Nach den Anforderungen der Gegenwart von Dr. C. Beyer. ──────
Dritter Band. ──────
Stuttgart. G. J. Göschen'sche Verlagshandlung. 1884.
EAI:bvon Dr. C. Beyer. ──────
Stuttgart. G. J. Göschen'sche Verlagshandlung. 1884.
EAI:aK. Hofbuchdruckerei Zu Guttenberg (C. Grüninger) in Stuttgart.
RI(Rob. Hamerling. Aus Prolog z. 26. Jahrg. d. Westerm. Mon. = Hefte.)
Mit dem vorliegenden 3. Bande dieses Werkes ist das vorzugsweise aus Beispielen der deutschen Litteratur, sowie aus den Lehren der besten Schriftsteller auf dem Gebiete der Ästhetik und aus den Dichtwerken aller Nationen geschöpfte große System der Poetik in seinem ganzen weiten Umfange abgeschlossen. Der Jnhalt dieses Bandes verhält sich zu dem der beiden ersten Bände, wie Praxis zu Theorie. Er hat sich die Aufgabe gestellt, die Methode der dichterischenRII Technik zu zeigen und das bezügliche Material in einem vom Leichteren zum Schwereren aufsteigenden Stufengange zu liefern. Er will also praktisch in die Technik der Poesie einführen und mindestens die Befähigung zur Vers - und Strophenbildung erzielen.
Hiermit unternimmt er den kühnen Versuch, die seither mehr oder weniger dem Zufall überlassene Erlernung dichterischer Technik als Lehrdisziplin nach methodisch = pädagogischen Prinzipien in die Litteratur einzuführen.
Dem Bedenken jener, welche aus unserem Beginnen eine Vermehrung der Dichterlinge und Reimschmiede prophezeien möchten, erwidern wir zunächst folgendes: Es ist noch keinem die Behauptung in den Sinn gekommen, daß die auf unseren Gymnasien so fleißig betriebenen Übungen in lateinischer Prosodik und Metrik und in lateinischer Versbildung lateinische Dichterlinge und Reimschmiede geschaffen hätten. Ebensowenig hat man ein Überwuchern von stümpernden Rednern und dilettierenden Schriftstellern infolge der rhetorischen und stilistischen Übungen an unseren höheren Lehranstalten wahrgenommen. Niemand endlich hat bis jetzt bemerkt, daß die Schüler unserer Musik =, Zeichen - und Malerschulen insgesamt das Proletariat der Stümper in der Musik =, Zeichen - und Malerkunst vermehrt hätten. Man erblickt heutzutage mit Recht die Aufgabe dieser Anstalten darin, die ästhetische Durchschnittsbildung des Jahrhunderts zu heben und dem einzelnen das Leben zu verschönern durch ein reicheres Maß von Fertigkeiten, durch größere Reife des Urteils und namentlich durch Bildung des bisher so sträflich vernachlässigten ästhetischen Geschmacks, ─ und man ist zufrieden, wenn nur hie und da ein bedeutender Künstler aus ihnen hervorgeht. Jn ähnlicher Weise könnte man sich belohnt fühlen, wenn unsere praktischen Unterweisungen auch nur einzelne wirkliche Dichtertalente in die richtigen Bahnen lenken, dafür aber die ästhetische Mittelbildung unserer Zeit (d. h. die Durchschnittshöhe des von Bildung nach Regeln und Mustern abhängigen Kunstgeschmacks) zu steigern vermöchten. Dadurch würden sie auch den Dilettantismus bekämpfen und die Flut mittelmäßiger Gedichte eindämmen. Wer sich im deutschen Vers - und Strophenbau praktisch geübt hat, wer die poetischen Formen mit Beachtung aller AnforderungenRIII und Feinheiten in den Kunstgriffen nachbildete, wer einsehen lernte, wieviel zu einem guten Gedichte gehört, der wird sich zweifellos ernstlich scheuen, dem im Geschmack gehobenen Publikum halbreife Früchte aufzutischen.
Viele meinen, daß ästhetisches Fühlen, genießendes Verständnis der Dichter und dichterisches Hervorbringen gar keine besondere Schulung nötig habe, während doch in Wahrheit die Dichtkunst, wenn sie es zur Meisterschaft bringen will, die schwerste aller Künste ist, weil sie zur Erfüllung ihrer höchsten Aufgaben eine größere Fülle und Tiefe lebendigen Wissens und Könnens voraussetzt, als die andern Künste, bei welchen die technischen Schwierigkeiten schon durch deren handgreifliches Arbeitsmaterial mehr in die Augen springen. Aus einem Marmorblocke eine Göttin oder aus den Farben einer Palette ein schönes Bild hervorzuzaubern, erscheint dem Laien schwieriger, als aus der unsichtbaren Sprache, die er selbst im Munde führt, ein schönes Gedicht zu schaffen; denn er weiß nicht, daß die Sprache einem Dichter, der nicht auf bereits ausgetretenen Bahnen wandelt, ein noch spröderer Stoff ist, als dem Bildhauer der härteste Marmor (Bodenstedt). Die Verskunst setzt energische Schulung voraus; sie muß, wie das Zeichnen, das Malen, das Klavierspielen und die musikalische Komposition gründlich erlernt und nachhaltig geübt werden. Ohne Anweisung, ohne Abstraktion der Regeln aus den besseren Dichtwerken &c. hätten ja auch die klassischen Dichter gewisse, aus der ältesten Zeit sich herschreibende Gesetze der Dichtkunst so wenig geübt, als mancher Dichterling unserer Tage oder die Dichter des 14. und 15. Jahrhunderts. Goethe gesteht, daß seinen Meisterdichtungen recht ernstes Ringen, rücksichtslose Selbstkritik und Belehrung seitens anderer vorausgegangen seien; und Herder ist der Ansicht, daß die Poesie nicht die Domäne einiger hervorragender Geister sei, sondern einer Gesamtheit, die wir Volk nennen. Friedrich Rückert, dessen Ahnen Bauern waren, hat eine unausgesetzte Schulung an sich vollzogen und sich zum klassischen Dichter emporgerungen.
Die Poesie ist eben nichts weniger als ein angeborenes Vorrecht von nur wenigen Menschen. Fähigkeit und Anlage zur Poesie hat der ewige Baumeister aller Welten in größerem oder geringerem Grade in des Menschen Brust gelegt, und es kann daher ein jeder ─ ohne Dichter werden zu wollen ─ ebenso gut einen gelungenen Vers bildenRIV lernen, als er es ohne Schriftsteller werden zu sollen ─ zur Herstellung eines guten Prosastücks zu bringen vermag.
Es soll freilich nicht behauptet werden, daß Schulung an sich zum guten klassischen Gedichte führen müsse, daß also einzig und allein die Virtuosität in der Technik den großen Dichter mache. Wir Deutsche verlangen vom Dichter neben Virtuosität in der Technik noch Tiefe und Gediegenheit des Gedankens; diesen kann nur derjenige mit der Form verschmelzen, welcher die Melodie aus dem Rhythmus und das Feuer der Begeisterung aus dem Wohllaut der Metapher durch seinen zur Klarheit, Lebendigkeit und Gewandtheit des Geistes und der Phantasie führenden, poetischen Entwickelungsgang seinem geistigen Jch vermählt hat. Einen jeden zum großen Dichter bilden zu wollen, dürfte überhaupt und im allgemeinen eine unlösbare Aufgabe sein, weil ja neben Anleitung zum Vers - und Strophenbau der ganze Bildungsgang in Betracht kommt. Aber einen phantasiereichen Menschen, einen talentvollen, harmonisch entwickelten Jüngling, eine dem Jdealen zustrebende Jungfrau auf Pfade zu leiten, auf denen unsere klassischen Dichter Großes leisteten, das muß eine würdige, ─ eine lohnende Aufgabe sein!
Noch nach einer anderen Richtung möchte der vorliegende Band eine eigenartige Stellung und Bedeutung beanspruchen. Durch Behandlung, Einteilung und Gruppierung des dichterischen Stoffes erwächst nämlich dem Lernenden Kenntnis vom Bau der Sprache und der Dichtungen, sowie Einsicht in Gesetz und Regel; er lernt das Schöne in Form und Jnhalt empfinden; es tritt ihm die Anschaulichkeit und Feinheit des dichterischen Gegenstandes wie der Unterschied in der dichterischen Stilhöhe entgegen; er ist veranlaßt, die Laute in ihrer Mischung und Anordnung zu vergleichen, die Härten zu vermeiden, das jeweilige Reim-Echo behufs Erreichung zierender Reime zu prüfen, in den Geist der Strophik im Hinblick auf Stoff und Form einzudringen u. a. m. Ohne Zweifel wird dadurch der frische, lebendige, sprachliche Ausdruck begünstigt oder gefördert, die Fähigkeit form = und inhaltsvoller Darstellung von Jdeen und Gefühlen gesteigert, das Urteil erweitert, der ästhetische Geschmack veredelt, die Phantasie belebt und somit der Lernende ─ ohne jegliche poetische Fiktion ─ mehr als durch irgend eine andere Unterrichtsdisciplin in eine höhere Sphäre menschlichen idealen Seins und ästhetischen Fühlens emporgehoben. RVDies ist die gleichsam pädagogische Bedeutung unserer Arbeit.
Ein namhafter Dichter hat einmal geäußert, daß niemand auf poetischen Gebieten mitzusprechen berechtigt sei, der nicht die Praxis mit der Theorie verbunden habe. Wir setzen hinzu: Nichts Vollendeteres könnte es geben, als eine Nation, in welcher jeder Gebildete hierbei mitzusprechen vermöchte, in welcher jeder seinen Vers ebenso zu bilden verstünde, wie seinen Prosaaufsatz; dann würde das Dilettantische nur geringe Verbreitung finden; dann würden die wirklich bedeutenden Dichter, getragen von der höheren ästhetischen Mittelbildung der Nation, in Wahrheit Leitsterne des Jahrhunderts sein! ─
Hiermit kommen wir auf unsere Übungen selbst zu sprechen. Schon ein Blick in das Jnhaltsverzeichnis wird darthun, daß wir allen Rhythmen, Strophen, Formen, Gleichklängen, Dichtungsgattungen &c. unsere Beachtung zuwandten. Wir haben eine systematische Folge vom einfachen Jambus bis zu den schwierigsten deutsch nationalen und fremden Strophenbildungen eingehalten und den Weg gezeigt, den der zur Selbständigkeit geführte Kunstjünger zu wandeln hat. Überall schickten wir die präzise Anleitung und die praktischen Vorschriften und Winke über Gesetze und Regeln voraus, so daß der Schaffende nicht erst die Handwerksvorteile mühsam zusammenzusuchen oder zu abstrahieren braucht; überall bahnten wir eine Anleitung zur Kritik an und suchten die Voraussetzungen für das eigene dichterische Schaffen zu formulieren oder die Regel aufzustellen.
