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Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie
Erläuterungen zum Erfurter Programm
Vierte durchgesehene Auflage
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Berlin1907Verlag: Buchhandlung Vorwärts, Berlin SW. 68, Lindenstr. 69Hans Weber, Berlin.
Preis 10 Pf.
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Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie
Erläuterungen zum Erfurter Programm
Vierte durchgesehene Auflage
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Berlin1907Verlag: Buchhandlung Vorwärts, Berlin SW. 68, Lindenstr. 69Hans Weber, Berlin.

Jnhalt.

I.
  • Seite
  • 1. Kleinbetrieb und Großbetrieb8
  • 2. Kapitalist und Proletarier9
  • 3. Privatmonopol und Staatsmonopol14
  • 4. Die Erhebung des Proletariats18
  • 5. Der Sozialismus23
II. Erster Abschnitt.
  • I. Wahl - und Stimmrecht29
    • Proportional-Wahlsystem30
    • Gesetzgebungsperioden31
    • Wahlen am Ruhetage32
    • Entschädigung der Vertreter33
    • Aufhebung der Beschränkung politischer Rechte34
  • II. Gesetzgebung durch das Volk34
    • Selbstverwaltung36
    • Wahl der Behörden, ihre Verantwortlichkeit36
    • Jährliche Steuerbewilligung37
  • III. Allgemeine Wehrhaftigkeit37
    • Volkswehr38
    • Entscheidung über Krieg und Frieden39
    • Schlichtung internationaler Streitigkeiten40
  • IV. Freie Meinungsäußerung, Recht der Versammlung und Vereinigung40
  • V. Die Rechte der Frau41
  • VI. Erklärung der Religion zur Privatsache42
    • Aufwendungen für kirchliche Zwecke43
    • Kirchliche und religiöse Gemeinschaften43
  • VII. Weltlichkeit der Schule44
    • Obligatorischer Besuch der Volksschulen44
    • Unentgeltlichkeit des Unterrichts ꝛc. 45
  • VIII. Unentgeltlichkeit der Rechtspflege45
    • Berufung in Strafsachen46
    • Entschädigung unschuldig Angeklagter ꝛc. 47
    • Abschaffung der Todesstrafe48
  • IX. Unentgeltlichkeit der ärztlichen Hülfeleistung48
    • Unentgeltlichkeit der Totenbestattung49
  • X. Einkommen - und Vermögenssteuer49
    • Selbsteinschätzungspflicht51
    • Erbschaftssteuer51
    • Abschaffung der indirekten Steuern ꝛc. 52
Zweiter Abschnitt.
  • I. Arbeiterschutzgesetzgebung55
    • a) Normalarbeitstag57
    • b) Kinderarbeit59
    • c) Nachtarbeit60
    • d) Ruhepausen60
    • e) Trucksystem60
  • II. Ueberwachung der Betriebe; Reichsarbeitsamt61
    • Gewerbliche Hygiene61
  • III. Gleichstellung der landwirtschaftlichen Arbeiter, Dienst - boten62
  • IV. Sicherstellung des Koalitionsrechts62
  • V. Uebernahme der Arbeiterversicherung durch das Reich63

I.

1. Kleinbetrieb und Großbetrieb.

Was wollen die Sozialdemokraten?

Es gibt kaum eine andere Frage, die heute von mehr Menschen gestellt, kaum eine andere, auf die heute wenigstens von Nichtsozialdemokraten so selten eine richtige Antwort gegeben würde. Und doch ist sie nicht erst in jüngster Zeit aufgetaucht. Schon vor mehr als fünfzig Jahren wurde allgemein gefragt, was die Kommunisten wollten, und schon damals haben diese eine klare und unzweideutige Antwort gegeben im kommunistischen Manifest .

Eine weitere unzweideutige Antwort bildet das Programm der deutschen Sozialdemokratie. Die jüngste Form desselben ist die auf dem Parteitag zu Erfurt 1891 beschlossene. Jn diesem Programm setzt die sozialdemokratische Partei ausführlich die Forderungen auseinander, die sie an den heutigen Staat stellt, und sie leitet es ein mit einer Darlegung ihrer Grundsätze.

Dieser einleitende, grundsätzliche Teil hat uns zunächst zu beschäftigen. Er enthält die Begründung und Bestimmung des letzten Zieles, das die Sozialdemo kratie sich setzt, und er legt die Triebkräfte dar, die alle Hindernisse überwinden werden und müssen, welche der Erreichung dieses hohen Zieles im Wege stehen. Aus der Erkenntnis des Zieles und der Triebkräfte ergeben sich dann leicht die einzelnen Forderungen an den heutigen Staat, als Mittel zum Zweck.

Der einleitende Teil die Prinzipienerklärung des Erfurter Pro - gramms lautet:

Die ökonomische Entwickelung der bürgerlichen Gesellschaft führt mit Naturnotwendigkeit zum Untergang des Kleinbetriebes, dessen Grundlage das Privateigentum des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln bildet. Sie trennt den Arbeiter von seinen Produktionsmitteln und verwandelt ihn in einen besitzlosen Proletarier, indes die Produktionsmittel das Monopol einer ver - hältnismäßig kleinen Zahl von Kapitalisten und Großgrundbesitzern werden.

Hand in Hand mit dieser Monopolisierung der Produktionsmittel geht die Verdrängung der zersplitterten Kleinbetriebe durch kolossale Großbetriebe, geht die Entwickelung des Werkzeugs zur Maschine, geht ein riesenhaftes Wachstum der Produktivität der menschlichen Arbeit. Aber alle Vorteile dieser Umwandlung werden von den Kapitalisten und Großgrundbesitzern mono - polisiert. Für das Proletariat und die versinkenden Mittelschichten Klein bürger, Bauern bedeutet sie wachsende Zunahme der Unsicherheit ihrer Existenz, des Elends, des Druckes, der Knechtung, der Erniedrigung, der Aus - beutung.

Jmmer größer wird die Zahl der Proletarier, immer massenhafter die Armee der überschüssigen Arbeiter, immer schroffer der Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, immer erbitterter der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, der die moderne Gesellschaft in zwei feindliche Heerlager trennt und das gemeinsame Merkmal aller Jndustrieländer ist.

Der Abgrund zwischen Besitzenden und Besitzlosen wird noch erweitert durch die im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise begründeten Krisen, die immer umfangreicher und verheerender werden, die allgemeine Unsicherheit zum Normalzustand der Gesellschaft erheben und den Beweis liefern, daß die4 Produktionskräfte der heutigen Gesellschaft über den Kopf gewachsen sind, daß das Privateigentum an Produktionsmitteln unvereinbar geworden ist mit deren zweckentsprechender Anwendung und voller Entwickelung.

Das Privateigentum an Produktionsmitteln, welches ehedem das Mittel war, dem Produzenten das Eigentum an seinem Produkt zu sichern, ist heute zum Mittel geworden, Bauern, Handwerker und Kleinhändler zu expropriieren und die Richtarbeiter Kapitalisten, Großgrundbesitzer in den Besitz des Produkts der Arbeiter zu setzen. Nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel in gesellschaft - liches Eigentum, und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion kann es bewirken, daß der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klassen aus einer Quelle des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger, har monischer Vervollkommnung werde.

Diese gesellschaftliche Umwandlung bedeutet die Befreiung nicht bloß des Proletariats, sondern des gesamten Menschengeschlechts, das unter den heutigen Zuständen leidet. Aber sie kann nur das Werk der Arbeiterklasse sein, weil alle anderen Klassen, trotz der Jnteressenstreitigkeiten unter sich, auf dem Boden des Privateigentums an Produktionsmitteln stehen und die Erhaltung der Grundlagen der heutigen Gesellschaft zum gemeinsamen Ziel haben.

Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung ist notwendigerweise ein politischer Kampf. Die Arbeiterklasse kann ihre öko - nomischen Kämpfe nicht führen und ihre ökonomische Organisation nicht ent - wickeln ohne politische Rechte. Sie kann den Uebergang der Produktionsmittel in den Besitz der Gesamtheit nicht bewirken, ohne in den Besitz der politischen Macht gekommen zu sein.

Diesen Kampf der Arbeiterklasse zu einem bewußten und einheitlichen zu gestalten und ihm sein naturnotwendiges Ziel zu weisen das ist die Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei.

Die Jnteressen der Arbeiterklasse sind in allen Ländern mit kapitalistischer Produktionsweise die gleichen. Mit der Ausdehnung des Weltverkehrs und der Produktion für den Weltmarkt wird die Lage der Arbeiter eines jeden Landes immer abhängiger von der Lage der Arbeiter in den anderen Ländern. Die Befreiung der Arbeiterklasse ist also ein Werk, an dem die Arbeiter aller Kulturländer gleichmäßig beteiligt sind. Jn dieser Erkenntnis fühlt und erklärt die Sozialdemokratische Partei Deutschlands sich eins mit den klassen bewußten Arbeitern aller übrigen Länder.

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands kämpft also nicht für neue Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für die Abschaffung der Klassen - herrschaft und der Klassen selbst und für gleiche Rechte und gleiche Pflichten aller ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung. Von diesen An - schauungen ausgehend, bekämpft sie in der heutigen Gesellschaft nicht bloß die Ausbeutung und Unterdrückung der Lohnarbeiter, sondern jede Art der Aus - beutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht oder eine Rasse.

Was demjenigen, der die Anschauungen der Sozialdemokratie noch nicht kennt, in ihrem Programm zuerst auffallen dürfte, ist der Umstand, daß es nicht nur keine unbedingte Verwerfung, sondern sogar eine bedingte Anerkennung des Privateigentums enthält.

Es fällt keinem Sozialdemokraten ein, die unsinnige Forderung auf Ab - schaffung des Privateigentums an den Gegenständen des persönlichen Konsums5 (Verbrauches) zu stellen. Aber auch das Privateigentum an den Produktions - mitteln (Mitteln der Herstellung von Gebrauchsgegenständen, wie Werkzeuge, Rohstoffe, Werkstätten und dergl. ) wird von der Sozialdemokratie als unter gewissen Verhältnissen berechtigt und notwendig anerkannt. Sie sagt aus - drücklich, daß das Privateigentum des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln die Grundlage des (bäuerlichen oder handwerksmäßigen) Kleinbetriebes bilde. Aber sie sagt auch gleichzeitig, daß die ökonomische (wirtschaftliche) Entwickelung der bürgerlichen Gesellschaft mit Naturnotwendigkeit zum Untergang des Klein - betriebes führt, infolge der Bildung und Ausdehnung des Großbetriebes.

Jm Kleinbetriebe ist jeder Arbeiter für sich allein oder höchstens im Verein mit seiner Familie, mit den Mitgliedern seines Haushalts, tätig, etwas Ganzes zu erzeugen die Knechte und Mägde des Bauern und die Gesellen des Hand - werkers gehörten ursprünglich auch zur Familie des betreffenden Besitzers und Leiters des Kleinbetriebes. Was der Arbeiter da schafft, das ist ausschließlich das Werk seiner Persönlichkeit, seines Fleißes, seiner Kraft, seiner Geschicklich - keit usw. Er nimmt es als sein persönliches Eigentum in Anspruch. Aber es wird sein Eigentum nur, wenn auch die Produktionsmittel sein Eigentum sind, z. B. der Grund und Boden, der Pflug, das Arbeitsvieh, das Saatgetreide usw. des Bauern. Nur dann hat er das größte Jnteresse an dem möglichst voll - kommenen und möglichst ausreichenden Gelingen seiner Arbeit, und nur dann kann er seine persönlichen Eigenschaften frei entfalten. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln ist daher die notwendige Vorbedingung der best - möglichen Entfaltung des Kleinbetriebes, dieser kann seine klassische (voll - kommene) Form nur erlangen auf der Grundlage dieses Privateigentums.

Aber die Zeit, in der die kleinbäuerlichen und handwerksmäßigen Formen der Produktion deren höchste Formen waren, ist längst vorbei. Heute bilden sie vielmehr in den Kulturländern die rückständigsten Formen der Produktion. Es bildete sich im Fortgang der ökonomischen Entwickelung das planmäßige Zu - sammenarbeiten größerer Arbeitermengen an einer Arbeitsstätte zur Erreichung eines gemeinsamen Zieles. Die verschiedenen Verrichtungen des Handwerkers oder Bauern wurden jetzt unter die verschiedenen Arbeiter geteilt, von denen jeder tagaus, tagein nur einen oder einige wenige einfachere Handgriffe zu ver - richten hatte, die sich immer und immer wiederholten. Die Gewandtheit des Arbeiters wurde dadurch ungemein gesteigert und die Zeitverluste beseitigt, die das Uebergehen von einer Arbeit zur anderen bedingt. Die Produktivität (Er - giebigkeit) der Arbeit erhielt dadurch eine bedeutende Vergrößerung. Aber die Entwickelung blieb dabei nicht stehen. Sobald die Arbeitsteilung in einem Jn dustriezweige einmal so weit sich entwickelt hatte, daß die Herstellung eines Gegenstandes in eine Reihe völlig einfacher Handgriffe aufgelöst war, bemächtigte sich die Wissenschaft dieses Gebiets der Produktion und übertrug die vereinfachten Handgriffe des Arbeiters einem leblosen Arbeiter, der Maschine. Damit wurde der Anfang einer wesentlichen Erweiterung der Produktivität der mensch - lichen Arbeit gemacht. Durch die Maschine leistet der Arbeiter, der sie beauf - sichtigt, jetzt die Arbeit mehrerer Arbeiter, deren Handgriffe die Maschine ver - richtet; die Zahl seiner arbeitenden Glieder und die Geschwindigkeit ihrer Tätig - keit ist vervielfacht. Und der Gang der Entwickelung geht dahin, die Maschinen immer gewaltiger zu machen, jeder einzelnen von ihnen immer mehr Handgriffe zuzuweisen, ihre Geschwindigkeit immer mehr zu steigern: so kommt es, daß die Maschine die Produktivität der Arbeit nicht bloß verdoppelt und verdreifacht, sondern verzehnfacht, ja nicht selten verhundertfacht.

Das heißt, daß mit dem gleichen Aufwand an Arbeit nun so und so viel mal mehr Produkte erzeugt oder dieselbe Menge von Produkten mit so und so viel weniger Arbeit gewonnen werden kann, als früher.

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Man sollte glauben, daß ein solches Ergebnis allenthalben mit Jubel be - grüßt werden, daß es glänzenden Wohlstand und ausgedehnte Muße für alle bringen würde. Aber ein Blick auf die heutigen Verhältnisse zeigt uns, wie weit ab wir von einem derartigen Zustande entfernt sind, ja ihre Entwickelung zeigt nicht die mindeste Neigung sich ihm zu nähern, sie geht vielmehr in entgegen gesetzter Richtung vor sich.

Woher rührt diese sonderbare Erscheinung.

Sie ist eine Folge davon, daß in unserer Gesellschaft die Warenpro - duktion herrscht.

Hier müssen wir eine Abschweifung machen, um das Wesen der Waren - produktion zu erklären. Wer diese nicht versteht, kann ebensowenig die heutige wie die sozialistische Gesellschaft der Zukunft begreifen. Der Sozialismus ist eben eine Wissenschaft, nicht eine wesenlose Träumerei.

Die verschiedenen bisher bekannten Arten der Gütererzeugung kann man in zwei große Gruppen teilen: Produktion für den Selbstverbrauch (im weitesten Sinne) und Produktion für den Tausch oder Verkauf. Letztere ist Waren - produktion.

Die Produktion für den Selbstverbrauch ist die älteste Form der Güter - erzeugung. Ursprünglich erzeugte (oder schaffte herbei) jeder Mensch diejenigen Gebrauchsgegenstände, welche entweder er persönlich für sich oder aber, welche die Gesellschaft brauchte, der er angehörte. Einen Zustand, in dem jeder allein für sich lebte und arbeitete, hat es wohl nie gegeben. So weit man die Ent - wickelung der Menschen zurückverfolgen kann, findet man sie in Gesellschaften vereinigt. Jede dieser Gesellschaften (Stamm, Horde) besaß ursprünglich die entscheidenden Produktionsmittel Grund und Boden, Boote, Haushaltungs - stätten usw. in Gemeineigentum; ihre Benutzung stand dem einzelnen nur mit Wissen und Willen und entsprechend dem Vermögen und den Bedürfnissen der Gesellschaft zur Verfügung. Jede Gesellschaft bildete für sich einen ge - schlossenen Wirtschaftsbetrieb, der alles selbst erzeugte, was er, beziehungsweise seine Mitglieder brauchten. Jn diesem Sinne ist die Produktion für den Selbst - verbrauch zu verstehen. Sie war stets nur zum Teil Produktion des ein - zelnen für sich selbst, zum anderen oft weitaus überwiegenden Teil Produktion für das Gemeinwesen.

Aus dieser Produktionsweise entwickelte sich die Warenproduktion. Unter deren Herrschaft bildet die Gesellschaft nicht mehr einen einzigen geschlossenen Wirtschaftsbetrieb; sie zerfällt vielmehr in zahlreiche Betriebe, von denen jeder für sich gesondert produziert, jeder die Produktionsmittel, deren er bedarf, in Sondereigen, als Privateigentum besitzt. Eine Voraussetzung der Waren - produktion bildet eine ziemlich weit gehende Arbeitsteilung in der Gesellschaft. Diese zerfällt in verschiedene Berufe, die Produktion teilt sich in verschiedene Arbeitszweige, von denen jeder Arbeiter nur einen besonderen betreibt. Der einzelne Wirtschaftsbetrieb erzeugt nicht mehr alles selbst, was er braucht, er erzeugt aber von der besonderen Art von Gütern, die er ausschließlich produziert, mehr als er braucht. Den Ueberschuß tauscht er aus gegen Güter, die er braucht, aber nicht selbst erzeugt. Derartige Güter, die zum Tausch, beziehungsweise zum Verkaufen, nicht zum Selbstgebrauch erzeugt werden, sind Waren. Ver - kaufen heißt nichts anderes, als eine Ware gegen eine andere Ware austauschen, die jedermann brauchen kann, die jedermann gern nimmt, z. B. Gold oder Silber. Eine derartige Ware ist Geld.

Jn einer entwickelten Warenproduktion hört die Produktion für den Selbst - gebrauch so gut wie völlig auf. Jeder Produzent erzeugt fast nur noch Güter, die er, beziehungsweise der Betrieb, in dem er tätig ist, nicht gebraucht; er kann das, was er braucht, nur erlangen durch Kauf.

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Anscheinend arbeitet jeder Warenproduzent für sich, aber tatsächlich arbeitet er für andere. Wenn auch die Warenproduktion durch selbständige, von einander unabhängige Produzenten betrieben wird, so ist sie doch eine Art gesellschaftlicher Produktion. Aber wenn auch jeder Warenproduzent für andere arbeitet, so tut er das nur unter der Voraussetzung, daß sie auch für ihn arbeiten. Er will sich nicht ausbeuten lassen. Ebensoviel Arbeit, wie er für andere leistet, sollen diese für ihn leisten. Das heißt mit anderen Worten: Der Tauschwert jeder Ware, das Verhältnis, in dem sie mit anderen Waren sich austauscht, populär ge - sprochen ihre Kaufkraft, wird bestimmt durch die zu ihrer Herstellung notwendige Arbeitszeit das heißt durchschnittlich, gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, denn es handelt sich hier um ein gesellschaftliches Verhältnis. Eine bestimmte Ware, etwa ein Stück Leinwand, hat den gleichen Wert, ob der Arbeiter, der sie erzeugte, ein fauler und langsamer gewesen oder ein fleißiger und flinker. Die allgemeinen Verhältnisse der Produktion, nicht die des einzelnen Produzenten, bestimmen den Wert.

Nun ist es leicht zu verstehen, warum die glänzenden Errungenschaften des Großbetriebes, namentlich des Maschinenbetriebes, anstatt Muße und Wohlstand für alle, vielmehr Elend, Ueberarbeit und Entartung für die weitesten Volks - schichten mit sich gebracht haben und in steigendem Maße bringen.

Jn einer für den Selbstverbrauch (im oben entwickelten Sinne) produ - zierenden Gesellschaft mit Gemeineigentum an den Produktionsmitteln, also in einer kommunistischen oder wie man heute sagt, sozialistischen Gesellschaft, kommt jede Verbesserung der Produktionsmittel der Gesamtheit und zwar ohne weiteres zugute; ein jeder hat ein Jnteresse daran, eine derartige Verbesserung ver - allgemeinert zu sehen, da sie auch ihm zugute kommt, entweder durch Ver - mehrung der Lebens - und Genußmittel, die der Gesellschaft zu Gebote stehen, oder durch Verminderung der Arbeitslast, welche die Gesellschaft den einzelnen zur Deckung ihrer Bedürfnisse auflegen muß.

