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Zum Kapitel Frauen - Wahlrecht.
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Zum Kapitel Frauen - Wahlrecht.
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Heidelberg1917,Buchdruckerei von Carl Pfeffer.
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Vorwort.

Der Verfasser dieser kleinen Schrift ist ein russi - scher Staatsbürger, der zwar in Deutschland schon seit Dezennien domiziliert, aber kein Hehl daraus macht, dass er das brave, gewissenhafte und hochherzige Duldervolk, welches ihm dereinst Leben und Erziehung geschenkt hatte, mit unzerreissbaren Naturbanden liebt und an den Geschicken des teuren Heimatlandes mit allen Fibern der Seele treu und bis in den Tod ergeben hängt.

Mein Alter, der Krieg und Privatverhältnisse hindern mich, in die Heimat zurückzukehren, um dort in meiner Muttersprache das gegenwärtige Schriftchen zu Gunsten der Frau im allgemeinen und also auch zu Gunsten der mir besonders teuren russischen Frauenwelt erscheinen zu lassen.

Aber jetzt bei der Aufhebung der Zensursperre in meinem hoffentlich endgültig befreiten Vaterlande hege ich die Zuversicht, dass mein gegenwärtiges schwaches Werk - chen auch von Deutschland aus in meine geliebte Heimat den Weg finden wird und, der deutschen Sprache dieses Werkchens ungeachtet, manchen wohlwollenden Leser an - treffen kann; denn ich kenne mein menschenfreundliches Volk: es gibt bei ihm für einen Hass gegen das deutsche Nachbarvolk keinen Platz!

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Der Begriff Frauenwahlrecht bezieht sich im we - sentlichen auf das Beteiligungsrecht der weiblichen Hälfte einer Bevölkerung an der Ernennung von Mitgliedern einer Volksvertretung, die kurzweg Parlament genannt wird. Ob das Frauenwahlrecht wünschenswert ist oder nicht, hängt also vernünftigerweise hauptsächlich davon ab, ob es den wesentlichsten praktischen Zielen und Zwek - ken, welche mit dem Begriffe Parlament verbunden wer - den, entspricht; bezw. ob es zu diesen Zielen und Zwecken notwendig erscheint.

I.

Wir haben uns also vor allen Dingen über die wesent - lichsten praktischen Ziele und Zwecke der als Parlament bezeichneten Institution klare Rechenschaft abzulegen und zwar am besten ganz im allgemeinen; d. h. von der Frage, ganz abgesehen, ob im betreffenden Bevölke - rungsverbande das sogen. parlamentarischeRegime (ein dem Parlamente verantwortliches Ministerium als Inhaber der Exekutivgewalt) herrscht oder nicht. Es käme auch nicht einmal darauf an, ob das betreffende Parlament der alleinausschlaggebende Faktor in der Gesetzgebung des betreffenden Gebietes ist. Zur Beurtei - lung des Frauenwahlrechtes speziell erscheint es nämlich in keiner Weise notwendig, die zuletzt zitierten, leiden - schaftlich bestrittenen, politischen Machtfragen überhaupt ins Auge zu fassen. Denn Parlamente gibt es auch bei solchen Bevölkerungsverbänden, bei denen die Exekutiv - gewalt ausschliesslich in den Händen einer anderen Kör - perschaft oder in denjenigen einer einzigen Person liegt. In verhältnismässig nicht sehr entfernter Zeit gab es viel -4 fach auch Parlamente , die keine formal gesetzgebende Kompetenz besassen, sondern gesetzes-beratende Instanzen vorstellten. Auch diese, keineswegs demokra - tisch gedachten Fälle behalten wir im Auge, wenn wir speziell in Bezug auf das Frauenwahlrecht den Begriff Parlament , wie gesagt, ganz im allgemeinen auffassen.

Gleichviel ob das jeweilige politische Regime des be - treffenden Bevölkerungsverbandes ein demokratisches, ein patrizianisches, ein autokratisches, ein bureaukratisches oder sonst welches ist; wenn es nur ein wie immer gearte - tes Parlament in der Reihe seiner politischen Institu - tionen überhaupt zulässt, muss das letztere min - destens mit folgender Funktion bedacht sein; bezw. folgenden wesentlichen praktischen Zielen und Zwecken dienen, wenn nur irgendwelche staatserhaltende Logik obwaltet, d. h. wenn das jeweilig bestehende poli - tische Regime wie immer gearteter Natur nicht, durch Blindheit geschlagen, auf seinen eigenen Sturz hinaus - arbeitet.

