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Erklärung gegen das Frauenstimmrecht.

  • 1. Jch bin grundsätzlich gegen jede Reaktion, aber für einen systematischen, thatsächlichen Fortschritt in der deutschen Frauenbewegung. Doch bin ich gegen die Aufnahme der Stimmrechtsfrage in unser Programm.
  • 2. Jch bin überhaupt gegen jede Tendenz, welche die Konservativen (im weitesten Sinne gemeint) von uns fern hält, und diejenigen, welche sich bereits genähert haben, wieder zurückschreckt.
  • 3. Jch behaupte, daß die Partei der sogenannten Frauen - rechtlerinnen, mit politischem Programm, in Deutschland ver - schwindend klein ist und in der großen Frauenwelt selbst gar keinen Boden hat.
  • 4. Man schafft in unserer Zeit nur eine große Partei auf der Grundlage eines wirtschaftlichen Programms. Die idealen Ziele kommen leider erst in zweiter Linie.
  • 5. Daher müßte unsere vornehmste Sorge sein, erst ein - mal eine solche große Frauen-Partei in Deutschland zu schaffen, da eine solche noch garnicht vorhanden ist.
  • 6. Dieses erhoffte ich vom Frauenbunde und von einer großen neuen Zeitung, sehe aber wenig Jnitiative auf der einen Seite und radikales Vorgehen auf der anderen, anstatt im Sinne der Einmütigkeit und Einigkeit Amerika und England sich erst einmal als Muster zu nehmen.
  • 7. Man würde das große Ziel erreichen, wenn man zuerst alle Frauen Deutschlands, die wirtschaftlich auf sich allein angewiesen sind, aufriefe zum Zusammenschluß und zwar diejenigen, welche noch nicht zur Sozialdemokratie über - gegangen sind. Ein Entgegenkommen gegen die Letztere ist ohne parteipolitische Diskussion unmöglich, meiner Über - zeugung nach nur im volkswirtschaftlichen Sinne oder durch soziale Hilfsarbeit anzustreben.
  • 8. Hat man erst eine große Frauengemeinschaft in Deutschland gegründet, vermag man sie so zu organisieren, daß sie imposante, einmütige Kundgebungen erlassen kann, wenn es sich um ideale Ziele handelt, wie um die volle Gleichstellung der Gatten im Ehegesetz, um die Gleichberech - tigung der Frauen vor dem bürgerlichen Gesetze, um obli - gatorischen Unterricht in Gesetzeskunde und praktischer Ver - mögensverwaltung in den Schulen, zur Befähigung für die Vormundschaft u. s. w.; dann erst hätten wir einen Schritt gethan, gleich dem, der für die amerikanische Bewegung grundlegend war, d. h. auch eine Sklavenbefreiung und zwar derjenigen, die bisher rat - und thatenlos freiwillig Sklaven waren. Dann konnten wir auch sagen wie Faust: Jm Anfang war die That und nicht nur das Wort!
  • 9. Um dieses Ziel zu erreichen, muß unser Programm ein gemäßigtes und kein überstürztes sein; besonders an die Stellung der Frau als Gattin und Mutter dürfen wir nicht rühren, sondern müssen ihren Wert und ihre Bedeutung immer in erster Reihe betonen.
  • 10. Erst wenn bei uns ein Zusammenschluß stattgefunden hat, können wir vielleicht daran denken, die Frauen zur poli - tischen Mitwirkung an der Gesetzgebung zu erziehen und zwar durch Belehrung, durch Selbststudium auf allen Ge - bieten des öffentlichen Lebens. Wenn wir auch einzelne Frauen haben, die reif sind für eine öffentliche Thätigkeit, was hülfe es ihnen, wenn ihre Kandidatur an der Jndolenz und Gleichgültigkeit ihrer Wähler scheiterte oder der Wider - stand der eigenen Genossinnen sie lächerlich machte?

    Wollen wir ferner damit beginnen, das zu verlangen, was außer in einzelnen Territorien des westlichen Amerikas noch kein zivilisierter Staat den Frauen gewährt hat, was bei uns also noch gänzlich aussichtslos ist, wir, die wir vorläufig noch nicht einmal die einfachsten praktischen Ziele erreicht haben, die in anderen europäischen Ländern längst errungen sind? Wollen wir politische Rechte habenwie sie den Männern zustehen, ehe wir das Recht auf Bildung und freie Berufswahl erlangt haben, welches allein uns zu den ersteren befähigen kann und uns die wirtschaft - liche Selbständigkeit sichert? Das hieße das Schwert um - drehen und sich selbst umbringen, anstatt vernünftig vorwärts streben und Kulturarbeit thun.

  • 11. Erst wenn die Frauen durch Abstreifen der Jn - dolenz und Gleichgültigkeit für alles positive Wissen, ferner durch die Mitarbeit auf allen Gebieten der Volkswirtschaft und Wohlfahrt und durch allgemeine, öffentliche Kund - gebungen für Menschenrecht und Gerechtigkeit sich Achtung zu verschaffen gewußt haben und dadurch bewiesen ist, was sie können, mögen sie auch alle Rechte verlangen, die ihnen als Menschen und Bürgerinnen des Staates zukommen.

