfen

Von A bis Z hab ich durchleſen, was Sie mir geſtern anvertrauten.

Gott ſoll beſchuͤtzen! Nun, dann werden Sie wiſſen, warum dieſe Stoffe gerade mir ſo wichtig ſind. Genoveva ſteht in naͤchſter Beziehung zu mir und meinem Schickſal; Judith aber iſt eine jener Rollen, die ich von meiner ungluͤcklichen Mutter ſpre - chen hoͤrte, da der Puppenſpieler die Belagerung von Bethulia auffuͤhrte. Jch kann Jhnen gar nicht ſagen, was in mir vorgeht, wenn ich Hebbels eigenthuͤmliche214 Dichtungen mit den albernen, treuherzigen Stuͤcken vergleiche, die ich damals von der Truppe des großen Samuel und ſpaͤter von den Marionetten meiner Mutter auffuͤhren ſah. Bei der Judith muß ich dem Dichter unſerer Tage unbedenklich den Sieg zuerken - nen; aber bei ſeiner Genoveva, obſchon der Golo, wie er ihn ſchuf, eine erhabene Produktion iſt, fehlt mir etwas, worin der Zigeuner Samuel den Vorrang hatte; ich meine die Verſoͤhnung. Und wenn ich jemals mit Hebbel zuſammentraͤfe, wollt ich ihm nicht eher Ruhe goͤnnen, als bis er mir verſpraͤche, ein Nachſpiel hinzuzufuͤgen.

Nun aber, ſprechen Sie offen: finden Sie ſich durch mein Tagebuch angeregt, es zu verarbeiten?

Jch weiß, erwiederte ich, keine beſſere Ant - wort auf dieſe Frage zu ertheilen, als daß ich von ſieben Uhr Abends bis drei Uhr Morgens ununterbro - chen fortgeleſen habe; und ich erklaͤre, nur an meiner ſchlechten Ausfuͤhrung kann es liegen, wenn unſere kuͤnftigen Leſer anderer Meinung daruͤber ſind. Aber da Sie mir ſo viel Vertrauen goͤnnen, ſo geſtatten Sie mir auch, mich hier, auf dem Schauplatz Jhrer erſten Lebenszeit recht heimiſch zu machen. Vor allen215 Dingen erlauben Sie mir die Frage: lebt Tiele - tunke noch?

Ob ſie lebt! Das will ich hoffen. Meine Kinder kratzen Jhnen die Augen aus, wenn ſie in Jhnen einen Frevler ahnen, der am Daſein der geliebten Tante Tieletunke zweifeln konnte. Ja, dem Him - mel ſei Dank, ſie lebt; und was noch mehr iſt: wir wollen gehen, ſie zu beſuchen. Jch hab ohnedies einige nothwendige Gaͤnge in’s Feld zu machen, und wenn Sie gut zu Fuße ſind

So lange und ſo viel Sie wollen; wo moͤglich auch in den Fuchswinkel.

Auch das. Aber wir muͤſſen eilen!

Anton beſtellte, daß erſt um vier Uhr die Suppe aufgetragen werde und wir begaben uns nach Otti - liens Haͤuschen.

Sie machte mir ganz den Eindruck, den ich erwar - tet: ſcheinbar kalt, mehr zuruͤckſtoßend, als anziehend. Und doch ſprach aus der beinahe fuͤnfzigjaͤhrigen alten Jungfrau ein ungewoͤhnlicher Zauber.

Anton entdeckte ihr, daß ich ſein Journal geleſen und zu welchem Zweck. Er fuͤgte bei: Fraͤulein Ottilie werde auch nicht geſchont werden.

Jch will wuͤnſchen, aͤußerte ſie, daß der Herr das216 Buch recht gut ſchreibe, aber Eins will ich ihm vor - her ſagen: mich trifft er nicht, wenn er mich ſchil - dern will.

Und dennoch glaub ich Sie ſchon zu erkennen, mein Fraͤulein, verſetzte ich ſchuͤchtern; Sie und Jhr Herz.