Für diesen Fall eines Mindestmasses an staatserhal - tender Logik muss nämlich das Parlament vor allen Din - gen wenigstens die in der Bevölkerung jeweilig und tat - sächlich vorhandenen, auf die Allgemeinheit Bezug neh - menden, geistigen Strömungen, Wünsche, Ideale, Beklem - mungen, Befürchtungen, Sympathien, Antipathien, Welt - anschauungen, ja selbst Utopien und Kindereien, kurz und gut politische Geistesverfassungen und Psychologien jeglicher Art, insofern sie nennenswerte Teile der Volksseele innerlich oder äusserlich bewegen, in zentralisiert kondensierter Ausdrucksweise mindestens zur einfachen Kenntnis der jeweiligen Machthaber und ihrer Regie - rungen bringen. Denn selbst behufs Bekämpfung oder gar behufs gewaltsamer Unterdrückung gewisser oben5 aufgezählter politischer Richtungen muss man mindestens von deren Existenz etwas wissen; bezw. über deren quantitative Ausdehnung und deren qualitativen In - halt genügend authentisch unterrichtet sein. Diese we - sentlichste Funktion des Parlaments, im Registrie - ren der sogen. öffentlichen Meinung bestehend, kann selbst in demokratisch regierten Ländern und selbst zu normalen Friedenszeiten nicht durch die parteipolitisch getrennte Presse vollauf ersetzt werden. Denn aus der letzteren kann nur der qualitative Inhalt der diversen Strömungen im politischen Denken und Fühlen der Bevöl - kerung ermittelt werden; nicht aber die genauere Messung des quantitativenVerhältnisses jener Strömungen unter - einander; indem jede Partei, teilweise aus Verblendung und teilweise zu absichtlichen Propaganda - bezw. Re - klame-Zwecken, gewöhnlich im Namen des ganzen Volkes spricht, welches, als angeblich nur hinter dieser Partei ste - hend, absichtlich dargestellt wird. Ohne ein frei ge - wähltes und mit wirklich immuner Redefrei - heit ausgerüstetes Parlament, das ein mechanisches Ab - zählen der Stimmen ermöglicht, würde die quantitative Abschätzung der relativen Stärke der diversen Parteiströ - mungen nur dem subjektiven Augenmasse der jeweiligen Machthaber überlassen sein, wobei die fast unvermeidliche Gefahr des Wunsches als Ahnen des Gedankens leicht mitspielen könnte.

Noch viel wichtiger und unerlässlicher für jeweilige Machthaber beim objektiven Herausfühlen des politischen Pulsschlages der Volksseele, bezw. dessen Wandlungen, ist die oben geschilderte Registrierungsrolle des Parlamentes bei Regierungsformen mit gewissem auto - kratischen oder bureaukratischen Anhauche und zwar ganz besonders zu Zeitabschnitten, in welchen gewisse Nöte zum Gebrauch von Hypnose, Einschüchterung und Zensur6 zwingen. Da kann auf die so künstlich zugerichtete Presse als auf eine angeblich wahrheitsgetreue Abspiegelung der Wandlungen der wirklichen öffentlichen Meinung natür - lich schon gar kein Verlass mehr sein. Denn in solchen Fällen hören die jeweiligen Machthaber in den Pressestim - men im wesentlichen eigentlich nur das Echo der von ihnen selbst ausgegebenen Direktiven. Wie täuschend dieses Echo sein kann, hat man ganz unlängst bei den Machthabern des früheren Regimes in Russland gesehen, wo man auf Grund des geschilderten selbsttäuschenden Echos von der unbedingten Treue der Beamten, der Gene - räle, der Offiziere, der Armee, der Geistlichkeit, der Leh - rer, Professoren, Journalisten etc. überzeugt war, und wo, als es zum Klappen kam, ein ganz anderes Bild der wirk - lichen öffentlichen Meinung sich plötzlich heraussstellte, so dass die Zauberwandlung der politischen Dekorationen sich sogar fast unblutig vollzog und das alte Regime so gut wie widerstandslos in die Versenkung der politischen Bühne verschwand. Nie könnte es so weit und so uner - wartet überraschend für die russischen Machthaber kom - men, wenn das russische Parlament, so wenig Machtbefug - nisse es auch hatte, wenigstens ohne Druck und Fälschung der Wahlen auf Grund eines Wahlrechtes zusammenge - stellt sein würde, welches die tatsächlich vorhanden gewe - senen politischen Strömungen der russischen Volksseele in wahrheitsgetreuen und zur zahlenmässigen Messung ge - eigneten Proportionen zum offenen Ausdruck brin - gen könnte. Denn dann hätten ja die Goremykins, Goiit - zyns, Protopopows et tutti quanti doch gewusst, dass alle ihre Rechnungen auf die angebliche Treue der Bajo - nette längst hinfällig geworden waren. Sie hätten also we - nigstens Gelegenheit gehabt, die üblichen siebenmeter - hohen Schlagworte der Vorschriftenmoral, deren Nimbus in der Volksseele verschwunden war, durch rechtzei -7 tige Konzessionen oder auch durch entgegengesetzte Massnahmen zu ersetzen, die ihnen geeignet erscheinen könnten, mindestens bis auf weiteres die Situation für den Moment zu retten. Jedenfalls hätten sie keine so leichte Möglichkeit gehabt, den, durch eine Wand sich vorbeu - gender und schmeichelnder Diener von der Volksseele iso - lierten, Zaren durch unzuverlässige Beteuerungen über die angeblich zuverlässige Stimmung der Volksseele hinweg - zutäuschen.

