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Über Jugend - und Volksspiele.
Allgemein unterrichtende Mitteilungen des Zentral-Ausschusses zur Förderung der Jugend - und Volks - spiele in Deutschland.
Mitgliede des Hauses der Abgeordneten, Mitgliede des Ausschusses der deutschen Turnerschaft. Vorsitzende des Zentral-Ausschusses.
Jahrgang 1892.
Hannover-Linden. Verlag von Manz & Lange. 1892.
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1. Der erziehliche Wert der Jugendspiele.

Von Professor Dr. Koch, Braunschweig.

Wer den Entwickelungsgang eines Kindes mit Sorgfalt und Auf - merksamkeit verfolgt und das allmähliche Hervortreten der Leibes - und Geisteskräfte zu beachten versteht, wird über die große Wichtigkeit des Spieles für diese Entwickelung nicht im Zweifel sein. Im Spiel schafft sich das Kind seine eigene Welt! Bei seiner lebhaften Einbildungskraft wandeln sich ihm auch ernste Beschäftigungen, wenn es anders mit Herz und Seele dabei ist, leicht in ein heiteres Spiel. Es hat deshalb auch mehr als ein berühmter Erzieher den Ernst des Unterrichts dem Sinne der Jugend dadurch zu vermitteln gesucht, daß er ihn in das Gewand des Spieles hüllte.

Leider hat nun der Mißbrauch, den bisweilen das Ungeschick sich mit einer unrichtigen Vermischung von Spiel und Unterricht hat zu Schulden kommen lassen, von manchen Seiten einen ent - schiedenen Widerspruch gegen eine besondere Berücksichtigung des Spieles überhaupt wachgerufen. Es ist richtig, daß das sogenannte spielende Lernen über den Scherz leicht des nötigen Ernstes vergißt. Umgekehrt aber wird ein Lehrer, der sich nur an seine nächste Aufgabe hält und sich darauf beschränkt, unter Anwendung der Zuchtrute der Jugend das vorgeschriebene Maß Wissen einzuprägen, seine Pflicht viel - leicht nicht weniger schlimm vernachlässigen. Das Wort, daß der Mensch nur da ganz Mensch ist, wo er spielt, gilt im vollsten Maße vom Kindesalter. Die Gelegenheit, die das Spiel uns bietet, uns voll und ganz auszuleben, hat das Kind am nötigsten, damit in ihm die viel - seitigen Anlagen von Leib und Seele zur Entfaltung kommen können. Denn die Freude beim Spiele bringt die verschiedensten Kräfte in rege Thätigkeit. Wird dem Kinde diese Lebensbedingung nicht hinreichend geboten, so ist zu fürchten, daß es körperlich und geistig in der Entwicke -6 lung zurückbleibt und zu einer Mißgestalt, zum Krüppel heranwächst, wie die junge Pflanze, der es an Licht und Luft fehlt.

Es ist hier streng zu scheiden zwischen wirklichem Spiel und eitler Spielerei. Dieser ist es nur darum zu thun, die Stunden mühelos aber auch nutzlos auszufüllen. Das echte Spiel dagegen will nicht minder mit Anspannung aller Kräfte betrieben werden, als die Arbeit, nur daß dabei die Freiheit gewahrt bleibt. Das ist das untrügliche Kennzeichen eines guten Spieles, daß dabei alle freiwillig ihr Bestes thun und keine Anstrengung scheuen. Der Erzieher, der, weil es einmal bei der Er - ziehung nicht ohne Zwang abgeht, in der Ausübung dieses Zwanges seine Hauptaufgabe sieht, versäumt darüber die schönste und höchste Pflicht seines Berufes. Nur den schlechten Eigenschaften der Jugend gegenüber ist der Zwang berechtigt. Der einsichtsvolle Erzieher wird sich vielmehr an das Gute in ihr halten, dies zu entwickeln und zu fördern suchen, ihm Raum und Gelegenheit schaffen, daß es hervortreten und sich geltend machen könne. Und das ist nur zu erreichen auf dem Boden der Freiheit. Auch für den Unterricht sind die köstlichsten Er - folge nur dann erreichbar, wenn er im Schüler selbst die freie Luft an der Arbeit zu erwecken weiß. So erwirbt sich Jeder körperliche Tüchtig - keit von frühester Jugend auf am besten im freien Spiele. Zunächst übt das Einzelspiel seine Kraft und Geschicklichkeit, dann reizt beim Spielen mit Geschwistern oder den nächststehenden Altersgenossen der Wetteifer zu stärkern Leistungen, endlich umfängt ihn die Gemeinschaft der Schule und treibt ihn an, vor einem weitern Kreise in den Schul - spielen sein Bestes zu versuchen.