Das kennt nur der liebe Gott, ſagte Tieletunke; und ſonſt braucht es auch Niemand zu kennen. Aber wenn Sie mir Hedwig nicht gebuͤhrend loben, ſo laſſen Sie ſich in Liebenau nicht mehr blicken. Hed - wig und unſere Graͤfin. Den da duͤrfen Sie ſchon in’s Gebet nehmen. Hauptſaͤchlich fuͤr die erſten Jahre ſeines Eheſtandes. Nachher hat er ſich gebeſſert.

Jch ließ mir die ausgeſtopfte Turteltaube zeigen, den Platz, wo Mutter Gokſch geſtorben, das kleine Fenſter, durch welches Baͤrbel mit Anton geredet, ich las des letztern Abſchiedsverslein, und dann gin - gen wir nach dem Fuchswinkel.

Gegen vier Uhr zum Schloſſe zuruͤckkehrend, ver - nahmen wir den Jammerton eines fremdartigen Jnſtrumentes, faſt wie ein Dudelſack, begleitet vom dumpfen Schall der großen Trommel.

Wie gluͤcklich das fuͤr meinen Biographen ſich trifft, rief Anton: das ſind Baͤrenfuͤhrer. Jch bin217 ihnen vorgeſtern druͤben an der Landſtraße begegnet. Cara memoria! Da, ſeh’n Sie nur.

Zwei Baͤren, drei Affen, eine reichgeputzte Ziege, ein galoppirendes Stachelſchwein*)Es iſt eine alte, unbegründete Sage, daß dieſes Thier (Hystrix cristata) von feindlichen anderen Thieren verfolgt, ſeine Stacheln als Waffen gegen jene ſchleudere! Wie geſagt, das iſt ein Mährchen. Wahrheit aber iſt, daß ich mit einem Käſtchen wundervoll geſchnittener Federkiele, einen ſolchen zum Griffel dienenden Stachel, von meiner berühmten Freundin, Luiſe Neumann, als Geſchenk empfangen, und mit ſelbigem dies ganze Buch, folglich auch dieſe Zeilen geſchrie - ben habe. H. und ein Eſel, wel - cher die hoͤlzerne, inwendig mit Eiſenblech ausgefuͤt - terte Behauſung des beſagten Eiſenferkels zu tra - gen verdammt war, verſammelten Liebenau’s ſchau - luſtige Einwohnerſchaft in jubelndem Kreiſe um ihre unfreiwilligen Uebungen. Als wir uns naͤherten, oͤffnete ſich der Kreis; Anton, von Alt und Jung herzlich begruͤßt, redete den alten Jtaliener an und fragte, von wannen er ſtamme?

Aus Parma, Excellenza! antwortete der Mann.

Anton reichte ihm einen Thaler, dann ergriff er haſtig meinen Arm und zog mich fort.

Was mag aus meinem armen Geronimo gewor - den ſein? murmelte er im Gehen.

218

Dritter Tag.

