PRIMS Full-text transcription (HTML)
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Die Orgelpfeifen
Aus dem Land der Ostseeritter
Zwei Erzählungen
Mit dem Bildnis der Verfasserin und einer Einleitung von Grete Litzmann-Bonn
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LeipzigDruck und Verlag vonPhilipp Reclam jun.

Einleitung.

Die Orgelpfeifen.

Ende Juli war Großmamas Geburtstag. Da pflegten sich die drei Enkel, denen sie seit vielen Jahren Vater und Mutter ersetzt hatte, um sie zu versammeln. Der älteste kam aus seiner Garnison, wo er als Leutnant in einem Kavallerieregiment stand, und auch der zweite, der Marineoffizier war, wußte es meist einzurichten, daß er in der Zeit Urlaub erhielt. Der jüngste aber bekam für diesen Tag Ferien aus seinem benachbarten Internat, denn Großmama galt in der ganzen Gegend, wo sie so lange angesessen war, schon ihres hohen Alters halber, als etwas ganz Besonderes, da erwies ihr sogar der knurrige Direktor gern eine besondere Artigkeit.

Auf dem Schloß, wo Großmama seit vielen, vielen Jahren lebte, und wo die Enkel ihre ganze elternlose Kindheit verbracht hatten, wurde der Geburtstag alljährlich gefeiert. Die rundungsreiche Mamsell, die so aussah, als bestände sie aus lauter einzelnen festgestopften Kissen und Kißchen, mußte dafür Berge von belegten Brötchen richten und außer der eigentlichen Geburtstagstorte noch viele Kuchen backen, denn eine Menge Gratulanten pflegten zu kommen, und allen wurde ein Imbiß vorgesetzt. Die Postboten stiegen8 an dem Tage gar oft den steilen Weg zum Schloß hinauf mit Stößen von Briefen und Telegrammen. Auch Schachteln brachten sie, denen der Gärtner große Sträuße von Blumen entnahm; die kamen von Freunden Großmamas aus Städten, und sie mußten dort wohl etwas Künstliches angenommen haben, denn sie rochen anders als die Blumen im Garten. Der feierlichste Moment aber war der Kirchgang in die Schloßkapelle, denn auf welchen Tag Großmamas Geburtstag auch immer fallen mochte, es war doch jedesmal, als ob es Sonntag sei. Die Schloßkirchenglocke läutete, der alte Pastor und der alte Kantor kamen aus dem Dorf herauf, und es wurde ein richtiger Gottesdienst gehalten. Alle Jahre hatten das die Enkel erlebt, und schon als sie noch ganz klein gewesen, hatten sie an dem Tage mit in die Kirche gedurft. In der Loge saßen sie artig auf den hohen roten Damaststühlen, standen auf, sangen, setzten sich wieder alles genau wie Großmama es tat.

Sie gingen gern in die Kirche, denn wenn es auch im Schloß viele Winkel und Räume gab, die ihnen merkwürdig erschienen, so war die Kirche doch der merkwürdigste Ort. Und so angenehm gruselig war es zu denken, während man oben saß, daß tief unter der Kirche in einem gewölbten Raume, den man die Gruft nannte, die Särge der frühern Besitzer und ihrer Frauen standen. Auch Kinder mußten da beigesetzt sein, denn vom Garten aus konnte man, wenn man sich glatt in den Efeu am Boden legte, durch schmale Fenster in die Gruft hinabblicken, und da standen9 zwischen den großen auch manche kleine Särge. Unter dem ganzen Schloß gab es diese gewölbten Räume. Aber wenn man von draußen in die andern blickte, sah man da Kartoffeln, Kohlen, Äpfel und viele Weinflaschen liegen, nur unter der Kirche lagen tote Menschen, die all solcher Dinge nicht mehr bedurften.

Daß auch die eigenen Eltern da lagen, wußten die Kinder damals noch nicht. Das erfuhren sie später, wie so manches andere, ohne sich besinnen zu können, wann und von wem. Es gab eben Dinge, die wußte man plötzlich, als man anfing groß zu werden.

So dunkel und schauerlich die Gruft aussah, wenn man durch die blinden, bestaubten Scheibchen der kleinen Fenster hineinblickte, so hell und freundlich war oben die Kirche. Sie war ganz weiß und golden und zwischen all dem Weiß und Gold waren noch viele Bilder aus der biblischen Geschichte angebracht. Oben die Decke aber war so gemalt, daß es aussah, als schaue man zwischen Säulen und Bogen in einen zu allen Jahreszeiten blauen Himmel. In dem schwamm, gerade in der Mitte in einem Dreieck goldener Strahlen, ein großes offenes Auge. Das sei das Auge Gottes, das alles sieht, hatte ihr Fräulein den Kindern erklärt. Zwischen den Säulen und Bogen flatterten Engel mit bunten Flügeln und wehenden Gewändern. Aber sie waren merkwürdig verzerrt, und auch die Bogen und Säulen schienen ganz schief, als müßten sie gleich umstürzen; nur von Großmamas Platz mitten in der Loge aus gesehen wurde alles plötzlich gerade und richtig. Von da bemerkte man auch,10 daß alle die Engel so gemalt waren, daß sie genau auf Großmama blickten. Das dünkte die drei Kinder besonders bei der Geburtstagsfeier sehr passend: offenbar gratulierten die Engel Großmama auf diese Weise. Manche der Engel hielten lange, goldene Trompeten an ihren roten Lippen, aber was sie so mit dicken, aufgepusteten Backen bliesen, hörte man nicht. Dafür hörte man den Kantor auf der Orgel spielen.

Die Orgel stand auf der einen Seite der Altarempore. Sie war in ein weißgoldenes Gehäuse eingebaut. Das Schnitzwerk seines Gesimses stellte kleine, pausbäckige Engelchen dar, die zwischen allerhand Schnörkeln, wie in einem Irrgarten gefangen saßen. Die Kinder hatten diese Engelchen immer mit besonderer Neugier betrachtet. Was für ein Spiel mochten sie wohl dort oben spielen? Verstecken oder Blindekuh? Unterhalb dieses Gesimses glänzten die Orgelpfeifen blitzblank, wie das Tafelsilber, wenn Großmamas Diener es eben geputzt hatten. Es gab da ganz große, dicke Pfeifen. Sicher waren sie es, die sprachen, wenn es aus der Orgel so schallte, daß man an die Stimme des Jüngsten Gerichts denken mußte, von der der alte Pastor mal auf der Kanzel geredet hatte. Neben diesen ganz großen, breiten Pfeifen standen in Reihen andere, die immer kleiner und schmäler wurden, so daß die dünnsten an den Lauf der Büchse erinnerten, mit der Großmamas Förster auf die Jagd ging. Deren Stimmen waren sicher die feinen, leisen, die manchmal noch ganz lang durch die Kirche klangen, wenn das eigentliche Stück schon vorüber war, das der alte Kantor,11 mit Händen und Füßen arbeitend und stark schnaufend, auf der Orgel gespielt hatte. Leise, leise war dieser Ton. An das Jüngste Gericht dachte man dabei gar nicht. Aber das Wort Sternensprache , das die Kinder irgendwo gehört, fiel ihnen dabei ein. Vielleicht hatte der Stern, der die Hirten zum Jesuskindchen führte, auf seinen Strahlen so feine, sanfte Töne in die Weihnachtsnacht herabgesandt.

Ja, es war eine sehr schöne Orgel. Und sie war sehr alt, wie eigentlich alles auf dem Schlosse alt war. Nur die Zentralheizung war neu und die Waschtische, bei denen man bloß an Hähnen zu drehen brauchte, um kaltes oder warmes Wasser zu haben. Die hatte Großmama erst einsetzen lassen, und es war das auch etwas sehr Merkwürdiges, wie das Wasser so eilig aus der Wand herausgurgelte, und es sollte doch dasselbe Wasser sein, das oben in Großmamas Wald zwischen Farnkraut und vermodernden braunen Blättern als kleine Quelle aus der Erde sickerte aber die Orgel mit den vielen verschiedenen Stimmen in den Pfeifen war doch noch weit geheimnisvoller.

Einmal kam ein fremder Herr aus der Stadt, der die Orgel besehen wollte, denn er schrieb ein großes Buch über alle alten Orgeln, und dabei durfte die von Großmama doch natürlich nicht fehlen. Großmama selbst führte den Herrn in die Kirche, und der alte Pastor und der alte Kantor waren auch da. Die Kinder spielten gerade im Schloßhof, aber als sie die Kirchtür offen sahen, liefen sie auch hinein. Großmama stand da in ihrem weißen Kleid, auf den Stock gestützt, dessen12 Krücke ein weißes Porzellanmäuschen bildete. Und sie erzählte gerade dem fremden Herrn von der Orgel.

Nach dem Dreißigjährigen Krieg hat das Schloß lange verwüstet dagestanden, sagte sie, aber später, als von Versailles aus über Dresden die Baulust alle hiesigen großen und kleinen Herren ergriff, da hat der damalige Besitzer das Schloß mit der Kapelle neu hergestellt, und die Orgel ließ er von dem berühmten Johann Gottfried Silbermann erbauen.

Ja, ja, sagte der fremde Herr mit pfiffigem Schmunzeln, das waren noch prunkhaft heitere Zeiten. Und der damalige Besitzer soll ja auch ein prachtliebender, ausgelassener Herr gewesen sein.

Aber die Kirche und die Orgel hat er doch zur Ehre Gottes bauen lassen, warf der alte Pastor ein, dessen freundliche Augen stets die löblichen Seiten an Menschen und Dingen zu sehen wußten.

Ob er das wirklich zur Ehre Gottes getan? sagte Großmama, und ihre Augen sahen forschend unter den weißen Brauen hervor. Ich denke mir eher, er wollte eine schönere Kirche als all die Nachbarschlösser haben, und es geschah daher mehr zur eigenen als zur Ehre Gottes.

Vielleicht muß man schon froh sein, wenn beide zusammentreffen, meinte der alte Pastor sanft.

Doch nun gewahrte der fremde Herr die drei Enkel, die mit großen Augen eifrig lauschend in dem hellen Viereck standen, das das Sonnenlicht durch die offene Tür auf den Steinboden der Kirche warf. Oh, was für reizende Kinder! rief er. Als ob die Engelchen13 vom Orgelgehäuse lebendig geworden und herabgestiegen wären, so stehen sie da.

Na, verwöhnen Sie sie mir nicht, Herr Professor, sagte Großmama. Engelchen sind sie nicht gerade, und wenn sie schon mit der Orgel eine Ähnlichkeit haben sollen, so ist es nur mit den Pfeifen. Dabei schob sie die Enkel nach Alter und Größe in Reih und Glied und sagte: Sehen Sie, so stehen sie richtig, meine lebendigen Orgelpfeifen.

Das war, nach dem Zeitmaßstab der Enkel, nun schon lange her, denn damals, als der gelehrte Herr gekommen war, der von der Orgel in seinem Buch erzählen wollte, hatte man erst ein paarmal die Jahreszahl mit einer neun nach der eins zu schreiben begonnen. Seitdem waren Jahre vergangen, und die drei Enkel waren immer länger in die Höhe geschossen, so daß Großmamas damaliger Vergleich mit den Orgelpfeifen mehr und mehr stimmte. Das Gymnasium hatten die beiden ältern längst hinter sich, und auch der jüngste saß schon in der Prima. Während der Schuljahre hatten sie viel lernen müssen. Bei manchem freilich hatten sie die Empfindung gehabt, daß sie es für die Prüfung zwar behalten müßten, gleich nachher aber sicher vergessen würden, weil es von lauter Leuten und Ländern handelte, die sie nichts angingen. Daneben hatten sie aber auch einiges erfahren, das sie nie wieder aus ihren jungen Köpfen herauslassen würden, weil sie es als zu sich gehörig empfanden. Ländlich bodenständige Kinder waren die drei und wurzelten mit allen Herzensfasern in dem Stückchen Erde,14 das sie Heimat nannten. Bei Spielen wollten sie auch nie Römer, sondern immer Germanen sein, und als ihnen ihr damaliger Hauslehrer sagte, die Römer hätten jene Germanen Barbaren genannt, da lachten sie nur und riefen trotzig: Ach was, Barbaren! Unsere Vorfahren waren es! Die Geschichte ihrer Gegend kannten sie ganz genau und wußten, welche Schlösser ursprünglich Burgen gewesen, die die Deutschen gegen die Wenden errichtet hatten. Es war aber auch eine Gegend, über die sich viel lernen ließ, und weltbekannte Orte enthielt sie, bei deren Nennung man stolz oder traurig werden konnte, je nachdem. Im Herzen Deutschlands, wie der Hauslehrer sagte, lag ja Großmamas Schloß, und auf Fußwanderungen oder auch mit dem Auto, das Großmama seit einigen Jahren besaß, gelangte man leicht an die berühmtesten Stätte. Erfurt, wo Luther studierte, lernten die Knaben auf solchem Ausflug kennen, und die Wartburg besuchten sie, wo er wohlgehütet gesessen. Der furchtbare Krieg, der dann über Deutschland gekommen, hatte gerade in ihrer Gegend so manche Erinnerung hinterlassen. In Magdeburg waren sie in dem Dom gewesen, der allein nach dem Brand bei der Tillyschen Belagerung übriggeblieben, und in Weißenfels kannten sie das Zimmer, wohin Gustav Adolfs Leiche von Lützen aus gebracht worden. Auch erfüllte es sie mit Stolz, daß zwei Siege Friedrichs des Großen, bei Roßbach und Torgau, auf ihrem nähern Heimatboden erkämpft worden waren. Aber auch jüngere Begebenheiten hatten sich nicht weit von Großmamas Schloß zugetragen. Saalfeld gehörte zur15 Nachbarschaft, und nach Jena oder Leipzig konnte man in einstündiger Fahrt gelangen. Und weil sie diese Orte von klein auf kannten, waren die Napoleonischen Kriege für Großmamas Enkel wie Selbsterlebtes. Ihr Schloß selbst hatte in jenen Jahren viele Einquartierungen gesehen; an den Türen einiger Zimmer standen noch die Namen verbündeter österreichischer Offiziere, die damals darin gewohnt, und diese Aufschriften wurden sorgfältig bewahrt.

Ja, damals war ihr Deutschland zum letztenmal der Kampfplatz der Völker gewesen. Kriege hatte es seitdem freilich noch gegeben, aber sie waren von den Deutschen in Feindesland getragen worden. Und unter diesen neueren Kriegen gab es einen, der ging die drei Knaben ganz besonders nahe an. Das war der Krieg 70, denn in dem war der Großpapa gefallen und auch der älteste Sohn von Großmama, der als achtzehnjähriger Freiwilliger hinausgezogen und nicht heimgekehrt war. Ihr eigener Vater, Großmamas zweiter Sohn, war damals noch auf der Schule gewesen, zu jung, um mit ins Feld zu können. Gottlob, sagte Großmama leise, als sie ihnen davon erzählte, so leise, daß man dies Dankeswort kaum hörte, denn sie war nicht ganz sicher, ob sie das vor den Enkeln eigentlich sagen durfte. Den Enkeln, die doch so erzogen werden sollten, daß das Fehlen kräftig führender Männerhände nie an ihnen gemerkt würde. Aber dem ererbt heldischen Sinn der Knaben schadete solch leises Wort nichts. Wenn sie auf den Steintafeln an den Wänden der Kirche die Namen der toten Vorfahren lasen, so erfüllten16 sie immer jene mit besonderm Stolz, die in Kriegen das Leben gelassen. Und es waren ihrer gar manche. Am andächtigsten stimmte sie die Gedenktafel für den Großvater und den jungen Onkel, die beide draußen im Kampf gegen Frankreich geblieben waren. Prachtvoll! mit achtzehn Jahren fürs Vaterland fallen zu dürfen! dachten sie dann immer alle drei, und die drei Herzen klopften dabei zum Zerspringen.

Auf diese Gedenktafel hatte Großmama die Worte einmeißeln lassen: Saat, von Gott gesät, dem Tage der Garben zu reifen. Früh mußten diese beiden dem allsehenden Auge droben im blauen Himmel reif erschienen sein. Viel früher als es Menschenurteil verstand, waren sie in die Garben gebunden worden. Und auch die nächsten Gedenksteine für der Kinder Eltern verzeichneten Leben, die kurz gewesen an Jahren. Früh reif befundene auch sie, die gegangen waren, da sie auf Erden doch noch so nötig schienen. Aber wer wollte denn sagen, wo im Weltall die Not am höchsten, wo jener Ewigkeitsbestandteil, den jede flüchtige Erscheinung als innersten Wesenskern enthält, zu neuer Verwendung am dringendsten gebraucht werden mag?

Ja, viele waren gegangen, nur Großmama blieb und wurde älter und älter. Vierundvierzig Jahre waren verstrichen, seit sie durch den Krieg 70 Witwe geworden, und jetzt, Ende Juli, sollte sie ihren achtzigsten Geburtstag feiern.

Das war kein Geburtstag wie alle andern, und die ganze Nachbarschaft hatte denn auch schon lange vorher beschlossen, daß er festlicher noch als sonst begangen17 werden solle. Die Enkel wollten natürlich dazu kommen. Dem Leutnant aus der nahen Garnisonstadt war das ein leichtes, und dem Jüngsten hatte der Direktor des Internats im voraus bereitwillig Ferien versprochen, aber auch für den Marineenkel traf es sich so günstig, daß er gerade kurz vorher von weiter Fahrt in den heimischen Hafen zurückgekehrt war.

Am Nachmittag vor Großmamas Geburtstag trafen die drei Enkel ein, und als sie auf der kleinen Station ausstiegen, wollte es nicht nur dem Seemann, sondern ihnen allen scheinen, als hätten sie die Heimat nie so lachend und leuchtend gesehen. Segen war über die ganze Gegend gebreitet. Segen auf dem reifenden Korn, den blühenden Kartoffeln, den beladenen Obstbäumen an Straßen und Hängen. Segen auf diesem ganzen Landstrich mit seinem nie versagenden Boden, der meilenweit zu Gärtnereien ausgenützt wurde, mit seinen schmucken, spalierumkleideten Häusern, in denen es wirkliche Armut überhaupt nicht gab.

Und wohl anzuschauen wie das Land waren auch die jungen Leute, die auf der kleinen Station dem Zuge entstiegen. Hoch aufgeschossen alle drei, mit langen Gliedern und praktisch zugreifenden, magern Händen, mit feingeschnittenen, noch weichen Zügen und klaren, unbefangen blickenden Augen. So standen sie da, jeder dem andern ähnlich. Eine gute Masse in drei beinah gleiche Formen gegossen.

Aber während sonst unbekümmerter Frohsinn die Brüder kennzeichnete, hatten sie heut etwas ernst Erwartungsvolles im ganzen Wesen. Und dieses seltsam18 Erwartungsvolle lag auch auf der kleinen, friedlichen Station, lag in jedem Gesicht, das die Ankommenden begrüßte. Ob sie vielleicht Neueres als die letzten Depeschen brächten? fragten die ihnen von Kindheit her Bekannten. Aber sie schüttelten die blonden Köpfe, wußten auch nur, daß Versuche gemacht würden, den Frieden zu erhalten, und daß man noch hoffe, es werde gelingen eine Hoffnung freilich, die eigentlich nur ein das Schreckliche Nichtglaubenwollen und - können bedeute. Und während sie also erzählten, war es, mitten im leuchtenden Nachmittagssonnenschein, als breite eine ungeheure, dräuende Wolke ihren Schatten unheilvoll über das lachende Sommerland. Und sie empfanden, daß in diesem Augenblick nicht nur sie hier an der kleinen Station, nein, wohl die ganze Welt, hinaus in die Zukunft mit der gleichen, bangen Frage blickte: Konnte das Gewölk noch vorüberziehen, oder mußte der zündende Blitz ihm entfahren?

Oben am großen Portal des Schlosses stand schon Großmama, die Enkel erwartend. Großmama mit dem feinen, welken Gesicht und den klugen, forschenden Augen, so wie die Enkel sie immer gekannt, in weißem Gewand und gestützt auf den Stock, dessen Krücke ein weißes Porzellanmäuschen bildete. Als sie die drei nun wirklich aus dem leichten Jagdwagen steigen sah, ging freudiges Aufleuchten über das alte Antlitz, und sie sagte zu den beiden Ältesten: Daß ihr überhaupt kommen konntet, gibt mir wieder Hoffnung. Aber der Kavallerist antwortete: Den Urlaub hatte ich ja schon erhalten, noch ehe es so brenzlig wurde, und der19 Kommandeur sagte, ich solle man ruhig fahren, um dich auf alle Fälle noch zu sehen aber ich kann jeden Augenblick zurückgerufen werden. Gleiches sagte der Seemann, und der Primaner rief: Aber, das weißt du, Großmama, wenn es losgeht, meld ich mich auch gleich, die ganze Prima geht ja dann mit.

Bald waren die Enkel dann davongelaufen, denn wenn sie heimkehrten, war es jedesmal wie ein ungeheures Wiedersehensbedürfnis, ein neues Besitzergreifen. Durch alle Räume des Schlosses ging es im Sturm, wie um festzustellen, daß alles noch sei, wie es von jeher gewesen, vor allem rasch einmal in den Stall zu den Gäulen. Die schlanken Pferde des Jagdwagens wurden eben vom Stallknecht nach der heißen Fahrt abgerieben und mit leichten Decken belegt. Werden die auch fort müssen? fragte der Seemann. Und halb stolz, halb wehmütig antwortete der Kutscher: Natürlich! Sie sind alle vorgemerkt, die Frau Gräfin hat doch nur solche Pferde.

Die eigenen Zimmer hatten sich die Enkel nach persönlichem Geschmack eingerichtet. Rennbilder herrschten bei dem ältesten vor, zwischen Jagdbüchsen und Geweihen. Sportblätter lagen herum, und auf einem sonst wenig beschwerten Bücherregal standen etliche landwirtschaftliche Werke. Der älteste Enkel sollte ja die Güter übernehmen, und Großmama hielt darauf, daß der Inspektor schon jetzt die ganze Wirtschaft mit ihm besprach. Großmama hätte ihm schon längst alles gern abgetreten, doch bisher hatte er sich geweigert, wollte sein geliebtes Soldatenleben noch nicht missen. Und20 auch jetzt in seinem Zimmer, durch die offene Tür mit den Brüdern redend, sagte er: Wie gut, daß ich noch beim Regiment geblieben bin denkt mal, wenn ich jetzt schon Reserveonkel wäre!

