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Idyllen aus Messina. Von Friedrich Nietzsche.

Prinz Vogelfrei.
So häng ich denn auf krummem Aste
Hoch über Meer und Hügelchen:
Ein Vogel lud mich her zu Gaste
Ich flog ihm nach und rast und raste
Und schlage mit den Flügelchen.
Das weisse Meer ist eingeschlafen,
Es schläft mir jedes Weh und Ach.
Vergessen hab ich Ziel und Hafen,
Vergessen Furcht und Lob und Strafen:
Jetzt flieg ich jedem Vogel nach.
Nur Schritt für Schritt das ist kein Leben!
Stäts Bein vor Bein macht müd und schwer!
Ich lass mich von den Winden heben,
Ich liebe es, mit Flügeln schweben
Und hinter jedem Vogel her.
Vernunft? das ist ein bös Geschäfte:
Vernunft und Zunge stolpern viel!
Das Fliegen gab mir neue Kräfte
Und lehrt mich schönere Geschäfte,
Gesang und Scherz und Liederspiel.
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Einsam zu denken das ist weise,
Einsam zu singen das ist dumm!
So horcht mir denn auf meine Weise
Und setzt euch still um mich im Kreise,
Ihr schönen Vögelchen, herum!
Die kleine Brigg, genannt « das Engelchen ».
Engelchen: so nennt man mich
Jetzt ein Schiff, dereinst ein Mädchen,
Ach, noch immer sehr ein Mädchen!
Denn es dreht um Liebe sich
Stäts mein feines Steuerrädchen.
Engelchen: so nennt man mich
Bin geschmückt mit hundert Fähnchen,
Und das schönste Kapitänchen
Bläht an meinem Steuer sich,
Als das hundert erste Fähnchen.
Engelchen: so nennt man mich
Ueberall hin, wo ein Flämmchen
Für mich glüht, lauf ich ein Lämmchen
Meinen Weg sehnsüchtiglich:
Immer war ich solch ein Lämmchen.
Engelchen: so nennt man mich
Glaubt ihr wohl, dass wie ein Hündchen
Bell’n ich kann und dass mein Mündchen
Dampf und Feuer wirft um sich?
Ach, des Teufels ist mein Mündchen!
Engelchen: so nennt man mich
Sprach ein bitterböses Wörtchen
Einst, dass schnell zum letzten Oertchen
Mein Geliebtester entwich:
Ja, er starb an diesem Wörtchen!
Engelchen: so nennt man mich
Kaum gehört, sprang ich vom Klippchen
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In den Grund und brach ein Rippchen,
Dass die liebe Seele wich:
Ja, sie wich durch dieses Rippchen!
Engelchen: so nennt man mich
Meine Seele, wie ein Kätzchen,
That eins, zwei, drei, vier, fünf Sätzchen,
Schwang dann in dies Schiffchen sich
Ja, sie hat geschwinde Tätzchen.
Engelchen: so nennt man mich
Jetzt ein Schiff, dereinst ein Mädchen,
Ach, noch immer sehr ein Mädchen!
Denn es dreht um Liebe sich
Stäts mein feines Steuerrädchen.
Lied des Ziegenhirten. (An meinen Nachbar Theokrit von Syrakusa.)
Da lieg ich, krank im Gedärm
Mich fressen die Wanzen.
Und drüben noch Licht und Lärm:
Ich hör’s, sie tanzen.
Sie wollte um diese Stund
Zu mir sich schleichen:
Ich warte wie ein Hund
Es kommt kein Zeichen!
Das Kreuz, als sie’s versprach!
Wie konnte sie lügen?
Oder läuft sie Jedem nach,
Wie meine Ziegen?
Woher ihr seidner Rock?
Ah, meine Stolze?
Es wohnt noch mancher Bock
An diesem Holze?
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Wie kraus und giftig macht
Verliebtes Warten!
So wächst bei schwüler Nacht
Giftpilz im Garten.
Die Liebe zehrt an mir
Gleich sieben Uebeln
Nichts mag ich essen schier,
Lebt wohl, ihr Zwiebeln!
Der Mond ging schon in’s Meer,
Müd sind alle Sterne,
Grau kommt der Tag daher
Ich stürbe gerne.
Die kleine Hexe.
So lang noch hübsch mein Leibchen,
Lohnt sichs schon, fromm zu sein.
Man weiss, Gott liebt die Weibchen,
Die hübschen obendrein.
Er wird’s dem art’gen Mönchlein
Gewisslich gern verzeihn,
Dass er, gleich manchem Mönchlein,
So gern will bei mir sein.
Kein grauer Kirchenvater!
Nein, jung noch und oft roth,
Oft gleich dem grausten Kater
Voll Eifersucht und Noth!
Ich liebe nicht die Greise,
Er liebt die Alten nicht:
Wie wunderlich und weise
Hat Gott dies eingericht!
Die Kirche weiss zu leben,
Sie prüft Herz und Gesicht.
