PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
INTERNATIONALE WISSENSCHAFTLICHE BIBLIOTHEK.
LIX. BAND.
[II][III]
DIE MECHANIK IN IHRER ENTWICKELUNG
HISTORISCH-KRITISCH DARGESTELLT
MIT 250 ABBILDUNGEN.
[figure]
LEIPZIG:F. A. BROCKHAUS. 1883.
[IV][V]

VORWORT.

Vorliegende Schrift ist kein Lehrbuch zur Einübung der Sätze der Mechanik. Ihre Tendenz ist vielmehr eine aufklärende oder, um es noch deutlicher zu sagen, eine antimetaphysische.

Auch die Mathematik ist in dieser Schrift gänzlich Nebensache. Wer sich aber für die Fragen interessirt, worin der naturwissenschaftliche Inhalt der Mecha - nik besteht, wie wir zu demselben gelangt sind, aus welchen Quellen wir ihn geschöpft haben, wie weit derselbe als ein gesicherter Besitz betrachtet werden kann, wird hier hoffentlich einige Aufklärung finden. Eben dieser Inhalt, welcher für jeden Naturforscher, jeden Denker das grösste und allgemeinste Interesse hat, liegt eingeschlossen und verhüllt in dem intellec - tuellen Fachapparat der heutigen Mechanik.

Der Kern der Gedanken der Mechanik hat sich fast durchaus an der Untersuchung sehr einfacher besonderer[VI]Vorwort.Fälle mechanischer Vorgänge entwickelt. Die histo - rische Analyse der Erkenntniss dieser Fälle bleibt auch stets das wirksamste und natürlichste Mittel, jenen Kern blosszulegen, ja man kann sagen, dass nur auf diesem Wege ein volles Verständniss der allgemeinern Ergeb - nisse der Mechanik zu gewinnen ist. Der erwähnten Anschauung folgend, bin ich zu einer etwas brei - ten, dafür aber sehr verständlichen Darstellung gelangt. Bei der vorläufig noch nicht hinreichend entwickelten Genauigkeit der allgemeinen Verkehrssprache konnte ich von dem Gebrauch der kurzen und präcisen mathematischen Bezeichnung nicht überall absehen, sollte nicht stellenweise die Sache der Form geopfert werden.

Die Aufklärungen, welche ich hier bieten kann, sind im Keime theilweise schon enthalten in meiner Schrift: Die Geschichte und die Wurzel des Satzes der Erhaltung der Arbeit (Prag, Calve, 1872). Ob - gleich nun später von Kirchhoff ( Vorlesungen über ma - thematische Physik. Mechanik , Leipzig 1874) und Helm - holtz ( Die Thatsachen in der Wahrnehmung , Berlin 1879) einigermaassen ähnliche Ansichten ausgesprochen wurden, und zum Theil sogar schon den Charakter von Schlagworten angenommen haben, scheint mir hier - mit dasjenige, was ich zu sagen habe, doch nicht er - schöpft, und ich halte meine Darstellung keineswegs für überflüssig.

Mit meiner Grundansicht über die Natur aller Wissen - schaft als einer Oekonomie des Denkens, die ich[VII]Vorwort.in der oben citirten Schrift sowie in einer andern ( Die Gestalten der Flüssigkeit , Prag, Calve, 1872) an - gedeutet, und in meiner akademischen Festrede ( Die ökonomische Natur der physikalischen Forschung , Wien, Gerold, 1881) etwas weiter ausgeführt habe, stehe ich nicht mehr allein. Sehr verwandte Ideen hat näm - lich in seiner Weise R. Avenarius entwickelt ( Philo - sophie als Denken der Welt gemäss dem Princip des kleinsten Kraftmaasses , Leipzig, Fues, 1876), was mir zu besonderer Befriedigung gereicht. Die Achtung vor dem echt philosophischen Streben, alles Wissen in einen Strom zusammenzuleiten, wird man in meiner Schrift überhaupt nicht vermissen, wenngleich dieselbe gegen Uebergriffe der speculativen Methode ent - schiedene Opposition macht.

Die hier behandelten Fragen haben mich schon in früher Jugend beschäftigt, und mein Interesse für die - selben wurde mächtig erhöht durch die wunderbaren Einleitungen von Lagrange zu den Kapiteln seiner analytischen Mechanik, sowie durch das klar und frisch geschriebene Schriftchen von Jolly ( Principien der Mechanik , Stuttgart 1852). Das schätzbare Buch von Dühring ( Kritische Geschichte der Principien der Mecha - nik , Berlin 1873) hat auf meine Gedanken, welche bei dessen Erscheinen schon im wesentlichen abge - schlossen und auch ausgesprochen waren, keinen be - merkenswerthen Einfluss mehr geübt. Gleichwol wird man, wenigstens in Bezug auf die negative Seite der Kritik, manche Berührungspunkte finden.

[VIII]Vorwort.

Die hier abgebildeten und beschriebenen neuen De - monstrationsapparate sind durchgängig von mir construirt und von Herrn F. Hajek, Mechaniker des unter meiner Leitung stehenden Physikalischen Instituts, ausgeführt worden.

In loserem Zusammenhange mit dem Text stehen die genauen Nachbildungen in meinem Besitz befind - licher alter Originale. Die eigenthümlichen und naiven Züge der grossen Forscher, welche sich in denselben aussprechen, haben aber auf mich beim Studium sehr erfrischend gewirkt, und ich wünschte, dass meine Leser dieses Vergnügen mit geniessen möchten.

Prag, im Mai 1883. E. MACH.

[IX]

INHALT.

  • Seite
  • VorwortV
  • Einleitung1
  • ERSTES KAPITEL. Die Entwickelung der Principien der Statik.
    • 1. Das Hebelprincip. 8
    • 2. Das Princip der schiefen Ebene. 22
    • 3. Das Princip der Zusammensetzung der Kräfte. 31
    • 4. Das Princip der virtuellen Verschiebungen. 45
    • 5. Rückblick auf die Entwickelung der Statik. 72
    • 6. Die Principien der Statik in ihrer Anwendung auf die flüssigen Körper. 79
    • 7. Die Principien der Statik in ihrer Anwendung auf die gasförmigen Körper. 101
  • ZWEITES KAPITEL. Die Entwickelung der Principien der Dynamik.
    • 1. Galilei’s Leistungen. 117
    • 2. Die Leistungen von Huyghens. 143
    • 3. Newton’s Leistungen. 174
    • 4. Erörterung und Veranschaulichung des Gegen - wirkungsprincips. 188
    • 5. Kritik des Gegenwirkungsprincips und des Massen - begriffes. 202
    • 6. Newton’s Ansichten über Zeit, Raum und Bewegung. 207
    • 7. Uebersichtliche Kritik der Newton’schen Aufstel - lungen. 222
    • 8. Rückblick auf die Entwickelung der Dynamik. 229
  • [X]
  • DRITTES KAPITEL. Die weitere Verwendung der Principien und die deductive Entwickelung der Mechanik.
    • Seite
    • 1. Die Tragweite der Newton’schen Principien. 239
    • 2. Die Rechnungsausdrücke und Maasse der Mechanik. 251
    • 3. Die Gesetze der Erhaltung der Quantität der Be - wegung, der Erhaltung des Schwerpunktes und der Erhaltung der Flächen. 265
    • 4. Die Gesetze des Stosses. 282
    • 5. Der D’Alembert’sche Satz. 307
    • 6. Der Satz der lebendigen Kräfte. 319
    • 7. Der Satz des kleinsten Zwanges. 326
    • 8. Der Satz der kleinsten Wirkung. 340
    • 9. Der Hamilton’sche Satz. 356
    • 10. Einige Anwendungen der Sätze der Mechanik auf hydrostatische und hydrodynamische Aufgaben. 360
  • VIERTES KAPITEL. Die formelle Entwickelung der Mechanik.
    • 1. Die Isoperimeterprobleme. 396
    • 2. Theologische, animistische und mystische Gesichts - punkte in der Mechanik. 420
    • 3. Die analytische Mechanik. 438
    • 4. Die Oekonomie der Wissenschaft. 452
  • FÜNFTES KAPITEL. Beziehungen der Mechanik zu andern Wissensgebieten.
    • 1. Beziehungen der Mechanik zur Physik. 466
    • 2. Beziehungen der Mechanik zur Physiologie. 475
  • Chronologische Uebersicht einiger hervorragender For - scher und ihrer für die Grundlegung der Mechanik wichtigem Schriften. 479
  • Register. 481
[1]

Einleitung.

1. Jener Theil der Physik, welcher der älteste und einfachste ist, und daher auch als Grundlage für das Ver - ständniss vieler anderer Theile der Physik betrachtet wird, beschäftigt sich mit der Untersuchung der Be - wegung und des Gleichgewichtes der Massen. Er führt den Namen Mechanik.

2. Die Entwickelungsgeschichte der Mechanik, deren Kenntniss auch zum vollen Verständniss der heutigen Form dieser Wissenschaft unerlässlich ist, liefert ein einfaches und lehrreiches Beispiel der Processe, durch welche die Naturwissenschaft überhaupt zu Stande kommt.

Die instinctive unwillkürliche Kenntniss der Naturvorgänge wird wol stets der wissenschaftlichen willkürlichen Erkenntniss, der Erforschung der Er - scheinungen vorausgehen. Erstere wird erworben durch die Beziehung der Naturvorgänge zur Befriedigung unserer Bedürfnisse. Die Erwerbung der elementarsten Erkenntnisse fällt sogar sicherlich nicht dem Indivi - duum allein anheim, sondern wird durch die Entwicke - lung der Art vorbereitet.

In der That haben wir zu unterscheiden zwischen mechanischen Erfahrungen und Wissenschaft der Mechanik im heutigen Sinne. Mechanische Erfahrungen sind ohne Zweifel sehr alt. Wenn wir die altägyptischen oder assyrischen Denkmäler durchmustern, finden wir die Abbildung von mancherlei Werkzeugen und mechanischenMach. 12Einleitung.Vorrichtungen, während die Nachrichten über die wissen - schaftlichen Kenntnisse dieser Völker entweder fehlen, oder doch nur auf eine sehr niedere Stufe derselben

Fig. 1.

schliessen lassen. Ne - ben sehr sinnreichen Geräthen bemerken wir wieder ganz rohe Proceduren, wie z. B. den Transport ge - waltiger Steinmassen durch Schlitten. Al - les trägt den Cha - rakter des Instinctiven, des Undurchgebilde - ten, des zufällig Ge - fundenen.

Auch die Gräber aus vorhistorischer Zeit enthalten viele Werk - zeuge, deren Anfer - tigung und Handha - bung eine nicht unbe - trächtliche technische Fertigkeit und man - cherlei mechanische Erfahrungen voraus - setzt. Lange bevor also an eine Theorie im heutigen Sinne ge - dacht werden kann, finden wir Werkzeuge, Maschinen, mechani - sche Erfahrungen und Kenntnisse.

3. Zuweilen drängt sich der Gedanke auf, dass wir durch die un - vollständigen schrift -3Einleitung.lichen Nachrichten zu einem falschen Urtheil über die alten Völker verleitet werden. Es finden sich nämlich bei den alten Autoren einzelne Stellen, aus welchen viel tiefere Kenntnisse hervorzublicken scheinen, als man den betreffenden Völkern zuzuschreiben pflegt. Betrachten wir des Beispiels wegen nur eine Stelle bei Vitruv, De architectura , Lib. IV, Cap. III, 6. Dieselbe lautet:

Die Stimme aber ist ein fliessender Hauch und in - folge der Luftbewegung durch das Gehör vernehmlich; sie bewegt sich in unendlichen kreisförmigen Rundungen fort, wie in einem stehenden Wasser, wenn man einen Stein hineinwirft, unzählige Wellenkreise entstehen, welche wachsend sich soweit als möglich vom Mittel - punkt ausbreiten, wenn nicht die beengte Stelle sie unterbricht, oder irgendeine Störung, welche nicht ge - stattet, dass jene kreislinienförmigen Wellen bis ans Ende gelangen; denn so bringen die ersten Wellen - kreise, wenn sie durch Störungen unterbrochen werden, zurückwogend die Kreislinien der nachfolgenden in Un - ordnung. Nach demselben Gesetz bringt auch die Stimme solche Kreisbewegungen hervor, aber im Wasser bewegen sich die Kreise auf der Fläche bleibend nur in der Breite fort; die Stimme aber schreitet einerseits in der Breite vor und steigt andererseits stufenweise in die Höhe empor.

Meint man hier nicht einen populären Schriftsteller zu hören, dessen unvollkommene Auseinandersetzung auf uns gekommen ist, während vielleicht gediegenere Werke, aus welchen er geschöpft hat, verloren gegangen sind? Würden nicht auch wir nach Jahrtausenden in einem sonderbaren Lichte erscheinen, wenn nur unsere populäre Literatur, die ja auch der Masse wegen schwerer zerstörbar ist, die wissenschaftliche überdauern sollte? Freilich wird diese günstige Auffassung durch die Menge der andern Stellen wieder erschüttert, welche so grobe und offenbare Irrthümer enthalten, wie wir sie bei höherer wissenschaftlicher Cultur nicht für möglich halten können.

4. Wann, wo und in welcher Art die Entwickelung1*4Einleitung.der Wissenschaft wirklich begonnen hat, ist jetzt histo - risch schwer zu ermitteln. Es scheint aber trotzdem natürlich, anzunehmen, dass die instinctive Sammlung von Erfahrungen der wissenschaftlichen Ordnung der - selben vorausgegangen sei. Die Spuren dieses Pro - cesses lassen sich an der heutigen Wissenschaft noch nachweisen, ja wir können den Vorgang an uns selbst gelegentlich beobachten. Die Erfahrungen, welche der auf Befriedigung seiner Bedürfnisse ausgehende Mensch unwillkürlich und instinctiv macht, verwendet er ebenso gedankenlos und unbewusst. Hierher gehören z. B. die ersten Erfahrungen, welche die Anwendung der Hebel in den verschiedensten Formen betreffen. Was man aber so gedankenlos und instinctiv findet, kann nie als etwas Besonderes, nie als etwas Auffallendes erscheinen, gibt in der Regel auch zu keinen weitern Gedanken Anlass.

Der Uebergang zur geordneten, wissenschaftlichen Erkenntniss und Auffassung der Thatsachen ist erst dann möglich, wenn sich besondere Stände herausgebildet haben, die sich die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse der Gesellschaft zur Lebensaufgabe machen. Ein s[ol]cher Stand beschäftigt sich mit besondern Klassen von Naturvorgängen. Die Personen dieses Standes wechseln aber; alte Mitglieder scheiden aus, neue treten ein. Es ergibt sich nun die Nothwendigkeit, den neu Ein - tretenden die vorhandenen Erfahrungen mitzutheilen, die Nothwendigkeit, ihnen zu sagen, auf welche Um - stände es bei der Erreichung eines gewissen Zieles eigent - lich ankommt, um den Erfolg im voraus zu bestimmen. Erst bei dieser Mittheilung wird man zu scharfer Ueber - legung genöthigt, wie dies jeder heute noch an sich selbst beobachten kann. Andererseits fällt dem neu ein - tretenden Mitgliede eines Standes dasjenige, was die übrigen gewohnheitsmässig treiben, als etwas Ungewöhn - liches auf, und wird so ein Anlass zum Nachdenken und zur Untersuchung.

Will man einem Andern gewisse Naturerscheinungen5Einleitung.oder Vorgänge zur Kenntniss bringen, so kann man ihn dieselben entweder selbst beobachten lassen; dann entfällt aber der Unterricht; oder man muss ihm die Naturvorgänge auf irgendeine Weise beschreiben, um ihm die Mühe, jede Erfahrung selbst aufs neue zu machen, zu ersparen. Die Beschreibung ist aber nur möglich in Bezug auf Vorgänge, die sich immer wieder - holen, oder doch nur aus Theilen bestehen, die immer wiederkehren. Beschrieben, begrifflich in Gedanken nachgebildet, kann nur werden, was gleichförmig, gesetz - mässig ist, denn die Beschreibung setzt die Anwendung von Namen für die Elemente voraus, welche nur bei immer wiederkehrenden Elementen verständlich sein können.

5. In der Mannigfaltigkeit der Naturvorgänge er - scheint manches gewöhnlich, anderes ungewöhnlich, ver - wirrend, überraschend, ja sogar dem Gewöhnlichen widersprechend. Solange dies der Fall ist, gibt es keine ruhige einheitliche Naturauffassung. Es entsteht somit die Aufgabe, die gleichartigen, bei aller Mannig - faltigkeit stets vorhandenen Elemente der Naturvorgänge aufzusuchen. Hierdurch wird einerseits die sparsamste, kürzeste Beschreibung und Mittheilung ermöglicht. Hat man sich andererseits die Fertigkeit erworben, diese gleichbleibenden Elemente in den mannigfaltigsten Vor - gängen wiederzuerkennen, sie in denselben zu sehen, so führt dies zur übersichtlichen, einheitlichen, widerspruchslosen und mühelosen Erfassung der Thatsachen. Hat man es dahin gebracht, überall dieselben wenigen einfachen Elemente zu bemerken, die sich in gewohnter Weise zusammenfügen, so treten uns diese als etwas Bekanntes entgegen, wir sind nicht mehr überrascht, es ist uns nichts mehr an den Erschei - nungen fremd und neu, wir fühlen uns in denselben zu Hause, sie sind für uns nicht mehr verwirrend, sondern erklärt. Es ist ein Anpassungsprocess der Gedanken an die Thatsachen, um den es sich hier handelt.

6. Die Oekonomie der Mittheilung und Auffassung gehört zum Wesen der Wissenschaft, in ihr liegt das6Einleitung.beruhigende, aufklärende und ästhetische Moment der - selben, und sie deutet auch unverkennbar auf den historischen Ursprung der Wissenschaft zurück. An - fänglich zielt alle Oekonomie nur unmittelbar auf Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse ab. Für den Handwerker und noch mehr für den Forscher wird die kürzeste, einfachste, mit den geringsten geistigen Opfern zu erreichende Erkenntniss eines bestimmten Gebietes von Naturvorgängen selbst zu einem ökonomischen Ziel, bei welchem, obgleich es ursprünglich Mittel zum Zweck war, wenn einmal die betreffenden geistigen Triebe ent - wickelt sind und ihre Befriedigung fordern, an das leibliche Bedürfniss gar nicht mehr gedacht wird.

Was also in den Naturvorgängen sich gleichbleibt, die Elemente derselben und die Art ihrer Verbindung, ihrer Abhängigkeit voneinander, hat die Naturwissen - schaft aufzusuchen. Sie bestrebt sich, durch die über - sichtliche und vollständige Beschreibung das Abwarten neuer Erfahrungen unnöthig zu machen, dieselben zu ersparen, indem z. B. vermöge der erkannten Abhängig - keit der Vorgänge voneinander, bei Beobachtung eines Vorganges die Beobachtung eines andern, dadurch schon mitbestimmten und vorausbestimmten, unnöthig wird. Aber auch bei der Beschreibung selbst kann Arbeit ge - spart werden, indem man Methoden aufsucht, möglichst viel auf einmal und in der kürzesten Weise zu be - schreiben. Alles dies wird durch die Betrachtung des Einzelnen viel klarer werden, als es durch allge - meine Ausdrücke erreicht werden kann. Doch ist es zweckmässig, auf die wichtigsten Gesichtspunkte hier schon vorzubereiten.

7. Wir wollen nun auf unsern Gegenstand näher eingehen und hierbei, ohne die Geschichte der Mechanik zur Hauptsache zu machen, die historische Entwickelung so weit beachten, als dies zum Verständniss der gegen - wärtigen Gestaltung der Mechanik nöthig ist, und als es den Zusammenhang in der Hauptsache nicht stört. Abgesehen davon, dass wir den grossen Anregungen7Einleitung.nicht aus dem Wege gehen dürfen, die wir von den bedeutendsten Menschen aller Zeiten erhalten können, und die zusammengenommen auch ausgiebiger sind, als sie die besten Menschen der Gegenwart zu bieten vermögen, gibt es kein grossartigeres, ästhetisch erheben - deres Schauspiel, als die Aeusserungen der gewaltigen Geisteskraft der grundlegenden Forscher. Noch ohne alle Methode, welche ja durch ihre Arbeit erst ge - schaffen wird, und die ohne Kenntniss ihrer Leistung immer unverstanden bleibt, fassen sie und bezwingen sie ihren Stoff, und prägen ihm die begrifflichen For - men auf. Jeder, der den ganzen Verlauf der wissen - schaftlichen Entwickelung kennt, wird natürlich viel freier und richtiger über die Bedeutung einer gegen - wärtigen wissenschaftlichen Bewegung denken als der - jenige, welcher, in seinem Urtheil auf das von ihm selbst durchlebte Zeitelement beschränkt, nur die augenblick - liche Bewegungsrichtung wahrnimmt.

[8]

ERSTES KAPITEL. Entwickelung der Principien der Statik.

1. Das Hebelprincip.

1. Die ältesten Untersuchungen über Mechanik, über welche wir Nachrichten haben, diejenigen der alten Griechen, bezogen sich auf die Statik, auf die Lehre vom Gleichgewicht. Auch als nach der Eroberung von Konstantinopel durch die Türken (1453) die flüchtigen Griechen durch die mitgebrachten alten Schriften im Abendlande neue Anregungen gaben, waren es Unter - suchungen über Statik, welche, hauptsächlich durch die Werke des Archimedes hervorgerufen, die bedeutendsten Forscher beschäftigten.

2. Archimedes von Syrakus (287 212 v. Chr.) hat eine Anzahl von Schriften hinterlassen, deren einige vollständig auf uns gekommen sind. Wir wollen uns zunächst einen Augenblick mit dem Buch De aequi ponderantibus beschäftigen, das Sätze über den Hebel und Schwerpunkt enthält.

In demselben geht er von folgenden, von ihm als selbstverständlich angesehenen Voraussetzungen aus:

a. Gleichschwere Grössen in gleicher Entfernung (vom Unterstützungspunkte) wirkend, sind im Gleich - gewicht.

b. Gleichschwere Grössen, in ungleicher Entfernung (vom Unterstüzungspunkte) wirkend, sind nicht im Gleichgewicht, sondern die in grösserer Entfernung wir - kende sinkt.

9Erstes Kapitel. Entwickelung der Principien der Statik.

Er leitet aus diesen Voraussetzungen den Satz ab:

Commensurable Grössen sind im Gleichgewicht, wenn sie ihrer Entfernung (vom Unterstützungspunkte) umgekehrt proportionirt sind.

Es scheint, als ob an diesen Voraussetzungen nicht mehr viel zu analysiren wäre; dem ist aber, wenn man genau zusieht, nicht so.

Wir denken uns eine Stange, von deren Gewicht wir absehen; dieselbe hat einen Unterstützungspunkt. (Fig. 2.) Wir hängen in gleicher Distanz von diesem zwei gleiche Gewichte an. Dass diese jetzt im Gleichge - wicht sind, ist eine Voraussetzung, von der Archimedes ausgeht. Man

Fig. 2.

könnte meinen, dies sei (nach dem sogenannten Satze des zureichenden Grundes), abgesehen von aller Erfah - rung selbstverständlich, es sei bei der Symmetrie der ganzen Vorrichtung kein Grund, warum die Drehung eher in dem einen, als in dem andern Sinne eintreten sollte. Man vergisst aber hierbei, dass in der Voraussetzung schon eine Menge negativer und positiver Erfahrungen liegen, die negativen z. B., dass ungleiche Farben der Hebel - arme, die Stellung des Beschauers, ein Vorgang in der Nachbarschaft u. s. w., keinen Einfluss haben, die posi - tiven hingegen (wie in Voraussetzung 2 sich zeigt), dass nicht nur die Gewichte, sondern auch die Entfernungen vom Stützpunkte für die Gleichgewichtsstörung maassgebend sind, dass sie bewegungsbestimmende Umstände sind. Mit Hülfe dieser Erfahrungen sieht man allerdings ein, dass die Ruhe (keine Bewegung) die einzige durch die be - wegungsbestimmenden Umstände eindeutig bestimmte Bewegung ist. 1Würde man z. B. annehmen, dass das Gewicht rechter Hand sinkt, so würde die Gegendrehung in gleicher Weise bestimmt, wenn der einflusslose Beschauer sich auf die ent - gegengesetzte Seite stellt.

Nun können wir aber unsere Kenntniss der maass -10Erstes Kapitel.gebenden Umstände nur dann für zureichend hal - ten, wenn die letzteren einen Vorgang eindeutig be - stimmen. Unter Voraussetzung der erwähnten Erfah - rung, dass nur die Gewichte und ihre Abstände maassgebend sind, hat nun der Satz 1 des Archi - medes wirklich einen hohen Grad von Evidenz und eignet sich also sehr zur Grundlage für weitere Unter - suchungen. Stellt sich der Beschauer selbst in die Sym - metrieebene der betreffenden Vorrichtung, so zeigt sich der Satz 1 auch als eine sehr zwingende instinctive Einsicht, was durch die Symmetrie unsers eigenen Kör - pers bedingt ist. Die Aufsuchung derartiger Sätze ist

Fig. 3.

Fig. 4.

auch ein vorzügliches Mittel, sich in den Gedanken an dieselbe Bestimmtheit zu gewöhnen, welche die Natur in ihren Vorgängen offenbart.

3. Wir wollen nun in freier Weise den Gedanken - gang reproduciren, durch welchen Archimedes den all - gemeinen Hebelsatz auf den speciellen anscheinend selbst - verständlichen zurückzuführen sucht. Die beiden in a und b aufgehängten gleichen Gewichte (1) sind, wenn die Stange ab um den Mittelpunkt c drehbar ist, im Gleichgewicht. Hängt man das Ganze an einer Schnur in c auf, so wird dieselbe, vom Gewicht der Stange abgesehen, das Gewicht 2 zu tragen haben. Die gleichen Gewichte an dem Ende ersetzen also das doppelte Gewicht in der Mitte der Stange.

An dem Hebel, dessen Arme sich wie 1: 2 verhalten, sind Gewichte im Verhältniss 2: 1 angehängt. Wir denken uns das Gewicht 2 durch 2 Gewichte 1 ersetzt,11Entwickelung der Principien der Statik.welche beiderseits in dem Abstand 1 von dem Auf - hängepunkte angebracht sind. Dann haben wir wieder vollkommene Symmetrie um den Aufhängepunkt und folglich Gleichgewicht.

An den Hebelarmen 3 und 4 hängen die Gewichte

Fig. 5.

4 und 3. Der Hebelarm 3 werde um 4, der Arm 4 um 3 verlängert, die Gewichte 4 und 3 beziehungs - weise durch 4 und 3 Paare symmetrisch angebrachter Gewichte ½ ersetzt, wie dies die Figur ersichtlich macht. Dann haben wir wieder vollkommene Symme - trie. Diese Betrachtung, die wir in speciellen Zah - len ausgeführt haben, kann leicht verallgemeinert werden.

4. Es ist interessant zu sehen, in welcher Art die Betrachtungsweise von Archimedes nach dem Vorgange von Stevin durch Galilei modificirt worden ist.

Galilei denkt sich ein horizontales homogenes schweres Prisma, und eine ebenso lange homogene Stange (Fig. 6),

Fig. 6.

an der das Prisma an seinen Enden aufge - hängt ist. Die Stange ist in der Mitte mit ei - ner Aufhängung ver - sehen. In diesem Falle wird Gleichgewicht be - stehen; das lässt sich sofort einsehen. In die - sem Falle ist aber je - der andere Fall enthalten. Galilei zeigt dies auf fol - gende Weise. Setzen wir, es wäre die ganze Länge der Stange oder des Prismas 2 (m+n). Wir schnei -12Erstes Kapitel.den nun das Prisma derart entzwei, dass das eine Stück die Länge 2m, das zweite 2n erhält. Wir können dies ohne Störung des Gleichgewichts thun, wenn wir zuvor die Enden der beiden Stücke hart an dem Schnitt durch Fäden an der Stange befestigen. Wir können nun auch alle vor - handenen Fäden entfernen, wenn wir zuvor die beiden Prismenstücke in deren Mitte an der Stange aufhängen. Da die ganze Länge der Stange 2 (m+n), so beträgt eine jede Hälfte m+n. Es ist also die Distanz des Auf - hängepunktes des rechten Prismenstückes vom Auf - hängepunkte der Stange n, des linken aber m. Die Erfahrung, dass es auf das Gewicht und nicht auf die

Fig. 7.

Form der Körper ankommt, ist leicht gemacht. Somit ist klar, dass das Gleichgewicht noch besteht, wenn irgendein Gewicht von der Grösse 2m auf einer Seite in der Entfernung n und irgendein Gewicht von der Grösse 2n auf der andern Seite in der Entfernung m aufgehängt wird. Die instinctiven Erkenntnisselemente treten bei dieser Ableitung noch mehr hervor als bei jener von Archimedes.

Man kann übrigens an dieser schönen Betrachtung noch einen Rest der Schwerfälligkeit erkennen, die be - sonders den Forschern des Alterthums eigen ist.

Wie ein neuerer Physiker dieselbe Sache aufgefasst hat, sehen wir an folgender Betrachtung von Lagrange. Er sagt: Wir denken uns ein homogenes horizontales Prisma in der Mitte aufgehängt. Dasselbe stellen wir uns in die Prismen von den Längen 2m und 2n ge - theilt vor. Beachten wir nun die Schwerpunkte dieser Stücke, in welchen wir uns Gewichte proportional 2m und 2n angreifend denken können, so haben dieselben die Abstände n und m vom Stützpunkt. Diese kurze13Entwickelung der Principien der Statik.Erledigung ist nur der geübten mathematischen An - schauung möglich.

5. Das Ziel, welches Archimedes und seine Nach - folger in den angeführten Betrachtungen anstreben, be - steht darin, den complicirtern Hebelfall auf den ein - fachern, anscheinend selbstverständlichen, zurückzu - führen, in dem complicirtern den einfachem zu sehen oder auch umgekehrt. In der That halten wir einen Vorgang für erklärt, wenn es uns gelingt, in demselben bekannte einfachere Vorgänge zu erblicken.

So überraschend uns nun auf den ersten Blick die Leistung von Archimedes und seinen Nachfolgern er - scheint, so steigen uns bei längerer Betrachtung doch Zweifel an der Richtigkeit derselben auf. Aus der blossen Annahme des Gleichgewichts gleicher Gewichte in gleichen Abständen wird die verkehrte Proportion zwischen Gewicht und Hebelarm abgeleitet! Wie ist das möglich?

Wenn wir schon die blosse Abhängigkeit des Gleich - gewichts vom Gewicht und Abstand überhaupt nicht aus uns herausphilosophiren konnten, sondern aus der Erfahrung holen mussten, um wie viel weniger werden wir die Form dieser Abhängigkeit, die Proportionalität auf speculativem Wege finden können.

Wirklich wird von Archimedes und allen Nachfolgern die Voraussetzung, dass die (gleichgewichtstörende) Wirkung eines Gewichts P im Abstande L von der Axe durch das Product P. L (das sogenannte statische Moment) gemessen sei, mehr oder weniger versteckt oder still - schweigend eingeführt. Wenn nämlich Archimedes ein grosses Gewicht durch eine Reihe paarweise symmetrisch angebrachter kleiner Gewichte, welche über den Stütz - punkt hinausgehen, ersetzt, so verwendet er die Lehre vom Schwerpunkt schon in ihrer allgemeinern Form, welche keine andere ist als die Lehre vom Hebel in ihrer allgemeinern Form.

Niemand vermag ohne die obige Annahme über die Bedeutung des Productes P. L nachzuweisen, dass eine14Erstes Kapitel.irgendwie auf die Stütze S gelegte Stange mit Hülfe eines in ihrem Schwerpunkte angebrachten über eine Rolle geführten Fadens durch ein ihrem eigenen Ge -

Fig. 8.

wichte gleiches Gewicht getragen wird. Das liegt aber in der Ab - leitung des Archimedes, Stevin, Galilei und Lagrange.

6. Huyghens tadelt auch dieses Verfahren und gibt eine andere Ableitung, in welcher er den Fehler vermieden zu ha - ben glaubt. Denken wir uns bei der Lagrange’schen Betrachtung die beiden Prismenstücke um durch ihre

Fig. 9.

Schwerpunkte s, s′ ge - legte verticale Axen um 90°gedreht (Fig. 9a), und weisen wir nach, dass hierbei das Gleichgewicht fortbesteht, so erhalten wir die Huyghens’sche Ableitung. Sie ist ge - kürzt und vereinfacht fol - gende. Wir ziehen (Fig. 9) in einer starren gewichts - losen Ebene durch den Punkt S eine Gerade, an welcher wir einerseits die Länge 1, anderer - seits 2 in A und B ab - schneiden. Auf die En - den legen wir senkrecht zu dieser Geraden, mit ihren Mitten, homogene, dünne, schwere Prismen CD und EF von den Längen und Gewichten 4 und 2. Ziehen wir die Gerade HSG (wobei AG = ½AC), und die Par - allele CF, und transportiren das Prismenstück CG durch Parallelverschiebung nach FH, so ist um die Axe GH15Entwickelung der Principien der Statik.alles symmetrisch und es herrscht Gleichgewicht. Gleich - gewicht herrscht aber auch für die Axe AB, folglich für jede Axe durch S, also auch für die zu AB Senk - rechte, womit der neue Hebelfall gegeben ist.

Fig. 9a.
Fig. 9a.

Hierbei wird nun scheinbar nichts vorausgesetzt, als dass gleiche Gewichte p, p in einer Ebene und in gleichen

Fig. 10.

Fig. 11.

Abständen l, l von einer Axe AA1 (in dieser Ebene) sich das Gleichgewicht halten. Stellt man sich in die durch AA senkrecht zu l, l gelegte Ebene etwa in den16Erstes Kapitel.Punkt M und sieht man einmal nach A, dann nach A1 hin, so gesteht man diesem Satz dieselbe Evidenz zu wie dem Archimedes’schen Satz 1. Die Verhältnisse werden auch nicht geändert, wenn man Parallelver - schiebungen zur Axe mit den Gewichten vornimmt, was Huyghens auch thut.

Der Fehler entsteht auch erst durch den Schluss: Wenn für 2 Axen der Ebene Gleichgewicht besteht, so besteht es auch für jede andere durch deren Durch - schnittspunkt geführte Axe. Dieser Schluss (soll er nicht ein blos instinctiver sein) kann nur gemacht wer - den, wenn den Gewichten ihren Entfernungen von der Axe proportionale störende Wirkungen zugeschrieben werden. Darin liegt aber der Kern der Lehre vom Hebel und Schwerpunkt.

Wir beziehen die schweren Punkte einer Ebene auf ein rechtwinkeliges Coordinatensystem (Fig. 11). Die Coordinaten des Schwerpunktes eines Systems von Massen mm′m″ mit den Coordinaten xx′x″ yy′y″ sind bekanntlich: 〈…〉

Drehen wir das Coordinatensystem um den Winkel[α], so sind die neuen Coordinaten der Massen 〈…〉 und folglich die Coordinaten des Schwerpunktes 〈…〉 und analog 〈…〉

Wir erhalten also die Coordinaten des neuen Schwer - punktes, indem wir die Coordinaten des frühern auf die neuen Axen einfach transformiren. Der Schwer - punkt bleibt also derselbe Punkt. Legen wir den17Entwickelung der Principien der Statik.Anfangspunkt in den Schwerpunkt, so wird 〈…〉 . Bei Drehung des Axensystems bleibt dies Verhältniss bestehen. Wenn also für zwei zuein - ander senkrechte Axen der Ebene Gleichgewicht besteht, so besteht es auch, und nur dann besteht es auch, für jede andere Axe durch den Durchschnittspunkt. Folg - lich, wenn für irgend zwei Axen der Ebene Gleichge - wicht besteht, so besteht es auch für jede andere Axe der Ebene, welche durch deren Durchschnittspunkt geht.

Diese Schlüsse sind aber unausführbar, wenn die Co - ordinaten des Schwerpunktes durch eine andere all - gemeinere Gleichung, etwa 〈…〉 bestimmt sind.

Die Huyghens’sche Schlussweise ist also unzulässig, und enthält denselben Fehler, welchen wir bei Archi - medes bemerkten.

Fig. 12.

Archimedes hat sich bei dem Streben, den compli - cirtern Hebelfall auf den instinctiv zu überblickenden zurückzuführen, wahrscheinlich getäuscht, indem er schonMach. 218Erstes Kapitel.vorher über den Schwerpunkt mit Hülfe des zu be - weisenden Satzes gemachte Studien unwillkürlich verwendete. Charakteristisch ist, dass er sich und viel - leicht auch andern die sich leicht darbietende Be - merkung über die Bedeutung des Products P·L nicht glauben will, und eine weitere Begründung sucht.

Thatsächlich kommt man nun, wenigstens auf dieser Stufe, nicht zum Verständniss des Hebels, wenn man nicht das Product P·L als das bei der Gleichgewichts - störung Maassgebende in den Vorgängen erschaut. Insofern Archimedes in seiner griechischen Beweissucht dies zu umgehen trachtet, ist seine Ableitung verfehlt. Betrachtet man aber auch die Bedeutung von P·L als gegeben, so behalten die Archimedes’schen Ableitungen immer noch einen beträchtlichen Werth, insofern die Auffassungen verschiedener Fälle aneinander gestützt werden, insofern gezeigt wird, dass ein einfacher Fall alle andern enthält, insofern dieselbe Auffassung für alle Fälle hergestellt wird. Denken wir uns ein ho - mogenes Prisma, dessen Axe AB sei, in der Mitte C gestützt. Um die für die Gleichgewichtsstörung maass - gebende Summe der Producte der Gewichte und Ab - stände anschaulich zu machen, setzen wir auf den Ele - menten der Axe, welche den Gewichtselementen pro - portional sind, die zugehörigen Abstände als Ordinaten auf, welche wir etwa rechts von C (als positiv) nach aufwärts, links von C (als negativ) nach abwärts auf - tragen. Die Flächensumme der beiden Dreiecke ACD+CBE = o veranschaulicht uns das Bestehen des Gleichgewichts. Theilen wir das Prisma durch M in zwei Theile, so können wir MTEB durch das Recht - eck MUWB uud TMCAD durch das Rechteck MVXA ersetzen, wobei TP = ½TE und TR = ½TD ist, und die Prismenstücke MB, MA durch Drehung um Q und S zu AB senkrecht gestellt zu denken sind.

In der hier angedeuteten Richtung ist die Archi - medes’sche Betrachtung gewiss noch nützlich gewesen, als schon niemand mehr über die Bedeutung des Pro -19Entwickelung der Principien der Statik.ducts P·L Zweifel hegte, und die Meinung hierüber sich schon historisch und durch vielfache Controlirung fest - gestellt hatte.

7. Die Art nun, wie die Hebelgesetze, welche uns von Archimedes in einfacher Form überliefert worden sind, von den modernen Physikern weiter verallgemeinert und behandelt wurden, ist sehr interessant und lehrreich. Leonardo da Vinci (1452 1519), der berühmte Maler und Forscher, scheint der erste gewesen zu sein, der die Wichtigkeit des allgemeinen Begriffes der sogenannten sta - tischen Momente gekannt hat. In seinen hinterlassenen Manuscripten finden sich mehrere Stellen, aus welchen dies

Fig. 13.

hervorgeht. Er sagt z. B.: Wir setzen eine um A drehbare Stange AD, an derselben ein Gewicht P an - gehängt, und an einer Schnur, die über eine Rolle geht, ein zweites Gewicht Q (Fig. 13). Welches Verhältniss müssen die Kräfte einhalten, damit Gleichgewicht bestehe? Der Hebelarm für das Gewicht P ist nicht AD, son - dern der potenzielle Hebel ist AB. Der Hebel - arm für das Gewicht Q ist nicht AD, sondern der potenzielle Hebel ist AC. Auf welche Weise er zu dieser Anschauung gekommen ist, lässt sich aller - dings schwer angeben. Es ist aber klar, dass er er - kannt hat, wodurch die Wirkung der Gewichte be - stimmt ist.

2*20Erstes Kapitel.

Aehnliche Ueberlegungen wie bei Leonardo da Vinci finden wir bei Guido Ubaldi.

Fig. 14.

8. Wir wollen versuchen, uns klar zu machen, auf welche Weise man zum Begriff des statischen Mo - mentes, unter welchem be - kanntlich das Product ei - ner Kraft und der auf die Richtung derselben von der Axe aus gezogenen Senk - rechten verstanden wird, hätte kommen können, wenn auch der Weg, welcher zu demselben geführt hat, nicht mehr vollständig zu er - mitteln ist. Dass Gleichgewicht besteht, wenn man eine Schnur mit beiderseits gleicher Spannung über eine Rolle legt, wird unschwer eingesehen. Man findet immer eine Symmetrieebene der ganzen Vorrichtung, die Ebene,

Fig. 15.

Fig. 16.

welche auf der Schnurebene senkrecht steht und den Schnurwinkel halbirt (EE). Die Bewegung, welche hier noch eintreten könnte, liesse sich durch keine Regel eindeutig bestimmen, sie wird also auch nicht eintreten. Bemerkt man nun ferner, dass das Material der Rolle nur insofern wesentlich ist, als es die Art der Beweg - lichkeit der Angriffspunkte der Schnüre bestimmt, so sieht man leicht, dass ohne Gleichgewichtsstörung auch ein beliebiger Theil der Rolle fehlen kann. Wesentlich bleiben nur die starren Radien, welche zu den Tangen -21Entwickelung der Principien der Statik.tialpunkten der Schnur führen. Man sieht also, dass die starren Radien (oder Senkrechten auf die Schnur - richtungen) hier eine ähnliche Rolle spielen wie die Hebelarme beim Hebel des Archimedes.

Betrachten wir ein sogenanntes Wellrad mit dem Radradius 2 und dem Wellenradius 1, und beziehungs - weise mit den Belastungen 1 und 2, so entspricht dasselbe vollständig dem Hebel des Archimedes. Legen wir noch in beliebiger Weise um die Welle eine zweite Schnur, welche wir beiderseits durch das Gewicht 2 spannen, so stört dieselbe das Gleichgewicht nicht. Es ist aber klar, dass wir auch die beiden in der Fig. 16 bezeichneten Züge als sich das Gleichgewicht haltend ansehen können, indem wir die beiden andern, als sich gegenseitig zerstörend, nicht weiter beachten. Hiermit sind wir aber, von allem Unwesentlichen absehend, zu der Einsicht gelangt, dass nicht nur die durch die Gewichte ausgeübten Züge, sondern auch die auf die Richtungen derselben vom Drehpunkte aus gefällten Senkrechten bewegungsbestimmende Umstände sind. Maassgebend sind die Producte aus den Gewichten und den zugehörigen Senkrechten, welche von der Axe aus auf die Richtungen der Züge gefällt werden, also die sogenannten statischen Momente.

9. Was wir bisher betrachtet haben, ist die Ent - wickelung der Erkenntniss des Hebelprincips; ganz unabhängig davon ent - wickelte sich die Erkennt - niss des Princips der schie - fen Ebene. Man hat aber nicht nöthig, für das Ver - ständniss der Maschinen nach einem neuen Princip ausser dem des Hebels zu suchen, da dieses für sich

Fig. 17.

ausreicht. Galilei erläutert z. B. die schiefe Ebene in folgender Art durch den Hebel: Wir betrachten eine schiefe Ebene, auf dieser das Gewicht Q und dasselbe22Erstes Kapitel.im Gleichgewichte gehalten durch das Gewicht P (Fig. 17). Galilei lässt nun durchblicken, dass es nicht darauf an - kommt, dass Q gerade auf der schiefen Ebene liege, dass das Wesentliche vielmehr die Art der Beweglichkeit von Q ist. Wir können uns also das Gewicht auch an der zur Ebene senkrechten Stange AC, die um C drehbar ist, angebracht denken; wenn wir nämlich dann nur eine sehr kleine Drehung vornehmen, so ist das Ge - wicht in einem Bogenelemente, das in die schiefe Ebene fällt, beweglich. Dass sich die Bahn krümmt, wenn man weiter geht, hat keinen Einfluss, weil jene Weiterbewegung im Gleichgewichtsfall nicht wirklich erfolgt, und nur die momentane Beweglichkeit maass - gebend ist. Halten wir uns aber die früher besprochene Bemerkung von Leonardo da Vinci vor Augen, so sehen wir leicht die Gültigkeit des Satzes Q·CB = P·CA 〈…〉 und damit das Gleichgewichtsgesetz der schiefen Ebene ein. Hat man also das Hebel - princip erkannt, so kann man es leicht zur Erkenntniss der andern Maschinen verwenden.

2. Das Princip der schiefen Ebene.

1. Stevin (1548 1620) untersuchte zuerst die mechani - schen Eigenschaften der schiefen Ebene und zwar auf eine

Fig. 18.

ganz originelle Weise. Liegt ein Gewicht auf einem horinzonta - len Tisch, so sieht man, weil der Druck senkrecht gegen die Ebene des Tisches ist, nach dem bereits mehrfach verwendeten Symme - trieprincip das Bestehen des Gleichgewichts sofort ein. An einer verticalen Wand hingegen wird ein Gewicht an seiner Fallbewegung gar nicht gehindert. Die schiefe Ebene wird also einen Mittel - fall zwischen den beiden Grenzfällen darbieten. Das23Entwickelung der Principien der Statik.Gleichgewicht wird nicht von selbst bestehen, wie auf der horizontalen Unterlage, es wird aber durch ein ge - ringeres Gegengewicht zu erhalten sein, als an der verticalen Wand. Das statische Gesetz zu ermitteln, welches hier besteht, bereitete den ältern Forschern beträchtliche Schwierigkeiten.

Fig. 19.
Fig. 20.

Stevin geht etwa in folgender Art vor. Er denkt sich ein dreiseitiges Prisma mit horizontalen Kanten, dessen Querschnitt ABC in der Fig. 19 dargestellt ist. Hierbei soll beispielsweise AB = 2BC und AC hori - zontal sein. Um dieses Prisma legt Stevin eine in sich zurücklaufende Schnur mit 14 gleich schweren gleich weit abstehenden Kugeln. Wir können dieselbe mit Vortheil durch eine geschlossene gleichmässige Kette oder Schnur ersetzen. Die Kette wird entweder im24Erstes Kapitel.Gleichgewichte sein oder nicht. Nehmen wir das letztere an, so muss die Kette, weil sich bei ihrer Be - wegung die Verhältnisse nicht ändern, wenn sie ein - mal in Bewegung ist, fortwährend in Bewegung blei - ben, also ein Perpetuum mobile darstellen, was Stevin absurd erscheint. Demnach ist nur der erste Fall denk - bar. Die Kette bleibt im Gleichgewicht. Dann kann der symmetrische Kettentheil ADC ohne Störung des Gleichgewichtes entfernt werden. Es hält also das Kettenstück AB dem Kettenstück BC das Gleichge - wicht. Auf schiefen Ebenen von gleicher Höhe wirken demnach gleiche Gewichte im umgekehrten Verhältniss der Längen der schiefen Ebenen.

Denken wir uns in dem Prismenquerschnitt Fig. 20 AC horizontal, BC vertical und AB = 2BC, ferner die den Längen proportionalen Kettengewichte auf AB und BC Q und P, so folgt 〈…〉 . Die Verallgemei - nerung ist selbstverständlich.

2. In der Annahme, von welcher Stevin ausgeht, dass die geschlossene Kette sich nicht bewegt, liegt ohne Frage zunächst nur eine ganz instinctive Erkennt - niss. Er fühlt sofort, und wir mit ihm, dass wir etwas einer derartigen Bewegung Aehnliches nie beobachtet, nie gesehen haben, dass dergleichen nicht vorkommt. Diese Ueberzeugung hat eine solche logische Gewalt, dass wir die hieraus gezogene Folgerung über das Gleichgewichtsgesetz der schiefen Ebene ohne Wider - rede annehmen, während uns das Gesetz als blosses Ergebniss des Versuches oder auf eine andere Art dar - gelegt zweifelhaft erscheinen würde. Dies kann uns nicht befremden, wenn wir bedenken, dass jedes Versuchs - ergebniss durch fremdartige Umstände (Reibung) getrübt, und jede Vermuthung über die maassgebenden Umstände dem Irrthum ausgesetzt ist. Dass Stevin einer solchen instinctiven Erkenntniss eine höhere Autorität zuer - kennt als seiner einfachen klaren directen Beobachtung, könnte uns in Verwunderung versetzen, wenn wir selbst25Entwickelung der Principien der Statik.nicht die gleiche Empfindung hätten. Es drängt sich uns also die Frage auf: Woher kommt diese höhere Autorität? Erinnern wir uns, dass der wissenschaft - liche Beweis, die ganze wissenschaftliche Kritik nur aus der Erkenntniss der eigenen Fehlbarkeit der Forscher hervorgegangen sein kann, so liegt die Aufklärung nicht weit. Wir fühlen deutlich, dass wir selbst zu dem Zustandekommen einer instinctiven Erkenntniss nichts beigetragen, dass wir nichts willkürlich hineingelegt haben, sondern dass sie ganz ohne unser Zuthun da ist. Das Mistrauen gegen unsere eigene subjective Auffassung des Beobachteten fällt also weg.

Die Stevin’sche Ableitung ist eine der werthvollsten Leitmuscheln in der Urgeschichte der Mechanik und wirft ein wunderbares Licht auf den Bildungsprocess der Wissenschaft, auf die Entstehung derselben aus in - stinctiven Erkenntnissen. Wir erinnern uns, dass Archi - medes ganz die gleiche Tendenz wie Stevin, nur mit viel weniger Glück verfolgt. Auch später noch wer - den instinctive Erkenntnisse häufig zum Ausgangspunkt von Untersuchungen genommen. Ein jeder Experimen - tator kann täglich an sich beobachten, wie er durch instinctive Erkenntnisse geleitet wird. Gelingt es ihm, begrifflich zu formuliren, was in denselben liegt, so hat er in der Regel einen erheblichen Fortschritt ge - macht.

Stevin’s Vorgang ist kein Fehler. Läge darin auch ein Fehler, so würden wir ihn alle theilen. Ja es ist sogar gewiss, dass nur die Verbindung des stärksten Instincts mit der grössten begrifflichen Kraft den grossen Naturforscher ausmacht. Dies nöthigt uns aber keines - wegs, aus dem Instinctiven in der Wissenschaft eine neue Mystik zu machen, und dasselbe etwa für unfehl - bar zu halten. Dass letzteres nicht zutrifft, erfährt man sehr leicht. Selbst instinctive Erkenntnisse von so grosser logischer Kraft wie das von Archimedes ver - wendete Symmetrieprincip können irreführen. Mancher Leser wird sich vielleicht erinnern, welche geistige Er -26Erstes Kapitel.schütterung es ihm verursachte, als er zum ersten mal hörte, dass eine im magnetischen Meridian liegende Magnetnadel durch einen über derselben parallel hinge - führten Stromleiter in einem bestimmten Sinne aus dem Meridian abgelenkt wird. Das Instinctive ist ebenso fehlbar wie das klar Bewusste. Es hat vor allem nur Werth auf einem Gebiet, mit welchem man sehr ver - traut ist.

Stellen wir uns, statt Mystik zu treiben, lieber die Frage: Wie entstehen instinctive Erkenntnisse, und was liegt in ihnen? Was wir an der Natur beobachten, prägt sich auch unverstanden und unanalysirt in unsern Vorstellungen aus, welche dann in den allgemeinsten und stärksten Zügen die Naturvorgänge nachahmen. Wir besitzen nun in diesen Erfahrungen einen Schatz, der immer bei der Hand ist, und von welchem nur der kleinste Theil in den klaren Gedankenreihen enthalten ist. Der Umstand, dass wir diese Erfahrungen leichter ver - wenden können als die Natur selbst, und dass sie doch im angedeuteten Sinn frei von Subjectivität sind, ver - leiht ihnen einen hohen Werth. Es liegt in der Eigen - thümlichkeit der instinctiven Erkenntniss, dass sie vor - wiegend negativer Natur ist. Wir können nicht sowol sagen, was vorkommen muss, als vielmehr nur was nicht vorkommen kann, weil nur letzteres mit der unklaren Erfahrungsmasse, in welcher man das Einzelne nicht unterscheidet, in grellem Gegensatz steht.

Legen wir den instinctiven Erkenntnissen auch einen hohen heuristischen Werth bei, so dürfen wir auf unserm Standpunkte doch bei der Anerkennung ihrer Autorität nicht stehen bleiben. Wir müsssn vielmehr fragen: Unter welchen Bedingungen konnte die gegebene instinctive Erkenntniss entstehen? Gewöhnlich finden wir dann, dass dasselbe Princip, zu dessen Begründung wir die instinctive Erkenntniss herangezogen haben, wieder die Grundbedingung für das Entstehen dieser Erkenntniss bildet. Das ist auch ganz unverfänglich. Die instinc - tive Erkenntniss leitet uns zu dem Princip, welches sie27Entwickelung der Principien der Statik.selbst erklärt, und welches durch deren Vorhandensein, das ja eine Thatsache für sich ist, wieder gestützt wird. So verhält es sich auch, wenn man genau zusieht, in dem Stevin’schen Fall.

3. Die Betrachtung von Stevin erscheint uns so geistreich, weil das Resultat, zu welchem er gelangt, mehr zu enthalten scheint, als die Voraussetzung, von welcher er ausgeht. Während wir einerseits das Resul - tat zur Vermeidung von Widersprüchen gelten lassen müssen, bleibt andererseits ein Reiz übrig, der uns an - treibt, nach weiterer Einsicht zu streben. Hätte Stevin die ganze Thatsache nach allen Seiten klar gelegt, wie dies später Galilei gethan hat, so würde uns seine Ueberlegung nicht mehr geistreich erscheinen, wir wür - den aber einen viel mehr befriedigenden und klaren Ein - blick erhalten. In der geschlossenen Kette, welche auf dem Prisma nicht gleitet, liegt in der That schon alles. Wir könnten sagen, die Kette gleitet nicht, weil hier - bei kein Sinken der schweren Körper eintritt. Dies wäre nicht genau, denn manche Kettenglieder sinken wirklich bei der Bewegung der Kette, während andere dafür steigen. Wir müssen also genauer sagen, die Kette gleitet nicht, weil für jeden Körper, der sinken könnte, ein gleich schwerer, gleich hoch, oder ein Kör - per von doppeltem Gewicht zur halben Höhe u. s. w. steigen müsste. Dieses Verhältniss war Stevin, der es auch in seiner Lehre von den Rollen darlegte und be - nutzte, bekannt; er war aber offenbar zu mistrauisch gegen sich, das Gesetz auch ohne weitere Stütze als für die schiefe Ebene gültig hinzustellen. Bestünde aber ein solches Gesetz nicht allgemein, so hätte die instinctive Erkenntniss bezüglich der geschlossenen Kette gar nie entstehen können. Hiermit sind wir vollständig aufgeklärt. Dass Stevin in seinen Ueber - legungen nicht so weit gegangen ist, und sich damit begnügt hat, seine (indirect gefundenen) Begriffe mit seinem instinctiven Denken in Uebereinstimmung zu bringen, braucht uns nicht weiter zu stören.

28Erstes Kapitel.

Der Dienst, den Stevin sich und seinen Lesern leistet, besteht also darin, dass er verschiedene theils instinc - tive, theils klare Erkenntnisse gegeneinander hält, mit - einander in Verbindung und Einklang bringt, aneinander

Fig. 21.

stützt. Welche Stärkung seiner Anschauungen aber Stevin durch dieses Verfahren gewonnen hat, sehen wir aus dem Umstande, dass das Bild der geschlossenen Kette auf dem Prisma als Titelvignette sein Werk (Hypomnemata mathematica, Leyden 1605) ziert mit29Entwickelung der Principien der Statik.der Umschrift: Wonder en is gheen wonder . Wirk - lich ist jeder aufklärende wissenschaftliche Fort - schritt mit einem gewissen Gefühl von Enttäuschung verbunden. Wir erkennen, dass was uns wunderbar erschienen ist, nicht wunderbarer ist, als anderes, das wir instinctiv kennen und für selbstverständlich halten, ja dass das Gegentheil viel wunderbarer wäre, dass überall dieselbe Thatsache sich ausspricht. Unser Pro - blem erweist sich dann als gar kein Problem mehr, es zer - fliesst in Nichts, und geht unter die historischen Schatten.

4. Nachdem Stevin das Princip der schiefen Ebene gewonnen hatte, wurde es ihm leicht, dasselbe auch auf die übrigen Maschinen anzuwenden, und diese dadurch zu erläutern. Er macht hiervon z. B. auch folgende An - wendung.

Wir hätten eine schiefe Ebene, und denken uns auf dieser die Last Q, ziehen einen Faden über eine Rolle A, und denken uns die Last Q durch die Last P im Gleichgewicht gehal - ten. Stevin nimmt nun einen ähnlichen Weg, wie ihn Galilei später eingeschlagen. Er bemerkt, es sei nicht nothwendig, dass die Last Q auf der schiefen Ebene liege. Wenn nur die Art ihrer Beweglich -

Fig. 22.

keit beibehalten wird, so bleibt auch das Verhältniss von Kraft und Last dasselbe. Wir können uns also die Last auch angebracht denken an einem Faden, der über eine Rolle D geführt wird und den wir entsprechend belasten, und zwar ist dieser Faden normal gegen die schiefe Ebene. Führen wir dies aus, so haben wir eigentlich eine sogenannte Seilmaschine vor uns. Nun sehen wir, dass wir den Gewichtsantheil, mit dem der Körper auf der schiefen Ebene nach abwärts strebt, sehr30Erstes Kapitel.leicht ermitteln können. Wir brauchen nämlich nur eine Verticale zu ziehen, und auf dieser ein der Last Q ent - sprechendes Stück ab aufzutragen. Ziehen wir nachher auf aA die Senkrechte bc, so haben wir 〈…〉 , es stellt also ac die Spannung der Schnur aA vor. Nun hindert uns nichts, die beiden Schnüre ihre Function in Gedanken wechseln zu lassen, und uns die Last Q auf der (punktirt dargestellten) schiefen Ebene EDF liegend zu denken. Dann finden wir analog ad für die Spannung R des zweiten Fadens. Stevin gelangt also auf diese Weise indirect zur Kenntniss des stati - schen Verhältnisses der Seilmaschine und des sogenann - ten Kräftenparallelogramms, freilich zunächst nur für den speciellen Fall gegeneinander senkrechter Schnüre (oder Kräfte) ac, ad.

Allerdings verwendet Stevin später das Princip der Zusammensetzung und Zerlegung der Kräfte in allge - meinerer Form; doch ist der Weg, auf dem er hierzu

Fig. 23.

Fig. 24.

gelangt, nicht recht deutlich oder wenigstens nicht über - sichtlich. Er bemerkt z. B., dass bei drei unter be - liebigen Winkeln gespannten Schnüren AB, AC, AD, an deren ersterer die Last P hängt, die Spannungen auf folgende Art ermittelt werden können. Man verlängert (Fig. 23) AB nach X und trägt darauf ein Stück AE31Entwickelung der Principien der Statik.ab. Zieht man von E aus EF parallel zu AD und EG parallel zu AC, so sind die Spannungen von AB, AC, AD beziehungsweise pro - portional AE, AF, AG.

Mit Hülfe dieses Construc - tionsprincips löst er dann schon recht complicirte Auf - gaben. Er bestimmt z. B. die Spannungen an einem System

Fig. 25.

von verzweigten Schnüren Fig. 24, wobei er selbstver - ständlich von der gegebenen Spannung der verticalen Schnur ausgeht.

Die Spannungsverhältnisse an einem Seilpolygon wer - den ebenfalls durch Construction ermittelt, wie dies in Fig. 25 angedeutet ist.

Man kann also mit Hülfe des Princips der schiefen Ebene in ähnlicher Weise die Verhältnisse der übrigen einfachen Maschinen aufzuklären suchen, als dies durch das Princip des Hebels versucht worden ist.

3. Das Princip der Zusammensetzung der Kräfte.

1. Der Satz des Kräftenparallelogramms, zu dem Stevin gelangt und welchen er verwendet, ohne ihn übrigens ausdrücklich zu formuliren, besteht bekannt - lich in Folgendem. Wenn ein Körper A von zwei Kräften ergriffen wird, deren Richtungen mit den Linien AB und AC zusammenfallen und deren Grössen den Längen AB, AC proportional sind, so sind beide Kräfte in ihrer Wirkung durch eine einzige Kraft ersetzbar, welche nach der Diagonale AD des Paralle - logramms ABCD wirkt und derselben proportionnl ist. Würden also z. B. an

Fig. 26.

Schnüren AB, AC Gewichte ziehen, welche den Längen32Erstes Kapitel.AB, AC proportional wären, so würde ein an der Schnur AD ziehendes der Länge AD proportionales Gewicht deren Wirkung ersetzen. Die Kräfte AB und AC werden die Componenten, AD die Resultirende genannt. Selbstverständlich ist auch umgekehrt eine Kraft durch zwei oder mehrere Kräfte ersetzbar.

2. Wir wollen an Stevin’s Untersuchungen an - knüpfend uns vergegenwärtigen, auf welche Weise man zu dem allgemeinen Satz des Kräftenparallelogramms hätte gelangen können. Die von Stevin gefundene Beziehung zweier zueinander rechtwinkeligen Kräfte zu einer dritten ihnen das Gleichgewicht haltenden setzen wir als (indirect) gegeben voraus. Wir nehmen an, es wir - ken an drei Schnüren OX, OY, OZ Züge, welche sich das Gleichgewicht halten. Versuchen wir diese Züge zu bestimmen. Jeder Zug hält den beiden andern das Gleichgewicht. Den Zug OY ersetzen wir (nach dem Stevin’schen Princip) durch zwei rechtwinkelige Züge nach Ou (der Verlängerung von OX) und senkrecht dazu nach Ov. Ebenso zerlegen wir den Zug OZ nach

Fig. 27.

Ou und Ow. Die Summe der Züge nach Ou muss dem Zuge OX das Gleichgewicht halten, während die Züge nach Ov und Ow sich zerstören müssen. Nehmen wir letztere gleich und entgegenge - setzt, stellen sie durch Om, On dar, so be - stimmen sich dadurch die Componenten Op, Oq parallel Ou, sowie die Züge Or, Os. Die Summe Op+Oq ist gleich und entgegenge - setzt dem Zuge nach OX. Ziehen wir st parallel OY,33Entwickelung der Principien der Statik.oder rt parallel OZ, so schneiden beide Linien das Stück Ot = Op+Oq ab, und damit ist das allgemeinere Princip des Kräftenparallelo - gramms gefunden.

Noch auf eine andere Art kann man aus der Zusammen - setzung rechtwinkeliger Kräfte die allgemeinere Zusammen -

Fig. 28.

setzung ableiten. Es seien OA und OB die beiden an O angreifenden Kräfte. Wir ersetzen OB durch eine parallel zu OA wirkende Kraft OC und eine zu OA senkrechte OD. Dann wirken für OA und OB die bei - den Kräfte OE = OA+OC und OD, deren Resul - tirende OF zugleich auch die Diagonale des über OA, OB construirten Parallelogramms OAFB ist.

3. Der Satz des Kräftenparallelogramms stellt sich, wenn man auf dem Wege Stevin’s zu demselben gelangt, als etwas indirect Gefundenes dar. Er zeigt sich als eine Folge und als Bedingung bekannter Thatsachen. Man sieht aber nur, dass er besteht, noch nicht warum er besteht, d. h. man kann ihn nicht (wie in der Dynamik) auf noch einfachere Sätze zurückführen. In der Statik gelangte der Satz zu eigentlicher Geltung auch erst durch Varignon, als die Dynamik, welche direct zu dem Satze führt, bereits so weit fortge - schritten war, dass eine Entlehnung desselben ohne Schwierigkeit statt - finden konnte. Der Satz des Kräften - parallelogramms wurde zuerst von Newton in seinen Principien der Natur - philosophie klar ausgesprochen. Im selben Jahre hat auch Varignon un - abhängig von Newton in einem der Pariser Akademie vorgelegten, aber erst nach Varignon’s Tode gedruckten Werke den Satz ausgesprochen, und mit Hülfe

Fig. 29.

eines geometrischen Theorems zur Verwendung gebracht.

Mach. 334Erstes Kapitel.

Der geometrische Satz ist folgender: Wenn wir ein Parallelogramm betrachten, dessen Seiten p und q, dessen Diagonale r ist, und wir ziehen von irgendeinem Punkte m der Ebene des Parallelogramms Senkrechte auf diese drei Geraden, die wir mit u, v und w bezeichnen, so ist p·u+q·v = r·w. Dies ist leicht nachzu - weisen, wenn man von m aus Gerade zu den End - punkten der Diagonale und der Parallelogrammseiten zieht, und die Flächen der so entstandenen Dreiecke betrachtet, welche den Hälften jener Producte ent - sprechen. Wenn man m in das Parallelelogramm hin - einlegt, und jetzt Senkrechte zieht, so übergeht der Satz in die Form: p·u q·v = r·w. Fällt endlich m in die Richtung der Diagonale und ziehen wir jetzt Senkrechte, so ist, da die Senkrechte auf die Dia - gonale die Länge Null hat: p·u q·v = o oder p·u = q·v.

Mit Hülfe der Bemerkung, dass die Kräfte den von ihnen in gleichen Zeiten hervorgebrachten Bewegungen

Fig. 30.

Fig. 31.

proportionirt sind, gelangt Varignon leicht von der Zu - sammensetzung der Bewegungen zur Zusammensetzung der Kräfte. Kräfte, welche auf einen Punkt wirkend, der Grösse und Richtung nach durch die Parallelogrammseiten dar -35Entwickelung der Principien der Statik.gestellt werden, sind durch eine Kraft ersetzbar, welche in gleicher Weise durch die Diagonale des Parallelo - gramms dargestellt ist.

Stellen nun in dem obigen Parallelogramm p, q die zusammenwirkenden Kräfte (Componenten) und r die Kraft vor, welche beide zu ersetzen vermag (die Resultirende), so heissen die Producte pu, qv, rw Momente dieser Kräfte in Bezug auf den Punkt m. Liegt der Punkt m in der Richtung der Resultirenden, so sind für ihn die beiden Momente pu und qv ein - ander gleich.

4. Mit Hülfe dieses Satzes kann nun Varignon die Maschinen in viel einfacherer Weise behandeln, als dies seine Vorgänger zu thun vermochten. Betrachten wir z. B. einen starren Körper (Fig. 31), der um eine durch O hindurchgehende Axe drehbar ist. Wir legen zu der - selben eine senkrechte Ebene, und wählen darin zwei Punkte A, B, an welchen in der Ebene die Kräfte P, Q angreifen. Wir erkennen mit Varignon, dass die Wir - kung der Kräfte nicht geändert wird, wenn die An - griffspunkte derselben in der Kraftrichtung verschoben werden, da ja alle Punkte derselben Richtung miteinander in starrer Verbindung sind und einer den andern drückt und zieht. Demnach können wir P irgendwo in der Rich - tung AX, Q irgendwo in der Richtung BY, also auch im Durchschnittspunkte M angreifen lassen. Wir con - struiren mit den nach M verschobenen Kräften ein Parallelogramm und ersetzen die Kräfte durch deren Resultirende. Auf die Wirkung derselben kommt es nun allein an. Greift sie an beweglichen Punkten an, so besteht kein Gleichgewicht. Geht aber deren Rich - tung durch die Axe, durch den Punkt O hindurch, welcher nicht beweglich ist, so kann auch keine Be - wegung eintreten, es besteht Gleichgewicht. Im letztern Falle ist nun O ein Punkt der Resultirenden, und wenn wir von demselben auf die Richtungen der Kräfte p, q die Senkrechten u und v fällen, so ist nach dem er - wähnten Satze p·u = q·v. Wir haben hiermit das3*36Erstes Kapitel.Hebelgesetz aus dem Satze des Kräftenparallelogramms abgeleitet.

In ähnlicher Weise erklärt Varignon andere Gleich - gewichtsfälle aus der Aufhebung der Resultirenden durch irgendein Hinderniss. An der schiefen Ebene z. B. besteht Gleichgewicht, wenn die Resultirende senk - recht gegen die Ebene ausfällt. Die ganze Statik Varignon’s ruht in der That auf dynamischer Grund - lage, sie ist für ihn ein specieller Fall der Dynamik. Immer schwebt ihm der allgemeinere dynamische Fall vor und er beschränkt sich in der Untersuchung frei - willig auf den Gleichgewichtsfall. Wir haben es mit einer dynamischen Statik zu thun, wie sie nur nach den Untersuchungen von Galilei möglich war. Neben - bei sei bemerkt, dass von Varignon die meisten der Sätze und Betrachtungsweisen herrühren, welche die Statik der heutigen Elementarbücher ausmachen.

5. Wie wir gesehen haben, können auch rein statische Betrachtungen zum Satze des Kräftenparallelogramms führen. In speciellen Fällen lässt sich der Satz auch sehr leicht bestätigen. Man erkennt z. B. ohne weiteres, dass eine beliebige Anzahl gleicher, in einer Ebene auf einen

Fig. 32.

Punkt (ziehend oder drückend) wirkender Kräfte, von welchen je zwei aufeinanderfolgende gleiche Winkel einschliessen, sich das Gleichgewicht halten. Lassen wir z. B. auf den Punkt O die drei gleichen Kräfte OA, OB, OC unter Winkeln von 120° angreifen, so halten je zwei der dritten das Gleichgewicht. Man sieht sofort, dass die Resul - tirende von OA und OB der OC gleich und entgegengesetzt ist. Sie wird durch OD dargestellt und ist zugleich die Diagonale des Parallelogramms OADB, wie sich leicht daraus ergibt, dass der Kreisradius zugleich die Sechseckseite ist.

37Entwickelung der Principien der Statik.

6. Fallen die zusammenwirkenden Kräfte in dieselbe oder in die entgegengesetzte Richtung, so entspricht die Re - sultirende der Summe oder der Differenz der Componenten. Beide Fälle erkennt man ohne Schwierigkeit als Spe - cialfälle des Satzes vom Kräftenparallelogramm. Denkt man sich in den

Fig. 33.

beiden Zeichnungen (Fig. 33) den Winkel AOB all - mählich zu dem Werthe , den Winkel A′O′B′ zu dem Werthe 180° übergeführt, so erkennt man, dass OC in OA+AC = OA+OB und O′C′ in O′A′ A′C′ = O′A′ O′B′ übergeht. Der Satz des Kräften - parallelogramms enthält also die Sätze schon in sich, welche gewöhnlich als besondere Sätze demselben vor - ausgeschickt werden.

7. Der Satz des Kräftenparallelogramms stellt sich in der Form, in welcher derselbe von Newton und Varignon gegeben wird, deutlich als ein Erfahrungs - satz dar. Ein von zwei Kräften ergriffener Punkt führt zwei voneinander unabhängige Bewegungen mit den Kräften proportionalen Beschleunigungen aus. Darauf gründet sich die Parallelogrammconstruction. Daniel Bernoulli war nun der Meinung, dass der Satz des Kräftenparallelogramms eine geo - metrische (von physikalischen Erfahrungen unabhängige) Wahr - heit sei. Er versuchte auch ei - nen geometrischen Beweis zu lie - fern, dessen Hauptpunkte wir in Augenschein nehmen wollen, da die Bernoulli’sche Ansicht noch immer nicht ganz verschwunden ist.

Wenn zwei gleiche Kräfte, deren

Fig. 34.

Richtungen einen rechten Winkel einschliessen, auf einen Punkt wirken, so kann nach Bernoulli kein Zweifel ob -38Erstes Kapitel.walten, dass die Halbirungslinie des Winkels (nach dem Symmetrieprincip) die Richtung der Resultirenden r sei. Um auch die Grösse derselben geometrisch zu bestimmen, wird jede der Kräfte p in zwei gleiche Kräfte q parallel und senkrecht zu r zerlegt. Hierbei ist nun die Grössen - beziehung von p und q dieselbe wie jene von r und p. Wir haben demnach: 〈…〉 und 〈…〉 , folglich 〈…〉

Da sich aber die zu r senkrechten Kräfte q heben, die zu r parallelen aber die Resultirende vorstellen, so ist auch r = 2q, also 〈…〉 und 〈…〉 .

Die Resultirende wird also auch der Grösse nach durch die Diagonale des über p als Seite construirten Quadrats dargestellt.

Analog lässt sich die Grösse der Resultirenden für rechtwinkelige ungleiche Componenten bestimmen. Hier ist aber über die Richtung der Resultirenden r von vorn - herein nichts bekannt. Zerlegt man die Componenten p, q parallel und senkrecht zu der noch unbestimmten Richtung r in die Kräfte u, s beziehungsweise v, t, so bilden die neuen Kräfte mit den Componenten p, q die - selben Winkel, welche p, q mit r einschliessen. Es sind dadurch auch folgende Grössenbeziehungen bestimmt:

Fig. 35.

$$\frac {r}{p} = \frac {p}{u}$$ und $$\frac {r}{q} = \frac {q}{v}$$ , $$\frac {r}{q} = \frac {p}{s}$$ und $$\frac {r}{p} = \frac {q}{t}$$ , aus welchen zwei letztern Gleichungen folgt 〈…〉 .

Andererseits ist aber auch $$\mathit r = u+v = \frac {p^2}{r} + \frac {q^2}{r}$$ oder $$\mathit r^2 = p^2+q^2$$ .

39Entwickelung der Principien der Statik.

Die Diagonale des über p und q construirten Recht - ecks stellt also die Grösse der Resultirenden vor.

Für alle Rhomben ist nun die Richtung, für alle Rechtecke die Grösse der Resultirenden, für das Qua - drat die Grösse und Richtung bestimmt. Bernoulli löst dann die Aufgabe, zwei unter einem Winkel wirkende gleiche Kräfte durch andere gleiche, unter einem an - dern Winkel wirkende äquivalente Kräfte zu ersetzen, und gelangt schliesslich durch umständliche und auch mathematisch nicht ganz einwurfsfreie Betrachtungen, die Poisson später verbessert hat, zu dem allgemeinen Satz.

8. Betrachten wir nun die physikalische Seite der Sache. Der Satz des Kräftenparallelogramms war Ber - noulli als ein Erfahrungssatz bereits bekannt. Was Bernoulli thut, besteht also darin, dass er sich vor sich selbst unwissend stellt und den Satz aus möglichst wenigen Voraussetzungen herauszuphilosophiren sucht. Diese Arbeit ist keineswegs sinnlos und zwecklos. Im Gegentheil, man findet durch dieses Verfahren, wie wenige und wie unscheinbare Erfahrungen den Satz schon geben. Nur darf man nicht wie Bernoulli sich selbst täuschen, man muss sich alle Voraussetzungen gegenwärtig halten, und darf keine Erfahrung über - sehen, die man unwillkürlich verwendet. Welche Voraus - setzungen liegen nun in Bernoulli’s Ableitung?

9. Die Statik kennt die Kraft zunächst nur als einen Zug oder Druck, der stets, woher er auch stammen mag, durch den Zug oder Druck eines Gewichtes er - setzt werden kann. Alle Kräfte können als gleich - artige Grössen betrachtet und durch Gewichte ge - messen werden. Die Erfahrung lehrt ferner, dass das Gleichgewichts - oder Bewegungsbestimmende einer Kraft nicht nur in deren Grösse, sondern auch in deren Richtung liegt, welche durch die Richtung der ein - tretenden Bewegung, durch die Richtung einer ge - spannten Schnur u. s. w. kenntlich wird. Andern eben - falls durch die physikalische Erfahrung gegebenen40Erstes Kapitel.Dingen, wie der Temperatur, der Potentialfunction, können wir wol Grösse, aber keine Richtung zuschreiben. Dass an einer einen Punkt ergreifenden Kraft Grösse und Richtung maassgebend ist, ist schon eine wichtige, wenn auch unscheinbare Erfahrung.

Wenn die Grösse und Richtung der einen Punkt ergreifenden Kräfte allein maassgebend ist, so erkennt man, dass zwei gleiche entgegengesetzte Kräfte im Gleichgewicht sind, weil sie keine Bewegung eindeutig bestimmen können. Auch senkrecht zu ihrer Richtung

Fig. 36.

kann eine Kraft p eine Bewe - gungswirkung nicht eindeutig bestimmen. Ist aber eine Kraft p schief gegen eine andere Richtung ss′ (Fig. 36), so kann sie nach der - selben eine Bewegung bestimmen. Allein nur die Erfahrung kann lehren, dass die Bewegung nach s′s und nicht nach ss′ bestimmt ist, also nach der Seite des spitzen Winkels oder nach der Seite hin, nach welcher p auf s′s eine Projection ergibt.

Diese letztere Erfahrung wird nun gleich zu Anfang von Bernoulli benutzt. Der Sinn der Resultirenden zweier gleicher zueinander rechtwinkeliger Kräfte lässt sich nämlich nur auf Grund dieser Erfahrung angeben. Aus dem Symmetrieprincip folgt nämlich nur, dass die Resultirende in die Ebene der Kräfte und in die Halbirungslinie des Winkels, nicht aber dass sie in den spitzen Winkel hineinfällt. Gibt man aber diese Bestimmung auf, so ist die ganze Beweiserei schon vor dem Beginn zu Ende.

10. Wenn wir uns überzeugt haben, dass wir den Einfluss der Richtung einer Kraft überhaupt nur aus der Erfahrung kennen, so werden wir noch weniger glauben, dass wir die Art dieses Einflusses auf einem andern Wege zu ermitteln vermögen. Dass eine Kraft41Entwickelung der Principien der Statik.p nach einer Richtung s, welche mit ihrer eigenen den Winkel[α]einschliesst, so wirkt, wie eine Kraft p cos[α]in der Richtung s, was mit dem Satz des Kräften - parallelogramms gleichbedeutend ist, kann man nicht errathen. Auch Bernoulli wäre dies nicht im Stande gewesen. Er verwendet aber in kaum merklicher Weise Erfahrungen, welche dieses mathematische Verhältniss schon mitbestimmen.

Derjenige, welchem die Zusammensetzung und Zer - legung der Kräfte bereits geläufig ist, weiss, dass mehrere an einem Punkt angreifende Kräfte in ihrer Wirkung in jeder Beziehung und nach jeder Richtung durch eine Kraft ersetzt werden können. In Ber - noulli’s Beweisverfahren spricht sich diese Kenntniss darin aus, dass die Kräfte p, q als solche betrachtet werden, welche die Kräfte s, u, und t, v vollständig, sowol nach der Richtung r als auch nach jeder an - dern Richtung zu ersetzen vermögen. Ebenso wird r als ein Aequivalent von p und q betrachtet. Es wird ferner als gleichgültig angesehen, ob man s, u, t, v zu - erst nach den Richtungen p, q, und p, q alsdann nach der Richtung r schätzt, oder ob s, u, t, v direct nach der Richtung r geschätzt werden. Das kann aber nur derjenige wissen, der schon eine sehr ausgedehnte Er - fahrung über die Zusammensetzung und Zerlegung der Kräfte gewonnen hat. Am einfachsten gelangt man zu dieser Kenntniss, wenn man weiss, dass eine Kraft p nach einer Richtung, welche den Winkel[α]mit ihrer eigenen einschliesst, mit dem Betrage 〈…〉 wirkt. Thatsächlich ist man auch auf diesem Wege zu dieser Einsicht gelangt.

In einer Ebene mögen die Kräfte P, P′, P″ .... unter den Winkeln[α],[α],[α] .... gegen eine gegebene Richtung X an einem Punkt angreifen. Dieselben sollen ersetzbar sein durch eine Kraft II, welche irgend - einen Winkel[α]mit X einschliesst. Nach dem bekannten Princip hat man dann 〈…〉 .

42Erstes Kapitel.

Soll II der Ersatz für das Kraftsystem bleiben, welche Richtung auch X annimmt, wenn es um den beliebigen Winkel[δ]gedreht wird, so ist ferner 〈…〉 oder 〈…〉 Setzen wir 〈…〉 so folgt 〈…〉 welche Gleichung für jedes[δ]nur bestehen kann, wenn 〈…〉 und 〈…〉 Hieraus ergibt sich 〈…〉 〈…〉 .

Aus diesen Gleichungen folgen für II und[μ]die be - stimmten Werthe 〈…〉 und 〈…〉

Kann man also die Wirkung einer Kraft in einer gegebenen Richtung durch die Projection auf diese Richtung messen, so ist wirklich jedes an einem Punkt angreifende Kraftsystem durch eine Kraft von be - stimmter Grösse und Richtung ersetzbar. Die an - gestellten Betrachtungen lassen sich aber nicht aus - führen, wenn man an die Stelle von cos[α]irgendeine43Entwickelung der Principien der Statik.allgemeine Winkelfunction[φ (α)]setzt. Thut man aber dies, und betrachtet gleichwol die Resultirende als eine bestimmte, so ergibt sich, wie z. B. aus Poisson’s Ab - leitung ersichtlich ist, für[φ (α)]die Form cos[α]. Die Erfahrung, dass mehrere auf einen Punkt wirkende Kräfte in jeder Beziehung stets durch eine ersetzbar sind, ist also mathematisch gleichwerthig mit dem Princip des Kräftenparallelogramms oder mit dem Projectionsprincip. Das Parallelogramm - oder Projec - tionsprincip ist aber viel leichter durch Beobachtung zu gewinnen, als jene allgemeinere Erfahrung durch statische Beobachtungen gewonnen werden kann. Wirk - lich ist auch das Parallelogrammprincip früher ge - wonnen worden. Es würde auch ein beinahe über - menschlicher Scharfsinn dazu gehören, aus der allge - meinen Ersetzbarkeit mehrerer Kräfte durch eine, ohne Leitung durch anderweitige Kenntniss des Sachverhaltes, das Parallelogrammprincip mathematisch zu folgern. An Bernoulli’s Ableitung setzen wir demnach aus, dass das leichter Beobachtbare auf das schwerer Beob - achtbare zurückgeführt wird. Darin liegt ein Verstoss gegen die Oekonomie der Wissenschaft. Ausserdem täuscht sich Bernoulli darin, dass er meint, überhaupt von keiner Beobachtung auszugehen.

Wir müssen noch die Bemerkung hinzufügen, dass auch die Unabhängkeit der Kräfte voneinander, welche sich in dem Princip der Zusammensetzung ausspricht, eine Erfahrung ist, welche von Bernoulli fortwährend still - schweigend verwendet wird. Solange wir mit regel - mässigen oder symmetrischen Kraftsystemen zu thun haben, in welchen jede Kraft gleichwerthig ist, kann jede von den übrigen auch im Falle einer gegenseitigen Abhängigkeit nur in derselben Weise beeinflusst wer - den. Schon bei drei Kräften, von welchen zwei zur dritten symmetrisch sind, wird die Betrachtung sehr schwierig, sobald man die Möglichkeit einer gegen - seitigen Abhängigkeit der Kräfte zugibt.

11. Sobald man direct oder indirect zu dem Princip44Erstes Kapitel.des Kräftenparallelogramms geführt worden ist, und dasselbe erschaut hat, ist dasselbe so gut eine Beob - achtung, als jede andere. Ist die Beobachtung neu, so geniesst sie selbstverständlich noch nicht das Vertrauen wie alte, vielfach erprobte Beobachtungen. Man sucht dann die neue Beobachtung durch die alten zu stützen und ihre Uebereinstimmung nachzuweisen. Nach und nach wird die neue Beobachtung den ältern ebenbürtig. Es ist dann nicht mehr nöthig, jene fortwährend auf diese zurückzuführen. Eine solche Ableitung ist nur

Fig. 37.

dann zweckmässig, wenn hierbei schwer unmittelbar zu gewinnende Beobachtungen auf einfachere und leichter zu gewinnende zurückgeführt werden können, wie dies mit dem Princip des Kräftenparallelogramms in der Dynamik geschieht.

12. Man hat den Satz des Kräftenparallelogramms auch durch besonders zu diesem Zwecke angestellte Versuche veranschaulicht. Eine hierzu sehr geeignete Vor - richtung ist von Cauchy angegeben worden. Der Mittel - punkt eines horizontalen getheilten Kreises (Fig. 37) ist45Entwickelung der Principien der Statik.durch eine Spitze bezeichnet. Drei miteinander ver - knüpfte Fäden f, f′, f″ sind über Rollen r, r′, r″ gelegt, welche an einer beliebigen Stelle des Kreisumfanges festgestellt werden können, und werden durch Gewichte p, p′, p″ belastet. Wenn z. B. drei gleiche Gewichte aufgelegt, und die Rollen auf die Theilungspunkte 0, 120, 240 gestellt sind, so stellt sich der Knotenpunkt der Fäden auf den Kreismittelpunkt ein. Drei gleiche Kräfte unter Winkeln von 120° sind also im Gleich - gewicht.

Will man einen andern Fall darstellen, so kann man auf folgende Art verfahren. Man denkt sich zwei beliebige Kräfte p, q unter einem beliebigen Winkel[α], stellt dieselben durch Linien dar und construirt über denselben als Seiten ein Parallelogramm. Man fügt ferner eine der Resultirenden r gleiche und entgegengesetzte Kraft hinzu. Die drei Kräfte p, q, - r halten sich unter den aus der Construction ersichtlichen Winkeln das Gleichgewicht. Man stellt die Rollen des getheilten Kreises auf die

Fig. 38.

Theilungspunkte o,[α], 〈…〉 , und belastet die zugehö - rigen Fäden mit den Gewichten p, q, r. Der Ver - knüpfungspunkt stellt sich auf den Kreismittelpunkt ein.

4. Das Princip der virtuellen Verschiebungen.

1. Wir gehen nun zur Besprechung des Princips der virtuellen (möglichen) Verschiebungen über. Die Gültigkeit dieses Princips wurde zuerst von Stevin zu Ende des 16. Jahrhunderts bei Untersuchung des Gleich - gewichts der Rollen und Rollensysteme bemerkt. Zunächst behandelt Stevin die Rollensysteme in der noch jetzt ge - wöhnlichen Weise. In dem Falle a (Fig. 39) herrscht aus bereits bekannten Gründen Gleichgewicht bei beider - seits gleicher Belastung P. Bei b hängt das Gewicht P an zwei parallelen Schnüren, deren jede also das Ge -46Erstes Kapitel.wicht $$\frac {P}{2}$$ trägt, womit im Gleichgewichtsfalle auch das freie Ende der Schnur belastet sein muss. Bei c hängt P an sechs Schnüren, und die Belastung des freien Endes mit $$\frac {P}{6}$$ stellt das Gleichgewicht her. Bei d, bei dem sogenannten Archimedes’schen oder Potenzflaschen - zug, hängt P zunächst an zwei Schnüren, deren jede $$\frac {P}{2}$$ trägt, die eine von beiden hängt wieder an zwei

Fig. 39.

Schnüren u. s. w., sodass das freie Ende durch die Be - lastung $$\frac {P}{8}$$ im Gleichgewicht erhalten wird. Ertheilt man diesen Rollensystemen Verschiebungen, bei welchen das Gewicht P um die Höhe h sinkt, so bemerkt man, dass wegen der Anordnung der Schnüre in a das Gegengewicht P um die Höhe h

  • b $$\frac {P}{2}$$ 2 h
  • c $$\frac {P}{6}$$ 6 h
  • d $$\frac {P}{8}$$ 8 h

steigt.

47Entwickelung der Principien der Statik.

Im Gleichgewichtsfalle sind also an einem Rollen - system die Producte aus den Gewichten und den zu - gehörigen Verschiebungsgrössen beiderseits gleich. ( Ut spatium agentis ad spatium patientis, sie potentia pa - tientis ad potentiam agentis , Stevini, Hypomnemata , T. IV, lib. 3, p. 172.) In dieser Bemerkung liegt nun der Keim des Princips der virtuellen Verschiebungen.

2. Galilei hat bei einer andern Gelegenheit, bei Untersuchung des Gleichgewichts auf der schiefen Ebene, die Gültigkeit des Princips erkannt, und auch schon eine etwas allgemeinere Form desselben gefunden. Auf einer schiefen Ebene, deren Länge AB der doppelten Hohe BC gleich ist, wird eine auf AB liegende Last Q durch die längs der Höhe BC wir - kende Last P im Gleichge - wicht gehalten, wenn P = $$\frac {Q}{2}$$ ist. Wird der ganze Appa - rat in Bewegung gesetzt, so

Fig. 40.

sinkt etwa P = $$\frac {Q}{2}$$ um die Höhe h, und um dieselbe Strecke h steigt Q auf der Länge AB auf. Indem nun Galilei die Erscheinung auf sich wirken lässt, erkennt er, dass das Gleichgewicht nicht nur durch die Ge - wichte, sondern auch durch deren mögliche Annähe - rung und Entfernung von dem Erdmittelpunkt bestimmt ist. Während nämlich $$\frac {Q}{2}$$ längs der Höhe um h sinkt, steigt Q längs der Länge um h, in ver - ticaler Richtung aber nur um $$\frac {h}{2}$$ auf, so zwar, dass die Producte Q· $$\frac {h}{2}$$ und $$\frac {Q}{2}$$ ·h beiderseits gleich aus - fallen. Man kann kaum genug hervorheben, wie auf - klärend die Bemerkung Galilei’s ist, und welches Licht sie verbreitet. Dabei ist die Bemerkung so na -48Erstes Kapitel.türlich und ungezwungen, dass man dieselbe gern acceptirt. Was kann einfacher erscheinen, als dass in einem System von schweren Körpern keine Bewegung eintritt, wenn im ganzen keine schwere Masse sinken kann. Das scheint uns instinctiv annehmbar.

Die Auffassung der schiefen Ebene durch Galilei erscheint uns viel weniger geistreich als die Stevin’sche, aber wir erkennen sie als natürlicher und tiefer. Darin zeigt sich Galilei als ein so grosser wissenschaftlicher Charakter, dass er den intellectuellen Muth hat, in einer längst untersuchten Sache mehr zu sehen als seine Vorgänger, und seiner Beobachtung zu vertrauen. Mit der ihm eigenen Offenheit gibt er seine Ansicht sammt den Motiven, die ihn zu derselben geführt haben, dem Leser preis.

3. Torricelli bringt das Galilei’sche Princip durch Verwendung des Begriffes Schwerpunkt in eine Form, in welcher es dem Gefühl noch näher liegt, in welcher es übrigens gelegentlich auch schon von Galilei ver - wendet wird. Nach Torricelli besteht an einer Maschine Gleichgewicht, wenn bei Verschiebung derselben der Schwerpunkt der angehängten Lasten nicht sinken kann. Bei einer Verschiebung an der obigen schiefen Ebene sinkt z. B. P um die Strecke h, dafür steigt Q um h·sin[α]vertical auf. Soll der Schwerpunkt nicht sinken, so ist 〈…〉 oder 〈…〉 oder 〈…〉

Stehen die Lasten in einem andern Verhältniss, so kann der Schwerpunkt bei einer oder der andern Ver - schiebung sinken, und es besteht kein Gleichgewicht. Wir erwarten instinctiv Gleichgewicht, wenn der Schwerpunkt eines Systems schwerer Körper nicht sinken kann. Es enthält aber der Torricelli’sche Aus - druck durchaus nicht mehr als der Galilei’sche.

49Entwickelung der Principien der Statik.

4. So wie an den Rollensystemen und an der schiefen Ebene lässt sich die Gültigkeit des Princips der vir - tuellen Verschiebungen leicht auch an andern Maschinen, z. B. dem Hebel, dem Wellrad u. s. w. nachweisen. Am Wellrade z. B. mit den Radien R, r und den zugehö - rigen Lasten P, Q besteht bekanntlich Gleichgewicht, wenn PR = Qr. Dreht man das Wellrad um den Winkel[α], so sinkt etwa P um R[α], und es steigt Q um r[α]. Nach Stevin’s und Galilei’s Auffassung ist im Gleichgewichtsfall 〈…〉 , welche Gleichung dasselbe besagt wie die obige.

5. Wenn wir ein System von schweren Körpern, an welchem Bewegung auftritt, vergleichen mit einem ähn - lichen im Gleichgewicht befindlichen System, so drängt sich uns die Frage auf: Was ist das Unterscheidende beider Fälle? Worin liegt das Bewegungsbestimmende (Gleichgewichtstörende), welches in dem einen Falle vorhanden ist, in dem andern aber fehlt. Indem Galilei sich diese Frage stellte, erkannte er als bewegungs - bestimmend nicht nur die Gewichte, sondern auch deren Falltiefen (deren verticale Verschiebungsgrössen). Nennen wir P, P′, P″ .... die Gewichte eines Systems schwerer Körper, und h, h′, h″ .... die zugehörigen verticalen, gleichzeitig möglichen Verschiebungsgrössen, wobei Verschiebungen abwärts positiv, Verschiebungen aufwärts negativ gerechnet werden. Galilei findet nun, dass in der Erfüllung der Bedingung Ph+P′h′+ P″h″+… = 0 das Merkmal des Gleichgewichtsfalles liegt. Die Summe Ph+P′h′+P″h″+… ist das Gleichgewichtstörende, das Bewegungsbestimmende. Man hat diese Summe ihrer Wichtigkeit wegen in neuerer Zeit mit dem besondern Namen Arbeit bezeichnet.

6. Während die ältern Forscher bei Vergleichung von Gleichgewichts - und Bewegungsfällen ihre Aufmerk - samkeit auf die Gewichte und deren Abstände von der Drehaxe richteten, und die statischen Momente als maassgebend erkannten, beachtet Galilei die Gewichte und die Falltiefen und erkennt die Arbeit alsMach. 450Erstes Kapitel.maassgebend. Es kann natürlich dem Forscher nicht vorgeschrieben werden, auf welche Merkmale des Gleichgewichts er zu achten hat, wenn mehrere zur Auswahl vorliegen. Nur der Erfolg kann darüber ent - scheiden, ob er die richtige Wahl getroffen hat. So wenig man aber, wie wir gesehen haben, die Bedeutung der statischen Momente als etwas unabhängig von der Erfahrung Gegebenes, logisch Einleuchtendes darstellen darf, ebenso wenig darf dies mit der Arbeit geschehen. Pascal ist im Irrthum, und diesen Irrthum theilen manche moderne Forscher, wenn er bei Anwendung des Princips der virtuellen Verschiebungen auf die Flüssigkeiten sagt: étant clair, que c’est la même chose de faire faire un pouce de chemin à cent livres d’eau, que de faire cent pouce de chemin a une livre d’eau Das ist nur dann richtig, wenn man schon die Arbeit als maassgebend anerkennt, was nur die Erfahrung lehren kann.

Wenn wir einen gleicharmigen, beiderseits gleich - belasteten Hebel vor uns haben, so erkennen wir das Gleichgewicht desselben als die einzige eindeutig be - stimmte Wirkung, ob wir nun die Gewichte und die Abstände, oder die Gewichte und die Falltiefen als bewegungsbestimmend ansehen. Diese oder ähnliche Erfahrungserkenntnisse müssen aber vorausgehen, wenn wir überhaupt ein Urtheil über den Fall haben sollen. Die Form der Abhängigkeit der Gleichgewichtsstörung von den angeführten Umständen, also die Bedeutung des statischen Momentes (PL) oder der Arbeit (Ph) kann man noch weniger herausphilosophiren als die Abhängigkeit überhaupt.

7. Wenn zwei gleiche Gewichte mit gleichen entgegen - gesetzten Verschiebungsgrössen einander gegenüber - stehen, so erkennen wir das Bestehen des Gleichge - wichts. Wir könnten nun versucht sein, den allge - meinern Fall der Gewichte P, P′ mit den Verschiebungs - grössen h, h′, wobei Ph = P′h′ ist, auf den einfachern zurückzuführen. Wir hätten z. B. die Gewichte 3P51Entwickelung der Principien der Statik.und 4P an einem Wellrade mit den Radien 4 und 3. Wir zerfällen die Gewichte in lauter gleiche Stücke von der Grösse P, die wir durch a, b, c, d, e, f, g bezeichnen. Nun führen wir a, b, c auf das Niveau + 3, und d, e, f auf das Niveau 3. Diese Verschie - bung werden die Ge - wichte weder von selbst eingehen, noch werden sie derselben wider - stehen. Wir fassen jetzt

Fig. 41.

das Gewicht g auf dem Niveau 0 mit dem a auf + 3 zusammen, schieben ersteres auf 1 und letzteres auf + 4, dann in gleicher Weise g auf 2 und b auf + 4, g auf 3 und c auf + 4. Allen diesen Ver - schiebungen leisten die Gewichte keinen Widerstand, und bringen sie auch selbst nicht hervor. Schliesslich erscheinen aber a, b, c (oder 3P) auf dem Niveau + 4 und d, e, f, g (oder 4P) auf dem Niveau 3. Auch diese Verschiebung bringen also die Gewichte nicht selbst hervor und widerstehen ihr auch nicht, d. h. bei diesem Verschiebungsverhältniss sind die Gewichte im Gleichgewicht. Die Gleichung 4·3P 3·4P = 0 ist also für das Gleichgewicht in diesem Fall charakte - ristisch. Die Verallgemeinerung (Ph P′h′ = 0) liegt auf der Hand.

Bei genügender Aufmerksamkeit erkennt man un - schwer, dass man den Schluss nicht machen kann, wenn man nicht die Gleichgültigkeit der Ordnung der Operationen und des Ueberführungsweges vor - aussetzt, d. h. wenn man nicht die Arbeit schon als das Maassgebende erschaut hat. Man würde, den Schluss acceptirend, denselben Fehler machen, den Archimedes in seiner Ableitung des Hebelgesetzes begangen hat, wie dies genauer auseinandergesetzt worden ist, und in4*52Erstes Kapitel.diesem Fall nicht ebenso ausführlich zu geschehen braucht. Nichtsdestoweniger ist die angeführte Ueber - legung insofern nützlich, als sie die Verwandtschaft der einfachen und der complicirten Fälle fühlbar macht.

8. Die allgemeine Bedeutung des Princips der vir - tuellen Verschiebungen für alle Gleichgewichtsfälle hat Joh. Bernoulli erkannt, und er hat seine Entdeckung (1717) in einem Briefe an Varignon mitgetheilt. Wir wollen nun das Princip in seiner allgemeinsten Form aussprechen. An den Punkten A, B, C .... mögen die

Fig. 42.

Kräfte P, P′, P″ .... an - greifen. Wir ertheilen den Punkten irgendwelche un - endlichkleine, mit der Natur der Verbindungen verträg - liche (sogenannte virtuelle) Verschiebungen v, v′, v″ .... und bilden von denselben die Projectionen p, p′, p″ .... auf die Richtungen der Kräfte. Diese Projectionen betrachten wir als positiv, wenn sie in die Richtung der Kraft fallen, als negativ, wenn sie in die entgegen - gesetzte Richtung fallen. Die Producte P·p, P′·p′, P″·p″ .... heissen virtuelle Momente und haben in den beiden eben erwähnten Fällen ein entgegengesetztes Zeichen. Das Princip sagt nun, dass für den Fall des Gleichgewichts P·p+P′·p′+P″·p″+ .... = 0, oder kürzer 〈…〉 .

9. Gehen wir nun auf einige Punkte näher ein. Vor Newton dachte man sich unter einer Kraft fast immer nur den Zug oder Druck eines schweren Körpers. Alle mechanischen Untersuchungen dieser Zeit beschäftigen sich fast nur mit schweren Körpern. Als nun in der Newton’schen Zeit die Verallgemeinerung des Kraft - begriffes eintrat, konnte man alle für schwere Körper bekannte mechanischen Sätze sofort auf beliebige Kräfte übertragen. Man konnte sich jede Kraft durch den53Entwickelung der Principien der Statik.Zug eines schweren Körpers an einer Schnur ersetzen. In diesem Sinne kann man auch das zunächst nur für schwere Körper gefundene Princip der virtuellen Ver - schiebungen auf beliebige Kräfte anwenden.

Virtuelle Verschiebungen nennt man solche, welche mit der Natur der Verbindungen des Systems und mit - einander verträglich sind. Wenn z. B. die beiden Sy - stempunkte A und B, an welchen Kräfte angreifen, durch einen rechtwinkeli - gen, um C drehbaren Win - kelhebel verbunden sind, so sind für CB = 2CA alle virtuellen Verschie - bungen von B und A stets Kreisbogenelemente, welche zu C als Mittelpunkt ge - hören, die Verschiebungen

Fig. 43.

von B sind stets doppelt so gross als jene von A, und beide stets zueinander senkrecht. Sind die Punkte AB durch einen Faden von der Länge l verbunden, welcher durch die festen Ringe C und D hindurch - gleiten kann, so sind alle jene Verschiebungen von A und B virtuell, bei welchen sich diese Punkte auf oder innerhalb zweier, mit den Radien r1 und r2 um C und D (als Mittelpunkte) beschriebenen Kugelflächen be - wegen, wobei r1+r2+CD = l.

Die Anwendung der unendlich kleinen Verschiebun - gen, statt der endlichen von Ga - lilei betrachteten, rechtfertigt sich durch folgende Bemerkung. Wenn zwei Gewichte an der schiefen Ebene im Gleichgewicht sind, so wird dieses nicht gestört, wenn die Ebene, wo sie mit den Kör - pern nicht in unmittelbarer Be -

Fig. 44.

rührung ist, in eine Fläche von anderer Form übergeht. Es kommt also auf die augenblickliche Verschiebbarkeit bei der augenblicklichen Conformation des Systems an. 54Erstes Kapitel.Zur Beurtheilung des Gleichgewichts dürfen die Ver - schiebungen nur verschwindend klein angenommen wer - den, weil sonst das System in eine ganz andere Nach - barconformation übergeführt würde, für welche vielleicht das Gleichgewicht nicht mehr besteht.

Dass nicht die Verschiebungen überhaupt, sondern nur soweit sie im Sinne der Kräfte stattfinden, also deren Projectionen auf die Kraftrichtungen maassgebend sind, hat schon Galilei an dem Fall der schiefen Ebene hin - reichend klar erkannt.

Was den Ausdruck des Princips betrifft, so bemerken wir, dass gar keine Aufgabe vorliegt, wenn alle Punkte des Systems, auf welche Kräfte wirken, voneinander unabhängig sind. Jeder solche Punkt kann dann nur im Gleichgewicht sein, wenn er im Sinne der Kraft nicht beweglich ist. Für jeden solchen Punkt ist einzeln das virtuelle Moment gleich Null. Sind einige Punkte voneinander unabhängig, andere aber in ihren Ver - schiebungen voneinander abhängig, so gilt für erstere die eben gemachte Bemerkung. Für die letztern gilt

Fig. 45.

eben der von Galilei gefundene Grundsatz, dass die Summe ihrer virtuellen Momente gleich Null ist. Demnach ist die Gesammtsumme der virtuellen Momente wieder gleich Null.

10. Wir wollen uns nun die Be - deutung des Princips zunächst an einigen einfachen Beispielen erläu - tern, und zwar an solchen, welche nicht nach dem gewöhnlichen Schema des Hebels, der schiefen Ebene u.s.w. behandelt werden können.

Der Differentialflaschenzug von Weston (Fig. 45) besteht aus zwei conaxialen, miteinander fest verbun - denen Rollen von den wenig verschiedenen Radien r1 und r2 < r1. Ueber diese Rollen ist eine Schnur oder55Entwickelung der Principien der Statik.Kette in der angedeuteten Weise geführt. Zieht man in der Richtung des Pfeiles mit der Kraft P, und findet eine Drehung um den Winkel[φ]statt, so wird das an - gehängte Gewicht Q etwas gehoben. Im Gleichgewichts - falle besteht zwischen den beiden virtuellen Momenten die Gleichung 〈…〉 , oder 〈…〉 .

Ein Wellrad (Fig. 46) vom Gewicht Q, welches sich beim Abwickeln der Schnur mit dem Gewichte P an einer um

Fig. 46.

die Welle gewickelten Schnur aufwindet und erhebt, liefert im Gleichgewichtsfalle für die virtuellen Momente die Glei - chung

Fig. 47.

〈…〉 , oder 〈…〉 .

In dem Specialfall R r = 0 haben wir für das Gleich - gewicht auch Qr = 0 zu setzen, oder bei endlichen Werthen von r ist Q = 0. In der That verhält sich dann der Faden wie eine Schlinge, in welcher sich das Gewicht Q befindet. Letzteres kann, wenn es von Null verschieden ist, sich immer abwärts winden, ohne das Gewicht P zu bewegen. Setzen wir aber bei R = r auch Q = 0, so folgt $$P = \frac {0}{0}$$ , ein unbestimmter Werth. Wirklich hält jedes Gewicht P den Apparat im Gleich - gewicht, weil bei R = r keins sinken kann.

Eine Doppelrolle (Fig. 47) von den Radien r, R liegt mit Reibung auf einer horizontalen Unterlage, während an56Erstes Kapitel.dem Faden mit der Kraft Q gezogen wird. Nennen wir P den Widerstand der Reibung, so besteht Gleich - gewicht, wenn 〈…〉 . Wird 〈…〉 , so wickelt sich beim Zug die Rolle an dem Faden auf.

Die Roberval’sche Wage besteht aus einem Parallelo -

Fig. 48.

gramm mit veränder - lichen Winkeln, in wel - chem zwei gegenüber - liegende Seiten um de - ren Mittelpunkte A, B drehbar sind. An den beiden andern, stets ver - ticalen Seiten sind hori - zontale Stäbe befestigt. Hängt man an diese Stäbe zwei gleiche Ge - wichte P, so besteht unabhängig von der Aufhängungs - stelle Gleichgewicht, weil bei einer Verschiebung die

Fig. 49.

Fig. 50.

Senkung des einen Gewichtes stets gleich ist der Er - hebung des andern.

In drei fixen Punkten A, B, C seien Rollen ange - bracht, über welchen drei mit gleichen Gewichten be - lastete, und bei O verknüpfte Schnüre gelegt sind. Bei welcher Lage der Schnüre besteht Gleichgewicht? Wir nennen die drei Schnurlängen AO = s 1, BO = s 2, CO = s 3. Um die Gleichgewichtsgleichung zu gewinnen,57Entwickelung der Principien der Statik.verschieben wir den Punkt O nach den Richtungen s2 und s3 um die unendlich kleinen Stücke[δ]s 2 und[δ]s 3, und bemerken, dass wir hierdurch jede Verschiebungs - richtung in der Ebene ABC (Fig. 50) herstellen können. Die Summe der virtuellen Momente ist 〈…〉 , oder 〈…〉 .

Da jede der Verschiebungen[δ]s 3,[δ]s 3 willkürlich, von der andern unabhängig ist, und für sich = 0 genom - men werden kann, so folgt 〈…〉 . Es ist somit 〈…〉 , und wir können statt jeder der Gleichungen setzen 〈…〉 .

Jede der Schnüre bildet also im Gleichgewichtsfalle mit den andern Winkel von 120°, was auch unmittel - bar einleuchtet, da drei gleiche Kräfte nur bei dieser Anordnung im Gleichgewicht sein können. Wenn dies einmal bekannt ist, so kann man die Lage des Punktes O in Bezug auf ABC auf verschiedene Weise finden. Man kann z. B. auf folgende Art verfahren. Man construirt über AB, BC, CA als Seiten je ein gleich - seitiges Dreieck. Umschreibt man diesen Dreiecken Kreise, so ist der gemeinschaftliche Durchschnittspunkt derselben der gesuchte Punkt O, was sich aus der be - kannten Beziehung der Centri - und Peripheriewinkel leicht ergibt.

Eine Stange OA ist in der Ebene des Papiers um O drehbar, und schliesst mit einer festen Geraden OX58Erstes Kapitel.den veränderlichen Winkel[α]ein. Bei A greift eine Kraft P an, die mit OX den Winkel[γ]einschliesst, und bei B an einem längs der Stange verschiebbaren Ring eine Kraft Q unter dem Winkel[β]gegen OX. Wir ertheilen der Stange eine unendlich kleine Drehung, wodurch B und A um[δ]s und[δ]s 1 senkrecht gegen OA fortschreiten, und verschieben den Ring um[δ]r längs der Stange. Die variable Strecke OB nennen wir r, und OA = a. Für den Gleichgewichtsfall ha - ben wir 〈…〉 .

Da die Verschiebung[δ]r auf die übrigen Verschie - bungen gar keinen Einfluss hat, so muss das betreffende

Fig. 51.

Fig. 52.

virtuelle Moment für sich = 0 sein, und wegen der be - liebigen Grösse von[δ]r auch der Coefficient desselben. Es ist also 〈…〉 , oder wenn Q von Null verschieden, 〈…〉 .

Ferner haben wir mit Rücksicht darauf, dass 〈…〉 auch 〈…〉 , oder weil 〈…〉 , wodurch die Beziehung der beiden Kräfte gegeben ist.

11. Ein nicht zu übersehender Vortheil, den jedes all - gemeinere Princip, und so auch das Princip der vir - tuellen Verschiebungen gewährt, besteht darin, dass es59Entwickelung der Principien der Statik.uns das Nachdenken über jeden neuen speciellen Fall grossentheils erspart. Im Besitz dieses Princips brau - chen wir uns z. B. um die Einzelheiten einer Maschine gar nicht zu kümmern. Wenn etwa eine neue Maschine in einem Kasten (Fig. 52) so eingeschlossen wäre, dass nur zwei Hebel als Angriffspunkte für die Kraft P und die Last P′ hervorragten, und wir fänden die gleich - zeitigen Verschiebungen derselben h und h′, so wüssten wir sofort, dass im Gleichgewichtsfalle Ph = P′h′ sei, welche Beschaffenheit die Maschine sonst auch haben möchte. Jedes derartige Princip hat also einen gewissen ökonomischen Werth.

12. Wir kehren noch einmal zu dem allgemeinen Ausdruck des Princips der virtuellen Verschiebungen zurück, um an denselben weitere Betrachtungen zu knüpfen. Wenn an den Punkten A, B, C .... die Kräfte P, P′, P″ .... angreifen und p, p′, p″ .... die Projectionen un - endlich kleiner miteinander ver - träglicher Ver - schiebungen sind, so haben wir für den Fall des Gleichgewichts

Fig. 53.

P·p+P′p′+P″p″+… = 0.

Ersetzt man die Kräfte durch Schnüre, die über Rollen in den Richtungen der Kräfte führen, und hängt die ent - sprechenden Gewichte an, so sagt der Ausdruck nur, dass der Schwerpunkt des ganzen Systems von Gewichten nicht sinken kann. Wenn aber beigewissen Verschiebungen der Schwerpunkt steigen könnte, so wäre das System noch immer im Gleichgewicht, da die schweren Körper, sich selbst überlassen, diese Bewegung nicht eingehen würden. In diesem Falle wäre die obige Summe negativ,60Erstes Kapitel.oder kleiner als Null. Der allgemeine Ausdruck der Gleichgewichtsbedingung lautet also P·p+P′·p′+P″·p″ 0.

