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4Frauenwahlrecht
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Das Frauenwahlrecht eine geschichtlich begründete Forderung.

Großherzige Zukunftsdenker unter den Vorkämpfern des Bürgertums und geniale Frauen der verschiedenen Revo - lutionsepochen, die erfüllt waren von einem glühenden Frei - heitsdrang haben frühzeitig die Forderung der politischen Gleichberechtigung des Weibes mit großem Geschick und starker Energie vertreten. Es sei erinnert an Olympe de Gouges, die während der französischen Revolution der Er - klärung der Menschenrechte, die nur[Männerrechte] waren, kühn die Erklärung der Frauenrechte gegenüberstellte: es sei hingewiesen auf Mary Wollstonecraft, die Engländerin, die 1792 in einem Werke voll leidenschaftlichen Feuers die Rechte der Frauen forderte. Unter den frühen männlichen Vorkämpfern für Frauenrechte nennen wir den französischen Philosophen Condorcet und den Königsberger Oberbürger - meister Theodor v. Hippel.

Alle diese Verfechter sozialer Gerechtigkeit für beide Geschlechter haben ihre Forderung rein ideologisch begründet, sie reklamiert als ein Naturrecht, das mit jedem Menschen geboren werde. Heute hat die wirtschaftliche Entwicklung, haben die durch die revolutionierten Produktionsverhältnisse der ideellen Be - gründung eine wuchtige materielle beigegeben. Geben wir zu, worin diese materille Begründung besteht.

Es ist bekannt, wie die wirtschaftliche Entwicklung, die den Kapitalismus zum Siege führte, die Produktions - weise von Grund auf umwälzte, wie sie das Handwerk zer - trümmerte, desgleichen die Manufaktur und an ihre Stelle die maschinelle Großindustrie setzte. Zu gleicher Zeit mit dieser entwickelte sich der Handel und Verkehr in fabelhaften Maße und rapider Schnelligkeit. Die grundstürzende Wandlung der Produktions - und Betriebsweise bedingte eine ebenso gründliche Wandlung der Produktionsverhält - nisse, das heißt der Beziehungen der Menschen zueinander. Eine Weise dieser geänderten Produktionsverhältnisse besteht in der Wandlung der Arbeit und der Stellung der Frau. Der Kapitalismus hat nämlich nicht nur den zünftigen Handwerker niederkonturriert, sondern gleichfalls den Uni - versalhandwerker der Familie und das war früher die Frau. Sie war es im umfassendem Maße, solange die Familie, der Einzelhaushalt eine sich selbst genügende Wirtschaftseinheit war. Handwerk und Manufaktur brachen aus diesem Bau Stein um Stein, und die maschinelle Großindustrie zertrümmerte ihn ganz. Sie raubte der Frau die letzte produktive Tätig - keit in der Familie und für diese. Doch damit nicht genug! Sie brachte ihr und den Übrigen die Unsicherheit der Exi - stenz, oft die Existenzlosigkeit, und trieb sie dadurch in die Erwerbsarbeit, mitten hinein in den brausenden und fluten - den Strom des gesellschaftlichen Betriebes.

Die Möglichkeit, Frauenarbeit in der Großindustrie zu verwenden, ist durch die weitgehende Arbeitsteilung und durch die Anwendung von Werkzeug - und Kraftmaschinen ge - geben. Jhr war, für die durch die Not gepeitschte Arbeiterin, auch gleichzeitig die Notwendigkeit zur gewerblichen Berufs - arbeit beigestellt und der unersättliche Profithunger des Ka - pitals warnte die Unternehmer zur weitgehenden Verwen - dung weiblicher Fähigkeit und Kraft. Heute gibt es wohl kaum ein wichtiges Gebiet menschlicher Arbeit, das nicht zu einem Betätigungsfeld der Frau geworden wäre. 9 ½ Millionen Frauen und Mädchen, die als Erwerbstätige im Hauptberuf auf den verschiedensten Gebieten wirken, wurden 1907 in Deutschland gezählt. Und was einer beson - deren Registrierung bedarf, ist die Tatsache, daß die beruf - liche Frauenarbeit auch in der Landwirtschaft in außerordent - lich schnellem Tempo überhand nimmt. Die deutsche Land - wirtschaft wies 1895 zirka 2 ¾ Millionen Erwerberinnen auf, deren Zahl bis 1907 auf 4 ½ Millionen gestiegen ist, und das bei gleichzeitigen Rückgang der Gesamtbevölkerung auf dem Lande. Die weiblichen Arbeiter sind ein unentbehr - licher Faktor im gesellschaftlichen Produktionsprozeß geworden.