Aber auch die Bildung und Behandlung aller jener Formen der Lyrik, Didaktik, Epik und Dramatik haben wir gezeigt, welche irgend eine Schwierigkeit in der Technik bieten, oder deren Handhabung besondere Kunstgriffe beansprucht. Jene wenigen Dichtungsgattungen, welche in ihrer äußeren Form nicht von den in diesem Bande behandelten abweichen, konnten um so eher weggelassen werden, als wir das präzise Maß wahren mußten. Auch übergingen wir einige stofflich umfangreiche Gattungen, deren Technik und Bau mit allen ihren Feinheiten bereits in den betreffenden Paragraphen der beiden ersten Bände dieser Poetik abgehandelt sind, so daß auf diese erschöpfende Quelle verwiesen werden kann.
Alle Handgriffe im Aufbau der prosaischen Gattungen (Roman und Novelle) wurden mit einer wohl in allen Litteraturen ohne BeispielRVI dastehenden Ausführlichkeit bekanntlich im zweiten Band unserer Poetik behandelt und durften daher in diesem Bande nicht wiederholt werden.
Das Gleiche ist hinsichtlich der Technik des Dramas der Fall. Die Paragraphen 20─43 und 149─177 des 2. Bandes dieser Poetik wurden ja auch bereits von den geachtetsten Dichtern als eine erschöpfende Dramaturgie begrüßt. (Die praktische Anleitung zu einem Dramolett bietet übrigens S. 165 ff. dieses Bands.)
Es lag weiter im Bereiche der Anforderungen an unser Werk, auch die Übersetzungen aus fremden Sprachen zu berücksichtigen. Da gute Übersetzungen der Gedichte Wiederholungen derselben in anderen Sprachen sind, so muß unseres Erachtens das Verständnis und die Befähigung angebahnt werden, solche Übersetzungen zu liefern, bei denen Harmonie zwischen Jnhalt und Form herrscht, wie sie im Original besteht. Es muß die Übersetzung mindestens der guten Kopie des Gemäldes zu vergleichen sein, wie dies beispielsweise von den Schlegel-Tieckschen, oder Baudissinschen Übersetzungen Shakespeare'scher Dramen, besonders aber von Em. Geibels, Th. Kaysers, Osw. Marbachs Übersetzungen klassischer Dichter, und Ferd. Freiligraths Übertragungen neuerer Dichter zu rühmen ist. Es genügte uns deshalb nicht, nur durch geschichtliche Darstellung des Anfangs und der Entwickelung deutscher Übersetzungskunst in deren Wesen und Begriff einzuführen; vielmehr haben wir aus den sämtlichen Übersetzungen aller Zeiten Grundsätze und Anforderungen an Übersetzung und Übersetzer abstrahiert und an markanten Beispielen gezeigt, wie der Lernende durch Vergleichung und Benützung des ihm gegebenen Stoffes zur Höhe des vollkommenen Übersetzers zu gelangen vermag.
Auch die Praxis der Dialektdichtungen durften wir nicht unbeachtet lassen. Wie viele Denkmale deutscher Dialekt-Poesie sind von so hohem Werte, daß sie im Lichte unserer hochdeutschen Poesie immerhin zum klaren Verständnis gebracht zu werden verdienen! Selbst die historische Vergleichung verdienten diese Denkmale; denn es ist mindestens die Erwägung wertvoll, ob die neue Bildung einer allgemeinen hochdeutschen Poesie an die Zerrüttung der dialektischen Laut = und Tonverhältnisse, oder ─ wie es sicher der Fall ist ─ an den Einfluß der Accentuation im niederdeutschen Dialekt geknüpft war u. s. w.
RVIIBei den von uns gewählten Beispielen leitete uns der pädagogische Erfahrungssatz, daß der Schüler dasjenige gern erstrebt, was ihm erreichbar erscheint, während ihn allzuhohe Ziele leicht entmutigen können. Wo es sich darum handelte, ästhetisch zu wirken, die Schönheit der Sprache zu zeigen, Herz und Geist zu erheben und die Phantasie zu beleben, da sind die allerbesten klassischen Beispiele geboten worden; wo es jedoch nur auf nackte korrekte Form ankam, mußten zuweilen Lösungen eintreten, welche lediglich den Nachweis der Regel ergaben und unschwer erkennen ließen, wie leicht der gegebene Stoff zu bearbeiten sei &c.
Zum Schlusse danken wir noch für die unzähligen Ermutigungen und Auszeichnungen, welche die beiden ersten Bände unserer Poetik seitens kompetenter Richter, seitens unserer namhaftesten Dichter &c. gefunden haben. Für eine der lohnendsten Errungenschaften unseres Werkes erachten wir es aber, daß der uns seitdem befreundet gewordene treffliche Dichter Dr. Faust Pachler, 1. Kustos der k. k. Hofbibliothek in Wien, bei der Korrektur des vorliegenden Bandes uns in zuvorkommender Weise seine ergiebige Beihilfe lieh; desgleichen der verdiente Philologe und Schriftsteller, Gymnasialdirektor Dr. G. Autenrieth, sowie der bekannte Übersetzer Hofrat Dr. E. v. Zoller und andere hervorragende Fachgelehrte.
Möge unser Volk nunmehr auch an diesem dritten und letzten Bande der deutschen Poetik freudigen Anteil nehmen, damit unsere seit drei Decennien rastlos geförderte große Arbeit den erstrebten und ersehnten wesentlichen Beitrag liefere für endliche Begründung und Vollendung einer Wissenschaft der Poetik, für Wertschätzung und Bewunderung deutscher Poesie, wie für Pflege und Verallgemeinerung deutschen poetischen Geistes!
Stuttgart, 13. Juli 1883.
Dr. C. Beyer.
RVIIIRIXSchiller.
Goethe.
Gisbert Frhr. v. Vincke.
E11. Wir beginnen die praktische Anleitung und Einführung in den deutschen Vers - und Strophenbau mit Bildung jambischer Verstakte (⏑ –), welche am leichtesten herzustellen sind. Es ist für den Anfang gestattet, die prosaischen Wendungen des Stoffes beizubehalten, da es lediglich darauf ankommt, daß möglichst reine Accentjamben gebildet werden.
2. Nicht die (auf der geregelten Folge von kurzen und langen Silben beruhende) sog. Silbenquantität ist es also, worauf unsere Übungen abzielen, sondern der von betonten und unbetonten Silben abhängende deutsch = accentuierende Rhythmus. Der Accent muß in unserer accentuierenden Sprache wie ein Heiligtum gepflegt werden.
3. Lediglich betonte, vom Accent getroffene Silben (Stammsilben) dürfen zu Arsen (Hebungen) gewählt werden. Dieselben können also nie in die Thesis (Senkung) gestellt werden, wohl aber gehören unbetonte bis mitteltonige Silben in die Thesis.
4. Man muß sich hüten, sprachlich unbetonten Silben durch Versetzung in die Arsis den Hochton (den rhythmischen oder Verston) zu verleihen, wie dies im Beispiel „ Das fūrcht │ bărē │ Geschlecht │ der Nacht “geschah; es würden sonst Sprache und Rhythmus miteinander in Streit geraten.
(Es giebt nur zwei richtige Betonungen des Wortes furchtbare, nämlich: „ fūrchtbărĕ Geschlēcht “, d. i. das fürchterliche, oder fūrchtbārĕ, d. i. fūrchtlōsĕ. 2Aber furchtbārĕ und fūrchtlōsĕ spricht niemand, höchstens fūrcht ̆ barĕ, wo sodann fūrchtbār reiner Spondeus [– –] wird.)
5. Eine betonte Silbe kann den Vollton einbüßen und für die Thesis geeignet werden, wenn sie sich mit der nachfolgenden so verschmilzt, daß man von einer Art Enklisis (Zurückwerfen des Accentes) sprechen könnte, z. B. Fraŭ Mēisterin sagte zu &c., oder: Hĕrr Vāter, ihr &c., oder: Ăch, Mūtter, ăch, Mūtter &c.
6. Umgekehrt kann ausnahmsweise sogar ein Artikel oder eine Präposition zur Länge erhoben und für die Arsisstellung geeignet werden, wenn der Vollton sie trifft: a. der weit von seinem Substantiv abgerückte Artikel z. B.: O zeigt │ mir dēn │ von ihr │ gelieb │ ten Freund! b. die den Gegensatz hervorrufende Präposition z. B.: Nĭcht vōr │ dem Walde liegt der Feind.
7. Es ist nicht nötig, daß jeder Satz mit einem Jambus endige. Vielmehr können einzelne Sätze trochäisch (– ⏑) schließen und die nachfolgenden Sätze trotzdem mit Jamben beginnen, da die Pausen hinzugerechnet werden dürfen.
8. Da unsere Sprache trochäischen Grundcharakter hat, also das Einsetzen mit der Arsis fordert, so werden dem Lernenden mehr trochäische Satztakte in die Quere kommen, als er wünschen mag. Er wird dieselben vermeiden können, wenn er Wörter mit Vorsilben einfügt (z. B. vĕrgēben, gĕlēiten, bĕsprēchen, ĕrnǟhren &c.).
9. Ein Kunstmittel, jambische Takte zu erhalten, besteht auch darin, daß man zwischen volltonige, schwere Silben (z. B. That, Wort) sog. Flickwörter oder auch Flexionssilben einschiebt (z. B. Thāt und Wōrt, oder Thātĕn, Wōrte).
