PRIMS Full-text transcription (HTML)
10Frauenwahlrecht
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Warum fordern wir volles Bürgerrecht?

Wir fordern volles Bürgerrecht in Reich, Bundesstaat und Gemeinde, weil wir Frauen und Töchter des arbeitenden Volkes sind. Kein Gott und kein Geldsack hilft uns des Lebens Nöte bestehen. Wir selbst müssen sie mit unserer Arbeit zu über - winden trachten. Unsere Arbeit ist die Grundlage unseres Lebens. Wir müssen mit den Unserigen entbehren, müssen darben, wenn unsere Hände im Schoße ruhen. Wir stehen arbeitend, schaffend an der Spinnmaschine und am Webstuhl. Wir sitzen in den Schuhfabriken und Konfektionswerkstätten, in den Höhlen der Heimarbeit und in den Gifthütten der chemischen Jndustrie. Wir helfen aus Lumpen Papier bereiten, und sind dabei, wenn es gefärbt, kunstreich verarbeitet, be - druckt, zu Büchern gebunden wird. Wir handhaben den Löt - kolben und dutzenderelei Werkzeug in den Betrieben der Metall - und Elektrizitätsindustrie. Wir schwitzen vor den gluthauchenden Öfen der Ziegeleien, der Porzellan - und Zuckerfabriken. Wir laufen bedienend ruhelos in Läden hin und her und hocken hinter Schreibmaschinen, am Telephon, am Post - und Eisen - bahnschalter. Wir bestellen Äcker und Gärten, bringen ihre Früchte ein und verarbeiten sie zu Nahrungs - und Genuß - mitteln. Wir sorgen uns am häuslichen Herd und erbauen um ihn ein Eckchen der Ruhe und Behaglichkeit für die Kinder und den Mann. Wir bewachen die Kleinen in ihren Träumen und lenken ihre unsicheren Schritte, wir erziehen sie. Wir sind das Volk der Arbeit.

Von unserer Arbeit und der Arbeit der Unserigen leben nicht nur wir allein und leben kärglich. Sie nährt reichlich die Herren, in deren Fron wir die fleißigen Finger rühren, von deren Fron unsere Gatten und Söhne schmalen Lohn, müde Glieder und gemarterte Seelen heimbringen wie wir selbst. Sie speist, leidet, schmückt und unterhält auch die Frauen dieser Herren, wie den Groß aller Leute, die ihrer Macht und ihrer Lust dienen. Weil unsere Arbeit den Untätigen so viel geben muß, ist sie so schwer. Sie nimmt uns allen mehr, als uns für unser Leben gegeben wird. Sie drückt uns zu Boden. während wir so gern das Haupt zur Sonne heben möchten. Wir wollen nicht länger leben, um für fremden Müßiggang zu arbeiten. Wir wollen arbeiten, um zu leben und als Menschen zu leben.

Wir wollen die öffentlichen Gewalten zwingen, die Gier unserer Herren nach dem Reichtum zu zügeln, den unser Denken und Mühen ihnen häuft. Wir wollen, daß die Stunden ver - kürzt werden, in denen wir täglich Arbeitstier, lebendige Profit - maschinen unserer Herren sein müssen. Wir wollen gesunde Fabriken und Werkstätten, Schutz vor den spitzen Zähnen der Räder und vor den zermalmenden Armen des Triebwerks. Achtung wollen wir, die unserem Menschentum und unserer Arbeit gebührt. Wir wollen die öffentlichen Gewalten zwingen, den Räubern unseres Reichtums soviel abzujagen, daß unseren Kranken, Schwachen und Alten das Grauen vor dem Hunger oder der Giftodem der Fabrik schafft, sich nicht darbend quälen müssen; daß die Witwen und Waisen unter uns genug Brot und warme Kleidung haben; daß unsere Schwangeren und Wöchnerinnen ohne Schaden ihre schwere Zeit überstehen und die Frucht ihres Leibes geborgen und beschirmt wissen. Wir wollen die öffentlichen Gewalten zwingen, unser Recht anzuerkennen und zu achten, uns mit denen zusammen zu tun, die bei ihrer Arbeit eines Leids mit uns sind und eines Willens, es zu enden. Wir wollen sie zwingen, uns und die Unserigen11nicht mehr durch vergilbte Gesetzestexte und tüftelnde Richter, durch schnauzende Schutzleute und knuffende Gendarmen, durch drohende Kleinkalibrige und Maschinengewehre zu hemmen, wenn wir mit starker Faust auf die krummen Finger schlagen, die die Frucht unserer Arbeit an sich reißen.

