PRIMS Full-text transcription (HTML)
Die Zukunft
Zweiundzwanzigster Band.
Berlin. Verlag der Zukunft. 1898.
386

Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung.

Bescheide Dich, wenn nur im Schattenschleier
Mild schimmernd Du genossne Fülle schaust
Und durch die müden Lüfte ein Befreier,
Der Wind der Weiten, zärtlich um uns braust.
Und sieh, die Tage, die wie Wunden brannten
Jn unsrer Vorgeschichte, schwinden schnell,
Doch alle Dinge, die wir Blumen nannten,
Versammeln sich am toten Quell.
Stefan George, Das Jahr der Seele. [Berlin, 1897, S. [47].]*)

Von Stefan George sind bisher die folgenden Gedichtcyklen erschienen: Hymnen (1890), Pilgerfahrten (1891),Algabal (1892), die Bücher der Hirten und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten (1895),das Jahr der Seele (1897). Alle sind nur in ganz wenigen Exemplaren gedruckt und im Buchhandel kaum erhältlich. Die von George und seinen Anhängern seit einigen Jahren herausgegebene Zeitschrift Blätter für die Kunst ist zwar auch nur für einen geladenen Leserkreis gedruckt, doch sind einzelne Hefte hier und da käuflich.

I.

Wenn alles Erkennen der Dinge und unser selbst nichts Anderes giebt als den Schein und Schimmer ihrer geheimnißvollen Wirklichkeit, wenn das Bild von uns, das unser Bewußtsein zeigt, nur ein Bild unseres wahrsten, wirklichsten Seins ist, so scheint das tiefste Leben der Seele mit all seiner Unerkennbarkeit dennoch als Gefühl für uns zu leben; als wüchse dies ganz unmittelbar aus den Wurzeln unseres Wesens auf; als spräche in ihm die Seele selbst, während in allem anderen Bewußtsein nur das Echo ihrer Stimme anklingt. Wenn wir Liebe oder Haß, Zorn oder Demuth, Entzücken oder Verzweiflung fühlen: Das sind wir, Das ist unsere Wirklichkeit, die gleich zum Schatten ihrer selbst abblaßt, sobald der Verstand daraus ein Bild der Erkenntniß und Selbsterkenntniß formt. Und dennoch: diese tiefste Einheit des Gefühles läßt in ihm selbst noch einer Scheidelinie Raum, für deren Diesseits und Jenseits noch keine Bezeichnungen gefunden sind. Vielerlei Augenblicke nämlich, ja ganze Szenen und Akte des Lebens durchfühlen wir in einer eigenthümlich fremden Art, als einen reinen Gefühlsinhalt, in dem die Note des Nur-Persönlichen fehlt, als ein gleichsam objektives Erleben der selben inneren Erregungen, die uns sonst als unser Persönlichstes erschüttern, die unser eigenstes Sein bedeuten. Was so, in Begriffen gedacht, einen Widerspruch zu enthalten scheint: daß die innerlichste Energie unserer Seele, in der allein ihr ungebrochen subjektives Wesen lebt, in dem sie ganz nur sie selbst387 ist, doch ihren Jnhalt auch in dieser Form entfaltet, wie aus der Ferne und als fühlte sie ein Jch, das über dem persönlichen ist, wenngleich es doch in ihm ist, dieser Widerspruch ist dennoch eine psychologische Wirklichkeit; gerade in der tiefsten Schicht des Jch fühlen wir gewisse Gefühle so, als ob nicht wir sie fühlen, sondern als wäre das Jch nur das Sprachrohr einer viel breiteren Macht oder Nothwendigkeit.