10. Aus phonetischen Gründen ist eine Abwechselung der Vokale in den Arsen wünschenswert.
11. Zu vermeiden sind mehrere, dicht hinter einander kommende, einsilbige Wörter, da jedes derselben den Hochton verdient und somit durch Vereinigung vieler derselben der Rhythmus ins Schwanken gebracht werden kann.
12. Da wir uns in unserer Einführung in die Technik des Versbaus auf Anregung durch nur wenige Beispiele beschränken müssen, so ist es jedem anheimzugeben, sich nach weiterem Material umzusehen. Zur Umbildung der Prosarede in den jambischen Rhythmus eignen sich wegen ihrer fortlaufenden, dem dichterischen Ausdruck freien Spielraum gewährenden Perioden vorzugsweise Monologe, beschreibende und erzählende Lesestücke und Naturschilderungen &c.
3(Wir erwähnen in Sophokles 'Aias den berühmten Monolog 815 ff., Monologe in Shakespeare's Julius Cäsar, in Schillers Tell und Wallenstein. Ferner Erzählendes z. B. in Wallenstein der Bericht über die Schlacht bei Neustadt, oder in der Jungfrau von Orleans: „ Wir hatten sechzehn Fähnlein aufgebracht “u. s. w.)
Aufgabe. Das nachfolgende Bruchstück aus Charikles und Theages von Herder soll in jambische Verstakte umgebildet werden
Stoff.
Die heilige Stille, die die Nacht um sie verbreitete, die hellen Himmelslichter, die als Lampen über ihnen aufgehängt schienen, auf der einen Seite einige zurückgebliebene Schimmer der Abendröte, und auf der andern der hinter den Schatten des Waldes sich sanft erhebende Mond ─ wie erhebt dieser prächtige Tempel, wie erweitert und vergrößert er die Seele! Man fühlt in diesen Augenblicken so ganz die Schönheit und das Nichts der Erde; welche Erholung uns Gott auf einem Stern bereitet hat, auf dem uns Mond und Sonne, die beiden schönen Himmelslichter, abwechselnd durchs Leben leiten! Und wie niedrig, klein und verschwindend der Punkt unseres Erdenthales sei, gegen die unermeßliche Pracht und Herrlichkeit aller Sterne, Sonnen und Welten u. s. w.
Lösung.
Dĭe hēiligĕ Stīllĕ, dīe dĭe Nācht um sie verbreitet, auch die hellen Himmelslichter, die als Lampen über ihnen aufgehängt erschienen, hier auf dieser Seite ein'ge Schimmer goldner Abendröte, die zurückgeblieben, dorten auf der andern ─ hinter Waldesschatten sich erhebend ─ still der Mond. Wie hoch erhebt doch dieser prächt'ge Dom, wie sehr erweitert und vergrößert er die Seele! Fühlt man doch in solchen Augenblicken ganz die Schönheit wie das Nichts der Erde, ja, man fühlt Erholung, uns von Gott auf einem Stern bereitet, wo den Menschen Mond und Sonne, diese beiden Himmelslichter, wechselnd durch das Leben leiten, und wie gegen aller Sterne, Sonnen, Welten Pracht und unermeßnen Schöne, so verschwindend klein der Punkt des Erdenthales sei u. s. w.
(NB. Man suche hier, wie bei allen folgenden Lösungen, Versehen aufzuspüren, Kritik zu üben und z. B. nachzuweisen, wie in Z. 1 „ die die “unschön wirkt, wie Z. 2 „ auch die “von sehr zweifelhafter Länge ist, wie Z. 4 in „ aufgehängt erschienen “die Vorsilbe er die Änderung „ aufgehangen schienen “empfiehlt u. s. w.)
1. Wir gehen sofort zur bequemen Form des jambischen Viertakters (⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑ –) über, welcher ebenso akatalektisch (vollzählig), wie katalektisch (unvollzählig) sein kann, z. B.:
4(Hamerling.)
2. Wollte man nur vollständige (akatalektische) Viertakter bilden, ohne sich um Cäsur oder die syntaktischen Pausen zu kümmern, so könnte man die Verse (wie im vorigen Paragraphen) in fortlaufenden Zeilen schreiben.
3. Wenn sämtliche Verse akatalektisch (vollständig) sind, so ist zur Wahrung des Verscharakters darauf zu achten, daß die syntaktischen Ruhepausen ans Ende derselben zu stehen kommen, um die Jncision (Versabschnitt) zu markieren.
4. Satztakt und Worttakt darf der Lernende nicht zu oft zusammenfallen lassen. Vielmehr muß er unserer Sprache den Schein unbegrenzter freier Bewegung wahren und der Monotonie und Monorhythmik vorbeugen.
5. Ständige Diäresen (Zusammenfallen des Verstaktes mit dem Satztakte) am Ende des zweiten Taktes sind zu vermeiden, weil sonst der Vers halbiert würde und das Ganze das Gepräge jambischer Zweitakter erhalten müßte.
6. Es ist hier des Wohllauts wegen mehr als bei der vorigen Übung auf freundlichen Wechsel der Sprachlaute zu halten. Ein Kunstgriff hierbei ist im allgemeinen: a. gedehnten Silben den Vorzug vor geschärften in der Arsis zu geben, b. volle und kräftige Vokale öfter eintreten zu lassen, als das fade e oder das dünne i &c.
7. Auch in den Thesissilben sollte dieser Wechsel einige Beachtung finden. Anstatt der vielen Endsilben mit dem fast tonlosen e, können zur Abwechselung kleine Formwörtchen wie: in, vor, zu, um, auf &c. in die Thesis gerückt werden.
8. Da diese Wörtchen meist mit einem Vokal beginnen, so müssen zur Vermeidung des Hiatus (Zusammentreffen zweier Vokale) zuweilen die ihnen vorhergehenden Flexionssilben elidiert werden (z. B.: hätte in = = hätt 'in, hätte auf = = hätt' auf &c.). Die mäßige Anwendung des Hiatus muß gewöhnliche, dem Alltagsleben angehörige Wendungen ausschließen.
9. Nach einer syntaktischen Pause ist der Hiatus gestattet, da ja die Elision an dieser Stelle die Cäsur (Verseinschnitt) aufheben würde, ein Hinüberlesen über diese Cäsur aber verwerflich wäre.
10. Die Elision vor einem Konsonanten (die sog. Apokope) sollte nur höchst ausnahmsweise beliebt werden, weil sie eine Härte ergiebt. Es darf elidiert werden: Hätt 'er, nicht aber Hätt' der &c., oder Hätt 'man &c.
5Aufgabe. Die nachfolgende Sage ist in jambischen Viertaktern wiederzugeben, und zwar sind akatalektische Verse zu bilden. (Vgl. übrigens S. 2 Ziffer 7.) Das Material für den einzelnen Vers ist durch Taktstriche abgegrenzt. Es ist bei Lösung dieser Aufgabe die Beibehaltung der prosaischen Wendungen des Stoffs gestattet, damit um so größere Sorgfalt der Bildung reiner Accentjamben und der Vermeidung des Hiatus, wie der Beachtung der obigen Vorschriften zugewendet werden kann.
Die Witwe. (1760 n. Chr. Aus dem Hildesheimschen.) (Von Karl Seifart. Sagen &c. Göttingen 1854.)
Stoff.
Einer armen Witwe │ bei Hildesheim hatten │ die Werber ihren einzigen Sohn │ genommen und in den siebenjährigen Krieg geschleppt. │ Die arme Frau konnte weiter nichts thun, │ als weinen und beten, daß ihr der liebe Gott │ doch ihre einzige Stütze │ am Leben erhalten möge. │ Das that sie denn auch jeden Morgen. │ Aber Jahre vergingen, │ und keine Nachricht kam von ihrem Sohne. │ Die harten Nachbarn lachten │ und meinten, sie solle sich doch nur über ihren Sohn │ zufrieden geben. │ Dem wäre nur geschehen, │ was so manchem Mutterkinde │ im Kriege geschehe. │ Aber die Frau ließ sich nicht irre machen; │ sie konnte nicht daran glauben, │ daß Gott ihr ihre einzige Stütze │ nehmen würde, und sie betete │ nach wie vor für das Wohlergehen ihres Sohnes. │ Da war es ihr einmal in der Kirche, │ als ob sie in einen tiefen Schlaf │ fiele, und doch standen │ ihre Augen weit offen, so daß sie │ Wunderbares schaute. │ Sie sah in eine weite, weite Welt, │ darin lagerten viele Tausende │ fremder Völker, │ und unter den Völkern stand ein König │ mit goldener Krone, │Lösung (mit Beibehaltung der Prosawendungen des Stoffs).
6der einem schönen, jungen Soldaten einen Kranz │ auf den Kopf setzte. │ „ O Gott, das ist ja mein Franz Karl! “ │ rief die Frau laut, │ so daß die andern Beter alle erschrocken │ umschauten │ und meinten, der Frau │ sei etwas zugestoßen. │ Die Frau aber fühlte eine wunderbare │ Freude in der Brust │ und ging himmlischen Trostes voll │ aus der Kirche. │ Da sah sie draußen die Jungen │ zusammen laufen, │ schmucke Reiter trabten │ unter Trompetenblasen daher, │ und ─ bald wäre die Frau vor Freuden │ gestorben, denn all den Reitern │ voran stolzierte als Oberst │ ihr Franz Karl │ und suchte seiner Mutter Haus auf. │
(NB. Weiteres Material zu Übungen im jambischen Viertakter bieten Märchen und kleine, freundliche Erzählungen.)
1. Satzende und Ende des Blankverses (⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑ –) brauchen nicht unbedingt zusammen zu fallen, vielmehr darf der Satz zuweilen in die neue Verszeile hinüberragen. Zu oft soll dies freilich nicht geschehen, weil dies zwar jambischen Rhythmus, nicht aber jambische Quinare ergeben würde. Das Enjambement (Überschreiten) sollte in der Lyrik nie, im epischen Gedicht nur selten vorkommen.
