Zweiter Band. ────── Stuttgart. G. J. Göschen'sche Verlagshandlung. 1883.
RIIK. Hofbuchdruckerei Zu Guttenberg (C. Grüninger) in Stuttgart.
Der vorliegende zweite Teil meiner deutschen Poetik, auf den bereits die Vorrede zum ersten Band Bezug nehmen mußte, enthält im engen Anschluß an die im ersten Band abgehandelte Vers - und Formenlehre die vollständige Lehre von den Gattungen der Poesie und vollendet somit den Auf - und Ausbau einer Wissenschaft der deutschen Poetik vom Standpunkte der Gegenwart.
Schon eine flüchtige Durchsicht desselben wird ergeben, daß es dem Verfasser nicht nur darum zu thun war, Wesen, Begriff und Gesetz &c. der einzelnen Dichtungsgattungen vollständig klar zu legen, sondern auch den Feinheiten in der Technik &c. nachzugehen, alle auf die innere Struktur bezüglichen Gesichtspunkte zu markieren und der auszubauenden Poetik neue, fruchtbare Gebiete zu erschließen. Jnsbesondere wurde auch eine wissenschaftlich zuverlässige Darlegung der Entstehung und Entwickelung (d. i. der Geschichte) sämtlicher Dichtungsarten erstrebt, um eine enge Verbindung der Poetik mit der Litteraturgeschichte auch durch diesen Band herzustellen.
So wurde es möglich, die das weite System der Poetik bildenden Lehrsätze abzuleiten und anzuordnen, und neue, nicht geahnte Gesichtskreise zu erschließen, so daß kaum eine Seite in diesem Werke sich finden dürfte, welche nicht Neues, Jnteressantes, litterarhistorisch Wertvolles böte. Man vgl. beispielshalber nur die, eine vollständige Dramaturgie ergebenden §§ 20─43, 149─177 &c., ferner jenen, den Begriff der didaktischen Poesie darstellenden Abschnitt, die Paragraphen überRIV Romanze und Ballade, Travestie und Parodie, Volksepos und Kunstepos, Roman und Novelle, Drama und dramatisches Gedicht, sowie insbesondere auch die zum erstenmal abgehandelten musikalisch dramatischen, wie musikalisch kirchlichen Formen, welche in einer hoffentlich auch den speziellen Forscher und Musiker befriedigenden Vollständigkeit diesem Teil einverleibt sind und deren Charakteristisches (z. B. von Singspiel und Vaudeville, Kantate und Oratorium, Oper und Musikdrama, Operette und Schauspiel mit Musik &c.) eingehend dargelegt werden konnte.
Erleichtert wurde das Streben des Verfassers durch das Entgegenkommen hervorragender Fachgelehrten und namhafter Dichter, welche Privat = wie öffentliche Bibliotheken erschließen halfen und mich mehr oder weniger bei den Korrekturen unterstützten. Dankbar erwähne ich besonders den aus meinen Rückertbüchern wohlbekannten Rückertfreund Karl Putz, den musikalischen Schriftsteller und Hofkapellmeister Max Seifriz, den 1. Custos der k. k. Hofbibliothek Dr. Faust Pachler, Hofrath Dr. v. Zoller, Geh. Hofrath Dr. v. Wehl, Rektor Dr. Blancke, Gymnasialdirektor Dr. Authenrieth, Professor Dr. Siebenlist-Preßburg, Viktor v. Scheffel, Professor Dr. Joh. Minckwitz, Bibliothekvorstand Professor Dr. Wintterlin u. a. Erfreulich war auch am Ende meiner langjährigen Arbeit im Dienste eines für unsere ganze Kultur bedeutungsvollen Unternehmens die ausnahmslos anerkennende Beurteilung derselben seitens der geachtetsten Kritik, die wärmsten schriftlichen und mündlichen Beifallsäußerungen von den ersten Dichtern unserer Nation und unvermutete Auszeichnungen poesiekundiger Fürsten, welche die Dichtkunst mehrfach förderten und in ihren Trägern ehrten.
Jndem ich dem deutschen Publikum den vorliegenden zweiten Band darbiete, hege ich den Wunsch, daß demselben eine gleich wohlwollende Aufnahme zu teil werden möge, und somit das ganze Werk erkannt werde: als Vereinigung alles, seit Aristoteles, Horaz und Opitz auf den Gebieten der Poetik Gebotenen; als ein zuverlässiges Quellenwerk und Nachschlagebuch für den Litterarhistoriker; als ein Hülfsbuch für den Dichter; als ein Lernbuch für den studierenden Jüngling und die bildungsuchende Jungfrau; als ein allseitiges, umfassendes Handbuch deutscher Poesie für den Lehrenden wie für denRV gebildeten Laien; als ein Beitrag zur Einführung in die deutsche Litteratur; als ein Führer, welcher imstande sei, der Formlosigkeit zu steuern und manchen begabten, in den Fesseln materialistischer oder pessimistischer Weltanschauung schmachtenden Musenjünger aufzurütteln zu einem durch die Kunst motivierten Jdealismus und zu ewig währenden idealen Dichterthaten.
Stuttgart, am Geburtstage Goethes 1882.
Dr. C. Beyer.
RVIRVIIGoethe.
E11. Alles durch menschliche Thätigkeit Entstandene leitet seinen Ursprung entweder aus dem Gebiete der Geistes - oder dem der Sinnenwelt her: aus dem Anschauungs - und dem Empfindungsreiche. Auch die Poesie hat ihren Ursprung entweder in einem derselben, oder in beiden gemeinschaftlich.
2. Je weniger der äußere anregende Stoff als solcher ersichtlich ist, je unbedeutender er ist, desto subjektiver wird die Poesie erscheinen.
3. Objektiven Charakter wird die Poesie an sich tragen, wenn der von ihr behandelte Stoff als das Wesentliche, Bestimmende oder Beabsichtigte entgegentritt.
1. Von der Außenwelt erhält der Dichter die Anregung, oder den Stoff, welchen er nach innerer Aneignung in seinem Gedichte verwertet. Das Gedicht entsteht somit aus der Durchdringung der dichterischen Subjektivität mit der von außen entgegen tretenden Objektivität.
2. Zu jedem objektiven Stoffe muß der Lyriker von seiner Subjektivität hinzusetzen. Man könnte einen geringfügigen Stoff einem glatten Stamme vergleichen, an welchem sich die subjektive Empfindung des Dichters emporrankt und fest hält. Je einfacher und geringfügiger der Stoff ist, desto bedeutender wird sich das Überwiegen des Subjektiven vor dem Objektiven nötig machen müssen, desto mehr wird sich die dichterische Schöpfungskraft zu bewähren haben.
Jn folgendem Gedichte von Martin Greif überwiegt die subjektive Zuthat den objektiven geringfügigen Stoff um ein Bedeutendes:
Am Buchenbaum.
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Jeder Dichter, der aus seinem Leben, aus seiner Phantasie mitteilt, der sein Urteil ausspricht, der sich selbst zum Helden seiner Dichtung macht, schreibt subjektive Poesie. Nicht der zu besingende Gegenstand, sondern der durch denselben hervorgerufene Gemütszustand ist der wahre Jnhalt des subjektiven Gedichts. Der Dichter dieses subjektiven Gedichts ist dabei nur insofern objektiv, als er seine Personen ihre eigenen (subjektiven) Empfindungen aussprechen läßt. Seinen Gedichten ist immerhin seine Jndividualität aufgeprägt. Sein Geist, seine Anschauungs - und Gefühlsweise leuchten aus ihnen hervor. Ein bestimmter Dichter wird eine Person in einem besondern Falle nicht ebenso einführen, wie ein anderer zweiter, weil er eben sein ganzes Jch mit in die Dichtung hineinbringt. Anders wird z. B. der Jüngling, die Mutter, ein König, oder ein Bauer im gleichen Vorkommnisse bei diesem Dichter sprechen als bei jenem. Anders wird die Anschauung des einzelnen Dichters gefärbt erscheinen. Wesentlich bleibt nur, daß nicht gegen die Wahrheit verstoßen ist, daß der Menschheit Seele und seines ganzen Volkes Herz auch des Dichters Seele, des Dichters Herz sei, daß er die dunklen Gefühle, die im Herzen wunderbar schlafen, (vgl. Schillers Der Graf von Habsburg Str. 5, dessen Die Macht des Gesanges Str. 1, sowie Goethes Der Sänger Str. 5) gewaltig zu wecken vermöge, daß er da, wo Qual und Weh den Mund der anderen Menschen verstummen macht, noch ihre Leiden klagt.
3. Objektiv schreibt der Dichter, wenn er in die Geschichte, in das Gebiet des von Andern Erlebten, in die Außenwelt, in das Räumliche, Zeitliche eingreift, ohne mit seinem Urteil darüber in den Vordergrund zu treten. Während der subjektive Dichter nur giebt, was er fühlt, oder was er in seinem Herzen erlebt, während dieser seinen Leser oder Hörer nötigt, mit ihm zu empfinden, was in seiner Brust vorgeht, entzieht sich der objektiv gestaltende Dichter den Blicken des Lesers; nie schaut er direkt aus seinen Dichtungen hervor, nie zeigt er sich als Held derselben. Sein Stoff in eigenartiger Verarbeitung und Darstellung ist es, was das Jnteresse des Hörers fesselt und fesseln will.
Die Einteilung der Poesie in subjektive und objektive deckt sich im wesentlichen mit der Einteilung in Volkspoesie und Kunstpoesie.
1. Die Volkspoesie erblüht aus der dichterischen Fähigkeit eines Volkes. Sie ist Darstellung des wirklichen Lebens in seiner Naivetät und Wahrheit.
32. Die Kunstpoesie dagegen entreift dem individuellen Arbeiten des Einzelnen und der Einzelnen. Sie reflektiert das wirkliche Leben in der idealisierenden Phantasie und Empfindung des gebildeten Kunstdichters.
1. Die ursprüngliche Volkspoesie (Naturpoesie) war meist objektive Poesie, Hervorbrechen der Empfindung mit dazwischen liegender, unmittelbarer Darstellung der Wirklichkeit oder des nach dem Typus derselben Erdichteten. Sie war wesentlich beschreibend, auch wo es sich um Darlegung des subjektiven Gefühls handelte: sie bedurfte daher weniger der schönen äußern Form, als einer Alle gleichmäßig ergreifenden poetisch = naiven Sprache voll Wohllauts. Ein Beispiel der Volkspoesie möge dies illustrieren:
(Aus Uhlands Volkslieder Bd. 1. S. 66.)
2. Die Kunstpoesie unterscheidet sich von der Naturpoesie dadurch, daß sie durch geeignete Gestaltung des Stoffes, den sie mit der Naturpoesie gemeinschaftlich haben kann, irgend eine bestimmte, beabsichtigte Jdee zu Tage fördert. Die nachfolgenden drei Bearbeitungen des gleichen Stoffes mögen dies beweisen.
a. Die Verlassene von Geibel.
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b. Die Verlassene, von Martin Greif.