Auf dieser zweiten Form des Fühlens ruht alle Kunst höheren Sinnes. Die ursprüngliche Leidenschaft des Gefühles, das Nur-Persönliche seiner Betonung, die ausschließende Giltigkeit für das eine Subjekt, muß es im Schaffenden wie im Genießenden des Kunstwerkes verlieren. Denn so sicher dessen Sinn und Recht überhaupt in Gefühlen liegt, aus denen es fließt und die aus ihm fließen, so gründet sich der Aufstieg von niederer und primitiver Kunst zu ihrer Reinheit und Höhe auf den Uebergang des unmittelbaren subjektiven Gefühles zu jenem objektiven, das den gleichen Jnhalt aus der Jmpulsivität und Zugespitztheit jenes in Ruhe und breitere Giltigkeit überführt. Erotische Erregungen mögen unsere Aeußerungen zuerst zu Melodien gestaltet haben, aus kriegerischen Affekten mag die erste Rhythmisirung des Schrittes, aus religiösen die erste Erhebung und Stilisirung der Rede gequollen sein, aus den starken Eindrücken der Dinge die bildnerischen Versuche, in denen man gleichsam Herr über diese wurde, ihre Formen sich unterwarf. Und nun auf der anderen Seite: je unkultivirter der Hörer und Beschauer ist, desto unmittelbarere, sozusagen materiellere Affekte ruft das Kunstwerk in ihm hervor: der dargestellte Vorgang erregt ihn in genau der selben Weise, wie der wirkliche ihn erregen würde, sein Jnteresse gilt dem Jnhalt, nicht der Kunstform des Werkes, weil eben sein Jnhalt ja auch in der Wirklichkeit zu finden ist und die an diese geknüpften Gefühle unmittelbar erleben läßt. Jn der Musik fesselt ihn fast ausschließlich die Melodie, weil diese den subjektiven Stimmungsgehalt am Deutlichsten und Direktesten zum Ausdruck und Eindruck bringt. So unverächtlich nun alles Dies ist, da solches unmittelbare, die ganze Subjektivität ergreifende Fühlen das Kräftereservoir auch aller späteren Gestaltungen bleibt, so liegt doch das Wesen der Kunst als solcher, Das, was die Kunst zur Kunst macht, in der Entwickelung von jenem hinweg: in der Entwickelung gleichsam vom subjektiven Jch zum objektiven, zu jener Schicht unseres Fühlens, in der es die geheimnißvolle Gewähr trägt, über die Zufälligkeit der momentanen Erregung hinaus zu gelten, ja, überhaupt einer Ordnung jenseits des nur persönlichen Jch anzugehören. Die Herausbildung solchen Fühlens wird sich am Ehesten an die Produktion und Rezeption innerhalb solcher Künste knüpfen, die in der festen äußeren Gegebenheit ihres Materials dem Jch eine Stütze bei der Objektivirung seiner tiefsten Jnhalte gewähren: also bei den Künsten der Sichtbarkeit. Am Tiefsten388 in seine ursprüngliche Einheit und Jmpulsivität eingesenkt erscheint das Gefühl in der Musik, die sich, um Das bis zur Möglichkeit des Kunstwerdens auszugleichen, eine unvergleichlich strenge Gesetzlichkeit ihrer Formen ausgebildet hat, aber trotzdem noch immer die Kunst der persönlichsten Erschütterungen ist, rückhaltloser Erregtheit ungeschiedener Gefühle. Zwischen diesen Extremen bewegt sich die Lyrik, im Dichter wie im Genießenden bald mehr von dem unmittelbaren Jmpuls nur subjektiven Fühlens, bald von seiner objektiven Form getragen, durch die das Jch zum Spiegel einer überpersönlichen Nothwendigkeit wird, gleichsam sich selbst gegenüber reservirt ist, so daß seine Aeußerungen aus einem Stück der Natur zu einem Werk der Kunst werden können. Für die populäre Vorstellung ist die Lyrik noch ganz der Ausdruck des elementaren Fühlens; je ungebrochener und radikaler Dies im lyrischen Gedicht lebt und im Hörer mitschwingt, desto vollkommener scheint ihr Problem gelöst. Obgleich nun in Wirklichkeit die Lyrik aller großen Dichter sich mindestens auf dem Wege von dem primären, sozusagen naturalistischen Gefühl zu dem objektiven, von der Vergewaltigung durch den primitiven Jmpuls erlösten, befindet, so scheint mir, seit dem späteren Goethe, doch erst in der Lyrik Stefan Georges diese Fundamentirung auf das Ueber-Subjektive des Gefühles, dieses Sich-Zurückhalten von seinem unmittelbaren Anstürmen, zum unzweideutigen Prinzip der Kunst geworden. Keine Spur dabei jener Formalistik, die sich überhaupt auf kein Gefühl mehr beziehen, sondern von der Vollendung der nur äußerlichen Gestalt von Reim und Rhythmus leben will; vielmehr darum handelt es sich: fühlend über dem Gefühl zu stehen, an jener Grenzlinie innerhalb seiner sich anzubauen, die ich zu schildern versuchte und die die Provinz naturalistischer, ich möchte sagen: unartikulirter Gefühlsäußerungen von der Grundlage der Kunst scheidet.

