PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Reformation oder Revolution?
[II][III]
Reformation oder Revolution?
Facta loquuntur.
Mit kirchlicher Approbation.
Mainz,Verlag von Franz Kirchheim. 1897.
[IV]
Imprimi permittitur. (Moguntiae, die 27. Octobris 1897. Dr. J. B. Holzammer, Cons. eccl. et Can. cap. Eccl. cathedr. Mogunt. )

Druck von Fl. Kupferberg in Mainz.

[V]

Vorwort.

Vorliegende Broſchüre iſt eine Gelegenheitsſchrift. Sie macht keinen Anſpruch auf gelehrte, wiſſenſchaft - liche Unterſuchungen; ſie iſt ebenſoſehr eine Frucht raſcher Entſchließung, doch nicht wie jene ſpontanen Kundgebungen von akatholiſcher Seite, welchen der tiefe Ernſt der Über - legung und der ruhigen Prüfung abging; denn dieſe waren nur Ergüſſe der Leidenſchaft, von welcher indes der Ver - faſſer ſich frei fühlt. Er hat auch nichts Neues zu ſagen, ſondern nur Altes zu wiederholen.

Wozu alſo der Kriegslörm, wenn Papſt Leo XIII. nichts Anderes geſagt hat, als was Hunderte vor ihm behauptet hatten, ſowohl Katholiken, wie Proteſtanten? Wozu dies, wenn alle Welt weiß, daß der regierende Papſt ein friedliebender Mann iſt, der nichts ſehnlicher erſtrebt, als die ganze Chriſtenheit zu einigen, alle Con - feſſionen, die einen chriſtlichen Namen führen, zu verſöh - nen? Hatte nicht ſchon Wilh. Hohhoff vor einem De - zennium die Beweiſe erbracht in ſeinem Werke: Die Revolution ſeit dem 16. Jahrhundert im Lichte der neue - ſten Forſchung , daß die Reformation einer Revolution gleich zu achten ſei? Hat nicht Döllinger vor 50 Jah - ren die Beweiſe zuſammengeſtellt, daß der ReformationVI ein großes Sittenverderbnis auf dem Fuße folgte? Sein Werk blieb bis heut unwiderlegt. Wozu alſo die unmo - tivierte Anklage auf Friedensſtörung? Die verſpäteten Proteſte gelten nicht der Sache, ſie gelten der Perſon, die Unrecht gethan haben ſoll, weil man es ſo haben will, nach einem bekannten ruſſiſchen Sprüchworte. Auslän - diſche Hiſtoriker und Staatsmänner ſind in ihrer Beur - teilung der Reformation viel unparteiiſcher. Die Eng - länder Lecky, Macaulay und Carlyle, die Franzoſen Taine, Schmidt und Guizot ſtimmen ganz mit des Papſtes Ur - teil überein.

Der aus Anlaß der Caniſiusfeier entfachte Streit wird ſicherlich gerade ſo endigen, wie der Kulturkampf. Er wird die Überlegenheit der katholiſchen Kirche auch auf dem hiſtoriſchen Felde erweiſen. Als Menſch und als Chriſt ſteht Caniſius, der katholiſche Reformator, hun - dertmal höher da, als Luther. Wiewohl von den Gegnern, ſelbſt von Melauchthon, verleumdet und beſchimpft, hat er nie mit gleicher Münze bezahlt. Dem Rate zu Köln ſchreibt er:

Unſerem beſten Heilande danke ich beſonders dafür, daß er mich der Angriffe und der Biſſe der Sektierer für würdig erachtet hat. Jhre wilden Ausbrüche gegen mich und ihre ſchändlichen Verdammungen übergehe ich mit tauben Ohren. Jch habe zur Feder gegriffen, nicht um Gewinn, eines Vorteils oder des Ruhmes halber, nicht aus Ab - oder Zuneigung gegen irgend Jemand, ſondern, was ich mit heiligem Eide verſichern kann, aus Eifer für die Religion und aus Liebe zur Wahrheit.

Das iſt die Sprache eines chriſtlichen Reformators! Jndes, dieſelben Prinzipien, dieſelben Vorwände, Mo -VII tive und Ziele, welche die Gegner zur Rechtfertigung der Reformation geltend machen, nimmt jene Volkspar - tei heute für ſich in Anſpruch, welche die chriſtliche Welt - auſchauung und Geſellſchaftsordnung reformieren will. Derſelbe Faden, nur eine andere Nummer. Mit Ulrich von Hutten hat Laſſalle ſich gern und oft verglichen, während der federgewandte Bebel in ſeinem Namensvetter Hr. Bebel, dem Verfaſſer der Facetien und des Triumph der Venus ſeinen Vorläufer hat. Sapienti sat!

Frankfurt a. M., 25. Oktober 1897.

Der Verfaſſer.

[1]
Du ſollſt kein falſches Zeugnis geben.

Das bekannte Ausſchreiben des proteſtantiſchen Ober-Konſi - ſtoriums zu Darmſtadt, worin gegen mehrere Sätze der Encyklika Leos XIII. über die Caniſiusfeier Proteſt erhoben wurde, hat in Berlin auf der 50. General-Verſammlung des Guſtav-Adolf-Vereins, ſowie in Krefeld auf der neunten Jah - resverſammlung des ſog. Evangeliſchen Bundes lautes Echo und vollkommene Zuſtimmung gefunden. Daraus ergiebt ſich klar und deutlich, daß der Proteſtantismus in ſeinen offiziellen Vertretern, Dr. Goldmann, Dr. Barkhauſen u. a., es ver - bietet, die ſog. Reformation als Revolution und das ihr nachfolgende große Sittenverderbnis als eine natürliche Folge der Reformation darzuſtellen. Nur ſolches hatte der Papſt in ſeiner Encyklika behauptet, eine Sache, die auf katholiſcher Seite ſeit 350 Jahren nie anders bezeichnet worden iſt, auch nicht anders bezeichnet werden kann, weil man ſonſt die Wahr - heit auf den Kopf ſtellen würde. Noch iſt kein Decennium verfloſſen, ſeit uns der ſelige Prälat Dr. Janſſen dasſelbe nicht bloß behauptet, ſondern durch ſeine Geſchichte des deutſchen Volkes aufs bündigſte und klarſte erwieſen hat, wie vor einem halben Säkulum der Stiftspropſt Dr. J. Döl - linger in ſeinem dreibändigen Werke Die Reformation, ihre innere Entwicklung und ihre Wirkungen die unwiderleglichſten Beweiſe für dieſe Thatſache beibrachte. Selbſt auch vieleDieſenbach, Reformation oder Revolution? 12proteſtantiſche Hiſtoriker haben dieſem Urteile beigepflichtet. Um ſo auffallender muß es erſcheinen, daß urplötzlich dieſe faſt ſtillſchweigend hingenommenen hiſtoriſchen Ergebniſſe im Munde des Papſtes als Beleidigung , als Angriff hingeſtellt, ſogar als Friedensſtörung ausgegeben werden. Zu deutlich merkt man die verſteckte Abſicht. Es iſt die Taktik des Wolfes in Äſops Fabel: um einen plauſiblen Grund zum erwünſchten Angriffe zu finden, imputiert man dem Gegner, daß er angegriffen habe. Die Gegner berufen ſich zu ihrer Rechtfertigung darauf, daß die Urteile des Papſtes unwahr und ungerechtfertigt ſeien. Eine ſolche Behauptung erzeugt die Notwendigkeit, die Frage zu prüfen, ob nämlich die ſog. Reformation keine Revolution geweſen, und ob ihre Folgen keine Entartung der Sitten im deutſchen Volke hervorgerufen haben. Wiewohl über dieſe Frage von katholiſcher Seite bereits gründliche Unterſuchungen gepflogen worden ſind, ob - ſchon die Litteratur über die Reformationsgeſchichte eine äußerſt reichhaltige iſt, darf es doch wohl im gegenwärtigen Augen - blicke angezeigt erſcheinen, in einer Broſchüre die Momente zuſammenzuſtellen, welche den katholiſchen Standpunkt recht - fertigen, den gegenteiligen Behauptungen hingegen den Stem - pel der Erdichtung aufdrücken.

I. War die ſog. Reformation eine Revolution?

Man muß den Worten ihre Bedeutung zurückgeben, hatte ſeiner Zeit Pius IX. erklärt. Gleicherweiſe notwendig erſcheint es, den Thaten ihren richtigen Namen zu geben. Leider hat die Geſchichte mehr als ein Lügenfeld zu ver - zeichnen, auf welchem die hiſtoriſchen Thatſachen gefälſcht3 wurden; denn es giebt auch eine geſchichtliche Falſchmünzerei, welche es verſteht, das Recht als Unrecht und das Unrecht als Recht zu prägen und auszugeben. Am ausgedehnteſten hat man dies verſucht in der Geſchichte des deutſchen Volkes ſeit der Reformation, wozu auch der Verſuch gehört, die Re - formation ihres natürlichen Charakters einer revolutionären Bewegung zu entkleiden. Denn wenn die Reformation keine Rebellion geweſen ſein ſoll, dann hat es nie eine gegeben. Die Beweiſe aber, daß ſie lediglich ein Umſturz der be - ſtehenden Ordnung in Staat und Kirche war, finden wir in den zahlreichen Zeugniſſen, welche wir aus dem Munde der Zeitgenoſſen vernehmen, wie nicht weniger aus den Worten und Thaten der Reformatoren ſelbſt und aus den Urteilen, welche proteſtantiſche Gelehrte über dieſe Frage gefällt haben.

1. Unter den Zeitgenoſſen iſt das Urteil jener Männer beſonders wertvoll, welche, einer Reformation im guten Sinne nicht abhold, desungeachtet die Entwicklung der Reform Luthers als eine unheilvolle Umwälzung beklagt und dieſelbe aus dieſem Grunde verabſcheut haben. Dei bekann - teſten Namen ſind: Erasmus, der Juriſt Zaſius, Reuchlin, Pirkheimer, Wizel, Crotus Rubianus, Wildenauer, Billicanus u. a. m. Der zerſtörende Charakter der Reformation gab ihnen die Hauptveranlaſſung zu ihrer ſpäteren Abkehr von Luther.

Es iſt eine Thatſache, welche niemand leugnen kann, daß das heilige römiſche Reich deutſcher Nation auf dem Boden der katholiſchen Kirche entſtanden und mit derſelben aufs innigſte verwachſen war, ſo daß, wer die katholiſche Kirche angriff oder vernichten wollte, zugleich die deutſche Reichs - verfaſſung angriff und zerſtörte, welche die eine chriſtliche1 *4Konfeſſion, die katholiſche, als Staatsreligion anerkannte, deren Beſtand und Jntegrität garantierte, indem der Kaiſer, als ihr oberſter Schirm - und Schutzherr, bei ſeiner Krönung eidlich gelobte, dieſe Kirche gegen äußere und innere Feinde nach Kräften zu ſchützen.

Jndem Luther gegen die Verfaſſung der Kirche Sturm lief, die Hierarchie umſtürzte, die Vertreter derſelben zu morden befahl, inaugurierte er die nackteſte Revolution gegen Staat und Kirche, gegen die Reichs - und Kirchenverfaſſung, weil jene ſoviele Biſchöfe und Äbte als Territorial-Herren und Ständemitglieder des Reichstages anerkannte, ja die drei geiſt - lichen Kurfürſten zu den ſieben Grundſäulen der Reichsver - faſſung zählten. Auf dieſen revolutionären Charakter der lutheriſchen Bewegung haben gleich anfangs aufmerkſam ge - macht jene Anzahl von Männern, welche hervorragten durch ihre Wiſſenſchaft, ihre Gelehrſamkeit, durch ihren ſtaats - männiſchen tiefen Blick und durch ihre einflußreiche Stel - lung in Staat und Kirche.

Hieronymus Aleander, ein bedeutender Humaniſt und angeſehener Gelehrter, erſchien als päpſtlicher Legat auf dem Reichstage zu Worms 1521 und hielt am 13. Februar auf Aſchermittwoch vor dem Kaiſer Karl. V. und den verſammelten Ständen eine hochbedeutſame, politiſche Rede, durch welche er ſeinen Scharfblick und ſeine ſtaatsmänniſche Begabung dokumentiert hat. Allergroßmächtigſter, unüberwindlicher Kaiſer, ſo hub er an, wie viel Böſes und Übeles Martin Luthers Aufruhr und Empörung dem chriſtlichen Volke bisher angerichtet, welchen Schaden dieſelben auch täglich bringen und anrichten werden, liegt offen zu Tage; darum wäre es höchſt und mehr vonnöten, daß ſelbige Faktion und Aufruhr zuvörderſt ausgelöſcht, als länger heimlich hingezogen5 werden ſollte. Denn wie die Böhmen unter dem Namen und Schein des Evangeliums vordem allen Gehorſam und Ord - nung unterdrückt haben, ſo auch unterſteht ſich Martin Luther mit ſeinen Helfern und Anhängern, alle Macht der Rechte und kaiſerlichen Geſetze, auch aller Obrigkeit umzuſtoßen und umzukehren1)H. Förſtemann, Neues Urkundenbuch, p. 31..

Am 20. April 1521 erließ Karl V. ſein Mandat gegen Luther. Wir verordnen, daß Luther zurückgeführt werde, nach Jnhalt und Wortlaut ſeines Geleitbriefes, verbieten aber, daß er predige, noch durch ſeine verwerflichſte Lehre das Volk aufrege, damit kein Anlaß gegeben werde, daß im Volke ein Aufruhr entſtehe2)l. c. p. 75..

Kaiſer Karl hatte nicht geirrt, als er dieſes Verbot er - ließ; denn dadurch, daß es von dem Kurfürſten von Sachſen übertreten wurde, welcher Luther in Schutz nahm, konnte das Feuer der Empörung immer weitere Kreiſe ergreifen. Als auf dem Reichstage zu Nürnberg 1524, der Reichsverweſer Erzherzog Ferdinand deshalb das Wormſer Edikt erneuern wollte, fand er keine Zuſtimmung ſeitens der Reichsſtände. Die Urſache giebt uns der ſächſiſche Geſandte Hans von Planitz in einem Schreiben vom 17. April an. Wohl iſt es wahr, daß der größte Teil nicht hat bewilligen wollen, das Mandat, welches zu Worms aufgerichtet worden, wieder zu erneuern; denn es möchte Aufruhr geben. Es iſt doch ein Gutes, was ſie gethan; aber nicht ums Gute willen, ſondern weil ſie ſich ihrer Haut gefürchtet haben3)l. c. p. 189..

Damals kamen ſehr beunruhigende Berichte aus Würtem - berg, Franken, Schwaben und Kur-Trier von drohenden Be -6 wegungen unter den Bauern. Kein Wunder, daß darüber Karl V. höchſt unzufrieden war und in einem ernſten und beweglichen Schreiben an Friedrich von Sachſen, datirt Burgos den 15. Juli 1524, dieſem vorhält, wie Martin Luther trotz unmenſchlich und unchriſtlicher Lehr vermeint, dem göttlichen Gericht und Urteil zu entgehen, indem er, mit ſeinem unſeeligen, ſüßem Gifte, ſo viel ihm möglich, Jeder - mann vergiftet, und an Leib und Seele verdirbt, um ſich durch ſolche argliſtige Bosheit vor den Menſchen groß und viel anſehnlich zu machen: Dergleichen ſich auch etliche mehr unterſtanden haben, am meiſten der ſchändliche und große Verführer Mahomet, der mit ſeiner Sect und Jrrſal allein gemeiner Chriſtenheit mehr Schaden und Nachteil zugefügt hat, dann alle Nationen und Nationen der ganzen Welt, welche Jrrſal, falſche Lehr und Mißbrauch, wenn ſie unter Geſtalt der Wahrheit in der Menſchen Herzen einwachſen, nicht leicht wieder auszurotten ſind. Und weil Wir aus dieſen Gründen ſolch Deiner und gemeiner Stände Fürnehmen und Handlung als unbillig erkennen und finden, daß wenn Wir ſolches nicht zeitlich vorſehen würden, was großer merklicher Schaden, Mißbrauch, Unordnung und Aufruhr in gemeiner Chriſtenheit, und insbeſondere in deutſcher Nation daraus erfolgen möchte, ſo begehren Wir demnach, und befehlen Dir bei Deinen Pflichten, auch bei der Poen in unſerem Kaiſer - lichen Mandat zu Worms aufgerichtet, ernſtlich gebietend, daß Du von demſelben unſerem Gebot und im Edict in keiner Weiß abweichſt, dawider nicht handelſt noch thueſt, ſondern ſoviel als Dir immer möglich und zuſteht, gänzlich und ſtreng halteſt, vollzieheſt, in dieſem allem Dich gehorſam be - weiſeſt, als Du Deinem Gewiſſen und Pflicht nach Gott, der heiligen chriſtlichen Kirche, der päpſtlichen Heiligkeit und Uns7 als Deinem aus Gottes Vorſehung geſetzten Oberhaupte zu thun ſchuldig biſt1)H. Förſtemann 205 6.. .