Es erhellt aus Obigem, dass jede wie immer gear - tete politische Partei, wenn sie nur staatserhaltender Na - tur ist, sowohl als jede wie immer geartete Regierung, wenn sie nur den wirklichen Wunsch hat, in objek - tiver Höhe über den Leidenschaften der Parteien zu stehen, den Frevel der Selbsttäuschung an sich selbst be - geht, falls sie beim Wahlrechte ins Parlament nicht darauf achtet, dass die diversen, in der Volksseele tat - sächlich vorhandenen, nennenswerten politischen Stimmungen in möglichst wahrheitsgetreuen Proportionen im Parlamente tatsächlich erscheinen, dort das wirklich immune Wort führen und ge - legentlich der Abstimmungen zahlenmässig gemessen wer - den könnten. Jede andere, auf parteipolitischen Tenden - zen oder Sonderinteressen beruhende Wahlrechtspolitik ist, gleichviel bei welcher Regierungsform oder Staats - verfassung es auch sei, eine eo ipso mit Verderben schwangere Vogelstrausspolitik der unverantwortlichen Selbsttäuschung. Der spezielle Gesichtswinkel, unter wel - chem wir oben die ganze Angelegenheit betrachten, und welcher die innere Frage der Verteilung der Macht eigentlich ganz ignoriert, lässt nämlich das Wahlrecht ins Parlament nicht ganz als ein Recht des Wählers, die ihm gebührende Portion des politischen Ein - flusses durchzusetzen, erscheinen. Unser Gesichtswinkel8 fasst vielmehr die andere Fassade der Angelegenheit ins Auge und sieht im Wahlrechte fürs Parlament zunächst nur das Recht (bezw. die auf Selbsterhaltung basierende Pflicht) der jeweiligen Machthaber (wer es auch sein mag) über die tatsächlichen Stimmungen, bezw. Wandlungen der politischen Volksseele sich rechtzeitig und genau zu orientieren!

