PRIMS Full-text transcription (HTML)
Deutscher Novellenschatz.
[Band 21]
BerlinGlobus Verlag G. m. b. H. [1910]

Inhalt:

Auf Wiedersehen!

Leo Goldammer, am 7. April 1813 zu Berlin geboren, besuchte bis zum Tode seines Vaters, eines wohlhabenden Bäckermeisters, das Joachimsthal'sche Gymnasium, das er als Quartaner verlassen mußte, um seiner Mutter in dem ererbten Gewerbe an die Hand zu gehen. Als dieselbe nach zwei Jahren das Geschäft aufgab, schnürte der siebzehnjährige Sohn sein Ränzel und durchwanderte Deutschland bis nach Ungarn hinein, in der stillen Hoffnung, irgendwo auf die Bühne zu kommen, da die Eindrücke, die er in seinen Knabenjahren durch Devrient, Fleck, Spitzeder, Schwanfelder und Schmelka empfangen, ihn leidenschaftlich für das Theater begeistert hatten. Ein späterer Versuch auf einer Privatbühne überzeugte ihn jedoch, daß er nicht zum Schauspieler geboren sei. Statt dessen versuchte er sich in dramatischen Dichtungen und war nach seiner Heimkehr, nachdem er Gesell und Meister geworden war, eifrig bemüht, die Mängel seiner Schulbildung auszugleichen. Aber während er große historische Dramen dichtete, kam er in seinem Handwerk zurück, das er endlich ganz aufgab, um sich seinen Unterhalt nur durch die Feder zu erwerben, ein Unternehmen, das den verheiratheten Mann in schwere Lebenssorgen stürzte. Man war indessen aufmerksam auf den Bäckermeister geworden, der mit so entsagungsvollem Eifer vaterländische Dramen dichtete. Scherenberg führte ihn in den Berliner Tunnel ein, Franz Kugler, der stets Hülfreiche, wandte ihm sein Interesse zu und brachte es dahin, daß Friedrich Wilhelm IV. ihm durch fünf Jahre eine Pension gewährte, die es ihm möglich machte, sich frei von Sorgen seinen dramatischen Studien zu widmen. Leider vermochte der Dichter nicht, seine sehr fruchtbare Phantasie den Gesetzen der dramatischen Technik zu unterwerfen. Von der stattlichen Reihe historischer Stücke, die in diesen fünf Jahren entstanden, ist keines auf die Bühne gekommen. Er wandte sich dann mit besserem Erfolge der Novelle zu. Aber eine gesicherte Lebensstellung war auch mit diesen Arbeiten nicht zu gewinnen, so daß Goldammer endlich dem Vorschlage eines seiner Gönner beim Berliner Magistrat Gehör gab und dort eine bescheidene Stelle im Bureaudienst annahm. Im Jahre 1864 wurde ihm das Amt eines Stadtwachtmeisters übertragen, das er noch heute bekleidet.

Literarischen Aufgaben scheint er durch die Pflichten dieses kleinen städtischen Amtes vollständig entfremdet worden zu sein. Die Leser der beiden nachfolgenden Erzählungen werden, wie ich glaube, die Ueberzeugung gewinnen, daß hier in der That ein kräftiges und eigenthumliches Talent durch die Ungunst äußerer Schicksale verkümmert ist. Gegen unsere Gewohnheit sind deßhalb aus der kleinen Sammlung, die im Jahre 1858 erschien, zwei Proben mitgetheilt worden, da es darauf ankam, der merkwürdigen Erscheinung, die bisher so wenig Beachtung gefunden, hinlänglich gerecht zu werden. Die erste der beiden Erzählungen schildert in dramatisch aufgeregter, hie und da noch ein wenig roher, aber in hohem Maße anschaulicher Vortragsweise ein Nachtstück, mit welchem sich wenige der beliebten Criminalnovellen messen können. Daß der Verfasser über diese Sphäre hinaus sich auch zu künstlerisch abgerundeten, sittlich rein gestimmten Dichtungen zu erheben vermochte, wird die zweite Novelle außer Zweifel setzen.

I.

In Polen war's, in einem kleinen Städchen, drei Viertheile Juden die Einwohnerschaft. Ringsum der Krieg und der Hunger und eine Hundekälte dazu. Bald jagten die Franzosen die Russen durch den Ort, bald breschten die Russen hinter den Franzosen wieder her. Die Letzteren mußten hier Stand halten, ihre Magazine waren in der Nähe, und von Moskau kamen sie herunter, wo ihnen Alles verbrannt und verfroren war bis auf den Appetit.

Was von den Bewohnern des Städtchens vor den Feinden und ihrem ewigen Scharmuziren hatte entfliehen können, war in die Wälder geflohen, suchte Schutz bei den Wölfen. Das ganze Volk Israels war dahin übergesiedelt. Höhlen und Hütten waren sein Obdach. Der Schnee hing in den Tannen, Nachts hingen auch die blinkenden Sterne darin lauter Weihnachtsbäume: die Erde der Tisch, der Schnee seine Decke und der Bescherer im Himmel darüber. Er bescherte die Hoff - nung auf bessere Zeiten, und Juden wie Christen glaubten ihren Heiland darin.

Was im Städtchen verblieben, das waren meist nur die Bäcker des Orts. Ihnen hatte der Feind Wachen ins Haus gelegt, zwei Mann in die Backstube, einen beim Meister, damit Meister und Gesellen nicht ausreißen konnten. Brod gilt im Frieden schon viel, im Kriege gilt's mehr als das Pulver.

