PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Das deutſche Gaunerthum.
Zweiter Theil.
[II][III]
Das Deutſche Gaunerthum in ſeiner ſocial-politiſchen, literariſchen und linguiſtiſchen Ausbildung zu ſeinem heutigen Beſtande.
Mit zahlreichen Holzſchnitten.
Zweiter Theil.
[figure]
Leipzig:F. A. Brockhaus.1858.
[IV][V]

Jnhalt des zweiten Theils.

Dritter Abſchnitt. Das moderne Gaunerthum.

  • A. Die Repräſentation des Gaunerthums. Seite
    • Erſtes Kapitel.
      • 1) Die perſönlichen und ſocialen Verhältniſſe1
    • Zweites Kapitel.
      • 2) Pſychologiſche Wahrnehmungen15
  • B. Das Geheimniß des Gaunerthums.
    • 1) Das Geheimniß der Perſon33
      • Drittes Kapitel. a) Die gauneriſche Erſcheinung
      • Viertes Kapitel. b) Die Simulationen38
        • Fünftes Kapitel. α) Die körperlichen Entſtellungen und künſtlichen Merkmale39
        • Sechstes Kapitel. β) Die Schwangerſchaft41
        • Siebentes Kapitel. γ) Die Epilepſie42
        • Achtes Kapitel. δ) Die Taubſtummheit45
        • Neuntes Kapitel. ε) Die Schwerhörigkeit48
        • Zehntes Kapitel. ζ) Geiſteskrankheiten49
        • VI
        • Seite
        • Elftes Kapitel. η) Affecte50
    • 2) Das geheime Verſtändniß51
      • Zwölftes Kapitel. a) Die Gaunerſprache
      • Dreizehntes Kapitel. b) Das Zinkenen52
        • Vierzehntes Kapitel. α) Die Jadzinken54
        • Funfzehntes Kapitel. β) Die Kenzinken55
        • Sechzehntes Kapitel. γ) Die graphiſchen Zinken58
        • Siebzehntes Kapitel. δ) Die phoniſchen Zinken65
        • Achtzehntes Kapitel. ε) Der Sſlichnerzinken66
        • Neunzehntes Kapitel. ζ) Die Gaunernamen68
        • Zwanzigſtes Kapitel. η) Der Zinkplatz72
      • Einundzwanzigſtes Kapitel. c) Der Vertuſſ73
        • Zweiundzwanzigſtes Kapitel. α) Das Schrekenen76
        • Dreiundzwanzigſtes Kapitel. β) Das Meiſtern
        • Vierundzwanzigſtes Kapitel. γ) Das Zuplanten79
      • Fünfundzwanzigſtes Kapitel. d) Das Brennen82
      • Sechsundzwanzigſtes Kapitel. e) Das Maremokum83
      • Siebenundzwanzigſtes Kapitel. f) Das Kaſſpern85
        • Achtundzwanzigſtes Kapitel. α) Das Piſschen-pee87
        • Neunundzwanzigſtes Kapitel. β) Das Challon-Kaſſpern88
        • VII
        • Seite
        • Dreißigſtes Kapitel. γ) Die Kutſche90
        • Einunddreißigſtes Kapitel. δ) Die Kaſſiwer91
        • Zweiunddreißigſtes Kapitel. ε) Das Hakeſen97
      • Dreiunddreißigſtes Kapitel. 3) Das Baldowern106
      • Vierunddreißigſtes Kapitel. 4) Die Kawure112
  • C. Die Gaunerpraxis.
    • Fünfunddreißigſtes Kapitel. 1) Die allgemeine Praxis und Terminologie118
    • 2) Die ſpecielle Praxis122 a) Das Schränken
      • Sechsunddreißigſtes Kapitel. α) Der Verſchluß im weitern Sinne
      • Siebenunddreißigſtes Kapitel. β) Der Einbruch, Unterkabber, Aufbruch und die Hülfsmittel dazu123
      • Achtunddreißigſtes Kapitel. γ) Das Pegern136
      • Neununddreißigſtes Kapitel. δ) Die Zeit, die Kohlſchaft und die goldene Choſchech137
      • Vierzigſtes Kapitel. ε) Die Schmiren und Lampen138
      • Einundvierzigſtes Kapitel. ζ) Das Maſſemattenhandeln140
      • Zweiundvierzigſtes Kapitel. η) Der Rückzug144
      • Dreiundvierzigſtes Kapitel. ϑ) Die Kawure, der Jntippel und die Cheluke145
      • Vierundvierzigſtes Kapitel. τ) Specielle Arten und Terminologien des Schränkens147
      • Fünfundvierzigſtes Kapitel. κ) Das Pleitehandeln und Challehandeln149
      • Sechsundvierzigſtes Kapitel. λ) Der Schutz gegen das Schränken150
    VIIISeite
    • b) Das Makkenen153
      • Siebenundvierzigſtes Kapitel. α) Der Verſchluß im engern Sinne. Das Makkenen und ſeine Terminologien
      • Achtundvierzigſtes Kapitel. β) Das Schloß, der Schlüſſel und ſeine Bewegung159
      • Neunundvierzigſtes Kapitel. γ) Die Kunſt und die Kunſtmittel der Makkener165
      • Funfzigſtes Kapitel. δ) Die Verbeſſerungen von Chubb, Bramah und Newell176
      • Einundfunfzigſtes Kapitel. ε) Das Makkenen auf Kittenſchub180
    • c) Das Kittenſchieben182
      • Zweiundfunfzigſtes Kapitel. α) Definition und Terminologien
      • β) Arten des Kittenſchiebens183
        • Dreiundfunfzigſtes Kapitel. 1) Die Zefirgänger
        • Vierundfunfzigſtes Kapitel. 2) Die Erefgänger187
        • Fünfundfunfzigſtes Kapitel. 3) Die Kegler189
        • Sechsundfunfzigſtes Kapitel. 4) Die Merchitzer190
    • Siebenundfunfzigſtes Kapitel. d) Das Schottenfellen192
    • Achtundfunfzigſtes Kapitel. e) Das Chalfenen200
    • Neunundfunfzigſtes Kapitel. f) Das Ennevotennemachen oder Chaſſimehandeln205
    • Sechzigſtes Kapitel. g) Das Neppen207
      • Einundſechzigſtes Kapitel. α) Der Viaſchmähandel oder das Polengehen210
      • Zweiundſechzigſtes Kapitel. β) Das Merammemooſſmelochnen oder Linkemeſummemelochnen211
      • Dreiundſechzigſtes Kapitel. γ) Der Konehandel oder das Blütenſchmeißen213
      • Vierundſechzigſtes Kapitel. δ) Das George-Plateroon215
      • IX
      • Seite
      • Fünfundſechzigſtes Kapitel. ε) Der Piſchtimhandel219
    • Sechsundſechzigſtes Kapitel. h) Das Stippen221
    • Siebenundſechzigſtes Kapitel. i) Das Torfdrucken oder Cheilefziehen223
    • Achtundſechzigſtes Kapitel.
      • k) Das Stradehandeln, Goleſchächten und Golehopſen234
      • l) Das Jedionen245
        • Neunundſechzigſtes Kapitel. α) Etymologiſche Erklärung
        • Siebzigſtes Kapitel. β) Das Wahrſagen249
        • Einundſiebzigſtes Kapitel. γ) Das Kelefen258
        • Zweiundfiebzigſtes Kapitel. δ) Das Schocher-majim261
        • Dreiundſiebzigſtes Kapitel. ε) Der Erbſchlüfſel264
        • Vierundſiebzigſtes Kapitel. ζ) Das Sefelgraben266
        • Fünfundſiebzigſtes Kapitel. η) Die Nochlim270
          • Sechsundſiebzigſtes Kapitel. ϑ) Das Zchokken oder Freiſchuppen274
            • Siebenundſiebzigſtes Kapitel. 1) Das Haddern277
              • Achtundſiebzigſtes Kapitel. [א]) Das Kelofim-Zinkenen280
              • Neunundſiebzigſtes Kapitel. [ב]) Das Kelofim-Mollen281
              • Achtzigſtes Kapitel. [ג]) Die neue Fahrt283
            • 2) Das Kuwioſtoffen285
              • Einundachtzigſtes Kapitel. [א]) Das Würfelſchleifen
              • Zweiundachtzigſtes Kapitel. [ב]) Das Jung und Alt286
              • Dreiundachtzigſtes Kapitel. [ג]) Die Sanduhr287
              • X
              • Seite
              • Vierundachtzigſtes Kapitel. [ד]) Der Scheffel290
          • Fünfundachtzigſtes Kapitel. 3) Das Deckeles
          • Sechsundachtzigſtes Kapitel. 4) Das Riemenſtechen oder Bandſpiel291
          • Siebenundachtzigſtes Kapitel. 5) Die Glücksbuden292
    • Achtundachtzigſtes Kapitel. m) Das Fleppenmelochnen296
    • Neunundachtzigſtes Kapitel. n) Das Schärfen und Paſchen316
    • Neunzigſtes Kapitel. o) Der Jntippel und die Spieſſe326
  • D. Die Paralyſe des Gaunerthums. Einundneunzigſtes Kapitel.
    • 1) Die franzöſiſch-deutſche Polizei341
      • Zweiundneunzigſtes Kapitel. a) Der Widerſpruch zwiſchen der franzöſiſchen Polizei - gewalt und dem Volke342
      • Dreiundneunzigſtes Kapitel. b) Das Verſtändniß des deutſchen Bürgerthums mit der Polizeigewalt347
      • Vierundneunzigſtes Kapitel. c) Die Verſetzung der deutſchen Polizei mit der fran - zöſiſchen Polizei350
    • 2) Die Aufgabe der deutſchen Polizei354
      • Fünfundneunzigſtes Kapitel. a) Der allgemeine Nothſtand
      • Sechsundneunzigſtes Kapitel. b) Die Aufrichtung von Lehrſtühlen des Polizeirechts356
      • Siebenundneunzigſtes Kapitel. c) Die Centraliſation und Repräſentation der Polizei - gewalt358
      • Achtundneunzigſtes Kapitel. d) Die Modification der militäriſchen Organiſation der Polizei360
      • Neunundneunzigſtes Kapitel. e) Die Reform der Bureaux362
      • XI
      • Seite
      • Einhundertſtes Kapitel. f) Die Beſeitigung des Vigilantenweſens366
      • Einhundertunderſtes Kapitel. g) Die Geltung des Chefs und die Befähigung der Sub - alternen367
      • Einhundertundzweites Kapitel. h) Die Verſtändigung der Polizei mit dem Bürgerthum369
      • Einhundertunddrittes Kapitel. i) Die Verfolgung des Gaunerthums371
    • Einhundertundviertes Kapitel. 3) Die Gaunerunterſuchung374
    • Einhundertundfünftes Kapitel. Schlußwort387
[1]

Dritter Abſchnitt. Das moderne Gaunerthum.

A. Die Repräſentation des Gaunerthums.

Erſtes Kapitel. 1) Die perſönlichen und ſocialen Verhältniſſe.

Nach der bisherigen Darſtellung des Gaunerthums als hiſtori - ſcher Erſcheinung ſieht man, wie das Gaunerthum in der Aneig - nung und Ausbeutung aller Formen des ſocial-politiſchen Lebens als ein krankhafter Anwuchs dieſes Lebens hervortritt, der um ſo leichter und reichlicher ſeine Nahrung von ihm gewinnt, je mehr die Verkünſtelung des Lebens zugenommen und deſſen ſelbſtprüfen - den Scharfblick getrübt hat. Das Gaunerthum iſt ein ſecundäres Uebel am ſiechenden Körper des Bürgerthums, das nicht eher vertilgt werden kann, als bis der Körper ſelbſt geheilt wird, wozu die immer gewaltiger zunehmende materielle Richtung der gegen - wärtigen Zeit die Ausſicht je mehr und mehr trübt, ungeachtet Riehl in ſeiner Naturgeſchichte des Volks eine ſo treffende Diagnoſe des Siechthums gegeben hat, hinter welchem die ernſte Gefahr geſpenſtiſch drohend hervorblickt, und ungeachtet, zum Zeichen der bittern Noth, die bislang in ſo mancher Hinſicht von der chriſtlich-kirchlichen Richtung ſich abneigende Polizei doch noth - gedrungen Hand in Hand mit dieſer gehen muß1)Dieſe Verbindung tritt am ſichtbarſten in England hervor, wo der, um mit ihrAvé-Lallemant, Gaunerthum. II. 12in Kleinkinderſchulen, Rettungsanſtalten für ſittlich verwahrloſte Kinder, Fabrikſchulen, wohlfeilen Speiſeanſtalten und andern ähnlichen Jnſtituten ein ſittliches Waiſenthum zu verkündigen und dem abgeſtorbenen Familienleben ein trübes Mauſoleum zu er - richten. Mit ſchwerer Sorge nimmt der Polizeimann wahr, wie großen Zuwachs das Gaunerthum erhält aus der Zahl von Kin - dern bürgerlich unbeſcholtener Aeltern, die aber daheim weder Familie, noch Herd, noch Familienzucht haben, und zu wie fertigen Gaunern die bloße Lebensverkünſtelung jugendliche Verbrecher, auch ohne Belehrung des Gaunerthums, ausbildet, das dieſen jugendlichen Zuwachs freudig willkommen heißt. So iſt inmitten des Friedens ein Gaunerthum documentirt, das fertiger und ge - fährlicher als jemals daſteht, und bei einer Erſchütterung der be - ſtehenden Ordnung ſich noch furchtbarer erheben wird, als das zu Ende des vorigen Jahrhunderts die niederländiſchen Räuberbanden vermocht haben. Die Staatspolizei hat daher jetzt Aufgaben zu löſen, wie fie kaum je ähnlich zur Löſung geſtellt worden ſind. 1)Dem deutſchen Polizeimann gebührt der Hinblick auf das ihm nicht allein dem Stamme nach, ſondern auch in vielfacher anderer Hinſicht ver - wandte England. Die londoner Polizeiſtatiſtik gibt erſchreckende Reſultate. Ungeachtet London 530 Wohlthätigkeitsanſtalten beſitzt, für die aus freiwilli - gen Beiträgen jährlich nahe an zwei Millionen Pf. St. zuſammenfließen, er - werben noch 4000 Landſtreicher in London allein durch Betteln jährlich 50,000 Pf. St. Jn den Jahren 1848 und 1849 wurden in die londoner Arbeitshäuſer 143,069 Landſtreicher aufgenommen. Jn der londoner Polizei - ſtatiſtik von 1851 figuriren 217 Hauseinbrecher, 38 Straßenräuber, 773 Ta - ſchendiebe, 3675 gewöhnliche Diebe, 11 Pferdediebe, 141 Hundediebe, 3 Fäl -Hier handelt es ſich jedoch zunächſt darum, das Gaunerthum darzu - ſtellen, wie es ſich in der Gegenwart herausgebildet hat.

1)kirchliche Sinn mit der praktiſchen Richtung der Polizei zu einer Menge der verſchiedenartigſten Jnſtitute ſich einigt. Der Engländer kann dabei aber auch das Rechnen nicht laſſen; er calculirt, daß in den Rettungsanſtalten der Kopf auf jährlich 13 Pf. St. zu ſtehen kommt; er berechnet dazu, daß das Jndivi - duum auf freien Füßen jährlich gegen 100 Pf. St. ſtehlen würde, ungerechnet die Captur - und Gerichtskoſten, die auf 62 Pf. St. veranſchlagt werden. Der Engländer kann ſeinen praktiſchen Sinn nirgends verleugnen, und was er als praktiſch erkannt hat, ſetzt er durch mit einer Willenskraft, Conſequenz und mit Opfern, wie kein zweites Volk Aehnliches aufzuweiſen hat.

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Aus der bisherigen Darſtellung ergibt ſich ferner, daß der Gauner nur ein Gewerbe, gleichſam als ſeinen Beruf, treibt. Von einem Stande, als einer geſonderten ſocial-politiſchen Abſchich - tung, oder gar von einer geſonderten volksthümlichen Gruppe, kann nicht die Rede ſein. Das Gaunerthum repräſentirt vielmehr vom verdrängten Thronerben mit dem Stern auf der Bruſt, vom verabſchiedeten Offizier, vom abgeſetzten Geiſtlichen, vom abge - brannten Bürger an bis zum elendeſten Bettler, das verbrecheriſche Proletariat aller Stände, und der fürſtliche Stern des verdrängten Prinzen, das ehrbare beſcheidene Aeußere des vertriebenen Geiſt - lichen oder verunglückten Bürgers iſt ebenſo viel Gaunerkunſt wie der verſteckte Klamoniß des Makkeners, oder die Lumpen und das äußere Elend des Bettlers, welchem Lumpen und alles andere Gepräge des Elends als Handwerksgeräthe zu ſeinem Fortkommen dienen. 1)Jn einer Gaunerherberge fand ich einmal ſpät nachts ein Vaganten - paar in einem elenden Bette mit Lumpen bedeckt liegen; zu den Füßen einen in Lappen gehüllten halbverkommenen Säugling. Neben dem Bett auf dem bloßen Fußboden lagen nebeneinander drei Kinder von 4 7 Jahren, mehr nackt als mit Lumpen verhüllt und von der kalten Decemberluft und dem zahl - reichen Ungeziefer, ſelbſt im feſten Schlafe, ſtets in convulſiviſcher Bewegung erhalten. Als Neuling tief erſchüttert von dem nicht zu ſchildernden Anblicke fand ich andern Tags barmherzige Frauen ſogleich bereit, die ganze Familie vollſtändig und warm zu bekleiden. Zwei Tage ſpäter wurde die weiterge - wieſene Familie wieder eingebracht. Die treffliche Kleidung war verkauft und die erſtarrten Kinder trugen wieder die alten Lumpen als Handwerksgeräthe zum Fortkommen der ruchloſen Aeltern.So wenig wie ſich aber ein zutreffendes Bild des Pro -1)ſcher, 28 Falſchmünzer, 317 Verbreiter falſchen Geldes, 323 Betrüger unter falſchen Angaben, 343 Diebshehler, 2768 Gewohnheitsruheſtörer, 1235 Land - ſtreicher, 50 Bettelbriefſchreiber, 86 Bettelbriefträger, 6371 liederliche Stra - ßendirnen und 470 andere nicht klaſſificirte gefährliche Subjecte. Die Zahl der Kinder unter den Verbrechern aller Art, ſogar ſchon vom ſechsten Jahre an, iſt grauenerregend hoch. Seit etwa zehn Jahren hat England Rettungs - häuſer für fittlich verwahrloſte Kinder eingeführt und hat jetzt ſchon Platz für 15,000 Kinder. Der Werth der bei der londoner Polizei im Jahre 1853 ge - meldeten Diebſtähle beläuft ſich auf 53,000 Pf. St. Von den Verbrechern Englands find 11 Procent unter 17 Jahren, 25 Procent zwiſchen 17 und 20 Jahren alt.1*4letariers zeichnen läßt, ſo wenig läßt ſich eine Zeichnung des Gauners geben. Die Gaunerphyſiognomie iſt jedoch noch immer eine Bezeichnung im Munde des Volks. Betrachtet man die Holzſchnitte und Kupferſtiche in den alten Gaunerbüchern, ſo gibt man es ſofort auf, in dieſen fratzenhaften Zügen, die wie eine Darſtellung anatomiſcher Merkwürdigkeiten oder Misgeburten vor die Augen treten, ein anderes Porträt zu finden als das der kahlen ſittlichen Entrüſtung des Zeichners oder Kupferſtechers. 1)Selbſt die Holzſchnitte früherer Jahrhunderte ſind zum Theil viel beſſer als die ſpätern Kupferſtiche bis weit in das 18. Jahrhundert hinein. Man vergleiche z. B. nur den gehängten Juden in Münſter’s Kosmogra - phie bei der Beſchreibung der Stadt Baſel aus dem 16. Jahrhundert mit den ſcheußlich markirten Bildniſſen der rehburger Räuber und Spitzbuben aus dem 18. Jahrhundert. Eine rühmliche Ausnahme machen jedoch die treff - lichen berliner, dresdener und koburger Kupferſtiche ſchon zu Anfang des vorigen Jahrhunderts.Vergleicht man damit die meiſtens gut gerathenen Kupferſtiche zu Anfang dieſes Jahrhunderts, ſo findet man im Geſichte des Heſſel, Streitmatter und ſelbſt des kahlköpfigen Juden Schmaye Nathan keinen eigenthümlichen Typus. Daſſelbe iſt der Fall bei den Grolman’ſchen Porträts, bei denen meiſtens ſogar die idiote Schädelbildung vorherrſcht. Jm Geſicht des Oberlander iſt bei weitem mehr Zug der Leidenſchaft als originelle Typusbildung; Abraham Moſes zeichnet ſich mehr durch ſein negerartiges Profil, als durch irgendeinen andern Typus aus, und bei Konrad An - ſchuh iſt nur der ſchielende Blick abſtoßend. Jn der widerlichen Darſtellung der vier abgehauenen Räuberköpfe bei Pfiſter findet man den Räuberzug einzig und allein nur zwiſchen Bret und Hals, da wo dieſer vom Schwerte durchſchnitten iſt. Jn der Polizei - und Jnquirentenpraxis wird man völlig über die Phy - ſiognomik enttäuſcht, und wem es an Erfahrung fehlt, der mag in den vielen Photographien, welche die heutigen Polizeiblätter, und namentlich der dresdener Polizeianzeiger, in trefflichſter Weiſe bringen, die meiſtens gutmüthigen Geſichter mit den raffinirteſten Gaunereien vergleichen.

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Allerdings findet man unter den Gaunern entſchieden jüdiſche und zigeuneriſche Geſichtsbildungen. Dieſe ſind jedoch nur zufäl - lige nationale Typen und keineswegs dem Gaunerthum eigenthüm - lich. Der Gauner iſt und bleibt für den Ethnographen verloren. Seine Erſcheinung geht nicht über den gewöhnlichen Alltagsmen - ſchen hinaus, wie ihn die Natur geſchaffen hat, mag auch viel - leicht Krankheit, Leidenſchaft und Sünde ſeine Erſcheinung mis - geſtaltet haben. Daher kommt die Verwegenheit, mit welcher das Gaunerthum ſich alle Formen des ſocial-politiſchen Lebens anzu - eignen und in ihnen ſich zu bewegen verſucht, und die Schwie - rigkeit, den Gauner unter dieſen Formen zu entdecken. Nur eine ganz genaue Kenntniß der vielfachen und verſchiedenen Formen und feinen Nüancirungen jenes Lebens kann daher allein den Polizeimann in Stand ſetzen, den Gauner in den verſchiedenſten Erſcheinungen zu entlarven.

Eine Statiſtik des Gaunerthums nach Perſonenzahl, Anzahl der Verbrechen, Höhe des angerichteten Schadens u. ſ. w. läßt ſich bei dem ſchlüpfend beweglichen Wechſel des Gaunerthums nicht mit Sicherheit geben. Sie iſt aber ſo erſchreckend hoch, daß man ſich ſcheuen muß, auch nur in annähernder Weiſe Zahlen anzugeben. Nach ungefährer Berechnung ergibt ſich, daß ſeit den Hugenottenkriegen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, mit Ausſchluß der frei umherziehenden Zigeunerhorden, weit über eine Million profeſſionirter Gauner in Deutſchland exiſtirt und ihren weſentlichen Unterhalt von Raub und Diebſtahl gezogen hat. Dieſe enorme Summe frappirt nicht, wenn man die Zahl und Aufklärungen der zur Unterſuchung gezogenen Gauner in dieſem Zeitraume berückſichtigt und auf die ungeheuern Räuber - horden des Dreißigjährigen Kriegs ſieht, deren offene Verjüngung und Verzweigung zu weitern Räuberbanden von Generation zu Generation erſt vor noch nicht einmal 40 Jahren abgeſchnitten iſt. So überraſcht es auch nicht, wenn Schäffer im Jahre 1793 in dem kleinen Schwaben, dem zehnten Theile Deutſchlands, minde - ſtens 2726 profeſſionirte Gauner nachweiſt, Schwencken im Jahre 1820 noch 650 jüdiſche und 1189 chriſtliche Gauner ſignaliſirt,6 und Thiele nach einem in der That ſehr geringen Anſchlage die Zahl der in Deutſchland1)Zimmermann, a. a. O., S. 9, veranſchlagt die Zahl der eigentlichen profeſſionirten Diebe in Berlin, die ſich je immer auf freiem Fuße befinden und principiell die öffentliche Sicherheit in jedem Augenblick bedrohen, auf 600 1000 Köpfe, die jährlich 150,000 Thlr. ſtehlen. und den ſprachverwandten Nachbar - ländern lebenden Gauner auf 10,000 Jndividuen angibt, welche Zahl andere auf das Doppelte veranſchlagen. Der durch das Gaunerthum angerichtete materielle Schaden2)Schäffer veranſchlagte den jährlichen Schaden, den die Gauner in Schwaben anrichteten, auf 186,588 Gulden, Thiele den der Gauner in Deutſch - land auf anderthalb Millionen Thaler; beide Anſchläge ſind äußerſt gering. Vgl. Stuhlmüller, a. a. O., Vorrede, S. xxxv. läßt ſich gar nicht berechnen, ſeitdem die Gaunerkunſt es ſo weit gebracht hat, die Spuren ihrer Unternehmungen ſo weit zu verdecken, daß ein Dieb - ſtahl häufig zu ſpät, häufig aber gar nicht einmal bemerkt, ge - legentlich aber doch der Vermiß plötzlich ins Auge gefallen und einem Verſehen oder Verbrechen eines Dritten, ſogar des Dam - nificaten ſelbſt zugerechnet worden iſt. Auf dieſe Weiſe hat man - cher öffentlicher Kaſſenbeamter, um Namen und Amt zu retten, ſeine ganze Habe hergegeben, ja leider ſchon mancher Unglückliche in der Verzweiflung über ſeine vermeinte Nachläſſigkeit ſich entleibt. Es iſt unglaublich, wie ungeheuer viel z. B. in den Seiden - und Ausſchnittläden geſtohlen wird, und wie wenig die Kaufleute ſich überzeugen laſſen wollen, daß ſie von Gaunerinnen um das vor ihren Augen beſtohlen ſind, was ſie als verkauft oder höchſtens als Vermeſſung oder Verſpillung in den Büchern notiren. 3)Noch in neuerer Zeit iſt mir der Fall vorgekommen, daß in einem ſolchen großen Geſchäft eine weibliche Schottenfellerchawruſſe von drei Jndi - viduen den Vorrath von Wollmuſſelinſtücken eines beſtimmten Muſters ſo gänzlich aufgeräumt hatte, daß das Ladenperſonal das Muſter der vorgelegten Kleider durchaus nicht kannte und erſt nach wiederholtem Nachſchlagen im Probenbuche ſich überzeugte, daß der Stoff dieſes Muſters im Lager wirklich vorräthig geweſen war.

Auch in den geſellſchaftlichen Verhältniſſen des deut - ſchen Gaunerthums findet ſich nirgends eine nationale Eigen -7 thümlichkeit, obſchon der Aberglaube mit ganz entſchiedenem Ein - fluß dem deutſchen Gaunerthum eine ſehr eigenthümliche Rich - tung und Färbung gegeben hat, und in dieſem noch immer einen Hauptträger findet, wie ſpäter gezeigt werden ſoll. 1)So findet ſich, daß ſchon in den Zeiten des bitterſten Judenhaſſes und der ſchmählichſten Exceſſe des Pöbels gegen die Juden gerade der Aberglaube es war, der die chriſtlichen Gauner zur herablaſſenden Verbrüderung mit Juden führte, indem es von Alters her der noch bis in die neueſte Zeit herabreichende Gaunerglaube war, daß ein Kirchendiebſtahl nicht anders gelingen und unent - deckt bleiben könne, als wenn mindeſtens ein Jude ſich bei demſelben betheiligte.Selbſt die mit unvertilgbarer Zähigkeit feſtgehaltene, namentlich durch die polniſchen Juden, beſonders auch in den drei erſten Decennien dieſes Jahrhunderts, ſcharf repräſentirte, urſprünglich leibliche und geiſtige Eigenthümlichkeit der Juden macht ſich in den gauner - geſellſchaftlichen Verkehrsverhältniſſen weniger geltend, obſchon der jüdiſche Gauner mit viel mehr Ruhe, Ueberlegung und Conſequenz zu Werke geht, und überhaupt die Gaunerei ganz beſonders mit dem vollen Ernſt eines geſchäftlichen Betriebes ausübt, und, weit entfernt, das Geſtohlene ſo ſinnlos wie die chriſtlichen Gauner zu verſchleudern, lieber ſich der Gefahr aus - ſetzt, daſſelbe, ohne Vermittelung Dritter, ſelbſt zu verwerthen, um den möglichſten Gewinn ſeines Fleißes und ſeiner Anſtrengung ungetheilt zu erhalten. Auch werden einzelne Gaunermanöver, zu denen ſelten eine Chriſtenhand geſchickt genug iſt, wie z. B. das Linkwechſeln oder Chilfen, faſt ausſchließlich von Juden be - trieben. Die ſocialen Verhältniſſe der jüdiſchen und chriſtlichen Gauner ſind aber einander gleich, ohne daß die Genüge, welche erſtere den Formalitäten ihres Cultus leiſten, weſentlichen Ein - fluß auf dieſe Verhältniſſe ſelbſt ausübt. Die ſchon lange und mit vieler Mühe und großen Opfern unternommene Coloniſation und Cultivirung der Zigeuner hat zum mindeſten den Erfolg ge - habt, daß die Zigeuner nicht mehr als nationalgeſonderte eigen - thümliche Gruppe im deutſchen Gaunerthum erſcheinen, in welches ſie vielmehr ſoweit gänzlich aufgegangen ſind, als ſie ſich noch immer an Gaunereien betheiligen.

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Die geſellſchaftlichen Verhältniſſe des Gaunerthums bieten daher keinen beſondern ethnographiſchen Stoff dar. Das Gauner - leben bewegt ſich nur im tiefſten ſittlichen Elend des niedrigſten Volkslebens, aus deſſen Sphäre es mit ſeiner Kunſt in alle obern Schichten zu dringen verſucht; und hat nur das Eigenthümliche, daß es in dieſem ſittlichen Elend ſeine Vereinigung ſucht. Bei der Flut und Ebbe des zu - und abziehenden Geſindels lagert ſich der Schlamm der verworfenſten Entſittlichung in den Wohnungen und in den Gaunerherbergen (Cheſſen-Spieſen oder Kochemer - Pennen) ab. Das unſtete Leben und Umherſchweifen des Gau - ners gibt ihm volle Freiheit, ſeiner ungeheuer wuchernden Sinn - lichkeit im weiteſten Begriffe ungebändigt nachzugehen und ſomit die am heimatlichen Wohnort einigermaßen mögliche polizeiliche Controle zu eludiren. Selbſt der an die furchtbarſten Erſcheinun - gen des ſittlichen Elends täglich gewohnte Polizeimann ſchreckt zurück, wenn er die Höhlen des Laſters betritt, in denen die Weihe und der Stempel des Elends ertheilt und hingenommen wird. Aber doch bringt der Gauner Behagen mit in dieſen furcht - baren Aufenthalt, wenn er tief in der Nacht von ſeinen Aus - flügen zurückkehrt; ihn erwartet der behagliche Verſteck unter ſeinesgleichen und die Wolluſt auf der, wenn auch mit Unge - ziefer überſäeten Streu; und alles Ekle ſchüttelt er von ſich wie das Ungeziefer, wenn er den Fuß von dannen hebt, um weiter zu ſchweifen, ſein Glück zu verſuchen, zu praſſen und wieder in andern Höhlen bei ſeinesgleichen auszuruhen.

Die Genußſucht und Sinnlichkeit des Gauners ſowie ſeine Verſchwendung grenzt an Raſerei. Mancher Gauner hat zu verſchiedenen malen ſchon ein bedeutendes Vermögen erworben gehabt, von deſſen Renten er ein bequemes ruhiges Leben hätte führen können. Aber in kurzer Zeit wird der Reichthum ver - praßt. Der Gauner begreift ſein Spiel und deſſen Gefahr und Ausgang, und darum klammert er ſich mit krankhafter Luſt an das Leben an, das ihn hin - und herwirft und ihm eine amphi - biſche Natur verleiht, ſodaß es nur ihm allein möglich wird, im höchſten Genuß und im höchſten Elend zu leben. Der Zweck der9 Ehe iſt ihm fremd, obgleich er die geſchlechtliche Vereinigung ſucht, ſobald der frühgeweckte Naturtrieb dazu anreizt. Der Bei - ſpiele ſind unzählige. Des Sonnenwirthles Frau, Chriſtine Schat - tinger, gab ſich ſchon als zwölfjähriges Kind preis. 1)Aehnliche trübe Beiſpiele habe auch ich in meiner Polizeipraxis noch ganz neuerlich erlebt. Es ſcheint ſogar, als ob die Kindlichkeit in den ver - dorbenen niedern Schichten nur noch als künſtliche Erſcheinung benutzt wird, um hinter ihr das verworfene Laſter zu verſtecken. Wer ſucht in verkrüppel - ten oder unreifen Kindern die Erwerbsquellen kuppleriſcher Mütter!Der Gegenſtand der Wahl muß unverwüſtlich in der Wolluſt, unver - droſſen in Verrichtung der, den Weibern allein zur Laſt fallenden, häuslichen Arbeit, kräftig und ausdauernd zum Tragen von Ge - päck und Kindern auf der Reiſe, ſchlau zum Baldowern und geneigt und geſchickt zum Handeln, d. h. Stehlen, ſein. Gegen dieſe Vorzüge ſchwindet die ſtrenge Forderung körperlicher Schön - heit, obgleich ſie als angenehme Beigabe willkommen iſt. Ent - ſprechende Forderungen ſtellen die Dirnen und Weiber: der kräf - tige, beherzte, verſchlagene und renommirte Freier iſt der will - kommenſte. Nur äußerer Zwang führt zur Ehe, die aber keines - wegs ein Hinderniß iſt, anderweitige Verbindungen einzugehen. 2)Schäffer erwähnt des Gauners Sichler, der gerade zwölf Beiſchlä - ferinnen zugleich hatte; ſo auch einer gleichzeitigen, mit ſcheußlichem Spitznamen benannten Gaunerin, die zwei Ehemänner und eine Menge Beiſchläfer hatte. Die Beiſchläferinnen werden übrigens mit Schikſe, Schikſel, beſonders aber mit Pilegeſch, Pilegſche bezeichnet, vom hebräiſchen〈…〉〈…〉, Plural〈…〉〈…〉 Bei - ſchläferin und Beiſchläfer (worin das griechiſche ὁ und ἡ πάλλαξ und das lateiniſche Femin. pellex), das jedoch in der Gaunerſprache nur als Femin. gebraucht wird. Für den Beiſchläfer wie für den Ehemann wird der Ausdruck Kaffer (Cha - ver), auch wohl Bal, Jſch und Freier gebraucht. Meiſtens nennt die Gaunerin ihren Beiſchläfer Kröner, welcher Ausdruck des Liber vagatorum ſich bisjetzt noch erhalten hat für Ehemann, wie Krönerin, Ehefrau, wahr - ſcheinlich von〈…〉〈…〉, keren, Horn, Haupt, Machthaber, während Erlat, Er - latin des Liber Vagatorum, wahrſcheinlich der hebräiſche Ausdruck für Chri - ſten, Orel (〈…〉〈…〉), Fem. Orelte, außer Brauch gekommen iſt. Jm Jüdiſch - Deutſch iſt für Ehemann Baliſcho, für Ehefrau Jſche, Baile. Von Sug, das Ehepaar, iſt Sugo, Sugas, Sugos, Ehefrau und Benſog, Ehemann, Bethſog, Ehefrau. Vgl. Stern, Medr. Seph .. , S. 78. Vgl. das Weitere beim Schärfenſpielen und Eintippeln, Kap. 89 und 90.10Vielfach halten Verheirathete mit Ledigen zuſammen, auch lebt oft genug der Vater mit der Tochter1)Beiſpiele der Art finden ſich ſehr viele. So vertrat die Sibylle Schmidt die Stelle der Beiſchläferin ihres Vaters, des ſogenannten großen oder Her - zogs Keßler, obwol die Mutter, Madline, noch mit dem Vater zuſam - menlebte. Vgl. Sulzer Gaunerliſte von 1801 , S. 4, Nr. 7, und Gau - nerliſte von 1787 , S. 51, Nr. 235., ſeltener jedoch Bruder und Schweſter in blutſchänderiſchem Concubinate. Auch werden die Eheweiber häufig gegenſeitig nach dem Contracte der Männer vertauſcht, und oft wird ein Draufgeld gegeben. Schäffer erzählt Beiſpiele, daß ein Ehemann bei einem Weibertauſch einen Pudel und ein anderer fünf Gulden als Draufgeld erhielt. Ein förm - licher Tauſchcontract, der zwiſchen den Gaunern Maw und Wells unterzeichnet und unterſiegelt wurde, iſt bei Smith, Straßen - räuber u. ſ. w. , S. 395, abgedruckt; Maw gibt danach eine Dohle für Well’s Weib weg; beide bezeichnen die Tauſchobjecte als unnützen beſchwerlichen Hausrath und entſagen feierlich allen und jeden Einreden gegen den Tauſchcontract. Vielfach werden die Weiber ſelbſt von ihren Zuhältern oder Männern als Dappelſchikſen an wittſche Leute verkuppelt, wobei die Weiber ſich als geübte Diebinnen erweiſen. Noch häufiger kommt es vor, daß die Weiber in Verabredung mit ihren Beiſchläfern ſich in flagranti mit den herbeigelockten Männern ertappen laſſen und dabei mit den Beiſchläfern den Angelockten gewaltſam berauben, oder von ihnen eine Geldbuße für den beleidigten angeblichen Ehemann erpreſſen. Meiſtens herrſcht ungeſtörte Freundſchaft zwiſchen dem Mann und dem notoriſchen Zuhälter ſeiner Frau oder Concubine. Oft hat aber auch der heimliche Betrug die blutigſte Rache zur Folge, wovon die ſchon erwähnte grauſame Ermordung des Toni durch Hannikel ein ſchreckliches Beiſpiel iſt. Noch entſetzlicher iſt die in Rheiniſche Räuberbanden , I, 59, erzählte Rache des Johann Müller wider einen an der Untreue ſeiner Frau völlig unſchuldigen franzöſiſchen Fuhrknecht. Nicht ſelten kommt es vor, daß eine einzige Weibsperſon der ganzen männlichen Genoſſen - ſchaft Liebesdienſte erweiſt, ohne die Eintracht zu ſtören; und11 trotz dieſer nie verſagten Gelegenheit zur Befriedigung thieriſcher Luſt ſind die öffentlichen und Winkelbordels ebenſo beſuchte Ver - kehrsorte der Gauner wie die Kochemerpennen, obſchon auch in dieſen die Wolluſt mit ihrer ganzen Bereitwilligkeit zur Hand iſt. Die prieſterliche Copulation iſt bei den gauneriſchen Verbindungen Nebenſache1)Eine ebenſo oft veranſtaltete wie gottloſe Vergnügungsſcene in den Pennen iſt das Chaſſnemelochnen (Hochzeitmachen), wobei ein Gauner die Rolle des Geiſtlichen, ein anderer die des Kirchners u. ſ. w. übernimmt, und ein gauneriſches Paar förmlich copulirt wird. Die ganze ruchloſe Scene wird nur geſpielt, um eine Gelegenheit zu den verworfenſten und ſchamloſeſten Or - gien und zur Herbeiſchaffung der Ausſteuer und Hochzeitskoſten durch einen Maſſematten herbeizuführen. Ueber〈…〉〈…〉, schiddach, er hat verheirathet, ſiehe die Derivata, Kap. 90, in der vorletzten Note. und wird nicht eher nachgeſucht, als bis obrigkeit - licher Zwang oder ſonſtige äußere Vortheile ſie zur Nothwendig - keit machen. Die Ausſteuer, die Koſten des bevorſtehenden Ver - lobungs - oder Hochzeitsmahls geben Anlaß, vorher einen Maſſe - matten zur Beſtreitung des Aufwandes zu handeln. Wie wenig Frieden und wahres Glück eine ſolche Verbindung bringt, läßt ſich denken. Namentlich hat das nur zum gemeinen Magddienſte und zur bloßen Befriedigung thieriſcher Sinnlichkeit erniedrigte Weib alle Gemeinheiten, Verwünſchungen und Mishandlungen zu tragen, welche von der Roheit des Mannes auf ſie fallen, und dazu auch noch zu gewärtigen, daß jener ſie mit den Kindern im Stiche läßt, beſonders wenn die Zahl der letztern ſo groß geworden iſt, daß er ſie nicht ernähren kann, oder daß ſie ihn ſonſt in ſeinen Gaunereien hinderlich ſind, wobei denn oft rüh - rende Züge von Mutterliebe hervortreten. Bei aller Aufopferung der Mütter für die Kinder iſt an Erziehung und ſittliche Ausbil - dung nicht zu denken. Was den Aeltern ſelbſt fehlt, halten ſie auch für die Kinder entbehrlich. Dem Schulzwang entziehen ſich die Gauner durch ihr unſtetes Umherſchweifen. Was aber die Aeltern können und treiben, ſehen und lernen die Kinder bald, und in dieſer trüben Gemeinſamkeit wird die Erziehung ſo weit vollendet, bis die Knaben, oft ſchon im ſiebenten und achten Jahre,12 zum Baldowern und Torfdrucken reif ſind und in die Genoſſen - ſchaft der Männer eintreten, die Mädchen mit ihren noch kind - lichen, aber durch das Zuſammenliegen mit den Brüdern oder Er - wachſenen andern Geſchlechts und durch die fortgeſetzt vor den Augen ſtehenden ſchmuzigen Beiſpiele und Erlebniſſe früh geweckten Reizen ihr Glück verſuchen. 1)Von den zahlloſen Zügen weiblicher Roheit und Schamloſigkeit nur ein Beiſpiel, das bei Grolman, a. a. O., S. 409, erzählt wird: Von der Wetterauer Bande hatten die beiden Werner mit Ludwig Vielmetter und deſſen lediger Schweſter Anna Margaretha im März 1810 die Kirche zu Herren-Haag erbrochen, um die Kirchenglocke zu ſtehlen, welche jedoch nicht zu löſen war, weshalb ſich die Diebe mit dem Schwengel behalfen. Darauf wurde die Orgel zerſtört und deren Windladen zerſchnitten. Dabei wurde ein Pfarrermantel, zwei Leichentücher, der Klingbeutel und zwei Geſangbücher entwendet, jedes Glockenſeil abgeſchnitten und der Altar umgeworfen. Einer verrichtete von der Kanzel ſeine Nothdurft, während er mit umgehängtem Mantel den Prediger affectirte, und während die andern die Zoten und Läſter - reden anhörten und ſämmtlich den Koth in der Kirche ließen unter ihnen eine ledige Dirne mit ihrem Bruder! Welchem Polizeimann kommen aber nicht ähnliche Züge von Roheit vor, die man zu erzählen gerechtes Bedenken tragen muß!

Dieſe trübe Skizze dieſer einen Seite der geſellſchaftlichen Gaunerverhältniſſe zeigt vor allem das Weib und die Ehe mit ihrer Bedeutſamkeit und ihren Zwecken tief in den Staub getreten. Sie verliert nicht an innerer Wahrheit, wenn derjenige, der nicht hochmüthig negirt, wo das Unheil ſo ſichtlich aus dem Boden her - vorwuchert, in den meiſten Zügen dieſer Skizze auch das Elend unſerer unterſten Volksſchichten überhaupt gezeichnet findet, die, in Noth und Unwiſſenheit befangen, immer dicht neben dem Ver - brechen einhergehen.

Mit dem ganzen Geheimniß und mit der ganzen Kunſt ſeines Weſens verdeckt aber der Gauner ſein ſittliches Elend als un - mittelbare Folge und Verrath ſeiner Verbrechen, und dies Beſtreben bringt jene innige Verbindung hervor, die, des Namens der Freundſchaft und Verbrüderung unwerth, vom ſchmuzigſten Egois - mus geſchaffen, von Verfolgung und Tod bewacht, ſeit Jahr - hunderten, wie ein geheimnißvolles Räthſel, überall ſichtbar und13 doch unbegriffen, vernichtend und unvernichtet, mitten in das ſo - cial-politiſche Leben hineingeſchritten iſt, das geſunde Leben in - ficirt hat und deſſen beſten Kräfte fortwährend zur Erhaltung ſeiner verderblichen Exiſtenz abſorbirt. Jn der Verbindung, weit weniger in der Kunſt, beruht die ganze furchtbare Gewalt des Gaunerthums. Darum wird auch die Verbindung durch das Ge - heimniß geſchützt, und das Geheimniß den Geweihten durch alles, was Kunſt und Sprache dazu hergeben kann, offen und deutlich erhalten. Kein Opfer iſt zu groß, um das Geheimniß zu bewahren und den Verrath zu verhüten und zu beſtrafen. Sogar Gefäng - niſſe wurden geſtürmt, um gefangene Kameraden zu befreien und mit ihnen das Geheimniß zu retten. So befreite Picard einen Kameraden, der Geſtändniſſe zu machen angefangen hatte (einen Wittſchen Maſſer), aus dem Kerker, ging gleich darauf mit ihm auf einen Raub aus und ſchoß ihn unterwegs nieder. 1)Vgl. Rheiniſche Räuberbanden , II, 448, wo noch ein anderer Fall der Art erzählt wird vom ſchelen Jickjack, gleichfalls von der Merſener Bande, der vorher ein Grab grub und dann den Verräther zu einem Raube einlud, abholte, bei dem Grabe niederknien, beten, ſich zum Tode vorbereiten ließ, den Unglücklichen, alles Flehens um Gnade ungeachtet, niederſchoß und den Körper in das Grab verſcharrte.Entſetzlich war die Rache, welche Hann-Baſt Hartmann von der Wetterauer Bande mit ſeinen Genoſſen an ſeinem Kameraden Bröſchlers nahm, welcher bei einem Diebſtahl im März 1807 nur zwei Thaler untermackelt hatte. Der Unglückliche wurde mit einem Piſtolenhieb zu Boden geſtreckt, mit Meſſern in die Dick - beine und Waden geſtochen, aus dem Wirthshaus in den Hof geſchleift, dort auf einen Trog gelegt und ihm eine Sehne nach der andern ausgelöſt, bis der ſo ſchrecklich Gemishandelte nach zweiſtündiger entſetzlicher Qual ſtarb. 2)Vgl. Grolman, a. a. O., S. 245.Ein ähnlicher Unterſchleif war der Anlaß zur Todfeindſchaft zwiſchen Picard und Schin - derhannes, welcher letzterer daher die kaum geſchloſſene Ver - bindung mit jenem wiederaufhob und ſich mit ſeinen Genoſſen zurückzog. 3)Vgl. Rheiniſche Räuberbanden , II, 326.Vorgänge der Art ſind nicht antiquirt. Bei der14 großen, jetzt beendigten holſteiniſchen Unterſuchung iſt der Haupt - angeber nach Amerika befördert worden, um ſein Leben vor Ver - folgungen zu ſchützen, das aber ſelbſt in der Neuen Welt nicht hinlänglich vor blutiger Rache geſchützt ſein mag. Zum mindeſten wird der Sſlichener gezinkt, in die Wange geſchnitten, um ihn kenntlich zu machen, und jeden vom Verrathe abzuſchrecken. Auch habe ich in meinen Verhören die überraſchendſten Erfah - rungen gemacht über die enorme Gewalt, welche die bloße Er - ſcheinung, das bloße Athemholen eines Räubers, auf ſeinen zum Geſtändniß geneigten Genoſſen zu machen im Stande iſt.

Von dieſen furchtbaren Banden wird das Ganze zuſammen - gehalten, in welchem jeder einzelne ſich hin und her bewegt, wie ſein Jntereſſe, ſeine Neigung und Sinnlichkeit ihn treibt. Weit untergeordneter ſind die ſtets geſuchten und geförderten verwandt - ſchaftlichen Verhältniſſe, welche bunt und wirr durcheinander laufen. Man braucht nur den Stammbaum eines Gauners, wie den des Vielmetter bei Grolman, a. a. O., S. 226 fg., oder die inter - eſſanten verwandtſchaftlichen Beziehungen bei Pfeiffer und Eber - hard anzuſehen, um einen Begriff von dieſer ungeheuern Ver - wandtſchaft zu bekommen, durch welche faſt das ganze Gauner - thum unter ſich verbunden iſt. Bei der tiefen Entſittlichung ſind dieſe Bande jedoch nur locker und laſſen nach, ſo oft Jntereſſe oder Leidenſchaft ins Spiel tritt. Aeltern mishandeln ihre Kinder auf barbariſche Weiſe und werden von ihren Kindern häufig in gleicher Weiſe behandelt. Die Kinder ziehen davon und laſſen die Aeltern hülflos im Stiche, ſobald der Trieb zum Stehlen oder zur Sinnlichkeit erwacht. Die durch Trunkenheit geförderten und geſteigerten rohen Ausbrüche des Zorns, der Eiferſucht, der Rache führen zu den ſchmählichſten Exceſſen, wobei häufig Meſſer und Piſtole den Ausſchlag geben. Aber unmittelbar nach dem Ex - ceß tritt das alte vertraute Verhältniß ein, und Spuren und Folgen des Tumults werden ſorgfältig verdeckt und verhehlt, um dem Verrath des Ganzen vorzubeugen. Die ſorgfältige Pflege ſeiner verwundeten oder erkrankten Genoſſen, welche ſich der Gauner angelegen ſein läßt, iſt bei weitem weniger auf Liebe und15 Freundſchaft begründet, als auf der Furcht, daß der ſchwache und bewußtloſe Genoſſe zu irgendeinem Verrath Anlaß geben könnte. Der Todte wird mit Gleichgültigkeit, ja mit Furcht und Abſcheu verlaſſen, obſchon auch hier rührende Züge von Mutterliebe vor - liegen. Es gibt Beiſpiele, daß eine Mutter tagelang mit der Leiche ihres Kindes von Ort zu Ort zog, und ſich nicht eher von derſelben trennte, als bis ſie ihr mit Gewalt abgenommen wurde.

Soviel zur allgemeinen Skizzirung der geſellſchaftlichen Ver - hältniſſe der bunten, beweglichen, ſchlüpfenden Maſſe, die erſt recht begriffen werden können, wenn man zu dem bereits in hiſtoriſcher und literariſcher Hinſicht Gegebenen den Gauner in ſeinen ein - zelnen Unternehmungen thätig ſieht, und vor allem in das wun - derbare Geheimniß ſeiner charakteriſtiſchen Sprache und Verſtän - digungsweiſe eindringt.

Zweites Kapitel. 2) Pſychologiſche Wahrnehmungen.

So bunt und wirr das Gaunertreiben ſeit Jahrhunderten vor den Augen des geſchichtlichen Forſchers ſteht, ſo geheim und künſtlich das Weſen des Gaunerthums waltet, ſo deutlich erſieht man doch aus den geſchichtlichen, inquiſitoriſchen und ſprachlichen Offenbarungen, die im Laufe der Jahrhunderte kund geworden ſind, daß das in ſo vielen Atomen bewegliche Geſammtganze doch immer einen von dem allmählichen Fortſchreiten der ſocial-politi - ſchen Verhältniſſe abhängigen Gang genommen hat, in welchem ſich das Gaunerthum recht eigentlich zum Gewerbe conſtituirt hat, und den man als Conjunctur des Gaunerthums bezeichnen kann. So begann im frühen Mittelalter des Räuberthum mit der Wegelagerei auf die Waarenzüge des monopoliſtiſchen Han - dels, bis es, durch die Zeit des Fauſt - und Fehderechts hindurch, bei den unabläſſigen Kriegsbewegungen ſeine hauptſächlichſten Repräſentanten in den Landsknechten fand, während ſchon der16 feinere Betrug durch Simulation eines Gebrechens oder äußer - lichen Nothſtandes auf die chriſtliche Barmherzigkeit ſpeculirte oder, bei der dominirenden Gewalt der Hierarchie, durch den Vorſchub kirchlicher Pönitenz ſich den Weg in das Haus des Bürgers und Landmanns bahnte. So gibt es in der ſpätern Geſchichte unter den unzähligen Ereigniſſen keine politiſche Bewegung, keine Um - geſtaltung des ſocial-politiſchen Lebens, bei welchem nicht auch das Gaunerthum ſeine Conjunctur gefunden hätte. So ſind denn auch in neuerer Zeit, ſeitdem das Kapital immer weiter und mächtiger zu arbeiten angefangen hat, die Nachſchlüſſel - und Geld - diebſtähle, ſowie das Chilfen viel häufiger geworden, und auch in kürzerm periodiſchen Wechſel werden einzelne Jnduſtrien gleich - zeitig an verſchiedenen Orten cultivirt, als gäbe es eine beſtimmte Saiſon für dieſe oder jene Jnduſtrie. So waren z. B. die Zefir - gänger im Sommer 1856 vorherrſchend im Gange, und zwar gleichzeitig beſonders in Berlin, Dresden, Hamburg, Lübeck u. ſ. w. Bei dieſer beweglichen Conjunctur, in welcher man das Gauner - thum recht deutlich als Totalität hervortreten ſieht, werden aber auch beſtimmte allgemeine Charakterzüge des Gaunerthums ſicht - bar, die man weniger an den einzelnen Jndividuen als im pe - riodiſchen Fortleben des Ganzen beobachten, und die man als allgemeine pſychologiſche Momente bezeichnen kann. So charakteriſirt ſich das moderne Gaunerthum gegen das frühere auf - fällig durch den Mangel an wirklichem moraliſchen Muth. Zur Zeit des Fauſt - und Fehderechts machte der romantiſche Kampf gegen das bewaffnete Geleite der Waarenzüge die Wege - lagerei ſogar mit der Ritterehre verträglich, und die Parteigänge der Landsknechte und der Soldaten des Dreißigjährigen Kriegs1)Die vom Grafen von Merode dem Wallenſtein zugeführten Soldaten zeichneten ſich beſonders durch Diebereien und Gewaltthätigkeiten aus, und ſind daher dem Weſen und Namen nach die Stammväter der modernen Ma - rodeurs. wurden als kühne Abenteuer betrieben, bei den es immer auf Entſchloſſenheit und Tapferkeit ankam. Nachdem es aber der17 Landespolizei gelang, das offene Räuberthum zurückzudrängen, welches ſich darauf in das bürgerliche Leben flüchtete, ſeitdem treibt das Gaunerthum ſeine Kunſt wie ein friedliches bürgerliches Ge - werbe, bis die Gelegenheit es zur Vereinigung in groere und offene Gruppen wieder zuſammenruft. Seitdem das Gaunerthum den Glauben an die Kraft und Gewalt der Landespolizei ge - wonnen hat, ſeitdem wagt der Gauner nicht leicht mehr den offenen räuberiſchen Angriff. Heimlich, zur Nachtzeit, mit geſchwärzten Geſichtern, dicht vermummt, überfielen häufig ſelbſt die Wüthriche der Niederländiſchen Banden die ſchlafenden Bürger und wichen vor der muthigen Gegenwehr zurück. Der Gauner ſpionirt jetzt die Gelegenheit aus, wo er muthig ſein darf. Nur in Geſell - ſchaft ſeiner Genoſſen und im Verlaß auf ſie iſt er muthig gegen die Schwachheit bis zur brutalſten Grauſamkeit. Darum ſind ihm große erſchütternde Begebenheiten mit der begleitenden Aen - derung oder Lähmung der gewohnten Ordnung willkommen. Nirgends tritt das Gaunerthum ſichtbarer hervor als bei Kriegs - bewegungen, Auflaufen, Feuersbrünſten und ſonſtigen Unglücks - fällen. 1)Von jener Feigheit und elenden Ausbeutung des Unglücks enthält unter anderm auch das auf dem baſeler Staatsarchiv befindliche Rothe Buch von Baſel , vom Jahre 1357, interefſante Notizen über beſtrafte Diebereien bei dem großen Erdbeben am 18. October 1356. Dort heißt es unter anderm S. 1 u. 5: § Heintzman der ſvn von friburg, Hanneman Hefinger der Bermender, Meiſterli der kannengieſſer ſwuorent an dem Cinſtag nach dem Jnganden Jare fünf Jar ein mile von der ſtat, vmbe daz ſi den lüten ir Jſen in dem Ert - pidem abbrachen vnd daz verkouften. Und ferner: § Wisherli ſol ein Jar leiſten, das er vnd Hirte in dem Ertpidem dem ... Berner ſin laden vf brachen. Vgl. Baſel im 14. Jahrhundert , S. 226.Ja, die Brandfackel iſt ſogar ein furchtbares Mittel in der Hand des Gauners, um im Tumult des Unglücks die feige Gaunerkunſt zu üben. So ſchleicht der Gauner ſchwach und muthlos als Lieferant und Marketender hinter den Heeren einher, um in ihren gewaltigen Spuren ſeine Ernte zu halten; ſo läßt der Gauner ſich als Freiſchärler oder Soldat in Uniform kleiden,Avé-Lallemant, Gaunerthum. II. 218um unter dem Nimbus ſoldatiſcher Ehre, Zucht und Pflicht ſein feiges Gewerbe zu treiben.

Auf dieſen Mangel an moraliſchem Muth beruht we - ſentlich die Theorie des Baldowerns und die Eintheilung in jene flüchtigen Gruppen und ſinguläre Aufgebote der Chaw - ruſſen1)Chawruſſe, auch Chäwre, von〈…〉〈…〉 (Chawer), der Genoſſe, Kame - rad; Femininum〈…〉〈…〉 (Chaweress);〈…〉〈…〉 (Choweress), die Verbindung, Genoſſenſchaft, Diebsgeſellſchaft, Diebsverbindung., um einzelne beſtimmte Unternehmungen auszuführen und nach der Ausführung ſich wieder behende in die Maſſe zu - rückzuziehen. Die Chawruſſen ſind ſtets ſo groß, daß den Chäwern Muth und Gelingen geſichert iſt, und ſtets ſo klein, daß ſie nicht als größere Maſſe in die Augen fallen und nicht eine zu gering - fügige Dividende der Diebsbeute für den Einzelnen bedingen, ob - wol die letztere Rückſicht die untergeordnetere iſt. Jene Wahr - nehmung iſt auch für das ſogenannte Brennen wichtig. Obwol das Sſlichnen (der Genoſſenverrath), wie ſchon gezeigt iſt, furcht - bar geſtraft wird, ſo hat doch weſentlich die Furcht vor Verrath das Branntweinsgeld zu einer Art Ehrenſache und das Brennen zu einem zunftmäßigen Grußgeben gemacht. Deshalb zahlt der glückliche Cheſſen dem fremden Kochemer, der ihn, ſein Unter - nehmen und deſſen Erfolg meiſtens ſchon eher kennen gelernt hat, als der Diebſtahl ruchbar wird, ohne Anſtand dieſe läſtige und häufig beträchtliche Steuer ſeiner gauneriſchen Thätigkeit, nament - lich wenn die Brenner Vigilanten ſind, denen jener nicht ganz trauen kann.

Charakteriſtiſch iſt noch für das heutige Gaunerthum, daß die Meuchelmorde und Raubmorde, mit denen früher bei Unter - nehmungen größerer Räuberbanden gewöhnlich ſogleich, ohne die Gegenwehr abzuwarten, der Anfang gemacht wurde, mindeſtens in Norddeutſchland ſelten oder gar nicht mehr vorfallen2)Eines einzigen Falls neuerer Zeit erinnere ich mich, daß ein von einer Chawruſſe unternommener Diebſtahl und Einbruch mit einem Morde begann, der jedoch wol mehr durch Zufall als durch Vorſatz und Verab - redung herbeigeführt wurde. Die ſpäter am 12. April 1844 zu Stockelsdorf, ſo19 gering auch nach der heutigen Gaunerpolitik die Perſonenzahl einer Chawruſſe, und je leichter eine Gegenwehr zu erwarten iſt. Zwar haben die Gauner ſtets Meſſer (Kaut), Piſtole (Glaſeime), Stricke (Chewel), Brecheiſen (Schabber) und ſtarke Knittel (Jad - drong) zur Hand. Dieſe Sachen werden jedoch höchſtens nur zum Schrecken 1)Bezeichnend dafür iſt der gauneriſche Ausdruck für Piſtole: Glaſeime, Klaſeime, Kleſeime, von〈…〉〈…〉 (kle), Geſchirr, Geräth, und〈…〉〈…〉 (emo, eimo), Furcht, Schreck, alſo Geräth zur Furcht, Schreckgeräth. Entſpre - chende Ausdrücke ſind: Knaller, Puffer für Piſtole, Terzerol., auf der Flucht und als Defenſivmittel gebraucht. Nie habe ich bei bewaffneten Gaunern gute Piſtolen, faſt immer nur kümmerliche Terzerole, wenn auch doppelläufige, und nie beim Herausziehen der Ladung etwas anderes als höchſtens Enten - oder Haſenſchrot, kein einziges mal aber eine Kugel gefunden. Die Meſſer, welche mir vorgekommen ſind, waren meiſtens ge - wöhnliche Einſchlagemeſſer, und gerade bei den verſuchteſten und verwegenſten Schränkern habe ich ganz elend ſchlechte abgenutzte Taſchenmeſſer neben den Terzerolen, Nachſchlüſſeln und Uhrfeder - ſägen getroffen. Man kann nicht von einer humanern Geſinnung des Gaunerthums ſprechen, wenn die in die Enge oder zur Flucht getriebenen Gauner alles verzweifelt niederſchlagen, was ſie auf - hält, und wenn ſie gerüſtet und gefaßt ſind, durch Brandſtiftung die Spuren eines ſchweren Verbrechens zu verwiſchen. Eine Un - zahl neuerer Beiſpiele beweiſt, daß die Gauner bei dem leiſeſten Geräuſch die Flucht ergreifen und alles im Stiche laſſen. Jhr ganzer Muth liegt weſentlich nur im Verlaß auf die Genoſſen - ſchaft, auf die feine Kunſt und auf die genau erſpähte Gelegen -2)unweit Lübeck hingerichteten Mörder waren durch den Hauswirth, in deſſen Behauſung ſie eingebrochen waren, überraſcht worden, und ſchlugen ihn meuch - lings nieder, als er am Feuerherde ſtand, um an den Kohlen Licht anzuzünden, ohne der Einbrecher gewahr worden zu ſein. Freilich zeigt aber das öſterreichiſche Polizeicentralblatt leider noch eine Menge brutaler Raub - morde an, die jedoch meiſtens in Ungarn, Kroatien und Siebenbürgen verübt werden.2*20heit. Wo alles dies nicht genügt, weicht der Gauner zurück. Wichtig iſt dieſe Wahrnehmung für das Verhör, in welchem dem Jnquirenten, der keine Schwäche und Leidenſchaft dem verſchla - genen Gauner gegenüber zeigt, durch Beachtung dieſes charakteri - ſtiſchen Gaunerzuges außerordentliche Vortheile in die Hand ge - geben werden, wie weiter gezeigt werden ſoll.

Ein anderer mit vorſtehendem zuſammenhängender charakteri - ſtiſcher Grundzug des Gaunerthums iſt der Aberglaube. Es iſt auffallend, daß der Gauner auf den Aberglauben anderer ſpe - culirt, ihn alſo objectiv aufzufaſſen weiß, und ſubjectiv doch ſelbſt tief befangen iſt im Aberglauben. 1)Eins der merkwürdigſten Beiſpiele iſt Franz Joſeph Streitmatter, deſſen Leben und Tod nur eine Kette von abergläubiſchen Anſichten und Thaten war. Vgl. Rebmann, Damian Heſſel .Dieſe Wahrnehmung ver - deutlicht ſich aus der Geſchichte des deutſchen Aberglaubens, der tief in die ganze deutſche Sitten - und Culturgeſchichte einſchneidet und deſſen Geſchichte einen weſentlichen und wichtigen Abſchnitt der deutſchen Polizeigeſchichte überhaupt bildet.

Der perſönliche Teufel namentlich ſpielt, wie in der ganzen Anſchauung des Volks, ſo auch ganz beſonders im Gaunerthum eine ſehr wichtige Rolle. Alles was in der myſtiſchen Betrach - tung des Anachoreten - und Mönchsthums Jrrthum, alles was ſeit dem erſten Auftreten der arabiſchen Aſtrologen in Spanien, bei der Unbekanntſchaft mit den Naturgeſetzen, Selbſttäuſchung, und in den Formen dunkler Dogmen und der Scheinwiſſenſchaften der Aſtrologie, Mantik, Nativitätſtellung, Alchymie, Nekromantie, Chiromantie, Metopoſkopie u. ſ. w. zum Vorſchein gebracht war, blieb dem Volke noch unklarer, als den Anhängern und Jüngern jener Dogmen und Scheinwiſſenſchaften ſelbſt. Daran wucherte die Dämonologie ſo raſch und prägnant zur poſitiven Wiſſen - ſchaft und ſtatuirten Wahrheit herauf, daß auf dieſer unfehlbaren Baſis im Hexenhammer ein Corpus juris der Dämonologie ge - ſchrieben werden konnte, wie ein ähnliches Werk von menſchlicher Verirrung kaum weiter geſchaffen werden kann. Der perſönliche21 Teufel war nunmehr nicht nur dogmatiſch, ſondern auch juriſtiſch ſtatuirt, und was jene Dogmen und Scheinwiſſenſchaften zum Vorſchein gebracht und verbreitet hatten, wurde nun von ihnen ſelbſt fürchterlich gerichtet. Jede auffällige Erſcheinung, jede be - ſondere Fertigkeit, jedes unverſtändliche Wort hatte den Schein und Verdacht des Teufelsbündniſſes, und war auch der Teufels - juſtiz verfallen. Die Chiromanten, Alchymiſten u. ſ. w. glaubten an den Teufel und betrogen mit ihm. Kein Wunder, wenn die Bauchredner und Wettermacher des 15. u. 16. Jahrhunderts des Teufels waren, kein Wunder, daß man den Betrug vor dem Aberglauben unbeachtet ließ, und kurz und bündig jeden Verdäch - tigen auf der Tortur zwang, ſich zum Teufelsverbündeten zu be - kennen. Es iſt bemerkenswerth, daß der raffinirteſte und ſchlaueſte Exeget und Protector des Hexenhammers, del Rio, die Zigeuner, welche noch zu ſeiner Zeit als die weſentlichſten Repräſentanten des Gaunerthums galten, gerade in der Quäſtion von der Chiro - mantie abhandelt, nicht zu gedenken der zahlloſen Zauber -, Teufels - und Geſpenſtergeſchichten des 17. u. 18. Jahrhunderts, in denen meiſtens ſchon die Gauckelei offen zu Tage gelegt wird. 1)Eine Menge Beiſpiele gibt Horſt, Zauberbibliothek , beſonders III, 233 fg., und IV, 245 fg. Vgl. in der Literatur Schauplatz der Be - trieger , Wunderſeltzame Hiſtorien u. ſ. w. Ganz beſonders merkwürdig iſt noch das 1587 zu Frankfurt bei Peter Schmid erſchienene Theatrum dia - boli , das auf 1366 Folioſeiten den Teufel in allen Formen und Beziehungen abhandelt, und den herrſchenden ſittlichen Verfall, die Gebrechen und die Verbrechen der Zeit als Teufelswerk und mit einer Teufelsterminologie be - zeichnet, die ſogar bis zum Hoſenteufel hinabgeht.Kein Räuber im Dreißigjährigen Kriege war ohne Bündniß mit dem Teufel. 2)Bemerkenswerth iſt, daß in der heutigen Volksſprache der Ausdruck: verteufelter Kerl oder Teufelskerl nicht ſo ſehr die moraliſche Schlech - tigkeit als die Verwegenheit, Unternehmungsluſt und Geſchicklichkeit bezeichnet. Eckoldt, der Genoſſe Lips Tullian’s, hatte, als er am 7. Juni 1714 verhört werden ſollte, ſechs Kugeln in ſeiner Hutkrämpe, die vom Amts - phyfikus gar genau unterſucht wurden. Es heißt weiter in den gedruckten Acten, II. 158: Vermuthlich ſolten dieſe Kugeln des Teufels Hülffs-Mittel in der Tortur und vor die Schmertzen derſelben ſein. Noch vor hundert Jahren führte der Hundsſattler22 gegen ſeine Richter in Baireuth an, daß er gerade an dem Tage ſeiner Jnhaftirung das neunte ſchwangere Weib habe ermorden wollen, wie er das ſchon bei acht Weibern gethan habe, um ihnen die Frucht aus dem Leibe zu reißen und das Herz derſelben roh zu verzehren, damit er fliegen könne wie ein Vogel. 1)Vgl. in der Literatur Sammlung merkwürdiger Rechtsfälle , S. 235. Die Scheußlichkeit wird ſchon früh erwähnt, z. B. L. Sal. III, 67; Georgiſch, Corpus Juris Germ., S. 127, und Rotharis leg. 379. Noch andere Bei - ſpiele führt Jakob Grimm an ( Deutſche Mythologie , S. 611), der aber irrt, wenn er ſagt, daß das Herz aus dem Leib freſſen in unſern Hexenſagen ſchon zurücktritt. Ueber das Opfern, das Blut und das Einmauern von Kindern vgl. Grimm, a. a. O., S. 665.Noch vor funfzig Jahren trieb der ſchöne Karl allen ſeinen Beiſchläferinnen die Frucht ab, um aus dem Fette derſelben die ſogenannten Schlaf - lichter zu machen, bei deren Scheine die Beſtohlenen vom Schlummer befallen bleiben. 2)Falkenberg, welcher in der Horſt’ſchen Unterſuchung weſentlich thätig war, erzählt I, 31, daß Horſt’s Concubine, Luiſe Delitz, frühere Beiſchläferin des ſchönen Karl, verdächtig war, ſogar ſelbſt ihr eigenes Kind zu dem Zwecke geſchlachtet zu haben. Nach Schäffer’s Jaunerbeſchreibung (Sulz am Neckar 1801), S. 85, trieb der Laubheimer Toni ſeiner Concubine mit ſtarken Sachen das Kind ab, ſchnitt dem Kind den Bauch auf, fraß das Herz und ſchnitt beide Hände ab. Vor dem Einbruch hätten ſie dann allemahl die zehn Fingerlein hiervon angezündet, ſoviel nun davon gebrannt, ſoviel Leute haben auch in dem Haus, in welchem der Einbruch geſchehen ſollen, ſchlafen müſſen; wenn hingegen ein Fingerlen nicht gebrannt, ſo ſeye eine Perſon weiter in dem Haus gelegen, davon ſie nichts gewußt, und die hernach auch nicht ge - ſchlafen .Noch immer, wie zu Zeiten der Rheiniſchen Räuberbanden, muß ein dem Teufel verfallener Jude bei einem Kirchendiebſtahl zugegen ſein, damit der Dieb - ſtahl unentdeckt bleibe, und noch im vorigen Jahre hielt ich Leichen - ſchau ab über eine zweiundſechzigjährige Weibsperſon, die früher Bordelldirne, dann Kartenſchlägerin geweſen, und mit einem ge - ſchriebenen Zauberſegen auf der Bruſt und mit einer in einem Beutel um den Leib gebundenen lebendigen Katze ins Waſſer geſprungen war, um, nach dem Zauberſegen zu ſchließen, das alte Leben in neuer Sphäre, wo möglich noch wucherlicherer, wieder23 beginnen zu können. Andere ganz ähnliche Beiſpiele in meiner Praxis haben mich belehrt, daß dieſer Aberglaube aber auch in ſociale Schichten dringt, wo man ihn nimmermehr vermuthen ſollte. Was ſoll man ſagen, wenn noch in dieſem Jahrhunderte geſchehen konnte, was Rebmann ( Damian Heſſel , S. 46) mit Verſchweigung des Landes und Richters erzählt, daß nämlich der Räuber Weiler, nachdem er auf unerwartete und kühne Weiſe aus dem Gefängniß gebrochen war und ſich dazu ſeiner Feſſeln auf unbegreifliche Weiſe entledigt hatte, bei ſeiner Wiederverhaftung mit neuen Feſſeln, die ein herbeigeholter Kapuziner beſprochen hatte, gefeſſelt, und in jedem Verhör auf einen Teppich geſetzt wurde, damit er als Hexenmeiſter die Erde nicht berühre! Bei ſolchem Befunde iſt denn nun auch nicht zu verwundern, daß manche nähere Forſchung unterblieben iſt, die gewiß merkwürdige Reſultate ergeben hätte. So findet ſich z. B. nirgends eine Spur, daß Schinderhannes jemals nach der Bedeutung der myſtiſchen Kreuze und der wunderlichen Verſe in ſeinen Briefen, die offen - bar eine dämonologiſche Beziehung gehabt haben, befragt worden wäre. Auffallend erſcheint beſonders die myſtiſche Nachſchrift unter ſeinem an den Pächter Heinrich Zürcher, auf dem Hofe Neudorf bei Bettweiler, geſchriebenen Drohbrief, welche dicht unter ſeinem Namen ſich befindet:

Herr menſ Geiſt be,
Herr mein Geiſt be,
Wer nur den lieben Gott,
Wer nur den lieben Gott,
W. W. W. W.
Wer nur den lieben,
Wer nur den lieben,
Wer nur den lieben,
Johaß Reiſt heer beer.
1)Vgl. Actenmäßige Geſchichte der Rheiniſchen Räuberbanden , II, 116.
1)

Man darf ſich endlich vom Ekel nicht abhalten laſſen, auf die wichtige Rolle zu ſehen, welche die mumia spiritualis in24 der Geſchichte des Aberglaubens und des Gaunerthums ſpielt. Jn allen alten Zauber - und Gaunerbüchern figurirt dies Mittel, den Teufel zu bändigen und abzufertigen, der in ſeinem ohnmäch - tigen Grimm, namentlich wenn er davon fahren muß, auch ſeiner - ſeits damit zu imponiren ſucht. Dieſes Mittel wurde ſchon im früheſten Mittelalter gebraucht, und dies erklärt auch den derben Ausdruck für täuſchen oder betrügen, deſſen auch Luther häufig und namentlich am Schluß ſeiner Vorrede zum Liber Vagatorum ſich bedient, und der noch heute im ſüdlichen Deutſchland volks - gebräuchlich iſt. 1)Eine ähnliche Analogie findet bei dem Ausdruck beſefeln ſtatt. Jm Zuſammenhang damit ſteht auch das hebräiſche〈…〉〈…〉 (schess), das Geſäß (Schos); ſ. das Wörterbuch.Sogar wurde die ekle Materie mit dem ganzen Ernſt und Ton der Wiſſenſchaft von Aerzten abgehandelt2)z. B. in Dr. J. Chriſtiani Francisci Paullini Heylſame Dreckapo - theck (1687 und in mehreren ſpätern Auflagen), worin vom Verfaſſer mit rohem und beſchränktem Wiſſen die mumia spiritualis als das rechte Ge - heimniß, alle Zauberſchäden zu heylen u. ſ. w. abgehandelt wird. Auffallend iſt das S. 263 von Luther und S. 263 von Dr. Bugenhagen (Pommeranus) angeführte Beiſpiel, ſowie S. 258 die Cur eines von Liebe gegen eine feile Perſon entbrannten Cavaliers. Von der weiten Verbreitung dieſer abergläu - biſchen Doctrin gibt noch einen überraſchenden Beleg die Sammlung medi - ziniſcher Recepte einer hohen Frau, der Herzogin von Troppau, Eleonore Marie Roſalie, Freywillig Auffgeſprungener Granat-Apffel des Chriſtlichen Samaritans (Wien 1715, u. in mehreren Auflagen erſchienen). Das Werk, in welchem alle Thiergattungen zur Pharmakopöe herbeigezogen werden, endet ſogar mit einem Kochbuch, welches 531 Küchenrecepte enthält. Noch merk - würdiger ſind die auf dem papierdurchſchoſſenen Exemplar, welches ich beſitze, offenbar von ärztlicher Hand herrührenden, handſchriftlichen Zuſätze, Recepte und Bemerkungen, die ſogar über das Jahr 1768 hinausreichen., und hat noch lange, bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts, An - hänger unter den Aerzten gefunden. Auch noch heutigen Tags hat der Koth bei dem gemeinen Volke eine nicht geringe Aucto - rität als Hausmittel.

Dieſe mumia spiritualis ſpielt aber noch heutigen Tags, mindeſtens im nördlichen Deutſchland, dieſelbe weſentliche Rolle im Aberglauben der Gauner, wie man ſie in ältern Acten vielfach angedeutet findet. Bei Einbrüchen, beſonders auf dem Lande, die25 von profeſſionirten Dieben verübt ſind, trifft man faſt immer in der Nähe der Einbruchſtelle auf friſche menſchliche Excremente. Die Gauner haben den Glauben, daß die Schläfer im an - gegriffenen Hauſe nicht erwachen, und daß der Einbruch überhaupt nicht bemerkt und geſtört wird, ſo lange die Excremente noch die animaliſche Wärme haben. Die Wahrnehmung iſt in neueſter Zeit wieder häufig gemacht worden. 1)Sie ſcheint vernachläſſigt worden zu ſein, obgleich auch ſchon Falken - berg, a. a. O., I, 30, hierauf aufmerkſam gemacht hat, mit der Bemerkung, daß die Gauner auch noch einen Topf oder Hut anwendeten zur Bedeckung und Warmhaltung der Excremente.Die oben in der Note erwähnten, im Jahre 1844 hingerichteten ſtockelsdorfer Raub - mörder hatten dieſelbe Vorbereitung gemacht. Jn meiner bewegten Praxis weiß ich nur ſehr wenig Fälle auf dem Lande, wo ich nicht bei der Localinſpection dieſelbe Wahrnehmung hätte machen müſſen.

Endlich muß, der weiten Verbreitung wegen, noch erwähnt werden, daß der ſcheußliche Aberglaube, durch Beiſchlaf und Be - rührung jungfräulicher Perſonen, namentlich noch unreifer Mäd - chen, von der Syphilis befreit zu werden, ebenſo tief im Gauner - thum wie im gemeinen Volk haftet, und daß in der Geſchichte des Gaunerthums bis zu dieſer Stunde die Fälle von ſchänd - lichen, oft tödlich verlaufenden brutalen Mishandlungen leider nicht die ſeltenſten ſind.

Ueber andere Formen des Aberglaubens vergleiche man Grimm’s Deutſche Mythologie , S. 639 fg., 689, und im Anhange S. xxix clxii, wo ſich des Jntereſſanten viel findet. Specielleres wird bei der Wahrſagerei, Kap. 69 u. fg., ab - gehandelt werden.

Der Beſitz ſo vieler Hülfsmittel, Fertigkeiten, Geheimniſſe und die vielen glücklichen Erfolge und Erfahrungen bringen im Gauner ferner eine ſehr ſtarke Eitelkeit und Prahlſucht hervor, mit der er ſchon überhaupt geringſchätzig auf den Nichtgauner, den Hautz, Kaffer, Wittſchen, Wittſtock u. ſ. w. herabſieht. Wie26 ſchon in mehreren Beiſpielen erzählt iſt, geht auch die Prahlerei der einzelnen Gruppen gegeneinander, und die Renommiſterei der einzelnen Gruppenmitglieder unter ſich in das Unglaubliche, und hat zum Theil zu verwegenen Wettkämpfen, aber auch zu den grauſamſten und blutigſten Händeln der Gauner untereinander Anlaß gegeben. Einer ſucht es dem andern zuvor zu thun, um als größerer Meiſter zu erſcheinen. Der Unentſchloſſene, Zaghafte wird als Hauhns verhöhnt und ſelbſt gemishandelt, ja, wie frühere Fälle beweiſen, als unbrauchbar und gefährlich beiſeite geſchafft. So ſind lediglich aus Prahlerei eine Menge ſchmählicher Mordthaten verübt worden, die keineswegs zu den beabſichtigten Räubereien oder Diebſtählen verabredet, nöthig oder dienlich waren. So erhielt Matthias Weber den Spitznamen Fetzer, weil er bei allen Räubereien wie ein Wüthrich bramarbaſirte, und alles zerfetzen wollte. Selbſt im Gefängniß, im Verhör, wie ja Thiele frappante Fälle genug anführt, verläßt den Gauner die Eitelkeit und Prahlerei nicht. Die Schwäche iſt ſo groß, daß der Gauner dadurch dem beſonnenen Jnquirenten eine wichtige Waffe gegen ſich in die Hand gibt, obſchon es auch hierbei der größten Vor - ſicht bedarf, da mancher Gauner ſogar ſo weit von der Eitelkeit ſich hinreißen läßt, daß er ſich Thaten berühmt, an denen er ent - weder nur geringen oder vielleicht gar keinen Antheil gehabt hat, ſobald nur die That pikant und mit ſchlauer Gaunerkunſt aus - geführt war. 1)Auch darin iſt große Vorſicht anzuwenden, daß man über das Ge - ſtändniß einer ſolchen That die Erforſchung anderer Gaunereien, die der geübte Gauner durch jenes renommiſtiſche Geſtändniß zu verdecken ſucht, nicht hintenan ſetzt.