Die Schulspiele dürfen nicht als bloße Leibesübungen angesehen werden, sondern sie sollen die Schuljugend zu einem Jugendgemeinwesen im Sinne Fichtes vereinigen. Näher als in der Schule bringt der ge - sellige Verkehr auf dem Spielplatze die Knaben zusammen, lehrt sie, Ver - träglichkeit und Selbstbeherrschung im Verkehre mit den andern zu üben, daneben auch sich in ihrer Mitte geltend zu machen. Indem der einzelne im freien Spiele selbst seine Rechte zu wahren, die der andern anzuerkennen lernt, entfaltet sich in ihm der Rechtssinn. Indem er mit seinen Genossen in die Wette um den Sieg ringt, den mutigen Gewinner gekrönt, den trägen Schwächling verspottet sieht, erwacht in ihm die Thatkraft, die Luft, zu wagen und seine Kräfte voll einzusetzen. Schließlich ist es der schönste Erfolg des Spiellebens, wenn in dem einzelnen durch die Erkenntnis des gemeinsamen Zweckes das Gefühl für die Zugehörigkeit zu dem großen Ganzen wachgerufen wird, und er selbst unter Verzichtleistung auf eigene Auszeichnung im Kreise seiner Ge -7 nossen für das Gute und Rechte kräftig einzustehen sich entschließt. Ein solch edler Gemeingeist möge jede freie Spielgemeinde beseelen!

Die Klage über die Vergnügungssucht der heutigen Gesellschaft ist nicht selten. Jedenfalls ist es sehr schlimm, wenn die Jugend zu man - cherlei Genüssen vor der Zeit offen oder verstohlen sich herandrängt oder gar von thörichten Eltern herangeführt wird. Das kräftige Spiel im Freien bietet ihr eine reine Freude, deren Folgen nicht schädlich, sondern heilsam sind. Im Sommer wird sie dabei trotz der Sonnenglut sich mit Luft und Freude herumtummeln und ebenso im Winter der Unbill der Witterung sich auszusetzen nicht scheuen. Wenn sie rechtzeitig durch frühe und unausgesetzte Gewöhnung für solche Freuden Empfänglichkeit gewonnen hat, wird sie viel weniger in Versuchung kommen, sich jene bedenklichen und verderblichen Genüsse zu verschaffen. Ja, bei richtiger Leitung der Spiele und des ganzen turnerischen Lebens und Treibens soll die Jugend nicht bloß Kraft, Ausdauer und Abhärtung gewinnen, sondern auch Entbehrungen zu ertragen und Entsagung zu üben an - geleitet werden, damit das herrlichste Ergebnis der Leibesübungen er - reicht wird, daß der Geist nicht bloß über Sehnen und Muskeln des Leibes vollkommen Herr werde, sondern auch über dessen Begehrlichkeiten und Leidenschaften, daß die Jugend mit einem Worte die Selbstzucht üben lerne, die im spätern Leben dem Manne not thut. In diesem Sinne ergeht unsere Aufforderung an alle Eltern und Erzieher, die Jugend von früh auf hinauszuführen zum kräftigen Spiel in freier Luft.

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TextDer erziehliche Wert der Jugendspiele
Author Konrad Koch
Extent4 images; 976 tokens; 527 types; 6699 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Jurgita BaranauskaiteThomas GloningHeike MüllerJustus-Liebig-UniversitätNote: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien, Konvertierung nach DTA-Basisformat2013-05-14T11:00:00Z Google BooksNote: Bereitstellung der Bilddigitalisate2013-05-14T11:00:00Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic information Der erziehliche Wert der Jugendspiele. Konrad Koch. E. von Schenckendorff, F. A. Schmidt (eds.) . Manz und LangeHannover-Linden1892. Über Jugend- und Volksspiele (1. Jahrgang) pp. S. 5-7.

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LanguageGerman
ClassificationGebrauchsliteratur; Sport; ready; dtae

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  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
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