Unter den Bäckern nun war auch ein Jude im Ort, das war der Einzige seines Stammes, der nicht hatte entweichen können.

Er mußte backen und backen die Franzosen hatten einen gewaltigen Grad Hunger.

Sonst hielt er sich einen Gesellen, und seine Mägde er war zugleich Gastwirth und Brenner und Kaufmann und Gott weiß was noch mußten helfen in der Bäckerei: jetzt konnten sie's aber nicht schaffen. Mehl lieferten die Franzosen wo aber Gesellen hernehmen? Wo der Feind ist, da wandert nicht gern Einer hin, und was dahinwandert, nimmt wieder kein Mensch gern ins Haus; das ist richtige Art. Der arme Jude befand sich in kitzlicher Lage deßhalb. Aus den Augen ließen ihn die Franzosen nicht! er hatte ihnen den Vorschlag gemacht, einige Gesellen aus der nächsten großen Stadt herholen zu dürfen, darauf sagten sie aber: Du bleibst! Er mußte warten, ob Einer käme, und mußte nehmen, was kam.

Der Erste nun, der bei ihm zusprach, war ein Strohmer, ein Fechtbruder, dessen beständiges Leben auf der Landstraße seinen Zügen ein verwittertes Ansehen geliehen.

Suchst du Arbeit? fragte ihn der Jude.

Ich suche Den, der die Arbeit erfunden hat, war die Antwort darauf.

Wie heißt Arbeit erfinden! Hier ist welche.

Ich will keine! Gieb mir mein Geschenk; ich muß weiter.

Aber der Jude nahm ihn beim Knopf: Muß ich bleiben, mußt du's auch! und rief seine Wache zu Hülfe. Da blieb er.

Einen Zweiten hatten die Franzosen bei ihren Streifereien abgefaßt, und das war ein rüstiger Bursch, kaum in die Zwanzig getreten, aber von markigem Bau. Zwei Mann zur Begleitung wurde Der in die Arbeit gebracht und brauchte der Polizei nicht erst gemeldet zu werden.

Natürlich arbeiteten Beide nicht gern und gedachten’s dem Meister zu vergelten, um so mehr, als dieser ein Jude war.

Des Juden Haus war zweistöckig. Unten zur Rechten befand sich die Gastwirthschaft. Links war die Verkaufsstube der Bäckerei, und dahinter der Ofen und die Backstube. Darüber wohnte und schlief er.

Unsre Feierabendsgesellen nur für die Tage der Noth waren sie in Arbeit gesprochen der Strohmer also und der rüstige Bursch waren bald gute Freunde miteinander. Der Strohmer verstand zu erzählen; er hatte die Welt gesehen von Moskau bis Amsterdam, von Kopenhagen bis Constantinopel. Gegen ihn war der Junge noch ein Kiek in die Welt, der, wenn er auf seinen Wanderfahrten Etwas durchgemacht haben wollte, aufschneiden mußte. Aber auch der Andere ließ es nicht fehlen daran. Lügen konnten sie Beide wie gedruckt. Da wurden denn Sachen aufgetischt, geschehen und nicht geschehen, möglich und unmöglich; und die Franzosen, wenn's gerade Deutsche oder Elsasser waren, welche, Gewehr im Arm, ihre beständigen Zuhörer abgaben, wurden dadurch meistens in gute Laune versetzt. Waren sie das, dann theilten sie den Gesellen von ihrem Branntwein mit, oder holten ihn extra aus der Schenke des Juden. Das Lügen und Witzereißen bei der Arbeit brachte ihnen sonach was ein, hatte aber den Nachtheil für sie, daß sie ihre erlogenen Schlechtigkeiten zu glauben anfingen, und für den Jüngern insbesondere, daß er sie kaum noch für Schlechtigkeiten ansah; es wurde ja darüber gelacht.

Ein zweiter Schaden entstand aus dem Trinken bei der Arbeit. Der Strohmer war's gewohnt; ein Quart alle Tage, und noch dazu doppelten, das glitt ihm wie Wasser durch die Kehle. Ordentlichen Respekt hatte der Jüngere vor ihm, sah er ihn die große Rinne anlegen, wie er's nannte, wenn er einen Schluck nahm. Und seine Miene drückte dies aus. Trink, Bruderherz, rief ihm der Andere dann zu, das giebt einen ausge - pichten Magen, und überdies kostet's uns Nichts; 's geht auf Regiments Unkosten! Beides waren Gründe, welche sehr einleuchtend schienen. Drum wurde getrunken.

Des Strohmers Fleisch war natürlich nur Schlempe, seine Knochen nur Zunder. Arbeiten mußte der Jüngere für ihn, wo's einen Schweißtropfen galt. Dafür ward ihm ein Viertel des Lohnes verheißen, den Jener zu erwarten hatte. Und der Lohn für Beide sollte nicht schlecht sein; waren ja in Arbeit gepreßt, dachten zu fordern deßhalb, daß es dem Juden ans Leben gehen solle.

Drei Tage so mochten sie thätig gewesen sein; eben so sehr in den Backtrögen, als über den Schnapsflaschen des Meisters, und die Franzosen machten noch immer keine Anstalt, das Städtchen zu verlassen. Fragten die Russen darum an, so höflich als sie's von den Franzosen erlernt, dann platzten ihnen diese ein paar Patronen entgegen. Mochten die Russen dieser Artigkeiten nun überdrüssig werden, oder erkannten sie's nicht dafür: endlich wurde ihnen die Zeit zu lang, und sie beschlossen einen nächtlichen Ueberfall.