Steht diese Tatsache fest, so ist damit der Anspruch der Frau auf politische Gleichberechtigung gegeben, ihre ökono - mischen Leistungen sind die beste Begründung dafür. Sie sind es um so mehr, da die Entwicklung gleichzeitig gesell - schaftliche Verhältnisse schuf, in denen das Wahlrecht für die Frauen zu einer unentbehrlichen Waffe, zu einer sozialen Lebensnotwendigkeit wird. Gefährlich genug: infolge der Ausweitung und Komplizierung des gesellschaftlichen Lebens, der Schaffung und Vermehrung sozialer Aufgaben für den Staat und der veränderten Stellung der Frau in der Gesellschaft, wird das Jnteresse des weiblichen Geschlechts durch unendlich viele Fäden verknüpft mit der Politik, mit all ihren Maßnahmen und Einrichtungen. Einfluß zu ge - winnen auf all das politische Leben wird zur zwingenden Notwendigkeit für die Frau. Das objektive Recht der Frau auf politische Mitbestimmung ist denn auch zu einer subjektiven Forderung geworden. Wie könnte es auch anders sein! Die Wandlung in der Arbeit und der Stellung der Frau brachten naturgemäß eine Wandlung in ihren An - schauungen und in ihrem Streben. Die Welt ist ist das Haus der Frau geworden, deren Lebenskreis sich stark erweitert hat. Andere Aufgaben gilt es für die nun zu erfüllen, die5Frauenwahlrechtandersgeartete Umgebung mit ihren mannigfachen Ein - flüssen weitet ihren Gesichtskreis, hebt ihren Jntellekt. Be - freit von der starken Bindung durch das Heim, eine Bin - dung, die gegeben war, solange die Familie die wichtigsten Funktionen zur Erhaltung des Lebens ihrer Glieder selbst leistete, kommt die Frau nun erst zum Bewußtsein ihrer Kräfte und Talente, deren Entfaltung und Betätigung jetzt mehr oder minder draußen in der großen sozialen Gemein - schaft im Wettbewerb mit vielen sich vollzieht.

Zu dem Besag - ten kommt noch ein anderes. Unter den gewandelten wirtschaftlichen und gesellschaft - lichen Verhältnis - sen lernt die Frau auch ihr mütter - liches und häusli - ches Walten ganz anders bewerten als früher. Das Gebären der Kin - der und ihr Er - ziehen zu tüchti - gen, brauchbaren Menschen verkör - pert nicht etwa nur die Erfüllung einer Pflicht der Frau dem Manne gegenüber, son - dern dieses Wal - ten ist als die höchste und be - deutsamste Pflicht - leistung im Jnter - esse der Gesell - schaft zu bewer - ten. Durch sie wird die Fortpflanzung und Erhaltung der Art gesichert, und es werden gleich - zeitig der Gesell - schaft die Arbeits - kräfte gegeben, die den größten na - tionalen Reichtum bedeuten und die Vorbedingung für die Erhaltung und Fortentwicklung der Gesellschaft selbst sind. Unter großen persönli - chen Opfern und Gefahren erfüllen die Frauen diese Pflicht. Es sei nur erinnert an die beträchtliche Zahl der Frauen, die bei der Niederkunft ihr Leben einbüßen, die in den Wochen am Kind - bettfieber sterben, nicht zu vergessen das große Heer Kranker und Siecher, die infolge der Mutterschaft ihre Gesundheit verloren haben.