2. Der Miltonsche jambische Quinar hat stets männlichen Schluß, der Shakespearesche gestattet bald weibliche, bald männliche Endung. Um nicht in Zweifel über die Versgliederung zu geraten und das Ende der Blankverse zu markieren, haben bessere Dichter (seit Lessing) den Shakespeareschen Quinar angewandt, also den letzten Takt zuweilen hyperkatalektisch (überzählig) gebildet, z. B. Vers 2 und 3 der folgenden Probe:
(Herder.)
73. Es dient zur Wahrung des Verscharakters, die syntaktischen Pausen und Ruhepunkte (Satzende, Satzeinschnitt, Vordersatzschluß, Nachsatzende) häufig ans Ende der Quinare zu verlegen.
4. Hohe markierende Bedeutung hat der Einschnitt, wenn die überzählige Silbe den Charakter einer schweren Silbe erhält. Doch muß diese hemmende Wirkung mit dem Satzende zusammenfallen. Wo dies nicht der Fall ist, wie in folgendem Beispiel, ist sie wegen ihrer hemmenden Gewalt störend und fehlerhaft, selbst da wo das Fehlerhafte durch Recitation gemildert werden kann:
(Herder, Der entfesselte Prometheus.)
5. Zur Unterbrechung der Monotonie, wie zur Markierung der Jncision und zur Steigerung der malerischen Kraft beginnt man zuweilen die frische Verszeile mit einem Spondeus (– –) oder einem Trochäus (– ⏑), z. B.:
(Oehlenschlägers Correggio.)
(Herder, Der entfesselte Prometheus.)
Diese Versanfänge verlangen Berechnung, wenn sie den Rhythmus nicht stören sollen.
6. Zur Vermeidung der Eintönigkeit darf auch innerhalb der Zeile zuweilen ein Spondeus oder ein Anapäst stehen.
Z. B. ein Spondeus:
(Goethes Faust.)
oder ein Anapäst:
(Lindners Brutus u. C.)
7. Eine Feinheit ist es, den Spondeus (– –) nur hie und da an ungeraden Stellen (also im 1., 3., weniger im 5. Takt) eintreten zu lassen, um nicht den Verscharakter zu schädigen. Bei den, nach Dipodien (zwei Takten) gemessenen Versen der Alten mußte die Dipodie mit einem Jambus schließen, weshalb eben nur in ungeraden Takten Spondeen sein konnten.
8. Empfehlenswert ist es, Cäsuren mit Diäresen abwechseln zu lassen. Bei weiblichem Versschluß wirken die Diäresen freundlicher, bei männlichem die Cäsuren. Man sollte die Cäsur im 5. Takt des8 hyperkatalektischen Quinars vorsichtig (d. h. nicht zu oft nacheinander) gebrauchen, weil sonst die beiden letzten Silben als trochäisch empfunden werden, was den Rhythmus verrücken müßte, namentlich wenn noch dazu innerhalb des Verses die Cäsuren überwiegen sollten.
9. Die syntaktische Cäsur kann nach jeder Silbe eintreten. Sie steht nach der ersten, wenn der Blankvers mit einem Ausruf oder mit einem einsilbigen, komparativisch oder fragend gebrauchten Wörtchen beginnt, und dann ist sie von großem Wert, z. B.:
(Lessing, Nathan.)
10. Die sogenannte provençalische Cäsur am Ende des 2. Taktes, welche die Troubadours pflegten, verhindert, daß man bei trochäischen Satztakten an trochäischen Rhythmus glaubt. Eine untergeordnete Cäsur kann in die Mitte der Zeile (am liebsten nach der 5. Silbe) zu stehen kommen.
Schiller bediente sich der Diärese am Schluß des zweiten Taktes sehr häufig. Lessing wich ab. Dies machte freilich manchen Vers mehr oder weniger unmusikalisch.
11. Setzt man die syntaktische Cäsur in den letzten Takt, so läuft man Gefahr, daß die letzte Silbe gleich einer Thesis zur ersten Silbe des nächsten Verses genommen, oder die Kürze des 1. Taktes der folgenden Verszeile auf diese Weise zur Länge erhoben wird, wodurch mindestens eine Verwischung der Jncision eintritt, z. B.:
(Oehlenschläger.)
12. Was die Satztakte betrifft, so ist es durchaus kein Fehler, wenn einzelne derselben zwei oder mehrere Verstakte umklammern. Jm Gegenteil tragen lange Verstakte nicht selten zum freundlichen Accentwechsel bei und verleihen dem Satzaccent eine bestimmte Höhe, z. B.:
(Goethe, Faust.)
(Das ditrochäische [doppeltrochäische] Wort „ tausendfacher “dient hier zur Verbindung von drei jambischen Takten. Bei Platen finden sich Wortkolosse, die nicht selten vier und fünf Takte verbinden, z. B. im Trimeter [§. 4]:
(Platen, Mathilde von Valois.)
9(Vgl. bei Platen auch die freilich nicht hierhergehörigen, ungeheuerlichen Satztakte „ Freischützkaskadenfeuerwerkmaschinerie “, „ Demagogenriechernashornangesicht “&c., die einen Trimeter ausfüllen.)
Selbstredend dürfen allzulange Satztakte schon aus ästhetischen Gründen nur spärlich angewendet werden; sie würden in größerer Anzahl Fluß und Beweglichkeit des Rhythmus beeinträchtigen.
13. Aus ästhetischen Gründen warnen wir vor allzuviel Konsonantenanhäufungen im jambischen Quinar wie in jedem Rhythmus. Wer die nötige Vorsicht in der Form schon im Anfang dichterischer Übung walten läßt, wird bei vorgerückter Fertigkeit seine ungeteilte Aufmerksamkeit dem Jnhalt zuwenden können.
14. Gut gearbeitete reimlose Quinare finden sich z. B. in: Götterdämmerung von H. Heine; Der Schwester Traum von Hauff; Frau Generalin von Varnbüler von Mörike; Herakles auf dem Oeta von Geibel; Lebwohl von Gerok &c.
15. Als Beleg, wie fleißig und ernst bedeutende Dichter in der Bildung von Quinaren verfuhren, bieten wir nachstehendes Beispiel aus Goethe's Jphigenie. (Vgl. Goethe's Jphigenie. Freiburg 1883.)
Dritter Prosa-Entwurf. 1781.
Jphigenie. Heraus in eure Schatten, ewig rege Wipfel des heiligen Hains, wie in das Heiligtum der Göttin, der ich diene, tret 'ich mit immer neuem Schauer und meine Seele gewöhnt sich nicht hierher! So manche Jahre wohn' ich hier unter euch verborgen, und immer bin ich wie im ersten fremd, denn mein Verlangen steht hinüber nach dem schönen Land der Griechen, und immer möcht 'ich übers Meer hinüber, das Schicksal meiner Vielgeliebten teilen. Weh dem! der fern von Eltern und Geschwistern ein einsam Leben führt, ihn läßt der Gram des schönsten Glückes nicht genießen, ihm schwärmen abwärts immer die Gedanken nach seines Vaters Wohnung, an jene Stellen, wo die goldne Sonne zum erstenmal den Himmel vor ihm aufschloß, wo die Spiele der Mitgebornen die sanften, liebsten Erdenbande knüpften.
Ausarbeitung. 1787.
Jphigenie.
Aufgabe 1. Der nachfolgende Stoff soll in jambische Quinare verwandelt werden. (Die Verszeilen sind so gut als möglich durch Taktstriche angegeben.)
Stoff. Verkehre viel mit deinen Kindern; │ Tag und Nacht sollst du sie um dich haben und sie lieben │ und dich lieben lassen schöne Jahre lang. │ Nur während des kurzen Kindheitstraumes │ sind sie dein, nicht länger! Schon mit der Jugend │ schleicht vieles durch ihre Brust, was du nicht bist, │ und mancherlei lockt sie an, was du nicht besitzest, │ und sie erfahren von einer alten Welt, │ welche ihren Geist erfüllt; die Zukunft schwebt │ ihnen vor. So geht die schöne Gegenwart │ verloren. Nun zieht der Knabe mit dem Wandertäschchen │ voll Notwendigem hinaus. │ Weinend siehst du ihm nach, bis er verschwindet. │ Nimmer wird er wieder dein! Er kehrt │ zurück, nun liebt er und wählt sich eine Jungfrau. │ Sie leben beide, andere leben auf │ aus ihm ─ du hast nun einen Mann an ihm erhalten, │ einen Menschen, ─ aber kein Kind hast du mehr! │ Nun bringt dir die vermählte Tochter ihre Kinder │ manchmal in dein Haus, um dich zu erfreuen. │ Du hast an ihr eine Mutter, aber kein Kind mehr. │ Darum gehe fleißig mit deinen Kindern um! │ Sei Tag und Nacht um sie und liebe sie │ und lasse dich lieben einzig schöne Jahre lang.
Lösung. Von Leopold Schefer.
Aufgabe 2. Eine kurze Scene aus einem Drama des Verfassers („ Der geräuschlose Feldzug “1874. 2. Aufl. ) soll in jambische Quinare umgewandelt werden. (Weiteres Material zur Erlangung größtmöglicher Übung bietet jedes Prosadrama.)
Stoff.
Leopold. Hoheit, der Krieg, der viele rauh macht, ─ mich hat er weicher gestimmt, als je. Jn Feindesland empfand ich oft ein Verlassensein, das ich zuvor nie kannte. Die Sehnsucht zog mich zurück in Jhre stille, idyllische Residenz, wo mir ein Stern aufgegangen war von ewigem, mildem Glanze, der meine Hoffnung wurde bei Sieg und bei Gefahr. Jhre Briefe, Hoheit, die früheren Zeichen Jhrer hohen Gunst, beglückten mich, wie mich der Ausruf ermuthigte, mit dem Sie mich empfingen. Geliebte Fürstin, bin ich Jhnen wirklich teuer? Darf ich kühn mein Auge mit der Frage erheben, die der Mann im Leben nur einmal an das Weib seiner Liebe richtet? (Tumult unten.)
Fürstin (bewegt). Sie dürfen es, Leopold. Der Himmel hat Sie mir gerade in der schweren Stunde wiedergeschenkt, wo ich Jhren Tod so innig beweinte, wo schon die schwarze Rotte ihre Hand ausstreckte ─ nach meiner Ehre und meines Landes Freiheit!