Leise, wie ein Rudel Wölfe, schlichen die kleinen Pferde der[Kosacken] über den knarrenden Schnee. Der Mond schien hell, aber sie zogen im Schatten und Schutze des Waldes. Die Spitzen ihrer Lanzen waren das einzige Blanke an ihnen, die feindlichen Posten konnten sie unmöglich entdecken.

Rund um die Stadt zogen sie sich; in einiger Entfernung folgten ihnen Kanonen auf Schlitten.

Auf der Hauptstraße schob sich die Infanterie vor gegen den Ort. Diese war gesichert gegen Entdeckung durch die Windung des Weges und durch die Allee, mit welcher er besetzt war. Auch sie hatte Kanonen in ihrer Mitte.

Im Städtchen schlief Alles. Den ganzen Tag hatte es Scharmützel gegeben; die Franzosen waren müde zum Sterben. Manch junges Blut mochte träumen von Frankreich, vom Vater, von der Mutter, von der Geliebten oder von seinem Kaiser und der umflorten Gloire! Selbst die beiden Wachen in der Backstube des Juden waren eingenickt und lagen mit dem Rücken gegen den Ofen; die Lampe, bei welcher die Gesellen ihre schläfrige Arbeit verrichteten, brannte mit einer großen Schnuppe und blakte eine Wolke gegen die Decke.

Plautz! donnert's auf einmal, als berste der Himmel auseinander.

Die befrorenen Fenster zersprangen, die Wachen flogen in die Höhe, und gegen den Backtisch lehnten die ermunterten Gesellen wie vom Fieber geschüttelt.

Adieu, Kameraden! riefen die Franzosen und waren zur Stube hinaus.

Die Russen sind in der Stadt! mit diesem Angstruf sprang der Meister herein.

An Arbeit war nicht mehr zu denken; Alles lief zusammen auf den Hof: der Meister, die Frau, die Ge - sellen, die Mägde und die Kinder, nackt aus den Betten, ihre Kleider in der Hand.

Ueber das Haus her rollt Donner der Kanonen, knattert das Feuer der Gewehre, blasen die Hörner, rasseln die Trommeln.

Zitternd lauscht Alles eine Minute. Kampf auf der Straße, Mord in den Häusern! eine Furcht war in den Allen mit Ausnahme des Strohmers.

Ueber das Haus her schallt das Traben der Reiter, das Klirren der Waffen, das Aechzen und Schreien der Getroffenen.

Auf dem Hofe des Juden fangen die Weiber an zu weinen, und die Kinder richten neugierige Fragen an ihren stillbetenden Vater der Strohmer blickt um sich.

Nur eine Minute ist die Zeit für dies Alles, da zeigt der Meister auf den Himmel:

Die Stadt brennt!

Noch einen zitternden Augenblick, dann ruft er: Rette Jeder, was sein, und folge mir in den Garten; wir müssen über den Fluß in den Wald.

Das Häuflein stob auseinander, die Mägde mit den Kindern in die Kammern, die Gesellen in ihre Schlafstätten, der Meister und die Frau wollen die Treppe hinauf nach ihrer Wohnstube. Sie aber sind kaum auf dem Flur, kaum auf der ersten Stufe der Treppe, da donnert und berstet die Thür nach der Straße auseinander, französisches Fußvolk dringt ein, legt sich mit den Gewehren in die Fenster Schüsse fallen.

Alles verloren! ruft der Meister und zerrt seine Frau hinter sich her in den Garten; die Gesellen, die Mägde folgen, mit ihrer Habe bepackt; die Kinder laufen barfuß über den Schnee, ebenfalls bepackt nur der Strohmer geht leicht, seine Last ist ein schwerer Gedanke.

Das Krachen der Schüsse, die helle Lohe über dem Städtchen, sie beflügeln der Flüchtigen Schritte.

Am Rande des Flusses machen sie Halt; das jenseitige Ufer zeigt ihnen den Wald, schneeüberglaset, flammenübergoldet. Einen scheuen Blick werfen sie hinüber, einen andern zurück, dann sind sie auf der Brücke, die der Frost auf das Wasser geworfen. Jetzt aber hämmert's auf dem Eise: Trab, Trab, Trab, Trab

Die Kosacken! ruft der Jude, werft euch in den Schnee!

Trab, Trab, Trab kommen die Kosacken bis ans diesseitige Ufer, da halten sie an, hundert haßheiße Blicke schießen sie in die Stadt, und ihre Führer halten eine kurze Besprechung.

In seinem Versteck, fast unter den Pferden der Kosacken, flüstert der Strohmer zu seinen Kameraden; der jüdische Meister betet im stillen Herzen.

Die Kosacken schwenken rechts ab und reiten nach dem Ende des Städtchens, lautlos wie Geister, in immer leiser verhallendem Trab, Trab, Trab, Trab. Die Flüchtlinge erheben sich, und die Frau mit den Kindern, die Mägde und der eine Gesell fliegen über das Eis. Nur der Jude verweilt: er kniet und dankt Gott; nur der Strohmer und sein Kamerad verweilen: sie liegen wie todt im Schnee. Ihre Blicke sind fest auf den betenden Juden gerichtet; des Juden Blick wandert gen Himmel.