Anders in der Gesellschaft der Warenproduktion. Die Produktionsmittel sind Privateigentum: Wer bessere Produktionsmittel besitzt, erzeugt, bei gleichen Arbeitskräften und sonst gleichen Verhältnissen, in gleichen Zeiten einen größeren Wert als seine Konkurrenten, die schlechtere Produktionsmittel besitzen. So lange der Kleinbetrieb herrscht, macht das nicht viel aus. So wichtig auch die Güte der Werkzeuge und der Rohstoffe für den Bauer und Handwerker ist, viel wichtiger noch sind seine persönlichen Eigenschaften, sein Fleiß, seine Geschicklichkeit, seine Erfahrung und Umsicht. Und die Werkzeuge sind leicht zu beschaffen, die Menge der Rohstoffe, die verarbeitet wird, ist gering. Wenn ein Produzent in dieser Beziehung vor dem anderen einen Vorteil hat, so beruht dies auch in der Regel auf seinen persönlichen Eigenschaften, besonderer Findigkeit, besonderem Wissen, die ihn Dinge sehen lassen, die den anderen ver - borgen bleiben. Die Unterschiede in den Produktionsbedingungen zwischen den einzelnen Produzenten können da kaum viel größer sein, als die zwischen den Begabungen der einzelnen Persönlichkeiten; sie können ein gewisses Maß nicht überschreiten und vergehen meist mit den Personen, die sie hervorgerufen.

Das ändert sich mit dem Aufkommen des Großbetriebes in Jndustrie und Landwirtschaft, und zwar umsomehr, je höhere Formen dieser annimmt. Die persönlichen Eigenschaften des Arbeiters treten im Großbetrieb immer mehr zurück; dagegen gewinnt die Beschaffenheit der Produktionsmittel immer mehr entscheidende Bedeutung. Diese selbst werden immer umfangreicher, immer kostspieliger. Nur wer über ein bedeutendes Vermögen verfügt, vermag die Produktionsmittel eines Großbetriebes zu erwerben; nur ein solcher vermag der Vorteile teilhaftig zu werden, die sie gegenüber den geringen, rückständigen Produktionsmitteln der Kleinbetriebe bieten. Jn einer sozialistischen Gesellschaft8 würden die Vorteile des Großbetriebes jedermann zugute kommen. Unter der Herrschaft des Privateigentums an den Produktionsmitteln bleiben sie das Vorrecht einiger Weniger, die ausschließlich imstande sind, die Produktionsmittel der Großbetriebe zu erwerben und auszubeuten. Diese werden das Monopol einer kleinen Anzahl Personen der Kapitalisten und Großgrund - besitzer.*)Die Großgrundbesitzer werden von den Kapitalisten unterschieden, weil das Grund - eigentum in vielen Beziehungen anderen Gesetzen folgt als das Kapital. Von diesen Unterschieden kann jedoch im obigen Zusammenhange abgesehen werden, so daß, was von den Kapitalisten gesagt wird, hier (und auch später in der Regel) für die Großgrund - besitzer mit gilt.)

Je mehr der Großbetrieb sich entwickelt, je mehr die Wissenschaft sich seiner bemächtigt und die alten Erzeugungsweisen umwälzt, um so größer wird aber auch der Unterschied zwischen der Leistungsfähigkeit des Arbeiters im Groß - betriebe und des Arbeiters im Kleinbetriebe; und je mehr die Großproduktion die herrschende Form der Produktion wird, desto mehr werden ihre Verhältnisse maßgebend für die Bewertung der Produkte. Ohne daß die Produktivität der Arbeit im Kleinbetrieb erheblich wächst, findet ein stetes und bedeutendes Sinken der Wertgrößen der verschiedenen Produkte statt. Jmmer geringer wird der Wert, den der Arbeiter des Kleinbetriebes in einem bestimmten Zeitraum, etwa einer Arbeitsstunde, erzeugt. Es kann so weit kommen, daß er in einem ganzen Tage nur ebensoviel Wert produziert, wie ein Arbeiter im Großbetriebe (des gleichen Jndustriezweiges) in einer Stunde oder noch kürzerer Zeit.

Um mit dem Großbetriebe konkurrieren zu können, sieht er sich gezwungen, seinen Arbeitstag immer mehr und mehr zu verlängern. Er arbeitet 14, 16, 18 Stunden, mitunter noch mehr, bis zu völliger Erschöpfung. Er spannt alle seine Kräfte aufs äußerste an, arbeitet hastig, ohne Unterlaß, ohne Unter - brechungen, ohne Feiertage. Aber das genügt nicht, ihn ebenso leistungsfähig zu machen wie den Arbeiter an der Maschine. Er sucht sich zu verdoppeln und zu verdreifachen, indem er Arbeitskräfte ins Joch spannt, die ihm (als Arbeits - kraft) nichts kosten: Weib und Kind. Seiner Frau wird zur Last der Haus - haltung noch die der Erwerbsarbeit aufgebürdet, der Haushalt verkommt, die Frau wird erdrückt von der Menge ihrer Aufgaben, und sie wird unfähig, die wichtigste derselben, ihre Mutterpflichten, zu erfüllen. Den Kindern raubt er die Jugend; im zartesten Alter werden sie dem Spiel, oft auch der Schule entzogen, um zu aufreibenden, Geist und Körper ertötenden Handreichungen gepreßt zu werden.

So opfert der Handwerker und Bauer im Kampfe gegen den Großbetrieb um des Lebens willen alles, was das Leben wert macht, gelebt zu werden. Aber umsonst. Wie sehr er auch sich und die Seinen schinden mag, es gelingt ihm nicht, die Leistungsfähigkeit des Arbeiters im Großbetriebe zu erlangen, diese eilt der seinen immer weiter voraus, der Wert seiner Produkte sinkt immer mehr und mehr, ihre Kaufkraft wird immer geringer, der Hungerriemen muß immer enger und enger gezogen werden.

Das dankt er dem Privateigentum an den Produktionsmitteln. Dieses ist heute nicht bloß zu einem Mittel geworden, den kleinen Mann auszuschließen von den ungeheueren Vorteilen, welche die Entwickelung der modernen Technik mit sich bringt, es ist ein Mittel, welches ihn immer tiefer herabdrückt von der Stufe, die er einst erklommen.

Seit einem halben Jahrhundert redet man von der Notwendigkeit, den Hand - werkern und Bauern zu helfen. Die verschiedensten Parteien, liberale und konservative, sind in den verschiedensten Ländern nacheinander am Ruder gewesen. Geholfen hat keine. Es ist eben unmöglich, das Handwerk und die kleine Bauernwirtschaft, diese namentlich nicht im Ackerbau, dem Großbetriebe9 technisch ebenbürtig zu machen. Die einzige Hülfe kann darin bestehen, daß man den Handwerkern und Bauern ermöglicht, zu einer höheren Betriebsform überzugehen. Diese Lösung kann aber keine der herrschenden Parteien herbei - führen. Sie ist nicht möglich auf dem Boden der Warenproduktion.

Jn einer Reihe von Jndustriezweigen ist bereits der Kleinbetrieb völlig konkurrenzunfähig geworden und verschwunden. Eine Reihe anderer ist erst durch die Entwickelung der Großindustrie möglich geworden; diese sind dem Kleinbetriebe von vornherein völlig verschlossen. Jn den meisten anderen be - haupten sich die Kleinbetriebe nur noch mühsam neben den Großbetrieben. Jeden Tag wird eine neue Gegend, ein neuer Arbeitszweig dem Großbetriebe erschlossen, die Zahl, der Gegenden (in den Kulturstaaten) und der Arbeits - zweige, in denen noch der Kleinbetrieb herrscht, werden von Tag zu Tag geringer. Gerade auf diese Gebiete drängen sich mit Vorliebe alle diejenigen selbständigen Arbeiter und Unternehmer der Kleinbetriebe, die anderswo den Konkurrenz - kampf gegen den Großbetrieb aufgeben mußten. Dadurch werden diese über - füllt, die Konkurrenz unter den viel zu zahlreichen Betrieben wird eine mörderische, der die meisten erliegen: auf diese Weise ruiniert das Vordringen des Großbetriebes die Kleinbetriebe auch auf den Gebieten, wo er selbst noch nicht Fuß gefaßt hat.

Das Ende dieser Entwickelung ist der Untergang des selbständigen vom Kapital unabhängigen Kleinbetriebes. Ein selbständiger, vom Kapital unab - hängiger Bauer oder Handwerker ist heute schon in den Kulturländern ein weißer Rabe geworden. Er ist verschuldet und Wechsel und Hypotheken machen ihn dem Kapitalisten zinspflichtig. Aus dem selbständigen Handwerker wird immer mehr ein Hausindustrieller, der nicht für den Kunden arbeitet, sondern für einen kapitalistischen Händler, der ihn ausbeutet. Zu arm, die Produktionsmittel, namentlich das Rohmaterial, selbst zu beschaffen, muß er sich diese vom Händler vorschießen lassen, dem er dafür das Produkt seiner Arbeit zu einem Spottpreis abzugeben verpflichtet ist. Auch der Bauer wird immer mehr gezwungen, den Fehlbetrag in den Erträgen seiner Landwirtschaft durch eine derartige Haus - industrie oder durch Wanderarbeit oder andere Arten von Nebenerwerb zu ergänzen und dadurch zum abhängigen, ausgebeuteten Lohnarbeiter eines Kapitalisten zu werden.

So wird durch die Verschuldung wie durch die Hausindustrie und andere Mittel des Nebenerwerbs das Privateigentum an den Produktionsmitteln für Kleinbauern, Handwerker und auch Kleinhändler aus einem Mittel, sie vor Aus - beutung zu schützen und ihre Freiheit zu wahren, zu einem Mittel, sie auszu - beuten und zu knechten, sie zum Frondienst für andere zu zwingen.

Die weitaus große Mehrzahl der Kleinbürger und Kleinbauern sind in dieser Weise heute schon Lohnarbeiter des Kapitals. Nur ein kleiner Schritt und die letzte Hülle fällt, die ihnen noch den Anschein von selbständigen und besitzenden Produzenten verlieh, und sie versinken ins Proletariat, in die große Schar der Besitzlosen.

So notwendig das Privateigentum an den Produktionsmitteln für die selbständigen Arbeiter des Kleinbetriebes gewesen, solange dieser die herrschende Betriebsform war, so verderblich wird es ihnen, seitdem der Großbetrieb seinen Siegeszug angetreten hat.

2. Kapitalist und Proletarier.

Die Entwickelung des Großbetriebes hat den Arbeitern des Kleinbetriebes Elend und Mühsal gebracht. Aber dasselbe Schicksal hat er auch über seine eigenen Arbeiter verhängt.

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Wir haben gesehen, daß die Produktionsmittel des Großbetriebes das Monopol einer besonderen Klasse reicher Leute geworden find, der Kapitalisten - klasse. Diese erwerben aber die Produktionsmittel nicht, um sie selbst zu be - nutzen, um selbst damit zu arbeiten. Jhr Reichtum soll sie ja der Notwendigkeit der Arbeit entheben, die ursprünglich für jeden Menschen bestand. Und die Produktionsmittel des Großbetriebes erfordern viel zu viel Arbeiter, als daß ihre Besitzer allein dazu ausreichen würden. Würden die Kapitalisten keine Arbeiter finden, die für sie arbeiten, dann würden sie es vorziehen, ihre Reich - tümer zu anderen Geschäften zu verwenden oder zu verzehren, statt sie in industriellen Unternehmungen anzulegen.

Daß jemand, der ein Vermögen besitzt, dasselbe einfach verzehrt, statt es zins - oder profitlagernd anzulegen, erscheint einem Mitgliede der heutigen Gesellschaft auf den ersten Blick als etwas ganz Sonderbares, höchst Unver - nünftiges. Und doch hat es eine Reihe von Gesellschaftszuständen gegeben, wo der einzelne den Reichtum, den er erwarb, nicht anders verwenden konnte, als daß er ihn selbst verzehrte und, soweit sein Ueberfluß reichte, auch Freunde und Diener davon zehren ließ.

Wie diese Reichtümer erworben wurden, geht uns hier nichts an, nur nebenbei sei bemerkt, daß es nichts als eine Philisterfabel ist, wenn man be - hauptet, die Reichtümer, durch welche sich einzelne über die große Masse erhoben und erheben, seien das Ergebnis des Sparens. Wer in der Geschichte nachliest, wird finden, daß die ersten großen Vermögen durch Raub, Plünderung, Dieb - stahl, Prellerei, Erpressung entstanden sind, nicht durch die Ersparnisse, die ihre Besitzer von den Erträgnissen ihrer eigenen Arbeit zurücklegten.

Erst im Laufe der Entwickelung der Warenproduktion erstand für die Reichen die Möglichkeit, ihren Ueberfluß dazu zu verwenden, neue Reichtümer zu erwerben, soweit dieser Ueberfluß aus Waren oder Geld bestand und Geld ist nur eine besondere Ware. Zunächst waren es Handel und Wucher, welche Gelegenheiten boten, Geld und Waren in einer Weise zu verwenden, daß sich daraus ein Gewinn oder Profit für den Geld - oder Warenbesitzer ergab. Geld - und Warensummen, die diesem Zwecke dienen, sind Kapital.

Der Kaufmann erzielt seinen Gewinn dadurch, daß er billig kauft (vom Produzenten) und teuer verkauft (an den Konsumenten). Der Produzent war der selbständige Arbeiter des Kleinbetriebes, der Handwerker und Bauer.

Je mehr der Handel sich entwickelte, desto mehr erweiterte sich der Markt, desto größer wurde das Bedürfnis nach einer Massenproduktion. Die kleinen Handwerker waren nicht imstande, demselben zu genügen. Nur die Kapitalisten besaßen die nötigen Mittel dazu. Der Großbetrieb, der sich infolge der Ausdehnung des Handels entwickelte, war von vornherein ein kapitalistischer Betrieb. Die Großproduktion ist daher gleichbedeutend geworden mit kapitalistischer Produktion.

Die Ausdehnung des Marktes ist aber nur die eine Vorbedingung der Ent - stehung der Großproduktion. Die andere ist das Vorhandensein von Arbeitern, die geneigt sind, ihre Arbeitskräfte dem Kapitalisten und zwar um ein Billiges zu verkaufen, die für ihn in seinem Betriebe arbeiten.

Der Kapitalist wird sein Geld nur dann in der Jndustrie anlegen, wenn ihm diese mindestens ebenso hohen Profit verheißt, wie Handel oder Wucher. Es stünde aber sehr schlecht um seinen Profit, wenn die Arbeiter, die in seinem Großbetrieb arbeiten, den vollen Wert des von ihnen geschaffenen Produktes bekämen, wie es bei den selbständigen Handwerkern der Fall. Sein Profit ent - springt daraus, daß er ihnen in ihrem Lohn nur einen Teil dieses Wertes bezahlt und den Rest selbst einsteckt.

Unter dieser Bedingung zu arbeiten, darauf läßt sich ein selbständiger Arbeiter, der im Besitz seiner Produktionsmittel ist, ein Handwerker oder Bauer,11 nicht ein. Die kapitalistische Produktion setzte daher das Vorhandensein einer ausreichenden Anzahl besitzloser Arbeiter voraus, von Arbeitern, welche nichts besitzen, als ihre Arbeitskraft, die zu verkaufen sie gezwungen sind, welche sich dem Hungertode preisgegeben sehen, wenn es ihnen nicht gelingt, Arbeit zu finden. Nur solche Arbeiter lassen sich die kapitalistische Ausbeutung gefallen.

Die Besitzlosigkeit der Arbeiter, ihre Trennung von den Produktionsmitteln, ist also eine notwendige Voraussetzung der kapitalistischen Produktionsweise. Die Armut des Volkes wird jetzt zur Grundlage des Nationalreichtums. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln bedeutet nun dasMono - pol der Nichtarbeiter, der Kapitalisten, an den Produktionsmitteln, es bedeutet die Ausschließung der Arbeiter von dem Eigentum an den Produktionsmitteln; je mehr die kapitalistische Produktionsweise sich entwickelt und die Kleinbetriebe verdrängt, desto mehr bedeutet dies Eigentum die Eigen - tumslosigkeit der großen Masse des Volkes, über der einige Wenige stehen, die im Ueberfluß ersticken.

Woher stammt das Proletariat, dessen die industriellen Kapitalisten be - dürfen?

Arme , sagt der Philister, hat es immer gegeben und wird es immer geben . Nichts irriger als das. Solange das Gemeineigentum an den Pro - duktionsmitteln herrschte, konnte der Gegensatz von arm und reich sich nicht ent - wickeln. Erst durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln wird die Armut möglich. Aber solange der Kleinbetrieb herrscht, nimmt die Besitzlosigkeit einzelner selten eine große Ausdehnung an. Sie ist oft, wie bei den Handwerks - gesellen, nur ein vorübergehender Zustand, der in der Regel mit der Erwerbung eines selbständigen Besitzes endigt. Und die Besitzlosen gehören vielfach be - sitzenden Familien an.

Nur unter besonderen Verhältnissen wurde da die Besitzlosigkeit eine Massen - erscheinung. Dies war der Fall vor vier - und dreihundert Jahren, gerade zu einer Zeit, wo auch alle anderen Bedingungen kapitalistischer Produktion zu - sammentrafen. Dadurch wurde es ermöglicht, daß dieselbe ins Leben trat. Die großen Proletariermassen der damaligen Zeit rührten davon her, daß die Klein - bauern zu Grunde gerichtet wurden, nicht durch die Juden, sondern durch ihre Grundherren, die Ahnen der heutigen Großgrundbesitzer, die es für ihren ererbten Beruf erklären, den Bauer zu schützen. Bis in die neueste Zeit haben die Mißhandlungen der Bauern durch die Grundherren gedauert; daher der Zug der Bauern in die Städte, wo sie eine Zuflucht suchen. Heute dauert dieser Zug fort, ja er verstärkt sich immer mehr, allerdings nicht mehr bloß infolge von Mißhandlungen und Ausbeutungen, sondern auch infolge der niedrigen Lebens - haltung, zu der heute die rückständige bäuerliche Wirtschaft den Bauer zwingt, was namentlich die jungen Leute der bäuerlichen Bevölkerung hart empfinden.

Der Zuzug vom flachen Lande ist seit dem 16. Jahrhundert eine Hauptquelle des Proletariats gewesen. Eine andere bilden in den Städten die zu Grunde gehenden Handwerker und sonstigen Kleinbürger. Dazu kommt natürlich die Nachkommenschaft der Proletarier selbst.

So brauchen die industriellen Kapitalisten nicht zu fürchten, daß ihnen die Arbeitskräfte so bald ausgehen, und in der Tat, sie wirtschaften darauf los, als wäre das Menschenmaterial unerschöpflich, das ihnen zur Verfügung steht.

Wie auf anderen Gebieten treibt der Kapitalismus auch auf diesem bloßen Raubbau. Nur darum ist es ihm zu tun, aus den Arbeitskräften, die er kauft, in kürzester Zeit möglichst viel Profit herausschinden. Jmmer mehr treibt der Kapitalist die Arbeiter an, immer hastiger müssen sie arbeiten; immer mehr sucht er ihre Feiertage zu verkümmern, immer mehr den Arbeitstag zu ver - 12 längern. Der Trieb dazu wächst unter dem Einfluß bei Maschinenwesens; die Maschine ermüdet nicht und der Arbeiter wird nur noch ein Anhängsel der Maschine. Und je länger tagaus, tagein an der Maschine gearbeitet wird, desto profitabler wird sie. Eine stillstehende Maschine ist totes Kapital: ein Greuel für den Kapitalisten. Ununterbrochener Betrieb, Wechsel von Tag - und Nacht - schichten, bildet sein Jdeal.

Aber während er die Arbeitszeit und Arbeitslast zu vermehren trachtet, sucht er gleichzeitig den Lohn zu beschneiden. Und da kommt ihm die ökonomische Entwickelung zu Hülfe.