Leopold (auffahrend). Das wagte man gegen die Fürstin! Man täuschte Sie sogar mit meinem Tode?! (Geschrei unten.) „ Nieder mit den Jesuiten!! “
(Wüster Lärm.)
Fürstin. Gerechter Gott! Was geht in der Stadt vor?
Lösung.
Leopold.
Fürstin.
Leopold.
(Wüster Lärm.)
Fürstin.
1. Der neue Senarius (⏑ – ⏑ – ⏑ │ – ⏑ – ⏑ – ⏑ – │) ist für unsere Sprache ein etwas breites Gefäß, für welches der Satz oft nicht ausreicht, so daß zur Ausfüllung nicht selten Flickwörter herbeigezogen werden müssen.
2. Er ist für uns nicht unwichtig, da wir ihn bei Übersetzung der griechischen Tragiker nötig haben, ganz abgesehen von den vielen deutschen Gedichten, die in diesem Versmaß geschrieben sind. Außerdem weist uns das Urteil Schillers (dessen Montgomery-Scene in der „ Jungfrau “aus Senaren besteht) auf diesen Vers hin. Nach seinem Geständnis wurde es ihm schwer, „ von den schönen und volltönenden Senaren zu den lahmen Fünffüßlern zurückzukehren “.
133. Die nach Dipodien messenden Alten konnten die einzelnen Dipodien mit einem Spondeus (– –) beginnen. Es kam nur darauf an, daß die Dipodien mit einem Jambus schlossen. Wenn wir dies im Deutschen nachahmen wollten, so müßten wir uns (da unser Senar ein Accentvers ist) wenigstens steigender Spondeen (z. B. Glāubst dū́? Tūrnī́er) bedienen und dieselben also nur im 1., 3. und 5. Takt anwenden. Der Verscharakter würde nicht gestört werden, da der Jambus (im 2., 4. und 6. Takt) doch immer das letzte Wort behalten könnte. Die Einfügung von steigenden Spondeen beugt der Monotonie vor und hemmt die allzurasche Bewegung.
4. Ein fallender Spondeus (z. B. Dḗnkmāl, Nṓrdwīnd) stört den rhythmischen Fluß in auffallender Weise und ist nur dann zu gestatten, wenn er die Jncision oder vielmehr den Beginn des neuen Verses markiert, oder wenn er den Satzaccent unterstützt, in welchem Fall er sogar als Schönheit empfunden werden kann, z. B.:
(Schiller, Jungfrau II, 7.)
(Vgl. auch Lenau II, 32: Sā́atkȫrner seines Ruhms &c.)
An Stelle des Spondeus kann auch ein Trochäus (– ⏑) treten.
5. Unsere deutsche rhythmische Form bleibt anspruchsloser, als die griechische. Es liegt dies in unserem ruhigeren Volkscharakter, der die Beweglichkeit des südländischen nie geteilt hat. Alle deutschen Dichter, welche sich einredeten, die Rhythmik der ältesten Völker auf unsere Sprache übertragen zu sollen, sind gescheitert, sind unpopulär geworden oder geblieben. Bei den Alten galten zwei Kürzen als eine Länge, wodurch es sich erklärt, daß wir bei ihren Nachahmern Daktylen und Anapäste im Trimeter finden. Bei uns ist die Auflösung der Arsislänge in 2 Kürzen undenkbar. Es kann also höchstens ein Anapäst (⏑ ⏑ –) eingefügt werden. Ein Daktylus (– ⏑ ⏑) könnte nur am Anfang an Stelle des Trochäus (– ⏑) eintreten. Viele Anapäste einzumischen ist gefährlich, da diese anstürmenden, leicht beschwingten Takte sich dem Ohre rasch empfehlen.
6. Die Cäsuren sind den Diäresen im Senarius vorzuziehen, da letztere die Bedeutung der Cäsuren verdunkeln könnten. Die erste Vorschrift ist, eine stehende Diärese inmitten des Verses zu vermeiden, weil dieselbe den Senar zum Alexandriner gestalten würde.
7. Als Grundform des Senars könnte man es bezeichnen, wenn die Cäsur im 3. Takt sich befindet. Jn diesem Falle kann man ein umklammerndes Wort einfügen, um nicht in den trochäischen Rhythmus zu geraten.
148. Am schönsten erscheint die vorherrschend weibliche Cäsur im 4. Takt.
Beispiele:
a. im 3. Takt: DieKin │ der schla │ fen,mor │ de nicht │ den sü │ ßen Schlaf.
(Platen IV, 26.)
b. im 4. Takt: Durch Feu'r │ und Was │ ser geh │ ich,wie │ Pamina that.
(Ebenda IV, 24.)
9. Würden trochäische Worte nach ihr folgen, so könnte der Rhythmus leicht ins Schwanken geraten; in der Regel folgt ein einsilbiges Wort, wodurch der Vers seinen jambischen Haltpunkt behält.
10. Weniger schön und beliebt ist die Cäsur im 5. Takte, obgleich sie noch wirkungsvoll genug erscheint, z. B.:
11. Ein Vorkommen der Diärese mit der Cäsur in der gleichen Verszeile ist statthaft. Beispiel:
Entdecke &c. ( Platen IV, 24.)
12. Eine Cäsur ist am Anfang (also im 1. Takt) nur dann gestattet, wenn ein Ausruf oder ein einsilbiges bedeutendes Wörtchen (etwa ein Jmperativ, eine Negation &c.) den Vers beginnt.
13. Da der letzte Verstakt, der höchst selten mit einem einsilbigen Satztakt schließt, dem Vers sein abschließendes Gepräge verleiht, so befindet sich im letzten Takt nur höchst ausnahmsweise die Cäsur.
14. Rhythmische Pausen treten ein, wo das Satzende mit dem Versende zusammenfällt. Um die freie Bewegung durch das Einzwängen des Gedankens in den engen Raum von sechs Jamben zu hindern und der Eintönigkeit vorzubeugen, ist es erlaubt, hie und da längere Sätze in die neuen Verszeilen hinüberragen zu lassen, sofern nur der Charakter des Senars gewahrt ist, z. B.:
(Platen IV, 25.)
1515. Ein Kunstgriff ist es, daß man da, wo der Jnhalt über den Vers hinüberflutet, zur Ausfüllung der folgenden Zeile einen kurzen Satz einfügt &c.
Aufgabe. Nachfolgender Stoff ist im neuen Senarius zu geben.
Göttliche Reminiscenz.
Stoff. Vor langer Zeit sah ich ein wundersames Gemälde │ in einem Karthäuserkloster, das ich oft besuchte. │ Heute trat es mir mit frischen Farben vor die Seele, │ als ich einsam im Gebirge wandelte, │ umgeben von wild umhergeworfenen Felsentrümmern. │
An einer jähen Steinkluft, deren Saum │ von zwei Palmen überschattet │ nur wenig Gras den emporklimmenden Ziegen bietet, │ sieht man den Jesusknaben auf Steinen sitzend; │ ihm ist ein weißes Vließ als Polster untergelegt. │ Mir erschien das schöne Kind nicht allzu kindlich. │ Der heiße Sommer, welcher sicherlich sein fünfter schon war, │ hat seine, bis zum Knie herab │ von einem gelben, purpurumsäumten Röcklein │ bedeckten Glieder und seine gesunden Wangen sanft gebräunt; │ aus seinen dunklen Augen leuchtet stille Feuerkraft; │ doch den Mund umspielt ein fremder, unnennbarer Reiz. │ Ein alter Hirte, welcher sich freundlich zu dem Kinde niedergebeugt hat, │ übergab ihm soeben ein versteinertes, seltsam gestaltetes Meergewächs │ zum Zeitvertreib. │ Nachdem der Knabe das Wunderding beschaut, │ spannt sich sein weiter Blick wie betroffen │ dir entgegen, doch wirklich ohne Gegenstand, │ durchdringend ewige, grenzenlose Zeitenfernen: │ als wittre durch die überwölkte Stirn ein Blitz │ der Gottheit, ein Erinnern, das im nämlichen Augenblick erloschen sein wird; und das welterschaffende │ Wort von Anfang zeigt lächelnd als ein unwissendes, spielendes Erdenkind dir sein eigenes Werk.
Lösung. Von Mörike.
(NB. Zu rügen wäre hier die fehlerhafte Skansion Mörike's Z. 1: Vŏrlǟngst statt Vṓrlǟngst sāh ĭch ĕin; ferner die falsche Versbetonung, Z. 5: „ Trăt ēs mĭt “&c.)
1. Der neue Nibelungenvers läßt sich leicht aus 2 jambischen Dreitaktern bilden, deren erster weibliche Cäsur hat, also hyperkatalektisch ist.
Schema: ⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑ │ ⏑ – ⏑ – ⏑ –.
2. Nach dem deutschen Accentqualitätsprinzip ist es gestattet, hie und da Anapäste in den neuen Nibelungenvers einzufügen, wodurch derselbe an Schönheit gewinnt.
Aufgabe. Die nachfolgende Sage (der Gebrüder Grimm) soll in reimlose Nibelungenverse umgewandelt werden. Wir verweisen dabei auf die gereimte strophische Bearbeitung von Chamisso (1831) und die Rückertsche aus dem Jahre 1817. Sollte bei der Lösung hie und da ein ungesuchter Schlußreim sich ergeben, so braucht derselbe keineswegs unterdrückt zu werden, da wir ja den Reimversen zusteuern.
Das Riesenspielzeug.
Stoff. Jm Elsaß auf der Burg Niedeck, die an einem hohen Berge bei einem Wasserfalle liegt, waren die Ritter vor der Zeit große Riesen. Einmal ging das Riesenfräulein hinab ins Thal, wollte sehen, wie es da17 unten wäre, und kam bis fast nach Haslach auf ein vor dem Walde gelegenes Ackerfeld, das gerade von den Bauern bestellt wurde. Es blieb vor Verwunderung stehen und schaute den Pflug, die Pferde und die Leute an, was ihr alles etwas neues war. „ Ei, “sprach sie und ging hinzu, „ das nehm 'ich mir mit. “ Da kniete sie nieder zur Erde, spreitete ihre Schürze aus, strich mit der Hand über das Feld, fing alles zusammen und that's hinein. Nun lief sie ganz vergnügt nach Hause, den Felsen hinaufspringend; wo der Berg so jäh ist, daß ein Mensch mühsam klettern muß, da that sie einen Schritt und war droben.