Wir fordern volles Bürgerrecht, weil wir Hausfrauen und Staatsbürgerinnen sind. Knapp ist der Lohn, mit dem der Brotherr die Arbeiterin und Angestellte abspeist. Niedrig ist der Verdienst, den der Ausbeuter den Mann heimtragen läßt, und von dem die ganze Familie leben soll. Kein Fürst, kein Minister und kein Gemeinderat fragt danach, wie die Arbeiterin in ihrem Dachstübchen satt wird; wie die Arbeiterfrau es an - fängt, den Jhrigen den Tisch zu decken. Aber der Staat und die Gemeinde der Reichen finden das Hungereinkommen, um davon durch die Steuern abzuzwacken. Das Reich erhebt von ihm kein Teil, indem es durch seine Steuern und Zölle auf den Lebensbedarf die Kosten der Haushaltung verteuert. Reich, Staat und Gemeinde sind Diener der Herren im Lande. Sie sollten nicht nach den Millionenvermögen und den Riesenein - kommen fassen, um die Kassen zu füllen. Umgekehrt, sie sollen die Reichen noch reicher machen. Was sie den Habenichtsen an Einkommenssteuern nehmen, das brauchen die Besitzenden nicht zu zahlen. Was die Darbenden mehr für ihres Lebens Nahrung und Notdurft ausgeben müssen, das steigert die Ein - nahmen der Übersatten.

Wir wollen die öffentlichen Gewalten zwingen, ihre plündern - den Hände von der Lohntüte der Arbeiterin und den ärmlichen Einkommen der kleinen Leute zu lassen. Wir wollen die Nutz - nießer der Lebensmittelteuerung von der Schüssel der Arbeiterin und Arbeiterfamilie jagen. Wir wollen, daß die Arbeitenden wenigstens die paar Brocken ungeschmälert verzehren, die ihnen die Habgier der ausbeutenden Herren lassen muß. Wir wollen, daß kein Zollräuber vom Brote bricht, das die Arbeiterfrau in die Händchen ihres Kindes legt. Wir wollen, daß billiges Fleisch und genug Fleisch in die Familie des Arbeiters kommen und Zuckererbsen nicht minder .

Wir fordern volles Bürgerrecht, weil wir Mütter sind. Die Not, die unser Leben beherrscht, läßt uns für das Gedeihen und das Glück unserer Kinder zittern. Die ausgebeutete Arbeit hebt Gold zutage und stößt die Gesundheit der Männer und Frauen des Volkes in die Grube. Die proletarischen Eltern müssen dafür zinsen, daß die Kinder ihrer Herren mit hun - derterlei zarter Fürsorge umgeben sind, und können dem eigenen Fleisch und Blut nicht einmal Lebenskraft und Lebensfrische vererben. Wir Mütter dürfen das Jammern unserer Lieblinge nicht stillen, wenn der ausbeutende Mammon nach uns ruft. Der läßt die Nahrung in unseren Brüsten vertrocknen, ver - wandelt sie vielleicht auch in Gift oder zwingt uns, sie dem fremden Säugling zu verkaufen, der seiner Mutter nicht be - schwerlich fallen soll. Er gibt unsere Kinder den Zufälligkeiten des Alleinseins in traurigen Stuben preis und den Gefahren schlimmer Kameradschaft in sonnenlosen Höfen und lärm - erfüllten Straßen. Er greift frühe nach ihnen, sperrt sie in dumpfige Zimmer, jagt sie durch Straßen, immer treppauf, treppab, und bannt sie spät abends zum Aussetzen an die Kegelbahn. Die Seelen unserer Kinder müssen hungern wie ihre Leiber; zu Zehntausenden und aber Zehntausenden wer - den sie vernichtet wie sie.