Die demokratische Formel des Wahlrechts ist be - kanntlich viergliedrig und lautet: allgemein, gleich, direkt und geheim . Unter dem von uns ins Auge gefassten Gesichtswinkel sind die zwei zuletzt genannten Glieder der demokratischen Wahlrechts-Formel im Vergleich mit den beiden ersten insofern untergeordneter Natur, als sie lediglich nur aus den bestehenden Wahlerfahrungen abge - leitete praktische Garantien dafür vorstellen, dass der freie Wille des einzelnen Wählers durch eventuelle Einschüchterungen nicht beeinträchtigt werde. So hoch diese Garantien für die Freiheit der Wahlen, bezw. für die Vermeidung von Wahlfälschungen, auch geschätzt sein mögen, sind sie, vom eben geschilderten Gesichtswin - kel aus gesehen, mit der Allgemeinheit und Gleichheit des Wahlrechts im Werte nicht vergleichbar. Denn was nutzt es zur zahlenmässigen Kennt - nis der Stimmung der Volksmassen, dass die tatsäch - lichen Wähler frei abstimmen, wenn dafür andere zahl - reiche Kreise dieser Volksmassen entweder gar kein Wahlrecht besitzen oder nur ein so beschränktes, dass hierbei die quantitative Ausdehnung dieser Kreise nicht zur evidenzmässigen Kenntnisder leitenden Macht - haber gelangen kann? Weit wichtiger für diesen letzte - ren Zweck ist also die Allgemeinheit und Gleich - heit der Wahlen. Unter gleichem Wahlrecht versteht man die Bestimmung, dass kein Wähler mehr Stim - men besitze als jeder andere Wähler desselben Bevölke -9 rungsverbandes. Ohne die Streitfragen zu berühren, welche über diese eventuelle Bestimmung bekanntlich herr - schen, ist indessen augenscheinlich, dass auch die Gleich - heit der Wählerstimmen untereinander für den von uns ins Auge gefassten Zweck (der im Parlamente zah - lenmässig messbaren Volksstimmungen) immerhin nur unter der wesentlichsten Vorbedingung dienlich sein kann, wenn es kein tatsächliches Mitglied des betreffenden Be - völkerungsverbandes gibt, das nicht gleichzeitig Wähler wäre. Denn was nutzt es zur richtigen Erkenntnis der Volksstimmung, dass alle Wähler untereinan - der gleich sind, wenn es gleichzeitig zahlreiche Teile der Bevölkerung gäbe, die überhaupt nicht Wähler wären? Der langen Rede kurzer Sinn ist der, dass, sofern ein wie immer geartetes Parlament in Betracht kommt, für unse - ren speziellen Gesichtspunkt der Messbarkeit der Volks - stimmung (der aber für jede parteipolitische Richtung staatserhaltender Natur, für jede Regierung wie immer gearteter Tendenzen und für jedes politische Macht - regime logisch anwendbar und sogar notwendig ist) als allerwichtigste Qualität des Wahlrechts dessen Allge - meinheit erscheint. Die anderen drei Glieder der zitier - ten Formel, in gleich, direkt und geheim bestehend, sind, so hoch man sie auch schätzen möge, im Vergleich mit dem ersten Gliede allgemein immerhin nur minderwertiger Natur und sollten eigentlich nur in dem Masse verwirklicht werden, in welchem sie die Allge - meinheit des Wahlrechts ergänzen, mit derselben vereinbar erscheinen oder ihr mindestens keinen Abbruch tun. Selbstverständlich ist diese Allgemeinheit des Wahlrechts nur massvoll und ohne doktrinäre Ueber - treibungen in dem praktischen Sinne zu verstehen, dass nur nennenswert einflussfähige Kreise der Bevölke - rung aus dem Wahlrechte nicht ausgeschlossen werden10 dürfen. Dies ist übrigens auch die einzige Einschrän - kung, welche im Sinne unseres mehrfach oben erwähnten Gesichtswinkels das Prinzip der Allgemeinheit des Wahlrechts überhaupt logisch noch irgendwie zulässt.

II.

Nachdem wir nunmehr über die wesentlichsten Er - fordernisse eines gesunden, logisch gedachten und staats - erhaltenden Wahlrechts uns klare und handgreiflich nüch - terne Rechenschaft oben abgelegt haben, wird die Beurtei - lung speziell des Frauenwahlrechts verhältnis - mässig einfacher sein; weil nämlich die Frauenwelt, die nach dem Kriege sicherlich mehrals die Hälfte der euro - päischen Menschheit ausmacht, unzweifelhaft als quantita - tiv nennenswert zu betrachten ist. Es bliebe also nur noch die qualitative Einflussfähigkeit der Frau im Bau der Volksstimmungen zu untersuchen, um zu bestimmen, ob ein Wahlrecht noch wirklich als allgemein be - zeichnet werden darf, welches die erwähnte grössere Hälfte der Menschheit grundsätzlich des Stimm - rechtes beraubt?

Einflussfähig ist man, wenn man über eine hierzu ausreichende geistige und physische Kraft verfügt, auch willens ist, den Einfluss auszuüben.