Der Ritter saß gerade am Tische, als sie eintrat. „ Ei, mein Kind, “sprach er, „ was bringst du da? die Freude schaut dir ja aus den Augen heraus. “ Sie machte geschwind ihre Schürze auf und ließ ihn hinein blicken. „ Was hast du da so Zappeliges darin? “ ─ „ Ei, Vater, ein gar zu artiges Spielding! So etwas Schönes hab 'ich mein Lebtag noch nicht gehabt. “ Darauf nahm sie eins nach dem andern heraus und stellte es auf den Tisch, den Pflug, die Bauern und ihre Pferde, lief herum, schaute es an, lachte und schlug vor Freude in die Hände, wie sich das kleine Wesen darauf hin und her bewegte. Der Vater aber sprach: „ Kind, das ist kein Spielding, du hast da etwas Schönes angestiftet! Geh nur gleich und trag's wieder hinab ins Thal! “ Das Fräulein weinte, es half aber nichts. „ Mir ist der Bauer kein Spielzeug, “sagte der Vater ernsthaft, „ ich leid's nicht, daß du mir murrst; kram' alles sachte wieder ein und trag's an den nämlichen Platz, wo du's genommen hast! Baut der Bauer nicht sein Ackerfeld, so haben wir Riesen auf unserem Felsenneste nichts zu leben. “
Lösung. (Mit Beibehaltung der Prosawendungen.)
(NB. Der Lernende möge die letzte Zeile bessern, indem er fragt: Wer wäre nicht auf der Welt? Die Änderung muß lauten: Wä̆r 'dĕr Bāuĕr nĭcht āuf dĕr Wēlt. Jn dieser Art fehlen so viele, z. B. Kleist (vgl. S. 28 Z. 7), Gregorovius u. s. w. Die Bezüge müssen logisch und grammatikalisch richtig und schon beim ersten Lesen verständlich sein!)
1. Bei Bildung des Alexandriners, dieses jambischen Sechstakters, ist darauf zu achten, daß nach dem 3. Takte eine ständige Diäresis eintritt (⏑ – ⏑ – ⏑ – │ ⏑ – ⏑ – ⏑ – │). Der Satztakt des 3. Verstaktes darf somit nicht den 4. Takt überbrücken.
2. Nach Günthers u. a. besonders aber Rückerts Vorgang (Frauentaschenbuch 1825, S. 411) ist es im Deutschen gestattet, dem Alexandriner zuweilen weibliche Endungen zu geben, wodurch er um eine Thesis verlängert wird, also hyperkatalektischen (überzähligen) Abschluß erhält (wie in den S. 19 Z. 4 und 5 angeführten Versen).
3. Es ist nicht nötig, daß jederzeit mit der stehenden Diäresis eine syntaktische Pause verbunden werde; im Gegenteil würde fort =19 gesetztes Zusammenfallen der Diäresis mit einer syntaktischen Pause dem Verse klappernd = monotonen Charakter verleihen und jeden Alexandriner als zwei jambische Dreitakter erscheinen lassen, z. B.:
Aufgabe. Nachstehendes Bruchstück soll in Alexandrinerverse verwandelt werden. Selbstredend ist für die Lösung der Reim nicht nötig.
Stoff. Jm Lande Madras lebte der Fürst Aswapati, der durch seine Tugenden alle Sterblichen überstrahlte. │ Er war gottselig und pflichtliebend; dem Bedrängten verhieß er seinen Schutz, den Armen verlieh er Gaben; er liebte sein Volk und wurde von demselben wieder geliebt; im Niedrigsten ehrte er eben den Menschen. │ Bei allem Glück und Reichtum entbehrte er des lieblichen Kindersegens. │
Täglich flehte er die Götter um dieses Glück an, ja, er hatte der Gottheit des Feuers bereits achtzehn Jahre hindurch Opfer dargebracht. │ Endlich erschien die Gottheit Sawitri und sprach: Du sollst belohnt sein. │ Bitte Dir eine Gnade aus, doch vergiß nicht, Gutes zu wünschen. │
Aswapati sprach: Verleihe mir, hohe Göttin, den lieblichen Kindersegen, um den Dich mein Beten und Opfern täglich neu anflehte. │
Es sei, erwiderte die Göttin; wisse, daß ich Deinen Wunsch dem Urvater der Götter und der Welt vorgetragen habe. │ Der durch sich selbst seiende, gnädige Gott hat Dir eine Tochter verheißen │ u. s. w.
Lösung. Von Fr. Rückert (Ges. Ausgabe XII, 261).
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1. Da der Grundrhythmus unserer Sprache trochäisch (– ⏑) ist, so fallen bei trochäischen Versen Satz - und Verstakte leicht zusammen. Wenn auch dadurch hie und da eine besondere rhythmische Wirkung erzielt wird, wie z. B. in der Stelle:
so würde doch bei ununterbrochen sich folgenden Diäresen jeder Takt als ein kleines Ganzes im Vers sich abheben und abschälen und die Versverbindung lockern.
2. Man kann die Verbindung der Verstakte durch Einfügung von jambischen Satztakten erzielen (z. B.: Lāß bĕglǖckt Gĕdūld ĕrflēhn dĕm Frēund '). Oder man kann hiezu auch ditrochäische und mehrsilbige Satztakte wählen, z. B.:
(J. Hammer.)
(Sallet.)
3. Erinnert soll auch hier werden, daß bei Bildung katalektischer (unvollzähliger) Verse die rhythmischen Pausen den Verstakten anzurechnen sind.
4. Wichtig ist, daß in den Arsen (Stammsilben) volltönende Vokale mit einander wechseln, sofern mehrere trochäische Verstakte mit trochäischen Satztakten zusammenfallen (koincidieren).
5. Ferner ist zu beachten, daß in trochäischen Versen ausnahmsweise sinkende Spondeen (─́ –), sowie Daktylen (– ⏑ ⏑) nicht bloß zulässig, sondern zur Verminderung der Eintönigkeit hie und da sogar erwünscht sind (besonders im dramatischen Vers).
6. Um nach einsilbigen Arsen jambische Satztakte zu erhalten, wähle man Satztakte mit den thetischen Vorsilben ge, er, zer, em, emp, ent, ver, be &c.
217. Es ist bei Bildung von Satztakten vorerst weniger auf blühende poetische Ausdrucksweise, als auf korrekte Form zu achten. Somit kann die Prosarede noch beibehalten werden, wenn der Lernende sie nicht verändern will.
Aufgabe. Nachstehender Stoff soll in trochäische Verstakte umgebildet werden. (Dieselben sind in fortlaufenden Zeilen zu schreiben.)
Stoff.
Jm Gefilde vor Bagdads Thoren waren zur Feier des Neujahrsfestes tausend Zelte aufgeschlagen. Der große Kalif Harun saß mit allen Zeichen seiner Würde auf dem Throne, umgeben von seinen Kronbeamten, zunächst aber von seinen drei geliebten Söhnen Amin, Assur und Assad. Die Menge lag in den Gärten zerstreut, wo Trank und Speise verteilt wurde. Unter Jasminlauben ruhten Frauen und Männer; doch die Knaben tanzten mit den jüngsten Mädchen. Jndessen trat ein Mohr mit einem Pferd am Zügel vor den Pavillon des Herrschers. Es war kein Roß aus arabischem Blute und auch kein Hengst aus Andalusien, vielmehr war es von Künstlerhand aus Holz gebildet, die Hufe waren von Erz und die Mähnen von Gold &c.
Lösung. Von Platen.
Tāusĕnd │ Zēltĕ │ wārĕn │ āufge │ schlagen │ durchs Ge │ filde vor den Thoren Bagdads, um das Fest des neuen Jahrs zu feiern. Auf dem Throne saß der große Harun als Kalif mit allen Würdezeichen, rings im Zirkel seine Kronbeamten; doch zunächst die drei geliebten Söhne Prinz Amin und neben Assur Assad. Durch die Gärten lag zerstreut die Menge, Trank und Speise wurde rings verteilt ihr. Unter Lauben, aus Jasmin gebildet, ruhten Fraun und Männer; doch die Knaben schlangen Tänze mit den jüngsten Mädchen. Vor des Herrschers Pavillon indessen trat ein Mohr mit einem Pferd am Zügel. Nicht ein Roß war's aus arabschem Blute, nicht ein Hengst aus Andalusien war es! Nein ─ von Künstlerhand aus Holz gebildet, Erz die Hufe nur und Gold die Mähne.
1. Der trochäische Viertakter, welcher unter dem Namen „ spanischer Trochäus “große Beliebtheit erlangte, hat nicht selten eine Diärese am Ende des 2. Taktes. Der Lernende hat darauf zu achten, daß dieselbe nicht zur stehenden Diärese werde, weil dadurch der Vers in trochäische Zweitakter auseinander fallen würde.
2. Der trochäische Viertakter kann akatalektisch (– ⏑ │ – ⏑ │ – ⏑ │ – ⏑ │ vollzählig) und katalektisch (– ⏑ │ – ⏑ │ – ⏑ │ – unvollzählig) sein.
3. Es empfiehlt sich mit Rücksicht auf die Markierung des Versschlusses, zuweilen katalektische Verse mit akatalektischen wechseln zu lassen.
224. Die bequemste Form ist der akatalektische und der katalektische ungereimte trochäische Viertakter, auf die wir uns fürs erste beschränken.
5. Für lebhafte Aktion paßt dieses Versmaß mit seiner sinkenden Tendenz nur dann, wenn die Satztakte von Takt zu Takt übergreifen und Cäsuren ergeben. Bei geschickter Bauart kann dieser Vers als lyrischer, folglich auch als dramatischer Vers auftreten und fliegen und fortreißen. Wir empfehlen ihn nicht, weil ihn unsere Schauspieler nicht sprechen können, und weil er unsere Dichter häufig zum Rhetorischen und Bombastischen verleitet. Er eignet sich besonders zu leichten, humoristischen, geistreichen poetischen Erzählungen und Romanzen und zu kleinen epischen Gedichten elegischer Natur. (Jn einigen poetischen Erzählungen [z. B. Heines] nimmt er sich freilich höchst langweilig aus.)
