PRIMS Full-text transcription (HTML)
Die Frau des Falkensteins.
Ein Roman in zwei Bändchen von der Verfasserin des Rodrich.
Zweites Bändchen.
BerlinbeiJulius Eduard Hitzig,1810.

Erstes Buch.

Nach langem Todesschlaf blickte Luise zuerst, wie durch einen Zauberspiegel, in die Umgebungen ihrer Kinderwelt. Hell, wie der Morgen des Lebens, stralten ihr die blaßrothen Wände ihres kleinen Zimmers in der mütterlichen Wohnung entgegen. Alles stand und lag hier wie ehemals. Die reiche Sammlung bunter Schmetterlinge, die Julius mit unsäglicher Liebe in der Schweiz und Italien für sie sammelte und in Rahmen von seltnen Holzarten einfassen ließ, hing wie sonst an den Pfeilern umher. Vom Kamin glänzten noch all die bunten Steinchen, Kristallspitzen und die tausend Spielereien, die er ihr ebenfalls von den Alpen und seinen andren Reisen mitbrachte. Ach! und die vielen Schildereien, unter denen sein Bild und das ihre so still aus jenen Tagen herübersahen, daß Luise unbewußt lächelte und durch die schneeweißen Gardinen des jungfräulichen Bettes wie in leichten, wogenden Morgenduft hineinsah.

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Ihr Innres war zusammengestürzt. Die Vergangenheit lag in dunkler Tiefe verschüttet, keine Spur führte dahin zurück, der gewaltige Schlag lag betäubend auf allen ihren Sinnen. Da traf ein leises Wimmern ihr Ohr. Sie richtete sich schnell in die Höhe, und sah Marianen, wie an jenem Tage, als der erste Schmerz ihr nahete, unter stillem Weinen an ihrem Bette stehn. Luise sah sie starr an, dunkle Gestalten schwebten an ihr vorüber, sie wollte sie festhalten, behielt aber nichts als das Bild des Todes. Schaudernd sank sie in die Kissen zurück. Allein das tiefe Schweigen ihrer Brust war nun gebrochen, die erstorbne Welt regte sich darin, und zahllose Erinnrungen fuhren wie Geister aus ihren Gräbern herauf. Von allen Seiten faßte es sie mit unnennbarer Angst, so daß sie laut aufschrie und die Arme fest auf der Brust zusammenschlang, als wolle sie das beginnende Leben darin ersticken.

Ihr banger Ruf hatte mehrere der Umstehenden herbeigelockt. Unter ihnen trat der alte Geistliche zunächst zu ihr hin, und fragte sie leutselig: ob sie irgend einen Schmerz empfinde. Aber Luise antwortete nicht, sondern ergriff mit Heftigkeit seine Hand, die sie vor wenig Monaten an Julius Seite einsegnete. Zufällig heftete sie den Blick auf die verschlungnen Hände. Der Trauring glänzte hell5 an ihrem Finger, und mahnte sie, wie das leuchtende Antlitz des Greises, an den gebrochnen Eid. O mein Gott! o mein Gott! stammelte sie wiederholt, und verhüllte unter lautem Schluchzen ihr Gesicht in die Decke. Der fromme Alte sah sie verwundert an. Ihm war wenig von der Veranlassung ihres Kummers bekannt, und wäre er auch davon unterrichtet gewesen, er würde schwerlich Luisen verstanden haben, da er durch ein langes, gedrängtes Leben jeder Widerwärtigkeit nur mit stillem Sinn zu begegnen wußte. Wenn Sie sich etwas sammeln könnten, hub er nach einer Weile an, ein Brief des Herrn Grafen wartet schon so lange auf Sie, vielleicht würde Sie dieser beruhigen. Luise sah auf, ihre Thränen stockten, ihr war, als bräche das Strafgericht über sie ein. Zitternd, ohne Muth, das unvermeidlich scheinende abzuwenden, saß sie aufgerichtet im Bette. Der Prediger hielt diese beredte Zeichen für eine stille Einwilligung. Den Brief vor sie hinlegend, stand er auf, und eilte, durch ein Amtsgeschäft berufen, sich für den Augenblick zu entfernen. Luise erbrach das Siegel, ohne recht zu wissen was sie that, und las Folgendes:

» Laß Dich nicht von dem Anblick dieser Zeilen erschrecken, liebe Luise. Es steht alles besser als Du denkst. Fernando lebt, und wird im Kloster6 bei den frommen Brüdern bald genesen. Ich bin ja nun auch nicht so unglücklich, als ich hätte werden können; und doch liegt es so schwer, so entsetzlich schwer auf meiner Seele, ich weiß auch nicht, wie das jemals anders werden soll! Ueberhaupt kann ich nicht mehr an den nächsten Augenblick denken. Es ist alles so losgerissen, so dunkel; ich weiß mich in nichts zu finden. Du eiltest auch so schnell vom Falkenstein! Ach Du hattest wohl Recht! Was solltest Du auch bei mir! Ich war Dir nichts, konnte Dir nie etwas sein! Ich habe das immer mit unsäglichem Schmerz gefühlt; aber es mußte so kommen, damit ich es Dir wie mir gestand. Nun ist alles aus; der lange, schöne Traum meines Glückes ist aus! Ach und ich habe Dich doch so sehr, so sehr geliebt. Sieh, ich könnte denken Du seist meine Schwester, und mit Dir reden wie ehemals. Aber dann fällt mir’s mit Todesangst ein, daß du das nicht bist, daß es sonst anders war, und ich frage mich und Gott und die Natur, was Du mir bist. Sage mir, Luise, was bist Du mir denn? Ich könnte über die Frage den Verstand verlieren! Zuweilen ist’s auch, als verwirrten sich mir alle Begriffe. Ich fodre Dich dann mit bittrem Trotz vom Schicksal, als mein heiligstes Eigenthum; ich will hin zu Dir, ich will7 Dich fragen, ob Du ein theuer gelobtes Wort brechen, ob Du alle göttliche Ordnung verhöhnen darfst? Ach ich vergesse, daß mein Glück wie mein Recht nur in dem kunstreichen Gewebe zweier geschäftigen Frauen erwuchs, daß mein Sinn zufällig in die Dichtung verstrickt ward, während der Deine sie weit überflog, daß nichts von dem allen wirklich bestand, als meine Liebe, meine qualvolle Liebe, die nun, da die bunten Fäden zerschnitten sind, in meiner Brust ihr Grab findet. Ach Luise, Luise, wie elend sind wir! Ja, Du bist es auch; ich fühle es wohl, wie Reue und Sehnsucht zerstörend um Dich kämpfen, wie alles in der Zukunft Dich anzieht und abstößt, wie Du zwischen mir und Fernando, zwischen dem alten, befreundeten Jugendgespielen, dem Liebling Deiner Mutter, und dem heißersehnten, durch Blut und Sünde erkauften, Geliebten dastehst, und bei keinem, keinem die Ruhe Deines Herzens wiederfindest. Armes Kind! wärst Du hier, Dir wäre doch wohl besser! Denn ich sieh, ich würde Dich in meine Arme nehmen und mit Dir weinen; wir ständen dann Beide an den Trümmern unsers Glückes! Aber nein, nein, bleib, o bleibe! Ich kann Dich nun nicht wiedersehn. Ich müßte Dich ja fragen, was Du8 mir bist? und das weißst Du nicht, und ich nicht, und kein Gott kann mir’s sagen.

Mir war leichter, als ich anfing mit Dir zu zu reden. Nun zieht sich wieder alles dicht um mich her; ich kann kaum athmen! Lebe wohl! ach lebe tausendmal wohl, Du schöne Frühlingsblume meines Lebens, Du hast Dir wie mir gelogen, der Sommer bleibt wohl ewig fern! Wärst Du todt, ich könnte sagen, was vergangen, ist dennoch gewesen; aber so ist nichts vergangen und nichts gewesen, und das süßeste Glück meines Lebens, ja mein ganzes Dasein, ist nur ein neckendes Traumgesicht. Noch schwebe ich oft am goldnen Saum des Traumes zwischen Wachen und Schlafen; wenn nun aber der volle bleibende Tag hereinbricht, dann muß ich vergehn wie alle Truggestalten der Nacht. O es ist erschrecklich, Luise, wenn uns die Vergangenheit so zur Lüge wird und wir hinter uns in das öde Nichts sehn!

Ich sollte Dir das alles wohl nicht sagen, aber Du fühlst es, um der Wahrheit willen, die in Deiner Seele ist und die nichts daraus verdrängen kann. Auch bestand ja von je mein lebendigstes Denken aus innren an Dich gerichteten Worten. Gönne mir noch eine Zeitlang die liebe Gewohnheit, sie ist mir zur Natur geworden.

Vielleicht freuet es Dich, wenn ich Dir sage,9 daß der Mönch seine Liebe und Sorgfalt zwischen mir und dem wiedergefundnen Sohne theilt. Du weißst ja wohl? oder weißst Du nicht? Er meint ja, Du habest die letzten Worte gehört, und seiest erst, nachdem Fernando fiel, verschwunden. Ja wohl, verschwunden! Vergebens strecke ich meine Arme nach Dir aus; das Luftbild ist zerronnen, meine Luise bleibt ewig fern.

Man sagt, Du seiest krank. Ich kann das wohl begreifen; und doch erschrickt’s mich nicht wie sonst. Der Tod scheint mir so wünschenswerth, so lösend und beruhigend. Ganz anders fühl ich die Schmerzen Deiner Seele. «

Luise ward für den Augenblick ruhiger. Fernando lebte, Julius redete zu ihr, keines seiner Worte verdammte sie, ihr Vergehn erschien ihr weniger groß, seit der Ausgang der letzten Begebenheiten milder war als sie fürchtete.

Nach und nach ward es heller in ihrer Seele. Sie konnte das Einzelne festhalten, ansehn und erkennen. Nur war ihr die Zeit zwischen jenem blutigen Ereigniß im Walde und ihrem jetzigen Erwachen ganz entfallen. Sie sann lange darauf, wie sie hieher gekommen sei, konnte aber nichts als einzelne vorüberfliegende Erinnrungen auffinden.

Mariane saß indeß unermüdet zu ihren Füßen und schien bereit, das lange Schweigen auf den10 ersten Wink zu brechen. Daher schöpfte sie tief Athem, als Luise sie nach den nähern Umständen ihrer Reise befragte, und erwiederte, nachdem sie die letzten Ereignisse noch einmal überflog: Lieber Himmel, gnädge Gräfin, das ging alles so wunderlich zu, daß ich’s noch heute am Tage nicht zu erklären weiß. Es war fast Mitternacht, als ich Sie vorigen Mittewochs ausgekleidet hatte, und mich ebenfalls anschickte, schlafen zu gehen, da trat Georg noch zu mir in die Stube, setzte sich still in einen Winkel und sagte lange kein Wort. Ich wußte nicht, was das zu bedeuten hatte, und sahe ihn verwundert an. Jungfer, sagte er endlich halblaut, es geht hier was vor, es ist seit einiger Zeit ein gewaltiges Gepolter in den langen Gängen. Gestern fiel’s in der Rüstkammer, daß der Boden dröhnte. Ich sagte es heute Morgen dem Herrn Grafen. Wir gingen hinein, und fanden das breite Schwerdt mit dem Siegelring am Knopf, von dem ich Ihnen oft er zählte, halb aus der Scheide heraus, am Boden liegen. Der Herr Graf nahm’s auf, besah’s und hing’s still wieder an, aber der Nagel war in der Mauer los geworden und fiel heraus. Da hat’s der Herr Graf mit auf sein Zimmer genommen. Jungfer, das ist ein Unglückszeichen. Der Todesengel wird kommen und sich’s abfordern. Sagen Sie, daß ich’s gesagt habe. 11Heute ist’s nun schon dreimal um das Schloß geritten, und so oft ich hinaus sah, war nichts da. Gott bewahre uns! rief ich, was sind das für wunderliche Grillen! aber ich zitterte, wie ich das sagte, und konnte den alten Georg nicht ansehn, der mir in der Angst ganz fremd vorkam. Da rief er mit einemmale: Herr Jesus, was war das! Ich hatte nichts gehört und nichts gesehn; aber ich erschrak so, daß ich mir mit beiden Händen die Augen zuhielt und nicht eher wieder aufsah, als bis der Jäger fluchend hereintrat und den fremden Herrn verwünschte, der nichts als Teufeleien im Schlosse anfange, wodurch ehrliches Gesinde geschoren werde. Er solle, sagte er, noch spät in der Nacht mit einem Handpferde nach Harzgerode reiten und dort Order erwarten. Der Herr Graf sei auch noch ausgegangen, das alles gelte sicher so ein italienisches Stückchen, eine Streiferei im Gebürge, die der Fremde angezettelt habe. Georg saß während dem immer noch mit gefalteten Händen, sein kleines schwarzes Mützchen weit über die Augen gezogen, ohne ein Wort zu sagen. Ja, ja, der Fremde! rief er jetzt, schob sich die Mütze aus den Augen und wankte zur Thür. Der Jäger folgte ihm. Ich war nun ganz allein, und so angst und bange, daß ich mich aufs Bett warf und die Decke dicht über den Kopf zog. Zuletzt mochte ich wohl eingeschlafen12 sein, als ich’s leise um mich herum gehen hörte. Der Athem stockte mir, ich zitterte am ganzen Leibe, und konnte nicht einmal beten, so schnürte mir’s die Brust zusammen. Da hörte ich meinen Nahmen; es zog erst sacht, dann stärker an meiner Decke, eine Hand fuhr mir über die Augen, so daß ich sie halb öffnen mußte; da standen Sie, gnädige Gräfin, nein niemals werde ich’s vergessen, Sie standen in den langen, dunkelrothen Shawl gewickelt, blaß wie der Tod neben mir, und sagten mit zitternder Stimme: steh auf, Mariane, laß anspannen, wir müssen fort, geschwind, geschwind. Ich weiß nicht, wie ich auf die Beine und zur Thür hinaus kam. Im Flur stieß ich auf Georg. Ich wiederholte ihm Ihren Befehl. Schon gut, sagte er, ohne weiter zu fragen, als wisse er alles. Ich konnte mich lange nicht finden, endlich erinnerte ich mich, daß Sie schon am Vorabend Anstalten zur Reise machten, daß ich eingepackt hatte und noch mancherlei besorgen müsse. Als ich nach einer Weile zu Ihnen zurückkehrte, standen Sie noch, wie zuvor, an mein Bett gelehnt, ohne sich um etwas zu bekümmern oder weiter zu befehlen. Endlich fuhr der Wagen vor. Auf sein erstes Geräusch gingen Sie zur Thür. Georg öffnete sie und sagte: es ist nun so weit. Im Hofe fanden wir das Gesinde versammelt. Der Jäger hielt zu13 Pferde mitten unter ihnen. Im Walde, hörten wir, sei ein Schuß gefallen, einer sei verwundet, der Herr Graf sei auch dabei; mehr konnten wir in der Eil nicht erfahren, denn Sie, gnädige Gräfin, riefen wiederholt: fort, um Gotteswillen fort! Ich und die Andern glaubten Anfangs, Sie wollten nach dem Walde fahren, der Kutscher lenkte auch dahin; aber als wir bei dem Wasserfall vorbei kamen, sagten Sie aufs neue: Mariane, mach daß wir nach Quedlinburg kommen, aber bald, recht bald! Wir nahmen den Weg dahin. Sie legten darauf den Kopf auf meine Schulter und schienen einzuschlafen. Da ward mir nun vollends erst recht beklommen. Sie lagen so kalt und unbeweglich in meinen Armen, dazu ward die Nacht immer finstrer, ich konnte nicht vor, nicht neben mir sehen, und wenn wir denn so hart an den Bäumen hinfuhren und die langen, dürren Zweige oft raschelnd an die Wagenfenster schlugen, dann fuhr ich zusammen und wußte vor Angst nicht meines Bleibens. So lange wir im Gebürge reisten, kam mir’s immer so vor, als ritte jemand neben dem Wagen, ich konnte aber nichts erkennen. Gegen Morgen zu hörte ich auch einmal ein Pferd dicht neben mir schnauben, dabei pfiff es wie ein kalter Wind durch den Wagen. Mir schauderte, wenn ich an alles zurückdachte. Als wir endlich in die14 Stadt kamen, redeten Sie ein paar Worte. Wir mußten Pferde wechseln, und Sie verlangten ausdrücklich, hierher gebracht zu werden. Nach einigen Stunden wurden Sie aber ganz still. Ihre Augen schlossen sich, die Brust flog wie im heftigsten Krampfe. So kamen wir hier an. Ich konnte vor Angst und Thränen kaum sprechen. Wir brachten Sie gleich in das nächste Zimmer und schickten eilends zum Doktor, der auch diese Tage immer hier blieb, während Sie im stärksten Fieber und dem ängstlichsten Schlaf dalagen und von nichts wußten, was um Sie vorging. In vorletzter Nacht ward der Doktor abgerufen. Er sagte, er müsse fort, versprach aber, heute vor Abend hier zu sein. Ich bin, so lange er fort ist, ganz trostlos gewesen. Ich glaubte gewiß, Sie müßten nun sterben. Ach Gott! was wäre dann aus mir geworden. Sie beugte sich bei diesen Worten über Luisens Hand, die sie unter stillen Thränen küßte.

Mariane hatte kaum geendet, als ein Wagen in den Hof fuhr, aus welchem Carl und der Doktor stiegen. Luise erfuhr nicht so bald, wer angekommen sei, als sie eine tiefe Beschämung fühlte, Jemand wiederzusehn, mit dem sie die letzten Tage auf dem Falkenstein verlebte. Sie war noch unschlüssig, ob sie nicht Carls Besuch abweisen sollte, als dieser schon hereintrat. Gottlob! rief er, Sie15 eben. Aber lieber Himmel, wie sehn Sie aus! Er blieb eine Weile schweigend vor ihr stehen. Ich möchte mir eine Kugel durch den Kopf jagen, fuhr er fort, wenn ich denke, daß ich an allem dem Schuld bin! Und doch ist’s so; mein verfluchter Streit mit dem Werner hat Sie erst recht in’s Elend gestürzt. Und dazu verließen wir Sie wie feige Buben. Sie hatten nun die Qual im Herzen und Angst und Gefahr von allen Seiten, da mußten Sie sich wohl an den Gott sei bei uns selber wenden. Denn daß Sie unschuldig sind, darauf verwette ich meine Seligkeit! Lieber Carl, sagte Luise sehr erschüttert, lassen Sie das Vergangene ruhen. Es läßt mich aber nicht ruhen, fiel er heftig ein. Ich kann an nichts anders denken, und Sie, wenn Sie aufrichtig sein wollen, haben zuverlässig auch keinen andren Gedanken. Zu was sollen wir einander hintergehn und hin und her sprechen, während uns ganz andre Dinge im Sinne liegen. Ich kann mir wohl vorstellen, wie Sie sich innerlich abquälen und doch gegen alle, die um Sie sind, nichts äußern dürfen. Gewiß, Ihre Lage ist recht trostlos!

Der Doktor näherte sich jetzt, nachdem er draußen überall weitläuftige Erkundigungen eingezogen hatte. Nun es geht ja gut, sagte er, Luisens Hand ergreifend. Sein Blick ruhete dabei16 mit seltsam zurückgedrängter Neugier bald auf Carl, bald auf Luisen. Sie müssen nur Ihr Gemüth beruhigen, fuhr er fort, denn was sich da verletzt und zerstört, kann ich nicht ausheilen, und das hat einen ganz erstaunlichen Einfluß auf den Körper. Das ist wohl leicht gesagt, unterbrach ihn Carl, aber beruhige einer mal, wenn es so recht wurmt und sticht. Der Doktor zuckte die Achseln. Der Wille thut viel, sagte er, indem er den Mund etwas nach der Seite und die Augenbraunen zusammen zog, was er gewöhnlich that, wenn er gerührt war, und dennoch die äußre, mit seinen Geschäften verbundene, Ruhe behaupten wollte. Der Wille wiederholte Carl, den hat erst alles recht zum Besten, Menschen, Umstände und so mancherlei in uns, was ich nicht nennen kann, was aber recht wie der Teufel hinterm Busche ’rausguckt und einen anpackt, daß man nicht wieder los kann. Das, dächte ich, hätten wir erst gestern gesehn. So ein gescheuter Mann, so fest und ruhig, und nun hin, daß es ein Erbarmen ist. Der Doktor winkte hier Carl bedeutend. Ja so! sagte dieser, und trat einige Schritte zurück. Der Doktor redete hierauf noch einiges mit Luisen und setzte sich dann, eine Zeitschrift aus der Tasche ziehend, in ein Nebenzimmer, um zu lesen.

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Carl, sagte Luise, der jener Wink nicht entgangen war, ist es Julius, den Sie eben jetzt meinten? Ich bitte Sie um Gotteswillen, sagen Sie mir die Wahrheit, ist er krank? gefährlich krank? Weiß der Himmel! rief jener nach kurzem Besinnen, wie mir’s bei Ihnen mit meinen Geheimnissen geht! Wenn ich einmal unversehens anschlage, so kommen Sie gewiß gleich auf die rechte Spur und erfahren allemal was Sie nicht wissen sollen, denn ableugnen kann ich nicht, und auf solche Kunststückchen, Sie auf falsche Fährte zu locken, verstehe ich mich gar nicht. Also ist es so! rief Luise ganz außer sich. O Gott, auch das noch! Beunruhigen Sie sich nicht vor der Zeit, sagte Carl, das Schlimmste ist noch nicht da, ist vielleicht noch sehr entfernt; aber wahr ist’s, Julius leidet viel. Ich traf gestern den Doktor auf dem Falkenstein, wohin ihn Georg in der Herzensangst rufen ließ. Julius hat ein paarmal heftige Fieberanfälle gehabt und sieht sich kaum noch ähnlich. Ich erschrak, als ich zu ihm hineintrat. Er saß da, bleich und abgefallen, wie ein Schatten. Guter Carl, sagte er, als ich ihm die Hand gab, Du hast es immer ehrlich mit mir gemeint, in unsern Kinderspielen wie im Leben selbst; ich danke Dir. Mir gingen diese Worte durch die Seele. Sie klangen wie ein Abschiedsgruß. Ich betrachtete ihn schweigend. 18So kurze Zeit, und diese Verändrung. Ich kam mir selber steinalt vor. Meine ganze Jugend sah ich mit ihm zu Grabe gehn. Du weißst doch, fuhr er fort, und die Welt weiß es wohl auch schon, was ich gefunden und verloren habe. Wollte Gott, rief ich, Du hättest nichts gefunden, so hättest Du auch nichts verloren! Das mag ich nicht denken, sagte er, immer gleich sanft und ergeben, Gott wollte sicher alles ganz anders, aber ein jeder von uns bat, wie es so oft im Leben geschieht, den eignen Wünschen gefolgt, und nun kreuzt sich’s so bunt durcheinander. Du gutes, treues Herz! rief ich unaussprechlich gerührt, was hast Du denn dabei verschuldet? So manche Ahndung, sagte er ernst, flog warnend an mir vorüber, ich habe sie überhört, und selbst das Netz geschürzt, worin ich nun gefangen liege. Ich fragte ihn, wie er das meine; allein er schüttelte schweigend den Kopf, und sah vor sich hin, ohne weiter auf mich zu merken. Mir schossen die Thränen in die Augen, so oft ich ihn ansah. Deshalb ging ich hinunter in den Garten. Aber da war es nun vollends erst recht traurig. Das Laub ist in den wenigen Tagen ganz gelb geworden, vieles liegt vertrocknet auf dem Boden, dort in den langen Alleen rauschte es unter meinen Füßen, oder zitterte knisternd an den Zweigen. Ich ging rasch an dem Rasensitz vorüber,19 wo wir den Tag versammelt waren, als die Bergleute kamen, es war mir gar zu wehmüthig, an die kurze Freude zu denken; aber wo ich ging und stand ward mir zu Muthe, als käme ich Nachts an einen Kirchhof. Ihre Blumentöpfe lagen meist vom Winde umgeworfen. Von dem einen Myrtenbaume hing die abgebrochne Krone am Bande, womit er angebunden war, und schlenkerte in der nassen Luft hin und her. Ich mochte nicht zu Ihren Fenstern aufsehn, und machte daß ich wieder in das Schloß zurückkam. Auf der Treppe begegnete ich dem Doktor. Ich befragte ihn über Julius. Er meinte, es sei in dem Augenblick vielleicht weniger Gefahr als man denke; allein es arbeite so vieles in seinem Innren, was über den Ausgang nicht entscheiden lasse.

Als ich am Abend mit Julius allein war, redete er sehr viel, und so schnell und heftig, wie ich es nie von ihm gehört hatte. Aber immer kam er auf den Vorgang im Walde zurück, und konnte sich nicht von den Erinnrungen losmachen, die ihn sichtlich ängsteten. Mir selbst ward ein paarmal ganz wunderlich, wenn er mich mit beiden Händen faßte und ausrief: Carl, denke Dir’s doch, denke Dir’s, es war ja mein Bruder, auf den ich zielte; Herr Jesus, wenn ich ihn getroffen hätte! Ich fragte ihn darauf, wie ihm das Pistol auch sogleich20 in die Hand und er in den Wald gekommen sei. Ich weiß nicht, erwiederte er, wie ich mir selbst vorkomme, wenn ich an alles zurückdenke! Werners Worte lagen mir immer im Sinn und befleckten und zerrissen mir alles, was mir bis dahin allein lieb war, weniger um das, worauf sie deuteten, als daß sie überall laut werden konnten. Mir war den ganzen Tag, als sei der Boden unter mir aufgewühlt, ich konnte nirgend fest auftreten. Nach langem Hin - und Hersinnen nahm ich mir vor, mit Fernando recht offen zu reden, und zu überlegen, was so unberufne Urtheile könne veranlaßt haben. Ich ging in dieser Absicht den Abend spät nach seinem Zimmer. Die Thür war angelehnt, er nicht darin, wohl aber der Maler, was mich befremdete, schlafend im Nebenzimmer. So wird Luise vielleicht noch wachen, dachte ich, und wandte mich dorthin. Sie wollte am andern Morgen verreisen, und ich muß die arme zagende Seele zuvor noch beruhigen. Allein auch hier fand ich die Thür, die nach dem Vorsaal geht, nur angelehnt. Ich trat hinein, alles war still, Luisens Kleider hingen über einem Stuhl, ihr Bett war noch unberührt, sie selbst nirgend zu finden. In dem Augenblick überfiel mich eine Angst, daß ich mich kaum aufrecht erhalten konnte. Ich stellte das Licht auf Luisens offnen Schreibtisch und lehnte21 mich an einen davor stehenden Stuhl, um Athem zu schöpfen. Meine Blicke fielen zufällig auf zerstreut liegende Papiere, deren Schriftzüge ich lange anstarrte, ohne zu wissen was ich las; doch nach und nach traten die Worte wie Nachtgesichte vor mich hin und fuhren schneidend in mein Innres. Ich besann mich; es waren fliegende Blätter aus Luisens Tagebuch, die vor mir lagen. Ihr Inhalt schüttelte mich wach. Ich erkannte damals, wie jetzt, die Qual, mit der sie rang, und beschloß, sie zu retten, gleichviel wie. Mit den Pistolen unter dem Arm, stürzte ich aus dem Hause. Im Hofe traf ich den Jäger, der aus dem Walde zurückkam. Ich fragte ihn, ob er dem Fremden begegnet sei. Ja wohl, sagte er, der muß was auf der Spur haben; ich sah ihn, durch die Schonung kommend, rechts über den Graben setzen und dann den Weg nach dem Kloster nehmen. Nach dem Kloster? fragte ich. Mich schüttelte es wie Fieberfrost. Sattle zwei Pferde! rief ich, reite nach Harzgerode und erwarte dort Nachricht. Ich weiß nicht recht, warum ich das sagte; ich dachte wohl an ein Unglück, an mögliche Flucht für Fernando; deutlich war mir nichts, selbst nicht mein Wille. Am Eingang der Buchenallee, die zum Kloster führt, sprang mir Luisens Hund entgegen. Er lief hin und her, bald vor - bald rückwärts. Ich folgte ihm athemlos,22 mit klopfender Brust, wie ein Getriebener. Plötzlich stand ich vor Beiden. O erlaß mir ich bitte Dich Er schwieg. Ach Gott, ich wußte ja das Uebrige und weinte aus Herzensgrunde mit ihm.

Luise hatte nicht den Muth, die Augen aufzuschlagen. Carls Worte fielen schonungslos in ihre Seele. Seine treue Schilderung zeigte ihr die Dinge wie sie waren, und gestatteten durchaus kein Verkleiden der Wahrheit, die sie derb anfaßte, und zwang, ihr in das strenge Antlitz zu sehen. Hier stand es mit Flammenzügen, die keine Macht der Erde auslöschte, sie habe das Böse herauf beschworen, dadurch, daß sie sich seinen frühesten Lockungen zagend hingab. Jetzt, das fühlte sie, hatte es sie berührt, und alles was ihr lieb war, bis auf die heiligsten Erinnrungen befleckt.

Der arme Julius, hub Carl auf’s neue an, hat nun seit dem nirgend Ruhe. Er sagte mir einmal, was ihn am meisten quäle, sei, daß er nicht wisse, wo er mit den eignen Gedanken hin solle. In der Vergangenheit sei ihm alles zusammengestürzt, die vertrautesten Bilder sehen ihn fremd an, er suche und suche, und finde weder Kindheit noch Jugend. Die Zukunft aber stehe wie ein bleiches Gespenst da; ihn schaudre wenn er darauf hinblicke. Ich sprach ihm Muth ein, und23 sagte, es könne ja noch alles besser werden. Was soll werden? fragte er; es ist ja nichts da, was werden könnte! Das ist mein Elend, daß nichts, nichts von allem dem wirklich ist, worin ich lebte, und ich nur wie eine dunkle Wolke an Luisens Himmel hinziehe. Es muß wohl so sein, wie er sagt, denn recht von Herzen ging es ihm, mir ward fast wie ihm dabei zu Muth.

Der Doktor war indeß, mit einem Licht in der Hand, vor die tausendmal gesehenen und besprochnen Schildereien getreten. Julius Bild, als Knabe gemalt, sprang in voller Beleuchtung hervor. Das Kind sah sinnend und sehr ernst aus großen etwas tief liegenden Augen hervor. Schlichtes Haar, nur an den Spitzen gekräuselt, theilte sich auf der Stirn, so daß diese, fast frei werdend, eine Falte über den Augenbrauen sehen ließ, die dem Gesichtchen etwas Ungewöhnliches, überaus Hohes, gab. Nur um den Mund schwebte ein kindliches Lächeln, das man fast schmerzlich nennen konnte, so wehmüthig fühlte man sich davon ergriffen. Ganz erstaunt getroffen, sagte der Doktor halbleise zu Marianen, die mit ihrer Arbeit zunächst dem Bilde saß; nicht wahr? zum sprechen. Luise hielt sich nicht länger. Ja, ja, es spricht! rief sie. Du liebes, frommes Kind, öffne nur den verschloßnen Mund, und nenne mein Leid und das Deine! 24Der Doktor wandte sich erschrocken zu ihr. Er glaubte sie zu sehr im Gespräch mit Carl vertieft, um auf jene rücksichtslos gesprochnen Worte zu achten. Luise begegnete seinen Blicken, die sich voll gutmüthiger Theilnahme auf sie richteten. Lassen Sie immerhin Ihr Gefühl laut werden, mein alter Freund, sagte sie gerührt, das Schweigen ist nun gebrochen; ach! und es liegt ja auch ohnehin alles so hell am Tage, mein Unglück und mein Vergehn!

Der Doktor ward lebhaft von der großen Störung eines ruhig bürgerlichen Verhältnisses ergriffen, das früher unter seinen Augen entstanden und in seiner Gegenwart bestätigt war. Diese Störung mehr als das persönliche Leid in’s Auge fassend, sagte er mit finsterm Ernst: mein Gott, wer hätte dies vor einem halben Jahre denken sollen, als wir alle das letztemal hier versammelt waren. Ich ahndete es lange, erwiederte der alte Geistliche, der von den Andren unbemerkt schon eine Weile im Zimmer war. Mir stellten sich recht wider Willen unheimliche Ahndungen in den Weg, und im entscheidenden Augenblick ging ich zum erstenmal im Leben zagend an meinen Beruf. Tod und Leben begegneten einander so wunderbar auf demselben Wege Die befangnen Sinne faßten alles unsicher auf, Niemand verstand sich selbst, der Schmerz25 riß Alle im Taumel fort. So im Streit mit Gottes Willen und den eignen Wünschen soll der Mensch nicht über sich bestimmen wollen. Die Liebe sollte siegen, aber der Tod mit seinen Qualen drängte sie zurück.

