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Jahrbuch für Volks - und Jugendspiele.
Vorsitzenden des Zentral-Ausschusses zur Förderung der Volks - und Jugendspiele in Deutschland.
Neunter Jahrgang 1900
Leipzig,im Jahre1900.
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R. Voigtländer’s Verlag.
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Das Fußballspiel im Jahre 1899.

Im verflossenen Jahre hat das Fußball - spiel in Deutschland so sehr an Umfang und Bedeutung zugenommen wie noch in keinem früheren. Ersichtlich hat sein Betrieb überall im Deutschen Reiche sich weiter aus -gedehnt, und das dem Spiele zugewandte Interesse hat sich gleichfalls ungemein gesteigert. Die Jugend der höheren wie der unteren Schulen widmet einen großen Teil ihrer freien Zeit dem Spiel und ebenso von den Erwachsenen zahlreiche Turner, Spielvereine und Sportklubs.

Das große Ereignis des Jahres vom sportlichen Standpunkte aus war der Besuch, den eine vom Hauptverbande der eng - lischen Fußballspieler entsandte Mannschaft in Berlin, Karlsruhe und Prag abstattete. Es ergab sich dabei leider, wie wenig einig unsere deutschen Spielvereinigungen untereinander sind. Mit Recht haben sich von vornherein eine Anzahl der wichtigsten und besten deutschen Spielverbände von den Wettspielen, die den stolzen Titel führten: Deutschland gegen England grundsätzlich ferngehalten und ihren Angehörigen die Teilnahme daran streng verboten. Immer - hin waren die deutschen Mannschaften, die sich mit den Engländern in Berlin und Karlsruhe gemessen haben, stark genug, daß die Wett - spiele als solche manche gute Lehre für unsere deutschen Fußballspieler220 haben geben können. Und von diesem Standpunkte aus mußten auch wir hier darauf eingehen. Die Engländer haben bis jetzt einen wesent - lichen Vorteil vor uns voraus: daß ihre Leute schon von jung auf mit dem Balle umgehen lernen und so eine weit größere Herrschaft über ihn gewinnen. Da jetzt auch schon unsere Zehn - und Elfjährigen eifrig üben, wird dieser Vorzug der Engländer bald dahingeschwunden sein. Hoffentlich geht’s so auch mit dem zweiten Vorzuge. Unsere Leute können durchschnittlich weniger gut laufen, weil sie im Genusse des Alkohols, besonders des Bieres, nicht mäßig genug sind. Und endlich, die Engländer wissen, daß der gute Fußballspieler nicht bloß spielen, sondern auch sonst seinen Leib gehörig üben muß. Der bessere Turner wird in zweifelhaften Fällen stets auch der bessere Fußball - spieler sein. Offenbar verdankt die Altonaer Fußballmann - schaft diesem Vorzuge, daß sie in Deutschland augenblicklich als eine der tüchtigsten, ich möchte sagen, als die tüchtigste dasteht. Auf die verschiedenen Wettspiele, in denen sich die Altonaer dieses Ansehen erworben haben, näher einzugehen, würde hier zu weit führen. Im all - gemeinen stehen die besten Vereine in Hamburg-Altona jetzt unbedingt mindestens mit den zum Teil älteren Berliner Klubs auf einer Stufe in Bezug auf die Tüchtigkeit im Spiele. Die Leipziger Turner haben, offenbar weil sie sich nicht mehr mit würdigen Gegnern in ihrer Heimat messen, nicht so große Fortschritte gemacht. Doch zählen auch unsere westlichen Vereine am Rheinstrom sehr tüchtige Spieler in ihren Reihen.