Selbst diejenigen, welche von der angeblichen oder wirklichen Minderwertigkeit des weiblichen Intellekts im Vergleich zum männlichen überzeugt sind, werden zu - geben, dass es sich hierbei höchstens nur um eine Durch - schnitts-Taxierung handelt. Es wird in der Tat wohl keinen einzigen, auch noch so eingefleischten Frauenver - ächter geben, der z. B. behaupten würde, jeder obskure Bauernknecht sei intelligenter als jede gebildete Dame?! Nachdem es sich also bei der ver - meintlichen Minderwertigkeit des weiblichen Intellekts11 höchstens nur um den theoretischen Durchschnitt handeln kann, wie kommt man dazu, das Frauenwahlrecht gar grundsätzlich (!? ) zu verneinen? Durchschnitt ist doch nur ein Begriff. (Theore - tische Abstraktion. ) ln realer, handgreiflicher Wirk - lichkeit gibt es ja, praktisch und physisch genommen, überhaupt gar keinen Durchschnitts-Menschen und zwar, weder Mann noch Weib, sondern nur Individuen ad hoc. Auf Grund einer theoretischen Durchschnitts - Taxierung über angebliche oder wirkliche Minderwertig - keit des weiblichen Intellekts kann man demnach nicht un - gestraft die gesamteFrauenwelt, darunter auch die also wissentlich intelligenten und hiernach auch wissent - lich einflussfähigen Frauen, nach einem Universalrezept, d. h. gar grundsätzlich, des Stimmrechtes berau - ben. Dies wird sich unvermeidlich mindestens dadurch rächen, dass, man im Parlamente die Stimmung beträcht - licher Kreise der Bevölkerung nicht zahlenmässig wird kennen lernen, welche für den Bau und die Wandlungen der öffentlichen Meinung, bezw. der politischen Volkspsy - chologie, tatsächlich einflussfähig sind und zwar des - halb einflussfähig , weil sie hierzu, trotz der theoretischen Durchschnittsrechnung, individuell über eine ausrei - chende geistige Kraft (Intelligenz) tatsächlich verfügen. Folgender Vergleich zur Illustration des Wertes von theore - tischen Durchschnitts-Methoden für praktische Massnahmen ad hoc sei zitiert. Es ist Tatsache, dass der weibliche Besitz an landwirtschaftlichen Betrieben im Durchschnitt ein weit geringerer ist als bei Män - nern. Wäre es vernünftig, auf Grund dieses Durch - schnittes allein bei der behördlichen Bestandsaufnahme von Lebensmitteln die weiblichen Besitztümer grundsätzlich zu ignorieren? Was übrigens den inneren Wert des Ge - redes über die angeblich angeborene (?? ) Minderwer -12 tigkeit des weiblichen Intellekts, im Grunde genommen, betrifft, sei hier nur erwähnt, dass es sich im gegebenen Falle speziell des Frauenwahlrechts nicht etwa um eine wissenschaftliche, sondern nur um die politische In - telligenz handelt. Dann aber mögen uns die Frauenver - ächter folgende geschichtliche Erscheinung erklä - ren. Lässt man nämlich sämtliche Regentinnen der Welt - geschichte vor sich geistige Revue passieren, so werden sich mindestens vier Fünftel der Gesamtzahl als vielfach segensreiche, jedenfalls aber als imposanteste Figuren er - weisen, die jedem Manne auch nur oberflächlicher Kennt - nisse, wenigstens dem weltberühmten Namen nach, bekannt sind. (Semiramis, Katharina II., Maria Theresia etc.) Bei den Regenten hingegen sind umgekehrt mindestens vier Fünftel der Gesamtzahl in weitesten Kreisen ganz un - bekannte Nulltäten gewesen!? Um nicht weit in die Weltgeschichte zu gehen, stelle man sich übrigens vor, die politische Gesinnung sämtlicher heutigen Regenten des Erdballs sei derjenigen der Königin Wilhelmine von Holland gleich und man beantworte die Frage, ob die Welt politisch so aussehen würde, wie sie sich uns leider gegenwärtig darstellt? Wenn man die Welt wirk - lich als Vorstellung und Wille [auffasst] und diese Schopenhauersche These ist noch nie widerlegt worden so besteht der Intellekt eines lebenden Wesens und also auch eines Menschen nicht nur aus seinen Fähigkeiten (Fassungsvermögen) allein, sondern auch aus seinem Temperament. Man wird aber objektiverweise zugeben müssen, dass das weibliche Temperament selbst im Frevel, Laster, Leidenschaft, Fanatismus, Hass, Grausamkeit und sonstigen Niederträchtigkeiten noch immer über eine ge - wisse, und sei es auch nur durch Scham gebotene Grenze weniger krass hinausgeht, als es bei Männern leider der Fall sein kann. Der natürliche Grund des relativ höheren13 Masses an Milde und menschenfreundlicher Toleranz beim Weibe besteht wahrscheinlich darin, dass das Weib, ver - möge seins mütterlichen Berufes weit reichlichere Gelegenheiten als der Mann zu Uebung und also auch zum Anerziehen von Nachsicht, Liebe und Aufopferung (den Kindern gegenüber) seit jeher besessen hat. Daher das kulturgeschichtlich entwickelte höhere Mass an weich - herzigerem gemässigterem Temperament. (Darwinsche Theorie der natürlichen Anpassung.) Nun ist aber ge - rade auf dem Gebiete der inneren und äusseren Politik un - verkennbar, dass im allgemeinen unsere Kultur und Zivilisation die unausrottbare Tendenz hat, aus den Zeit - altern des Blutes, Eisens und des Faustrechtes herauszu - kommen und dem Regime der Menschenliebe, des Frie - dens und des moralischen Rechtes zuzustreben. Für diese auf die Dauer ganz unvermeidliche Richtung unserer Kul - tur wäre das Hineingreifen der hierzu am meisten veran - lagten Hälfte der Menschheit in die Politik und Gesetz - gebung ein wichtiges vorwärtsbringendes Plus, das geeig - net wäre, die Konvulsionen des Ueberganges bedeutend ab - zukürzen. So und keineswegs anders ist die auf geistiger Kraft der Frau beruhende, Einflussfähigkeit derselben in Bezug auf das politische Frauenwahlrecht in realer Wirklichkeit aufzufassen!