An diesem Ziele haben wir vorläufig unausgesetzt zu arbeiten.

Bemerkungen zu obigem Artikel. Von den Herausgeberinnen.

Unserem Grundsatz entsprechend haben wir dieser Er - klärung gegen die Bestrebungen zu Gunsten des Frauenstimm - rechts die Spalten unseres Blattes geöffnet, und haben nur einige sachliche Bemerkungen hinzuzufügen.

Zu 1. Das Programm der Zeitschrift beruht auf dem Satz, daß sie allen Richtungen offen steht und daß demnach die Richtung, welche die volle Gleichberech - tigung des weiblichen Geschlechts verlangt, auch zur Gel - tung kommen muß.

Zu 2. Die letztere wird die konservativste Richtung in der Frauenfrage zur Mitarbeit direkt auffordern, denn sie will ihr Ziel erreichen: ein Spiegelbild der gesamten Frauen - bewegung zu sein.

Zu 6. Wir verweisen auf den in Nr. 2 veröffentlichten Brief aus England, aus dem hervorgeht, daß die englischen Frauen einig in der Forderung des Stimmrechts sind, während sie in anderen Fragen sehr verschiedene Meinung haben. Jn Amerika ist, nach persönlicher Auslassung eines in dieser Frage bewanderten amerikanischen Gelehrten, des den Mitgliedern des Vereins Frauenwohl durch den Dis - kussionsabend am 11. Dez. v. J. bekannten Professor Griggs, die Sachlage eine ähnliche.

Zu 10. Man hat weder alle Männer, noch die Sklaven Amerikas für die Politik erzogen , ehe man ihnen Rechte gab, weil man zur Freiheit nicht erziehen kann, sondern erst durch die Freiheit erzogen wird. Kant, der größte Philosoph Deutschlands, sagt darüber: Jch gestehe, daß ich mich in dem Ausdruck, dessen sich auch wohl kluge Männer bedienen, nicht wohl finden kann: ein gewisses Volk, was in der Bearbeitung einer gesetzlichen Freiheit begriffen ist, ist zur Freiheit nicht reif. Nach einer solchen Voraussetzung aber wird die Freiheit nie eintreten; denn man kann zu ihr nicht reifen, wenn man nicht in Freiheit gesetzt worden ist; man muß frei sein, um sich seiner Kräfte in der Freiheit zweckmäßig bedienen zu können. Die ersten Versuche werden freilich roh, gemeiniglich auch mit einem beschwerlicheren und gefährlicheren Zustande verbunden sein, als da man noch unter den Befehlen, aber auch der Vorsorge Anderer stand; allein man reift für die Vernunft nie anders als durch eigene Versuche, welche machen zu dürfen man frei sein muß.

Weiter spricht die Verfasserin, daß außer in einzelnen Territorien des westlichen Amerikas noch kein zivilisierter Staat den Frauen die Bürgerrechte gegeben habe. Das beruht auf einem Jrrtum. Es sind keine Territorien , sondern den Vereinigten Staaten einver - leibte Staaten, welche die Frauen vollständig gleich gestellt haben, nämlich die Staaten: Wyoming, Kolorado und Utah. Wyoming ist, nebenbei gesagt, ungefähr so groß wie Jtalien. Außerdem hat die große englische Kolonie Neu-Seeland unter Zustimmung der englischen Regierung den Frauen das Stimm -20recht gewährt. Was England selbst betrifft, so verweisen wir auf den in voriger Nummer erschienenen Brief aus England, aus dem ersichtlich ist, daß die Engländerinnen fast sämtliche Bürgerrechte, mit Ausnahme des Wahlrechtes für die Par - lamentswahlen besitzen. Jn Norwegen, wo die Frauen - bewegung erst 11 Jahre alt ist in Deutschland kann sie bald ihr 50jähriges Jubiläum feiern fehlen im Parlament nur wenige Stimmen, um das Frauenstimmrecht zum Gesetz zu machen.

Die Sache der Frau ist die des Mannes: zusammen steigen oder fallen sie, zusammen sind sie Sklaven oder Freie. (Lord Tennyson)
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About this transcription

TextErklärung gegen das Frauenstimmrecht
Author Henriette Goldschmidt
Extent2 images; 1140 tokens; 581 types; 8134 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU GießenNote: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2015-05-04T12:34:55Z Anna PfundtNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2015-05-04T12:34:55Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic information Erklärung gegen das Frauenstimmrecht.Henriette Goldschmidt. . W. & S. LoewenthalBerlin1895. Die Frauenbewegung 1895 (1/3) pp. S. 19–20.

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Universitätsbibliothek Mainz 77 MG 8302

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationGebrauchsliteratur; Gesellschaft; ready; tdef

Editorial statement

Editorial principles

Bogensignaturen: wie Vorlage; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;

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  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
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ImprintBerlin 2019-12-10T10:43:13Z
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