Heute kommen die Meinigen, Freund Holtei. Sie ſind mit meiner Vergangenheit ein wenig ver - traut worden; ich muß Jhnen jetzt auch ein Wort von der Gegenwart ſagen. Wir haben vier Kinder. Die aͤlteſte Tochter, Ottilie, iſt, obwohl kaum ſieb - zehn Jahre alt, ſchon verheirathet. Meine Frau hatte viel gegen eine ſo fruͤhe Trennung vom elter - lichen Hauſe einzuwenden. Doch mein Schwieger - ſohn legte die Wuͤnſche ſeiner Goͤnnerin, der Graͤfin Julia, in die Wagſchaale und da war Alles geſagt. Mein junger Hahn (Guido genannt) kraͤht gegen - waͤrtig noch griechiſche und lateiniſche Vokabeln im Gymnaſium und hat noch einige Jahre bis zur hohen Schule. Die juͤngſten Kinder, unſere Neſthaͤgchen: Julie und Adele, ſind bei der Mutter und ſollen heute noch die Ehre haben, Jhnen vorgeſtellt zu werden. Sie ſtaunen uͤber den Namen Adele? Es iſt Hedwig, die darauf beſtand, daß meiner unvergeßlichen Freun - din Angedenken in unſerer Familie auf dieſe Weiſe geheiliget werde. Wenn Sie einen Blick in Hedwig’s Schmollwinkelchen, in ihr kleines, traulich-eingerich - tetes Thurm - und Erker-Stuͤbchen werfen wollen, ſo219 werden Sie, neben mancherlei verſchiedenen und wun - derlich gemiſchten Abbildungen von Menſchen und Oertern, (es ſind nur ſolche, die irgend wie in einer Beziehung zu mir und meinem Schickſale ſtehen) zwei Perſonen zu Pferde finden. Die erſte dieſer Perſonen heißt Antoine und ſtreicht ihre Violine bei maͤßigem Galopp; die zweite, im wil - deſten Laufe, ſchwingt flatternde Fahnen, mit der Unterſchrift: Adele Jartour. Hedwig hat, waͤh - rend unſeres Aufenthaltes in Berlin dieſe Blaͤtter bei irgend einem Bilderhaͤndler aus dem Staube der Vergeſſenheit gegraben und wie im Triumphe nach Hauſe gebracht. Jch bin uͤberzeugt, wenn ein Por - trait von Laura zu finden waͤre, zu welchem Preiſe immer, ſie wuͤrde ihre Sparkaſſe leeren und ihm einen Ehren-Platz im Muſeum-Antoine anweiſen. Sehen Sie, durch ihr großartiges Eingehen in mein unbegrenztes Vertrauen, hat ſich dieſes Weib meiner ganzen Liebe und Anhaͤnglichkeit ſo ſehr bemaͤchtiget, daß ich eigentlich nur noch in ihr lebe. Von der Stunde an, wo ſie mir voͤllige, vollkommene Freiheit gab; wo ſie mir mit dem Ausdruck innigſter Wahr - heit jedes Vorrecht eines ungebundenen, freien Men - ſchen wieder einraͤumte; von dieſer Stunde iſt220 es mir nie mehr, aber auch im Traume nicht einge - fallen, davon Gebrauch zu machen. Jch habe Lie - benau nicht verlaſſen ohne Hedwig. Jch koͤnnte es nicht. Und wenn (wie in den kuͤrzlich vergangenen Wochen) unſere Verhaͤltniſſe erheiſchen, daß Eines von uns Beiden reiſen, das Andere aber zu Hauſe huͤten muß, ſo ſchick ich ſie fort, damit ich wenig - ſtens, wenn ich denn einmal ihren Umgang und ihr Geſpraͤch entbehren ſoll, in den Raͤumen weilen duͤrfe, die ſie bewohnt.

Graͤfin Julia ſagt immer, es muͤßte auf einer großen Univerſitaͤt ein eigner Lehrſtuhl fuͤr angehende Eheweiber und Hausfrauen errichtet werden und die erſte Profeſſur muͤßte Hedwig haben, die dann wei - ter nichts vorzutragen haͤtte, als durch welche ein - fachen, natuͤrlichen und doch ſo geiſtvollen Mittel, ſie einen raſtloſen Vagabunden zum gluͤcklichſten Phili - ſter umgeſchaffen, der ſeine unumſchraͤnkte Freiheit blos dazu benuͤtzt, den Pantoffel zu kuͤſſen. Die Graͤfin behauptet, aus Hedwig’s Schule und durch deren Schuͤlerinnen wuͤrde eine neue Zeit fuͤr den Ehe - ſtand hervorgehen. Was mich betrifft, will ich ſchon zufrieden ſein, wenn Hedwig’s guter Geiſt auf unſere Tochter Ottilie forterbt und ich hab meiner Frau ein -221 geſchaͤrft, dem Kinde jetzt ein ausgiebiges Privatiſſi - mum uͤber unterſchiedliche Stadien der Eiferſucht zu leſen, die ich waͤhrend des Brautſtandes wahrgenom - men. Vergeſſen Sie nicht, lieber Holtei, dieſen Punkt in unſerem Romane gebuͤhrend herauszuhe - ben. Vielleicht nimmt ſich’s manche junge Frau zu Herzen!