Anders sah es beim Seemann aus. Schon im Kinderbadewännchen hatte er immer ein Schiffchen zum schwimmen haben wollen, und später richteten sich all seine Knabenwünsche auf Kreuzer und Torpedoboote, die dann im Gartenteich alle Arten von Maschinendefekten und schweren Havarien erlitten. Seine Lieblingslektüre waren stets Marinegeschichten gewesen, und manche dieser Bücher standen noch jetzt in seinem Zimmer neben den Andenken an ferne Häfen von der ersten großen Seereise auf dem Schulschiff. Es hatte ja von klein auf bei ihm festgestanden, daß er zur Marine gehen würde, und Großmama hatte ihre Einwilligung geben müssen zu diesem in der Familie neuen Beruf. Seine Gefahren schreckten sie, aber gerade deshalb hatte sie zugestimmt, hinter geschlossenem Visier die eigene Sorge verbergend Ängstlichkeit wenigstens sollten die Kinder nie an ihr kennenlernen.

Neben dem Seemann hauste der Primaner. Wie jenen das Wasser, zog diesen die Luft an, und ein großer Bastler war er von jeher gewesen. Die ersten Drachen hatte er sich mit viel Gummi und klebrigen Fingern selbst zusammengeleimt; Windmühlen wurden sein nächstes Ziel, und jetzt stand in einem leeren Raum neben Großmamas Garage ein seltsam vogelartiges Ungeheuer, das ein Flugzeug werden sollte. Am liebsten ginge ich doch als Flieger mit, erklärte er dem21 seefahrenden Bruder, aber die Ausbildung dauert zu lange, da käme ich womöglich gar nicht mehr raus, ehe wir fertig gesiegt haben. Wenn die Engländer sich etwa unsern Feinden zugesellen sollten, wird’s nicht so schnell gehen, erwiderte bedächtig der andere.

Nach dem ersten Rundgang kehrten die Enkel in den Garten zurück, wo Großmama in schützender Laube den Tee zu trinken pflegte. In buchsumsäumten Beeten standen da duftende Levkoien von zarten, unbestimmten Färbungen, den verblaßten Kleidern gleich auf den Pastellbildern der gepuderten Ahnfrauen; große, vielfarbige Skabiosen erhoben sich darüber, wie die zu den Kleidern passenden altmodischen Hüte. Rittersporn blaute stolz und aufrecht über Balsaminen und Fingerhut, in dessen Blütenschuhchen dicke Hummeln träge schlummerten; wohlriechende Wicken umrankten verwitterte Sandsteinfiguren, und am Spalier an der Schloßwand reiften die ersten Pfirsiche, rot und samtig.

Von dem hochgelegenen Garten blickte man über mählich abfallende, gemauerte Terrassen hinab in das breite Tal. Sanft geschwungene Berge umsäumten es, ein Flüßlein schlängelte sich durch seine mit einzelnen Bäumen bestandenen Wiesen. Reifende Sommerwärme zitterte in der Luft. Eine Gegend war es, die jeder Mann, der in ihr groß geworden, lieben, die zu verteidigen er wünschen mußte, ein so ganz weiblicher Zauber stieg ja aus ihr empor. Nichts Hartes, Rauhes war da in der ganzen Landschaft. Sanft und schwellend die Linien ihrer Hügel, Mädchengeflüster gleich das Plätschern ihres kleinen Flusses. Weiblich die blühende22 Lieblichkeit ihrer Frühlinge, weiblich jetzt auch die üppige Fruchtbarkeit ihres Hochsommers und nahenden Herbstes. Und die drei noch beinah knabenhaften Männer mußten dies, an der Brüstung des Schloßgartens lehnend, in dieser Stunde empfunden haben, denn plötzlich, nach langem schweigenden Schauen und Sinnen, sagte der eine mit bebender Stimme und einer neuen, scharfen Falte auf der jungen, glatten Stirn: Wenn ich mir dächte, daß Feinde je hier in unser Tal eindrängen, das wäre , das wäre Er hielt inne, nach Worten suchend für diese so gänzlich neuen Gefühle. Doch schon fiel ein andrer Bruder ein: Das wäre, als würde eine wundervolle Frau von Bösewichtern geschändet.

Strahlend ging die Sonne an Großmamas achtzigstem Geburtstag auf, als habe sie auf Erden nur frohe Feste zu bescheinen. Fleißige Hände waren am Werk gewesen, so daß Großmama, die Frühaufsteherin, so zeitig sie auch erschien, doch schon alles geschmückt vorfand. Ein Wettbewerb zwischen Förster und Gärtner war es geworden: Laubgewinde, Blumensträuße wohin man blickte. Und auf dem blumenumkränzten Frühstückstisch Mamsells köstlichste Gebäcke. Und um diesen Tisch eine scheinbar so fröhliche Tafelrunde, die Greisin im weißen Gewand inmitten der lebensvollen Enkel. Aber doch schon da in der frühen Morgenstunde auf allen lastend die ungeheure Spannung. Vergessen hatten sie wohl die Jungen in gesundem Schlafe, aber gleich beim Erwachen war sie dagewesen, hatte wartend an den Betten aller Schläfer gestanden23 und ihnen, während sie dem kommenden Tage noch halb träumend entgegenblinzelten, zugeflüstert, daß dies kein Tag wie irgendein je früher erlebter sein würde.

Dann begannen die Glocken der Schloßkirche zu läuten. Zu beiden Seiten der Eingangstür waren Birkenbäumchen aufgepflanzt. Als ob es Pfingsten wäre, sagte Großmama und dachte, ach! wenn doch heiliger Geist auf die Völker niedergehen möchte, aber ich fürchte, keines versteht mehr des andern Sprache.

Vollgefüllt wie wohl noch nie war die Kirche; das ganze Dorf war heraufgekommen und noch viele aus umliegenden Ortschaften; Vereine hatten Abordnungen mit ihren Fahnen gesandt, und die Gemeindeschwestern sah man, die Förster, Inspektoren und Pächter der Vorwerke. An der alten Orgel mit dem weißgoldnen, geschnitzten Gehäuse saß der Kantor, und als Großmama nun in ihre Loge trat, umgeben von den Enkeln, da brauste es ihr aus den Orgelpfeifen entgegen: Großer Gott, wir loben dich, wir preisen deine Güte.

Ein Festdankgottesdienst hatte es ja werden sollen, wie ihn wohl abhalten darf, wer nach pflichterfülltem Leben den achtzigsten Geburtstag in voller Rüstigkeit erreicht. Auf eine Festpredigt vorbereitet war auch der alte Pastor gewesen, der ja eine ganze Reihe jener achtzig Jahre hier miterlebt hatte. Aber während er sprach, änderte sich unwillkürlich die Rede, weil auf ihm, wie auf allen, der Druck der Stunde gar zu schwer und beklemmend lag. Und als er, zu dem Deckengemälde der Kirche aufschauend, von dem Auge Gottes sprach, das liebevoll auf Großmamas langem Leben24 geruht und sicher Wohlgefallen an ihrem weisen, friedlichen Walten gefunden, da kamen ihm ganz von selbst die Worte, daß Gott liebevoll herabschaue auch auf das ganze deutsche Volk, und daß, was er auch an dessen Wandel vielleicht mit Schmerz in all den Jahren gesehen haben mochte, Mangel an Friedfertigkeit doch keinesfalls je darunter gewesen sei. Das Gefühl, das alle erfüllte, zitterte auch in der Rede des Pastors: Angst war es keineswegs, und in jenen Stunden, da nicht Krieg, sondern erst Kriegsgefahr herrschte, auch noch nicht eigentlich Zorn und Entrüstung, eher ein Erstaunen, daß solcher Frevel überhaupt möglich sein sollte. Das Schlußgebet, das für Großmama weitere Jahre erflehte, klang denn auch aus in der Bitte, daß diese Jahre vom Frieden gesegnet und das unabwendbar Scheinende durch Gottes Güte doch noch verhindert werden möchte.

Sie beteten es alle inbrünstig, am inbrünstigsten wohl Großmama selbst oben in der Loge zwischen den langaufgeschossenen Enkeln. Aber es ward ihr keine unmittelbare innere Antwort, kein Bewußtsein der Erhörung, wie oftmals nach Gebeten. Sie glaubte nur immer wieder dieselbe beklommene Frage in sich zu hören, die sie seit dem Frühmorgen verfolgte: Werden wir je wieder alle zusammen diesen Tag hier so begehen dürfen, oder ist es das letztemal? Das war ja nun bei einer Achtzigjährigen kein so verwunderliches Gefühl, und auch ohne alle Kriegsgerüchte wären Großmama an diesem Tage wohl ähnliche Gedanken gekommen. Aber dann würde sie sich in stiller Wehmut25 gesagt haben, daß sie diejenige sei, die in Jahresfrist gar leicht im Kreise fehlen konnte. Ohne sonderlichen Schrecken würde sie das gedacht haben, denn was lag daran, ob solch langes Leben noch um eine kleine Zahl Erdentage verlängert wurde oder nicht. Es war ja doch eigentlich zu Ende und war wohlangefüllt gewesen. Jetzt aber konnte sie gar nicht, wie sie es sonst getan, an irgendeine Gefährdung des eigenen Daseins denken. Das schien plötzlich gefeit. Die Gefahr betraf ja die jungen Leben die drei dicht bei ihr, die andern hier in der Kirche, die vielen im ganzen großen Reich sie, die alle erst Anfänge schienen. Das allein war das Schreckliche.

Von ihrem Platze aus konnte Großmama gerade den Gedenkstein sehen, den sie dem Mann und Sohn errichtet hatte, die vor vierundvierzig Jahren ins Feld gezogen und nicht heimgekehrt waren. Sollte nach unerforschlichem Ratschluß wieder einmal in der Geschichte der Augenblick gekommen sein, da viel Saat von Gott gesäet für die Garben reif befunden würde?

Zum Nachmittag hatten sich, alter Gewohnheit gemäß, eine Menge Gratulanten aus der Nachbarschaft angesagt. Aber schon beim Verlassen der Kirche kamen die ersten Absagen. Da waren Eltern, die telephonierten, daß sie zu ihren Söhnen fuhren, um sie, was auch kommen möge, noch gesehen zu haben; Gutsbesitzer, die vor ihrer wahrscheinlichen Einberufung die landwirtschaftlichen Arbeiten möglichst anordnen wollten; Regierungsbeamte, die ihre Posten nicht mehr verlassen durften, da jeder Augenblick die wichtigsten Befehle26 bringen konnte. Man fühlte schon die nahende Unterbrechung jedes gewohnten Lebensganges. Während noch über all diese Nachrichten gesprochen wurde, ward auch schon dem Seemann eine Depesche gebracht. Die Rückberufung in seinen Hafen. Er war der erste, aber der Kavallerist hatte nicht lange zu warten, da hielt auch er den Befehl in Händen, sich umgehend bei seinem Regiment einzufinden. Die Entscheidung mußte also wohl nahe bevorstehen, war vielleicht schon gefallen. Eine neue Ruhe und Entschlossenheit kam über die beiden; fest und stark gaben sie ihre Befehle für die nötigsten Vorbereitungen, denn die Pferde, die der Älteste bis zu den Herbstmanövern bei Großmama stehen lassen wollte, sollten nun zu ganz anderen Manövern rasch in die Garnison gebracht werden, und mit dem nächsten Zuge mußten sie selbst ja fahren; aber sie fanden doch noch Zeit, mit dem Inspektor allerhand wirtschaftliche Fragen schnell zu bereden und ihm, dem daheimbleibenden Landsturmmann, Großmama ganz besonders zu empfehlen. Denn in den bisher von ihr Umhegten war plötzlich ein ungekanntes Verantwortungsgefühl für sie erwacht. Zum Vorsorgen, zum Verteidigen waren sie, die Jungen, jetzt da, wenn wirklich, was sie liebten, frevelnd angegriffen werden sollte. Großmama hörte still zu mit einem seltsam frohen Lächeln: daß ihnen die männlich erziehende Hand gefehlt, war diesen Enkeln wahrlich nicht anzumerken. Und auch mit dem Jüngsten konnte sie zufrieden sein. Bei dem war zwar noch nicht so viel Gemessenheit wie bei den ältern, da lohte die Begeisterung noch hell27 jauchzend und ungehemmt, aber seine Pläne hatte auch er in neuer Selbstbestimmung schon fest gefaßt. In das Internat wollte er gleich zurückkehren, um sich dort zu verabschieden, und dann sofort in die Garnison des Bruders fahren; die schriftliche Erlaubnis zur freiwilligen Meldung beim Regiment mußte Großmama ihm mitgeben.

Ja, richtige Geburtstagsgeschenke waren diese Enkel, und es kam Großmama auch wirklich vor, als würden sie ihr in dieser Stunde erst recht geschenkt, als habe sie sie vorher nie so ganz gekannt und besessen. Aber in dies stolze Bewußtsein, daß die heutigen Jungen würdig geworden jener, die drunten in der Gruft schlummerten, in die erwärmende Seligkeit, die ihre Zärtlichkeit über diese letzte Stunde breitete, mischten sich doch wieder die bangen Fragen: War es vielleicht wirklich das letztemal, daß sie alle so zusammenstanden? Und wer würde fehlen, wenn das, was jetzt begonnen wurde, zu Ende geführt sein würde? Vielleicht dachten die Enkel Ähnliches; sie sagten zwar stolz und froh: Auf Wiedersehen! und ließen keinerlei Rührung aufkommen, aber als sie dann in dem leichten Jagdwagen den Berg wieder hinabfuhren, blickten sie alle zurück nach der Hauspforte, in der Großmama stand, blickten, so lange sie noch irgend zu sehen war, als wollten sie sich dies altbekannte Bild noch einmal ganz genau einprägen. Und dazu blaute der Himmel, überall grünte, prangte und reifte es unter der heißen Nachmittagssonne, und die Heimat zeigte sich den Scheidenden schöner denn in irgendeinem frühern Sommer.

28

Als die Brüder in ihren Garnisonen eintrafen, war die Entscheidung gefallen.

Und dann kamen Tage und Tage, wo es schien, als flute die ganze wehrhafte Männerwelt in einem ungeheuern grauen Strom aus dem Lande. Und immer neue Wellen folgten. Alle in derselben Richtung. Alle nach Westen. Auch durch die kleine Station bei Großmamas Gut fuhren die langen Züge während Tagen und Tagen. Und auch die Nächte hindurch tönte ihr Rollen vom Tale zum Schloß hinauf. Dies Rollen klang verschieden vom Rollen anderer Züge. Man hörte förmlich die Schwere dieser langen, langen Wagenreihen. Und sie waren ja auch schwer von Hoffnungen, die sie trugen, von Sorgen und Wünschen, die sich an sie hefteten.

Jedesmal, wenn ein Zug angemeldet war, strömten die Daheimgebliebenen aus den benachbarten Dörfern zu der kleinen Station, alle beladen mit irgend etwas, das sie den Ausrückenden schenken wollten. Denn wenn auch in dieser dichtbevölkerten Gegend die Städte nahe beieinander lagen, in deren Bahnhöfen Speisungen stattfanden, so wollte doch auch solch kleine Haltestelle nicht nachstehen. Ein Bedürfnis zu geben und zu schenken war in jedem, der Wunsch, den Scheidenden noch etwas Liebes anzutun, sie möglichst auszurüsten und zu stärken für Kampf und Sieg. Jedes Brot, jede Zigarre, die in die bekränzten Wagen gereicht wurden, sollten sich ja wandeln in Kraft, die die Feinde schlüge. Die Empfänger nahmen es alles mit guten, etwas verdutzten Gesichtern entgegen. Einfache Leute zumeist,29 die ihre bescheidenen Lebenswege bisher unbeachtet gegangen, wunderten sie sich offenbar, mit dem Anlegen der neuen grauen Röcke plötzlich in aller Augen Gegenstände der Liebe und Fürsorge geworden zu sein. Manchmal auch wehrten sie den Überfluß bescheiden ab; meinten, sie hätten ja genug, streckten aber alle die Hände eifrig aus nach Zeitungen und Postkarten, wollten auch gern etwas erzählt hören über den lachenden Landesteil, durch den sie fuhren. Wenn dann der Zug sich langsam wieder in Bewegung setzte, stimmten sie, zurückwinkend, ihre Lieder an. Und durch das sonnige Tal schallten die frischen Stimmen, bis sie vom Rollen der Räder verschlungen wurden, und von dem enteilenden Zug mit all dem blühenden Leben, das er führte, nur noch ein leichter Rauchstrich in der warmen Sommerluft zurückblieb.

Großmama kam bisweilen an die Station herunter, um die Ausrückenden zu sehen. Wieviel prächtige, wohlgebildete Gestalten waren doch darunter, als ob wählende Hand von einem ungeheuern Felde die schönsten, vollsten Ähren ausgelesen hätte. Ruhe, ja beinah Heiterkeit sah Großmama aus den meisten Zügen, die Unbekümmertheit derer, die wissen, daß sie ihre Pflicht erfüllen, und die sie auch unaufgefordert auf sich nehmen würden, weil sie von der Gerechtigkeit ihrer Sache durchdrungen sind. Und Großmama fühlte, daß gerade dies starke Bewußtsein der angeborenen germanischen Kampfbereitschaft erst die wahre wuchtige Stoßkraft verleihen würde. Ja, ein Schimmer freudiger überzeugter Freiwilligkeit lag auf den Tausenden, die hier30 vorbei kamen, wie über den Millionen der Ausrückenden, wie über denen, die sich stündlich noch vom Lande in die Kasernen drängten. Großmama hatte es ja an ihren eigenen Angestellten erlebt, wie so mancher von ihnen, alles stehen und liegen lassend, freiwillig aus sicherm Verdienst davongeeilt war, ihr Abschiedsgeschenk, eine Zigarrenkiste, als einziges Gepackstück in der Hand, um nur ja noch rechtzeitig zur Freiwilligen-Meldungsstelle zu kommen. Allesamt vom heiligsten Drange getrieben, allesamt Fünkchen in dem flammenden Meere der großen Begeisterung.

Bei all den jungen Gesichtern, die in den Zügen vorüberglitten, mußte Großmama an die eigenen Enkel denken. Der Jüngste wurde ja noch ausgebildet in der Ersatzschwadron des Regiments seines Bruders, aber die beiden andern waren schon draußen. Der Seemann hielt Wacht auf nordischem Meere, und der Älteste war gleich noch am ersten Tage ausgerückt. Ein paar eilige Postkarten hatte er von unterwegs geschrieben.

Solche Grüße schon von jenseit der Grenze, wie auch das Fortziehen der Pferde, die Beschlagnahme der Automobile und all die Nachrichten der hastig durchflogenen Zeitungen und Extrablätter brachten die Wirklichkeit des Geschehens wohl zum Bewußtsein. Aber neben all dem, was den Zusammenhang mit jedem Frühern zu zerreißen schien und die bestbedachten Pläne und Berechnungen zusammenbrechen ließ, was Menschen, Tiere und Dinge zu ungeahnten neuen Verwendungen umwandelte neben all dem mußte doch auch das altgewohnte Leben mit seinen Arbeiten und Zielen31 weitergeführt werden. So wurden im Garten noch die letzten Stachelbeeren und Himbeeren, wurden schon frühe Pflaumen und Pfirsiche gepflückt; in der Küche weckte Mamsell das viele Obst und Gemüse in unzähligen Gläsern ein; vom Schloßgarten herabschauend ins Tal sah man das Beginnen der Ernte in den wogenden goldenen Feldern. All dies Tun schien genau so, wie Großmama es in all den vielen Jahren um diese Zeit zu sehen gewohnt gewesen und so unendlich friedlich, daß sie dabei jetzt manchmal plötzlich von dem Gedanken erfaßt wurde: Es ist ja gar nicht Krieg, es ist nicht wahr, es kann nicht wahr sein! Die Empfindung des Traumhaften, Unwirklichen begleitete sie in dieser ganzen ersten Zeit, und sie versuchte sich wachzurütteln, um endlich den furchtbaren Alp abzutun bis dann schließlich auch das Grausigste ins Bewußtsein überging und Gewohnheit wurde.

Siegeskunden kamen geflogen. Siegesfahnen wehten. Wehten oben auf dem Schloß wie unten im Dorfe. Aber nicht nur frohe Botschaften tönten wie jubelnde Fanfaren durchs lauschende Land, auch düstere Trauernachrichten kamen geschlichen. Brachten ihr Leid ins Dorf, brachten es auch hinauf in das Schloß. Bei einem Patrouillenritt, zu dem er sich freiwillig gemeldet, war der älteste der Enkel gefallen. Ruhte nun fern in Feindesland. Mitten im ersten großen Siegeslauf, dem die ganze Welt in atemloser Spannung folgte, war er geblieben. Etwas Sieghaft-Frohes hatte immer in seinem Wesen gelegen so war auch sein Tod gewesen. Kein Schatten möglicher Umkehr im Angesicht32 schon winkenden höchsten Preises, keine Ahnung jahrelangen, zermürbenden Kampfes in Gräben und Schlachten hatten ihn auch nur gestreift. Im vollen Glauben an brausende Unüberwindlichkeit, die sich in wenigen Wochen schon durchgesetzt haben würde, war er dahingerafft worden. Als einer der ersten. Und diese ersten Verlustnachrichten waren so erschütternd in ihrer Neuheit, wie die ersten Schläge einer Glocke, die zu langem Trauergeläut anhebt.

Ja, so rasch schon hatte sich die bange Ahnung von Großmamas Geburtstag erfüllt. Nie mehr würden sie alle zusammen, wie an jenem schon so fern scheinenden Morgen, in der Schloßkapelle der alten Orgel lauschen. Bei allem würde dieser eine nur immer fehlen. Und in der Reihe der Gedenktafeln, an dem Platz, wo Großmama stets gedacht, daß ihr Name einst eingemeißelt werden sollte, würde statt dessen nun seiner stehen. Es schien unfaßbar, daß solch frohe Jugend, die vor wenig Tagen hier noch so lebensvoll geatmet hatte, nun vernichtet sein sollte. Unfaßbar, ungeheuerlich für die, die es gerade traf, und die, geknickt von Trauer, nun zurückgeblieben im großen Kriegsgeschehen jedoch nicht von mehr Belang, als wenn aus einer Sandwolke, die der Sturmwind vor sich herjagt, ein Stäubchen zu Boden sinkt und liegenbleibt. Nichts. Nur, daß in einem kleinen Kreise einer fortan fehlte, daß ein paar teilnehmende Worte von Kommandeur und Kameraden kamen und ein rührend-unbeholfenes Briefchen des Burschen über jenen letzten Ritt, auf dem er seinen Herrn begleitet. Dann noch das Eintreffen33 einiger Andenken, darunter wohlverwahrt die wenigen Zeilen, die der Gefallene im Felde noch aus der Heimat empfangen. Überbleibsel eines Lebens. Großmama hatte dies bißchen, was nun alles war, in sein Zimmer getragen und schloß es dann ab. In einem alten Schloß ein Zimmer, das nun nicht mehr gebraucht wurde, und in der Kreuzzeitung eine Anzeige. Ja, das war alles.