NB. Die Sprache dieser Bearbeitung hat nur hie und da etwas Gekünsteltes, Verzwicktes, weil sie den Volkston treffen will, ohne doch die eigentliche Dialektform zu wagen. Vgl. z. B. kein 'für kei' u. s. w.
c. Das verlassene Mägdlein, von Ed. Mörike.
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Diese drei ungemein anschaulichen Bearbeitungen könnten die Überschrift „ Gebrochene Treue “tragen. Bei allen ist ein verlassenes Mädchen der Gegenstand der Scene und die Trägerin der Jdee.
Während sich bei Geibels Dichtung der Dichter vordrängt, (sofern nämlich der für ein Bauernmädchen zu ideale, metaphorische Ausdruck in der dritten Strophe und ihre rhetorische Pathetik in der vierten zu Erwägungen über den Dichter herausfordern), bringen die beiden letzten Arbeiten die Empfindung in so natürlicher, einfach schlichter, ja naiv wahrer Weise zum Ausdruck, daß kein Mensch an den Dichter als solchen erinnert wird.
Und dennoch sind diese Dichtungen subjektiv. Sie zeichnen sich gewissermaßen durch ihren symbolischen Charakter aus, da der Stoff nur das Äußere der abstrakten Jdee und der tiefen Empfindung ist.
So trägt denn die Kunstpoesie ebenso dem objektiven Charakter Rechnung, wie sie als unmittelbarer Erguß des subjektiven Empfindens des Dichters die Jdee mit der Empfindung vereint. Dies ist besonders ein Erkennungsmerkmal der Kunstpoesie Goethes, wie das nachfolgende Beispiel zeigen möge:
Blumengruß.
(Goethe.)
Als ein Beispiel vollendeter Kunstpoesie kann auch das so bekannte Gedicht Die sterbende Blume von Rückert gelten, wo die Jdee der Vergänglichkeit mit ergreifender Wahrheit zum Ausdruck gebracht ist, dabei aber überall das subjektive Fühlen des deutschen, tiefinnigen Dichtergemütes das Poem überstrahlt.
Derjenige Kunstdichter, welcher die Natur in ihrer Einfachheit, in ihrer naiven Schönheit aufzufassen und wiederzugeben versteht, so daß seine Kunstdichtung gleichsam den Eindruck der Naturdichtung macht, ist der echte Kunstdichter. Er ist dem Genius Shakespeares verwandt, der den Beifall ablehnend auf die Natur (besonders in folgender Stelle seines Wintermärchens IV. 3) hinweist:
Jch hörte, Daß, nächst der großen schaffenden Natur, Auch Kunst es ist, die diese bunt färbt.
Sei's: Doch wird Natur durch keine Art gebessert, Schafft nicht Natur die Art: so, ob der Kunst, Die, wie du sagst, Natur bestreitet, giebt es Noch eine Kunst, von der Natur erschaffen. Du siehst, mein holdes Kind, wie wir vermählen Den edlern Sproß dem allerwild'sten Stamm, Befruchten so die Rinde schlecht'rer Art Durch Knospen edler Frucht: Dies ist 'ne Kunst, Die die Natur verbessert ─ mind'stens ändert: Doch diese Kunst ist selbst Natur.
Jn Bezug auf das Gebiet, dem der Stoff entlehnt ist, kann man die Poesie in geistliche und weltliche einteilen; ferner in ernste und komische Poesie, insofern sie traurige, mitleidsvolle, strafende, erziehliche, oder aber belebte, heitere, den Humor erregende Stimmung hervorzuzaubern bezweckt. Häufiger teilt man sie in klassische, romantische und moderne Poesie ein.
Wie man unter einem Klassiker einen Dichter versteht, der anderen zum Vorbild dient, so begreift man unter klassischer Poesie eine mustergültige, fehlerlose, einfach erhabene Poesie in relativer Vollendung.
Vorzugsweise hat man bisher die Poesie der Griechen und Römer klassisch genannt, und neuere Dichtungen hat man mit diesem Epitheton ornans nur dann belegt, wenn sie in der Einfachheit und Regelmäßigkeit des Baus, in der Gediegenheit der Form, in der Jdealisierung und in der Erhabenheit des innern Gehaltes mit jenen Poesien vergleichbar waren. Heutzutage hat man anerkannt, daß die Dichtungen eines Wieland, Lessing, Goethe, Schiller, Rückert &c. allen Anforderungen an vollendete Kunstwerke entsprechen, und man hat diese Dichter als deutsche Klassiker bezeichnet. (Vgl. Bd. I. S. 88.)
Die Bezeichnung klassisch ist selbstverständlich nur relativ zu verstehen; denn der menschliche Geist entwickelt sich in stetem Aufbau auf das Vorhandene, und es läßt sich erwarten, daß Geister kommen werden, welche größer sein werden, als Wieland, Lessing, Goethe, Schiller, Rückert &c.
Unter romantischer Poesie versteht man diejenige Poesie, welche dem Geiste des mittelalterlichen Rittertums entspricht, welche der Frauenverehrung und den religiösen Anschauungen des Mittelalters dient, nach welchen Anschauungen das Wunder und die dämonischen, feenartigen, geisterhaften Wesen eine Rolle spielen. Da in den Anschauungen, Empfindungen und Dichtungen des Mittelalters sich ein dunkler Drang nach dem Jenseits und dem Übernatürlichen zeigt; da ferner das Ahnungsvolle, Phantastische allenthalben hervortritt, so begriff man unter Romantik das Wunderbare und Rätselhafte. Seit dem letzten Decennium des vorigen Jahrhunderts pflegte eine ganze Dichterschule diese Poesie. Das Wort „ romantisch “wurde zuerst7 litterarischer Parteiname, als Tieck 1800 seine Gedichte unter dem mit voller Unbefangenheit gewählten Titel „ Romantische Dichtungen “herausgegeben hatte. (Vgl. R. Köpke: „ Ludwig Tieck. “ I. 265.) Die romantische Schule erstrebte Verjüngung der mittelalterlichen Poesie und eine Vereinung der Litteraturen, besonders der romantischen, zur Weltlitteratur. Jhre mit Fichtes Jdealismus und Schellings Naturphilosophie durchtränkte Weltanschauung versuchte eine Art Verbindung von mittelalterlich = christlicher Schwärmerei und Pantheismus. Die Gedichte der romantischen Dichter (vgl. Bd. I. S. 58 und 88) zeichnen sich durch eine gewisse Überschwenglichkeit aus, durch eine märchenhafte Behandlung des Stoffs, den man auch in demselben Sinne romantisch nennen kann, wie man etwa eine Gegend durch dieses Attribut charakterisiert.
Moderne Poesie endlich nennt man diejenige Poesie, welche in dem Anschauungskreise unserer Generation sich bewegt, welche ihre Figuren und Helden der Gegenwart entsprechend zeichnet, welche absichtlich zu dem Traum = und Phantasieleben der romantischen Poesie einen Gegensatz bildet und dem Realismus der modernen Zeit mit ihren Empfindungen, Bestrebungen, Kämpfen, Kriegen, Kulturfortschritten und Eroberungen auf allen Gebieten Rechnung trägt und das Edelmenschliche, Vernünftige und Freiheitliche pflegt. Freilich schält sich der moderne Dichter in der Einfachheit und Gediegenheit seines Kunstwerkes ebensowenig vom klassischen Dichter los, als er in Bezug auf Anschaulichkeit und Lebendigkeit der bilderreichen Phantasie und im Geschmack der Darstellung hinter dem romantischen Dichter zurückbleiben will.
1. Die geläufigste, allgemeinste und bezeichnendste Einteilung der Poesie ist die in lyrische, didaktische, epische und dramatische Poesie.
2. Diese Einteilung entbehrt nur scheinbar des einheitlichen Fundaments.
3. Bei näherer Betrachtung liegt dieses Fundament a. im Zweck, b. im Ursprung und Stoff der Poesie.
1. Die Einteilung der Poesie in lyrische, didaktische, epische und dramatische Poesie ist späteren Datums. Platon kennt (in der Stelle Rep. II. 379 A. in freilich nur vorübergehender Erwähnung) nur Epos und Tragödie: („ Τοιοίδε που τινὲς, ─ sc. εἰσὶν οἱ περὶ θεολογίας τύποι ─ ἦν δ 'ἐγώ, οἷος τυγχάνει ὁ θεὸς ὤν, ἀεὶ δή που ἀποδοτέον, ἐάν τε τις αὐτὸν ἐν ἔπεσι ποιῇ, ἐάν τε ἐν τραγῳδίᾳ. “) Als Philosoph macht er nicht gelegentlich, sondern recht systematisch nur einen Unterschied zwischen nachahmender und heiliger Poesie. Selbst Homer verbannt er aus seinem Jdealstaate, in welchem nur die heilige Poesie geduldet sein soll. (Rep. Buch II. III. gelegentlich, dann X. bis pg. 607.) Anderwärts teilt er nach Bedürfnis ein in Epos und Tragödie oder in diese und Komödie, oder er spricht auch noch vom Drama (Sympos. 222 D.).
8Bis in unsere Zeit teilte man in der Regel nur in lyrische, epische und dramatische Poesie.
Wackernagel und auch Goethe (über das Lehrgedicht) sprachen sich noch gegen die didaktische Poesie als vierte Hauptgattung aus. Derselbe Goethe sagt jedoch: „ Alle Poesie soll belehrend sein, sie soll den Menschen aufmerksam machen, wovon sich zu belehren wert wäre; er muß die Lehre selbst daraus ziehen, wie aus dem Leben. “
(Vgl. hierzu Horatius A. P. 333 ff:Aut prodesse volunt, aut delectare poetae; aut simul et jucunda, et idonea dicere vitae. Omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci, lectorem delectando, pariterque monendo.)
Wir weisen der didaktischen Poesie aus den in den §§ 13, 14, 15 S. 18 ff. d. Bds. entwickelten Gründen eine hohe ebenbürtige Stellung an.
2. Es kann nicht geleugnet werden, daß die Einteilung in lyrische, didaktische, epische und dramatische Poesie scheinbar an einem logischen Fehler leidet. Sie scheint des einheitlichen Fundaments zu entbehren, indem Lyrik (μέλος = = das Gesungene), Epik (ἔπος = = das Gesprochene), Drama (δρᾶμα = = die Handlung) auf das Darstellungsmittel der Poesie fundiert sind, die Didaktik hingegen auf den Zweck.
3. Doch zeigt eine genauere Betrachtung die Möglichkeit einer einheitlichen Fundierung a. im Zweck, b. im Ursprung und Stoff.
a. Jm Zweck.
Es steht fest, daß die Lyrik (d. i. die Poesie der Empfindung) die eigenen d. i. subjektiven Gefühle und Empfindungen des Dichters, seine eigene Welt ausdrückt und ihm ermöglicht, sein eigenes Fühlen zum Objekt und zum Gegenstand der Empfindung auch für Andere, für die äußere Welt zu machen; daß weiter die Didaktik (d. i. die Gedankenlyrik) mit der Absicht zu belehren und sich über Fragen aus Natur, Welt, Menschenleben u. s. w. zu verbreiten, das Gleiche thut; daß drittens die epische Poesie (oder die Poesie der Anschauung) von vergangenen Dingen erzählt und der Anschauung und Empfindung die äußere Welt mit den Gestalten und Begebenheiten einer Vergangenheit vorführt; daß endlich die Dramatik (d. i. die Poesie der Handlung) redend handelnde Personen unmittelbar vorführt und den übrigen Dichtungsgattungen Gelegenheit zur ebenbürtigen Entfaltung wie zur harmonischen Vereinigung bietet.
b. Jm Ursprung und Stoff.