Carl stand mit gefalteten Händen vor dem Greise. Reden Sie nicht mehr vom Tode, sagte er erschüttert, ich habe ihn seit gestern immer vor Augen, und das ängstet mich entsetzlich. Der Alte sah den frischen lebenslustigen Jüngling an, nahm seine Hand und sagte: nun, so wollen wir vom Engel des Friedens reden, der alle bösen Träume und auch den Tod verjagt. Er sei uns hier und dort nahe.

Alle schwiegen. Luisen faßte ein leiser, wonniger Schauer. Der Friedensengel neigte sich zu ihr und küßte ihre wunde Brust. Dort und hier? dachte sie. Was birgt das dunkle Jenseit? Sollen dort Blumen blühen, die mir hier fremd waren? Ist der Himmel nicht der ewig Eine? Still dämmernd brach ein neuer Morgen in ihre Seele herein. Sie fühlte eine unaussprechliche Sehnsucht nach Julius, der versöhnend aus der Ferne winkte und das feuchte Auge voll Schmerz und Liebe auf sie heftete. Dahin, dahin, dachte sie, führt der Weg zum Himmel.

Haben Sie gelesen? fragte der Prediger, auf26 Julius Brief zeigend. Ja, ach ja, erwiederte Luise. Und soll ich fragte er weiter, soll ich Nein, unterbrach sie ihn, ich will selbst schreiben, diesen Abend noch, gleich. Das ist recht, fiel Carl ein, das kann vieles wieder gut machen! O! ich hoffte es immer. Hm sagte der Doktor kopfschüttelnd, und wandte sich ab. Der Riß ist einmal geschehn. Alle Theile sind aus ihren Fugen gesprengt, es hält schwer, so etwas wieder einzurichten. Ich weiß nicht, hub der Prediger an, was Ihre Worte bewirken sollen; aber rufen Sie einen stillen Sinn ans Licht, und den Willen, der zugleich demüthig ist und kühn, so machen Sie vieles gut. Luise drückte ihm schweigend die Hand. Bald darauf äußerte sie den Wunsch, allein zu sein, worauf sie Carl dringend bat, ihm ihre Aufträge nach dem Falkenstein mitzugeben, da er noch diese Nacht den Weg dahin antrete, und alsdann zum Onkel gehe, um dort den Klugen die Köpfe zurecht zu setzen. Die Baronin, setzte er hinzu, habe ihm gleich nach des Malers Rückkehr den fatalen Vorfall gemeldet. Ihre Worte haben wohl traurig, aber doch spitz und vornehm geklungen, weshalb er auch gleich hingewollt, zuerst aber doch zusehen müssen, wie die Dinge eigentlich stehen. Nun werde er wohl Rede und Antwort geben und die Seitenhiebe pariren können. Er ermahnte Luisen27 noch einmal, alles anzuwenden, das Geschehene ungeschehen zu machen und die Dinge ins vorige Geleis zu bringen. Was mich anbetrifft, setzte er treuherzig hinzu, ich werde keine Mühe sparen, wobei er ihr zuversichtlich die Hand schüttelte und den Andren folgte.

Sie war nicht so bald allein, als sie mit möglichster Anstrengung das Bett verließ und zum Schreibtisch eilte. Ihr Herz klopfte ängstlich, als sie die Feder ergriff. Voll Reue und Vertrauen wollte sie sich dem einzigen Wesen hingeben, das sie auf dieser Welt über alles liebte. Wahr, wie vor Gott, im Bekenntniß ihrer Schuld an die treueste Brust sinken und den verhaltnen Schmerz und die Kämpfe der zagenden Seele laut werden lassen. Demüthig barg sie ihr Gesicht in die gefaltnen Hände und betete noch einmal still. Als sie aufsah, fielen ihre Augen zufällig auf ein Packet ineinander geworfener Papiere. Die Worte zogen sie unwillkührlich an. Es war ihr Tagebuch, welches Mariane in der Nacht ihrer Abreise vom Falkenstein gedankenlos mit andern Sachen zusammengerafft und hier in den offen gefundnen Schreibtisch geworfen hatte. Ach! jene Blätter, die Julius den Todesstoß gaben, lagen obenauf. Der bange Ruf aus jener Zeit riß sie fort. Sie las gleich zuerst:

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» Was bedeutet die Angst, die mich bei des Fremden Anblick, ja bei seinem Nahmen, befällt! Alte Sagen sprechen viel vom Basilisken, dessen Blick vergiftend die fremde Brust berührt. Ich spüre etwas Aehnliches. Der seine zieht mein Herz zusammen. Und warum? Julius liebt ihn, er ist sein Freund. Was geht mich alles andre an! Und dennoch! Mir ist so bang, so wehmüthig! Ich möchte weinen über die schöne stille Zeit, die so rasch verflossen und so widrig gestört ist!

Kann die Natur auch lügen, oder sich in sich selbst widersprechen? Wozu all die Schönheit und Fülle und Herrlichkeit des Geistes, wenn alles ein Gaukelspiel ist und die Sünde und Arglist im Hinterhalt lauern! Ich war auch wohl nur eine Thörin! Das Fremde berührte mich vielleicht nur fremd. Ich werde mich versöhnen lernen.

Nein, nein, es ist vergebens! Ich finde nirgend Ruhe. Es peinigt mich die innre Unsicherheit und die wechselnden Eindrücke, die mich hin und her werfen zwischen Haß und Wohlwollen. Zuweilen besänftigt mich die leise, schmeichelnde Stimme, es wird still in mir, ich vergesse mich selbst und höre aufmerksam auf die Begebenheiten eines reichen Lebens. Dann fährt das Lächeln, das höhnende Lächeln, schneidend durch29 mich hin; ich erschrecke und fliehe wie vor dem bösen Feind.

Haß und Liebe! O hätte die erfahrne Frau doch nie gesprochen! Dies also, dies war die Todesangst? Und er weiß es, was mich quält und sieht vornehm darüber hin! Ich wußt es nicht, ach nein, ich wußt es nicht, darum mein Gott laß mich’s auch bald vergessen!

Ich glaubte, es solle besser werden, die vielen Menschen um mich her werden mich zerstreuen; Ja wohl zerstreuen! das haben sie gethan. Weniger gesammelt als je, verliere ich mich in bangen unsichern Ahndungen. Anfangs war mir leichter, ich konnte freier reden zu allen denen die nicht wußten wie mir zu Sinne ist. Jetzt aber, jetzt ! O Gott im Himmel, du siehst die Angst die mich aus allen Sinnen drängt. Fremd, verlegen, sitze ich in dem bunten Kreise, ohne Muth mich selbst zu behaupten, ohne Kraft, heimlichen Angriffen zu widerstehn. Wie gebannt liege ich in den Schlingen, die eine freche Hand über mich zusammenzieht. Zuweilen mahnt mich noch ein innrer Ruf, ich reiße mich aus der eignen Erniedrigung empor, ich stemme mich gegen die Gewalt, die auf mich eindringt, ach, und wenn dann mein scheuer Blick den seinen streift, der so kalt und hoch über mich hinfährt, dann sinke ich wie ein30 Kind zusammen, und beweine mein Elend und meine Thorheit. Es ist gewiß, seit er mich haßt, fühl ich doppelt was mir ewig ein Geheimniß bleiben sollte. Wüßt ich nur, wohin ich fliehen, an welche treue Brust ich mich verbergen könnte. Julius geht so still, so ruhig neben mir hin. Mein Julius ach Gott bewahre mich vor dem Frevel, Dein reines Herz mit diesem Mißton zu verletzen! Die Baronin drängt sich wohl an mich, aber sie weiß nicht was sie thut. Ein Spiel, mein Kind, sagte sie diesen Morgen, ein freches Spiel treibt er mit ihnen. O fühlt sie’s nicht, wie das die wunde Seele vollends zerreißt! Soll ich denn mit Gewalt verachten, was ich mit unsäglicher Qual und Verzweiflung liebe?

Es ist geschehen! Der Schleier ist zerrissen! Das innre Gift und meine Thränen nagten unaufhörlich an dem luftigen Gewebe. Was es verdeckte, liegt nun offen dar. Es ist laut geworden ihm und mir, was tief in Nacht das Licht scheuete. Was ist die Kraft, was der Stolz edler Naturen, wenn fremde Mächte so mit uns spielen! In sein Herz legte ich alle meine Sorgen nieder! Mir war so wohl, so unaussprechlich wohl. Der Friede lachte mir nach langem Streit. Ich war mit allem ausgesöhnt, ich scheuete Niemand, auch Julius nicht. Ach, ich hätte ihn umfangen und31 mit voller Wahrheit an meine Brust drücken mögen! Kann der Himmel auch die Hölle bergen? Um ein paar vorüberfliegende Sonnenblicke zu erhaschen, gab ich Ruhe und Glück, ja das Leben selbst hin. Denn ist das ein Leben zu nennen, was unaufhörlich das Leben zerreißt? Wie Grabesnacht sehen mich meine Umgebungen an, und drüber hinaus zieht es wie ein buntes Spiel, das nicht zu mir gehört. O Erinnrungen, könnte ich euch ersticken, daß ihr nicht mit euren Zauberklängen die Sinne wach erhieltet! Aber immer, immer werde ich die Stimme hören, die bald schmeichelnd, bald drohend mein Ohr berührte. Sie riß mich fort; ich mußte folgen! Ich muß auch jetzt O Julius, Julius! das herbste Gift ward Dir durch mich bereitet. Jetzt mußt Du alles wissen, das ist das härteste von allem, ich darf Dich nicht mehr schonen. Ach schonungslos zerriß ich ja Dich wie mich! «

Luise legte das Blatt still vor sich hin. Das also, dachte sie, hat Julius gelesen; so unverstellt lag die Wahrheit da, daß ihm kein Zweifel, ach nicht eine arme Hoffnung übrig blieb. Was kann ich ihm jetzt noch sagen, als daß wir Beide untergehn und einer wie der Andre das Leben beweinen müssen!

Sie blieb lange Zeit nachdenkend, als Carl32 auf’s neue zu ihr hereintrat und sie ungeduldig fragte, ob sie geschrieben habe und ihn nun mit ihren Befehlen beehren wolle, da er im Begriff sei, abzureisen. Grüßen Sie Julius, lieber Carl, erwiederte sie verlegen, sagen Sie ihm, wie Sie mich gefunden haben; ich kann heute nicht schreiben, mir ist alles noch so verworren, ich brauche Zeit. Also nicht? unterbrach sie Carl; das ist Schade! Ich habe mich so gefreut! Und Julius weiß nun nichts von Ihnen; denn was soll ich ihm sagen, als daß Sie betrübt sind und nicht schreiben mögen? Guter Mensch, erwiederte Luise, ihm dankbar die Hand reichend, Julius weiß wohl mehr von mir, als Sie und ich ihm sagen können. Aber beruhigen Sie sich, er soll dennoch bald von mir hören, recht bald. Gewiß? fragte Carl. Gewiß, sagte sie, worauf er sich voll neuer Hoffnungen von ihr trennte.

Am andern Morgen sprach Luise noch einige Augenblicke den Doktor, der, ohne sie nach ihrem Wohlsein zu fragen, viel von der eignen Schlaflosigkeit und den beunruhigenden Gedanken erzählte, die er seit den traurigen Begebenheiten nicht los werden könne. Und wie er sich unaufhörlich der verstorbenen Mutter erinnere, die, nur in der Zukunft lebend, alles so wohl darin begründet glaubte, daß sie ohne Sorgen diese Welt verließ. Luise33 drängte ihn über diese Betrachtungen mit der Bitte hinaus, ihr oft und bald Nachricht von Julius zu geben. Er zuckte bei diesen Worten unsicher die Schultern, und meinte, darüber lasse sich jetzt noch nichts Bestimmtes sagen, die Natur sei noch in der Arbeit, sie müsse erst selbst den Weg angeben, wo man ihr näher treten könne. Indeß zog er aus einer Brieftasche eine Pergament-Tafel, auf welcher er gewöhnlich alle bevorstehende Geschäfte, Krankenbesuche, Aufträge u.s.w. anzeigte, um auch jetzt Luisens Wunsch anzumerken und dem überhäuften Gedächtniß zu Hülfe zu kommen. Das früher Aufgeschriebene laut, und durch Nachsinnen unterbrochen, noch einmal überlesend, nannte er Kloster Augustin. Luise machte eine rasche Bewegung. Dort war Fernando. Eine flammende Röthe überzog ihr Gesicht, doch erstarb die Frage auf ihren Lippen. Hm sagte der Doktor, ihre Erschütterung flüchtig beachtend, da steht es gut. Es war nur eine Streifwunde in der rechten Seite unter den Rippen weg. Die Mönche greifen uns in’s Handwerk, und da es sogenannte Heilige sind, darf man nichts sagen. Hier, wo es nun nicht viel auf sich hatte, ging es mit der natürlichen Heilkunde wohl so ab, sonst haben dergleichen Pfuschereien schon manchem sein Grab bereitet. Der Herr Graf, fuhr er fort, indem er die Brieftasche schloß, und34 wieder zu sich steckte, der Herr Graf forderten mich auf, als ich auf dem Falkenstein war, dem Kranken einen Besuch zu machen. Ich that es ungern, indeß bin ich belohnt worden. Es ist ein ganz scharmanter Mann, von überaus feiner Bildung, sehr zuvorkommend, und dabei von vielen und großen Kenntnissen. Er sagte dies Letztre theils aus Ueberzeugung, theils um Luisen, die er durch frühere Aeußerungen verletzt glaubte, wieder zu versohnen, wobei er gutmüthig verschlagen lächelte, der frühern schmerzlichen Rückblicke und sorgenvollen Aeußerungen uneingedenk. Als aber Luise ernst vor sich hinblickte, wechselte er auch schnell Ton und Mienen; wie aus einem augenblicklichen Vergessen aufgeschreckt und zutraulich ihre Hand fassend, sagte er: Gott stärke Sie. Ihre Gesundheit beunruhigt mich weiter nicht. Sie sind jung, fest, die Natur beruhigt, das hat nichts auf sich; aber, aber ! Nun leben Sie wohl! Er blieb noch einmal vor Julius Bild stehen und ging dann mit den Worten: es ist doch Schade, sehr Schade! aus dem Zimmer.

Luise blieb von da an still und in sich gekehrt, wie jemand, auf dem das Leben gewaltsam lastet und der im Innern keinen Ausweg zu finden weiß. Sie sah, sie sprach Niemand. Viele Tage vergingen ihr so, ohne daß sie den Muth hatte, ihr Zimmer zu verlassen. Die Welt, ja die äußre lebendige35 Natur schien ihr fremd geworden, sie gehörte nicht mehr zu ihr, sie hatte sie ausgestoßen um der Frevel jener sinnverwirrenden Leidenschaft willen. An ihre Mutter konnte sie nur mit Bangigkeit denken, und nichts hätte sie vermocht, den Fuß in das stille Wäldchen zu setzen, das ihr Grab beschattete. Der Prediger kam wohl von Zeit zu Zeit zu ihr und brachte ihr Blumen, die er mit vieler Liebe aufzog; allein er setzte sie schweigend an ihr Fenster, und ging, ohne ihr düstres Sinnen zu unterbrechen. Einmal indeß, als sie ihm die Hand reichte und ihn mit dankbarem Blick begrüßte, sagte er: es arbeitet recht schwer in Ihrer Seele, ob durch Gottes oder fremde Macht, das muß sich zeigen, ich will’s indeß nicht stören, da ich weder etwas nehmen noch geben kann. Doch lassen Sie es bald Tag in sich werden.

Noch am nemlichen Tage rief Luise Marianen zu sich. Ich muß ihn sehn, sagte sie, ich kann nicht eher ruhig sein, darum wollen wir fort, morgen oder heute noch aber ganz in der Stille; hörst Du? Wohin denn? fragte Mariane zagend. Wohin? wiederholte Luise; kannst Du fragen? nach dem Falkensteine. Mariane schlug freudig in die Hände. Gottlob! rief sie, Gottlob! nun wird alles wieder wie zuvor, nun gehen die schönen Tage wieder an, das wird ein Jubel sein! Die schönen36 Tage? sagte Luise wehmüthig; ach, armes Kind, die sind längst untergegangen. Ich will nur noch einmal beten, damit ich ruhig die Augen schließen möge. Liebe Mariane, wie könnte ich sterben, wenn ich mich nicht zuvor in Julius Armen mit Gott versöhnte! Doch, Mariane, Niemand darf wissen, wohin wir gehn. Nenne meinen Leuten den ersten, besten Ort; sage, Geschäfte zwängen mich zu einer Reise. In der nächsten Station nehme ich Postpferde; kein Mensch weiß dann, auf welchem Wege wir sind.

Mariane war so voll Hoffnung, daß sie alles schnell betrieb, und sie nach wenigen Stunden schon im Wagen saßen. Bei den trüben herbstlichen Tagen und schlechten Wegen konnten sie indeß nur langsam reisen. Luisens Herz klopfte voll banger Ungeduld. Oft beugte sie sich zum Schlage hinaus und maaß mit unruhigen Blicken den Raum, der sie noch vom Ziele ihrer Reise trennte. Am Abend des folgenden Tages kamen sie endlich in die Nähe vom Falkenstein. Als Luise die Thürme der alten Burg erblickte, ließ sie halten. Den übrigen Weg wollte sie zu Fuß zurücklegen, deshalb stieg sie, von Marianen begleitet, aus, und befahl dem Postillon, sie zu erwarten. Wie sie ging, rauschten die Wipfel der alten Tannen in wunderlich gebrochnen Tönen; ein feuchter Wind blies ihr unbehaglich entgegen37 und jagte das Gewölk über einzelne hervorblickende Sterne, so daß es oft ganz dunkel um sie her ward und die zagende Mariane nichts als den Schleier ihrer Gebieterin sah, der, vom Winde gehoben, Luisens Gestalt umspielend, wie eine weiße Wolke vor ihr hin zog.

Als sie in den Schloßhof traten, leuchteten ihnen einzelne Lichte matt aus dem obern Stockwerk entgegen. Das weite Portal stand offen, die Thorflügel schlugen knarrend im Winde hin und her, kein lebendiges Wesen begegnete ihnen. Einen Augenblick blieb Luise am Eingang stehen, dann aber eilte sie durch die langen Gänge hin in eine Gallerie zunächst an Julius Zimmer, welches, den innern Raum eines der Schloßthürme einnehmend, so weit von Außen hervorsprang, daß man von der Gallerie zu den Fen stern hinein in das Innre desselben sehen konnte. Luisens erster Blick traf den bleichen Julius, zusammengesunken, in einem Armsessel sitzend, den Kopf in die Hand gestützt, während die andre matt zu dem kleinen Hunde hinabhing, der neben ihm auf einem niedren Tabouret lag, und von Zeit zu Zeit liebkosend an ihm aufblickte. Nach einer Weile fuhr Julius wie aus einem Traume auf. Er stand auf, schwankte zum Clavier, auf welchem er einzelne tiefe Akkorde anschlug, deren bebende Töne Luisen zu rufen schienen. 38Ohne weiteres Besinnen öffnete sie in dem Augenblick die Thür und sank sprachlos vor Julius nieder. Ach Luise, meine Luise! rief dieser in der heftigsten Erschüttrung. O Gott im Himmel, so sehe ich Dich wieder! Steh auf, Du armes, liebes Kind! steh auf, meine Luise! Er faßte sie in seine Arme, er kniete neben ihr. Die Stirn an seine Brust gelehnt, vergoß sie stille, selige Thränen. Weine nicht, weine nicht, bat er sie dringend; Du weißst ja, das brach mir von je das Herz; ach es ist noch darin wie ehemals! Ehemals! wiederholte Luise schluchzend. Julius sah sie fremd an ja freilich, sagte er, langsam aufstehend, es ist anders wie ehemals! weit, weit anders! Er reichte ihr die Hand und führte sie zum nächsten Stuhl. Beide saßen eine Weile schweigend neben einander. Es ist doch schön von Dir, hub er endlich an, daß Du gekommen bist. Er stockte auf’s neue. Plötzlich ließ er ihre Hand fahren, barg das Gesicht in sein Taschentuch und rief wiederholt: nein, nein, es ist nicht gut, daß Du gekommen bist! ach nein, es war so besser! Jede freundliche Täuschung flieht vor Deinem Anblick. Ich will auch gleich wieder fort, lieber Julius, sagte Luise; ich bin nur gekommen, Dich noch einmal zu sehn, meine Angst war so groß, ich konnte nicht mehr leben, bis Du wieder zu mir gesprochen hattest;39 der Friede, dacht ich Ach Julius, wir sind Beide recht unglücklich! Sie wandte sich ab, um ihren Thränen freien Lauf zu lassen. Wie gut Du bist! sagte Julius; Du dachtest so viel an mich, Du kommst sogar zu mir! Ich habe das wohl geglaubt und recht gut gefühlt, wie viel Du littest. Du wirst auch nicht eher ruhig sein, bis Du mich zufriedner weißst. Deshalb will ich fort aus dieser Gegend, Deine Nähe thut mir nicht wohl, die meine drückt Dich. Ich will in der Welt umherstreifen, fremde Menschen suchen, wie jemand, der nirgend zu Hause ist. Seh ich doch all mein Gut verschüttet, meine Heimath verödet; ich fliehe wie ein Vertriebener. Du gute Seele, fuhr er mildernd fort, als er Luisens heftigen Schmerz sah, Du treibst mich nicht; mein eignes, trübes Loos. Wir gehören nun einmal nicht zu einander. Ich wollte Dich vom Schicksal ertrotzen; den Trotz muß ich büßen. Sage das nicht, Julius, fiel Luise ein, sage das nicht, wir gehörten doch wohl zu einander, alles andre war ein Wahn. Nein, ach nein, erwiederte er sinnend. Und wenn es dennoch wäre, fuhr er schneller fort wenn Herr Gott im Himmel! es war wohl alles nur ein Traum, Du kamst, mich zu wecken; wie schön Du bist, Luise, wie fromm und bittend Dein Auge! Er hielt lange inne, als bekämpfe er sich selbst. 40 Geh, gutes Kind, sagte er plötzlich mit verändertem Ton, geh Du thust mir wehe, unaussprechlich wehe. Luise stand scheu und zagend auf. Wohin gehst du? fragte er sanft. Zu meiner einsamen Wohnung, erwiederte sie, wo ich Niemand, ach Niemand mehr habe als meinen Gram. O Julius! rief sie, vor ihm niederknieend, Du weißst, ich bin nun ganz allein, gieb mir Deinen Segen, sage, daß Du mir nicht fluchst, damit Dein Andenken wieder rein in mir leben und Du mir dennoch schützend zur Seite stehn mögest! Niemals, niemals! rief er, sie heftig an seine Brust drückend, wird dies Herz eine feindliche Regung kennen! Wie sollte ich Dir fluchen, ohne mich selbst nicht tausendfach zu verwunden! Wie könnte ich Dein Bild vergiften, was mich, wie der Maienmorgen unsrer Kindheit, hell und friedlich ansieht! Nein, Du armes, verwaistes Kind, meine Liebe kann Dich nie verlassen! sie erfleht Dir den Segen des Himmels, der Dich jetzt geleiten möge! Er sagte diese letzten Worte leise, mit erstickter Stimme, indem er sich sanft aus ihren Armen wand. Luise schwankte zur Thür. Lebe wohl, ach lebe wohl, Du schönes Traumgesicht! rief er noch einmal im heftigsten Kampf. Luise machte eine Bewegung, zu ihm zurückzukehren; aber er verhüllte das Gesicht, als scheue er ihren Anblick. Lebe wohl, mein Julius,41 sagte sie, in stiller Ergebung das Zimmer verlassend. Wie sich die Thür nun hinter ihr schloß, da schrie Julius, seines Schmerzes nicht mehr mächtig, laut auf. Luise schauderte zusammen, und dennoch hatte sie nicht den Muth, jene Thür wieder zu öffnen, wohl fühlend, daß es nicht die dünne Scheidewand, welche sie mit einem Fingerdruck wegräumen konnte, sei, die sie von seinem Herzen trennte. Sie faßte Marianen schweigend unter den Arm und zog diese mit sich aus der Gallerie. Also doch fort? fragte das weinende Mädchen, und wohin denn in der finstren Nacht? Zu dem ehrlichen Anton, im Walde, erwiederte Luise; doch komm, ich bitte Dich! Julius, der arme Julius! Hörtest Du nicht, wie ihn meine Nähe ängstet?

Sie eilten unbemerkt hinunter. Im Hofe warf Luise noch einen schmerzlichen Blick hinter sich und ging dann, still weinend, zu ihrem Wagen.

Nach einer Stunde hielten sie vor Antons Thür. Der Postillon fragte sie, ob sie hier übernachten wolle, in welchem Falle er seiner Wege reiten werde. Luise war es zufrieden, indem sie des andern Tages Pferde aus Ballenstädt bekommen konnte. Auf das Geräusch war die Frau aus dem Hause getreten. Sie erkannte nicht sobald Luisen, als sie freudig aufschrie und sie liebkosend in das bekannte kleine Stübchen führte.

42

Luise ward im Hereintreten seltsam von einer Gestalt ergriffen, die ihr das helle Kaminfeuer in unsichrem, flackernden Lichte zeigte. Es war ein alter, sehr bleicher Bergmann, der, der Flamme gegenüber, eine Cither im Arm, mit geschloßnen Augen, fast regungslos da saß. Zu seinen Füßen spielte die kleine Marie, die, in die Händchen klopfend, wiederholt rief: mehr, mehr singen! worauf der Alte die Saiten rührte, und, die erstorbnen Lippen öffnend, folgende Worte sang:

Im Tannenschatten ganz allein
Den Berg hinan auf öden Wegen,
Wenn Sterne seh’n zum Wald herein,
Zu Hauf in Wolken zeucht der Regen,
Da mag ich doch zum liebsten sein.
Ich klopf an Berg, ich sag ein Wort
Davor sich’s regt in seinem Herzen.
Mein Bub erwacht am dunklen Ort
Und ruft nach mir, und will mich herzen,
Nur will die Steinwand noch nicht fort.
Mußt fort zuletzt, du Stein, so hart;
Mein Spruch kann härtre Ding erweichen.
Horch! wie der Bub schon drinnen scharrt.
Er wird den seltnen Schatz mir reichen,
Der ihm im Berg zu Theile ward.
43
Ich weiß den Schatz, ich nenn ihn nicht,
Er ist ein Gold ohn alle Schlacken,
Und kenntet ihr sein süßes Licht,
Ihr Leut, ihr kämt mit Spat und Hacken,
Und fändet doch den Holden nicht.
Ihn kann aus seinem finstren Grab
Nur ein sündlos Geschöpf erwecken,
Drum fuhr mein frommer Bub hinab.
Im Anfang thät’s mich doch erschrecken,
Nun schüttl ich alles Bangen ab.

Die Frau hatte indeß, das Lied wenig beachtend, Stühle herbei geschoben, abgewischt und Luisen wiederholt zum Sitzen genöthigt, als diese sie unter innrem Schauern fragte, wer der wunderliche Alte sei. Es ist der wahnsinnige Claus, erwiederte diese leise. Sollten Sie den nicht auf dem Falkenstein gesehn haben? Er ist des alten Georgs Bruder, und streift überall umher. Ostern werden es vier Jahr, da verlor er sein einzig Kind, einen bildschönen Buben von funfzehn Jahren, der im Schacht verschüttet ward. Seitdem ist er irre geworden. Zu Anfang saß er Nacht und Tag auf der Felswand und pochte an, und hoffte, der Knabe solle ihm antworten. Damals mocht er wohl das Lied zuerst singen, was er zeither gehend und stehend44 hören läßt. Nun geht er nur ab und zu nach dem Berge, wo das Unglück geschah. Er sagt, es sei noch nicht an der Zeit. O er spricht Ihnen so vernünftig darüber, daß man wirklich denken sollte, es wäre alles so, wie’s ihm vorkommt. Er thut keinem Menschen etwas. Zur Winterzeit kommt er zu den Leuten in die Häuser; da hängen sich die Kinder ordentlich an ihn, und keines sagt ihm ein Leidwort. Da oben hinauf, im Gebürge, erzählen sie, er sei von je absonderlich gewesen, und habe wunderliche Dinge gesprochen von dem was unter der Erde vorgeht.

Marie war indeß an den Alten hinangeklettert, und strich mit ihren kleinen Fingern die Saiten der Cither. Du! sagt er ernst, schweig jetzt, hörst Du nicht wie’s im Feuer klingt? Ei, laßt’s klingen, sagte die Frau, indem sie das Kind von seinen Knieen hob, und rückt Euch da ein Bischen von der Seite, damit die gnäd’ge Frau auch Platz finde. Der Alte sah sie finster an. Ihr sprecht, wie Ihr’s versteht, sagte er; die Elemente reden seltsamlich mit einander, und geben Kunde von dem, was hier und dort vorgeht. Hat sie doch der alte Schlund geboren, der nun ächzt und stöhnt nach den rebellischen Kindern. Die kreisen derweil, und formiren in den Lüften und üben Gewalt über die Creatur, die sie nicht mehr versteht und ihrer45 nicht Herr wer den kann. Dann aber hat Gott Erbarmen und sendet seine Engel, die wilde Brut mit dem alten Geist zu versöhnen, damit Friede werde im Himmel wie auf Erden. Mein Knab war einer von diesen, er mußte hinunter in die Tiefe, und wenn er wiederkehrt, bringt er zum Unterpfand den reichen Schatz an’s Tageslicht. Mein Knab war schön wie die Engel sind, er verstand die Sprache der Thiere und jeden Laut in der Natur. Er hat mir’s seitdem zu Nachts gelehrt, daß ich nun weiß was kommen wird, und ruhig bin. Des Alten Blicke leuchteten, während er sprach, er hob sich immer mehr und mehr, so daß er gerade und feierlich da saß, als er mit gehobner Stimme sagte: vernehmt Ihr des Windes Rauschen und das Schwirren der Vögel, die langsam durch den Wald hinziehn? Dazu bricht sich die Flamme in wunderlichen Farben und zischt wie der alten Schlange Ruf. Es nahet irgend ein sündbeladnes Haupt, und drüber hin zieht der Tod.

Luisen faßte ein entsetzliches Grausen. Mariane war schon längst hinter einen großen Schrank geflüchtet und verhüllte Aug und Ohren. Da trat Anton herein; die Anwesenden flüchtig grüßend, wandte er sich zu seiner Frau, und sagte ihr, daß ihm ein Fremder auf den Fuß folge, der sich im Walde verirrt habe und hier den Aufgang des Mondes46 abwarten wolle. Er zündete dabei eine kleine Handlaterne an, und machte sich bereit, wieder hinaus zu gehn, um, wie er sagte, den Leuten und Pferden des Reisenden ein Obdach im nächsten Holzschuppen zu suchen, derweil die Frau für das Abendessen sorgen solle.