Wenn für jede virtuelle Verschiebung eine gleiche und entgegengesetzte existirt, wie dies z. B. bei den Ma - schinen der Fall ist, so können wir uns auf das obere Zeichen, auf die Gleichung beschränken. Denn wenn bei gewissen Verschiebungen der Schwerpunkt steigen könnte, so müsste er wegen der vorausgesetzten Um - kehrbarkeit aller virtuellen Verschiebungen auch sinken können. Es ist also in diesem Falle auch eine mög - liche Erhebung des Schwerpunktes mit dem Gleich - gewicht unverträglich.

Anders gestaltet sich die Sache, wenn nicht alle Ver - schiebungen umkehrbar sind. Zwei durch Fäden mit - einander verbundene Körper können sich zwar einander nähern, sie können sich aber nicht über die Länge der Fäden voneinander entfernen. Ein Körper kann auf der Oberfläche eines andern Körpers gleiten oder rollen, sodass er sich von dieser Oberfläche zwar entfernen, dieselbe aber nicht durchdringen kann. In diesen Fällen können also gewisse Verschiebungen nicht um - gekehrt werden. Es kann also für gewisse Verschie - bungen eine Schwerpunkterhebung stattfinden, wäh - rend die entgegengesetzten Verschiebungen, welchen die Schwerpunktsenkung entspricht, gar nicht ausführbar sind. Dann müssen wir also die allgemeinere Gleich - gewichtsbedingung festhalten und sagen, die Summe der virtuellen Momente ist gleich oder kleiner als Null.

13. Lagrange hat in seiner analytischen Mechanik eine Ableitung des Princips der virtuellen Verschie - bungen versucht, die wir jetzt betrachten wollen. Auf die Punkte A, B, C .... wirken die Kräfte P, P′, P″ .... Wir denken uns an den Punkten Ringe angebracht, und in den Richtungen der Kräfte ebenfalls Ringe A′, B′, C′ .... befestigt. Wir suchen ein gemeinschaftliches61Entwickelung der Principien der Statik.Maass $$\frac {Q}{2}$$ der Kräfte P, P′, P″ ...., sodass wir setzen können: 2n· $$\frac {Q}{2}$$ = P, 2n′· $$\frac {Q}{2}$$ = P′, 2n″· $$\frac {Q}{2}$$ = P″, ...... wobei n, n′, n″ .... ganze Zahlen sind. Wir befestigen ferner einen Faden an dem Ringe A′, führen ihn n mal zwischen A′ und A hin und her, nachher durch B′,

Fig. 54.

n′ mal zwischen B′ und B hin und her, durch C′, 2n″ mal zwischen C′ und C hin und her, lassen ihn schliesslich bei C′ herabhängen, und bringen daselbst das Gewicht $$\frac {Q}{2}$$ an. Da nun die Schnur in allen Theilen die Spannung $$\frac {Q}{2}$$ hat, so ersetzen wir durch diese idealen Flaschenzüge alle im System vorhandenen Kräfte durch die eine Kraft $$\frac {Q}{2}$$ . Sind nun die virtuellen (mög - lichen) Verschiebungen bei einer gegebenen Conforma - tion des Systems solche, dass bei denselben ein Sinken62Erstes Kapitel.des Gewichtes $$\frac {Q}{2}$$ eintreten kann, so wird das Gewicht wirklich sinken, und jene Verschiebungen hervorrufen, es wird also kein Gleichgewicht bestehen. Dagegen wird keine Bewegung eintreten, wenn die Verschie - bungen das Gewicht $$\frac {Q}{2}$$ an Ort und Stelle lassen, oder dasselbe erheben. Der Ausdruck dieser Bedingung, wenn wir die Projectionen der virtuellen Verschiebungen im Sinne der Kräfte positiv rechnen, ist mit Rücksicht auf die Zahl der Schnurwindungen in jedem Flaschenzug 2np+2n′p′+n″p″+… 0.

Mit dieser Bedingung gleichbedeutend ist aber 2n $$\frac {Q}{2}$$ p+2n′ $$\frac {Q}{2}$$ p′+2n″ $$\frac {Q}{2}$$ p″+… 0, oder P·p+P′·p′+P″·p″+… 0.

14. Die Lagrange’sche Ableitung hat wirklich etwas Ueberzeugendes, wenn man sich über die etwas fremd - artige Fiction der Flaschenzüge hinwegsetzt, weil das Verhalten eines einzigen Gewichtes unserer Erfahrung viel näher liegt und leichter zu übersehen ist, als das Verhalten mehrerer Gewichte. Dass aber die Arbeit für die Gleichgewichtsstörung maassgebend ist, wird durch die Lagrange’sche Ableitung nicht bewiesen, sondern vielmehr durch die Anwendung der Flaschen - züge schon vorausgesetzt. In der That enthält jeder Flaschenzug schon die Thatsache, welche durch das Princip der virtuellen Verschiebungen ausgesprochen und anerkannt wird. Die Ersetzung aller Kräfte durch ein Gewicht, welches dieselbe Arbeit leistet, setzt eben die Kenntniss der Bedeutung der Arbeit schon voraus, und kann nur unter dieser Voraussetzung vorgenommen werden. Dass manche Fälle uns geläufiger sind, und unserer Erfahrung näher liegen, bringt mit sich, dass wir dieselben unanalysirt hinnehmen, und als Grund -63Entwickelung der Principien der Statik.lage einer Ableitung gelten lassen, ohne uns deren In - halt ganz klar zu machen.

Im Entwickelungsgange der Wissenschaft kommt es oft vor, dass ein neues Princip, welches ein Forscher in einer Thatsache erblickt, nicht sofort in seiner vollen Allgemeinheit erkannt und geläufig wird. Es werden dann, wie billig und natürlich, alle Mittel, welche helfen können, aufgeboten. Es werden die verschiedensten Thatsachen, in welchen die Forscher das Princip noch gar nicht erkennen, obgleich es in denselben enthalten ist, welche Thatsachen aber dafür von anderer Seite geläufiger sind, zur Stütze der neuen Auffassung heran - gezogen. Der reifen Wissenschaft ziemt es nicht, sich durch solche Vorgänge täuschen zu lassen. Wenn wir ein Princip, welches nicht bewiesen, aber als bestehend erkannt werden kann, durch alle Thatsachen klar hin - durchsehen, so sind wir in der widerspruchslosen Auf - fassung der Natur viel weiter gekommen, als wenn wir uns durch einen Scheinbeweis imponiren lassen. Haben wir diesen Standpunkt gewonnen, so sehen wir die Lagrange’sche Ableitung allerdings mit andern Augen an; sie interessirt uns aber noch immer, und erregt unser Gefallen dadurch, dass sie die Gleichartigkeit der einfachen und complicirten Fälle fühlbar macht.

15. Maupertuis hat einen auf das Gleichgewicht be - züglichen interessanten Satz gefunden, welchen er unter dem Namen Loi de repos 1740 der pariser Akademie mitgetheilt hat. Derselbe ist 1751 von Euler in den Abhandlungen der berliner Akademie weiter discutirt worden. Wenn wir an einem System unendlich kleine Verschiebungen vornehmen, so entspricht denselben eine Summe virtueller Momente Pp+P′p′+P″p″+ ...., welche nur im Gleichgewichtsfalle = 0 ist. Diese Summe ist die den Verschiebungen entsprechende Ar - beit, oder da sie für unendlich kleine Verschiebungen selbst unendlich klein ist, das entsprechende Arbeits - element. Fahren wir mit den Verschiebungen fort, bis eine endliche Verschiebung zu Stande kommt, so sum -64Erstes Kapitel.miren sich auch die Arbeitselemente zu einer endlichen Arbeit. Wenn wir von einer gewissen Anfangsconfor - mation des Systems ausgehen, und bis zu einer belie - bigen Endconformation übergehen, so entspricht dieser Procedur eine gewisse geleistete Arbeit. Maupertuis hat nun bemerkt, dass diese geleistete Arbeit für eine Endconformation, welche eine Gleichgewichtsconforma - tion ist, im allgemeinen ein Maximum oder Minimum ist, d. h. wenn wir das System durch die Gleichgewichts - conformation hindurchführen, so ist die geleistete Ar - beit vor - und nachher kleiner, oder vor - und nachher

Fig. 55.

grösser als in der Gleichgewichtsconformation selbst. Für die Gleichgewichtsconformation ist P·p+P′·p′+P″·p″+… = 0, d. h. das Element der Arbeit oder das Differential (correcter die Variation) der Arbeit ist gleich Null. Wenn das Differential einer Function gleich Null gesetzt werden kann, so hat die Function im allgemeinen einen Maximal - oder Minimalwerth.

16. Wir können uns die Bedeutung des Maupertuis - schen Satzes in sehr anschaulicher Weise klar machen.

Wir denken uns in einem System die Kräfte durch die Lagrange’schen Flaschenzüge und das Gewicht $$\frac {Q}{2}$$ 65Entwickelung der Principien der Statik.ersetzt. Gesetzt, es könnte sich jeder Punkt des Sy - stems nur auf einer bestimmten Curve bewegen, und zwar so, dass, wenn ein Punkt auf seiner Curve eine bestimmte Lage hat, alle übrigen Punkte auf ihren zu - gehörigen Curven ebenfalls eindeutig bestimmte Lagen einnehmen. Die Maschinen sind in der Regel solche Systeme. Wir können dann, während wir das System verschieben, an dem mit einem Schreibstift versehenen, vertical auf - und abgehenden Gewicht $$\frac {Q}{2}$$ , ein Blatt Papier horizontal vorbeiführen, wobei der Stift eine Curve schreibt. Befindet sich der Stift in den Punkten a, c, d der Curve, so gibt es Nachbarlagen der System - punkte, für welche das Gewicht $$\frac {Q}{2}$$ höher oder tiefer steht, als bei der gegebenen Conformation. Das Ge - wicht wird dann auch, wenn das System sich selbst überlassen wird, in diese tiefere Lage übergehen, und das System mit verschieben. Demnach besteht in solchen Fällen kein Gleichgewicht. Steht der Stift bei e, so gibt es nur Nachbarconformationen, für welche das Gewicht $$\frac {Q}{2}$$ höher steht. In diese Conformationen wird aber das System nicht von selbst übergehen. Es wird im Gegentheil jede Verschiebung dahin, durch die Eigenschaft des Gewichtes, sich abwärts zu bewegen, wieder rückgängig gemacht. Einer tiefsten Lage des Gewichtes, oder einem Maximum von ge - leisteter Arbeit im System, entspricht also stabiles Gleichgewicht. Steht der Stift bei b, so sehen wir, dass jede merkliche Verschiebung das Ge - wicht $$\frac {Q}{2}$$ tiefer bringt, dass also das Gewicht diese Ver - schiebung fortsetzen wird. Bei unendlich kleinen Ver - schiebungen bewegt sich aber der Stift in der horizon - talen Tangente an b, wobei also das Gewicht nicht sinken kann. Einem höchsten Stand des Ge -Mach. 566Erstes Kapitel.wichtes $$\frac {Q}{2}$$ , oder einem Minimum von geleiste - ter Arbeit im System, entspricht also labiles Gleichgewicht. Dagegen bemerkt man, dass nicht umgekehrt jedem Gleichgewicht ein Maximum oder Minimum von geleisteter Arbeit entspricht. Befindet sich der Stift in f, in einem Punkte mit horizontaler Inflexionstangente, so ist für unendlich kleine Ver - schiebungen ein Sinken des Gewichtes ebenfalls aus - geschlossen. Es besteht Gleichgewicht, obgleich die geleistete Arbeit weder ein Maximum noch ein Mini - mum ist. Das Gleichgewicht ist in dem gegebenen Falle ein sogenanntes gemischtes. Es ist für manche Störungen stabil, für andere labil. Es steht nichts im Wege, das gemischte Gleichgewicht als zu dem labilen gehörig zu betrachten. Wenn der Stift bei g steht, wo die Curve eine endliche Strecke horizontal verläuft, so besteht ebenfalls Gleichgewicht. Eine kleine Ver - schiebung wird bei der betreffenden Conformation we - der fortgesetzt, noch rückgängig gemacht. Dieses Gleichgewicht, welchem ebenfalls kein Maximum oder Minimum entspricht, nennt man indifferent. Hat die von $$\frac {Q}{2}$$ beschriebene Curve eine Spitze nach oben, so bietet dieselbe ein Minimum von geleisteter Arbeit, aber kein Gleichgewicht (auch kein labiles) dar. Einer Spitze nach unten entspricht ein Maximum und stabiles Gleich - gewicht. Die Summe der virtuellen Momente ist in diesem Gleichgewichtsfall nicht gleich Null, sondern negativ.

17. Wir haben bei unserer Ueberlegung voraus - gesetzt, dass mit der Bewegung eines Systempunktes auf einer Curve die Bewegung aller übrigen Punkte auf den zugehörigen Curven bestimmt ist. Die Ver - schiebbarkeit des Systems wird nun mannichfaltiger, wenn jeder Punkt auf einer zugehörigen Fläche ver - schiebbar ist, jedoch so, dass mit der Lage eines Punktes67Entwickelung der Principien der Statik.auf der zugehörigen Fläche die Lagen aller übrigen Punkte eindeutig bestimmt sind. Wir dürfen in diesem Falle nicht mehr die von $$\frac {Q}{2}$$ beschriebene Curve be - trachten, sondern müssen uns eine von $$\frac {Q}{2}$$ beschrie - bene Fläche vorstellen. Ist jeder Punkt in analoger Weise in einem zugehörigen Raume beweglich, so ver - schwindet die Möglichkeit, uns die Bewegung des Ge - wichtes $$\frac {Q}{2}$$ in rein geometrischer Weise zu veran - schaulichen. Um so mehr ist dies der Fall, wenn die Lage eines Systempunktes noch nicht alle übrigen Lagen mitbestimmt, sondern die Beweglichkeit des Sy - stems noch mannichfaltiger ist. In allen diesen Fällen kann uns aber die von $$\frac {Q}{2}$$ (Fig. 55) beschriebene Curve als ein Symbol der zu betrachtenden Vorgänge nützen. Wir finden auch in diesen Fällen die Maupertuis’schen Sätze wieder.

Wir haben bisher noch vorausgesetzt, dass in dem System constante (unveränderliche), von der Lage der System - punkte unabhängige Kräfte wirken. Nehmen wir an, dass die Kräfte von der Lage der Systempunkte (nicht aber von der Zeit) abhängen, so können wir zwar nicht mehr mit einfachen Flaschen - zügen operiren, sondern müssen Apparate fingiren, deren durch $$\frac {Q}{2}$$ ausgeübte Kraft sich mit der Verschiebung ändert, die ge - wonnenen Ansichten bleiben aber beste - hen. Die Tiefe des Gewichtes $$\frac {Q}{2}$$ misst immer die geleistete Arbeit, welche bei derselben Conformation des Systems immer

Fig. 56.

dieselbe, und von dem Ueberführungsweg unabhängig bleibt. Eine Vorrichtung, welche durch ein constantes5*68Erstes Kapitel.Gewicht eine mit der Verschiebung veränderliche Kraft entwickeln würde, wäre z. B. ein Wellrad Fig. 56 mit nicht kreisrundem Rade. Es verlohnt sich jedoch nicht der Mühe, auf die Einzelheiten der angedeuteten Ueber - legung einzugehen, da man ihre Durchführbarkeit sofort einsieht.

18. Kennt man die Beziehung zwischen der geleisteten Arbeit und der sogenannten lebendigen Kraft eines Systems, welche in der Dynamik constatirt wird, so kommt man leicht zu dem von Courtivron 1749 der pariser Akademie mitgetheilten Satze: Für die Con - formationen des stabilen labilen Gleichgewichts, für welche die geleistete Arbeit ein Maximum Minimum ist, ist auch die leben - dige Kraft des bewegten Systems ein Maximum Minimum beim Durchgang durch diese Conformationen.

19. Ein homogenes, schweres, dreiaxiges Ellipsoid, welches auf einer horizontalen Ebene ruht, ist sehr geeignet, die verschiedenen Gleichgewichtsarten an - schaulich zu machen. Ruht das Ellipsoid auf dem End - punkte der kleinsten Axe, so ist es im stabilen Gleich - gewicht, denn jede Verschiebung hebt den Schwerpunkt. Ruht es auf der grossen Axe, so ist das Gleichgewicht

Fig. 57.

labil. Steht das Ellip - soid auf der mittlern Axe, so ist das Gleich - gewicht gemischt. Eine homogene Kugel, oder ein homogener Kreis - cylinder auf einer hori - zontalen Ebene erläu - tern das indifferente Gleichgewicht. In der Fig. 57 sind die Bahnen des Schwerpunktes für einen auf der Horizontalebene um eine Kante rollenden Würfel dargestellt. Der Schwer -69Entwickelung der Principien der Statik.punktslage a entspricht stabiles, der Lage b labiles Gleichgewicht.

20. Wir wollen nun ein Beispiel betrachten, welches auf den ersten Blick sehr complicirt scheint, aber durch das Princip der virtuellen Verschiebungen sofort auf - geklärt wird. Johann und Jakob Bernoulli stiessen bei Gelegenheit eines Gesprächs über mathematische Dinge, auf einem Spaziergange, in Basel auf die Frage, welche Form wol eine an den beiden Enden befestigte, frei aufgehängte Kette annehmen möchte. Sie kamen bald und leicht in der Ansicht überein, dass dir Kette diejenige Gleichgewichtsform annimmt, bei welcher ihr Schwerpunkt möglichst tief liegt. In der That sieht man ein, dass Gleichgewicht besteht, wenn alle Ketten - glieder so tief gesunken sind, als dies möglich ist, wenn keins mehr sinken kann, ohne eine entsprechende Masse vermöge der Verbindungen gleich hoch oder höher zu heben. Wenn der Schwerpunkt so tief als möglich ge - sunken ist, wenn so viel geschehen ist, als geschehen kann, besteht stabiles Gleichgewicht. Der physikalische Theil der Aufgabe ist hiermit erledigt. Die Bestimmung der Curve, welche bei gegebener Länge zwischen den beiden Punkten A, B den tiefsten Schwerpunkt hat, ist nur mehr eine mathematische Aufgabe. (Fig. 58.)

21. Fassen wir alles zusammen, so sehen wir, dass in dem Princip der virtuellen Verschiebungen nur die Anerkennung einer Thatsache liegt, die uns längst in - stinctiv geläufig war, nur dass wir sie nicht so scharf und klar erfassten. Die Thatsache besteht darin, dass schwere Körper sich von selbst nur abwärts bewegen. Wenn mehrere untereinander verbunden sind, sodass sie sich nicht unabhängig voneinander verschieben können, so bewegen sie sich nur, wenn hierbei im ganzen schwere Masse sinken kann, oder wie dies das Princip, nach vollkommenerer Anpassung der Gedanken an die Thatsachen, eben schärfer ausdrückt, wenn hierbei Arbeit geleistet werden kann. Uebertragen wir nach Er - weiterung des Kraftbegriffes das Princip auch auf andere70Erstes Kapitel.

Fig. 58.

71Entwickelung der Principien der Statik.als Schwerkräfte, so liegt darin wieder die Anerkennung der Thatsache, dass die betreffenden Naturvorgänge nur in einem bestimmten Sinne und nicht im entgegen - gesetzten von selbst ablaufen. So wie die schweren Körper abwärts sinken, können sich die elektrischen und Temperaturdifferenzen von selbst nicht vergrössern, sondern nur verkleinern u. s. w. Sind derartige Vor - gänge so aneinander gebunden, dass sie nur im ent - gegengesetzten Sinne ablaufen können, so constatirt das Princip eben genauer, als dies die instinctive Auf - fassung zu thun vermag, die Arbeit als bestimmend und ausschlaggebend für die Richtung der Vorgänge. Die Gleichgewichtsgleichung des Princips lässt sich immer auf den trivialen Ausdruck bringen: Es ge - schieht nichts, wenn nichts geschehen kann.

22. Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass es sich bei dem Princip lediglich um Constatirung einer Thatsache handelt. Unterlässt man dies, so fühlt man immer einen Mangel, und sucht nach einer Be - gründung, die nicht zu finden ist. Jacobi führt in seinen Vorlesungen über Dynamik an, Gauss hätte (mündlich) gesagt, Lagrange’s Bewegungsgleichungen seien nicht bewiesen, sondern nur historisch ausge - sprochen worden. In der That scheint uns diese Auffassung auch in Bezug auf das Princip der virtuellen Ver - schiebungen die richtige zu sein.

Die Aufgabe der ältern, in einem Gebiete grund - legenden Forscher ist eine ganz andere als jene der spätem. Die erstern haben nur die wichtigsten That - sachen aufzusuchen und zu constatiren, und hierzu ge - hört, wie die Geschichte lehrt, mehr Geist, als man gewöhnlich glaubt. Sind einmal die wichtigsten That - sachen gegeben, dann kann man dieselben in der mathe - matischen Physik deductiv und logisch verwerthen, kann das Gebiet ordnen, kann zeigen, dass in der Annahme einer Thatsache schon eine ganze Reihe anderer ein - geschlossen ist, die man in der erstem nur nicht gleich sieht. Die eine Aufgabe ist so wichtig als die andere. 72Erstes Kapitel.Man darf beide aber nicht miteinander vermengen. Man kann nicht mathematisch beweisen, dass die Natur so sein müsse, wie sie ist. Man kann aber beweisen, dass die beobachteten Eigenschaften eine Reihe anderer, oft nicht direct sichtbarer, mit bestimmen.

Schliesslich sei bemerkt, dass das Princip der vir - tuellen Verschiebungen, wie jedes allgemeinere Princip, durch die Einsicht, die es gewährt, enttäuschend und aufklärend zugleich wirkt. Enttäuschend wirkt es, insofern wir in demselben nur längst bekannte und instinctiv erkannte Thatsachen, wenngleich schärfer und bestimmter wiedererkennen. Aufklärend wirkt es, in - dem es uns gestattet, überall dieselben einfachen That - sachen durch die complicirtesten Verhältnisse hindurch zu sehen.

5. Rückblick auf die Entwickelung der Statik.

1. Nachdem wir die Principien der Statik einzeln in Augenschein genommen haben, können wir die ganze Entwickelung der Statik noch einmal kurz überblicken. Die Statik, als der ältesten Periode der Mechanik an - gehörend, welche im griechischen Alterthum beginnt und schon in der Zeit des Aufschwunges der modernen Mechanik durch Galilei und dessen jüngere Zeitgenossen ihren Abschluss findet, erläutert vorzüglich den Bildungs - process der Wissenschaft. Hier liegen alle Anschauun - gen, alle Methoden in der einfachsten Form, in ihrer Kindheit vor. Diese Anfänge weisen deutlich auf ihren Ursprung aus den Erfahrungen des Handwerkes hin. Dem Bedürfniss, diese Erfahrungen in mittheilbare Form zu bringen, und dieselben über die Grenzen des Standes und des Handwerkes hinaus zu verbreiten, verdankt die Wissenschaft ihren Ursprung. Dem Sammler solcher Erfahrungen, der dieselben schriftlich aufzubewahren sucht, liegen viele verschiedene oder für verschieden gehaltene Erfahrungen vor. Er ist in der Lage, die - selben öfter, in wechselnder Ordnung und unbefangener73Entwickelung der Principien der Statik.zu überblicken, als der auf ein kleines Gebiet be - schränkte Arbeiter. Die Thatsachen und ihre Regeln treten sich in seinem Kopfe und in seiner Schrift zeit - lich und räumlich näher, und haben Gelegenheit, ihre Verwandtschaft, ihren Zusammenhang, ihren allmählichen Uebergang ineinander zu offenbaren. Der Wunsch, die Mittheilung zu vereinfachen und zu kürzen, drängt nach derselben Richtung hin. So werden also bei dieser Gelegenheit aus ökonomischen Gründen viele That - sachen und deren Regeln zusammengefasst und auf einen Ausdruck gebracht.

2. Ein derartiger Sammler hat auch Gelegenheit, eine neue Seite der Thatsachen zu beachten, welcher frühere Beobachter keine Aufmerksamkeit geschenkt haben. Eine Regel, welche aus der Beobachtung von That - sachen gewonnen wird, kann nicht die ganze Thatsache in ihrem unendlichen Reichthum, in ihrer unerschöpf - lichen Mannichfaltigkeit fassen, sondern gibt vielmehr nur eine Skizze der Thatsache, einseitig dasjenige her - vorhebend, was für den technischen (oder wissenschaft - lichen) Zweck wichtig ist. Welche Seiten einer That - sache beachtet werden, wird also von zufälligen Umstän - den, ja von der Willkür des Beobachters abhängen. Demnach wird sich der Anlass finden, eine neue Seite der Thatsache zu bemerken, welche zur Aufstellung neuer, den alten ebenbürtiger oder überlegener Regeln führt. So hat man z. B. am Hebel zuerst die Gewichte und Arme (Archimedes), dann die Gewichte und die senkrechten Abstände der Zugrichtungen von der Axe, die statischen Momente (da Vinci, Ubaldi), dann die Gewichte und die Verschiebungsgrössen (Galilei), end - lich die Gewichte und die Zugrichtungen in Bezug auf die Axe (Varignon) als gleichgewichtsbestimmende Um - stände ins Auge gefasst, und demnach die Gleichge - wichtsregeln gebildet.

3. Derjenige, welcher eine derartige neue Beobachtung macht, und eine neue Regel aufstellt, weiss gewöhnlich, dass man auch irren kann, wenn man eine Thatsache74Erstes Kapitel.in Vorstellungen und Begriffen nachzubilden sucht, um dies Bild als Ersatz stets zur Hand zu haben, wo die fragliche Thatsache ganz oder theilweise unzugänglich ist. Wirklich sind die Umstände, auf welche man zu achten hat, von so vielen andern Nebenumständen be - gleitet, dass es oft schwer wird, die für den Zweck wesentlichen auszuwählen und zu beachten. Man denke z. B. an die Reibung, Steifigkeit der Schnüre u. s. w. bei Maschinen, welche das reine Verhältniss der untersuchten Umstände trüben und verwischen. Kein Wunder also, wenn der Entdecker oder Prüfer einer neuen Regel, vom Mistrauen gegen sich selbst getrieben, nach einem Beweis der Regel sucht, deren Gültigkeit er bemerkt zu haben glaubt. Der Entdecker oder Prüfer vertraut der Regel nicht sofort, oder er traut nur einem Theil derselben. So zweifelt z. B. Archimedes, dass die Ge - wichte proportional mit ihren Hebelarmen wirken, er lässt aber ohne Bedenken den Einfluss der Hebel - arme überhaupt gelten. Daniel Bernoulli bezweifelt nicht den Einfluss der Kraftrichtung überhaupt, sondern nur die Art ihres Einflusses u. s. w. In der That ist es weit leichter zu beobachten, dass ein Umstand in einem gegebenen Falle überhaupt Einfluss habe, als zu ermitteln, welchen Einfluss er hat. Man ist bei letzterer Untersuchung viel mehr dem Irrthum ausge - setzt. Das Verhalten der Forscher ist also vollkommen natürlich und berechtigt.

Der Beweis der Richtigkeit einer neuen Regel kann dadurch erbracht werden, dass diese Regel oft ange - wandt, mit der Erfahrung verglichen und unter den verschiedensten Umständen erprobt wird. Dieser Process vollzieht sich im Laufe der Zeit von selbst. Der Entdecker wünscht aber rascher zum Ziel zu kom - men. Er vergleicht das Ergebniss seiner Regel mit allen ihm geläufigen Erfahrungen, mit allen ältern bereits vielfach erprobten Regeln, und sieht nach, ob er auf keinen Widerspruch stösst. Die grösste Autorität wird hierbei wie billig den ältesten geläufigsten Er -75Entwickelung der Principien der Statik.fahrungen, den am meisten erprobten Regeln einge - räumt. Unter den Erfahrungen nehmen wieder die instinctiven, welche ohne alles persönliche Zuthun lediglich durch die Wucht und die Häufung der auf den Menschen eindringenden Thatsachen entstehen, eine Sonderstellung ein, was wieder ganz gerechtfertigt ist, wo es sich eben um das Ausschliessen der subjectiven Willkür und des persönlichen Irrthums handelt.

Archimedes beweist in der angedeuteten Art sein Hebelgesetz, Stevin sein Gesetz des schiefen Druckes, Daniel Bernoulli das Kräftenparallelogramm, Lagrange das Princip der virtuellen Verschiebungen. Nur Galilei ist sich bei letzterm Satz vollkommen klar darüber, dass seine neue Beobachtung und Bemerkung jeder an - dern ältern ebenbürtig sei, dass sie aus derselben Erfahrungsquelle stamme. Er versucht gar keinen Be - weis. Archimedes verwendet bei seinem Beweis Kennt - nisse über den Schwerpunkt, die er wol selbst mit Hülfe des Hebelsatzes schon abgeleitet hat, die ihm aber wahrscheinlich auch von anderer Seite her als alte Erfahrungen so geläufig waren, dass er nicht mehr an denselben zweifelte, ja ihre Verwendung bei dem Be - weis vielleicht nicht einmal bemerkte. Auf die in - stiuctiven Elemente in den Betrachtungen von Archi - medes und Stevin ist gehörigen Orts schon ausführlich eingegangen worden.

4. Es ist ganz in der Ordnung, dass bei Gelegen - heit einer neuen Entdeckung alle Mittel herangezogen werden, welche zur Prüfung einer neuen Regel dienen können. Wenn aber die Regel nach Verlauf einer ent - sprechenden Zeit genügend oft direct erprobt worden ist, geziemt es der Wissenschaft zu erkennen, dass ein anderer Beweis ganz unnöthig geworden ist, dass es keinen Sinn hat, eine Regel für mehr gesichert zu hal - ten, indem man sie auf andere stützt, welche (nur etwas früher) auf ganz demselben Wege der Beobachtung ge - wonnen worden sind, dass eine besonnene und erprobte Beobachtung so gut ist als eine andere. Wir können76Erstes Kapitel.heute das Hebelprincip, die statischen Momente, das Princip der schiefen Ebene, das Princip der virtuellen Verschiebungen, das Kräftenparallelogramm, als durch gleichwerthige Beobachtungen gefunden ansehen. Ohne Belang ist gegenwärtig, dass manche dieser Funde direct, andere auf Umwegen und nebenher bei Gelegenheit anderer Beobachtungen gemacht worden sind. Es entspricht auch vielmehr der Oekonomie des Den - kens und der Aesthetik der Wissenschaft, wenn wir ein Princip, wie z. B. das der statischen Momente, direct als den Schlüssel zum Verständniss aller Thatsachen eines Gebietes erkennen, und dasselbe alle Thatsachen im Geiste durchdringen sehen, als wenn wir es nöthig finden, dasselbe zuvor flickend und hinkend, unscheinbare uns zufällig schon geläufige dasselbe Princip enthaltende Sätze zur Grundlage wählend, erst zu beweisen. Diesen Process kann die Wissenschaft und das Individuum (beim historischen Studium) einmal durchmachen. Beide dürfen sich aber nachher auf einen freiem Standpunkt stellen.

5. In der That führt diese Sucht zu beweisen in der Wissenschaft zu einer falschen und verkehrten Strenge. Einige Sätze werden für sicherer gehalten, und als die nothwendige und unanfechtbare Grundlage anderer angesehen, während ihnen nur der gleiche oder zuweilen sogar nur ein geringerer Grad der Sicherheit zukommt. Eben die Klarstellung des Grades der Sicherheit, welchen die strenge Wissenschaft anstrebt, wird hierbei nicht erreicht. Solche Beispiele falscher Strenge finden sich fast in jedem Lehrbuche. Die Ab - leitungen des Archimedes leiden, von ihrem historischen Werth abgesehen, an dieser falschen Strenge. Das auf - fallendste Beispiel aber liefert Daniel Bernoulli mit seiner Ableitung des Kräftenparallelogrammes. (Comment. Acad. Petrop.) T. I.

6. Es ist schon besprochen worden, dass die instinctiven Erkenntnisse ein ganz besonderes Vertrauen geniessen. Wir wissen nicht mehr, wie wir sie erworben haben,77Entwickelung der Principien der Statik.und können daher an der Art der Erwerbung nichts mehr bemängeln. Wir haben nichts zu ihrer Ent - stehung beigetragen. Sie treten uns mit einer Macht entgegen, welche dem Ergebniss einer willkürlichen reflectirenden Erfahrung, bei welcher wir immer unser Eingreifen fühlen, niemals zukommt. Sie erscheinen uns als etwas von Subjectivität Freies, Fremdes, das wir aber doch stets zur Hand haben, und das uns näher liegt als die einzelnen Naturthatsachen.

Alles dies hat zuweilen dazu geführt, diese Art Er - kenntnisse aus einer ganz andern Quelle abzuleiten, dieselben wol gar als a priori (vor aller Erfahrung) vorhanden zu betrachten. Dass diese Ansicht nicht haltbar sei, wurde bei Besprechung der Stevin’schen Leistungen ausführlicher erläutert. Auch die Autorität solcher instinctiver Kenntnisse, mögen dieselben für die Entwickelungsprocesse noch so wichtig sein, muss schliesslich jener eines klar und mit Absicht beob - achteten Princips nachgeben. Auch die instinctiven Erkenntnisse sind Erfahrungserkenntnisse und können, wie dies schon berührt worden ist, bei plötzlicher Er - öffnung eines neuen Erfahrungsgebietes sich als ganz unzureichend und ohnmächtig erweisen.

7. Das wahre Verhältniss der verschiedenen Prin - cipien ist ein historisches. Eins reicht weiter auf diesem, ein anderes weiter auf jenem Gebiet. Mag immerhin ein Princip, wie das der virtuellen Ver - schiebungen, mit Leichtigkeit eine grössere Anzahl ver - schiedener Fälle beherrschen als die übrigen Principien, so kann ihm doch nicht verbürgt werden, dass es stets die Oberhand behalten werde, und nicht durch ein neues zu übertreffen sei. Alle Principien fassen mehr oder weniger willkürlich bald diese, bald jene Seiten der - selben Thatsachen heraus, und enthalten eine skizzen - hafte Regel zur Nachbildung der Thatsachen in Ge - danken. Niemals kann man behaupten, dass dieser Pro - cess vollkommen gelungen und dass er abgeschlossen78Erstes Kapitel.sei. Wer dieser Anschauung huldigt, wird den Fort - schritt der Wissenschaft nicht hindern.

8. Werfen wir schliesslich noch einen Blick auf den Kraftbegriff der Statik. Die Kraft ist ein Umstand, welcher Bewegung im Gefolge hat. Mehrere derartige Umstände, von welchen jeder einzelne Bewegung bedingt, können zusammen auch ohne Bewegung vorkommen. Die Statik untersucht eben die hierzu nöthige Ab - hängigkeit dieser Umstände voneinander. Um die be - sondere Art der Bewegung, welche durch eine Kraft bedingt ist, kümmert sich die Statik weiter nicht. Die - jenigen bewegungsbestimmenden Umstände, die uns am besten bekannt sind, sind unsere eigenen Willensacte, die Innervationen. Bei den Bewegungen, welche wir selbst bestimmen, sowie bei jenen, zu welchen wir durch äussere Umstände gezwungen sind, empfinden wir stets einen Druck. Dadurch stellt sich die Gewohnheit her, jeden bewegungsbestimmenden Umstand als etwas einem Willensact Verwandtes und als einen Druck vorzu - stellen. Die Versuche, diese Vorstellung als subjectiv, animistisch, unwissenschaftlich zu beseitigen, misglücken uns immer. Es kann auch nicht nützlich sein, wenn man seinen eigenen natürlichen Gedanken Gewalt an - thut, und sich zu freiwilliger Armuth derselben ver - dammt. Wir werden bemerken, dass auch noch bei Begründung der Dynamik die erwähnte Auffassung eine Rolle spielt.

Wir können in vielen Fällen die in der Natur vor - kommenden bewegungsbestimmenden Umstände durch unsere Innervationen ersetzen, und dadurch die Vor - stellung einer Intensitätsabstufung der Kräfte gewinnen. Allein bei Beurtheilung dieser Intensität sind wir ganz auf unsere Erinnerung angewiesen, und können unsere Empfindung nicht mittheilen. Da wir aber jeden be - wegungsbestimmenden Umstand auch durch ein Gewicht darstellen können, so gelangen wir zu der Einsicht, dass alle bewegungsbestimmenden Umstände (Kräfte) gleich - artig seien, und durch Gewichtsgrössen ersetzt und ge -79Entwickelung der Principien der Statik.messen werden können. Das messbare Gewicht leistet uns bei Verfolgung der mechanischen Vorgänge als sicheres, bequemes und mittheilbares Merkmal analoge Dienste wie das unsere Wärmeempfindung in exacter Weise ver - tretende Thermometer bei Verfolgung der Wärmevor - gänge. Wie wir schon bemerkt haben, kann die Statik sich nicht jeder Kenntniss der Bewegungsvorgänge ent - schlagen. Dies zeigt sich besonders deutlich bei Be - stimmung der Richtung einer Kraft durch die Richtung der Bewegung, welche dieselbe, wenn sie allein vorhan - den ist, bestimmt. Als Angriffspunkt können wir jenen Körperpunkt bezeichnen, dessen Bewegung durch die Kraft auch dann noch bestimmt ist, wenn derselbe von seinen Verbindungen mit andern Körpertheilen be - freit wird.

Die Kraft ist also ein bewegungsbestimmender Um - stand, dessen Merkmale sich in folgender Art angeben lassen. Die Richtung der Kraft ist die Richtung der von der gegebenen Kraft allein bestimmten Bewegung. Der Angriffspunkt ist derjenige Punkt, dessen Bewegung auch unabhängig von seinen Verbindungen bestimmt ist. Die Grösse der Kraft ist das Gewicht, welches nach der bestimmten Richtung (an einer Schnur) wirkend, an dem gegebenen Punkt angreifend, dieselbe Bewegung bestimmt oder dasselbe Gleichgewicht erhält. Die übrigen Umstände, welche die Bestimmung einer Be - wegung modificiren, aber eine solche für sich allein nicht bestimmen können, wie die virtuellen Verschiebungen, die Hebelarme u. s. w., können als bewegungs - oder als gleichgewichtsbestimmende Nebenumstände bezeichnet werden.

6. Die Principien der Statik in ihrer Anwendung auf die flüssigen Körper.

1. Die Betrachtung der flüssigen Körper hat zwar der Statik nicht viele wesentlich neue Gesichtspunkte geliefert, doch haben sich dabei zahlreiche Anwendungen80Erstes Kapitel.und Bestätigungen der bereits bekannten Sätze ergeben, und die physikalische Erfahrung wurde durch die be - treffenden Untersuchungen sehr bereichert. Wir wollen deshalb diesem Gegenstande einige Blätter widmen.

2. Auch im Gebiete der Statik der Flüssigkeiten hat Archimedes den Grund gelegt. Von ihm rührt der be - kannte Satz über den Auftrieb (oder Gewichtsverlust) der in Flüssigkeiten eingetauchten Körper her, über dessen Auffindung Vitruv, De architectura , lib. 9, Fol - gendes berichtet:

Von all den vielen wunderbaren und mannichfachen, wol auch unendlich sinnreichen Entdeckungen des Ar - chimedes aber will ich nur die anführen, welche auf eine überaus kluge Weise gewonnen sein dürfte. Als nämlich Hiero, nachdem er zu königlicher Macht er - hoben worden, für seine glücklichen Thaten einen gol - denen Kranz, den er gelobt hatte, in irgendeinem Heiligthum weihen wollte, liess er diesen gegen Arbeits - lohn fertigen, und wog das dazu nöthige Gold dem Unternehmer genau vor. Dieser überlieferte seinerzeit das zur vollen Zufriedenheit des Königs gefertigte Werk, und auch das Gewicht des Kranzes schien genau zu entsprechen.

Als aber später die Anzeige gemacht wurde, es sei Gold unterschlagen und dafür ebenso viel Silber bei - gemischt worden, da beauftragte Hiero, aufgebracht darüber, hintergangen worden zu sein, ohne einen Weg finden zu können, jene Unterschlagung zu erweisen, den Archimedes, die Ausfindigmachung eines solchen Ueber - führungsweges auf sich zu nehmen. Dieser, damit eifrig beschäftigt, kam nun zufällig in ein Bad, und als er dort in die Wanne hinabstieg, bemerkte er, dass das Wasser in gleichem Maasse über die Wanne austrete, in welchem er seinen Körper mehr und mehr in die - selbe niederliess. Sobald er nun auf den Grund dieser Erscheinung gekommen war, verweilte er nicht länger, sondern sprang von Freude getrieben aus der Wanne, und nackend seinem Hause zulaufend zeigte er mit81Entwickelung der Principien der Statik.lauter Stimme an, er habe gefunden, was er suche. Denn im Laufe rief derselbe griechisch aus: #, # (ich habe es gefunden!)

3. Die Bemerkung, welche Archimedes zu seinem Satz führte, war demnach die, dass ein ins Wasser einsinken - der Körper ein entsprechendes Wasserquantum heben muss, gerade so, als wenn der Körper auf einer, das Wasser auf der andern Schale einer Wage läge. Diese Auffassung, welche auch heute noch die natürlichste und directeste ist, tritt auch in den Schriften des Archimedes Ueber die schwimmenden Körper hervor, welche leider nicht vollstän - dig erhalten sind, und theil - weise von F. Comandinus restituirt wurden.

Die Voraussetzung, von welcher Archimedes ausgeht, lautet:

Man setze als wesentliche Eigenschaft einer Flüssigkeit voraus, dass bei gleichförmiger und lückenloser Lage ihrer Theile der minder gedrückte

Fig. 59.

durch den mehr gedrückten in die Höhe getrieben[werde]Jeder Theil derselben aber wird von der nach senk - rechter Richtung über ihm befindlichen Flüssigkeit ge - drückt, wenn diese im Sinken begriffen ist, oder doch von einer andern gedrückt wird.

Nun denkt sich Archimedes, um es kurz zu sagen, die ganze kugelförmige Erde flüssig, und schneidet aus derselben Pyramiden heraus, deren Scheitel im Centrum liegen. Alle diese Pyramiden müssen im Gleichgewichts - fall gleiches Gewicht haben, und die gleichliegenden Theile derselben müssen den gleichen Druck erleiden. Taucht man in eine der Pyramiden den Körper a vom selben specifischen Gewicht wie Wasser, so sinkt er voll - kommen ein, und vertritt im Gleichgewichtsfall den Druck des verdrängten Wassers durch seinen eigenenMach. 682Erstes Kapitel.Druck. Der Körper b vom geringem specifischen Ge - wichte kann ohne Gleichgewichtsstörung nur so weit einsinken, dass das Wasser unter ihm denselben Druck durch das Gewicht des Körpers erleidet, als wenn der Körper beseitigt und der eingetauchte Theil durch Wasser ersetzt würde. Der Körper c von grösserm specifischen Gewicht sinkt so tief als er kann. Dass er im Wasser um das Gewicht des verdrängten Wassers weniger wiegt, sieht man, wenn man sich diesen Körper mit einem zweiten von geringerm specifischen Gewicht so verbun - den denkt, dass ein Körper vom specifischen Gewicht des Wassers entsteht, welcher eben vollkommen einsinkt.

4. Von den Arbeiten des Archimedes wurden, als

Fig. 60.

man im 16. Jahrhundert wieder an deren Studium ging, kaum die Sätze begriffen. Das volle Verständniss der Ableitungen war damals nicht mög - lich.

Stevin fand auf seinem eigenen Wege die wichtigsten Sätze der Hydrostatik und deren Ableitungen wieder. Es sind hauptsächlich zwei Gedanken, aus welchen Stevin seine fruchtbaren Folgerungen schöpft. Der eine Gedanke ist ganz ähn - lich demjenigen betreffend die geschlossene Kette. Der andere besteht in der Annahme, dass die Erstarrung der im Gleichgewicht befindlichen Flüssigkeit das Gleichgewicht nicht stört.

Zunächst stellt Stevin den Satz auf: Eine beliebige ge - gebene Wassermenge A bleibt im Wasser eingetaucht über - all im Gleichgewicht. Würde A vom umgebenden Wasser nicht getragen, sondern etwa sinken, so müssten wir an - nehmen, dass das hierbei an die Stelle von A tretende in denselben Verhältnissen befindliche Wasser ebenfalls sinkt. Diese Annahme führt also zu einer fortwährenden Bewegung, zu einem perpetuum mobile, was unserer Erfahrung und unserer instinctiven Erkenntniss wider - spricht.

83Entwickelung der Principien der Statik.

Das Wasser verliert also ins Wasser eingetaucht sein ganzes Gewicht. Denken wir uns nun die Oberfläche des eingetauchten Wassers erstarrt, das Oberflächenge - fäss (vas superficiarium), wie Stevin sich ausdrückt, so wird dieses noch immer denselben Druckverhältnissen unterliegen. Das leere Oberflächengefäss wird einen dem verdrängten Wassergewicht gleichen Auftrieb in der Flüssigkeit erfahren. Erfüllen wir das Ober - flächengefäss mit einem andern Körper von beliebigem specifischen Gewicht, so erkennen wir die Verminderung des Körpergewichtes um das Gewicht der verdrängten Flüssigkeit beim Eintauchen.

In einem rechtwinkelig parallelepipedischen mit Flüssigkeit gefüllten Gefäss mit verticalen Wänden fin - det sich der Druck auf den horizontalen Boden gleich dem Gewichte der Flüssig - keit. Dieser Druck ist auch für alle Bodentheile von gleicher Fläche derselbe. Denkt sich nun Stevin be - liebige Flüssigkeitstheile herausgeschnitten, und durch

Fig. 61.

starre eingetauchte Körper von demselben specifischen Gewicht ersetzt, oder was dasselbe ist, denkt er sich einen Theil der Flüssigkeit erstarrt, so werden die Druck - verhältnisse hierdurch nicht geändert. Mit Leichtigkeit übersieht man aber dann die Unabhängigkeit des Boden - druckes von der Gefässform, die Druckgesetze in com - municirenden Gefässen u. s. w.

5. Galilei behandelt das Gleichgewicht der Flüssig - keiten in communicirenden Gefässen und die verwandten Fragen mit Hülfe des Princips der virtuellen Ver - schiebungen. Ist NN das gemeinschaftliche Niveau der im Gleichgewicht befindlichen Flüssigkeit in zwei communicirenden Gefässen, so erklärt er das Gleichge - wicht dadurch, dass bei einer Störung die Verschiebungen6*84Erstes Kapitel.der Säulen sich umgekehrt wie die Querschnitte und Säulengewichte verhalten, also wie bei den Maschinen im Gleichgewicht. Dies ist aber nicht ganz correct. Der Fall entspricht nicht genau den von Galilei unter - suchten Gleichgewichtsfällen an Maschinen, welche ein in - differentes Gleichgewicht darbieten. Bei den Flüssig - keiten in communicirenden Röhren bringt nämlich jede Störung des gemeinschaftlichen Flüssigkeitsspiegels eine Schwerpunktserhebung hervor. In dem Falle der Figur 61 wird der Schwerpunkt S, der in A aus dem schraffirten Raum verdrängten Flüssigkeit nach S′ ge - hoben, während man die übrige Flüssigkeit als unbe - wegt betrachten kann. Der Schwerpunkt liegt also im Gleichgewichtsfall am tiefsten.

Fig. 62.

6. Pascal verwendet ebenfalls das Princip der virtuellen Verschiebungen, aber in correcter Weise, denn er sieht von dem Gewicht der Flüssigkeit ab, und betrachtet nur den Oberflächen - druck. Denkt man sich zwei com - municirende Gefässe mit Kolben ver - schlossen, und werden diese Kolben, durch ihren Flächen proportionale Gewichte belastet, so besteht Gleich - gewicht, weil vermöge der Unveränderlichkeit des Flüssigkeitsvolums bei jeder Störung die Verschiebungen den Gewichten verkehrt proportionirt sind. Für Pascal folgt also aus dem Princip der virtuellen Verschiebungen, dass im Gleichgewichtsfalle jeder Druck auf einen Ober - flächentheil der Flüssigkeit sich auf jeden andern wie immer orientirten gleichen Oberflächentheil in gleicher Grösse fortpflanzt. Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass auf diesem Wege der Satz gefunden werde. Wir werden jedoch sehen, dass die natürlichere und befriedigendere Auffassung darin besteht, den Satz als direct gegeben zu betrachten.

7. Wir wollen nun nach dieser historischen Skizze die wichtigsten Fälle des Flüssigkeitsgleichgewichts85Entwickelung der Principien der Statik.nochmals betrachten, und hierbei je nach Bequemlich - keit verschiedene Gesichtspunkte verwenden.

Die durch die Erfahrung gegebene Grundeigenschaft der Flüssigkeit besteht in der Verschiebbarkeit ihrer Theile durch die geringsten Druckkräfte. Stellen wir uns ein Volumelement der Flüssigkeit vor, von deren Schwere wir absehen, etwa ein kleines Würfelchen. Wenn auf eine der Würfelflächen der geringste Ueber - druck ausgeübt wird, weicht die Flüssigkeit und tritt nach allen Richtungen durch die übrigen fünf Würfel - flächen aus. Ein starres Würfelchen kann etwa auf die obere und untere Fläche einen andern Druck er - fahren als auf die Seitenflächen. Ein flüssiges Würfel - chen kann hingegen nur bestehen, wenn normal auf alle Seitenflächen derselbe Druck ausgeübt wird. Eine ähn - liche Ueberlegung lässt sich für jedes andere Polyëder anstellen. In dieser geometrisch geklärten Vorstellung liegt nichts als die rohe Erfahrung, dass die Theilchen der Flüssigkeit dem kleinsten Druck nachgeben, und dass sie diese Eigenschaft im Innern der Flüssigkeit auch behalten, wenn diese unter einem hohen Druck steht, indem z. B. kleine schwere Körperchen noch immer in derselben untersinken u. s. w.

Mit der Verschiebbarkeit der Theilchen verbinden die Flüssigkeiten noch eine andere Eigenschaft, die wir jetzt betrachten wollen. Die Flüssigkeiten erfahren durch Druck eine Volumsverminderung, welche dem auf die Oberflächeneinheit ausgeübten Druck proportional ist. Jede Druckänderung führt eine proportionale Volums - und Dichtenänderung der Flüssigkeit mit sich. Nimmt der Druck ab, so wird das Volum wieder grösser, die Dichte wieder kleiner. Das Flüssigkeitsvolum verklei - nert sich also bei Druckzuwachs so weit, bis durch die geweckte Elasticität diesem Druckzuwachs das Gleichgewicht gehalten wird.

8. Die ältern Forscher, wie z. B. jene der florentiner Akademie, waren der Meinung, dass die Flüssigkeiten überhaupt incompressibel seien. Erst John Canton be -86Erstes Kapitel.schrieb 1763 einen Versuch, durch welchen die Com - pressibilität des Wassers nachgewiesen wurde. Ein Thermometergefäss wird mit Wasser gefüllt, ausgekocht, und dann zugeschmolzen. Die Flüssigkeit reicht bis a. Da aber der Raum ober a luftleer ist, so trägt die - selbe den Luftdruck nicht. Wird die zugeschmolzene Spitze abgebrochen, so sinkt die Flüssigkeit bis b. Nur ein Theil der Verschiebung kommt aber auf Rechnung

Fig. 63.

der Compression der Flüssigkeit durch den Atmosphärendruck. Setzt man nämlich das Gefäss vor dem Abbrechen unter die Luft - pumpe und evacuirt, so sinkt dadurch die Flüssigkeit bis c. Dies geschieht dadurch, dass der Druck, welcher auf dem Gefäss lastet und dessen Capacität vermindert, aufhört. Beim Abbrechen der Spitze wird dieser Aussen - druck der Atmosphäre durch den Innendruck compensirt, und es tritt wieder eine Capacitätsvermehrung des Gefässes ein. Der Theil cb entspricht also der

Fig. 64.

eigentlichen Compression der Flüssigkeit durch den Atmosphärendruck.

Oersted hat zuerst genauere Versuche über die Compressibilität des Wassers an - gestellt, und hierbei eine sehr sinnreiche Methode angewandt. Ein Thermometer - gefäss A ist mit ausgekochtem Wasser ge - füllt, und taucht mit der offenen Capillar - röhre in Quecksilber ein. Neben dem - selben befindet sich eine mit Luft gefüllte, mit dem offenen Ende ebenfalls ins Queck - silber tauchende Manometerröhre B. Der ganze Apparat wird in ein mit Wasser gefülltes Gefäss gebracht, das mit Hülfe einer Pumpe comprimirt wird. Hierbei wird das Wasser in A ebenfalls comprimirt und der Quecksilber - faden, welcher in der Capillarröhre ansteigt, zeigt diese Compression an. Die Capacitätsänderung, welche das Gefäss A nun noch erfährt, entsteht nur mehr durch das Zusammendrücken der allseitig gepressten Glaswände.

87Entwickelung der Principien der Statik.

Die feinsten Versuche über diesen Gegenstand sind von Grassi mit einem von Regnault construirten Appa - rat ausgeführt, und mit Hülfe von Lamé’s Corrections - formeln berechnet worden. Um ein anschauliches Bild der Compressibilität des Wassers zu haben, bemerken wir, dass Grassi (für ausgekochtes) Wasser von bei einer Atmosphäre Druckzuwachs eine Verminderung um etwa 5 Hunderttausendtheile des ursprünglichen Volums beobachtet hat. Denken wir uns also das Ge - fäss A als Litergefäss (1000 ccm), und daran eine Capillarröhre von 1 qmm Querschnitt, so steigt der Quecksilberfaden beim Druck einer Athmosphäre um 5 cm.

9. Der Oberflächendruck bringt also eine physika - lische Aenderung (Dichtenänderung) der Flüssigkeit mit sich, welche durch hinreichend feine Mittel (z. B. auch optische) wahrgenommen werden kann. Wir dürfen uns immer vorstellen, dass stärker gedrückte Flüssigkeits - theile (wenn auch wenig) dichter sind als schwächer gedrückte Theile.

Denken wir uns nun in einer Flüssigkeit (in deren Innerem keine Kräfte wirken, von deren Schwere wir also absehen) zwei Theile von ungleichem Druck anein - ander grenzend. Der stärker gedrückte dichtere Theil wird sich ausdehnen, und den schwächer gedrückten so lange comprimiren, bis an der Grenzfläche die einer - seits geschwächte, andererseits gesteigerte Elasticitäts - kraft das Gleichgewicht herstellt, und beide gleich com - primirt sind.

Versuchen wir nun unsere Vorstellung der beiden Thatsachen, der leichten Verschiebbarkeit und der Com - pressibilität der Flüssigkeitstheile quantitativ so zu klären, dass sie den verschiedensten Erfahrungen sich anpasst, so gelangen wir zu dem Satz: In einer Flüssig - keit (in deren Innerem keine Kräfte wirken, von deren Schwere wir absehen) entfällt im Gleichgewichtsfall überall auf jedes beliebig gestellte (orientirte) gleiche Flächenelement der gleiche Druck. Der Druck ist also88Erstes Kapitel.in allen Punkten derselbe, und er ist von der Richtung unabhängig.

Besondere Experimente zum Nachweis des Satzes sind wol nie in der nöthigen Genauigkeit angestellt worden. Der Satz ist aber durch die Erfahrungen über Flüssigkeiten sehr nahe gelegt, und macht diese sofort verständlich.

10. Ist eine Flüssigkeit in einem Gefäss eingeschlossen, das mit einem Stempel A, dessen Querschnitt der Flächeneinheit gleich ist, versehen ist, und wird der - selbe, während der Stempel B befestigt ist, mit dem Druck p belastet, so herrscht (von der Schwere abge - sehen) überall im Gefässe derselbe Druck p. Der

Fig. 65.

Stempel dringt so weit ein, und die Gefässwände werden so weit deformirt, dass sich die Elasticitätskräfte der starren und flüssigen Körper überall das Gleichgewicht halten. Denkt man sich nun den Stempel B von dem Querschnitte f beweglich, so kann nur der Druck f·p ihn im Gleichgewicht erhalten.

Wenn Pascal den erwähnten Satz aus dem Princip der virtuellen Ver - schiebungen ableitet, so ist zu bemerken, dass das von ihm erkannte Verschiebungsverhältniss nur durch die leichte Verschiebbarkeit der Theile und durch die Gleichheit des Druckes in allen Theilen der Flüssigkeit bedingt ist. Könnte in einem Flüssigkeitstheil eine stärkere Compression eintreten als in einem andern, so wäre das Verschiebungsverhältniss gestört und die Pas - cal’sche Ableitung nicht mehr zulässig. Wir können um die Eigenschaft der Druckgleichheit als einer ge - gebenen nicht herumkommen, wie wir auch erkennen, wenn wir bedenken, dass auch bei Gasen, bei welchen von einem constanten Volum auch nicht annähernd die Rede sein kann, dasselbe Gesetz besteht, welches Pascal für tropfbare Flüssigkeiten ableitet. Unserer Auf -89Entwickelung der Principien der Statik.fassung bereitet dieser Umstand keine Schwierigkeit, wohl aber der Pascal’schen. Auch beim Hebel wird, nebenbei bemerkt, das Verhältniss der virtuellen Ver - schiebungen durch die Elasticitätskräfte des Hebel - körpers gesichert, welche eine starke Abweichung von diesem Verhältniss nicht gestatten.

11. Wir wollen nun das Verhalten der Flüssigkeiten unter dem Einfluss der Schwere in Augenschein nehmen. Die Oberfläche der Flüssigkeit ist im Gleichgewichtsfall horizontal NN. Dies wird sofort verständlich, wenn man bedenkt, dass jede Veränderung dieser Oberfläche den Schwerpunkt der Flüssigkeit hebt, die Masse aus dem schraffirten Raum unter NN mit dem Schwer -

Fig. 66.

Fig. 67.

punkt S in den schraffirten Raum ober NN mit dem Schwerpunkt S′ befördert. Diese Veränderung wird also durch die Schwere wieder rückgängig gemacht.

Eine schwere Flüssigkeit mit horizontaler Oberfläche befinde sich in einem Gefässe im Gleichgewicht. Wir betrachten ein kleines rechtwinkeliges Parallelepiped im Innern derselben. Dasselbe soll die horizontale Grundfläche[α]und die verticalen Kanten von der Länge dh haben. Das Gewicht desselben ist also[α]dhs, wo - bei s das specifische Gewicht bedeutet. Wenn das Parallelepiped nicht fällt, so ist dies nur dadurch möglich, dass auf der untern Fläche ein grösserer Eigendruck der Flüssigkeit lastet als auf der obern. Den Druck auf die obere und untere Fläche bezeichnen wir beziehungsweise durch[α]p und[α](p+dp). Das90Erstes Kapitel.Gleichgewicht besteht, wenn 〈…〉 oder 〈…〉 , wobei h nach abwärts positiv gerechnet wird. Man sieht hieraus, dass für gleiche Zuwüchse von h ver - tical abwärts auch der Druck p gleiche Zuwüchse er - fährt. Es ist p = hs+q, und wenn q, der Druck in der freien Oberfläche (der gewöhnlich dem Atmosphären - druck entspricht) = o wird, noch einfacher p = hs, d. h. der Druck ist proportional der Tiefe unter dem Spiegel. Stellt man sich vor, die Flüssigkeit sei ein - gegossen, und dieses Verhältniss sei noch nicht erreicht, dann wird jedes Flüssigkeitstheilchen etwas sinken, bis das darunter befindliche comprimirte Theilchen dem Gewichte des obern durch seine Elasticität die Wage hält.

Aus der angeführten Betrachtung ersieht man auch, dass die Druckzunahme in einer Flüssigkeit nur in dem Sinne stattfindet, in welchem die Schwerkraft wirkt. Nur an der untern Grundfläche des Parallel - epipeds muss ein elastischer Ueberdruck der unterhalb liegenden Flüssigkeit dem Gewicht des Parallelepipeds die Wage halten. Zu beiden Seiten der verticalen Grenzflächen des Parallelepipeds befindet sich aber Flüssigkeit von gleicher Compression, da in der Grenz - fläche keine Kraft wirkt, welche eine stärkere Compression auf einer Seite bedingen würde.

Denkt man sich den Inbegriff aller Punkte der Flüssigkeit, welche demselben Druck p entsprechen, so erhält man eine Fläche, die sogenannte Niveaufläche. Verschiebt man ein Theilchen in der Richtung der Schwerkraft, so erfährt es eine Druckänderung. Ver - schiebt man es senkrecht zur Schwerkraft, so findet keine Druckänderung statt. Im letztern Falle bleibt es in derselben Niveaufläche, und das Element der Niveau - fläche steht also zur Richtung der Schwerkraft senk - recht.

Denken wir uns die Erde kugelförmig und flüssig, so sind die Niveauflächen concentrische Kugeln, und die91Entwickelung der Principien der Statik.Richtungen der Schwerkräfte (die Radien), stehen auf den Kugelflächenelementen senkrecht. Analoge Bemerkungen könnte man machen, wenn an Stelle der Schwerkraft die Flüssig - keitstheile von andern Kräften, z. B. magnetischen angetrieben würden.

Die Niveauflächen bilden in gewisser Art die Kraftverhält - nisse ab, unter welchen die Flüssigkeit steht, welche Betrach - tung die analytische Hydrostatik weiter ausführt.

12. Die Zunahme des Druckes mit der Tiefe unter dem Spiegel einer schweren Flüssigkeit kann man durch einige Experimente anschaulich machen, welche grösstentheils von Pascal her - rühren. Man kann bei dieser Gelegenheit auch die Unab - hängigkeit des Druckes von der Richtung wahrnehmen. In 1 ist ein leeres unten abgeschliffenes und mit einer aufgelegten Me - tallplatte pp verschlossenes Glas - rohr g dargestellt, welches in Wasser eingesenkt ist. Bei ge - nügender Tiefe des Eintauchens kann man den Faden loslassen, ohne dass die vom Eigendruck der Flüssigkeit getragene Platte herabfällt. In 2 ist die Platte durch ein Quecksilbersäulchen ersetzt. Taucht man eine offene

Fig. 68.

mit Quecksilber gefüllte Heberröhre ins Wasser, so sieht man (3) durch den Druck bei a das Queck - silber in dem längern Schenkel steigen. In 4 sehen92Erstes Kapitel.wir eine Röhre, die am untern Ende durch einen Lederbeutel verschlossen und mit Quecksilber gefüllt ist. Tieferes Eintauchen treibt das Quecksilber weiter in die Höhe. Das Holzstück h wird (5) durch den Wasserdruck in den kürzern Schenkel der leeren Heberröhre hinabgetrieben. Ein Holzstück H bleibt unter Quecksilber auf dem Boden des Ge - fässes haften und wird an denselben angedrückt, so - lange das Quecksilber nicht unter dasselbe gelangt.

13. Hat man sich klar gemacht, dass der Druck im Innern der schweren Flüssigkeit proportional der Tiefe unter dem Spiegel zunimmt, so erkennt man leicht die Unabhängigkeit des Bodendrucks von der Gefässform. Der Druck nimmt nach unten in gleicher Weise zu, ob das Gefäss die Form abcd oder ebcf hat. In beiden Fällen werden die Gefässwände, wo sie die

Fig. 69.

Flüssigkeit berühren, so weit deformirt, dass sie durch ihre Elasticität dem Flüssig - keitsdruck das Gleichgewicht halten, also die angrenzende Flüssigkeit in Bezug auf den Druck ersetzen. Hierdurch rechtfertigt sich direct die Stevin’sche Fiction der erstarrten, die Gefässwände er - setzenden Flüssigkeit. Der Bodendruck bleibt immer

Fig. 70.

P = Ahs, wobei A die Bodenfläche, h die Tiefe des hori - zontalen ebenen Bo - dens unter dem Ni - veau und s das spe - cifische Gewicht der Flüssigkeit bedeutet.

Dass die Gefässe 1, 2, 3 bei gleicher Bodenfläche und Druckhöhe (von den Gefässwänden abgesehen) auf der Wage ein ungleiches Flüssigkeitsgewicht anzeigen, steht natürlich mit den erwähnten Druckgesetzen nicht im93Entwickelung der Principien der Statik.Widerspruch. Beachtet man den Seitendruck, so er - gibt dieser bei 1 noch eine Componente nach unten, und bei 3 noch nach oben, sodass der resultirende Oberflächendruck immer dem Gewicht gleich wird.

14. Das Princip der virtuellen Verschiebungen ist sehr geeignet, um derartige Fälle klar zu überblicken, wes - halb wir dasselbe verwenden wollen. Zuvor bemerken wir aber Folgendes. Wenn das Gewicht q von 1 nach 2 sinkt, während dafür ein gleich grosses von 2 nach 3 sich begibt, so ist die hierbei geleistete Arbeit qh1+qh2 = q (h1+h2), also dieselbe, als ob das Gewicht q direct von 1 nach 3 übergegangen, das Ge - wicht in 2 aber an seiner Stelle geblieben wäre.

Fig. 71.

Fig. 72.

Die Bemerkung lässt sicht leicht verallgemeinern.

Betrachten wir ein homogenes schweres rechtwinkeliges Parallelepiped mit verticalen Kanten von der Länge h, der Basis A und dem specifischen Gewicht s. Das - selbe (oder der Schwerpunkt desselben) sinke um dh. Die Arbeit ist dann Ahs·dh oder auch Adh·s·h. Bei dem erstern Ausdruck denken wir uns das ganze Gewicht Ahs um die Höhe dh verschoben, bei dem zweiten Ausdruck hingegen das Gewicht Adhs aus dem obern schraffirten Raum in den untern um die Höhe h gesenkt, während wir den übrigen Körper gar nicht beachten. Beide Auffassungen sind zulässig und gleich - werthig.

15. Mit Hülfe dieser Bemerkung erhalten wir einen klaren Einblick in das von Pascal gefundene Paradoxon,94Erstes Kapitel.welches in Folgendem besteht. Das Gefäss g, an einem besondern Ständer befestigt und aus einem engen obern und einem sehr weiten untern Cylinder bestehend, ist durch einen beweglichen Kolben am Boden geschlossen, welcher mit Hülfe eines Fadens durch die Axe der Cylinder an der Wage aufgehängt ist. Wird g mit

Fig. 73.

Wasser gefüllt, so müssen trotz der ge - ringen Wassermenge auf die andere Wagschale beträchtliche Gewichte gelegt werden, deren Summe Ahs ist, wo - bei A die Stempel - fläche, h die Flüssig - keitshöhe und s deren specifisches Gewicht ist.

Friert nun die Flüssigkeit mit Loslösung von den Ge - fässwänden, so genügt sofort eine sehr kleine Belastung zur Erhaltung des Gleichgewichts.

Achten wir auf die virtuellen Verschiebungen in beiden

Fig. 74.

Fällen. (Fig. 74.) Im ersten Fall ist bei der Stempeler - hebung dh das virtuelle Moment Adhs·h oder Ahs·dh, also dasselbe, als wenn die vom Stempel ver - drängte Masse um die ganze Druckhöhe bis zum Spiegel der Flüssigkeit, oder als ob das ganze Gewicht Ahs um dh gehoben würde. Im zwei - ten Fall tritt die vom Stempel verdrängte Masse nicht bis an den Spiegel, sondern erfährt eine viel kleinere Verschiebung, die Verschiebung des Stempels. Sind A, a die Querschnitte des weitern und engern Cylinders, k, l die zugehörigen Höhen, so ist das entsprechende vir - tuelle Moment Adhs·k+adhs·l = (Ak+al) s·dh,95Entwickelung der Principien der Statik.es entspricht also der Erhebung des viel kleinern Ge - wichts (Ak+al) s um die Höhe dh.

16. Die Gesetze des Sietendrucks der Flüssigkeiten sind nur geringfügige Modificationen der Gesetze des Boden - drucks. Hat man z. B. ein würfelförmiges Gefäss von 1 Decimeter Seite, also ein Litergefäss, so ergibt sich bei vollständiger Füllung mit Wasser der Druck auf eine verticale Seitenwand ABCD sehr leicht. Je tiefer das Wandelement unter dem Spiegel, einen desto höhern Druck erfährt es. Man bemerkt leicht, dass der Druck derselbe ist, als ob auf der horizontal gestellten Wand der Wasserkeil ABCDHI ruhen würde, wobei ID auf BD und ID = HC = AC ist. Der Seitendruck beträgt also ein halbes Kilo - gramm.

Um den Angriffs - punkt des resultirenden Drucks zu ermitteln, denken wir uns wieder ABCD horizontal mit dem darauf lastenden

Fig. 75.

Keil. Schneiden wir AK = BL = AC ab, ziehen die Grade KL und halbiren wir M, so ist M der gesuchte Angriffspunkt, denn durch diesen Punkt geht die den Schwerpunkt des Keiles passirende Verticale hindurch.

Eine schiefe ebene Figur, welche den Boden eines mit Flüssigkeit gefüllten Gefässes bildet, theilen wir in Elemente[α],[α],[α] mit den Tiefen h, h′, h″ unter dem Niveau. Der Bodendruck ist 〈…〉

Nennen wir A die Gesammtfläche und H die Tiefe ihres Schwerpunkts unter dem Spiegel, so ist 〈…〉 demnach der Bodendruck AHs.

96Erstes Kapitel.

17. Das Princip des Archimedes kann in sehr ver - schiedener Weise abgeleitet werden. Nach dem Vor - gange von Stevin denken wir uns im Innern der Flüssig - keit einen Theil derselben erstarrt. Er wird wie zuvor von der umgebenden Flüssigkeit getragen. Die Resul - tirende der Oberflächendruckkräfte greift also im Schwer - punkte der vom starren Körper verdrängten Flüssigkeit an, und ist deren Gewicht gleich und entgegengesetzt. Bringen wir nun an die Stelle der erstarrten Flüssig - keit irgendeinen andern starren Körper von derselben Form, aber anderm specifischen Gewicht, so bleiben die Oberflächendruckkräfte dieselben. Es wirken also zwei Kräfte an dem Körper, das Gewicht des Körpers, an -

Fig. 76.

greifend im Schwerpunkt des Körpers, und der Auftrieb, die Resultirende der Oberflächendruckkräfte, angreifend im Schwerpunkt der verdrängten Flüssig - keit. Nur bei homogenen starren Kör - pern fallen beide Schwerpunkte zu - sammen.

Taucht man ein rechtwinkeliges Parallelepiped von der Höhe h und der Basis[α]mit verticalen Kanten in eine Flüssigkeit vom specifischen Gewicht s, so ist, wenn die obere Basisfläche die Tiefe k unter dem Niveau hat, der Druck auf dieselbe[α]ks, auf die untere Fläche hingegen[α](k+h) s. Da sich nun die Seitendruck - kräfte aufheben, verbleibt ein Ueberdruck[α]hs oder v·s nach oben, wobei v das Volum des Parallelepipeds bedeutet.

Mit Hülfe des Princips der virtuellen Verschiebungen kommen wir der Auffassung am nächsten, von welcher Archimedes selbst ausgegangen ist. Ein Parallelepiped vom specifischen Gewicht[σ], der Basis a und der Höhe h sinke um dh. Dann ist das virtuelle Moment der Uebertragung aus dem obern in den untern schraffirten Raum adh·[σ]h. Dafür steigt die Flüssigkeit aus dem untern in den obern Raum, und deren Moment ist adhsh. Das gesammte virtuelle Moment ist also97Entwickelung der Principien der Statik.ah ([σ] s) dh = (p q) dh, wobei p das Gewicht des Körpers, q jenes der verdrängten Flüssigkeit bedeutet.

18. Man könnte sich die Frage stellen, ob der Auf - trieb eines Körpers in einer Flüssigkeit durch Ein - tauchen der letztern in eine andere Flüssigkeit alterirt wird. In der That hat man sich gelegentlich diese absonderliche Frage gestellt. Es sei also ein Körper k in eine Flüssig - keit A und letztere mit ihrem Gefäss abermals in eine Flüssigkeit B eingetaucht. Sollte bei Bestimmung des Gewichtsverlustes in A der Gewichtsverlust des A in B in Anschlag kommen, so müsste der Gewichts - verlust von K vollständig verschwinden, wenn die Flüssigkeit B mit A identisch wird. Es hätte also K in A eingetaucht einen Ge - wichtsverlust und auch keinen. Eine derartige Regel hat also kei - nen Sinn.

Mit Hülfe des Princips der vir - tuellen Verschiebungen überblickt man die verwickeltern Fälle dieser Art sehr leicht. Taucht ein Kör - per allmählich zuerst in B ein, dann theilweise in B und in A,

Fig. 77.

endlich in A allein, so kommen (bei Beachtung der vir - tuellen Momente) im zweiten Falle beide Flüssigkeiten nach Maassgabe des eingetauchten Volums in Betracht. Sobald aber der Körper ganz in A eingetaucht ist, steigt bei weiterer Verschiebung der Spiegel von A nicht mehr, und B ist also weiter nicht von Belang.

19. Das Princip von Archimedes lässt sich durch einen hübschen Versuch zur Anschauung bringen. Man hängt Fig. 78 auf eine Seite einer Wage einen Hohlwürfel H und unter denselben einen Massivwürfel M, welcher in den Hohlwürfel genau hineinpasst, und setzt die Wage ins Gleichgewicht. Taucht man, ein unterhalb stehendes Gefäss erhebend, M ins Wasser, so wird das Gleichge - wicht gestört, aber sofort wiederhergestellt, wenn man H mit Wasser füllt.

Mach. 798Erstes Kapitel.

Ein Gegenversuch ist folgender. Auf einer Seite der Wage bleibt H. Auf die andere Wagschale wird ein Gefäss mit Wasser gesetzt, und oberhalb desselben, auf einem von der Wage unabhängigen Stativ, M mit Hülfe eines dünnen Drahtes aufgehängt. Die Wage wird äquilibrirt. Senkt man nun M so, dass es ins Wasser taucht, so tritt wieder eine Gleichgewichtsstörung auf, welche beim Anfüllen von H mit Wasser verschwindet.

Dieser Versuch scheint auf den ersten Blick etwas

Fig. 78.

paradox. Man fühlt aber zunächst in - stinctiv, dass man M nicht ins Wasser tauchen kann, ohne einen Druck auszu - üben, der die Wage afficiren muss. Be - denkt man, dass der Spiegel des Wassers im Gefäss steigt, und dass der starre Körper M dem Oberflächendruck des umgebenden Wassers eben das Gleich - gewicht hält, also ein gleiches Volum Wasser vertritt und ersetzt, so ver - schwindet alles Paradoxe an dem Ver - such,

20. Die wichtigsten statischen Sätze sind bei Betrachtung des Gleichgewichts starrer Körper gewonnen worden. Die - ser Gang ist zufällig der historische, er ist aber keineswegs der einzig mögliche und nothwendige. Die verschie - denen Wege, welche Archimedes, Stevin, Galilei u. A. eingeschlagen haben, legen uns diesen Gedanken nahe genug. Wirklich hätten allgemeine statische Prin - cipien, mit Zuhülfenahme ganz einfacher Sätze aus der Statik starrer Körper, bei Betrachtung der Flüssigkeiten gefunden werden können. Stevin war diesem Fund jedenfalls sehr nahe. Wir wollen hierauf einen Augen - blick eingehen.

Wir stellen uns eine Flüssigkeit vor, von deren Schwere wir absehen. Dieselbe sei in einem Gefäss eingeschlossen, und stehe unter einem gegebenen Druck. 99Entwickelung der Principien der Statik.Ein Theil der Flüssigkeit möge erstarren. Auf die ge - schlossene Oberfläche wirken den Flächenelementen proportionale Normalkräfte, und wir sehen ohne Schwierig - keit, dass ihre Resultirende stets = 0 ist.

Grenzen wir einen Theil der geschlossenen Oberfläche durch eine geschlossene Curve ab, so erhalten wir eine nicht geschlossene Oberfläche. Alle Oberflächen, welche durch dieselbe (doppelt gekrümmte) Curve begrenzt werden, und aufwelche den Flächenelementen proportionale Normalkräfte (in demselben Sinne) wirken, geben die gleiche Resulti - rende.

Es möge nun ein durch irgendeine

Fig. 79.

geschlossene Leitlinie bestimmter flüssiger Cylinder er - starren. Von den beiden zur Axe senkrechten Basis - flächen können wir absehen. Statt der Mantelfläche kann die blosse Leitlinie betrachtet werden. Es er - geben sich hierdurch ganz analoge Sätze für die den Elementen einer ebenen Curve proportionalen Normal - kräfte.

Uebergeht die geschlossene Curve in ein Dreieck, so gestaltet sich die Betrachtung in fol - gender Weise. Wir stellen die in den Seitenmittelpunkten angreifenden re - sultirenden Normalkräfte der Grösse, Richtung und dem Sinne nach durch Linien dar. Die betreffenden Geraden schneiden sich in einem Punkt, dem

Fig. 80.

Mittelpunkt des dem Dreieck umschriebenen Kreises. Ferner bemerkt man, dass sich durch blosse Parallel - verschiebung der die Kräfte darstellenden Linien ein dem gegebenen Dreieck ähnliches Dreieck bilden lässt, dessen Umfang in demselben Sinn durchlaufen wird, wenn man den Sinn der Kräfte beachtet.

Es ergibt sich somit der Satz:

Drei Kräfte, welche an einem Punkt angreifen, welche7*100Erstes Kapitel.den Seiten eines Dreiecks proportionirt und parallel gerichtet sind, die ferner durch Parallelverschiebung zu einem Dreieck mit übereinstimmendem Umlaufssinn sich schliessen, sind im Gleichgewicht. Man erkennt ohne Schwierigkeit in diesem Satz nur eine andere Form des Satzes vom Kräftenparallelogramm.

Denkt man sich statt des Dreiecks ein Polygon, so gelangt man zu dem bekannten Satze des Kräftenpo - lygons.

Nun denken wir uns in einer schweren Flüssigkeit vom specifischen Gewichte[ϰ]einen Theil erstarrt. Auf ein Element[α]der geschlossenen Oberfläche wirkt nun eine Normalkraft[αϰ]z, wenn z der Abstand des Ele - mentes vom Spiegel der Flüssigkeit ist. Das Resultat ist uns in vorhinein bekannt.

Wirken auf eine geschlossene Oberfläche Normalkräfte einwärts, welche durch[αϰ]z bestimmt sind, wobei[α]das Flächenelement und z dessen senkrechten Abstand von einer gegebenen Ebene E bedeutet, so ist die Re - sultirende V·[ϰ], in welchem Ausdruck V das einge - schlossene Volum vorstellt. Die Resultirende greift im Schwerpunkt des Volums an, ist senkrecht zur genannten Ebene und gegen dieselbe gerichtet.

Es sei unter denselben Umständen eine starre krumme Oberfläche durch eine ebene Curve begrenzt, welche auf der Ebene die Fläche A einschliesst. Die Resultirende der auf die krumme Fläche wirkenden Kräfte ist R, wobei 〈…〉 . Dabei bedeutet Z den Abstand des Schwerpunktes der Fläche A von E, ferner[ν]den Normalenwinkel von E und A.

Mathematisch geübtere Leser haben in dem vorletzten Satze schon einen Specialfall des Green’schen Satzes der Potentialtheorie erkannt, welcher im wesentlichen in der Zurückführung von Oberflächenintegrationen auf Volumintegrationen (oder umgekehrt) besteht.

Man kann also in das Kraftsystem einer im Gleich - gewicht befindlichen Flüssigkeit mehr oder minder com - plicirte Kraftsysteme hineinsehen oder, wenn man will,101Entwickelung der Principien der Statik.aus demselben heraussehen, und dadurch auf kurzem Wege (a posteriori) Sätze gewinnen. Es ist ein blosser Zufall, dass Stevin diese Sätze nicht gefunden hat. Die hier befolgte Methode entspricht ganz der seinigen. Noch immer können auf diese Weise neue Entdeckungen ge - macht werden.

21. Das Paradoxe, welches sich bei Untersuchung der Flüssigkeiten ergeben hat, hat als Reiz zu weiterm Nachdenken angetrieben. Auch darf nicht unbemerkt blei - ben, dass die Vorstellung eines physikalisch-mecha - nischen Continuums zuerst bei Untersuchung der Flüssigkeiten sich gebildet hat. Es hat sich hierdurch eine viel freiere und reichere mathematische Anschauung entwickelt, als dies durch Betrachtung selbst eines Systems von mehrern starren Körpern möglich war. In der That lässt sich der Ursprung wichtiger moderner mechanischer Begriffe, wie z. B. des Potentials, bis auf diese Quelle zurückverfolgen.

7. Die Principien der Statik in ihrer Anwendung auf die gasförmigen Körper.

1. Mit nur geringen Veränderungen lassen sich bei gas - förmigen Körpern dieselben Betrachtungen anwenden wie bei Flüssigkeiten. Insofern bietet also die Unter - suchung der Gase keine sehr reiche Ausbeute für die Mechanik. Gleichwol haben die ersten Schritte, welche auf diesem Gebiete gethan worden sind, eine hohe cultur - historische und allgemeine wissenschaftliche Bedeutung.

Wenngleich der gewöhnliche Mensch durch den Wider - stand der Luft, durch den Wind, durch das Einschliessen derselben in eine Blase Gelegenheit findet zu erkennen, dass die Luft die Natur eines Körpers hat, so zeigt sich dies doch viel zu selten und niemals so augen - fällig und handgreiflich wie bei den starren Körpern und den Flüssigkeiten. Diese Erkenntniss ist zwar da,102Erstes Kapitel.

[figure]

103Entwickelung der Principien der Statik.allein sie ist nicht geläufig und populär genug, um eine erhebliche Rolle zu spielen. An das Vorhandensein der Luft wird im gewöhnlichen Leben fast gar nicht ge - dacht.

Obgleich die Alten, wie aus Vitruv’s Beschreibungen zu ersehen ist, Instrumente hatten, welche auf der Ver - dichtung der Luft beruhten (wie die sogenannten Wasserorgeln), obgleich die Erfindung der Windbüchse bis auf Ktesibius zurückgeführt wird, und dieses In - strument auch Guericke bekannt war, so waren doch noch im 17. Jahrhundert die Vorstellungen über die Natur der Luft höchst sonderbare und ungeklärte. Wir dürfen uns daher nicht wundern über die geistige Be - wegung, welche die ersten bedeutendem Versuche in dieser Richtung hervorgebracht haben. Wir begreifen die begeisterte Beschreibung, die Pascal von den Boyle - schen Luftpumpenexperimenten gibt, wenn wir uns leb - haft in die damalige Zeit zurückversetzen. Was konnte auch wunderbarer sein als die plötzliche Erkenntniss, dass ein Ding, welches wir nicht sehen, kaum fühlen, und fast gar nicht beachten, uns immer und überall umgibt, alles durchdringt, dass es die wichtigste Be - dingung des Lebens, Brennens und gewaltiger mecha - nischer Vorgänge ist. Vielleicht zum ersten mal bei dieser Gelegenheit wurde es durch einen grossen Er - folg klar, dass die Naturwissenschaft nicht auf die Untersuchung des Handgreiflichen, grob Sinnenfälligen beschränkt sei.

2. Zu Galilei’s Zeit erklärte man die Saugwirkung, die Wirkung der Spritzen und Pumpen durch den so - genannten horror vacui, den Abscheu der Natur vor dem leeren Raume. Die Natur sollte die Eigenschaft haben, die Entstehung des leeren Raumes dadurch zu verhindern, dass sie das erste beliebige nächstliegende Ding zur sofortigen Ausfüllung eines solchen sich bil - denden leeren Raumes verwendete. Abgesehen von dem unberechtigten speculativen Element in dieser Ansicht, muss man zugeben, dass sie die Vorgänge bis zu einer104Erstes Kapitel.

Guericke’s erste Versuche (Experim. Magdeb.).

105Entwickelung der Principien der Statik.gewissen Grenze wirklich darstellt. Wer befähigt war sie aufzustellen, musste in der That ein Princip in den Vorgängen erschaut haben. Dieses Princip passt jedoch nicht in allen Fällen. Galilei soll auch sehr überrascht gewesen sein, als er von einer neu angelegten Pumpe mit zufällig sehr langem Saugrohr hörte, welche nicht im Stande war, das Wasser über 18 italienische Ellen zu heben. Er dachte zunächst daran, dass der horror vacui (oder die resistenza del vacuo) eine messbare Kraft habe. Die grösste Höhe, auf welche das Wasser durch Saugen gehoben werden konnte, nannte er altezza limatissima. Galilei suchte auch direct die Last zu be - stimmen, welche im Stande wäre, den wohlanschliessen - den auf den Boden gesetzten Kolben aus einem ver - schlossenen Pumpenstiefel herauszuziehen.

3. Torricelli kam auf den Einfall, die Resistenz des Vacuums statt durch eine Wassersäule durch eine Queck - silbersäule zu messen, und erwartete eine Säule von etwa $$\frac {1}{14}$$ der Länge der Wassersäule zu finden. Seine Er - wartung bestätigte sich durch den von Viviani 1643 in der bekannten Weise ausgeführten Versuch, welcher heute den Namen des Torricelli’schen Versuches führt. Eine etwa 1 m lange, einerseits zugeschmolzene mit Quecksilber gefüllte Glasröhre wird am offenen Ende mit dem Finger geschlossen, mit diesem Ende nach unten in Quecksilber gebracht, und vertical aufgestellt. Entfernt man den Finger, so fällt die Quecksilbersäule, und bleibt auf einer Höhe von etwa 76 cm stehen. Es war hierdurch sehr wahrscheinlich geworden, dass ein ganz bestimmter Druck die Flüssigkeiten in das Vacuum treibt. Welcher Druck dies sei, errieth Torricelli sehr bald.

Galilei hatte schon versucht das Gewicht der Luft zu be - stimmen, indem er eine nur Luft enthaltende Glasflasche abgewogen und, nachdem die Luft durch Erwärmungtheil - weise vertrieben war, dieselbe nochmals abgewogen hatte. Dass die Luft schwer sei, war also bekannt. Der horror vacui und das Gewicht der Luft lagen sich aber für die meisten Menschen sehr fern. Bei Torricelli mochten106Erstes Kapitel.beide Gedanken sich einmal nahe genug begegnen, um ihn zu der Ueberzeugung zu führen, dass alle dem horror

Guericke’s Luftpumpe (Experim. Magdeb.).

vacui zugeschriebenen Erscheinungen sich in einfacher und consequenter Weise durch den Gewichtsdruck einer Flüssigkeitssäule, der Luftsäule, erklären lassen. Torri -107Entwickelung der Principien der Statik.celli entdeckte also den Luftdruck, und er beobachtete auch zuerst mit Hülfe seiner Quecksilbersäule die Ver - änderungen des Luftdruckes.

4. Die Nachricht über den Torricelli’schen Versuch wurde durch Mersenne in Frankreich verbreitet, und ge - langte zur Kenntniss Pascal’s im Jahre 1644. Die Mit - theilungen über die Theorie des Versuches waren ver - muthlich so unvollständig, dass Pascal sich veranlasst sah, selbst über den Versuch nachzudenken. (Pesanteur de l’air. Paris 1663.)

Er wiederholte den Versuch mit Quecksilber und mit einer 40 Fuss langen Röhre mit Wasser oder vielmehr mit Rothwein. Bald überzeugte er sich durch Neigen der Röhre, dass der Raum über der Flüssigkeitssäule wirklich leer sei, und sah sich genöthigt, diese Ansicht gegen heftige Angriffe seiner Landsleute zu vertheidigen. Die leichte Herstellung des für unmöglich gehaltenen Vacuums demonstrirte Pascal an einer Glasspritze, deren Mündung unter Wasser mit dem Finger verschlossen, und deren Stempel hierauf ohne besondere Mühe zurück - gezogen wurde. Nebenbei zeigte Pascal, dass ein 40 Fuss hoher, mit Wasser gefüllter (gekrümmter) Heber nicht fliesst, hingegen durch genügende Neigung gegen die Verticale zum Fliessen gebracht werden kann. Das - selbe Experiment wurde in kleinern Dimensionen mit Quecksilber angestellt. Derselbe Heber fliesst und fliesst nicht, je nachdem er geneigt oder vertical aufgestellt wird.

In einer spätern Arbeit weist Pascal ausdrücklich auf die Wägungen der Luft, auf den Gewichtsdruck der Luft hin. Er zeigt, dass kleine Thiere (Fliegen) in Flüssigkeiten einen hohen Druck ohne Schaden ertragen, wenn derselbe nur allseitig ist, und wendet dies sofort auf die Fische und die in der Luft lebenden Thiere an. Das Hauptverdienst Pascal’s ist der Nachweis der vollständigen Analogie der durch Flüssigkeitsdruck (Wasserdruck) und Luftdruck bedingten Vorgänge.

5. Durch eine Reihe von Versuchen zeigt Pascal, dass das Quecksilber durch den Luftdruck in den luft -108Erstes Kapitel.leeren Raum eindringt, gerade so wie das Quecksilber durch den Wasserdruck in den wasserleeren Raum auf - steigt. Wird in ein sehr tiefes Gefäss mit Wasser eine Röhre versenkt, an deren unterm Ende ein Leder - beutel mit Quecksilber sich befindet, jedoch so, dass das obere Ende der Röhre aus dem Wasser hervorragt und die Röhre wasserleer bleibt, so steigt das Queck - silber durch den Wasserdruck in der wasserleeren

Fig. 81.

Röhre desto höher auf, je tiefer man die Röhre einsenkt. Der Versuch kann auch mit einer Heberröhre oder einer unten offenen Röhre angestellt werden. Die aufmerksame Betrachtung des Vor - ganges führte Pascal offenbar auf den Gedanken, dass die Barometersäule auf dem Gipfel eines Berges tiefer stehen müsse als am Fusse, und dass sie dem - nach zur Bestimmung der Höhe der Berge verwendbar sei. Er theilte diese Idee seinem Schwager Perier mit, welcher den Versuch alsbald mit günstigem Erfolge auf dem Puy de Dôme ausführte. (19. Sept. 1648.)

Die Erscheinungen an Adhäsionsplatten führt Pascal auf den Luftdruck zurück, und erläutert sie durch den Widerstand, den man empfindet, wenn man einen auf dem Tische flach aufliegenden (grossen) Hut rasch auf - hebt. Das Haften des Holzes am Boden unter Queck - silber ist eine analoge Erscheinung.

Das Fliessen des Hebers durch den Luftdruck ahmt Pascal mit Hülfe des Wasserdruckes nach. Eine Röhre abc (Fig. 82) wird mit den beiden offenen Schenkeln a und b, die ungleich lang sind, in Quecksilbergefässe e und d getaucht. Wird die ganze Vorrichtung in ein sehr tiefes Wassergefäss getaucht, jedoch so, dass die lange offene Röhre noch immer über den Spiegel her - vorragt, so erhebt sich allmählich das Quecksilber in a und b, die Säulen vereinigen sich, und es beginnt das Ueberfliessen aus d nach e durch den oben offenen Heber.

109Entwickelung der Principien der Statik.

Den Torricelli’schen Versuch hat Pascal in einer sehr sinnreichen Weise abgeändert. Eine Röhre von der Form abcd (Fig. 83), und beiläufig der doppelten Länge einer gewöhnlichen Barometerröhre wird mit Quecksilber gefüllt. Die Oeffnungen a und b werden mit den Fingern geschlossen und die Röhre wird mit dem Ende a unter Quecksilber gebracht. Oeff - net man nun a, so fällt das Queck - silber in cd ganz in die Er - weiterung bei c, und das Queck - silber in ab sinkt zur Höhe der gewöhnlichen Barometersäule herab. Bei b entsteht ein Vacuum, wodurch der verschliessende Finger schmerz -

Fig. 82.

haft angedrückt wird. Oeffnet man auch b, so fällt die Säule in ab ganz herab, dafür steigt aber das Queck - silber aus der Erweiterung c, welches nun dem Luftdruck ausgesetzt ist, in cd zur Höhe der Barometersäule auf. Es war kaum möglich, den Versuch und Gegen - versuch ohne Luftpumpe in einfacherer und sinnreicherer Weise zu combiniren, als dies Pascal gethan hat.

6. Was das Pascal’sche Bergexperiment betrifft, wollen wir kurz und ergänzend noch Folgendes bemerken. Es sei b der Barometerstand an der Meeresfläche, welcher bei der Erhebung um m Meter auf kb sinkt, wobei k ein echter Bruch. Bei einer weitern Erhebung um m Meter haben wir den Barometerstand k·kb zu erwarten, da wir nun eine Luftschicht durchsetzen, deren Dichte sich zu jener im ersten Fall

Fig. 83.

wie k: 1 verhält. Erheben wir uns um die Höhe h = n·m Meter, so ist der entsprechende Barometer - stand110Erstes Kapitel.bh = kn · b oder 〈…〉 oder 〈…〉

Das Princip der Methode ist also ein sehr einfaches; sie wird nur schwierig durch die mannichfaltigen zu be - achtenden Nebenumstände und Correctionen.

7. Die urwüchsigsten und ausgiebigsten Leistungen auf dem Gebiete der Aërostatik rühren von Otto von Guericke her. Die Triebfeder seiner Versuche scheinen hauptsächlich philosophische Betrachtungen gewesen zu sein. Er ist auch durchaus selbständig vorgegangen, und hat erst auf dem Reichstage zu Regensburg (1654), wo er seine um das Jahr 1650 erfundenen Versuche demonstrirte, durch Valerianus Magnus von dem Torri - celli’schen Versuch gehört. Hierzu passt auch die von der Torricelli’schen ganz verschiedene Methode, durch welche er seine Wasserbarometer darstellte.

Guericke’s Buch (Experim. Magdeburg. Amstelod. 1672) bringt uns den beschränkten Standpunkt seiner Zeit leb - haft zur Anschauung. Dass er im Stande war, allmählich diesen Standpunkt zu verlassen, und durch eigene Arbeit einen bessern zu gewinnen, spricht eben für seine geis - tige Energie. Mit Erstaunen sehen wir, welche kurze Spanne Zeit uns von der wissenschaftlichen Barbarei trennt, und wir dürfen uns daher nicht wundern, dass die sociale Barbarei noch so schwer auf uns lastet.

In der Einleitung des Buches und an verschiedenen andern Stellen, mitten unter den experimentellen Unter - suchungen spricht Guericke von den der Bibel ent - nommenen Einwürfen gegen das Kopernikanische System, (welche er zu entkräften sucht), von dem Ort des Himmels, von dem Ort der Hölle, von dem jüngsten Gericht. Philosopheme über den leeren Raum nehmen einen beträchtlichen Platz ein.

Die Luft betrachtet Guericke als den Duft oder Ge - ruch der Körper, welchen wir nur deshalb nicht wahr -111Entwickelung der Principien der Statik.nehmen, weil wir ihn von Jugend auf gewöhnt sind. Die Luft ist für ihn kein Element. Er kennt ihre Volumveränderung durch Wärme und Kälte, ihre Com - pressibilität durch den Heronsball, gibt auf Grund eigener Versuche ihren Druck zu 20 Ellen Wasser an, und betont ihr Gewicht, durch welches die Flammen in die Höhe getrieben werden.

8. Zur Herstellung des Vacuums bediente sich Guericke zuerst eines hölzernen mit Wasser gefüllten Fasses. An das untere Ende wurde die Pumpe einer Feuerspritze befestigt. Das Wasser sollte, dem Kolben und seiner Schwere folgend, fallen und herausgepumpt werden. Guericke erwartete das Zurückbleiben eines leeren Raumes. Die Befestigung der Pumpe zeigte sich wieder - holt nicht stark genug, da, wegen des auf dem Kolben lastenden Luftdruckes, ein bedeutender Zug angewandt werden musste. Nach stärkerer Befestigung brachten endlich drei starke Männer das Auspumpen zu Stande. Gleichzeitig drang aber die Luft mit Getöse durch alle Fugen des Fasses ein, sodass kein Vacuum erzielt wurde. Bei einem weitern Versuch wurde ein kleines mit Wasser gefülltes auszupumpendes Fass in ein grösseres Wasser - fass eingeschlossen. Allein auch hier drang das äussere Wasser allmählich in das kleine Fass ein.

Nachdem sich auf diese Art Holz als ein ungenügen - des Material gezeigt, und Guericke bei dem letzten Versuch bereits Anzeichen des Gelingens bemerkt hatte, nahm er eine grosse Hohlkugel aus Kupfer, und wagte nun schon direct die Luft auszupumpen. Anfangs ging auch das Pumpen gut und leicht von statten. Nach mehrern Kolbenzügen wurde aber das Pumpen so schwierig, dass kaum zwei vierschrötige Männer (viri quadrati) den Kolben bewegen konnten. Als aber das Auspumpen schon ziemlich weit fortgeschritten war, wurde plötzlich die Kugel mit einem heftigen Knall zer - drückt. Mit Hülfe eines Kupfergefässes von voll - kommener Kugelgestalt gelang endlich die Herstellung112Erstes Kapitel.des Vacuums. Guericke beschreibt, mit welcher Gewalt die Luft beim Oeffnen des Hahnes eindringt.

9. Nach diesen Experimenten construirt Guericke eine besondere Luftpumpe. Eine grosse Glaskugel wird durch eine Fassung und einen grossen abnehmbaren Zapfen mit einem Hahn geschlossen. Durch diese Oeffnung können die zu untersuchenden Gegenstände in die Kugel gebracht werden. Die Kugel steht des bessern Schlusses wegen mit dem Hahn unter Wasser auf einem Dreifuss, unter dem sich die eigentliche Pumpe befindet. Später werden auch noch besondere Nebengefässe verwendet, welche mit der ausgepumpten Kugel in Verbindung ge - setzt werden.

Die Erscheinungen, die Guericke mit seinem Apparat beobachtet, sind schon sehr mannichfaltig. Das Geräusch, welches luftfreies Wasser beim Anschlagen an die Glas - wände verursacht, das heftige Eindringen der Luft und des Wassers in die Gefässe beim plötzlichen Oeffnen derselben, das Entweichen der in Flüssigkeiten absor - birten Gase beim Evacuiren, das Freigeben des Duftes, wie Guericke sich ausdrückt, fällt zunächst auf. Eine brennende Kerze verlischt beim Evacuiren, weil sie, wie Guericke vermuthet, aus der Luft ihre Nahrung be - zieht. Das Brennen ist, wie ausdrücklich bemerkt wird, keine Vernichtung, sondern eine Umwandlung der Luft.

Die Glocke tönt im Vacuum nicht. Vögel sterben im Vacuum, manche Fische schwellen daselbst an, und bersten schliesslich. Eine Traube erhält sich über ein halbes Jahr frisch.

Durch Ansetzen eines langen ins Wasser tauchenden Rohres an einen luftleeren Kolben wird ein Wasser - barometer hergestellt. Die gehobene Säule ist 19 20 Ellen hoch. Alle dem horror vacui zugeschriebenen Wirkungen werden durch den Luftdruck erklärt.

Ein wichtiger Versuch besteht in dem Abwägen eines lufterfüllten und nachher leergepumpten Recipienten. Das Gewicht der Luft variirt nach den Umständen (Temperatur und Barometerstand). Ein bestimmtes113Entwickelung der Principien der Statik.Gewichtsverhältniss von Luft und Wasser gibt es nach Guericke nicht.

Den grössten Eindruck auf die Zeitgenossen machten die auf den Luftdruck bezüglichen Experimente. Eine aus zwei aneinandergelegten Hälften bestehende leerge - pumpte Kugel wird durch die Kraft von 16 Pferden mit einem gewaltigen Knall zerrissen. Dieselbe Kugel wird aufgehängt und an die untere Hälfte eine Wag - schale mit grosser Belastung befestigt. Ein grosser Pumpenstiefel ist durch einen Kolben geschlossen. An letzterm befindet sich ein Strick, der über eine Rolle führt und in zahlreiche Zweige sich theilt, an welchen viele Männer ziehen. Sobald der Stiefel mit einem leergepumpten Recipienten in Verbindung gesetzt wird, werden sämmtliche Männer hingestreckt. Auf ana - loge Weise wird ein grosses Gewicht gehoben.

Die Verdichtungswindbüchse erwähnt Guericke als etwas Bekanntes, und construirt selbst ein Instrument, das man passend eine Verdünnungswindbüchse nennen könnte. Eine Kugel wird durch den äussern Luftdruck durch ein plötzlich evacuirtes Rohr getrieben, schlägt am Ende die dasselbe verschliessende aufgelegte Leder - platte weg, und fliegt mit beträchtlicher Geschwindig - keit fort.

Verschlossene Gefässe, auf den Gipfel eines Berges gebracht und geöffnet, geben Luft von sich, in gleicher Weise abwärts transportirt, saugen sie Luft auf. Durch diese und andere Versuche erkennt Guericke die Luft als elastisch.

10. R. Boyle in England hat Guericke’s Untersuchungen weiter geführt. Er hatte nur wenige neue Versuche hinzuzufügen. Er beachtet die Fortpflanzung des Lichtes im Vacuum und die Durchwirkung des Magneten durch den leeren Raum, entzündet Zunder mit Hülfe des Brennglases, bringt das Barometer unter den Recipienten der Luftpumpe, und führt zuerst ein Wagemanometer aus. Das Sieden warmer Flüssigkeiten und das Frieren des Wassers beim Evacuiren wird von ihm zuerst beobachtet.

Mach. 8114Erstes Kapitel.

Von den gegenwärtig gebräuchlichen Luftpumpenver - suchen erwähnen wir noch den Fallversuch, der Galilei’s Ansicht, dass schwere und leichte Körper mit derselben Beschleunigung fallen, wenn der Luftwiderstand elimi - nirt ist, in einfacher Weise bestätigt. In einer ausge - pumpten Glasröhre befindet sich eine Bleikugel und ein Stückchen Papier. Bei Verticalstellung und rascher Umdrehung der Röhre um 180° (um eine horizontale Axe) kommen beide Körper gleichzeitig am untern Ende

Fig. 84.

der Röhre an.

Von den quantita - tiven Daten wollen wir erwähnen, dass der Luftdruck, welcher eine Quecksilbersäule von 76 cm trägt, sich durch das specifische Gewicht des | Queck silbers 13,59 leicht zu 1,0328 kg auf 1 qcm berechnet. Das Gewicht von 1000 ccm Luft von C. und 760 mm Druck ergibt sich zu 1,293 g und das entsprechende specifische Gewicht auf Wasser bezogen zu 0,001293.

11. Guericke kannte nur eine Luft. Man kann sich also vorstellen, welches Aufsehen es erregte, als Black 1755 die Kohlensäure (fixe Luft) und Cavendish 1766 den Wasserstoff (die brennbare Luft) entdeckte, welcher Entdeckung bald andere analoge nachfolgten. Die ver - schiedenen physikalischen Eigenschaften der Gase sind sehr auffallend. Die grosse Ungleichheit des Gewichtes hat Faraday durch einen schönen Vorlesungsversuch zur Anschauung gebracht. Hängt man zwei Bechergläser A, B, das eine aufrecht, das andere mit der Oeffnung nach unten an eine Wage und äquilibrirt dieselbe, so kann man in das erstere die schwere Kohlensäure von oben, in das letztere den leichten Wasserstoff von unten eingiessen. In beiden Fällen schlägt die Wage im115Entwickelung der Principien der Statik.Sinne des Pfeiles aus. Bekanntlich lässt sich heutzu - tage durch die optische Schlierenmethode das Eingiessen der Gase auch direct sichtbar machen.

12. Bald nach der Erfindung des Torricelli’schen Ver - suches hat man sich bemüht, das hierbei auftretende Vacuum zu benutzen. Man wollte also sogenannte Queck - silberluftpumpen construiren. Bekanntlich hat dieses Bestreben erst in unserm Jahrhundert einen nennens - werthen Erfolg gehabt. Die gegenwärtig gebräuch - lichen Quecksilberluftpumpen sind eigentlich Barometer mit grossen Erweiterungen der Röhrenenden und ver - änderlicher Niveaudifferenz dieser Enden. Das Queck - silber vertritt die Stelle des Kolbens der gewöhnlichen Luftpumpe.

13. Die von Guericke beobachtete Spannkraft der Luft wurde von Boyle und später von Mariotte ge - nauer untersucht. Das Gesetz, welches beide fanden, besteht in Folgendem. Nennt man V das Volum einer gegebenen Luftmenge und P ihren Druck auf die Oberflächeneinheit der Gefässwand, so ist das Product V·P = einer constanten Grösse. Wird nämlich das Luftvolum auf die Hälfte reducirt, so übt die Luft den doppelten Druck auf die Flächeneinheit aus, wird das Volum derselben Menge verdoppelt, so sinkt der Druck auf die Hälfte u. s. w. Es ist richtig, was einige eng - lische Autoren in neuerer Zeit hervorgehoben haben, dass nicht Mariotte, sondern Boyle als der Entdecker des Gesetzes zu betrachten ist, welches gewöhnlich den Namen des Mariotte’schen führt. Ja, es muss noch hinzu - gefügt werden, dass Boyle schon wusste, dass das Ge - setz nicht genau gelte, während dies Mariotte entgangen zu sein scheint.

Die von Mariotte bei Ermittelung des Gesetzes be - folgte Methode war sehr einfach. Er füllte Torricelli - sche Röhren nur theilweise mit Quecksilber, maass das übrigbleibende Luftvolum ab, und führte mit den Röhren den Torricelli’schen Versuch aus. Hierbei er - gab sich das neue Luftvolum und, durch Abzug der8*116Erstes Kapitel. Principien der Statik.Quecksilbersäule vom Barometerstand, der neue Druck. unter welchem dieselbe Luft jetzt stand.

Fig. 85.

Zur Verdichtung der Luft verwendete Mariotte eine Heberröhre mit verticalen Schenkeln. Ein kürzerer, in welchem die Luft sich befand, war am obern Ende ge - schlossen, ein längerer, in welchen Queck - silber eingegossen wurde, war am obern Ende offen. Das Luftvolum wurde an der getheilten Röhre abgelesen, und zur beob - achteten Niveaudifferenz des Quecksil - bers in beiden Schenkeln wurde der Ba - rometerstand hinzuaddirt. Gegenwärtig

Fig. 86.

führt man beide Versuchsreihen in der einfachsten Weise aus, indem man eine oben geschlossene cylindrische Glasröhre rr an einem verticalen Maas - stab feststellt und mit einer zweiten offenen Glasröhre r′r′, die an demsel - ben Maasstab verschiebbar ist, durch einen Kautschuckschlauch kk verbindet. Füllt man die Röhren theilweise mit Quecksilber, so kann man durch Ver - schiebung von r′r′ jede beliebige Niveau - differenz der beiden Quecksilberspiegel hervorbringen und die zugehörigen Vo - lumsänderungen der in rr eingeschlosse - nen Luft beobachten.

Mariotte fällt es bei Gelegenheit sei - ner Untersuchungen auf, dass auch ein kleines Luftquantum, welches von der übrigen Luft ganz abgeschlossen ist, also von deren Gewicht nicht direct afficirt wird, doch die Barometersäule erhält, wenn man z. B. den offenen Schenkel der Barometerröhre verschliesst. Die einfache Auf - klärung, die er natürlich sofort findet, liegt darin, dass die Luft vor dem Verschluss so weit comprimirt war, dass117Zweites Kapitel. Principien der Dynamik.sie dem Gewichtsdruck der Luft das Gleichgewicht halten, also denselben Elasticitätsdruck ausüben musste.

Auf die Einzelheiten in der Einrichtung und im Gebrauch der Luftpumpen, welche durch das Boyle - Mariotte’sche Gesetz leicht zu verstehen sind, wollen wir hier nicht eingehen.

14. Es bleibt uns nur die Bemerkung übrig, dass die aerostatischen Entdeckungen des Neuen und Wunderbaren so viel boten, dass der von denselben ausgehende intellec - tuelle Reiz nach keiner Richtung hin zu unterschätzen ist.

ZWEITES KAPITEL. Die Entwickelung der Principien der Dynamik.

1. Galilei’s Leistungen.

1. Wir gehen nun an die Besprechung der Grund - lagen der Dynamik. Dieselbe ist eine ganz moderne Wissenschaft. Alles, was die Alten, namentlich die Griechen, in Bezug auf Mechanik dachten, gehört der Statik an. Gegründet wurde die Dynamik erst durch Galilei. Dass diese Behauptung richtig sei, erkennen wir leicht, wenn wir nur einige Sätze der Aristoteliker der Galilei’schen Zeit betrachten. Zur Erklärung des Sinkens der schweren und des Steigens der leichten Körper (z. B. in Flüssigkeiten) wurde angenommen, dass jedes Ding seinen Ort suche, der Ort schwerer Körper sei aber unten, der leichter Körper oben. Die Bewegungen wurden eingetheilt in natürliche, wie die Fallbewegung, und gewaltsame, wie z. B. die Wurf - bewegung. Aus einigen wenigen oberflächlichen Er - fahrungen und Beobachtungen wurde herausphilosophirt, dass schwere Körper rascher fallen, leichtere langsamer, oder genauer, dass Körper von grösserm Gewicht rascher, solche von kleinerm Gewicht langsamer fallen. Hieraus geht deutlich genug hervor, dass die dyna -118Zweites Kapitel.mischen Kenntnisse der Alten, namentlich der Griechen sehr unbedeutend waren, und dass hier erst die moderne Zeit den Grund zu legen hatte.

2. Die Schrift Discorsi e dimostrazioni matematiche , in der Galilei die erste dynamische Untersuchung über die Fallgesetze mittheilte, erschien 1638. Der moderne Geist, den Galilei bekundet, äussert sich gleich darin, dass er nicht fragt: warum fallen die schweren Körper, son - dern dass er sich die Frage stellt, wie fallen die schweren Körper, nach welchem Gesetze bewegt sich ein frei fal - lender Körper? Um nun dieses Gesetz zu ermitteln, schlägt er den Weg ein, dass er verschiedene Annahmen macht, nicht aber bei ihnen ohne weiteres bleibt, wie Aristoteles, sondern, dass er durch den Versuch zu er - fahren sucht, ob sie auch richtig sind, dass er sie prüft.