Die lyrische und die didaktische Poesie sind subjektiv, denn der Dichter giebt nur seine eigenen Gefühle und ist der eigene Held seiner Dichtungen, während die epische Poesie objektiv ist und die dramatische das subjektive und objektive Element vereinigt. Ein Fundament für die Einteilung ergiebt somit der Umstand, ob der Stoff der Poesie der Jnnen - oder Außenwelt entstammt, ob er der Thätigkeit unserer Phantasie entspringt, oder ob er der Sage und Geschichte entquillt, ob erzählt wird, oder ob die Personen handelnd und redend9 auftreten. (Erinnerung an eine antike Einteilung in I. μίμησις a. Ausprägung in Bildern für die Phantasie, b. Plastische Darstellung. II. ἀπαγγελία und διήγησις, erzählende und belehrende Darstellung. III. Reflexion.) Die Phantasie, die man nicht ohne Grund das Vermögen der Dichter genannt hat, befähigt uns, die übersinnliche Welt von Begriffen und Jdeen in sinnlichen Bildern auszudrücken. Sie zeigt sich zunächst als schaffende und als empfindende Phantasie. Die schaffende erzeugt unter Anwendung des ihr aus der Außenwelt zukommenden Stoffes die epische und die dramatische Poesie, während die empfindende Phantasie die Lyrik und die Didaktik hervorbringt. Diese Thatsache beweist ein einheitliches Einteilungsfundamentum.
Aus dem Abgehandelten ergiebt sich folgendes übersichtliche Einteilungsschema:
Die Poesie entstammt stofflichA. Der Jnnenwelt. Die Jnnenwelt (ihrer Art nach sub = jektiv) umschließt: a. Empfinden,b. Denken, und äußert sich als 1. Lyrik. 2. Didaktik. Die Lyrik schildertDie Didaktik lehrt, subjektiv. sofern sie schildert oder erzählt. B. Der Außenwelt. Die objektive Außenwelt behandelt: c. Raum,d. Zeit, und äußert sich als 3. Epik. 4. Dramatik. Die Epik erzähltDie Dramatik handelt, objektiv. gestaltet dialogisch.
E101. Lyrik ist die Poesie des subjektiven Gefühls, der subjektiven Empfindung, der augenblicklichen subjektiven Stimmung.
2. Jhren Namen hat sie von der Lyra (λύρα), einem griechischen, an die Stelle der Kithara (oder Kitharis) getretenen Saiteninstrumente, mit dessen Begleitung die subjektiven Dichtungsarten vorgetragen wurden, ähnlich wie die lyrischen Gesänge des deutschen Mittelalters mit Harfe und Geige. Die älteren Griechen bezeichneten sie als Melos.
1. Man könnte die lyrische Poesie den musikalischen Ausdruck des Gefühls in all' seinen Stimmungen nennen, einen musikalischen Ausdruck der subjektiven Empfindungen, denen die äußere Welt der Erscheinungen nur der Spiegel ist. Die Summe der Empfindungen ist die Lyrik. Die Empfindung ist gleichsam die geheimnisvoll durchdringende Macht, von welcher die Stoffe angezogen werden, wie das Eisen vom Magnet, so zwar, daß beim Anschlagen des fremden Stoffes jedesmal das Gemüt erklingt in Freude oder Schmerz, in Liebe oder Haß, in Begeisterung oder Verzweiflung, in Hoffnung oder Bangigkeit, in welcher Beziehung man von einer Lyrik der Liebe, der Freude, der Trauer, des hohen Seelenschwunges &c. reden könnte. Jedes lyrische Gedicht strömt die eigenste Empfindung des bestimmten Dichters aus. Der Lyriker, der sich nur der Außenwelt gegenüber setzt, sagt, was er selbst fühlt, was sich mit seiner Person ereignet, spricht von seinem Erlebten, doch so, daß die Thatsache des Erlebten vor der Gewalt der Stimmung zurücktritt und zu derselben schließlich höchstens in einem Verhältnis bleibt, wie der Draht zu der ihn durchzuckenden Elektrizität. Die Lyrik ist ─ um mit Gottschall zu reden ─ aus dem Bedürfnis des Gemüts hervorgegangen, sich selbst in künstlerischer Verklärung gegenwärtig zu werden. Erst wenn die11 Stimmung künstlerische Gestalt gewonnen, steht das Gemüt ihr nicht nur als einer fremden gegenüber, sondern es sieht seine Empfindungen, der Erdschwere entnommen, in den lichten Äther gehoben und dem flüchtigen Spiel eine schöne Dauer gegeben.
2. Man nannte die lyrische Poesie ursprünglich die melische in der Absicht, durch diese Benennung die lyrischen Gedichte als organisch gegliederte Ganze auszuzeichnen. (τὸ μέλος und τὰ μέλη, einstrophige und mehrstrophige Gesänge, ähnlich: „ daz liet und diu liet. “ Die Benennung μέλος oder μέλη hatte auch den Gesang (Melodie) mitbezeichnet. Aristoteles kennt den Ausdruck λυρική noch nicht: in den Anakreontea kommt λυρικὴ μοῦσα vor, noch bei Plutarch aber μελικὴ ποίησις neben λυρική. (Vgl. Plut. Num. 4 u. Anth. ─ Plut. consol. ad Apoll. p. 365. ─ Schol. Ar. Av. 209.)
1. Die Stoffe der Lyrik sind so reich und mannigfach, als die Empfindung und die subjektive Auffassung verschieden ist. (Vgl. Bd. I. § 16. S. 39.)
2. Sie erblühen der individuellen Behandlungsweise, der eigenartigen Geisteswelt und Weltanschauung des Lyrikers. (Vgl. Bd. I. S. 40. 2.)
3. Da somit weniger der objektive Stoff, als die subjektive Auffassung und Behandlung des Stoffs das Wesentliche ist, (vgl. Bd. I. S. 40. 3) so ist das Stoffgebiet der Lyrik unerschöpflich.
4. Das lyrische Gedicht ist seiner Veranlassung nach Gelegenheitsgedicht.
1. Der Lyriker singt:
(Uhland.)
2. Der Stoff der Lyrik ändert sich nicht, aber „ der stets sich erneuernde Blumenflor “, wie Hegel die Lyrik nennt, treibt immer wieder neue Blumen hervor, je nach der Originalität des Dichters. Von den Naturlauten der Volkspoesie bis zu den gedankenreichen malerischen lyrischen Dichtungen der Kunstpoesie unserer Zeit ist die reichste Stufenleiter der Stoffe nachweisbar, die lediglich durch die eigenartige Behandlung, d. h. durch den Zusatz von Subjektivität seitens des Dichters Stoffe der Lyrik werden. Je einfacher, geringfügiger, unscheinbarer der Stoff, desto mehr wird die Subjektivität des Dichters hinzuthun. Zum Beleg beachte man das folgende Gedicht M. Greifs, dessen winziger Stoff ein Mädchen ist, das in den Bach hineinblickt:
12Die Einsame.
3. Dadurch unterscheidet sich der echte Lyriker vom Nachahmer, daß ihn allenthalben die Stoffe poetisch ansehen, daß sich ihm alles in Liederstoff verwandelt.
4. „ Wie Thränen, die uns plötzlich kommen, so kommen plötzlich unsre Lieder “sagt Heine und bestätigt dadurch, daß die unter der Anschauung der Dinge entstandenen lyrischen Gedichte Gelegenheitsgedichte sind.
Diese Ansicht sprach vor allen Goethe in den Gesprächen mit Eckermann I. S. 54, aus, indem er sagte: „ Die Welt ist so groß und das Reich des Lebens so mannigfaltig, daß es an Anläufen zu Gedichten nie fehlen wird. Aber es müssen alles Gelegenheitsgedichte sein, d. h. die Wirklichkeit muß die Veranlassung und den Stoff dazu hergeben. Allgemein und poetisch wird ein specieller Fall eben dadurch, daß ihn der Dichter behandelt. Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte; sie sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden. “
(Goethe.)
1. Jeder echte Dichter hat seine besondere Geisteswelt, seine eigenartige Natur - und Weltanschauung, seine eigenartige Behandlungsweise.
2. Die Ursprünglichkeit des dichterischen Jngeniums verwechselt der Nachahmer meist mit einer „ surrogativen, objektiven Originalität “, mit der Originalität der Stoffe, die doch ─ wie im vorigen Paragraphen erwähnt ─ in der Lyrik ewig die gleichen sind.
3. Lediglich die Eigenart des Lyrikers in der Behandlung und seine subjektive Auffassung, nicht aber der objektive Stoff, der immerhin die Anregung und die Veranlassung zum Gedicht werden kann, sind in der Lyrik das Wesentliche.
1. Die Art und Weise, wie die Empfindung des Dichters künstlerische Gestalt annimmt, zeigt die Eigenart des Dichters, der seinen Stoff je nach seiner Bedeutung verständnisvoll abklären und dichterisch idealisieren wird. Gleiche äußere Anlässe bei verschiedenen Lyrikern erzeugen doch nicht gleiche Lyrik (siehe § 2). Dem wahren Dichter und seiner Assimilationskraft tritt zwar der äußere Stoff als Liederstoff entgegen, aber als ein durch eigenartige Behandlungsweise individuell und subjektiv werdender.
132. Dem wahren Lyriker öffnet irgend ein Stoff den strömenden Dichterquell, der unechte wirft sich auf einen bestimmten Stoff und müht sich, aus dem Stoffe herauszupressen, was ihm selber fehlt. Der wahre Lyriker hascht daher nicht nach Stoffen wie der Nachahmer; er vermählt den beliebigen, ihn anregenden Gegenstand sofort mit seiner subjektiven Seelenstimmung. Die Auen, die Blumen, die Wälder, die Tiere, alles fühlt mit ihm, alles ist Echo seiner Gefühle, die bei größeren Reihen von Gedichten sich als Elemente seiner Lyrik herausschälen lassen. Je nach der eigenartigen Bildung walten als solche Elemente vor z. B. das Vaterlandsgefühl, oder das Heimatsgefühl, oder das Gefühl für das Jdyllische, oder das Gefühl für die Natur, oder das religiöse Gefühl, oder das Gefühl für die Liebe.
3. Die Eigenart des Dichters zeigt sich in der besonderen, dichterischen Behandlung seines Stoffes, was Geibel, zwar etwas nachlässig in Form und Sprache, doch erschöpfend und wahr so ausdrückt:
(Geibel, Distichen XVI.)
1. Vom Lyriker verlangen wir Wahrheit der Empfindung, Empfänglichkeit für alles Schöne, Zartheit des Gemüts, welches leicht in Schwingungen versetzt wird und das Jdeale rein darzustellen vermag, Harmonie des Seelenlebens.