Man kann es vielleicht auch so aussprechen: während sonst der Ausdruck und die Erregung des unmittelbaren, das ganze Jch beherrschenden Gefühles der Zweck der Lyrik zu sein pflegt, für den ihre Kunstform das Mittel ist, wird in dieser neuen Richtung das Gefühl zu einem Mittel für den Kunstzweck. Wie sonst der Lyrik die ganze Welt nur ein bloßes Mittel war, ein persönliches Fühlen auszudrücken und auszuleben, so tritt nun dieses in die selbe Kategorie mit jener, es wird eins der Materialien, der relativen Zufälligkeiten, an denen das Gesetz der Kunst seine Verwirklichungen findet, wie das Naturgesetz an der Zufälligkeit der materiellen Gestaltungen. Die Produktion erhebt sich hier ganz auf dem Boden jener zweiten Gefühlsprovinz, in deren Grenzen die bloße Jchheit hinweggeläutert ist, deren Jnhalte wir als über den persönlichen Affekt hinaus giltig empfinden. Hier ist der andere Pol der lyrischen Entwickelungreihe, deren einen das Singen, wie der Vogel singt , bezeichnet. Erhobene und trübe Stimmung, Liebe und Abwendung, das Gegenklingen der Seele gegen Landschaft und Menschen dürfen389 hier ihr natürliches Empfunden-Werden nicht bis in das Lied hinein fortsetzen, sondern das Kunst-Werden erfaßt die Gefühlsgrundlage selbst. Erst wenn das Gefühl alle Trübe, allen Drang, alle Unruhe seiner Erdgeborenheit hinter sich gelassen und sich in jene klare, weite, über-subjektive Form gekleidet hat, wenn es an sich selbst schon die Ausgeglichenheit, Durchgeistigung, Rhythmisirung, kurz die eben so sicher empfindbare wie unvollkommen beschreibbare Metempsychose zum Kunstwerk erfahren hat, wird es zum Worte zugelassen: man könnte denken, daß die Frauen auf Feuerbachs Konzert diese Strophen sängen. Die schöne Abgemessenheit innerer und äußerer Existenz, wie sie das Jdeal der Wanderjahre bildet, hat hier die lyrische Seite des Lebens ergriffen. Das Bedürfniß nach künstlerischer Form der Dinge ist unter ihre Oberfläche, mit deren Gestaltung zum schönen Schein es sich sonst befriedigte, hinuntergestiegen und ist über den Gefühlsinhalt Herr geworden. Es scheint mir, als sei hier zum ersten Male die Lyrik ihrem Fundament nach in das Stadium des l’art pour l’art getreten und habe das des l’art pour le sentiment verlassen. Wenn die Entwickelung von der rein naturhaften, undifferenzirten Aeußerung des Affektes ausging, von der sich einzelne Elemente allmählich in objektiven Kunstausdruck umsetzten, so ist hier die Materie des Seelenlebens, immer mehr der ästhetischen Formung zuwachsend, nun völlig in die Kunstform aufgegangen.

Vom Standpunkt der alltäglichen Menschlichkeit nicht nur der alltäglichen Menschen, sondern auch der alltäglichen Stunden der höheren Menschen kann diese Abwendung von der ersten Wärme des Gefühles befremdend wirken; so lange unverstanden bleibt, daß der Gegensatz zu jener Wärme nicht Kälte ist, sondern die Alleinherrschaft des Kunstgefühles, das sich über diesen Unterschied der Gemüthstemperaturen überhaupt erhoben, sie zu seinem bloßen Material gemacht hat. Das Gefühl hat allerdings seine Jugend abgelegt, nicht, um alt, sondern, um zeitlos zu werden. Freilich kann es dann von jenem Standpunkt aus einen Zug von Grausamkeit zu bekommen scheinen. Dies tritt am Fühlbarsten in Georges Gedichtcyklus Algabal hervor. Algabal ist jener phantastisch ausschweifende Kaiser Elagabalus der römischen Decadence, den George zum Symbol einer nach Macht und Willkür völlig schrankenlosen Persönlichkeit wählt. Eine in jedem äußeren wie inneren Sinne nur ästhetische Lebensgestaltung sehen wir hier in absoluter Souverainetät über den Empfindungen Anderer und über den Mitteln zu ihrer Verwirklichung sich durchsetzen. Das wirkt freilich als Grausamkeit; so, wenn er seinen Bruder, dessen Rivalität ihn beunruhigt, töten läßt: Hernieder steig ich eine Marmortreppe, Ein Leichnam ohne Haupt inmitten ruht, Dort sickert meines theuren Bruders Blut Jch raffe leise nur die Purpurschleppe. [George, Stefan: Algabal. Paris u. a., 1892, S. 17.]