Aus dieſem Schreiben erſieht man, mit welch ſcharfem Blicke Karl der kirchlichen Bewegung in Deutſchland folgte und daß er deren Tragweite wohl erkannte. Er hätte heutzutage kaum den Mahomet über Luther geſtellt, wenn er die Ent - wickelung der Reformation bis in unſer Jahrhundert gekannt hätte. Es ergibt ſich aber auch daraus, daß die Reichs - fürſten ſelbſt dem Volke den Geiſt der Auflehnung durch ihr Beiſpiel einflößten.

Nach dieſen offiziellen Zeugniſſen wenden wir uns zu dem von Privatperſonen. Erasmus, der gefeiertſte Gelehrte ſeines Jahrhunderts, war anfangs, wie viele andere, der Re - form Luthers geneigt, ſolange die revolutionären Tendenzen noch nicht hervortraten. Als aber Luther ſeit dem Reichstage zu Worms mit Ullrich von Hutten und Franz von Sickingen in Verbindung getreten war, deren Anſchläge gegen die be - ſtehende politiſche und ſtaatliche Ordnung nicht unbekannt waren, trat Erasmus gegen dieſe Beſtrebungen in die Schranken. So ſchrieb er z. B. 1521 an Melanchthon: Jch bin Luthern gut, ſoweit es erlaubt iſt; wer aber immer Luthern gut iſt, der möchte, daß er manches gemäßigter und vorſichtiger ge - ſchrieben hätte. Aber jetzt iſt es zu ſpät dazu, denn ich ſehe, es kommt zum Aufſtande2)Vgl. Döllinger, Reformation. I. p. 5..

Zu Köln gab er dem Kurfürſten Friedrich von Sachſen die Erklärung: Luther hat zwei Verbrechen begangen: er hat dem Papſte nach der Krone gegriffen und den Mönchen nach den Bäuchen. An Luther ſelbſt ſchrieb Erasmus 1524: Bisher habe ich der Sache des Evangeliums beſſere Dienſte8 geleiſtet, als viele von denen, die auf den Namen Evange - liſche pochen. Jch ſehe, daß dieſe Neuerungen viele verdor - bene und aufrühreriſche Leute erzeugen; ich ſehe, daß es mit den ſchönen Wiſſenſchaften den Krebsgang geht; ich ſehe, daß freundſchaftliche Verbindungen gewaltſam getrennt werden, und fürchte einen blutigen Aufſtand1)Döllinger, l. c. . Wie richtig Erasmus geſehen, bezeugte das darauf folgende Jahr 1525 mit ſeinem blutigen Bauernaufſtand. Und ſo konnte er denn mit Recht 1528 an Melanchthon ſchreiben: Hätte doch Luther mit gleichem Eifer die Gelegenheit zum Aufruhr gemieden und zu guten Sitten aufgefordert, wie er heftig war in der Verteidigung der Dogmen. Der Kurfürſt Friedrich von Sachſen hatte dasſelbe ſchon früh - zeitig erkannt und es nicht unterlaſſen in ſeinem Schreiben an ſeinen Bruder, den Herzog Johann von Sachſen, datiert Worms, 8. April 1521 zu melden: es läßt ſich allent - halben genug zum Aufruhr an, wahrlich an viel Enden, ſo gehn unſere Sachen hier langſam von ſtatten. Die Rede iſt, ſeine Majeſtät ginge bald weg von hier2)Cf. Förſtemann, p. 14..

Den unzweideutigſten Beweis von dem aufrühreriſchen Treiben Martin Luthers geben uns ſeine eigenen Worte und Werke. Was zunächſt die geiſtliche Obrigkeit betrifft, ſo iſt es kaum glaublich, mit welch rohen, beſchimpfenden und ungewohnten Ausdrücken er um ſich wirft, wenn er von dem Papſte oder von den Biſchöfen redet, zu deren Vertilgung er einladet.

Er nannte das Kirchenoberhaupt den Antichriſt, den Teufel, ſodomitiſche Grundſuppe, Papſteſel, Teufelskopf, Ratten - könig, hölliſcher Vater zu Rom ꝛc. und hofft mit ſeinem9 Schwanengeſang das Papſttum vom Teufel geſtiftet , ihm den Todesſtoß zu geben; das Papſttum zu vertilgen hielt er für das beſte Werk. Er ſchreibt: Danach ſollte man ihn ſelbſt, den Papſt, Cardinäl und was ſeiner Abgötterei und päpſt - lichen Heiligkeit Geſinde iſt, nehmen und ihnen als Gottes - läſteren die Zungen hinten zum Hals herausreißen und an den Galgen annageln an der Reihe her1)Erlanger Ausgabe 1830, Bd. 26, S. 155..

Ferner: So wir Diebe mit Strang, Mörder mit Schwert, Ketzer mit Feuer ſtrafen, warum greifen wir nicht vielmehr dieſe ſchädlichen Lehrer des Verderbens, dieſe Kar - dinäle, die Päpſte, Biſchöfe und das ganze Geſchwürm der Römiſchen Sodoma, mit allen Arten von Waffen an und waſchen unſere Hände in ihrem Blute, als die wir beide uns und unſere Nachkommen aus dem allergrößten und allerge - fährlichſten Feuer gern wollten erretten2)Opera lat. var. arg. ed. Erlang. H. Schmidt. 1865 II. p. 107.. Von demſelben äſthetiſchen und feinen Geſchmack, der den Reformator aus - zeichnete, waren die Epitheta ornantia, mit welchen er die weltlichen Obrigkeiten, Kaiſer und Fürſten, auszeichnete, wenn er beiſpielsweiſe den Kaiſer einen Madenſack, die Fürſten tolle, thörichte, unſinnige, raſende, wahnſinnige Narren nannte. Die Anhänger Luthers von heute haben die Derbheit und Roheit, welche in den Ausdrücken Luthers zu finden iſt3)Das ärgſte im ſchmutzigen Jargon hat Luther im Schemham - phoras geliefert., entſchuldigen wollen mit dem allgemeinen Bildungszuſtande ſeines Jahrhunderts und herkömmlichen Gepflogenheit in der Sprache. Jndeſſen übertrifft darin Luther alle ſeine Zeitge - noſſen und iſt er darin weniger das Kind ſeiner Zeit, als10 vielmehr der tonangebende Lehrmeiſter ſeiner Schüler und Epigonen. Männern, wie Thümmel, Beyſchlag, Kremers, Nippold ꝛc. kann man die gleiche Entſchuldigung als Milde - rungsgrund nicht zuerkennen, wenn ſie bezüglich ihrer Sprache in die Fußtapfen Luthers eintreten und ihre Kraftausdrücke aus Luthers Sprachſchatz borgen. Daß nun die gewaltigen Hetzreden gegen weltliche und geiſtliche Obrigkeiten, wie ſie Luther ſo viele Jahre hindurch geübt hat, zum Aufruhr und Störung der kirchlichen und weltlichen Ordnung führen müſſe, war ihm ſelbſt nicht unbekannt. So ſchrieb er z. B. an Spalatin: Jch beſchöre Dich, wenn Du richtig vom Evangelium denkſt, ſo glaube doch nicht, daß die Sache könne getrieben werden ohne Tumult, Skandal und Aufruhr. Auch Melanchthon war derſelben Überzeugung. Er ſchreibt: Der engliſche Tyrann (Heinrich VIII. ) hat getötet und Ehe - bruch getrieben. Wie richtig heißt es doch in der Tra - gödie: Kein angenehmeres Opfer kann Gott dargebracht werde als das eines Tyrannen. Möge doch Gott irgend einem tapferen Mann dieſen Geiſt eingeben1)Janſſen, Geſchichte des deutſchen Volkes, Bd. III. p. 435 (13. Auflage.). Denn die Freiheit, die das Evangelium gewähre, beziehe ſich auf jeg - liches Geſetz, wie Luther meinte und das ſei der wahre Triumph des Evangeliums, daß man durch dasſelbe ſelig werde ohne gute Werke, ohne Gehorſam gegen göttliche und menſchliche Geſetze und trotz aller Sünden und Laſter; es genüge das Deckmäntelchen vom Glauben allein. Niemals ſeit die Welt beſteht, iſt ein ſo vollkommener Ablaß von Sün - den gewährt worden, als durch Martin Luther2)Kein Wunder, daß Luther mehr Zulauf hatte und mehr An - hang fand als Tetzel; dieſer verlangte Buße und Opfer für ſeinen Ab -. Wir wer -11 den bald hören, mit welchem Erfolg dieſer Ablaß vom Volke gebraucht wurde. Zum Belege für das Geſagte berufen wir uns auf folgende Stelle aus ſeiner Kirchenpoſtille1)2. Predigt am 3. Sonntag nach Trinit. p. 30.:

Wir ſollen ſo hoch geſetzt und gefeiert ſein durch Chriſtum und ſeine Taufe, daß unſer Gewiſſen von keinem Geſetz wiſſe, daß uns nicht anders zu Mute ſei als ſei nie kein Geſetz auf Erden gekommen, weder zehn noch ein Gebot, weder Gottes noch Papſtes oder Kaiſers, ſondern allezeit in Freiheit ſtehen, daß wir ſagen können: ich weiß von keinem Geſetz und will auch von keinem wiſſen. Denn in dem Stand und Weſen, wo - durch wir Chriſten werden, da hören unſere und aller Menſchen Werke auf, alſo auch aller Geſetze.

Dieſes Thema wird vom Reformator in ausführlicher Weiſe erörtert in ſeiner demagogiſchen Flugſchrift von der Freiheit eines Chriſtenmenſchen . Darin heißt es z. B.: Wir ſehen alſo, daß an dem Glauben ein Chriſtenmenſch genug hat; er bedarf keines Werkes, daß er fromm ſei; be - darf er denn keines Werkes mehr, ſo iſt er gewiß entbunden von allen Geboten und Geſetzen. Jſt er entbunden, ſo iſt er gewißlich frei. Das iſt die chriſtliche Freiheit2)Luthers Werke, Erlanger Ausg. Bd. 27 p. 181..

Zu welchen Conſequenzen dieſe Theorie führen mußte, ergiebt ſich aus einem Schreiben Luthers an Melanchthon 1521, worin es heißt: Sei Du ein Sünder und ſündige tapfer, aber glaube tapferer und freue Dich in Chriſto, welcher Sieger iſt über Sünde, Tod und Welt. Geſündigt muß2); Luther gab ihn gratis! Denn ſchreibt der ſchwediſche Biſchof von Upſala, Viele unter der evangeliſchen Freiheit gaben ſich Mühe, die günſtige Gelegenheit, ungeſtraft ſündigen zu können, recht gut zu benutzen. Döllinger, II. 680.12 werden, ſo lange wir hier ſind .... Es genügt, daß wir das Lamm anerkennen, welches die Sünden der Welt trägt. Von dieſem wird uns keine Sünde losreißen, wenn wir auch tauſendmal und aber tauſendmal an einem Tag Hurerei treiben oder Mord begehen. Hältſt Du denn ſo gering den Er - löſungspreis, welcher bezahlt worden iſt für unſere Sünden in einem ſo vorzüglichen Lamme (in tanto et tali agno)1)Luther an Melanchthon 1521, bei de Wette, Bd. 2. p. 37.?

Wie klingt das ſo unglaublich befremdend in den Ohren eines Chriſten! Der heil. Paulus erklärt den Chriſten: Das iſt der Wille Gottes eure Heiligung, daß ihr euch enthaltet der Unzucht2)I. Theſſ. III. 4.. Und Luther achtet das nicht, da er doch an - geblich ein Reformator ſein will!

Dieſen öffentlich bekannten Grundſätzen entſprechen auch die Handlungen und Unternehmungen unſeres Reformators. Luther fand Geſinnungsgenoſſen, welche die Welt verbeſſern wollten auf dem Wege des Umſturzes. Schon gleich bei ſeinem erſten Auftreten ſchloßen ſich ihm an der bekannte Ullrich von Hutten und Franz von Sickingen. Erſterer war von dem Geiſte beſeelt wie die ſpätern Jako - biner und verkündete damals ſchon das Loſungswort: Es lebe die Freiheit, gleich den fortgeſchrittenſten Anarchiſten und Revolutionären unſeres Jahrhunderts. Sickingen ſtand an der Spitze der rheiniſchen und fränkiſchen Ritterſchaft, deren Programm auf eine Umwandlung der beſtehenden Reichs - verfaſſung hinauslief. Sie wollten das Joch der faſt bis zur Souveränität emporgeſtiegenen Landesherrn, der Fürſten und Reichsſtände, abſchütteln und waren geneigt, um dieſen Preis das geſchwächte Anſehen der geſunkenen kaiſerlichen Macht zu erhöhen. Mit dieſen Umſtürzlern trat Luther in13 enge Verbindung. Er empfing von Hutten am 4. Juni 1520 ein Schreiben, welches mit den Worten begann: Es lebe die Freiheit! .... Wenn Du dort für die Dinge, welche Du mit gleich großem Geiſt und Mut unternimmſt, Hinder - niſſe findeſt, ſo nehme ich den innigſten Anteil daran. Auch ich arbeite hier nach meinem Vermögen. Chriſtus ſei mit uns und ſtehe uns bei .... Sollte man Gewalt brauchen wollen, ſo hoffe ich, daß ich ihnen nicht bloß gleiche, ſondern größere Kräfte entgegenſetzen könne; ſei Du nur ſtark und wanke nicht. Wiſſe nur, daß Du auf alle Fälle und in allen Nöten mich zu Deinem Gehülfen haben wirſt. Du kannſt mir da - her alle Anſchläge ins künftige ſicher anvertrauen. Laßt uns die gemeine Freiheit retten und unſer lang unterdrücktes Vaterland erlöſen.