Der ungeheure, graue Menschenstrom aber raste weiter. Und eben erst in seiner Unabsehbarkeit vorbeigeflutet, verlangte er doch schon Nachschübe.

Großmama erhielt ein Telegramm. Mit zitternden Händen öffnete sie es. Es war von dem jüngsten Enkel aus der Garnison und besagte, daß die Ersatzschwadron ganz unerwartet rasch, in zwei Tagen schon, ausrücken würde.

Großmama machte sich gleich auf den Weg. Eigenes Bedürfnis war es, dieses Jüngsten Ausfahrt mitzuerleben, und zugleich der Gedanke, der sie in all den Jahren begleitet hatte, die Enkel, soweit es an ihr lag, nie die Eltern vermissen zu lassen, wenn sie sich ihnen dabei auch freilich meist wie mit geschlossenem Visiere zeigte, um sie nur ja jeder unnützen Weichheit zu entwöhnen. Eine noch so kleine Reise war in jenen Tagen aber ein Unternehmen. Müde von der Fahrt in überfüllten Zügen und dem unbestimmten Warten auf Bahnhöfen, ergriffen vom ersten Zusammentreffen mit Verwundeten und Sanitätsmannschaften, mit dem ganzen Apparat des großen organisierten Kriegsleidens, kam Großmama endlich abends in der kleinen Garnisonsstadt an. Und war dann doppelt froh, daß sie34 doch auch gekommen, denn der Gasthof des Ortes war voll von Angehörigen der ausrückenden Freiwilligen und Fahnenjunker. Es war das Regiment, in dem die Gutsbesitzerssöhne der ganzen Gegend besonders gern dienten; die zum Abschied Gekommenen waren daher lauter Nachbarn und Bekannte, die Ausrückenden Schulfreunde oder Korpsbrüder, Kameraden schon lange vor dem Krieg. Kurzgeschoren waren sie alle und steckten schon in dem grauen Kammerzeug, sahen dadurch schwerer und unbeholfener als sonst, ihren Angehörigen zuerst fremd aus, manche auch etwas müde von dem ungewohnten scharfen Dienst dieser wenigen Ansbildungswochen alle aber erfüllt von großer ernster Freude, nun auch an die Reihe zu kommen. Humor auf den Lippen, in den Augen aber ein Wissen von dem, was ihnen draußen bevorstehen mochte, und ein Bereitsein zu allem, auch zum Schwersten. Eine Verklärtheit, die dem entsprang, daß das letzte Opfer von jedem unter ihnen innerlich gebracht war. Und als beim Gottesdienst, der am Vorabend ihrer Abreise für die Ausrückenden und ihre Angehörigen in der Garnisonskirche gehalten wurde, der Prediger sagte, daß sie keinen leichten Gang gingen, sondern daß Hunger und Kälte, Schmerz und Tod ihrer harrten, da erbebten wohl die Verwandten, aber aus all den jungen Augen leuchtete nur ein entschlossenes: Und wenn auch, mögen sie doch kommen!

Bei frühstem Morgengrauen sollte die Ersatzschwadron verladen werden. Erster Herbstnebel lag grau und schwer über der schlafenden Stadt. Durch die35 noch leeren dunklen Straßen hallte der Hufschlag nahender Pferde auf dem feuchten Pflaster, lange ehe etwas von ihnen zu sehen war. Plötzlich tauchte gespensterhaft der graue Zug auf, schon dicht an dem Gasthaus. Drunten in der Haustür standen schon wartend die Verwandten der Ausrückenden. Die schlossen sich nun dem Zuge an. Da waren Mütter, die, neben dem Pferde schreitend, ihres Sohnes Hand hielten, Väter, Schwestern, die Körbe voll Eßwaren, Päckchen letzter Erinnerungsgaben trugen. Großmama wollte auch so neben dem Enkel mitgehen, hatte sich aber doch, auf Zureden aller Bekannten, bequemen müssen, in einem Wagen zu folgen.

Auf dem Bahnhof dann, in dem sich senkenden Nebel, ein Gewühl von Pferden und grauen Gestalten, das zuerst unentwirrbar schien und sich dann doch rasch ordnete. Je sechs Mann und sechs Pferde in jeden der bekränzten Waggons. Die Pferde zu drei und drei an den beiden Schmalseiten stehend, mit den Köpfen nach der Mitte, wo Reiter, Sättel, Satteltaschen und Eßkörbe verstaut waren. Mit fünf Freunden von der Prima, gleich ihm als Fahnenjunker eingetreten, war der jüngste Enkel untergebracht. An der offenen Schiebetür stand er, und Großmama steckte ihm Rosen an, wie es alle Mütter taten. Keine Bange, Großmama, sagte er, wir werden’s schon schaffen. Großmama aber bangte gar nicht gerade darum. Doch nun kam der zurückbleibende Wachtmeister, der die ausrückende Ersatzschwadron, unter viel Schimpfen und Fluchen, in den wenigen Wochen mühsam ausgebildet hatte, noch einmal36 den Zug entlang gelaufen. In jeden Wagen steckte er revidierend den breiten, roten Kopf, auch in den der sechs Primaner. Na, Kinderchen, sagte er, kommt mir man ja gesund wieder heim. Und Großmamas Enkel stand stramm vor dem Gestrengen: Zu Befehl, Herr Wachtmeister, wollen sehen, was sich machen läßt. Dann hub die Musik zu blasen an, ein Zittern ging durch die Wagenreihen, die Räder begannen sich zu drehen, unter Gesang, mit wehenden Tüchern und letzten noch hin und her gerufenen Worten rollte auch dieser Zug davon.

Von den Zurückbleibenden weinte niemand, sie sprachen nur alle etwas laut und hastig, als sei da etwas, das übertönt werden müßte.

Der Tod des ältesten, das Ausrücken des jüngsten Enkels folgten so rasch aufeinander, daß es Großmama erst nach ihrer Heimkehr aus der Garnison ganz zum Bewußtsein kam. Sie saß nun oft in dem geschütztesten Teil des Gartens, wo nach den Sommerblumen jetzt Malven, Dahlien und Herbstanemonen blühten. Und sie sah über die sanft abfallenden, gemauerten Terrassen hinab in das Tal, sah, wie sich die allherbstliche Wandlung vollzog, die Blätter der Kirschenplantagen an den Hängen rubinrot zu leuchten begannen, auf den abgemähten Wiesen die Zeitlosen ihre lila Kelche öffneten und aus blassem Dunst die vereinzelten Baumgruppen golden hervorschimmerten. Der reife Sommerzauber war vom Antlitz der Gegend geschieden, einer schön gewesenen Frau glich sie jetzt, die ihre welkenden Züge hinter weich verschleiernde37 Gewebe verbirgt. Aber nicht nur was da war, sah Großmama. Ihr Blick reichte ja weit zurück in längst Gewesenes. Denn vor der eigenen Generation hatte sie hier ja noch die zwei früheren gekannt, wie sie noch die beiden ihr folgenden erlebte. Auf viele, viele Menschen konnte sie sich besinnen, die einst hier gewandelt und nun längst nicht mehr da waren wenigstens nicht mehr als für sie sichtbare. Aber in irgendeiner andern Form bestanden sie sicherlich irgendwie weiter. Großmama war davon fest überzeugt. Sie konnte sich ja auch so gut auf bestimmte hohe Bäume ihres Forstes besinnen, die im Lauf der Jahre bei verschiedenen Schlägen gefällt worden waren. Wie sie umsanken und dann geschält und fortgefahren wurden. Die waren auch nicht mehr da, aber manche von ihnen segelten als Schiffsmasten auf hoher See, andere waren eingebaut in den Häusern großer Städte. Die einstigen im Winde rauschenden Waldriesen hätte unter ihrer jetzigen Gestalt wohl niemand gleich erkannt, und doch waren es dieselben. Umwandlung war alles, waren Leben und Sterben.

Und ein großer Umwandler war auch der Krieg, mit seinen neuen Verwendungen von Menschen und Dingen. Zu Rohstoff war alles, waren alle geworden, auch jene, die sich bis dahin als geistig besonders Differenzierte, für Ausnahmewesen gehalten hatten. Und Rohstoffen gleich ließen sie sich willig zu dem formen, was gerade am notwendigsten gebraucht wurde. Nicht nur jene, die freiwillig zu den Fahnen geeilt waren, wo Gelehrte und Handwerker, Zirkusleute und längst38 ausgediente alte Zivilbeamte zusammen in Reih und Glied standen, um sich das eindrillen zu lassen, was not tat, nein, auch den Daheimgebliebenen ging es ähnlich. Irgendwie war jeder mit in den Krieg gezogen, gab etwas dafür, wandelte sich selbst zu einer neuen Bestimmung. Helfen wollen war die eine große Losung.

Auch Großmama gehörte zu denen, die ihr Teil leisteten. Ein weitläufiges Nebengebäude hatte sie gleich zu Lazarettzwecken angeboten, und jetzt, wo die Verwundeten sich täglich mehrten, wurde es belegt. Konnte auch Großmama nicht mehr selbst pflegen, so saß sie doch täglich an den Betten ihrer Schützlinge und erzählte diesen ihr so plötzlich hereingeschneiten fremden Enkeln, was sich so in ihrem langen Leben an freundlichen Eindrücken und heitern Geschichtchen angesammelt hatte. Die eigenen Enkel kamen dabei oft vor, und die Verwundeten kannten sie bald ganz genau. Der Gedanke an die Enkel, an den toten und die lebenden, begleitete Großmama ja auf allen Wegen, und bei allem, was sie andern tat, war ein ihr selbst kaum ganz bewußter Versuch zu paktieren: Was ich nur irgend kann, will ich diesen Armen hier geben, aber daß mir dafür meine beiden draußen erhalten bleiben.

Für den Pastor gab es in dieser Zeit viel zu tun. Einige Lehrer der Schule waren einberufen, deren Unterrichtsfächer er mit übernommen hatte. Und es waren so manche im Dorf zu ermuntern, denen die Feldpostbriefe zu spärlich eintrafen, und andere zu trösten, für die sie nie mehr anlangen würden. Häufig39 auch hatte er Rat zu erteilen, wo die Neuforderungen an der Menschen Kräfte und Anpassungsfähigkeit gar zu plötzlich und verblüffend schienen. Aber neben alle dem fand er doch oftmals Zeit, zu Großmama und ihren Verwundeten zu kommen. Großmama gegenüber brauchte er auch nicht der immer Gebende zu sein. Vor der so viel Älteren konnte er sich selbst einmal aussprechen über alles, was ihn bedrückte. Seine Kümmernis war der Haß, der durch die Welt ging und mit jedem Schritt zu wachsen schien. Denn die Zeit des ersten ungläubigen Erstaunens vor dem, für die Massen wenigstens, so plötzlich entstandenen Kriegsphänomen war längst vorüber. Zorn und Empörung waren an seine Stelle getreten. Zorn, daß es kleinen, aufwiegelnden Rotten in den feindlichen Ländern wirklich gelungen war, die in Halbschlummer hindämmernde Welt in all diesen Jammer zu zerren; Empörung, daß die so lang schon Zwietracht Säenden, Neid und Mißgunst Hegenden es nun auch noch verstanden, den Überfallenen als Angreifer darzustellen, und diesen bei so mancher Gelegenheit saumselig Friedfertigen vor der ganzen Welt als hinterlistigen, seit langem nur des Anlasses zu Raub und Mord Harrenden zu brandmarken. Der Apparat der Verleumdung hatte ja vom ersten Tage an nach längst erwogenen Plänen und wohlbewährten Methoden gearbeitet, denn diese Organisation befand sich offenbar schon vor dem Kriege in latent mobilisiertem Zustand. Sie schob sofort ihre Truppen von Lügen, Verdrehungen und Aufreizungen zwischen den zu Vernichtenden und das Urteil der40 übrigen Welt, schnitt ihn ab von aller Möglichkeit zu appellieren und lehrte dem Eingekreisten die Wahrheit des alten Wortes: Wehe dem, der allein ist. Der Pastor aber, dessen freundliche Augen ein Leben damit verbracht hatten, überall das Gute zu suchen und zu finden, konnte es nicht verwinden, daß jeder in jedem nicht nur den augenblicklichen Gegner, sondern das Böse an sich erblickte. Es grämte ihn im tiefsten Herzen, sein Deutschland so verleumdet und so verhaßt zu sehen, daß es selbst wieder hassen mußte, und er konnte es oft kaum fassen, daß Gott all diese Ungerechtigkeit, diese allgemeine Verbösung der Welt zuließ und doch rettete er sich immer wieder vor den Menschen, bei denen es keine Unparteilichkeit mehr gab, zu Gott, dem höchsten Richter.

Großmama staunte weit weniger über das, was Wort und Feder, eifersüchtig auf das Verheerungswerk von Schwert und Feuer, ihrerseits zerstörten, und sie wunderte sich nicht gar so sehr über den grimmen Haß, der allerwärts auflohte wie ein seit langem glimmendes, nur mühsam unterdrücktes Feuer, dessen flackerndes Flammenlicht nun alles entstellte. Zu oft ja hatte sie in ihrem langen Leben an den Schicksalen Einzelner beobachten können, wie sich der Neid besonders gern an jede durch irgendeine Eigenschaft plötzlich neu hervorragende Menschengestalt heftet, deren Bedeutung eine noch nicht ganz in die allgemeine Gewöhnung übergegangene ist und die daher noch bestritten werden kann. Gegen solche Wesen hatte Großmama den Neid arbeiten sehen mit seiner unheimlichen Waffe, der Verdächtigung. 41Er flüsterte von maßlosen Bestrebungen, vom Wunsche, andere aus längst erworbenem Ansehen zu verdrängen; er weckte das Mißtrauen, mobilisierte überall das Böse, zwang es in seinen Dienst. Und dann war bald die Leere um also Betroffene geschaffen. Von argwöhnisch Lauernden wurden die oft Ahnungslosen umspäht, und bei erstem günstig scheinenden Anlaß fielen die Schadenfrohen wie eine Meute über sie her, verfolgten sie, hetzten sie zu Tode. Auch Großmama hatte solche zu Tode Gehetzten wohl gekannt. Darum dünkte es sie nicht eben sonderbar, daß es im Leben der Völker ganz ähnlich zuging. Daß auch da mit verschiedenerlei Maß gemessen wurde und jede noch so sinnlose Verdächtigung willige Hörer fand. Daß sich auch da alle zusammenscharten, um einen neu Emporstrebenden, sie unbequem Dünkenden hintanzuhalten, ihm als Habsucht und Machtgier anrechnend, was sie sich selbst doch seit Jahrhunderten gestatteten, Haß gegen ihn entfesselnd, Einsamkeit um ihn schaffend, um ihn dann vernichten zu können.

Aber Großmama hatte auch erfahren, daß die Taten der Menschen oftmals ganz andere Wirkungen zeitigen, als diese beabsichtigt. Sie hatte bisweilen erlebt, wie solch ungerecht Befehdete aus aller Not, die Anfeindung und Verfolgung ihnen schufen, doch einen unvorhergesehenen Gewinn retteten; wie aus der Vereinsamung, die ihnen zugedacht worden, eine innere Festigung und Sammlung der Kräfte erwuchsen, ein Gehobensein auf eine höhere Ebene, die wohl einsam zu nennen war, aber einsam durch ihre Stärke, einsam,42 weil das Böse nicht hinreichte und dort nicht mehr verletzen konnte. Es gab Menschen, deren Leben schon auf dieser Erde wie ein Leben nach dem Tode war, weil sie durch die Qual der tiefsten Verlassenheit einmal geschritten waren und das, was sie danach gefunden, war eben das bessere, das höhere Leben. Und Großmama sagte sich, daß, wie jeder Einzelne, wohl auch jede Gesamtheit einmal das äußerste Maß ihrer Leidensfähigkeit erreichen muß, daß aber eine Macht, die über allem steht, bestimmt, was das endgültige Ergebnis solchen Leidens sein soll, und oftmals zu Gewinn wandelt, was Feindestücke zu Verderb ersann. Auf solche Erfahrung verwies sie, die in langem Leben still und weise Gewordene, manche Jüngere, wenn sie bei ihr Aussprache suchten, ganz verstört ob all des Schauerlichen, das sich ihnen urplötzlich offenbart hatte. Jüngere, die in allem Augenblicklichen noch Endergebnisse zu schauen wähnten, weil sie noch nicht, wie Großmama, erfahren, daß alles wandelbar ist, und denen Bosheit und Machtmißbrauch deshalb so ganz unerträglich dünkten, weil sie jedes ihnen bekannte Recht umzustoßen schienen, und sie darin etwas Unrichtiges, gleichsam einen Rechnungsfehler sahen, der das ganze Lebensexempel, das doch glatt aufgehen sollte, dauernd verwirren mußte. Bei solchen Gesprächen verwies Großmama dann wohl bisweilen auf das Deckengemälde in ihrer Schloßkapelle. Da sahen auch Säulen und Bogen schief und verzerrt aus, als müßten sie gleich umstürzen; aber von einem bestimmten Punkt aus betrachtet, erwies sich43 doch alles als richtig, nach festem Gesetz berechnet und aufgebaut.

Großmama pflegte alljährlich im Spätherbst nach Berlin zu fahren, um dort wohnende Freunde und Verwandte wiederzusehen und Weihnachtseinkäufe zu machen. Auch in diesem Jahr reiste sie hin und wohnte, wie gewöhnlich, in einem der großen Hotels.

Wie auf dem Lande, war auch in der Stadt das Wirken des großen Wandlers zu merken. Ganz neue Geschäftigkeiten hatten die Menschen, und wenn es auch nur war, daß solche strickten, die nie vorher ein Strickzeug in Händen gehalten hatten. Mit Müßiggang war eben plötzlich schlechtes Gewissen verbunden, und jeder suchte, wie früher vielleicht nach Zerstreuung, so jetzt nach Tätigkeit. Nicht jeder freilich fand die gerade für ihn geeignete, und hinter manchen Emsigkeiten mochte sich der Wunsch bergen, bemerkt zu werden, aber neben der Eitelkeit und Lächerlichkeit, die nun einmal Begleiterscheinungen alles Menschlichen sind, gab es doch eine überwältigende Fülle von rührenden Zügen völliger Uneigennützigkeit. Großmama fand sie auch unter den eigenen Bekannten, entdeckte staunend bei solchen, in denen sie keineswegs Arbeitsheroen vermutet hätte, nie geahnte Anpassungsfähigkeiten und Diensteifrigkeiten. Eigenschaften, die alle aus dem neuen Gefühl der Zusammengehörigkeit geboren waren, aus dem Bewußtsein, daß jeder jeden brauchte und sein Bestes beanspruchen durfte. Da gab es Frauen, die bisher hauptsächlich als Gesellschaftsgrößen gegolten und sich plötzlich Heiligen gleich offenbarten, die die44 Linderung irgendeiner Art des vielgestalteten Kriegsleidens zu ihrer Aufgabe erwählend, Lahme, Einarmige, Blinde oder seelisch Zerrüttete zu ihren besondern Schützlingen kürten. Andere Frauen, die früher still in ihren Häusern waltend nie hervorgetreten waren, jetzt aber auf Rednertribünen standen, mit beredten Worten um Hilfe werbend für vereinsamte Landsleute, die ihr Heim in fernen Ländern verloren und nun in der alten Heimat als Entwurzelte standen. Mädchen, die sonst nur dem Sport gelebt, hüteten die Kinder von Fabrikarbeiterinnen, Mädchen, denen vorher nur das Tändeln mit allermodernsten, bizarren Ideen wert erschienen, fühlten sich jetzt beglückt, in Volksküchen Kartoffeln zu schälen. Ganz alte längst ausgediente Beamte, die wieder in den Dienst getreten waren, nicht um hervorragende Stellungen einzunehmen, sondern um bescheiden die Arbeit irgendeines kleinen Schreibers zu tun, der draußen im Schützengraben lag. Jede Kraft freizumachen für dort, wo sie am meisten benötigt wurde, Ersatz zu schaffen für alles, was knapp zu werden begann, das war ja die große Losung in diesem Kampf gegen eine erdrückende Übermacht an Menschen und Stoffen. Nach diesem Grundsatz stellten die Leute sich ein, taten Alte die bisherige Arbeit von Jungen, Kranke die von Gesunden, traten Frauen an die leergewordenen Plätze von Männern. Nach diesem Grundsatz auch wurden die Dinge, die es noch im Lande gab, gesammelt und ihre Verwendung bestimmt. Wunder an Neuverwertungen wurden geleistet.

Ja, es gab viel zu bewundern, und am bewundernswertesten45 war es, weil es alles jetzt ja nicht mehr im Schwung der ersten großen Begeisterung geleistet wurde, die über jedes Hindernis mit Traumesleichtigkeit hinweggetragen hatte, sondern weil Erkenntnis der wirklichen Lage zu grimmig ernster Entschlossenheit geführt harte. Denn wie draußen im Felde der erste brausende Siegeslauf längst zum Stehen gekommen war und das ungestüme Vorwärtsdrängen sich zu verbissenem Ausharren gewandelt hatte, so war auch die Stimmung daheim verändert. Verstummt war der Jubel, mit dem die im Sommer ausrückenden jugendlichen Streiter, bekränzt und mit Gaben überschüttet, von weißgekleideten Mädchen geleitet worden waren. Wenn jetzt durch die winterlich düstern Straßen immer neue Reihen von Ersatzmannschaften zu den Bahnhöfen marschierten, so waren das ältere Leute; und nicht nur ihre Kleidungen waren grau, sondern eine ganze Schicht grauer Sorgen schien auf ihnen zu lagern, wie auf den vergrämten Frauen, die, neben ihnen schreitend, ihre ärmlichen Pappschachteln trugen. Sorgenvoll auch jene, die ihnen begegneten und ihnen wehmütig nachblickten, wie Kreuzesträgern, denen die ungeheuere Schuldlast einer ganzen Epoche aufgebürdet worden ist. Wenn sie so durch die Straßen zogen, spielte zwar die Musik an der Spitze der Züge und mischte die Weise vom guten Kameraden in das Tuten der Automobile, das Knirschen der Wagenräder im Schnee und all die tausend Geräusche der großen Stadt, aber jedem, der ihnen begegnete, kam dabei wohl der schmerzliche Gedanke an die vielen, vielen guten Kameraden, die schon46 entschwunden waren und nicht mehr ein jauchzend junger Kriegsgott schien die grauen Scharen zu führen, sondern es war, als schritte ein ernster Todesengel ihnen voran.

