Das Recht der Ueberſetzung dieſes Werks ins Engliſche, Franzöſiſche und andere fremde Sprachen behält ſich die Verlagshandlung vor.
Nach der bisherigen Darſtellung des Gaunerthums als hiſtori - ſcher Erſcheinung ſieht man, wie das Gaunerthum in der Aneig - nung und Ausbeutung aller Formen des ſocial-politiſchen Lebens als ein krankhafter Anwuchs dieſes Lebens hervortritt, der um ſo leichter und reichlicher ſeine Nahrung von ihm gewinnt, je mehr die Verkünſtelung des Lebens zugenommen und deſſen ſelbſtprüfen - den Scharfblick getrübt hat. Das Gaunerthum iſt ein ſecundäres Uebel am ſiechenden Körper des Bürgerthums, das nicht eher vertilgt werden kann, als bis der Körper ſelbſt geheilt wird, wozu die immer gewaltiger zunehmende materielle Richtung der gegen - wärtigen Zeit die Ausſicht je mehr und mehr trübt, ungeachtet Riehl in ſeiner „ Naturgeſchichte des Volks “eine ſo treffende Diagnoſe des Siechthums gegeben hat, hinter welchem die ernſte Gefahr geſpenſtiſch drohend hervorblickt, und ungeachtet, zum Zeichen der bittern Noth, die bislang in ſo mancher Hinſicht von der chriſtlich-kirchlichen Richtung ſich abneigende Polizei doch noth - gedrungen Hand in Hand mit dieſer gehen muß1)Dieſe Verbindung tritt am ſichtbarſten in England hervor, wo der, um mit ihrAvé-Lallemant, Gaunerthum. II. 12in Kleinkinderſchulen, Rettungsanſtalten für ſittlich verwahrloſte Kinder, Fabrikſchulen, wohlfeilen Speiſeanſtalten und andern ähnlichen Jnſtituten ein ſittliches Waiſenthum zu verkündigen und dem abgeſtorbenen Familienleben ein trübes Mauſoleum zu er - richten. Mit ſchwerer Sorge nimmt der Polizeimann wahr, wie großen Zuwachs das Gaunerthum erhält aus der Zahl von Kin - dern bürgerlich unbeſcholtener Aeltern, die aber daheim weder Familie, noch Herd, noch Familienzucht haben, und zu wie fertigen Gaunern die bloße Lebensverkünſtelung jugendliche Verbrecher, auch ohne Belehrung des Gaunerthums, ausbildet, das dieſen jugendlichen Zuwachs freudig willkommen heißt. So iſt inmitten des Friedens ein Gaunerthum documentirt, das fertiger und ge - fährlicher als jemals daſteht, und bei einer Erſchütterung der be - ſtehenden Ordnung ſich noch furchtbarer erheben wird, als das zu Ende des vorigen Jahrhunderts die niederländiſchen Räuberbanden vermocht haben. Die Staatspolizei hat daher jetzt Aufgaben zu löſen, wie fie kaum je ähnlich zur Löſung geſtellt worden ſind. 1)Dem deutſchen Polizeimann gebührt der Hinblick auf das ihm nicht allein dem Stamme nach, ſondern auch in vielfacher anderer Hinſicht ver - wandte England. Die londoner Polizeiſtatiſtik gibt erſchreckende Reſultate. Ungeachtet London 530 Wohlthätigkeitsanſtalten beſitzt, für die aus freiwilli - gen Beiträgen jährlich nahe an zwei Millionen Pf. St. zuſammenfließen, er - werben noch 4000 Landſtreicher in London allein durch Betteln jährlich 50,000 Pf. St. Jn den Jahren 1848 und 1849 wurden in die londoner Arbeitshäuſer 143,069 Landſtreicher aufgenommen. Jn der londoner Polizei - ſtatiſtik von 1851 figuriren 217 Hauseinbrecher, 38 Straßenräuber, 773 Ta - ſchendiebe, 3675 gewöhnliche Diebe, 11 Pferdediebe, 141 Hundediebe, 3 Fäl -Hier handelt es ſich jedoch zunächſt darum, das Gaunerthum darzu - ſtellen, wie es ſich in der Gegenwart herausgebildet hat.
1)kirchliche Sinn mit der praktiſchen Richtung der Polizei zu einer Menge der verſchiedenartigſten Jnſtitute ſich einigt. Der Engländer kann dabei aber auch das Rechnen nicht laſſen; er calculirt, daß in den Rettungsanſtalten der Kopf auf jährlich 13 Pf. St. zu ſtehen kommt; er berechnet dazu, daß das Jndivi - duum auf freien Füßen jährlich gegen 100 Pf. St. ſtehlen würde, ungerechnet die Captur - und Gerichtskoſten, die auf 62 Pf. St. veranſchlagt werden. Der Engländer kann ſeinen praktiſchen Sinn nirgends verleugnen, und was er als praktiſch erkannt hat, ſetzt er durch mit einer Willenskraft, Conſequenz und mit Opfern, wie kein zweites Volk Aehnliches aufzuweiſen hat.
3Aus der bisherigen Darſtellung ergibt ſich ferner, daß der Gauner nur ein Gewerbe, gleichſam als ſeinen Beruf, treibt. Von einem Stande, als einer geſonderten ſocial-politiſchen Abſchich - tung, oder gar von einer geſonderten volksthümlichen Gruppe, kann nicht die Rede ſein. Das Gaunerthum repräſentirt vielmehr vom verdrängten Thronerben mit dem Stern auf der Bruſt, vom verabſchiedeten Offizier, vom abgeſetzten Geiſtlichen, vom abge - brannten Bürger an bis zum elendeſten Bettler, das verbrecheriſche Proletariat aller Stände, und der fürſtliche Stern des verdrängten Prinzen, das ehrbare beſcheidene Aeußere des vertriebenen Geiſt - lichen oder verunglückten Bürgers iſt ebenſo viel Gaunerkunſt wie der verſteckte Klamoniß des Makkeners, oder die Lumpen und das äußere Elend des Bettlers, welchem Lumpen und alles andere Gepräge des Elends als Handwerksgeräthe zu ſeinem Fortkommen dienen. 1)Jn einer Gaunerherberge fand ich einmal ſpät nachts ein Vaganten - paar in einem elenden Bette mit Lumpen bedeckt liegen; zu den Füßen einen in Lappen gehüllten halbverkommenen Säugling. Neben dem Bett auf dem bloßen Fußboden lagen nebeneinander drei Kinder von 4 — 7 Jahren, mehr nackt als mit Lumpen verhüllt und von der kalten Decemberluft und dem zahl - reichen Ungeziefer, ſelbſt im feſten Schlafe, ſtets in convulſiviſcher Bewegung erhalten. Als Neuling tief erſchüttert von dem nicht zu ſchildernden Anblicke fand ich andern Tags barmherzige Frauen ſogleich bereit, die ganze Familie vollſtändig und warm zu bekleiden. Zwei Tage ſpäter wurde die weiterge - wieſene Familie wieder eingebracht. Die treffliche Kleidung war verkauft und die erſtarrten Kinder trugen wieder die alten Lumpen als Handwerksgeräthe zum Fortkommen der ruchloſen Aeltern.So wenig wie ſich aber ein zutreffendes Bild des Pro -1)ſcher, 28 Falſchmünzer, 317 Verbreiter falſchen Geldes, 323 Betrüger unter falſchen Angaben, 343 Diebshehler, 2768 Gewohnheitsruheſtörer, 1235 Land - ſtreicher, 50 Bettelbriefſchreiber, 86 Bettelbriefträger, 6371 liederliche Stra - ßendirnen und 470 andere nicht klaſſificirte gefährliche Subjecte. Die Zahl der Kinder unter den Verbrechern aller Art, ſogar ſchon vom ſechsten Jahre an, iſt grauenerregend hoch. Seit etwa zehn Jahren hat England Rettungs - häuſer für fittlich verwahrloſte Kinder eingeführt und hat jetzt ſchon Platz für 15,000 Kinder. Der Werth der bei der londoner Polizei im Jahre 1853 ge - meldeten Diebſtähle beläuft ſich auf 53,000 Pf. St. Von den Verbrechern Englands find 11 Procent unter 17 Jahren, 25 Procent zwiſchen 17 und 20 Jahren alt.1*4letariers zeichnen läßt, ſo wenig läßt ſich eine Zeichnung des Gauners geben. Die Gaunerphyſiognomie iſt jedoch noch immer eine Bezeichnung im Munde des Volks. Betrachtet man die Holzſchnitte und Kupferſtiche in den alten Gaunerbüchern, ſo gibt man es ſofort auf, in dieſen fratzenhaften Zügen, die wie eine Darſtellung anatomiſcher Merkwürdigkeiten oder Misgeburten vor die Augen treten, ein anderes Porträt zu finden als das der kahlen ſittlichen Entrüſtung des Zeichners oder Kupferſtechers. 1)Selbſt die Holzſchnitte früherer Jahrhunderte ſind zum Theil viel beſſer als die ſpätern Kupferſtiche bis weit in das 18. Jahrhundert hinein. Man vergleiche z. B. nur den gehängten Juden in Münſter’s Kosmogra - phie bei der Beſchreibung der Stadt Baſel aus dem 16. Jahrhundert mit den ſcheußlich markirten Bildniſſen der rehburger Räuber und Spitzbuben aus dem 18. Jahrhundert. Eine rühmliche Ausnahme machen jedoch die treff - lichen berliner, dresdener und koburger Kupferſtiche ſchon zu Anfang des vorigen Jahrhunderts.Vergleicht man damit die meiſtens gut gerathenen Kupferſtiche zu Anfang dieſes Jahrhunderts, ſo findet man im Geſichte des Heſſel, Streitmatter und ſelbſt des kahlköpfigen Juden Schmaye Nathan keinen eigenthümlichen Typus. Daſſelbe iſt der Fall bei den Grolman’ſchen Porträts, bei denen meiſtens ſogar die idiote Schädelbildung vorherrſcht. Jm Geſicht des Oberlander iſt bei weitem mehr Zug der Leidenſchaft als originelle Typusbildung; Abraham Moſes zeichnet ſich mehr durch ſein negerartiges Profil, als durch irgendeinen andern Typus aus, und bei Konrad An - ſchuh iſt nur der ſchielende Blick abſtoßend. Jn der widerlichen Darſtellung der vier abgehauenen Räuberköpfe bei Pfiſter findet man den Räuberzug einzig und allein nur zwiſchen Bret und Hals, da wo dieſer vom Schwerte durchſchnitten iſt. Jn der Polizei - und Jnquirentenpraxis wird man völlig über die Phy - ſiognomik enttäuſcht, und wem es an Erfahrung fehlt, der mag in den vielen Photographien, welche die heutigen Polizeiblätter, und namentlich der dresdener Polizeianzeiger, in trefflichſter Weiſe bringen, die meiſtens gutmüthigen Geſichter mit den raffinirteſten Gaunereien vergleichen.
5Allerdings findet man unter den Gaunern entſchieden jüdiſche und zigeuneriſche Geſichtsbildungen. Dieſe ſind jedoch nur zufäl - lige nationale Typen und keineswegs dem Gaunerthum eigenthüm - lich. Der Gauner iſt und bleibt für den Ethnographen verloren. Seine Erſcheinung geht nicht über den gewöhnlichen Alltagsmen - ſchen hinaus, wie ihn die Natur geſchaffen hat, mag auch viel - leicht Krankheit, Leidenſchaft und Sünde ſeine Erſcheinung mis - geſtaltet haben. Daher kommt die Verwegenheit, mit welcher das Gaunerthum ſich alle Formen des ſocial-politiſchen Lebens anzu - eignen und in ihnen ſich zu bewegen verſucht, und die Schwie - rigkeit, den Gauner unter dieſen Formen zu entdecken. Nur eine ganz genaue Kenntniß der vielfachen und verſchiedenen Formen und feinen Nüancirungen jenes Lebens kann daher allein den Polizeimann in Stand ſetzen, den Gauner in den verſchiedenſten Erſcheinungen zu entlarven.
Eine Statiſtik des Gaunerthums nach Perſonenzahl, Anzahl der Verbrechen, Höhe des angerichteten Schadens u. ſ. w. läßt ſich bei dem ſchlüpfend beweglichen Wechſel des Gaunerthums nicht mit Sicherheit geben. Sie iſt aber ſo erſchreckend hoch, daß man ſich ſcheuen muß, auch nur in annähernder Weiſe Zahlen anzugeben. Nach ungefährer Berechnung ergibt ſich, daß ſeit den Hugenottenkriegen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, mit Ausſchluß der frei umherziehenden Zigeunerhorden, weit über eine Million profeſſionirter Gauner in Deutſchland exiſtirt und ihren weſentlichen Unterhalt von Raub und Diebſtahl gezogen hat. Dieſe enorme Summe frappirt nicht, wenn man die Zahl und Aufklärungen der zur Unterſuchung gezogenen Gauner in dieſem Zeitraume berückſichtigt und auf die ungeheuern Räuber - horden des Dreißigjährigen Kriegs ſieht, deren offene Verjüngung und Verzweigung zu weitern Räuberbanden von Generation zu Generation erſt vor noch nicht einmal 40 Jahren abgeſchnitten iſt. So überraſcht es auch nicht, wenn Schäffer im Jahre 1793 in dem kleinen Schwaben, dem zehnten Theile Deutſchlands, minde - ſtens 2726 profeſſionirte Gauner nachweiſt, Schwencken im Jahre 1820 noch 650 jüdiſche und 1189 chriſtliche Gauner ſignaliſirt,6 und Thiele nach einem in der That ſehr geringen Anſchlage die Zahl der in Deutſchland1)Zimmermann, a. a. O., S. 9, veranſchlagt die Zahl der eigentlichen profeſſionirten Diebe in Berlin, die ſich je immer auf freiem Fuße befinden und principiell die öffentliche Sicherheit in jedem Augenblick bedrohen, auf 600 — 1000 Köpfe, die jährlich 150,000 Thlr. ſtehlen. und den ſprachverwandten Nachbar - ländern lebenden Gauner auf 10,000 Jndividuen angibt, welche Zahl andere auf das Doppelte veranſchlagen. Der durch das Gaunerthum angerichtete materielle Schaden2)Schäffer veranſchlagte den jährlichen Schaden, den die Gauner in Schwaben anrichteten, auf 186,588 Gulden, Thiele den der Gauner in Deutſch - land auf anderthalb Millionen Thaler; beide Anſchläge ſind äußerſt gering. Vgl. Stuhlmüller, a. a. O., Vorrede, S. xxxv. läßt ſich gar nicht berechnen, ſeitdem die Gaunerkunſt es ſo weit gebracht hat, die Spuren ihrer Unternehmungen ſo weit zu verdecken, daß ein Dieb - ſtahl häufig zu ſpät, häufig aber gar nicht einmal bemerkt, ge - legentlich aber doch der Vermiß plötzlich ins Auge gefallen und einem Verſehen oder Verbrechen eines Dritten, ſogar des Dam - nificaten ſelbſt zugerechnet worden iſt. Auf dieſe Weiſe hat man - cher öffentlicher Kaſſenbeamter, um Namen und Amt zu retten, ſeine ganze Habe hergegeben, ja leider ſchon mancher Unglückliche in der Verzweiflung über ſeine vermeinte Nachläſſigkeit ſich entleibt. Es iſt unglaublich, wie ungeheuer viel z. B. in den Seiden - und Ausſchnittläden geſtohlen wird, und wie wenig die Kaufleute ſich überzeugen laſſen wollen, daß ſie von Gaunerinnen um das vor ihren Augen beſtohlen ſind, was ſie als verkauft oder höchſtens als Vermeſſung oder „ Verſpillung “in den Büchern notiren. 3)Noch in neuerer Zeit iſt mir der Fall vorgekommen, daß in einem ſolchen großen Geſchäft eine weibliche Schottenfellerchawruſſe von drei Jndi - viduen den Vorrath von Wollmuſſelinſtücken eines beſtimmten Muſters ſo gänzlich aufgeräumt hatte, daß das Ladenperſonal das Muſter der vorgelegten Kleider durchaus nicht kannte und erſt nach wiederholtem Nachſchlagen im Probenbuche ſich überzeugte, daß der Stoff dieſes Muſters im Lager wirklich vorräthig geweſen war.