Das war die Sprache des Revolutionärs. Als der Kurfürſt von Mainz Huttens Bücher und ähnliche verboten hatte, ſchrieb Luther einem Freunde: Darunter verſteht er gewiß die meinigen. Wenn er mich aber namentlich ſo behandeln ſollte, dann werde ich meinen Geiſt mit Hutten verbinden, daß der Mainzer Biſchof keine Freude daran haben ſoll1)Hiſt. -polit. Bläter Bd. IV, p. 472 ss. . Dieſe Verbindung hatte die Folge, daß Luther alle Furcht und Beſorgnis wegen ſeiner Perſon, die er früher oftmals hegte, fallen ließ. Er ſchreibt an Spalatin: Sil - veſter von Schauenberg und Franz von Sickingen haben mich von der Menſchenfurcht befreit. Dieſes Bewußtſein, ſolche Beſchützer zu haben, bewog ihn zu dem Geſtändnis, daß er bereit ſei gegebenen Falles ſelbſt den Fürſten zu trotzen, unter deren Vormundſchaft er ſich nicht frei genug fühlte. Jch ſchicke hierbei, ſo ſchreibt er an denſelben Spalatin14 am 10. Juli, 1520 den Brief des fränkiſchen Ritters Sil - veſter von Schauenburg. Und wollte wohl, daß in des Fürſten Brief an den Cardinal St. Georgi daran gedacht würde, daß ſie wüßten, daß wenn ſie mich gleich mit ihrem Bann von Wittenberg verjagten, ſie doch nichts ausrichten würden, als daß ihre böſe Sache noch ſchlimmer werde, weil nun nicht in Böhmen, ſondern mitten in Deutſchland Leute ſind, die mich, wenn ich vertrieben, ſchützen können und wollen, ihnen zu Trotz wider alle Donnerſtrahlen. Da ſie denn zu befahren haben, daß ich unter ſolchen Beſchützern ſicher grimmiger auf die römiſchen Leute losziehen werde, als wenn ich unter des Fürſten Herr - ſchaft im öffentlichen Lehramte ſtritte. Welches unfehlbar, wo Gott nicht wehret, geſchehen wird. Den Fürſten1)Kurfürſt Friedrich von Sachſen. aber, den ich zeither, obſchon heftig erbittert, immer noch geſcheuet habe, dürfte ich alsdann nicht mehr ſcheuen. Darum ſollt ihr wiſſen, was ich ihnen noch nicht angethan oder zugefügt, ſei nicht meiner Beſcheidenheit, oder ihrer Tyrannei und Verdienſten, ſon - dern der Ehrerbietung vor des Fürſten Namen und Anſehen und der gemeinen Sache der Studenten auf der Univerſität zuzuſchreiben2)Hiſtor. -polit. Blätter. Bd IV, p. 483..

Unmittelbar nach dem Reichstage zu Worms ſollten die Waffen ergriffen werden. Der Kampf iſt beſchloſſen, ſo ſchreibt Hutten an Eoban Heß, kann ich nicht Führer ſein, will ich Soldat ſein. Jch werde feſt bleiben, wenn auch hier und da Freunde abfallen. Viel haben bisher meine Schriften gewirkt, aber jetzt iſt es Zeit, zu den Waffen zu greifen. Schon erhalte ich ſie. Und ich werde von dem Beginnen nicht abſtehen. Entweder will ich lebend dem Vaterland die15 Freiheit erkämpfen, wo nicht, will ich als freier Mann ſterben. Sickingen wird uns unterſtützen und der geſamte Adel; dann wird Rom zu Grunde gehen, Chriſtus hergeſtellt werden und die Freiheit der Rede und des Gedankens1) Der Geiſt der Reformation und ſeine Gegenſätze von Dr. Karl Hagen, Erlangen 1844, II. Bd. S. 56. Der Verfaſſer iſt der Meinung, daß die proteſtantiſche Kirche etwas ganz anderes iſt, als die Refor - mation. Jene iſt durch Abgrenzung in neue Dogmen, durch Unduld - ſamkeit, Verketzerungsſucht u. ſ. w., ſchon in dem 3. Decenium des 16. Jahrhunderts von dem Prinzip der Reformation abgefallen, ſo daß ſie in ſpäterer Zeit kaum mehr auf den Namen der Reformation Anſpruch machen kann. Hingegen die ächt reformatoriſchen Jdeen wurden von den ketzeriſchen Sekten und Parteien vertreten. Vorrede III. Bd. S. 8.. Man glaubt ſich ins Jahr 1793 verſetzt, wenn man dies ließt. Eine der heftigſten Brandſchriften, welche zur Revolution auf - forderten, hatte den Titel: Schlüſſel Davids.

Der unglückliche Ausgang des revolutionären Putſches Ullrichs von Hutten und Sickingens gegen den Kurfürſten von Trier 1523 und Sickingens Tod bei der Eroberung ſeiner Feſte Landſtuhl laſſen Luther eine Schwenkung machen, indem er ſich von 1526 an ganz in die Arme der Landes - fürſten warf, und zur Rettung ſeines begonnenen aber be - drohten Werkes dieſe mit der kirchlichen Jurisdiktionsgewalt betraute, die er dem Papſte und Biſchöfen abgenommen hatte. Er übertrug die biſchöfliche Jurisdiktion den Landesfürſten und machte ſie zu Herren der neuen Kirche, welche als kleine Päpſte, nicht nach dem kanoniſchen Rechte, ſondern nach fürſt - licher Laune und Willkür über die Gewiſſen herrſchten. Vor Jahren hatte er erklärt durch die Lehre vom allgemeinen Prieſtertum, jeder, der aus der Taufe kröche, ſei Papſt, Biſchof und Prieſter. Jetzt, im Drange der Not, ließ er die Laien nur noch Prieſter, die Fürſten aber Biſchöfe ſein. Der16 heidniſche Cäſareopapismus, welchen Chriſtus verworfen hatte, (Matth. XXII, 21) wurde durch Luther wieder ſanktioniert. Das hauptſächlichſte Motiv hierzu lieferte ihm der blutige Ausgang des Bauernkrieges.

Der Bauernſtand befand ſich bei Beginn des XVI. Jahr - hunderts in einer ſehr gedrückten Lage. Jn dem vorherrſchend feudal angelegten Staatsweſen hatte der Bauer keine politiſchen Rechte, wohl aber ſchwere ökonomiſche Laſten, ſo daß eine allge - meine Unzufriedenheit in dieſem Stande nicht überraſchen konnte. Bei dieſer Mißſtimmung hörten die Bauern Luthers Evangelium von der Freiheit eines Chriſtenmenſchen und von der Aufhebung aller Geſetze. Alsbald machten ſich die Bauern das zu Nutzen und ſtellten allenthalben ihre 12 Artikeln auf, worin ſie nicht nur religiöſe Freiheit, ſondern auch politiſche und ſoziale Rechte begehrten. Sie beriefen ſich bei ihren Forderungen auf Luthers Autorität, ſie hatten ja vernommen, daß man die Hände waſchen ſolle im Blute der Tyrannen. Auch hatte Luther erklärt, es wäre beſſer, daß alle Biſchöfe auf einmal umkämen, daß alle Kollegiatkirchen und alle Klöſter zerſtört und von Grund aus umgeſtürzt würden, als daß eine Seele verloren ginge. Was begegnet ihnen billiger denn ein ſtarker Aufruhr, der ſie von der Welt ausrotte. Und deſſen wäre nur zu lachen, wenn es geſchehe. Ferner: alle die dazu thun, Leib, Gut, Ehr daran zu ſetzen, daß die Bistum zer - ſtört und der Biſchöfe Regiment vertilgt werde, das ſind liebe Gotteskinder und rechte Chriſten. Bei ſolchen Aufforderungen, welche noch, wie Bodmann1)Rheingauiſche Altertümer I, 419. angiebt, Luther durch Emiſſäre, die er z. B. in den Rheingau ſchickte, den Bauern predigen ließ, iſt es kein Wunder, wenn die Bauern rebellierten17 und namentlich gegen die geiſtlichen Fürſten zu den Waffen griffen. So entſtand der blutige, von ſchrecklichen Verwüſt - ungen begleitete Bauernaufſtand, der 100 000 Menſchenleben koſtete. Die Zeitgenoſſen erklärten ihn als eine Frucht der luthe - riſchen Lehre, worüber Luther ſelbſt bittere Klage führt. Heutzutage wird uns alles Unglück beigemeſſen, das in der Welt geſchieht, und wir leiden daher die allerempfindlichſte Schmach und Vorwurf. Hätte er das Papſttum zufrieden gelaſſen, ſo ſprechen ſie, wären vielleicht nicht ſoviele Ketzer aufgeſtanden, vielleicht wäre auch der Bauernaufſtand nicht geſchehen. Aber an wem liegt die Schuld? Wenn ſie von uns ausgehen, ſo geht es niemals ohne Tumult ab; Thomas Münzer war unter uns. Da er aber wollte klug ſein und von uns ausging, wurde er ein Anſtifter des Auf - ruhrs, und ſeine Spiesgeſellen kamen in dieſe Stadt (Witten - berg) und ſetzten alles in Unruhe. Wenn die Buben mit einem neuen Evangelium kommen, ſo muß ſolches Unglück daraus folgen. Jch ſehe dieſes Unglück und ſeufze darüber1)Luthers Werke. Hall. IX, 961. Cf. K. A. Menzel, Neuere Geſch. der Deutſchen I, 214.. Luthers Urteil war nur zu wahr, aber er dachte nicht daran, daß er ſelbſt mit einem neuen Evangelium von der Kirche ausge - gangen war.

Ein Bericht des Geſandten Balth. Wolf von Wolfenthal an den Kurfürſten von Sachſen, datirt Wörth den 5. Mai 1525, meldet, daß die Bauern dem Pfalzgrafen, Kurfürſten, den Biſchöfen von Bamberg, Würzburg und Eichſtädt, Städte und Flecken eingenommen und zum Teil verbrannt hätten. Sie mißbrauchen das hl. Evangelium ſchändlich. Es geht dann Martin Luther faſt übel; er wirdDiefenbach, Reformation oder Revolution? 218ſcheußlich gemartert (durch Vorwürfe) und doch ohne Grund. Denn er lehrt das nicht. Es iſt unter der Welt in all dieſen Landen ſo viel Graus und Schrecken, wie kein Menſch auf Erden erdenken mag1)Förſtemann, p. 227. .

Seine Mitſchuld am Bauernaufſtand wurde von allen einſichtsvollen und unparteiiſchen Männern geglaubt, wie denn Herzog Georg von dieſer Überzeugung in einer Jnſtruktion an ſeine Vertreter bei Herzog Johann von Sachſen 1524 zu erkennen giebt2)daſ. p. 250.. Darin macht er die Prediger zu Alſtedt, zu Schneeberg, zu Buchholz als Aufwiegler des Volkes ver - antwortlich, welche im Schatten des Evangeliums Ungehorſam, Krieg, Blutvergießen der Unterthanen wider ihre Fürſten er - regen. Desgleichen wurde am Neckar eine nicht geringe Anzahl von Prädikanten hingerichtet, welche bei aufſtändiſchen Bauern als Heerprediger gewirkt hatten. Der Prädikant Herold, welcher als Chroniſt den Bauernkrieg beſchrieben, den - ſelben in eigener Perſon mitgemacht hatte, geſteht, daß die Bauern ſich ihres kiſtenfegiſchen Evangeliums gerühmt hätten. Ferner, daß ſie alle Büberei unter dem Schein des Evan - geliums verübt hätten, indem eine unerhörte Empörung des gemeinen Mannes wider ihre Herrſchaften ſich ergeben habe. Jm Rottenburgiſchen hatte ein Prediger die zwölf Artikel von der chriſtlichen Freiheit aufgeſetzt. Die öſterreichiſche Regie - rung in Würtemberg konſtatierte: es ſei leider offenbar, wie aller Unterthanen Gemüter gegen ihre Obrigkeiten aufgebracht ſei und ſowohl durch die lutheriſche Phantaſie, Jrrſal und Unterweiſung, als auch ohne dieſe zu Unruhen und Wider - willen geneigt ſeien, unterm angemaßten evangeliſchen Schein19 der Freiheit, die Bürde des Gehorſams abzulegen1)Buchholz, Geſch. Ferdinands I. Cf. Ranke, Deutſche Geſchichte im Zeitalter der Reformation, p. 189 und 195, betr. der evange - liſchen Brüderſchaft der Bauern .. Ähnlich urteilt Georg von Sachſen in einem Schreiben an Landgraf Philipp von Heſſen, der ihn zur Rüſtung aufgefordert hatte: er habe ſchon lange ſeine Unterthanen aufgeboten, wozu ihn die ſchnellen Zeitläuften bewegt hätten, ſo ſich jetzt im Ober - land von der Bauernſchaft, die ſich chriſtliche Verſammlung nennen, ereignen. Dazu die Prediger, die das lutheriſche Evangelium ſo lauter und klar gepredigt, daß man es hätte greifen mögen, daß es die Früchte, die jetzt klar vor Augen liegen, hätte bringen müſſen2)Hiſtor. -polit. Blätter. VI, p. 449 454..

Wie ein Brandſtifter am beſten ſeine Unſchuld zu er - weiſen glaubt, wenn er am lauteſten zum Löſchen des Feuers aufruft und dabei mitwirkt, ſo machte es Luther. Als der Aufſtand ein ſo unerwartet klägliches Ende nahm, richtete er nunmehr ſeinen ganzen Zorn gegen die wütigen und auf - rühreriſchen Bauern. Ähnlich hatte er es mit Hutten und Sickingen nach ihrer Niederlage gemacht. Wie aus einem Briefe Melanchthons an Oswald Ulianus, 24. Auguſt 1523, erhellt, machte er den Verſuch, Hutten von den Rockſchößen Luthers abzuſchütteln, als ob ſie beide ſeinen Wahnſinn gebilligt hätten3)Dr. Karl Hagen, III, 68.! Jetzt erließ er eine Schrift wider die mör - deriſchen und aufrühreriſchen Rotten der Bauern , worin er die Obrigkeiten auffordert, ohne Geduld und Barmherzigkeit zu würgen und zu ſtechen, öffentlich oder heimlich, wer immer kann, und bedenken, daß es nichts Giftigeres, Schädlicheres, Teufleriſches ſein kann als ein aufrühreriſcher Menſch. Gleich -2*20wie man einen tollen Hund totſchlagen muß; ſchlägſt du nicht, ſo ſchlägt er dich und dein ganzes Land mit dir1)Janſſen, Geſch. des deutſchen Volkes. II, 536..