Traf Großmama solche ausrückenden Truppen, so steckte sie hastig den begleitenden Frauen von den Zigarren zu, die sie immer für solche Fälle bei sich führte, und dann faltete sie unwillkürlich die Hände. Ein Bedürfnis war es ihr, jedem, der so fortzog, etwas zu schenken, ein Bedürfnis, ihn dem Schutz höchster Macht zu empfehlen. Dabei mußte sie aber doch jedesmal dem Gedanken nachsinnen, daß, obschon für jeden einzelnen Ausziehenden sicher wenigstens einer daheim in banger Sorge betete, es ja unmöglich war, daß alle zurückkehrten. Viele dieser Gebete waren voranbestimmt, unerhört zu bleiben. Vielleicht die allerheißesten. Diese Auswahl wurde wohl nach Erwägungen getroffen, die hoch über aller Beeinflussung durch menschliches Bitten standen. Aber trotz solcher Erkenntnis war doch im selben Augenblick jedesmal der leidenschaftliche Wunsch in Großmama, daß jene beiden, die sie selbst noch draußen hatte und um die sie betete, unter den Berufenen zu den Auserwählten gehören möchten, die einst wiederkehren würden.

In der kleinen Kirche, die dicht neben Großmamas Hotel, zwischen all den ragenden Neubauten, als ein Überbleibsel aus alter Zeit bescheiden stand, ließ sich auch mancher Wandel beobachten, den die Not der Zeit geschaffen. Von den altgewohnten Besuchern, die ihre festen Plätze hatten und unter denen manche Großmama47 im Lauf der Zeiten bekannt geworden, saßen die meisten freilich, wie seit Jahren, so auch jetzt alle Sonntagmorgen in stammgasthafter Selbstverständlichkeit da, aber manche Veränderung gewahrte Großmama doch auch an ihnen, plötzlich gealterte Eltern, deren kaum erwachsene Söhne, frisch in Feldgrau gekleidet, noch ein letztes Mal hier neben ihnen standen; junge Menschenpaare, die sich, in dieser Zeit der kurzen Lebensläufe schnell gefunden, und denen man die Kriegstrauung sofort ansah; und vor allem Trauernde aller Art und aller Stände. Frauen, die in unnahbarer Erstarrung, stolz mit erhobenem Schleier standen, andere, die tief verhüllt sich hinter den Pfeilern zusammenkauerten, als ob Schmerz Schande sei. Und neben diesen Einzelnen drängten sich jetzt Scharen Anderer, Neuer, denen man anmerkte, daß sie wohl lange nicht in Kirchen gewesen, und die mit Liturgie und Gesangbuch nicht recht Bescheid wußten, deren krampfhaft gefaltete Hände und hungrig suchende Augen aber eine so vernehmliche Sprache redeten von dem heißen Verlangen nach etwas ganz Starkem, ganz Sicherm, das eine Erklärung böte für all das Grausam-Schaurige, das so plötzlich die unbedachte Sorglosigkeit bisherigen Lebens zerstört hatte und einen Halt gewahrte, wo alle gewohnten Begriffe von selbstverständlicher Geborgenheit hinter menschlichen Rechtsschranken ins Wanken geraten waren. Ganz ebenso wie die Vertriebenen aus Ostpreußen und dem Elsaß, wie die Auslandsdeutschen, die aus vielen Ländern nach Berlin geflutet kamen, waren auch diese neuen Kirchenbesucher recht eigentlich48 Flüchtlinge. Flüchtlinge der Welt, die unter dieser Kuppel Schutz und Frieden suchten.

Schließlich war Großmama aber doch recht froh, als sie wieder in ihr altes Schloß heimgekehrt war. In der großen Stadt war ihr manchmal gewesen, als sei sie in einer ungeheuern Werkstatt zu nahe an die zentrale Maschine geraten, die mit ihrer Kraft alle Räder, Hebel, Treibriemen und Bolzen in Bewegung setzt. Kaum zu ertragen war das Schwingen und Vibrieren gewesen, zu stark das Dröhnen und Stampfen.

Auf dem Lande war, mochte auch Krieg sein, doch immer ein gewisser Friede zu finden. Es schwirrten da nicht beständig tausend Gerüchte durch die Luft, die alles in Atem hielten, und, kaum vernommen, schon wieder durch neue, oft genau entgegengesetzte überholt wurden. Man hörte weniger von dem, was draußen und drinnen auf den vielen Kriegsbühnen und hinter ihren Kulissen tatsächlich vorging, aber auch weniger von dem, was in jedem einzelnen Augenblick vielleicht erhofft, vielleicht gefürchtet wurde. Und was man vernahm, auch wenn es einmal ungünstig lautete, wurde mit größerer Gelassenheit aufgenommen. Die Nerven der Menschen, die seit Generationen zwischen Feld und Wald auf eigenem Boden gelebt hatten, waren vielleicht doch besser geblieben als die der Millionen, die, zwischen den vielen freudlosen Mietwohnungen der Großstädte hin und her wechselnd, nie zu dem beruhigenden Bewußtsein wirklicher Seßhaftigkeit gekommen, sondern, mehr noch als alle anderen Erdenbewohner ihr Leben lang Ziehende gewesen waren. Etwas Robusteres hatten49 diese ländlichen Menschen. Und gewohnt, die Wechselfälle der Witterung gleichmütig hinzunehmen und bei Hagelschlag oder Wolkenbruch nur an möglichst rasche Beseitigung der Schäden zu denken, machten sie nicht, wie manche überreizte Großstädter, ihren Gefühlen Luft in wilden Haßgesängen, hielten sich aber auch nicht, wie andere überfein Besaitete, nachträglich mit Spekulationen darüber auf, was sich vielleicht hätte vermeiden lassen, und ob Deutschland denn auch wirklich im Rechte sei.

Ja, wohltätig empfand Großmama die Ruhe, die über dem winterlich verschneiten Lande lag, und am wohlsten und zuversichtlichsten fühlte sie sich, als sie wieder unter ihren Genesenden, ihren feldgrauen Pflegebefohlenen, war. Von ihnen strömte in schöner Selbstverständlichkeit der ergebene und doch starke Geist aus, der in dieser Zeit not tat, weil er allein sie richtig zu tragen lehrte. Unter ihnen verlebte auch Großmama ihr Weihnachten. Sie hatte sich vor dem Abend etwas gefürchtet, denn von allen Gedenktagen war es derjenige, durch den die Erinnerung an die drei fehlenden Enkel, von denen der eine nie mehr ein Weihnachtsbäumchen sehen würde, ihr am schmerzlichsten zum Bewußtsein kommen mußte. Aber dann war es bei diesen grauen fremden Enkeln so rührend feierlich gewesen, daß sie sich selbst glücklich gefühlt hatte. Glücklich, ihnen das Fest schön gestalten zu dürfen, dankbar für die äußere Unabhängigkeit, die ihr das ermöglichte, und für die innere, durch die sie Freude und Genügen in ihrem Tun selbst fand, ohne, wie sie es von manchen50 Bescherenden in den Lazaretten der Großstädte wußte, von der Gegenwart irgendeiner hochgestellten Persönlichkeit erst die wahre Weihe zu erwarten.

Und dann waren auch bald Briefe gekommen vom Marineenkel, der den Weihnachtsabend auf der See verlebt hatte, von dem jüngsten, der aus einem Schützengraben in Flandern schrieb, wo er mit seinen Kameraden nun schon lange, statt zu Pferde, tief in der Erde dem Vaterlande diente. Aber er teilte Großmama auch schon mit, daß er sich zum Flieger gemeldet habe, denn die Sehnsucht hinauf in die Lüfte war eben doch zu stark in ihm, und die anfängliche Sorge, er könne durch die Dauer der Ausbildungszeit für Kampf und Sieg zu spät kommen, war ja längst verstummt.

Denn daß es ein langer Krieg werden würde, daß man vielleicht grimmer Not entgegenging, war allmählich allen zum Bewußtsein gekommen. Aber auch diese Möglichkeiten wurden in den kleinen Landgemeinden ruhiger als in den großen Mittelpunkten hingenommen. Wo man der nährenden Mutter Erde so nahe war und sich jahraus jahrein mit der Hervorbringung und Bergung ihrer Erzeugnisse beschäftigte, schien Aushungerung eine unsinnige Drohung. Und es lag auch darin eine beruhigende Sicherheit, daß jeder jeden am Orte kannte; wenn es einem schlecht ging, würden sich stets andere finden, die aushalfen und für äußerste Fälle waren ja von jeher die alte Frau Gräfin auf dem Schlosse, der alte Herr Pastor im Pfarrhause zu finden gewesen. Daß jemand unbemerkt zu Tode darbte, war hier undenkbar.

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Veränderungen und Einschränkungen in der Lebensführung kamen freilich durch die zahllosen, sich oft widersprechenden Verordnungen. Viele dieser Bestimmungen hatten etwas unsicher Tastendes, als seien sie nur Versuche aber den darob Murrenden hielt Großmama vor, daß man ja vor Aufgaben stehe, die keinem Volke noch geworden, und zu deren Bewältigung es daher keine erprobten Vorbilder und Mittel geben könne.

Seltsam dünkte es die kuchenfrohe, an Wohlleben gewöhnte Bevölkerung in Großmamas Dorfe, als die fleischlosen Tage, die Backverbote begannen. Es hatte so ganz zu den Eigentümlichkeiten der Gegend gehört, daß auch die Geringsten allwöchentlich große, flache Kuchenteige auf Blechen zum Bäcker trugen und sie dort ausbacken ließen. Einen Sonntag ohne Kuchen zum Kaffee hatte es auch bei den Ärmeren nie gegeben. Das hörte nun auf wie so manches andere.

Altvertraute Dinge verschwanden. Alle Geräte aus Kupfer oder Messing wurden eingesammelt. In der Amtsstube wurden sie bedächtig gewogen vom Amtsvorsteher, Gendarm und Gutsvorstand. Behäbige Leute, die, selbst gern unbehelligt, jeden am liebsten leben ließen, wie es ihm gut dünkte, und die jetzt, von all den neuen Erlässen höherer Instanzen aufgerüttelt, nur mit Widerstreben bei den Nachbarinnen den Mehl - und Wurstvorräten nachspürten und forschten, ob auch ja keine besonders liebgewonnene Kasserolle zurückbehalten wurde.

Oben im Schloß ließ Großmama all die kupfernen Pfannen und Formen zusammentragen, die, rötlich52 leuchtend, auf den Borden der Küche gestanden; die verschiedenen großen Kessel, in denen Generationen von Mamsellen die Wäsche gekocht oder im Herbst das duftende Pflaumenmus gerührt hatten, wurden aus ihren altgewohnten gemauerten Stätten gerissen; messingene Mörser, in denen vor den Schlachttagen das Gewürz für die Würste gestoßen worden, behäbige Wärmflaschen, die manches Bett bei grimmer Winterkälte wohlig temperiert hatten, lagen zusammengestapelt. All diese Dinge, die von behaglich gesichertem, wohlgenährtem Leben redeten, würden nie mehr die friedlichen Zwecke erfüllen, zu denen sie einst geformt worden: in neuerrichteten Kriegsfabriken umgegossen und mit andern Metallen gemischt, würden sie sich nun zu Tod und Zerstörung bringenden Geschossen wandeln.

Aber auch die Keller, Speicher und Bodenkammern, wo bewahrt wurde, was sich in einem großen Landhaushalt im Lauf der Jahre an unbenütztem Hausrat aller Art ansammelt, ließ Großmama nach metallenen Geräten durchsuchen. Manche alte, längst vergessene Dinge kamen dabei hervor. Messingene Vorsetzer und Türen von Öfen, die abgebrochen worden, als man die Zentralheizung eingebaut hatte, kupferne Rauchgarnituren, deren einstmalige Besitzer längst die letzte Zigarre gelöscht und selbst zu Asche geworden, Tintenfässer und Leuchter von gelbglänzenden metallenen Löwen - und Greifenleibern gebildet, aus den achtziger Jahren stammend, da auf den Deutsch-Renaissance-Paneelsofas und Schreibtischen das cuivre poli uneingeschränkt herrschte. Und die messingenen Öllampen53 sah Großmama wieder, die des Schlosses weite Räume spärlich beleuchtet hatten, da sie selbst, als junge Frau, eingezogen war. Sie erinnerte sich noch, wie man diese Lampen immer rechtzeitig mit ihrem Schlüssel aufwinden mußte, und wie sie so manchesmal durch den durchbrochenen Rand des Brenners den Öltropfen zugeschaut hatte, die im Innern abtropften. Ein Gefühl vergehender Zeit hatte dieses langsam regelmäßige Tropfen schon damals in ihr erweckt, wie der Rhythmus des eigenen pulsierenden Blutes. Jetzt mußte sie denken, wie viel, viel Zeit seitdem doch vergangen war! Öllämpchen brannte niemand mehr. Zuerst waren sie durch Petroleum und Gas ersetzt worden, dann war die Elektrizität gekommen, vor deren Helligkeit jedes andere Licht als kärglicher Notbehelf erschien. Großmama hatte all diese Wandlungen miterlebt, und das eigene Blut, das zur Zeit der Öllampen ungestüm in den Adern gepocht hatte, floß jetzt langsam und träge, wie ein versandender Fluß, der sich dem Ende, dem Aufgehen in größerer Einheit nähert ja, recht langsam und müde war jetzt sein Schlag in dem bläulich hervortretenden Geader, aber es pochte doch noch immer, wenn auch matt anderes junges Blut vieles, vieles auch solches, das von ihr selbst abstammte das war seitdem, mitten in seinem noch raschen Kreislauf, jäh vergossen worden. Seine unzerstörbaren Lebenskräfte düngten jetzt ferne Erden, würden wieder erstehen in wogendem Korn und leuchtenden Blumen zur Unkenntlichkeit gewandelt und doch dieselben. Aber auch der Entschlafenen geheimnisvollster54 seelischer Wesenskern, dem jede äußere Gestaltung nur gleichsam eine vorübergehende Verzauberung war, auch der wirkte sicherlich irgendwo weiter.

Der alte Pastor besuchte Großmama gerade an dem Tage, wo all die metallenen Geräte zusammengetragen wurden. Bisher ist nur Kupfer und Messing verlangt worden, sagte er, aber ich hörte, daß nächstens auch die Bestände an Orgelpfeifen aufgenommen werden sollen, wenn auch noch nicht zu unmittelbarer Ablieferung. Großmama antwortete nicht. Bei des Pastors Worten war sie ganz in Erinnern versunken. Sie entsann sich, wie einst vor Jahren der gelehrte Professor ihre Orgel besehen hatte, um sie in seinem Buch zu beschreiben, und sie sah wieder die Sonne jenes fernen Tages, wie sie in die Kirche schien und die drei Enkel in ihrem Lichte standen. Ihre Orgelpfeifen hatte sie da die Knaben genannt und sie nach Größe und Alter aufgestellt. Damals hatte noch keiner in der Reihe gefehlt.

Der Frühling brachte weitere Neuerungen. Soviele Männer waren allmählich eingezogen worden, soviele Frauen in die neu errichteten Kriegswerkstätten gegangen, daß es überall auf dem Lande an Arbeitskräften fehlte. Und doch war nie noch die Bestellung von solcher Wichtigkeit gewesen, denn vom Ertrag der Ernte hing letzten Endes ja der Krieg selbst ab. So wurden denn Kriegsgefangene als Ersatzleute an die Landwirte verteilt. Und Großmamas alter Inspektor bekam für die Feldarbeit strohblonde, blauäugige Russen mit stark hervortretenden Backenknochen, die sich durch ihre militärischen Mützen mit den gelben Streifen, sonst55 aber nicht sonderlich von manchen der Einheimischen unterschieden; schwerfällig gutartige Leute waren es, sahen nicht auf die Art der Kost, sondern nur darauf, daß viel davon da sei. Abends, nach getaner Arbeit im Gutshof sitzend, sangen sie, ehe sie sich hinter den vergitterten Fenstern ihrer Zimmer schlafen legten, noch lange ihre schwermütigen Volksweisen, und diese klagenden Melodien erweckten den Begriff einer Fähigkeit geduldigen Leidens, so groß wie die fernen Steppen, in denen sie entstanden. Für die Ziegelei und den Garten kamen Franzosen. Nervösere, verbissenere Menschen waren das, die anfänglich anspruchsvoll aufzutreten versuchten. Verhaltenen Ingrimm merkte man ihnen an, der sich einstweilen zwar noch mürrisch gegen die siegreichen Feinde richtete, sich vielleicht aber doch schon im stillen gegen die eigenen Machthaber zu wenden begann, deren jahrelange Wühlarbeit und Verhetzung zu all dem gegenwärtigen Jammer geführt hatten. Nach einigen Schwierigkeiten mit dem Inspektor fügten sich aber auch die Verdrossensten in das Räderwerk der täglichen Aufgaben. Und auch dies war eine seltsame Wirkung des großen Wandlers, daß all diese fremden Leute in dem Lande, das zu zerstören sie einst mit klingendem Spiel ausgerückt waren, nun friedliche Arbeit taten und an dem Gedeihen seiner Saaten und Früchte mitwirken mußten.

Aber auch für die beiden Enkel brachte der Frühling Veränderungen. Der Marineoffizier fuhr jetzt auf einem U-Boot, und der jüngste, der zum Fliegerdienst angenommen worden, hatte seine Ausbildung beendet56 und flog draußen an der Front. Beide schrieben überglücklich. Der ältere etwas gesetzter und mit einer gewissen angelernten Gemessenheit, aber voll grenzenlosen Vertrauens in die neue Waffe, die sicherlich den Krieg noch zu siegreichem Ende führen werde. Am strahlendsten war der jüngste; er hatte ein so starkes Empfinden für die Poesie vollendetster Technik, für das Herrscherbewußtsein, das die Bemeisterung mechanischer Schwierigkeiten verleiht; aus den ersten Beschreibungen seiner Flüge, die bei Großmama eintrafen, klang ein Jubeln, als sei er dort oben der Sonne wirklich nähergekommen und brächte etwas von ihrem Leuchten mit sich herab. Und Großmama empfand dankbar die große Bevorzugung, daß dieser Krieg, der Millionen aus all dem herausriß, was sie werden wollten, ihren beiden das größte Glück zu bringen schien, sich noch in diesem Erdendasein und voll bewußt zu dem entwickeln zu dürfen, wozu sie ihrem innersten Wesen nach bestimmt waren. Sie begriff auch die Intensität des Lebens, das die beiden in ihren zwei verschiedenen Elementen führten, daß es da Stunden gab, die in ihrer Spannung und äußersten Willensbetätigung ganze Jahre gewöhnlichen Daseins aufwogen, und sie erkannte, daß, so sehr all dieses Trachten und Anstrengen auch unmittelbar auf Zerstörung gerichtet war, ihm doch etwas von dem Höchsten, das der Mensch zu erreichen vermag, dem Schöpferischen, innewohnte. Denn Heldengedichte lebten ja diese beinah noch knabenhaften Männer, von wunderbarerer Abenteuerlichkeit und schauerlicherer Großartigkeit als sie Iliade oder Nibelungenlied57 besingen. Schöpfer waren sie von nie dagewesenen Kriegergestalten, die ihre erbitterten Kämpfe ausfochten tief unter den Meereswogen, hoch über des Himmels Wolken, Wesen, jetzt schon sagenhaft, die weiterleben würden, gleich St. Georg oder Siegfried, dem frohen Recken.

Im Mai traf es sich, daß beide Enkel gleichzeitig in Berlin zu tun hatten. Urlaub, um heim zu fahren, konnten sie nicht nehmen, da entschloß sich Großmama, selbst nach Berlin zu kommen, um endlich wieder einmal mit den beiden zusammen zu sein. Beinah etwas befangen war ihr zumute bei dem Gedanken, die wiederzusehen, die inzwischen so Überwältigendes erlebt hatten, daß es schien, als könnten sie danach gar nicht mehr dieselben sein, die sie hatte hinausziehen sehen. Etwas beinah Ehrfürchtiges mischte sich in die Gefühle, mit denen sie, die Greisin, diesen so ganz Jungen entgegenfuhr. Neben all dem Erstaunlichen, was jene in diesen kurzen Monden geschaut und selbst geleistet, erschien ihr das eigene lange Leben mit all seinen Erfahrungen klein und gering, und die stille Pflichterfüllung, die es doch gekennzeichnet hatte, als ein Selbstverständliches.

Und im ersten Augenblick kamen ihr die beiden wirklich etwas fremd vor, so sehr hatte sich der selbstbestimmende, verantwortungsvolle Ausdruck, den sie bei jenem unvergeßlichen Auszug vom Schloß zuerst an ihnen bemerkt, in der Zwischenzeit verstärkt. Das Ende des ersten großen Lebensabschnitts war jener Tag gewesen. Was aus ihnen werden konnte, hatte ja längst in ihnen gelegen, durch die Ereignisse aber war es58 sichtbar geworden. Und Großmama schaute mit liebevoll besorgtem Forschen und doch etwas schüchtern wie vor Neuem, das sie erst ergründen mußte, diese Enkel an, die beide das Eiserne Kreuz an der Seite trugen; und sie sah, wie scharf und hart die Züge geworden, über deren weiche Kindlichkeit sie sich einst gebeugt, wie stählern federnd sich die hagern Glieder bewegten, deren Unbeholfenheit sie zuerst geleitet.

Dann führte sie die beiden in die Zimmer, die sie ihnen im Hotel gerichtet hatte. Große Sträuße von Blumen aus dem heimatlichen Garten hatte sie ihnen mitgebracht und dazu in der Stadt Lorbeerzweige besorgt und alles damit geschmückt. Als nun aber die Enkel den vielen Lorbeer sahen, waren sie plötzlich wieder ganz die alten. Sie brachen in ihr knabenhaftes Lachen aus, dessen frohes Schallen so oft die weiten Räume des alten Schlosses erfüllt hatte, und riefen: O Großmama, du willst doch nicht etwa Heldenkultus mit uns treiben! Etwas betreten und doch auch schon halb mitlachend antwortete Großmama: Nun, Kinderchen, ich meine, verdient hättet ihr es eigentlich! Aber es ist doch immer etwas genierlich, meinte der Seemann, und nun gar von dir. Und man tut doch nur Selbstverständliches, man könnte ja gar nicht anders, sagte der Flieger. Das Wort tat Großmama wohl, es kam wie aus ihrem eignen Innern. Sie nickte. Ja, aber was ihr alles habt sehen müssen. Der gleiche Schatten glitt über beide Gesichter. Ja, das war weitaus das Schlimmste, antwortete der Seemann. Der Flieger aber sagte mit einem abschließenden59 Ausdruck: Man darf eben nicht viel zurückdenken.