Mit dieſer Eitelkeit und Prahlſucht iſt der Hang zur wider - ſinnigſten Verſchwendung verbunden, die wieder theils aus der brutalen Genußſucht und Lebensluſt des rohen Gauners, theils aber aus der Eigenthümlichkeit ſeiner Erwerbsweiſe ſich erklärt. Wenn der Gauner nicht einmal den vom Rechte geſchützten Beſitz anderer achtet, wieviel weniger hat er Achtung vor dem Beſitz27 überhaupt und vor dem eigenen Beſitz, den er nur mit dem Wag - niß des raſchen Unternehmens, ohne langwierige ſaure Arbeit er - wirbt. Er genießt nicht den Beſitz, ſondern er bewältigt ihn wie ein Hinderniß an ſeiner weitern gauneriſchen Thätigkeit, und trägt dabei ſeiner rohen Sinnlichkeit volle Rechnung. Dieſer Zug und die bewußte Nothwendigkeit, des verrätheriſchen Diebſtahlsobjects ſo raſch als möglich entledigt zu ſein, beſtimmt den Gauner, das geſtohlene Gut ohne langen Handel an die Schärfenſpieler, die als ſichere Vertraute ſeinem Schritt und Tritt folgen, häufig für ein Spottgeld zu verkaufen, wenn er es nicht in äußerſt mannichfacher geſchickter Weiſe kawure gelegt hat, wo dann die Noth des Augen - blicks nicht drängt und Zeit zu einem vortheilhaftern Handel ge - wonnen wird. Das fataliſtiſche Sprichwort: Unrecht Gut ge - deiht nicht gut hat ſomit bei dem Gauner auch eine innere Noth - wendigkeit. Am Ausgeben erkennt man überhaupt, wie der Menſch den Erwerb verſteht. Der ſolide reiche Mann bringt der Sphäre, in welcher er lebt, genau ſoviel an pecuniären Opfern, wie ihm die wohlbegriffene Nothwendigkeit vorſchreibt, um ſich auf dieſer Sphäre zu halten. Dies Maß iſt ihm natürlich und indivi - duell, und verleiht ihm daher die natürliche volle Würde des reichen Mannes. Der als vornehmer Herr reiſende Gauner macht aber umgekehrt glänzende Ausgaben, um damit die Würde zu gewinnen. Er verſteht das Ausgeben nicht, weil er nicht mit jener Natür - lichkeit und jenem Takt ausgibt, mag er ſonſt noch ſo ſehr die Formen der höhern ſocialen Sphäre ſich angeeignet haben. Eine einzige ungeſchickte Ausgabe verräth den Gauner an den Polizei - mann, der jenes Maß kennt und zu beobachten und zu würdigen weiß. Bei jener Haſt des Erwerbs, des Beſitzes und Verthuns beſtimmt des Gauners rohe Sinnlichkeit ihn, alles zuſammen zu raffen, um in Maſſe zu genießen, was ihn durch den Mangel an Maß, Wahl und Wechſel mehr betäubt als erfreut. Daher die brutalen Orgien und die ſchändlichen Laſter in den Cheſſen - pennen, in die der Blick des Polizeimanns nur ſelten fallen kann, da dieſe Cheſſenpennen, deren Jnhaber vertraute Freunde und Genoſſen der Gauner ſind, unter dem Schein ſchlichter ehrbarer28 Bürgerlichkeit leben und beſtändig deren vollſten Schutz auf die empfindlichſte Weiſe in Anſpruch nehmen, zu verſteckt und ſelbſt bei der ſorgfältigſten Vigilanz ſehr ſchwer zu entdecken ſind. 1)Gerade in unbedeutenden Städtchen und Flecken, denen man kaum irgenderheblichen Verkehr zumeſſen ſollte, ſind verhältnißmäßig mehr Gauner - herbergen zu finden, als in größern Städten. Die Wirthe haben und halten den guten Schein ſo für ſich, daß ſelbſt bei dem beſtimmteſten Nachweis von außen her die Behörde dieſer kleinen Ortſchaften anfangs keinen rechten Glauben haben, bis denn eine energiſche Nachforſchung die Enttäuſchung her - beiführt. Ebenſo ſind es nicht immer einzeln gelegene Hirtenhäuſer, ſondern häufig mitten in Dörfern gelegene Behauſungen, wohin ſich der gauneriſche Verkehr auf dem Lande zieht.Daher die freche Völlerei ſogar bei den Diebſtählen ſelbſt, bei denen ſie in den Häuſern der Beſtohlenen die gefundenen Lebens - mittel und Getränke ohne Wahl durcheinander mit brutaler Gierig - keit verſchlingen und ſich der Gefahr ausſetzen, in ſinnloſer Trun - kenheit, wie davon ſchon Beiſpiele angeführt ſind, entdeckt und verhaftet zu werden. Daher die volle Rechnung, welche des Gauners rohe Wolluſt in den Bordells findet. Jn dieſen Orten, wo die Schande der Brutalität dient, iſt die einzige Legitimation und Wahl das Geld. Auch der ſchmuzige oder häßliche Gaſt iſt der mit Plunder und Schminke überzogenen Luſtdirne will - kommen, ſobald er ſein Geld zeigt, um die handwerksmäßig ge - botene Schande für den Genuß zu kaufen. Gerade in dieſen Bordells ſchwelgt der Gauner am liebſten und am meiſten, ſelbſt bis zur Erſchöpfung und bis zum Ruin ſeiner phyſiſchen Exiſtenz, weil er hier am ſicherſten ſchwelgen kann. Wenn auch nicht die Scham, ſo ſchreibt die gebotene Ordnung doch die Heimlichkeit des Genuſſes vor, und ſomit ſchläft der Gauner in den Armen der Luſtdirne mit behaglicher Sicherheit, während die für die Mel - dung jedes einzelnen Fremden ſtrenge verantwortlichen Gaſtwirthe keinen Gaſt, ohne Legitimation und Meldung bei der Polizei, aufnehmen dürfen. Dieſe Sicherheit der Bordells bietet den Gaunern ein verläſſiges Aſyl, und wenn auch ſchon ganz beſon - ders die Geſchichte der Rheiniſchen Räuberbanden zum Ueberfluß29 die Bordells als Hauptherde des Gaunerthums nachweiſt, ſo hat die, wenn auch in der Sanitätscontrole ſtrenge Polizei noch immer keine beſſere oder mindeſtens keine der in den Wirths - häuſern geübten gleichkommende Gaſtcontrole in den Bordells finden können, weil ſie in der Erkenntniß des weit verbreiteten ſittlichen Siechthums, dem ſie nicht mit allen ihren Mitteln ent - gegenzutreten wagt, fürchten muß, heute eine Reſpectsperſon in den Armen einer Luſtdirne zu finden, in denen geſtern ein ſteck - brieflich verfolgter Gauner gelegen hat. Aus dieſem Mangel an Verbindung der Sanitätspolizei mit der Sicherheitspolizei iſt der eclatante Fall bekannt geworden, daß in einem gewiſſen Orte eine ſteckbrieflich verfolgte Luſtdirne Monate lang in einem Bordelle ihre ſichere Zufluchtsſtätte fand. Dieſelbe Genußſucht führt auch die Töchter von Gaunern, ehe ſie ſich dem unſteten und beſchwer - lichen Vagantenleben ergeben, bei dem erſten Erwachen der Sinn - lichkeit in die Bordells, oder wo das Geſetz eine Bordellmündig - keit vorſchreibt, in die gefährlichen Winkelbordells, in denen ſogar alle Sanitätscontrole zum Schutz beider Geſchlechter fehlt. Jn den Bordells, wo mancher heimliche Gaſt den erlittenen Verluſt lieber verſchmerzt als denuncirt, findet die vielfach auch mit Gaunern in directer Verbindung ſtehende Luſtdirne reichliche Ge - legenheit, für die handwerksmäßige Hingebung ſich außer der Taxe noch durch Betrug und Diebſtahl zu entſchädigen, bis ſie am Ende misliebig, abgenutzt oder ruinirt und mit Schulden über - häuft, vom fühlloſen Bordellwirth entlaſſen, von der Polizei aus - gewieſen und ſomit zum Vagantenthum übergeführt wird, mit welchem erſt die eigentliche Gaunerlaufbahn beginnt. Wer ſich zum feſten Grundſatz gemacht hat, alle eingebrachte Vagantinnen ohne Ausnahme1)Noch ganz kürzlich iſt mir eine Dappelſchickſe von 63 Jahren vor - gekommen, welche abends auf öffentlichen Promenaden Männer anhielt und ſyphilitiſch befunden wurde. Aus dem Umherſtreifen liederlicher Weibs - perſonen im Freien erklärt ſich auch, daß im Sommer die Syphilis weit ärger hauſt, als im Winter. einer ärztlichen Unterſuchung zu unterwerfen,30 wird bald Aufſchluß darüber bekommen, wo weſentlich die Pro - paganda der jetzt auch auf dem Lande mehr und mehr um ſich greifenden Syphilis ſteckt, und wie theuer mancher reiche Bauer - burſche ſeine Prahlerei, mit einer feinen Mamſell oder feinen Kunſtmacherin ſchön gethan zu haben , bezahlen muß.

Bei der Entſittlichung des Gaunerthums kann ſchwerlich von irgendeiner Religiöſität die Rede ſein. Die namentlich im 17. und 18. Jahrhundert von Geiſtlichen vielfach nicht ohne Selbſt - gefälligkeit dargeſtellte Reue und Bußfertigkeit zum Tode verur - theilter Räuber und Gauner erſcheint meiſtens nur als mürbe Verzagtheit, die nicht durch den reumüthigen Rückblick auf das vergangene ſündige Leben, ſondern durch den Hinblick auf das nahe Schaffot geweckt wurde. Man findet Gauner bei Proceſ - ſionen, Wallfahrten, in dichtgefüllten Kirchen, um Diebſtahls - gelegenheiten zu erſpähen; man findet bei Gaunern Roſenkränze, man ſieht ſie beten in den Kirchen, aber Roſenkranz und Gebet iſt der Schein, unter dem der Gauner ſeinen erkorenen Opfern näher zu rücken ſucht, um ſie zu beſtehlen. Jn den Kirchen be - finden ſich ebenſo wol wie an Aborten die Stätten und Zeichen, an denen die Gauner ihre geheimen Verabredungen auf die man - nichfaltigſte Weiſe treffen. 1)Schon im Mittelalter hatten beſonders die franzöſiſchen Gauner in irgendeinem Winkel der beſuchteſten Kirchen von Thon zuſammengedrückte Würfel liegen, welche der zuerſt in die Kirche kommende Gauner ſo hinlegte, daß die Eins oben ſtand. Der zweite kehrte den Würfel auf Nummer zwei und ſo fort, damit jeder Nachfolgende wußte, wie viele Kameraden der Ge - noſſenſchaft ſich in dem Gedränge zur Ausführung der verabredeten Gaunerei eingefunden hätten.Um des Scheines willen gehen manche Gauner zur Beichte und zum Abendmahl, nebenbei aber auch oft wirklich um Abſolution zu erhalten für künftige Diebſtähle. Ja die Fälle ſind nicht ſelten, wo Gelübde gethan werden2)Bezeichnend iſt die Aeußerung des zu Buchloe hingerichteten Gottfried Frei ( Sulzer Liſte , 1801, S. 71): Unſer lieber Herr Gott und liebe Mutter Gottes ſollen ſo große Helfer und Fürbitter ſein; dieſe thun uns aber nie in ein Bauernhaus, Wirthshaus oder Amtshaus, wo viel Geld iſt, helfen. für das31 glückliche Gelingen einer verabredeten Gaunerei. Merkwürdig genug werden dieſe Gelübde pünktlich erfüllt, wie aus Furcht, daß auch vom Heiligen der Contract nicht gehalten werden könne. Ein intereſſantes Beiſpiel ſind die Gelübde des Manne Friedrich bei Pfiſter, deren ſchon früher erwähnt iſt.

Die Geſchichte des Gaunerthums wimmelt von Beiſpielen, daß Gauner, welche zum Tode verurtheilt und auf den letzten geiſtlichen Troſt und Zuſpruch angewieſen waren, gar und ganz keine Kenntniß vom chriſtlichen Glauben, von den Geboten und den verſchiedenen Confeſſionen hatten. So kommt es nicht ſelten vor, daß ein ſolcher armer Sünder einen katholiſchen, dann einen proteſtantiſchen Geiſtlichen, zuweilen beide zugleich, ja ſogar dazu noch einen jüdiſchen Rabbiner verlangte, und dann wieder alle drei verwarf. 1)Auch Damian Heſſel verlangte, nachdem er unter Fluchen und Toben ſein Todesurtheil angehört hatte, einen Rabbiner, um als Jude zu ſterben, verſprach dem Unterſuchungsrichter in nächſter Mitternacht nach ſeinem Tode zu erſcheinen, und ſprach von dem Geſetze der Natur, nach welchem er gelebt habe und auch ſterben wolle u. ſ. w. Vgl. Rebmann, Damian Heſſel , S. 106 (dritte Auflage). Borgener, von der Wetterauer Bande, ſagte im Verhör am 22. Mai 1812, über ſeine Religion befragt: Mit Religion habe ich mich nicht viel abgegeben. Jch weiß von Religion eigentlich nur ſoviel, daß ich kein Jude bin. Grolman, a. a. O., S. 422. Aehnliche Beiſpiele von ſittlicher Roheit gibt es eine große Menge, und gerade in jetziger Zeit ſieht man in erſchreckender Weiſe, daß der rohe Materialismus wie ein ſen - gender Wüſtenwind über Sitte und Religion hinfährt und den Boden nivel - lirt, als ob man an der Urbarkeit dieſes unſers Bodens verzweifeln ſollte.Dieſe tief in das Mittelalter zurückreichende und noch heutigen Tages zu machende Wahrnehmung iſt nicht nur in ſitten - geſchichtlicher, ſondern ganz beſonders in ſprachgeſchichtlicher Hin - ſicht merkwürdig. Bei aller Fügigkeit und Behendigkeit des jüdi - ſchen Volks, ſich die ihm auch am entfernteſten liegenden Volks - eigenthümlichkeiten anzueignen, hat es doch die Grundzüge ſeiner urſprünglichen Eigenthümlichkeit mit aller Zähigkeit feſtgehalten. Der das ganze bürgerliche und häusliche Leben des Juden beherr - ſchende religiöſe Cultus namentlich iſt auch von den jüdiſchen2)Die Walachen haben die ſtehende Redensart, daß die Kirche der Zigeuner von Speck gebaut und von den Hunden gefreſſen ſei .32 Gaunern niemals, wie der chriſtliche Cultus von chriſtlichen Gau - nern, misachtet worden. Jn der Gemeinſchaft dieſer ſchmuzigen Elemente mit den jüdiſchen haben letztere, wenn auch von erſtern mit aller Roheit und Verachtung angeſehen, doch in der conſe - quenten Beobachtung ihrer religiöſen Gebräuche eine ſo entſchiedene Wirkung auf jene gehabt, daß, wenn auch dadurch die gleich tief verſunkenen ſocialen Verhältniſſe beider Factoren gewiß nicht ge - hoben werden konnten, doch ein ſehr bedeutender Einfluß der jüdiſchen religiöſen Cultusweiſe auf das geſammte chriſtliche Gaunerthum ſich geltendmachte, ſodaß, wenn irgendeine Cultus - form an dem geſammten deutſchen Gaunerthum bemerklich wird, dieſe Form vorherrſchend die jüdiſche iſt1)Merkwürdig iſt das in dieſer Hinſicht von Thiele aus der Löwenthal - ſchen Unterſuchung mitgetheilte Begehren der chriſtlichen Jnquiſiten, an den Religionsübungen der jüdiſchen Jnquiſiten theilnehmen zu dürfen. Ueber den zum katholiſchen Prieſter beſtimmten und erzogenen Damian Heſſel und ſeinen Genoſſen Streitmatter vgl. das was ſchon oben nach Rebmann, a. a. O., angeführt iſt., wogegen ſich die chriſt - lichen Cultusformen, mit den obenangegebenen geringen Ausnahmen, faſt gänzlich verläugnen. Dadurch wurde auch vielen hebräiſchen und rabbiniſchen Wörtern der Eingang in die geheime Sprache des nach Verſteck und Geheimniß lüſternen Gaunerthums ge - bahnt, und das um ſo eher und mannichfaltiger, als die ſchon conventionell herangebildete jüdiſch-deutſche Sprache ſogar als lite - rariſch abgerundetes Ganzes erſchienen war, und in der deutſchen Nationalliteratur ſich eine bedeutſame Stelle erworben hatte.

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B. Das Geheimniß des Gaunerthums.

1) Das Geheimniß der Perſon.

Drittes Kapitel. a) Die gauneriſche Erſcheinung.

Seitdem die Landespolizei anfing, ſelbſtändig aufzutreten und die beſonders ſeit dem Dreißigjährigen Kriege mit offener Gewalt hauſenden Räuberbanden ernſtlich zu verfolgen, ſieht man, wie das hart bedrohte und bedrängte Gaunerthum ſich immer mehr von der offenen Räubergruppirung entfernt, dafür aber mitten in das Herz aller ſocial-politiſchen Schichten eindringt, und in ihrem Scheine die offene Gewalt mit der geheimnißvollen Kunſt ver - tauſcht. Bezeichnend für dieſen Wechſel und ſeine Zeit iſt, daß gerade in der erſten Hälfte des vorigen Jahrhunderts der eigene, freilich etymologiſch rohe Kunſtausdruck link , im Gegenſatz von rechts, recht, rechtlich, wahr, vom Gaunerthum erfunden wurde, um die verſteckte Täuſchung auszudrücken. So entſtand Linker, der Fälſcher, Täuſcher, Gauner; Linke-Meſſumen, falſches Geld; Link-Chalfen oder Link-Wechsler, falſcher Wechsler, Dieb beim Geldwechſeln; linken, auf einen Betrug ſpähen, be - obachten, und die ganze Wortfamilie, die man im Lexikon findet. Je mehr die Polizei zur rationellen Wiſſenſchaft hinſtrebte, deſto mehr unternahm dies auch das Gaunerthum mit ſolcher feinen Berechnung und mit ſolchem Erfolg, daß man nur durch die genaueſte Berückſichtigung alles deſſen, was in der hiſtoriſchen Ausbildung aller ſocial-politiſchen Verhältniſſe geſchehen und ge - geben iſt, ſich erklären kann, woher die weite und tiefe Verbrei - tung des Gaunerthums in die heutigen Verhältniſſe gekommen iſt. Schon vor mehr als hundert Jahren zählte der wackere Hönn in ſeinem Betrugslexikon mit dem ganzen Eifer ſittlicher Ent - rüſtung dreihundert verſchiedene Gewerbe und Lebensverhält - niſſe auf, in denen die Verſuchung lauert, und in denen Täuſchung oder Betrug möglich iſt. Jene Verhältniſſe ſind ſeitdem noch vielAvé-Lallemant, Gaunerthum. II. 334zahlreicher und künſtlicher geworden, und liegen noch bunter und wirrer durcheinander. Wenn man jetzt ein Betrugslexikon ſchreiben wollte, ſo würde es eine ungeheuere Encyklopädie geben, die ſelbſt bei der größten und umfangreichſten Ausführlichkeit jährlich mit beträchtlichen Supplementen ergänzt werden müßte. Alle Stände und Berufsarten ohne Ausnahme werden, ſogar auch in den fein - ſten Nuancirungen, vom Gaunerthum repräſentirt; keine Form iſt ſo alt und bekannt, daß ſie nicht immer wieder und mit neuer Täuſchung ausgebeutet würde. Es hilft wenig, daß der vorzüg - lichſte Vorſchub gauneriſcher Bewegung, das handelsmänniſche Reiſen, ſo ſehr beſchränkt und überaus ſcharf controlirt wird: der Handel hat zu viel Strömungen, als daß man dieſe bändigen könnte. Je mehr man aber auf Koſten und zur Beläſtigung des Verkehrs, deſſen Beſchränkung ſtets auch eine Mitleidenſchaft des reellen Ganzen mit ſich führt, die Handelsbewegung controlirt, deſto behender ſpringt das Gaunerthum auf andere Verkehrsformen über. So iſt es gekommen, daß das Zunftweſen, welches Jahr - hunderte lang der Anhalt der ſittlichen Volksentwickelung geweſen iſt, indem es den Lehrling an Zucht, Ordnung und Gehorſam gewöhnte, und dadurch die Anbildung und Erhaltung des ehr - ſamen Bürgerſtandes mächtig förderte, jetzt, nachdem die vermeint obſoleten Zunftformen der materiellen Richtung und freien Be - wegung haben weichen müſſen, und damit auch das ſittlich-ge - ſunde innere Weſen der Zünfte geſchwunden iſt, zum hauptſäch - lichen Verſteck des Gaunerthums dient, das in reiſenden Hand - werksburſchen und zu Fabrikarbeitern herabgeſetzten Zunftgeſellen ſeine Jünger auf die Landſtreicherei, anſtatt auf die ehrbare Wan - derſchaft ausſendet, und ſchon lange die Stimmen ernſter Mahnung geweckt hat, welche vergebens in dem Tumult des wüſten Ver - kehrslebens verhallen. Bei dem durch die Eiſenbahnen mächtig geförderten Fremdenverkehr in Wirthshäuſern zählt das Gauner - thum eine überaus ſtarke Jüngerſchaft in Kellnern, Hausknechten und Stubenmädchen, die den unrechtfertigen Erwerb ſchon durch ihre oft ſinnloſe Vergeudung und Putzſucht verrathen. Neben dieſem Zunft - und Domeſtikenproletariat iſt das Gelehrten - und35 Künſtlerproletariat im Gaunerthum am ſtärkſten vertreten, ſodaß das fahrende Schülerthum des Mittelalters in ſeiner ganzen Aus - dehnung wieder aufgelebt zu ſein ſcheint. Nicht nur daß der Polizeimann ſich mit allen vier Facultäten herumſchlagen muß, um ſogar im Doctor der Philoſophie und Profeſſor der Theologie den Gauner zu entlarven, er muß auch den Nimbus und die Staffagen aller Künſte und Gewerbe durchdringen, um auf Gauner aller Art zu gerathen, und hat doch dabei alle feinen Rückſichten vorſichtig zu beobachten, die in den prätendirten ſocialen Formen ihm entgegengeſchoben werden. / Dieſe Rückſichten nimmt das in Gouvernanten, Geſellſchafterinnen und Offiziers - und Beamten - witwen jetzt beſonders ſtark vertretene weibliche Gaunerthum vor - züglich in Anſpruch, wobei oft ſchmerzlich zu bedauern iſt, daß alles, was weibliche Feinheit, vorzügliche Erziehung und Bildung an Rückſicht und Achtung verdient, an der verdorbenſten gaune - riſchen Geſinnung und Führung verloren gegangen iſt. Nicht mehr der Hauſirer, nicht der in Lumpen gehüllte vagirende Bettler, nicht mehr der Keſſelflicker, Scherenſchleifer, Leiermann, Puppen - ſpieler und Affenführer allein iſt es, der die Sicherheit des Eigen - thums gefährdet: alle äußern Formen des ſocial-politiſchen Lebens müſſen zur Maske der gauneriſchen Jndividualität dienen.

Zwei Factoren ſind es beſonders, welche in neuerer Zeit dem perſönlichen Verſteck und der Beweglichkeit des Gaunerthums großen Vorſchub leiſten: die Eiſenbahnen und das Paßweſen. Die Eiſenbahnen heben die Entfernung und Räumlichkeit auf. Was früher bei den beſchränktern Communicationsmitteln ſich nur langſamer dem Auge der wachſamen Polizei entziehen und darum immer wieder leichter zurückgeführt werden konnte, taucht plötzlich an einem entfernten Orte als völlig unverdächtige Erſchei - nung auf, kann ſich als ſolche frei bewegen und ebenſo raſch wieder entfernen. Jn der Paßgeſetzgebung hat es trotz aller bis an das Ungeheuerliche grenzenden Ausführlichkeit und peinlichen Genauig - keit, welche Reiſende und Controlbeamte gleichläſtig drückt, noch immer nicht gelingen wollen, in den Päſſen Urkunden herzuſtellen,3*36in denen die beurkundende Behörde und der beurkundete Paß - inhaber mit voller Verläſſigkeit beglaubigt iſt. Dieſer offenliegende Mangel hat ſchon lange im Gaunerthum eine eigene Kunſt, das Fleppenmelochnen hervorgerufen, welche die vorhandenen Mängel ſo lange ausbeuten wird, bis ſie durch entgegenwirkende Paßein - richtungen, mit welchen die neueſte preußiſche Polizeigeſetzgebung beſonders glückliche Anfänge gemacht hat, paralyſirt wird. Es wird von dieſer Kunſt und von den Mängeln, auf denen ſie auf - gebaut iſt, in einem eigenen Kapitel (88) geredet werden. Selbſt bei der unzweifelhaften Echtheit und Unverfälſchheit der Paß - urkunde und der völlig bewieſenen Berechtigung des Jnhabers zu ihrer Führung iſt doch noch immer keine Sicherheit der Perſon, welche den Paß führt, gegeben, da nur die äußere Erſcheinung, in welcher der Jnhaber auftritt, oder in welcher er der ausſtel - lenden Behörde legitimirt oder bekannt iſt, beglaubigt wird, wobei kaum in irgendeiner Weiſe oder durch ein Geheimzeichen die Ver - dächtigkeit eines Jndividuums angedeutet werden kann, ob nicht ſeine Erſcheinung die bloße Larve einer ganz andern Jndividuali - tät iſt. Dieſe große Schwierigkeit und Bedenklichkeit iſt es, welche die ſcharfe und ſo überaus läſtige Paßcontrole einigermaßen recht - fertigt, obſchon es aber auch immer angemeſſener erſcheint, auch den abgehenden Reiſenden mindeſtens ebenſo ſcharf zu contro - liren, wie den ankommenden. Die Ungleichheit dieſer Con - trole wird recht unmittelbar an und neben den Eiſenbahnen aus - gedrückt durch die Telegraphendrähte, die an ihrem Auslaufe un - zählige mal ſchon das gut gemacht haben, was bei ihrem An - fange verfehlt war.

Die Controle in der Heimat und die Unverdächtigkeit in der Ferne iſt der Hauptanlaß, weshalb das Gaunerthum in ſteter Beweglichkeit iſt, um unter dem bürgerlichen Scheine, fern von der hinderlichen Beobachtung, ſeiner verbrecheriſchen Thätigkeit nachzugehen. Wie trüglich der bürgerliche Schein iſt, in welchem ſogar ein Gauner mit dem andern unerkannt zuſammentreffen kann, beweiſt das bei Thiele, a. a. O., II, 169, erzählte Beiſpiel des Schmulchen Frankfurter, der einmal im Gaſthofe zu Helm -37 ſtädt in das Zimmer eines daſelbſt logirenden emigrirten hollän - diſchen Kanonikus brach und aus dem Koffer deſſelben 125 Louis - dor nebſt einer Menge Prätioſen ſtahl, im Koffer aber auch einige Terzerols, eine zur Säge zugerichtete Uhrfeder, ein Brecheiſen, vier Ennevotennekäſtchen und mehrere bezeichnete Gelddüten acqui - rirte, in welchem ſich ſtatt des notirten Geldes 46 ſauber gearbeitete Dietriche vorfanden. Dieſe Beweglichkeit und Trüglichkeit des Gaunerthums rechtfertigt die ſtrenge Controle der Wirthshäuſer, bei der jedoch die Wirthe leider in den wenigſten Fällen der Po - lizei behülflich ſind, bis ſie für ſich ſelbſt Gefahr vom Gaſte wittern, oder ſchon von ihm hintergangen ſind. Auch eludirt die Polizei ſelbſt ihre Fremdencontrole ſehr weſentlich durch die Unter - laſſung einer auch auf die Bordells ſich erſtreckenden Gaſtcontrole. Würden aus allen Wirthshäuſern die Beobachtungen, welche die Wirthe zu machen Gelegenheit haben, der Polizei kund, ſo würde dem Gaunertreiben weſentlich mehr Einhalt gethan werden können. So aber ſpeculiren die Gauner mit Sicherheit auf die Erwerbs - luſt der Wirthe, und laſſen gerade in Wirthshäuſern ſo viel auf - gehen, daß ſchon durch das Uebermaß der Verdacht rege werden müßte. Je mehr die Controle auf den Eiſenbahnhöfen gegen die Ankommenden verſchärft wird, deſto mehr entzieht ſich der Gauner dieſer Controle dadurch, daß er eine oder ein paar Stationen vor dem Ausgangspunkt ſeiner Reiſe die Bahn verläßt, und im un - ſcheinlichen Fuhrwerk1)Auch die ihren Urſprung wol von den Marketenderfahrzeugen der letzten franzöſiſchen Kriege datirenden Agolen, mit und ohne Michſe (Plan), kommen, bei der weſentlich auf die Bahnhöfe gerichteten Aufmerkſamkeit der Polizei, mehr als in der Zeit unmittelbar vor der Entſtehung der Eiſenbahnen, wo ſie nur noch ſparſam geſehen wurden, wieder zum Vorſchein. Auf meinen amtlichen Fahrten in enclavirten Gebietstheilen habe ich des Nachts häufig Gelegenheit gehabt, auf Wald - und Feldwegen den unheimlichen Fuhrwerken zu begegnen, deren Führer in geheimnißvoller Geſchäftigkeit vorüberfahren., auch mit der vernachläſſigten Fahr - oder Omnibuspoſt einfährt, oder auch zu Fuß ſeinen Einzug hält. Der Controle auf der Landſtraße entgeht der verdächtige Gauner dadurch, daß er den Weg ganz beſonders auf oder neben den Eiſenbahn -38 tracten einſchlägt. Vor nicht langer Zeit geſtand mir ein aus dem Zuchthauſe eines Nachbarſtaats ausgebrochener gefährlicher Räuber, daß er größtentheils am lichten Tage in der kenntlichen Züchtlingskleidung eine ſechs Meilen lange Strecke auf und neben der Eiſenbahn zu Fuß zurückgelegt hatte, bis er im Abenddunkel ſich bei einem Trödler andere Kleidungsſtücke kaufte, mit denen er ſeinen Einzug in Lübeck hielt, wo er in einem Wirthshauſe zur Haft gebracht wurde.

Viertes Kapitel. b) Die Simulationen.

Der ſchärfſte Ausdruck der Sicherheit und Verwegenheit, mit welcher das verkappte Gaunerthum ſich mitten im ſocial-politiſchen Leben bewegt, iſt die vermeſſene Simulation von Krankheiten und Gebrechen1)Schürmayer, Lehrbuch der gerichtlichen Medicin (Erlangen 1854), rechnet §. 532 zu den Krankheiten, welche der Erfahrung zufolge Gegen - ſtand der Simulation zu ſein pflegen: Fieber, Hautausſchläge, Geſchwüre, ſtinkende Ausdünſtung, Epilepſie, Veitstanz. Starrſucht, Tetanus, Krämpfe und Convulſionen, Waſſerſcheu, Schlafſucht, Nachtwandeln, Ohnmacht und Scheintod, Schmerzen, Lähmung, Verkrümmung der Wirbelſäule, Contrac - turen der Extremitäten, Hinken, krummer Hals, Kopfgrind, Augenentzündung, Störung des Sehvermögens, Schwerhörigkeit und Taubheit, Stammeln, Stimm - loſigkeit, Stummheit, Verſtümmelung der Zunge, Taubſtummheit, Kropf, be - ſchwerliches Schlucken, Blutſpeien, Lungenſchwindſucht, Herzkrankheiten, Er - brechen und Wiederkäuen, Blutbrechen, Ruhr und Durchfall, Gelbſucht, Auf - treibung des Unterleibes, Eingeweidebrüche, Hämorrhoidalknoten, Umſtülpung des Afters, Afterfiſteln, Lähmung des Afterſchließmuskels, Unvermögen den Harn zu halten, Blutharnen, Strictur der Harnröhre, Waſſerbruch des Scro - tums, Steinkrankheit. , mittelſt welcher der Gauner es wagt, die all - gemeine Aufmerkſamkeit abſichtlich auf ſeine äußere Erſcheinung zu lenken, um unter dieſer Maske die gauneriſche Jndividualität deſto ſicherer zur Geltung zu bringen. Dieſer verwegene Betrug iſt ſo alt, wie die chriſtliche Barmherzigkeit, auf die er von An -39 beginn an ſpeculirt hat. Ueber dieſen Betrug klagt ſchon der heilige Ambroſius in ſeinen Briefen an den Symmachus; ſchon die Kapitularien warnen vor den Betrügern: qui nudi cum ferro prodeunt; der Liber Vagatorum zeichnet eine Menge ſimulanter Siechen; die Epilepſie, das böſe Weſen wurde in der Zeit der wüthenden Hexenverfolgungen als Betrug geahnt, und als Teu - felswerk mit Exorcismus oder dem Scheiterhaufen paralyſirt, während die Kinder der Gauner im vorigen Jahrhundert abge - richtet waren, ebenſo geſchickt den Taubſtummen zu ſpielen, als auf die Pille zu ſchnorren , wie der bekannte Gauner, welcher noch heutiges Tags unter der Larve eines Gärtners ſchon ſeit mehreren Jahren ganz Deutſchland durchzieht, und von der ſimu - lirten Epilepſie ſeinen ganzen Lebensunterhalt zieht.

Fünftes Kapitel. α) Die körperlichen Entſtellungen und künſtlichen Merkmale.

Das gauneriſche Jntereſſe macht es für den Gauner zur Hauptaufgabe, ſeine äußere Erſcheinung ſo zu geben, daß, wenn ſie in einer Urkunde polizeilich fixirt und documentirt iſt, ihm doch immer eine Aenderung der perſönlichen Erſcheinung möglich bleibt, um gerade nach der von ihm vorgenommenen Aenderung den Unterſchied ſeiner jetzigen perſönlichen Erſcheinung mit der frühern documentirten darlegen, mithin für eine ganz andere Jndividualität gelten zu können. Die gauneriſche Kunſt hat daher beſonders die in den gedruckten Paß - und Steckbriefſchematen enthaltenen Per - ſonalien zu einem wahren Kunſtkatalog gemacht, an deſſen Ver - vollkommnung ſie raſtlos arbeitet, und mit täglich neuen Verbeſſe - rungen hervortritt. Selbſt die gemeſſene Körperlänge iſt, wie die Erfahrung zeigt, einer Variation fähig. Beſonders gelingt es Weibern, bei nicht ſehr genau controlirter Meſſung die Knie zu beugen und den Körper ſo zuſammen zu drücken, daß eine erheb - liche Abweichung ſtattfindet. Jn den ſechs verſchiedenen ſteckbrief -40 lichen Signalements einer hier zur Unterſuchung gezogenen Gau - nerin fanden ſich Abweichungen zwiſchen der hier und auswärts nach demſelben Maßſtabe gemeſſenen Körperlänge von 3 5 Zoll. Die gewöhnlichen Toilettenkünſte werden vom Gaunerthum in vorzüglicher Weiſe vervollkommt. Die Färbung der Kopfhaare, Augenbrauen, des Barts, die Befeſtigung falſcher Haare geſchieht mit ausgezeichneter Fertigkeit. Auch habe ich Gauner geſehen, welche mit defecten Zähnen ſignaliſirt waren, mit ſo herrlichen künſtlichen, und ſo ausgezeichnet durch Schrauben in den Zahn - wurzeln befeſtigten Zähnen, daß ſelbſt ſehr geſchickte Aerzte damit getäuſcht wurden. Eine hier in Lübeck zur Unterſuchung gezogene Gaunerin hatte früher einmal in der Vorausſicht, daß ihr doch einmal des Entſpringen gelingen werde, ſiebzehn Monate lang mit bewundernswürdiger Conſequenz und Ausdauer eine erhöhte Schulter und einen ſteifen Finger ſo geſchickt ſimulirt, daß ſie ſelbſt den Scharfblick des ſehr erfahrenen Arztes täuſchte, und ſpäter nach zwei Jahren, als ſie wirklich entſprang, in weiter Ent - fernung entdeckt und nach jenen beſondern Kennzeichen be - ſchrieben wurde, die zu ihrer Captur requirirte auswärtige Behörde ſo vollſtändig zu hintergehen wußte, daß ſie auf freien Fuß bleiben und ſich davonmachen konnte. Dieſelbe Perſon hatte ihre defecten Haare und Zähne ſo ausgezeichnet ergänzt, wie es in ähnlicher Vollkommenheit nicht leicht wieder nachgeahmt werden kann. 1)Vgl. den intereſſanten Fall 28, S. 90 u. 107, in Johann Ludw. Kasper’s herrlichem Handbuch der gerichtlich mediciniſchen Leichen-Diagno - ſtik. Nach eigenen Erfahrungen. Mit einem Atlas von neun colorirten Tafeln (Berlin 1857). Beſonders vgl. man überhaupt §. 29 33, S. 102 fg. Das ganze Werk iſt für Juriſten und Polizeimänner überhaupt eine äußerſt reiche Quelle der mannichfachſten Belehrung.Sehr häufig vorkommende, vorzüglich aber dann, wenn die zu ſig - naliſirende Perſon ſelbſt darauf aufmerkſam gemacht hat, ver - dächtige, und daher genauer zu unterſuchende, beſondere Kenn - zeichen ſind die vielfach abſichtlich mit Höllenſtein geätzten Muttermale, Leberflecke u. dgl. an Geſicht und Händen, die ſich zur gelegenen Zeit ebenſo leicht wieder entfernen laſſen, wie ſie41 ſich anbringen ließen. Ueberraſchend und ebenſo intereſſant wie wichtig iſt die von Kasper1)Auch über Verſchwinden oder Unvertilgbarkeit von Narben ſowie über die Sichtbarmachung verſchwundener Brandmale werden in ſeinem Handbuch , S. 113 115, höchſt intereſſante Mittheilungen gemacht. Jedoch vermißt man bei Kaspar, wie bei Schürmayer ( Lehrbuch der gerichtlichen Medicin und Handbuch der mediciniſchen Polizei ) und Bergmann ( Medicina forensis ) eine für die Polizeiwiſſenſchaft ſehr wichtige Belehrung über die Möglichkeit der Vertilgung von ſogenannten Leberflecken, Muttermalen und anderer Hautflecken. in Berlin gemachte und nach ihm beſonders von den franzöſiſchen Aerzten Hutin und Tardieu durch zahlreiche Beobachtungen geprüfte Entdeckung, daß Tätowirungen, welche im Leben vorhanden waren, an der Leiche bis zur völligen Unſichtbarkeit ſpurlos verſchwunden ſein können. Noch merk - würdiger iſt die durch eine Menge Unterſuchungen als unzweifel - haft bewieſene Thatſache, daß der Färbeſtoff der Tätowirungen von den Lymphganglien abſorbirt wird, und daß der Färbeſtoff der Tätowirungen am Arme ſich in den Achſeldrüſen unverkenn - bar deutlich wiederfindet, wie ja denn in dem beim Kasper’ſchen Handbuch befindlichen Atlas, Taf. 8, Fig. 25, eine ſolche Achſeldrüſe mit eingeſprenkeltem Zinnober dargeſtellt iſt. So be - hauptet auch derſelbe, a. a. O., S. 118, daß ſchon bei Jndivi - duen, welche erſt vor kurzem tätowirt waren, ſich Zinnober, Kohle u. dgl. in den Lymphdrüſen fand. Ebenſo intereſſant iſt der von ihm, S. 119, mitgetheilte, vollkommen gelungene Ver - ſuch Tardieu’s, Tätowirungen künſtlich ſchwinden zu machen.

Sechstes Kapitel. β) Die Schwangerſchaft.

Die Vorſchützung der Schwangerſchaft2)Mir iſt eine Perſon der Art vorgekommen, die 14 Monate lang an - gab, im achten Monat ſchwanger zu gehen, und darauf hin viel Almoſen und Kinderkleidung zuſammengebracht und letztere verkauft hatte. Vagirende Gaunerinnen ſchützen beſtändig Schwangerſchaft vor, wie die Dutzbetterinnen iſt eine nament - lich von verhafteten Gaunerinnen zunächſt faſt regelmäßig42 geübte Simulation, um aus der ſtrengen Haft und Hausordnung der Unterſuchungsgefängniſſe in die leichtere Detention der Kranken - häuſer überzugehen, in denen das Entſpringen ſehr erleichtert wird, und ſehr häufig gelingt. / Die auch im Gefängniß ebenſo gut anzuſtellende Beobachtung des Arztes muß hier allein ent - ſcheiden, und die Ueberſiedelung darf nur auf die beſtimmteſte An - ordnung des Arztes geſchehen, da die Gaunerinnen mit nichts mehr und feiner Jntriguen ſpinnen, als mit der Debilität der weiblichen Natur. Erfahrene und legitimationslos umherziehende Gaunerinnen ſäugen ihre Kinder ſehr lange, und ſorgen, ſelbſt wenn das Kind geſtorben iſt, dafür, daß ihnen die Milch nicht vergeht, indem ſie auf die Sorgloſigkeit der Behörden, und auf die läſtige Umſtändlichkeit der Kinderverpflegung rechnen, wenn ſie bei einer Verhaftung auf Verdacht angeben, daß ſie im be - nachbarten Orte einen hülfloſen Säugling zurückgelaſſen hätten, wobei denn die allenfalls angeſtellte ärztliche Unterſuchung die Exiſtenz des Säuglings wahrſcheinlich macht, und wozu denn auch wol nöthigenfalls aus der erſten beſten Cheſſenpenne irgendein Kind von den vertrauten Genoſſen zur Aushülfe herbeigebracht wird. Jn ſolcher Weiſe werden nicht ſelten Gaunerinnen über die Grenze geſchoben mit ganz fremden Kindern, für welche ſie keine Mutterliebe haben, und die ſie hinter dem nächſten Bauern - hauſe ausſetzen, wenn ſie ihnen nicht ſogleich von den Lieferanten abgenommen werden.

Siebentes Kapitel. γ) Die Epilepſie.

Eine der am meiſten cultivirten Betrügereien iſt die Simu - lation epileptiſcher Zufälle (Tippel, Pille, Fallſucht). 2)des Liber Vagatorum, weil ſie die Scheu der Behörde vor den Wochenbetten legitimationsloſer Perſonen kennen.43Sie iſt theils ein Mittel, Mitleid zu erregen, und Unterſtützung und Pflege zu erhalten1)Vgl. Eberhardt’s Polizeianzeiger , Bd. 42, Jahrgang 1856, S. 461, Nr. 1672, woſelbſt eins der merkwürdigſten Exemplare der Neuzeit gekenn - zeichnet iſt., theils um bei öffentlichen Gelegenheiten, in Verabredung mit Taſchendieben, die allgemeine Aufmerkſamkeit zu fixiren, und einen Zuſammenlauf zu veranlaſſen2)Vgl. Kap. 21 vom Vertuſſ., theils aber auch im Verhör den plötzlichen Abbruch einer, für den in die Enge getriebenen Gauner gefährlich gewordenen Situation zu bewirken. Eine genaue Kenntniß der Symptome iſt daher weſentlich förder - lich, die Simulation von der Wirklichkeit zu unterſcheiden. Be - ſtimmt und treffend zeichnet Schürmayer, a. a. O., die Unter - ſchiede: Das wirkliche Vorhandenſein der Epilepſie hat immer einen beſondern Ausdruck in den Geſichtszügen, welche den mehr oder weniger deutlich ausgedrückten Stempel von Traurigkeit, Furchtſamkeit und Dummheit an ſich tragen, inſofern die Krank - heit ſchon einige oder längere Zeit dauert, was durch Betrug nicht wohl nachzuahmen iſt. Bei dem wahren Epileptiker zeigt ſich die Neigung der obern Augenlieder ſich zu ſenken, und man bemerkt die Gewalt, die ſich der Epileptiker anthut, um die Augen offen zu halten, wenn er etwas betrachten will; auch ſprechen ſolche Kranke nur ungern von ihrer Krankheit, ſuchen ſie ſogar zu ver - heimlichen. Die ſimulirten Convulſionen ſind ſich, da die Betrüger ihre Rollen gewiſſermaßen auswendig lernen, in allen Paroxysmen faſt ganz ähnlich, haben auch etwas Grimmaſſenartiges, was bei der Epilepſie nicht der Fall iſt. Jn den wahren epileptiſchen An - fällen ſind faſt immer die Augen offen, die Pupille iſt meiſtens erweitert oder auch krampfhaft zuſammengezogen, die Jris in einer zitternden Bewegung; bei manchen Kranken rollen die Augen fürchterlich in ihren Höhlen umher, ſind aber auch wol in ein - zelnen Momenten faſt wie leblos fixirt. Dieſer Zuſtand iſt nicht nachzuahmen, und der verſtellte Anfall wird beſonders dadurch er - kennbar, wenn bei ſchnellem Anbringen eines Lichts vor die44 Augen die Pupille ſich gleich zuſammenzieht. Das beſchwerliche und röchelnde Athemholen, meiſt mit bläulicher Auftreibung des Geſichts gepaart, kann anhaltend nicht nachgeahmt werden, ebenſo wenig der Schaum vor dem Munde in einem gewiſſen Grade, wenn nicht Seife dazu verwendet wird1)Vgl. Kap. 8 des Liber Vagatorum: und nemen Seiffen in den mund das jnen der ſcheim einer fauſt gros auff geet vnd ſtechen ſich mit eim halm jn die naßlocher das ſie bluten werden, vnd iſt Buben teiding . Der obenerwähnte ſimulante Epileptiker, der ſeit Jahren durch Deutſchland um - herzieht, weiß durch raſches Saugen am gereizten Zahnfleiſch Blut unter den Schaum zu bringen; auch ſind an den Seiten der Zunge deutliche Bißnarben vorhanden., und das Herzklopfen mit dem kleinen unterdrückten Pulſe. Bei den wahren Anfällen iſt eine ungewöhnliche Körperkraft zugegen, die Betrüger, wenn ſie nicht von Natur aus ſtark ſind, nicht nachzuahmen vermögen. Wenn Epileptiſche ſchreien, ſo geſchieht dies vor dem Fallen, nach - her tritt völliges Schweigen mit Bewußtloſigkeit und Verluſt des Gefühlsvermögens ein. Betrüger verſtoßen ſich oft hierbei, zu - mal wenn ihnen Anlaß gegeben wird. Tritt namentlich auf An - wendung von Kitzeln, Nießmitteln u. dgl. Reaction ein, ſo iſt Simulation als gewiß anzunehmen. Endlich unterſcheidet ſich der gleich nach dem Anfall eintretende Zuſtand des Körpers und Geiſtes bei ſimulirenden Epileptiſchen oft augenſcheinlich von den wirklich Epileptiſchen, indem erſtere die als nothwendige Folge daſtehende Abſpannung nicht zeigen, oder nicht nachhaltig genug.

Dieſe Unterſcheidungen ſind ſehr wichtig und genau zu be - achten, wenn man nicht nach ſtundenlangen Verhören gerade im wichtigſten Moment durch den in die Enge getriebenen Gauner mit ſeiner ſimulirten Epilepſie um die Reſultate angeſtrengter Mühe gebracht ſein will. Es gibt Gauner, die ſchon vor dem Ausbruch eine Schwäche ſimuliren und eine Prädispoſition be - merkbar zu machen wiſſen, nur um zu ſondiren, ob der Jnquirent ängſtlich iſt, wonach denn der epileptiſche Anfall entweder aus - bleibt oder zum Vorſchein kommt. 2)Mehr als einmal habe ich bei ſolchen Sondirungen mich vor derglei -Sehr beachtenswerth aber45 iſt die Bemerkung, die Schürmayer, a. a. O., §. 531, macht, daß nämlich erfahrungsmäßig gewiſſe anfangs ſimulirte Krank - heiten zuletzt in wirkliche übergehen können, daß dies jedoch im - mer nur ſolche krankhafte Zuſtände ſind, die ſich in ſogenannten nervöſen Zufällen, wie Krämpfen, Zuckungen u. dgl., kund geben. 1)Jn meiner Praxis glaube ich dieſelbe Erfahrung gemacht zu haben. Von zwei diebiſchen liederlichen Dirnen aus einem benachbarten holſteini - ſchen Dorfe, welche öfters wegen verbotenen Betretens des lübeckiſchen Ge - biets zur Unterſuchung und Strafe gezogen wurden, litt die ältere Schweſter notoriſch ſeit ihrer Kindheit an Epilepſie und mußte deshalb rückſichts - voller behandelt werden. Die jüngere, eine robuſte derbe ſechzehnjährige Dirne, welche niemals an jenem Uebel gelitten hatte und ſehr oft hier angehalten wurde, fing ebenfalls bald an, in epileptiſche Zufälle zu ge -Die Wahrheit dieſer merkwürdigen Behauptung ſcheint ebenſo wol in ſomatiſcher, als ſogar auch in pſychiſcher Hinſicht ſich zu beſtätigen, wie ja denn jeder aufmerkſame Jnquirent reich - liche Gelegenheit findet, Beobachtungen der Art zu machen.

Achles Kapitel. δ) Die Taubſtummheit.

Die Simulation der Taubſtummheit iſt einer der am häufigſten vorkommenden gauneriſchen Verſuche, um dem entſtan -2)chen epileptiſchen Störungen mit Erfolg verwahrt dadurch, daß ich mit ent - ſchiedenem trockenen Ernſt mir jeglichen Anfall von Schwäche oder Epilepſie verbat, wobei denn namentlich Gaunerinnen gerade durch ihren ſchlecht ver - hehlten Unmuth und durch plötzlichen Abbruch aller Demonſtrationen den Ver - ſuch der Simulation eben ſelbſt recht deutlich zu Tage legten. Der genaue Blick auf den Simulanten entdeckt ſofort den Betrug. So wurde denn auch die Simulation des ſchon mehrfach erwähnten Gärtners durch den richtigen Blick zweier Polizeidiener ſofort entdeckt, noch ehe er nach der Lithographie im Eberhardt’ſchen Polizei-Anzeiger recognoscirt war. Auch bekam er wäh - rend ſeiner vierzehntägigen Haft nicht ein einziges mal epileptiſche Anfälle, weil er überall mit trockenem Ernſt behandelt wurde. Vgl. Böcker, Memo - randa der gerichtlichen Medicin (Jſerlohn u. Elberfeld 1854), S. 67, wo auch der Nieſemittel, Acupunctur und des Auftröpfelns von heißem Siegellack erwähnt wird.46 denen Verdachte die Argloſigkeit und Unbeholfenheit des Taub - ſtummen entgegenzuſetzen. Viele Gauner wiſſen jene eigenthüm - liche Lebendigkeit der Geberden und Bewegungen der Taubſtum - men, denen die Hauptwege der pſychiſchen Ausbildung, Gehör und Sprache, verſagt ſind, und welche dafür nur durch das Auge Erſatz finden, meiſtens mit vielem Glücke zu copiren und ſogar ſich das Anſehen zu geben, als läſen ſie die vom Jnquirenten geſprochenen Worte von deſſen Lippen, wobei ſie auch in jener rauhen unmodulirten Sprachweiſe mit oſtentirter Anſtrengung zu antworten ſuchen. Der Betrug iſt nicht ſchwer zu entdecken. Der Simulant kann nicht den Unglücklichen nachahmen, der auf der niedrigſten Stufe der menſchlichen Bildung ſteht. Der Taubſtumme beſitzt , wie Friedreich1) Syſtem der gerichtlichen Pſychologie (Regensburg 1852), S. 332. treffend ſagt, ſo lange man ſeine Kräfte nicht ausbildet, ſeine Fähigkeiten nicht übt, keine Kenntniſſe ihn lehrt, nichts als Empfindung der Gegenwart ohne augenblickliche (momentane) Eindrücke, faſt gar keine Er - innerung der Vergangenheit und ebenſo wenig Erwartung der Zukunft . Jn Stellung, Haltung, Miene, Blick und Weſen kann der Simulant durchaus nicht, mindeſtens nicht conſequent, ſo über ſich gebieten, daß er eine ſo augenfällig eigenthümliche äußere Erſcheinung darſtellt, wie jener Zuſtand nothwendig bedingt. Er kann ſich mindeſtens für nicht weniger darſtellen, als für einen unterrichteten Taubſtummen, der ein Verſtändniß haben und wiedergeben kann. Er muß alſo die eigentliche ſchulmäßige Taub - ſtummencultur kennen, die ihn allein zum Verſtändniß fähig1)rathen, deren Simulation am Tage lag. Als ſie endlich, bei der letzten Jn - haftirung im vorigen Jahre, ſtatt der bisherigen Gefängnißſtrafe die angedrohte geſchärftere Zuchthausſtrafe erwarten mußte, verfiel ſie wieder in epileptiſche Zufälle, die jedoch diesmal weſentlich von den frühern in Erſcheinung und Form abwichen und, trotz dem entſchiedenen Vorurtheile gegen die Perſon, für wirkliche epileptiſche Zufälle gelten mußten. Vielleicht konnte doch auch eine Familiendispoſition und wirkliche Angſt mit eingewirkt haben. Vgl. die Ge - ſchichte einer convulſivichen Krankheit u. ſ. w., in Henke’s Zeitſchrift für Staatsarzneikunde , 1856, drittes Vierteljahrsheft, S. 61 fg.47 machen konnte, oder muß ſeine Unkenntniß und damit die Simu - lation verrathen. Dem Experten gegenüber iſt daher ſein Spiel raſch verloren. Ja meiſtens bedarf es kaum des Experten. Der Jnquirent, ſobald er nur den Schein gutmüthigen Glaubens und Mitleidens bewahrt, und ohne Zurüſtung und Verabredung in Gegenwart des Simulanten mit einer Ueberraſchung gegen ihn hervortritt, vermag ſehr häufig ſchon ohne Experte den Simu - lanten zu entlarven. Dieſer iſt vollſtändig entlarvt, wenn er das Hauptmittel ſeiner erlangten Cultur, das Schreiben, nicht ver - leugnet, und zu ſchreiben anfängt. Dem Taubſtummen iſt jedes Wort ein Bild. Sein Unterricht, ſeine ganze geiſtige Cultivirung beſtand in der Auffaſſung von richtig vorgezeichneten Wortbildern, die in ihrer bloßen richtigen Form ihm den Begriff verliehen. Daher gibt der Taubſtumme ſeine Begriffe genau in den erlernten richtigen Formen wieder, und ſchreibt daher die ihm gelehrte reine correcte Schriftſprache ohne Provinzialismen und ohne ſolche Fehler, die aus falſcher Ausſprache entſtehen, wenn e[r]auch in der Anordnung der einzelnen Formen Fehler begeht, und einzelne Buchſtaben in einem Worte, oder Worte in einem Satze, zuweilen unrichtig hinſtellt.

Eine richtige und ruhige Behandlung des Simulanten wird bald zu ſeiner Entlarvung führen1)Jn der Wahl phoniſcher Mittel muß man ſehr vorſichtig ſein. Jch habe einen wirklichen Taubſtummen vernommen, der, während ich ihn mit Schreiben beſchäftigte, von der Lufterſchütterung eines hinter ihm explodiren - den Zündhütchens in die Höhe fuhr. Andere wirkliche Taubſtumme fühlten im Zimmer der Bel-Etage die Erſchütterung des Schlagens einer einzelnen Trom - mel auf der Straße; noch andere konnten fühlen, daß im Nebenzimmer Forte - piano geſpielt wurde u. ſ. w. Ueberraſchend iſt die im Wächter , Jahrg. 20, 1857, Nr. 57, S. 224) gemachte Mittheilung von Anwendung der Ae - theriſirung zur Entlarvung eines Simulanten. Von zwei eines Diebſtahls angeklagten Jndividuen, Namens Lerch und Daubner in Brüſſel, hatte Daubner ſich taubſtumm und blödſinnig geſtellt. Man wußte jedoch, daß er von Geburt an nicht ſtumm ſei und daß er ſeine Lage vollkommen begreife, da er im Gefängniß bereits einen Selbſtmordverſuch gemacht hatte. Lerch wurde zu Zwangsarbeit verurtheilt, Daubner aber, von dem die Aerzte be -, obſchon dieſer es immer bis48 auf das äußerſte ankommen läßt, da er nicht nur die Strafe für ſeine Simulation, ſondern auch für das Vergehen zu fürchten hat, welches er mit der Simulation zu verdecken ſuchte und für wel - ches er durch dieſe ein bedeutendes Jndicium gegen ſich ſelbſt vorbringt. Der Verluſt dieſes doppelten Spiels iſt es aber auch, der, wie kaum ſonſt in ähnlicher Weiſe, einen ganz eigenthümlichen Eindruck auf den Jnquirenten macht, ſobald der Simulant mit einem mal die geläufige Sprache gewinnt und ſich, im ſchneidenden Contraſt mit dem bisherigen ſimulirten beſchränkten Weſen, urplötz - lich als eine Jndividualität von freier, ja raffinirter Geiſtigkeit hinſtellt, in welcher er einen neuen friſchen Kampf mit raſchem Angriff beginnt. Es iſt wenig, den Simulanten zum Abſtehen der Simulation gebracht zu haben, wenn der Jnquirent nicht ſeinen Triumph vollkommen zu unterdrücken, und kalt und nüchtern die Beſeitigung der Simulation ganz als Nebenwerk zu behandeln und ruhig auf das geſteckte Ziel, auf die Entlarvung des Gauners, weiter zu gehen weiß.

Neuntes Kapitel. ε) Die Schwerhörigkeit.

Wol die verdrießlichſte Simulation, dem Jnquirenten gegen - über, iſt die ſimulirte Schwerhörigkeit, da ſie meiſtens auf das Chikaniren des Jnquirenten abgeſehen iſt. Der Gauner weiß recht gut, daß die Schwerhörigkeit ihn keineswegs als argloſen und unverdächtigen Menſchen exculpirt, ſo wenig wie ſie ihn bei Verübung und Verhehlung ſeiner Gaunerei von irgendeinem1)haupteten, er ſimulire, der Aetheriſirung unterzogen. Beim Eintritt ihrer Wirkungen begann er ſogleich ſehr geläufig franzöſiſch zu ſprechen, obwol er bei ſeiner Verhaftung in Holland vorgegeben hatte, nur deutſch zu verſtehen. Aus dem Aetherrauſche erwacht, wollte er, wie früher, die Rolle eines taub - ſtummen Blödſinnigen ſpielen, wurde aber nichtsdeſtoweniger ſchuldig er - kannt und zu zehnjähriger Zwangsarbeit verurtheilt.49 Nutzen ſein kann; aber im Verkehr mit Beamten und in Verhören treibt er ſein boshaftes Spiel damit, den Fragenden abſichtlich falſch zu verſtehen, und auf die an ihn gerichteten Fragen mit dem vollen Scheine des unbefangenen Misverſtändniſſes beißende und malitiöſe Antworten zu geben. Erfahrene Gauner können dies Spiel mit großer Conſequenz und ſtoiſcher Ruhe fortſetzen, auch wiſſen viele ſogar jene klangloſe gedämpfte Sprachweiſe, welche den wirklich Schwerhörigen eigen iſt, ſehr gut zu copiren. Der Jnquirent ſchont ſich am meiſten und den Simulanten am wenigſten, wenn er unabläſſig durch einen Subalternen mit kräf - tigem Sprachorgane ſeine Fragen dem Simulanten dicht und laut ins Ohr rufen läßt, was mindeſtens auf die Länge dem Simu - lanten unerträglich wird, den wirklich Schwerhörigen aber wenig afficirt.

Zehntes Kapitel. ζ) Geiſteskrankheiten.

Geiſteskrankheiten werden von Gaunern nur ſelten und in ganz beſondern Fällen ſimulirt, da die Erſcheinung geiſtiger Störung zu auffällig und bedenklich iſt, als daß nicht die Behörden ein mit ſolchen Symptomen auftretendes Jndividuum jedenfalls berückſichtigen und verfeſtigen ſollten. Jndeſſen wird oft, um Ver - tuſſ zu machen, beſonders auf Jahr - und Viehmärkten, von Gaunern Albernheit ſimulirt, wobei denn ſeine Genoſſen zu ſchottenfellen und zu torfdrucken ſuchen. Selten tritt ein ſolcher Simulant ſelbſt als Haupthändler, ſondern meiſtens als Neben - perſon, Muſikant, Gepäckträger u. dgl. auf, der, wenn er ge - hänſelt wird, und ſeine ſchlechte Geige zerſchlagen läßt, ſich ſehr häufig durch geſchicktes Torfdrucken reichlich für den ihm zugefüg - ten Schimpf und Schaden zu erholen weiß. Auch bei dem Schmire - ſtehen ſpielen die Gauner häufig neben dem Betrunkenen auch den Albernen, um herzukommende Wächter und Beſtohlene aufzuhal - ten und zu täuſchen. Jn der Unterſuchungshaft und StrafhaftAvé-Lallemant, Gaunerthum. II. 450kommen jedoch häufiger Simulationen geiſtiger Störungen vor1)So wußte der berüchtigte Johann Andreas Bamberg durch verſtellten Wahnſinn ſeine Unterſuchung und Hinrichtung acht Monate länger hinzuhalten, als ſeine Complicen Voigt, Rehman und Hahn ſchon hingerichtet waren. S. die Literatur Actenmäßiger Verlauf der Peinlichen Unterſuchung gegen die Kunziſche u. ſ. w. Bande , S. 219 260. Johann Schäfer von der Neu - wieder Bande ſpielte mehrere Monate lang ſo geſchickt den Wahnſinnigen, daß er am 20. März 1802 vom Specialgericht des Ruhrdepartements freigeſpro - chen wurde, ungeachtet die Doctoren Beſt und Dahmen entſchieden das Ge - bahren des Schäfer für Simulation erklärt hatten. Vgl. Geſchichte der Rheiniſchen Räuberbanden , II, 333. Aehnliche Beiſpiele kommen bis auf die neueſte Zeit vor., welche durchaus von Experten ſorgfältig beobachtet, und von wirk - lichen Störungen unterſchieden werden müſſen, die leider eine ebenſo häufige wie traurige Folge ſtrenger Jſolirhaft ſind. 2)Vgl. hierüber Schürmayer, Lehrbuch der gerichtlichen Medicin , S. 341 412; Bergmann, Lehrbuch der med. for. , S. 318 368; Bö - cker, Memoranda , S. 63 72. Vorzüglich Friedreich, Syſtem der ge - richtlichen Pſychologie , S. 149 163. Minder bedeutend iſt Schnitzer, Die Lehre von der Zurechnungsfähigkeit bei zweifelhaftem Gemüthszuſtande (Ber - lin 1840). Ausgezeichnetes liefert die Vierteljahrsſchrift für gerichtliche und öffentliche Medizin von Joh. Ludw. Casper, und die Allgemeine Zeitſchrift für Pſychiatrie und pſychiſch gerichtliche Medicin von Damerow, Flemming und Roller.

Elftes Kapitel. η) Affecte.

Affecte endlich werden ſehr häufig von Gaunern in Ver - abredung mit ihren Genoſſen ſimulirt, beſonders um bei Markt - diebſtählen die Aufmerkſamkeit der Menge auf einen Punkt und von den handelnden Gaunern abzulenken (ſ. Vertuſſ, Kap. 21). Beſonders aber im Verhöre und in der Gefangenſchaft ſpielt der Gauner mit allen Affecten, und läßt keine Rolle und keine Situa - tion unverſucht, um dem Jnquirenten zu imponiren und ihn irre51 zu leiten. Darüber wird ſpäter, Kap. 104, noch weiter geſpro - chen werden.

2) Das geheime Verſtändniß.

Zwölſtes Kapitel. a) Die Gaunerſprache.

Bei dem tiefen Geheimniß, auf welchem der ganze Organis - mus des Gaunerthums begründet iſt, ſind die durch Jahrhunderte hindurch zuſammengetragenen, immer verbeſſerten Verſtändigungs - mittel ſehr zahlreich und mannichfaltig. Sie tragen alle Spuren ihrer Schöpfung und Vervollkommung durch Convention an ſich, und geben ſowol von der Verworfenheit, als auch von dem Scharf - ſinn und dem Uebermuth ihrer Erfinder Zeugniß. Vor allem erkennt man in der wüſten und wirren Gaunerſprache, die durch alle Jahrhunderte hindurch wie ein trüber Bodenſatz in beſtändi - ger gährender Bewegung gehalten iſt, den geiſtigen Ausdruck der gemiſchten ſchmuzigen Volkselemente, welche dieſe Sprache zu - ſammentrugen und mit immer neuen Zuſätzen bereicherten. Die Gaunerſprache iſt daher nicht nur in linguiſtiſcher, ſondern auch in culturhiſtoriſcher Hinſicht eine Merkwürdigkeit, der leider bis - her nur wenig Aufmerkſamkeit geſchenkt iſt. Nur in neueſter Zeit hat Hoffmann von Fallersleben im Weimariſchen Jahrbuch , I, 328 fg., einige jedoch nur ſehr dürftige Andeutungen gegeben, welche keineswegs ein tieferes Eingehen in die Gaunerſprache verrathen. Was Maßmann in Berlin über die Gaunerſprache geſchrieben hat, iſt noch nicht zur Oeffentlichkeit gelangt, was um ſo mehr zu bedauern iſt, als nach brieflichen Mittheilungen zu ſchließen, ſeine Anſchauung und Behandlung geiſtvoll iſt. Nur Pott hat in ſeinem Werke über die Zigeuner, II, 1 60, ſehr intereſſante und zum Theil treffend gelungene Wortunterſuchungen veröffentlicht, die zum weitern Nachforſchen anregend ſind. Alle ältern Verſuche ſind kümmerlich und ungenügend, namentlich da die tiefe ſprachgeſchichtliche Bedeutſamkeit des ſogenannten Juden -4*52deutſch und vieler älterer und neuerer Sprachen für die Gauner - ſprache niemals in ihrer großen Wichtigkeit hervorgehoben iſt. 1)Aufmerkſamkeit verdient das neu erſchienene Werk: Etudes de phi - lologie comparée sur l’argot et sur les idiomes analogues parlés en Europe et en Asie par Francisque-Michel (Paris 1856), worin der Ver - faſſer S. 443 453 das argot allemand ou Rothwelsch, obſchon mit eini - ger Kenntniß der ältern Literatur, nur oberflächlich abhandelt, und ſelbſt auch in der franzöſiſchen Gaunerſprache, trotz ſeiner herrlichen Beleſenheit, nicht tief genug in das eigentliche Volksleben hineingedrungen iſt, das in ſeiner geheimnißvollſten Tiefe dem Philologen in der Studirſtube ſich ſchwerlich ganz erſchließt. Sehr beachtenswerth iſt noch der tiefer in die franzöſiſche und deutſche Volksſprache eingedrungene H. Barbieux, Antibarbarus der franzöſiſchen Sprache (Frankfurt a. M. 1853).Bei dieſem Vermiß iſt die linguiſtiſche Aufgabe für vorliegendes Werk zu umfaſſend, als daß ſie nicht in einem beſondern Ab - ſchnitt ausführlicher behandelt werden ſollte.

Dreizehntes Kapitel. b) Das Zinkenen.

Das Wort: der Zink, oder Zinken, bedeutet allgemein jede geheime Verſtändigung durch Laute, Geſten, Mienen und gra - phiſche Merkzeichen, und wird daher von Thiele mit: Wink, Zei - chen, Bezeichnung, richtig überſetzt. Es iſt wol nicht anders als vom zigeuneriſchen Sung2)Vgl. die etymologiſche Erklärung des Wortes sung bei Pott, a. a. O., II, 226, 227. Bemerkenswerth iſt dazu, daß auch noch in der heutigen Volks - ſprache das Wort Zinken häufig für Naſe gebraucht wird., Geruch, abzuleiten, in welchem das S als dem Jndiſchen eigenthümlicher palataler Ziſchlaut sz er - ſcheint, und welches auch in ſeiner Bedeutung die des Zinken (wovon das Zeitwort Zinkenen3)Zigeuneriſch sungáf, riechen, duften, z. B. Ada blúma ßungela schukker, dieſe Blume riecht ſchön. Vgl. Pott, und Biſchoff, Zigeuneriſches Wörterbuch unter Riechen ., riechen laſſen, zu riechen oder zu verſtehen geben, winken, zeichnen) am deutlichſten macht. Der53 Bedeutung des Wortes Zinken entſprechend1)Das Wort Zink iſt dem Liber Vagatorum und der alten Rotwelſchen Grammatik fremd. Auch bei Moſcheroſch und bei Schottelius kommt der Ausdruck nicht vor. Man findet ihn zuerſt in dem Hildburghauſer Verzeichniß von 1753 als Compoſitum, Zinkenplatz, d. h. Ort, wo ſich die Diebesbande hinbeſtellt, und Zinkenſtecken, d. h. Lärmen zum Abmarſch machen, rufen, einem et - was zu verſtehen geben, auf einen gewiſſen Ort hinbeſtellen. Die Rotwelſche Grammatik von 1755 hat dieſe Terminologie aufgenommen. Dem Juden - deutſch iſt der Ausdruck fremd, obgleich er den jüdiſchen Gaunern vollkommen geläufig iſt. Auch wird noch heute durchgehends die ganze Perſonalbeſchrei - bung ein Zinken, das Signaliſiren einer Perſon abzinkenen und ein Steck - brief eine Zinkfleppe genannt. iſt das mit dem deutſchen Schreck in Verbindung zu ſetzende jüdiſch-deutſche schreko (vom hebräiſchen〈…〉〈…〉 und dies von〈…〉〈…〉, er hat ge - ziſcht, gelockt, gewinkt), wovon Schreckenen, auch ſrikenen, ziſchen, durch Ziſchen herbeirufen, winken, und Schreckener und Srikener, der zur Unterſtützung des Schottenfellers (Ladendie - bes) mit in die Läden geht.

Schon aus der etymologiſchen Bedeutung des Zinken ſieht man, welch großer Complex von Verſtändigungsmitteln das Zin - kenen iſt. Man kann kaum alle dieſe Mittel darſtellen und claſſi - ficiren, zu deren Kenntniß dem Polizeimann oder Gefängnißbe - amten vorzügliche Gelegenheit geboten wird. Gerade in der Be - drängniß wuchert der gauneriſche Geiſt an Behelfen herauf, von denen man auf den erſten oberflächlichen Anblick keinen Begriff hat, und gerade in Vorhalten, oder bei den immer höchſt gewagten Confrontationen gauneriſcher Jnquiſiten nimmt der ſcharfe Beobach - ter pſychologiſche Momente wahr, die ihn zum Erſtaunen, ja oft zur Bewunderung hinreißen. Trotz der gleichmäßigen Schule und Ausbildung, trotz des feinſten Verſtändniſſes aller Gauner unter ſich, iſt und bleibt jeder einzelne Gauner nach ſeiner Jndividua - lität immer doch noch ein eigener Lehrſatz, der von dem genau beobachtenden Polizeimann ſo klar begriffen werden kann, daß er jeden Gauner für ein Original erklären muß, und kaum eine Analogie von einem Gauner auf den andern zu ziehen wagen darf. Ein Gauner verſteht am andern jede Bewegung des Au -54 ges, Mundes, jede Stellung der Füſſe, jede Regung eines Fin - gers, jeden Griff an Hals, Mund, Haar, jedes Räuspern, Hu - ſten, Nieſen, wie ſcheinbar unwillkürlich und wie natürlich alles zum Vorſchein gebracht wird. Einem Räuber, den ich zum Ge - ſtändniß gebracht, und der mir auch den wirklichen Namen ſeines mitgefangenen Complicen genannt hatte, wußte letzterer bei der Confrontation, ungeachtet der ſchärfſten Beobachtung, ſo ſehr durch ein ſtarkes Athemholen zu imponiren, daß jener die gemachten Geſtändniſſe in ſeiner Gegenwart nicht zu wiederholen wagte, aus Furcht, wie er ſpäter eingeſtand, daß er einmal als Sſlich - ner ermordet werden würde.

Vierzehntes Kapitel. α) Die Jadzinken.

Unter den Zinken, welche eine gleichmäßige und ſyſtematiſche Redaction haben, ſind zunächſt die Jadzinken (Fehmzinken oder Grifflingzinken) zu merken. Es ſind die Zeichen, welche mit der Hand oder eigentlich mit den Fingern gemacht werden. Dieſen Jadzinken liegt das einhändige Alphabet der Taubſtum - men1)Die Zeichen mit beiden Händen, ſowie die vielen lebhaften Geſten der Taubſtummen werden von den Gaunern nicht leicht benutzt, da ſie nicht heim - lich und verſteckt gegeben werden können. Wol aber ſind ſie den Gaunern be - kannt, und werden von Simulanten oft ſehr täuſchend nachgeahmt. (Vgl. Kap. 8.) zu Grunde. Man findet viele Gauner, welche ohne taub - ſtumm zu ſein, ſich der Handſprache vollſtändig bemeiſtert haben, da die Hand mit ihrer ſtillen und doch lebendigen Sprache, ſelbſt in Gegenwart dritter, ein genaues Verſtändniß vermitteln und wo der tönende Mund geſchloſſen bleiben muß, durch eine geringe Oeffnung, durch Fenſter und Gitter2)Auch hier empfiehlt ſich die dichte Fenſterverblendung nach unten und zu den Seiten der Fenſter, ſowie die doppelte Vergitterung der letztern, da - mit der Gauner nicht an die Fenſter gelangen und durch ſie lautlos kaſſpern kann. lautlos kaſſpern kann. 55Das Jadzinkenen iſt die optiſche Telegraphie des Gaunerthums, welche der Polizeimann genau kennen muß, um ſie beobachten und verhindern zu können. Auf umſtehender Tafel iſt daher das gewöhn - liche Taubſtummenhandalphabet dargeſtellt, das ſich ſelbſtverſtänd - lich mit der rechten und linken Hand geben und ſehr leicht erler - nen läßt. Weiterer Bemerkungen bedarf es nicht. Jn meiner Polizeipraxis hat mir dieſe Kenntniß manchen Nutzen, namentlich bei Entlarvung von Simulanten gebracht, welche nicht auf dieſe Verſtändigungsform eingehen konnten. Auch die ganze Menge der mit eigenthümlicher Lebendigkeit und mit ſcharfer Form vor - gebrachten Geſten und Manipulationen der Taubſtummen iſt dem raffinirten Gauner bekannt. 1)Unter den neuerlichen Simulanten dieſer Art tritt der erſt 25 Jahr alte Heinrich Dittrich aus Klein-Borowitz, Bezirk Trautenau in Böhmen, mit ſo großer Virtuoſität auf, daß er ſelbſt die ärztlichen Beobachtungen zu pa - ralyſiren gewußt hat. Vgl. Eberhardt, Allgemeiner Polizei-Anzeiger , Bd. 43, Nr. 42, Nr. 1649 vom J. 1856.Beſonders wird noch als Zinken ausgebeutet das Schreiben von Wörtern mit dem Finger in die Luft, ſodaß der Genoſſe die Buchſtaben als Spiegelſchrift er - blickt, oder auch das Schreiben mit dem Finger in die offene Hand des Genoſſen, in welche die Buchſtaben ſtreifend hineinge - ſchrieben und durch das Gefühl aufgefaßt werden, was beſonders im Dunkeln und in Gegenwart dritter ein vollkommen ausreichen - des Communicationsmittel iſt.

Funfzehntes Kapitel. β) Die Kenzinken.

Von der Kenntniß des Handalphabets der Taubſtummen, welche das heutige Gaunerthum beſitzt, iſt ein Beweis der allge - mein gewordene Kenzinken2)Ken, jüdiſch-deutſch bejahende Partikel; iſt alſo nicht etwa vom deut - ſchen Kennen abzuleiten. oder Kundezinken, der beſonders[56]

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57 in wittſchen Wirthshäuſern, wo der Gauner ſeine Umgebung nicht kennt, und beſonders beim Haddern (Kartenſpiel) und ſonſtigen Spielen, Wetten und Kunſtſtücken angewandt wird. Will der Gauner einen Genoſſen ausfindig machen, ſo ſchließt er die Hand zur Fauſt, ſodaß die Daumenſeite nach oben kommt, ſtreckt den Daumen gerade aus gegen den gekrümmten Mittelfinger und hält den Zeigefinger in leichter Krümmung über dem Daumen, ohne jedoch dieſen damit zu berühren. Damit wird nach nebenſtehender Tafel der Buchſtabe C gebildet, und aus der in dieſer Haltung wie abſichtslos auf den Tiſch gelegten Hand weiß jeder anweſende Gauner, daß er einen Genoſſen, Cheſſen, vor ſich hat. Undeut - licher (wahrſcheinlich aus dem F, G oder K verſtümmelt) iſt das andere allgemeine Erkennungszeichen, welches darin beſteht, daß der ſpähende Gauner mit dem gekrümmten Zeige - und Mittel - finger die Spitze des geſtreckten Daumens berührt, und den Ring - finger und kleinen Finger gerade und frei ausſtreckt.

Noch ein wichtiger Kenzinken, namentlich auf der Straße, iſt der Scheinlingszwack oder das Scheinlingszwickeln1)Vom deutſchen zwicken, zwacken. Vgl. Pott, a. a. O., II, 37. der eigenthümliche Blick mit einem Auge. Beim Begegnen eines aus - zuforſchenden Unbekannten ſchließt der Gauner das Auge auf der Seite, an welcher der Begegnende geht, und blickt mit dem andern Auge über die Naſenwurzel hinüber2)Oft wird dazu auch noch der Mundwinkel unter dem geſchloſſenen Auge aufgezogen., worauf der kundige Gau - ner dieſe Fratze erwidert, ſich mit Sicherheit nähert, und die per - ſönliche Bekanntſchaft unter den Auſpicien der Kunſt abſchließt. Auf Landſtraßen, beſonders aber auf Jahrmärkten und Meſſen hat man häufig Gelegenheit, dieſe komiſche Fratze zu ſehen, die von Vielen als bloßes Product des Muthwillens oder der Trun - kenheit gewürdigt und mit verwundertem Lächeln aufgenommen wird. Andere Kenzinken, wie das Tragen des Stocks unter dem linken Arm, oder das Einſtecken des Stocks quer durch oder über den Reiſeſack, ſind weniger verläſſig und üblich, und führen, da58 ſie andern volksthümlichen, beſonders zünftiſchen Bräuchen ähneln, häufig zu Jrrungen, welche für den Gauner bedenklich ſind. 1)So z. B. pflegen die Zimmergeſellen nur mit dem quer durch den Reiſeſack geſteckten Stock und mit einem gelöſten Riemen des Reiſeſacks in eine Stadt einzuwandern. Die Drechslergeſellen legen in der Herberge oder Werkſtätte die Hand auf den Tiſch oder auf die Drehbank, ſtecken den Hut auf den Stock, legen die Hand flach an den Kopf und ſprechen: Hui Ge - ſelle! u. ſ. w. Faſt jede Zunft hat ähnliche Gebräuche und geheime Kenn - zeichen. Beſonders geheime Zeichen habe ich bei Unterſuchungen wegen ver - botener Verbindungen unter den Maurergeſellen gefunden. Bei einem zur Un - terſuchung gezogenen Vehmgericht mehrerer Schneidergeſellen erfuhr ich, daß die Vehmgenoſſen ſich an finſter zuſammengezogenen Augenbrauen erkann - ten, trotzdem die ganze moderne luſtige Vehme weſentlich die Herbeiſchaffung von Getränken zu gemeinſchaftlichem heitern Zechen, durch muthwillige Ver - urtheilungen in die Vehmkoſten, abzweckte. Unterſuchungen der Art führen meiſtens auf wahre Lappalien, dienen aber zum Beweiſe, wie die Polizei ſehr häufig ihre wahre Aufgabe ſo wenig, wie den rechten Feind kennt und, darum in Angſt geſetzt, überall Geſpenſter ſieht und Angriffe ins Blaue hinein unternimmt, welche die Polizei in ihrer Schwäche bloßſtellen und immer wi - derwärtiger in den Augen des Bürgerthums machen. Vgl. Adr. Beier, Der Meiſter bei den Handwerken, der Handwerksgeſell, der Lehrjung (3 Thle., Jena 1719).Somit ſind denn auch jene alten Bonmots, die ohnehin in ihrer Bedeutſamkeit allgemein bekannt geworden ſind, mehr und mehr abgekommen, wie z. B. beim Zutrinken oder beim Anbieten einer Priſe die leicht hingeworfene Frage: Kunde? oder Ken Cay? worauf die Antwort iſt: Ken Matthies oder Ken Cay , obſchon dieſe und ähnliche Bonmots nach Gelegenheit immer noch hier und da wieder auftauchen.

Sechszehntes Kapitel. γ) Die graphiſchen Zinken.

Außer dieſen ſyſtematiſchen Zinken, welche unmittelbar von Perſon zu Perſon gebraucht werden, gibt es noch eine Menge anderer Zinken, die einen mehr allgemeinen monumentalen Cha -59 rakter tragen, jedoch ebenſo genau wie jene directen Zinken das Verſtändniß vermitteln. Jeder Gauner hat ſein beſtimmtes Zei - chen, gleich einem Wappen, welches von ſeinen Genoſſen ſo re - ſpectirt wird, daß keiner es nachzuahmen wagt, da er ſich ſonſt der blutigſten Rache für die ſchwere Ehrenkränkung ausſetzen würde. 1)Die ſchwerſte Beleidigung iſt das Hinzeichnen eines Gaunerzinkens an einen Galgen, Schandpfahl oder Halseiſen, während hinwiederum die Ab - tritte und andere ekle Orte gerade am meiſten zum Zeichnen der Zinken dienen, und auch zu dieſem Zwecke frequentirt werden.Bald iſt es ein Thier, wie ein Pferd, Hund, Fuchs, Ziege, Schwein, Schaf, Hahn, Ente, Eule u. ſ. w.; bald ein Kreis, Oval, Viereck, Dreieck; bald ein Kreuz mit dieſer oder jener Staffage, wie z. B. mit einer Schlangenlinie durchwunden. So enthalten z. B. die Acten des Juſtizcollegiums zu Erlangen von 1765 66, in der großen Unterſuchung wider die Gaunerin Kirſchner und deren Sohn Günner, das rohe Zeichen der Kirſchner:2)Jn art. Verhör der Kirſchner, art. 497, 500, und des Günner, art. 141, 146.

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Bei dem Einbruch im Hauſe des Bauernhausbeſitzers Mat - thias Diete zu Gerſtberg, Bezirk Amſtetten in Niederöſterreich, am 28. Juli 1856, hatte der Einbrecher unterhalb des Fenſters,

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deſſen Gitter weggeriſſen worden war, beiſtehenden Zinken mit Rothſtift aufgezeichnet. 3)Vgl. Oeſterreichiſches Central-Polizei-Blatt , herausgegeben von der k. k. oberſten Polizeibehörde, Jahrg. 1856, Bl. 102, Nr. 3368.

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Der allgemeine Diebszinken iſt ein Schlüſſel, durch den ein Pfeil geht:

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Es finden ſich aber auch einzelne landsmannſchaftliche Zinken, wie z. B. der ſtuttgarter Zinken:

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Auch für einzelne Gaunergewerbe finden ſich Zinken. So kommt noch in der Unterſuchung gegen die Kirſchner ein unbe - kannter, wahrſcheinlich aber allgemeiner Bettlerzinken vor:

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Als Zinken für Hochſtappler auf Adelsbriefe findet ſich nach - ſtehende Figur:

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Der Zinken für fechtende Studenten ſind zwei Hieber mit einem Pfeil gekreuzt:

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Die auf falſche Würfel reiſenden Spieler (Kuwioſtoſſen) haben nachſtehenden Zinken (Fig. a); die falſchen Kartenſpieler (Freiſchupper), den Zinken (Fig. b). Auch gibt es Zinken, die einen allgemeinen Begriff oder eine ſpecielle Beſorgniß aus - drücken, z. B. die Befürchtung der Gefangenſchaft (Fig. c).

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Der Zinken, der die gelungene That anzeigt, iſt meiſtens ein Strich mit einer Schlangenlinie durchwunden, deren Ende ge - wöhnlich auf die Richtung deutet, welchen die abziehenden Gau -

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ner genommen haben1)Vgl. Chriſtenſen, Alphabetiſches Verzeichniß S. 14 u. 24: Zuweilen wird auch noch der Tauf - oder Spitzname des Gauners hinzugeſetzt., oder ein Anker, deſſen Kabelende dazu dient, die Wegerichtung anzudeuten. Dieſer Zinken wird gewöhn -

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lich dicht am Thore der Stadt oder des Gehöftes oder am Aus - gange, den die Gauner aus dem erbrochenen Verſchluß genom - men haben, gezeichnet. Auch wird endlich wol noch das Datum der That oder der Paſſage neben den Zinken geſetzt, z. B.

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wie dieſer Zinken von der oberſten Polizeibehörde zu Wien, im Oeſterreichiſchen Central-Polizeiblatt , unter dem 20. Jan. 1854, Nr. 10, S. 105, mitgetheilt wird.