Die erste Ansicht, auf die er verfällt, ist die fol - gende. Es scheint ihm annehmbar, dass sich ein frei fallender Körper so bewegt, da seine Geschwindigkeit augenscheinlich fortwährend zunimmt, dass diese die doppelte wird nach Zurücklegung des doppelten, die dreifache nach Zurücklegung des dreifachen Weges, kurz, dass die erlangten Geschwindigkeiten proportional den zurückgelegten Fallräumen wachsen. Bevor er an die Prüfung dieser Annahme durch das Experiment geht, überlegt er sie logisch, verwickelt sich aber hierbei in einen Fehlschluss. Er sagt, wenn ein Körper im ein - fachen Fallraume eine gewisse Geschwindigkeit erlangt hat, im doppelten Fallraume die doppelte u. s. w., wenn also die Geschwindigkeit im zweiten Falle doppelt so gross ist als im ersten, so wird der doppelte Weg in der gleichen Zeit zurückgelegt wie der einfache. Denken wir uns bei dem doppelten Fallraum zunächst die erste Hälfte durchlaufen, so scheint auf die zweite Hälfte gar keine Zeit zu entfallen. Es scheint die Fallbeweguug dann über - haupt momentan vorzugehen, was nicht nur der Annahme, sondern auch dem Augenschein widerspricht. Wir kommen auf diesen eigenthümlichen Trugschluss später zurück.

3. Nachdem Galilei gefunden zu haben glaubt, dass119Die Entwickelung der Principien der Dynamik.

[figure]

120Zweites Kapitel.diese Annahme nicht haltbar sei, macht er eine zweite, nach welcher nämlich die erlangte Geschwindigkeit pro - portional ist der Fallzeit. Wenn also ein Körper fällt, und ein zweites mal durch die doppelte Zeit fällt, so soll er im zweiten Falle die doppelte Geschwindigkeit erreichen wie im ersten. Einen Widerspruch fand er in dieser Ansicht nicht; er ging darum an die Unter - suchung durch das Experiment, ob sich die Annahme mit den beobachteten Thatsachen vereinigen lasse. Die Annahme, dass die erlangte Geschwindigkeit proportional der Fallzeit sei, war schwer direct zu prüfen. Dagegen war es leichter, zu untersuchen, nach welchem Gesetze der Fallraum mit der Fallzeit wächst; er leitete darum aus seiner Annahme die Beziehung zwischen Fallraum und Fallzeit ab, und diese wurde durch das Experiment geprüft. Diese Ableitung ist einfach, anschaulich und

Fig. 87.

vollkommen correct. Er zieht eine gerade Linie und schneidet auf dieser Stücke ab, die ihm die verflossenen Zeiten repräsentiren. An den Endpunkten derselben errichtet er Senkrechte (Or - dinaten), und diese repräsen - tiren die erlangten Geschwin - digkeiten. Irgend ein Stück OG der Linie OA bedeutet also die verflossene Fallzeit und die zugehörige Senk - rechte GH die erlangte Geschwindigkeit.

Wenn wir den Verlauf der Geschwindigkeiten ins Auge fassen, so bemerken wir mit Galilei Folgendes. Betrachten wir den Moment C, in welchem die Hälfte OC der Fallzeit OA verflossen ist, so sehen wir, dass die Geschwindigkeit CD auch die Hälfte der Endge - schwindigkeit AB ist.

Betrachten wir nun zwei von dem Moment C gleich weit abstehende Zeitmomente E und G vor und nach demselben, so erkennen wir, dass die Geschwindigkeit HG die mittlere CD um denselben Betrag übersteigt121Die Entwickelung der Principien der Dynamik.als EF hinter derselben zurückbleibt. Für jeden Mo - ment vor C findet sich ein entsprechender gleich weit abstehender nach C. Was also in der ersten Hälfte der Bewegung gegen die gleichförmige Bewegung mit der halben Endgeschwindigkeit versäumt wird, wird in der zweiten Hälfte nachgeholt. Wir können den Fallraum als mit der halben Endgeschwindigkeit in gleichförmiger Bewegung zurückgelegt ansehen. Setzen wir also die Endgeschwindigkeit v proportional der Fallzeit t, so erhalten wir v = gt, wobei g die in der Zeiteinheit erlangte Endgeschwindigkeit (die sogenannte Beschleunigung) bedeutet. Der Fallraum s ist daher gegeben durch 〈…〉 oder 〈…〉 Wir nennen eine solche Bewegung, bei welcher nach der Voraus - setzung in gleichen Zeiten stets gleiche Geschwindig - keiten zuwachsen, eine gleichförmig beschleunigie Bewegung.

Wenn wir die Fallzeiten, die Endgeschwindigkeiten und die zurückgelegten Wege zusammenstellen, so erhalten wir folgende Tabelle.

4. Der Zusammenhang zwischen t und s lässt sich122Zweites Kapitel.experimentell prüfen, und dies hat Galilei in der sofort zu beschreibenden Art ausgeführt.

Wir müssen zuvor bemerken, dass damals alle die Kenntnisse und Begriffe, die uns jetzt geläufig sind, nicht vorhanden waren, sondern dass Galilei dieselben erst für uns entwickeln musste. Demnach konnte er nicht so verfahren, wie wir es heute thun, sondern er musste einen andern Weg einschlagen. Er strebte zu - erst die Fallbewegung zu verlangsamen, um sie genauer beobachten zu können. Er beobachtete Kugeln, die auf einer schiefen Ebene (Fallrinne) herabrollten, indem er annahm, dass nur die Geschwindigkeit der Bewegung hierbei verringert, die Form des Fallgesetzes aber nicht alterirt werde. Wurden vom obern Ende der Fallrinne an die Längen 1, 4, 9, 16 abgeschnitten, so sollten die zugehörigen Fallzeiten durch die Zahlen 1, 2, 3, 4 .... dargestellt werden, was sich auch bestätigte. Die Beobachtung dieser Zeiten hat Galilei auf eine höchst sinnreiche Weise ausgeführt. Uhren von der heutigen Form gab es damals nicht, diese sind erst durch die von Galilei begründeten dynamischen Kenntnisse mög - lich geworden. Die mechanischen Uhren, die gebraucht wurden, waren sehr ungenau, und nur zur Messung grösserer Zeiträume brauchbar. Ausserdem waren meist Wasser - und Sanduhren im Gebrauch, wie sie von den Alten überliefert worden waren. Galilei stellte nun eine solche Uhr in der einfachsten Weise her und richtete sie zur Messung kleiner Zeiträume besonders ein, was damals nicht üblich war. Sie bestand aus einem Wassergefäss von grossem Querschnitte mit einer feinen Bodenöffnung, die durch den Finger verschlossen wurde. Sobald die Kugel auf der schiefen Ebene ihre Bewegung begann, öffnete er das Gefäss, und liess das Wasser auf eine Wage ausfliessen; kam sie am Ende der Bahn an, so schloss er es. Da sich die Druckhöhe der Flüssigkeit wegen des grossen Querschnittes nicht merklich änderte, so waren die ausgeflossenen Wasser - gewichte proportional der Zeit. Es zeigte sich hierbei123Die Entwickelung der Principien der Dynamik.wirklich, dass die Zeiten blos einfach | wuchsen, wäh - rend die Fallräume quadratisch fortschritten. Damit war also die Folgerung aus Galilei’s Annahme und sonach auch die Annahme selbst durch das Experiment bestätigt.

5. Um sich eine Vorstellung über das Verhältniss der Bewegungen auf der schiefen Ebene und im freien Falle zu bilden, macht Galilei die Annahme, dass ein Körper, der durch die Höhe der schiefen Ebene fällt, dieselbe Endgeschwindigkeit erreicht, wie ein Körper, der ihre Länge durchfällt. Das ist eine Annahme, die uns etwas gewagt erscheint; in der Weise aber, wie sie Galilei aufgestellt und durchgeführt hat, ist sie ganz na - türlich. Wir wollen versuchen, den Weg, auf dem er dazu geführt wurde, einfach auseinanderzusetzen. Er sagt: Wenn ein Körper frei herabfällt, so nimmt dessen Geschwindigkeit proportional der Fallzeit zu. Wenn nun der Körper unten angekommen ist, so denken wir uns die Geschwindigkeit umgekehrt und aufwärts ge - richtet, wir sehen dann, dass der Körper aufwärts steigt. Wir machen die Wahrnehmung, dass seine jetzige Be - wegung sozusagen ein Spiegelbild der frühern ist. Wie die Geschwindigkeit vorher proportional der Fallzeit zugenommen hat, so wird sie jetzt umgekehrt abnehmen. Wenn der Körper ebenso lange steigt, als er gefallen ist, und wenn er die ursprüngliche Höhe wieder erreicht hat, so ist seine Geschwindigkeit auf Null reducirt. Wir erkennen also, dass ein Körper vermöge der er - langten Fallgeschwindigkeit gerade so hoch steigt, als er herabgefallen ist. Wenn nun ein Körper auf der schiefen Ebene fallend eine Geschwindigkeit erlangen könnte, mit welcher er, auf eine anders geneigte Ebene gesetzt, höher zu steigen vermöchte, als er herabge - fallen ist, so könnte man durch die Schwere selbst eine Erhebung der Körper hervorbringen. Es liegt also in dieser Annahme, dass die erlangte Fallgeschwindig - keit lediglich von der verticalen Fallhöhe abhängt und von der Neigung der Bahn unabhängig ist, nichts wei - ter als die widerspruchslose Auffassung und Anerkennung124Zweites Kapitel.der Thatsache, dass die schweren Körper nicht das Bestreben haben zu steigen, sondern das zu sinken. Würden wir also annehmen, dass ein Körper auf der Länge der schiefen Ebene fallend, etwa eine grössere Geschwindigkeit erlangt als der vertical die Höhe durch - fallende, so könnten wir denselben mit der erlangten Geschwindigkeit auf eine andere schiefe oder verticale Ebene übergehen lassen, auf welcher er zu einer grössern Verticalhöhe aufsteigen würde. Würde hingegen die erlangte Geschwindigkeit auf der schiefen Ebene kleiner sein, so brauchten wir den Process nur umzukehren, um dasselbe zu erreichen. In beiden Fällen könnte ein schwerer Körper bei passender Anordnung von schiefen Ebenen lediglich durch sein eigenes Gewicht fort und fort in die Höhe getrieben werden, was unserer instinc - tiven Kenntniss der Natur der schweren Körper durch - aus widerspricht.

6. Galilei ist wieder nicht blos bei der philosophischen und logischen Erörterung seiner Annahme stehen geblie - ben, sondern hat dieselbe mit der Erfahrung verglichen.

Er nimmt ein einfaches Fadenpendel, mit einer schweren Kugel. Erhebt er dieselbe, das Pendel elon - girend, bis zu einem gewissen Niveau, zu einer gewissen Horizontalebene, und lässt er sie dann fallen, so steigt sie auf der andern Seite zum selben Niveau. Wenn dies auch nicht genau zutrifft, so erkennt doch Galilei leicht den Luftwiderstand als Ursache des Zurück - bleibens. Man ersieht dies schon daraus, dass ein Korkkügelchen mehr, ein schwererer Körper weniger zurückbleibt. Allein abgesehen davon erreicht der Körper wieder dieselbe Höhe. Man kann die Bewegung des Pendelkörpers auf einem Kreisbogen, als Fall auf einer Reihe von schiefen Ebenen ungleicher Neigung betrachten. Leicht können wir nun mit Galilei den Körper auf einem andern Bogen, einer andern Folge von schiefen Ebenen aufsteigen lassen. Wir erreichen dies, indem wir auf einer Seite neben dem vertical hängenden Faden einen Nagel f oder g einschlagen, der125Die Entwickelung der Principien der Dynamik.einen Theil des Fadens hindert an der einen Hälfte der Bewegung theilzunehmen. Sobald der Faden in der Gleichgewichtslage an diesem Nagel ankommt, wird die Kugel, welche durch ba gefallen ist, in einer an - dern Reihe von schiefen Ebenen, den Bogen am oder an beschreibend, steigen. Wenn nun die Neigung der Ebenen Einfluss auf die Fallgeschwindigkeit hätte, so könnte der Körper nicht zur selben Horizontalebene steigen, von der er herabgefallen ist. Dies geschieht aber. Man kann das Pendel für eine Halbschwingung beliebig verkürzen, indem man den Nagel beliebig tief einschlägt; die Erscheinung bleibt aber stets dieselbe. Schlägt man den Nagel h so tief ein, dass der Rest des

Fig. 88.

Fadens nicht mehr zur Ebene E hinaufreicht, so über - schlägt sich die Kugel und wickelt den Faden um den Nagel herum, weil sie noch einen Rest von Geschwindig - keit übrig hat, wenn sie die grösste Höhe, die sie er - reichen kann, erreicht hat.

7. Wenn wir nun voraussetzen, dass auf der schiefen Ebene dieselbe Endgeschwindigkeit erreicht wird, ob der Körper die Höhe oder die Länge der schiefen Ebene durchfällt, worin weiter nichts liegt, als die Annahme, dass ein Körper vermöge der erlangten Geschwindigkeit126Zweites Kapitel.gerade so hoch steigt, als er gefallen ist, so kommt man mit Galilei sehr leicht zur Einsicht, dass die Fall - zeiten auf der Höhe und der Länge der schiefen Ebene einfach proportional sind der Höhe und der Länge dieser Ebene, also die Beschleunigungen verkehrt proportionirt dieser Fallzeit. Es wird sich also die Beschleunigung auf der Höhe zur Beschleunigung auf der Länge ver - halten, wie die Länge zur Höhe. Es sei AB die Höhe und AC die Länge der schiefen Ebene. Beide werden in gleichförmig beschleunigter Bewegung in den Zeiten t und t′ mit der Endgeschwindigkeit v durchfallen. Deshalb ist 〈…〉 und 〈…〉 , 〈…〉 Heissen g und g1 die Beschleunigungen auf der Höhe und Länge, so ist v = gt und v = g1 t1, also 〈…〉 .

Auf diese Weise ist man im Stande aus der Be -

Fig. 89.

Fig. 90.

schleunigung auf der schiefen Ebene die Beschleunigung für den freien Fall abzuleiten.

Hieraus zieht nun Galilei einige Folgesätze, welche zum Theil in die elementaren Lehrbücher übergegangen sind. Die Beschleunigungen auf Höhe und Länge ver - halten sich umgekehrt proportionirt wie diese selbst. Lässt man also einen Körper auf der Länge der schiefen Ebene und zugleich einen andern frei durch die Höhe herabfallen, und fragt, welche Wegstücke in gleichen Zeiten von beiden zurückgelegt werden, so findet man127Die Entwickelung der Principien der Dynamikdie Auflösung sehr einfach, indem man von B aus eine Senkrechte auf die Länge zieht. Während also der eine Körper die Höhe durchfällt, legt der andere auf der schiefen Ebene das Stück AD zurück.

Wenn wir um AB als Durchmesser einen Kreis beschreiben, so geht dieser durch D hin - durch, weil wir bei D einen rechten Winkel haben. Wir sehen nun, dass wir uns eine be - liebige Anzahl von an - ders geneigten schiefen Ebenen AE, AF durch A gelegt denken können, und dass stets die vom

Fig. 91.

obern Durchmesserendpunkt aus gezogenen Sehnen AG, AH in jenem Kreise vom fallenden Körper in gleicher Zeit zurück - gelegt werden, wie der verticale Durch - messer selbst. Da hierbei natürlich nur die Längen und Neigungen wesentlich sind, so können wir die Sehnen auch vom untern Durchmesser - ende aus ziehen, und allgemein sagen: Der verticale Durchmesser eines Kreises wird in

Fig. 92.

derselben Zeit durchfallen wie jede von einem Durch - messerendpunkte in diesem Kreise gezogene Sehne.

Wir führen noch einen weitern Folgesatz an, der in der hübschen Form, wie ihn Galilei gegeben hat, ge - wöhnlich nicht mehr in die Elementardarstellungen auf - genommen wird. Wir denken uns in einer Vertical -128Zweites Kapitel.ebene, von demselben Punkt A ausgehend unter den verschiedensten Neigungswinkeln gegen den Horizont Rinnen; wir legen in ihren Endpunkt A schwere Körper und lassen sie gleichzeitig ihre Fallbewegung beginnen. Es zeigt sich nun, dass zur selben Zeit sämmtliche Körper stets einen Kreis erfüllen. Nach Verlauf einer grössern Zeit befinden sie sich in einem Kreise von grösserm Radius, und zwar wachsen die Radien pro - portional dem Quadrat der Zeit. Wenn man sich die Rinnen nicht nur eine Ebene, sondern den Raum unter der durch A geführten Horizontalen vollständig ausfüllend denkt, so erfüllen die Körper stets eine Kugel, und die Kugelradien wachsen proportional dem Quadrat der Zeit. Man erkennt das, wenn man sich die Figur um die Verticale AV gedreht denkt.

8. Wir sehen nun, wie nochmals kurz bemerkt wer - den soll, dass Galilei nicht etwa eine Theorie der Fallbewegung gegeben, sondern vielmehr das Thatsäch - liche der Fallbewegung vorurtheilslos untersucht und constatirt hat.

Bei dieser Gelegenheit hat er seine Gedanken allmäh - lig den Thatsachen anpassend, und dieselben überall con - sequent festhaltend, eine Ansicht gefunden, die viel - leicht weniger ihm selbst als vielmehr seinen Nachfolgern als ein besonderes neues Gesetz erschienen ist. Galilei befolgte bei allen seinen Ueberlegungen, zum grössten Vortheil der Naturwissenschaft, ein Princip, welches man passend das Princip der Continuität nennen könnte. Hat man für einen speciellen Fall eine Ansicht ge - wonnen, so modificirt man allmählich in Gedanken die Umstände dieses Falles, soweit es überhaupt angeht, und sucht hierbei die gewonnene Ansicht möglichst festzu - halten. Es gibt kein Verfahren, welches sicherer zur einfachsten, mit dem geringsten Gemüths - und Ver - standesaufwand zu erzielenden Auffassung aller Natur - vorgänge führen würde.

Der besondere Fall wird deutlicher als die allge - meine Bemerkung zeigen, was wir meinen. Galilei be -129Die Entwickelung der Principien der Dynamik.trachtet einen Körper, welcher auf der schiefen Ebene AB herabfällt, und mit der erlangten Fallgeschwindig - keit auf eine andere, z. B. BC gesetzt, auf derselben wieder aufsteigt. Er steigt auf allen Ebenen BC, BD u. s. w. bis zur Horizontalebene durch A auf. So wie er aber auf BD mit geringerer Beschleunigung fällt als auf BC, so steigt er auch auf BD mit geringerer Verzögerung. Je mehr sich die Ebenen BC, BD, BE, BF der Horizontalebene nähern, desto geringer ist auf denselben die Verzögerung des Körpers, desto länger und weiter bewegt er sich auf denselben. Auf der Horizontalebene BH verschwindet die Verzögerung ganz (natürlich abgesehen von der Reibung und dem

Fig. 93.

Luftwiderstande), der Körper bewegt sich unendlich lange und unendlich weit mit constanter Geschwindig - keit. Indem nun Galilei bis zu diesem Grenzfall fort - schreitet, findet er das sogenannte Gesetz der Träg - heit, nach welchem ein Körper, der nicht durch be - sondere bewegungsändernde Umstände (Kräfte) daran gehindert ist, seine Geschwindigkeit (und Richtung) fort - während beibehält. Wir kommen hierauf alsbald zurück.

9. Die Fallbewegung also, die Galilei als thatsäch - lich bestehend gefunden hat, ist eine Bewegung mit proportional der Zeit zunehmender Geschwindigkeit, eine sogenannte gleichförmig beschleunigte Bewegung.

Es wäre ein Anachronismus und gänzlich unhistorisch, wollte man die gleichförmig beschleunigte Fallbewegung, wie dies mitunter geschieht, aus der constanten Wirkung der Schwerkraft ableiten. Die Schwere ist eine con -Mach. 9130Zweites Kapitel.stante Kraft, folglich erzeugt sie in jedem gleichen Zeitelement den gleichen Geschwindigkeitszuwachs, und die Bewegung wird eine gleichförmig beschleunigte. Eine solche Darstellung wäre deshalb unhistorisch, und würde die ganze Entdeckung in ein falsches Licht stellen, weil durch Galilei erst der heutige Kraftbegriff geschaffen worden ist. Vor Galilei kannte man die Kraft nur als einen Druck. Nun kann niemand, der es nicht erfahren hat, wissen, dass Druck überhaupt Bewegung mit sich bringt, noch viel weniger aber wie Druck in Bewegung übergeht, dass durch den Druck keine Lage und auch keine Geschwindigkeit, sondern eine Beschleunigung bestimmt ist. Das lässt sich nicht herausphilosophiren. Es lassen sich darüber Ver - muthungen aufstellen. Die Erfahrung allein kann aber darüber endgültig belehren.

10. Dass also die bewegungsbestimmenden Umstände (Kräfte) Beschleunigungen bestimmen, ist durchaus nicht selbstverständlich. Ein Blick auf andere physi - kalische Gebiete macht das sofort deutlich. Die Tem - peraturdifferenzen der Körper bestimmen auch Ver - änderungen. Durch die Temperaturdifferenzen sind aber nicht Ausgleichsbeschleunigungen, sondern Ausgleichsgeschwindigkeiten bestimmt.

Dass durch die bewegungsbestimmenden Umstände Beschleunigungen gesetzt werden, hat Galilei in den Naturvorgängen erschaut. Auch andere vor ihm ha - ben manches erschaut. Wenn man sagt, dass jedes Ding seinen Ort suche, so liegt darin auch eine richtige Beobachtung. Die Beobachtung gilt nur nicht überall und ist nicht erschöpfend. Wenn wir z. B. einen Stein aufwärts werfen, so sucht er seinen Ort, welcher unten ist, nicht mehr. Die Beschleunigung gegen die Erde, die Verzögerung der Aufwärtsbewegung, die Galilei zu - erst gesehen hat, ist aber immer noch vorhanden. Seine Beobachtung bleibt immer richtig, sie gilt allgemeiner, sie erfasst viel mehr mit einem Blick.

11. Wir haben schon erwähnt, dass Galilei ganz131Die Entwickelung der Principien der Dynamik.nebenher das sogenannte Gesetz der Trägheit gefunden hat. Ein Körper, auf welchen, wie man zu sagen pflegt, keine Kraft wirkt, behält seine Richtung und Geschwindigkeit unverändert bei. Mit diesem Gesetz der Trägheit ist es sonderbar zugegangen. Bei Galilei scheint es nie eine besondere Rolle gespielt zu haben. Die Nachfolger aber, namentlich Huyghens und Newton haben es als ein besonderes Gesetz formulirt. Ja man hat sogar aus der Trägheit eine allgemeine Eigenschaft der Materie gemacht. Man erkennt aber leicht, dass das Trägheitsgesetz gar kein besonderes Gesetz ist, sondern in der Galilei’schen Anschauung, dass alle be - wegungsbestimmenden Umstände (Kräfte) Beschleuni - gungen setzen, schon mit enthalten ist.

In der That, wenn eine Kraft keine Lage und keine Geschwindigkeit, sondern eine Beschleunigung, eine Geschwindigkeitsänderung bestimmt, so versteht es sich, dass wo keine Kraft ist, auch keine Aenderung der Geschwindigkeit stattfindet. Man hat nicht nöthig das besonders auszusprechen. Nur die Befangenheit des Anfängers, die sich auch der grossen Forscher der Fülle des neuen Stoffes gegenüber bemächtigte, konnte bewirken, dass sie sich dieselbe Thatsache als zwei ver - schiedene Thatsachen vorstellten und dieselbe zwei - mal formulirten.

Die Trägheit als selbstverständlich darzustellen, oder sie aus dem allgemeinen Satze die Wirkung einer Ursache verharrt abzuleiten, ist jedenfalls durchaus verfehlt. Nur ein falsches Streben nach Strenge kann auf solche Abwege führen. Mit scholastischen Sätzen, wie mit dem angeführten, ist auf diesem Gebiete nichts zu verrichten. Man überzeugt sich leicht, dass auch der entgegengesetzte Satz, cessante causa cessat effectus , ebenso gut passt. Nennt man die erlangte Geschwin - digkeit Wirkung , so ist der erste Satz richtig, nennt man die Beschleunigung Wirkung , so gilt der zweite Satz.

12. Wir wollen nun die Galilei’schen Untersuchungen9*132Zweites Kapitel.noch vor einer andern Seite betrachten. Er begann dieselben mit den seiner Zeit geläufigen, namentlich durch die Technik entwickelten Begriffen. Ein solcher Begriff ist der Begriff Geschwindigkeit, welcher sehr leicht an der gleichförmigen Bewegung gewonnen wird. Legt ein Körper in jeder Zeitsecunde den gleichen Weg c zurück, so ist der nach t Secunden zurückgelegte Weg s = ct. Den in der Secunde zurückgelegten Weg c nennen wir die Geschwindigkeit, und finden dieselbe auch durch Beobachtung eines beliebigen Wegstückes und der zugehörigen Zeit mit Hülfe der Gleichung c = $$\frac {s}{t}$$ , also indem wir die Maasszahl des zurückgelegten

Fig. 94.

Weges durch die Maasszahl der verflossenen Zeit divi - diren.

Galilei konnte nun seine Untersuchungen nicht voll - enden, ohne den hergebrachten Begriff der Geschwin - digkeit stillschweigend zu modificiren und zu erweitern. Stellen wir uns der Anschaulichkeit wegen in 1 eine gleichförmige, in 2 eine ungleichförmige Bewegung dar, indem wir nach OA als Abscissen die verflossenen Zei - ten, nach AB als Ordinaten die zurückgelegten Wege auftragen. In 1 erhält man nun, man mag was immer für einen Wegzuwachs durch den zugehörigen Zeitzu - wachs dividiren, für die Geschwindigkeit c denselben Werth. Wollte man hingegen in 2 ebenso verfahren, so würde man die verschiedensten Werthe erhalten, und133Die Entwickelung der Principien der Dynamik.der gewöhnliche Begriff Geschwindigkeit hat also in diesem Fall keinen bestimmten Sinn. Betrachtet man aber das Wachsthum des Weges in einem hinreichend kleinen Zeitelement, wobei das Curvenelement in 2 sich der Geraden nähert, so kann man dasselbe als gleich - förmig ansehen. Man kann dann als Geschwindigkeit in diesem Bewegungselement den Quotienten 〈…〉 des Zeit - elementes in das zugehörige Wegelement definiren. Noch genauer definirt man die Geschwindigkeit in einem Moment als den Grenzwerth, welchen der Quotient 〈…〉 bei unendlich klein werdenden Elementen annimmt, welchen man durch 〈…〉 bezeichnet. Dieser neue Begriff enthält den frühem als speciellen Fall in sich, und er ist ohne weiteres auch auf die gleichförmige Bewegung anwendbar. Wenngleich die ausdrückliche Formulirung dieses erweiterten Begriffes erst lange nach Galilei stattgefunden hat, so sieht man doch, dass er diesen Begriff in seinen Gedanken anwendet.

13. Ein ganz neuer Begriff, auf den Galilei geführt wurde, war der Begriff Beschleunigung. Bei der gleichförmig beschleunigten Bewegung wachsen die Ge - schwindigkeiten mit der Zeit nach demselben Gesetz, wie bei der gleichförmigen die Wege mit den Zeiten. Nennen wir v die nach der Zeit t erlangte Geschwin - digkeit, so ist v = gt. Hierbei bedeutet g den Ge - schwindigkeitszuwachs in der Zeiteinheit oder die Be - schleunigung, die man auch durch die Gleichung g = $$\frac {v}{t}$$ erhält. Dieser Begriff der Beschleunigung musste eine ähnliche Erweiterung erfahren wie der Begriff der Geschwindigkeit, als man anfing, ungleichförmig be - schleunigte Bewegungen zu untersuchen. Denken wir uns in 1 und 2 wieder die Zeiten als Abscissen, aber die Geschwindigkeiten als Ordinaten aufgetragen,134Zweites Kapitel.so können wir die ganze frühere Betrachtung wieder - holen, und die Beschleunigung definiren durch 〈…〉 , wo - bei dv einen unendlich kleinen Geschwindigkeitszuwachs, dt den entsprechenden Zeitzuwachs bedeutet. In der Bezeichnung der Differentialrechnung haben wir für die Beschleunigung einer geradlinigen Bewegung auch 〈…〉

Die eben entwickelten Begriffe entbehren auch nicht der Anschaulichkeit. Trägt man die Zeiten als Abscissen und die Wege als Ordinaten auf, so erkennt man, dass für jeden Moment die Steigung der Wegcurve die

Fig. 95.

Fig. 96.

Geschwindigkeit misst. Stellt man in ähnlicher Weise Zeiten und Geschwindigkeiten zusammen, so wird die momentane Beschleunigung durch die Steigung der Ge - schwindigkeitscurve gemessen. Den Verlauf dieser letz - tern Steigung erkennt man aber auch schon an der Krümmung der Wegcurve, wie man durch folgende Ueberlegung sieht. Denken wir uns in gewohnter Weise durch die Gerade OCD eine gleichförmige Be - wegung dargestellt. Vergleichen wir hiermit eine Be - wegung OCE, deren Geschwindigkeit in der zweiten Hälfte der Zeit grösser und eine andere Bewegung OCF, deren Geschwindigkeit entsprechend kleiner ist. Wir haben also für die Zeit OB = 2OA im ersten Fall mehr als BD = 2AC, im zweiten Fall weniger als Or - dinate aufzutragen. Wir erkennen nun ohne Schwierig -135Die Entwickelung der Principien der Dynamik.keit, dass der beschleunigten Bewegung eine gegen die Zeitabscissenaxe convexe, der verzögerten eine concave Wegcurve entspricht. Denken wir uns einen in verti - caler Richtung irgendwie bewegten Schreibstift, an welchem während der Bewegung das Papier von rechts nach links gleichmässig vorbeigeschoben würde, und welcher die Zeichnung Fig. 96 ausgeführt hätte, so können wir an derselben die Eigenthümlichkeiten der Bewegung ablesen. Bei a war die Geschwindigkeit des Stiftes aufwärts gerichtet, bei b war sie grösser, bei c war sie = o, bei d abwärts gerichtet, bei e wieder = o. Die Beschleunigung ist bei a, b, d, e aufwärts, bei c abwärts gerichtet; bei c und e ist sie am grössten.

14. Wenn wir, was Galilei gefunden hat, übersicht - lich zusammenstellen, so wird dies am deutlichsten durch die Tabelle, welche ein Verzeichniss der zusammenge -

hörigen Zeiten, erlangten Geschwindigkeiten und der zu - rückgelegten Wege enthält. Da aber der Inhalt der Tabelle nach einem so einfachen Gesetz fortschreitet, welches man sofort erkennt, so steht nichts im Wege, die ganze Tabelle durch eine Herstellungsregel der Tabelle zu ersetzen. Betrachtet man den Zusammenhang der ersten und zweiten Columne, so ist dieser darstellbar durch die Gleichung v = gt, die im Grunde nichts ist als eine Anweisung, die Tabelle zu bilden. Der Zusammen -136Zweites Kapitel.hang der ersten und dritten Columne wird durch 〈…〉 gegeben. Der Zusammenhang der zweiten und dritten Columne lässt sich durch 〈…〉 darstellen. Von den drei Beziehungen 〈…〉 verwendet Galilei eigentlich nur die beiden ersten. Die dritte hat erst Huyghens mehr gewürdigt, und da - durch bedeutende Fortschritte begründet.

15. An die Tabelle können wir gleich eine Bemer - kung anknüpfen, welche sehr aufklärend ist. Es wurde schon gesagt, dass ein Körper vermöge der erlangten Fallgeschwindigkeit wieder zur ursprünglichen Höhe aufsteigen kann, wobei seine Geschwindigkeit in der - selben Weise (der Zeit und dem Raume nach) ab - nimmt, als sie beim Herabfallen zugenommen hat. Ein frei fallender Körper erhält nun in der doppelten Fall - zeit die doppelte Geschwindigkeit, fällt aber in dieser doppelten Fallzeit durch die vierfache Fallhöhe. Ein Körper also, dem wir die doppelte Geschwindigkeit vertical aufwärts ertheilen, wird doppelt so lange Zeit, aber viermal so hoch vertical aufsteigen als ein Körper mit der einfachen Geschwindigkeit.

Man hat sehr bald nach Galilei bemerkt, dass in der Geschwindigkeit eines Körpers etwas einer Kraft Ent - sprechendes steckt, d. h. etwas, wodurch eine Kraft überwunden werden kann, eine gewisse Wirkungs - fähigkeit , wie dieses Etwas passend genannt worden ist. Nur darüber hat man gestritten, ob diese Wirkungs - fähigkeit proportional der Geschwindigkeit oder pro - portional dem Quadrate der Geschwindigkeit zu137Die Entwickelung der Principien der Dynamik.schätzen sei. Die Cartesianer glaubten das erstere, die Leibnitzianer das letztere. Man erkennt nun, dass darüber gar nicht zu streiten ist. Der Körper mit der doppelten Geschwindigkeit überwindet eine gegebene Kraft durch die doppelte Zeit, aber durch den vier - fachen Weg. Der Zeit nach ist also seine Wirkungs - fähigkeit der Geschwindigkeit, dem Wege nach dem Quadrate der Geschwindigkeit proportional. D’Alembert hat auf dieses Misverständniss, wenngleich in nicht sehr deutlichen Ausdrücken, aufmerksam gemacht. Es ist jedoch hervorzuheben, dass schon Huyghens über dieses Verhältniss durchaus klar dachte.

16. Das experimentelle Verfahren, durch welches gegenwärtig die Fallgesetze geprüft werden, ist von jenem Galilei’s etwas verschieden. Man kann zwei Wege ein - schlagen. Entweder man verlangsamt die rasche und schwer direct zu beob - achtende Fallbewegung ohne Aenderung des Gesetzes derart, dass sie bequem beobachtbar wird, oder man ändert die Fallbewegung gar nicht, und verfeinert die Beobachtungsmittel. Auf dem ersten

Fig. 97.

Princip beruht die Galilei’sche Fallrinne und die At - wood’sche Maschine. Die Atwood’sche Maschine besteht aus einer leichten Rolle (Fig. 97), über welche ein Faden gelegt ist, dessen Enden mit zwei gleichen Gewichten P versehen sind. Legt man dem einen Gewicht P ein kleines Gewichtchen p zu, so beginnt durch das Ueber - gewicht eine gleichförmig beschleunigte Bewegung mit der Beschleunigung 〈…〉 , was sich leicht ergeben wird, wenn wir den Begriff Masse erörtert haben werden. Es ist nun leicht an einer mit der Rolle ver - bundenen Messleiste nachzuweisen, dass in den Zeiten 1, 2, 3, 4 .... die Wege 1, 4, 9, 16 .... zurück - gelegt werden. Die einer gegebenen Fallzeit ent - sprechende Endgeschwindigkeit untersucht man, indem138Zweites Kapitel.man das längliche Zuleggewicht p durch einen Ring abfasst und die Bewegung ohne Beschleunigung fort - setzen lässt.

Auf einem andern Princip beruht der Apparat von Morin. Ein mit einem Schreibstift versehener Körper beschreibt auf einem durch ein Uhrwerk gleichmässig vorbeigeschobenen verticalen Papierblatt eine horizon - tale Gerade. Fällt der Körper ohne Papierbewegung, so zeichnet er eine verticale Gerade. Werden beide Bewegungen combinirt, so entsteht eine Parabel, in welcher die horizontalen Abscissen den verflossenen Zeiten, die verticalen Ordinaten den zurückgelegten Fallräumen entsprechen. Für die Abscissen 1, 2, 3, 4 erhält man die Ordinaten 1, 4, 9, 16 .... Nebensäch - lich ist es, dass Morin statt des ebenen Papierblattes eine rasch rotirende cylindrische Trommel mit verti - caler Axe verwendet, neben welcher ein Körper an einer Drahtführung herabfällt. Ein anderes Verfahren nach demselben Princip haben unabhängig voneinander La - borde, Lippich und v. Babo angewendet. Eine berusste Glasschiene, Fig. 98 a, fällt frei vertical herab, während ein horizontal schwingender verticaler Stab, der beim ersten Durchgang durch seine Gleichgewichtslage die Fallbe - wegung auslöst, eine Curve auf der Schiene verzeichnet. Wegen der constanten Schwingungsdauer des Stabes und der zunehmenden Fallgeschwindigkeit, werden die vom Stabe verzeichneten Wellen immer länger. Es ist Fig. 98 bc = 3ab, cd = 5ab, de = 7ab u. s. w. Das Fall - gesetz zeigt sich hierin deutlich, da ab+cb = 4ab, ab+bc+cd = 9ab u. s. w. Das Geschwindigkeits - gesetz bestätigt sich durch die Tangentenneigungen in den Punkten a, b, c, d u. s. w. Bestimmt man die Schwingungsdauer des Stabes, so ergibt sich aus einem derartigen Versuch der Werth von g mit beträchtlicher Genauigkeit.

Wheatstone hat zur Messung kleiner Zeiten ein rasch laufendes Uhrwerk (Chronoskop) verwendet, welches zu Anfang der zu messenden Zeit in Gang gesetzt, zu Ende139Die Entwickelung der Principien der Dynamik.derselben wieder angehalten wird. Hipp hat dieses Verfahren dahin zweckmässig modificirt, dass in das rasch laufende, durch eine hochtönende Feder (statt der

Fig. 98.

Fig. 98 a.

[figure]

Unruhe) regulirte Uhrwerk nur ein Zeiger von geringer Masse ein - und ausgeschaltet wird. Die Ausschaltung geschieht durch einen elektrischen Strom. Wird nun,140Zweites Kapitel.sobald der Körper zu fallen beginnt, der Strom unter - brochen (also der Zeiger eingeschaltet), und sobald der Körper am Ziel ankommt, der Strom wieder geschlossen (also der Zeiger wieder ausgeschaltet), so kann man an dem vom Zeiger zurückgelegten Weg die Fallzeit ab - lesen.

17. Von den fernern Arbeiten Galilei’s haben wir noch zu erwähnen seine Gedanken über die Pendel - bewegung, seine Widerlegung der Meinung, dass Körper von grösserm Gewicht rascher fallen als Körper von geringerm Gewicht. Auf beide Punkte kommen wir noch bei einer andern Gelegenheit zurück. Hier mag noch bemerkt werden, dass Galilei die constante Dauer der Pendelschwingungen erkennend, das einfache Faden - pendel sofort zu Pulszählungen am Krankenbett, sowie zu astronomischen Beobachtungen in Vorschlag gebracht, und theilweise auch selbst verwendet hat.

18. Von grösserer Wichtigkeit sind noch die Unter - suchungen über den Wurf. Ein freier Körper erfährt nach der Galilei’schen Vorstellung stets eine Vertical - beschleunigung g gegen die Erde. Ist er schon zu Anfang der Bewegung mit einer Verticalgeschwindigkeit c behaftet, so wird nach der Zeit t seine Geschwindig - keit v = c+gt. Hierbei hätte man eine Anfangsge - schwindigkeit aufwärts negativ zu rechnen. Der nach der Zeit t zurückgelegte Weg ist dargestellt durch 〈…〉 , wobei ct und 〈…〉 die Wegantheile sind, welche beziehungsweise der gleichförmigen und der gleichförmig beschleunigten Bewegung entsprechen. Die Constante a ist = o zu setzen, wenn wir den Weg von dem Punkte an zählen, welchen der Körper zur Zeit t = o passirt. Nachdem Galilei bereits seine Hauptgesichts - punkte gewonnen hatte, erkannte er sehr leicht den horizontalen Wurf als eine Combination zweier vonein - ander unabhängiger Bewegungen, einer horizontalen gleichförmigen und einer verticalen gleichförmig beschleu - nigten. Er brachte dadurch das Princip des Bewegungs -141Die Entwickelung der Principien der Dynamik.parallelogramms in Gebrauch. Auch der schiefe Wurf konnte ihm keine wesentlichen Schwierigkeiten mehr bereiten.

Erhält ein Körper eine Horizontalgeschwindigkeit c, so legt er in der Zeit t in horizontaler Richtung den Weg y = ct zurück, während er in verticaler Richtung um die Strecke 〈…〉 sinkt. Verschiedene bewe - gungsbestimmende Umstände beeinflussen sich gegen - seitig nicht, und die durch dieselben bestimmten Be - wegungen gehen unabhängig voneinander vor. Zu dieser Annahme ist Galilei durch aufmerksame Betrachtung

Fig. 99.

Fig. 100.

der Vorgänge geführt worden, und sie hat sich be - währt.

Für die Curve, welche ein Körper bei Combi - nation der beiden Bewegungen beschreibt, findet man durch Verwendung der beiden angeführten Gleichungen 〈…〉 Sie ist eine Apollonische Parabel mit dem Parameter $$\frac {\mathit c^2}{\mathit g}$$ und mit verticaler Axe, wie Galilei wusste.

Leicht erkennen wir mit Galilei, dass der schiefe Wurf keinen neuen Fall darbietet. Die Geschwindig -142Zweites Kapitel.keit c, welche unter dem Winkel[α]gegen den Hori - zont einem Körper ertheilt wird, zerlegt sich in die Horizontalcomponente 〈…〉 und in die Verticalcom - ponente 〈…〉 . Mit letzterer steigt der Körper durch dieselbe Zeit t auf, welche er benöthigen würde, um vertical herabfallend diese Geschwindigkeit zu erlangen. Es ist also 〈…〉 . Dann hat er seine grösste Höhe er - reicht, die Verticalcomponente seiner Anfangsgeschwindig - keit ist verschwunden, und die Bewegung setzt sich von S aus als horizontaler Wurf fort. Betrachtet man Mo - mente, welche um gleiche Zeiten von dem Durchgang durch S vor und nachher abstehen, so sieht man, dass der Körper in beiden von dem Loth durch S gleich weit absteht, und gleich tief unter der Horizontalen durch S sich befindet. Die Curve ist also symmetrisch in Bezug auf die Verticale durch S. Sie ist eine Pa - rabel mit verticaler Axe und dem Parameter 〈…〉 .

Fig. 101.

Um die sogenannte Wurfweite zu finden, brauchen wir nur die Horizontalbewegung während der Zeit des Auf - und Ab - steigens zu betrachten. Diese Zeit ist für das Aufsteigen nach dem Obigen 〈…〉 , und dieselbe für das Absteigen. Mit der Horizontalgeschwindigkeit 〈…〉 wird also der Weg zurückgelegt: 〈…〉 Die Wurfweite ist demnach am grössten für 〈…〉 , und gleich gross für die beiden Winkel 〈…〉 .

19. Wichtig ist die Erkenntniss der Unabhängigkeit der in der Natur vorkommenden bewegungsbestimmen - den Umstände (Kräfte) voneinander, welche bei der Untersuchung des Wurfes gewonnen wurde, und zum Ausdrucke kam. Ein Körper kann sich nach AB be -143Die Entwickelung der Principien der Dynamik.wegen (Fig. 101), während der Raum, in welchem diese Be - wegung stattfindet, sich nach AC verschiebt. Der Körper kommt dann von A nach D. Das findet nun auch statt, wenn die beiden Umstände, welche die Bewegungen AB und AC in derselben Zeit bestimmen, aufeinander keinen Einfluss haben. Es ist leicht ersichtlich, dass man nach dem Parallelogramm nicht allein stattgehabte Verschiebungen, sondern auch augenblicklich statthabende Geschwindigkeiten und Beschleunigungen zusammen - setzen kann.

2. Die Leistungen von Huyghens.

1. Huyghens ist in allen Stücken als ein ebenbürtiger Nachfolger Galilei’s zu betrachten. War vielleicht auch seine philosophische Begabung etwas geringer als jene Galilei’s, so übertraf er denselben wieder durch sein geometrisches Talent. Huyghens führte die von Galilei begonnenen Untersuchungen nicht nur weiter, sondern löste auch die ersten Aufgaben der Dynamik mehrerer Massen, während sich Galilei durchweg nur auf die Dynamik eines Körpers beschränkt hatte.

Die Fülle der Leistungen von Huyghens zeigt sich schon in seinem 1673 erschienenen Horologium oscil - latorium . Die wichtigsten darin zum ersten mal be - handelten Themen sind: die Lehre vom Schwingungs - mittelpunkt, die Erfindung und Construction der Pen - deluhr, die Erfindung der Unruhe, die Bestimmung der Schwerebeschleunigung g durch Pendelbeobachtungen, ein Vorschlag betreffend die Verwendung der Länge des Secundenpendels als Längeneinheit, die Sätze über die Centrifugalkraft, die mechanischen und geometrischen Eigenschaften der Cycloïde, die Lehre von den Evoluten und dem Krümmungskreis.

2. Was die Form der Darstellung betrifft, so ist zu bemerken, dass Huyghens mit Galilei die erhabene und unübertreffliche vollkommene Aufrichtigkeit theilt. Er144Zweites Kapitel.

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145Die Entwickelung der Principien der Dynamik.ist ganz offen in Darlegung der Wege, welche ihn zu seinen Entdeckungen ge - leitet haben, und führt da - durch den Leser in das volle Verständniss seiner Leistungen ein. Er hat auch keine Ursache diese Wege zu verbergen. Wird man auch nach einem Jahr - tausend noch sehen, dass er ein Mensch war, so wird man doch zugleich bemer - ken, was für ein Mensch er war. In Bezug auf unsere Besprechung der Huyghens’schen Leistungen müssen wir aber etwas an - ders verfahren als bei Ga - lilei. Galilei’s Betrach - tungen in ihrer classischen Einfachheit konnten wir fast unverändert mitthei - len. Das geht bei Huyghens Arbeiten nicht an. Der - selbe behandelt viel com - plicirtere Aufgaben, seine mathematischen Methoden und Bezeichnungen fan - gen an unzureichend und schwerfällig zu werden. Wir werden also der Kürze wegen alles in modernerer Form aber mit Festhal - tung der wesentlichen und maassgebenden Gedanken wiedergeben.

3. Wir beginnen mit den

Huyghens Pendeluhr.

Mach. 10146Zweites Kapitel.Untersuchungen über die Centrifugalkraft. Hat man ein - mal die Galilei’sche Erkenntniss, dass die Kraft eine Beschleunigung bestimmt, in sich aufgenommen, so ist es unvermeidlich, jede Abänderung einer Geschwindig - keit, und folglich auch jede Abänderung einer Bewegungs - richtung (weil diese durch drei zueinander senk - rechte Geschwindigkeitscomponenten bestimmt ist) auf eine Kraft zurückzuführen. Wenn also ein Körper (etwa ein Stein) an einem Faden gleichmässig im Kreise geschwungen wird, so ist diese krummlinige Bewegung nur durch eine fortwährende aus der geradlinigen Bahn ablenkende Kraft verständlich. Die Spannung des Fadens ist diese Kraft, durch dieselbe wird der Körper fortwährend aus der geradlinigen Bahn gegen den Mittelpunkt des Kreises abgelenkt. Diese Spannung stellt also eine Centripetalkraft vor. Andererseits wird durch die Fadenspannung auch die Axe oder der feste Mittelpunkt des Kreises ergriffen, und insofern zeigt sich diese Fadenspannung als Centrifugalkraft.

Wir denken uns nun einen Körper, dem einmal eine Geschwindigkeit ertheilt wurde, und der nun durch eine stets nach dem Kreismittelpunkt gerichtete Beschleunigung in der gleichförmigen Kreisbewegung erhalten wird. Wo - von diese Beschleunigung abhängt, wollen wir jetzt unter - suchen. Wir denken uns zwei gleiche Kreise (Fig. 102) von zwei Körpern gleichmässig durchlaufen, die Geschwindig - keiten in I und II sollen sich wie 1: 2 verhalten. Be - trachten wir in beiden dasselbe dem sehr kleinen Win - kel[α]entsprechende Bogenelement, so ist auch das entsprechende Wegelement s, um welches sich die Körper vermöge der Centripetalbeschleunigung aus der geradlinigen Bahn (der Tangente) entfernt haben, das - selbe. Nennen wir[φ]1 und[φ]2 die zugehörigen Be - schleunigungen,[τ]und 〈…〉 die betreffenden Zeitele - mente für den Winkel[α], so finden wir nach Galilei’s Gesetz: 〈…〉

147Die Entwickelung der Principien der Dynamik.

In gleichen Kreisen findet sich also, durch Verallge - meinerung der Betrachtung, die Centripetalbeschleunigung proportional dem Quadrate der Bewegungsgeschwindig - keit.

Betrachten wir nun die Bewegung in den Kreisen I und II (Fig. 103), deren Radien sich wie 1: 2 verhalten, und nehmen wir für das Verhältniss der Bewegungsgeschwindig - keiten ebenfalls 1: 2, sodass also ähnliche Bogenelemente in gleichen Zeiten durchlaufen werden. [φ]1,[φ]2, s, 2s bezeichnen die Beschleunigungen und Wegelemente,[τ]ist das für beide Fälle gleiche Zeitelement.

〈…〉

Reducirt man nun die Bewegungsgeschwindigkeit in II auf die Hälfte, sodass die Geschwindigkeit in I und

Fig. 102.

Fig. 103.

II gleich wird, so wird dadurch[φ]2 auf den vierten Theil, also auf 〈…〉 reducirt. Verallgemeinernd finden wir die Centripetalbeschleunigung bei gleicher Be - wegungsgeschwindigkeit dem Kreisradius umgekehrt proportional.

4. Die alten Forscher fanden durch ihre Betrachtungs - weise die Sätze meist in der schwerfälligen Form von Pro - portionen. Wir wollen nun einen andern Weg einschlagen. Auf ein Bewegliches von der Geschwindigkeit v wirke eine10*148Zweites Kapitel.Kraft, welche ihm senkrecht zur Bewegungsrichtung die Beschleunigung[φ]ertheilt, durch das Zeitelement[τ]ein. Die neue Geschwindigkeitscomponente wird[φτ], und die Zusammensetzung mit der frühern Geschwindigkeit er - gibt eine neue Bewegungsrichtung, welche den Winkel[α]mit der ursprünglichen einschliesst. Hierbei ergibt sich, indem wir die Bewegung als in einem Kreise vom Radius r vorgehend denken, und wegen der Kleinheit des Winkelelementes tang a = a setzen, 〈…〉 als vollständiger Ausdruck für die Centripetalbeschleu - nigung einer gleichförmigen Kreisbewegung.

[figure]
Fig. 104.
Fig. 105.

Die Vorstellung einer gleichförmigen durch eine con - stante Centripetalbeschleunigung bedingten Kreisbewe - gung hat etwas Paradoxes. Das Paradoxe liegt in der Annahme einer fortwährenden Beschleunigung gegen das Centrum ohne wirkliche Annäherung, und ohne Ge - schwindigkeitszuwachs. Dasselbe vermindert sich, wenn man bedenkt, dass ohne diese Centripetalbeschleunigung eine fortwährende Entfernung des Beweglichen vom Centrum auftreten würde, dass die Richtung der Be - schleunigung sich fortwährend ändert, und dass eine Geschwindigkeitsänderung (wie sich bei Besprechung des Princips der lebendigen Kräfte zeigen wird) an149Die Entwickelung der Principien der Dynamik.eine Annäherung der einander beschleunigenden Körper geknüpft ist, die hier nicht stattfindet. Der com - plicirtere Fall der elliptischen Centralbewegung ist in dieser Richtung aufklärend.

5. Der Ausdruck für die Centripetal - oder Centri - fugalbeschleunigung 〈…〉 kann leicht noch in eine andere Form gebracht werden. Nennen wir die Um - laufszeit der Kreisbewegung T, so ist 〈…〉 und demnach 〈…〉 , in welcher Form wir den Aus - druck später verwenden werden. Bewegen sich mehrere Körper mit der gleichen Umlaufszeit in Kreisen, so sind die zugehörigen Centripetalbeschleunigungen, durch welche sie in diesen Bahnen erhalten werden, wie es aus dem letzten Ausdruck ersichtlich ist, den Radien proportional.

6. Die Erscheinungen, welche die ausgeführten Be - trachtungen erläutern, wie das Abreissen nicht genügend starker Fäden, an welchen Körper geschwungen werden, die Abplattung weicher rotirender Kugeln u. s. w. wollen wir als bekannt voraussetzen. Huyghens konnte mit Hülfe seiner Anschauung sofort eine ganze Reihe von Er - scheinungen erklären. Als z. B. eine Pendeluhr, welche durch Richer (1671 1673) von Paris nach Cayenne gebracht worden war, einen verzögerten Gang annahm, leitete Huyghens aus der bedeutendem Centrifugal - beschleunigung der rotirenden Erde am Aequator die scheinbare Verminderung der Schwerebeschleunigung g ab, wodurch die Beobachtung sofort verständlich wurde.

Ein von Huyghens angestelltes Experiment wollen wir seines historischen Interesses wegen erwähnen. Als Newton seine Theorie der allgemeinen Gravitation ent - wickelte, gehörte Huyghens zu der grossen Zahl der - jenigen, welche sich mit dem Gedanken einer Fern - wirkung nicht zu befreunden vermochten. Er meinte150Zweites Kapitel.vielmehr die Gravitation durch ein wirbelndes Medium erklären zu können. Schliesst man nun in ein gänz - lich mit Flüssigkeit erfülltes Gefäss einige leichtere Körper, etwa Holzkugeln in Wasser, ein, und versetzt das Gefäss um eine Axe in Rotation, so sieht man als - bald die Holzkugeln der Axe zueilen. Setzt man z. B. die Glasröhre RR mit den Holzkugeln KK mit Hülfe des Zapfens Z auf einen Rotationsapparat, und rotirt um die verticale Axe, so laufen die Kugeln, sich von der Axe entfernend, alsbald bergan. Wird aber die Röhre mit Wasser gefüllt, so treibt jede Rotation die an den Enden EE schwimmenden Kugeln, gegen die Axe. Die Erscheinung erklärt sich einfach durch ein Analogon des Princips von Archimedes. Die Kugeln erhalten einen centripetalen Auftrieb, welcher der an

Fig. 106.

der verdrängten Flüssig - keit wirkenden Centri - fugalkraft gleich und ent - gegengesetzt ist.

7. Bevor wir zu den Huyghens’schen Unter - suchungen über den Schwingungsmittelpunkt übergehen, wollen wir einige freiere ganz elemen - tare, dafür aber sehr an - schauliche Betrachtungen über die Pendelbewegung und die schwingende Bewegung überhaupt anstellen.

Schon Galilei kannte manche Eigenschaften der Pen - delbewegung. Dass er sich die folgende Vorstellung ge - bildet hatte, oder dass ihm dieselbe wenigstens sehr nahe lag, ist aus manchen zerstreuten Andeutungen in seinen Dialogen zu ermitteln. Der Körper eines Fadenpendels von der Länge l bewegt sich auf einem Kreis Fig. 107 vom Radius l. Geben wir dem Pendel eine sehr kleine Excursion, so durchläuft es bei seinen Schwingungen einen sehr kleinen Bogen, welcher mit der zugehörigen Sehne nahe zusammenfällt. Die Sehne CB wird aber151Die Entwickelung der Principien der Dynamik.in derselben Zeit durchfallen als der verticale Durch - messer BD = 2l. Nennen wir die Fallzeit t, so ist 〈…〉 , also 〈…〉 . Da nun die Bewegung über B hinaus nach BC′ dieselbe Zeit in Anspruch nimmt, so haben wir für die Zeit T einer Schwingung von C nach C′ zu setzen 〈…〉 . Man sieht also, dass selbst aus dieser rohen Anschauung die Form der Pendelgesetze sich richtig ergibt. Der genaue Ausdruck für die Dauer sehr kleiner Schwingungen ist bekanntlich 〈…〉 .

Die Bewegung des Pendelkörpers kann als Fall auf einer Folge von schiefen Ebenen angesehen werden. Schliesst der Pendelfaden den Winkel[α]mit der Verticalen ein, so er - hält der Pendelkörper die Be - schleunigung g · sin[α]nach der Gleichgewichtslage. Für kleine[α]ist g ·[α]der Ausdruck dieser Beschleunigung, und diese ist also der Excursion proportio - nal und stets entgegen gerichtet. Bei kleinen Excursionen kann man auch von der Krümmung der Bahn absehen.

Fig. 107.

8. Nach dieser Erörterung wollen wir also folgendes ein - fachere Schema unserer Betrachtung der schwingen - den Bewegung zu Grunde legen. Ein Körper ist auf einer Geraden OA (Fig. 108) beweglich, und erhält stets eine Beschleunigung gegen den Punkt O hin, welche seiner Distanz von O proportional ist. Wir wollen uns diese Beschleunigungen durch an den betreffenden Stellen er - richtete Ordinaten veranschaulichen. Ordinaten nach152Zweites Kapitel.oben bedeuten Beschleunigungen nach links, Ordinaten nach unten Beschleunigungen nach rechts. Der Körper in A freigelassen, wird sich ungleichförmig beschleu - nigt nach O bewegen, über O bis A1, wobei OA 1 = OA ist, hinausgehen, nach O zurückkehren u. s. w. Es er - gibt sich zunächst leicht die Unabhängigkeit der Schwingungsdauer (der Bewegungszeit durch AOA 1) von der Schwingungsweite (der Strecke OA). Zu diesem Zwecke denken wir uns in I und II dieselbe Schwingung mit einfacher und doppelter Schwingungsweite. Wir theilen, weil die Beschleunigung von Punkt zu Punkt

Fig. 108.

variirt, OA und O′A′ = 2OA in eine gleiche sehr grosse Zahl von Elementen. Jedes Element A′B′ von O′A′ ist dann dop - pelt so gross als das entsprechende Ele - ment AB von OA.

Die Anfangsbe - schleunigungen[φ]und[φ] stehen in der Beziehung 〈…〉 . Demnach werden die Elemente AB und A′B′ = 2AB mit den betreffenden Beschleunignngen[φ]und 2[φ]in derselben Zeit[τ]zurückgelegt. Die Endgeschwindig - keiten v und v′ in I und II für das erste Element wer - den sein 〈…〉 und 〈…〉 , also v′ = 2v. Die Beschleunigungen und die Anfangsgeschwindigkeiten verhalten sich also in B und B′ wieder wie 1: 2. Dem - nach werden auch die nächstfolgenden sich entsprechen - den Elemente in derselben Zeit zurückgelegt. Das Gleiche gilt von jedem folgenden Elementenpaar. Ver - allgemeinernd erkennt man die Unabhängigkeit der Dauer der Schwingung von der Weite oder Amplitude.

Nun stellen wir uns zwei schwingende Bewegungen I153Die Entwickelung der Principien der Dynamik.und II (Fig. 109) von gleicher Excursion vor. In II soll aber derselben Entfernung von O die vierfache Beschleunigung entsprechen. Wir theilen die ganzen Schwingungs - weiten AO und O′A′ = OA in eine gleiche sehr grosse Anzahl Theile. Diese Theile in I und II fallen gleich aus. Die Anfangsbeschleunigungen in A und A′ sind[φ]und 4[φ], die Wegelemente AB = A′B′ = s, und die Zeiten beziehungsweise[τ]und[τ]. Wir finden 〈…〉 . Das Element A′B′ wird also in der Hälfte der Zeit durchlaufen wie das Element AB. Die Endgeschwindigkeiten v und v′ in B und B′ ergeben sich durch 〈…〉 und 〈…〉 . Da also die Anfangsgeschwindig - keiten in B und B′ sich wie 1: 2, die Beschleunigungen wieder wie 1: 4 verhalten, so wird das folgende Ele - ment in II wieder in der halben Zeit zurückgelegt wie das entsprechende in I. Verallgemeinernd findet man: Die Schwingungsdauer ist der Wurzel aus der Beschleunigung bei gleicher gegebener Excursion umgekehrt pro - portional.

9. Die eben ausgeführten Be -

Fig. 109.

trachtungen können sehr gekürzt und übersichtlich ge - staltet werden mit Hülfe einer zuerst von Newton an - gewendeten Anschauungsweise. Newton nennt ähn - liche materielle Systeme solche, welche geometrisch ähnliche Conformationen haben, und deren homologe Massen in demselben Verhältniss stehen. Er sagt fer - ner, dass solche Systeme ähnliche Bewegungen aus - führen, wenn die homologen Punkte ähnliche Bahnen in proportionalen Zeiten beschreiben. Entsprechend der heutigen geometrischen Terminologie dürfte man solche154Zweites Kapitel.mechanische Gebilde (von 5 Dimensionen) nur ähnlich nennen, wenn sowol die homologen Lineardimensionen als die Zeiten und die Massen in demselben Verhält - niss stünden. Passender würden die Gebilde zuein - ander affin genannt.

Wir wollen aber den Namen phoronomisch ähnliche Gebilde beibehalten, und bei der zunächst folgenden Betrachtung von den Massen ganz absehen.

Es sollen also bei zwei ähnlichen Bewegungen die homologen Wege sein: s und[α]s,

die homologen Zeiten: t und[β]t, dann sind

die homologen Ge - schwindigkeiten: $$\mathit v = \frac {s} {t^2}$$ und 〈…〉

die homologen Be - schleunigungen: 〈…〉 und 〈…〉

Leicht erkennen wir nun die Schwingungen, welche ein Körper unter den oben angenommenen Verhält - nissen mit zwei verschiedenen Amplitüden 1 und[α]aus - führt, als ähnliche Bewegungen. Bemerken wir nun, dass das Verhältniss der homologen Beschleunigungen 〈…〉 ist, so finden wir 〈…〉 , und das Verhältniss der homologen Zeiten, also auch der Schwingungs - zeiten, 〈…〉 . Es ergibt sich also die Unabhängig - keit der Schwingungsdauer von der Schwingungsweite.

Setzen wir bei zwei schwingenden Bewegungen das Amplitüdenverhältniss 1:[α]und das Beschleunigungsverhältniss 1:[αμ]#, so finden wir 〈…〉 , folglich 〈…〉 , womit das zweite Schwingungsgesetz wiedergefun - den ist.

Zwei gleichförmige Kreisbewegungen sind stets pho - ronomisch ähnlich. Es sei das Radienverhältniss 1:[α]und das Geschwindigkeitsverhältniss 1:[γ].

155Die Entwickelung der Principien der Dynamik.

Das Verhältniss der Beschleunigungen ist dann 〈…〉 , und weil 〈…〉 auch 〈…〉 , womit die Sätze über die Centripetal - beschleunigung wiedergefunden sind.

Es ist schade, dass derartige Untersuchungen über mechanische und phoronomische Verwandtschaft nicht mehr cultivirt werden, da sie die schönsten und auf - klärendsten Erweiterungen der Anschauung versprechen.

10. Wir wollen nun eine Beziehung der gleichför - migen Kreisbewegung zur schwingenden Bewegung der eben betrachteten Art besprechen. Wir legen durch den Kreismittelpunkt O und in die Ebene des Kreises ein rechtwinkeliges Coordina - tensystem, auf welches wir die gleichförmige Kreisbe - wegung beziehen. Die Centri - petalbeschleunigung[φ], welche diese Bewegung bedingt, zer - legen wir nach den Richtungen der X und Y, und bemer - ken, dass die X-Componente

Fig. 110.

der Bewegung nur durch die X-Componente der Be - schleunigung afficirt wird. Beide Bewegungen und Be - schleunigungen können wir als voneinander unabhängig ansehen.

Beide Bewegungscomponenten sind nun hin - und her - gehende (schwingende) Bewegungen um O. Der Excur - sion x entspricht die Beschleunigungscomponente 〈…〉 oder 〈…〉 gegen O hin. Die Beschleunigung ist also der Excursion proportional. Die Bewegung wird dem - nach von der bereits untersuchten Art sein. Die Dauer T eines Hin - und Herganges ist zugleich die156Zweites Kapitel.Umlaufszeit der Kreisbewegung. Von letzterer wissen wir aber, dass 〈…〉 , dass also 〈…〉 . Nun ist $$\frac {\varphi}{r}$$ die Beschleunigung für x = 1, die der Ex - cursionseinheit entsprechende Beschleunigung, die wir kurz mit f bezeichnen wollen. Wir können also für die schwingende Bewegung setzen 〈…〉 Bei der gewöhnlichen Zählung der Schwingungsdauer, für einen Hingang oder einen Hergang, finden wir 〈…〉 .

11. Dies lässt sich sofort auf Pendelschwingungen von sehr kleiner Excursion anwenden, bei welchen wir, von der Bahnkrümmung absehend, die entwickelte An - schauung festhalten können. Wir finden für den Elon - gationswinkel[α]die Entfernung des Pendelkörpers von der Gleichgewichtslage l[α], die entsprechende Beschleu - nigung g[α], demnach 〈…〉

Man liest hieraus ab, dass die Schwingungsdauer der Wurzel aus der Pendellänge direct, der Wurzel aus der Schwerebeschleunigung verkehrt proportional ist. Ein Pendel, welches die vierfache Länge des Secundenpen - dels hat, wird also eine Schwingung in zwei Secunden ausführen. Ein Secundenpendel, welches um einen Erd - radius von der Erdoberfläche entfernt wird, also der Be - schleunigung $$\frac {g}{4}$$ unterliegt, führt ebenfalls eine Schwingung in zwei Secunden aus.

12. Die Abhängigkeit der Schwingungsdauer von der Pendellänge lässt sich sehr leicht experimentell nach -157Die Entwickelung der Principien der Dynamik.weisen. Haben die zur Sicherung der Schwingungs - ebene doppelt aufgehängten Pendel a, b, c (Fig. 111), die Längen 1, 4, 9, so führt a zwei Schwingungen auf eine Schwingung von b und drei Schwingungen auf eine Schwingung von c aus.

Fig. 111.

Etwas schwieriger ist der Nachweis der Abhängig - keit der Schwingungsdauer von der Schwerebeschleu - nigung g, weil dieselbe nicht willkürlich verändert wer - den kann. Man kann jedoch den Nachweis dadurch führen, dass man nur eine Componente von g das Pen -158Zweites Kapitel.del afficiren lässt. Denkt man sich die Schwingungs - axe des Pendels AA in der vertical gestellten Papier -

Fig. 112.

ebene, so ist EE der Durchschnitt der Schwingungsebene mit der Papierebene und zugleich die Gleichgewichtslage des Pen - dels. Die Axe schliesst mit der Horizontal - ebene und die Schwingungsebene mit der Verticalebene den Winkel[β]ein, und dem - nach ist in dieser Ebene die Beschleunigung g · cos[β]wirksam. Erhält das Pendel in seiner Schwingungsebene die kleine Elon -

Fig. 113.

gation[α], so ist die entsprechende Beschleunigung (g cos[β])[α], demnach die Schwingungsdauer 〈…〉

159Die Entwickelung der Principien der Dynamik.

Man sieht hieraus, dass mit zunehmendem[β]die Be - schleunigung g cos[β]abnimmt und dementsprechend die Schwingungsdauer zunimmt. Man kann den Versuch mit dem Apparat, der in Figur 113 dargestellt ist, leicht ausführen. Der Rahmen RR ist um ein Charnier bei C drehbar, kann geneigt und umgelegt werden. Man fixirt die Neigung durch den mit einer Schraube fest - stellbaren Gradbogen G. Jede Vergrösserung von[β]setzt die Schwingungsdauer herab. Stellt man die Schwingungsebene horizontal, wobei R auf dem Fuss F ruht, so wird die Schwingungsdauer unendlich gross. Das Pendel kehrt dann überhaupt in keine bestimmte Lage mehr zurück, sondern macht mehrere volle Um - läufe in demselben Sinn, bis dessen ganze Geschwindig - keit durch die Reibung vernichtet ist.

13. Wenn die Bewegung des Pen - dels nicht in einer Ebene, sondern im Raume stattfindet, so beschreibt der Pendelfaden eine Kegelfläche. Die Bewegung des konischen Pendels hat Huyghens ebenfalls untersucht. Wir wollen einen einfachen hierher gehörigen Fall betrachten. Wir den - ken uns ein Pendel von der Länge l

Fig. 114.

um den Winkel[α]elongirt, dem Pendelkörper eine Ge - schwindigkeit v senkrecht zur Elongationsebene ertheilt, und freigelassen. Der Pendelkörper wird sich in einem horizontalen Kreise bewegen, wenn die entwickelte Centrifugalbeschleuniguug[φ]der Schwerebeschleunigung g eben das Gleichgewicht hält, wenn also die resul - tirende Beschleunigung in die Richtung des Pendel - fadens fällt. Dann ist aber 〈…〉 tang[α]. Bedeutet T die Umlaufszeit, so ist 〈…〉 oder 〈…〉 . Den Werth 〈…〉 einführend, finden wir160Zweites Kapitel. 〈…〉 für die Umlaufszeit des Pendels. Für die zugehörige Geschwindigkeit v finden wir 〈…〉 und weil[φ]= g tang[α], so folgt 〈…〉 Für sehr kleine Elongationen des Kegelpendels können wir setzen 〈…〉 was mit der gewöhnlichen Pendelformel coincidirt, wenn wir überlegen, dass ein Umlauf des Kegelpendels zwei Schwingungen des ge - wöhnlichen Pendels entspricht.

14. Huyghens hat zuerst durch Pendelbeobachtungen eine genaue Bestimmung der Schwerebeschleunigung g vorgenommen. Aus der Formel 〈…〉 für ein Fadenpendel mit einer kleinen Kugel findet sich ohne weiteres 〈…〉 . Man findet in Metern und Secunden für die geographische Breite 45° den Werth für g = 9 · 806.

Für vorläufige Berechnungen im Kopf genügt es sich zu merken, dass die Beschleunigung der Schwere rund 10 m in der Secunde beträgt.

15. Jeder besonnene Anfänger stellt sich die Frage, wie so eine Schwingungsdauer, also eine Zeit gefunden werden kann, indem man die Maasszahl einer Länge durch die Maasszahl einer Beschleunigung dividirt, und aus dem Quotienten die Wurzel zieht. Wir haben hierbei zu bedenken, dass 〈…〉 ist, also eine Länge dividirt durch das Quadrat einer Zeit. Es ist also eigentlich 〈…〉 Da $$\frac{l}{2s}$$ das Verhältniss zweier Längen, demnach eine Zahl ist, so steht also unter dem Wurzelzeichen das Quadrat einer Zeit. Selbstverständ - lich werden wir nur dann T in Secunden finden, wenn161Die Entwickelung der Principien der Dynamik.wir auch bei der Bestimmung von g die Secunde als Zeiteinheit zu Grunde legen.

An der Formel 〈…〉 sieht man unmittelbar, dass g eine Länge dividirt durch das Quadrat einer Zeit ist, wie es der Natur einer Beschleunigung entspricht.

16. Die wichtigste Leistung von Huyghens ist die Lösung der Aufgabe, den Schwingungsmittelpunkt zu bestimmen. So lange es sich um die Dynamik eines einzelnen Körpers handelt, reichen die Galilei’schen Principien vollständig aus. Bei der erwähnten Auf - gabe ist aber die Bewegung mehrerer Körper zu be - stimmen, welche sich gegenseitig beeinflussen. Das kann nicht ohne Zuhülfenahme eines neuen Princips ge - schehen. Ein solches hat Huyghens in der That gefunden.

Wir wissen, dass längere Fadenpendel langsamer, kür - zere schneller ihre Schwingung vollführen. Denken wir uns irgendeinen um eine Axe drehbaren schweren Körper, dessen Schwerpunkt ausser der Axe liegt, so stellt dieser ein zusammengesetztes Pendel vor. Jeder Massentheil würde, wenn er allein in demselben Abstand von der Axe vor - handen wäre, seine eigene Schwingungsdauer ha - ben. Wegen des Zusammenhanges der Theile kann aber der ganze Körper nur mit einer ein - zigen bestimmten Schwingungsdauer schwingen. Denken wir uns viele ungleich lange Faden -

Fig. 115.

pendel, so schwingen die kürzern rascher, die längern langsamer. Werden alle miteinander zu einem einzigen Pendel verbunden, so lässt sich vermuthen, dass die längern beschleunigt, die kürzern verzögert werden, und dass eine mittlere Schwingungsdauer zum Vorschein kommt. Es wird demnach ein einfaches Pendel geben, dessen Länge zwischen jener der kürzesten und längsten Pendel liegt, welches dieselbe Schwingungsdauer dar - bietet, wie das zusammengesetzte Pendel. Tragen wir diese Pendellänge auf dem zusammengesetzten PendelMach. 11162Zweites Kapitel.ab, so finden wir einen Punkt, der in der Verbindung mit den übrigen dieselbe Schwingungsdauer beibehält, die er für sich allein hätte. Dieser Punkt ist der Schwingungs - mittelpunkt. Mersenne hat zuerst die Aufgabe gestellt, den Schwingungsmittelpunkt zu bestimmen. Descartes Auf - lösung derselben war aber überstürzt und unzureichend.

17. Huyghens hat zuerst eine allgemeine Lösung ge - geben. Ausser Huyghens haben sich fast alle bedeu - tenden Naturforscher der damaligen Zeit mit dieser Aufgabe beschäftigt, und man kann sagen, dass sich die wichtigsten Principien der modernen Mechanik an derselben entwickelt haben.

Der neue Gedanke, von welchem Huyghens ausgeht, und der weitaus wichtiger ist als die ganze Aufgabe, ist folgender. In welcher Weise auch die Massen eines Pendels ihre Bewegung gegenseitig abändern mögen, auf jeden Fall werden die bei der Abwärtsbewegung des Pendels erlangten Geschwindigkeiten nur solche sein können, durch welche der Schwerpunkt der Massen, ob sie verbunden bleiben, oder ihre Verbindungen auf - gelöst werden, gerade nur so hoch steigen kann, als er herabgefallen ist. Durch die Zweifel der Zeitgenossen an der Richtigkeit dieses Princips sah sich Huyghens veranlasst zu bemerken, dass damit nur angenommen sei, dass die schweren Körper sich nicht von selbst auf - wärts bewegen. Könnte der Schwerpunkt in Verbindung fallender Massen nach der Auflösung der Verbindungen höher steigen, als er gesunken ist, so liessen sich schwere Körper durch Wiederholung des Processes durch ihr eigenes Gewicht beliebig hoch erheben. Würde der Schwerpunkt nach Auflösung der Verbindungen sich nur zu einer geringern Höhe erheben, als er herabge - fallen ist, so brauchte man den Sinn des Processes nur umzukehren, um abermals die schweren Körper durch ihr eigenes Gewicht beliebig zu erheben. Was also Huyghens behauptet, hat eigentlich nie jemand bezwei - felt, im Gegentheil jeder instinctiv erkannt. Huyghens hat aber diese instinctive Erkenntniss begrifflich ver -163Die Entwickelung der Principien der Dynamik.werthet. Er ermangelt auch nicht, von diesem Gesichts - punkte aus auf die Fruchtlosigkeit der Bemühungen um ein Perpetuum mobile hinzuweisen. Wir erkennen in dem eben entwickelten Satze die Verallgemeinerung eines Galilei’schen Gedankens.

18. Wir wollen nun sehen, was der Satz bei Be - stimmung des Schwingungsmittelpunkts leistet. Es sei OA, der Einfachheit wegen, ein lineares Pendel, be - stehend aus vielen durch Punkte angedeuteten Massen. Es wird in OA losgelassen durch B hindurch bis OA′ schwingen, wobei AB = BA′. Sein Schwerpunkt S wird auf der andern Seite ebenso hoch steigen, als er auf der einen gesunken ist. Hieraus würde noch gar nichts folgen. Aber auch wenn wir in der Lage OB die einzelnen Massen von ihren Verbindungen plötzlich befreien, können sie mit den durch die Verbindungen auf - gezwungenen Geschwindigkeiten

Fig. 116.

nur dieselbe Schwerpunktshöhe erreichen. Fixiren wir die ausschwingenden freien Massen in ihrer grössten Höhe, so bleiben die kürzern Pendel unter der Linie OA′, die längern überschreiten sie, der Schwerpunkt des Systems bleibt aber auf OA′ in seiner frühern Lage.

Nun bemerken wir, dass die erzwungenen Geschwin - digkeiten den Abständen von der Axe proportional sind, mit der Angabe einer sind also alle bestimmt, und die Steighöhe des Schwerpunktes ist gegeben. Umgekehrt ist also auch die Geschwindigkeit irgendeiner Masse durch die bekannte Schwerpunktshöhe bestimmt. Kennt man aber bei einem Pendel die zu einer Falltiefe gehörige Geschwindigkeit, so kennt man dessen ganze Bewegung.

19. Nach diesen Bemerkungen gehen wir an die Auf - gabe selbst. Wir schneiden an einem linearen zusam - mengesetzten Pendel das Stück = 1 von der Axe aus ab. Bewegt sich das Pendel aus der grössten Excursion11 *164Zweites Kapitel.bis in die Gleichgewichtslage, so fällt der Punkt in der Distanz = 1 von der Axe um die Höhe k. Die Massen m, m′, m″ in den Distanzen r, r′ r″ .... werden hierbei die Falltiefen rk, r′k, r″k erhalten, und die Falltiefe des Schwerpunkts wird sein: 〈…〉

Der Punkt mit dem Abstande 1 von der Axe erhalte

Fig. 117.

beim Durchgange durch die Gleichgewichts - lage die noch unbestimmte Geschwindigkeit v. Seine Steighöhe nach Auflösung der Verbindungen wird sein 〈…〉 . Die ent - sprechenden Steighöhen der andern Massen sind dann 〈…〉 , 〈…〉 , 〈…〉 . Die Steighöhe des Schwerpunktes der freien Massen ist 〈…〉

Nach dem Huyghens’schen Grundsatz ist nun 〈…〉 Hiermit ist eine Beziehung zwischen der Falltiefe k und der Geschwindigkeit v gegeben. Da nun aber alle Pendelbewegungen von gleichen Excursionen phorono - misch ähnlich sind, so ist auch die untersuchte Bewegung hiermit vollständig bestimmt.

Um die Länge des einfachen Pendels zu finden, welches mit dem vorgelegten zusammengesetzten die - selbe Schwingungsdauer hat, bemerken wir, dass zwischen dessen Falltiefe und Geschwindigkeit dieselbe Beziehung bestehen muss wie beim freien Fall. Ist y die Länge165Die Entwickelung der Principien der Dynamik.dieses Pendels, so ist ky dessen Falltiefe und vy dessen Geschwindigkeit, also 〈…〉 Multipicirt man die Gleichung a) mit b), so findet sich 〈…〉

Die phoronomische Aehnlichkeit benutzend, können wir auch so verfahren. Wir finden aus a) 〈…〉 Das einfache Pendel von der Länge 1 hat unter den entsprechenden Verhältnissen die Geschwindigkeit 〈…〉 .

Nennen wir die Schwingungsdauer des zusammenge - setzten Pendels T, des einfachen Pendels von der Länge 1 aber 〈…〉 , so finden wir die Voraussetzung gleicher Excursionen festhaltend 〈…〉

20. Unschwer erblickt man in dem Huyghens’schen Grundsatz die Erkenntniss, dass die Arbeit das Ge - schwindigkeitsbestimmende oder genauer das Be - stimmende der sogenannten lebendigen Kraft sei. Unter der lebendigen Kraft eines Systems von Massen m, m m ...., welche mit den Geschwindigkeiten v, v, v behaftet sind, verstehen wir die Summe 〈…〉 166Zweites Kapitel.Der Grundsatz ist mit dem Satz der lebendigen Kräfte identisch. Was spätere Forscher hinzugethan haben, ist nicht so sehr auf den Gedanken als vielmehr auf die Form des Ausdruckes gerichtet.

Stellen wir uns ganz allgemein ein System von Ge - wichten p, p′, p″ .... vor, welche verbunden oder un - verbunden durch die Höhen h, h′, h″ .... fallen, und hierbei die Geschwindigkeiten v, v′, v″ erlangen, so besteht nach der Huyghens’schen Anschauung die Gleich - heit der Falltiefe und Steighöhe des Schwerpunktes, demnach die Gleichung 〈…〉 oder 〈…〉 Hat man den Begriff Masse gewonnen, welcher Huyghens bei seinen Untersuchungen noch fehlte, so kann man $$\frac {p}{g}$$

Fig. 118.

durch die Masse m ersetzen und er - hält dann die Form 〈…〉 , welche sehr leicht für nicht constante Kräfte zu verallgemeinern ist.

21. Mit Hülfe des Satzes der leben - digen Kräfte können wir die Dauer der unendlich kleinen Schwingungen eines beliebigen Pendels bestimmen. Wir ziehen vom Schwerpunkt S eine Senk - rechte auf die Axe, die Länge dersel - ben sei a. Auf derselben schneiden wir von der Axe aus die Länge = 1 ab. Die Falltiefe des betreffenden Punktes bis zur Gleichgewichtslage sei k und v die er - langte Geschwindigkeit. Da die Fallarbeit durch die Bewegung des Schwerpunktes bestimmt ist, so haben wir die Fallarbeit = der lebendigen Kraft: 〈…〉 167Die Entwickelung der Principien der Dynamik.Hierbei nennen wir M die Gesammtmasse des Pendels und anticipiren den Ausdruck lebendige Kraft. Aehn - lich schliessend wie zuvor finden wir 〈…〉

22. Wir sehen, dass die Dauer der unendlich kleinen Schwingungen eines Pendels durch zwei Stücke bestimmt ist, durch den Werth des Ausdruckes[Σ]mr2, der von Euler Trägheitsmoment genannt worden ist, welchen Huyghens ohne besondere Bezeichnung verwendet, und durch den Werth von agM. Letzterer Ausdruck, den wir kurz das statische Moment nennen wollen, ist das Product aP des Pendelgewichtes in den Abstand des Schwerpunktes von der Axe. Durch Angabe dieser beiden Werthe ist die Länge des ein - fachen Pendels von gleicher Schwingungsdauer (des iso - chronen Pendels) und die Lage des Schwingungsmittel - punktes bestimmt.

Zur Bestimmung der be - treffenden Pendellängen wählt Huyghens in Er - mangelung der erst später gefundenen analytischen Me -

Fig. 119.

thoden ein sehr sinnreiches geometrisches Verfahren, welches wir durch Beispiele veranschaulichen wollen. Es sei die Schwingungsdauer eines homogenen (materiellen und schweren) Rechtecks ABCD zu bestimmen, welches um AB als Axe schwingt. Theilen wir das Rechteck in kleine Flächenelemente f, f, f mit den Abstän - den r, r, r .... von der Axe, so ist der Ausdruck für die Länge des isochronen einfachen Pendels, oder den Abstand des Schwingungsmittelpunktes von der Axe, gegeben durch 〈…〉 168Zweites Kapitel.Errichten wir auf ABCD in C und D senkrechte CE = DF = AC = BD und denken wir uns einen homogenen Keil ABCDEF. Suchen wir den Abstand des Schwerpunktes dieses Keils von einer durch AB zu CDEF parallel gelegten Ebene. Wir haben dann die Säulchen fr, fr, fr .... und deren Abstände r, r, r .... von der genannten Ebene zu berücksich - tigen. Hierbei finden wir für den Abstand des Schwer - punktes den Ausdruck: 〈…〉 also denselben Ausdruck wie zuvor. Der Schwingungs - mittelpunkt des Rechtecks und der Schwerpunkt des Keiles haben also denselben Abstand AC.

Hiernach erkennt man leicht die Richtigkeit folgen - der Angaben. Für ein homogenes um eine Seite

Fig. 120.

Fig. 121.

schwingendes Rechteck von der Höhe h ist der Ab - stand des Schwerpunktes von der Axe $$\frac {h}{2}$$ , der Ab - stand des Schwingungsmittelpunktes aber h. Für ein homogenes Dreieck von der Höhe h, dessen Axe parallel der Grundlinie durch den Scheitel geht, finden wir den Schwerpunktsabstand h, den Abstand des Schwingungs - mittelpunkts ¾ h. Nennen wir die Trägheitsmomente des Rechtecks und des Dreiecks[Δ]1,[Δ]2, die zugehörigen Massen M1, M2, so finden wir169Die Entwickelung der Principien der Dynamik. 〈…〉 folglich 〈…〉 Man kann durch diese hübsche geometrische Anschauung noch manche Aufgabe lösen, die man heute allerdings viel bequemer nach der Schablone behandelt.

23. Wir wollen nun einen auf die Trägheitsmomente bezüglichen Satz besprechen, den Huyghens schon in etwas anderer Form benutzt hat. Es sei O der Schwer - punkt eines Körpers (Fig 121). Durch denselben legen wir ein rechtwinkeliges Coordinatensystem, und denken uns das Trägheitsmoment in Bezug auf die Z-Axe be - stimmt. Heisst dann m ein Massenelement und r dessen Entfernung von der Z-Axe, so ist das Trägheitsmoment 〈…〉 . Nun verschieben wir die Rotationsaxe parallel zu sich selbst bis O′ nach der X-Richtung um die Strecke a. Dadurch geht die Entfernung r in die neue[ρ]über, und es ist das neue Trägheitsmoment 〈…〉 , wegen der Eigenschaft des Schwerpunktes 〈…〉 , so ist bei Bezeichnung der Gesammtmasse durch 〈…〉 〈…〉 Es lässt sich also aus dem Trägheitsmoment für eine durch den Schwerpunkt geführte Axe leicht jenes für eine andere zur erstem parallele Axe ableiten.

24. Hieran knüpft sich eine weitere Bemerkung. Der Abstand des Schwingungsmittelpunktes ist gegeben durch 〈…〉 , wobei[Δ], M, a die frühere Bedeutung haben. Die Grössen[Δ]und M sind für einen gegebenen170Zweites Kapitel.Körper unveränderlich. So lange also a denselben Werth behält, wird auch l unverändert bleiben. Für alle parallelen Axen, welche in demselben Abstand vom Schwerpunkt liegen, hat derselbe Körper als Pendel dieselbe Schwingungsdauer. Setzen wir 〈…〉 , so ist 〈…〉 .

Da nun l den Abstand des Schwingungsmittelpunkts, a den Abstand des Schwerpunkts von der Axe bedeutet, so ist der Schwingungsmittelpunkt stets weiter von der Axe, und zwar um die Strecke $$\frac {\chi}{a}$$ . Es ist also $$\frac {\chi}{a}$$ der Abstand des Schwingungsmittelpunkts vom Schwer - punkt. Legen wir eine der ursprünglichen Axe pa - rallele durch den Schwingungsmittelpunkt, so geht a in $$\frac {\chi}{a}$$ über, und wir erhalten die neue Pendellänge 〈…〉

Die Schwingungsdauer bleibt also dieselbe für die parallele Axe durch den Schwingungsmittelpunkt und folglich auch für jede parallele Axe, welche denselben Abstand $$\frac {\chi}{a}$$ vom Schwerpunkt hat wie der Schwingungs - mittelpunkt.

Der Inbegriff aller parallelen einer gleichen Schwin - gungsdauer entsprechenden Axen mit den Schwerpunkts - abständen a und $$\frac {\chi}{a}$$ erfüllt also zwei conaxiale Cylin - der. Jede Erzeugende ist mit jeder andern als Axe ohne Aenderung der Schwingungsdauer vertauschbar.

25. Um den Zusammenhang der beiden Axencylinder,171Die Entwickelung der Principien der Dynamik.wie wir sie kurz nennen wollen, zu überschauen, stellen wir folgende Ueberlegung an. Wir setzen 〈…〉 , und es ist dann 〈…〉 . Suchen wir das a, welches einem gegebenen l, also einer gegebenen Schwingungsdauer entspricht, so finden wir 〈…〉 Es entsprechen also im allgemeinen zwei Werthe von a einem Werthe von l. Nur wenn 〈…〉 , also l = 2k, fallen beide Werthe zu - sammen in a = k.

Bezeichnen wir zwei zu einem l gehörige Werthe von a mit[α, β], so ist 〈…〉 Kennt man also an einem Pendelkörper zwei parallele Axen von gleicher Schwingungsdauer und verschiedener Schwerpunktsdistanz[α, β], wie dies z. B. der Fall ist, wenn man für eine Aufhängung den Schwingungs - mittelpunkt anzugeben vermag, so kann man k con - struiren. Man trägt[α und β]nebeneinander auf einer Geraden auf, beschreibt über[α + β]als Durchmesser einen Halbkreis, und errichtet an dem Theilungspunkte der Stücke[α und β]eine Senkrechte. Von dieser Senk - rechten schneidet der Halbkreis das Stück k ab. (Fig. 122.) 172Zweites Kapitel.Kennt man aber k, so lässt sich zu jedem Werth von[α], z. B.[λ]ein Werth[μ]finden, welcher dieselbe Schwingungsdauer bedingt. Man bildet aus[λ]und k als Schenkel einen rechten Winkel, verbindet die End - punkte durch eine Gerade, zu welcher man durch den Endpunkt von k eine Senkrechte zieht, die an der Ver - längerung von[λ]das Stück[μ]abschneidet.

Denken wir uns nun einen beliebigen Körper mit dem Schwerpunkt O, legen durch denselben die Ebene der Zeichnung, und lassen wir ihn um alle möglichen parallelen zur Papierebene senkrechten Axen schwingen. Alle Axen, welche durch den Kreis[α](Fig. 124) hindurch - gehen, sind untereinander und mit denjenigen, welche noch durch den andern Kreis[β]hindurchgehen, in Bezug auf

Fig. 122.

Fig. 123.

die Schwingungsdauer vertauschbar. Setzen wir an die Stelle von[α]einen kleineren Kreis[λ], so tritt an die Stelle von[β]ein grösserer Kreis[μ]. Fahren wir so fort, so fallen schliesslich beide Kreise in einem mit dem Radius k zusammen.

26. Wir haben aus guten Gründen diese Einzel - heiten so eingehend besprochen. Zunächst sollte an denselben der Reichthum der Huyghens’schen Unter - suchungsergebnisse deutlich gemacht werden. Denn alles, was hier mitgetheilt wurde, ist, wenn auch in etwas anderer Form, in Huyghens Schriften enthalten, oder ist durch dieselben doch so nahe gelegt, dass es ohne die geringste Schwierigkeit ergänzt werden kann. In die modernen elementaren Lehrbücher ist nur der kleinste173Die Entwickelung der Principien der Dynamik.Theil hiervon übergegangen. Ein solcher in die Elementarbücher aufgenommener Satz bezieht sich auf die Vertauschbarkeit des Aufhängepunkts mit dem Schwingungsmittelpunkt. Die gewöhnliche Darstellung ist aber nicht erschöpfend. Kater hat diesen Satz bekannt - lich zur genauen Ermittelung der Länge des Secunden - pendels verwendet.

Fig. 124.

Die eben angestellten Ueberlegungen haben uns auch den Dienst geleistet, uns über die Natur des Begriffes Trägheitsmoment aufzuklären. Dieser Begriff liefert uns keine principielle Einsicht, die wir nicht auch ohne denselben gewinnen könnten. Allein indem wir mit Hülfe dieses Begriffes die Einzelbetrachtung der Massen - theile ersparen, oder ein für allemal abmachen, gelangen174Zweites Kapitel.wir auf kürzerm und bequemerm Wege zum Ziel. Dieser Begriff hat also eine Bedeutung in der Oekonomie der Mechanik. Poinsot hat, nachdem Euler und Segner mit geringerm Erfolg schon Aehnliches versucht hatten, die hierher gehörigen Gedanken weiter ausgebildet, und hat durch sein Trägheitsellipsoid und Centralellipsoid weitere Erleichterungen herbeigeführt.

27. Die Huyghens’schen Untersuchungen über die geometrischen und mechanischen Eigenschaften der Cy - cloïde sind von geringerer Bedeutung. Das Cycloïdal - pendel, durch welches Huyghens eine nicht blos an - nähernde, sondern exacte Unabhängigkeit der Schwin - gungsdauer von der Schwingungsweite erzielte, ist gegenwärtig als unnöthig aus der Praxis der Uhren - fabrikation verschwunden. Wir wollen uns deshalb mit diesen Untersuchungen, so viel des geometrisch Schönen sie auch bieten, hier nicht weiter beschäftigen.

So viele Verdienste Huyghens sich auch um die ver - schiedensten physikalischen Theorien, um die Uhr - macherkunst, die praktische Dioptrik und die Mechanik insbesondere erworben hat, seine Hauptleistung, welche den grössten intellectuellen Muth erforderte, und die auch von den wichtigsten Folgen war, bleibt die Aufstellung des Princips, durch welches er die Auf - gabe über den Schwingungsmittelpunkt gelöst hat. Gerade dieses Princip ist aber von seinen weniger weit - blickenden Zeitgenossen, und auch noch lange nachher, nicht hinreichend gewürdigt worden. Wir hoffen dieses Princip, als identisch mit dem Satze der lebendigen Kräfte, hier in das richtige Licht gestellt zu haben.

3. Newton’s Leistungen.

1. Newton hat sich in Bezug auf unsern Gegenstand zweierlei Verdienste erworben. Erstens hat er den Gesichtskreis der mechanischen Physik sehr erweitert175Die Entwickelung der Principien der Dynamik.durch seine Entdeckung der allgemeinen Gravitation. Dann hat er auch die Aufstellung der heute angenommenen Principien der Mechanik zu einem Abschluss gebracht. Nach ihm ist ein wesentlich neues Princip nicht mehr ausgesprochen worden. Was nach ihm in der Mechanik geleistet worden ist, bezog sich durchaus auf die deductive, formelle und mathematische Entwickelung der Mechanik auf Grund der Newton’schen Principien.

2. Werfen wir zunächst einen Blick auf Newton’s physikalische Leistung. Kepler hatte aus Tycho’s Be - obachtungen, und aus seinen eigenen, drei empirische Gesetze für die Bewegung der Planeten um die Sonne abgeleitet, welche Newton durch seine neue Ansicht verständlich machte. Die Kepler’schen Gesetze sind folgende:

  • 1) Die Planeten bewegen sich in Ellipsen um die Sonne als Brennpunkt.
  • 2) Der von der Sonne nach einem Planeten gezogene Radius vector beschreibt in gleichen Zeiten gleiche Flächenräume.
  • 3) Die Würfel der grossen Bahnaxen verhalten sich wie die Quadrate der Umlaufszeiten.

Hat man den Galilei-Huyghens’schen Standpunkt ge - wonnen und sucht denselben consequent festzuhalten, so erscheint eine krummlinige Bewegung eines Körpers nur durch das Vorhandensein einer fortwährenden ab - lenkenden Beschleunigung verständlich. Man sieht sich also veranlasst, für die Planetenbewegung eine solche Beschleunigung, welche stets nach der concaven Seite der Bahn gerichtet ist, zu suchen.

In der That erklärt sich das erwähnte Gesetz der Flächenräume durch die Annahme einer stets gegen die Sonne gerichteten Beschleunigung des Planeten in der einfachsten Weise. Durchstreicht in einem Zeit - element der Radius vector den Flächenraum ABS, so würde ohne Beschleunigung im nächsten gleich - grossen Zeitelement BCS durchstrichen, wobei BC = AB wäre, und in der Verlängerung von AB liegen würde. 176Zweites Kapitel.Hat aber in dem ersten Zeitelement die Centralbe - schleunigung eine Geschwindigkeit hervorgebracht, ver - möge welcher in derselben Zeit BD zurückgelegt würde, so ist der nächste durchstrichene Flächenraum nicht BCS, sondern BES, wobei CE parallel und gleich BD ist. Man sieht aber, dass BES = BCS = ABS. Das Flächengesetz oder Sectorengesetz spricht also deutlich für eine Centralbeschleunigung.

Ist man so zur Annahme einer Centralbeschleunigung gelangt, so führt das dritte Gesetz auf die Art der - selben. Da sich die Planeten in von Kreisen wenig

Fig. 125.

verschiedenen Ellipsen bewe - gen, so wollen wir der Ein - fachheit wegen annehmen, dass die Bahnen wirkliche Kreise seien. Sind R1, R2, R3 die Radien und T1, T2, T3 die zugehörigen Umlaufszeiten, so lässt sich das dritte Kepler’sche Gesetz schreiben 〈…〉 Nun kennen wir aber für die Centripetalbeschleunigung einer Kreisbewegung den Ausdruck 〈…〉 . Neh - men wir an, dass[φ]für alle Planeten das Gesetz befolgt 〈…〉 , wobei k eine Constante ist, so finden wir 〈…〉

Sobald die Annahme einer dem Quadrate der Ent - fernung umgekehrt proportionirten Centralbeschleunigung einmal gewonnen ist, ist der Nachweis, dass dieselbe177Die Entwickelung der Principien der Dynamik.auch die Bewegung in Kegelschnitten, speciell in Ellipsen erklärt, nur mehr eine rein mathematische Leistung.

3. Ausser der eben besprochenen durch Kepler, Galilei und Huyghens vollkommen vorbereiteten Ver - standesleistung bleibt aber noch eine durchaus nicht zu unterschätzende Phantasieleistung Newton’s zu wür - digen übrig. Ja wir nehmen keinen Anstand, gerade diese für die bedeutendste zu halten. Welcher Natur ist die Beschleunigung, welche die krummlinige Bewegung der Planeten um die Sonne, der Satelliten um die Planeten bedingt?

Newton hat mit grosser Kühnheit des Gedankens erkannt, und zwar zunächst am Beispiel des Mondes, dass diese Beschleunigung von der uns bekannten Schwerebeschleunigung nicht wesentlich verschieden sei. Wahrscheinlich war es das bereits erwähnte Princip der Continuität, welches auch bei Galilei so Grosses ge - leistet hat, das ihn zu dieser Entdeckung geführt hat. Er war gewohnt, und diese Gewohnheit scheint jedem wahrhaft grossen Forscher eigen zu sein, eine einmal gefasste Vorstellung auch für Fälle mit modificirten Umständen, soweit als möglich festzuhalten, in den Vorstellungen dieselbe Gleichförmigkeit zu bewahren, welche uns die Natur in ihren Vorgängen kennen lehrt. Was einmal und irgendwo eine Eigenschaft der Natur ist, das findet sich, wenn auch nicht gleich auffallend, immer und überall wieder. Wenn die Erdschwere nicht nur auf der Oberfläche der Erde, sondern auch auf hohen Bergen und in tiefen Schachten beobachtet wird, so stellt sich der an Continuität der Gedanken gewöhnte Naturforscher auch in grössern Höhen und Tiefen, als sie uns zugänglich sind, die Erdschwere wirksam vor. Er frägt sich: Wo liegt die Grenze für die Wirkung der Erdschwere? Sollte sie nicht bis zum Monde reichen? Mit dieser Frage ist der gewaltige Aufschwung der Phantasie gewonnen, von dem die grosse wissenschaft - liche Leistung bei Newton’s Verstandeskraft nur eine nothwendige Folge war.

Mach. 12178Zweites Kapitel.

Am Monde hat Newton zuerst erkannt, dass dieselbe Beschleunigung, welche die Fallbewegung des Steines beherrscht, auch diesen Weltkörper verhindert, sich in geradliniger Bahn von der Erde zu entfernen, während umgekehrt seine Tangentialgeschwindigkeit ihn verhin - dert gegen die Erde zu fallen. Die Mondbewegung er - schien also mit einem mal in einem ganz neuen Licht, und doch unter ganz bekannten Gesichtspunkten. Die neue Anschauung war reizend, indem sie bisher ganz fernliegende Objecte erfasste, und überzeugend zu - gleich, indem sie die bekanntesten Elemente enthielt. Das erklärt ihre rasche Anwendung auf andere Ge - biete und ihre durchschlagende Wirkung.

Nicht allein das tausendjährige Räthsel des Planeten - systems hat Newton durch seine neue Anschauung ge - löst, sondern auch andere Vorgänge wurden verständ - lich. So wie die Schwerebeschleunigung der Erde bis zum Monde und überallhin reicht, so reichen auch die von andern Weltkörpern herrührenden Beschleunigungen, welchen wir nach dem Princip der Continuität diesel - ben Eigenschaften zuerkennen müssen, überall hin, auch zur Erde. Ist die Schwere aber nichts Locales, nichts der Erde individuell Angehöriges, so hat sie auch nicht im Erdmittelpunkt allein ihren Sitz. Jedes noch so kleine Stück der Erde hat theil au derselben. Jeder Theil beschleunigt jeden andern. Hiermit ist ein Reich - thum und eine Freiheit der physikalischen Anschauung gewonnen, von der man vor Newton keine Ahnung hatte.

Eine ganze Reihe von Sätzen über die Wirkung von Kugeln auf andere Körper ausserhalb, auf oder inner - halb der Kugeln, Untersuchungen über die Gestalt der Erde, insbesondere deren Abplattung durch die Rotation, flossen wie von selbst aus dieser Anschauung. Das Räthsel des Flutphänomens, dessen Zusammenhang mit dem Monde schon lange vermuthet wurde, erklärte sich mit einem mal aus der Beschleunigung der beweglichem Wassermassen durch den Mond.

179Die Entwickelung der Principien der Dynamik.

4. Die Rückwirkung der neu gewonnenen physika - lischen Reichthümer auf die Mechanik konnte nicht aus - bleiben. Die sehr verschiedene Beschleunigung, welche derselbe Körper je nach seiner Lage im Weltraum nach der neuen Anschauung darbot, legte sofort den Gedan - ken eines variablen Gewichtes nahe, wobei man doch ein Merkmal des Körpers als unveränderlich erkannte. Es trennten sich hierdurch zuerst klar die Begriffe Masse und Gewicht. Die erkannte Veränderlichkeit der Beschleunigung veranlasste Newton durch besondere Versuche die Unabhängigkeit der Schwerebeschleunigung von der chemischen Beschaffenheit zu constatiren, wo - durch neue Anhaltspunkte zur Klarlegung des Verhält - nisses von Masse und Gewicht gewonnen wurden, wie wir eingehender zeigen werden. Endlich wurde durch Newton’s Leistungen die allgemeine Anwendbarkeit des Galilei’schen Kraftbegriffes stärker fühlbar ge - macht, als dies je zuvor geschehen war. Man konnte nicht mehr glauben, dass dieser Begriff auf das Fallphänomen und die nächstliegenden Vorgänge allein anwendbar sei. Die Verallgemeinerung vollzog sich nun wie von selbst, und ohne ein besonderes Aufsehen zu erregen.

5. Besprechen wir nun eingehender die Leistungen Newton’s in Bezug auf die Principien der Mechanik. Wir wollen uns hierbei zunächst den Anschauungen Newton’s hingeben, dieselben dem Gefühl des Lesers nahe zu bringen suchen, und nur ganz vorbereitende kritische Bemerkungen machen, die eingehende Kritik für eine spätere Stelle versparend. Als Hauptfort - schritte gegen Galilei und Huyghens fallen uns beim Durchblättern seines Werkes (Philos. natural. princip. mathemat. Londini 1687) sofort folgende Punkte auf:

  • 1) Die Verallgemeinerung des Kraftbegriffes.
  • 2) Die Aufstellung des Begriffes Masse.
  • 3) Die deutliche und allgemeine Formulirung des Satzes vom Kräftenparallelogramm.
  • 4) Die Aufstellung des Princips der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung.
12 *180Zweites Kapitel.

6. In Bezug auf den ersten Punkt ist dem Gesagten wenig hinzuzufügen. Newton fasst alle bewegungsbe - stimmenden Umstände, nicht allein die Erdschwere, sondern auch die Anziehung der Planeten, die Wirkung des Magneten u. s. w. als beschleunigungsbestim - mend auf. Hierbei bemerkt er ausdrücklich, dass er mit den Worten Attraction u. s. w. keine Vorstellung über die Ursache oder Art der Wechselwirkung ausdrücken, sondern nur das in den Bewegungsvorgängen sicht hat - sächlich Aussprechende bezeichnen wolle. Die wieder - holte ausdrückliche Versicherung Newton’s, dass es ihm nicht um Speculationen über die verborgenen Ursachen der Erscheinungen, sondern um Untersuchung und Con - statirung des Thatsächlichen zu thun sei, die Gedanken - richtung, welche sich deutlich und kurz in seinen Worten hypotheses non fingo ausspricht, charakteri - sirt ihn als einen Philosophen von eminenter Be - deutung. Er ist nicht begierig, sich durch seine eigenen Einfälle in Erstaunen zu versetzen, überraschen und imponiren zu lassen, er will die Natur erkennen. 1Dies zeigt sich in vorzüglicher Weise durch die Regeln zur Erforschung der Natur, welche sich Newton gebildet hat: 1. Regel. An Ursachen zur Erklärung natürlicher Dinge nicht mehr zuzulassen, als wahr sind und zur Er - klärung jener Erscheinungen ausreichen. 2. Regel. Man muss daher, soweit es angeht, gleich - artigen Wirkungen dieselben Ursachen zuschreiben. So dem Athem der Menschen und der Thiere, dem Fall der Steine in Europa und Amerika, dem Licht des Küchenfeuers und der Sonne, der Zurückwerfung des Lichtes auf der Erde und den Planeten. 3. Regel. Diejenigen Eigenschaften der Körper, welche weder verstärkt noch vermindert werden können und welche allen Körpern zukommen, an denen man Versuche anstellen kann, muss man für Eigenschaften aller Körper halten. (Nun folgt die Aufzählung der allgemeinen Eigenschaften, welche in alle Lehrbücher übergegangen ist.) Sind endlich alle Körper in der Umgebung der Erde gegen diese schwer, und zwar im Verhältniss der Menge von Materie in jedem; ist der Mond gegen die Erde nach Verhältniss

181Die Entwickelung der Principien der Dynamik.

7. Betreffend den Begriff Masse bemerken wir zu - nächst, dass die von Newton gegebene Formulirung, welche die Masse als die durch das Product des Volu - mens und der Dichte bestimmte Quantität der Materie eines Körpers bezeichnet, unglücklich ist. Da wir die Dichte doch nur definiren können, als die Masse der Volumseinheit, so ist der Cirkel offenbar. Newton hat deutlich gefühlt, dass jedem Körper ein quantitatives von seinem Gewicht verschiedenes bewegungsbestimmen - des Merkmal anhaftet, welches wir mit ihm Masse nennen, es ist ihm aber nicht gelungen diese Erkenntniss in correcter Weise auszusprechen. Wir kommen noch - mals auf diesen Punkt zurück, und wollen hier vor - läufig nur Folgendes bemerken.

8. Zahlreiche Erfahrungen, von welchen eine hin - reichende Menge Newton zur Verfügung stand, lehren deutlich die Existenz eines vom Gewichte verschiedenen bewegungsbestimmenden Merkmals. Bindet man ein Schwungrad an ein Seil, und versucht es über eine Rolle in die Höhe zu ziehen, so empfindet man das Gewicht des Schwungrades. Wird aber das Schwung - rad auf eine möglichst cylindrische und glatte Axe ge - gesetzt, und möglichst gut äquilibrirt, so nimmt es ver -1seiner Masse und umgekehrt unser Meer gegen den Mond schwer; hat man ferner durch Versuche und astronomische Beobachtungen erkannt, dass alle Planeten wechselseitig gegeneinander und die Cometen gegen die Sonne schwer sind; so muss man nach dieser Regel behaupten, dass alle Körper gegeneinander schwer sind. 4. Regel. In der Experimentalphysik muss man die, aus den Erscheinungen durch Induction geschlossenen Sätze, wenn nicht entgegengesetzte Voraussetzungen vorhanden sind, entweder genau oder sehr nahe für wahr halten, bis andere Erscheinungen eintreten, durch welche sie entweder grössere Genauigkeit erlangen, oder Ausnahmen unterworfen werden. Dies muss geschehen, damit nicht das Argument der In - duction durch Hypothesen aufgehoben werde. 182Zweites Kapitel.möge seines Gewichtes keine bestimmte Stellung mehr ein. Gleichwol empfinden wir einen gewaltigen Wider - stand, sobald wir das Schwungrad in Bewegung zu setzen, oder das bewegte aufzuhalten versuchen. Es ist dies die Erscheinung, welche zur Aufstellung einer beson - dern Eigenschaft der Trägheit oder gar Kraft der Träg - heit veranlasst hat, was, wie wir gesehen haben und noch weiter beleuchten werden, unnöthig ist. Zwei gleiche Lasten gleichzeitig gehoben, widerstehen durch ihr Gewicht. Beide an die Enden einer Schnur ge - knüpft und über eine Rolle geführt, widerstehen der Bewegung oder vielmehr der Geschwindigkeitsänderung der Rolle durch ihre Masse. Ein grosses Gewicht an einen sehr langen Faden als Pendel gehängt, kann

Fig. 126.

mit geringer Mühe mit einer kleinen Fadenablen - kung neben der Gleichge - wichtslage erhalten wer - den. Die Gewichtscompo - nente, welche das Pendel in die Gleichgewichts - lage treibt, ist sehr ge - ring. Nichtsdestoweniger empfinden wir einen be - deutenden Widerstand, wenn wir das Gewicht rasch bewegen oder anhalten wollen. Ein Gewicht, das durch einen Luftballon eben getragen wird, setzt, obgleich wir dessen Schwere nicht mehr zu überwinden haben, jeder Bewegung einen fühlbaren Widerstand ent - gegen. Nehmen wir hinzu, dass derselbe Körper in verschiedenen geographischen Breiten und an verschie - denen Orten im Weltraum eine sehr ungleiche Schwere - beschleunigung erfährt, so erkennen wir die Masse als ein vom Gewicht verschiedenes bewegungsbestimmendes Merkmal.

9. Wichtig ist der Nachweis Newton’s, dass den -183Die Entwickelung der Principien der Dynamik.noch unter gewissen Umständen die Masse eines Körpers nach dem Gewicht geschätzt werden kann. Denken wir uns einen Körper auf einer Unterlage ruhend, auf welche er durch sein Gewicht einen Druck ausübt. Es liegt die Bemerkung nahe, dass 2, 3 solche Körper oder die Hälfte, ein Drittheil derselben auch den 2 -, 3 -, ½ -, ⅓fachen Druck hervorbringen. Denken wir uns die Fall - beschleunigung vergrössert, verkleinert oder verschwun - den, so werden wir erwarten, dass auch der Druck sich vergrössert, verkleinert oder verschwindet. Wir sehen also, dass der Gewichtsdruck mit der Menge der Materie und mit der Grösse der Fallbeschleunigung wächst, abnimmt und verschwindet. Wir fassen den Druck p in der einfachsten Weise als quantitativ dar - stellbar durch das Product aus der Menge der Materie m und der Fallbeschleunigung g auf, p = mg. Nehmen wir nun zwei Körper an, welche beziehungsweise den Ge - wichtsdruck p, p′ ausüben, denen wir die Mengen der Materie m, m′ zuschreiben, und welche den Fall -

Fig. 127.

beschleunigungen g, g′ unterliegen, so ist p = mg und p′ = m′g′. Könnten wir nun nachweisen, dass unab - hängig von der materiellen (chemischen) Beschaffenheit an demselben Ort der Erde g = g′, so wäre $$\frac{m}{m^\prime} = \frac {p}{p^\prime}$$ , es könnte also die Masse an demselben Orte der Erde durch das Gewicht gemessen werden.