Auch in den geſellſchaftlichen Verhältniſſen des deut - ſchen Gaunerthums findet ſich nirgends eine nationale Eigen -7 thümlichkeit, obſchon der Aberglaube mit ganz entſchiedenem Ein - fluß dem deutſchen Gaunerthum eine ſehr eigenthümliche Rich - tung und Färbung gegeben hat, und in dieſem noch immer einen Hauptträger findet, wie ſpäter gezeigt werden ſoll. 1)So findet ſich, daß ſchon in den Zeiten des bitterſten Judenhaſſes und der ſchmählichſten Exceſſe des Pöbels gegen die Juden gerade der Aberglaube es war, der die chriſtlichen Gauner zur herablaſſenden Verbrüderung mit Juden führte, indem es von Alters her der noch bis in die neueſte Zeit herabreichende Gaunerglaube war, daß ein Kirchendiebſtahl nicht anders gelingen und unent - deckt bleiben könne, als wenn mindeſtens ein Jude ſich bei demſelben betheiligte.Selbſt die mit unvertilgbarer Zähigkeit feſtgehaltene, namentlich durch die polniſchen Juden, beſonders auch in den drei erſten Decennien dieſes Jahrhunderts, ſcharf repräſentirte, urſprünglich leibliche und geiſtige Eigenthümlichkeit der Juden macht ſich in den gauner - geſellſchaftlichen Verkehrsverhältniſſen weniger geltend, obſchon der jüdiſche Gauner mit viel mehr Ruhe, Ueberlegung und Conſequenz zu Werke geht, und überhaupt die Gaunerei ganz beſonders mit dem vollen Ernſt eines geſchäftlichen Betriebes ausübt, und, weit entfernt, das Geſtohlene ſo ſinnlos wie die chriſtlichen Gauner zu verſchleudern, lieber ſich der Gefahr aus - ſetzt, daſſelbe, ohne Vermittelung Dritter, ſelbſt zu verwerthen, um den möglichſten Gewinn ſeines Fleißes und ſeiner Anſtrengung ungetheilt zu erhalten. Auch werden einzelne Gaunermanöver, zu denen ſelten eine Chriſtenhand geſchickt genug iſt, wie z. B. das Linkwechſeln oder Chilfen, faſt ausſchließlich von Juden be - trieben. Die ſocialen Verhältniſſe der jüdiſchen und chriſtlichen Gauner ſind aber einander gleich, ohne daß die Genüge, welche erſtere den Formalitäten ihres Cultus leiſten, weſentlichen Ein - fluß auf dieſe Verhältniſſe ſelbſt ausübt. Die ſchon lange und mit vieler Mühe und großen Opfern unternommene Coloniſation und Cultivirung der Zigeuner hat zum mindeſten den Erfolg ge - habt, daß die Zigeuner nicht mehr als nationalgeſonderte eigen - thümliche Gruppe im deutſchen Gaunerthum erſcheinen, in welches ſie vielmehr ſoweit gänzlich aufgegangen ſind, als ſie ſich noch immer an Gaunereien betheiligen.
8Die geſellſchaftlichen Verhältniſſe des Gaunerthums bieten daher keinen beſondern ethnographiſchen Stoff dar. Das Gauner - leben bewegt ſich nur im tiefſten ſittlichen Elend des niedrigſten Volkslebens, aus deſſen Sphäre es mit ſeiner Kunſt in alle obern Schichten zu dringen verſucht; und hat nur das Eigenthümliche, daß es in dieſem ſittlichen Elend ſeine Vereinigung ſucht. Bei der Flut und Ebbe des zu - und abziehenden Geſindels lagert ſich der Schlamm der verworfenſten Entſittlichung in den Wohnungen und in den Gaunerherbergen (Cheſſen-Spieſen oder Kochemer - Pennen) ab. Das unſtete Leben und Umherſchweifen des Gau - ners gibt ihm volle Freiheit, ſeiner ungeheuer wuchernden Sinn - lichkeit im weiteſten Begriffe ungebändigt nachzugehen und ſomit die am heimatlichen Wohnort einigermaßen mögliche polizeiliche Controle zu eludiren. Selbſt der an die furchtbarſten Erſcheinun - gen des ſittlichen Elends täglich gewohnte Polizeimann ſchreckt zurück, wenn er die Höhlen des Laſters betritt, in denen die Weihe und der Stempel des Elends ertheilt und hingenommen wird. Aber doch bringt der Gauner Behagen mit in dieſen furcht - baren Aufenthalt, wenn er tief in der Nacht von ſeinen Aus - flügen zurückkehrt; ihn erwartet der behagliche Verſteck unter ſeinesgleichen und die Wolluſt auf der, wenn auch mit Unge - ziefer überſäeten Streu; und alles Ekle ſchüttelt er von ſich wie das Ungeziefer, wenn er den Fuß von dannen hebt, um weiter zu ſchweifen, ſein Glück zu verſuchen, zu praſſen und wieder in andern Höhlen bei ſeinesgleichen auszuruhen.
Die Genußſucht und Sinnlichkeit des Gauners ſowie ſeine Verſchwendung grenzt an Raſerei. Mancher Gauner hat zu verſchiedenen malen ſchon ein bedeutendes Vermögen erworben gehabt, von deſſen Renten er ein bequemes ruhiges Leben hätte führen können. Aber in kurzer Zeit wird der Reichthum ver - praßt. Der Gauner begreift ſein Spiel und deſſen Gefahr und Ausgang, und darum klammert er ſich mit krankhafter Luſt an das Leben an, das ihn hin - und herwirft und ihm eine amphi - biſche Natur verleiht, ſodaß es nur ihm allein möglich wird, im höchſten Genuß und im höchſten Elend zu leben. Der Zweck der9 Ehe iſt ihm fremd, obgleich er die geſchlechtliche Vereinigung ſucht, ſobald der frühgeweckte Naturtrieb dazu anreizt. Der Bei - ſpiele ſind unzählige. Des Sonnenwirthles Frau, Chriſtine Schat - tinger, gab ſich ſchon als zwölfjähriges Kind preis. 1)Aehnliche trübe Beiſpiele habe auch ich in meiner Polizeipraxis noch ganz neuerlich erlebt. Es ſcheint ſogar, als ob die Kindlichkeit in den ver - dorbenen niedern Schichten nur noch als künſtliche Erſcheinung benutzt wird, um hinter ihr das verworfene Laſter zu verſtecken. Wer ſucht in verkrüppel - ten oder unreifen Kindern die Erwerbsquellen kuppleriſcher Mütter!Der Gegenſtand der Wahl muß unverwüſtlich in der Wolluſt, unver - droſſen in Verrichtung der, den Weibern allein zur Laſt fallenden, häuslichen Arbeit, kräftig und ausdauernd zum Tragen von Ge - päck und Kindern auf der Reiſe, ſchlau zum Baldowern und geneigt und geſchickt zum Handeln, d. h. Stehlen, ſein. Gegen dieſe Vorzüge ſchwindet die ſtrenge Forderung körperlicher Schön - heit, obgleich ſie als angenehme Beigabe willkommen iſt. Ent - ſprechende Forderungen ſtellen die Dirnen und Weiber: der kräf - tige, beherzte, verſchlagene und renommirte Freier iſt der will - kommenſte. Nur äußerer Zwang führt zur Ehe, die aber keines - wegs ein Hinderniß iſt, anderweitige Verbindungen einzugehen. 2)Schäffer erwähnt des Gauners Sichler, der gerade zwölf Beiſchlä - ferinnen zugleich hatte; ſo auch einer gleichzeitigen, mit ſcheußlichem Spitznamen benannten Gaunerin, die zwei Ehemänner und eine Menge Beiſchläfer hatte. Die Beiſchläferinnen werden übrigens mit Schikſe, Schikſel, beſonders aber mit Pilegeſch, Pilegſche bezeichnet, vom hebräiſchen〈…〉〈…〉, Plural〈…〉〈…〉 Bei - ſchläferin und Beiſchläfer (worin das griechiſche ὁ und ἡ πάλλαξ und das lateiniſche Femin. pellex), das jedoch in der Gaunerſprache nur als Femin. gebraucht wird. Für den Beiſchläfer wie für den Ehemann wird der Ausdruck Kaffer (Cha - ver), auch wohl Bal, Jſch und Freier gebraucht. Meiſtens nennt die Gaunerin ihren Beiſchläfer Kröner, welcher Ausdruck des Liber vagatorum ſich bisjetzt noch erhalten hat für Ehemann, wie Krönerin, Ehefrau, wahr - ſcheinlich von〈…〉〈…〉, keren, Horn, Haupt, Machthaber, während Erlat, Er - latin des Liber Vagatorum, wahrſcheinlich der hebräiſche Ausdruck für Chri - ſten, Orel (〈…〉〈…〉), Fem. Orelte, außer Brauch gekommen iſt. Jm Jüdiſch - Deutſch iſt für Ehemann Baliſcho, für Ehefrau Jſche, Baile. Von Sug, das Ehepaar, iſt Sugo, Sugas, Sugos, Ehefrau und Benſog, Ehemann, Bethſog, Ehefrau. Vgl. Stern, „ Medr. Seph .. “, S. 78. — Vgl. das Weitere beim Schärfenſpielen und Eintippeln, Kap. 89 und 90.10Vielfach halten Verheirathete mit Ledigen zuſammen, auch lebt oft genug der Vater mit der Tochter1)Beiſpiele der Art finden ſich ſehr viele. So vertrat die Sibylle Schmidt die Stelle der Beiſchläferin ihres Vaters, des ſogenannten großen oder Her - zogs Keßler, obwol die Mutter, Madline, noch mit dem Vater zuſam - menlebte. Vgl. „ Sulzer Gaunerliſte von 1801 “, S. 4, Nr. 7, und „ Gau - nerliſte von 1787 “, S. 51, Nr. 235., ſeltener jedoch Bruder und Schweſter in blutſchänderiſchem Concubinate. Auch werden die Eheweiber häufig gegenſeitig nach dem Contracte der Männer vertauſcht, und oft wird ein Draufgeld gegeben. Schäffer erzählt Beiſpiele, daß ein Ehemann bei einem Weibertauſch einen Pudel und ein anderer fünf Gulden als Draufgeld erhielt. Ein förm - licher Tauſchcontract, der zwiſchen den Gaunern Maw und Wells unterzeichnet und unterſiegelt wurde, iſt bei Smith, „ Straßen - räuber u. ſ. w. “, S. 395, abgedruckt; Maw gibt danach eine Dohle für Well’s Weib weg; beide bezeichnen die Tauſchobjecte als „ unnützen beſchwerlichen Hausrath “und entſagen feierlich allen und jeden Einreden gegen den Tauſchcontract. Vielfach werden die Weiber ſelbſt von ihren Zuhältern oder Männern als Dappelſchikſen an wittſche Leute verkuppelt, wobei die Weiber ſich als geübte Diebinnen erweiſen. Noch häufiger kommt es vor, daß die Weiber in Verabredung mit ihren Beiſchläfern ſich in flagranti mit den herbeigelockten Männern ertappen laſſen und dabei mit den Beiſchläfern den Angelockten gewaltſam berauben, oder von ihnen eine Geldbuße für den beleidigten angeblichen Ehemann erpreſſen. Meiſtens herrſcht ungeſtörte Freundſchaft zwiſchen dem Mann und dem notoriſchen Zuhälter ſeiner Frau oder Concubine. Oft hat aber auch der heimliche Betrug die blutigſte Rache zur Folge, wovon die ſchon erwähnte grauſame Ermordung des Toni durch Hannikel ein ſchreckliches Beiſpiel iſt. Noch entſetzlicher iſt die in „ Rheiniſche Räuberbanden “, I, 59, erzählte Rache des Johann Müller wider einen an der Untreue ſeiner Frau völlig unſchuldigen franzöſiſchen Fuhrknecht. Nicht ſelten kommt es vor, daß eine einzige Weibsperſon der ganzen männlichen Genoſſen - ſchaft Liebesdienſte erweiſt, ohne die Eintracht zu ſtören; und11 trotz dieſer nie verſagten Gelegenheit zur Befriedigung thieriſcher Luſt ſind die öffentlichen und Winkelbordels ebenſo beſuchte Ver - kehrsorte der Gauner wie die Kochemerpennen, obſchon auch in dieſen die Wolluſt mit ihrer ganzen Bereitwilligkeit zur Hand iſt. Die prieſterliche Copulation iſt bei den gauneriſchen Verbindungen Nebenſache1)Eine ebenſo oft veranſtaltete wie gottloſe Vergnügungsſcene in den Pennen iſt das Chaſſnemelochnen (Hochzeitmachen), wobei ein Gauner die Rolle des Geiſtlichen, ein anderer die des Kirchners u. ſ. w. übernimmt, und ein gauneriſches Paar förmlich copulirt wird. Die ganze ruchloſe Scene wird nur geſpielt, um eine Gelegenheit zu den verworfenſten und ſchamloſeſten Or - gien und zur Herbeiſchaffung der Ausſteuer und Hochzeitskoſten durch einen Maſſematten herbeizuführen. Ueber〈…〉〈…〉, schiddach, er hat verheirathet, ſiehe die Derivata, Kap. 90, in der vorletzten Note. und wird nicht eher nachgeſucht, als bis obrigkeit - licher Zwang oder ſonſtige äußere Vortheile ſie zur Nothwendig - keit machen. Die Ausſteuer, die Koſten des bevorſtehenden Ver - lobungs - oder Hochzeitsmahls geben Anlaß, vorher einen Maſſe - matten zur Beſtreitung des Aufwandes zu handeln. Wie wenig Frieden und wahres Glück eine ſolche Verbindung bringt, läßt ſich denken. Namentlich hat das nur zum gemeinen Magddienſte und zur bloßen Befriedigung thieriſcher Sinnlichkeit erniedrigte Weib alle Gemeinheiten, Verwünſchungen und Mishandlungen zu tragen, welche von der Roheit des Mannes auf ſie fallen, und dazu auch noch zu gewärtigen, daß jener ſie mit den Kindern im Stiche läßt, beſonders wenn die Zahl der letztern ſo groß geworden iſt, daß er ſie nicht ernähren kann, oder daß ſie ihn ſonſt in ſeinen Gaunereien hinderlich ſind, wobei denn oft rüh - rende Züge von Mutterliebe hervortreten. Bei aller Aufopferung der Mütter für die Kinder iſt an Erziehung und ſittliche Ausbil - dung nicht zu denken. Was den Aeltern ſelbſt fehlt, halten ſie auch für die Kinder entbehrlich. Dem Schulzwang entziehen ſich die Gauner durch ihr unſtetes Umherſchweifen. Was aber die Aeltern können und treiben, ſehen und lernen die Kinder bald, und in dieſer trüben Gemeinſamkeit wird die Erziehung ſo weit vollendet, bis die Knaben, oft ſchon im ſiebenten und achten Jahre,12 zum Baldowern und Torfdrucken reif ſind und in die Genoſſen - ſchaft der Männer eintreten, die Mädchen mit ihren noch kind - lichen, aber durch das Zuſammenliegen mit den Brüdern oder Er - wachſenen andern Geſchlechts und durch die fortgeſetzt vor den Augen ſtehenden ſchmuzigen Beiſpiele und Erlebniſſe früh geweckten Reizen ihr Glück verſuchen. 1)Von den zahlloſen Zügen weiblicher Roheit und Schamloſigkeit nur ein Beiſpiel, das bei Grolman, a. a. O., S. 409, erzählt wird: „ Von der Wetterauer Bande hatten die beiden Werner mit Ludwig Vielmetter und deſſen lediger Schweſter Anna Margaretha im März 1810 die Kirche zu Herren-Haag erbrochen, um die Kirchenglocke zu ſtehlen, welche jedoch nicht zu löſen war, weshalb ſich die Diebe mit dem Schwengel behalfen. Darauf wurde die Orgel zerſtört und deren Windladen zerſchnitten. Dabei wurde ein Pfarrermantel, zwei Leichentücher, der Klingbeutel und zwei Geſangbücher entwendet, jedes Glockenſeil abgeſchnitten und der Altar umgeworfen. Einer verrichtete von der Kanzel ſeine Nothdurft, während er mit umgehängtem Mantel den Prediger affectirte, und während die andern die Zoten und Läſter - reden anhörten und ſämmtlich den Koth in der Kirche ließen — unter ihnen eine ledige Dirne mit ihrem Bruder! “ Welchem Polizeimann kommen aber nicht ähnliche Züge von Roheit vor, die man zu erzählen gerechtes Bedenken tragen muß!