Der Jude erhebt sich und läuft hinter den Seinen her. Der Strohmer und sein[Kamerad] erheben sich gleichfalls, sie schleichen das Ufer wieder hinauf, in den Garten wieder zurück. Auf der Mitte des Eises bleibt der Jude stehn, wie zwischen Gott und dem Teufel; in der Mitte des Gartens lachen der Strohmer und sein Gefährte ein heiseres Gelächter der Hölle.

Der Mann auf dem Eise seufzt: Gott, soll ich Alles verlieren?! Gott dreht ihm sein Gesicht nach dem Walde: sein Weib, seine Kinder sind ihm geborgen darin; der Teufel dreht ihm das Gesicht nach seinem Hause zurück: sein Gold und Silber blinkt ihm durch Thüren und Wände daher.

Mit mächtigen Sprüngen sind die beiden Gesellen zwischen den Baumstämmen des Gartens hindurch, in den Hof wieder hinein. Dort stehen sie und lauschen.

Der Lärm des Kampfes hat sich nach einer andern Gegend gezogen. Aus dem Hause des Bäckers wird nicht mehr geschossen.

Der Mann auf dem Eise machte dieselbe Entdeckung.

Leise über den Schnee und dicht an den Ställen zur Seite schleichen die Gesellen bis an das Vordergebäude. Dort stehen sie von Neuem und spähen in den Flur. Von der Straße her fällt der Mondenschein in die offene Thür, fällt wie ein Leichentuch über einen Haufen dortliegender Streiter; sonst Alles dunkel. Es regt sich kein Leben im Hause.

Mit drei Sätzen ist der Strohmer in die Backstube hinein und kommt mit der Lampe zurück. Mit ebensoviel Sätzen ist er die Treppe hinauf nach der Wohnung des Juden.

Die Thür ist verschlossen. Das Beil bring herauf!

Er rief's seinem im Flur zaudernd stehen gebliebenen Kameraden zu.

Gleich, gleich! ist die Antwort.

Indem dieser das Beil aber ergreift, wird's ihm so schwer in der Hand er vermag’s nicht zu halten.

Komm wieder herunter, Kamerad, wir brauchen nicht durch die Thür. Ueberm Backofen ist ein Loch in dem Fußboden der Wohnung des Juden.

Du hast Recht, Bruder, da kommen wir leichter hinein.

Mit diesen Worten war der Strohmer wieder unten.

Das Beil aber brauchen wir doch, nimm du jetzt die Lampe.

Er ergriff's, wie er's sagte, und Beide waren in die Backstube hinein.

Ein viereckiges, anderthalb Fuß im Quadrat messendes Loch zeigte sich da in der Ecke rechts in der Mitte über dem Ofen, und war mit einer Klappe verschlossen. Es hatte den Zweck, einen Theil der Wärme aus der Backstube nach dem oberen Zimmer zu leiten und so dessen Heizung zu sparen.

Schnell hinauf, du bist jung, und sieh zu, ob der Jude auch nicht den Riegel vor die Klappe geschoben.

Der Jüngere gehorchte und kletterte auf den Ofen. Dort drückt er mit der Hand gegen die Klappe sie hebt sich. Nun setzt er den Kopf gegen die Klappe ein Gepolter im oberen Zimmer beweist, daß die Vorsicht Etwas darauf gestellt hatte sie weicht aber dem Druck, und mit Kopf, Schultern und Brust ist der Dieb in der Wohnung des Juden.

Hinauf! hinauf! ruft der Strohmer von unten und klettert gleichfalls auf den Ofen. Der Andere verschwindet in das obere Gemach, der Strohmer folgt ihm.

Im Wohnzimmer des Juden springt der Jüngere von Beiden zuerst nach dem Fenster und sieht hinaus auf die Straße. Am Ende derselben schlägt der rothe Hahn seine Flügel und fliegt von Dach zu Dach und wächst vor dem Winde zu einer Feuerwolke.

Der Andere wirft einen schnellen Blick über die Wände, die Betten, die Schränke und ist mit dem Beil an einem derselben. Dieser Schrank ist zuunterst Commode, in der Mitte verschließt ihn eine nach oben schräg überfallende Klappe, der obere Theil ist ein Wäschspind mit Flügelthüren. In die Fuge der Klappe drückt der Strohmer die Schneide des Beils; sie kracht auf. Auf den Knall springt sein Gefährte vom Fenster zurück, und Beider Hände sind über die Schubfächer her.

Die Stadt brennt prächtig, flüstert der Jüngere zum Aelteren.

Und unser Lohn mit, wenn wir ihn nicht retten, entgegnete ihm Der. Hier ist er!

Ein Schubfach voll Gold - und Silberstücken öffnete sich ihren Augen. Eine Secunde lang hefteten sich ihre gierigen Blicke darauf, eine Secunde stehlen ihre Augen den Schatz, eine Secunde lang feiern die Spinnenfüße ihrer räuberischen Hände.

Wenn jetzt der Jude dazukäme

Was würdest du thun?

Ich würde ich würde ich weiß nicht, was ich würde.

Der Strohmer erhob das Beil vor den Augen seines Kameraden.

Ich würde, fuhr der Andere erbleichend und schnell fort, sobald ich ihn den Schlüssel ins Schloß stecken hörte, mit dem Beil gegen die Thür schlagen; er ist ein Jude, vor Schreck würd 'er wieder davonlaufen.

Ein heiseres Gelächter des Strohmers und dann rief er: horch!