Luise fürchtete auf irgend einen Bekannten zu stoßen, und bereuete sehr, nicht nach Ballenstädt gefahren zu sein, wo sie im Gasthofe ein einsames Zimmer finden konnte. Sie trat daher zu Marianen, dieser ihre Besorgnisse mitzutheilen, während ihre Wirthin draußen beschäftigt war. Von dem altväterlichen, weit hervorspringenden Schrank verdeckt, redeten Beide mit einander, als die Thür aufging, und der angekündigte Gast, im dunklen, weiten Reisemantel und mit heruntergeschlagnem Hute, eintrat. Ei, sieh da! rief er, zum Bergmann tretend, alter Gesell, treff ich Dich hier? Wie steht’s mit dem Golde, ist es bald heraufbeschworen? Die Sünde, sagte dieser, hat das Gold verflucht; Ihr müßt Euch erst entsündigen, ehe ich den Schatz hebe! Da wird’s Weile haben! rief jener lachend, und warf Mantel und Hut auf den nächsten Sessel. Herr Gott im Himmel! schrie Luise, die beim ersten Ton der fremden Stimme bebte, und jetzt mit Entsetzen Fernando vor sich sah. Dieser wandte sich betroffen zu ihr. Von dem47 eignen Geschick ergriffen, welches ihn unwillkürlich zu dem trieb, was er vermeiden wollte, blieb er eine Zeit lang unbeweglich vor ihr stehen, dennoch aber, sich bald darauf fassend, sagte er mit unsichrer Stimme, welche die innre Bewegung seines Gemüthes verrieth: Sie sehn, schöne Luise, wir können einander nicht entfliehn. Da sei Gott vor! rief sie heftig, indem sie eine Bewegung machte, als wolle sie den frechen Ausspruch Lügen strafen. Wo wollen Sie hin? fragte Fernando schmeichelnd. In der Dunkelheit können Sie unmöglich weiter reisen. Luise erinnerte sich, daß sie den Postillon fortgeschickt, und sich, unbewußt, die schmerzlichste Verlegenheit bereitet hatte. Wie gebannt stand sie nun in dem engen Stübchen, von der erwachenden Liebe und allen Schrecknissen ihrer Lage hin und her geworfen. Vor ihr Fernando mit der süßen, lockenden Gestalt, daneben der wahnsinnige Alte, der, mit geschloßnen Augen, wie im Traume, seltsame Töne auf der Cither anschlug. Ihre Sinne schwankten verworren umher. Lassen Sie mich! lassen Sie mich! rief sie wiederholt, als solle Fernando sie frei geben. Luise, sagte dieser sehr ernst, ich fühle was Sie sich, was Sie der Welt schuldig sind, sein Sie versichert, ich fühle das. An mir ist es zu gehn. Ich zögre auch nicht, so bald Sie’s wollen. Nur hören Sie mich zuvor einen Augenblick. 48Er führte sie zu einer kleinen Bank im nächsten Fenster, und sich behend auf den Rand derselben zu ihr setzend, fuhr er leiser fort: mißverstehn Sie sich nicht, liebe Luise, Sie sind aufgeschreckt, in sich zerrissen, unsicher, Sie wollen mir, sich selbst entfliehn! Geben Sie Acht, daß Sie sich nicht ganz elend ma chen. Glauben Sie mir, Ihr Streben ist fruchtlos, Sie reißen sich nicht von mir los. Das ist das Vorrecht reiner Seelen, daß sie nur ein Bild in dem klaren Spiegel ihres Innren dulden können und es für alle Zeit darin bewahren. Das ist so wahr, daß Sie jetzt, jetzt, wo Sie mich zu hassen meinen, dennoch einer zärtlichern Regung nicht Herr werden können, die aus Ihren Blicken, ja aus dem süßen Zittern Ihres ganzen Wesens, spricht. Sie erschrecken; aber ich muß es dennoch sagen, liebe Luise: wir können nicht anders, wir müssen einander ewig lieben. Luise wollte hier aufstehn; allein er hielt sie bittend zurück. Hören Sie mich aus, sagte er; ich gehe, so gewiß ich Sie liebe, wenn Sie es dann noch wollen. Wir sind nicht umsonst durch tausend schmerzhafte und herbe Aufopferungen verbunden, um uns, wie zwei feindliche Kräfte, zu fliehen, die, nach zufälliger Berührung, in ihrem Grimm auseinander sprengen. Sagen Sie selbst, ist in Ihrem Herzen wohl ein recht wahres Gefühl, das mich verdammt? 49Was ist denn auch so Unerhörtes geschehn, das den Fluch des Himmels herabzöge! Die Natur ist mächtiger als alle menschliche Weisheit, daher verspottet sie jene kränkliche Verträge, die man ein Band der Gesellschaft nennt. Meine Luise, sei stärker als die Zeit in der Du lebst; gestehe Dir’s nur, Du gehörst mir, mir, keinem Andern! O wie viel Jammer hätte uns meine Mutter erspart, wenn sie, die Formen verachtend, freier, ja freimüthiger handelte. Sieh, was davon herkommt, geselligen Verträgen zu Lieb, sich selbst und die Wahrheit seiner Gefühle aufzuopfern! Schone sie, schmeichle Du ihnen jetzt immerhin, Du bist doch mit ihnen zerfallen. Die Welt verdammt Dich, Julius ist für Dich todt. Luise schauderte schmerzlich zusammen, ein tiefer Seufzer drang aus ihrer Brust; sie fühlte es wohl, sie war verloren. Wie eine abgerißne Blüthe hing sie in der frechen Hand, die sie um alle Hoffnungen des Lebens betrog. Unfähig, zu reden, lehnte sie den Kopf abwärts an das kleine Fenster, und die Stirn fest an die kalten Scheiben drückend, starrte sie hinaus in die Nacht. Fernando neigte sich vertraulich zu ihr, so daß der warme Hauch seiner Lippen sie wie ein leiser Kuß berührte. Wie Musik umspielte sie dabei das weiche Flüstern seiner Stimme, das unwillkührlich ihre Thränen hervorlockte. Du weinst, Luise? fragte er sanft; Du50 zitterst? erschrickst Du vor dem Gedanken, Niemand als mich zu haben, in dessen Brust Du die Welt, den Frieden und die Unschuld Deiner Seele wiederfinden kannst? Sieh um Dich, Du bist allein, ganz allein unter Menschen, die Dich nicht verstehn, nicht verstehn wollen. Im Kampf mit Dir selbst, zerreißst Du ein Leben, das so seelig, so unaussprechlich seelig sein könnte! Sei doch mitleidig gegen Dich selbst. Komm, fliehe mit mir. Dieser Augenblick entscheidet für uns Beide. Sieh, ich führe Dich in mein Vaterland, wo Du geliebt, wo Du glücklich sein wirst. Hier ? Was suchst Du hier? Was erwartest Du von Verhältnissen, die Dich hohl und kalt ansehn? Glaubst Du, die Freunde werden es Dir verzeihn, daß Du einen andern Weg gingst, als den sie Dir mit ihren Alltagsblicken vorzeichneten. Hoffst Du, Julius sei mehr als ein Mensch? Er verschmäht ein Herz, das sich und ihn belog. Komm denn, komm mit mir, Luise.

Georg! Georg! rief der Alte im Schlaf, laß Deine Thränen nicht so über die grauen Wimpern fließen! Sie tragen Dich auch bald hinunter. Hör nur, wie der Todtenvogel krächzt.

Mit schwerem Fittig fuhr jetzt eine Eule schreiend am Fenster vorüber. Luise sprang auf. Das Entsetzen gab ihr Kraft. Bleich stand sie vor51 Fernando. Sie müssen fort, stammelte sie. Die Natur hat eine Sprache, die ich fühle, wenn ich sie gleich nicht klar verstehe. Umsonst häuft sie so nicht ihre Schrecken. Sie hat mich geweckt. Ich weiß es, Sie müssen fort. Der Tod trat zwischen uns. Wir scheiden. Geben Sie, eilen Sie, Fernando. Ist das Ihr Ernst? fragte er. Mein heiligster, erwiederte sie. Nun dann! rief er, auf Wiedersehn in einer andren Welt! Ich gehe in französische Kriegsdienste. Ich hatte dies beschlossen, ehe ich Sie hier traf. Ihr Anblick erschütterte mich. Das Leben sah mich noch einmal lockend an. Ich glaubte einen Augenblick an eine friedlichere Bestimmung. Sie wollen’s anders. Ich gehorche. Sein Sie glücklich, recht glücklich. Mich reißt mein Schicksal fort! Ich stürze mich hinein, wie jemand der nicht vor, nicht hinter sich sehen mag, gleichviel wie’s endet! Ich habe oft mit dem Leben gespielt, sagte er, bitter lachend; nun spielt es mit mir! Stürmen Sie nicht so wild in die dunkle Nacht hinein, unterbrach ihn Luise sanft; scheiden Sie milder, Fernando. Ach Gott! ich habe es wohl um Sie verdient. Mein Sinn ist wild, erwiederte er; unsre Liebe war’s auch. Sie wissen ja, sie will ein blutig Ende, darum schicken Sie mich in den Krieg. O Fernando, Fernando! rief Luise erschüttert. Er stand erwartend vor ihr. Seine Blicke52 lagen gespannt auf den ihren. Sie zitterte heftig, und hatte kaum noch Kraft, sich aufrecht zu erhalten. Eine rasche Bewegung, als wolle er sie umfangen, schreckte sie auf. Um Gottes Willen! rief sie, lassen Sie mich! Sie haben es gelobt, Sie müssen, ja Sie müssen mich verlassen. In ihrem scheuen Blick, in dem Entsetzen, das über das bleiche Gesicht hinfuhr, lag etwas Gebietendes. Fernando gedachte unwillkührlich jener Nacht im Walde. Nun denn, alter Camerad! rief er, den Bergmann aus dem Schlaf rüttelnd, so komm, geleite mich durch den Wald. Du kennst ja Wege und Stege. Laß die dumpfe Cither vor uns her klingen. Der wahnsinnige Greis taumelte vom Schemel, und Fernando unter den Arm fassend, schwankten Beide hinaus. Luise barg den Kopf an Marianens Brust, um die vorüberklingenden Töne der Cither nicht zu hören, die noch lange vernehmlich durch den Wald hinzogen. Wie sie fernab rauschten und endlich verstummten, ward es auch stiller in ihr; der innre Sturm sänftigte sich. Sie holte aus tiefer Brust Athem und blickte seit lange zum erstenmal ruhig gen Himmel.

Die Wirthin trat bald darauf mit dem Abendessen herein, fast ärgerlich, daß sie der vornehme Gast so schnell verlassen habe. Luise gewann nach und nach Fassung genug, mit der gesprächigen Frau53 über vieles zu reden, was dieser lieb war, und als Anton späterhin hinzukam, hörte sie theilnehmend ihren aufblühenden Wohlstand rühmen, dessen Schöpferin sie war. So von sich selbst abgezogen, auf die stille Wirksamkeit einer glücklichen Familie gelenkt, stellte sich das innre Gleichgewicht ihrer erschütterten Sinne wieder her. Sie schlief die Nacht über, wie jemand, der einer großen Gefahr entronnen ist, und sich nun der Ruhe hingeben darf. In diesem Gefühl trat sie auch am folgenden Morgen die Rückreise an, von tausend Segenswünschen ihrer freundlichen Wirthe begleitet. Als sie indeß Abends spät so allein und verlassen die verödete Wohnung wieder betrat, und nun in dem engen Bezirk das Ziel wie den Ausgangspunkt ihrer früh beschloßnen Laufbahn umfaßte, da fiel ihr trübes Loos centnerschwer auf die zagende Seele. Alle freudige Gestaltungen ihres Lebens, die frühen Verheißungen von Liebe und Glück, alles, alles wich vor dem trüben Einerlei zurück, was ihr aus den menschenleeren, unbewohnten Zimmern entge entrat, die man sorglich bis zu ihrer Rückkehr verschlossen hatte. Ihr war, als öffne sich ein Gefängniß, wie sich der Schlüssel drehte und die verhaltne Luft aus der geöffneten Thür drang. So jung und so früh beendet, dachte sie, und sah betrübt im nahen Spiegel die blühende Gestalt, die in aller Frische54 der Jugend Anforderungen an ein freudigeres Dasein machte. Fernandos Worte drangen aus dem Grunde ihres Herzens herauf, und schienen eine Entsagung zu verspotten, der Schmerz und Reue folgten. Wehmüthig gedachte sie der vorüberrauschenden Klänge der Cither. Hier war alles stumm und todt. Nur die trägen Schritte ihrer müßigen Diener unterbrachen die tiefe Stille um sie her.

Wochenlang schleppte sie dies beengte, dumpfe, Leben mühsam mit sich fort, als ein schöner Herbsttag mit seinen sinkenden Nebeln und der hell hervorbrechenden Sonne sie unwillkürlich in’s Freie lockte. Ein klarer Luftstrom zog erfrischend durch das gepreßte Herz. Sie blickte um sich. Jenseits des Sees rollten sich die Dünste wie fallende Schleier zusammen, und zeigten ihr ein schönes, sonst so oft besuchtes Birkenwäldchen, das heut mit seinem goldgelben herbstlichen Schmuck fast fremd wie ein unbekanntes Eiland vor ihr lag. Sie ging den See entlang und trat in eine Fähre, die, durch ein Seil regiert, in das Wäldchen führte. Von dem ruhigen Wasserspiegel getragen, ward ihr leichter; die trübe Welt schien von ihr abgeschnitten, die kleinen kreisenden Wellen führten sie spielend in eine neue Heimath. So betrat sie das Ufer, und ging zwischen den Bäumen hin, der Landstraße zu, die hier vorüberführte. Ein lauer Wind trug vom nahen55 Dorfe einzelne Töne eines Kirchenliedes zu ihr her. Sie erinnerte sich, daß es Sonntag und die Gemeine um den frommen Greis versammelt sei. Eine Liebe, dachte sie, wehet durch diese Stimmen. O mein Gott, du bist so groß und gut, du sänftigst in einem Augenblick alle Schmerzen einer trüben, langen Woche! laß deinen Frieden auch über mich kommen. Da raschelte etwas neben ihr in den welken Blättern. Ein Reisender wollte vorübergehen. Georg! rief Luise, ihn erkennend, Georg! wie finde ich Dich hier? Der Alte stand alsobald mit einem Briefe vor ihr, und reichte ihr denselben, ohne ein Wort zu sagen. Schnell das Siegel erbrechend, las Luise Folgendes:

» Liebe Luise! Ich versprach Dir bei Deinem Hiersein, bald diese Gegend zu verlassen. Ich halte schneller Wort, als ich es damals glaubte. In wenig Stunden trete ich eine lange, weite, Reise an. Mir ist wohl und wehe, nun es so weit kommt. Ach wir werden uns wohl so bald nicht wiedersehn! Lebe denn wohl, meine Luise! Lebe wohl, mein höchstes Glück auf Erden. «

Wie denn, Georg, sagte Luise, und er blieb zurück? Der Alte senkte weinend die Augen zur Erde. Wollte er mich doch nicht mitnehmen, stammelte er leise. Ging er denn so weit von uns? fragte Luise. Ach ja! ach ja! wimmerte Georg,56 weit hin! wohin ihn die zunehmende Krankheit zeither unablässig rief, in den Tod! der hat ihn nun gefaßt! O mein Gott! seufzte Luise. Beide konnten lange nicht reden. Schweigend wankten sie neben einander an das Ufer hin, und traten in die Fähre, ohne recht zu wissen, was sie thaten. Ueber das Wasser hin klangen die Töne aus der Kirche immer vernehmlicher. Georg faltete andächtig die Hände, und während Luise im dumpfen Schmerz das schlaffe Seil des Fahrzeugs aufrollte, begleitete er die fernen Stimmen folgendermaßen:

Noch schauen wir im dunklen Wort;
Noch reißt uns mancher Irrthum fort,
Und unser wankender Verstand
Hat abgewandt
Von Gott, oft Gottes Rath verkannt.
[57]

Zweites Buch.

[58][59]

Ein Band nach dem andren hatte sich jetzt von Luisens Herzen gelöst. Die ausgestorbne Welt lag wie ein öder Kirchhof um sie her, in dessen kaltem Grabeshauch sie wie eine einsame Blume traurig hin und her schwankte. Ohne Liebe, ohne Hoffnung barg das Leben nichts mehr von allem, was allein Leben giebt. Jedes Geheimniß der innersten Seele schien ausgesprochen, jede Frage beantwortet, alles an seinem Ziel zu sein. Was sie that und was sie dachte, kehrte beziehungslos in sie selbst zurück, und drängte das Bild ihres verwaisten Daseins immer peinigender vor sie hin. Dazu verscheuchte der hereinbrechende Winter noch die letzten Spuren lebendiger Regsamkeit. Ueberall, überall war nichts als der Tod. Die einsamen Abende, die ewig langen Nächte, wanden sich drückend an der beklommnen Luise hin, die alles, bis auf die Träume, floh. Als lege sich der schwarze Saum der Nacht auf ihre Brust, so sah sie den Tag sinken und versank mit in die gestaltlose Dunkelheit.

60

Aber wie auch Wünsche und Erwartungen welken, so daß sie wie dürre Halme höhnend auf den entschwundnen Frühling hinweisen, so regt sich dennoch tief an ihrer Wurzel die ewige Sehnsucht, die erst leise, dann immer mächtiger sich dehnend, das Innre plötzlich mit solcher Gewalt erfaßt, daß sich’s, auf’s neue aus sich herausgedrängt, mit schmerzlichem Verlangen in die bunte Welt stürzt und das ungekannte Gut an sich reißen möchte. Luise konnte sich tausendmal sagen, es ist vorbei, es ist alles vorbei! so ergriff sie dabei eine Angst und eine Ungeduld, die zerstörend mit der gänzlichen Trostlosigkeit und dem Druck ihrer Lage stritt. Unwillkührlich sann sie auf Rettung, maß und erwog, überflog augenblicklich die scharfgezognen Linien weiblicher Beschränktheit, träumte sich in ferne Länder, unter fremde Menschen, die ein helleres, freudigeres, Dasein an das ihre anknüpften und so eine neue Welt um sie her schufen. Nach Italien wandte sich am liebsten ihr Blick. Dort, dachte sie, wehen laue Lüfte, dort müssen die innren Schmerzen heilen und alle Sorgen vor dem ewig reinen Himmel fliehen. Aber auch hier schreckte sie Fernandos Bild wie eine Aegide zurück. Und dennoch säuselten die lauen Lüfte so schmeichelnd und lockten sie hinüber in wunderliche, verworrne Träume, in denen Wille und Verlangen seltsam kämpften.

61

So in Widersprüchen verstrickt, fiel ihr Auge einst auf das elfenbeinerne Kästchen, welches Violas Bild und jene versiegelten Papiere enthielt. Luise öffnete es, als einzige Besitzerin von allem, was Julius zugehörte, und als Theilhaberin eines Geheimnisses, das hier nur näher bestätigt sein konnte. Wie sie die Haarflechte löste und die Blätter einzeln in ihre Hand fielen, zeigten ihr sogleich die ersten Worte, daß es Briefe der Markise an Viola waren, in welchen sie Fernandos nur zu oft gedachte. Mehrere durchlesend, fand sie einen, der sie mehr als alle andre ergriff, und folgendermaßen lautete:

» Wie dauerst Du mich, arme Viola! in Deinem strengen, farblosen Norden, wenn ich den reichen Schmuck und die Fülle und die Gluth unsrer blumigen Heimath betrachte! Kenne ich doch den lieben, beweglichen Sinn, der Dich wohl abwärts trieb, weil man ihn binden wollte, einst aber kosend, wie unsre erfrischende Seelüfte, über den bunten Schmelz des Lebens hinzog. Armes Herz! und Du sollst nun welken und vergehn unter den schweren Wolken eines fremden Himmels! Ich schreibe Dir aus meiner Villa, von dem wohlbekannten, niedren Balkon, nach der Wasserseite. Ach Viola! wie muß ich hier unsrer Jugend gedenken, und wie nun alles, alles so62 anders kam, als wir damals träumten! Erinnerst Du Dich der stillen Nächte, wenn wir von hier, über den Golf hinaus, nach den fernen Küsten schauten, und Dein Gesang Dich, halb sehnsüchtig, halb in frohem Uebermuth, zu den ungekannten Ländern trug, und Du vermessen aus der Ferne Dein Liebesglück heraufbeschworst. Es nahete Dir, aber von einer andern Seite, als Dir es ahndete. Noch sehe ich, unter den Pinien dort, den schlanken, blondlockigen, Nordländer hervortreten, und sein Erscheinen sittig und schmeichelnd mit dem Zauber Deiner Töne entschuldigen, die ihn unwillkührlich angelockt. Lieber, unglücklicher Eduard! wo irrst Du jetzt umher, jene Nächte verwünschend, wie Du sie einst segnetest! Viola, das Myrtenreis ist nicht wieder gewachsen, was damals brach, als er sich zuerst zu dem Balkon aufschwang. Dein schöner Knabe tritt jetzt auf den halbtrocknen Stamm und arbeitet sich zu mir herauf, um mich zum Spielen zu zwingen. Er wendet sich unwillig ab, da er mich schreiben sieht, was er in den Tod haßt, geht nach dem Ufer, sich zu baden, und ich Thörin überwinde mich kaum, ihn gehn zu lassen. Du tadelst es, daß er uns alle beherrscht. Aber sieh nur den süßen Trotz in Aug und Mienen, das schmeichelnde und gebietende Lächeln; Du63 widerständest auch nicht. Und laß es doch! Wem die Natur das Herrscherstegel so aufgedrückt, der herrscht, wie man ihn auch demüthige. Vor so einem beugt sich die Welt, und wo ihm das Geschick entgegensteht, da zertritt oder überspringt er es, und wird dennoch nicht unglücklich. Du willst ihn also nicht sehn? Er soll nie Curen deutschen Boden betreten? Du selbst wagst Dich nicht in Dein Vaterland zurück? Und dies alles um eines Traumes willen? Wie bist Du so anders geworden. Wehet dieser Geist in Euren Wäldern? Du quälst und arbeitest Dich ab, eine Zukunft zu berechnen, die Dir so furchtbar in ihrer Dunkelheit ist. Liebe Viola, der Wurf ist gethan, Du setzest ihm kein Ziel. Stelle und sträube Dich, umbaue und verbirg Dich, thue was Du willst, das Unvermeidliche ereilt Dich dennoch! Und Zeit und Ordnung überfliegend, wagst Du, das tief verborgne Geheimniß zweier kindlichen Herzen auszusprechen? Im Saamen bestimmst Du die Frucht; vor der Entwicklung die Reife? Viola, erinnre Dich, daß das Glück solche flieht, die es mit Gewalt erfassen wollen. Weißst Du, ob, was Du bindest, sich nicht ewig meiden wird? Was soll Dein trübsehender, in Schmerz und Reue erzeugter Julius mit der reizenden kleinen Luise, die Dir, wie Du selbst sagst, so ähnlich ist, bei64 deren heitrem Lächeln Du Dein eignes freudigeres Dasein noch einmal aufgehn siebst. Laß den armen Knaben Deine Schuld allein abbüßen und schicke mir das muntre Kind, damit ihr an Fernandos Seite ein blühenderes Loos werde. Aber ich tadle Dich und möchte eben jetzt dem Schicksal vorgreifen! Was kommen soll, wird geschehn! Niemand weiß, wie er endet! O könntest Du nur, wie ich, unsern holden Liebling sehn, wie er hier vor mir die schönen Glieder auf dem weißen Schnee der bläulichen Wellen wiegt, wie alles, Licht und Luft und die kleinen kreisenden Fluthen, mit ihm zu spielen scheint, und er dann von Zeit zu Zeit das Köpfchen hebt, die dunklen Locken schüttelt und unter den hohen Brauen zu mir hinsteht, als wolle er das ernstre Geschäft bannen und mich unwiderstehlich zu sich herabziehn. Armer Eduard! Arme Viola! «

O vermeßne, höchst vermeßne Viola! rief Luise, mit blutendem, gewaltsam bewegtem Herzen. Wie hast Du Dich an das Heiligste gewagt, und uns alle in Dein finstres Loos verstrickt! So nahe also, so ganz nahe lag mir mein Glück, und nun ! Ihr war, als hätten die Worte der Markise jene oft beweinten, immer noch lebendigen, Gefühle gerechtfertigt; ja sie sah sich als die frühere Verlobte Fernandos an, dem man sie absichtlich, widerrechtlich65 entrissen habe. Von da an wich jede stillere Ergebung, alle Süßigkeit sanfter, auflösender Schmerzen aus ihrer Seele. Verzweifelnd sträubte sie sich gegen die Hand des Schicksals, die fremde Gewalten vernichtend auf sie gelegt. Jener einzige Blick in eine hellere Welt zog ihre Umgebungen so eng zusammen, daß sie oft schreiend aus der gepreßten Brust athmete. Einzig beruhigte es sie, sich augenblicklich in die von der Markise flüchtig angedeuteten Verhältnisse zu versetzen. Die bange Zeit zurückdrängend, ging sie, ein glückliches Kind, spielend an Fernandos Hand, dem weiten Meer entlang, das so lockend und sehnsüchtig aus der Ferne herübersah. Leicht bewimpelte Fahrzeuge segelten vorüber, auf ihnen, Männer in fremder Tracht, oder leicht verschleierte Frauen. Von der Landseite beugten sich hohe Orangen zu ihnen herüber; Fernando wand sich behend den schlanken Stamm hinan und ließ die glühenden Früchte in ihren Schoos fallen. Zwischen hin erschien die Markise, eine milde weibliche Gestalt, an deren Herzen beide ohne Schmerz und ohne Störung heranwuchsen und vereint die erweiterten Kreise einer geahndeten, unaussprechlich reizenden Welt betraten. Wie anders! rief sie dann, von der nackten, dürren Gegenwart aufgeschreckt, wie anders wär es so gekommen! Und warum durft es nicht so sein? Sie konnte über66 die Frage nicht hinaus, und verhärtete und erbitterte ihr Gemüth gegen alles, was das Leben ihr noch Trostreiches geben konnte.

So umgewandelt, schroff und herbe, sich gegen das unvermeidliche Verhängniß auflehnend, sank ihr Innres immer mehr zusammen, ohne daß ein lebendes Wesen, ein vertrauliches Wort es erfrischend berührte. Die leichtgeknüpften, frühern Verbindungen hatte Julius Tod meist gelöst, entferntere Bekannte schwiegen, verlegen, wie sie ihre Theilnahme äußern sollten, ohne der störenden Mißverhältnisse zu gedenken. Der alte Geistliche lag krank, schon seit Monaten mit eignen Leiden kämpfend. Luise hatte es immer verschoben, ihn zu besuchen, weil sie, wie so viele Unglückliche, von jedem Tage etwas Neues, Ungewöhnliches, erwartete und mit beruhigterm Gemüth an das stille Lager zu treten hoffte. Als aber alles blieb wie es war, und das Verlangen nach dem sanften Trost ihres alten Freundes sie einmal recht lebendig erfaßte, machte sie sich auf den Weg, und trat durch das sauber geschnitzte, von dunkler Vinca umrankte Gitter des Pfarrhofes, als folgende Worte einer weiblichen Stimme aus dem Hause herüberklangen:

Weiß auf weißem Grund gewoben,
Blumen, seid so bleich und fremd,
67
Hab zum Brautschmuck euch erhoben,
Webte ja kein Todtenhemd.
Ach, ihr blasset, bunte Seiden,
Von der kranken Hand berührt,
Die im Spiel die eignen Leiden
Mühsam so herauf geführt.
Thau’ge Perlen, senkt euch nieder
Auf das luftige Gewand;
Schlingt euch um die Blumen wieder
In ein helles Thränenband.

Luise war indeß hineingegangen, und öffnete, da die Stimme schwieg, die Thür der Wohnstube, in deren Grunde ein schönes, bleiches Mädchen an einem Stickrahmen saß, und, überrascht durch ihr Erscheinen, von der Arbeit aufsah. Luise erkannte auf den ersten Blick eine frühere Gespielin, des Predigers Nichte, die vor mehrern Jahren sein Haus verlassen hatte, und jetzt, Luisen unbewußt, darin zurückgekehrt war. Willkommen, liebes Minchen! rief sie, von allen lieben Erinnrungen der Kindheit durchbebt, wie finde ich Sie so unerwartet hier? Sie kennen mich also dennoch wieder? fragte jene wehmüthig lächelnd. Wie sollte ich nicht, fiel Luise schnell ein; mir ist in diesem Augenblick, als sei noch alles wie sonst! wenn ich so kam und Sie abholte, und wir die ersten Veilchen68 auf dem Kirchhofe suchten. Ich werde das nie vergessen! Ich sehe noch die kleinen Kränze, die wir dann an die Linden über die Kirchmauer hingen, und uns freueten, wenn sie nach mehrern Tagen noch frisch und duftend im Winde spielten. Beide wandten sich unwillkührlich nach dem Fenster, der Mauer gegenüber. Die alte Linde streckte ihre nackten Zweige in den kalten Winter hinaus, weißer Reif überzog sie und hing in starken Tropfen herunter. Wie in einem Spiegel den trüben Wechsel ihres eignen Lebens erkennend, senkten Beide die Blicke zur Erde. Sie hatten eine Schwester, hub Luise endlich wieder an, ein schönes, frohes Kind. Sie ist recht freudig herangewachsen, entgegnete Wilhelmine, und feiert in Kurzem ihr Hochzeitfest. Ich sticke eben jetzt das Brautkleid. Also nicht das Ihre? fragte Luise. Ein leises nein, o nein! bebte auf Wilhelminens Lippen. Sie war zum Rahmen getreten, und rollte in großer Bewegung den feinen Mußelin auseinander, um Luisen die Arbeit zu zeigen. Die weißen, leicht hingeworfnen Blumen riefen dieser die trüben Worte des Liedes zurück. Es ist wohl recht mühsam? fragte sie, ihre Erschütterung zu verbergen. Gar nicht, erwiederte Minchen, wieder gefaßt und freundlich. Ich kann nur bei Tage so wenig dabei bleiben; ich muß dem Onkel fast immer69 vorlesen, wenn er nicht schläft, wie jetzt, daher arbeite ich meist des Nachts. Des Nachts? fragte Luise, so feine Stickerei? Warum nicht, entgegnete jene, dann ist alles so still und heimlich, Lottchen steht wie ein freundlicher Geist vor mir, ich sehe ihre hellen Blicke, und denke wie schön sie in dem Kleide sein wird, und alles geht leicht und gut. Der Alte rief aus dem Nebenzimmer. Wilhelmine eilte schnell zu ihm, kehrte indeß sogleich zurück, um Luisen zu dem guten Onkel zu führen, der herzlich nach ihr verlangte.

Während das sorgsame Mädchen, theils um den Kranken, theils in häuslichen Verrichtungen, auswärts beschäftigt war, sagte Luise dem Prediger, wie es sie überrascht habe, die alte Jugendfreundin so unerwartet zu finden, und wie sie sich freue, die liebreiche Pflegerin bei ihm zu wissen. Das fromme Herz! rief jener gerührt. Sie ringt so still mit dem großen Leid, das an ihr nagt, und überfliegt es oft, indem sie sich unaufhörlich in die thätigste Wirksamkeit für Andre verliert. Sie drückt der Schmerz nicht; er hebt sie und zieht sie unwiderstehlich zu denen, die noch etwas vom Leben erwarten, und denen sie freudig ihr ganzes Dasein opfert, ja sie schilt sich, wenn ihr eigne Sorgen den Sinn verfinstern und sie nicht mit der ganzen, lebendigen Kraft ihre seelige Bestimmung verfolgt. Und das70 ist alles so lieb und natürlich und so klar empfunden. Ich wüßte nicht, fuhr er nach einer Weile mit erheitertem Blicke fort, ich wüßte nicht was ich auf Erden noch wünschen könnte, als in den Armen dieses Engels zu sterben. Wilhelmine trat hier, mit einem Blumentopf im Arm, herein, und ihn auf ein Tischchen neben dem Bette des Kranken setzend, sagte sie: die Veilchen hat mir Gärtners Riekchen so mühsam gezogen, und nun ist sie noch früher als die kleinen Blumen verblüht. Also doch gestorben? fragte der Prediger; Du hofftest gestern noch. Ja, sagte sie, die Augen waren so klar und sie kannte mich auch; aber das war auch das letzte Aufblitzen des kleinen Lichtchens. Die beiden andern Kleinen bringen mir eben den Blumentopf, und bitten mich um ein Krönchen für die Schwester. Das liebe Kind! Sie starb so fromm, und wußte recht eigen um ihren Tod und dachte an mich und an Albert, von dem ich ihr gesagt, daß er im Himmel auf uns warte! Das liebe, liebe Kind! Große Tropfen fielen aus Wilhelminens Augen. Sie wandte sich ab und ging still zur Thür, als der Onkel sie fragte, wo sie hin wolle. Zu den Kleinen, erwiederte sie, die warten auf mich, sie wollen die Krone mitnehmen; ich muß sie nur winden, die arme Mutter verlangt es nach dem letzten Schmuck ihres Kindes.