Und das häusliche Walten der Frau? Von seiner Art und seinem Umfang hängt in hohem Maße sowohl das körperliche Wohlbefinden als das sittliche Niveau und die geistige Weiterentwicklung der Familienmitglieder ab. Das gilt vor allem von der Arbeiterfamilie. Wie weit es bei ihrem geringen Einkommen möglich ist, ihr dennoch verhält - nismäßig gute Mahlzeiten zu sichern, die Wohnung behag -lich zu gestalten und die geistige Kultur unserer Zeit auch den Ausgebeuteten etwas zugänglich zu machen: Das ist, von außerhalb der Familie liegenden Umständen abgesehen, in erster Linie abhängig von der Tüchtigkeit der Hausfrau und von ihrer Fähigkeit, im Heime jene Atmosphäre zu er - zeugen, in der geistigen Jnteressen belebt und befruchtet werden. Freilich, ein riesengroßer Fleiß, die Anforderung und Selbstlosigkeit einer Heldin gehören dazu, damit die Frau unter dem Zwange der ungünstigen Umstände so wirken kann. Von diesem stillen Hel - dentum unserer Proletarierinnen wird allerdings draußen wenig er - zählt. Für unsere Kulturentwick - lung und nicht zu - letzt für den Be - freiungskampf der Arbeiterklasse aber ist solches Walten von höch - ster Bedeutung. Mutterschaft und Hausfrauenpflich - ten begründen un - ter den gewandel - ten Verhältnissen ebenso wie die Er - werbsarbeit den Anspruch der Frau auf das Wahlrecht. Dieser Anspruch wird um so zwin - gender, je mehr die Politik ein - greift in das Leben des Weibes und es trifft im Guten wie im Bösen, in der Eigenschaft als Mutter, als Ar - beiterin oder Staatsbürgerin. Je mehr das ge - schieht, desto leich - ter und schneller tritt die Notwen - digkeit des Besitzes politischer Rechte klar in das Be - wußtsein der Frau.

Die tägliche Er - fahrung in der Schule des Lebens hämmert ihr die Erkenntnis ein: du bedarfst des Wahlrechtes als einer notwendigen, wertvollen Waffe, um selbstständig deine Jnteressen gegen die Welt deiner bräuenden Feinde verteidigen zu können; du brauchst dieses Recht, um deine Kräfte in den Dienst der Gesellschaft stellen und einen Einfluß auf ihre Ge - staltung ausüben zu können.

Die Erkenntnis, daß die Frau die höchsten Staatsbürger - rechte beanspruchen darf, ja daß sie sie besitzen muß, löst das kraftvolle Wollen aus, für die Eroberung dieser Rechte mit leidenschaftlicher Hingabe, mit Energie und Ausdauer zu kämpfen. Damit wird die Forderung des Frauenwahlrechts in zunehmendem Maße der Ausdruck des Waffenwillens, und ihre Erfüllung rückt näher und näher.

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Aus dem Besagten ergibt sich also: Die geschichtliche Entwicklung schuf die Zustände, in denen die Forderung der politischen Gleichberechtigung des Weibes stets verankert ist. Sie rüttelt das Weib, dem Dornröschen gleich, aus poli - tischem Schlafe, weckt es zum politischen Leben und führt es zum politischen Kampfe. Jn seinem unaufhaltsamen Fort - schreiten schafft der geschichtliche Werdegang gleichzeitig die Vorbedingung für einen siegreichen Ausgang dieses Kampfes. Jn froher Siegeszuversicht klopfen deshalb die Frauen mit starken, arbeitsharten Händen an die Tore der Parlamente und begehren Einlaß. Größer und größer wird ihr Zug. Voran tragen sie das leuchtende Banner der Sozialdemo - kratie. Jhr Blick ist in die Ferne gerichtet, aus der ihnen verheißungsvoll das Land der Freiheit winkt!

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About this transcription

TextDas Frauenwahlrecht[,] eine geschichtlich begründete Forderung
Author Luise Zietz
Extent3 images; 1382 tokens; 672 types; 10450 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU GießenNote: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2018-06-26T14:45:59Z Anna PfundtNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2018-06-26T14:45:59Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic information Das Frauenwahlrecht[,] eine geschichtlich begründete Forderung. Luise Zietz. . DietzStuttgart1912. Frauenwahlrecht! pp. S. 4–6.

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Freie Universität Berlin 62 99 50908(7)

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LanguageGerman
ClassificationGebrauchsliteratur; Gesellschaft; ready; tdef

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Shelfmark62 99 50908(7)
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