Nun aber wollen wir ſpeiſen, und dann gehen wir meinen Weibern entgegen.

Tieletunke wird im Voruͤbergehen abgeholt.

Vierter Tag.

Heute hatte das Schloß ein and’res Anſeh’n. Die Gegenwart einer ſolchen Hausfrau bringt neues Leben und verleiht auch ſteinernen Mauern einen unſichtbaren, dennoch nicht abzuleugnenden Schmuck.

Jch fand Hedwig unveraͤndert, wie ich ſie in Wien und ſpaͤter im Cirkus bei Cuzent geſehen. Man haͤtte auch nicht geahnet, daß ſie im Begriff ſtehe, Großmutter zu werden.

Graͤfin Julia, eine Dame von fuͤnf - bis ſechsund - ſechszig Jahren, verſetzte mich durch ihren Anblick in meine fruͤheſte Kinderzeit. Damals gab es noch haͤufig Erſcheinungen in der vornehmen Welt, die222 Ehrfurcht und Liebe im Greiſenalter einzufloͤßen ver - mochten. Frauen mit grauem Haar, die nur von Grazien begleitet erſchienen, bei deren Eintritt jede Rohheit entwich, jede Keckheit verſtummte, jede Gemeinheit beſchaͤmt erroͤthete. Alte, ſehr alte Frauen, die Frohſinn und Froͤhlichkeit mitbrachten, Luſt und heit’re Geſpraͤche erweckten, feinen Scherz verſtanden, Geiſt und Talent ſchaͤtzten. Hochadelige Damen, die ſtolz waren, ohne hochmuͤthig; wuͤrdig, ohne muͤrriſch; fromm, ohne froͤmmelnd und unduld - ſam zu ſein. Sie ſind ſelten geworden. Graͤfin Julia vereinte alle Eigenſchaften, vor denen man ſich gern bewundernd neigt: ſie war noch ſchoͤn.

Anton hatte mir vertraut, daß auch ſie meine Vierzig Jahre geleſen.

Bei der heiligen Scheu, welche die ſtets in Trauergewand gehuͤllte, erhabene Frau mir erregte, ſchlug mich dieſe Nachricht faſt danieder. Jch wagte kaum zu reden, wenn ihr Auge bisweilen auf mir ruhte.

Am Theetiſch kam das Geſpraͤch auf Anton’s Plan wegen des Romanes, den er mir aufgetragen. Tieletunke, nachdem ſie Julien und Adelen zu Bett gebracht, fing davon zu reden an.

223

Das wird luſtig ſein, rief Hedwig. Aber Sie duͤrfen nichts unterſchlagen.

Nicht allein luſtig, ſagte die Graͤfin, es kann auch lehrreich werden.

Nur um Alles in der Welt keine moraliſchen Pre - digten, meinte Tieletunke. Nur leichte, fließende Erzaͤhlung. Die Moral mag ſich jeder ſelbſt heraus zu leſen ſuchen; denn wer dies nicht vermag, fuͤr den waͤre ſie ohnedies nicht vorhanden und wenn man ſie mit rothen Lettern hineindruckte.

Und der Titel, fragte Hedwig; was fuͤr einen Titel waͤhlen Sie? Jch ſtimme fuͤr: die Vagabunden.

Durch Acclamation angenommen, ſagten Alle.

Gewiß, fuhr Hedwig fort, ich glaube, es giebt nichts in der Welt, was jemals fuͤr Geld zu ſehen und auf Reiſen war, womit Anton nicht in Beruͤh - rung kam!