Dieſe trübe Skizze dieſer einen Seite der geſellſchaftlichen Gaunerverhältniſſe zeigt vor allem das Weib und die Ehe mit ihrer Bedeutſamkeit und ihren Zwecken tief in den Staub getreten. Sie verliert nicht an innerer Wahrheit, wenn derjenige, der nicht hochmüthig negirt, wo das Unheil ſo ſichtlich aus dem Boden her - vorwuchert, in den meiſten Zügen dieſer Skizze auch das Elend unſerer unterſten Volksſchichten überhaupt gezeichnet findet, die, in Noth und Unwiſſenheit befangen, immer dicht neben dem Ver - brechen einhergehen.
Mit dem ganzen Geheimniß und mit der ganzen Kunſt ſeines Weſens verdeckt aber der Gauner ſein ſittliches Elend als un - mittelbare Folge und Verrath ſeiner Verbrechen, und dies Beſtreben bringt jene innige Verbindung hervor, die, des Namens der Freundſchaft und Verbrüderung unwerth, vom ſchmuzigſten Egois - mus geſchaffen, von Verfolgung und Tod bewacht, ſeit Jahr - hunderten, wie ein geheimnißvolles Räthſel, überall ſichtbar und13 doch unbegriffen, vernichtend und unvernichtet, mitten in das ſo - cial-politiſche Leben hineingeſchritten iſt, das geſunde Leben in - ficirt hat und deſſen beſten Kräfte fortwährend zur Erhaltung ſeiner verderblichen Exiſtenz abſorbirt. Jn der Verbindung, weit weniger in der Kunſt, beruht die ganze furchtbare Gewalt des Gaunerthums. Darum wird auch die Verbindung durch das Ge - heimniß geſchützt, und das Geheimniß den Geweihten durch alles, was Kunſt und Sprache dazu hergeben kann, offen und deutlich erhalten. Kein Opfer iſt zu groß, um das Geheimniß zu bewahren und den Verrath zu verhüten und zu beſtrafen. Sogar Gefäng - niſſe wurden geſtürmt, um gefangene Kameraden zu befreien und mit ihnen das Geheimniß zu retten. So befreite Picard einen Kameraden, der Geſtändniſſe zu machen angefangen hatte (einen Wittſchen Maſſer), aus dem Kerker, ging gleich darauf mit ihm auf einen Raub aus und ſchoß ihn unterwegs nieder. 1)Vgl. „ Rheiniſche Räuberbanden “, II, 448, wo noch ein anderer Fall der Art erzählt wird vom ſchelen Jickjack, gleichfalls von der Merſener Bande, der vorher ein Grab grub und dann den Verräther zu einem Raube einlud, abholte, bei dem Grabe niederknien, beten, ſich zum Tode vorbereiten ließ, den Unglücklichen, alles Flehens um Gnade ungeachtet, niederſchoß und den Körper in das Grab verſcharrte.Entſetzlich war die Rache, welche Hann-Baſt Hartmann von der Wetterauer Bande mit ſeinen Genoſſen an ſeinem Kameraden Bröſchlers nahm, welcher bei einem Diebſtahl im März 1807 nur zwei Thaler untermackelt hatte. Der Unglückliche wurde mit einem Piſtolenhieb zu Boden geſtreckt, mit Meſſern in die Dick - beine und Waden geſtochen, aus dem Wirthshaus in den Hof geſchleift, dort auf einen Trog gelegt und ihm eine Sehne nach der andern ausgelöſt, bis der ſo ſchrecklich Gemishandelte nach zweiſtündiger entſetzlicher Qual ſtarb. 2)Vgl. Grolman, a. a. O., S. 245.Ein ähnlicher Unterſchleif war der Anlaß zur Todfeindſchaft zwiſchen Picard und Schin - derhannes, welcher letzterer daher die kaum geſchloſſene Ver - bindung mit jenem wiederaufhob und ſich mit ſeinen Genoſſen zurückzog. 3)Vgl. „ Rheiniſche Räuberbanden “, II, 326.Vorgänge der Art ſind nicht antiquirt. Bei der14 großen, jetzt beendigten holſteiniſchen Unterſuchung iſt der Haupt - angeber nach Amerika befördert worden, um ſein Leben vor Ver - folgungen zu ſchützen, das aber ſelbſt in der Neuen Welt nicht hinlänglich vor blutiger Rache geſchützt ſein mag. Zum mindeſten wird der Sſlichener gezinkt, in die Wange geſchnitten, um ihn kenntlich zu machen, und jeden vom Verrathe abzuſchrecken. Auch habe ich in meinen Verhören die überraſchendſten Erfah - rungen gemacht über die enorme Gewalt, welche die bloße Er - ſcheinung, das bloße Athemholen eines Räubers, auf ſeinen zum Geſtändniß geneigten Genoſſen zu machen im Stande iſt.
Von dieſen furchtbaren Banden wird das Ganze zuſammen - gehalten, in welchem jeder einzelne ſich hin und her bewegt, wie ſein Jntereſſe, ſeine Neigung und Sinnlichkeit ihn treibt. Weit untergeordneter ſind die ſtets geſuchten und geförderten verwandt - ſchaftlichen Verhältniſſe, welche bunt und wirr durcheinander laufen. Man braucht nur den Stammbaum eines Gauners, wie den des Vielmetter bei Grolman, a. a. O., S. 226 fg., oder die inter - eſſanten verwandtſchaftlichen Beziehungen bei Pfeiffer und Eber - hard anzuſehen, um einen Begriff von dieſer ungeheuern Ver - wandtſchaft zu bekommen, durch welche faſt das ganze Gauner - thum unter ſich verbunden iſt. Bei der tiefen Entſittlichung ſind dieſe Bande jedoch nur locker und laſſen nach, ſo oft Jntereſſe oder Leidenſchaft ins Spiel tritt. Aeltern mishandeln ihre Kinder auf barbariſche Weiſe und werden von ihren Kindern häufig in gleicher Weiſe behandelt. Die Kinder ziehen davon und laſſen die Aeltern hülflos im Stiche, ſobald der Trieb zum Stehlen oder zur Sinnlichkeit erwacht. Die durch Trunkenheit geförderten und geſteigerten rohen Ausbrüche des Zorns, der Eiferſucht, der Rache führen zu den ſchmählichſten Exceſſen, wobei häufig Meſſer und Piſtole den Ausſchlag geben. Aber unmittelbar nach dem Ex - ceß tritt das alte vertraute Verhältniß ein, und Spuren und Folgen des Tumults werden ſorgfältig verdeckt und verhehlt, um dem Verrath des Ganzen vorzubeugen. Die ſorgfältige Pflege ſeiner verwundeten oder erkrankten Genoſſen, welche ſich der Gauner angelegen ſein läßt, iſt bei weitem weniger auf Liebe und15 Freundſchaft begründet, als auf der Furcht, daß der ſchwache und bewußtloſe Genoſſe zu irgendeinem Verrath Anlaß geben könnte. Der Todte wird mit Gleichgültigkeit, ja mit Furcht und Abſcheu verlaſſen, obſchon auch hier rührende Züge von Mutterliebe vor - liegen. Es gibt Beiſpiele, daß eine Mutter tagelang mit der Leiche ihres Kindes von Ort zu Ort zog, und ſich nicht eher von derſelben trennte, als bis ſie ihr mit Gewalt abgenommen wurde.
Soviel zur allgemeinen Skizzirung der geſellſchaftlichen Ver - hältniſſe der bunten, beweglichen, ſchlüpfenden Maſſe, die erſt recht begriffen werden können, wenn man zu dem bereits in hiſtoriſcher und literariſcher Hinſicht Gegebenen den Gauner in ſeinen ein - zelnen Unternehmungen thätig ſieht, und vor allem in das wun - derbare Geheimniß ſeiner charakteriſtiſchen Sprache und Verſtän - digungsweiſe eindringt.
So bunt und wirr das Gaunertreiben ſeit Jahrhunderten vor den Augen des geſchichtlichen Forſchers ſteht, ſo geheim und künſtlich das Weſen des Gaunerthums waltet, ſo deutlich erſieht man doch aus den geſchichtlichen, inquiſitoriſchen und ſprachlichen Offenbarungen, die im Laufe der Jahrhunderte kund geworden ſind, daß das in ſo vielen Atomen bewegliche Geſammtganze doch immer einen von dem allmählichen Fortſchreiten der ſocial-politi - ſchen Verhältniſſe abhängigen Gang genommen hat, in welchem ſich das Gaunerthum recht eigentlich zum Gewerbe conſtituirt hat, und den man als Conjunctur des Gaunerthums bezeichnen kann. So begann im frühen Mittelalter des Räuberthum mit der Wegelagerei auf die Waarenzüge des monopoliſtiſchen Han - dels, bis es, durch die Zeit des Fauſt - und Fehderechts hindurch, bei den unabläſſigen Kriegsbewegungen ſeine hauptſächlichſten Repräſentanten in den Landsknechten fand, während ſchon der16 feinere Betrug durch Simulation eines Gebrechens oder äußer - lichen Nothſtandes auf die chriſtliche Barmherzigkeit ſpeculirte oder, bei der dominirenden Gewalt der Hierarchie, durch den Vorſchub kirchlicher Pönitenz ſich den Weg in das Haus des Bürgers und Landmanns bahnte. So gibt es in der ſpätern Geſchichte unter den unzähligen Ereigniſſen keine politiſche Bewegung, keine Um - geſtaltung des ſocial-politiſchen Lebens, bei welchem nicht auch das Gaunerthum ſeine Conjunctur gefunden hätte. So ſind denn auch in neuerer Zeit, ſeitdem das Kapital immer weiter und mächtiger zu arbeiten angefangen hat, die Nachſchlüſſel - und Geld - diebſtähle, ſowie das Chilfen viel häufiger geworden, und auch in kürzerm periodiſchen Wechſel werden einzelne Jnduſtrien gleich - zeitig an verſchiedenen Orten cultivirt, als gäbe es eine beſtimmte Saiſon für dieſe oder jene Jnduſtrie. So waren z. B. die Zefir - gänger im Sommer 1856 vorherrſchend im Gange, und zwar gleichzeitig beſonders in Berlin, Dresden, Hamburg, Lübeck u. ſ. w. Bei dieſer beweglichen Conjunctur, in welcher man das Gauner - thum recht deutlich als Totalität hervortreten ſieht, werden aber auch beſtimmte allgemeine Charakterzüge des Gaunerthums ſicht - bar, die man weniger an den einzelnen Jndividuen als im pe - riodiſchen Fortleben des Ganzen beobachten, und die man als allgemeine pſychologiſche Momente bezeichnen kann. So charakteriſirt ſich das moderne Gaunerthum gegen das frühere auf - fällig durch den Mangel an wirklichem moraliſchen Muth. Zur Zeit des Fauſt - und Fehderechts machte der romantiſche Kampf gegen das bewaffnete Geleite der Waarenzüge die Wege - lagerei ſogar mit der Ritterehre verträglich, und die Parteigänge der Landsknechte und der Soldaten des Dreißigjährigen Kriegs1)Die vom Grafen von Merode dem Wallenſtein zugeführten Soldaten zeichneten ſich beſonders durch Diebereien und Gewaltthätigkeiten aus, und ſind daher dem Weſen und Namen nach die Stammväter der modernen Ma - rodeurs. wurden als kühne Abenteuer betrieben, bei den es immer auf Entſchloſſenheit und Tapferkeit ankam. Nachdem es aber der17 Landespolizei gelang, das offene Räuberthum zurückzudrängen, welches ſich darauf in das bürgerliche Leben flüchtete, ſeitdem treibt das Gaunerthum ſeine Kunſt wie ein friedliches bürgerliches Ge - werbe, bis die Gelegenheit es zur Vereinigung in groere und offene Gruppen wieder zuſammenruft. Seitdem das Gaunerthum den Glauben an die Kraft und Gewalt der Landespolizei ge - wonnen hat, ſeitdem wagt der Gauner nicht leicht mehr den offenen räuberiſchen Angriff. Heimlich, zur Nachtzeit, mit geſchwärzten Geſichtern, dicht vermummt, überfielen häufig ſelbſt die Wüthriche der Niederländiſchen Banden die ſchlafenden Bürger und wichen vor der muthigen Gegenwehr zurück. Der Gauner ſpionirt jetzt die Gelegenheit aus, wo er muthig ſein darf. Nur in Geſell - ſchaft ſeiner Genoſſen und im Verlaß auf ſie iſt er muthig gegen die Schwachheit bis zur brutalſten Grauſamkeit. Darum ſind ihm große erſchütternde Begebenheiten mit der begleitenden Aen - derung oder Lähmung der gewohnten Ordnung willkommen. Nirgends tritt das Gaunerthum ſichtbarer hervor als bei Kriegs - bewegungen, Auflaufen, Feuersbrünſten und ſonſtigen Unglücks - fällen. 1)Von jener Feigheit und elenden Ausbeutung des Unglücks enthält unter anderm auch das auf dem baſeler Staatsarchiv befindliche „ Rothe Buch von Baſel “, vom Jahre 1357, interefſante Notizen über beſtrafte Diebereien bei dem großen Erdbeben am 18. October 1356. Dort heißt es unter anderm S. 1 u. 5: „ § Heintzman der ſvn von friburg, Hanneman Hefinger der Bermender, Meiſterli der kannengieſſer ſwuorent an dem Cinſtag nach dem Jnganden Jare fünf Jar ein mile von der ſtat, vmbe daz ſi den lüten ir Jſen in dem Ert - pidem abbrachen vnd daz verkouften. “ Und ferner: „ § Wisherli ſol ein Jar leiſten, das er vnd Hirte in dem Ertpidem dem ... Berner ſin laden vf brachen. “ Vgl. „ Baſel im 14. Jahrhundert “, S. 226.Ja, die Brandfackel iſt ſogar ein furchtbares Mittel in der Hand des Gauners, um im Tumult des Unglücks die feige Gaunerkunſt zu üben. So ſchleicht der Gauner ſchwach und muthlos als Lieferant und Marketender hinter den Heeren einher, um in ihren gewaltigen Spuren ſeine Ernte zu halten; ſo läßt der Gauner ſich als Freiſchärler oder Soldat in Uniform kleiden,Avé-Lallemant, Gaunerthum. II. 218um unter dem Nimbus ſoldatiſcher Ehre, Zucht und Pflicht ſein feiges Gewerbe zu treiben.