Er kann den Lohn freilich nicht willkürlich bestimmen. Dieser hängt von den verschiedensten Verhältnissen ab, namentlich aber von den gewohnheits - gemäßen Bedürfnissen, das heißt, den Erhaltungskosten, und von der Wider - standskraft der Arbeiter. Beides zeigt die Neigung zu Sinken. Die Arbeits - teilung, namentlich aber die Maschine verkürzt die lange Lehrzeit, die der Hand - werker durchzumachen hatte, zu einer kurzen Anlernzeit. Sie ermöglicht es, an Stelle gelernter ungelernte Arbeiter zu setzen. Sie setzt aber auch meist die An - sprüche an die Kraft der Arbeiter herab, so daß an Stelle erwachsener Männer Frauen, ja Kinder treten können. So werden die widerstandslosesten Mitglieder der Arbeiterklasse in das Getriebe der kapitalistischen Ausbeutung gezogen, die Arbeiterfamilie wird ausgelöst, die Erhaltungskosten des Arbeiters werden ver - ringert, seine Widerstandskraft wird geschwächt. Lohnherabsetzungen und Ver - längerungen der Arbeitszeit sind die Folge.

Das ist es, was der kapitalistische Großbetrieb seinen Arbeitern bringt. Er hat die Ertragsfähigkeit der menschlichen Arbeit unglaublich vermehrt, er hat Leistungen vollbracht und hat Reichtümer geschaffen, die den Menschen früherer Jahrhunderte märchenhaft erschienen wären, aber er hat das erreicht nicht nur auf Kosten der Arbeiter der Kleinbetriebe, sondern auch aus Kosten seiner eigenen Arbeiter. Hier wie dort hat er das gleiche Elend, den gleichen Druck, die gleiche Verkommenheit hervorgerufen.

Und nicht genug damit. Auch in früheren Jahrhunderten freilich be - scheideneren Jahrhunderten, die nicht ununterbrochen mit ihren großartigen Errungenschaften prahlten hat es Elend und Ausbeutung und Unterdrückung gegeben: aber eines boten die Ausbeuter und Unterdrücker doch wenigstens: eine gewisse Sicherheit und Stetigkeit der Lebensverhältnisse.

Heute dagegen schwebt über jedem Arbeiter das Gespenst der Arbeitslosigkeit, wie über jedem Bauern und Handwerker das des Bankrotts.

Ob und inwieweit der Arbeiter Arbeit findet, das hängt nur zum geringsten Teil von ihm selbst ab, von seiner Geschicklichkeit, seinem Fleiß: darüber ent - scheidet vor allem die Lage des Marktes, für den die Unternehmungen, in denen er Arbeit suchen muß, produzieren. Der Markt ist im ganzen und großen in steter Erweiterung begriffen, aber viel rascher als der Markt wächst die Zahl und die Arbeitskraft der Proletarier, die dem Kapital zu Gebote stehen, dank der Ausdehnung der Arbeitszeit, der größeren Anspannung der Arbeiter, der Entwickelung des Maschinenwesens, der Einverleibung von Frauen und Kinder in die Arbeiterarmee, dem Untergang der Kleinbetriebe usw. Daher kommt es, daß die kapitalistische Produktion nie, auch in den besten Zeiten nicht, alle Arbeitskräfte verwenden kann, die ihr zu Gebote stehen. Es gibt immer eine Zahl Arbeitsloser, welche die sogenannte industrielle Reservearmee bilden.

Sie werden weniger, wenn die Geschäfte gut gehen. Umsomehr aber nehmen sie zu, wenn die Geschäfte stocken, wenn eine wirtschaftliche Krisis herein - bricht. Und an denen fehlt es nicht. Das zeitweise Eintreten einer Ueber - produktion ist in der heutigen Gesellschaft eine naturnotwendige Erscheinung.

Sie ist im Wesen der Warenproduktion begründet. Dieselbe ist die Pro - duktion von einander unabhängiger Privatbetriebe. Jn einer entwickelteren 13 Warenproduktion produziert jeder derselben fast ausschließlich für den Markt. Aber die Verhältnisse des Marktes sind schwankende, unstäte, nur schwer abschätz - bare. Der einzelne Produzent weiß nicht, wie viel Waren seine Konkurrenten auf den, Markt bringen werden, er kennt nicht genau die Zahl, die Kaufkraft, die Bedürfnisse der Käufer. So kommt es, daß in der Regel entweder zu viel oder zu wenig für den Markt produziert wird. Nachfrage und Angebot decken sich fast nie.

Aber so verderblich das dem einzelnen Warenverkäufer werden konnte, für die Gesellschaft im ganzen brachte das meist nur geringe Unzukömmlichkeiten mit sich, solange die kapitalistische Großindustrie sich nicht entwickelt hatte.

Ganz anders seit dem Aufkommen der Großindustrie. Nicht nur ist jetzt fast die gesamte Produktion der Kulturländer Warenproduktion geworden, die Produktion für den Selbstgebrauch völlig in den Hintergrund getreten, es hat sich auch der Kaufmann zwischen Produzenten und Konsumenten geschoben und der Markt ist durch die Fortschritte des Verkehrs unendlich erweitert. Seine Verhältnisse sind dadurch viel unübersichtlicher geworden, die Nachfrage kann jetzt längere Zeit noch fortdauern eine rege zu sein, indes in Wirklichkeit der Bedarf schon gedeckt ist. Das wichtigste aber ist, daß durch die Entwickelung der Großindustrie die Produktion eine Fähigkeit raschesten Aufschwunges erhalten hat, die ihr früher gänzlich mangelte. Die durch die Maschine so sehr ver - größerte Leistungsfähigkeit der Arbeiter auf der einen Seite, die starke industrielle Reservearmee auf der anderen, ganz abgesehen von der raschen Ausdehnungs - fähigkeit des Kapitals, die hier nicht erörtert werden kann, ermöglichen es jetzt, auf den geringsten Anstoß hin die Produktion ungemein zu erweitern. Jede größere Zunahme der Nachfrage ist jetzt sofort von einer sie weit überbietenden Zunahme der Produktion gefolgt. Jst der Anstoß, der der Produktion erteilt worden, ein gewaltiger, der auf dem ganzen Weltmarkt fühlbar ist, dann führt auch die naturnotwendig darauf folgende Ueberproduktion zu einer Weltkrise, die das Getriebe der kapitalistischen Produktionsländer überall auf das Gewaltigste erschüttert.

Je mehr die kapitalistische Produktionsweise sich entwickelt, je mehr der Weltmarkt sich ausdehnt, je mehr die Großproduktion den Kleinbetrieb ver - drängt, je verwickelter der Handel wird, desto gewaltiger müssen die zeitweise eintretenden Krisen werden, desto öfter müssen sie eintreten.

Die Kapitalisten stehen dieser Erscheinung ratlos gegenüber. Sie sind die Herren der Produktionsmittel und die Lenker der Produktion; sie erklären, sie seien notwendig, wenn das wirtschaftliche Getriebe in Gang bleiben und die Bedürfnisse in der Gesellschaft zweckentsprechend befriedigt werden sollen und nun müssen sie es alle paar Jahre erleben, daß gerade aus ihrem Privateigen - tum, über daß sie unbeschränkt verfügen, die verderblichsten Krisen entspringen, daß ihre Leitung zu Unordnung und heilloser Verwirrung führt, daß ihre Art, für die Befriedigung der Bedürfnisse zu sorgen, Hungersnot und Elend erzeugt.

Die Krisen treiben nicht bloß viele Kapitalisten zum Bankrott, sie bezeugen auch den Bankrott der ganzen Kapitalistenklasse und ihres Privateigentums an den Produktionsmitteln. Diese Klasse ist unfähig geworden, die Aufgaben zu erfüllen, die ihr aus ihrem Privateigentum erwachsen, es selbst ist zu einer gesellschaftlichen Gefahr geworden, zu einer Ursache der schwersten gesellschaft - lichen Störungen, die aus dem Wege geräumt werden muß, wenn die Gesell - schaft imstande sein soll, sich weiter zu entwickeln.

Unter den Krisen leiden alle Klassen, mit Ausnahme einiger der bestgestellten Kapitalisten, die den allgemeinen Zusammenbruch benutzen, Beute zu machen und mit dem Gut der auf dem wirtschaftlichen Schlachtfelde Gebliebenen ihre Taschen zu füllen.

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Am meisten aber leiden die unteren Klassen. Alle die Schrecken, die Miß - wachs und Pest in früheren unkultivierten Jahrhunderten über die Menschen verhängten, brechen über sie herein: nicht infolge der Unzulänglichkeit der Kraft der menschlichen Gesellschaft gegenüber den Kräften der Natur, sondern infolge der Unzulänglichkeit der heutigen Organisation der Gesellschaft, der Kräfte, die sie selbst gezeugt, Herr zu bleiben, sie zu ihrem eigenen Besten zu leiten und zu lenken.

Und diese unsäglichen Leiden der Ueberproduktion drohen zu dauernden zu werden.

Die kapitalistische Produktion bedarf angesichts der steten Ausdehnung ihres Gebietes und des steten Wachstums ihrer Ertragsfähigkeit infolge der stetigen technischen und ökonomischen Verbesserungen einer stets rascheren Ausdehnung des Marktes, und zwar des auswärtigen Marktes. Dieser aber macht Miene sich zu verengern statt sich zu erweitern. Denn alle Kulturnationen der Erde sind bereits zu kapitalistischen Nationen geworden oder im Begriff es zu werden; die besten bisherigen Kunden der europäischen Großindustrie verwandeln sich in Konkurrenten.

Das heißt nichts anderes, als die Ueberproduktion wird zusehends immer mehr eine stehende Einrichtung unserer Gesellschaft immer seltener werden die Zeitpunkte, wo noch eine erhebliche Erweiterung des Marktes statt - findet, wo die Geschäfte gut gehen. Jmmer rascher wird jede dieser Erweiterungen durch die Ausdehnung der Produktion überholt, immer rascher folgen die Krisen aufeinander, immer länger dauern sie.

Die Produktivkräfte der heutigen Gesellschaft sind unvereinbar geworden mit dem Privateigentum. Die Gesellschaft hat nur die Wahl, zu versumpfen und zu verfaulen, wie das Reich der römischen Kaiser, oder das Privateigentum an den Produktionsmitteln abzuschaffen. Die unteren, die ausgebeuteten Klassen haben nur die Wahl, dafür zu kämpfen oder ihrem völligen Verkommen in Ueberarbeit und Arbeitslosigkeit, in Prostitution und Verbrechen entgegenzusehen.

Die Wahl kann nicht schwer sein.

3. Privatmonopol und Staatsmonopol.

Die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln wird durch die ökonomische Entwickelung zu einer Naturnotwendigkeit gemacht. Aber die - selbe ökonomische Entwickelung führt mit gleicher Notwendigkeit die Produktions - weise herbei, die an Stelle der bestehenden treten wird und muß, und wer Augen hat, zu sehen, kann ihre Keime heute schon, und zwar ziemlich emporgewachsen, erblicken.

Wir haben gesehen, wie die Produktionsmittel des kapitalistischen Großbe - triebes das Monopol einer kleinen Zahl von Kapitalisten und Grundbesitzern werden; aber die ökonomische Entwickelung bleibt dabei nicht stehen; ihr Endziel ist die Vereinigung der gesamten Produktionsmittel eines Landes ja schließlich aller kapitalistischen Länder in der Hand einiger weniger Riesen-Kapitalisten. Das Monopol der Klasse der Kapitalisten und Großgrundbesitzer strebt danach, das Monopol einiger Firmen zu werden.

Man vergleiche die Zustände von heute mit denen vor dreißig, vor sechzig Jahren, und man wird zugeben müssen, daß wir schon ein gutes Stück Wegs in dieser Richtung zurückgelegt haben und rasch weiter schreiten.

Sobald ein Jndustriezweig einmal dem Großbetrieb unterworfen ist, ist er auch einer beständigen technischen und ökonomischen Umwälzung verfallen. Eine Erfindung, eine Verbesserung der Organisation oder Betriebsweise usw. jagt die andere, und fast jede läuft auf eine Erweiterung der bestehenden Betriebe hinaus. 15Während Handwerker und Bauer Jahrhunderte lang in gleicher Weise wirt - schafteten und produzierten, und während ihre Betriebe immer gleich groß blieben, herrscht im Großbetrieb ein beständiges Aendern und Revolutionieren; und die Ausdehnung der einzelnen Betriebe ist in stetem Wachstum begriffen. Um diesen Wettlauf mitmachen zu können, muß man Geld haben, viel Geld. Wer nicht Jahraus, Jahrein ein zuschüssiges Kapital in seinem Betrieb anlegen kann, dessen Unternehmen veraltet in der Regel rasch und wird konkurrenzunfähig. So werden nach und nach nicht bloß die Handwerker und Kleinbauern, sondern auch die kleinen Kapitalisten expropriiert, das heißt, wider Willen ihres Besitztums entledigt, oder doch in ökonomische Abhängigkeit von den großen Kapi talisten gebracht.

Jn jedem Zweig der Großindustrie kommt einmal der Zeitpunkt, von dem an jede weitere Entwickelung zu einer Verminderung der Zahl der ein - zelnen Betriebe, zu einer Verminderung der Zahl der einzelnen Unternehmungen führt, indes gleichzeitig die Produktion wächst und die Ausdehnung der überleben - den Betriebe zunimmt. Jn manchen und gerade den maßgebendsten Jndustrie - zweigen ist bei uns dieser Zeitpunkt schon überschritten.

Hand in Hand damit geht aber auch eine Vereinigung mehrerer Betriebe in einer Hand, entweder dadurch, daß ein Kapitalist oder eine Kapitalisten - gesellschaft mehrere derselben erwirbt oder aber dadurch, daß mehrere Betriebe, wenn sie auch verschiedenen Besitzern gehören, doch in manchen Beziehungen sich einer einheitlichen Leitung unterordnen (Kartelle, Ringe, Trusts usw.). Jn vielen Jndustriezweigen ist es schon so weit gekommen, daß alle Betriebe, die derselben in einem Lande zählte, sich in einem Kartell vereinigten: hier haben wir heute schon das tatsächliche Monopol einer einzigen Firma.

Aber nicht genug damit, daß die großen Unternehmungen das Bestreben nach Zusammenfassung unter einer einheitlichen Leitung zeigen; es werden auch andere Unternehmungen von ihnen abhängig und ihnen dienstbar, die äußerlich noch selbständig bleiben. Man denke nur an die Abhängigkeit der Gastwirte von den Brauern, der Fabrikanten von den Kohlengruben, den Eisenbahnen, den großen Banken! Welchen Einfluß haben nicht diese Unternehmungen heute schon auf das ganze wirtschaftliche Leben, auf die Gestaltung der ganzen Produktion! Die wirtschaftliche Unabhängigkeit des Einzelnen wird selbst unter den Unter - nehmern immer mehr ein bloßer Wahn.

Aber in demselben Maße, in dem gerade die wichtigsten Wirtschaftszweige zu Monopolen werden und das ganze wirtschaftliche Getriebe immer mehr von der Leitung einiger weniger Unternehmungen abhängig wird, in demselben Maße werden die Kapitalisten überflüssiger; sie entledigen sich immer mehr ihrer Auf - gaben und übertragen dieselben an Beamte, anLohnarbeiter.

Wie der Kapitalist aus dem Kaufmann hervorgegangen ist, sind auch seine Aufgaben die des Kaufmanns geblieben: er hat die Aufgabe, den Bedarf des Marktes zu ermessen und dafür zu sorgen, daß die nötigen Waren herbeigeschafft werden.

Daß die Kapitalistenklasse immer unfähiger wird, diese Aufgabe zu erfüllen, daß ihr die heutigen Produktivkräfte über den Kopf wachsen, haben wir bei Be - trachtung der Krisen gesehen. Sie wälzt aber auch immer mehr von dieser Auf - gabe auf ihre Beamten ab.

Je größer ein Unternehmen wird, desto unmöglicher wird es für den Kapita - listen, ihm allein vorzustehen, desto mehr von seinen Geschäften muß er an Beamte abgeben. Und je mehr Profit ein Unternehmen abwirft, desto eher kann der Kapitalist sich den Luxus erlauben, alle seine Geschäfte von sich ab auf höhere Lohnarbeiter abzuwälzen. Der Kapitalist wird da schließlich ganz überflüssig. Er hat gar nichts mehr zu tun, als den Profit einzustreichen. Seine Person16 ist für das Wirtschaftsleben höchst gleichgültig geworden, von Wichtigkeit ist bloß sein Kapital.

Am offenkundigsten tritt das zutage in den Aktiengesellschaften, die sich so rasch vermehren.

Während die Personen der Monopolisten der Produktionsmittel auf diese Weise immer mehr aufhören, in der Produktion eine Rolle zu spielen, indes gleichzeitig die Rolle der Produktionsmittel, die sie monopolisieren, eine immer wichtigere wird, treten zwei Mächte in den Vordergrund, die ursprünglich auf die Regelung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse nur geringen Einfluß gehabt haben: der Staat und das Proletariat.

Die Entwickelung der Warenproduktion hat nicht bloß die Gesellschaft, sondern auch den Staat auf neue Grundlagen gestellt. Zog vordem die Staats - gewalt ihre Kraft aus persönlichen Diensten und Naturalienabgaben der Staatsangehörigen, so wurden diese Machtquellen durch die Entwickelung der Warenproduktion immer mehr zurückgedrängt. Wie für jedes Unternehmen wurde auch für den Staat die größte Quelle der Macht in der Gesellschaft der Warenproduktion immer notwendiger: das Geld.

Dies war aber vornehmlich bei den Kapitalisten zu finden. Diese ver - standen die Kunst, Geld zu erwerben und es so anzuwenden, daß aus dem Geld mehr Geld wurde. Ueberall, wo die Warenproduktion eine gewisse Ausdehnung erreicht hatte, suchten daher die Jnhaber der Staatsgewalt das waren damals die Fürsten die Zahl der Kapitalisten im Lande zu vermehren. Und bis heute ist das Züchten von Millionären bekanntlich eine Haupt - aufgabe der Staatsmänner geblieben.

Der Handel und die kapitalistische Jndustrie sind daher in ihren Anfängen allenthalben durch Staatshülfe mächtig gefördert worden.

Seitdem aber zu Anfang des vorigen und zu Beginn des jetzigen Jahr - hunderts die Großindustrie erstand, fing der staatliche Schutz häufig an, aus verschiedenen Gründen den Kapitalisten lästig zu fallen. Gleichzeitig war die Kapitalistenklasse so stark geworden, daß sie glauben konnte, sie bedürfe des staatlichen Schutzes nicht mehr. So entstand die Lehre, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse am besten dann gedeihen, wenn der Staat sich gar nicht hineinmischt.

Diese Lehre, die ihren unverblümtesten Ausdruck im sogenannten Man - chestertum gefunden hat, ist einige Jahrzehnte lang von den Kapitalisten und ihren wissenschaftlichen und politischen Vertretern in allen Ländern so gut wie einstimmig anerkannt worden. Trotzdem ist sie nirgends zur völligen und folgerichtigen Durchführung gekommen und hat heute völlig abgewirtschaftet. Nicht nur die anderen Klassen, auch die Kapitalisten selbst sehen sich immer mehr genötigt den Staat um Hülfe anzurufen. Jhr Selbstbewußtsein hat sie verlassen, sie fühlen sich immer ohnmächtiger gegenüber den wirtschaftlichen Gewalten, die sie entfesselt. Der Staat soll sie bändigen. Er soll dafür sorgen, daß es keine Streiks gibt, keine Börsenpaniken, keine Ueberproduktion, keine Kartelle der großen Kapitalisten gegen die kleinen, keine auswärtige Konkurrenz usw.

Hatte der Staat früher fast nur militärische und richterliche Aufgaben, so fallen ihm jetzt imer mehr Aufgaben zu, die früher den Gemeinden, den reli - giösen oder privaten Bereinigungen oblagen; Aufgaben, die heute zu gewaltige geworden sind, als daß sie diese Vereinigungen lösen könnten; so die Armen - pflege, das Schulwesen, das Verkehrswesen, Waldschutz und Wasserregulie - rung usw. Neue wirtschaftliche Aufgaben fallen ihm zu, die ehedem unbekannt gewesen, z. B. der Arbeiterschutz. Seine alten Aufgaben erlangen eine unerhörte Ausdehnung: man vergleiche z. B. die Heere von heute mit denen vor hundert 17 und zweihundert Jahren! Dadurch wird der Staat auch der größte Konsument im Lande, was ebenfalls seine wirtschaftliche Bedeutung ungemein steigert.