71

Wer ist Albert? fragte Luise, als Minchen sie verlassen hatte. Ein junger Arzt, erwiederte der Alte, dem das arme Mädchen verlobt war. Ihre stillen Gemüther schlossen sich während einer langen Krankheit, aus der der milde Freund Wilhelminens Mutter rettete, fest aneinander. Derselbe Zug durch die Bedürftigkeit und Sorgen des Lebens hin den einzelnen Freuden nachzugehen und die arme Menschenbrust augenblicklich von dem großen Druck eines beengten Daseins zu erretten, führte sie zusammen, und machte ihre Verbindung zu der innerlichsten und heiligsten, als der Tod ihn wenig Tage vor der Hochzeit aus ihren Armen riß. Sie trug das herbe Geschick mit großer Kraft, und ist seitdem nur noch fester und innerlicher geworden, da sie nun nichts mehr auf dieser Welt für sich hofft. Aber in dem Maaße, wie sie sich in sich selbst abschließt, giebt sie sich Andren hin. Sie ermüdet nicht, jedem die Hand zu reichen, um ihn schnell durch die dunklen Gewinde irdischer Mühseligkeit durchzuhelfen, den klaren Blick dabei auf ein höheres Ziel richtend, dem sie still entgegengeht, wie sehr sie auch Schmerz und Sehnsucht oft beengen.

Der Alte redete noch lange so fort und erfrischte sich an dem reinen Stral des milden Gestirns, das den Abend seines Lebens erhellte, als Luise durch den sinkenden Tag an ihre Rückkehr erinnert ward. 72Wie sie zu Wilhelminen kam, fand sie diese mit dem Kranze beschäftigt. Die beiden Kinder standen vor ihr und spielten mit der kleinen Fahne von Zittergold, worauf eben Riekchens Nahme eingeschnitten war. Luise sah den blaßgrünen Roßmarin in einander flechten, und drüber hin in den spitzen Blättern flockige Purpurseide, wie den letzten Stral des sinkenden Abendroths spielen. Ach Minchen! rief sie bewegt, an ihre Brust sinkend, Todtenkronen und Brautkleider gehen durch Deine Hände, Du umwindest Dir selbst den Pfeil, den Du so immer tiefer in die wunde Brust drückst.

Dies also, dachte sie im Gehen, ist nun aller Lohn und aller Genuß des Lebens? Schmerzenslust! Wonne unter blutigen Thränen! Wer sieht euer doppeltes Antlitz und bebt nicht vor seinem eignen Loose zurück! Ein lautes Geräusch weckte sie indeß aus ihren Betrachtungen. Sie sah einen stattlichen Reisewagen an sich vorüber in ihren Hof fahren. Halb erfreut, halb verlegen, beflügelte sie die Schritte und trat fast zugleich mit zwei Damen in das Haus, in denen sie nicht ohne Erstaunen Augusten und Emilien erkannte Die Erstere ging ihr etwas feierlich entgegen, und sagte mit gehaltnem Ton, wie die kurze Bekanntschaft keinesweges ein so unerwartetes Erscheinen rechtfertige wohl aber die innigste Theilnahme, die ein Band sei, welches über Zeit73 und Verhältnisse hinausreiche. Emilie hingegen sank ihr weinend in die Arme und versicherte ihr liebkosend, daß sie so oft an sie gedacht und sich so herzlich nach ihr gesehnt habe, daß sie dem Wunsche nicht widerstehen könne, sie bei ihrer Durchreise zu begrüßen. Die Herzlichkeit des anschmiegenden Mädchen that Luisen wohl, und milderte einigermaßen die Verwirrung, welche Augustens Gegenwart in ihr erregte. Diese hatte sich ihr vormals mehr abstoßend als liebreich gezeigt, und sie war daher um so mehr verlegen, sich jetzt in ihrer Nähe zu befinden. Allein Luisens veränderte Lage war es gerade, was sie in Augustens Augen hob, welche es für eine Art zu lösender Aufgabe ansah, der Gefallnen ihren Schutz angedeihen zu lassen und deshalb willig in Emiliens Vorschlag einging, hier einen Tag zu verweilen.

Sie haben den Frühling um sich her gezaubert, sagte Auguste, im Hereintreten Luisens reichen Blumenflor beachtend. Sie thaten sicher wohl, denn die kleinen Zungen reden oft wahrer zu uns, als die schwankenden Menschenworte. Ja wohl! rief Emilie, ich muß bei ihrem Anblick an Alles denken, was ich lieb habe. Luise seufzte, und ein welkes Blatt zerdrückend, sagte sie: der Tod spricht nur so unmittelbar aus ihnen, wie schnell zerstiebt die Farbenpracht zwischen unsern Fingern, und wir74 sehen wehmuthig dem blassen Staube nach! Das höchste Entzücken, fiel Auguste ein, ist schmerzlich. Das liegt im Wechsel der Erscheinungen, den wir im flüchtigen Genuß vorempfinden, und über den hinaus wir das Ewige binden möchten. Aber dieser Wechsel, liebe Freundin, fuhr sie fast vertraulich fort, sollte dem wahrhaften Menschen eigentlich nichts anhaben. Wer die volle, gesammte Einheit in sich trägt, der könne, dünkt mich, dem Spiel der bunten Oberfläche ruhig zusehn. Er kennt die tief verborgne Bedeutung desselben und sieht in jedem Schmerz das Saamenkorn neuer Offenbarungen. Ich für mein Theil habe keinen Begriff von der Ewigkeit, der Trauer und jenem sehnsüchtigen Schmachten, das einen welken Schein über die ganze Schöpfung ausgießt, die Menschen in kränkliche Träume wiegt und sie in träger Hingebung mit Andacht und Frömmigkeit äfft, statt daß ein frischer Lebenshauch den Phönix aus der Asche erweckt.

Wie schön Du redest, sagte Emilie, die während dem beifällig mit dem Kopf genickt und Luisen wiederholt ihr Entzücken mitgetheilt hatte. Es wundert mich nicht, daß Du den kalten Sir Arthur gewannest. Du könntest Steine beleben. Aber Sie wissen wohl nicht, liebe Luise, fuhr sie fort, daß unsre Freundin mit dem jungen Engländer verlobt ist, den Sie bei meinen Eltern sahen.

75

Luise wußte es nicht, und erinnerte sich kaum ein flüchtiges Zeichen der Zuneigung zwischen Beiden bemerkt zu haben.

Die arme Auguste, sagte Emilie weiter, hat sich jetzt auf mehrere Monate von dem Geliebten getrennt, der erst kommenden Herbst, und vielleicht noch später, aus seinem Vaterlande zurückkehrt. Ich begreife kaum, wie sie den Schmerz der Trennung so überwindet. Den Menschen, hub Auguste sinnend an, den wir einmal wahrhaft sahen, den sahen wir, den werden wir ewig sehen! Zeit und Raum sind in dieser Hinsicht höchst untergeordnete Begriffe, die dem Wesen tief empfundner Liebe entgegenstehn.

Emilie bewunderte auf’s neue diese Stärke der Gesinnung, und sagte sehr naiv, daß sie den Geliebten entweder gar nicht aus ihren Armen gelassen, oder ihn gleich aufgegeben hätte, denn sie kenne sich und die Menschen, und wisse, daß über den ersten, entsetzlichen Schmerz der Trennung hinaus, die Welt gar zu lockend und lieblich auf die Herzen eindringe, die solch gegebnes Wort nur peinlich hin und her zerre. Von hier ging sie freudig zu den Verhältnissen zur Welt im Allgemeinen über, lobte das beweglichere Leben in den Städten, erzählte von ihrem nahen Aufenthalt in der Residenz, und schloß damit, Luisen dringend um ihre Begleitung76 dorthin zu bitten. Wider alles Vermuthen stimmte Auguste mit in diese Einladung, und bot ihr sehr gastlich einen schicklichen Aufenthalt in ihrem Hause an. Hierdurch wurden nothwendig Luisens frühere Verhältnisse berührt. Theilnahme erweckt Vertrauen. Das weibliche Herz erschließt sich um so leichter, je dringender ihm in manchen Augenblicken Mittheilung wird. Emiliens liebreiches Entgegenkommen rührte Luisen, und wenn ihr auch die Denksprüche und geformelten Phrasen der belesenen Auguste fremd blieben, so klangen sie doch gewichtig, und zwangen sie mit einer Art von Achtung zu der Rednerin aufzusehn, deren Urtheil sie ihre Unerfahrenheit unterwarf, und daher ohne Rückhalt zu Beiden sprach.

So verging dieser Tag und ein folgender, ohne daß sich Luise gleichwohl über jenen gethanen Antrag bestimmte. Allein Emilie hörte nicht auf, sie mit Liebe und Bitten zu bestürmen, und sagte ihr endlich in einem Augenblick, in welchem sie Auguste verlassen hatte, daß sie ihrer Theilnahme in einer ziemlich mißlichen Lage bedürfe, daß Auguste ihr zu fern stehe, und nur ein Herz wie das ihre sie verstehn könne. Hierauf entdeckte sie ihr ohne Weiteres ihre Liebe für den jungen Maler, die seit ihrer frühesten Kindheit ihr Herz erfüllte. Zugleich aber auch, wie lange Trennungen dies Verhältniß77 unterbrochen und ihre gegenseitige Zuneigung oftmals abwärts gelenkt hätten, weshalb auch ihre Mutter lange keinen Verdacht gehegt, neuerlich aber durch ein unvorsichtig verwahrtes Billet hinter die Wahrheit gekommen sei, und, ohne einen großen Zorn blicken zu lassen, nur erklärt habe, daß, da sie das Geschehene nicht ungeschehen machen könne, sie allein den Anstand für die Zukunft retten und so schnell als möglich eine schickliche Partie für sie suchen werde. Diese Partie, setzte Emilie hinzu, ist nun gefunden, und da wir Beide von der Unmöglichkeit einer gesetzlichen Verbindung nur zu sehr überzeugt sind, und die Gründe dagegen anerkennen müssen, so habe ich Steins Hand angenommen, der grade seine Bewerbung bei meiner Mutter erneuerte. Stein! rief Luise ganz entrüstet; Emilie, wo denken Sie hin, dies edle Gemüth wollen Sie hintergehn! Gott bewahre mich, erwiederte jene, ich will ihn gewiß recht glücklich machen. Mit diesem getheilten Herzen? fragte Luise. O das wird schon ruhiger schlagen lernen, entgegnete Emilie; und dann sagt Mutter, Pflicht und Gewohnheit ersetzten jede heftigere Neigung, und wenn ich sie selbst betrachte, so bin ich sehr geneigt, es zu glauben; sie lebte immer zufrieden an meines Vaters Seite, und ich bin gewiß, sie hat ihn nie geliebt. Aber Ihre Mutter selbst, unter brach sie Luise,78 war früher so entschieden gegen eine Verbindung mit Stein. So lange nur, erwiederte Emilie, als sie fürchtete, seine Leidenschaft könne mich unnatürlich entzünden, und, wie sie sagt, unversehens in eine Welt zaubern, in der ich höchst unbehaglich zu mir selbst kommen würde. Jetzt aber, da ich ihn mit ruhigem Gemüth allein aus Vernunft heiraten will, sieht sie weiter keine Gefahr für mich, und ist sehr gewiß, daß ich immer die Verschiedenheit unsrer Wege anerkennen, und durch Nothwendigkeit gehalten, den meinen recht still fortgehn werde. Luise ward lebhaft von der Herabwürdigung der allerheiligsten Verbindung ergriffen, die man hier, wie so oft im Leben, augenblicklichen Zwecken unterordnete, und rief daher, ganz rücksichtslos auf die Baronin: liebe Emilie, man täuscht Sie! man täuscht Sie absichtlich! Sie wissen nicht, was es beißt, eine verfehlte Wahl; Sie ahnden den Kampf gutgearteter Naturen nicht, die vielleicht ein langes Leben hindurch mit Theilnahme und Mitleid und den eignen qualvollen Wünschen ringen müssen. Noch viel weniger fühlen Sie, was dadurch in Ihnen verloren geht. Das Unschuldigste wird Ihnen unter den Händen zur Schuld; Frevel und Sünde treten Ihnen unversehens immer näher und näher, und fassen und halten Sie, bis die Ruhe und das Glück Ihres Lebens auf ewig vergiftet79 sind. Freilich, freilich! sagte Emilie, einigermaßen erschüttert; aber Mutter behauptet, einer Frau, die das Pflichtmäßige ihrer Verhältnisse nicht von selbst vor jeder Gefahr sichre, sei überhaupt nicht zu helfen. Kleine Abweichungen von der gewohnten Ordnung gehören der ungebundnen Jugend an. Wie wir aber in die wirkliche Welt treten, fasse uns der Ernst unsrer Bestimmung unwillkührlich an, und dränge uns unbewußt in den gemeßnen Gang häuslicher Thätigkeit; die Gewohnheit fände sich von selbst ein, und das ganze geträumte Wesen der Jugend liege plötzlich weit, weit hinter uns. O mein Gott! sagte Luise, so ist denn die Ehe nichts als ein bürgerlicher Verein, so wie noch tausend Andre, in denen Absichtlichkeit und Gesetz die Menschen zusammenhalten. Ihr reines Element wird ein trüber Sumpf, und die freieste Gabe des Herzens ein knechtisches Naturgebot! Aber wenn Sie sich auch finden lernen, fuhr sie gemäßigter fort, was soll aus dem Unglücklichen werden, dem sie so zuversichtlich die schwere Kette über den Nacken werfen? Wagen Sie es, auch für ihn gut zu sagen? Liebe Emilie, hoffen Sie nicht, ihn in den breiten Weg der Alltäglichkeit hineinzuziehn! In Steins Seele ist ein heller Tag aufgegangen; er macht andre Anforderungen an das Leben, als Sie es wünschen; ein volles, inniges Dasein will80 er mit Ihnen theilen. O Emilie, wenn diese höchst einfachen Anforderungen Sie drücken, und Sie das treue, begehrliche Herz durch Unvermögen, es zu begreifen, zerreißen werden, hoffen Sie dann noch, Ihren Weg still und ungestört fortzugehn? Wahrhaftig, sagte die Kleine halb weinend, Sie machen mich ganz bange! Ich habe das immer dunkel gefühlt. Aber es ist ja auch noch nicht alles verloren. Verlassen Sie mich nur nicht, beste Luise, ich bitte Sie, versagen Sie uns Ihre Begleitung nicht. Auguste kam hier auch herzu, und sagte noch vieles und manches über das unsichre Schwanken unsers Willens, und wie unersprieslich es sei, einen Entschluß zu verschieben, zu dem uns die innre Neigung vielleicht längst aufgefordert habe, so daß sich Luise entschied, und der folgende Tag zu ihrer Aller Abreise bestimmt ward.

Das ganze Haus gerieth bei dieser Nachricht in freudige Bewegung. Mariane sah nach monatlicher Trauer mit Entzücken einer willkommnen Veränderung entgegen, und auch für Luisen hatte die kleine Reise und die Aussicht in ein beweglicheres Leben, etwas Erfreuliches, ohnerachtet eine innre Bangigkeit sie wohl zuweilen die Neuheit ungewohnter Verhältnisse vorempfinden ließ.

Als sie am folgenden Morgen früh im halben Dämmerlicht an des Predigers Wohnung vorüberfuhren,81 öffnete Minchen schnell die Vorhänge und winkte Luisen noch ein herzliches Lebewohl zu. Diese ward innig dadurch gerührt. Der zitternde Tagesschein, der die Gegenstände mehr in einander schmolz, als bezeichnete, gab der Gestalt etwas schattenartiges, das Luisen unwillkührlich ergriff. Nur den tiefen Schmerz, den sie Minchen kannte, glaubte sie in ihren bleichen Zügen gesehen zu haben. Ihr war, als haben die weißen Arme, die sie grüßend bald hob und neigte, gestrebt, sie zurückzuhalten. Ihre Bewegung entging ihren Begleiterinnen nicht. Sie drangen in sie, und Luise sprach mit Wärme von Minchens Leiden und der stillen Ergebung, mit der sie sie trage, was Emilien häufige Thränen entlockte, Augusten aber in ein augenblickliches Nachdenken versenkte, aus welchem sehr bald folgende Worte hervorgingen. Mich dünkt doch, hub sie an, es sei keine rechte Einheit in diesem Gemüth! Entweder sie erwartet noch etwas vom Leben, oder sie begiebt sich aller Ansprüche daran. Ist das Erstere der Fall, warum dehnt sie die fruchtlose Trauer über das Grab des Geliebten hinaus? Warum? fragte Luise; lieber Himmel, kann sie denn anders? Darüber kann sie freilich nur selbst entscheiden, entgegnete Auguste, aber dann sollte sie auch nur konsequent sein, und sich gleich mit in das kühle Grab legen, das nun einmal das Ziel82 ihrer Wünsche umfaßt. Was will sie in der Welt? Sie zerreißt sich muthwillig. Beschränkte Naturen thun am Besten, sich gleich zu ergeben, da es ihnen an Kraft gebricht, die Nothwendigkeit zur Freiheit zu erheben. Beschränkte Naturen! rief Luise verletzt. O fühlen Sie denn nicht wie eine Schranke nach der andern vor diesen Augen fiel, die, ein höheres Ziel erfassend, muthig den dornigen Weg überschauen, der ausgebreitet daliegt? Kann sie den zarten Gliedern gebieten, nicht zu bluten, wenn die Dornen sie wund ritzen? Und sehen Sie nicht, wie der Schmerz, als ihr irrdisch Erbtheil, immer mehr hinter ihr zusammensinkt, und sie sich auf mächtigen Schwingen über sich selbst erhebt? Ich halte von solchen Kämpfen nicht viel, sagte Auguste kalt. Stehn ihr die Schwingen wirklich zu Gebot, wie Sie glauben, was überfliegt sie nicht gleich den mühseligen Weg, und erreicht so früher das Ziel? Weil sie, erwiederte Luise, ihre Kraft erst im Schmerze prüfte; weil ein wahrhaftes Leid den Menschen erschüttert und ihm alle Tiefen der Seele eröffnet, in denen er sich und die Welt und seine Bestimmung verstehen lernt. Glauben Sie das nicht, fiel Auguste ein, wer das Rechte von Anfang will, der findet es auch, der will denn auch nur das Eine in jeder wechselnden Gestaltung der Dinge, das ist seines Daseins ewiges unwandelbares Gebot.

83

Unter diesen und ähnlichen Gesprächen setzten sie ihre Reise fort. Luise fühlte sich sehr unbehaglich auf ihrem Platze. Emilie schlief, oder verlor sich doch mit geschloßnen Augen in lustige Träume; Auguste redete freilich, verletzte sie indeß unaufhörlich durch ihre dürre Sentenzen. Tausendmal ihren raschen Entschluß bereuend, sich der fremdartigen Gesellschaft angeschlossen zu haben, beugte sie den Kopf aus dem Wagenfenster, um, wo möglich, in den äußren Gegenständen eine erfreulichere Unterhaltung zu finden. Nicht lange, so bemerkte sie eine Chaise, die ihnen bald in geringer, bald in weiter Entfernung folgte, je nachdem der träge Gang der abgetriebnen Postpferde es gestattete. Unwillkührlich wendete sich Luise noch mehr zurück, um wo möglich zu entdecken, wer in dem Wagen sitze; allein er war dicht verschlossen, und sie mußte unbefriedigt von ihren wiederholten Versuchen abstehn. Zufällig traf es sich, daß jener Wagen, beim erneueten Wechseln der Pferde, jedesmal vor dem Posthause still hielt, wenn sie wieder abfuhren, wodurch auch die Neugier der beiden andren Damen erregt ward.

Da sie nun unterwegs übernachten mußten, und der Ort, den sie dazu bestimmten, wenig Ausbeute zur geselligen Unterhaltung gewähren konnte, so scherzten sie gegenseitig über die Möglichkeit, in ihrer84 unbekannten Begleitung irgend eine interessante Bekanntschaft zu machen. Wirklich waren sie kaum in den Gasthof eingezogen, als ein Wagen vor die Thür rollte, den Luise, ohnerachtet der fast hereingebrochnen Dunkelheit, für den besagten erkannte. Ein junger Mann, in einen weiten Pelz gewickelt, sprang heraus, und die dienstfertig entgegenkommende Wirthin bei der Hand fassend, sagte er: es ist verteufelt kalt, schöne Frau! Mein Zimmer, geschwind mein Zimmer! In drei Sätzen war er die Treppe herauf; eine Thür neben ihnen ward aufgeschlossen und er trat singend und lachend in das anstoßende Gemach. Die Stimme klang weich und fremd, die Leichtigkeit, das Benehmen ließ auf äußre Gewandheit und Lebenserfahrung schließen. Ohnerachtet der hohen Ruhe, mit welcher Auguste das bunte Spiel der Oberfläche betrachtete, fühlte sie doch keine geringe Begier, die neue Erscheinung näher in Augenschein zu nehmen. Sie empfahl indeß ihren Gefährtinnen die höchste Aufmerksamkeit, um durch kein Geräusch dem neuen Ankömmling ihre Anwesenheit zu verrathen, wodurch sie sich einigermaßen vor sich selbst rechtfertigen wollte, und zugleich auch den Fremden besser zu beobachten hoffte.

Nicht lange darauf hörten sie die Wirthin auf’s neue hineingehn. Tassen klapperten, ein wohlunterhaltenes85 Feuer knisterte im Kamin; der Fremde ward sichtlich mit Aufmerksamkeit bedient, während sie noch an allem Mangel litten, worüber Auguste fast alle Haltung verlor. Ein lautes, wiederholtes Kichern zeigte, wie wohl sich die Wirthin in ihren Geschäften befand, und daß sie vor der Hand noch nicht an sie denken werde. So wohl versehen und schon ganz behaglich eingewohnt, hörten sie ihren Nachbar nach einer Weile eine Kiste öffnen, einige Griffe auf einer Guitarre thun, und sich zu folgenden Worten auf dem Instrument begleiten:

Zierliche Blondine
Ging heut früh zu Walde,
Wollt beimkehren balde,
Pflückte Blümchen hier.
Sonnenhelle Miene,
Mund voll frischer Rosen,
Süß des Auges Kosen,
Freud’ges Liederspiel!
Traurige Blondine
Kam heut Abend wieder
Ohne lust’ge Lieder,
Seufzte tief und schwer.
86
» Was so trübe Miene?
Fandst Du keine Blumen?
Ach! ich brauch nicht Blumen,
Brauch kein Kränzlein mehr. «

Mein Gott, was ist Ihnen! rief hier Emilie, auf Luise zueilend, Sie sind bleich wie mein Tuch! Lassen Sie nur, sagte jene leise, es ist nichts, sicher nichts, eine vorübergehende Erschütterung. Die Worte, die dort herüberklangen; sie lehnte den Kopf an Emiliens Brust; ich hörte sie nur von Fernando, er selbst hat sie aus seiner Muttersprache in’s Deutsche übertragen, aber das beweist nichts, gar nichts. Die beiden Andren wurden hierdurch ebenfalls überrascht. Wenn er’s wäre, sagte Emilie, grade hier, mit uns auf einem Wege, es wäre doch fatal! Es ist unmöglich, unterbrach sie Luise schnell, ich sagte Ihnen ja, er sei in französische Kriegsdienste gegangen, was soll er hier wollen? Was sichert Sie denn, fiel Auguste ein, daß dies Vorhaben ausgeführt, ja daß es im Ernst gefaßt ward. Ich dächte, Sie wüßten, was von Aeußerungen aus diesem Munde zu halten sei. Hier trat endlich die Wirthin, von Marianen begleitet, und mit allem zu ihrer Bequemlichkeit Erforderlichen versehen, hinein. Kennen Sie den Fremden schon länger? fragte sie Auguste spöttisch, daß Sie87 ihm so viel Vorzüge vor Ihren übrigen Gästen einräumen? Gott nein! erwiederte jene betreten, es ist ja ein Ausländer, aber der Herr sind so ungestüm, daß man nur eilen muß, ihn zu befriedigen. Ein Ausländer? wiederholte Emilie; wissen Sie nicht, von welcher Nation? Ein Franzose, glaube ich, erwiederte sie. J, mein Gott, daß ich recht sage, ein Italiener; ja, ja, ein Italiener, man kunfundirt sich so leicht, und denn die Uniform! Eine Uniform? fragten alle Drei. Ja, ich weiß selbst nicht, ob es eine ist, sagte sie, aber es sieht so aus. Wenn es Ihnen gefällig wäre, fuhr sie fort, so könnten Sie miteinander speisen, die gnädigen Damen würden gewiß Unterhaltung finden. Gott bewahre uns! scholl es aus einem Munde; wir bitten Sie sogar, setzte Auguste hinzu, unsrer auf keine Weise gegen den Herrn zu erwähnen. Nun, wie Sie befehlen, sagte die Wirthin, durch ihre Heftigkeit aufmerksam gemacht, und wenig geneigt, der letzten Aeußerung zu achten.

Je mehr ich nachdenke, sagte Luise, als sie allein waren, je unwahrscheinlicher ist’s mir, daß Fernando ohne alles Gefolge, ohne allen äußren Glanz, in der Residenz erscheinen würde. Er fordert so viel vom Leben, er selbst thut so viel dafür; wie sollte er sich in dieser unbedeutenden Außenseite unter das bunte Gewühl einer Hauptstadt88 mengen! Sie vergessen, sagte Auguste, daß er mehrere Rollen hat; kennen Sie seine jetzigen Zwecke? Luise fuhr indeß fort, Gründe aufzusuchen, sich und die Andren vom Gegentheil zu überführen und die bange Wahrscheinlichkeit wo möglich durch einige Zweifel anzugreifen. Der Abend verging auf diese Weise schnell genug. Bei ihren Nachbar war es indeß ganz still geworden. Er schlafe, so schien es den Damen, welche auch früher als gewohnlich Ruhe suchten. Luise warf sich indeß noch lange im Bette hin und her, als die leisen, gemeßnen Athemzüge ihrer Gefährtinnen von ihrem glücklichen Schlafe zeugten. Jetzt, da ihr Niemand widersprach, da sie keine neuen Gründe mehr aufzufinden wußte, jetzt kam es ihr ganz glaublich vor, daß Fernando nur durch eine dünne Wand von ihr geschieden, nahe bei ihr lebe und athme; ja es ward ihr mit jedem Augenblick gewisser. Von dieser Vorstellung geschreckt, von tausend quälenden Erinnrungen gemartert, warf sie die lästige Decke von sich, und schlich zum Fenster, um reine Luft zu schöpfen. Ohne innres, festes Denken, starrte sie zerstreut in die dunkle Nacht hinein, als ein leises Schluchzen, dicht neben ihr, sie erschreckte. Das Haus war für den Nutzen erbaut, kein Raum verloren, die Fenster daher nur durch sehr schmale Pfeiler getrennt. Luise erkannte leicht, daß jener Ton aus dem ebenfalls89 geöffneten Fenster des Nebenzimmers komme. Aufs höchste gespannt, unterschied sie bald einzelne Worte in italienischer Sprache, die flüsternd durch die Dunkelheit hinschwirrten; plötzlich hörte sie deutlich wie in Unmuth sagen: Fernando, Fernando! wohin verirrst Du Dich! Was suchst Du? was kannst Du hoffen? bist Du denn auf ewig verloren! Kalter Nachtwind fuhr hier schneidend an den Häusern vorüber. Die Stimme schwieg; bald ward auch das Fenster geschlossen. Luise hörte nichts mehr; unbeweglich auf ihrem Platze, wiederholte sie sich jene Worte, die sie mit der peinlichsten Unruhe erfüllten. Unglücklich also, dachte sie. Sie erkannte ihn ganz in dieser schmerzlichen Heftigkeit, in diesem Unmuth über sich selbst. Was drückt ihn aber so sehr? Was suchte er jetzt? Wüßte er vielleicht ? Dies seltsame Zusammentreffen! Die gleiche Richtung ihres Weges! Wenn er unerkannt in ihrer Nähe lebte! Wenn er sie immer beobachtete! Wenn er dennoch treu ergeben Eine Bewegung der schlafenden Auguste zog sie unwillkührlich zu ihrem Bette zurück. Halb träumend sank sie in die Kissen. Bald darauf war ihr, als sei von dem allen nichts geschehen. Sie mußte sich besinnen, ob sie wirklich am Fenster gestanden habe. Dann fiel es ihr plötzlich ein, daß es gar nicht Fernandos Stimme war, die sie hörte, daß wohl90 wohl alles ein Blendwerk sein könne; und dennoch drang Fernandos Name, den sie doch bestimmt vernommen, immer wieder in ihr herauf und neckte und quälte sie, bis sie verzweifelnd die Augen schloß und die bange Seele dem dumpfen Schlafe hingab.

Nach wenigen Stunden ward es wieder lebendig um sie. Auguste trieb zum frühen Aufbruch an, da sie gern vor Abends das Ziel ihrer Reise erreichen wollte. Sie reisten ab, ohne das mindeste von dem Fremden gehört zu haben, der, nach der Wirthin Aussage, wohl noch tief schlafe. Erst in dem Thore der Residenz trafen sie mit dem Wagen des Unbekannten wieder zusammen, der an ihnen vorüber, in eine Seitengasse hineinfuhr. Luisens Herz klopfte gewaltsam. Die neue Welt schloß sich ihr in einem Augenblick auf, wo alle alte, mühsam niedergekämpfte, Anforderungen an Fernando wieder in ihr erwachten. Jede ungewohnte Erscheinung fiel so gewichtiger in ihr aufgeregtes Innre. Die bunte Menschenmasse wogte in vielfachem Treiben durch die Straßen hin, und zog sie mit in ihr verworrenes Gewühl hinein. Hohe Häuser, geschmückte Läden, weite Plätze, erhabne Kunstwerke, aller Prunk, wie jeder erhöhete Wille des Lebens, redete zu ihr, und überglänzte die bleiche Dürftigkeit und den frostigen Hunger, der langsam neben ihr hinschlich.

91

Auguste wohnte in der gesuchtesten Gegend der Stadt. Alles athmete hier verfeinerten Lebensgenuß. Die elegante Welt zog in tausendfachen Gestaltungen vor Luisens stets angeregten Blicken hin, und ließ sie zu keiner eigentlichen Anschauung oder innren Betrachtung kommen.

Nach wenigen Stunden erschien die Baronin, von Emiliens Ankunft benachrichtet, diese abzuholen. Luisens Unglück hatte sie versöhnt. Alles, was sie deshalb gesagt und nicht gesagt hatte, war eingetroffen; ihr tiefer Blick in die verworrnen Welthändel gerechtfertigt, und sie selbst als weise Menschenkennerin anerkannt. Ihres hohen Ansehns bei Luisen gewiß, empfing sie diese mit leutseliger Herablassung, und lud sie sogar zu einer Abendversammlung des kommenden Tages bei sich ein, welche sie, wie sie hinzusetzte, sogleich in die rechte Bahn bringen und mit dem Besten, was es in der Stadt gebe, bekannt machen würde. Nur Eins, Liebe, fuhr sie belehrend fort, muß ich Ihnen zuvor noch sagen, weil es einen entschiednen Einfluß auf Ihren Succeß in der Gesellschaft haben wird; versäumen Sie es ja nicht, den ältren Frauen mit der gesuchtesten Aufmerksamkeit entgegenzutreten, weil sie es sind, die den Ruf der Jüngern gründen und ihn allein bei den schwankenden, durch augenblickliche Eindrücke bedingten, Meinungen erhalten. 92Die Männer werden unbewußt von diesen Orakelsprüchen beherrscht, die erst als vielfach bearbeitete allgemeine Stimme der Welt zu ihnen dringen und den die hellsehendern, jüngern Frauen nicht zu widersprechen wagen. Luise wußte nicht recht, ob sich ihre Beschützerin zu der Classe der Matronen zähle, und vermied daher, anders als durch eine dankende Verbeugung, zu antworten, da sie doch in sich sehr entschlossen war, die Achtung keines Menschen zu erschleichen, und alles dem günstigen oder ungünstigen Eindruck überlassen wollte, den ihr Erscheinen auf die Herzen machen werde.