Nach dieſen traurigen Erfahrungen, welche Luther mit ſeinem demokratiſchen Religionsſyſtem, gegründet auf freie Forſchung und Verwerfung jeglicher Autorität, in den Jahren 1520 bis 1526 gemacht hatte (Aufſtand der Reichsritterſchaft und Bauern - ſchaft), ſah er keine andere Rettung gegenüber der Hydra der Sektiererei als die Appellation an das brachium saecu - lare, an die fürſtliche Gewalt. Nun erklärte er die Fürſten zu Beſchützern und Anwälten des neuen Evangeliums oder, wie ſich die Prediger am liebſten ausdrücken, als Säug - ammen der jungen Kirche. Ein Widerſtreben gegen die chriſtliche Obrigkeit in Sachen des Glaubens wird jetzt zum Hauptverbrechen gemacht, welches mit der Todesſtrafe zu be - legen iſt. Auf dieſen codex hin wird Thomas Münzer mit ſeinem Anhang hingerichtet, desgleichen die Anführer der Wider - täufer in Münſter, und es kommt zu der reaktionärſten und freiheitsmörderiſchen Formel des Staatsrechtes cuius regio, eius religio . Doch welche Jnkonſequenz auf Seiten der proteſtantiſchen Fürſten und Luthers, ihres Propheten! Was gegen ihr Evangelium als todeswürdiges Verbrechen galt, desſelben machten ſie ſich ſelber ſchuldig gegen den Kaiſer, der gleichmäßig als Beſchirmer und Beſchützer der katholiſchen Religion zum Schutze der Kirchengeſetze eidlich verpflichtet war. Bei gleichen Rechtstiteln ungleiche Folgerungen: die lutheriſchen Fürſten wurden nach unten Tyrannen und nach oben Revolutionäre. Die angebliche Gewiſſensfreiheit des neuen Evangeliums wurde in Gewiſſenstyrannei verwandelt, ſeitdem 1554 auf der Verſammlung lutheriſcher Theologen21 zu Naumburg die kirchliche Jurisdiktion der weltlichen Fürſten anerkannt, und auf dem Reichstag zu Augsburg 1555 den Landesherren die Freiheit des Gewiſſens allein als Monopol zugeſprochen wurde, mit dem Rechte, die Unter - thanen zur Annahme ihrer Religion zwingen zu dürfen, ſo daß z. B. die Pfalz par ordre du Mufti in kurzer Zeit jene fünfmal wechſeln mußte. Als Aufrührer proteſtierten ſie 1529 gegen den Reichstagsabſchied von Speier, ſchloſſen 1531 den Schmalkaldiſchen Bund im Widerſpruch gegen die Reichs - verfaſſung, verſammelten ſich 1538 zu Zerbſt und zu Braun - ſchweig, um eine Geſandtſchaft an den König von Frankreich zu ſenden und ein Bündniß mit ihm wider den Kaiſer abzu - ſchließen, griffen 1546 zu den Waffen und verbündeten ſich durch Moriz von Sachſen 1551 mit dem Könige Heinrich von Frankreich, der erſte Landesverrat, wodurch dem deutſchen Reiche die Bistümer Metz, Toul und Verdun entriſſen wur - den. Mit gleichen landesverräteriſchen Praktiken gingen vor die proteſtantiſchen Stände in Böhmen und Bayern, in Nieder - und Ober-Öſterreich, in Steiermark, welche mit den aufſtän - diſchen Ungarn unter Bethlen Gabor und ſelbſt mit den Tür - ken in Verbindung traten gegen ihren Landesherrn. Niemals iſt der angeblich jeſuitiſche Grundſatz: Der Zweck heiligt die Mittel ſo unverfroren und ungeſcheut zur Anwendung ge - kommen als in dem erſten Jahrhundert der Reformation von ſeiten proteſtantiſcher Reichsſtände1)Die Reichsſtadt Frankfurt wollte kaiſertreu| erſcheinen |und unter - zeichnete weder die Speyerer Proteſtation und die Augsburger Konfeſ - ſion, noch nahm ſie teil am Schmalkaldner Bund. Cf. Dr. E. Trom - mershauſen, Beitrag zur Geſchichte des landesherrlichen Kirchenregi - ments. Frankfurt 1897. S. 24 und 25.. Niemals hat Deutſch - land eine ſo große Zahl vaterlandsloſer Geſellen verzeichnen22 können als damals. Auch die Empörung der proteſtantiſchen Stände in Böhmen 1618 gegen ihren König und Herrn, deſſen Abſetzung ſowie die Ausrufung des reformierten Kur - fürſten Friedrich von der Pfalz zum Könige von Böhmen, bildet nur einen Ring in dieſer langen Kette revolutionärer Beſtrebungen unter dem Deckmantel der Religion und Ge - wiſſensfreiheit. Der heil. Petrus hat ſchon vor Menſchen gewarnt, welche die Freiheit als Deckmantel ihrer Bosheit gebrauchen (I Petr. 2, 16). Dazu hat dieſes Wort zur Re - formationszeit dienen müſſen. Wenn dabei auch an die ſog. Gewiſſensfreiheit appelliert wurde, ſo iſt zu bedenken, daß es auch falſche Gewiſſen giebt, die ebenſo wenig taugen, wie gefälſchte Bibeln. Man liebt es aber in unſerer Zeit, das Gewiſſen zu fälſchen, indem man ihm eine nationale Farbe giebt und mit Pathos von einem deutſchen Ge - wiſſen ſpricht, als ob es einen Nationalgott (etwa Teut), gäbe, der durch dasſelbe rede! Es müßte denn auch däniſche, engliſche, franzöſiſche, ſelbſt ruſſiſche und chineſiſche Gewiſſen geben! Vielleicht kommen die Herren vom Evangeliſchen Bund noch dazu, eine internationale Ausſtellung der Gewiſſen zu machen!

Es kann nach allem von niemanden, der die fünf geſunden Sinne hat, bezweifelt werden, daß die Reformation in ihrem Weſen nichts anderes als eine Revolution war. Dieſem Ur - teile pflichten auch bedeutende Männer proteſtantiſcherſeits unbedenklich bei. Der berühmte proteſtantiſche Staatsmann Guizot erklärte 1828 unumwunden: Die Kriſis des 16. Jahr - hunderts war keineswegs ein bloß reformatoriſcher Akt, ſon - dern ein weſentlich revolutionärer, und es iſt unmöglich, ihr dieſen Charakter zu nehmen. Ferner ſagt S. G. Droyſen in ſeiner Geſchichte der preußiſchen Politik über die Refor -23 mation 1)II. Band, p. 160.: Es hat nie eine Revolution gegeben, die tiefer aufgewühlt, furchtbarer zerſtört, unerbittlicher gerichtet hätte. Wie mit einem Schlage war alles gelöſt und alles in Frage geſtellt; zuerſt in Gedanken der Menſchen, dann in reißend ſchneller Folge in den Zuſtänden, in aller Zucht und Ord - nung. Alles Geiſtliche und Weltliche zugleich war aus den Fugen, chaotiſch. Ein ähnliches Urteil wiederholt Droyſen in der Einleitung zu ſeinem Werke: Guſtav-Adolf von Schwe - den. Jn gleicher Weiſe läßt ſich der proteſtantiſche Pro - feſſor Dr. C. von Weizſäcker in Tübingen hören: Nur apo - logetiſche Befangenheit kann dieſe Frage (ob die Reformation revolutionär geweſen) ohne weiteres verneinen2)Göttinger Gelehrten-Anzeiger 1881. p. 846.. Es iſt eine Unwahrheit, ſo läßt ſich der Rechtsgelehrte Julius von Kirchmann hören, wenn man Luthers Werk als eine Refor - mation bezeichnet; er kann trotz ſeiner guten Abſicht nicht als ein Reformator, ſondern als ein Devaſtator der Kirche gelten3) Die Reform der evangeliſchen Kirche. Berlin 1876.. Zu gleichem Urteil gelangt der Philoſoph Hegel: Die Hauptrevolution, ſagt er, iſt in der lutheriſchen Reformation eingetreten4)Geſch. d. Philoſophie. Bd. III, p. 258.. Ganz ſachgemäß und unanfecht - bar erſcheint deshalb die Beurteilung, welche der däniſche Stiftspropſt K. Hanſen5)Hanſen, Sind wir noch Lutheraner? Kopenhagen 1885. p. 9 10, 13, 86. der Reformation giebt. Er ſagt: Ein Umſturz alles Beſtehenden und eine Auflöſung aller ererbten Verhältniſſe iſt eine Revolution, und was in der erſten Hälfte des 16. Jahrhunderts geſchah, ſamt deſſen Veranlaſſung und Folge iſt nicht weniger eine Revolution,24 als was ſich am Ende des 18. Jahrhunderts zutrug ...... Der Umſturz aller Autorität, die Auflöſung und Ver - flachung aller Verhältniſſe, die Verwerfung und Ver - höhnung alles Überlieferten, die Verletzung des Eigen - tumsrechts, die Plünderungsſucht und Raubgier, das öffent - liche Verleumden und Verdammen, die Geringſchätzung des Jndividuums unter Vergötterung der Menge, die zügelloſe Tyrannei einzelner, welche es verſtanden, die Leidenſchaften zu benutzen und Gewaltthaten unter der Maske der Gerech - tigkeit zu verbergen : alles das charakteriſiert in gleicher Weiſe die Reformation und die Revolution; nur wird es bei der Revolution ſtärker hervorgehoben. Ja, man kann ſagen, die Revolution war nur dadurch möglich, daß die Prin - zipien, welche die Reformation ausgeſäet hatte, allmählich in Europa zur Geltung kamen. ...... Ein Reformator war Luther alſo nicht, er war in des Wortes eigentlichſter Bedeutung ein Revolutionär, und in ihm iſt die Revolution geboren. Und wie alle Revolutionäre, übte er auf geiſtigem Gebiete dieſelbe Tyran - nei, gegen welche er ſich erhoben hatte.

Als fernere Zeugen für unſere Theſe, daß die Refor - mation in ihrem Weſen eine Revolution war, dürfen wir kühn Adolf Menzel in die Schranken rufen. Seine Neuere Geſchichte der Deutſchen von der Reformation bis zur Bundesrolle , Breslau 1828, iſt nur ein aktenmäßiger Nachweis von der titanenhaften Thätigkeit Luthers und ſeiner Anhänger zum politiſchen und kirchlichen Umſturz des deutſchen Staatsweſens, wie es aus dem Mittelalter heraus ſich ge - bildet hatte. Die unparteiiſche und objektive Schilderung der Vorgänge in der Reformationszeit hatte ihm auf Seiten ſeiner Konfeſſionsgenoſſen viel herben Tadel zugezogen. 25 Wer aus ſüßen Träumen erweckt, muß auf mürriſche Ge - ſichter gefaßt ſein. Aber trotzdem behauptet der Tag ſeine Rechte, und wie verdrießlich im Schlummer Geſtörte ſich die Augen reiben, ſie gewöhnen ſich doch endlich an das Sonnen - licht, ſo rechtfertigt ſich der Verfaſſer1)Vorrede zum II. Bd., S. III u. IV. . Er hat aber darin ſich geirrt. Die Herren vom Evangeliſchen Bunde gleichen den Eulen, die ſich nicht an das Sonnenlicht wagen, weil ſie dasſelbe nicht vertragen können. Menzel mußte es hören, daß man ihn des Kryptokatholizismus verdächtigte.

Zum Schluß erteilen wir einem neueren proteſtantiſchen Hiſtoriker das Wort.

Wilhelm Mauerbrecher beurteilt die Reformation in ſeinen Studien und Skizzen 2)Studien und Skizzen zur Geſchichte der Reformation, S. 287. mit gefliſſentlicher Objek - tivität und Unparteilichkeit. Nach ſeiner Anſchauung wollte Luther die ganze Kirche, wie ſie ſeit Jahrhunderten beſtanden, über den Haufen werfen. Jndem Luther das Gemeinde - prinzip als Baſis der Kirche proklamierte und das Prieſter - tum aller gläubigen Chriſten dem Prieſterſtande der mittel - alterlichen Kirche entgegenſtellte, griff er den geſamten Zu - ſtand der Kirche bis in die Wurzeln an. .... Nach zwei Seiten hin äußerte ſich Luthers Kirchenprinzip: negativ war es der Widerſpruch gegen die allgemeine kirchliche Ordnung, wie ſie durch die Jahrhunderte des Mittelalters ſich gebildet hatte; poſitiv aber mußte es zu dem Verſuch führen, einer Neuge - ſtaltung und Neueinrichtung der kirchlichen Verhältniſſe und Beziehungen auf der Grundlage des neuen Gedankens. Dieſe neuen Gedanken haben ſich aber nicht verwirklicht. Luthers Reformation hat vielmehr ganz andere Früchte getragen. Da26 ſind die proteſtantiſchen Landeskirchen , mit all dem Un - gebühr und all dem Elend, wie es Döllinger einmal ſo draſtiſch geſchildert hat1)Hiſt. -Pol. Blätter XVI, S. 386..

Einer ähnlichen Beurteilung der Reformation begegnet man noch bei vielen anderen proteſtantiſchen Hiſtorikern, ſo daß man ſie als die allgemeine bezeichnen darf. Wenn es nun einigen Theologen in den Sinn kommt, dagegen zu pro - teſtieren, daß der Papſt das nämliche ſagt, was hunderte vor ihm geſagt haben, dann richten hunderte von Proteſten eines Dr. Barkhauſen und Kollegen nichts aus; vielmehr wird klar, daß auch jetzt, wie ehemals in Leipzig, es heißt: Hier walt die Sucht, nämlich die Zank - und Streitſucht, welche als ein Erbgut, oder als eine Erbſünde aus der Reformations - zeit übergegangen iſt auf die neuere Zeit.

Nein, die Weltgeſchichte iſt das Weltgericht! Sie hat konſtatiert, daß Luther wegen ſeiner Oppoſition gegen die Reichsgeſetze und gegen Kaiſerliches Mandat als Reichs - feind behandelt und in die Reichsacht 1520 erklärt wurde. Da gilt keine Berufung auf die Apoſtel. Dieſe haben ihr Mandat von Chriſtus. Von wem hatte es Luther? Chriſtus iſt ihm nicht erſchienen, als er in der Wüſte, in ſeinem Patmos, auf der Wartburg war. Aber vom Beſuche eines anderen wußte er zu erzählen, vom Satan, den er nicht, wie Chriſtus es gethan, fortgeſchickt, ſondern mit dem er dis - putiert hat bis aufs äußerſte, von welchem Rencontre der Tintenfleck noch Jahrhunderte lang Zeugnis gab2)Eine Preisfrage für moderne rationaliſtiſche Prediger, welche die perſönliche Exiſtenz des Satans leugnen: Hat Luther hierin Un - wahrheit bezeugt, oder litt er an Hallucinationen? !

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II. War die Reformation wirklich eine Verbeſſerung?

I. Es iſt ein bekannter Satz: veritas odium parit. Niemals iſt derſelbe ſo offenkundig hervorgetreten als in der Geſchichte Jeſu. Oderunt me gratis, ſprach der Heiland und doch war er die ewige Wahrheit ſelbſt, gepaart mit gött - licher Liebe und Güte. Er hatte das Verbrechen begangen, den Schriftgelehrten und Phariſäern die Wahrheit zu ſagen; er apoſtrophierte ſie mit den Worten: Wenn ich euch die Wahrheit ſage, warum glaubt ihr mir nicht? Jene aber wollten beſſer wiſſen, was Wahrheit ſei, indem ſie ſich auf die hl. Schrift beriefen, die ſie aber falſch auslegten. Als auch Stephanus ihnen die Wahrheit verkündete, hielten ſie ſich die Ohren zu.

Heutzutage iſt das Oberhaupt der katholiſchen Kirche der vornehmſte Gegenſtand des Haſſes aller Feinde und Gegner der Kirche, auch wenn er keinem derſelben irgendwie das geringſte Übel gethan hat. Oderunt me gratis kann auch der Papſt von ſeinen Gegnern ſagen: ſie haſſen mich grund - los. Niemand hat dieſen Haß ſo ſehr genährt und befördert als Martin Luther. Seine Schriften wimmeln von Läſte - rungen und Beſchimpfungen gegen das Oberhaupt der Kirche, aber er wünſchte, daß auch die Seinigen in dieſem Haſſe einig ſeien. Deshalb ſein Segensſpruch: Deus vos impleat odio Papae, ( Gott erfülle euch mit Haß gegen den Papſt ) welchen er beim Abſchiede den in Schmalkalden verſammelten lutheriſchen Fürſten zurief1)Fr. Mayeri diss. de voto Lutheri: Deus vos impleat cr. Hamburg 1699.. Gott, der nur ein Gott der Liebe28 iſt; Chriſtus, der es als das erſte und größte Gebot bezeichnet hat, den Nächſten zu lieben, auch dann, wenn er Gegner und Feind iſt, wird hier angerufen und gebeten, Chriſten mit Haß zu erfüllen gegen Mitchriſten: nein, das iſt unevange - liſch, unchriſtlich und gottesläſterlich, um nicht mehr zu ſagen. So hat ſich Chriſtus von den Seinigen nicht verabſchiedet, ſondern mit den Worten: Ein neues Gebot hab ich euch gegeben, daß ihr einander liebet , und das Wort hinzugefügt: Daran will ich euch als meine Jünger erkennen, wenn ihr einander liebet. Mit jener Aufforderung zum Haſſe hat Luther jedes Merkmals, jeden Anſpruches auf den Titel eines Reformators ſich begeben; er hat vielmehr eine giftige Drachen - ſaat geſät, die bis heute verderbenbringend fortwuchert.

Jſt es nun vielleicht zu viel geſagt, wenn Papſt Leo XIII. in dieſem Sinne, wie es bereits Karl V. gethan, die Lehre Luthers mit einem Gifte vergleicht? Hat doch dasſelbe auch Luther von der Lehre der katholiſchen Kirche geſagt! Jn einem Schreiben an Spalatin vom 31. Juli 1520 behauptet er: Wenn nicht jene ſakrilegiſche Jurisdiktion (der Biſchöfe) zu Boden liegt, wer kann dann das päpſtliche Gift fern - halten? Ebenſo haben die Päpſte, wie Karl V., Luthers Lehre auch als eine Peſt bezeichnet; darüber zetern eben - falls ſeine Anhänger und halten dies für eine Beſchimpfung.

Allein, was wollen die Gegner einwenden, wenn Luther ſelbſt Geſchmack an dieſem Ausdruck gefunden, ihn für ſich gewählt und in einem echten Hexameter verewigt hat?