Auf dieſen Mangel an moraliſchem Muth beruht we - ſentlich die Theorie des Baldowerns und die Eintheilung in jene flüchtigen Gruppen und ſinguläre Aufgebote der Chaw - ruſſen1)Chawruſſe, auch Chäwre, von〈…〉〈…〉 (Chawer), der Genoſſe, Kame - rad; Femininum〈…〉〈…〉 (Chaweress);〈…〉〈…〉 (Choweress), die Verbindung, Genoſſenſchaft, Diebsgeſellſchaft, Diebsverbindung., um einzelne beſtimmte Unternehmungen auszuführen und nach der Ausführung ſich wieder behende in die Maſſe zu - rückzuziehen. Die Chawruſſen ſind ſtets ſo groß, daß den Chäwern Muth und Gelingen geſichert iſt, und ſtets ſo klein, daß ſie nicht als größere Maſſe in die Augen fallen und nicht eine zu gering - fügige Dividende der Diebsbeute für den Einzelnen bedingen, ob - wol die letztere Rückſicht die untergeordnetere iſt. Jene Wahr - nehmung iſt auch für das ſogenannte Brennen wichtig. Obwol das Sſlichnen (der Genoſſenverrath), wie ſchon gezeigt iſt, furcht - bar geſtraft wird, ſo hat doch weſentlich die Furcht vor Verrath das Branntweinsgeld zu einer Art Ehrenſache und das Brennen zu einem zunftmäßigen Grußgeben gemacht. Deshalb zahlt der glückliche Cheſſen dem fremden Kochemer, der ihn, ſein Unter - nehmen und deſſen Erfolg meiſtens ſchon eher kennen gelernt hat, als der Diebſtahl ruchbar wird, ohne Anſtand dieſe läſtige und häufig beträchtliche Steuer ſeiner gauneriſchen Thätigkeit, nament - lich wenn die Brenner Vigilanten ſind, denen jener nicht ganz trauen kann.
Charakteriſtiſch iſt noch für das heutige Gaunerthum, daß die Meuchelmorde und Raubmorde, mit denen früher bei Unter - nehmungen größerer Räuberbanden gewöhnlich ſogleich, ohne die Gegenwehr abzuwarten, der Anfang gemacht wurde, mindeſtens in Norddeutſchland ſelten oder gar nicht mehr vorfallen2)Eines einzigen Falls neuerer Zeit erinnere ich mich, daß ein von einer Chawruſſe unternommener Diebſtahl und Einbruch mit einem Morde begann, der jedoch wol mehr durch Zufall als durch Vorſatz und Verab - redung herbeigeführt wurde. Die ſpäter am 12. April 1844 zu Stockelsdorf, ſo19 gering auch nach der heutigen Gaunerpolitik die Perſonenzahl einer Chawruſſe, und je leichter eine Gegenwehr zu erwarten iſt. Zwar haben die Gauner ſtets Meſſer (Kaut), Piſtole (Glaſeime), Stricke (Chewel), Brecheiſen (Schabber) und ſtarke Knittel (Jad - drong) zur Hand. Dieſe Sachen werden jedoch höchſtens nur zum „ Schrecken “1)Bezeichnend dafür iſt der gauneriſche Ausdruck für Piſtole: Glaſeime, Klaſeime, Kleſeime, von〈…〉〈…〉 (kle), Geſchirr, Geräth, und〈…〉〈…〉 (emo, eimo), Furcht, Schreck, alſo Geräth zur Furcht, Schreckgeräth. Entſpre - chende Ausdrücke ſind: Knaller, Puffer für Piſtole, Terzerol., auf der Flucht und als Defenſivmittel gebraucht. Nie habe ich bei bewaffneten Gaunern gute Piſtolen, faſt immer nur kümmerliche Terzerole, wenn auch doppelläufige, und nie beim Herausziehen der Ladung etwas anderes als höchſtens Enten - oder Haſenſchrot, kein einziges mal aber eine Kugel gefunden. Die Meſſer, welche mir vorgekommen ſind, waren meiſtens ge - wöhnliche Einſchlagemeſſer, und gerade bei den verſuchteſten und verwegenſten Schränkern habe ich ganz elend ſchlechte abgenutzte Taſchenmeſſer neben den Terzerolen, Nachſchlüſſeln und Uhrfeder - ſägen getroffen. Man kann nicht von einer humanern Geſinnung des Gaunerthums ſprechen, wenn die in die Enge oder zur Flucht getriebenen Gauner alles verzweifelt niederſchlagen, was ſie auf - hält, und wenn ſie gerüſtet und gefaßt ſind, durch Brandſtiftung die Spuren eines ſchweren Verbrechens zu verwiſchen. Eine Un - zahl neuerer Beiſpiele beweiſt, daß die Gauner bei dem leiſeſten Geräuſch die Flucht ergreifen und alles im Stiche laſſen. Jhr ganzer Muth liegt weſentlich nur im Verlaß auf die Genoſſen - ſchaft, auf die feine Kunſt und auf die genau erſpähte Gelegen -2)unweit Lübeck hingerichteten Mörder waren durch den Hauswirth, in deſſen Behauſung ſie eingebrochen waren, überraſcht worden, und ſchlugen ihn meuch - lings nieder, als er am Feuerherde ſtand, um an den Kohlen Licht anzuzünden, ohne der Einbrecher gewahr worden zu ſein. — Freilich zeigt aber das öſterreichiſche Polizeicentralblatt leider noch eine Menge brutaler Raub - morde an, die jedoch meiſtens in Ungarn, Kroatien und Siebenbürgen verübt werden.2*20heit. Wo alles dies nicht genügt, weicht der Gauner zurück. Wichtig iſt dieſe Wahrnehmung für das Verhör, in welchem dem Jnquirenten, der keine Schwäche und Leidenſchaft dem verſchla - genen Gauner gegenüber zeigt, durch Beachtung dieſes charakteri - ſtiſchen Gaunerzuges außerordentliche Vortheile in die Hand ge - geben werden, wie weiter gezeigt werden ſoll.
Ein anderer mit vorſtehendem zuſammenhängender charakteri - ſtiſcher Grundzug des Gaunerthums iſt der Aberglaube. Es iſt auffallend, daß der Gauner auf den Aberglauben anderer ſpe - culirt, ihn alſo objectiv aufzufaſſen weiß, und ſubjectiv doch ſelbſt tief befangen iſt im Aberglauben. 1)Eins der merkwürdigſten Beiſpiele iſt Franz Joſeph Streitmatter, deſſen Leben und Tod nur eine Kette von abergläubiſchen Anſichten und Thaten war. Vgl. Rebmann, „ Damian Heſſel “.Dieſe Wahrnehmung ver - deutlicht ſich aus der Geſchichte des deutſchen Aberglaubens, der tief in die ganze deutſche Sitten - und Culturgeſchichte einſchneidet und deſſen Geſchichte einen weſentlichen und wichtigen Abſchnitt der deutſchen Polizeigeſchichte überhaupt bildet.
Der perſönliche Teufel namentlich ſpielt, wie in der ganzen Anſchauung des Volks, ſo auch ganz beſonders im Gaunerthum eine ſehr wichtige Rolle. Alles was in der myſtiſchen Betrach - tung des Anachoreten - und Mönchsthums Jrrthum, alles was ſeit dem erſten Auftreten der arabiſchen Aſtrologen in Spanien, bei der Unbekanntſchaft mit den Naturgeſetzen, Selbſttäuſchung, und in den Formen dunkler Dogmen und der Scheinwiſſenſchaften der Aſtrologie, Mantik, Nativitätſtellung, Alchymie, Nekromantie, Chiromantie, Metopoſkopie u. ſ. w. zum Vorſchein gebracht war, blieb dem Volke noch unklarer, als den Anhängern und Jüngern jener Dogmen und Scheinwiſſenſchaften ſelbſt. Daran wucherte die Dämonologie ſo raſch und prägnant zur poſitiven Wiſſen - ſchaft und ſtatuirten Wahrheit herauf, daß auf dieſer unfehlbaren Baſis im Hexenhammer ein Corpus juris der Dämonologie ge - ſchrieben werden konnte, wie ein ähnliches Werk von menſchlicher Verirrung kaum weiter geſchaffen werden kann. Der perſönliche21 Teufel war nunmehr nicht nur dogmatiſch, ſondern auch juriſtiſch ſtatuirt, und was jene Dogmen und Scheinwiſſenſchaften zum Vorſchein gebracht und verbreitet hatten, wurde nun von ihnen ſelbſt fürchterlich gerichtet. Jede auffällige Erſcheinung, jede be - ſondere Fertigkeit, jedes unverſtändliche Wort hatte den Schein und Verdacht des Teufelsbündniſſes, und war auch der Teufels - juſtiz verfallen. Die Chiromanten, Alchymiſten u. ſ. w. glaubten an den Teufel und betrogen mit ihm. Kein Wunder, wenn die Bauchredner und Wettermacher des 15. u. 16. Jahrhunderts des Teufels waren, kein Wunder, daß man den Betrug vor dem Aberglauben unbeachtet ließ, und kurz und bündig jeden Verdäch - tigen auf der Tortur zwang, ſich zum Teufelsverbündeten zu be - kennen. Es iſt bemerkenswerth, daß der raffinirteſte und ſchlaueſte Exeget und Protector des Hexenhammers, del Rio, die Zigeuner, welche noch zu ſeiner Zeit als die weſentlichſten Repräſentanten des Gaunerthums galten, gerade in der Quäſtion von der Chiro - mantie abhandelt, nicht zu gedenken der zahlloſen Zauber -, Teufels - und Geſpenſtergeſchichten des 17. u. 18. Jahrhunderts, in denen meiſtens ſchon die „ Gauckelei “offen zu Tage gelegt wird. 1)Eine Menge Beiſpiele gibt Horſt, „ Zauberbibliothek “, beſonders III, 233 fg., und IV, 245 fg. Vgl. in der Literatur „ Schauplatz der Be - trieger “, „ Wunderſeltzame Hiſtorien “u. ſ. w. Ganz beſonders merkwürdig iſt noch das 1587 zu Frankfurt bei Peter Schmid erſchienene „ Theatrum dia - boli “, das auf 1366 Folioſeiten den Teufel in allen Formen und Beziehungen abhandelt, und den herrſchenden ſittlichen Verfall, die Gebrechen und die Verbrechen der Zeit als Teufelswerk und mit einer Teufelsterminologie be - zeichnet, die ſogar bis zum „ Hoſenteufel “hinabgeht.Kein Räuber im Dreißigjährigen Kriege war ohne Bündniß mit dem Teufel. 2)Bemerkenswerth iſt, daß in der heutigen Volksſprache der Ausdruck: „ verteufelter Kerl “oder „ Teufelskerl “nicht ſo ſehr die moraliſche Schlech - tigkeit als die Verwegenheit, Unternehmungsluſt und Geſchicklichkeit bezeichnet. — Eckoldt, der Genoſſe Lips Tullian’s, hatte, als er am 7. Juni 1714 verhört werden ſollte, ſechs Kugeln in ſeiner Hutkrämpe, die vom Amts - phyfikus „ gar genau unterſucht “wurden. Es heißt weiter in den gedruckten Acten, II. 158: „ Vermuthlich ſolten dieſe Kugeln des Teufels Hülffs-Mittel in der Tortur und vor die Schmertzen derſelben ſein. “Noch vor hundert Jahren führte der Hundsſattler22 gegen ſeine Richter in Baireuth an, daß er gerade an dem Tage ſeiner Jnhaftirung das neunte ſchwangere Weib habe ermorden wollen, wie er das ſchon bei acht Weibern gethan habe, um ihnen die Frucht aus dem Leibe zu reißen und das Herz derſelben roh zu verzehren, damit er fliegen könne wie ein Vogel. 1)Vgl. in der Literatur „ Sammlung merkwürdiger Rechtsfälle “, S. 235. Die Scheußlichkeit wird ſchon früh erwähnt, z. B. L. Sal. III, 67; Georgiſch, Corpus Juris Germ., S. 127, und Rotharis leg. 379. Noch andere Bei - ſpiele führt Jakob Grimm an („ Deutſche Mythologie “, S. 611), der aber irrt, wenn er ſagt, daß das Herz aus dem Leib freſſen in unſern Hexenſagen ſchon zurücktritt. Ueber das Opfern, das Blut und das Einmauern von Kindern vgl. Grimm, a. a. O., S. 665.Noch vor funfzig Jahren trieb der ſchöne Karl allen ſeinen Beiſchläferinnen die Frucht ab, um aus dem Fette derſelben die ſogenannten Schlaf - lichter zu machen, bei deren Scheine die Beſtohlenen vom Schlummer befallen bleiben. 2)Falkenberg, welcher in der Horſt’ſchen Unterſuchung weſentlich thätig war, erzählt I, 31, daß Horſt’s Concubine, Luiſe Delitz, frühere Beiſchläferin des ſchönen Karl, verdächtig war, ſogar ſelbſt ihr eigenes Kind zu dem Zwecke geſchlachtet zu haben. Nach Schäffer’s „ Jaunerbeſchreibung “(Sulz am Neckar 1801), S. 85, „ trieb der Laubheimer Toni ſeiner Concubine mit ſtarken Sachen das Kind ab, ſchnitt dem Kind den Bauch auf, fraß das Herz und ſchnitt beide Hände ab. Vor dem Einbruch hätten ſie dann allemahl die zehn Fingerlein hiervon angezündet, ſoviel nun davon gebrannt, ſoviel Leute haben auch in dem Haus, in welchem der Einbruch geſchehen ſollen, ſchlafen müſſen; wenn hingegen ein Fingerlen nicht gebrannt, ſo ſeye eine Perſon weiter in dem Haus gelegen, davon ſie nichts gewußt, und die hernach auch nicht ge - ſchlafen “.Noch immer, wie zu Zeiten der Rheiniſchen Räuberbanden, muß ein „ dem Teufel verfallener “Jude bei einem Kirchendiebſtahl zugegen ſein, damit der Dieb - ſtahl unentdeckt bleibe, und noch im vorigen Jahre hielt ich Leichen - ſchau ab über eine zweiundſechzigjährige Weibsperſon, die früher Bordelldirne, dann Kartenſchlägerin geweſen, und mit einem ge - ſchriebenen Zauberſegen auf der Bruſt und mit einer in einem Beutel um den Leib gebundenen lebendigen Katze ins Waſſer geſprungen war, um, nach dem Zauberſegen zu ſchließen, das alte Leben in neuer Sphäre, wo möglich noch wucherlicherer, wieder23 beginnen zu können. Andere ganz ähnliche Beiſpiele in meiner Praxis haben mich belehrt, daß dieſer Aberglaube aber auch in ſociale Schichten dringt, wo man ihn nimmermehr vermuthen ſollte. Was ſoll man ſagen, wenn noch in dieſem Jahrhunderte geſchehen konnte, was Rebmann („ Damian Heſſel “, S. 46) mit Verſchweigung des Landes und Richters erzählt, daß nämlich der Räuber Weiler, nachdem er auf unerwartete und kühne Weiſe aus dem Gefängniß gebrochen war und ſich dazu ſeiner Feſſeln auf unbegreifliche Weiſe entledigt hatte, bei ſeiner Wiederverhaftung mit neuen Feſſeln, die ein herbeigeholter Kapuziner beſprochen hatte, gefeſſelt, und in jedem Verhör auf einen Teppich geſetzt wurde, damit er als Hexenmeiſter die Erde nicht berühre! Bei ſolchem Befunde iſt denn nun auch nicht zu verwundern, daß manche nähere Forſchung unterblieben iſt, die gewiß merkwürdige Reſultate ergeben hätte. So findet ſich z. B. nirgends eine Spur, daß Schinderhannes jemals nach der Bedeutung der myſtiſchen Kreuze und der wunderlichen Verſe in ſeinen Briefen, die offen - bar eine dämonologiſche Beziehung gehabt haben, befragt worden wäre. Auffallend erſcheint beſonders die myſtiſche Nachſchrift unter ſeinem an den Pächter Heinrich Zürcher, auf dem Hofe Neudorf bei Bettweiler, geſchriebenen Drohbrief, welche dicht unter ſeinem Namen ſich befindet:
Man darf ſich endlich vom Ekel nicht abhalten laſſen, auf die wichtige Rolle zu ſehen, welche die „ mumia spiritualis “in24 der Geſchichte des Aberglaubens und des Gaunerthums ſpielt. Jn allen alten Zauber - und Gaunerbüchern figurirt dies Mittel, den Teufel zu bändigen und abzufertigen, der in ſeinem ohnmäch - tigen Grimm, namentlich wenn er davon fahren muß, auch ſeiner - ſeits damit zu imponiren ſucht. Dieſes Mittel wurde ſchon im früheſten Mittelalter gebraucht, und dies erklärt auch den derben Ausdruck für täuſchen oder betrügen, deſſen auch Luther häufig und namentlich am Schluß ſeiner Vorrede zum Liber Vagatorum ſich bedient, und der noch heute im ſüdlichen Deutſchland volks - gebräuchlich iſt. 1)Eine ähnliche Analogie findet bei dem Ausdruck „ beſefeln “ſtatt. Jm Zuſammenhang damit ſteht auch das hebräiſche〈…〉〈…〉 (schess), das Geſäß (Schos); ſ. das Wörterbuch.Sogar wurde die ekle Materie mit dem ganzen Ernſt und Ton der Wiſſenſchaft von Aerzten abgehandelt2)z. B. in „ Dr. J. Chriſtiani Francisci Paullini Heylſame Dreckapo - theck “(1687 und in mehreren ſpätern Auflagen), worin vom Verfaſſer mit rohem und beſchränktem Wiſſen die mumia spiritualis als „ das rechte Ge - heimniß, alle Zauberſchäden zu heylen “u. ſ. w. abgehandelt wird. Auffallend iſt das S. 263 von Luther und S. 263 von Dr. Bugenhagen (Pommeranus) angeführte Beiſpiel, ſowie S. 258 die Cur eines von Liebe gegen eine feile Perſon entbrannten Cavaliers. Von der weiten Verbreitung dieſer abergläu - biſchen Doctrin gibt noch einen überraſchenden Beleg die Sammlung medi - ziniſcher Recepte einer hohen Frau, der Herzogin von Troppau, Eleonore Marie Roſalie, „ Freywillig Auffgeſprungener Granat-Apffel des Chriſtlichen Samaritans “(Wien 1715, u. in mehreren Auflagen erſchienen). Das Werk, in welchem alle Thiergattungen zur Pharmakopöe herbeigezogen werden, endet ſogar mit einem — Kochbuch, welches 531 Küchenrecepte enthält. Noch merk - würdiger ſind die auf dem papierdurchſchoſſenen Exemplar, welches ich beſitze, offenbar von ärztlicher Hand herrührenden, handſchriftlichen Zuſätze, Recepte und Bemerkungen, die ſogar über das Jahr 1768 hinausreichen., und hat noch lange, bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts, An - hänger unter den Aerzten gefunden. Auch noch heutigen Tags hat der Koth bei dem gemeinen Volke eine nicht geringe Aucto - rität als Hausmittel.