2. Der Dichter muß erhöht empfinden.
3. Er muß der Gegenstand seiner Lyrik sein.
1. „ Ein volles, ganz von einer Empfindung volles Herz ist es, was den Lyriker macht “, sagt Goethe. Wir sehen dem Lyriker nichts nach, weil seine Gefühle auch die unsrigen sind. Wir dichten mit ihm und hassen jede Aufdringlichkeit von Gefühlen, weil wir alle Mittelempfindungen genau kennen, oder sogar mitempfinden. Wir sind erzürnt über Anmaßung, wie über allzu naive Kindlichkeit und rügen es, wenn der Lyriker aus seiner eigenen Gefühlssphäre heraustritt. Der Lyriker soll sich selbst seine ganze Welt sein, ohne darnach zu fragen, wer ihn höre.
(Rückert.)
Das ist der wahre Lyriker, der, unbekümmert um die Außenwelt, seinen Gefühlen Ausdruck verleiht, der nicht auf das Gefühl der Anwesenden spekuliert, der nicht aus seinen Empfindungen Kapital schlagen will, der singet „ wie der Vogel singt “. (Vgl. § 1. 2 d. Bds.)
14(u. s. w.) ( Rückert.)
Die lyrische Poesie will es für sich aussprechen und in Worte fassen, was das Herz „ leidvoll und freudvoll “überfließen macht.
(Goethe.)
Das ist die Unmittelbarkeit des subjektiven Empfindens: der Lyrik. Wer den Dichter so sprechen hört, der störe ihn nicht; er lasse ihm das Gefühl, unbeachtet zu sein.
2. Dem Lyriker wird die Welt erst bedeutungsvoll, wenn sie durch das Medium seines Herzens hindurch gegangen ist.
(Rückert.)
Dann aber ist auch die Welt seine Welt geworden, und diese seine innere Welt macht dann sein Gefühl überfließen. (Vgl. Rückerts geharnischte Sonette, z. B. „ Wir schlingen unsre Händ 'in einen Knoten. “ Oder „ Nennt es, so lang's Euch gut dünkt, nennt's Verschwörung. “) Jeder urteilt bei solchen begeisterten Gefühlsäußerungen: Das ist dichterische Empfindung, das ist wahre dichterische Empfindung, echte Lyrik. ─ Schiller sagt in seiner Besprechung der Gedichte Bürgers: „ Mit Recht verlangt der gebildete Mann von dem Dichter, daß er im Jntellektuellen und Sittlichen auf einer Stufe mit ihm stehe, weil er auch in Stunden des Genusses nicht unter sich sinken will. Es ist also nicht genug, Empfindung mit erhöhten Farben zu schildern: man muß auch erhöht empfinden. Begeisterung allein ist nicht genug; man fordert die Begeisterung eines gebildeten Geistes. Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Jndividualität. Diese muß es also wert sein, vor Mit - und Nachwelt ausgestellt zu werden. Diese seine Jndividualität so sehr als möglich zu veredeln, zur reinsten, herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern, ist sein erstes und wichtigstes Geschäft, ehe er es unternehmen darf, die Vortrefflichen zu rühren. Der höchste Wert seines Gedichtes kann kein anderer sein, als daß es der reine, vollendete Abdruck einer interessanten Gemütslage, eines interessanten vollendeten Geistes ist. Nur ein solcher Geist soll sich uns in Kunstwerken ausprägen; er wird uns in seiner kleinsten Äußerung kenntlich sein, und umsonst wird, der es nicht ist, diesen wesentlichen Mangel durch Kunst zu verdecken suchen. “
3. Aus dem Bereich der eigentlichen Lyrik tritt der Dichter heraus, der nicht selbst das Subjekt seiner in Liedern kundgegebenen Empfindungen bleibt, sondern andere fingierte oder wirkliche Personen zu Trägern derselben macht und seine Gefühle an historische Anschauungen und Fiktionen anknüpft. Will er Lyriker bleiben, so muß er da, wo er sich in die Stimmung einer andern Person versetzt, oder wo er sich als Organ der ganzen Menschheit betrachtet, mindestens aus dem Geist und Gemüt der von ihm Vertretenen heraussprechen. 15Ebenso muß er bei Stoffen aus der Natur die Natur mit seinem Gefühl durchziehen, sie mit seiner Jdealität vermählen und aus diesem Gefühl heraus sie reden lassen, wie es beispielsweise Heine in den Naturbildern „ Fichtenbaum “und „ Lotosblume “, ─ Goethe in „ Erwin und Elmire “&c. gethan hat. Auch bei den Naturbildern muß die Empfindung und das Gefühl des Dichters der Mittelpunkt bleiben, und stets muß der weitauszubreitende Blütenbaum seiner Poesie auf dem Stamm seines subjektiven Jch ruhen bleiben.
1. Die Anschauung = verleihenden, malenden Beiwörter sind die wichtigsten Bestandteile der Lyrik.
2. Viele derselben erscheinen wie eingetrocknete, gewissermaßen zu Versteinerungen gewordene Metaphern.
3. Der gebildete Dichter wird seine erhöhte Empfindung durch geschickte Verwendung der Metaphern beweisen, dem weniger gebildeten fehlt der sprechende Ausdruck. Note: Abgr. Beiwort
1. Schon Aristoteles sagt (Rhetorik III. 3) von Alkidamas, daß ihm die Epitheta nicht bloß eine Würze der Rede (ἥδυσμα) seien, sondern die Hauptkost (ἔδεσμα). Wie sehr er im Rechte war, haben wir in Bd. I. § 30 S. 137 ff. gezeigt. Jn der Lyrik sind die malenden Beiwörter umsomehr am Platze, als sie wesentlich dazu beitragen, dem Gefühlsausdruck seine eigenartige Färbung zu verleihen.
2. Die Auffassung der Lyrik als paläontologische Weltanschauung ─ wie sie Karl du Prel in „ Psychologie der Lyrik “versucht hat, ─ zwingt uns, an den Standpunkt zu denken, welchen der Mensch im Naturzustand und ohne Schulbildung einnimmt. Es ist der Zustand, in welchem der Mensch seine Anschauung durch Naturbelebung und Naturbeseelung (Personifikation) ausdrückt.
Viele Beiwörter aus jener Zeit und aus jener Bildungssphäre lassen keinerlei Reflexion zu und haben es lediglich auf Anschaulichkeit abgesehen. Sie sind Grenzsäulen der dichterischen Anschauung und muten uns wie Versteinerungen an. Bekanntlich ist die Sprache der Wilden um so reicher an personificierenden Metaphern, je ärmer sie ist. Vgl. Bd. I. S. 148 ff. u. S. 169 ff. Note:
3. Die erhöhte Empfindung des Lyrikers zeigt sich in der glücklichen Anwendung des metaphorischen Beiworts, das dem lyrischen Gedichte jedesmal ein besonderes Gepräge verleiht, und durch welches, wie schon B. I. S. 138. 2. angedeutet,Note: z. B. Goethe seine Weichheit und Anmut, Schiller seinen idealen Schwung, Rückert seine herzerwärmende Jnnigkeit, Platen seine klassische Würde, Lenau seinen gewitterschwülen, die Brust beängstigenden und doch so süß bestrickenden Zauber, Heine seine bald leichtfertig tändelnde,16 bald ergreifende Leichtigkeit, Chamisso seine anmutend liebenswürdige Naturwahrheit, Freiligrath seine hochfliegende Freiheitsbegeisterung, Geibel seine glatte, einfache, sinnige Weichheit, Gottschall seine vom Gedanken durchleuchtete Klarheit, Keller sein sinniges Gemüt und seine gesunde Männlichkeit erreicht. Die Metapher bedingt zum Teil das Unterscheidende der Richtungen und Schulen. Note: Ein Dichter des Mittelalters hat andere Metaphern als Homer, oder auch als der Dichter des 17., 18. und 19. Jahrhunderts,Note: Personen: Dichter des MA, Homer, Dichter des 17., 18., 19. Jh.ein Romantiker andere als ein Klassiker, Heine andere als Geibel, HerweghNote: Personen: Romantiker, Klassiker, Heine, Giebel, Herweghandere als Freiligrath. Note: Person: FreiligrathFreilich macht die Metapher nicht das Wesen der Lyrik aus;Note: dieses liegt, wie im vorigen Paragraphen ausgeführt wurde, im dichterischen Jngenium, im gebildeten Gefühl des Dichters, in seiner quellsprudelnden Phantasie, wodurch er befähigt wird, im Geistesflug über die Erde und ihre Erscheinungen zur reinsten Ätherhöhe sich emporzuschwingen, bald hier das Auge an den lebensvollsten Erscheinungen labend, bald dort den Blick an den brillantesten Phantasiegemälden bezaubernd &c.
Da das reine Gefühl nur Eine Grundstimmung haben kann, da ferner das lyrische Gedicht der Stimmung des Augenblicks entquillt, so erhellt, daß ein Abirren nicht gut möglich ist.
Das Eine Gefühl bedarf keiner Ausbreitung; auch kann die Empfindung als Spannung auf einen Punkt wohl Dauer, aber keinen großen Umfang haben, weshalb das lyrische Gedicht seiner Natur nach kurz und einfach ist, im Gegensatz zum epischen Gedicht, das unendlich ausgebreiteten Stoff zur Beschauung gewährt.
Wird der äußeren Anschauung ein das subjektive Fühlen beeinträchtigendes Übergewicht eingeräumt, so wird das Gedicht episch = lyrisch, ─ sofern es aber Gedankenreihen entwickelt, didaktisch = lyrisch.
1. Der Stil im allgemeinen, wie speziell der Stil eines Gedichtes ist von wesentlicher Bedeutung. Jeder Stil ist Form und doch spricht aus ihm zugleich die Seele, das Eigenartige des Schriftstellers und Dichters.
Man unterscheidet in der sprachlichen Darstellung:
a. den niederen Stil,
b. den mittleren Stil,
c. den hohen Stil oder den Stil der Lyrik.
2. Der Stil der Lyrik selbst hat mehrfache Abstufungen.
1. Der niedere Stil ist die Redeform des Verstandes und beherrscht das Gebiet der Prosa. Er verlangt Deutlichkeit. Der mittlere Stil steht17 im Dienste der Einbildungskraft und fordert vor Allem Anschaulichkeit, weshalb er in der gesamten Poesie ─ die lyrische ausgenommen ─ sich findet. Der höhere Stil ist der Stil des Gefühls, weshalb Erregung, Erhabenheit über das Gewöhnliche, Leidenschaft &c. seine Merkmale sind, wenn er auch der Deutlichkeit und Anschaulichkeit nicht entraten kann oder will.
Sofern der höhere Stil neben Belebung des Gefühls auch Deutlichkeit erstrebt, ist er der oratorische Stil. Sofern er jedoch mit Erregung des Gefühls epische Anschaulichkeit erstrebt, ist er der Stil der Lyrik.
Die griechischen Rhetoren führen als leidenschaftliche Erregungen des Gefühls an: Ethos (ἦθος) und Pathos (πάθος), wofür Quintilian die affectus mites und affectus concitatos setzt.
Die Affekte des Ethos sind sanfter, ruhiger, rührender, gemütlicher Natur, die des Pathos lebhafter, bewegter, ergreifender, leidenschaftlich fortreißender Art.