Außer denjenigen Vagabunden, antwortete unſer Held, die zu meiner Zeit eben noch nicht erſchie - nen, denen wir aber allerdings ſpaͤter begegneten. Da ſind zu nennen: Jmproviſatoren, das heißt Menſchen, welche, unvorbereitet, die deutſche Sprache zwingen, ihnen in vortrefflichen Verſen dienſtbar zu ſein; eine Kunſt, die Goͤthe mit der Feder in der224 Hand fuͤr faſt unerreichbar haͤlt; dafuͤr war er frei - lich auch nur ein Goͤthe! Ferner die Schnell - laͤufer, die vor zehn Jahren das ganze Land uͤber - ſchwemmten und gewiſſermaßen die Jmproviſatoren uͤberholten. Sodann indianiſche Bajaderen, ara - biſche Beduinen, und, vergeſſen wir nicht, was uns ſo nahe liegt: Vorleſer.

Richtig, rief Hedwig laut auflachend, Vorleſer, die ſich hinſetzen und drei Stunden lang aus einem kleinen Buͤchlein in ihre geduldigen Zuhoͤrer hinein peroriren. Ja, ja, Sie ſind auch ein Vagabund, Herr Vorleſer; wir haben Sie auf Jhren Streifzuͤgen getroffen; wir haben Sie gehoͤrt.

Aber ich nicht, ſagte Tieletunke.

Noch ich, ſagte die Graͤfin. Der Abend waͤhrt noch lang; wie waͤr es?

Jch bat die Graͤfin, zu befehlen, was ſie hoͤren wolle. Sie waͤhlte Goͤthe’s Jphigenie.

Nach der Vorleſung empfahl ich mich. Es war beſchloſſen, daß ich am naͤchſten Tage fruͤh Morgens reiſen wuͤrde.

Die Graͤfin gab mir einen Wink, daß ſie mich noch auf ihrem Zimmer zu ſprechen wuͤnſche.

Als ich Lebewohl geſagt und Anton gebeten, ſich225 morgen fruͤh meinetwegen nicht aus der Ruhe ſtoͤren zu laſſen, trennten wir uns wie alte Freunde.

Jch folgte der Graͤfin.

Allein mit mir nahm ſie das Wort:

Mein Pflegeſohn hat nicht bedacht, daß die lite - rariſche Arbeit, wozu er Sie aufmuntert, und welche nur dann des Leſers Theilnahme erwecken kann, wofern ſie wahr iſt, aber wahr bis in’s tiefſte Geheim - niß der menſchlichen Seele, außer ihm noch andere Perſonen beruͤhrt. Halten Sie mich nicht fuͤr eine engherzige Frau, die durch Standesruͤckſichten oder vorgeruͤcktes Alter verhindert wuͤrde, die Dinge anzu - ſehen, wie ſie ſind. Jch weiß mich von jedem Vor - urtheile frei. Aber ich wuͤnſche nicht in einem Roman eine Rolle zu ſpielen, ſo lang ich noch lebe. Moͤgen Sie Namen und Orte veraͤndern, wie Sie wollen, ... mein furchtbares Geſchick koͤnnen, duͤrfen Sie nicht veraͤndern in Jhrer Erzaͤhlung. Wenn ich todt bin, haben Sie freies Feld. Meines Gemahles Name ſtirbt mit mir. Das Geſchlecht iſt erloſchen. Dann laßt drucken, was Jhr wollt. Und ſo geben Sie mir Jhre Hand, mit dem Verſprechen, mein Ende abzuwarten. Lange werden Sie nicht zu warten brauchen. Das weiß ich am Beſten.

Die Vagabunden. IV. 15226

Jch gelobte, zu gehorchen, und ſchied von der Graͤfin, feſt entſchloſſen, mein Geluͤbde zu halten.

Fünſter Tag.

Der Morgen graute kaum, als ich das Schloß verließ.

Peterl hatte noch nicht eingeſpannt.