Ein leises Geräusch war vernehmbar an der Thür ging ein Schlüssel ins Schloß der Strohmer blies die Lampe aus der Schlüssel drehte sich einmal der Strohmer springt hinter die Thür der Schlüssel dreht sich zum zweitenmal des Strohmers Kamerad rafft das Geld in sein Schurzfell und versenkt sich durch das Loch in die Backstube hinunter. Er hört die Thür aufgehen er hört einen Schlag er hockt auf dem Ofen und sieht Nichts.

Ein dumpfes Aechzen, danach ein Gepolter die Treppe herunter und der gräßliche Vorgang über seinem Haupte hatte sich ihm vor die Seele gestellt.

Zitternd und bebend klettert und fällt er vom Ofen herunter, das Geld krampfhaft in der Schürze zusammengefaßt, eine ungeheure Schuld auf den Schultern. Du hast das Geld? ruft ihm eine Stimme von der Hausflur entgegen.

Ich hab's, ist die Antwort.

In der Backstubenthür sieht er den Strohmer ein Etwas nach der Straße hinschleifen, er sieht ihn dies leblos erschlaffte, und dennoch wie rachefordernd vor seine Seele tretende Etwas über die vom Feuer der Stadt grell beschienenen Leichen hinwerfen und hört ihn rufen: Nun haben's die Russen gethan!

Danach entwichen sie Beide in den Wald, theilten ihren Raub und riefen einander: auf Wiedersehen!

II.

Sechsunddreißig Jahre waren vergangen seitdem. Der Friede war wieder ins Land gekommen, Stürme anderer Art hatten dagegen sich eingestellt. Ueber der Versumpfung des Lebens in einem Nachbarlande hatten sich die Wetter ungezügelten Verlangens gesammelt und ihre Schauer auch über Deutschland ausgegossen. Die Volksversammlungen standen in Blüte. Man wollte Großes und trug leuchtende Worte auf flatternden Fahnen, aber das Geschlecht war klein und unterlag seiner Aufgabe. Der Rausch verflog, und die Selbstsucht setzte sich zu Tisch; Nichts blieb zurück, als das heuchlerische Wort; eine reine Sache fand nie schmutzigere Hände. Das Vaterland hatte einen neuen Tag begrüßt, aber das Morgenroth war längst verblaßt und nur ein Feuerschein geblieben.

Es war eine stürmische Zeit, und nirgends gingen die Wogen höher als in B. Jede Straße hatte ihren Club, und auch draußen vorm Thore, wo ein Vergnügungslocal von Alters her den Namen die neue Welt führt, war man eifrig beschäftigt, eine neue Welt zusammenzuzimmern. Das Local hat eine eigenthümliche, fast romantische Lage. Auf einem Hügel gelegen, erhebt es sich mit seinen Säulen und Thürmchen über die Wipfel eines nachbarlichen Obstgartens und blickt, fast wie ein mittelalterliches Schloß, über die grünen Kronen hinweg. Am Fuß des Hügels und zwar nach Norden hin fließt ein tiefes, reißendes Gewässer, während sich an der Südseite die große Landstraße entlang zieht, die eben hier von einer Eisenbahnlinie durchschnitten wird. Bergan führt eine Kastanienallee, deren Ausgangspunkt das Gasthaus bildet. Hat man es erreicht, so tritt man zunächst in eine luftige Vorhalle, danach in das Schank - und Gastzimmer, zuletzt in einen geräumigen, mit einer Gallerie versehenen Saal.

Alle diese Räumlichkeiten waren heut mit Menschen überfüllt und nicht enden wollender Beifall scholl alle Zimmer hindurch bis ins Freie hinaus, als eben jetzt ein Lieblingsredner der Versammlung die Frage vom Eigenthum mit mehr Heftigkeit als Gründlichkeit erörtert hatte. Triumphirenden Blicks verließ er die Rednerbühne und grüßte und schüttelte Hände links und rechts, als er sich plötzlich leise am Rock gezupft fühlte.

Er sah sich um, und der Kronleuchter des Saal’s, welcher so eben angezündet worden war, leuchtete ihm auf einen zerlumpten Gesellen mit dünnen, grauen Haaren und eingefallenen Wangen.

Noch einmal Bravo! Deine Rede war mir aus der Seele gesprochen, Bruderherz! wisperte der unheimliche Alte und zwinkerte mit den Augen auf eine diesen vertraulichen Worten entsprechende Art.

Der von ihm angeredete, kräftig und wohlanständig aussehende Mann stand wie versteinert. Dichte, im Lauf der Jahre leise und behutsam über eine gewisse Erinnerung gelegte Schleier rissen jäh auseinander und ließen ihm das Bild einer That vor die Seele treten, einer That, daß es ihm vorkam, als spränge ihm das Leben vor Schreck aus allen seinen Gliedern.

Du freust dich, mich wiederzusehen! Bist keines Wortes mächtig vor Freude! Nun, komm heraus, Bruder, und schließe mich an dein Herz; wirst deine Sprache schon wiederfinden danach!

Abwechselnd mit einem langen und einem kurzen Schritt drängte sich der Alte durch die ihn umgebende Menge, drehte dabei seinen Körper halb rückwärts gegen seinen, wie er sich ausdrückte, vor Freude überraschten Bruder und winkte ihm fleißig, zu folgen. Wie einem Zwange und in halber Betäubung mußte der Letztere gehorchen.

Draußen unter den Bäumen setzte sich der Alte an einen Tisch, commandirte zwei Seidel Bayrisch und ein Glas Nordhäuser-Korn und nöthigte seinen Gefährten zum Sitzen.