Nicht ohne Verlegenheit trat sie indeß des andern Tages an der Baronin Hand in den glänzenden Kreis. Eine Menge unbekannter Namen überhörend, welche ihr die gastliche Wirthin nannte, bemerkte Luise nichts als dasselbe höfliche Lächeln, das von Mund zu Mund nach jedem Bewillkommungsgruße flog, und wie ein gebrochner Stral über alle Gesichter zuckte, ohne eine bleibende Spur zurückzulassen. Vergebens suchte Luise ein Auge, auf welchem das ihre ruhen könne. Dieselbe theilnahmlose Hingebung an die oft genoßnen, wiederkehrenden Freuden trieb die Blicke gleichsam hin und her, und goß einen Schein des Gleichartigen über alle Gestalten. Um sie bekümmerte man sich nach der ersten Begrüßung weiter nicht. Sie war93 weder Ausländerin, noch unter der schützenden Aegide dieser Gesellschaft erzogen; ein deutscher, unbefreundeter Name verhallte wie er genannt war. Auguste und Emilie mußten alte Bekannte aufsuchen; die Baronin war vielfach beschäftigt. Zum erstenmal im Leben empfand Luise eine demüthigende Zurücksetzung. Im Kampf mit dem Streben, eine würdige Haltung zu behaupten, und dem Gefühl, daß diese in der wachsenden Verlegenheit immer mehr schwinde, trat Stein zu ihr. Ein herzliches Wort, das unmittelbar aus dieser offnen, reinen Seele in die ihre überging, rückte sie schnell über den Druck des Augenblicks hinaus. Sie sprach innig und frei, indeß das tonlose Rauschen der Menge sie umschwirrte.

Die Baronin hatte dennoch, ihrer Menschenkenntniß vertrauend, einiges über Luisens Schicksal fallen lassen, wodurch sie diese den Gemüthern ganz unvermerkt näher rückte, und ihre Aufmerksamkeit gewann! Die alten Damen sahen in ihr ein unglückliches Opfer heutiger Verderbniß, die jüngern fanden sie sehr interessant, den Zug stiller Schwermuth um den schön geschweiften Mund unwiderstehlich, und die Männer bemerkten, ein frühzerstörtes häusliches Glück sei eine Brücke, die über das weite Meer conventioneller Formen und lästiger Versuche, unmittelbar in die Gunst der94 Frauen führe. Desto besser, sagte ein junger Offizier, dem eine Dame Luisens Geschichte schon ziemlich verstellt erzählte, desto besser,

La vertu est une isle escarpée et sans bord
On n’y peut plus rentrer, dès qu’on en est dehors.

Abscheulich! rief die Dame, konnte sich aber doch nicht enthalten, dem liebenswürdigen Freigeist einen schmeichelnden Blick zuzuwerfen.

Unvermerkt hatte sich indeß um Luisen ein kleiner Kreis von Frauen und Männer versammelt, die, im Gespräch mit Emilien, sich an sie und Stein anschlossen. Mit Bewundrung bemerkte Luise unter ihnen eine schöne weibliche Gestalt, deren edle Haltung und Züge ihr bekannt schienen, und sie dunkel in die Vergangenheit zurückführten. Eine große innere Bewegung arbeitete unverkennbar auf dem feinen Gesichtchen, und trieb ihre Blicke unwillkührlich zu einen zartgebildeten, schlanken Mann, dessen weiches abgespanntes Wesen seltsam gegen die Uniform abstach, die er auch nur des herkömmlichen Gebrauches wegen zu tragen schien. An einen Pfeiler geschmiegt, gleichsam um sich selbst tragen zu helfen, sagte er mit vorgebeugtem Kopfe und leiser Stimme zu Emilien: Sie sind so glücklich gewesen, einige Zeit in der95 Einsamkeit auf dem Lande zuzubringen, während mich das Leben hier fast erdrückte.

Noch immer die alte Unzufriedenheit! rief Emilie lachend. Wie kann es anders sein, erwiederte jener, dies abgenutzte Treiben hier, das mich wie ein Ball hin und her wirft und alle Ruhe und allen Genuß raubt, preßt mir oft die Brust so zusammen, daß ich mein ganzes Verhältniß zerbrechen und in irgend einen Winkel der Erde fliehen möchte, wo ich wenigstens allein sein könnte, wenn ich will! Aber mein Gott, Sie ungalanter Mensch, was quält Sie denn bei uns? fragte Emilie. Alles! rief er; mein Stand, die ganze Welt, alles was Ansprüche an mich zu haben glaubt und mir meine Ruhe mißgönnt. Seine Blicke gleiteten während dem nachlässig an Luisen hin, und fielen wie von ohngefähr auf die schöne Frau, die, eine Thräne zerdrückend, angelegentlich mit Stein zu sprechen schien. Auf Ehre! Horst, rief jener freigesinnte, Offizier, schon mehreremal von Emilien als der hübsche Baron Roll erwähnt, der seiner höhern Taktik zu Folge Luisen näher gerückt war, auf Ehre, Sie werden ein Menschenfeind! Was haben Sie nun gegen unsere Stadt? Mich dünkt, Sie und ich hätten nicht über sie zu klagen; oder rechnen Sie den reichen Schatz von Erfahrungen, den wir gegen ein paar mißmüthige Stunden96 eintauschten, für nichts? Auf Ehre, ich gebe ihn um meinen ganzen Credit nicht weg, der denn doch der eigentliche Point unsrer Existenz ist. Und, Luisen fixirend, ohne sich ihr gleichwohl vorstellen zu lassen, fuhr er, wie unter bekannter Voraussetzung fort: Sie, Frau Gräfin, werden mir gewiß in Kurzem Recht geben, wenn Sie unsre Welt mehr kennen lernen. Sie waren noch nicht im hiesigen Theater? Sie sahen noch nicht Richter und die schöne Antonie spielen? Luise hatte kaum Zeit es zu verneinen, als er, sich zu Stein wendend, aufs neue anhub: A propos, man will uns ja den Shakespear nun auch goutiren lehren; ich denke man spricht von einer Vorstellung Heinrich des Vierten. Da werden wir Offiziere nur gleich Urlaub nehmen müssen, um den Schluß zu hören, denn solch Stück spielt seine 24 Stunden in einer Angst weg. Er lachte laut über den glücklichen Einfall, der den Andern schon bekannt war, und als vielfach bewundert, das Patent des Witzes erhalten hatte. Ich glaube selbst, entgegnete Stein, daß sich der Shakespear weder für unsre Bühne, noch unser Publikum paßt. Des Komischen wegen? fiel Auguste ein. Sein Sie versichert, wir verstehn die privilegirten wie die anderweitigen Spaßmacher zu würdigen. Roll verschmerzte den Stich, und wandte sich ausschließend an Luise, die er mit einem Heer unbedeutender Fragen bestürmte. 97Horst schwankte indeß mit unsichren, schleichenden Schritten zu der Dame, welche Luisens Aufmerksamkeit früher erregte. So in Gedanken, Frau von Seckingen? fragte er lächelnd, was beschäftigt Sie so ausschließend? Der Wechsel der Dinge, entgegnete sie, nicht ohne Heftigkeit. Unbesonnene, flüsterte er, und wandte sich unwillig ab.

Eine kleine Bewegung in der Gesellschaft ließ hier auf die Ankunft eines neuen Mitgliedes derselben schließen. Luisens Herz klopfte unwillkührlich; sie dachte dunkel[an den] Unbekannten, an Fernando, als Frau von Seckingen ausrief: ach, mein Bruder! und die Baronin in dem Augenblick, von dem russischen Obristen begleitet, vor Luise trat, erfreut, ihr einen alten Bekannten zuzuführen. Ohne irgend eine schmerzliche Erinnrung zu berühren, begnügte sich der gewandte Mann, den gegenwärtigen Augenblick allein herauszuheben und eine Reihe froher Bilder einer glücklichen Zukunft daran anzuschließen, welche ihm Luisens Anwesenheit in der Residenz versprach; dann das Gespräch immer leichter und freier verschlingend, zog er bald die anmuthige Schwester mit hinein, deren Herz sich willig so freundlicher Berührung öffnete, seit sie nichts mehr unmittelbar störte, da Horst gleich nach des Obristen Ankunft verschwand. Luise fühlte sich in der kunstlosen, wie von selbst fortlaufenden, Unterhaltung98 immer behaglicher, und trat zwischen den beiden edlen Gestalten fest und sicher auf die glatte Fläche der neuen Welt hin, die sie vor wenig Augenblicken noch erschreckte. Allein je mehr ihre Theilnahme für beide Geschwister wuchs, je mehr beunruhigte sie das Schicksal der bekümmerten Frau, welches ihr noch drückender schien, seit der Obrist sagte: Liebe Sophie, Dich erwarten Briefe von Deinem Mann. Er hat mir auch geschrieben, und sagt, daß seine Geschäfte ihn noch lange in Paris aufhalten könnten. Der Mann lebt noch? dachte Luise; also wieder eine mißrathene Ehe! und sicher ein edles Herz, das sich selbst täuscht! Dieser Gedanke fiel störend in ihre Freude, und hätte fast die alte Wehmuth wieder angeregt, da sie in demselben Augenblick Stein an Emiliens Seite, mit allen Zeichen unbefriedigter Sehnsucht, wahrnahm, und hier auf beiden Gesichtern auf’s neue das Aushängeschild einer verfehlten Wahl sehen mußte; allein des Obristen freundliches Bemühen hob sie bald über jene beunruhigende Betrachtungen hinaus. Diese hohe, klare Erscheinung, auf der ein vielfachgestaltetes Leben keine Spur zerreißender Leidenschaften oder verfehlten Strebens zurückgelassen hatte, schien, in ihrem milden Ernst, recht dazu geeignet, Luisens Achtung zu erzwingen, die sich auch bald eines kindischen,99 durch zufällige Verirrungen angeregten, Unglaubens schämte, und sich voll Heiterkeit den beseligenden Einflüssen einer entstehenden Freundschaft hingab, ein Wechsel, der Augusten nicht entging, und ihr für diesen und viele folgende Tage Anlaß zu Neckereien und nicht immer ganz schmeichelhaften Anmerkungen gab. So nannte sie Sophie ziemlich unzart eine phantastische Thörin, die unaufhörlich die Liebe mit dem Gegenstande derselben verwechsle, und ihr daher bald Altäre, bald Gräber erbaue. Ich verstehe Sie nicht, sagte Luise empfindlich. Nun, entgegnete sie, alle Frische, Kraft und Göttlichkeit des Gefühls meint sie in dem geliebten Manne zu finden, und wenn denn nun nach und nach die mangelhafte Natur hervorsieht, und das Traumbild ein ordinärer Mensch wird, dann erhebt sie ein Geschrei und hüllt sich in Trauerschleier, und klagt über das trügerische Spiel der Liebe. Warum sieht sie im Sperling den Paradiesvogel? Ich begreife, fuhr sie fort, daß ein ungeprüfter, vielleicht überall stumpfer Blick sie verwirren kann; aber was quält sie sich denn noch nach erkannter Täuschung? und warum will sie diese mit Gewalt auf Kosten ihres eignen natürlichen Gefühls erhalten? Was ist es denn weiter? sie hat sich geirrt; lasse sie den Irrthum fahren und sehe sich nach Wahrheit um. Luise100 hatte es sich längst des Streitens mit ihr begeben. Sie schwieg, und begnügte sich, wie herabsetzend auch jene Worte klangen, sich nur fester und vertrauender an Sophie anzuschließen, deren zarter Sinn und treue Anhänglichkeit für das einmal Erwählte sie, trotz des sichtlichen Mißgriffs ihrer Wahl, höchst liebenswürdig machte. Luise übersah oder schob auf die allgemeine Verwirrung menschlicher Gefühle und Verhältnisse, was sie nicht billigen konnte, und neigte sich ohne Rückhalt zu einem Herzen, das im Mißverstehn selbst noch so groß und tief empfand.

Mehrere Zeit hatte es Luise vermieden, in das Schauspiel zu gehn, aus geheimer Furcht, in dem Unbekannten Fernando wiederum anzutreffen. Endlich mußte sie indeß den wiederholten Bitten ihrer Bekannten nachgeben, und so ließ sie sich wirklich von Auguste in ihre Loge führen. Das erste Störende, was sie von hier aus erblickte, war Werner, der, sie erkennend, ohne Zeichen der mindesten Verlegenheit zu ihnen eilte, und sie ganz in seinem gewohnten Ton begrüßte. Diese Ruhe drückte die ganze Vergangenheit in die dunkelste Tiefe. Luisen war, als sei eine lange Reihe von Jahren verflossen, seit sie Werner sah, und die damals gehemmte Ordnung längst wieder im alten Geleis. Nicht lange darauf trat auch Baron Roll zu ihnen101 in die Loge. Er that sehr vertraut mit Werner, der ihn mit komischer Freundlichkeit empfing, gleichsam als thue es ihm wohl, die geschärften Blicke eine Zeitlang auf jener flachen Unbedeutendheit ausruhen zu lassen. Das Stück hätte allenfalls Aufmerksamkeit verdient, allein Roll ließ es bei Keinem, außer bei Augusten, um die er sich niemals bekümmerte, zu einen gesunden Gedanken kommen. Sehn Sie um Gottes Willen! rief er ganz empört, hat die Reinhart nicht rothe Schuhe an! bei dem großen Fuß! Es ist, auf Ehre, unbegreiflich! Sein Mund verzog sich fast wehmüthig. Das allerliebste Mädchen! rief er, und so schimpfirt! Kaum gewann ein Lieblingsschauspieler so viel über ihn, daß er einige Augenblicke schwieg; dann aber beugte er sich zu Werner und sagte ihm vertrauend: wenn ich so glücklich sein könnte, den Richter nur einmal zu frisiren, er sollte wahrhaftig anders aussehn! Hm entgegnete jener ganz kalt, das ließe sich vielleicht machen. Luise konnte sich trotz ihres Ingrimms des Lachens nicht erwehren, ein Muthwille, den Roll sehr bald, ohne es zu wissen, rächte, indem er zu Werner sagte: haben Sie schon gehört, daß unser hübscher Italiener wieder hier ist? Luise fuhr unwillkührlich zusammen. Werner bemerkte es, und sich gegen das Innre des Hauses vorbeugend, sagte er: in der102 That, da sitzt er ja! Luise war seinen Blicken gefolgt, die sich nach dem Parterre richteten, und ohne zu wissen wen er meine, heftete sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf einen jungen Mann, der, in nachlässiger Stellung, halbliegend saß, den Arm auf die Lehne des benachbarten Sitzes gestützt, und so, das abgewandte Gesicht in der aufwärts gerichteten Hand ruhend, angelegentlich mit einer hübschen Nachbarin sprach. Ich werde ihn morgen bei der Seckingen einführen, sagte hierauf Roll, er wird unsere Damen mit seinen kleinen Talenten amüsiren. Das thun Sie doch, erwiederte Werner, und verließ, da das Stück bald zu Ende war, gleich darauf mit Roll die Loge.

Vergebens hatte Luise bis dahin auf eine Wendung des ängstlich beobachteten Kopfes gewartet; jetzt, da alles aufstand und das Gedränge immer mehr zunahm, schwankten die Gestalten verworren und unsicher umher. Sie konnte nichts bestimmt unterscheiden; allein je mehr ihr die Mittel fehlten, sich zu überzeugen, je überzeugter ward sie in sich. Es war Fernandos Stellung, sein dunkel gelocktes Haar; sie durfte nicht zweifeln. Halb entschlossen, die morgende Gesellschaft nicht zu besuchen, gedachte sie mit Unruhe des Obristen, und erwog, wie seltsam, wenn es Fernando wirklich sei, man ihr Ausbleiben deuten, wie auffallend es erscheinen103 müsse, daß sie früher von seiner Anwesenheit unterrichtet gewesen. Das Für und Wider abwechselnd annehmend, fuhr sie endlich des folgenden Abends sehr spät zu ihrer neuen Freundin. Es ward getanzt, und sie fand alles in fröhlicher Bewegung, als sie mit gesenktem Blick, flüchtig durch die Zimmer hin, in ein kleines Cabinet eilte, wo sie nur ältere Damen am Spieltisch wußte. Bleich und zerstreut setzte sie sich neben die Baronin, welche diese Auszeichnung als eine schuldige Aufmerksamkeit gütig aufnahm. Indem trat Emilie, erhitzt vom Tanzen, herein, und flüsterte ihr leise zu: wissen Sie, wer hier ist? Ich weiß, ich weiß, entgegnete sie in tödtlicher Angst. Sie wissen? woher denn? fragte Emilie. Gestern erwiederte Luise; ich kann jetzt nicht. Denken Sie sich, fuhr jene fort, die Wirthin hat uns dennoch verrathen; er sah den Abend, als wir aßen, durch die Thür, welche die Wirthin ein wenig auf ließ. Er hat mir’s selbst gesagt; gleich auf den ersten Blick hat er mich erkannt Sie? fragte Luise, Sie allein? Nun, er wird Sie auch erkennen, erwiederte Emilie; aber sehn Sie, da ist er. Luise hatte nicht das Herz, die Augen zu heben. Rolls Stimme zwang sie endlich, aufzublicken. Sie hörte einen unbekannten Namen, sah ein ganz fremdes Gesicht, eine zarte, fast unausgebildete Gestalt. 104Kaum gewann sie so viel Fassung, ihr Befremden zu verbergen und einige wohlgewandte an sie gerichtete Worte des Fremden zu beantworten.

Wen aber, liebe Emilie, meinten Sie denn zuvor? fragte sie diese, noch ganz unsicher und verlegen, als die beiden Herren sie verließen. Wen? Nun mein Gott, erwiederte jene, den jungen Cesario, unsern Reisegefährten, den Unbekannten im Gasthofe; wen anders? Dieser also war es! sagte Luise zerstreut. Gott ja, fiel Emilie ein, ich glaubte Sie wüßten Freilich, freilich, erwiederte Luise, ohne zu wissen was sie sagte. Dieser also! wiederholte sie mehreremale vor sich. Es ist doch seltsam! Sie erinnerte sich der Worte, die er gesprochen, und daß er bestimmt Fernandos Namen genannt hatte. Sein Freund also, dachte sie, und ein besorgter, zärtlicher Freund! Aber wie wagt er sich mit dieser Jugend und Unerfahrenheit so allein in die Welt und auf die unsichre Spur eines so beweglichen, ewig getriebnen Menschen!

Des Obristen Blicke, die sie schon längst gesucht, trafen sie hier. Er näherte sich schnell, und fragte fast bekümmert: warum kamen Sie doch so spät? Ich hatte mich so auf diesen Abend gefreut und nun ist alles voller Widersprüche! Sophie ist plötzlich unpäßlich geworden, und hat sich entfernt; auch Sie sehn bleich und angegriffen aus. Darf105 Ihr Freund wissen, was Sie beunruhigt? Doch, setzte er lächelnd hinzu, wir sollten uns hüten, die Geheimnisse der Frauen an uns zu reißen, sie verletzen uns oft, ohne daß wir sie verstehn. Weil sie zu unwichtig oder zu bedeutend sind? fragte Luise. Gewiß das Letztre, erwiederte er. Ihr ganzes Innre ist ein unendlich zartes, geheimnißreiches Gewebe, dessen luftige Fädchen sich so wunderlich verschlingen, daß sie oft ein gewagter Blick zerreißt, und sie sich, wie die Blumen, vor so rauher Berührung verschließen; der eigentliche Schmuck, der Blüthenstaub ihres Innern, bleibt uns daher fast immer fremd. Ihren Blick, sagte Luise sinnend, wie aus voller Ueberzeugung, würde ich niemals scheuen. Gewiß? fragte er; auch dann nicht, wenn ich Sie bäte, mir zu sagen, was Sie gestern so ängstigend im Schauspiel beschäftigte, da Sie niemand, auch Ihre Freunde nicht, erkannten, und noch beim Herausgehn meinen Gruß unerwiedert ließen? Auch dann nicht, erwiederte Luise nach augenblicklichem Nachdenken, nur fragen Sie jetzt nicht weiter; morgen, oder wenn Sie wollen. Nein, meine gütige Freundin, erwiederte er bewegt, ich werde nicht weiter fragen. Glauben Sie mir, diesmal habe ich Sie verstanden. Unsre Organe werden feiner, wenn wir sie in das reine Element der Liebe tauchen. Luise erröthete; er selbst schwieg,106 wie erschreckt, über das rasch entschlupfte Wort. Nach einer Weile fragte er sie, um sich selbst zu entgehn, ob sie nicht tanze. Nie wieder, sagte sie schnell, in der Erinnrung jenes Abends, da sie Fernando in wilder Heftigkeit von seiner Seite riß. Nie wieder? entgegnete er; auch hier, fuhr er fort, liegt Ihr reines Herz so offen da, daß ich Sie um keine Erklärung zu bitten habe. Mich beunruhigt Ihre Schwester, sagte Luise verlegen; wollten Sie mich wohl zu ihr begleiten? Sie nahm des Obristen Arm, und eilte in Sophiens Cabinet, wo sie die schöne Frau sehr zerstört, und in sichtlicher Anstrengung, sich wieder herzustellen, fanden. Der Obrist schloß sie gerührt in seine Arme und verließ schweigend das Zimmer; aber Sophiens Schmerz brach in unzähligen Thränen aus. Klagend sank sie an Luisens Herz. Sie sprach von Horst, ihrer Liebe, seinem jetzigen schneidenden Betragen, und zog zuletzt ein Billet hervor, das sie eben erst, nach vielen vergeblichen Bothschaften, als Entschuldigung seines Ausbleibens, von ihm erpreßt hatte. Luise las Folgendes:

» Je déteste les propos du monde, je n’aime pas à ètre cité, voilà la raison de ma conduite «

Wollen Sie mit Ihrem Blut dies welke Herz nähren? rief sie empört. O um Gottes Willen, achten Sie sich doch höher. Sehn Sie nur, wie107 die conventionelle Sprache selbst den groben Sinn nicht verbergen konnte, der sicher nie in Ihr Innres drang! Ach sie sind Alle, Alle nicht anders! jammerte Sophie. Alle? fragte Luise; auch Ihr Bruder? Dieser trat eben jetzt wieder herein. Wenn es Dir doch möglich wäre, sagte er, sich zwischen beide Freundinnen setzend, zur Gesellschaft zurückzukehren, man vermißt Dich überall. Du leidest, fuhr er fort; ich darf nicht fragen, was Dich quält. Liebe Sophie, sei weniger verschlossen! Sieh! hier habe ich noch eine Schwester, die meine Theilnahme nicht zurückstößt. Er hatte Luisen bei der Hand gefaßt und blickte gerührt auf sie hin.

Muß ich denn, sagte Sophie sanft, mein Innres nicht vor mir selbst verschließen? Und was gewönnest Du, in die Verwirrung hineinzusehn, wo eines das andre zerstört und keines das rechte ist? Ganz anders ist es mit Luisen; ein großer Schlag des Schlag des Schicksals hob sie über so peinigende Kämpfe hinaus. Für sie beginnt ganz eigentlich ein neues Dasein, dem sie mit jugendlicher Ungeduld eine sichre Richtung zu geben sucht. Ihr Gemüth ist frisch und wach, deshalb versteht sie Dich, und scheuet Deinen Blick so wenig, daß es ihr vielmehr wohl thut, ihm zu begegnen. Luise reichte sittig, vor den Obristen hingebeugt, ihre Hand der Freundin, die, bei eignem getrübten Denken,108 die fremde Brust dennoch klar durchschaute. Mit tiefer, innrer, Bewegung fühlte der Obrist die schöne Gestalt seinem Herzen so nahe. Wie aus sich herausgedrängt, sagte er, die dargebotne Hand schnell erfassend: wenn es wahr wäre, liebe Luise, wenn Sie mich verstanden, wenn Sie mich auch jetzt verstehn ? Heiliges, fast demüthiges, Entzücken zitterte durch Luisens Seele. Sie hob ihre Augen zu den hellen Blicken, die sie so wahr in ihrem eignesten Wesen auffanden; nichts trübte, nichts vervielfachte auch jetzt ihr friedliches Licht; ein Bote des Himmels hatte zu ihr geredet. Einen Augenblick schwieg sie, durch so wundersame Fügungen ergriffen. Nein gewiß, sagte sie endlich, gewiß, ich kann Sie nicht mißverstehn! O Gott! rief der Obrist, beide geliebte Wesen sanft umschlingend, so laß mich sterben! Ihr armen, wunden Seelen, heilt Euch in meiner Liebe, deren stilles Feuer ewig so rein glühen wird.

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Drittes Buch.

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Jedes, was in unsichtbarem Zusammenhange, unvorbereitet, in das Leben eines Menschen eingreift, und das über dasselbe für den Augenblick bestimmt, scheint die Vergangenheit gänzlich von der Gegenwart loszureißen, und aus dieser eine neue beginnende Welt hervorzurufen. So schwanden auch jetzt alle frühere Störungen aus Luisens Seele. Ohne Kampf, wie ohne große innere Bewegung, gab sie sich der stillen Gewalt einer Neigung hin, die, wie alles Schöne und Herrliche, aus der Wurzel des Daseins entspringend, ihr Gemüth erweiterte und erhellte. Sie sann und erwog weniger als je, aber das Beste stand ihr immer ganz nahe, und sie erkannte und ergriff es mit frischem Sinn. So fügte sich in des Obristen heitrer Nähe alles wie von selbst, und ihr Verhältniß zu ihm, ohne gerade eine bestimmte äußre Form zu haben, ward durch so milden Einfluß unwillkührlich dichter und in sich unauflöslich.

Ein auf solche Weise heilig gehaltener, innrer112 Verein konnte indeß den Augen der Welt nicht entgehn. Der Obrist war eine zu bedeutende Erscheinung in ihr, seine Verbindungen blieben nicht unbeobachtet, und es konnte daher nicht fehlen, daß eine große Auszeichnung als entschiedne Wahl angenommen ward. Allein diese Auszeichnung hob auch Luisen sogleich über jedes Schwanken der Meinungen hinaus. Ihr Platz in der Gesellschaft, durch die Gunst des Schicksals bezeichnet, war nun eingenommen; jeder Zweifel schnell gelöst, jede Muthmaßung beseitigt. Die Männer schwiegen da, wo nur eine bedeutende Stimme das Recht hatte, zu sprechen; und die Frauen durch Klugheit gehalten, räumten willig Vorzüge ein, wo ein Tadel ihr Urtheil verdächtig gemacht hätte. Alles trat daher Luisen schmeichlend entgegen. Selbst Auguste hörte auf zu spötteln und ließ sie ruhig gewähren. Aber vor allen war die Baronin bemüht, ihren Beifall zu äußern. Durch häusliche Sorgen und Verwicklungen geängstet, wandte sie sich gern zu der wiederkehrenden Ordnung eines vormals so verworrnen Daseins, und nicht ohne innre Behaglichkeit schrieb sie der eignen Mitwirkung einen Theil dieser heilsamen Veränderung zu. Luise gönnte ihr gern diese kleine Beruhigung, da ohnehin so manches ihren Erwartungen und Plänen entgegenstrebte. Denn es war nicht zu verkennen,113 wie rücksichtslos auf Stein und andre Verhältnisse sich Emilie einer entstehenden Neigung für den jungen Cesario hingab. Ein launenhaftes, zweideutiges Wesen, das weich und schmeichelnd in die Gunst der Frauen hineinschlüpfte, und sie bald darauf, wie die ganze übrige Welt, in düstrem Ernst zurückwies. Niemand konnte bestimmen, ob innre Unhaltbarkeit oder irgend eine Absicht diesem wechselnden Spiele zum Grunde lag. Allein, wie man auch tadeln mußte, so fühlte sich doch ein Jeder auf irgend eine Weise davon angesprochen. Oft erschien er so mild, aus den feuchten Blicken drang eine Sehnsucht, die sich unwillkührlich an jedes Herz legte. Aber plötzlich sprühete ein wunderliches Feuer aus Aug und Mienen, er drang mit Ungestüm aus sich selbst heraus, sang, improvisirte, zog die Gesellschaft in seine bunte Phantasieen hinein, indem er sinnvolle Tänze und Pantomimen anordnete, denen er einen ganz eignen Charakter von Wehmuth und Lust zu geben verstand. Alles strömte dann aus den fernsten Spielzimmern herbei. Man stand in gedrängten Kreisen um ihn, und rief ihm laut und ungetheilt Beifall zu. Nur der Obrist betrachtete ihn schweigend, voll mitleidsvollem Ernst, und sagte einst zu Luisen gewandt: fühlt denn niemand, wie sich das zarte, fast noch kindische, Geschöpfchen zerreißt, um ein innres Uebel zu ertödten! Luise gedachte114 ihres ersten Zusammentreffens im Gasthause. Diese Erinnrungen, wie überall die ganze räthselhafte Erscheinung, mußten sie drücken. Es war ihr unmöglich, Cesario ohne ein ängstigendes Gefühl zu betrachten, das vergebens einen bestimmten Eindruck aufsuchte und sich dennoch nicht gleichgültig abwenden konnte.

Was sie indeß störte, zog Emilien um so bestimmter an. Ihr kleines Herz ließ sich gern von den neckenden Widersprüchen hin und her werfen. Der Wechsel war ihr rechtes Lebenselement, dem sie freudig Ruhe, häuslichen Frieden, ja selbst den äußren Anstand, aufopferte. Ihre eigenste Natur schien sich in dem Umgange mit Cesario nur erst recht zu entwickeln. Wie ihre zarte, biegsame Gestalt und die Weichheit und Rundung ihrer Bewegungen sie zu seiner steten Gefährtin bei Spielen und Tänzen machte, so fügte sie sich mit der gleichen Leichtigkeit in die scharfen Uebergänge seiner jedesmaligen Stimmung. Ja, sie theilte nicht etwa nur seine Schmerzen und Freuden, sie nahm sie ganz in sich auf, und empfand sie völlig und innig wie er.

Stein trug ein klares Bild von Emilien in seiner Brust. Er konnte es sich nicht bergen, wie viel ihr alles Neue, wie wenig er ihr war. Allein die Liebe zu ihr lähmte jeden kräftigen Entschluß. 115Er weilte in ihrer Nähe, sich überredend, er hoffe auf irgend eine günstige Veränderung; was überall wandelbar sei, könne sich ja auch zu ihm wenden, und vielleicht sei dann der bunte Kreislauf vollendet, und das Bleibende erzeuge sich von selbst. Dennoch wagte er es nicht, eine festere Verbindung für den Augenblick zu wünschen, ja er rückte den Gedanken daran in die bessere Zukunft hinaus, an die er nicht glauben, auf die er nicht hoffen konnte. So hielt er sich in einem selbst geschürzten Netz gefangen, erwartend und verzweifelnd, mit wundem Herzen und überreiztem Gemüth, das nur einer bestimmten Veranlassung bedurfte, um alle verhaltne Bitterkeit gegen den überlästigen Cesario auszuströmen.

Bei weitem ruhiger schien der Maler Emiliens doppelte Treulosigkeit anzusehn. Für den Winter in die Residenz zurückgekehrt, lebte er allein der Kunst, wenig bekümmert um irgend etwas außer ihr. Allein Werners geschärfter, mehr spürender als forschender Blick, der jedes, was er im Laufe des Lebens irgendwo berührte, wieder anfassen und an sich ziehn mußte, hatte ihn in seiner Stille aufgefunden. Er drängte sich an ihn, und führte ihn, unter mehrern Bekannten, auch zu Augusten. Hier hatte Luise öfters Gelegenheit, den Gleichmuth des jungen Künstlers zu bewundern, da niemand, außer116 ihr, mit seinen Verhältnissen bekannt, es vermied, über Emilien und ihre Verirrungen zu reden. Selbst Auguste schonte ihrer Freundin so wenig, daß sie sich lachend über den Spott des Schicksals ausließ, welches gewollt, daß ein unbärtiger Knabe das Gewebe der klugen Sybille höchst keck zerreiße, und sie zwinge, das Töchterchen in die Arme des ungekannten Fremdlings zu legen, um dem lästigen Gerede Einhalt zu thun. Der Maler schwieg meist ohne ein Zeichen besondrer Theilnahme; nur diesmal erwiederte er: dahin wird es nicht kommen. Sein Sie versichert, Emilie täuscht sich, und muß in Kurzem selbst davon überzeugt werden. Er sagte das sehr gefaßt, und mit einer Zuversicht, die Werners Aufmerksamkeit erregte. Allein da er sogleich wieder abbrach, so ließen auch die Andren das Gespräch fallen, ohne daß es zu einer nähern Erörterung kam.