Jch bat einen Diener, der mir das Thor oͤffnete, mein Gepaͤck aufzuladen und den Wagen vor die Thuͤr des Friedhofs zu ſchicken.

Dahin begab ich mich im dickſten Herbſtnebel.

Jch ſuchte vor der Gruſt und uͤber Graͤbern die Jnſchriften auf, welche Pflicht, Dankbarkeit, kindliche Liebe ihren Verſtorbenen gewidmet. Jch fand Onkel Naſus und Mutter Gokſch, fand den Rittmeiſter und den guten Paſtor Karich. Ein ſehr langer Grabhuͤgel fiel mir auf; die Tafel, die ihn bezeichnet, enthaͤlt nur die Worte: Schkramprl der Rieſe.

Jm Winkel an der Mauer fand ich ein Kreuz, worauf ich las: der ſchwarze Wolfgang. Auch die - ſes Grab war ein kleiner Blumengarten, freilich jetzt ohne Bluͤthen.

Peterl knallte draußen, zum Zeichen, daß er bereit ſei! Jch verließ Liebenau.

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Sendſchreiben des Herrn Anton Hahn auf Liebenau an Herrn Karl von Holtei

irgendwo!

Mein lieber Freund Holtei!

Hedwig, Ottilie (ich meine die alte), die Kinder und ich kehren ſo eben von Sophienthal heim, wo wir unſere Graͤfin Julia begruben.

Jch vermag Jhnen weiter nichts uͤber die letzten Tage dieſer Heiligen zu berichten; ſie ſtarb, wie ſie lebte.

Jhr Verluſt iſt durch nichts zu erſetzen; auch die Zeit wird ihn nicht lindern. So lange wir leben, wird ſie uns fehlen. Wir jammern nicht; wir haben uns die Haare nicht gerauft, als ſie verſchied, von dieſer ungebehrdigen Art iſt unſer Schmerz nicht; er haͤtte dieſe Sterbeſtunde nur entweiht. Wilde Klagen verſtummen im Geraͤuſch des neuen Lebens; milde Trauer endet erſt mit dem Leben.

Wir ſind Alle geſund. Meine Tochter Ottilie hat einen Knaben, mein Sohn Guido ſtudirt Arzneikunde, Julchen und Adele werden nach und nach Jungfrauen15*228und warten auf Maͤnner. Aber wo wachſen derglei - chen fuͤr ſie in unſerer Zeit?

Jch habe viel zu thun. Die Graͤfin hat mir die Ausfuͤhrung ihres letzten Willens hinterlaſſen.

Dieſes Briefchen gehoͤrt dazu.

Einige Tage vor ihrem Tode erinnerte ſie mich, Jhnen zu ſchreiben. Jch ſoll Jhnen danken, daß Sie Wort gehalten, und jetzt ſind Sie Herr uͤber jene Papiere, die ich Jhnen anvertraute. Gebrauchen Sie dieſelben, wie Sie wollen.

Die Meinigen, Tieletunke eingerechnet, gruͤßen herzlich. Auch der dicke Leibkutſcher Peterl will empfohlen ſein.

Wenn Jhr Buch fertig iſt, ſo bringen Sie’s uns; wir rechnen ſicher darauf.

Und zoͤgern Sie nicht zu lange. Friſch daran. Sein Sie fleißig und ſchreiben Sie die Vagabunden, Sie alter Vagabund!

Jhr ergebener Anton.

Druck von Robert Niſchkowsky in Breslau.

About this transcription

TextDie Vagabunden
Author Karl von Holtei
Extent232 images; 39063 tokens; 8585 types; 270081 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationDie Vagabunden Roman in vier Bänden Vierter Band Karl von Holtei. . 228 S. Trewendt & GranierBreslau1852.

Identification

Staatsbibliothek München BSB München, P.o.germ. 644 hd-3/4

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; Belletristik; Roman; core; ready; china

Editorial statement

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

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  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
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