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So, wenn er in ungeheurem Frevel die Vestalin sich vermählt: Und zweifelnd, ob das neue Glück mir werde, Erfand ich nur den Quell der neuen Qual Jch sandte sie zurück zu ihrem Herde: Sie hatte wie die Anderen ein Mal. [George, Stefan: Algabal. Paris u. a., 1892, S. 34.]

So, wenn er dem schlafenden Liebespaar Gift einträufelt: Jch will mir jener Stunden Lauf erzählen. Die Kinder unterm Feigenbaum entschlafen Nach unbedachtem seligem Vermählen. Mich kümmerten der kalten Väter Strafen. Wohl! Da ich Euch den starken Tropfen gönnte Aus meinem teuren Ringe, der mir diene, Wenn es bei einer Dämmerung mir schiene, Daß ich die Sterne nicht mehr schauen könnte. Begnadete! Da ich Euch gütig nahte Und kein Erwachen Euch ein Glück ermattet, Das nur der Traum so herrlich Euch gestattet, Als ich es jetzt aus Euren Zügen rathe. [George, Stefan: Algabal. Paris u. a., 1892, S. 35.]

Dennoch ist hier und an ähnlichen Stellen des Werkes keineswegs die Lust am Leid anderer Menschen das poetische Motiv; vielmehr nur eine ästhetische Selbstherrlichkeit, die einfach jenseits der Frage nach Lust und Leid steht, wie man bei dem Pflücken einer Blume sich nicht kümmert, daß man damit fruchtbares organisches Leben zerstört. Denn auch sich selbst gegenüber fragt Algabal nicht nach Leiden; auch sich selbst bereitet er sie, wenn der harmonische Bau und der innere Jdealismus seiner Lebensgestaltung es so mit sich bringt. Jch habe Das so ausführlich hervorgehoben, weil es in extremer man könnte sagen: excentrischer Art jenes Objektiv-Werden des Kunstgefühles zeigt, jene Lösung von allen subjektiv-natürlichen Gefühlsreflexen, um der Kunst willen.

Mit dieser Wendung ist die Herrschaft des Poeten über die Welt vollendet. Wie die Sittlichkeit ihre höchste und beherrschende Form da gewinnt, wo der Mensch sich selbst überwindet, Das heißt, sein Niederes und Jnstinktives dem Dienst praktischer Jdeale unterwirft, und solche Herrschaft über sich selbst ihn triumphirend über die Gewalt aller Dinge hebt, so ist der Künstler absoluter Herrscher geworden, wenn er den Kreis, über den sein Wille zur Kunst herrscht, durch sein Eigenstes, durch das Subjektive und Jmpulsive des eigenen Jch, geschlossen hat. Nicht nur aus jenem Verflochtensein mit der Welt, das in den unmittelbaren Gefühlen liegt, ist er gerettet, sondern seine Kunst ist nun nicht mehr bloßer Erfolg, bloßes Ausströmen einer inneren, starken, ihrem Ursprunge nach aber kunstfremden Bewegung, sondern sie ist die erste und souveraine Macht geworden, die aus den Jnhalten der Wirklichkeit, das391 Jch mit all seinen Ursprünglichkeiten eingeschlossen, sich gleichsam erst ihr Gefolge bestimmt. Da handelt es sich nun freilich nicht mehr um Erlösung von der Noth des Daseins, wenigstens nicht in dem Sinne, wie eine Kunst, die sich den unmittelbaren Gefühlserregungen zärtlicher anschmiegt, es vermag. Diese hier würde den Anspruch, die subjektiven Leiden und Unzulänglichkeiten des Lebens zu versöhnen, so zurückweisen wie ein edler Wein den Anspruch, den Durst zu löschen. Weil sie nicht aus den Leidenschaften geboren ist, wie die Kunst Michelangelos und Beethovens, wirkt sie auch auf sie nicht so vertiefend und dadurch erlösend zurück; sondern wie Giorgione und Bach steht sie von vorn herein im Hellen; und ihr Befreitsein und Befreien vom Dunkel ist nicht ein Aufstreben aus den heißen Tiefen erlösungbedürftiger Leidenschaft, sondern ein Jenseits ihrer.