6. Da viele trochäische Satztakte mit Vokalen endigen, so liegt die Gefahr der Hiate nahe, die zu vermeiden sind.
7. Allzuviele Spondeen dem Verse einzufügen, würde den trochäischen Rhythmus beeinträchtigen und dem Verse ein schweres Gepräge verleihen. Platen vervehmt die trochäischen Viertakter (oder Halbtrochäen, wie er sie im Hinblick auf den nach Dipodien gemessenen antiken Tetrameter [Achttakter] nennt), indem er (Ges. Werke IV, 77. Ausg. 1854) im Unmut über Müllners „ Schuld “sich also vernehmen läßt:
Mit Recht bekämpft G. von Vincke Platens Anschauung, indem er (in seinem „ kleinen Sündenregister “S. 44, 1882) pathetisch ausruft:
Aufgabe. Der nachstehende Stoff soll in ungereimten trochäischen Viertaktern wiedergegeben werden.
Stoff.
Einen Tag vor seinem Tode ließ Cid seine Freunde um sich versammeln und sprach als Feldherr folgendes zu
Lösung. Von Herder.
Tāgĕs │ nōch vŏr │ sēinĕm │ Tōdĕ │ Ließ Cid seine Freunde kommen, Und als Feldherr sprach er so:
23ihnen: Jch weiß, daß der Mohrenkönig Bukar, der Valencia eingeschlossen hält, meinen Tod ersehnt; verschweigt ihn diesem Saracenen. Und die kostbaren Spezereien und der Balsam des Sultans von Persien sind wohl zum Einbalsamieren meines Leichnams gesandt. Wohl, meine Freunde, laßt meinen Leichnam waschen und mit Myrrhen einbalsamieren. Sodann kleidet ihn vom Haupte bis zur Sohle. San Jago wird euch begleiten; aber kein Klagegeschrei erschalle, und keine Thräne werde um mich geweint. Vielmehr ─ wenn ich gestorben sein werde ─ laßt in die Trommeten blasen und mit Pauken, Cymbeln und Klarinetten das Feldgeschrei zur Schlacht erheben. Und wenn ihr meinen Leichnam nach Kastilien begleitet habt, soll es kein Mohren = Seewolf erfahren; alle sollen hier zurückbleiben.
Sattelt meinen Freund Babieça, legt mir meine Waffen an, gürtet mir die Tizona an und setzt mich so auf mein Roß. Neben mir soll Gil Diaz, Don Jeronymo, der Bischof, und mein tapferer Freund Bermudes gehen; Jhr aber, Alvar Fañez Minaya, zieht eilig zur Schlacht gegen Bukar! Gott wird Euch den Sieg verleihen, San Pedro hat mir dies selbst verkündet. Dies sprach der Feldherr ruhig, und der Ehrenbalsam des Sultans war ihm zum Triumph gesendet.
1. Der trochäische Quinar (oder der serbische Trochäus) findet sich wie der trochäische Viertakter in der Regel akatalektisch (vollzählig) und nur beim Strophenschluß katalektisch (unvollzählig).
242. Er stimmt zur Klage, zum Ton der Schwermut.
3. Es fehlt ihm ein klassisches Vorbild, weshalb wir aus den Beispielen neuerer Dichter die Regeln abstrahieren müssen.
4. Sollte durch das Zusammenfallen von Diäresen mit syntaktischen Pausen innerhalb des Verses der Verscharakter schwankend werden, so muß von Zeit zu Zeit ein katalektischer Vers eingeschaltet werden, welcher die Jncision markiert und der Vermischung des Verscharakters vorbeugt.
5. Goethe mischt in der Braut von Korinth ─ des Wechsels halber ─ kürzere Zeilen ein.
6. Durch Einfügung jambischer Satztakte sind Cäsuren anzubringen, um auf diese Weise die allzuvielen Diäresen zu vermeiden, welche der trochäische Charakter unserer Sprache nur allzusehr begünstigt.
7. Die Nachahmer der serbischen Volkslieder haben nicht selten Daktylen eingemischt, was anerkennend zu beachten ist. Jhre Quinare nähern sich aufs glücklichste dem daktylischen Hexameter. Auch Platen belebte die Monotonie in den Abassiden durch Daktylen. Einen Nachfolger hat er erst heute gefunden. Tandem (Pseud. für Spitteler) hat 1883 sein allegorisches Lehrgedicht „ Extramundana “, das er als kosmische Epik („ individuelle Mythologie “) einführt, in diesem Versmaß erscheinen lassen.
8. Manche gebrauchten den Vers zum Sonett, Jmmermann zum Lustspiel („ Auge der Liebe “); freilich hat es ihm niemand nachgemacht. Bei Übergreifung der Satztakte in die Verstakte würde man den trochäischen Quinar zum Bühnenvers gebrauchen können; niemand hat den Mut und kaum Einer das Geschick, ihn an Stelle des üblichen jambischen Quinars als Theatervers zu verwenden.
Aufgabe. Folgender Stoff soll in trochäische Quinare umgewandelt werden. Das Material für je einen Vers ist durch Taktstriche abgegrenzt. Doch sind Überschreitungen dieser Maße gestattet.
Nach zehn Jahren.
Stoff. Nach langer Jrrfahrt trat ich ein │ ins Haus der Schwester. Helles Jauchzen │ von unbekannten Kinderstimmen schallte mir entgegen. │ Und im Gemach, in welches der Abend │ seine goldenen Strahlen durchs Weinlaub hindurch warf, │ sah ich vergnügte Knaben spielen, │ sieben an der Zahl. Sie │ tummelten sich im Schimmer │ froh umher; frisch wie die Rosen │ blühten ihre Wangen. ─
Sie waren alle noch nicht geboren, │ als ich auszog in die Welt, │ selbst ihre Namen kannte ich nicht. │ Sie sahen mich mit ihren großen Augen │ verwundert an, so daß ihr Spiel verstummte. │ Die Älteste nahte schüchtern │ und25 fragte mit dem Tone der Mutter: Wer bist du? │ Da nahte auch schon die Schwester. Jch sank ihr │ in die Arme. Dann zeigte sie mir voll Wonne │ ihre Kinder, des Hauses Schatz, │ der sich so lieblich gemehret; dann nannte sie │ den heimgekehrten Onkel den Kindern. │ Nun entstand ein großer Jubel. │ Die entschlossenen Buben kletterten an mir empor, │ um mich zu küssen; die Mädchen bogen │ mein Haupt herab; und selbst das Kleinste, das sich erst vor meinem Bart gescheut hatte, │ langte mit den Händchen nach mir.
Wie wohl ward mir's, so ganz umschlungen │ und umrankt vom frischen jungen Leben, │ das mich wie eine Bienentraube am Bienenstocke │ umhing und mich nach tausend Wundern fragte. │ Aber ein leiser Wehmutshauch │ ging mir doch durchs Herz, denn diese Küsse │ und Fragen, die rings auf mich einstürmten, │ mahnten mich zugleich: Soviel Schritte │ diese Kinder ins Leben thaten, so viel Schritte │ bist auch du dem Tode zugeschritten, │ und täglich rascher reift in ihnen │ das Geschlecht, welches dereinst über deinem Grabe │ wandeln soll, um selig zu sein oder zu weinen. │ Und ich legte meine Hände wie segnend │ auf ihr Haupt und dachte still bei mir: │ Seid mir gegrüßt, ihr holden Todesboten, │ ich danke euch, daß ihr so lieblich │ den ernsten Gruß an mich bestellt habt. │ Wachset freudig auf zu vollem Leben, │ daß, wenn ich einst dahin sein werde, │ ihr mit euren Brüdern vollenden könnt, │ was ich und mein Geschlecht nicht vermochte.
Lösung. Von Em. Geibel.
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1. Der jambische Rhythmus verträgt recht wohl anapästische (⏑ ⏑ –) Verstakte. Durch dieselben erhält der jambische Vers noch größere Beweglichkeit und Beschleunigung, als ihm von Natur schon eigen ist.
2. Werden alle jambischen Verstakte eines Gedichtes, oder auch nur die Mehrzahl derselben, in Anapäste verwandelt, so entstehen anapästische Verse. Bei Vorwiegen der jambischen Verse spricht man27 von jambisch = anapästischem Rhythmus und nennt die Verse gemischt (logaödisch).
3. Die Alten (Äschylus, Sophokles, Aristophanes) verwendeten den Anapäst, um der Leidenschaft den nötigen Ausdruck zu verleihen. Jm Deutschen bedient man sich desselben in Gedichten, die ein mutiges Fortschreiten, lebhaften Schwung und leichte Beweglichkeit der Gefühle beweisen sollen.
4. Da ein Jambus ebensoviel Zeit beansprucht, als ein Anapäst, so können im anapästischen Rhythmus überall auch Jamben stehen. (Vgl. Poetik I, 254 ff.) Jhr Vorkommen muß indes ein beschränktes sein, wenn der anapästische Rhythmus nicht verwischt werden soll.
5. Aus diesem Grunde beginnt man die anapästische Reihe in der Regel mit einem Jambus.
6. Um nicht allzusehr ins Rollen zu geraten, ist es geboten, hie und da syntaktische Pausen einzufügen, oder auch am Schluß der Sätze den verlangsamenden Jambus oder auch einen steigenden Spondeus anzuwenden. Durch geschickte Benützung übergreifender Satztakte wird das anapästische Versmaß, besonders das verlängerte, amphibrachisch (z. B. ⏑ – ⏑ │ ⏑ – ⏑ │ ⏑ – ⏑ │ ⏑ – ⏑).
7. Daktylische Satztakte eignen sich hie und da zur Bildung von anapästischen Viertaktern, da sie schöne Cäsuren ermöglichen.