Dieſe mumia spiritualis ſpielt aber noch heutigen Tags, mindeſtens im nördlichen Deutſchland, dieſelbe weſentliche Rolle im Aberglauben der Gauner, wie man ſie in ältern Acten vielfach angedeutet findet. Bei Einbrüchen, beſonders auf dem Lande, die25 von profeſſionirten Dieben verübt ſind, trifft man faſt immer in der Nähe der Einbruchſtelle auf friſche menſchliche Excremente. Die Gauner haben den Glauben, daß die Schläfer im an - gegriffenen Hauſe nicht erwachen, und daß der Einbruch überhaupt nicht bemerkt und geſtört wird, ſo lange die Excremente noch die animaliſche Wärme haben. Die Wahrnehmung iſt in neueſter Zeit wieder häufig gemacht worden. 1)Sie ſcheint vernachläſſigt worden zu ſein, obgleich auch ſchon Falken - berg, a. a. O., I, 30, hierauf aufmerkſam gemacht hat, mit der Bemerkung, daß die Gauner auch noch einen Topf oder Hut anwendeten zur Bedeckung und Warmhaltung der Excremente.Die oben in der Note erwähnten, im Jahre 1844 hingerichteten ſtockelsdorfer Raub - mörder hatten dieſelbe Vorbereitung gemacht. Jn meiner bewegten Praxis weiß ich nur ſehr wenig Fälle auf dem Lande, wo ich nicht bei der Localinſpection dieſelbe Wahrnehmung hätte machen müſſen.
Endlich muß, der weiten Verbreitung wegen, noch erwähnt werden, daß der ſcheußliche Aberglaube, durch Beiſchlaf und Be - rührung jungfräulicher Perſonen, namentlich noch unreifer Mäd - chen, von der Syphilis befreit zu werden, ebenſo tief im Gauner - thum wie im gemeinen Volk haftet, und daß in der Geſchichte des Gaunerthums bis zu dieſer Stunde die Fälle von ſchänd - lichen, oft tödlich verlaufenden brutalen Mishandlungen leider nicht die ſeltenſten ſind.
Ueber andere Formen des Aberglaubens vergleiche man Grimm’s „ Deutſche Mythologie “, S. 639 fg., 689, und im Anhange S. xxix — clxii, wo ſich des Jntereſſanten viel findet. Specielleres wird bei der Wahrſagerei, Kap. 69 u. fg., ab - gehandelt werden.
Der Beſitz ſo vieler Hülfsmittel, Fertigkeiten, Geheimniſſe und die vielen glücklichen Erfolge und Erfahrungen bringen im Gauner ferner eine ſehr ſtarke Eitelkeit und Prahlſucht hervor, mit der er ſchon überhaupt geringſchätzig auf den Nichtgauner, den Hautz, Kaffer, Wittſchen, Wittſtock u. ſ. w. herabſieht. Wie26 ſchon in mehreren Beiſpielen erzählt iſt, geht auch die Prahlerei der einzelnen Gruppen gegeneinander, und die Renommiſterei der einzelnen Gruppenmitglieder unter ſich in das Unglaubliche, und hat zum Theil zu verwegenen Wettkämpfen, aber auch zu den grauſamſten und blutigſten Händeln der Gauner untereinander Anlaß gegeben. Einer ſucht es dem andern zuvor zu thun, um als größerer Meiſter zu erſcheinen. Der Unentſchloſſene, Zaghafte wird als „ Hauhns “verhöhnt und ſelbſt gemishandelt, ja, wie frühere Fälle beweiſen, als unbrauchbar und gefährlich beiſeite geſchafft. So ſind lediglich aus Prahlerei eine Menge ſchmählicher Mordthaten verübt worden, die keineswegs zu den beabſichtigten Räubereien oder Diebſtählen verabredet, nöthig oder dienlich waren. So erhielt Matthias Weber den Spitznamen Fetzer, weil er bei allen Räubereien wie ein Wüthrich bramarbaſirte, und alles zerfetzen wollte. Selbſt im Gefängniß, im Verhör, wie ja Thiele frappante Fälle genug anführt, verläßt den Gauner die Eitelkeit und Prahlerei nicht. Die Schwäche iſt ſo groß, daß der Gauner dadurch dem beſonnenen Jnquirenten eine wichtige Waffe gegen ſich in die Hand gibt, obſchon es auch hierbei der größten Vor - ſicht bedarf, da mancher Gauner ſogar ſo weit von der Eitelkeit ſich hinreißen läßt, daß er ſich Thaten berühmt, an denen er ent - weder nur geringen oder vielleicht gar keinen Antheil gehabt hat, ſobald nur die That pikant und mit ſchlauer Gaunerkunſt aus - geführt war. 1)Auch darin iſt große Vorſicht anzuwenden, daß man über das Ge - ſtändniß einer ſolchen That die Erforſchung anderer Gaunereien, die der geübte Gauner durch jenes renommiſtiſche Geſtändniß zu verdecken ſucht, nicht hintenan ſetzt.
Mit dieſer Eitelkeit und Prahlſucht iſt der Hang zur wider - ſinnigſten Verſchwendung verbunden, die wieder theils aus der brutalen Genußſucht und Lebensluſt des rohen Gauners, theils aber aus der Eigenthümlichkeit ſeiner Erwerbsweiſe ſich erklärt. Wenn der Gauner nicht einmal den vom Rechte geſchützten Beſitz anderer achtet, wieviel weniger hat er Achtung vor dem Beſitz27 überhaupt und vor dem eigenen Beſitz, den er nur mit dem Wag - niß des raſchen Unternehmens, ohne langwierige ſaure Arbeit er - wirbt. Er genießt nicht den Beſitz, ſondern er bewältigt ihn wie ein Hinderniß an ſeiner weitern gauneriſchen Thätigkeit, und trägt dabei ſeiner rohen Sinnlichkeit volle Rechnung. Dieſer Zug und die bewußte Nothwendigkeit, des verrätheriſchen Diebſtahlsobjects ſo raſch als möglich entledigt zu ſein, beſtimmt den Gauner, das geſtohlene Gut ohne langen Handel an die Schärfenſpieler, die als ſichere Vertraute ſeinem Schritt und Tritt folgen, häufig für ein Spottgeld zu verkaufen, wenn er es nicht in äußerſt mannichfacher geſchickter Weiſe kawure gelegt hat, wo dann die Noth des Augen - blicks nicht drängt und Zeit zu einem vortheilhaftern Handel ge - wonnen wird. Das fataliſtiſche Sprichwort: „ Unrecht Gut ge - deiht nicht gut “hat ſomit bei dem Gauner auch eine innere Noth - wendigkeit. Am Ausgeben erkennt man überhaupt, wie der Menſch den Erwerb verſteht. Der ſolide reiche Mann bringt der Sphäre, in welcher er lebt, genau ſoviel an pecuniären Opfern, wie ihm die wohlbegriffene Nothwendigkeit vorſchreibt, um ſich auf dieſer Sphäre zu halten. Dies Maß iſt ihm natürlich und indivi - duell, und verleiht ihm daher die natürliche volle Würde des reichen Mannes. Der als vornehmer Herr reiſende Gauner macht aber umgekehrt glänzende Ausgaben, um damit die Würde zu gewinnen. Er verſteht das Ausgeben nicht, weil er nicht mit jener Natür - lichkeit und jenem Takt ausgibt, mag er ſonſt noch ſo ſehr die Formen der höhern ſocialen Sphäre ſich angeeignet haben. Eine einzige ungeſchickte Ausgabe verräth den Gauner an den Polizei - mann, der jenes Maß kennt und zu beobachten und zu würdigen weiß. Bei jener Haſt des Erwerbs, des Beſitzes und Verthuns beſtimmt des Gauners rohe Sinnlichkeit ihn, alles zuſammen zu raffen, um in Maſſe zu genießen, was ihn durch den Mangel an Maß, Wahl und Wechſel mehr betäubt als erfreut. Daher die brutalen Orgien und die ſchändlichen Laſter in den Cheſſen - pennen, in die der Blick des Polizeimanns nur ſelten fallen kann, da dieſe Cheſſenpennen, deren Jnhaber vertraute Freunde und Genoſſen der Gauner ſind, unter dem Schein ſchlichter ehrbarer28 Bürgerlichkeit leben und beſtändig deren vollſten Schutz auf die empfindlichſte Weiſe in Anſpruch nehmen, zu verſteckt und ſelbſt bei der ſorgfältigſten Vigilanz ſehr ſchwer zu entdecken ſind. 1)Gerade in unbedeutenden Städtchen und Flecken, denen man kaum irgenderheblichen Verkehr zumeſſen ſollte, ſind verhältnißmäßig mehr Gauner - herbergen zu finden, als in größern Städten. Die Wirthe haben und halten den guten Schein ſo für ſich, daß ſelbſt bei dem beſtimmteſten Nachweis von außen her die Behörde dieſer kleinen Ortſchaften anfangs keinen rechten Glauben haben, bis denn eine energiſche Nachforſchung die Enttäuſchung her - beiführt. Ebenſo ſind es nicht immer einzeln gelegene Hirtenhäuſer, ſondern häufig mitten in Dörfern gelegene Behauſungen, wohin ſich der gauneriſche Verkehr auf dem Lande zieht.Daher die freche Völlerei ſogar bei den Diebſtählen ſelbſt, bei denen ſie in den Häuſern der Beſtohlenen die gefundenen Lebens - mittel und Getränke ohne Wahl durcheinander mit brutaler Gierig - keit verſchlingen und ſich der Gefahr ausſetzen, in ſinnloſer Trun - kenheit, wie davon ſchon Beiſpiele angeführt ſind, entdeckt und verhaftet zu werden. Daher die volle Rechnung, welche des Gauners rohe Wolluſt in den Bordells findet. Jn dieſen Orten, wo die Schande der Brutalität dient, iſt die einzige Legitimation und Wahl das Geld. Auch der ſchmuzige oder häßliche Gaſt iſt der mit Plunder und Schminke überzogenen Luſtdirne will - kommen, ſobald er ſein Geld zeigt, um die handwerksmäßig ge - botene Schande für den Genuß zu kaufen. Gerade in dieſen Bordells ſchwelgt der Gauner am liebſten und am meiſten, ſelbſt bis zur Erſchöpfung und bis zum Ruin ſeiner phyſiſchen Exiſtenz, weil er hier am ſicherſten ſchwelgen kann. Wenn auch nicht die Scham, ſo ſchreibt die gebotene Ordnung doch die Heimlichkeit des Genuſſes vor, und ſomit ſchläft der Gauner in den Armen der Luſtdirne mit behaglicher Sicherheit, während die für die Mel - dung jedes einzelnen Fremden ſtrenge verantwortlichen Gaſtwirthe keinen Gaſt, ohne Legitimation und Meldung bei der Polizei, aufnehmen dürfen. Dieſe Sicherheit der Bordells bietet den Gaunern ein verläſſiges Aſyl, und wenn auch ſchon ganz beſon - ders die Geſchichte der Rheiniſchen Räuberbanden zum Ueberfluß29 die Bordells als Hauptherde des Gaunerthums nachweiſt, ſo hat die, wenn auch in der Sanitätscontrole ſtrenge Polizei noch immer keine beſſere oder mindeſtens keine der in den Wirths - häuſern geübten gleichkommende Gaſtcontrole in den Bordells finden können, weil ſie in der Erkenntniß des weit verbreiteten ſittlichen Siechthums, dem ſie nicht mit allen ihren Mitteln ent - gegenzutreten wagt, fürchten muß, heute eine Reſpectsperſon in den Armen einer Luſtdirne zu finden, in denen geſtern ein ſteck - brieflich verfolgter Gauner gelegen hat. Aus dieſem Mangel an Verbindung der Sanitätspolizei mit der Sicherheitspolizei iſt der eclatante Fall bekannt geworden, daß in einem gewiſſen Orte eine ſteckbrieflich verfolgte Luſtdirne Monate lang in einem Bordelle ihre ſichere Zufluchtsſtätte fand. Dieſelbe Genußſucht führt auch die Töchter von Gaunern, ehe ſie ſich dem unſteten und beſchwer - lichen Vagantenleben ergeben, bei dem erſten Erwachen der Sinn - lichkeit in die Bordells, oder wo das Geſetz eine Bordellmündig - keit vorſchreibt, in die gefährlichen Winkelbordells, in denen ſogar alle Sanitätscontrole zum Schutz beider Geſchlechter fehlt. Jn den Bordells, wo mancher heimliche Gaſt den erlittenen Verluſt lieber verſchmerzt als denuncirt, findet die vielfach auch mit Gaunern in directer Verbindung ſtehende Luſtdirne reichliche Ge - legenheit, für die handwerksmäßige Hingebung ſich außer der Taxe noch durch Betrug und Diebſtahl zu entſchädigen, bis ſie am Ende misliebig, abgenutzt oder ruinirt und mit Schulden über - häuft, vom fühlloſen Bordellwirth entlaſſen, von der Polizei aus - gewieſen und ſomit zum Vagantenthum übergeführt wird, mit welchem erſt die eigentliche Gaunerlaufbahn beginnt. Wer ſich zum feſten Grundſatz gemacht hat, alle eingebrachte Vagantinnen ohne Ausnahme1)Noch ganz kürzlich iſt mir eine Dappelſchickſe von 63 Jahren vor - gekommen, welche abends auf öffentlichen Promenaden Männer anhielt und — ſyphilitiſch befunden wurde. Aus dem Umherſtreifen liederlicher Weibs - perſonen im Freien erklärt ſich auch, daß im Sommer die Syphilis weit ärger hauſt, als im Winter. einer ärztlichen Unterſuchung zu unterwerfen,30 wird bald Aufſchluß darüber bekommen, wo weſentlich die Pro - paganda der jetzt auch auf dem Lande mehr und mehr um ſich greifenden Syphilis ſteckt, und wie theuer mancher reiche Bauer - burſche ſeine Prahlerei, „ mit einer feinen Mamſell oder feinen Kunſtmacherin ſchön gethan zu haben “, bezahlen muß.