Wir wollen die öffentlichen Gewalten zwingen, dem ge - wissenlosen Goldhunger unserer Herren eine Schranke zu setzen. Er darf sich nicht länger an unseren Kindern, an unserer Zu - kunft sättigen. Wir wollen, daß jene, die von uns reich ge - macht werden, in den Eltern das noch verschlossene und kei - mende Leben der Kinder schonen. Wir wollen, daß sie uns Zeit lassen, unsere Kinder zu pflegen; Heiterkeit, mit ihnen zu lachen; Ruhe und Reife, um sie zu beraten. Wir wollen, daß der ausbeutende Besitz nicht mehr das Rot von den Wangen unserer Kleinen streift und die Fröhlichkeit aus ihren Herzen reißt. Wir wollen nicht länger dulden, daß er sich die Taschen mit klingender Münze füllt, die er ihnen in den Stunden abpreßt, die dem Spiel, dem Lernen, der Ruhe ge - hören müßten.

Wir wollen die öffentlichen Gewalten zwingen, daran zu denken, daß ihre Schatzkästen leer stünden, wenn unser und der Unserigen Blagen und Entbehren nicht wäre. Wir wollen, daß sie von dem Reichtum drinnen nehmen, um hungernde Kinder zu speisen, frierende zu kleiden und verwahrlosenden eine Stätte liebevoller Pflege und verständiger Erziehung zu bereiten. Wir wollen, daß sie davon Häuser erbauen, zwischen blühenden Beeten und rauschenden Bäumen voller Vogel - gezwitscher; Häuser, in denen zu lernen und zu werden allen Kindern des Volkes eine Lust ist. Wir wollen, daß sie davon Männer und Frauen bereitstellen, die nicht im Dienste der Herr - schenden freudlose Drillmeister der Jugend sind, sondern ihre freundschaftlichen Bildner. Wir wollen, daß Wissen und Schön - heit, die ohne unser und der Unserigen Werk nicht zu erblicken vermöchten, das Hirn und das Herz unserer Kinder nähren. Wir wollen nicht Bettler säugen und Knechte und Mägde im Geiste groß ziehen. Wir wollen, daß uns ein Geschlecht nach - folgt, das schön und frei ist; schön, weil stark und frei, weil kühn.

Wir fordern volles Bürgerrecht, weil wir Kämpferinnen Für die Befreiung des Volkes der Arbeit sind. Wir sind es müde, mit den Unserigen die Tyrannei der Not und die Not der Tyrannei zu tragen. Genug der Qualen! Der faule Bauch soll nicht mehr den Segen verschlemmen, der aus unseren und der Unserigen Händen quillt. Jeder Gesunde ein Arbeitender, und kein Arbeitender ein leiblich und geistig Darbender. Die Arbeit soll nicht länger Millionen in Armut erhalten und für Wenige Schätze auftürmen.