Einen besonderen Ruhm teilen die Altonaer, Bonner und Leipziger Turner von lange her, daß sie unbedingt anständig spielen. Leider kann man das nicht von allen Berlinern sagen. Es muß freilich durchaus anerkannt werden, daß von den besseren Elementen der Fußballwelt in Berlin die tadelnswerten Ro - heiten, deren sich manche Klubs dort schuldig machen, in sehr strenger Weise gerügt worden sind. auch wird von diesen gegen alle solche Ausschreitungen, wie sie unser Spiel in Verruf bringen, ein ent - schiedener Krieg geführt. Doch bis jetzt nicht mit ausreichendem Er - folge. Als die Altonaer am ersten Ostertage mit einem der best - angesehenen Berliner Klubs ein Wettspiel ausfochten, mußten sie auch in der Beziehung unliebsame Erfahrungen machen und klagten nachher über die wenig feine Spielweise ihrer Gegner. Auch hierfür hat der Besuch der Engländer eine heilsame Lehre gegeben: der bessere Spieler ist immer derjenige, der am anständigsten spielt. Wenn jeder Kaiser unserer Fußballmannschaften diese Lehre ernstlich beherzigt, wird es bald besser damit werden.

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Sehr wichtig ist die frühe Gewöhnung der Jugend an unbedingte Rücksichtnahme auf den Gegner. Deshalb erscheint es um so erfreu - licher, daß die Turnvereinigung Berliner Lehrer sich in diesem Jahre für eine eifrige Pflege des Spiels nicht nur an den höheren Schulen, sondern auch an den Volksschulen ausgesprochen hat. In früheren Jahren hatten sich gerade manche Berliner Turner mit viel Nachdruck gegen das Spiel ausgesprochen. Und so war denn die Sorge für die Ausbildung des jugendlichen Nachwuchses fast aus - schließlich den Sportvereinen selbst überlassen. Soll das Spiel, wie der betr. Beschluß der Berliner Lehrer ausdrücklich verlangt, in turnerischem Sinne betrieben werden, so müssen eben die Turnlehrer sich seiner Pflege gründ - lich annehmen. Das wird allen wahren Freunden des Spiels im höchsten Grade erwünscht sein, da es dadurch nur an Feinheit ge - winnen kann und vor Ausartungen möglichst geschützt wird. Möge der betreffende Beschluß der Berliner Lehrer von solchen segensreichen Folgen begleitet sein, damit die Berliner Fußballvereine, die ihrem Umfange nach sicherlich alle anderen deutschen übertreffen, sich auch durch ihre Spielweise vorteilhaft auszeichnen!

Eine bekannte englische medizinische Zeitschrift, The Lancet , lieferte früher alljährlich einen Schauerbericht über die beim Fußball vorgekommenen Unglücksfälle. Deutsche Blätter, die gelegentlich gern ihren Lesern das Vergnügen des Gruselns machen, druckten stets eifrig diesen Bericht nach und knüpften einige absprechende Bemerkungen über das Spiel daran. In diesem Jahre hat sich die Lancet bekehrt; sie bereut, daß sie früher gegen den Fußball gewesen sei wegen seiner Gefährlichkeit, findet nun, daß ein heilsamer, kräftiger Sport nicht ohne gewisse Gefahren möglich sei, daß deren Zahl beim Fußball ver - hältnismäßig gering sei, und stellt schließlich fest, daß die Unglücks - fälle jetzt viel seltener vorkommen. Zu ihrer Belehrung hat sehr viel das großartige Wettspiel beigetragen, das am 15. April im Krystall - pallast in London vor einer Zuschauermenge von 80 000 Mann statt - gefunden hat. Die ersten englischen Staatsmänner, Lord Roseberry und Balfour, verteilten die Preise. Die Spieler waren die besten, die England stellen konnte. Jeder gute Spieler, schreibt die Lancet , vermied streng alle unschönen und unrichtigen Mittel. So viel erhellt jedenfalls auch aus dieser Thatsache, daß Fußball durch Roheit ver - liert und geradezu entartet, daß dagegen feines Spiel nichts als ge - fährlich anzusehen ist.