Bei der Entſittlichung des Gaunerthums kann ſchwerlich von irgendeiner Religiöſität die Rede ſein. Die namentlich im 17. und 18. Jahrhundert von Geiſtlichen vielfach nicht ohne Selbſt - gefälligkeit dargeſtellte Reue und Bußfertigkeit zum Tode verur - theilter Räuber und Gauner erſcheint meiſtens nur als mürbe Verzagtheit, die nicht durch den reumüthigen Rückblick auf das vergangene ſündige Leben, ſondern durch den Hinblick auf das nahe Schaffot geweckt wurde. Man findet Gauner bei Proceſ - ſionen, Wallfahrten, in dichtgefüllten Kirchen, um Diebſtahls - gelegenheiten zu erſpähen; man findet bei Gaunern Roſenkränze, man ſieht ſie beten in den Kirchen, aber Roſenkranz und Gebet iſt der Schein, unter dem der Gauner ſeinen erkorenen Opfern näher zu rücken ſucht, um ſie zu beſtehlen. Jn den Kirchen be - finden ſich ebenſo wol wie an Aborten die Stätten und Zeichen, an denen die Gauner ihre geheimen Verabredungen auf die man - nichfaltigſte Weiſe treffen. 1)Schon im Mittelalter hatten beſonders die franzöſiſchen Gauner in irgendeinem Winkel der beſuchteſten Kirchen von Thon zuſammengedrückte Würfel liegen, welche der zuerſt in die Kirche kommende Gauner ſo hinlegte, daß die Eins oben ſtand. Der zweite kehrte den Würfel auf Nummer zwei und ſo fort, damit jeder Nachfolgende wußte, wie viele Kameraden der Ge - noſſenſchaft ſich in dem Gedränge zur Ausführung der verabredeten Gaunerei eingefunden hätten.Um des Scheines willen gehen manche Gauner zur Beichte und zum Abendmahl, nebenbei aber auch oft wirklich um Abſolution zu erhalten für künftige Diebſtähle. Ja die Fälle ſind nicht ſelten, wo Gelübde gethan werden2)Bezeichnend iſt die Aeußerung des zu Buchloe hingerichteten Gottfried Frei („ Sulzer Liſte “, 1801, S. 71): „ Unſer lieber Herr Gott und liebe Mutter Gottes ſollen ſo große Helfer und Fürbitter ſein; dieſe thun uns aber nie in ein Bauernhaus, Wirthshaus oder Amtshaus, wo viel Geld iſt, helfen. “für das31 glückliche Gelingen einer verabredeten Gaunerei. Merkwürdig genug werden dieſe Gelübde pünktlich erfüllt, wie aus Furcht, daß auch vom Heiligen der Contract nicht gehalten werden könne. Ein intereſſantes Beiſpiel ſind die Gelübde des Manne Friedrich bei Pfiſter, deren ſchon früher erwähnt iſt.
Die Geſchichte des Gaunerthums wimmelt von Beiſpielen, daß Gauner, welche zum Tode verurtheilt und auf den letzten geiſtlichen Troſt und Zuſpruch angewieſen waren, gar und ganz keine Kenntniß vom chriſtlichen Glauben, von den Geboten und den verſchiedenen Confeſſionen hatten. So kommt es nicht ſelten vor, daß ein ſolcher armer Sünder einen katholiſchen, dann einen proteſtantiſchen Geiſtlichen, zuweilen beide zugleich, ja ſogar dazu noch einen jüdiſchen Rabbiner verlangte, und dann wieder alle drei verwarf. 1)Auch Damian Heſſel verlangte, nachdem er unter Fluchen und Toben ſein Todesurtheil angehört hatte, einen Rabbiner, um als Jude zu ſterben, verſprach dem Unterſuchungsrichter in nächſter Mitternacht nach ſeinem Tode zu erſcheinen, und ſprach von dem Geſetze der Natur, nach welchem er gelebt habe und auch ſterben wolle u. ſ. w. Vgl. Rebmann, „ Damian Heſſel “, S. 106 (dritte Auflage). Borgener, von der Wetterauer Bande, ſagte im Verhör am 22. Mai 1812, über ſeine Religion befragt: „ Mit Religion habe ich mich nicht viel abgegeben. Jch weiß von Religion eigentlich nur ſoviel, daß ich kein Jude bin. “ Grolman, a. a. O., S. 422. Aehnliche Beiſpiele von ſittlicher Roheit gibt es eine große Menge, und gerade in jetziger Zeit ſieht man in erſchreckender Weiſe, daß der rohe Materialismus wie ein ſen - gender Wüſtenwind über Sitte und Religion hinfährt und den Boden nivel - lirt, als ob man an der Urbarkeit dieſes unſers Bodens verzweifeln ſollte.Dieſe tief in das Mittelalter zurückreichende und noch heutigen Tages zu machende Wahrnehmung iſt nicht nur in ſitten - geſchichtlicher, ſondern ganz beſonders in ſprachgeſchichtlicher Hin - ſicht merkwürdig. Bei aller Fügigkeit und Behendigkeit des jüdi - ſchen Volks, ſich die ihm auch am entfernteſten liegenden Volks - eigenthümlichkeiten anzueignen, hat es doch die Grundzüge ſeiner urſprünglichen Eigenthümlichkeit mit aller Zähigkeit feſtgehalten. Der das ganze bürgerliche und häusliche Leben des Juden beherr - ſchende religiöſe Cultus namentlich iſt auch von den jüdiſchen2)Die Walachen haben die ſtehende Redensart, „ daß die Kirche der Zigeuner von Speck gebaut und von den Hunden gefreſſen ſei “.32 Gaunern niemals, wie der chriſtliche Cultus von chriſtlichen Gau - nern, misachtet worden. Jn der Gemeinſchaft dieſer ſchmuzigen Elemente mit den jüdiſchen haben letztere, wenn auch von erſtern mit aller Roheit und Verachtung angeſehen, doch in der conſe - quenten Beobachtung ihrer religiöſen Gebräuche eine ſo entſchiedene Wirkung auf jene gehabt, daß, wenn auch dadurch die gleich tief verſunkenen ſocialen Verhältniſſe beider Factoren gewiß nicht ge - hoben werden konnten, doch ein ſehr bedeutender Einfluß der jüdiſchen religiöſen Cultusweiſe auf das geſammte chriſtliche Gaunerthum ſich geltendmachte, ſodaß, wenn irgendeine Cultus - form an dem geſammten deutſchen Gaunerthum bemerklich wird, dieſe Form vorherrſchend die jüdiſche iſt1)Merkwürdig iſt das in dieſer Hinſicht von Thiele aus der Löwenthal’ - ſchen Unterſuchung mitgetheilte Begehren der chriſtlichen Jnquiſiten, an den Religionsübungen der jüdiſchen Jnquiſiten theilnehmen zu dürfen. Ueber den zum katholiſchen Prieſter beſtimmten und erzogenen Damian Heſſel und ſeinen Genoſſen Streitmatter vgl. das was ſchon oben nach Rebmann, a. a. O., angeführt iſt., wogegen ſich die chriſt - lichen Cultusformen, mit den obenangegebenen geringen Ausnahmen, faſt gänzlich verläugnen. Dadurch wurde auch vielen hebräiſchen und rabbiniſchen Wörtern der Eingang in die geheime Sprache des nach Verſteck und Geheimniß lüſternen Gaunerthums ge - bahnt, und das um ſo eher und mannichfaltiger, als die ſchon conventionell herangebildete jüdiſch-deutſche Sprache ſogar als lite - rariſch abgerundetes Ganzes erſchienen war, und in der deutſchen Nationalliteratur ſich eine bedeutſame Stelle erworben hatte.
Seitdem die Landespolizei anfing, ſelbſtändig aufzutreten und die beſonders ſeit dem Dreißigjährigen Kriege mit offener Gewalt hauſenden Räuberbanden ernſtlich zu verfolgen, ſieht man, wie das hart bedrohte und bedrängte Gaunerthum ſich immer mehr von der offenen Räubergruppirung entfernt, dafür aber mitten in das Herz aller ſocial-politiſchen Schichten eindringt, und in ihrem Scheine die offene Gewalt mit der geheimnißvollen Kunſt ver - tauſcht. Bezeichnend für dieſen Wechſel und ſeine Zeit iſt, daß gerade in der erſten Hälfte des vorigen Jahrhunderts der eigene, freilich etymologiſch rohe Kunſtausdruck „ link “, im Gegenſatz von rechts, recht, rechtlich, wahr, vom Gaunerthum erfunden wurde, um die verſteckte Täuſchung auszudrücken. So entſtand Linker, der Fälſcher, Täuſcher, Gauner; Linke-Meſſumen, falſches Geld; Link-Chalfen oder Link-Wechsler, falſcher Wechsler, Dieb beim Geldwechſeln; linken, auf einen Betrug ſpähen, be - obachten, und die ganze Wortfamilie, die man im Lexikon findet. Je mehr die Polizei zur rationellen Wiſſenſchaft hinſtrebte, deſto mehr unternahm dies auch das Gaunerthum mit ſolcher feinen Berechnung und mit ſolchem Erfolg, daß man nur durch die genaueſte Berückſichtigung alles deſſen, was in der hiſtoriſchen Ausbildung aller ſocial-politiſchen Verhältniſſe geſchehen und ge - geben iſt, ſich erklären kann, woher die weite und tiefe Verbrei - tung des Gaunerthums in die heutigen Verhältniſſe gekommen iſt. Schon vor mehr als hundert Jahren zählte der wackere Hönn in ſeinem „ Betrugslexikon “mit dem ganzen Eifer ſittlicher Ent - rüſtung dreihundert verſchiedene Gewerbe und Lebensverhält - niſſe auf, in denen die Verſuchung lauert, und in denen Täuſchung oder Betrug möglich iſt. Jene Verhältniſſe ſind ſeitdem noch vielAvé-Lallemant, Gaunerthum. II. 334zahlreicher und künſtlicher geworden, und liegen noch bunter und wirrer durcheinander. Wenn man jetzt ein Betrugslexikon ſchreiben wollte, ſo würde es eine ungeheuere Encyklopädie geben, die ſelbſt bei der größten und umfangreichſten Ausführlichkeit jährlich mit beträchtlichen Supplementen ergänzt werden müßte. Alle Stände und Berufsarten ohne Ausnahme werden, ſogar auch in den fein - ſten Nuancirungen, vom Gaunerthum repräſentirt; keine Form iſt ſo alt und bekannt, daß ſie nicht immer wieder und mit neuer Täuſchung ausgebeutet würde. Es hilft wenig, daß der vorzüg - lichſte Vorſchub gauneriſcher Bewegung, das handelsmänniſche Reiſen, ſo ſehr beſchränkt und überaus ſcharf controlirt wird: der Handel hat zu viel Strömungen, als daß man dieſe bändigen könnte. Je mehr man aber auf Koſten und zur Beläſtigung des Verkehrs, deſſen Beſchränkung ſtets auch eine Mitleidenſchaft des reellen Ganzen mit ſich führt, die Handelsbewegung controlirt, deſto behender ſpringt das Gaunerthum auf andere Verkehrsformen über. So iſt es gekommen, daß das Zunftweſen, welches Jahr - hunderte lang der Anhalt der ſittlichen Volksentwickelung geweſen iſt, indem es den Lehrling an Zucht, Ordnung und Gehorſam gewöhnte, und dadurch die Anbildung und Erhaltung des ehr - ſamen Bürgerſtandes mächtig förderte, jetzt, nachdem die vermeint obſoleten Zunftformen der materiellen Richtung und freien Be - wegung haben weichen müſſen, und damit auch das ſittlich-ge - ſunde innere Weſen der Zünfte geſchwunden iſt, zum hauptſäch - lichen Verſteck des Gaunerthums dient, das in reiſenden Hand - werksburſchen und zu Fabrikarbeitern herabgeſetzten Zunftgeſellen ſeine Jünger auf die Landſtreicherei, anſtatt auf die ehrbare Wan - derſchaft ausſendet, und ſchon lange die Stimmen ernſter Mahnung geweckt hat, welche vergebens in dem Tumult des wüſten Ver - kehrslebens verhallen. Bei dem durch die Eiſenbahnen mächtig geförderten Fremdenverkehr in Wirthshäuſern zählt das Gauner - thum eine überaus ſtarke Jüngerſchaft in Kellnern, Hausknechten und Stubenmädchen, die den unrechtfertigen Erwerb ſchon durch ihre oft ſinnloſe Vergeudung und Putzſucht verrathen. Neben dieſem Zunft - und Domeſtikenproletariat iſt das Gelehrten - und35 Künſtlerproletariat im Gaunerthum am ſtärkſten vertreten, ſodaß das fahrende Schülerthum des Mittelalters in ſeiner ganzen Aus - dehnung wieder aufgelebt zu ſein ſcheint. Nicht nur daß der Polizeimann ſich mit allen vier Facultäten herumſchlagen muß, um ſogar im Doctor der Philoſophie und Profeſſor der Theologie den Gauner zu entlarven, er muß auch den Nimbus und die Staffagen aller Künſte und Gewerbe durchdringen, um auf Gauner aller Art zu gerathen, und hat doch dabei alle feinen Rückſichten vorſichtig zu beobachten, die in den prätendirten ſocialen Formen ihm entgegengeſchoben werden. / Dieſe Rückſichten nimmt das in Gouvernanten, Geſellſchafterinnen und Offiziers - und Beamten - witwen jetzt beſonders ſtark vertretene weibliche Gaunerthum vor - züglich in Anſpruch, wobei oft ſchmerzlich zu bedauern iſt, daß alles, was weibliche Feinheit, vorzügliche Erziehung und Bildung an Rückſicht und Achtung verdient, an der verdorbenſten gaune - riſchen Geſinnung und Führung verloren gegangen iſt. Nicht mehr der Hauſirer, nicht der in Lumpen gehüllte vagirende Bettler, nicht mehr der Keſſelflicker, Scherenſchleifer, Leiermann, Puppen - ſpieler und Affenführer allein iſt es, der die Sicherheit des Eigen - thums gefährdet: alle äußern Formen des ſocial-politiſchen Lebens müſſen zur Maske der gauneriſchen Jndividualität dienen.