2. Man teilt den Stil der Lyrik ─ denselben an sich betrachtet ─ wieder ein in einen niederen, in einen mittleren und in einen höheren Stil der Lyrik. Die Elegie, (§ 75) welche dem Lyrischen noch das Epische am meisten beimischt, repräsentiert in dieser Beimischung den niedern Stil der Lyrik. Das Lied, (§ 62 ff. ) welches sich von den epischen Äußerlichkeiten teilweise losringt, zeigt den mittleren Stil der Lyrik. Die Ode, (§ 71), der Hymnus (§ 73) und der Dithyrambus (§ 74) hingegen, in welchen Gattungen die Empfindung zum höchsten Jdealismus sich emporschwingt, zeigt den höheren Stil der Lyrik. Jn der rührenden Elegie zeigt sich das Ethos; in der Ode, dem Hymnus &c. das Pathos; das Lied steht in der Mitte.
Von dem Stil der oratorischen Prosa, welcher vor allem Deutlichkeit neben Anschaulichkeit und Leidenschaftlichkeit, d. i. eine lebensvolle, schöne Wirklichkeit erstrebt, unterscheidet sich der Stil der lyrischen Poesie dadurch, daß er nicht das Verstandesmäßige aufsucht, weil das sezierende Verstandesmäßige nur eine negative Rolle in der Lyrik spielt, und daß er Wohllaut in der metrischen Anordnung der Worte fordert. Sein Ziel ist vielmehr schöner Ausdruck und lebhafte Erregung des Gefühls. Dabei ist sein Ausdruck bald Ethos, bald Pathos, bald eine Vereinigung beider. Jn seiner niedern Form bedient er sich mehr der Figuren, in der höhern der plastischen Tropen. Der niedern Art steht der volkstümliche, idyllische Ton gut, weshalb sie sich auch zuweilen der Provinzialismen bedient, oder ganze Gedichte in einer der Mundarten bietet, während die höhere Form kühnen Gedankenflug, kühne Bilder, Wortschöpfungen, Neologismen erstrebt oder gestattet. Die Ode liebt Satzgefüge, die Elegie kürzere Sätze (vgl. Schillers Elegie Der Spaziergang mit den Oden Klopstocks &c.).
Die Lyrik als höchste Gattung der Poesie (die vollkommenste ist das umfassende, auch die Lyrik ermöglichende Drama) erhebt aus den Gebieten des Sinnlichen zu denen des Jnnerlichen, Übersinnlichen, Geistigen, Gefühlsmäßigen. Daher ist der Stil der Lyrik nicht mit der monotonen Wiederkehr gleicher Rhythmen zufrieden, wie Epos und Drama, sondern er verlangt eine der Bewegung, dem Gefühlsausdruck entsprechende Mannigfaltigkeit in den Verstakten, Versen und Strophen. Wie die Gefühlszustände wechseln, so läßt er18 im Äußeren belebte Mannigfaltigkeit eintreten. Er verbindet die verschiedenartigsten Versarten unter einander, sowie symmetrische und unsymmetrische Strophengebäude, er wendet zwei - und mehrgliedrige Strophen an, Antistrophen und Epoden und a. m.
1. Gedichte der Kunstpoesie, in denen der Gedanke, die Jdee vorherrscht, oder denen es lediglich um Veranschaulichung eines Gedankens zu thun ist, oder welche Wahrheiten der Sittenlehre, der Religion, der Philosophie in schöner Form zur Kenntnis bringen, sind didaktische Gedichte.
2. Die didaktische Poesie gehört zur subjektiven Poesie. Sie ist die Lyrik des Verstandes, die Gedankenlyrik. Jhr Gegenstand und Wesen ist ein geist - und gemütreiches Abstraktes, das sie in schöner Form bietet. Dieses Abstrakte ist der durch die dichterische Phantasie bestrahlte und verklärt durch das Medium des Herzens gegangene Gedanke.
3. Jm Gegensatz zur Lyrik läßt die Didaktik daher das Reflektierende, das Jnstruktive und Spekulative zu, wenn dieses auch nicht ihr eigentlicher Zweck ist.
1. Von der Lyrik des Gefühls unterscheidet sich die Didaktik dadurch, daß die Erregung des Gefühls keine unmittelbar oder direkt diktierte ist, vielmehr das Gefühl erst durch verstandesmäßige Anregung in Schwingung versetzt wird, daß also die Erhebung auf den Gedanken gegründet ist und als Zweck der poetischen Produktion erscheint.
2. Der Didaktiker wählt den Weg zum Herzen durch den Kopf und erreicht seine Wirkung durch den Wiederhall, welchen der Gedanke dem Herzen entlockt.
Da die didaktische Poesie somit hauptsächlich den Gedanken zu ihrem Vorwurf nimmt, so gehören ihre Gegenstände entweder der Außenwelt, oder doch wenigstens der objektiven Herzenswelt an. Letztere verwertet dieselben nicht selten zu Spekulationen, so daß Gedankenreihen entstehen, die zunächst belehrend (instruktiv) wirken, die aber mit dem Gemüt immerhin verschwistert sind, und selbst in der Belehrung wie in der Spekulation mindestens eine Beziehung auf das Gefühl haben. Jch denke hier zunächst an Rückerts Lehrgedicht „ Weisheit des Brahmanen “und muß mich daher auf Belehrung und Spekulation als zwei durch Rückert in die didaktische Poesie gebrachte wesentliche Momente etwas weiter einlassen.
3. Spekulation, Reflexion und Belehrung in der Didaxis. An sich darf und will die Poesie nicht belehren; ihr ursprünglicher Zweck ist, wie19 der alles Schönen, zu erfreuen. Daher gehören Belehrung und Spekulation nicht in den eigentlichen Begriff der Poesie, deren Gesetz allein die Schönheit ist. Beides, das Jnstruktive wie das Spekulative, beeinträchtigt das ruhige Empfinden, die unmittelbare Aufnahme und den ungeteilten Eindruck: das Jnstruktive, weil es das Gefühl erst in zweiter Linie berücksichtigen kann; das Spekulative, weil es seinem Wesen nach nicht als fertig dargereicht wird, und somit ebenfalls nicht auf das Gefühl unmittelbar wirkt. Dante (Göttliche Komödie) und Goethe (Faust) haben allerdings das Problem der Vereinigung von Spekulation und Poesie gelöst, während andere, wie W. Jordan (Demiurgos), Mosen (Ahasver) philosophisch reflektierend blieben.
Wenn schon eine leichte Reflexion dem Dichter zum Gedichte werden kann, und er zu seinem Gedichte die passende, schöne Form findet, soll dann nicht auch für den höchsten Gedanken, für die höchste Spekulation eine Form gefunden werden können, unter welcher das Gedankliche, Spekulative für die Poesie flüssig gemacht wird, sollte nicht eine vollendete dichterische Darstellung zu erzielen möglich sein, in welcher auch dieser tiefe Jnhalt mit einer dichterischen Form sich deckt? Da hier der Jnhalt an das Erhabene grenzt, so wird allerdings auch die Form erhaben sein müssen. Das Erhabene aber ist nur das Schöne in gewaltiger Form. (Vgl. Bd. I. S. 92 u. 93.) Die wahre ästhetische Freiheit liegt gerade in der Form, durch welche auf das Ganze des Menschen gewirkt werden kann. Wir geben zu, daß ein in Reime gebrachtes philosophisches System noch kein Gedicht sei; aber wir verlangen eben vom didaktischen Gedichte etwas anderes, vielleicht das Höchste, was durch dichterische Darstellung auszudrücken ist. Wir verlangen, daß der Dichter und der Philosoph nicht zwei Personen seien, sondern eine einzige normale, geist - und phantasiereiche Persönlichkeit, welche ihren Platz auf dem Parnaß hat, der aber die Thäler der Weisheit nicht verschlossen seien. Nur so finden die ernsten Harfentöne drunten im Thale ihren entzückenden Wiederhall, während oben neben der Harfe die Lyra bebt und leise harmonische Accorde mit einmischt, wenn die Schallwellen der Harfe über sie hinstreichen.
Dies war auch Rückerts Ansicht. Er sprach sie nur mit andern Worten aus:
(Weisheit des Brahmanen X. 98. S. 379.)
Jene sogenannte Didaktik, bei welcher sich das Lehrhafte als solches ausschließlich in den Vordergrund drängt, oder die das Ergebnis von Spekulationen ohne alle subjektive Durchdringung und Belebung nur in bloße Reime bringt, fällt aus aller Poesie heraus, eben weil eine, wenn auch noch so schön aufgeputzte nüchterne Lehre nur Reimerei sein kann; eine Reimerei, bei welcher20 die Lyra nimmermehr mitschwingen wird. Jene Didaktik jedoch, welche die höchsten Fragen aus Natur und Menschenleben begeistert zu erfassen und mit den gemütbestrickenden Herztönen der dichterischen Empfindung sinnig zu vermählen versteht, kann vielleicht als die vornehmste und höchste Gattung aller Poesie angesehen werden. Jn diesem Sinne darf man kühn behaupten, daß derjenige Dichter, welcher einen ewigen Jnhalt aus den Gebieten der Belehrung und der Spekulation in eine schöne dichterische Form zu gießen vermag, ein echter Didaktiker, ein wahrer Dichter sei, welcher geistige Kunst übt und für die Unsterblichkeit wirkt. Ja, in dieser Richtung ist alle wahre Poesie belehrend, didaktisch, jeder wahre Dichter ein Lehrer, ein Didaktiker.
1. Die von Schiller und Rückert gegebene didaktische Poesie wirkt auf das tiefere Erkenntnisvermögen und läßt den tiefen Gedanken im Gefühle aufgehen.
2. Beide Dichter bilden für die didaktische Poesie eine Epoche. Von ihren Dichtungen ist daher für die Folge der Begriff und das Gesetz der Didaktik zu abstrahieren.
3. Jean Paul ahnte bereits die Zukunft der didaktischen Poesie.
4. Rückert war der erste, der ihre Mission klar legte und betonte.
1. Die didaktische Poesie, welche auf das tiefere Erkenntnisvermögen wirkt, und bei welcher der Gedanke im Gefühle aufgeht, behauptet einen ausgezeichneten Platz. Diesen Standpunkt nimmt die Schillersche wie die Rückertsche Didaktik ein. Nie zur Unzeit schaut aus dem Dichter der Philosoph mit seiner dürren Metaphysik hervor, überall deckt sich schöne Form mit dem tiefen Gedanken, reine geistige Kunst ist vorhanden. Um auf den Verstand zu wirken, stellen diese Dichter ihre Wahrheiten in poetischer Form dar; für Einwirkung auf das Gefühl geben sie denselben eben diese schöne Form.
2. Nach Schillers und Rückerts didaktischen Gedichten wird man für die Folge den Begriff und das Gesetz der wahren Didaktik, die man als Gedankenlyrik bezeichnen muß, folgendermaßen zu präcisieren haben: Die Didaktik besteht darin, das Abstrakte in konkreter Form zu geben, um Wahrheiten und Jdeen bessern Eingang und Dauer zu verschaffen. Jenes Abstrakte aber muß geist - und gemütreich, diese Form aber vollkommen, schön und gediegen sein. Der durch die dichterische schöpferische Phantasie bestrahlte Gedanke muß durch das Medium des Herzens verklärt werden und im Gefühle aufgehen; die schöne Form muß den tiefen Jnhalt decken.