Die Unabhängigkeit des g von der chemischen Be - schaffenheit hat Newton durch gleich lange Pendel von verschiedenem Material constatirt, welche trotzdem gleiche Schwingungsdauer zeigten. Hierbei hat er die Störungen durch den Luftwiderstand eingehend be - rücksichtigt. Man beseitigt den Einfluss desselben, in - dem man aus verschiedenem Material gleich grosse Pen - delkugeln anfertigt, deren Gewicht durch Aushöhlen aus - geglichen ist. Alle Körper können demnach als mit184Zweites Kapitel.demselben g behaftet angesehen, und ihre Materiemenge oder Masse kann nach Newton durch ihr Gewicht ge - messen werden.

Denken wir uns zwischen eine Reihe von Körpern und einen Magnet eine Scheidewand gebracht, so wer - den bei hinreichender Stärke des Magneten diese Kör - per, wenigstens die Mehrzahl derselben, einen Druck auf die Scheidewand ausüben. Niemand wird aber auf den Einfall kommen, diesen magnetischen Druck in der - selben Weise wie den Gewichtsdruck als Massenmaass zu verwenden. Die zu offenbare Ungleichheit der durch den Magnet verschiedenen Körpern beigebrachten Be - schleunigung lässt einen solchen Gedanken gar nicht

Fig. 128.

aufkommen. Der Leser merkt übrigens, dass diese ganze Ueberlegung noch eine bedenk - liche Seite hat, insofern sie den Massebegriff, der bisher immer nur genannt und als Bedürf - niss empfunden, aber nicht definirt wird, voraussetzt.

10. Von Newton rührt die klare Formulirung des Princips der Zusammensetzung der Kräfte her. 1Hier sind auch Roberval’s (1668) und Lami’s (1687) Leistungen betreffend die Lehre von der Zusammensetzung der Kräfte zu erwähnen. Varignon’s wurde bereits gedacht.Wird ein Körper von zwei Kräften gleichzeitig ergriffen, von welchen die eine die Bewegung AB, die andere die Bewegung AC in derselben Zeit hervorrufen würde, so bewegt sich der Körper, weil beide Kräfte und die von denselben erzeugten Bewegungen voneinander unab - hängig sind, in derselben Zeit nach AD. Diese Auf - fassung ist vollkommen natürlich und bezeichnet doch deut - lich den wesentlichen Punkt. Sie enthält nichts von dem Künstlichen und Geschraubten, das man nachher in die Lehre von der Zusammensetzung der Kräfte gebracht hat.

185Die Entwickelung der Principien der Dynamik.

Wir können den Satz noch etwas anders ausdrücken, um ihn der heutigen Form näher zu bringen. Die Beschleunigungen, welche verschiedene Kräfte demselben Körper beibringen, sind zugleich das Maass dieser Kräfte. Den Beschleunigungen proportional sind aber auch die in gleichen Zeiten zurückgelegten Wege; letztere können also selbst als Maass der Kräfte dienen. Wir können also sagen: Wirken auf den Körper A nach den Richtungen AB und AC zwei Kräfte, welche den Linien AB und AC proportional sind, so tritt eine Bewegung ein, die auch durch eine dritte Kraft allein, welche nach der Diagonale des über AB, AC construir - ten Parallelogramms gerichtet und dieser proportional ist, hervorgebracht werden könnte. Letztere Kraft ver - mag also die beiden andern zu ersetzen. Sind nämlich[φ]und[ψ]die beiden nach AB und AC auftretenden Beschleunigungen, so ist für eine gewisse Zeit t, 〈…〉 , 〈…〉 . Denken wir uns AD durch eine Kraft (welche die Beschleunigung[χ]bedingt) in derselben Zeit hervorgebracht, so haben wir 〈…〉 Erkennt man die Unabhängigkeit der Kräfte voneinan - der, so ergibt sich das Princip des Kräftenparallelo - gramms ohne Schwierigkeit aus dem Galilei’schen Kraft - begriff. Ohne die Annahme der Unabhängigkeit das Princip herauszuphilosophiren, würde man sich vergeb - lich bemühen.

11. Vielleicht die wichtigste Leistung Newton’s in Bezug auf die Principien ist die deutliche und allge - meine Formulirung des Princips der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung, von Druck und Gegen - druck. Fragen über die Bewegung von Körpern, welche sich gegenseitig beeinflussen, können nicht durch die Galilei’schen Principien allein gelöst werden. Es ist ein neues Princip nöthig, welches eben die Wechselwirkung186Zweites Kapitel.bestimmt. Ein solches Princip ist das von Huyghens zur Untersuchung des Schwingungsmittelpunktes heran - gezogene, ein solches ist auch das Newton’sche Princip der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung.

Ein Körper, der einen andern drückt oder zieht, wird nach Newton von dem andern ebenso viel gedrückt oder gezogen. Druck und Gegendruck, Kraft und Gegenkraft sind einander stets gleich Da Newton die in der Zeiteinheit erzeugte Bewegungsgrösse (Masse # Geschwindigkeit) als Kraftmaass definirt, so folgt, dass aufeinander wirkende Körper sich in gleichen Zeiten gleiche entgegengesetzte Bewegungsgrössen ertheilen, oder entgegengesetzte ihren Massen umgekehrt pro - portionirte Geschwindigkeiten annehmen.

Obgleich nun das Newton’sche Princip in seinem Aus - druck viel einfacher, naheliegender und auf den ersten Blick annehmbarer erscheint, als das Huyghens’sche, so findet man doch, dass es keineswegs weniger unanalysirte Erfahrung, weniger Instinctives enthält. Ohne Frage ist die erste Anregung zur Aufstellung des Princips rein instinctiver Natur. Man weiss, dass man erst dann, wenn man sich bemüht einen Körper in Bewegung zu setzen, von diesem Körper einen Widerstand er - fährt. Je rascher wir einen grossen Stein fortzuschleu - dern suchen, desto mehr wird unser eigener Körper zurückgedrängt. Druck und Gegendruck gehen parallel. Die Annahme der Gleichheit von Druck und Gegen - druck liegt nahe, wenn wir uns (nach Newton’s eigener Erläuterung) zwischen zwei Körpern ein gespanntes Seil, eine gespannte oder gedrückte Spiralfeder denken.

Instinctive der Statik angehörige Erkenntnisse, welche die Gleichheit von Druck und Gegendruck enthalten, gibt es sehr viele. Die triviale Erfahrung, dass nie - mand sich selbst durch Ziehen an seinem Stuhl in die Luft erheben kann, ist eine solche. In einem Scholium, in welchem Newton die Physiker Wren, Huyghens und Wallis als Vorgänger in Bezug auf die Benutzung des Princips anführt, stellt er auch analoge Ueberlegungen187Die Entwickelung der Principien der Dynamik.an. Er denkt sich die Erde, deren einzelne Theile gegeneinander gravitiren, durch irgendeine Ebene ge - theilt. Wäre der Druck des einen Theils auf den an - dern nicht gleich dem Gegendruck, so müsste sich die Erde nach der Richtung des grössern Druckes bewegen. Die Bewegung eines Körpers kann aber nach unserer Erfahrung nur durch andere Körper ausserhalb des - selben bestimmt sein. Zudem könnte man sich die ge - nannte Theilungsebene beliebig legen und die Be - wegungsrichtung wäre daher ganz unbestimmt.

12. Die Unklarheit des Massenbegriffes macht sich aufs neue fühlbar, sobald wir das Princip der Gleich - heit von Wirkung und Gegenwirkurg dynamisch ver - wenden wollen. Druck und Gegendruck mögen gleich sein. Woher wissen wir aber, dass gleiche Drucke den Massen verkehrt proportionale Geschwindigkeiten er - zeugen? Newton fühlt auch wirklich das Bedürfniss, diesen Grundsatz durch die Erfahrung zu erhärten. Er führt in seinem Scholion die Stossexperimente von Wren für seinen Satz an, und stellt selbst Experimente an. Er schliesst in ein verkorktes Gläschen einen Magnet, in ein anderes ein Stück Eisen ein, setzt beide auf Wasser, und überlässt sie ihrer gegenseitigen Ein - wirkung. Die Gläschen nähern sich, stossen aneinan - der, bleiben aneinander haften, und verharren nachher in Ruhe. Dies spricht für die Gleichheit von Druck und Gegendruck und auch für gleiche und entgegen - gesetzte Bewegungsquantitäten (wie wir bei Besprechung der Stossgesetze sehen werden).

13. Der Leser hat schon gefühlt, dass die ver - schiedenen Aufstellungen Newton’s in Bezug auf die Masse und das Gegenwirkungsprincip miteinander zu - sammenhängen, dass eine durch die andere gestützt wird. Die zu Grunde liegenden Erfahrungen sind: die instinctive Erkenntniss des Zusammenhanges von Druck und Gegendruck, die Erkenntniss, dass Körper unabhängig von ihrem Gewicht, aber dem Gewichte entsprechend der Geschwindigkeitsänderung widerstehen, die Be -188Zweites Kapitel.merkung, dass Körper von grösserm Gewicht unter gleichem Druck kleinere Geschwindigkeiten annehmen. Newton hat vortrefflich gefühlt, welche Grundbegriffe und Grundsätze der Mechanik nothwendig sind. Die Form seiner Aufstellungen lässt jedoch, wie wir noch eingehen - der zeigen werden, manches zu wünschen übrig. Wir haben kein Recht, seine Leistung deshalb zu unter - schätzen, denn er hatte die grössten Schwierigkeiten zu überwinden und ist denselben weniger als alle an - dern Forscher aus dem Wege gegangen.

4. Erörterung und Veranschaulichung des Gegenwirkungsprincips.

1. Wir wollen uns nun einen Augenblick dem New - ton’schen Gedanken hingeben, und das Gegenwirkungs -

Fig. 129.

Fig. 130.

princip unserm Gefühl und unserer Anschauung näher zu bringen suchen. Wenn zwei Massen M und m auf - einander wirken, so ertheilen sie sich nach Newton ent - gegengesetzte Geschwindigkeiten V und v, welche sich verkehrt wie die Massen verhalten, sodass MV+mv = o.

Man kann diesem Grundsatz den Anschein grosser Evidenz durch folgende Betrachtung geben. Wir den - ken uns zunächst zwei vollkommen (auch in chemischer Beziehung) gleiche Körper a. Stellen wir dieselben einander gegenüber und lassen wir sie aufeinander wir - ken, so ist bei Ausschliessung des Einflusses eines dritten Körpers und des Beschauers, die Ertheilung von gleichen189Die Entwickelung der Principien der Dynamik.entgegengesetzten Geschwindigkeiten nach der Richtung der Verbindungslinie die einzige eindeutig bestimmte Wechselwirkung.

Nun stellen wir Fig. 131 m solcher Körper a in A zusam - men, und stellen denselben m′ solcher Körper a in B ent - gegen. Wir haben also Körper, deren Materiemengen oder Massen sich wie m: m′ verhalten. Die Distanz beider Gruppen nehmen wir so gross, dass wir von der Ausdehnung der Körper absehen können. Betrachten wir nun die Beschleunigungen[α], welche je zwei Körper a sich ertheilen, als voneinander unabhängig. Jeder Theil in A wird nun durch B die Beschleunigung m′[α], jeder Theil in B durch A die Beschleunigung m[α]erhalten,

Fig. 131.

Fig. 132.

welche Beschleunigungen also den Massen verkehrt pro - portionirt sein werden.

2. Wir stellen uns nun eine Masse M mit einer Masse m (beide bestehend aus lauter gleichen Körpern a) elastisch verbunden vor (Fig. 132.) Die Masse m erhalte durch eine äussere Ursache eine Beschleunigung[φ]. So - fort tritt eine Zerrung an der Verbindung auf, wodurch einerseits m verzögert, M aber beschleunigt wird. So - bald sich beide Massen mit derselben Beschleunigung bewegen, hat die weitere Zerrung der Verbindung ein Ende. Nennen wir[α]die Beschleunigung von M,[β]die Verminderung der Beschleunigung von m, so ist dann 〈…〉 , wobei nach dem Frühern 〈…〉 . Hieraus folgt 〈…〉 . 190Zweites Kapitel.Wollte man noch mehr auf die Einzelheiten des Vor - ganges eingehen, so würde man erkennen, dass die beiden Massen neben ihrer fortschreitenden Bewegung meist noch eine schwingende Bewegung gegeneinander ausführen. Entwickelt die Verbindung schon bei ge - ringer Zerrung eine grosse Spannung, so kann es zu keiner grossen Schwingungsweite kommen, und man kann von dieser schwingenden Bewegung ganz absehen, wie wir es gethan haben.

Wenn wir den Ausdruck 〈…〉 , welcher die Be - schleunigung des ganzen Systems bestimmt, in Augen - schein nehmen, so sehen wir, dass das Product m[φ]bei dieser Bestimmung eine ausgezeichnete Rolle spielt. Es ist deshalb dieses Product einer Masse in die derselben ertheilte Beschleunigung von Newton mit dem Namen bewegende Kraft belegt worden. Dagegen stellt M+m die Gesammtmasse des starren Systems vor.

Fig. 133.

Wir erhalten also die Beschleunigung einer Masse m′, auf welche die bewegende Kraft p wirkt, durch den Ausdruck $$\frac {p{m^\prime}$$ .

3. Um zu diesem Resultat zu kommen, ist es durchaus nicht nothwendig, dass die beiden mitein - ander verbundenen Massen in allen Theilen direct aufein - ander wirken. Nehmen wir die drei Massen m1, m2, m3 als miteinander verbunden an, wobei aber m1 blos auf m2, m3 nur auf m2 wirken soll. Die Masse m1 erhalte durch eine äussere Ursache die Beschleunigung[φ]. Bei der Zer - rung erhalten die Massen die Beschleunigungen

.

Hierbei sind alle Beschleunigungen nach rechts posi - tiv, nach links negativ gerechnet, und es ist ersicht - lich, dass die Zerrung nicht weiter wächst, wenn 〈…〉 , wobei 〈…〉 .

191Die Entwickelung der Principien der Dynamik.

Die Auflösung dieser Gleichungen liefert die gemein - schaftliche Beschleunigung 〈…〉 also ein Resultat von derselben Form wie zuvor. Wenn also ein Magnet auf ein Stück Eisen wirkt, welches mit einem Stück Holz verbunden ist, so brauchen wir uns nicht darum zu kümmern, welche Holztheile direct oder indirect (mit Hülfe anderer Holztheile) durch die Bewegung des Eisenstücks gezerrt werden. Die ange - stellten Ueberlegungen dürften dazu beigetragen haben, uns die grosse Bedeutung der Newton’schen Aufstellungen für die Mechanik fühlbar zu machen. Zugleich werden sie später dazu dienen, die Mängel dieser Aufstellun - gen leichter klar zu legen.

4. Wenden wir uns nun zu einigen anschaulichen physikalischen Beispielen für das Gegenwirkungsprin - cip. Betrachten wir eine Last L auf einem Tisch T.

Fig. 134.

Der Tisch wird nur insofern durch die Last gedrückt, als er umgekehrt die Last drückt, dieselbe also am Fallen hindert. Heisst p das Gewicht, m die Masse und g die Beschleunigung der Schwere, so ist nach Newton’s Anschauung p = mg. Lassen wir den Tisch mit der Beschleunigung des freien Falles g sich abwärts bewegen, so hört jeder Druck auf denselben auf. Wir erkennen also, dass der Druck auf den Tisch durch die Relativ - beschleunigung der Last gegen den Tisch bestimmt ist. Fällt oder steigt der Tisch mit der Beschleunigung[γ], so ist beziehungsweise der Druck auf denselben m (g [γ]) und m (g+[γ]). Man bemerke aber wohl, dass durch eine constante Fall - oder Steigegeschwindigkeit keine Aenderung des Verhältnisses herbeigeführt wird. Die Relativbeschleunigung ist maassgebend.

192Zweites Kapitel.

Galilei kannte dieses Verhältniss sehr wohl. Die Meinung der Aristoteliker, dass Körper von grösserm Gewicht rascher fallen, widerlegte er nicht nur durch Experimente, sondern er trieb seine Gegner auch logisch in die Enge. Der grössere Körper fällt schneller, sagten die Aristoteliker, weil die obern Theile auf den untern lasten und deren Fall beschleunigen. Dann, meint Galilei, muss wol ein kleinerer Körper mit einem grösseren verbunden, wenn ersterer an sich die Eigen - schaft hat, langsamer zu fallen, den grössern verzögern. Es fällt also dann ein grösserer Körper langsamer als der kleinere. Die ganze Grundannahme, sagt Galilei, sei falsch, denn ein Theil eines fallenden Körpers kann durch sein Gewicht den andern gar nicht drücken.

Ein Pendel mit der Schwingungsdauer 〈…〉 würde, wenn die Axe die Beschleunigung[γ]abwärts erhielte, die Schwingungsdauer 〈…〉 an - nehmen, und im freien Fall eine unendliche Schwingungs - dauer erhalten, d. h. aufhören zu schwingen.

Wenn wir selbst von einer Höhe herabspringen oder fallen, haben wir ein eigenthümliches Gefühl, welches durch die Aufhebung des Gewichtsdruckes der Körper - theile aufeinander, des Blutes u. s. w. bedingt sein muss. Ein ähnliches Gefühl, als ob der Boden unter uns versinken würde, müssten wir auf einem kleineren Weltkörper haben, wenn wir plötzlich dorthin versetzt würden. Das Gefühl des fortwährenden Erhebens, wie bei einem Erdbeben, würde sich auf einem grössern Weltkörper einstellen.

5. Diese Verhältnisse werden durch einen von Poggen - dorff construirten Apparat (Fig. 135 c.) sehr schön erläutert. Ueber eine Rolle c am Ende eines Wagebalkens wird ein beiderseits mit dem Gewicht P belasteter Faden gelegt. Man legt einerseits das Gewicht p hinzu, und bindet es an der Axe der Rolle durch einen dünnen Faden fest. 193Die Entwickelung der Principien der Dynamik.Die Rolle trägt nun das Gewicht 2P+p. Sobald man aber den Faden des Uebergewichts p abbrennt, beginnt eine gleichförmig beschleunigte Bewegung mit der Be - schleunigung[γ], mit welcher P+p sinkt und ander - seits P steigt. Hierbei wird nun die Belastung der Rolle geringer, wie man am Ausschlag der Wage er - kennt. Das sinkende Gewicht P wird durch das steigende P compensirt, dagegen wiegt das Zuleggewicht statt p nunmehr 〈…〉 .

Da nun 〈…〉 , so hat man anstatt p das Gewicht 〈…〉 als Belastung der Rolle anzu - sehen. Das nur theilweise an seiner Fallbewegung gehinderte Gewicht drückt nur theilweise auf die Rolle.

Fig. 135 a.
Fig. 135 b.

Man kann den Versuch variiren. Man führt einen einerseits mit dem Gewicht P belasteten Faden über die Rollen a, b, d des Apparates, wie dies in der Fig. 135 b. angedeutet ist, bindet das unbelastete Ende bei m fest und äquilibrirt die Wage. Zieht man an dem Faden bei m, so kann dies, weil die Fadenrichtung genau durch die Axe der Wage geht, keine directe Wirkung auf die - selbe haben. Doch sinkt sofort die Seite a. Jedes Nach - lassen des Fadens bringt a zum Steigen. Die unbe - schleunigte Bewegung des Gewichtes würde das Gleich -Mach. 13194Zweites Kapitel.gewicht nicht stören. Man kann aber nicht ohne Be - schleunigung von der Ruhe zur Bewegung übergehen.

6. Eine Erscheinung, welche auf den ersten Blick auffällt, ist die, dass in einer Flüssigkeit specifisch schwerere oder leichtere Körperchen, wenn sie nur hin -

Fig. 135 c.

reichend klein sind, sehr lange suspendirt bleiben können. Man erkennt jedoch, dass solche Theilchen die Flüssigkeitsreibung zu überwinden haben. Theilt man den Würfel der Figur 136 durch die ange - deuteten 3 Schnitte in 8 Theile, die man nebenein - anderlegt, so bleibt die Masse und das Uebergewicht195Die Entwickelung der Principien der Dynamik.gleich, der Querschnitt und die Oberfläche aber, mit welchen die Reibung Hand in Hand geht, wird ver - doppelt.

Es ist nun gelegentlich die Ansicht aufgetreten, dass derartige suspendirte Theilchen auf das durch ein ein - getauchtes Arëometer angezeigte specifische Gewicht keinen Einfluss hätten, weil diese Theilchen ja selbst nur Arëometer wären. Man überlegt aber leicht, dass, sobald diese Theilchen mit constanter Geschwindigkeit sinken oder steigen, was bei sehr kleinen Theilchen sofort eintritt, die Wirkung auf die Wage und das Arëometer dieselbe sein muss. Denkt man sich das Arëometer um seine Gleichgewichtslage schwingend, so merkt man, dass die Flüssigkeit mit ihrem ganzen Inhalt mitbewegt werden muss. Man ist also, das Princip der virtuellen Verschiebungen anwendend, nicht darüber im Zweifel, dass auch das Arëometer das mittlere specifische Gewicht angeben muss. Von der Unhaltbarkeit der Regel, nach welcher das Arëometer nur das specifische Gewicht der Flüssigkeit und nicht auch jenes der suspendirten Theile anzeigen soll, überzeugt man sich durch folgende Ueberlegung. In

Fig. 136.

einer Flüssigkeit A sei eine kleinere Menge einer schwereren Flüssigkeit B fein in Tropfen vertheilt. Das Arëometer zeige nur das specifische Gewicht von A an. Nimmt man nun von der Flüssigkeit B immer mehr, zuletzt ebenso viel als von A, so kann man nicht mehr sagen, welche Flüssigkeit in der andern suspendirt ist, welches specifische Gewicht also das Arëometer an - zeigen soll.

7. Eine grossartige Erscheinung, in welcher sich die Relativbeschleunigung der Körper als maassgebend für ihren gegenseitigen Druck äussert, ist das Flutphäno - men. Wir wollen dasselbe hier nur insofern betrachten, als es zur Erläuterung des berührten Punktes dienen13*196Zweites Kapitel.kann. Der Zusammenhang des Flutphänomens mit der Mondbewegung äussert sich durch die Ueberein - stimmung der Flutperiode mit der Mondperiode, durch die Verstärkung der Flut beim Vollmond und Neumond, durch die tägliche Flutverspätung (um 50 Minuten) ent - sprechend der Verspätung der Mondculmination u. s. w. In der That hat man schon sehr früh an einen Zu - sammenhang beider Vorgänge gedacht. Man stellte sich in der Newton’schen Zeit eine Art Luftdruckwelle vor, mit Hülfe welcher der Mond bei seiner Bewegung die Flutwelle erregen sollte.

Das Flutphänomen macht auf jeden, der es zum ersten mal in seiner ganzen Grösse beobachtet, einen überwältigenden Eindruck. Wir dürfen uns also nicht wundern, dass es die Forscher aller Zeiten lebhaft be - schäftigt hat. Die Krieger Alexander’s des Grossen kannten vom Mittelmeer her kaum einen Schatten des Flutphänomens, und wurden daher durch die gewaltige Flut an der Mündung des Indus nicht wenig über - rascht, wie wir dies aus der Beschreibung des Curtius Ru - fus ( Von den Thaten Alexander’s des Grossen , Lib. IX, Cap. 34 37) entnehmen, die wir hier wörtlich folgen lassen.

34. Als sie nun etwas langsamer, weil sie in ihrem Laufe durch die Meeresflut zurückgetrieben wurden, eine andere mitten im Strome gelegene Insel erreichten, so legten sie mit der Flotte an und zerstreuten sich, um Proviant zu suchen, ohne Ahnung von dem Ereigniss, dass die Unkundigen überraschte.

35. Es war um die dritte Stunde, als der Ocean mit seinem stetigen Flutwechsel anzurücken und den Fluss zurückzudrängen begann. Erst gestaut, dann heftiger zurückgetrieben, strömte dieser mit grösserer Gewalt nach entgegengesetzter Richtung, als Giessbäche im abschüssigen Bette einherschiessen. Der Menge war die Natur des Meeres unbekannt, und man glaubte ein Wunder und ein Zeichen des göttlichen Zornes zu sehen. Mit immer erneutem Andrange ergoss sich das Meer197Die Entwickelung der Principien der Dynamik.auch auf die kurz zuvor trockenen Gefilde. Und schon waren die Fahrzeuge in die Höhe gehoben und die ganze Flotte zerstreut, als von allen Seiten die ans Land Gesetzten erschreckt und bestürzt durch das un - erwartete Unglück zurückrannten. Aber bei Verwirrung fördert auch Eile nicht. Die Einen stiessen die Schiffe mit Stangen ans Land, Andere waren, während sie das Zurechtmachen der Ruder hinderten, festgefahren. Manche hatten bei ihrer Eile, abzustossen, nicht auf ihre Kame - raden gewartet und brachten nun die lahmen und un - lenkbaren Schiffe nur in matte Bewegung; andere Schiffe hatten die sich unbedacht auf sie Stürzenden nicht aufnehmen können, und es war gleichzeitig Ueberfülle und mangelhafte Bemannung, was die Eile hemmte. Das Geschrei, hier man solle warten, dort man solle abstossen, und die widerstreitenden Rufe der niemals ein und dasselbe Wollenden hatten alle Mög - lichkeit benommen zu sehen und zu hören. Selbst bei den Steuerleuten war nicht die geringste Hülfe, da we - der ihr Ruf von den Tobenden vernommen werden konnte, noch ihr Befehl von den Erschrockenen und Verwirrten beachtet wurde. Also begannen die Schiffe gegeneinander zu stossen, sich wechselseitig die Ruder abzubrechen, und ein Fahrzeug auf das andere loszu - drängen. Man konnte glauben, es fahre da nicht die Flotte ein und desselben Heeres, sondern zwei ver - schiedene seien in einem Schiffskampfe begriffen. Vorder - theile schmetterten gegen Hintertheile; die eben die Vordern in Verwirrung gebracht hatten, sahen sich von den Folgenden bedrängt, und der Zorn der Streitenden steigerte sich bis zum Handgemenge.

36. Und bereits hatte die Flut die ganzen Gefilde um den Strom unter Wasser gesetzt, sodass nur noch die Hügel wie kleine Inseln hervorragten: die eilten sehr viele in ihrer Angst, nachdem sie die Hoffnung auf die Schiffe aufgegeben, schwimmend zu erreichen. Zerstreut befand sich die Flotte theils auf sehr tiefem Wasser, wo Thalsenkungen waren, theils sass sie auf198Zweites Kapitel.Untiefen, wie eben die Wellen die ungleichen Boden - erhebungen bedeckt hatten: da wurde ihnen plötzlich ein neuer und grösserer Schrecken eingejagt. Das Meer begann sich zurückzuziehen, indem die Gewässer in langem Wogenzuge an ihren Ort zurückrannen, um das kurz zuvor unter tiefer Salzflut versenkte Land wieder herauszugeben. Die also vom Wasser verlassenen Schiffe stürzten die einen nach vorn über, andere legten sich auf die Seite; die Gefilde waren mit Gepäck, Wasser und Stücken losgebrochener Breter und Ruder bestreut. Die Soldaten wagten weder heraus aufs Land zu gehen, noch im Schiffe zu bleiben, immer noch Weiteres und Schlimmeres als das Gegenwärtige er - wartend. Kaum trauten sie ihren eigenen Augen über das, was sie erfahren, auf dem Trockenen ein Schiffbruch, im Strom ein Meer. Auch war des Unglücks kein Ende zu sehen. Denn unbekannt damit, dass die Flut in kurzem das Meer zurückbringen und die Schiffe flott machen werde, prophezeiten sie sich Hunger und die äusserste Noth. Es krochen auch schreckliche Thiere, von den Fluten zurückgelassen, umher.

37. Schon brach die Nacht herein, und selbst der König war durch die Verzweiflung an ihrer Rettung schwer bekümmert. Dennoch überwältigten die Sorgen seinen unbesiegbaren Muth nicht, sondern die ganze Nacht blieb er unablässig auf der Ausschau und schickte Reiter an die Flussmündung voraus, um, sobald sie das Meer wieder herauffluten sähen, vorauszueilen. Auch gebot er, die geborstenen Fahrzeuge wieder auszu - bessern, und die von den Fluten umgestürzten wieder aufzurichten, und fertig bei der Hand zu sein, sobald wieder das Land vom Meer überschwemmt würde. Nach - dem er so die ganze Nacht unter Wachen und Er - mahnungen zugebracht hatte, kamen die Reiter eiligst im schnellsten Laufe zurückgesprengt, und ebenso schnell folgte die Flut. Erst begann diese mit ihren im leisen Wellenzuge nahenden Gewässern die Schiffe zu heben, bald aber setzte sie das ganze Gefilde über -199Die Entwickelung der Principien der Dynamik.schwemmend die Flotte auch in Bewegung. Am ganzen Küsten - und Ufersaum erschallte das Beifallsklatschen der Soldaten und Schiffsleute, die mit maassloser Freude ihre unverhoffte Rettung feierten. Woher doch, fragten sie verwundert, so plötzlich diese grosse Meeres - flut zurückgekehrt? wohin sie gestern entwichen sei? und wie die Beschaffenheit dieses bald zwieträchtigen, bald dem Gesetze bestimmter Zeiten gehorchenden Ele - mentes? Da der König aus dem Hergang des Geschehenen schloss, dass nach Sonnenuntergang der bestimmte Zeit - punkt eintrete, so fuhr er, um der Flut zuvorzukommen, gleich nach Mitternacht mit einigen wenigen Schiffen den Fluss hinunter, und als er dessen Mündung hinter sich hatte, schiffte er noch, sich endlich am Ziel seiner Wünsche sehend, 400 Stadien weit in das Meer hinein.

Fig. 137.

Dann brachte er den Gottheiten des Meeres und jener Gegend ein Opfer und kehrte zur Flotte zurück.

8. Wesentlich ist bei Erklärung der Flut, dass die Erde als starrer Körper nur eine bestimmte Beschleu - nigung gegen den Mond annehmen kann, während die beweglichen Wassertheile auf der dem Monde zuge - wandten und abgewandten Seite verschiedene Be - schleunigungen erhalten können.

Wir betrachten an der Erde E, welcher der Mond M gegenübersteht, drei Punkte A, B, C. Die Beschleu - nigung der drei Punkte gegen den Mond, wenn wir sie als freie Punkte ansehen, ist beziehungsweis 〈…〉 , 〈…〉 . Die gesammte Erde als starrer Körper nimmt hingegen die Beschleunigung[φ]an. Die Beschleunigung200Zweites Kapitel.gegen den Erdmittelpunkt nennen wir g. Bezeichnen wir nun alle Beschleunigungen nach links negativ, alle nach rechts positiv, so haben die freien Punkte die Beschleu - nigungen Die Beschleunigung der Erde ist Demnach die Be - schleunigung ge - gen die Erde

. Wir sehen also, dass das Wassergewicht in A und in C um den gleichen Betrag vermindert erscheint. Das

Fig. 138.

Wasser wird in A und C höher stehen; es wird täg - lich zweimal eine Flutwelle erscheinen.

Es wird nicht immer genügend hervorgehoben, dass die Erscheinung eine wesentlich andere sein müsste, wenn Mond und Erde nicht in beschleunigter Bewegung gegen - einander begriffen, sondern in relativer Ruhe fixirt wären. Modificiren wir die Betrachtung für diesen Fall, so haben wir in der obigen Berechnung für die starre Erde einfach 〈…〉 zu setzen. Dann erhalten die freien Punkte die Beschleunigungen

oder oder201Die Entwickelung der Principien der Dynamik.wobei 〈…〉 gesetzt wurde. Dann würde also in A das Wassergewicht verkleinert, in C vergrössert, der Wasserstand in A erhöht, in C erniedrigt werden. Es würde nur auf der dem Monde zugekehrten Seite das Wasser gehoben.

9. Es verlohnt sich wol kaum der Mühe, Sätze, welche man am besten auf deductivem Wege erkennt, durch Experimente zu erläutern, die nur schwierig anzu - stellen sind. Unmöglich dürften aber solche Experi - mente nicht sein. Denken wir uns eine kleine eiserne Kugel K als Kegelpendel um einen Magnetpol schwin - gend, und bedecken wir die Kugel mit einer magne - tischen Eisensalzlösung, so dürfte der Tropfen bei hin - reichend kräftigen Magneten das Flutphä - nomen darstellen. Denken wir uns aber die Kugel dem Magnetpol gegenüber fixirt, so wird der Tropfen sicherlich nicht auf der dem Magnetpol zugewandten und ab - gewandten Seite zugespitzt erscheinen, son - dern nur auf der Seite des Magnetpoles an der Kugel hängen bleiben.

10. Man darf sich natürlich nicht vor - stellen, dass die ganze Flutwelle durch den Mond auf einmal entsteht. Vielmehr hat man sich die Flut als einen Schwingungs - vorgang zu denken, welcher durch den

Fig. 139.

Mond erhalten wird. Würden wir z. B. über der Wasseroberfläche eines kreisförmigen Kanals mit einem Fächer fort und fort gleichmässig hinfahren, so würde durch diesen leisen consequent fortgesetzten Antrieb bald eine nicht unbeträchtliche dem Fächer folgende Welle entstehen. Aehnlich entsteht die Flut. Der Vorgang ist aber hier durch die unregelmässigen For - men der Continente, durch die periodische Variation der Störung u. s. w. sehr complicirt.

202Zweites Kapitel.

5. Kritik des Gegenwirkungsprincipes und des Massenbegriffes.

1. Nachdem wir uns nun mit den Newton’schen An - schauungen vertraut gemacht haben, sind wir hinreichend vorbereitet, dieselben kritisch zu untersuchen. Wir beschränken uns hierbei zunächst auf den Massenbegriff und das Gegenwirkungsprincip. Beide können bei der Untersuchung nicht getrennt werden, und in beiden liegt das Hauptgewicht der Newton’schen Leistung.

2. Zunächst erkennen wir in der Menge der Materie keine Vorstellung, welche geeignet wäre den Begriff Masse zu erklären und zu erläutern, da sie selbst keine genügende Klarheit hat. Dies gilt auch dann, wenn wir, wie es manche Autoren gethan haben, bis auf die Zählung der hypothetischen Atome zurückgehen. Wir häufen hiermit nur die Vorstellungen, welche selbst einer Rechtfertigung bedürfen. Bei Zusammenlegung mehrerer gleicher chemisch gleichartiger Körper können wir mit der Menge der Materie allerdings noch eine klare Vorstellung verbinden, und auch erkennen, dass der Bewegungswiderstand mit dieser Menge wächst. Lassen wir aber die chemische Gleichartigkeit fallen, so ist die Annahme, dass von verschiedenen Körpern noch etwas mit demselben Maasse Messbares übrig bleibt, welches wir Menge der Materie nennen könnten, zwar nach den mechanischen Erfahrungen nahe liegend, aber doch erst zu rechtfertigen. Wenn wir also mit Newton in Bezug auf den Gewichtsdruck die Annahmen machen p = mg, p′ = m′·g und hiernach setzen 〈…〉 , so liegt hierin schon die erst zu rechtfertigende Voraussetzung der Messbarkeit verschiedener Körper mit demselben Maass.

Wir könnten auch willkürlich festsetzen 〈…〉 , d. h. das Massenverhältniss definiren als das Verhältniss des Gewichtsdruckes bei gleichem g. Dann bliebe aber der203Die Entwickelung der Principien der Dynamik.Gebrauch zu begründen, welcher von diesem Massen - begriff im Gegenwirkungsprincip und bei andern Ge - legenheiten gemacht wird.

3. Wenn zwei in jeder Beziehung vollkommen gleiche Körper einander gegenüberstehen, so erwarten wir nach dem uns geläufigen Symmetrieprincip, dass sie sich gleiche entgegengesetzte Beschleunigungen nach der Richtung ihrer Verbindungslinie ertheilen. Sobald nun diese Körper irgendwelche geringste Ungleichheit der Form, der chemischen Beschaffenheit u. s. w. haben, ver - lässt uns das Symmetrieprincip, wenn wir nicht von vornherein annehmen oder wissen, dass es etwa auf Formgleichheit oder Gleichheit der chemischen Be - schaffenheit nicht ankommt. Ist uns aber einmal durch mechanische Erfahrung die Existenz eines besondern

Fig. 140 a.

Fig. 140 b.

beschleunigungsbestimmenden Merkmals der Körper nahe gelegt, so steht nichts im Wege, willkürlich fest - zusetzen:

Körper von gleicher Masse nennen wir solche, welche aufeinander wirkend sich gleiche entgegengesetzte Beschleunigungen ertheilen. Hiermit haben wir nur ein thatsächliches Verhältniss be - nannt. Analog werden wir in dem allgemeinem Falle verfahren. Die Körper A und B erhalten bei ihrer Gegenwirkung beziehungsweise die Beschleunigungen [φ]und +[φ], wobei wir den Sinn derselben durch das Zeichen ersichtlich machen. Dann sagen wir, B hat die $$\frac {\varphi}{{\varphi^\prime}$$ fache Masse von A. Nehmen wir den Ver - gleichskörper A als Einheit an, so schreiben wir jenem Körper die Masse m zu, welcher A das mfache der Beschleunigung ertheilt, die204Zweites Kapitel.er in Gegenwirkung von A erhält. Das Massen - verhältniss ist das negative umgekehrte Verhältniss der Gegenbeschleunigungen. Dass diese Beschleunigungen stets von entgegengesetztem Zeichen sind, dass es also nach unserer Definition blos positive Massen gibt, lehrt die Erfahrung und kann nur die Erfahrung lehren. In unserm Massenbegriff liegt keine Theorie, die Quantität der Materie ist in demselben durchaus unnöthig, er enthält blos die scharfe Fixirung, Bezeichnung und Benennung einer Thatsache.

4. Eine Schwierigkeit darf hierbei nicht unerwähnt bleiben, deren Hebung zur Herstellung eines vollkommen klaren Massenbegriffes durchaus nothwendig ist. Wir betrachten eine Reihe von Körpern A, B, C, D und vergleichen alle mit A als Einheit.

A, B, C, D, E, F 1, m, m′, m″, m‴, m″″

Hierbei finden wir beziehungsweise die Massenwerthe 1, m, m′, m″ .... u. s. w. Es entsteht nun die Frage: Wenn wir B als Vergleichskörper (als Einheit) wählen, werden wir für C den Massenwerth $$\frac{m^\prime}{m}$$ , für D den Werth $$\frac{m^\prime \prime}{m}$$ erhalten, oder werden sich etwa ganz andere Werthe ergeben? In einfacherer Form lautet dieselbe Frage: Werden zwei Körper B, C, welche sich in Gegen - wirkung mit A als gleiche Massen verhalten haben, auch untereinander als gleiche Massen verhalten? Es besteht durchaus keine logische Nothwendigkeit, dass zwei Massen, welche einer dritten gleich sind, auch untereinander gleich seien. Denn es handelt sich hier um keine mathematische, sondern um eine physikalische Frage. Dies wird sehr klar, wenn wir ein analoges Verhältniss zur Erläuterung herbeiziehen. Wir legen die Körper A, B, C in solchen Gewichtsmengen a, b, c nebeneinander, in welchen sie in die chemischen Ver - bindungen AB und AC eingehen. Es besteht nun gar205Die Entwickelung der Principien der Dynamik.keine logische Nothwendigkeit anzunehmen, dass in die chemische Verbindung BC auch dieselben Gewichts - mengen b, c der Körper B, C eingehen. Dies lehrt aber die Erfahrung. Wenn wir eine Reihe von Körpern in den Gewichtsmengen nebeneinanderlegen, in welchen sie sich mit dem Körper A verbinden, so vereinigen sie sich in denselben Gewichtsmengen auch unterein - ander. Dass kann aber niemand wissen, ohne es ver - sucht zu haben. Ebenso verhält es sich mit den Massenwerthen der Körper.

Würde man annehmen, dass die Ordnung der Com - bination der Körper, durch welche man deren Massen - werthe bestimmt, auf die Massenwerthe Einfluss hat, so würden die Folgerungen hieraus zu Widersprüchen mit der Erfahrung führen. Nehmen wir beispielsweise drei elastische Körper A, B, C auf einem absolut glatten und starren Ring beweglich an. Wir setzen voraus, dass A und B sich als gleiche Massen und ebenso B und C sich als gleiche Massen unter - einander verhalten. Dann müssen wir, um Widersprüche mit der Er -

Fig. 141.

fahrung zu vermeiden, annehmen, dass auch C und A sich als gleiche Massen verhalten. Ertheilen wir A eine Geschwindigkeit, so überträgt es dieselbe durch Stoss an B, dieses an C. Würde aber C sich etwa als grössere Masse gegen A verhalten, so würde auch A beim Stosse eine grössere Geschwindigkeit annehmen, während C noch einen Rest zurückbehielte. Bei jedem Umlauf im Sinne des Uhrzeigers würde die lebendige Kraft im System zunehmen. Wäre C gegen A die kleinere Masse, so würde die Umkehrung der Bewegung genügen, um dasselbe Resultat zu erreichen. Eine solche fortwährende Zunahme der lebendigen Kraft widerstreitet nun entschieden unsern Erfahrungen.

5. Der auf die angegebene Weise gewonnene Massen -206Zweites Kapitel.begriff macht die besondere Aufstellung des Gegen - wirkungsprincips unnöthig. Es ist nämlich im Massen - begriff und im Gegenwirkungsprincip, wie wir dies in einem frühern Fall schon bemerkt haben, wieder die - selbe Thatsache zweimal formulirt, was überflüssig ist. Wenn zwei Massen 1 und 2 aufeinander wirken, so liegt es schon in unserer Definition, dass sie sich entgegen - gesetzte Beschleunigungen ertheilen, die sich beziehungs - weise wie 2: 1 verhalten.

6. Die Messbarkeit der Masse durch das Gewicht (bei unveränderlicher Schwerebeschleunigung) kann aus unserer Definition der Masse ebenfalls abgeleitet wer - den. Wir empfinden die Vergrösserung oder Verklei - nerung eines Druckes unmittelbar, allein diese Empfin - dung gibt nur ein sehr beiläufiges Maass einer Druck -

Fig. 142.

grösse. Ein exactes brauchbares Druckmaass ergibt sich durch die Bemerkung, dass jeder Druck er - setzbar ist durch den Druck einer Summe gleichartiger Gewichts - stücke. Jeder Druck kann durch den Druck solcher Gewichtstücke im Gleichgewicht gehalten werden. Zwei Körper m und m′ mögen beziehungsweise von den durch äussere Umstände bedingten Beschleunigungen[φ]und[φ] in entgegengesetztem Sinne ergriffen werden. Die Körper seien durch einen Faden verbunden. Be - steht Gleichgewicht, so ist an m die Beschleunigung[φ]und an m′ die Beschleunigung[φ] durch die Wechsel - wirkung eben aufgehoben. Für diesen Fall ist also 〈…〉 . Ist also 〈…〉 , wie dies der Fall ist, wenn die Körper der Schwerebeschleunigung überlassen werden, so ist im Gleichgewichtsfall auch m = m′. Es ist selbstverständlich unwesentlich, ob wir die Körper direct durch einen Faden, oder durch einen über eine Rolle geführten Faden, oder dadurch aufeinander wir - ken lassen, dass wir sie auf die beiden Schalen einer Wage legen. Die Messbarkeit der Masse durch das207Die Entwickelung der Principien der Dynamik.Gewicht ist nach unserer Definition ersichtlich, ohne dass wir an die Menge der Materie denken.

7. Sobald wir also, durch die Erfahrung aufmerksam ge - macht, die Existenz eines besondern beschleunigungs - bestimmenden Merkmals der Körper erschaut ha - ben, ist unsere Aufgabe mit der Anerkennung und unzwei - deutigen Bezeichnung dieser Thatsache erledigt. Ueber die Anerkennung dieser Thatsache kommen wir nicht hinaus, und jedes Hinausgehen über dieselbe führt nur Unklarheiten herbei. Jede Unbehaglichkeit verschwin - det, sobald wir uns klar gemacht haben, dass in dem Massebegriff keinerlei Theorie, sondern eine Erfahrung liegt. Der Begriff hat sich bisher bewährt. Es ist sehr unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich, dass er in Zukunft erschüttert wird, sowie die Vorstellung der unveränderlichen Wärmemenge, die ja auch auf Er - fahrungen beruhte, durch neue Erfahrungen sich modi - ficirt hat.

6. Newton’s Ansichten über Zeit, Raum und Bewegung.

1. In einer Anmerkung, welche Newton seinen Definitionen unmittelbar folgen lässt, spricht er An - sichten über Zeit und Raum aus, die wir etwas näher in Augenschein nehmen müssen. Wir werden nur die wichtigsten zur Charakteristik der Newton’schen An - sichten nothwendigen Stellen wörtlich anführen.

Bis jetzt habe ich zu erklären versucht, in welchem Sinne weniger bekannte Benennungen in der Folge zu verstehen sind. Zeit, Raum, Ort und Bewegung als allen bekannt erkläre ich nicht. Ich bemerke nur, dass man gewöhnlich diese Grössen nicht anders, als in Bezug auf die Sinne auffasst, und so gewisse Vorur - theile entstehen, zu deren Aufhebung man sie passend in absolute und relative, wahre und scheinbare, mathe - matische und gewöhnliche unterscheidet.

208Zweites Kapitel.

I. Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfliesst an sich und vermöge ihrer Natur gleich - förmig, und ohne Beziehung auf irgendeinen äussern Gegenstand. Sie wird auch mit dem Namen Dauer belegt.

Die relative, scheinbare und gewöhnliche Zeit ist ein fühlbares und äusserliches, entweder genaues oder ungleiches Maass der Dauer, dessen man sich gewöhn - lich statt der wahren Zeit bedient, wie Stunde, Tag, Monat, Jahr.

Die natürlichen Tage, welche gewöhnlich als Zeitmaass für gleich gehalten werden, sind nämlich eigentlich ungleich. Diese Ungleichheit verbessern die Astronomen, indem sie die Bewegung der Himmelskörper nach der richtigen Zeit messen. Es ist möglich, dass keine gleichförmige Bewegung existire, durch welche die Zeit genau gemessen werden kann, alle Bewegungen können beschleunigt oder verzögert werden; allein der Verlauf der absoluten Zeit kann nicht geändert wer - den. Dieselbe Dauer und dasselbe Verharren findet für die Existenz aller Dinge statt; mögen die Bewegungen geschwind, langsam oder Null sein.

2. Es scheint, als ob Newton bei den eben ange - führten Bemerkungen noch unter dem Einfluss der mittelalterlichen Philosophie stünde, als ob er seiner Ab - sicht, mir das Thatsächliche zu untersuchen, untreu würde. Wenn ein Ding A sich mit der Zeit ändert, so heisst dies nur, die Umstände eines Dinges A hängen von den Umständen eines andern Dinges B ab. Die Schwingungen eines Pendels gehen in der Zeit vor, wenn dessen Excursion von der Lage der Erde ab - hängt. Da wir bei Beobachtung des Pendels nicht auf die Abhängigkeit von der Lage der Erde zu achten brauchen, sondern dasselbe mit irgendeinem andern Ding vergleichen können (dessen Zustände freilich wie - der von der Lage der Erde abhängen), so entsteht leicht die Täuschung, dass alle diese Dinge unwesent - lich seien. Ja, wir können auf das Pendel achtend,209Die Entwickelung der Principien der Dynamik.von allen übrigen äussern Dingen absehen, und finden dass für jede Lage unsere Gedanken und Empfindungen andere sind. Es scheint demnach die Zeit etwas Be - sonderes zu sein, von dessen Verlauf die Pendellage abhängt, während die Dinge, welche wir zum Vergleich nach freier Wahl herbeiziehen, eine zufällige Rolle zu spielen scheinen. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass alle Dinge miteinander zusammenhängen, und dass wir selbst mit unsern Gedanken nur ein Stück Natur sind. Wir sind ganz ausser Stand die Veränderungen der Dinge an der Zeit zu messen. Die Zeit ist viel - mehr eine Abstraction, zu der wir durch die Veränderung der Dinge gelangen, weil wir auf kein bestimmtes Maass angewiesen sind, da eben alle untereinander zu - sammenhängen. Wir nennen eine Bewegung gleich - förmig, in welcher gleiche Wegzuwüchse gleichen Weg - zuwüchsen einer Vergleichsbewegung (der Drehung der Erde) entsprechen. Eine Bewegung kann gleichförmig sein in Bezug auf eine andere. Die Frage, ob eine Bewegung an sich gleichförmig sei, hat gar keinen Sinn. Ebenso wenig können wir von einer absoluten Zeit (unabhängig von jeder Veränderung) sprechen. Diese absolute Zeit kann an gar keiner Bewegung ab - gemessen werden, sie hat also auch gar keinen praktischen und auch keinen wissenschaftlichen Werth, niemand ist berechtigt zu sagen, dass er von derselben etwas wisse, sie ist ein müssiger metaphysischer Begriff.

Dass wir Zeitvorstellungen durch die Abhängigkeit der Dinge voneinander gewinnen, wäre psycholo - gisch, historisch und sprachwissenschaftlich (durch die Namen der Zeitabschnitte) nicht eben schwer nachzu - weisen. In unsern Zeitvorstellungen drückt sich der tiefgehendste und allgemeinste Zusammenhang der Dinge aus. Wenn eine Bewegung in der Zeit stattfindet, so hängt sie von der Bewegung der Erde ab. Dies wird nicht dadurch widerlegt, dass wir mechanische Be - wegungen wieder rückgängig machen können. Mehrere veränderliche Grössen können so zusammenhängen, dassMach. 14210Zweites Kapitel.eine Gruppe derselben Veränderungen erfährt, ohne dass die übrigen davon berührt werden. Die Natur verhält sich ähnlich wie eine Maschine. Die einzelnen Theile bestimmen einander gegenseitig. Während aber bei einer Maschine durch die Lage eines Theiles die Lagen aller übrigen Theile bestimmt sind, bestehen in der Natur complicirtere Beziehungen. Diese Beziehungen lassen sich am besten unter dem Bilde einer Anzahl n von Grössen darstellen, welche einer geringern An - zahl n′ von Gleichungen genügen. Wäre n = n′, so wäre die Natur unveränderlich. Für n′ = n 1 ist mit einer Grösse über alle übrigen verfügt. Bestünde dies Verhältniss in der Natur, so könnte die Zeit rück - gängig gemacht werden, sobald dies nur mit einer ein - zigen Bewegung gelänge. Der wahre Sachverhalt wird durch eine andere Differenz von n und n′ dargestellt. Die Grössen sind durch einander theilweise bestimmt, sie behalten aber eine grössere Unbestimmtheit oder Freiheit als in dem letztern Fall. Wir selbst fühlen uns als ein solches theilweise bestimmtes, theilweise unbestimmtes Naturelement. Insofern nur ein Theil der Veränderungen in der Natur von uns abhängt, und von uns wieder rückgängig gemacht werden kann, erscheint uns die Zeit als nicht umkehrbar, die verflossene Zeit als unwiederbringlich vorbei.

Zur Vorstellung der Zeit gelangen wir durch den Zusammenhang des Inhalts unsers Erinnerungsfeldes mit dem Inhalt unsers Wahrnehmungsfeldes, wie wir kurz und allgemein verständlich sagen wollen. Wenn wir sagen, dass die Zeit in einem bestimmten Sinn ab - läuft, so bedeutet dies, dass die physikalischen (und folglich auch die physiologischen) Vorgänge sich nur in einem bestimmten Sinn vollziehen. 1Untersuchungen über die physiologische Natur der Zeit - und Raumempfindung sollen hier ausgeschlossen bleiben.Alle Temperatur - differenzen, elektrischen Differenzen, Niveaudifferenzen überhaupt werden sich selbst überlassen nicht grösser, sondern kleiner. Betrachten wir zwei sich selbst über -211Die Entwickelung der Principien der Dynamik.lassene, sich berührende Körper von ungleicher Tem - peratur, so können nur grössere Temperaturdifferenzen im Erinnerungsfelde, mit kleinern im Wahrnehmungs - felde zusammentreffen, nicht umgekehrt. In allem diesem spricht sich durchaus nur ein eigenthümlicher tiefgehen - der Zusammenhang der Dinge aus. Hier aber jetzt schon vollständige Aufklärung fordern, heisst nach Art der speculativen Philosophie die Resultate aller künftigen Specialforschung, also eine vollendete Naturwissen - schaft, anticipiren wollen.

3. Aehnliche Ansichten, wie über die Zeit entwickelt Newton über den Raum und die Bewegung. Wir lassen wieder einige charakteristische Stellen folgen:

II. Der absolute Raum bleibt vermöge seiner Natur und ohne Beziehung auf einen äussern Gegenstand stets gleich und unbeweglich.

Der relative Raum ist ein Maass oder ein beweg - licher Theil des erstern, welcher von unsern Sinnen, durch seine Lage gegen andere Körper bezeichnet und gewöhn - lich für den unbeweglichen Raum genommen wird.

IV. Die absolute Bewegung ist die Uebertragung des Körpers von einem absoluten Orte nach einem an - dern absoluten Orte, die relative Bewegung, die Ueber - tragung von einem relativen Orte nach einem andern relativen Orte.

So bedienen wir uns, und nicht unpassend, in menschlichen Dingen statt der absoluten Orte und Bewegungen der relativen, in der Naturlehre hingegen muss man von den Sinnen abstrahiren. Es kann nämlich der Fall sein, dass kein wirklich ruhender Körper existirt, auf welchen man die Orte und Be - wegungen beziehen könnte.

Die wirkenden Ursachen, durch welche absolute und relative Bewegungen voneinander verschieden sind, sind die Fliehkräfte von der Axe der Bewegung. Bei einer nur relativen Kreisbewegung existiren diese Kräfte nicht, aber sie sind kleiner oder grösser, je nach Ver - hältniss der Grösse der (absoluten) Bewegung.

14*212Zweites Kapitel.

Man hänge z. B. ein Gefäss an einem sehr langen Faden auf, drehe denselben beständig im Kreise herum, bis der Faden durch die Drehung sehr steif wird; hierauf fülle man es mit Wasser und halte es zugleich mit letzterm in Ruhe. Wird es nun durch eine plötz - lich wirkende Kraft in entgegengesetzte Kreisbewegung gesetzt und hält diese, während der Faden sich ablöst, längere Zeit an, so wird die Oberfläche des Wassers anfangs eben sein, wie vor der Bewegung des Gefässes, hierauf, wenn die Kraft allmählich auf das Wasser ein - wirkt, bewirkt das Gefäss, dass dieses (das Wasser) merklich sich umzudrehen anfängt. Es entfernt sich nach und nach von der Mitte und steigt an den Wän - den des Gefässes in die Höhe, indem es eine hohle Form annimmt. (Diesen Versuch habe ich selbst ge - macht.)

Im Anfang als die relative Bewegung des Wassers im Gefäss am grössten war, verursachte die - selbe kein Bestreben, sich von der Axe zu entfernen. Das Wasser suchte nicht, sich dem Umfang zu nähern, indem es an den Wänden emporstieg, sondern blieb eben, und die wahre kreisförmige Bewegung hatte da - her noch nicht begonnen. Nachher aber, als die rela - tive Bewegung des Wassers abnahm, deutete sein Auf - steigen an den Wänden des Gefässes das Bestreben an, von der Axe zurückzuweichen, und dieses Bestreben zeigte die stets wachsende wahre Kreisbewegung des Wassers an, bis diese endlich am grössten wurde, wenn das Wasser selbst relativ im Gefäss ruhte.

Die wahren Bewegungen der einzelnen Körper zu erkennen und von den scheinbaren zu unterscheiden, ist übrigens sehr schwer, weil die Theile jenes unbe - weglichen Raumes, in denen die Körper sich wahrhaft bewegen, nicht sinnlich erkannt werden können.

Die Sache ist jedoch nicht gänzlich hoffnungslos. Es ergeben sich nämlich die erforderlichen Hülfsmittel, theils aus den scheinbaren Bewegungen, welche die Unterschiede der wahren sind, theils aus den Kräften,213Die Entwickelung der Principien der Dynamik.welche den wahren Bewegungen als wirkende Ursachen zu Grunde liegen. Werden z. B. zwei Kugeln in ge - gebener gegenseitiger Entfernung mittels eines Fadens verbunden, und so um den gewöhnlichen Schwerpunkt gedreht, so erkennt man aus der Spannung des Fadens das Streben der Kugeln, sich von der Axe der Bewegung zu entfernen, und kann daraus die Grösse der kreis - förmigen Bewegung berechnen. Brächte man hierauf beliebige gleiche Kräfte an beiden Seiten zugleich an, um die Kreisbewegung zu vergrössern oder zu ver - kleinern, so würde man aus der vergrösserten oder ver - minderten Spannung des Fadens die Vergrösserung oder Verkleinerung der Bewegung erkennen, und hieraus end - lich diejenigen Seiten der Kugeln ermitteln können, auf welche die Kräfte einwirken müssten, damit die Be - wegung am stärksten vergrössert würde, d. h. die hintere Seite oder diejenige, welche bei der Kreisbewegung nachfolgt. Sobald man aber die nachfolgende und die ihr entgegengesetzte vorangehende Seite erkannt hätte, würde man auch die Richtung der Bewegung erkannt haben. Auf diese Weise könnte man sowol die Grösse als auch die Richtung dieser kreisförmigen Bewegung in jedem unendlich grossen leeren Raum finden, wenn auch nichts Aeusserliches und Erkennbares sich dort befände, womit die Kugeln verglichen werden könnten.

4. Dass Newton auch in den eben mitgetheilten Ueber - legungen gegen seine Absicht, nur das Thatsächliche zu untersuchen, handelt, ist kaum nöthig zu bemerken. Ueber den absoluten Raum und die absolute Bewegung kann niemand etwas aussagen, sie sind blosse Gedanken - dinge, die in der Erfahrung nicht aufgezeigt werden können. Alle unsere Grundsätze der Mechanik sind, wie ausführlich gezeigt worden ist, Erfahrungen über relative Lagen und Bewegungen der Körper. Sie konnten und durften auf den Gebieten, auf welchen man sie heute als gültig betrachtet, nicht ohne Prüfung ange - nommen werden. Niemand ist berechtigt, diese Grund - sätze über die Grenzen der Erfahrung hinaus auszu -214Zweites Kapitel.dehnen. Ja diese Ausdehnung ist sogar sinnlos, da sie niemand anzuwenden wüsste.

Gehen wir nun auf die Einzelheiten ein. Wenn wir sagen, dass ein Körper K seine Richtung und Ge - schwindigkeit nur durch den Einfluss eines andern Körpers K′ ändert, so können wir zu dieser Einsicht gar nicht kommen, wenn nicht andere Körper A, B, C .... vorhanden sind, gegen welche wir die Bewegung des Körpers K beurtheilen. Wir erkennen also eigentlich eine Beziehung des Körpers K zu A, B, C .... Wenn wir nun plötzlich von A, B, C .... absehen, und von einem Verhalten des Körpers K im absoluten Raume sprechen wollten, so würden wir einen doppelten Fehler begehen. Einmal könnten wir nicht wissen, wie sich K bei Abwesenheit von A, B, C .... benehmen würde, dann aber würde uns jedes Mittel fehlen, das Benehmen des Körpers K zu beurtheilen, und unsere Aussage zu prüfen, welche demnach keinen naturwissenschaftlichen Sinn hätte.

Zwei Körper K und K′, welche gegeneinander gra - vitiren, ertheilen sich ihren Massen m, m′ verkehrt proportionale Beschleunigungen nach der Richtung der Verbindungslinie. In diesem Satze liegt nicht allein eine Beziehung der Körper K und K′ zueinander, son - dern auch zu den übrigen Körpern. Denn derselbe sagt nicht nur, dass K und K′ gegeneinander die Beschleu - nigung 〈…〉 erfahren, sondern auch dass K die Beschleunigung 〈…〉 und K′ die Beschleunigung 〈…〉 nach der Richtung der Verbindungslinie erfährt, was nur durch die Anwesenheit noch anderer Körper er - mittelt werden konnte.

Die Bewegung eines Körpers K kann immer nur beurtheilt werden in Bezug auf andere Körper A, B, C .... Da wir immer eine genügende Anzahl gegeneinander relativ festliegender oder ihre Lage nur langsam ändern -215Die Entwickelung der Principien der Dynamik.der Körper zur Verfügung haben, so sind wir hierbei auf keinen bestimmten Körper angewiesen, und können abwechselnd bald von diesem, bald von jenem absehen. Hierdurch entstand die Meinung, dass diese Körper überhaupt gleichgültig seien.

Es wäre wol möglich, dass die isolirten Körper A, B, C .... bei Bestimmung der Bewegung des Körpers K nur eine zufällige Rolle spielten, dass die Bewegung durch das Medium bestimmt wäre, in welchem sich K befindet. Dann müsste man aber an die Stelle des Newton’schen absoluten Raumes jenes Medium setzen. Diese Vorstellung hat Newton entschieden nicht gehabt. Zudem lässt sich leicht nachweisen, dass die Luft jenes bewegungsbestimmende Medium nicht ist. Man müsste also an ein anderes etwa den Weltraum erfüllendes Medium denken, über dessen Beschaffenheit und über dessen Bewegungsverhältniss zu den darin befindlichen Körpern wir gegenwärtig eine ausreichende Kenntniss nicht haben. An sich würde ein solches Verhältniss nicht zu den Unmöglichkeiten gehören. Es ist durch die neuern hydrodynamischen Untersuchungen bekannt, dass ein starrer Körper in einer reibungslosen Flüssig - keit nur bei Geschwindigkeitsänderungen einen Wider - stand erfährt. Zwar ist dieses Resultat aus der Vor - stellung der Trägheit theoretisch abgeleitet, es könnte aber umgekehrt auch als die erste Thatsache angesehen werden, von der man auszugehen hätte. Wenn auch mit dieser Vorstellung praktisch zunächst nichts anzu - fangen wäre, so könnte man doch hoffen, über dieses hypothetische Medium in Zukunft mehr zu erfahren, und sie wäre naturwissenschaftlich noch immer werthvoller, als der verzweifelte Gedanke an den absoluten Raum. Bedenken wir, dass wir die isolirten Körper A, B, C .... nicht wegschaffen, also über ihre wesentliche oder zu - fällige Rolle durch den Versuch nicht entscheiden können, dass dieselben bisher das einzige und auch aus - reichende Mittel zur Orientirung über Bewegungen und zur Beschreibung der mechanischen Thatsachen sind,216Zweites Kapitel.so empfiehlt es sich, die Bewegungen vorläufig als durch diese Körper bestimmt anzusehen.

5. Betrachten wir nun denjenigen Punkt, auf welchen sich Newton bei Unterscheidung der relativen und ab - soluten Bewegung mit starkem Recht zu stützen scheint. Wenn die Erde eine absolute Rotation um ihre Axe hat, so treten an derselben Centrifugalkräfte auf, sie wird abgeplattet, die Schwerebeschleunigung am Aequator vermindert, die Ebene des Foucault’schen Pendels wird gedreht u. s. w. Alle diese Erscheinungen verschwin - den, wenn die Erde ruht und die übrigen Himmels - körper sich absolut um dieselbe bewegen, sodass die - selbe relative Rotation zu Stande kommt. So ist es allerdings, wenn man von vornherein von der Vor - stellung eines absoluten Raumes ausgeht. Bleibt man aber auf dem Boden der Thatsachen, so weiss man blos von relativen Räumen und Bewegungen. Relativ sind die Bewegungen im Weltsystem, von dem unbe - kannten und unberücksichtigten Medium des Weltraums abgesehen, dieselben nach der Ptolemäischen und nach der Kopernikanischen Auffassung. Beide Auffassungen sind auch gleich richtig, nur ist die letztere einfacher und praktischer. Das Weltsystem ist uns nicht zweimal gegeben mit ruhender und mit rotirender Erde, sondern nur einmal mit seinen allein bestimm - baren Relativbewegungen. Wir können also nicht sagen, wie es wäre, wenn die Erde nicht rotirte. Wir können den einen uns gegebenen Fall in verschiedener Weise interpretiren. Wenn wir aber so interpretiren, dass wir mit der Erfahrung in Widerspruch gerathen, so interpretiren wir eben falsch. Die mechanischen Grund - sätze können also wol so gefasst werden, dass auch für Relativdrehungen Centrifugalkräfte sich ergeben.

Der Versuch Newton’s mit dem rotirenden Wasser - gefäss lehrt nur, dass die Relativdrehung des Wassers gegen die Gefässwände keine merklichen Centrifugal - kräfte weckt, dass dieselben aber durch die Relativ - drehung gegen die Masse der Erde und die übrigen217Die Entwickelung der Principien der Dynamik.Himmelskörper geweckt werden. Niemand kann sagen, wie der Versuch verlaufen würde, wenn die Gefäss - wände immer dicker und massiger, zuletzt mehrere Meilen dick würden. Es liegt nur der eine Versuch vor, und wir haben denselben mit den übrigen uns bekannten Thatsachen, nicht aber mit unsern willkür - lichen Dichtungen in Einklang zu bringen.

6. Wir können über die Bedeutung des Trägheits - gesetzes nicht in Zweifel sein, wenn wir uns gegen - wärtig halten, in welcher Weise es gefunden worden ist. Galilei hat zuerst die Unveränderlichkeit der Ge - schwindigkeit und Richtung eines Körpers in Bezug auf irdische Objecte bemerkt. Die meisten irdischen Be - wegungen sind von so geringer Dauer und Ausdehnung, dass man gar nicht nöthig hat, auf die Aenderungen der Progressivgeschwindigkeit der Erde gegen die Himmelskörper und auf die Drehung derselben zu achten. Nur bei weitgeworfenen Projectilen, bei den Schwingungen des Foucault’schen Pendels u. s. w. erweist sich diese Rücksicht als nothwendig. Als nun Newton die seit Galilei gefundenen mechanischen Principien auf das Planetensystem anzuwenden suchte, bemerkte er, dass soweit dies überhaupt beurtheilt werden kann, die Pla - neten gegen die sehr entfernten scheinbar gegeneinan - der festliegenden Weltkörper, von Kraftwirkungen ab - gesehen, ebenso ihre Richtung und Geschwindigkeit bei - zubehalten scheinen, als die auf der Erde bewegten Körper gegen die festliegenden Objecte der Erde. Das Verhalten der irdischen Körper gegen die Erde lässt sich auf deren Verhalten gegen die fernen Himmels - körper zurückführen. Wollten wir behaupten, dass wir von den bewegten Körpern mehr kennen als jenes durch die Erfahrung gegebene Verhalten gegen die Himmelskörper, so würden wir uns einer Unehrlichkeit schuldig machen. Wenn wir daher sagen, dass ein Kör - per seine Richtung und Geschwindigkeit im Raum bei - behält, so liegt darin nur eine kurze Anweisung auf Beach - tung der ganzen Welt. Der Erfinder des Princips darf218Zweites Kapitel.sich diesen gekürzten Ausdruck erlauben, weil er weiss, dass der Ausführung der Anweisung in der Regel keine Schwierigkeiten im Wege stehen. Er kann aber nicht hel - fen, wenn sich solche Schwierigkeiten einstellen, wenn z. B. die nöthigen gegeneinander festliegenden Körper fehlen.

7. Statt nun einen bewegten Körper K auf den Raum (auf ein Coordinatensystem) zu beziehen, wollen wir direct sein Verhältniss zu den Körpern des Welt - raumes betrachten, durch welche jenes Coordinaten - system allein bestimmt werden kann. Von einander sehr ferne Körper, welche in Bezug auf andere ferne fest - liegende Körper sich mit constanter Richtung und Ge - schwindigkeit bewegen, ändern ihre gegenseitige Ent - fernung der Zeit proportional. Man kann auch sagen, alle sehr fernen Körper ändern von gegenseitigen oder andern Kräften abgesehen ihre Entfernungen einander proportional. Zwei Körper, welche in kleiner Ent - fernung voneinander sich mit constanter Richtung und Geschwindigkeit gegen andere festliegende Körper be - wegen, stehen in einer complicirtern Beziehung. Würde man die beiden Körper als voneinander abhängig be - trachten, r ihre Entfernung, t die Zeit und a eine von den Richtungen und Geschwindigkeiten abhängige Constante nennen, so würde sich ergeben: 〈…〉 Es ist offenbar viel einfacher und übersichtlicher, die beiden Körper als voneinander unabhängig anzusehen und die Unveränderlichkeit ihrer Richtung und Geschwin - digkeit gegen andere festliegende Körper zu beachten.

Statt zu sagen, die Richtung und Geschwindigkeit einer Masse[μ]im Raum bleibt constant, kann man auch den Ausdruck gebrauchen, die mittlere Beschleunigung der Masse[μ]gegen die Massen m, m′, m″ in den Entfernungen r, r′, r″ .... ist = o oder 〈…〉 . Letzterer Ausdruck ist dem erstern äquivalent, so - bald man nur hinreichend viele, hinreichend weite und219Die Entwickelung der Principien der Dynamik.grosse Massen in Betracht zieht. Es fällt hierbei der gegenseitige Einfluss der nähern kleinen Massen, welche sich scheinbar umeinander nicht kümmern, von selbst aus. Dass die unveränderliche Richtung und Geschwindig - keit durch die angeführte Bedingung gegeben ist, sieht man, wenn man durch[μ]als Scheitel Kegel legt, welche verschiedene Theile des Weltraumes herausschneiden und wenn man für die Massen dieser einzelnen Theile die Bedingung aufstellt. Man kann natürlich auch für den ganzen[μ]umschliessenden Raum 〈…〉 setzen. Diese Gleichung sagt aber nichts über die Bewegung von[μ]aus, da sie für jede Art der Bewegung gilt, wenn[μ]von unendlich vielen Massen gleichmässig um - geben ist. Wenn zwei Massen[μ]1,[μ]2 eine von ihrer Entfernung r abhängige Kraft aufeinander ausüben, so ist 〈…〉 . Zugleich bleibt aber die Beschleunigung des Schwerpunktes der beiden Massen oder die mittlere Beschleunigung des Massensystems (nach dem Gegenwirkungsprincip) gegen die Massen des Weltraumes = o, d. h. 〈…〉

Bedenkt man, dass die in die Beschleunigung ein - gehende Zeit selbst nichts ist als die Maasszahl von Entfernungen (oder von Drehungswinkeln) der Welt - körper, so sieht man, dass selbst in dem einfachsten Fall, in welchen man sich scheinbar nur mit der Wechselwirkung von zwei Massen befasst, ein Absehen von der übrigen Welt nicht möglich ist. Die Natur beginnt eben nicht mit Elementen, so wie wir genöthigt sind, mit Elementen zu beginnen. Für uns ist es allerdings ein Glück, wenn wir zeitweilig unsern Blick von dem überwältigenden Ganzen ablenken und auf das Einzelne richten können. Wir dürfen aber nicht versäumen, alsbald das vorläufig Unbeachtete neuer - dings ergänzend und corrigirend zu untersuchen.

220Zweites Kapitel.

8. Die eben angestellten Betrachtungen zeigen, dass wir nicht nöthig haben das Trägheitsgesetz auf einen besondern absoluten Raum zu beziehen. Vielmehr er - kennen wir, dass sowol jene Massen, welche nach der gewöhnlichen Ausdrucksweise Kräfte aufeinander aus - üben, als auch jene, welche keine ausüben, zueinander in ganz gleichartigen Beschleunigungsbeziehungen stehen, und zwar kann man alle Massen als untereinander in Beziehung stehend betrachten. Dass bei den Be - ziehungen der Massen die Beschleunigungen eine her - vorragende Rolle spielen, muss als eine Erfahrungsthat - sache hingenommen werden, was aber nicht ausschliesst,

Fig. 143.

dass man dieselbe durch Vergleichung mit andern Thatsachen, wobei sich neue Gesichtspunkte erge - ben können, aufzuklä - ren sucht. Bei allen Na - turvorgängen spielen die Differenzen gewisser Grössen u eine maassge - bende Rolle. Differenzen der Temperatur, der Poten - tialfunction u. s. w. veranlassen die Vorgänge, welche in der Ausgleichung dieser Differenzen bestehen. Die bekannten Ausdrücke 〈…〉 , welche bestim - mend für die Art des Ausgleiches sind, können als Maass der Abweichung des Zustandes eines Punktes von dem Mittel der Zustände der Umgebung angesehen werden, welchem Mittel der Punkt zustrebt. In ana - loger Weise können auch die Massenbeschleunigungen aufgefasst werden. Die grossen Entfernungen von Massen, welche in keiner besondern Kraftbeziehung zu - einander stehen, ändern sich einander proportional. Wenn wir also eine gewisse Entfernung[ρ]als Abscisse, eine andere r als Ordinate auftragen, so erhalten wir eine Gerade. Jede einem gewissen[ρ]- Werth zukommende r-Or - dinate stellt dann das Mittel der Nachbarordinaten vor. 221Die Entwickelung der Principien der Dynamik.Stehen die Körper in einer Kraftbeziehung, so ist hier - durch ein Werth 〈…〉 bestimmt, den wir den oben an - geführten Bemerkungen zufolge durch einen Ausdruck von der Form 〈…〉 ersetzen können. Durch die Kraft - beziehung ist also eine gewisse Abweichung der r-Or - dinate vom Mittel der Nachbarordinaten bestimmt, welche Abweichung ohne diese Kraftbeziehung nicht be - stehen würde. Diese Andeutung möge hier genügen.

9. Wir haben in dem Obigen versucht, das Trägheits - gesetz auf einen von dem gewöhnlichen verschiedenen Ausdruck zu bringen. Derselbe leistet, solange eine genügende Anzahl von Körpern im Weltraume schein - bar festliegen, dasselbe wie der gewöhnliche. Er ist ebenso leicht anzuwenden und stösst auf dieselben Schwierigkeiten. In dem einen Fall können wir des ab - soluten Raumes nicht habhaft werden, in dem andern Fall ist nur eine beschränkte Zahl von Massen unserer Kenntniss zugänglich, und die angedeutete Summation ist also nicht zu vollenden. Ob der neue Ausdruck den Sachverhalt noch darstellen würde, wenn die Sterne durcheinanderfluten würden, kann nicht angegeben werden. Die allgemeinere Erfahrung kann aus der uns vorliegenden specielleren nicht herausconstruirt werden. Wir müssen vielmehr eine solche Erfahrung abwarten. Dieselbe wird sich vielleicht bei Erweiterung unserer physisch-astronomischen Kenntnisse irgendwo im Him - melsraume, wo heftigere und complicirtere Bewegungen vorgehen als in unserer Umgebung, darbieten. Das wichtigste Ergebniss unserer Betrachtungen ist aber, dass gerade die scheinbar einfachsten mecha - nischen Sätze sehr complicirter Natur sind, dass sie auf unabgeschlossenen, ja sogar auf nie vollständig abschliessbaren Erfahrungen beruhen, dass sie zwar praktisch hinreichend222Zweites Kapitel.gesichert sind, um mit Rücksicht auf die genü - gende Stabilität unserer Umgebung als Grund - lage der mathematischen Deduction zu dienen, dass sie aber keineswegs selbst als mathe - matisch ausgemachte Wahrheiten angesehen werden dürfen, sondern vielmehr als Sätze, welche einer fortgesetzten Erfahrungscontrole nicht nur fähig, sondern sogar bedürftig sind. Diese Einsicht ist werthvoll, weil sie den wissenschaft - lichen Fortschritt begünstigt.

7. Uebersichtliche Kritik der Newton’schen Aufstellungen.

1. Wir können nun, nachdem wir die Einzelheiten genügend besprochen haben, die Form und die Anord - nung der Newton’schen Aufstellungen noch einmal über - schauen. Newton schickt mehrere Definitionen voraus, und lässt denselben die Gesetze der Bewegung folgen. Wir beschäftigen uns zunächst mit der erstern.

Definition 1. Die Menge der Materie wird durch ihre Dichtigkeit und ihr Volum vereint gemessen. Diese Menge der Materie werde ich im Folgenden unter dem Namen Körper oder Masse verstehen, und sie wird durch das Gewicht des jedesmaligen Körpers bekannt. Dass die Masse dem Gewicht proportional sei, habe ich durch sehr genau angestellte Pendelversuche gefunden, wie später gezeigt werden wird.

Definition 2. Die Grösse der Bewegung wird durch die Geschwindigkeit und die Menge der Materie vereint gemessen.

Definition 3. Die Materie besitzt das Vermögen zu widerstehen; deshalb verharrt jeder Körper, soweit es an ihm ist, in seinem Zustande der Ruhe oder der gleich - förmigen geradlinigen Bewegung.

Definition 4. Eine angebrachte Kraft ist das gegen einen Körper ausgeübte Bestreben, seinen Zustand zu ändern, entweder den der Ruhe oder den der gleich - förmigen geradlinigen Bewegung.

223Die Entwickelung der Principien der Dynamik.

Definition 5. Die Centripetalkraft bewirkt, dass ein Körper gegen irgendeinen Punkt als Centrum gezogen oder gestossen wird, oder auf irgendeine Weise dahin zu gelangen strebt.

Definition 6. Die absolute Grösse der Centripetal - kraft ist das grössere oder kleinere Maass derselben, nach Verhältniss der wirkenden Ursache, welche vom Mittelpunkte nach den umgebenden Theilen sich fort - pflanzt.

Definition 7. Die Grösse der beschleunigenden Centripetalkraft ist proportional der Geschwindigkeit, welche sie in einer gegebenen Zeit erzeugt.

Definition 8. Die Grösse der bewegenden Centri - petalkraft ist der Bewegungsgrösse proportional, welche sie in seiner gegebenen Zeit erzeugt.

Man kann der Kürze wegen diese auf dreifache Weise betrachtete Grösse der Kraft absolute, beschleu - nigende und bewegende Kraft nennen, und sie zu gegen - seitiger Unterscheidung auf die nach dem Mittelpunkt strebenden Körper, den Ort der Körper und den Mittelpunkt der Kräfte beziehen. Die bewegende Kraft auf den Körper, als ein Streben und Hinneigen des Ganzen gegen das Centrum, welches aus der Hinneigung der einzelnen Theile zusammengesetzt ist. Die be - schleunigende Kraft auf den Ort des Körpers, als eine wirkende Ursache, welche sich vom Centrum aus nach den einzelnen es umgebenden Orten, zur Bewegung des in denselben befindlichen Körpers, fortpflanzt. Die ab - solute Kraft auf das Centrum, welches mit einer Ur - sache begabt ist, ohne welche die bewegenden Kräfte sich nicht durch den Raum fortpflanzen würden. Diese Ursache mag nun irgendein Centralkörper (wie der Magnet im Centrum der magnetischen, die Erde im Centrum der Schwerkraft), oder irgendwie unsichtbar sein. Dies ist wenigstens der mathematische Begriff derselben, denn die physischen Ursachen und Sitze der Kräfte ziehe ich hier nicht in Betracht.

Die beschleunigende Kraft verhält sich daher zur224Zweites Kapitel.bewegenden, wie die Geschwindigkeit zur Bewegungs - grösse. Die Grösse der Bewegung entsteht nämlich aus dem Producte der Geschwindigkeit in die Masse, und die bewegende Kraft aus dem Producte der be - schleunigenden Kraft in dieselbe Masse, indem die Summe der Wirkungen, welche die beschleunigende Kraft in den einzelnen Theilen des Körpers hervor - bringt, die bewegende Kraft des ganzen Körpers ist. Daher verhält sich in der Nähe der Erdoberfläche, wo die beschleunigende Kraft, d. h. die Kraft der Schwere in allen Körpern dieselbe ist, die bewegende Kraft der Schwere oder das Gewicht, wie der Körper. Steigt man aber zu Gegenden auf, in denen die beschleunigende Kraft der Schwere geringer wird, so wird das Gewicht gleichmässig vermindert und stets dem Product aus der beschleunigenden Kraft der Schwere und dem Körper proportional sein. So wird in Gegenden, wo die be - schleunigende Kraft halb so gross ist, das Gewicht eines Körpers um die Hälfte vermindert. Ferner nenne ich die Anziehung und den Stoss in demselben Sinne beschleunigend und bewegend. Die Benennung: An - ziehung, Stoss oder Hinneigung gegen den Mittelpunkt nehme ich ohne Unterschied und untereinander ver - mischt an, indem ich diese Kräfte nicht im physischen, sondern nur im mathematischen Sinn betrachte. Der Leser möge daher aus Bemerkungen dieser Art nicht schliessen, dass ich die Art und Weise der Wirkung oder die physische Ursache erkläre, oder auch dass ich den Mittelpunkten (welche geometrische Punkte sind) wirkliche und physische Kräfte beilege, indem ich sage: Die Mittelpunkte ziehen an, oder es finden Mittel - punktskräfte statt.

2. Die Definition 1 ist, wie schon ausführlich dar - gethan wurde, eine Scheindefinition. Der Massenbe - griff wird dadurch nicht klarer, dass man die Masse als das Product des Volums und der Dichte darstellt, da die Dichte selbst nur die Masse der Volumseinheit vor - stellt. Die wahre Definition der Masse kann nur aus225Die Entwickelung der Principien der Dynamik.den dynamischen Beziehungen der Körper abgeleitet werden.

Gegen die Definition 2, die einen blossen Rechnungs - ausdruck erklärt, ist nichts einzuwenden. Hingegen wird die Definition 3 (Trägheit) durch die Kraft - definitionen 4 8 überflüssig gemacht, da durch die be - schleunigende Natur der Kräfte die Trägheit schon ge - geben ist.

Definition 4 erklärt die Kraft als die Beschleunigungs - ursache oder das Beschleunigungsbestreben eines Kör - pers. Letzteres rechtfertigt sich dadurch, dass auch in dem Falle, als Beschleunigungen nicht auftreten können, andere denselben entsprechende Veränderungen, Druck, Dehnung der Körper u. s. w. eintreten. Die Ur - sache einer Beschleunigung gegen ein bestimmtes Cen - trum hin wird in Definition 5 als Centripetalkraft er - klärt, und in 6, 7, 8 in die absolute, beschleunigende und bewegende geschieden. Es ist wol Geschmacks - und Formsache, ob man die Erläuterung des Kraftbe - griffes in eine oder mehrere Definitionen fassen will. Principiell ist gegen die Newton’schen Definitionen nichts einzuwenden.

3. Es folgen nun die Axiome oder Gesetze der Be - wegung, von welchen Newton drei aufstellt:

1. Gesetz. Jeder Körper beharrt in seinem Zustande der Ruhe oder der gleichförmigen geradlinigen Bewegung, wenn er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungen wird, seinen Zustand zu ändern.

2. Gesetz. Die Aenderung der Bewegung ist der Einwirkung der bewegenden Kraft proportional und ge - schieht nach der Richtung derjenigen geraden Linie, nach welcher jene Kraft wirkt.

3. Gesetz. Die Wirkung ist stets der Gegenwirkung gleich, oder die Wirkungen zweier Körper aufeinander sind stets gleich und von entgegengesetzter Richtung.

Diesen drei Gesetzen schliesst Newton mehrere Zu - sätze an. Der 1. und 2. Zusatz bezieht sich auf das Princip des Kräftenparallelogramms, der 3. auf die beiMach. 15226Zweites Kapitel.der Gegenwirkung erzeugte Bewegungsquantität, der 4. auf die Unveränderlichkeit des Schwerpunktes durch die Gegenwirkung, der 5. und 6. auf die relative Be - wegung.

4. Man erkennt leicht, dass das 1. und 2. Gesetz durch die vorausgehenden Kraftdefinitionen schon ge - geben ist. Nach denselben besteht ohne Kraft keine Beschleunigung und demnach nur Ruhe oder geradlinige gleichförmige Bewegung. Es ist ferner nur eine ganz unnöthige Tautologie, nachdem die Beschleunigung als Kraftmaass festgesetzt ist, noch einmal zu sagen, dass die Bewegungsänderung der Kraft proportional sei. Es wäre genügend gewesen zu sagen, dass die vorausge - schickten Definitionen keine willkürlichen mathematischen seien, sondern in der Erfahrung gegebenen Eigenschaften der Körper entsprechen. Das dritte Gesetz enthält scheinbar etwas Neues. Wir haben aber schon gesehen, dass es ohne den richtigen Massenbegriff unverständ - lich ist, hingegen durch den Massenbegriff, der selbst nur durch dynamische Erfahrungen gewonnen werden kann, unnöthig wird.

Zusatz 1 enthält wirklich etwas Neues. Derselbe betrachtet aber die durch verschiedene Körper M, N, P in einem Körper K bedingten Beschleunigungen als selbstverständlich voneinander unabhängig, während dies gerade ausdrücklich als eine Erfahrungsthatsache anzuerkennen wäre. Zusatz 2 ist eine einfache Anwen - dung des in Zusatz 1 ausgesprochenen Gesetzes. Auch die übrigen Zusätze stellen sich als einfache deductive (mathematische) Ergebnisse aus den vorausgegangenen Begriffen und Gesetzen dar.

5. Selbst wenn man ganz auf dem Newton’schen Standpunkte bleibt, und von den erwähnten Compli - cationen und Unbestimmtheiten ganz absieht, welche durch die abgekürzte Bezeichnung Zeit und Raum nicht beseitigt, sondern nur verdeckt werden, kann man die Newton’schen Aufstellungen durch viel einfachere,227Die Entwickelung der Principien der Dynamik.methodisch mehr geordnete und befriedigende ersetzen. Dieselben wären unsers Erachtens etwa folgende:

  • a. Erfahrungssatz. Gegenüberstehende Körper be - stimmen unter gewissen von der Experimentalphysik anzugebenden Umständen aneinander entgegengesetzte Beschleunigungen nach der Richtung ihrer Ver - bindungslinie. (Der Satz der Trägheit ist hier schon eingeschlossen.)
  • b. Definition. Das Massenverhältniss zweier Körper ist das negative umgekehrte Verhältniss der gegen - seitigen Beschleunigungen.
  • c. Erfahrungssatz. Die Massenverhältnisse sind von der Art der physikalischen Zustände der Körper (ob dieselben elektrische, magnetische u. s. w. sind), welche die wechselseitige Beschleunigung bedingen, unabhängig, sie bleiben auch dieselben, ob sie mittelbar oder un - mittelbar gewonnen werden.
  • d. Erfahrungssatz. Die Beschleunigungen, welche mehrere Körper A, B, C .... an einem Körper K be - stimmen, sind voneinander unabhängig. (Der Satz des Kräftenparallelogramms folgt hieraus unmittelbar.)
  • e. Definition. Bewegende Kraft ist das Product aus dem Massenwerth eines Körpers in die an demselben bestimmte Beschleunigung.

Nun könnten noch die übrigen willkürlichen Definitio - nen der Rechnungsausdrücke Bewegungsgrösse , leben - dige Kraft u. s. w. folgen, welche aber durchaus nicht unentbehrlich sind. Die angeführten Sätze erfüllen die Forderung der Einfachheit und Sparsamkeit, welche man an dieselben aus ökonomisch-wissenschaftlichen Gründen stellen muss. Sie sind auch durchsichtig und klar, denn es kann bei keinem derselben ein Zweifel bestehen, was er bedeutet, aus welcher Quelle er stammt, ob er eine Erfahrung oder eine willkürliche Festsetzung ausspricht.

6. Im Ganzen kann man sagen, dass Newton in vorzüg - licher Weise die Begriffe und Sätze herausgefunden hat, welche genügend gesichert waren, um auf dieselben15*228Zweites Kapitel.weiter zu bauen. Er dürfte zum Theil durch die Schwierig - keit und Neuheit des Gegenstandes seinen Zeitgenossen gegenüber zu einer grossen Breite und dadurch zu einer gewissen Zerrissenheit der Darstellung genöthigt gewesen sein, infolge welcher z. B. ein und dieselbe Eigenschaft der mechanischen Vorgänge mehrmals for - mulirt erscheint. Theilweise war er aber nachweislich über die Bedeutung und namentlich über die Erkennt - nissquelle seiner Sätze selbst nicht vollkommen klar. Und auch dies vermag nicht den leisesten Schatten auf seine geistige Grösse zu werfen. Derjenige, welcher einen neuen Standpunkt zu erwerben hat, kann den - selben natürlich nicht von vornherein so sicher inne - haben, wie jene, welche diesen Standpunkt mühelos von ihm übernehmen. Er hat genug gethan, wenn er Wahr - heiten gefunden hat, auf die man weiter bauen kann. Denn jede neue Folgerung bietet zugleich eine neue Einsicht, eine neue Controle, eine Erweiterung der Uebersicht, eine Klärung des Standpunktes. Der Feld - herr so wenig als der grosse Entdecker kann bei jedem gewonnenen Posten kleinliche Untersuchungen darüber anstellen, mit welchem Recht er denselben besitzt. Die Grösse der zu lösenden Aufgabe lässt hierzu keine Zeit. Später wird dies anders. Von den beiden folgenden Jahrhunderten durfte Newton wohl erwarten, dass sie die Grundlagen des von ihm Geschaffenen weiter unter - suchen und befestigen würden. In der That können in Zeiten grösserer wissenschaftlicher Ruhe die Prin - cipi en ein höheres philosophisches Interesse gewinnen, als alles, was sich auf dieselben bauen lässt. Dann treten Fragen auf, wie die hier behandelten, zu deren Beantwortung hier vielleicht ein kleiner Beitrag geliefert worden ist. Wir stimmen dem mit Recht hochberühmten Physiker W. Thomson in der Verehrung und Bewun - derung Newton’s bei. Sir W. Thomson’s Ansicht aber, dass die Newton’schen Aufstellungen auch heute noch das Beste und Philosophischste seien, was man geben könne, ist uns schwer verständlich.

229Die Entwickelung der Principien der Dynamik.

8. Rückblick auf die Entwickelung der Dynamik.

1. Wenn wir die Entwickelungsperiode der Dynamik überblicken, welche durch Galilei eingeleitet, durch Huyghens weiter geführt, durch Newton abgeschlossen wurde, so stellt sich als Hauptergebniss die Erkennt - niss dar, dass die Körper gegenseitig aneinander von räumlichen und materiellen Umständen abhängige Be - schleunigungen bestimmen, und dass es Massen gibt. Dass die Erkenntniss dieser Thatsachen sich in so vielen Sätzen darstellt, hat lediglich einen histori - schen Grund; sie wurde nicht auf einmal, sondern schrittweise gewonnen. Es ist eigentlich nur eine grosse Thatsache, die festgestellt worden ist. Ver - schiedene Körperpaare bestimmen unabhängig vonein - ander an sich selbst Beschleunigungspaare, deren Glieder das für jedes Körperpaar charakteristische unveränder - liche Verhältniss darbieten. Selbst so bedeutende Men - schen wie Galilei, Huyghens und Newton konnten diese Thatsache nicht auf einmal erschauen, sondern nur stückweise erkennen, wie sich dies in dem Fallgesetze, dem besondern Trägheitsgesetze, dem Princip des Kräftenparallelogramms, dem Massenbegriff u. s. w. aus - spricht. Heute hat es keine Schwierigkeit mehr, die Einheit der ganzen Thatsache zu durchblicken. Nur das praktische Bedürfniss der Mittheilung kann die stückweise Darstellung durch mehrere Sätze (deren Zahl eigentlich nur durch den wissenschaftlichen Geschmack bestimmt wird) rechtfertigen. Die Erinnerung an die über die Begriffe Zeit, Trägheit u. s. w. gegebenen Ausführungen befestigt übrigens gewiss die Ueber - zeugung, dass genau genommen selbst heute die ganze fragliche Thatsache noch nicht nach allen Seiten voll - ständig erkannt ist.

Mit den unbekannten Ursachen der Naturvorgänge hat der gewonnene Standpunkt (wie Newton ausdrück - lich hervorhebt) nichts zu schaffen. Was wir heute in der Mechanik Kraft nennen, ist nicht etwas in den Vor -230Zweites Kapitel.gängen Verborgenes, sondern ein messbarer thatsäch - licher Bewegungsumstand, das Product aus der Masse in die Beschleunigung. Auch wenn man von An - ziehungen oder Abstossungen der Körper spricht, hat man nicht nöthig an irgendwelche verborgene Ursachen der Bewegung zu denken. Man bezeichnet durch den Ausdruck Anziehung nur die thatsächliche Aehnlich - keit des durch die Bewegungsumstände bestimmten Vor - ganges mit dem Effect eines Willensimpulses. In bei - den Fällen erfolgt entweder wirkliche Bewegung oder, wenn diese durch einen andern Bewegungsumstand wie - der aufgehoben ist, Zerrung, Pressung der Körper u. s. w.

2. Das eigentliche Werk des Genies bestand darin, den Zusammenhang gewisser Bestimmungsstücke der mechanischen Vorgänge zu bemerken. Die genauere Feststellung der Form dieses Zusammenhanges fiel mehr der bedächtigen Arbeit anheim, welche die verschiedenen Begriffe und Sätze der Mechanik schuf. Den wahren Werth und die Bedeutung dieser Sätze und Begriffe kann man nur durch Untersuchung ihres historischen Ursprunges ermitteln. Hierbei zeigt sich nun zuweilen unverkennbar, dass zufällige Umstände dem Ent - wickelungsgange eine eigenthümliche Richtung gegeben haben, welche unter andern Umständen sehr verschieden hätte ausfallen können, wie dies hier durch ein Beispiel erläutert werden soll.

Bevor Galilei die bekannte Abhängigkeit zwischen der Endgeschwindigkeit und Fallzeit annahm, und die - selbe durch das Experiment prüfte, versuchte er, wie bereits erwähnt, eine andere Annahme, und setzte die Endgeschwindigkeit proportional dem zurückgelegten Fallraum. Er meinte, durch ebenfalls schon erwähnte Fehlschlüsse, diese Annahme im Widerspruch mit sich selbst zu finden. Er meinte, dass der doppelte Fall - raum vermöge der doppelten Endgeschwindigkeit in derselben Zeit zurückgelegt werden müsste wie der ein - fache Fallraum. Da aber die erste Hälfte jedenfalls231Die Entwickelung der Principien der Dynamik.früher zurückgelegt wird, so müsste der Rest augen - blicklich (ohne messbare Zeit) zurückgelegt werden. Leicht folgt dann, dass die Fallbewegung überhaupt eine momentane wäre.

Die Fehlschlüsse liegen hier klar zu Tage. Integra - tionen im Kopfe waren natürlich Galilei nicht geläufig, und er musste bei dem Fehlen aller Methode nothwen - dig irren, sobald die Verhältnisse etwas complicirter waren. Nennen wir s den Weg, t die Zeit, so lautet die Galilei’sche Annahme in unserer heutigen Sprache 〈…〉 , woraus folgt s = Aeat, wobei a eine Er - fahrungs - und A eine Integrationsconstante wäre. Dies ist eine ganz andere Folgerung als diejenige, welche Galilei gezogen hat. Sie passt allerdings zur Erfahrung nicht, und Galilei hätte wahrscheinlich Anstoss daran genommen, dass für t = o doch s von o verschieden sein muss, wenn überhaupt Bewegung eintreten soll. Allein sich selbst widerspricht die Annahme keineswegs.

Nehmen wir an, Kepler hätte sich dieselbe Frage ge - stellt. Während Galilei stets nur nach dem Einfachsten griff, und eine Annahme sofort fallen liess, wenn sie nicht passte, zeigt Kepler eine ganz andere Natur. Er scheut sich vor den complicirtesten Annahmen nicht, und gelangt, dieselben fort und fort allmählich ab - ändernd, zum Ziel, wie dies die Geschichte der Auf - findung seiner Gesetze der Planetenbewegung hinreichend darthut. Kepler hätte also wahrscheinlich, wenn die Annahme 〈…〉 nicht gepasst hätte, eine Unzahl anderer, darunter wahrscheinlich auch die richtige 〈…〉 versucht. Damit würde aber die Dynamik einen wesentlich andern Entwickelungsgang genommen haben.

Unserer Meinung nach hat nun diesem geringfügigen historischen Umstand der Begriff Arbeit die Mühe zu232Zweites Kapitel.danken, mit welcher er sich nur sehr allmählich zu seiner gegenwärtigen Bedeutung emporarbeiten konnte. In der That musste, weil zufällig die Abhängigkeit zwischen Geschwindigkeit und Zeit früher ermittelt worden war, die Beziehung v = gt als die ursprüng - liche, die Gleichung 〈…〉 als die nächste, und $$gs = \frac{v^2}{2}$$ als eine entferntere Folgerung erscheinen. Führt man den Begriff Masse (m) und Kraft (p) ein, wobei p = mg, so erhält man (durch Multiplication der drei Gleichungen mit m) die Sätze, mv = pt, 〈…〉 , die Grundgleichungen der Mechanik. Nothwendig mussten also die Begriffe Kraft und Bewegungsquantität (mv) ursprünglicher scheinen, als die Begriffe Arbeit (ps) und lebendige Kraft (mv 2). Kein Wunder also, dass überall, wo der Arbeitbegriff auftrat, man immer versuchte denselben durch die historisch älteren Begriffe zu ersetzen. Der ganze Streit der Leibnitzianer und Cartesianer, welcher erst durch d’Alembert einiger - maassen geschlichtet wurde, findet darin seine volle Er - klärung.

Unbefangen betrachtet, hat man genau dasselbe Recht, nach der Abhängigkeit von Endgeschwindigkeit und Zeit, wie nach der Abhängigkeit von Endgeschwindig - keit und Weg zu fragen, und die Frage durch das Ex - periment zu beantworten. Die eine Frage führt zu dem Erfahrungssatze: Gegebene gegenüberstehende Kör - per ertheilen sich in gegebenen Zeiten gewisse Ge - schwindigkeitszuwüchse. Die andere lehrt: Gegebene gegenüberstehende Körper ertheilen sich für bestimmte gegenseitige Verschiebungen gewisse Geschwindigkeits - zuwüchse. Beide Sätze sind gleichberechtigt und können als gleich ursprünglich angesehen werden.

Dass dies richtig ist, beweist in unserer Zeit J. R. Mayer, eine von den Einflüssen der Schule freie mo - derne Galilei’sche Natur, welcher in der That den233Die Entwickelung der Principien der Dynamik.letztern Weg selbständig eingeschlagen, und dadurch eine Erweiterung der Wissenschaft hervorgerufen hat, wie sie auf dem Wege der Schule erst später, umständlicher und nicht in gleicher Vollständigkeit eingetreten ist. Für Mayer ist Arbeit der ursprüngliche Begriff. Er nennt das Kraft, was in der Mechanik der Schule Ar - beit genannt wird. Mayer fehlt nur darin, dass er seinen Weg für den einzig richtigen hält.

3. Man kann also nach Belieben die Fallzeit oder den Fallraum als geschwindigkeitbestimmend an - sehen. Richtet man die Aufmerksamkeit auf den ersten Umstand, so stellt sich der Kraftbegriff als der ursprüng - liche, der Arbeitbegriff als der abgeleitete dar. Unter - sucht man den Einfluss des zweiten Umstandes zuerst, so ist gerade der Arbeitbegriff der ursprüngliche. Bei Uebertragung der durch Betrachtung der Fallbewegung gewonnenen Begriffe auf complicirtere Verhältnisse er - kennt man die Kraft als abhängig von der Entfernung der Körper, als eine Function der Entfernung f (r). Die Arbeit auf der Wegstrecke dr ist dann f (r) dr. Auf dem zweiten Untersuchungswege ergibt sich die Arbeit auch als eine Function der Entfernung F (r), die Kraft kennen wir aber dann nur in der Form 〈…〉 , als Grenzwerth des Verhältnisses: $$\frac {Arbeitszuwachs}{Wegzuwachs}$$ .

Galilei hat vorzugsweise den ersten der beiden Wege cultivirt, und Newton hat ihn ebenfalls vorgezogen. Huyghens, wenn er sich auch nicht ganz darauf be - schränkt, bewegt sich mehr auf dem zweiten Wege. Descartes hat wieder in seiner Weise die Galilei’schen Ideen verarbeitet. Seine Leistungen sind aber den Newton’schen und Huyghens’schen gegenüber nicht von Belang und der Einfluss derselben erlischt bald ganz. Nach Huyghens und Newton geht aus der Vermengung beider Denkweisen, deren Unabhängigkeit und Gleich - werthigkeit nicht immer beachtet wird, die mannich -234Zweites Kapitel.faltigste Verwirrung hervor, wie z. B. der erwähnte Streit der Cartesianer und Leibnitzianer über das Kraftmaass. Bis in die neueste Zeit aber wenden sich die Forscher mit Vorliebe bald der einen bald der an - dern Denkweise zu. So werden die Galilei-Newton - schen Gedanken vorzugsweise von der Poinsot’schen, die Galilei-Huyghens’schen von der Poncelet’schen Schule cultivirt.

4. Newton operirt fast ausschliesslich mit den Be - griffen Kraft, Masse, Bewegungsgrösse. Sein Gefühl für den Werth des Massenbegriffes stellt ihn über seine Vorgänger und Zeitgenossen. Galilei dachte nicht daran, dass Masse und Gewicht verschiedene Dinge seien. Auch Huyghens setzt in allen Betrachtungen die Gewichte statt der Massen, so z. B. bei den Untersuchungen über den Schwingungsmittelpunkt. Auch in der Schrift De percussione (über den Stoss) sagt Huyghens immer corpus majus (der grössere Körper) und corpus mi - nus (der kleinere Körper), wenn er die grössere oder kleinere Masse meint. Zur Bildung des Massenbegriffes war man erst gedrängt, als man bemerkte, dass der - selbe Körper verschiedene Beschleunigungen durch die Schwere erfahren kann. Den Anlass hierzu boten zunächst die Pendelbeobachtungen von Richer (1671 1673), aus welchen Huyghens sofort die richtigen Schlüsse zog, und die Uebertragung der dynamischen Gesetze auf die Himmelskörper. Die Wichtigkeit des ersten Punktes sehen wir daraus, dass Newton durch eigene Beob - achtungen an Pendeln aus verschiedenem Material die Proportionalität zwischen Masse und Gewicht an dem - selben Orte der Erde nachgewiesen hat. ( Principia , Sect. VI de motu et resistentia corporum funependu - lorum). Auch bei Joh. Bernoulli wird die erste Unter - scheidung von Masse und Gewicht in der meditatio de natura centri oscillationis (Opera omnia, Lausannae et Genevae, T. II, p. 168) durch die Bemerkung herbei - geführt, dass derselbe Körper verschiedene Schwerebe - schleunigungen annehmen kann. Die dynamischen Fragen235Die Entwickelung der Principien der Dynamik.nun, welche mehrere zueinander in Beziehung stehende Körper betreffen, erledigt Newton mit Hülfe der Be - griffe Kraft, Masse, Bewegungsgrösse.

5. Huyghens hat einen andern Weg zur Lösung der - selben Probleme eingeschlagen. Galilei hatte schon er - kannt, dass ein Körper vermöge der erlangten Fall - geschwindigkeit ebenso hoch steigt, als er herabgefallen ist. Indem Huyghens (im Horologium oscillatorium ) den Satz dahin verallgemeinert, dass der Schwerpunkt eines Körpersystems vermöge der erlangten Fallgeschwindig - keiten ebenso hoch steigt, als er herabgefallen ist, ge - langt er zu dem Satze der Aequivalenz von Arbeit und lebendiger Kraft. Die Namen für seine Rechnungs - ausdrücke sind freilich erst viel später hinzugekommen.

Dieses Huyghens’sche Arbeitsprincip ist nun von den Zeitgenossen ziemlich allgemein mit Mistrauen aufge - nommen worden. Man hat sich damit begnügt, die glänzenden Resultate zu benutzen; die Ableitungen derselben durch andere zu ersetzen, ist man stets bemüht gewesen. An dem Princip ist auch, nachdem Johann und Daniel Bernoulli dasselbe erweitert hatten, immer mehr die Fruchtbarkeit als die Evidenz geschätzt worden.

Wir sehen, dass immer die Galilei-Newton’schen Sätze ihrer grössern Einfachheit und scheinbar grössern Evi - denz wegen den Galilei-Huyghens’schen vorgezogen wur - den. Zur Anwendung der letztern zwingt überhaupt nur die Noth in jenen Fällen, in welchen die Anwen - dung der ersteren wegen der zu mühsamen Detailbe - trachtung unmöglich wird, wie z. B. in der Theorie der Flüssigkeitsbewegung bei Johann und Daniel Bernoulli.

Betrachten wir aber die Sache genau, so kommt dem Huyghens’schen Princip dieselbe Einfachheit und Evi - denz zu, wie den zuvor erwähnten Newton’schen Sätzen. Dass (bei einem Körper) die Geschwindigkeit durch die Fallzeit oder dass sie durch den Fallraum bestimmt sei, ist eine gleich natürliche und einfache Annahme. Die Form des Gesetzes muss in beiden Fällen durch die236Zweites Kapitel.Erfahrung gegeben werden. Dass also pt = mv oder 〈…〉 , ist als Ausgangspunkt gleich gut.

6. Uebergeht man nun zur Untersuchung der Be - wegung mehrerer Körper, so bedarf man in beiden Fällen wieder eines Schrittes von gleichem Grade der Sicherheit. Der Newton’sche Massenbegriff rechtfertigt sich dadurch, dass mit dem Aufgeben desselben alle Regel der Vorgänge aufhören würde, dass wir sofort Widersprüche gegen unsere gewöhnlichsten und gröbsten Erfahrungen erwarten müssten, dass die Physiognomie unserer mechanischen Umgebung uns unverständlich würde. Das Gleiche haben wir in Bezug auf das Huyghens’sche Arbeitsprincip zu bemerken. Geben wir den Satz 〈…〉 auf, so können schwere Kör - per durch ihr eigenes Gewicht höher steigen, es hören alle bekannten Regeln der mechanischen Vorgänge auf. Auf das instinctive Moment, welches bei Auffindung beider Gesichtspunkte wirksam war, ist schon ausführ - lich eingegangen worden.

Natürlich hätten sich beide erwähnte Gedankenkreise viel unabhängiger voneinander entwickeln können. Da sie beide fortwährend miteinander in Berührung waren, so ist es kein Wunder, dass sie theilweise ineinander - geflossen sind, und dass der Huyghens’sche weniger ab - geschlossen erscheint. Newton reicht mit den Kräften Massen, Bewegungsgrössen vollständig aus. Huyghens würde mit der Arbeit, der Masse und der lebendigen Kraft ebenfalls ausreichen. Da er aber den Massen - begriff noch nicht vollkommen hat, so muss derselbe bei den spätern Anwendungen dem andern Kreise ent - lehnt werden. Doch hätte dies auch vermieden wer - den können. Kann bei Newton das Massenverhältniss zweier Körper definirt werden durch das umgekehrte Verhältniss der durch dieselbe Kraft erzeugten Ge - schwindigkeiten, so würde es bei Huyghens consequent237Die Entwickelung der Principien der Dynamik.durch das umgekehrte Verhältniss der durch dieselbe Arbeit erzeugten Geschwindigkeitsquadrate definirt.

Beide Gedankenkreise betrachten die Abhängigkeit ganz verschiedener Momente derselben Erscheinung. Die Newton’sche Betrachtung ist insofern vollständiger, als sie über die Bewegung jeder Masse Aufschluss gibt: dafür muss sie aber auch sehr ins Einzelne eingehen. Die Huyghens’sche gibt eine Regel für das ganze System. Sie ist nur bequem, aber dann sehr bequem, wenn die Geschwindigkeitsverhältnisse der Massen ohnehin schon bekannt sind.

7. Wir können also beobachten, dass bei Entwickelung der Dynamik ganz ebenso wie bei der Entwickelung der Statik zu verschiedenen Zeiten der Zusammenhang sehr verschiedener Merkmale der mechanischen Vor - gänge die Aufmerksamkeit der Forscher gefesselt hat. Man kann die Bewegungsquantität eines Systems durch die Kräfte als bestimmt ansehen, man kann aber auch die lebendige Kraft als durch die Arbeit bestimmt be - trachten. Bei der Wahl der betreffenden Merkmale hat die Individualität der Forscher einen grossen Spiel - raum. Man wird es nach den gegebenen Ausführungen für möglich halten, dass das System der mechanischen Begriffe vielleicht ein anderes wäre, wenn Kepler die ersten Untersuchungen über die Fallbewegung ange - stellt, oder wenn Galilei bei seinen ersten Ueberlegungen keinen Fehler begangen hätte. Man wird zugleich er - kennen, dass für das historishe Verständniss einer Wissenschaft nicht nur die Kenntniss der Gedanken wichtig ist, welche von den Nachfolgern angenommen und gepflegt worden sind, sondern dass mitunter auch flüchtige Erwägungen der Forscher, ja sogar das schein - bar ganz Verfehlte, sehr wichtig und sehr belehrend sein kann. Die historische Untersuchung des Ent - wickelungsganges einer Wissenschaft ist sehr nothwen - dig, wenn die aufgespeicherten Sätze nicht allmählich zu einem System von halb verstandenen Recepten oder gar zu einem System von Vorurtheilen werden sollen. 238Zweites Kapitel. Entwickelung der Principien d. Dynamik.Die historische Untersuchung fördert nicht nur das Verständniss des Vorhandenen, sondern legt auch die Möglichkeit des Neuen nahe, indem sich das Vorhandene eben theilweise als conventionell und zufällig er - weist. Von einem höhern Standpunkt aus, zu dem man auf verschiedenen Wegen gelangt ist, kann man mit freierm Blicke ausschauen, und noch neue Wege er - kennen.

In allen dynamischen Sätzen, welche wir erörtert haben, spielt die Geschwindigkeit eine hervorragende Rolle. Dies liegt nach unsern Ausführungen daran, dass genau genommen jeder Körper zu allen andern in Beziehung steht, dass ein Körper und auch mehrere Körper nicht ganz isolirt betrachtet werden können. Nur unsere Unfähigkeit, alles auf einmal zu übersehen, nöthigt uns, wenige Körper zu betrachten und von den übrigen vorläufig in mancher Beziehung abzusehen, was eben durch Einführung der Geschwindigkeit, welche die Zeit enthält, geschieht. Man kann es nicht für unmöglich halten, dass an Stelle der Elementar - gesetze, welche die gegenwärtige Mechanik ausmachen, einmal Integralgesetze treten (um einen Ausdruck C. Neumann’s zu gebrauchen), dass wir direct die Ab - hängigkeit der Lagen der Körper voneinander erkennen. In diesem Falle wäre dann der Kraftbegriff über - flüssig geworden.

239Drittes Kapitel. Die weitere Verwendung d. Principien.

DRITTES KAPITEL. Die weitere Verwendung der Principien und die deductive Entwickelung der Mechanik.