Damit ist freilich kein Prinzip in die Lyrik eingeführt, das vorher unerhört gewesen wäre, sondern nur das von je her in ihr wirksame Kunstmoment dem Naturmoment gegenüber zu unbedingterer Reinheit und Herrschaft geführt; womit jener kritische Punkt so vieler Entwickelungen erreicht ist, dem man nicht ansehen kann, sondern der erst durch seine Progenitur zu erweisen hat, ob er nur der Abschluß einer alten Reihe oder der Beginn einer neuen ist. Auch ist weder < die > Produktion Stefan Georges von Nachklängen jener subjektivistisch gefühlsmäßigen Dichtweise frei, noch ist überhaupt meine Deutung des Lebensprinzips der Lyrik Georges durch das Anführen von Einzelheiten zu belegen, so wenig wie der innerste Rhythmus eines Menschen, die Jdee, zu deren Verwirklichung er allein bestimmt ist, von irgend einem einzelnen Thun vollständig umschrieben wird. Die Kraft vielmehr, die das Ganze trägt, kann auch nur aus dem Ganzen unzweideutig hervorleuchten.

II.

Was bisher über die Dichtung Stefan Georges ausgemacht wurde und ihre subjektive Seite, die psychischen Energien ihrer Produktion und ihres Genossenwerdens, betraf, läßt sich aus ihrer Beschaffenheit auch in objektiver Wendung ablesen. Der Naturalismus hatte sich auf der pantheistischen Empfindung aufgebaut, daß der Sinn und die Bedeutsamkeit der Welt jedem beliebigen Ausschnitt ihrer gleichmäßig innewohne; das bloße Herausheben eines solchen, indem man ihn in die äußerlichen Grenzen einer Kunstform versetzte und gegen sein Vorher, Nachher und Daneben isolirte, schien so der Forderung der Dinge an das Kunstwerk, ihrem Werth und Geist die Zunge zu lösen, schon zu entsprechen. Nicht daß die Kunst ein Bild des Lebens sei, sondern ein Bild des Lebens, war dem Naturalismus ihre Seele. Wenn nun der Lyrik Georges selbst das Gefühlsleben und seine zartesten und intimsten Jnhalte in unmittelbarem Ausdruck noch nicht die Kunst ausmachen, sondern392 erst ihren zu höherer Form zu gestaltenden Rohstoff, so ist damit der Gipfel des Anti-Naturalismus erreicht. Das Jnteresse wendet sich von dem Jnhalt, den das Gedicht mittheilt, vollkommen ab und ausschließlich seiner künstlerischen Durchbildung zu. Daß der Eigenwerth des Stofflichen so herabgedrückt wird, ist ersichtlich die Ergänzung oder der objektive Ausdruck für jene ästhetische Gleichgiltigkeit gegen das unmittelbare Gefühl: denn der Jnhalt ist es, der der Wirklichkeit und dem Kunstwerk gemeinsam ist, den beide, nur auf verschiedenen Stufen, wiederholen und der im Kunstwerk eben die selbe Gefühlskategorie anregt, zu der er, als Wirklichkeit geformt, spricht. Wo das primäre Gefühl also seine führende Bedeutung in der Kunst verliert, wird entsprechend die Materie des Kunstwerkes nicht mehr unmittelbar als Element seiner Wirkung zugelassen werden. Jch gestehe: mir ist erst durch die Kunst Stefan Georges klar geworden, wie viele Gedichte der Literatur es gar nicht nöthig hätten, gerade Gedichte zu sein, sondern ihren Reiz von ihrem Jnhalt entlehnen, der auch in anderer als gereimter oder rhythmischer Form mit ungefähr gleichem Erfolge erzählt werden könnte. Damit soll der allgemeine Werth solcher Gedichte nicht herabgesetzt werden; vielmehr wird stets der Reiz davon bestehen und legitim sein, daß ein an sich mittheilenswerther Gedanke oder Vorgang sich in dem anmuthigen Gewand des Verses darbiete, wie wir ja auch eine Botschaft lieber durch einen schönen und liebenswürdigen Boten als durch einen von strenger und trockener Sachlichkeit überbracht haben wollen. Aber mit dem Kunstwerk als solchem hat die inhaltliche Bedeutsamkeit seiner Materie nichts zu thun, so wenig wie deren Unerfreulichkeit oder Anstößigkeit seine Würdigung als Kunstleistung beeinflussen dürfen. Bei den Gedichten Georges hat man den Eindruck, daß ihr Jnhalt durchaus in keiner anderen Form als in der poetischen gesagt werden kann; es wirkt also in ihnen kein der Kunstform gegenüber selbständiger Reiz ihres Stoffes mit. Selbst Gedichte wie die folgenden, die nicht einmal reine Stimmungsbilder sind, sondern immerhin doch noch irgend ein Geschehen zum Jnhalt haben, lassen dieses Geschehen doch so sehr von der Form seines Kunstwerdens durchwachsen, daß es ohne diese bedeutungslos ist wie die Scherben einer Vase:Jch trat vor Dich mit einem Segensspruche Am Abend, wo für Dich die Kerzen brannten, Und reichte Dir auf einem sammtnen Tuche Die höchste meiner Gaben: den Demanten. Du aber weißt nichts von dem Opferbrauche, Von blanken Leuchtern mit erhobnen Aermen, Von Schalen, die mit wolkenreinem Rauche Der strengen Tempel Finsterniß erwärmen,Von Engeln, die sich in den Nischen sammeln Und sich bespiegeln am kristallnen Lüster,393 Von glühender und banger Bitte Stammeln, Von halben Seufzern, hingehaucht im Düster,Und nichts von Wünschen, die auf untern Sprossen Des festlichen Altars vernehmlich wimmern Du faßtest fragend, kalt und unentschlossen Den Edelstein aus Gluthen, Thränen, Schimmern. [George, Stefan: Das Jahr der Seele. Berlin, 1897, S. [8].]