Aber nicht bloß als Konsument, auch als Produzent tritt der Staat immer mehr in erste Reihe, sowohl als Produzent für den eigenen Gebrauch, wie auch zum Verkauf.

Den größten Teil seiner Macht zog der Jnhaber der Staatsgewalt früher aus seinem, beziehungsweise dem staatlichen Grundbesitz. Reste desselben haben sich noch erhalten in den staatlichen Domänen und Bergwerken. Die Entwickelung des Militarismus fügt dazu Arsenale und Schiffswerf - ten, die Entwickelung des Verkehrswesens Posten, Eisenbahnen, Telegraphen, endlich die Zunahme seiner Geldnot Monopole aller Art.

Aus dieser offenkundigen raschen Zunahme der Staatsbetriebe und Staats - unternehmungen einerseits, und der wachsenden Beeinflussung der wirtschaft - lichen Vorgänge durch den Staat andererseits, haben verschiedene Wirtschafts - politiker geschlossen, es werde dies nach und nach so weit führen, daß der Staat die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit auffange und sämtliche Produktionsmittel in seiner Hand vereinige: auf diese Weise werde die Ursache der heutigen wirt - schaftlichen Not das Privateigentum an den Produktionsmitteln von selbst überwunden. Man brauche, also nichts zu tun, als die Macht des Staates bei jeder Gelegenheit möglichst zu stärken, um die Lösung der sozialen Frage herbeizuführen.

Das ist die Ansicht der kühnsten und weitestgehenden unter den sogenannten Staatssozialisten.

Denselben ist folgendes zu erwidern: Der Staat schwebt nicht in der Luft über den Klassen und Parteien, er stützt sich auf eine oder mehrere dieser Klassen und Parteien und ist dafür der Vertreter ihrer Gesamtinteressen gegenüber Allen, die sie verletzen.

Solange die besitzenden Klassen die herrschenden sind, wird der Staat nie seine Monopole, und sonstigen Betriebe sowie seine Beeinflussung der wirtschaft - lichen Verhältnisse so weit ausdehnen, daß er dadurch das Privateigentum an den Produktionsmitteln die Grundlage der Macht der besitzenden Klassen ge - fährdete.

Die Entwickelung der Monopole ist aber auch bei den bestehenden Verhält - nissen keineswegs so vorteilhaft für die unteren Klassen, namentlich die Lohn - arbeiter, wie die Staatssozialisten meinen.

Je größer die Konkurrenz unter den einzelnen kapitalistischen Unterneh - mungen, desto größer unter sonst gleichen Umständen die Unabhängigkeit und Widerstandskraft der Lohnarbeiter, die sie beschäftigen, und desto günstiger die Lage des Publikums, der Konsumenten, die zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse auf diese Unternehmungen angewiesen sind. Jndem die ökonomische Entwickelung die Konkurrenz unter den einzelnen Unternehmungen aufzuheben und an Stelle der Konkurrenz das Monopol zu setzen strebt, wirkt sie dahin, die Lohnarbeiter einerseits, die Konsumenten andererseits völlig der Willkür der Monopolisten preis zu geben und die unerträglichsten, empörendsten Zustände für sie zu schaffen. Welche Uebelstände immer die freie Konkurrenz im Gefolge haben mag, die Konkurrenz aufheben und die Warenproduktion fortbestehen lassen, heißt, die schlimmsten Uebelstände der heutigen Produktionsweise auf die Spitze treiben.

Der Druck, den die staatlichen Monopole ausüben können, ist aber noch größer als der der privaten, weil sie neben ihrer wirtschaftlichen Macht auch noch die übermächtige Staatsgewalt zu ihrer Verfügung haben.

Allerdings haben die Staatsbetriebe, weil der Konkurrenz entzogen, auch die Macht, ihren Arbeitern oder dem großen Publikum außergewöhnliche Be -18 günstigungen zu gewöhnen, aber so lange die Warenproduktion herrscht, wird diese Seite des Monopols um so weniger zur Geltung kommen, je mehr die be - sitzenden Klassen den Staat beherrschen.

So lange die Warenproduktion herrscht, braucht der Staat Geld; er muß danach trachten, daß seine Betriebe möglichst wenig kosten und möglichst viel ein - bringen. Und so lange die besitzenden Klassen, die Kapitalisten und Großgrund - besitzer die Staatsgewalt in der Hand haben, wird stets gespart werden auf Kosten der Arbeiter und profitiert werden auf Kosten der großen Masse der Kon - sumenten. Ein anderes Vorgehen würde nicht bloß die Staatsfinanzen, sondern auch die Geschäfte der Kapitalisten und Großgrundbesitzer schädigen, die es nicht vertragen können, daß die Arbeiter auf der einen Seite, das große Publikum auf der anderen, zu anspruchsvoll werden.

Soweit in Betrieben und Unternehmungen der kapitalistischen Staaten die Rücksichten auf die Staatsfinanzen außer Acht gelassen werden, geschieht es auf Gebieten, wo die Jnteressen der Besitzenden in Frage kommen: bei der Schaffung einträglicher, wenn auch vielleicht überflüssiger höherer Beamten - stellen für die Söhne der Besitzenden und dergleichen.

Die Arbeiterklasse und die Masse der unteren Volksschichten überhaupt hat von der Ausdehnung der Staatswirtschaft so lange nichts zu erwarten, als der Staat sich in den Händen der Kapitalisten und Großgrundbesitzer befindet, der sogenannte Staatssozialismus würde da nur Staatskapitalismus.

Aber zum Glück für den Fortgang der Entwickelung hat die kapitalistische Produktionsweise eine neue gesellschaftliche und politische Macht geboren, die be - stimmt ist, den Kapitalisten und Großgrundbesitzern die Staatsgewalt aus den Händen zu ringen: das Proletariat.

4. Die Erhebung des Proletariats.

Zwischen dem Käufer und dem Verkäufer einer Ware herrscht ein ent - schiedener Gegensatz der Jnteressen: der Eine will möglichst billig kaufen, der andere möglichst teuer verkaufen. Dieser Gegensatz besteht auch zwischen dem Käufer der Ware Arbeitskraft dem Kapitalisten und ihrem Verkäufer dem Arbeiter. Aber in diesem Falle ist der Jnteressengegensatz noch weit schroffer, als bei jedem anderen Kauf oder Verkauf einer Ware. Denn der Ar - beiter kann seine Arbeitskraft nicht verkaufen, ohne seine Person in den Kauf zu geben; und er ist von vornherein dazu verurteilt, bei diesem Geschäft der schwächere Teil zu sein: für den Kapitalisten handelt es sich dabei ja nur um ein Mehr oder Minder von Profit, für den Arbeiter handelt es sich um Leben oder Tod. Er muß zu Grunde gehen, wenn es ihm nicht gelingt, einen Käufer für seine Arbeitskraft zu finden. Und er muß ihn rasch finden. Er ist be - sitzlos, er hat keinen Rückhalt, er kann nicht längere Zeit arbeitslos leben. Der Kapitalist dagegen kann in der Regel längere Zeit ohne Arbeiter aushalten. Und der Kapitalisten sind wenige, der Arbeiter sind viele.

Die Gesellschaft der Warenproduktion beruht auf dem Gegensatz der Jn - teressen: dem Gegensatz zwischen Produzenten und Konsumenten, Verkäufern und Käufern, dem Gegensatz zwischen den Konkurrenten. Diese Jnteressengegen - sätze, welche den mannigfaltigsten Ausdruck finden, bekämpfen sich aufs Aeußerste, und zwar um so schärfer, je mehr die Warenproduktion sich entwickelt und die Produktion für den Selbstgebrauch verdrängt. Aber der schroffste Gegensatz innerhalb dieser Gesellschaft ist der zwischen den Kapitalisten und ihren Ar - beitern. Jmmer erbitterter und riesenhafter werden die Kämpfe, die aus diesem Gegensatz erwachsen, immer mehr wühlen sie die ganze Gesellschaft auf und be - stimmen immer mehr deren Entwickelung.

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Anfangs handelt es sich in diesen Kämpfen bloß um die zunächst liegenden Fragen des Lohnes, der Arbeitszeit, anständiger Behandlung und dergleichen. Und anfangs wird jeder dieser Kämpfe in einem kleinen Kreise ausgefochten. Bald aber erkennen die Arbeiter, daß sie vereinzelt dem Kapitalisten machtlos gegenüberstehen, daß ihre Macht in ihrer Vereinigung liegt. Und das Zu - sammenarbeiten in der Fabrik sowie die Gleichheit der Lebens - und Arbeitsbe - dingungen erweckt auch frühzeitig in den Proletariern das Gefühl ihrer Jnte - ressengemeinschaft, ihrer Solidarität.

Jn ihren Kämpfen unterliegen sie anfangs meist, trotzdem gehen dieselben nicht spurlos vorbei. Die Proletarier lernen in diesen Kämpfen sich organisieren und Disziplin halten, sie gewinnen Vertrauen zu ihren Genossen und damit auch Selbstvertrauen und entflammen ihren Opfermut. Jeder dieser Kämpfe bringt ihnen aber auch reichen Gewinn an Erfahrung und Einsicht in den eigenen Reifen, indes er gleichzeitig ihre Gegner lehrt, die Proletarier zu respektieren und weitere Konflikte mit ihnen zu fürchten.

So schöpft das Proletariat selbst aus seinen Niederlagen neue Kräfte; immer wieder geschlagen, marschiert es ununterbrochen vorwärts.

Die ersten Waffen, deren sich das Proletariat in diesen Kämpfen bedient, entlehnt es den Handwerksgesellen: die Arbeitseinstellung, heute Streik genannt, und die Berrufserklärung (Boykott). Auch ihre ersten Organisationen, die Gewerkschaften, lehnen sich an die alten Gesellschaften an. Aber auf die Dauer genügen diese Waffen für sich allein nicht; sie selbst er - fordern zu ihrer vollen Entwickelung Vorbedingungen, die sie anfangs im Staat nicht finden, die das Proletariat erkämpfen muß auf politischem Wege.

Wir haben gesagt, daß die ersten Kämpfe der Arbeiterschaft nur kleine Kreise in Bewegung setzten. Es bedurfte außergewöhnlicher Vorfälle, um das Personal einer Fabrik oder im besten Falle eines ganzen Jndustriezweiges in einer ein - zelnen Stadt zu einem Kampf gegen die Unternehmer zu veranlassen. Aber nach und nach wurden diese Kämpfe häufiger, sie wiederholten sich, sie führten zu ständigen Organisationen. Die Entwickelung der Verkehrsmittel ermöglicht es den Fabrikanten, wenn ihre bisherigen Arbeitskräfte widerhaarig werden, diese durch Arbeiter aus anderen Gegenden zu ersetzen; sie ermöglicht es aber auch und drängt dazu, daß die Arbeiter eines Ortes sich zur besseren Auskämpfung ihrer Konflikte mit den Arbeitern anderer Orte verbinden; die lokalen zeitweisen Ar - beiterbewegungen erweiterrn sich zu einer ständigen, großen Arbeiterbewegung, die den ganzen Staat umfaßt, ja die, von einem gewissen Punkt der Entwickelung an mit den Arbeiterbewegungen anderer Staaten Fühlung gewinnt und ein - mütig mit ihnen vorgeht. Sie wird naturnotwendig zu einer internatio - nalen Bewegung.

Aber nicht bloß die lokalen und nationalen Schranken, sondern auch die des Berufes reißt die heutige Arbeiterbewegung nieder. Unter dem System der Maschinenarbeit wird der Uebergang von einem Beruf zum anderen immer leich - ter möglich und den Arbeitern immer öfter aufgezwungen. Jn der Fabrik ar - beiten aber auch Arbeiter verschiedener Berufe miteinander. Unter diesen Um - ständen tritt leicht die Jnteressengemeinschaft der Proletarier der verschiedenen Arbeitszweige gegenüber dem gemeinsamen Gegner, dem Kapital, in den Vor - dergrund; die Unterschiede zwischen ihnen erscheinen immer weniger als etwas Trennendes.

So werden die Arbeiterbewegungen in den verschiedenen Jndustriezweigen immer mehr eine einheitliche Bewegung der gesamten Arbeiterklassen, ein Klassenkampf zwischen Kapital und Proletariat. Damit werden die Ziele weitere, höhere, die sich die Arbeiterbewegung steckt. Ohne daß die Kämpfe der einzelnen Arbeiterschichten um des Lebens tägliche Notdurft2*20gegen die einzelnen Ausbeuter vergessen und im Geringsten vernachlässigt werden, tritt der Kampf für die Gesamtinteressen der Arbeiterklasse gegen die gesamte Ausbeuterklasse immer mehr in den Vordergrund. Die Arbeiterbe - wegung verliert immer mehr ihre persönliche Spitze gegen den einzelnen Kapita - listen und wird immer mehr ein Kampf gegen das ganze System der kapita - listischen Ausbeutung.

Ein Klassenkampf ist aber notwendiger Weise ein politischer Kampf.

Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß die ersten, rein ökonomischen Kampfesmittel des Proletariats verkümmert wurden durch gewisse Hindernisse. Diese waren politischer Natur. Die Staatsgewalt, wirtschaftlich und meist auch politisch abhängig von der Kapitalistenklasse, hat es seit jeher, so lange eine kapitalistische Produktion besteht, für eine ihrer Hauptaufgaben gehalten, die Vereinigungen des Proletariats unmöglich zu machen oder mindestens so viel als möglich zu hindern. Die Freiheit der Versammlung und Vereinigung wurde dem Proletariat vorenthalten; es mußte sie überall in schweren politischen Kämpfen erobern. Ebenso notwendig wie diese Freiheiten ist für die Arbeiterklasse die Freiheit der Presse. Sie ist unter den heutigen Verhältnissen unentbehrlich, wo es sich in der Arbeiterklasse um die Organisie - rung und Bewegung großer Massen auf großen Gebieten handelt. Auch sie ist dem arbeitenden Volk vorenthalten worden und wird ebenso wie die anderen Freiheiten ihm heute noch möglichst verkümmert. Eine jede Beschränkung der - selben heißt aber eine Beschränkung der Arbeiterklasse in ihren Kämpfen. Bei jeder Lohnbewegung bekommt es der Arbeiter zu fühlen, daß politische Freiheit und politische Macht sehr reale Dinge sind, die zum guten Teil mitbestimmen, wie viel er und seine Kinder zu essen haben, wie lange er zu schanzen hat.

Das Proletariat muß daher, um seine ökonomischen Kämpfe führen, seine ökonomischen Organisationen entwickeln zu können, politische Freiheiten erobern und behaupten. Auch andere Ursachen drängen es auf das Gebiet der Politik. Es gibt zahlreiche Proletarierschichten, und es sind gerade die gedrücktesten, die nicht die Kraft haben, durch ökonomischen Kampf ihre Jnteressen auch nur einigermaßen zu wahren; es gibt Forderungen, welche die Arbeiterklasse auf dem Wege des rein ökonomischen Kampfes nicht durchsetzen kann. Z. B. eine all - gemeine weitgehende Verkürzung der täglichen Arbeitszeit.

Endlich wird die Arbeiterklasse wie jede andere Klasse der Gesellschaft auch von solchen politischen Fragen berührt, die keine bloßen Arbeiterfragen sind.

Wie jede andere Klasse müssen also auch die Arbeiter danach trachten, poli - tischen Einfluß, politische Macht zu erlangen. Eines der wichtigsten Mittel, auf die Staatsverwaltung bestimmend einzuwirken, bilden aber in den modernen Großstaaten die Parlamente, und die Vertretung einer Klasse oder Partei darin hängt in erster Linie von der Gestaltung des Wahlrechts ab. Das all - gemeine Stimmrecht ist für die Arbeiterklasse ebenso unentbehrlich zur Wahrung ihrer Jnteressen, wie die Versammlungs -, Vereins - und Preßfreiheit.

Wenn die Arbeiter anfangen, sich mit Politik zu beschäftigen, ist es das nächstliegende für sie, sich einer der Parteien anzuschließen, die sie vorfinden und die für ein oder das andere Arbeiterinteresse einzutreten vorgeben, vielleicht auch wirklich beabsichtigen. Aber jede dieser Parteien vertritt eine oder mehrere Schichten der besitzenden Klassen.

Jm allgemeinen kann man alle alten Parteien auf zwei große Gruppen zu - rückführen: Die konservative und die liberale, von denen die erstere im wesentlichen bisher die Jnteressen des Großgrundbesitzes, die letztere die Jnteressen der Kapitalistenklasse zu wahren suchte. Jede dieser Parteien muß in einem parlamentarischen Staate suchen, in den unteren Volks - klassen, namentlich bei den Bauern und Kleinbürgern, aber auch den Lohn - 21 arbeitern Anhang zu finden. Durch die Art und Weise, wie sie diese zu gewinnen und festzuhalten suchen, unterscheiden sich die Parteien eben so sehr, wie durch die Jnteressen, die sie in letzter Linie vertreten.

Bei dem Wettrennen um die Gunst des kleinen Mannes und bei den Jnter - essenkämpfen zwischen den oberen Klassen kommt es natürlich hin und wieder vor, daß eine der alten Parteien den Lohnarbeitern das eine oder das andere Zugeständnis bietet.

Der Proletarier steht im Gegensatz zu allen Ausbeutern, welchen Klassen immer sie angehören; wird er von den einen ausgebeutet als Produzent, so von den anderen als Konsument. Eine jede der alten Parteien kann ihm daher ge - legentlich als Frucht ihres Sieges über die gegnerische Ausbeuterpartei einen Vorteil in Aussicht stellen: Billiges Brot wollen ihm z. B. die Kapitalisten in den Ländern verschaffen, wo sie den Freihandel brauchen; Verkürzung der Arbeitszeit (natürlich nur in den Fabriken) boten ihm mitunter die Großgrundbesitzer.

Aber weil der Proletarier im Gegensatz steht zu allen Ausbeutern, kann keine der alten Parteien dauernd seine Jnteressen vertreten. Jede derselben steht gerade in den für das Proletariat wichtigsten Fragen ihm feindlich gegen - über; jede derselben hat es gerade in den entscheidendsten Momenten stets ver - raten, so oft es sich ihr anvertraute.

Die Beschäftigung der Arbeiter mit der Politik muß daher überall früher oder später dahin führen, daß sie aufhören, den bürgerlichen Parteien Gefolg - schaft zu leisten und daß sie eine eigene selbständige Partei bilden, die Arbei - terpartei. Diese bildet den Schlußstein der Organisation des Proletariats. Seine ökonomischen Organisationen werden immer, so sehr sie auch von dem Be - wußtsein der Gemeinsamkeit der Jnteressen aller Proletarier durchdrungen sein mögen, zunächst den Sonderinteressen der einzelnen Zweige der Arbeiterklasse dienen müssen. Die Organisation des gesamten Proletariats als Klasse, seine Zusammenschweißung zu einem festen einheitlichen Körper ist nur möglich durch seine politische Organisation als selbständige Arbeiterpartei.

Ebenso unvermeidlich und durch die ökonomische Entwickelung mit Natur - notwendigkeit herbeigeführt, wie das Erstehen derArbeiterbewegung ist die Bildung einer Arbeiterpartei. Nicht minder unvermeidlich aber ist es, daß diese schließlich den Sieg über die anderen Parteien davontragen wird. Denn das Proletariat nimmt ununterbrochen stetig an Kraft zu, indes die besitzenden Klassen immer schwächer werden. Dieser Sieg ist nur eine Frage der Zeit.

Die Menge der Lohnarbeiter vermehrt sich beständig, indes die Zahl der Besitzenden immer geringer wird. Aber gleichzeitig beginnen die Arbeiter sich auch an sittlicher Kraft über die Besitzenden zu erheben. Während der Konkur - renzkampf immer wilder wütet und die Reihen der Besitzenden immer mehr zer - klüftet, jeden Einzelnen von ihnen immer mehr drängt, seine Genossen nieder - zutreten, damit er über ihren Leichen vorwärts stürme, während der Konkurrenz - kampf so die niedrigsten und gemeinsten Leidenschaften in den Besitzenden groß - zieht, erzeugt der Klassenkampf in den Proletariern die höchsten sittlichen Tugenden, Selbstverleugnung, Opfermut, ideale Begeisterung, innigen Zu - sammenhalt mit den Genossen Eigenschaften, die in den Kämpfen der Massen den Ausschlag geben.