Wenn Luise die Menschen um sich her, in ihren verschiednen Beziehungen zu einander, betrachtete, und dann auf sich selbst zurücksah, so mußte sie oft erstaunen, wie ganz anders, milder, verwandter, ihr alle erschienen. Recht wie Gestalten, die uns am Vorabend, bei hereinbrechender Nacht, mit unheimlichen Schauern erfüllten, und nun am vollen Tage klar und befreundet auf uns zutreten. Was sie sonst erschreckte und die innre Unsicherheit117 mehrte, fiel, wie von selbst, von dem vielen Guten und Erfreulichen ab, was sie wohlthuend zu der Welt zog und den Frieden mit ihr begründete. Selbst mit Werner war sie im Herzen versöhnt, seit sie ihm auf keine Weise scheuen durfte. Cesario allein ließ sie niemals frei von jener früher empfundnen Bangigkeit deren sie, mit aller Anstrengung, nicht Herr werden könnte.

Als sie sich einmal recht lebhaft dieser Schwäche schämte, da erinnerte sie sich, wie leicht ein geheim gehaltenes Gefühl dem schönsten Verhältniß Gefahr drohe, und wie wohl größeres Vertrauen ihr und Julius Glück gesichert hätte. Sie konnte nicht anstehn, in des Freundes treue Brust die letzte, kleine Sorge niederzulegen. Dennoch geschah es nicht ohne einige Verlegenheit, daß sie ihrer frühesten Bekanntschaft mit Cesario und des belauschten Selbstgesprächs im Gasthofe gegen den Obristen gedachte. Seitdem, fuhr sie mit gesenkten Augen fort, befällt mich eine Unruhe, so oft ich ihn sehe, die jene zurückruft, weiche lange das Unglück meines Lebens machte. Der Obrist hatte ihre Hand gefaßt, und sahe mit leutseligem Ernst in ihr anmuthig verschämtes Gesicht. Meine Luise, sagte er, es ist ja dies ihr eigenthümliches Wesen, daß Sie niemand in Ungewißheit über sich lassen können, als den, der sich selbst täuscht. Sie sagen mir daher118 nichts Neues. Ich habe Sie immer verstanden. Wie sollte es mir entgangen sein, daß Ihnen Cesario, durch irgend eine innre Ideenverbindung, Fernandos Bild zurückwirft. Ich möchte Sie beruhigen können, wenn ich Ihnen sage, daß die Unklarheit der Erscheinung es ist, welche den trüben Eindruck erzeugt. Offenbar ist etwas da, was Sie anspricht, aber Sie wissen es weder in noch außer sich in einem bestimmten Zusammenhang zu denken. Es steht losgerissen da, und schwankt nach den entgegengesetztesten Richtungen. Das ist es, was Sie verwirrt. Denn gewiß ist es das Unzusammenhängende allein, was uns im Leben stört. Könnten wir die Geschichte der Welt und jedes einzelnen Wesens in ihrer natürlichen Verbindung zu einander entstehn und fortschreiten sehn, der Faden des verworrnen Knäuels ließe sich, ganz leicht, ohne willkührliches Abreißen und Verknüpfen, abrollen, und der Mensch hörte auf, so einzeln und so feindlich der Natur und sich gegenüber zu stehn. Deshalb lassen Sie sich auch jetzt nicht beunruhigen. Haben Sie überall nur Acht auf das, was in Ihnen vorgeht, und können Sie das scheinbar Störende in irgend einen Einklang mit sich selbst bringen, so lassen Sie es ruhig walten. Sie drängen es vergebens weg, wie unbequem es auch die gewohnte Weise durchkreuzt.

119

Luise erinnerte sich ähnlicher Worte Fernandos, zwar in ganz individueller Beziehung gesprochen, aber dennoch geeignet, sie für den Augenblick in eine höchst verwerfliche Ruhe zu wiegen. Wie leicht, unterbrach sie ihn, hintergehn wir uns aber selbst, und sehen das als zu uns gehörig an, was uns zerreißt und zerstört.

Dann, erwiederte der Obrist, kehren wir nur das eigentliche Verhältniß um. Wir geben uns dem Fremdartigen blindlings hin, und verleugnen uns so vor uns selbst. Der besonnene Mensch hingegen läßt das Ungekannte auf sich zu kommen, und wie es sich an sein innerstes Leben wagt, faßt er es mit scharfen Blicken an; ach liebe Luise! und wie bald zeigt es sich dann, was in höherer Natur über unser Wissen und Wollen gebietet. Mit welchem Rechte sagen wir daher, wir müsse der Stimme des Herzens folgen. Was man insgemein so nennt, das ist es nun freilich wohl nicht, was ich meine. Es spricht so vieles auf den Menschen hinein, daß er sich zuletzt selbst nicht mehr erkennt. Aber was so recht eigentlich aus dem Herzen heraufdringt, dem widersteht sicher Niemand. Wie wahr, fuhr er, sie umschlingend, fort, und wie höchst seltsam hat mich diese Stimme geführt! In welchem Augenblicke drückte sich Ihr Bild in mein Innres! Alles gebot mir, es daraus120 zu verdrängen. Ich versuchte es oft, aber als es immer wiederkehrte, habe ich es heilig gehalten, und treu bewahret wie ein liebes Geschenk des Himmels, das mich still entzücken und nie wieder verlassen sollte!

Luise hatte den Kopf in großer Rührung an seine Brust gelehnt. Er drückte sie fester an sich, und sagte, über sie hingebeugt: hier wird es nun ewig leben! Wie es auch kommen möge, dies Bild nimmt mir keine Gewalt der Erde, denn es ist mein geworden durch einen friedlichen Bund mit mir selbst.

Was soll kommen? fragte Luise besorgt; was mein lieber, lieber Freund, soll uns trennen?

Ach, liebe Luise, erwiederte der Obrist, wer darf das wissen wollen? Die Bedingungen unsers Daseins wie unsers Glückes greifen in Vor - und kommende Zeit hinein, und dennoch ist unser Gesichtskreis so eng gezogen, wir verstehn die Zukunft nie aus der Vergangenheit. Da liegt alles dunkel und in sich verschlungen. Wir dürfen es nicht anrühren, wenn wir die flüchtige Gegenwart nicht verscheuchen wollen.

Luise blieb einen Augenblick nachdenkend. Wäre es möglich, sagte sie darauf, daß meine zu große Offenheit Sie beunruhigt hätte?

Behüte mich der Himmel vor solcher Schwäche,121 fiel der Obrist schnell ein. Nein, o Gott nein! wie sollte mich beunruhigen, was der schönste Bürge meiner Ruhe ist. Liebe Luise, mißverstehn Sie mich doch ja nicht. Der Mensch thut nur wohl daran, im Uebermaße des Glücks sich den möglichen Wechsel als möglich zu denken.

Das war es nicht allein, sagte Luise, es war mehr als das. Ihr Ton drang so wehmüthig durch mein Herz, als ginge er von trüber Ahndung aus.

Jeder Blick in die Zukunft, erwiederte er, erinnert uns an die Wandelbarkeit des Glückes. Eben weil wir dort nichts Bestimmtes sehen, so tritt uns so vieles entgegen, wovon eines das andre zernichtet. Aber, was verderben wir denn die lieben, freundlichen Stunden durch so wunderliche Betrachtungen!

Luise war indeß in sich aufgeschreckt. Sie konnte sich nicht wiederfinden. Die Möglichkeit, den geliebten Freund zu verlieren, trat ihr plötzlich so nahe, daß sie ihn gar nicht von sich lassen wollte. Sie fürchtete, jeder Augenblick könne ihn ihr entreißen. Und als er nun ging, und sie ihm aus dem geöffneten Fenster, die Straße hinunter, lange nachsahe, bis er sich unter fremde Gestalten verlor, da war ihr, als sei die Straße der vor ihr liegende Lebensweg, auf dem ihr alles unbekannt122 erschien, bis auf das eine geliebte Wesen, das sich nun auch abwandte und sie verließ. Sie verlor sich immer mehr in diese Vorstellung, und ward nicht eher wieder froh, als bis der Obrist des folgenden Tages in einem reich verzierten Schlitten vor ihrer Thür hielt. Das Geläut der Glöckchen hatte sie an das Fenster gelockt. Sie schlug freudig in die Hände, als der schöne Mann von dem leichten Fahrzeuge springend, zu ihr hineilte.

Ich komme, meine Luise, sagte er im Hineintreten, Sie zu fragen, ob Sie sich wohl eine Stunde meiner Führung anvertrauen, und mich auf einer Spatzierfahrt begleiten wollen. Der klare stille Wintertag erinnert mich so lebhaft an mein Vaterland. Ich möchte diese Erinnerungen gern mit meinen liebsten Freuden vereinen. Könnten Sie sich wohl für Augenblicke mit Ihrem Freunde in den starren Norden versetzen?

Luise willigte ohne Weiteres ein, und in Pelz und Schleier gehüllt, eilte sie, an seinem Arm, der lustigen Fahrt entgegen. Zwei russische Knaben, fremd an Ansehn und Tracht, hielten zu Pferde neben dem Schlitten. Luise setzte sich hinein. Der Obrist breitete ein Tigerfell über ihre Füße, dessen Zipfel Goldfranzen einfaßten. Er selbst nahm sodann seinen Platz hinter ihr, und die Zügel leicht123 hebend, flogen sie pfeilschnell durch die Straßen und Thore der Stadt. Bald war diese weit hinter ihnen. Der geebnete Weg führte nach einem Walde, der sie plötzlich wie eine veränderte Welt umschloß. Ungleich thürmte sich der Schnee in großen Massen zwischen den Bäumen, die zum Theil ihre nackten Zweige starr in die eisige Luft streckten, oder die herabgezogenen Wipfel über einander neigten. Ueberall schien das Leben gewichen, hin und her sahe man auf der weißen Decke die Spur einzelnen Wildes. Freudig sprengten die Knaben mit wunderlich dumpfem Geschrei voran. Mein Rußland, rief der Obrist lebhaft! und lenkte den Schlitten immer tiefer in den wildesten Theil des Waldes.

Luise befand sich in einer Gegend, die sie früher nie betrat. Die Täuschung gewann immer mehr Gewalt über sie. Es war ihr wirklich, als ständen Vaterland und Freunde in unerreichbarer Weite, und alle losgerißne Banden schlängen sich einzig um den geliebten Mann, dem sie vertrauend unter rauhe Himmelsstriche folge. Sie zog den Schleier dicht an sich, und in einer Art behaglicher Selbstvernichtung ließ sie ihr Dasein sinnend in ein Fremdes übergehn. Vergeben Sie mir, sagte der Obrist, durch ihr Schweigen aufmerksam gemacht, vergeben Sie mir meine thörige Freude, die Sie124 so wenig theilen können. Ist denn der Mensch wie eine Pflanze an den heimathlichen Boden, wie an den eignen Leib gebunden? Und ist nicht ein freies, höheres Verhältniß zum Leben, wie ein zweiter Leib zu betrachten, den er sich mit Wahl und Besonnenheit selbst schafft, durch den er zur Welt gehört und sich ihr kund giebt? Warum streckt uns denn das Vaterland seine tausend Arme nach, und strebt uns in seine Mitte zurückzuziehen.

Luise war in ihren Träumen verloren. Sie hatte einen großen Theil dieser Worte überhört, und fühlte nur des Obristen Hand, welche schmeichelnd die ihrige ergriffen hatte. Ihr Herz war voll der innigsten Liebe, und in dem Sinne sagte sie: gewiß, es ist überall schön, wo uns auch die Natur ein getrübtes Antlitz zuwendet.

Es soll bald wieder heitrer werden, entgegnete der Obrist, der schon früher einen Nebenweg eingeschlagen, und nun über einzelne Hügel, welche die nahe Ebne verbarg, aus dem Walde bog. Eine breite, spiegelglatte Eisfläche lag hier vor ihnen, hinter welcher sich das fürstliche Schloß mit seinen vergoldeten Dächern und weißen Säulen feenartig erhob. Heller Lichtglanz war über die ganze Gegend ausgegossen, die in so magischer Beleuchtung das überraschte Auge blendete. Wie herrlich! rief Luise, indem sie aufstand und mit der einen Hand125 den gehobnen Schleier hielt, während die andre auf des Obristen Schulter vertrauend ruhte. Der Schlitten gleitete indeß leicht über den festen Eisrücken des Stromes zu dem jenseitigen Ufer, an welches die Schloßgärten stießen. Lebhaft wurden hier Luisens Blicke durch halbgeöffnete Sonnenhäuser angezogen, die beim Vorüberfahren ihre innren Schätze ahnden ließen. Der Obrist schlug ihr vor, einige Augenblicke unter den Blumen auszuruhen, was sie dankbar annahm und in seiner Begleitung in die kunstreich geordneten Säle trat. Wie neugeboren begrüßte sie das frische Grün, das ihr aus den seltensten Gewächsen entgegen duftete. Der Gärtner trat höflich auf sie zu, sogleich bemüht, durch nähere Erklärungen die Eigenthümlichkeit der merkwürdigsten Pflanzen und Stauden anzugeben. Luise ergötzte sich an Allem. In froher Hast eilte sie den Andren voran, sah und bewunderte jedes zuerst, und trat so allein in ein kleines Cabinet, welches hohe Granaten und fruchttragende Orangen am Ende des Gebäudes bildeten. Das frischeste Moos bedeckte den Boden in einer Höhe, daß es zu den Seiten stehende Blumenbehältnisse verbarg, und so das Ansehn gewann, als lasse es den lachenden Blüthenteppich aus seinem Schoos hervorgehn. Die goldnen Früchte schienen Luisen recht eigentlich zu winken. Sie fühlte sich auf das126 Anmuthigste angezogen. Alte Mährchen von verzauberten Schlössern wurden wach in ihr. Dabei mußte sie an die Markise und Viola denken. Sie glaubte zu träumen. Der öde Wald, das starre Eis, und nun alle südliche Herrlichkeit! Sie konnte sich eines lauten Freudenrufs nicht erwehren. Da war es, als bewegten sich hinter ihr die Zweige; sie wandte sich, und bemerkte einen Mann, der schnell zu einer Seitenthür hinauseilte, ohne daß sie sein Gesicht sehen konnte. An der saubergestickten Uniform und dem dunkel gelockten Haar glaubte sie Cesario zu erkennen. Ihre Blicke waren noch auf die Thür geheftet, als ein Wagen an dem Hause vorüberfuhr, und sie unwillkührlich zum Fenster zog; aber die verschlungnen grünen Zweige lagen wie ein Gewebe davor, und hinderten sie, etwas zu erkennen.

Sie haben wohl öfter Besuch, sagte der Obrist, mit dem Gärtner hinzutretend. An solchen Tagen, erwiederte dieser, sind die Säle fast nie leer, besonders finden sich Ausländer und Fremde häufig ein, durch die Freiheit des Zutritts in allen fürstlichen Gebäuden angelockt.

Der Blumenduft betäubte Luisen; sie fühlte sich unwohl, und trieb zur Rückkehr ins Freie, wo sie alsbald den Weg nach der Stadt auf einer heitren, vielfach befahrnen Landstraße nahmen.

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Der Obrist sprach während des Fahrens noch viel über das Edle und Gefällige in der Bauart des Schlosses und seiner Umgebungen. Er machte Luisen aufmerksam auf die königliche Größe des Ganzen, welches doch keinesweges drückend sei für die nahestehenden Gegenstände, was er allein als Wirkung höherer Kunst angab. Denn diese, sagte er, kann niemals etwas für sich allein betrachten, sondern findet nur in dem innren Zusammenhang aller nothwendigen Bedingungen das richtige Verhältniß für jedes Einzelne, während die bloße Pracht alles um sich her vernichtet. Dies zeigt sich am auffallendsten im Orient, wo ein an sich untergeordneter Zweck alle höheren Strebungen beherrscht. Selbst die Denkmäler alter Kunst sind dort störend geworden, weil sie, losgerissen von Zeit und Ort, keinen gnügenden Eindruck gewähren, sondern dem unbefriedigten Gemüth schmerzliche Betrachtungen entreißen, was dem Wesen der Kunst zuwider ist, die sonst unsre innre Gesammtheit, Fülle und Kraft hervor ruft, und den ganzen Menschen göttlicher und freier macht.

In diesem Sinne war die Kunst wahrhaft in ihn übergegangen, und seine Liebe zu ihr konnte daher nur von denen ermessen werden, die ihn in allen Beziehungen seines Lebens verstanden.

Luise suchte während dem sich selbst zu entgehn,128 und ließ es an lebhaften Aeußeruugen nicht fehlen, die das Gespräch nur mehr in seinem Lauf fortdrängen sollten. Allein sie war niemals frei genug in sich selbst, um irgend etwas, das sie zufällig berührte, für Augenblicke liegen zu lassen, und mit Besonnenheit mehreres aufzufassen. Eines beschäftigte sie alsdann so ausschließend, daß sie für alles andre entweder gar nicht da war, oder doch zerstreut und kalt erschien. So konnte sie es jetzt nicht aus den Gedanken bringen, warum Cesario ihr gerade in dem Moment habe nahe sein müssen? und weshalb sein Erscheinen, oft so halb und versteckt, sie in Ungewißheit, selbst darüber lasse, ob er es sei oder nicht? Ihr fiel ein, daß, gleich wie ganz verschiedenartige Menschen, die späterhin einen gewichtigen Einfluß auf unser Schicksal haben, sich früher in unsrer Erinnrung zusammen stellen, ohne daß wir sie in irgend einer Beziehung zu einander dachten, die Natur der Umgebungen und die Stimmung, welche diese in uns erwecken, gleichfalls bedeutend sei für das Zusammentreffen mit diesem oder jenem. Sie sann vergeblich, auf welche Weise Cesario mit in ihr Leben verflochten sein könne, und hatte zugleich eine Scheu, es zu entdecken, da sie überall so ungelegen von ihm gestört ward.

Der nächste Morgen verjagte indeß diese Wolken. 129Sie war die folgenden Tage heitrer als je, vielleicht weil sie sich von mehrern ihrer Bekannten zurückgezogen hatte, und allein in des Obristen und Sophiens Gesellschaft lebte. Diese schien auch wieder ruhig und gefaßt. Luise bemerkte leicht, daß nur eine Aussöhnung mit Horst dies bewirkt habe, obgleich dieser in ihrem engeren Familienkreis keinen Zutritt hatte. Sie begriff eben so bald, wie sehr ein solches Gefühl geschont sein wolle, und ohne dagegen zu eifern, begnügte sie sich, ihre Freundin in einer vertrauten Stunde zu fragen, wie sie nur dies Verhältniß mit ihren sonstigen Ansichten und Begriffen vereine.

Das ist nun so, entgegnete jene. Ich rede ungern darüber. Vieles kommt in Anregung, was besser verschwiegen wird. Doch glaube mir, gutes Kind, Vergehn aus Liebe begangen, büßen sich nur durch Treue ab. Dies ist weder so leicht, als eine herzhafte Rückkehr zur Pflicht schwer ist. Zu dem Letztren bewegt uns oft gerade das, was uns früher verlockte, Sehnsucht nach einem Herzen, das uns versteht und verstehn will. Wir glauben so leicht, es gefunden zu haben, während es uns in allen Verhältnissen ziemlich gleich unerreichbar ist. Ueber die ersten poetischen Träumen der Jugend hinaus, halten es die Männer kaum der Mühe werth, in das innre Geheimniß unsers Wesens einzudringen,130 dessen Selbstständigkeit sie nie anerkennen, dessen höhere Natur sie sich gern verbergen, um der gewöhnlichsten und natürlichsten Rücksichten überhoben zu sein. Da es denn nun überall auf die Aufopferung unsrer selbst angesehen ist, was zaudern wir, dies Opfer da zu bringen, wo wir in der Bewahrung und dem Heilighalten der Liebe uns vor uns selbst bewahren? Ich wenigstens bin resignirt, und kann mich in dieser Resignation nur mit mir und meinem Vergehn aussöhnen.

Du bringst Dich also der Liebe und nicht dem Geliebten zum Opfer? fragte Luise.

Sage mir, erwiederte jene, wie soll ich die eine ohne den andren denken, ohne auf immer mit meinem Gewissen zu zerfallen? Soll ich um ein Geringeres, als die höchste Bedingung meines Lebens, Schwur und Pflicht verletzt haben? Und wenn ich mich täuschte, war es nicht die Liebe, welche den Zauber hervorrief? Aber es ist falsch, daß die Liebe uns täusche. Sie, das einzig, ewig Wahre, zeigt uns die Menschen allein wie sie sind. Von ihr durchdrungen, haben sie für Momente wirklich erreicht, wonach sie, früher und später, durch den ganzen Kreislauf eines langen, beschwerlichen Lebens ringen. Nur wie die Außenwelt wieder nach ihnen greift und ihre Täuschungen auf sie zurückwirft, sinkt die Liebe in die stille Nacht131 ihres verborgnen Lebens zurück. Allein, ich habe ja doch den geliebten Mann in jenen göttlichen Momenten gesehn, und so will und werde ich ihn immer sehn.

Der Obrist unterbrach sie hier, indem er ihnen die Ankunft der Baronin meldete, welche auch sogleich eintrat.

Endlich! sagte diese gutmüthig, zu Luisen gewandt, finde ich Sie. Böses Kind! Nun sollen Sie mir nicht wieder entgehn. Ich entführe Sie sogleich. Alle Freunde und Bekannte sind bei mir versammelt. Alle haben beschlossen, Sie der Einsamkeit zu entreißen. Man hat wichtige Dinge vor. Ich habe geloben müssen, Sie aufzuheben, wo ich Sie finde. Luise warf bittende Blicke auf den Obrist und Sophien. Dort suchen Sie vergebens Beistand, sagte die Baronin, ihre Gedanken errathend; diese sind auch meine Gefangenen. Ich lasse Niemand entschlüpfen. Sie müssen alle sogleich mit mir fort.

Beide Geschwister versprachen, der Einladung in Kurzem zu folgen. Luise mußte es aber geschehn lassen, daß sie die Baronin ohne weiteres zu ihrem Wagen führte, und sie, so bald sie sich hier allein sahen, mit kaum verhaltner Heftigkeit in ihre Familien-Angelegenheiten hineinzog. Es ist mir lieb, hub sie sogleich an, Sie zuerst ohne132 Zeugen zu sprechen; Sie müssen mir einen wichtigen Dienst leisten. Es gilt hier, Stein zu einem schnellen Entschluß zu bewegen. Er muß Emilien bald, gleich, seine Hand geben. Sie können ihn dazu durch Gründe bewegen, die mir nicht geziemen, anzuführen. Lassen Sie mich ausreden, fuhr sie, jeder Unterbrechung vorbeugend, fort. Es ist gewiß, es ist nicht alles so, wie es sein könnte; allein, ohne mich geradezu in Emilien verrechnet zu haben, tragen zum Theil die Umstände die Schuld jener ungünstigen Wendung. Ich habe nicht immer ganz freie Hand gehabt. Viel Fremdartiges hat in meine Pläne eingegriffen; des Barons Ansichten und Gesellschaften, eine gewisse Freigeisterei in allem Herkömmlichen und Bestehenden, welches die unglückselige Poesie an den Tag bringt, und mehr als alles, Ihr Schicksal, mein liebes Kind, haben mir bei Emilien entgegengearbeitet. Es ist meist das Leben Andrer, das plötzlich einen Funken in ein junges Gemüth wirft und sehr zur Unzeit darin Tag werden läßt. Dies ist indeß alles geschehn. Wir können nichts, als größerem Uebel vorbeugen. Stein hätte schon so manches hindern können, wenn er mir und sich selbst mehr vertrauete. Er nimmt das Spiel mit dem halbkindischen Cesario zu hoch, wenigstens giebt er ihm ein zu ernstes Ansehn vor der Welt. Ueberall erscheinen ihm133 die geringfügigsten Dinge so gewichtig, daß er fast unter ihrer Last erliegt. Ich begreife nur nicht, unterbrach sie hier Luise, warum Ihre Wahl grade auf ihn gefallen ist. Aufrichtig gesagt, erwiederte die Baronin, ich weiß jetzt keinen Beßren. Dem knabenhaften Abentheurer wollen wir sie doch nicht etwa geben? Andrer Unschicklichkeiten der Art nicht zu gedenken. Auch ist Stein im Grunde lenksam, Emilie hat viel Gewalt über ihn, unter meiner Leitung wird sich alles machen. Nur haben wir keine Zeit zu verlieren. In vierzehn Tagen gehe ich auf’s Land, Stein muß uns sogleich folgen, und die Hochzeit schnell und still gefeiert werden. Dahin müssen Sie ihn durch die einfachsten und natürlichsten Bewegungsgründe zu führen suchen, die zum Theil in seiner Liebe zu Emilien, zum Theil in der Achtung vor dem äußren Anstand liegen, da er diesen durch die schnelle Beendigung unberufner Gerüchte am sichersten rettet.

Aber Emilie? fragte Luise.

Nun? entgegnete die Baronin, die hat wohl keine Wahl. Was bleibt ihr noch übrig? Sie wissen wohl am besten, was die Klugheit in solchen Fällen räth. Sie selbst haben, mit mehr Ruhe als ich Ihnen zutraute, durch einen kräftigen Entschluß Ihren erschütterten Ruf wieder hergestellt. Denn mich wollen Sie doch wohl nicht, wie die Welt,134 überreden, das kaum beruhigte Herz habe sich auf’s neue einer großen gewaltigen Neigung überlassen. So etwas liegt außer allen Gränzen der Möglichkeit. Aber Sie handelten weise, und deshalb kann ich auch um so sichrer auf Ihren Beistand rechnen.

Luise hatte nicht Zeit, ein Wort zu erwiedern. Der Wagen hielt vor der Baronin Hause, die Bedienten öffneten den Schlag, und sie mußte ihrer steten Quälerin ohne weiteres in die Gesellschaftszimmer folgen.

Obgleich jene Worte sie recht empfindlich trafen und sie auf’s neue in sich verwirrten, so ward sie doch bei Emiliens Anblick von sich auf andere Betrachtungen gezogen. Es mußte sie überraschen, diese ganz vertraut zwischen Cesario und dem Maler, vor einem Tischchen sitzend und mit beiden über vor ihnen liegende Zeichnungen berathschlagend, zu finden. Baron Roll beugte sich zwischen sie durch, und schien seinen Beifall zu bezeigen, indem er mit wohlgefälligem Lächeln seine ausgespreizten Finger auf ein aufgerolltes Blatt drückte, welches der Maler mit beiden Händen sauber hielt und wohl vor weitrer Verletzung sichern wollte. Werner und Auguste standen zur Seite, wie gewöhnlich, in Streit verwickelt.

Als Emilie die Eintretenden bemerkte, schlug sie freudig in die Hände, und ohne ihre Stellung135 zu verändern, rief sie Luisen zu: geschwind kommen Sie, uns Ihren Rath zu geben. Wir quälen uns schon seit einer Stunde, und kein Mensch bringt etwas Gescheutes heraus. Der Fürst giebt einen Maskenball, und wir sind versammelt, etwas ganz Neues, Ungewöhnliches für den Abend zu ersinnen, denn die Griechen, und Ritter und Genien und Musen sieht man sich nun schon seit lange zum Ueberdruß. Auguste schlug so eben einen Sphärentanz nach alt Aegyptischer Weise vor. Allein weder sie noch irgend Jemand weiß diesen recht eigentlich anzugeben, so wenig wie die ganz frühe Tracht dieses Volkes, denn die Zeichnungen hier, nach einigen Kunstwerken aus der grauen, versteinten Zeit, können doch nicht zu Modellen dienen sollen. Ich würde eher, sagte Werner, Gegenstand und Charakter aus irgend einem bekannten Mährchen der Tausend und eine Nacht vorschlagen. Sinnreiche Erfindungen und Pracht ließen sich so leicht vereinigen. Ach! fiel Emilie ein, dann giebt es wieder Turban und Schleier ohne Ende und das alte Lied wird nur mit Variationen angestimmt.

Was schicken wir dem kurzweiligen Spiel so beschwerliche Berathschlagungen voran, rief Cesario, ungeduldig aufspringend. Ihr faßt ja das Vergnügen so derb an, und dreht und handhabt den flüchtigen Genuß, daß aller Reiz verschwindet. Ob136 neu oder alt, ob selten oder oft gesehn, die Freude trägtimmer ein frisches, jugendliches Gesicht. Nehme sie jeder, wie sie sich ihm zeigt. Ich für mein Theil halte mich in der komischen Familie meines Vaterlandes, Arlechino altert nie, und Sie Emilie, Sie verlassen mich nicht.

Emilie willigte ein, die Maske der Colombine zu nehmen. Werner verstand sich zu der des Pantalon, und Baron Roll ward ohne weitere Anfrage zum Brighella erwählt.

Bei eigenthümlicher Gewandheit und Laune, sagte der Maler, kann das phantastische Spiel immer neu erscheinen, und zu manchem lustigen Spaß Anlaß geben.

Insbesondere, fiel Werner ein, wenn mehr als eine dieser Familien zugleich aufträten, und so durch stete Verwirrungen und Verwechselungen eigne und fremde Pläne durchkreuzten.

Man fand den Gedanken lustig, ohne ihn gleichwohl festzuhalten. Auguste verwarf ihn ganz und setzte ziemlich trocken hinzu; wenn Ihr Euch alle von den Aegyptern abwendet, so will ich dennoch dem tiefen, geheimnißreichen Volke treu bleiben, und wenn nicht auf alte, doch auf neue Weise. Ich wähle eine Zigeuner-Maske. Hütet Euch. Ich sehe in die Vergangenheit und Zukunft, und werde manches Geheimniß enthüllen. Die Vorstellung137 des nahen Festes beschäftigte alle angenehm. Viele spielten ihre Rolle schon in Gedanken durch, und diejenigen, welche noch keine Masken gewählt hatten, sannen auf passende und anmuthige Erfindungen. Stein, welcher bis dahin abgewandt in einem entfernten Theil des Zimmers beim Clavier saß, und zwischen den weitläuftigen Verhandlungen und Streitigkeiten manch stilles Liedchen leise sang, trat nun auch zu Luisen, und befragte sie über die Wahl ihrer Maske. Sie war noch unschlüssig, und bat den Obristen, der nicht längst gekommen war, für sie zu entscheiden. Ich weiß nicht, sagte dieser, ob ich Unrecht habe, wenn ich wünsche, Sie in altdeutscher, fürstlicher Tracht zu sehen, sehr einfach, dennoch höchst edel und prächtig, und zwar in einer mehr innerlichen, gediegnen als strahlenden Pracht. Viele würden Sie lieber in den üppigen Orient versetzen, und den glühenden Schimmer des südlichen Himmels um Sie verbreiten; ich glaube selbst, Sie ziehen das Letztere vor, aber die hohe, in sich beschlossene, und eben dadurch gebietende Weiblichkeit liegt doch auch in Ihrer Seele. Ja, was noch mehr ist, macht das Wesentliche derselben aus.

Es ist sonderbar, sagte Luise, in meinen frühern Jahren fanden mehrere meiner Bekannten eine große Aehnlichkeit mit mir und einigen Bildern138 altnordischer Königinnen, und gleichwohl habe ich eher mit Schauder als Sehnsucht auf jene Zeit zurückgesehn.

Wir sträuben uns oft, erwiederte der Obrist, grade gegen dasjenige, was doch zuletzt Recht über uns behält.

Nun, rief Luise lachend, für den Abend sollen Sie es wenigstens behalten. Ich unterwerfe mich Ihrer Entscheidung.

Wohlan, sagte er, so sind wir beide Ihre Ritter. Ich trug immer ein Schwerdt, und lege es auch im Spiele nicht gern von mir. Werden Sie mir es vergönnen, fragte Stein, fast wehmüthig, wohl als ein überflüssiger, aber doch treuer Diener, meinen Platz an Ihre Seite zu suchen? Luise reichte ihm voll herzlicher Theilnahme die Hand, und alle drei redeten sofort das Nähere mit einander ab.