Und:Jahrestag.O Schwester, nimm den Krug aus grauem Thon, Begleite mich! Denn Du vergaßest nicht, Was wir in frommer Wiederholung pflegten. Heut sind es sieben Sommer, daß wirs hörten, Als wir am Brunnen schöpfend uns besprachen: Uns starb am selben Tag der Bräutigam. Wir wollen an der Quelle, wo zwei Pappeln Mit einer Fichte[in]2 den Wiesen stehn, Jm Krug aus grauem Thone Wasser holen. [George, Stefan: Die Bücher der Hirten - und Preisgedichte · der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten / [Zeichnung von Jan Toorop]. In: Ders. : Gesamt-Ausgabe der Werke, Bd. 3. Berlin, 1930, S. [11].]

Jn allen Künsten bedeutet die Befreiung von dem Beisatz stofflicher Reize eine Verfeinerung und Reinheit der ästhetischen Durchbildung. Der schlimmste Fall des Gegentheiles ist es, wenn Historienbilder und historische Dramen ihre Bedeutsamkeit und ihr Jnteresse ausschließlich den Gefühls - und Gedankenmassen verdanken, die etwa durch die Vorstellung Alexanders oder Konradins oder Luthers assoziativ erregt werden. Nicht anders steht es mit dem Genrebild, das durch die Darstellung eines an sich amusanten Vorganges seinen Erfolg gewinnt. Wenn der Jnhalt eines Kunstwerkes auch in anderer als künstlerischer Form gegeben werden kann und auch in dieser als Reiz wirkt, so beweist Das, daß der Genuß des Kunstwerkes kein blos äthestischer, daß sein Sieg mit Hilfstruppen von fremder Herkunft erkämpft ist. Die Forderung, daß der Reiz, den die Materie des Kunstwerkes jenseits seiner Kunstform besitzt, von ihm ausgeschlossen werde, ist dennoch nicht so einfach begründbar. Denn zunächst: so sicher kein Kunstwerk von diesem stofflichen Reiz allein leben kann, so unbedenklich scheint es, ihn seinen rein ästhetischen Qualitäten noch sozusagen als opus superrogativum hinzuzufügen. Jn der That zeigen schönste Gedichte Goethes einen Gehalt an Gedanken, die auch in anderer als der poetischen Form von der größten und reizvollsten Bedeutsamkeit wären, so daß die Gesammtwirkung des Gedichtes, unbeschadet seiner künstlerischen Vollendung, sich doch aus dieser und der selbständigen Bedeutung seines Stoffes zusammensetzt. Wenn man nun den Gedichten Georges gegenüber empfindet, daß ihr Jnhalt durchaus nicht in irgend einer anderen als der poetischen Gestalt einen Reiz, ja nur Bestandfähigkeit bewahren könne und das Gedankliche in ihnen mit dem rein Artistischen steht und fällt, so scheint Das ihre Bedeutsamkeit doch mehr herab - als heraufzusetzen.