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Die Zinken werden mit Kohle, Kreide, Rothſtift, Bleiſtift an den Gebäuden, Kirchen, Klöſtern, Kapellen, Scheunen, Wirths - häuſern, welche an der Landſtraße liegen, angebracht. 1)Auch auf Petſchafte und Siegelringe werden Zinken mit heraldiſchen Staffagen geſtochen. Die Gravirungen werden von Gaunern ſelbſt gefertigt, welche mit dieſer ihrer Kunſt auch vielfach die Jahrmärkte beziehen, wo ſie mit vieler Leichtigkeit die beſtellten Gravirungen ſofort ausführen, wenn man auch die Sauberkeit und die von gründlich gebildeten Graveurs ſtets berück - ſichtigten allgemeinen heraldiſchen Regeln daran vermißt. Das ſchon erwähnte Siegel des Krummfinger Balthaſar war nach Schwarzmüller’s Beſchreibung (vgl. Hildburghauſer Acten , S. 41) von der Größe eines Kayſer-Guldens und hatte, ſtatt der Armaturen, Piſtolen, Pulverhorn, Funckſchure, Schober - bartel u. dgl., in der Mitte aber einen Mann mit einem Diebsſack. Die Um - ſchrift lautete: Bin ein tuaf Cafer, der dem Cafer ſein Schure beſtieben kan. Das mir jüngſt in einer Unterſuchung vorgekommene Siegel einer als Gräfin reiſenden Gaunerin iſt einen halben Zoll hoch und drei Achtelzoll breit, achteckig mit franzöſiſchem Schilde, durch deſſen Pfahlſtelle der Pfeil gerade auf - ſteigt. Das Herz des Schildes iſt mit einem runden Kreis bedeckt, durch welchen der Pfeil geht, und über den auch, gegen die Regel, die rothen Li - nien des ganzen Schildes laufen. Auf dem Schilde iſt ein königlicher Helm, der als Schmuck einen Fuchs trägt. Das Siegel iſt übrigens ſchlecht und un - regelmäßig geſtochen.Jn den Wirthshäuſern und Herbergen findet ſich der Zinken oft an oder neben der Thür. Oft wird der Zinken in einen Balken des Wirthshauſes, oder in einen nahen, oder auf dem Felde, oder iſolirt nahe am Wege ſtehenden Baum oder auch Meilenzeiger, Chauſſee - und Schlagbaum eingeſchnitten. Am meiſten werden die Zinken in den Abtritten der Wirthshäuſer und Bahnhöfe ge - zeichnet, ebenſo an einzeln ſtehenden Pavillons, Balcons, Baken oder Thürmen an den Enden öffentlicher Gärten und Beluſtigungs - orte. Auch in und an Kirchen, Kapellen und Klöſtern, beſonders wo in letzteren am meiſten Almoſen verabreicht werden, dienen die Mauerwände zum Aufzeichnen von Zinken. Vorzüglich noch werden an der Theilung von Wegen mit dem Stocke Zinken im Sande gezeichnet. Jm Winter werden ſie in den Schnee gezeich - net. Der Auslauf einer Schlangenlinie, oder beſonders die Spitze eines Pfeils, deutet die Richtung des eingeſchlagenen Wegs an. 63Ein oder mehrere Knoten in den Weidenzweigen am Wege, ein flatterndes Band oder Bindfaden mit Knoten, oder ein Stück Papier mit Strichen, eine oder mehrere Strohſchleifen an Ge - büſch und Baum in der Nähe des Wegs, namentlich kurz vor Dörfern und Städten, zeigt den Vorübergang und die Zahl der vorübergezogenen Genoſſen an. Sehr häufig wird neben den Weg ein abgeſchnittener Buſch oder Zweig hingelegt, deſſen Schnitt - ende auf die eingeſchlagene Richtung zeigt, und in deſſen Stamm jeder Genoſſe eine Kerbe ſchneidet, um den Nachfolgenden die Zahl der bereits Vorübergegangenen anzugeben, wie das bei dem Bande oder Papier durch Knoten und Striche angezeigt wird. Häufig wird nahe bei der Schnittſpitze noch ein länglicher Stein mit dem ſpitzen Ende nach der eingeſchlagenen Richtung hin bei - gelegt. Will ein Gauner, der mit ſeiner Chawruſſe verſprengt war, oder aus dem Zuchthauſe entlaſſen iſt, ſeine Rückkehr und Anweſenheit anzeigen, ſo zeichnet er ſeinen Zink an irgendeine bekannte Stelle mit dem Datum hin, und verläßt ſich darauf, zur beſtimmten Zeit oder mindeſtens bei dem nächſten Neumonde ſeine Kameraden oder doch einen Theil von ihnen an dem Platze zu finden. Will er andeuten, wohin er ſich gewandt hat, ſo fügt er ſeinem Zinken den Pfeil oder die Schlangenlinie hinzu. Schon Schäffer gibt eine intereſſante Zeichnung und Beſchreibung eines complicirten Gaunerzinkens, wodurch die Gegenwart des Gauners, ſeine Begleitung und Wegsrichtung detailirt angegeben wird. Neben dem Gaunerzinken wird der die Wegsrichtung be - zeichnete Strich gezogen. Die oberhalb des Strichs angebrachten Haken bedeuten die Männer, die untern die Weiber; die Kinder werden mit Nullen bezeichnet. 1)Vielfach werden aber auch die Männer mit kleinen Querſtreichen und die Weiber mit Nullen bezeichnet.Die oberhalb des Strichs ge - zeichneten Nullen ſind die Kinder des Wappeninhabers, die unter - halb des Strichs Kinder anderer Gauner. Die auf nächſter Seite ſtehende Zeichnung befindet ſich bei Schäffer, a. a. O., S. 303.

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Der Strich a neben dem Zinken des Gauners bedeutet ſeine Perſon, b iſt ſeine Frau oder Concubine, c ein Kamerad, d eine

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mit ihm nicht verbundene Gaunerin, e und f ein anderes Gauner - paar, g und h die Kinder des Gauners, i und k die Kinder eines andern Gauners. Bei den niederländiſchen Banden war es üblich, daß an jedem Kreuzwege der erſte vorübergehende Gauner einen langen Strich in den Weg zog und einen kleinern daneben, wobei der kleinere dazu diente, die eingeſchlagene Rich - tung zu bezeichnen. Jeder der Nachfolgenden machte ebenfalls einen Strich, ſodaß der neu Herankommende immer ſehen konnte, wie viele ſchon vor ihm waren.

Dieſe monumentalen Zinken ſind ſchon ſehr alt. 1)Sie laſſen ſich ſchon nach den lombardiſchen Noten bei Vulcanius bis in das 5. Jahrhundert zurückdatiren, von woher Vulcanius aus den Ueber - reſten eines uralten Manuſcriptcoder höchſt intereſſante Charaktere mittheilt, die mit ihrer Bezeichnung allgemeiner, appellativer und topiſcher Begriffe weit über alphabetiſche Abbreviaturen hinausgehen, und ſchon der heraldiſchen Deutung ſich nähern. Aehnliche heraldiſche Zeichen figuriren in alten Hand - ſchriften und in typographiſchen Jncunabeln, wo meiſtens ſie allein es ſind, welche Auskunft über Drucker und Druckzeit geben. Man darf auch nicht die zahlloſen kabbaliſtiſchen und Zaubercharaktere überſehen, in welchen die Zeichen vorzüglich ausgebildet erhalten und meiſtens auch zum Betruge ausgebeutet worden ſind. Man findet in den alten Zauberbüchern für jeden Dämon ein beſtimmtes Zeichen, das vom Erfinder ſehr geheim gehalten und oft für eine ungeheuere Summe verkauft wurde. Noch jetzt findet man auf den fliegenden Blättern der heutigen Bänkelſänger und Taſchenſpieler, die zumeiſt ihre be - ſondern Holzſchnitte bei ſich führen, eine Andeutung geheimer oder mindeſtens ſpecifiſch eigenthümlicher Zeichen.Auf dem dritten Blatt des Ludwigsburger Gaunerverzeichniſſes von 1728 findet ſich ſchon ein förmlicher Gaunerzinken dargeſtellt. Sie werden, natürlich in verſchiedenartigſter Form, noch heute in An - wendung gebracht. Der abergläubiſche Bauersmann geht ſcheu65 an dieſen Zinken vorüber; theils erblickt er in den Knoten der Weidenzweige ein ſympathetiſches Mittel gegen das Wechſelfieber1)Jn Norddeutſchland iſt es ein durchgängiges ſympathetiſches Volks - mittel, daß der Fieberkranke ſtillſchweigend drei mal eine Schlinge in den Zweig einer grünenden Weide ſchürzt, durch jede Schlinge drei mal haucht und dieſelbe dann zum Knoten zuſammenzieht, wodurch das Fieber weggeſchnürt wird., theils irgendeine andere ſympathetiſche Cur, bei deren Störung er die gebannte Krankheit anzuerben fürchtet, theils findet er in den an Kreuzwegen im Sand oder Schnee gezeichneten Zinken Zauber - und Hexenkreiſe, deren Berührung ihm Gefahr oder Tod bringen könnte. Deshalb werden die Zinken von niemand mehr beſchützt, als vom abergläubiſchen Landmann, zu deſſen Schaden ſie doch gerade weſentlich dienen. Die Zerſtörung ſolcher Zinken, ſelbſt wenn ſie noch ſo unſcheinbar ſind, muß jedem Sicherheitsbeamten zur Pflicht gemacht werden. Selbſt das Beſchreiben der Kirchen - wände u. ſ. w., welches von den Handwerksburſchen mit beſon - derer Liebhaberei betrieben wird, ſollte, ganz abgeſehen von der Ungebührlichkeit der Beſudelung, ſtrenger als bis jetzt geſchehen, verboten und beſtraft werden. Sogar in Gefängniſſen finden ſich ſolche Jnſchriften und Zinken, welche, theils ihrer mühſamen, theils ihrer häufig ſaubern Darſtellung wegen, von den Gefangenwärtern mit einer Art Pietät conſervirt werden, ohne daß bei der ſchein - baren Unverfänglichkeit oder Unverſtändlichkeit derſelben (ich habe ſogar jüdiſch-deutſche Currentſchrift gefunden) die Verfänglichkeit in einzelnen, beſonders gezinkten Lettern bemerkt wurde.

Siebzehntes Kapitel. δ) Die phoniſchen Zinken.

Auch die Nachahmung von Thierſtimmen iſt noch ein unter den Gaunern gebräuchlicher Zinken, beſonders zur Nachtzeit und zum Ferneſignal in Feld und Wald. Von den Chouans iſtAvé-Lallemaut, Gaunerthum. II. 566durch die Niederländiſchen Banden das Eulengeſchrei, welches ja auch das hauptſächlichſte Signal der Jndianer in den Wal - dungen Nordamerikas iſt, nach Deutſchland übergeführt worden. Das Pfeifen, Rufen oder Räuspern verräth den Menſchen nur zu deutlich, während das geſchickt nachgeahmte Eulengeſchrei bei ſeiner Unheimlichkeit den Hörer eher verſcheucht als zur Nachfor - ſchung und zum Angriff herbeizieht. Andere Thierſtimmen, z. B. der Wachtelruf, das Hahnengeſchrei, Hundegebell u. ſ. w. werden zwar auch, jedoch ſeltener und immer mit großer Vorſicht ge - braucht. Noch andere akuſtiſche Zinken, wie das Schnalzen mit der Zunge, Händeklatſchen, Huſten, Nieſen u. dgl., auch der kurze Ruf Lampen! , oder Heraus! , oder Lewon! , oder auch, beſon - ders in Norddeutſchland: Mondſchein! , Mahndſchien! 1)Das niederdeutſche Mahndſchien (Mondenſchein) iſt als Redensart Proſ’t Mahndſchien in den Volksgebrauch übergegangen, zur ſpöttiſchen Be - zeichnung der Vergeblichkeit oder Vereitelung oder des Abſchlags irgendeiner Abſicht. Ebenſo bezeichnet die wegwerfende Redensart: Du kannſt mir im Mondſchein begegnen , ſoviel als: Jch fürchte dich nicht, du kannſt nichts ausrichten . Jn der Bande des engliſchen Gauners William Ogden war die ſtehende Parole: Der Mond ſcheint helle! Vgl. Smidt, a. a. O., S. 826., oder wie früher bei den Niederländiſchen Banden: Huſar du Stroh! u. ſ. w. ſind verabredete Parolen, welche für jedes einzelne Unter - nehmen oder für eine beſtimmte Verbindung verabredet und an - gewandt werden, um die Aufmerkſamkeit der Genoſſen zu erregen, oder ſie zur Flucht bei nahender Gefahr aufzufordern.

Achtzehntes Kapitel. ε) Der Sſlichnerzinken.

Es iſt ſchon erwähnt worden, wie blutig der Genoſſenver - rath am Sſlichner2)Sſlichner von〈…〉〈…〉 (Ssolach), er hat vergeben. Bekanntlich ſagen die Juden acht Tage vor dem Neujahr (Roſch Haſchono) beſtimmte Gebete, geſtraft wird. Dieſe Ermordungen fielen noch im erſten Viertel dieſes Jahrhunderts ſehr häufig vor. Ein67 ſolcher Ermorderter hatte den eigenthümlichen Namen Horeg . 1)Bei Thiele figurirt das Wort Honech, welches er ſchwerlich in der Löwenthal’ſchen Unterſuchung gefunden, ſondern dem von ihm arg getadelten Grolman wol nachgeſchrieben hat. Dieſer hat den Honech der rotwelſchen Grammatik von 1755 abgewonnen, wo der ſchlimme Druckfehler auf S. 11 für das richtige Horeg aufgeführt iſt, mit der Bedeutung Ermordeter, da ein Dieb den andern oder ein Verräther heimlich umbringet . Das Wort Honech exiſtirt in der ganzen jüdiſch-deutſchen Philologie nicht. Horeg (vom hebräiſchen Stamm〈…〉〈…〉 [horag], er hat gemordet), oder Haurg, iſt der Mörder, Todtſchläger, aber auch der Gemordete, während im Jüdiſch-Deutſchen für Mörder der Ausdruck〈…〉〈…〉 (Rozeach, Razchon), Femininum〈…〉〈…〉 (Razchoniss), gebräuchlich iſt (vgl. im dritten Bande die Maaſe von den regensburger Maurern). Von Horag ſind Derivata: Hereg und Ha - rego, das Tödten; Nehrog, der Getödtete, Ermordete; Nehrog werden, getödtet werden; Haureg ſein und hargenen, tödten. Obſchon nun der Honech mir nirgends anders vorgekommen iſt als bei Thiele und ſeinen ver - druckten Gewährsſtellen, ſo iſt es doch nicht unmöglich, daß der Honech ſich durch hundertjährigen ungeſtörten Beſitz eine Stelle im Gaunerlexikon erſeſſen hat, wie die Geſchichte anderer Druckfehler zeigt, wonach z. B. bei Luppe (lupa) aus Hur die Uhr, und bei Auſen, Oſſne, das Ohr, gleichfalls Uhr gemacht, und in ſolcher Bedeutung vollkommen geläufiger Sprachgebrauch geworden iſt. S. das Wörterbuch.Die Gaunerpraxis iſt jedoch hierin milder geworden, und die Rache begnügt ſich meiſtens damit, den Sſlichner zu zinken, das heißt, ihn derb in die Wange zu ſchneiden, damit an der zurück - bleibenden Narbe der ſo gezinkte Sſlichener der ganzen übrigen Genoſſenſchaft als Verräther gekennzeichnet bleibe. Dieſes Sſlichner - zinkenen ſcheint jedoch ebenfalls in Abnahme gekommen und einem derben Durchprügeln gewichen zu ſein. Von letzterer Praxis ſind mir manche ſchwere Fälle bekannt geworden; aber nur ein ein - ziges mal habe ich einen alten jüdiſchen Vaganten getroffen, deſſen ſtarke Narbe auf der linken Wange die Vermuthung eines Sſlich - nerzinkens zuließ.

2)Sſlichos, her um andauernde Vergebung der Sünden. Das Sſlichnen ent - ſpricht der chriſtlichen Beichte, und iſt vom Gaunerthum auf das Geſtändniß vor Gericht und überhaupt auf den Verrath der Gaunergeheimniſſe über - tragen.

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Neunzehnles Kapitel. ζ) Die Gaunernamen.

Wie jedes beſondere Kennzeichen1)Selbſt das Brandmal (Chaſſime) wird zu den Zinken gerechnet. an der Perſon des Gauners als Zinken angeſehen und benannt wird, ſo geben auch beſondere Kennzeichen, Fehler, Gebrechen, ja auch die beſondere Herkunft oder beſondere Ereigniſſe und Erlebniſſe, Anlaß, jeden einzelnen Gauner mit einem eigenen Spitznamen zu zinkenen, von denen jeder Gauner mindeſtens einen hat. So hieß der zum Studiren beſtimmte Damian Heſſel das Studentchen oder Bocherle, bis eine ekle Krankheit ihm einen andern Schmuz - namen verſchaffte; Matthias Weber von ſeiner bramarbaſirenden Wildheit Fetzer; die beiden Schifferſöhne Franz und Jan Bor - beck het Scheppertje. So gibt es den Beinamen Parrach (Grindkopf), Einäugiger, Einohr, Dicker, Langer, Schiefbein, Kurz - arm, Schnut u. ſ. w. Auch werden, wie im gemeinen Leben, die Geburtsörter zur Namensbezeichnung gebraucht, z. B. Hamburger, Frankfurter, Dresdener, Lübecker, Moislinger, Berliner, Stutt - garter, Franzos, Pollack u. ſ. w. Auch ein bürgerliches Gewerbe dient zur Bezeichnung, z. B. der Schuſter, Spengler, Scheren - ſchleifer, Keßler, Weber u. ſ. w. Die Kenntniß aller dieſer Namen in Verbindung mit der Perſon, welche ſie führt, iſt für den Polizeimann von großer Wichtigkeit, da alle Gauner ſolche Spitz - namen führen, und hinter dieſem Verſteck ihre Perſon und Ante - cedentien zu verbergen ſuchen. Die Namen, unter denen die Gauner öffentlich auftreten, ſind gewöhnlich falſch, ſo ſtrenge auch die Geſetzgebungen die Führung eines falſchen Namens zu be - ſtrafen angefangen haben. So oft ein Gauner einen Paß auf einen andern Namen erſchleichen, anfertigen, ſtehlen oder kaufen kann, verändert er den Namen nach dieſem Paß. Solange dies nicht gelingt, ſolange führt er ſeinen einmal angegebenen Namen unfreiwillig fort. Auf die Namen, unter welchen die Gauner frei69 auftreten, oder auf die urſprünglichen richtigen Namen iſt weit weniger Werth zu legen, als auf die Namen, unter welchen der Gauner in der Gaunerwelt bekannt iſt. Es iſt daher ein großes Verdienſt der neuern Polizeiliteratur, namentlich der Zeitſchriften, daß ſie beſtändig auf die verſchiedenen Namen, welche dieſes oder jenes Subject führt, aufmerkſam machen, da hierdurch die wahre Perſon und die Verhältniſſe viel leichter ermittelt werden können.

Die Führung mehrerer Namen bei den Juden, welche ihnen jetzt von den meiſten Geſetzgebungen unterſagt iſt, rührt bekannt - lich von der Namensänderung her, welche Abraham (urſprünglich Abram) und Sarah (Sarai) nach Geneſ., Kap. 17, V. 5 und 15, und Jſrael (Jakob), Geneſ., Kap. 32, V. 28, auf göttlichen Be - fehl vornahm, ſowie auch von den Beinamen, welche der ſterbende Jſrael (Geneſ., Kap. 49) beim letzten Segnen ſeinen Söhnen beilegte. 1)z. B. Juda, Arje, Löwe; Benjamin, Seew, Wolf u. ſ. w.Die Aenderung des Namens galt bei den Juden ſeit undenklichen Zeiten als ein Mittel, ein unglückliches Geſchick in ein günſtigeres zu verwandeln, weshalb in ſolchen Fällen bis auf die neueſte Zeit, z. B. bei ſchweren Krankheiten, die Reconvale - ſcenten entweder auf dem Krankenbette oder in der Synagoge vom Rabbiner ſich benſchen (ſegnen) und einen andern Namen beilegen ließen. Sehr häufig laſſen die Juden auch ihren Ge - ſchlechtsnamen, namentlich die Namen Kohen und Levi, fort, und begnügen ſich mit dem ſpeciellen Vornamen.

Zu dieſen uralten Willkürlichkeiten, denen erſt, wie bemerkt, in neueſter Zeit Einhalt gethan iſt, kommt aber die von den jüdi - ſchen Gaunern ſtark ausgebeutete allgemeine Verſtümmelung der urſprünglichen Namen, welche aber auch wieder in der ſchlechten Ausſprache ihren Grund hat. Dieſe Verſtümmelungen ſind ſo arg und durchgreifend, daß ſie dem Polizeimann geläufig ſein müſſen, weshalb denn nach den ſchon von Selig in ſeinem Lehr - buch der jüdiſch-deutſchen Sprache , S. 62, und von Schwencken, a. a. O., S. 27, gegebenen Verzeichniſſen die hauptſächlichſten Verſtümmelungen hier angeführt werden ſollen:

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  • Aaron,Arend, Arendchen.
  • Abigdon,Victor.
  • Abraham,Aberl, Afrom, Afroemche.
  • Aſcher,Anſchel, Maſchil.
  • Baruch,Boruch, Borach.
  • Benedict,Bendet.
  • Benjamin,Seef, Wolf, Wulf.
  • Chanoch,Hennig, Haendel.
  • Dowid,David, Dovidchen.
  • Elieſer,Eleaſſer, Leeſer, Leyſer, Loeſer, Laſer, Lazarus.
  • Elija,Elias, Elie.
  • Emanuel,Manuel, Mendel.
  • Ephraim,Fraime.
  • Feibel,Philipp.
  • Feidel,Feitele, Veitele, Veudt.
  • Feiſt,Feis.
  • Gabriel,Gafril, Gefril.
  • Gerſon,Geronam, Geronymus.
  • Gideon,Gedide.
  • Gumpel,Gumperts, Gumprecht, Gumperich.
  • Heinemann,Heim, Chaium, Chaimche, Heimann, Hermann.
  • Heſſekiel,Cheskel, Heskel.
  • Jakob,Jacof, Jecof, Jocof, Jaincof.
  • Jehudah,Juda, Juidel, Judchen, Löwe, Löb, Leo.
  • Jeremias,Jeremie.
  • Jeſajas,Jeſſel, Jees, Jeschaje.
  • Jiſſroel,Jſrael, Jſril, Jſrul, Jſſerl.
  • Jitzchak,Jſaak, Eiſech, Jtzek, Eiſſig, Jckzack, Jtzok, Gitzok.
  • Joachim,Jochime, Jochine, Jochum.
  • Joël,Jool, Jolchen, Jaulchen, Julius.
  • Jonas,Jone, Jonichen.
  • Kain (Chaijim),Chaium, Heyne, Heinemann.
  • Katz,Kahn.
  • Levi,Leib, Löb, Löw, Löbel, Lion, Leopold.
  • Lucas,Lickes.
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  • Manaſſes,Mones, Mannes.
  • Manus,Magnus, Mannes, Mantje.
  • Marcus,Mark, Mordchen, Mottchen.
  • Mataſſiohu,Matteus.
  • Mauſche,Moſes, Moſche, Moritz.
  • Michel,Machol, Macholchen.
  • Mordechai,Markus, Merkel.
  • Naphthali,Zewi, Hirſch, Hirſchel, Höſchel.
  • Nathan,Nathgen, Nahtje, Natiche, Noſen.
  • Sacharja,Zacharias.
  • Schimon,Simeon, Schimme, Schiman, Simschen.
  • Schimſchon,Samſon, Simſon.
  • Schlomo,Salamo, Salman.
  • Schmuel,Samuel, Sanwil.
  • Sender,Sendel, Alexander.
  • Tobias,Dubie, Debele.

Als die bekannteſten und gewöhnlichſten Judennamen hat Selig, a. a. O., S. 63, noch angeführt: Aaron, Uri, Efraim, Jttomer, Eljokim, Elchonan, Jckal, Brocho, Boruch, Berachia, God oder Gad, Gedalja, Gawriel (Gabriel), Don oder Dan, Hillel, Hendel, Hillmann, Walk oder Falk, Sußmann, Serach, Cheſkija, Febel, Joſſef oder Joſeph, Jachiel, Jaunoſſon oder Jo - nathan, Joir, Jainkof oder Jakob, Jokor, Jeruchom, Kaſſriel, Lemel, Moril, Moſchil, Meier, Michal, Monis, Mono, Mnachem, Meſchallem, Nauach oder Noah, Nachmann, Niſſan, Noſſon oder Nathan, Sender, Auſer, Aikiwa, Aſriel, Enſel, Feibeſch, Feibel oder Philipp, Peretz, Zemach, Koppel, Kaddiſch, Ruben, Schabſſe oder Schebſſel, Schallum, Schauel oder Saul, Schmaija, Tan - chem, welche Namen auch vielfach von jüdiſchen Gaunern geführt werden, und unter welchen ſich dann alle Gauner genau kennen.

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Zwanzigſtes Kapitel. η) Der Zinkplatz.

Endlich werden auch beſtimmte Oerter und Stellen von den Gaunern gezinkt, welche davon den Namen Zinkplätze füh - ren. Zinkplatz jüdiſch-deutſch Wiatzef, von〈…〉〈…〉 (jazaf, hizif), er hat aufgerichtet, hingeſtellt , wovon〈…〉〈…〉 [matzewo], Monument, Statue, Grabmal), oder Emet, Emmeſſ1)Das Wort〈…〉〈…〉 iſt eine kabbaliſtiſche Bildung aus den drei letzten Buchſtaben der drei erſten Worte der Thora (mit Bezug auf Pſalm 119, V. 160, wo es heißt:〈…〉〈…〉 der Anfang deiner Worte iſt Wahr - heit ), um die Wahrheit der Schöpfung durch Gott nachzuweiſen, und daß die Wahrheit obenan ſteht:〈…〉〈…〉 (bereschit bara elohim) im Anfange ſchuf Gott . Die drei letzten Buchſtaben in der Anordnung〈…〉〈…〉 bilden das Wort emet, emmess, die Wahrheit. Dies Wort iſt voll - ſtändig in die Gaunerſprache aufgenommen worden und bedeutet die Wahr - heit, ganz beſonders aber das Geſtändniß im Verhör. Emmeſſ machen, ſchmuſen, dabbern, dibbern, medabbern, Geſtändniß ablegen; auch Emmeſſ pfeifen, als verächtliche, erbitterte Bezeichnung des verrätheriſchen Geſtändniſſes (Sſlichnens).,〈…〉〈…〉, die Wahrheit, Beſtimmtheit heißt jeder von Gaunern beſonders bezeichnete und beſtimmte Ort, und kann daher ſowol jede Be - hauſung als auch jede Stelle im Freien auf Wegen, im Feld und Wald ſein. Der Zinkplatz, Wiatzef oder Emmeſſ, dient zur Ver - mittelung der gauneriſchen Communication, wie auch zum beſon - dern Verſammlungsort vor oder nach einem Handel. Auf dem Wiatzef, der jedesmal ſchon bei dem Baldowern, ſpäteſtens nahe vor Ausübung des einzelnen Diebſtahls, beſtimmt wird, verſam - melt ſich die Chawruſſe, und zieht ſich auch wieder auf denſelben nach vollbrachter That zurück, wenn nicht dafür ein anderer Wiatzef als Jntippel (ſ. d.) beſtimmt, oder das Unternehmen ge - ſtört und die Chawruſſe auf die Flucht gejagt iſt. Beſteht der baldowerte Maſſematten aus ſchwer zu transportirenden Gegen - ſtänden, die nicht bequem in Tragſäcken, Kiſſimer (von〈…〉〈…〉, Beutel, Säckel) fortzuſchaffen ſind, ſo bleibt ein Chäwer auf dem73 Zinkplatz mit dem Fuhrwerk, Agole, Michſegole, zurück. Zum Zinkplatz, wo das Fuhrwerk die Diebe erwartet, wird eine ver - ſteckte Stelle hinter einem Gebäude der Vorſtadt, hinter einem Stall, oder einer Scheune oder unweit des Thors, zur Seite einer dunkeln Allee, gewählt, wobei denn die Geſchicklichkeit des Fuhrmanns darin beſteht, dem Begegnenden oder Beobachtenden irgendeinen unverfänglichen Vorwand anzudeuten, warum er hier hält, z. B. daß er dem Pferde zupfeift oder auch vom Wagen ſteigt und am Geſchirr umherſchnallt, als ob etwas daran ſchad - haft geworden iſt, oder auch die Pferde füttert. Mislingt ihm dies Bemühen, und kann er, ohne Verdacht bei dem Beobachtenden zu erregen, nicht bleiben, ſo iſt er abgezinkt, und er muß weg - fahren. Abgezinkt iſt überhaupt jeder Dieb, der bemerkt und be - obachtet, und daher in ſeinem Unternehmen verhindert iſt, oder auch nach vollbrachtem Diebſtahl Spuren nachgelaſſen hat, an denen er erkannt und entdeckt werden kann. Vgl. im Wörter - buch: zinken und abzinken.

Einundzwanzigſtes Kapitel. c) Der Vertuſſ.

Vertuſſ vom Mittelhochdeutſchen tüſchen, täuſchen, Niederdeutſch tüſchen und tüſſen1)Jm Niederdeutſchen iſt das Tüſchen und Tüſſen auch jetzt noch durch - gehender Sprachgebrauch. Tüſſ, tüſſ! iſt die begütigende und abweiſende Zuſprache bei ausbrechender Leidenſchaft oder unrechtfertigen Handlungen und bedeutet: Still doch! Dieſe Ableitung erſcheint natürlicher als die vom ſüdiſch-deutſchen〈…〉〈…〉 (teschuoss), der donnernde polternde Lärmen. Vgl. das hebräiſche〈…〉〈…〉, Sturm, Donnerwetter, Verwüſtung., verdecken, zudecken, beſchöni - gen, beſänftigen bedeutet, dem Sinne des heutigen volksthümlichen Worts vertuſchen entſprechend, die Verdeckung einer Handlung durch Vornahme einer andern, welche die Aufmerkſamkeit der An - weſenden in Anſpruch nimmt. Der Vertuſſ iſt ſomit jede Hand - lung, welche dazu dient, die Aufmerkſamkeit von jener Haupt -74 handlung abzulenken, und darf deshalb nicht mit Thiele blos als Gedränge1)Der Schrekener wird ja auch Vertuſſer genannt, und wird ſchwerlich in einem Gewölbe oder Laden Gelegenheit und nöthig haben, ein Gedränge zu machen. S. weiter unten Das Schrekenen . überſetzt werden, da das verabredete Gedränge nur eine der vielen ſecundären vertuſſenden Handlungen iſt. Der Vertuſſer oder Vertuſſmacher hat, zur Unterſtützung ſeines Kameraden, bei öffentlicher Gelegenheit einen Freier, das heißt die Perſon, die beſtohlen werden ſoll, nach Verabredung, nach gemeinſamer Kunſtregel und nach Ort und Gelegenheit ſo zu beſchäftigen, daß des Freiers Aufmerkſamkeit auf ihn gelenkt und vom Diebe abgeleitet wird. So macht der Gauner Vertuſſ, wenn er vor einem Schauladen auffallende Bemerkungen macht, auf - ſehenerregende Handlungen begeht, z. B. wie durch Zufall eine Fenſterſcheibe einſtößt, damit, im Aufſehen auf ihn, ſein Kamerad einem Nebenſtehenden in die Taſche langen kann. Vertuſſ macht der Gauner, der den Freier an irgendeinem öffentlichen Ort wie einen alten Bekannten umarmt, hält und beſchäftigt, während ſein Kamerad jenem oder auch einem nahen andern die Uhr oder Doſe nimmt; oder der Gauner, der ſein Kind öffentlich mis - handelt und die Aufmerkſamkeit auf ſich und das Kind zieht; oder der mit Jemanden auf öffentlichem Wege Streit anfängt, oder epileptiſche Zufälle ſimulirt, den Betrunkenen ſpielt, als ſcharfer Reiter ſein Pferd ſtraft u. ſ. w., ohne daß jedoch gerade ein Ge - dränge dabei nothwendig wäre. Freilich wird oft verſucht, ein Gedränge zu bewirken, namentlich bei Zuſammenfluß einer größern Menſchenmenge, was auf Jahrmärkten, im Theater und bei öffentlichen Verſammlungen beſonders der Fall iſt, vorzüglich wenn kein ſpecieller Vertuſſ verabredet iſt, und der Dieb, der einen guten Freier in der Nähe hat, plötzlich den Zink zum Vertuſſ gibt. Bei dem Vertuſſ mit Gedränge fallen häufig arge Prügeleien vor, und der dienſtgefällige Vertuſſmacher muß die alte ſilberne Spindel - uhr, die ſein Kamerad dabei ſtiehlt, meiſt immer mit ſchmerzhaften Beulen und aufgelaufenem Geſichte bezahlen, wenn er nicht gar75 überdies noch als Händelmacher zur Haft und Unterſuchung gezogen wird. Der Dieb kann aber auch ſelbſt, ohne Beihülfe eines Dritten, Vertuſſ machen, z. B. durch Simulation von Trunkenheit oder Albernheit, oder durch Provocation ſonſtiger Auffälligkeiten, welche die lebhafte Aufmerkſamkeit nach einer be - ſtimmten Richtung lenken, wie dies z. B. durch Feuerruf in Thea - tern und zahlreichen Verſammlungen geſchieht. Auf alle Fälle iſt es klug und geboten, jeden, der öffentliches Aufſehen erregende auffällige Handlungen begeht, oder Händel anſtiftet, ſofort anzu - halten, zu unterſuchen, und nach Befinden zu ſtrafen, wozu ſchon der bloße Bruch des Friedens auf Märkten und offenen Wegen und Stegen genugſame Veranlaſſung gibt, wenn man auch nicht immer im Stande iſt, die öffentlich dargelegten Affecte und Ge - brechen gleich auf der Stelle als Simulation und Vertuſſ zu unterſcheiden. Jn dieſer Beziehung zählt ſchon der Liber Vaga - torum eine Menge Vertuſſarten auf, die auch noch heutiges Tages in Anwendung kommen. Mehr als einmal hat wol jeder Polizei - mann verfolgte Bettler und Hauseinſchleicher die Krücken weg - werfen und eiligſt davon laufen ſehen, daß, wie der Liber Vaga - torum ſagt, ein Pferd ihn nicht möcht erreichen . Ein faſt täglich und beſonders von Kindern gemachter und immer noch nicht ſogleich richtig gewürdigter Vertuſſ iſt das laute Weinen und Jammern auf den Straßen unter dem Vorgeben, Geld ver - loren oder ein Geräth zerbrochen zu haben, um die Vorüber - gehenden zum Mitleid zu bewegen, die meiſtens auch ſehr raſch eine oft überreichliche Collecte veranſtalten. Jn dieſer Weiſe gibt es noch unzählige Vertuſſarten, die zumeiſt auf das Mitleid be - rechnet ſind, und gegen die man ſich nur durch kalte Beſonnen - heit ſchützen kann.

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Zweiundzwanzigſtes Kapitel. α) Das Schrekenen.

Obſchon, nach der bereits angeführten Etymologie1)Die Ableitung von〈…〉〈…〉 (sorak), werfen, bei Thiele, iſt falſch und gibt auch keinen Sinn., das jüdiſch-deutſche Wort Schreko gleichbedeutend iſt mit dem Worte Zinken, ſo wird das davon abgeleitete Schrekener, ſchrekenen oder Srikener, ſrikenen, doch nur im beſchränktern Sinne des Vertuſſers, und zwar auch dabei wiederum in der Beſchränkung auf Diebſtähle in offenen Läden und Gewölben, und vor den Augen des Verkäufers, beſonders beim Schottenfellen und Chilfen, gebraucht. Der Schrekener oder Srikener begleitet den Ladendieb (den Schautenpicker) oder den Chalfen in die Gewölbe und Läden, und hat dabei die Aufgabe, Vertuſſ zu machen (weshalb der Srikener auch Vertuſſer genannt wird), oder, wie das Vertuſſ - machen ſpeciell in Läden und Gewölben heißt, zu ſrekenen, d. h. des Verkäufers Aufmerkſamkeit zu feſſeln, damit ſein Kame - rad, der Schautenpicker, deſto unvermerkter ſtehlen kann. Ueber dieſes Srekenen wird bei dem Kapitel vom Schottenfellen und Chilfen weiter geſprochen werden.

Dreiundzwanzigſtes Kapitel. β) Das Meiſtern.

Eine ſehr ſchwierige und feine Art des Vertuſſ iſt das Mei - ſtern. Darunter verſteht man die von dem Begleiter eines Diebes, oder von dem letztern ſelbſt bei Verübung eines Diebſtahls aus - gehende Beſchäftigung und Bannung der Aufmerkſamkeit des unerwartet herannahenden Freiers oder einer dritten Perſon, da - mit das ſchon begonnene Unternehmen verborgen bleibe, oder die Vollendung deſſelben nicht geſtört, auf alle Fälle aber mindeſtens77 der Rückzug geſichert werde. Man begreift, welche Geiſtesgegen - wart und Verwegenheit dazu gehört, ein ſo plötzliches Dazukommen, den Aufſtoß, nicht nur zur Sicherheit der Gauner, ſondern auch zur Fortſetzung und Vollendung des Verbrechens zu paralyſiren. Gerade hierin enthält die Geſchichte des Gaunerthums zahlreiche Beiſpiele von erſtaunlicher Geiſtesgegenwart und Frivolität. 1)Als Lips Tullian nach dem großen Brande in Wurzen in die Dom - kirche gebrochen war und die Wächter auf das Geräuſch, welches beim Auf - brechen der Sakriſteithür entſtand, herbeieilten, den im Fenſter ſitzenden Lips Tullian jedoch nicht bemerkten, ſich aber dem Fenſter gegenüber unter einen Baum ſetzten, trat Tullian’s Kamerad Zimmermann, der Schmire geſtanden hatte, heran, ſpielte den ſchwer Betrunkenen und hockte dicht bei den Wächtern nieder, indem er ſeine Nothdurft verrichtete, worauf ſich die Wächter lachend und murrend zurückzogen. Vgl. Lips Tullian , I, S. 165 u. 166.Vorzüglich fällt den Schmiren das Meiſtern zu, weshalb denn auch die geübteſten Gauner zu Schmiren ausgeſtellt zu werden pflegen. Außerhalb des Hauſes iſt es den Schmiren meiſtens nicht ſehr ſchwer, den in ſpäter Nacht vielleicht aus fröhlicher Geſellſchaft zurückkehrenden Freier durch Fragen, Bemerkungen u. dgl. aufzuhalten. Auch läßt ſich die Aufmerkſamkeit der Nacht - wächter leicht auf Nebendinge lenken, indem nach der Uhr gefragt und ein Geſpräch angefangen, in einiger Entfernung vielleicht von einem andern Kameraden Geräuſch als Vertuſſ gemacht wird, um die Aufmerkſamkeit der Wächter dorthin zu ziehen. 2)Die Rheiniſchen Banden hatten ein beſonderes Geſchick, die Aufmerk - ſamkeit der Nachtwachen auf Stadttheile zu richten, welche gerade in entgegen - geſetzter Richtung von den Stadttheilen lagen, wo der Maſſematten gehandelt werden ſollte.Es ſind neuere Fälle bekannt, daß mit einem aus dem Fenſter blicken - den Hausmädchen ein Liebesgeſpräch begonnen wurde, während um die Ecke des Hauſes der andere Dieb die Fenſterſcheibe aus - ſchnitt. Jn einem andern Falle wurde bei einem Ständchen mit Guitarrebegleitung im Nachbarhauſe eingeſtiegen, um dem das Rou - leau aufziehenden Freier die Gegenwart zweier als Schmiren auf - geſtellter Perſonen auf der Straße zu motiviren. Sehr bedenklich iſt das Meiſtern beim Aufſtoß im Hauſe, namentlich zur Nacht -78 zeit, in welchem Falle meiſtens die Flucht verſucht, wenn nicht zur Gegenwehr und Gewalt gegriffen wird. Am Tage iſt die Gegenwart eines Fremden, der beim Aufſtoß ſogleich nach einem Herrn Müller, Meyer oder Fiſcher u. ſ. w. fragt, einigermaßen unverdächtig anzuſehen, namentlich wenn er ſich als Geſchäfts - mann zu irgendeinem Gewerbe, als zum Zahnausziehen, Friſiren, Raſiren, Klavierſtimmen, Tapeziren, Uhrenaufziehen, oder die weibliche Gaunerin als Hebamme, Lavementſetzerin, Putzhändlerin beſtellt, in Gaſthöfen auch wol fich ſogar für eine disponible Perſon ausgibt. Selbſt im ſchon aufgeſchloſſenen Zimmer kann der Dieb beim Aufſtoß ſich als für ein ſolches Gewerbe beſtellt geltend machen und ſein Eintreten durch die offengefundene Thür artig entſchuldigen. 1)Einen ſolchen ſehr pikanten Fall erzählt Thiele, a. a. O., I, 37. Hirſch Salomon Wohlauer, der im Jahre 1830 das Logis eines in Berlin anweſenden fremden Leinwandhändlers aufgeſchloſſen, aus einer Schublade 62 Thaler entwandt hatte, und ſchon im Begriff war fortzugehen, wurde vom unerwartet dazu kommenden Beſtohlenen noch im Zimmer betroffen. Ohne die mindeſte Verlegenheit redete Wohlauer jenen an, wie er ſo unvorſichtig ſein könne, die Thür offen zu laſſen, die er offen gefunden habe, als er gekommen ſei, um Leinwand zu kaufen. Wohlauer kaufte hierauf dem Beſtohlenen noch ein Stück Leinwand ab, bezahlte es mit dem geſtohlenen Gelde und entfernte ſich unangefochten.Aus gleicher Vorſicht geht der ſchon mit geſtohlenen Sachen bepackte Dieb ſtets rückwärts die Treppen hinab, indem er bei herannahendem Geräuſch ſofort die Treppen hinanſteigen kann, als ob er Sachen an Herrn Müller, Meyer, Fiſcher u. ſ. w. bringen will, wobei er denn meiſtens von dem Beſtohlenen ſelbſt als in eine falſche Wohnung gerathen, aus dem Hauſe gewieſen wird, das er denn auch mit einer flüchtigen Ent - ſchuldigung raſch verläßt. Andere feſte Regeln können kaum an - geführt werden. Die jedesmalige Situation gibt die Rorm, beim Aufſtoß den Freier zu meiſtern, damit der Maſſematten vollſtändig gehandelt werde.

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Vierundzwanzigſtes Kapitel. γ) Das Zuplanten.

Mit der Vollendung des Diebſtahls iſt der Beſitz des ge - ſtohlenen Guts noch nicht gleich geſichert und die Gefahr der Entdeckung noch nicht gleich beſeitigt. Der Gauner weiß, daß der Beſitz einer geſtohlenen Sache ein ſchweres Jndicium gegen ihn iſt. Deshalb iſt ſeine erſte Sorge, das Geſtohlene ſofort aus ſeinen Händen in die der Genoſſen zu geben, deren Gegenwart oder Betheiligung beim Diebſtahle gar nicht oder doch ſchwieriger zu beweiſen iſt. Dieſes raſche und heimliche Fortgeben in die Hände der Genoſſen heißt zuplanten1)D. h. zupflanzen, in die Hand eines Dritten pflanzen. Dies Wort ſteht der Bedeutung nach mit der Kawure in enger Beziehung, ſ. das Ka - pitel Kawure. Die ſpaniſche Gaunerſprache, Germania genannt, hat Plantar, eingraben, kawure legen., und geht äußerſt behende und raſch von ſtatten, da bei allen gewagtern Unter - nehmungen, die ein Zuplanten nöthig und nützlich machen, ſich die Genoſſen jedesmal dazu bereithalten, das Geſtohlene dem Diebe raſch abzunehmen. So iſt oft ſchon eine Uhr oder Doſe längſt aus dem Theater, ehe der noch bei dem Diebe ſitzende Beſtohlene (Balhei) dieſelbe vermißt. Der Balhei hat nun ſelbſt bei dem dringendſten Verdacht keinen Beweis gegen den Dieb, und ſetzt ſich bei einer Anſchuldigung den gröbſten Beleidigungen oder ſogar einer läſtigen gerichtlichen Procedur aus. Oft iſt aber auch der Verdacht ſo raſch und dringend, daß der Gauner das Geſtoh - lene nicht ſchnell genug den Genoſſen zuſtecken kann. Hier kommt es nun darauf an, dem Balhei ſelbſt oder dem erſten beſten in der Nähe befindlichen Unbekannten unvermerkt das Geſtohlene zu - zuplanten, was häufig bei der erſtaunlichen Fertigkeit der Gauner glänzend gelingt, und dann den anſchuldigenden Balhei in die peinlichſte Situation verſetzt. Frappant ſind die Fälle, welche Thiele bei Gelegenheit der Löwenthal’ſchen Unterſuchung erzählt. 2)Jn dem einen Falle wußte der Gauner Wolff Moſes am 18. Mai 183080Das Zuplanten und das Chilfen erfordert die äußerſte Gewandt - heit, und gilt daher bei den Gaunern als Bravourſtück, deſſen ſie ſich gern und laut unter ihresgleichen berühmen, ſobald ihnen ein ſolches Geſchäft gelungen iſt. Es iſt auch die Hauptgrund - lage bei der Taſchenſpielerkunſt, womit eine Unzahl reiſender Gauner das Publikum in Erſtaunen zu ſetzen weiß. Das Ein - verſtändniß der Gauner zeigt ſich aber am gefährlichſten bei den Beſuchen, zu denen ſich die wirklichen und angeblichen Angehörigen des gefangenen Gauners in die Gefängniſſe zu drängen ſuchen, um letzterm Geld und Fluchtmittel zuzuplanten. Ungeachtet der Gegenwart des Gefängnißbeamten und ſeiner genaueſten Auf -2)nicht weniger als 30 Thaler, die er einem Handelsmann beim Wechſeln aus der Geldkatze geſtohlen hatte, dieſem wieder zuzuplanten, als derſelbe ihn anhielt, ihm ins Quartier folgte und dort auf Wolff Moſes Verlangen ſein Geld nachzählte, welches er nun mit Staunen ganz richtig fand. Jn einem andern Falle wußte Jakob Bernhardt, aus dem lübeckiſchen Dorfe Moisling, in einem berliner Laden, wo er Medaillen ſtehlen wollte, und von dem zuvor gewarnten Ladenbeſitzer nebſt zwei im Laden verſteckten Polizeibeamten ſcharf beobachtet wurde, nicht nur dennoch vier Medaillen zu ſtehlen, ſondern auch bei ſeiner Arretirung unvermerkt dem ihn begleitenden Polizeicommiſſarius in die Taſche zuzuplanten. Vgl. Thiele, a. a. O., II, 111. Unübertroffen bleibt jedoch die Gewandtheit und Frechheit des Cartouche. Als er nämlich am meiſten in Paris von ſich reden machte, äußerte der König einmal bei der Abendtafel, er möchte den Cartouche doch wol einmal ſehen. Andern Morgens auf dem Wege nach dem Audienzſaal, in Begleitung zweier Kammerherren, bemerkte der König in einem Zimmer einen Menſchen, der die filbernen Wandleuchter zu poliren ſchien. Die Leiter, auf welcher er ſtand, drehte ſich ſowie der König ſich näherte, und wollte umfallen. Der König ſprang ſogleich hinzu und hielt ſie mit den Worten: Nehmen Sie ſich in Acht, Sie konnten leicht verunglücken . Cartouche ſtieg jetzt von der Leiter, machte dem Könige ſeine Verbeugung mit den Worten: Ew. Majeſtät ſind ein zu gnädiger Monarch, unter deſſen Schutz ich nie verunglücken werde. Der König lächelte über dieſe Worte des vermeinten Leuchterputzers, und ging in den Audienzſaal, in welchem er ſofort in die Taſche nach ſeiner Doſe griff. Zu ſeinem Erſtaunen lag in der Doſe ein Billet: Cartouche hat die Ehre gehabt mit Ew. Maje - ſtät zu ſprechen. Er konnte die filbernen Wandleuchter nehmen und auch Ew. Majeſtät Doſe, denn ſie waren in ſeinen Händen; allein Cartouche raubt ſeinem Könige nichts. Er wollte nur Ew. Majeſtät Wunſch erfüllen. Na - türlich hatte Cartouche ſich ſogleich aus dem Staube gemacht. Vgl. Neueſtes Räuber -, Diebs - und Gaunerarchiv (Quedlinburg 1812), S. 138.81 merkſamkeit kann es nicht verhindert werden, daß der gefangene Gauner dem ihm vielleicht ganz ferne ſtehenden, aber durch den erſten Blick und Zink als Gauner nahe verbundenen Beſucher weinend mit affectirter Leidenſchaft um den Hals fällt, daß er ihm im unendlichen Schmerze mit den Händen an den Kopf faßt, ihn herzt, und inzwiſchen ihm aus dem Halstuch, Haar, Ohr oder Bart eine feine Feder oder Feile herauszieht, während ſein feſt auf den Mund des Beſuchers gepreßter Mund einen Klamo - niſſ oder ein Goldſtück in Empfang nimmt. Vorzüglich drängen ſich in dieſer Weiſe die Weiber und Concubinen in die Gefängniſſe, und bringen auch Kinder mit, die oft dem Gauner ganz fremd ſind, an deren Gegenwart er jedoch gleich bemerkt, daß in der Flöte, Trompete oder dem andern unverdächtigen Spielzeug des Kindes ein Gegenſtand ſteckt, den er im unſchuldigen Scherzen und Spielen mit dem Kinde geſchickt herauszuholen weiß. Auch drängt ſich häufig ein getreuer Pudel oder Spitzhund mitherein, ſpringt an den lang vermißten Herrn wedelnd in die Höhe, der ihn gerührt umarmt und liebkoſt, dabei aber unter dem Schwanz, Halsband oder aus dem dichten Haar zwiſchen den Vorderbeinen des Thiers die Klamoniſſ, Feilen u. dgl. herauszieht, die ſeine Genoſſen daran befeſtigt haben. Die Hunde ſpielen überhaupt eine wichtige Rolle bei den Gaunern. Abgeſehen von dem merk - würdigen, faſt hiſtoriſch gewordenen Hunde des Bairiſchen Hieſel, der in der That die tapferſte und gefürchtetſte Begleitung des Hieſel war, findet man die beſtdreſſirten Hunde bei Gaunern, die ja auch häufig mit ihnen zur Schau umherziehen. Die Hunde ſind nicht nur dazu abgerichtet, alles, was der Herr hinwirft, auf - zugreifen und an niemand als an dieſen abzulaſſen1)Als der Gauner Tom Gerhard am 24. Auguſt 1711 zu Tyburn ge - henkt wurde, lief ſein ſehr hübſcher Bologneſerhund dem presbyterianiſchen Geiſtlichen Dr. Burges zu, welcher ſich des verwaiſten Thieres annahm. Zum Schrecken des geiſtlichen Herrn zeigte der Hund jedoch bald bei den Gängen durch die Straßen, daß er ſehr geſchickt den Leuten die Geldbeutel aus der Hand wegzuſchnappen wußte, welche er ſeinem Herrn brachte. Dieſer ließ nun aus Furcht, daß auch im Verſammlungshauſe einmal das bedenkliche Talent: ſie rennenAvé-Lallemant, Gaunerthum. II. 682auch auf einen Wink des Herrn davon, wenn er ihnen bei einem Taſchendiebſtahl das Geſtohlene hinwirft, ja ſie ſpringen, auf einen Wink des Herrn, hurtig auf einen bezeichneten Gegenſtand zu und rennen damit fort, während der Gauner hinter ſeinen Hund herläuft, als ob er ihm das Geſtohlene abjagen wollte, und mit ihm ver - ſchwindet. Ueber andere Arten des Zuplantens wird gelegentlich weiter geſprochen werden.

Fünſundzwanzigſtes Kapitel. d) Das Hrennen.

Der innige Zuſammenhang des Gaunerthums, die gemein - ſame Kenntniß der gewerbsmäßigen Kunſtgriffe, der geübte Blick, den unter dem Schein bürgerlicher Ehrlichkeit einhergehenden gaune - riſchen Genoſſen alsbald unter der Maske zu erkennen, das raſche Auffinden aller geheimen Schlupfwinkel im fremden Orte, und der ſcharfe Ueberblick des Verkehrs in demſelben, befähigt den Gauner, nicht nur ſehr bald, alle ihm verwandten Elemente auszuſpähen, ſondern auch raſche Kunde von allen vollführten Unternehmungen zu erlangen. Die Gauner, welche einen glücklichen Handel ge - macht haben, erhalten daher ſofortigen Zuſpruch von Genoſſen, die an dem Handel ſelbſt nicht theilgenommen haben, und werden theils beglückwünſcht, theils erhalten ſie Winke und Anerbietungen, das Geſtohlene beiſeite zu bringen und That und Thäterſchaft zu verhehlen, theils endlich ſucht die geſchäftige Eigennützigkeit eine drohende Gefahr darzuſtellen, Verſchwiegenheit und Beihülfe zu geloben und ſonſt ſich wichtig zu machen. Meiſtens ſind dieſe Gratulanten Gauner, die am Orte ſelbſt wohnen, und daher an dieſem nicht leicht ſelbſt ein Unternehmen wagen dürfen, häufig1)zum Ausbruch kommen möchte, das verfängliche Erbſtück auf dieſelbe Weiſe aus der Welt befördern, wie dem Erblaſſer geſchehen war. Vgl. Smith, a. a. O., S. 373.83 auch beſtechliche Vigilanten, oft aber auch fremde Gauner, denen die Kunſtreiſe misglückt iſt, indem ſich ihnen keine günſtige Ge - legenheit zu einem Handel darbot. Beſuche der Art ſind den glücklichen Gaunern ſo läſtig wie gefährlich, da dieſe rührige Be - wegung des Gaunerthums dem ſcharfen Blicke des geübten Poli - zeimanns nicht leicht entgeht, weshalb denn auch ein Grund mehr für den Dieb vorhanden iſt, zur Sicherheit ſeiner Perſon und des Geſtohlenen ſich ſo raſch wie möglich aus dem Staube zu machen. Oft können jedoch die glücklichen Gauner der läſtigen Gratulation dennoch nicht entgehen, und müſſen daher die durch Herkommen eingeführte, nach Umſtänden unverſchämt dreiſt und hoch geforderte Gewerbsſteuer, das Branntweingeld1)Jüdiſch-deutſch Schibbauleſſ, von〈…〉〈…〉, die Kornähre, wie über - haupt jeder Antheil an der Diebsbeute genannt wird, den ein Vertrauter für irgend geleiſtete Dienſte erhält, der nicht ſelbſt direct den Maſſematten mit - gehandelt hat. Vgl. Schränken, Cheluke halten. , den Gratulanten, Bren - nern, bezahlen, welche ſie um das Branntweingeld brennen. 2)Die Etymologie iſt wol am richtigſten von berennen (insilire), nicht wol von brennen (urere), wofür der Ausdruck ſarfenen der gebräuch - liche iſt. Das Wort Branntweingeld iſt erſt eine neuere Ableitung.

Sechsundzwanzigſtes Kapitel. e) Das Maremokum.

Das geheime Verſtändniß und die verſteckte Verbindung des Gaunerthums wird auch ſelbſt im Gefängniſſe nicht unterbrochen, ſo ſehr alle Mittel von der Behörde angewandt werden, die Ver - bindung zu verhindern. Das geſammte gauneriſche Jntereſſe er - fordert, den gefangenen Gauner ſobald als möglich wieder auf freien Fuß zu bringen. Wo dieſe Befreiung nicht durch äußere Gewalt, durch Beſtechung der Gefangenwärter, oder durch Zu - planten von Befreiungsmitteln erreicht werden kann, wird der Weg des Alibibeweiſes eingeſchlagen. Der hartnäckig leugnende6*84Gauner kann beſtimmt darauf rechnen, daß ſeine Genoſſen baldigſt Zeugen ſtellen werden, welche ſeine Gegenwart an einem fern - liegenden Aufenthalte zur Zeit des verübten Verbrechens bereit - willig beſchwören. Dieſer gewerbs - und pflichtmäßige Alibibeweis wird das Maremokum genannt, von〈…〉〈…〉 Mare, das Sehen, die Erſcheinung, perſönliche Erſcheinung, Geſtalt, und〈…〉〈…〉 (mokom), Ort, Wohnort, Ortſchaft, Stadt, Dorf, in der Compoſition Maremokum, Ortsanzeiger (auch Buchregiſter), der falſche Beweis des Alibi und der falſche Alibizeuge1)〈…〉〈…〉, Eed oder Eid, der Zeuge; Eed ſcheker, der falſche Zeuge; Eduſſ, das Zeugniß; Eduſſ machen, Zeugniß ablegen. ſelbſt; daher die Redensarten: Maremokum dafnen, Maremokum auſſe ſein, Maremokum geben, Maremokum thun oder machen, ein falſches Alibi einzeugen; Maremokum ſtellen, die falſchen Alibizeugen ſtellen.

Gewöhnlich wird ſchon, vor der Ausübung des Verbrechens, auf alle Fälle im voraus beſtimmt, wo der Gauner ſich auf - gehalten haben ſoll, ſodaß ſeine gerichtliche Ausſage mit der der Zeugen in Uebereinſtimmung gebracht werden kann. Meiſtens iſt das die Behauſung des Gauners ſelbſt, wenn dieſe nicht allzu weit vom Orte des Verbrechens liegt. Jn dieſem Falle ſtellen die Weiber und Angehörige ſofort und ohne weiteres die Zeugen. An entferntern Orten, wo der Gauner ſchon ſelbſt oder auf der Reiſe geſehen worden iſt, beſchwören, ſobald die Gefangenſchaft und die Zeit des Diebſtahls bekannt worden iſt, die von der Ge - noſſenſchaft oder Begleitung gekauften Zeugen das Alibi. Ein einziger von den unzähligen Zinken genügt, um den Gefangenen zu einer übereinſtimmenden Angabe zu befähigen, oder die bisher nur theilweiſe Verſtändigung vollkommen zu ergänzen. An Zeugen fehlt es nie. Es iſt eine herbe Wahrheit, daß ſich beſonders chriſt - liche Zeugen immer bereit finden laſſen, für Geld das Maremokum zu beſchwören, ja daß manche ein ſtehendes Gewerbe davon machen, während die Zahl der Juden dagegen immer nur ſehr gering iſt. Frappant iſt das von Thiele aus der Löwenthal’ſchen85 Unterſuchung, I, 113, angeführte Beiſpiel, daß ſogar der Bürger - meiſter zu Betſche zu Gunſten des Moſes Levi Altenburger be - ſchwor, daß er denſelben am 28. Mai 1830, an welchem Tage Altenburger einen großen Nachſchlüſſeldiebſtahl zu Strehlen be - gangen hatte, des Morgens mit einer brennenden Pfeife in Betſche geſehen habe. Gleich überraſchend iſt Thiele’s ſtatitiſche Notiz, daß in jener Unterſuchung achtundzwanzig ſolcher fal - ſcher Zeugen implicirt waren, unter denen ſich nur ein einziger Jude befand. 1)Wie kann man über den ſittlichen Verfall im chriſtlichen Deutſchland ſich noch wundern, wenn der Eid als handwerksmäßiges Beweismittel von Advocaten und Richtern in faſt jedem Civilproceß gebraucht und, höchſtens nur nach einer mechaniſch von Actuar hergeleſenen Verwarnung vor Meineid, ge - leiſtet, und ſo wenig oder gar nichts von demſelben Gerichte, das doch auch den Meineid als ſchweres Verbrechen beſtraft, gethan wird, um die Erhaben - heit und Heiligkeit der eidlichen Verſicherung dem leichtſinnigen oder rohen Zeugen recht einleuchtend zu machen und einer gottesdienſtlichen Feierlichkeit zu nähern. Wie wenig wird bei der oft maſſenhaften gleichzeitigen Beeidigung einer Menge Zeugen die concrete Jndividualität und die Möglichkeit ihres Verfalls in tiefen Aberglauben berückſichtigt, der eine Menge gottloſer Mittel an die Hand gibt, ſelbſt den wiſſentlichen Meineid für das Gewiſſen ohne ſtörenden Einfluß zu belaſſen. Wie feierlich und würdig iſt dagegen die Förmlich - keit bei Ableiſtung eines Judeneides! Man vergleiche hierzu die Verhandlungen des Thüringer Kirchentags zu Waltershauſen vom 20. u. 21. Juli 1857, bei welchen der Kirchenrath Schwarz aus Gotha hervorhob: daß die Religion nicht im Dienſte des Staats ſtehe, folglich auch nicht der Eid, der nicht in den Händen der Obrigkeit als Unterſuchungsmittel ſein dürfe .Das Maremokum erſcheint ſomit als ein bitteres Kriterium unſerer zerfahrenen bürgerlichen und chriſtlich-kirchlichen Zuſtände, ſowie nicht minder als ein leicht erklärlicher Ausfluß des handwerksmäßigen Gebrauchs des Eides vor den Gerichten.

Siebenundzwanzigſtes Kapitel. f) Das Kaſſpern.

Das Kaſſpern, die Kaſſperei, von〈…〉〈…〉 (kosaw), jemand belügen, heucheln, täuſchen, durchſtechen, bedeutet jeden geheimen86 mündlichen aber auch ſchriftlichen Verkehr1)Die Kaſſiwe oder der Kaſſiwer bedeutet überhaupt jeden Brief, auch jedes zur Legitimation dienende Document, Paß, Heimatsſchein, Geburts - ſchein u. dgl., iſt aber nicht von〈…〉〈…〉, ſondern von〈…〉〈…〉 (kosaw), er hat geſchrie - ben, herzuleiten. Vgl. die Kaſſiwer und das Fleppemelochnen, Kap. 31 u. 88, wie auch die Etymologie des Jedionen in Kap. 69, wo das ähnliche〈…〉〈…〉 erläutert iſt. der Gefangenen unter ſich oder mit andern in der Freiheit befindlichen Gaunern, iſt mithin der allgemeine Ausdruck für die geſammte dem Gauner im Gefängniß mögliche Verſtändigung mit ſeinesgleichen, zu welcher auch in mehrfacher Hinſicht das bereits abgehandelte Zinkenen und Zuplanten gehört.

Wer das Treiben in den Gefängniſſen, namentlich in den Unterſuchungsgefängniſſen beobachtet hat, in denen durchgängig eine mildere Behandlung der Gefangenen ſtattfindet, der muß geſtehen, daß gerade alles, was im Gefängniſſe ſich befindet, und was in dieſelben hineingeräth oder aus denſelben herauskommt, dem ſcharfen erfinderiſchen Geiſte des Gauners zum Kaſſpern dient. Das Genie des Gauners ſpottet aller Wachſamkeit, und feiert Triumphe, die eines beſſern Gegenſtandes würdig wären. Die Kaſſperei iſt in der That die ſpecielle Gaunerei im Gefängniß, und ein ganz eigenes Feld und Studium, bei welchem es gilt, die Unterſuchung um ihre wichtigſten Momente zu beſtehlen, und den Jnquirenten ſelbſt zum Balhei darin zu machen. Niemals ſollte ein Jnquirent, dem die anvertraute Unterſuchung und mit ihr der Gefangene und ſeine ganze Behandlung vollſtändig ſo lange angehören muß, bis die Unterſuchung beendigt iſt, ſich die genaueſte Oberaufſicht in den Unterſuchungsgefängniſſen nehmen laſſen; nie ſollte irgendetwas anderes angeordnet werden, als was mit ſeinen genaueſten Weiſungen übereinſtimmt; denn durch das Kaſſpern und durch ſeine leichte Möglichkeit wird die Unter - ſuchungshaft zu einer fortgeſetzten Gegenbeweisführung gegen alle Jndicien gemacht, die der fleißige und eifrige Jnquirent mit ſaurer Mühe und ſcharfem Nachdenken ſammelt. Jn den Mängeln der Unterſuchungsgefängniſſe liegt ein Hauptgrund, weshalb auch87 hinter dicken Mauern Leben, Weſen und Kunſt des Gaunerthums perennirt, daß das Gaunerthum ſo wenig an ſeiner Jntenſität als an ſeiner Propaganda verliert, und daß Gaunerinquiſitionen ſo wenig zufriedenſtellende Reſultate liefern.

Achtundzwanzigſtes Kapitel. α) Das Piſschen-pee.

Schon mit der Thüre fängt das erſte und natürlichſte Ge - legenheitsmittel zum Kaſſpern an. Die Thür bietet mindeſtens im Schlüſſelloch einen freien Durchgang für das leiſe Wort. Das Flüſtern durch das Schlüſſelloch wird ſehr bezeichnend Piſs - chen-pee genannt, von Peſſiche, das Schlüſſelloch (〈…〉〈…〉, er hat aufgethan; davon Peſſach, die Thüre), und Pee (〈…〉〈…〉), der Mund. Davon wird überhaupt jede heimliche Verabredung, und jede dadurch vermittelte übereinſtimmende Ausſage Piſschen-pee genannt, mag ſie nun durch Worte oder Zinke conform gemacht ſein. 1)Die älteſte Stelle, an welcher dies Wort gebraucht iſt, habe ich auf S. 48 und 49 des Ceremoniel der Gawdieb oder Sonderliche Curieuse Hiſtorie von Jſaak Winckelfelder , von Niklaus Ulenhart (neue Auflage 1724), gefunden, wo der Ausdruck bisgepent und bispenen (etwa das neuhoch - deutſche Wispern für flüſtern?) für bekennen (pfeifen, ſlichnen) vorkommt.Zu dieſer allgemeinern Deutung ſcheint auch der that - ſächliche Umſtand Anlaß gegeben zu haben, daß ſeit der Aufmerk - ſamkeit, die man auf die bauliche Einrichtung der Gefängniſſe verwandt hat, mit der Sicherung der Thüren und Schlöſſer, mit der Anwendung von Doppel - oder Schallthüren, und mit den Corridorwachen u. ſ. w. die Communication durch das Schlüſſel - loch faſt gänzlich paralyſirt und für den Gefangenen ſogar gefähr - lich gemacht worden iſt. Somit hat das Piſschen-pee mehr ſprach - geſchichtliche Bedeutſamkeit als praktiſche Geltung, zu der es jedoch immer noch in ſchlecht eingerichteten Gefängniſſen gelangt.

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Neunundzwanzigſtes Kapitel. β) Das Challon-Kaſſpern.

Die mannichfaltigſte und am ſchwierigſten zu bekämpfende Kaſſperei iſt die durch das Fenſter, Challon1)Plural: Challonim und Challones, wovon corrumpirt: Gal - lonen und Gallones. (〈…〉〈…〉). Sie geſchieht durch Zinkenen, Zuplanten, Sprechen, Singen, Beten, Pfeifen, Huſten, Räuspern u. ſ. w. Das Zinkenen iſt dann möglich, wenn der Gefangene das Fenſter erreichen oder eine Ausſicht auf andere Fenſter, Gebäude oder Paſſagen gewinnen kann, von denen her er Zinken bekommen und wohin er Zinken wiedergeben kann. Es iſt nicht leicht, Gefängniſſe der Art herzuſtellen, welche das reciproke Zinkenen durchaus unmöglich oder mindeſtens ſchwierig machen. Man ſollte aber mindeſtens zu Unterſuchungsgefäng - niſſen nicht jedes abgängige Gebäude hergeben, das weiter keinen Vorzug hat, als daß es für die Behörde disponibel iſt. Auch iſt es eine kurzſichtige Humanität, die noch nicht überführten Ge - fangenen ohne Unterſchied in einem ſolchen abgeſetzten Gebäude den vollen Comfort einer bürgerlichen Wohnung in einer zur ebenen Erde2)Es iſt nicht lange her, daß ein im Auslande beſtrafter lübecker Vagant auf Schub hier ankam, und bei ſeiner am Abſchube verſäumten Viſitation, hierorts im Beſitze mehrerer ſauber geſchnittenen Holz - und Knochenmodelle von Schlüſſelbärten zu den Zellen zurückgebliebener Unterſuchungsgefangenen befunden wurde, nach denen er hier Schlüſſel machen laſſen, und in die Fenſter der zur ebenen Erde belegenen Zellen werfen ſollte. oder im erſten Stock gaſſenwärts belegenen Stube nahe an der Straße oder Paſſage genießen zu laſſen, und dabei noch die Gelegenheit einer Verſtändigung durch Zinkenen, oder gar zum Zuplanten von Fluchtmitteln zu bieten, welche von dem Gauner ſofort in vollſtändigſter Weiſe ausgebeutet wird.

Jſt aber durch die baulichen Einrichtungen und genaue Be - wachung der Rapport durch optiſche Zeichen und Wahrnehmungen beſchränkt und verhindert, ſo bietet die Sprache das verſchieden - artigſte Mittel zum Kaſſpern durch das Fenſter dar. Der in ein89 Gefängniß geführte Gauner hat nicht nur in der erſten Stunde die Zelle und ihre Lage und Umgebung unterſucht, ſondern lernt auch ſehr bald ſeine Nachbarſchaft kennen. Er tritt an oder unter ſein Fenſter, räuspert ſich, pfeift oder ſingt, und ſofort bekommt er eine Antwort. Er ruft den Nachbar oben, unten, links, rechts u. ſ. w., nennt Nummer oder Namen ſeiner Zelle, ſeinen eigenen Gaunernamen oder irgendeine Beziehung, und empfängt dafür dieſelbe Auskunft von dem Unbekannten, an deſſen erſter Antwort und Weiſe er, ohne zu ſehen und geſehen zu werden, erkennt, mit wem er zu thun hat, und ob jener ein Wittſcher iſt, oder ob er mit ihm Kochemer ſchmuſen kann. Ein einziges Nieſen oder Räuspern oder auch das Stillſchweigen auf eine Frage be - nachrichtigt ihn, daß das Geſpräch belauſcht wird. Wird das Schmuſen aus den Fenſtern nach der Hausordnung ſcharf con - trolirt und beſtraft, ſo fängt der Gauner an zu ſingen oder zu beten, als ob er zu ſeiner Erbauung einen chriſtlichen Geſang oder ein jüdiſches Gebet anſtimmt, und ſingt in der Gaunerſprache, nach Art des im erſten Theil, S. 210, gegebenen Vogelsberger Vaterunſer, ſeinem Genoſſen zu, was er ihm im proſaiſchen Geſpräch nicht mit - zutheilen wagen darf, oder pfeift eine bekannte Gaunermelodie. 1)Auch das Pfeifen in den Gefängniſſen muß auf das ſchärfſte unterſagt und beſtraft werden, damit nicht mittels beſtimmter verabredeter Pfeifſignale (wie man ſie, in Nachahmung der Tirailleurſignale, unter den Gaunern üblich findet) Colluſionen vorkommen können.Rückſichtsloſe Durchführung einer ſtrengen Hausordnung und nach Befinden vorſichtiger Zellenwechſel kann einigermaßen dem Unfug ſteuern. Jntereſſante Challon-Kaſſpereien werden von Thiele, a. a. O., I, 62 66, mitgetheilt.

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Dreißigſtes Kapitel. γ) Die Kutſche.

Jſt es dem Gauner nicht möglich, oder erſcheint es ihm der Umgebung und Bewachung wegen nicht rathſam, durch Wort, Geſang und andere Stimmittel mit ſeinem Genoſſen in Verbin - dung zu treten, oder hat er ihm ſonſt irgendetwas zuzuplanten, ſo wird die Zuflucht zur Kutſche, Agole, genommen. Die Kutſche iſt eine Schnur oder ein Faden, welcher von einem Fenſter zum andern gelaſſen, und nicht etwa allein gerade herunter, ſondern auch ſchräge und zur Seite nach einem Fenſter geführt werden kann. Aus dem Garn der Strümpfe, aus den Fäden der Hem - den, Strohſäcke und Decken werden mit großem Geſchick leichte und ſtarke Schnüre zuſammengeſetzt; ja ſelbſt von Strohhalmen habe ich feine, ſauber geflochtene, lange Schnüre geſehen. Ein Stückchen Brot oder der Knäuel am untern Ende des Fadens führt den Faden ſenkrecht in das untere Zellenfenſter, ſehr häufig wird der Faden in pendelmäßige Schwingung gebracht, daß er das ſeitlich unten gelegene Fenſter erreicht, zu welchem Zwecke auch wol der Faden an einem ſteifen Ende Strohſeil befeſtigt wird, um die Schwingung zu verſtärken. Häufig bei hohen Gefäng - niſſen, an deren Mauerflächen der Luftzug ſcharf vorbeiſtreift, flattert der loſe Faden ſeitlich weg, namentlich wenn ein Blatt Papier aus dem ſtets geforderten Erbauungsbuch am untern Ende befeſtigt iſt, wobei denn die mittels eines Strohhalms oder Splitters mit Blut markirten Buchſtaben zugleich die Mittheilung erhalten. 1)Mir ſind Stücke Leinwand vorgekommen, die eine Gaunerin von ihrem Hemde abgeriſſen und mit Blut beſchrieben hatte. Auf einem Butterbrot waren einzelne aus einem Erbauungsbuch geriſſene Buchſtaben zu einer Notiz zuſammengeklebt und im Gefangenhof unter einen Ziegelſtein gelegt; ebenſo in Wecken und kleinen Brötchen auf Papier geſchriebene Notizen.Jſt die Kutſche erſt von einem Fenſter zum andern geführt, ſo dauert die Verbindung der Gauner ſo lange, bis die Kutſche entdeckt wird, was bei der Feinheit und meiſtens dunkeln91 Farbe des Fadens und bei der Höhe der Gefängniſſe oft erſt ſpät geſchieht, oder bis die Kutſche reißt. Die Enden der Kutſche werden ſo lang in jedes der correſpondirenden Fenſter geführt, daß ſie nachgelaſſen werden können, wenn ein Kaſſiwer oder eine Megerre oder Pezire nach dem andern Fenſter gezogen wird, ſodaß alſo der mitzutheilende Gegenſtand in der Mitte der Kutſche mit einer Schlinge feſt gebunden wird, und beſtändig als Ge - meingut hin - und hergezogen werden kann. Die Enden der Kutſche werden gewöhnlich außerhalb des Fenſters an einem Fenſterhaken befeſtigt, auch ſonſt verſteckt unten um eine Gitter - ſtange gelegt, damit ſie der Aufmerkſamkeit der viſitirenden Ronde womöglich entgehe. Es iſt kaum glaublich, mit welcher Mühe und Geduld die Kutſchen gearbeitet werden, und welche Sorgfalt angewandt wird, um das Ausreißen der Fäden an Strohſäcken und Kleidung der Wachſamkeit der Beamten zu verbergen. Jch habe mehrere mal ganze Knäuel unter Zellfenſtern im Garten - raume gefunden, die wahrſcheinlich beim Zuſchnellen abgeriſſen waren, und die aus einer erſtaunlich großen Menge ganz kurzer, mürber Garn - und Wollenfäden beſtanden, und mit außerordent - licher Mühe zuſammengeknotet waren. Die Mühe wird aber auch reichlich belohnt durch die ungemein großen Erfolge, welche die einmal hergeſtellte Verbindung durch die Kutſche liefert.

Einunddreißigſtes Kapitel. δ) Die Kaſſiwer.

Bei der ſchon oben, S. 86, Note 1, angegebenen Etymologie des Wortes Kaſſiwer iſt angedeutet worden, daß das Wort Kaſſiwer jede ſchriftliche Mittheilung der Gefangenen unter ſich und mit dritten außerhalb des Gefängniſſes bedeutet. Nur bei grober Nachläſſigkeit iſt es möglich, daß dritte Perſonen dem Gefangenen von außen her Kaſſiwer durch die Kutſche zukommen laſſen können. Aber in anderer verſchiedenartiger Weiſe können dennoch Briefe92 von außen in die Gefängniſſe gelangen, und zwar gerade durch die Gefängnißbeamten ſelbſt. Solange es elend beſoldete Beamte gibt, ſolange wird es auch pflichtvergeſſene, beſtechliche Gefängniß - beamte geben, bei denen für Geld viel zu erlangen iſt. 1)Der vollkommenſte Sieg, den je ein Gauner über einen Gefangen - wärter durch Verſprechungen und Beſtechungen davongetragen hat, iſt die von Thiele, a. a. O., II, 245 fg., frappant dargeſtellte Reiſe des Marcus Joël mit ſeinem Gefangenwärter von Freyenwalde nach Berlin am 5. Nov. 1826.Aber auch der ſtrengſte Beamte wird häufig getäuſcht, und gegen ſeinen Willen zum Vermittler der Verbindung gemacht, wenn er zuläßt, daß dem Gefangenen Wäſche oder Speiſen u. dgl. von angeb - lichen Verwandten oder ſonſtigen Glaubensgenoſſen zukommen. 2)Nicht einmal weißes oder ſonſt ſcheinbar unverfänglich beſchriebenes Papier darf, als Umſchlag um kleine Gegenſtände, von außen in die Zellen gebracht werden, da den Gaunern zu viele Arten ganz einfacher ſympathetiſcher Tinten bekannt ſind, welche durch einfache Erwärmung am Ofen oder über Licht ſichtbar werden. S. das weitere beim Fleppemelochnen, Kap. 88.Beſonders bevorzugt ſind hierin jüdiſche Verbrecher, welche grund - ſätzlich alle chriſtliche Gefangenkoſt als treife verſchmähen, und ſich darauf verlaſſen, Koſcher von ihren Glaubensgenoſſen zuge - ſchickt zu bekommen, ſobald ihre Gefangenſchaft bekannt iſt. Man ſollte überall feſt darauf halten, daß durchaus keine andere Ver - pflegung und Wäſche geliefert würde, als unmittelbar durch die Hausverwaltung ſelbſt. Bei der genaueſten Beſichtigung der Wäſche kann noch immer in einer Naht oder Falte irgendein eingenähtes Papierſtreifchen unbemerkt bleiben. Jm Brote, in einer Kartoffel, einem Kloße, unter dem Mark eines Fleiſch - knochens, im Maule eines gebackenen Fiſches, in einer Rübe, Birne u. ſ. w. kann irgendein geöltes Papierröllchen oder ein Kügelchen eingeſchoben ſein; unter dem metallenen Teller, der Schüſſel, auf dem Grund der Suppenſchale können Notizen gekritzelt ſein; ſelbſt unter dem Boden des porzellanen Suppen - tellers kann mit wäſſeriger oder öligter Tinte etwas geſchrieben ſein, welches der Gefangene, ſobald er es geleſen, leicht mit dem Finger wegwiſchen kann. Auf dem Boden, oder unter dem Boden93 des Speiſetragkorbes, oder unter dem Geflechte des Henkels, auf der innern Seite des Tragriemens können Notizen ins Gefäng - niß getragen werden. Zwiſchen die Sohlen der Fußbekleidung werden beſonders gern Briefe und Fluchtmittel genäht. Ja, mir iſt ein Fall bekannt, daß ein Gefangener ſein noch gutes Fuß - zeug abſichtlich zerriß, um ſich nur anderes Fußzeug zuſchicken laſſen zu können. Es ſind ſoviel Möglichkeiten da, daß man durchaus keinerlei Zulaſſungen von außen dulden darf. 1)Vgl. Kap. 88, vom Fleppemelochnen, wo von ſympathetiſchen Trocken - druck auf dem weichen Holz eines Stocks, Käſtchens oder einer Schachtel u. dgl. die Rede iſt.Hat man Rückſichten zu nehmen, ſo reinige die Verwaltung die Wäſche in der Anſtalt, ohne ſie aus derſelben zu geben, und nie - mals laſſe man andere Eßbeſtecke und anderes Eßgeſchirr zu, als das der Anſtalt, in welches das zugeſchickte, ſorgfältig unterſuchte Eſſen unerlaßlich übergefüllt werden muß. Der Kunſt, die beſtändig operirt und ſich täglich vervollkommt, kann nur das principielle Mistrauen, der Glaube an jede Möglichkeit und unerſchütterlich feſte Conſequenz entgegengeſtellt werden, wenn man ſie einiger - maßen mit Erfolg bekämpfen will. Ein genaues Augenmerk iſt auf Briefe zu richten, welche der Gauner beſtändig an ſeine An - gehörige zu ſchreiben begehrt. Man ſollte ſolche Briefe gar nicht erlauben, ſondern nur das unerlaßlich Nöthige nach der Gefangenen Mittheilung durch Beamte, und zwar nie nach dem wörtlichen Dictamen des Gefangenen, ſondern nur paraphraſtiſch, dem Sinne nach, ſchreiben laſſen. Der gefangene Gauner weiß die bedeut - ſamſten Winke in die unverfänglichſten Redensarten zu kleiden. Das iſt für alle Briefe, auch die an Gefangene gerichtete, ganz beſonders zu beachten. Vorzüglich bedenklich erſcheinen Briefe von jüdiſchen Gaunern, einmal, da ſie beſonders gern in der bis - lang von Chriſten ſchwer oder gar nicht zu verſtehenden, und daher in und aus Gefängniſſen gar nicht zuzulaſſenden jüdiſch-deutſchen Currentſchrift geſchrieben werden, und ferner, ſelbſt auch wenn ſie in deutſcher Currentſchrift geſchrieben ſind, doch eine Menge94 jüdiſcher eigenthümlicher und ritualer Terminologien1)Vgl. z. B. den bei Rebmann, Damian Heſſel , S. 89 (dritte Auflage), abgedruckten Brief aus dem Gefängniß mit dem Schlüſſel aus dem Juden - deutſch überſetzt . enthalten, in denen faſt durchgehends eine beſtimmte Deutung verſteckt liegt. So iſt z. B. die ſchon ganz von der chriſtlichen abweichende jüdiſche Zeitrechnung dadurch noch ſchwieriger zu verſtehen, daß die Juden noch jetzt häufig ihre Data in Briefen und Docu - menten nach ihren Feſttagen berechnen und anführen, und ſogar dabei die Monate weglaſſen. So z. B. iſt das Datum Schwuoſſ (Pfingſtfeſt) der ſechste Tag des Monats Siwan; das Peſſach (Oſtern) fällt auf den vierzehnten Tag des Monats Niſan; vom zweiten Oſtertag an bis zum Schwuoſſ werden 49 Tage gerechnet, und dieſe Zeit, Sphiraſſ Aumer genannt, dient ebenfalls als Baſis für die Berechnung der Daten, ſodaß es alſo mit Auslaſſung des Monats heißt: am fünften, vierundzwanzigſten, dreiundvierzigſten Tag nach der Zählung des Aumer; außerdem wird auch noch (wie das entſprechend auch bei dem Laubhüttenfeſt der Fall iſt) nach den ſogenannten Mitteltagen gerechnet, da das achttägige Oſterfeſt nur an den zwei erſten und zwei letzten Tagen ganz gefeiert wird, während die vier Mitteltage, Chol Hammoed, nur halb gefeiert werden, ſodaß alſo z. B. der zweite Tag nach der Sphiraſſ Aumer auch der erſte Tag des Chol Hammoed genannt wird u. ſ. w. Mit Hülfe dieſer eigenthümlichen und ſchwer zu verſtehenden Berechnung läßt ſich ſehr leicht vom jüdi - ſchen Gauner ein Maremokum zinkenen, zumal durch andere theils jüdiſch-deutſche Terminologien, theils durch beſtimmte Wendungen, Redensarten und Umſchreibungen, ſich ein vollkommen klares Verſtändniß mit dem Adreſſaten erreichen läßt. Schon aus einer krummgeſchriebenen Zeile, entweder auf der Adreſſe oder im Briefe ſelbſt, erſieht der Adreſſat, daß er den Jnhalt nur als eine aus Zwang geſchriebene Mittheilung anzuſehen hat, der verſchiedenen Zeichen und Züge im Briefe und ſelbſt auf der Adreſſe nicht zu gedenken, welche unter einzelnen näher95 verbundenen Mitgliedern einer Einzel - oder Verwandtſchaftsgruppe verabredet ſind.