Dem Volke der Arbeit müssen die Felder, Wiesen und Wälder, müssen die Fabriken, Bergwerke, Maschinen, Roh - stoffe und Gelder gehören, die heute nicht Mittel sind, ihre Eigentümer arbeitend zu erhalten, sondern Werkzeuge, daß diese auch nicht arbeitend fremdes Schaffen ausbeuten. Was wird aus Äckern und Gärten ohne die Arbeit, die pflügt, gräbt, sät, pflanzt und pflegt? Eine Wildnis. Was ist in den Fabriken und Zechenanlagen, in den Maschinen und Werkzeugen kristallisiert, in dem gleißenden Gold, den blin - kenden Silberstücken, den Banknoten? Unsere Arbeit und die unserer Voreltern. Was ist der sinnreichst eingerichtete Be - trieb, wenn das Volk der Arbeit die Arme kreuzt? Ein Totenhaus. Was sind die kunstvollsten Maschinen, wenn wir sie nicht bewegen und mit unserem Schweiße fruchtbar machen? Wertloses Gerümpel. Das Volk der Arbeit muß selbst Herr sein über die Mittel, die dem Leben aller dienen. Nur dann wird es sein eigener Herr sein und sich vor niemand bücken müssen des Brotes wegen.

Die heute Herren über diese Mittel sind, sind auch Herren über unser Leben. Sie wollen ihre Macht nicht fahren lassen, ohne Arbeit durch uns reich zu werden. Sie lassen durch ihre Gesetze und durch ihre Kirchen als ihr Eigentum heiligen, was ihre Vorväter den unsrigen genommen haben, was die Frucht unserer Arbeit ist. Sie schützen ihre Macht über unser Leben durch Polizisten, Staatsanwälte und Zuchthäuser. Sie lassen zu ihrer Verteidigung Kasernen erbauen und Kanonen auffahren und machen sich zu Herren über unseren Tod, wenn wir uns gegen ihre knechtende Macht auflehnen. Und doch zittern sie dabei! Müssen nicht die Werkzeuge zum Tode wie die Werkzeuge zum Leben vom Volke der Arbeit bedient werden? Unsere Herren flüstern sich erbleichend zu, daß wir trotz allem die Stärkeren sind, wenn wir wissen und wenn wir wollen. Deshalb genügt es ihnen nicht, daß uns die Armut den Weg zur Erkenntnis versperrt. Sie lassen durch ihre Profitmühlen unseren Geist abstumpfen und unseren Willen schwächen. Sie sorgen dafür, daß Schulen, Zeitungen, Bücher uns die Wahr - heit vorenthalten, daß sie uns verfälschte und vergiftete Bro - samen von Kenntnissen reichen und uns die Demut von Sklaven predigen. Sie tragen Zwietracht unter uns, um uns zu beherrschen.

Wir Frauen des Volkes wollen durch Arbeit und Kampf dies alles wenden helfen. Wir wollen lernen, wissen, handeln. Wir wollen uns sammeln, wo das Volk der Arbeit unser Volk die Schlachten der Befreiung schlägt. Wir wollen unsere Kinder dorthin führen. Wir wollen dabei die tot -12speienden Feuerschlünde so wenig fürchten wie die Skor - pionen der Not und die Keulenschläge der Verfolgungen. Wir wollen dafür sorgen, daß die gegen das Volk der Arbeit ge - richteten Mordwerkzeuge Mittel zum Tode für die Gesellschaft der Ausbeutung und Knechtung des Menschen durch den Men - schen werden. Wir wollen dazu tun, daß das Volk der Arbeit die geeinte gewaltige Macht wird, die in ihre Hand die Mittel zum Leben für alle zurücknimmt. Wir fühlen die Kräfte, die uns die Stärke dazu geben. Wir sehen die Zukunft, in der uns volles, freies Menschentum winkt. Wir fordern unser Bürgerrecht. Gebt Raum!

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About this transcription

TextWarum fordern wir volles Bürgerrecht?
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Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen Note: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2018-06-26T14:35:00Z Anna PfundtNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2018-06-26T14:35:00Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic information Warum fordern wir volles Bürgerrecht?.. DietzStuttgart1912. Frauenwahlrecht! pp. S. 10–12.

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Freie Universität Berlin 62 99 50908(7)

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationGebrauchsliteratur; Gesellschaft; ready; tdef

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Editorial principles

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;

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