Und mit diesen Worten war eine andere Sorge Großmamas verscheucht. In Erwartung des Wiedersehens mit den beiden ihr noch bleibenden Enkeln hatte sie manchmal mit Bangigkeit gedacht, daß die Erinnerung an den für immer fehlenden gar zu schmerzlich darauf lasten würde. Es wurde nun zwar des Geschiedenen bald mit liebevollen Worten gedacht, aber dann erwähnten ihn die Brüder nicht wieder. Sie hatten offenbar lernen müssen, wie man die innern Augen gegen Unabänderliches schließt und abtut, was die eigene Tatkraft schwächen konnte. Es berührte Großmama zuerst etwas befremdend, aber dann erkannte sie darin gerade den Geist, den sie den Enkeln ja stets gewünscht hatte. Selbstverleugnung lag in diesem scheinbaren Vergessenkönnen; auf ein Versinken in Trauer hatten die ja kein Recht, die sich mit Leib und Seele gar nicht mehr selbst gehörten; zur Vollbringung ihrer Aufgaben mußten sie die Zeit nützen und Gefühlsopfer zu bringen wissen, bis vielleicht das höchste Opfer auch von ihnen gefordert wurde. Es gab eben auch bei diesen, außer glorreich leuchtenden Taten, noch manch stilles Heldentum, das durch kein Kreuz belohnt werden konnte, sondern selbst ein im Verborgenen getragenes Kreuz war.

So hatte sich das alte Verstehen zwischen Großmama und den Enkeln rasch eingestellt. Dann schlugen die beiden vor, essen zu gehen, und Großmama, die ihre Mahlzeiten sonst immer in ihrem Wohnzimmer60 einnahm, mußte sich bequemen, mit ihnen im Speisesaal zu essen, denn nach Zurückgezogenheit war den beiden gar nicht zumute; voll gesunder Jugendlichkeit, wollten sie Menschen sehen, Musik hören, diese paar Tage genießen, die wie Geschenke des Geschicks waren.

Später am Nachmittag fuhr Großmama mit den Enkeln aus. Siegesfahnen wehten in allen Straßen, denn es war zur Zeit des großen Durchbruchs nach Osten. Die weißen Fahnen mit dem schwarzen Adler auf den Regierungsbauten standen wie blendend helle Tupfen gegen die violetten Wolken, die sich am blaßblauen Himmel ballten. In den Straßen gingen die Menschen mit freudig belebten, von neuem Hoffen erfüllten Gesichtern. Immer wieder schauten sie hinauf zu den flatternden Flaggen, die mit ihrer frohen Buntheit die Häuserreihen füllten; große Errungenschaften kündete ihr Rauschen, und noch größere Verheißungen schienen ihre wogenden Falten zu schwellen: würde dieser Siegeszug gen Osten vielleicht den ruhmreichen Frieden bringen? Alle sicherlich hofften es. Großmama jedoch dachte dabei an die vielen draußen, denen dieser also gefeierte Siegestag zum letzten geworden, die, auf fernem Boden still liegend, mit offenen Augen zum Himmel starrten und die Sonne doch nicht mehr gewahrten. Und währenddessen schritten daheim, in den flaggendurchwehten Straßen, schöne Frauen und schauten wohlgefällig auf die beiden wettergebräunten Enkel in ihrer gestählten Jugend; ein flüchtiges Spiel der Blicke, ein leises Lächeln huschte hin und her, verband ein Zeitatom lang die aneinander Vorbeigleitenden,61 denen der Tag noch gehörte. Großmama bemerkte es, wie ein Erinnern an sehr, sehr Fernes es war ja immer so gewesen mochten auch noch so viel Leben entschwinden, das Leben blieb, und neben allem Wandel gab es doch auch, was sich zu allen Zeiten gleichgeblieben.

Zum Charlottenburger Schloßgarten fuhr Großmama mit den Enkeln. Der alten Gewohnheit, in jede Stadt, wo sie zusammen weilten, ihnen Werke der Vergangenheit zu zeigen, wollte sie auch heute folgen. Früher war das der Ausdruck eines ihr angeborenen Hanges zum Historischen gewesen, heute aber lag darin die ihr eigene Selbstbeherrschung, sich nie ganz vom Augenblick überwältigen zu lassen, so groß er auch sein mochte.

In feierlicher Abgeschiedenheit lag das Schloß hinter dem Gitter, mit den Ringern auf den Pfosten der weiten Einfahrt; blaßgrün hob sich die kupfergedeckte Turmkuppel gegen den Himmel ab, und gleich einer goldenen Flamme glänzte über ihr die Gestalt des sonnenbestrahlten Genius. Bald ließ Großmama halten und schritt mit den Enkeln durch den Garten, wo des Flieders blaßlila Dolden sich zu öffnen begannen. Ihr leiser Duft hatte etwas Wehmütiges; es war, als entsteige er nicht so sehr den Blüten dieses Jahres, sondern er schien von längst vergangenen Frühlingstagen her noch hier in der Luft zu schweben und war wie eine Begleitung zu Großmamas Worten. Denn von ganz fernen, alten Zeiten erzählte sie den lauschenden Enkeln, von Tagen, die sie selbst nicht mehr erlebt62 hatte, die aber in ihrer Kindheit den Menschen, als ein eben erst Vergangenes, noch ganz nahestanden. Hundert Jahre waren jetzt verflossen, seitdem ein russischer Großfürst in dieses Schloß gekommen war, um hier eine jugendliche Prinzessin zu umwerben. Und dort, in dem Mausoleum, am Sarkophag ihrer Mutter, hatte sie ihrem Bruder gestanden, daß der Bewerber ihr wohlgefiele. Ja, hier war recht eigentlich die Stätte, wo der Grund zu langer Freundschaft mit dem östlichen Reiche gelegt worden. Aber diese Freundschaft lag heute vernichtet in Scherben, und eben jetzt wehten draußen die Flaggen zu Ehren der Besiegung jener Macht. Welcher Wandel in Menschen, Anschauungen und Gefühlen, welch Erstehen neidvollen Hasses und Anwachsen unbeachteter Abhängigkeiten waren doch nötig gewesen, um daß gerade dieser Krieg überhaupt möglich werden konnte! Dann standen die drei in dem blaudämmernden Raume und schauten die weißen Marmorgestalten auf den vier Sarkophagen. Wo im Weltall mochte jetzt der Wesenskern, mochten die Seelen jener hier Dargestellten weilen? Und wenn sie von den Geschehnissen dieser Erde wußten, wie erschienen sie wohl vor ihrer höhern Einsicht? Ach, sicher verstanden die ins ferne Reich Gegangenen Zusammenhänge und Zwecke klarer als die noch hienieden Wandelnden, und was hier grausam-unverständlich und als fortwährendes Irren erschien, fand dort Deutung und Sinn. Großmama hielt fest an diesem Gedanken, der eine Hoffnung war, und, in der stillen Kapelle stehend, die so manche Träne gesehen, sann sie nach über Geschicke63 von Einzelnen und Völkern, über tiefste Schmach und Erniedrigung, aus der doch Größe und Stärke erstehen können, bis daß der Pendel der Zeiten auch ihnen wieder das Vergehen kündet, und im ewigen Wandel neue Gefahren aufsteigen, neue Entwicklungen erwachsen.

Aber rasch verstrichen die paar Tage, die den Seemann in das Marineamt, den Flieger hinaus auf den benachbarten Flugplatz geführt hatten. Soviel hatte man noch tun, sehen und besprechen wollen, und schon nahte der Abschied. Wo waren die Stunden nur geblieben?

Großmama hatte eigentlich beabsichtigt, die Enkel zu ihren Bahnhöfen zu geleiten und sie einer nach dem andern nach ihren verschiedenen Bestimmungsorten abfahren zu sehen. Aber gerade dagegen erhoben sie Einsprache. Großmama sollte vor ihnen abreisen, so daß die beiden sie noch in ihren Zug setzen konnten. Das Stehen auf einem Bahnhof zwischen lauter Fremden und doch in gleicher Angst Geeinten, das Tücherwinken und Blicken nach einem enteilenden Zuge, das einsame Zurückgehen, all das wollten sie ihr, der Gebrechlichen, ersparen. Und wie sie angeordnet, geschah es. Ein wunderlich neues und süßes Gefühl war dieses Umsorgt - und beinah Kommandiertwerden für Großmama. Neu? ja, und doch weckte es zugleich ein Erinnern, hatte nicht einst vor langen Jahren, als sie selbst jung gewesen, der Großvater dieser Kinder ganz ähnlich sorgend über sie bestimmt und gewacht? Kehrten alte Zeiten wieder? Und während die beiden Enkel auf dem Bahnhof mit festem Händedruck und einem Auf64 Wiedersehen! voneinander Abschied nahmen und jeder seines Weges seinem Geschick entgegenschritt, sann Großmama in dem der Heimat zurollenden Zuge nach, wie schön alles werden sollte, wenn die beiden endgültig heimgekehrt sein würden. Sie wollte ihnen dann alles übergeben und sich selbst endlich etwas umhegen lassen, denn sie fühlte sich müde von langer Lebensarbeit. Noch besser als früher würde sie von den Enkeln jetzt verstanden werden, denn es waren ja keine Kinder mehr, hatten inzwischen selbst gelernt, Visiere zu tragen, wußten nun, wieviel sich oft dahinter barg. Ja, wenn sie erst endgültig heimgekehrt sein würden!

Oftmals wurden dann während der folgenden Monate auf des alten Schlosses Dach die stolzwehenden Fahnen gehißt, denn der Siegeslauf gen Osten ging ja unaufhaltsam weiter. Und zu dieser allgemeinen Freude gesellten sich für Großmama noch Gründe besonderer persönlicher Dankbarkeit. Von dem jüngsten Enkel sprachen die Fliegerberichte immer häufiger, zählten die Siege auf, die er droben in den Lüften erfochten. Das ganze Dorf feierte den Tag, da er den höchsten Kriegsorden erhielt. Nicht Großmama allein, sondern die ganze Gegend, wo jeder ihn kannte, schien ja mit umstrahlt von dem Glanz, der von seinem Namen ausging. Über den Seemann hörte man weniger. Sein Wirken lag ja in schauererfüllten dunkeln Tiefen, und die dort vollbrachten Heldentaten drangen nicht so in die allgemeine Kenntnis. Namen wurden in diesen Berichten nicht genannt, und in dieser Anonymität der Leistungen lag eine besondere entsagungsvolle65 Größe. Aber bei den sich mehrenden Zahlen der versenkten Schiffe wußte Großmama doch, daß einer dabei mitwirkte, dessen kindlichen Spielen mit Schiffchen, die alle ihr Ende auf dem Grund des Gartenteichs fanden, sie oftmals zugeschaut hatte.

Tage stillen Stolzes, des Lichtes und der Zuversicht blühten Großmama. Ein sanftes Leuchten ging von ihr, der Uralten, aus. Und ihre Freude teilten die bei ihr genesenden Feldgrauen, teilte vor allem ihr Freund, der alte Pastor. Mit ihm, der die Enkel heranwachsen gesehen, entwarf sie Pläne für ihre Zukunft, denn sicher waren diese beiden, die sich jetzt schon so hervortaten, noch zu Großem bestimmt, würden, in ihrer Gewöhnung an völlige Verantwortlichkeit und Fähigkeit zum Entschluß, gerade als solche Männer aus dem Krieg hervorgehen, wie das Land sie bitter brauchte.

Und dann brach dies letzte Glück eines langen Lebens zusammen. Überfällig war das Tauchboot, das den Enkel trug. Banges Warten, angstvolles Forschen füllten die Tage und Nächte. Endlich traf die Kunde ein, daß ein paar der Mannschaften an fremder Küste gelandet waren. Der eine heißersehnte Name aber war nicht unter ihnen. Schließlich kam langsam durchsickernd Kenntnis der Aussagen, die jene wenigen Überlebenden über des Schiffes Zerstörung, über den Tod ihrer Kameraden gemacht. Aussagen, bei denen das Herz sich zusammenkrampfte und der Verstand nicht verstehen wollte. Es konnte doch nicht wahr sein! Selbst die Ungetüme der Meerestiefe mußte ja das66 Entsetzen erfaßt haben, als sie solches geschehen sahen! Wie war das Ungeheuerliche nur zu ertragen?

Als kein Zweifel mehr möglich, kamen zaghaft einig ihrer feldgrauen Pflegebefohlenen zu Großmama, wollten warmen Herzens und voll natürlichen Zartgefühl ihre Teilnahme bezeigen. So jung! So jung! konnt der eine bärtige Landsturmmann nur immer wiederholen. Aber ein anderer sagte: Der liebe Gott fragt eben bei keinem von uns, wie lange er gelebt hat, der fragt immer nur wie. Vielleicht scheint solch ein armes junges Leben auch nur uns unfertig, und vor ihm ist’s doch was Vollendetes, meinte sein Kamerad. Und ein vierter sagte: Ich denk immer, er braucht halt droben auch Soldaten.

Ganz schlicht sprachen sie auf ihre Weise ähnliche Gedanken aus wie die, woran Großmama selbst sich in diesen Tagen immer wieder anzuklammern getrachtet hatte, wenn das Gesetz des Sterbens, dessen Erfüllung ihr für sich selbst leicht, weil natürlich erschienen wäre, sie als ein unlösbares Rätsel anstarrte, da dieser Jugendliche ihm verfiel. Das Mitleid mit diesem grausam Dahingerafften wurde oft so groß, daß es zum würgenden Ersticken anschwoll, und gar zu sinnlos schien es, daß von den dreien, die sie zu langem segensreichen Leben vorzubereiten getrachtet, nun schon zwei vernichtet waren, ehe die Keime, die sie ihnen einzupflanzen gesucht, so recht Früchte getragen hatten denn was Jene Großes in ihrem kurzen Dasein auch geleistet, wollte ihr doch nur ein Hinweis scheinen auf Größeres, zu dem sie befähigt gewesen und das sie67 nun nimmer vollbringen würden. Aber dann hatte sie sich immer wieder vorzuhalten gesucht, daß solch Schicksal, das Blüten hinwegrafft, die grausam unverständliche Härte blinden Zufalls eigentlich nur für den behält, der noch nicht vermag, es in größern Zusammenhängen zu denken. Aber die Kräfte und Eigenschaften, die jeder in diesem Leben erworben, wurden eben nicht nur für dieses kleine Erdenleben gesammelt, sondern um hernach, wo sie im Weltall gerade nötig sein mochten, eingesetzt zu werden. Das Tor aber zu dieser Neuverwendung, durch das der eine früh, der andere spät erst schreiten mußte, hieß Tod. Und es mochte wahr sein, was der Feldgraue sagte: Vielleicht würden droben Soldaten gebraucht.

So litt Großmama um diesen zweiten Enkel, was sie vor wenigen Monden um seinen Bruder, vor vierundvierzig Jahren aber schon um den eigenen ältesten Sohn gelitten hatte, und in dem frischen Leid erwachte jedes frühere aufs neue. Sie entsann sich, wie auch die Eltern der drei Knaben jäh gestorben waren, und wie ihr eigenes Leben fortan nur ihnen noch gegolten hatte. Witwenschaft und Kinderverlust hatte sie mutig ertragen, um den Enkeln zu ersetzen, was sie verloren. Ihr eigenes Leben mit diesem einen Ziele mußte nun aber auch als zwecklos gelten, wenn sie sich nicht zur Überzeugung durchzuringen vermochte, daß die Samenkörner, die sie in der Enkel Herzen gelegt, doch noch in anderen Welten eine Ernte tragen würden.

Mitten in diese tiefe Trauer, in das Tasten nach einem Halt, woran sich wieder aufzurichten, um des68 Lebens Bürde weiter tragen zu können, kam die Nachricht, daß der jüngste Enkel demnächst einzutreffen gedächte, da er einen längern Urlaub erhalten habe. Hohe Stellen hatten ihn ihm ungebeten angeboten. Man wollte der alten Frau wohltun, die einst Mann und Sohn, und jetzt zwei Enkel dem Vaterlande geopfert hatte. In dem Schmerz um die Verstorbenen war aber der Gedanke an diesen einen ihr Verbliebenen in dieser Zeit etwas zurückgetreten. Jetzt erst vergegenwärtigte sie sich, bei dem Jubel, den die Nachricht seiner baldigen Heimkehr in der Gegend erregte, welchen Platz dieser allerjüngste gerade während der letzten Wochen in der Welt errungen hatte. Einer der an Siegen reichsten Flieger war er ja geworden, und unter den Helden der Lüfte stand sein Name an einer der ersten Stellen, gehörte zu denen, die niemals mehr vergessen werden konnten. Etwas wie Daseinsfreude, dies doch noch zu erleben, regte sich wieder in Großmamas Herzen, und es tat ihr wohl, zu hören, mit welcher Begeisterung er, der als halbes Kind Ausgezogene, jetzt zurückerwartet wurde. Jung und alt wollte ihn am Bahnhof abholen. Großmama sollte nur ja gleich bekanntgeben, sobald sie wußte, wann er eintreffen würde.

Und dann erfuhr sie, wann er eintreffen würde erfuhr aber auch wie. Nicht als einen noch unter der Sonne Wandelnden, zur Sonne Fliegenden durfte sie ihn erwarten. Und die ihn am Bahnhof abholen wollten, würden, statt ihn jubelnd zu begrüßen, hinter seinem Sarge schreiten. Auch er gefallen im69 Felde , wie es auf so manchen Gedenktafeln der Schloßkirche hieß.

Am Tage, da er Urlaub antreten wollte, war seine Staffel gegen ein nahendes feindliches Geschwader aufgestiegen. Er selbst sollte gar nicht mehr dabei sein, aber im letzten Augenblick hatte er doch noch den Platz eines plötzlich erkrankten Kameraden eingenommen. Droben, während des Kampfes, war sein Motor schadhaft geworden, und hinter unsern Linien war er tödlich abgestürzt ein Unbesiegter. So lasen es Millionen in den Zeitungen, die ihn nicht gekannt und doch geliebt hatten. So erfuhr es auch Großmama. Aber die Trauer aller war so groß, daß man beinah vergaß, an die dieser einen zu denken. Er gehörte ja auch allen, weil er für sie alle gestorben war.

Draußen im Felde war eine große Trauerfeier für ihn gehalten worden. Entfernte Vettern, die nun des alten Schlosses künftige Erben sein würden, waren dazu hinausgefahren. Sie würden ihn auch heimbringen. Von den dreien, die ausgezogen waren, sollte er allein zurückkehren, er allein in der Gruft unter der weißgoldenen Kirche ruhen. Die beiden Brüder lagen ja in Feindesland, auf Meeresgrund.

In ihrem Zimmer schrieb Großmama selbst die Todesanzeige dieses letzten Enkels, und sie erwähnte, darin wiederholend, noch einmal die Namen der beiden Brüder, die ihm vorangegangen waren. Dann legte sie die Feder nieder, als sei es unmöglich, nach diesen Worten je noch andere zu schreiben. Sie hob den Kopf, und durch die offene Gartentür blickte sie70 hinaus, wo um die verwitterten Steinfiguren all die Sommerblumen blühten, gleich Wiedergekehrten des vorigen Jahres, blickte hinab in das Tal, wo eine neue Ernte reifte und die Bäume voller Früchte hingen. Aber nachdem sie eine Weile auf die heimatliche Landschaft sinnend geschaut, griff sie noch einmal zur Feder, und unter die fertige Anzeige setzte sie mit fester Hand die Worte: Gib uns, o Gott, dereinst einen Frieden, würdig dem Sinn und Geiste derer, die sich für ihn geopfert. Sie hatte das unter keiner der unzähligen Todesanzeigen gelesen, die der Krieg bisher gebracht, und doch fühlte sie, daß es unter jeder einzelnen hätte stehen sollen, weil es gerade das war, woran allein Millionen der Trauernden sich aufzurichten vermochten, das, was Tausende der Gefallenen sicherlich noch in ihren letzten Augenblicken gewünscht haben mußten. Von den eignen drei Enkeln wußte Großmama es ganz genau. Denen war die Heimat, war Deutschland wirklich über alles gegangen, weit über die eigenen, jungen Leben. Sie erinnerte sich, wie die drei, am Abend vor dem Kriegsbeginn, dort an der Mauer des Gartens noch einmal gestanden und hinausgeschaut hatten auf ihr gesegnetes Tal. Ein leiser Lufthauch kam jetzt wehend aus der Ferne, als trüge er auf seinen Schwingen die damaligen Gedanken jener nun Entschwundenen: was liegt an uns, die Heimat nur darf nicht Schaden nehmen. Aber nicht nur unbeschädigt und ungemindert mußte das Heimatland bleiben, wenn auch dies schon ein Wunder war den Übermächten gegenüber, nein, es mußte aus dem71 Kampfe gefestigter und gesicherter hervorgehen und dadurch bewußter auch der großen deutschen Mission im langen Entwicklungsgange des gesamten Menschengeschlechts. Das allein würde im Sinn und Geist derer sein, die sich geopfert. Großmama glaubte ganz deutlich zu vernehmen, wie drei Stimmen es ihr zuflüsterten aus fernem, überirdischem Reich.

Während sie noch so sann, knirschte draußen der Kies, und aufschauend gewahrte sie den alten Pastor, der auf dem von Buchs umsäumten Wege zwischen den grauen Sandsteinfiguren geschritten kam. Auf ihren Stock mit dem weißen Porzellanmäuschen gestützt, trat sie aus dem Hause und ging ihm entgegen, und sie standen zusammen an des Gartens Brüstung. Er berichtete über die letzten Vorbereitungen für die Beisetzung, sprach von den Deputationen, die sich angesagt hatten, von den Fliegern des nächsten Flugplatzes, die das alte Schloß während der Feier umkreisen wollten. Und unsere Orgelpfeifen werden auch noch dabei sein, sagte er. Tags darauf kommen sie fort, um eingeschmolzen zu werden. Es ist doch schade um sie.