Widerſteht auch der Gefangenwärter aller Verlockung durch Schmeichelei, Vertraulichkeit, affectirte Kümmerniß, Gefälligkeit, Verſprechungen und Gold, ſo wird er doch oft gegen ſeinen Wil - len und ungeachtet aller Wachſamkeit zum Träger der Geheimniſſe des Gauners gemacht. Der geriebene Gauner kritzelt auf dem Trink - und Eßgeſchirr, ſei es von Metall oder Holz, mit leichten Zügen ſeine Notizen hin, und benutzt ſelbſt das Nachtgeſchirr dazu, in der Berechnung, daß dies Geſchirr von einer Zelle zur andern gewechſelt werden kann. 1)Beſonders wird dabei darauf gerechnet, daß bequeme Beamte ſich von Gefangenen allerlei Dienſte und Handreichungen leiſten laſſen, wobei dann durch Vermittelung der dazu verwandten Gefangenen der Kaſſperei Thür und Thor geöffnet iſt.Um des Wärters Aufmerkſamkeit zu täuſchen, reinigt er alles Geſchirr ſelbſt vor deſſen Augen, damit jener es nicht weiter anſieht, ſondern ſorglos weglegt und weiter - bringt. Selbſt auf dem Holz zwiſchen den Borſten eines Hand - fegers oder einer Bürſte kann ein Papierkügelchen mit Brot an - geklebt ſein. Jmmer ſollte daher jegliches Geräth und Geſchirr einer Zelle mit der Zellennummer verſehen, und nur für den Ge - brauch dieſer Zelle, niemals aber für den Gebrauch einer andern Zelle hergegeben werden. Andere Beiſpiele der Ueberliſtung ein - fältiger Gefangenwärter ſind in nicht geringer Zahl vorhanden, und aus dem Umſtande zu erklären, daß der Gauner ebenſo gut den Gefangenwärter ſtudirt als den Jnquirenten, und oft ſchon vor der perſönlichen Berührung mit ihm weiß, mit wem er es zu thun hat. Ein guter Jnquirent und ein guter Gefangenwär - ter erwirbt ſich bei weitem raſcher unter den Gaunern einen Namen, als in der Beamtenwelt.

Jſt die Beförderung der Briefe ein Gegenſtand der raffinirte - ſten Schlauheit und gewandteſten Benutzung der Gelegenheit und Perſonen, ſo iſt doch auf alle Fälle auch ſtets der Jnhalt der Briefe an ſich ſo fein und myſtiſch gehalten, daß es einer ge - nauen Kenntniß der Gaunerſprache und Gaunergeheimniſſe bedarf,96 um durch den dichten Schleier des Geheimniſſes zu dringen. Je - der Brief eines Gauners iſt des Studiums werth, und gerade Briefe, wie ſie von Rebmann ( Damian Heſſel , S. 89 fg. ) und von Thiele (I, 35 fg. ) angeführt ſind, verdienen die genaueſte Beachtung, weil man namentlich mit den hinzugefügten Noten und Schlüſſeln den Ton und die Bedeutſamkeit dieſer gefährlichen Schriftſtellerei daraus recht anſchaulich kennen lernt.

Bislang iſt vom Kaſſpern in Jſolirhaft geredet worden. Es ſollte kaum die Rede ſein dürfen von mehreren zuſammenſitzenden Un - terſuchungsgefangenen. Denn in keiner Weiſe iſt es zu dulden, daß überhaupt mehrere Unterſuchungsgefangene in einer Zelle zuſammen - gehalten werden. Schon der tiefe Ernſt der Einſamkeit mit dem Be - wußtſein des Verbrechens, und dem Bewußtſein, in der Hand der ſtra - fenden Gerechtigkeit ſich zu befinden, übt auf den Verbrecher einen gewaltigen Einfluß, der häufig viel zu wenig beachtet wird, der aber auch auf den routinirten Gauner einwirkt, weshalb dieſer ja denn auch ſogleich mit allen Mitteln eine Verbindung in der unerträglichen Einſamkeit herzuſtellen ſucht. Der mit andern Gefangenen zuſammengeſperrte Jnquiſit verkürzt ſich die Zeit im Geſpräch, und denkt nicht über ſeine Handlungen und Lage nach, erholt ſich vielmehr von ſeinem Kameraden Raths, ſticht mit ihm durch, und ſteht ſomit für alle wichtige Momente der Unterſuchung völlig gerüſtet da, wenn er ſich ihr überhaupt nicht ſchon durch die Flucht entzieht. Noch weniger zu rechtfertigen iſt es, daß man auf kurze Haft verurtheilte Strafgefangene mit Unterſuchungsgefangenen zuſammenſperrt. Ganz abgeſehen von der ſittlichen Corruption, der man den einen oder den andern dadurch ausſetzt, ſo iſt es als gewiß anzunehmen, daß der zuerſt entlaſſene Gefangene mit Aufträgen ver - ſehen wird, welche die Flucht des Zurückbleibenden fördern, mindeſtens aber höchſt nachtheilig auf den Gang der Unterſuchung einwirken können. 1)Viſitationen der Sträflinge bei dem Austritt aus der Anſtalt ſind daher ebenſo nothwendig, wie bei Einbringung von Verbrechern. Wie wenig wird dies beachtet, und was bringen ſolche Entlaſſene, außer ihrer moraliſchen Verderbtheit, noch ſonſt mit in ihre Heimat!Jn dieſen Taktloſigkeiten iſt weit mehr der Grund97 der Erfolgloſigkeit von Gaunerinquiſitionen zu ſuchen, als im Genie des Gaunerthums, das in ſeiner Paraſitenwüchſigkeit immer nur an der Schwäche emporwuchert. 1)Auch das Zuſammenſetzen eines verläſſigen Jndividuums mit einem andern zur Ausforſchung und zum Verrath iſt unwürdig, und bei der Vor - ſicht des Gauners meiſtens zwecklos, aber auch inſofern für die Unterſuchung verderblich, als der Gauner bei dieſem unwürdigen Mittel auch bald merkt, daß der Jnquirent mehr dem Verrathe traut, als ſeinem eigenen Blick und Geſchick.Welche Fülle der trau - rigſten Erfahrungen liegen in dieſer Weiſe vor! Man könnte ganze Unterſuchungen wieder zur Unterſuchung ziehen, die als Verbrechen gegen den Staat, aus Unwiſſenheit, Sorgloſigkeit und Nachläſſigkeit von Beamten begangen ſind.

Zweiunddreißigſtes Kapitel. ε) Das Hakeſen.

Ein ſehr gefährliches, in allen Gefangenanſtalten, namentlich in Unterſuchungsgefängniſſen, ſchon ſehr lange bekanntes und prakticirtes Communicationsmittel iſt das Hakeſen, Klopfen der Gefangenen. Es iſt von jeher der geheimnißvolle Schlüſſel zu vielen und feinen Jntriguen beſonders jüdiſcher Gauner geweſen. Alle Verſuche, durch umſtändliche und koſtſpielige Baueinrichtun - gen dieſes Communicationsmittel zu beſeitigen, haben zu keinem Reſultate geführt. 2)Während meiner Studienzeit in Jena 1833 zeigte mir der verdienſt - volle Criminalrath Wenzel im Criminalgebäude zu Weimar eine eigenthüm - liche Vorrichtung gegen das Hakeſen der Jnquiſiten, das in der ſonſt trefflichen Lokalität überhandgenommen hatte, und nicht durch neu angebrachte Schall - thüren paralyſirt werden konnte. Es war nämlich mitten in dem Corridor ein großes Thurmuhrwerk aufgehängt, deſſen lauter Pendelſchlag beſtändig weithin durch das Gebäude tonte. Jndeſſen bewährte ſich auch dieſe Einrich - tung ſehr bald nicht weiter, und mußte beſeitigt werden.Selbſt die vielgerühmten Scheck’ſchen Zellen, in welchen die Gefangenen durch drei Steinwände mit Zwiſchen -Avé-Lallemant, Gaunerthum. II. 798räumen voneinander getrennt ſind, können das Hakeſen nicht paralyſiren. Eine der überraſchendſten Erfahrungen der neuern Zeit war die während des großen Polenproceſſes in Berlin ge - machte Entdeckung, daß zwei Gefangene in der mit ausgezeich - neter Umſicht und mit genauer Berückſichtigung ſtrenger Jſolirung eingerichteten, neuen königlichen Strafanſtalt aus den Zellen ver - ſchiedener Etagen miteinander in ſolcher Verbindung ſtanden, daß ſie ſogar Schachpartien unter ſich ſpielten. Bei der aus - gezeichneten Verwaltung und Aufſicht in dieſer Muſteranſtalt ſcheint kein anderes Verbindungsmittel als das Hakeſen möglich geweſen zu ſein. 1)Bei einem ſpätern Beſuche der Anſtalt zeigte mir der wackere Director Bormann jene beiden Zellen, welche nicht einmal unmittelbar übereinander, ſondern ſeitlich voneinander im erſten und zweiten Stock liegen.

So alt und bekannt dieſe Art der Kaſſperei iſt, ſo oft ſie wahrgenommen, und ſo eifrig ſie beobachtet worden iſt, ſo wenig iſt doch das unleugbar zu Grunde liegende förmliche Syſtem die - ſes Verbindungsmittels entdeckt worden. Der Hauptgrund, wa - rum dieſe Kenntniß nicht erreicht iſt, liegt wol darin, daß man, nicht mit Unrecht, es ſtets für wichtiger gehalten hat, die Ver - ſtändigung ſelbſt zu unterbrechen, als das Syſtem mit Zulaſſung einer vollſtändigen und ungeſtörten Communication zum Nachtheil der Unterſuchung zu erforſchen. Wer aber, ſo weit thunlich und möglich war, Beobachtungen angeſtellt hat, wird bei dem Klopfen entweder einen gleichmäßigen Schall mit raſcher oder langſamer combinirten Schlägen oder auch einen Wechſel zwiſchen leiſen und lauten, oder auch zwiſchen hellen und dumpfen Schlägen ge - funden haben, gleich dem unterſchiedlichen Schall, den das Klopfen mit dem Knöchel des gekrümmten Fingers und dem fleiſchi - gen Theil der untern Fauſt, oder eines Schuhes oder Pantoffels und der nur mit dem Strumpf bekleideten Ferſe gegen den Fuß - boden, gegen eine Thür oder gegen eine Wand hervorbringt. Die detailirteſten Verſtändigungen beweiſen auf das beſtimmteſte das Vorhandenſein eines vollſtändigen alphabetiſchen99 Syſtems, das wiederum in verſchiedenartiger Weiſe ausgebildet ſein kann. Das documentirt am intereſſanteſten Franz von Spaun, welcher im März 1826 zu München ſtarb. Spaun war bis zum Jahr 1788 vorderöſterreichiſcher Regierungsrath und Landvogt im Breisgau. Jn dieſem Jahre wollte Spaun, damals 35 Jahre alt, als neugewählter Reichskammergerichtsaſſeſſor nach Wetzlar abreiſen, als er wegen einer für ſtaatsgefährlich gehaltenen Schrift verhaftet wurde, und als Staatsgefangener zuerſt nach Mungatſch, dann nach Kufſtein kam, in welcher Gefangenſchaft er zehn Jahre lang gehalten wurde, ohne Bücher und Schreib - material erlangen zu können. Jn den letzten Jahren ſeiner Ge - fangenſchaft bekam Spaun einen Unglücksgefährten zum Nachbar, von dem ihn jedoch eine dicke Mauer ſchied. Da fiel er auf den glücklichen Gedanken, ſich durch Pochen verſtändlich zu machen, und erfand zu dieſem Behufe eine Pochzeichenſprache, die nach der Mittheilung eines ſeiner langjährigen Freunde überaus ſinnreich war. Das Schwierigſte blieb aber hier immer, dem Nachbar, der vielleicht gar nicht der deutſchen Sprache kundig war, den Schlüſſel mitzutheilen. Spaun fing damit an, vierundzwanzig mal an die Mauer zu klopfen, und ſetzte dies Manöver ſo lange un - verdroſſen fort, bis der Unbekannte endlich merkte, daß die vier - undzwanzig Buchſtaben damit gemeint ſeien und zum Zeichen ſeines Verſtändniſſes das Klopfen erwiderte. Jn wenig Wochen konnten ſie ſich ſchnell und fertig mittheilen, und ſich gegenſeitig ihre Schick - ſale erzählen. 1)Vgl. Morgenblatt für gebildete Stände , Jahrg. 1826, S. 320. Der Nachbar war Herr M., ſpäter franzöſiſcher Staatsſecretär und Herzog von B., der auch edel genug war, ſeinen Unglücksgefährten nicht zu vergeſſen, und, früher in Freiheit geſetzt als Spaun, dieſem eine Penſion auswirkte, von welcher Spaun bis zu ſeinem Tode lebte. C’est Spaun ou le diable! rief der Miniſter zehn Jahr ſpäter, als bei ſeiner Anweſenheit in München Spaun ihn zu beſuchen kam, und vor der Zimmerthür das alte Manöver begann.Leider hat Spaun, ſoviel erkundet iſt, über jene ſeine Klopfſprache und deren Schlüſſel nichts hinterlaſſen, und mehr als vorſtehende Notiz ſeines Freundes tz iſt darüber nicht bekannt geworden. Selbſt der Ausdruck Hakeſen iſt nur ſpecifiſch7*100jüdiſch-deutſch und kaum weiter als unter den jüdiſchen Gau - nern bekannt. Es iſt vielleicht von〈…〉〈…〉, im Hiphil〈…〉〈…〉, im Piel〈…〉〈…〉, Nacho, hikko, hakke herzuleiten, wovon auch Makko, (der Schlag) herſtammt, und bedeutet ſchlagen, hacken, klopfen, beſonders zu einer beſtimmten Form, prägen, was auch aus dem wahrſcheinlich davon abzuleitenden Haker (auch Chaker), der Du - katen1)Leicht kann man verſucht werden, das Wort Haker (Dukaten) wel - ches gewöhnlich mit Hagri (ungariſche Münze, Dukaten), in Verbindung gebracht wird, von hikko oder hakke abzuleiten, zumal Rabbi Mair das ſchon ſehr früh gebrauchte Chaker als durchaus falſch verwirft, und Rabbi Abarbanel dies Wort ebenfalls nicht gebraucht, ſondern dafür ausdrücklich Dukote ſohof ſetzt. Die Bezeichnung der Münzen iſt überhaupt im Jüdiſch - Deutſchen äußerſt künſtlich und geſucht. Vgl. Jüdiſcher Sprachſchatz von 1742 , S. 67 69., noch deutlicher wird2)Die Wörter Hackfenne (Art) und Hackfenche (Beil) find unmit - telbar von dem deutſchen hacken hergeleitet, das aber doch wol auch mit dem hebräiſchen in Beziehung ſteht., während makkeinen, mekaji - nen, ſchlagen, prügeln, mishandeln bedeutet. 3)Vgl. Stern, Medraſch Sepher , S. 22; Selig, Lehrbuch der jü - diſch-deutſchen Sprache , S. 218; Prager Handlexikon der jüdiſch-deutſchen Sprache , S. 98.

Daß nun in neueſter Zeit bei dem Hakeſen ein beſtimmtes alphabetiſches Syſtem vorhanden und ſogar ſchon von dem Gau - nerthum ausgebeutet iſt, das iſt ſeit der Einführung und ſeit der, durch die Unzahl von Eiſenbahnbeamten und Telegraphiſten bis zur Popularität gediehenen Kenntniß und Verbreitung der Morſe - ſchen elektromagnetiſchen Telegraphie eine unbeſtreitbare Thatſache. 4)Schon längſt iſt aber auch das Hakeſen zum volksthümlichſten Ge - brauch gediehen, wenn auch ein förmlich alphabetiſches Syſtem dabei nicht ausgebildet wurde. Bei vielen Handwerkern, namentlich Metallarbeitern, wird der im Hauſe entfernte Meiſter, Geſelle oder Lehrburſche durch beſtimmte Schläge mit dem Hammer auf den Amboß u. dgl. herbeigerufen. Auch mitten in der Arbeit werden mit dem Hammer Weiſungen gegeben. Jn Straßen, wo ſolche Arbeiter nahe zuſammen wohnen, wiſſen ſie auf eine raſche und ge - ſchickte Art durch Hämmern eine Nachricht raſch und allgemein unter ſich zu verbreiten.Für die ſinnliche Auffaſſung findet zwiſchen dem Hakeſen und der101 Telegraphie eine auffallende Analogie oder ſogar volle Gleich - mäßigkeit ſtatt. Obſchon nämlich in der elektromagnetiſchen Te - legraphie für die ſinnliche Wahrnehmung primär das Gefühl durch die elektriſche Strömung, oder durch die freilich ſehr kleinen aber doch deutlichen elektriſchen Funken das Auge, in Anſpruch ge - nommen wird, ſo iſt doch die nächſte deutlichſte ſinnliche Wahr - nehmung die durch das Gehör, indem durch die Bewegung des magnetiſch gemachten Ankers ſo deutlich hörbare Schläge hervor - gebracht werden, daß geübte Telegraphiſten, ohne die künſtliche ſecundäre, mit der Bewegung des Ankers verbundene, graphiſche Darſtellung zu ſehen, aus der bloßen hörbaren Bewegung des Ankers, im Dunkeln, den Jnhalt einer Depeſche allein durch das Gehör vollkommen deutlich auffaſſen können. Eine Unterſcheidung des monotonen Schalles iſt nur durch die rhythmiſche Combination mehrerer Schläge möglich, und in dieſer Weiſe iſt das allgemein bekannte, und im ganzen deutſch-öſterreichiſchen Telegraphenverein übliche Morſe’ſche Syſtem ebenſo einfach wie ſinnreich zuſammen - geſetzt, welches für die ſinnliche Auffaſſung durch die ſecundäre graphiſche Darſtellung nur noch deutlicher gemacht wird1)Jn der Steinheil’ſchen Nadeltelegraphie geſchieht die graphiſche Dar - ſtellung nur durch die Combination von vier Punkten in zwei Linien, in der franzöſiſchen Telegraphie durch Combination von 1 3 Strichen (ohne Punkte), in der Morſe’ſchen Telegraphie durch Combination von Strichen und Punkten, die bei den Buchſtaben nicht über vier, bei den Zahlen nicht über fünf, und bei den Jnterpunktionszeichen nicht über ſechs Zeichen (Punkte und Striche) hinausgeht. Man vergleiche das treffliche, ſehr klar und populär gehaltene Werk von Dr. H. Schellen, Der elektromagnetiſche Telegraph in den Haupt - ſtadien ſeiner Entwickelung (zweite Ausgabe, Braunſchweig 1854), S. 78, 107 u. 149 fg., als die primäre akuſtiſche ſchon an und für ſich iſt.

Das Syſtem mag hier nach S. 152 des untengenannten Werks von Dr. H. Schellen Platz finden. Die Striche und die Punkte deuten graphiſch die längere oder kürzere Dauer der Zeit an, in welcher der magnetiſch gemachte Anker angezogen iſt.

102

a) Die Buchſtaben.

abcchdef
ghijklm
nopqrst
uvwxyz
aeoe

b) Die Ziffern.

1234
5678
90

c) Die Jnterpunctation.

. Punkt

; Semikolon

, Komma -

: Kolon

? Fragezeichen

! Ausrufungszeichen

Apoſtroph

/ Bruchſtrich

Man erkennt hieraus, daß dieſem Syſtem1)Wie überhaupt die Geſchichte der Telegraphie, iſt insbeſondere auch die ihres Schreibſyſtems intereſſant. Es liegt dieſem vielleicht die hebräiſche Vocali - ſirung zu Grunde. Morſe gebrauchte anfänglich für ſein Schreibſyſtem 26 Drähte, die er ſpäter auf 6 Drähte reducirte, bis er ſpäter auf einer Reiſe von New-York nach Liverpool auf ſein jetziges Syſtem gerieth, zu welchem es nur eines Drahtes bedarf. Nicht minder intereſſant iſt die Vergleichung mit dieſelbe rhyth - miſche Bemeſſung zu Grunde liegt, wie dem muſikaliſchen Noten -103 ſyſtem, wonach z. B. der Buchſtabe a ( ) in Noten ſich aus - drücken läßt:[ ], oder b ( ) [ ], oder c ( ) [ ]u. ſ. w., oder auch mit metriſcher Be - zeichnung a: ̮ ̱; b: ̱ ̮ ̮ ̮; c: ̱ ̮ ̱ ̮ u. ſ. w. Geht man dabei zurück auf die einfachen Behelfe in der phoniſchen und gra - phiſchen Darſtellung des Tones, wie ſie in den erſten Stadien der theoretiſchen Entwickelung der Muſik bei Alypius und Boë - thius1)Boëthius, V libri de musica (Baſel 1546 50). Die Isagoge musica von Alypius iſt von Marcus Meibom 1652 am vollſtändigſten im griechiſchen Urtext mit lateiniſcher Ueberſetzung und Anmerkungen (11 Bogen und 3 Tabellen) herausgegeben worden. Viel Belehrendes hierüber enthält noch das Dictionnaire de musique des wackern Sebaſtian Broiſſard (1660 1790), S. 80 fg. u. 155 fg. vorliegen, ſo findet man, daß das muſikaliſche Streben weſentlich mit darauf hinausging, Wortbegriffe durch Töne auszu - drücken, wie denn auch Boëthius, a. a. O., Buch 1, Kap. 9, ganz eigen - thümlich das Thema behandelt: Non omne judicium dandum esse sensibus, sed amplius rationi esse credendum , während auch er, nach dem griechiſchen Vorbilde, die funfzehn erſten Buchſtaben des Alphabets zu ebenſo viel Noten verwendet, um die Modulationen darzuſtellen. Faßt man dazu die gleichzeitig mit Boëthius im 6. Jahrhundert entſtandene hebräiſche Vocali - ſirung und Accentuirung in das Auge, ſo begreift ſich leicht, wie nahe man Wortbegriff und Tonzeichen aneinander zu bringen ſuchte, wie leicht mindeſtens der erſtere durch die letztern, ſelbſt im Monoton, mit bloßem rhythmiſchen Wechſel gegeben werden konnte, und daß das Morſe’ſche Schreibſyſtem ebenſo gut für einen merkwürdigen Palimpſeſt, wie für eine höchſt geiſtreiche neue Er - findung gelten kann.

1)der, nach Abſterben der hebräiſchen Sprache als lebender Volksſprache, von jüdiſchen Gelehrten erfundenen und von den Grammatikern des Mittelalters vervollſtändigten hebräiſchen Vocaliſirung, welche bekanntlich durch Striche und Punkte dargeſtellt wird, z. B. _ (a, Patach), .. (e, Zere), ֶ (e, Segol),. (i, Chirek und o, Cholem), ֻ (u, Kibbuz) u. ſ. w. und vielleicht auch dem Steinheil’ſchen Nadeltelegraphieſyſtem (der Combination von vier Punkten in zwei Reihen), wie gleichfalls dem Morſe’ſchen zum nächſten Grunde gedient haben kann.

104

Aus dieſen einfachen Wahrnehmungen erſcheint es erklärlich, wie in der Einſamkeit und Noth der wuchernde menſchliche Geiſt, bei der Entbehrung aller künſtlichen Mittel zu einem geiſtigen Rapport, durch die kümmerlichſten Mittel, wie das bei Franz von Spaun der Fall war, auf die einfachſten Formen gewieſen werden konnte, um durch ſie geiſtiges Leben mit andern auszu - tauſchen. Ein Schuh oder Pantoffel, ein hölzernes Trinkgefäß, ein Löffel, eine Bürſte, oder der gekrümmte Finger genügt, um den Gedanken Form und Sprache zu geben. So alt die Klage über das Hakeſen der Gefangenen iſt, ſo alt und ſo einfach iſt die Kunſt. Aber eben dieſe unſcheinbare Einfachheit war der geſchick - teſte Deckmantel der Kunſt, die vom verkünſtelten Leben gerade in Gefangenzellen und in dieſer ihrer Einfachheit nicht eher ge - ahnt wurde, als bis der kunſtgewandte Gauner die glänzenden Erfolge davongetragen hatte. Man findet nur dieſe Erfolge, niemals aber das Syſtem der Verſtändigung in den Zuchthaus - annalen verzeichnet, und die wieder ergriffenen Gauner ſind höch - ſtens über den gemeinſchaftlichen Ausbruch und Verbleib, ſelten oder gar nicht über das Syſtem ihrer vorgängigen Verſtändigung inquirirt worden, das kaum bemerkt und nie begriffen wurde, immer aber mit der Zufälligkeit körperlicher Bewegungen entſchul - digt und verdeckt werden konnte, wenn je der forſchende Scharf - blick des Jnquirenten auf das Geheimniß gefallen war. Es iſt ſehr möglich, daß es ſchon mehrfache Syſteme auf dieſer Baſis gegeben hat. 1)Auch findet man S. 86 u. 87 der Actenmäßigen Belege und Bei - lagen zur anonymen Broſchüre: Der Tod des Pfarrers Dr. Friedr. Ludw. Weidig (Zürich und Winterthur 1843), mehrere Klopfſprachen erwähnt, mittels welcher politiſche Gefangene in einem deutſchen Gefängniſſe unter ſich communicirten, und deren ſich ſogar der Jnquirent zur Ausforſchung und Täu - ſchung eines der Gefangenen bemächtigt hatte.Seitdem aber das Morſe’ſche Schreibſyſtem ſo allgemein bekannt und unter Tauſenden von Telegraphiſten und Eiſenbahnbeamten, und durch zahlreiche Schriften und Jnſtructionen bis zur Popularität in ganz Deutſchland verbreitet iſt, ſeitdem iſt jene einfache Grundlage aller akuſtiſcher Verſtändigung in ihrer105 ureinfachen Anwendung von neuem wie eine eigene Kunſt her - vorgetreten und, wie die Sprache, eine gemeindeutſche Verſtän - digungsbaſis geworden, die noch weit über den Bereich des Deutſch-Oeſterreichiſchen Telegraphenvereins hinausreicht. So iſt dem geſammten Gaunerthum eine geheime Sprache erhalten, die jetzt nach ihrer ſyſtematiſchen Organiſation nicht mehr zum Schweigen zu bringen iſt, man müßte denn jenen ſcheußlichen vor hundert Jahren in wirklichem Ernſte gemachten Vorſchlag, allen gefangenen Gaunern das Trommelfell in den Ohren zu durchbohren 1)Vgl. den erſten Theil, S. 81, Note 3., zur Ausführung bringen und damit die ganze mittelalterliche Barbarei der Körperverſtümmelungen wieder einführen!

Wie in allen Begegnungen des Gaunerthums, ſo auch hier gilt es, die genaueſte Aufmerkſamkeit und Vorſicht anzuwenden. Scharfe Beobachtungen werden glückliche Erfolge liefern, und den Fingerzeig zur Verhütung von Colluſionen geben, die auch bei den beſten Einrichtungen doch immer noch möglich bleiben. Um demjenigen, welcher noch keine eigenen Beobachtungen hat an - ſtellen können, ein Beiſpiel zu geben, wie nach obigem Syſtem etwa der aus dem Verhör zurückkommende Gauner, welcher dem neben, unter oder über ſeiner Zelle befindlichen Complicen mit - theilen will, daß er nichts eingeſtanden habe, ſich durch Klopfen verſtändlich macht, ſtehe hier zum Exempel die hier einſchlagende Redensart: Jch bin unſchuldig . Dies drückt der Gauner ent - weder im unterſchiedlichen Wechſel von weichen Schlägen (mit dem untern weichen Theil der Fauſt), wozu als Bezeichnung der Strich () dient, und von harten kurzen Schlägen (mit dem Fingerknöchel), wozu der Punkt () dient, durch Klopfen an die Thür, an die Wand oder auf den Fußboden ſo aus:

ichbinunſ
chuldig
106

oder auch, ohne weichen und harten Wechſel, mit monotonen Schlägen eines und deſſelben harten Gegenſtandes, wie eines Stück Holzes oder des Pantoffelabſatzes gegen Fuß - boden, Wand, Thüre, oder mit dem Finger gegen die Fenſter - ſcheibe, ſodaß zwei einander raſch folgende Schläge den weichen Schlag erſetzen:

ichbinunſ
chuldig

Man erkennt hieraus, auf wie mancherlei andere Weiſe eine Verſtändigung durch das Klopfen möglich iſt, wie aber auch aus der Ferne her, in das Gefängniß hinein, durch weitſchallende Tonmittel, z. B. durch eine Trompete, Pfeife, Trommel, Glocke oder Metallzungeninſtrument eine Communication eröffnet werden kann, und welche genaue Aufmerkſamkeit man anwenden muß, um in Unterſuchungs - und Strafgefängniſſen und in deren weiteſter Umgebung Colluſionen zu verhüten.

Dreiunddreißigſtes Kapitel. 3) Das Baldowern.

Baldower (von〈…〉〈…〉, Baal, Herr, Beſitzer, Mann, Sach - kundiger, Künſtler, abgeleitet von〈…〉〈…〉, er hat beſeſſen, geherrſcht [geheirathet], und〈…〉〈…〉 Dabar, Wort, Sache u. ſ. w.) bedeutet zunächſt den Herrn einer Sache, der eine Sache in der Gewalt hat1)So faßt auch die koburger Deſignation (als Vorläufer des jüdiſchen Baldobers) das Wort Baldower richtig auf, während im letztern, den act. crim., das Wort Baldower als Anführer der Achproſchen aufgefaßt iſt. Dagegen figurirt im Hildburghauſer Wörterbuch Baldofer ſchon allein als Augeber der Diebſtähle. Die Rotwelſche Grammatik von 1755 faßt, der ein Unternehmen leitet, daher den Anführer eines107 Unternehmens, der die Rollen austheilt, die weſentlichſte Thätig - keit übernimmt und die Beute vertheilt. Da aber dieſe Leitung eine genaue Kenntniß des Orts und der Gelegenheit vorausſetzt, ſo hat Baldower auch ganz beſonders die Bedeutung des Aus - ſpähers, Kundſchafters erhalten, und baldowern bedeutet daher vorzüglich eine Diebſtahlsgelegenheit ausſpähen, erkunden und den Gaunern mittheilen. Zu dieſer Bedeutung iſt der Ausdruck baldowern ſo weſentlich übergegangen, daß für den primitiven Begriff des Baldowers der eigene Name Balmaſſematten1)Jm gleichen Sinne wird auch das Wort Bahnherr (corrumpirt Bohnherr) gebraucht, d. h. der Führer, der die Bahn bricht, das weſent - lichſte thut beim Diebſtahl. (von〈…〉〈…〉, Baal, und〈…〉〈…〉 Maſſo Umattan, Diebſtahl, Diebſtahlsobject, als Herr, Leiter und Ordner des Diebſtahls, Anführer der Genoſſenſchaft und Vertheiler der Beute) aufgekom - men iſt, und Baldower2)Vollkommen gleichbedeutend mit baldowern iſt noch der Ausdruck aus - kochen, richtiger wol auskochemen, von Chochom; ein ausgekochter Maſſematten iſt gleich dem baldowerten Maſſematten, ein vollſtän - dig ausgekundſchafteter Diebſtahl. Auch wird auskochen noch ſpeciell für Blindemachen gebraucht. Vgl. weiter unten, und Thiele, a. a. O., I, 228. jetzt nur noch den Ausſpäher, Gelegen - heitsmacher zum Stehlen bedeutet.

Das Baldowern iſt die Einführung der praktiſchen Gauner - kunſt in das Verkehrsleben. Es iſt der feinſte Theil der Kunſt; es iſt die Pſychologie und Logik der Gaunerei, die beobachtet und Schlüſſe zieht, um dann handeln zu können. Eine genaue Kennt - niß der Oertlichkeit, der Perſonen und Verhältniſſe, des Terrains, auf dem der Gauner ſeine verderbliche Thätigkeit entwickeln will, iſt daher ſeine erſte Aufgabe. Schon del Rio, an der ſchon an - geführten Stelle, wundert ſich über den Zigeunerhäuptling, den er in Spanien traf, welche genaue Kenntniſſe aller Perſonen und Verhältniſſe, aller Hülfsquellen und aller Schlupfwinkel1)wieder beide Begriffe auf, und überſetzt: ein Mann von der Sache, Ange - ber, Director oder Anſtifter der Diebſtähle u. ſ. w. Seit den Niederländi - ſchen Banden ſteht aber der Sprachgebrauch feſt, daß der Baldower nur der Auskundſchafter, Diebſtahlsgelegenheitsmacher iſt.108 Spaniens dieſer hatte, und wie er ſogar das Spaniſche trotz dem geborenen Toledaner ſprechen konnte. Welche Geheimniſſe, Oert - lichkeiten und Perſonalverhältniſſe lernt nicht aber noch heutzutage der Polizeimann gerade durch das Gaunerthum kennen, die un - ter andern Umſtänden ihm durchaus unbekannt geblieben wären. Er wird in eine ganz neue Welt eingeführt, die Millionen gänz - lich verſchloſſen und fremd bleibt.

Es gibt keinen beſſern Topographen und Statiſtiker als den Gauner. Nicht nur jedes Land, jeden Ort, an welchem er nur kurze Zeit verweilt hat, kennt er genau; er weiß auch alle ſeine Schlupfwinkel, kennt die Einrichtung jedes Hauſes, welches er betreten hat, und hat genaue Kunde von den Verhältniſſen ſeiner Bewohner. Er kennt das Gerichtsverfahren, das Magiſtratsper - ſonal, die Jnquirenten, die Polizei und wie viel oder wie wenig er von ihnen zu fürchten hat, die Gefangenanſtalten, Gefangen - wärter, die Hausordnung, Behandlung der Gefangenen u. ſ. w. Denn niemals unternimmt der Gauner irgendetwas, wenn er nicht ſicher iſt, daß ihm die That vollſtändig gelingt, und er ſelbſt unentdeckt bleibt, bis er ſich zurückgezogen hat. Was der eine Gauner erkundet hat, das weiß auch ſeine Genoſſenſchaft, denn die Kenntniß des einen iſt Gemeingut des Ganzen. Un - zählige Vorwände dienen ihm, dieſe und jene Kenntniß zu erlan - gen. Sowie ein Gauner in einen Ort kommt, ſo erkundigt er ſich nach allen Perſonen und Verhältniſſen, die er ausbeuten kann. Eine der erſten Fragen im Wirthshaus iſt die nach dem Adreßbuch oder Staatshandbuch. Faſt alle fremden Gauner, die ich verhört habe, hatten nach ſehr kurzem Aufenthalt ſchon eine ganze Liſte diſtinguirter Perſonen notirt; manche Wohnung war nach einer alten Ausgabe des Adreßbuchs mit der frühern Straße oder Hausnummer aufgezeichnet. Häufig kommen Gauner ſchon mit ſolchen Liſten an, die ſie bereits auswärts nachgewieſen er - halten hatten. Keine Schwäche iſt ſo unbekannt, daß ſie, von einem Gauner entdeckt, nicht auch von mehreren gekannt ſein ſollte. Der vornehme alte Wollüſtling, der eine Maitreſſe bezahlt hat, kann darauf rechnen, daß er auch von fahrenden Dappel -109 ſchickſen heimgeſucht und betrogen wird, die ſich ihm als pauvres honteuses, unglückliche Beamten - oder Offizierswitwen, durch - reiſende Gouvernanten oder Künſtlerinnen vorſtellen. Es gibt Stellen, wo junge Mädchen als Bonnen, Erzieherinnen und Ge - ſellſchafterinnen erzogen, und mit guten und gefälſchten Papieren und Empfehlungen fortgeſchickt werden, um in weiter Ferne ein Unterkommen zu erlangen, dem Hauptzwecke nach aber, um Maſſe - matten zu baldowern, die denn auch durch ihren Nachweis und mit ihrer Hülfe gehandelt werden, ohne daß auch nur der Schein des Verdachts auf die verkappte Gaunerin im Hauſe fällt. Die menſchenfreundliche chriſtliche Werkthätigkeit der innern Miſſion iſt zum Gegenſtand einer eigenen Speculation geworden. Liederliche Dirnen verlaſſen das Bordell, ſpielen die Reuige, werfen ſich der innern Miſſion in die Arme, werden bald als gebeſſert entlaſſen, und erhalten nun Empfehlung und Unterkommen in chriſtlichen Familien, wo ſie bald ihren Genoſſen die alten Dienſte durch Baldowern leiſten, und auch wol gar endlich mit ihnen verſchwinden. Der Colporteur, der Bettler, der Krüppel, der Sieche, der Blinde mit ſehenden Augen, der ſich von einem Kinde führen läßt, geht in die Häuſer, um die Lokalität und die Schlöſſer zu beſehen, ob dieſer oder jener Klamoniſſ anzuwenden iſt. Das weinende Kind, das von der Noth der Aeltern erzählt; der kecke Knabe, der mit ſchlauem Lächeln den Fremden im Gaſthofe fragt, ob ſeine Schweſter oder Couſine ihn beſuchen darf; das ſchüchterne junge Mädchen, das ihn um Weißzeugnäherei oder Wäſche bittet, um eine alte Mutter und die Geſchwiſter durchzubringen, baldowert, ſelbſt auch wenn ihre Schüchternheit plötzlich in Preisgebung um - ſchlägt. Der verkappte Polizeidiener, der nach der Legitimation des Reiſenden fragt; der Commiſſionär, der ſeine Vermittelung zu Geſchäften, der Lohndiener, der ſeine Dienſte anbietet, will nichts weiter als den Platz erſpähen, wo Koffer und Kaſſe des Fremden ſteht. Das alte Mütterchen, das beim Wechsler einen Kaſſenſchein umſetzt, erſieht ſich, wo und wie die Geldladen ſtehen, und zählt im Davontrippeln die Schritte von dem Fenſter nächſt der Lade bis zur Thür. Der Handelsreiſende, der mit dreiſten110 Manieren dem Geſchäftsmann im Comptoir oder Verkaufsladen Proben anbietet; der Handwerksburſche, der halb erſtarrt beim Wirthe um Quartier bittet; der Fleiſcher oder Viehhändler, der bei dem Landmann Vieh erhandelt; der Aufkäufer, der mit dem Müller oder Gutsbeſitzer Korngeſchäfte entrirt, baldowert unter dem Schein des täglichen Verkehrs, Handels und Wandels u. ſ. w. Nicht minder weiß der Gauner alle Jahrmärkte und Meſſen, wo es beſonders Gelegenheit zum Handeln gibt. Er weiß auch die Hebungs - und Zahlungstermine, zu welchen Pächter, Förſter, Kaſſenführer und andere Beamte größere Summen bereit halten; er weiß auf Woll - und Kornmärkten, welche Bankiers vorzüglich viel Geld zum Zahlen ſtehen haben, und wer davon Geld mit in die Heimat bekommt; er erſpäht, wer mit der Poſt und den Dampfſchiffen Contanten empfängt, und weiß, wo eine Hochzeit nahe iſt, und wo die Ausſteuer dazu liegt, da, wenn er nicht ſelbſt heimlich die Beobachtung gemacht hat, ſeine vertrauten Genoſſen und Bekannten, platte Leute, meiſtens am Orte oder in der Nähe wohnende Gaunerwirthe, alte abgeſtumpfte, zum Stehlen nicht mehr taugliche Gauner und deren Angehörige und Bekannte, ihn davon unterrichten, wo ein Maſſematten ſteht. Zum Bal - dowern gehört auch die genaue Erſpähung, wie viel männliche und weibliche Bewohner das zu beſtehlende Gebäude hat, ob junge Eheleute, die zeitig das Bett ſuchen und bald einſchlafen, oder ob unruhige kleine Kinder oder alte Leute, welche an Schlafloſig - keit leiden, darin wohnen; ob Widerſtandswaffen zur Hand ſind; wo die Schlafſtuben liegen; wie weit dieſe vom Platz, wo das Geld oder die Waare liegt, oder von den gelegenſten Einbruch - ſtellen entfernt ſind; wo Knechte und Mägde ſchlafen; ob Hunde im Hauſe oder in deſſen Nähe ſind; ob und welche Nachtwächter im Orte, und ob ſie jung oder alt ſind; ob im Orte viel und ſpäter Wirthshaus - oder Geſellſchafts - und Poſtverkehr iſt u. ſ. w.

Unzählig ſind die verſchiedenen Formen des Baldowerns; ſie ſind dazu ſo unſcheinlich, wie die meiſten Ereigniſſe des alltäg - lichen Lebens, und behalten um ſo mehr die Unſcheinlichkeit, je feſter der Grundſatz ſteht, daß der Baldower ſelten oder niemals111 den baldowerten Maſſematten ſelbſt handelt, und daß er zwiſchen Baldowern und Handeln längere Zeit, oft Jahre verſtreichen läßt, um allen Verdacht ſchwinden zu laſſen. Dafür geht der Gauner denn auch bei ſeiner Kunſt ſo ſicher, daß er oft einen ſchon erreichten Maſſematten längere Zeit liegen läßt und davongeht, bis er ver - muthen kann, daß er ſich gebeſſert hat und der Mühe mehr ver - lohnt. Beiſpiele der Art ſind nicht ſelten; eins der merkwürdigſten führt Thiele, a. a. O., I, 37, vom Gauner Wohlauer an.

Häufig wird auch beim Baldowern ſchon ein indirecter An - fang des Diebſtahls ſelbſt unternommen, z. B. ein Schlüſſel ab - gezogen oder ein Wachsabdruck von ihm oder vom Schlüſſelloch gemacht, ein Ueberfallhaken vor irgendeinem Fenſter abgehängt, eine zum Einſteigen gelegene Fenſterſcheibe wie durch Zufall oder Ungeſchicklichkeit eingeſtoßen, um bald darauf den friſchen Kitt der neueingeſetzten Scheibe deſto leichter mit dem Meſſer löſen zu können, ein Hund vergiftet, Entfernungen mit Auge oder Schritt gemeſſen. Um eine möglichſt genaue Kenntniß der ganzen Gelegenheit und die möglichſte Sicherheit des Unternehmens zu gewinnen, wird unmittelbar vor der Ausführung des Diebſtahls ein Mitglied der Chawruſſe, oft auch eins nach dem andern, an den Ort des Diebſtahls geſchickt, um eine Blinde zu machen, d. h. nochmals überall genau nachzuſehen, und eine Probe abzu - halten, wie nun unmittelbar vor der Ausübung die ganze Situa - tion iſt. Der Ausgeſchickte beginnt den Scheinangriff, um zu ſehen, ob alles für das Unternehmen geſichert iſt, bricht und klopft leiſe an der Einbruchſtelle oder an den Fenſterſchaltern (Blinden), ob jemand erwacht oder bei der Hand iſt, und wie es überhaupt augenblicklich mit der Bewachung des Hauſes und ſeiner Umgebung durch Wächter oder Hunde ausſieht. Jſt die Ueberzeugung des Gelingens gewonnen, ſo wird raſch an das Werk gegangen. Jſt die Gelegenheit bedenklich, ſo machen ſich mehrere oder wol auch alle Genoſſen der Chawruſſe nacheinander daran, die Blinde zu machen. Gewöhnlich entſcheidet darauf die Majorität für oder gegen die Ausführung des Handels. Der gefaßte Beſchluß bindet dann auch die Minorität, obſchon nicht112 ſelten ein heimliches Davonſchleichen Einzelner vorgekommen, im - mer aber auch dann ſchwer geſtraft iſt. Ein in ſolcher Weiſe ſicher geſtellter und als ausführbar erkundeter Diebſtahl heißt ein ausgekochter (ausgekochemter) Maſſematten . 1)Thiele, a. a. O., I, 80, hat hierfür die nicht beſonders in ſein Wör - terbuch aufgenommene, ſondern nur nebenher, I, 235, unter Blinde machen aufgeführte Redensart: Erſt eine Blinde, dann eine Schande machen . Dieſe Redensart iſt mir niemals, weder in meiner Unterſuchungspraxis, noch ſonſt in einem Wörterbuch vorgekommen. Wahr - ſcheinlich hat Thiele auch den Ausdruck nicht aus Gaunermunde ſelbſt gehört, ſondern entweder incorrect geſchrieben gefunden oder falſch geleſen. Das Wort Schande kommt nirgends in der Gaunerſprache vor. Wahr - ſcheinlich wird in dieſer Redensart Schaude oder Schaute für Schande gelten ſollen, was allerdings Sinn hat und die ſpecifiſche Thätig - keit der Gauner beim Blindemachen verdeutlicht, auch im Schautenpicken beim Schottenfellen eine analoge Erklärung findet. Vgl. Kap. 57.

Vierunddreißigſtes Kapitel. 4) Die Kawure.

Die Kawure (jüdiſch-deutſch kwuro, von〈…〉〈…〉, keber, Grab, Grube) bedeutet im Jüdiſch-Deutſchen das Begräbniß, Grab, Grabmal, wird aber in der Gaunerſprache für jeden Verſteck, Verſteckort und für das Verſteckte ſelbſt gebraucht. Kawure legen heißt daher: verſtecken, verbergen, verſcharren; die Kawure erheben heißt: das Verſteckte, Vergrabene hervorholen, heraus - graben.

Dem Gauner muß natürlich daran liegen, die That mit ihren Anzeigen zum mindeſten bis zur Beſeitigung der Gefahr zu verbergen. Da er die Gewichtigkeit der Anzeigen vor, bei und nach der That kennt, ſo richtet er beſonders ſeinen Scharfblick darauf, daß er ſich aller ſeiner Diebsinſtrumente entäußert, und in gleicher Weiſe auch das Geſtohlene kawure legt. Dies Ka - wurelegen geſchieht auf die verſchiedenartigſte Weiſe. Keinen113 Theil des Hauſes von der Krone des Schornſteins bis zum Brunnen im Keller, keine Wand, keinen Stein, keinen Balken, keinen Fußboden, keine Fußplatte, keinen Abort, keinen Stall, keine Scheune, keinen Stroh - und Miſthaufen, keinen Graben, keine Brücke, kein Hausgeräth, kein Kleidungsſtück, ja kaum eine Körperöffnung oder Körperhöhlung gibt es, welche nicht zur Ka - wure benutzt werden könnte. 1)Unlängſt wurde hier in Lübeck eine Gaunerin nach geſtohlenen ſchwe - diſchen Banknoten vergeblich viſitirt, bis ſich dieſelben bei der Viſitation ihrer vierjährigen Tochter in deren Mäntelchen eingenäht fanden. Ein Falſcher hatte hier in Lübeck an der lebhafteſten Paſſage hart am Holſteinthor unter einer Birke in einem Gartenbeet ſein Geräth und eine bedeutende Menge ge - fälſchter Kaſſenſcheine verſteckt. Löwenthal hatte unter dem Schieber eines Vogelbauers und unter der Erde eines Blumentopfs geſtohlenes Gold ver - ſteckt. Ein aus einem benachbarten Zuchthauſe ausgebrochener Räuber geſtand mir, daß er die bei ihm gefundenen Klamoniſſ ſofort nach ſeiner Entweichung aus der Nähe ſeiner ſchon längſt verkauften väterlichen Dorfwohnung, wo er ſie mehrere Jahre vorher kawure gelegt hatte, wieder hervorgeholt habe, um ſie abermals in Gebrauch zu ſetzen.Man bekommt einen Begriff von den tauſend und aber tauſend Gelegenheiten, wenn man erſt mehrere Recherchen mitgemacht hat. Die Gelegenheit der Kawure iſt meiſtens ſo ſcheinlos, daß man ebenſo oft kaum begreift, wie der Gauner einen ſolchen Verſteck wählen mochte, als man ſich wundern muß, daß man doch an jenem Ort das Verſteckte finden konnte. Aber aus der Gelegenheit des Fundes und Verſtecks be - greift man faſt immer die ganze Situation des Verbrechers beim Diebſtahl. Man kann auch aus der Combination der bei dem Verbrechen und dem Orte des Verbrechens hervortretenden Um - ſtände ziemlich ſichere Schlüſſe auf die Thäterſchaft und Kawure ziehen, obwol ſich dabei keine Regeln geben laſſen, als den ſchar - fen Blick auch auf das Unſcheinliche zu richten und ſich keine Mühe verdrießen zu laſſen.

Die auffällige Gegenwart eines fremden Menſchen auf einem Vorplatze oder in einem verſchloſſen gehaltenen Raume gibt Ver - dacht gegen ihn, und ſogar wol Anlaß, ihn zu viſitiren. Das weiß der Makkener und hat daher den Grundſatz, ſeine Klamo -Avé-Lallemant, Gaunerthum. II. 8114niſſ, ſobald er damit einen Verſchluß geöffnet hat, kawure zu legen. Die Durchſuchung der dem geöffneten Verſchluß nächſten Um - gebung, der hohlen Füße unter den Schränken, der Gurten unter Stuhlpolſtern, der Tiſchſchubladen u. ſ. w., wohin der vorſichtige Gauner die Schlüſſel für den Fall des Aufſtoßes hinlegt, um ſie beim ungefährdeten Hinweggange wieder mitnehmen zu können, iſt daher ebenſo nothwendig wie die perſönliche Viſitation.

Die Kawure an ſeinem Körper iſt dem Gauner die nächſte und behendeſte. Sie gewährt ihm zugleich den Vortheil, in der dringendſten Gefahr die verdächtigen Sachen am unſchein - lichſten verſtecken zu können, ohne auch darum die Hoffnung auf die Wiedererlangung aufgeben zu dürfen. Der letztere Umſtand macht daher den Transport von Gaunern, bevor ſie viſitirt ſind, namentlich im Dunkeln, ſehr bedenklich, da ſie auf dem Wege zum Gefängniß, ſobald ſie nicht zu entkommen hoffen können, heimlich alles Verdächtige von ſich werfen. 1)Auf dem Fußtransporte geſchieht das beſonders in Goſſen und Sielen. Meiſtens ſteckt der Gauner die Hand in die Beinkleidertaſche, zerreißt dieſe mit den Fingern und läßt die verdächtigen Sachen im Beinkleid herunter - gleiten. Auf dem Wagen, namentlich bei unebenen Landwegen, iſt ein raſches Wegwerfen durch eine Armbewegung noch ſcheinloſer und ſchwieriger zu ent - decken; auch bietet der Wagenſitz oder der Strohſack genug Gelegenheit, etwas kawure zu legen, was vielleicht herabfällt, oder vom Fuhrmann zu ſpät gefunden oder nicht abgeliefert wird.Man kann daher nie genug die Aufmerkſamkeit der Subalternen auf die ſchleunigſte und gründlichſte Viſitation gefangener Gauner lenken. Das Durchſuchen der Taſchen eines Kleidungsſtücks genügt nicht allein: das Futter, jede Naht, jeder Rockkragen und jede Falte, Stiefel - oder Schuhſohle, jeder Strumpf, Handſchuh, Hut und Mütze, beſonders aber die zum Verſteck von Feilen, Sägen und Klamo - niſſ ſehr geeigneten Bruchbänder, müſſen auf das ſorgfältigſte durchſucht werden, da namentlich Geld und die zur äußerſten Fein - heit gearbeiteten Sägen und Feilen darin verborgen ſein können. Beſonders wichtig iſt eine genaue Unterſuchung der Knöpfe, da ſie das Mittel ſind, wodurch vorzüglich Geld und namentlich Gold115 zur Beſtechung der Gefangenwärter in die Gefängniſſe kommt. Ein Louisdor auf einen Knopf gelegt, der mit einem Stück La - ſting, Seide oder Tuch geſchickt übergebunden oder überzogen wird, iſt unter dieſer Hülle ſicher geborgen, wenn man nicht den Knopf aufſchneidet. Ebenſo ſind vorzüglich die Stiefelſohlen, beſonders wenn ſie nicht mit Stiften geheftet, ſondern genäht ſind, ſo auch die Binſennähte und Kappen ſorgfältig zu durchſuchen, da in ihnen meiſtens Geld, Feilen, Sägeblätter und Klamoniſſ[v]er - borgen werden. Beſondere Aufmerkſamkeit iſt dabei auch auf die Bekleidung der den verdächtigen Gauner begleitenden Kinder zu verwenden. Auch im doppelten Boden der Reiſekoffer und Taſchen, in hohlen Stöcken, in Schirmen und Schirmüberzügen, in ver - ſiegelten Geld - und Goldrollen, Raſir - und Reiſebeſtecken finden ſich vielfache Verſtecke für Diebsinſtrumente, die auch in Geld - beutel und Portemonnaies angebracht werden können. Von den verſchiedenen Taſchen männlicher Kleidungsſtücke1)Es iſt gar nicht zu verkennen, daß das Gaunerthum direct und indirect Einfluß auf Mode und Schnitt der Kleidung gehabt hat, namentlich in Be - zug auf die Anbringung der Taſchen und auf deren verſchiedenſte Sicherung gegen Taſchendieberei. Vgl. unten das Torfdrucken. und von den Fuhren und Golen auch der Weiber wird beim Schottenfellen weiter die Rede ſein. Kein Widerwille und Ekel darf den ſubal - ternen Beamten abhalten, alles, auch das ſchmuzigſte Stück Leib - wäſche, nachzuſuchen. Namentlich rechnen Weiber darauf, daß ihre in ekelhafter Weiſe beſudelte Leibwäſche, welche ſie oft monatelang ungewaſchen im Gepäck oder am Leibe führen, aus Discretion oder Ekel nicht ſcharf genug unterſucht werde; weshalb ſie denn meiſtens ſolche Wäſche zur Kawure gebrauchen.

Jedoch nicht die Kleidung allein, ſondern auch der nackte Körper dient zur Kawure. Nicht nur unter Toupets, Perrüken, falſchen Locken und Flechten wird Geld und Diebsgeräthe ver - ſteckt, auch im natürlichen Haar und Bart kann im Nu ein feines Laubſägenblatt mit behendem Drehen ſo gut befeſtigt werden, daß8*116ſogar beim Durchkämmen des Haars mit dem Strich häufig die Säge durch den Kamm gleitet und unentdeckt bleibt, weshalb denn auch immer gegen den Strich gekämmt werden muß. Ebenſo werden ſolche Gegenſtände in den Ohrmuſcheln, Naſenlöchern, im Munde, unter den Achſelhöhlen, unter den gekrümmten Fußzehen, an und in den Geſchlechtstheilen, beſonders in der Vagina und im After verborgen. 1)Vor nicht langer Zeit kam mir der Fall vor, daß ein auf Verdacht eingezogener Dieb einen kleinen ledernen Beutel, worin mehreres Courantgeld nebſt vier Stück preußiſchen Thalern ſich befand, mit der ledernen Zugſchnur auf eine gefährliche Weiſe feſt hinter das Scrotum gebunden hatte.Die Niederländiſchen Räuber hatten tage - lang Schlüſſel, Feilen und Sägen im After, und beſonders Da - mian Heſſel ertrug dabei die heftigſten Schmerzen mit ſtandhaftem Muthe. Die beſonders jetzt in Maſſe und zu verſchiedenen Zwecken immer mehr gefertigten Kautſchukröhren, beſonders die ganz unverdächtig ſcheinenden Kautſchuck-Cigarrenſpitzen dienen für kleinere Feilen, Sägen und Goldſtücke zu bequemen Futteralen, um eine ſchmerzhafte Verwundung und Entzündung der innern Theile zu verhüten. Meiſtens verräth ſich dieſe Verſteckweiſe am geſchränkten langſamern Gange, am zurückgehaltenen Athem, und noch deutlicher beim unbehülflichen Niederſetzen, das ſtets langſam und nach einer Seite hin geſchieht. Dieſer Verſteck dauert ſo lange bis die Viſitation vorüber, oder im Gefängniß ein Ort ermittelt iſt, wo jene Gegenſtände ſicher verwahrt werden können. Der Verſteck wird jedoch bald entdeckt, wenn man den Gefangenen gleich bei der Captur nicht aus den Augen läßt, namentlich ſobald er ein Bedürfniß befriedigt, welches man bei dringendem Verdachte ſogleich durch Anwendung eines Klyſtiers mit etwas Eſſig oder ſchwacher Tabacksinfuſion befördern kann; ein Mittel, welches auch ſchon Rebmann ( Damian Heſſel , S. 81) empfiehlt.

Reiſen Gauner mit eigenem Fuhrwerk, ſo haben ſie am Wagen unter den Achſen, zur Seite derſelben, zwiſchen dem dop - pelten Boden, mancherlei Verſtecke angebracht, nach denen ebenſo gut geſucht werden muß, wie nach denen am Pferdegeſchirr. 117Selbſt unter den häufig zierlich aufgeflochtenen Mähnen und in den aufgeknoteten Schwänzen der Pferde kann man Klamoniſſ finden. Nichtsdeſtoweniger bleibt der Raum hinter der Pferde - krippe immer zu beachten, da trotz der mannichfachſten Ent - deckungen doch dieſe Stelle beſtändig ihren alten erſten Rang unter den Kawuren behauptet.

Jn den Gefängniſſen bieten ſchlecht gearbeitete oder ſchadhaft gewordene Fußböden, namentlich an den Enden, Seiten und da, wo ſie gegen die Wand ſtoßen, ſowie auch die Rähme und Füße von Oefen, Gelegenheit zum Kawure legen. Beſonders ſind aber die Strohlager und Strohſäcke den Gefangenen ſehr willkommene Verſteckmittel. Man ſollte, abgeſehen von dem Material, welches das Stroh zu Stricken bietet1)Unglaublich iſt die Behendigkeit gefangener Gauner, aus dem Stroh derbe und dauerhafte Stricke zu flechten. Damian Heffel befreite ſich aus dem mehr als ſechzig Fuß hohen Thurme zu Uerdingen mittels eines von ihm in den erſten Augenblicken ſeiner Einſamkeit zu einer gleichen Länge geflochtenen Strohſeiles., alle Strohlager und Strohſäcke, ſchon der Koſtſpieligkeit wegen aus den Gefängniſſen verbannen. Zudem iſt das Stroh eine ſtete Schmuzerei im Gefängniß und ſehr ſchwierig zu durchſuchen, ſodaß bequeme Gefangenwärter höch - ſtens die obere Schichte nachleſen und auflockern, während das Stroh in den Ecken zu dichtem feuchten Miſt zuſammenfault. Auch iſt das Auftrennen und Durchſuchen der Strohſäcke eine zu umſtändliche Arbeit, als daß es täglich vorgenommen werden könnte. Ausgezeichnet bewähren ſich die in den trefflichen ham - burger Gefangenanſtalten ſchon ſeit Jahren eingeführten Säcke mit Buchweizenſpreu. Dieſe halb mit dieſer gutgeſiebten Spreu gefüllten Säcke können äußerſt leicht revidirt und durchfühlt, bei jeder Ronde des Nachts, wo der Gauner ſich ſicher fühlt, um - getauſcht werden, und eignen ſich deswegen ſehr ſchlecht zum Kawure legen. Sie ſind zudem ſehr elaſtiſch, weich, bequem, und das billigſte Material für Gefängniſſe, da ſie überaus lange vor - halten und auch ſehr wohlfeil herzuſtellen ſind.

Von der Kawure am Körper anderer Perſonen und an118 Thieren, welche von dem gefangenen Gauner im geheimen Ein - verſtändniß erhoben wird, iſt ſchon oben beim Zuplanten geredet worden. Von andern Arten wird noch gelegentlich geſprochen werden. Der Schärfenſpieler und Kochemerſpieße, welche den Gaunern das Geſtohlene abnehmen, und ſomit die eigentliche lebendige Kawure der handelnden Gauner bilden, wird ebenfalls noch beſonders gedacht werden. Das Untermakkeln (das Unter - ſchlagen von Diebsbeute), welches dem Sſlichnen gleichgeſtellt und beſtraft, dennoch aber faſt immer entweder ſchon beim Dieb - ſtahl oder bei der Theilung der Beute exercirt wird, beruht we - ſentlich auf der Geſchicklichkeit, den Kameraden gegenüber, etwas geſchwinde kawure legen zu können, oder wenn es, was ſeltener gewagt wird, im Einverſtändniß mit einem andern verſucht wird, im geſchickten Zuplanten. Von der blutigen Ahndung ſolcher Wagniſſe ſind ſchon Beiſpiele angeführt worden.

C. Die Gaunerpraxis.

Fünſunddreißigſtes Kapitel. 1) Die allgemeine Praxis und Terminologie.

Die bisher dargeſtellten allgemeinen Grund - und Charakter - züge des Gaunerthums geben weniger ein Zeugniß von einer wirklichen Originalität des Gaunerthums, als von ſeiner Befähi - gung und Beſtrebung, das bürgerliche Leben objectiv aufzufaſſen und auszubeuten. Daſſelbe iſt auch mit der Technik des Gauner - thums der Fall. Es gibt eigentlich keine wirklich originelle Tech - nik und keine beſondere Kunſtoriginalität im Gaunerthum. Die armſelige, ohnehin der Vogelleimruthe analoge Stippruthe iſt bei - nahe ſchon antiquirt. Das Gaunerthum kann es auch mit techniſchen Mitteln nicht wagen, in irgendeiner offenen Originalität aus ſeinem Verſteck hervorzutreten. Es beutet nur die Technik des gewerblichen Lebens aus, hat dieſelbe aber in vieler Hinſicht119 ſo fein ausgebildet, daß es dieſelbe in ihrer bürgerlichen Praxis weit hinter ſich gelaſſen hat, und daß man gerade nur in dieſer Verfein[erung]die gauneriſche Thätigkeit erkennt. Jnſofern kann aber alle[rd]ings von einer eigenen Gaunertechnik die Rede ſein. Eine geſonderte Darſtellung dieſer Gaunertechnik würde aber auch eine Darſtellung der ganzen Gewerbstechnik erforderlich machen, und ſomit die dem vorliegenden Werke geſetzte Grenze weit über - ſchreiten. Die Technik erklärt ſich am kürzeſten und deutlichſten in ihrer Anwendung bei den einzelnen gauneriſchen Unternehmun - gen, deren Darſtellung nunmehr erfolgen ſoll.

Alle praktiſche gauneriſche Thätigkeit wurde urſprünglich mit dem Ausdruck Fetzen bezeichnet. Jm Liber Vagatorum finden ſich die verſchiedenartigſten Zuſammenſetzungen, als Claffotfetzer, Schneider; Fladerfetzer (Pflaſtermacher), Bader, Barbier; Schö - cherfetzer, Wirth; Klingfetzer, Leiermann; Boſſerfetzer, Schlachter u. ſ. w. Die ſchon von Pott, a. a. O., II, 32, an - geführte Ableitung vom lateiniſchen facere iſt ohne Zweifel rich - tig. 1)Auch in der portugieſiſchen Gaunerſprache, Calaõ genannt, hat das Wort Faxar ganz die Bedeutung des facere und fetzen. Von Fetzen bil - dete ſich im 16. u. 17. Jahrhunderte der volksthümliche Ausdruck pfetzen, pfitzen, mit der Bedeutung zupfen, kneifen, abkneifen, klemmen, ſtehlen, welche noch ſpäter auf das ſpecifiſch-gauneriſche Fetzen übergegangen zu ſein ſcheint. Vgl. Kap. 66, Note 1, Stipitzen beim Stippen. Vgl. von Stieler, Sprachſchatz , S. 1442, u. Schottelius, S. 1373.Jn der heutigen Gaunerſprache iſt der Begriff jedoch ſehr beſchränkt, indem Fetzen nur noch das Lostrennen, Losſchneiden einer Sache zu ihrer Habhaftwerdung oder Vernichtung, alſo ſchneiden, ſtechen, ermorden, abſchneiden, zerſchneiden u. ſ. w. be - deutet. Statt deſſen iſt aber das Wort Handel als deutſche Ueberſetzung des facere aufgekommen, und Handel heißt daher allgemein jedes Raub - oder Diebſtahlsunternehmen, einen Han - del machen oder handeln, ſtehlen. Dazu kommt noch in ganz gleicher Bedeutung der ſchon angeführte jüdiſch-deutſche Ausdruck Maſſematten, der jedoch, neben der Bedeutung des Diebſtahls ſelbſt, auch noch die des Diebſtahlsobjects hat, und in der pleo -120 naſtiſchen Zuſammenſetzung einen Maſſematten handeln (einen Handel handeln), ſtehlen, am häufigſten vorkommt. Jn etymolo - giſcher Hinſicht iſt noch zu bemerken, daß auch dur[chgehe]nds der Plural Händel in dieſer Bedeutung bei frühern Juriſten ge - bräuchlich geweſen iſt, z. B. bei Steigerwald in den Res furci - ferorum von allerlei Diebshändel ; ebenſo im Schauplatz der Betrüger , ohne daß der Begriff von Streitigkeit damit verbunden iſt, der im Grund genommen auch nicht einmal in den noch heute gebräuchlichen Ausdrücken: Rechtshändel, Kriegshändel, politiſche Händel u. ſ. w. liegt, ſondern nur allgemein die That und Thä - tigkeit bezeichnet. Doch iſt der Plural Händel als Bezeichnung einzelner Gaunerinduſtriezweige in der Gaunerſprache nicht ge - bräuchlich. Ueberhaupt geht der Gaunerſprache die ſubſtantiviſche Bezeichnung für den allgemeinen Begriff des Metiers faſt ganz ab. Maſſematten heißt allgemein der Diebſtahl und das Diebſtahls - object, im Gegenſatz von Eſek oder Eiſek, das Geſchäft, die Ar - beit, der Fleiß, Gewinn, Antheil im ehrlichen Sinne. Jeder ein - zelne Gauner hat vielmehr nach ſeinem ſpeciellen Jnduſtriezweig beſondere Namen, z. B. Schränker, Makkener, Kittenſchieber, u. ſ. w. und ſein Metier wird paraphraſtiſch bezeichnet, indem er ſagt: Ploni1)Ploni,〈…〉〈…〉, und Almoni,〈…〉〈…〉, wird, unſerm N. N. entſpre - chend, zur Bezeichnung einer ungenannten Perſon gebraucht. iſt Kittenſchieber, Makkener, oder handelt als Schränker oder Makkener u. ſ. w. Selten oder wol gar nicht handelt ein Gauner in einem Jnduſtriezweige allein, wenn er auch einen ſpeciellen Zweig mit beſonderer Liebe und Geſchicklichkeit cultivirt; er iſt vielmehr bereit, alle und jegliche Gelegenheit auszubeuten, die ſich ihm darbietet, und kaum gibt es einen Gauner, der nicht fertig mit den Klamoniſſ umzugehen wüßte und nicht ſolche faſt immer bei ſich führte.

Zur Bezeichnung der gauneriſchen Thätigkeit gibt es eine Menge Stammwörter, welche in der Zuſammenſetzung mit andern Wörtern je nach Zeit, Thätigkeit und Ort eine beſtimmte Gauner - induſtrie bezeichnen. Dahin gehört: Gänger, Geier, oder jüdiſch -121 deutſch: Halchener, Lekicher, Latchener, Springer, Hopſer, z. B. Chaſſnegänger, der mit Sturm einbrechende nächtliche Räuber; L[aile]gänger, Fichtegänger, der Dieb zur Nachtzeit; Tchillesgänger, Erefhalchener, der Dieb zur Abendzeit; Trararumgänger, Poſtdieb; Zefirogänger, Dieb zur Mor - genzeit; Schuckgänger, Marktdieb; Medinegeier, Landhau - ſirer; Jomlekicher, Dieb bei Tage; Sſuſſimlatchener, Pferdedieb; Scheinlatchener, Dieb zur Tageszeit; Schein - ſpringer, ebendaſſelbe; Golehopſer, der Dieb, der die Koffer von den Wagen während des Fahrens ſchneidet. Ferner: Händler, Fetzer, Spieler, Macher, Makker, Melochner, Zieher, z. B. Schwärze - oder Fichtehändler, Nachtdieb; Jerid - händler, Marktdieb; Jaskehändler, Kirchendieb; Tchilles - händler, Dieb zur Abendzeit; Kracherfetzer, Kofferdieb; Reiwechfetzer, Schwindler, Beutelſchneider; Stoſſenſpieler, Schärfenſpieler, Ankäufer geſtohlener Sachen; Vertuſſmacher, der Gauner, der dem Genoſſen Gelegenheit zum Diebſtahl macht; Fallmacher, der zum Spiel anlockt; Jommakker, Dieb zur Tageszeit; Kaſſiwe - oder Fleppemelochner, der Anfertiger falſcher Päſſe; Cheilefzieher, Taſchendieb. Ferner: Schieber und Stappler (Stabuler des Liber Vagato - rum, von Stab, Stecken), z. B. Kittenſchieber, Hausein - ſchleicher; Hochſtappler, Bettler von angeblichem Stande; Linkſtappler, Bettler auf falſche Documente. Endlich wird auch noch zur Bezeichnung der geſammten gauneriſchen Thätig - keit zu einer beſondern Zeit oder an einem beſtimmten Ort der Ausdruck Abhalten, gebraucht z. B. den Schuck, den Jerid abhalten, den Markt oder die Meſſe wahrnehmen, auf derſelben gegenwärtig ſein, etwas machen.

Jn den folgenden Kapiteln folgt nun die Darſtellung der wichtigſten Gaunerinduſtriezweige, wie ſolche heutigen Tags in Brauch und Blüte ſind.

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2) Die ſpecielle Praxis. a) Das Schränken.

Sechsunddreißigſtes Kapitel. α) Der Verſchluß im weitern Sinne.

Schränken, vom deutſchen Wort Schranke, heißt das gewaltſame Angreifen einer Schranke, um eine durch dieſe ge - geſchützte Sache zu ſtehlen, daher mittels Einbruchs ſtehlen, und Schränker der Einbrecher. Noch ziemlich tief in den An - fang dieſes Jahrhunderts hinein wurden alle Räuber Schrän - ker genannt, weshalb die Einbrecher, welche keine Gewalt an Perſonen verübten, zum Unterſchiede zierliche Schränker ge - nannt wurden. Dieſe Bezeichnung iſt jedoch veraltet. 1)Vgl. Thiele, a. a. O., I, 311, Note.

Das Recht und der Wille des Menſchen, ſein Eigenthum gegen fremde Angriffe zu ſchützen, hat ihn dazu geführt, durch techniſche und mechaniſche Mittel ſein Eigenthum zu umgeben, ſodaß jeder dritte von demſelben abgehalten werden kann, ſobald die ſchützende perſönliche Gegenwart dazu nicht vorhanden und möglich iſt. Jene Mittel werden aber unter dem Begriff Ver - ſchluß2)Daher die alte juriſtiſche Metapher des ausſchließlichen Beſitzes. Die Subſtitution des Verſchluſſes für die perſönliche Schutzgewalt ſcheint auch der Grundgedanke zur geſchärftern Beſtrafung des Diebſtahls mittels Einbruchs und Einſteigens geweſen zu ſein. Als Analogon des Raubes iſt dieſer quali - ficirte Diebſtahl auch immer der Strafe des Raubes annähernd gleich behan - delt werden. bezeichnet. Verſchluß im weitern Sinne iſt die techniſche Umgebung durch Mauern, Wände und Geländer, welche über - haupt den Zugang verhindern; Verſchluß im engern Sinne der mechaniſch bewegliche Theil des weitern Verſchluſſes, durch wel - chen der Zugang zum eingeſchloſſenen Eigenthum hergeſtellt wird.

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Siebenunddreißigſtes Kapitel. 3) Der Einbruch, Unterkabber, Aufbruch und die Hülfsmittel dazu.

Niedrige Verſchlüſſe, Mauern, Holz - und Plankwerk, Gelän - der, welche leicht zu überſteigen und nicht mit eiſernen Zinken oder Stachelwalzen geſchützt ſind, bieten dem Schränker kein Hinderniß. Hohe hölzerne geſchützte Planken bieten ein ſolches ſchon eher, und werden daher, wenn nicht einzelne Breter ſich geräuſchlos abreißen laſſen, mit dem Bohrer und dem Meſſer durchſchnitten und eingelegt, ſodaß ſchon in dieſer Weiſe vom Einbruch, Lekiche1)Lekiche, von〈…〉〈…〉 (lokach), nehmen, vorzüglich von Feindes Beute, heißt eigentlich jeder Diebſtahl, beſonders aber der gewaltſame Diebſtahl mit Einbruch, wofür übrigens noch der beſondere Ausdruck: Lekiche bekauach, corump. perkooch, vom jüdiſch-deutſchen〈…〉〈…〉 (kauach), Stärke, Kraft, Ge - walt,〈…〉〈…〉 (bekauach), mit Gewalt. Daher Lekiche machen oder auſſe - nen, ſtehlen, mit Einbruch ſtehlen. Ebenſo lekichnen, was aber beſonders in Compoſitionen auch nehmen heißt, z. B. Schauchad lekichnen, Ge - ſchenke annehmen zur Beſtechung. Lekicher Dieb, Lekicher perkooch, Einbrecher, Schränker. Peſſuch, von〈…〉〈…〉, iſt gleichfalls die Oeffnung, der gewaltſame Einbruch, während Paſſung allgemein den Eingang, ſei es durch Einbruch oder mit Nachſchlüſſel, bedeutet. Peſſuch melochnen heißt daher einbrechen, Peſſucher Einbrecher, Paſſung machen, den Eingang auf eine oder die andere Weiſe herſtellen., die Rede ſein kann. Ernſtern Widerſtand bieten die Mauern. Die ſogenannten Schachtwände (Leim-Chaume, Leim-Kauſ - ſel, Leim-Kir), welche beſonders im nördlichen Deutſchland, namentlich bei Scheunen und Ställen, aber auch bei Wohnhäu - ſern, der Leichtigkeit und Billigkeit wegen, zu Wänden gebraucht werden, bereiten dem Schränker geringere Schwierigkeit. Sie be - ſtehen aus Holzſtäben (Schächten, Staken), welche in die Stän - der und Riegel des Gebäudes eingeklemmt und mit einem An - wurf von Lehm und kurzem Stroh verſehen werden. Sie ſind die ſchlechteſten Umfaſſungsmauern, und verrathen ſich, ſelbſt wenn ſie mit Kalk übergeſetzt ſind, durch die überall hervortretenden124 Strohhalme, können auch ſehr leicht durch das Wegkratzen des bröcklichen und mürben Lehms mit einem Brecheiſen oder ſpitzen Stück Holz, und durch Herausbiegen oder Zerſchneiden der Holz - ſtäbe mit dem Meſſer1)Jm Jüdiſch-Deutſchen: Sſackin; davon corrumpirt Sackum, Sackem, Sacken, Zackum, Zacken; auch beſonders Kaut, Hertling, Herterich, Kanif, oder das zigeuneriſche Tſchurin und Tſchuri. eingelegt werden. Dieſe Wände ſind daher immer die bevorzugten Angriffsſtellen der Schränker. Man ſollte dieſe Wände ganz verwerfen, da ſie obendrein der Witterung ſchlechten Widerſtand leiſten. Mit kaum geringerer Leichtigkeit ſind die Fachwände2)Das Fach einer ſolcher Wand wird Schild genannt, das Heraus - brechen oder Herausnehmen eines ſolchen Faches: Schild einlegen, was überhaupt auch für Einbrechen genommen wird., namentlich wenn ſie mit ungebrannten Ziegelſteinen (Klutſteinen) hergeſtellt ſind, einzulegen. Selbſt tüch - tig gebrannte Ziegelſteine ſichern, beſonders wenn ſie mit Lehm ſtatt des Kalks vermauert ſind, wenig gegen den Schränker, da der bündige Zuſammenhang zwiſchen dem Holzwerk und den Steinen fehlt; das Holzwerk wirft ſich, ſchwindet oder fault zu - ſammen, wodurch an den Seiten der Ständer und namentlich unter den Riegeln mehr oder minder breite Fugen entſtehen, welche das Herausnehmen der Steine mit dem Brecheiſen weſentlich er - leichtern. Faſt immer fängt der Schränker den Einbruch einer Fachwand unterhalb eines Riegels an, und nimmt die Steine von oben nach unten heraus, und zwar ſo, daß eine Ständerſeite ganz frei gelegt wird, und die Einbruchſtelle die Geſtalt eines rechtwinke - ligen, auf einen ſpitzen Winkel geſtellten Dreiecks gewinnt. Nur wenn keine Thür oder kein Fenſter von innen zur Flucht oder zum Transport größerer Sachen geöffnet werden kann, und die Einbruchſtelle die einzige Durchgangſtelle bleibt, wird ein ganzes Fach (Schild) eingelegt. Der erfahrene Schränker ſchichtet auch die behutſam gelöſten Ziegel neben der Einbruchſtelle gegen die Wand auf, theils um die Aushebung des Fachs für den etwa herzutre - tenden Wächter oder ſonſtigen Dritten als die unvollendete Tages - arbeit eines Maurers erſcheinen zu laſſen, theils um das Poltern125 der unordentlich übereinander liegenden Steine zu verhüten, beſon - ders aber, um auf der Flucht kein Hinderniß an der Einbruchſtelle zu finden. Nur dann dürften Fachwände eine größere Sicherheit bieten, wenn man an die gegen Riegel und Ständer zu ver - mauernden Steine Zapfen anhaut und dieſe in Nuten des Holz - werks hineinlegt, oder Holzwerk und Steine, da wo ſie ſich berühren, durch Federn oder Zapfen von tüchtigem Holz verbindet.

Maſſive Mauern (Ewen-Chaume, Ewen-Kauſſel, Ewen-Kir) bieten den meiſten Widerſtand, beſonders wenn ſie mit gutem Mörtel aufgeführt ſind. Sind ſie jedoch mit Lehm vermauert, ſo laſſen ſich die Steine ſogar mit einem ſpitzen harten Stück Holz aus den Fugen löſen. 1)Ein vollkommen gelungener Durchbruch durch eine in Kalk gemauerte ſtarke Wand mit dem geſpaltenen Stiel eines Handfegers iſt mir vor nicht langer Zeit wirklich vorgekommen.Der Angriff einer gut in Mörtel aufgeführten Wand erfordert, wenn nicht das große Brech - eiſen, den Krummkopf2)Krummkopf, wahrſcheinlich verſtümmelt von der Benennung des Buchſtaben〈…〉〈…〉 krumme Koff, welchem der obere Theil des Krummkopfs an Geſtalt ähnlich iſt., Reb-Mauſche, Reb-Tauweie3)Beides von〈…〉〈…〉 (rabbo), groß, viel; Mauſche von〈…〉〈…〉 (moschal), er hat geherrſcht, und〈…〉〈…〉 (towa), er hat mit Gewalt gefordert., auch Groß-Klamoniſſ, doch mindeſtens das kleine Brecheiſen, Schabber, Jadſchabber4)Schabber, von〈…〉〈…〉 (schobar), er hat zerbrochen, abgebrochen, und Jad,〈…〉〈…〉, die Hand. Die Etymologie von Klamoniſſ und Purim, ſ. bei dem Makkenen. , Groß-Purim, Kleinklamoniſſ. Der Schabber iſt ein gewöhnliches kleineres Maurerbrecheiſen, ein Stemmeiſen, das beſonders auch bei Aufbrechen von Schränken, Koffern, Kiſten und kleinern Verſchlüſſen vielfach in Anwendung kommt. Der Krummkopf dagegen iſt eine derbe dicke eiſerne Brechſtange von verſchiedener Größe, 1 ½ bis 3 Fuß lang, unten ſpitzzulaufend, oben im Kopf in breiter hakenförmiger Geſtalt ge - bogen, und gewöhnlich in der Mitte des Kopfs mit einem Ein - ſchnitt verſehen, der dem Kopf das Anſehen einer Rindsklaue126 gibt, weshalb in Norddeutſchland eine ſolche Stange1)Bei einem beabſichtigten Einbruch iſt mir eine ganz gerade Stange, 13 Zoll lang und ¾ Zoll dick, oben etwas breit und ohne Haken auslaufend, mit einer ſcharfkantigen, 2 Zoll langen und Zoll breiten Vertiefung in der Mitte, und in dieſer wieder mit einem Einſchnitt von 1 Zoll Länge und ¼ Zoll Breite verſehen, vorgekommen. Die Länge und Schwere des Krumm - kopfs, wie auch ſeine auffällige Geſtalt, macht den Transport, ſelbſt zu Wagen, unbeholfen und bedeuklich. Die Schränker wiſſen aber namentlich auf dem Lande die meiſtens ſehr ſorglos in offenen Remiſen, Ställen und Haukammern aufbewahrten Brechſtangen aufzufinden und zu benutzen, und nehmen auch wol die Pflugeiſen aus den offen auf Aeckern und Höfen liegenden Pflügen zur Hand, oder auch einen eiſernen Eggenzinken. auch Kuh - fuß genannt wird. Mittels des Einſchnittes laſſen ſich ſehr ſtarke Nägel, Hängen und Krampen leicht faſſen und ausziehen. Der Krummkopf in ſeiner eigenthümlichen Conſtruction iſt eine furcht - bare Waffe, ſowol zum Herausbrechen von Steinen, als auch beſonders zum Aufſprengen von Verſchlüſſen. Mit Kopf oder Spitze läßt ſich leicht ein Loch oder eine Spalte bewerkſtelligen, wodurch der Krummkopf einen Stützpunkt für ſeine ungeheuere Hebelkraft gewinnt. Jn Seeſtädten werden vorzüglich noch die ſogenannten Marmlpfriemen, ſtarke, ſtählerne, ſehr ſpitzzulaufende, runde, glatte, gegen 1 Fuß lange, oben 3 bis 4 Zoll im Umfange haltende Pfriemen, deren ſich die Matroſen zum An - ſpliſſen von Kabeln und beim Segelwerk bedienen, zum Schrän - ken gebraucht. Sie ſind ihrer Spitzigkeit, Rundung und Stärke wegen ein höchſt gefährliches Schränkwerkzeug, mit welchem Hänge - ſchlöſſer leicht abgewürgt und Breter und Mauern raſch und ſicher weggebrochen werden können. Sie ſind meiſtens mit einem Knopf oder Loch am Kopfende verſehen, und werden von den Ma - troſen an einem Bande getragen, wenn ſie die Takelung damit beſteigen.