Aber auch an Jntelligenz und Geschlossenheit wächst das Pro - letariat unaufhörlich. Der Klassenkampf zwingt es, sich in großen politischen und gewerkschaftlichen Organisationen zusammenzuschließen. Die Tätigten für diese und in diesen Organisationen entwickelt in der Arbeiterklasse parlamentarische und Verwaltungstalente, die mit der Zeit den Politikern und Verwaltungsbe -22 amten der herrschenden Klassen nicht bloß ebenbürtig, sondern überlegen werden. Und in keiner Klasse ist der Drang nach Wissen um des Wissens willen so groß als in der Arbeiterklasse, deren Gehirne nicht erschöpft werden durch den Kon - kurrenzkampf.

Gleichzeitig werden aber auch die Proletarier ökonomisch immer unentbehr - licher, indes die Kapitalisten immer überflüssiger für die Produktion werden. Man beseitige heute die Klasse der Kapitalisten, und in den weitaus meisten und gerade in den wichtigsten Jndustriezweigen wird die Produktion ohne Störung fortgehen. Dagegen kann die Produktion in keiner der großen Jndustrien auch nur eine Minute ohne die Proletarier fortgesetzt werden. Gerade die für die Massenproduktion, gerade die für das ganze gesellschaftliche Leben unentbehr - lichsten Jndustriezweige werden aber heute kapitalistisch betrieben. Ohne die Ar - beit der Proletarier ist daher jede Existenz in der modernen Gesellschaft unmög - lich geworden.

So wächst das Proletariat unaufhörlich an Zahl, an sittlicher Kraft, an Jntelligenz, an Geschlossenheit, an Unentbehrlichkeit. Es wird eine Macht, die ihren Gegnern immer mehr Furcht einflößt. Auch sein Selbstvertrauen und seine Hoffnungsfreudigkeit wachsen, indes seine Feinde angstvoll an sich selbst zu verzweifeln beginnen.

Jst aber einmal das Proletariat eine Macht geworden, dann bleibt es nicht allein, dann ziehen seiner Fahne auch aus den anderen ausgebeuteten Klassen Rekruten zu, aus den Proletariern der geistigen Arbeit, den Kleinbürgern und Kleinbauern, die bisher den konservativen und liberalen Fahnen nachgelaufen waren

Jn den revolutionären Bewegungen der letzten Jahrhunderte haben Bauern, Kleinbürger und Proletarier die Entscheidungskämpfe stets zusammen - gekämpft. Der Schwerpunkt lag dabei immer bei der Klasse, welche die ökonomisch wichtigste war: in den sogenannten Bauernkriegen waren das die Bauern; in der großen französischen Revolution des 18. und ihren Ausläufern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren es die Kleinbürger. Seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ist die Führung im Kampfe gegen die Unter - drücker und Ausbeuter der niederen Volksklassen überall dort, wo sich eine selb - ständige Arbeiterpartei gebildet hat, an das Proletariat übergegangen.

Soweit Kleinbürger und Bauern sich noch zu den Ausbeutern zählen, soweit sie glauben, durch vermehrte Ausbeutung von Lohnarbeitern sich emporarbeiten zu können, stehen sie den Arbeitern und ihrer Partei feindselig gegenüber, bleiben sie die Gefolgen der alten Parteien, bleiben sie die Stützen einer Gesellschafts - ordnung. die sie ruiniert.

Aber immer größere Schichten der Kleinbürger und Bauern kommen zur Erkenntnis, daß sie zu den Ausgebeuteten gehören; ihre Lage wird immer ähn - licher der der Proletarier, und das Einzige, was sie vom Proletariat noch trennt, ihr bißchen Besitz, schwindet dahin wie der Schnee vor der Sonne. Und selbst wo es ihnen gelingt, ihren Besitz noch notdürftig zu erhalten, verliert er immer mehr die Fähigkeit, ihnen ein Dasein zu gewähren, das, nach dem Maßstabe unserer Kultur gemessen, ein menschenwürdiges genannt werden könnte. Ebenso sinken die Arbeiter der Jntelligenz immer mehr und mehr auf die Stufe eines proletarierhaften Daseins herab. Nur vereinzelten Glücksvögeln unter ihnen gelingt es noch, sich zu einer behaglichen Stellung emporzuschwingen. Den Meisten winkt nur Not und Elend, die gerade in diesen Kreisen am drückendsten empfunden werden, wo eine höhere, bürgerliche Lebenshaltung zu den Lebens - bedingungen gehört.

Gleich den Proletariern sehen Bauern, Kleinbürger und besitzlose Ge - bildete sich ausgeschlossen von all den glänzenden Errungenschaften der 23 modernen Produktion, die einzig und allein den Kapitalisten und Großgrundbe - sitzern, den Monopolisten der großen gesellschaftlichen Produktionsmittel zu Gute kommen und die nur durch die Verwandlung dieses Privateigentums in Gemeineigentum allen zugänglich gemacht werden können. Die Vorteile, die dem Bauern und Kleinbürger sein Privateigentum bietet, verschwinden immer mehr gegenüber den Vorteilen, die ihm die Aufhebung des Privateigentums zu den großen Monopolen in Aussicht stellt.

Nimmt man dazu, daß die verwandtschaftlichen Bande zwischen Bauern und Kleinbürger auf der einen Seite, den Proletariern aus der anderen Seite immer enger werden, je mehr bäuerliche Landwirtschaft und Handwerk ihren goldenen Boden verlieren, je mehr Sohne und Töchter von Bauern und Handwerkern als Lohnarbeiter sich verdingen müssen, dann darf man sich nicht wundem, daß die Denkart der Proletarier immer mehr auch in den anderen Schichten der unteren Volksklassen Eingang findet und daß sie immer geneigter werden, sich dem Kampf des Proletariats gegen die Ausbeutung anzuschließen.

Die Arbeiterklasse verficht in diesem Kampfe nicht bloß ihre eigene Sache, Als die unterste der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen, die in letzter Linie unter jeder Art von Ausbeutung und Druck zu leiden hat, auch wenn sie dadurch nicht unmittelbar berührt wird, sieht sie in jedem Ausbeuter und Unterdrücker ihren Feind und bekämpft sie die Ausbeutung und Unterdrückung der kleinen Be - amten und sonstigen Kopfarbeiter, sowie der Bauern und Kleinbürger ebenso entschieden wie die eigene.

Erwägt man alles das: das Wachstum des Proletariats und seiner Kraft sowie das Wachsen seines Einflusses auf die ihm nahestehenden Klassen, indes die besitzenden Klassen an Zahl, Kraft und Einfluß stetig abnehmen, dann kann das Endergebnis nicht mehr zweifelhaft sein. Jn der Tat machen sich bereits die klügsten Köpfe der herrschenden Klassen mit dem Gedanken vertraut, daß das Proletariat sie einmal in der Herrschaft über den Staat ablösen wird.

Selbstverständlich wünschen und hoffen sie, dieser Zeitpunkt liege noch in weiter Ferne. Aber er liegt vielleicht näher, als die meisten glauben.

Wie bei allen großen politischen Ereignissen wird auch bei diesem das Un - erwartete und Unberechenbare eine große Rolle spielen. Wir können daher darüber, wann das Proletariat zur Herrschaft gelangen wird, ebenso nur Vermutungen äußern, wie darüber, in welcher Weise das geschehen wird. Aber, daß dies Ereignis eintreten wird und muß, kann nur ein Blinder noch leugnen oder ein Verblendeter

5. Der Sozialismus.

Wenn auch wenigstens die unbefangeneren und einsichtigeren unter den Gegnern des Proletariats bereits anerkennen, daß es eines schönen Tages in den Besitz der Staatsgewalt gelangen werde, so ist doch damit nicht gesagt, daß sie vor ihm die Waffen strecken. Um sich zu beruhigen, haben sie sich einen recht sonderbaren Trost zurechtgelegt. Sie bilden sich nämlich ein, die Herrschaft des Proletariats werde nicht von langer Dauer sein, sie werde sich selbst verzehren, denn wenn das Proletariat die Staatsgewalt erobere, könne es diese nicht anders als in der unsinnigsten Weise anwenden. Alle die Schilderungen des Zukunftstaates , welche unsere Gegner in den letzten Jahrzehnten entworfen haben, laufen daraus hinaus, das siegreiche Proletariat als eine Rotte von Toll - häuslern und Banditen erscheinen zu lassen.

Alte Demokraten scheuen sich nicht, die kommende Herrschaft des arbeitenden Volkes in ebenso grausigen Farben zu malen, wie es vor einem halben Jahr - hundert die fanatischsten Verteidiger des Gottesgnadentums getan.

24

Jn Wahrheit ist das Proletariat heute schon reif, seine eigenen Angelegen - heiten zu ordnen und zu verwalten. Es hat in seinen Organisationen bereits vielfach den Beweis geliefert, daß es die Aufgaben der Sozialpolitik besser zu lösen imstande ist als das staatliche Beamtentum oder Unternehmerorganisa - tionen. Es hat sich allen Aufgaben gewachsen gezeigt, die an dasselbe heran - traten, trotz der ungeheuren Schwierigkeiten, die der Staat und die gegnerischen Klassen ihm in den Weg legten und legen, und trotzdem es heute sich allein angewiesen ist. Seine Fähigkeiten wachsen aber noch weiter, ununterbrochen und rasch, in demselben Verhältnis, wie seine Kräfte. Und wenn es einmal die Staatsgewalt in der Hand hat, stehen ihm auch alle die ungeheuren materiellen und geistigen Hülfsmittel zu Gebote, über die sie verfügt.

Wer angesichts dessen annehmen kann, das Proletariat werde, sobald es sich der Bevormundung durch die ausbeutenden Klassen entledigt, nichts anderes zu vollführen wissen, als die blödsinnigsten Kindereien, beweist nur ebensoviel beschränkten Hochmut wie politische Unwissenheit.

Wir vermögen nicht mit der Deutlichkeit, wie die Zukunftsmaler unter unseren Gegnern, zu sehen, was die Proletarier tun werden, wenn sie die po - litische Macht erlangen. Das wird in den verschiedenen Ländern sehr verschieden sein, je nach den Verhältnissen, die sie vorfinden. Aber welche Maßregeln im Einzelnen immer sie ergreifen mögen, das große Ziel, worauf jede derselben hinauslaufen muß, kann nichts anderes sein, als die Abschaffung jeg - licher Ausbeutung, unter der sie leiden.

Und da das Privateigentum an den Produktionsmitteln die Grundlage ihrer Ausbeutung bildet, da sie diese nicht abschaffen können, ohne jenes zu beseitigen, müssen sie notwendigerweise zur Aufhebung dieser Art von Eigentum gelangen.

Das gleiche Ziel verfolgt aber, wie wir gesehen haben, die ökonomische Ent - wickelung. Deren Bedürfnisse und die Jnteressen des Proletariats decken sich also, sie erzeugt die Mittel zur Lösung der Aufgabe, die ihm zufällt.

Wir haben gesehen, daß die ökonomische Entwickelung alle Produktionsmittel und das ganze wirtschaftliche Leben immer mehr unter die Notmäßigkeit einiger weniger Kapitalistenfirmen bringt. Wir haben ferner gesehen, daß sie die Person des Kapitalisten für den Betrieb seines oder seiner Unternehmungen immer überflüssiger macht, endlich haben wir gesehen, daß der Staat immer mehr dazu gedrängt wird, in das wirtschaftliche Leben regelnd einzugreifen, wichtige wirt - schaftliche Verrichtungen und den Betrieb von Jndustrien zu übernehmen.

Wir haben aber auch gesehen, daß die heutige Gesellschaft selbst Hindernisse erzeugt, die sich dem Fortgang dieser Entwickelung in den Weg stellen und die bewirken, daß sie nur unvollkommen vor sich geht. Diese Hindernisse werden be - seitigt durch den Sieg des Proletariats.

Die besitzenden Klassen werden, wie bereits erwähnt, so lange sie die Herrschenden sind, nie dulden, daß die Staatswirtschaft eine solche Ausdehnung erhält, daß dadurch das Privateigentum an den Produktionsmitteln bedroht würde. Aber auch die ausgebeuteten Klassen[müssen], so lange der Staat in den Händen der Besitzenden ist, jeder Ausdehnung der Staatswirtschaft mit Misstrauen, ja oft mit entschiedener Gegnerschaft gegenüberstehen.

Dagegen haben die arbeitenden Klassen alle Ursache, sobald die Staats - gewalt ihnen gehört, die Ausdehnung der Staatswirtschaft möglichst zu be - schleunigen; sie beseitigen dadurch die Trennung der Arbeiter von den Produk - tionsmitteln, welche die Ursache ihrer Ausbeutung ist. Sie machen dadurch die Arbeiter wieder zu den Besitzern der Produktionsmittel. Allerdings wird nicht der einzelne Arbeiter Besitzer seiner besonderen Produktionsmittel. Die gesamte Arbeiterklasse wird Besitzerin ihrer gesamten Produktionsmittel, die sie in der25 Form von staatlichem und daneben noch kommunalem und auch genossenschaft - lichem Betrieb ausbeutet.

Für die Kleinbetriebe wird wohl auch nach dem Siege des Proletariats das Privateigentum an den Produktionsmitteln fortdauern von einer Konfiska - tion der kleinen Bauerngüter und Handwerksstellen phantasieren bloß unsere Gegner. Aber die Kleinbetriebe werden von ihren Besitzern rasch und gerne ver - lassen werden, sobald der vergesellschaftlichte Großbetrieb ihnen angenehmere Arbeits - und Lebensbedingungen bietet. Und das wird und muß er, sobald die arbeitenden Klassen Herren des Staates geworden sind. Denn der gesamte ungeheuere Ueberschuß über ihren Lohn hinaus, den sie bisher erzeugt und den die Kapitalisten eingesteckt, fällt dann der Gesellschaft, also den Arbeitern selbst wieder zu und wird von ihnen ihren Jnteressen gemäß verwendet werden. Gleichzeitig wird aber auch der Betrag der Gesamtproduktion ungemein ver - mehrt werden, da die Vergeudung von Arbeitskräften in Wegfall geraten wird, die heute teils durch Arbeitslosigkeit, teils durch unnütze Arbeiten für die Launen der Reichen, endlich durch Anwendung schlechter, rückständiger Produktionsmittel in so mannigfacher Weise verursacht wird.

Weder von Ausbeutung noch von Unterdrückung kann in der gesellschaftlichen Wirtschaft des siegreichen Proletariats die Rede sein. Niemand kann sich selbst ausbeuten, niemand sich selbst unterdrücken. Die Arbeiterklasse wird dann aber keinen anderen Herrn über sich haben als sich selbst. Eine Unterordnung des Einzelnen unter das große Ganze wird natürlich in dieser Wirtschaft ebenso not - wendig sein, wie in jedem gesellschaftlichen Betrieb, in jedem Betrieb, in dem mehrere vereint arbeiten. Diese Unterordnung ist nicht eine Eigentümlichkeit der Sozialwirtschaft der Arbeiterklasse. Sie besteht heute schon in jedem Unter - nehmen, das Lohnarbeiter beschäftigt. Aber heute ist sie die Unterordnung des Schwachen unter den Starken; und zwischen Beiden herrscht der schroffste Jn - teressengegensatz. Jn dem in Rede stehenden Gemeinwesen der Zukunft wird es die Unterordnung des Einzelnen sein unter eine Genossenschaft Gleicher mit gleichen Jnteressen. Eine derartige Unterordnung finden wir heute lb / > in jeder Gewerkschaft. Nun wird allerdings genug über den Terrorismus los - gezogen, den die Gewerkschaften auf den Einzelnen ausüben, aber wer diese An - klagen erhebt, das sind nicht die Mitglieder der Gewerkschaften, sondern die Kapitalisten und ihre Anwälte.

Das Endziel der Entwickelung, sobald einmal das Proletariat ans Staats - ruder gekommen, ist die Vereinigung sämtlicher Großbetriebe zu einer einzigen ungeheuren gesellschaftlichen Wirtschaft, und damit die Verwandlung des Staates in eine Wirtschaftsgenossenschaft. Die kapitalistische Produktion hört auf und eine neue Produktionsweise entfaltet sich, begründet auf dem Gemeineigentum an den Produktionsmitteln. Oder, wenn man will, die alte kommunistische Produktion lebt wieder auf, in neuer, der Entfaltung der Produktionsmittel entsprechender Form. Die Warenproduktion und das Privat - eigentum an den Produktionsmitteln sind überwunden; die neue Wirtschafts - genossenschaft, die aus dem Staate herauswächst, besitzt selbst alle Produktions - mittel, deren sie bedarf und erzeugt alles für sich und ihre Mitglieder im wesent - lichen Notwendige selbst.

Eine derartige Wirtschaftsgenossenschaft ist ein sozialistisches Gemeinwesens Sie ist das Ziel der Sozialdemokratie.

Das also ist es, was die Sozialdemokraten wollen. Wir mußten etwas weit ausholen, um die Antwort auf die Frage geben zu können, die wir Eingangs dieser Broschüre aufgeworfen. Aber der Leser wird jetzt begreifen, warum wir nicht ohne weiteres mit der Antwort herausrücken konnten.

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Das Ziel der Sozialdemokratie ist nicht ein willkürlich gesetztes, nicht das Ergebnis frommer Wünsche und ausschweifender Träumereien, wie man gerne behauptet. Jhr Ziel ist das von ihren Denkern erkannte Endziel der vor unseren Augen vor sich, gehenden ökonomischen Entwickelung. Nur wer diese be - greift, begreift die Sozialdemokratie. Nicht in den Wolken wurzelt sie, sondern im festen Boden der Gegenwart. Wer die Sozialdemokratie widerlegen will, muß die heutige Wirklichkeit widerlegen. Da das unseren Gegnern unmöglich ist, ziehen sie es vor, in der Luft herumzufechten und uns zu widerlegen auf Grund dessen, was sich ereignen könnte, möchte, dürfte. 1)Auf die zahlreichen Entstellungen, welche die sozialistischen Lehren erfahren haben, kann hier nicht eingegangen werden. Die verbreitetsten Jrrtümer in dieser Richtung hat der Verfasser vorliegender Schrift besprochen in einer ausführlicheren Arbeit über denselben Gegenstand, den er hier behandelt, in seinem Büchlein über: Das Erfurter Pro - gramm, Stuttgart, Dietz Nachf., sowie in der Broschüre: Die Vernichtung der Sozialdemokratie durch den Gelehrten des Zentralverbandes deutscher Jn dustrieller. Berlin, Buchhandlung Vorwärts, worauf wir diejenigen verweisen, die sich eingehender mit den hier berührten Fragen beschäftigen wollen.

Wer unseren Standpunkt begriffen hat, für den ist es klar, daß es unmöglich ist, vorauszusagen, wie die sozialistische Wirtschaftsgenossenschaft aussehen wird. Sie wird nicht fix und fertig am Tage nach der Revolution dastehen, sondern das Produkt einer Entwickelung sein. Sie selbst wird in steter Entwickelung begriffen sein, wird neue Fragen, neue Probleme aus sich erzeugen. Darüber mögen sich unsere Kinder und Kindeskinder den Kopf zerbrechen und die sozialpolitischen Kinder von heute.

Die Aufgabe der Sozialdemokratie ist es nicht, der Entwickelung ihren Weg vorzuschreiben; sie hat nur die Hindernisse der Entwickelung zu beseitigen; sie hat die Bahn frei zu machen für die Entwickelung der sozialistischen Gesellschaft, sie hat nicht diese künstlich zu fabrizieren.

Das Proletariat aber wird der Hebel sein, der die alte Gesellschaft aus den Angeln hebt und das mächtigste Hindernis jeder weiteren gesellschaftlichen Ent - wickelung, die politische Macht der besitzenden Klassen, aus dem Wege räumt. Das Proletariat zu heben, es in seinen Klassenkämpfen zu unterstützen, seine Kraft und Einsicht zu vermehren, ebenso aber auch die ihm nahestehenden ar - beitenden Klassen, Handwerker und Bauern, über ihre wahren Jnteressen auf - zuklären, jeder Ausbeutung, jeder Unterdrückung, in welcher Form immer sie auftreten mögen, entschieden entgegenzutreten: Das, und nicht das Ausarbeiten von Plänen des Zukunftsstaates, ist die Aufgabe der Sozialdemokratie.