1. Die Tragweite der Newton’schen Principien.

1. Die Newton’schen Principien sind genügend, um ohne Hinzuziehung eines neuen Princips jeden praktisch vorkommenden mechanischen Fall, ob derselbe nun der Statik oder der Dynamik angehört, zu durchschauen. Wenn sich hierbei Schwierigkeiten ergeben, so sind dieselben immer nur mathe - mathischer (formeller) und keineswegs mehr principieller Natur. Es sei eine An - zahl Massen m1, m2, m3 .... im Raume mit bestimmten An - fangsgeschwindigkeiten v1, v2, v3 .... gegeben. Wir den - ken uns zwischen je zweien die Verbindungslinien gezo - gen. Nach der Richtung die - ser Verbindungslinien treten die Beschleunigungen und

Fig. 144.

Gegenbeschleunigungen auf, deren Abhängigkeit von der Entfernung die Physik zu bestimmen hat. In einem kleinen Zeitelement[τ]wird beispielsweise die Masse m5 nach der Richtung der Anfangsgeschwindigkeit die Weg - strecke v5[τ], und nach den Richtungen der Verbin - dungslinien mit den Massen m1, m2, m3 .... mit den Beschleunigungen[φ]51,[φ]52,[φ]53 .... die Wege 〈…〉 , 〈…〉 , .... zurücklegen. Denken wir uns alle diese Bewegungen unabhängig voneinander ausgeführt, so erhalten wir den neuen Ort der Masse m5 nach der Zeit[τ]240Drittes Kapitel.Die Zusammensetzung der Geschwindigkeiten v5 und[φ]15[τ],[φ]25[τ],[φ]35·[τ], .... ergibt die neue Anfangsge - schwindigkeit am Ende der Zeit[τ]. Wir lassen nun ein zweites Zeittheilchen[τ]verfliessen und untersuchen die Bewegung in derselben Weise weiter, indem wir auf die geänderten räumlichen Beziehungen der Massen Rücksicht nehmen. Mit jeder andern Masse können wir auf die gleiche Weise verfahren und sehen also, dass von einer principiellen Verlegenheit nicht die Rede sein kann, sondern nur von mathematischen Schwierigkei - ten, wenn es sich um eine genaue Lösung der Aufgabe in geschlossenen Ausdrücken, und nicht um eine Verfolgung des Vorganges von Moment zu Moment handelt. Heben sich alle Beschleunigungen der Masse m5 oder mehrerer Massen, so sind m5 oder jene Massen im Gleichgewicht, und bewegen sich nur gleichförmig mit ihren Anfangs - geschwindigkeiten. Sind die betreffenden Anfangsge - schwindigkeiten = o, so besteht für diese Massen Gleichgewicht und Ruhe.

Wenn mehrere der Massen m1. m2, .... von grösserer Ausdehnung sind, sodass man nicht von einer Verbin - dungslinie zwischen je zwei Massen sprechen kann, so wird die principielle Schwierigkeit nicht grösser. Man theilt die Massen in genügend kleine Theile, und zieht die Verbindungslinien zwischen je zwei solchen Theilen. Man nimmt ferner Rücksicht auf die Wechselbeziehung der Theile derselben grössern Masse, welche z. B. bei starren Massen darin besteht, dass diese Theile jeder Aenderung ihrer Entfernung widerstreben. Bei der Aenderung der Entfernung zweier Theile beobachtet man eine der Entfernungsänderung proportionale Beschleu - nigung. Vergrösserte Entfernungen verkleinern, ver - kleinerte Entfernungen vergrössern sich wieder infolge dieser Beschleunigung. Durch die Verschiebung der Theile gegeneinander werden die bekannten Kräfte der Elasticität geweckt. Wenn Massen durch den Stoss zusammentreffen, so treten ihre Elasticitätskräfte erst241Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.mit der Berührung und der beginnenden Formänderung ins Spiel.

2. Wenn wir uns eine schwere verticale Säule vor - stellen, welche auf der Erde ruht, so ist ein Theilchen m im Innern der Säule, das wir in Gedanken heraus - fassen, im Gleichgewicht und in Ruhe. An demselben ist durch die Erde eine verticale Fallbeschleunigung g bestimmt, welcher es auch Folge leistet. Hierbei nähert es sich aber den unterhalb liegenden Theilen, und die geweckten Elasticitätskräfte bedingen an m eine Verti - calbeschleunigung aufwärts, welche schliesslich bei ge - genügender Annäherung g gleich wird. Die oberhalb m liegenden Theile nähern sich durch g dem m eben - falls. Es entsteht hierdurch wieder Beschleunigung und Gegenbeschleunigung, wodurch die oberhalb befindlichen Theile zu Ruhe kommen, m sich aber noch weiter den unterhalb befindlichen annähert, bis die Beschleunigung, welche m durch die obern Theile abwärts erfährt, ver - mehrt um g der Beschleunigung von m durch die untern Theile gleich ist. Ueber jeden Theil der Säule und der unterhalb liegenden Erde kann man dieselbe Be - trachtung anstellen, und man erkennt leicht, dass die tiefern Theile einander mehr angenähert, stärker zu - sammengedrückt sind, als die höhern. Jeder Theil liegt zwischen einem höhern weniger, und einem tiefern mehr zusammengedrückten Theil; seine Fallbeschleunigung g wird durch einen Beschleunigungsüberschuss aufwärts, den er durch die untern Theile erfährt, aufgehoben. Man versteht das Gleichgewicht und die Ruhe der Säulentheile, indem man sich alle beschleunigten Be - wegungen, welche durch die Wechselbeziehung der Erde und der Säulentheile bestimmt sind, wirklich gleich - zeitig ausgeführt denkt. Die scheinbare mathematische Dürre dieser Vorstellung verschwindet, und dieselbe wird sofort sehr lebendig, wenn man bedenkt, dass thatsächlich kein Körper in vollkommener Ruhe sich be - findet, sondern, dass immer kleine Erzitterungen und Störungen in demselben vorhanden sind, welche baldMach. 16242Drittes Kapitel.den Fallbeschleunigungen, bald den Elasticitätsbe - schleunigungen ein kleines Uebergewicht verschaffen. Der Fall der Ruhe ist dann nur ein sehr seltener, nie vollkommen eintretender, specieller Fall der Bewegung. Die erwähnten Erzitterungen sind uns keineswegs un - bekannt. Wenn wir aber mit Gleichgewichtsfällen uns beschäftigen, so handelt es sich um eine schematische Nachbildung der mechanischen Thatsachen in Gedanken. Wir sehen dann von diesen Störungen, Verschiebungen, Verbiegungen und Erzitterungen, welche uns nicht weiter interessiren, absichtlich ab. Die sogenannte Theorie der Elasticität beschäftigt sich aber mit jenen Fällen dieser Verschiebungen und Erzitterungen, welche ein praktisches oder wissenschaftliches Interesse darbieten. Das Resultat der Newton’schen Leistungen besteht darin, dass wir mit einem und demselben Gedanken überall auskommen, und alle Gleichgewichts - und Bewegungs - fälle mit Hülfe desselben nachbilden und vorbilden können. Alle mechanischen Fälle erscheinen uns nun durchaus gleichförmig, als dieselben Elemente enthaltend.

Fig. 145.

3. Betrachten wir ein anderes Beispiel. Zwei Massen m, m be - finden sich in der Entfernung a voneinander. Es mögen bei Ver - schiebungen derselben gegeneinan - der der Entfernungsänderung pro - portionale Elasticitätskräfte geweckt werden. Die Massen seien nach der zu a parallelen X-Richtung beweglich, und ihre Coordinaten seien x1, x2. Wenn nun im Punkte x2 eine Kraft f angreift, so gelten die Gleichungen 〈…〉 wobei p die Kraft bedeutet, welche eine Masse auf die andere ausübt, wenn die gegenseitige Entfernung der - selben sich um den Werth 1 ändert. Alle quantita -243Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.tiven Eigenschaften des mechanischen Vorganges sind durch diese Gleichungen bestimmt. Wir finden die - selben in übersichtlicher Form durch die Integration der Gleichungen. Gewöhnlich verschafft man sich durch mehrmaliges Differenziren der vorliegenden Gleichungen neue Gleichungen in genügender Zahl, um durch Eli - mination Gleichungen in x1 allein oder x2 allein zu erhalten, welche nachher integrirt werden. Wir wollen hier einen andern Weg einschlagen. Durch Subtraction der zweiten Gleichung von der ersten finden wir 〈…〉 und durch Addition der zweiten und ersten Gleichung 〈…〉 , oder x2 + x1 = v setzend 〈…〉 Die Integrale von 3) und 4) sind beziehungsweise 〈…〉 und 〈…〉 demnach 〈…〉 〈…〉

16*244Drittes Kapitel.

Um einen speciellen Fall vor Augen zu haben, wollen wir annehmen, dass die Wirkung der Kraft f für t = o beginne, und dass zu dieser Zeit 〈…〉 〈…〉 also die Anfangslagen gegeben, und die Anfangsge - schwindigkeiten = o seien. Hierdurch bestimmen sich die Constanten A, B, C, D so, dass 5) 〈…〉 6) 〈…〉 und 7) 〈…〉 wird. Aus 5) und 6) sehen wir, dass die beiden Massen ausser einer gleichförmig beschleunigten Bewegung mit der Hälfte der Beschleunigung, welche die Kraft f einer dieser Massen allein ertheilen würde, noch eine in Be - zug auf ihren Schwerpunkt symmetrische schwingende Bewegung ausführen. Die Dauer dieser schwingenden Bewegung 〈…〉 ist desto kleiner, je grösser die Kraft ist, welche bei derselben Massenverschiebung geweckt wird (wenn wir an zwei Theile desselben Kör - pers denken, je härter der Körper ist). Die Schwingungs - weite der schwingenden Bewegung $$\frac {f}{2p}$$ wird ebenfalls kleiner mit der Grösse p der geweckten Verschiebungs - kraft. Gleichung 7) veranschaulicht die periodische Entfernungsänderung der beiden Massen während der fort -245Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.schreitenden Bewegung. Die Bewegung eines elastischen Körpers könnte in diesem Falle als wurmförmig bezeichnet werden. Bei harten Körpern wird aber die Zahl der Schwingungen so gross und deren Excursion so klein, dass sie unbemerkt bleiben, und von denselben abge - sehen werden kann. Die schwingende Bewegung ver - schwindet auch, entweder allmählich durch den Einfluss eines Widerstandes, oder wenn die beiden Massen, in dem Augenblicke als die Kraft f zu wirken beginnt, die Entfernung $$a+\frac{f}{2p}$$ und gleiche Anfangsgeschwin - digkeiten haben. Die Entfernung $$a+\frac{f}{2p}$$ , welche die Massen nach dem Verschwinden der Schwingung haben, ist um $$\frac {f}{2p}$$ grösser als die Gleichgewichtsentfernung a. Es tritt nämlich durch die Wirkung von f eine Dehnung y ein, durch welche die Beschleunigung der vorausgehen - den Masse auf die Hälfte reducirt wird, während jene der nachfolgenden auf denselben Werth ansteigt. Hier - bei ist nun nach unserer Voraussetzung 〈…〉 oder 〈…〉 . Wie man sieht, kann man die feinsten Ein - zelheiten eines derartigen Vorganges nach den New - ton’schen Principien ermitteln. Die Untersuchung wird mathematisch (aber nicht principiell) complicirter, wenn man sich einen Körper in viele kleine Theile getheilt denkt, welche durch Elasticität zusammenhängen. Auch hier kann man bei genügender Härte die Schwingungen ignoriren. Solche Körper, bei welchen wir die gegen - seitige Verschiebung der Theile absichtlich als ver - schwindend ansehen, nennen wir starre Körper.

4. Wir betrachten nun einen Fall, welcher das Schema eines Hebels vorstellt. Wir denken uns die Massen M, m1, m2 in einem Dreieck angeordnet und mitein - ander in elastischer Verbindung. Jede Veränderung246Drittes Kapitel.der Seiten, und folglich auch jede Veränderung der Winkel, bedingt Beschleunigungen, durch welche das Dreieck der frühern Form und Grösse wieder zustrebt. Wir können an einem solchen Schema mit Hülfe der Newton’schen Principien die Hebelgesetze ableiten, und fühlen zugleich, dass die Form dieser Ableitung, wenn sie auch complicirter wird, noch zulässig bleibt, wenn wir von einem schematischen Hebel aus drei Massen zu einem wirklichen Hebel übergehen. Die Masse M setzen wir entweder selbst als sehr gross voraus, oder denken uns dieselbe mit sehr grossen Massen (z. B. der Erde) derart in Verbindung, dass sie an dieselben durch grosse

Fig. 146.

Elasticitätskräfte ge - bunden ist. Dann stellt M einen Drehpunkt vor, der sich nicht be - wegt.

Es erhalte nun m1 durch eine äussere Kraft eine Beschleu - nigung f senkrecht zur Verbindungslinie Mm2 = c+d. Sofort tritt eine Dehnung der Linien m1m2 = b und m1M = a ein, und es ergeben sich nach den betreffen - den Richtungen beziehungsweise die noch unbestimmten Beschleunigungen s und[σ], von welchen die Componenten s $$\frac {e}{b}$$ und[σ] $$\frac {e}{d}$$ der Beschleunigung f entgegengerichtet sind. Hierbei ist e die Höhe des Dreieckes m1 m2 M. Die Masse m2 erhält die Beschleunigung s′, welche in die beiden Componenten s′ $$\frac {d}{b}$$ gegen M und s′ $$\frac {e}{b}$$ pa - rallel f zerfällt. Erstere bedingt eine kleine An - näherung von m2 an M. Die Beschleunigungen, welche in M durch die Gegenwirkung von m1 und m2 be - dingt sind, werden der grossen Masse wegen unmerk - lich. Von der Bewegung von M sehen wir demnach absichtlich ab.

247Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.

Die Masse m1 erhält also die Beschleunigung f s $$\frac {e}{b}$$ [σ] $$\frac {e}{a}$$ , die Masse m2 aber die parallele Beschleunigung s′ $$\frac {e}{b}$$ . Zwischen s und[σ]besteht eine einfache Beziehung. Nehmen wir eine sehr starre Verbindung an, so wird das Dreieck nur unmerklich verzerrt. Die zu f senk - rechten Componenten von s und[σ]heben sich. Denn wäre dies für einen Augenblick nicht der Fall, so würde die grössere Componente eine weitere Verzerrung be - dingen, welche sofort ihre Aufhebung zur Folge hätte. Die Resultirende von s und[σ]ist also f direct entgegen - gesetzt und demnach, wie leicht ersichtlich, 〈…〉 . Zwischen s und s′ besteht ferner die bekannte Be - ziehung m1s = m2s′ oder s = s′ $$\frac{m_2}{m_1}$$ . Im Ganzen er - halten m2 und m1 beziehungsweise die Beschleunigungen s′ $$\frac {e}{b}$$ und 〈…〉 , oder wenn wir für den variablen Werth s′ $$\frac {e}{b}$$ den Namen[φ]einführen, die Be - schleunigungen[φ]und 〈…〉 .

Mit Beginn der Verzerrung nimmt die Beschleunigung von m1 durch das Wachsen von[φ]ab, während jene von m2 zunimmt. Setzen wir nun die Höhe des Drei - eckes e sehr klein, so bleiben unsere Betrachtungen noch anwendbar; es wird aber hierbei a = c = r 1, und a+b = c+d = r 2. Wir sehen auch, dass die Ver - zerrung so lange fortwachsen, hiermit[φ]steigen und die Beschleuniguug von m1 abnehmen muss, bis die Be - schleunigungen von m1 und m2 sich verhalten wie r1 zu r2. Dies entspricht einer Drehung des ganzen Drei -248Drittes Kapitel.ecks (ohne weitere Verzerrung) um M, welche Masse we - gen der verschwindenden Beschleunigungen ruht. Ist die Drehung eingetreten, so entfällt der Grund für weitere Veränderungen von[φ]. Dann ist also 〈…〉 oder 〈…〉 Die Winkelbeschleunigung des Hebels[ψ]erhalten wir 〈…〉

Es steht nichts im Wege, auf den Fall noch näher einzugehen, die Verzerrungen und die Schwingungen der Theile gegeneinander zu bestimmen. Bei hinreichend harten Verbindungen kann man aber hiervon absehen. Wir bemerken, dass wir durch Anwendung der New - ton’schen Principien zu demselben Resultat gelangt sind, zu welchem uns auch die Huyghens’sche Betrachtung geführt hätte. Das erscheint uns nicht wunderbar, wenn wir uns gegenwärtig halten, dass beide Betrachtungen vollkommen äquivalent sind, und nur von verschiedenen Seiten derselben Sache ausgehen. Nach der Huyghens - schen Methode wären wir schneller, aber mit weniger Einsicht in die Einzelheiten des Vorganges, zum Ziel gekommen. Wir hätten die bei einer Verschiebung von m1 geleistete Arbeit zur Bestimmung der lebendigen Kräfte von m1 und m2 benutzt, wobei wir vorausge - setzt hätten, dass die betreffenden Geschwindigkeiten v1 v2 das Verhältniss $$\frac{v_1}{v_2} = \frac{r_1}{r_2}$$ einhalten. Das behandelte Beispiel ist sehr geeignet zu erläutern, was eine solche Bedingungsgleichung bedeutet. Sie sagt nur, dass schon bei geringen Abweichungen des $$\frac{v_1}{v_2}$$ von $$\frac{r_1}{r_2}$$ grosse Kräfte auftreten, welche thatsächlich eine weitere Abweichung verhindern. Die Körper folgen natürlich nicht den Gleichungen, sondern den Kräften.

249Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.

5. Nehmen wir in dem zuvor behandelten Beispiele m1 = m2 = m und a = b (Fig. 147), so erhalten wir einen sehr anschaulichen Fall. Der dynamische Zustand ändert sich nicht mehr, wenn 〈…〉 , d. h. wenn die Beschleunigungen der Massen an der Grundlinie und am Scheitel durch $$\frac {2f}{5}$$ und $$\frac {f}{5}$$ gegeben sind. Bei Beginn der Zerrung wächst[φ]so lange, während gleichzeitig die Beschleunigung der Scheitelmasse um den doppelten Betrag vermindert wird, bis zwischen beiden das Ver - hältniss 2: 1 besteht.

Wir betrachten nun noch das Gleichge - wicht an einem sche - matischen Hebel, der aus drei Massen m1, m2 und M besteht, von

Fig. 147.

welchen die letztere wieder sehr gross, oder mit sehr grossen Massen elastisch verbunden sein soll. Wir denken uns an m1 und m2 nach der Richtung m1 m2

Fig. 148.

zwei gleiche entgegengesetzte Kräfte s, s angreifend, oder den Massen m1, m2 verkehrt proportionale Be - schleunigungen gesetzt. Die Dehnung der Verbindung m1 m2 erzeugt wieder den Massen m1, m2 verkehrt proportionale Beschleunigungen, welche die erstern heben und Gleichgewicht bedingen. Ebenso denken wir uns an m1 M die gleichen entgegengesetzten Kräfte250Drittes Kapitel.t, t, an m2 M aber u, u. Es besteht in diesem Fall Gleichgewicht. Wenn M mit genügend grossen Massen elastisch verbunden ist, so brauchen wir u, t nicht anzubringen, da sich diese Kräfte bei den eintretenden Zerrungen von selbst herstellen, und das Gleichgewicht erhalten. Das Gleichgewicht besteht also auch für die zwei gleichen entgegengesetzten Kräfte s, s und die ganz beliebigen Kräfte t, u. In der That heben sich s, s und t, u gehen durch die be - festigte Masse M hindurch, werden also bei der ein - tretenden Zerrung zerstört.

Die Gleichgewichtsbedingung reducirt sich leicht auf die gewöhnliche Form, wenn man bedenkt, dass die Momente von t und u, welche Kräfte durch M hin - durchgehen, in Bezug auf M der Null gleich, die Mo - mente von s, s aber gleich und entgegengesetzt sind. Setzen wir t, s zu p und u, s zu q zusammen, so ist nach dem Varignon’schen geometrischen Paralle - logrammsatz das Moment von p gleich der Momenten - summe von s, t und das Moment von q gleich der Momentensumme von u, s. Die Momente sind also für p und q gleich und entgegengesetzt. Zwei beliebige Kräfte p und q werden sich also das Gleichgewicht halten, wenn sie nach m1 m2 gleiche entgegengesetzte Componenten geben, womit auch die Momentengleich - heit in Bezug auf M gesetzt ist. Dass dann die Resul - tirende von p und q auch durch M hindurchgeht, ist ebenfalls ersichtlich, da s, s sich heben und t, u durch M hindurchgehen.

6. Der Newton’sche Standpunkt schliesst, wie das eben durchgeführte Beispiel lehrt, den Varignon’schen Standpunkt ein. Wir hatten also recht, die Varignon - sche Statik als eine dynamische Statik zu bezeichnen, welche, von den Grundgedanken der modernen Dynamik ausgehend, sich freiwillig auf Untersuchung von Gleich - gewichtsfällen beschränkt. Es tritt nur in der Va - rignon’schen Statik wegen der abstracten Form die Bedeutung mancher Operationen, wie z. B. der Verlegung251Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.der Kräfte in ihrer eigenen Richtung, nicht so deutlich hervor, als in dem eben behandelten Beispiel.

Wir schöpfen aus den durchgeführten Betrachtungen die Ueberzeugung, dass wir jeden mechanischen Fall, wenn wir uns nur die Mühe nehmen hinreichend in die Einzelheiten einzugehen, nach den Newton’schen Prin - cipien erledigen können. Wir durchschauen alle hier - her gehörigen Gleichgewichts - und Bewegungsfälle, in - dem wir die Beschleunigungen, welche die Massen an - einander bestimmen, wirklich an denselben sehen. Es ist dieselbe grosse Thatsache, welche wir in den mannichfaltigsten Vorgängen wiedererkennen, oder doch zu erkennen vermögen, wenn wir wollen. Hierdurch ist eine Einheit, Homogeneität und Oekonomie einer - seits, eine Reichhaltigkeit der physikalischen Anschau - ung andererseits ermöglicht, welche vor Newton nicht zu erreichen war.

Die Mechanik ist aber nicht allein Selbstzweck, son - dern sie hat auch für die praktischen Bedürfnisse und zur Unterstützung anderer Wissenschaften Aufgaben zu lösen. Diese Aufgaben werden mit Vortheil durch von den Newton’schen verschiedene Methoden gelöst, deren Gleichwerthigkeit mit jenen aber schon dargethan wurde. Es wäre also wol nur unpraktische Pedanterie, wenn man, alle übrigen Vortheile misachtend, immer und überall auf die einfachen Newton’schen Anschauun - gen zurückkommen wollte. Es genügt, sich einmal überzeugt zu haben, dass man dies jederzeit kann. Andererseits sind die Newton’schen Vorstellungen wirklich die am meisten befriedigenden und durchsichtigen. Es zeigt sich darin ein edler Sinn für wissenschaftliche Klarheit und Einfachheit, wenn Poinsot diese Vor - stellungen allein als Grundlage gelten lassen will.

2. Die Rechnungsausdrücke und Maasse der Mechanik.

1. Alle wichtigen Rechnungsausdrücke der heutigen Mechanik wurden schon in der Galilei-Newton’schen Zeit252Drittes Kapitel.gefunden und benutzt. Die besondern Namen, welche für dieselben ihres häufigern Gebrauches wegen sich als zweckmässig erwiesen haben, sind zum Theil erst viel später festgesetzt worden. Die einheitlichen Maasse der Mechanik kamen noch später in Aufnahme. Eigentlich ist die letztere Umgestaltung noch immer nicht als vollendet zu betrachten.

2. Bezeichnen wir mit s den Weg, mit t die Zeit, mit v die augenblickliche Geschwindigkeit und mit[φ]die Beschleunigung einer gleichförmig beschleunigten Bewegung, so kennen wir aus den Untersuchungen von Galilei und Huyghens die Gleichungen 〈…〉

Dieselben geben durch Multiplication mit der Masse m: 〈…〉 und wenn wir die bewegende Kraft m[φ]durch den Buchstaben p bezeichnen: 〈…〉

Die Gleichungen 1) enthalten alle die Grösse[φ]und253Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.jede derselben noch zwei der Grössen s, t, v, wie dies durch das Schema 〈…〉 veranschaulicht wird.

Die Gleichungen 2) enthalten die Grössen m, p, s, t, v, und zwar jede derselben m, p und noch zwei der drei Grössen s, t, v, nach dem Schema: 〈…〉

Die Gleichungen 2) können zur Beantwortung der verschiedensten Fragen über Bewegungen unter dem Einfluss constanter Kräfte benutzt werden. Will man z. B. die Geschwindigkeit v kennen, welche eine Masse m durch die Wirkung einer Kraft p in der Zeit t er - langt, so liefert die erste Gleichung 〈…〉 . Würde umgekehrt die Zeit gesucht, durch welche eine Masse m, mit der Geschwindigkeit v behaftet, sich einer Kraft p entgegen zu bewegen vermag, so folgt aus derselben Gleichung 〈…〉 . Fragt man hingegen nach der Wegstrecke, auf welche sich m mit v der Kraft p ent - gegen bewegt, so gibt die dritte Gleichung 〈…〉 . Die letztern beiden Fragen erläutern zugleich das Müssige des Descartes-Leibnitz’schen Streites über das Kraftmaass eines bewegten Körpers. Die Beschäftigung mit diesen Gleichungen befördert sehr die Sicher - heit in der Handhabung der mechanischen Begriffe. Stellt man sich z. B. die Frage, welche Kraft p einer gegebenen Masse m die Geschwindigkeit v ertheilt, so sieht man bald, dass zwischen m, p, v allein keine254Drittes Kapitel.Gleichung existirt, dass also s oder t hinzugenommen werden muss, dass also diese Frage eine unbestimmte ist. Derartige Unbestimmtheiten lernt man bald er - kennen und vermeiden. Den Weg, welchen eine Masse m unter dem Einflusse der Kraft p in der Zeit t zurück - legt, wenn sie mit der Anfangsgeschwindigkeit o sich bewegt, finden wir durch die zweite Gleichung 〈…〉 .

3. Mehrere der in den besprochenen Gleichungen ent - haltenen Rechnungsausdrücke haben besondere Namen erhalten. Schon Galilei spricht von der Kraft eines bewegten Körpers und nennt sie bald Moment , bald Impuls , bald Energie . Er betrachtet dieses Moment als proportional dem Product der Masse (oder des Gewichtes, da ein klarer Massenbegriff bei Galilei, eigentlich auch bei Descartes und Leibnitz, sich nicht vorfindet) und der Geschwindigkeit des Körpers. Diese Ansicht acceptirt Descartes, er setzt die Kraft eines be - wegten Körpers = mv, nennt dieselbe Quantität der Bewegung und behauptet, dass die Summe der Be - wegungsquantität in der Welt constant bleibt, so zwar, dass wenn ein Körper an Bewegungsquantität verliert, dieselbe dafür an andere Körper übergeht. Auch New - ton benutzt für den Ausdruck mv den Namen Bewegungs - quantität, welcher sich bis auf den heutigen Tag erhal - ten hat. Für den zweiten Ausdruck pt der ersten Gleichung hat Belanger (erst 1847) den Namen Antrieb der Kraft in Vorschlag gebracht. Die Ausdrücke der zweiten Gleichung sind nicht besonders benannt wor - den. Den Ausdruck mv 2 der dritten Gleichung hat Leibnitz (1695) lebendige Kraft genannt und er be - trachtet denselben Descartes gegenüber als das wahre Kraftmaass eines bewegten Körpers, während er den Druck eines ruhenden Körpers als todte Kraft bezeichnet. Coriolis hat es passender gefunden, dem Ausdruck ½mv2 den Namen lebendige Kraft zu geben. Belanger255Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.schlägt vor, mv 2 als lebendige Kraft, und ½mv2 als lebendige Potenz zu bezeichnen, wodurch Verwirrungen vermieden würden. Coriolis hat auch für ps den Na - men Arbeit verwendet. Poncelet hat diesen Gebrauch befestigt und das Kilogrammeter, das ist die Druck - wirkung eines Kilogrammgewichtes auf die Strecke eines Meters, als Arbeitseinheit angenommen.

4. Was die historischen Einzelheiten in Bezug auf die Begriffe Bewegungsquantität und lebendige Kraft betrifft, so wollen wir auf die Gedanken, durch welche Descartes und Leibnitz zu ihrer Meinung geführt wor - den sind, noch einen Blick werfen. In seinen (1644 er - schienenen) Principien der Philosophie II, 36, spricht sich Descartes in folgender Weise aus:

Nachdem so die Natur der Bewegung erkannt wor - den, ist deren Ursache zu betrachten, die eine zwei - fache ist. Zuerst die allgemeine und ursprüngliche, welche die gemeinsame Ursache aller Bewegung in der Welt ist; dann die besondere, von der einzelne Theile der Materie eine Bewegung erhalten, die sie früher nicht hatten. Die allgemeine Ursache kann offenbar keine andere als Gott sein, welcher die Materie zugleich mit der Bewegung und Ruhe im Anfang erschaffen hat, und der durch seinen gewöhnlichen Beistand so viel Be - wegung und Ruhe im Ganzen erhält, als er damals ge - schaffen hat. Denn wenn auch diese Bewegung nur ein Zustand an der bewegten Materie ist, so bildet sie doch eine feste und bestimmte Menge, die sehr wohl in der ganzen Welt zusammen die gleiche bleiben kann, wenn sie sich auch bei den einzelnen Theilen verändert, nämlich in der Art, dass bei der doppelt so schnellen Bewegung eines Theiles gegen den andern, und bei der doppelten Grösse dieses gegen den ersten man annimmt, dass in dem kleinen so viel Bewegung wie in dem grossen ist, und dass, um so viel als die Bewegung eines Theiles langsamer wird, um so viel müsse die Be - wegung eines andern ebenso grossen Theiles schneller256Drittes Kapitel.werden. Wir erkennen es auch als eine Vollkommen - heit in Gott, dass er nicht blos an sich selbst unver - änderlich ist, sondern dass er auch auf die möglichst feste und unveränderliche Weise wirkt, sodass mit Aus - nahme der Veränderungen, welche die klare Erfahrung oder die göttliche Offenbarung ergibt, und welche nach unserer Einsicht oder unserm Glauben ohne eine Ver - änderung in dem Schöpfer geschehen, wir keine weitern in seinen Werken annehmen dürfen, damit nicht daraus auf eine Unbeständigkeit in ihm selbst geschlossen werde. Deshalb ist es durchaus vernunftgemäss, anzunehmen, dass Gott, sowie er bei der Erschaffung der Materie ihren Theilen verschiedene Bewegungen zugetheilt hat, und wie er diese ganze Materie in derselben Art und in demselben Verhältniss, indem er sie geschaffen, er - hält, er auch immer dieselbe Menge von Bewegung in ihr erhält.

Das Verdienst, nach einem allgemeinern und aus - giebigern Gesichtspunkt in der Mechanik zuerst ge - sucht zu haben, kann Descartes nicht abgesprochen werden. Es ist dies die eigenthümliche Leistung des Philosophen, welche stets fruchtbar und anregend auf die Naturwissenschaft wirkt. Descartes leidet aber auch an allen gewöhnlichen Fehlern des Philosophen. Er vertraut ohne Umstände seinem eigenen Einfall. Er kümmert sich nicht um eine Prüfung desselben durch die Erfahrung. Es genügt ihm im Gegentheil ein Minimum von Erfahrung für ein Maximum von Fol - gerungen. Hierzu kommt noch das Verschwommene seiner Begriffe. Einen klaren Massenbegriff hat Des - cartes nicht. Es liegt eine gewisse Freiheit darin, wenn man sagt, Descartes habe mv als Bewegungsgrösse de - finirt, wenngleich die naturwissenschaftlichen Nachfolger Descartes, welche das Bedürfniss nach bestimmtem Be - griffen fühlten, diese Auffassung annahmen. Der grösste Fehler des Descartes aber, der seine Naturforschung verdirbt, ist der, dass ihm Sätze von vornherein als selbstverständlich und einleuchtend erscheinen, über257Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.welche nur die Erfahrung entscheiden kann. So wird z. B. in den beiden folgenden Paragraphen (37, 39) auch als selbstverständlich hingestellt, dass ein Körper seine Geschwindigkeit und Richtung beibehält. Die in §. 38 angeführten Erfahrungen hätten nicht als Be - stätigungen des a priori einleuchtenden Trägheitsgesetzes, sondern vielmehr als Grundlagen desselben dienen sollen.

Die Descartes’sche Auffassung wurde (1686) von Leib - nitz in den Actis eruditorum bekämpft, in einer kleinen Schrift, welche den Titel führt: Kurzer Beweis eines merkwürdigen Fehlers des Descartes und Anderer, in Beziehung auf das Naturgesetz, nach welchem, wie jene glauben, der Schöpfer immer dieselbe Quantität der Bewegung in der Natur zu erhalten sucht, durch welches aber die Wissenschaft der Mechanik ganz verdorben wird.

Bei im Gleichgewicht befindlichen Maschinen, bemerkt Leibnitz, seien die Lasten den Verschiebungsgeschwin - digkeiten umgekehrt proportionirt, und dadurch sei man auf den Gedanken gekommen, das Product aus dem Körper ( corpus , moles ) und der Geschwindigkeit als Kraftmaass zu betrachten. Descartes betrachte dieses Product als eine unveränderliche Grösse. Leibnitz meint aber, dass das erwähnte Kraftmaass an den Maschinen nur zufällig zutreffe. Das wahre Kraftmaass sei viel - mehr ein anderes, und auf dem Wege zu bestimmen, den Galilei und Huyghens eingeschlagen haben. Jeder Körper steigt vermöge seiner erlangten Fallgeschwindig - keit so hoch, als er herabgefallen ist. Nimmt man nun an, dass dieselbe Kraft erforderlich sei, um einen Kör - per m auf die Höhe 4h und einen Körper 4m auf die Höhe h zu erheben, so muss, weil im erstern Fall die erlangte Fallgeschwindigkeit nur doppelt so gross ist als in letzterm, das Product aus dem Körper und dem Quadrate der Geschwindigkeit als Kraftmaass ange - sehen werden.

In einer spätern Abhandlung (1695) kommt Leibnitz auf denselben Gegenstand zurück, er unterscheidetMach. 17258Drittes Kapitel.zwischen dem blossen Druck (der todten Kraft) und der Kraft des bewegten Körpers (der lebendigen Kraft), welche letztere aus der Summe der Druckimpulse her - vorgeht. Diese Impulse bringen zwar einen Impetus (mv) hervor, derselbe ist aber keineswegs das wahre Kraftmaass, welches vielmehr, weil die Ursache der Wirkung entsprechen muss (nach den obigen Be - trachtungen) durch mv 2 bestimmt ist. Leibnitz bemerkt ferner, dass nur mit der Annahme seines Kraft - maasses die Möglichkeit eines perpetuum mobile ausgeschlossen sei.

Einen eigentlichen Massenbegriff hat Leibnitz so we - nig als Descartes, er spricht vom Körper (corpus), von der Last (moles), von ungleich grossen Körpern des - selben specifischen Gewichtes u. s. w. Nur in der zweiten Abhandlung kommt einmal der Ausdruck massa vor, welcher wahrscheinlich Newton entlehnt ist. Will man jedoch mit den Leibnitz’schen Ausdrücken einen klaren Begriff verbinden, so muss man allerdings an die Masse denken, wie es die Nachfolger auch gethan haben. Im übrigen geht Leibnitz viel mehr nach natur - wissenschaftlicher Methode vor als Descartes. Doch werden zwei Dinge vermengt, die Frage nach dem Kraftmaass, und die Frage nach der Unveränder - lichkeit der Summen[Σ]mv und[Σ]mv 2. Beide haben eigentlich nichts miteinander zu schaffen. Was die erste Frage betrifft, so wissen wir schon, dass sowol das Des - cartes’sche als das Leibnitz’sche Kraftmaass oder vielmehr Maass der Wirkungsfähigkeit eines bewegten Körpers, jedes in einem andern Sinne seine Berechtigung hat. Beide Maasse sind aber, wie Leibnitz auch ganz wohl bemerkte, mit dem gewöhnlichen (Newton’schen) Kraft - maass nicht zu verwechseln.

In Bezug auf die zweite Frage haben die spätern Untersuchungen von Newton gelehrt, dass die Descar - tes’sche Summe[Σ]mv für freie Massensysteme, die von aussen keine Einwirkung erfahren, in der That unver - änderlich ist, und die Untersuchungen von Huyghens259Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.haben gezeigt, dass auch die Summe[Σ]mv 2 unveränder - lich bleibt, wenn nicht von Kräften verrichtete Arbeiten dieselbe ändern. Der durch Leibnitz angeregte Streit beruhte also mehrfach auf Misverständnissen und währte 57 Jahre lang bis zum Erscheinen von D’Alem - bert’s Traité de dynamique (1743). Auf die theo - logischen Ideen von Descartes und Leibnitz kommen wir noch zurück.

5. Die besprochenen drei Gleichungen, wenngleich sie sich nur auf geradlinige Bewegungen unter dem Einfluss constanter Kräfte beziehen, können doch als die Grundgleichungen der Mechanik angesehen werden. Bleibt die Bewegung geradlinig, werden jedoch die Kräfte veränderlich, so übergehen diese Gleichungen durch eine geringe fast selbstverständliche Modification in andere, die wir hier nur kurz anführen wollen, da mathematische Entwickelungen für diese Schrift nur Nebensache sind.

Aus der ersten Gleichung wird bei veränderlichen Kräften 〈…〉 , worin p die veränderliche Kraft, dt das Zeitelement der Wirkung,[]pdt die Summe aller Producte p·dt durch die Wirkungsdauer und C eine constante Grösse ist, welche den Werth von mv vor Beginn der Kraftwirkung darstellt.

Die zweite Gleichung übergeht in analoger Weise in 〈…〉 mit zwei sogenannten In - tegrationsconstanten.

Die dritte Gleichung ist zu ersetzen durch 〈…〉 .

Krummlinige Bewegungen kann man sich stets durch gleichzeitige Combination dreier geradlinigen Bewe -17*260Drittes Kapitel.gungen, am besten nach drei zueinander senkrechten Richtungen, hervorgebracht denken. Auch in diesem allgemeinsten Fall behalten die angeführten Gleichungen ihre Bedeutung für die Componenten der Bewegung.

6. Die Addition, Subtraction oder Gleichsetzung hat nur auf Grössen derselben Art angewandt einen ver - ständlichen Sinn. Man kann nicht Massen und Zeiten, oder Massen und Geschwindigkeiten addiren oder gleich - setzen, sondern nur Massen und Massen u. s. w. Wenn also eine Gleichung der Mechanik vorliegt, so entsteht die Frage, ob deren Glieder wirklich gleichartige Grössen sind, d. h. ob sie durch dieselbe Einheit ge - messen werden können oder ob, wie man zu sagen pflegt, die Gleichung homogen ist. Wir haben also eine Untersuchung anzustellen über die Einheiten der Grössen der Mechanik.

Die Wahl der Einheiten, welche selbstverständlich Grössen derselben Art sind wie die zu messenden Grössen, ist in vielen Fällen willkürlich. So wird eine willkürliche Masse als Masseneinheit, eine willkürliche Länge als Längeneinheit, eine willkürliche Zeit als Zeiteinheit benutzt. Die als Einheit benutzte Masse und Länge kann aufbewahrt, die Zeit durch Pendel - versuche und astronomische Beobachtungen jederzeit reproducirt werden. Eine Geschwindigkeitseinheit, eine Beschleunigungseinheit u. s. w. ist aber nicht aufzu - bewahren und jedenfalls viel schwerer zu reproduciren. Dafür hängen diese Grössen mit den willkürlichen Grund - einheiten Masse, Länge, Zeit so zusammen, dass sie leicht aus denselben abgeleitet werden können. Man nennt solche Einheiten abgeleitete oder absolute. Letz - terer Name rührt von Gauss her, welcher zuerst die magnetischen Maasse aus mechanischen ableitete und dadurch eine allgemeine Vergleichbarkeit der mag - netischen Messungen herbeiführte. Der Name hat also einen historischen Grund.

Als Einheit der Geschwindigkeit könnten wir die - jenige Geschwindigkeit wählen, durch welche z. B. 261Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.q Längeneinheiten in der Zeiteinheit zurückgelegt werden. Dann könnten wir aber die Beziehung zwischen der Zeit t, dem Wege s und der Geschwindigkeit v nicht in der ge - bräuchlichen einfachen Form s = vt schreiben, sondern müssten sie durch s = q·vt ersetzen. Definiren wiraber die Geschwindigkeitseinheit als diejenige Geschwindigkeit, durch welche die Längeneinheit in der Zeiteinheit zurück - gelegt wird, so können wir die Form s = vt beibehalten. Man wühlt die abgeleiteten Einheiten so, dass die ein - fachsten Beziehungen derselben untereinander hervor - gehen. So wurde z. B. als Flächen - und Volumeinheit immer das Quadrat und der Würfel über der Längen - einheit als Seite gebraucht.

Halten wir das angedeutete Princip fest, so nehmen wir also an, dass durch die Geschwindigkeitseinheit die Längeneinheit in der Zeiteinheit zurückgelegt wird, dass durch die Einheit der Beschleunigung die Geschwindig - keitseinheit in der Zeiteinheit zuwächst, dass durch die Krafteinheit der Masseneinheit die Einheit der Be - schleunigung ertheilt wird u. s. w.

Die abgeleiteten Einheiten hängen von den willkür - lichen Grundeinheiten ab, sie sind Functionen derselben. Wir wollen die einer abgeleiteten Einheit entsprechende Function die Dimension derselben nennen. Die Lehre von den Dimensionen ist von Fourier (1822) in seiner Wärmetheorie begründet worden. Bezeichnen wir eine Länge mit l, eine Zeit mit t, eine Masse mit m, so ist z. B. die Dimension einer Geschwindigkeit $$\frac {l}{t}$$ oder lt 1. Die folgende Tabelle ist hiernach ohne Schwierigkeit ver - ständlich:

  • Dimension
  • Geschwindigkeit v lt 1
  • Beschleunigung[φ] lt 2
  • Kraft p mlt 2
  • Bewegungsgrösse mv mlt 1
  • Antrieb pt mlt 1
262Drittes Kapitel.
  • Dimension
  • Arbeit ps ml2t 2
  • Lebendige Kraft 〈…〉
  • Trägheitsmoment 〈…〉
  • Statisches Moment D …ml’t 2.

Diese Tabelle zeigt sofort, dass die oben besprochenen Gleichungen in der That homogen sind, d. h. nur gleichartige Glieder enthalten. Jeder neue Ausdruck der Mechanik könnte in analoger Weise untersucht werden.

7. Die Kenntniss der Dimension einer Grösse ist nicht nur aus dem bereits angeführten Grunde wichtig, sondern noch aus einem andern. Wenn der Werth einer Grösse für gewisse Grundeinheiten bekannt ist, und man übergeht zu andern Grundeinheiten, so kann der neue Werth der Grösse mit Hülfe der Dimensionen derselben leicht angegeben werden. Die Dimension einer Beschleunigung, welche z. B. den Zahlenwerth[φ]hätte, ist lt 2. Uebergehen wir zu einer[λ]mal grössern Längeneinheit und zu einer[σ]mal grössern Zeiteinheit, so hat in lt 2 für l eine[Τ]mal kleinere und für t eine[τ]mal kleinere Zahl einzutreten. Der Zahlenwerth derselben Beschleunigung in Bezug auf die neuen Einheiten wird also sein 〈…〉 . Nehmen wir den Meter als Längeneinheit, die Secunde als Zeitein - heit, so beträgt z. B. die Fallbeschleunigung 9·81 oder, wie man die Dimension und die Grundmaasse zu - gleich bezeichnend zu schreiben pflegt: 9·81 $$\frac {Meter}{Secunde^2}$$ . Uebergehen wir nun zum Kilometer als Längeneinheit ([λ]= 1000), zur Minute als Zeiteinheit ([τ]= 60), so ist der Werth derselben Fallbeschleunigung $$\frac{60 \times 60}{1000}\times 9 \cdot 81$$ , oder $$35 \cdot 316 \frac {Kilometer}{ (Minute) ^2}$$ .

263Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.

8. Als Längeneinheit wird bereits sehr allgemein der Meter (die Länge des in Paris aufbewahrten Platin - maasstabes bei C., nahezu $$\frac {1}{10^7}$$ des Erdmeridianqua - dranten) als Zeiteinheit die Secunde (mittlerer Sonnen - zeit, zuweilen auch Sternzeit) verwendet. Mit Beachtung der obigen Bemerkungen wählt man als Geschwindigkeits - einheit diejenige Geschwindigkeit, durch welche 1 m in der Secunde zurückgelegt wird, und als Beschleu - nigungseinheit jene, welche einem Geschwindigkeitszu - wachs 1 in der Secunde entspricht.

Verwickelungen entstehen durch die Wahl der Massen - einheit und der Krafteinheit. Nimmt man als Massen - einheit die Masse des pariser Platinkilogrammgewichts - stückes (nahezu die Masse eines Kubikdecimeters Wasser von C.) an, so ist die Kraft, mit welcher dieses Stück von der Erde angezogen wird, nicht 1, sondern hat wegen p = m·g den Werth g, in Paris also 9·808, an andern Orten der Erde einen davon etwas verschiedenen Werth. Die Krafteinheit ist dann diejenige Kraft, welche in einer Secunde der Masse des Kilogrammstückes einen Geschwindigkeitszuwachs von 1m per Secunde er - theilt. Die Arbeitseinheit ist die Wirkung dieser Kraft - einheit auf 1 m Wegstrecke u. s. w. Dieses consequente metrische Maasssystem, in welchem also die Masse des Kilogrammstückes 1 gesetzt wird, nennt man gewöhnlich das absolute.

Das sogenannte terrestrische Maasssystem entsteht dadurch, dass man die Kraft, mit welcher das pariser Kilogrammstück in Paris von der Erde angezogen wird = 1 setzt. Will man dann die einfache Beziehung p = mg beibehalten, so ist die Masse dieses Kilo - grammstückes nicht = 1, sondern $$\frac{1}{g}$$ . Es haben dem nach erst g solche Kilogrammstücke oder 9·808 solche Kilogrammstücke zusammen die Masse 1. Dasselbe Kilogrammstück wird an einem andern Ort der Erde A,264Drittes Kapitel.mit der Fallbeschleunigung g′, nicht mit der Kraft 1, sondern mit $$\frac{g\prime}{g}$$ zur Erde gezogen. Demnach entsprechen $$\frac{g}{g\prime}$$ pariser Kilogrammstücke an diesem Orte der Kraft von 1 kg. Nehmen wir also g′ Stücke, welche an dem Orte A mit 1 Kilogramm drücken, so haben wir wieder g mal die Masse des pariser Kilogrammstückes oder die Masse 1. Hätten wir aber in A einen Körper, von welchem wir wüssten, dass er in Paris mit 1 kg an - gezogen wird, so müssten wir natürlich nicht g′, son - dern g solche Körper auf eine Masseneinheit rechnen.

Ein Körper, welcher in Paris (im luftleeren Raum) p Kilogramm wiegt, hat die Masse $$\frac {p}{g}$$ . Ein Körper, welcher in A den Druck p Kilogramm ausübt, enthält die Masse $$\frac{p}{g\prime}$$ . Der Unterschied zwischen g und g′ kann in vielen Fällen unbeachtet bleiben, muss jedoch berücksichtigt werden, wenn es auf Genauigkeit ankommt.

Die übrigen Einheiten in dem terrestrischen System werden natürlich durch die Wahl der Krafteinheit be - stimmt. So ist die Arbeit 1 diejenige, bei welcher die Kraft auf die Wegstrecke 1 wirkt, also das Kilogramm - meter. Die lebendige Kraft 1 ist diejenige, welche durch die Arbeit 1 hervorgebracht wird u. s. w.

Lassen wir einen Körper, der in Paris (im luft - leeren Raum) p Kilogramm wiegt, unter 45° Br. an der Meeresfläche (mit der Beschleunigung 9·806) fallen, so haben wir nach absolutem Maass die Masse p, auf welche 9·806 p Krafteinheiten wirken, nach terre - trischem Maass aber die Masse $$\frac{p}{9\cdot808}$$ , auf welche p $$\frac{9\cdot806}{9\cdot808}$$ Krafteinheiten wirken. Wird 1 m Fallraum zurückgelegt, so ist die geleistete Arbeit und die er - langte lebendige Kraft nach absolutem Maass 9·806·p,265Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.nach terrestrischem Maass aber $$\frac{9\cdot806}{9\cdot808}\cdot p$$ . Die Kraft - einheit des terrestrischen Systems ist rund etwa 10 mal grösser als jene des absoluten Systems, für die Massen - einheit gilt das umgekehrte Verhältniss. Eine gegebene Arbeit oder lebendige Kraft ist im terrestrischen System etwa 10 mal kleiner als im absoluten.

Bemerkt muss noch werden, dass statt des Kilo - gramms als Masseneinheit, des Meters als Längeneinheit, in England häufig Gramm und Centimeter, in Deutsch - land Milligramm und Millimeter gewählt werden. Die Umrechnung bietet nach den gegebenen Ausführungen keine Schwierigkeit. Der Umstand, dass man in der Mechanik und auch in andern Theilen der Physik, welche zur Mechanik in naher Beziehung stehen, nur mit drei Grundgrössen, mit Raumgrössen, Zeitgrössen und Massengrössen zu rechnen hat, führt eine nicht zu unterschätzende Vereinfachung und Erleichterung der Uebersicht mit sich.

3. Die Gesetze der Erhaltung der Quantität der Bewegung, der Erhaltung des Schwerpunktes und der Erhaltung der Flächen.

1. Wenngleich die Newton’schen Principien zur Be - handlung jeder Aufgabe der Mechanik ausreichen, so ist es doch zweckmässig, sich besondere Regeln für häufiger vorkommende Fälle zurechtzulegen, die uns gestatten, solche Aufgaben nach der Schablone zu be - handeln, ohne in die Einzelheiten derselben uns weiter zu vertiefen. Newton selbst und seine Nachfolger ha - ben mehrere solche Sätze entwickelt. Wir wollen zu - nächst die Newton’schen Lehren über frei beweg - liche Massensysteme betrachten.

2. Wenn zwei freie Massen m, m′ nach der Richtung ihrer Verbindungslinie durch von andern Massen her - rührende Kräfte ergriffen werden, so werden in der Zeit t die Geschwindigkeiten v, v′ erzeugt, und es besteht die266Drittes Kapitel.Gleichung (p+p′) t = mv+m′v′. Dieselbe folgt aus den Gleichungen pt = mv und p′t = m′v′. Die Summe mv+m′v′ nennen wir die Bewegungsquantität des Systems, und betrachten entgegengesetzt gerichtete Kräfte und Geschwindigkeiten als entgegengesetzt bezeichnet. Wenn nun die Massen m, m′ neben den äusseren Kräften p, p′ noch von innern Kräften er - griffen werden, d. h. von solchen, welche die Massen gegenseitig aufeinander ausüben, so sind diese Kräfte gleich und entgegengesetzt q, q. Die Summe der An - triebe ist (p+p′+q q) t = (p+p′) t, also dieselbe wie zuvor, und demnach auch die gesammte Bewegungs - quantität des Systems dieselbe. Die Bewegungsquantität des Systems wird demnach nur durch die äussern Kräfte bestimmt, d. h. durch solche, welche ausserhalb des Systems liegende Massen auf die Systemtheile aus - üben.

Wir denken uns mehrere freie Massen m, m′ m″ beliebig im Raume vertheilt, und von beliebig gerichteten äussern Kräften p, p′, p″ ergriffen, welche in der Zeit t an den Massen beziehungsweise die Geschwindig - keiten v, v′ v″ hervorbringen. Wir zerlegen alle Kräfte nach drei zueinander senkrechten Richtungen x, y, z und ebenso die Geschwindigkeiten. Die Summe der Antriebe nach der x-Richtung ist gleich der er - zeugten Bewegungsquantität nach der x-Richtung u. s. w. Denken wir uns zwischen den Massen m, m′, m″ noch paarweise gleiche und entgegengesetzte innere Kräfte q, q, r, r, s, s u. s. w., so geben diese nach jeder Richtung auch paarweise gleiche und ent - gegengesetzte Componenten, und haben demnach auf die Summe der Antriebe keinen Einfluss. Die Bewegungs - quantität wird also wieder nur durch die äussern Kräfte bestimmt. Dieses Gesetz heisst das Gesetz der Erhaltung der Quantität der Bewegung.

3. Eine andere Form desselben Satzes, die ebenfalls Newton gefunden hat, wird Gesetz der Erhaltung des Schwerpunktes genannt. Wir denken uns in A und B267Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.Fig. 149 zwei Massen 2m und m, welche in Wechselwir - kung, z. B. elektrischer Abstossung, stehen; der Schwer - punkt derselben liegt in S, wobei BS = 2AS. Die Beschleunigungen, welche sie sich gegenseitig ertheilen, sind entgegengesetzt, und verhalten sich verkehrt wie die Massen. Wenn also vermöge dieser Wirkung 2m den Weg AD zurücklegt, so legt m den Weg BC = 2AD zurück. Der Punkt S bleibt noch immer der Schwer - punkt, da CS = 2DS. Zwei Massen sind demnach nicht im Stande durch Wechselwirkung ihren gemein - samen Schwerpunkt zu verschieben. Betrachtet man mehrere irgendwie im Raume vertheilte Massen, so er - kennt man, weil zwei und zwei solcher Massen ihren Schwerpunkt nicht zu verschieben vermögen, dass auch der Schwerpunkt des ganzen Systems durch die Wechsel - wirkung der Massen nicht verschoben werden kann.

Wir denken uns ein System von Massen m, m′, m″ frei im Raume, welche von irgendwelchen äussern Kräften ergriffen sind. Wir beziehen diesel -

Fig. 149.

ben auf ein rechtwinkeliges Coordinatensystem, und nennen die Coordinaten beziehungsweise x, y, z, x′, y′, z′ u. s. w. Die Coordinaten des Schwerpunktes sind dann 〈…〉 in welchen Ausdrücken sich x, y, z, gleichförmig oder gleichförmig beschleunigt oder nach irgendeinem andern Gesetz ändern können, je nachdem die zugehörige Masse von keiner äussern Kraft, von einer constanten oder veränderlichen äussern Kraft ergriffen wird. Der Schwer - punkt wird sich in diesen Fällen verschieden bewegen, und kann im ersten Fall auch in Ruhe sein. Kommen nun innere Kräfte hinzu, welche zwischen je zwei Massen, z. B. m′ und m″, wirken, so gehen daraus ent -268Drittes Kapitel.gegengesetzte Verschiebungen w′, w″, nach der Richtung der Verbindungslinie hervor, sodass mit Rücksicht auf die Zeichen m′w′+m″w″ = o. Auch in Bezug auf die Componenten dieser Verschiebungen x1 und x2 wird die Gleichung gelten m′x1+m″x2 = o. Die innern Kräfte bringen also an den Ausdrücken für[ξ, η, ζ]nur solche Zusätze hervor, welche sich in denselben gegenseitig auf - heben. Die Bewegung des Schwerpunktes eines Sys - tems wird also nur durch die äussern Kräfte bestimmt.

Wollen wir die Beschleunigung des Systemschwer - punktes kennen, so haben wir auch wieder auf die Be - schleunigungen der Systemtheile zu achten. Es ist dann, wenn[φ],[φ],[φ] die Beschleunigungen von m, m′, m″ nach irgendeiner Richtung bedeuten, und[Ф]die Schwerpunktsbeschleunigung nach derselben Rich - tung heisst, 〈…〉 und wenn die Gesammtmasse 〈…〉 , 〈…〉 . Wir erhalten also die Beschleunigung des Schwerpunktes nach einer Richtung, wenn wir sämmtliche Kräfte nach derselben Richtung summiren und durch die Gesammtmasse dividiren. Der Schwer - punkt des Systems bewegt sich so, als ob alle Massen und alle Kräfte in demselben vereinigt wären. Sowie eine Masse ohne eine äussere Kraft keine Beschleunigung annimmt, so hat der Schwerpunkt eines Systems ohne äussere Kräfte keine Beschleunigung.

4. Einige Beispiele werden den Satz der Erhaltung des Schwerpunktes veranschaulichen. Wir denken uns ein Thier frei im Weltraume. Wenn das Thier einen Theil m seiner Masse nach einer Richtung bewegt, so rückt der Rest M in entgegengesetzter Richtung vor, so zwar, dass der Gesammtschwerpunkt an Ort und Stelle bleibt. Zieht das Thier die Masse m wieder zurück, so wird auch die Bewegung von M rückgängig. Das Thier ist nicht im Stande, ohne äussere Stützen269Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.oder Kräfte sich von der Stelle zu bewegen, oder die ihm von aussen aufgenöthigte Bewegung zu ändern.

Ein leicht (etwa auf Schienen) beweglicher Wagen A sei mit Steinen beladen. Ein auf demselben befind - licher Mann werfe einen Stein nach dem andern nach derselben Richtung hinaus. Dann kommt bei hinreichend kleiner Reibung der ganze Wagen in entgegengesetzter Richtung in Bewegung. Der Gesammtschwerpunkt (Wagen + Steine) bliebe, soweit die Bewegung nicht durch äussere Hindernisse vernichtet würde, an Ort und Stelle. Würde derselbe Mann von aussen Steine auf - nehmen, so käme der Wagen auch in Bewegung, jedoch nicht in demselben Maasse wie im vorigen Fall, wie durch das folgende Beispiel erläutert wird.

Ein Geschütz von der Masse M schleudert ein Ge - schoss von der Masse m mit der Geschwindigkeit v fort. Dann erhält M auch eine Geschwindigkeit V, so zwar, dass mit Rücksicht auf das Zeichen MV+mv = o. Dies erklärt den sogenannten Rückstoss. Hierbei ist V = $$\frac {m}{M}$$ v, also der Rückstoss bei gleichen Ge - schossgeschwindigkeiten desto unmerklicher, je grösser die Masse des Geschützes gegen jene des Geschosses. Setzen wir die Arbeit des Pulvers in allen Fällen = A, so bestimmen sich hierdurch die lebendigen Kräfte 〈…〉 , und da nach der obigen Gleichung die Summe der Bewegungsgrössen = o, so findet sich leicht 〈…〉 . Der Rückstoss verschwin - det also, wenn die Geschossmasse verschwindet, wobei aber von der Masse der Pulvergase abgesehen ist. Würde nun von dem Geschütz die Masse m nicht aus - gestossen, sondern eingesaugt, so würde der Rückstoss die entgegengesetzte Richtung haben. Derselbe hätte aber keine Zeit sichtbar zu werden, denn bevor noch ein270Drittes Kapitel.merklicher Weg zurückgelegt wäre, hätte m schon den Grund des Geschützrohres erreicht. Sobald aber M und m miteinander in starre Verbindung treten, gegen - einander relativ ruhen, muss auch absolute Ruhe ein - treten, weil der Gesammtschwerpunkt ebenfalls ruht. Aus demselben Grunde könnte beim Aufnehmen von Steinen in dem obigen Beispiele keine ausgiebige Be - wegung eintreten, weil beim Eintreten der starren Ver - bindung zwischen dem Wagen und den Steinen die er - zeugten entgegengesetzten Bewegungsgrössen wieder auf - gehoben würden. Ein Geschütz könnte beim Einsaugen eines Geschosses nur dann einen merklichen Rückstoss erhalten, wenn das eingesaugte Geschoss hindurch - fliegen könnte.

Der Körper einer frei aufgehängten, oder mit nicht genügender Reibung auf den Schienen ruhenden Loco - motive kommt, sobald die beträchtlichen Eisenmassen mit dem Kolben des Dampfcylinders in oscillirende Bewegung gerathen, nach dem Schwerpunktsgesetz in entgegengesetzte Oscillation, welche für den gleich - mässigen Gang sehr störend werden kann. Um diese Oscillation auszuschliessen, muss man dafür sorgen, dass die Bewegung der durch den Kolben getriebenen Eisenmassen durch die entgegengesetzte Bewegung an - derer Massen derart compensirt wird, dass der Ge - sammtschwerpunkt ohne Bewegung des Locomotiven - körpers an Ort und Stelle bleiben kann. Dies ge - schieht durch Anbringen von Eisenmassen an den Trieb - rädern der Locomotive.

Die hierher gehörigen Verhältnisse lassen sich sehr hübsch an dem Elektromotor von Page Fig. 150 erläutern. Wenn der Eisenkern in der Spule AB durch die innern Kräfte swischen Spule und Kern nach rechts rückt, bewegt sich der Motorkörper nach links, sobald derselbe leicht beweglich auf Rädchen rr ruht. Bringt man aber an einer Speiche des Schwungrades R ein passendes Laufgewicht a an, welches sich dem Eisen -271Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.kern stets entgegen bewegt, so kann das Rücken des Motorkörpers ganz zum Verschwinden gebracht werden.

Ueber die Bewegung der Theile einer platzenden Bombe ist uns nichts bekannt. Allein nach dem Schwerpunkts - gesetze ist es klar, dass von dem Luftwiderstand und den Hindernissen, auf welche etwa die einzelnen Theile treffen, abgesehen, der Gesammtschwerpunkt nach dem Platzen fortfährt, seine parabolische Wurfbahn zu be - schreiben.

5. Ein dem Schwerpunktsgesetz verwandter Satz, welcher für ein freies System gilt, ist der Satz der

Fig. 150.

Erhaltung der Flächen. Obwol Newton den Satz sozusagen in der Hand hatte, so ist derselbe doch erst viel später von Euler, D’Arcy und Daniel Bernoulli ausge - sprochen worden. Euler und Daniel Bernoulli fanden den Satz fast gleichzeitig (1746) bei Behandlung einer von Euler vorgelegten Aufgabe, betreffend die Bewegung von Kugeln in drehbaren Röhren, indem sie auf die Wir - kung und Gegenwirkung der Kugeln und Röhren achteten. D’Arcy (1747) knüpfte an Newton’s Untersuchungen an, und verallgemeinerte das von demselben zur Erklärung der Kepler’schen Gesetze benutzte Sectorengesetz.

Wir betrachten zwei in Wechselwirkung stehende272Drittes Kapitel.Massen m, m′. Dieselben legen vermöge ihrer Wechsel - wirkung allein die Wege AB, CD nach der Richtung der Verbindungslinie zurück. Nimmt man auf das Zeichen der Bewegungen Rücksicht, so ist m·AB+m′CD = o. Zieht man von irgendeinem Punkte O aus zu den be - wegten Massen Radienvectoren und betrachtet die in entgegengesetztem Sinne von denselben durchstrichenen Flächenräume als von entgegengesetztem Zeichen, so ist auch m·OAB+m′·OCD = o. Wenn zwei Massen in Wechselwirkung stehen, und man zieht von irgend -

Fig. 151.

einem Punkte aus zu denselben Radienvecto - ren, so ist infolge der Wechselwirkung die Summe der von den - selben durchstrichenen Flächenräume multipli - cirt mit den zugehö - rigen Massen = o. - ren die Massen auch von äussern Kräften ergriffen und würden vermöge dieser die Flächenräume OAE und OCF beschrieben, so gibt die Zusammen - wirkung der innern und äussern Kräfte (während einer sehr kleinen Zeit) die Flächenräume OAG nnd OCH. Nun folgt aber aus dem Varignon’schen Parallelogrammsatz, dass 〈…〉 d. h. die Summe der mit den zugehörigen Massen multiplicirten durchstrichenen Flächenräume wird durch die innern Kräfte nicht geändert.

Sind mehrere Massen vorhanden, so kann man von273Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.der Projection des ganzen Bewegungsvorganges auf eine gegebene Ebene für je zwei Massen dasselbe behaupten. Zieht man von einem Punkte aus nach den Massen eines Systems Radienvectoren, und projicirt die durchstrichenen Flächenräume auf eine gegebene Ebene, so ist die Summe dieser mit den zugehörigen Massen multiplicirten Flächen - räume von den innern Kräften unabhängig. Dies ist das Gesetz der Erhaltung der Flächen.

Wenn eine einzelne Masse ohne Kraftwirkung sich gleichförmig geradlinig bewegt, und man zieht von irgend - einem Punkte O aus einen Radiusvector nach derselben, so wächst der von demselben durchstrichene Flächen - raum proportional der Zeit. Dasselbe Gesetz gilt für[Σ]mf, wenn mehrere Massen sich ohne Kraftwirkung bewegen, wobei wir unter dem Summenausdruck die al - gebraische Summe aller Producte aus den Flächenräumen und den zugehörigen Massen verstehen, den wir kurz Flächensumme nennen wollen. Treten innere Kräfte zwischen den Massen des Systems ins Spiel, so wird dieses Verhältniss nicht geändert. Es bleibt auch dann noch bestehen, wenn äussere Kräfte hinzutreten, die sämmtlich gegen den festen Punkt O gerichtet sind, wie wir aus Newton’s Untersuchungen wissen.

Wirkt auf eine Masse eine äussere Kraft, so wächst der vom Radiusvector durchstrichene Flächenraum f nach dem Gesetz 〈…〉 mit der Zeit, wobei a von der beschleunigenden Kraft, b von der Anfangsge - schwindigkeit und c von der Anfangslage abhängt. Nach demselben Gesetz wächst die Summe[Σ]mf, wenn mehrere Massen durch äussere beschleunigende Kräfte ergriffen werden, solange diese als constant betrachtet werden können, was für hinreichend kurze Zeiten immer der Fall ist. Das Flächengesetz besteht in diesem Falle darin, dass auf das Wachsthum dieser Flächensumme die innern Kräfte des Systems keinen Einfluss üben.

Einen freien starren Körper können wir als ein System betrachten, dessen Theile durch innere KräfteMach. 18274Drittes Kapitel.in ihrer relativen Lage erhalten werden. Das Flächen - princip findet also auch in diesem Fall Anwendung. Ein einfaches Beispiel bietet die gleichförmige Rotation eines starren Körpers um eine seinen Schwerpunkt ent - haltende Axe. Nennen wir m einen Massentheil, r den Abstand desselben von der Axe und[α]die Winkelge - schwindigkeit, so ist für diesen Fall die in der Zeiteinheit durchstrichene Flächenraumsumme 〈…〉 also das Product aus dem Trägheitsmoment und der halben Winkelgeschwindigkeit. Dasselbe kann sich nur durch äussere Kräfte ändern.

6. Betrachten wir nun einige Beispiele zur Erläuterung des Flächengesetzes. Wenn zwei starre Körper K und K′ miteinander in Verbindung sind, und K geräth re - lativ gegen K′ durch innere Kräfte zwischen K und K′ in Drehung, so kommt sofort auch K′ in die entgegen - gesetzte Drehung. Durch die Drehung von K wächst nämlich eine Flächenraumsumme zu, welche nach dem Flächengesetz durch die entgegengesetzte Flächenraum - summe von K′ compensirt werden muss. Dies zeigt sich recht hübsch an einem beliebigen Elektromotor, wenn man denselben mit horizontal gestelltem Schwungrad an einer verticalen Axe frei drehbar befestigt. Die den Strom zuleitenden Drähte tauchen in zwei conaxiale an der Drehungsaxe angebrachte Quecksilberrinnen, sodass sie die Rotation nicht behindern. Man bindet den Motor - körper (K′) durch einen Faden an dem Stativ der Axe fest, und lässt den Strom wirken. Sobald das Schwungrad (K) von oben betrachtet, im Sinne des Uhrzeigers zu rotiren beginnt, spannt sich der Faden und der Motor - körper zeigt das Streben, die Gegendrehung auszu - führen, welche sofort auch lebhaft eintritt, wenn man den Faden abbrennt.

Der Motor ist in Bezug auf die Axendrehung ein freies System. Die Flächenraumsumme ist für den Fall der Ruhe = o. Kommt aber das Rad durch die innern elektromagnetischen Kräfte zwischen Anker und275Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.Eisenkern in Drehung, so wird die hierdurch entstehende Flächenraumsumme, weil die Gesammtsumme = o bleiben muss, durch die Gegendrehung des Motorkörpers

Fig. 152.

compensirt. Bringt man an dem Motorkörper einen Zeiger an, der durch eine elastische Feder in einer be - stimmten Lage erhalten wird, so kann die Drehung des Motorkörpers nicht eintreten. Jede Beschleunigung des18*276Drittes Kapitel.Rades im Sinne des Uhrzeigers (bei tieferm Eintauchen der Batterie) bringt aber einen Zeigerausschlag in ent - gegengesetztem Sinne mit sich, und jede Verzögerung den umgekehrten Ausschlag.

Eine schöne und eigenthümliche Erscheinung tritt auf, wenn man am frei drehbaren Motor den Strom unterbricht. Rad und Motor setzen zunächst ihre Gegen - bewegung fort. Bald wird aber die Wirkung der Reibung merklich, es tritt nach und nach relative Ruhe der Motor - theile gegeneinander ein. Hierbei sieht man nun die Bewegung des Motorkörpers langsamer werden, einen Augenblick innehalten, und schliesslich, wenn die rela - tive Ruhe eingetreten ist, den Sinn der ursprünglichen Radbewegung annehmen, also gänzlich umkehren. Der ganze Motor rotirt dann so, wie anfänglich das Rad sich bewegte. Die Erklärung der Erscheinung liegt nahe. Der Motor ist kein vollkommen freies System, er wird durch die Axenreibung behindert. An einem vollkommen freien System müsste die Flächenraumsumme, sobald die Theile wieder in relative Ruhe treten, so - fort wieder = o sein. Hier wirkt aber noch die Axen - reibung als äussere Kraft. Die Reibung an der Rad - axe vermindert die Flächenraumsumme des Rades und Körpers in gleicher Weise. Die Reibung an der Kör - peraxe vermindert aber nur die Flächenraumsumme des Körpers. Das Rad behält also eine überschüssige Flächenraumsumme, welche bei relativer Ruhe der Theile an dem ganzen Motor sichtbar wird. Der ganze Vor - gang bei Unterbrechung des Stromes bietet ein Bild desjenigen, welcher nach Voraussetzuug der Astronomen am Monde eingetreten ist. Die von der Erde erregte Flutwelle hat durch Reibung die Rotationsgeschwindig - keit des Mondes derart verkleinert, dass der Mondtag zur Dauer eines Monats angewachsen ist. Das Schwung - rad stellt die durch die Flut bewegte Flüssigkeits - masse vor.

Ein anderes Beispiel für das Flächengesetz bieten die Reactionsräder dar. Wenn durch das Rädchen277Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.Fig. 153 a Luft - oder Leuchtgas im Sinne der kurzen Pfeile ausströmt, so geräth das ganze Rädchen im Sinne des langen Pfeiles in Rotation. Fig. 153 b ist ein anderes einfaches Reactionsrädchen dargestellt, welches man erhält, indem man ein beiderseits verkorktes und entsprechend durchbohrtes Messingrohr rr auf ein mit einer Nadelspitze versehenes zweites Messingrohr R setzt, durch welches man Luft einblasen kann, die bei den Oeffnungen O, O′ entweicht.

Man könnte leicht glauben, dass beim Saugen an den Reactionsrädern die umgekehrte Bewegung eintreten müsste wie beim Blasen. Das geschieht jedoch im all - gemeinen nicht, und lässt sich auch leicht erklären. Die Luft, welche in die Speichen des Rades eingesaugt wird, muss sofort die Bewegung des Rades mitmachen, zu dem Rade in relative Ruhe treten, und die Flächen - raumsumme des ganzen Systems kann nur = o bleiben, indem das System in Ruhe bleibt. Beim Einsaugen findet in der Regel keine merkliche Rotation statt. Es besteht eben ein ähnliches Verhältniss, wie für den Rückstoss beim Einsaugen eines Geschosses durch ein Geschütz. Bringt man daher einen elastischen Ballon mit einem einzigen Ausführungsrohr an das Reactions - rädchen, wie dies in Fig. 153 a dargestellt ist, und drückt denselben periodisch, sodass dasselbe Luftquantum ab - wechselnd herausgeblasen und eingesaugt wird, so läuft das Rädchen lebhaft in demselben Sinn wie beim Blasen. Dies beruht einerseits darauf, dass die einge - saugte Luft in den Speichen die Bewegung der letztern mitmachen muss, und demnach keine Reactionsdrehung erzeugen kann, dann aber auch auf der Verschieden - heit der äussern Luftbewegung beim Blasen und Saugen. Beim Blasen strömt die Luft in Strahlen (mit einer Rotation) ab. Beim Saugen kommt die Luft ohne Ro - tation von allen Seiten herzu.

Die Richtigkeit dieser Erklärung lässt sich leicht darthun. Wenn man die untere Basis eines Hohlcylin - ders, z. B. einer geschlossenen Pappschachtel durch -278Drittes Kapitel.

Fig. 153 a.

Fig. 153 b.

279Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.bohrt, und den Cylinder auf die Nadelspitze der Röhre R setzt, nachdem man den Mantel in der durch Fig. 154 angedeuteten Weise aufgeschlitzt und verbogen hat, so dreht sich derselbe beim Blasen im Sinne des langen, beim Saugen im Sinne des kurzen Pfeiles. Die Luft kann nämlich in den Cy - linder eintretend hier ihre Rotation frei fortsetzen, wes - halb dieselbe auch durch eine Gegenrotation compensirt wird.

Fig. 154.

7. Auch der folgende Fall bietet ähnliche Verhältnisse dar. Wir denken uns ein Rohr Fig. 155 a, das geradlinig nach ab verläuft, dann unter einem rechten Win - kel nach bc abbiegt, den Kreis cdef beschreibt, dessen Ebene zu ab senkrecht steht und dessen Mittelpunkt in b liegt, dann nach fg und schliesslich die Gerade ab fortsetzend, nach gh verläuft. Das ganze Rohr ist um ah als Axe drehbar. Giesst man in dieses Rohr (wie dies Fig. 155 b andeutet) Flüssigkeit ein, welche nach cdef strömt,

Fig. 155 a.

Fig. 155 b.

280Drittes Kapitel.so dreht sich das Rohr sofort in dem Sinne fedc. Dieser Antrieb entfällt aber, sobald die Flüssigkeit den Punkt f erreicht hat und den Radius fg durchströmend die Bewegung desselben wieder mitmachen muss. Die Rotation des Rohres erlischt daher bald, wenn man einen constanten Flüssigkeitsstrom anwendet. Sowie aber der Flüssigkeitsstrom unterbrochen wird, ertheilt die durch den Radius fg abströmende Flüssigkeit dem Rohre einen Bewegungsimpuls im Sinne der eigenen Bewegung, nach cdef. Alle diese Erscheinungen sind nach dem Flächengesetz leicht zu verstehen.

Die Passatwinde, die Abweichung der Meeres - strömungen, der Flüsse, der Foucault’sche Pendelver - such u. s. w. können ebenfalls als Beispiele für das Flächengesetz betrachtet werden. Hübsch zeigt sich noch das Flächengesetz an Körpern von veränderlichem Trägheitsmoment. Rotirt ein Körper vom Trägheitsmo - ment[Θ]mit der Winkelgeschwindigkeit[α], und es wird durch innere Kräfte, z. B. Federn, das Trägheitsmoment in[Θ] verwandelt, so geht auch[α]in[α] über, wobei 〈…〉 , also 〈…〉 . Bei beträchtlicher Verklei - nerung des Trägheitsmomentes kann man eine bedeutende Vergrösserung der Winkelgeschwindigkeit erhalten. Das Princip liesse sich vielleicht statt des Foucault’schen Ver - fahrens zur Demonstration der Erdrotation anwenden.

Ein dem eben angegebenen Schema entsprechender Vorgang ist folgender. Man giesst einen Glastrichter mit vertical gestellter Axe rasch mit Flüssigkeit voll, jedoch so, dass der Strahl nicht nach der Axe ein - tritt, sondern die Seitenwand trifft. Dadurch entsteht eine langsame Rotation in der Flüssigkeit, die man je - doch nicht merkt, solange der Trichter voll ist. Zieht sich jedoch die Flüssigkeit in den Hals des Trichters zurück, so wird hierbei ihr Trägheitsmoment so ver - mindert, und ihre Winkelgeschwindigkeit so vermehrt, dass ein heftiger Wirbel mit einer axialen Vertiefung281Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.entsteht. Oft ist der ganze ausfliessende Flüssigkeits - strahl von einem axialen Luftfaden durchzogen.

8. Betrachtet man den besprochenen Schwerpunkts - und Flächensatz aufmerksam, so erkennt man in beiden nur für die Anwendung bequeme Ausdrucksweisen einer bekannten Eigenschaft mechanischer Vorgänge. Der Beschleunigung[φ]einer Masse m entspricht immer die Gegenbeschleunigung[φ] einer andern Masse m′, wobei mit Rücksicht auf das Zeichen 〈…〉 . Der Kraft m[φ]entspricht die gleiche Gegenkraft m′[φ]. Wenn die Massen m und 2m mit den Gegenbeschleu - nigungen 2[φ]und[φ]die Wege 2w und w zurücklegen, so bleibt hierbei ihr Schwerpunkt S unverrückt und die Flächensumme in Be - zug auf einen beliebigen Punkt O ist mit Rück - sicht auf das Zeichen 2m·f+m·2f = 0. Man erkennt durch diese ein - fache Darstellung, dass der Schwerpunktssatz dasselbe in Bezug auf Parallelcoordinaten

Fig. 156.

ausdrückt, was der Flächensatz in Bezug auf Polar - coordinaten sagt. Beide enthalten nur die That - sache der Reaction.

Man kann dem Schwerpunkt - und dem Flächensatz noch einen andern einfachen Sinn unterlegen. Sowie ein Körper ohne äussere Kräfte, also ohne die Hülfe eines andern Körpers seine gleichförmige Progressiv - bewegung oder Drehung nicht ändern kann, so kann auch ein Körpersystem, wie wir kurz (und nach den gegebenen Auseinandersetzungen allgemein verständlich) sagen wollen, seine mittlere Progressiv - oder Rotations - geschwindigkeit nicht ändern ohne die Hülfe eines andern Systems, auf welches sich das erstere sozusagen stützt und stemmt. Beide Sätze enthalten also einen verall - gemeinerten Ausdruck des Trägheitsgesetzes,282Drittes Kapitel.dessen Richtigkeit in dieser Form man nicht nur ein - sieht, sondern auch fühlt.

Dieses Gefühl ist durchaus nicht unwissenschaftlich oder gar schädlich. Wo es die begriffliche Einsicht nicht ersetzt, sondern neben derselben besteht, begrün - det es eigentlich erst den vollen Besitz der mechani - schen Thatsachen. Wir sind, wie anderwärts gezeigt worden ist, mit unserm ganzen Organismus selbst ein Stück Mechanik, welches tief in unser psychisches Le - ben eingreift. 1E. Mach, Grundlinien der Lehre von den Bewegungs - empfindungen. (Leipzig, Engelmann, 1875.)Niemand wird uns überreden, dass die Beachtung der mechanisch-physiologischen Vorgänge, der betreffenden Gefühle und Instincte mit der wissen - schaftlichen Mechanik nichts zu schaffen habe. Kennt man Sätze, wie den Schwerpunkts - und Flächensatz, nur in ihrer abstracten mathematischen Form, ohne sich mit den greifbaren einfachen Thatsachen beschäftigt zu haben, welche einerseits Anwendungen derselben dar - stellen, und andererseits zur Aufstellung eben dieser Sätze geführt haben, so kann man dieselben nur halb ver - stehen, und erkennt kaum die wirklichen Vorgänge als Beispiele der Theorie. Man befindet sich, wie jemand, der plötzlich auf einen Thurm gesetzt wurde, ohne die Gegend ringsumher bereist zu haben, und der daher die Bedeutung der gesehenen Objecte kaum zu würdigen weiss.

4. Die Gesetze des Stosses.

1. Die Gesetze des Stosses haben einerseits Anlass gegeben zur Aufstellung der wichtigsten Principien der Mechanik, und andererseits die ersten Beispiele für die Anwendung derartiger Principien geliefert. Schon ein Zeitgenosse Galilei’s, der prager Professor Marcus Marci (geb. 1595), hat in seiner Schrift De proportione motus (Prag 1639) einige Resultate seiner Untersuchungen über den Stoss veröffentlicht. Er wusste, dass ein Körper im elastischen Stoss auf einen gleichen ruhen - den treffend, seine Bewegung verliert, und dieselbe dem283Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.

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andern überträgt. Auch andere noch heute gültige Sätze stellt er auf, wenngleich nicht immer in genügen - der Schärfe und mit Falschem vermengt. Marcus Marci war ein merkwürdiger Mann. Er hat für seine Zeit sehr anerkennenswerthe Vorstellungen über die284Drittes Kapitel.Zusammensetzung der Bewegungen und Impulse . Bei Bildung dieser Vorstellungen schlägt er einen ähnlichen Weg ein wie später Roberval. Er spricht von theil - weise gleichen und entgegengesetzten, von voll ent - gegengesetzten Bewegungen, gibt Parallelogrammcon - structionen u. s. w., kann aber, obgleich er von einer beschleunigten Fallbewegung spricht, über den Kraft - begriff und demnach auch die Kraftzusammensetzung nicht zur vollen Klarheit gelangen. Trotzdem findet er den Galilei’schen Kreissehnensatz, einige Sätze über die Pendelbewegung, kennt die Centrifugalkraft u. s. w. Obgleich Galilei’s Discorsen ein Jahr zuvor erschienen waren, so kann man bei den damaligen durch den Dreissigjährigen Krieg herbeigeführten Verhältnissen in Mitteleuropa doch nicht annehmen, dass Marci dieselben gekannt habe. Nicht nur würden dadurch die vielen Unrichtigkeiten in Marci’s Buch ganz unverständlich, sondern es wäre dann erst aufzuklären, wie so Marci noch 1648 in einer Fortsetzung seiner Schrift hat in die Lage kommen können, den Kreissehnensatz gegen den Jesuiten Balthasar Conradus vertheidigen zu müssen. Eher könnte an unvollständige mündliche Mittheilun - gen über Galilei’s Untersuchungen gedacht werden. Nehmen wir hinzu, dass Marci auch der Newton’schen Entdeckung der Zusammensetzung des Lichtes sehr nahe war, so erkennen wir in ihm einen Mann von be - deutenden Anlagen. Seine Schriften sind ein würdiges und noch wenig beachtetes Object für Geschichtsforscher auf dem Gebiete der Physik. Trug Galilei auch als der klarste und der kräftigste Geist die Palme davon, so sehen wir doch aus derartigen Schriften, dass er mit seinem Denken und seiner Denkweise durchaus nicht so isolirt dastand, als man oft zu glauben geneigt ist.

2. Galilei selbst hat mehrere Versuche gemacht, die Gesetze des Stosses zu ermitteln, ohne dass ihm dies ganz gelungen wäre. Er beschäftigt sich namentlich mit der Kraft eines bewegten Körpers oder mit der Kraft des Stosses , wie er sich ausdrückt, und sucht285Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.dieselbe mit dem Druck eines ruhenden Gewichtes zu vergleichen, durch denselben zu messen. Zu diesem

Abbildung aus Marci, De proportione motus.

Zwecke unternimmt er auch einen äusserst sinnreichen Versuch, der in Folgendem besteht.

An ein Wassergefäss I mit verkorkter Bodenöffnung286Drittes Kapitel.ist mit Hülfe von Schnüren unterhalb ein zweites Ge - fäss II angehängt und das Ganze ist an einer äquili - brirten Wage befestigt. Wird der Kork aus der Boden - öffnung entfernt, so fällt die Flüssigkeit im Strahl aus dem Gefäss I in das Gefäss II herab. Ein Theil des ruhenden Gewichtes fällt aus, und wird durch eine Stosswirkung auf das Gefäss II ersetzt. Galilei er - wartete einen Ausschlag der Wage, durch welchen er die Stosswirkung mit Hülfe eines Ausgleichsgewichtes zu bestimmen hoffte. Er war einigermaassen überrascht,

Fig. 157.

keinen Ausschlag zu erhalten, ohne sich dieses Verhält - niss, wie es scheint, vollkommen aufklären zu können.

3. Heute ist natürlich diese Aufklärung nicht schwierig. Durch die Entfernung des Korkes entsteht einerseits eine Druckverminderung. Es fällt 1) das Gewicht des in der Luft hängenden Strahles aus, und ist 2) der Reactionsdruck des ausfliessenden Strahles auf das Ge - fäss I nach oben (welches sich wie ein Segner’sches Rad verhält) zu berücksichtigen. Andererseits tritt aber 3) eine Druckvermehrung ein durch die Wirkung des Strahles auf den Boden des Gefässes II. Bevor der erste Tropfen den Boden von II erreicht hat, haben287Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.wir nur mit einer Druckverminderung zu thun, die aber sofort compensirt wird, wenn der Apparat im vollen Gang ist. Dieser anfängliche Ausschlag war auch alles, was Galilei bemerken konnte. Wir denken uns den Apparat im Gang, bezeichnen die Flüssigkeitshöhe im Gefäss I mit h, die entsprechende Ausflussgeschwindig - keit mit v, den Abstand des Bodens von I von dem Flüssigkeitsspiegel in II mit k, die Geschwindigkeit des Strahles in diesem Spiegel mit w, die Fläche der Boden - öffnung mit a, die Schwerebeschleunigung mit g, das specifische Gewicht der Flüssigkeit mit s. Um die Post 1 zu bestimmen, bemerken wir, dass v der erlangten Fall - geschwindigkeit durch die Höhe h entspricht. Wir können uns einfach vorstellen, dass diese Fallbewegung auch noch durch b fortgesetzt wird. Die Fallzeit des Strahles von I nach II ist also die Fallzeit durch h+k weniger der Fallzeit durch k. Durch diese Zeit strömt ein Cylinder von der Basis a mit der Geschwindigkeit v aus. Die Post 1 oder das Gewicht des in der Luft hängenden Strahles beträgt demnach 〈…〉 as.

Zur Bestimmung der Post 2 verwenden wir die be - kannte Gleichung mv = pt. Setzen wir t = 1, so ist mv = p, d. h. der Reactionsdruck auf I nach oben ist gleich der in der Zeiteinheit dem Flüssigkeitsstrahl ertheilten Bewegungsgrösse. Wir wollen hier die Ge - wichtseinheit als Krafteinheit wählen, also das terrestri - sche Maasssystem benutzen. Wir erhalten für die Post 2 den Ausdruck 〈…〉 , wobei der geklammerte Ausdruck die in der Zeiteinheit austretende Masse be - deutet, oder 〈…〉

288Drittes Kapitel.

In analoger Weise finden wir den Druck q auf II 〈…〉

Die gesammte Druckveränderung ist nun: 〈…〉 〈…〉 oder gekürzt: 〈…〉 welche drei Posten sich vollständig heben, weshalb Galilei auch nothwendig ein negatives Resultat er - halten musste.

In Bezug auf die Post 2 müssen wir noch eine kurze Bemerkung hinzufügen. Man könnte meinen, der Druck auf die Bodenöffnung, welcher ausfällt, sei ahs und nicht 2ahs. Allein diese statische Auffassung wäre in diesem dynamischen Fall ganz unstatthaft. Die Ge - schwindigkeit v wird nicht augenblicklich durch die Schwere an den ausfliessenden Theilen erzeugt, sondern sie entspricht dem wechselseitigen Druck der ausfliessen - den und zurückbleibenden Theile, und der Druck kann nur aus der entwickelten Bewegungsgrösse bestimmt werden. Die fehlerhafte Einführung des Werthes ahs würde sich auch sofort durch Widersprüche verrathen.

Hätte Galilei weniger elegant experimentirt, so würde er unschwer den Druck eines continuirlichen Flüssig - keitsstrahles bestimmt haben. Allein die Wirkung eines momentanen Stosses hätte er, wie ihm alsbald klar wurde, niemals durch einen Druck aufheben können. Denken wir uns mit Galilei einen schweren Körper frei289Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.fallend, so nimmt seine Endgeschwindigkeit proportio - nal der Fallzeit zu. Selbst die kleinste Geschwindig - keit bedarf einer gewissen Zeit zum Entstehen (ein Satz, der noch von Mariotte bestritten wurde). Stellen wir uns einen Körper mit einer vertical aufwärts gerichteten Geschwindigkeit behaftet vor, so steigt er nach Maassgabe dieser Geschwindigkeit eine gewisse Zeit und folglich auch eine gewisse Wegstrecke aufwärts. Der schwerste Körper, mit der kleinsten Geschwindigkeit vertical auf - wärts behaftet, steigt, wenn auch noch so wenig, der Schwere entgegen. Wenn also ein noch so schwerer Körper durch einen noch so kleinen bewegten Körper von beliebig geringer Geschwindigkeit einen momentanen Stoss aufwärts erhält, der ihm die kleinste Geschwindig - keit ertheilt, so wird er gleichwol nachgeben und sich etwas aufwärts bewegen. Der kleinste Stoss vermag also den grössten Druck zu überwinden, oder wie Galilei sagt, die Kraft des Stosses ist gegen die Kraft des Druckes unendlichgross. Dieses Resultat, welches zuweilen auf eine Unklarheit Galilei’s bezogen wird, ist vielmehr ein glänzender Beweis seiner Verstandes - schärfe. Wir würden heute sagen, die Kraft des Stosses, das Moment, der Impuls, die Bewegungsgrösse mv ist eine Grösse von anderer Dimension als der Druck p. Die Dimension der erstern ist mlt 1, jene der letztern mlt 2. In der That verhält sich also der Druck zu dem Moment des Stosses, wie eine Linie zu einer Fläche. Der Druck ist p, das Stossmoment aber pt. Man kann ohne mathematische Terminologie kaum besser sprechen, als es Galilei gethan hat. Zugleich sehen wir jetzt, warum man den Stoss eines continuirlichen Flüssigkeitsstrahles wirklich durch einen Druck messen kann. Wir vergleichen eine per Secunde vernichtete Bewegungsgrösse mit einem per Secunde wirkenden Druck, also gleichartige Grössen von der Form pt.

4. Die erste ausführlichere Behandlung der Stossge - setze wurde im Jahre 1668 durch die Königliche Gesell - schaft zu London angeregt. Drei hervorragende PhysikerMach. 19290Drittes Kapitel.Wallis (26. November 1668), Wren (17. December 1668), und Huyghens (4. Januar 1669) entsprachen dem Wunsche der Gesellschaft durch Vorlage von Arbeiten, in welchen sie in voneinander unabhängiger Weise (jedoch ohne Ableitungen) die Stossgesetze darlegten. Wallis behan - delte nur den Stoss unelastischer, Wren und Huyghens nur den Stoss elastischer Körper. Wren hat seine Sätze, welche im Wesen mit den Huyghens’schen über - einstimmen, vor der Veröffentlichung durch Versuche geprüft. Diese Versuche sind es, auf welche sich New - ton bei Aufstellung seiner Principien bezieht. Diesel - ben Versuche wurden auch bald darauf in erweiterter Form von Mariotte in einer besondern Schrift ( Sur le choc des corps ) beschrieben. Mariotte hat auch den Apparat angegeben, welcher noch gegenwärtig in den physikalischen Sammlungen unter dem Namen Stoss - maschine geführt wird.

Wallis geht von dem Grundsatze aus, dass das Mo - ment, das Product aus der Masse (Pondus) und der Ge - schwindigkeit (Celeritas), bei dem Stosse maassgebend sei. Durch dieses Moment wird die Kraft des Stosses be - stimmt. Stossen zwei (unelastische) Körper mit gleichen Momenten aufeinander, so besteht nach dem Stoss Ruhe. Bei ungleichen Momenten ergibt die Differenz der Mo - mente das Moment nach dem Stosse. Dividirt man dieses Moment durch die Summe der Massen, so erhält man die Geschwindigkeit der Bewegung nach dem Stosse. Wallis hat später seine Lehre vom Stosse in einer an - dern Schrift ( Mechanica sive de motu , London 1671) vorgetragen. Sämmtliche Sätze lassen sich in die jetzt gebräuchliche Formel 〈…〉 zusammenfassen, in welcher m, m′ die Massen, v, v′ deren Geschwindig - keiten vor dem Stosse und u die Geschwindigkeit nach dem Stosse bedeutet.

5. Die Gedanken, welche Huyghens geleitet haben, ergeben sich aus dessen posthumer Schrift De motu corporum ex percussione (1703). Wir wollen dieselben291Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.etwas näher in Augenschein nehmen. Die Voraussetzungen, von welchen Huyghens ausgeht, sind 1) das Gesetz der Trägheit; 2) dass elastische Körper gleicher Masse, welche mit gleichen entgegengesetzten Geschwindigkeiten aufeinander treffen, mit eben denselben Geschwindig - keiten sich trennen; 3) dass alle Geschwindigkeiten nur relativ geschätzt werden; 4) dass ein grösserer Körper, der an einen kleinern ruhenden stösst, diesem etwas an Geschwindigkeit mittheilt und selbst etwas von der seinigen verliert, und endlich 5) dass, wenn der eine von den stossenden Körpern seine Geschwindigkeit beibehält, dies auch bei dem andern stattfindet.

Wir denken uns zunächst mit Huyghens zwei gleiche elastische Massen, welche mit gleichen entgegengesetz -

Fig. 158.

Fig. 159.

Abbildung aus Huyghens, De percussione.

ten Geschwindigkeiten v aufeinander treffen. Nach dem Stosse prallen sie mit ebendenselben Geschwindig - keiten voneinander ab. Huyghens hat recht, diesen Fall nicht abzuleiten, sondern vorauszusetzen. Dass es elastische Körper gibt, welche nach dem Stosse ihre Form wiederherstellen, dass hierbei keine merk -19*292Drittes Kapitel.liche lebendige Kraft verloren geht, kann nur die Erfahrung lehren. Huyghens denkt sich nun den eben beschriebenen Vorgang auf einem Kahn statt - findend, welcher sich selbst mit der Geschwindigkeit v bewegt. Für den Beobachter im Kahn besteht dann der vorige Fall fort, während für den Beobachter am Ufer die Geschwindigkeiten der Kugeln beziehungs - weise 2v und o vor dem Stosse, o und 2v nach dem Stosse werden. Ein elastischer Körper überträgt also, an einen andern ruhenden von gleicher Masse stossend, seine ganze Geschwindigkeit, und bleibt selbst nach dem Stosse in Ruhe. Gibt man dem Kahn die beliebige Geschwindigkeit u, so sind für den Beobachter am Ufer die Geschwindigkeiten vor dem Stosse beziehungsweise u+v und u v, nach dem Stosse u v und u+v. Da u+v und u v ganz beliebige Werthe haben können, so lässt sich behaupten, dass gleiche elastische Massen im Stosse ihre Geschwindigkeiten tauschen.

Fig. 160.

Der grösste ruhende Körper wird durch den kleinsten stossenden Kör - per in Bewegung gesetzt, wie schon Galilei ausgeführt hat. Huyghens zeigt nun, dass die Annäherung vor dem Stosse und die Entfernung nach dem Stosse mit derselben relativen Geschwindigkeit stattfindet. Ein Körper m stösst an einen ruhenden von der Masse M, welchem er im Stosse die noch unbestimmte Geschwindigkeit w ertheilt. Huyghens nimmt zum Nachweis des Satzes an, dass der Vorgang auf einem Kahn stattfindet, welcher sich mit der Geschwindigkeit $$\frac {w}{2}$$ von M gegen m bewegt. Die Anfangsgeschwindig - keiten sind dann v $$\frac {w}{2}$$ und $$\frac {w}{2}$$ , die Endgeschwin - digkeiten x und + $$\frac {w}{2}$$ . Da nun M den Werth seiner Geschwindigkeit nicht geändert hat, sondern nur das293Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.Zeichen, so muss, wenn beim elastischen Stoss keine lebendige Kraft verloren geht, auch m nur das Zeichen der Geschwindigkeit ändern. Demnach sind die End - geschwindigkeiten (v $$\frac {w}{2}$$ ) und + $$\frac {w}{2}$$ . In der That ist also die relative Annäherungsgeschwindigkeit vor dem Stosse gleich der relativen Trennungsgeschwindig - keit nach dem Stosse. Was immer für eine Geschwin - digkeitsänderung des einen Körpers stattfindet, stets wird man durch Fiction einer Schiffbewegung den Geschwindigkeitswerth vor und nach dem Stosse, vom Zeichen abgesehen, gleich halten können. Der Satz gilt also allgemein.

Wenn zwei Massen M und m mit Geschwindigkeiten V und v zusammenstossen, welche den Massen verkehrt proportionirt sind, so prallt M mit der Geschwin - digkeit V und m mit v ab. Gesetzt es seien die Ge - schwindigkeiten nach dem Stosse V1 und v1, so bleibt doch nach dem vorigen Satze V+v = V1+v1 und nach dem Satz der lebendigen Kräfte 〈…〉 Nehmen wir nun v1 = v+w, so ist nothwendig V1 = V w, dann wird aber die Summe 〈…〉

Die Gleichheit kann nur hergestellt werden, wenn w = o gesetzt wird, womit der erwähnte Satz begründet ist. Huyghens weist dies nach durch constructive Ver - gleichung der möglichen Steighöhen der Körper vor und nach dem Stosse. Sind die Stossgeschwindigkeiten nicht den Massen verkehrt proportional, so kann dieses Verhältniss durch Fiction einer passenden Kahnbewegung294Drittes Kapitel.hergestellt werden, und der Satz schliesst demnach jeden beliebigen Fall ein.

Die Erhaltung der lebendigen Kraft beim Stoss spricht Huyghens in einem der letzten Sätze (11) aus, welchen er auch nachträglich der londoner Gesellschaft einge - sandt hat, obwol der Satz unverkennbar schon den frühern Sätzen zu Grunde liegt.

6. Wenn man an das Studium eines Vorganges A kommt, so kann man entweder die Elemente desselben schon von einem andern Vorgang B her kennen; dann erscheint das Studium von A als eine Anwendung schon bekannter Principien. Man kann aber auch mit A die Untersuchung beginnen, und dieselben Principien, da ja die Natur durchaus gleichförmig ist, an dem Vor - gang A erst gewinnen. Da die Stossvorgänge gleich - zeitig mit andern mechanischen Vorgängen untersucht worden sind, so haben in der That beide Erkenntniss - wege sich dargeboten.

Zunächst können wir uns überzeugen, dass man die Stossvorgänge mit Hülfe der Newton’schen Principien, zu deren Auffindung zwar das Studium des Stosses bei - getragen hat, die aber nicht auf dieser Grundlage allein stehen, und mit Hülfe eines Minimums von neuen Erfahrungen erledigen kann. Die neuen Erfahrungen, welche ausserhalb der Newton’schen Principien stehen, lehren nur, dass es unelastische und elastische Kör - per gibt. Die unelastischen Körper ändern durch Druck ihre Form, ohne dieselbe wiederherzustellen; bei den elastischen Körpern entspricht einer Körperform immer ein bestimmtes Drucksystem, so zwar, dass jede Formveränderung mit einer Druckänderung verbunden ist und umgekehrt. Die elastischen Körper stellen ihre Form wieder her. Die formändernden Kräfte der Kör - per werden erst bei Berührung derselben wirksam.

Betrachten wir zwei unelastische Massen M und m, die sich beziehungsweise mit den Geschwindigkeitzn V und v bewegen. Berühren sie sich mit diesen ungleichen Geschwindigkeiten, so treten in dem System M, m die295Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.innern formändernden Kräfte auf. Diese Kräfte än - dern die Bewegungsquantität nicht, sie verschieben auch den Schwerpunkt des Systems nicht. Mit der Herstellung gleicher Geschwindigkeiten hören die Formänderungen auf, und es erlöschen bei unelastischen Körpern die formändernden Kräfte. Hieraus folgt für die ge - meinsame Bewegungsgeschwindigkeit u nach dem Stosse Mu+mu = MV+mv oder 〈…〉 , die Regel von Wallis.

Nun nehmen wir an, wir beobachten die Stossvorgänge, ohne noch die Newton’schen Principien zu kennen. Wir bemerken sehr bald, dass beim Stoss nicht nur die Ge - schwindigkeit, sondern noch ein anderes Körpermerk - mal (das Gewicht, die Last, die Masse, pondus, moles, massa) maassgebend ist. Sobald wir das merken, wird es leicht, den einfachsten Fall zu erledigen. Wenn zwei Körper gleichen Gewichtes oder gleicher Masse mit gleichen entgegenge -

Fig. 161.

setzten Geschwindigkeiten zusammentreffen, wenn die - selben ferner nach dem Stosse sich nicht mehr trennen, sondern eine gemeinsame Geschwindigkeit erhalten, so ist die einzige eindeutig bestimmte Geschwindigkeit nach dem Stosse die Geschwindigkeit o. Bemerken wir, dass nur die Geschwindigkeitsdifferenz, also nur die Relativgeschwindigkeit den Stossvorgang bedingt, so erkennen wir durch eine fingirte Bewegung der Um - gebung, welche nach unserer Erfahrung auf die Sache keinen Einfluss hat, sehr leicht noch andere Fälle. Für gleiche unelastische Massen mit der Geschwindig - keit v und o, oder v und v′, wird die Geschwindigkeit nach dem Stosse $$\frac {v}{2}$$ oder 〈…〉 . Natürlich können wir aber diese Ueberlegung nur anstellen, wenn uns die Er - fahrung gelehrt hat, worauf es ankommt.

Wollen wir zu ungleichen Massen übergehen, so296Drittes Kapitel.müssen wir aus der Erfahrung nicht nur wissen, dass die Masse überhaupt von Belang ist, sondern auch in welcher Weise sie Einfluss hat. Stossen z. B. zwei Körper von den Massen 1 und 3 mit den Geschwindig - keiten v und V zusammen, so könnte man etwa folgende Ueberlegung anstellen. Wir schneiden aus der Masse 3 die Masse 1 heraus, und lassen zuerst die Massen 1 und 1 zusammenstossen; die resultirende Geschwindig - keit ist 〈…〉 . Nun haben noch die Massen 1+1 = 2 und 2 die Geschwindigkeiten 〈…〉 und V auszu - gleichen, was nach demselben Princip ergibt 〈…〉 .

Betrachten wir allgemeiner die Massen m und m′,

Fig. 162.

Fig. 163.

die wir Fig. 163 als horizontale denselben proportionale Linien darstellen, mit den Geschwindigkeiten v und v′, die wir als Ordinaten zu den zugehörigen Massentheilen auftragen. Wenn m < m′, so schneiden wir von m′ zu - nächst ein Stück m ab. Der Ausgleich zwischen m und m gibt die Masse 2m mit der Geschwindigkeit 〈…〉 . Die punktirte Linie deutet dieses Verhältniss an. Mit dem Rest m′ m verfahren wir ähnlich, wir schneiden von 2m wieder ein Stück m m′ ab, nun erhalten wir die Masse 2m (m m′) mit297Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.der Geschwindigkeit 〈…〉 und 2 (m m′) mit der Geschwindigkeit 〈…〉 . In dieser Art können wir fortfahren, bis wir die für die ganze Masse m+m′ dieselbe Geschwindigkeit u erhalten haben. Das con - structive in der Figur dargestellte Verfahren zeigt sehr deutlich, dass hierbei die Flächengleichung besteht (m+m′) ·u = mv+m′v′. Unschwer erkennen wir aber, dass wir die ganze Ueberlegung nur anstellen können, wenn uns schon durch irgendwelche Er - fahrungen die Summe mv+m′v′, also die Form des Einflusses von m und v, als maassgebend nahe gelegt worden ist. Sieht man von den Newton’schen Principien ab, so sind eben andere specifische Erfahrungen über die Bedeutung von mv, welche jene Principien als gleichwerthig ersetzen, nicht zu entbehren.

7. Auch der Stoss elastischer Massen kann nach den Newton’schen Principien erledigt werden. Man braucht nur zu bemerken, dass der Formänderung der elas - tischen Körper formherstellende Kräfte entspringen welche an die Formänderung genau gebunden sind. Auch bei der Berührung von Körpern ungleicher Geschwindig - keit entstehen geschwindigkeitsausgleichende Kräfte, wo - rauf die sogenannte Undurchdringlichkeit beruht. Treffen sich zwei elastische Massen M, m mit den Geschwin - digkeiten C, c, so tritt eine Formänderung ein, die erst beendigt ist, wenn die Geschwindigkeiten gleich geworden sind. In diesem Augenblick ist die gemein - same Geschwindigkeit, weil wir mit innern Kräften zu thun haben, also die Bewegungsquantität erhalten bleibt, und die Schwerpunktsbewegung nicht geändert wird 〈…〉

Elastische Körper stellen ihre Form wieder her, und bei vollkommen elastischen Körpern treten dieselben298Drittes Kapitel.Kräfte (durch dieselben Zeit - und Wegelemente) nur in umgekehrter Folge nochmals in Wirksamkeit. Deshalb erleidet (wenn etwa m von M eingeholt wurde) M noch - mals den Geschwindigkeitsverlust C u, und m noch - mals den Geschwindigkeitsgewinn u c. Darnach er - halten wir für die Geschwindigkeiten V, v nach dem Stosse die Ausdrücke V = 2u C und v = 2u c, oder 〈…〉 , 〈…〉 Setzen wir in diesen Formeln M = m, so folgt V = c und v = C, also bei gleichen Massen Austausch der Geschwindigkeiten. Da für den Specialfall 〈…〉 oder MC+mc = o auch u = o ist, so folgt V = 2u C = C und v = 2u c = c, d. h. in diesem Fall prallen die Massen mit denselben (nur entgegen - gesetzt gerichteten) Geschwindigkeiten ab, mit welchen sie einander entgegenkommen. Die Annäherung zweier Massen M, m mit den Geschwindigkeiten C, c, welche in derselben Richtung positiv gezählt werden, findet mit der Geschwindigkeit C c statt, die Entfernung mit V v. Es ergibt sich nun aus V = 2u C, v = 2u c sofort V v = (C c), also die Relativgeschwin - digkeit für die Annäherung und Entfernung gleich. Durch Verwendung der Ausdrücke V = 2u C und v = 2u c findet man auch sehr leicht die beiden Sätze MV+mv = MC+mc und MV2+mv2 = MC2+mc2, also die Bewegungsquantität vor und nach dem Stosse (in derselben Richtung geschätzt) bleibt gleich, und die Summe der lebendigen Kräfte vor und nach dem Stosse bleibt ebenfalls gleich. Somit sind sämmtliche Huyghens - sche Sätze vom Newton’schen Standpunkte aus gewonnen.

8. Betrachten wir die Stossgesetze vom Huyghens - schen Standpunkte aus, so haben wir zunächst Folgen - des zu überlegen. Die Steighöhe des Schwerpunktes,299Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.welche ein System von Massen erreichen kann, ist durch die lebendige Kraft 〈…〉 gegeben. Immer, wenn eine Arbeit geleistet wird, indem die Massen den Kräften folgen, wird diese Summe um einen der geleisteten Ar - beit gleichen Betrag vermehrt. Dagegen findet immer, wenn das System sich den Kräften entgegen bewegt, wenn dasselbe, wie wir kurz sagen wollen, eine Arbeit erleidet, eine Verminderung dieser Summe um den Betrag der erlittenen Arbeit statt. Solange sich also die algebraische Summe der erlittenen und geleisteten Arbeiten nicht ändert, es mögen sonst beliebige Ver - änderungen vorgehen, bleibt die Summe 〈…〉 eben - falls unverändert. Indem nun Huyghens diese bei sei - ner Pendeluntersuchung gefundene Eigenschaft der Körpersysteme auch beim Stoss als bestehend ansah, musste er sofort bemerken, dass die Summe der lebendigen Kräfte vor Beginn und nach Beendigung des Stosses die - selbe sei. Denn bei der gegenseitigen Formänderung der Körper erleidet das Körpersystem dieselbe Arbeit, die es, wenn die Formänderung rückgängig wird, leistet, wenn nur die Körper Kräfte entwickeln, welche durch deren Form vollkommen bestimmt sind, wenn sie mit denselben Kräften ihre Form herstellen, welche bei der Formänderung aufgewandt wurden. Dass letzteres stattfindet, kann nur eine Specialerfahrung lehren. Es besteht dies Gesetz auch nur für die sogenannten voll - kommen elastischen Körper.

Von diesem Gesichtspunkte aus ergeben sich die meisten Huyghens’schen Stossgesetze sofort. Gleiche Massen, welche mit gleichen entgegengesetzten Geschwindigkeiten aufeinander treffen, prallen mit denselben Geschwindig - keiten ab. Die Geschwindigkeiten sind nur dann ein - deutig bestimmt, wenn sie gleich sind, und sie ent - sprechen dem Satz der lebendigen Kräfte nur, wenn sie vor und nach dem Stosse dieselben sind. Ferner ist klar, dass wenn die eine der beiden ungleichen Massen beim Stoss nur das Zeichen und nicht die Grösse der Geschwindigkeit ändert, dies auch bei der300Drittes Kapitel.andern Masse zutrifft. Dann ist aber die relative Ent - fernungsgeschwindigkeit nach dem Stosse gleich der An - näherungsgeschwindigkeit vor dem Stosse. Jeder be - liebige Fall kann auf diesen zurückgeführt werden. Es seien c und c′ die der Grösse und dem Zeichen nach beliebigen Geschwindigkeiten der Masse m vor und nach dem Stosse. Wir nehmen an, das ganze System erhalte eine Geschwindigkeit u von der Grösse, dass u+c = (u+c′) oder 〈…〉 . Man kann also eine solche Transportgeschwindigkeit des Systems immer finden, durch welche die Geschwindigkeit der einen Masse nur ihr Zeichen wechselt, und somit gilt der Satz be - züglich der Annäherungs - und Entfernungsgeschwindig - keiten allgemein.

Da Huyghens eigenthümlicher Gedankenkreis nicht ganz abgeschlossen ist, so wird er dazu gedrängt, wo die Geschwindigkeitsverhältnisse der stossenden Massen nicht von vornherein bekannt sind, gewisse Anschauun - gen dem Galilei-Newton’schen Gedankenkreise zu ent - lehnen, wie dies schon früher angedeutet wurde. Eine solche Entlehnung der Begriffe Masse und Bewegungs - quantität liegt, wenn auch nicht offen ausgesprochen, in dem Satze, nach welchem die Geschwindigkeit jeder stossenden Masse nur das Zeichen wechselt, wenn vor dem Stosse 〈…〉 . Sich auf seinen eigenthüm - lichen Standpunkt beschränkend, würde Huyghens kaum den einfachen Satz gefunden haben, wenngleich er den gefundenen in seiner Weise abzuleiten vermochte. In diesem Fall ist zunächst, wegen der gleichen und ent - gegengesetzten Bewegungsquantitäten, die Ausgleichs - geschwindigkeit nach vollendeter Formänderung u = o. Wird die Formänderung rückgängig, und dieselbe Ar - beit geleistet, welche das System zuvor erlitten hat, so werden dieselben Geschwindigkeiten mit verkehrtem Zeichen wiederhergestellt.

301Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.

Dieser Specialfall stellt zugleich den allgemeinen dar, wenn man sich das ganze System noch mit einer Transport geschwindigkeit behaftet denkt. Die stossen - den Massen seien in der Figur durch M = BC und m = AC, die zugehörigen Geschwindigkeiten durch C = AD und c = BE dargestellt. Wir ziehen das Perpendikel CF auf AB, und durch F zu AB die Parallele IK. Dann ist 〈…〉 . Lässt man also die Massen M und m mit den Geschwindigkeiten ID und KE gegeneinanderstossen, während man dem ganzen System zugleich die Geschwindigkeit 〈…〉 ertheilt, so sieht der mit der Geschwindigkeit u fort - schreitende Beobachter den Specialfall, der ruhende Beobachter den allgemeinen Fall mit beliebigen Geschwin - digkeiten vorgehen. Die oben abgeleiteten allgemeinen Stoss - formeln ergeben sich aus die -

Fig. 164.

ser Anschauung sofort. Wir finden 〈…〉 〈…〉

Der erfolgreichen Huyghens’schen Methode der fingir - ten Bewegungen liegt die einfache Bemerkung zu Grunde, dass Körper ohne Geschwindigkeitsdifferenz durch Stoss nicht aufeinander wirken. Alle Stosskräfte sind durch Geschwindigkeitsdifferenzen bedingt (sowie alle Wärmewirkungen durch Temperaturdifferenzen). Da302Drittes Kapitel.nun alle Kräfte nicht Geschwindigkeiten, sondern nur Geschwindigkeitsänderungen, also wieder nur Geschwin - digkeitsdifferenzen bestimmen, so kommt es also beim Stoss immer nur auf Geschwindigkeitsdifferenzen an. Gegen welche Körper man die Geschwindigkeiten schätzt, ist gleichgültig. Thatsächlich stellen sich viele Stoss - fälle, welche uns bei Mangel an Uebung als verschiedene Fälle erscheinen, bei genauer Untersuchung als ein Fall dar.

Auch die Wirkungsfähigkeit eines bewegten Körpers, ob man dieselbe nun (mit Rücksicht auf die Wirkungs - zeit) durch die Bewegungsgrösse oder (mit Rücksicht auf den Wirkungsweg) durch die lebendige Kraft misst, hat gar keinen Sinn in Bezug auf einen Körper allein. Sie erhält diesen Sinn erst, sobald ein zweiter Körper hinzukommt, und dann wird in dem einen Fall die Geschwindigkeitsdifferenz, im andern das Quadrat der Geschwindigkeitsdifferenz maassgebend. Die Geschwin - digkeit stellt einen physikalischen Niveauwerth vor, wie die Temperatur, die Potentialfunction u. s. w.

Es kann nicht unbemerkt bleiben, dass Huyghens auch an den Stossvorgängen zuerst dieselben Erfahrungen hätte machen können, zu welchen ihm seine Pendel - untersuchungen Gelegenheit geboten haben. Es handelt sich immer nur darum, in allen Thatsachen die - selben Elemente zu erkennen, oder, wenn man will, in einer Thatsache die Elemeute einer andern schon bekannten wiederzufinden. Von welchen That - sachen man aber ausgeht, hängt von historischen Zu - fälligkeiten ab.

9. Beschliessen wir diese Betrachtung noch mit einigen allgemeinern Bemerkungen. Die Summe der Bewegungs - quantitäten erhält sich im Stosse und zwar sowol beim Stosse unelastischer als auch bei jenem elastischer Körper. Diese Erhaltung findet aber nicht ganz im Sinne Descartes statt, die Bewegungsquantität eines Körpers wird nicht in dem Maasse vermindert, als jene eines andern vermehrt wird, wie Huyghens zuerst be -303Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.merkt hat. Stossen z. B. zwei gleiche unelastische Massen mit gleichen entgegengesetzten Geschwindig - keiten zusammen, so verlieren beide ihre gesammte Bewegungsquantität im Descartes’schen Sinne. Dagegen bleibt die Summe der Bewegungsquantitäten erhalten, wenn man alle Geschwindigkeiten nach einer Richtung positiv, alle nach der entgegengesetzten negativ rechnet. Die Bewegungsquantität, in diesem Sinne verstanden, bleibt in allen Fällen erhalten.

Die Summe der lebendigen Kräfte verändert sich im Stosse unelastischer Massen, sie bleibt jedoch erhalten beim Stoss vollkommen elastischer Massen. Die Ver - minderung der lebendigen Kräfte, welche beim Stoss unelastischer Massen oder überhaupt dann eintritt, wenn sich die stossenden Körper nach dem Stosse mit gemeinschaftlicher Geschwindigkeit bewegen, lässt sich leicht bestimmen. Es seien M, m die Massen, C, c die zugehörigen Geschwindigkeiten vor dem Stoss, u die gemeinschaftliche Geschwindigkeit nach dem Stosse, so ist der Verlust an lebendiger Kraft 〈…〉 welcher sich mit Rücksicht darauf, dass 〈…〉 ist, auf die Form 〈…〉 bringen lässt. Car - not hat diesen Verlust in der Form 〈…〉 dargestellt. Wählt man diese letztere Form, so er - kennt man in ½M (C u) 2 und ½m (u c) 2 die durch die Arbeit der innern Kräfte erzeugten lebendigen Kräfte. Der Verlust an lebendiger Kraft beim Stoss entspricht also der Arbeit der innern (sogenannten Molecular -) Kräfte. Wenn man die beiden Verlustaus - drücke 1 und 2 einander gleichsetzt, und berücksichtigt, dass (M+m) u = MC+mc, so erhält man eine iden -304Drittes Kapitel.tische Gleichung. Der Carnot’sche Ausdruck ist wich - tig zur Beurtheilung der Verluste beim Stoss von Maschinentheilen.

In allen unsern Beobachtungen haben wir die stossen - den Massen als Punkte behandelt, die sich nur nach der Richtung ihrer Verbindungslinie bewegten. Diese Vereinfachung ist zulässig, wenn die Schwerpunkte und der Berührungspunkt der stossenden Massen in einer Geraden liegen, beim sogenannten centralen Stoss. Die Untersuchung des sogenannten excentrischen Stosses ist etwas complicirter, bietet aber kein besonderes prin - cipielles Interesse. Schon von Wallis wurde noch eine Frage anderer Art behandelt. Wenn ein Körper um eine Axe rotirt, und dessen Bewegung durch Anhalten eines Punktes plötzlich gehemmt wird, so ist die Stärke des Stosses je nach der Lage (dem Axenabstand) dieses Punk - tes verschieden. Derjenige Punkt, in welchem die Stärke des Stosses ein Maximum ist, wird von Wallis Mittel - punkt des Stosses genannt. Hemmt man diesen Punkt, so erfährt hierbei die Axe keinen Druck. Auf diese von Wallis Zeitgenossen und Nachfolgern vielfach weiter geführten Untersuchungen hier näher einzugehen,

Fig. 165.

haben wir keinen Anlass.

10. Wir wollen nun noch eine in - teressante Anwendung der Stossge - setze kurz betrachten, die Bestimmung der Projectilgeschwindigkeiten durch das ballistische Pendel. Eine Masse M sei an einem gewichts - und masselosen Faden als Pendel aufgehängt. In ihrer Gleichgewichtslage erhalte sie plötz - lich die Horizontalgeschwindigkeit V. Sie steigt mit derselben zur Höhe 〈…〉 auf, wobei l die Pendellänge,[α]den Ausschlags - winkel, g die Schwerebeschleunigung bedeutet. Da zwischen der Schwingungsdauer T, und den Grössen l, g305Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.die Beziehung besteht 〈…〉 so erhalten wir leicht 〈…〉 und mit Benutzung einer bekannten goniometrischen Formel 〈…〉 .

Wenn nun die Geschwindigkeit V durch ein Projectil von der Masse m entsteht, welches mit der Geschwin - digkeit v angeflogen kommt, und in M stecken bleibt, so dass, ob nun der Stoss ein elastischer oder unelastischer ist, die Geschwindigkeit jedenfalls nach dem Stosse eine gemeinsame V wird, so folgt mv = (M+m) V, oder wenn m gegen M klein genug ist v = $$\frac {M}{m}$$ V, also schliesslich 〈…〉

Wenn wir das ballistische Pendel nicht als ein ein - faches Pendel ansehen dürfen, so gestaltet sich die Ueberlegung nach den bereits mehrfach angewandten Principien in folgender Weise. Das Projectil m mit der Geschwindigkeit v hat die Bewegungsgrösse mv, welche durch den Druck p beim Stosse in einer sehr kurzen Zeit[τ]auf mV vermindert wird. Hierbei ist also 〈…〉 oder, wenn V gegen v sehr klein ist, geradezu 〈…〉 . Von der Annahme be - sonderer Momentankräfte, welche plötzlich gewisse Geschwindigkeiten erzeugen, sehen wir mit Poncelet ab. Es gibt keine Momentankräfte. Was man so genannt hat, sind sehr grosse Kräfte, welche in sehr kurzer Zeit merkliche Geschwindigkeiten erzeugen, die sich aber sonst in keiner Weise von stetig wirkenden Kräften unterscheiden. Kann man die beim Stosse wirksameMach. 20306Drittes Kapitel.Kraft nicht durch ihre ganze Wirkungsdauer als con - stant ansehen, so hat nur an die Stelle des Ausdruckes p[τ]der Ausdruck[]pdt zu treten. Im übrigen bleibt die Ueberlegung dieselbe.

Die gleiche Kraft, welche die Bewegungsgrösse des Projectils vernichtet, wirkt als Gegenkraft auf das Pen - del. Nehmen wir die Schusslinie (also auch die Kraft) senkrecht gegen die Pendelaxe und in dem Abstande b von derselben an, so ist das Moment dieser Kraft bp, die erzeugte Winkelbeschleunigung 〈…〉 , und die in der Zeit[τ]hervorgebrachte Winkelgeschwindigkeit 〈…〉 Die lebendige Kraft, welche das Pendel nach Ablauf der Zeit[τ]erlangt hat, ist demnach 〈…〉

Vermöge dieser lebendigen Kraft führt das Pendel den Ausschlag[α]aus, wobei dessen Gewicht Mg, weil der Schwerpunkt den Abstand a von der Axe hat, um 〈…〉 erhoben, und dabei die Arbeit 〈…〉 geleistet wird, welche Arbeit der erwähnten lebendigen Kraft gleich ist. Durch Gleich - setzung beider Ausdrücke folgt leicht 〈…〉 und mit Rücksicht auf die Schwingungsdauer 〈…〉 und die bereits angewandte goniometrische Reduction 〈…〉

307Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.

Die Formel ist derjenigen für den einfachem Fall vollkommen analog. Die Beobachtungen, welche man zur Bestimmung von v auszuführen hat, beziehen sich auf die Masse des Pendels und des Projectils, die Ab - stände des Schwerpunktes und Treffpunktes von der Axe, die Schwingungsdauer und den Ausschlag des Pendels. Die Formel lässt auch sofort die Dimension der Geschwindigkeit erkennen. Die Ausdrücke $$\frac {2}{\tau}$$ und sin $$\frac{\alpha}{2}$$ sind blosse Zahlen, ebenso sind $$\frac {M}{m}$$ , $$\frac {a}{b}$$ , worin Zähler und Nenner in Einheiten derselben Art gemessen werden, Zahlen. Der Factor gT aber hat die Dimen - sion lt 1, ist also eine Geschwindigkeit. Das balli - stische Pendel ist von Robins erfunden und in seiner Schrift New Principles of Gunnery (1742) beschrieben worden.

5. Der D’Alembert’sche Satz.

1. Einer der wichtigsten Sätze zur raschen und be - quemen Lösung der häufiger vorkommenden Aufgaben der Mechanik ist der Satz von D’Alembert. Die Unter - suchungen über den Schwingungsmittelpunkt, mit welchen sich fast alle bedeutenden Zeitgenossen und Nachfolger von Huyghens beschäftigt haben, führten zu den ein - fachen Bemerkungen, die schliesslich D’Alembert ver - allgemeinernd in seinen Satz zusammenfasste. Wir wollen zunächst auf diese Vorarbeiten einen Blick werfen. Sie wurden fast sämmtlich durch den Wunsch hervor - gerufen, die Huyghens’sche Ableitung, welche nicht ein - leuchtend genug schien, durch eine überzeugendere zu ersetzen. Obgleich nun dieser Wunsch, wie wir gesehen haben, auf einem durch die historischen Umstände be - dingten Misvertändniss beruhte, so haben wir doch20*308Drittes Kapitel.das Ergebniss desselben, die neuen gewonnenen Ge - sichtspunkte, natürlich nicht zu bedauern.

2. Der bedeutendste nach Huyghens unter den Be - gründern der Theorie des Schwingungsmittelpunktes ist Jakob Bernoulli, welcher schon 1686 das zusammenge - setzte Pendel durch den Hebel zu erläutern suchte. Er kam jedoch zu Unklarheiten und Widersprüchen mit den Huyghens’schen Anschauungen, auf welche ( Jour - nal de Rotterdam , 1690) L’Hospital aufmerksam machte. Die Schwierigkeiten klärten sich auf, als man anfing, statt der in endlichen Zeiten, die in unendlich klei - nen Zeittheilchen erlangten Geschwindigkeiten zu be - trachten. Jakob Bernoulli verbesserte 1691 in den Actis eruditorum und 1703 in den Abhandlungen der pariser Akademie seinen Fehler. Wir wollen das Wesentliche seiner spätem Ableitung hier wiedergeben.

Wir betrachten mit Bernoulli eine horizontale um A drehbare masselose Stange AB, welche mit den Massen m, m′ in den Abständen r, r′ von A verbunden ist.

Fig. 166.

Die Massen bewegen sich in ihrer Verbindung mit andern Beschleunigungen als jener des freien Falles, welche sie sofort annehmen würden, wenn man die Verbindungen lösen würde. Nur jener Punkt in dem noch unbekannten Abstande x von A, welchen wir den Schwingungsmittelpunkt nennen, bewegt sich in der Verbindung mit derselben Beschleu - nigung, die er auch für sich allein hätte, mit der Be - schleunigung g.

Würde sich m mit der Beschleunigung 〈…〉 und m mit der Beschleunigung 〈…〉 bewegen, d. h. wären die natürlichen Beschleunigungen den Abständen von A proportional, so würden die309Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.Massen durch ihre Verbindungen einander nicht hin - dern. Thatsächlich erleidet aber durch die Verbindung m den Beschleunigungsverlust 〈…〉 , m′ den Beschleunigungsgewinn 〈…〉 also ersteres den Kraftverlust 〈…〉 und letztes den Kraftgewinn 〈…〉 .

Da nun die Massen ihre Wechselwirkung nur durch die Hebelverbindung ausüben, so müssen jener Kraft - verlust und dieser Kraftgewinn das Hebelgesetz er - füllen. Wird m durch die Hebelverbindung mit der Kraft f von der Bewegung zurückgehalten, die bei voll - kommener Freiheit eintreten würde, so übt m densel - ben Zug f an dem Hebelarm r als Gegenzug aus. Dieser Gegenzug allein ist es, welcher sich auf m′ übertragen kann, daselbst durch einen Druck 〈…〉 im Gleich - gewicht gehalten werden kann, und diesem daher gleich - werthig ist. Es besteht also nach dem Obigen die Be - ziehung 〈…〉 oder (x r) mr = (r′ x) m′r′ woraus wir erhalten 〈…〉 ganz wie es Huyghens gefunden hat.

Die Verallgemeinerung der Betrachtung für eine belie - bige Anzahl von Massen, welche auch nicht in einer Geraden zu liegen brauchen, liegt auf der Hand.

3. Johann Bernoulli hat sich 1712 in anderer Weise mit dem Problem des Schwingungsmittelpunktes be - schäftigt. Seine Arbeiten sind am bequemsten in seinen gesammelten Werken (Opera, Lausannae et Genevae 1762, Bd. 2 und 4) nachzuschlagen. Wir wollen auf die310Drittes Kapitel.eigenthümlichsten Gedanken des genannten Physikers hier eingehen. Bernoulli kommt zum Ziel, indem er die Massen und Kräfte in Gedanken voneinander trennt.

Betrachten wir erstens zwei einfache Pendel von den verschiedenen Längen l, l′, deren Pendelkörper aber den Pendellängen proportionale Schwerebeschleunigungen g, g′ erfahren, d. h. setzen wir 〈…〉 , so folgt, weil die Schwingungsdauer 〈…〉 , für beide Pendel dieselbe Schwingungsdauer. Verdoppelung der Pendel - länge mit gleichzeitiger Verdoppelung der Schwere - beschleunigung ändert also die Schwingungsdauer nicht.

Fig. 167.

Die Schwerebeschleunigung können wir an demselben Orte der Erde nicht direct variiren, doch können wir zweitens Anordnungen ersinnen, welche einer Variation der Schwerebeschleunigung entsprechen. Denken wir uns z. B. eine gerade masselose Stange von der Länge 2a um den Mittelpunkt drehbar, und bringen wir an dem einen Ende die Masse m, an dem andern die Masse m′ an, so ist m+m′ die Gesammtmasse in dem Abstand a vom Drehpunkt, (m m′) g aber die Kraft, demnach 〈…〉 die Beschleunigung an diesem Pendel. Um nun die Länge des Pendels (mit der gewöhnlichen Schwerebeschleunigung g) zu finden, welches mit dem vorgelegten Pendel von der Länge a isochron ist, setzen wir den vorigen Satz verwendend 〈…〉 .

Wir denken uns drittens ein einfaches Pendel von der Länge 1 mit der Masse m am Ende. Das Gewicht von m entspricht an dem Pendel von der doppelten311Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.Länge der halben Kraft. Die Hälfte der Masse m in die Entfernung 2 versetzt, würde also durch die in 1 wirksame Kraft dieselbe Beschleunigung, und ein Vier - theil von m die doppelte Beschleunigung erfahren, so - dass also das einfache Pendel von der Länge 2, mit der ursprünglichen Kraft in 1 und $$\frac {m}{4}$$ am Ende, isochron wäre mit dem ursprünglichen. Verallgemeinert man diese Ueberlegung, so erkennt man, dass man jede in der beliebigen Entfernung r an einem zusammengesetzten Pendel angreifende Kraft f mit dem Werthe rf in die Entfernung 1, und jede beliebige in der Entfernung r befindliche Masse m mit dem Werthe r2m ebenfalls in die Entfernung 1 versetzen kann, ohne die Schwingungs - dauer des Pendels zu ändern. Wirkt eine Kraft f an dem Hebelarm a, während die Masse m sich in der Entfernung r vom Drehpunkt befindet, so ist f äquiva - lent einer an m wirksamen Kraft 〈…〉 , welche also der Masse m die Beschleunigung 〈…〉 , und die Winkelbe - schleunigung 〈…〉 ertheilt.

Man hat demnach, um die Winkelbeschleunigung eines zusammengesetzten Pendels zu er - halten, die Summe der statischen Momente durch die Summe der Trägheitsmomente zu dividi - ren. Denselben Gedanken hat Brook Taylor in seiner Weise und gewiss

Fig. 168.

unabhängig von Johann Bernoulli gefunden, jedoch etwas später 1714 in seinem Methodus incrementorum ver - öffentlicht. Hiermit sind die bedeutendsten Versuche, die Frage nach dem Schwingungsmittelpunkt zu beant - worten, erschöpft, und wir werden sofort sehen, dass sie schon dieselben Gedanken enthalten, welche D’Alem - bert in allgemeinerer Weise ausgesprochen hat.

312Drittes Kapitel.

4. An einem System irgendwie miteinander verbundener Punkte M, M′, M″ .... mögen die Kräfte P, P′, P″ .... an - greifen, welche den freien Punkten gewisse Bewegungen ertheilen würden. An den verbundenen Punkten treten im allgemeinen andere Bewegungen ein, welche durch die Kräfte W, W′, W″ .... hervorgebracht sein könnten. Diese Bewegungen wollen wir kennen lernen. Zu diesem Zweck denken wir uns die Kraft P in W und V, P′ in W′ und V′, P″ in W″ und V″ u. s. w. zerlegt. Da infolge der Verbindungen thatsächlich nur die Com - ponenten W, W′, W″ .... wirksam werden, so halten sich die Kräfte V, V′, V″ .... eben vermöge der Verbin - dungen das Gleichgewicht. Die Kräfte P, P′, P″ .... wollen wir das System der angreifenden Kräfte, W, W′, W″ .... das System der die wirklichen Be - wegungen hervorrufenden, oder kürzer, das System der wirklichen Kräfte, und V, V′, V″ .... das System

Fig. 169.

der gewonnenen und ver - lorenen Kräfte, oder das System der Verbin - dungskräfte nennen. Wir sehen also, dass wenn man die angreifenden Kräfte in die wirklichen und die Verbindungskräfte zerlegt, letztere sich durch die Verbindungen das Gleichgewicht halten. Hierin besteht der D’Alembert - sche Satz, und wir haben uns nur die unwesentliche Aenderung erlaubt, von den Kräften, statt von den durch die Kräfte erzeugten Bewegungsgrössen zu sprechen, wie dies D’Alembert (in seinem Traité de dynamique , 1743) gethan hat.

Da sich das System V, V′, V″ .... das Gleichge - wicht hält, so lässt sich auf dasselbe das Princip der virtuellen Verschiebungen anwenden. Dies gibt ebenfalls eine Form des D’Alembert’schen Satzes. Eine andere Form erhalten wir auf folgende Art. Die313Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.Kräfte P, P′, .... sind die Resultirenden der Compo - nenten W, W′ .... und V, V′ .... Nehmen wir also die Kräfte P, P′ .... mit W, W′ .... und V, V′ .... zusammen, so besteht Gleichgewicht. Das Kraftsystem P, W, V ist im Gleichgewicht. Nun ist aber das System der V für sich im Gleichgewicht. Demnach ist auch das System P, W im Gleichgewicht, oder auch P, W im Gleichgewicht. Fügt man also den an - greifenden Kräften die wirklichen Kräfte mit entgegen - gesetztem Zeichen hinzu, so besteht vermöge der Ver - bindungen Gleichgewicht. Auch auf das System P, W lässt sich, wie dies Lagrange in seiner analytischen Mechanik gethan hat, das Princip der virtuellen Ver - schiebungen anwenden.

Dass zwischen dem System P und dem System W Gleichgewicht besteht, lässt sich noch in einer andern Form aus - sprechen. Man kann sagen, das System W ist dem System P äqui - valent. In dieser Form haben Her - mann ( Phoronomia , 1716) und

Fig. 170.

Euler ( Comentarien der Petersburger Akademie, ältere Reihe Bd. 7, 1740) den Satz, welcher von dem D’Alem - bert’schen nicht wesentlich verschieden ist, verwendet.

5. Erläutern wir uns den D’Alem - bert’schen Satz durch Beispiele. An einem masselosen Wellrad mit den Radien R, r sind die Lasten P und Q angehängt, welche nicht im Gleichge - wicht sind. Wir zerlegen die Kraft P in W, welche die wirkliche Bewegung an der freien Masse hervorbringen könnte und V, setzen also P = W+V, und ebenso Q = W′+V′, da wir

Fig. 171.

hier von jeder Bewegung ausser der Verticalen absehen können. Es ist also V = P W und V′ = Q W′, und da die Verbindungskräfte V, V′ miteinander im Gleichgewicht sind V·R = V′·r. Setzen wir für314Drittes Kapitel.V, V′ die Werthe, so erhalten wir die Gleichung 〈…〉 welche sich auch direct ergibt, wenn man die zweite Form des D’Alembert’schen Satzes verwendet. Aus den Umständen der Aufgabe erkennen wir leicht, dass es sich um eine gleichförmig beschleunigte Bewegung han - delt, und dass wir also nur die Beschleunigung zu er - mitteln haben. Bleiben wir im terrestrischen Maass - system, so haben wir die Kräfte W und W′, welche an den Massen $$\frac {P}{g}$$ und $$\frac {Q}{g}$$ die Beschleunigungen[γ]und[γ] hervorbringen, weshalb also 〈…〉 . Ausserdem wissen wir, dass 〈…〉 . Die Glei - chung 1 übergeht dadurch in die Form 〈…〉 aus welcher sich ergibt 〈…〉 und ferner auch 〈…〉 , wodurch die Bewegung be - stimmt ist.

Man sieht ohne weiteres, dass man zu demselben Resultat gelangt, wenn man die Begriffe statisches Mo - ment und Trägheitsmoment verwendet. Es ergibt sich dann die Winkelbeschleunigung 〈…〉 und weil 〈…〉 , erhält man wieder die frühern Ausdrücke.

315Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.

Wenn die Massen und die Kräfte gegeben sind, ist die Aufgabe, die Bewegung zu suchen, eine bestimmte. Nehmen wir nun an, es sei die Beschleunigung[γ]ge - geben, mit welcher sich P bewegt, und es seien jene Lasten P und Q zu suchen, welche diese Beschleunigung bedingen. Dann erhält man aus der Gleichung 2 leicht 〈…〉 , also eine Beziehung zwischen P und Q. Die eine der beiden Lasten bleibt dann willkürlich, und die Aufgabe ist in dieser Form eine unbestimmte, welche auf unendlich viele verschiedene Weisen gelöst werden kann.

Der folgende Fall diene als zweites Beispiel. Ein Gewicht P ist auf einer verticalen Geraden AB beweglich und durch einen Faden, der über eine Rolle C führt, mit einem Gewicht Q ver - bunden. Der Faden bildet mit AB den variablen Winkel[α]. Die Be - wegung kann hier keine gleichförmig beschleunigte sein. Wenn wir aber nur verticale Bewegungen betrach - ten, so können wir für jeden Werth von[α]die augenblickliche Beschleu -

Fig. 172.

nigung[γ]und[γ] von P und Q sehr leicht angeben. Indem wir ganz wie im vorigen Fall verfahren, finden wir P = W+V, Q = W′+V′, ferner 〈…〉 oder, weil 〈…〉 〈…〉 und hieraus 〈…〉 .

316Drittes Kapitel.

Man kann dasselbe Resultat wieder sehr leicht ge - winnen, wenn man die Begriffe statisches Moment und Trägheitsmoment in etwas verallgemeinerter Form ver - wendet, was durch das Folgende sofort verständlich wird. Die Kraft, oder das statische Moment, welches auf P wirkt, ist P Q cos[α]. Das Gewicht Q bewegt sich aber cos[α]mal so schnell als P, demnach ist seine Masse cos[α]2 mal zu rechnen. Die Beschleunigung, welche P erhält, ist also 〈…〉

Ebenso ergibt sich der entsprechende Ausdruck für[γ]. Es liegt diesem Verfahren die einfache Bemerkung zu Grunde, dass bei der Bewegung der Massen die Kreis - bahn unwesentlich, dagegen das Geschwindigkeits - oder Verschiebungsverhältniss der Massen wesentlich ist. Die hier angedeutete Erweiterung des Begriffes Trägheitsmoment kann oft mit Vortheil verwendet werden.

6. Nachdem die Anwendung des D’Alembert’schen Satzes genügend veranschaulicht ist, wird es uns nicht schwer, über die Bedeutung desselben klar zu werden. Die Bewegungsfragen verbundener Punkte werden er - ledigt, indem die bei Gelegenheit der Gleichgewichts - untersuchungen gewonnenen Erfahrungen über die Wechselwirkung verbundener Körper herangezogen wer - den. Wo diese Erfahrungen nicht ausreichen würden, vermöchte auch der D’Alembert’sche Satz nichts zu ver - richten, wie dies durch die angeführten Beispiele ge - nügend nahe gelegt wird. Man muss sich also hüten, zu glauben, dass der D’Alembert’sche Satz ein allgemei - ner Satz sei, welcher Specialerfahrungen überflüssig macht. Seine Kürze und scheinbare Einfachheit beruht eben nur auf der Anweisung auf schon vorhandene Erfahrungen. Die genaueste auf eingehender Erfahrung beruhende Sachkenntniss kann uns durchaus nicht er -317Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.spart werden. Wir müssen sie entweder an dem vor - gelegten Fall selbst, diesen direct untersuchend, ge - winnen, oder schon an einem andern Fall gewonnen haben, und zu dem vorliegenden Fall mitbringen. In der That lernen wir durch den D’Alembert’schen Satz, wie unsere Beispiele zeigen, nichts, was wir nicht auf anderm Wege auch lernen könnten. Der Satz hat den Werth einer Schablone zur Lösung von Aufgaben, die uns einigermaassen der Mühe des Nachdenkens über jeden neuen Fall überhebt, indem sie die Anweisung enthält, allgemein bekannte und geläufige Erfahrungen zu verwenden. Der Satz fördert nicht so sehr das Durchblicken der Vorgänge, als die praktische Bewältigung derselben. Der Werth des Satzes ist ein ökonomischer.

Haben wir eine Aufgabe nach dem D’Alembert’schen Satz gelöst, so können wir uns bei den Gleichgewichts - erfahrungen beruhigen, deren Anwendung der Satz ein - schliesst. Wollen wir aber den Vorgang recht klar durchblicken, d. h. die einfachsten bekannten mechani - schen Elemente in demselben wiedererkennen, so müssen wir weiter vordringen, und jene Gleichgewichtserfahrun - gen entweder durch die Newton’schen (wie dies S. 249 geschehen ist) oder durch die Huyghens’schen ersetzen. Im erstem Fall sieht man die beschleunigten Bewegungen, welche durch die Wechselwirkung der Körper bedingt sind, im Geiste vorgehen. Im zweiten Fall betrachtet man direct die Arbeiten, von welchen nach der Huy - ghens’schen Auffassung die lebendigen Kräfte abhängen. Diese Betrachtung ist besonders bequem, wenn man das Princip der virtuellen Verschiebungen verwendet, um die Gleichgewichtsbedingung des Systems V oder P W auszudrücken. Der D’Alembert’sche Satz sagt dann, dass die Summe der virtuellen Momente des Systems V oder des Systems P W der Null gleich ist. Die Elementararbeit der Verbindungskräfte ist, wenn man von der Dehnung der Verbindungen absieht, der Null gleich. Alle Arbeiten werden dann nur von dem318Drittes Kapitel.System P verrichtet, und die durch das System W zum Vorschein kommenden Arbeiten müssen dann gleich sein jenen des Systems P. Alle möglichen Arbeiten rühren, von den Dehnungen der Verbindungen abgesehen, von den angreifenden Kräften her. Wie man sieht, ist der D’Alembert’sche Satz in dieser Form nicht wesentlich verschieden von dem Satz der lebendigen Kräfte.

7. Für die Anwendung des D’Alembert’schen Satzes ist es bequem, jede eine Masse m angreifende Kraft P in drei zueinander senkrechte Componenten X, Y, Z pa - rallel den Axen eines rechtwinkeligen Coordinatensystems, jede wirkliche Kraft W in die entsprechenden Com - ponenten m[ξ], m[η], m[ζ], wobei[ξ, η, ζ]die Beschleu - nigungen nach den Coordinatenrichtungen bedeuten, und jede Verschiebung ebenso in drei Verschiebungen[δ]x,[δ]y,[δ]z zu zerlegen. Da die Arbeit jeder Kraftcompo - nente nur bei der parallelen Verschiebung ins Spiel kommt, so ist das Gleichgewicht des Systems (P, W) gegeben durch 〈…〉 oder 〈…〉 Die beiden Gleichungen sind ein unmittelbarer Aus - druck des eben ausgesprochenen Satzes über die mög - liche Arbeit der angreifenden Kräfte. Ist diese Arbeit = o, so ergibt sich der specielle Fall des Gleichge - wichts. Das Princip der virtuellen Verschiebungen fliesst als ein specieller Fall aus dem gegebenen Aus - druck des D’Alembert’schen Satzes, was ganz natürlich ist, da sowol im allgemeinen als im besondern Fall die Erfahrungserkenntniss der Bedeutung der Ar - beit das Wesentliche ist.

Die Gleichung 1 liefert die nöthigen Bewegungs - gleichungen, indem man so viele der Verschiebungen[δ]x,[δ]y,[δ]z als möglich vermöge ihrer Relationen zu den übrigen durch die letztern ausdrückt und die Coeffi -319Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.cienten der übrig bleibenden willkürlichen Verschie - bungen = o setzt, wie dies bei den Anwendungen des Princips der virtuellen Verschiebungen erläutert wurde.

Hat man einige Aufgaben nach dem D’Alembert’schen Satz gelöst, so lernt man einerseits die Bequemlichkeit desselben schätzen, und gewinnt andererseits die Ueber - zeugung, dass man in jedem Fall, sobald man das Be - dürfniss hierfür hat, durch Betrachtung der elementaren mechanischen Vorgänge dieselbe Aufgabe auch direct mit voller Einsicht lösen kann, und zu denselben Re - sultaten gelangt. Die Ueberzeugung von der Ausführ - barkeit dieses Verfahrens macht, wo es sich um mehr praktische Zwecke handelt, die jedesmalige Aus - führung unnöthig.

6. Der Satz der lebendigen Kräfte.

1. Der Satz der lebendigen Kräfte ist wie bekannt zuerst von Huyghens benutzt worden. Johann und Da - niel Bernoulli hatten nur für eine grössere Allgemein - heit des Ausdrucks zu sorgen, nur wenig hinzuzufügen. Wenn p, p′, p″ .... Gewichte, m, m′, m″ .... die zu - gehörigen Massen, h, h′, h″ .... die Falltiefen der freien oder verbundenen Massen, v, v′, v″ die er - langten Geschwindigkeiten sind, so besteht die Be - ziehung 〈…〉 Wären die Anfangsgeschwindigkeiten nicht = o, son - dern v , v′ , v″ , so würde sich der Satz auf den Zuwachs der lebendigen Kraft durch die geleistete Ar - beit beziehen und lauten 〈…〉

Der Satz bleibt noch anwendbar, wenn p nicht Ge - wichte, sondern irgendwelche constante Kräfte und h nicht verticale Fallhöhen, sondern irgendwelche im Sinne der Kräfte beschriebene Wege sind. Treten ver -320Drittes Kapitel.änderliche Kräfte auf, so haben an die Stelle der Aus - drücke ph, p′h′ die Ausdrücke[]pds,[]p′ds′ zu treten, in welchen p die veränderlichen Kräfte und ds die im Sinne derselben beschriebenen Wegelemente bedeuten. Dann ist 〈…〉

2. Zur Erläuterung des Satzes der lebendigen Kräfte betrachten wir zunächst dieselbe einfache Aufgabe,

Fig. 173.

welche wir nach dem D’Alembert’schen Satz behandelt haben. An einem Wellrad mit den Radien R, r hängen die Gewichte P, Q. Sobald eine Be - wegung eintritt, wird Arbeit geleistet, durch welche die erlangte lebendige Kraft bestimmt ist. Dreht sich der Apparat um den Winkel[α], so ist die geleistete Arbeit 〈…〉 .

Die erzeugte lebendige Kraft ist, wenn dem Drehungswinkel[α]die erlangte Winkelge - schwindigkeit[φ]entspricht 〈…〉

Es besteht demnach die Gleichung 〈…〉

Da wir nun hier mit einer gleichförmig beschleunigten Bewegung zu thun haben, so besteht zwischen dem Winkel[α], der erlangten Winkelgeschwindigkeit[φ]und der Winkelbeschleunigung[ψ]dieselbe Beziehung, welche beim freien Fall zwischen s, v, g besteht. Ist für den freien Fall $$s = \frac {v^2}{2 g}$$ , so ist hier 〈…〉 . 321Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.Führt mau diesen Werth von[α]in die Gleichung 1 ein, so findet sich die Winkelbeschleunigung 〈…〉 , und die absolute Beschleunigung der Last P ist dann 〈…〉 , wie dies früher gefunden wurde.

Als zweites Beispiel betrachten wir einen masselosen Cylinder vom Radius r, in dessen Mantel diametral einander gegenüber sich zwei gleiche Massen m befinden, und der ohne zu gleiten durch das Gewicht dieser

Fig. 174.

Fig. 175.

Massen an der schiefen Ebene von der Elevation[α]ab - rollt. Zunächst überzeugen wir uns, dass wir die lebendige Kraft der Rotation und der fortschreitenden Bewegung einfach summiren können, um die gesammte lebendige Kraft darzustellen. Die Axe des Cylinders hätte die Geschwindigkeit u längs der Länge der schiefen Ebene erlangt, und v sei die absolute Rotationsge - schwindigkeit des Cylindermantels. Die Rotationsge - schwindigkeiten v der beiden Massen m bilden mit der Pro - gressivgeschwindigkeit u die Winkel[ϑ]und[ϑ] Fig. 175 wobei 〈…〉 . Die Gesammtgeschwindigkeiten w und z genügen also den Gleichungen 〈…〉 Mach. 21322Drittes Kapitel.Weil nun cos 〈…〉 , so folgt w2 + z2 = 2 u2 + 2v2 oder ½ m w2 + ½ m z2 = ½ m 2 u2 + ½ m 2 v2 = m u2 + m v2. Dreht sich der Cylinder um den Winkel[φ], so legt m durch die Rotation den Weg r[φ]zurück und die Axe des Cylinders verschiebt sich ebenfalls um r[φ]. Wie diese Wege verhalten sich auch die Geschwindigkeiten v und u, welche demnach gleich sind. Die gesammte lebendige Kraft lässt sich demnach durch 2mu2 aus - drücken. Legt der Cylinder auf der Länge der schiefen Ebene den Weg l zurück, so ist die geleistete Arbeit 〈…〉 und demnach 〈…〉 Vergleicht man hiermit die beim Gleiten auf der schiefen Ebene erlangte Geschwindigkeit 〈…〉 so sieht man, dass die betrachtete Vorrichtung sich nur mit der halben Fallbeschleunigung bewegt, welche ein gleitender Körper unter denselben Umständen (ohne Rücksicht auf die Reibung) annimmt. Die ganze Ueber - legung wird nicht geändert, wenn die Masse gleich - mässig über den Cylindermantel vertheilt ist. Eine ähnliche Betrachtung lässt sich für eine auf der schiefen Ebene abrollende Kugel ausführen, woraus man sieht, dass Galilei’s Fallexperiment in Bezug auf das Quanti - tative einer Correctur bedarf.

Legen wir nun die Masse m gleichmässig auf den Mantel eines Cylinders vom Radius R, der mit dem masselosen Cylinder vom Radius r, welcher auf der schiefen Ebene abrollt, conaxial und fest verbunden ist. Da in diesem Fall $$\frac {v}{u}$$ = $$\frac {R}{r}$$ , so liefert der Satz der lebendigen Kräfte 〈…〉 und 〈…〉 323Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.Für $$\frac {R}{r}$$ = 1 erhält die Fallbeschleunigung den frühern Werth $$\frac {g}{2}$$ . Für sehr grosse Werthe von $$\frac {R}{r}$$ wird die Fallbeschleunigung sehr klein. Für 〈…〉 kann also kein Abrollen eintreten.

Als drittes Beispiel betrachten wir eine Kette von der Gesammtlänge l, welche zum Theil auf einer Ho - rizontalebene, zum Theil auf einer schie - fen Ebene von dem Elevationswinkel[α]liegt. Denken wir uns die Unterlage sehr glatt, so zieht

Fig. 176.

der kleinste überhängende Theil der Kette den andern nach sich. Ist[μ]die Masse der Längeneinheit, und hängt bereits das Stück x über, so liefert der Satz der lebendigen Kräfte für die gewonnene Geschwindigkeit v die Gleichung 〈…〉 , oder 〈…〉 . In diesem Fall ist also die erlangte Geschwindigkeit dem zurückgelegten Wege pro - portional. Es findet dasselbe Gesetz statt, welches Galilei zuerst als Fallgesetz vermuthete. Die Betrachtung lässt sich also wie oben (S. 231) weiter führen.

4. Die Gleichung 1 der lebendigen Kräfte kann immer angewendet werden, wenn für die bewegten Körper der ganze Weg und die Kraft, welche in jedem Wegelement ins Spiel kommt, bekannt ist. Es hat sich aber durch die Arbeiten von Euler, Daniel Bernoulli und Lagrange herausgestellt, dass es Fälle gibt, in welchen man den21*324Drittes Kapitel.Satz der lebendigen Kräfte anwenden kann, ohne den Verlauf der Bewegung zu kennen. Wir werden später sehen, dass sich auch Clairaut in dieser Richtung ein Verdienst erworben hat.

Schon Galilei wusste, dass die Geschwindigkeit eines schweren fallenden Körpers nur von der durchsetzten Verticalhöhe abhängt, nicht von dem Wege oder der Form der Bahn, welche er durchlaufen hat. Huyghens findet die lebendige Kraft eines schweren Massensystems von den Verticalhöhen der Massen abhängig. Euler konnte einen Schritt weiter gehen. Wird ein Körper K gegen ein festes Centrum C nach irgendeinem Gesetz an - gezogen, so lässt sich der Zuwachs der lebendigen Kraft bei geradliniger Annäherung aus der Anfangs - und End -

Fig. 177 a.

entfernung (r , r,) berechnen. Derselbe Zuwachs ergibt sich aber, wenn K überhaupt aus der Entfernung r in die Ent - fernung r, übergeht, unabhängig von der Form des Weges KB. Denn nur auf die radia - len Verschiebungselemente ent - fallen Arbeitselemente und zwar dieselben wie zuvor.

Wird K gegen mehrere feste Centren C, C′, C″ gezogen, so hängt der Zuwachs der leben - digen Kraft von den Anfangs - entfernungen r , r′ , r″ und von den Endentfernungen r, r′, r″, , also von der Anfangslage und Endlage von K ab. Daniel Bernoulli hat diese Ueberlegung noch weiter geführt und gezeigt, dass auch bei gegen - seitigen Anziehungen beweglicher Körper die Aenderung der lebendigen Kraft nur durch die Anfangslagen und Endlagen dieser Körper bestimmt ist. Für die ana - lytische Behandlung der hierher gehörigen Aufgaben hat Lagrange am meisten gethan. Verbindet man einen Punkt mit den Coordinaten a, b, c mit einem Punkt325Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.mit den Coordinaten x, y, z, bezeichnet mit r die Länge der Verbindungslinie und mit[α, β, γ]deren Winkel mit den Axen der x, y, z, so ist nach der Bemerkung von Lagrange 〈…〉

Ist also 〈…〉 , die Kraft zwischen beiden Punkten, so sind die Componenten 〈…〉

Die Kraftcomponenten sind also die partiellen Ab - leitungen einer und derselben Function von r oder der Coordinaten der sich anziehenden Punkte. Auch wenn mehrere Punkte in Wechselwirkung sind, ergibt sich 〈…〉 wobei U eine Function der Coordinaten der Punkte ist, welche später von Hamilton Kraftfunction genannt worden ist.

326Drittes Kapitel.

Formen wir mit Hülfe der gewonnenen Anschauungen und unter den gegebenen Voraussetzungen die Glei - chung 1 für rechtwinkelige Coordinaten um, so erhalten wir 〈…〉 oder weil der Ausdruck links ein vollständiges Differential ist 〈…〉 wobei U1 eine Function der Endwerthe, U dieselbe Function der Anfangswerthe der Coordinaten ist. Die Gleichung hat sehr viele Anwendungen erfahren, und drückt nur die Erkenntniss aus, dass unter den be - zeichneten Umständen die Arbeiten und demnach auch die lebendigen Kräfte nur von den Lagen oder Co - ordinaten der Körper abhängen.

Denkt man sich alle Massen fixirt, und nur eine einzige bewegt, so ändert sich die geleistete Arbeit nur nach Maassgabe von U. Die Gleichung U = const stellt eine sogenannte Niveaufläche (oder Fläche gleicher Arbeit) vor. Eine Bewegung in derselben führt keine Arbeitsleistung herbei.

7. Der Satz des kleinsten Zwanges.

1. Gauss hat (Crelle’s Journal für Mathematik , IV, 1829, S. 233) ein neues Gesetz der Mechanik, den Satz des kleinsten Zwanges ausgeprochen. Er bemerkt, dass bei der Form, welche die Mechanik historisch an - genommen hat, die Dynamik sich auf die Statik grün - det (wie z. B. der D’Alembert’sche Satz auf das Prin - cip der virtuellen Verschiebungen), während man eigent - lich erwarten sollte, dass auf der höchsten Stufe der Wissenschaft die Statik sich als ein specieller Fall der Dynamik darstellen würde. Der zu besprechende Gauss -327Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.sche Satz ist nun von der Art, dass er sowol dyna - mische als statische Fälle umfasst; er entspricht also in dieser Richtung der Forderung der wissenschaftlichen und logischen Aesthetik. Es wurde schon bemerkt, dass dies eigentlich auch beim D’Alembert’schen Satz in der Lagrange’schen Form und bei der angeführten Ausdrucksweise zutrifft. Ein wesentlich neues Prin - cip der Mechanik, bemerkt Gauss, könne nicht mehr auf - gestellt werden, was aber die Auffindung neuer Gesichts - punkte, von welchen aus die mechanischen Vorgänge betrachtet werden können, nicht ausschliesst. Ein solcher neuer Gesichtspunkt wird nun durch den Gauss - schen Satz angegeben.

2. Es seien mm .... Massen, die sich in irgend - welchen Verbindungen befinden. Wären die Massen frei, so würden sie durch die angreifenden Kräfte in einem sehr kleinen Zeitelement die Wege ab, ab .... zurücklegen, während sie in - folge der Verbindungen in demselben Zeitelement die Wege ac, ac .... be - schreiben. Die Bewegung der verbundenen Punkte findet nun nach dem Gauss - schen Satz so statt, dass bei der wirklichen Bewegung

Fig. 177 b.

die Summe 〈…〉 ein Minimum wird, d. h. kleiner ausfällt als bei jeder an - dern bei denselben Verbindungen denkbaren Bewegung. Wenn jede Bewegung eine grössere Summe[Σ]m (bc) 2 darbietet als die Ruhe, so besteht Gleichgewicht. Der Satz schliesst also statische und dynamische Fälle in gleicher Weise ein.

Wir können die Summe[Σ]m (bc) 2 kurz die Ab - weichungssumme oder die Abweichung von der un - gehinderten Bewegung nennen. Dass bei Bildung der Abweichungssumme die im System vorhandenen Ge - schwindigkeiten aus der Betrachtung fallen, weil durch328Drittes Kapitel.dieselben die relativen Lagen von a, b, c nicht geän - dert werden, liegt auf der Hand.

3. Der neue Satz vermag den D’Alembert’schen zu ersetzen und lässt sich, wie Gauss zeigt, aus dem letz - tern ableiten, wodurch die Gleichwerthigkeit beider Sätze nachgewiesen ist. Die angreifenden Kräfte führen die freie Masse m in einem Zeitelement durch ab, die wirklichen Kräfte dieselbe Masse vermöge der Verbin - dungen in derselben Zeit durch ac. Wir zerlegen ab in ac und cb. Dies führen wir für alle Massen aus. Die Kräfte, welche den Wegen cb, cb .... entsprechen, und welche denselben proportional sind, werden also vermöge der Verbindungen nicht wirksam, sondern halten

Fig. 178.

sich an den Verbindungen das Gleich - gewicht. Führen wir von den End - lagen c, c, c .... die virtuellen Ver - schiebungen c[γ], c[γ], .... aus, welche mit cb, cb .... die Winkel[ϑ, ϑ].... bilden, so lässt sich, da den cb, cb .... proportionale Kräfte (nach dem D’Alembert’schen Satz) im Gleichgewicht sind, das Princip der virtuellen Ver - schiebungen anwenden. Es ist also 〈…〉

Nun haben wir 〈…〉

Da nun nach 1 das zweite Glied der rechten Seite der Gleichung 2 nur = o oder negativ sein kann, die Summe 〈…〉 also durch die Subtraction nie ver - mindert, sondern nur vermehrt werden kann, so ist auch die linke Seite von 2 stets positiv, also 〈…〉 immer grösser als m (bc) 2, d. h. jede denkbare Ab - weichung von der ungehinderten Bewegung ist immer grösser als diejenige, welche wirklich stattfindet.

4. Wir wollen den Abweichungsweg bc für das sehr329Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.kleine Zeitelement[τ]kürzer mit s bezeichnen und mit Scheffler (Schlömilch’s Zeitschrift für Mathematik , III, 197) bemerken, dass 〈…〉 , wobei[γ]die Be - schleunigung bedeutet, und dass folglich die Abweichungs - summe[Σ]ms 2 auch in den Formen 〈…〉 dargestellt werden kann. Hierin bedeutet p die von der freien Bewegung ablenkende Kraft. Da der con - stante Factor auf die Minimumbestimmung keinen Ein - fluss hat, so können wir sagen, die Bewegung findet so statt, dass[Σ]ms 21) oder[Σ]ps2) oder[Σ]m[γ]23) ein Minimum wird.

5. Wir wollen zunächst die dritte Form zur Behand - lung einiger Beispiele verwenden. Als erstes Beispiel wählen wir wieder die Bewegung des Wellrades durch Ueber - wucht mit den schon mehrmals ver - wendeten Bezeichnungen. Wir haben die wirkliche Beschleunigung[γ]von P und[γ], von Q so zu bestimmen, dass 〈…〉 ein Mini - mum wird, oder da 〈…〉 , dass

Fig. 179.

〈…〉 den kleinsten Werth annimmt. Setzen wir zu diesem Zweck 〈…〉 so findet sich 〈…〉 , wie bei den frühern Behandlungsweisen derselben Aufgabe.

330Drittes Kapitel.

Die Fallbewegung auf der schiefen Ebene diene als zweites Beispiel. Hierbei verwenden wir die erste Form[Σ]ms 2. Da wir nur mit einer Masse zu thun haben, so suchen wir jene Fallbeschleunigung[γ]für die schiefe Ebene, durch welche das Quadrat des Ab - weichungsweges (s2) ein Minimum wird. Es ist Fig. 180 〈…〉 und indem wir 〈…〉 setzen, finden wir mit Hin - weglassung der constanten Factoren 〈…〉 oder 〈…〉 , wie es aus den Galilei’schen Unter - suchungen bekannt ist.

Dass der Gauss’sche Satz auch Gleichgewichtsfälle

Fig. 180.

Fig. 181.

begreift, möge das folgende Beispiel zeigen. An den Hebelarmen a, a′ befinden sich die schweren Massen m, m′. Der Satz fordert, dass 〈…〉 ein Minimum werde. Nun ist 〈…〉 . Wenn aber die Massen den Hebelarmen verkehrt proportio - nirt sind, so ist $$\frac {m}{m^\prime} = \frac {a^\prime}{a}$$ , und 〈…〉 . Demnach soll 〈…〉 ein Minimum werden. Aus der Gleichung 〈…〉 ergibt sich 〈…〉 oder 〈…〉 . Das Gleichgewicht331Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.bietet also in diesem Falle die kleinste Abweichung von der freien Bewegung.

Jeder neu aufgelegte Zwang vermehrt die Ab - weichungssumme, aber immer so wenig als möglich. Wer - den zwei oder mehrere Systeme miteinander verbunden, so findet die Bewegung mit der kleinsten Abweichung von den Bewegungen der unverbundenen Systeme statt.

Vereinigen wir z. B. mehrere einfache Pendel zu einem linearen zusammengesetz - ten Pendel, so schwingt dieses mit der kleinsten Abweichung von der Bewegung der einzelnen Pendel. Für die Excursion[α]hat das einfache Pendel die Beschleunigung g · sin[α]in seiner Bahn. Bezeichnet[γ]· sin[α]die Beschleunignng, welche derselben Ex - cursion in der Entfernung 1 von der Axe

Fig. 182.

am zusammengesetzten Pendel entspricht, so wird 〈…〉 oder 〈…〉 ein Mi - nimum. Demnach ist 〈…〉 und 〈…〉 . Die Aufgabe erledigt sich daher in der einfachsten Weise, aber freilich nur weil in dem Gauss’schen Satze schon alle die Erfahrungen stecken, welche von Huyghens, den Bernoullis und Andern im Laufe der Zeit gesammelt worden sind.

6. Die Vergrösserung der Abweichung von der freien Be - wegung durch jeden neu aufge - legten Zwang lässt sich durch fol - gende Beispiele erläutern. Ueber zwei fixe Rollen A, B und eine bewegliche Rolle C ist ein Faden geschlungen, der beiderseits mit P belastet ist, während an der beweglichen Rolle das Gewicht

Fig. 183.

2P+p hängt. Die bewegliche Rolle sinkt dann mit der Beschleunigung 〈…〉 . Stellen wir die Rolle332Drittes Kapitel.A fest, so legen wir dem System einen neuen Zwang auf, und die Abweichung von der freien Bewegung wird vergrössert. Die an B hängende Last ist dann als vierfache Masse in Rechnung zu bringen, weil sie sich mit der doppelten Geschwindigkeit bewegt. Die beweg - liche Rolle sinkt mit der Beschleunigung 〈…〉 . Eine leichte Rechnung zeigt, dass im zweiten Fall die Abweichungssumme grösser ist als im ersten.

Fig. 184.

Eine Anzahl n gleicher Ge - wichte p sind auf einerglatten Ho - rizontalebene an n beweglichen Rollen befestigt, über welche in der aus der Figur ersichtlichen Weise eine Schnur gezogen und am freien Ende mit p belastet ist. Je nachdem alle Rollen beweg - lich, oder alle bis auf eine fixirt sind, erhalten wir mit Rücksicht auf das Geschwindig - keitsverhältniss der Massen in Bezug auf das bewegende p, für letzteres die Beschleunigung 〈…〉 beziehungsweise g. Wenn alle n + 1 Massen beweglich sind, erhält die Abweichungssumme den Werth 〈…〉 , welcher grösser wird, wenn man n, die Zahl der beweglichen Massen, verkleinert.

7. Wir denken uns einen Körper vom Gewicht Q auf einer Horizontalebene auf Rollen beweglich und durch eine schiefe Ebene begrenzt. Auf der schiefen Ebene liegt ein Körper vom Gewicht P. Man erkennt schon instinctiv, dass P mit grösserer Beschleunigung sinkt, wenn Q beweglich ist und ausweichen kann, als wenn Q fixirt wird, also die Fallbewegung von P mehr behindert. Der Falltiefe h von P soll eine Horizontal -333Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.geschwindigkeit v und eine Verticalgeschwindigkeit u von P, hingegen eine Horizontalgeschwindigkeit w von Q entsprechen. Wegen der Erhaltung der Quantität der Horizontalbewegung (bei welcher nur innere Kräfte wirken) ist

P·v = Qw und aus einleuchtenden geometrischen Gründen (Fig. 185) ist ferner 〈…〉 .

Die Geschwindigkeiten sind demnach u = u 〈…〉 〈…〉

Fig. 185.

Mit Rücksicht auf die geleistete Arbeit Ph liefert der Satz der lebendigen Kräfte die Gleichung 〈…〉 Hebt man 〈…〉 cot[α]2 als Factor heraus, und führt die sich ergebenden Kürzungen aus, so erhält man 〈…〉

334Drittes Kapitel.

Um die Vertical beschleunigung[γ]zu finden, mit wel - cher die Falltiefe h zurückgelegt wurde, bemerken wir, dass 〈…〉 . Führt man diesen Werth für h in die letzte Gleichung ein, so findet sich 〈…〉

Für 〈…〉 wird 〈…〉 sin[α]2 wie auf einer festen schiefen Ebene. Für Q = o wird[γ]= g wie im freien Fall. Für sin[α]= 1 ist[γ]= g wie im freien Fall. Für endliche Werthe von Q = mP erhalten wir für 〈…〉 , weil 〈…〉 .

Die Fixirung von Q als neu aufgelegter Zwang ver - grössert also die Abweichung von der freien Bewegung.

Wir haben zur Ableitung von[γ]in dem eben be - trachteten Fall den Satz der Erhaltung der Quantität der Bewegung und den Satz der lebendigen Kräfte ver - wendet. Den Gauss’schen Satz anwendend, würden wir denselben Fall in folgender Weise behandeln. Den mit u, v, w bezeichneten Geschwindigkeiten entsprechen die Beschleunigungen[γ, δ, ε]. Mit Rücksicht darauf, dass nur der Körper P im freien Zustande die Vertical beschleu - nigung g haben würde, die übrigen Beschleunigungen aber den Werth = o annehmen würden, haben wir 〈…〉 zu einem Minimum zu machen. Da die ganze Aufgabe nur einen Sinn hat, solange die Körper P und Q sich berühren, so lange also 〈…〉 tang[α], so erhal - ten wir 〈…〉 335Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.Bilden wir die Differentialquotienten nach den beiden noch vorhandenen unabhängigen Veränderlichen[δ]und[ε], so findet sich 〈…〉 .

Aus diesen beiden Gleichungen folgt unmittelbar 〈…〉 , und schliesslich für[γ]derselbe Werth, den wir oben erhalten haben.

Dieselbe Aufgabe wollen wir noch aus einem andern Gesichtspunkt betrachten. Der Körper P legt unter dem Winkel[β]gegen den Horizont den Weg s zurück, dessen Horizontal - und Verticalcomponenten v und u seien, während Q den Horizontalweg w beschreibt. Die Kraftcomponente, welche nach der Richtung von s wirkt, ist P·sin[γ], demnach die Beschleunigung nach dieser Richtung mit Rücksicht auf die relativen Bewegungs - geschwindigkeiten der Körper P und Q 〈…〉

Mit Rücksicht auf die sich unmittelbar ergebenden Gleichungen 〈…〉 findet man die Beschleunigung nach s 〈…〉 und die zugehörige Verticalbeschleunigung 〈…〉 336Drittes Kapitel.welcher Ausdruck, sobald wir durch Verwendung der bereits angeführten Gleichung u = (v+w) tg[α]für die Winkelfunctionen von[β], jene von[α]einsetzen, wieder die schon angegebene Form annimmt. Mit Hülfe des erweiterten Begriffes der Trägheitsmomente gelangen wir also zu demselben Ergebniss.

Endlich wollen wir dieselbe Aufgabe in der directesten Weise behandeln. Der Körper P fällt auf der beweg - lichen schiefen Ebene nicht mit der Verticalbeschleu - nigung g wie im freien Fall, sondern mit der Vertical - beschleunigung[γ]. Er erleidet also eine verticale Gegen - kraft 〈…〉 . Da P und Q, von der Reibung ab - gesehen, nur durch einen gegen die schiefe Ebene nor - malen Druck S aufeinander wirken können, so ist 〈…〉 .

Hieraus folgt 〈…〉 und mit Hülfe von 〈…〉 schliesslich wie oben 〈…〉

Setzen wir P = Q, und 〈…〉 , so finden wir für diesen Specialfall 〈…〉 . Für $$\frac {P}{g}$$ = $$\frac {Q}{g}$$ = 1 findet sich die Abweichungssumme = $$\frac {g^2}{3}$$ . 337Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.Fixirt man die schiefe Ebene, so findet sich die ent - sprechende Summe = $$\frac {g^2}{2}$$ . Würde sich der Körper P auf einer fixen schiefen Ebene von der Elevation[β], wobei tg 〈…〉 , also in derselben Bahn bewegen, in welcher er sich auf der beweglichen Ebene bewegt, so wäre die Abweichungssumme nur $$\frac{g^2}{5}$$ . Er wäre dann aber auch wirklich weniger behindert, als wenn er durch Verschieben von Q dieselbe Beschleunigung erlangt.

8. Die behandelten Beispiele haben wol bereits fühlbar gemacht, dass eine wesentlich neue Einsicht durch den Gauss’schen Satz nicht geboten wird. Ver - wenden wir die Form 3 des Satzes, indem wir alle Kräfte und Beschleunigungen nach den drei zueinander senkrechten Coordinatenrichtungen zerlegen, und den Buchstaben dieselbe Bedeutung geben wie in Gleichung 1 (S. 318), so tritt an die Stelle der Abweichungssumme[Σ]m[γ]2 der Ausdruck 〈…〉 4) und wegen der Minimumbedingung 〈…〉 oder 〈…〉

Bestehen keine Verbindungen, so liefern die Coefficien - ten der alsdann willkürlichen d[ξ], d[η], d[ζ]einzeln = o gesetzt, die Bewegungsgleichungen. Bestehen aber Ver - bindungen, so haben wir zwischen d[ξ], d[η], d[ζ]dieselben Relationen wie oben in Gleichung 1 (S. 318) zwischen[δ]x,[δ]y,[δ]z. Die Bewegungsgleichungen werden die -Mach. 22338Drittes Kapitel.selben, wie dies die Behandlung desselben Beispiels nach dem d’Alembert’schen und Gauss’schen Satz sofort lehrt. Der erstere Satz liefert nur die Bewegungs - gleichungen unmittelbar, der zweite erst durch Differen - tiiren. Sucht man nach einem Ausdruck, welcher durch Differentiiren die d’Alembert’schen Gleichungen liefert, so kommt man von selbst auf den Gauss’schen Satz. Der Satz ist also nur in der Form und nicht in der Sache neu. Auch den Vorzug, statische und dynamische Aufgaben zu umfassen, hat er vor der Lagrange’schen Form des d’Alembert’schen Satzes nicht voraus, wie dies schon bemerkt wurde. (Vgl. S. 318).

Einen mystischen oder metaphysischen Grund des Gauss’schen Satzes brauchen wir nicht zu suchen. Wenn auch der Ausdruck kleinster Zwang sehr an - sprechend ist, so fühlen wir doch sofort, dass mit dem Namen noch nichts Fassbares gegeben ist. Die Ant - wort auf die Frage, worin dieser Zwang besteht, können wir nicht bei der Metaphysik, sondern nur bei den Thatsachen holen. Der Ausdruck 2 (S. 329) oder 4 (S. 337), welcher ein Minimum wird, stellt die Arbeit dar, welche in einem Zeitelement die Abweichung der gezwungenen Bewegung von der freien hervorbringt. Diese Abweichungsarbeit ist bei der wirklichen Be - wegung kleiner als bei jeder andern denkbaren.

Haben wir die Arbeit als das Bewegungsbestimmende erkannt, haben wir den Sinn des Princips der virtuellen Verschiebungen so verstanden, dass nur da keine Be - wegung eintritt, wo keine Arbeit geleistet werden kann, so macht es uns auch keine Schwierigkeit, zu erkennen, dass umgekehrt jede Arbeit, die in einem Zeitelement geleistet werden kann, auch wirklich geleistet wird. Die Arbeitsverminderung durch die Verbindungen in einem Zeitelement beschränkt sich also auf den durch die Gegenarbeiten aufgehobenen Theil. Es ist also wieder nur eine neue Seite einer bereits bekannten Thatsache, die uns hier begegnet.

Das erwähnte Verhältniss tritt schon in den ein -339Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.fachsten Füllen hervor. Zwei Massen m und m seien in A, die eine von der Kraft p, die andere von der Kraft q afficirt. Verbinden wir sie miteinander, so folgt die Masse 2m der resultirenden Kraft r. Werden die Wege in einem Zeitelement für die freien Massen durch AC, AB dargestellt, so ist der Weg der verbundenen (doppelten) Masse AO = ½AD. Die Abweichungssumme wird 〈…〉 . Sie ist kleiner, als wenn die Masse am Ende des Zeitelements in M oder gar in einem Punkte ausserhalb BC etwa in N anlangen würde, wie sich dies in der einfachsten geometrischen Weise ergibt. Die Summe ist proportional dem Ausdruck 〈…〉 , der sich für gleiche entgegen - gesetzte Kräfte auf 2p2, für gleiche gleichgerichtete auf Null reducirt.

Zwei Kräfte p und q mögen dieselbe Masse ergreifen. Die Kraft q werde parallel und senk - recht zur Richtung von p in r und s zer - legt. Die Arbeiten in einem Zeitelement sind den Quadraten der Kräfte pro - portional und ohne Verbindung durch p2+q2 = p2+r2+s2 ausdrückbar. Wenn nun etwa r der Kraft p direct ent - gegenwirkt, tritt eine Arbeitsverminderung ein, und die Summe wird (p r) 2+s2. Schon in dem Princip der Zusammen - setzung der Kräfte, oder der Unabhängig -

Fig. 186.

keit der Kräfte voneinander, liegen die Eigenschaften, welche der Gauss’sche Satz verwerthet. Man erkennt dies, wenn man sich alle Beschleunigungen gleichzeitig ausgeführt denkt. Lassen wir den verschwommenen Ausdruck in Worten fallen, so verschwindet auch der metaphysische Eindruck des Satzes. Wir sehen die einfache Thatsache, und sind enttäuscht, aber auch aufgeklärt.

Die hier gegebenen Aufklärungen über das Gauss’sche22*340Drittes Kapitel.Gesetz sind grossentheils schon in der oben citirten Abhandlung von Scheffler enthalten. Jene Ansichten Scheffler’s, mit welchen wir nicht ganz einverstanden sein konnten, haben wir hier stillschweigend modificirt. So können wir z. B. das von ihm selbst aufgestellte Princip nicht als ein neues gelten lassen, denn es ist sowol der Form nach als auch dem Sinne nach mit dem d’Alembert-Lagrange’schen identisch.

8. Der Satz der kleinsten Wirkung.

1. Maupertuis hat (1747) einen Satz ausgesprochen, welchen er principe de la moindre quantité d’action , Princip der kleinsten Wirkung, nennt. Dieses Princip bezeichnet er als der Weisheit des Schöpfers besonders angemessen. Als Maass der Wirkung betrachtet er das Product aus Masse, Geschwindigkeit und Weg eines Körpers mvs, man sieht allerdings nicht warum. Unter Masse und Geschwindigkeit kann man bestimmte Grössen verstehen, nicht so aber unter dem Weg, wenn nicht angegeben wird, in welcher Zeit derselbe zurück - gelegt wird. Meint man aber die Zeiteinheit, so ist die Unterscheidung von Weg und Geschwindigkeit in den von Maupertuis behandelten Fällen sonderbar. Es scheint, dass Maupertuis durch eine unklare Vermischung seiner Gedanken über die lebendigen Kräfte und das Princip der virtuellen Verschiebungen zu dem ver - schwommenen Ausdruck gekommen ist, dessen Undeut - lichkeit durch die Einzelheiten noch mehr hervor - treten wird.

2. Wir wollen sehen, wie Maupertuis sein Princip anwendet. Sind M, m zwei unelastische Massen, C und c deren Geschwindigkeiten vor dem Stosse, u deren gemeinschaftliche Geschwindigkeit nach dem Stosse, so fordert Maupertuis, indem er hier die Geschwindig - keiten statt der Wege eintreten lässt, dass die Wirkung 341Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.bei Aenderung der Geschwindigkeiten im Stoss ein Minimum sei. Es ist also M (C u) 2+m (c u) 2 ein Minimum und M (C u) +m (c u) = 0, woraus 〈…〉 folgt.

Für den Stoss elastischer Massen haben wir bei gleicher Bezeichnung, wenn wir noch V und v für die beiden Geschwindigkeiten nach dem Stosse wählen, M (C V) 2+m (c v) 2 ein Minimum und M (C V) dV+m (c v) dv = o1.

Mit Rücksicht darauf, dass die Annäherungsge - schwindigkeit vor dem Stosse gleich ist der Entfernungs - geschwindigkeit der beiden Massen nach dem Stosse, haben wir 〈…〉

Die Verbindung der Gleichungen 1, 2 und 3 liefert sehr leicht die bekannten Ausdrücke für V und v. Wie man sieht, lassen sich diese beiden Fälle als Vorgänge auffassen, in welchen eine kleinste Aenderung der le - bendigen Kraft durch Gegenwirkung, also eine kleinste Gegenarbeit stattfindet. Sie fallen unter das Gauss - sche Princip.

3. In eigenthümlicher Weise leitet Maupertuis das Hebelgesetz ab. Zwei Massen M und m befinden sich an einer Stange a, welche durch den Drehpunkt in die Stücke x und x a getheilt ist. Erhält die Stange eine Drehung, so sind die Geschwindigkeiten und Wege den Hebelarmen proportional, und es soll Mx2+m (a x) 2 ein Minimum oder Mx m (a x) = o werden, woraus folgt 〈…〉 , was im Gleichgewichtsfall wirk -342Drittes Kapitel.lich erfüllt ist. Dagegen haben wir nun zu bemerken, dass erstens Massen ohne Schwere und ohne Kräfte, wie sie Maupertuis stillschweigend voraussetzt, immer im Gleichgewicht sind, und dass zweitens aus der De - duction folgen würde, dass das Princip der kleinsten Wirkung nur im Gleichgewichtsfall erfüllt ist, was zu beweisen doch nicht des Autors Absicht ist.

Wollte man die Behandlung dieses Falles mit dem vorigen in möglichste Uebereinstimmung bringen, so müsste man annehmen, dass die schweren Massen M und m sich fortwährend die kleinstmögliche Aenderung der lebendigen Kraft beibringen. Dann wäre, wenn wir die Hebelarme kurz mit a, b, die in der Zeitein -

Fig. 187.

heit erlangten Geschwindig - keiten mit u und v, die Beschleunigung der Schwere mit g bezeichnen, M (g u) 2+m (g v) 2 ein Minimum oder M (g u) du+m (g v) dv = o, und wegen der Hebelverbindung 〈…〉 aus welchen Gleichungen sofort richtig folgt 〈…〉 und für den Gleichgewichtsfall u = v = o Ma mb = o.

Auch diese Ableitung also, wenn man dieselbe zu berichtigen sucht, führt zum Gauss’schen Princip.

4. Auch die Lichtbewegung behandelt Maupertuis nach dem Vorgange von Fermat und Leibnitz in seiner Weise, nimmt aber hier die kleinste Wirkung wieder in343Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.einem ganz andern Sinn. Für die Brechung soll der Ausdruck m·AR+n·RB ein Minimum sein, wobei AR und RB die Lichtwege im ersten und zweiten Medium, m und n die zugehörigen Geschwindigkeiten be - deuten. Allerdings erhält man, wenn R der Minimumbe - dingung entsprechend bestimmt wird, 〈…〉 . Allein vorher bestand die Wirkung in der Aenderung der Ausdrücke Masse × Geschwindigkeit × Weg, hier besteht sie in der Summe derselben. Vorher kamen die in der Zeiteinheit zurückgelegten Wege, jetzt kommen die überhaupt durchlaufenen Wege in Be - tracht. Haben wir nicht mAR nRB oder (m n). (AR RB) als ein Minimum zu betrachten, und warum nicht? Nimmt man aber auch die Mau - pertuis’sche Auffassung an, so kommen doch die reciproken Werthe der Lichtgeschwindig - keiten statt der wirklichen zum Vorschein.

Wie man sieht, kann von einem Maupertuis’schen Prin -

Fig. 188.

cip eigentlich nicht die Rede sein, sondern nur von einer verschwommenen symbolischen Formel, welche mit Hülfe grosser Ungenauigkeit und einiger Gewalt verschie - dene bekannte Fälle unter einen Hut bringt. Es war noth - wendig hierauf einzugehen, weil Maupertuis Leistung noch immer mit einem gewissen historischen Nimbus umgeben ist. Fast scheint es, als ob etwas von dem frommen Glauben der Kirche in die Mechanik über - gegangen wäre. Doch ist Maupertuis Streben, einen weitern Blick zu thun, wenn auch seine Kräfte nicht zureichten, nicht ganz erfolglos gewesen. Euler, viel - leicht auch Gauss, ist durch diese Versuche angeregt worden.

5. Euler meint, man könne die Naturerscheinungen sowol aus den wirkenden Ursachen wie aus dem End -344Drittes Kapitel.zweck begreifen. Nimmt man den letztern Standpunkt ein, so wird man von vornherein vermuthen, dass jede Naturerscheinung ein Maximum oder Minimum dar - bietet. Welcher Art dieses Maximum oder Minimum sei, kann allerdings durch metaphysische Betrachtungen schwer ermittelt werden. Löst man aber z. B. mecha - nische Aufgaben in der gewöhnlichen Weise, so kann man bei genügender Aufmerksamkeit den Ausdruck finden, welcher in allen Fällen zu einem Maximum oder Minimum wird. Euler wird also durch seinen meta - physischen Hang nicht irregeführt, und geht viel wissenschaftlicher vor als Maupertuis. Er sucht einen Ausdruck, dessen Variation = o gesetzt, die gewöhn - lichen Gleichungen der Mechanik liefert.

Für einen Körper, der sich unter dem Einfluss von Kräften bewegt, findet Euler den gesuchten Ausdruck in der Form[]vds, wobei ds das Wegelement und v die zu demselben gehörige Geschwindigkeit bedeutet. Dieser Ausdruck wird nämlich für die Bahn, welche der Körper wirklich einschlägt, kleiner als für jede andere unendlich nahe Nachbarbahn mit demselben An - fangs - und Endpunkte, welche man dem Körper auf - zwingen möchte. Man kann also auch umgekehrt da - durch, dass man die Bahn sucht, welche[]vds zu einem Minimum macht, diese Bahn selbst bestimmen. Die Aufgabe[]vds zu einem Minimum zu machen, hat natürlich, wie dies Euler als selbstverständlich voraus - setzt, nur einen Sinn, wenn v von dem Orte der Ele - mente ds abhängt, wenn also für die wirkenden Kräfte der Satz der lebendigen Kräfte gilt, oder eine Kraft - function besteht, d. h. wenn v eine blosse Function der Coordinaten ist. Für die Bewegung in einer Ebene würde der Ausdruck dann die Form 〈…〉 annehmen. In den einfachsten Fällen ist der Euler’sche345Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.Satz leicht zu prüfen. Wirken keine Kräfte, so bleibt v constant und die Bewegungscurve wird eine Gerade, für welche[]vds = v[]ds zweifellos kürzer wird als für jede andere Curve zwischen denselben Endpunkten. Auch ein Körper, der sich ohne Kräfte auf einer krummen Fläche ohne Reibung bewegt, behält auf derselben seine Geschwindigkeit bei, und beschreibt auf der Fläche eine kürzeste Linie.

Betrachten wir die Bewegung eines geworfenen Körpers in einer Parabel ABC, so ist auch für die - selbe[]vds kleiner als für eine andere Nachbarcurve, ja selbst als für die Gerade ADC zwischen denselben Endpunkten. Die Geschwindigkeit hängt hier nur von der verticalen Höhe ab, welche der Körper durch - laufen hat, sie ist also für alle Curven in derselben Höhe über OC dieselbe. Theilen wir durch ein System von horizontalen Geraden die Curven in entsprechende Elemente, so fallen zwar für die obern Theile der Gera - den AD die mit denselben v zu mul - tiplicirenden Elemente kleiner aus als für AB, für die untern Theile DB, BC kehrt sich aber dieses Ver - hältniss um, und da gerade hier die grössern v ins Spiel kommen, so fällt dennoch für ABC die Summe kleiner aus.

Fig. 189.

Legen wir den Anfangspunkt der Coordinaten nach A, rechnen wir die Abscisse x vertical abwärts positiv, und nennen y die zu derselben senkrechte Ordinate, so ist 〈…〉 zu einem Mini - mum zu machen, wobei g die Beschleunigung der Schwere und a die Falltiefe bedeutet, welche der An -346Drittes Kapitel.fangsgeschwindigkeit entspricht. Die Variationsrechnung ergibt als Bedingung des Minimums 〈…〉 oder 〈…〉 oder 〈…〉 und 〈…〉 wobei C und C′ Integrationsconstante bedeuten, welche in 〈…〉 und C′ = o übergehn, wenn man für x = o, 〈…〉 und y = o nimmt, wodurch 〈…〉 wird. Man erhält also auf diesem Wege die bekannte parabolische Wurfbahn.

6. Lagrange hat später ausdrücklich hervorgehoben, dass der Euler’sche Satz nur in jenen Fällen anwend - bar ist, in welchen der Satz der lebendigen Kräfte gilt. Jacobi hat gezeigt, dass man eigentlich nicht behaupten kann, dass für die wirkliche Bewegung[]vds ein Mi - nimum ist, sondern nur, dass die Variation dieses Aus - druckes beim Uebergang zu einem unendlich nahen Nachbarweg = o wird. Diese Bedingung trifft wol im allgemeinen mit einem Maximum oder Minimum zu - sammen, sie kann aber auch statthaben, ohne dass ein Maximum oder Minimum vorhanden ist, und die Mini - mumeigenschaft insbesondere hat gewisse Grenzen. Be -347Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.wegt sich z. B. ein Körper auf einen Anstoss hin auf einer Kugelfläche, so beschreibt er einen grössten Kreis, im allgemeinen eine kürzeste Linie. Ueberschreitet aber die Länge des grössten Kreises 180°, so lässt sich leicht nachweisen, dass es dann kürzere unendlich nahe Nachbarwege zwischen den Endpunkten gibt.

7. Es ist also bisher nur gezeigt worden, dass man die gewöhnlichen Bewegungsgleichungen erhält, indem man die Variation von[]vds der Null gleichsetzt. Da nun die Eigenschaften der Bewegung der Körper oder der zugehörigen Bahnen sich immer durch der Null gleichgesetzte Differentialausdrücke definiren lassen, da ferner die Bedingung, dass die Variation eines Integral - ausdrucks der Null gleich werde, ebenfalls durch Differentialausdrücke, welche der Null gleichgesetzt werden, gegeben ist, so lassen sich ohne Zweifel noch viele andere Integralausdrücke erdenken, welche durch Variation die gewöhnlichen Bewegungsgleichungen lie - fern, ohne dass diese Integralausdrücke deshalb eine besondere physikalische Bedeutung haben müssten.

8. Auffallend bleibt es immer, dass ein so einfacher Ausdruck wie[]vds die berührte Eigenschaft hat, und wir wollen nun versuchen, den physikalischen Sinn desselben zu ermitteln. Hierbei werden uns die Ana - logien zwischen der Massenbewegung und der Licht - bewegung, sowie zwischen der Massenbewegung und dem Fadengleichgewicht sehr nützlich sein, welche von Johann Bernoulli, beziehungsweise von Möbius bemerkt worden sind.

Ein Körper, auf den keine Kraft wirkt, der also eine constante Geschwindigkeit und Richtung beibehält, be - schreibt eine Gerade. Ein Lichtstrahl in einem ho - mogenen Medium (von überall gleichem Brechungsexpo - nenten) beschreibt eine Gerade. Ein Faden, der nur an seinen Endpunkten von Kräften ergriffen wird, bil - det eine Gerade.

Ein Körper, der sich auf einer krummen Bahn von A nach B bewegt, und dessen Geschwindigkeit v =[φ](x, y, z) 348Drittes Kapitel.von den Coordinaten abhängt, beschreibt zwischen A und B eine Curve, für welche[]vds im allgemeinen ein Minimum ist. Dieselbe Curve kann ein von A nach B verlaufender Lichtstrahl beschreiben, wenn der Brechungsexponent des Mediums n =[φ](x, y, x) die - selbe Function der Coordinaten ist, und in diesem Fall wird[]nds ein Minimum. Dieselbe Curve kann end - lich auch ein von A nach B verlaufender Faden ein - nehmen, wenn dessen Spannung S =[φ](x, y, z) die obige Function der Coordinaten ist, und wieder wird für diesen Fall[]Sds ein Minimum.

Aus einem Fall des Fadengleichgewichts lässt sich der entsprechende Fall der Massenbewegung leicht in folgender Weise herleiten. An dem Element ds eines Fadens wirken zu beiden Seiten die Spannungen S, S′,

Fig. 190.

und wenn auf die Längeneinheit des Fadens die Kraft P entfällt, noch die Kraft P·ds. Diese drei Kräfte, welche wir der Grösse und Richtung nach durch BA, BC, BD darstellen, hal - ten sich das Gleichgewicht. Tritt nun ein Körper mit einer der Grösse und Richtung nach durch AB dargestellten Geschwindig - keit v in das Bahnelement ds ein, und erhält in dem - selben die Geschwindigkeitscomponente BF = BD, so geht er mit der Geschwindigkeit v′ = BC fort. Ist Q eine der P entgegengesetzte beschleunigende Kraft, so entfällt auf die Zeiteinheit die Beschleunigung Q, auf die Fadenlängeneinheit $$\frac {Q}{v}$$ und auf das Faden - element der Geschwindigkeitszuwachs $$\frac {Q}{v}$$ ds. Die Be - wegung findet also nach der Fadencurve statt, wenn wir zwischen den Kräften P und den Spannungen S am Faden einerseits, den beschleunigenden Kräften Q,349Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.welche die Masse ergreifen, und ihren Geschwindig - keiten v andererseits die Beziehung festsetzen: 〈…〉 . Durch das Zeichen ist der Gegensatz der Richtung zwischen P und Q fixirt.

Ein kreisförmiger geschlossener Faden ist im Gleich - gewicht, wenn zwischen der überall constanten Faden - spannung S und der radial auswärts auf die Längen - einheit entfallenden Kraft P die Beziehung besteht P = $$\frac {S}{r}$$ , wobei r der Kreisradius ist. Ein Körper be - wegt sich mit der constanten Geschwindigkeit v im Kreise, wenn zwischen der Geschwindigkeit und der radial einwärts wirkenden beschleunigenden Kraft Q die Beziehung besteht 〈…〉 oder 〈…〉 .

Ein Körper bewegt sich mit constanter Geschwin - digkeit v in einer beliebigen Curve, wenn stets nach der Richtung gegen den Krümmungsmittelpunkt des Elementes eine beschleunigende Kraft $$Q = \frac{v^2}{r}$$ auf den - selben wirkt. Ein Faden verläuft mit constanter Spannung S nach einer beliebigen Curve, wenn auf die Längeneinheit desselben vom Krümmungsmittelpunkt des Elementes weg eine Kraft P = $$\frac {S}{r}$$ wirkt.

In Bezug auf die Lichtbewegung ist ein dem Kraft - begriff analoger Begriff nicht gebräuchlich. Die Ab - leitung der entsprechenden Lichtbewegung aus einem Fadengleichgewicht oder einer Massenbewegung muss daher in anderer Weise stattfinden. Eine Masse be - wege sich mit der Geschwindigkeit AB = v. Fig. 191. Nach BD wirke eine Kraft, welche den Geschwindigkeits -350Drittes Kapitel.zuwachs BE bedingt, sodass durch die Zusammen - setzung der Geschwindigkeiten BC = AB und BE die neue Geschwindigkeit BF = v′ entsteht. Zerlegt man die Geschwindigkeiten v, v′ in Componenten pa - rallel und senkrecht zu jener Kraft, so erkennt man, dass nur die Parallelcomponente durch die Kraftwirkung geändert wird. Dann ist aber, wenn k die senkrechte Componente heisst, und die Winkel von v und v′ mit der Kraftrichtung mit[α],[α] bezeichnet werden, 〈…〉 〈…〉 oder 〈…〉 .

Denken wir uns einen Lichtstrahl, welcher nach der

Fig. 191.

Richtung von v eine zur Kraftrichtung senkrechte brechende Ebene durch - setzt, und hierbei aus einem Medium vom Brechungsexponenten n in ein Medium vom Brechungsexponenten n′ übergeht, wobei $$\frac {n}{n^\prime} = \frac {v}{v^\prime}$$ , so be - schreibt dieser Lichtstrahl denselben Weg, wie der gedachte Körper. Will man eine Massenbewegung durch eine Lichtbewegung (in derselben Curve) nachahmen, so hat man überall die Brechungsexponen - ten n den Geschwindigkeiten pro - portional zu setzen. Um die Brechungsexponenten n aus den Kräften abzuleiten, ergibt sich zunächst für die Geschwindigkeit 〈…〉 wobei P die Kraft und dq ein Wegelement nach der351Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.Richtung derselben bedeutet. Heisst ds das Bahnele - ment und[α]der Winkel desselben gegen die Kraft - richtung, so ist 〈…〉 . Für die Bahn eines geworfenen Körpers erhielten wir unter den oben angegebenen Voraussetzungen 〈…〉 Dieselbe parabolische Bahn kann ein Lichtstrahl be - schreiben, wenn für den Brechungsexponenten das Ge - setz 〈…〉 angenommen wird.

9. Wir wollen nun näher untersuchen, wie die frag - liche Minimumeigenschaft mit der Form der Curve zu - sammenhängt. Nehmen wir zunächst eine gebrochene Ge - rade ABC an, welche die Gerade MN durchschneidet, setzen AB = s, BC = s′, und suchen die Bedingung da - für, dass v·s+v′·s′ für die durch die festen Punkte A und B hindurchgehende Linie ein Minimum werde, wobei v und v′ oberhalb und

Fig. 192.

unterhalb MN einen verschiedenen, aber constanten Werth haben soll. Verschieben wir den Punkt B un - endlich wenig nach D, so bleibt der neue Linienzug durch A und C dem ursprünglichen parallel, wie dies die Zeichnung symbolisch andeutet. Der Werth des Ausdrucks vs+v′s′ wird hierbei um vm sin[α]+v′m sin[α] vermehrt, wenn m = DB, oder um v sin[α]+v′ sin[α].

352Drittes Kapitel.

Es ist demnach die Bedingung des Minimums, dass 〈…〉 der 〈…〉 . Soll der Ausdruck $$\frac {s}{v}+\frac {s^\prime}{v^\prime}$$ ein Minimum werden, so ergibt sich ganz analog 〈…〉 .

Wenn wir zunächst einen nach ABC gespannten Faden betrachten, dessen Spannungen S und S′ ober

Fig. 193.

und unter MN verschieden sind, so handelt es sich um das Mi - nimum von S·s+S′·s′. Um einen anschaulichen Fall vor Augen zu haben, denken wir uns den Faden zwischen A und B ein - mal, zwischen B und C dreimal gewunden, und schliesslich ein Gewicht P angehängt. Dann ist S = P, S′ = 3P. Verschieben wir den Punkt B um m, so drückt die Verminderung des Ausdrucks Ss+S′s′ die Ver - mehrung der Arbeit aus, welche das angehängte Gewicht P hierbei leistet. Ist 〈…〉 , so wird keine Arbeit geleistet. Mit dem Minimum von Ss+S′·s′ fällt also ein Maximum von Arbeitsleistung zusammen, und somit ist der Satz der kleinsten Wirkung in diesem Fall nur eine andere Form des Satzes der virtuellen Verschiebungen.

ABC sei nun ein Lichtstrahl, dessen Geschwindig - keiten v und v′ ober und unter MN sich beispiels - weise wie 3 zu 1 verhalten mögen. Ein Lichtstrahl bewegt sich zwischen A und B so, dass er in einem353Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.Minimum von Zeit von A nach B gelangt. Das hat einen einfachen physikalischen Grund. Das Licht geht in Form von Elementarwellen auf verschiedenen Wegen von A nach B. Wegen der Periodicität des Lichts zerstören sich aber die Wellen im allgemeinen, und nur die, welche in gleichen Zeiten, also mit gleichen Phasen eintreffen, geben ein Resultat. Dies findet aber nur für die Wellen statt, welche auf dem Minimumwege und dessen nächsten Nachbarwegen anlangen. Deshalb ist für den vom Lichte thatsächlich eingeschlagenen Weg $$\frac {s}{v}+\frac {s^\prime}{v^\prime}$$ ein Minimum. Da die Brechungsexponenten n den Lichtgeschwindigkeiten v umgekehrt proportionirt sind, so ist auch n·s+n′s′ ein Minimum.

Bei Betrachtung einer Massenbewegung tritt uns die Bedingung, dass vs+v′s′ ein Minimum sei, als etwas Neues ent - gegen. Erhält eine Masse beim Ueberschreiten eines Niveaus MN eine Geschwindigkeitsvermehrung von v auf v′ durch die Wirkung einer nach DB gerichteten Kraft, so ist für den wirklich eingeschlagenen Weg 〈…〉 . Diese Gleichung, welche zugleich die Bedingung des Minimums ist, drückt nichts anderes aus, als

Fig. 194.

dass nur die der Kraftrichtung parallele Ge - schwindigkeitscomponente eine Veränderung erleidet, während die zu derselben senkrechte Componente k ungeändert bleibt. Der Euler’sche Satz gibt also auch hier nur den Ausdruck einer ge - läufigen Thatsache in neuer Form.

10. Die oben angeführte Minimumbedingung 〈…〉 Mach. 23354Drittes Kapitel.können wir, wenn wir von einer endlichen geknickten Ge - raden zu Curvenelementen übergehen, auch so schreiben 〈…〉 oder 〈…〉 oder endlich 〈…〉 .

Entsprechend erhalten wir für die Fälle der Licht - bewegung 〈…〉 und für das Fadengleichgewicht 〈…〉 .

Um das Vorgebrachte gleich durch ein Beispiel zu

Fig. 195.

erläutern, betrachten wir die para - bolische Wurfbahn, wobei also[α]stets den Winkel[α]des Bahnelementes gegen die Verticale bedeutet. Die Ge - schwindigkeit sei 〈…〉 , und die Axe der y sei horizontal. Die Bedingung v · sin[α]= const, oder 〈…〉 fällt mit der - jenigen zusammen, welche die Va - riationsrechnung ergibt, und wir kennen nun den einfachen physikalischen Sinn der - selben. Denken wir uns einen Faden, dessen Spannung 〈…〉 , was etwa erreicht werden könnte, wenn man auf parallele in einer Verticalebene liegende horizon - tale Schienen Rollen ohne Reibung legen, zwischen diesen den Faden entsprechend winden, und schliesslich ein Ge - wicht anhängen würde, so erhalten wir für das Gleichge - wicht wieder die obige Bedingung, deren physikalischer355Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.Sinn nun einleuchtet. Die Form des Fadens wird pa - rabolisch, wenn wir die Distanzen der Schienen unend - lich klein werden lassen. In einem Medium, dessen Brechungsexponent nach dem Gesetz 〈…〉 oder dessen Lichtgeschwindigkeit nach dem Gesetz 〈…〉 in verticaler Richtung variirt, beschreibt ein Lichtstrahl eine parabolische Bahn. Würde man in einem solchen Medium 〈…〉 setzen, so würde der Strahl eine Cycloïde beschreiben, für welche nicht 〈…〉 , sondern 〈…〉 ein Minimum wäre.

11. Bei Vergleichung eines Fadengleichgewichts mit der Massenbewegung kann man statt des mehrfach durch - gewundenen Fadens einen ein - fachen homogenen Faden an - wenden, wenn man denselben einem passenden Kraftsystem unterwirft, welches die ver - langten Spannungen bewirkt. Man bemerkt leicht, dass die

Fig. 196.

Kraftsysteme, welche die Spannung, beziehungsweise die Geschwindigkeit, zu gleichen Functionen der Coordina - ten machen, verschieden sind. Betrachtet man z. B. die Schwerkraft, so ist 〈…〉 . Ein Faden unter dem Einfluss der Schwere bildet aber eine Kettenlinie, für welche die Spannung durch die Formel S = m nx gegeben ist, wobei m und n Constanten sind. Die Ana - logie zwischen dem Fadengleichgewicht und der Massen - bewegung ist wesentlich dadurch bedingt, dass für den Faden, der Kräften unterworfen ist, welchen eine Kraft - function U entspricht, im Gleichgewichtsfalle die leicht nachweisbare Gleichung U+S = const besteht. Die23*356Drittes Kapitel.oben für die einfachen Fälle gegebene physikalische Interpretation des Satzes der kleinsten Wirkung lässt sich auch in complicirtern Fällen festhalten, wenn man sich Scharen von Flächen gleicher Spannung, gleicher Geschwindigkeit oder gleicher Brechungsexponenten construirt denkt, welche den Faden, die Bewegungsbahn oder die Lichtbahn in Elemente theilen, und nun unter[α]den Winkel dieser Elemente gegen die zugehörigen Flächennormalen versteht. Lagrange hat den Satz der kleinsten Wirkung auf ein System von Massen ausge - dehnt, und in der Form gegeben 〈…〉 Bedenkt man, dass durch die Verbindung der Massen der Satz der lebendigen Kräfte, welcher die wesent - liche Grundlage des Satzes der kleinsten Wirkung ist, nicht aufgehoben wird, so findet man auch für diesen Fall letztern Satz gültig und physikalisch verständlich.

9. Der Hamilton’sche Satz.

1. Es wurde schon bemerkt, dass sich verschiedene Ausdrücke erdenken lassen, welche so beschaffen sind, dass durch Nullsetzung der Variationen derselben die gewöhnlichen Bewegungsgleichungen gewonnen werden. Einen solchen Ausdruck enthält der Hamilton’sche Satz 〈…〉 oder 〈…〉 in welchem[δ]U und[δ]T die Variationen der Arbeit und der lebendigen Kraft bedeuten, die aber für die An - fangs - und Endzeit verschwinden müssen. Der Hamil - ton’sche Satz ist leicht aus dem d’Alembert’schen ab - zuleiten und umgekehrt letzterer aus dem erstern, weil357Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.beide eigentlich identisch und nur der Form nach ver - schieden sind. 1Vgl. z. B. Kirchhoff, Vorlesungen über mathematische Physik, Mechanik, S. 25, und Jacobi, Vorlesungen über Dynamik, S. 58.

2. Wir wollen, von weitläufigern Untersuchungen absehend, zur Darlegung der Identität beider Sätze ein Beispiel benutzen, und zwar dasselbe, welches uns zur Erläuterung des d’Alembert’schen Satzes schon gedient hat. Wir betrachten die Bewegung des Well - rades durch Ueberwucht. Wir können statt der wirk - lichen Bewegung des Wellrades uns eine von derselben unendlich wenig verschiedene in derselben Zeit ausge - führte denken, welche zu Anfang und zu Ende mit der wirklichen genau zusammenfällt. Dadurch entstehen in jedem Zeitelement dt Aenderungen der Arbeit ([δ]U) und der lebendigen Kraft ([δ]T), derjenigen Werthe U und T, welche bei der wirklichen Bewegung vorhanden wären. Der obige Integral - ausdruck ist aber für die wirkliche Bewegung = o, und kann also auch zur Bestimmung derselben benutzt werden. Aendert sich in einem Zeitelement dt

Fig. 197.

der Drehungswinkel um[α]gegen denjenigen, welcher bei der wirklichen Bewegung vorhanden wäre, so ist die entsprechende Aenderung der Arbeit 〈…〉 .

Für die Winkelgeschwindigkeit[ω]ist die lebendige Kraft 〈…〉 , und für die Variation[α ω]wird 〈…〉 .

358Drittes Kapitel.

Variirt aber der Drehungswinkel in dem Elemente dt um[α], so ist 〈…〉 und 〈…〉 . Der Integralausdruck hat also die Form 〈…〉 Da nun 〈…〉 so ist 〈…〉

Der zweite Theil der linken Seite fällt aber, weil zu Anfang und zu Ende der Bewegung 〈…〉 vorausge - setzt wird, aus. Wir erhalten demnach 〈…〉 was, weil[α]in jedem Zeitelement willkürlich ist, nicht bestehen kann, wenn nicht allgemein 〈…〉 ist. Mit Rücksicht auf die Bedeutung der Buchstaben gibt dies die schon bekannte Gleichung 〈…〉

359Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.

Man könnte umgekehrt von der für jede mögliche Verschiebung gültigen Gleichung 〈…〉 welche der d’Alembert’sche Satz gibt, zu dem Ausdruck 〈…〉 von diesem zu 〈…〉 übergehen.

3. Als ein zweites noch einfacheres Beispiel betrach - ten wir die verticale Fallbewegung. Für jede unend - lich kleine Verschiebung s besteht die Gleichung 〈…〉 , in welcher die Buchstaben die conventionelle Bedeutung haben. Folglich besteht auch die Gleichung 〈…〉 welche vermöge der Beziehungen 〈…〉 360Drittes Kapitel.falls s an beiden Grenzen verschwindet in 〈…〉 also in die Form des Hamilton’schen Satzes übergeht.

So verschieden also die mechanischen Sätze auch aussehen, enthalten sie doch nicht den Ausdruck ver - schiedener Thatsachen, sondern gewissermaassen nur die Betrachtung verschiedener Seiten derselben That - sache.

10. Einige Anwendungen der Sätze der Mechanik auf hydrostatische und hydrodynamische Aufgaben.

1. Wir wollen die gegebenen Beispiele für die An - wendung der Sätze der Mechanik, welche sich auf Systeme von starren Körpern bezogen, noch durch einige hydrostatische und hydrodynamische Anwendungen ergänzen. Wir besprechen zunächst die Gleichge - wichtsgesetze einer schwerlosen Flüssigkeit, die nur unter dem Einfluss der sogenannten Molecularkräfte steht. Wir wollen bei unserer Ueberlegung von den Schwerkräften absehen. Wir können aber nach Plateau eine Flüssigkeit auch in Verhältnisse bringen, in welchen dieselbe sich so befindet, als ob keine Schwerkräfte vorhanden wären. Dies geschieht z. B., wenn wir Olivenöl in eine Alkohol-Wassermischung von dem specifischen Gewichte des Oels eintauchen. Nach dem Satz des Archimedes wird das Gewicht der Oeltheile in einem solchen Gemenge eben getragen und die Flüssigkeit verhält sich in der That wie schwerlos.

2. Denken wir zunächst an eine frei im Raume be - findliche schwerlose Flüssigkeitsmasse. Wir wissen von den Molecularkräften zunächst, dass sie nur auf sehr kleine Entfernungen wirken. Um ein Theilchen a, b, c im Innern der Flüssigkeitsmasse können wir mit der361Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.Entfernung, auf welche die Molecularkräfte keine mess - bare Wirkung mehr üben, als Radius eine Kugel be - schreiben, die sogenannte Wirkungssphäre. Diese Wir - kungssphäre ist um die Theilchen a, b, c herum gleich - mässig und regelmässig mit andern Theilchen erfüllt. Die resultirende Kraft auf die Theilchen a, b, c re - ducirt sich also auf Null. Nur jene Theile, deren Ent - fernung von der Oberfläche kleiner ist als der Radius der Wirkungssphäre, befinden sich in andern Kraftver - hältnissen als die Theilchen im Innern. Betrachten wir sämmtliche Krümmungsradien der Oberflächenele - mente der Flüssigkeitsmasse als sehr gross gegen den Radius der Wirkungssphäre, so können wir eine Ober - flächenschicht von der Dicke des Radius der Wirkungs - sphäre abschneiden, in welcher sich nun die Theilchen

Fig. 198.

Fig. 199.

in andern physikalischen Verhältnissen befinden als im Innern. Führen wir ein Theilchen a im Innern von a nach b oder c, so bleibt es in denselben physikalischen Verhältnissen, und dasselbe gilt von den Theilchen, welche die von dem erstern verlassenen Räume ein - nehmen. Arbeit kann auf diese Weise nicht geleistet werden. Arbeit wird im Gegentheil nur geleistet, wenn ein Theilchen aus der Oberflächenschicht ins Innere oder aus dem Innern in die Oberflächenschicht geführt wird. Arbeit kann also nur geleistet werden bei Ver - änderung der Grösse der Oberfläche. Es kommt hier - bei zunächst gar nicht darauf an, ob etwa die Dichte in der Oberflächenschicht dieselbe ist wie im Innern, oder ob sie durch die ganze Dicke der Schicht con -362Drittes Kapitel.stant ist. Wie man leicht erkennt, bleibt die Arbeits - leistung an die Veränderung der Oberfläche auch noch gebunden, wenn die fragliche Flüssigkeitsmasse in eine andere Flüssigkeit eingetaucht ist, wie dies bei Pla - teau’s Versuchen der Fall war.

Wir müssen nun fragen, ob bei Verkleinerung der Oberfläche durch Ueberführung von Theilchen ins Innere die Arbeit positiv oder negativ ist, d. h. ob Arbeit ge - leistet oder hierbei aufgewandt wird. Da zwei sich berührende Flüssigkeitstropfen von selbst in einen zu - sammenfliessen, wobei sich die Oberfläche verkleinert, so ergibt sich eine Arbeitsleistung (positive Arbeit) bei Verkleinerung der Oberfläche. Van der Mensbrughe hat die positive Arbeitsleistung bei Verkleinerung

Fig. 200.

der Flüssigkeitsoberfläche durch ein anderes sehr schönes Experi - ment demonstrirt. Man taucht ein Drahtquadrat in Seifenlösung und legt auf die sich bildende Seifen - haut einen benetzten geschlossenen Faden. Stösst man die vom Faden eingeschlossene Flüssigkeit durch, so zieht sich die umgebende Seifenhaut zusammen, und der Faden begrenzt ein kreisförmiges Loch der Flüssig - keitsplatte. Da der Kreis die grösste Fläche bei ge - gebenem Fadenumfang vorstellt, so hat sich also die übrigbleibende Flüssigkeitshaut auf ein Minimum von Fläche zusammengezogen.

Wir erkennen nun ohne Schwierigkeit Folgendes. Eine schwerlose, den Molecularkräften unterworfene Flüssigkeit wird bei jener Form im Gleichgewicht sein, bei welcher ein System von virtuellen Verschiebungen keine Veränderung der Oberflächengrösse hervorbringt. Als virtuelle Verschiebungen können aber alle unend - lich kleinen Formänderungen angesehen werden, welche ohne Veränderung des Flüssigkeitsvolums zulässig sind. Gleichgewicht besteht also für jene Formen, für welche eine unendlich kleine Deformation eine Oberflächen -363Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.variation = o hervorbringt. Für ein Minimum von Oberfläche bei gegebenem Flüssigkeitsvolum erhalten wir stabiles, für ein Maximum von Oberfläche la - biles Gleichgewicht.

Die Kugel bietet die kleinste Oberfläche bei ge - gebenem Volum dar. Für eine freie Flüssigkeitsmasse wird sich also die Kugelform als Form des stabilen Gleichgewichts herstellen, für welche ein Maximum von Arbeit geleistet ist, also keine Arbeit zu leisten mehr übrigbleibt. Haftet die Flüssigkeit zum Theil an starren Körpern, so ist die Form an Nebenbedingungen geknüpft, und die Aufgabe wird complicirter.

3. Um den Zusammenhang zwischen der Oberflächen - grösse und Oberflächenform zu untersuchen, schlagen wir folgenden Weg ein. Wir denken uns die ge - schlossene Oberfläche der Flüssigkeit ohne Volums - änderung unendlich wenig variirt. Die ursprüngliche Oberfläche zerschneiden wir durch zwei Scharen von (zu - einander senkrechten) Krüm - mungslinien in rechtwinkelige unendlich kleine Elemente. In den Ecken dieser Elemente errichten wir auf die ur - sprüngliche Oberfläche Nor -

Fig. 201.

malen und lassen durch dieselben die Ecken der ent - sprechenden Elemente der variirten Oberfläche be - stimmen. Einem Element dO der ursprünglichen Ober - fläche entspricht dann ein Element dO′ der variirten Oberfläche; dO wird in dO′ durch eine unendlich kleine Verschiebung[δ]n nach der Normale auswärts oder einwärts und eine entsprechende Grössenveränderung übergeführt.

Es seien dp, dq die Seiten des Elementes dO. Dann gelten für die Seiten dp′, dq′ des Elementes dO′ die Beziehungen 〈…〉 364Drittes Kapitel. 〈…〉 , wobei r und r′ die den Krümmungslinienelementen p, q zugehörigen Krümmungsradien, die sogenannten Haupt - krümmungsradien, vorstellen. Wir rechnen in der üb - lichen Weise den Krümmungsradius eines nach aussen convexen Elementes positiv, jenen eines nach aussen concaven Elementes negativ. Für die Variation des Elementes erhalten wir dann 〈…〉 .

Fig. 202.

Mit Vernachlässigung der höheren Potenzen von[δ]n finden wir 〈…〉 . Die Variation der gesammten Ober - fläche wird ausgedrückt durch 〈…〉 und die Normalverschiebungen müssen so gewählt werden, dass zugleich 〈…〉 d. h. die Summe der Räume, welche durch Hinaus - und Hineinschieben der Oberflächenelemente entstehen (die letztern negativ gerechnet) Null wird, dass also das Volum constant bleibt.

Die Ausdrücke 1 und 2 können nur dann beide zu - gleich allgemein = o gesetzt werden, wenn $$\frac {1}{r}+\frac {1}{r^\prime}$$ für alle Punkte der Oberfläche denselben Werth hat. Dies sehen wir leicht durch folgende Ueberlegung. Die Elemente dO der ursprünglichen Oberfläche stellen wir uns symbolisch durch die Elemente der Linie AX365Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.vor, und tragen auf dieselben als Ordinaten in der Ebene E die Normalverschiebungen[δ]n auf, und zwar die Verschiebungen auswärts nach oben als positive, die Verschiebungen einwärts nach unten als negative. Wir verbinden die Endpunkte dieser Ordinaten zu einer Curve und bilden deren Quadratur, wobei Flächen ober - halb AX als positiv, unterhalb als negativ gelten. Bei allen Systemen von[δ]n, bei welchen die Quadratur = o wird, ist auch der Ausdruck 2 der Null gleich, und alle solche Systeme von Verschiebungen sind zulässig (virtuell).

Tragen wir nun als Ordinaten in der Ebene E die zu den Elementen dO gehörigen Werthe von $$\frac {1}{r}+\frac {1}{r^\prime}$$ auf. Wir können uns jetzt leicht einen Fall denken, in welchem die Aus - drücke 1 und 2 zu - gleich den Werth Null annehmen. Hat aber $$\frac {1}{r}+\frac {1}{r^\prime}$$ einen verschiedenen Werth für verschie -

Fig. 203.

dene Elemente, so können wir immer, ohne den Null - werth des Ausdrucks 2 zu ändern, die[δ]n so verthei - len, dass der Ausdruck 1 von der Null verschieden wird. Nur wenn $$\frac {1}{r}+\frac {1}{r^\prime}$$ für alle Elemente denselben Werth hat, ist nothwendig und allgemein mit dem Aus - druck 2 zugleich der Ausdruck 1 der Null gleichge - setzt.

Aus den beiden Bedingungen 1 und 2 folgt also $$\frac {1}{r}+\frac {1}{r^\prime}$$ = const, d. h. die Summe der reciproken Werthe der Hauptkrümmungsradien (oder der Krümmungsradien der Hauptnormalschnitte) ist im Gleichgewichtsfalle über die ganze Oberfläche constant. Durch diesen Satz366Drittes Kapitel.ist die Abhängigkeit der Oberflächengrösse von der Oberflächenform klargelegt. Der hier entwickelte Ge - dankengang wurde zuerst in viel ausführlicherer und umständlicherer Weise von Gauss eingeschlagen. Es hat aber keine Schwierigkeit, das Wesentliche desselben an einem einfachern Fall, wie es hier geschehen ist, in Kürze darzustellen.

4. Eine ganz freie Flüssigkeitsmasse nimmt, wie be - reits erwähnt, die Kugelform an, und bietet ein abso - lutes Minimnm der Oberfläche dar. Die Gleichung $$\frac {1}{r}+\frac {1}{r^\prime}$$ = const wird hier in der Form $$\frac {2}{R}$$ = const, wobei R der Kugelradius ist, sichtlich erfüllt. Wird die freie Flüssigkeitsoberfläche durch zwei starre Kreis - ringe begrenzt, deren Ebenen einander parallel sind, und welche so liegen, dass die Verbindungslinie der Mittelpunkte zu jenen Ebenen senkrecht ist, so nimmt die Oberfläche die Form einer Rotationsfläche an. Die Natur der Meridiancurve und das von der Fläche ein - geschlossene Volum sind durch den Radius der Ringe R, den Abstand der Kreisebenen und den Werth der Summe $$\frac {1}{r}+\frac {1}{r^\prime} = 0$$ , wobei also ein Normalschnitt con - vex, der andere concav ist, wird die Meridiancurve eine Kettenlinie. Plateau hat die hierher gehörigen Fälle dargestellt, indem er 2 Kreisringe aus Draht in dem Alkohol-Wassergemisch mit Oel übergossen hat.

Wir denken uns eine Flüssigkeitsmasse, welche von Flächentheilen begrenzt ist, für welche der Ausdruck $$\frac {1}{r}+\frac {1}{r^\prime}$$ einen positiven, und von andern Flächen -367Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.theilen, für welche derselbe einen negativen Werth hat, oder wie wir kurz sagen wollen, von convexen und concaven Flächentheilen. Unschwer erkennt man, dass die Verschiebung der Flächenelemente nach der Nor - male auswärts an concaven Flächentheilen eine Ver - kleinerung, an convexen eine Vergrösserung der Fläche zur Folge hat. Es wird also Arbeit geleistet, wenn concave Flächentheile auswärts, convexe einwärts sich bewegen. Es wird auch schon Arbeit geleistet, wenn ein Flächentheil sich auswärts bewegt, an welchem $$\frac {1}{r}+\frac {1}{r^\prime} = +a$$ ist, während ein gleicher Flächentheil, für welchen $$\frac {1}{r}+\frac {1}{r^\prime} > a$$ ist, sich einwärts bewegt.

Solange also verschieden gekrümmte Flächentheile eine Flüssigkeitsmasse begrenzen, werden die convexen Theile einwärts, die concaven auswärts getrieben, bis die Bedingung $$\frac {1}{r}+\frac {1}{r^\prime}$$ = const für die ganze Ober - fläche erfüllt ist. Auch wenn eine zusammen - hängende Flüssigkeitsmasse mehrere gesonderte Ober - flächentheile hat, welche durch starre Körper begrenzt sind, muss für den Gleichgewichtszustand der Werth des Ausdrucks $$\frac {1}{r}+\frac {1}{r^\prime}$$ für alle freien Oberflächen - theile derselbe sein.

Wenn man z. B. den Raum zwischen den beiden er - wähnten Kreisringen (im Alkohol-Wassergemisch) mit Oel erfüllt, so kann man bei passender Oelmenge eine Cylinderfläche erhalten, die mit zwei Kugelabschnitten als Basisflächen combinirt ist. Die Krümmungen der Mantel - und Basisflächen stehen nun in der Beziehung 〈…〉 oder[ρ]= 2R, wobei[ρ]den Kugel - radius und R den Radius des Kreisringes vorstellt. Plateau hat diese Folgerung durch den Versuch be - stätigt.

368Drittes Kapitel.

5. Betrachten wir eine schwerlose Flüssigkeitsmasse, welche einen Hohlraum umschliesst. Die Bedingung, dass $$\frac {1}{r}+\frac {1}{r^\prime}$$ denselben Werth für die innere und äussere Oberfläche der Flüssigkeit haben soll, ist hier nicht erfüllbar. Im Gegentheil, da diese Summe für die geschlossene äussere Fläche immer einen grössern positiven Werth hat, als für die geschlossene innere Fläche, so wird die Flüssigkeit Arbeit leistend von der äussern nach der innern Fläche strömen und den Hohl - raum zum Verschwinden bringen. Hat aber der Hohl - raum einen flüssigen oder gasförmigen Inhalt, der unter einem gewissen Druck steht, so kann die bei dem er - wähnten Vorgang geleistete Arbeit durch die bei der Compression aufgewandte Arbeit compensirt werden, und dann tritt Gleichgewicht ein.