Mit ſolchen gefährlichen Jnſtrumenten beginnt der Schränker, ganz anders wie bei der Fachwand, die Ewenchaume von unten, wo am Fundamente die Steine2)Mit Granitſtein fundamentirte Mauern bieten daher größern Wider - ſtand. gewöhnlich am eheſten verwit -127 tern, zu durchbrechen, indem er zuerſt einen einzelnen Stein, dann die ſeitlichen Steine heraushebt und nun von unten nach oben das Loch (Peſſuch, Paſſung, auch Rekef) zum Durchgange erweitert. Jſt die Wand in dieſer Weiſe durchbrochen, ſo bieten etwa vorhandene Panälwände verkroſchente1)Von〈…〉〈…〉 (keresch, Plural kroschim), Bret. oder vertä - welte Wände noch einen Widerſtand, welcher dadurch beſeitigt wird, daß mit dem Bohrer, Brunger2)Von der Brauchbarkeit des Brungers, der übrigens jetzt meiſtens als Centrumbohrer angewandt wird, hat ſchon der berüchtigte, am 6. Januar 1720 zu Frankfurt a. d. O. hingerichtete Kirchenräuber Jakob Neumann durch eine lange Reihe der ſchwierigſten und verwegenſten Einbrüche Zeugniß ab - gelegt. Der Brunger iſt bei der Geräuſchloſigkeit, Geſchwindigkeit und Kraft ſeiner Wirkſamkeit unbezweifelt eins der furchtbarſten Jnſtrumente in der Hand des Gauners, der im Nu jedes Schloß zu umbohren weiß. Jch habe oft die ſchönſten Mobilien auf dieſe Art ruinirt gefunden. Vgl. weiterhin Lewone legen. , in das Holzwerk ganz nahe nebeneinander Löcher im Umfange der Einbruchſtelle gebohrt und die Zwiſchenräume zwiſchen den Bohrlöchern mit dem Meſſer durchſchnitten werden, ſodaß eine entſprechende Oeffnung, Lewone, im Holzwerk zum Durchgange hergeſtellt wird. Die Panäle bieten nur dann vollkommen Widerſtand, wenn ſie, was man nie - mals in Kaſſengewölben und Comptoirs vernachläſſigen ſollte, mit Eiſenblech oder Bandeiſen gefüttert ſind. Die geübteſten Schränker haben erklärt, daß ſie nicht im Stande ſind, dieſe des - halb ſehr empfehlenswerthe Sicherung zu vernichten. 3)Ueberhaupt empfiehlt es ſich, die Rähme und Füllungen von Thüren, namentlich in der Umgebung der Schlöſſer, Riegel u. ſ. w. mit Eiſenblech, Bandeiſen, Drahtſtiften u. dgl. zu futtern, indem dadurch das Ausbohren und Ausſchneiden des Holzwerks wirkſam gehindert wird. Vgl. Hirt, Der Dieb - ſtahl . S. 4 fg.

Haben die Schränker den Krummkopf oder Schabber nicht zur Hand, oder wollen ſie die Wand nicht durchbrechen, ſo ver - ſuchen ſie, wenn jene leicht fundamentirt und auf der andern Seite kein feſtverbundener Fußboden befindlich iſt, einen Unter - kabber zu machen oder die Wand zu unterkabbern4)Untergraben. Vgl. die Etymologie oben bei Kawure, Kap. 34., d. h.128 mit dem Spaten (Gruber) hart an der Wand ein Loch zu graben, um unter der Wand hindurch auf die andere Seite zu gelangen. Dies geſchieht meiſtens bei Gartenmauern, die auf der andern Seite mit Spalieren beſetzt ſind, oder bei dicken Plank - und Paliſ - ſadenwänden, ſowie bei Blockwänden, die nur langſam und mit zu großer Anſtrengung und zu großem Geräuſch zu durchbrechen oder zu durchagen ſein würden. 1)Einen merkwürdigen Unterkabber, durch welchen ein in Unterſuchung befindlicher Räuber ſeine Flucht bewerkſtelligt hatte, habe ich in einem benach - barten Patrimonialgefängniſſe geſehen. Der Räuber hatte den mit Urin ge - feuchteten Breter-Fußboden mit einem Nagel durchſchnitten, die Erde unter dem Mauerfundament in einer Nacht herausgegraben, und das außen befind - liche Erdreich von unten in die Höhe gehoben, indem er rückwärts in das Loch gekrochen war und mit dem Geſäß gegen das Erdreich gedrückt hatte.

Soll durch eine Thür gebrochen werden, ſo wird, wenn ſie nur von innen verriegelt oder verknebelt iſt, durch Drücken in den äußern Ecken unterſucht, wo die Hängen und wo die Riegel (Manul, zigeuneriſch Glitſchin, Glitſch) ſitzen. Durch dies Drücken erforſcht der Schränker zugleich, ob der Riegel ſtark oder ſchwach iſt; im letztern Falle wird durch geräuſchloſes fortgeſetztes Drücken2)Jm Niederdeutſchen exiſtirt dafür der eigenthümliche Ausdruck Jö - keln, offenbar vom lateiniſchen Jocus, da Jökeln beſonders ſcherzen, Albernheiten begehen, bedeutet. häufig ein ſchlecht angenagelter Riegel oder Knebel gelöſt, oder auch mit durchgeſtecktem Kaut oder Schabber zur Seite oder in die Höhe gehoben. Sonſt wird der Riegel Lewone gelegt3)Lewone, Mond, Mondſchein, von〈…〉〈…〉 (lowon), weiß. Wird ein Stück Bret an der Kante nur von drei Seiten ausgebohrt, ſo heißt die aus - gebohrte Stelle Halbe oder Choze-Lewone; wird aber mitten im Bret oder der Tafel ein meiſt kreisförmiges Loch gebohrt und ausgeſchnitten, ſo heißt die Stelle eine volle Lewone, oder ſchlechthin Lewone. , d. h. das Holz ringsumher wird mit dicht nebeneinander geſetzten Löchern durchgebohrt und mit dem Meſſer ausgeſchnitten, ſodaß der Riegel mit dem Holz, woran er befeſtigt iſt, heraus - fällt. Daſſelbe geſchieht bei Schlöſſern, Haken und Knebeln, um ſie aus der Thür zu löſen. Häufig wird in der Nähe der Stelle,129 wo ein Riegel oder Haken vermuthet wird, eine Lewone gelegt, um mit dem Arm nach innen langen und den Riegel aufziehen zu können. Bei den Rheiniſchen und ſpätern Räuberbanden, welche durch ihre Maſſe offenen Trotz bieten konnten, wurden mit dem nächſten beſten Stück Bauholz, Balken oder Hebebaum, dem Drong1)Vom deutſchen Drang, dringen, impetum facere, cogere. Vgl. von Stieler, a. a. O., S. 336, und Schottelius, a. a. O., S. 1304., die Thüren durch heftiges Stoßen auf das Schloß gewaltſam aufgeſprengt und ganze Fachwände eingerannt, was jetzt, bei der Regſamkeit der Gensdarmerie und bei der Leichtigkeit der Communication, höchſtens noch bei ganz abgelegenen Gebäu - den und auch nur ſehr ſelten gewagt wird.

Soll das Eindringen durch Fenſter, jüdiſch-deutſch Challon, Plural Challauneſſ2)Auch ſonſt Gallones, Scheinling, Scheibeling, Feneter und Fenette genannt. Das jüdiſch-deutſche Eſchnob (〈…〉〈…〉) iſt ein kleines Fenſter, Guckloch, kleines Gitterfenſter., bewirkt werden, ſo kommt es zunächſt darauf an, die Ueberfallhaken von innen abzuhängen. Hat das Fenſter Bleifaſſung, ſo wird das Blei um die Scheibe, Blöde, mit dem Meſſer zurückgebogen und ausgeſchnitten3)Eine Scheibe herausnehmen heißt überhaupt die Blöde ausme - lochnen. Die Bleifaſſung und Scheibe wird von geübten Schränkern ſo ſehr wie möglich geſchont, damit die Scheibe nach vollführtem Diebſtahl wieder eingeſetzt, ſomit auch der Kunſt vollkommen Genüge geleiſtet und auch der Eingang durch das Fenſter nicht ſogleich bemerkt werden kann. Bei amtlichen Beſichtigungen müſſen daher vor allem auch die Fenſter genau ins Auge ge - faßt werden. Sehr leicht kann der[Ver]rdacht einer Nachläſſigkeit oder Schuld - barkeit des Hausgeſindes entſtehen, wenn nicht einmal eine Spur im Staube der Fenſterbank, oder Schmuz, Streifen oder Schrammen von den Fußſohlen der Schränker gefunden werden. Das Wiederzuſtreichen der Bleifaſſung läßt, namentlich da es immer im Dunkeln und raſch geſchehen iſt, ſich ebenſo deut - lich erkennen, wie die Schnitte in den Ecken der Bleieinfaſſung., die Scheibe herausgenommen und durch die Oeffnung mit durchgeſteckter Hand, oft noch mit dem Stocke, der Ueberfallhaken abgehängt.

Eingekittete Fenſterſcheiben werden mittels eines auf die Scheibe gebreiteten, mit fettigen Subſtanzen4)Talg, Theer, auch wol Lehm, Koth, friſcher Kuhdung u. ſ. w. Ter -, namentlich Schmier -Avé-Lallemant, Gaunerthum. II. 9130ſeife, beſtrichenen Lappens oder Papierbogens eingedrückt, um das Klirren des ſpringenden Glaſes zu dämpfen. Erfahrene und ge - übte Gauner vermeiden jedoch das Eindrücken, da es keineswegs leicht iſt, ohne feſten kurzen Druck, den man mit der freien Hand nur ſehr ſchwer bewirken kann, die elaſtiſche Scheibe zum Sprin - gen zu bringen, was aber immer und unter allen Umſtänden von einem dumpfen Knall begleitet iſt, den man deutlich hören und unterſcheiden kann. Dieſer Knall macht es nöthig, daß der Schränker eine Zeit lang warten muß, um zu erforſchen, ob nicht etwa der Knall von den Hausbewohnern gehört worden iſt. Die - ſelbe Vorſicht iſt auch bei dem Herausnehmen der Glasſcherben aus den Rahmen nöthig, da die Scherben faſt immer lebhaft dabei kniſtern und beim Herausbrechen laut klingen. Der routi - nirte Schränker zieht es daher vor, die Scheibe ganz herauszu - nehmen, indem er den entweder friſchen oder verwitterten und namentlich auf dem Lande beſonders nach der Sonnenſeite hin bald mürbe und brüchig werdenden Kitt mit dem Kaut losſchneidet, wobei ihm die höchſt elende Verſtiftung der Scheiben mit dünnen Drahtſtiften faſt gar keine Schwierigkeit darbietet. Beim Bal - dowern ſind die Fenſter mit ihrer Verkittung ſchon immer ein hauptſächlicher Gegenſtand ſcharfer Beobachtung. Vielfach werden aber auch die Ueberfallhaken der Fenſter mit dem Brunger aus - gebohrt, was ſich raſch und leicht bewerkſtelligen läßt.

Werden die Fenſter durch Schalter von außen geſichert, die von innen angeſchroben werden, ſo werden die Schraubenmütter, wenn ihre Niete oder Stifte nicht mit der ſcharfen Kneifzange, dem Beißer, abgekniffen, und mit der Mutter abgedreht werden können, lewone gelegt. Schalter mit durchlochten Querſtangen, die mit Bolzen und Splinten von innen befeſtigt werden, bieten ſehr große Schwierigkeiten, namentlich wenn die Bolzen innen4)pentinpflaſter habe ich in meiner Praxis noch nie gefunden, auch wenig von deren Anwendung gehört. Ob etwa der ſcharfe Geruch, den der Terpentin weithin verbreitet und der die Hunde beunruhigt, die Anwendung unrathſam macht? Mindeſtens iſt auch Terpentin nicht immer ſo leicht und unverdächtig zur Hand als die obengenannten fettigen Subſtanzen.131 durch gute Schnappfedern gehalten werden, oder wenn die Splinte gut gefedert ſind, oder zwiſchen Stiften laufen, daß ſie nicht durch Drehen des Bolzenkopfs zum Herausfallen gebracht werden können. Der Schränker hat ſelten ſo viel Zeit, unbeachtet unter der Stange eine Lewone zu legen, die Scheibe einzudrücken und die Splinte mit der Hand auszuziehen, obgleich dieſe ſchwierige Operation nicht ſelten mit raſcher Kunſtfertigkeit gewagt wird, ſobald nur der Schränker ſich einigermaßen ſicher weiß. Sind die Schalter von innen angebracht, ſo können die von innen übergelegten Rie - gel oder Stangen nach Oeffnung des Fenſters leicht mittels einer Lewone, oder mit dem Kaut oder Schabber in die Höhe geſchoben werden. Ein weit gefürchteteres Hinderniß bieten aber die auf den Fenſterbänken befindlichen Blumentöpfe, die beim Zurückſchieben der Schalter herunterfallen und durch ihr Geräuſch die Schränker verrathen, weshalb man nie verſäumen ſollte, abends nach Schlie - ßung der Schalter, die Blumentöpfe wieder auf die Fenſterbänke ſtellen zu laſſen.

Jſt das Fenſter mit Eiſenſtäben oder Gittern, Barſel1)〈…〉〈…〉(barsel), das Eiſen, eiſernes Werkzeug, eiſerne Feſſeln, Gitter., Barſeilim, verſehen, ſo werden dieſe entweder gewaltſam her - ausgebrochen, geſchwächt, oder auch, wenn die Zeit und Ge - legenheit es erlaubt, mit der Säge, Magſeira2)〈…〉〈…〉(magsera), eigentlich die Axt zum Holzfällen., Megerre, Maſcher, oder der Feile, Pezire3)〈…〉〈…〉, eigentlich Stumpfheit, Scharte, ſchartiges ſtumpfes Schwert., Barſelsſchärfe durch - ſchnitten, gefetzt; das Schwächen wird beſonders dann vorge - nommen, wenn das Gitter außerhalb der Fenſterſcheiben angebracht iſt. Ein tüchtiger Strick4)Die Stricke wickeln ſich die Schränker gewöhnlich unter dem Rocke um den Leib, und legen auch wol noch darunter die zum Wegtragen des geſtoh - lenen Gutes dienenden Säcke, Kiſſimer (von〈…〉〈…〉 [kis], Beutel, Geldbeutel). 〈…〉〈…〉, chebel (Kabel), Gewel, Ka - bohl, Längling, Regierung wird durch die Mitte des Git - ters geſchlungen, um einen tüchtigen Hebebaum oder Wieſenbaum (Drong) geknüpft, und das Gitter durch Wuchten des Baumes herausgeriſſen, wobei entweder das Gitter aus der Zarge bricht9*132oder die Zarge mit herausreißt. Dieſe Procedur geht bei der ungeheuern Hebelkraft des Drong meiſtens ohne große Schwie - rigkeit vor ſich, und wird theils durch die häufig ſchlechte Ver - mauerung der Gitter und Zargen, theils durch die ſchlechte Be - feſtigung der Gitter in den Zargen ſelbſt ſehr erleichtert. 1)Meiſtens werden die Stangenden umgeſchmiedet, durchlocht und von innen gegen das Zargenholz genagelt, oder auch nur in die halbe Holzdicke eingelaſſen, wobei die Gitter ſehr leicht aus der Zarge geriſſen werden können.Einzelne Stangen laſſen ſich noch leichter herausbrechen. Am ſicherſten wählt man verbundene Gitter, bei denen das Eiſenwerk ſich gegen - ſeitig ſteift und trägt, verwirft die hölzernen Zargen ganz, wählt dafür eine ſteinerne Einfaſſung, oder vermauert die dicken hölzernen Zargen wenigſtens ſo, daß ſie gehörig tief und in der Mitte des Mauerwerks zu ſtehen kommen, um weder nach innen, noch nach außen bewegt werden zu können. Zu aller Vorſicht iſt es gut, das Eiſenwerk ſtets in Oelfarbe zu halten, da der geübte Blick des Schränkers an dem matten faſerigten Anſehen das gute nnd an dem glänzenden glatten Anſehen das ſchlechte Eiſen ſehr wohl zu unterſcheiden weiß.

Soll ein Vorhängeſchloß, eine Tole (von〈…〉〈…〉 [tolo], aufhän - gen), erbrochen werden, ſo wird der Schabber oder Krummkopf durch den Hals oder Bügel des Schloſſes geſteckt und das Schloß, deſſen Riegel und Niete leicht der großen Gewalt nachgeben, abgedreht, gewürgt. Bei ſehr ſtarken und ſchweren Schlöſſern, welche dieſer Gewalt etwa Widerſtand leiſten ſollten, wird der Bügel mit der Säge durchſchnitten oder mit der Feile durchgefeilt. Die Billig - keit und Feinheit, mit welcher die Feilen jetzt gearbeitet werden, macht es möglich, daß die Schränker, welche früher ſelbſt aus Uhrfedern2)Eine ſolche noch aus einer Uhrfeder hergerichtete Säge wurde hier in Lübeck noch vor drei Jahren einem gefährlichen Schränker abgenommen. Die Zähne waren unregelmäßig angehauen wie bei Feilen, und griffen ſehr ſtark in Eiſen hinein. nur unvollkommene Sägen zurichteten, oder ſich mit groben Feilen oder Bruchſtücken davon behelfen mußten, mit den verſchiedenſten Sorten feiner Feilen und Sägen reichlich verſehen133 ſind, welche ſie mit großer Leichtigkeit verſtecken können. Die feinen Laubſägenblätter, die man in vielen verſchiedenen Sorten, das Dutzend für drei Silbergroſchen und billiger, in jedem Eiſenwaaren - laden kaufen kann, ſind äußerſt gefährliche Jnſtrumente, da man mit ihnen, wie ich das ſelbſt verſucht habe, in kurzer Zeit zoll - dicke Eiſenſtangen ſehr behende durchſchneiden kann.

Zum Aufbrechen von Verſchlüſſen aller Art dient noch ferner das den Krummkopf und Schabber vielfach erſetzende Kardem (〈…〉〈…〉[kardom], Beil, Axt), auch Kotener1)Von〈…〉〈…〉 (koton), klein; Mühlkracher bedeutet die größere Axt. Kardem, oder Ko - tener Mühlkracher genannt. Das ſcharfe, mit einem ſtarken Stiele von Weißbuchen - oder Apfelbaumholz verſehene Kardem wird ſowol als Hebel zum Einſetzen in Spalten und Fugen, als zum Wegbrechen und Wegſchneiden von Verſchlägen, Schlagleiſten u. dgl. gebraucht, und läßt ſich viel bequemer führen als Krumm - kopf und Schabbeṙ, indem es unter dem Rocke mit dem Stiel durch das Weſtenärmelloch geſteckt wird, ſodaß das eiſerne Blatt flach gegen die Bruſt liegt. Dadurch, daß ſich das Beil auch leichter und unverdächtiger wegſetzen läßt, und auch im Nothfall zu einer gefährlichen Vertheidigungswaffe dient, findet es bei dem Schränken immer größere Aufnahme und Anwendung.

Zum Aufbrechen von Geldkiſten, deren Transport auf das freie Feld, um ſie dort mit der Axt oder ſchweren Steinen zu - ſammenzuſchlagen, nicht möglich oder thunlich iſt, bedienten ſich in früherer Zeit die Schränker (wie Thiele, a. a. O., I, 79, er - zählt) der Kaffemühle, d. i. einer gewöhnlichen Wagenwinde, mit welcher die Deckel der Kiſten aufgeſchroben wurden. Schon der umſtändliche und auffällige Transport dieſes ſchwerfälligen Jnſtruments macht ſeine Anwendung ſchwierig und bedenklich. Die Kaffemühle ſcheint ſeit der Beſeitigung offener Räuberbanden gänzlich obſolet geworden zu ſein. Gilt es, wenn keine Nach - ſchlüſſel oder Dietriche zur Hand ſind, nach Abdrehung oder Ab - ſchneidung der Tolen, den Deckel der Lade zu erbrechen, ſo wird an einer Ecke der Verſuch gemacht, mit dem Schabber, Krumm -134 kopf oder Kardem unterzufaſſen, was bei ſehr vielen Geldladen gelingt. 1)Den Aufbruch einer ſolchen eiſernen Geldkiſte, welche an jeder Seite mit vier Schloßriegeln verſehen war, durch einen geſchickten Schloſſermeiſter, dem der Auftrag dazu ertheilt wurde, da der Schlüſſel verloren gegangen war, habe ich einmal geſehen, und die Fertigkeit bewundert, mit welcher der ganz vortrefflich und künſtlich gearbeitete Verſchluß in einer Viertelſtunde, ohne Dietriche, geöffnet wurde.Jn die entſtandene Spalte wird der Schenkel der Kneifzange oder ein Schabber, oder auch ein keilförmiges Stück Holz, der Vorleger, geſteckt, und mit dem Brechinſtrumente weiter vorgefaßt. Jſt übrigens der Deckel nur ein wenig auf einer Seite gehoben, ſo können die Schließriegel und Haken der furchtbaren Hebelgewalt des Krummkopfs ſchwerlich lange widerſtehen. Das von Thiele, a. a. O., S. 85, erwähnte Zu - ſammendrücken der Geldladen wird von den Schränkern mit richtigem Blick auf den Umſtand, daß die eiſernen Bänder und vielen Nieten das Holzwerk der Laden für den Druck von außen nach innen eher ſchwächen als verſtärken, und daß das dünne Eiſen der Ladenwände ſich nach innen biegen läßt, während es durch den übergreifenden Rahmen des Deckels eigentlich nur vor dem entgegengeſetzten Druck geſchützt wird, deſto eifriger cultivirt. Das Zuſammendrücken mittels eines um die Lade gelegten und durch Drehen eines eingeſteckten Knittels zuſammengezogenen Taues ſetzt allerdings eine ſchwache Conſtruction der Lade voraus. Neuer - dings ſollen auch ſtarke, durch eine mit Stricken um die Geld - lade befeſtigte Flügelmutter laufende eiſerne Schrauben, welche gegen das Schlüſſelloch geſetzt werden, zum Zuſammendrücken von Geldladen gebraucht worden ſein. Dieſe Schrauben habe ich jedoch nicht ſelbſt geſehen. Jn ziemlich ähnlicher Weiſe werden die Räder der Eiſenbahnwagen mittels einer ſtarken Schraube auf die Achſen getrieben. Eine eiſerne Schraube von etwa Fuß Länge und 2 Zoll Dicke müßte ſchon eine unwiderſtehliche Gewalt auf eine Geldladenwand üben. Die Durchziehung einer Mittelwand innerhalb der Geldlade und die Beſetzung des Deckels mit einem innern Rahmen, gegen welche der von außen bewirkte135 Druck der Ladenwände ſich lehnt, ſcheint ein ziemlich ſicheres Schutzmittel gegen dieſe neuauftauchende Methode zu ſein. 1)Eine ſolche trefflich conſtruirte Geldlade findet man auf Tafel 37 des Atlas zu Joh. König’s Grundriß der Schloſſerkunſt (Weimar 1856) dar - geſtellt.

Die vorſtehend genannten Geräthſchafte werden unter dem Collectivnamen Schränkzeug begriffen. Wahl und Gebrauch des Schränkzeugs nach der dargeſtellten Methode wird ſchon bei dem Baldowern beſtimmt, und beſonders auch noch wenn die Blinde gemacht wird, das heißt, wenn kurz vor der Ausfüh - rung des Diebſtahls eine nochmalige ſpecielle Ueberſicht und Durchforſchung der ganzen Oertlichkeit und Gelegenheit durch eins oder durch mehrere Mitglieder der Chawruſſe genommen wird (ſ. oben Baldowern, S. 111).

Oft wird das Schränkzeug nur wenig, oder gar nicht ge - braucht, je nachdem ſich eine andere günſtige Gelegenheit dar - bietet. Die Katzenlöcher in den Thüren, beſonders auf dem Lande, ſparen den Schränkern manche Lewone, da durch dieſe Löcher mittels eines Stocks die hinderlichen Knebel, Riegel und Haken leicht weggeſchoben werden können. Die Schränker finden auch auf dem Lande vielfach Gelegenheit, mit Wagenleitern oder andern Bodenleitern in offenſtehende oder ſchlecht verwahrte Fenſter und Speicherluchten einzudringen, oder auf Dachrinnen zwiſchen Ge - bäuden zu gelangen, von welchen ſie, durch Zurückſchieben oder Aufheben der innern Knebel und Haken der gewöhnlich ſchlecht und loſe ſchließenden Luchten mit dem Kaut oder Schabber, in die Gebäude dringen2)Jn dieſer Weiſe gerieth ein Jndividuum hier in Unterſuchung, das einen ganzen Winter hindurch mittels einer Wagenleiter auf einen Korn - ſpeicher geſtiegen war, und durch die Windenluchte mittels Zurückſchiebung des Knebels mit dem Meſſer den Weg auf den Speicher gefunden hatte, von welchem das Korn ſackweiſe geſtohlen wurde. Die Wagenleiter hing beſtändig an der nahen Scheunenwand., ſomit Arbeit und Zeit ſparen, und dabei auch der Gefahr der Entdeckung leichter entgehen. Oft werden von den Dachrinnen aus Dachziegel zum Einſteigen ausgenommen. 136Dazu wird auch zuweilen der Weg über das Dach eines oder mehrerer benachbarter Häuſer gewählt, wenn an das zu beſtehlende Haus nicht ſicher anzukommen iſt. Letzteres geſchieht beſonders dann, wenn das Haus von guten Hunden bewacht wird, welchen kein Gift beizubringen iſt.

Achtunddreißigſtes Kapitel. γ) Das Pegern.

Gewöhnlich verſuchen die Schränker vor dem Diebſtahl, oft ſchon mehrere Tage vorher, die ihnen hinderlichen Hunde zu pegern, zu vergiften. Der den Hunden vorgeworfene vergiftete Teig, Kuchen und ſonſtiges Gebäck, namentlich auch Fleiſch und am häufigſten Wurſt1)Vergiftete Wurſt ſieht am unverfänglichſten aus, und wird ſelten unterſucht, wenn ein Gauner damit angehalten wird, da ſich die Ausrede wie von ſelbſt verſteht, daß er das Stückchen Wurſt als ſeinen Mundproviant bei ſich führe. wird Sam, (〈…〉〈…〉, Gewürz, Gift) oder Peiger genannt. 2)Von〈…〉〈…〉 (peger), Leichnam, Aas, Luder; im Jüdiſch-Deutſchen im verächtlichen Sinn für chriſtliche Leichen und crepirtes Vieh gebraucht, wie z. B. von dem Leichnam des chriſtlichen diebiſchen Maurers zu Regensburg, in der Maaſe; bei Wagenſeil, Jüdiſch-Deutſche Belehrung (Königsberg 1699), S. 327 u. 328. Das Pegern der Hunde läßt ſich vielleicht einigermaßen da - durch verhindern, daß man ihnen des Nachts dichte Maulkörbe umlegt. Aber doch auch auf andere Weiſe wiſſen die Schränker die Hunde zu kirren, beſon - ders durch Hinwerfen von Lappen mit dem Schweiß hitziger Hündinnen, oder durch mitgebrachte Hündinnen ſelbſt, welche man faſt immer bei Gaunern findet und welche ſie ſogar auf ihre Unternehmungen ſehr häufig mitnehmen. Das Halten von Hündinnen auf dem Lande iſt jedenfalls rathſamer als das Halten männlicher Hunde, da ſie ſich nicht ſo leicht durch jene gauneriſchen Mittel beſchwichtigen laſſen, wie letztere.

Das Gift beſteht nicht immer aus der allerdings am leichte - ſten von allen Giften aus Droguenhandlungen und Apotheken unter irgendeinem Vorwande3)Vgl. Thiele, a. a. O., I, 78. zu kaufenden Nux vomica, ſon -137 dern auch aus Kupferoxyd, das leicht aus ſchmuzigem Meſſing - oder Kupfergeſchirr zuſammenzukratzen oder auch aus trockenen gif - tigen Farben zu gewinnen iſt. Auch iſt die tödliche Eigenſchaft der phosphorhaltigen Streichſchwefelhölzer den Schränkern ſehr wohl bekannt. Häufig werden auch, wenn es nicht auf eine ſehr raſche Tödtung ankommt, die Hunde mit Badeſchwamm, der in Stücke geſchnitten und mit Fett und Salz zuſammengebacken iſt, ge - tödtet, wie man ja denn auch in dieſer Weiſe den Ratten und Mäuſen einen qualvollen Tod bereitet, in deren Eingeweide der mit den Verdauungsſäften durchzogene Schwamm wieder aufquillt.

Neununddreißigſtes Kapitel. δ) Die Zeit, die Kohlſchaft und die goldene Choſchech.

Die paßliche Wahl der Zeit für die auszuführenden Schränk - maſſematten iſt eine wichtige Rückſicht. Es gibt im allgemeinen eine Gaunerjahreszeit, die Monate nämlich im Herbſt und im Frühling, welche lange finſtere Nächte, Stürme und Regenſchauer mitbringen, und wegen dieſer ihrer günſtigen Gelegenheit die Kohlſchaft (〈…〉〈…〉, kohol, die Verſammlung, Gemeinde), d. i. die Verſammlungszeit, Gaunerſaiſon, oder auch wegen ihrer Ergie - bigkeit die goldene Choſchech (〈…〉〈…〉, die Finſterniß) genannt werden. Zum Handeln des einzelnen Maſſematten wird jedoch die günſtigſte Zeit und Gelegenheit mit beſtimmter Berückſichtigung aller Umſtände abgewartet. Kein Moment wird außer Acht ge - laſſen, in welcher der Freier etwa abweſend, krank oder ſonſt in einer Lage ſich befindet, wo er nicht geneigt und befähigt iſt, ſeine Aufmerkſamkeit auf die äußere Umgebung zu richten1) Ein geſchickter Dieb muß wiſſen, wo die Leute ſchlafen, ob ſie alt oder jung ſind, denn alte Leute wachen leicht auf, zumal nach Mitternacht; jungen Eheleuten hingegen kann man eine Stunde nach dem Schlafenlegen ohne Furcht eine Viſite abſtatten. Streitmatter im Verhör; bei Rebmann, Damian Heffel , S. 164 (zweite Auflage), oder S. 117 (dritte Auflage)., wie bei138 Erkrankungen oder ſonſtigen trüben Ereigniſſen, von denen der Baldower Kunde erlangt hat. Mehr als ein mal iſt es daher vor - gekommen, daß Schränker in eine Wochenſtube oder in ein Leichen - zimmer gerathen ſind. Aber auch dann beſonders, wenn freudige Ereigniſſe oder geſellſchaftliche Erheiterungen, wie eine Soirée oder ein Ball, die Hausbewohner und Dienerſchaft auf einen beſtimm - ten Theil des Hauſes concentrirt, vorzüglich aber unmittelbar nach ſolchen Feſtlichkeiten, wenn alles im Hauſe ermüdet ſich zurückgezogen hat, und das Meiſte unordentlich und unverwahrt umherliegt, werden die meiſten Einbrüche mit Erfolg verübt. Alle einzelnen Situationen und Gelegenheiten, ſelbſt die perſönlichen Eigenſchaften, Alter und Zahl der Hausbewohner, von denen ſchon oben beim Baldowern die Rede geweſen iſt, werden mit ſcharfem Blick aufgefaßt, um auch das unſcheinlichſte Moment ausbeuten zu können.

Selten und nur unter ganz günſtigen Umſtänden wird bei Tage, bei Schein, ba jom (〈…〉〈…〉, der Tag), in der Regel bei Nacht - zeit, ba leile (〈…〉〈…〉[lail], die Nacht), oder, wie es auch heißt, Baiſchon lailo (〈…〉〈…〉), in der ſchwarzen Nacht, oder bei Schwärze oder in der Fichte geſchränkt.

Vierzigſtes Kapitel. ε) Die Schmiren und Lampen.

Eine Hauptaufgabe iſt, die als günſtig erkannte Gelegenheit ſo lange günſtig zu erhalten und jede Störung von ihr zu ent - fernen oder mindeſtens den handelnden Chawern ſofort mitzu - theilen, bis der Maſſematten gehandelt und der Rückzug gedeckt iſt. Dieſe ſchwierige Aufgabe haben die Schmiren zu erfüllen, zu denen für jeden einzelnen Maſſematten gewöhnlich die erfahren - ſten und gewandteſten Gauner von dem Balmaſſematten gewählt werden. Die rohe Auffaſſung des Wortes Schmire vom jüdiſch -139 deutſchen Schmiro1)Davon Laileſchmir, der Nachtwächter., Schmiruſſ (von〈…〉〈…〉, er hat bewacht, behütet), die Wache, Wacht, Wachthaus, Wachtpoſten, hat nicht nur die falſche Schreibweiſe Schmiere, ſondern auch die dieſem ſinnverwandten Wörter Butter und Käs (auch ſogar Chäs) mit gleicher Bedeutung von Schmiro geſchaffen, ſodaß man für den Begriff Wache ſtehen und Wache ausſtellen ebenſo wol ſagen kann: Schmire ſtehen, Schmire ſtellen, als Butter oder Käs ſtehen oder ſtellen. Je nachdem Oertlichkeit und Gelegenheit es vorſchreibt, ſtellt ſich die Schmire offen in der Gegend des Einbruchs zur Beobachtung der etwa zu befürchten - den Störung auf, und hat dabei die Aufgabe, die Störung auf - zuhalten und, wie z. B. durch das Meiſtern, wovon ſchon oben geſprochen iſt, zu paralyſiren, aber auch, wenn das nicht gelingen will, den verabredeten Zinken zum Rückzug zu geben. Sehr oft müſſen ſich aber die Schmiren verſteckt aufſtellen, namentlich wenn in der Nähe ein Militärpoſten ſteht, oder Nachtwächter und Pa - trouillen häufig paſſiren; dieſe verſteckten Schmiren werden mit dem Kunſtausdruck betuchte Schmiren2)Von〈…〉〈…〉 (betach), Vertrauen, Sicherheit, wovon das jüdiſch-deutſche Adjectiv〈…〉〈…〉 (betuach), ſicher, zuverläſſig, geborgen. bezeichnet. Von den Zinken, welche gegeben werden, wenn ein Wächter oder der Beſtohlene, oder ein Dritter, ein Lampen3)Eigentlich Lamden, von〈…〉〈…〉, er hat ſich gewöhnt, gelernt, wo - von das jüdiſch-deutſche〈…〉〈…〉 (Lamdon), der Gelehrte, Geweckte, Aufpaſſer; aber auch der verfolgende Beſtohlene (Balhei) und jede andere verfolgende Perſon. herzukommt, iſt ſchon oben im Abſchnitt vom Zinkenen geredet worden. Die Zinken werden, wenn ſie nicht ſchon in einer Chawruſſe ein für alle mal, oder für eine beſtimmte Zeit feſtgeſetzt ſind, vor Beginn des Unter - nehmens verabredet, ſodaß ein Zinken, gewöhnlich ein Schnalzen mit der Zunge, den von ferne nahenden Wächter oder Beſtohlenen als ſtillen Lampen, ein anderer Zinken den ſchon nahen und Unternehmen und Unternehmer ernſtlich bedrohenden Wächter u. ſ. w., den vollen Lampen, bezeichnet, bei welchem letztern140 Zinken, der gewöhnlich in dem lauten Rufe Lampen! beſteht, alles die Flucht ergreift. Das Geſtörtwerden des Unternehmens in dieſer Weiſe nennt der Schränker: Lampen bekommen.

Einundvierzigſtes Kapitel. ζ) Das Maſſemattenhandeln.

Sowie der Einbruch hergeſtellt, durch die Schmiren gedeckt und der Eingang in das Gebäude gewonnen iſt, begeben ſich die Schränker auf Strümpfen, in Filzſchuhen, oder auch wol bar - fuß in das erbrochene Gebäude. 1)Von der Behendigkeit, mit der geübte Schränker ſich unbemerkt neben Schläfern und ſogar Hunden vorbeiſchleichen können, iſt das bei Thiele, a. a. O., I, 164, erzählte Beiſpiel des Meyer Tiller ein erſtaunlicher Beleg. Bei einem Einbruch nahe bei Lübeck fand ich, daß der Schränker eine Uhr, welche auf einer Fenſterbank gelegen hatte, von dort weggenommen und den Weg zum Fenſter und von da zurück durch die ganze Schlafſtube zwiſchen den nur vier Fuß breit voneinander getrennten Betten des beſtohlenen Ehepaars hindurch genommen hatte. Noch dazu war das Kind des Beſtohlenen krank, und eine Wärterin ſchlief im Vorzimmer, durch welches der Schränker gehen mußte.Nicht ſelten, namentlich wenn die Beſorgniß vorhanden iſt, daß die Schränker im Hauſe be - lauert werden, wird auf einem Stocke zunächſt eine Mütze durch die Einbruchſtelle geſteckt, um zu erwarten, ob etwa ein Hieb auf dieſelbe geführt wird. 2)Dieſe Vorſicht, welche der Konſtanzer Hans einmal auf den Rath des berüchtigten Schleiferbärbele bei einem Einbruch anwandte, bei welcher Ge - legenheit im Dunkeln ein ſchwerer Hieb auf ſeine durchgeſteckte Mütze fiel, rettete dem Konſtanzer Hans das Leben. Das war auch der Anlaß, warum der dankbare Konſtanzer Hans ſich an das Schleiferbärbele gebunden erachtete, das auf ſein ganzes Leben einen faſt unbegreiflichen Einfluß übte.Jſt alles ſoweit ſicher, ſo beſteht die erſte Sorge der durchgekrochenen Schränker darin, den ſchleunigen Rückzug auf alle Fälle dadurch zu ermöglichen, daß die Haken und Riegel gelegener Thüren oder Fenſter abgehängt und zurück - geſchoben werden. Das hat auch den Zweck, daß, wenn erforder - lich, die draußen befindlichen Chawern Eingang finden, oder die141 geſtohlenen Sachen in Empfang nehmen und nöthigenfalls mit ihnen ſofort entfliehen können. Zum behendern Durchgang durch das Fenſter wird gewöhnlich von innen ein Stuhl unter die Fen - ſterbank geſtellt. Nahet ſich im Hauſe ein Widerſtand, ſo ziehen ſich die Schränker zurück, ſobald ſie eine Ueberlegenheit oder einen Succurs zu fürchten haben. Fühlen ſie ſich dem Widerſtande gewachſen, ſo wird auch zur Gewalt geſchritten, der Widerſtand Leiſtende zu Boden geworfen, geknebelt und ihm unter ſchweren Drohungen Schweigen geboten, und dies auch wol durch Ver - ſtopfen des Mundes mit einem Tuche erzwungen. Obwol der Schränker auf alles gefaßt iſt, auch faſt immer Waffen führt1)Fragt man den Schränker im Verhör, zu welchem Zwecke er das ge - ladene Piſtol bei ſich führe, ſo bekommt man gewöhnlich zur Antwort: zum Schrecken (vgl. die Etymologie von Glaſeime, S. 19). Ebenſo dienen die ſchweren eichenen Handſtöcke dazu, den Angreifern und Verfolgern eins auf den Schnabel zu geben . Bei einem Einbruche unweit Lübeck bewirkte ein einziger Schlag mit einem ſolchen Handſtocke ſofortige Bewußtloſigkeit und nach einigen Stunden den Tod., ſo kommen abſichtliche Tödtungen jetzt nur ſelten vor. Die mei - ſten Todesfälle ſind nur die unbeabſichtigte Folge erlittener Mis - handlungen bei der Gegenwehr oder ſtarken Aufregung der Ueber - wältigten, welche meiſtens in leichter Nachtkleidung geknebelt auf dem Fußboden oder der Hausflur zurückgelaſſen werden. 2)Ein Schränker, deſſen Hinrichtung ich beiwohnte, hatte mit ſeinen Chä - wern in einer kalten Novembernacht eine alte Frau mit ihren Strumpfbändern geknebelt und im Hemde auf die Hausflur hingelegt, wo ſie morgens, wahr - ſcheinlich vom Schlage gerührt, todt gefunden wurde.Kaum ſind die Schränker, wie das doch früher immer der Fall war, jetzt irgendeinmal mit Knebelſtricken verſehen. Strumpfbänder, abgeſchnittene Uhrſchnüre, Waſchleinen, Handtücher, Pferdehalfter u. dgl. werden bei dem unvermuthet gefundenen Widerſtand mei - ſtens im Hauſe ſelbſt angetroffen und benutzt. Eine oft befolgte Vorſicht der Schränker iſt, die Schlafſtubenthüren leiſe zu ver - ſetzen durch vorgeſtellte Tiſche, Koffer, Kiſten, oder auch dadurch, daß ſie eigene Schmiren davor ſtellen, obgleich ſie ſehr wohl wiſſen,142 daß ſie im Hauſe bei weitem weniger Gefahr laufen1)Die Schränker zählen nicht mit Unrecht darauf, daß derjenige, welcher im Hauſe ihre Gegenwart merkt, und in der Dunkelheit über ihre Zahl und Stärke ſich nicht unterrichten kann, lieber ſein Hab und Gut auf das Spiel ſetzt, als ſein Leben und ſeine Geſundheit. Kaum glaublich erſcheinen die manchen auffälligen Züge von Muthloſigkeit auf der einen und der dadurch provocirten übermüthigen Dreiſtigkeit auf der andern Seite, welche man in der Praxis erfährt. Kaum ein Hülferuf aus dem Fenſter in die Nachbarſchaft wurde gewagt, während die Schränker in den Stuben ſich gütlich thaten mit den Speiſen und Getränken, die ſie zuſammengetragen hatten. Bei einem Ein - bruche hierſelbſt hatten die noch ſehr jungen Schränker in einem Schankkeller mit richtiger Schmeckerfolge zuerſt Bordeaux, dann Rheinwein und zuletzt Champagner getrunken, und der eine ſogar die Guitarre dabei zur Hand ge - nommen. als bei dem Einbruche von außen her, weshalb dann auch die Schmi - ren mit großer Vorſicht gewählt werden und zu Werke gehen.

Sobald nun die Vorbereitungen ſo weit getroffen ſind, wird an den Maſſematten ſelbſt gegangen. Die Verſchlüſſe werden mit dem Klamoniſſ geöffnet, mit dem Schabber geſprengt2)Das Brechen und Sprengen wird ſoviel wie möglich vermieden und gewöhnlich dann mit raſchem Nachdruck vorgenommen, wenn ein Geräuſch auf der Straße, wie z. B. durch einen vorüberfahrenden Wagen, entſteht., oder mit dem Brunger lewone gelegt. Meiſtens ſind die Verſchlüſſe ſchon bei dem Baldowern den Schränkern genau bekannt geworden. Die bei den Niederländiſchen Räubern durchgängig gebräuchliche Be - leuchtung der Gebäude mit eigens dazu vorgerichteten Lichtern, Neireſſ3)Jüdiſch-deutſcher Ausdruck vom hebräiſchen〈…〉〈…〉 (ner, Plural neross oder jüdiſch-deutſch neiress)., iſt mit dem offenen Ueberfall und Sturm jetzt beinahe gänzlich aus der Praxis der Schränker verſchwunden, und kommt nur noch da vor, wo noch offene Räuberbanden exiſtiren können. Jſt etwas ſeit dem Baldowern verändert oder verſetzt, ſo wird mit dem chemiſchen Streichholz behutſam hingeleuchtet, oder auch ein Stümpfchen Talglicht4)Das Wachslicht verräth zu ſehr den Schränker, wenn er damit be - treten wird. Das Stück Talglicht wird immer als Mittel ausgegeben, um harte Schwielen an den Füßen zu erweichen, und hat daher das Wachslicht faſt ganz verdrängt. angeſteckt. Finden die Schränker143 nichts von dem Maſſematten vor, ſo wird oft aus Rache und Uebermuth alles im Hauſe auf vandaliſche Weiſe geſprengt und ruinirt, auch wol der Freier mit Drohungen und Mishandlungen zum Nachweis des Verborgenen gezwungen. Das gefundene wird in Säcke, Kiſſimer1)Auch wol Klumnick, welches eigentlich den ſchon mit geſtohlenen Sachen gefüllten Sack, Packen bedeutet. verpackt, und den Chawern zuge - langt, welche damit zum Zinkplatz eilen, oder es auch ſofort ka - wure legen. Jſt der Maſſematten gehandelt, ſo wird der Rückzug angetreten, Thür und Fenſter angelehnt und überhaupt jede Spur des Einbruchs ſo gut wie möglich verwiſcht, um die Entdeckung möglichſt lange aufzuhalten, und die möglichſte Zeit zur Bergung der Perſon und des Geſtohlenen zu gewinnen. Oft wird, wie das noch im Juli 1856 bei dem obenerwähnten Einbruch im Bezirk des Unterſuchungsgerichts Amſtetten in Niederöſterreich der Fall geweſen iſt, der Zinken eines der handelnden Schränker aus Uebermuth oder zur Notiz für die abweſenden Genoſſen bei der Einbruchsſtelle hingemalt. Für den Fall, daß der Schränker im Hauſe geſehen oder beobachtet werden ſollte, pflegen die Geſichter mit Kohle oder Lampenſchwärze, durch angeklebte Bärte, an deren Stelle auch ein dunkles Tuch oder auch ein dunkler wollener Strumpf, wie ein Backenbart vom Kinn bis zu den Ohren ge - bunden wird, ſeltener durch ſchwarze Wachstuchlarven unkenntlich gemacht zu werden. 2)Am 20. Dec. 1856, abends gegen 7 Uhr, drangen ſechs zum Theil verlarvte Räuber bei einem Pächter zu Oháng in Siebenbürgen ein, und zwan - gen denſelben mit ſchußfertigen Waffen zur Herausgabe ſeiner aus 8000 Gulden beſtehenden Baarſchaft. Vgl. Oeſterreichiſches Central-Polizeiblatt , Jahrg. 1857, Nr. 2, 39.Auch werden die Stimmen verſtellt und wo möglich fremdartige Dialekte affectirt, Brocken fremdländiſcher Sprachen, auch wol Gaunerausdrücke eingemiſcht, und niemals Namen, ſondern immer die Ausdrücke Kamerad, Bruder, Junge u. ſ. w. gebraucht. Doch wird aber zuweilen ein ortsbekannter Name genannt, um den Verdacht des Diebſtahls auf nahe Orts - eingeſeſſene zu lenken.

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Zweiundvierzigſtes Kapitel. η) Der Rückzug.

Haben die Chawern Lampen bekommen, ſo flüchtet1)Von Kraut (das Grün, das freie Feld; im Gegenſatz von Gefäng - niß), die Flucht, iſt: Krauten, Kraut picken, die Krautſuppe eſſen, abkrauten, ſich krauten, flüchten, ausbrechen, davongehen. Vom hebräi - ſchen〈…〉〈…〉 (polat), glatt, polirt ſein, entwiſchen, entkommen, ſtatt: Polit, Plural Pletim, der Ueberläufer, Deſerteur, Entſprungener; Pleto oder Pleite, die Flucht. Pleite treten oder halchenen, davonlaufen, entfliehen, ausbrechen; ebenſo Pleite melochnen, davongehen, Bankrott machen. Da - von noch das im Niederdeutſchen ſehr gebräuchliche Fleiten gahn, fliehen, davongehen, Bankrott mächen, ſterben. Pleitehandeln, vgl. Kap. 45. ſich jeder ſo gut er kann, und ſucht den Zinkplatz zu erreichen, auf welchem das Fuhrwerk hält, um den dort zurückgebliebenen Ge - noſſen zu warnen. Werden die Schränker verſprengt, ſo finden ſie ſich an einem andern ein für alle mal oder ſpeciell verabrede - ten Zinkplatz leicht wieder zuſammen. Bekommen ſie Nachjagd, das heißt, werden ſie verfolgt vom Beſtohlenen (Balhei), oder von ſonſtigen Perſonen, Lamden, ſo halten ſich die Schränker zum Widerſtande und zur gegenſeitigen Befreiung zuſammen, bis die Verfolgung und Gefahr aufhört. Zu dieſem Zwecke werden be - ſonders die Waffen geführt und um jeden Preis für die Befreiung angewandt. Die Geſchichte des Gaunerthums enthält zahlreiche Beiſpiele ſowol der muthigſten Gegenwehr2)Eine der merkwürdigſten Begebenheiten der Art war die unter Leitung von Adolf Weyers Overtuſch, Damian Heſſel und Karl Heckmann bei dem Einbruch zu Daden einer Zahl von 1000 Bauern und franzöſiſchen Sol - daten gelieferte zweiſtündige Schlacht im Mai 1798, bei welcher zwanzig der berüchtigteſten Räuber gefangen wurden. Ebenſo großartig war die Vertheidi - gung des Bairiſchen Hieſel, als er am 14. Januar 1771 in dem Wirthshauſe zu Oſterzell von fürſtlich dillingiſchen Truppen belagert und gefangen wurde. Vgl. Der Bairiſche Hieſel , S. 126 fg., als auch der ver - zagteſten Feigheit und gemeinſten Treuloſigkeit. Jn allen Zügen erkennt man aber nur den nackten Egoismus, der in der Kamerad - ſchaft nur die eigene Perſon zu ſichern ſucht und keine Spur von145 wahrer Freundſchaft verräth. Die Verhaftung von Gaunern, namentlich durch den einzelnen, nicht weiter unterſtützten ſubalternen Beamten, iſt jener oft verzweifelten Gegenwehr wegen äußerſt ſchwierig, und ſollte vom Vorgeſetzten immer anerkannt werden, der hinter dem Verhörtiſch kaum einen Begriff davon hat, wie gefährlich die Verhaftung der ihm vorgeführten Arreſtaten war.

Dreiundvierzigſtes Kapitel. θ) Die Kawure, der Jntippel und die Cheluke.

Das Geſtohlene wird ſo raſch und weit wie möglich vom Diebſtahlsorte in Sicherheit gebracht. Häufig erlaubt die Menge und Schwere des Geſtohlenen, namentlich wenn kein Fuhrwerk1)Meiſtens halten die Schränker ſich auf gemeinſchaftliche Koſten ein ſolches Fuhrwerk, Agole, Michſegole genannt, theils zum raſchern Reiſen und Flüchten, theils zum behendern Transport des Geſtohlenen. Vgl. weiter un - ten das Stradehandeln, Kap. 68. zur Hand iſt, keinen weiten Transport. Die nächſte Cheſſenpenne bietet daher die erſte Zufluchtsſtätte, bis die Schränker ander - weitige Verfügungen über das Geborgene treffen; häufig wird aber auch das Geſtohlene hinter Zäunen, in Stroh - und Heu - diemen, in Miſt2)Ein hier oft in Unterſuchung gerathener Schränker hatte ſogar ein - mal geräuchertes und gepöckeltes Fleiſch, das er geſtohlen, ohne Emballage in den feuchten Miſt ſeines Ziegenſtalles kawure gelegt!, in Waldungen, Buſchkoppeln, hohlen Bäu - men, Wegeſielen, Gräben, Brücken, Mergel - und Sandgruben, Fuchs - und Dachsbauten vorläufig kawure gelegt, nicht ſelten aber auch in Teiche und Sümpfe verſenkt, bis die Gelegenheit zum Hervorholen und Theilen ſicher geworden iſt. Der Ort, die Cheſſen - oder Kochemerpenne, Spieſe, wohin die Beute geborgen und getheilt wird, heißt der Jntippel3)Vom hebräiſchen〈…〉〈…〉 (〈…〉〈…〉), tapap, ſchnell beweglich ſein, kleine ſchnelle Schritte machen, kokett trippeln, beſonders von Frauenzimmern, wovon das, wovon intippeln,Avé-Lallemant, Gaunerthum. II. 10146ſich mit dem geſtohlenen Gute in den Jntippel oder Eintip - pel begeben. Die Theilung, Cheluke1)Von〈…〉〈…〉 (chelek), Theil, Antheil, beſonders an der Kriegsbeute; Cheluke halten und chelkenen, theilen., geſchieht zu gleichen Theilen, wobei auch der Wirth, der Cheſſenſpieß, und der Bal - dower berückſichtigt wird2)Der Chelek, den ein ſolcher Chawer erhält, der nicht ſelbſt mitgeſtohlen hat, heißt Schibbauleſſ (〈…〉〈…〉, die Kornähre). Auch das Branntwein - geld wird ſo genannt. Vgl. Brennen, Kap. 25.. Gewöhnlich wird das Geſtohlene an den Cheſſenſpieß, der faſt immer auch Schärfenſpieler iſt, oder an beſtellte Schärfenſpieler verſchärft, und das Geld getheilt. Seltener iſt die Naturaltheilung, bei welcher jedes einzelne Stück abgeſchätzt, auch wol dem Meiſtbietenden zugeſchlagen wird. Häufig entſcheidet der Würfel, das Los oder der Meſſerwurf. Ein größerer Antheil des Balmaſſematten kommt ihm gewöhnlich nur dann zugute, wenn er beim Baldowern oder beim Handel ſelbſt beſondere Dienſte geleiſtet hatte. 3)Allerdings finden aber auch abweichende Grundſätze in einzelnen Gauner - gruppen hinſichtlich der Theilungsquote ſtatt, die häufig ſehr verſchieden und ſehr veränderlich ſind. Jntereſſant ſind die Mittheilungen darüber aus der großen berliner Unterſuchung bei Thiele, a. a. O., II, 41.Jn den Rheiniſchen Ban - den maßten ſich freilich die auch von ihren Chawern gefürchteten Koryphäen einen Löwenantheil an.

Ungeachtet der blutigſten Rache und Strafe wird bei faſt allen Maſſematten, der von mehreren Chawern gehandelt wird, das eine oder andere untermakkelt4)Untermakkeln, gleichbedeutend mit: eine Challe ſchlagen, un - terſchlagen, einen Theil der Diebsbeute verheimlichen. Vgl. weiter unten: Challe handeln, Kap. 45., da jeder möglichſt ſeinen Vor - theil wahrnimmt. Wird einem Chawer nach der Theilung ſein Antheil von Gensdarmen oder Polizeibeamten abgenommen, oder von andern gar geſtohlen5)Jn die Wohnung des kurz vorhin erwähnten berüchtigten Schränkers,, ſo wird ihm, oder wenn er krank3)jüdiſch-deutſche〈…〉〈…〉 (tippo), der Tropfen und das gauneriſche Tippeln, gehen, laufen, fallen; Tippel, die Epilepſie, Dappelſchickſe, die Luſtdirne, Tippen, concumbere, u. ſ. w.147 (gefangen) iſt, ſeiner Familie, ein verhältnißmäßiger Erſatz. Der Gewinn wird mit ſinnloſer Verſchwendung und in brutaler Völlerei raſch verthan, ſodaß der Schränker ſehr bald ſo arm wird, wie er vor dem Maſſematten war. Die größten Vortheile von dem Maſſematten haben die Schärfenſpieler, denen das Ge - ſtohlene immer um ein wahres Spottgeld zugeſchlagen und bei denen, als Cheſſenſpießen, meiſtens auch das Geld von den Cha - wern verthan wird. Von den Cheſſenſpießen und Schärfenſpielern wird noch beſonders geſprochen werden. (Vgl. Kap. 89 u. 90.)

Vierundvierzigſtes Kapitel. ι) Specielle Arten und Terminologien des Schränkens.

Ueberſieht man nun die dargeſtellte, in vollem Flor befind - liche Praxis der Schränker, ſo muß man geſtehen, daß, wenn auch die etymologiſche Unterſcheidung zwiſchen Schränkern und zierlichen Schränkern obſolet geworden iſt, doch in Weſen und That das ganze alte Räuberthum fortbeſteht, nur mit dem Unter - ſchiede, daß, wo früher die Räuber mit offener Gewalt und in frecher offener Rottirung die Häuſer ſtürmten, jetzt der Räuber heimlich hineinſchleicht und heimlich daſſelbe Verbrechen gegen das Eigenthum und gegen die widerſtandleiſtende Perſon ausübt, welches die Räuber vor vierzig und funfzig Jahren mit lautem Getümmel und ſtürmender Hand verübten. Die auch noch heute andauernde Exiſtenz derſelben hiſtoriſch nachgewieſenen Elemente iſt nicht wegzuleugnen1)So vermag z. B. ſelbſt nicht die herrliche öſterreichiſche Polizei und; dieſe ſind von manchen trefflichen Einrich -5)wurde, während er im hieſigen Zuchthauſe ſaß, von einem andern eingebro - chen und ſeiner Frau die geringe Baarſchaft und Lebensmittel geſtohlen. Wahr - ſcheinlich kannte der Einbrecher eine Kawure im Hauſe ſeines kochemer Cha - wer, welche jener aber ſchon vorher gehoben haben mußte. Denn der gehan - delte Maſſematten dieſes Einbruchs war nicht der Mühe werth.10*148tungen der Polizei, namentlich von der Gensdarmerie, nur im offenen Treiben behindert, aber nicht aufgehoben, ſondern nur verſprengt; ſie haben ſich als Paraſiten an das Bürgerthum ge - hängt, und haben für alle deſſen Schwächen ihre augenblickliche Bereitſchaft zum alten offenen Aufſtand, ſodaß man ſich nicht wundern darf, wie raſch und wie nachhaltig die Räuberbanden vor unſern Augen zuſammentreten, ſobald irgendeine große oder ſtürmiſche Bewegung den mühſam und mit großen Opfern auf - rechterhaltenen Gang der gewohnten Ordnung unterbricht. Trotz der obſolet gewordenen Unterſcheidung zwiſchen Schränkern und zierlichen Schränkern exiſtiren, zum Zeugniß der unvergeſſenen Praxis, alle Räuberterminologien fort, von welchen hier noch die weſentlichſten angeführt werden ſollen.

Chaſſne, eigentlich Chaſſune, vom hebräiſchen〈…〉〈…〉, Ver - mählung, Hochzeit und Kofcheſſ1)Nach dem Zahlenwerthe von Kofcheſſ (28) wird der Einbruch zur Nachtzeit in der oben angegebenen Weiſe auch Achtundzwanziger ge - nannt., Jnitialbuchſtaben (krumme Kof,〈…〉〈…〉, Krummkopf, und Cheſſ,〈…〉〈…〉) von Cheſſen oder Chaſſne, iſt der lärmende offene nächtliche Ueberfall, wie er von den Rhei - niſchen Banden verübt wurde, durch Einrennen der Thüren mit dem Drong, mit Erleuchtung des erſtürmten Hauſes durch Lichter (Neireſſ) und mit Knebelung, Mishandlung oder Er - mordung der Bewohner. Chaſſnegänger ſind die Räuber, welche auf dieſe Weiſe verfahren. Koochegehen (vgl. oben be - kauach) von Kauach, die Gewalt, auf nächtlichen Einbruch, auf Räuberei ausgehen. Perkoochhändler, Peſſucher, Einbrecher, Schränker. Gaſlan, von〈…〉〈…〉, wegreißen, rauben, iſt allgemeiner Ausdruck für Räuber, Gaſel, der Raub, Gaſlonuſſ, die Räuberei. Kuffer (von Kippe, Kuppe, Schrank, Verſchluß) iſt allgemeiner Ausdruck für Räuber, aber auch für Nachſchlüſſeldieb1)Gensdarmerie in Ungarn, Kroatien, Siebenbürgen, die mit offener Gewalt in die einzeln gelegenen Pachthöfe und Dörfer dringenden Räuberbanden auszu - rotten, wie ja denn noch jetzt im Centralpolizeiblatte ſolche Ueberfälle nicht ſelten angezeigt werden.149 (vgl. Makkener, Kap. 47). Dorfkuffer iſt der Einbrecher auf dem Lande. Rozeach, Rezeich, von〈…〉〈…〉, todtſchlagen, der Raub - mörder; Rezach oder Roziche, der Raubmord; Serfer oder Sar - fener, von〈…〉〈…〉 (saraf), brennen1)Davon ſarfenen, wofür auch brandſtiften, flakkern. , der Räuber welcher Feuer legt, um im Feuertumult zu ſtehlen; Rezicheſarfener, der Mordbren - ner; Stradekehrer, vom niederdeutſchen Straat, die Straße, Landſtraße, der Straßenräuber; Stradekehren, Straßenraub treiben, wohl zu unterſcheiden von Stradehandeln, auf der Strade handeln und Strade halten (vgl. Kap. 68) und dgl. mehr.

Fünfundvierzigſtes Kapitel. κ) Das Pleitehandeln und das Challehandeln.

Endlich gehört noch hierher das Pleitehandeln2)Von〈…〉〈…〉 (polat), flüchten, davongehen. Plete oder Pleite, die Flucht. Vgl. Kap. 42., wel - ches vorzüglich auf dem Lande und in Wirthshäuſern geſchieht. Finden die Schränker keine Gelegenheit zum Einbruch, ſo ſucht ein Chawer ein Nachtquartier in dem zu beſtehlenden Hauſe zu bekom - men. Dieſer iſt ihnen dann des Nachts behülflich, durch Oeffnen der Verſchlüſſe in das Haus zu gelangen, und geht nach vollzogenem Diebſtahl mit ihnen davon. Jſt die Diebſtahlsgelegenheit der - art, daß der Quartiernehmer den Hausbeſitzer heimlich und allein beſtehlen kann, ſo geht er erſt andern Morgens, mit Wiſſen des Beſitzers und mit Zahlung der Zeche fort. Dieſe Art des Steh - lens und Verabſchiedens wird eine Challe handeln3)Challe, von〈…〉〈…〉, der Opferkuchenteig. Von dem Kuchen wird be - kanntlich ein Stück abgebrochen und ins Feuer gelegt zum Opfer, während das Uebrige zum Genuſſe verbleibt. Jm gleichbedeutenden Sinne iſt die Re - densart: eine Challe backen, gebräuchlich, d. h. heimlich, unvermerkt ſoviel ſtehlen, daß es der Beſtohlene nicht gleich merkt, alſo auch: nicht alles ſteh - ge - nannt.

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Sechsundvierzigſtes Kapitel. λ) Der Schutz gegen das Schränken.

Bei der Frage nach den Mitteln, mit welchen dem gewalt - ſamen Ueberfall und Einbruch wirkſam entgegenzutreten ſei, möge man, ſtatt aller Raiſonnements über das offenliegende und viel - beſprochene Misverhältniß der Polizei zum Bürgerthum, einmal einen kurzen Blick in die Geſchichte zurückthun. Sehr merkwür - dig ſind die alten einfachen Bauordnungen, welche vorzüglich auf eine derbe und ſolide Conſtruction der Häuſer hinwieſen, und ſchlicht und recht das Bürgerhaus als Burg und Hort der Fa - milie darſtellten. Zur Befeſtigung dieſes ſeines Hauſes trug der Bürger nun auch gern das Seine bei, conſtruirte Mauer, Thür und Fenſter maſſiv und ſolide, und verſah alles mit derben Schlöſſern, Riegeln und Gittern. 1)Vgl. Guſtav Klemm, Allgemeine Culturgeſchichte der Menſchheit , IX, 118 fg.Der ganze durch Concurrenz weſentlich veränderte Verkehr, die billige fabrikmäßige leichte Arbeit an Stelle der alten zünftiſchen wahren Kunſt, das künſtlichere Leben, die große Lebensluſt und die vielen Lebensgenüſſe haben jene ſolide freiwillige bürgerliche Zuthat, zum eigenen Nachtheil des Bür - gers, bedeutend, ja faſt gänzlich beſeitigt und damit dem Verbrecher durch die leichtgearbeiteten Fenſter mit großen Fenſterſcheiben, durch die behenden Thüren von Föhrenholz mit leichten Füllungen und ſchlechten Fabrikſchlöſſern den Weg in das Haus gebahnt, bei deſſen Feſtigkeit in früherer Zeit der Räuber vorüberging, ohne an Einbruch zu denken. Die heutigen Bauordnungen ſind weſentlich3)len, ſondern etwas übrig laſſen. Ebenſo gibt es: eine Challe ſchlagen, gleich untermackeln, von der Diebsbeute den Genoſſen heimlich etwas ent - wenden, unterſchlagen, verheimlichen. Jm Zigeuneriſchen iſt der beinahe gleichbedeutende Ausdruck Challu, für Lüge, Betrug, Unterſchleif; im Sans - krit tshhala. Vgl. Pott, a. a. O., II, 202. Grolman bezeichnet den oben unter Challe handeln dargeſtellten Diebſtahl mit Schrendefegen, von Schrende, Stube, wahrſcheinlich nach Schäffer, a. a. O., S. 2, obwol auch Schäffer den Begriff mit Recht weiter ausdehnt als Grolman.151 auf denſelben alten ſoliden Grundlagen ſtehen, aber doch wieder auch im Rückſtande geblieben. Von der einen Seite ſind die Bauord - nungen ſtrenge, in andern Beziehungen ſind dagegen manche alte wohlbedachte Einrichtungen und Rückſichten geſchwunden, und für das Geſchwundene nichts Ausreichendes ſubſtituirt worden. So ſind mit der frühern Verpflichtung zur feſten und ſichern Con - ſtruction der Häuſer die ſtrengen Nachbarrechte als läſtige Beſchränkungen faſt gänzlich aufgehoben worden, ohne daß man bedeutend in Anſchlag brachte, daß jene allen gemein - ſame Rechte gerade auch allen gemeinſame Pflichten enthiel - ten und auf gegenſeitigen Schutz berechnet waren. Wenn ein Hausbeſitzer jetzt ſein leichtgebautes Haus ſchlecht in Verſchluß hält, und dem Diebe Gelegenheit gibt, in ſein Haus und durch daſſelbe an und in des Nachbars Haus zu dringen, ſo wird letzterer ebenſo ſehr durch die Nachläſſigkeit des erſtern an Hab und Gut bedroht, wie wenn er ſelbſt nachläſſig und feuergefährlich baut und wirthſchaftet? Welchen Schutz gewährt der Staat dem Bürger gegen die ſchlechte Bewachung ſeines Nachbarhauſes, das für die ganze Nachbarſchaft ebenſo gefährlich ſein kann, wie eine aller - dings gemeingefährliche Feuersbrunſt, die doch aber auch immer zunächſt erſt die Nachbarn bedroht? Ein Weitergehen der Bau - und Wohnungspolizei, mindeſtens in Bezug auf die äußere Solidität und Bewachung der Häuſer, iſt dringend nothwendig, zumal der Bürger, der ſein Haus nicht feſt genug gegen den Einbruch ſichert, beſtändig und ungeſtüm von der Polizei Schutz gegen den Einbruch fordert, und ſie laut und ſcharf in ihren Ein - richtungen tadelt, wenn ein Einbruch geſchehen iſt. Mit welcher Empfindlichkeit wird aber jede Warnung oder gar Beſtrafung von demjenigen zurückgewieſen, welcher über Nacht ſein Haus oder ſonſtige Verſchlüſſe offen ließ, und ſich und die Nachbarſchaft in Gefahr ſetzte! Unzweifelhaft darf der Staat aus denſelben Grün - den, mit welchen er gegen den Verſchwender, Trunkenbold und Geiſtesſchwachen einſchreitet, dem Bürger zur Pflicht machen, daß er das ſtets von ihm eiferſüchtig in Anſpruch genommene haus - herrliche Recht auch wirklich und mindeſtens inſoweit ausübe,152 daß er dadurch das Jntereſſe Dritter oder des Ganzen nicht in Gefahr bringt.

Auch der nächtliche Schutz des Bürgerhauſes und der ſtädti - ſchen Gemeinde, welche früher der Bürger ſelbſt ſich dringend an - gelegen ſein ließ, iſt gegen früher ganz vernachläſſigt vom Bür - ger. Seitdem der Poteſtas zu Bologna 1271 die zünftiſchen Waffenausſchüſſe vermochte, ſich der öffentlichen Sicherheit und Wohlfahrt anzunehmen, und jene Fähnlein der Lombarden , von der Klaue und vom Greiffen bildete1)Vgl. Hüllmann, Städteweſen des Mittelalters , IV, 7 fg., fand dieſe rühmliche Einrichtung auch in Deutſchland raſche Verbreitung und bis in die neuere Zeit eine ſo conſequente Beibehaltung, daß ſogar die mittelalterliche Coſtümirung der Nachtwachen mit Helle - barde oder Spieß u. ſ. w. an vielen Orten ſich noch bis auf den heutigen Tag erhalten hat. Dieſe directe Betheiligung des Bürgerthums an der öffentlichen Sicherheit hat gänzlich aufgehört. Dafür fordert der Bürger ſogar vom Staate auch den äußern Schutz ſeines ohnehin leicht oder nachläſſig gebauten und ver - ſchloſſenen Hauſes, und betrachtet es als eine läſtige und un - motivirte Forderung, wenn ihm zugemuthet wird, daß er im Ge - meindeverbande ſelbſt für die nächtliche Sicherheit ſorge. Jmmer genügt er dieſer Forderung denn nun auch, zum eigenen Schaden, läſſig und unfreiwillig, und nur dann, wenn er ihr nicht aus - weichen kann. Nirgends kommen häufiger Einbrüche vor, als in kleinen Städten und Dörfern, nicht ſo ſehr weil dieſe Ortſchaften offen liegen, als weil die Nachtwache ſchlecht eingerichtet iſt, und häufig aus einem einzigen alten ſtumpfen, halb blödſinnigen Hirtenknecht beſteht, der für einen erbärmlichen Lohn ſich dazu hergibt, einige male des Nachts in der Dorfgaſſe auf - und abzu - gehen. Wie wenig Widerſtand findet das Verbrechen mit ſeiner verwegenen Kunſt, wie reichlich kann es ſich nähren von der ſo vielfach gebotenen Gelegenheit, und wie wen[ig]darf das Bürger - thum die Ausrottung der überdies allzeit zum offenen Aufſtande bereiten Verbrechermaſſe hoffen, wenn es ſich nicht bald mit der153 Polizei verſtändigt, wozu die ſchon immer mehr begriffene Noth beider Theile zuletzt doch noch zwingen wird. 1)Von dieſer alten Verſtändigung hat ſich in den Freien Städten noch manches Treffliche erhalten. So üben z. B. in Lübeck beeidigte, aus der Zahl der Bürger gewählte, ſogenannte Medebürger die Beaufſichtigung der Grenzen, Gräben, Anpflanzungen u. ſ. w. in allen Vorſtädten. Bis vor wenigen Jah - ren hatte ſich nur noch in fünf Dörfern das alte Jnſtitut der Feuergreven er - halten, welche zur Vermeidung von Feuersgefahr eine polizeiliche Aufſicht über Feuer und Licht in allen Dorfwohnungen ausübten. Dieſe Feuergreven ſind jetzt vom Polizeiamte in allen lübeckiſchen Dörfern wiedereingeführt, ohne den geringſten Widerſtand der Dorfeingeſeſſenen. Ja, das Amt eines Feuer - greven wird ſogar für ein wichtiges Ehrenamt gehalten, und gerne geſucht und übernommen.

b) Das Makkenen.

Siebenundvierzigſtes Kapitel. α) Der Verſchluß im engern Sinne. Das Makkenen und ſeine Terminologien.

Der Verſchluß im engern Sinne (d. h. der mechaniſch be - wegliche Theil des bisher dargeſtellten Verſchluſſes im weitern Sinne), durch welchen der Zugang zu der verſchloſſenen Sache vermittelt iſt, wird vorzugsweiſe durch das Schloß hergeſtellt, deſſen Gebrauch man ſchon bei den alten Griechen und Römern findet. 2)Jn Bernard de Montfaucon’s Antiquité expliquée et représentée (Paris 1722), Bd. 3, Tafel 54 u. 55, S. 105 u. 106, findet man eine An - zahl alter Schlüſſel dargeſtellt, bei denen man deutlich erkennt, daß den Alten ſchon die innere Schloßbeſatzung und der Mittelbruch bekannt war.Seine allmähliche Verbeſſerung iſt ein intereſſanter Be - weis von dem raſtloſen Fortſchreiten des Gaunerthums, das gerade in ſeiner unabläſſigen Operation gegen das Schloß weſentlich die Kunſt hervorgerufen hat, die man am Schloſſe bewundert. Den - noch iſt der Sieg der Schloſſerkunſt, ganz abgeſehen von der Ge - walt, der jedes Schloß zuletzt doch unterliegen muß, bis auf die154 neueſte Zeit noch ſehr zweifelhaft geblieben, wie das aus der Darſtellung des Nachſchlüſſeldiebſtahls erhellen wird.

Das Makkenen iſt der Diebſtahl aus Verſchlüſſen ohne Einbruch, oder ohne ganze oder theilweiſe Zerſtörung der Ver - ſchlüſſe mit Anwendung von Schlüſſeln, welche dem für das Schloß urſprünglich gearbeiteten Schlüſſel mehr oder minder voll - ſtändig nachgearbeitet ſind, und daher Nachſchlüſſel, Diebsſchlüſſel oder auch Dietriche genannt werden. Die Kunſt des Makkenens hat daher die zwiefache Aufgabe, die Herſtellung der Nach - ſchlüſſel, und die heimliche und geſchickte Anwendung der Nach - ſchlüſſel. Beide Aufgaben weiß das Gaunerthum vollſtändig zu löſen. Keine gauneriſche Kunſt iſt verläſſiger und ergiebiger, keine Kunſt hat eine einfachere Baſis und eine breitere Cultur als das Makkenen. Es iſt wol das Gaunerthum geweſen, welches zu - erſt über das Princip des Schloſſes und ſeiner einfachen Be - wegung nachgedacht hat, während der bürgerliche Betrieb das alte, durch viele Jahrhunderte auf die neueſte Zeit gelangte Gewerbe wie eine alte Erbſchaft hingenommen hat, ohne es für die An - forderungen des inzwiſchen in materieller und ſittlicher Hinſicht unendlich künſtlicher gewordenen Verkehrs genau und ausreichend zu berechnen und auszubeuten. Eine einfache Beſchreibung des Schloſſes, ſeiner Conſtruction und Bewegung wird den Scharf - blick des Gaunerthums, aber auch die Einfachheit des Makkenens in ein helleres Licht treten laſſen. Vorher jedoch eine kurze Er - läuterung der weſentlichſten, beim Makkenen vorkommenden gauner - techniſchen Ausdrücke.

Makkenen iſt allgemeiner Ausdruck für den Nachſchlüſſel - diebſtahl überhaupt, ſowie für die Operation des Oeffnens von Verſchlüſſen mit Nachſchlüſſeln; Makkener, der Nachſchlüſſeldieb, beides von〈…〉〈…〉 (nakach), Hiphil〈…〉〈…〉 (hikko), er hat geſchlagen, davon〈…〉〈…〉 (makko), der Schlag, Streich, Plage, Sünde, Fehler, falſcher Stich der falſchen Spieler (Freiſchupper) im Kartenſpiel; daher auch im Kartenſpiel: makkenen, das Stechen einer Karte, beſonders das falſche Stechen. Ferner Jommakkener, auch Jommakker (von〈…〉〈…〉 [jom], der Tag), der Dieb, der bei Tage155 (mit Nachſchlüſſeln) ſtiehlt, im Gegenſatz von Lailemakkener, der Makkener zur Nachtzeit; Kaudemmakkener, Zefiromakkener, Nachſchlüſſeldiebe, welche zur frühen Morgenzeit, Erefmakkener, Tchillesmakkener, Nachſchlüſſeldiebe, welche zur Abendzeit han - deln; Dorfmakkener, Nachſchlüſſeldiebe, die auf dem Lande, Erntemakkener, Nachſchlüſſeldiebe, die beſonders während der Erntezeit, wo alles auf dem Felde beſchäftigt iſt, handeln.

Klamoniſſ, von〈…〉〈…〉 (keli), das Geräth, und〈…〉〈…〉 (umo - noss), das Handwerk; allgemeiner Ausdruck für alles beim Mak - kenen gebräuchliche Geräth, beſonders Nachſchlüſſel, Diebsſchlüſſel, Dietriche, Haken und Abſtecher. Speciell wird aber das große Brecheiſen (Krummkopf, Rebmauſche, Rebtauweie) noch Groß - klamoniſſ genannt, im Gegenſatz von Kleinklamoniſſ, dem Schabber, kleineren Brecheiſen, Jadſchabber, Abſtecher, Nach - ſchlüſſel; Schaſſ-Klamoniſſ1)Von〈…〉〈…〉 (schass), Singular, vom Plural〈…〉〈…〉, eigentlich Säulen, Pfeiler; daher das Hauptſächlichſte, auch Hohe und Niedrige zuſammen; Groß und Klein. das vollſtändige Bund Diebsſchlüſſel aller Art durcheinander.

Klein-Purim, im Gegenſatz von Groß-Purim (welches das zum Schränken erforderliche kleine Brecheiſen, Schabber, Jadſchabber, Kleinklamoniſſ bedeutet), iſt wie das Schaſſ - Klamoniſſ, ein Bund Diebsſchlüſſel, deutet jedoch, ohne Rück - ſicht auf die Vollſtändigkeit, mehr die Verſchiedenartigkeit der Schlüſſel an. 2)Die ganze Etymologie iſt frivol. Purim (Plural vom urſprünglich perſiſchen〈…〉〈…〉 [pur], Loos) iſt das am 14. des Monats Odor gefeierte Ha - mansfeſt, da Haman (Buch Eſther, Kap. 3, Vers 7) an dieſem Tage das Los geworfen hatte, alle Juden auszurotten. Das Purim iſt (nach der Pa - römie: Kadochus iſt kein Kränk und Purim kein Jom tov , d. h. das Fie - ber iſt keine Krankheit und das Purim kein Feiertag), kein gebotener Feier - tag, wird aber an genannten Tagen nach Kap. 9, Vers 22, des Buchs Eſther (Stücke in Eſther, Kap. 7, Vers 7: μετὰ συναγωγῆς καὶ χαρᾶς καὶ εὐφροσύνης) als lautes Jubelfeſt gefeiert, an welchem alles bunt durcheinander geht; weshalb man denn auch Purim häufig mit Fafching überſetzt findet. Jn der Völlerei des Purims ſoll man, nach dem Tractat Megillo des Talmud,

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Taltel,〈…〉〈…〉 (taltal), hin - und herbewegen (davon Plural〈…〉〈…〉 [taltalim], die ſchwankenden Palmenzweige, z. B. im Hohenliede, 5, 11) allgemeiner Ausdruck für Nachſchlüſſel. Tal - talmiſch (〈…〉〈…〉[isch], der Mann), der Nachſchlüſſeldieb, Makke - ner. Taltel-Nekef (〈…〉〈…〉[nekef], Loch), das Schlüſſelloch.

Ein Zeitwort von Taltel gibt es nicht; dafür iſt, nach der treffenden Ueberſetzung des Taltel mit Drehrum, der Ausdruck: auf Drehrum handeln, mit Nachſchlüſſeln ſtehlen; auf Dreh - rum bei Schwarz handeln, mit Nachſchlüſſeln bei Nachtzeit ſtehlen. Dem Taltel entſpricht das zigeuneriſche Glitsch, Schlüſſel, Riegel; glitschinèskero cheȃchhéw, Schlüſſelloch, wovon Glit - ſcher, Nachſchlüſſeldieb, Glitſchen, ſchließen, mit Nachſchlüſſeln ſtehlen.

Echoder, Echeder von〈…〉〈…〉 (echod), Eins, der Eine iſt der am Rohrende ſtatt des Bartes mit einem einfachen Stifte oder Haken verſehene Schlüſſel, Dietrich; Deutſch-Echeder, auch Aſchkenas-Echeder, der Dietrich mit hohlem Rohr; Welſch-Echeder, auch Zarfeſſ-Echeder, der Dietrich mit vollem Rohr zu franzöſiſchen Schlöſſern. Je nachdem der Stift in eckigem Winkel nach vorn oder nach hinten gebogen iſt, wird er Vorderſchieber oder Hinterſchieber genannt, mit dem Zuſatz Welſch oder Deutſch, je nachdem das Rohr voll oder hohl iſt. Ebenſo, wenn der Stift in rundem Haken gebogen iſt, Hinterbogen, Vorderbogen, Deutſch-Vorderbogen, Welſch-Hinterbogen.

Dalmer und Dalme, allgemeiner Ausdruck für Schlüſſel, Nachſchlüſſel; Dalmerei, das Schloß; Dalmernekef, das Schlüſſelloch. Dalme iſt weder deutſchen noch jüdiſch-deutſchen Urſprungs, ſcheint aber doch mit dem hebräiſchen〈…〉〈…〉 (tolo), hän - gen, oder〈…〉〈…〉 (dolo), oder〈…〉〈…〉 (deless), Thür, zuſammenzu - hängen.

Mafteach,〈…〉〈…〉, ſpecifiſch hebräiſcher und jüdiſch-deutſcher2)den orur Haman uboruch Mordchai (den verfluchten Haman vom gebenedei - ten Mardochai) nicht unterſcheiden können.157 allgemeiner Ausdruck für Schlüſſel, der aber auch in die Gauner - ſprache übergegangen iſt; von〈…〉〈…〉 (possach), er hat aufgethan. Gleiche Ableitung hat Peſſach, die Thür, auch der Gelaß, in welchen die Thür führt, Kammer, Stube; Peſſiche, das Schlüſ - ſelloch, aber auch das Schloß, verdorben: Beſiche, Beſeiach, auch platte Beſiche; Miftoch, die Oeffnung, Schlüſſelloch; poſſchenen, ſchließen, beſonders mit dem Nachſchlüſſel ſchließen; Poſſchener, Nachſchlüſſeldieb; Mafzer und Mifzer, das Schloß; Paſſung, der durch Einbruch oder durch Nachſchlüſſel bewirkte Zugang; Paſſung machen, den Zugang durch Ein - bruch oder durch Nachſchlüſſel bewirken; vgl. oben unter Schrän - ken: Peſſuch.

Von Sſauger ſein (〈…〉〈…〉[ssogar], er hat geſchloſſen), zu - ſchließen, verſchließen: Maſſger, der Verſchluß; Meſſager, der Schloſſer, wofür meiſtens Barſelmelochner, Taltelme - lochner und Duſſemelochner gebraucht wird. Zigeuneriſch von buklo, Schloß: buklengero gatscho, der Schloſſer.

Tole, von〈…〉〈…〉, er hat gehängt, das Vorhängeſchloß. Duſſe, das Schloß, Hängeſchloß; duſſen, ſchließen; Duſſe - melochner, der Schloſſer; Chozer (eig. das Vorhaus), das Schloß.

Abſtecher jüdiſch-deutſch〈…〉〈…〉 (marzea) iſt ein Spitz - bohrer oder ſtählerner Pfriemen, der meiſtens als Pfeifenräumer an Taſchenmeſſern oder Feuerſtählen angebracht iſt, und zur Sonde der Schlöſſer, vorzüglich aber zum Schieben des Schloß - riegels von außen am Stulp gebraucht wird, wenn die Zuhal - tung des Schloſſes durch den Echoder aufgehoben iſt.