Vivens eram pestis, moriens ero mors tua, Papa d. h. Lebend war ich dir Peſt; mein Tod, Papſt, bringt dir das Ende.

Man hat dieſen Ausſpruch |als eine Weisſagung Lutheri anſehen wollen, und deshalb kein Bedenken getragen,29 denſelben auf ſeinen Grabſtein zu ſetzen, ja noch mehr, das Bild dieſes Grabſteines ſamt dem Bilde Luthers mit dem - ſelben Verſe einer lutheriſchen Bibel einzuverleiben! Dieſe anmaßende Prophezie: Einſt im Leben Dir Peſt, werd ich ſein Dein Ende im Grabe.

Kein Proteſtant kann es den Katholiken demnach übel - nehmen wollen, wenn dieſer das Evangelium Luthers als eine Peſt bezeichnet. Luther ſelbſt hat dieſen Titel ſich zur Ehre gerechnet mit ſichtbarem Stolze.

Jn der in Frage ſtehenden Nürnberger Bibelausgabe Luthers, welche mit vielen Holzſchnitten und ſechs figurierten Titelblättern geſchmückt iſt, befindet ſich alſo Luthers Bildnis, wie es in Wittenberg auf ſeinem Grabdenkmal dargeſtellt worden iſt. Darunter ein Epigramm von H. Oſius.

Haec erat effigies operose facta Luthero,
Possit ut ad cineres ejus habere locum
1)Gedruckt und verlegt durch Joh. Andreä ſel. Söhne. Ohne Jahreszahl.
1).
Das war das Bild mit Fleiß Luther errichtet,
Damit es ſeinen Platz finde an deſſen Grabe.

Zu welchen Albernheiten indes Luthers Anhänger geneigt waren, dafür liefert dieſelbe Bibelausgabe auf einem der Titel - bilder einen intereſſanten Beweis. Mit großer Vorliebe haben die Prediger2)Ditrich zu Ulm in ſeiner Traumpredigt 1625. im XVI. und XVII. Jahrhundert ein Märchen auf die Kanzel gebracht und verwertet, des Jnhaltes, daß Kurfürſt Friedrich von Sachſen in der Nacht vor dem Theſen - Anſchlag Luthers dreimal denſelben wunderbaren Traum ge - habt habe. Er ſah nämlich, wie ein Mönch mit einer wun - derbaren Rieſenfeder eifrig ſchrieb, die ſo groß war, daß ſie30 von Wittenberg bis Rom reichte und das Ohr des Papſtes ſo gewaltig kitzelte, daß ihm vor Schrecken die Tiara vom Haupte fiel. Dieſe Titelbilder ſind ſo angelegt, daß links die Vorbilder im A. T. und rechts deren Erfüllung im N. T. dargeſtellt ſind, die entſprechenden Bibeltexte ſind darunter an - gegeben und zwar unter jenem mit der Rieſenfeder, dem Mönche und dem Papſte, II Theſſ. 2., und auf dem andern gegenüberſtehenden II Petr. 2, 4. Der Text redet bei Pau - lus im Theſſalonicher-Brief vom Menſchen der Sünde, vom Sohne des Verderbens, der ſich überhebt über alles, was Gott heißt oder göttlich verehrt wird, ſo daß er ſich in den Tempel Gottes ſetzt und für Gott ausgiebt; den der Herr Jeſus töten wird mit dem Hauch ſeines Mundes und zu nichte machen wird durch den Glanz ſeiner Ankunft. Der Apoſtel ſpricht hier vom Antichriſt.

Der Text dagegen bei II Petr. 2, 4 lautet: Gott hat die gefallenen Engel nicht geſchont, ſondern in den Abgrund der Hölle geſtürzt und der Pein übergeben. Mit beſonderem Nachdrucke wurde der Papſt in Luthers Mund zum Antichriſt gemacht, indem er das Papſttum ſelbſt vom Teufel geſtiftet ſein ließ. Um dieſe Theſis zu ſtützen, berief er ſich auf die Nähe des jüngſten Tages und hat mit dieſer Weisſagung ebenſowenig Glück, wie mit jener von den Wir - kungen und Folgen ſeines Todes. Doch, darf man hier fragen, war es kein ſchändlicher Mißbrauch, die heilige Schrift dafür zu verwenden, um ſolchen Jrrtum und Aber - glauben unter dem Volke zu kolportieren? Nein, der Zweck heiligte die Mittel ſchon, ehe noch Jeſuiten exiſtierten, denen man dieſen Grundſatz fälſchlich imputiert hat.

Den Ausdruck Reformation und Reformator hat Luther nicht erſt ſelbſt erfunden, um denſelben ſich beizulegen,31 ſondern dieſer war bereits während hundert Jahren im Munde aller Chriſten, die ſeit dem traurigen Schisma in der Chriſtenheit eine reformatio in capite et in membris, eine Reformation im Haupt und in den Gliedern, verlangten. Es ſtand dieſe Forderung ſchon auf der Tagesordnung der Konzilien von Konſtanz und Baſel. Allein weder Konzils - väter, noch andere eifrige Chriſten waren der Meinung, daß man die Lehre Jeſu oder die chriſtliche Religion reformieren dürfe, da doch St. Paulus geſagt hatte: wenn ein Engel vom Himmel käme, ein anderes Evangelium brächte, als ich es verkünde, der ſei verflucht1)Gal. 1, 8..

Dieſe Männer hielten an dem Grundſatze feſt, welchen der Auguſtiner-General Ägidius von Viterbo auf dem V. Laterankonzil 1512 mit den Worten fixirt hatte: Homines per sacra immutari fas est, non sacra per homines2) Die Menſchen ſind zu reformiren, nicht die Religion . Hefele, Konziliengeſchichte VIII p. 472. Denſelben Gedanken wiederholten in neuerer Zeit der däniſche Biſchof Hanſen, jetzt Konvertit, in ſeiner Schrift: Wo iſt die Gemeinde , und vor ihm der berühmte Niels Stenſen: Ein richtiger Reformator macht ſich nicht an die Lehre, ſondern an das Leben. Stimmen aus M. -L. 1888, III, 373.. Der einzig wahre Reformator des Menſchengeſchlechtes war Chriſtus; die durch den Sündenfall in Jrrtum geratenen Menſchen richtete er auf durch drei Faktoren: durch den Glauben, das Sittengeſetz und die Sakramente. Als Säule und Träger dieſer Heilsmittel errichtete und beſtimmte er die ſichtbare Kirche. Luther aber, dem blinden Samſon gleich, ſtürzte dieſe Säule um und brachte die ganze Heilanſtalt zum Falle. Wohl hatte der Heiland den Glauben als Bedingung zur Seligkeit proklamiert: Gehet hin und lehret; wer da glaubt und ſich taufen läßt, wird ſelig; wer aber nicht glaubt,32 der wird verdammt werden1)Mark., 16, 16.. Ebenſo beſtimmt erklärt er aber: Willſt Du zum Leben eingehen, ſo halte die Ge - bote2)Math. 17, 17.. Als der reiche Jüngling fragt, was er thun müſſe um ſelig zu werden, läßt er ihn die zehn Gebote herſagen und fügt dann hinzu: Thue das, ſo wirſt du leben3)Luk. 1, 25 27.. Des - gleichen erklärt er, daß die Menſchen gerichtet werden nach ihren Werken4)Math. 16, 27.. Ebenſo beſtimmt verweiſt er die Gläubigen an die Kirche: Wer euch höret, der höret mich; wer euch verachtet, der verachtet mich5)Luk. 10, 16.. Wer die Kirche nicht hört, ſei Dir wie ein Heide und öffentlicher Sünder6)Math. 18, 17.. Demgemäß ſtellt die chriſtliche Religion nach ihrer Grundlegung durch Chriſtus drei Seiten dar: 1. eine theoretiſche durch die Lehre und den Glauben; 2. eine praktiſche Seite durch die Moral und das ſittliche Leben; 3. eine ſoziale Seite durch die Verbindung des Jndividuums mit der Geſamtheit, welche eine Körperſchaft bildet, von der er ein Glied iſt, indem nach der Darſtellung des heil. Paulus7)I Cor. XII, 12, 14. Epl. V, 30. alle Gläubigen einen Körper bilden, von dem Chriſtus das Haupt iſt. Die Glieder ſind aber nach demſelben Apoſtel miteinander verbunden durch einen Gott, einen Glauben und eine Taufe . An dieſer von Chriſtus gegebenen Ordnung nahm Luther zwei weſent - liche Änderungen vor, indem er die praktiſche Seite des ſitt - lichen Lebens als überflüſſig zur Gewinnung des Heiles be - zeichnete. Die ſoziale Seite hob er gänzlich auf durch die Beſeitigung der Auktorität und der korporativen Organiſation. Das Jndividuum erklärte er frei und unabhängig von allen anderen, wodurch die chriſtliche Geſellſchaft in Atome aufge -33 löſt wurde. Nur eine Auktorität ließ er gelten, und zwar die der heiligen Schrift. Dadurch aber, daß er jedem Chriſten das Recht und die Pflicht zuerkannte, über den Lehrinhalt der heiligen Schrift zu urteilen bezw. ſie auszulegen, hebt er ihre Auktorität wieder auf, weil die heilige Schrift nicht über, ſondern unter ihrem Richter ſteht. Durch eine ſolche Ver - bindung von Freiheit und Auktorität geriet er in einen circulus vitiosus, in eine Sackgaſſe! Dieſe Thatſache wird in einem bekannten Diſtichon zum Ausdruck gebracht, welches als Motto auf dem Titelblatte einer Bibel niedergeſchrieben war:

Hic liber est, in quo quisquis sua dogmata quaerit, Quaerit et invenit dogmata quisque sua.

D. h.: dies iſt das Buch, worin ein jeglicher ſucht ſeinen Glauben; ſucht er und findet fürwahr alles, was er ſchon glaubt.

Durch die Außerkursſetzung der chriſtlichen Moral als Bedingung zur Seligkeit hatte Luther der Jmmoralität Thür und Thor geöffnet. Er erzielte keine Reformation der Menſch - heit, ſondern eine Deformation; keine Regeneration, ſondern eine Degeneration. Wir werden die Beweiſe für dieſes Fak - tum bald vernehmen. Zum Glücke haben ſeine Nachfolger beim Anblicke des Sittenverderbniſſes auf Remedur geſonnen und in drei Etappen dem großen Unheil abzuhelfen geſucht. Der erſte Schritt geſchah zu Bergen bei Magdeburg 1580 durch Aufrichtung der ſog. Conkordienformel, laut wel - cher die guten Werke wieder in ihr Recht eingeſetzt wurden, doch nicht als notwendige Mittel zur Seligkeit, ſondern als notwendige Mittel zur Bewährung des Glaubens und als von Gott gegebenes Gebot. Dann folgte zweitens die Reaktion gegen das Fundament der lutheriſchen Lehre, gegen die Theorie von der Sola-Fides-Gerechtigkeit. Es geſchah dieſes durchDiefenbach, Reformation oder Revolution? 334den ſog. Pietismus, durch Spener, Lange, Gerhardt, Arndt u. ſ. w. Jn dieſer Zeit, ſagt Dorner, in welcher Kalixt und Spener wirkten, beſann ſich die proteſtantiſche Kirche (!), giebt das Glaubensgezänk auf, fängt an auf chriſtliche Hoff - nung und Liebe Wert zu legen. Der Mittelpunkt dieſer re - formierenden Richtung war die Univerſität Halle. Spener ließ 1684 ſein Werk Klagen über das verdorbene Chri - ſtentum erſcheinen. War bis dahin nur ein bloß theore - tiſches Glaubensleben (welches Dorner als das ſcholaſtiſche bezeichnet) bekannt, ſo wollte Spener ihm ein entgegengeſetztes praktiſches Chriſtentum folgen laſſen1)Dorner, Geſch. der proteſtantiſchen Theologie, S. 628.. Der Pietismus ver - warf die lutheriſche justificatio forensis, die äußere Zurech - nung von Chriſti Gerechtigkeit; er verlangt eine innere Ge - rechtigkeit, die in einer Regeneration des Menſchen beſtehe, welcher die vocatio, d. h. der Ruf der Gnade von Gott vorausgehe2)Dorner läßt es nur als einen Schein gelten, als ob das Werk der Reformation bezw. deren Wirkungen ein Chaos, eine Auflöſung aller Einheit geweſen wäre! Darin irrt er, wie uns die Gegenwart vom Gegenteil überzeugt. Nur eine negative Einheit iſt vorhanden: der gemeinſame Haß gegen Rom..

Die dritten Verſuche, eine ſichtbare Kirche herzuſtellen, ſind oftmals im Laufe der Zeit gemacht worden, jedoch immer fehlgeſchlagen. Wie kann man eine ſichtbare Kirche bilden wollen, wenn hierzu jede Berechtigung und alle Vorausſetzungen fehlen? Die Befreiung von der Auktorität der Kirche war ja Luthers erſte und wichtigſte That. Eine Kirche bilden wollen, heißt das nicht Luther korrigieren und ſein Werk diskreditieren? Es bleibt alſo dieſe Aufgabe eine permanente Siſyphus-Arbeit. Ein ebenſo unbefriedigendes Reſultat kann in Luthers Kardinal -35 ſatz von der Bibel als alleiniger Glaubensquelle mit Verwer - fung der Tradition gefunden werden. Wie die Bibel, ſo hatte er auch das Symbolum apoſtolicum als Glaubensregel aner - kannt, obſchon in letzterem der Glaube an die eine heilige, katholiſche Kirche ſeinen Ausdruck gefunden hat. Hierbei unterlief ihm der merkwürdige Jrrtum, zu überſehen, daß die heilige Schrift und das Symbolum apoſtolicum ſelbſt aus der Tradition hervorgegangen ſind! Von dem apoſtoliſchen Glaubensbekenntnis iſt der Nachweis geliefert, daß es direkt von den Apoſteln nicht verfaßt iſt. Von den Schriften des Neuen Teſtaments iſt ebenſowenig, ohne die Tradition, nachzuweiſen, daß ſie von den Apoſteln ſtammen; ſämtliche Originale fehlen. Nicht ein Satz läßt ſich finden mit der Handſchrift eines Petrus, Paulus, Lukas u. ſ. w. Alles, was wir davon haben, ſind ſpätere Kopieen. Wie iſt es nun möglich, den Beweis zu führen, daß die Bücher des Neuen Teſtaments von den Autoren ſtammen, deren Namen ſie tra - gen? Das kann nur geſchehen mit Hilfe der Tradition und der Kirche1)Scharfſinnige Denker, wie Leibniz und Leſſing, haben die Uner - läßlichkeit und volle Berechtigung der kirchlichen Tradition anerkannt.! Nachdem aber Luther dieſe verworfen, hatte er ſowohl die heilige Schrift als auch das Apoſtolicum in ihrem Fundamente erſchüttert. Wenn deshalb unter den Pro - teſtanten ſowohl das Symbolum apoſtolicum wie die heilige Schrift an ihrer Auktorität viel verloren haben, dann iſt dies die unabwendbare Konſequenz von Luthers irrigem Syſtem! Er hatte den Aſt abgeſägt, auf dem er ſaß! So wahr iſt es, was der heil. Paulus ſagt, die Kirche iſt Säule und Grundveſte der Wahrheit2)I Tim. 3, 15., nicht die Bibel. Wenn dieſe3 *36die einzige Quelle des Glaubens wäre, dann hätte die Kirche 100 Jahre lang dieſe Quelle entbehrt, da erſt 100 Jahre nach Chriſti Geburt die Bibel vollendet war. Sie konnte nicht das Fundament der Kirche ſein, da Chriſtus lange vor ihrer Entſtehung die Kirche vollendet hatte. Sie konnte auch nicht als Glaubensregel für die Chriſten dienen, da die Bibel, bis zur Erfindung der Buchdruckerkunſt, nur im Beſitze weniger gelehrter und bemittelter Männer war. Hundert Jahre früher hätte deshalb Luthers Bibel - theorie ſich als eine Chimäre erwieſen und keinen Anklang gefunden.