Du hinkst ja! rief dieser und warf seinen Kopf, als schnelle er durch diese Bewegung eine ihn drückende Last von sich. Du hinkst ja! rief er noch einmal und lachte eine kurze Lache dazu du hinkst! rief er zum Dritten und wurde still, wurde nachdenkend danach.

Der Alte verzog sein Gesicht zu einem freundlichen Grinsen.

Ich hinke, Bruderherz, aber der Fehler haftet bloß an den Beinen, das Herz blieb gesund, oder vielmehr es wurde wieder gesund. Ich muß dir's erzählen, lieber Bruder erst aber,[]der Kellner da wünscht seine Befriedigung meine Börse hab 'ich in der Schlafstelle gelassen.

Der Andere bezahlte ohne Weigern.

Nun sage mir gleich: du lebst in erfreulichen Umständen?

Danke für gütige Nachfrage.

Bitte, keine Complimente unter uns! Du bist Bürger und Meister.

Habe gewaltig viel Schulden!

Beweis, daß du Credit hast. Bist wohl Besitzer eines Grundstücks allhier?

Ja, ich ich besitze ein Haus in der Vorstadt.

Nun, und was ich besitze, das frägst du mich nicht?

Ich bin ich habe Familie.

Was ich besitze, sollst du mich fragen!

Was du besitzest? Neugierig bin ich nicht,

So? Nun, da wirst du's auch nicht weiter erzählen. Ich besitze einen Freund, der die Hälfte meines Vermögens verwaltet, mit ganz absonderlichem Glück verwaltet.

Du willst Geld haben von diesem Freunde. Wie viel brauchst du?

Ach, Bruder, für jetzt brauche ich gar nichts! Mein Freund giebt mir zu essen, zu trinken, ich wohne, ich schlafe bei ihm, er kleidet mich, pflegt mich ich habe einen vortrefflichen Freund! Dafür soll er mein Universalerbe sein.

Das ist hübsch von dir.

Dieser mein Freund, mein Schatzmeister, mein Mundschenk und Schlafwirth, mein Ein und mein Alles bist du!

Der im Saal tüchtige Redner wußte keine Antwort hierauf. Fast unmerklich wiegte er den Kopf hin und her, nahm einige Male einen Ansatz zum Reden, biß sich dann wieder auf die Lippen, legte zuletzt seine Hände über den Knopf seines Stockes zusammen und blickte starr zur Erde.

Was sah er da?

Er sah sich gehen und wandeln, überall hin von einem Schatten verfolgt, der war bleich in der Sonne, Nachts wurde er roth. Er hörte sich sein Weib fragen: was ist das für ein häßlicher Schatten? und wußte ihr ebenfalls keine Antwort zu geben; er sah sein Weib herfallen über den Schatten sie wollte ihn nicht dulden in ihren vier Pfählen und dachte das Ding bewältigen zu können, weil sie es sah aber der Schatten erhob sich und hatte tausend Augen und tausend Mäuler und sein Weib sank zu Boden vor ihm. Er sah den Schatten wachsen und sich legen über all sein Gut, und er verzehrte es. Er sah sich danach von dem Schatten gejagt, gejagt, bis ihm der Athem verging, gejagt durch Wälder und Felder, über Berg und Thal, und sah sich springen und stürzen zuletzt in das Loch über dem Backofen, durch welches er einst, als der Vorderste, in des Juden, seines Meisters, Wohnzimmer eingestiegen war. Hier knickte und brach er zusammen, hier fühlte er sich gebannt und geknebelt, hier warf sich der Schatten auf ihn, und er wog eine unaussprechliche Last. Er fühlte sich geschlagen wie mit einem Beile, sich wollte er wehren davor und konnte es nicht; er hörte sich ächzen, und es ächzte sein Meister aus ihm; vor der Wucht auf ihm fühlte er sich in die Tiefe gelastet des Ofens Gewölbe brach ein unter der Last seine Flammen umwirbelten ihn tiefer und tiefer in eine unabsehbare Tiefe sank er hinunter, er und der Schatten über ihm, und oben, hoch oben, über den durchsichtigen Flammen schwebte der Geist des Erschlagenen, ernst und steinern seine Züge, er schwebte je höher, je tiefer er sank.

Während er so saß und sich nicht losreißen konnte von diesem sich vor seine Seele hinstellenden Bilde, wilde Angst ihn durchglühte, rief sein Gefährte nach einem neuen Glase Branntwein, jedoch sollte es Rum sein. Er fragte auch den Kellner nach den Speisen und befahl davon. Dem Bier that er nicht viel, dem gebrach es nach seiner Ansicht an Kraft.

Des Kellners offne Hand weckte unsern Meister. Er bezahlte. Einen Blick ließ er schweifen in die lärmdurchtobte und doch so ruhig erscheinende Mondnacht dann faßte er seinen Gefährten ins Auge.

Dieser bemerkte es und hielt inne mit der Arbeit seiner Zähne.

Ehre Gemeingut für Alle, Essen und Trinken aber nicht minder, Bruderherz! In der Regel zwar esse ich nicht viel, ich halte es noch immer mit dem Trinken, Etwas aber muß man dem Magen doch bieten.

nur und trink, unterbrach ihn der Meister, es ist ja zu haben für Geld.