Endlich ſind beim Makkenen zu bemerken die jüdiſch-deut - ſchen Ausdrücke Oron, auch Orum oder Orehm, der Schrank, Kaſten, die Truhe, Lade, Kiſte. Kippe, Kife, Kuppe, Kuffe und Kuff1)Jüdiſch-deutſch〈…〉〈…〉 (kippe, kippo, kuppo). Davon die nieder - deutſche Bezeichnung Kuf für kleines Wirthshaus, Bordell, Bett, beſonders das Schrankbett; in de Kuf gan, zu Bette gehen; vgl. M. Kramer, Nider -, der Kaſten, Koffer, Kramladen, Handelsgewölbe. 158Mooskuppe, der Geldkaſten. Kuffer, der Nachſchlüſſeldieb. Chenwene, der Kram, die Kramkiſte, Kramladen, beſonders die Jahrmarktsbude. Tiefe, Schrank, Kaſten, Kiſte, Koffer. Schilchemer, Schrank, Kaſten, Schublade. Lesfinne, der Ladenſchubkaſten, in welchem ſich das Geld befindet, Ladenkaſſe.

Schon aus der weiten und unbeſtimmten techniſchen Termi - nologie erſieht man, daß von einer genau beſtimmten Anzahl von Klamoniſſ beim Makkenen nicht die Rede ſein kann, und daß es kein doctrinäres vollſtändiges Schaſſklamoniſſ von 28 oder 80 Schlüſſeln gibt. Die Größe oder Kleinheit der Schlöſſer, ihre Conſtruction und Beſatzung ſind die weſentlichſten Grundlagen, nach welchen die Klamoniſſ angefertigt werden. Ebenſo apokryph iſt die Exiſtenz von eigenen cheſſen Taltelmeloch - nern, welche ausſchließlich die Klamoniſſ anfertigen und ſich ihr Fabrikat mit Geld aufwiegen laſſen ſollen, wie denn ja in Nord - deutſchland der Glaube herrſcht, daß namentlich in Poſen und Stuttgart ausgezeichnete Barſelmelochner exiſtiren ſollen. Der Makkener von Fach macht ſeine Klamoniſſ ſelbſt aus alten abgezogenen oder bei dem Trödler erhandelten, oder auch aus den in den Eiſenwaarenhandlungen nach allen Größen für ein ſehr billiges Geld verkäuflichen Schlüſſeln mit unausgearbei - teten Bärten, deren Verkauf nicht allein der Schloſſerkunſt gro - ßen Abbruch thut, ſondern auch die Verſuchung überall weckt, und die Sicherheit des Eigenthums ſehr bedeutend gefährdet. Wer die Feile und Laubſäge nur einigermaßen führen kann, begreift am beſten, wie leicht jene keineswegs künſtlichen, ſondern höchſt einfach geſtalteten Klamoniſſ ſich herſtellen laſſen. Es genügt aber auch ſchon ein Blick auf das Bund Dietriche, welche jeder1)teutſches Dictionarium von 1719 , I, 165. Kiffe, ein ſchlechtes elendes Häuschen; vgl. Richey, Hamburger Jdioticon : Horn-Kippe, Bordell; angelſächſiſch Cip, und cambro-britiſch Cyfod. Der ebenfalls in der nieder - deutſchen Volks - und Gaunerſprache gebräuchliche Ausdruck Kabuf, für ein kleines ſchlechtes Häuschen, kleinen Laden, auch Bett und Bettſchrank, hängt wahrſcheinlich auch mit dem jüdiſch-deutſchen〈…〉〈…〉 zuſammen, oder auch mit dem hebräiſchen〈…〉〈…〉, gebogen, gewölbt, hohl ſein.159 Schloſſer führt, um mit dieſen einfachen Jnſtrumenten ſeine künſt - lich und mühſam gearbeiteten Schlöſſer behende zu öffnen und damit ſelbſt ſeine eigene Kunſt zu paralyſiren.

Achtundvierzigſtes Kapitel. β) Das Schloß, der Schlüſſel und ſeine Bewegung.

Der Mechanismus des Schloſſes beſteht in der horizontalen oder verticalen Bewegung des Schloßriegels, um die bewegliche Thür oder den Deckel eines Verſchluſſes mit dem ganzen Ver - ſchluſſe zu verbinden. Die Kunſt dieſes Mechanismus beſteht aber darin, die durch den Schlüſſel bewirkte Bewegung des Rie - gels für jede andere Bewegungskraft außer dem dazu beſtimmten Schlüſſel unthunlich zu machen. Um hiervon einen klaren Begriff zu bekommen, bedarf es einer nähern Kenntniß der Conſtruction und Bewegung eines Schloſſes. Auf umſtehender Tafel II. befindet ſich Figur 1 die Zeichnung eines von einem tüchtigen Meiſter verfertigten gewöhnlichen, ſogenannten eingeſteckten1)Jm Gegenſatz vom Kaſtenſchloß, welches nicht in das Holz einge - laſſen, ſondern gegen daſſelbe geſchroben wird. Zimmer - thürſchloſſes mit abgehobener Decke; Figur 2 iſt der dazu ge - hörige Schlüſſel.

A B D E iſt das Schloßblech, auf welchem der ganze Mecha - nismus befeſtigt iſt. Das Schloßblech iſt von B A E D mit einem Blechrahmen, dem Umſchweif umgeben, um Staub und Holz - ſplitter vom Schloſſe abzuhalten. An dem vordern Streif C C, dem Stulp, iſt das Schloßblech befeſtigt. Der durch Schrauben bei z z in das volle Holz des Rahmens geſchrobene Stulp dient zur Befeſtigung des Schloſſes, und läßt durch eine entſprechende Oeffnung die Falle F und den Schloßriegel K durchlaufen, damit dieſe in die entſprechenden Oeffnungen des in der Thürzarge be - feſtigten Schließbleches eingreifen können. Auf das Schloßblech wird zu gleichem Zwecke vorn ein entſprechendes Blech, die Decke,160

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161 aufgelegt und aufgeſchroben. Zur Einführung des Schlüſſels be - findet ſich in der Decke ein Schlüſſelloch, welches dem Schlüſſelloch im Schloßbleche L entſpricht.

Der obere Theil des Schloſſes enthält die Vorrichtung zum Oeffnen der Thüre durch Zurückziehen der Falle F. Die Falle bewegt ſich im Stulp und in dem Einſchnitt des feſtgenieteten Hinterſtudels G. Sie wird durch die unter dem Riegel und der Zuhaltung flach auf dem Schloßblech laufende Feder ſf ſtets nach außen gedrückt und durch Drehung der Nuß, durch welche in der Oeffnung I die Stange des Thürgriffs läuft, nach der ent - gegengeſetzten Seite geſchoben. Die Bewegung der Falle enthält alſo nichts beſonders künſtliches, und kann ſelbſt dann durch ein bei I eingeſchobenes eckiges Eiſen oder Stück Holz hervorgebracht werden, wenn der Thürgriff gänzlich abgenommen iſt.

Deſto künſtlicher iſt aber der Mechanismus des untern Theils. Der Riegel K läuft durch den Stulp C C und außerdem mittels der in ihn gefeilten Oeffnung O O auf den Zapfen P, welcher auf dem Schloßblech feſtgenietet iſt, ſodaß der Riegel frei ſeit - wärts hin - und herbewegt werden kann. Dieſe Bewegung wird nun durch die zirkelförmige Bewegung des durch das Schlüſſelloch L geſteckten Schlüſſels, oder vielmehr des Schlüſſelbarts, hervor - gebracht, der in den Riegeleinſchnitt M eingreift und dadurch in Stand geſetzt iſt, den Riegel willkürlich hin - und herzuſchieben. Um nun aber dem Stande des Riegels Feſtigkeit zu geben, und zu verhüten, daß der Riegel nicht willkürlich hin - und hergeſcho - ben werden oder ſchlottern könne, iſt unmittelbar über den Riegel die in dem Zapfen S ſich bewegende, durch die Feder R feſt nie - dergehaltene Zuhaltung q angebracht, die bei x einen in die Riegeleinſchnitte einfallenden Haken bildet, und von dieſem an abgeflacht in einer Bogenlinie hinter dem Riegel ausläuft, welche die vom Schlüſſelbart beſchriebene Kreislinie ſchneidet, ſodaß alſo der Bart, indem er in den Einſchnitt M des Riegels K eingreift, um dieſen wegzuſchieben, zugleich auch die Zuhaltung q mit dem Haken oder Zapfen bei x, der durch ſein Eingreifen in den Ein - ſchnitt x die Bewegung des Riegels hindert, in die Höhe hebtAvé-Lallemant, Gaunerthum. II. 11162und ſomit der Bewegung des Riegels freien Spielraum ge - währt. Dieſe zwiefache Operation kann demnach ohne beſondere Vorrichtung von jedem Schlüſſel verrichtet werden, deſſen Bart lang genug iſt, um in den Einſchnitt M hineinzureichen und mit ſeiner äußern Kreislinie den Bogen der Zuhaltung q bei qq zu ſchneiden. Es würden dazu eine Menge Schlüſſel im Stande ſein, die nöthigenfalls ſchon nach bloßem Augenmaße der Form des Schlüſſellochs mit leichter Mühe angepaßt werden könnten. Die in ihrer Weiſe geiſtreiche Erfindung der ſogenannten Be - ſatzung verhindert jedoch, wenn auch nicht abſolut, doch meiſtens, die Anwendung jeglichen Schlüſſels, deſſen Bart auch die ſoeben dargeſtellte äußere Form und Länge hat.

Ehe jedoch von der Beſatzung geredet werden darf, müſſen die Beſtandtheile des Schlüſſels bemerkt werden. Jn Figur 2 iſt b die Reithe, welche beim Schließen mit der Hand gefaßt wird. Die Länge a b b iſt das Rohr, das entweder hohl1)Neuerdings kommen mit den deutſchen Schlöſſern auch die hohlen Nach - ſchlüſſel und Echoder mehr und mehr außer Brauch. Selten haben dieſe Diebsſchlüſſel eine vollſtändige ganze Röhre, ſondern ſind nur rinnenförmig gearbeitet, ſodaß das Schlüſſelrohr wie ein Löffelbohrer geſtaltet iſt, und ſich mit der Höhlung behende um die Schloßdorne bewegt., oder, wie in Figur 2, dicht (voll) iſt. Das Ende des Schlüſſels a heißt der Knopf. Der Theil c c d d heißt der Bart, deſſen Länge von d bis zum Rohr die Höhe, und von c c die Breite genannt wird. Die Einkehlung des Rohrs bei i, das Geſenk, iſt mehr Zierath und nicht ſo weſentlich, wie bei den ſogenann - ten engliſchen Schlüſſeln der Anſatz, das heißt die in einiger Ent - fernung vom Bart am Rohre angebrachte Verſtärkung des Rohrs, um das zu tiefe Eindringen des Schlüſſels in das Schloß zu verhindern.

An dem Barte des Schlüſſels, Figur 2, bemerkt man meh - rerlei Einſchnitte. Zunächſt iſt er in der Mitte bei h, bis an das Rohr, der Höhe nach mit einem geraden Einſchnitte, dem Mittelbruch, verſehen. Sodann finden ſich zu beiden Seiten des Mittelbruchs die Einſchnitte (Kreuze) e e und gg. Dieſe163 ſämmtlichen Einſchnitte dienen dazu, den Schlüſſel für die durch die Beſatzung gegebene beſondere Conſtruction des Schloſſes ge - eignet zu machen. Um nämlich die Bewegung jedes der äußern Form nach zum Schloſſe paſſenden Schlüſſels zu verhindern, wird ein zu beiden Seiten rechtwinkelig gebogenes Stück Blech U in der Höhe einer halben Bartbreite über dem Schlüſſelloch ange - bracht und bei W an dem Schloßblech vernietet, auch über dem Schlüſſelloch L in geeigneter Weite (h h h) ausgeſchnitten, ſodaß, wenn der Schlüſſel in das Schloß geſteckt und gedreht wird, dies ſo angenietete Blech, der Mittelbruch genannt, in den mittel - ſten langen Einſchnitt des Barts, welcher auch Mittelbruch ge - nannt wird, geräth, der ſo zweigetheilte Bart ſich zu beiden Sei - ten dieſes Blechs bewegt, und das zwiſchen dieſem Mittelbruch und der Decke befindliche Bartſtück den Riegel in dem Einſchnitt M faßt und hin - und herſchiebt. Der Mittelbruch hindert alſo ſchon den Gebrauch jedes Schlüſſels, der nicht mit dem ihm an - gepaßten Einſchnitt (Mittelbruch) verſehen iſt. Da nun aber die - ſer Einſchnitt ſehr leicht mit der Bogenfeile oder Laubſäge in den Bart zu machen iſt und ſomit nur ein geringes Hinderniß bietet, ſo hat man den Mittelbruch mit noch andern Vorrichtungen ver - ſehen, welche die Bewegung jedes fremden Schlüſſels verhindern. Dieſe Vorrichtungen, Beſatzungen, ſind überaus zahlreich und künſtlich, und laſſen der Erfindung einen reichen Spielraum. Da es ſich aber hier nur darum handelt, einen Begriff von der Be - ſtimmung und Conſtruction der Beſatzung zu geben, ſo wird hier nicht einmal die allgemeinſte Eintheilung der Beſatzungen ange - führt, ſondern nur einfach die Beſatzung der Figur 1 deutlich ge - macht. Auf und unter dem Mittelbruch U ſind nun die kreis - runden Stückchen Blech e und g ſo genau aufgelöthet, daß die Kreuze e e und g g des bewegten Schlüſſels in ſie eingreifen. Somit wird für jeden fremden Schlüſſel, der nicht mit dem Mittel - bruch und mit den Kreuzen genau nach der ganzen Beſatzung eingerichtet iſt, die Bewegung im Schloſſe unthunlich gemacht. Dieſe Beſatzungen werden nun auf höchſt mannichfache und zum11 *164Theil ſehr künſtliche und ſinnreiche Weiſe1)So hat man unter anderm das ganze lateiniſche große Lapidaralpha - bet in die Schlüſſelbärte eingefeilt und die Beſatzungen danach entſprechend conſtruirt, anderer Spielereien nicht zu gedenken. angebracht. Auch ſind ſowol auf dem Schloßbleche ſelbſt, als auch auf der Decke ähn - liche Beſatzungen aufgelöthet, ſodaß äußerlich auf beiden Breiten des Schlüſſelbarts entſprechende Einſchnitte ſich befinden.

Eine andere Vorrichtung, den Eingang eines fremden Schlüſſels in das Schloß zu verhindern, beſteht darin, daß man die Figur des Bartes, vom Knopf aus geſehen, ſo geſtaltet, daß die Bärte mit geraden, in Winkeln gebogenen Linien, oder auch mit rundgebogenen Linien geſchweift werden. 2)So würde Tafel II, Figur 1, der Zapfen f im Schlüſſelloche L den Eingang des Schlüſſels Figur 2 verhindern, wenn nicht der Bart bei f ent - ſprechend zu einer ſogenannten Rippe eingefeilt wäre, was auch in entgegen - geſetzter Weiſe bei der Decke der Fall iſt.Die Schlüſſelbärte erhalten dadurch eine bunte Form, und die Spielerei hat auch hier ſich darin gefallen, den Bärten die Ge - ſtalt von Zahlen und von Buchſtaben zu geben. Dieſe Ge - ſtaltung hat jedoch nur Werth in Bezug auf das Eindringen des Schlüſſels durch die Decke oder durch das Schloßblech, durch - aus aber nicht für ſeine Bewegung im Schloſſe ſelbſt. Schloß - blech und Decke werden der Form des Bartes entſprechend ausge - feilt, und bieten in ihren Schweifungen ein nur beſchränkteres Hinderniß, das ſich leicht durch Ausbiegen oder Wegfeilen beſei - tigen läßt, wenn gar dieſe eigenthümliche Form dem Eingang des Echeder, Klamoniſſ oder Abſtechers überhaupt ein wirkliches Hinderniß iſt. Endlich hat man noch für die hohlen deutſchen Schlüſſel, welche mit dem Rohre über einem auf das Schloßblech des, ſelbſtverſtändlich nur von einer Seite ſchließenden, Schloſſes aufgenieteten Stift, dem Dorn, ſich drehen, außer den einfachen runden Dornen, auch noch runde und überdies noch eckige, be - ſonders dreieckige oder achteckige Röhren, nach denen das Schlüſſel - rohr entſprechend eingekehlt iſt. Dieſe eckigen Röhren drehen ſich mit dem eingebrachten Schlüſſel herum, und bieten, ebenſo wie165 die Dorne ſelbſt, bei weitem nicht ſolche Hinderniſſe wie tüch - tige Beſatzungen, da ſie leicht mit einer Drahtzange oder einem Abſtecher oder Jadſchabber ausgebrochen werden können.

Das in Tafel II, Figur 1, dargeſtellte Schloß iſt von bei - den Seiten ſchließbar. Die zu Schränken und Kaſten u. ſ. w. dienenden Schlöſſer ſind natürlich nur von der einen Außenſeite her verſchließbar. Jhre Einrichtung entſpricht aber der in Figur 1 dargeſtellten Conſtruction. Nur hat das Schloßblech nicht den Einſchnitt des Schlüſſellochs wie bei der Decke, ſondern nur ein rundes Loch, in welchem der Schlüſſel mit dem Knopf ſich dreht, oder auch, wenn der Schlüſſel ein hohles Rohr hat, einen Dorn, über welchen der Schlüſſel greift und ſich bewegt. Auch die Vor - hängeſchlöſſer haben im allgemeinen die entſprechende Conſtruction, obgleich auch bei ihnen vielerlei Kunſt angewandt wird, die aber in Bezug auf den Gauner inſofern verſchwendet iſt, als ihr durch Krampen, Stangen oder Riegel gezogener freiliegender und ſelten über einen halben Zoll Dicke hinausgehender Bogen oder Hals ſtets mit der Laubſäge behende und raſch durchgeſchnitten werden kann, wodurch das oft mühſamere und zeitraubendere Aufſchließen geſpart wird.

Neunundvierzigſtes Kapitel. γ) Die Kunſt und die Kunſtmittel der Makkener.

So künſtlich und ſinnreich auch alle oben angedeuteten Vor - richtungen ſind, ſo können ſie doch ſämmtlich durch die einfach - ſten Mittel vom Makkener paralyſirt werden. Der Grund dazu liegt darin, daß die Bewegung des Schloßriegels immer die alte einfache geblieben iſt, während die Schloſſerkunſt einſeitig darauf ſich beſonders beſchränkt hat, die Einbringung und Bewegung des Schlüſſels im Schloſſe durch die kunſtreichſten Conſtructionen zu erſchweren. Der Schlüſſel iſt ein einfacher Hebel, deſſen Stütz - punkt im Rohre a bb (Fig. 2) und deſſen Endpunkte in der Reithe bei bbb und am Ende der Barthöhe bei dd liegen. Die166 Zuhaltung q wird durch den Schlüſſelbart gehoben und zugleich der dadurch völlig frei und beweglich gemachte Riegel hin - und herbewegt. Um nun die Zuhaltung zu heben, bedarf es nur eines Drucks von unten. Dieſer Druck wird am leichteſten durch den Echeder (Dietrich) bewirkt. Der Echeder iſt eine in einen rechten Winkel gebogene Eiſendrahtſtange welche ſich leicht in das

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Schlüſſelloch und durch die Beſatzung hindurch gegen die Zuhal - tung bringen läßt, um dieſe zu heben und dann zugleich durch Drehen den Riegel zu bewegen. Oft aber reicht der Echeder nur dazu aus, die Zuhaltung allein zu heben. Dann wird gewöhn - lich mit dem Abſtecher entweder im Schloſſe ſelbſt oder außerhalb deſſelben durch die Thürſpalte, welche ſich bei dem Stulp befindet, der durch Aufhebung der Zuhaltung beweglich gemachte Riegel zurückgeſchoben, während die eine Hand mittels des Echeders die Zuhaltung in die Höhe gehoben hält. Jn dieſer Weiſe können auch die tüchtigſten Thürſchlöſſer ungemein behende geöffnet werden. Jch habe Echeder ganz vorzüglich aus dünnen Fenſterſtangen (Windeiſen) ohne beſondere Reithe improviſirt geſehen in der Geſtalt:

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Auch läßt ſich jeder Sturmhaken oder, ſehr unverdächtig, jeder Stiefel - haken ſehr leicht zum Echeder umgeſtalten, während bei kleinern Kaſtenſchlöſſern häufig ſchon ein Nagel oder bloßer Eiſendraht aus - reicht, der meiſtens erſt bei dem Diebſtahl ſelbſt vor dem Schloſſe mit der Drahtzange zurechtgebogen wird. Das Heben und Halten167 der Zuhaltung erfordert den beim Makkenen überhaupt wichtigen Handgriff, daß man den mit der rechten Hand gefaßten und in das Schlüſſelloch eingebrachten Echeder in das erſte Gelenk des hart an das Schlüſſelloch gedrückten Zeigefingers der linken Hand legt und mit dieſem Zeigefinger den Echeder feſt in die Höhe gegen den obern Theil des Schlüſſellochs drückt, wodurch der Echeder eine feſte Lage und ſeine Bewegung große Sicherheit ge - winnt, auch die einmal gehobene Zuhaltung ſtehen bleibt, ſodaß die rechte Hand frei wird, und mit dem Abſtecher oder ſchmalem Stammeiſen frei operiren und den Schließriegel zurückſchieben kann. Dieſer äußerſt ſichere Handgriff läßt ſich ſchon durch ge - ringe Uebung erwerben, und macht auch die Echeder mit hohlem Rohr (deutſche Echeder) immer entbehrlicher und ſeltener, da die Dorne mit leichter Mühe mittels einer ſpitzen und inwendig plat - ten Drahtzange weggebogen werden können, wenn nicht der Eche - der ſchon allein den Dorn beim Einbringen umgeht, wegbiegt oder wegbricht. Hat das Schloß keine beſondere Zuhaltung, ſon - dern, wie meiſtens bei kleinern und namentlich Fabrikſchlöſſern der Fall iſt, eine einfache Feder über dem Riegel, ſo ſchließt ſchon der Echeder allein das Schloß mit vollkommener Leichtigkeit auf, und es bedarf des Abſtechens und einer andern Operation nicht wei - ter. Der Echeder hat auch noch den Vortheil, daß mit ihm be - ſonders leicht der Riegel auf halben Schluß geſtellt, d. h. nur ſo weit zurückgeſchoben werden kann, daß das Schloß zwar ge - öffnet wird, die Zuhaltung aber nicht in den zweiten Riegelein - ſchnitt fällt, indem der Riegel nicht völlig bis zum Einfallen des Zuhaltungshakens zurückgeſchoben wird. Somit kann nach voll - endetem Diebſtahl die Hauptaufgabe des Makkeners, das Wieder - zuſchließen des Schloſſes durch einfaches Vorſchieben des Riegels leicht bewirkt und die Entdeckung des Diebſtahls ſehr hingehalten und erſchwert werden.

Kann der Echeder nicht ſelbſt zum Heben der Zuhaltung oder zum Schieben des Riegels verwandt werden, ſo bleibt er doch immer die beſte Sonde eines Schloſſes, mittels welcher man ſich durch das bloße Gefühl ziemlich genau von der innern Conſtruc -168 tion und Beſatzung eines Schloſſes unterrichten kann. Zum Son - diren iſt ſchon der Abſtecher oder auch ein dünner Echeder von Draht am geeigneteſten, um zu beſtimmen, welcher Nachſchlüſſel zur Anwendung kommen kann. Geübte Makkener wiſſen jedoch ſchon gleich mit dem bloßen Echeder hinlänglich zu ſondiren, und überlaſſen die Drahtſonde den minder Geübten, die indeſſen ſehr bald die Conſtruction des aufzuſchließenden Schloſſes begreifen und überhaupt auch ſchon bei dem Baldowern ſich möglichſt ge - nau davon zu unterrichten ſuchen.

Hat der Makkener ſich überzeugt, daß nur der Mittelbruch eine Beſatzung hat, ſo ſchließt er ſchon mit dem Echeder das Schloß auf. Jſt der Echeder aber vielleicht zu kurz oder zu dünn im Bart, Winkel oder Rohr, oder überhaupt nicht anwendbar, ſo wählt der Schränker bei dieſer Beſatzung den Hauptſchlüſſel Engliſch-Welſch, Haupter. 1)Vgl. Tafel II, Figur 3, den Haupter zum Schloß Figur 1.

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Der Bart eines Haupters iſt inwendig ausgefeilt, und hat nur Seitenſchenkel, die auf der Höhe des Barts im Winkel zu - ſammenſtoßen und nur für den Mittelbruch durch einen Einſchnitt d getrennt ſind. Beim Drehen greift der Schlüſſel durch den Einſchnitt (Mittelbruch) zu beiden Seiten des Mittelbruchs, geht mit dem ausgefeilten Raume c über die ganze Beſatzung des Mittelbruchs fort, hebt mit der Höhe d die Zuhaltung und ſchiebt den Riegel mit großer Leichtigkeit hin und her. Die Verbindung zweier Hauptſchlüſſelbärte an einem Rohr, die ſich gegenſeitig zur Reithe dienen, iſt ſehr bekannt und üblich:

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Die ſehr beliebten, mit Ausnahme von Kunſt - und Gauner - hand nicht leicht zu öffnenden billigen Schlöſſer ohne Mittelbruch jedoch mit Beſatzung auf dem Schloßblech und der Schloßdecke, die einen Schlüſſelbart, etwa von der Geſtalt der Figur erfordern:

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ſind, wie man ſieht, durch den Echeder nicht leicht zu öffnen, da die durch c laufende Beſatzung des Schloßblechs durch die Be - ſatzung der Decke bei d gedeckt wird. Es bedarf daher eines eigenen Nachſchlüſſels, der folgende Geſtalt hat, alſo dem

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Barte der obigen Figur im Aeußern gleicht, jedoch die Einſchnitte c und d bedeutend erweitert hat, wodurch er aber auch für mehrerlei Schlöſſer ähnlicher Größe anwendbar iſt. Liegt die Beſatzung

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der Decke höher als die des Schloßblechs, ſo hat der Klamoniſſ die umgekehrte Geſtalt:

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Hat nun ein Schloß ohne Mittelbruch die Beſatzung nur auf einer Seite, ſo iſt zu unterſcheiden, ob die Beſatzung auf der170 Decke oder auf dem Schloßblech iſt. Jm erſtern Falle wird der Hinterſchieber gebraucht von dieſer Form, der gleich dem

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Engliſch-Welſch in dem ausgefeilten Raum c über die Deckenbe - ſatzung ſich wegdreht. Hat das Schloßblech allein die Beſatzung, ſo wird der Vorderſchieber gebraucht, deſſen leerer Raum c über

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die Schloßblechbeſatzung ſich dreht. Hinter - und Vorderſchieber werden auch in ſehr praktiſcher Weiſe an einem und demſelben Rohr vom Makkener conſtruirt. Der nachſtehende Klamoniſſ a b hat nämlich durch das Rohr bei c ein rundes, beſſer viereckiges, Loch. Das Rohrende a c iſt mit einem Schraubengewinde ver - ſehen, in welches die Schraube a c paßt, die im Knopf a

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einen Einſchnitt zum Schrauben hat. Der Winkel (Bart) d e c wird in das Loch c geſteckt und mit der Schraube feſtgeſchroben, und bildet ſo den Vorderſchieber. Umgekehrt kann er auch in der andern Figur c e d eingeſteckt und feſtgeſchroben werden, und bildet ſo den Hinterſchieber. Die weſentlichſten Vortheile hierbei ſind, daß die Bärte mittels Hin - und Herrückens durch c ver - längert und verkürzt werden können, ſoweit der obere Theil des Schlüſſellochs beim Einſchieben des Schlüſſels dies geſtattet. 171Ferner erſpart man ſich dadurch das verrätheriſche Führen eines größern Schlüſſelbundes, da ſich in dieſer Weiſe eine Menge Bärte, die leicht im Geldbeutel oder in den Uhr - und Weſten - taſchen zu verbergen ſind, auf ein einziges Schlüſſelrohr anbrin - gen laſſen. Selbſtverſtändlich läßt ſich durch Einſetzung eines bloßen Stifts jeder beliebiger Echeder an dieſem Rohr herſtellen. Man hat auch Schlüſſel, welche vorne am Knopfende mit einem Schraubengewinde verſehen ſind, in das ſich die einzelnen Bärte

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hineinſchrauben laſſen. Sie haben bei dem Transport und Ver - ſteck der Schlüſſel dieſelben Vortheile, die oben gezeigt ſind, bei der Anwendung aber den Uebelſtand, daß ſie zwar die Schlöſſer aufſchließen, nicht aber (wenn jene nicht ſehr leicht ſchließen), daß ſie die Schlöſſer wieder ebenſo leicht zuſchließen, da, je nach dem Schnitt der Schraube, die Bärte rechts oder links ſich leicht abſchrauben. Auch bedarf es ſtets zweierlei ſolcher Schrauben - ſchlüſſel mit den paſſenden Bärten, je nachdem die Schlöſſer links oder rechts ſchließen. Uebrigens habe ich gerade in dieſer Art äußerſt ſauber gearbeitete Schlüſſel gefunden.

Hat ein Schloß gleichzeitig Beſatzungen auf dem Schloß - blech oder der Decke, und den Mittelbruch, oder alle drei zu - gleich, ſo wird dem Nachſchlüſſel immer die Grundform des Hauptſchlüſſels gegeben, und dabei die Form der Bartſchenkel nach den Beſatzungen geſchweift. Jn ſolcher Weiſe können die mannich - fachſten Schlüſſel hergeſtellt werden, je nach Beſchaffenheit der Schlöſſer, deren genaues Studium eine Hauptaufgabe der Mak - kener iſt. Dazu werden alle möglichen Schlöſſer zum Studiren ihres Mechanismus und ihrer Zuſammenſetzung auseinanderge -172 nommen, wie z. B. Damian Heſſel und Fetzer ſich tagelang übten, Schlöſſer mit Dietrichen, Nägeln und Haken zu öffnen. Ja, Heſſel rühmte von ſeinem Kameraden, Johann Müller, gegen den er ſich einen Lehrling nannte, daß Müller ein Schloß nur anzublaſen brauche, um es zu öffnen. 1)Heſſel öffnete zum Belege ſeiner Fertigkeit mit einem Bindfaden und einem Stückchen Holz die innere ſtarke Thür ſeines Kerkers, wie Rebmann, Damian Heſſel (2. Ausg. ), S. 15, erzählt. Das iſt ſchwer zu glauben; und doch habe ich ebenfalls von einem Raubmörder geſehen, daß er mit einem zuſammengedrillten Bindfaden ein ſogenanntes Schneckenſchloß an ſeiner Kette wie im Nu öffnete, ſodaß er in Feſſeln geſchmiedet werden mußte.

Die Anfertigung ſolcher Schlüſſel, über deren Einfachheit man erſtaunen muß, wenn man ſie mit der künſtlichen und müh - ſamen Arbeit des Schloſſes und Schlüſſels, den jene paralyſiren, vergleicht, iſt ſehr leicht mit einigen guten Feilen und einer Laub - ſäge zu erreichen. Die Hauptrückſicht beim Anfertigen von Kla - moniſſ iſt: die Barthöhe als Endpunkt des einen Hebel bildenden Schlüſſels, muß nothwendig in feſter Verbindung mit dem Stütz - punkt und dem andern Hebelende ſtehen. Es kommt nur darauf an, dieſen, wie gezeigt iſt, leicht zu findenden Verbindungsgang zu ermitteln, der bei allen Schlüſſeln vorhanden iſt und ſich leicht paſſend herſtellen läßt. Meiſtens findet man, wie ſchon oben er - wähnt, bei den Trödlern eine Menge alter Schlüſſel vorräthig2)Es iſt bemerkenswerth, daß man unter den bei Schränkern angetrof - fenen Schlüſſeln ſelten andere als alte Schlüſſel findet, mit vorne dünn ge - feiltem Rohr und eigens zugefeiltem Bart. Jch habe in meiner Praxis im ganzen nur wenig Schlüſſel gefunden, die gleich von Anfang her zu Nach - ſchlüſſeln gearbeitet zu ſein ſchienen., bei deren paſſender Auswahl man ſchon viel vorgearbeitet finden kann. Auch kann man bei jedem Eiſenwaarenhändler Schlüſſel aller Größen mit nicht ausgearbeitetem Bart, die in den Fabriken unter Druckſchrauben zu vielen Tauſenden hergeſtellt oder gegoſſen werden, für geringes Geld bekommen, um ſie zum beliebigen Ge - brauch zuzurichten. Bei der Billigkeit und flüchtigen Arbeit der Fabrikſchlöſſer bedarf es oft nur weniger Feil - oder Sägenſtriche, um die Nachſchlüſſel zu verfertigen. Die Einförmigkeit der Schlöſſer173 und Schlüſſel, die in den Fabriken zu Tauſenden nach einem und demſelben Modelle gemacht werden, ſpart dem Makkener viele Mühe, und erleichtert ihm den Weg in unglaublich viele Ver - ſchlüſſe. Die Nachtheile, die ſomit auch in dieſer Rückſicht aus den Fabriken für die Sicherheit des Eigenthums und für die Moralität entſtehen, ſind außerordentlich groß, und ſchon ſcheint es zu ſpät zu ſein, durch eine rege Begünſtigung und Förderung der Schloſſerkunſt, und durch ihre Wiedereinſetzung als wahre Kunſt gegen den leichtfertigen und demoraliſirenden Behelf der maſſenhaften Fabrikproduction dem Unheil zu ſteuern. Die Schloſſerei hat ihren weſentlichſten Verlaß nur noch in ihrer reellern Arbeit, und ihre Hauptkunſt beſteht nur noch in Anbringung von Vexiren und andern Künſteleien, die jedoch vom Scharfblick des profeſſionirten Makkeners bald durchſchaut werden. 1)Ueber dieſe Kunſtſchlöſſer gibt ſchon Jakob Zipper in ſeiner Anweiſung zu Schloſſerarbeiten mit Zeichnungen (Leipzig, ohne Jahreszahl) ſehr hübſche deutliche Zeichnungen und leichtfaßliche Erklärungen.

Endlich ſei noch eines praktikablen Klamoniſſ erwähnt, der bei einer Unterſuchung in Lübeck einem Makkener abgenommen wurde, der ſelbſt Barſelmelochner war. Dieſer Klamoniſſ hatte dieſe Geſtalt:

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Durch die viereckige, mit einer Flügelſchraube b verſehene Nuß a liegen zwei nach außen abgerundete, inwendig platt gegeneinander - laufende Stangen c d und e f, die bei c und e in einen rechten Winkel zu Echedern, bei d und f ebenfalls in rechte Winkel ge - bogen, mit einem nach innen gerichteten Haken verſehen ſind, und beliebig nebeneinander geſchoben werden können, ſobald die Flügel - ſchraube b gelöſt iſt. Die Stange c d iſt bei l etwas geſchweift, ebenſo die Stange e f bei m, damit die Winkel reſpective bei c und f in gleicher gerader Linie mit den Winkeln e und d ſtehen. 174Es kann dadurch auf beiden Seiten der Bart zu einer Menge von Hauptſchlüſſeln von verſchiedener Breite, z. B. g h i k, geſchoben werden. Außerdem können die Stangen c d und e f aus der Nuß herausgenommen und auf den Enden c oder e zu Echedern, auf den Enden d und f zu Vorder - und Hinterſchiebern gebraucht wer - den. Dieſer Klamoniſſ iſt Zoll lang, und ſchließt, wie ich das oft ſelbſt verſucht habe, eine ſehr große Menge Schlöſſer. Einfacher iſt der praktikable Hauptſchlüſſel. Jn der hohlen Röhre

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a b, welche unter a mit dem feſten Bartſchenkel g und bei b mit dem Handgriff h i verſehen iſt, läuft die Stange c d, welche bei c in den Bartſchenkel c e und bei d in den Handgriff d k gebogen iſt, aus dem Ausſchnitt c f herausragt, und in dieſem Ausſchnitt durch Hin - und Herſchieben bei d bewegt und zu verſchiedenen Breiten eines Hauptſchlüſſels geſtellt werden kann.

Auf ähnliche Weiſe laſſen ſich noch eine Menge anderer Klamoniſſ je nach der Form und Einrichtung der Schlöſſer her - ſtellen. Die Klamoniſſ werden nach der Beſchaffenheit des Schloſſes gewählt, auch vorher eigens zu einem beſtimmten Schloſſe zu - gerichtet. Der Makkener läßt ſich nicht verdrießen, das zu be - ſtehlende Lokal vorher zu beſuchen, ehe der Maſſematten ſelbſt ge - handelt wird, um ſeinen Klamoniſſ gehörig zuzurichten. Er ſon - dirt dabei das Schloß viel lieber mit dem Echeder, als daß er vom Schlüſſelloch einen Abdruck in weichgeknetetem Wachs nimmt. Dies Abdrücken des Schlüſſellochs in Wachs iſt ſehr unterge - ordnet, und dient höchſtens nur zu Meſſung der Höhe, Breite und Schweifung des Schlüſſelbarts. Der erfahrene Gauner weiß, daß das Blech des künſtlich ausgefeilten Schlüſſellochs, wenn es nicht von ungewöhnlicher Dicke iſt, ſich leicht zurückbiegen oder ſonſt beſeitigen läßt, und daß es weſentlich nicht darauf ankommt, die Schweifung des Schlüſſelbarts zu copiren, da man aus der175 bloßen Schweifung auch nicht entfernt auf den Mittelbruch und die verſchiedenen Beſatzungen folgern kann. Vermag der Makke - ner nicht das Schloß mit dem Echeder gehörig zu ſondiren, und ſich durch das Gefühl von der Conſtruction deſſelben zu unter - richten, ſo überzieht er den Bart eines in das Schlüſſelloch paſ - ſenden Schlüſſels mit Wachs, oder ſchneidet, nachdem er die Tiefe des Schloſſes ſondirt hat, einen paſſenden hölzernen Schlüſſelbart, überzieht denſelben mit Wachs, und dreht dieſen in das Schloß geſteckten hölzernen Schlüſſel gegen die Beſatzung, welche ſich nun deutlich auf das Wachs abdrückt. Glückt es aber dem Schränker beim Baldowern ſogar den Schlüſſel des zu öffnenden Verſchluſſes auch nur einen kurzen Moment in die Hand zu bekommen, ſo wird ein raſcher Abdruck auf eine in der Handfläche verborgene weiche Wachsplatte1)Es werden dazu auch wol auf Leinen oder Leder geſtrichene und daher unverdächtig erſcheinende harzige Pflaſter genommen. genommen, was ſchon durch einen leichten Druck möglich wird, da es nicht auf ein vollſtändiges Modelliren, ſondern nur auf ein leichtes Markiren der Form und der Ein - ſchnitte des Barts ankommt. Es iſt daher unvorſichtig, wichtige Schlüſſel frei hängen zu laſſen, oder gar jemand auch nur einen Augenblick in die Hand zu geben. Oft genügt ſchon der bloße Blick auf den Schlüſſel, um den geübten Makkener zu zei - gen, wie dem Schloſſe beizukommen iſt.

Wie bei den Schränkern die Klugheit und die Kunſtehre er - fordert, die Spuren eines Einbruchs möglichſt zu verbergen, ſo auch leidet die Makkenerehre nicht, daß der aufgeſchloſſene Ver - ſchluß, nachdem der Maſſematten gehandelt iſt, unverſchloſſen bleibe. Die Schlöſſer werden daher vom Makkener ſoviel wie möglich geſchont und wieder zugeſchloſſen. Zum raſchern Wieder - zuſchließen ſucht der Makkener, wenn er mit dem Echeder operirt hat, ſoviel wie möglich jedes namentlich größeres Schloß auf halben Schluß, d. h. den Schließriegel ſo zu ſtellen, daß die Zuhaltung beim Aufſchließen nicht in den letzten Riegeleinſchnitt (Tafel II, Figur 1 x) fällt, worauf ſich der Schließriegel viel176 raſcher und leichter mit dem Echeder wieder zuſchieben läßt. Wie endlich die Schränker immer mit Klamoniſſ verſehen ſind, ſo führen auch die Makkener, namentlich wenn ſie belaile han - deln, mindeſtens einen Jadſchabber, oder auch einen Brun - ger, Vorleger, oder Pezire und Magſeire bei ſich. Auch haben ſie meiſtens um den bloßen Leib oder unter dem Rock Leilekiſſimer gewickelt und noch andere Schränkerrequiſite, welche bei Baldowern als etwa nützlich erkannt worden ſind.

Funfzigſtes Kapitel. δ) Die Verbeſſerungen von Chubb, Bramah und Newell.

Jn dem Wettkampf, in den die Schloſſerkunſt mit dem Mak - kenen gerathen iſt, hat ſie in neueſter Zeit endlich eine Verbeſſe - rung gemacht, welche, ſtatt der bisherigen auf die Erſchwerung der Schlüſſelbewegung beſchränkten Kunſt, nunmehr auch die Be - wegung des Riegels ſelbſt genauer berückſichtigt, und bei zuneh - mender Vervollkommung einen immer vollſtändigern Sieg über das Gaunerthum verheißt. Es ſind die Schlöſſer, welche die eng - liſchen Mechaniker Chubb und Bramah, ſowie der Nordamerikaner Newell (mit ſeinen Permutation bitt-keys) erfunden haben. Alle drei Arten Schlöſſer haben ganz vorzüglich die Kunſt auf die Bewegung des Riegels verwandt, wobei der Schlüſſel in höchſt einfacher Conſtruction erſcheint. Die nebenſtehende, mit der Zeichnung (Taf. III) aus dem Grundriß der Schloſſerkunſt , von Johann König, S. 78, entlehnte Beſchreibung gibt einen deut - lichen Begriff von der trefflichen Conſtruction des von Chubb erfundenen Schloſſes.

Das Chubbſchloß beſteht aus ſechs verſchiedenen und genau doppeltourigen Sperrungen (tumblers), mit Hinzufügung eines Angebers, durch welchen jeder Verſuch des Nachſchlüſſels beim Gebrauche des rechten Schlüſſels verrathen wird. Die umſtehende Abbildung iſt eine Darſtellung eines nach folgenden Principien gebauten Schloſſes.

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A iſt der Riegel, B die viereckige Studel, welche inwendig vernietet iſt und einen Theil des Riegels bildet; C ſind die Sper - rungen, ſechs an der Zahl, welche ſich auf dem Centralkegel D bewegen; ſie ſind eine über die andere gelegt, aber vollſtändig iſolirt und geſondert, um jeder Sperrung zu erlauben, in verſchie - dener Höhe emporgehoben zu werden; E iſt eine getheilte Feder mit ſechs verſchiedenen Sprüngen, die auf die Enden der ſechs Sperrungen treffen; F iſt die Anzeigefeder. Es muß bemerkt werden, daß der Grundſperrer einen Zahn nahe der Anzeigefeder hat; G iſt eine Studel oder Schraube, inwendig befeſtigt und einen Theil der unterſten Sperrung bildend, und O iſt der Schlüſſel.

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Nun iſt es erſichtlich, daß alle Sperrungen genau zu der ver - ſchiedenen erforderlichen Höhe gehoben werden müſſen, um der viereckigen Studel B zu erlauben, durch die Längendurchſchnitte der Sperrungen zu paſſiren, ſo, daß der Riegel fortgezogen werden kann. Wir brauchen nicht zu ſagen, was geſchieht, wenn eine oder die andere Sperrung zu hoch, oder nicht hoch genug gehoben wird; noch weniger kann die Combination dieſer ſechs Sperrungen entdeckt werden, und wenn ein falſcher Schlüſſel eingebracht wird, und eine der Sperrungen ſollte übermäßig gehoben werden, ſo fängt die Anzeigefeder F den Grundſperrer C und hält ihn feſt,Avé-Lallemant, Gaunerthum. II. 12178ſodaß der Riegel nicht paſſiren kann, und bei der nächſten An - wendung des wahren Schlüſſels, wird man alſo bald ſehen, daß der Verſuch einer widerrechtlichen Oeffnung des Schloſſes gemacht wurde, da man mit dem richtigen Schlüſſel das Schloß nicht mit dem gewöhnlichen Verfahren auf einmal öffnen kann. Dreht man jedoch den Schlüſſel in umgekehrter Weiſe, ſo wird der Sperrer wieder in ſeine vorige gewöhnliche Lage kommen, dem Riegel er - lauben ſich vorwärts zu bewegen und die Studel B in die Kerbe I zu faſſen. Der abgeſchrägte Theil des Riegels A wird ſodann die Anzeigefeder F aufheben, und dem Bodenſperrer C erlauben, in ſeinen alten Platz zu fallen. Das Schloß iſt nun zu ſeiner gewöhnlichen Stellung zurückgebracht und kann wie ſonſt geſchloſſen und geöffnet werden. Es iſt erſichtlich, daß, wenn das Schloß angezeigt hat, es ſei falſch berührt, nur der wahre Schlüſſel daſ - ſelbe wieder in den gewöhnlichen Zuſtand bringen kann.

Bei Schlüſſeln, nach dieſer Art conſtruirt, können ungemein viele Wechſel der Formen angewandt werden. Der klein gezeich - nete Schlüſſel L, welcher aus ſechs Stufen und Einſchnitten be - ſteht, iſt 720 Abänderungen fähig, während, da bei den größern Schlüſſeln dieſe Zacken 30 mal und die Riegeleinſchnitte 20 mal verändert werden können, ſich die Summe von 7,776,000 mög - licher Abänderungen ergibt.

Das Chubbſchloß iſt 1846 und noch ſpäter vom Erfinder verbeſſert worden, wie aus der von König gemachten Beſchreibung, S. 80 und 81, und aus Tafel 40 des dazu gehörigen Atlas er - hellt. Die Verbeſſerung beſteht zunächſt in einem, aus vier ver - ſchiedenen Schlöſſern zuſammengeſetzten Schloß, das durch einen mit vier verſchiedenen Bärten verſehenen Schlüſſel geſchloſſen wird, und ferner in der Anbringung einer Metallblende, welche im Jnnern hervortritt, und Schlüſſelblech und Werk deckt, ſobald ein falſcher Schlüſſel eingebracht wird. Das von Bramah erfundene Schloß iſt der Kleinheit wegen beſonders zu Schreibtiſchen, Käſt - chen, Portefeuilles, Vorhängeſchlöſſern u. ſ. w. geeignet, und hat eine ganz eigenthümliche Riegelbewegung und Zuhaltung, auf welcher letztern die großen Vorzüge des ganzen Schloſſes weſent -179 lich beruhen. Eine Beſchreibung iſt bei König, a. a. O., S. 82 fg., enthalten.

Auf ähnlicher Grundlage hat Newell ſeine Permutation bitt - keys conſtruirt, zugleich aber dadurch, daß er auch den Schlüſ - ſelbart theilweiſe beweglich machte, das Vollkommenſte erreicht, was bis dahin die Schloſſerkunſt aufzuweiſen hat. Der Bart des Schlüſſels, Fig. 1 u. 2, a c, b d, iſt vorn am Rohre

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feſtgeſchweißt. Durch den Vorderzapfen b d geht bei e eine Schraube bis in f auf den Zapfen a c. Die mit einem Schrau - benloch verſehenen ſechs Zapfen von verſchiedener Länge ſind zum Herausnehmen, und können zwiſchen e und f in den verchieden -12 *180ſten Combinationen willkürlich verſetzt und feſtgeſchroben werden, wie z. B. in Figur 3. Das mit einer beſtimmten Bartzapfen - ſtellung geſchloſſene Schloß, wie z. B. in Figur 3, läßt ſich auch nur mit derſelben Zapfenſtellung aufſchließen. Bei dem Verſuche mit einer andern Zapfenſtellung aufzuſchließen, ſpringen die Federn (indicators) vor und vereiteln nicht nur das Aufſchließen, ſon - dern ſchließen auch nicht einmal mehr auf die richtige Zapfen - ſtellung des richtigen Schlüſſels, wenn nicht mit dieſer die Dre - hung des Schlüſſels ſo gemacht wird, als ſolle das zugeſchloſſene Schloß nochmals zugeſchloſſen werden, worauf die Federn in die richtige Lage ſpringen und ſomit das Aufſchließen möglich wird. Die Combinationen dieſer Schlußweiſe ſind wie bei den Chubb - ſchlüſſeln außerordentlich zahlreich, namentlich da es Schlüſſel gibt, die ſtatt der dargeſtellten ſechs Zapfen, acht und zehn Zapfen ent - halten, alſo um ſo mannichfacher gewechſelt werden können. Selbſt der völlig gleich nachgebildete Nachſchlüſſel vermag nicht, das Schloß zu öffnen, wenn nicht dabei die Zapfenſtellung bekannt iſt, die der Schlüſſel beim Zuſchließen hatte. 1)Eine nähere Beſchreibung dieſer wichtigen Erfindung, die auf der lon - doner Jnduſtrieausſtellung großes Aufſehen erregte, findet man in The illu - strated London News , 1851, S. 182.

Einundſunſzigſtes Kapitel. ε) Das Makkenen auf Kittenſchub.

Allerdings ſind dieſe wichtigen Verbeſſerungen noch zu neu und zum Theil noch zu wenig bekannt, auch wol noch zu theuer, als daß ſie ſchon die verdiente allgemeine Verbreitung gefunden hätten. Dabei wuchert das Makkenen denn auch noch immer als eine der lucrativſten Künſte fort, die ihren Jünger vollauf ernährt und ihn häufig zum reichen Mann macht. Die Leichtig - keit, mit welcher die Klamoniſſ herzuſtellen und anzuwenden ſind, hat das Makkenen zur populärſten Gaunerkunſt gemacht, und den181 Makkenern von Fach in der Perſon von Geſellſchafterinnen, Er - zieherinnen, Hausgeſinde, Comptoirleuten, ja ſogar Eleven und zehnjährigen Kindern, eine Concurrenz geſchaffen, die den Makke - ner zwingt, ſein ſo verkümmertes tägliches Brot mit mehr Wag - niß, aber auch mit mehr Meiſterſchaft zu verdienen, und ſich auf den Kittenſchub (vgl. das folgende Kapitel) zu legen, um im Verkehrsgetümmel bei lichtem Tage die Sorgloſigkeit auszubeuten, die meiſtens nur für die Nachtzeit ernſterer Sorgſamkeit und Vorſicht weicht. Jn Gaſthöfen, und namentlich während der Meſſen und während der Badeſaiſon, findet der Makkener denn noch die meiſte Gelegenheit, ſeine Kunſt zu üben. Meiſtens ſteigt er in den erſten Gaſthöfen ab unter dem anſtändigen Aeußern eines Rittergutsbeſitzers, Offiziers, hohen Beamten oder eines Bankiers, während ſeine Chawern unter ähnlichem Scheine in andern Hotels logiren und ſich dort ebenfalls nach Gelegenheit umſehen, auch ihn beſuchen und mit ihm viel aufgehen laſſen im Gaſthofe, um die Umgebung zu blenden. Jſt ein Maſſematten baldowert, ſo ſucht der Makkener, meiſtens unterſtützt von einem Vertuſſer oder einer Schmire, die beſonders den Freier zu mei - ſtern hat, die Zimmerthüre des baldowerten Maſſematten zu öffnen. Wird er dabei von einem Gaſte oder Kellner betroffen, ſo weiß er ſich das Anſehen eines der im Gaſthofe logirenden Fremden zu geben, von deren Perſon bei dem großen Verkehrs - getümmel ſelten genauere Notiz genommen wird, ſodaß kaum einmal eine bloße Anrede vorkommt. Hat er noch nicht das Zimmer aufgeſchloſſen, und bemerkt er Aufmerkſamkeit auf ſich, ſo geht er dem Aufmerkenden entgegen, thut eine Frage, z. B. nach dem Bewohner des Zimmers, deſſen Name und Stand er vorher erkundet hat u. ſ. w. und entfernt ſich für dies mal (er geht koſcher oder kaſchert ſich). Ebenſo verfährt er, wenn er gleich beim Eintritt in das Haus Verdacht bemerkt. Er geht dann in die Etage oder an das Zimmer, wo er ſtehlen will, jedoch wo - möglich ohne Klamoniſſ, falls er angehalten und viſitirt würde, und begibt ſich, ohne irgendetwas zu unternehmen, wieder fort, ſucht aber ſobald als möglich heimlich wiederzukommen, ſobald182 er den Verdacht geſchwunden glaubt. Jſt die Thür aufgeſchloſſen, ſo legt er mit derſelben Vorſicht die Klamoniſſ hinter den Füßen der meiſtens auf den Vorplätzen ſtehenden Schränke oder auf den Geſimſen derſelben, oder auch in Tiſchſchubladen oder ſonſt in der Nähe kawure, bis der Handel gemacht iſt, worauf die Thüre wieder verſchloſſen wird. Bekommt er im Zimmer Aufſtoß, ſo hat er die Thür nachläſſigerweiſe unverſchloſſen gefunden und fragt nach irgendeiner Perſon, die hier logiren ſoll. Bei dringen - der Gefahr iſt hier auch wol eine glänzende Gelegenheit zum Zu - planten oder Verſarkenen. Beim Weggange beobachtet der Mak - kener alles, was ihm etwa begegnet, ob er etwa ſelbſt beobachtet wird, wobei er auch auf der Straße nach den gegenüberliegenden Häuſern blickt, ob er von dort aus bemerkt iſt. Jſt das der Fall, ſo kleidet er ſich in ſeinem Quartiere oder in einer Cheſſenpenne um, oder entfernt ſich wol gar mit dem Geſtohlenen aus dem Orte, wenn er es nicht platten Leuten anvertrauen oder kawure legen kann. Handelt der Makkener ohne Vertuſſer oder Schmire, oder hat, was ſelten der Fall iſt, der Vertuſſer den Freier nicht meiſtern können, und bekommt der Makkener nun Aufſtoß, ſo hilft er ſich mit großer Geiſtesgegenwart in der Weiſe, wie oben unter dem Kapitel von Meiſtern angeführt iſt, bis er ſich dann ka - ſchern kann.

c) Das Kittenſchieben.

Zweiundfunfzigſtes Kapitel. α) Definition und Terminologien.

Kittenſchieben, einen Kittenſchub halten, von〈…〉〈…〉 (kisse), Seſſel, beſonders bedeckter Sitz, Thronſeſſel, tectum, Dach, Haus1)Jm Niederdeutſchen iſt Kit, Femininum, ein gängiger Ausdruck für ein Krughaus, Bordell. Vgl. Matth. Kramer, Hoch-Nider - und Nider - Hoch-Teutſches Dictionarium (1719), S. 146, Col. 3. U. (von〈…〉〈…〉, bedecken) und ſchieben (〈…〉〈…〉, schuf, zu -183 rückkehren, wiederkehren, umkehren, ſich wenden), gehen, ſchleichen, bedeutet allgemein das Hauseinſchleichen der Gauner in der Ab - ſicht zu ſtehlen, ohne ſpecielle Rückſicht auf eine beſtimmte Weiſe wie der Maſſematten dabei gehandelt wird, und zu welcher Tages - zeit dies geſchieht. 1)Thiele bezeichnet Kittenſchieber als Diebe, welche zur frühen Mor - genzeit im Sommer als Einſchleicher ſtehlen, während Grolman das Kitten - ſchieben als Küchendiebſtahl mittels Einſchleichens bezeichnet, wofür Thiele wieder den Ausdruck Hohſen gebraucht. Beide Reſtrictionen ſind aber nicht richtig. Für beiderlei Art und Zeit des Einſchleichens exiſtiren beſtimmte tech - niſche Terminologien.Ein Kittenſchub kann daher zu jeder Tageszeit, mit und ohne Schränken und Makkenen gehalten werden, und Kittenſchieber2)Synonym iſt der Ausdruck Scheinſpringer, Scheinſewecher. iſt daher allgemein der Hauseinſchleicher. Gleichbedeutend iſt der Hoſen (vom deutſchen Haus, Hauſer, hauſiren), Hauseinſchleicher, welches Thiele, a. a. O., I, 257, vom leiſen Tritt (?) ableitet und unrichtig auf den Küchenein - ſchleicher beſchränkt. Endlich iſt noch gleicher allgemeiner Bedeu - tung mit Kittenſchieber und Hoſen der Ausdruck Zgocker, eigent - lich Zugucker, vom deutſchen Gucken, Sehen, Zuſehen, zu unterſcheiden von Zchocker, Spieler (vgl. Kap. 76).

β) Arten des Kittenſchiebens.

Dreiundfunfzigſtes Kapitel. 1) Die Zefirgänger.

Nach der Zeit, zu welcher der Kittenſchub gehalten wird, unterſcheidet man verſchiedene Arten von Kittenſchiebern. Die Kaudemhalchener3)Vom hebräiſchen〈…〉〈…〉 (kedem), vorn, Oſten, Oſtwind, Sonnenauf - gang, Morgen., Kaudemgänger, oder Zefirhalche - ner4)Von〈…〉〈…〉 (Zefiro), Kopfſchmuck, frühe Morgenzeit., Zefirgänger, ſind Diebe, welche beſonders zur Morgen - zeit ſich in die vom Geſinde offen gelaſſenen Hausthüren ſchleichen,184 und, während das Geſinde auf dem Gange zum Bäcker oder ſonſt innerhalb und außerhalb der Wohnungen beſchäftigt iſt, und die Herrſchaft noch im Bette liegt, aus den Zimmern, oft auch mit Makkenen ſtehlen. 1)Jm verfloſſenen Winter wurden hier in Lübeck ſogar mehrere mal hintereinander Theekeſſel mit dem ſiedenden Waſſer vom Feuerherd, in verſchiedenen Straßen, geſtohlen.Beſonders operiren die Zefirgänger, welche wie alle profeſſionirte Kittenſchieber mit leichtem Fußzeug bekleidet ſind, in Gaſthöfen, namentlich zur Meßzeit oder Badezeit. Jn der frühen Morgenzeit iſt in den Gaſthöfen die wenigſte Con - trole. Somit gelingt es dem Zefirgänger leicht auf einen Corridor zu gelangen, und entweder an eine Thür, wo ein Maſſematten baldowert iſt, oder an die erſte beſte Thür anzuklopfen. Erfolgt kein Hereinruf auch auf das wiederholte Anklopfen, ſo öffnet er die Thüre und tritt mit leiſem Morgengruß herein. Den Blick beſtändig auf den Schlafenden gerichtet und mit gedämpfter Stimme den Morgengruß wiederholend, rafft er Geld, Uhr, Ringe, Bruſt - nadeln, welches der Reiſende gewöhnlich auf dem Tiſche neben dem Bette liegen hat, zuſammen, durchſucht auch die Kleidungs - ſtücke, auch wol die offene Schreibklappe oder Kommode, und geht, rückwärts, langſam und mit beſtändigem Morgengruß und Blick auf den Schläfer aus dem Zimmer, deſſen Thür er jedes mal wieder in die Falle klinkt. Der Reiſende, der etwa im Halb - ſchlummer und bei herabgelaſſenem Rouleau den Eintretenden hört, iſt gewohnt, daß früh morgens der Hausknecht die Kleider zum Reinigen abholt und wiederbringt2)Jn Privatwohnungen figuriren die Kaudemgänger vielfach als Stiefel - putzer mit Klopfſtock und Bürſte in der Hand. Dabei ſtehlen ſie den im Hauſe ſchon befindlichen wirklichen Stiefelputzern die oft nachläſſig auf den Hausfluren und Vorplätzen abgelegten Stiefel und Kleidungsſtücke, und fallen auf der Straße nicht beſonders auf, da früh morgens manche Leute der Art in den Straßen zu finden ſind., weshalb er meiſtens unbekümmert um die eintretende und dreiſt guten Morgen wün - ſchende Perſon bleibt. Jſt der Reiſende wach, und fragt er nach dem Begehr des Eingetretenen, ſo gibt er ſich für einen beſtellten185 Barbier, Leichdornſchneider, Lavementſetzer, Zahnarzt u. dgl. aus, und führt auch wol deshalb Scherbeutel, Beſteck oder Spritze bei ſich. Vielfach figuriren Frauenzimmer als Zefirgängerinnen, da nicht leicht von einem vorübergehenden Kellner oder Fremden angenommen wird, daß ein Frauenzimmer, ohne beſtellt zu ſein, zu ſo früher Zeit in ein Fremdenzimmer tritt, namentlich wenn ſie die Attribute einer helfenden Kunſt halb verhüllt blicken läßt, oder wo die Liederlichkeit eines Orts oder die Schamloſigkeit eines Wirths ſoweit gerathen iſt, daß feile Dirnen ungeſcheut in die Fremdenzimmer gehen und ſogar ſich anbieten dürfen. Unglaub - lich iſt es, wie beſtändig und wie viel durch das Zefirhalchenen in Gaſthöfen geſtohlen wird, und wie die Sorgloſigkeit der Wirthe ſo wenig auf den Ruf ihrer Gaſthöfe, auf den ſie ſonſt ſo über - aus eiferſüchtig ſind, in dieſer Beziehung Rückſicht nimmt, und ſo wenig für den vollſtändigen Schutz des Gaſtes thut. Die ge - druckten Affichen in den Gaſtzimmern, mittels welcher der Wirth ſich von ſeiner Haftung aus dem receptum cauponis bequem zu befreien ſucht, indem er ſich als beſonderer Depoſitar anbietet und nur als ſolcher haften will, können ihn rechtlich nicht von der all - gemeinen Haftung befreien, da der Gaſt ihm nicht allabendlich im Nachtkleide auch ſeine ihm für die Nacht unentbehrliche Uhr, oder ſeinen Geldbeutel und andere Werthſachen übergeben und von ihm einen Empfangſchein dafür fordern kann. Eine eigene ſichere Wache auf mindeſtens jedem Corridor, und die ſtrenge Ver - pflichtung derſelben, jeden einlaßbegehrenden Fremden zu beob - achten und dem Jnhaber des Zimmers zu melden, dürfte ſchon beſſere Abhülfe gewähren, und namentlich gegen die Gauner ſchützen, welche verkappt in demſelben Gaſthof logiren, des Nachts oder früh morgens Beſuche abſtatten und ſogar dabei den Nach - ſchlüſſel anwenden, wie das die Erfahrung häufig gezeigt hat. Am ſicherſten iſt es in Gaſthöfen, die Stube von innen abzu - ſchließen, den Schlüſſel im Schloſſe ſtecken zu laſſen und durch die Reithe des Schlüſſels die Spitze des mit einem Bindfaden an den Thürgriff zu befeſtigenden Stocks oder Schirms zu ſtecken, damit nicht der Schlüſſel von außen her mit einem Echeder oder186 einem gehärteten hohlen, inwendig ausgezahnten Schlüſſelrohr, das von den Makkenern feſt auf den Knopf des von innen ein - ſteckenden Schlüſſels geſetzt wird, herumgedreht und aus dem Schlüſſelloch in das Zimmer geſtoßen werden kann, um dem Klamoniſſ Platz zu machen. Hirt1) Der Diebſtahl, deſſen Verhütung und Entdeckung , ſ. d. Literatur. empfiehlt, S. 107 ſeines trefflichen Werkchens über den Diebſtahl, den auf Fußreiſen in zweifelhaften Dorfgaſthöfen logirenden Reiſenden, einen eiſernen Keil und eiſernen Winkel mit Schrauben zum Anſchrauben an Stubenthüren, welche kein Schloß und Riegel haben. So zweck - mäßig dieſe Vorrichtung auch erſcheint, ſo umſtändlich iſt doch immer die Anfertigung und der Transport. Ohnehin iſt man nicht vor der Reiſe von der Nothwendigkeit ihrer Anwendung unterrichtet, um dieſe Dinge anfertigen zu können, und zum Jm - proviſiren von Verſchlüſſen oder Mitteln zum Wecken iſt in jeder Lokalität genug Gelegenheit vorhanden, wie man ja denn durch Verſetzen der Thüre mit Stühlen, einer Bank, die man mit dem Schnupftuch oder einem Band oder Riemen feſt an den Thür - griff bindet, und vielleicht eine Flaſche oder Waſchſchale auf Stuhl oder Bank ſtellt, um durch deren Herabfallen aus dem Schlaf geweckt zu werden, ſeine Beſorgniß als Fußreiſender einigermaßen beſchwichtigen kann. Will man eine einfache mechaniſche Vor - richtung für aus - und einſchlagende Thüren, ſo genügen zwei eiſerne Ringſchrauben von der Geſtalt und Größe nachſtehender Figur:

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die man das Stück für einen halben Silbergroſchen in jedem Eiſenwaarenladen und ſogar bei jedem Landkrämer vorräthig findet, und in der Weſtentaſche oder am Schlüſſelbunde bequem führen kann. Die eine Schraube wird in die Thürzarge, die andere nahe dabei in die Thür ſelbſt geſchroben, und durch beide ein ſtarker187 Bindfaden gezogen. Fürchtet man ein Zerreißen oder Durch - ſchneiden des Bindfadens, ſo biegt man durch die eine Schraube einen kleinen eiſernen Haken, der bei einſchlagenden Thüren als Riegel ſich ſteift, bei ausſchlagenden Thüren als Haken bindet. Jedenfalls iſt dieſe Vorrichtung viel leichter herzuſtellen und auch behender zu transportiren, als die von Hirt vorgeſchlagenen eiſernen Keile.

Vierundſunſzigſtes Kapitel. 2) Die Erefgänger.

Die Erefhalchener1)Von〈…〉〈…〉 (erew), Abend und〈…〉〈…〉 (halach), gehen., Erefgänger, Erefhändler oder Tchilleshalchener2)Von〈…〉〈…〉 (techillo), der Anfang, nämlich des Abends, der Nacht., Tchillesgänger, Tchilleshändler ſind Kittenſchieber, welche zur Abendzeit in die Häuſer ein - ſchleichen. Mit Eintreten der Dunkelheit pflegt man vorſichts - halber die am lichten Tage bewachten und leicht zu beaufſichtigenden Hausthüren mindeſtens in die Falle zu legen, und ſich bei Ein - tritt eines Fremden auf die Hausthürglocke zu verlaſſen. Eine Hauptaufgabe und Uebung der Erefhalchener iſt daher, die Haus - thür ſo leiſe und vorſichtig zu öffnen, daß der oben an der Haus - thür befindliche eiſerne Arm an der in ſchwingender Feder hän - genden Hausthürglocke vorbeiſtreicht, die Glocke langſam zur Seite biegt, und daß nach Vorüberführen des Armes die Thür mit dem Arm gegen die Glocke gedrückt wird, um die beim Abgleiten des Armes entſtehende Schwingung der freigewordenen Glocke zu ver - hindern. Bei der ſchlechten Beſchaffenheit und Befeſtigung der in den Läden feilgehaltenen Glockenfedern iſt das geſchickte un - hörbare Oeffnen der Hausthüren auf dieſe Weiſe mit nur ge - ringer Uebung zu erlernen. Auch wird dies Oeffnen noch ſehr dadurch erleichtert, daß der Erefhalchener mit dem Stock unten in die Glocke faßt, ſie auf die Seite drückt und dadurch auch ihren188 Schall dämpft. Um dieſem Kunſtgriff zu begegnen, hat man die Federn von Hausglocken in einem platten Schlokaſten, über wel - chem die Glocke feſtſteht, ſo angebracht, daß die Feder in einen hervorragenden Arm ausläuft, der von einem andern an der Hausthür befeſtigten Arm geſtreift und zum ſtarken einmaligen Zurückſchlagen an die Glocke gebracht wird. Allein auch dieſe Vorrichtung reicht nicht aus, da der Federarm am Schloſſe mit einem Draht oder Stockhaken gefaßt und nach Oeffnen der Thür langſam zurückgeſetzt werden kann, ſodaß die Feder nicht auf die Glocke ſpringt. Aber auch abgeſehen hiervon gibt dieſe Vorrich - tung immer nur einen einzigen, häufig auch noch mit dem Stocke zu dämpfenden Klang, der namentlich bei dem Geräuſch eines vorüberfahrenden Wagens oder bei ſonſtigem Lärmen ſehr leicht überhört werden kann.

Zur weitern Vorſicht pflegt man abends die Hausthürkette überzulegen, um das willkürliche und heimliche Eintreten in das Haus zu verhindern. Dieſe Ketten haben ſoviel Spannung, daß ſie eine Bewegung der Hausthür zulaſſen, damit die Hausthür - glocke zum Klingeln gebracht werden und der Eintretende ſich bemerk - lich machen kann. Häufig ſind dieſe Ketten an ſich ſo ſchwach oder ſo ſchwach befeſtigt, daß ſie bei einem feſten Drucke nachgeben; auch laſſen ſie ſich oft mit der durchgeſteckten Hand abhaken, oder ſind zu lang, ſodaß eine ſchlanke oder kleine Perſon behende unter der Kette weg durch die klaffende Thür in das Haus gelangen und die Kette von innen abhängen kann. Man findet deshalb, daß die meiſten Tchillesgänger junge Dirnen und Buben ſind, die übrigens auch vielfach von Erwachſenen zum bloßen Durchkriechen und Abhängen der Kette verwandt und dann fortgeſchickt werden. Sehr oft werden dieſe Kinder aber auch unter die Ketten durch - geſchoben, um zunächſt zu erkunden, ob und welche Perſonen zu Hauſe ſind, und ob mit oder ohne Gewalt ein Diebſtahl aus - zuführen iſt. Die Anweſenheit ſolcher Kinder hinter zugehängten Hausthüren erheiſcht daher ſtrenge Aufmerkſamkeit. Bei einem Aufſtoß geben ſich die Tchillesgänger meiſtens für verſchämte Arme aus, oder fragen nach einem Rechtsanwalt, einem Arzt,189 einer Hebamme, irgendeinem Beamten, Geiſtlichen u. ſ. w., und ſind keck und verwegen genug, wie die Zefirgänger auf das Ge - rathewohl an Stuben - und Küchenthüren zu klopfen, und, wenn keine Antwort erfolgt, einzutreten und zu ſtehlen. Die bewährte - ſten Jndicatoren an Hausthüren werden dadurch hergeſtellt, daß man zwei hölzerne Scheiben von 6 8 Zoll Durchmeſſer mit 4 6 Zoll langen Stäbchen zu einem Cylinder verbindet, in den man einige gegoſſene Metallſchellen legt, den Cylinder über eine Welle ſteckt und eine an der Hausthüre befeſtigte Lothſchnur über den Cylinder laufen läßt. Bei jeder noch ſo langſamen Be - wegung der Hausthür rollen die Schellen durcheinander und machen ein lebhaftes Geräuſch, das dann erſt beſonders laut wird, wenn die Schnur bei der Hausthür abgeſchnitten werden ſollte, wogegen man ſich übrigens durch ein Drahtende an der Haus - thür verwahren kann. Dieſe Schellencylinder haben noch den Vortheil, daß ſie nicht unmittelbar an der Hausthür, wo ſie mit einem Haken oder Stock gehalten werden könnten, befeſtigt zu werden brauchen, ſondern weit nach der Mitte und hinten im Hauſe, oder durch Vermittelung von Rollen in jedem andern Theile eines Gebäudes angebracht werden können. Ueberdies läßt ſich die Lothſchnur, falls am Tage das Schellengeräuſch läſtig ſein ſollte, beliebig abhängen, und abends, oder wenn es gilt, wieder überlegen.

Fünfundfunfzigſtes Kapitel. 3) Die Kegler.

Eine beſondere Art der Kittenſchieber ſind ferner die Kegler, richtiger Gacheler, Gachler1)Das Wort iſt wol nur von dem hebräiſchen Stammwort〈…〉〈…〉 (gachal), er hat Feuer angezündet, wovon〈…〉〈…〉 (gecholim), brennende Kohlen, abzu - leiten; im Niederdeutſchen iſt der Ausdruck kakeln, mit Licht oder Feuer ka - keln, für ſpielen mit Licht, leichtfertig mit Feuer umgehen , ſehr gebräuchlich. Von den Schriftſtellern über Gaunerthum hat nur Falkenberg, a. a. O.,, auch Gackler, Kakler, die190 beſonders in die Küchen und Domeſtikenſtuben zu gelangen ſuchen, um das dort von den Domeſtiken nach dem Frühſtück, Mittags - oder Abendeſſen zum Reinigen hingelegte Silbergeräth zu ſtehlen, während die Bedienung noch mit dem Abhub in den Speiſezim - mern oder ſonſt außerhalb der Küche beſchäftigt iſt. Da offenbar hier faſt immer eine Nachläſſigkeit der Bedienung zu Grunde liegt, ſo muß darauf gehalten werden, daß der Domeſtik, dem das Silbergeräth anvertraut iſt, daſſelbe nicht aus den Augen läßt, bis er es gereinigt und an ſeinen angewieſenen Ort aufbe - wahrt hat.

Sechsundfunfzigſtes Kapitel. 4) Die Merchitzer.

Die verwegenſte Art der Kittenſchieber ſind die Merchitzer (von Merchaz, das Waſchen, die Wäſche, und dies von〈…〉〈…〉 [rachaz], er hat gewaſchen), auch Margitzer, Marchetzer, das heißt Hauseinſchleicher, welche ſich durch das ganze Haus hinauf - ſchleichen bis auf die Böden, wo ſie vorzüglich die zum Trocknen aufgehängte Wäſche ſtehlen. Gewöhnlich wird die vorn an der1)I, 74 fg., den Begriff Kegler mit ſpeciellem Bezug auf das Einſchleichen in die Küchen richtig aufgefaßt. Der Ausdruck Gackler mag vielleicht auch der Anlaß ſein, daß der Suppenlöffel mit den kleinern Eßlöffeln in der Gauner - terminologie als Glucke mit Kücken (Küchlein) bezeichnet wird. Die Kitten - ſchieber jedoch, welche in Cafés, Reſtaurationen und Wirthshäuſern für den Fall einer Viſitation, die von ihnen geſtohlenen Löffel, Meſſer und Gabeln mit einem Stück weichen Wachſes oder einem Streifen Pech - oder Heftpflaſter unter die Tiſchplatten oder Stuhlpolſter kleben, um ſie bei ſpäterm Wieder - kommen mitzunehmen, dürften jedoch wol nicht zu den Keglern zu rechnen ſein. Das Ankleben ſolcher geſtohlenen Sachen kann ſchon unbeſehens durch Rücken der nicht mit Rollen verſehenen Tiſche, oder durch einen Fauſtſchlag auf den Tiſch entdeckt werden, wobei die angeklebten Sachen leicht herunterfallen. Ueberhaupt möchten ſich aber auch ſchon in dieſer Rückſicht durchſichtige Rohr - geflechte auf Stühlen und Wandbänken in Cafés empfehlen.191 Treppe hängende Wäſche an ihrem Platz gelaſſen, damit man die hinten weggeſtohlene Wäſche nicht ſogleich vermiſſen kann. Die geſtohlene Wäſche wird in Bettſäcke gepackt und vom Merchitzer rückwärts die Treppe hinuntergetragen, damit er bei einem Auf - ſtoß ſogleich die Treppe hinaufſteigen kann, als ob er einen Packen bringen wolle1)Nur in Bezug auf dieſe Weiſe über die Treppen zu gehen und aufzu - halten wird der Kittenſchieber auch Hockweiler genannt. Eine eigene Klaſſe von Kittenſchiebern bilden aber die Hockweiler nicht. Einen pikanten Kitten - ſchub verübte einmal der Gauner William Getting bei einem Arzte in Wils - Cloſe. Getting hatte ein koſtbares Bett aus einer Bodenkammer des Arztes zuſammengepackt und fiel damit die Treppe hinunter. Er hatte, obgleich ſchmerzhaft gequetſcht, die Geiſtesgegenwart, dem mit ſeinem Sohn auf das Geräuſch herbeieilenden Arzte ein Compliment von einem Mr. Hugh Hen aus - zurichten, um ein Packet im Hauſe des Arztes einzulegen, wurde aber von dem Arzte, der den Mr. Hen nicht kannte, in vollem Zorne zur Thür hinaus - gewieſen, nachdem der Arzt dem Gauner den ſchweren Packen noch auf die Schulter geholfen hatte. Vgl. Smith, Straßenräuber , S. 567. fg., wobei er denn auch nach irgendeinem Namen fragt und ſich als irre gegangen gerne zurecht und aus dem Hauſe weiſen läßt. Jn den Bettſack wird denn auch alles mit hinein - gepackt, was im Hauſe dem Merchitzer ſich darbietet und der Mühe verlohnt. Die höchſt verwegene Art, das ganze Haus zu durchgehen bis auf den Boden, hat den Namen Merchitzer zu einem allgemeinen Ehrennamen gemacht, mit welchem der Gauner jeden raffinirten und beſonders geſchickten Genoſſen belegt, wenn er auch nicht ſpeciell das Wäſcheſtehlen betreibt. 2)Daher im norddeutſchen Volksmunde, zur Bezeichnung vorzüglicher Befähigungen und Eigenſchaften, die Redensart: Der (das) hat ſich ge - waſchen , das heißt, der iſt ganz vorzüglich, tüchtig, gerieben.

Wie endlich der Kittenſchub, je nachdem er in der Stadt oder auf dem Lande gehalten wird, als Kittenſchub in Mokum, oder auf der Medine unterſchieden wird, ſo gibt es auch Kaudem - halchener, Zefirgänger, Tchilleshalchener, Erefgänger und Kegler in Mokum oder auf der Medine, je nachdem zur Morgen - oder Abendzeit in der Stadt oder auf dem Lande, in einer oder der andern Weiſe, Kittenſchub gehalten wird. Jm Uebrigen192 vergleiche Kap. 68, vom Stradehalten, und S. 121: Schuck - abhalten, ſowie das Wörterbuch.

Siebenundfunfzigſtes Kapitel. d) Das Schottenfellen.

Schottenfellen (Schautenfällen) von〈…〉〈…〉 (schoto), närriſch werden, wovon Schote, Schaute, der Narr, und dem wahrſcheinlich aus dem Lateiniſchen fallere herzuleitenden fällen1)Vgl. Stieler, Sprachſchatz , S. 424 u. 425, und Schottelius, a. a. O., S. 1312. (wovon Falle), herabwerfen, fangen, betrügen, alſo eigentlich Narren - betrug iſt das Stehlen von Waaren aller Art2)Thiele, a. a. O., I, 87, beſchränkt irrig das Schottenfellen auf die Entwendung von Schnittwaaren. Aber auch das Stehlen von allen andern Waaren, Gold - und Silberſachen, kurzen Waaren, Lebensmitteln u. ſ. w. aus Läden und Buden iſt Schottenfellen, wenn es im Laden vor den Augen des Verkäufers während des Behandelns geſchieht. Falkenberg, a. a. O, I, 48, Kap. 3, von Marktdieben, hat dieſe Beſchränkung nicht, ſon - dern bezieht das Schottenfellen auf das allgemeine Stehlen von Waaren auf Jahr - und Wochenmärkten, beſonders in Kaufmannsläden. Derſelbe führt auch noch die im Publikum gebräuchlichen, jetzt veralteten oder nur noch an einzelnen Plätzen üblichen bezeichnenden Ausdrücke Weiskäufer und Frei - käufer für Schottenfeller an, welche jetzt in der Ueberſetzung Lowenſchurer unter den Gaunern aufkommen; vom Jüdiſch-Deutſchen lowon, weiß, und dem Zigeuneriſchen tschorr, Dieb. in offenen Han - delsläden, Gewölben, Buden, Boutiquen vor den Augen des Verkäufers und während des Beſehens und Behandelns von Waaren; Schottenfeller, der Dieb, der auf die angegebene Weiſe ſtiehlt.

Das Schottenfellen iſt eine ſchwere Steuerauflage, unter deren Druck die Kaufleute und Detailiſten ganz außerordentlich leiden. Die jährliche Ausbeute der Schottenfeller iſt ungeheuer, obſchon die von den Schottenfellern mit dem keineswegs ſchmeichelhaften Namen Schaute belegten Kaufleute ungern geſtehen mögen,193 daß ſie in ihrer unmittelbaren Gegenwart und vor ihren Augen ſo arg beſtohlen werden, wobei ſie den unleugbar vorhandenen Lagerdefect bei der Jahresinventur auf jegliche andere Urſache ſchieben, als auf das Schottenfellen. 1)Oft haben mir Kaufleute mit großer Zuverſicht ausgeſprochen, daß es ganz unmöglich ſei, in ihrem Laden beſtohlen zu werden, da ſie mit ihren Commis beſtimmte Zeichen verabredet hätten, um gegenſeitig die beſondere Auf - merkſamkeit auf verdächtige Jndividuen zu lenken. Dahin gehört das Zurufen einer ſcheinbaren Packſignatur, wie z. B. D. C. S. Die Canaille ſtiehlt! oder P. A. D. C. Paß auf die Canaille! u. dgl. Aber die raffinirten Schottenfeller geben ſich gerade das unverdächtigſte Aeußere, wiſſen ſehr genau, was alle jene Zurufe zu bedeuten haben, und verdoppeln dabei nur ihre Ge - ſchicklichkeit erſt recht aus Uebermuth.Kein Jnduſtriezweig des Gaunerthums hat ſich in das Handelsleben ſo tief und unſchein - bar eingebürgert wie das Schottenfellen, das ebenſo gut unter der Maske einer ſchlichten Bürgerfrau und manierirten Gouvernante betrieben wird, welche Leinwand zu einer Schürze oder ein ſeidenes Kleid kaufen, als von der Baronin oder dem Grafen, welcher in der Equipage vorfährt und um die theuerſte Waare handelt. Das Schottenfellen hat keinen ſichtbaren techniſchen Apparat, keine Ge - waltthätigkeit, keine andere Manipulation als das geſchickte, heim - liche Verſchwindenmachen unter dem Gange des alltäglichen Scheins, Geſprächs und Handelns. Dieſer Umſtand gerade iſt es, der dem Verkäufer noch immer Vertrauen zu rechtlicher Kund - ſchaft und dem Schottenfeller ſo große Sicherheit gibt, daß er ſchon bei einiger Uebung und Erfahrung den Vertuſſer oder Schre - kener ganz beiſeite läßt, und auf eigene Hand und Gefahr Schätze aus den Läden hebt, die in das Unglaubliche gehen, und von deren Größe man eine Ahnung bekommen kann, wenn man auf die Spottpreiſe ſieht, für welche eine Unzahl der verſchieden - ſten Waaren aus den Läden wie auf der Hauſirkarre, unter der Hand, durch beſondere Gelegenheit, unter Einkaufspreis, im Ausverkauf, als Bergegut, aus Aſſecuranzauction , oder wie ſonſt die Redensarten lauten, verkauft wird.