Als bald darauf die Gesellschaft auseinander ging, vertrauete Auguste Luisen, daß sie fruher, als Werner, einen ähnlichen Gedanken gehegt habe, und gesonnen sei, zuerst zwar als Zigeunerin, sodann aber als eine zweite Colombine aufzutreten, und dem Liebespaar und seinen Helfershelfern manchen hinterlistigen Streich zu spielen. Luise mißtrauete überall ihren Absichten, und konnte auch an dieser Neckerei keinen Gefallen finden, über die sie weiter139 nicht redeten, sondern von da an, ein jedes nur mit eigenen Einrichtungen beschäftigt blieben. Frau von Seckingen allein war durch nichts zur Theilnahme an dem Feste zu bewegen. Sie scheue, sagte sie, die freigegebene, ungebundene Fröhlichkeit. Wo alle Rücksichten schwänden, träte die unbewachte Individualität oft abstoßend hervor, und das sei gefährlich für diejenigen, die nur ein bestimmtes, lang gehegtes und gepflegtes Bild festhalten möchten. Es sei nicht das erstemal, fuhr sie fort, daß dergleichen Festlichkeiten Entdeckungen veranlaßten, welche ein ruhiges Verhältniß aufgelöst und Menschen getrennt hätten, welche durch diese Trennung um nichts besser geworden wären. Ihr sei es nothwendig, nur das für wahr zu halten was nach höhern Gesetzen wahr sein müßte, und sich so wenig als möglich darum zu bekümmern, was unter äußren Bedingungen sich als bestehend erweise, und für die Welt allein Wirklichkeit habe. Luise verstand sie wohl, und drang nicht weiter in sie, ohnerachtet sie solche ängstigende Sicherstellung als den wahren Tod und den eigentlichen Gegensatz aller Liebe ansahe.

Am Vorabend des Balles trat der Obrist ungewöhnlich spät in Luisens Zimmer. Sie saß am Stickrahmen, und war noch mit einer Arbeit für den folgenden Tag beschäftigt, als er sich zu ihr setzte,140 und nachdem er eine Zeitlang die Sauberkeit und den Fleiß des kleinen Kunstwerks bewundert und schweigend beobachtet hatte, wie lange die geschäftigen Finger den Faden hin und wieder lenken müssen, ehe nur der hundertste Theil des Ganzen kenntlich hervortrete, rief er fast ungeduldig: Welch mühseliges Vorbereiten zu dem flüchtigen Genuß! Aber, fuhr er fort, das scheint wohl auch nur so. Für Sie ist es wirklich nicht mühevoll. Sie haben bei jedem Stich das Ganze vor Augen, und leben so den Augenblick tausendfältig, den Sie sich erst schaffen wollen. Warum ist das nicht im Großen wie im Kleinen. Wie leicht vergessen wir bei einem sauern Gange das Ziel, wohin er führt! Und ist nicht am Ende das ganze Leben ein solcher Gang, den wir uns recht eigentlich erschweren, da wir gewöhnlich nur auf die nächsten Schritte vor uns sehen?

Was macht Sie denn heut so ungewöhnlich ernst? fragte Luise. Ich verstehe Sie nicht, lieber Freund! Die lustige Spielerei will kein so trübes Gesicht.

Er beugte sich schweigend auf ihre Hand, die nachlässig mit den goldnen Fädchen der Stickerei spielte. Wie denn? sagte sie ernster, ist das nicht bloß Zufall? lieber, lieber Freund, ist Ihnen etwas begegnet? haben Sie Kummer?

141

Ja wohl, rief er sehr bewegt, ja wohl, ich habe Kummer! ach meine Luise! Sie sollten mich nicht so schwach sehen. Der Mann muß dem Verhängniß fest entgegentreten. Ich werde mich auch sogleich wiederfinden. Ihr lieber freudiger Blick fiel nur so zerreißend in meine bewegte Brust. Ich wollte Ihnen heute, auch morgen, noch nichts sagen, und nun überrascht mich das so. Vergeben Sie mir, Luise. O um’s Himmels Willen, unterbrach sie ihn, nur geschwind, was ist es denn, was kann es denn sein!

Ein Befehl meines Hofes ist es, entgegnete er, der mich, da mein Geschäft hier so weit eingeleitet ist, um es einem Andren zu übertragen, nach Petersburg zurückruft, und zu einer neuen Mission nach Persien vorbereitet.

Beide schwiegen eine Weile. Mir bleibt nichts übrig, als zu gehorchen, fuhr er sodann fort. Ich gehöre meinem Vaterlande, und darf mich ihm auf keine Weise entziehn.

Nun, fiel Luise schnell ein, warum erschrecken wir denn auch! Was hindert uns dennoch, ungetrennt zu bleiben? Ich folge Ihnen, wohin Ihr Beruf Sie führt. Das wollten Sie, Luise? fragte er gerührt, das könnten Sie wollen? So großes Opfer dürfte Ihr Freund kaum annehmen.

Lieber, unterbrach sie ihn, wie nennen Sie142 nur ein Opfer, was so natürlich ist, und kaum einer Ueberlegung bedarf, da ich ohne Schmerz ein Vaterland hinter mir lasse, das nichts als trübe Erinnrungen einschließt.

Er drückte freudig ihre beiden Hände an sein Herz. Ich habe das nicht glauben, ich habe es nicht hoffen mögen! rief er; und nun gewiß, in der Liebe wird den Frauen eine Kraft und ein Wille, der den Glauben der Männer weit überfliegt. Aber wenn nun fremde Sitten, wunderliche, ungewohnte Erscheinungen, plötzlich eine Scheidewand zwischen Ihnen und die heimathliche, befreundete Welt ziehen, meine Luise, werden Sie immer an diesem Herzen Trost und Ersatz suchen?

Sie sagte ihm darauf recht wahr und zuversichtlich, wie sie es empfand, daß sie in seiner Nähe allein noch Ruhe und Schutz gegen oft erwachende, innre Störungen finden könne, daß seine Milde und Klarheit keinen Zweifel und keine Besorgniß in ihr aufkommen lasse, und die Zukunft sich recht hell vor ihr ausdehne.

So innig und durcheinander beruhigt, mit dem festem Blick auf ein vereint heitres Leben, schickten sie sich beide zu dem Feste des kommenden Tages an, und theilten recht freudig die allgemein empfundene Lust.

Sorgfältig und höchst edel gekleidet, traten sie143 zur bestimmten Zeit in die vielfach gemischte Welt. Ein wunderliches Grauen überfiel Luisen, als die schwirrenden, lispelnden Töne aus den starren Lippen zu ihr hindrangen. Die größere Beweglichkeit der Gestalten und der Tod auf ihren Gesichtern, hatte etwas so Widriges für sie, daß sie kaum die gaukelnden Neckereien des zierlichen Arlechino bemerken, noch die Pracht anderer Erscheinungen gehörig würdigen konnte. Die Zigeunerin streifte an ihr vorbei, und Cesarios Hand fassend, sagte sie mit komischer Geberde:

Ich sage Dir wahr,
Mein Auge ist klar,
Der Trug liegt versteckt,
Ich hab ihn entdeckt.
Drum leih mir Dein Ohr,
Und sieh Dich wohl vor,
Wenn Dirs geglückt,
Bist Du berückt.
Was Du umfaßt,
Es wird Dir zur Last,
Neckt Dich und quält,
Wie Du ’s erwählt.
Euch allen droht List.
In kürzerer Frist
Als Ihr’s erwogen,
Seid Ihr betrogen.
144

Es drängten sich mehrere Masken dazwischen. Luise sah nur die verworrene Menge hin und her wogen und ward gedankenlos mit fortgerissen. In dem wachsenden Gedränge lispelte eine Stimme dicht an ihr Ohr: Hat die Büßende in dem Treibhause Blumen für Julius Grab gesammelt; oder will sie sich mit neuen Myrthen schmücken? Sie wandte sich erschrocken nach der Seite des Sprechenden, ein dichter Haufe schwarzer Dominos arbeitete sich durcheinander hin, Cesario stand in einer entfernten Loge und sah der lustigen Verwirrung eine Weile müßig zu. Lassen Sie uns dem Magier dort näher treten, sagte Stein, ich wette, es ist der Maler. Luise sah überall nur den ungeschmückten Grabhügel und jene fremde Hand, die sie so frostig darauf hinwies. Stein hatte indeß den Magier angeredet und ihn befragt: ob er ihm die Tiefen seines verworrenen Schicksals aufdecken wolle. Das Furchtbarste, erwiederte eine dumpfe Stimme, faßt Dich schon mit beiden Händen, das Gefürchtete ist ein Unding. Ein neuer Strom eindringender Masken drängte sie auseinander. Das Spiel, sagte der Obrist, wird immer bunter und lustiger, recht nach Masken-Weise, dort treibt Arlechino auf’s neue sein tolles Wesen; horen wir doch, was der Magier Colombinen sagt, sie nahen jetzt einander. Niemals! rief der prophetische Alte145 der Kleinen zu, niemals findest Du, was Du hier suchst, aber der Dich sucht, wird Dich finden. Wir suchen einander wohl nicht, sagte Cesario, Stein vertraulich unter den Arm fassend. Aber lassen Sie uns unter der sichtbaren Maske, die uns das fremde Spiel giebt, jene unsichtbare abwerfen, die wir uns selbst gaben, ich wette, wir werden auf der Stelle die besten Freunde. Für jetzt, erwiederte Stein, haben wir nur den Charakter festzuhalten, den uns das Spiel vorzeichnet, der meinige ist trockner Ernst, der Ihrige, possenhafte Thorheit. Mein guter Ritter! rief Arlechino, Ihr Ernst ist die tollste Posse von der Welt, und dient mir zu dem lustigsten Spaß. Steins Worte fielen von da an immer gewichtiger, Cesarios leichter, höhnender, und wurden eben daher aufs höchste verletzend; er hatte sich recht muthwillig in das eigne Netz verstrickt, sein Gegner hielt ihn unerbittlich fest, und forderte die strengste Genugthuung. Arlechino sah mit komischer Gebehrde auf sein hölzernes Schwerdt, und bat Brighella um Beistand. Der Obrist wollte sich verdrüßlich von dem ungleichen Streit abwenden, allein sie befanden sich alle in einer Ecke des Saals zusammen gepreßt, Niemand konnte einen Schritt weichen. Auf morgen! rief Stein in großer Erbitterung. Was beginnst Du, sagte eine schwarze Maske, Arlechino bei der Hand fassend; welche neue146 Unbesonnenheit, Francesca! Jesus Maria! Fernando! rief diese, Du hier! Er hatte die Larve abgenommen, und sah mit unbeschreiblicher Anmuth um sich her. Der vermeinte Cesario, sagte er lächelnd, ist ein schönes Mädchen, das die Tapferkeit mehr liebt, als besitzt; ich denke, Sie befreien das arme Herz gern von der Angst, die so viel Uebermuth muthlos macht. So steht das Spiel? sagte Stein; das ändert freilich alles. Sie haben Recht; was kann ich anders wollen, als in des Herzens Qual meine Rache finden. Er sah Emilien scharf an, die sich an den Magier lehnte und von ihm fortgezogen ward. Das Schattenbild Cesario verschwindet nun, sagte Arlechino, zürne niemand der armen Francesca. Stein verlor sich unter die Menge. Es ward plötzlich leer um Luisen, nur Fernando stand, mit fest auf sie gerichteten Blicken, vor ihr, und schien jeden ihrer Gedanken zu bewachen. Der Obrist fühlte ihre Hand in der seinen zittern. Lassen Sie uns eilen, sagte er leise, die sonderbare Verwirrung übt ihre Gewalt über uns alle. Ja wohl, ja wohl, erwiederte sie zerstreut. Aber es ist ja ohnehin zu Ende; nicht wahr? es ist alles vorbei. Ich glaube, sagte er bewegt, darum lassen Sie uns gehn.

Am Ausgange stießen sie auf Werner, der Augusten als Colombine, ohne sie zu kennen, führte. 147Der Spaß flüsterte diese Luisen zu, ist über Erwarten gelungen. Ich bin hinter die lustigsten Geheimnisse gekommen. Jetzt führt er mich zur Baronin, die wir vergebens im ganzen Saale suchten. Dort muß sich nothwendig alles aufklären. Ich denke, ich habe sie allesammt gehörig angeführt.

Mehrere Masken traten zwischen sie. Gute Nacht, meine Luise, sagte eine bekannte Stimme kaum hörbar, ja mein, wie Du Dich und mich und die Welt auch bethörst. Wir treffen einander wohl wieder, und Du bekennst mir, wogegen Du Dich jetzt vergebens sträubst.

Luise stürzte in ihren Wagen, ohne sich umzusehn, ja, ohne des Obristen freundliches Lebewohl zu erwiedern.

Es war tief in der Nacht, als sie in ihr Zimmer trat. Mariane war eingeschlafen, die Lichter brannten trübe, und warfen einen unsichren Schein umher. Sie ging, ohne sich umzukleiden, in großer Bewegung auf und ab, ihr ganzes Wesen war im heftigsten Aufruhr, eine nie gefühlte Verzweiflung lehnte sich plötzlich gegen das Feindliche ihres Schicksals auf Ihr ganzes Leben trat in gedrängten, entscheidenden Momenten vor sie hin. Welt und Menschen, alles schien nur da, um sie und das was sie liebte, in’s Verderben zu stürzen. Von ungefähr fiel ihr Blick in einen Spiegel. Sie erschrak148 vor sich selbst. Die fremde, veraltete Tracht, ihr bleiches, fast verzognes, Gesicht rief ihr das Bild der Ahnfrau vom Falkenstein zurück. Je mehr sie hinsah, je deutlicher glaubte sie alle Züge zu erkennen. Ha! rief sie, ich bin die Letzte des verloschnen Namens! soll ich büßen, was jene verbrach, und so die Schuld lösen? Da stand es klar, wie von höherer Macht gesprochen, vor ihrer Seele: so ist es, kinderlos, ohne Liebe, in Reue über das Vergangene; fern von jeder Hoffnung für die Zukunft, sollst Du eigne und fremde That büßen. Entsage freiwillig, denn Du begehrst vergebens, was Dir Dein Schicksal verweigert. So ist es, ja so ist es, wiederholte sie mehrmals. Alle Fäden der Hoffnung waren zerschnitten. Das Unabänderliche senkte sich tief in ihr Innres. Niemals, das fühlte sie, konnte sie in der Verwirrung des Lebens Ruhe finden vor der feindlichen Gewalt, die sichtbar und unsichtbar nach ihr griff, und alle Blüthen eines kaum erschloßnen Daseins höhnend zerstörte. Und hat er denn nicht Recht? sagte sie. Bethöre ich mich nicht selbst? Was ist es denn, was mich in ihm erschreckt und zusammenwirft, wie das zagende Verbrechen, wenn es nicht die unselige Liebe ist, die wie ein Fluch auf mir liegt. Die erdrückt nun und zertritt die letzte Hoffnung. Alles, alles ist vorbei. Ich muß dem höhern Rufe folgen.

149

Sie sah den Gedanken so lange und fest an, bis er sie durchleuchtete wie ein stiller Tag, in welchem kein Wechsel ist und kein Schmerz. Aus der vollesten innren Ueberzeugung erwuchs ihr Wille und Kraft. Sie übersah die Zukunft mit festem Blick. Nichts konnte sich ändern, nichts den Schluß des Schicksals nach eigner Willkühr lenken. Alles blieb wie es war, bis an das Ende ihrer Tage; aber da trat der Tod wie ein seliger Engel zu ihr und drückte ihr die müden Augen zu, die nicht länger aus ihren dunklen Hölen sahen, sondern den Blick nach innen richteten, wo sich eine wundervolle Welt voll nie geahndeter Herrlichkeiten aufthat. Sie sah das alles wirklich und versank in höchster Entzückung, halb schlummernd, in die heiligen Tiefen des Unsichtbaren.

Als sie erwachte, war es Tag geworden. Die Lichte brannten nicht mehr. In den Gassen lebt es und regte sich’s wieder. Mariane war auch munter geworden, und räumte im Zimmer umher. Allein die Erinnrung jener Seligkeit war ihr so lebhaft geblieben; sie glaubte so fest an eine höhere Offenbarung, die sie in der Stille der Nacht wahrhaft empfangen habe, daß das erwachende Leben sie nicht stören konnte. Und als sie nun gezwungen war, auf’s neue in dasselbe mit einzugreifen und sich um das nächste Aeußre zu bekümmern, ward ihr Vorsatz150 nur noch fester. Ohne sich grade ängstlich zu drängen und zu treiben, sah sie ruhig alles kommen, wie es nun kommen mußte.

Ein Billet der Baronin war das Erste, was sie an die tausendfältigen Verwirrungen der Welt erinnerte. Diese schrieb ihr:

» Ich könnte besorgt wegen Emilien sein, wenn ich nicht voraussetzte, daß sie meiner ruhigen Vernunft traute, und allenfalls darauf hin eine Unbesonnenheit wagen zu dürfen glaubt. Sie ist noch nicht zu mir zurückgekehrt. Wahrscheinlich ist sie bei Ihnen und Augusten. Ich bitte Sie, mir darüber Auskunft zu geben, so wie über die Veranlassung ihres Wegbleibens. Auf jeden Fall soll sie meine Mißbilligung fühlen. Sagen Sie ihr das, ich ersuche Sie darum. «

Luise erinnerte sich jetzt erst an Augustens letzte Worte, und wie sie gesonnen gewesen sei, zu der Baronin zu fahren, wo sich die ganze Verwicklung auflösen sollte. Sie begriff nicht, was sie daran verhindert und zugleich bewogen habe, Emilien bei sich zu behalten. Sie wollte zu ihr gehn, um sie deshalb zu befragen, als ihr Mariane sagte, daß die Leute im Hause ihre Herrschaft vergeblich bis jetzt erwarteten, und Niemand wisse, was er er davon denken solle. In großer Besorgniß schrieb daher Luise der Baronin, was sie selbst durch Augusten151 erfahren hatte, und wie sie diese noch zuletzt an Werners Arm auf dem Wege zu ihr gesprochen habe, weshalb man bei Werner allein die nöthigen Erkundigungen einziehen könne. Von Emilien aber wisse sie nichts, und begreife ihr Verschwinden so wenig wie das von Augusten.

Nach einigen Stunden trat Stein bleich und zerstört in Luisens Zimmer. Eine ungeheure Thorheit oder Niederträchtigkeit, rief er, ist in dieser Nacht vorgefallen. Werner, der Maler, Emilie und Auguste, alle sind fort! Alle Nachforschungen sind vergeblich, Niemand will etwas von ihnen wissen. Ich komme sogar von Francesca. Sie schwört, der ganze Handel sei ihr fremd. Sie habe wohl den Maler in Italien gekannt, und ihn deshalb hier in ihr Interesse ziehn müssen, ohne gleichwohl seine weiteren Verbindungen und Pläne zu kennen. Geschienen habe es ihr freilich, als liebe er Emilien, und trachte im Stillen, seinen Wünschen nachzugehn, auch Emilien sei oft etwas Aehnliches entfallen, doch könne sie das alles auf keine Weise verbürgen. Luise konnte ihm nicht länger verhehlen, was sie selbst darüber wußte. Dennoch sahen beide nicht, wie das Ganze zusammenhing, besonders, in wie weit Werner und Auguste darin verwickelt waren. Was suchen wir, sagte Stein, den Grund einer Thorheit auf, die so grundlos in152 sich selbst ist, daß sie, wie sie entstanden, auch zerfällt. Ich wende mich auf immer von dem verächtlichen Spiel, und lasse sie sich wechselseitig verderben.

In dem Augenblicke fuhr die Baronin, in einem völlig gepackten Reisewagen, vor das Haus. Sie kam auf wenige Augenblicke zu Luisen, und kündigte ihr an, daß sie im Begriff sei, auf ihr Landgut zu gehn. Es sei dies ein Mittel, das Gerede der Welt zu verwirren, und eben dadurch in den Augen der Meisten unzuverlässig zu machen. Durch ihre Abreise gewinne es das Ansehn, als habe sie die fehlenden Personen begleitet. Wenigstens würden das Manche glauben, und ehe man der Sache auf den Grund käme, wäre wohl alles längst schon im alten Gleise. Und Sie, Herr von Stein, setzte sie hinzu, gewinnen auch dadurch Muße, ihre Nachforschungen geheim und mit möglichster Schonung zu betreiben. Ich möchte ungern weiter forschen, erwiederte dieser. Gönnen Sie mir meine Unwissenheit. Ich fürchte, gnädige Frau, Sie wünschen sie sich auch in Kurzem zurück. Die Baronin lief Gefahr, alle Fassung zu verlieren. Stein faßte sanft ihre Hand. Es ist so leicht, sagte er, daß mir jetzt ein verletzendes Wort entfällt, und ich würde mir es nicht verzeihen, Sie gekränkt zu haben. Lassen Sie uns daher nicht weiter über153 einen Gegenstand reden, der mir fremd bleiben soll, fremd bleiben muß. Zum erstenmal sah Luise Thränen in der Baronin Auge. Sie suchte sie zu verbergen, konnte sich dennoch einer großen Rührung nicht erwähren, als sie Luisen umarmte, und nun so allein und verlassen zu dem geräumigen Wagen ging, und den leergebliebenen Platz neben sich betrachtete. Stein konnte lange das Bild der gedemüthigten, schwer gekränkten Mutter nicht los werden. Er kämpfte mit sich, ob er ihr nicht nacheilen, und ihr wenigstens seinen Beistand zusichern solle. Allein er fühlte bald, daß er sich in nichts einlassen dürfe, und nur eilen müsse, sich der nachtheiligen Erinnerungen zu entschlagen.

Der Obrist trat bald darauf hinein, wodurch das Gespräch auf’s neue auf die unerklärliche Begebenheit dieser Nacht gelenkt ward. Roll hatte die Geschichte, welche er von den Leuten der Baronin sehr zeitig erfuhr, mit großer Geschäftigkeit herumgetragen, und hinzugesetzt, die Familie sei gesonnen, Augusten, als Urheberin des Complots, öffentlich zu zitiren. Unbegreiflich, setzte der Obrist hinzu, sei es jedermann, welches Augustens Theilnahme an dieser Sache sei, die völlig ihrer Art zu denken widerspräche. Ein Mißverständniß, erwiederte Luise, kann ihr allein nur ein so böses Spiel bereitet, und sie unwillkührlich fortgezogen154 haben. Freilich, fügte sie hinzu, wird es ihr schwer sein, wieder einzulenken, da es so weit gekommen ist.

Es ist überall mißlich mit dem Einlenken, erwiederte Stein.

Wenn man die Nothwendigkeit davon einsieht, sagte Luise, muß es dennoch geschehn.

Was ist aber so absolut nothwendig, fragte jener?

Das Würdige allein, erwiederte sie, was jedem auf seine Weise zu thun geziemt. Sagen Sie mir, beginnt das Verhängniß eines Menschen erst mit seiner Geburt? oder ist es nicht vielmehr in einer Reihe vor und nach ihm lebender Wesen begründet, mit denen es sich in die Unendlichkeit fortschlingt? Gewiß, sagte der Obrist, der Punkt, auf dem ein jeder von uns steht, ist kein zufälliger, sondern durch die Natur seines und des Daseins aller genau bestimmt.

Und ein Schritt über oder unter diesen Punkt, fiel Luise schnell ein, verwirrt uns und andre. Und ist es denn nun nicht die höchste Freiheit, wenn wir uns mit Besonnenheit, und dadurch aus eigner Wahl dahin stellen, wohin uns unentgehbare Ereignisse, nach einem zerrissenen, verpfuschten Leben, zurückwerfen?

Der Obrist betrachtete sie forschend, während sie einen Augenblick gedankenvoll in sich zurücksah. 155Was gewinnen wir, fuhr sie nach einer Weile fort, wenn wir uns so viel und mancherlei überreden, und einen Wahn pflegen, den wir zuletzt mit aller Anstrengung nicht festhalten können; was bleibt uns anders, als ein wehmüthiger Blick auf ein verfehltes Streben?

Ja wohl, ja wohl! sagte Stein erschüttert. Dennoch greifen die Elemente unsers Daseins oft so wunderbar in einer Brust zusammen, und mischen und gestalten sich so verschieden, daß ihr Wesen nicht immer sogleich zu verstehn ist. Deshalb tadle Niemand die stillen Kämpfe eines vielfach gestörten Gemüthes, ehe es durch sich selbst erfährt, was es kann und soll.

Er reichte beiden die Hand, und verließ in großer Bewegung das Zimmer.

Muß ich meinem Gefühle trauen, Luise, fragte der Obrist, habe ich sie verstanden?

Niemand, erwiederte sie, kann weniger in Zweifel über mich sein, als Sie. Ja, Sie verstanden mich gewiß. Ach! Sie fühlen es auch, ich darf nicht glücklich sein wollen.

Und ich? fragte er. Sie werden es nicht bereuen, entgegnete sie, eine Freundin gesucht und gefunden zu haben. Glauben Sie mir, wir waren einander nie näher, als in diesem Augenblick, wo ich Ihnen aus voller Ueberzeugung sage, daß ich156 meinen Weg allein gehn muß. Mein edler Freund, es muß, gewiß, es muß so sein!

Das ist es nun also, sagte er sinnend. Es lag dunkel in meiner Seele. Nun ist es ausgesprochen. Ja, Sie haben Recht, es muß so sein. Wie wunderbar, daß uns die Wahrheit so nahe liegt, ohne daß wir sie sehen mögen! Und gleichwohl ist es schön, daß uns ihr unerwartetes Erscheinen jetzt nicht erschreckt. Nein, Sie sollen mich nicht kleiner sehen, als Sie es erwarteten. Ihr Muth, der nicht Leichtsinn ist und nicht Verzweiflung, hebt mich zu Ihnen hinauf. Und wer muß denn nicht am Ende die liebsten Wünsche unter die[ Trümmer] seiner Hoffnungen begraben? Aber wenn Sie nun so alles von sich gedrängt haben, Liebe, und jeden freudigen Genuß des vielfach gestalteten Lebens, was erwarten Sie denn noch von diesem Leben?

Innre Stille erwiederte Luise. Und erschrecken Sie nicht vor dieser Grabesstille? fragte er, sie mitleidsvoll betrachtend. Luise, wenn Sie sich täuschten, wenn Sie so um so sichrer Ihre Bestimmung verfehlen. Lieber Freund, unterbrach sie ihn, die ist verfehlt, und kann nur auf dem umgekehrten Wege wieder errungen werden. In dem Leben der Frauen muß alles den einfachsten, ruhigsten Gang gehen. Weder große Kämpfe noch heftige Leidenschaften dürfen es verwirren,157 sonst geht die Richtung verloren, die in scheinbarer Beschränktheit das Herrlichste erzielt. Wie die Gestirne ihre abgeschloßnen Bahnen still vollenden, so muß der Kreislauf weiblicher Wirksamkeit nach einem ewigen Gesetz gleichmäßig fortlaufen, die innre, oder Schattenseite des Lebens beschreiben, und nur unsichtbar in die mannigfache Gestaltung der Dinge eingreifen. Wie das Fremdartige sie zu nahe berührt, ist dieser ruhige Lauf unterbrochen, und sie schwanken und fassen nach dem verlornen Gleichgewicht umher, das sie nur in dem freiwilligen Hingeben alles dessen, was ihnen nicht mehr gehört, wiederfinden. In der Liebe geht den Frauen der Himmel auf. Wo diese aber mit der Natur in Streit ist, da müssen die bethörten Herzen in Reue und Buße erst den Himmel und in ihm die Liebe suchen. Das ist so wahr, fuhr sie lebhaft fort, das habe ich in dieser Nacht durch höhere Eingebung erfahren, und das steht nun so fest in meiner Seele, daß ich eher sterben, als es verleugnen könnte. O glauben Sie mir, es giebt Ahndungen, die unser dunkles Dasein durchblitzen, die wir festhalten, denen wir unbedingt folgen müssen.

Sie redeten von da an sehr klar und bestimmt über ihre beiderseitige Zukunft. Der Obrist versicherte, es könne ihr Entschluß ihn nicht abhalten,158 sie sobald als möglich wieder aufzusuchen. Weshalb, sagte sie, sollten wir einander auch fliehen? Der Friede, der in dieser Stunde über uns kommt, der kommt von Gott, der gründet sein stilles Reich in ewiger, heiliger Erinnrung. Ich werde Ihr liebes Auge nie vergessen, das so mild und[schonend] in mein gestörtes Innre blickte.

Als sie sich am Abend von einander trennten, wandte sich der Ob ist noch einmal zu Luisen, und sie mit festem Blicke betrachtend, sagte er: nicht wahr, meine Freundin, es muß so sein! Ja Lieber, entgegnete sie bewegt. Lassen Sie uns auf das innre Wort achten, und es durch ein treues, wahrhaftes Leben aussprechen.

Am folgenden Tage kam Frau von Seckingen zu Luisen. Ihre verweinten Augen und die zitternde Stimme bestätigten dieser, was sie geahndet. Er ist fort? fragte sie. Ja, rief Sophie mit verhülltem Gesicht, und Du hast ihn einer Grille wegen hingegeben, von Dir gestoßen; hätte er Dich doch nie gesehen! So sagte er nicht, erwiederte Luise sanft, er kennt mich besser. O nenne keine Grille, was mein ganzes Wesen so lebhaft und dringend heischt! Und wie mißverstehst Du mich denn? Kannst Du verkennen, was eine nähere Verbindung zwischen uns unmöglich macht? Siehst Du nicht, wie ein früherer Eindruck jeden stillen Genuß meines159 Lebens vergiftet! Soll ich die Ruhe des edelsten Herzen einem Ungefähr, einem zufälligen Zusammentreffen mit dem Erbfeinde meines Glückes aussetzen? O Du solltest gerechter sein!

Ich bin nicht unbillig, erwiederte Sophie. Ich finde Dich nur inconsequent. Liebst Du jenen, warum verkennst Du den Wink der Natur, warum zögerst Du? Die Natur ist ewig, unterbrach sie Luise, vergiß es nicht, daß ihr Reich nicht allein von dieser Welt ist. Was hier die Nothwendigkeit versagt, erringt dort die Freiheit wieder! Hier tritt Julius Schatten zwischen mir und ihn. Und dennoch liebst Du ihn? fragte Sophie. Ja, ach Gott ja, ich liebe ihn. Eine unbegreifliche Gewalt zieht mich zu ihm hin; ich weiß nicht, woher? ich weiß nicht weshalb? aber es ist so, und dennoch dürfen die unsichtbaren Bande nicht sichtbar werden, ja ich muß streben, so viel an mir ist, sie zu zerreißen. Dann sind alle versöhnt, dann ruhen die Leiber in ihren Gräbern, und alle seligen Geister freuen sich des Lichtes.

Frau von Seckingen sah sie fremd an. Du schwärmst, Luise, sagte sie, gewiß Du hättest besser gethan, Dich einem sichren Führer auf der einfachen Straße des Lebens anzuvertrauen, als auf eine so unnatürliche Höhe allein hinaufzusteigen.

Luise fühlte, daß sie ihr nichts erwiedern könne. 160Sie versuchte noch einigemal, von dem Obristen zu reden; allein Sophie wich ihr verstimmt aus, und sie schieden zum erstenmal, jedes in sich zurückgedrängt und entfremdet.

Sie erkaltet wohl nun auch, sagte Luise betrübt. Sie hat eine Andre in mir, nur um des Bruders Willen, geliebt. So fällt eines nach dem Andren ab, und zerstreut sich in einem Leben, das ich fliehen muß. Sie lehnte sich gedankenvoll an’s Fenster, und sah dem wegrollendem Wagen nach, als Fernando, in reicher Uniform, an Francescas Seite vorüber ritt. Er redete mit dieser, und blickte auf zu Luisen, welche schnell zurücktrat. So hatte sie beide in Julius frühester Schilderung zuerst gesehen. Das war das erste Bild, das sich von beiden in ihre Seele drückte. Der Kreis ihres damals beginnenden Lebens schien nun geschlossen. Jetzt wie damals ging er, einer Erscheinung gleich, an ihr vorüber. Von nun an, sagte sie, will ich ihn nicht wieder sehen. Sie wußte durch den Obristen, daß er französischer Offizier, und nicht aus eignem Triebe, sondern in Aufträgen, in der Residenz war. Sie beschloß, diese so schnell als möglich zu verlassen, und sich für immer in den dichten Mauern des Falkensteins vor jeder neuen Störung zu bewahren.

Noch am selben Abend ward ihr Minchens Ankunft gemeldet. Diese kam, sie von des Onkels Tod161 zu benachrichtigen, und sich sodann bei der einzigen Verwandtin ihrer Mutter hier in der Stadt aufzuhalten.