Schon etwas richtiger scheint auf den ersten Blick diejenige Einwendung gegen die tatsächliche Ein - flussfähigkeit der Frau zu sein, welche auf ihrem verhält - nismässigen Mangel an physischer Kraft beruht. Denn erstens ist dieser wirkliche Mangel nicht wie oben bei der geistigen Kraft zu bestreiten und zweitens muss man zugeben, dass der Mann vermöge seiner robusteren Konstruktion und auch, weil er von den alltäglichen klei - nen Sorgen um die Kinder verhältnismässig freier ist, die unmittelbar grössere Möglichkeit besitzt, in der Politik14 Einfluss auszuüben, bezw. seinen politischen Willen eventuell auch mit Gewalt durchzusetzen. Diese Einwen - dung erweist sich jedoch als wenig stichhaltig, wenn man auf die Sache näher und psychologisch tiefer eingeht. Ueber Musse, physische Kraft und eigensinnigen Wil - len verfügt auch z. B. ein Ochse. Deshalb allein ist er noch gar nicht im Stande, selbst auf den kleinen, kaum mit einer Rute bewaffneten Hirtenknaben der Herde irgend einen nennenswerten Einfluss auszuüben. So drastisch diese Analogie auch erscheinen mag, sie ist ge - eignet, den Kern der Angelegenheit aufzudecken. Der Hund liegt nämlich im Begriffe Wille begraben. Wir sind gewöhnlich zum Irrtume geneigt, sich den letzteren als etwas spontan und von ungefähr sich selbst Erzeugen - des aufzufassen. In Wirklichkeit jedoch ist der Inhalt des Willens nur eine, wenn auch nicht immer berechen - bare oder vorauszusagende, psychologische Resultante diverser auf den Geist einwirkenden Kräfte, welche in hohem Masse in den durch die Erziehung kul - tivierten Veranlagungen und in der geistigen Um - gebung des wollenden Subjektes zu suchen sind. Nun ist es gewöhnlich nur die Mutter, die in der zartesten Jugend ihrer Kinder sich mit deren Er - ziehung befasst und ihnen die Keime ihrer künf - tigen Veranlagung in die Seele unauswischbar hin - einpflanzt. Als Ehefrau oder als Geliebte bildet dann wie - derum das Weib diejenige Umgebung des Mannes, die in seinem teuersten und heiligsten Heime schaltet und wal - tet, wo er zur erholenden Erquickung, vom Kampfe des Daseins ermüdet. Zuflucht sucht, um dort als Mensch und Vater seinen menschlichen Gefühlen zu leben. Wer kann sich also ernstlich erdreisten, zu behaupten, dass die Müt - ter, die Ehefrauen und die Geliebten, weil sie physisch weniger kräftig sind, den sogenannten freien (?) Wil -15 Ien des Mannes nicht bestimmen und somit auch poli - tisch angeblich nicht einflussfähig sind? Der gesunde Menschenverstand der Volksweisheit hat nicht umsonst das geflügelte Wort geschaffen: die Frauen regieren die Welt! ( Cherchez la femme .) Ist es vernünftig und staatserhaltend, eine derart einflussreiche Weltmacht durch grundsätzliche Beraubung des Wahlrechts nur indirekt sich zum Gehör kommen zu lassen? Ist es nicht eine mutwillige Vogelstrausspolitik?