21Die didaktischen Gedichte Rückerts und Schillers (zum Teil auch Goethes in „ Gott und Welt “und des mittelalterlichen Freidank) vermögen ebenso auf das Gemüt, als auf den Verstand und die Phantasie zu wirken, und dies muß das Ziel der Didaktik sein. Das echte didaktische Gedicht erhebt sich über jene prosaischen, trockenen, kalt moralisierenden oder nüchtern auseinandersetzenden, fälschlich als didaktische Gedichte bezeichneten Reimereien, oder über das unklare Ringen, wie wir es z. B. bei Sallet in „ Unsterblichkeit “finden; das echte didaktische Gedicht, wie wir ihm bei Schiller und Rückert begegnen, verdrängt daher die Vorgänger und Zeitgenossen aus der Reihe von Didaktikern, wie z. B. Haller (Die Alpen, in dessen Reimen der Dichter die Blumen zerzupft, um uns Wurzel, Stengel, Blumenkrone und Kelch mit Staubfäden und Griffel zu zeigen, der aber weder den Duft analysieren kann, noch es versteht, sein breites, im Versbau übrigens gutes Gedicht mit Duft zu übergießen), v. Kreuz (Die Gräber, ein Lehrgedicht in 6 Gesängen, ─ Youngs Nachtgedanken nachgebildet, ohne dichterische Lebendigkeit), Neubeck (Gesundbrunnen), Dusch (Die Wissenschaften, Lehrgedicht in 8 Gesängen), Tiedge (Frauenspiegel, beschreibt die Schwächen und Tugenden der Frauen), und vollends viele neuere Talmidichter, die unfähig sind in goldener Prosa zu schreiben und nun glauben, ihre jämmerlich gereimte Prosa in Folge des Reims unter der hochtrabenden Firma: „ Didaktisches Gedicht “in das Gebiet der Poesie einschmuggeln zu können.
Diese didaktische Reimerei mit all den zum Gemüt in keiner Beziehung stehenden Gedächtnisversen aus allen möglichen Wissensgebieten (wie der Geographie, der Arithmetik, der Grammatik, der Jagd, der Gartenkunst und der Geschichte; vgl. z. B. Weltgeschichte in Versen von Aßmann) steht auf gleicher Stufe mit der früheren antiken, wie sie uns in dem ältesten Denkmal aller griechischen Lehrdichtung, in des Hesiodus „ Werken und Tagen “, entgegentritt. (Wir finden da noch alle Arten nicht bloß von didaktischer Epik, sondern überhaupt von didaktischer Poesie, erlaubte und unerlaubte, poetische und eigentlich prosaische, ungesondert beisammen, Vorschriften, wie sie nur der Verstand dem Verstande erteilen konnte, über Ackerbau und über Handel zur See; dann wieder, indem die Lehre, jedoch ohne eine epische Anschauung zu gebrauchen, sich an das sittliche Gefühl wendet, Ermahnungen zu einem gerechten, unbescholtenen Wandel; dann als Grundlage und Mittel der Lehre epische Anschauungen, überlieferte Sagen und erfundene Parabeln; dann endlich wieder ein Stück bloß beschreibender Poesie, eine Schilderung des Winters. Und das alles bunt verwirrt durcheinander in einer Planlosigkeit, die recht dieses Werk als den ersten Versuch und Anlauf bezeichnet und die neuere Kritik veranlaßte, es als Sammelwerk zu betrachten.) Die deutsche didaktische Poesie, welche ursprünglich als Satire und Spruchgedicht zur Lehrreimerei überging, zog sich durch die Priamel des 14. Jahrhunderts (§ 93 d. Bds.) über eine nüchterne Moralitätspoesie und didaktische Sentimentalität hinweg, hatte aber immer die Belehrung als Zweck und Absicht. Erst durch Schiller und (nachdem sie am Gesundbrunnen des heiligen Ganges getrunken) durch Rückert hat sich die22 didaktische Poesie die Stellung erobert, die sie jetzt einnimmt, und unter der ihr der letztgenannte Dichter in der Weisheit des Brahmanen ein unvergleichliches Denkmal gesetzt hat.
3. Jean Paul ahnte bereits mit prophetischem Geiste die Zukunft der didaktischen Poesie zu ihrer nur von Schiller (z. B. die Glocke), Rückert, und annähernd nur noch von wenigen erreichten Höhe, z. B. von Schefer (Laienbrevier), Agnes Franz (Der Christbaum, an Schillers Glocke erinnernd), Uz (Theodicee, eine didaktische Ode), Haller (vom Ursprung des Übels), Tiedge (Urania, ein Lehrgedicht über die Unsterblichkeit in 6 Gesängen, schön in Form und Gedanken, aber ermüdend und ohne Tiefe), Herder (Jch, Selbst), Gleim (Halladat, eine eigentümliche Art kurzer Lehrgedichte, aus seinen Studien des Koran entstanden), Hammer (Schau in dich und schau um dich, 1851, und Zu allen guten Stunden, 1854), ferner von den sog. philosophischen Lyrikern Mosen, Sallet, Titus Ulrich (Das hohe Lied, 1845), Jordan, Gottschall, Schloenbach, Prutz und Geibel. Jean Paul sagt: „ Reflexionen oder Kenntnisse werden nicht an sich zur Lehre, sondern für das Herz zur Einheit der Empfindung gereicht, und als eine mit Blumenketten umwickelte Frucht dargeboten. Jn der Dichtkunst ist jeder Gedanke Nachbar eines Gefühls, und jede Hirnkammer stößt an eine Herzkammer. “ Wie mochte er sich freuen, diesen Gedanken in den Werken Schillers verkörpert gesehen zu haben (im Genius; An die Freude; Würde der Frauen; Die Glocke; Die Jdeale; Resignation; Macht des Gesangs; Das Jdeal und das Leben; u. s. w.). Wie mochte ihn die Wahrnehmung überrascht haben, daß Schiller auf dem Gebiete des Denkens Eroberungen auch für die Poesie zu machen verstand (z. B. im Gedicht: Die Künstler, welches als seine Ästhetik in der Poesie bezeichnet werden darf), was ja auch Goethe anerkennt (vgl. Schillers Briefwechsel mit Goethe, in dem er ihm schreibt: „ Jhre Gedichte haben besondere Vorzüge; sie sind nun, wie ich sie vormals von Jhnen hoffte. Diese besondere Mischung von Anschaun und Abstraktion, die in Jhrer Natur ist, zeigt sich nun in vollkommenem Gleichgewicht, und alle übrigen poetischen Tugenden treten in schöner Ordnung hervor “&c.). Wie mochte er in der Glocke die erreichte Harmonie zwischen Jnhalt und Erscheinung, zwischen Jdee und Vorstellung erkennen. Bei Schiller fand er eine gewaltige Fülle der schönen Gedanken mit dichterischem Gefühl vermählt. Schiller, wie später besonders Rückert, wurde Repräsentant der zur Gedankenlyrik gewordenen Didaktik.
4. Die hohe Mission der Didaktik hat zuerst Rückert in folgenden Alexandrinern gezeichnet:
23
(Rückerts W. d. Br. XIX. 6.)
Ferner:
(W. d. Br. V. 1.)
Der Didaktiker, der es auf das höhere Erkenntnisvermögen abgesehen hat, bleibt Dichter, auch da, wo er noch so sehr als Philosoph oder Sittenlehrer auftritt, sofern ihm ─ wie bemerkt ─ der Gedanke im Gefühl aufgeht, und die schöne Form den schönen Jnhalt deckt. (Vgl. § 13 d. Bds. am Schluß.)
Wie der Didaktiker im Stoffe einen Januskopf hat, der mit dem einen Gesichte in das naheliegende, einzelne, kleine, deutsche Leben, mit dem andern in weite fremdländische Zaubergärten schaut, so hat er auch in der Produktion und in der Form seines dichterischen Geistes eine doppelte Gestalt. Die eine ist ihm Quell rein lyrischer Ergüsse, die andere singt ihm in poetischem, vom Gefühl geleiteten Schwunge philosophische Sätze und Weisheitssprüche. Beim wahren Didaktiker bleibt, wie an Schiller und Rückert zu sehen ist, die lebendige Vorstellung Hauptsache für die Dichtung. Wer könnte uns poetischer, das Herz ergreifender mit den Worten der Weisheit erfreuen, als solche Dichter, denen Natur, Leben und Menschenherz, ja, die ganze Welt das Buch war, in dem sie forschten, die in goldenem Gefäß den tiefsten Jnhalt vermittelten? Wo bei ihnen einmal das ästhetische Element weniger stark hervortrat, da war es stets das ethische, das den Ersatz bildete und befriedigte.
Der didaktische Dichter stellt sich als Ziel seiner didaktischen Poesie nicht eben die Belehrung an sich, vielmehr die auf den Gedanken gegründete Erhebung, Erquickung und eine nachdrückliche Erbauung der Phantasie hin. Jch mache zum Überfluß noch auf Rückerts Gedicht: „ Griechische Tageszeiten “(Ges. Ausg. VII. 262) aufmerksam, welches, so lyrisch auch Ton und Sprache im einzelnen sind, doch wegen seines Endzwecks und gedanklichen Zieles echt didaktisch genannt werden muß. Der Didaktiker verkörpert eben seine Jdeen dichterisch, ohne daß man ihnen die Gedankenschwere und Abstraktion anmerkt. Dadurch erreicht er das Höchste, was man von der subjektiven Poesie verlangen kann, dadurch sichert er sich im hervorragenden Sinn den Ehrennamen ─ eines wahren Dichters.
1. Die epische Poesie hat ihren Namen vom griechischen Worte Epos (ἔπος = = Wort, Erzählung τὰ ἔπη, Od. 4. 597). Sie ist die dichterische Erzählung des Geschehenen, des erlebten Wirklichen wie des in der Sage Lebenden, oder auch des Erdichteten. Epische Poesie und erzählende Poesie sind gleichbedeutend.
2. Sie ist objektive Poesie.
1. Sofern die Epik auf der Basis der nationalen Sage ruht, ist sie national, während die das dichtende Subjekt wiederspiegelnde Lyrik individuell oder im weiten Sinne kosmopolitisch, universell ist.
2. Die epische Poesie ist im Gegensatz zur subjektiven lyrischen und didaktischen Poesie objektiv. Jhr Objekt sind äußere, außerhalb des Dichters liegende Erscheinungen, Thatsachen, Begebenheiten des menschlichen Lebens, oder auch Erdichtungen, welch letztere nur der innern Wahrscheinlichkeit nicht entbehren dürfen und so dargestellt sein müssen, wie sie möglicherweise geschehen konnten. Es soll nicht gesagt sein, daß die epische Poesie das Gefühl ganz ausschlösse. Dieses geht jedoch von den Personen des Epos aus, sofern es nicht in symbolischer Form auftritt. Ein Vorzug der Poesie im Epos ist es, wenn sie ihre Helden mit dem dichterischen Zauber subjektiven Empfindens schmückt, so daß ─ unter Hinzutritt anmutiger Wahrscheinlichkeit in den Verhältnissen und Situationen ─ der objektive Gegenstand gleichsam mit der subjektiven Empfindung und Anschauung zusammenschmilzt.