Liebes Kind, sagte ihr Luise, wir sind wohl beide mit unsren Anforderungen an die Welt fertig. Wir bleiben nun zusammen, und flechten, wie ehemals, Veilchen - und Cyanenkränze, und lassen sie nun über Julius stilles Grab in den Zweigen spielen. Das bescheidene Mädchen hatte nie so große Hoffnungen gehegt, und ähnliche auffliegende Wünsche schnell unterdrückt. In großer Rührung fühlte sie sich jetzt zu der Jugendgespielin hingezogen, die ihr so liebreichen Schutz anbot. Luise aber sah in das bleiche Gesicht ihrer neuen Gefährtin, wie in den Mond, der eine stille[Winternacht] erhellet. Der flüchtige Tagesschein ihres jungen Lebens war beiden untergegangen. Wünsche und Erwartungen, ruheten in dem heiligen Schooß des innren Daseins, aus welchem späterhin der neue Morgen hervorgehen soll; aber Minchens Blick und Gruß rührte die stille Nacht an, und warf einen milden Silberschein über die schlafende Welt, die nun in Erinnerungen fortträumte, und ihr innigstes Leben nicht verbergen konnte.

Noch vor ihrer Abreise erhielt Luise folgenden Brief von Augusten:

» Ich müßte verzweifeln, wenn sich der Mensch162 überall selbst verlieren könnte. Aber das drückendste im Leben ist, sich zu kleinen Zwecken in fremder Willkühr gehalten zu sehn.

Sie kennen meine schuldlose Spielerei an jenem Abend. Wem das Böse fremd ist, der ahndet es auch da nicht, wo es ihm ganz nahe tritt. Ich begegnete Ihnen, in der Absicht, mit Werner zur Baronin zu fahren. Die Nacht war dunkel, keine Laternen brannten mehr in den Straßen, mein Begleiter unterhielt mich mit großer Lebhaftigkeit, und verwickelte sich immer mehr durch neue Entdeckungen, an denen ich mich dergestalt ergötzte, daß es mir entging, als wir aus dem Thore auf abgelegenem Wege fuhren. Endlich hielt der Wagen. Ich sah der Entdeckung mit großer Lust entgegen, als der Maler an den Schlag trat, und ungeduldig rief: schnell Werner, wir haben keine Zeit zu verlieren. Dieser bot mir den Arm, und ohnerachtet mich jene Worte befremdeten, so stieg ich dennoch in der Erwartung aus, die Sache nun beendigt zu sehn. Es war so dunkel, daß man keine Hand vor Augen sahe. Geschwind, geschwind, rief der Maler auf’s neue. Nun, erwiederte Werner, mich zu ihm führend, mäßigen Sie Ihre Ungeduld, da ist sie. Was zum Teufel, schrie jener, noch Eine! Noch Eine ? fragte Werner bestürzt. Nun ja, sagte163 der Maler, Emilie ist dort im andern Wagen. Wir haben uns vollkommen verständigt. Sie willigt in Alles. Ich hatte die Maske abgenommen, und sagte mit meiner natürlichen Stimme: Erschrecken Sie nicht, Herr Werner, ich habe nur Ihren Gedanken ausgeführt, und als zweite Colombine Ihre Pläne und Absichten durchkreuzt! Auguste! riefen beide zugleich! Das ist eine schöne Geschichte, sagte Werner, unmäßig lachend. Ja, gnädige Frau, fuhr er fort, Sie erinnern sich, daß ich ein gegenseitiges Durchkreuzen der Pläne beabsichtigte. Dem sind Sie nun hülfreichst entgegen gekommen. Wir sind Alle in demselben Gewebe gefangen. Sie dürfen wir nicht freilassen. Sie müssen uns nun schon weiter begleiten, da Sie einmal bis hieher kamen. Sie wollten uns anführen, wir müssen Sie entführen, und zwar nach Italien, wohin unser Weg geht. Ich schrie bei diesen Worten aus Leibeskräften um Hülfe, allein beide Männer faßten mich unter die Arme, und schleppten mich in den Wagen, der, ehe ich mich besinnen konnte, unaufhaltsam fortrollte.

So führten sie mich nun, von Station zu Station, wie eine Gefangene, aus Furcht, daß ich sie verrathen werde, mit sich fort. Heute, da Emilie des Malers Frau geworden ist, und sie164 überdem einen großen Vorsprung gewonnen haben, hat man mir erlaubt, zu schreiben, weil es mir unmöglich ist, ohne Geld allein zurück zu kehren. Ich bin durch Noth an diese elende Seelen gebunden, die durch Betrug erringen, was der kühne Sinn in offner That erzwungen hätte. Eilen Sie daher, mir durch meinen Sachwalter Geld nach Venedig zu schicken, von wo aus der Maler verspricht, es in meine Hände zu besorgen, da er mir weder über die Richtung unseres Weges, noch über den Ort unseres Aufenthalts, etwas Näheres sagen will.

Emilie ist kindisch mit allem Neuen was sie sieht, beschäftigt, und hofft nach einem Jahre auf die Verzeihung und Einwilligung ihrer Eltern.

Ich gönne ihr diese Hoffnung, von der es mir übrigens gleich ist, ob sie erfüllt wird, oder nicht, da sie in sich nichts bedeutet. Ganz anders beschäftigt mich meine Rückkehr, die ich Sie, so sehr als möglich, zu beschleunigen bitte. «

Luise besorgte den erhaltenen Auftrag, und sandte Stein sodann diesen Brief, der mit kalter Hand jede Erinnerung an Emilien niederschlug.

Ohne jene oft empfundene Scheu, in einer Art seeligem Erwarten, hatte Luise ihre Reise angetreten und zurückgelegt. Tage und Wochen waren ihr auf dem Falkensteine verflossen, mit dessen einsamen165 Schauern sie sich immer mehr befreundete. Das Dunkle, Fremdartige, war ihr näher getreten. Sie freuete sich selbst an den Bildern, die sie vormals schreckten. Deshalb war sie oft, in den weniger verzierten Zimmern nach der Waldseite, mit allem beschäftigt, was sie eine kurz verflossene Gegenwart vergessen machte. Wunderbar ergriff sie das Rauschen der hohen Tannen, jene dumpfe, hallende Töne einer verschollenen Natursprache, dem Menschen nur noch in wehmüthigen Ahndungen vernehmlich. Dazwischen murmelte der nahe Wasserfall aus dem geöffneten Mund der grauen Felsen, und darüber hin zogen Sterne herauf, in ihren bedeutsamen Bildern. Alles redete sie an, ernst, aber tief aus dem Herzen des Daseins hervor. Aber seltsamer und reicher gestaltete sich ihr die Nacht. Unaufhörlich träumte sie von den vormaligen Bewohnern des Schlosses. Ritter und Frauen, reich geschmückt oder in häuslicher Tracht, in Freude und Schmerz, bei festlichen Gelagen oder Kämpfen, immer traten sie, auf irgend eine Weise mit in ihr Leben verflochten, vor sie hin, und immer erschien sie selbst handelnd unter ihnen. Oft kehrten dieselben Gestalten wieder, unter ihnen besonders eine verschleierte Frau, die langsam durch die Zimmer des Schlosses schritt, und wenn sie vor das große Bild der Ahnfrau trat, die Schleier auseinder166 schlug, und Luisen in ihrer hohlen Brust ein blutiges, zitterndes Herz zeigte, um welches zwei kleine schwarze Schatten flogen und es unaufhörlich an - und abstießen. Sie erwachte dann wohl, von ängstigenden Tönen aufgeschreckt, und wenn sie sich recht besann, so war es der wahnsinnige Claus, der mit seiner Cither durch die Berge zog, oder auch an des alten Georg Fenster pochte, und ihn zu sich in die dunkle Nacht rief. Wie ein Schatten der vormaligen Zeit schlich dann am folgenden Morgen Georg durch das Schloß, und murmelte unzusammenhängende Worte. Luise fühlte sich wenig hierdurch gestört. Sie gewöhnte sich an Alles, ja die Träume wurden ihr lieb, sie setzten sie in geheime Verbindung mit der Vorwelt, die sie so wunderbar zu sich zurück zog.

Minchen hingegen, immer still und thätig wirkend, war längst der müßigen Beschauung entflohen. Der Frühling öffnete allmählich seine hellen Augen, und lockte den bunten Blumenschmuck aus der Erde. Minchen war vertraut mit dem zarten Leben der kleinen Pflanzen. Unter ihrer Pflege sprossen Krokos und Anemonen schneller hervor. Aufmerksam lauschte sie auf jede neue Entwickelung, und durchlief Feld und Garten und Wald, mit der unermüdlichen Theilnahme eines Herzens, das alles freuet und bewegt, was zur Lust und dem167 Heil der Menschen da ist. Als sie Luisen die ersten Veilchen brachte, sanken sie einander sprachlos in die Arme. Beide durchdrang das gleiche Gefühl. Es war ja der alte Frühling wieder, der sie heute wie ehemals, mit seiner süßen Milde berührte. Die Natur, groß und ewig, war ihren stillen Gang fort gegangen, unbekümmert um die widersprechenden kleinen Wünsche der Menschen. Und sollen wir nicht, sagte Minchen, durch stetes ruhiges Walten, uns selbst treu bleiben, wie die alte weise Führerin es lehrt! Die innigste Liebe trieb sie dann auf’s neue hinaus. Sie säete und pflanzte und ordnete, mit des Gärtners Hülfe, alles zu Luisens Freude. Dabei sammelte sie heilbringende Kräuter, die sie zu bereiten verstand, und rastete nicht eher, bis sie Kranke und Leidende fand, denen sie helfen, die sie heilen und pflegen konnte. Luise ward unwillkührlich in dies regsamere Leben mit hineingezogen. Nur gestaltete sich unter ihren Händen alles anders, größer, umfassender, als es Minchen, an beschränktere Mittel gewöhnt, wünschen durfte. Schon bei dem Anblick der fast sterbenden Marie, war es ihr anschaulich geworden, wie man das Leben und die Gesundheit der Menschen bei weitem nicht heilig genug halte, und durch Unachtsamkeit auf den bedürftigern Theil derselben, manchen Mord begehe. Besonders hatte168 sie auf dem Lande genugsam Gelegenheit gehabt, zu sehen, daß ansteckende Krankheiten, aus Mangel an Raum, den Kern so manches Daseins für immer vergifteten. Sie beschloß daher, am Fuße des Schloßberges, auf einem freien, und dennoch geschützten Platze, ein Gebäude zur Aufnahme hülfsbedürftiger Kranken errichten zu lassen; darneben sollte ein Garten angelegt werden, theils zur Erheiterung der Genesenden, theils darin Klima und Boden angemessene Heilpflanzen und Kräuter zu ziehen. Die innre Oekonomie des Ganzen sollte bejahrten Männern und Frauen anvertraut werden, welche auf die Weise, zu gröberer Arbeit untauglich, hinreichenden Unterhalt fänden. Minchen berechnete sogleich, wie man auch verwaiste Kinder bei der Anstalt versorgen, und zu nützlicher Thätigkeit anführen könne, und zwar, indem man den Knaben die Bearbeitung des Gartens, den Mädchen aber das Spinnen und Weben der nöthigen Wäsche für die Kranken übertrüge. Je näher beide den Entwurf betrachteten, je lebhafter ward der Wunsch in ihnen, die Ausführung desselben ins Werk zu richten. Luise fühlte indeß bald, daß sie trotz allem Aufwand von Kräften, dennoch fremder Hülfe dazu bedürfe. Sie wandte sich daher an ihren alten Freund, den Arzt, dem außer den erforderlichen Kenntnissen seines Faches, eine169 umfassende Bildung, und besonders Anschaulichkeit und Maaß für die verschiedenen Verhältnisse äußrer Anordnung, ja eine große mechanische Tüchtigkeit ganz zu eigen war. Seine Vorschläge waren durchdacht, standen auf allen Seiten fest. Luise hatte ihn ganz auf seinen Platz gestellt. Ihr Antrag ehrte ihn, und er leitete die Arbeit mit Genauigkeit und Fleiß. Minchen fand bald verlassene Kinder und freundliche Alte, die für ihren Zweck paßten. Alles war eingeleitet, und Eines trieb frisch und freudig das Andere. Luise sah mit steigender Freude den Fortschritten des Baues zu. Nach Monathen stand endlich das helle, freundliche Haus da. Keine Inschrift, keine Spur der Eitelkeit zog die Aufmerksamkeit des müßigen Beschauers auf sich. Still sah es zwischen hohen Bäumen hindurch, die es von der Nord - und Ost-Seite schützten, südlich zog sich der Garten hin, von lebendigen Hecken eingefaßt; alles höchst einfach und anspruchslos. Unmittelbar hinter diesem breitete sich eine frische Wiese aus, die dem Auge einen weiten, freien, Horizont eröffnete. Nach dieser Seite zu, lagen die Krankenzimmer, geräumige Säle, an deren Fenster sich Wein und Epheu hinaufrankte, ohne jedoch die Aussicht ganz zu verdecken. Die Wände waren grün gemahlt, oberhalb in schmale weiße Felder getheilt, welche Frucht - und Blumen-Kränze170 einfaßten, in diesen Feldern standen Biblische Sprüche sehr groß geschrieben, zur Erbauung und zum Troste der Leidenden.

Zu große Entfernung hinderte den Arzt, fortwährend Theil an dem glücklich eingeleiteten Geschäfte zu nehmen. Er empfahl daher Luisen einen Mann von reifen Jahren, einen Chirurgus des nächsten Städtchens, der im Druck und der Beschränktheit sein Gemüth befestigt, und seinen Geist still fortgebildet hatte. In einem hohen Grade mild und selbstverläugnend, paßte er sich ganz zum steten Beobachter vieler Unglücklichen, die Trost und Heil von ihm erwarteten. In dankbarer Rührung nahm er Luisens Vorschlag an, worauf er sofort ein Zimmer in dem neuerbauten Hause bezog. Minchen ging ihm fleißig an die Hand, Aufmerksamkeit und Erfahrung hatten sie schon zu so manchem richtigen Schluß geführt. Besonders verstand sie sich auf die Anwendung selbstgezogener Kräuter, und Bereitung von Säften und Getränken. Luise konnte nicht sowohl selbst Hand anlegen, als mit schnellem Blick das Fehlende erkennen, und ihm durch gehörige Anordnungen abhelfen. Dennoch brachte sie viele Stunden des Tages bei den Kranken zu. Ihr bloßes Erscheinen, und der sanfte ergebene Ernst in ihren Zügen wirkte wohlthuend auf die Gemüther. Auch kam171 sie selten mit leeren Händen. Immer fand sie etwas aus, was den Ermatteten erquicken, den Schmrrz des Leidenden lindern, oder den Muthlosen überraschend anregen konnte. Willig las sie denen aus der Bibel vor, die gern den gesunkenen Sinn in den Quell des Lebens erfrischen mögten. Besonders aber war sie den Kindern eine liebe Mutter, die ihr schon immer von fern die Händchen entgegenstreckten, um die mitgebrachten Bilder und Spielereien in Empfang zu nehmen.

Der Ruf einer so milden Stiftung, auf der sichtlich Gottes Segen ruhete, da alles den erwünschtesten Erfolg hatte, mußte sich hald verbreiten. Von nah - und fernen Ortschaften schleppten sich Kranke herbei, oder ließen sich fahren und tragen, um nur unter den segensvollen Händen der Dame vom Schlosse zu heilen. Luise mußte bald eine strenge Auswah! unter ihnen treffen, und konnte nur diejenigen aufnehmen, welchen wahrhaft äußre Mittel zu ihrer Wiederherstellung fehlten, um nicht über das Maaß ihrer Kräfte hinausgetrieben zu werden. Dennoch ward sie als Heilige geehrt und blieb immer gleich gesucht.

Unter so frommem Wirken ging die Zeit unmerklich an Luisen vorüber. Die Jahreszeiten wechselten, aber das stille Leben blieb ununterbrochen dasselbe. Zuweilen erhielt sie Briefe vom Obristen,172 der, recht im Gegensatz mit ihr, scharf und entscheidend in die Welthändel eingriff, und jetzt auf auf einem Zuge gegen die Kaukasische Tartaren vorrückte. Er fürchtete, lange nicht nach Europa zurückzukehren, wohin ihn doch Luisens Andenken unverändert rief. Sie erzählte ihm dafür gern alles, was auf den wieder errungenen Frieden ihres Herzens Bezug hatte, und betrachtete überall diesen Briefwechsel als eine liebe Zugabe ihres anderweitigen, heitren Lebens. Weniger erfreulich waren ihr die Nachrichten, welche sie von Zeit zu Zeit von ihren Freunden aus der Stadt erhielt. Auguste hatte bei ihrer Rückkehr mit aller Anstrengung und allem Gewicht ihrer Sentenzen nichts gegen die Stimme der Welt ausrichten können. Der Schein war gegen sie; man glaubte sie in den bösen Handel verstrickt, und alles, selbst der Engländer, der vor ihr angekommen war, wandte sich von ihr ab. Sie schrie und schimpfte und haßte nun die englische Nation, wie sie sie vormals geliebt hatte. Die Baronin blieb ihre ärgste Feindin, da diese sich mit scheinbarer Kälte auch von der eignen Tochter wenden zu müssen glaubte, um ihr Gewicht in der Meinung der Menschen nicht zu verlieren. Von Emilien erfuhr man wenig, da die Mutter nie, und die Welt selten noch von ihr sprach. Frau von Seckingen war endlich durch den Tod ihres Mannes in den173 Stand gesetzt, Horst ihre Hand zu geben. Sie besaßen nun beide, was sie wünschten, und schleppten ein nüchternes Dasein neben einander hin. Luise betrachtete mit Wehmuth all die mannichfachen Verirrungen, und wie so viel gute Menschen sich selbst täuschen. Sie redete einst mit Minchen darüber. Allein diese erwiederte: ich weiß nicht recht, was das eigentlich heißt, wenn man von der Liebe eines Menschen sagt, er täusche sich selbst. Was doch so recht innig und lebhaft das ganze Wesen erschüttert, das ist doch da, und wirklich, wo ist denn nun die Täuschung? Am wenigsten mag ich es leiden, wenn die Leute selbst nach kurzer Frist ein Gefühl so nennen, was ihnen doch für Augenblicke höher als ihr eignes Leben war. Ich glaube, erwiederte Luise, man kann jeden Mißgriff wohl mit Recht eine Täuschung nennen. Das Gefühl selbst ist kein trügerisches Spiel, aber seine Beziehung kann falsch sein, und man darf in den vielen vorüberrauschenden Neigungen nichts Ewiges sehen, als die unendliche Sehnsucht nach einer unwandelbaren Liebe. Aber, fiel Minchen ein, sollen die armen Betrognen erst Menschenalter durchleben, um zu wissen, welches die rechte Liebe sei? Das ist ein Geheimniß, sagte Luise, welches die Liebe jedem in sich selbst offenbart.

Während sie so redeten, trat der Mönch unerwartet zu ihnen in’s Zimmer. Er war lange in Geschäften174 seines Ordens verreist gewesen, auch hatte Luise ihn bis dahin vermieden, aus Furcht, schlafende Erinnrungen zu erwecken. Sie mußte heftig weinen, als sie ihn sah. Zugleich aber strömte auch in seiner Nähe mancher verhaltne Schmerz aus. Sie fühlte sich bald erfrischt und gestärkt. Er verstand sie wohl. Auch in ihm regte sich die Vergangenheit lebendiger bei ihrem Anblick. Liebes Kind, sagte er in großer Rührung, glaube es nur, der rechte Mensch in uns altert nie! Was Dich bewegt, das zittert noch durch meine ganze Seele. Luise betrachtete ihn lange schweigend. Es war das erstemal, daß sie ihn nach jener Entdeckung wiedersah. Eduard von Mansfeld, sagte sie, an das kleine Miniaturbild und die Schilderung der Markise denkend, wie anders, und doch wieder so ganz derselbe. Was sind denn Zeit und Jahre; klingt doch die alte Liebe immer wieder aus den Tiefen des Herzens herauf. Alles in ihr zog sie von da zu dem geliebten Verwandten, der sie gern aufsuchte und mit Liebe in ihren thätigen, beglückenden, Beruf eingriff. Und wenn das fromme Tagewerk nun vollendet war, so saßen sie die Abende vertraut bei einander, und keiner scheuete, in sich zurückzublicken, und die geheimsten Gedanken auszusprechen. Eduard erzählte oft von seinen Reisen, seinem langen Aufenthalte in Aegypten, und wie175 ihm dort Violas Tod so gewiß geworden sei, daß er nie mehr daran gezweifelt habe. Ein Eid, sagte er, den Violas Eltern ihn abgedrungen, sich nur in höchst entscheidenden Momenten, wo es das Leben des Einen oder Andern gelte, als Vater des Kindes zu erkennen zu geben, habe ihn immer von Fernando entfernt gehalten. Aber, fuhr er fort, des Menschen Vorsicht ist eitel, der Himmel macht sie meist zu Schanden. Wie lebendig, hub er nach einer Weile auf’s neue an, steht hier immer die Jugendzeit meiner Liebe vor mir! Es ist Violas Geist, der so wunderlich, so bunt und ernst in dem Schmuck und Zierrath der Zimmer lebt. Es ist, als sähe sie aus den übrigen dunklen Umgebungen, wie aus dem Grabe, nach mir hin. Er redete noch viel von ihr, und seine junge Freundinnen hörten ihm theilnehmend zu, als ein heftiger Knall im Zimmer sie alle aufschreckte. Wie sie sich umsahen, nahmen sie einen großen Riß in der Tapete wahr, die, an zwei Stellen geplatzt, sich weit auseinander rollte. Minchen trat mit einem Lichte näher. Seht doch! rief sie, wie seltsam! Sie fanden ein hohes, schwarzes Cruzifix, das in die Wand eingelassen war. Daneben sah man auf hölzernen Feldern Heiligen - und Märtyrerbilder, im ältesten Styl gemalt. Bei genauer Besichtigung entdeckten sie unterhalb einen kleinen eingemauerten Schrein, dessen Thüren sich176 leicht aufschieben ließen. Hier lag, neben Weihgefäßen und einem Rosenkranz, ein kleines Büchelchen, mit silbernen Nesteln zugehakt. Luise öffnete es zuerst. Unter Gebeten und Sprüchen, fiel ihr auf der innern Seite des Deckels eine feine Handschrift auf, die so lautete:

» Hier hab ich Gott all mein Herze gesagt und Trost erfunden in mancher Stund. Doch ist des Leides kein End, denn der Herr mag nicht wehren das Böse, bis es selbst versöhnt die eignen Schulden. Aber eine Zeit wird kommen, davon ist gesagt, daß ein frommes Auge mit heißen Thränen Aller Schuld abwaschen und Buße an Leib und Seele üben werde. Dann soll die Lust und die Ehre aus diesen Mauern ausziehn, und der Name Falkenstein verhallen, und Friede sein und Ruhe in den Gräbern. Denn der Herr zählet die Seufzer und Thränen, und giebt den Seinen was ihnen werden muß. Gertrud von Falkenstein. «

Das ist der Name der Ahnfrau, sagte der Mönch, der unter dem steinernem Bilde in Kloster eingegraben ist. Luise heftete ihre Augen noch immer auf die vor ihr liegenden Worte. Niemand sagte weiter etwas. Jeder war mit eigenen Gedanken beschäftigt, bei dem Anblick des Cruzifixes und seiner Ausschmückungen, die fast gewaltsam177 aus der alten Welt hervordrangen. In Luisen besonders bildeten sich längst gehegte Vorstellungen noch fester aus. Schon lange waren ihre Traumgesichte seltner und milder geworden. Die verschleierte Gestalt zeigte ihr meist ihr Gesicht, das unendlich wehmüthig und hold auf sie blickte. Alles deutete ihr die nahe Versöhnung.

Der Krieg war indeß fast in ganz Deutschland ausgebrochen, und trieb Luisen viel Unglückliche zu, die ihre Aufmerksamkeit mehr als jemals in Anspruch nahmen. Unter den gehäuften Beschäftigungen hörte sie dennoch theilnehmend, daß Stein mit den Kämpfenden war, und sich mit allem neu erwachtem Lebensmuth auszeichnete.

Trotz der allgemeinen Unruhen blieb ihre Einsamkeit von Störungen verschont. Sie mußte ihr stilles Loos seegnen, das ihr so glücklich den Schutz der Bedrängten gewährte, ohne sie in den wilden Wirbel mit hinein zu ziehn. Der Mönch hingegen, ward lebhafter durch die nächste Ereignisse angesprochen. Fernando war auf’s neue in seiner Nähe. Er wünschte und fürchtete ihn zu sehn. Als darauf aber der Friede geschlossen war, und der siegreiche Feind dennoch weilte, hoffte er mit wachsender Sehnsucht auf die letzte Umarmung seines Sohnes. Luise blieb sehr entfernt von ähnlichen Gedanken. 178Seit der Krieg ihr jedes Mittel, von den Obristen Nachricht zu erhalten, abschnitt, bekümmerte sie sich wenig mehr um Dinge, die außer ihrem Kreise lagen. Sie fragte nicht, und erfuhr daher auch selten, was Tausende unruhig beschäftigte.

Als sie eines Tages ihre Kranken besuchte, und einem schönen, eben genesenden, Knaben liebkosete, und ihm allerlei Spielwerk mitbrachte, bat sie dieser, mit ihm in Garten zu gehn, wo so viel schöne Blumen blüheten. Es war ein warmer Maitag, und sie mochte ihm wohl den Gefallen thun. Das Kind war aber noch matt, und konnte nicht weit gehn. Sie führte ihn also in eine Laube, und nachdem sie ihm hohe Wasserlilien und Kalmus gepflückt hatte, setzte sie sich zu ihm, lehrte ihn von den gespaltenen Stielen und langen Blättern schöne Ketten machen, und erzählte ihm da von dem Jesuskinde aus einem bekannten Volksbuche, wie es so gern mit andern Kindern gespielt, und dabei alles zum Besten gewandt und den Bekümmerten geholfen habe. Einst, sagte sie, war Jesus nah bei einem Brunnen und setzte sich auf einen Stein, da kam ein Kind mit einem Kruge, um Wasser zu schöpfen, aber es ließ den Krug fallen, und der Krug zerbrach in tausend Stücke. Als das Kind nun so sehr weinte, und sich vor seiner179 Mutter fürchtete, da streichelte ihn Jesus mit den kleinen Händchen, und sagte, weine nicht, ich will dir helfen, geh nur und hole mir die Scherben, und da diese nun vor Jesum lagen, da machte er den Krug wieder ganz, so daß man nicht sehen konnte, daß er zerbrochen gewesen war. Eben wie sie die letzten Worte sagte, fiel nicht weit von ihr ein Schuß. Der kranke Knabe schreckte heftig zusammen, und barg den Kopf in ihren Schooß. Luise redete ihm zu, und suchte ihn auf alle Weise zu beruhigen, als sie selbst durch ein ungewöhnliches hin und her Laufen außerhalb des Gartens verstört ward. Sie wollte nach der Thür eilen, konnte aber wegen des Knaben nur langsam gehen. Dieser hatte mit einer Hand seine Blumenbüsche zusammen gefaßt, und hielt mit der andern die Kette und Luisens Kleid. So schlichen sie an der Hecke entlang, als plötzlich hinter derselben ein Mann, wild und verstört, vor Luisen hinstürzte, und heftig rief: Sie werden mir fluchen, Sie müssen mir fluchen, gewiß, gewiß, ich habe ihn ja ermordet! Sie erkannte schaudernd den Jagdjunker, und wie ein Blitz fuhr der Sinn seiner Worte durch ihre Seele. Fernando! rief sie. Ja, ja schrie Carl, da tragen sie ihn hin. Luise sah auf, zwei Männer hoben eine Tragbahre in das Haus180 hinein. Tod? fragte sie sanft, und aller Schmerz eines langen Lebens preßte sich in einzelne herabrollende Thränen zusammen. Noch nicht, aber bald, erwiederte Carl. Sie reichte ihm die Hand. Lassen sie mich ihn noch einmal sehen, sagte sie, jetzt habe ich nichts mehr zu scheuen, die Stunde versöhnt uns alle. Der Knabe drängte sich furchtsam an sie, er wollte nicht von ihr weichen, und sie konnte ihn jetzt am wenigsten hart zurückweisen. So traten sie in das Krankenzimmer. Fernando lag auf einem Sessel der Thür gegenüber. Er richtete sich völlig auf, als Luise nahete. Gott mein Gott! rief er die Arme ausbreitend, so finden wir uns dennoch wieder! aber wiederkehrende Schmerzen überwältigten ihn bald, und rissen ihn wimmernd auf sein Lager zurück. Luise kniete neben ihm, der Knabe reichte dem Kranken unaufhörlich seine Blumen hin, und sagte, er solle nur still sein, Jesus werde ihn bald helfen, der habe ihm auch geholfen. Fernando mußte endlich die Blumen nehmen, ihr frischer Duft belebte ihn für einen Augenblick, er küßte des Knaben Stirn, welcher[ihm] auch nun die schöne Kette zeigte, und sie[spielend] um ihn und Luisen schlang. Jesus Christus sei gelobt! rief Fernando, Luisens Hand ergreifend, sein Auge brach, er sagte nichts mehr. Da trat181 der Mönch herzu, er legte seine Hand segnend auf des Sohnes Stirn, und ließ ihn still an seiner Brust verscheiden.

Als er nun neben Julius begraben, und alles ruhiger und seliger in Luisen war, erfuhr sie durch Carl, wie eine unbedeutende Neckerei, beide bei zufälligem Zusammentreffen im nächsten Städtchen aneinander brachte, daß Fernando darauf nach dem Kloster geritten, Carl ihm aber in seinem Grimm gefolgt sei, und der hitzigste Wortwechsel zuletzt Blut gefordert habe. Fernando war an derselben Stelle gefallen, wo ihn Julius früher verwundet hatte. Gott hat es so gewollt, tröstete ihn Luise. Das war schon längst bestimmt, und Sie ein unschuldiges Werkzeug ewiger Vergeltung.

Sie lebte von da noch viele Jahre ein stilles, erbauliches Leben, durch nichts unterbrochen, weder in übergroßer Freude noch Schmerz. Der Obrist ward durch seinen Beruf und Familienverhältnisse gezwungen, von ihr entfernt, im Nördlichen Asien, den wichtigen Posten eines Gouverneurs dortiger Provinzen zu übernehmen. Er bewahrte immer eine treue Liebe für Luisen, und starb endlich unvermählt. Minchen blieb Luisens treue Gefährtin. Einst erschien dieser nach langer Zeit die Ahnfrau wieder im Traume, jugendlich und reich geschmückt,182 wie sie sich zu ihr neigte, und sie küßte. Noch selbigen Tages schloß Luise die müden Augen, nachdem sie ihre fromme Stiftung dem Kloster vermacht, und Minchen zur Vorsteherin derselben ernannt hatte.

Druckfehler des ersten Theils.
Seite 35 Zeile 17 lies:das vermag Gott, statt: das mag Gott.
42 11 reichen Gewinnes st. reinen Genusses.
53 2 solche st. solcher
56 10 kärglich st. täglich
74 8 verstimmt st. verstummt
77 22 Froste st. Ernste
79 20 den st. denn
96 8 Warum auch nicht? st. Warum auch die?
109 17 beider st. bei der
121 23 mußdas Komma hinter Sinnen weg und hinter[ verloren], Z. 24 kommen.
125 21 lies:walzte sogleich st. walzte zuerst
128 23 betreten st. berühren
134 4 den Umgang der Männer, obnerachtet ihres frühen Zurückziehens st. des Umgangs der Männer obnerachtet, ihr frühes Zurückziehn.
166 20 erkauft st. gekauft.
Des zweiten Theils.
Seite 97 Zeile 11 lies:an den st. an dem
156 13 Trümmer st. Träume
158 6 schonend st. versöhnend
161 15 Winternacht st. Mitternacht
180 23 ihm st. ihn
24 spielend st. lispelnd.

About this transcription

TextDie Frau des Falkensteins
Author Caroline de la Motte Fouqué
Extent186 images; 35262 tokens; 6984 types; 224463 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

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Bibliographic informationDie Frau des Falkensteins Zweites Bändchen Caroline de la Motte Fouqué. . HitzigBerlin1810.

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LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; ready; dtae; women

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