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Allein es handelt sich hier nicht um ein allgemeines Werthurtheil über diese Lyrik, sondern um die Herausstellung der künstlerischen Tendenz, als deren entschiedenste und charakteristischste Darstellung sie merkwürdig ist. Gewiß: da die ästhetischen Werthe nicht die einzigen des Lebens überhaupt sind, sondern daneben noch intellektuelle, ethische, sinnliche, religiöse und viele andere bestehen, so wird ein Produkt, das an vielen von ihnen Theil hat, einen besonders hohen Gesammtwerth darstellen können. Allein jenseits davon liegt doch der besondere Reiz der Gebilde, die eine der Jdeen aus unserem Werthsystem in reiner Abgelöstheit verkörpern. Und Dies eben erscheint mir als das Eigenartige und Bedeutsame an Stefan George: daß gerade Das, was am Gedicht reines poetisches Kunstwerk ist, mehr als irgendsonst das Ganze ausmacht, unter reinlicher Ausscheidung aller Nebeneffekte, die seinem Jnhalt aus dessen sonstigen Beziehungen und Bedeutungen quellen könnten. Mit der größten Entschiedenheit tritt hier hervor: nicht irgend ein Jnhalt soll in poetischer Form vorgetragen werden, sondern ein poetisches Kunstwerk soll geschaffen werden, für das der Jnhalt keine andere Bedeutung hat als der Marmor für die Statue. Gewiß ist auch das vergeistigtste Kunstwerk nicht gegen sein Material gleichgiltig; was man in Marmor sagen kann, kann man nicht eben so gut in Bronze oder Fayence ausdrücken; es ist ein zum Glück überwundener ideologischer Jrrthum, zu wähnen, Werth und Wesen des Kunstwerkes lägen in seiner Jdee und verhielten sich ganz gleichgiltig dagegen, in welchem Material diese Jdee verwirklicht würde. Allein Das bedeutet eben jene vollkommene Einheit von Form und Materie, die keinem von beiden anders als in der Richtung auf das andere hin zu wirken gestattet. Gewiß, wenn der Jnhalt so restlos in seiner Kunstform aufgehen soll, daß von ihm kein Reiz, der jenseits dieser läge, auf das Ganze ausstrahle, so darf er der Form gegenüber nichts Aeußerliches sein, sondern beide müssen in und aus liebevoller Einheit erwachsen. Aus dieser Einheit Alles zu verbannen, was, obgleich an sich vielleicht wirksam und bedeutsam, doch nicht ihr, Das heißt dem Kunstwerk als solchem, dient, erscheint mir als das ästhetische Grundmotiv dieser Lyrik. Und nicht nur der zusammenhängende Gang der Gedanken wird so ausschließend zum Träger des Kunstzweckes, sondern bis in die Worte hinein erstreckt sich dessen Alleinherrschaft. George besitzt die merkwürdige Fähigkeit, aus den vielfachen Bedeutungen eines Wortes keine einzige psychologisch anklingen zu lassen außer der, die gerade dieser einen Stimmung, diesem einen Bilde dient: aus dem Vielsinn der Worte borgt er keinen einzigen Reiz in das Kunstwerk hinein, der nicht allein aus dem Ganzen des Kunstwerkes herauskäme. Aus den einzelnen Worten sind durch Zusammenhang und Klang alle assoziativen Mitschwebungen ausgeschieden, die ihnen einen dem Kunstzweck des Gedichtes fremden Werth zufügen könnten. Auf395 diesen ist Alles so konzentrirt, daß alle nach anderen Richtungen hingehenden Bedeutungstrahlen verloschen sind. Nur die dem Centrum des Gedichtes zugewandte Seite ist durch das Bewußtsein beleuchtet, alles Andere ist dunkel, wie der Theil des Mondes, der der Sonne abgewandt ist. Dadurch erhalten diese Gedichte eine absolute Einheit des Gefühlstones, eine unvergleichliche Geschlossenheit der Stimmung. Man lese etwa das folgende Gedicht:Jch weiß, Du trittst zu mir ins Haus Wie Jemand, der, an Leid gewöhnt, Nicht froh ist, wo zu Spiel und Schmaus Die Saite zwischen Säulen dröhnt. Hier schreitet man nicht laut, nicht oft, Durchs Fenster dringt der Herbstgeruch. Hier wird ein Trost Dem, der nicht hofft, Und bangem Frager milder Spruch. Beim Eintritt leis ein Händedruck, Beim Weiterzug vom stillen Heim Ein Kuß und ein bescheidner Schmuck, Als Gastgeschenk: ein zarter Reim. [George, Stefan: Das Jahr der Seele. Berlin, 1897, S. [37].]