Zwei Factoren ſind es beſonders, welche in neuerer Zeit dem perſönlichen Verſteck und der Beweglichkeit des Gaunerthums großen Vorſchub leiſten: die Eiſenbahnen und das Paßweſen. Die Eiſenbahnen heben die Entfernung und Räumlichkeit auf. Was früher bei den beſchränktern Communicationsmitteln ſich nur langſamer dem Auge der wachſamen Polizei entziehen und darum immer wieder leichter zurückgeführt werden konnte, taucht plötzlich an einem entfernten Orte als völlig unverdächtige Erſchei - nung auf, kann ſich als ſolche frei bewegen und ebenſo raſch wieder entfernen. Jn der Paßgeſetzgebung hat es trotz aller bis an das Ungeheuerliche grenzenden Ausführlichkeit und peinlichen Genauig - keit, welche Reiſende und Controlbeamte gleichläſtig drückt, noch immer nicht gelingen wollen, in den Päſſen Urkunden herzuſtellen,3*36in denen die beurkundende Behörde und der beurkundete Paß - inhaber mit voller Verläſſigkeit beglaubigt iſt. Dieſer offenliegende Mangel hat ſchon lange im Gaunerthum eine eigene Kunſt, das Fleppenmelochnen hervorgerufen, welche die vorhandenen Mängel ſo lange ausbeuten wird, bis ſie durch entgegenwirkende Paßein - richtungen, mit welchen die neueſte preußiſche Polizeigeſetzgebung beſonders glückliche Anfänge gemacht hat, paralyſirt wird. Es wird von dieſer Kunſt und von den Mängeln, auf denen ſie auf - gebaut iſt, in einem eigenen Kapitel (88) geredet werden. Selbſt bei der unzweifelhaften Echtheit und Unverfälſchheit der Paß - urkunde und der völlig bewieſenen Berechtigung des Jnhabers zu ihrer Führung iſt doch noch immer keine Sicherheit der Perſon, welche den Paß führt, gegeben, da nur die äußere Erſcheinung, in welcher der Jnhaber auftritt, oder in welcher er der ausſtel - lenden Behörde legitimirt oder bekannt iſt, beglaubigt wird, wobei kaum in irgendeiner Weiſe oder durch ein Geheimzeichen die Ver - dächtigkeit eines Jndividuums angedeutet werden kann, ob nicht ſeine Erſcheinung die bloße Larve einer ganz andern Jndividuali - tät iſt. Dieſe große Schwierigkeit und Bedenklichkeit iſt es, welche die ſcharfe und ſo überaus läſtige Paßcontrole einigermaßen recht - fertigt, obſchon es aber auch immer angemeſſener erſcheint, auch den abgehenden Reiſenden mindeſtens ebenſo ſcharf zu contro - liren, wie den ankommenden. Die Ungleichheit dieſer Con - trole wird recht unmittelbar an und neben den Eiſenbahnen aus - gedrückt durch die Telegraphendrähte, die an ihrem Auslaufe un - zählige mal ſchon das gut gemacht haben, was bei ihrem An - fange verfehlt war.
Die Controle in der Heimat und die Unverdächtigkeit in der Ferne iſt der Hauptanlaß, weshalb das Gaunerthum in ſteter Beweglichkeit iſt, um unter dem bürgerlichen Scheine, fern von der hinderlichen Beobachtung, ſeiner verbrecheriſchen Thätigkeit nachzugehen. Wie trüglich der bürgerliche Schein iſt, in welchem ſogar ein Gauner mit dem andern unerkannt zuſammentreffen kann, beweiſt das bei Thiele, a. a. O., II, 169, erzählte Beiſpiel des Schmulchen Frankfurter, der einmal im Gaſthofe zu Helm -37 ſtädt in das Zimmer eines daſelbſt logirenden emigrirten hollän - diſchen Kanonikus brach und aus dem Koffer deſſelben 125 Louis - dor nebſt einer Menge Prätioſen ſtahl, im Koffer aber auch einige Terzerols, eine zur Säge zugerichtete Uhrfeder, ein Brecheiſen, vier Ennevotennekäſtchen und mehrere bezeichnete Gelddüten acqui - rirte, in welchem ſich ſtatt des notirten Geldes 46 ſauber gearbeitete Dietriche vorfanden. Dieſe Beweglichkeit und Trüglichkeit des Gaunerthums rechtfertigt die ſtrenge Controle der Wirthshäuſer, bei der jedoch die Wirthe leider in den wenigſten Fällen der Po - lizei behülflich ſind, bis ſie für ſich ſelbſt Gefahr vom Gaſte wittern, oder ſchon von ihm hintergangen ſind. Auch eludirt die Polizei ſelbſt ihre Fremdencontrole ſehr weſentlich durch die Unter - laſſung einer auch auf die Bordells ſich erſtreckenden Gaſtcontrole. Würden aus allen Wirthshäuſern die Beobachtungen, welche die Wirthe zu machen Gelegenheit haben, der Polizei kund, ſo würde dem Gaunertreiben weſentlich mehr Einhalt gethan werden können. So aber ſpeculiren die Gauner mit Sicherheit auf die Erwerbs - luſt der Wirthe, und laſſen gerade in Wirthshäuſern ſo viel auf - gehen, daß ſchon durch das Uebermaß der Verdacht rege werden müßte. Je mehr die Controle auf den Eiſenbahnhöfen gegen die Ankommenden verſchärft wird, deſto mehr entzieht ſich der Gauner dieſer Controle dadurch, daß er eine oder ein paar Stationen vor dem Ausgangspunkt ſeiner Reiſe die Bahn verläßt, und im un - ſcheinlichen Fuhrwerk1)Auch die ihren Urſprung wol von den Marketenderfahrzeugen der letzten franzöſiſchen Kriege datirenden Agolen, mit und ohne Michſe (Plan), kommen, bei der weſentlich auf die Bahnhöfe gerichteten Aufmerkſamkeit der Polizei, mehr als in der Zeit unmittelbar vor der Entſtehung der Eiſenbahnen, wo ſie nur noch ſparſam geſehen wurden, wieder zum Vorſchein. Auf meinen amtlichen Fahrten in enclavirten Gebietstheilen habe ich des Nachts häufig Gelegenheit gehabt, auf Wald - und Feldwegen den unheimlichen Fuhrwerken zu begegnen, deren Führer in geheimnißvoller Geſchäftigkeit vorüberfahren., auch mit der vernachläſſigten Fahr - oder Omnibuspoſt einfährt, oder auch zu Fuß ſeinen Einzug hält. Der Controle auf der Landſtraße entgeht der verdächtige Gauner dadurch, daß er den Weg ganz beſonders auf oder neben den Eiſenbahn -38 tracten einſchlägt. Vor nicht langer Zeit geſtand mir ein aus dem Zuchthauſe eines Nachbarſtaats ausgebrochener gefährlicher Räuber, daß er größtentheils am lichten Tage in der kenntlichen Züchtlingskleidung eine ſechs Meilen lange Strecke auf und neben der Eiſenbahn zu Fuß zurückgelegt hatte, bis er im Abenddunkel ſich bei einem Trödler andere Kleidungsſtücke kaufte, mit denen er ſeinen Einzug in Lübeck hielt, wo er in einem Wirthshauſe zur Haft gebracht wurde.
Der ſchärfſte Ausdruck der Sicherheit und Verwegenheit, mit welcher das verkappte Gaunerthum ſich mitten im ſocial-politiſchen Leben bewegt, iſt die vermeſſene Simulation von Krankheiten und Gebrechen1)Schürmayer, „ Lehrbuch der gerichtlichen Medicin “(Erlangen 1854), rechnet §. 532 zu den Krankheiten, „ welche der Erfahrung zufolge Gegen - ſtand der Simulation zu ſein pflegen: Fieber, Hautausſchläge, Geſchwüre, ſtinkende Ausdünſtung, Epilepſie, Veitstanz. Starrſucht, Tetanus, Krämpfe und Convulſionen, Waſſerſcheu, Schlafſucht, Nachtwandeln, Ohnmacht und Scheintod, Schmerzen, Lähmung, Verkrümmung der Wirbelſäule, Contrac - turen der Extremitäten, Hinken, krummer Hals, Kopfgrind, Augenentzündung, Störung des Sehvermögens, Schwerhörigkeit und Taubheit, Stammeln, Stimm - loſigkeit, Stummheit, Verſtümmelung der Zunge, Taubſtummheit, Kropf, be - ſchwerliches Schlucken, Blutſpeien, Lungenſchwindſucht, Herzkrankheiten, Er - brechen und Wiederkäuen, Blutbrechen, Ruhr und Durchfall, Gelbſucht, Auf - treibung des Unterleibes, Eingeweidebrüche, Hämorrhoidalknoten, Umſtülpung des Afters, Afterfiſteln, Lähmung des Afterſchließmuskels, Unvermögen den Harn zu halten, Blutharnen, Strictur der Harnröhre, Waſſerbruch des Scro - tums, Steinkrankheit. “, mittelſt welcher der Gauner es wagt, die all - gemeine Aufmerkſamkeit abſichtlich auf ſeine äußere Erſcheinung zu lenken, um unter dieſer Maske die gauneriſche Jndividualität deſto ſicherer zur Geltung zu bringen. Dieſer verwegene Betrug iſt ſo alt, wie die chriſtliche Barmherzigkeit, auf die er von An -39 beginn an ſpeculirt hat. Ueber dieſen Betrug klagt ſchon der heilige Ambroſius in ſeinen Briefen an den Symmachus; ſchon die Kapitularien warnen vor den Betrügern: qui nudi cum ferro prodeunt; der Liber Vagatorum zeichnet eine Menge ſimulanter Siechen; die Epilepſie, das böſe Weſen wurde in der Zeit der wüthenden Hexenverfolgungen als Betrug geahnt, und als Teu - felswerk mit Exorcismus oder dem Scheiterhaufen paralyſirt, während die Kinder der Gauner im vorigen Jahrhundert abge - richtet waren, ebenſo geſchickt den Taubſtummen zu ſpielen, als „ auf die Pille zu ſchnorren “, wie der bekannte Gauner, welcher noch heutiges Tags unter der Larve eines Gärtners ſchon ſeit mehreren Jahren ganz Deutſchland durchzieht, und von der ſimu - lirten Epilepſie ſeinen ganzen Lebensunterhalt zieht.
Das gauneriſche Jntereſſe macht es für den Gauner zur Hauptaufgabe, ſeine äußere Erſcheinung ſo zu geben, daß, wenn ſie in einer Urkunde polizeilich fixirt und documentirt iſt, ihm doch immer eine Aenderung der perſönlichen Erſcheinung möglich bleibt, um gerade nach der von ihm vorgenommenen Aenderung den Unterſchied ſeiner jetzigen perſönlichen Erſcheinung mit der frühern documentirten darlegen, mithin für eine ganz andere Jndividualität gelten zu können. Die gauneriſche Kunſt hat daher beſonders die in den gedruckten Paß - und Steckbriefſchematen enthaltenen Per - ſonalien zu einem wahren Kunſtkatalog gemacht, an deſſen Ver - vollkommnung ſie raſtlos arbeitet, und mit täglich neuen Verbeſſe - rungen hervortritt. Selbſt die gemeſſene Körperlänge iſt, wie die Erfahrung zeigt, einer Variation fähig. Beſonders gelingt es Weibern, bei nicht ſehr genau controlirter Meſſung die Knie zu beugen und den Körper ſo zuſammen zu drücken, daß eine erheb - liche Abweichung ſtattfindet. Jn den ſechs verſchiedenen ſteckbrief -40 lichen Signalements einer hier zur Unterſuchung gezogenen Gau - nerin fanden ſich Abweichungen zwiſchen der hier und auswärts nach demſelben Maßſtabe gemeſſenen Körperlänge von 3 — 5 Zoll. Die gewöhnlichen Toilettenkünſte werden vom Gaunerthum in vorzüglicher Weiſe vervollkommt. Die Färbung der Kopfhaare, Augenbrauen, des Barts, die Befeſtigung falſcher Haare geſchieht mit ausgezeichneter Fertigkeit. Auch habe ich Gauner geſehen, welche mit defecten Zähnen ſignaliſirt waren, mit ſo herrlichen künſtlichen, und ſo ausgezeichnet durch Schrauben in den Zahn - wurzeln befeſtigten Zähnen, daß ſelbſt ſehr geſchickte Aerzte damit getäuſcht wurden. Eine hier in Lübeck zur Unterſuchung gezogene Gaunerin hatte früher einmal in der Vorausſicht, daß ihr doch einmal des Entſpringen gelingen werde, ſiebzehn Monate lang mit bewundernswürdiger Conſequenz und Ausdauer eine erhöhte Schulter und einen ſteifen Finger ſo geſchickt ſimulirt, daß ſie ſelbſt den Scharfblick des ſehr erfahrenen Arztes täuſchte, und ſpäter nach zwei Jahren, als ſie wirklich entſprang, in weiter Ent - fernung entdeckt und nach jenen „ beſondern Kennzeichen “be - ſchrieben wurde, die zu ihrer Captur requirirte auswärtige Behörde ſo vollſtändig zu hintergehen wußte, daß ſie auf freien Fuß bleiben und ſich davonmachen konnte. Dieſelbe Perſon hatte ihre defecten Haare und Zähne ſo ausgezeichnet ergänzt, wie es in ähnlicher Vollkommenheit nicht leicht wieder nachgeahmt werden kann. 1)Vgl. den intereſſanten Fall 28, S. 90 u. 107, in Johann Ludw. Kasper’s herrlichem „ Handbuch der gerichtlich mediciniſchen Leichen-Diagno - ſtik. Nach eigenen Erfahrungen. “ Mit einem Atlas von neun colorirten Tafeln (Berlin 1857). Beſonders vgl. man überhaupt §. 29 — 33, S. 102 fg. Das ganze Werk iſt für Juriſten und Polizeimänner überhaupt eine äußerſt reiche Quelle der mannichfachſten Belehrung.Sehr häufig vorkommende, vorzüglich aber dann, wenn die zu ſig - naliſirende Perſon ſelbſt darauf aufmerkſam gemacht hat, ver - dächtige, und daher genauer zu unterſuchende, beſondere Kenn - zeichen ſind die vielfach abſichtlich mit Höllenſtein geätzten Muttermale, Leberflecke u. dgl. an Geſicht und Händen, die ſich zur gelegenen Zeit ebenſo leicht wieder entfernen laſſen, wie ſie41 ſich anbringen ließen. Ueberraſchend und ebenſo intereſſant wie wichtig iſt die von Kasper1)Auch über Verſchwinden oder Unvertilgbarkeit von Narben ſowie über die Sichtbarmachung verſchwundener Brandmale werden in ſeinem „ Handbuch “, S. 113 — 115, höchſt intereſſante Mittheilungen gemacht. Jedoch vermißt man bei Kaspar, wie bei Schürmayer („ Lehrbuch der gerichtlichen Medicin “und „ Handbuch der mediciniſchen Polizei “) und Bergmann („ Medicina forensis “) eine für die Polizeiwiſſenſchaft ſehr wichtige Belehrung über die Möglichkeit der Vertilgung von ſogenannten Leberflecken, Muttermalen und anderer Hautflecken. in Berlin gemachte und nach ihm beſonders von den franzöſiſchen Aerzten Hutin und Tardieu durch zahlreiche Beobachtungen geprüfte Entdeckung, daß Tätowirungen, welche im Leben vorhanden waren, an der Leiche bis zur völligen Unſichtbarkeit ſpurlos verſchwunden ſein können. Noch merk - würdiger iſt die durch eine Menge Unterſuchungen als unzweifel - haft bewieſene Thatſache, daß der Färbeſtoff der Tätowirungen von den Lymphganglien abſorbirt wird, und daß der Färbeſtoff der Tätowirungen am Arme ſich in den Achſeldrüſen unverkenn - bar deutlich wiederfindet, wie ja denn in dem beim Kasper’ſchen „ Handbuch “befindlichen Atlas, Taf. 8, Fig. 25, eine ſolche Achſeldrüſe mit eingeſprenkeltem Zinnober dargeſtellt iſt. So be - hauptet auch derſelbe, a. a. O., S. 118, daß ſchon bei Jndivi - duen, welche erſt vor kurzem tätowirt waren, ſich Zinnober, Kohle u. dgl. in den Lymphdrüſen fand. Ebenſo intereſſant iſt der von ihm, S. 119, mitgetheilte, vollkommen gelungene Ver - ſuch Tardieu’s, Tätowirungen künſtlich ſchwinden zu machen.