1. Der Epiker muß malend vorgehen. Er muß das Leben erzählen; er muß vergangene Begebenheiten in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge wiedergeben, wie wir es des näheren unter Epos darlegen werden.
2. Der Epiker darf sich nie in den Vordergrund drängen.
1. Die Anforderungen an den Epiker sind wahr in folgenden Versen geschildert:
(Odyssee, übers. v. Voß 8. 487 ff., vgl. 11. 368 ff.)
2. Wesentlich für den Epiker ist, daß er hinter seinem epischen Helden ganz verschwindet, daß er Entwickelung, Fortgang, Verwickelung und Lösung aus den Charakteren hervorgehen lasse, ohne daß man seine leitende Hand merkt.
25„ Wie die Gottheit hinter'm Weltgebäude, so muß der epische Dichter hinter seinem Werke stehen. “ (Vgl. Schiller: „ Über naive und sentimentale Dichtung. “ Die Sage von der Blindheit epischer Dichter z. B. des Demodokos, Od. 8. 64, des Homeros, soll andeuten, daß des Dichters Persönlichkeit, sein Urteil und die Gegenwart verschwinde. Jch erinnere an die Stelle in Goethes Sänger: „ Der Sänger drückt 'die Augen ein, und schlug in vollen Tönen “&c.)
1. Die epische Poesie ist der Anfang und die Quelle aller Poesie. Sie war überall die erste.
2. Erst nach Ausbildung der Epik entwickelte sich die Lyrik.
3. Die aufblühende Lyrik drängte zum Drama hin.
1. Mit der Epik begann überall die Litteratur. (Vgl. Bd. I. S. 18 ff.) Sie ließ ursprünglich geschichtliche Stoffe in volksmäßig dichterischer Weise als Sage erscheinen. Spätere Nachfragen nach Grund und Ursache dieser Sagen ließen aus Naturphilosophie und Religion den Mythus erstehen, d. i. die Erklärung der Erscheinung. So lange die spekulativ = phantastische Lösung geglaubt wurde, war der Mythus rein. Später wurde derselbe didaktisch behandelt oder mit Absicht allegorisch. Sobald die dichterische Phantasie eines Volkes Geschichte und Naturleben in Sage und Mythe allseitig durchgearbeitet und genügendes Material beschafft hatte, begann die Blütezeit der Epik. Große Dichter bearbeiteten den aufgehäuften Stoff in künstlerischer Weise und Rhapsoden verbreiteten die Dichtungen. Welche poesieempfänglichen Zeiten müssen es gewesen sein, in denen nach Homers Bericht die Hörer dem Demodokos lauschten, oder von denen Beowulf berichtet:
(Beowulf. Übers. und erläut. v. Simrock S. 106.)
An das Heldengedicht jener deutschen Zeit, die auch einen einheitlichen Baustil für Errichtung unvergleichlicher Dome schuf, reihte sich das Kulturepos;26 aus diesem entwickelte sich das idyllische Epos, wie aus der religiösen Sage des Mittelalters die dem Didaktischen sich zuneigende christliche epische Gattung, die Legende, erblühte.
Die ursprüngliche bloße poetische Erzählung war lediglich Naturpoesie. Zur Kunstpoesie wurde das Epos, das einen mehr reflektierenden Charakter annahm und dessen Stoff einer großen Jdee Ausdruck verlieh. Nunmehr war die epische Muse einem lebendigen Gemälde zu vergleichen, auf welchem der Blick die Mannigfaltigkeit durch die Kunst des Dichters zur Einheit sich gestalten sah.
2. Als die Epik ihren Höhepunkt erreicht hatte, machte sich ähnlich, wie bei den Griechen, das subjektive Element der Poesie geltend. Die Erzählung in Liedform (Ballade, Romanze) führte die Lyrik ein. Das lyrische Element trennte sich nach und nach vom Epos ab. Die Formen, in welchen sich diese Lostrennung offenbarte (Volkslied, Ballade &c.), waren sehr einfach, bis endlich die Subjektivität erstarkte, die epischen Formen sprengte und gemischtere Weisen zur Blüte führte.
3. Mit dem Aufblühen der Lyrik fiel das Abblühen der Epik zusammen, bis endlich die Vereinigung des Subjektiven und Objektiven in der nunmehr aufblühenden Poesie der Handlung, im Drama, erfolgte.
Der epische Stil kann sich nach drei Richtungen hin kundgeben: Er kann a. naiv (vgl. Bd. I S. 103), b. ironisch (vgl. Bd. I S. 199), c. sentimental sein. (Letzteres als Übergewicht des Subjektiven über das Objektive in der poetischen Darstellung aufgefaßt.)
Die Stilarten hängen ─ um mich der Worte Keiters in Versuch einer Theorie d. Rom. S. 223 zu bedienen ─ mit der Konstitution des Dichtergeistes zusammen. Wo sich Phantasie, Gefühl und Verstand in schöner Harmonie zusammenfinden, haben wir den objektiven Stil der Epik. Er ist Eigentum des naiven Dichters oder eines solchen, der ihm in den Zeitaltern der Kultur am nächsten kommt. Der naive Dichter geht (wie wir dies im § 17 d. Bds. forderten), in seinem Stoffe auf und gewinnt so die einzig künstlerische Darstellungsweise. Wiegt von den dreien den Dichter bildenden Kräften der Verstand vor, so ist der ironische Stil das Ergebnis. Der Dichter erhebt sich gleichsam über seinen Stoff. Er sieht weiter als die von ihm dargestellten Personen, sein Horizont ist ein unbeschränkter, während der Blick seiner Personen auf dem Nahen haften bleibt. Seine Miene zeigt deshalb gern etwas gutmütig Spöttisches; er nimmt aber an den Schicksalen seiner Personen herzlichen Anteil. Ein durchgängig ironischer Stil wird schließlich unleidlich. Es muß deshalb des Dichters Streben sein, ihn den verschiedenen Stadien der Entwickelung anzupassen. Ganz vortrefflich handhabt beispielsweise Eliot in „ Die Mühle am Floß “den ironischen Stil. So lange die Hauptpersonen noch Kinder sind, macht die Dichterin uns mit gutmütigem Spott27 auf die guten und schlechten Seiten derselben aufmerksam. Jhre Lippen umschwebt ein launiges Lächeln, wenn einer ihrer Lieblinge irgend eine Thorheit begeht. Aber die Kinder werden größer, sie werden den Stürmen des Lebens ausgesetzt, ihr Charakter bewährt sich. Nun bekommt die Dichterin selbst Respekt vor ihren Zöglingen. Sie wird ernst und steht dem jungen Herzen als treue Ratgeberin zur Seite. Wo aber endlich das Gefühl über Phantasie und Verstand triumphiert, da kommt der sentimentale Stil zum Vorschein. Der Dichter steht gleichsam unter seinem Stoffe und schaut mit Ehrfurcht zu ihm herauf. Sein Gegenstand begeistert ihn, er ist mehr Redner als Erzähler; er kennt die Wirkungen der Rhetorik und sucht mit ihren Mitteln zu wirken, die Gesetze der Objektivität sind ihm fremd. Unzweifelhaft ist der objektive (naive) Stil der dem Wesen der Dichtkunst am Meisten entsprechende. Er verleiht dem Kunstwerk einen großen Teil von Selbständigkeit. Zugleich aber bekundet er, daß der Dichter den höchsten Gipfel seiner Kunst erreicht hat.
a. Naiver Stil. (Bruchstück aus Goethes „ Wilhelm Meister “. Werke XVI. S. 102.)
„ Ein Mädchen, das Rosen und andere Blumen herumtrug, bot ihm ihren Korb dar, und er kaufte sich einen schönen Strauß, den er mit Liebhaberei anders band und mit Zufriedenheit betrachtete, als das Fenster eines an der Seite des Platzes stehenden andern Gasthauses sich aufthat, und ein wohlgebildetes Frauenzimmer sich an demselben zeigte. Er konnte ungeachtet der Entfernung bemerken, daß eine angenehme Heiterkeit ihr Gesicht belebte. Jhre blonden Haare fielen nachlässig aufgelöst um ihren Nacken; sie schien sich nach dem Fremden umzusehen. Einige Zeit darauf trat ein Knabe, der eine Frisierschürze umgegürtet und ein weißes Jäckchen anhatte, aus der Thüre jenes Hauses, ging auf Wilhelmen zu, begrüßte ihn und sagte: Das Frauenzimmer am Fenster läßt Sie fragen, ob Sie ihr nicht einen Teil der schönen Blumen abtreten wollen? ─ Sie stehen ihr alle zu Diensten, versetzte Wilhelm, indem er dem leichten Boten das Bouquet überreichte, und zugleich der Schönen ein Kompliment machte, welches sie mit einem freundlichen Gegengruß erwiderte, und sich vom Fenster zurückzog. Nachdenkend über dieses artige Abenteuer ging er nach seinem Zimmer die Treppe hinauf, als ein junges Geschöpf ihm entgegen sprang, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein kurzes seidenes Westchen mit geschlitzten spanischen Ärmeln, knappe lange Beinkleider mit Puffen standen dem Kinde gar artig. Lange schwarze Haare waren in Locken und Zöpfen um den Kopf gekräuselt und gewunden. Er sah die Gestalt mit Verwunderung an u. s. w. “ (Vgl. Bd. I S. 103.)
b. Jronischer Stil. (Bruchstück aus Jean Pauls Belagerung der Reichsfestung Ziebingen.)
Das Reichsstädtchen Diebsfehra ─ nicht das meißnische Dorf ─ besaß mit Ziebingen auf den Grenzen eine Gemeinehut, worauf beide Städte ihre Gänse weiden durften. Unglücklicher Weise fiel den 4. Mai ein so starker28 Hagel auf die Markung und Koppelhut-Aue, daß vierzig teils Gänse teils Ganser erschlagen wurden, den Diebsfehraner Gänsehirten nicht einmal gerechnet, welchen der Blitz niederstreckte. Der Ziebingsche Gänsehirt ließ als Patriot alles Tote liegen und trieb so viel Lebendiges, wie sonst, nach der Festung. Diebsfehra, eine Stadt von mehr als anderthalb hundert Einwohnern, konnte eine solche Verletzung der Weideparität nicht schweigend erdulden, wenn sie bleiben wollte, was sie war. ─ Minister mit dem Portefeuille der auswärtigen Angelegenheiten wurden mit den stärksten Vollmachten und Ausdrücken in die Festung geschickt ─ auf Halbpart oder Parität der Gänse wurde bestanden ─ Schmerzensgelder wurden gefordert ─ Sturmläufer gedroht. ─ Aber die Ziebinger, schuß - und stichfest durch ihre Festung, schickten ihnen nichts als ein Protokoll der Aussage des Gemeindehirten, daß die Hagelwetter bloß über die Diebsfehraner Gänse gezogen; was, wie er beifügte, auch der erschlagene Gänsehirt beschwören würde, wenn er als Gespenst vor Gericht erschiene. Angebogen war noch ein physikalischer Beweis vom Stadt - und Landphysikus, daß nie eine Hagelwolke die ganze Erde treffe, sondern stets nur einen Streif, neben welchem folglich nicht einen Gänsefuß breit davon der ungetroffene liegen müsse, woraus erhelle, warum die in Frage gestellte Wolke sich bloß an den feindlichen Gänsen verschossen ... u. s. w.