Man bemerke nur, wie das Wort Kuß hier wirkt, das sonst so vielerlei, ganz außerhalb des Kunstzweckes liegende Assoziationen zu wecken pflegt, die, so unbewußt sie seien, mit diesem in unlauteren Wettbewerb treten und ihm einen illegitimen Reiz hinzufügen. Es ist, als wenn der äußere Wohlklang seiner Verse nichts Anderes wäre als die Erscheinung oder die Folge dieser inneren Harmonisirung, die in dem Hörer keinen anderen seelischen Ton anklingen läßt als den, der zu dem Grundton des Ganzen harmonisch ist, und ihm jede Brücke verweigert, aus der Einheit des Kunstwerkes zu abseits liegenden Attraktionen seines Stoffes auszuschweifen. Oder auch umgekehrt mag es sich in Wirklichkeit verhalten: die unbeschreibliche Musik dieser Verse, ihr Fließen und Gleiten, das das Ohr niemals durch eine Rauheit, Stockung, Entgleisen aus der Tonart aufschreckt, die Verknüpftheit der Laute, deren jeder mit seinem Vorher und Nachher eine sinnlich nothwendige Klangeinheit bildet: Das ist wahrscheinlich das technische Mittel, das es George ermöglicht, alle Bedeutungen der Worte wie des Stoffes, die nicht genau dem Stimmungbild und dem einheitlichen Kunstzweck zugehören, von der psychologischen Mitwirkung auszuschließen.

Wenn nun mit Alledem gleichsam die Form dieser Lyrik beschrieben ist, so scheint ihre Bedeutung erst durch die des Kunstinhaltes nachzuweisen, der, nach Verbannung aller anderen Elemente, ihr Ein und Alles bildet. Allein diese Frage, die mit der nach der Schönheit und Größe des eigentlich dichterischen Talentes Stefan Georges zusammenfällt, geht nun vielmehr die396 Literaturgeschichte an, während es der Kunstphilosophie auf die eigenthümliche Bedeutsamkeit des ästhetischen Prinzips ankommt, weniger aber darauf, ob es sich mit einem an sich größeren oder geringeren Talent verwirklicht. Für so groß ich auch das rein poetische Genie Stefan Georges halte, so könnte man trotzdem einräumen, daß seine Bedeutung als Künstler über seiner spezifischen Bedeutung als Dichter steht. Wie bei manchen Personen die allgemein menschlichen Eigenschaften die Begabung und Kraft zur einzelnen Leistung überragen und auch an ihr das eigentlich Werthvolle ausmachen, so übertrifft bei ihm vielleicht Ausbildung und Vertiefung des allgemeinen Elementes Kunst die differentia specifica, die aus dem Künstler überhaupt den Dichter macht. Das Kunstwerk trägt von seinem Ursprung aus Jnteressen der Sinnlichkeit, der Religion, der Nachahmungfreude, des Jntellektes u.s.w. einen ganzen Komplex von Jnhalten und Wirkungen zu Lehen, die vielleicht in der Lyrik, wegen der Weitverzweigtheit ihrer Wurzeln, länger als in irgend einer anderen Kunst ungeschieden neben einander leben. Stefan George hat in der Gegenwart die prinzipielle Sonderung eingeleitet, die auch in dieser Kunst die Kunst zum Universalerben jenes Komplexes werden läßt.

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About this transcription

TextStefan George
Author Georg Simmel
Extent12 images; 4275 tokens; 1650 types; 29640 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Rudolf BrandmeyerNote: Herausgeber Universität Duisburg-Essen, Projekt Lyriktheorie (Dr. Rudolf Brandmeyer)Note: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2017-12-08T11:03:09Z Christian ThomasNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2017-12-08T11:03:09Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic information Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung. Georg Simmel. 1. I+11 Verlag der ZukunftBerlin1898. Die Zukunft (22) pp. S. 386–396.

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Universität Duisburg-Essen, Projekt Lyriktheorie (Dr. Rudolf Brandmeyer)

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LanguageGerman
ClassificationFachtext; Philosophie; Wissenschaft; Philosophie; ready; dtae

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Editorial principles

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;

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