Die Sozialdemokratie ist die von dem Bewußtsein der geschichtlichen Aufgaben des Proletariats erfüllte Arbeiterpartei. Die Arbeiterpartei eines jeden Landes muß umsomehr sich mit sozialistischem Geist erfüllen, je weiter ihr Gesichtskreis wird, je mehr ihre Einsicht in den Gang der ökonomischen Entwickelung wächst. Die deutsche Arbeiterpartei ist von vornherein eine sozialdemokratische Partei gewesen, dank dem wissenschaftlichen Sinn der deutschen Arbeiterklasse und der wissenschaftlichen Bedeutung ihrer Lehrer.

Wo die Arbeiterpartei zur Sozialdemokratie geworden ist, da hört die Ar - beiterklasse auf, sich nur von Augenblickseindrücken lenken zu lassen: sie wird sich klar, ihres Zieles bewußt und formt auch ihm nächsten Aufgaben und Forde - rungen demselben entsprechend. Sie hört auf, in der Jrre herumzuwandern, auf Umwegen, mit Verschwendung von Zeit und Kraft unbewußt ihrem Ziele ent - gegenzutreiben, sie marschiert ihm entgegen, ohne Aufenthalt, ohne unnötigen Kraftverlust auf dem kürzesten gangbaren Wege. Mit dem Kopf durch die Wand zu rennen versucht sie freilich nicht, wenn das auch als der kürzeste Weg erscheinen mag.

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Die Sozialdemokratie hat seit ihrer wissenschaftlichen Begründung durch das kommunistisches Manifest (1847) stets klar die Aufgaben gesehen, die den Arbeiterparteien allüberall zufallen und zufallen werden, und die Entwickelung hat ihr bisher in jedem Punkt Recht gegeben. Sie hat auch unter anderem von vornherein erkannt, daß der Klassenkampf des Proletariats ein internationaler sein muß. Das kommunistische Manifest schloß mit den Worten: Proletarier aller Länder vereinigt Euch. Langsam aber unwiderstehlich hat sich diese Er - kenntnis den Lohnarbeitern aller Kulturländer mitgeteilt. Zu der Jnteressen - gemeinschaft, die aus den Kämpfen für ökonomische Augenblicksforderungen ent - sprang, gesellte sich in jüngster Zeit die Jnteressengemeinschaft, die aus der Ge - meinsamkeit der letzten Ziele der Arbeiterbewegung in allen Ländern der kapita - listischen Produktion hervorgeht. Je mehr die Arbeiterparteien der verschiedenen Länder sich auf den gleichen sozialdemokratischen Boden stellen, desto inniger wird ihr Aneinanderschluß, dessen sichtbares Zeichen die Maifeier ist.

Der Krieg ist unausrottbar in der Gesellschaft der Warenproduktion, welche nicht bloß Klassengegensätze, sondern auch nationale Gegen - sätze erzeugt. Der Krieg ist die einzige Form, in der die schärfsten Jnteressen - gegensätze, die sich nicht überbrücken lassen, zwischen selbständigen, souveränen Staaten zum Austrag gebracht werden können. Den Krieg zu beseitigen gibt es nur ein Mittel: die Gegensätze zu beseitigen, die ihn erzeugen. Das können nur die Arbeiter, welche die Jnteressengemeinschaft, die Solidarität untereinander an Stelle der Konkurrenz setzen; das kann nur die Sozialdemokratie, die an Stelle der Gesellschaft der Konkurrenz, der Warenproduktion die Produktion Aller für Alle, die Produktion für die Ge - sellschaft und durch die Gesellschaft setzen will. Den sozialen und natio - nalen Frieden, den die Völker herbeisehnen, kann nur die Sozialde - mokratie bringen.

[28]

II.

Wenn der erste Teil des Programms die im scharfen Umriß gezeichneten Endziele unserer Partei entwickelt und begründet, so behandelt der zweite Teil diejenigen Aufgaben, welche innerhalb der jetzigen Gesellschaft von uns zunächst zu lösen sind. Der stetige Verlauf der geschichtlichen Naturgesetze, welche den Gang der kapitalistischen Welt bestimmen, läßt keine Sprünge und keine Stegreif - abenteuer zu. Auf dem Grund und Boden einer bestimmten politischen und sozialen Ordnung muß die Arbeiterklasse für ihre Befreiung fechten. Ein un - vermittelter Schritt aus der alten in die neue Gesellschaft, der mit einem Male in das Land unserer Hoffnungen führt, ist unmöglich, weil er ein Widersinn ist. Wir haben mit den harten Tatsachen zu rechnen, die deshalb nicht verschwinden, weil die Schwarmgeisterei sie nicht sehen will. Die gegebenen Verhältnisse, die nüchterne Wirklichkeit haben allein in unserer Rechnung Platz, gerade weil wir diese gegebenen Verhältnisse von Grund aus umgestalten wollen.

So sind die heutigen Zustände die natürliche Grundlage der Arbeiter - bewegung, so vollzieht sich im Widerstreit gegen die Schlechtigkeit und Unhalt - barkeit dieser Zustände der Klassenkampf. Sie liefern die Punkte des Angriffs, sie liefern die Gegner, sie nötigen uns, die Reihen von Forderungen, welche den zweiten Teil des Programms bilden, aufzustellen und zu vertreten. Nicht mit Schattenwesen, sondern mit derb-handgreiflichen Erscheinungen, nicht mit Ge - schöpfen einer grübelnden Einbildungskraft, sondern mit den natürlichen Wir - kungen der herrschenden Wirtschaftsweise haben wir zu tun. Gegen uns die bürgerliche Klasse, der bürgerliche Staat, gegen uns die gewaltigen Machtmittel des Kapitalismus

Damit wir unser Endziel erreichen, muß die Arbeiterklasse in den Besitz der staatsbürgerlichen Rechte gelangen, welche, eine ungehemmte Wirksamkeit im öffentlichen Leben gewährleisten. Dank der Feigheit des deutschen Bürgertums, welches für das Linsengericht wirtschaftlicher Vorteile seine polititsche Erstgeburt schnöde verschachert hat, sind wir gezwungen, auch solche Forderungen aufzu - stellen, welche in anderen Ländern, wie Frankreich, England usw., längst be - stehende Einrichtungen sind. Die Arbeiterklasse muß ferner wirtschaftlich ge - kräftigt, sie muß durch eine gute soziale Gesetzgebung auf eine höhere Stufe gehoben, vor der Verelendung gerettet und dadurch geistig und leiblich wider - standsfähig gemacht werden. Auf der einen Seite also der Kampf um die politische Freiheit, auf der anderen Seite der Kampf um den Arbeiterschutz. Jeder Erfolg treibt uns naturnotwendig dazu, für die noch nicht erfüllten For - derungen zu wirken. Und da unsere Partei sich nicht behaglich im alten Hause einrichten will, sondern darin nur vorläufig Quartier nimmt, bis das neue Haus erbaut ist, da der Klassenkampf der Hebel unserer Tätigkeit, da die Umgestaltung der Gesellschaft unser Endziel ist, so bildet jedes fernere Zugeständnis, das uns zu Teil wird, nur ein Glied mehr in der Kette. Wir wären Toren, wollten wir die Hände in den Schoß legen und auf das tausendjährige Reich warten. Wir wären aber auch Toren, wenn wir uns damit begnügen würden, die nächsten Forderungen durchzusetzen und auf die letzten zu verzichten. Jndes die Macht der Tatsachen sorgt dafür, daß wir das eine tun und das andere nicht lassen. Das Proletariat erfüllt unter dem ehernen Zwange der Notwendigkeit seine weltgeschichtliche Aufgabe, und über Bußprediger, Sektierer und kleinbürgerliche Kompromißnaturen geht es kühl und unentwegt zur Tagesordnung über.

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Jn zwei Abschnitte zerfällt der zweite Teil des Programms, in einen staats - bürgerlichen und in einen sozialpolitischen. Wir wenden uns zuvörderst den Forderungen zu, die der erstere enthält, und werden eine nach der anderen erläutern.

Erster Abschnitt.

I.

Allgemeines gleiches direktes Wahl - und Stimmrecht mit geheimer Stimmabgabe aller über 20 Jahre alten Reichsangehörigen ohne Unterschied des Geschlechts für alle Wahlen und Abstimmungen.

Während die öffentlichen Lasten und Pflichten jeden treffen, ja gerade die arbeitende Klasse überall da am schärfsten herangezogen wird, wo es sich um Beiträge und Dienste für die Gemeinschaft handelt, ist das Wahlrecht in Deutsch - land, abgesehen von dem Reichstagswahlrecht, durchgängig auf den Besitz ge - gründet. Jn Staat, Provinz, Kreis und Gemeinde ist es in der Regel an einen Steuerfuß geknüpft. Mannigfach sind die Wahleinrichtungen, aber stets ist dafür gesorgt, daß die Besitzlosen, die kleinen Leute entweder vollständig von der Wahl ausgeschlossen sind oder einen so verschwindend kleinen Anteil daran haben, daß sie stets in der Minderheit sind. Ohne Kontrolle, ohne Rücksicht übt in diesen Klassenvertretungen die Bourgeoisie die Herrschaft aus. Die große Masse verharrt im Zustande politischer Rechtlosigkeit und muß es sich gefallen lassen, daß über ihr Geschick, über ihr Dasein, über Steuern und Abgaben, über öffent - liche Einrichtungen von den Besitzenden nach deren Belieben verfügt und be - schlossen wird. Der Grundsatz, welcher im Reichstagswahlrecht zum Ausdruck kommt, daß die Angehörigen des Gemeinwesens, die mit Leib und Leben, mit Gut und Blut für dieses einstehen müssen, auch bei der Ordnung der öffentlichen Angelegenheiten mitzuraten und mitzutaten haben, muß bei allen Wahlen und Abstimmungen zur Geltung kommen. Denn was für jenes gilt, gilt auch für die übrigen. Wenn in den Einzelstaaten, in den Gemeinden usw. die rückständige Einrichtung noch mit Eifer verteidigt und festgehalten wird, so tritt dabei die unverhüllte Klassenselbstsucht zutage. Die Heuchelei, welche vor der Einführung des Reichstagswahlrechts sich breit machte und unter den nichtigsten Vorwänden für die Bildung , d. h. den Geldsack das Wahlrecht forderte, versagt heute.

Die Altersgrenze für das Wahl - und Stimmrecht auf 25 Jahre, wie im jetzigen Reichstagswahlrecht, festzusetzen, liegt kein stichhaltiger Grund vor. Alle über 20 Jahre alten Reichsangehörigen sollen nach unserer Forderung in den Genuß dieses Rechtes treten. Wer mit dem zwanzigsten Lebensjahre der Militärpflicht, d. h. der Pflicht, sich zur Aushebung zu stellen, genügt, und dem Gemeinwesen in diesem Alter die Blutsteuer zu entrichten pflegt, wer mit dem einundzwanzigsten Lebensjahre die Großjährigkeit, die bürgerliche Verfügungs - freiheit erlangt, der ist auch zur politischen Mündigkeit, zum Wahl - und Stimm - recht herangereift. Dazu tritt aber ein anderer, ein ausschlaggebender Gesichts - punkt. Tatsächlich ist die wirtschaftliche Mündigkeit für die große Mehrzahl der Reichsangehörigen, welche auf ihre Arbeitskraft angewiesen ist, schon vor dem zwanzigsten, sicher aber bis zum zwanzigsten Lebensjahre eingetreten. Schon im Kindesalter wird der Proletarier nur zu oft in das Joch der Arbeit gespannt: im jugendlichen Alter gehört er ihr bestimmt, der Zwang zum Broterwerb ist unweigerlich vorhanden. Beginnt die Selbständigkeit der Arbeiter so frühe, werden sie als selbsttätig Erwerbende schon zu Steuern usw. herangezogen, wenn die Sprößlinge der Reichen noch auf der Schulbank sitzen, steht es fest, daß durch - gängig die berufliche Ausbildung vor dem zwanzigsten Jahre erlangt wird, so ist die Altersgrenze, wie wir sie festsetzen, in jedem Betracht gerechtfertigt.

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Die Minderheit der Besitzenden wird freilich später selbständig, als die Angehörigen des Proletariats. Dazu kommt, daß das durchschnittliche Sterbe - alter des Arbeiters ein weit niedrigeres ist, als dasjenige des Reichen. Jnfolge der Ungunst der auf die Arbeiter einwirkenden Einflüsse, der aufreibenden Tätig - keit, der Entbehrungen muß er , wie der alte ehrliche Statistiker Süßmilch sich ausdrückt, früher davon , als der unter einem glücklicheren Sterne geborene, unter den günstigsten Verhältnissen sich entwickelnde Bourgeois. Schon deshalb bedeutet eine zu hoch hinauf gerückte Altersgrenze eine Verkürzung und Be - schneidung politischer Rechte des Arbeiters.

Die Frau gleich dem Manne soll das Wahl - und Stimmrecht erhalten, die Unterdrückung des Weibes durch den Mann auch auf diesem Gebiete soll be - seitigt werden. Jn einer Zeit, da die Frauenfrage zu einem der wichtigsten Bestandteile der Arbeiterfrage geworden ist, erscheint es einleuchtend, daß die Frau die ihr vorenthaltenen politischen Rechte erhält. Das Nähere über diesen Punkt siehe unter V.

Proportional-Wahlsystem, und bis zu dessen Einführung gesetz - liche Neueinteilung der Wahlkreise nach jeder Volkszählung.

Das Wahlverfahren, wie es heute für den Reichstag besteht, ist verbesserungs - bedürftig. Ein Vertretungskörper soll die Ansichten, Wünsche, Richtungen der Wählerschaft mit größtmöglicher Treue abspiegeln, so daß auch die Minder - heiten bei der Beratung und Beschlußfassung in dieser Körperschaft ihr Wort in die Wagschale werfen können. Die verschiedenen Parteien sind ferner erst dann richtig vertreten, wenn sie im Verhältnis ihrer Gesamtstimmenzahl Abgeordnete besitzen. Wenn man bedenkt, daß z. B. die Sozialdemokratie bei den letzten Wahlen von 1903 von 9495506 abgegebenen gültigen Stimmen 3010472 (fast 82 Prozent) auf ihre Kandidaten vereinigt, trotzdem aber nicht 128 Abgeordnete, wie ihr nach diesem Verhältnis gebührten, sondern nur 81 auf 397 (20 Prozent) in den Reichstag geschickt hat, so zeigt sich die Unvollkommenheit der jetzigen Wählart auf das deutlichste. Wir fordern deshalb ein Verfahren, welches die verhältnismäßige Vertretung der verschiedenen Parteien in den gesetzgebenden Körperschaften sichert. Leitender Grundsatz hierbei ist, daß die Zahl der Ver - treter einer Partei sich nach der Gesamtzahl der bei den betreffenden Wahlen für diese Partei überhaupt abgegebenen Stimmen richtet. Die Minderheiten kommen so zu ihrem Rechte, die Stärke der parlamentarischen Fraktionen ent - spricht der Stärke der Parteien, Stichwahlen kommen in Wegfall, das ganze Verfahren wird erheblich vereinfacht. Wie gegebenenfalls diese Verhältniswahlen zu ordnen sind, entscheidet die Praxis mannigfache Vorschläge dafür sind vor - handen, die wir hier nicht zu erörtern haben.

Bis zur Einführung des neuen Wahlverfahrens ist das alte, so weit es angeht, zu verbessern. Dazu gibt es nur einen Weg. Nach dem Wahlgesetze für den deutschen Reichstag soll auf je 100000 Einwohner ein Abgeordneter gewählt werden. Ein Ueberschuß von mindestens 50000 Köpfen der Gesamt - bevölkerung eines Bundesstaates berechtigt zu einem weiteren Mitglied. Be - kanntlich beträgt aber heute die Zahl der Reichstagsabgeordneten nur 397, sie entspricht also nicht dem tatsächlichen Stande der Reichsbevölkerung, sondern gründet sich auf eine vor einem Menschenalter festgestellte Bevölkerungszahl. Nun besagt zwar der Schlußsatz von § 5 des Wahlgesetzes vom 31. Mai 1869: Eine Vermehrung der Zahl der Abgeordneten infolge der steigenden Bevölkerung wird durch das Gesetz bestimmt , jedoch ist bis auf diesen Tag die auch in der Reichsverfassung (Artikel 20) vorgesehene gesetzliche Neuregelung der Ab - geordnetenzahl nicht vorgenommen worden. Die Volkszahl des Deutschen Reiches ist von 40816244 auf 46855704 in 1885 gestiegen und betrug nach den Er - gebnissen der Volkszählung von 1900: 56367178 Personen. Ein einfaches 31 Rechenexempel man hat nur mit 100000 die jedesmalige Volkszahl zu dividieren überzeugt davon, daß eine weit größere Zahl von Abgeordneten als 397 für den Reichstag gewählt werden müßte. Aus welchen Beweggründen die Regierung und die herrschenden Parteien sich davor hüten, diese Angelegenheit auch nur zu erörtern, liegt auf der Hand. Sie befürchten, daß die Neueinteilung der Wahlkreise der Arbeiterpartei einen großen Zuwachs von Vertretungen ver - schaffen würde. Bei dem Gange der Entwickelung strömen immer mehr Arbeits - kräfte nach den Sammelbecken von Handel und Wandel, nach den Mittelpunkten der Großgewerbe, nach den Großstädten. Das platte Land, ein Hauptsitz der rückständigen Parteien, entvölkert sich, die Proletariermassen werden an einer Reihe von Brennpunkten zu immer dichteren Haufen zusammengeballt, die Auf - klärung, das Klassenbewußtsein dringen in immer weitere Schichten. Die Wahlerfolge der Sozialdemokratie würden durch eine Neueinteilung der Kreise sich erheblich mehren. Die Scheu vor dem Eintritt dieses unvermeidlichen Ge - schehnisses ist die Ursache dafür, daß man an der längst veralteten Ordnung der Wahlkreise mit Zähigkeit festhält. Wir haben also dringende Veranlassung, daß Wandel geschaffen wird. Heutzutage finden sich eine Reihe von Wahlkreisen, die noch dem Wortlaut des Gesetzes statt des einen, mehrere Vertreter zu wählen hätten; sie können nur einen in den Reichstag schicken, wie irgend ein ländlicher Wahlkreis, der nur den fünften oder sechsten Teil ihrer Bewohnerzahl aufweist, sie werden demnach in der Ausübung ihres Wahlrechts auf das ärgste beein - trächtigt. Nehmen wir z. B. Berlin! Nach der Zählung von 1900 betrug seine Bevölkerung 1889000 Einwohner; sie hat heute (1905) die zweite Million schon überschritten. Trotzdem zählt Berlin nur sechs Reichstagswahlkreise, obwohl es nach seiner jetzigen Volkszahl zwanzig Abgeordnete wählen müßte. Das Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin, das 1900 608000 Einwohner hatte, wählt gerade so viele Abgeordnete, wie die Millionenstadt Berlin. Welches Miß - verhältnis, wenn der sechste Berliner Wahlkreis mit rund 700000 Einwohnern ebenso wie Schaumburg-Lippe mit 43000 Einwohnern nur je einen Vertreter wählen darf! Aehnliche Ergebnisse finden sich bei einer Reihe anderer Groß - städte, so bei Hamburg (768000 Einwohner, 8 Abgeordnete), Breslau (426000 Einwohner, 2 Abgeordnete), im Kreise Teltow-Beeskow-Storkow-Charlottenburg mit 700000 Einwohnern und 1 Abgeordneten usw.

Um mit diesem Mißstand aufzuräumen, gilt es, nach jeder Volkszählung die Wahlkreise neu einzuteilen. Erst dadurch wird eine angemessene Vertretung ermöglicht. Dem Zuwachs der Volkszahl entsprechend sind neue Kreise zu bilden, die zu groß gewordenen Kreise sind zu zerlegen, neue Reichstagssitze auf diese Weise zu schaffen. Freilich, es kennzeichnet die Absicht und Gesinnung der Herrschenden, daß der Sitzungssaal des Reichstagsgebäudes nur für 400 Ab - geordnete berechnet ist. Glaubt man auf diese Weise ungern gesehene Volks - vertreter fernzuhalten?

Zweijährige Gesetzgebungsperioden.