Fig. 204.

Denken wir uns eine Flüssigkeit, welche zwischen zwei einander sehr nahe liegen - den ähnlichen und ähnlich liegenden Flächen eingeschlossen ist. Eine solche Flüssigkeit stellt eine Blase vor. Sie kann nur mit Hülfe eines Ueberdruckes des eingeschlossenen Gasinhaltes im Gleich - gewicht sein. Hat die Summe $$\frac {1}{r}+\frac {1}{r^\prime}$$ für die äussere Fläche den Werth + a, so hat sie für die innere Fläche sehr nahe den Werth a. Eine ganz freie Blase wird stets die Kugelform annehmen. Denken wir uns eine derartige kugelförmige Blase, von deren Dicke wir absehen, so beträgt bei Verkleinerung des Radius r um dr die gesammte Oberflächenver - minderung 16·r[π]dr. Wird also für die Verminderung der Oberfläche um die Flächeneinheit die Arbeit A ge - leistet, so ist A·16r[π]dr die gesammte Arbeit, welche im Gleichgewichtsfalle durch die auf den Inhalt vom Drucke p aufgewendete Compressionsarbeit p·4r2[π]dr369Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.compensirt sein muss. Hieraus folgt 〈…〉 , aus welcher Gleichung sich A berechnen lässt, wenn r ge - messen und p durch ein in die Blase eingeführtes Ma - nometer bestimmt wird.

Eine offene kugelförmige Blase kann nicht be - stehen. Soll eine offene Blase eine Gleichgewichtsform sein, so muss die Summe $$\frac {1}{r}+\frac {1}{r^\prime}$$ nicht nur über jede der beiden Grenzflächen für sich constant, sondern sie muss auch für beide gleich sein. Bei der entgegen - gesetzten Krümmung derselben folgt $$\frac {1}{r}+\frac {1}{r^\prime} = 0$$ . Hierbei ist also für alle Punkte r = r′. Die Fläche ist eine sogenannte Fläche von nullgleicher Krümmung, sie ist eine Minimumfläche und ihre Elemente sind, wie leicht ersichtlich, stets sattelförmig. Man erhält solche Flächen, indem man irgendeine geschlossene Raumcurve aus Draht darstellt und diesen Draht in Seifenlösung taucht. Die Seifenhaut nimmt von selbst die Form der erwähnten Fläche an.

6. Die Gleichgewichtsfiguren der Flüssigkeiten, welche aus dünnen Häuten bestehen, haben eine besondere Eigenschaft. Die Arbeit der Schwerkräfte äussert sich an der ganzen Masse der Flüssigkeit, die Arbeit der Molecularkräfte nur an einer Oberflächenschicht. Im allgemeinen überwiegt die Arbeit der Schwerkraft. Bei dünnen Häuten treten aber die Molecularkräfte in ein sehr günstiges Verhältniss zu den Schwer - kräften, so zwar, dass die betreffenden Figuren ohne besondere Veranstaltung in der freien Luft darge - stellt werden können. Derartige Figuren erhielt Pla - teau durch Eintauchen des Kantengerüstes eines Poly - ëders (aus Draht) in Seifenlösung. Es bilden sich hier - bei ebene Flüssigkeitsplatten, welche mit den Draht - kanten und untereinander zusammenhängen. Wenn ebene dünne Flüssigkeitsplatten so zusammenhängen, dass sieMach. 24370Drittes Kapitel.in einer (hohlen) Kante aneinanderstossen, so ist für die Flüssigkeitsoberfläche das Gesetz $$\frac {1}{r}+\frac {1}{r^\prime}$$ = const nicht mehr erfüllt, denn diese Summe hat für die ebenen Flächen den Werth Null, für die hohle Kante aber einen sehr grossen negativen Werth. Nach den bisher gewonnenen Anschauungen sollte also die Flüssigkeit aus den Platten, deren Dicke immer geringer würde, ausströmen und bei den Kanten austreten. Diese Be - wegung findet auch statt. Wenn aber die Dicke der Platten bis zu einer gewissen Grenze abgenommen hat, so tritt aus physikalischen Gründen, welche, wie es scheint, noch nicht vollkommen bekannt sind, ein Gleichgewichtszustand ein.

Wenn auch an diesen Figuren die Grundgleichung $$\frac {1}{r}+\frac {1}{r^\prime}$$ = const nicht mehr erfüllt ist, weil sehr dünne Flüssigkeitsplatten (namentlich zäher Flüssigkeiten) etwas andere physikalische Verhältnisse darbieten, als die - jenigen, von welchen wir ausgegangen sind, so zeigen auch diese Figuren noch immer ein Minimum der Ober - fläche. Die Flüssigkeitsplatten, welche mit den Drath - kanten und untereinander in Zusammenhang bleiben, stossen immer zu je dreien unter nahe gleichen Winkeln von 120° in einer Kante zusammen, und je 4 Kanten schneiden sich abermals unter nahe gleichen Winkeln in einer Ecke. Es lässt sich geometrisch nachweisen, dass diese Verhältnisse einem Minimum von Oberfläche entsprechen. In der ganzen Mannichfaltigkeit der hier besprochenen Erscheinungen drückt sich also immer nur die Thatsache aus, dass die Molecularkräfte durch Verminderung der Oberfläche (positive) Arbeit leisten.

7. Die Gleichgewichtsfiguren, welche Plateau durch Eintauchen der Kantengerüste von Polyëdern in Seifen - lösung erhielt, bilden Systeme von Flüssigkeitsplatten, die eine wunderbare Symmetrie darbieten. Es drängt sich da die Frage auf: Was hat das Gleichgewicht über -371Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.haupt mit Symmetrie und Regelmässigkeit zu schaffen? Die Aufklärung liegt nahe. An jedem symmetrischen System ist zu jeder symmetriestörenden Deformation eine gleiche entgegengesetzte möglich. Beiden entspricht zu - gleich eine positive oder eine negative Arbeit. Eine, wenn auch nicht hinreichende, Bedingung dafür, dass der Gleichgewichtsform ein Maximum oder Minimum von Arbeit entspreche, ist somit durch die Symmetrie erfüllt. Regelmässigkeit ist mehrfache Symmetrie. Wir dürfen uns also darüber nicht wundern, dass die Gleichge - wichtsformen oft symmetrisch und regelmässig sind.

8. Die mathematische Hydrostatik hat sich an einer speciellen Aufgabe, betreffend die Gestalt der Erde,

Fig. 205.

entwickelt. Physikalische und astronomische Anhalts - punkte führten bekanntlich Newton und Huyghens zu der Ansicht, dass die Erde ein abgeplattetes Rotations - ellipsoïd sei. Newton versuchte diese Abplattung zu berechnen, indem er sich die rotirende Erde als flüssig dachte, und annahm, dass alle von der Oberfläche zum Centrum geführten Flüssigkeitsfäden auf letzteres den - selben Druck ausüben müssten. Huyghens hingegen ging von der Annahme aus, dass die Kraftrichtungen auf den Oberflächenelementen senkrecht seien. Bouguer ver - einigt beide Annahmen. Clairault endlich zeigt (Théorie de la figure de la terre, Paris 1743), dass auch die Er - füllung beider Bedingungen das Bestehen des Gleich - gewichts nicht sichert.

Clairault geht von folgender Ueberlegung aus. Wenn24*372Drittes Kapitel.die flüssige Erde im Gleichgewicht ist, so können wir uns ohne Störung des Gleichgewichts einen beliebigen Theil derselben erstarrt denken, sodass nur ein mit Flüssigkeit gefüllter Kanal AB von beliebiger Form übrigbleibt, in welchem die Flüssigkeit ebenfalls im Gleichgewicht sein wird. Das Gleichgewicht in einem solchen Kanal ist nun leichter zu untersuchen. Besteht es in jedem derartigen denkbaren Kanal, so ist auch die ganze Masse im Gleichgewicht. Nebenbei bemerkt Clairault, dass man den Newton’schen Grundsatz erhält, wenn man den Kanal durch das Centrum (wie Fig. 205 in 2), und den Huyghens’schen, wenn man denselben an der Oberfläche führt, wie in 3.

Der Kern der Frage liegt aber nach Clairault in einer andern Bemerkung. In jedem denkbaren Kanal, auch in einem in sich zurücklaufenden, muss die Flüssigkeit

Fig. 206.

Fig. 207.

im Gleichgewicht sein. Wenn also der Kanal Fig. 206 an den beliebigen Stellen M und N quer durchschnitten wird, so müssen beide Flüssigkeitssäulen MPN und MQN auf die Schnittflächen bei M und N den gleichen Druck ausüben. Der Druck der Flüssigkeitssäule in einem Kanal an den Enden darf also gar nicht von der Länge und Form der Säule, sondern nur von der Lage der Enden abhängen.

Denken wir uns einen Kanal MN Fig. 207 von beliebiger Form in der fraglichen Flüssigkeit auf ein rechtwinkeliges Coordinatensystem bezogen. Die Flüssigkeit sei von der constanten Dichte[ρ]und die Kraftcomponenten X, Y, Z373Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.nach den Coordinatenrichtungen, welche auf die Massen - einheit der Flüssigkeit wirken, seien Functionen der Coordinaten x, y, z dieser Masse. Ein Längenelement des Kanals heisse ds, dessen Projectionen auf die Axen seien dx, dy, dz. Die Kraftcomponenten, welche nach der Richtung des Kanals auf die Masseneinheit wirken, sind dann 〈…〉 . Die Gesammtkraft, welche das Massenelement[ρ]qds des Kanals, wobei q der Querschnitt, nach der Richtung von ds treibt, ist 〈…〉 Dieselbe muss durch den Zuwachs des Druckes beim Durchschreiten des Längenelementes im Gleichgewicht gehalten werden, und ist also q·dp gleichzusetzen. Wir erhalten demnach dp =[ρ](Xdx+Ydy+Zdz). Der Unterschied des Druckes (p) zwischen den Enden M und N ergibt sich, wenn man diesen Ausdruck von M bis N integrirt. Da aber dieser Unterschied gar nicht von der Form des Kanals, sondern nur von der Lage der Enden M und N abhängen soll, so muss[ρ](Xdx+Ydy+Zdz), oder bei constanter Dichte auch Xdx+Ydy+Zdz, ein vollständiges Differential sein. Hierzu ist bekanntlich nothwendig, dass 〈…〉 wobei U eine Function der Coordinaten vorstellt. Das Gleichgewicht einer Flüssigkeit ist also nach Clairaultüberhaupt nur möglich, wenn dieselbe von Kräften beherrscht wird, welche sich als die partiellen Ableitungen einer und derselben Function der Coordinaten darstellen lassen.

9. Die Newton’schen Schwerkräfte, und überhaupt alle Centralkräfte, d. h. solche Kräfte, welche die Massen nach den Richtungen ihrer Verbindungslinien ausüben, und welche Functionen der Entfernungen dieser Massen374Drittes Kapitel.voneinander sind, haben die verlangte Eigenschaft. Unter dem Einfluss solcher Kräfte kann das Gleichge - wicht der Flüssigkeiten bestehen. Kennen wir die Function U, so können wir die obige Gleichung durch 〈…〉 oder dp =[ρ]dU und p =[ρ]U+ const · ersetzen.

Der Inbegriff aller Punkte, für welche U = const, ist eine Fläche, die sogenannte Niveaufläche. Für die - selbe ist auch p = const. Da durch die Natur der Function U alle Kraftverhältnisse, und wie wir eben sehen, auch alle Druckverhältnisse bestimmt sind, so geben die Druckverhältnisse eine Abbildung der Kraft - verhältnisse, wie dies bereits S. 91 bemerkt worden ist.

In der eben vorgeführten Betrachtung Clairault’s liegt unzweifelhaft der Grundgedanke der Lehre von der Kraftfunction oder vom Potential, welche später so erfolgreich von Laplace, Poisson, Green, Gauss u. A. ent - wickelt worden ist. Ist einmal die Aufmerksamkeit auf die erwähnte Eigenschaft gewisser Kräfte, sich als Ableitungen derselben Function U darzustellen, hinge - lenkt, so erkennt man es sofort als sehr vortheilhaft und ökonomisch, statt der Kräfte selbst die Function U zu untersuchen.

Wenn wir die Gleichung 〈…〉 betrachten, so sehen wir, dass Xdx+Ydy+Zdz das Element der Arbeit vorstellt, welche die Kräfte an der Masseneinheit der Flüssigkeit bei der Verschiebung ds (deren Projectionen dx, dy, dz sind) leisten. Führen wir also die Masseneinheit von einem Punkt, für welchen U = C1 ist, über zu irgendeinem andern Punkt, für welchen U = C2 ist, oder allgemeiner von der Fläche U = C1 zur Fläche U = C2, so haben wir, gleichgültig auf welchem Wege die Ueberführung geschah, dieselbe Arbeit geleistet. Zugleich bieten alle Punkte der ersten375Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.Fläche in Bezug auf jene der zweiten Fläche dieselbe Druckdifferenz dar, so zwar, dass 〈…〉 , wobei die mit demselben Index bezeichneten Grössen derselben Fläche angehören.

10. Denken wir uns eine Schar solcher sehr nahe aneinander liegender Flächen, von welchen je zwei auf - einander folgende um denselben sehr kleinen Arbeits - betrag verschieden sind, also die Flächen U = C, U = C+dC, U = C+2dC u. s. w.

Man erkennt, dass eine Masse in einer und der - selben Fläche verschoben keine Arbeit leistet. Die Kraftcomponente, welche in das Flächenelement ent - fällt, ist demnach = o. Die Richtung der Ge - sammtkraft, welche auf die Masse wirkt, steht dem - nach überall senkrecht auf dem Flächenelement. Nennen wir dn das Ele - ment der Normalen, wel - ches zwischen zwei auf -

Fig. 208.

einander folgende Flächen liegt, und f die Kraft, welche eine Masseneinheit durch dieses Element von der einen zur andern Fläche überführt, so ist die Arbeit f·dn = dC. Die Kraft 〈…〉 , weil dC als constant vorausge - setzt wurde, ist überall umgekehrt proportional dem Abstände der betrachteten Flächen. Sind also einmal die Flächen U bekannt, so sind die Kraftrichtungen durch die Elemente einer Schar von Curven gegeben, die auf diesen Flächen überall senkrecht stehen, und die Abstände der Flächen veranschaulichen uns die Grösse der Kräfte. Diese Flächen und Curven be - gegnen uns auch in den übrigen Gebieten der Physik. 376Drittes Kapitel.Wir finden sie als Potentialniveaus und Kraftlinien im Gebiete der Elektrostatik und des Magnetismus, als Isothermenflächen und Stromlinien im Gebiete der Wärmeleitung, als Niveauflächen und Stromcurven bei Betrachtung der elektrischen und Flüssigkeitsströmungen.

11. Wir wollen nun den Hauptgedanken Clairault’s noch durch ein sehr einfaches Beispiel erläutern. Wir denken uns zwei zueinander senkrechte Ebenen, welche die Ebene des Papiers in den Geraden OX und OY senkrecht schneiden. Wir nehmen an, es gebe eine Kraftfunction U = xy, wobei x, y die Abstände von jenen beiden

Fig. 209.

Ebenen bedeuten. Dann sind die Kraft - componenten parallel zu OX und OY be - ziehungsweise 〈…〉 und 〈…〉 .

Die Niveauflächen sind Cylinderflächen, deren Erzeugende senkrecht zur Ebene des Papiers stehen, und deren Leitlinien, xy = const, gleichseitige Hyperbeln sind. Die Kraftlinien erhält man, wenn man in der Zeichnungsebene das ersterwähnte Cur - vensystem um 45° um O dreht. Uebergeht die Massen - einheit von dem Punkte r nach O auf dem Wege rpO, oder rqO, oder auf irgendeinem andern Wege, so ist die geleistete Arbeit stets op×oq. Denken wir uns einen geschlossenen mit Flüssigkeit gefüllten Kanal OprqO, so ist die Flüssigkeit in demselben im Gleichgewicht. Legen wir an irgendwelchen zwei Stellen Querschnitte, so er - leidet jeder derselben von beiden Seiten denselben Druck.

377Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.

Wir wollen nun das Beispiel ein wenig modificiren. Die Kräfte seien nun X = y, Y = a, wobei a einen constanten Werth hat. Es gibt jetzt keine Function U von der Beschaffenheit, dass 〈…〉 und 〈…〉 wäre, denn hierzu müsste 〈…〉 sein, was augenscheinlich nicht zutrifft. Es gibt also keine Kraftfunction und auch keine Niveauflächen. Führt man die Masseneinheit von r über p nach O, so ist die geleistete Arbeit a×Oq. Findet die Ueber - führung auf dem Wege rqO statt, so ist hingegen die Arbeit a×Oq+Op×Oq. Wäre der Kanal OprqO mit Flüssigkeit erfüllt, so könnte dieselbe nicht im Gleichgewicht sein, sondern müsste in dem Sinne OprqO fortwährend rotiren. Derartige in sich zurücklaufende und endlos fortbestehende Ströme erscheinen uns als etwas unserer Erfahrung durchaus Fremdes. Hiermit ist aber die Aufmerksamkeit auf eine wichtige Eigen - schaft der Naturkräfte geleitet, auf die Eigenschaft nämlich, dass die von denselben geleistete Arbeit als eine Function der Coordinaten dargestellt werden kann. Wo wir Ausnahmen von diesem Satz bemerken, sind wir geneigt dieselben für scheinbare zu halten, und sind bemüht, uns dieselben aufzuklären.

12. Wir betrachten nun einige Fälle der Flüssig - keitsbewegung. Der Begründer der Lehre von der - selben ist Torricelli. Durch Beobachtung der aus der Bodenöffnung eines Gefässes ausfliessenden Flüssig - keit fand er folgenden Satz. Wenn man die Zeit der Entleerung eines Gefässes in n gleiche Theile theilt, und die in dem letzten (n) ten Theile ausgeflossene Menge als Einheit annimmt, so fliesst in dem (n 1) ten (n 2) ten, (n 3) ten u. s. w. Theil beziehungsweise die Menge 3, 5, 7 u. s. w. aus. Die Aehnlichkeit zwischen der Fallbewegung und der Flüssigkeitsbewegung tritt bei dieser Beobachtung klar hervor. Nun bietet sich leicht378Drittes Kapitel.die Bemerkung dar, dass sich die sonderbarsten Folgerungen ergeben würden, wenn die Flüssigkeit, mit Hülfe ihrer aufwärts gekehrten Ausflussgeschwindigkeit sich über den Spiegel der Flüssigkeit im Gelasse erheben könnte. Torricelli bemerkt auch, dass sie höchstens bis zu dieser Höhe steigen kann, und nimmt an, dass sie genau zu dieser Höhe steigen würde, wenn man alle Widerstände beseitigen könnte. Von den Widerständen abgesehen, ist also die Ausflussgeschwin - digkeit v aus der Bodenöffnung eines Gefässes an die Höhe der Flüssigkeit h in dem Gefässe durch die Gleichung gebunden 〈…〉 , d. h. die Ausflussge - schwindigkeit ist die Endgeschwindigkeit, welche beim freien Fall durch die Druckhöhe h erlangt würde, denn mit dieser Geschwindigkeit kann die Flüssigkeit eben wieder bis zu dem Spiegel aufsteigen. *Die ältern Forscher leiten ihre Sätze in der unvollstän - digen Form von Proportionen ab, und setzen daher meist nur v proportional 〈…〉 oder 〈…〉 .

Der Satz von Torricelli schliesst sich unsern übrigen Erfahrungen gut an, allein man empfindet noch das Bedürfniss einer genaueren Einsicht. Varignon hat ver - sucht, den Satz aus der Beziehung zwischen der Kraft und der von derselben erzeugten Bewegungsquantität abzuleiten. Die bekannte Beziehung pt = mv gibt in dem vorliegenden Falle, wenn wir mit[α]die Fläche der Bodenöffnung, mit h die Druckhöhe, mit s das specifische Gewicht, mit g die Beschleunigung frei fallender Körper, mit v die Ausflussgeschwindigkeit, und mit[τ]einen kleinen Zeittheil bezeichnen 〈…〉 . Hierbei stellt[α]hs den durch die Zeit[τ]auf die Flüssigkeitsmasse 〈…〉 wirkenden Druck vor. Be -379Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.rücksichtigen wir noch, dass v eine Endgeschwindigkeit ist, so erhalten wir genauer 〈…〉 und die richtige Formel v2 = 2gh.

13. Daniel Bernoulli hat die Flüssigkeitsbewegungen mit Hülfe des Satzes der lebendigen Kräfte unter - sucht. Wir wollen den vorliegenden Fall von diesem Ge - sichtspunkte aus behandeln, den Gedanken aber in etwas mehr moderner Form durchführen. Die Gleichung, die wir zu verwenden haben, ist 〈…〉 . In einem Ge - fäss Fig. 210 von dem Querschnitte q, in welchem Flüssig - keit vom specifischen Gewicht s auf die Druckhöhe h eingegossen ist, sinkt der Spiegel um die kleine Grösse dh, und es tritt hierbei die Flüssigkeitsmasse 〈…〉 mit der Geschwindigkeit v aus. Die geleistete Arbeit ist dieselbe, als ob das Gewicht q·dh·s durch die Höhe

Fig. 210.

h gesunken wäre. Auf die Bewegungsform im Ge - fässe kommt es hierbei gar nicht an. Es ist einer - lei, ob die Schicht q·dh direct durch die Boden - öffnung herausfällt, oder sich nach a begibt, während die Flüssigkeit von a nach b, jene von b nach c verdrängt wird, und jene von c ausfliesst. Die Arbeit bleibt immer q·dh·s·h. Indem wir diese Arbeit der lebendigen Kraft der ausgeflossenen Flüssigkeit gleichsetzen, finden wir 〈…〉 oder 〈…〉 .

380Drittes Kapitel.

Nur die Voraussetzung wird bei dieser Entwickelung gemacht, dass die gesammte im Gefäss geleistete Ar - beit als lebendige Kraft der ausgeflossenen Flüssigkeit erscheint, dass also die Geschwindigkeiten im Gefässe selbst und die daselbst durch Reibung aufgezehrten Arbeiten vernachlässigt werden können. Diese Vor - aussetzung entfernt sich bei genügend weiten Gefässen nicht sehr von der Wahrheit.

Sehen wir von der Schwere der Flüssigkeit in dem Gefäss ab, und denken wir uns dieselbe durch einen beweglichen Kolben, auf dessen Flächeneinheit der Druck p entfällt, belastet. Bei Verschiebung des Kolbens um die Strecke dh tritt das Flüssigkeitsvolum q·dh aus. Nennen wir[ρ]die Dichte der Flüssigkeit und v deren Geschwindigkeit, so ist 〈…〉 Unter demselben Druck strömen also verschiedene Flüssigkeiten mit Geschwindigkeiten aus, welche der Wurzel ihrer Dichte umgekehrt proportionirt sind. Man meint gewöhnlich diesen Satz unmittelbar auf die Gase übertragen zu können. Die Form desselben ist auch richtig, die Ableitung aber, die man häufig an - wendet, schliesst einen Irrthum ein, wie wir sofort sehen werden.

14. Wir betrachten zwei nebeneinander befindliche Gefässe Fig. 211, welche durch eine kleine Wandöffnung am Boden miteinander verbunden sind. Zur Bestimmung der Druckflussgeschwindigkeit durch diese Oeffnung er - halten wir, unter denselben Voraussetzungen wie vorher, 〈…〉 oder 〈…〉 . Sehen wir von der Schwere der Flüssigkeit ab, und denken uns in den Gefässen durch Kolben den Druck p1 und p2 hervorgebracht, so ist 〈…〉 . 381Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.Wären beispielsweise die gleichen Kolben mit den Gewichten P und $$\frac {P}{2}$$ belastet, so würde das Gewicht P um die Höhe h sinken, und $$\frac {P}{2}$$ sich um dieselbe Höhe erheben, sodass die geleistete Arbeit $$\frac {P}{2}$$ h übrig - bliebe, welche die lebendige Kraft der durchfliessenden Flüssigkeit erzeugen würde.

Ein Gas würde sich unter den angegebenen Um - ständen anders verhalten. Ueberströmt es aus dem Gefäss mit der Belastung P in jenes mit der Be - lastung $$\frac {P}{2}$$ , so sinkt ersteres Gewicht um h, letzteres aber, da sich das Gas unter dem halben Druck auf das doppelte Volum ausdehnt, steigt um 2h, sodass also die Arbeit Ph $$\frac {P}{2}$$ 2h = o verrich - tet wird. Es muss also im Fall eines Gases noch eine andere Arbeit ge - leistet werden, welche das Durch - fliessen bewirkt. Diese Arbeit leistet das Gas selbst, indem es sich ausdehnt, und durch seine Expansivkraft

Fig. 211.

einen Druck überwindet. Die Expansivkraft p und das Volum w eines Gases stehen in der bekannten Be - ziehung pw = k, wobei k eine Constante ist (so lange die Temperatur des Gases unverändert bleibt). Dehnt sich das Gasvolum unter dem Druck p um dw aus, so ist die geleistete Arbeit 〈…〉 . Bei Ausdehnung von w bis w, oder von dem Druck p bis p, finden wir die Arbeit 〈…〉 .

382Drittes Kapitel.

Denken wir uns durch diese Arbeit das Gasvolum w von der Dichte[ρ]mit der Geschwindigkeit v be - wegt, so erhalten wir 〈…〉 Die Durchflussgeschwindigkeit bleibt also der Wurzel der Dichte verkehrt proportionirt, allein der Betrag derselben ist verschieden von demjenigen, welcher nach der frühern Auffassung sich ergeben würde. Wir können die Bemerkung nicht unterlassen, dass auch diese Betrachtung sehr mangelhaft ist. Rasche Volum - änderungen eines Gases sind immer mit Temperatur - veränderungen und folglich auch mit Aenderungen der Spannkraft verbunden. Fragen über die Be - wegung der Gase können also überhaupt nicht als blosse mechanische Fragen behandelt werden, sondern sind immer zugleich Wärmefragen.

15. Da wir eben gesehen haben, dass ein compri - mirtes Gas eine Arbeit enthält, so liegt es nahe, zu untersuchen, ob dies nicht auch bei einer comprimirten Flüssigkeit der Fall ist. In der That ist jede Flüssig - keit, welche unter einem Drucke steht, comprimirt. Zur Compression gehört Arbeit, welche wieder zum Vorschein kommt, sobald sich die Flüssigkeit ausdehnt. Allein bei den tropfbaren Flüssigkeiten ist diese Arbeit sehr klein. Stellen wir uns Fig. 212 ein Gas und eine tropfbare Flüssigkeit unter gleichem Volum (welches wir durch OA messen) und unter gleichem Druck (den wir durch AB bezeichnen), etwa unter dem Druck einer Atmosphäre vor. Sinkt der Druck auf eine halbe Atmosphäre, so steigt das Volum des Gases auf das Doppelte, jenes der Flüssigkeit aber nur um etwa 25 Millionstheile des ursprünglichen Volums. Die Aus - dehnungsarbeit für das Gas wird durch die Fläche383Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.ABDC, für die Flüssigkeit durch ABLK vorge - stellt, wobei aber AK = 0·000025OA zu setzen ist. Lassen wir den Druck bis auf Null abnehmen, so ist die ganze Arbeit der Flüssigkeit durch die Fläche ABI, wobei AI = 0·00005OA, jene des Gases aber durch die zwischen AB, der unendlichen Geraden ACEG und dem unendlichen Hyperbelast ADFH eingeschlossene Fläche dargestellt. Die Ausdehnungs - arbeit der Flüssigkeiten kann also gewöhnlich vernach - lässigt werden. Es gibt aber Vorgänge, z. B. die

Fig. 212.

tönenden Schwingungen der Flüssigkeiten, wobei eben Arbeiten dieser Art und Ordnung die Hauptrolle spie - len. In diesem Falle sind dann auch die zugehörigen Temperaturänderungen der Flüssigkeit zu beachten. Es ist also lediglich einem glücklichen Zusammentreffen der Umstände zu danken, wenn ein Vorgang mit hin - reichender Annäherung als ein rein mechanischer be - trachtet werden kann.

16. Wir besprechen nun den Hauptgedanken, den Daniel Bernoulli (1738) in seiner Hydrodynamik durchzu - führen sucht. Wenn eine Flüssigkeitsmasse sinkt, so ist die Falltiefe ihres Schwerpunktes. (descensus actualis) gleich der möglichen Steighöhe des Schwerpunktes der mit ihren erlangten Geschwindigkeiten behafteten und voneinander befreiten Flüssigkeitstheile (ascensus poten - tialis). Ohne Schwierigkeit erkennen wir diesen Ge - danken als identisch mit dem schon von Huyghens ver -384Drittes Kapitel.wendeten. Wir denken uns ein mit Flüssigkeit gefülltes Gefäss, und nennen den horizontalen Querschnitt des - selben in dem Abstande x von der durch die Boden - öffnung bestimmten Horizontalebene f (x). Die Flüssig - keit bewege sich, und der Spiegel derselben sinke um dx. Der Schwerpunkt sinkt hierbei um 〈…〉 , wobei 〈…〉 . Ist k die potentielle Steighöhe der Flüssigkeit in dem Querschnitte, welcher der Flächeneinheit gleich ist, so beträgt sie 〈…〉 in dem Querschnitte f (x), und die potentielle Steighöhe des

Fig. 213.

Schwerpunktes ist 〈…〉 wobei 〈…〉 Für eine Verschiebung des Flüssigkeits - spiegels um dx ergibt sich nach dem ausgesprochenen Princip, da sich hierbei sowol N als k ändert xf (x) dx = Ndk+kdN, welche Gleichung von Bernoulli zur Lösung verschie - dener Aufgaben benutzt wird. Man sieht leicht, dass der Bernoulli’sche Satz nur dann mit Erfolg angewendet werden kann, wenn die Verhältnisse der Geschwindig - keiten der einzelnen Flüssigkeitstheile zueinander be - kannt sind. Bernoulli setzt, wie man schon aus den angeführten Formeln erkennt, voraus, dass alle Theile, welche sich zu irgendeiner Zeit in einer Horizontal - ebene befinden, immer in einer Horizontalebene bleiben, und dass die Geschwindigkeiten in verschiedenen Hori - zontalebenen sich umgekehrt wie die Querschnitte ver - halten. Es ist dies die Voraussetzung des Parallelis - mus der Schichten . Dieselbe entspricht den That -385Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.sachen in vielen Fällen gar nicht, in andern nur bei - läufig. Ist das Gefäss sehr weit gegen die Ausfluss - öffnung, so braucht man, wie wir bei Entwickelung des Torricelli’schen Satzes gesehen haben, über die Bewegung im Gefäss gar keine Voraussetzung zu machen.

17. Einzelne Fälle der Flüssigkeitsbewegung haben schon Newton und Johann Bernoulli behandelt. Wir wollen hier einen Fall betrachten, auf welchen sich unmittelbar ein bereits bekanntes Gesetz anwenden lässt. Eine cylindrische Heberröhre mit verticalen Schenkeln ist mit Flüssigkeit gefüllt. Die Länge der ganzen Flüssigkeitssäule sei l. Drückt man die Säule einerseits um das Stück x unter das Niveau, so erhebt sie sich anderseits um x, und die der Excursion x ent - sprechende Niveaudifferenz beträgt 2x. Wenn[α]den Querschnitt der Röhre und s das specifische Ge - wicht der Flüssigkeit bedeutet, so entspricht

Fig. 214.

der Excursion x die Kraft 2[α]sx, welche, da sie die Masse 〈…〉 zu bewegen hat, die Beschleunigung 〈…〉 und für die Einheit der Excursion die Beschleunigung 〈…〉 be - dingt. Man erkennt, dass pendelförmige Schwingungen von der Dauer 〈…〉 stattfinden werden. Die Flüssigkeitssäule schwingt alsoMach. 25386Drittes Kapitel.wie ein einfaches Pendel von der halben Länge der Flüssigkeitssäule.

Eine ähnliche, aber etwas allgemeinere Aufgabe hat Johann Bernoulli behandelt. Die beiden Schenkel einer beliebig gekrümmten cylindrischen Heberröhre haben an den Stellen, an welchen die Flüssigkeitsspiegel sich bewegen, die Neigungen[α]und[β]gegen den Horizont. Verschiebt man den einen Spiegel um das Stück x, so erleidet der andere die gleiche Verschiebung. Es ent - steht dadurch die Niveaudifferenz x (sin[α]+ sin[β]) und wir finden durch eine ähnliche Ueberlegung wie zuvor,

Fig. 215 a.

und mit Beibehaltung derselben Bezeichnung 〈…〉 Für das Flüssigkeits - pendel Fig. 214 gelten die Pendelgesetze (von der Reibung abgesehen) genau auch bei grossen Schwin - gungsweiten, während sie für das Fadenpendel nur annähernd für kleine Ausweichungen gelten.

18. Der Gesammtschwerpunkt der Flüssigkeit kann sich nur so hoch erheben, als er zur Erzeugung der Geschwindigkeiten sinken musste. Ueberall, wo dieser Satz eine Ausnahme zu erleiden scheint, kann man die - selben eben als scheinbar nachweisen. Der Herons - brunnen besteht bekanntlich aus drei Gefässen, welche in der Ordnung von oben nach unten A, B, C heissen mögen. Das Wasser von A fliesst nach C ab, die aus C verdrängte Luft drückt auf B und treibt einen Wasserstrahl aufwärts, der nach A zurückfällt. Das Wasser aus B erhebt sich zwar bedeutend über das Niveau in diesem Gefäss, es fliesst aber eigentlich nur auf dem Umwege über den Springbrunnen und das Ge - fäss A auf das viel tiefere Niveau in C ab.

Eine scheinbare Ausnahme von dem fraglichen Satz387Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.bietet auch der Montgolfier’sche Stossheber dar, in welchem sich die Flüssigkeit durch ihre eigene Schwere - arbeit bedeutend über das ursprüngliche N veau zu er - heben scheint. Die Flüssigkeit fliesst aus dem Gefäss A durch das lange Rohr RR und das sich nach innen öffnende Ventil V in das Ge - fäss B ab. Ist die Strömung schnell genug, so schliesst sich das Ventil V und wir haben in dem Rohre RR eine mit der Geschwindigkeit v behaftete plötzlich an - gehaltene Flüssigkeitsmasse m, welcher ihre Bewegungsquantität genommen werden muss. Geschieht dies in der Zeit t, so vermag während derselben die Flüssigkeit den Druck 〈…〉 auszuüben, welcher sich zu dem hydrostatischen Druck p hinzuaddirt.

[figure]

Die Flüssigkeit vermag also während dieser Zeit durch ein Ventil mit dem Druck p+q in einen Herons - ball H einzu - dringen, und er - hebt sich dem entsprechend in dem Steigrohr SS auf ein höheres Niveau als dasjenige, welches dem blossen Druck p entspricht.

Fig. 215 b.

Man hat hier zu bedenken, dass immer ein beträchtlicher Theil der Flüssigkeit nach B abfliessen muss, bevor durch dessen Arbeit in dem Rohre RR die zur25*388Drittes Kapitel.Schliessung von V nöthige Geschwindigkeit erzeugt ist. Nur ein kleiner Theil erhebt sich durch das Steigrohr SS über das ursprüngliche Niveau, während der grössere Theil von A nach B abfliesst. Würde man die aus SS tretende Flüssigkeit sammeln, so würde es sich leicht herausstellen, dass der Schwerpunkt dieser und der nach B abgeflossenen Flüssigkeit wegen der Ver - luste unter dem Niveau von A liegt.

Das Princip des Stosshebers, Uebertragung der Ar - beit einer grossen Flüssigkeitsmasse auf einen kleinern Theil, welcher hierdurch eine grosse lebendige Kraft erhält, lässt sich in folgender sehr einfacher Weise anschaulich machen. Man verschliesst die enge Oeff - nung o eines Filtrirtrichters, und taucht denselben mit der weiten Oeffnung nach unten gekehrt möglichst tief in ein grosses Gefäss mit Wasser. Entfernt man rasch den ver - schliessenden Finger, so füllt sich der Raum des Trichters rasch mit Wasser, wobei na - türlich der Spiegel der äussern Flüssig - keit etwas sinkt. Die geleistete Arbeit ent -

Fig. 216.

spricht dem Fall des Trichterinhaltes vom Schwerpunkt der Oberflächenschicht S nach dem Schwerpunkt S′ des Trichterinhalts. Bei gehöriger Weite des Gefässes sind alle Geschwindigkeiten in demselben sehr klein, und fast die ganze erzeugte lebendige Kraft steckt in dem Trichterinhalt. Hätten alle Theile des Inhalts gleiche Geschwindigkeit, so könnten sie sich alle bis zum ur - sprünglichen Niveau erheben, oder die Masse als Ganzes könnte so hoch steigen, dass ihr Schwerpunkt mit S zusammenfiele. In den engern Trichterquerschnitten ist aber die Geschwindigkeit grösser als in den weitern, und erstere enthalten deshalb den weitaus grössern389Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.Theil der lebendigen Kraft. Die betreffenden Flüssig - keitstheile reissen sich deshalb los und springen durch den Trichterhals hoch über das ursprüngliche Niveau hinaus, während der Rest bedeutend unter demselben zurückbleibt und der Gesammtschwerpunkt nicht einmal das ursprüngliche Niveau von S erreicht.

19. Zu den wichtigsten Leistungen von Daniel Ber - noulli gehört dessen Unterscheidung des hydrostati - schen und hydrodynamischen Druckes. Bei Be - wegung der Flüssigkeiten ändert sich nämlich der Druck derselben, und es kann der Druck der bewegten Flüssig - keit nach den Umständen grösser oder kleiner sein, als jener der ruhenden Flüssigkeit bei gleicher Anordnung

Fig. 217.

der Theile. Wir wollen dieses Verhältniss durch ein einfaches Beispiel erläutern. Das Gefäss A, welches die Form eines Rota - tionskörpers mit verticaler Axe hat, werde stets mit einer reibungslosen Flüssig - keit gefüllt erhalten, sodass sich der Spiegel derselben bei mn nicht ändert, während das Ausfliessen bei kl statt - findet. Den verticalen Abstand eines Theilchens von dem Spiegel mn rechnen wir nach unten positiv und nennen den - selben z. Wir verfolgen ein prismatisches Volumele - ment von der horizontalen Grundfläche[α]und der Höhe[β], während es sich abwärts bewegt, und sehen, den Parallelismus der Schichten voraussetzend, von allen Geschwindigkeiten senkrecht zu z ab. Die Dichte der Flüssigkeit nennen wir[ρ], die Geschwindigkeit des Elementes v, den Druck, der von z abhängt, p. Sinkt das Theilchen um dz, so gibt der Satz der lebendigen Kräfte 〈…〉 d. h. der Zuwachs der lebendigen Kraft des Elementes ist gleich der Arbeit der Schwere bei der betreffenden Ver -390Drittes Kapitel.schiebung vermindert um die Arbeit der Druckkräfte der Flüssigkeit. Der Druck auf die obere Fläche des Ele - mentes ist nämlich[α]p, auf die untere aber 〈…〉 . Das Element erleidet also, wenn der Druck nach unten zu - nimmt, einen Druck 〈…〉 aufwärts, und es ist bei der Verschiebung um dz die Arbeit 〈…〉 in Ab - zug zu bringen. Die Gleichung 1 nimmt gekürzt die Form an 〈…〉 und gibt integrirt 〈…〉

Bezeichnen wir die Geschwindigkeiten in zwei ver - schiedenen horizontalen Querschnitten a1 und a2 in den Tiefen z1 und z2 unter dem Spiegel beziehungs - weise mit v1, v2, und die zugehörigen Drucke mit p1, p2, so können wir die Gleichung 2 in der Form schreiben 〈…〉 Legen wir den Querschnitt a1 in den Spiegel, so ist z1 = o, p1 = o, und weil durch alle Querschnitte in derselben Zeit dieselbe Flüssigkeitsmenge hindurch - strömt a1 v1 = a2 v2. Hieraus ergibt sich 〈…〉 Der Druck der bewegten Flüssigkeit p2 (der hydro - dynamische Druck) setzt sich zusammen aus dem Druck391Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.der ruhenden Flüssigkeit[ρ]gz 2 (dem hydrostatischen Druck) und einem Druck 〈…〉 der von der Dichte, der Stromgeschwindigkeit und den Querschnitten abhängt. In den Querschnitten, welche grösser sind als der Spiegel der Flüssigkeit, ist auch der hydro - dynamische Druck grösser als der hydrostatische und umgekehrt.

Um den Sinn des Bernoulli’schen Satzes noch deut - licher zu machen, denken wir uns die Flüssigkeit in dem Gefäss A schwerlos und das Ausfliessen durch einen constanten Druck p1 auf den Spiegel hervorge - bracht. Die Gleichung 3 nimmt dann die Form an 〈…〉 Verfolgen wir ein Theilchen vom Spiegel an durch das Gefäss, so entspricht jeder Zunahme der Stromge - schwindigkeit (in engern Querschnitten) eine Abnahme des Druckes, jeder Abnahme der Stromgeschwindigkeit (in weitern Querschnitten) eine Zunahme des Druckes. Das lässt sich auch ohne alle Rechnung leicht über - sehen. In dem gegebenen Falle muss jede Geschwindig - keitsänderung eines Flüssigkeitselementes ganz allein durch die Arbeit der Druckkräfte der Flüssigkeit auf - gebracht werden. Tritt ein Element in einen engern Querschnitt, in welchem eine höhere Stromgeschwindig - keit herrscht, so kann es diese höhere Geschwindig - keit nur erlangen, wenn auf die Hinterfläche des Ele - mentes ein grösserer Druck wirkt als auf die Vorder - fläche, wenn es sich also von Punkten höhern zu Punkten niedern Druckes bewegt, wenn im Bewegungs - sinne der Druck abnimmt. Denken wir uns einen Augenblick in dem weitern und in dem darauffolgen - den engern Querschnitt den Druck gleich, so findet die Beschleunigung der Elemente in dem engern Querschnitt nicht statt. Die Elemente entweichen nicht schnell ge -392Drittes Kapitel.nug, drängen sich vor dem engern Querschnitt zusammen, und es entsteht vor diesem sofort die entsprechende Druckerhöhung. Die Umkehrung liegt auf der Hand.

20. Wenn es sich um complicirtere Fälle handelt, so bieten schon Aufgaben über die Flüssigkeitsbewegung ohne Rücksicht auf die Reibung grosse Schwierigkeiten. Die Schwierigkeiten werden noch bedeutender, wenn der Einfluss der Reibung in Rechnung gezogen werden soll. In der That hat man bisher, obgleich diese Unter - suchungen schon von Newton begonnen wurden, nur einige wenige einfachere Fälle dieser Art bewältigen können. Wir begnügen uns mit einem einfachen Bei - spiel. Wenn wir aus einem Gefäss mit der Druckhöhe h

Fig. 218.

die Flüssigkeit nicht durch eine Boden - öffnung, sondern durch ein langes cylindrisches Rohr ausströmen lassen, so ist die Ausfluss - geschwindigkeit v kleiner, als sie nach dem Torricelli’schen Satze sich ergeben sollte, da ein Theil der Arbeit durch die Reibung verzehrt wird. Wir finden, dass 〈…〉 , wobei $${h_1} \ll h$$ ist. Wir können h = h1 + h2 setzen, h1 die Geschwindigkeitshöhe, h2 die Widerstandshöhe nennen. Bringen wir an die cylindrische Röhre verti - cale Seitenröhrchen an, so steigt die Flüssigkeit in denselben so weit, dass sie dem Druck in dem Haupt - rohr das Gleichgewicht hält, und denselben anzeigt. Bemerkenswerth ist nun, dass am Einflussende des Rohres diese Flüssigkeitshöhe = h2 ist, und dass sie gegen das Ausflussende nach dem Gesetz einer geraden Linie bis zu Null abnimmt. Es handelt sich nun darum, sich diese Verhältnisse aufzuklären.

Auf die Flüssigkeit in dem horizontalen Ausflussrohr393Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.wirkt die Schwere direct nicht mehr, sondern alle Wirkungen werden auf dieselbe nur durch den Druck der umgebenden Flüssigkeit übertragen. Denken wir uns ein prismatisches Flüssigkeitselement von der Grundfläche[α]und der Länge[β], in der Richtung der Länge um dz verschoben, so ist, wie in dem zuvor be - trachteten Falle, die hierbei geleistete Arbeit 〈…〉

Für eine endliche Verschiebung finden wir 〈…〉 Es wird Arbeit geleistet, wenn sich das Volumelement von einer Stelle höhern zu einer Stelle niedern Druckes ver - schiebt. Der Betrag der Arbeit hängt nur von der Grösse des Vo - lumelementes und der Differenz des Druckes am Anfangs - und End - punkt der Bewegung, nicht von der Länge und Form des Weges ab.

Fig. 219.

Wäre die Abnahme des Druckes in einem Falle doppelt so rasch als in einem andern, so wäre die Differenz der Drucke auf die Vorder - und Hinterfläche, also die arbeitende Kraft verdoppelt, der Arbeitsweg aber halbirt. Die Arbeit bliebe dieselbe (auf der Strecke ab oder ac in der Figur 219).

Durch jeden Querschnitt q des horizontalen cylindri - schen Rohrs strömt die Flüssigkeit mit derselben Ge - schwindigkeit v. Betrachten wir, von Geschwindigkeits - differenzen in demselben Querschnitt absehend, ein Ele - ment der Flüssigkeit, welches den Röhrenquerschnitt q ausfüllt, und die Länge[β]hat, so ist dessen lebendige Kraft $$q \beta \ro \frac {v^2}{2}$$ auf dem ganzen Wege durch die Röhre394Drittes Kapitel.unverändert. Das ist nur möglich, wenn die durch Rei - bung verzehrte lebendige Kraft durch die Arbeit der Druckkräfte der Flüssigkeit ersetzt wird. In dem Be - wegungssinne des Elementes muss also der Druck ab - nehmen, und zwar für gleiche Wegstrecken, welchen eine gleiche Reibungsarbeit entspricht, um gleich viel. Die gesammte Arbeit der Schwere, welche für ein austreten - des Flüssigkeitselement q[β ρ]geleistet wird, ist q[β ρ]gh. Hiervon entfällt auf die lebendige Kraft des in die Rohrmündung mit der Geschwindigkeit v eintretenden Elementes der Antheil $$q \beta \ro \frac {v^2}{2}$$ , oder mit Rücksicht darauf, dass 〈…〉 , der Antheil q[β ρ]gh 1. Der Rest der Arbeit q[β ρ]gh 2 wird also im Rohr verbraucht, wenn wir wegen der langsamen Bewegung von Ver - lusten im Gefäss absehen.

Bestehen im Gefäss, am Anfang und Ende des Rohres beziehungsweise die Druckhöhen h, h2, o oder die Drucke 〈…〉 , o, so ist nach Gleichung 1 S. 393 die Arbeit zur Erzeugung der lebendigen Kraft des in die Rohrmündung eintretenden Elementes 〈…〉 und die Arbeit, welche durch den Druck der Flüssig - keit auf das die Rohrlänge durchlaufende Element über - tragen wird, ist 〈…〉 also diejenige, welche im Rohr eben verbraucht wird.

Nehmen wir einen Augenblick an, der Druck würde vom Anfang zum Ende des Rohres nicht von p2 bis Null nach dem Gesetz einer geraden Linie abnehmen, sondern die Druckvertheilung wäre eine andere, der Druck wäre z. B. constant durch die ganze Rohrlänge. Sofort werden die vorausgehenden Theile durch die Reibung an Geschwindigkeit verlieren, die folgenden395Die weitere Verwendung der Principien u. s. w.werden nachdrängen und dadurch am Anfang des Rohres jene Druckerhöhung erzeugen, welche die con - stante Geschwindigkeit durch die ganze Rohrlänge be - dingt. Am Ende des Rohres kann der Druck nur = o sein, weil die Flüssigkeit daselbst nicht gehindert ist, jedem andern Druck sofort auszuweichen.

Stellt man sich die Flüssigkeit unter dem Bilde eines Aggregates von glatten elastischen Kugeln vor, so sind diese Kugeln am Boden des Gefässes am stärksten comprimirt, treten in einem Zustande der Compression in das Rohr ein, und verlieren denselben erst allmählich im Verlauf der Bewegung. Wir wollen es dem Leser überlassen, sich dieses Bild weiter zu entwickeln.

Es versteht sich nach einer frühern Bemerkung, dass die Arbeit, die in der Compres - sion der Flüssig - keit selbst liegt, sehr gering ist. Die Bewegung der Flüssigkeit ent - springt aus der Arbeit der Schwere

Fig. 220.

im Gefäss, die sich mit Hülfe des Druckes der com - primirten Flüssigkeit auf die Theile im Rohr überträgt.

Eine interessante Modification des eben besprochenen Falles erhält man, wenn man die Flüssigkeit durch ein Rohr ausfliessen lässt, welches aus mehreren cylin - drischen Stücken von verschiedener Weite zusammen - gesetzt ist. Der Druck nimmt dann Fig. 220 in der Aus - flussrichtung in den engern Röhren, in welchen ein grösserer Verbrauch an Reibungsarbeit stattfindet, rascher ab als in den weitern. Ausserdem bemerkt man bei jedem Uebergang in ein weiteres Rohr, also zu einer kleinern Stromgeschwindigkeit einen Druck - zuwachs (eine positive Stauung), bei jedem Ueber - gang in ein engeres Rohr, also zu einer grössern396Viertes Kapitel.Stromgeschwindigkeit, eine plötzliche Druckabnahme (eine negative Stauung). Die Geschwindigkeit eines Flüssigkeitselementes, auf welches keine directen Kräfte wirken, kann eben nur vermindert oder vermehrt wer - den, wenn es zu Punkten höhern oder niedern Druckes übergeht.

VIERTES KAPITEL. Die formelle Entwickelung der Mechanik.

1. Die Isoperimeterprobleme.

1. Sind einmal alle wichtigen Thatsachen einer Natur - wissenschaft durch Beobachtung festgestellt, so beginnt für diese Wissenschaft eine neue Periode, die deduc - tive, welche wir im vorigen Kapitel behandelt haben. Es gelingt dann, die Thatsachen in Gedanken nachzu - bilden, ohne die Beobachtung fortwährend zu Hülfe zu rufen. Wir bilden allgemeinere und complicirtere That - sachen nach, indem wir uns dieselben aus einfachern, durch die Beobachtung gegebenen wohlbekannten Ele - menten zusammengesetzt denken. Allein wenn wir auch aus dem Ausdruck für die elementarsten Thatsachen (den Principien) den Ausdruck für häufiger vorkommende complicirtere Thatsachen (Sätze) abgeleitet und überall dieselben Elemente erschaut haben, ist der Ent - wickelungsprocess der Naturwissenschaft noch nicht ab - geschlossen. Es folgt der deductiven die formelle Entwickelung. Es handelt sich dann darum, die vor - kommenden und nachzubildenden Thatsachen in eine übersichtliche Ordnung, in ein System zu bringen, so - dass jede einzelne mit dem geringsten Aufwand ge - funden und nachgebildet werden kann. In diese An - weisungen zur Nachbildung trachtet man die möglichste397Die formelle Entwickelung der Mechanik.Gleichförmigkeit zu bringen, sodass dieselben leicht anzueignen sind. Man bemerkt, dass die Perioden der Beobachtung, Deduction und der formellen Entwickelung nicht scharf voneinander getrennt sind, sondern dass diese verschiedenen Processe häufig nebeneinander her - gehen, wenngleich die bezeichnete Aufeinanderfolge im ganzen unverkennbar ist.

2. Auf die formelle Entwickelung der Mechanik hat eine besondere Art von mathematischen Fragen, welche die Forscher zu Ende des 17. und zu Anfang des 18. Jahrhunderts intensiv beschäftigt hat, einen bedeu - tenden Einfluss geübt. Auf diese Fragen, die sogenann - ten Isoperimeterprobleme, wollen wir jetzt einen Blick werfen. Aufgaben über die grössten und kleinsten Werthe gewisser Grössen, über Maxima und Minima wurden schon von den alten griechischen Mathematikern behandelt. Pythagoras soll schon gelehrt haben, dass der Kreis bei gegebenem Umfang unter allen ebenen Figuren die grösste Fläche darbietet. Auch der Ge - danke an eine gewisse Sparsamkeit in den Vorgängen der Natur war den Alten nicht fremd. Heron leitete das Reflexionsgesetz für das Licht aus der Annahme ab, dass das Licht von einem Punkt A durch Reflexion an M (Fig. 221) auf dem kürzesten Wege nach B gelange.

Ist die Ebene der Zeichnung die Reflexionsebene, SS der Durchschnitt der reflectirenden Ebene, A der Ausgangs -, B der Endpunkt und M der Reflexions - punkt des Lichtstrahles, so erkennt man sofort, dass der Linie AMB′, wobei B′ das Spiegelbild von B vorstellt, eine Gerade ist. Die Linie AMB′ ist kürzer als etwa ANB′, und demnach auch AMB kürzer als ANB. Aehnliche Gedanken cultivirt Pappus in Bezug auf die organische Natur, indem er z. B. die Form der Bienenzellen durch das Bestreben erklärt, möglichst an Material zu ersparen. Diese Gedanken fielen beim Wiederaufleben der Wissenschaften nicht auf unfruchtbaren Boden. Sie wurden zunächst von Fermat und Roberval aufgenommen, welche die Methode398Viertes Kapitel.zur Behandlung derartiger Aufgaben ausbildeten. Diese Forscher bemerkten, was auch schon Kepler aufge - fallen war, dass eine Grösse y, welche von einer andern x abhängt, in der Nähe ihrer grössten und kleinsten Werthe im allgemeinen ein eigenthümliches Verhalten zeigt. Stellen wir x als Abscisse und y als Ordinate dar, so wird, wenn y mit dem Wachsen von x durch einen Maximalwerth hindurchgeht, das Steigen in ein Fallen übergehen, beim Minimalwerth umge - kehrt das Fallen in ein Steigen. Die Nachbarwerthe des Maximal - oder Minimalwerthes werden also einan -

Fig. 221.

Fig. 222.

der sehr nahe liegen, und die betreffenden Curven - tangenten werden der Abscissenaxe parallel werden. Zur Auffindung der Maximal - oder Minimalwerthe sucht man demnach diese Paralleltangenten auf.

Diese Tangentenmethode lässt sich auch unmittelbar in die Rechnung übersetzen. Soll z. B. von einer ge - gebenen Linie a ein Stück x derart abgeschnitten wer - den, dass das Product der beiden Abschnitte x und a x möglichst gross wird, so betrachten wir dieses Product x (a x) als die von x abhängige Grösse y. Für den Maximalwerth von y wird eine unendlich kleine Aenderung des x, etwa um[ξ], keine Aenderung des y nach sich ziehen. Wir finden also den betreffen - den Werth des x, indem wir setzen 〈…〉 oder 〈…〉 oder 〈…〉 .

399Die formelle Entwickelung der Mechanik.

Da[ξ]beliebig klein sein kann, ist auch o = a 2x, wodurch also x = $$\frac {a}{2}$$ bestimmt ist. Man sieht, dass dieses Verfahren die Anschauung der Methode der Tangenten auf das Gebiet der Rech - nung überträgt, und zugleich schon den Keim der Differentialrechnung enthält.

Fermat versuchte für das Brechungsgesetz des Lichtes einen dem Heron’schen Reflexionsgesetz analogen Aus - druck zu finden. Hierdurch kam er zu der Bemerkung, dass das Licht von einem Punkt A durch Brechung über M nicht auf dem kürzesten Wege, sondern in der kürzesten Zeit nach B gelangt. Wenn der Weg AMB in der kür - zesten Zeit ausgeführt werden soll, so nimmt der unendlich nahe Nachbarweg ANB die - selbe Zeit in Anspruch. Ziehen wir von N aus auf AM und von M aus auf NB

Fig. 223.

beziehungsweise die Senkrechten NP und MQ, so fällt vor der Brechung der Weg MP = NM sin[α]aus, nach der Brechung wächst der Weg NQ = NM sin[β]zu. Wenn also die Geschwindigkeiten im ersten und zweiten Medium beziehungsweise v1 und v2 sind, so wird die Zeit für AMB ein Minimum sein, wenn 〈…〉 oder 〈…〉 wobei n den Brechungsexponenten bedeutet. Das400Viertes Kapitel.Heron’sche Reflexionsgesetz stellt sich nun, wie Leibnitz bemerkt, als ein specieller Fall des Brechungsgesetzes dar. Für gleiche Geschwindigkeiten v1 = v2 wird näm - lich die Bedingung des Zeitminimums mit der Bedingung des Wegminimums identisch.

Huyghens hat bei seinen optischen Untersuchungen die Ideen von Fermat festgehalten und ausgebildet, in - dem er nicht nur geradlinige, sondern auch krumm - linige Lichtbewegungen in Medien von continuirlich von Stelle zu Stelle variirender Lichtgeschwindigkeit betrachtet, und auch für diese das Fermat’sche Gesetz als gültig erkannt hat. In allen Lichtbewegungen schien sich somit bei aller Mannichfaltigkeit als Grund - zug das Bestreben nach einem Minimum von Zeit - aufwand auszusprechen.

3. Aehnliche Maximum - oder Minimumeigenschaften zeigten sich auch bei Betrachtung mechanischer Natur - vorgänge. Wie schon bei einer andern Gelegenheit er - wähnt wurde, war es Johann Bernoulli bekannt, dass eine frei aufgehängte Kette diejenige Form annimmt, für welche der Schwerpunkt der Kette möglichst tief zu liegen kommt. Diese Einsicht lag natürlich dem Forscher sehr nahe, der zuerst die allgemeine Bedeu - tung des Satzes der virtuellen Verschiebungen erkannte. Durch diese Bemerkungen angeregt, fing man überhaupt an, Maximum-Minimumeigenschaften genauer zu unter - suchen. Den mächtigsten Anstoss erhielt die bezeichnete wissenschaftliche Bewegung durch das von Johann Ber - noulli aufgestellte Problem der Brachystochrone. In einer Verticalebene liegen zwei Punkte A, B. Es soll diejenige Curve in dieser Ebene angegeben werden, durch welche ein Körper, der auf derselben zu bleiben gezwungen ist, in der kürzesten Zeit von A nach B fällt. Die Aufgabe wurde in sehr geistreicher Weise von Johann Bernoulli selbst, ausserdem aber noch von Leibnitz, L’Hôpital, Newton und Jakob Bernoulli gelöst.

Die merkwürdigste Lösung ist jene von Johann Ber - noulli selbst. Er bemerkt, dass Aufgaben dieser Art401Die formelle Entwickelung der Mechanik.zwar nicht für die Fallbewegung, wohl aber für die Licht - bewegung schon gelöst seien. Er denkt sich also die Fall - bewegung in zweckmässiger Weise durch eine Licht - bewegung ersetzt (vgl. S. 355). Die beiden Punkte A und B sollen sich in einem Medium befinden, in welchem die Lichtgeschwindigkeit vertical nach unten nach dem - selben Gesetz zunimmt wie die Fallgeschwindigkeit. Das Medium soll etwa aus horizontalen Schichten mit nach unten abnehmender Dichte bestehen, sodass 〈…〉 die Lichtgeschwindigkeit in einer Schicht bedeutet, welche in der Tiefe h unter A liegt. Ein Lichtstrahl, der bei dieser Anordnung von A nach B gelangt, be - schreibt diesen Weg in der kürzesten Zeit, und gibt zu - gleich die Curve der kür - zesten Fallzeit an.

Fig. 223.

Nennen wir den Neigungswinkel des Curvenelementes gegen die Verticale, also gegen die Schichtennormale für verschiedene Schichten[α],[α],[α], und die zugehörigen Geschwindigkeiten v, v′, v″ , so ist 〈…〉 , oder wenn wir die Verticaltiefe unter A mit x, die horizontale Entfernung von A mit y und den Curven - bogen mit s bezeichnen 〈…〉 . Hieraus folgt dy2 = k2v2ds2 = k2v2 (dx2+dy2) und mit Rücksicht darauf, dass 〈…〉 〈…〉 , wobei 〈…〉 .

Mach. 26402Viertes Kapitel.

Dies ist die Differentialgleichung einer Cycloïde, welche ein Punkt der Peripherie eines Kreises vom Radius 〈…〉 durch Rollen auf einer Ge - raden beschreibt.

Um die Cycloïde zu finden, welche durch A und B hindurchgeht, bedenken wir, dass alle Cycloïden, da sie durch ähnliche Constructionen zu Stande kommen, ähnlich sind, und wenn sie durch Rollen auf AD von dem Punkte A aus entstehen, auch in Bezug auf den Punkt A ähnlich liegen. Wir ziehen also durch AB eine Gerade und construiren irgendeine Cycloïde, welche dieselbe in B′ schneidet; der Radius des Erzeugungs - kreises sei r′. Dann ist der Radius des Erzeugungs - kreises der gesuchten Cycloïde 〈…〉 .

Fig. 224.

Die Art, wie Johann Ber - noulli, noch ohne alle Me - thode, blos durch seine geo - metrische Phantasie die Aufgabe mit einem Blick löst, und wie er das zu - fällig schon Bekannte hier - bei zu benutzen weiss, ist wirklich bemerkenswerth und wunderbar schön. Wir erkennen in Johann Bernoulli eine wahre auf dem Ge - biet der Naturwissenschaft thätige Künstlernatur. Sein Bruder Jakob Bernoulli war ein ganz anderer wissen - schaftlicher Charakter. Ihm ward viel mehr Kritik, aber viel weniger schöpferische Phantasie zutheil. Auch Jakob Bernoulli löste dieselbe Aufgabe, wenn - gleich in viel mehr schwerfälliger Weise. Dafür unter - liess er aber nicht, die allgemeine Methode zur Behand - lung dieser Klasse von Aufgaben mit grosser Gründlich - keit zu entwickeln. Wir finden so in den beiden Brüdern die beiden Seiten des wissenschaftlichen Ta - lentes, welche sich in den grössten Naturforschern, wie403Die formelle Entwickelung der Mechanik.z. B. Newton, in ungewöhnlicher Stärke vereinigt finden, getrennt vor. Wir werden bald sehen, wie diese beiden Fähigkeiten, weil an verschiedene Personen gebunden, miteinander in heftigen offenen Kampf gerathen, der unter andern Umständen unbemerkt in derselben Person hätte austoben können.

Titelvignette zu: Leibnitzii et Johann. Bernoullii comercium epistolicum. Lausannae et Genevae, Bousquet, 1745.

4. Jakob Bernoulli findet, dass man bisher haupt - sächlich untersucht habe, für welche Werthe einer ver - änderlichen Grösse eine davon abhängige veränder - liche Grösse (oder Function derselben) einen grössten oder kleinsten Werth annimmt. Nun soll aber unter unzähligen Curven eine aufgefunden werden, welche eine gewisse Maximum - oder Minimumeigenschaft dar - bietet. Das sei eine Aufgabe ganz neuer Art, bemerkt Jakob Bernoulli richtig, und erfordere eine neue Methode.

Die Grundsätze, deren sich Jakob Bernoulli (Acta eru - ditorum 1697) zur Lösung der Aufgabe bedient, sind folgende:

  • 1) Wenn eine Curve eine Maximum-Minimumeigen -26 *404Viertes Kapitel.schaft darbietet, so bietet jedes noch so kleine Stück der Curve dieselbe Eigenschaft dar.
  • 2) So wie die Nachbarwerthe des Maximal - oder Minimalwerthes einer Grösse für unendlich kleine Aenderungen der unabhängig Variablen dem Maximal - oder Minimalwerthe gleich werden, so behält jene Grösse, welche für die gesuchte Curve ein Maximum oder Minimum werden soll, für die unendlich nahen Nachbarcurven denselben Werth.
  • 3) Ausserdem wird für den besondern Fall der Brachystochrone nur noch angenommen, dass die er - langte Fallgeschwindigkeit 〈…〉 sei, wobei h die Falltiefe bedeutet.

Denkt man sich ein sehr kleines Stück ABC der

Fig. 225.

fraglichen Curve gegeben, zieht durch B eine Horizontale, und lässt das Curvenstück in ADC übergehen, so erhält man durch ganz analoge Betrachtungen, wie wir dieselben bei Be - sprechung des Fermat’schen Gesetzes angestellt haben, die bereits bekannte Beziehung zwischen den Sinusen der Neigungswinkel der Curvenelemente gegen die Verticale und den Fallgeschwindigkeiten. Hierbei hat man nach 1 vorauszusetzen, dass auch das Stück ABC brachy - stochron sei, und nach 2, dass ADC in derselben Zeit durchfallen werde wie ABC. Die Rechnung Ber - noulli’s ist sehr umständlich, das Wesen derselben liegt aber auf der Hand, und mit den angedeuteten Sätzen ist die Aufgabe gelöst.

Mit der Lösung der Aufgabe der Brachystochrone legte Jakob Bernoulli nach der damaligen Sitte der Mathematiker folgende allgemeinere Isoperimeter - aufgabe vor:

Unter allen zwischen denselben zwei festen Punkten gelegenen isoperimetrischen Curven (d. h. Curven von405Die formelle Entwickelung der Mechanik.gleichem Umfange oder gleicher Länge) diejenige zu finden, welche bewirkt, dass der von einer andern Curve, deren jede Ordinate eine gewisse bestimmte Function der derselben Abscisse entsprechenden Ordinate oder des entsprechenden Bogens der zu suchenden Curve ist, ferner den Ordinaten ihrer Endpunkte und dem zwischen diesen gelegenen Theile der Abscissenaxe eingeschlossene Flächenraum ein Maximum oder Minimum ist.

Es sei z. B. die durch B und N hindurchgehende Curve BFN so zu bestimmen, dass sie unter allen durch B und N hindurchgehenden Curven von gleicher Länge die Fläche BZN zu einem Maximum macht, wobei die Ordinate PZ = (PF) n, LM = (LK) n u. s. w. Die Beziehung zwischen den Ordinaten für BZN und den entsprechenden Ordinaten für BFN sei durch die Curve BH gegeben. Wir ziehen, um PZ aus PF abzuleiten, FGH senkrecht zu BG, wo - bei BG wieder senkrecht zu BN ist. Hierbei soll nun

Fig. 226.

PZ = GH sein, und ebenso für die übrigen Ordinaten. Wir setzen BP = y, PF = x, PZ = x n. Johann Ber - noulli gab sofort eine Auflösung der Aufgabe in der Form 〈…〉 wobei a eine willkürliche Constante bedeutet. Für n = 1 wird 〈…〉 also BFN ein Halbkreis über BN als Durch - messer und die Fläche BZN ist dann auch gleich der Fläche BFN. Für diesen speciellen Fall ist die406Viertes Kapitel.Lösung auch richtig, dies gilt aber nicht von der all - gemeinen Formel.

Hierauf erbot sich Jakob Bernoulli, erstens den Ge - dankengang seines Bruders zu errathen, zweitens die Widersprüche und Fehler in demselben nachzuweisen, und drittens die wahre Auflösung zu geben. Die gegen - seitige Eifersucht und Gereiztheit der beiden Brüder kam hierdurch zum Ausbruch und führte zu einem unerquicklichen bittern und heftigen Streite, der bis zu dem Tode Jakob’s währte. Nach Jakob’s Tode gestand Johann seinen Irrthum ein, und nahm die richtige Me - thode seines Bruders an.

Jakob Bernoulli hat wol richtig errathen, dass Jo - hann wahrscheinlich durch die Ergebnisse seiner Unter - suchungen über die Kettenlinie und die Segelcurve ver - führt, wieder eine indirecte Lösung versucht hat, in - dem er sich BFN mit Flüssigkeit von variablem spe - cifischem Gewicht gefüllt gedacht, und die Curve BFN für die tiefste Lage des Schwerpunktes bestimmt hat. Setzt man die Ordinate PZ = p, so soll in der Ordi - nate PF = x das specifische Gewicht der Flüssig - keit $$\frac {p}{x}$$ sein, und analog in jeder andern Ordinate. Das Gewicht eines verticalen Fadens ist dann 〈…〉 , und dessen Moment in Bezug auf BN ist 〈…〉 Für die tiefste Lage des Schwerpunktes wird also ½[]pdy oder[]pdy = BZN ein Maximum. Hierbei wird aber, wie Jakob Bernoulli richtig bemerkt, über - sehen, dass mit der Variation der Curve BFN auch das Gewicht der Flüssigkeit variirt, und die Ueber - legung in dieser einfachen Form nicht mehr zulässig ist.

Jakob Bernoulli selbst löst die Aufgabe, indem er wieder annimmt, dass auch das kleine Curvenstück FF Fig. 227 noch die verlangte Eigenschaft hat, und indem407Die formelle Entwickelung der Mechanik.er von den vier aufeinander folgenden Punkten FFF F, die beiden äussersten FF als fest betrachtend, F und F so variirt, dass die Bogenlänge FFFF un - verändert bleibt, was natürlich nur bei Verschiebung von zwei Punkten möglich ist. Den complicirten und schwerfälligen Rechnungen wollen wir nicht folgen. Das Princip derselben ist mit dem eben gesagten deut - lich bezeichnet. Nach Jakob Bernoulli wird bei Fest - haltung der obigen Bezeichnung für 〈…〉 ,[]pdy ein Maximum und für 〈…〉 []pdy ein Minimum.

Fig. 227.

Die Mishelligkeiten unter den beiden Brüdern waren allerdings bedauerlich. Allein das Genie des einen und die Gründlichkeit des andern haben doch die schönsten Früchte getragen durch die Anregung, welche Euler und Lagrange aus den behandelten Aufgaben schöpften.

5. Euler (Problematis isoperimetrici solutio generalis. Com. Acad. Petr. T. VI, 1738) hat zuerst eine allgemeinere Methode zur Behandlung der fraglichen Maximum-Mini - mumaufgaben oder Isoperimeterprobleme gegeben, wenn auch noch immer sich auf umständliche geometrische Be - trachtungen stützend. Er theilt auch die hierher ge - hörigen Probleme, ihre Verschiedenheit klar erkennend und überblickend, in folgende Classen.

  • 1) Es soll von allen Curven diejenige bestimmt wer - den, für welche eine Eigenschaft A ein Maximum oder Minimum ist.
  • 2) Es soll von allen Curven, welche eine und die - selbe Grösse A gemeinsam haben, diejenige bestimmt werden, für welche B ein Maximum oder Minimum ist.
  • 3) Es soll von allen Curven, welche A und B ge -408Viertes Kapitel.meinsam haben, diejenige bestimmt werden, welche C zu einem Maximum oder Minimum macht u. s. w.

Eine Aufgabe der ersten Classe ist z. B. die Auf - findung der kürzesten Curve, welche durch M und N hindurchgeht. Wird die durch M und N hindurch - gehende Curve von der gegebenen Länge A gesucht, welche den Flächenraum MPN zu einem Maximum macht, so liegt eine Aufgabe der zweiten Classe vor. Eine Aufgabe der dritten Classe ist es, unter allen Curven von der gegebenen Länge A, welche durch M, N hin - durchgehen und den gleichen Flächenraum MPN = B begrenzen, diejenige zu finden, welche durch Rotation um MN die kleinste Rotationsfläche beschreibt u. s. w.

Fig. 228.

Wir wollen gleich hier bemerken, dass die Aufsuchung eines absoluten Maxi - mums oder Minimums ganz ohne alle Nebenbedingungen keinen Sinn hat. In der That haben z. B. auch alle Curven, unter welchen bei der ersten Aufgabe die kürzeste gesucht wird, die gemeinsame Eigenschaft, dass sie durch die Punkte M und N hindurch - gehen.

Zur Lösung der Aufgaben der ersten Classe genügt die Variation von zwei Curvenelementen oder von einem Curvenpunkt. Bei Behandlung der Aufgaben der zweiten Classe müssen drei Elemente (oder zwei Curvenpunkte) variirt werden, da das variirte Stück mit dem nicht variirten die Eigenschaft A, und weil B ein Maximum oder Minimum sein soll, auch den Werth B gemein haben muss, also zwei Bedingungen erfüllen soll. Ebenso verlangt die Lösung der Aufgaben der dritten Classe die Variation von vier Curvenelementen u. s. w.

Man sieht, dass man bei Behandlung der Aufgabe einer höhern Classe auch ihre Umkehrungen löst. Für die dritte Classe variirt man z. B. vier Curvenelemente so, dass das variirte Curvenstück mit dem ursprüng - lichen die Werthe A und B (und weil C ein Maximum409Die formelle Entwickelung der Mechanik.oder Minimum werden soll) auch C gemein hat. Die - selben Bedingungen müssen aber auch erfüllt werden, wenn unter allen Curven mit gemeinsamem B und C diejenige mit einem Maximum oder Minimum von A, oder unter allen Curven mit gemeinsamem A und C, diejenige mit einem Maximum oder Minimum von B gesucht werden soll. So schliesst, um ein Beispiel aus der zweiten Classe zu geben, der Kreis unter allen Linien von gleicher Länge A die grösste Fläche B ein, und der Kreis hat auch unter allen Curven, welche dieselbe Fläche B umschliessen, die kürzeste Länge A. Da die Bedingung dafür, dass die Eigenschaft A ge - meinsam oder dass sie ein Maximum sein soll, ganz in derselben Weise ausgedrückt wird, so erkannte Euler die Möglichkeit, die Aufgaben der höhern Classen auf die Aufgaben der ersten Classe zurückzuführen. Soll z. B. unter allen Curven mit dem gemeinsamen Werth A die Curve gefunden werden, welche B zu einem Maximum macht, so suche man die Curve, für welche A+mB ein Maximum wird, wobei m eine willkür - liche Constante bedeutet. Soll bei einer Veränderung der fraglichen Curve A+mB für beliebige Werthe von m seinen Werth nicht ändern, so ist dies allgemein nur möglich, indem hierbei die Aenderung von A für sich und jene von B für sich = o wird.

6. Euler hat noch einen andern wichtigen Fortschritt herbeigeführt. Bei der Behandlung der Aufgabe, die Brachystochrone im widerstehenden Mittel zu finden, welche von Herrmann und ihm versucht worden war, er - gaben sich die vorhandenen Methoden als unzureichend. Für die Brachystochrone im luftleeren Raum hängt näm - lich die Geschwindigkeit nur von der Falltiefe ab. Die Geschwindigkeit in einem Curvenstück hängt gar nicht von den andern Curvenstücken ab. Man kann dann in der That sagen, dass jedes beliebig kleine Curven - stück ebenfalls brachystochron ist. Im widerstehenden Mittel ist dies anders. Die ganze Länge und Form der vorausgehenden Bahn hat Einfluss auf die Geschwin -410Viertes Kapitel.digkeit in dem Element. Die ganze Curve kann brachy - stochron sein, ohne dass jedes kleine Stück diese Eigen - schaft aufzuweisen braucht. Durch derartige Betrach - tungen erkannte Euler, dass das von Jakob Bernoulli eingeführte Princip keine allgemeine Gültigkeit habe, sondern, dass in Fällen der angedeuteten Art eine um - ständlichere Behandlung nöthig sei.

7. Durch die Menge der Aufgaben und die übersicht - liche Ordnung derselben gelang es Euler nach und nach im Wesentlichen dieselben Methoden zu finden, welche nachher Lagrange in seiner Weise entwickelt hat, und deren Inbegriff den Namen Variationsrechnung führt. Johann Bernoulli fand also durch Analogie eine zufällige Lösung einer Aufgabe. Jakob Bernoulli ent - wickelte zur Lösung analoger Probleme eine geome - trische Methode. Euler verallgemeinerte die Pro - bleme und die geometrische Methode. Lagrange endlich befreite sich gänzlich von der Betrachtung der geome - trischen Figur und gab eine analytische Methode. Er bemerkte nämlich, dass die Zuwüchse, welche Functionen durch Aenderung der Functionsform erfahren, voll - kommen analog sind den Zuwüchsen durch Aenderung der unabhängig Variablen. Um den Unterschied beider Zuwüchse festzuhalten, bezeichnet er erstere mit[δ], letztere mit d. Durch Beachtung der Analogie ist aber Lagrange in den Stand gesetzt, sofort die Gleichungen hinzuschreiben, welche zur Lösung der Maximum-Mini - mumaufgabe führen. Eine weitere Begründung dieses Gedankens, welcher sich als sehr fruchtbar erwiesen hat, hat Lagrange nie gegeben, ja nicht einmal versucht. Seine Leistung ist eine ganz eigenthümliche. Er erkennt mit grossem ökonomischen Scharfblick die Grundlagen, welche ihm genügend sicher und brauchbar erscheinen, um auf denselben ein Gebäude zu errichten. Die Grundsätze selbst rechtfertigen sich durch ihre Ergiebigkeit. Statt sich mit der Ableitung der Grundsätze zu beschäftigen, zeigt er, mit welchem Erfolg man sie benutzen kann. (Essai d’une nouvelle méthode etc. Misc. Taur. 1762).

411Die formelle Entwickelung der Mechanik.

Wie schwer es den Zeitgenossen und Nachfolgern ge - worden ist, sich ganz in den Gedanken von Lagrange hineinzufinden, davon kann man sich leicht über - zeugen. Euler bemüht sich vergeblich, sich den Unter - schied einer Variation und eines Differentials dadurch aufzuklären, dass er sich Constanten in der Function enthalten denkt, mit deren Veränderung die Form der Function sich ändert. Die Zuwüchse des Werthes der Function, welche von den Zuwüchsen dieser Constanten herrühren, sollen nun die Variationen sein, während die Zuwüchse der Function, welche Zuwüchsen der unab - hängig Variablen entsprechen, die Differentiale sind. Es ergibt sich durch diese Ansicht eine eigenthümlich ängstliche engherzige und inconsequente Auffassung der Variationsrechnung, welche sicherlich an jene Lagrange’s nicht hinanreicht. Noch Lindelof’s modernes sonst aus - gezeichnetes Buch leidet an diesem Uebelstand. Eine vollkommen zutreffende Darstellung des Lagrange’schen Gedankens hat unsers Erachtens erst Jellett gegeben. Er scheint das ausgesprochen zu haben, was Lagrange vielleicht nicht ganz auszusprechen vermochte, vielleicht auch auszusprechen für überflüssig hielt.

8. Die Auffassung Jellett’s ist in Kürze folgende. So wie man die Werthe mancher Grössen als constant, die Werthe anderer als veränderlich betrachtet, unter den letztern Grössen aber wieder unabhängig (oder willkürlich) veränderliche von abhängig veränderlichen (variablen) unterscheidet, so kann man auch eine Functionsform als bestimmt oder unbestimmt (ver - änderlich) ansehen. Ist eine Functionsform 〈…〉 veränderlich, so kann sich der Werth der Function y sowol durch einen Zuwachs dx der unabhängig Va - riable x, als auch durch eine Veränderung der Form, Uebergang von[φ]zu[φ]1 ändern. Die erstere Aenderung ist das Differential dy, die letztere die Variation[δ]y. Es ist also 〈…〉 und 〈…〉 .

412Viertes Kapitel.

Die Werthänderung einer unbestimmten Function durch Formänderung schliesst noch keine Aufgabe ein, sowie die Werthänderung einer unabhängig Variablen auch keine Aufgabe enthält. Man kann eben jede be - liebige Formänderung und damit jede beliebige Werth - änderung annehmen. Eine Aufgabe entsteht erst, wenn die Werthänderung einer der Form nach bestimmten Function F von einer (darin enthaltenen) unbestimmten Function[φ], welche durch die Formänderung der letz - tern herbeigeführt wird, angegeben werden soll. Wenn z. B. eine ebene Curve von unbestimmter Form 〈…〉 vorliegt, so ist die Bogenlänge derselben zwischen den Abscissen x0 und x1 〈…〉 eine bestimmte Function dieser unbestimmten Function. Sobald eine feste Form der Curve angenommen ist, kann sofort der Werth von S angegeben werden. Für jede beliebige Formänderung der Curve ist die Werth - änderung der Bogenlänge[δ]S bestimmbar. In dem ge - gebenen Beispiel enthält die Function S nicht direct die Function y, sondern deren ersten Differential - quotienten 〈…〉 , der aber selbst wieder von y abhängt. Wenn u = F (y) eine bestimmte Function einer unbe - stimmten 〈…〉 , so ist 〈…〉 Es sei 〈…〉 eine bestimmte Function von 〈…〉 , einer unbestimmten Function. Für Form - änderungen von[φ]ändert sich der Werth von y um[δ]y413Die formelle Entwickelung der Mechanik.und jener von 〈…〉 um 〈…〉 . Die entsprechende Werth - änderung von u ist 〈…〉

Der Ausdruck 〈…〉 wird nach der Definition er - halten durch 〈…〉 Ebenso findet man ohne Schwierigkeit 〈…〉 u. s. w.

Wir gehen nun an die Aufgabe, zu untersuchen, für welche Form der Function 〈…〉 der Ausdruck 〈…〉 in welchem 〈…〉 bedeutet, einen Maximal - oder Minimalwerth annimmt, wobei also[φ]eine unbestimmte, F eine bestimmte Function bezeichnet. Der Werth U kann sich ändern durch Veränderung der Grenzen x0, x2, denn die Aen - derung der unabhängig Variablen x als solche hat ausser den Grenzen keinen Einfluss auf U. Betrachten wir die Grenzen als fest, so haben wir auf x weiter nicht zu achten. Ausserdem ändert sich aber der Werth414Viertes Kapitel.von U nur durch die Formänderung von 〈…〉 , welche eine Werthänderung von 〈…〉 , um 〈…〉 , u. s. w. herbeiführt. Die gesammte Aenderung von U, welche wir mit DU bezeichnen, und um die Maximum - Minimumbedingung auszudrücken = o setzen, besteht aus dem Differential dU und der Variation[δ]U, sodass 〈…〉 . Wir finden nun 〈…〉 Hierbei sind V1 dx 1 und V0dx0 die Elemente, welche bei Aenderung der Grenzen zuwachsen und ausfallen. Nach dem Obigen haben wir ferner 〈…〉 〈…〉 Zur Abkürzung setzen wir 〈…〉 415Die formelle Entwickelung der Mechanik.Dann ist also 〈…〉 Hier wird die Uebersicht dadurch erschwert, dass in dem Ausdruck rechter Hand nicht nur[δ]y, sondern auch die Ausdrücke 〈…〉 u. s. w. vorkommen, welche zwar voneinander abhängen, aber in nicht un - mittelbar ersichtlicher Weise. Dieser Uebelstand kann behoben werden, indem man die bekannte Formel 〈…〉 wiederholt anwendet. Hierdurch wird 〈…〉 〈…〉 u. s. w. Wir erhalten demnach, diese Integrationen consequent zwischen den Grenzen ausführend, für die Bedingung DU = o den Ausdruck 〈…〉 416Viertes Kapitel. 〈…〉 , welcher unter dem Integralzeichen nur mehr[δ]y ent - hält.

Hierbei sind die Glieder der ersten Zeile unab - hängig von der Formänderung der Function, und hängen nur von der Aenderung der Grenzen ab. Die Glieder der folgenden Zeilen, mit Ausnahme der letzten, hängen von der Formänderung der Function lediglich an den Grenzen ab, und die Indices 1, 2 zeigen an, dass für die allgemeinen Ausdrücke die Grenzwerthe einzusetzen sind. Der Ausdruck der letzten Zeile endlich hängt von der Formänderung der Function in ihrer ganzen Ausdehnung ab. Fassen wir alle Glieder mit Ausnahme jener der letzten Zeile unter der Bezeichnung[α]1 [α]0 zusammen, und nennen den Ausdruck in der Klammer der letzten Zeile[β], so ist 〈…〉 Aus dieser Gleichung folgt aber 〈…〉 und 〈…〉 Wäre nicht jedes der Glieder für sich gleich Null, so wäre eines durch das andere bestimmt. Es kann aber nicht das Integrale einer unbestimmten Function durch die Werthe derselben an den Grenzen allein gegeben sein. Soll also allgemein 〈…〉 sein, so ist, weil die[δ]y in der ganzen Ausdehnung will -417Die formelle Entwickelung der Mechanik.kürlich sind, dies nur möglich, wenn 〈…〉 . Es ist also durch die Gleichung 〈…〉 die Natur der Function 〈…〉 , welche den Aus - druck U zu einem Maximum oder Minimum macht, be - stimmt. Die Gleichung 3 hat schon Euler gefunden. Dagegen hat erst Lagrange die Verwendung der Gleichung 1 zur Bestimmung der Function durch die Grenzbedingungen gelehrt. Die Form der Function 〈…〉 ist zwar im allgemeinen durch die Gleichung 3, welcher sie genügen muss, bestimmt, allein dieselbe enthält eine Anzahl willkürlicher Constanten, deren Werth erst durch die Bedingungen an den Grenzen fixirt wird. In Bezug auf die Bezeichnung bemerkt Jellett wol mit Recht, dass die Schreibweise der bei - den ersten Glieder 〈…〉 in Gleichung 1, welche Lagrange anwendet, eine Inconsequenz sei, und setzt für die Zuwüchse der unabhängig Variablen die gewöhnlichen Zeichen dx 1, dx 0.

9. Um den Gebrauch der gefundenen Gleichungen zu erläutern, suchen wir die Functionsform, welche 〈…〉 zu einem Minimum macht, die kürzeste Linie. Hier ist 〈…〉 Alle Ausdrücke ausser 〈…〉 Mach. 27418Viertes Kapitel.verschwinden in der Gleichung 3, und dieselbe wird 〈…〉 , was besagt, dass P1 und folglich auch die einzige darin enthaltene Variable 〈…〉 von x unabhängig ist. Demnach ist 〈…〉 und y = ax+b, worin a und b Constanten bedeuten.

Die Constanten a, b sind durch die Grenzbedingungen zu bestimmen. Soll die Gerade durch die Punkte x0, y0, und x1, y1 hindurchgehen, so ist 〈…〉 und die Gleichung 1 fällt weg, weil dx 0 = dx 1 = o, 〈…〉 . Die Coefficienten 〈…〉 u. s. w. fallen von selbst aus. Durch die Gleichungen m allein werden also die Werthe von a und b bestimmt.

Sind nur die Grenzwerthe x0, x1 gegeben, dagegen y0, y1 unbestimmt, so wird dx 0 = dx 1 = o, und die Gleichung 1 nimmt die Form an 〈…〉 welche bei der Willkürlichkeit von[δ]y 0 und[δ]y 1 nur erfüllt sein kann, wenn a = o ist. Die Gerade ist in diesem Fall y = b, in einem beliebigen Abstand pa - rallel der Abscissenaxe, da b unbestimmt bleibt.

Man bemerkt, dass im allgemeinen die Gleichung 1 und die Nebenbedingungen (in dem obigen Beispiele m) sich in Bezug auf die Constantenbestimmung ergänzen. Soll 〈…〉 419Die formelle Entwickelung der Mechanik.ein Minimum werden, so liefert die Integration der zugehörigen Gleichung 3 〈…〉 Ist Z ein Minimum, so ist es auch 2[π]Z, und die ge - fundene Curve liefert um die Abscissenaxe rotirt die kleinste Umdrehungsfläche. Einem Minimum von Z ent - spricht auch die tiefste Lage des Schwerpunktes der homogen schwer gedachten Curve, welche demnach eine Kettenlinie ist. Die Bestimmung der Constanten c, c′ geschieht wie oben mit Hülfe der Grenzbedingungen.

Bei Behandlung mechanischer Aufgaben unterscheidet man die in der Zeit wirklich eintretenden Zuwüchse der Coordinaten dx, dy, dz von den möglichen Ver - schiebungen[δ]x,[δ]y,[δ]z, welche man (z. B. bei Ver - wendung des Princips der virtuellen Verschiebungen) in Betracht zieht. Letztere sind im allgemeinen keine Varia - tionen, d. h. keine Werthänderungen, welche von Form - änderungen einer Function herrühren. Nur wenn wir ein mechanisches System betrachten, welches ein Continuum ist, wie z. B. ein Faden, eine biegsame Fläche, ein elas - tischer Körper, eine Flüssigkeit, können wir die[δ]x,[δ]y,[δ]z als unbestimmte Functionen der Coordinaten x, y, z ansehen, und haben es dann mit Variationen zu thun.

Wir haben hier keine mathematischen Theorien zu entwickeln, sondern den eigentlich naturwissenschaft - lichen Theil der Mechanik zu behandeln. Die Geschichte der Isoperimeterprobleme und der Variationsrechnung musste aber berührt werden, weil die betreffenden Untersuchungen einen grossen Einfluss auf die Ent - wickelung der Mechanik geübt haben. Der Blick in Bezug auf allgemeinere Eigenschaften von Systemen überhaupt, und auf Maximum-Minimumeigenschaften insbesondere, wurde durch die Beschäftigung mit den erwähnten Aufgaben so geschärft, dass man derartige Eigenschaften an mechanischen Systemen sehr leicht27 *420Viertes Kapitel.entdeckte. In der That drückt man seit Lagrange all - gemeinere mechanische Sätze gern in Form von Maximum - Minimumsätzen aus. Diese Vorliebe bliebe unverständ - lich ohne Kenntniss der historischen Entwickelung.

2. Theologische animistische und mystische Gesichtspunkte in der Mechanik.

1. Wenn wir in eine Gesellschaft eintreten, in welcher eben von einem recht frommen Manne die Rede ist, dessen Namen wir nicht gehört haben, so werden wir an den Geheimrath X oder den Herrn v. Y denken, wir werden aber schwerlich zuerst und zunächst auf einen tüchtigen Naturforscher rathen. Dennoch wäre es ein Irrthum zu glauben, dass dieses etwas gespannte Verhältniss zwischen der naturwissenschaftlichen und theologischen Auffassung der Welt, welches sich zeit - weilig zu einem erbitterten Kampfe steigert, zu allen Zeiten und überall bestanden habe. Ein Blick auf die Geschichte der Naturwissenschaft überzeugt uns vom Gegentheil.

Man liebt es, die Conflicte der Wissenschaft mit der Theologie, oder besser gesagt mit der Kirche, zu schil - dern. Und in der That ist dies ein reichhaltiges und dankbares Thema. Einerseits ein stattliches Verzeich - niss von Sünden der Kirche gegen den Fortschritt, andererseits eine ansehnliche Reihe von Märtyrern, unter welchen keine Geringem als Giordano Bruno und Galilei sich befinden, und unter welche einzutreten selbst einem so frommen Manne wie Descartes nur durch die günstigsten Umstände knapp erspart wurde. Allein diese Conflicte sind genügend dargestellt worden, und wenn man allein diese Conflicte betont, stellt man die Sache einseitig dar, und wird ungerecht. Man kommt dann leicht zu der Ansicht, die Wissenschaft sei nur durch den Druck der Kirche niedergehalten worden, und hätte sich sofort zu ungeahnter Grösse erhoben,421Die formelle Entwickelung der Mechanik.wenn nur dieser Druck gewichen wäre. Allerdings war der Kampf der Forscher gegen die fremde äussere Gewalt kein unbedeutender. Der Kirche war auch in diesem Kampfe kein Mittel zu schlecht, welches zum Siege verhelfen konnte, und sie ist hierbei eigen - nütziger, rücksichtsloser und grausamer vorgegangen als irgendeine andere politische Partei. Einen nicht geringen Kampf hatten aber auch die Forscher mit ihren eigenen hergebrachten Ideen zu bestehen, nament - lich mit dem Vorurtheil, dass alles theologisch be - handelt werden müsse. Nur allmählich und langsam wurde dieses Vorurtheil überwunden.

2. Lassen wir die Thatsachen sprechen, und machen wir zunächst einige persönliche Bekanntschaften!

Napier, der Erfinder der Logarithmen, ein strenger Puritaner, welcher im 16. Jahrhundert lebte, war neben - bei ein eifriger Theologe. Er verlegte sich auf höchst sonderbare Speculationen. Er schrieb eine Auslegung der Apokalypse mit Propositionen und mathematischen Beweisen. Proposition 26 behauptet z. B., dass der Papst der Antichrist sei, Proposition 36 lehrt, dass die Heuschrecken die Türken und Mohammedaner seien u. s. w.

Wenn wir auch kein besonderes Gewicht darauf legen, dass Blaise Pascal (17. Jahrhundert), einer der genialsten Denker auf dem Gebiete der Mathematik und Physik, höchst orthodox und ascetisch war, dass er trotz seines milden Charakters zu Rouen einen Lehrer der Philo - sophie aus voller Ueberzeugung als Ketzer denun - cirte, dass die Heilung seiner Schwester durch Be - rührung einer Reliquie einen tiefen Eindruck auf ihn machte, und dass er dieselbe als ein Wunder an - sah, wenn wir auch darauf kein Gewicht legen, weil seine ganze zu religiöser Schwärmerei neigende Familie in diesem Punkte sehr schwach war, so gibt es doch noch andere Beispiele dieser Art genug. Die tiefe Religiosität Pascal’s zeigt sich in seinem Entschlusse, die Wissenschaften gänzlich aufzugeben, und nur dem Christenthum zu leben. Wenn er Trost suche, pflegte422Viertes Kapitel.er zu sagen, so könne er denselben nur bei den Lehren des Christenthums finden, und alle Weisheit der Welt könne ihm nichts nützen. Dass er es mit der Bekeh - rung der Ketzer aufrichtig meinte, zeigen seine Lettres provinciales , in welchem er gegen die horrenden Spitz - findigkeiten eiferte, die von den Doctoren der Sorbonne eigens erfunden worden waren, um die Jansenisten zu verfolgen. Sehr merkwürdig ist Pascal’s Briefwechsel mit verschiedenen Theologen, und wir erstaunen nicht wenig, wenn Pascal in einem dieser Briefe ganz ernsthaft die Frage discutirt, ob der Teufel auch Wunder wirken könne.

Otto von Guericke, der Erfinder der Luftpumpe, be - schäftigt sich gleich zu Anfang seines vor kaum 200 Jahren verfassten Buches mit dem Wunder des Josua, welches er mit dem Kopernicanischen System in Einklang zu bringen sucht. Und vor den Untersuchungen über den leeren Raum und über die Natur der Luft finden wir Fragen über den Ort des Himmels, über den Ort der Hölle u. s. w. Wenn Guericke auch alle diese Fragen möglichst vernünftig zu beantworten sucht, so sieht man doch, was sie ihm zu schaffen machen, die - selben Fragen, die heute ein gebildeter Theologe nicht einmal aufwerfen wird. Und in Guericke haben wir einen Mann nach der Reformation vor uns!

Auch Newton verschmähte es nicht, sich mit der Er - klärung der Apokalypse zu beschäftigen. Es war in solchen Dingen schwer mit ihm zu sprechen. Als Halley sich einmal einen Scherz über theologische Discussionen erlaubte, soll er ihn kurz mit der Bemerkung abgewiesen haben: Ich habe diese Dinge studirt, Sie nicht!

Bei Leibnitz, dem Erfinder der besten Welt und der prästabilirten Harmonie, welche Erfindung in Voltaire’s anscheinend komischem, in Wirklichkeit aber tief ernstem philosophischen Roman Candide ihre gebührende Ab - fertigung gefunden hat, brauchen wir nicht zu ver - weilen. Er war bekanntlich fast ebenso sehr Theologe als Philosoph und Naturforscher.

Wenden wir uns an einen Mann des vorigen Jahr -423Die formelle Entwickelung der Mechanik.hunderts. Euler in seinen Briefen an eine deutsche Prinzessin behandelt mitten unter naturwissenschaft - lichen Fragen auch theologisch-philosophische. Er be - spricht die Schwierigkeit, bei der gänzlichen Verschieden - heit von Körper und Geist, die für ihn feststeht, die Wechselbeziehung beider zu begreifen. Zwar will ihm das von Descartes und seinen Nachfolgern entwickelte System des Occasionalismus nicht recht gefallen, wonach Gott zu jeder Absicht der Seele die entsprechende Be - wegung des Körpers ausführt, weil die Seele selbst dies nicht im Stande ist. Er verspottet auch nicht ohne Witz die prästabilirte Harmonie, nach welcher von Ewigkeit her Einklang zwischen den Bewegungen des Körpers und den Absichten der Seele hergestellt ist, obgleich beide einander gar nichts angehen, gerade so wie zwischen zwei verschiedenen, aber genau gleich - gehenden Uhren. Er bemerkt, dass nach dieser An - sicht sein eigener Leib ihm eigentlich so fremd sei, wie der eines Rhinoceros mitten in Afrika, welcher ebensowol in prästabilirter Harmonie mit seiner Seele sein könnte. Hören wir ihn selbst. Man schrieb da - mals fast nur lateinisch. Wollte ein deutscher Gelehrter einmal besonders herablassend sein, und deutsch schrei - ben, so schrieb er französisch: Si dans le cas d’un dérèglement de mon corps Dieu ajustait celui d’un Rhinoceros, ensorte, que ses mouvements fussent telle - ment d’accord avec les ordres de mon âme, qu’il levât la patte au moment que je voudrais lever la main, et ainsi des autres opérations, ce serait alors mon corps. Je me trouverais subitement dans la forme d’un Rhi - noceros au milieu de l’Afrique, mais non obstant cela mon âme continuerait les mêmes opérations. J’aurais également l’honneur d’écrire à V. A., mais je ne sais pas comment elle recevrait mes lettres. Fast möchte man glauben, Eulern hätte die Lust angewandelt, einmal Voltaire zu spielen. Und doch, so sehr er mit seiner Kritik den Nagel auf den Kopf trifft, ist ihm die Wechsel - wirkung von Leib und Seele ein Wunder. Und doch424Viertes Kapitel.hilft er sich in höchst sophistischer Weise über die Freiheit des Willens hinweg. Um uns eine Vorstellung davon zu verschaffen, welche Fragen damals ein Natur - forscher behandeln konnte, bemerken wir, dass Euler in seinen physikalischen Briefen über die Natur der Geister, über die Verbindung von Leib und Seele, über die Freiheit des Willens, über den Einfluss der Freiheit auf die Ereignisse der Welt, über das Gebet, über das physische und moralische Uebel, über die Bekehrung der Sünder und ähnliche Stoffe Untersuchungen anstellt. Dies geschieht alles in derselben Schrift, welche so viele klare physikalische Gedanken und die schöne Dar - stellung der Logik mit Hülfe der Kreise enthält.

3. Diese Beispiele mögen vorläufig genügen. Wir haben sie mit Absicht unter den ersten Naturforschern gewählt. Was wir bei diesen Männern an Theologie gefunden haben, gehört ganz ihrem innersten Privat - leben an. Sie sagen uns öffentlich Dinge, zu welchen sie nicht gezwungen sind, von welchen sie auch schweigen können. Es sind nicht fremde ihnen aufgedrungene Ansichten, es sind ihre eigenen Meinungen, welche sie vorbringen. Sie fühlen sich durch die Theologie nicht gedrückt. In einer Stadt und an einem Hofe, die Lamettrie und Voltaire beherbergten, bestand für Euler kein Grund seine Ueberzeugungen zu verbergen.

Nach unserer heutigen Meinung hätten diese Männer mindestens bemerken sollen, dass die Fragen dort nicht hingehören, wo sie dieselben behandeln, dass es keine naturwissenschaftlichen Fragen sind. Mag dieser Wider - spruch zwischen überkommenen theologischen und selbst - geschaffenen naturwissenschaftlichen Ueberzeugungen uns immer einen sonderbaren Eindruck machen, nichts be - rechtigt uns, diese Männer deshalb geringer zu achten. Denn das eben beweist ihre gewaltige Geisteskraft, dass sie trotz der beschränkten Anschauungen ihrer Zeit, von welchen sich ganz frei zu machen ihnen nicht vergönnt war, ihren Gesichtskreis doch so erweitern, und uns zu einem freiem Standpunkte verhelfen konnten.

425Die formelle Entwickelung der Mechanik.

Der Unbefangene wird nicht mehr darüber im Zweifel sein, dass das Zeitalter, in welches die Hauptentwickelung der Mechanik fiel, theologisch gestimmt war. Theologische Fragen wurden durch alles angeregt, und hatten auf alles Einfluss. Kein Wunder also, wenn auch die Mechanik von diesem Hauch berührt wurde. Das Durchschlagende der theologischen Stimmung wird noch deutlicher, wenn wir auf Einzelheiten eingehen.

4. Die antiken Anregungen durch Heron und Pappus wurden schon im vorigen Kapitel besprochen. Galilei finden wir zu Anfang des 17. Jahrhunderts mit Fragen über die Festigkeit beschäftigt. Er zeigt, dass hohle Röhren eine grössere Biegungsfestigkeit darbieten als massive Stäbe von gleicher Länge und gleichem Material, und wendet diese Erkenntniss sofort an, um die For - men der Thierknochen zu erläutern, welche gewöhnlich hohle Röhren vorstellen. Man kann dieses Verhältniss ohne Schwierigkeit durch einen flach gefalteten und durch einen zusammengerollten Bogen Papier anschau - lich machen. Ein einerseits befestigter und andererseits belasteter horizontaler Balken kann ohne Schaden für die Festigkeit und mit Materialgewinn am belasteten Ende dünner genommen werden. Galilei bestimmt die Form des Balkens von in jedem Querschnitt gleichem Widerstand. Er bemerkt endlich noch, dass geometrisch ähnliche Thiere von sehr verschiedener Grösse den Ge - setzen der Festigkeit auch in sehr ungleichem Maasse entsprechen würden.

Die bis in die feinsten Einzelheiten zweckmässigen Formen der Knochen, Federn, Halme und anderer or - ganischer Gebilde, die in der That geeignet sind, auf den gebildeten Beschauer einen tiefen Eindruck zu machen, sind bis auf den heutigen Tag unzähligemal zu Gunsten einer in der Natur waltenden Weisheit an - geführt worden. Betrachten wir z. B. die Schwung - feder eines Vogels. Der Kiel ist eine hohle Röhre, die gegen das freie Ende hin an Dicke abnimmt, also zugleich ein Körper von gleichem Widerstande. Jedes426Viertes Kapitel.Blättchen der Federfahne wiederholt ähnliche Verhält - nisse im Kleinen. Es würde bedeutende technische Kenntnisse erfordern, eine solche Feder in ihrer Zweck - mässigkeit auch nur nachzubilden, geschweige denn sie zu erfinden. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass nicht die blosse Bewunderung, sondern die Erforschung die Aufgabe der Wissenschaft ist. Es ist bekannt, in welcher Weise Darwin nach seiner Theorie der An - passung diese Fragen zu lösen sucht. Dass die Dar - win’sche Auflösung eine vollständige sei, kann billig bezweifelt werden; Darwin selbst bezweifelt es. Alle äussern Umstände vermöchten nichts, wenn nicht etwas da wäre, was sich anpassen will. Darüber aber kann kein Zweifel sein, dass die Darwin’sche Theorie der erste ernste Versuch ist, an die Stelle der blossen Bewun - derung der organischen Natur die Erforschung zu setzen.

Des Pappus Ideen über die Bienenzellen werden noch im 18. Jahrhundert lebhaft discutirt. Wood erzählt in seiner 1867 erschienenen Schrift: Ueber die Nester der Thiere , folgende Geschichte: Maraldi war die grosse Regelmässigkeit der Bienenzellen aufgefallen. Er maass die Winkel der rautenförmigen Grenzflächen und fand dieselben 109° 28′ und 70° 32′. Réaumur in der Ueberzeugung, dass diese Winkel mit der Oekono - mie der Zelle zusammenhängen müssten, bat den Mathe - matiker König, jene Form eines sechsseitigen durch drei Rauten geschlossenen Gefässes zu berechnen, bei welcher der grösste Inhalt mit der kleinsten Oberfläche zu - sammentrifft. Réaumur erhielt die Antwort, dass die Winkel der Rauten 109° 26′ und 70° 34′ betragen müssten. Der Unterschied betrug also zwei Minuten. Maclaurin, von dieser Uebereinstimmung nicht befriedigt, wiederholte die Messung von Maraldi, fand sie richtig, und bemerkte bei Wiederholung der Rechnung einen Fehler in der von König verwendeten Logarithmentafel. Nicht die Bienen also, sondern der Mathematiker hatte gefehlt, und die Bienen hatten zur Aufdeckung des Fehlers verholfen! Wem es bekannt ist, wie man Krystalle427Die formelle Entwickelung der Mechanik.misst, und wer eine Bienenzelle gesehen hat, welche ziemlich rohe und nicht spiegelnde Flächen hat, der wird es bezweifeln, dass man beim Messen der Zellen eine Genauigkeit von zwei Minuten erreichen kann. Man muss also die Geschichte für ein frommes mathe - matisches Märchen halten, abgesehen davon, dass nichts daraus folgt, wenn sie wahr ist. Nebenbei sei bemerkt, dass die Aufgabe mathematisch zu unvollständig ge - stellt worden ist, um beurtheilen zu können, wie weit die Bienen sie gelöst haben.

Die im vorigen Kapitel erwähnten Ideen von Heron und Fermat über die Lichtbewegung erhielten durch Leibnitz sofort eine theologische Färbung und spielten, wie erwähnt, eine hervorragende Rolle bei Entwickelung der Variationsrechnung. In Leibnitzens Briefwechsel mit Johann Bernoulli werden unter mathematischen wiederholt auch theologische Fragen berührt. Nicht selten wird auch in biblischen Bildern gesprochen. So sagt z. B. Leibnitz, das Problem der Brachystochrone hätte ihn angezogen wie der Apfel die Eva.

Maupertuis, der bekannte Präsident der berliner Akademie und Günstling Friedrich’s des Grossen, hat der theologisirenden Richtung der Physik einen neuen Anstoss gegeben durch Aufstellung seines Princips der kleinsten Wirkung. In der Schrift, welche die Auf - stellung dieses Princips enthält, und zwar in sehr unbe - stimmter Form, und in welcher Maupertuis einen ent - schiedenen Mangel an mathematischer Schärfe zeigt, erklärt er sein Princip für dasjenige, welches der Weis - heit des Schöpfers am besten entspräche. Maupertuis war geistreich, aber kein starker Kopf, er war ein Pro - jectenmacher. Dies zeigen seine kühnen Vorschläge, eine Stadt zu gründen, in der blos lateinisch gesprochen würde, ein grosses, tiefes Loch in die Erde zu graben, um neue Stoffe zu finden, psychologische Untersuchungen mit Hülfe des Opiums und der Section von Affen an - zustellen, die Bildung des Embryo durch die Gravi - tation zu erklären u. s. w. Er ist von Voltaire428Viertes Kapitel.scharf kritisirt worden in seiner Histoire du docteur Akakia , welche bekanntlich den Bruch zwischen Fried - rich und Voltaire herbeigeführt hat.

Maupertuis Princip wäre wol bald wieder vom Schauplatz verschwunden, allein Euler benutzte die Anregung. Er liess als wahrhaft bedeutender Mensch dem Princip den Namen, Maupertuis den Ruhm der Erfindung, und machte ein neues wirklich brauchbares Princip daraus. Was Maupertuis meinte, lässt sich schwer ganz klar machen. Was Euler meint, kann man an einfachen Beispielen leicht zeigen. Wenn ein Körper gezwungen ist, auf einer festen Fläche, z. B. der Erd - oberfläche, zu bleiben, so bewegt er sich auf einen An - stoss hin so, dass er zwischen seiner Anfangs - und Endlage den kürzesten Weg nimmt. Jeder andere Weg, den man ihm vorschriebe, würde länger sein und mehr Zeit erfordern. Das Princip findet Anwendung in der Theorie der Luft - und Wasserströmungen auf der Erd - oberfläche. Den theologischen Standpunkt hat Euler beibehalten. Er spricht sich dahin aus, dass man nicht allein aus den physikalischen Ursachen, sondern auch aus dem Zweck die Erscheinungen erklären könne. Da nämlich die Einrichtung der ganzen Welt die vor - züglichste ist, und da sie von dem weisesten Schöpfer herstammt, wird nichts in der Welt angetroffen, woraus nicht irgendeine Maximum - oder Minimumeigenschaft her - vorleuchtete; deshalb kann kein Zweifel bestehen, dass alle Wirkungen in der Welt ebensowol durch die Methode der Maxima und Minima aus den Zwecken wie aus den wirkenden Ursachen selbst abgeleitet werden können. 1Quum enim mundi universi fabrica sit perfectissima, atque a creatore sapientissimo absoluta, nihil omnino in mundo contingit, in quo non maximi minimive ratio quae - piam eluceat; quam ob rem dubium prorsus est nullum, quin omnes mundi effectus ex causis finalibus, ope methodi maximorum et minimorum, aeque feliciter determinari quae -

5. Auch die Vorstellungen von der Unveränderlich - keit der Menge der Materie, von der Unveränderlich -429Die formelle Entwickelung der Mechanik.keit der Summe der Bewegung, von der Unzerstörbar - keit der Arbeit oder Energie, welche die ganze heutige Naturwissenschaft beherrschen, sind unter dem Einflusse theologischer Ideen herangewachsen. Sie sind angeregt durch einen schon erwähnten Ausspruch von Descartes in den Principien der Philosophie, nach welchen die zu Anfang erschaffene Menge der Materie und Quantität der Bewegung unverändert bleibt, wie dies allein mit der Beständigkeit des Schöpfers der Welt verträglich sei. Die Vorstellung von der Art, wie die Summe der Bewegung zu rechnen sei, hat sich von Descartes auf Leibnitz und später bei den Nachfolgern sehr bedeutend modificirt, und es ist nach und nach das entstanden, was man heute Gesetz der Erhaltung der Energie nennt. Der theologische Hintergrund hat sich aber nur sehr allmählich verloren. Ja es lässt sich nicht leugnen, dass auch heute noch manche Naturforscher mit dem Gesetz der Erhaltung der Energie eine eigene Mystik treiben.

Durch das ganze 16. und 17. Jahrhundert bis gegen das Ende des 18. Jahrhunderts war man geneigt, überall in den physikalischen Gesetzen eine besondere Anordnung des Schöpfers zu sehen. Dem aufmerk - samen Beobachter kann aber eine allmähliche Umbildung der Ansichten nicht entgehen. Während bei Descartes und Leibnitz Physik und Theologie noch vielfach ver - mengt sind, zeigt sich später ein deutliches Streben, zwar nicht das Theologische ganz zu beseitigen, aber dasselbe von dem Physikalischen zu sondern. Es wird das Theologische an den Anfang oder das Ende einer physikalischen Untersuchung verlegt. Es wird das Theologische womöglich auf die Schöpfung concentrirt, um von da an für die Physik Raum zu gewinnen.