Großmama aber glaubte bei den Worten noch einmal die Sonne eines fernen Tages zu sehen, wie sie damals in die Kirche geschienen und in ihrem Lichte drei kleine Knaben gestanden hatten. Ihre Orgelpfeifen hatte sie sie damals lachend genannt und gewähnt, die Stimmen dieser Kinder würden noch viele Jahre froh erschallen, nachdem ihre eigene längst für immer schwieg. Und statt dessen waren jene so plötzlich verklungen wie ein abgerissenes Lied. Aber, dachte sie wehmütig72 weiter, ob früh, ob spät, Rohstoff war ja alles, Menschen und Dinge, zum steten Umformen vorausbestimmt. Durch den Schmelzofen gingen die Metalle, durch den Tod die Menschen, um zu dem Neuen gewandelt zu werden, das gebraucht wurde. Jede Einzelerscheinung, so geliebt, so beglückend sie auch sein und so unersetzlich sie scheinen mochte, war ja doch etwas nur ganz vorübergehend Notwendiges. Und es galt, den Blick zu weiten zu einer Erkenntnis, die hinausreichte nicht nur über das Einzelne und dieser Zeit Wirrsal des Hassens und Mordens, sondern über alle irdischen Daseinsformen, wie wir sie kennen, weit hinweg. Nur wer in der gesamten Menschheit eine ephemere Gestaltungsart letzten unvergänglichen Inhalts sah und im Tod den Durchgang zu seiner Umwandlung erblickte, vermochte des kurzen Erdenlebens schwere Verkettung von Verlust und Schmerz ohne Verzweiflung zu ertragen.

Und Großmama sagte: Ach, Herr Pastor, was ist denn schade?

Da nickte der alte Mann und antwortete leise: Wir sind in diesem Leben wohl immer nur unsere eigenen Vorläufer.

73

Aus dem Land der Ostseeritter

In Livland, auf ihrer Eltern Gut, Burkahnen, ward Komteßchen Dorothee, wie der Grafenkalender kündet, um 1820 geboren. In völliger Weltabgeschiedenheit wuchs sie dort auf, als einziges Kind.

Das Herrenhaus in Burkahnen war ein ganz altes Gebäude, das ursprünglich keinen Anspruch auf besonderen Stil erheben konnte, aber Dorothees Großeltern hatten es im klassizistischen Geschmack jener Tage neu herrichten lassen. Die Hauptfassade war mit einem griechischen Giebel und dorischen Säulen geschmückt worden, und zu beiden Seiten der großen Haustür hatte man in die dicke Mauer Nischen eingehauen, in denen nun hohe dreifüßige Opferschalen standen. Dinge, die sich zu wundern schienen, wie sie in die nordische Umgebung hineingeraten waren.

Es war ein stillverträumtes Haus, darin es überall nach Lavendel roch, und alles hatte etwas Geheimnisvolles. Wenn man plötzlich in ein Zimmer trat, knisterte es ganz leise in den alten Tapeten, als hätten die sich eben eine Geschichte erzählt und hielten nun erschrocken inne. Es gab da Stuben mit Friesen, die, in Anlehnung an Thorwaldsen, weiße Figuren auf blaßblauem Grunde wiesen, und andere, die mit alten verblichenen Kattunen bespannt waren. Zierlich steife Empiremöbel standen an den Wänden, gerade und74 spärlich verteilt, die Schreibtischchen hatten viele geheime Schubfächerchen, aber der Platz zum Schreiben war ganz klein und offenbar nur für winzige Billettchen berechnet. Und erstaunlich viel Kartentische gab es in dem Hause, auf denen Préférence und L’hombre gespielt wurde.

Der merkwürdigste Raum aber war ein großer ausgemalter Saal. Ein Vorfahre von Dorothee, der von einer Reise nach Italien die dauernde Sehnsucht nach Sonne und Süden heimgebracht, hatte hier, nach seiner Rückkehr, eine Reihe italienischer Landschaften auf die Wände zaubern lassen. Abgegrenzt waren sie untereinander durch bunte, überreiche Girlanden. Viel röter waren da die Rosen und weit größer die Trauben, als Dorothee sie je in den Burkahnschen Treibhäusern gesehen, und noch manch andere Blumen und Früchte, deren Namen sie kaum kannte, waren in beängstigender Üppigkeit dargestellt. In tiefe purpurne Blütenkelche blickte sie, die irgendwie die Vorstellung schwüler Abgründe erweckten, und zwischen grünen, Schlangen gleichenden Ranken reckten sich Kolben goldenen Welschkornes vor gegen das violette Kleid überreif berstender Feigen, die platzenden Schalen der Granaten, aus denen Kerne in blutrotem Safte quollen. Auf den also eingerahmten Bildern erhoben sich phantastische Bauten, von blendendem Sonnenlicht beschienen, gegen tiefblaue wolkenlose Himmelszelte; aus den Mäulern marmorner Delphine, auf denen Tritone ritten, sprangen schillernde Wasserstrahlen, und über opalisierende Gewässer glitten goldene Barken. Unwahrscheinlich75 erschienen diese Gefilde inmitten von Dorothees übriger etwas frostig zierlichen Welt, unwahrscheinlicher noch waren die Figuren, die die Bilder belebten. Ein schöner schwarzäugiger Jüngling, im Barett mit wehender Feder, langen seidenen Strümpfen und samtenem Wamse spielte die Laute unter Bäumen, in deren tiefgrünem Laube weiße Blüten leuchteten und zugleich goldene Früchte glühten. Süß lächelnde Frauen in golddurchwirkten Gewändern, mit glitzerndem Geschmeide auf dem tief entblößten Busen, blickten herab von hohen, mit leuchtenden Teppichen behangenen Balkonen, spielten verträumt mit bunten Papageien und kleinen listig grinsenden Äffchen. Scharen Vermummter, mit schwarzen Masken, drängten schäkernd über einen von Arkaden umgebenen Platz, der wie ein ungeheurer Festsaal wirkte. Mohren trugen güldene Schüsseln zu großen Gelagen, seltsame Zwerge mit roten Schellenkappen lugten verstohlen aus Säulengängen.

Den Märchensaal hatte Dorothee, als sie klein war, den Raum genannt, und etwas Irreales, dem kühlen nordischen Alltag Entrücktes hatte er wirklich. Er wurde auch nur bei besonderen Anlässen benützt, wenn so viel Gäste aus den benachbarten Gütern zu Besuch kamen, daß das gewöhnliche Eßzimmer nicht ausreichte, oder zu Weihnachten und anderen großen Festen. Eine Bewunderung, die zugleich Scheu war, empfand Dorothee vor dem Saale. Er hatte für sie etwas, das die Vertraulichkeit bannte. Wie es ja auch, als sie klein gewesen, Puppen gegeben hatte, mit denen es sich nicht76 recht spielen ließ, weil sie gar zu prächtig waren. Ja, es wollte Dorothee sogar scheinen, als müsse solch eine Überfülle von Glanz und Schönheit beinahe ein bißchen sündhaft sein. Sie hätte dieses undeutliche Empfinden wahrscheinlich nicht laut in Worte zu fassen vermocht es war nur, als mahne so in ihrem Innern eine leise Stimme, die aus weiten Fernen zu kommen schien. Denn in dieser Nachkommin jener harten, alten Geschlechter, die vor Jahrhunderten mit den Deutschordensrittern in das wilde Land gekommen waren, und sich hier unter Mühsal und Entbehrungen ihre Lebensbedingungen erkämpft hatten, in ihr mußte wohl, ohne daß sie sich dessen recht bewußt gewesen, ein kleiner Zug von Strenge und puritanischer Selbstzucht liegen. Aber dabei stammte Dorothee doch auch von jenem anderen, ganz verschieden gearteten Ahnherrn ab, der die Wandgemälde des Märchensaales in erinnernder Sehnsucht nach dem sonnigen Süden, einst hatte ausführen lassen, und durch ein in ihren Adern rollendes Tröpfchen seines Blutes kam es wohl, daß die geheimnisvolle Welt des Märchensaales sie doch mit tausend Lockungen rief und anzog. Immer aber blieb sie ihr im Gegensatz zum ganzen übrigen Burkahnen ein klein wenig unheimlich und fremd.

Alles andere dort war ihr eigen, war eigentlich sie selbst. Es würde ihr ja auch alles einstmals gehören. Niemand hatte ihr das gesagt, und doch wußte sie es schon als Kind, ganz von selbst. Ja, leben und in Burkahnen sein war im Grunde ein und dasselbe.

Und bis zu ihrem achtzehnten Jahre blieb sie auch,77 mit Ausnahme von Besuchen auf benachbarten Gütern, ununterbrochen dort.

Sie war aber nicht etwa allein mit ihren Eltern in Burkahnen.

Da gab es vor allem die vielen Letten, mit den blassen Augen und dem strohfarbenen, strähnigen Haar, mit den seltsam schwermütigen Weisen, die sie abends, nach getaner Arbeit, zum Klang von Rohrpfeife und Dudelsack sangen. Bis kurz vor Dorothees Geburt waren sie noch alle Leibeigene gewesene, durch den, preußischen Vorbildern nacheifernden, baltischen Adel dann befreit, zeigten sie aber noch ganz jene Unterwürfigkeit, die eine lange Vergangenheit der Knechtschaft ihrem Wesen eingeprägt hatte. In selbstgewebte Leinwand gekleidet, verbeugten sie sich ehrfurchtsvoll vor Dorothee und küßten den Saum ihres Kleides. Sie waren es, die für alles sorgten in Haus, Hof und Garten, auf deren Arbeitskraft die ganze Wirtschaft sich aufbaute. Dank ihnen konnten die deutschen Herren und Herrinnen ein Leben führen, wie es in den ganz fernen östlichen Ländern der Erde üblich, wo auch immer für jede Hantierung Wesen anderer Rasse dastehen, bereit den fremden Beherrschern des Daseins kleine Mühen und Lasten abzunehmen. Und Dorothees kränkliche Mutter brauchte sich wenig um ihr großes Hauswesen zu kümmern. Durch die lettische Wirtin ging da alles nach altem Herkommen und wie von selbst, ohne Prunk und sonderliche Eleganz, aber mit einer stets bereiten Gastlichkeit, einer gewissen breiten Behäbigkeit, der alles kleinliche Rechnen fremd war.

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Um die Tage aber zu füllen, hatte man geistige Interessen, schwärmte für Walter Scott, betrieb Bildung in einer milden Form. Auch Dorothee wurde damit versehen. Wechselnde ausländische Gouvernanten widmeten sich dieser Aufgabe. Mademoiselles und Misses, die am Firmament ihrer Kindheit vorüberzogen. Denn Kenntnis verschiedener Sprachen galt als unentbehrlich, obwohl es fraglich schien, wo sie praktisch angewendet werden würde. Tanzen wurde Dorothee beigebracht, Tirolienne und Menuett, und auf dem neuen schmalen Mahagoniflügel von Gothow in Riga mußte sie, unter Aufsicht der ihr oft als wahre Quälgeister erscheinenden Ausländerinnen, spielen lernen. Im Bombasinkleidchen, aus dessen Puffärmeln die bloßen Ärmchen hervorkamen, saß sie da und übte unverdrossen Hummel, Schubert und Webers Aufforderung zum Tanze , bis daß ihr kleines Gesicht zwischen den Löckchen, die gerade und ordentlich über die Öhrchen hingen, ganz rot wurde.

Am liebsten entfloh sie dem allem in den großen Garten. Da verbrachte sie ihre schönsten Stunden. Denn wie der Märchensaal vielleicht der fremdeste, so war ihr der Garten der heimischste Ort im ganzen heimisch vertrauten Burkahnen. Für ihn empfand sie ein so starkes Gefühl der Zugehörigkeit, daß ihr manchmal war, als sei sie selbst eines seiner Pflänzchen. Sie vermochte nicht sich vorzustellen, daß es irgendwo einen schöneren Garten geben könne.

In seiner Mitte auf einem Rondell mit großen Fliederbüschen stand eine alte steinerne Sonnenuhr. 79Gerade Wege strahlten von dort aus und führten an Rabatten vorbei. Päonien und Levkoien, Lavendel, Stockrosen und Reseden blühten da. Und lange Reihen Obstbäume gab es, kleine Zuckeräpfel und Klaräpfel, die im Herbst ganz durchsichtig wurden. Traumhafte Dome zartesten blassesten Rosas bildeten ihre Kronen, wenn sie im Frühling blühten, und die vielen Bienen flogen geschäftig ab und zu, eilend während der kurz bemessenen warmen Jahreszeit Vorräte in die gelben Bienenkörbe zu tragen. Ganz schläfrig wurde man von dem unaufhörlichen Summen. Und wirklich war Dorothee inmitten des Frühlingsblühens manchmal in einer der Pfeifenstrauchlauben einen Augenblick eingeschlafen und hatte geträumt, daß sie auch solch ein Bienchen sei, und es verstände, aus den heimatlichen Blumen süßen Honig einzuheimsen.

Aber oftmals lief die kleine Dorothee mit der sittsamen Jakonettpelerine über dem bloßen Hälschen und den langen Höschen, die unter den steif gestärkten Röckchen bis auf die Knöchel herabhingen, noch viel weiter, bis dorthin, wo der regelmäßige Garten sich in einen weiten natürlichen Park verlor und allmählich in Wiesen und Wald überging. Nicht gepflegt war dieser Wald, ungelichtetes Unterholz füllte ihn, Stämme sanken um und vermoderten unbeachtet. Wie Riesenkerzen standen die weißen Birken, ernst und feierlich, gegen die tiefe Nacht der Föhren, und unten dicht am Boden war ein Gewimmel von Blaubeeren und Strickbeeren, Pilzen und Farnen.

Außer den Letten, den Gouvernanten und Lehrern80 gab es in Dorothees Leben auch noch eine Reihe von Verwandten. Allerhand alte Tanten und Cousinen, die viel mehr Tugend als Schönheit oder irdische Güter besaßen, verbrachten gewohnheitsmäßig den Sommer im geräumigen Herrenhaus von Burkahnen; winters in Riga, Dorpat oder kleineren Kreisstädten lebend, schlossen sie im Frühjahr ihre Wohnungen ab, nachdem sie vorher alles darin wohl eingemottet, die Polstermöbel mit Überzügen vermummt und Bilder, Kronleuchter und Spiegel mit Gazehüllen gegen die Fliegen umwickelt hatten. Dann verteilten sie sich auf die reicheren Verwandten, die Güter besaßen, kamen zu zweien und dreien angefahren mit Koffern und Schachteln, denen sie Jahr für Jahr dieselben Kleider entnahmen. Von vergangenen Tagen sprachen sie gern mit dünnen Stimmen und meinten wehmütig, wie viel besser doch alles zu Zeiten Kaiser Alexanders gewesen, da sie selbst noch mit jungen Augen in die Welt geblickt hatten. Lauter alte Dämchen waren es, denen das Leben wohl nie seine besten Möglichkeiten geboten hatte, oder die sich diese doch irgendwie hatten entgleiten lassen die ersten Menschen, an denen Dorothee den Stachel kennen lernte, den das Nichterlebte und Niebesessene bisweilen hinterläßt.

Die nächsten Nachbarn von Burkahnen waren ebenfalls Verwandte, die da auf einem kleineren Gute saßen. Einen Vetter Arnold gab es in dieser Familie, einen jungen Mann, der einige Jahre älter war als Dorothee und den sie, ohne viel darüber nachzudenken, als Eigentum und selbstverständlichen Teil ihres Lebens betrachtete nicht viel anders als die Bäume, die81 auch ein für allemal dastanden. Der Vetter kam häufig nach Burkahnen. Er hatte in Dorpat studiert und trug Anzüge, die der Schneider in der Kreisstadt fabrizierte. Mama und sämtliche Tanten waren sich einig, daß er ein kreuzbraver Mensch sei, und Papa erwähnte bisweilen, daß sein Gut und Burkahnen früher einmal in derselben Hand vereinigt gewesen seien und zusammen einen schönen Besitz gebildet hätten. Der Vetter war so deutsch gesinnt, wie man es nur dort ist, wo das Deutschtum sich wie eine einsame Insel aus der Mitte fremder Menschenfluten erhebt, und mit seinen heißesten Wünschen begleitete er die Provinzialvertreter, Baron Brüning und Baron Hahn, die in Petersburg für die Erhaltung der damals bereits angefeindeten baltischen Privilegien wirkten.

So recht inmitten der eigenen Sippe verliefen Dorothees Tage. Wen man überhaupt kannte, der war auch zugleich Verwandter oder doch lang angestammter Freund. Von harmloser Ungezwungenheit war dadurch das ganze Leben. Man fuhr von Gut zu Gut in großen Wagen, tanzte, ritt, improvisierte Scharaden. Oft kamen so viele Gäste, daß in einem Zimmer mehrere einquartiert werden mußten und den jüngeren Herren die Lager auf Streu bereitet wurden. Hochzeiten dauerten drei bis vier Tage mit großen Gelagen, und waren die Vorräte erschöpft, so wurde Sauerkohl gereicht, als Zeichen zum Aufbruch. Man genügte sich untereinander, hatte keinerlei Verlangen nach Fremden, empfand sich, wie man nun einmal war, als die eine exklusiv gute Gesellschaft.

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Und dann, als Dorothee achtzehn Jahre alt geworden, erschien in Burkahnen eine Tante, die sich nicht oft dort blicken ließ. Sophie hieß sie, nannte sich aber gern Sonja, denn sie hatte sich in ihrer Jugend nach Petersburg verheiratet und das Russische dünkte sie vornehmer. Ihr Spitzname in der Familie war darum die verrußte Tante . Tante Sonjas verstorbener Mann hatte unter Kaiser Alexander verschiedene diplomatische Stellungen bekleidet, und sie war viel mit ihm in der Welt herumgekommen. Den Höhepunkt ihres Lebens aber, auf den sie in der Konversation immer zurückkehrte, bildete der Wiener Kongreß, bei dem sie als junge Frau gewesen. Etwas elegant Internationales war von alledem an ihr haften geblieben. Ihre Kleider hatten einen anderen Schnitt als die von den Jungfern der Damen des Landadels schneiderierten , und sie pflegte diese wie seltsame Ausgrabungen durch die Lorgnette zu mustern. Ganz beiläufig schilderte sie dann jene Toiletten, die die schöne Fürstin Bagration, die Gräfinnen Zichy und die Herzogin von Acerenza einst getragen hatten, oder sie erzählte, welche neuesten Moden die berühmte Schneiderin Madame Minette jetzt in Paris geschaffen habe. Wenn am langen Eßtisch in Burkahnen Palten und Knappkäse, Keilchen mit Schwarzbeeren und Kalkuhne mit Barawicken von den schwerfälligen lettischen Dienern in großen Schüsseln aufgetragen wurden, erwähnte sie, wie zufällig, die suprêmes, pâtés und pièces montées, die bei den Wiener Festen von Lakaien in habits à la française serviert worden waren,83 und sie würzte die Unterhaltung gern mit den längst verklungenen Bonmots des Fürsten von Talleyrand und des Prinzen von Ligne. Tante Sonja fühlte sich eben den Menschen und Dingen, unter denen sie einst groß geworden, völlig entwachsen und dünkte sich ihnen überlegen, und ihre Haltung war die einer herablassenden Nachsicht geworden. Die anderen hatten aber ihrerseits viel zu viel Selbstbewußtsein und lang ersessenes Herrengefühl, um je zu glauben, daß solche Überhebung irgend jemand überhaupt in den Sinn kommen könne.

Für alles hatte Tante Sonja ein kritisches Naserümpfen, nur Dorothee schien ihre volle Billigung zu finden. Und nachdem sie ein Weilchen dagewesen und beobachtet hatte, sagte sie zu Dorothees Eltern: Bei eurer Kränklichkeit ist es ja begreiflich, daß ihr beide von Burkahnen nicht fort könnt, aber gegen eure Tochter ist es un véritable crime, sie in dieser Weltabgeschiedenheit verkommen zu lassen, wo sich ihr außer dem Cousin Arnold keine Lebenschance bieten wird. Gebt mir das Kind für den Winter mit, in Petersburg will ich ihr le vrai monde und auch sie selbst zeigen. Elle en vaut la peine!

Und weil Dorothees Eltern überaus gewissenhafte Menschen waren, wurden sie bei diesen Worten sehr betroffen. Der Gedanke war ihnen schier unerträglich, daß sie, aus eigener Bequemlichkeit, eine Pflicht gegen ihr einziges Kind versäumt haben sollten! Sofort machten sie sich innerlich Vorwürfe, mit der Selbstquälerei feiner, stiller Seelen, denen die äußeren Umstände des Lebens nicht Tätigkeit als Ablenkung von peinigender84 Grübelei aufnötigen. Aus diesen Erwägungen heraus gaben sie ihre Einwilligung zu Tante Sonjas Vorschlag. Durch den Schmerz aber, den sie bei der ganz neuen Vorstellung empfanden, die Tochter monatelang missen zu sollen, merkten sie selbst erst, wie sehr sie wohl im stillen gehofft hatten, daß sich Dorothees Leben auch fernerhin ganz in Burkahnen mit dem Vetter als mögliche Zugabe abspielen werde.

Dorothees achtzehn Jahre waren begeistert bei dem Gedanken an die Reise. Alles, was an ihr an Neugierde und Abenteuerlust und auch an Sehnsucht nach Schönheit schlummerte, wachte auf, und erstaunt merkte sie, daß sie sich schon lange solche Gelegenheit, die Welt zu sehen, gewünscht hatte, ohne es selbst zu wissen. Vor der Abfahrt lief sie zwar durch Haus und Garten, um von jedem Winkel Abschied zu nehmen, aber die Freude überwog doch bei weitem den Trennungsschmerz. Am längsten verweilte sie in dem großen ausgemalten Saale. Denn da waren ja unbekannte Gegenden dargestellt, und obschon ihr Reiseziel das entgegengesetzt gelegene, kalte und winterliche Petersburg sein würde, fühlte sie sich doch, durch die bloße Tatsache des Reisens, allem Fremden und Fernen nähergerückt auch den auf den Gemälden des Saales abgebildeten sonnendurchleuchteten, sommerschönen Orten. Ja, es war ihr sogar plötzlich, einer Ahnung gleich, als würde diese Reise sie viel weiter führen, als jetzt beabsichtigt wurde schließlich vielleicht sogar bis zu jenen südlichen Gestaden, nach denen der Ahnherr eine stete Sehnsucht bewahrt hatte, und deren Bilder heute, aus85 der Umrahmung überreicher Gewinde, so besonders geheimnisvoll zu locken und winken schienen. Beim Einsteigen in den großen Reisewagen Tante Sonjas hatte Dorothee die Empfindung, daß nun die ganze Welt vor ihr offen läge.