Gelegentlich ſei hier auf die gleiche Schwierigkeit für die Proteſtanten aufmerkſam gemacht bezüglich des Charakters der heiligen Schrift als Wort Gottes , d. h. bezüglich ihrer Jnſpiration. Dafür bietet die Schrift ſelbſt nicht die genü - gende Garantie, ſonſt könnten die Bücher des Confutſe, des Buddha, des Koran und die Apokryphen des Chriſten - tums, die gleiche Geltung in Anſpruch nehmen. Nur die Auktorität der Kirche verbürgt uns die Jnſpiration der Schrift und ihrer Geltung als Wort Gottes. Es iſt ein gewohntes und beliebtes Steckenpferd des Herrn Paſtors Thümmel, die Katholiken der Götzendienerei zu beſchuldigen, weil ſie ein Stücklein gebackenen Brotes als Gott anbeteten. Mit welchem Rechte kann derſelbe aber die heilige Schrift als Wort Gottes ausgeben, da die Bücher derſelben nur von Menſchen geſchrieben ſind? Wenn, obſchon Menſchen die Verfaſſer ſind, der Jnhalt doch Gottes Wort iſt, dann kann er keinen gerechten Vorwand finden, die Gegenwart Chriſti zu leugnen, und uns der Götzendienerei zu beſchuldigen. Er glaubt, daß in der Schrift Gottes Wort ſei; wir Katholiken glauben, daß in der heiligen Hoſtie Chriſti Leib ſei. Thümmel37 fälſcht die katholiſche Lehre, indem er ſagt: das Brot würde in Gott verwandelt. Das iſt unmöglich auch in unſeren Augen. Nein, es wird in den Leib Chriſti verwandelt, und das iſt möglich, weil es beim letzten Abendmahl auch geſchah, und weil bei Gott kein Ding unmöglich iſt . Wir könnten ihm mit gleichem Rechte Götzendienerei vorwerfen, weil er Menſchen - wort für Gotteswort ausgiebt! Selbſt angenommen, der Katholik irre, weil Chriſtus in der heiligen Hoſtie nicht zu - gegen ſei, ſo iſt er trotzdem kein Götzendiener; denn ſeine Anbetung gilt nicht dem Brote, ſondern Chriſto. Es wäre Hochverrat und ein Majeſtätsverbrechen, wollte jemand eine andere Perſon als Monarchen anerkennen und ihm huldigen als dem rechtmäßig regierenden Könige. Falls nun eine Schildwache in der Perſon des Monarchen ſich irrte und dem Miniſter als dem vermeintlichen Monarchen präſen - tierte und die vorgeſchriebenen Honneurs machte, ſo würde ſich kein Richter finden, der ihn deswegen des Hochverrats für ſchuldig erklären würde!

Jn gleicher Weiſe würde auch der Katholik kein Götzen - diener ſein, wenn er im allerheiligſten Altarſakramente den Heiland anbetete, der nicht vorhanden wäre: ein Jrrtum wäre es, aber keine Sünde. Wozu alſo dieſe verletzenden, nach Form und Jnhalt ganz unchriſtlichen Beſchimpfungen des Glaubens der katholiſchen Chriſten von einem Manne, der ein evangeliſcher Chriſt zu ſein ſich rühmt?

2. Nachdem wir dieſes vorausgeſchickt haben, um den That - beſtand feſtzuſtellen, wollen wir zur Vernehmung der Zeugen übergehen. Zur Beurteilung liegt die Frage vor: hat Luther die Menſchen reformiert, d. h. verbeſſert, oder nicht?

Unter der großen Zahl von Zeugen kann keiner mehr Anſpruch auf Glaubwürdigkeit machen als der Reformator38 ſelber, der gewiß nicht gern etwas Ungünſtiges über ſich ſagen wird. Der Reformator ſchreibt: Unſere Wider - ſacher können uns nicht höher ſchelten und ſpotten, denn daß wir viel Gutes predigen und hören, aber doch niemand weiter kommt, und niemand danach thut und ſich davon beſſert, ja daß wir ärger werden, denn wir zuvor geweſen ſind, darum (ſagen ſie) wäre es beſſer, daß es bliebe, wie es vorhin ge - weſen1)Kirchenpoſtille, Walch XII 1158..

Schon im Jahre 1522, alſo fünf Jahre nach der Ein - führung des neuen Evangeliums ſchreibt Luther: Nichts iſt mir jetzt widerwärtiger, als dieſer unſer großer Haufe, der mit Hintanſetzung des Wortes, des Glaubens und der Liebe nur darum ſich rühmt, chriſtlich und evangeliſch zu ſein, weil er an Faſttagen Fleiſch eſſen, das Abendmahl unter bei - den Geſtalten empfangen, das Faſten und das Gebet unter - laſſen kann2)Epp. Aurif. II, f. 50 A. An ihren Früchten ſollt ihr ſie erkennen , ſprach Chriſtus.. Ein anderes Mal geſteht der Reformator: Solches iſt ein groß Ärgernis daß auf unſerem Teil auch viel Ärgernis des Lebens und wenig Beſſerung befunden wird. Solches macht dem heiligen Evangelium die Nachrede, daß weltweiſe Leute ſagen: Wenn es eine heilige, ſelige Lehre wäre, ſo würden die Leute daraus ſich beſſern und frömmer werden3)Hauspoſtille, Walch, Ausgabe XIII, 2550.. Ferner ſchreibt derſelbe: Jch halte, es müſſe alſo ſein, daß die, ſo evangeliſch werden, ärger ſind nach dem Evangelio, als ſie geweſen ſind. Wir erfahren’s leider täglich, daß die Leute jetzt unter dem Evangelium größern und härteren Haß tragen, ärger ſind mit Geizen, Scharren, Kratzen, denn zuvor unter dem Papſttum4)Hauspoſtille, XIII, 2193, 2195.. Lies der Pa -39 piſten Bücher, höre ihre Predigten, ſo wirſt du finden, daß dies ihr einziger Grund iſt, worauf ſie ſtehen, wider uns pochen und trotzen, da ſie vorgeben, es ſei nichts Gutes aus unſerer Lehre gekommen. Denn alsbald da unſer Evange - lium ausging und ſich hören ließ, folgte der greuliche Auf - ruhr, es erhuben ſich in der Kirche Spaltung und Sekten, es ward Ehrbarkeit, Disziplin und Zucht zerrüttet und jeder - mann wollte vogelfrei ſein und thun, was ihm gelüſtet, nach allem ſeinem Mutwillen und Gefallen, als wären alle Ge - ſetze, Rechte und Ordnung gar aufgehoben; wie es denn lei - der allzuwahr iſt. Denn der Mutwille in allen Ständen, mit allerlei Laſtern, Sünden und Schanden, iſt jetzt viel größer denn zuvor, da die Leute, und ſonderlich der Pöbel, doch etlichermaßen in Furcht und Zaum gehalten wurden, welches nun wie ein zaumloſes Pferd lebt und thut alles, was es nur gelüſtet, ohne allen Scheu. Denn es verachtet der Kirchen Bande, dadurch es zuvor gehalten ward, und mißbraucht dazu die Nachläſſigkeit weltlicher Obrigkeit1)Ausleg. d. 2. Pſalms, Walch V, 114..

Später klagt Luther: Da erſtlich das Evangelium bei uns aufging, war die Zeit noch erträglich genug, weil aber jetzt und faſt keine Gottesfurcht mehr iſt und ſich Schande und Laſter täglich mehren, alſo daß auch falſche Lehren dazu - kommen, hat man ſich nichts gewiſſeres zu verſehen, denn daß es dahin kommen wird, daß, nachdem unſere Sünden reif geworden ſind, entweder die Welt gar über einen Haufen gehen oder auf andere Gelegenheit Deutſchland wird ge - ſtraft werden2)Ausleg. des I. Buch. Moſ. Walch 382..

Aber die Klagen des Reformators häufen ſich. All40 ſein (Chriſti) Amt und Werk iſt das, daß er uns täglich Sünde und Tod ausziehe, ſeine Heiligkeit und Leben uns anziehe.

Dieſe Predigt nun ſollte man billig mit großen Freuden annehmen und danach auch fromm ſein. So kehrt es ſich leider um, und die Welt wird aus dieſer Lehre nun je länger, je ärger. Das iſt der leidige Teufel ſelbſt. Wie man ſieht, daß die Leute jetztund geiziger, unbarmherziger, unzüchtiger, frecher und ärger ſind, denn zuvor unterm Papſttum1)Hauspoſtille, Walch XIII, 19..

Die Polemik Luthers gegen die guten Werke trug gleich - falls ihre Früchte. Das zeigen wiederholte Klagen in den Schriften des Reformators .

Jm Papſttum thaten die Leute jene närriſchen und unnützen Werke ohne Zahl viel mit großer Luſt, Willen, Fleiß, Andacht und ſchweren Unkoſten. Jn unſeren Kirchen aber, da die wahre Lehre von den guten Werken aufs allerfleißigſte getrieben wird, ſind die Leute ſo faul und unfleißig Gutes zu thun, daß nicht zu ſagen iſt. Je mehr ſie ermahnt wer - den Gutes zu thun, ſich untereinander zu lieben, die Bauch - ſorge fahren zu laſſen u. ſ. w., je kälter und fauler ſie werden zu alledem, womit ſie ihren Glauben und chriſtlichen Wandel üben und beweiſen ſollen2)Erkl. d. Br. an die Gal. Walch VIII, 2689..

Sobald ſie von der Freiheit gehört haben, wiſſen ſie ſich bald darauf zu berufen und zu ſagen: Bin ich frei, ſo mag ich thun, was ich will; mag das meine verkaufen, ſo teuer als ich will; item werden wir nicht ſelig um unſerer guten Werke willen, warum ſollte ich dem Dürftigen Almoſen geben? Und wenn ſie gleich mit Worten ſolches nicht ſagen,41 ſo beweiſen ſie es doch durch die That. Solche machen ihr Fleiſch ohne alle Scheu frei, daß es keinem Geſetze unter - worfen ſein, noch dienen ſoll, und machen aus der geiſtlichen Freiheit eine zügelloſe Freiheit des Geiſtes.

Sie ſind ſiebenmal ärger unter dem Namen der Freiheit, denn ſie unter das Papſtes Tyran - nei geweſen ſind1)Erkl. d. Br. a. d. Gal. Walch VIII, 2683..

Zuvor da man dem Teufel diente im Papſttum, da war jedermann barmherzig und milde, da gab man mit beiden Händen, fröhlich und mit großer Andacht den falſchen Gottes - dienſt zu erhalten. Jetzt, da man billig ſollte milde ſein, gerne geben und ſich dankbar erzeigen gegen Gott und das hl. Evangelium, will jedermann verderben und Hungers ſterben, niemand nichts geben, ſondern nur nehmen. Zuvor konnte eine jegliche Stadt, danach ſie groß war, etliche Klöſter reich - lich ernähren, will geſchweigen der Meßpfaffen und reichen Stifte; jetzt, wenn man nur zwei oder drei Perſonen, die Gottes Wort predigen, Sakramente reichen, Kranke beſuchen und tröſten, die Jugend ehrlich und chriſtlich unterweiſen, in einer Stadt ernähren ſoll und doch nicht vom eigenen, ſondern fremden Gut, das vom Papſttum her überblieben iſt, das iſt jedermann zu ſchwer2)Kirchenpoſtille Walch XI, 1758..

Weil ſie von den Banden und Stricken des Papſttums ſich los und ledig fühlen, wollen ſie auch des Evangelii und aller Gebote Gottes ledig und los ſein und ſoll nun forthin gut und recht ſein, was ſie gelüſtet und gut dünkt3)Ausleg. des Ev. Joh. Walch XIV, 164, 195. Cf. Hammer - ſtein, Katholizismus und Proteſtantismus, S. 60 68..

42

Beſtürzt über ſolch traurige und niederſchlagende Wahr - nehmungen ſuchte Luther nach Erklärungsgründen für dieſe unerwarteten Erſcheinungen. Er machte ſich die Sache leicht, indem er dieſelben dem Einfluſſe des Teufels zuſchrieb. Dieſer, erboſt über das Licht des neuen Evangeliums , räche ſich dadurch, daß er alles aufbiete den Menſchen das Evan - gelium zu verleiden. Da Luther zugleich die Schwarmgeiſter und falſchen Propheten, die er ſelbſt mit Feuer, Schwert und Scheiterhaufen hätte ausfegen mögen, in ſo großer Zahl als ſeine Widerſacher ſich erheben ſah, wollte er daraus das nahe bevorſtehende Weltende erkennen. Er, wie die Pre - diger der folgenden Periode, finden ein ergiebiges Thema für ihre Predigten, um den baldigen Untergang der Welt voraus - zuſagen. Ähnlich wie Falb in unſeren Tagen, demonſtrierte Pfarrer J. W. Groſſe 1629 in einer Schrift1)Zu Leipzig gedruckt.: Ehren - rettung des ſeligen Martin Luther, daß dieſer ein Dutzend Prophezeiungen gegeben habe, die ſich teilweiſe erfüllt hätten, worin er das Weltende als bald bevorſtehend vorausſagte. Doch kann er nicht umhin einzugeſtehen, daß man ſich darüber luſtig mache, wie man denn ſpottweiſe von einer ſolchen Prophezeiung aufs Jahr 1588 im Volksmunde ſagte:

Anno achtzig und acht
Jſt das Jahr, das ich betracht;
Geht in dem die Welt nicht unter,
Geſchieht doch ſonſt ein merklich Wunder.

Ein Doktor J. Wigand predigt über den jüngſten Tag. Ambroſius Taurerus2)Jn ſeiner Schrift: Ausrufer. hat 40 Anzeigen vom Ende der Welt; das ein und dreißigſte lautet:

43
Kein Lieb noch Glaub iſt in der Welt,
Ein jeder ſpricht: Hätt ich nur Geld !
Das iſt ein Zeichen vom End der Welt.

Das achtunddreißigſte Zeichen findet er darin, daß die Menſchen täglich ärger werden, wie wohl ſie Chriſten ſein wollen, während die Geiſtlichen (wohl bezeichnet) ſich ihren eigenen Turm zu Babel bauen wollten.

Drum:

Bosheit, Sünde, Laſter und Schand,
Nehmen jetzt ſo allüberall überhand,
Keine Beſſerung zu hoffen iſt,
Bis daß Du kommſt, Herr Jeſu Chriſt.

Das vierzigſte Anzeichen findet er in der Analogie der Gegenwart mit den Zeiten Noe’s und der Sintflut. Habe doch der heilige Luther zu ſeiner Zeit geſagt, daß Sodoma und Gomorrha nicht den zehnten Teil ſo bös geweſen ſei als Deutſchland; was würde er erſt ſagen, wenn er deſſen durch - teufelten Zuſtand erſt jetzt ſehen würde? Die Konſequenz, die er daraus zieht:

Die Zeichen werden lügen nicht.
Chriſtus wird bald kommen zum Gericht.

Aus der Reihe der Zeitgenoſſen Luthers, welche als Augenzeugen über das allgemeine Sittenverderben Klage führen, können wir nur wenige citieren; denn ihre Zahl iſt zu groß.