Nun siehst du, nun siehst du, du bist, wie ich mir's dachte, ein vernünftiger Kerl! Noch einen Rum, Kellner! Komm ich aber ins Schräge, lieber Bruder, du sorgst für einen Wagen, daß wir zusammen nach Hause kommen.

Sei außer Sorge deßhalb.

Wenn ich erst weiß, wo wir wohnen

Wie bekamst du das Hinken? Das wolltest du mir erzählen vorhin

Wart nur ein wenig, erst muß ich gegessen haben.

Er , trank seinen Rum dazu aus, forderte noch ein Glas und stand auf. Geheimnißvoll blickte er um sich, zeigte nach dem Ende des Gartens und winkte seinem Gefährten, ihm dorthin zu folgen. Mit dem ersten Schritte gerieth er ins Schwanken und mußte sich des Arms seines Freundes als Stütze bedienen.

Das kommt vom leeren Magen, lieber Bruder, mir wird aber schon besser, nun ich gegessen habe.

Untergefaßt schritten sie in den entlegensten Theil des Gartens. Dort setzten sie sich am Rande des Hügels, der hier, steil abschüssig in dunkle Nacht hinuntergehend, mit einem morschen Gitter eingefaßt war.

Hier behorcht uns kein Mensch, sagte der Alte aber und dabei schaute er, wie ergriffen von einem plötzlichen Schreck, über das Gitter in die Tiefe hinab ist das der Fluß, der hier unten vorbeigeht?

Der Fluß geht auf der andern Seite.

Ho, er geht auf drei Seiten um diesen Hügel; aber ein unwillkürliches Grauen rüttelte an seiner bisherigen Frechheit und Festigkeit, als er das Folgende sprach ich kann schwimmen, Bruder, und schreien, Bruder, hast du ein Arges im Sinn wieder mich.

Du wolltest erzählen, wie du das Hinken bekommen. Was fürchtest du Arges von mir? Wirf einen Stein in die Tiefe, so wirst du's am Schall hören, ob Wasser oder fester Boden unter uns ist. Dort drüben geht der Fluß, dort blitzen seine Wellen im Mondschein.

Ich sehe, ich sehe, entgegnete der Alte. Wir haben den Mond aber im Rücken; geht der Fluß unter uns, dann kann er nicht blitzen; weil der Schatten des Hügels über ihm liegt. Danach bückte er sich in einiger Entfernung von seinem Bruder und Freunde, nahm einen Stein von der Erde und warf ihn in die Tiefe. Er zählte bedächtig von eins bis fünf, dann erst schlug der Schall des gefallenen Steins an sein Ohr und hatte den Klang wie von Erz.

Was ist das? Was ist das? Der Stein fiel auf Eisen. Hier bleib ich nicht hier liegen die Schienen der Eisenbahn. Folge mir in den Garten zurück.

Ei Bruder! Was ficht dich an? Im Garten sind Menschen.

Ich will unter Menschen!

Ich aber nicht, und du bleibst!

Der dies rief, warf sich dem Andern in den Weg, und vor die Brust gefaßt von dem jüngeren kräftigen Manne, war der Alte wie eine Leiche geworden. Er bebte außen und innen, das verrieth sich in seiner Stimme.

Bruder, du wirst mich loslassen, sagte er leise, du wirst mir keinen Schaden thun. Außerdem daß ich schreien könnte

Wozu schreien, Bruder? unterbrach ihn der Andre ebenfalls flüsternd. Wie du zum Hinken gekommen, wirst du nicht ausschreien wollen, wir suchten sonst vergebens die Heimlichkeit dieses Ortes.

Ich will nicht schreien, Bruderherz, aber loslassen mußt du mich jetzt. Ich bin alt und schwach und vermag nicht zu ringen.

Wie du zum Hinken gekommen!

Nun, da du's wissen willst: in derselben Backstube bei unsers Juden Sohn.

Wie kamst du zu Dem?