Stäts will sie mir vergeben:
Ja wer vergiebt mir nicht!
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Man lispelt mit dem Mündchen,
Man knixt und geht hinaus
Und mit dem neuen Sündchen
Löscht man das alte aus.
Gelobt sei Gott auf Erden,
Der hübsche Mädchen liebt
Und derlei Herzbeschwerden
Sich selber gern vergiebt!
So lang noch hübsch mein Leibchen,
Lohnt sich’s schon, fromm zu sein:
Als altes Wackelweibchen
Mag mich der Teufel frein!
Das nächtliche Geheimniss
Gestern Nachts, als Alles schlief,
Kaum der Wind mit ungewissen
Seufzern durch die Gassen lief,
Gab mir Ruhe nicht das Kissen,
Noch der Mohn, noch, was sonst tief
Schlafen macht ein gut Gewissen.
Endlich schlug ich mir den Schlaf
Aus dem Sinn und lief zum Strande.
Mondhell war’s und mild ich traf
Mann und Kahn auf warmem Sande,
Schläfrig beide, Hirt und Schaf:
Schläfrig stiess der Kahn vom Lande.
Eine Stunde, leicht auch zwei,
Oder war’s ein Jahr? da sanken
Plötzlich mir Sinn und Gedanken
In ein ew’ges Einerlei,
Und ein Abgrund ohne Schranken
That sich auf: da war’s vorbei!
Morgen kam: auf schwarzen Tiefen
Steht ein Kahn und ruht und ruht
274
Was geschah? so riefs, so riefen
Hundert bald was gab es? Blut?
Nichts geschah! Wir schliefen, schliefen
Alle ach, so gut! so gut!
« Pia, caritatevole, amorosissima ». (Auf dem campo santo.)
O Mädchen, das dem Lamme
Das zarte Fellchen kraut,
Dem Beides, Licht und Flamme,
Aus beiden Augen schaut,
Du lieblich Ding zum Scherzen,
Du Liebling weit und nah,
So fromm, so mild von Herzen,
Amorosissima!
Was riss so früh die Kette?
Wer hat dein Herz betrübt?
Und liebtest du, wer hätte
Dich nicht genug geliebt?
Du schweigst doch sind die Thränen
Den milden Augen nah:
Du schwiegst und starbst vor Sehnen,
Amorosissima!
Vogel Albatross.
O Wunder! Fliegt er noch?
Er steigt empor und seine Flügel ruhn!
Was hebt und trägt ihn doch?
Was ist ihm Ziel und Zug und Zügel nun?
Er flog zu höchst nun hebt
Der Himmel selbst den siegreich Fliegenden:
Nun ruht er still und schwebt,
Den Sieg vergessend und den Siegenden.
25
Gleich Stern und Ewigkeit
Lebt er in Höhn jetzt, die das Leben flieht,
Mitleidig selbst dem Neid :
Und hoch flog, wer ihn auch nur schweben sieht!
O Vogel Albatross!
Zur Höhe treibt’s mit ew’gem Triebe mich!
Ich dachte dein: da floss
Mir Thrän um Thräne ja, ich liebe dich!
Vogel-Urtheil.
Als ich jüngst, mich zu erquicken,
Unter dunklen Bäumen sass,
Hört ich ticken, leise ticken,
Zierlich, wie nach Takt und Maass.
Böse wurd ich, zog Gesichter,
Endlich aber gab ich nach,
Bis ich gar, gleich einem Dichter,
Selber mit im Tiktak sprach.
Wie mir so im Versemachen
Silb um Silb ihr Hopsa sprang,
Musst ich plötzlich lachen, lachen
Eine Viertelstunde lang,
Du ein Dichter? Du sein Dichter?
Stehts mit deinem Kopf so schlecht?
« Ja, mein Herr! Sie sind ein Dichter! »
Also sprach der Vogel Specht.

About this transcription

TextIdyllen aus Messina
Author Friedrich Nietzsche
Extent7 images; 1074 tokens; 586 types; 6707 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

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EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic information Idyllen aus Messina. Friedrich Nietzsche. . Ernst SchmeitznerChemnitz1882. Internationale Monatsschrift. Zeitschrift für allgemeine und nationale Kultur und deren Litteratur Band I (5. Heft (Mai)) pp. S. 269-275.

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Antiqua

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Lyrik; ready; wikisource

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Editorial principles

Anmerkungen zur Transkription:Als Grundlage dienen die Wikisource:Editionsrichtlinien

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  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-13T10:43:03Z
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