Erasmus fand in dieſen Wahrnehmungen die Urſache, ſich von der Sache Luthers zu trennen. Derſelbe ſpricht in einem Sendſchreiben1) Wider diejenigen, die ſich fälſchlich rühmen, Evangeliſche zu ſein. Jn Opera Erasm. T. X, 1578 1580. an G. Geldenhauer 1526 ſich dahin aus: Menſchenſatzungen werden jetzt mit anderen menſch - lichen, oder vielmehr unmenſchlichen Satzungen vertauſcht. 44Nur der Name hat ſich geändert; denn man nennt ſie jetzt Gotteswort . So entſchlagen ſich des Menſchenjoches die, die unter dem neuen Evangelium den Nacken beugen. Wahrlich, ich beſorge vielmehr, daß die meiſten ſtatt eines ſchweren Menſchenjoches das ſchwerere des Satans tragen. Welche Aufſtände erregt von Zeit zu Zeit jenes evangeliſche Volk? Wie oft greift es wegen der geringfügigſten Ur - ſachen zu den Waffen? Nicht einmal ihren eigenen Geiſtlichen gehorchen ſie, wenn ſie nicht ihren Ohren ſchmeicheln, vielmehr müſſen dieſe gewärtigen, ſofort weggejagt zu werden, wenn ſie mit einigem Freimut das Leben ihrer Zuhörer tadeln. .... Und während ſie niemanden lieben als ſich, während ſie weder Gott, noch den Biſchöfen, noch den Fürſten und Obrigkeiten gehorchen, während ſie dem Mammon, dem Bauche und der ſchnöden Luſt fröhnen, wollen ſie für evan - geliſch gehalten ſein und berufen ſich auf Luther als ihren Lehrer und Meiſter. Luther aber predigt überall den Glauben, und wo iſt er? Wir ſehen bei den meiſten, nur Werke des Fleiſches, keine Spur des Geiſtes. Was haben ſie alſo mit ihrem Luther?

Vielleicht iſt es bloß mein Unglück, daß ich noch keinen kennen gelernt habe, der mir nicht ſchlechter als vorher ge - worden zu ſein ſcheint.

Georg Wizel, ein anfangs treuer Anhänger Luthers, dann Konvertit, giebt als Urſache ſeiner Rückkehr die Ver - wüſtungen des neuen Evangeliums an. Die Neuheit der Sache hatte mich angetrieben, beſonders der Beifall bei Gelehrten; abgeſtoßeu hat mich der ſchändliche Zuſtand der Kirche. Am meiſten hatte mich eingeladen die ſichere Hoffnung, daß alles werde beſſer werden. Aber, be - kennt er in einem Schreiben von 1533, ich habe gefunden,45 daß die lutheriſche Sekte nicht die allgemeine Kirche, ſowie wir die katholiſche nennen, ſondern ein Schisma, d. i. ein Spalt aus derſelben iſt, neulich entſtanden, gleich etlichen hun - derten ſeit Chriſti Geburt. ........ Zum vierten habe ich bedacht die ungeſchickten, freien fleiſchlichen bübiſchen Anhänger der Sache, die ſtarke Anzeichen ſind; fürwahr fing alſo die Kirche Gottes vor Zeiten nicht an. ........ Zum ſechſten gehen unter des Evangeliums Mantel alle Sünde und Schand im Schwunge, wie ſie ſelbſt (die Sektierer) klagen. Hilf Gott, die Kindheit dieſer Sekte iſt ſo mächtig unrein; was wollte werden, wenn ſie alt würde? Zum ſie - benten, an die Stelle der Tugend ſind eitel Laſter eingeriſſen; alſo daß bei etlichen Sünde für keine Sünde geſchätzt wird.

Derſelbe Wizel1)Ep. ad. D. C. li. 4. a. ſchrieb an einen Freund: Du, der Du das Evangelium nach den vier Evangeliſten, wie es unter Tiberius ausging, geleſen, lies doch Luthers Evangelium, welches ausging unter Karl V. Du wirſt Dich wundern und ſtaunen über die Unähnlichkeit des alten und des neuen. Jenes kam von Juden, dies von Sachſen; jenes wurde ausgebreitet durch Apoſtel, dies durch Apoſtaten. Durch des alten Evangelium göttliche Kraft wurden die Zuhörer geändert und beſſerten ſich. Durch die Süßigkeit des neuen Evangeliums aber werden die Guten ſchlecht, die Strengen ausgelaſſen, die Nüchternen Trunkenbolde, die Faſten - den Vielfreſſer, viele auch werden aus Menſchen un - vernünftige Tiere.

Auch Johann Wildenauer, genannt Silvianus Egrä - nus, anfangs Prediger in Zwickau, wandte ſich ſeit 1523 von Luther ab, obwohl Luther ihn gar hoch geachtet und ge -46 liebt hatte. Er ſchreibt1)Ein chriſtlicher Unterricht von der Gerechtigkeit des Glaubens und von guten Werken. Leipzig 1534.: Etliche Propheten zu dieſer Zeit predigen anderes nicht, noch wiſſen ſie anderes zu predigen, denn allein vom Glauben und ſagen, die Werke werden ſich von ſelbſt finden. Wie ſich aber gute Werke gefunden haben, und noch täglich finden, das iſt augenſcheinlich. Wird man noch eine Zeitlang alſo den Glauben ohne Werke predigen, was bisher geſchehen iſt, ſo wird die chriſtliche Religion zu Trümmern gehen und in einen jämmerlichen Fall kommen, und wird Sodoma und Gomorrha werden an dem Ort, da der Glaube ohne Werk gepredigt wird ........ Jch habe mich oftmals und faſt verwundert, wie man doch ſo blind und ver - meſſen iſt, und darf die Ausſprüche vom Glauben behandeln zu Nachteil der Sprüchen von den Werken, und das Wort allein mit einmengen, welches doch in der göttlichen Schrift nicht ſteht. Jch möchte gern wiſſen, warum ſolches geſchieht.

Zu den angeſehenſten Gelehrten im Reformationszeitalter zählt Willibald Pirkheimer zu Nürnberg. Anfänglich der Sache Luthers ſehr geneigt, wandte er ſich im Jahre 1527 von derſelben ab beim Anblicke der durch die neue Lehre her - beigeführten ſittlichen und religiöſen Zuſtände. Seinem Freunde Zaſius, der denſelben Standpunkt wiedergewonnen hatte, ſchreibt er2)Zasii epp. Rieger p. 505.: Jch hoffte im Anfange, daß eine gewiſſe Frei - heit, aber eine geiſtliche werde zu Teil werden. Aber es wird nun, wie man vor Augen ſieht, alles ſo zur Fleiſchesluſt verkehrt, daß die letzten Dinge viel ärger ſind als die erſten. Wenn doch meine Nürnberger einmal die Augen öffnen und ſich nicht alſo von einigen Verführern mißbrauchen laſſen! Es ſind zwar nicht alle blind, aber der größere Teil hat das47 Übergewicht, und was der ſuche, Gottes Ehre oder eigenen Nutzen, erfährt man alle Tage.

Der Raum verbietet uns, das Zeugenverhör aus dem erſten Jahrhundert fortzuſetzen. Döllingers Verdienſt beſteht vorzüglich darin, daß er in ſeiner Reformationsgeſchichte die Zeugniſſe von einigen hunderten hervorragenden Männern zuſammengeſtellt hat. Nur einer möge noch zum Worte kom - men, der ſanfte, ſchmerz - und thränenreiche Melanchthon. Seinem Buſenfreunde Camerarius ſchüttet er am offenſten ſein Herz aus. Dieſem ſchreibt er z. B.: Schon lange beängſtigen mich, wie du wohl weißt, nicht nur die wütenden Gegner, ſondern auch die vielen Sünden und Laſter der Unſern. .... Gewiſſe verborgene Übel einige der Unſern ängſtigen meine Seele in der That mehr, als was uns von den Feinden droht. Einem andern geſteht derſelbe Melanchthon: Nicht nur die Wut der Feinde, ſondern auch unſere eigenen Laſter ſchrecken mich, und oft kommt mir jene Äußerung des Perikles in den Sinn: Jch fürchte mehr unſere eigenen Vergehen, als die Anſchläge unſerer Wider - ſacher. Ferner: Wenn ich die jetzige Unordnung und bar - bariſche Verwirrung betrachte, vergehe ich vor Schmerz und Trauer.

Auch litt er an politiſchen Beklemmungen: Jch fürchte, ſchreibt er1)Corp. Ref. II. 703. Cf. Ono Klopp, Melanchthon . Verlag der Germania 1897. S. 24. dem Camerarius, die Sache läuft endlich auf eine Auflöſung des Reiches hinaus. Wenn ich das bedenke, und ich kann nicht ſagen, daß ich es jemals nicht bedenke, ſo erfaßt mich ein unſäglicher Schmerz.

Vier Jahre früher (1530) meldete er an Luther vom Augs - burger Reichstage aus: Der Stand unſerer Angelegenheiten48 hier iſt ein ſolcher, daß ich einen großen Teil der Zeit in Thränen verbringe. Mit einer Art prophetiſchen Blickes klagte er ſeinem Freunde: Das ſchmerzlichſte iſt mir zu ſehen, daß die Zwietracht für immer bei der Nachwelt haf - ten, und daß vielleicht von daher eine grauſige Barbarei und Öde aller Künſte und Wiſſenſchaften über unſere Nation kommen wird.

3. Die nächſten Folgen der Religionswirren äußerten ſich höchſt nachteilig für die Geiſteskultur des deutſchen Vol - kes in der Pflege der Wiſſenſchaften und der Studien. Luther legte nicht viel Wert auf die Wiſſenſchaften und ſpeziell auf die Philoſophie. Die Vernunft war ihm des Teufels Hure. Von den Juriſten wollte er wenig wiſſen. Die herein - drohende Barbarei, von der Melanchthon ſpricht, äußerte ſich bald auf allen deutſchen Univerſitäten. Noch ehe Janſſen - Paſtor im 7. Bande das traurige Gemälde von dem ausge - arteten Treiben der ſtudierenden Jugend auf den Univerſitäten entworfen hatte, war es der proteſtantiſche Theologe Dr. Tho - luk1)Dr. A. Tholuk, Das akademiſche Leben des 17. Jahrhunderts, mit beſonderer Berückſichtigung der proteſtantiſch-theologiſchen Fakultä - ten Deutſchlands. II. Abthlg. Halle 1854., welcher dieſe Erſcheinung in düſteren Bildern ausge - malt hat. Rückgang der Frequenz auf allen Hochſchulen; Roheit der Sitten bis zum tollſten Epicuräismus, die Duell - wut und Verachtung der chriſtlichen Religion, bildeten ihre Signatur.

Nur ein Zeuge, der die Zuſtände mit eigenen Augen ſah und ſie beklagte, möge Aufſchluß geben. Es iſt dieſes der edle und fromme Profeſſor der Theologie, S. M. Mey - fart zu Erfurt. Vor verſammelter theologiſcher Fakultät hielt er am 30. Sept. 1633 eine Feſtpredigt. Darin ſagt er:

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Wie es aber heutigen Tages bei hohen Schulen zugeht, wer will anheben, das zu ſagen, zu beklagen und zu bereuen? Fürwahr, es iſt an manchen Orten, Gott wolle ſich deſſen erbarmen, faſt an allen Orten dermaßen beſchaffen, daß es kein Wunder wäre, wenn der Himmel darüber ſchwarz würde, die Erde erbebte, die Sonne erbleichte. Die evangeliſchen Univerſitäten ziehen meiſtenteils ihrem Herrn Jeſu ſolche Botſchafter (Prediger) auf, deren ſich ſelbſt der Satan in ſeinem eigenen Reiche ſchämen würde. Fromme Chriſten leſen die Hiſtorie von den beſeſſenen Menſchen. Jch ver - ſichere, ſie werden finden, daß der Belzebub niemals ſo gräu - lich gebrüllt, ſo närriſch gehauſt und ſo viehiſch in unaus - ſprechlichen Laſtern ſich herumgewälzt habe, wie es heutzutage machen die mit Unwahrheit genannten Studenten der heiligen Schrift1) Daniel auf der königlichen Akademie zu Babylon , Feſtpredigt. Erfurt 1634. Mayfort iſt derſelbe Mann, der, wie Friedrich von Spee, die Hexenverfolgung bekämpfte. Sein chriſtlich humaner Sinn tritt dadurch recht ans Licht.!

Beſtätigt wird dieſe Schilderung durch S. Evenius in ſeinem Spiegel des Verderbniſſes allen und jeden Ständen in der wahren Chriſtenheit zur gründlichen Beſſerung und Nachrichtung2)Speculum intimae corruptionis. Lüneburg 1640.. Es gehen ſowohl bei den Juriſten, wie bei den Studioſis Theologiä die allergemeinſten Laſter im vollen Schwange, dadurch ſie des Geiſtes und Segens ſich in und bei ihrer Arbeit verluſtig machen, durch Saufen, im Luder liegen bis am Mittag, Schoriſieren, Aushonipplen ꝛc. Bezüglich des unmenſchlichen Saufens giebt Prediger J. G. Sigwart zu Tübingen eine Schilderung bezüglich der äuße - ren Art: Man trinkt aus Affen und Pfaffen (Geſchirre),Diefenbach, Reformation oder Revolution? 450Mönchen und Nonnen, Löwen und Bären, Straußen und Kauzen und aus dem Teufel ſelbſt. Etliche unfläthige Wein - ſchläuche trinken einander zu aus Schüſſeln und Krügen, Schuhen und Stiefeln, aus Nachttöpfen und Harnkacheln. Vorher nehmen ſie Antidota, bittere Mandeln, Pfirſichkerne, Häringe, teils um ſich zum Saufen zu armieren, teils um ſich zu präſerwieren gegen zu raſche Trunkenheit1)Elf Predigten über die vornehmſten Laſter. Tübingen 1603, Cf. Lutheriſche Kanzel im 17. Jahrhundert von J. Diefenbach, Mainz. Kirchheim 1887, S. 50 70..

Selbſt auf das gewerbliche Leben äußerte die Religions - neuerung nachteilige Folgen. Vornehmlich litten darunter die Zünfte, welche ihr Handwerk ebenſo mit dem kirchlichen Weſen verknüpft hatten, wie Staat und Kirche miteinander verwachſen waren. Wie hier die religiöſe Neuerung Tren - nung bewirkte und Umwälzungen ſchuf, ſo auch im Gewerbs - leben des 16. Jahrhunderts. Hören wir darüber das Zeugnis eines kompetenten Beurteilers aus neuerer Zeit.

Die religiöſe Seite des Zunftlebens, welche ehedem alle Beſtrebungen der Handwerkerkorporationen durchdrang, die Pflege des Gottesdienſtes, die Ausübung chriſtlicher Mild - thätigkeit gegen Arme und Kranke war geſchwunden, ſeitdem die Reformation die Bruderſchaften in eine katholiſche und eine proteſtantiſche Partei getrennt hatte. Überhaupt ſind die politiſchen Umwälzungen der Reformation für die ſelbſtändige Entwicklung des Handwerkerſtandes eher nachteilig als vorteilhaft geweſen; denn die fürſtliche Gewalt betrachtete ſich als natürliche Erbin der verdrängten alten Kirche und artete überall da, wo ſie dieſes Erbe angetreten hatte, in eine Politik des Abſolutismus und der Unterdrückung des freien, unab - hängigen Bürgertums aus; in demſelben Maße, wie das letztere51 vor der aufſtrebenden Souveränität abſolut regierender Landes - herren nach und nach verſchwand, hörten auch die Handwerks - zünfte auf, im öffentlichen Leben ihre früher ſo bedeutende Rolle zu ſpielen, bis ihnen dann ſchließlich nur noch die Aus - übung des Gewerbebetriebes mit ſeinen Zwangs - und Bann - rechten überlaſſen blieb1)Thilo, Zunftmeiſterbräuche im alten Deutſchen Reiche , in der Zeitſchrift für Handelsgewerbe 1890..