Aufgabe. Der nachfolgende Stoff soll unter Beachtung des Obigen im anapästischen Rhythmus wiedergegeben werden; die Einfügung von Jamben ist gestattet.
Stoff.
Empfangt mich, ihr heiligen Schatten! Jhr hohen, belaubten Gewölbe, welche der ernsten Betrachtung geweiht sind, empfangt mich und haucht mir ein Lied zum Ruhme der verjüngten Natur ein! Und ihr, lachende Wiesen, mit euern labyrinthischen Bächen, ihr betauten, blumigten Thäler! Jch will mit eurem Wohlgeruche Zufriedenheit atmen. Jch will euch besteigen, ihr duftigen Hügel, in goldene Saiten will ich die Freude singen, die um mich herum aus der beglückten Flur lacht. Aurora und Hesperus sollen meinen Gesang hören. Auf rosenfarbenen Wolken, umgürtet mit
Lösung von Kleist. (Anapäste und Jamben.)
Ĕmpfāngt │ mĭch, hēi │ lĭgĕ Schāt │ tĕn! Jhr ho│hen belaub│ten Gewöl│be, der ernsten Betrachtung geweiht, empfangt mich, und haucht mir ein Lied ein zum Ruhm der verjüngten Natur! ─ Und ihr, o lachende Wiesen, voll labyrinthischer Bäche! betaute, blumigte Thäler! Mit eurem Wohlgeruch will ich Zufriedenheit atmen. Euch will ich besteigen, ihr duftigen Hügel! und will in goldene Saiten die Freude singen, die rund um mich her, aus der glücklichen Flur lacht. Aurora soll meinen Gesang, es soll ihn Hesperus hören. Auf rosafarbnem Gewölk, mit jungen Blumen umgürtet, sank jüngst der28jungen Blumen, sank jüngst der Frühling vom Himmel. Sein göttlicher Hauch wurde durch alle Naturen gefühlt. Der Schnee schmolz auf den Bergen, die Ströme traten aus den Ufern, die Wolken zergingen in Regen, Wellen schlug die Wiese, der Landmann erschrak. Noch einmal hauchte der Frühling. Da flohen die Nebel und verliehen der Erde den blauen Äther; wieder trank der Boden die Flut und die Ströme traten zurück in ihre vom Schilf begrenzten Betten. Zwar streute der weichende Winter, so oft er in den Nächten wiederkehrte, von seinen oft kräftigen Schwingen Reif, Schneegestöber und auch Frost, und er rief die gewaltigen Stürme. Diese kamen mit donnernder Stimme vom Nordpol angezogen, verheerten heulend die Wälder und durchwühlten die Meere bis auf den Grund. Da hauchte der Frühling noch einmal seinen belebenden Odem, und die Luft wurde sanft; aus den Stauden, Blumen und Saaten entstand ein grüner Teppich und bekleidete Thäler und Hügel &c.
Frühling vom Himmel. Da ward sein göttlicher Odem durch alle Naturen gefühlt. Da rollte der Schnee von den Bergen, dem Ufer entschwollen die Ströme, die Wolken zergingen in Regen, die Wiese schlug Wellen, der Landmann erschrak. ─ Er hauchte noch einmal: Da flohen die Nebel und gaben der Erde den lachenden Äther, der Boden trank wieder die Flut, die Ströme wälzten sich wieder in ihren beschilften Gestaden. Zwar streute der weichende Winter bei nächtlicher Wiederkehr oft von kräftig geschüttelten Schwingen Reif, Schneegestöber und Frost und rief den unbändigen Stürmen: Die Stürme kamen mit donnernder Stimm 'aus den Höhlen des Nordpols, verheerten heulende Wälder, durchwühlten die Meere von Grund auf. ─ Er aber hauchte noch einmal den allbelebenden Odem. Die Luft ward sanfter; ein Teppich, mit wilder Kühnheit aus Stauden und Blumen und Saaten gewebt, bekleidete Thäler und Hügel &c.
1. Am gebräuchlichsten sind neben anapästischen Achttaktern (Tetrametern) die anapästischen Viertakter (Dimeter).
2. Ununterbrochen fortlaufende anapästische akatalektische Viertakter würden wohl der flüssigen Rede entsprechen, aber es würden keine Absätze entstehen. Um diese zu erreichen, möge man zuweilen einen katalektischen Viertakter oder auch einen Zweitakter einfügen. Durch dieses Kunststück haben die Dichter von jeher ihre anapästischen Systeme gebildet, z. B. Grosse, Geibel, Schiller, welcher katalektische Nachsätze einfügt.
Anapästische Systeme hatten schon die Alten eingeführt; insbesondere war der Paroemiacus (⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ ─́ │ ⏑ ⏑ – ⏓), ein katalektischer anapästischer Dimeter, von jeher unterbrechender Vers oder Schlußvers eines solchen Systems. (Vgl. Hephäst. und Scholl.)
3. Platen, der sich dieses Vorteils bedient, schließt mehrfach die29 Strophe durch einen katalektischen Viertakter ab, dessen Schlußtakt ein fallender Spondeus ist. Er hemmt dadurch gleichsam mit einem stoßförmigen Schlag die Bewegung und markiert die Jncision.
(Platens Werke IV, 102.)
4. Wie im vorstehenden Platenschen Beispiel findet sich in den meisten akatalektischen anapästischen Viertaktern nach dem 2. Verstakte eine männliche Diärese, wenn auch keine stehende. (Freilich giebt es auch Ausnahmen, bei denen der Satztakt aus dem 2. Verstakte in den 3. hinüberragt, wie diese von Rückert:
Der Lernende möge dies nachahmen. Er vermeidet hiedurch, daß der Hörer beim Lesen von Anapästen den Eindruck von Daktylen erhält; auch heben sich die Anapäste deutlicher ab.
5. Beim katalektischen Vers rechnet man die Pause hinzu.
6. Noch machen wir darauf aufmerksam, daß beim katalektischen anapästischen Viertakter der 3. Verstakt weder ein Jambus noch ein Spondeus sein darf, sondern nur ein Anapäst, ähnlich wie im Hexameter der vorletzte Takt zur Gewinnung eines freundlich hemmenden Schlußfalls nur ein Daktylus sein darf.
Aufgabe. Nachstehender Stoff soll in anapästischen Viertaktern wiedergegeben werden. Je der sechste derselben soll katalektisch sein und den Satz abschließen.
Stoff.
Auf, ihr Genossen, erstickt eure Zweifel │ und eröffnet den Tanz. Der sehnsüchtig wartende Freund │ hat dies leere Gefilde betreten: │ Der Dank feiere ihn nunmehr in Ergießungen │ nie müden Gesanges. Es zerfällt freiwillig │ der Willkomm in gemessene Silben. ‖
Auf, ihr Genossen, umtanzet ihn, │ die gewaltige Hymne beginnt, │ die wie ein Glücksbote, wie ein von demLösung von Platen.
30Jdagebirg │ Ganymeden keck geraubter Aar, │ die Gestirne vorbei, siegesstolz sich wiegt │ auf des Wohlklangs silberner Schwinge. ‖
Auf, ihr Genossen, ruft │ den Romantiker, welcher sein Dasein │ in melodischen Traum lullt. Es erschien Dir, o Poet, │ der erwartete Gast, nach welchem Du │ sehnsüchtig Seufzer längst erhubst. ‖
1. Der anapästische Achttakter (oder der aristophanische Tetrameter) wird in der Regel katalektisch gebildet, so daß die Pause des letzten Verstaktes hinzugerechnet werden muß, um ihn vollständig erscheinen zu lassen. Man könnte sagen, er bestehe aus zwei anapästischen Viertaktern, von denen der letzte katalektisch ist.
2. Er hat eine stehende Diärese am Schluß des 4. Taktes, weshalb man ihn nicht selten gebrochen schreibt, so daß die akatalektische Anfangshälfte den Vordersatz, das zweite katalektische Hemistichium dagegen den Nachsatz bildet.
3. Herkömmlicher Weise wird der anapästische Achttakter nie zu Strophen vereint, sondern nur in der fortlaufenden Rede verwandt.
4. Rückert markiert den Schluß der sehr langen Zeile durch die Katalexis wie durch Anwendung der Assonanz.
5. Die im vorigen Paragraphen gegebenen Regeln für Bildung des anapästischen Viertakters gelten auch für den Achttakter.
Aufgabe. Anapästische Achttakter. Von den gebrochenen 7 Schlußzeilen des Stoffes sollen die 6 ersten akatal. Zweitakter sein; die letzte Zeile soll mit einem katalekt. Viertakter abschließen.
Stoff. Anapäst, du sausender Aar, kehre zurück zur Freundin, │ welche im Gemache sich härmt und sich hinaus sehnt aus dem Dämmer der Krankheit! │ Auf dem schattigen Platze mit seinem säuselnden Laube, wo der Fußtritt des Menschen verhallt, │ wo der Kuckuck und das freundlich blickende Häschen bis in die Nähe sich wagen, │ wo der Freund rastet und durch die Bäume den blauen Himmel sieht: │ Jch entsende Dich von hier, daß du als mein31 Bote die sandige Landschaft durcheilest! │ Vernimm denn meinen Befehl: Die Ereignisse des Tages, den wir heute mit Wandern zubrachten, │ berichte mit schwungvoller Rede und in jauchzend gehobenen Maßen. │ Vergiß nicht des Stromes in der Ebene mit der Schafschwemme, │ wo der ängstlich zappelnde Bock den Waschenden umriß, │ vergiß auch nicht das Moor am Waldessaume mit den weidenden Kühen, │ noch der friedlichen Rast im Schatten der Gartenmauer. │ Erzähle auch vom Walde, und von der Najade, │ welche von Rosen umblüht, vom Moos übergrünt und vom durstigen Eppich umrankt wird. │ Was du geschaut, behalte, und sobald du das Städtchen erreicht hast, │ senke dich aus deinen schwindelnden Höhen auf den Baum nieder, │ der vor ihrem Fenster steht, │ und fächle ihr Genesungsluft des Gebirges zu, │ und dein von der mailichen Luft verklärtes Auge leuchte in das Düstere:
Lösung. Von Gottfr. Kinkel.
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