Beſonders wird von Frauenzimmern das Schottenfellen be -Avé-Lallemant, Gaunerthum. II. 13194trieben. Die meiſten weiblichen Gauner ſind Schottenfellerinnen. Doch vernachläſſigen die Männer keineswegs dies ergiebige Ge - werbe. Gewöhnlich geht der Schottenfeller in Begleitung eines oder mehrerer Genoſſen in die Läden. Der Routinirte iſt ſich indeſſen ſelbſt genug. Sein Aeußeres iſt mindeſtens ehrbar und anſtändig. Er begehrt dies oder jenes zu kaufen, läßt ſich vom Kaufmann die Waaren in verſchiedenen Qualitäten und Muſtern vorlegen, prüft, macht Ausſtellungen, lobt, handelt, kauft, und bezahlt auch etwas, verlangt noch mehr, und beſchäftigt die Auf - merkſamkeit des Verkäufers, der ſich bei Vorlage der verſchiedenen begehrten Waaren von einem Waarenfache zum andern tummeln, bald ſich bücken und bald dem Käufer den Rücken zuwenden muß. Dieſen Moment nimmt der Schottenfeller wahr, um unvermerkt Waaren vom Ladentiſch in ſeine Taſche gleiten zu laſſen, was um ſo unvermerkter und leichter gelingt, je mehr er den Tiſch zwiſchen ſich und dem Verkäufer voll Waaren hat aufhäufen laſſen.

Zum Verbergen der Waaren an ſeinem Leibe hat der mit einem Mantel, Sackrock, Paletot, oder langem Ueberrock bekleidete Schottenfeller in dem Unterfutter des Bruſttheils und der Schöße ſeiner Oberkleidung weite und lange Taſchen (Golen, Fuhren) in welche ſich eine Menge Packete verbergen laſſen. Um das ſchwere Herunterhängen der Oberkleidung zu vermeiden, wodurch Verdacht entſtehen könnte, fangen die Schottenfeller an, wie die Matroſen, um den Leib einen Gurt mit einem kleinen Ringe an der Seite zu tragen, in den ein an der Taſche befindlicher Haken gehängt wird, ſodaß der Rock frei und leicht herunterfallend bleibt und vorne ſogar aufgeknöpft werden kann, wenn auch die Taſche ſchwer gefüllt iſt. 1)Somit braucht der Vertuſſer nicht mehr wie früher hinter oder zur Seite des Schautenpickers zu gehen, um ſeine bauſchende und hängende Ober - kleidung vor den Augen des Nachblickenden zu verdecken. Dieſe früher durch - gehends gebräuchliche Weiſe, welche zu bekannt und daher zu gefährlich geworden iſt, mag beſonders auch darum abgeſchafft ſein, weil bei der Kennt -Die weibliche Kleidung iſt noch geeigneter,195 ſolche Golen zu verbergen. Gewöhnlich werden zwei Unterröcke zur Gole zuſammengenäht und vorne im faltenreichen Oberkleide und im Unterrocke wird ein langer Schlitz gelaſſen, um die Waare einſtecken zu können. Doch tragen auch erfahrene Weiber, beſon - ders wenn ſie Nachjagd fürchten, ſehr häufig eine eigene ſackartige, aus einer doppelten Schürze zuſammengenähte, mit einem Schlitz und oben mit einem ſtarken Bande zum Vorbinden um den Leib verſehene Gole, weil dieſe den Vortheil hat, daß ſie raſch abge - worfen, verſarkent werden kann, wenn die Schottenfellerin ſich bei Verdacht oder Verfolgung koſchern will. Meiſtens figuriren die Schottenfeller als Standesperſonen, laſſen die behandelten Waaren, von denen ſie häufig, namentlich wenn ſie meinen, ver - dächtig angeſehen zu werden, einen Theil bezahlen, zur Aufbe - wahrung bis auf den andern Tag, oder zur Abſendung in einen anſtändigen Gaſthof zurück, entfernen ſich mit aller Unbefangen - heit, verſprechen das Geld dem Ueberbringer der Waaren im Gaſt - hofe auszuzahlen, und erſuchen dazu immer, eine quittirte Rech - nung mitzuſchicken.

Um ganz ſichern Vertuſſ, namentlich in größern Handlungen, zu machen, wo mehrere Verkäufer hinter dem Laden ſtehen, geht der Schottenfeller mit einem Chäwer, zu dem auch, je nach Ge - legenheit, noch ein dritter oder vierter nach und nach, wie durch Zufall, hereintritt, ohne daß einer die Bekanntſchaft mit dem andern irgendwie verräth, in den Laden. Bei dieſer Verbindung macht der eine den Vertuſſ, indem er des Kaufmanns Aufmerkſamkeit feſſelt, weshalb er auch Vertuſſer oder Schrekener1)Die Ableitung bei Thiele, I, 299, von〈…〉〈…〉 (sorak), werfen, iſt nicht richtig. Vgl. oben das Zinkenen, Kap. 13. Auch wird das Zeitwort ſri - kenen niemals als Tranſitivum gebraucht; vgl. Thiele, S. 311, ſowenig wie der Gauner ſagt: Jemanden vertuſſen., Sri - kener, Schmuſer (Sprecher) genannt wird, während der Be -1)lichkeit des gelungenen Diebſtahls die Schottenfeller gewöhnlich ſogleich von Schärfenſpielern und Brennern auf zudringliche Weiſe beläſtigt und der Gefahr ſofortiger Entdeckung ausgeſetzt wurden.13 *196gleiter als Schautenpicker1)Von Schaute, Narr (ſ. oben), und picken oder bicken, aufpicken, wie die Vögel die Körner aufpicken, eſſen, verſpeiſen, genießen. handelt, d. h. die zur Hand liegenden Waaren ſtiehlt und verbirgt. Hat der Schautenpicker den Maſſe - matten gehandelt, ſo gibt er dem Schrekener einen Zink, worauf ſich beide auf gute Manier entfernen. Vielfach nehmen die Schot - tenfellerinnen außer männlicher Begleitung auch wol eine Geſell - ſchafterin, Kammerjungfer, oder am liebſten eine als Amme coſtü - mirte Genoſſin mit einem Kinde zum Vertuſſen mit. Die Amme hat häufig die Aufgabe, durch geheime Mishandlung das Kind zum Schreien zu bringen, damit die Aufmerkſamkeit des Verkäu - fers auf Kind und Amme gerichtet wird und die angebliche Herr - ſchaft unterdeß als Schautenpicker agiren kann. Das ſpielende oder weinende Kind wird von der Amme tändelnd auf den Laden - tiſch geſetzt, wo es mit ſeinem langen Kleide ein Waarenpacket bedeckt, das dann mit dem Kinde aufgenommen und von deſſen weiten Kleide vollkommen bedeckt wird. Auch größere Kinder werden zu Unarten, Albernheiten und Unfug abgerichtet, um da - durch Vertuſſ zu machen. Von der Schottenfellerin wird auch wol in gleicher Abſicht eine verabredete Ohnmacht affectirt, wie denn die Verſchlagenheit der Gaunerei unzählige Situationen her - beizuführen und auszubeuten verſteht, die immer neu und originell ſind. 2)Zu den ſchon früher angeführten Beiſpielen nur noch einen Zug von einer der größten Gaunerinnen, die mir bisjetzt vorgekommen ſind. Jn einer bedeutenden Seidenhandlung hatte ſie einmal als Baroneſſe n für nahe an 300 Thaler gekauft, eine Kleinigkeit bezahlt, und gebeten, die Waaren bis zum andern Tage zurückzulegen, wo ſie mit ihrem Manne, dem Baron, kommen und bezahlen wolle. Andern Tags kam ſie allein wieder, gab vor, daß ſie noch einiges kaufen wolle, ehe ſie morgen mit dem Baron komme, und erhandelte noch ſo viel, daß die Rechnung auf 300 Thaler completirt wurde. Bei dieſem letztern Beſuche däuchte es dem Kaufmann, als ob die Baronin ein Packet Seide unter dem Mantel habe. Er faßte die Dame ſchärfer ins Auge, und da einer der Ladendiener auch einige auffällige Bewegungen in der Haltung der Käuferin bemerkt hatte, näherte ſich dieſer derſelben ſogar mit vorſichtiger Betaſtung ihres Mantels. So heimlich dies auch geſchah, ſo entging es doch der Käuferin nicht. Mit Empfindlichkeit redete ſie den Kaufmann an: JchKleinere Packete werden auch in die wie unabſichtlich197 auf den Ladentiſch gelegten Muffe, oder in Schachteln und Körbe mit doppeltem Boden geſteckt. Auch werden in den gegen die Ladentiſche geſetzten Regenſchirmen, ſeitdem ſtatt der äußerlichen runden Schiebringe zum Zuſammenhalten des Schirms, oben unter die Griffe Schnappfedern angebracht ſind, welche in den Schieber ſpringen und das Auseinanderfallen des Schirms verhindern, während der ſchlotternde Ueberzug eine Menge faltiger Diebs - taſchen bildet, unglaublich viel Waaren weggetragen, wie mir denn ein Fall vorgekommen iſt, in welchem eine Schottenfellerin zwei ganze Stücke Wollmuſſelin, jedes von einigen dreißig Ellen, in ihrem Regenſchirm aus einem Ausſchnittladen davongetragen hatte. Die neuere Mode der weiten Rockärmel, mit locker gehef - teten weiten Manſchetten, dient ebenfalls den Schottenfellern zu geheimen Taſchen für kleinere Waare, namentlich Gold - und Silberſachen. Zu gleichem Zwecke dienen kleinere Taſchen inner - halb der Halsbinden, unter dem Rockkragen, innerhalb der Weſte, hinter dem Vorhemde, und zwiſchen den gefütterten Hoſenträgern. Kleinere werthvolle Gegenſtände werden von Schottenfellerinnen auch wol heimlich auf die Erde geworfen, mit den Zehen geſchickt gefaßt und in den Schuh gelegt. Viele Schottenfeller beſitzen2)weiß nicht, wie man dazu kommt, mich ſo verdächtig zu betrachten und zu be - handeln. Sie ſind ſchon ein älterer Mann, und weil ich als Frauenzimmer mich offener gegen ſie ausſprechen kann, als gegen die anweſenden jungen Leute, oder in deren Gegenwart, ſo muß ich Sie bitten, mich in ein beſonderes Zimmer zu führen, wo ich mich offen gegen Sie ausſprechen werde. Der Kaufmann führte die Dame höflich in ein Zimmer, woſelbſt ſie ihm entdeckte, daß ſie ſich augenblicklich in einer Situation befinde, in der das Reißen einer Leibbinde ſie doppelt verlegen mache. Nach einem flüchtigen Arrangement er - bot ſich die Dame ihre Kleider viſitiren zu laſſen, hob einen Theil auf, reichte den abgenommenen Mantel dem Kaufmanne dar, der mit vielen Entſchul - digungen und unter Ablehnung der weitern Unterſuchung die Dame aus dem Hauſe begleitete, jedoch noch immer nicht den Argwohn unterdrücken konnte und kurze Zeit darauf die Hülfe der Polizei in Anſpruch nahm, die noch den - ſelben Abend ermittelte, daß die verſchlagene Schottenfellerin vor den Augen des Kaufmanns nicht nur das unter dem Mantel erblickte Stück Seidenzeug, ſondern auch drei verſchiedene andere Stücke Seidenzeug und ein ganzes Stück Mouſſeline de laine geſtohlen und in ihre Gole prakticirt hatte.198 auch die angeübte beſondere Geſchicklichkeit, mit einem zwiſchen die Schenkel geſteckten Packete nicht nur behende gehen, ſondern auch ſogar laufen zu können. Die Schottenfeller, welche auf dieſe Weiſe Waaren transportiren, werden Rachwener (Reiter) ge - nannt, von〈…〉〈…〉 (rachaf), er hat geritten.

Je lebhafter der Verkehr in einem Laden, je dichter das Ge - dränge vor Meß - und Jahrmarktsbuden iſt, deſto leichter gelingt es dem Schottenfeller, Waaren von den Verkaufs - und Schau - tiſchen herabzulangen und in die Gole zu ſtecken. Man kann nun vom Kaufmann, deſſen ganze Aufmerkſamkeit beim Verkaufe begreiflich nur eine ſehr materielle Richtung hat, nicht verlangen, daß er pſychologiſche Beobachtungen anſtellt: inzwiſchen muß ihm doch jeder geſchwätzige Fremde, der viel zu ſuchen und zu mäkeln hat, als verdächtig erſcheinen, namentlich wenn er die er - handelten Waaren nicht gleich bezahlt, ſondern zurücklegen läßt. Gewöhnlich zieht der Schottenfeller gleich anfangs, ſobald er ſich Waaren vorlegen läßt, den oft mit Kupfermünzen oder Jetons ſtark gefüllten Geldbeutel, und legt ihn auf den Ladentiſch, theils um mit einer wohlgefüllten Börſe zu prahlen, ganz beſonders aber, um nicht beim Hineingreifen in die Beinkleidertaſchen, wenn er etwas bezahlt, den Rock zurückſchlagen zu müſſen und die gefüllten Golen im Unterfutter zu zeigen. Meiſtens führen die Schottenfeller daher auch das Portemonnaie oder den Geldbeutel in der Bruſt - taſche, und das Hervorlangen deſſelben aus letzterer macht ſchon immer verdächtig. Die niedrigen, höchſtens 36 42 Zoll hohen Ladentiſche begünſtigen aber auch das heimliche Wegziehen der Waaren ungemein, indem mit Händen, Unterarm und Elnbogen beim Ueberbeugen über den Ladentiſch leicht ein Stück Waare zwiſchen die Schenkel, oder gar ſchon direct in die Gole des Schot - tenfellers geſchoben werden kann. Reichen die Ladentiſche nur etwas über die Elnbogenhöhe eines erwachſenen Menſchen hin - aus, was ohnehin das Bücken erſpart, und das Beſehen der Waare erleichtert, ſo kann der Unterarm nicht leicht ohne augen - fällige Bewegung des Oberarms agiren. Namentlich iſt dann der Mantel dem Schottenfeller hinderlich. Aus einer Erhöhung199 der Ladentiſche entſpringt für den Kaufmann die Bequemlichkeit, daß er unter ihnen weite und geräumige Fächer einrichten kann zur Aufnahme von Waaren, welche mit den in den hohen Wand - fächern gegenüber befindlichen correſpondiren, ſodaß er ſich nicht nach den Wandfächern umzudrehen braucht, ſondern das in letztern Bemerkte und Verlangte ſogleich auch unter dem Ladentiſch her - vorlangen kann, ohne den verdächtigen Käufer aus den Augen zu laſſen. Unerlaßlich iſt aber an Ladentiſchen die Anbringung eines Geſimſes, einer Leiſte oder eines kleinen Geländers von etwa 1 2 Zoll Höhe, auf der Seite, wo der Käufer ſteht. Die etwaige Unbequemlichkeit läßt ſich durch geſchmackvolle Zierlichkeit der Anlage ausgleichen. Der Schottenfeller hebt niemals ein Stück Waare vom Ladentiſch, ſondern bringt es mit der Hand oder dem Unterarm zum Gleiten auf der glatten Fläche, indem er es leiſe zupft oder ſchiebt. Jſt eine kleine Leiſte vorhanden, ſo muß er das Stück heben und ſeine Manipulation ſchon bemerkbarer machen. Sehr zweckmäßig iſt es, die Stücke aller weichen Stoffe, wie das meiſtens auch ſchon bei den franzöſiſchen Seidenſtücken geſchieht, auf dünne Bretchen oder ſtarke Pappen zu wickeln, weil dann die Stücke, anſtatt auf der Käuferſeite ſchlaff herunterzuhängen, beim Herab - zerren, der Steifigkeit wegen, aufſchlagen, und viel ſchwieriger vom Tiſch in die Gole zu bringen ſind. Paſſend an den Wänden an - gebrachte und nicht durch Waaren verdeckte Spiegel und Spiegel - ſtreifen, wie man ſolche mit Geſchmack und Geſchick in den Ge - ſimſen der Wandrepoſitorien anbringen könnte, ſodaß der Kauf - mann den Käufer mit ſeinen Bewegungen im Auge zu behalten vermag, wenn er ihm auch den Rücken zuwendet, dürften dem Kaufmann manchen Verluſt erſparen. Gardinen an Ladenfenſtern ſind geradezu Lockungen für Schottenfeller, die am liebſten ſolche Läden aufſuchen, deren Fenſter mit Gardinen und zur Schau ge - ſtellten Stoffen verdunkelt ſind. Erfahrene Kaufleute laſſen minde - ſtens die obere Hälfte der Fenſter frei, und hängen dabei nur dünne durchſichtige Stoffe nach oben. Wer übrigens ſeine Waaren auf der Käuferſeite, oft ſogar an, oder in und außerhalb der200 Thüre aufhängt, dem möchte es eine nicht unverdiente Strafe ſeiner Nachläſſigkeit ſein, wenn er beſtohlen wird. Die erfahrenen Schottenfeller wenden ſolchen bis zur Thür drapirten Läden mit beſonderer Vorliebe ihre Aufmerkſamkeit zu, nicht ſo ſehr um die draußen hängenden, oft unbedeutenden Waaren zu ſtehlen, als darum, weil ſie in dieſer Ausſtellung, oft wol nicht mit Un - grund, einen ſorgloſen Verkäufer erblicken, bei dem ſchon etwas zu unternehmen iſt. Jn der Meſſen - und Jahrmarktszeit, oder wo ein lebhafter Ladenverkauf iſt, lohnt ſich die Anſtellung eines Portiers und anderer Bedienung im Laden, zur Aufbewahrung von Schirmen und zu ſonſtigen Handreichungen auf der Käufer - ſtelle überreichlich, wie mir das auch ſchon mit Dank für den gegebenen Rath ausgeſprochen iſt.

Auch in Gold - und Silberläden, Conditorläden, Delicqteſſen - läden1)Namentlich von jungen Burſchen und Dirnen wird beſonders abends in der Meſſen -, Jahrmarkt - und Weihnachtzeit außerordentlich viel Naſchwerk geſtohlen, während mehrere zugleich in die Läden treten und für eine Kleinig - keit, dieſer das und jener etwas anderes, zu kaufen begehren. Mir ſind ganze Banden von Burſchen dieſer Art vorgekommen, die auch in die Jahr - marktsbuden geſchickt um die Ecken langen konnten, während der Genoſſe den Verkäufer mit dem Ankauf einer Kleinigkeit beſchäftigte. u. ſ. w. wird der Verkäufer hinter ſeinem Ladentiſche als Schaute behandelt und mit derſelben Frivolität und Virtuoſi - tät beſtohlen, wie in den Ausſchnittläden. Gewöhnlich bietet dabei des Abends die helle Erleuchtung der Läden Gelegenheit, den günſtigen Moment von außen durch das Fenſter zu erſpähen, bevor der Schottenfeller in den Laden tritt.

Achtundfunfzigſtes Kapitel. e) Das Chalfenen.

Chalfenen2)Vom hebräiſchen〈…〉〈…〉 (chalaf), er hat gewechſelt, vertauſcht, von Klei -, oder Chilfen und Chillefen, jüdiſch-deut - ſcher Ausdruck für wechſeln im gewöhnlichen guten Sinne, iſt in201 der Gaunerſprache das Stehlen von Geld bei einem Geldwechſel - geſchäft vor den Augen des Wechslers, entſpricht alſo dem Schot - tenfellen. Chalfan, Chalfen, Chilfer iſt der Wechsler, jedoch in der Gaunerſprache nur der Wechsler, welcher beim Wechſeln ſtiehlt, nicht etwa der beſtohlene Kaufmann oder der Bankier, obwol Chalfen im Jüdiſch-Deutſchen immer auch der Wechsler im guten Sinne iſt. Jn der deutſchen Gaunerſprache wird auch der Aus - druck Linkchalfenen, Linkchalfen gebraucht, wobei die Silbe link den Betrug, den Diebſtahl beſonders bezeichnet. Auch iſt der Ausdruck Linkwechſeln, Linkwechsler als deutſche Ueber - ſetzung von Chalfenen, Chalfen, unter den Gaunern gebräuchlich.

〈…〉〈…〉Das freche Manöver des Chalfen beſteht darin, daß er den Wechsler dahin bringt, ihm einen Haufen Geld, beſonders Gold, vorzulegen, aus welchem er vor dem Auge deſſelben heimlich Goldſtücke herausſtiehlt. Zu dieſem Zwecke geht der Chalfen als ehrſamer Landmann, Viehhändler, als anſtändiger Kaufmann, Offizier, Baron u. ſ. w., zum erkorenen Kaufmann an das Comp - toir oder vor den Laden, und bittet, ihm ein beſtimmtes Gold - ſtück, Dukaten, Louisdor, gegen Silbermünze, die er, oft mit dem Anerbieten eines guten Agios, ſofort aufzählt, wechſeln zu wollen. Eine beſcheiden und freundlich vorgebrachte Bitte ſchlägt man nicht füglich ab; der Kaufmann gibt das gewünſchte Stück Gold her, bei deſſen Anblick der Chalfen bittet, ihm doch ein anderes Gold - ſtück, etwa einen Jmperialen, Napoleondor, holländiſchen oder däniſchen Dukaten u. ſ. w., kurz ein Stück Gold von anderm Ge - präge als er erhalten hat, zu wechſeln. Der gefällige und arg - loſe Kaufmann durchſieht ſeinen Vorrath und ſchüttet die Kaſſe aus auf den Tiſch, um das bezeichnete Goldſtück zu ſuchen. Dies iſt gerade das, was der Chalfen will. Jm ſcheinbaren Suchen nach der verlangten Münze fährt er ſortirend und emſig forſchend im Goldhaufen mit dem Zeigefinger umher, und weiß durch raſches2)dern, Geld. Davon gechalfent, gewechſelt; einchalfenen, einwechſeln; ver - chalfenen, verwechſeln; Chalfan, Chalfener, der Wechsler; Chilluf, der Wechſel, der Tauſch; Chillufkeſſaf, der Wechſel, die Wechſelverſchreibung.202 und geſchicktes Schnellen ein Goldſtück nach dem andern gegen den Daumen, und mit Hülfe des letztern gegen den halb und beweglich gekrümmten Mittelfinger und ſodann unter den loſe geſchloſſenen vierten und fünften Finger zu bringen, welche die in die Hand geſchnellten Geldſtücke feſthalten. 1)Das Manöver, das eigentliche Stippen, iſt ganz einzig in ſeiner Art und gar nicht zu beſchreiben. Man hat früher wohl geglaubt, daß die Chalfen Pulver von Kolophonium oder Gummi arabicum in der Weſtentaſche führten, oder auch die Fingernägel eigenthümlich ſchnitten. Dem iſt aber nicht ſo. Die Finger ſind ganz frei und die Nägel gewöhnlich geſchnitten. Auch ſtiehlt der Chalfen nie ein Stück, das flach auf dem Tiſch liegt, ſondern immer aus dem Haufen, wo alſo das Geld hoch oder hohl liegt. Die ganze Fertig - keit beſteht in der Schnellkraft des Zeigefingers und des Daumens und in der helfenden Bewegung des Mittelfingers, welcher der nächſte eigentliche Empfänger des Geldſtücks iſt, und mit dem Daumen auf einen Moment zuſammenfällt. Nur ein einziges mal iſt es mir mit unſaglicher Mühe, und weſentlich durch Stimuliren der Eitelkeit eines gefangenen Chalfen gelungen, das Manöver zu ſehen, das mit Blitzesſchnelle geſchieht und außerordentliche Uebung erfordern muß. Merkwürdig iſt, daß man niemals von andern als jüdiſchen Chalfen hört. Es gibt Chalfen, die ſogar mit beiden Händen chalfenen können. Der 1707 zu London gehenkte John Hall chilfte in der Weiſe, daß er ſich gegen Goldſtücke kleine Silbermünzen geben ließ und beim Aufzählen der letztern mehrere Stücke in die flache Hand zu kleben wußte. Verſuche der Art ſind auch neuerdings vorgekommen und entdeckt worden.Uebung und Ge - ſchicklichkeit machen dies Manöver ſo behende wie unmerklich. Eine weſentliche Förderung dabei iſt aber die Stellung des Chalfen, der ſtets ſo ſich hinſtellt und die Hand ſo hält, daß der Be - ſtohlene ihm nicht in und unter die Hand ſehen, ſondern nur die obere Handfläche von der Seite des kleinen Fingers her überblicken kann. 2)Mir iſt ein Chalfen vorgekommen, der auf ſehr verwegene Weiſe in einem Materialwaarenladen hannöveriſche Thaler mit gutem Agio gegen klein Courant wechſelte. Der Kaufmann öffnete bereitwillig ſeine Kaſſenſchub - lade unter der Platte des Ladentiſches. Der Chalfen lehnte ſich über den breiten Ladentiſch hinweg über die offene Schublade und ſtahl, wie ſpäter her - auskam, in dieſer gewagten Stellung, in welcher der argloſe Kaufmann minde - ſtens doch den Daumen theilweiſe erblicken mußte, indem er ſich ebenfalls über die Schublade beugte, vier Thalerſtücke in einem Momente.Hat der Chalfen auf dieſe Weiſe geſtohlen, ſo leert er die Hand in eine Taſche, zum Schein nach der Börſe,203 der Uhr, Doſe, dem Taſchentuche oder dem Schnupftuch grei - fend. 1)Falkenberg, I, 64, erwähnt noch von eigenen Taſchen, innerhalb der Rockärmel, in welche die Goldſtücke geſchnellt werden. Dieſe Weiſe iſt jedoch unzuverläſſig und zu gewagt, auch deshalb wol nie recht in Gebrauch gekommen, wie das plumpe Hineinwerfen in Hut oder Stiefel; mindeſtens habe ich davon nie etwas ſelbſt erfahren oder geleſen.

So verwegen und gefährlich dieſer Diebſtahl iſt, ſo häufig gelingt und ſo gewinnbringend iſt er. Die Sicherheit des Chalfen wird aber noch geſteigert durch die leichte Möglichkeit ſich zu ko - ſchern, indem er das Geſtohlene dem Kaufmanne behende wieder zuplantet, d. h. wieder in den Geldhaufen fallen läßt, über wel - chem er die Hand hält, in dem Augenblick, wo der argwohn - ſchöpfende Kaufmann rückſichtslos und raſch die Hand des an - ſtändig gekleideten Fremden feſthält, welches das einzige, aber auch bei der angegebenen leichten Möglichkeit des Zuplantens ge - wagte und compromittirende Mittel iſt, den Chalfen zu entlarven, der ſonſt ſchon längſt fort iſt, wenn der Kaufmann ſeine Kaſſe überſchießt und ſeinen Verluſt bemerkt. Wird der Chalfen ange - halten, und kann er den Diebſtahl nicht verſtecken, ſo hat er in der Regel vergoldete Jetons zur Hand, die er dem Kaufmann vor die Füße oder gar ins Geſicht wirft, der nun lieber ſein Geld aufzuſammeln, als den ſich losreißenden und davoneilenden Chal - fen zu verfolgen ſucht.

Sieht der Chalfen, daß der Kaufmann eine Geldrolle zum Wechſeln anbricht, alſo die Stückzahl in der Rolle weiß, oder merkt er, daß der Kaufmann den Beſtand ſeines herbeigeholten Geldbeutels kennt, ſo bittet er ihn, das Geld zu zählen und ab - gezählt und eingeſiegelt für ſeine Rechnung bis zum andern Tage, wo er ſeine Kaſſe bringen will, aufzuheben. Geht der Kaufmann darauf ein, ſo weiß der Chalfen bei dem Zuzählen, der Zwiere2)Zwiere, verdorben, von Sſfire, auch Sſippur, jüdiſch-deutſch die Zahlung, von〈…〉〈…〉, er hat gezählt, wovon ſſippern, zippern, zwie - ren, zählen., des einzuwechſelndes Geldes einen Theil wegzuchalfenen, ſei es,204 daß er das Geld ſelbſt nachſchießt, oder auch nur ſonſt hülfreiche Hand beim Einwerfen in den Geldbeutel leiſtet.

Erfahrene Kaufleute, namentlich Wechsler, wiſſen ſchon; wen ſie vor ſich haben, wenn ein Fremder nach einem beſtimmten Goldſtück fragt. Sie laſſen ſich daher nicht auf das Geſchäft ein, oder ſie nehmen das Silbergeld mit dem Agio, geben das Gold ab und zeigen ihren Vorrath weiter nicht. Deſto ſchlimmer ergeht es aber den Unerfahrenen, namentlich Frauenzimmern, welche in Putz - und Modeläden, Conditorläden u. dgl. als Verkäuferinnen die verſchiedenſten Geldſorten einnehmen, und nebenbei nicht gleich - gültig gegen die Galanterien höflicher Chalfen bleiben. Auch den Landleuten und Viehhändlern auf den Korn -, Woll - und Vieh - märkten werden von Chalfen oft ganz bedeutende Summen ab - gechilft, da auch ſie das angebotene hohe Agio nicht gern ver - ſchmähen. Der Gewinn, den der Chalfen von ſeinem Handel zieht, iſt enorm, weil er meiſtens in Gold Geſchäfte macht, obwol er, je nachdem er die Gelegenheit dazu findet, auch in Silbergeld, vom Viergroſchenſtück bis ſogar zu Doppel - und Kronthalern, arbeitet, von welchen größern Münzſorten er oft eine beträchtliche Menge in der Hand bergen kann, wie denn Thiele, a. a. O., I, 139, aus der großen berliner Unterſuchung den Fall erzählt, daß Moſes Simon Bernhardt am 22. Nov. 1819 dem Krüger Hoffmann zu Peterwitz beim Geldzählen nicht weniger als 18 Thaler in ein paar Secunden weggechilft hatte, welchen Diebſtahl, als er nach Jahren zur Sprache kam, der Beſtohlene gar nicht be - merkt haben und zugeben wollte. Die Chalfen ſind ſo gewandt und ſicher bei ihrem Betriebe, daß gerade das Chalfenen auf Reiſen und bei augenblicklicher Verlegenheit das erſte und ſicherſte Hülfs - mittel iſt, raſch zu Gelde zu kommen.

Häufig nehmen endlich die Chalfen noch einen Chawer als Vertuſſer, Schrekener oder Schmuſer mit, der dann ganz die in - tereſſante Rolle zu ſpielen hat, die dem Schrekener beim Schotten - fellen zugewieſen iſt. Da jedoch in dieſem Falle Cheluke gehalten werden muß, ſo operirt der nur einigermaßen routinirte Chalfen lieber auf eigene Hand, um die Früchte ſeiner Kunſt allein zu205 genießen. Ueber das Verwechſeln von verſiegelten Beuteln und Rollen mit Geld, Chaſſimechalfenen, ſehe man das folgende Kapitel.

Neunundfunfzigſtes Kapitel. f) Das Ennevotennemachen oder Chaſſimehandeln.

Das Ennevotennemachen von Pluralis〈…〉〈…〉 (Dualis〈…〉〈…〉), en, von〈…〉〈…〉 (ajin), das Auge, und〈…〉〈…〉 (ot, oss), Zei - chen, Abzeichen, auch Chaſſimehandeln, von〈…〉〈…〉 (chassam)1)Davon Chaſſmenen, ſiegeln; gechaſſment, geſiegelt; Chaſſime, das Siegel, die Beglaubigung, Unterſchrift; Chaſſom oder Chauſſom, das Petſchaft; Chauſſomwachs, Siegellack., er hat geſiegelt, auch ein Puddelche2)Puddelche, wahrſcheinlich verdorben vom Stammwort〈…〉〈…〉 (bodal), er hat abgetheilt, ausgeſchieden, geſondert, wovon Bedil, Zinn. handeln iſt der heimliche Umtauſch verſiegelter Werthſachen gegen werthloſe oder geringfügige Gegenſtände, welche von gleichem Aeußern, oder mit gleichem Verſchluß und Siegel wie jene verſehen ſind. Zu dieſem Zwecke geht der Ennevotennemacher, oft mit einem Schrekener, Vertuſſer oder Schmuſer, zu einem Juwe - lier oder Geldwechsler, behandelt dieſe oder jene Waare, oder wechſelt eine Münzſorte ein, thut ſolche in ein mitgebrachtes Käſt - chen, Beutel oder Papierrolle, verſiegelt dieſe Verſchlüſſe in Gegen - wart des Verkäufers, und bittet unter irgendeinem Vorgeben, daß z. B. ſeine Kaſſe nicht reiche und er nicht erſt das Geld heute aus dem Gaſthofe holen wolle (wobei er jenen oft noch durch Zahlung eines Angeldes oder Agios ſicher macht), die ſo verſiegelten Werthſachen bis zum andern Tage zurückzulegen. Bei der Ver - handlung weiß der Ennevotennemacher die verſiegelten Gegen - ſtände mit bereit gehaltenen, an Form, Packung und Siegel gleichen Behältern, welche mit werthloſen Dingen gefüllt ſind, geſchickt zu verwechſeln und jene Werthſachen an ſich zu nehmen. Dies Manöver, das allerdings ſorgfältige Vorbereitung und große Geſchicklichkeit erfordert, iſt, da es ſich oft um bedeutende Schmuck -206 ſachen und mehrere Goldrollen handelt, ſehr lucrativ, und wird weit mehr als das Chalfenen von Frauenzimmern und zwar immer in ſehr eleganter Toilette und faſt jedesmal mit Anwen - dung von Siegelringen, auf welchen adeliche Wappen gravirt ſind, beſonders in Gold und Silberhandlungen ausgeübt. Die Enne - votennemacher führen im Reiſekoffer oft ganze Sätze von Käſt - chen oder Schachteln (jüdiſch-deutſch Schkedele), in Doubletten bei ſich, deren Beſitz bei einer Recherche immer mit der Benutzung zum Aufbewahren von Seide, Nadeln, Band u. dgl. von Wei - bern gerechtfertigt wird, während die Kaſten von Männern ge - wöhnlich für Probekaſten ausgegeben werden.

Stiehlt der Ennevotennemacher baares Geld in dieſer Weiſe, ſo wird dieſer Handel mit dem Ausdruck Chaſſime chalfenen bezeichnet, da er ja auch mit dem Chalfenen viel Aehnlichkeit hat. Abgezählte Gold - und Silberrollen ſind während des Geſchäfts am geſchickteſten zu chalfenen. Nicht ſelten ſind aber Gauner, namentlich wenn ſie von einem Vertuſſer gut unterſtützt werden, verwegen genug, ziemlich ſchwere Geldbeutel mit Silbergeld gegen gleichgeſiegelte mit Kupfergeld zu verwechſeln.

Auch andere Privatperſonen, namentlich Wirthe, welche ſich in argloſer Gutmüthigkeit dazu hergeben, Geld als Depoſitum aufzubewahren, werden auf dieſe Weiſe oft um bedeutende Sum - men geprellt, wenn ſie über die ihnen zugeſtellten Geldbeträge Empfangſcheine ausgeſtellt haben, da der verübte Betrug natür - lich vom Gauner ſogleich bei der Rücklieferung dem Depoſitar zugeſchoben, und die vollwichtige Valuta nach dem Empfangſchein gefordert wird. Man thut daher am beſten, ſich in keiner Weiſe zum Depoſitar eines Fremden herzugeben, ohne das deponirte Geld ſelbſt genau nachzuzählen, zu prüfen und in Gegenwart von Zeugen oder mit einem Beamtenſiegel oder aber auch mit des Fremden Siegel, jedoch immer nur ſelbſt zu verſiegeln und ſofort ſicher zu verwahren, niemals aber dem Fremden das Siegeln zu überlaſſen, und niemals nach der Verſiegelung ihm das Verſiegelte in die Hand zu geben.

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Sechzigſtes Kapitel. g) Das Neppen.

Das Neppen iſt eine der älteſten Gaunerkünſte, deren der Liber Vagatorum umſtändlich erwähnt, indem er Notabilie 7 vor den Wiltnern1)Auch ſchon die älteſte Ausgabe der Rotwelſchen Grammatik von Dekk, warnt vor den Wiltnern und hat das Wort in den Vocabular aufgenommen. Es entſpricht vollſtändig dem heutigen Nepper. Die Etymo - logie iſt unklar; vielleicht iſt Wiltner mit dem mittelhochdeutſchen wildenaer (Jäger) wegen der unſteten Lebensweiſe, in Verbindung zu bringen. Das Wiltner iſt gänzlich obſolet geworden. Dafür kam aber ſpäter der Ausdruck Feling (Krämer) des Liber Vagatorum auf, welches Pott, a. a. O., II, 37, von feil ableitet. Die Felinger ſpielten als umherziehende Tabulethändler oder Hauſirer ſchon am Schluß des Mittelalters eine außerordentlich große und gefährliche Rolle, bis tief in das 19. Jahrhundert hinein, weshalb denn auch Schäffer, S. 84 132, ſich weitläufig über ſie ausläßt. Namentlich trieben die Felinger im 17. u. 18. Jahrhundert den ärgſten Betrug als Quackſalber, Zauberer und Beſchwörer, und tauchen auch jetzt noch auf, obſchon eine Menge trefflicher Verordnungen, namentlich in medicinal-polizeilicher Hinſicht, gegen ſie zum Vorſchein gekommen ſind. Das Wort Neppen kommt zuerſt bei Krü - nitz (Encyklopädie, CXXVIII, 39), und bei Grolman (Wörterbuch, S. 51) vor. Letzterer bezeichnet mit Neppes Koſtbarkeiten, Halsſchmuck, Perlen, wonach es wol mit dem franzöſiſchen nippes und nipper zu verbinden ſein würde. Grolman bezeichnet aber das Wort als jüdiſch-deutſchen Urſprungs, obwol es im Jüdiſch-Deutſchen überall nicht zu finden iſt, wenn man nicht die ſchmuzige Bedeutung bei Krünitz adoptirt, und Neppe, freilich mit Zwang, identiſch mit Naffke nimmt, welches im Jüdiſch-Deutſchen die gemeinſte Sorte der Proſtituirten bedeutet (vgl. das Wörterbuch). Jn der franzöſiſchen Gaunerſprache gibt es nep als Bezeichnung einer gewiſſen jüdiſchen Gauner - ſorte, welche Francisque Michel in ſeinen Études de philologie comparée sur l’argot (Paris 1856), S. 291, erwähnt, ohne ſelbſt klar darüber zu ſein. Der ſonſt unterrichtete Barbieux, im Antibarbarus der franzöſiſchen Sprache (Frankfurt a. M. 1853), kennt den Ausdruck nicht. Ebenſo wenig kommt das Wort in einer andern lebenden Sprache, oder in der Zigeuner - oder irgendeiner Gaunerſprache vor. Neppen ſcheint aber direct aus dem Hochdeutſchen hergeleitet werden zu müſſen und identiſch mit dem beſonders auch im Schwäbiſchen gängigen Nippen, necken, pla - gen, zu ſein; davon das ſchwäbiſche nippig, neckſüchtig; Nüpen, ver - ſteckte Bosheiten; Geneff, Hader, Neckerei; vernefft, geneckt. Vgl. warnt, welche fingerlin von kunterfey gemacht ,208 zum Verkauf als Silber anbieten, deſſelben gleichen pater noſter oder ander zeychen, die ſie vnder den mentlen tragen , und welche ſie beſonders den einfeltigen hutzin anbieten. Neppen iſt die betrügliche Veräußerung unechter werthloſer Gegenſtände, Nepp - ſſchaure1)Sſchore oder Sſchaure, Waare, von〈…〉〈…〉 (ssochar), im Lande um - herziehen, beſonders in Handelsgeſchäften; davon Sſocher oder Sſaucher,〈…〉〈…〉, der Kaufmann, Handelsmann., als echte, werthvolle Gegenſtände, ſei es durch Ver - kauf, Verſatz, Verpfändung, Depoſition oder Tauſch. Nepper iſt der Gauner, welcher in dieſer Weiſe betrügt. Auch das Zeitwort neppen iſt gebräuchlich, obwol der Ausdruck eine Neppe han - deln geläufiger iſt.

Während die bisher dargeſtellte Gaunerinduſtrie weſentlich auf die gewaltſame oder heimliche Entwendung fremden Eigen - thums gerichtet iſt, erſcheint das Neppen als offenes Dargebot von Gegenſtänden des täglichen Bedarfs und Gebrauchs. Dieſe Gegenſtände ſind jedoch an ſich werthlos und nicht zu dem vollen Gebrauche geeignet, zu welchem ſie nach der ihnen betrüglicher - weiſe gegebenen äußern Form geeignet ſcheinen, und vom Nepper hergerichtet und ausgeboten werden. Der Betrug liegt alſo in der Fälſchung des dargebotenen Gegenſtandes, und findet ſeine häufigſte und gewöhnlichſte Vermittelung im Schacher - oder Hau - ſirhandel, wie dieſer denn ja auch ſeit Jahrhunderten von den Wiltnern, Felingern und Paſchkuſenern in ausgedehnteſter Weiſe betrieben worden iſt. Die Feinheit und Sauberkeit, mit welcher, namentlich in gegenwärtiger Zeit, eine Menge Gegenſtände des täglichen Bedarfs und Luxus angefertigt werden, beſonders die ausgezeichnete Verarbeitung von Bronze und Neuſilber, dazu die behende kalte und galvaniſche Vergoldung u. ſ. w., gibt dem Nepper, namentlich der immer mehr auch auf dem Lande und in1)Schmid, Schwäbiſches Wörterbuch (Stuttgart 1831); Schmeller, Bairi - ſches Wörterbuch (Stuttgart u. Tübingen 1828), Thl. 2, die Reihe Nap und Nep, S. 699 fg. Schmeller führt auch noch, S. 700, noppen und noppeln an, und allegirt aus einem Jngolſtädter Druck von 1588: Hausnopper, als Cumpan der Diebe, Mörder und Mausköpff .209 den untern Volksſchichten um ſich greifenden Putz - und Glanz - ſucht gegenüber, reichliche Gelegenheit, zahlloſe Betrügereien aus - zuüben, deren Entdeckung nur durch den Sachkenner und meiſtens erſt dann gelingen kann, wenn der Betrug ſchon vollendet iſt. Die unglaublich vielen und mannichfaltigen Täuſchungen, die faſt bie allen nur denkbaren Handelsgegenſtänden mit ebenſo viel Verſchlagenheit, wie mit Gefahr für Geſundheit und Leben ſeit Jahrhunderten betrieben werden, und bis auf die neueſte Zeit in ganz ungemeiner Progreſſion zugenommen haben, ſind der Haupt - anlaß zur Verfolgung und Unterdrückung des ſo überaus ſchäd - lichen Hauſirhandels geworden, namentlich auf dem Lande, wo die polizeiliche Controle und die kennermäßige Prüfung der an - gebotenen Waare am ſchwierigſten iſt. Die raffinirten Betrü - gereien haben ſogar eine eigene Literatur hervorgerufen, in wel - cher auch die Wiſſenſchaft mit deutlicher Aufklärung und Belehrung ſich dem Betruge gegenüberſtellt und ihn bekämpfen hilft. Zur vollſtändigen Würdigung des Betrugs, und um einen Begriff zu bekommen von der Feinheit und Mannichfaltigkeit der Täuſchun - gen im Handel und Wandel, muß man ſich mit dieſer Literatur1)Beſonders iſt zu bemerken: J. B. Friedreich, Ueber Handels - und Gewerbs-Objecte in Beziehung auf Verwechſelung, Verunreinigung, Verfäl - ſchung und Betrug (Ansbach 1853); Dr. A. B. Percy, Allgemeines che - miſch-techniſch-ökonomiſches Recept-Lexikon (Nürnberg 1856); M. A. Che - vallier, Wörterbuch der Verunreinigungen und Verfälſchungen der Nahrungs - mittel, Arzneikörper und Handelswaaren, nebſt Angabe der Erkennungen und Prüfungsmittel. Frei nach dem Franzöſiſchen bearbeitet und mit Zuſätzen ver - ſehen von Dr. A. H. L. Weſtrumb (2 Thle., Göttingen 1856 57). Letz - teres Werk iſt beſonders für den Polizeimann brauchbar und empfehlenswerth. ſorgfältig vertraut machen, und dazu die dem Polizeimann noch immer häufig genug gebotene Gelegenheit nicht vorüberlaſſen, den bunten Jnhalt eines Tabuletkaſtens oder einer Jahrmarkts - und Glücksbude genau zu durchmuſtern. Wie man aber erſtau - nen muß über die reißenden Fortſchritte, welche die Kunſt ge - macht hat, ſchlechte, werthloſe und unbrauchbare Gegenſtände aller Art in einer glänzenden beſtechlichen Form und Hülle darzuſtellen,Avé-Lallemant, Gaunerthum. II. 14210ſo muß man aber auch gerade beim Neppen vollkommen über - zeugt davon werden, daß der Hauſirhandel, abgeſehen von allem andern Vorſchub, den er faſt aller übrigen Gaunerinduſtrie leiſtet, niemals ſtrenge genug überwacht und beſtraft werden kann.

Einundſechzigſtes Kapitel. α) Der Viaſchmahandel oder das Polengehen.

Ungeachtet der Gauner weiß, daß es ihm leicht gelingen kann, dem Unkundigen und Unerfahrenen eine Tombackuhr oder eine vergoldete Silberuhr für eine goldene, einen Löffel von Neu - ſilber für einen ſilbernen, einen in Gold gefaßten böhmiſchen Stein für einen Brillanten aufzuſchwatzen und für echt zu ver - kaufen, ſo gebraucht er dennoch, um jedem möglichen Argwohn entgegenzutreten und das Verbot und die polizeiliche Controle des Hauſirhandels zu umgehen, eine Menge ſyſtematiſcher Jntriguen, die ihm das Gelingen ſeines Betrugs erleichtern. Dahin gehört das unter mehreren Gaunern verabredete Auftreten unter der Maske eines unglücklichen, reiſenden oder verfolgten Mannes, meiſt von höherm Stande, der in Flucht und Noth ein ihm theures und werthvolles Kleinod dem Wirthe oder Landmann verkaufen oder verſetzen muß, um weiter zu kommen und das Leben zu fri - ſten. Bei notoriſchen großen, und namentlich unglücklichen Ereig - niſſen findet ſich für den Gauner reichliche Gelegenheit, als eines der zahlreichen Opfer dieſer Begebenheiten zu figuriren. Ein in Begleitung eines angeblichen Dieners, mit eigener Equipage oder Extrapoſt, voraufgereiſter Chawer, welcher den reichen Mann ſpielt, und dem zum Opfer erkorenen Wirth oder Landmann durch ſein Auftreten zu imponiren weiß, trifft mit dem Unglück - lichen, dem ſpäter nachkommenden Nepper, den er natürlich ganz fremd behandelt, zuſammen, und erklärt das zufällig erblickte falſche Stück dem beiſeite gezogenen Wirth für ein werthvolles Kleinod. Gewöhnlich wird der Landmann oder Wirth, bei dem die Scene211 geſpielt wird, überredet oder von Gewinnſucht verlockt, das an - gebliche Kleinod zu kaufen, oder gegen Darlehn in Pfand zu nehmen, wobei er zu ſpät, wenn die Ermittelung des davonge - reiſten Gauners ſchwer oder unmöglich iſt, ſeine thörichte Leicht - gläubigkeit bereuen lernt. Dieſes Manöver, der Viaſchma - handel1)Das Wort Viaſchma oder richtiger Viatzma iſt polniſchen Ur - ſprungs und bedeutet Zeugniß, Beſcheinigung., kam beſonders ſeit den franzöſiſchen Kriegen dieſes Jahrhunderts in Schwung. Die Viaſchmahändler traten beſon - ders als polniſche Offiziere oder Edelleute auf, und wurden des - halb Polenhändler oder Polengänger genannt. Nach Stuhl - müller, a. a. O., S. xxiii u. 85, ſoll der in der Plaſſenburger Unter - ſuchung figurirende Baruch Benjamin der Erfinder oder Haupt - verbreiter des Viaſchmahandels geweſen ſein, wie denn auch Stuhlmüller ſogar das Coſtüm beſchreibt, in welchem die Viaſchma - händler beſonders in Baiern und Würtemberg aufzutreten und zu prellen pflegten. 2)Einen ſolchen Betrug, ſagt Stuhlmüller, a. a. O., S. xxiv, nennt man eine Viaſchma, oder auch eine Neppe; den, welcher den Kaufmann ſpielt, den Chaium (Juden); den, welcher mit ihm iſt, ſeinen Meſchores (Knecht), und denjenigen, welcher den Deſerteur ſpielt, und dazu einen eigenen Anzug, nämlich gewöhnlich eine weißwollene Jacke, eine Gattien von ungebleichter oder gebleichter Leinwand, eine Holzkappe hat, und einen leinenen Bündel unter dem Arme oder auf dem Rücken trägt, in welchem ſeine andern Kleider ſich befinden, nennt man den Balmachonen (Soldaten).Einen intereſſanten Viaſchmahandel erzählt Thiele, Jüdiſche Gauner , II, 1, aus dem Bericht des Polizei - departements des Cantons Thurgau zu Frauenfeld in der Schweiz.

Zweiundſechzigſtes Kapitel. β) Das Werammemooſſmelochnen oder Linkemeſumme - melochnen.

Die Falſchmünzerei als Jnbegriff mehrerer Verbrechen gegen das Münzregal oder gegen öffentliche Treue und Glauben3)Den neuern Geſetzgebungen liegt wol durchgehends die Jdee des iſt,14*212ihrer Natur nach, nur zum Theil und nur in untergeordneter Weiſe zu den gauneriſchen Fertigkeiten zu zählen, da namentlich die unbefugte Anfertigung von Geld, bei der eigenthümlichen umſtändlichen Weiſe der Herſtellung des Geldes, und bei der ſehr genauen und ſtrengen Ueberwachung des Münzregals, eine fortge - ſetzte gewerbmäßige Betreibung des Falſchmünzens nicht behende genug macht, und daher nicht leicht thunlich und möglich, und im - mer zu gewagt, auch der Entdeckung zu ſehr preisgegeben iſt. Nur die Münzfälſchung, d. h. die täuſchende Veränderung echten Geldes, um dieſem einen höhern Werth zu geben durch Verſilberung oder Vergoldung, und die Verſilberung und Vergol - dung von Zahl - oder Rechenpfennigen, um ſie als Silber - oder Goldſtücke auszugeben, oder die Entwerthung echten Geldes mit - tels Beſchneidung, Durchbohrung oder Aushöhlung, um dieſes ſo entwerthete Geld zu currentem Nennwerthe auszugeben, iſt Ge - genſtand der Gaunerkunſt, welche in dieſem Umfange mit den jüdiſch-deutſchen Ausdrücken Merammemooſſmelochnen1)Von Meramme ſein (〈…〉〈…〉[romo], er hat hingeworfen), betrügen;〈…〉〈…〉 (mooss), baares Geld, und melochnen (〈…〉〈…〉[melocho], die Arbeit), machen, bereiten, bearbeiten. oder Linkemeſummemelochnen2)Meſummon, vom chaldäifirendem Stamme〈…〉〈…〉 (somman), im Piel〈…〉〈…〉 (simmen), er hat zubereitet (zum Gericht citirt), zubereitet, baar, abgezählt, und〈…〉〈…〉 (mooss), Geld, und melochnen (vgl. Note 1), machen, arbeiten. bezeichnet und von den Gaunern in großem Umfange und mit glücklichem Erfolge betrieben wird. Selbſt die plumpſte Art der Münzfälſchung, die leicht herzuſtellende Vergoldung echten Kupfer - oder Silbergeldes und deſſen Verausgabung als Goldgeld gelingt dem Gauner nur zu gut, obſchon der Werth des Stückes immer deutlich in der Präge angegeben iſt. Noch mehr glückt ihm die Verausgabung vergol -3)Verbrechens gegen öffentliche Treue und Glauben zu Grunde. Man vergleiche die Criminal-Geſetzbücher von Preußen, §. 121 124, 340; Oeſterreich, §. 118 121, 325, 329; Sachſen, §. 268 274; Baiern, §. 341 346, 428 431; Hannover, §. 200 204; Würtemberg, §. 206 215; Baden, §. 509 532; Heſſen-Darmſtadt,. 204 217; Weimar, §. 260 268; Braunſchweig, §. 126 129; Naſſau, §. 198 211.213 deter Rechenpfennige als Goldgeld. Der gemeine Mann oder der Landmann, dem weniger Goldgeld als Silbergeld vor die Augen kommt, weiß den Werth des erſtern nicht abzuſchätzen und läßt ſich durch die glänzende Vergoldung eines ſolid geprägten Zahlpfennigs nur zu oft irre leiten. Beſonders werden ſeit eini - ger Zeit die in Größe und Dicke eines Louisdor geprägten Zahl - pfennige mit dem Bildniß und der Umſchrift Victoria regina und auf der Aversſeite mit dem heiligen Georg1)Bei näherm Hinblick auf dieſe Zahlpfennige erkennt man freilich, daß der heilige Georg eine Königskrone trägt und in einer Dragoneruniform mit Epauletten ſteckt. Auch hat die Aversſeite die Jahreszahl 1837, während die Vorderſeite die Jahreszahl 1849 hat. Was überſieht aber der unkundige ge - meine Mann nicht, wenn die äußere Vergoldung neu und ſchön erſcheint? und dem Lindwurm mit der Umſchrift to Hannover, ſehr viel vergoldet und ſtark in Curs geſetzt, wie man das leider nur zu oft bei dem Kone - handel wahrnimmt.

Dreiundſechzigſtes Kapitel. γ) Der Konehandel oder das Blütenſchmeißen.

Erſcheint die Verausgabung ſolcher falſcher Münzen nun im täglichen Handel und Verkehr, wo man ſchon aufmerkſamer zu ſein pflegt2)Dennoch iſt mir vorgekommen, daß ein Metallarbeiter, welcher ham - burger und lübecker Vierſchillingsſtücke, Sechslinge und Dreilinge in Weiß - blech auf echte Münzen dieſer Art ſo geſchlagen hatte, daß die Prägung zwar verkehrt, aber doch ziemlich deutlich in das Blech abgedrückt war, mehrere ſolche Stücke wirklich verausgaben konnte., und bei der Ruchtbarkeit des viel geübten Betrugs allerdings gewagt und bedenklich, ſo hat die Gaunerinduſtrie ein eigenes Manöver ausgedacht, dieſe vergoldeten Zahlpfennige, Blüten3)Das Wort Blüte wird in der Gaunerſprache aber auch für das echte Goldſtück, beſonders für den Dukaten (Haker, Chaker) gebraucht. Das in Nord - deutſchland volksbräuchliche Plattiren, d. h. das leichte Verſilbern von Meſ - ſing oder Bronze, ſcheint mit Blüte zuſammenzuhängen und aus blütiren oder plitiren entſtanden zu ſein., ſicherer an den Mann zu bringen. Das Manöver214 wird Blütenſchmeißen, auch Blütenſtechen (Pliteſtechen ſogar Pleiteſtechen), oder Konehandel oder Kaunehandel1)Von〈…〉〈…〉 (kono), erwerben, kaufen, weil ja die Blüte wirklich ver - kauft wird vom Gauner, Konehändler. genannt, und beſonders in Dörfern an dem unerfahrenen Land - mann, und auf den Landſtraßen an Fußreiſenden, vorzüglich reiſenden Handwerksgeſellen, verſucht. Jn Wirthshäuſern, beſon - ders auf dem Lande, ſucht der Konehändler, unter dem Vorgeben, daß ſein Silbergeld verausgabt ſei, mit einem Goldſtück zu be - zahlen und ſich den Ueberſchuß ſeiner Zeche in Silbergeld aus - wechſeln zu laſſen. Der Wirth, welcher den Werth oder Curs des Goldſtücks nicht kennt, wird gewöhnlich vom Konehändler, welcher gleiche Unkenntniß vorſchützt, gebeten, den Curs eines vom Konehändler dargereichten echten Goldſtücks bei dem Orts - geiſtlichen, Schulmeiſter oder Landkrämer erkunden zu laſſen. Jſt dies geſchehen, ſo weiß der Konehändler das echte Goldſtück mit einem vergoldeten Zahlpfennig geſchickt umzutauſchen, und prellt ſomit den Wirth in zwiefacher Hinſicht. Bietet der Konehändler einen kleinen Abzug von dem angegebenen Werthe des Goldſtücks, ſo iſt der gewinnluſtige Wirth oder Landmann gern bereit, auch noch mehrere Goldſtücke zu wechſeln, wie denn ſolche arge Un - wiſſenheit namentlich in Norddeutſchland noch häufig genug aus - gebeutet wird. Jn anderer Weiſe handelt der Gauner auf Kone dadurch, daß er auf der Landſtraße ſich einem fußreiſenden Hand - werksgeſellen anſchließt, und einen entweder von ſeinem ihm vor - aufgegangenen Chawer oder von ihm ſelbſt heimlich hingeworfe - nen Geldbrief von der Straße aufrafft, für guten und ganzen Fund2)Das Blütenſchmeißen iſt namentlich in unſerm Norddeutſchland, und ganz beſonders in der mit ſo vielen verſchiedenen Grenzen umgebenen Gegend von Lübeck, vorzüglich in früherer Zeit, ſo arg im Gange geweſen, daß die gauneriſche Fundformel: Fund’s hehl, Fund’s hehl, geit nix vun af! (Der Fund iſt heil ganz, untheilbar , es geht nichts davon ab!), ehe der Be - gleiter ſagt: Half af, half af! (Halb ab!), noch immer im Munde aller Bauer - und Gaſſenjungen iſt, wenn ſie irgend etwas finden. erklärt, und endlich auf Bitten des Reiſenden dazu ſich215 verſteht, den Fund mit ihm zu theilen, wobei er ihm aber ſtets das im Briefe eingeſchloſſene Goldgeld, vergoldete Jetons, gegen Zahlung des Halbparts in Silbergeld ganz überläßt. Jn gleicher Weiſe werden auch unechte Ringe und andere kleine vergoldete unechte Schmuckſachen in Briefe und Käſtchen gelegt und als Fund von der Straße aufgenommen und auf Halbpart verkauft. So abgeſchmackt und abgedroſchen dies platte Manöver iſt, ſo unglaublich oft wird es noch immer mit Erfolg ausgeführt. Oft ſucht der Betrogene bei ſeiner Ankunft auf der nächſten Viſir - ſtation Auskunft und Hülfe bei der Polizei, ohne zu bedenken, daß er ſich ſelbſt als Theilnehmer an einem Funddiebſtahl ſtraf - bar gemacht hat. Nur dadurch, daß man jeden Kläger der Art als Funddieb conſequent und unerbittlich beſtraft, ſcheint dieſer unbegreiflicherweiſe noch faſt täglich vorkommende Betrug mehr und mehr beſeitigt werden zu können.

Vierundſechzigſtes Kapitel. δ) Das George-Plateroon.

Die Entwerthung eines Goldſtücks durch Beſchneiden cultivirt der Gauner von Fach wenig oder gar nicht. Die Operation iſt zu mühſam und zu wenig lohnend gegen das behendere und lucrativere Vergolden von Zahlpfennigen. Auch bringt der lebens - luſtige Gauner lieber das ganze Goldſtück in Völlerei und Lieder - lichkeit durch, als daß er ſich mit dem kümmerlichen Betrage des abgeſchnittenen oder abgefeilten Randes begnügen möchte. Jn - deſſen gibt es auch ſparſame und nüchterne Gauner, die ſich in den Ferien oder in ſtiller Zeit noch immer nützlich zu beſchäftigen wiſſen. Die Beſchneidung geſchieht namentlich bei Goldſtücken mit ſcharfen Nagelſcheren aus freier Hand. Mit der Feile wird nachgeholfen, und durch ſchräge Striche oder auch mit einem ſtäh - lernen Durchſchlag der Rand angeſtoßen. Große Silbermünzen ohne Randgepräge werden im Schraubſtock mit grobgehauenen216 Feilen bearbeitet. Die Verausgabung ſolcher entwertheter Geld - ſtücke iſt jedoch, beſonders bei geringen Zahlungen oder im Einzel - wechſel, immer ſchwierig, da die Verkleinerung des Volumens ſchon immer für das prüfende Auge auffällig iſt, und ſomit das entſcheidende Nachwägen kaum noch nöthig wird. Dieſe Schwie - rigkeit hat nun aber wieder auf eine alte Operation zurückgeführt, vermöge welcher die beiden Prägeſeiten eines größern und dicken echten Silbergeldſtücks in ſehr dünnen Platten abgeſchnitten, und nach Herausnehmen des Mittelſtücks auf eine entſprechende Scheibe unedeln Metalls befeſtigt und mit einem Silberblechrand umlöthet werden. Durch die geſchickte Behandlung der Münzen wird die Täuſchung vollkommen, und es befindet ſich eine ſehr große Menge Münzen der Art im Umlauf. Zwei der bedeutendſten deutſchen Polizeiblätter haben gleichzeitig im Sommer 1856 auf dieſen raſch aufgekommenen Betrug aufmerkſam gemacht, welcher jedoch keines - wegs eine neuere Erfindung, ſondern ſchon ſehr alt iſt. Smith in ſeinen Lebensbeſchreibungen berühmter engliſcher Straßenräu - ber (vgl. die Literatur) erzählt S. 221, daß der am 22. Sept. 1704 zu London gehenkte berüchtigte Gauner Tom Sharp mit einer Falſchmünzerbande, außer der Anfertigung falſcher Münzen von engliſchem Zinn oder Compositum , auch noch eine Kunſt, George-Plateroon, betrieben habe, Münzen (black dogs) herzu - ſtellen, welche inwendig lauter Kupfer ſeien und auswärts nur ein dünnes Blechlein hätten u. ſ. w.

Dieſe alte Kunſt ſcheint entweder vom Gaunerthum längere Zeit uncultivirt liegen geblieben, oder von der Polizei unbeachtet gelaſſen worden zu ſein. Bei den behendern techniſchen Mitteln der Neuzeit iſt ſie aber wieder lebhaft in Schwung gekommen, hat aber trotzdem in der deutſchen Gaunerſprache noch keinen be - ſondern Namen erhalten. Jn keiner mir bekannten Gauner - ſprache habe ich einen ſpeciellen Namen für das George-Plateroon finden können. Es ſcheint daher im Weſen und Namen eine ſpecifiſch engliſche Erfindung zu ſein.

Zu dieſer Operation werden durchaus nur echte und neue Silbermünzen mit breitem Rande gewählt. Wahrſcheinlich wer -217 den ſie auf der Drechſelbank durchgeſägt, an welcher ſie ſich leicht, wie bei allen Abdrechſelungen von Scheiben aus harten Subſtanzen, mit Pech auf die Patronen befeſtigen laſſen. Die abgeſchnittenen Blechſcheiben mit dem Gepräge ſind ſehr dünn, ſodaß man beim Biegen derſelben den eigenthümlichen knatternden Laut hört, wie bei dünnen Weißblechſtücken. Bei einem in mei - nem Beſitz befindlichen Fünffrankenſtück von 1830 ſind die beiden Prägeplatten von dem innern Kupferſtück abgelöſt. Unter dem deutlich wahrnehmbaren Schnellloth und der fettig anzufühlenden Schmuzſchichte der Silberplatten, welche mit Alkohol und Sal - miakgeiſt löslich iſt, und alſo auf die Anwendung von Löthwaſſer ſchließen läßt, ſind ſogar deutliche Feilſtöße von den verſchieden - ſten Richtungen her ſichtbar, ſodaß unverkennbar mit der Feile nachgeholfen iſt, weil vielleicht die Scheiben noch zu dick abge - ſchnitten waren. Die für das ausgeſchnittene Mittelſtück der Münze eingeſetzte runde kupferne Scheibe trägt deutliche Spuren von Löthwaſſer und Schnellloth, und hat vollkommen gleiche und glatte Flächen. Die Kupferſcheibe wiegt 250 Gran (nürnberger Apothekergewicht), wogegen die beiden abgeſchnittenen Blechplatten zuſammen gerade nur 100 Gran wiegen, woraus man auf die bedeutende Entwerthung der Münze und auf den Gewinn ſchlie - ßen kann, den die auf der Drechſelbank raſch und behende aus - zuführende Arbeit abwirft. Der um die Kupferſcheibe befeſtigte Rand iſt von ſehr dünnem Silberblech und außerordentlich feſt und gleichmäßig umgelöthet, ſodaß er nicht abzulöſen iſt, obwol er mit der Laubſäge an verſchiedenen Stellen durchgeſchnitten wurde. Die Buchſtaben der Umſchrift: DOMINE SALVUM FAC REGEM ſind ungleich und unregelmäßig aufgeſchlagen. Bei einem preußiſchen Thaler (ebenfalls von 1830) iſt dagegen der Rand ſo ſchlecht angelöthet, daß er ſich als ganzer Ring abnehmen läßt. Sehr deutlich erkennt man hinter dem Worte UNS der Randſchrift die nachläſſige unebene Zuſammenlöthung und des Reifs unter dieſem Reife, auf dem Rande der zwiſchen die Prägeplatten ein - geſetzten Bleiſcheibe, die ganze unordentlich ausgeführte Randſchrift GOTT MIT UNS eingetrieben, woraus man ſchließen kann, daß218 die Umſchrift erſt nach Auflöthung des Ringes auf den Rand der entwertheten Münze aufgeſchlagen wurde. Bemerkenswerth iſt, daß die ziemlich dicken Blechplatten dieſes Thalers ſo feſt auf der innern Bleiplatte ſitzen, daß ſie bei einer dem Schmelzen des Bleies beinahe gleichgebrachten Glühhitze ſich nicht löſen. Sehr auffallend iſt dabei, daß die Münze auf der rech - ten Seite des Wappens beträchtlich dünner iſt, als auf der linken. Wahrſcheinlich iſt alſo das Blei geſchmolzen zwiſchen die ungleich nebeneinander geſtellten Blechplatten hin - eingegoſſen worden.

Während ſchon ſeit mehreren Jahren beſonders viele bairiſche Gulden1)Ganz kürzlich iſt mir auch ein Silberrubel (von 1842) vorgekommen. Ein ruſſiſcher Jude hatte ihn bei der Abreiſe einem Marqueur in einem hie - ſigen Hotel als Trinkgeld gegeben, und ſoll einen beträchtlichen Vorrath Silber -[rubel]mit ſich geführt haben, welche wahrſcheinlich in gleicher Weiſe ent - werthet waren. in ſolcher Weiſe entwerthet und in Umlauf geſetzt wor - den ſind, iſt dieſer Betrug neuerdings ganz vorzüglich an preußi - ſchen Einthalerſtücken von 1855 verſucht worden. Zweithalerſtücke ſind weniger bemerkt worden. Die Platten ſcheinen auch von dieſen größern Münzen ſchwieriger herabgeſchnitten werden zu kön - nen. Jedenfalls läßt ſich die friſche Löthung an neuen Münzen beſſer verbergen als an ältern. Dennoch kann man den Be - trug ziemlich leicht und ſicher erkennen. Alle entwerthete Münzen der Art fallen ſchon beim Zählen zwiſchen den Fingern durch ihren ſehr ſcharfen Rand auf, der ſich ſchon im bloßen flüch - tigen Gefühl merklich von dem Rande ungefälſchter Geldſtücke unterſcheidet. Ebenſo unterſcheidet ſich die ſtets unordentlich und unregelmäßig angebrachte Randumſchrift entwerthe - ter Münzen ſehr augenfällig von der accuraten und ſaubern Randumſchrift ungefälſchter Geldſtücke. Ein leichter Feilſtrich auf der Randecke der verdächtigen Münze, oder ein leichtes Wegſchlei - fen auf einem gewöhnlichen Wetzſtein, legt den gefährlichen Be - trug unverkennbar bloß, welcher oft ſogar von Silberarbeitern erſt dann erkannt wird, wenn ſie ſolche Münzen einſchmelzen.

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Fünſundſechzigſtes Kapitel. ε) Der Piſchtimhandel.

Eine der großartigſten und ärgſten Neppen wird namentlich auf Jahrmärkten und im Hauſirhandel, beſonders auf dem Lande mit dem Leinwandhandel, getrieben. Leider verſchwin - det Spinnrad und Webſtuhl immer mehr aus der ländlichen Behauſung und der Landmann, der höchſtens noch den Flachs baut, ohne ihn noch ſelbſt zu verarbeiten, hört auch damit auf, Kenner der Leinwand zu ſein, ſodaß gerade er jetzt am meiſten mit dem Leinenhandel, Piſchtimhandel, betrogen wird. Der Be - trug geht nicht von den Fabriken aus, welche zur Herſtellung eines billigern Preiſes Seide, Wolle, Leinen und Baumwolle miteinander verweben, ſondern von den Händlern, welche den Unkundigen den gemiſchten Stoff als rein und echt verkaufen und ſo abſichtlich damit betrügen. Piſchte, Piſchtim wird von den Piſchtimhändlern die reine Leinwand genannt; Meſchi, Me - ſchech, Seide; Zemer die reine Wolle, Zemergefen die Baum - wolle, und Schaatnes, Schatnes oder Schetnes, Stoffe, die aus Wolle und Leinen, Wolle und Baumwolle, oder Baumwolle und Leinen, auch aus Seide mit Baumwolle u. ſ. w. gewebt, alſo gemiſcht, unrein oder unecht ſind. Jn dem Muſter und der Appretur wird auch den Schatnes ein glänzendes und täuſchen - des Aeußere gegeben. Daher geht und gelingt denn auch die Uebervortheilung hierbei aufs äußerſte, ſodaß der Piſchtimhändler ſeine Schatnes oft zum drei - bis vierfachen Preis des wahren Werths bei dem Unkundigen anbringt. Die Piſchtimhändler haben meiſtens Fuhrwerk bei ſich, und ſpielen dabei faſt immer die Ausländer, welche der deutſchen Sprache nicht mächtig ſind, während ſie auf die unverſchämteſte Weiſe untereinander kochemer ſchmuſen und mit eingeſtreuten holländiſchen und franzöſiſchen Brocken den verdutzten Landleuten die Güte und den Preis der von ihnen ſelbſt aus den beſten Fabriken bezogenen Waare be - greiflich zu machen wiſſen. 1)So war kürzlich ein Piſchtimhändler, ein holſteiniſcher Jude, amBei der beſtändigen Gefahr, wel -220 cher der Käufer von Leinwand ausgeſetzt iſt, verdienen die ein - fachen Mittel zur Entdeckung des Betrugs, welche neben com - plicirtern und daher ſchwierigern aber vollkommen ſichern Prü - fungsmitteln von Friedreich, a. a. O., S. 168, und Percy, a. a. O., S. 391 fg. übereinſtimmend empfohlen werden, hier einer kurzen Erwähnung. Um Leinen und Baumwolle in Wollen und Seiden - ſtoffen zu erkennen, ſchneidet man von dem Gewebe ein viereckiges, 1 Zoll großes Stückchen ab, fädelt es der Quere und Länge (der Kette und dem Einſchlag) nach aus, und verbrennt einen Faden nach dem andern am Kerzenlicht. Die Baumwollen -, Hanf - und Leinenfäden verbrennen mit lebhafter Flamme, hinter - laſſen keinen Rückſtand und geben den echten Geruch verbrannten Leinens; die Wollen - und Seidenfäden hingegen brennen ſchlecht und bilden an der Spitze eine ſchwammige Kohle, welche ihre weitere Verbrennung aufhält; es entwickelt ſich dabei ein ſtarker und unangenehmer Geruch, der zu charakteriſtiſch iſt, um auch nur einen Augenblick einen Jrrthum zuzulaſſen. Es laſſen ſich mithin die Anzahl der Wollen - und Seidenfäden und die der Baumwollenfäden leicht zählen.

Um Baumwollenfäden in der Leinwand zu erkennen, gibt man mittels der Feder einen Tropfen Tinte auf die zu prüfende Leinwand. Fließt die Tinte ſymmetriſch, das heißt, nach je zwei Richtungen übereinſtimmend aus, ſo iſt der Stoff halbleinen; fließt derſelbe verworren, das heißt, nach allen Seiten aus, ſo iſt der Stoff ganz leinen oder baumwollen; durch Baumwollenſtoffe1)Polizeiamte in Lübeck in Unterſuchung, der unter vielen andern Waaren auch ein für 11 Mark 8 Schillinge eingekauftes Tiſchgedeck einem reichen Bauer für 36 Mark verkauft hatte, welcher letztere, obſchon er vom Betruge unterrichtet wurde, von dem glänzenden Aeußern des Gedecks verlockt, dennoch den Kauf gelten ließ. Der Piſchtimhändler ließ den Handel durch einen gemietheten be - kannten Judenburſchen vermitteln, der als Kutſcher figurirte und die Pferde halten mußte, und hatte unter anderm zur draſtiſchen Bezeichnung, daß er weither auf der Eiſenbahn gekommen, komiſcherweiſe mit dem Arme Rad geſchlagen und laut dabei gepfiffen, während er ſowol das ihm vollkommen geläufige Niederdeutſche als auch das Hochdeutſche gänzlich vor den erſtaunten Bauern verleugnete.221 aber, die es ganz ſind, wird ſich wol niemand täuſchen laſſen. Fließt die Tinte gar nicht, ſo hat der Stoff zu viel Appretur, die man erſt durch Sieden und Waſchen entfernen muß. Macht man ſtatt des Kleckſes einen Ring auf den Stoff, ſo tritt der Unterſchied noch deutlicher hervor. 1)Nach den Zeitungen ( Hamburger Correſpondent , Nr. 153 vom 30. Juni 1857) wird jetzt von der dresdener Leinenhandlung R. Winter eine Flüſſigkeit, Linarin, debitirt, von welcher einige Tropfen auf die zu un - terſuchende Leinwand hinreichen ſollen, die baumwollenen Fäden ſofort weiß und auffallend von den übrigen dunklern und vollkommen durchſichtig wer - denden leinenen Fäden erſcheinen zu laſſen. Reinleinene Waare ſoll gleich - artig gefärbt und durchſichtig erſcheinen wie geöltes Papier. Die Wirkſamkeit und Bewährung dieſes Mittels iſt mir noch nicht weiter bekannt geworden.

Dieſe einfachen Mittel geben ſchon eine ziemliche Sicherheit gegen den Betrug, der übrigens noch durch eine Menge anderer, wenn auch umſtändlicherer Proceſſe mit Evidenz entdeckt werden kann. Durch das Mikroſkop oder auch ſchon durch eine einfache Lupe läßt ſich die Leinenfaſer als ein gerader, rundlicher, wenig oder gar nicht hohler Faden erkennen, der bei weitem derber und maſſiver erſcheint als die Baumwolle, welche aus hohlen, dün - nen, durchſichtigen Faſern beſteht, die eben, weil ſie hohl, zu - ſammengefallen, zuſammengedrückt ſind, und weil ſie keinen feſten Halt haben, bald rechts, bald links gewendet, etwa wie ein Haufen durcheinander geworfener und zuſammengedrückter Bänder ausſehen.

Ueber den Markt - und Hauſirhandel ſehe man das weitere in Kapitel 89, vom Schärfen.

Sechsundſechszigſtes Kapitel. h) Das Stippen.

Das niederdeutſche Wort Stip, Stippel, Stipje, bedeutet einen Punkt, Tupf; davon ſtippen, tunken, eintauchen, in der222 Gaunerſprache durch heimliches Hineinlangen wegnehmen, na - mentlich von kleinern Gegenſtänden1)Jn dieſer Bedeutung iſt auch der Ausdruck ſtipitzen in die Volks - ſprache übergegangen, der vielleicht zunächſt von dem mittelhochdeutſchen pfe - tzen, pfitzen, zupfen, kneifen, abkneifen, herzuleiten iſt, aber auch wol mit dem gauneriſchen Ausdruck fetzen und Stip zuſammenhängt. Vgl. Kap. 35, unter dem Ausdruck fetzen.; wie denn auch das heim - liche Wegnehmen des Geldes bei dem Chalfenen ſtippen genannt wird. Beſonders wird mit Stippen das Stehlen von Geld aus Ladenkaſſen, Lesfinne2)Finne, corrumpirt von Penne oder Pinne, welches von〈…〉〈…〉, ſich wenden, einkehren, abzuleiten iſt, und Behauſung, Einkehr bedeutet. Vgl. un - ten Kap. 89, das Schärfen. Vielleicht iſt das Les vom jüdiſch-deutſchen lutz〈…〉〈…〉, auslachen, verhöhnen, abzuleiten, wovon letz〈…〉〈…〉, Plural letzim〈…〉〈…〉, Spötter, Höhnender. Uebereinſtimmend iſt das deutſche: die Letz, Ergötzung, Poſſen, Schabernack. Vgl. Schmeller, a. a. O., II, 529., durch die Geldritze (Nekef) mittels der Stippruthe bezeichnet. Die Stippruthe iſt eine dünngeſchabte Stange Fiſchbein, 1 Fuß lang, die mit Vogelleim beſtrichen und in die Geldritzen geſteckt wird, ſodaß das in der Kaſſe be - findliche Geld an der Ruthe anklebt, welche dann mit dem Gelde herausgezogen wird. Das Stippen wird oft unter Beiſtand eines Vertuſſers oder Schmuſers vorgenommen, iſt aber immer ein ge - wagtes und wenig lohnendes Unternehmen, da nur kleine Mün - zen feſt an der Ruthe bleiben, während die größern leicht an - ſtoßen und durch ihr Abfallen verdächtiges Geräuſch erregen. Die Stippruthe wird daher meiſtens nur von unerfahrenen Anfängern angewandt, bis ſie bei der leidigen Operation ertappt und vor - ſichtiger werden. Jm Fall der Entdeckung bleibt dem Gauner nur die raſche Flucht übrig, die er häufig dadurch erleichtert, daß er dem Entdecker die Stippruthe ins Geſicht ſchlägt, um ihn für den erſten Augenblick zu conſterniren. Die Stippruthe iſt eine alte Erfindung, die beſonders von John Hall ( 1707) und von Koch, dem Genoſſen des Lips Tullian, angewendet wurde, wie man denn auch den Koch in den gedruckten Acten (vgl. die Literatur, Lips Tullian) mit der Stippruthe abgebildet findet. Die Opferſtöcke223 wurden früher ſehr arg mit der Stippruthe beſtohlen, bis man inwendig um die Geldritze eine Schürze von Drahtringen oder Tuch legte, welche man bei allen mit Geldritzen verſehenen Geld - behältern anwenden ſollte. Jn neueſter Zeit, nach der Bekannt - machung des k. k. Provinzialtribunals zu Como vom 17. Nov. 1856, iſt ein hauſirender Goldarbeiter mit ſeiner Frau wegen Führung von 10 Stippruthen nebſt Lederbeutel, worin ein klebriger Stoff enthalten, und wegen Verdachts der Beſtehlung von Opfer - ſtöcken, in Como zur Unterſuchung gezogen worden (vgl. Ko - burger Polizeianzeiger von 1856 , Stück 92, Nr. 902.) 1)Vgl. Eberhardt, Allgemeiner Polizeianzeiger , Bd. 45, Stück 22, Nr. 1003, woſelbſt ein anderer in Hildesheim zur Unterſuchung und Strafe gezogenen Stipper genannt wird.Das Stippen wird auch wol von Kindern ohne Stippruthe durch Hin - einlangen in die Geldritzen mit den zur ſogenannten Schere (vgl. Kap. 67) gebildeten Fingern ausgeführt, namentlich in Läden, wo die alten Ladentiſchplatten keine mit Metall gefutterte Geld - ritzen haben, und ungeachtet ihrer Abgängigkeit und Aufweitung nicht erſetzt werden. 2)Mir iſt ein elfjähriges Kind vorgekommen, das mehrere mal mit der Spitze des Zeigefingers und Mittelfingers unter einem auf den Ladentiſch ge - breiteten Tuche mehrere preußiſche Thalerſtücke durch die Geldritze einer Laden - kafſe herausgelangt hatte.

Siebenundſechzigſtes Kapitel. i) Das Torſdrucken oder Cheilefziehen.

Torf vom hebräiſchen〈…〉〈…〉 (toraph), er hat zerriſſen, zerfleiſcht, namentlich von wilden Thieren, wovon〈…〉〈…〉 (teref), Beute, Speiſe, und〈…〉〈…〉 (trefo), das von wilden Thieren Zer - riſſene3)Trefe oder Treife iſt das von wilden Thieren zerriſſene Fleiſch, deſſen Genuß den Juden verboten iſt, daher überhaupt alle verbotene Speiſe; Trefenekelim das (verbotene) Geſchirr, in welchem ſolches Fleiſch oder Eſſen iſt in der Gaunerſprache die durch Raub, Ueberfall224 und Ueberraſchung gemachte Diebsbeute, beſonders die aus dem Taſchendiebſtahl gewonnene Beute. Das Wort drucken kommt einzeln nicht in der Gaunerſprache vor, ſondern iſt nur in der Zuſammenſetzung mit Torf gebräuchlich. Es iſt offenbar nur eine Verſtümmelung des niederdeutſchen Worts Trekken1)Davon das niederdeutſche Trek oder Treek, Zug, Streich, Poſſen, Manier, Weiſe, Redeweiſe. Jemant eene ſlimme treek ſpeelen, je - mand einen ſchlimmen Streich ſpielen (vgl. Kramer, a. a. O., I, 400 u. 401). ziehen, was ſich auch aus der früher üblichen hochdeutſchen Bezeichnung Beutelzieher für Torfdrucker ergibt.

Von der behenden Operation werden die Torfdrucker auch Cheilefzieher (von〈…〉〈…〉 [chelef], Fett, Talg), und in ſchlechter Ueberſetzung auch Seifenſieder genannt, ohne daß mit dieſer Benennung eine beſondere Art der Taſchendieberei bezeichnet wird. Jn der berliner Gaunerſprache heißt der Torfdrucker auch Pad - dendrücker. 2)Von Padde, die Geldbörſe. Eine Padde drücken, eine Börſe aus der Taſche ziehen. Padde iſt der Gegenſatz von Tafel oder Platt - mulje, der Brieftaſche. Das loſe in der Taſche befindliche Geld (Pich) wird loſes Pulver genannt. Padde iſt vom Niederdeutſchen abzuleiten, wo es Kröte, beſonders Schildkröte bedeutet, daher das Wort Schildpatt. Ebenſo werden im Niederdeutſchen die Klappen, welche äußerlich die Rocktaſchen bedecken, Padden oder Patten genannt.

Das Torfdrucken iſt der raſche heimliche Diebſtahl gegen Per - ſonen an Gegenſtänden, welche die Perſon in ihrem unmittelbaren körperlichen Verwahr hat, alſo nicht allein der Diebſtahl aus der Taſche einer Perſon, ſondern auch an allen den Sachen, welche eine Perſon unmittelbar am Körper hält oder trägt, wie der Dieb - ſtahl aus und nebſt dem Armkorbe, aus und nebſt der Trage - taſche, das heimliche Wegziehen eines Packets unter dem Arme oder aus dem Bruſttheile eines Rocks u. ſ. w. Der Zefirgänger,3)aufbewahrt iſt. Die Schreibart Dorf iſt falſch (vgl. Waldheimer Wörter - buch , unter Geldbeutel). Bemerkenswerth iſt die in Norddeutſchland volks - bräuchliche Redensart, vorzüglich beim Spielen den Torf bringen , d. h. den Gewinn bringen . So ſagt der übermüthige, des Gewinnes ſichere Kartenſpieler: He ſall mi den Torf wol bringen! d. h. Er ſoll mir den Gewinn wol bringen, laſſen! 225welcher dem ſchlafenden Reiſenden die Taſchen ſeiner auf dem Stuhle vor dem Bette liegenden Kleidung leert, iſt ſo wenig Torf - drucker, wie der Räuber, der auf der Landſtraße dem Reiſenden mit Anwendung phyſiſchen oder pſychologiſchen Zwanges die Taſchen plündert.