Tante Sonjas Diener saß neben dem Kutscher, ihre Zofe und Dorothees Lettin waren auf einem Sitz untergebracht, der rückwärts am Wagen frei vorsprang. Die flachen Koffer der Damen hatte man oben auf das Verdeck gestaut, wo sie ein zweites Stockwerk bildeten. Ins Innere kamen die kleineren Gepäckstücke, die Decken und Kissen für die Nächte, die man in den livländischen Krügen und russischen Poststationen verbringen würde. Auch fehlte der Speisepaudel nicht, mit Speckkuchen, Knappkäse und allem, was sich die lettische Wirtin für Dorothee nur immer hatte ausdenken können.

Unter großem Peitschengeknall zogen die kräftigen struppigen Pferdchen an, und fort ging es mit lustigem Schellengeläut, mit wehenden roten Tuchlappen am Geschirr und im Glänzen der hohen, mit Metall beschlagenen Kumte.

Ein Stück des Weges gab Vetter Arnold den Damen noch das Geleit. Auf einem für seine lange hagere Gestalt viel zu kleinen Klepper ritt er neben dem Wagen trübselig einher, und auf seinem treuherzigen Gesicht war unverhohlener Kummer zu lesen ehrlich darin, wie in allem, was er tat. Dann an der Stelle, wo die ersten für den Wagen vorausgeschickten Relaispferde warteten, kehrte er um. Kommen86 Sie nur ja wieder, Cousine Dorothee! sagte er beim Abschied, und eine große Angst zitterte in seiner Stimme. Dorothee nickte nur herablassend, wie eine Königin, die es nicht nötig hat, ihren Untertanen Versprechungen zu geben.

Un brave garçon, mais bien rustaud, meinte Tante Sonja geringschätzig, als es dann weiter ging.

Anfänglich war Dorothee alles noch wohl vertraut; man fuhr ja durch Livland, auf Wegen oder Weglosigkeiten, die sie kannte. Tiefer Sand wechselte mit hohen, steinigen Buckeln. Um über diese Höcker der Straße hinwegzusetzen, trieb der Kutscher die Pferde mit Peitsche und lautem Anruf zu wildem Galopp an. Blieb der Wagen aber doch einmal zwischen Löchern und großen Steinblöcken stecken, so wurden die lettischen Bauern von den Gehöften und Feldern herbeigerufen, um das schwerfällige Fuhrwerk herauszuheben.

Ach, seufzte Tante Sonja nach einem solchen Zwischenfall, wenn es doch möglich sein sollte, hier einmal Schienen zu legen für solch neue Dampfwagen, wie sie jetzt zwischen Petersburg und Zarskoje laufen. Voriges Jahr bei der Eröffnung der Bahn sind Kaiser und Kaiserin mit dem ersten Zug gefahren.

Und weiter ging es jetzt durch tiefe Wälder, wo die Bäume wie böse schwarze Riesen standen, und es in ihren Zweigen zürnend rauschte, daß so manche ihresgleichen gefällt worden waren, um den Weg zu schaffen für die erbärmlichen Wichte, die da unten fuhren. Weit vor beugten sich die Wipfel im Winde, als wollten sie Tante Sonjas Karosse zermalmen.

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Eine Nacht rastete man auf einem Gut bei Freunden, die nächste mußte in einem Krug verbracht werden. Ein niederes verräuchertes Zimmer gab es da für die lettischen Bauern, ein besseres, die deutsche Stube, für die vornehmen Reisenden. In beiden aber waren Schwärme von Fliegen und Insekten aller Art heimisch.

Bei Petschory, wo sie über ein Flüßchen kamen, verließen die Reisenden Livland. Neugierig streckte Dorothee das Köpfchen in dem großen seidenen Schutenhut ans dem Fenster. Da sah sie einen anderen Reisewagen halten, in dem ein hoher Offizier saß. Die ihn begleitenden Soldaten waren abgestiegen. Im Hintergrunde erhob sich ein langes gelbes Gebäude mit mehreren daraufgesetzten zwiebelförmigen Kuppeln. Tante Sonja sagte, es sei ein als Wallfahrtsort bekanntes Kloster. So teilten sich Kirche und Militär in den ersten Eindruck, den Dorothee vom eigentlichen Rußland empfing.

Bis hierher waren Relais vorausgesandt worden. Jetzt fuhr man mit Postpferden weiter, auf einer schnurgeraden breiten Chaussee, der großen Heerstraße, die über Pskow nach Petersburg führte. Und immer öder wurde die Gegend, immer eisiger fegte der Wind über die endlose Ebene. Längs der Straße in kurzen Abständen waren auf steinernen Unterbauten Holztürme errichtet, und an jedem dieser Holztürme befand sich ein hohes, weithin sichtbares Gestell, an dem drei gegliederte und verschiebbare Balken derart befestigt waren, daß sich durch vielfache Kombinationen mit ihnen verschiedene Zeichen geben ließen. Das ist die Chappesche88 Erfindung, erklärte Tante Sonja, damit werden in ganz kurzer Zeit Nachrichten bis nach Petersburg weitergegeben ach, wer doch auch so rasch dort sein könnte! Und ermüdet lehnte sie sich zurück in ihrem weiten Reisemantel.

Aber endlich war man doch angekommen in der Stadt der übergroßen Plätze und endlos langen breiten Straßen. Dorothee wohnte nun in einem gelben, kastenartigen Hause, das eine Einfahrt hatte, an der ein Schweizer stand. Durch die Fenster herabblickend, schaute sie verwundert auf all die ihr neuen Gestalten, die des Weges kamen. Leute, denen die bunten Hemden über die weiten Hosen fielen, die hohe Stiefel und lange Bärte trugen, die alle einen seltsamen Ausdruck hatten, als seien sie nie recht wach, sondern träumten von irgend etwas, das vielleicht einmal kommen könnte, wo es sich dann wohl zu erwachen lohnen würde. Viele Popen sah Dorothee, düstere Erscheinungen, von deren schwarzen Hüten schwarze Tücher über die schwarzen Gewänder flossen. Um so bunter erschienen ihr Offiziere und Soldaten. Auf kleinen struppigen Pferden kamen Kosaken vorbei, in roten Uniformen und weiten blauen Hosen, die an den Schaften und Innenseiten mit Leder besetzt waren. Hohe schwarze Mützen trugen sie, mit überhängenden Tuchlappen und starrer weißer Feder; lange gebogene Säbel hingen ihnen an der Seite, große Pistolen steckten in den Gürteln, und an den Lanzen flatterten die schmalen Fähnchen. In kleinen offenen Einspännern saßen Offiziere, den pritschenartigen Sitz zwischen den89 Beinen, die in prallanliegenden Hosen und spiegelblanken Röhrenstiefeln steckten. Frackartige Uniformen trugen sie, mit breiten Epauletten und steifen gestickten Kragen, riesige Dreimaster, die durch Federbüsche noch erhöht wurden alles nach preußischem Muster.

Und bald hielten vielerlei Equipagen vor Tante Sonjas Tor, denn die Nachricht ihrer Ankunft hatte sich rasch verbreitet, und man kam sie zu begrüßen. In Einspännern und Dreispännern, das Mittelpferd unter dem Krummholz, die Seitenpferde mit nach auswärts gewendeten Köpfen, so kamen die Freunde vorgefahren. Andere benutzten noch altertümliche geschlossene Herrschaftskarreten, die hoch vom Boden in Federn schwangen, auf deren rückwärts ausspringendem Sitz zwei Diener saßen, und die von vier Pferden breit an der Deichsel und zwei noch vorgespannten gezogen wurden. Und auf den Böcken all dieser Wagen saßen dicke, bärtige Kutscher, mit breiten Nasen, Haar, das ihnen in die Stirne fiel, und einem guten Hundeausdruck in den Augen. Weit vorgestreckt hielten sie die Arme und die Pferde legten sich in die Zügel, daß sie sich strafften.

Tante Sonjas Reisemüdigkeit war rasch verflogen, und schon in den ersten Tagen nach der Ankunft entfaltete sie eine fieberhafte Tätigkeit, um Dorothee mit allem auszustatten, dessen sie für die gesellschaftliche Kampagne bedurfte. Eine besonders glänzende Saison solle es werden, erzählte man sich, denn die Kaiserin, die längere Zeit leidend gewesen, dürfe, nach einer glücklich verlaufenen Kur, diesen Winter wieder tanzen. 90Die Beratungen mit Schneiderinnen, Putzmacherinnen und Coiffeuren waren eine Aufgabe, so recht nach Tante Sonjas Sinn, und Papa hatte ihr ja Carte blanche gegeben. Vor allem galt es, die russische Tracht mit den herabhängenden Ärmeln und dem langen Schleier zu beschaffen, denn Kaiser Nikolai hatte sie seit einigen Jahren für die Hoffeste vorgeschrieben. Vorschriften gab es im Petersburg Nikolais ja für alles, auch für die Vergnügungen; und die Herren durften weder bunte Westen noch farbige Krawatten tragen. Solche Einschränkungen persönlichen Beliebens ließen die in baltischer Selbstherrlichkeit aufgewachsene Dorothee gar sehr erstaunen.

Allen Freunden Tante Sonjas, den vielen Verwandten, die sie durch ihren verstorbenen Mann in der russischen Gesellschaft besaß, wurde Dorothee vorgestellt, und da lernte sie denn Leute ganz anderer Wesensart kennen, als die Menschen daheim waren. Viel biegsamer und schmiegsamer die reizvollen Frauen in den oft gewechselten Gewändern und die jungen und alten Herren in den glänzenden Uniformen, viel gewandter und bereiter, durch schmeichelnde Worte und bewundernde Blicke ihr Wohlgefallen auszudrücken. Denn bewundert wurde Dorothee, und Tante Sonja, die in den Triumphen der Nichte die einstmaligen eigenen wieder zu erleben glaubte, konnte den Eltern, nach dem stillen winterlich verschneiten Burkahnen, bald schreiben: Alle Welt ist von Eurer Tochter scharmieret. Seine Majestät selbst haben geruht de lui faire des compliments.

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Das hatte sich nämlich auf dem großen Fest im Anitschkowpalais zugetragen, wo die Hoffeste stattfanden, währenddem das kürzlich abgebrannte Winterpalais in größter Hast wieder hergestellt wurde. Um zwölf Uhr mittags hatte man zu tanzen begonnen, und man tanzte den Nachmittag und Abend, man tanzte die ganze Nacht. Und als in den Frühstunden des nächsten Morgens der Kaiser Miene machte, das Fest zu schließen, bat die Kaiserin, es noch länger auszudehnen. Und weiter war getanzt worden, daß die vielen Füßchen in den seidenen Kreuzbandschuhchen brannten. Den Schluß bildeten die Figuren des Potpourris. Die Damen hatten sich dazu rings um den Saal auf Sesseln niedergelassen und, der Aufforderung und dem Beispiel des Kaisers folgend, mußte sich neben einer jeden ihr Kavalier aus den Fußboden setzen. Dann schassierten die tanzenden Paare vorüber. Dem Kennerblick des für Frauenschönheit empfänglichen Monarchen war Dorothee hierbei durch ihre Anmut aufgefallen, und er hatte sie mit einer Ansprache ausgezeichnet. Hochaufgerichtet vor ihr stehend, mit dem etwas herrischen Ausdruck der großen Augen, der geraden länglichen Nase und den schöngeschnittenen Lippen, sagte er: Ich freue mich, so eine scharmante Tochter aus dem Lande meiner braven Ostseeritter hier zu sehen.

Und hatte Dorothee schon vorher gefallen, so gefiel sie nun doppelt denn auch in Rußland verlieh Allerhöchste Huld der Schönheit die endgültige Weihe.

Une folle journée war das Fest im Anitschkowpalais genannt worden, Dorothee aber wollte es scheinen,92 als bestände das rasch dahingleitende Leben überhaupt nur noch aus folles journées. Die Bälle und Maskeraden, die Feste aller Art jagten sich; jeder neue Gastgeber schien seinen Vorgänger durch etwas noch Kostbareres, noch Unerhörteres überbieten zu wollen. Ja, es war herrlich! Es war ein solcher Taumel, daß man darüber wohl eine Weile alles vergessen konnte. Aber doch regte sich in Dorothee, einer leisen Mahnung aus der Heimat gleich, bisweilen die Frage: Durfte man denn eigentlich das Vergnügen so zum Hauptzweck des Lebens erheben?

Und dann kam der unvergeßliche Abend.

Graf Rossi, der sardinische Gesandte, und seine schöne Gemahlin, die berühmte Sängerin Henriette Sonntag, hatten zu einem musikalischen Feste geladen. Und da bei ihnen erschien zum erstenmal ein neuer strahlender Stern am Petersburger Firmament: der junge Marchese Ercole. Aus altem Genuesischen Geschlechte stammend, der Besitzer herrlicher Paläste und eines weltberühmten Gartens, zog er alle Blicke auf sich. Aber auch ohne diese Attribute wäre er doch überall der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit geworden, denn er war von einer so vollendeten Schönheit, wie sie Maler und Bildhauer wohl erträumen, ein einzelner Mensch aber selten in sich vereinigt. Und dazu kam eine Eleganz, die altererbter Kultur entstammte und nichts Weibisches an sich hatte, sondern sehnige Kräfte barg, eine Grazie der Manier, ein Wohlklang der Stimme, die wie süße südliche Luft gefangen nahmen.

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Auch Dorothee war betroffen, als die Hausherrin ihr den Fremden vorstellte. Ein völlig neuer Menschentypus war er für das baltische Komteßchen, und doch kam er ihr aus irgendeinem geheimen Grunde doch sofort bekannt vor. Unwillkürlich sagte sie: Mir ist, als hätt ich Sie schon irgendwo gesehen, Herr Marchese.

Wie sollte mir solch Glück widerfahren sein, da ich mich doch nicht darauf zu besinnen vermag, antwortete er und blickte sie aus großen dunklen Augen an. Sobald aber Dorothee in diese Augen geschaut, schien die ganze Umgebung um sie her zu versinken, weit fort von Petersburg wähnte sie sich, daheim wieder im Märchensaale, und voller Entzücken rief sie: Oh, jetzt weiß ich es. Sie sind ja der Lautenspieler unter den blühenden Orangenbäumen auf dem Bild in Burkahnen.

Als der Marchese nun verwundert eine Erklärung der rätselhaften Worte erbat, war sie so reizend in ihrer Verwirrung, und ihr Gesichtchen errötete so lieblich zwischen den regelmäßig herabhängenden goldenen Locken, daß ihm war, als habe er nie ein so holdseliges Menschenkind geschaut.

Il a reçu le coup de foudre, dachte beobachtend Tante Sonja. Und coup de foudre diagnostizierte bei ihm auch bald die ganze Petersburger Gesellschaft. Weniger sicher war man, was die scharmante Tochter des Ostseeritterlandes empfände, denn sie schien durch doppelte Zurückhaltung ausgleichen zu wollen, was ihr Benehmen im ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft vielleicht an allzu harmloser, beinahe kindlicher Unbefangenheit94 gehabt hatte. Aber der Marchese war kein Bewunderer, dem sich leicht entweichen ließ. Mit südlichem Feuer führte er seine Sache, mit einer ansteckenden Fröhlichkeit, die keine Hindernisse kannte. Das Komteßchen, das doch gemessen zu sein trachtete, wurde denn auch bisweilen völlig von ihm mit fortgerissen, und die ganze Gesellschaft, die an diesem Idyll ein gerührtes Interesse nahm, sagte: Sie kann gar nicht anders, man muß ihn ja lieben.

Alle schienen sie zu des Marcheses Helfershelfern und Fürsprechern geworden zu sein, obschon er eine Persönlichkeit war, die dessen eigentlich gar nicht benötigte. Aber es war eben jeder einzelne von ihm bezaubert und wollte ihm daher zur Erfüllung seines Herzenswunsches helfen. Immer und überall hörte Dorothee den Fremden rühmen. Und Tante Sonja, die bis dahin, im Hinblick auf mögliche russische Heiraten Petersburg, nie genug loben konnte, rühmte nun Italien, das sie von ihrem diplomatischen Leben her kannte. Ganz enthusiastisch wurde die weltlichkühle Dame. Hier mag ja alles gut und schön sein, sagte sie, aber was überhaupt ist die gesamte übrige Welt im Vergleich zu Italien der Heimat aller Kultur und Kunst, dem Land, wo jeder Atemzug Wonne ist. Ach, und Ercoles Paläste und Galerien und vor allem seinen berühmten Garten, den solltest du sehen! Diese immergrünen Bäume, diese betäubend duftenden Blumen, die großen Glühkäfer, die in den Nächten leuchten, und nie Kälte, nie Winter, und dazu das blaue Mittelländische Meer! Aber etwas so Schönes kannst du dir95 ja gar nicht vorstellen, ma pauvre enfant, du kennst ja nur die Apfelbäume von Burkahnen.

Ganz genau vielleicht nicht, aber ungefähr glaubte Dorothee indessen doch, es sich vorstellen zu können; sie dachte bei solchen Schilderungen ja gleich an den Märchensaal in Burkahnen mit seinen Bildern Italiens. Seit ihrer Kindheit Tagen hatten diese sie ja oft so seltsam geheimnisvoll gelockt und waren ihr doch stets ein bißchen unheimlich geblieben. Immer schienen sie Bilder zu sein von Dingen, die es in Wirklichkeit gar nicht geben konnte, oder die, wenn es sie denn wirklich gab, in ihrer Pracht und übertriebenen Schöne etwas Unerlaubtes, beinahe ein wenig Sündhaftes haben mußten.

Und nun sollte das Seltsame geschehen? Sie sollten in Dorothees Leben doch Wirklichkeit werden? Einer der allerschönsten Punkte dieser Märchenwelt würde ihr zu eigen angeboten werden? Zu ihren Füßen gelegt von einem Sohn des Zauberlandes, der, auch wenn seine Hände nichts zu bieten gehabt hätten, selbst unwiderstehlich gewesen wäre. Denn bezaubernd war Ercoles ganzes Wesen und voll reizender Einfälle, das fühlte die in nordischer Nüchternheit aufgewachsene Dorothee immer mehr und am unwiderstehlichsten würde er vielleicht sein, wenn er um etwas bat. Während all der folgenden Feste, bei jeder der vielen Gelegenheiten, wo sie sich trafen und wo er verstand, sich zu geben, als sei er nur da für sie, immer mehr fühlte sie klopfenden Herzens, daß der Augenblick der Aussprache nahte, daß er ihn suchte. Sie aber war dem96 ausgewichen, ganz unwillkürlich, hatte auch nicht genau sagen können, warum. Es war nur so ein Wunsch in ihr, daß nichts sich ändern möge an diesem Zustand, der einem süßen Traume glich ein geheimes Zurückbeben vielleicht vor Fragen und Entschlüssen, die dann kommen mußten.

Doch als das Eis der Newa aufgegangen und der Frühling gekommen, da war es, als ob auch Ercole die Worte nicht mehr zurückzudrängen vermöge, und sie strömten zu ihr, mächtig, wie langgedämmte Fluten, und zugleich betörend süß, wie das Werbelied einer Nachtigall. Aber gerade da, und als er schon jubeln wollte, kam es über sie wie eine beklemmende Angst. Sie hatte ja an diesen Augenblick im stillen bisweilen gedacht, aber er fand sie nun doch völlig verwirrt. Denn es kam ihr plötzlich vor, als habe dies alles gar nichts mit ihr zu tun, als könne es überhaupt nicht Wirklichkeit sein. Und Dorothee, die nur die Hände auszustrecken brauchte, um alle Blüten des Daseins zu fassen, faltete statt dessen diese Hände fest ineinander und erbat sich, mit gesenkten Lidern und leiser, bebender Stimme, eine Bedenkfrist.

Ja, sie tat mehr. Als Tante Sonja sie immer wieder zu drängen begann, einen solchen Bewerber, um den sich andere reißen würden, nicht unnütz hinzuhalten, da erklärte Dorothee, sie wolle sofort nach Burkahnen zurückkehren, denn sie fühle, nur dort könne sie sich den wichtigen Schritt in Ruhe und mit richtigem Ernst überlegen.

Tante Sonja war bitter enttäuscht über diese Wendung. Sie hatte gleich nach des Marcheses Werbung97 an Dorothees Eltern geschrieben, und von ihnen die Antwort erhalten, sie stellten ihrer Tochter die Entscheidung völlig frei. Tante Sonja hatte daraufhin bestimmt angenommen, daß es nun in wenigen Tagen zur Verlobung kommen würde, denn Dorothees Zögern hielt sie nur für mädchenhafte Ziererei, wenn nicht gar für absichtliche Koketterie, und sie hatte bereits in der Vorstellung all der Feste geschwelgt, die aus diesem Anlaß gegeben werden würden. In Petersburg herrschte in jenem Jahre ja überhaupt eine jugendlicher Liebe und Verlobungen holde Stimmung, denn die Vermählung der Großfürstin Marie mit dem Herzog von Leuchtenberg stand nahe bevor. In dem neu entstehenden Winterpalais sollte sie gefeiert werden. Es wäre doch gar zu reizend, Dorothee auch als Braut vorstellen zu können! Und noch einen Versuch machte daher Tante Sonja, die Nichte umzustimmen. Du hast etwas Angst vor all dem Fremden in dem unbekannten Lande, sagte sie. Das ist ja begreiflich, aber glaube mir, bist du erst mal dort mit Ercole, so wirst du nicht verstehen, wie du je einen Augenblick zaudern konntest. Wie viel Schönheit und Genuß sich aus unserem kurzen Leben schöpfen läßt, das lernt man erst dort im Süden! Und , setzte Tante Sonja hinzu, wenn es dir wirklich anfänglich etwas schwer werden sollte, dich einzuleben, so bin ich ja gerne bereit, zu euch zu kommen, und dir bei deinen ersten Ricevimenti in Ercoles Stadtpalais zu helfen und vor allem deine Fêtes champêtres in dem Garten am Meere zu arrangieren.

98

Aber sogar diese letzte Lockung vermochte nicht, Dorothee zu dem erwünschten sofortigen Jawort zu bewegen. Und so mußte sich denn Tante Sonja bequemen, die Nichte heimzubegleiten.