Gegen das Ende des 18. Jahrhunderts trat nun eine Wendung ein, welche äusserlich auffällt, welche wie ein1ant, atque ex ipsis causis efficientibus. (Methodus inveniendi lineas curvas maximi minimive proprietate gaudentes. Lau - sannae 1741.)430Viertes Kapitel.plötzlich gethaner Schritt aussieht, die aber im Grunde nur eine nothwendige Consequenz des angedeuteten Entwickelungsganges ist. Nachdem Lagrange in einer Jugendarbeit versucht hatte, die ganze Mechanik auf das Euler’sche Princip der kleinsten Wirkung zu grün - den, erklärt er bei einer Neubearbeitung desselben Gegenstandes, er wolle von allen theologischen und metaphysischen Speculationen als sehr precären, und nicht in die Wissenshaft gehörigen, gänzlich absehen. Er führt einen Neubau der Mechanik auf andern Grund - lagen aus, und kein Sachverständiger kann dessen Vor - züge verkennen. Alle spätem bedeutenden Naturforscher haben sich der Auffassung von Lagrange angeschlossen, und damit war im Wesentlichen die heutige Stellung der Physik zur Theologie gegeben.

6. Fast drei Jahrhunderte waren also nöthig, bis die Ansicht, dass Theologie und Naturwissenschaft zwei verschiedene Dinge seien, von ihrem ersten Aufkeimen bei Kopernicus bis Lagrange sich zur vollen Klarheit entwickelt hat. Dabei ist nicht zu verkennen, dass den grössten Geistern, wie Newton, diese Wahrheit immer klar war. Nie hat Newton trotz seiner tiefen Religiosität die Theologie in naturwissenschaftliche Fragen einge - mengt. Zwar schliesst auch er seine Optik , während noch auf den letzten Seiten der helle klare Geist leuchtet, mit dem Ausdruck der Zerknirschung über die Nichtigkeit alles Irdischen. Allein seine optischen Untersuchungen selbst enthalten im Gegensatz zu jenen Leibnitzens nicht die Spur von Theologie. Aehnliches kann man von Galilei und Huyghens sagen. Ihre Schriften entsprechen fast vollständig dem Standpunkt von Lagrange, und können in dieser Richtung als classisch gelten. Die Anschauung und Stimmung einer Zeit darf aber nicht nach den Spitzen, sondern muss nach dem Mittel gemessen werden.

Um den geschilderten Vorgang einigermaassen zu be - greifen, haben wir Folgendes zu überlegen. Es ist selbstverständlich, dass auf einer Culturstufe, auf welcher431Die formelle Entwickelung der Mechanik.die Religion fast die einzige Bildung, also auch die einzige Weltanschauung ist, nothwendig die Meinung besteht, dass alles theologisch zu betrachten sei, und dass diese Betrachtungsweise auch überall ausreichen müsse. Versetzen wir uns in die Zeit, da man mit der Faust die Orgel schlug, da man das Einmaleins schrift - lich vor sich haben musste, wenn man rechnen wollte, da man so manches mit der Faust verrichtete, was man heute mit dem Kopfe thut, so werden wir von einer solchen Zeit nicht verlangen, dass sie gegen ihre eigenen Ansichten kritisch zu Werke gehe. Mit der Erweiterung des Gesichtskreises durch die grossen geographischen, technischen und naturwissenschaftlichen Entdeckungen und Erfindungen des 15. und 16. Jahrhunderts, mit der Auffindung von Gebieten, auf welchen mit dieser An - schauung nicht auszukommen war, weil dieselbe vor Kenntniss dieser Gebiete sich gebildet hatte, weicht all - mählich und langsam dieses Vorurtheil. Schwerverständ - lich bleibt immer die grosse Freiheit des Denkens, die im frühen Mittelalter vereinzelt, zuerst bei Dichtern, dann bei Forschern auftritt. Die Aufklärung muss da - mals das Werk einzelner ganz ungewöhnlicher Menschen gewesen sein, und nur an ganz dünnen Fäden mit den Anschauungen des Volkes zusammengehangen haben, mehr geeignet, an diesen Anschauungen zu zerren, und sie zu beunruhigen, als dieselben umzugestalten. Erst in der Literatur des 18. Jahrhunderts scheint die Auf - klärung einen breitern Boden zu gewinnen. Huma - nistische, philosophische, historische und Naturwissen - schaften berühren sich da, und ermuthigen sich gegen - seitig zu freierm Denken. Jeder, der diesen Aufschwung und diese Befreiung auch nur zum Theil durch die Literatur miterlebt hat, wird lebenslänglich ein ele - gisches Heimweh empfinden nach dem 18. Jahrhundert.

7. Der alte Standpunkt ist also aufgegeben. Nur an der Form der Sätze der Mechanik erkennt man noch deren Geschichte. Diese Form bleibt auch so lange befremdlich, als man ihren Ursprung nicht berücksich -432Viertes Kapitel.tigt. Die theologische Auffassung wich nach und nach einer sehr nüchternen, welche aber mit einem bedeu - tenden Gewinn an Aufklärung verbunden war, wie wir dies in Kürze andeuten wollen.

Wenn wir sagen, das Licht bewege sich auf einem Wege kürzester Zeit, so können wir dadurch manches überschauen. Wir wissen aber noch nicht, warum das Licht die Wege kürzester Zeit vorzieht. Mit der An - nahme der Weisheit des Schöpfers verzichten wir auf weitere Einsicht. Wir wissen heute, dass sich das Licht auf allen Wegen bewegt, dass aber nur auf den Wegen kürzester Zeit die Lichtwellen sich so verstär - ken, dass ein merkliches Resultat zu Stande kommt. Das Licht scheint sich also nur auf Wegen kürzester Zeit zu bewegen. Nach Beseitigung des Vorurtheils fand man alsbald Fälle, in welchen neben der vermeint - lichen Sparsamkeit der Natur die auffallendste Ver - schwendung auftritt. Solche hat z. B. Jacobi in Bezug auf das Euler’sche Princip der kleinsten Wirkung nach - gewiesen. Manche Naturerscheinungen machen also blos deshalb den Eindruck der Sparsamkeit, weil sie nur dann sichtbar hervortreten, wenn eben zufällig ein Zu - sammensparen der Effecte stattfindet. Dies ist derselbe Gedanke im Gebiete des Unorganischen, welchen Darwin im Gebiete der organischen Natur ausgeführt hat. Wir erleichtern uns instinctiv die Auffassung der Natur, in - dem wir die uns geläufigen ökonomischen Vorstellungen auf dieselbe übertragen.

Zuweilen zeigen die Naturvorgänge darum eine Maxi - mum - oder Minimumeigenschaft, weil in diesem Falle des Grössten oder Kleinsten die Ursachen weiterer Ver - änderung wegfallen. Die Kettenlinie weist den tiefsten Schwerpunkt auf, weil nur bei dem tiefsten Schwerpunkt kein weiterer Fall der Kettenglieder mehr möglich ist. Die Flüssigkeiten unter dem Einfluss der Molecularkräfte bieten ein Minimum der Oberfläche dar, weil stabiles Gleichgewicht nur bestehen kann, wenn die Molecular - kräfte die Oberfläche nicht weiter verkleinern können. Das433Die formelle Entwickelung der Mechanik.Wesentliche liegt also nicht im Maximum oder Minimum, sondern in dem Wegfall der Arbeit von diesem Zustande aus, welche Arbeit eben das Bestimmende der Ver - änderung ist. Es klingt also viel weniger erhaben, ist aber dafür viel aufklärender, ist zugleich richtiger und allgemeiner, wenn man, statt von dem Ersparungs - bestreben der Natur zu sprechen, sagt: Es geschieht immer nur so viel, als vermöge der Kräfte und Um - stände geschehen kann.

Man kann nun mit Recht die Frage aufwerfen: Wenn der theologische Standpunkt, welcher zur Auf - stellung der mechanischen Sätze geführt hat, ein ver - fehlter war, wie kommt es, dass gleichwol diese Sätze im Wesentlichen richtig sind? Darauf lässt sich leicht antworten. Erstens hat die theologische Anschauung nicht den Inhalt der Sätze geliefert, sondern nur die Färbung des Ausdrucks bestimmt, während der Inhalt sich durch Beobachtung ergeben hat. Aehnlich würde eine andere herrschende Anschauung, z. B. eine mer - cantile gewirkt haben, die muthmaasslich auch auf Stevin’s Denkweise Einfluss geübt hat. Zweitens ver - dankt die theologische Auffassung der Natur selbst ihren Ursprung dem Streben, einen umfassendern Blick zu thun, also einem Streben, welches auch der Naturwissenschaft eigen ist, und welches sich ganz wohl mit den Zielen derselben verträgt. Ist also auch die theologische Naturphilosophie als eine verunglückte Unternehmung, als ein Rückfall auf eine niedere Cultur - stufe zu bezeichnen, so brauchen wir doch die gesunde Wurzel, aus welcher sie entsprossen ist, welche von jener der wahren Naturforschung nicht verschieden ist, nicht zu verwerfen.

In der That kann die Naturwissenschaft durch blosse Beachtung des Einzelnen nichts erreichen, wenn sie nicht zeitweilig auch den Blick ins Grosse richtet. Die Galilei’schen Fallgesetze, das Huyghens’sche Princip der lebendigen Kräfte, das Princip der virtuellen Ver - schiebungen, selbst der Massenbegriff, konnten, wie wirMach. 28434Viertes Kapitel.uns erinnern, nur gewonnen werden, indem abwechselnd das Einzelne und das Ganze der Naturvorgänge be - trachtet wurde. Man kann bei der Nachbildung der mechanischen Naturvorgänge in Gedanken von den Eigenschaften der einzelnen Massen (von den Elementar - gesetzen) ausgehen, und das Bild des Vorganges zu - sammensetzen. Man kann sich aber auch an die Eigen - schaften des ganzen Systems (an die Integralgesetze) halten. Da aber die Eigenschaften einer Masse immer Beziehungen zu andern Massen enthalten, z. B. in der Geschwindigkeit und Beschleunigung schon eine Be - ziehung auf die Zeit, also auf die ganze Welt liegt, so erkennt man, dass es reine Elementargesetze eigent - lich gar nicht gibt. Es wäre also inconsequent, wenn man den doch unentbehrlichen Blick auf das Ganze, auf allgemeinere Eigenschaften, als weniger sicher aus - schliessen wollte. Wir werden nur, je allgemeiner ein neuer Satz, und je grösser dessen Tragweite ist, mit Rücksicht auf die Möglichkeit des Irrthums, desto bessere Proben für denselben verlangen.

Die Vorstellung von dem Wirken eines Willens und einer Intelligenz in der Natur ist keineswegs durch den christlichen Monotheismus allein erzeugt. Dieselbe ist vielmehr dem Heidenthum und dem Fetischismus vollkommen geläufig. Das Heidenthum sucht den Willen und die Intelligenz nur im Einzelnen, während der Monotheismus den Ausdruck derselben im Ganzen vermuthet. Einen reinen Monotheismus gibt es übrigens thatsächlich nicht. Der jüdische Monotheismus der Bibel ist von dem Glauben an Dämonen, Zauberer und Hexen durchaus nicht frei, der christliche Monotheis - mus des Mittelalters ist an solchen heidnischen Vor - stellungen noch viel reicher. Von dem bestialischen Sport, den Kirche und Staat mit dem Hexenfoltern und Hexenverbrennen getrieben haben, und der wol grösstentheils nicht durch Gewinnsucht, sondern eben durch die erwähnten Vorstellungen bedingt war, wollen wir schweigen. Tylor hat in seiner lehrreichen Schrift435Die formelle Entwickelung der Mechanik. Ueber die Anfänge der Cultur das Zauberwesen, den Aberglauben und Wunderglauben, der sich bei allen wilden Völkern findet, studirt, und mit den Meinungen des Mittelalters über Hexerei verglichen. Die Aehn - lichkeit ist in der That auffallend. Und was im 16. und 17. Jahrhundert in Europa so häufig war, das Hexenverbrennen, das wird heute noch in Centralafrika fleissig betrieben. Auch bei uns finden sich noch, wie Tylor nachweist, Spuren dieser Zustände in einer Un - zahl von Gebräuchen, deren Verständniss uns mit dem veränderten Standpunkt verloren gegangen ist.

8. Die Naturwissenschaft ist diese Vorstellungen nur sehr langsam los geworden. Noch in dem berühmten Buche von Porta ( Magia naturalis ), welches im 16. Jahrhundert erschien, und wichtige physikalische Ent - deckungen enthält, finden sich Zaubereien und Teufeleien aller Art, welche jenen des indianischen Medicin - mannes wenig nachgeben. Erst durch Gilbert’s Schrift De magnete (1600) wurde diesem Spuk eine ge - wisse Grenze gesetzt. Wenn noch Luther persönliche Begegnungen mit dem Teufel gehabt haben soll, wenn Kepler, dessen Muhme als Hexe verbrannt worden war, und dessen Mutter beinahe dasselbe Schicksal ereilt hätte, sagt, die Hexerei lasse sich nicht leugnen, und wenn er nicht wagt, sich frei über die Astrologie aus - zusprechen, so kann man sich die Denkweise der weniger Aufgeklärten lebhaft vorstellen.

Auch die heutige Naturwissenschaft weist in ihren Kräften noch Spuren des Fetischismus auf, wie Tylor richtig bemerkt. Und dass die heidnischen An - schauungen von der gebildeten Gesellschaft nicht über - wunden sind, können wir an dem albernen abgeschmack - ten Spiritistenspuk sehen, welcher jetzt die Welt erfüllt.

Es hat einen triftigen Grund, dass diese Vorstellungen sich so hartnäckig behaupten. Von den Trieben, welche den Menschen mit so dämonischer Gewalt beherrschen, die ihn nähren, erhalten und fortpflanzen, ohne sein Wissen und seine Einsicht, von diesen Trieben, deren28*436Viertes Kapitel.gewaltige pathologische Ausschreitungen uns das Mittel - alter vorführt, ist nur der kleinste Theil der wissen - schaftlichen Analyse und der begrifflichen Erkenntniss zugänglich. Der Grundzug aller dieser Triebe ist das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Gleichartigkeit mit der ganzen Natur, welches durch einseitige intellectuelle Beschäftigung zeitweilig übertäubt, aber nicht erstickt werden kann, welches gewiss auch einen gesunden Kern hat, zu welch monströsen religiösen Vorstellungen es auch Anlass gegeben haben mag.

9. Wenn die französischen Encyklopädisten des 18. Jahrhunderts dem Ziel nahe zu sein glaubten, die ganze Natur physikalisch-mechanisch zu erklären, wenn Laplace einen Geist fingirt, welcher den Lauf der Welt in alle Zukunft anzugeben vermöchte, wenn ihm nur einmal alle Massen mit ihren Lagen und Anfangsgeschwindig - keiten gegeben wären, so ist diese freudige Ueber - schätzung der Tragweite der gewonnenen physikalisch - mechanischen Einsichten im 18. Jahrhundert verzeihlich, ja ein liebenswürdiges, edles, erhebendes Schauspiel, und wir können diese intellectuelle, einzig in der Ge - schichte dastehende Freude lebhaft mitempfinden.

Nach einem Jahrhundert aber, nachdem wir besonnener geworden sind, erscheint uns die projectirte Weltan - schauung der Encyklopädisten als eine mechanische Mythologie im Gegensatz zur animistischen der alten Religionen. Beide Anschauungen enthalten unge - bührliche und phantastische Uebertreibungen einer ein - seitigen Erkenntniss. Die besonnene physikalische For - schung wird aber zur Analyse der Sinnesempfindungen führen. Wir werden dann erkennen, dass unser Hunger nicht so wesentlich verschieden von dem Streben der Schwefelsäure nach Zink, und unser Wille nicht so sehr verschieden von dem Druck des Steines auf die Unterlage ist, als es gegenwärtig den Anschein hat. Wir werden uns dann der Natur wieder näher fühlen, ohne dass wir nöthig haben, uns selbst in eine uns nicht mehr verständliche Staubwolke von Molecülen, oder die Natur437Die formelle Entwickelung der Mechanik.in ein System von Spukgestalten aufzulösen. Die Richtung, in welcher die Aufklärung durch eine lange und mühevolle Untersuchung zu erwarten ist, kann na - türlich nur vermuthet werden. Das Resultat anti - cipiren, oder es gar in die gegenwärtigen wissen - schaftlichen Untersuchungen einmischen zu wollen, hiesse Mythologie statt Wissenschaft treiben.

Die Naturwissenschaft tritt nicht mit dem Anspruch auf, eine fertige Weltanschauung zu sein, wohl aber mit dem Bewusstsein, an einer künftigen Weltanschauung zu arbeiten. Die höchste Philosophie des Naturforschers besteht eben darin, eine unvollendete Weltanschauung zu ertragen, und einer scheinbar abgeschlossenen, aber unzureichenden vorzuziehen. Die religiösen Ansichten bleiben jedes Menschen eigenste Privatsache, solange er mit denselben nicht aufdringlich wird, und sie nicht auf Dinge überträgt, die vor ein anderes Forum ge - hören. Selbst die Naturforscher verhalten sich, je nach der Weite ihres Blickes und je nach ihrer Werthschätzung der Consequenz, in dieser Richtung höchst verschieden.

Die Naturwissenschaft fragt gar nicht nach dem, was einer exacten Erforschung nicht zugänglich, oder noch nicht zugänglich ist. Sollten aber einmal Gebiete der exacten Forschung erreichbar werden, die es jetzt noch nicht sind, nun dann wird wol kein wohlorganisirter Mensch, keiner, der es mit sich und andern ehrlich meint, Anstand nehmen, die Meinung über ein Ding mit dem Wissen von einem Ding zu vertauschen.

Wenn wir die heutige Gesellschaft oft schwanken sehen, wenn sie ihren Standpunkt auch in derselben Frage je nach der Stimmung und Lebenslage wechselt, wie die Register einer Orgel, wenn dies nicht ohne tiefen Gemüthsschmerz abgehen kann, so ist dies eine natürliche nothwendige Folge der Halbheit und des Uebergangszustandes ihrer Ansichten. Eine zureichende Weltanschauung kann uns nicht geschenkt werden, wir müssen sie erwerben! Nur dann aber, wenn man dem Verstande und der Erfahrung freien Lauf lässt, wo sie438Viertes Kapitel.allein zu entscheiden haben, werden wir uns hoffent - lich zum Wohle der Menschheit langsam, allmählich aber sicher, jenem Ideale einer einheitlichen Weltan - schauung nähern, welches allein verträglich ist mit der Oekonomie eines gesunden Gemüthes.

3. Die analytische Mechanik.

1. Newton’s Mechanik ist eine rein geometrische. Er entwickelt seine Sätze von gewissen Annahmen aus - gehend mit Hülfe von Constructionen an der Figur. Der Gang ist häufig so künstlich, dass, wie schon Laplace bemerkt hat, eine Auffindung der Sätze auf diesem Wege nicht wahrscheinlich ist. Man erkennt auch, dass die Newton’schen Darstellungen nicht ebenso aufrichtig sind, als jene von Galilei und Huyghens. Die Methode Newton’s wird, sowie jene der alten Geometer, auch als die synthetische bezeichnet.

Zieht man aus gegebenen Voraussetzungen eine Folgerung, so nennt man diesen Vorgang synthetisch. Sucht man umgekehrt zu einem Satz oder zu den Eigenschaften einer Figur die Bedingungen auf, so geht man analytisch vor. Das letztere Verfahren ist haupt - sächlich erst durch Anwendung der Algebra auf die Geometrie in ausgedehntern Gebrauch gekommen. Es ist deshalb üblich geworden, das rechnende Verfahren überhaupt das analytische zu nennen. Was heute analy - tische Mechanik im Gegensatze zur Newton’schen Mecha - nik heisst, ist genau genommen rechnende Mechanik.

2. Der Grund zur analytischen Mechanik ist von Euler gelegt worden (Mechanica, sive motus scientia analytice exposita, Petrop. 1736). Während aber Euler’s Ver - fahren noch dadurch an die alte geometrische Methode erinnert, dass er alle Kräfte bei krummlinigen Be - wegungen in Tangential - und Normalkräfte zerlegt, begründet Maclaurin (A complete system of fluxions, Edinb. 1742) einen wesentlichen Fortschritt. Er nimmt alle Zerlegungen nach drei unveränderlichen Richtungen439Die formelle Entwickelung der Mechanik.vor, wodurch alle Rechnungen eine viel grössere Symme - trie und Uebersichtlichkeit gewinnen.

3. Auf die höchste Stufe der Entwickelung ist end - lich die analytische Mechanik durch Lagrange gebracht worden. Lagrange (Mécanique analytique, Paris 1788) bestrebt sich, alle nothwendigen Ueberlegungen ein für allemal abzuthun, möglichst viel in einer Formel darzustellen. Jeden vorkommenden Fall kann man nach einem sehr einfachen symmetrischen und übersichtlichen Schema behandeln, und was noch zu überlegen bleibt, wird durch rein mechanische Kopfarbeit ausgeführt. Die Lagrange’sche Mechanik ist eine grossartige Leistung in Bezug auf die Oekonomie des Denkens.

In der Statik geht Lagrange von dem Princip der virtuellen Verschiebungen aus. Auf eine Anzahl Massen - punkte m1, m2, m3 ...., welche in gewissen Verbindungen stehen, wirken die Kräfte P1, P2, P3 .... Erhalten diese Punkte die unendlich kleinen mit den Verbin - dungen verträglichen Verschiebungen p1, p2, p3 ...., so ist für den Gleichgewichtsfall 〈…〉 , wobei wir von dem bekannten Ausnahmefall, in welchem die Gleichung in eine Ungleichung übergeht, absehen.

Beziehen wir nun das ganze System auf ein recht - winkeliges Coordinatensystem. Die Coordinaten der Massenpunkte seien x1 y1 z1, x2 y2 z2 .... Die Kräfte mögen in die Componenten X1, Y1 Z1, X2 Y2 Z2 parallel den Coordinatenaxen, und die Verschiebungen ebenfalls parallel den Axen in[δ]x 1,[δ]y 1,[δ]z 1,[δ]x 2,[δ]y 2,[δ]z 2 .... zerlegt werden. Bei Bestimmung der Arbeit kommt für jede Kraftcomponente nur die parallele Verschiebung ihres Angriffspunktes in Betracht, und der Ausdruck des Princips ist 〈…〉 wobei alle Indices für die einzelnen Punkte einzusetzen, und die betreffenden Ausdrücke zu summiren sind.

Als Grundformel der Dynamik wird das D’Alem - bert’sche Princip verwendet. Auf die Massenpunkte440Viertes Kapitel.m1 m2 m3 .... mit den Coordinaten x1 y1 z1, x2 y2 z2 .... wirken die Kraftcomponenten X1 Y1 Z1, X2 Y2 Z2 .... ein. Vermöge der Verbindungen führen aber die Massen Bewegungen aus, welche durch andere Kräfte 〈…〉 .... an den freien Massen hervorgebracht werden könnten. Die angreifenden Kräfte X, Y, Z .... und die wirk - lichen Kräfte 〈…〉 .... halten sich aber an dem System das Gleichgewicht. Das Princip der virtuellen Verschiebungen anwendend finden wir 〈…〉

4. Lagrange trägt, wie man sieht, dem Herkommen Rechnung, indem er die Statik der Dynamik vorausschickt. Dieser Gang war durchaus kein nothwendiger. Man kann ebenso gut von dem Satze ausgehen, dass die Verbindungen (von deren Dehnung man absieht) keine Arbeit leisten, oder dass alle mögliche geleistete Arbeit von den angreifenden Kräften herrührt. Dann kann man von der Gleichung 2 ausgehen, welche dies ausdrückt, und welche für den Fall des Gleichgewichtes (oder der unbeschleunigten Bewegung) sich auf 1 als einen speciellen Fall zurückzieht. Dadurch würde aus der analytischen Mechanik ein noch consequenteres System.

Die Gleichung 1, welche für den Gleichgewichtsfall das der Verschiebung entsprechende Arbeitselement = o setzt, ergibt leicht die Folgerungen, welche schon S. 64 besprochen wurden. Ist 〈…〉 441Die formelle Entwickelung der Mechanik.sind also X, Y, Z die partiellen Ableitungen derselben Function der Coordinaten, so ist der ganze Ausdruck unter dem Summenzeichen die totale Variation[δ]V von V. Ist dieselbe = o, so ist V selbst im allgemeinen ein Maximum oder Minimum.

5. Wir wollen zunächst den Gebrauch der Gleichung 1 durch ein einfaches Beispiel erläutern. Sind alle An - griffspunkte der Kräfte voneinander unabhängig, so liegt eigentlich keine Aufgabe vor. Jeder Punkt ist dann nur im Gleichgewicht, wenn die ihn ergreifenden Kräfte, also auch deren Componenten = o sind. Alle[δ]x,[δ]y,[δ]z sind dann vollkommen willkürlich, und die Gleichung 1 kann also nur allgemein bestehen, wenn die Coefficienten aller[δ]x,[δ]y,[δ]z .... der Null gleich sind.

Bestehen aber Gleichungen zwischen den Coordi - naten der einzelnen Punkte, d. h. sind die Punkte nicht unabhängig voneinander beweglich, so sind diese von der Form F (x1, y1, z1, x2, y2, z2 ....) = o oder kürzer F = o. Dann bestehen auch zwischen den Verschiebungen Gleichungen von der Form 〈…〉 die wir kurz mit DF = o bezeichnen wollen. Besteht ein System aus n Punkten, so entsprechen diesen 3n Coordinaten und die Gleichung 1 enthält 3n Grössen[δ]x,[δ]y,[δ]z .... Bestehen nun zwischen den Coordinaten m Gleichungen von der Form F = o, so sind hiermit zugleich m Gleichungen DF = o zwischen den Varia - tionen[δ]x,[δ]y,[δ]z gegeben. Aus denselben lassen sich m Variationen durch die übrigen ausdrücken, und in Gleichung 1 einsetzen. Es bleiben also 3n m will - kürliche Verschiebungen in 1 übrig, deren Coefficienten = o gesetzt werden. Hierdurch entstehen 3n m Gleichungen zwischen den Kräften und Coordinaten, zu welchen die m Gleichungen (F = o) hinzugefügt werden. Man hat also im ganzen 3n Gleichungen, die442Viertes Kapitel.zur Bestimmung der 3n Coordinaten der Gleichgewichts - lage genügen, wenn die Kräfte gegeben sind und die Gleichgewichtsform des Systems gesucht wird.

Ist umgekehrt die Form des Systems gegeben, und sucht man die Kräfte, welche das Gleichgewicht erhal - ten, so bleibt die Aufgabe unbestimmt. Man kann dann zur Bestimmung der 3n Kraftcomponenten nur 3n m Gleichungen verwenden, da die m Gleichungen (F = o) die Kraftcomponenten gar nicht enthalten.

Fig. 229.

Als Beispiel wählen wir einen um den Anfangspunkt der Coor - dinaten in der Ebene XY dreh - baren Hebel OM = a, um dessen Endpunkt M ein zweiter Hebel MN = b beweglich ist. In M und N, deren Coordinaten x, y und x1 y1 heissen mögen, greifen die Kräfte X, Y beziehungsweise X1, Y1 an.

Die Gleichung 1 hat hier die Form 〈…〉 Gleichungen von der Form F = o existiren im gegebenen Fall zwei, und zwar 〈…〉 Die Gleichungen DF = o lauten nun 〈…〉

Wir können in unserm Fall zwei der Variationen aus 5) durch, die andern bestimmen und in 3) einsetzen. Auch zum Zwecke der Elimination hat Lagrange ein ganz gleichförmiges systematisches Verfahren angewandt, welches ganz mechanisch ohne weiteres Nachdenken ausgeführt werden kann. Wir wollen dasselbe gleich hier benutzen. Es besteht darin, dass jede der443Die formelle Entwickelung der Mechanik.Gleichungen 5) mit einem noch unbestimmten Coefficienten[λ, μ]multiplicirt, und zu 3) addirt wird. Hierdurch er - gibt sich 〈…〉

Die Coefficienten der vier Verschiebungen können nun ohne weiteres = o gesetzt werden. Denn zwei Verschiebungen sind willkürlich, die beiden andern Coefficienten aber können durch die noch freie Wahl von[λ]und[μ]der Null gleich gemacht werden, was einer Elimination der beiden letztern Verschiebungen gleichkommt.

Wir haben also die vier Gleichungen 〈…〉

Betrachten wir zunächst die Coordinaten als gegeben und suchen die das Gleichgewicht erhaltenden Kräfte. Die beiden Werthe von[λ]und[μ]sind natürlich durch die Annullirung zweier Coefficienten bestimmt. Es folgt aus der zweiten und vierten Gleichung 〈…〉 , 〈…〉 also 〈…〉 d. h. die bei N angreifende Gesammtkraft hat die Richtung MN. Aus der ersten und dritten Gleichung erhalten wir 〈…〉 , demnach nach einfacher Reduction 〈…〉 444Viertes Kapitel.d. h. die Resultirende der in M und N angreifenden Kräfte hat die Richtung OM1Die mechanische Bedeutung der Einführung der un - bestimmten Coefficienten[λ, μ]lässt sich in folgender Weise darlegen. Die Gleichungen 6) drücken das Gleichgewicht zweier freien Punkte aus, auf welche ausser den Kräften X, Y, X1, Y1 noch Kräfte wirken, die den übrigen Aus - drücken entsprechen, und welche diese Kraftcomponenten eben annulliren. Der Punkt N z. B. ist im Gleichgewicht, wenn X1 durch die der Grösse nach noch unbestimmte Kraft[μ](x1 x) und Y1 durch[μ](y1 y) vernichtet wird. Die Richtung dieser von der Verbindung herrührenden und dieselbe ersetzenden Zusatzkraft ist aber bestimmt. Nennen wir[α]den Winkel, den sie mit der Abscissenaxe einschliesst, so ist 〈…〉 d. h. die von der Verbindung herrührende Kraft hat die Richtung von b..

Die vier Kraftcomponenten unterliegen also nur den zwei Bedingungen 7) und 8.) Die Aufgabe ist also eine unbestimmte, was in der Natur der Sache liegt, da es nicht auf die absolute Grösse der Kraftcomponenten, sondern nur auf die Kraftverhältnisse ankommt.

Nehmen wir die Kräfte als gegeben an und suchen wir die vier Coordinaten, so können wir die Gleichungen 6) ganz in derselben Weise behandeln. Zu denselben treten aber die Gleichungen 4) hinzu. Wir haben also nach Beseitigung von[λ, μ]die Gleichungen 7), 8) und die beiden Gleichungen 4). Aus denselben ergibt sich leicht 〈…〉 〈…〉 〈…〉 445Die formelle Entwickelung der Mechanik. 〈…〉 womit die Aufgabe gelöst ist. So einfach dieses Bei - spiel ist, wird es doch genügen, um die Art und den Sinn der Lagrange’schen Behandlungsweise deutlich zu machen. Der Mechanismus der Methode ist einmal für alle Fälle überlegt, und man hat bei Anwendung des - selben auf einen besondern Fall fast nichts mehr zu denken. Das ausgeführte Beispiel ist zugleich so ein - fach, dass es durch den blossen Anblick der Figur ge - löst werden kann. Man hat also bei Einübung des Verfahrens den Vortheil einer leichten Controle.

6. Wir wollen nun die Anwendung der Gleichung 2), des D’Alembert’schen Satzes in der Lagrange’schen Form, erläutern. Auch hier entsteht keine Aufgabe, wenn alle Massen voneinander unabhängig sind. In diesem Falle folgt jede Masse den zugehörigen Kräften. Die Variationen[δ]x,[δ]y,[δ]z .... sind dann vollkommen willkürlich, und jeder Coefficient wird für sich = o ge - setzt. Für die Bewegung von n Massen erhält man auf diese Weise 3n gleichzeitig geltende Differential - gleichungen.

Bestehen aber Bedingungsgleichungen (F = o) zwischen den Coordinaten, so führen diese zu andern (DF = o) zwischen den Verschiebungen oder Variationen. Mit letztern verfährt man ganz wie bei Anwendung der Gleichung 1). Es muss nur bemerkt werden, dass man schliesslich die Gleichungen F = o, sowol in undifferentiirter als in differentiirter Form ver - wenden muss, wie dies am besten durch die folgenden Beispiele klargestellt wird.

Fig. 230.

Ein schwerer Massenpunkt m befinde sich in einer Verticalebene (XY) auf einer gegen den Horizont ge -446Viertes Kapitel.neigten Geraden y = ax beweglich. Die Gleichung 2) wird hier 〈…〉 und weil X = o, Y = mg 〈…〉 An die Stelle von F = o tritt hier 〈…〉 und für DF = o erhalten wir 〈…〉 .

Dadurch übergeht 9), weil[δ]y ausfällt, und[δ]x will - kürlich bleibt, in die Form 〈…〉 Durch Differentiiren von 10) (F = o) folgt 〈…〉 und demnach 〈…〉 Wir erhalten also durch Integriren von 11) 〈…〉 und 〈…〉 wobei b und c Integrationsconstanten sind, welche durch die Anfangslage und Anfangsgeschwindigkeit von m447Die formelle Entwickelung der Mechanik.bestimmt werden. Dieses Resultat kann leicht ganz direct gefunden werden.

Einige Vorsicht bei Anwendung der Gleichung 1) ist nothwendig, wenn F = o die Zeit enthält. Das Ver - fahren hierbei mag durch folgendes Beispiel erläutert werden. Wir betrachten den frühern Fall, nehmen aber an, dass die Gerade mit der Beschleunigung[γ]vertical aufwärts bewegt werde. Wir gehen wieder von der Gleichung 9) 〈…〉 aus. F = o wird durch 〈…〉 vertreten.

Um DF = o zu bilden, variiren wir 12) nur nach x und y, denn es handelt sich nur um die mögliche Verschiebung bei einer augenblicklich gegebenen Form des Systems, keineswegs um die Verschiebung, welche in der Zeit wirklich eintritt. Wir setzen also wie vorher 〈…〉 und erhalten wie zuvor 〈…〉

Um aber eine Gleichung in x allein zu erhalten, haben wir, weil in 13) x und y durch die wirkliche Bewegung miteinander verknüpft sind, 12) nach t zu differentiiren, und die gefundene Beziehung 〈…〉 zur Substitution in 13) zu benutzen, wodurch die Gleichung 〈…〉 entsteht, die durch Integration448Viertes Kapitel. 〈…〉 〈…〉

Liegt ein schwerloser Körper m auf der bewegten Ge - raden, so erhalten wir die Gleichungen 〈…〉 〈…〉 , welche sich leicht durch die Ueberlegung ergeben, dass m sich auf der mit der Beschleunigung[γ]aufwärts be - wegten Geraden so verhält, als ob er auf der ruhenden Geraden die Beschleunigung[γ]abwärts hätte.

7. Um uns das Verfahren mit der Gleichung 12) im vorigen Beispiel noch klarer zu machen, überlegen wir Folgendes. Die Gleichung 2), der D’Alembert’sche Satz, sagt, dass alle mögliche Arbeit bei einer Verschiebung von den angreifenden Kräften und nicht von den Ver -

Fig. 231.

bindungen herrührt. Dies ist aber nur richtig, solange man von der Ver - änderung der Verbindungen in der Zeit absieht. Aendern sich die Ver - bindungen mit der Zeit, so leisten sie auch Arbeiten, und man kann auf die wirklich in der Zeit eintretenden Ver - schiebungen nur dann die Gleichung 2) anwenden, wenn man unter die angreifenden Kräfte auch diejenigen ein - rechnet, welche die Veränderung der Verbindungen bewirken.

Eine schwere Masse m sei auf einer zu OY paral - lelen Geraden beweglich. Die Gleichung der letzteren, welche ihre Lage mit der Zeit ändert, sei 〈…〉

449Die formelle Entwickelung der Mechanik.

Der D’Alembert’sche Satz liefert wieder die Gleichung 9), da aber aus DF = o,[δ]x = o folgt, so zieht sich dieselbe auf 〈…〉 zurück, in welcher[δ]y ganz willkürlich ist. Daher folgt 〈…〉 und 〈…〉 wozu noch 14), d. i. 〈…〉 kommt.

Es liegt auf der Hand, dass 15) nicht die ganze ge - leistete Arbeit bei der in der Zeit wirklich eintretenden Verschiebung, sondern nur jene bei der möglichen auf der momentan fix gedachten Geraden angibt.

Denken wir uns die Gerade masselos, parallel zu sich selbst in einer Führung durch die Kraft m[γ]bewegt, so tritt an die Stelle der Gleichung 2) 〈…〉 , und da hier[δ]x,[δ]y vollkommen willkürlich sind, er - halten wir die beiden Gleichungen 〈…〉 〈…〉 , welche dieselben Resultate liefern wie zuvor. Die scheinbar verschiedene Behandlung solcher Fälle liegt blos an der kleinen Inconsequenz, welche dadurch ent - steht, dass man der bequemeren Rechnung wegen nichtMach. 29450Viertes Kapitel.gleich von vorn herein alle vorhandenen Kräfte berück - sichtigt, sondern einen Theil erst nachträglich in Betracht zieht.

8. Da die verschiedenen mechanischen Sätze nur ver - schiedene Seiten derselben Thatsache ausdrücken, so lässt sich einer leicht aus dem andern herleiten, wie wir dies erläutern wollen, indem wir den Satz der lebendigen Kräfte aus der Gleichung 2 S. 440 entwickeln. Die Gleichung 2 bezieht sich auf augenblicklich mögliche (virtuelle) Verschiebungen. Sind die Verbindungen von der Zeit unabhängig, so sind auch die wirklich ein - tretenden Bewegungen virtuelle Verschiebungen. Der Satz ist also auch auf diese anwendbar. Wir können dann für[δ]x,[δ]y,[δ]z auch dx, dy, dz, die in der Zeit stattfindenden Verschiebungen schreiben, und setzen 〈…〉

Der Ausdruck rechts kann auch geschrieben werden 〈…〉 indem man für dx einführt 〈…〉 u. s. w., was auch bei dem Ausdruck linker Hand geschehen kann, und indem man mit v die Geschwindigkeit bezeichnet. Hieraus folgt 〈…〉 wobei v0 die Geschwindigkeit am Anfang und v jene am Ende der Bewegung bedeutet. Das Integral links lässt sich immer finden, wenn man im Stande ist das - selbe auf eine Variable zu reduciren, also den Verlauf der Bewegung in der Zeit, oder doch den Weg kennt, welchen die beweglichen Punkte durchlaufen. Sind aber451Die formelle Entwickelung der Mechanik.X, Y, Z die partiellen Ableitungen derselben Function U der Coordinaten, also 〈…〉 , wie es immer stattfindet, wenn nur sogenannte Central - kräfte vorhanden sind, so ist diese Reduction unnöthig. Es ist dann der ganze Ausdruck links ein vollständiges Differential. Wir haben dann 〈…〉 , d. h. die Differenz der Kraftfunctionen (Arbeiten) am Anfang und Ende der Bewegung ist gleich der Diffe - renz der lebendigen Kräfte am Anfang und Ende der Bewegung. Die lebendigen Kräfte sind dann ebenfalls Functionen der Coordinaten.

Es seien beispielsweise für einen in der XY - Ebene beweglichen Körper X = y, Y = x, so haben wir 〈…〉 Sind aber X = a, Y = x, so ist das Integrale linker Hand [](adx+xdy). Dasselbe kann ange - geben werden, sobald man den Weg kennt, welchen der Körper durchlaufen hat, d. h. sobald y als Function von x gegeben ist. Wäre z. B. y = px2, so würde das Integrale 〈…〉 .

Der Unterschied der beiden Fälle besteht darin, dass im ersten die Arbeit lediglich eine Function der Coordinaten ist, dass eine Kraftfunction existirt, dass das Arbeitselement ein vollständiges Differential ist, so - dass also durch die Anfangs - und Endwerthe der Co - ordinaten die Arbeitgegeben ist, während sie im zwei - ten Fall von dem ganzen Ueberführungswege abhängt.

9. Die einfachen hier angeführten Beispiele, welche an29*452Viertes Kapitel.sich gar keine Schwierigkeiten bieten, dürften genügen, um den Sinn der Operationen der analytischen Mechanik zu erläutern. Neue principielle Aufklärungen über die Natur der mechanischen Vorgänge darf man von der analytischen Mechanik nicht erwarten. Vielmehr muss die principielle Erkenntniss im wesentlichen ab - geschlossen sein, bevor an den Aufbau einer analyti - schen Mechanik gedacht werden kann, welche nur die einfachste praktische Bewältigung der Aufgaben zum Ziel hat. Wer dieses Verhältniss verkennen würde, dem würde Lagrange’s grosse Leistung, welche auch hier eine wesentlich ökonomische ist, unverständlich bleiben. Poinsot ist von diesem Fehler nicht ganz frei - zusprechen.

Erwähnt muss werden, dass durch Möbius, Hamilton, Grassmann u. A. eine neue Formwandlung der Mechanik sich vorbereitet, indem die genannten Forscher mathe - matische Begriffe entwickelt haben, welche sich genauer und unmittelbarer den geometrischen Vorstellungen an - schliessen, als jene der gewöhnlichen analytischen Geo - metrie, wodurch also die Vortheile analytischer Allge - meinheit und geometrischer Anschaulichkeit vereinigt werden. Diese Wandlung liegt freilich noch ausser - halb der Grenzen einer historischen Darstellung.

4. Die Oekonomie der Wissenschaft.

1. Alle Wissenschaft hat Erfahrungen zu ersetzen oder zu ersparen durch Nachbildung und Vorbildung von Thatsachen in Gedanken, welche Nachbildungen leichter zur Hand sind als die Erfahrung selbst, und dieselbe in mancher Beziehung vertreten können. Diese ökonomische Function der Wissenschaft, welche deren Wesen ganz durchdringt, wird schon durch die allge - meinsten Ueberlegungen klar. Mit der Erkenntniss des ökonomischen Charakters verschwindet auch alle Mystik aus der Wissenschaft. Die Mittheilung der Wissen - schaft durch den Unterricht bezweckt, einem Individuum453Die formelle Entwickelung der Mechanik.Erfahrung zu ersparen durch Uebertragung der Erfah - rung eines andern Individuums. Ja es werden sogar die Erfahrungen ganzer Generationen durch die schrift - liche Aufbewahrung in Bibliotheken spätern Generationen übertragen, und diesen daher erspart. Natürlich ist auch die Sprache, das Mittel der Mittheilung, eine ökono - mische Einrichtung. Die Erfahrungen werden mehr oder weniger vollkommen in einfachere, häufiger vorkommende Elemente zerlegt, und zum Zwecke der Mittheilung, stets mit einem Opfer an Genauigkeit, symbolisirt. Diese Symbolisirung ist bei der Lautsprache durchgängig noch eine rein nationale, und wird es wol noch lange bleiben. Die Schriftsprache nähert sich aber allmäh - lich dem Ideale einer internationalen Universalschrift, denn sie ist keine reine Lautschrift mehr. Wir müssen die Zahlzeichen, die algebraischen und mathematischen Zeichen überhaupt, die chemischen Zeichen, die musika - lische Notenschrift, die (Brücke’sche) phonetische Schrift, schon als Theile einer künftigen Universalschrift betrach - ten, die zum Theil schon sehr abstracter Natur und fast ganz international sind. Die Analyse der Farben ist phy - sikalisch und physiologisch auch bereits so weit, dass eine unzweideutige internationale Bezeichnung der phy - sikalischen Farben und der Farbenempfindungen keine principiellen Schwierigkeiten mehr hat. Endlich liegt in der chinesischen Schrift eine wirkliche Begriffsschrift vor, welche von verschiedenen Völkern phonetisch ganz verschieden gelesen, aber von allen in demselben Sinne verstanden wird. Ein einfacheres Zeichensystem könnte diese Schrift zu einer universellen machen. Die Be - seitigung des conventionellen und historisch zufälligen aus der Grammatik, und die Beschränkung der Formen auf das Nothwendige, wie dies im Englischen fast er - reicht ist, wird der Einführung einer solchen Schrift vorausgehen müssen. Der Vortheil einer solchen Schrift läge nicht allein in deren Allgemeinheit. Das Lesen einer derartigen Schrift wäre von dem Verstehen der - selben nicht verschieden. Unsere Kinder lesen oft, was454Viertes Kapitel.sie nicht verstehen. Der Chinese kann nur lesen, was er versteht.

2. Wenn wir Thatsachen in Gedanken nachbilden, so bilden wir niemals die Thatsachen überhaupt nach, sondern nur nach jener Seite, welche für uns wichtig ist, wir haben hierbei ein Ziel, welches unmittelbar oder mittelbar aus einem praktischen Interesse hervor - gewachsen ist. Unsere Nachbildungen sind immer Ab - stractionen. Auch hierin spricht sich ein ökonomischer Zug aus.

Die Natur setzt sich aus den durch die Sinne ge - gebenen Elementen zusammen. Der Naturmensch fasst aber zunächst gewisse Complexe dieser Elemente her - aus, die mit einer relativen Stabilität auftreten, und die für ihn wichtiger sind. Die ersten und ältesten Worte sind Namen für Dinge . Hierin liegt schon ein Absehen von der Umgebung der Dinge, von den fort - währenden kleinen Veränderungen, welche diese Com - plexe erfahren, und welche als weniger wichtig nicht beachtet werden. Es gibt in der Natur kein unver - änderliches Ding. Das Ding ist eine Abstraction, der Name ein Symbol für einen Complex von Elementen, von deren Veränderung wir absehen. Dass wir den ganzen Complex durch ein Wort, durch ein Symbol bezeichnen, geschieht, weil wir ein Bedürfniss haben, alle zusammengehörigen Eindrücke auf einmal wach zu rufen. Sobald wir auf einer höhern Stufe auf diese Veränderungen achten, können wir natürlich nicht zu - gleich die Unveränderlichkeit festhalten, wenn wir nicht zum Ding an sich und ähnlichen widerspruchsvollen Vorstellungen gelangen wollen. Die Empfindungen sind auch keine Symbole der Dinge . Vielmehr ist das Ding ein Gedankensymbol für einen Empfindungscomplex von relativer Stabilität. Nicht die Dinge (Körper), sondern Farben, Töne, Drucke, Räume, Zeiten (was wir gewöhn - lich Empfindungen nennen) sind eigentliche Elemente der Welt.

Der ganze Vorgang hat lediglich einen ökonomischen455Die formelle Entwickelung der Mechanik.Sinn. Wir beginnen bei Nachbildung der Thatsachen mit den stabilern gewöhnlichen uns geläufigen Com - plexen, und fügen nachträglich das Ungewöhnliche corri - girend hinzu. Wenn wir z. B. von einem durchbohrten Cylinder, von einem Würfel mit abgestutzten Ecken sprechen, so ist dies genau genommen eigentlich ein Widerspruch, wenn wir nicht die eben angegebene Auffassung annehmen. Alle Urtheile sind derartige Ergänzungen und Correcturen schon vorhandener Vor - stellungen.

3. Wenn wir von Ursache und Wirkung sprechen, so heben wir willkürlich jene Momente heraus, auf deren Zusammenhang wir bei Nachbildung einer Thatsache in der für uns wichtigen Richtung zu achten haben. In der Natur gibt es keine Ursache und keine Wirkung. Die Natur ist nur einmal da. Wiederholungen gleicher Fälle, in welchen A immer mit B verknüpft wäre, also gleiche Erfolge unter gleichen Umständen, also das Wesentliche des Zusammenhanges von Ursache und Wirkung, existiren nur in der Abstraction, die wir zum Zweck der Nachbildung der Thatsachen vornehmen. Ist uns eine Thatsache geläufig geworden, so bedürfen wir dieser Heraushebung der zusammenhängenden Merk - male nicht mehr, wir machen uns nicht mehr auf das Neue, Auffallende aufmerksam, wir sprechen nicht mehr von Ursache und Wirkung. Die Wärme ist die Ursache der Spannkraft des Dampfes. Ist uns das Verhältniss geläufig geworden, so stellen wir uns den Dampf gleich mit der zu seiner Temperatur gehörigen Spannkraft vor. Die Säure ist die Ursache der Röthung der Lackmustinctur. Später gehört aber diese Röthung unter die Eigenschaften der Säure.

Hume hat sich zuerst die Frage vorgelegt: Wie kann ein Ding A auf ein anderes B wirken? Er erkennt auch keine Causalität, sondern nur eine uns gewöhn - lich und geläufig gewordene Zeitfolge an. Kant hat richtig erkannt, dass nicht die blosse Beobachtung uns die Nothwendigkeit der Verknüpfung von A und B456Viertes Kapitel.lehren kann. Er nimmt einen angeborenen Verstandes - begriff an, unter welchen ein in der Erfahrung gegebener Fall subsumirt wird. Schopenhauer, der im wesent - lichen denselben Standpunkt hat, unterscheidet eine vierfache Form des Satzes vom zureichenden Grunde , die logische, physische, mathematische Form, und das Gesetz der Motivation. Diese Formen unterscheiden sich aber nur nach dem Stoff, auf welchen sie ange - wandt werden, welcher theils der äussern und theils der innern Erfahrung angehört.

Die naive und natürliche Aufklärung scheint folgende zu sein. Die Begriffe Ursache und Wirkung entstehen erst durch das Bestreben, die Thatsachen nachzubilden. Zunächst entsteht nur eine Gewohnheit der Verknüpfung von A und B, C und D, E und F u. s. w. Beobachtet man, wenn man schon viele Erfahrung besitzt, eine Ver - knüpfung von M und N, so erkennt man oft M als aus A, C, E, und N als aus B, D, F bestehend, deren Verknüpfung schon geläufig ist, und uns mit einer höhern Autorität gegenübertritt. Dadurch erklärt es sich, dass der erfahrene Mensch jede neue Erfahrung mit andern Augen ansieht als der Neuling. Die neue Er - fahrung tritt der ganzen ältern gegenüber. In der That gibt es also einen Verstandesbegriff , unter welchen jede neue Erfahrung subsumirt wird; derselbe ist aber durch die Erfahrung selbst entwickelt. Die Vor - stellung von der Nothwendigkeit des Zusammen - hanges von Ursache und Wirkung bildet sich wahr - scheinlich durch unsere willkürliche Bewegung, und die Veränderungen, welche wir mittelbar durch diese hervorbringen, wie dies Hume angenommen, Schopen - hauer aber bestritten hat. Wichtig ist es für die Autorität der Begriffe Ursache und Wirkung, dass sich dieselben instinctiv und unwillkürlich ent - wickeln, dass wir deutlich fühlen, persönlich nichts zur Bildung derselben beigetragen zu haben. Ja, wir können sogar sagen, dass das Gefühl für Causalität nicht vom Individuum erworben, sondern durch die457Die formelle Entwickelung der Mechanik.Entwickelung der Art vorgebildet sei. Ursache und Wirkung sind also Gedankendinge von ökonomischer Function. Auf die Frage, warum sie entstehen, lässt sich keine Antwort geben. Denn eben durch die Ab - straction von Gleichförmigkeiten erlernen wir erst die Frage warum .

4. Fassen wir die Einzelheiten der Wissenschaft ins Auge, so tritt ihr ökonomischer Charakter noch mehr hervor. Die sogenannten beschreibenden Wissenschaften müssen sich vielfach damit begnügen, einzelne That - sachen nachzubilden. Wo es angeht wird das Gemein - same mehrerer Thatsachen ein für allemal herausge - hoben. Bei höher entwickelten Wissenschaften gelingt es, die Nachbildungsanweisung für sehr viele Thatsachen in einen einzigen Ausdruck zu fassen. Statt z. B. die verschiedenen vorkommenden Fälle der Lichtbrechung uns einzeln zu merken, können wir alle vorkommenden sofort nachbilden oder vorbilden, wenn wir wissen, dass der einfallende, der gebrochene Strahl und das Loth in einer Ebene liegen und 〈…〉 ist. Wir haben dann statt der unzähligen Brechungsfälle bei ver - schiedenen Stoffcombinationen und Einfallswinkeln nur diese Anweisung und die Werthe der n zu merken, was viel leichter angeht. Die ökonomische Tendenz ist hier unverkennbar. In der Natur gibt es auch kein Brechungsgesetz, sondern nur verschiedene Fälle der Brechung. Das Brechungsgesetz ist eine zusammen - fassende concentrirte Nachbildungsanweisung für uns, und zwar nur bezüglich der geometrischen Seite der Thatsache.

5. Am weitesten nach der ökonomischen Seite sind die Wissenschaften entwickelt, deren Thatsachen sich in nur wenige gleichartige abzählbare Elemente zer - legen lassen, wie z. B. die Mechanik, in welcher wir nur mit Räumen, Zeiten, Massen zu thun haben. Die ganze vorgebildete Oekonomie der Mathematik kommt diesen Wissenschaften zugute. Die Mathematik ist eine458Viertes Kapitel.Oekonomie des Zählens. Zahlen sind Ordnungszeichen, die aus Rücksichten der Uebersicht und Ersparung selbst in ein einfaches System gebracht sind. Die Zähloperationen werden als von der Art der Objecte unabhängig erkannt, und ein für allemal eingeübt. Wenn ich zu 5 gleichartigen Objecten 7 hinzufüge, so zähle ich zur Bestimmung der Summe zuerst noch einmal alle durch, dann bemerke ich, dass ich von 5 gleich weiter zählen kann, und bei mehrmaliger Wieder - holung solcher Fälle erspare ich mir das Zählen ganz, und anticipire das bereits bekannte Resultat des Zählens.

Alle Rechnungsoperationen haben den Zweck, das directe Zählen zu ersparen, und durch die Resultate schon vorher vorgenommener Zählprocesse zu ersetzen. Wir wollen dieselbe Zähloperation nicht öfter wieder - holen, als es nöthig ist. Schon die vier Species ent - halten reichliche Belege für die Richtigkeit dieser Auf - fassung. Dieselbe Tendenz führt aber auch zur Algebra, welche die formgleichen Zähloperationen, soweit sie sich unabhängig von dem Werthe der Zahlen ausführen lassen, ein für allemal darstellt. Aus der Gleichung 〈…〉 lernen wir z. B., dass die complicirtere Zähloperation links, sich stets durch die einfachere rechts ersetzen lässt, was auch x und y für Zahlen sein mögen. Wir ersparen uns dadurch die complicirtere Operation in jedem künftigen Fall auszuführen. Mathematik ist die Methode, neue Zähloperationen soweit als möglich, und in der sparsamsten Weise durch bereits früher ausgeführte, also nicht zu wiederholende, zu ersetzen. Es kann hierbei vorkommen, dass die Resultate von Operationen verwendet werden, welche vor Jahrhunder - ten wirklich ausgeführt worden sind.

Anstrengendere Kopfoperationen können oft durch459Die formelle Entwickelung der Mechanik.mechanische Kopfoperationen mit Vortheil ersetzt wer - den. Die Theorie der Determinanten verdankt z. B. ihren Ursprung der Bemerkung, dass es nicht nöthig ist, die Auflösung der Gleichungen von der Form a1 x + b1 y + c1 = o a2 x + b2 y + c2 = o aus welchen sich ergibt 〈…〉 〈…〉 jedesmal aufs neue durchzuführen, sondern, dass man die Auflösung aus den Coefficienten herstellen kann, indem man dieselben nach einem gewissen Schema an - schreibt und in mechanischer Weise mit denselben operirt. Es ist 〈…〉 und analog 〈…〉

Bei mathematischen Operationen kann sogar eine gänzliche Entlastung des Kopfes eintreten, indem man einmal ausgeführte Zähloperationen durch mechanische Operationen mit Zeichen symbolisirt, und statt die Hirnfunction auf Wiederholung schon ausgeführter Operationen zu verschwenden, sie für wichtigere Fälle spart. Aehnlich sparsam verfährt der Kaufmann, indem er, statt seine Kisten selbst herumzuschieben, mit An - weisungen auf dieselben operirt. Die Handarbeit des Rechners kann sogar noch durch Rechenmaschinen460Viertes Kapitel.übernommen werden. Solcher Maschinen gibt es be - kanntlich schon mehrere. Dem Mathematiker Babbage, der eine derartige Maschine construirt hat, waren die hier dargelegten Gedanken schon sehr klar.

Nicht immer muss ein Zählresultat durch wirkliche Zählung, es kann auch indirect gefunden werden. Man kann z. B. leicht ermitteln, dass eine Curve deren Quadratur für die Abscisse x den Werth xm hat, einen Zuwachs mx m 1dx der Quadratur für den Abscissen - zuwachs dx ergibt. Dann weiss man auch, dass 〈…〉 , d. h. man erkennt, dass zu dem Zuwachs mx m 1dx die Grösse xm gehört, sowie man eine Frucht an ihrer Schale erkennt. Solche durch Umkehrung zufällig gefundene Resultate werden in der Mathematik vielfach verwendet.

Es könnte auffallen, dass längst geleistete wissen - schaftliche Arbeit wiederholt verwendet werden kann, was bei mechanischer Arbeit natürlich nicht angeht. Wenn jemand, der täglich einen Gang zu machen hat, einmal durch Zufall einen kürzern Weg findet, und nun stets denselben einschlägt, indem er sich der Abkürzung erinnert, erspart er sich allerdings die Differenz der Arbeit. Allein die Erinnerung ist keine eigentliche Arbeit, sondern eine Auslösung von zweckmässigerer Arbeit. Gerade so verhält es sich mit der Verwendung wissenschaftlicher Gedanken.

Wer Mathematik treibt, ohne sich in der angedeu - teten Richtung Aufklärung zu verschaffen, muss oft den unbehaglichen Eindruck erhalten, als ob Papier und Blei - stift ihn selbst an Intelligenz überträfen. Mathematik in dieser Weise als Unterrichtsgegenstand betrieben ist kaum bildender, als die Beschäftigung mit Kabbala oder dem magischen Quadrat. Nothwendig entsteht dadurch eine mystische Neigung, welche gelegentlich ihre Früchte trägt.

6. Die Physik liefert nun ganz ähnliche Beispiele einer Oekonomie der Gedanken, wie diejenigen, welche461Die formelle Entwickelung der Mechanik.wir eben betrachtet haben. Ein kurzer Hinweis darauf wird genügen. Das Trägheitsmoment erspart uns die Betrachtung der einzelnen Massentheile. Mit Hülfe der Kraftfunction ersparen wir die Untersuchung der ein - zelnen Kraftcomponenten. Die Einfachheit der Ueber - legungen mit Hülfe der Kraftfunction beruht darauf, dass schon eine Menge Ueberlegungen dem Auffinden der Eigenschaften der Kraftfunction vorausgehen mussten. Die Gauss’sche Dioptrik erspart uns die Betrachtung der einzelnen brechenden Flächen eines dioptrischen Systems, und ersetzt diese durch die Haupt - und Brenn - punkte. Die Betrachtung der einzelnen Flächen musste aber der Auffindung der Haupt - und Brennpunkte vor - ausgehen. Die Gauss’sche Dioptrik erspart nur die fortwährende Wiederholung dieser Betrachtung.

Man muss also sagen, dass es gar kein wissenschaft - liches Resultat gibt, welches principiell nicht auch ohne alle Methode gefunden werden könnte. Thatsächlich ist aber in der kurzen Zeit eines Menschenlebens und bei dem begrenzten Gedächtniss des Menschen ein nennenswerthes Wissen nur durch die grösste Oekono - mie der Gedanken erreichbar. Die Wissenschaft kann daher selbst als eine Minimumaufgabe angesehen wer - den, welche darin besteht, möglichst vollständig die Thatsachen mit dem geringsten Gedankenaufwand darzustellen.

7. Alle Wissenschaft hat nach unserer Auffassung die Function Erfahrung zu ersetzen. Sie muss daher zwar einerseits in dem Gebiete der Erfahrung blei - ben, eilt aber doch andererseits der Erfahrung voraus, stets einer Bestätigung aber auch Widerlegung gewärtig. Wo weder eine Bestätigung noch eine Widerlegung möglich ist, dort hat die Wissenschaft nichts zu schaffen. Sie bewegt sich immer nur auf dem Gebiete der un - vollständigen Erfahrung. Muster solcher Zweige der Wissenschaft sind die Theorien der Elasticität und der Wärmeleitung, die beide den kleinsten Theilen der Körper nur dieselben Eigenschaften beilegen, welche462Viertes Kapitel.uns die Beobachtung an grössern Theilen direct kennen lehrt. Die Vergleichung zwischen Theorie und Er - fahrung kann mit der Verfeinerung der Beobachtungs - mittel immer weiter getrieben werden.

Die Erfahrung allein, ohne die sie begleitenden Ge - danken, würde uns stets fremd sein. Diejenigen Ge - danken, welche auf dem grössten Gebiet festgehalten werden können, und am ausgiebigsten die Erfahrung ergänzen, sind die wissenschaftlichsten. Man geht bei der Forschung nach dem Princip der Continuität vor, weil nur nach diesem Princip eine nützliche und öko - nomische Auffassung der Erfahrung sich ergeben kann.

8. Wenn wir einen langen elastischen Stab ein - klemmen, so kann derselbe in langsame direct be - obachtbare Schwingungen versetzt werden. Diese Schwingungen kann man sehen, tasten, graphisch ver - zeichnen u. s. w. Bei Abkürzung des Stabes werden die Schwingungen rascher, und können nicht mehr direct gesehen werden; der Stab gibt ein verwischtes Bild, eine neue Erscheinung. Allein die Tastempfindung ist der frühern noch ähnlich, wir können den Stab seine Bewegungen noch aufzeichnen lassen, und wenn wir die Vorstellung der Schwingungen noch fest - halten, so sehen wir die Ergebnisse der Versuche vor - aus. Bei weiterer Abkürzung des Stabes ändert sich auch die Tastempfindung, er fängt zudem an zu tönen, es tritt also wieder eine neue Erscheinung auf. Da sich aber nicht alle Erscheinungen auf einmal gänzlich ändern, sondern immer nur eine oder die andere, bleibt der begleitende Gedanke der Schwingung, der ja nicht an eine einzelne gebunden ist, noch immer nützlich, noch immer ökonomisch. Selbst wenn der Ton so hoch und die Schwingungen so klein geworden sind, dass die erwähnten Beobachtungsmittel der frühern Fälle versagen, stellen wir uns mit Vortheil noch den tönen - den Stab schwingend vor, und können die Schwingungen der dunklen Streifen im Spectrum des polarisirten Lichtes eines Glasstabes voraussagen. Würden alle Er -463Die formelle Entwickelung der Mechanik.scheinungen bei weiterer Abkürzung plötzlich in neue übergehen, so würde die Vorstellung der Schwingung nichts mehr nützen, weil dieselbe kein Mittel mehr bieten würde, die neuen Erfahrungen durch die frühern zu ergänzen.

Wenn wir zu den wahrnehmbaren Handlungen der Menschen uns unwahrnehmbare Empfindungen und Ge - danken, ähnlich den unserigen, hinzudenken, so hat diese Vorstellung einen ökonomischen Werth, indem sie uns die Erfahrung verständlich macht, d. h. ergänzt und erspart. Diese Vorstellung wird nur deshalb nicht als eine grosse wissenschaftliche Entdeckung betrachtet. weil sie sich so mächtig aufdrängt, dass jedes Kind sie findet. Man verfährt ganz ähnlich, wenn man sich einen eben hinter einer Säule verschwundenen bewegten Körper, oder einen eben nicht sichtbaren Kometen mit allen seinen vorher beobachteten Eigenschaften in seiner Bahn fortbewegt denkt, um durch das Wiedererscheinen nicht überrascht zu werden. Man füllt die Erfahrungs - lücken durch die Vorstellungen aus, welche eben die Erfahrung an die Hand gegeben hat.

9. Nicht jede bestehende wissenschaftliche Theorie ergibt sich so natürlich und ungekünstelt. Wenn z. B. chemische, elektrische, optische Erscheinungen durch Atome erklärt werden, so hat sich die Hülfsvorstellung der Atome nicht nach dem Princip der Continuität er - geben, sie ist vielmehr für diesen Zweck eigens er - funden. Atome können wir nirgends wahrnehmen, sie sind wie alle Substanzen Gedankendinge. Ja, den Atomen werden zum Theil Eigenschaften zugeschrieben, welche allen bisher beobachteten widersprechen. Mögen die Atomtheorien immerhin geeignet sein, eine Reihe von Thatsachen darzustellen, die Naturforscher, welche New - ton’s Regeln des Philosophirens sich zu Herzen ge - nommen haben, werden diese Theorien nur als provi - sorische Hülfsmittel gelten lassen, und einen Ersatz durch eine natürlichere Anschauung anstreben.

Die Atomtheorie hat in der Physik eine ähnliche464Fünftes Kapitel.Function, wie gewisse mathematische Hülfsvorstellungen, sie ist ein mathematisches Modell zur Darstellung der Thatsachen. Wenn man auch die Schwingungen durch Sinusformeln, die Abkühlungsvorgänge durch Exponen - zielle, die Fallräume durch Quadrate der Zeiten dar - stellt, so denkt doch niemand daran, dass die Schwingung an sich mit einer Winkel - oder Kreisfunction, der Fall an sich mit dem Quadriren etwas zu schaffen hat. Man hat eben bemerkt, dass zwischen den beobachteten Grössen ähnliche Beziehungen stattfinden wie zwischen gewissen uns geläufigen Functionen, und benutzt diese geläufigern Vorstellungen zur bequemen Ergänzung der Erfahrung. Naturerscheinungen, welche in ihren Be - ziehungen nicht jenen der uns geläufigen Functionen gleichen, sind jetzt sehr schwer darzustellen. Das kann anders werden mit den Fortschritten der Mathematik. Als solche mathematische Hülfsvorstellungen können auch Räume von mehr als drei Dimensionen nützlich werden, wie ich dies anderwärts auseinander gesetzt habe. Man hat deshalb nicht nöthig, dieselben für mehr zu halten als für Gedankendinge. 1Bekanntlich hat sich durch die Bemühungen von Loba - tschefsky, Bolyai, Gauss, Riemann allmählich die Einsicht Bahn gebrochen, dass dasjenige, was wir Raum nennen, ein specieller wirklicher Fall eines allgemeineren denkbaren Falles mehrfacher quantitativer Mannichfaltig - keit sei. Der Raum des Gesichtes und Getastes ist eine dreifache Mannichfaltigkeit, er hat drei Dimensionen, jeder Ort in demselben kann durch drei voneinander unabhängige Merkmale bestimmt werden. Es ist nun eine vierfache, oder noch mehrfache raumähnliche Mannichfaltigkeit denkbar. Und auch die Art der Mannichfaltigkeit kann anders gedacht werden, als sie im gegebenen Raum angetroffen wird. Wir halten diese Aufklärung, um die sich Riemann am meisten verdient gemacht hat, für sehr wichtig. Die Eigenschaften des gegebenen Raumes erscheinen sofort als Objecte der Er - fahrung, und alle geometrischen Pseudotheorien, welche dieselben herausphilosophiren wollen, entfallen. Einem Wesen, welches in der Kugelfläche leben würde und keinen andern Raum zum Vergleich hätte, würde sein

465Die formelle Entwickelung der Mechanik.

So verhält es sich auch mit allen Hypothesen, welche zur Erklärung neuer Erscheinungen herangezogen wer -1Raum überall gleich beschaffen erscheinen. Es könnte den - selben für unendlich halten, und würde nur durch die Er - fahrung vom Gegentheil überzeugt. Von zwei Punkten eines grössten Kreises senkrecht zu demselben ebenfalls nach grössten Kreisen fortschreitend, würde dieses Wesen kaum erwarten, dass diese Kreise sich irgendwo schneiden. So kann auch für den uns gegebenen Raum nur die Er - fahrung lehren, ob derselbe endlich ist, ob Parallellinien in demselben sich schneiden u. s. w. Diese Aufklärung kann kaum hoch genug angeschlagen werden. Eine ähnliche Auf - klärung, wie sie Riemann für die Wissenschaft herbeigeführt, hat sich für das gemeine Bewusstsein in Bezug auf die Erdoberfläche durch die Entdeckungen der ersten Welt - umsegler ergeben. Die theoretische Untersuchung der erwähnten mathe - matischen Möglichkeiten hat zunächst mit der Frage, ob denselben Realitäten entsprechen, nichts zu thun, und man darf daher auch nicht die genannten Mathematiker für die Monstrositäten verantwortlich machen, welche durch ihre Un - tersuchungen angeregt worden sind. Der Raum des Gesichtes und Getastes ist dreidimensional, daran hat nie jemand gezweifelt. Würden aus diesem Raume Körper verschwin - den, oder neue in denselben hineingerathen, so könnte die Frage, ob es eine Erleichterung der Einsicht und Ueber - sicht gewährt, sich den gegebenen Raum als Theil eines vier - oder mehrdimensionalen Raumes zu denken, wissen - schaftlich discutirt werden. Diese vierte Dimension bliebe darum immer noch ein Gedankending. So steht aber die Sache nicht. Derartige Erscheinungen sind vielmehr erst nach dem Bekanntwerden der neuen Anschauungen in Gegenwart gewisser Personen in Spiritisten - gesellschaften aufgetreten. Manchen Theologen, welche in Verlegenheit waren die Hölle unterzubringen, und den Spi - ritisten kam die vierte Dimension sehr gelegen. Der Nutzen der vierten Dimension für die Spiritisten ist folgender. Aus einer begrenzten Linie kann man ohne die Endpunkte zu passiren durch die zweite Dimension, aus einer begrenzten geschlossenen Fläche durch die dritte und analog aus einem geschlossenen Raum durch die vierte Dimension entweichen, ohne die Grenzen zu durchbrechen. Selbst das, was die Taschenspieler bisher harmlos in drei Dimensionen trieben, erhält nun durch die vierte Dimension einen neuen NimbusMach. 30466Viertes Kapitel. Die formelle Entwickelung.den. Unsere Gedanken über elektrische Vorgänge folgen diesen sofort, beinahe von selbst in den ge - wohnten Bahnen ablaufend, sobald wir bemerken, dass alles so vorgeht, als ob sich anziehende und abstossende Flüssigkeiten auf der Oberfläche der Leiter wären. Diese Hülfsvorstellungen selbst haben aber mit der Erscheinung an sich nichts zu schaffen.

1Alle Spiritistenkünste, in geschlossene Schnüre Knoten zu machen, oder dieselben zu lösen, aus verschlossenen Räumen Körper zu entfernen, gelingen nur in Fällen, wo gar nichts darauf ankommt. Alles läuft auf nutzlose Spielerei hinaus. Ein Accoucheur, der eine Geburt durch die vierte Dimension bewerkstelligt hätte, ist noch nicht aufgetreten. Die Frage würde sofort eine ernste, wenn dies geschähe. Professor Simony’s schöne Knotenkünste, welche sich taschenspielerisch sehr hübsch verwerthen lassen, sprechen nicht für, sondern gegen die Spiritisten. Es sei jedem unbenommen, eine Meinung aufzustellen und Beweise für dieselbe beizubringen. Ob aber ein Natur - forscher auf irgendeine aufgestellte Meinung in einer ernsten Untersuchung einzugehen werth findet, das zu ent - scheiden muss seinem Verstand und Instinct überlassen wer - den. Sollten diese Dinge sich als wahr erweisen, so werde ich mich nicht schämen, der letzte zu sein, der sie glaubt. Was ich davon gesehen habe, war nicht geeignet mich gläubiger zu machen. Als mathematisch-physikaliches Hülfsmittel habe ich selbst die mehrdimensionalen Räume schon vor dem Erscheinen der Riemann’schen Abhandlung betrachtet. Ich hoffe aber, dass mit dem, was ich darüber gedacht, gesagt und ge - schrieben habe, niemand die Kosten einer Spukgeschichte bestreiten wird. (Vgl. Mach, Die Geschichte und die Wur - zel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit.)

467Fünftes Kapitel. Beziehungen der Mechanik.

FÜNFTES KAPITEL. Beziehungen der Mechanik zu andern Wissensgebieten.

1. Beziehungen der Mechanik zur Physik.

1. Rein mechanische Vorgänge gibt es nicht. Wenn Massen gegenseitige Beschleunigungen bestimmen, so scheint dies allerdings ein reiner Bewegungsvorgang zu sein. Allein immer sind mit diesen Bewegungen in Wirklichkeit auch thermische, magnetische und elektri - sche Aenderungen verbunden, und in dem Maasse, als diese hervortreten, werden die Bewegungsvorgänge modificirt. Umgekehrt können auch thermische, mag - netische, elektrische und chemische Umstände Be - wegungen bestimmen. Rein mechanische Vorgänge sind also Abstractionen, die absichtlich oder nothgedrungen zum Zwecke der leichtern Uebersicht vorgenommen werden. Dies gilt auch von den übrigen Classen der physikalischen Erscheinungen. Jeder Vorgang gehört genau genommen allen Gebieten der Physik an, welche nur durch eine theils conventionelle, theils physiologische, theils historisch begründete Eintheilung getrennt sind.

2. Die Anschauung, dass die Mechanik als Grund - lage aller übrigen Zweige der Physik betrachtet wer - den müsse, und dass alle physikalischen Vorgänge mechanisch zu erklären seien, halten wir für ein Vor - urtheil. Das historisch Aeltere muss nicht immer die Grundlage für das Verständniss des später Gefundenen bleiben. In dem Maasse, als mehr Thatsachen bekannt und geordnet werden, können auch ganz neue leitende Anschauungen platzgreifen. Wir können jetzt noch gar nicht wissen, welche von den physikalischen Er - scheinungen am tiefsten gehen, ob nicht die mecha - nischen gerade die oberflächlichsten sind, ob nicht alle gleich tief gehen. Auch in der Mechanik betrachten wir ja nicht mehr das älteste Gesetz, das Hebelgesetz, als die Grundlage aller übrigen.

Die mechanische Naturansicht erscheint uns als eine30*468Fünftes Kapitel.historisch begreifliche, verzeihliche, vielleicht sogar auch vorübergehend nützliche, aber im ganzen doch künstliche Hypothese. Wollen wir der Methode treu bleiben, welche die bedeutendsten Naturforscher, Galilei, Newton, S. Carnot, Faraday, J. R. Mayer zu ihren grossen Erfolgen geführt hat, so beschränken wir unsere Physik auf den Ausdruck des Thatsächlichen, ohne hinter diesem, wo nichts Fassbares und Prüfbares liegt, Hypothesen aufzubauen. Wir haben dann einfach den wirklichen Zusammenhang der Massenbewegungen, Temperaturänderungen, Aenderungen der Werthe der Potentialfunction, chemischen Aenderungen zu ermit - teln, ohne uns unter diesen Elementen anderes zu denken, als mittelbar oder unmittelbar durch Be - obachtung gegebene physikalische Merkmale oder Cha - rakteristiken.

In Bezug auf die Wärmevorgänge wurde dieser Ge - danke schon anderwärts1Mach, Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit. ausgeführt, in Bezug auf Elektricität daselbst angedeutet. Jede Fluidums - oder Mediumshypothese entfällt in der Elektricitätslehre als unnöthig, wenn man bedenkt, dass mit den Werthen der Potentialfunction V und der Dielektricitätsconstanten alle elektrischen Umstände gegeben sind. Denkt man sich die Differenzen der Werthe von V durch die Kräfte (am Elektrometer) gemessen, und betrachtet nicht die Elektricitätsmenge Q, sondern V als den pri - mären Begriff, als eine messbare physikalische Cha - rakteristik, so ist (für einen einzigen Isolator) die Elektricitätsmenge 〈…〉 wobei x, y, z die Coordinaten und dv das Volumele - ment bedeutet und das Potential2Nach der Terminologie von Clausius.469Beziehungen der Mechanik zu andern Wissensgebieten. 〈…〉 Es erscheinen dann Q und W als abgeleitete Begriffe, in welchen gar keine Fluidums - oder Mediumsvorstellung mehr enthalten ist. Führt man die ganze Physik ana - log durch, so beschränkt man sich auf den begrifflichen quantitativen Ausdruck des Thatsächlichen. Alle un - nöthigen müssigen Vorstellungen und die daran ge - knüpften vermeintlichen Probleme entfallen.

Sehr nützlich zur Beseitigung zufälliger historisch be - gründeter oder conventioneller Vorstellungen ist es, die Begriffe verschiedener Gebiete miteinander zu ver - gleichen, für jeden Begriff des einen Gebietes den ent - sprechenden des andern zu suchen. Man findet so, dass den Geschwindigkeiten der Massenbewegung die Temperaturen und die Potentialfunctionen entsprechen. Ein Werth der Geschwindigkeit, Potentialfunction oder Temperatur ändert sich nie allein. Während aber für die Geschwindigkeiten und Potentialfunctionen, so - viel wir bisjetzt sehen, nur die Differenzen in Betracht kommen, liegt die Bedeutung der Temperatur nicht blos in der Differenz gegen andere Temperaturen. Den Massen entsprechen die Wärmecapacitäten, der Wärme - menge das Potential einer elektrischen Ladung, der Entropie die Elektricitätsmenge u. s. w. Die Ver - folgung solcher Aehnlichkeiten und Unterschiede führt zu einer vergleichenden Physik, welche schliesslich einen zusammenfassenden Ausdruck sehr grosser Gebiete von Thatsachen, ohne willkürliche Zugaben, gestatten wird. Man wird dann zu einer homogenen Physik auch ohne Zuhülfenahme der künstlichen Atomtheorie ge - langen.

Man sieht auch leicht ein, dass durch mechanische Hypothesen eine eigentliche Ersparniss an wissen - schaftlichen Gedanken nicht erzielt werden kann. Selbst wenn eine Hypothese vollständig zur Darstellung eines Gebietes von Erscheinungen, z. B. der Wärmeer -470Fünftes Kapitel.scheinungen, ausreichen würde, hätten wir nur an die Stelle der thatsächlichen Beziehung zwischen mechani - schen und Wärmevorgängen die Hypothese gesetzt. Die Zahl der Grundthatsachen wird durch eine ebenso grosse Zahl von Hypothesen ersetzt, was sicherlich kein Gewinn ist. Hat uns eine Hypothese die Erfassung neuer Thatsachen durch Substitution geläufiger Gedanken nach Möglichkeit erleichtert, so ist hiermit ihre Leistungs - fähigkeit erschöpft. Man geräth auf Abwege, wenn man von derselben mehr Aufklärung erwartet als von den Thatsachen selbst.

3. Die Entwickelung der mechanischen Naturansicht wurde durch mehrere Umstände begünstigt. Zunächst ist ein Zusammenhang aller Naturvorgänge mit mecha - nischen Vorgängen unverkennbar, wodurch das Bestreben nahe gelegt wird, die noch weniger bekannten Vorgänge durch die bekannteren mechanischen zu erklären. Ausserdem wurden im Gebiete der Mechanik zuerst grosse allgemeine Gesetze von weittragender Bedeutung erkannt. Ein derartiges Gesetz ist der Satz der leben - digen Kräfte 〈…〉 , welcher sagt, dass der Zuwachs der lebendigen Kräfte eines Systems bei dem Uebergang desselben aus einer Lage in die andere dem Zuwachs der Kraftfunction (oder der Arbeit) gleich ist, welcher sich als eine Function der Anfangs - und Endlagen darstellt. Achtet man auf die Arbeit, welche in dem System verrichtet werden kann, und nennt dieselbe mit Helmholtz Spann - kraft S, so erscheint jede wirklich geleistete Ar - heit U als eine Verminderung der anfänglich vor - handenen Spannkraft K, dann ist S = K U, und der Satz der lebendigen Kräfte nimmt die Form an 〈…〉 d. h. jede Verminderung der Spannkraft wird durch eine Vermehrung der lebendigen Kraft ausgeglichen. In dieser Form nennt man den Satz auch Gesetz der Erhaltung der Energie, indem die Summe der471Beziehungen der Mechanik zu andern Wissensgebieten.Spannkraft (der potentiellen Energie) und der lebendigen Kraft (der kinetischen Energie) im System constant bleibt. Da nun in der Natur überhaupt für eine ge - leistete Arbeit nicht nur lebendige Kraft, sondern auch eine Wärmemenge, oder das Potential einer elek - trischen Ladung u. s. w. auftreten kann, so sah man hierin den Ausdruck eines mechanischen allen Na - turerscheinungen zu Grunde liegenden Vorganges. Es spricht sich aber hierin nichts aus, als ein unveränder - licher quantitativer Zusammenhang zwischen mecha - nischen und andern Vorgängen.

4. Es wäre ein Irrthum zu glauben, dass ein grosser und weiter Blick in die Naturwissenschaft erst durch die mechanische Naturansicht hineingekommen ist. Derselbe war vielmehr zu allen Zeiten den ersten Forschern eigen und hat schon beim Aufbau der Mechanik mitgewirkt, ist also nicht erst durch diese entstanden. Galilei und Huyghens haben stets mit der Betrachtung des Ein - zelnen und des grossen Ganzen gewechselt, und sind in dem Bestreben nach einer einfachen und widerspruchs - losen Auffassung zu ihren Ergebnissen gelangt. Dass die Geschwindigkeiten einzelner Körper und Systeme an die Falltiefen gebunden sind, erkennen Galilei und Huyghens nur durch die genaueste Untersuchung der Fallbewegung im Einzelnen zugleich mit der Beachtung des Umstandes, dass die Körper von selbst überhaupt nur sinken. Huyghens betont schon bei dieser Gelegenheit die Unmöglichkeit eines mechanischen Perpetuum mo - bile, er hat also schon den modernen Standpunkt. Er fühlt die Unvereinbarkeit der Vorstellung des Per - petuum mobile mit den ihm geläufigen Vorstellungen der mechanischen Naturvorgänge.

Die Stevin’schen Fictionen, z. B. jene der geschlossenen Kette auf dem Prisma, sind ebenfalls Beispiele eines solchen weiten Blickes. Es ist die an vielen Erfah - rungen geschulte Vorstellung, welche an den einzelnen Fall herangebracht wird. Die bewegte geschlossene Kette erscheint Stevin als eine Fallbewegung ohne Fall,472Fünftes Kapitel.als eine ziellose Bewegung, wie eine absichtliche Handlung, die der Absicht nicht entspricht, ein Streben nach einer Aenderung, das jene Aenderung nicht her - beiführt. Wenn die Bewegung im allgemeinen an das Sinken gebunden ist, so ist auch im speciellen Fall an die Bewegung das Sinken gebunden. Es ist das Ge - fühl der gegenseitigen Abhängigkeit von v und h in der Gleichung 〈…〉 , welches hier, wenn auch nicht in so bestimmter Form, auftritt. Für Stevin’s feines Forschergefühl besteht in der Fiction ein Wider - spruch, der weniger tiefen Denkern entgehen kann.

Derselbe, das Einzelne mit dem Ganzen, das Beson - dere mit dem Allgemeinen vergleichende Blick zeigt sich, nur nicht auf Mechanik beschränkt, in den Ar - beiten von S. Carnot. Wenn Carnot findet, dass die von einer höhern Temperatur t auf eine tiefere Tem - peratur t′ für die Arbeitsleistung L abgeflossene Wärme - menge Q nur von den Temperaturen und nicht von der Natur der Körper abhängen kann, so denkt er ganz nach der Methode Galilei’s. Ebenso verfährt J. R. Mayer bei Aufstellung seines Satzes der Aequivalenz von Wärme und Arbeit. Die mechanische Naturansicht bleibt ihm hierbei fremd, und er bedarf ihrer gar nicht. Wer die Krücke der mechanischen Naturansicht braucht, um zur Erkenntniss der Aequivalenz von Wärme und Arbeit zu gelangen, hat den Fortschritt, der darin liegt, nur halb begriffen. Stellt man aber auch Mayer’s originelle Leistung noch so hoch, so ist es deshalb nicht nöthig, die Verdienste der Fachphysiker Joule, Helmholtz, Clausius, Thomson, welche sehr viel, viel - leicht alles, zur Befestigung und Ausbildung der neuen Anschauung im Einzelnen beigetragen haben, zu unterschätzen. Die Annahme einer Entlehnung der Mayer’schen Ideen erscheint uns ebenfalls unnöthig. Wer sie vertritt hat zudem auch die Verpflichtung, sie zu beweisen. Ein mehrfaches Auftreten derselben Idee ist in der Geschichte nicht neu. Die Discussion von Personalfragen, die nach 30 Jahren schon kein473Beziehungen der Mechanik zu andern Wissensgebieten.Interesse mehr haben werden, wollen wir hier ver - meiden. Auf keinen Fall ist es aber zu loben, wenn Männer, angeblich aus Gerechtigkeit, insultirt werden, die schon hochgeehrt und ruhig leben würden, wenn sie nur ein Drittheil ihrer wirklichen Leistungen aufzu - weisen hätten.

5. Wir wollen nun sehen, dass der weite Blick, welcher sich im Satze der Erhaltung der Energie aus - spricht, nicht der Mechanik eigenthümlich, sondern dass er an das consequente und umfassende naturwissen - schaftliche Denken überhaupt gebunden ist. Unsere Naturwissenschaft besteht in der Nachbildung der That - sachen in Gedanken oder in dem begrifflichen quanti - tativen Ausdruck der Thatsachen. Die Nachbildungs - anweisungen sind die Naturgesetze. In der Ueber - zeugung, dass solche Nachbildungsanweisungen überhaupt möglich sind, liegt das Causalgesetz. Das Causalgesetz spricht die Abhängigkeit der Erscheinungen von - einander aus. Die besondere Betonung des Raumes und der Zeit im Ausdruck des Causalgesetzes ist un - nöthig, da alle Raum - und Zeitbeziehungen wieder auf Abhängigkeit der Erscheinungen voneinander hinaus - laufen.

Die Naturgesetze sind Gleichungen zwischen den messbaren Elementen[α β γ δ]....[ω]der Erscheinungen. Da die Natur veränderlich ist, so sind diese Gleichungen stets in geringerer Anzahl vorhanden als die Elemente.

Verfügen wir über alle Werthe von[α β γ δ], durch welche z. B. die Werthe von[λ μ ν] gegeben sind, so können wir die Gruppe[α β γ δ].... die Ursache, die Gruppe[λ μ ν] die Wirkung nennen. In diesem Sinne können wir sagen, dass die Wirkung durch die Ursache eindeutig bestimmt sei. Der Satz des zu - reichenden Grundes, wie ihn z. B. Archimedes bei Ent - wickelung der Hebelgesetze anwendet, sagt also nichts, als dass die Wirkung durch eine Anzahl Umstände nicht zugleich bestimmt und unbestimmt sein kann.

Stehen zwei Umstände[α]und[λ]im Zusammenhang, so474Fünftes Kapitel.entspricht, bei Unveränderlichkeit der übrigen, einer Veränderung von[α]eine Aenderung von[λ], im all - gemeinen aber einer Aenderung von[λ]auch eine Aenderung von[α]. Dieses Beachten der gegensei - tigen Abhängigkeit finden wir bei Stevin, Galilei, Huyghens u. s. w. Derselbe Gedanke hat die Auf - findung der Gegenerscheinungen zu bekannten Er - scheinungen bewirkt. Der Volumsänderung der Gase durch Temperaturänderung entspricht eine Temperatur - änderung durch Volumsänderung, der Seebeck’schen Er - scheinung die Peltier’sche u. s. w. Bei derartigen Um - kehrungen muss man natürlich mit Rücksicht auf die Form der Abhängigkeit vorsichtig sein. Die Figur 232 macht es deutlich, wie jeder Veränderung von[λ]eine merkliche Aenderung von[α]entsprechen kann, aber nicht umgekehrt. Die Beziehungen zwischen den elektromagnetischen und Inductionserscheinungen, die Faraday fand, geben hierfür ein gutes Beispiel.

Lässt man eine Gruppe von Umständen[α β γ δ]...., durch welche eine andere Gruppe[λ μ ν] bestimmt

Fig. 232.

ist, von ihren Anfangswerthen zu den Endwerthen[α][β][γ][δ] .. übergehen, so übergeht auch[λ μ][ν].... in[λ][μ][ν] .... Kehrt die erstere Gruppe zu ihren Anfangs - werthen zurück, so geschieht dies auch mit der zweiten Gruppe. Hierin liegt die Aequivalenz von Ursache und Wirkung , welche Mayer wie - derholt betont.

Wenn die erstere Gruppe nur periodische Aenderun - gen eingeht, so kann auch die letztere nur periodische und keine fortwährenden bleibenden Aenderungen erfahren. Die so fruchtbaren Denkmethoden von Galilei, Huy - ghens, S. Carnot, Mayer u. A. lassen sich auf die eine wichtige und einfache Einsicht zurückführen, dass rein periodische Aenderungen einer Gruppe von Umständen auch nur zur Quelle von ebenfalls475Beziehungen der Mechanik zu andern Wissensgebieten.periodischen und nicht von fortdauernden und bleibenden Aenderungen einer andern Gruppe von Umständen werden können. Die Sätze, die Wirkung ist der Ursache äquivalent , Arbeit kann nicht aus Nichts erzeugt werden , ein Perpetuum mobile ist unmöglich , sind specielle weniger be - stimmte und klare Formen dieser Einsicht, welche an sich nichts mit Mechanik allein zu schaffen hat, sondern dem naturwissenschaftlichen Denken überhaupt angehört. Hiermit entfällt jede metaphysische Mystik, welche dem Satze der Erhaltung der Energie noch an - haften könnte. 1Auch entfallen die monströsen Anwendungen des Satzes auf das ganze Weltall, wenn man bedenkt, dass jeder natur - wissenschaftliche Satz ein Abstractum ist, welches die Wiederholung gleichartiger Fälle zur Voraussetzung hat.

Die Erhaltungsideen haben wie der Substanzbegriff ihren triftigen Grund in der Oekonomie des Denkens. Eine blosse zusammenhangslose Veränderung ohne festen Anhaltspunkt ist nicht fassbar und nachbildbar. Man fragt also, welche Vorstellung kann bei der Veränderung als bleibend festgehalten werden, welches Gesetz be - steht, welche Gleichung bleibt erfüllt, welche Werthe bleiben constant? Wenn man sagt, bei allen Brechungen bleibt der Exponent constant, bei allen Bewegungen schwerer Körper bleibt g = 9·810m, in jedem abge - schlossenen System bleibt die Energie constant, so haben alle diese Sätze dieselbe ökonomische Function, die Nachbildung der Thatsachzn in Gedanken zu erleichtern.

2. Beziehungen der Mechanik zur Physiologie.

1. Alle Wissenschaft geht ursprünglich aus dem Be - dürfniss des Lebens hervor. Mag sich dieselbe durch den besondern Beruf, die einseitige Neigung und Fähig - keit ihrer Pfleger in noch so feine Zweige theilen, seine volle frische Lebenskraft kann jeder Zweig nur im Zusammenhange mit dem Ganzen erhalten. Nur476Fünftes Kapitel.durch diese Verbindung kann er seinem eigentlichen Ziele erfolgreich zustreben, und vor monströsen ein - seitigen Entwickelungen bewahrt bleiben.

Die Theilung der Arbeit, die Beschränkung eines Forschers auf ein kleines Gebiet, die Erforschung dieses Gebietes als Lebensaufgabe, ist die nothwendige Be - dingung einer ausgiebigen Entwickelung der Wissen - schaft. Mit dieser Einseitigkeit und Beschränkung können erst die besondern intellectuellen ökonomischen Mittel zur Bewältigung dieses Gebietes die nöthige Ausbildung erlangen. Zugleich liegt aber hierin die Gefahr, diese Mittel, mit welchen man immer beschäftigt ist, zu überschätzen, ja dieselben, die doch nur Hand - werkszeug sind, für das eigentliche Ziel der Wissen - schaft zu halten.

2. Durch die unverhältnissmässig grössere formelle Entwickelung der Physik, gegenüber den übrigen Natur - wissenschaften, ist nun ein derartiger Zustand unseres Erachtens wirklich geschaffen worden. Den Denk - mitteln der Physik, den Begriffen Masse, Kraft, Atom, welche keine andere Aufgabe haben, als ökonomisch geordnete Erfahrungen wach zu rufen, wird von den meisten Naturforschern eine Realität ausserhalb des Denkens zugeschrieben. Ja man meint, dass diese Kräfte und Massen das eigentlich zu Erforschende seien, und wenn diese einmal bekannt wären, dann würde alles aus dem Gleichgewicht und der Bewegung dieser Massen sich von selbst ergeben. Wenn jemand die Welt nur durch das Theater kennen würde, und nun hinter die mechanischen Einrichtungen der Bühne käme, so könnte er wol auch meinen, dass die wirk - liche Welt eines Schnürbodens bedürfe, und dass alles gewonnen wäre, wenn nur dieser einmal erforscht wäre. So dürfen wir auch die intellectuellen Hülfsmittel, die wir zur Aufführung der Welt auf der Gedankenbühne gebrauchen, nicht für Grundlagen der wirklichen Welt halten.

3. In der richtigen Erkenntniss der Unterordnung477Beziehungen der Mechanik zu andern Wissensgebieten.des Specialwissens unter das Gesammtwissen liegt eine besondere Philosophie, die von jedem Specialforscher gefordert werden kann. Ihr Mangel äussert sich durch das Auftreten vermeintlicher Probleme, in deren Auf - stellung schon, einerlei ob man sie als lösbar betrachtet oder nicht, eine Verkehrtheit liegt. Ein solches Ueber - schätzen der Physik gegenüber der Physiologie, ein Verkennen des wahren Verhältnisses, spricht sich in der Frage aus, ob es möglich sei, die Empfindungen durch Bewegung der Atome zu erklären?

Forschen wir nach den Umständen, die zu einer so sonderbaren Frage drängen können. Zunächst bemer - ken wir, dass allen Erfahrungen über räumliche und zeitliche Verhältnisse ein grösseres Vertrauen entgegen - gebracht wird, dass man ihnen einen objectiveren, rea - leren Charakter zuschreibt, als Erfahrungen über Far - ben, Töne, Wärmen u. s. w. Doch kann man bei ge - nauerer Untersuchung sich nicht darüber täuschen, dass Raum - und Zeitempfindungen ebenso Empfindungen sind wie Farben -, Ton -, Geruchsempfindungen, nur dass wir in Uebersicht der erstern viel geübter und klarer sind als in Bezug auf letztere. Raum und Zeit sind wohlgeordnete Systeme von Empfindungsreihen. Die Grössen in den Gleichungen der Mechanik sind nichts als Ordnungszeichen der in der Vorstellung herauszu - hebenden Glieder dieser Reihen. Die Gleichungen drücken die Abhängigkeit dieser Ordnungszeichen von - einander aus.

Ein Körper ist eine verhältnissmässig beständige Summe von Tast - und Lichtempfindungen, die an die - selben Raum - und Zeitempfindungen geknüpft ist. Mechanische Sätze, wie z. B. jener der Gegenbeschleu - nigung zweier Massen, geben unmittelbar oder mittel - bar den Zusammenhang von Tast -, Licht -, Raum - und Zeitempfindungen. Sie erhalten nur (durch den oft complicirten) Empfindungsinhalt einen verständlichen Sinn.

Es hiesse also wol das Einfachere und näher Liegende478Fünftes Kapitel.durch das Complicirtere und ferner Liegende erklären, wollte man aus Massenbewegungen die Empfindungen ableiten, abgesehen davon, dass die mechanischen Begriffe ökonomische Mittel sind, welche zur Dar - stellung mechanischer und nicht physiologischer oder psychologischer Thatsachen entwickelt wurden. Bei richtiger Unterscheidung der Mittel und Ziele der Forschung, bei Beschränkung auf die Darstellung des Thatsächlichen, können solche falsche Probleme gar nicht auftreten.

4. Alles Naturwissen kann nur Complexe von jenen Elementen nachbilden und vorbilden, die wir gewöhn - lich Empfindungen nennen. Es handelt sich um den Zusammenhang dieser Elemente. Ein solches Element wie die Wärme eines Körpers A hängt nicht nur mit andern Elementen zusammen, deren Inbegriff wir z. B. als eine Flamme B bezeichnen, sondern es hängt auch mit der Gesammtheit der Elemente unsers Körpers, z. B. eines Nerven N zusammen. Als Object und Element unterscheidet sich N nicht wesentlich, sondern nur conventionell von A und B. Der Zu - sammenhang von A und B gehört der Physik, jener von A und N der Physiologie an. Keiner ist allein vorhanden, beide sind zugleich da. Nur zeitweilig können wir von dem einen oder andern absehen. Selbst die scheinbar rein mechanischen Vorgänge sind also stets auch physiologische, als solche auch elektrische, chemische u. s. w. Die Mechanik fasst nicht die Grund - lage, auch nicht einen Theil der Welt, sondern eine Seite derselben.

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Chronologische Uebersicht einiger hervorragender Forscher und ihrer für die Grundlegung der Mechanik wichtigern Schriften.

  • Archimedes (287 212 v. Chr.). Deutsche Ausgabe seiner Werke von Ernst Nizze (Stralsund 1824).
  • Leonardo da Vinci (1452 1519). Seine Manuscripte benutzt von H. Grothe in dessen Schrift: Leonardo da Vinci als Ingenieur und Philosoph (Berlin 1874).
  • Guido Ubaldi (o) e Marchionibus Montis (1545 1607). Mecha - nicorum liber (Pesaro 1577).
  • S. Stevinus (1548 1620). Beghinselen der Weegkonst (Leiden 1585); Hyponmemata mathematica (Leiden 1608).
  • Galilei (1564 1642). Discorsi e dimostracioni matematiche. (Leiden 1638). Viele Gesammtausgaben der Galilei’schen Werke.
  • Kepler (1571 1630). Astronomia nova (Heidelberg 1609); Harmonices mundi (Linz 1615); Stereometria doliorum (Linz 1615). Gesammtausgabe von Frisch (Frankfurt 1858).
  • Marcus Marci (1595 1667). De proportione motus (Prag 1639).
  • Descartes (1596 1650). Principia philosophiae (Amster - dam 1644).
  • Roberval (1602 1675). Sur la composition des mouvements. Anc. Mém. de l’Acad. de Paris, T. VI.
  • Guericke (1602 1686). Experimenta Magdeburgica (Amster - dam 1672).
  • Fermat (1608 1665). Varia Opera (Paris 1679).
  • Torricelli (1608 1647). Opera geometrica (Florenz 1644).
  • Wallis (1616 1703). Mechanica sive de motu (London 1670).
  • Mariotte (1620 1684). Oeuvres (Leiden 1717).
  • Pascal (1623 1662). Récit de la grande expérience de l’équilibre des liqueurs (Paris 1648); Traité de l’équilibre des liqueurs et de la pesanteur de la masse de l’air. (Paris 1662).
  • Boyle (1627 1691). Experimenta physico mechanica (Lon - don 1660).
  • Huyghens (1629 1695). The laws of motion on the collision of bodies. Philos. Trans. 1669; Horologium oscillatorium (Paris 1673); Opuscula posthuma (Leiden 1703).
  • Wren (1632 1723). The law in the collision of bodies. Philos. Trans. 1669.
  • Lami (1640 1715). Nouvelle manière de démontrer les480Chronologische Uebersicht.principaux théorèmes des élémens des méchaniques (Paris 1687).
  • Newton (1642 1726). Philosophiae naturalis principia ma - thematica (London 1686).
  • Leibnitz (1646 1716). Acta eruditorum 1686, 1695; Leib - nitzii et Joh. Bernoullii comercium epistolicum (Lausanne u. Genf 1745).
  • Jakob Bernoulli (1654 1705). Opera omnia (Genf 1744).
  • Varignon (1654 1722). Projet d’une nouvelle mécanique (Paris 1687).
  • Johann Bernoulli (1667 1748). Acta erudit. 1693; Opera omnia (Lausanne 1742).
  • Maupertuis (1698 1759). Mém. de l’Acad. de Paris 1740; Mém. de l’Acad. de Berlin 1745, 1747; Oeuvres (Paris 1752).
  • Maclaurin (1698 1746). A complete system of fluxions (Edinburgh 1742).
  • Daniel Bernoulli (1700 1782). Comment. Acad. Petrop., T. I. Hydrodynamica (Strassburg 1738).
  • Euler (1707 1783). Mechanica sive motus scientia (Petersburg 1736); Methodus inveniendi lineas curvas (Lausanne 1741). Viele Abhandlungen in den Schriften der berliner und petersburger Akádemie.
  • Clairault (1713 1765). Théorie de la figure de la terre (Paris 1743).
  • D’Alembert (1717 1783). Traité de dynamique (Paris 1743).
  • Lagrange (1736 1813). Essai d’une nouvelle méthode pour déterminer les maxima et minima. Misc. Taurin. 1762; Mécanique analytique (Paris 1788).
  • Laplace (1749 1827). Mécanique céleste (Paris 1799).
  • Fourier (1768 1830). Théorie analytique de la chaleur (Paris 1822).
  • Gauss (1777 1855). De figura fluidorum in statu aequilibrii. Comment. societ. Gotting 1828; Neues Princip der Mechanik (Crelle’s Journal, IV, 1829); Intensitas vis mag - neticae terrestris ad mensuram absolutam revocata (1833). Gesammtausgabe (Göttingen 1863).
  • Poinsot (1777 1859). Éléments de statique (Paris 1804).
  • Poncelet (1788 1867). Cours de mécanique (Metz 1826).
  • Belanger (1790 1874). Cours de mécanique (Paris 1847).
  • Möbius (1790 1867). Statik (Leipzig 1837).
  • Coriolis (1792 1843). Traité de mécanique (Paris 1829).
  • C. G. J. Jacobi (1804 1851). Vorlesungen über Dynamik, herausgegeben von Clebsch (Berlin 1866.)
  • R. Hamilton (1805 1865). Lectures on Quaternions 1853 Abhandlungen.
  • Grassmann (1809 1881). Ausdehnungslehre. (Stettin 1844).
[481]

REGISTER.

  • Absolute Maasse263.
  • Absoluter Raum207.
  • Absolute Zeit207.
  • Aegyptische Denkmäler1.
  • Aehnlichkeit, phoronomische153.
  • Anfänge der Wissenschaft3.
  • Animistische Gesichtspunkte in der Mechanik420.
  • Anpassung der Gedanken5 .128.
  • Antrieb254.
  • Anziehung230.
  • Arbeit49 .255.231.
  • der Compression381.
  • Archimedes8 .74.80.81.96.98.
  • Assyrische Denkmäler1.
  • Atomtheorie463.
  • Atwood137.
  • Ausfluss der Flüssigkeiten377.
  • Austausch der Geschwindigkeit292.
  • Babo, von138.
  • Ballistisches Pendel304.
  • Belanger254.
  • Bernoulli. Dan.37 .74.76.323.379.
  • Jak.69, 308.389.403.
  • Joh.52 .69.234.309.347.385.400.
  • Beschleunigung130 .133.
  • Bewegung, gleichförmig beschleu - nigt121.
  • schiefe Ebene126.
  • Zusammensetzung142.
  • Black114.
  • Blase368.
  • Bodendruck92.
  • Boyle103 .113.115.
  • Brachystochrone400.
  • Canton85.
  • Carnot467.
  • Carnot’sche Formel303.
  • Cauchy44.
  • Causalgesetz473.
  • Causalität455.
  • Cavendish114.
  • Centralkräfte373.
  • Centrifugalkraft146.
  • Clairault371.
  • Clausius472.
  • Commandinus81.
  • Componente32.
  • Compressibilität86.
  • Compressionsarbeit381.
  • Continuität, Princip der128.
  • Courtivron68.
  • Cycloïde143 .174.355.402.
  • D’Alembert137 .259.307.312.
  • Darwin426 .432.
  • Descartes254 .256.
  • Dimension260.
  • Druck der Flüssigkeit87.
  • fallender Körper191.
  • Ebene, schiefe21 .22.29.47.126.129.
  • Einheiten260.
  • Elasticität242.
  • Electricität468.
  • Elementargesetze238 .433.
  • Erde, Gestalt der371.
  • Erhaltung des Schwerpunktes265.
  • der Flächen271.
  • der Energie470.
  • der Quantität der Bewegung254.
  • Erklärung5.
  • Fadengleichgewicht348.
  • Fallapparate137.
  • Falltiefe des Schwerpunktes125 .383.
  • Faraday114 .467.
  • Fermat397.
  • Fingirte Bewegung291.
  • Flächen, Erhaltung der271.
  • Flüssigkeit, Eigenschaften der81.
  • Bewegung der377.
  • 482
  • Flüssigkeit, Gleichgewicht der79 .373.
  • schwerlose360.
  • Schwingung der385.
  • Reibung der392.
  • Flut195.
  • Formelle Entwickelung der Mecha - nik396.
  • Galilei11 .21.47.83.105.117.124.126.128.129.140.142.151.285.425.467.
  • Gauss71.
  • Gegenerscheinung474.
  • Gegenwirkung185.
  • Geschwindigkeit132.
  • Gestalt der Erde371.
  • Gilbert435.
  • Gleichgewichtsfiguren370.
  • Grassmann452.
  • Gravitation150 .177.
  • Grundgleichungen259.
  • Guericke110 .113.422.
  • Hamilton325 .356.452.
  • Hebel8 .11.12.14.19.245.
  • Helmholtz470 .472.
  • Heron397.
  • Herrmann313.
  • Hipp139.
  • Homogen260.
  • Horror vacui103.
  • Huyghens14 .143.146.149.159.160.290.400.
  • Hydrodynamik377.
  • Hydrodynamischer Druck389.
  • Hydrostatik79 .371.
  • Jacobi71 .346.357.
  • Jellett411.
  • Instinctive Erkenntniss1 .16 .24 fg.
  • Integralgesetze238 .434.
  • Joule472.
  • Isoperimeterprobleme396.
  • allgemeinere404.
  • Classificirung der407.
  • Kegelpendel159.
  • Kepler176 .398.
  • Kettenlinie69 .355.419.
  • Kleinste Wirkung340.
  • Kleinster Zwang326.
  • Kräfte, Zusammensetzung29 .37.43.44.74.76.
  • Kraftbegriff, allgemeiner179.
  • Kraft, lebendige254.
  • todte254.
  • Antrieb der254.
  • Kraftfunction325 .374.
  • Ktesibius103.
  • Laborde138.
  • Lagrange12 .60.323.346.410.438.
  • Laplace374.
  • Leibnitz400 .422.
  • Lichtbewegung349 .432.
  • Lippich138.
  • Luftpumpe110 .113.115.
  • Maasse, absolute263.
  • terrestrische263.
  • Maclaurin438.
  • Marci, Marcus283.
  • Mariotte115 .288.289.
  • Maschinen8 fg.
  • Masse181 .203.252.
  • Maupertuis63 .340.427.
  • Mayer, J. R.232 .467.
  • Mechanische Naturansicht467.
  • Mersenne107.
  • Minimum der Oberfläche363.
  • Mittelpunkt des Stosses304.
  • Möbius347.
  • Moment, statisches52.
  • virtuelles167.
  • Morin138 .452.
  • Mystik der Wissenschaft452.
  • Mystische Gesichtspunkte in der Mechanik420.
  • Napier421.
  • Newton153 .265.385.400.422.438.467.
  • Niveauflächen90 .374.
  • Oberfläche, Minimum der363.
  • Oberflächengefäss83.
  • Oekonomie der Wissenschaft5 .452.
  • Oersted86.
  • Ort, absoluter207.
  • Parabel141.
  • Parallelismus der Schichten384.
  • Pascal50 .84.91.94.103.107.108.109.421.
  • Pendel156.
  • zusammengesetztes161.
  • ballistisches304.
  • Perier108.
  • Phoronomische Aehnlichkeit153.
  • Verwandtschaft153.
  • Physiologie282 .475.
  • Plateau360 .367.
  • Poggendorff’s Fallmaschine192.
  • Poinsot174 .234.251.452.
  • Poisson43.
  • Poncelet234.
  • Porta435.
  • Potential374.
  • 483
  • Quantität der Bewegung254.
  • der Materie181.
  • Quecksilberluftpumpe115.
  • Raum, absoluter207.
  • Reactionsrad277.
  • Umkehrung seiner Bewegung279.
  • Reibung der Flüssigkeiten392.
  • Resultirende32.
  • Richer149.
  • Riemann464.
  • Roberval184 .397.
  • Robins307.
  • Rollen45.
  • Rollenzüge45.
  • Sangen103.
  • Scheffler329.
  • Schwerlose Flüssigkeiten360.
  • Schwerpunkt14.
  • Satz der Erhaltung des265.
  • Steighöhe125 .383.
  • Schwingung151.
  • der Flüssigkeiten358.
  • Schwingungsmittelpunkt161.
  • Segner174.
  • Seitendruck95.
  • Stevin22.29 fg .45.48.82.99.
  • Stoss282.
  • Stossheber387.
  • Stossmaschine288.
  • Stossmoment284.
  • Stossversuch Galilei’s284.
  • Symmetrieprincip9.
  • Tangentenmethode398.
  • Taylor311.
  • Terrestrische Maasse263.
  • Theologische Ideen420.
  • Theorie462.
  • Thomson228 .472.
  • Todte Kraft254.
  • Torricelli48 .105.377.
  • Trägheit129 .222.225.
  • allgemeiner Ausdruck281.
  • Trägheitsmoment167.
  • Tylor434.
  • Ubaldi20.
  • Unabhängigkeit der Kräfte vonein - ander43.
  • Unbestimmtheit der Newton’schen Aufstellungen207.
  • Ursache und Wirkung455.
  • Variationsrechnung410.
  • Vergleichende Physik469.
  • Verwandtschaft, phoronomische153.
  • Vinci, Leonardo da19.
  • Virtuelle Verschiebung45 .47.48.50.52.54.60.63.68.71.93.
  • Vitruv3 .103.
  • Viviani105.
  • Voltaire422 .427.
  • Wallis288 .290.
  • Wasser, Compressibilität86 .87.
  • Wasserstoff114.
  • Wellrad20 .55.
  • Weston54.
  • Wheatstone138.
  • Wirkung, kleinste340.
  • Wirkungsfähigkeit136.
  • Wren288 .290.
  • Zeit, absolute207.
  • Zeitmessung Galilei’s122.
  • Zureichender Grund9.
  • Zusammensetzung der Bewegung142.
  • der Kräfte29 .37.43.44.74.76.
  • Zwang, kleinster326.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

About this transcription

TextDie Mechanik in ihrer Entwicklung
Author Ernst Mach
Extent500 images; 110068 tokens; 12500 types; 777525 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationDie Mechanik in ihrer Entwicklung historisch-kritisch dargestellt Ernst Mach. . X, 483 S. : zahlr. Ill., graph. Darst. BrockhausLeipzig1883.

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Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte MPIWG, Sou IV M149mehttp://echo.mpiwg-berlin.mpg.de/MPIWG:FS1EUY9Y

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LanguageGerman
ClassificationFachtext; Physik; Wissenschaft; Physik; core; ready; china

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