Die allerstärkste und wirklich gefährliche Einwen - dung gegen die das Frauenwahlrecht bedingende politische Einflussfähigkeit der Frau ist, glauben wir, die oben er - wähnte dritte Vorbedingung dieser Einflussfähigkeit . Man muss nämlich, wie schon gesagt, auch willens sein, den Einfluss auszuüben! Man wird jedoch leider gestehen, dass in dieser wichtigsten Beziehung nur eine verhältnismässig unzureichende Zahl der Frauen auf der Seite der angeblich nur lächerlichen Frauenrechtlerinnen steht, während die überwiegende Mehrheit der Frauen - welt teilweise aus Leichtsinn, teilweise aus Genussucht, meistens aber aus falscher Scham eines durchaus falsch verstandenen angeblichen Anstandsgefühls ( sich von der Nachbarin möglichst nicht zu unterscheiden! ) in einem weit höheren Masse als die Männerwelt in der Anstrebung politischer Rechte einen verwerflichen Indif - ferentismus an den Tag legt. Diesem unverkennbaren Makel zu steuern, ist vor allen Dingen Sache der Frauen selbst. Es ist auch höchste Zeit hierzu, denn den Frauen sind jetzt genügend die Augen darüber geöffnet worden, was alles in der sog. zivilisierten Welt ohne den mildern - den international-politischen Einfluss des weicheren Frauentemperaments passieren kann und wie ihre Söhne, Ehemänner, Geliebte, Brüder und Väter sich gegenseitig hetzen und abschlachten. Zu dem, was jetzt in der Welt16 vorgeht, würde ja selbst der greise Ben Akiba beschämt sagen müssen: das ist noch nicht dagewesen!! Man kann unter solchen Umständen, wenn die weltzer - störende Menschenschlächterei einmal für allemal auf - hören soll, die politischen Rechte der Frau, bezw. das Frauenwahlrecht, gar nicht mehr vermissen! Die Frauen müssen aber vor allen Dingen selbst hierfür in ge - schlossenen Reihen mit aller Energie und opferfreu - dig auftreten!

Wenn die gegenwärtige kleine Schrift als Anregung und als Andeutung des wichtigsten Materials im betreffen - den Argumentationskampfe dienlich sein könnte, so wird es den besten Lohn vorstellen für den Verfasser.

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Im Selbstverlage des Verfassers, Heidelberg, Märzgasse 22. Einzelverkaufspreis 40 Pfg. Bei Mehrabnahme entsprechende Ermäßigung.

About this transcription

TextZum Kapitel Frauen-Wahlrecht
Author Simon Alapin
Extent18 images; 3317 tokens; 1416 types; 25997 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU GießenNote: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2018-12-05T17:48:32Z Anna PfundtNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2018-12-05T17:48:32Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationZum Kapitel Frauen-Wahlrecht Simon Alapin. . Buchdruckerei von Carl PfefferHeidelberg1917.

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Universitätsbibliothek Mannheim NB 0799

Physical description

Antiqua

LanguageGerman
ClassificationGebrauchsliteratur; Gesellschaft; ready; tdef

Editorial statement

Editorial principles

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: gekennzeichnet; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: keine Angabe; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;

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