Wir gingen da zu einem Töpfer, um ein Kabinetsgefäß zu kaufen, welches allerdings nur dann in eine Küche gehört, wenn ein Bett dazu dasteht, worunter man's stellt, sonst nie. „ Welche reine Farbengebung und Zeichnung, “sagt 'ich, als ich in das Gefäß hineinschaute, und die Blumenstücke recht in's Auge faßte, „ Meister! Führ' Er so fort, und lief 'Er sich täglich so selber den Rang ab, Meister, ob Er dann zuletzt uns nicht mit einer Barbarini - oder Portlandvase überraschte? Da möchte ich den Mann sehen, der sich herstellte und schwüre, diese könn' Er so wenig machen, als ein egyptischer Zauberer eine Laus. “ ─ Nur sollte das Töpferhandwerk seine Kunstwerke nicht, wie Christen ihren Schmuck, bloß innen anbringen. Wie so mancher Kunstliebhaber muß jetzo seine Schüssel saurer Milch erst ausessen, bis er allmählich sich durch den Löffel ein gemaltes Blatt nach dem andern von dem Schüssel - oder Blumenstück aufdeckt, so daß er das Ganze nicht eher genießt, als bis er satt ist? Als ich mich aber nach einigen der neuesten Werke des Künstlers umsah: fand ich die Blumenstücke sämtlich wie von einem Höllenbreughel so verzerrt, und die Gefäße so verdreht, daß ich ihn darüber befragte. „ Ach, “sagte der Töpfer, „ vor dem teuflischen Geschieße zittert dem Menschen Arm und Bein; und da verfumfeiet er freilich jeden Bettel. “ So ist also die Bemerkung nicht allgemein wahr, daß immer in Kriegsläufen, wie z. B. in Athen, die Künste besonders blühen u. s. w. ─ (Man vgl. hiezu Bd. I S. 199.)
c. Sentimentaler Stil. (Bruchstück aus Brachvogels Friedemann. Buch I S. 40 und 41.)
„ Welch 'eine stolze Versammlung Alles dessen, was Sachsen Reiches, Schönes, Vornehmes und Berühmtes bot! Welche Fülle strahlender, froher Gesichter! ─ War es nicht gerade, als wüßten diese Leute nicht, was eine29 Thräne sei, als wäre unter ihnen der Schmerz ein Fremdling? ─ O prahlt nur, wallende Federn, wehende Fächer, schwellende Busen, auf denen Demanten blitzen! ─ Und wie das lacht und schwatzt und lustig ist, als sei die Ewigkeit ein Traum und das Glück eine gefesselte Magd! ─ Und doch tanzt dieses ganze Geschlecht auf seinem Grabe, und doch ist so manches Lächeln erlogen, erzwungen; unter jenen seidenen Gewändern schlägt ein gemartertes, wimmerndes Herz, unter diesen Sternen windet sich ein falsches, treuloses und gequältes Gewissen. Schon seh' ich den geheimnisvollen Finger, der das Mene tekel an die Wand schreibt, und ein schattenhaftes Gespenst, das durch die Gruppen schreitet und bald auf diese, bald auf jene Stirn, wie sorglos sie noch heute glänzen mag, das Siegel des Verhängnisses drücken wird. “ ─ (Als weiteres Beispiel des sentimentalen Stils vgl. Börnes bekannte Denkrede auf Jean Paul.)
1. Die dramatische Poesie (von δρᾶμα = = Handlung) ist die Poesie des Thuns oder der werdenden Handlung. Jhr Zweck ist die Darstellung von etwas Geschehendem in mimisch und dialogisch handelnder Form; ihre Absicht: Darstellung der Leidenschaft, die zur That fortreißt, Darstellung jener starken Seelenbewegungen und inneren Kämpfe, die der Mensch vom ersten Regen der Empfindung bis zum leidenschaftlichen Handeln durchmacht, oder auch die das Handeln anderer in ihm hervorruft.
2. Die dramatische Poesie soll das wirkliche Leben in seinen erhabensten, entzückendsten Gestalten, in seinen ergreifendsten, reizvollsten Weisen, durch Schönheit verklärt und durch Harmonie verbunden, poetisch vorführen.
3. Auf die aus Poesie und Mimik gemischte Darstellung der dramatischen Poesie ist unsere Bezeichnung „ Spiel “mit seinen Zusammensetzungen (Lustspiel, Schauspiel, Trauerspiel, Singspiel &c.) zu beziehen.
4. Das Skelet des dramatischen Körpers ist das, was mit den Augen gesehen werden kann, was auf der Bühne (Scene) vorgeht. Das gesprochene Wort trägt für die Ausschmückung Sorge.
1. Durch die Darstellung einer sich entwickelnden Handlung oder einer Kette von Handlungen unterscheidet sich die dramatische Poesie wesentlich von der epischen, welche Geschehenes, Thaten, Begebenheiten erzählt, oder dem Erzähler in den Mund legt. Ebenso unterscheidet sie sich durch die handelnde Form von der lyrischen Poesie, welche lediglich die innern Zustände (Gefühle und Empfindungen) schildert und besingt. Jn ihrer sich selbst entrollenden Handlung ist die dramatische Poesie die Poesie des in Bewegung begriffenen Werdens, während die Lyrik als Ausdruck innerer Zustände30 und Seelenbewegungen die Poesie der Gegenwart des Gefühls, und die Epik als Erzählen des Geschehenen die Poesie der Vergangenheit genannt werden kann. Das Drama, welches sich aus der epischen und lyrischen Poesie entwickelt hat, wurde schon von Aristoteles (Poet. 26) als höchste Poesie bezeichnet. Derselbe räumt der Epopöe die zweite Stelle ein, sofern sie dramatisch ist oder es sein kann. Das Drama war erst nach Ausbildung der Epik und Lyrik möglich. Es ist die Blüte aller Dichtkunst, indem es durch Verschmelzung von Epik und Lyrik ─ also der äußern Wirklichkeit und der innern Seelenzustände ─ ebenso auf die Anschauung wie auf die Empfindung zu wirken vermag. (Aristoteles sagt in dieser Hinsicht in Poet. 3: ὅθεν καὶ δράματα καλεῖσθαί τινες αὐτά φασιν, ὅτι μιμοῦνται δρῶντας, desgleichen in Poet. 2: μιμοῦνται οἱ μιμούμενοι πράττοντας.)
Der Handelnde repräsentiert die subjektive gegenwärtige Empfindung im Affekt, in der Leidenschaft. Anstatt Erzählung der Begebenheiten ─ wie im Epos, ─ führt das Drama die Begebenheit in dialogischer Form wirklich auf, und es werden die Begebenheiten im Drama zur That, oder besser zu dem, was man eben Handlung (d. i. die in Entwickelung begriffene entscheidende That bis zur Vollendung) nennt. Jm Drama begiebt sich nicht nur Verschiedenes mit und an den auftretenden Personen, sondern diese zeigen durch eigene handelnde Vor - und Darstellung alle Seelenprozesse, welche in der Hauptperson des Drama bis zur leidenschaftlich vollbrachten That sich vollziehen, alle inneren Motive in ihrer vollen Geltung, weshalb die griechische Bezeichnung Drama (von δρᾶν = = handeln) viel bezeichnender ist, als die lateinische fabula, die doch nur das epische Moment charakterisiert. (Der Lateiner hilft sich, indem er sagt: fabulam agere.)
2. Nach Shakespeare (Hamlet Akt III, Scene 2) bezweckt die dramatische Poesie, der Natur gleichsam den Spiegel vorzuhalten, der Tugend ihre eigenen Züge, der Schmach ihr eigenes Bild und dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen. (Jm Englischen lauten die letzten Worte: to show ... the very age and body of the time his forme and pressure. Delius (3. Aufl. Elberf. 1872. II. 391) kommentiert: Dem Jahrhundert (age) selbst wie der in Eins zusammengefaßten Zeit (body of the time) ihre Gestalt und ihren Ausdruck zu zeigen. Nach S. Johnson bedeutet age bei Shakespeare any period of time attributed to something as the whole or part of his duration: also jede Periode, den ganzen Verlauf der Zeit, auch den Charakter der Zeit soll das Drama nach Shakespeare darstellen. Wir möchten ergänzend auch an die verkörperte Zeit, d. i. die Zeitgenossen denken, insofern sie persönliche Zuschauer resp. Leser sind.
3. Das Wesen des Drama ist die in Kampf, Gegenkampf, Spannung &c. sich zeigende Handlung. Diese bedarf zu ihrer Vorführung einer Bühne (σκηνή), der Dekorationen, der Kostüme, wobei selbstredend auch ein Schauplatz (θέατρον) und Zuschauer vorausgesetzt sind. Die Ausmalung, Schilderung und die Beschreibungen der Gegenden sind beim Drama Aufgabe der Scenerie.
314. Zum Ausdruck der innern Empfindungen und der Zustände, welche in einem kausalen Verhältnisse stehen, bedient sich das Drama der Gesprächsform, des durch Mimik und Gestikulation unterstützten Wortes, der wechselnden Rede und Gegenrede.
Die unmittelbar vor den Augen des Zuschauers sich entrollende Begebenheit ist die Handlung. Sie wird als äußere That durch den freien Willen des Handelnden hervorgebracht. Sie unterscheidet sich wesentlich von der Fabel, unter welcher lediglich diese nicht zur Darstellung gelangte Begebenheit zu verstehen ist.
Die handelnden Personen nennt man die Charaktere.
Die Fabel im Drama ist die äußere stufenweise Entwickelung der Begebenheiten, aus denen die That resultiert. Oder besser: Unter Fabel im Drama versteht man die nach dem Zweck des Dichters eingerichteten Begebenheiten, deren Anfang, Fortgang und Ende sich der Dichter dem Ausgang entsprechend zubereitet, während Handlung die in Ausführung begriffene Begebenheit ist. Oder endlich: Handlung ist dasjenige, wodurch die Begebenheit geschieht, ihren Fortgang gewinnt, ihr Ende erreicht: die Vorführung alles dessen, was sich begiebt, was geschieht.
Über die Begriffe Handlung und Fabel herrscht selbst bei den gewiegtesten Dramaturgen keine Übereinstimmung. Manche bezeichnen als Fabel, was wir als Handlung bezeichnen, und umgekehrt. Die Römer nennen die Handlung, wie erwähnt, fabula. (Vgl. S. 30 d. Bds.)
Die Handlung, welche im freien, nach bestimmter Absicht handelnden Wesen ihren Grund haben und also aus den Charakteren und Verhältnissen der Personen gewissermaßen entspringen muß, ist so wichtig, daß die handelnden Personen erst in zweite Linie zu setzen sind. Ja