Die Gesetzgebungsperiode (Legislaturperiode) ist der Zeitraum, für welchen eine gesetzgebende Körperschaft gewählt ist. Jnnerhalb dieses Zeitraumes sind die der gewählten Körperschaft obliegenden Geschäfte zu erledigen; mit seinem Ablauf erlöschen die Vollmachten der Vertreter und ihrer Gesamtheit. Für den Deutschen Reichstag bestand früher eine Gesetzgebungsperiode von dreijähriger Dauer; das Gesetz vom 19. März 1888 setzte an ihre Stelle eine fünfjährige. Die Beweggründe, welche den Fürsten Bismarck, den Urheber jenes Gesetzes, und die herrschenden Parteien dazu trieben, den bisherigen Zustand zu verändern, belehren uns darüber, weshalb die Sozialdemokratie für eine kürzere Frist zu kämpfen verpflichtet ist. Die Regierung und die Mehrheit der bürgerlichen32 Kreise erblicken in der Verlängerung der Gesetzgebungsperiode ein Hemmnis der Arbeiterbewegung, das von ihnen ins Leben gerufene Gesetz war ein neuer der wievielte! Versuch, den verhaßten Gegner durch eine Zwangsmaßregel zu bedrücken und in seiner Tätigkeit einzuengen. Jede Wahl gibt der Sozial - demokratie die günstige Gelegenheit, auf breitester Grundlage und am wenigsten gehindert durch polizeiliche Quengeleien, durch gesetzliche Ränke und Schwänke, durch all den Wust arbeiterfeindlicher Paragraphen und Verordnungen, für ihre Grundsätze zu wirken. Zu wirken in den weitesten Kreisen der Bevölkerung, auch unter denjenigen, welche bei anderen Gelegenheiten, zu anderen Zeitpunkten schwer zu erreichen, und kaum aus ihrer Gleichgültigkeit aufzurütteln sind. Hier kann mit einem Schlage die Erörterung wichtiger Zeitfragen zu einer allge - meinen gemacht, hier können bis auf das weltfernste Dörfchen, bis in den letzten Winkel der Großstadt die Lehren der Sozialdemokratie getragen werden. Durch den Volkskörper rollt in solchen Zeiten das Blut in rascherem Schlage, und der stumpfste Sinn schärft sich, wird nur das Wohl und Wehe der Besitzlosen, die Not der Armen und die Mißwirtschaft der Herrschenden knapp und klar, scharf und überzeugend dargestellt.

Welche Bedeutung es für die Wähler hat, daß der Abgeordnete nach Umfluß eines kürzeren Zeitabschnittes genötigt ist, sich von neuem einer Wahl zu unter - ziehen, liegt auf der Hand. So können die Auftraggeber eine scharfe und ein - dringliche Aufsicht über ihren Vertreter üben, sein Verantwortlichkeitsgefühl wird gesteigert, die Möglichkeit, einen unzuverlässigen Abgeordneten rascher zur Rechenschaft zu ziehen und an seiner Stelle einen vertrauenswürdigeren zu setzen, ist dadurch erhöht. Was für den einzelnen Abgeordneten, gilt erst recht für die gesetzgebende Körperschaft in ihrer Gesamtheit. Je länger die Frist, welche ihr gestellt ist, desto näher liegt die Gefahr eines Mißbrauchs der Voll - machten, eines Schlendrians, der statt eifriger Tätigkeit und frischen Lebens die Schablone und die geschäftsmäßige Geschicklichkeit zur Herrschaft bringt. Die Rücksicht auf die von der Wählerschaft durch den Stimmzettel geübte Beurteilung ist um so größer und wirkungsvoller, je kürzer die Gültigkeitsdauer der Auf - träge ist. Eine arbeiterfeindliche Mehrheit, die, sagen wir fünf Jahre, ungestört wirtschaften kann, ohne den Einspruch des Proletariats fürchten zu müssen, richtet natürlich mehr Unheil an, als wenn ihre Zeit schon nach zwei Jahren zu Ende ginge und so der Wählerschaft die Gelegenheit geboten wurde, mit ihr abzurechnen und sie zu beseitigen.

Vornahme der Wahlen und Abstimmungen an einem gesetzlichen Ruhetage.

Die Wahl und Abstimmung für jeden zu ermöglichen, der wahl - und stimm - berechtigt ist, das erscheint als ein Gebot des öffentlichen Nutzens. Die Wahl ist eine zum Vorteile des Gemeinwesens zu vollziehende Handlung, jeder Wähler ist deshalb berechtigt zu fordern, daß ihm die Möglichkeit gegeben wird, unge - hindert und ungeschädigt von seinem Rechte Gebrauch zu machen. Jedes Hindernis, das ihm von Staatswegen und von seiten der herrschenden Klassen bereitet wird, stellt sich als ein Eingriff in das Wahlrecht, als der Versuch dar, jenes wertlos zu machen, auf die Gesinnung der Wähler einen widerrechtlichen Einfluß auszuüben, das Wahlergebnis zugunsten der Machthaber künstlich zu ändern. Wer zur Urne gehen will, muß in der Lage sein, dies zu tun, ohne daß er wirtschaftlich benachteiligt, in seiner Stellung, seinem Erwerbe bedroht wird. Dadurch, daß die Wahl an einem Werktage stattfindet, werden zahlreiche Wahl - berechtigte tatsächlich gehindert, sich an einer Handlung zu beteiligen, die für sie von ausschlaggebender Wichtigkeit ist. Wie viele Arbeiter, wie viele An - gestellte müssen aus dieser Ursache fernbleiben, wie Viele zwingt der Unter - 33 nehmer, sich der Abstimmung zu enthalten oder ihren Verdienst zu opfern, wollen sie ihrer Pflicht genügen! Jn den großgewerblichen Bezirken, in denen, wie in Oberschlesien, in Rheinland-Westfalen mit ihren Hüttenwerken, ihren Gruben die Aussicht und die Beeinflussung durch die Arbeitsherren und ihre Beamten eine geradezu abscheuliche ist, in den Stammsitzen der Junkerschaft, die ihre Hörigen vom Hof oder Acker zum Stimmkasten führt, wie das Lamm zur Schlachtbank, kommt dieser Mißstand haarscharf zum Ausdruck; die Wahl - einsprüche geben Zeugnis davon. Auf dem platten Lande fällt noch weiter ins Gewicht, daß nur zu oft sehr weite und schlechte Wege zum Wahlort zurückzu - legen sind, so daß der an die Scholle gefesselte Landmann statt zur Wahl zu gehen, daheim bleibt. Die Erfüllung der höchsten Bürgerpflicht, die Ausübung des höchsten staatsbürgerlichen Rechts muß gesetzlich gesichert sein. Nur wenn ein Ruhetag, durch ein Gesetz verbrieft und besiegelt, schneidig überwacht, rück - sichtslos durchgeführt, innegehalten und beobachtet, der breiten Masse in Stadt und Land die Bahn zur Urne geebnet hat, dann kann von einer wirklichen Wahl - freiheit die Rede sein. Freilich, handelt es sich um bürgerliche Streitfragen, so ist man eher bereit, Zugeständnisse zu machen. Die Berliner Kirchenwahlen, bei denen die heftigsten Kämpfe zwischen Liberalen und Konservativen sich abspielen, finden an einem Sonntage statt.

Entschädigung für die gewählten Vertreter

Das allgemeine Wahlrecht ist von den herrschenden Parteien Deutschlands sofort durchlöchert worden. Die Zahlung von Taggeldern (Diäten) an die Ab - geordneten ist durch den Artikel 82 der Reichsverfassung: Die Mitglieder des Reichstages dürfen als solche keine Besoldung oder Entschädigung beziehen rund und nett ausgeschlossen worden.

Die verbündeten Regierungen, an ihrer Spitze der blutrote Reaktionär Bismarck und das Großbürgertum erblickten in der Diätenlosigkeit der Abgeord - neten, um mit dem höfischen Staatsrechtslehrer Bluntschli zu reden, ein aristo - kratisches Gegengewicht gegen das demokratische allgemeine Stimmrecht mit seinen Gefahren eines rohen Uebergewichts der ungebildeten Massen. Mit anderen Worten: das Erfordernis eines bestimmten Einkommens oder Ver - mögens, das durch das allgemeine gleiche direkte Wahlrecht ausgeschieden war, wurde durch die Hintertür wieder eingelassen, die Reichen sollten ein Vorrecht auf die Abgeordnetenstellung erhalten, der Besitz und seine Vertreter sollten im Reichstage den Ausschlag geben. Ein bürgerlicher konservativer Geschichts - schreiber, Dahlmann, hat einst gesagt, daß nur die Diäten dem Volk verbürgen, daß seine Wahlkammer dem bürgerlichen Verdienst auch ohne das Geleit des Reichtums offen stehe . Auch die Diätenlosigkeit war ein Schachzug gegen die Arbeiterklasse, deren Vertretung man vom Reichstage ausschließen wollte. Daß dank dem bewundernswerten Opfermute des Proletariats die schandlichsten Machenschaften unserer Gegner durchkreuzt worden sind, daß es Heller für Heller aus seinen Mitteln seinen Vertretern Taggelder zahlt, ist eine der rühmlichsten Taten der deutschen Arbeiterschaft, aber es mindert nicht die handgreifliche Un - gerechtigkeit. Von den noch unter dem Sozialistengesetz 1884 gegen Hasenclever, Kräcker usw. angestrengten schmählichen Diätenprozessen und der Tatsache ganz zu schweigen, daß zwar die mit Taggeldern begabten preußischen Landboten, Junker, Unternehmer, Landräte, bei ihrer Steuererklärung die Taggelder vom steuerbaren Einkommen in Abzug bringen dürfen, die auf sich selbst angewiesenen Reichsboten dagegen ihre Auslagen auch noch versteuern müssen, eine anmutende Zugabe zur Diätenlosigkeit.

Jst es nicht ein sonnenklarer Beweis für die Absichten, welche die Herrschen - den mit der Diätenlosigkeit der Reichsboten verfolgen, daß alle diejenigen Ver - tretungen, bei denen das Wahlrecht auf den Nachweis eines bestimmten Steuer -334betrages sich gründet, ihren Mitgliedern Taggelder zahlen? So daß die in ihrer erdrückenden Mehrheit den besitzenden Schichten angehörenden Abgeordneten Entschädigungen für ihren Zeitverlust und ihre Auslagen erhalten, sie, die als Großgrundbesitzer, hohe Beamte, Fabrikanten, Großhändler es doch wahrlich nicht nötig hätten. Die preußischen Landtagsabgeordneten z. B. erhalten für den Tag 15 Mk. Die Mitglieder der zweiten Kammern und der Landtage mit Einkommeneinrichtung erhalten in allen deutschen Staaten Diäten, ebenso die Mitglieder der Provinziallandtage, Kreistage usw. Ja, während der Reichstag diätenlos bleibt, erhalten die Bevollmächtigten des Bundesrats, welcher mit dem Reichstage gemeinsam die Gesetzgebung ausübt, durchgängig hoch besoldete Be - amte, für ihre Mühewaltung von den durch sie vertretenen Staaten eine reich - liche Entschädigung. Was dem einen recht, ist dem anderen billig. Die Beauf - tragten der deutschen Wählerschaft sollen in der Lage sein, ihre Pflichten zu er - füllen, was für die unbemittelten Reichsboten nur möglich ist, wenn sie durch Gewährung von Taggeldern in den Stand gesetzt sind, ohne schwere Einbuße zu erleiden, in Berlin mitzuraten und mitzutaten. Es versteht sich am Rande, daß das eben Ausgeführte für alle gesetzgebenden Körperschaften gilt. Der Grundsatz des allgemeinen gleichen direkten Wahlrechts wird durch das Recht der Gewählten auf Taggelder ergänzt. Der heuchlerische Vorwand, daß solch ein Amt ein Ehrenamt sei, das ohne Entgelt bekleidet werden müsse, ist null und nichtig. Das Ehrenamt bedeutet das durch nichts begründete Vorrecht des Geldsacks und den Ausschluß der unangenehmen Arbeitervertreter.

Aufhebung jeder Beschränkung politischer Rechte außer im Falle der Entmündigung.

Diese Forderung richtet sich in erster Reihe gegen die Maßregeln, welche dem Proletarier seine politischen Rechte verkürzen oder rauben, deshalb, weil er ein Proletarier, ein Opfer der herrschenden Wirtschaftsweise ist. Die bürgerliche Gesellschaft ist nicht zufrieden damit, dem Arbeiter Mark und Blut auszusaugen und ihn zum Nutzen der Reichen zu einem Spielball des Kapitalismus zu machen, es genügt ihr nicht, daß Not und Entbehrungen des Arbeiters Los sind, auf daß die Besitzenden sich immer mehr bereichern können, sie ist nicht befriedigt dadurch, daß er ohne seine Schuld in den Zeiten der Krisen, der Arbeitslosigkeit, der Ge - schäftsflauheit am Hungertuche nagt. Nein, diese sittenstrenge, tugendhafte Ge - sellschaft straft den Proletarier auch noch dafür, daß er ihr Lohnsklave ist, daß er für sie seine Haut zu Markte trägt, sie entzieht ihm das Wahlrecht, wenn er in seinem Elend daß kärgliche Almosen der Armenpflege hat annehmen müssen. Es leuchtet ein, daß dieser politischen Ausbeutung, welche sich keck neben die wirtschaftliche Auspowerung der Masse stellt, ein Ende gemacht werden muß. Jst die bürgerliche Selbständigkeit dagegen infolge Geisteskrankheit usw. jemanden entzogen, so fällt natürlich für den unter Vormundschaft Gestellten auch die politische Mündigkeit fort.

II.

Direkte Gesetzgebung durch das Volk.

Die politisch mündigen Bürger eines Gemeinwesens, in welchem daß öffent - liche Leben kräftig sich regt, können sich jedoch nicht damit begnügen, einer Kör - perschaft die Gesetzgebung zu übertragen, ohne sich die Mittel der Aufsicht, der Prüfung und der Berichtigung zu sichern. Es reicht nicht aus, daß die Wahl - perioden kurz befristet sind. Diejenigen, für welche die Gesetze geschaffen werden, diejenigen, welche an ihrem Leibe die Wirkungen der Parlamentsbeschlüsse er - fahren und mit ihrem Gut und Blut dafür einzustehen haben, diejenigen, auf deren Schultern die öffentlichen Lasten ruhen, die breiten Massen des Volkes müssen zu Wort kommen, sie müssen ihre Ansicht zum Ausdruck und zur Geltung 35 bringen können. Jhnen muß in letzter Linie die Entscheidung über die gesetz geberisch bedeutsamen Fragen zufallen. Wie wir die Volkswehr und das Volks - gericht fordern, so auch die Volksgesetzgebung. Wie jeder Bürger Wehrmann und Richter werden soll, so muß, wie vordem in dem Zeitalter germanischer Volks - freiheit, jedermann wieder Gesetzgeber sein. Er muß diese Rechte zeitweise in eigener Person ausüben. Nur wenn jeder Bürger endgültig über die Gesetze ent - scheidet, schützt sich das Volk vor der Knechtschaft. Verzichtet es auf das Recht, über Gesetze den letzten Entscheid zu geben, heißt es schon in einem von Karl Bürlli an den Baseler Kongreß der Jnternationalen Arbeiter-Assoziation 1869 erstatteten Berichte, überläßt es diese Pflicht einem Einzigen oder nur Wenigen, so werden diese sich bald das Recht herausnehmen, die Gesetze nur für sich und gegen das allgemeine Wohl zu machen.

Die naturnotwendige Folge der Repräsentativ-Verfassung, d.h. derjenigen Verfassung, bei welcher das Volk durch seine Vertreter (Repräsentanten) an der Gesetzgebung mitwirkt, ist die direkte Gesetzgebung durch das Volk. Diese letztere ist nur der volkstümliche Ausbau jener Einrichtung. Schon die französische Ver - fassung von 1793 hat die leider nie in Kraft getretene direkte Gesetzgebung durch das Volk, wenn auch noch in wenig entwickelter Gestalt, als sogen. Veto, wonach eine gewisse Anzahl Stimmberechtigter Einsprache gegen ein neues Gesetz erheben kann, worauf es dem Volk zur Abstimmung vorzulegen ist. (Artikel 53, 58, 59 der Konstitution von 1793). Die politische Geschichte unseres freistaatlichen Nachbar landes, der Schweiz, ist ein lehrreiches Beispiel für den Siegeslauf jenes volks - tümlichen, historisch bedingten Gedankens. Die Volksgesetzgebung findet sich seit Jahrhunderten schon, urwüchsig-altfränkisch, in den Landgemeinde-Kantonen der Schweiz (das Handmehr, das heißt die offene Abstimmung). Reich ausgestaltet, in neuzeitlichen Formen herrscht sie heute in der Mehrzahl der Schweizer Kan - tone, am höchsten ausgebildet in Zürich. Je größer das Gemeinwesen, desto stärker der Zwang, sich den jetzigen Zuständen anzupassen, keine schwere Aufgabe in der Zeit des Dampfes und der Elektrizität. des Verkehrs, des lebhaftesten Austausches der Gedanken. Geheime Abstimmung tritt an Stelle des Handmehrs, gedruckte Erläuterungen der Gesetzesvorschläge, Erörterung in den Blättern, in Versammlungen klären die Sachlage und befähigen die Bürger, nach bestem Wissen und Gewissen über die Gesetze zu entscheiden.

Die direkte Gesetzgebung durch das Volk, wie sie sich in den größeren Staats - verbänden der Schweiz gestaltet hat. setzt sich aus zwei Bestandteilen zusammen, einem anregenden und einem beschließenden, aus dem Vorschlagsrecht des Volkes, auch Volksinitiative genannt, und aus der Volksabstimmung über die Gesetze, dem sogenannten Referendum. Zwischen beiden wirkt als regelmäßiges Organ der Rat, die gewählte Volksvertretung, der nicht mehr ein gesetzgebender, sondern nur noch ein gesetzvorschlagender, d. h. ein bloßer Ratgeber ist, dessen Rat das Volk annehmen oder verwerfen kann. So steht der Rat zwischen zwei Feuern. Schlägt er schlechte Gesetze vor, so werden sie durch die Volksabstimmung (Refe - rendum) verworfen. Will der Rat, das Parlament, keine guten Gesetze vor - schlagen, so tritt die Volksinitiative in Tätigkeit und macht selbst Vorschläge. Nach dem Züricher Grundgesetz vom 18. April 1869, an welchem auch F. A. Lange, der Verfasser der Arbeiterfrage eifrig mitgearbeitet hat, kann sich die Volksinitia - tive auf zweierlei Weise äußern. Wenn der fünfzehnte Teil des Volkes einen Vorschlag macht, muß dieser vor die Volksabstimmung gebracht werden. Macht ein Einzelner einen Vorschlag, dem ein Drittel des Rats zustimmt, muß eben - falls darüber durch das Volk abgestimmt werden. Auch die Bundesverfassung der Eidgenossenschaft kennt seit 1874 wenigstens das fakultative Referendum, und die im Grütliverein zusammengeschlossene schweizerische Arbeiterschaft hat bereits in einer Eingabe vom 5. April 1889 die Einführung des obligatorischen Referen - dums und der Volksinitiative in eidgenössischen Angelegenheiten verlangt.

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Jst die Wirksamkeit aller Parteien eine freie, ungehinderte, können die brennenden Fragen sachlich und unbefangen erörtert werden, so ist die direkte Gesetzgebung ein mächtiger Hebel der politischen Aufklärung. Je tiefer die Ein sicht der arbeitenden Klassen in die politischen und gesellschaftlichen Zustände, je mächtiger das Wachstum des Klassenbewußtseins, um so klarer und kräftiger wird die Volksgesetzgebung das zum Ausdruck bringen, was die Sozialdemokraten sind und was sie wollen. Was große Kreise der Bevölkerung wünschen, kann nicht mehr unbeachtet bleiben, es wird zur Begutachtung, zur Annahme oder Ablehnung allen Bürgern vorgelegt werden, die Volksvertretung untersteht der beständigen Aufsicht des Volkes, die Arbeiter erlangen diejenige Machtstellung, welche ihnen kraft ihrer Lage, ihrer Zahl, ihrer politischen Reife gebührt.

Selbstbestimmung und Selbstverwaltung des Volks in Reich, Staat, Provinz und Gemeinde.