Vor der Abreise fand eine Unterredung mit Ercole statt. In hellblauem Frack und lila Weste war er gekommen, die Krawatte kunstvoll mit kostbaren Nadeln gehalten. Die Taille beinahe so dünn, wie die der Dame seines Herzens selbst. So saß er in Tante Sonjas Salon Dorothee gegenüber. In den im Schoß gefaltenen Händen hielt sie das Sträußchen, mit Seidenmanschette und Filigranhalter, das er ihr überreicht hatte, und sie lauschte mit sittsam gesenkten Lidern, wie er ihr noch einmal sagte, daß er keinen sehnlicheren Wunsch kenne, als sich und alles, was er sei und habe, ihr zu Füßen zu legen. Dabei glitten seine dunkeln Blicke voll leidenschaftlicher Bewunderung über ihr feines Gesicht, über ihre Gestalt in dem bauschenden Rock, auf den die Enden eines pucefarbenen Gürtels fielen. In Petersburg wollte Ercole der endgültigen Antwort Dorothees harren. Erlösen Sie mich rasch, Contessina Dorothea, bat er, gestatten Sie mir bald, Ihnen in das Haus Ihrer Eltern nachzueilen und Sie in meine Heimat zu führen. Ich will ja Ihr Leben zu einem einzigen Fest machen. Es soll schön werden oh, so schön! Und Dorothee hatte darauf mit einem wehmütigen Lächeln und einem schüchternen Angenaufschlag geantwortet: Seien Sie versichert, Marchese Ercole, daß, wenn ich fühle, daß ich es darf, meine Antwort gern ein Ja sein soll.

99

So schnell als es ging, ward die Heimfahrt in Tante Sonjas großem Reisewagen zurückgelegt. Nach wenigen Tagen hielt man vor dem Herrenhause in Burkahnen. Im Eingangstor, zu dessen beiden Seiten die dreibeinigen Opferschalen in Nischen standen, warteten die Eltern, und hinter ihnen drängten sich die alten Tanten und Cousinen, unverändert in ihren langbekannten Kleidern. Aus der Begrüßung der Eltern sprach eine viel größere Zärtlichkeit noch als sonst, die aber rasch von ihnen unterdrückt wurde, als hätten sie zuviel schon der Freude gezeigt, die sie erfüllte, die einzige Tochter einmal noch für sich ganz allein zu haben. Feine, peinlich rechtlich empfindende Menschen waren es ja, und sie hatten sich fest vorgenommen, daß Dorothee durch keine Rücksicht auf sie beeinflußt werden dürfe. Ganz unbehindert sollte sie entscheiden, was ihr Glück sei. Die Eltern sprachen nur leise gütige Worte, sorgfältig das eine vermeidend, woran doch alle dachten, und ihrem Beispiel folgten, mit diskreten Blicken und sorgenvollem Kopfschütteln, die vielen alten verwandten Dämchen. Sie alle behandelten Dorothee beinahe wie eine Kranke, die ja nicht gestört werden darf. Vetter Arnold erschien überhaupt nicht. Und auch das war Zartheit und Rücksichtnahme.

Im Vergleich zu Tante Sonjas stets erneuten Bestürmungen empfand Dorothee diese feinfühlende Zurückhaltung zuerst dankbar. Aber bald überkam sie ein Gefühl großer Hilflosigkeit, so völlig auf sich selbst gestellt zu sein in dieser schwersten Entscheidung. Sie hatte beim Aufbruch von Petersburg bestimmt gedacht,100 sobald sie erst wieder in Burkahnen sein würde, müsse sie auch durch irgendeine geheimnisvolle Inspiration sofort wissen, was sie tun solle. Denn in Burkahnen hatte sie ja nie Zweifel und Unsicherheit gekannt, da war immer alles klar und selbstverständlich gewesen. Und nun war sie wieder daheim, aber sie blieb ebenso unschlüssig, so verwirrt wie in Petersburg, wo Ercoles Stimme bis in ihre Träume getönt hatte, mächtig wie rauschende Fluten und zugleich betörend süß, wie das Werbelied einer Nachtigall. Eine Sehnsucht überkam sie, wenn sie daran zurückdachte, so daß sie sofort hätte Ja, ja! rufen mögen, und zugleich eine Angst, die ganz ebenso eindringlich warnte, nur nicht, nur nicht! Es war als rängen beständig zwei Mächte um sie, als würde sie wehrlos von ihnen hin und her gerissen. Und mitleidig schauten die älteren Menschen auf den Kampf des Kindes, das sie von klein auf gekannt, dem sie gern jede Not erspart hätten, und dem sie hier doch nicht helfen konnten. Sie ließen Dorothee in allem gewähren und gaben ihr Zeit. Sogar Tante Sonja, die bis zur endgültigen Entscheidung in Burkahnen bleiben wollte, mußte sich der Eltern Wunsch jetzt fügen und schweigend warten.

Die große Stille eines weiten Landes, in dem es wenig Menschen gibt, war über Burkahnen gebreitet. Eltern, Tanten hatten sich zum nachmittägigen Schlummerstündchen in ihre Zimmer zurückgezogen. Nur Dorothee irrte ruhelos umher. Sie schritt durch die wohlbekannten Räume, wo oben dicht unter der Decke die weißen Figuren der Friese aus blauem Grunde liefen,101 und die Empiremöbel noch immer steif und etwas spärlich standen; sie schritt durch andere, in denen die Wände mit alten Kattunen bespannt waren, und die neueren Mahagoni-Servanten und - Kommoden selbstgefällig glänzten. Sie stand in dem Zimmer, wo sich der lange schmale Flügel von Gothow bei Riga befand, und sie entsann sich, wie sie hier bei den ausländischen Gouvernanten Tirolienne und Menuett tanzen gelernt, wie sie Hummel, Weber und Schubert geübt hatte. Sie wollte bei diesen beruhigenden Bildern jener Zeit verweilen, die ihr heut so lang her schien, daß sie sich plötzlich ganz alt vorkam aber ihre Gedanken ließen sich nicht festhalten. Die Erinnerung an jenes erste kindliche Tanzen zauberte die Vorstellung der Petersburger Bälle hervor, der Gedanke an die einstmaligen Klavierstunden beschwor das musikalische Fest der Gräfin Rossi und ließ mit ihm Jenen vor ihr erstehen, den sie dort zum erstenmal gesehen. Und da waren sie auch schon wieder da, die Zweifel und Unsicherheiten, wie quälende Geister. Und so wie Dorothee einst in der Kindheit von hier aus vor den ausländischen Gouvernanten in den Garten zu entweichen liebte, so wollte sie auch jetzt fliehen vor all dem Fremden, sie Bedrängenden. Schon hatte sie die Klinke der Tür, die ins nächste Zimmer führte, gefaßt. Aber da hielt sie plötzlich inne. Dort ging es ja in den Märchensaal. Dahin wollte sie doch nicht?

Seit ihrer Ankunft hatte sie den Raum, der nur bei besonderen Festen benützt wurde, noch nicht betreten. Jetzt lockte er sie plötzlich mit den tausend Stimmen,102 die sie schon als Kind oft zu hören gemeint, und die vielleicht nur das Kreisen jenes Tropfen Blutes in ihr waren, den sie von dem Ahnherrn geerbt, der einst in Schönheitssehnsucht die italienischen Landschaftsbilder dort drinnen hatte ausführen lassen. Aber noch eine andere, ganz neue Lockung drang heute durch die geschlossene Tür, auf deren Griff ihre Hand noch ruhte. Das Land, dessen Ruf sie hörte, war Ercoles Land, die Bilder seiner Heimat winkten dort drinnen in Sonnenglanz und Blumenfülle, und der schwarzäugige Lautenschläger, der unter Bäumen saß, darauf weiße Blüten glänzten und zugleich goldene Früchte glühten, der trug seine Züge, der war ja Ercole selbst!

Da konnte sie nicht widerstehen. Sie öffnete die Tür, schaute in den Saal und sah die Bilder sah viel, viel mehr, sah, wie in einer übernatürlichen Vision alles, was das Leben ihr bot. Dann aber, einem übermächtigen Impulse folgend, stürzte sie fort, hinaus in den Garten.

Frühling war da. Nordischer Frühling. Kein wildes Wuchern, kein verschwenderisches üppiges Treiben und Sprießen. Eine Zartheit. Beinahe eine Herbe und Kargheit. Im hellsten Grün standen die Büsche, blaßrosa wölbten sich die Kronen der Apfelbäume gegen den farblos lichten Himmel. Leichter Dunst stand vor der Sonne, so daß die Dinge nur schwache Schatten warfen. Kein Bild, das zu sehen man weite Reisen unternimmt. Für manche Augen vielleicht kaum schön.

Dorothee aber war es Heimat, und bei dem Anblick kam es über sie gleich einer großen Erkenntnis: von103 hier scheiden, konnte man das denn überhaupt ernstlich erwägen? Das durfte doch niemand, dem dies Stück Land gehörte und der wiederum auch zu ihm gehörte. Burkahnen verlassen? Es vielleicht nie wiedersehen, seine hellen Sommernächte nicht und nicht seine langen weißen Winter? Das war doch unmöglich. Nur in Italien läßt sich Schönheit und Glanz aus dem Leben schöpfen, hatte Tante Sonja gesagt, aber aufblickend sah Dorothee, wie die Bienen geschäftig schwirrten, Speise einsammelnd aus den spärlichen nordischen Blumen, und sie wußte, ihr Honig war so süß. Ja, hier zu leben, wie so ein Bienchen, das aus dem mühsam Gehegten Süße schöpft, das erkannte sie jetzt, in plötzlicher Eingebung, als ihre eigene Bestimmung. Jene südlichen Fernen, die mochten ja schön sein, schöner vielleicht als Burkahnen, aber das gerade war es ja, was, trotz aller Lockung, Dorothee mit einem leisen Schauer der Abwehr, einem Gefühl des Unheimlichen erfüllte zu schön waren sie. Glänzendste Punkte der Welt, die man wohl einmal sehen mochte, die durch ihre verwirrende Überfülle einen Rausch der Begeisterung erregten, aber nichts so ganz Wirkliches, Vertrautes, worauf sich der Alltag aufbauen läßt.

Stärker tönte der Bienen Summen und die Erde duftete, wie sie jedem duftet, da wo er geboren ist. Und Dorothee kniete nieder, drückte ihre Wange auf diese Erde und hatte die Antwort auf ihre fragenden Zweifel gefunden.

Als Dorothee dann unter der langen Reihe der Apfelbäume wieder dem Hause zuschritt und alles um104 sie her anschaute wie liebe Wesen, die sie beinahe verloren hätte und nun wieder besaß, kam plötzlich Tante Sonja aus einem Seitenwege ihr entgegen. Und Tante Sonja, der die Tage in Burkahnen anfingen reichlich lang zu dünken, fragte: Eh bien, ma chère enfant, bist du dir endlich darüber klar geworden, welch große Chance dir geboten wird?

Ja, vielleicht ist es wirklich eine große Chance, antwortete Dorothee, aber, setzte sie hinzu und blickte hinaus in die Apfelbäume, als riefe sie die rosa Blüten zu Zeugen auf, es ist doch unmöglich, daß ich dies alles hier verlasse.

Folle que vous êtes! rief Tante Sonja, Ich glaube wahrhaftig, wegen ein paar Apfelbäumen willst du hier bleiben, und du könntest doch den schönsten Garten der Welt besitzen.

Aber er läge nicht in Burkahnen, antwortete Dorothee leise.

Den Absagebrief an den Marchese mußte Papa schreiben. Aber mach ihn ja recht freundlich und nett, schärfte Dorothee ihm ein. Nachher, als er ihn ihr zu lesen gab, besann sie sich einen Augenblick und setzte dann in der feinen spitzen Handschrift jener Tage die Worte hinzu: Ich möchte Ihnen noch einmal danken, Herr Marchese, daß Sie mir so viel Schönes schenken wollen aber das ist es gerade, wovor ich mich fürchte und es wäre vielleicht gar zu schön.

So hatte Dorothee über ihr Leben entschieden. Denn was nachher daraus wurde, war ja nur die weitere Folge dieses Entschlusses.

105

Dorothee blieb von da an wieder ruhig in Burkahnen bei den Eltern. Die aber wurden älter und kränklicher, und dann starben sie. Vorher hatten sie indessen noch die Freude erlebt, daß Dorothee den Vetter Arnold heiratete, der, wenn auch einmal von Süden her ein Sturm durch die Burkahner Welt gezogen war, nachher doch ebenso selbstverständlich dagestanden hatte, wie die Bäume, die auch gelegentliches Wehen überdauern. Wegen des Gesundheitszustandes der Eltern konnte es nur eine ganz kleine Hochzeit sein, und es erschien daher Dorothees Wunsch selbstverständlich, daß das Hochzeitsdiner nicht im großen Märchensaal serviert werde. So gehörte denn Burkahnen Dorothee zu eigen und, mit Vetter Arnolds Gut vereinigt, bildete es einen schönen Besitz. Aber hatte Dorothee in ihrer Jugendzeit damit begonnen zu glauben, daß Vetter Arnold und Burkahnen ihr gehörten, so wußte sie nun, daß sie selbst es war, die ihnen gehörte. Und es war ja auch schön und gut so. Vielleicht wollte es ihr aber manchmal doch scheinen, daß sie mehr gäbe, als sie empfange. Die Zeiten gingen dahin, die Welt änderte sich. Längst lagen Schienen, und Eisenbahnzüge dampften auf jenen Wegen, über die Dorothee einst in Tante Sonjas Reisewagen gefahren war. Aber sie kehrte nie wieder nach Petersburg zurück. Arnold, den sie immer noch Vetter Arnold nannte, obgleich sie schon so viele Jahre verheiratet waren, mußte um so häufiger dorthin. Denn jetzt gehörte er zu jenen, die am eifrigsten für das gefährdete Baltentum kämpften, nicht in Auflehnung gegen die angestammte fremde Obrigkeit,106 sondern aus dem Bedürfnis, Treue zu halten der ererbten Eigenart. Und es gab viel zu kämpfen, denn auch darin hatte die Welt sich geändert. Niemand in Petersburg sprach mehr von braven Ostseerittern . Scharfe Winde wehten aus Norden hin zu den Ostseeprovinzen. Und in diesen selbst begann das Leben anders zu werden. Nicht mehr ganz dieselbe harmlos behagliche Gastlichkeit herrschte. Anspruchsvoller wurden die Menschen, teurer die Dinge. Und einen Unterton von Unsicherheit und Besorgnis begann man zu hören. Zur Feindschaft von oben gesellte sich tückische Auflehnung von unten. Die Letten waren nicht mehr jene unterwürfigen Gestalten aus Dorothees Jugend.

Ja, so vergingen die Jahre. Vierzig mal 365 Tage und dazu noch die Schalttage waren verstrichen, seit Dorothee unter den Apfelbäumen Burkahnens über ihr Leben entschieden hatte. Lang, lang waren diese vielen Tage manchmal gewesen! Gelegentlich hatte Dorothee deutsche Bäder besucht. Zu weiteren Reisen war es indessen nie recht gekommen. Die Geschäfte der eigenen Güter, die größeren der Provinz, hatten Arnold immer irgendwie hemmend zurückgehalten. Und Dorothee selbst hatte auch nie sonderlich darauf bestanden. Aber jetzt sollten sie reisen. An die Riviera. Arnold kränkelte, er, der so lang aufrecht und stark dagestanden, wie die Bäume nordischer Wälder, bedurfte der Sonne des Südens, so sagten die Ärzte.

Und so reisten sie denn. Ein alter Mann. Eine alte Frau.

107

Zuerst ging es nach Berlin, das sie beide längst kannten. Dann über die Alpen und weiter hinab.

Morgens im Schlafwagen erwachend, blickten sie hinaus in die gänzlich veränderte Welt, wo milde Luft und weiche Laute ihnen entgegenschlugen, wo die Menschen schwarzes Haar und dunkle Augen hatten. Durch viele Tunnels, immer wieder Blicke auf ein unendlich duftig blaues Meer gestattend, führte sie dann die Bahn.

Gegen Mittag waren sie an ihrem Bestimmungsort angekommen. Und auch aus den Fenstern ihrer Hotelzimmer sah man dieses seltsam leuchtende Meer. Dorothee mußte immer wieder hinausschauen. Sie wäre am liebsten gleich hinunter an den Strand gegangen, um dieser lockenden Bläue nur ja recht nahe zu sein. Aber Arnold war müde. Gleich nach dem Essen legte er sich aufs Sofa, bat, daß man die Vorhänge schlösse und ihn ungestört ruhen lasse. Nun litt es Dorothee nicht mehr im Hause, und nachdem sie dem lettischen Diener eingeschärft, seinem Herrn zur Hand zu bleiben, ging sie hinab und trat aus dem Hotel.

Auf der blendendweißen Straße hielt ein Wagen. Fremdartiges Geschirr trugen die Pferde, und dem Kutscher, mit dem klugen schmalen Gesicht, steckte eine Feder keck am Hute. Er machte eine artige Gebärde und frug, ob die fremde Dame nicht mit so guten Pferden fahren wolle, beinahe, als ob ein bekannter Herr ihr seinen Wagen angeboten hätte, und vergleichend dachte Dorothee an die Droschken in Riga! Ohne sich zu besinnen, stieg sie ein und nannte dem Kutscher einen Namen. Leise nur sprach sie ihn aus,108 beinahe zaghaft. Aber der Kutscher schien gar nicht verwundert. Hatte diese Weisung wohl gar erwartet.

Fort ging es nun auf der glatten Straße, in raschem Trab, mit lustigem Gekling der Geschirre. Im Sonnenschein vorbei an hellen Häusern mit flachen Dächern, im Sonnenschein am blauen Meer entlang. Dann hielt der Kutscher an einem hohen Eingangsportal. Ein Pförtner erschien. Ja, es sei jemand da, der die Dame begleiten könne.

Und nun schritt sie durch den Garten neben dem Führer. Der radebrechte etwas Englisch und Französisch, nannte die Kampfer -, Zimt - und Pfefferbäume, zeigte ihr die vielen verschiedenen Palmenarten, die Kaffeesträucher, Bananen und die langen Kamelienwände. Aber sie achtete gar nicht darauf. Sie ging wie im Traume. Und was lag an den einzelnen Namen, wo das ganze eine Märchenwelt war. Oh, diese Süße der Düfte! Dies Schmeicheln der wonnigen Luft! Nein, so hatte sie es sich freilich nicht vorzustellen vermocht! Übergroß standen die weißen Magnolien zwischen den glänzend grünen Blättern, Dickichte bildeten die rötlich gelben Azaleen, breit ausladend streckten sich die Arme der knorrigen Zedern, hochaufstrebend die Zweige der dunkeln Zypressen. Überall schlangen sich Lianen um die glatt ragenden Stämme der Palmen, warfen ihr Gerank, grünlichen Schlangen gleich, von Baum zu Baum, verwoben diese ganze Welt mit einem Zaubernetze, umspannen sie mit feinen Fäden, an denen Blumen wie Schmetterlinge hingen. Die Statuen von Frohsinn und Überfluß109 standen als Geister des Ortes. Und fröhlich winkten Barken auf schillernden Teichen, im Überfluß blühten die Rosen der Riviera, die Jasmine und schweren Dolden der Wistarien. Und so wunderbar und traumhaft der Garten auch war, so war es vielleicht das Wunderbarste, daß Dorothee sich darin nicht eigentlich fremd vorkam, daß es sie dünkte, als wäre sie hier längst erwartet, als flüsterten ihr all die Dinge zu: Also endlich, endlich, bist du zu uns gekommen!

Bis zur Höhe begleitete sie der Führer, von wo aus der Blick über den ganzen Garten reichte, und weiter noch hinaus auf das blaue, im Dunst der Ferne verschwimmende Meer. Die Welt und alle ihre Herrlichkeiten schien dieser Besitz zu umfassen.

Während Dorothee noch so stand, versunken in trunkenes Schauen, mit Tränen in den Augen ob soviel Schönheit, hörte sie den Klang von Schritten. Aufblickend sah sie, daß die Tür des Gebäudes, das sich hier als Krone des Ganzen erhob, von innen geöffnet worden war. Ein alter Herr trat aus dem Hause, kam dann langsam die marmornen Stufen herab. Alt, nur weil weißes Haar sein Haupt bedeckte, aber mit gerader Haltung, elastischem Schritt und jener unnachahmlichen südlichen Grazie, die Dorothee nur an Einem je gesehen. Ganz unwillkürlich drängte sich ein Name über ihre Lippen: Ercole . Nicht laut hatte sie gerufen, aber der Schall drang hier in der Stille weiter wohl, als sie dachte. Verwundert hielt der alte Herr bei dem Klang der Stimme inne, schaute sich um und gewahrte eine zierlich feine alte Dame. Es war110 offenbar, daß er sie nicht gleich erkannte. Aber er kam auf sie zu, blieb stehen und grüßte mit fragendem Blick in den dunkeln Augen. Als wolle er sich besinnen, als habe der Ton der Stimme ihn mehr als der Anblick an etwas gemahnt, was zurücklag in weiter Vergangenheit. Und plötzlich kam es nun auch über seine Lippen, unsicher und fragend: Contessina Dorothea?

Lang waren sie dort oben nebeneinander stehengeblieben, hatten zusammen hinausgeschaut auf die Märchenwelt, schweigend und doch wissend, daß sie dieselben Gedanken dachten. Und dann hatte er sie durch den Garten, aus dem nun stärker noch die Abenddüfte stiegen, bis zum Portale hinabgeleitet. Ein Gärtner, den Ercole vorher herbeigewinkt, stand wartend da, die Arme voll eines übergroßen Straußes aus des Märchengartens schönsten Blüten. In den Wagen wurde er gelegt, füllte ihn mit seinem Duft und Zauber, und dabei gedachten Ercole und Dorothee wohl jenes anderen Sträußchens, das er ihr, in Seidenmanschette und Filigranhalter, vor vierzig Jahren überreicht hatte. Als sie dann im Wagen saß, beugte er sich über ihre Hand und sagte mit einem leisen wehmütigen Lächeln: Von allen Sorgen, Contessina, ist wohl die müßigste, daß das Leben je zu schön sein könnte.

Ende.

Jm Weltkrieg auf K. -Papier gedruckt.

About this transcription

TextZwei Erzählungen
Author Elisabeth von Heyking
Extent116 images; 23783 tokens; 6216 types; 160031 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

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EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationZwei Erzählungen Elisabeth von Heyking. . Philipp Reclam jun.Leipzig1918.

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LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Novelle; ready; wikisource; women

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Editorial principles

Anmerkungen zur Transkription:Als Grundlage dienen die Wikisource:EditionsrichtlinienGeviertstriche (—) wurden durch Halbgeviertstriche ersetzt (–).

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