Wie kam ich, wie kam ich! Ich hatte das Streifen satt, ich fühlte mein Alter und dachte an dich. Mein Geld hatte nicht weit gereicht; ich dachte: ob's wohl bei dir weiter gereicht haben möchte und ging, dich zu suchen. Dich zu finden, war ich mir sicher: wir hatten uns beim Scheiden auf Wiedersehn! gesagt. Nebenher trieb mich die Neugier es peinigte mich, zu erfahren es plagte mich der Teufel, nach dem Städtchen zu wandern, das wie du weißt, abbrannte in jener Nacht. Weihnachten vorigen Jahrs erreichte ich's dunkel und kalt war's, da ich hineinging dazu war's neu ausgebaut, daß ich's nicht wieder erkannte breite Straßen, gerade Straßen und als ich ins Gasthaus trat, da trat ich ins Haus unsers Juden. Ich erschrak, als ich diese Entdeckung gemacht, aber ich suchte mich zu fassen. Ich zitterte, ich bebte, aber ich schob’s auf den Frost. Ich wollte wieder fort, aber der Wirth glaubte mich krank und zwang mich zu bleiben, aus Menschlichkeit. Er räumte mir einen Platz ein am Ofen, reichte mir Warmbier, er der Sohn unsres er hatte eine verdammte Aehnlichkeit mit seinem Vater Ich dachte: du mußt dich gewöhnen an seinen Anblick aber je mehr ich ihn ansah, je mehr fror mich ich konnte mein Auge nicht lassen von ihm, und sah ich auch fort, ich sah ihn doch Da nahm ich meinen Hut und meinen Stock und verlangte eine Streu bei den Pferden. Der Wirth aber hatte aus meinem Paß schon ersehen, daß ich ein Bäcker sei, bot mir ein Nachtlager deshalb auf dem Backofen an, da schlafet Ihr wärmer als im Stall, und ich nahm's an. Als ich nun ging nach der Backstube, da lag sie wie Anno zwölf, und als ich hineintrat in die Backstube, da sah sie aus wie Anno zwölf, und als ich auf den Ofen geklettert war, da war auch das Loch in der Decke darüber, durch welches wir in des Juden Wohnzimmer gestiegen. Auf den Knieen und Händen, wie man kriecht, wenn man muß, blieb ich halten und starrte nach dem Loch die Leute aber in der Backstube und meine Mattigkeit und mein Frost gestatteten mir keine Umkehr, ohne Aufsehn und Fragen zu veranlassen, auf welche ich vielleicht keine Ausrede ge - troffen hätte; ich blieb also oben und legte mich zurecht; einen Sack unterm Leib, einen Sack unterm Kopf mir ward wohl auf dem Ofen. Aber das Loch in der Decke nicht bloß, daß ich mich immer hindurchsteigen sah, nein, ich sah auch, was dann im Zimmer geschehen, mir ward heiß, wie in der Hölle! Ich fing an zu rücken von dem Loche hinweg ich kam auf die Kante des Ofens mein halber Leib kam ins Hängen über der Kante ich konnte mich nicht wieder hinaufschwingen: ich war doppelsichtig und hellsehend geworden, ich sah durch Mauern und Wände, ich sah mich und den Juden, sah, wie er den Schlüssel in die Thür schob, wie er den Kopf dann hereinsteckte und wie ich ja siehst du, beim Blitzen des Beils bog ich mich weiter zurück, als gälte der Schlag mir, und stürzte vom Ofen herunter. Der Lärm, der Fall mir war, als hörte ich mich mit dem Juden die Treppe herabfahren, mir vergingen die Sinnen darüber. So bin ich zum Hinken und Beichten gekommen!

Zum Beichten?!

Laß das, Herzbruder! Der Jude hat mir verziehen; ich war in Angst und schob dir die große Hälfte zu; aber das Wandern hab 'ich satt: du mußt mich erlösen davon. Du mußt. Denn sieh, wenn ich dem Juden sagte: hier ist mein Kamerad würd' er dir auch verzeihen? würd 'er schweigen? wer weiß! Behalten mußt du mich, ich weiche dir nicht wieder von der Seite.

Ein Pfiff, ein gellender, langanhaltender Pfiff, und ein dumpfes, schnell wachsendes Rollen ertönte jetzt aus der Ferne. Der Alte erschrak und verstummte. Zwei Augen wie Feuer blitzten auf in der Tiefe. In den Mienen des Jüngeren zuckt's wie ein elektrischer Funke: er wirft seine Arme dem Alten an den Kopf, mit einem Ruck zieht er ihm den Hut übers Gesicht, mit einem zweiten Ruck hebt er ihn über das Gitter ein Stoß ein Fall zischend und prustend und donnernd schießt der Dampfdrache heran taptap, taptap. Der Zug ist vorüber und fährt langsamer über den Fluß in die Hauptstadt hinein.

Er hat sich das Leben genommen, wenn wenn mich wenn mich jetzt Niemand gesehen.

Dies sagt sich der Mann auf dem Hügel, und es ist ihm wie leichter ums Herz.

Da fühlt er sich plötzlich auf die Schulter geklopft er greift aufs Gitter vor sich das Klopfen wiederholt sich er sieht sich nicht um es klopft zum Dritten da dreht er den Kopf nach der Seite der Alte, den er so eben in die Tiefe gestürzt, steht hinter ihm. Entsetzen faßt ihn. Doch nein, der Alte ist es nicht; aber wer? ein Häscher muß es sein. Jetzt wird er gelenkig, er läuft den Hügel hinunter, eine Jagd hebt an und am nächsten Morgen ging das Gerücht mit zwei Selbstmorden in die Stadt: einen Leichnam hatten die Bahnwärter gefunden, den andern die Fischer im Fluß.

About this transcription

TextAuf Wiedersehen!
Author Leo Goldammer
Extent31 images; 5833 tokens; 2056 types; 36984 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Thomas WeitinNote: Herausgeber Digital Humanities Cooperation Konstanz/DarmstadtNote: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2017-03-14T16:05:09Z Jan MerktThomas GilliJasmin BieberKatharina HergetAnni PeterChristian ThomasBenjamin FiechterNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2017-03-14T16:05:09Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic information Auf Wiedersehen!. Band 21. Leo Goldammer. 2. Globus VerlagBerlin1910. Deutscher Novellenschatz pp. 157-185.

Identification

Bibliothek der Universität Konstanz deu 838.29/h29https://katalog.uni-konstanz.de/libero/WebopacOpenURL.cls?ACTION=DISPLAY&RSN=948187

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Novelle; ready; novellenschatz

Editorial statement

Editorial principles

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;

Publication information

Publisher
  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2020-01-05T15:36:40Z
Identifiers
Availability

Namensnennung 4.0 International (CC BY 4.0)

Holding LibraryBibliothek der Universität Konstanz
Shelfmarkdeu 838.29/h29
Bibliographic Record Catalogue link
Terms of use Images served by Deutsches Textarchiv. Access to digitized documents is granted strictly for non-commercial, educational, research, and private purposes only. Please contact the holding library for reproduction requests and other copy-specific information.