Die Geschichte des Fußballspiels in Deutschland hat222 ihren Anfang in Braunschweig genommen. Wie weit liegen doch jene Zeiten zurück, als in Frankfurt und in Hamburg in allen Spielwarenhandlungen kein Fußball aufzutreiben war und der Turn - inspektor Aug. Hermann den ersten Ball aus England kommen ließ für den Herbst des Jahres 1874! Das Braunschweiger Gymnasium Martino-Katharineum war die erste Anstalt, die Fußball als Schul - spiel einführte, und meine Klasse war es, die in ihren Wettspielen gegen Mannschaften der ganzen anderen Schule zusammen mit den son - stigen Fußballspielern in Braunschweig die ersten Mal gewann. Noch bis in den Winter 1881 konnte meine Untersekunda es mit den besten Spielern der ganzen Anstalt aufnehmen und über die körperlich über - legenen Gegner durch größere Gewandtheit und treues Zusammenhalten einen Sieg nach dem anderen davon tragen. Bei der Feier des fünf - undzwanzigjährigen Jubiläums unseres Fußballvereins im Anfange dieses Herbstes durften wir uns mit hoher Freude dem Gedanken hin - geben, wie viel Nachfolge unser damals so vereinzeltes und so vielfach angefeindetes Vorgehen inzwischen gefunden hat. Im Gegensatze zu den meisten anderen deutschen Spielvereinigungen haben wir in Braunschweig den Fußball nie im Sommer getrieben, sondern nur im Winterhalbjahr. Allerdings haben wir uns dabei vor ungünstigem Wetter, selbst vor ein wenig Regen oder Schnee, auch vor dem Ostwinde nicht sonderlich gefürchtet. So kommt es, daß die Zahl der Spielnachmittage im Winter durchweg recht hoch gewesen ist. Nach den Eintragungen in unserem Spielalbum hat die Spiel - zeit durchschnittlich 16 Wochen betragen in jedem Schulhalb - jahr. Seit Michaelis 1892 ist die Teilnahme an den Schulspielen auch im Winter allgemein verbindlich. Während früher zweimal wöchentlich gespielt ward, am Mittwoch - und Sonnabendnachmittag, finden jetzt viermal in der Woche Schulspiele statt: am Dienstag spielt die obere Abteilung, am Freitag die untere mit verbindlicher Teil - nahme; am Mittwoch und Sonnabend wird außerdem freiwillig gespielt; daher ist jetzt im Halbjahre die Zahl der Spielnachmittage ins - gesamt bis auf 60 gestiegen. Bis 1893 ward von uns ausschließlich der gemischte Fußball (mit Aufnehmen) betrieben; in den Wettspielen mit Göttingen, Hannover und hiesigen Vereinen blieben unsere Schüler stets unbesiegt. Im Herbst 1893 sah ich mich veranlaßt, das einfache Spiel einzuführen, zunächst für die oberen Klassen, deren Vorgang auch die unteren bald nachfolgten. Unsere Fußballmannschaft hält sich auch in diesem Spiele wacker, doch steht sie keineswegs mehr auf der ersten Stufe in Braunschweig.

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Neuerdings ist in Braunschweig das in Wien beliebte Fuß - ballturnier mit Erfolg erprobt worden. Es empfiehlt sich für eine geringere Spielerzahl; auch ist es für den Zuschauer übersicht - licher und kommt der Einzelausbildung der Spieler zu gute. Der Platz dazu ist nur halb so groß wie der für gewöhnliche Wettkämpfe. Die Parteien bestehen aus je sechs Spielern, von denen drei als Stürmer in der ersten Linie stehen, zwei als Verteidiger in der zweiten, und der letzte als Thorwächter ganz zurückbleibt. Wer träge Schüler in Gang bringen will möge einmal mit dem Turnier einen Versuch machen. Auch weniger eifrige Leute werden leicht dabei warm, wenn sie sehen, daß es auf sie ankommt. Es kommt dabei eben der Einzel - spieler mit seinen Leistungen mehr zur Geltung. Feineres Zusammen - spiel aber wird sehr erschwert dadurch, daß die Markmänner (die Ver - bindung) fehlen.