Die Vorſchützung der Schwangerſchaft2)Mir iſt eine Perſon der Art vorgekommen, die 14 Monate lang an - gab, im achten Monat ſchwanger zu gehen, und darauf hin viel Almoſen und Kinderkleidung zuſammengebracht und letztere verkauft hatte. Vagirende Gaunerinnen ſchützen beſtändig Schwangerſchaft vor, wie die Dutzbetterinnen iſt eine nament - lich von verhafteten Gaunerinnen zunächſt faſt regelmäßig42 geübte Simulation, um aus der ſtrengen Haft und Hausordnung der Unterſuchungsgefängniſſe in die leichtere Detention der Kranken - häuſer überzugehen, in denen das Entſpringen ſehr erleichtert wird, und ſehr häufig gelingt. / Die auch im Gefängniß ebenſo gut anzuſtellende Beobachtung des Arztes muß hier allein ent - ſcheiden, und die Ueberſiedelung darf nur auf die beſtimmteſte An - ordnung des Arztes geſchehen, da die Gaunerinnen mit nichts mehr und feiner Jntriguen ſpinnen, als mit der Debilität der weiblichen Natur. Erfahrene und legitimationslos umherziehende Gaunerinnen ſäugen ihre Kinder ſehr lange, und ſorgen, ſelbſt wenn das Kind geſtorben iſt, dafür, daß ihnen die Milch nicht vergeht, indem ſie auf die Sorgloſigkeit der Behörden, und auf die läſtige Umſtändlichkeit der Kinderverpflegung rechnen, wenn ſie bei einer Verhaftung auf Verdacht angeben, daß ſie im be - nachbarten Orte einen hülfloſen Säugling zurückgelaſſen hätten, wobei denn die allenfalls angeſtellte ärztliche Unterſuchung die Exiſtenz des Säuglings wahrſcheinlich macht, und wozu denn auch wol nöthigenfalls aus der erſten beſten Cheſſenpenne irgendein Kind von den vertrauten Genoſſen zur Aushülfe herbeigebracht wird. Jn ſolcher Weiſe werden nicht ſelten Gaunerinnen über die Grenze geſchoben mit ganz fremden Kindern, für welche ſie keine Mutterliebe haben, und die ſie hinter dem nächſten Bauern - hauſe ausſetzen, wenn ſie ihnen nicht ſogleich von den Lieferanten abgenommen werden.
Eine der am meiſten cultivirten Betrügereien iſt die Simu - lation epileptiſcher Zufälle (Tippel, Pille, Fallſucht). 2)des Liber Vagatorum, weil ſie die Scheu der Behörde vor den Wochenbetten legitimationsloſer Perſonen kennen.43Sie iſt theils ein Mittel, Mitleid zu erregen, und Unterſtützung und Pflege zu erhalten1)Vgl. „ Eberhardt’s Polizeianzeiger “, Bd. 42, Jahrgang 1856, S. 461, Nr. 1672, woſelbſt eins der merkwürdigſten Exemplare der Neuzeit gekenn - zeichnet iſt., theils um bei öffentlichen Gelegenheiten, in Verabredung mit Taſchendieben, die allgemeine Aufmerkſamkeit zu fixiren, und einen Zuſammenlauf zu veranlaſſen2)Vgl. Kap. 21 vom Vertuſſ., theils aber auch im Verhör den plötzlichen Abbruch einer, für den in die Enge getriebenen Gauner gefährlich gewordenen Situation zu bewirken. Eine genaue Kenntniß der Symptome iſt daher weſentlich förder - lich, die Simulation von der Wirklichkeit zu unterſcheiden. Be - ſtimmt und treffend zeichnet Schürmayer, a. a. O., die Unter - ſchiede: „ Das wirkliche Vorhandenſein der Epilepſie hat immer einen beſondern Ausdruck in den Geſichtszügen, welche den mehr oder weniger deutlich ausgedrückten Stempel von Traurigkeit, Furchtſamkeit und Dummheit an ſich tragen, inſofern die Krank - heit ſchon einige oder längere Zeit dauert, was durch Betrug nicht wohl nachzuahmen iſt. Bei dem wahren Epileptiker zeigt ſich die Neigung der obern Augenlieder ſich zu ſenken, und man bemerkt die Gewalt, die ſich der Epileptiker anthut, um die Augen offen zu halten, wenn er etwas betrachten will; auch ſprechen ſolche Kranke nur ungern von ihrer Krankheit, ſuchen ſie ſogar zu ver - heimlichen. Die ſimulirten Convulſionen ſind ſich, da die Betrüger ihre Rollen gewiſſermaßen auswendig lernen, in allen Paroxysmen faſt ganz ähnlich, haben auch etwas Grimmaſſenartiges, was bei der Epilepſie nicht der Fall iſt. Jn den wahren epileptiſchen An - fällen ſind faſt immer die Augen offen, die Pupille iſt meiſtens erweitert oder auch krampfhaft zuſammengezogen, die Jris in einer zitternden Bewegung; bei manchen Kranken rollen die Augen fürchterlich in ihren Höhlen umher, ſind aber auch wol in ein - zelnen Momenten faſt wie leblos fixirt. Dieſer Zuſtand iſt nicht nachzuahmen, und der verſtellte Anfall wird beſonders dadurch er - kennbar, wenn bei ſchnellem Anbringen eines Lichts vor die44 Augen die Pupille ſich gleich zuſammenzieht. Das beſchwerliche und röchelnde Athemholen, meiſt mit bläulicher Auftreibung des Geſichts gepaart, kann anhaltend nicht nachgeahmt werden, ebenſo wenig der Schaum vor dem Munde in einem gewiſſen Grade, wenn nicht Seife dazu verwendet wird1)Vgl. Kap. 8 des Liber Vagatorum: „ und nemen Seiffen in den mund das jnen der ſcheim einer fauſt gros auff geet vnd ſtechen ſich mit eim halm jn die naßlocher das ſie bluten werden, vnd iſt Buben teiding “. Der obenerwähnte ſimulante Epileptiker, der ſeit Jahren durch Deutſchland um - herzieht, weiß durch raſches Saugen am gereizten Zahnfleiſch Blut unter den Schaum zu bringen; auch ſind an den Seiten der Zunge deutliche Bißnarben vorhanden., und das Herzklopfen mit dem kleinen unterdrückten Pulſe. Bei den wahren Anfällen iſt eine ungewöhnliche Körperkraft zugegen, die Betrüger, wenn ſie nicht von Natur aus ſtark ſind, nicht nachzuahmen vermögen. Wenn Epileptiſche ſchreien, ſo geſchieht dies vor dem Fallen, nach - her tritt völliges Schweigen mit Bewußtloſigkeit und Verluſt des Gefühlsvermögens ein. Betrüger verſtoßen ſich oft hierbei, zu - mal wenn ihnen Anlaß gegeben wird. Tritt namentlich auf An - wendung von Kitzeln, Nießmitteln u. dgl. Reaction ein, ſo iſt Simulation als gewiß anzunehmen. Endlich unterſcheidet ſich der gleich nach dem Anfall eintretende Zuſtand des Körpers und Geiſtes bei ſimulirenden Epileptiſchen oft augenſcheinlich von den wirklich Epileptiſchen, indem erſtere die als nothwendige Folge daſtehende Abſpannung nicht zeigen, oder nicht nachhaltig genug. “
Dieſe Unterſcheidungen ſind ſehr wichtig und genau zu be - achten, wenn man nicht nach ſtundenlangen Verhören gerade im wichtigſten Moment durch den in die Enge getriebenen Gauner mit ſeiner ſimulirten Epilepſie um die Reſultate angeſtrengter Mühe gebracht ſein will. Es gibt Gauner, die ſchon vor dem Ausbruch eine Schwäche ſimuliren und eine Prädispoſition be - merkbar zu machen wiſſen, nur um zu ſondiren, ob der Jnquirent ängſtlich iſt, wonach denn der epileptiſche Anfall entweder aus - bleibt oder zum Vorſchein kommt. 2)Mehr als einmal habe ich bei ſolchen Sondirungen mich vor derglei -Sehr beachtenswerth aber45 iſt die Bemerkung, die Schürmayer, a. a. O., §. 531, macht, daß nämlich erfahrungsmäßig gewiſſe anfangs ſimulirte Krank - heiten zuletzt in wirkliche übergehen können, daß dies jedoch im - mer nur ſolche krankhafte Zuſtände ſind, die ſich in ſogenannten nervöſen Zufällen, wie Krämpfen, Zuckungen u. dgl., kund geben. 1)Jn meiner Praxis glaube ich dieſelbe Erfahrung gemacht zu haben. Von zwei diebiſchen liederlichen Dirnen aus einem benachbarten holſteini - ſchen Dorfe, welche öfters wegen verbotenen Betretens des lübeckiſchen Ge - biets zur Unterſuchung und Strafe gezogen wurden, litt die ältere Schweſter notoriſch ſeit ihrer Kindheit an Epilepſie und mußte deshalb rückſichts - voller behandelt werden. Die jüngere, eine robuſte derbe ſechzehnjährige Dirne, welche niemals an jenem Uebel gelitten hatte und ſehr oft hier angehalten wurde, fing ebenfalls bald an, in epileptiſche Zufälle zu ge -Die Wahrheit dieſer merkwürdigen Behauptung ſcheint ebenſo wol in ſomatiſcher, als ſogar auch in pſychiſcher Hinſicht ſich zu beſtätigen, wie ja denn jeder aufmerkſame Jnquirent reich - liche Gelegenheit findet, Beobachtungen der Art zu machen.
Die Simulation der Taubſtummheit iſt einer der am häufigſten vorkommenden gauneriſchen Verſuche, um dem entſtan -2)chen epileptiſchen Störungen mit Erfolg verwahrt dadurch, daß ich mit ent - ſchiedenem trockenen Ernſt mir jeglichen Anfall von Schwäche oder Epilepſie verbat, wobei denn namentlich Gaunerinnen gerade durch ihren ſchlecht ver - hehlten Unmuth und durch plötzlichen Abbruch aller Demonſtrationen den Ver - ſuch der Simulation eben ſelbſt recht deutlich zu Tage legten. Der genaue Blick auf den Simulanten entdeckt ſofort den Betrug. So wurde denn auch die Simulation des ſchon mehrfach erwähnten Gärtners durch den richtigen Blick zweier Polizeidiener ſofort entdeckt, noch ehe er nach der Lithographie im Eberhardt’ſchen Polizei-Anzeiger recognoscirt war. Auch bekam er wäh - rend ſeiner vierzehntägigen Haft nicht ein einziges mal epileptiſche Anfälle, weil er überall mit trockenem Ernſt behandelt wurde. Vgl. Böcker, „ Memo - randa der gerichtlichen Medicin “(Jſerlohn u. Elberfeld 1854), S. 67, wo auch der Nieſemittel, Acupunctur und des Auftröpfelns von heißem Siegellack erwähnt wird.46 denen Verdachte die Argloſigkeit und Unbeholfenheit des Taub - ſtummen entgegenzuſetzen. Viele Gauner wiſſen jene eigenthüm - liche Lebendigkeit der Geberden und Bewegungen der Taubſtum - men, denen die Hauptwege der pſychiſchen Ausbildung, Gehör und Sprache, verſagt ſind, und welche dafür nur durch das Auge Erſatz finden, meiſtens mit vielem Glücke zu copiren und ſogar ſich das Anſehen zu geben, als läſen ſie die vom Jnquirenten geſprochenen Worte von deſſen Lippen, wobei ſie auch in jener rauhen unmodulirten Sprachweiſe mit oſtentirter Anſtrengung zu antworten ſuchen. Der Betrug iſt nicht ſchwer zu entdecken. Der Simulant kann nicht den Unglücklichen nachahmen, der auf der niedrigſten Stufe der menſchlichen Bildung ſteht. „ Der Taubſtumme beſitzt “, wie Friedreich1)„ Syſtem der gerichtlichen Pſychologie “(Regensburg 1852), S. 332. treffend ſagt, „ ſo lange man ſeine Kräfte nicht ausbildet, ſeine Fähigkeiten nicht übt, keine Kenntniſſe ihn lehrt, nichts als Empfindung der Gegenwart ohne augenblickliche (momentane) Eindrücke, faſt gar keine Er - innerung der Vergangenheit und ebenſo wenig Erwartung der Zukunft “. Jn Stellung, Haltung, Miene, Blick und Weſen kann der Simulant durchaus nicht, mindeſtens nicht conſequent, ſo über ſich gebieten, daß er eine ſo augenfällig eigenthümliche äußere Erſcheinung darſtellt, wie jener Zuſtand nothwendig bedingt. Er kann ſich mindeſtens für nicht weniger darſtellen, als für einen unterrichteten Taubſtummen, der ein Verſtändniß haben und wiedergeben kann. Er muß alſo die eigentliche ſchulmäßige Taub - ſtummencultur kennen, die ihn allein zum Verſtändniß fähig1)rathen, deren Simulation am Tage lag. Als ſie endlich, bei der letzten Jn - haftirung im vorigen Jahre, ſtatt der bisherigen Gefängnißſtrafe die angedrohte geſchärftere Zuchthausſtrafe erwarten mußte, verfiel ſie wieder in epileptiſche Zufälle, die jedoch diesmal weſentlich von den frühern in Erſcheinung und Form abwichen und, trotz dem entſchiedenen Vorurtheile gegen die Perſon, für wirkliche epileptiſche Zufälle gelten mußten. Vielleicht konnte doch auch eine Familiendispoſition und wirkliche Angſt mit eingewirkt haben. Vgl. die „ Ge - ſchichte einer convulſivichen Krankheit “u. ſ. w., in Henke’s „ Zeitſchrift für Staatsarzneikunde “, 1856, drittes Vierteljahrsheft, S. 61 fg.47 machen konnte, oder muß ſeine Unkenntniß und damit die Simu - lation verrathen. Dem Experten gegenüber iſt daher ſein Spiel raſch verloren. Ja meiſtens bedarf es kaum des Experten. Der Jnquirent, ſobald er