Solange ſchon und ſo arg dieſer eigentliche geſellſchaftliche Diebſtahl getrieben iſt, ſo wenig eigentlichen techniſchen Apparat erfordert er. Die Hauptrequiſite ſind die unverdächtige Annähe - rung, ein behender heimlicher Griff und ſubſidiär ein raſches Zu - planten des Geſtohlenen an die Genoſſen, falls ein Verdacht rege werden ſollte. 1)Allerdings gehört große Fertigkeit und Uebung dazu. Es mag mög - lich ſein, daß früher die Beutelſchneiderlehrlinge vor ihren Meiſtern ſich mit einem Fuß auf eine Drehſcheibe ſtellen und im Herumdrehen einen von der Decke an einem Strick herabhängenden Geldbeutel abſchneiden mußten, ohne daß die daran befeſtigten Schellen ertönen durften, oder daß des Cartouche Lehrmeiſter ſeine Zöglinge an Gliederpuppen mit männlicher und weiblicher Kleidung übte, die in alle Stellungen und Lagen gebracht werden konnten, und aus deren engen Taſchen allerlei Gegenſtände geſtohlen werden mußten, ohne daß eine der vielen Glocken an den Puppen ertönte: actenmäßig iſt nichts davon conſtatirt, als daß höchſtens hier und da ein Gauner mit ſeiner Lehrſchule und Geſchicklichkeit prahlte.Eine der Gelegenheit angemeſſene äußere Er - ſcheinung ſeiner Perſon iſt daher die nächſte Sorge des Torf - druckers, der ſich ebenſo wol zum feinen Elegant im Theater und andern öffentlichen Orten, als auch zum derben Viehhändler und Bauersmann auf den Märkten herauszuſtaffiren, oder als ſoliden Kaufmann auf den Meſſen, oder als frommen Andächtler in den Kirchen ſich darzuſtellen weiß.

Dieſe ſo vollkommen leichte und unverdächtige Annäherung und behende Ausbeutung aller ſocialen Formen, in deren bunter Zahl und Bewegung die raſche und ſichere Unterſcheidung immer ſchwieriger geworden iſt, hat auf das geſammte bürgerliche Leben einen bedeutſamen Einfluß geübt, und jene kalte Zurückgezogen - heit und Etikette weſentlich gefördert, die zwar im vertrauten Kreiſe gern wie ein läſtiger Zwang abgeworfen wird, aber doch immer das Geſammtleben beherrſcht und ſehr häufig den ScheinAvé-Lallemant, Gaunerthum. II. 15226der Kaltherzigkeit und Fühlloſigkeit annimmt. Jn der maſſenhaft gedrängten Bewegung der großen Städte, namentlich Englands und Frankreichs, in welchen der Taſchendiebſtahl beſonders ſeine Rechnung findet, tritt jene Abgeſchloſſenheit gegen alles Fremde am ſichtbarſten hervor, ſodaß der Unbekannte nirgends verlaſſener iſt, als mitten in der großen Maſſe von Menſchen um ihn herum. Aber auch einen ganz entſchiedenen Einfluß auf die Kleidung1)Vgl. die treffliche Darſtellung von Guſtav Klemm, Allgemeine Cul - turgeſchichte der Menſchheit , IX, 100 116. So auch Hüllmann, Städte - weſen des Mittelalters , IV, 134 fg. und deren Schnitt und Taſchen hat von jeher der Taſchendiebſtahl geübt. Jn früherer Zeit, wo die Taſchen nicht in der Kleidung befeſtigt waren, ſondern an Riemen und Bändern über die Schul - tern oder Bruſt, oder um den Leib getragen wurden, konnten die Beutelſchneider oder Schnapphähne2)Erſt gegen Ende des 17. Jahrhunderts ſcheint der Ausdruck Schnapp - hahn für Taſchendieb gebräuchlich geworden zu ſein. Die urſprüngliche Bedeutung iſt wol eine andere geweſen. Den älteſten Nachweis, den ich finden konnte, gibt Kaspar von Stieler (der Spaten) in ſeinem Teutſchen Sprachſchatz (1691), woſelbſt er S. 749 ſagt: Schnapphähne dicuntur rustici sylvarum recessus occupantes atque in transeuntes milites sae - vientes , alſo etwa Buſchklepper. Jm Niederdeutſchen heißt Snap-haan eine Flinte, Flintenbüchſe, und danach auch, wie Kramer, a. a. O., I, 353, anführt, ein Räuber mit einer Flinte zu Kriegszeiten , alſo ziemlich übereinſtimmend mit Stieler. mit einem kurzen Ruck oder Schnitt im haſtigen Laufe ſich der ganzen Taſche leicht bemäch - tigen. Seitdem die Taſchen aber an und in der Kleidung be - feſtigt ſind, iſt der Kunſt eine ſchwierigere Aufgabe geſtellt, die aber immer mit täglich neuen Kunſtgriffen, oft zum ſchweren Nachtheil für Geſundheit und Leben3)So erzählt Smith, a. a. O., S. 710, daß der berüchtigte Simon Fletſcher einmal einen Landmann auf der londoner Brücke, welcher auf ſeinen Stock vorn übergelehnt, mehreren Sängern zuhörte, gänzlich verſtümmelte, als er ihm die Geldtaſche vor dem Beinkleid wegſchneiden wollte. des Beſtohlenen, gelöſt wird, da zum Aufſchlitzen und Abſchneiden der ſichernden Taſchen vielfach auch ſcharfe Scheren und Meſſer in Anwendung kommen, wie denn auch zum Durchſchneiden der feinen Uhr - und Halsketten kleine227 und feine Beißzangen gebraucht, und auch ſonſt Fingerringe, Brochen und Ohrringe mit raſcher Gewalt weggeriſſen werden.

Kaum irgendeine Gaunerinduſtrie iſt mit dem ſocialen Leben ſo direct und innig verbunden wie das Torfdrucken, weil das Verbrechen immer erſt eine beſtimmte Situation und Bewegung dieſes Lebens abwartet oder herbeiführt, um ſich in ſie hinein - zudrängen und ſie auszubeuten. 1)So benutzte Jonathan Sympſon, der ein vortrefflicher Schlittſchuh - läufer war, und das ſogenannte holländiſche Laufen ſehr gut innehatte, den 13 Wochen lang anhaltenden Froſt des Winters 1683, um ſogar auf Schlitt - ſchuhen Taſchendiebeteien unter dem Volk auszuüben, welches die Themſe zwi - ſchen Fulham und Kingſtone-Bridge auf dem Eiſe paſſirte, wobei Sympſon große Beute machte (vgl. Smith, a. a. O., S. 688). Zu den pikanteſten ſocial-politiſchen Anekdoten gehören die kecken Taſchendiebſtähle, beſonders von fein gekleideten Frauenzimmern, mit Anwendung des Chloroforms. Das Werfen von Sand, Schutt, Kalk, Pfeffer, Schnupftaback u. dgl. in die Augen des zu Beſtehlenden kommt noch immer vor. Das letztere iſt auch ein viel verſuchtes Wagniß gefangener Gauner, um neben dem arglos in die Zelle tretenden Ge - fangenwärter vorbeiſchlüpfen zu können.Daher iſt der Taſchendiebſtahl in allen nur denkbaren Lebensſituationen möglich und wird ebenſo wol von Weibern und Kindern, als von Männern ausgeübt. 2)Keineswegs gehört die Betheiligung des weiblichen Geſchlechts beim Torfdrucken erſt der neueſten cultivirtern Zeit an. Schäffer erzählt, S. 67, von der 1788 zu Ober-Tiſchingen hingerichteten Gaßners Liſel, daß ſie bei Anweſenheit des Großfürſten zu Ludwigsburg 1782 dem Grafen Schenck von Caſtell unter der Thür der Schloßkapelle einen Béutel mit 1700 Gulden aus der Taſche ſtahl und glücklich damit entkam. Jm Theater zu Jnnsbruck ſtahl ſie an einem Abend vier Taſchenuhren, vier ſilberne Tabacksdoſen und 13 Schnupftücher. Hundert Jahre vorher zeichnete ſich die Falſette (Meyers) in Lübeck, Hamburg, Roſtock u. ſ. w. durch ähnliche Virtuoſität aus; ſo auch in Köln und Spaa die deutſche Prinzeſſin, in England die Mary Hawkins, Anna Hollandia, Anna Harris, Debora Churchill, Mary Frith (Mol Cut - purſe), Anna Hereford u. a. Von der Virtuoſität der umherziehenden Sa - voyardenjungen enthält ſchon die ältere franzöſiſche Gaunergeſchichte eine Menge Beiſpiele. Beſonders wird das Torfdrucken jetzt auch von Jungen geübt, welche ſich vor Schauſpielhäuſern u. ſ. w. an die Wagen drängen und beim Aus - und Einſteigen ihre Hülfe anbieten.Jeder Taſchendiebſtahl iſt eine pikante ſocial-politiſche Anekdote, in welcher das Gaunerthum frappante Siege feiert. Deshalb15 *228exiſtiren dieſe ungemein vielen Sammlungen wahrer und falſcher Anekdoten, beſonders aus der engliſchen und franzöſiſchen Gauner - welt, welche in Erſtaunen ſetzen, ſobald man ſie auf der Folie des alltäglichen ruhigen Lebens betrachtet, und nicht zugleich dabei auf die Schwachheit, Eitelkeit oder Unbedachtſamkeit der Betrogenen blickt. Wollte man die verſchiedenen Kunſtgriffe aufzählen, ſo müßte man ſie immer mit einer Anekdote verbinden, und ſo viel Anekdoten wiedergeben, als unzählige Situationen des ſocial - politiſchen Lebens ſchon ausgebeutet wurden. Dennoch würden jene Aufklärungen wenig nützen; denn wenn auch irgendeine Si - tuation unter dieſen und jenen Verhältniſſen mit ihren gefahr - vollen Momenten deutlich gezeichnet wird, ſo kann gerade dadurch, daß dieſe beſtimmten Momente nun beſonders genau beobachtet werden, eben durch die Vertiefung in ſie, irgendein anderes, neues Moment deſto geſchickter zum Diebſtahl ausgebeutet werden. Die bekannten Gaunergriffe, daß der ſeinen Nachbar im Theater um eine Priſe bittende Gauner in die geöffnete Doſe eine kleine Bleikugel mit einem Seidenfaden fallen läßt, an dem er ſpäter die Doſe aus der Taſche zieht; oder die Oſtentation falſcher Hände mit Handſchuhen, welche ſichtbar auf den Knien ruhen, während der Gauner ſeinem Nachbar im Poſtwagen oder im Eiſenbahn - coupé heimlich die Taſchen ausplündert; das gefällige Abſtäuben von Schnupftaback, Cigarrenaſche oder Staub vom Rocke, wäh - rend ein im Siegelringkaſten verſtecktes ſcharfes Einſchlagemeſſer - chen den Rock über der Bruſttaſche aufſchlitzt u. ſ. w.: alle dieſe Gaunergriffe können noch ſo bekannt und veraltet ſein, ſie kommen doch immer wieder zum Vorſchein. Jn dieſer Weiſe wird kein Kunſtgriff alt, während noch immer neue Zuſätze hinzukommen. Unlängſt war ein ſechzehnjähriger Burſche am hieſigen Polizei - amte in Unterſuchung, welcher bei einem Volksfeſte vor den Schaubuden den Zuſchauerinnen auf das Kleid trat, und in dem kurzen Moment, in welchem die Zuſchauerin mechaniſch mit der Hand das Kleid aufzog, ohne die ganze Aufmerkſamkeit auf die gefährliche Nachbarſchaft zu wenden, mit äußerſter Behendigkeit in die Taſchen des ſtraffgezogenen Kleides griff und in dieſer229 Weiſe reiche Ausbeute machte. Eine Dirne wußte auf den Marktplätzen den Käuferinnen unter dem gefälligen Anerbieten, ein gelöſtes Schuhband wieder zu befeſtigen, ſogar in kniender Stellung die Kleider mit einer Hand niederzuziehen und mit der andern Hand die Portemonnaies aus den Taſchen zu ſtehlen. 1)Der eigenthümliche Griff der Hand heißt die Schere. Zur Schere dient der Zeigefinger und Mittelfinger, welche ſeitlich voneinander bewegt und wie die Schneiden einer Schere zuſammengeführt werden, um das in der Taſche des Freiers befindliche Portemonnaie u. ſ. w. zu faſſen. Der Torf - drucker führt die Hand gewöhnlich ſo in die Taſche, daß der Rücken ſeiner Hand gegen den Körper des Freiers gewendet iſt, damit er deſto leichter die Taſche vom Körper abbiegen und jede körperliche Berührung vermeiden kann; der Daumen, der vierte und fünfte Finger liegen leicht in der innern Hand, und werden nach Bedürfniß zur Ausweitung der Taſchenfalten bewegt, um ſo den Durchgang und die Operation der Schere zu erleichtern.Noch eine ganz junge Dirne beobachtete abends durch die Laden - fenſter, an welcher Seite des Kleides die Käuferinnen ihre Geld - beutel in die Taſche ſteckten, und wußte, unter unbefangenem, tän - delndem Kindergeſchwätz, neben den ihr ganz unbekannten Perſonen eine Zeit lang einherzutrollen, bis ſie unvermerkt den Geldbeutel aus der Taſche geſtohlen hatte. Rennende Jungen wiſſen ſo ge - ſchickte Griffe in die Körbe oder gegen die in der Hand getragenen Beutel und Taſchen zu machen, daß der Diebſtahl oft erſt ſpät bemerkt, oder, wenn der Verluſt bemerkt, doch an den Diebſtahl zunächſt nicht geglaubt, vielmehr, durch Suchen nach dem Verloren - geglaubten, dem Diebe erſt recht Gelegenheit zur unverdächtigen oder raſchen Entfernung gegeben wird. Unglaublichen Ertrag geben die Taſchendiebſtähle in den Bordells, in welchen die ver - worfenen Geſchöpfe bei der Preisgebung mit deſto größerer Zu - verſicht ſtehlen, als ſie wiſſen, daß der Beſtohlene ſeinen Verluſt, wenn er auch ſpäter den Diebſtahl ahnet, lieber verſchmerzt, als ſeine Ausſchweifung der Polizei verräth. Beſonders kecke Taſchen - diebinnen ſind die ſich in Verſtecken preisgebenden Gaſſendirnen (Dappelſchickſen), die ſpäter ſchwer oder gar nicht einmal aufge - funden werden können. Nicht minder frech iſt das Ausplündern230 aufſichtsloſer Kinder, welche zu dem Zwecke beſonders von Wei - bern beiſeite, in Thorwege, auf Hausfluren u. ſ. w. gelockt, oft aber auch auf der Gaſſe ſelbſt, am lichten Tage, ihrer Ohrringe, Tücher oder Körbchen beraubt werden. Hierher gehört beſonders auch alles, was ſchon früher vom Vertuß und Meiſtern ge - ſagt iſt, und beſonders das Wandmachen, d. h. das verabredete Verdecken des Diebes vor dem Beobachter oder vor dem Beſtoh - lenen, durch Vorſchieben einer Perſonengruppe oder eines andern Gegenſtandes, welches, wie ſchon geſagt iſt, auf Meſſen und Märk - ten ganz beſonders cultivirt wird.

Der Taſchendiebſtahl iſt wegen ſeiner Heimlichkeit, Apparat - loſigkeit, Behendigkeit, ſeiner ausgeſuchten Gelegenheit in der arg - loſen Lebensbewegung, und beſonders wegen der durchgängigen Kleinheit und Gleichmäßigkeit ſeines Objects, äußerſt ſchwer in flagranti zu entdecken, ſelbſt wenn der Beſtohlene den Muth hat, den Verdächtigen auf friſcher That anzugreifen. Der Torfdrucker weiß im Nu das Geſtohlene ſeinen Genoſſen zuzuplanten, das raſch von Hand zu Hand geht, und oft ſchon weit außer dem Bereich der ganzen Umgebung iſt, wenn der Diebſtahl bemerkt wird. Jm Fall der Bedrängniß und des Alleinſeins verſarkent der Torfdrucker den Maſſematten oder Kiſſ1)Von〈…〉〈…〉 (sorak), er hat geſtreut, geſprengt, geworfen. Kiſſ (〈…〉〈…〉) iſt der Beutel, Säckel, Geldbeutel, baares Geld, Courantgeld, Scheidemünze, z. B. den Dalles bekiſſ haben, Armuth im Beutel haben, ein armer Schlucker ſein. Das Wort Kies iſt nur durch falſche Ausſprache und Schrei - bung entſtanden und bedeutet nichts anderes als Kiſſ, obwol Kies ganz beſon - ders zur Bezeichnung von baarem Geld, Scheidemünze, Courantgeld, dient (vgl. Thiele, I, 265). Man ſagt jedoch nicht etwa kein Kies bekiſſ haben , ſondern kein Kies bemulje haben . Von Kiſſ iſt noch abgeleitet Kißler, für Torfdrucker. Das Wort Mulje oder Mulle, Taſche, beſonders die ge - füllte Taſche, kommt wol nicht vom hebräiſchen〈…〉〈…〉 (mole), voll, die Fülle, her, ſondern vom hochdeutſchen Mulle, Wanne, Trog, zum Aufbewahren von Getreide, Mehl, Teig und Brot (vgl. bei Schmid, a. a. O., S. 393 u. 394, die Formen: Milde, Molle, Mollje, Molge, Molde, Molter [Malter] und Mulde)., d. h. er wirft das Geſtohlene heim - lich fort, damit ihm der Beſitz deſſelben nicht nachgewieſen werden231 und er alſo den Diebſtahl deſto kecker leugnen kann. Beſteht der Diebſtahl in Geld, ſo wirft der Torfdrucker das Behältniß, Beutel, Portemonnaie, baldthunlichſt von ſich, und iſt gewiß, daß ihn der Beſitz des bloßen Geldes nicht mehr verdächtigen oder überführen kann, als jeden Andern in der Nähe, welcher Geld in der Taſche hat. 1)Natürlich feiert aber auch hier die Kunſt ihre Triumphe im Zuplanten der geleerten Geldbörſen. Die faſt jedem großen Taſchendieb nacherzählte be - rühmte Anekdote von der Verwandelung des Geldes in Koth ſtammt von dem 1707 zu Tyburn hingerichteten John Hall her, der auf dem Viehmarkt zu Smithfield einem Viehhändler einen Beutel mit 30 Pfund Sterling ſtahl, und ihm den darauf, zur Ehre der Kunſt, mit Koth gefüllten Beutel wieder ſo geſchickt in die Taſche zu prakticiren wußte, daß der Viehhändler hoch und heilig ſchwur, noch vor einer kleinen Weile 30 Pfund gehabt zu haben, und ſteif an die Einwirkung des Teufels glaubte.Werthvolle kleinere Sachen, wie Brillantſteine, Perlen u. ſ. w., werden auch wol in den Mund geſteckt, oder gar ver - ſchluckt2)Als der berüchtigte Sawney Douglas einmal der Tochter des Apo - thekers Knowles in Weſtminſter 32 Perlen geſtohlen und verſchluckt hatte, wurde er gezwungen zwei heroiſche Doſen eines Vomitivs einzunehmen, wo - durch er denn freilich mit der qualvollſten Anſtrengung die Perlen, von denen die letzte beſonders hartnäckig war, wieder in den Beſitz der Damnificatin brachte (vgl. Smith, S. 714 fg., der die Geſchichte mit großem Humor in der Biographie des Douglas erzählt)., oder auch wol in die Naſenhöhlen oder in die Ohren und ſonſtige Cavitäten geſteckt3)Vgl. Kapitel 24, 34 u. 58., oder heimlich dem wohldreſſirten Hunde hingeworfen, der damit fortläuft und nur von ſeinem Herrn oder deſſen bekannten Genoſſen ſich anhalten läßt.

Dem offenen geſelligen deutſchen Weſen widerſtrebt der Zwang, den ihm die Sorge für die Sicherheit der Perſon und des Ei - genthums im ſocialen Verkehr auflegt. Es erfüllt den Deutſchen vor allem mit Misbehagen, wenn er an Bahnhöfen, Meßplätzen und an andern öffentlichen Orten, ja ſelbſt in Gaſthöfen, die ihm das eigene ſichere Haus erſetzen ſollen, auf den gedruckten War - nungstafeln die Unſicherheit und Schutzloſigkeit des ſocialen Lebens proclamirt findet, deſſen behaglichen Frieden er gerade von der warnenden Perſon oder Behörde zunächſt verlangt. Aber eben -232 dies Misbehagen und Verlangen documentirt, daß der Deutſche, der die Polizei mehr in Anekdoten als in der directen Berührung liebt, zu wenig von ſeiner behaglichen Sorgloſigkeit opfern mag, und zu wenig ſelbſt für ſeine Sicherheit thut. Er trägt die Uhr, welche vielleicht nur 20 30 Thaler koſtet, an einer Kette um den Hals und ſeine Brieftaſche mit Kaſſenſcheinen und Aſſignaten von mehreren tauſend Thalern Werth in der Rockſchoßtaſche oder in der klaffenden Bruſttaſche. Er macht ſogar erſt Bekanntſchaft durch Anbietung einer Priſe aus ſeiner ſilbernen oder goldenen Doſe, die ihm bald nach dem Wegſtecken geſtohlen wird. Er hält es für eine Beleidigung, wenn er ſogar dem geringen Mann das Feuer ſeiner Cigarre abſchlägt1)Jm Niederdeutſchen hat ſich ſogar die Parömie gebildet: Een Smöker is den annern Für ſchüllig , d. h. Ein Raucher iſt dem andern Feuer ſchuldig ., und bleibt ſelbſt im raſchen Ge - ſchäftsgange gefällig ſtehen, während der Taſchendieb ihm die Uhr oder Plattmulje zupft. Die kalte Abgeſchloſſenheit des Engländers, mit welcher er durch das ſocial-politiſche Leben ſchreitet, ſichert ihn ebenſo ſehr vor der ungewünſchten Annäherung, wie dem Franzoſen dieſen Schutz ſeine feine Höflichkeit verleiht, mit wel - cher er ſelbſt die Entfernung abmißt, welche dritte gegen ihn zu beachten haben. Der engliſche Comfort findet in Deutſchland eine ebenſo ſtarke Nachahmung wie ſchlechte Ueberſetzung. Die praktiſche Nützlichkeit des unkleidſamen Sackrocks zum Beiſpiel, mit welchem der Engländer ſeine Perſon und Taſchen wie mit einer Schutzmauer überzieht, wenn er auf der Straße oder auf Reiſen geht, iſt in Deutſchland bedeutend paralyſirt durch die Taſchen, die noch dazu von außen angebracht, alſo auch für den Taſchendieb leicht zugänglich ſind. Der Engländer wickelt ſeinen klafterlangen ſtarken Plaid feſt um die Hüften, ſteckt die Enden zwiſchen die Beine, und wärmt dadurch ſowol den Körper, als er auch den Taſchen eine größere Bedeckung und Sicherheit verleiht, wenn er im Eiſenbahncoupé einſchlafen ſollte. Der angliſirende deutſche Handlungsreiſende legt denſelben Plaid hohl über die Schenkel und läßt die Enden hinten zurückſchlagen oder zur Seite herab -233 hängen, ohne eigentlichen Nutzen von dieſem äußerſt praktiſchen Reiſeſtück zu haben u. ſ. w.

Die Sicherheitsvorſchläge, welche Hirt in ſeinem vortrefflichen kleinen Buch, S. 32 fg., macht, ſind genau nach den angeführten Rückſichten bemeſſen1)Freilich laſſen ſich nicht alle Maßregeln, die der Engländer nach Ge - legenheit in ſeiner ſonderbaren Weiſe auszudenken weiß, nachahmen und em - pfehlen, ſo praktiſch ſie auch ſind. Einer der größten engliſchen Taſchendiebe Tom Taylor wurde einmal wirklich geangelt. Jm Drurylanetheater hatte nämlich Taylor eines Abends einem neben ihm im Parterre ſitzenden Eng - länder 40 Guineen aus der Rocktaſche geſtohlen, und war verwegen genug, am andern Abend wiederzukommen und, da er den Beſtohlenen wieder auf dem - ſelben Platz erblickte, ſich zu ihm zu ſetzen. Der Engländer, welcher den Tay - lor trotz ſeiner Verkleidung wiedererkannte, ſtellte ſich ganz arglos und ſteckte eine bedeutende Menge Guineen in die Rocktaſche, in welche Taylor bald dar - auf ſeine Hand prakticirte. Die Taſche war jedoch am Eingange mit Fiſcher - haken beſetzt, die das Zurückziehen der Hand verhinderten. Nach einer Weile ſtand der Engländer, dem der geangelte Taylor gezwungen folgen mußte, kalt - blütig auf und ging über die Straße in einen Gaſthof, wo er Taylor zum Erſatz alles Geſtohlenen zwang, ihn derb durchprügelte und dann dem herbei - gelaufenen Volk überließ, welches ihn ſchwemmte und ſo arg mishandelte, daß er einen Arm und ein Bein dabei brach., und empfehlen ſich als praktiſch und nütz - lich. Die Befeſtigung der Portemonnaies an Schnüren oder Stahlketten, wie Hirt vorſchlägt, iſt dem Taſchendieb gewiß in den meiſten Fällen ein Hinderniß. Ebenſo ſicher ſind die tie - fern Taſchen in Beinkleidern, Weſten und Röcken. Die durch - gehende Befeſtigung der hintern Rocktaſchen an das Unterfutter verhindert das raſche Abſchneiden. Brieftaſchen, Doſen und Werth - ſachen ſollte man vernünftigerweiſe nie anders als in den innern Bruſttaſchen tragen, welche unerlaßlich mit einer Klappe zum Zu - knöpfen verſehen ſein müſſen. Gegen das Aufſchneiden der Bruſt - taſchen von außen her im Gedränge ſchützen die Wattirungen noch beſſer, wenn man ſie mit dünnen, elaſtiſchen Federn von rund gewickeltem Draht quer durchziehen läßt. Dem Fußreiſenden, der erwarten muß, daß er mit fremden Leuten zuſammen auf einer gemeinſamen Streu ſchlafen und vielleicht das Aufſchneiden ſeines Reiſeſacks fürchten muß, iſt allerdings die von Hirt vorgeſchlagene,234 auf dem bloßen Leibe oder doch mindeſtens unter dem Beinkleide zu tragende Gurttaſche von ſicherm Nutzen. Für Markteinkäufer - innen ſind ebenfalls Ledertaſchen mit ſtählernem Bügel und Kett - chen anſtatt der leicht abzuſchneidenden Schnürbeutel, ſowie das Tragen von Leibtaſchen unter dem mit einem Schlitz verſehenen Kleide1)Solche Leibtaſchen trugen früher die Gaunerinnen ſelbſt als ſicherſtes Schutzmittel auf dem bloßen Leibe. Marie Agnes Brunnerin, Concubine des berüchtigten Stanus-Frey, trug ſolche Taſche, die ſie ihren Hamelſack nannte, beſtändig auf dem bloßen Leibe, und hatte immer 100 150 Gulden darin (Sulzer, Gaunerliſte , 1801, S. 67). Dagegen iſt das Tragen der Geldbörſen in der Hand oder in Körben, ſelbſt wenn letztere mit Deckeln oder Decken verſehen ſind, in keiner Weiſe rathſam, da ein Schlag, Griff oder Druck auf die Hand ebenſo leicht die Börſe herausſchleudert, wie ein Schlag, Griff oder Stoß gegen den Korb dies vermag. Beſonders wiſſen kleine Jungen mit einem eigenen Anlauf unter die Körbe hindurch zu rennen, ſodaß ſie dieſelben im Nu mit dem Rücken aufheben und in eine ſchräge Lage brin - gen, damit das Geld herausfällt und von den Genoſſen raſch von der Erde aufgerafft werden kann. zu empfehlen. Für Reiſende iſt es allerdings noch beachtens - werth, daß der Umhangriemen der Geldtaſchen mit weichem Draht beſetzt wird, um ihn gegen das raſche Durchſchneiden zu ſichern.

Achtundſechzigſtes Kapitel. k) Das Stradehandeln, Goleſchächten und Golehopſen.

Das Wort Stradehandeln, richtiger Straathandeln, iſt von dem niederdeutſchen Straat2)Die Rotwelſche Grammatik (1755) hat Stroda, einen der vielen von Sommer in ſeinem Wörterbuch nachgeſchriebenen Druckfehler für Strada, welches auch das Hildburghauſiſche Wörterbuch , wol nach dem italieniſchen strada, hat (vgl. Pott, a. a. O., II, 17); in der hamburger niederdeutſchen Mundart wird Straat, mit gedehntem o, Stroot ausgeſprochen. Jm Waldheimer Wörterbuch kommt das Wort Strehle und Strahle für Straße vor, welches Pfiſter und Grolmann ebenfalls aufführen. Jm Althoch - deutſchen und Mittelhochdeutſchen kommt der Ausdruck nicht vor, ſo wenig wie herzuleiten, welches Straße,235 Gaſſe bedeutet. Jn der Gaunerſprache wird jedoch Straat, Strat oder Strade ausſchließlich für die Straße außerhalb eines Orts gebraucht, und bedeutet ſomit die Landſtraße, Chauſſee, Heer -, Land - und Feldweg, im Gegenſatz von Rechof1)Rechof (〈…〉〈…〉), in derſelben Etymologie wie πλατεῖα und platea, iſt die Erweiterung des Raums zwiſchen Häuſern zur Straße, und daher beſon - ders eine breite Straße und bei den Morgenländern der breite Platz außer - halb der Stadt, wo Gericht und Markt abgehalten wurde., die Straße in der Stadt, und Schuck, welches beſonders noch die belebte fre - quente Stadtſtraße, den Marktplatz und Markt bedeutet. 2)Schuck von〈…〉〈…〉, Plural〈…〉〈…〉 (sehewokim), vom gleichlauten - den Verbum ſchuck, laufen, ſtrömen, nachlaufen bezeichnet eigentlich am beſtimmteſten die Straße in der Stadt (vgl. Sprichwörter Sal., K. 7, V. 8), iſt jedoch in der Gaunerſprache vorzugsweiſe in die Bedeutung von Markt, Viehmarkt, Krammarkt übergegangen, wie z. B. Schuckgänger, der Markt - dieb; den Schuck abhalten, den Markt beſuchen, um Gaunergeſchäfte zu machen. Das Wort〈…〉〈…〉 (derech) iſt der allgemeine Ausdruck Weg auch in metaphoriſcher Bedeutung; Haliche dagegen iſt der Schleichweg, Diebsweg.Strade - handeln, oder auf der Strade handeln, iſt der allgemeine Ausdruck für den gauneriſchen Diebſtahl auf oder an der Land - ſtraße3)Auch der Schränker, der die an oder nahe bei der Landſtraße belegenen Dörfer, Höfe, Mühlen u. ſ. w. heimſucht, handelt auf der Strade. Das Um - herziehen, namentlich Hauſiren auf dem Lande, wird Medinegehen, auf der Medine gehen (geien) genannt, wovon Medinegeier, der Land - hauſirer., im Gegenſatz von dem allgemeinen Ausdruck: in Mo - kum oder auf dem Schuck handeln, d. h. in der Stadt, auf dem Markte Gaunereien verüben. Jm gleichen Gegenſatze zu dem Ausdruck: den Schuck abhalten, d. h. auf den Märkten er - ſcheinen, um die Gelegenheit zu Gaunereien wahrzunehmen, ver - hält ſich die Redensart: die Strade halten, oder kurzweg Stradehalten, d. h. auf den Landſtraßen reiſen, um die Gelegen - heit zu Diebſtählen auf derſelben wahrzunehmen. Strade -2)im Niederdeutſchen; doch hat Richey im Hamburger Jdioticon , S. 293, Strahl-Hore als pöbelhaftes Scheltwort. Als Jdiotismus in der Unter - pfalz kommt (Bibra’s Journal von und für Deutſchland , 1787, Nr. 9, S. 216) Strähl, Kamm, und ſtrählen, kämmen, vor, welches wol von Striegel (niederdeutſch Strägel) oder ſtriegeln abzuleiten iſt.236 kehrer1)Vgl. oben beim Schränken das analog zuſammengeſetzte Schrende - feger (bei Pleitehandeln und Challe handeln, Kap. 45). Großes Aufſehen hat die, freilich nur in Zeitungen erwähnte, bislang unerhörte Ver - wegenheit einer Räuberbande gemacht, welche im November 1856 durch Auf - ziehen der Haliſignale einen von Rom kommenden Eiſenbahnzug zum Stehen gebracht und ausgeplündert haben ſoll; doch ſcheint die Geſchichte wol nur eine Zeitungsente geweſen zu ſein. Noch andere ſchändliche Verſuche ſind ſchon gemacht worden durch Auflegen von Balken und Steinen auf die Eiſen - bahnzüge, ohne daß bisjetzt ein vollſtändiges Gelingen der dabei gehegten Ab - ſichten erreicht worden wäre. Jedenfalls mahnen die bisher gemachten Er - fahrungen dringend dazu, die Eiſenbahnſtrecken nicht ferner allein der unzurei - chenden Aufſicht der Bahnwärter zu überlaſſen, ſondern auch einer ſtrengen poli - zeilichen Ueberwachung zu unterſtellen. Am 28. Febr. 1854, abends Uhr, wurde auf den Abendzug der Lübeck-Büchen-Hamburger Eiſenbahn bei dem lauenburgiſchen Orte Friedrichsruhe geſchoſſen. Eine Kugel fuhr durch beide Fenſterſcheiben eines Coupés hindurch, zum Glück ohne jemand zu verletzen. Der Thäter konnte nicht ermittelt werden. Vereinzelte Raubanfälle auf Poſten kommen noch heute vor. So wurde z. B. am 24. Jan. 1857, abends 9 Uhr, die von Verona nach Tirol abgehende Mallepoſt bei Parona von 14 bewaffneten Räubern angefallen und um 40,000 Gulden beraubt. Die Räuber wurden jedoch mit dem Raube bald von der trefflichen öſterreichiſchen Gensdarmerie entdeckt und angehalten. Vgl. Oeſterreichiſches Centralblatt , 1857, Nr. 383, S. 13. ſind dagegen Straßenräuber, welche Fuhrwerke und Perſonen auf der Landſtraße anfallen und berauben.

Das Stradehandeln iſt im Grunde nur die moderniſirte Wegelagerei. Die Raubritter des Mittelalters, welche vom Sattel oder Stegreif lebten, hatten an den ſchlechten Wegen, die kaum etwas anderes waren als unordentliche gewundene Fußſteige oder Reitſteige, und bei den ſchlechten unbeholfenen Karren, welche lang - ſam und ſchwerfällig aus den ſchmalen und niedrigen Stadtthoren auf den holperigen Wegen einherfuhren, allerdings eine leichtere Arbeit, ſich ganzer Waarenzüge zu bemächtigen und das bewaffnete Geleite niederzuwerfen oder in die Flucht zu ſchlagen. Die ſchlech - ten Wege in Deutſchland haben dem Straßenraub ſehr lange Vorſchub geleiſtet, und erklären auch die vielen Poſtberaubungen, welche noch bis tief in das jetzige Jahrhundert hinein ſo verwe - gen wie häufig unternommen wurden. Die ſehr ſpäte und wol237 erſt von der Napoleoniſchen Zeit her zu datirende Herſtellung von wirklichen Kunſtſtraßen, welche mit Chauſſee - und Poſthäuſern, ſowie mit Gensdarmerieſtationen beſetzt und geſichert ſind, hat auch behendere Gefährte und eine beſchleunigtere Bewegung derſelben hervorgebracht, ſodaß auch die Gaunerkunſt ein Uebriges thun mußte, um gleichen Schritt mit dieſen Vervollkommnungen zu halten. An Stelle der frühern ſtationären Wegelagerei iſt das Stradehandeln eine ambulante Praxis geworden, deren rührige Bewegung ganz außerordentlich iſt und auch außerordentliche Wach - ſamkeit nöthig macht.

Zur raſchen Bewegung und zum behendern Transport der von den Fahrzeugen auf der Landſtraße geſtohlenen Gegenſtände dienen den Stradehaltern die Agolen, Michſegolen1)Agole (〈…〉〈…〉), der Wagen, Frachtwagen, Reiſechaiſe, auch verdorben Eglo ausgeſprochen; davon die Ausdrücke Goleſchächter und Golehopſer. Jm Jüdiſch-Deutſchen kommt noch vor:〈…〉〈…〉 (merchof) und〈…〉〈…〉 (rechof), in der allgemeinen Bedeutung von Wagen. Dagegen heißt in der deutſchen Gaunerſprache der Frachtwagen die Laatſche, von der langſamen Bewegung (latſchen). Die Laatſche belatchenen oder beſſachern, den Frachtwagen beſtehlen. 〈…〉〈…〉(michse), iſt die Decke des Zelts, Schiffs, Hauſes, Dach, Verdeck, Frachtwagenplan. Michſegole iſt der mit einem prakticabeln Leinen - plan überſpannte Gaunerwagen, aber auch Frachtwagen. Golemichſe oder Agolemichſe iſt der Wagenplan an Gauner - und Frachtwagen., von deren Urſprung ſchon oben2)Vgl. S. 37, Note 1. die Rede geweſen iſt. Es ſind ge - wöhnliche leichte Stuhl -, Leiter - oder Korbwagen3)Neuerdings kommen auch Hundefuhrwerke auf, welche ihrer Behendig - keit wegen ein ſehr gefährliches Transportmittel ſind, unter die geſchloſſenen Chauſſeebäume durchfahren, und ſich ſchlecht nachſpüren laſſen. Sie verdienen ſehr genaue Aufmerkſamkeit der Sicherheitsbeamten. mit einem zum Niederſchlagen eingerichteten Leinenplan, nach Art der Fracht - wagen, mit einem oder zwei nicht auffällig gezeichneten Pferden, welche von der Genoſſenſchaft auf gemeinſchaftliche Koſten unter - halten werden. Der Plan wird bald auf -, bald niedergeſchlagen, je nachdem die Chawruſſe ſich ſehen laſſen zu dürfen oder ver - bergen zu müſſen glaubt. Die Agolen haben meiſtens einen238 Korb, verſteckten Behälter oder doppelten Boden zum Verbergen des nöthigen Schränkzeuges.

An den Hafenkais, Packhöfen, Speichern und Wirthshäu - ſern erfährt die Chawruſſe durch ihre Baldower, welche Waaren auf den Latſchen geladen ſind. Jedes Mitglied der Chawruſſe kennt die Stauregeln trotz dem beſten Fuhrmann, und weiß daher, welche Waaren in der Latſche oben, hinten und an die Seiten geladen werden müſſen. Ebenſo weiß ſie die Richtung und nächſte Station, wo der Fuhrmann übernachtet. Sehr häufig fährt aber die Chawruſſe auf das Gerathewohl in der Dunkelheit die Land - ſtraße entlang, und erſieht ſich das weiterfahrende oder abgeſpannte Fuhrwerk und die Gelegenheit, wie ihm beizukommen iſt. Bewegt ſich der Frachtwagen auf der Landſtraße, und ſcheint Zeit und Gelegenheit günſtig, namentlich das Wetter ſchlecht, ſo fährt die Agole raſch vorbei und läßt an einem verſteckten Orte, in einem Graben, Buſch oder hinter einem Steinhaufen, unter einer Brücke, einen oder zwei Chäwern zurück, fährt beiſeite auf einen Zink - platz, während nun einer der vorher abgeſetzten Chäwern hinter dem Frachtwagen oder an der Seite aufſteigt, auf die Gole h’opſt (wovon er den Namen Golehopſer hat), den Plan zer - ſchneidet1)D. i. die Gole (eigentlich die Michſe) ſchächtet, wovon der Name Goleſchächter. Der Ausdruck fetzen wird nur vom Aufſchneiden der Packen, Waarenballen und Kiſten gebraucht. So wird auch hier das Meſſer beſonders der Kaut genannt. Die übrigen Benennungen des Meſſers vgl. Kap. 37, Note 2. und ſo leiſe wie möglich Packen und Kiſten auf den Weg fallen laßt, worauf er ſelbſt vom Wagen ſteigt, mit ſeinem Chawer die herabgeworfenen Sachen beiſeite ſchleppt, und der mit der Agole auf dem Wiatzef wartenden Chawruſſe einen Zink gibt, welche nun heranfährt und die Sachen aufladen hilft, worauf alle auf einem Nebenweg davonfahren.

Gewöhnlich hält der Frachtfuhrmann die abgerundete, trockene und ebene Mitte der Chauſſee, und geht auch meiſtens neben dem Sattelpferde, an der linken Seite, einher. Die Chawruſſe fährt daher gewöhnlich an der rechten Seite des Frachtwagens vorbei,239 und überzeugt ſich durch einen Schlag mit der Peitſche, oder auf ſonſtige Weiſe, durch luſtiges Rufen und Jauchzen, ob ein Hund in oder bei dem Wagen ſich befindet. Jn letzterm Falle wird eine Strecke voraus auch wol der Peiger (vgl. Kap. 38) für den Hund ausgeworfen. Das dunkle, regnichte Wetter, das Klappern und Raſſeln des ſchwerfälligen Frachtwagens, namentlich auf gepfla - ſterten Dämmen oder neu oder ſchlecht gebeſſerten Chauſſeen, er - leichtert das Golehopſen und Goleſchächten ganz bedeutend, nament - lich in ſolchen Gegenden, wo der Weg durch ein coupirtes oder waldiges Terrain läuft.

Jn ſolchen Gegenden, und beſonders noch, wo wenig Kunſt - ſtraßen ſind, beſchränkt ſich das Golehopſen und Goleſchächten nicht allein auf die Latſchen, ſondern erſtreckt ſich auch auf alle Reiſewagen. Jm Dunkeln wiſſen die Golehopſer bei waldigen und ſchlechten Wegeſtellen geſchickt hinten auf die Packbreter und Koffer zu ſpringen, und die letztern entweder ganz abzuſchneiden oder doch aufzubrechen, und den Jnhalt auf die Chauſſee ihren nachfolgenden Genoſſen zuzuwerfen. An Poſtwagen werden dieſe, im vorigen Jahrhunderte ſehr viel und verwegen verſuchten Dieb - ſtähle jetzt weniger verübt, weil die hinter den Wagen angebrach - ten Magazine gewöhnlich durch Blechfutterung und ſtarkes Stan - gen - und Schließwerk gut geſichert ſind, was bei anderm Reiſe - fuhrwerk, ſelbſt bei den Extrapoſten und Beichaiſen, keineswegs immer der Fall iſt. Deſto häufiger kommen jedoch dieſe Dieb - ſtähle bei Privatfuhrwerk vor, namentlich bei Equipagen von Gutsbeſitzern, ſobald ſie von den immer doch durch den lebhaften Verkehr geſchütztern Chauſſeen auf die Seitenwege abfahren.

Auch die vor den Wirthshäuſern haltenden Latſchen ſind vorzugsweiſe dem Goleſchächten ausgeſetzt. Der Fuhrmann hat meiſtens einen eigenen Hund, den er des Nachts unter den Frachtwagen anbindet, oder auch in den Frachtwagen ſelbſt placirt. Sehr oft muß aber auch der unter den Frachtwagen gebundene Hund des Wirths den Wachtdienſt verrichten. Die Latſche wird gewöhnlich dicht vor die Fenſter der zur ebenen Erde befindlichen Gaſtſtube, deren Schalter offen bleiben, und in welcher der Fuhr -240 mann mit andern Gäſten auf der Streu liegt, aufgefahren und von einem in das Fenſter geſtellten Lichte, oder auch von einer Wagenlaterne erleuchtet. Erblicken die Goleſchächter im Vorüber - fahren ſolche Sicherheitsmaßregeln, ſo laſſen ſie in einiger Ent - fernung einen Chawer abſteigen und im Wirthshauſe Quartier nehmen, damit er die Hinderniſſe wegräumen kann, zu denen übrigens die ſchlechte, und immer nur von einer Seite fallende Beleuchtung keineswegs abſolut gehört. Meiſtens beſchränkt ſich dieſe Beihülfe auf das Pegern des Hundes. Sehr oft findet aber der Chawer dazu noch Gelegenheit, als Torfdrucker gegen den Fuhrmann oder deſſen Schlafkameradſchaft zu agiren, oder gegen den Wirth eine Pleite oder Challe zu handeln. Jſt ein Wächter im Dorfe, ſo hat ein anderer Chawer dieſen zu beobachten und zu meiſtern, während die handelnden Chawern die Latſche ſchäch - ten, welches oft mit ungemeinem Uebermuth und mit koſtbarem Ertrage geſchieht. Für den Fall der Ueberraſchung wird wol noch die Hausthüre zugebunden oder das Schlüſſelloch durch einen Pflock verſtopft, damit der gewöhnlich auch im zugeſchloſſe - nen Schloſſe innen ſteckengebliebene Hausſchlüſſel nicht gedreht werden kann, und die Chawruſſe Zeit findet, mit ihrem Maſſe - matten davonzugehen.

Die gehörige Bewachung der abgeſpannten Frachtwagen er - fordert durchaus einen eigenen Wächter, welcher die Nacht hin - durch bei dem Wagen zu bleiben hat. Auf Hunde iſt kein voller Verlaß, ſelbſt auch wenn man ſie gegen das Peigern durch einen Maulkorb ſichert, oder ſie in einen dichten Latten - oder Drahtkäfig unter oder in den Wagen einſperrt. Bei lebhaftem Verkehr auf der Landſtraße ſchlägt der wache Hund jedesmal an, wenn ein Wagen, Reiter oder Fußgänger vorüberkommt, und macht den Fuhrmann ſicher, daß er nicht bei jedem Geräuſch aufſteht und nachſieht. Die Goleſchächter verſuchen auch durch wiederholtes Hin - und Herfahren, ob ein Hund überhaupt da, ob er wach und ob er eingeſperrt, angebunden und mit einem Maul - korbe verſehen iſt, und nehmen danach ihre Maßregeln, wie ſchon beim Schränken angegeben iſt. Die Dorfwächter, wozu verkehrte241 Sparſamkeit meiſtens alte, ſtumpfe, oft halb blödſinnige Hirten - knechte wählt, welche ohnehin auch von ihrer Tagearbeit ermüdet ſind, werden überaus leicht gemeiſtert1)Somit kommt denn auch jetzt noch vor, daß ſo ein Wächter ſein Horn wie das ja unter anderm dem Afrom Mey von der Niederländiſchen Bande einmal ſo vollkommen gelang an einen Gauner abtritt, der damit in der Nähe des Wirthshauſes bläſt und den Fuhrmann ſicher macht, während vielleicht noch ein Genoſſe den Wächter mit Zutrinken und Erzählen meiſtert und die übrigen die Latſche beſſachern. Fälle der Art ſind auch noch ganz neuerlich bekannt geworden., wie das auch ſchon beim Schränken erwähnt iſt.

Auch während des Fahrens der Latſchen iſt auf den Land - ſtraßen kein Verlaß auf die Hunde, ſobald ſie zwiſchen den Pfer - den oder neben dem Fuhrmann einherlaufen. Am beſten iſt es noch, den durch einen Maulkorb gegen das Peigern geſchützten Hund hinter dem Frachtwagen anzubinden. Viele Hauderer haben deshalb auf den hinter dem Reiſewagen in den Packkörben ſtehenden Koffern einen Platz für ihre kleinen wachen Spitzhunde eingerichtet, die aber für den Dienſt, den ſie leiſten, auch manches Läſtige für den Reiſenden haben durch ihr beſtändiges Gekläffe und Beſchmuzen der Koffer und Reiſeſäcke. Der beſte Schutz gegen die Golehopſer iſt der, daß der Fuhrmann, dem eine werthvolle Fracht anvertraut iſt, einen Fuhrknecht hinter dem Wagen ein - hergehen läßt, und ebenſo des Nachts einen eigenen rüſtigen und zuverläſſigen Wächter bei ſeinem Wagen aufſtellt. Bei Reiſewagen ſchützt die Anbringung der Koffer unter dem Bedientenſitz am beſten. 2)An den Poſtwagen befinden ſich die hinten angebrachten Magazine während der Fahrt ohne alle Aufſicht. Der Conducteur, der letztere führen ſoll, ſetzt ſich immer neben den Poſtillon oder in das Cabriolet, oder gar, wie das auf gewiſſen Poſtſtrecken regelmäßig vorkommt, ohne Umſtände in den Wagen zu den Paſſagieren, mit ſeiner brennenden, mephitiſche Dünſte verbrei - tenden Pfeife. Warum wird der Conducteur nicht hinter den Poſtwagen placirt, wie das bei Eiſenbahnwagen und Omnibus eingeführt iſt? Gewiß würden dadurch die wenn auch jetzt nur noch ſelten vorkommenden Poſtdieb -Jſt ein ſolcher Sitz nicht vorhanden, ſo müſſen dieAvé-Lallemant, Gaunerthum. II. 16242Koffer1)Es iſt hier nur von hölzernen Koffern die Rede. Lederne Koffer laſſen ſich ſchwer an den Wagen befeſtigen, und ſind immer leicht ab - oder aufzu - ſchneiden. Am beſten ſind für die Unterbringung von ledernen Koffern und Reiſeſäcken hölzerne Magazine, welche an dem Wagen gut befeſtigt und äußer - lich geſichert ſind. unter dem Kutſcherſitz angebracht werden, wenn nicht im Wagen ſelbſt unter den Sitzen, oder in einem mit dem Wagen verbundenen, nur von innen zugänglichen, mit Blech gefutterten Magazin hinter dem Wagenkaſten. Jſt die Anbringung der Koffer auf dem Packbrete hinter dem Wagen nicht zu vermeiden, ſo ſind mit ſpitzen Zinken verſehene eiſerne Gliederſtangen, welche über den Koffer gelegt und mit einer ſchließbaren Querſtange befeſtigt werden, ein ſicheres Mittel, dem Golehopſer das Aufſpringen und Aufſetzen unmöglich zu machen, weil das Stoßen des Wagens dem Golehopſer keinen feſten Sitz auf dem Koffer gewährt und ihn daher ſchweren Verwundungen ausſetzt, ohne daß er ſeinen Zweck erreicht. 2)Unter allen Umſtänden erſcheint es bedenklich, unterwegs Reiſenden die Bitte um Aufnahme zur Mitfahrt auf dem Bocke neben dem Kutſcher zu ge - währen. Bei oſtentirter Hülfloſigkeit mache man jedenfalls lieber Anzeige im nächſten Orte oder Hauſe. Die Geſchichte der Poſt - und Reiſewagenberau - bungen lehrt nur zu eindringlich, daß die Aufnahme ſolcher angeblicher Hülf - loſer oder ſogenannter blinder Paſſagiere nichts weiter war, als ein Vertuſſ, der zur Förderung eines räuberiſchen Ueberfalls durch eine nahe lauernde Bande gemacht wurde. Beſonders wimmelt die franzöſiſche und engliſche Gauner - geſchichte von Beiſpielen hülfloſer Frauenzimmer auf der Landſtraße, welche ſich ſpäter als verkleidete Räuber auswieſen. Noch ganz neuerlich brachten die Zeitungen einen ſolchen Fall aus der Nähe von Paris, in welchem der Beſitzer eines Cabriolets die aus Mitleid von ihm aufgenommene Dame als - bald als Räuber erkannte, durch liſtiges Niederwerfen ſeines Schnupftuchs zum Abſteigen bewog, und ſodann eiligſt davon floh. Zum mindeſten kann ein ſogenannter blinder Paſſagier den Kutſcher meiſtern, daß er den Golehopſer hinten auf dem Wagen nicht bemerkt.

Zum Goleſchächten ſind noch die Diebſtähle zu rechnen, welche auf den Eiſenbahnen während der Fahrt in den Gepäckwagen an2)ſtähle noch mehr beſchränkt werden. Ueber die Sicherheitsmaßregeln gegen Poſträuber ſagt Falkenberg, a. a. O., I, 172 184, viel Vortreffliches und Beherzigenswerthes. Vgl. Hirt, Der Diebſtahl , S. 88 103.243 Reiſeeffecten vorkommen. Dieſe Diebereien, welche namentlich im Jahre 1854 auf der Sächſiſch-Schleſiſchen, auf der Main-Weſer - und der Niederſchleſiſch-Märkiſchen Eiſenbahn einige Zeit als ſy - ſtematiſches Gewerbe betrieben, jedoch endlich entdeckt wurden, ſind zwiefach ſtrafbar, da ſie wol nur von Beamten dieſer öffentlichen Beförderungsanſtalten ſelbſt verübt werden können, deren Aufſicht und Schutz der Reiſende ſich mit ſeinem Vermögen anvertraut. Die erwähnten wahren gewerbsmäßigen Gaunereien ſind denn auch beſonders ſcharf geſtraft worden.

Die Schwierigkeit, welche die ſtrenge Bewachung der Gepäck - räume auf den Eiſenbahnhöfen und die geſchwinde Bewegung der Bahnzüge den Golehopſern bereitet, hat nun aber auch neuer - dings zur verwegenen Beraubung der Fahrzeuge auf den Strecken von den Bahnhöfen bis zum Gaſthofe oder Privathauſe Anlaß gegeben. Die Bahnhöfe liegen meiſtens außerhalb der Vorſtädte, ja oft noch weit über dieſelben hinaus. Die angeſtellten und vereidigten Gepäckträger geben allerdings eine Garantie für die richtige Ablieferung des Gepäcks. Auch die Wirthe, welche eigene Omnibus zwiſchen den Bahnhöfen und ihren Gaſthöfen unter Schutz eines Conducteurs und Hausknechts fahren laſſen, ſichern durch dieſe ihre Leute den Reiſenden und ſein Gepäck. Für den Reiſenden, der jedoch eilig von einem Dampfſchiff oder Bahnhof zum andern oder in ein Privathaus will, und dazu ſich der näch - ſten beſten Droſchke am fremden Orte bedient, iſt allerdings ſchon Gefahr für ſein Gepäck vorhanden, wenn er es durch einen an - dern als durch einen Gepäckträger in die Droſchke ſelbſt abliefern läßt, oder wol gar dem nächſten ihm unbekannten Bummler über - gibt, der ſich hervordrängt, ſich auch wol zum Kutſcher, einem alten Kameraden, ſetzt, und gelegentlich auf dem langen oder ab - ſichtlich verlängerten Wege zum Abſteigequartier mit einem Packen verſchwindet. Nur eine ſehr genaue polizeiliche Controle der Droſchkenführer und Dienſtleute auf den Hafenkais, Perrons und deren Nähe, und die Zurückhaltung aller Müßiggänger und verdächtigen Bummler kann den Reiſenden gegen dieſe Golehopſer16*244ſichern, welche in neuerer Zeit ihr Weſen in höchſt verwegener Weiſe zu treiben angefangen haben. 1)Jm Dampfſchiffshafen und auf dem Eiſenbahnhofe in Lübeck führen eigene Polizeibeamte die Aufſicht auch über die Reihenfolge der Droſchken, welche ſtets notirt wird. Außer den Gepäckträgern wird nur beſtelltes Privat - dienſtperſonal zum Tragen von Reiſeeffecten zugelaſſen, und durchaus nicht das Aufſitzen eines Unbekannten oder Unbeſtellten zum Kutſcher auf den Bock ge - duldet. Noch niemals iſt bei dieſer Einrichtung irgendein Verluſt oder Dieb - ſtahl auf der ziemlich langen Strecke zur Stadt ruchtbar geworden, wie doch ſolche anderer Orten nicht ſelten vorkommen, wo auch durch öffentliche Pla - kate vor Taſchendieben gewarnt wird.

Aehnliche freche Diebſtähle an Poſtgut ſind in neuerer Zeit auch auf den Strecken zwiſchen den Poſthäuſern und Bahnhöfen und zwiſchen den einzelnen Poſtſtationen vorgekommen. Ge - wandte Gauner haben den Moment wahrgenommen, in welchem die Poſtwagenverſchlüſſe noch offen ſtanden und von nachläſſigen Beamten ohne Aufſicht gelaſſen waren, wie das beſonders auch noch auf den Zwiſchenſtationen der Fall iſt, auf welchen die Ver - ſchlüſſe geöffnet werden. Jedesmal ſind jedoch in ſolchem Falle Nachläſſigkeiten der Beamten, ſeltener Mängel in den poſtaliſchen Einrichtungen ſelbſt, nachgewieſen worden, welche bei der jetzigen Vortrefflichkeit des deutſchen Poſtweſens kaum noch hier und da zu finden ſind, und ſchwerlich noch irgendwie jene gewerbsmäßige Beraubung durch die Trararumgänger der frühern Zeit mög - lich machen dürften, von denen Falkenberg, a. a. O., I, 88 94, eine ausführliche Darſtellung gibt, und unter welchen der 1814 zur Unterſuchung gezogene Karl Grandiſſon oder Grosjean einer der größten Koryphäen war. 2)Die Trararumgänger (bloße Wortimitation des Poſthornklanges) reiſten gewöhnlich als Kaufleute oder Handlungsreiſende unter falſchen Namen mit der Poſt, um in den Poſthäuſern, auf den Stationen, durch Makkenen, Ennevotennemachen oder Schränken u. dgl. werthvolle Poſtſtücke zu erbeuten. Grosjean war lange Zeit als Trararumgänger in Frankreich und Deutſch - land gereiſt, und hatte ſehr bedeutende Summen geſtohlen, bis in Heidelberg eine Unterſuchung gegen ihn eröffnet und er ſelbſt in Berlin zur Haft gebracht wurde, wo er in der Stadtvogtei in der Nacht vom 20. 21. Mai 1814 ſich an ſeinem Schnupftuche erhenkte, ehe er noch eigentlich ſelbſt verhört war.Doch dürfte der Poſtexpedient a. D.245 Waſſerlein, welcher am 2. Aug. 1858 durch ſein verwegenes Auf - treten als höherer Poſtbeamter den niedern Poſtbeamten auf der Niederſchleſiſch-Märkiſchen Eiſenbahn ſo zu imponiren wußte, daß ſie ihm zur angeblichen Reviſion bedeutende Poſtcontanten über - gaben, ſchwerlich zu den Trararumgängern zu zählen ſein, ſondern muß als frecher Betrüger gelten, welcher durch ſeine verwegene Anmaßung und Ausbeutung höherer Beamtenſtellung den mehr an unbedingten Gehorſam gegen die Uniform als an eigenes Nach - denken und Aufblick gewohnten Subalternen zu imponiren verſtand, und ein vereinzeltes Verbrechen beging, das weniger wegen der Größe des Betrags als wegen ſeiner culturhiſtoriſchen Bedeut - ſamkeit und wegen ſeiner raſchen und behenden Entdeckung durch die eifrige berliner Polizei merkwürdig erſcheint.

l) Das Jedionen.

Neunundſechzigſtes Kapitel. α) Etymologiſche Erklärung.

Jedioner1)Von〈…〉〈…〉 (joda), wiſſen, kennen, erkennen, merken, erfahren, denken, vermuthen, ſich um etwas kümmern; euphemiſtiſch: ein Weib erkennen (be - ſchlafen), einſehen, wiſſen machen, wiſſen laſſen, anzeigen, beſtellen, ſich zu erkennen geben u. ſ. w. Davon Jedia und Jediaſſ, die Kenntniß, Wiſſen - ſchaft. Deo, Daaſſ, Kenntniß, Wiſſenſchaft. Mode oder Maude ſein, bekennen. Modia ſein und Modich ſein, kund machen, bekennen, bekannt machen, wahrſagen. Jedioner (〈…〉〈…〉), der Wahrſager. Vgl. Callenberg, Jüdiſch-Deutſches Wörterbuch , S. 135; Selig, Jüdiſch-Deutſches Wör -, ſpecifiſch jüdiſch-deutſcher, aber ſehr früh in die deutſche Gaunerſprache übergegangener Ausdruck, welchen ſchon2)Pfiſter, der die Unterſuchung in Heidelberg führte, hat den ſehr intereſſanten Fall im zweiten Theile ſeiner merkwürdigen Criminalrechtsfälle dargeſtellt. Auch iſt der Proceß beſonders gedruckt unter dem Titel: Karl Grandiſſon oder Grosjean, der berüchtigte Poſtwagendieb und Betrüger. Eine crimina - liſtiſche Novelle (Heidelberg 1816). Vor dem Titel befindet ſich ein ſchlecht lithographirtes Porträt des Grandiſſon.246 der Vocabular des Liber Vagatorum in der contrahirten Form, Joner , Spieler1)Das Baſeler Rathsmandat hat nach den drei Handſchriften Kne - bel’s, Ebener’s und Brückner’s das Wort Jnnen, welches Hoffmann, Weimariſches Jahrbuch , IV, 76, mit Recht als Schreibfehler anſieht und mit Junen verbeſſert. Bei dem Abdruck der Brückner’ſchen Handſchrift, Thl. 1, S. 131, iſt Zeile 20 u. 21 der Schreibfehler Jnnen unverändert beibehalten worden., aufführt, iſt, im weiteſten Sinne, dem ſpä - tern Kochemer oder Cheſſen gleich, und bedeutet den gewerblich ausgebildeten Gauner überhaupt, im Gegenſatz von Wittſcher, Nichtgauner2)Jnſofern würde die Ableitung des Wortes Gauner von Jonen und die Schreibung Jauner gerechtfertigt ſein, wenn nicht die zutreffendere Ablei - tung von Aegytiani und Zigauner hiſtoxiſch nachgewieſen wäre. Vulcanius, a. a. O., gibt S. 108 den Ausdruck Jonen geradezu mit fallere. Vgl. den erſten Theil, S. 5 fg., in engerer Bedeutung jedoch beſonders den Gauner, welcher unter dem offenen Schein der Wiſſenſchaft oder Kunſt ſeine Betrügereien ausübt. Aber auch dieſer Begriff be - ſchränkte ſich ſchon zu Anfang des 16. Jahrhunderts auf die ſpecifiſche Wahrſagerei und ſchwarze Kunſt, welche nach Kap. 7 des Liber Vagatorum beſonders von den Vagierern oder Farn Schülern (ein beſtimmter gaunerſprachlicher Ausdruck fehlt), ſo - wie von den Stabulern und von denen, die in der Mumſen oder vbern Sontzen gangen , als Hochſtapplern3)Vgl. Kap. 2, 20 u. 21 des Liber Vagatorum, wo auch beſonders in Kap. 2 die treffende Definition der Stabuler gegeben iſt: denen der Bettelſtab erwarmt iſt in den Grifflingen (Fingern). gelegentlich geübt wurde, während die Quackſalberei und Schatzgräberei und die damit verbundenen Betrügereien den ambulanten Felingern (Tiriakskremern)4)Vgl. die Notabilien des Liber Vagatorum. Felinger (von feil) Krämer; vgl. oben Kap. 60, u. Rochlim, Kap. 75. und das Jonen beſonders den eigentlichen Spielern (den ſpätern Freiſchuppern, Hadderern und Kuwioſtoſſen) zufiel. Doch ſind dieſe Unterſcheidungen nicht feſt durchgreifend,1)terbuch , S. 191; Prager, Jüdiſch-Deutſches Wörterbuch , S. 64; Voll - beding, Jüdiſch-Deutſches Wörterbuch , S. 41; Jtzig Feitel Stern, Medr. Seph. , S. 133. Vgl. auch den erſten Theil, S. 6 u. 7.247 ſondern ſchwanken im Sprachgebrauch der verſchiedenen Zeiten. So hatte ſich der jetzt faſt ganz außer Sprachgebrauch gekommene Ausdruck Felinger im 17. u. 18. Jahrhundert weſentlich für den ganzen Begriff und Ausdruck des Jedioners im weiteſten Sinne ſubſtituirt, nachdem die äußere Erſcheinung der fahrenden Schüler, Stappler u. ſ. w. vor der Vigilanz der Polizei noch raſcher verſchwinden mußte, als der, ſeiner ſcheinbaren Unſchädlich - keit oder Nützlichkeit wegen weniger controlirte, ja ſogar häufig begünſtigte Hauſirhandel.

Der Liber Vagatorum ſpricht noch in Kap. 23 über die Veranerinnen, welchen Ausdruck die älteſte Rotwelſche Gram - matik von Rud. Dekk, im Kapitelinder, Bl. 4b, O. 3, als ge - taufft Judin, Wahrſagerin überſetzt, aber ſowenig wie der Liber Vagatorum in den Vocabular aufgenommen hat. Der Ausdruck iſt eine augenſcheinlich geſuchte Verſtümmelung1)Freilich ungeſchickt genug dem deutſchen Wahrſagen mit dem lateini - ſchen Ausdruck verus nachgebildet, gleichſam verum dicere, ebenſo falſch, wie wenn man in der Gaunerſprache ſagt: Emmes dibbern, wahrſagen, für die Wahrheit ſagen. Das völlig ohne Kenntniß und Kritik der Gaunerſprache geſchriebene Wörterbuch des v. Train enthält unter Wahrſager ohne Um - ſtände die beiden Ausdrücke Veraner und Kaſchperer (von〈…〉〈…〉 [kosaw], Jemandem lügen, heucheln, trügen, zum Nachtheil der Wahrheit durchſtechen, vgl. oben Kaſſpern, Kap. 27) nebeneinander, alſo dort: die Wahrheit ſagen, hier: die Lüge ſagen. Niemals iſt der Ausdruck kaſſpern für wahrſagen in der Gaunerſprache üblich geweſen. Schäffer, S. 126, ge - braucht den Ausdruck in ganz anderer Beziehung bei dem Chriſtophelsgebet, in der Bedeutung betrügen. Noch treffender hebt ſich der Gegenſatz S. 99 hervor, wo Schäffer den[F]enkel Caſpar als Betrug (Caſpar) mit Hexerei (Fenkel) darſtellt und erläutert. Wahrſcheinlich iſt bei v. Train der Kaſch - perer aus der Verwechſelung mit〈…〉〈…〉 (koschaph) entſtanden, welches beten, Zauberformeln ſprechen, murmeln, gleich dem φαρμακεύεσϑαι bedeutet, wovon das jüdiſch-deutſche Kiſchuv, Zauberei, Kiſchuvmacher oder Meka - ſchev, Zauberer, Mekaſchev ſein und bekaſchphenen, bezaubern, be - hexen. Das Wort Vermerin iſt vom deutſchen mär abzuleiten. Märinn iſt auch noch heute im Pinzgau die Ausſchwätzerin beſonders von Liebesver - hältniſſen. Vermären, vermeren, iſt: durch Reden, Plaudern, bekannt machen, verkünden (vgl. Schmeller, a. a. O., II, 607). des im Baſeler Rathsmandat vorkommenden, in der Ebener’ſchen und Brückner -248 ſchen Handſchrift in gleicher Schreibung enthaltenen, in der Kne - bel’ſchen Handſchrift ganz fehlenden Ausdrucks Vermerin. Das Mandat (und nach ſeinem Vorgange der Liber Vagatorum und die Rotwelſche Grammatik ) erklärt Vermerin als beſunder allermeiſt Frowen, die ſprechent, ſy ſient getoffet Juden und ſient Chriſten worden und ſagent den Lüten ob ir Vatter oder Mutter in der Helle ſient oder nit . 1)Nach dieſer Erklärung iſt die Wahrſagerei der Veranerinnen auch nur ſehr beſchränkt. Die Gauner des 15. Jahrhunderts verſtanden auch die volks - bekannte, eigenthümliche, jüdiſche Lehre von der Hölle (〈…〉〈…〉), auszubeuten, in welche der Lebende Blicke thun und wo er ſogar Geſpräche mit den Ver - dammten führen konnte, wie die letzte intereſſante Maaſe bei Wagenſeil, Jü - diſch-deutſche Belehrung , S. 332, das Zwiegeſpräch des königlichen Lauten - ſchlägers mit ſeinem frühern Kunſtgenoſſen (Cha[wer]) in der Hölle enthält. Vgl. Eiſenmenger, a. a. O., II, Kap. 6.Der Ausdruck Veranerin iſt je - doch niemals ſpäter für Wahrſagerei gebraucht worden, obgleich alle ſpätern Auflagen der Rotwelſchen Grammatik , Moſcheroſch und viele andere Nachtreter der Rotwelſchen Grammatik ihn aufgenommen haben.

Noch iſt bemerkenswerth, daß die zigeuneriſchen Ausdrücke durker oder durgeaf, wahrſagen, durgepaskro, Wahrſager, und durgepaskri, Wahrſagerei2)Vgl. Pott, Die Zigeuner , II, 317; Biſchoff, a. a. O., S. 103, und Beytrag zur Rotwelſchen Grammatik , S. 34. obſchon gerade die Wahrſagerei, be - ſonders die Chiromantie, die Hauptvermittelung war, durch welche die Zigeuner des 15. Jahrhunderts ſich den Eingang in alle ſo - cial-politiſche Schichten zu verſchaffen wußten in keiner Weiſe von der deutſchen Gaunerſprache aufgenommen oder auch nur nach - geahmt worden ſind. So bleibt denn in etymologiſcher Hinſicht nur der einzige ſpecifiſch jüdiſch-deutſche Ausdruck Jedionen3)Doch exiſtiren noch die ebenfalls jüdiſch-deutſchen Ausdrücke〈…〉〈…〉, Kauſſem, der Wahrſager, und〈…〉〈…〉, Keſſem, Plural〈…〉〈…〉, kſſomim, das Wahrſagen, das Orakel. Bemerkenswerth iſt, daß der dem hebräiſchen Stammworte〈…〉〈…〉 (kassam) anklebende Begriff des Tadels, der Verächtlich - keit, des Verbotenen und des Verlogenen auch in dieſen Terminologien bei - behalten iſt. für den Begriff des Wahrſagens übrig, welcher denn nun gelegentlich249 von Hochſtapplern, Medinegeiern, Paſchkuſenern u. ſ. w. (wie von den frühern Felingern) betrieben wird, wenn ſie den Schuck ab - halten oder Strade halten.

Siebzigſtes Kapitel. β) Das Wahrſagen.

Der ſchon im fernſten Alterthum erkennbare, zu einer Menge von Mitteln und Formen der verſchiedenſten Art greifende Hang des Menſchen, zukünftige Dinge vorherzuſehen und dazu eine vor - zugsweiſe Begabung zu erlangen, welche beſonders den mit der Gottheit näher in Verbindung ſtehenden Prieſtern und Prieſterin - nen zugeſchrieben wurde, iſt auch ſchon im älteſten deutſchen Heidenthume ſichtbar, wo nicht nur die Alrunen1)Vgl. Jakob Grimm, Deutſche Mythologie , S. 224 fg. aus dem Blute der geopferten Gefangenen, ſondern auch die Familienväter aus dem Looswerfen, Vogelflug, Pferdewiehern, Begegnen von Thieren u. ſ. w. weiſſagten. Neben dieſem Göttercultus bildete ſich jedoch, wie Grimm, a. a. O., S. 579, treffend bemerkt, ausnahms - weiſe, nicht als Gegenſatz, die Zauberei aus, welche höhere ge - heime Kräfte ſchädlich wirken läßt. Die Zauberei wurde im ger - maniſchen Heidenthum vorzugsweiſe den Frauen zugeſchrieben, welche ſich zuſammenthaten und in größern Verſammlungen ihr Weſen trieben. Das Chriſtenthum bildete dieſe vorgefundene, durchaus heidniſche Erſcheinung weiter aus, und gab manche Zu - thaten dazu. 2)Merkwürdig iſt Lex Salic. , Tit. 67, wo zuerſt von Zuſammen - künften der Hexen und vom Kochen im Hexenkeſſel die Rede iſt (I) und wo (III) die stria, quae hominem comederit, 200 solidi büßen ſoll. Georgiſch, C. J. G. A., S. 126 u. 127. Grimm beweiſt a. a. O., S. 587 fg., daß bis auf die jüngſte Zeit in dem ganzen Hexenweſen noch ein offenbarer Zu - ſammenhang mit den Opfern, Volksverſammlungen und der Geiſterwelt der alten Deutſchen zu erkennen iſt.Allmählich drängte ſich die dem deutſchen Heiden -250 thum fremde Jdee des Teufels ein, woraus zunächſt ſeit dem 13. Jahrhundert die Ketzerverfolgungen und dann die buhleriſchen Bündniſſe zwiſchen dem Teufel und jeder einzelnen Hexe ent - ſtanden. 1)Vgl. Grimm, a. a. O., S. 599. Doch ſcheint, nach Kanon 24 des Ancyr. Concils, die Jdee der Teufelsbündniſſe ſchon viel früher aufgekommen zu ſein. Der Kanon 24 lautet: Οἱ καταμαντευόμενοι καὶ ταῖς συνηϑείαις τῶν χρόνων ἐξακολουϑοῦντες ἤ εἰςάγοντές τινας εἰς τοὺς ἑαυτῶν οἴκους ἐπὶ ἀνευρέσει φαρμακειῶν ἤ καὶ καϑάρσει, ὑπὸ τὸν κανόνα πιπτέτωσαν τῆς πεν - ταετίας κατὰ τοὺς βαϑμοὺς ὡρισμένους, τρία ἔτη ὑποπτώσεως καὶ δύο ἔτη εὐχῆς χωρὶς προςφορᾶς. Das χρόνων mit der alten varianten Marginallesart ἐϑνῶν iſt jedoch wol nur dann richtig zu verſtehen, wenn man es für αἰώνων oder geradezu für δαιμόνων nimmt.

Dieſe vom roheſten Aberglauben des Mittelalters geſchaffene und getragene Anſicht von den Teufelsbündniſſen war der Anlaß zu den ſcheußlichen Hexenverfolgungen, die erſt gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts völlig aufgehört haben. Sie war aber auch die blutige hemmende Schranke gegen die Ausbildung vieler Wiſſenſchaften, bei denen man, wenn auch ihre Conſequenzen viel - fach auf unwichtige, läppiſche, ja ſchmuzige und gottloſe Dinge hinausliefen, doch in der geiſtigen Operation ſelbſt vielfach großen Scharfſinn, raſtloſen Fleiß und tiefe Gelehrſamkeit bewundern, aber dabei auch bedauern muß, daß ſo viel geiſtige Arbeit als ganz nutzlos verloren ging, anſtatt was bei gehöriger Beſchützung, Förderung und Läuterung zu erwarten ſtand ſich zur deut - lichen Wiſſenſchaft abgeklärt und gedeihliche Früchte getragen zu haben. So haben faſt alle unſere heutigen phyſikaliſchen und chemiſchen Wiſſenſchaften, oft ſogar ſchon im fernſten Zeitalter, eine oft reiche und viel verheißende Kindheit gehabt, in welcher ſie aber, von dem giftigen Miasma des Aberglaubens umdüſtert, langſam dahinſtarben, oder doch in einem elenden ſiechen Zu - ſtande hinvegetirten, wo ſie aus dem hellen Leben flüchten mußten, und in den Klöſtern und Gelehrtenſtuben ein anachoretiſches Aſyl gefunden hatten. Jn dieſen Aſylen und auf jenen kränkelnden Grundlagen entſtand das Heer jener ſpeciellen Scheinwiſſen - ſchaften, deren Begründer und Jünger das Unverſtandene noch251 unverſtändlicher machten durch weitläufige Bearbeitung in myſti - ſchen verworrenen Formen, um demſelben menſchlichen Geiſte Ge - nüge zu leiſten, der ebenſo wol ſchon vom grauen Alterthum her, in unbefangener Anſchauung göttlicher und natürlicher Offenbarung, nach höherer Erforſchung ſtrebte, wie er heutzutage der kahlen Empirie der Naturwiſſenſchaften, meiſt ohne wahres ſittliches und religiöſes Streben, verfallen iſt.

Daraus wird aber auch klar, daß, ungeachtet die zum Be - truge ausgebeutete Wahrſagerei und Zauberei niemals gewerb - lich, ſondern höchſtens nur gelegentlich von dem Gaunerthum betrieben wurde, dennoch ſo viele Gauner unter dem Schein der Zauberei den ſchmählichen Hexentod ſterben mußten. Ein kurzer Blick auf die Ausbildung des deutſchen Zauberweſens macht dies noch deutlicher. Nicht allein die deutſch-heidniſchen und chriſt - lichen Anſichten waren die Grundlage zu dieſer Ausbildung. Ein ſehr weſentlicher, ſchon vor dem Eingang des Chriſtenthums auf deutſchem Boden erſchienener und mit geheimem ſtarken Nachdruck wirkender Factor iſt weſentlich überſehen oder mindeſtens nicht in ſeiner vollen Bedeutſamkeit hervorgehoben worden: die jüdiſche myſtiſche Tradition, die Kabbala. 1)〈…〉〈…〉, Tradition, geheime Lehre, von〈…〉〈…〉 (kobal), oder〈…〉〈…〉 (kibel), er hat empfangen, angenommen; wovon das jüdiſch-deutſche〈…〉〈…〉 (kablan) und〈…〉〈…〉 (mekubol), der Kabbaliſt. Die Grundlage der Kabbala iſt der Sepher Jezirah (〈…〉〈…〉), welcher, trotz der vielen Chaldäismen, ſogar dem Abraham zugeſchrieben wird. Später legte der wegen ſeiner tiefen kabba - liſtiſchen Weisheit als Wunderthäter geprieſene Rabbi Schimon Ben Jochai mit ſeinem Sohne Eliaſar den Grund zu jener höchſt merkwürdigen kabbali - ſtiſchen Auslegung der fünf Bücher Moſes, dem Buche Sohar (〈…〉〈…〉, die Läuterung). Zu bemerken iſt übrigens, daß das Wort Kabale oder Cabale zur Bezeichnung von Ränkeſchmiedereien eine durchaus andere und zwar eine ſpe - ciell hiſtoriſche Ableitung hat. Der Ausdruck Cabal iſt aus den Anfangs - buchſtaben der fünf engliſchen Miniſter Clifford, Arlington, Buckingham, Aſh - ley und Lautendale unter Karl II. ( 1685) zuſammengeſetzt. Nach dem Sturze Clarendon’s ſah ſich das Volk den Bedrückungen dieſes verhaßten Cabalminiſteriums ausgeſetzt, und erfand den künſtlichen Namen Cabal zur Bezeichnung der Jntriguen und Ränke dieſes Miniſteriums. Vgl. Dittmar, Geſchichte , Bd. 4, Thl. 1, S. 805.Die Kabbala hat252 ihren erſten Urſprung wol nur mit einer linguiſtiſchen Spielerei begonnen. Schon in den älteſten Zeiten hatten die jüdiſchen Ge - lehrten eine eigene Chiffreſprache und ganz beſondere Arten von Alphabeten. Aber auch die 22 Buchſtaben des gewöhnlichen he - bräiſchen Alphabets wurden auf mancherlei Weiſe durcheinander verſetzt, z. B. im Ath Basch, bei welchem der erſte und letzte, der zweite und einundzwanzigſte, der dritte und zwanzigſte füreinander gebraucht werden:〈…〉〈…〉 alſo〈…〉〈…〉 für〈…〉〈…〉 und〈…〉〈…〉 für〈…〉〈…〉; ferner〈…〉〈…〉 für〈…〉〈…〉 und〈…〉〈…〉 für〈…〉〈…〉;〈…〉〈…〉 für〈…〉〈…〉 und〈…〉〈…〉 für〈…〉〈…〉 u. ſ. w. 1)So iſt z. B. nur durch die Kabbala, ſpeciell durch das Ath Basch, die Stelle im Jeremias, Kap. 25, V. 26, erklärlich:〈…〉〈…〉 welches Luther überſetzt: Und König Seſach ſoll auch dieſen (den Becher) trinken . Jeremias ſcheute ſich vor dem König von Babel, den Namen Babel auszuſprechen, und wählte dafür nach dem Ath Basch den Namen Scheſchach (Seſach), nämlich〈…〉〈…〉 und〈…〉〈…〉. Beiſpiele der Art finden ſich äußerſt zahlreich.Aehnlich wird das Al Bam gebildet, in welchem der erſte Buchſtabe gleich dem zwölften, der zweite gleich dem dreizehnten, der dritte gleich dem vierzehnten, und umgekehrt der vierzehnte gleich dem dritten u. ſ. w. geſetzt wird, alſo:〈…〉〈…〉

Ebenſo wird das Ath Bach des Rabbi Chija2)Vgl. 〈…〉〈…〉von Sal. Ephr. Blogg. (Hannover 1831), S. 10 u. 11. aus gepaar - ten Buchſtaben gebildet, je nachdem das Aggregat ihres Zahlen - werths 10, 100 oder 1000 anzeigt; oder es wird aus den An - fangs - oder Endbuchſtaben einer Wortgruppe ein beſtimmtes Wort gebildet3)Wie z. B. das Wort〈…〉〈…〉 (emet), Emmeſſ, die Wahrheit, aus den Endbuchſtaben der drei erſten Wörter der Geneſis (vgl. S. 72, Note 1)., oder auch aus einem oder mehreren Wörtern, nach der Summe des Zahlenwerths der einzelnen Buchſtaben ein anderes oder mehrere Wörter, deren Buchſtaben in der Summe den gleichen Zahlenwerth haben u. ſ. w. Dieſe wunderlichen253 Spielereien ſind, ganz abgeſehen von ihrer myſtiſchen Ausbeutung, für die Gaunerlinguiſtik ſehr wichtig; denn nicht nur in der jüdi - ſchen, ſondern ſogar auch in der deutſchen Gaunerſprache finden ſich ähnliche Transpoſitionen, welche durchaus als analoge kabba - liſtiſche Formationen erſcheinen. Jm Abſchnitt von der Gauner - ſprache wird näher darauf eingegangen werden.

Schon bei einer nur oberflächlichen Kenntniß von dem Bau der hebräiſchen Sprache begreift man, wie ungemein fügig dieſelbe für ſolche linguiſtiſche Spielereien iſt, und welche reiche Reſultate die mit der ganzen Gewalt üppiger orientaliſcher Phantaſie ver - einigte ſcharfſinnige Forſchung der Kabbaliſten erbringen mußte. Die Kabbala war das geheimſte Studium jüdiſcher Gelehrter, und wurde nur den jüdiſchen Jüngern mitgetheilt, welche ſie immer mehr als traditionelle Myſtik cultivirten, und in ihren geiſtreich - ſten und ſcharfſinnigſten Forſchungen ebenſo viele erhabene wie auch kleinliche, ja nicht ſelten ſchmuzige und verworfene Anſchau - ungen zum Vorſchein brachten. Während die kümmerliche deutſche Gelehrſamkeit des Mittelalters mit roher Verachtung auf das ſich ihr ganz abſchließende geheime Fortleben der jüdiſchen Gelehrſam - keit herabblickte, wurde doch mit der aufkommenden humaniſtiſchen Richtung des 15. Jahrhunderts mindeſtens die hebräiſche Sprache einiger Aufmerkſamkeit gewürdigt, obgleich ihr tieferes wiſſenſchaftliches Studium, und namentlich die wunderbare Kab - bala, ſpecifiſches Eigenthum