Schnell hat in der Zeitschrift für Turn - und Jugendspiel kürz - lich einen sehr anerkennenswerten Versuch gemacht zur Reinigung der Fußballsprache von dem barbarischen Kauderwelsch, mit dem sich manche Fußballspieler und selbst die Berichterstatter in den sportlichen Blättern besonders zu gefallen scheinen. Der Einfluß turnerischer Zucht würde auch in dieser Beziehung dem Spiele sehr zu gute kommen können. Unsere Jugend muß von früh auf richtig gewöhnt werden. Dann wird sie nicht von Goal reden und nicht von Kicken u. s. w. und wird, wenn sie heranwächst, einen kräf - tigen Widerwillen empfinden, wenn sie in einem deutschen Blatte ein künstliches imitiertes Engländertum sich breit machen sieht. Leider scheint augenblicklich die Unsitte noch im Wachsen zu sein; las ich doch kürzlich in einem Wiener Blatte einen Spielbericht, der mit den Worten anfing: Den Ankick hatte ! Es erscheint dringend wünschens - wert, daß für das Fußballspiel eine ähnliche Arbeit geleistet wird, wie sie Freiherr von Fichard für das Lawn Tennis auf Veranlassung des Deutschen Sprachvereins angefertigt hat: ein Verzeichnis aller ge - bräuchlichen Kunstausdrücke mit treffenden Verdeutschungen. Damals, als ich die erste deutsche Übersetzung der englischen Fußballregeln herausgab, habe ich sehr streng alle Sprachmengerei vermieden; eine große Anzahl der von mir gewählten Kunstausdrücke sind auch all - gemein angenommen; inzwischen hat sich aber eine große Zahl neuer Ausdrücke nötig gemacht. Auf Grund der Schnell'schen Vorschläge würden sich jetzt von dazu berufener Seite gewiß Übersetzungen finden lassen, die auf allgemeine Anerkennung rechnen dürften.

Zum Schluß noch einige Worte über den Fußball in224 fremden Landen. Italien, das Heimatland des modernen Spiels, hat angefangen, wieder sehr eifrig zu spielen. Wenigstens schreibt man aus Turin, daß auf der großen Piazza d'Armi täglich eine Menge Fußbälle zu sehen sind, und daß Sonntags das Feld mit Hun - derten von Spielern einen großartigen Anblick bietet. Auch in anderen norditalienischen Städten, wie in Genua, wird eifrig gespielt. Zu den leidenschaftlichsten Spielern zählen die Studenten. In Öster - reich huldigt auch das Militär zum Teil dem Spiele. Die Offiziere des Turn - und Fechtlehrerkursus in Wein-Neustadt haben sich in dem prachtvollen Parke der Akademie, einem der besten Wiener Klubs, den Cricketern, entgegengestellt und in dem Wettspiele, wenn sie auch aus Mangel an Übung unterlagen, gutes Zusammenspiel und Taktik, Mut und rasche Entschlossenheit bewiesen. Aus Kiautschou wird berichtet, daß dort Angehörige unserer Marine vor den Augen des Prinzen Heinrich untereinander Fußball gespielt haben. Wenn dieser Bericht auf Glaubwürdigkeit Anspruch machen darf, so wäre damit der beste Beweis geliefert, daß das Bestreben der Marinebehörden in Kiel, unter den Mannschaften und Angestellten den Sinn für kräftige Leibes - übungen zu wecken, vom besten Erfolge begleitet gewesen ist.

About this transcription

TextDas Fußballspiel im Jahre 1899
Author Konrad Koch
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Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Jurgita BaranauskaiteThomas GloningHeike MüllerJustus-Liebig-UniversitätNote: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien, Konvertierung nach DTA-Basisformat2013-05-14T11:00:00Z Google BooksNote: Bereitstellung der Bilddigitalisate2013-05-14T11:00:00Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic information Das Fußballspiel im Jahre 1899. Konrad Koch. E. von Schenckendorff, F. A. Schmidt (eds.) . R. Voigtländer's VerlagLeipzig1900. Jahrbuch für Volks- und Jugendspiele (9. Jahrgang) pp. S. 219-224.

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LanguageGerman
ClassificationGebrauchsliteratur; Sport; ready; dtae

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Anmerkungen zur Transkription:Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.

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  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-10T10:08:56Z
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