Um ein kleines Bild zu dieſer Schilderung beizufügen, hören wir aus Beda Webers Reformationsgeſchichte der freien Reichsſtadt Frankfurt 2)Zur Reformationsgeſchichte der freien Reichsſtadt Frankfurt, herausgegeben von J. Diefenbach. Auch Dr. J. Döllinger ſprach 1861 den Satz aus: Verkürzung, Zurückſetzung, Beraubung der ärmeren Klaſſen iſt allenthalben die Signatur der Reformation genannten Um - wälzung; gerade auf dem ſozialpolitiſchen und ökonomiſchen Gebiete treten die verderblichen Folgen der ſog. Reformation am grellſten zu Tage. : Die Geſellen der löblichen Schmiede - zunft gingen ſo weit, daß ſie die ihrer Bruderſchaft gehörigen Altargeräte, Fahnen, Bildniſſe und Koſtbarkeiten auf den Plätzen der Stadt verſteigerten und die daraus gewonnenen Gelder verpraßten. Das nannte man die ſelige Frucht des Wortes Gottes , den Beweis für die ſeligmachende lutheriſche Lehre , während man unter tieriſchem Gebrüll mit fremdem Wein auf den päpſtlichen Götzendienſt das Pereat ausbrachte, nach dem Vorgange der Studenten an den Thoren von Wittenberg3)Nach der Darſtellung des F. R. Ely in ſeinem Werke Socialism wünſchen die engliſchen Sozialiſten die Anwendung katholiſcher Prin - zipien auf die gegenwärtigen Verhältniſſe, während ſie die ſozialen Übel dem Proteſtantismus zuſchreiben. Cf. Hiſt. -pol. Blätter Bd. 116, 627..

Als nach Beginn des 17. Jahrhunderts die Zeit nahte, wo es möglich war, das erſte Jubiläum der deutſchen Reformation 1617 zu begehen, da war die Gelegenheit und4*52Veranlaſſung geboten, ſich der Segnungen der Reformation zu freuen. Mit der fortſchreitenden Zeit konnten ſich auch die Früchte der neuen Lehre gezeitigt haben. Allein gerade mit dem Anfange dieſes Jahrhunderts nehmen die Klagen und der Jammer über das große Sittenverderbnis nur noch zu und tönen von allen Kanzeln über das Jubelfeſt hinaus. Aus beſonderer Verehrung für Herrn Ober-Konſiſtorialrat Dr. Goldmann in Darmſtadt laſſen wir einige Stimmen hören, die ſeinem engeren Heimatland angehören.

Der Prediger Cornapäus klagt 1614:

Man übet Schinderei und überfordert die lieben Armen mit Allem, was man zur Leibesnotdurft nöthig hat. Unzucht, Fluchen, Schwören, Gottesläſterung, Wucher, Diebſtahl, Haß, Neid, Lügen, Verläumdung und allerlei Betrügerei werden ohne Scheu getrieben. Allerlei Schand - laſter ſteigern und mehren ſich täglich, darum wächſt und wird auch täglich größer die Strafe.

Der Gießener Prediger C. Chemlinus bekennt 1611:

Haß, Unzucht, ſchamloſe Worte und Werke, Ehrgeiz, Überfordern, Schinden und Schaben, falches Schwören und andere Laſter mehr gehen jetzt unter uns Evangeliſchen allgemein im Schwunge und will doch ein jeder ein guter Chriſt ſein.

Prediger Braun aus Oberheſſen läßt 1603 die frommen Chriſten ein kleines Häuflein ſein, die noch zur Kirche gehen:

Die meiſten laufen im Felde herum; etliche ſtehen vor dem Rath - haus, etliche im Saufhaus, etliche im H .... haus; etliche bleiben im Bette liegen und wenden dem Teufel einen Braten im Bette herum.

Mit prophetiſchem Blicke ruft er aus:

Deutſchland, Deutſchland! Wie wird deswegen ein großes Unglück über dich kommen; die Ruthe Gottes iſt gebunden und das Schwert gewetzt; Gott erbarme ſich unſer und unſerer Kinder!

Jm Tone eines Jeremias klagt der Ulmiſche Prediger C. Dietrich:

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Keine Treue, keine Liebe, kein Recht, keine Redlichkeit, keine Er - kenntniß, kein Erbarmen iſt mehr im Lande. Ach! Ach! Die frommen Leute ſind weg aus dem Lande und die Gerechten ſind nicht mehr unter den Leuten. So gemein iſt die Unzucht, daß ſie für kein Laſter und Schand, ſondern für Ehr und Ruhm gehalten wird. Ach darnach laufet Jedermann Tag und Nacht.

Jn ähnlicher Weiſe hören wir Pfarrer C. Hiller 1616 ein Klagelied ſingen:

Die Ochſen ſtehen auch bei uns (wie anderwärts) bald vor dem Berge, und es fehlt wenig, dann kann auch uns begegnen, was andern begegnet iſt. Wie wir mit unſeren vielen Sünden mit Verachtung Gottes und ſeines Wortes, mit greulichem Fluchen und Gottesläſte - rungen, mit Hurerei, Unzucht, Freſſen und Saufen, unſchuldigem Blut - vergießen, mit Raub und Diebſtahl, mit übermäßigem Wucher ꝛc. zu Gottes Zorn und Strafe genugſam Urſache geben.

Jm Jahre 1620 erſchien in Frankfurt ein Buch frater - nitas infernalis , d. h. hölliſche Brüderſchaft , in welchem der Verfaſſer alle Laſter ſeiner Zeit perſonifiziert und dieſe unter ſich eine Bruderſchaft ſchließen läßt zu dem Zwecke, das Reich Gottes ganz von der Welt ſchwinden zu laſſen. Er hat 24 Brüder in dieſem Bunde gefunden, d. h. 24 Laſter, welche 24 Zünfte für die Hölle bilden. Sein Widmungs - gedicht ſchließt mit dem Satze:

Virtus iſt des Lands vertrieben,
Alle vitia thun drinn obſiegen.

Ein ähnliches Werk war bereits 1569 zu Frankfurt a. M. erſchienen unter dem Titel: Theatrum diabolorum , in welchem 21 Prediger 21 Species von Teufeln ſchildern, welche als Agenten der Hölle auf der Welt deren Geſchäfte beſorgen. Jhre Namen waren: Saufteufel, Hoffartsteufel, Hurenteufel, Faulteufel, Zauberteufel ꝛc.

Den tieferen Grund zu dem allgemeinen Sittenverderb - nis möchte der Paſtor Johann Vilitz zu Quedlinburg 163954 in dem Erlöſchen der Jdee vom allgemeinen Prieſter - tum im Volke gefunden haben, weßhalb er drei Predigten hält und herausgiebt über das regale ſacerdotium:

Es iſt das eine Hauptquelle, warum bisher in unſerer Kirche ſo gar wenig Hoffnung gefunden wird. Die Chriſten haben ſich zu wenig als Prieſter Gottes erkannt. Daher die große Barbarei ent - ſtanden, daß man nicht allein nicht chriſtlich, ſondern faſt ganz teufliſch und viehiſch bei den meiſten lebt, ja faſt nicht einmal weiß, was Chriſti Leben und heilige Nachfolge iſt, und was es fruchte! Ja eben daher iſt endlich das unglückſelige Unweſen wie eine ungeheure Sündflut über ganz Deutſchlaud und über uns ſelbſt gekommen und geſchwommen, dadurch wir faſt in den Abgrund verſenkt oder bis auf den innerſten Grund ausgezogen, abgezehrt und verheeret liegen und noch kein Auf - hören ſehen.

Es iſt ein alter Erfahrungsſatz, daß die größten Übel oft im Moment der höchſten Kriſis das Heilmittel in ſich ſelbſt tragen und dadurch die Geneſung anbahnen. Die Größe des allgemeinen Sittenverderbniſſes führte die Reaktion her - bei. Dieſelbe wurde eingeleitet durch die Periode der Buß - predigten, welche die erſte Hälfte 17. Jahrhunderts aus - füllen. Solche Bußpredigten lieferten z. B. C. Dietrich, C. Markus, Mengering, Hardkopf, Chr. Gros, Fr. Küffner, N. Euſemius, Beſſel, H. Braunen, Hoe von Hohenegg, J. Nuberus, J. Binſchius und viele andere. Vielfach behandelten ſie das Thema vom verlorenen Sohne z. B. C. Stiller und N. Cornapäus. Es galt nicht mehr die Ver - teidigung der reinen Lehre, als vielmehr die Pflege eines chriſtlichen Lebens |nach Jnnen1)Tholuk, II a. 131.. Die Anregung dazu war gegeben durch Arndts wahres Chriſtentum 1605, durch J. Gerhardts Meditationes sacrae 1606 und deſſen Scholae pietatis. Auch Oſianders einfältiges Chriſten -55 tum gehörte dieſer Richtung an. So wurde vorgearbeitet der bald beginnenden Periode des ſogenannten Pietismus. Das Wort allgemeine Reformation war die Parole. Man bekämpfte abermals ein Antichriſtentum , welches im Pro - teſtantismus eingeriſſen ſei. Eine ſolche Tendenz klingt wieder in dem Werke Hochburgs verwirrter deutſcher Krieg , im deutſch-evangeliſchen Judentum , in Burmanns deutſch-evan - geliſches ärgerliches Chriſtentum, 1645, in Großgebauers Wächterſtimme aus dem verwaiſten Zion 1661, und in Schröders hellklingender Zuchtpoſaune 1686.

Die volle Ausbildung fand aber die Richtung in P. F. Spener (1635 bis 1705), welcher mit ſeinen Collegia pietatis zu Frankfurt a. M. 1670 dem thätigen Chriſtentum einen poſi - tiven Halt gab. Von ihm ſagt V. Hosbach: Der Pietismus war, äußerlich angeſehen, nichts anderes als die ſtrenge ſitt - liche, auf ein lebendiges, im Glauben und in der Liebe thä - tiges Chriſtentum, entgegengeſetzt der begriffsmäßigen Starr - heit der herrſchenden Lehre und der unfruchtbaren Kälte des chriſtlichen Lebens; innerlich ruht es auf der Grundanſchauung von dem Verderben der menſchlichen Natur, zu deren Hin - wegſchaffung es einer höheren als natürlichen Kraft bedarf, welche in Beziehung auf das Leben als völlige Neuerung durch das Wort Gottes ſich darſtellt und eine wahre inner - liche Frömmigkeit erzeugt1)W. Hosbach, Spener und ſeine Zeit . Berlin 1828. Cf. Tholuk II a. 44..

Durch die Anerkennung, die hiermit dem freien Willen des Menſchen zu Teil wurde, und die Forderung nach einem ſittlichen Wandel, der in guten Werken ſich offenbare, hatte man den urſprünglichen lutheriſchen Lehrbegriff vom unfreien Willen und der Forderung der bloßen Glaubensgerechtigkeit56 aufgegeben und ſich der Lehre der alten Kirche genähert. Das war der Zeitpunkt, den edle Geiſter für geeignet hielten, ſogenannten Réunionsverſuche zu beginnen, wie ſie Boſſuet und Leibniz intendierten. Leider ſind die wohl gemeinten Abſichten ohne Verwirklichung geblieben. Jmmerhin bleibt es merkwürdig, wie die Anſchauungen der proteſtantiſchen Theologen und des Volkes ſich in den dreihundert Jahren verändert haben. Jm erſten Jahrhundert des Proteſtantis - mus galt der Glaube alles, die Werke nichts; ſpäter und heute herrſcht im Glauben der völlige Jndifferentismus, die wirkliche Glaubens freiheit, und alles hängt ab von den guten Werken, d. h. von dem in der Liebe thätigen Leben. Man gewöhnt ſich daran zu ſagen: Thue recht und ſcheue Niemand , oder auf den Glauben kommt es nicht an, wenn man nur rechtſchaffen lebt. Weil der Glaube an der theo - logiſchen Börſe im Werte geſunken und zu einer permanenten Baiſſe gelangt iſt, hat man auch die Glaubensquelle mit ſcharfer Kritik verfolgt und ſelbſt das hochgehaltene Apoſtoli - kum und ganze Teile der heiligen Schrift in den Niedergang des Kurſes hineingezogen. Daher der theologiſche Streit über die Gültigkeit des apoſtoliſchen Symbolums und ganzer Teile aus der Darſtellung den vier Evangeliſten. Die Pole - mik der einzelnen Richtungen der poſitiven oder orthodoxen Theologen gegenüber den fortgeſchrittenen Schulen von Bauer, Strauß, Ritſchl und Harnack bilden einen permanenten Kampf im Schoße des modernen Proteſtantismus.

Der bekannte Philoſovh Ed. von Hartmann ſagt mit Recht: Der liberale Proteſtantismus hat kein Recht an den Namen des Chriſtentums, da die liberalen Proteſtanten an Chriſtus glauben, wie die Muhamedaner auch; ſie gehören in die Landeskirchen, wie der Sperling ins Schwalben -57 neſt; es iſt unwahre Vorſpiegelung, daß ihr Denken in engerer Beziehung zum Neuen Teſtamente ſtehe, als zu einem anderen Buche; das Gebet haben ſie auf das gleiche Niveau mit dem kräftigen Fluche herabgedrückt, der auch den Sackträger zu erneuter Anſtrengung ſtärkt, wenn der Sack zu ſchwer ſcheint, um ihn auf die Schultern zu heben; ihre Ethik iſt ebenſo unwiſſenſchaftlich als irreligiös.

Jn einer Polemik Müllers gegen König bemerkt erſterer: Jſt Chriſtus nicht göttlicher Natur, wie alle Apoſtel und Propheten ſchreiben, ſo iſt unſer ganzer Gotts - dienſt der roheſte Götzendienſt. Oder ſollte man einem Menſchen die höchſten und heiligſten Feſte feiern, ihn zum Mittelpunkt aller gottesdienſtlicher Handlungen machen, zu ihm ſingen, zu ihm beten, die Seligkeit auf ihn gründen? Man betrachte doch unſeren Götzendienſt nur Ein Jahr lang, höre doch die Liturgie u. ſ. w. und man muß ſagen, daß die Chriſten den wahrſten Götzendienſt treiben, wenn ihr Chriſtus nur ein Menſch war.

Jm Vergleich zu den Differenzpunkten auf dem Gebiete des Glaubens, wie ſie in der neueren proteſtantiſchen Theologie hervortreten, ſind die Unterſchiede zwiſchen katholiſcher und poſitiv-gläubiger Auffaſſung des Chriſtentums auf Seiten der Proteſtanten von geringerer Bedeutung. Dieſer Wahrnehmung hat der angeſehene Schriftſteller und ſpätere Konvertit F. von Florencourt vor faſt 50 Jahren Ausdruck gegeben:

Der Unterſchied zwiſchen dem römiſch-katholiſchen Glau - bensbekenntniſſe und zwiſchen den ſymboliſchen Büchern der evangeliſchen Kirche iſt unendlich klein, iſt völlig nichtsſagend im Vergleiche mit der ſchroffen Differenz zwiſchen dem Glaubensbekenntniſſe der ſymboliſchen Bücher und zwiſchen dem Glauben der Lichtfreunde. Die ganze religiöſe58 und ſittliche Lebensauffaſſung, wie ſie in den Bekenntnis - ſchriften der Lutheraner und Reformierten ausgeſprochen iſt und wie ſie im weſentlichen noch in den Gemütern vieler evangeliſcher Chriſten fortlebt, iſt von der deiſtiſch-natura - liſtiſchen Lebensauffaſſung der Lichtfreunde und Rationaliſten ſo verſchieden, wie ſchwarz und weiß1)Dieſe Citate ſind entnommen der Broſchüre: Zeugniſſe wider proteſtantenvereinliche Glaubensfälſchung und kirchlichen Afterliberalis - mus . Weſtheim 1878. No. I. 2. Auflage..

Zur Zeit als F. von Florencourt noch Proteſtant war, hat ſich ſein ehrliches Gemüt und Gewiſſen aufs äußerſte em - pört über das Verbleiben im Amte ſolcher evangeliſcher Pre - diger, die nicht mehr an den Jnhalt des apoſtoliſchen Glau - bensbekenntniſſes und an die Gottheit Chriſti glauben, nichts - deſtoweniger aber fortfahren bei Taufen und Konfirmationen zu deren Heilighaltung zu verpflichten. Aus dieſer Stimmung hat ſich jene Anſprache gebildet, in welcher er die licht - freundlich geſinnten Paſtoren auf einer 1845 zu Naumburg gehaltenen Synode alſo apoſtrophierte:

Meine Herren! ........ Jch