Wollen wir ferner damit beginnen, das zu verlangen, was außer in einzelnen Territorien des westlichen Amerikas noch kein zivilisierter Staat den Frauen gewährt hat, was bei uns also noch gänzlich aussichtslos ist, wir, die wir vorläufig noch nicht einmal die einfachsten praktischen Ziele erreicht haben, die in anderen europäischen Ländern längst errungen sind? Wollen wir politische Rechte habenwie sie den Männern zustehen, ehe wir das Recht auf Bildung und freie Berufswahl erlangt haben, welches allein uns zu den ersteren befähigen kann und uns die wirtschaft - liche Selbständigkeit sichert? Das hieße das Schwert um - drehen und sich selbst umbringen, anstatt vernünftig vorwärts streben und Kulturarbeit thun.
An diesem Ziele haben wir vorläufig unausgesetzt zu arbeiten.
Unserem Grundsatz entsprechend haben wir dieser Er - klärung gegen die Bestrebungen zu Gunsten des Frauenstimm - rechts die Spalten unseres Blattes geöffnet, und haben nur einige sachliche Bemerkungen hinzuzufügen.
Zu 1. Das Programm der Zeitschrift beruht auf dem Satz, daß sie allen Richtungen offen steht und daß demnach die Richtung, welche die volle Gleichberech - tigung des weiblichen Geschlechts verlangt, auch zur Gel - tung kommen muß.
Zu 2. Die letztere wird die konservativste Richtung in der Frauenfrage zur Mitarbeit direkt auffordern, denn sie will ihr Ziel erreichen: ein Spiegelbild der gesamten Frauen - bewegung zu sein.
Zu 6. Wir verweisen auf den in Nr. 2 veröffentlichten Brief aus England, aus dem hervorgeht, daß die englischen Frauen einig in der Forderung des Stimmrechts sind, während sie in anderen Fragen sehr verschiedene Meinung haben. Jn Amerika ist, nach persönlicher Auslassung eines in dieser Frage bewanderten amerikanischen Gelehrten, des den Mitgliedern des Vereins „ Frauenwohl ‟ durch den Dis - kussionsabend am 11. Dez. v. J. bekannten Professor Griggs, die Sachlage eine ähnliche.
Zu 10. Man hat weder alle Männer, noch die Sklaven Amerikas für die Politik „ erzogen ‟, ehe man ihnen Rechte gab, weil man zur Freiheit nicht erziehen kann, sondern erst durch die Freiheit erzogen wird. Kant, der größte Philosoph Deutschlands, sagt darüber: „ Jch gestehe, daß ich mich in dem Ausdruck, dessen sich auch wohl kluge Männer bedienen, nicht wohl finden kann: ein gewisses Volk, was in der Bearbeitung einer gesetzlichen Freiheit begriffen ist, ist zur Freiheit nicht reif. Nach einer solchen Voraussetzung aber wird die Freiheit nie eintreten; denn man kann zu ihr nicht reifen, wenn man nicht in Freiheit gesetzt worden ist; man muß frei sein, um sich seiner Kräfte in der Freiheit zweckmäßig bedienen zu können. Die ersten Versuche werden freilich roh, gemeiniglich auch mit einem beschwerlicheren und gefährlicheren Zustande verbunden sein, als da man noch unter den Befehlen, aber auch der Vorsorge Anderer stand; allein man reift für die Vernunft nie anders als durch eigene Versuche, welche machen zu dürfen man frei sein muß. ‟
Weiter spricht die Verfasserin, daß „ außer in einzelnen Territorien des westlichen Amerikas noch kein zivilisierter Staat ‟ den Frauen die Bürgerrechte gegeben habe. Das beruht auf einem Jrrtum. Es sind keine „ Territorien ‟, sondern den Vereinigten Staaten einver - leibte Staaten, welche die Frauen vollständig gleich gestellt haben, nämlich die Staaten: Wyoming, Kolorado und Utah. Wyoming ist, nebenbei gesagt, ungefähr so groß wie Jtalien. Außerdem hat die große englische Kolonie Neu-Seeland unter Zustimmung der englischen Regierung den Frauen das Stimm -20recht gewährt. Was England selbst betrifft, so verweisen wir auf den in voriger Nummer erschienenen Brief aus England, aus dem ersichtlich ist, daß die Engländerinnen fast sämtliche Bürgerrechte, mit Ausnahme des Wahlrechtes für die Par - lamentswahlen besitzen. Jn Norwegen, wo die Frauen - bewegung erst 11 Jahre alt ist – in Deutschland kann sie bald ihr 50jähriges Jubiläum feiern – fehlen im Parlament nur wenige Stimmen, um das Frauenstimmrecht zum Gesetz zu machen.
Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU GießenNote: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2015-05-04T12:34:55Z Anna PfundtNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2015-05-04T12:34:55Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
Erklärung gegen das Frauenstimmrecht.Henriette Goldschmidt. . W. & S. LoewenthalBerlin1895. Die Frauenbewegung 1895 (1/3) pp. S. 19–20.
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