Das Volk soll Herr im eigenen Hause sein, im Engeren wie im Weiteren soll es die Verwaltung führen. Die Selbstverwaltung ist hier eine wirklich demo - kratische, nicht ein Werkzeug der Besitzenden, wie dies z. B. heute in Deutschland der Fall ist. Vielmehr soll die Masse des Volkes an der Verwaltung im großen wie im kleinen Kreise teilnehmen, die Geschäfte unmittelbar oder durch von ihr frei gewählte Beamte oder Ausschüsse führen, nicht nur stets Kenntnis von der Geschäftsgebarung, sondern bestimmenden Einfluß auf diese haben. Die bureau - kratische Wirtschaft, welche von oben herab alles regelt, dem praktischen Leben fernsteht, eine Kaste der Schreibstubenherren aufzüchtet und alle Selbständigkeit erstickt, soll beseitigt werden. Jn der Gemeinde, so gut wie im Kreis, in der Pro - vinz, wie im Staat und Reich herrscht dann die freie Selbstbestimmung, die von den Bürgern der Gemeinschaft selber ausgeht. So erzieht sich das Volk selber zu politischer Tätigkeit und entwindet der Verwaltung vom grünen Tische die ihr heute eignenden Vollmachten. Man erwäge, welch umfassendes Gebiet eine durch - greifende Selbstverwaltung zu bearbeiten hat: Sicherheitspolizei, Gesundheits - wesen, Unterrichtswesen. Armenwesen. Steuer - und Finanzwesen, daß sind Gegenstände, welche ihr zufallen werden. Wenn das Volk statt des gewerbs - mäßigen Beamtentums am Steuerruder sitzt, welcher Umschwung der Verhält - nisse, welcher Sieg!

Wahl der Behörden durch das Volk, Verantwortlichkeit und Haft - barkeit derselben.

Jm engsten Zusammenhang mit den vorhergehenden Forderungen steht dieser Punkt. Er ist nur ein Glied mehr in der Reihe, und seine Begründung ist bereits in dem oben Gesagten enthalten. Die Behörden sind Vollstreckungsorgane des Volkes, sie sind deshalb vom Volke zu wählen, von ihm mit ihren Befugnissen auszustatten, ihm allein für ihre Amtsführung verantwortlich und haftbar. Ver - antwortlich nach der strafrechtlichen, haftbar nach der zivilrechtlichen Seite. Die vom Volke bestellten Beamten vom obersten bis zum letzten sind für jede Ueber - schreitung ihrer Vollmachten, für jeden Verstoß, den sie sich zu Schulden kommen lassen, zur Rechenschaft zu ziehen, sodaß einer willkürlichen, rechtswidrigen Ge - schäftsführung die Strafe auf dem Fuße folgt. Erwächst aus dem Vorgehen des Beamten ein materieller Schaden, so ist er verpflichtet, dafür aufzukommen. So werden die Behörden als Beauftragte des Volkes zu wirken haben, nicht als freie Herren und Gebieter, sie dürfen nicht nach ihrem Gutdünken schalten und walten, sie sind ihren Auftraggebern Rechenschaft schuldig. Keine fremde Autorität drängt sich zwischen die Behörden und die Nation, da jene im Sinne und nach den Grund - sätzen ihrer Auftraggeber verfahren müssen, in die sicheren Bande des Gesetzes verstrickt, durch ihre Wählbarkeit im unmittelbaren Zusammenhange mit der Be - völkerung, durch ihre Pflichten, deren Verletzung strenge Buße trifft, zur sorg -37 samen, sachlichen, unparteiischen Verwaltung der ihnen anvertrauten Zweige genötigt.

Jährliche Steuerbewilligung.

Das Recht der jährlichen Steuerbewilligung ist eine der wichtigsten Bürg - schaften eines geordneten Gemeinwesens. Die Mitglieder einer Gemeinschaft, welche die Steuerlasten zu tragen, die Mittel für die öffentlichen Ausgaben auf - zubringen haben, sind um ihre Zustimmung zu befragen, sie haben zu entscheiden, in welcher Höhe die zur Befriedigung der öffentlichen Bedürfnisse nötigen Gelder zu bewilligen sind. Der Verzicht auf die jährliche Steuerbewilligung bedeutet die Auslieferung der politischen Freiheit an die Regierung. Die große Masse, auf deren Schultern die Steuerlast am schwersten wuchtet, darf nicht bloß eine leidende, sie muß eine tätige Rolle spielen. Wie viel ist zu geben und aus was für Quellen ist die Einnahme zu schöpfen, welche den Bedarf des gemeinen Wesens deckt? Das sind Fragen, welche das Volk zu beantworten hat. Entschlägt sich das Volk seines Rechtes, so macht es die Regierung in Wirklichkeit selbstherr - lich. Jn dem Augenblick, in welchem der Regierung über ein Steuerjahr hinaus Vollmachten zugebilligt werden, wird das Parlament zum Schatten, das Volk zum Schatten dieses Schattens. Jn der englischen Verfassungsgeschichte ist der hartnäckige, unter unsäglichen Opfern an Gut und Blut geführte Kampf um die Steuerbewilligung einer der hervorstechendsten bedeutsamsten Abschnitte. Ohne dies Recht wird aus dem Säckel der Nation aufs Geradewohl gewirtschaftet, mit vollen Händen wird hier gegeben, dort genommen, der Lebensnerv des Staates wird getroffen, und die beste Handhabe, das Regiment des gemeinen Wesens in den Schranken der Verfassung und der Gesetze zu halten, ist rettungslos preisge - geben. Zum Regieren so gut wie zum Kriegführen gehört Geld, Geld und noch - mals Geld. Wie es regiert sein will, darüber verfüge das Volk: aber seine Ver - fügungsfreiheit ist ihm geraubt, öffnet es anderen ohne Kontrolle seine Taschen. Den Daumen auf den Beutel, das ist die Losung, Prüfung jeder Forderung, Uebernahme der Lasten nur auf ein Steuerjahr, keine neuen Steuern ohne drin - genden Bedarf, Steuerbewilligung und gute, d. h. volkstümliche Regierung Zug um Zug. Die jährliche Steuerbewilligung ist ein wirtschaftliches Machtmittel, das unangreifbar ist und unfehlbar wirkt, wenn hinter ihm das arbeitende Volk steht, zielbewußt und auf die Antastung seines Rechtstitels als Trumpf setzend die schlagfertige Abwehr.

So bietet sich von selbst der Uebergang zu der Frage der Wehrhaftigkeit.

III.

Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit.

Eine Jugenderziehung, welche einseitig die geistige oder die leibliche Kraft zu entwickeln und auszubilden sucht, anstatt in schönem Einklang die Zucht des Verstandes und die Leibesübungen zu verbinden, ist von vornherein verfehlt. Wie wir die reichste Entfaltung der Fähigkeiten auf dem Gebiete des Geistes fordern, so verlangen wir auch eine von Kindesbeinen an planvoll geleitete Schulung der körperlichen Stärke und Geschicklichkeit. Die sichere Grundlage für solche heilsame Aufzucht der Bürger ist die gesicherte wirtschaftliche Lage, welche jedem den Spielraum gibt, sich ungehemmt zu entwickeln, und ein gesundes, leistungsfähiges, lebensfrisches Geschlecht, frei von des Daseins gemeiner Not, nicht mehr durch die mannigfachen Arten der Ausbeutung verkümmert und ver - krüppelt, aufwachsen und gedeihen läßt. Der Bann, welcher heute auf dem werktätigen Volke lastet, seine Gesundheit zerrüttet, ihm Siechtum und ein frühes Ende bringt, die Sprößlinge der Arbeiter schon im zarten Alter in die Stickluft der Werkstatt hineintreibt und die Blüte knickt, ehe sie aufgeknospet ist, welche die Arbeiter verelenden und verderben läßt, sodaß von Jahr zu Jahr 38 immer zahlreichere Scharen Kriegsuntüchtiger aufwachsen, dieser Bann muß ge - brochen werden. Die Vorbedingung einer volkstümlichen Wehrfähigkeit ist die Verbesserung des Arbeiterloses.

Der leitende Gedanke, welcher Umfang und Weise bei Turn - und Kampf - ziele bestimmt, ist die Erziehung der Bürger zur Wehrfähigkeit. Ein freies Volk muß verstehen, die Waffen zu führen, seine kriegerische Tüchtigkeit ist ein Schutz und Schirm für den Frieden des Gemeinwesens. Schon dem Kinde ist die Auffassung einzuimpfen, daß niemand es verdient, ein Freier zu heißen, der nicht die Waffen zu führen und mit seinem Blut für die Freiheit einzustehen und für sie zu sterben weiß. Gilt es einen kecken Feind von der Heimat fern - zuhalten, der Bürger, von Jugend auf in körperlichen Künsten geübt und im Waffendienste geschult, wird den eigenen Herd und den gemeinen Nutzen mit flammendem Eifer und wackerem Mute verteidigen. Und wehe dem, welcher das geheiligte Gut der Freiheit zu versehren wagt! Die geschlossenen Reihen der für ihre gute Sache Streitenden sind schlagfertig, und an ihre Fahnen knüpft sich der Sieg. Das Volk, das für seine Rechte ficht, ist unüberwindlich, ist ihm die Spannkraft der Sehnen und Glieder nicht gelähmt und führt es die Waffen sicher und rasch. Die Schweizer Bauern, die Oesterreichs Ritterschaft auf den Grund streckten und Karls des Kühnen eiserne Scharen zerschmetterten, das französische Massenaufgebot von 1798, das die fremden Unterdrücker zu Paaren trieb, sind hier Muster und Vorbild.

Volkswehr an Stelle der stehenden Heere.

Das heutige Heerwesen beruht zwar auf der allgemeinen Wehrpflicht, aber es stellt sich in schroffen Gegensatz zum Volke, in welchem doch die Wurzeln seiner Kraft ruhen, und zerschneidet mit eiserner Folgerichtigkeit alle Bande, welche es mit jenem verknüpfen. Ein Staat im Staate, mit eigener Verfassung, eigenen Gesetzen, eigener Gerichtsbarkeit, losgelöst von den Beziehungen zu den Bürgern, durch eine Kluft von denen getrennt, aus deren Kreisen sie gekommen sind, zu denen sie zurückkehren müssen, sind die Soldaten nicht das Volk in Massen, wo - für der ruhmredige Eifer der Gutgesinnten sie ausgeben möchte. Das stehende Heer ist vielmehr der offenbare Gegensatz zu einer Volkswehr, welche alle Wehr - fähigen umfaßt, schult und sich eingliedert, die Volksbewaffnung durchführt und den Staatsbürgern die Sicherheit ihres Daseins, die Freiheit und die Wohlfahrt ihres Gemeinwesens verbürgt. Die Hunderttausende, welche heute zur Fahne einberufen werden, damit sie, woferne sie nicht zu den bevorrechteten Reichen gehören, zwei kostbare Jahre ihres Lebens im rauhen Dienste unter dem schweren Drucke eines geisttötenden Drills verbringen, sind eine Leibwache des Gewalt - herrn und ein Schutz der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung, sie stehen zum Angriffs - und zum Abwehrkriege gegen äußere Feinde bereit, sie dienen Zwecken, welche bestimmt und fest umschrieben sind durch den König der Könige, den Ka - pitalismus. Wie das Heerwesen unserer Tage auf das innigste verwachsen ist mit der heutigen Wirtschaftsweise, die ohne stehendes Heer nach innen und nach außen, als Deckung gegen die aufstrebende Arbeiterschaft und als Kampfmittel gegen den fremdländischen Wettbewerb, nicht auszukommen vermag, wie die po - litische Entwickelung das ewige Rüsten zum Zwangsgesetze des modernen Staates gemacht hat, welches ihn unaufhaltsam vorwärts in sein Verderben treibt, das tritt mit sinnenfälliger Klarheit mehr und mehr zu Tage. Bis an die Zähne ge - waffnet stehen sich die Staaten gegenüber, und der unersättliche Schlund des Kriegswesens verschlingt tausende von Millionen, die den Völkern entrissen wer - den, mögen sie auch im Jammer des Daseins vergehen und unter der stärker und stärker anwachsenden Last eines Tages zusammenbrechen. Das stehende Heer, das bedeutet die zum Zusammenbruche führende Verschuldung des öffentlichen Haushalts, das schließt in sich die Verewigung der volksverwüstenden Steuer - 39 wirtschaft, welche den Aermsten die härtesten Auflagen unbarmherzig aufhalst und durch die wachsende Verteuerung der notwendigen Lebensbedürfnisse die Massen an die Hungergrenze drängt. Der Bedarf des deutschen Heerwesens ist ein riesiger, stetig wachsender. Man bedenke, daß die Reichseinnahmen, haupt - sächlich die Erträge der Zölle und Verbrauchssteuern, zum größten Teil für jenes verwendet, daß die Anleihen gleichfalls für kriegerische Zwecke aufgenommen werden.

Jm Jahre 1876 / 77 nahm das Deutsche Reich die erste Anleihe im Betrage von 16300000 Mark auf, sein Schuldenstand betrug am 81. März 1877 (Rest der Bundesschulden usw.) 198433500 Mark. Jm Haushaltsjahr 1903 beliefen sich die Reichsschulden auf mehr als zweitausend und neunhundert Millionen Mark. Die Gläubiger des Reichs erhielten 1904 105 Millionen Mark an Zinsen. Die Ausgaben für Reichsheer und Marine (laufende, einmalige Ausgaben, Pen - sionsfonds, Jnvalidenfonds) bezifferten sich 1878 auf 882, 1876 / 77 auf 558, 1887 / 88 auf 632, 1890 / 91 auf 827 Millionen, 1904 nach dem Voranschlag auf 1007 Millionen, ohne die Kosten des südwestafrikanischen Abenteuers. Und jede neue Tagung des Reichstages bringt Forderungen, Nachtrags - und Mehrbe - willigungen, außerordentliche Ausgaben, welches jedes Jahr so regelmäßig wie die Schwalben im Frühjahr wiederkehren. Ein ungeheuerer Alp druckt auf die Brust des deutschen Michel, dem allmählich über unser herrliches Kriegsheer , das ihn an den Bettelstab bringt, gar absonderliche Gedanken aufsteigen.

An die Stelle dieser verderblichen Einrichtung, welche das Volk zu Grunde richtet, sei die Volkswehr gesetzt. Der Waffenfähige, so geschult wie wir oben gezeigt, muß für die gemeine Sache kämpfend eintreten. Eine Wehrverfassung regelt die Heranziehung der Einzelnen zum Waffendienste. Jn Friedenszeiten werden die Wehrfähigen zu kurzen Uebungen eingezogen und sorgsam im Dienst unterwiesen, für den Krieg aber werden sie auf Grund eines vorbereiteten Planes in bestimmte Gefüge eingegliedert. Jeder taugliche Bürger sei Wehr - mann, die Waffen mögen über seinem Herde hängen! Die Volksbewaffnung ist eine vollendete Tatsache, die lange Dienstzeit, die unerträgliche Ausgabenlast fallen fort, die Trennung von Bürgern und Heer hört auf, das Volksheer ist ge - schaffen. Die schweizerische Heeresverfassung, die auf diesen Grundsätzen beruht, offenbart, was eine Volkswehr auf großer Stufenleiter zu leisten vermag.

Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung.

Lebensfragen, bei denen das Geschick des Gemeinwesens, das Wohl und Wehe aller auf dem Spiele steht, sind von dem Volke oder von seiner berufenen Ver - tretung zu entscheiden. Es erhellt, daß da, wo die Sicherheit des Landes, das Dasein zahlloser Bürger, das Glück Hunderttausender von dem Ausfall einer Entscheidung abhängt, diejenigen den Ausschlag geben müssen, welche mit Gut und Blut auf die Schanze treten, die Masse des Volkes. Unter den heutigen Ver - hältnissen ist indes eine Volksabstimmung über Krieg und Frieden nicht mehr durchführbar. Bei den Spannungszuständen der Weltpolitik, bei der Raschheit der Entschließungen tritt das Ereignis oder die Folge von Ereignissen, welche zum Entscheid über Krieg und Frieden führt, so schnell ein, daß die in Friedens - zeiten übliche und zulängliche Volksabstimmung als zu schwerfällig sich erweisen und von den Geschehnissen überholt werden würde. Die von den Wählern be - stellte Vertretung übernimmt deshalb die schwere und verantwortungsreiche Auf - gabe, das lösende Wort zu sprechen und den Umständen gemäß so wie das Ge - meinwohl es erheischt, ohne Haß und ohne Neigung, mit kühler Unbefangenheit zu handeln. Jm hellen Lichte der Oeffentlichkeit verhandelt die Ratsversamm - lung, ihre Beratungen und ihr Tun unterliegen der Aufsicht und der Beurteilung der Wähler. Nur was dem Staate nützlich, was der Augenblick erfordert und die Sachlage gebietet, wird geschehen. Die Liebe zum Vaterlande ist dann kein40 leeres Wort, wenn die Massen wirklich ein Vaterland, eine Stätte haben, wo sie ihres Daseins froh werden. Die Erwählten eines aufgeklärten, freien Volkes können nur im Einverständnis mit diesem handeln, und so ergibt sich, daß ihr Wille des Volkes Wille ist. Und des Volkes Wille ist das höchste Gesetz.

Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten auf schieds - gerichtlichem Wege.

Völkerrechtliche Streitigkeiten durch die Waffengewalt zum Austrag zu bringen ist ein Verfahren, dessen Anwendung nur die äußerste Not, der härteste Zwang der Dinge rechtfertigt. Es gibt Mittel und Wege, um einen Zwist zwischen verschiedenen Staaten friedlich zu schlichten, und es ist daß ein gut - geordneter Staat sich des letzteren Verfahrens bedient, so lange ihm eine Mög - lichkeit dazu gegeben ist. Die Furchtbarkeit der Opfer, die Greuel und die er - schütternden Nachwehen eines Krieges, mag er glücklich oder unglücklich enden, zwingen mit eherner Gewalt dazu, durch gütliche Uebereinkunft, durch einen Schiedsspruch die Ursache der Verstimmung zu beseitigen und die ruhige Ent - wickelung durch ein verständiges Vorgehen zu fördern. Mit großem Erfolge sind bereits solche Schiedsgerichte tätig gewesen, blutige Zusammenstöße sind dadurch verhütet worden. Wir erinnern nur an den Streit zwischen England und den Vereinigten Staaten von Nordamerika, die berühmte 1872 entschiedene Alabama - frage. Daß einzelne Personen, so König Leopold von Belgien, so in dem Karo - linenstreite zwischen Deutschland und Spanien 1886 der Papst Leo XIII. als Schiedsrichter tätig waren, zeugt dafür, daß, wenn nur der gute Wille vorhanden ist, die Zwistigkeiten billig und gütlich beigelegt werden können. Doch eine ge - setzliche Verpflichtung, welche die Regierung unweigerlich bindet, der Volksver - tretung einen bestimmten Weg vorzeichnet, ist notwendig, um jeden Zweifel zu beheben.

Jn was für einem Geleise soll sich das öffentliche Leben bewegen? Das ist die nächste bedeutsame Frage.

IV.Abschaffung aller Gesetze, welche die freie Meinungsäußerung und das Recht der Vereinigung und Versammlung einschränken oder unterdrücken.

Ein dichtmaschiges Netz von Gesetzen und Polizeiverordnungen spannt sich in Deutschland über Vereins - und Versammlungswesen, über die öffentliche Er - örterung in Wort und Schrift1)Ueber die Musterkarte deutscher Vereinsgesetze giebt lehrreiche Auskunft die im Verlage des Vorwärts (Berlin 1905) erschienene Schrift: Das Vereins - und Versamm - lungsrecht in Deutschland. Die Bewegungsfreiheit der Parteien, welche gegen die herrschenden Zustände sich wenden, ist dadurch auf das ärgste beschränkt, das politische, wie das öffentliche Leben überhaupt in die drückende Luft des Polizeistaates gebannt. Daß die Allmacht des Staatsanwalts und der Polizei in erster Reihe gegen die Sozialdemokratie geltend gemacht werden, ist bei der grundsätzlichen Gegnerschaft derselben gegen die heutigen Zustände einleuchtend. Was wir fordern, ist indes nichts als ein schnöde preisgegebenes Erbstück aus der Hinterlassenschaft des Liberalismus aus der Zeit, da er noch jung und kam - pfesfroh war. Jn England, in der Schweiz, in Nordamerika bestehen die Zwangsbestimmungen, welche uns einengen, in keiner Weise. Jhr Fehlen, ihr Fortfall ist eine ausgezeichnete Bürgschaft der friedlichen Entwickelung. Die ge - sellschaftlichen Gegensätze verschärfen sich zusehens, der schreiende Widerspruch in der Behandlung des Bürgertums und der Arbeiterklasse springt in die Augen. Die Unternehmerverbände ungestört, ja von oben gestützt und geschützt, die Ar -41 beitervereingungen scheel angesehen, durch Nörgeleien geärgert und gehemmt oder kurzweg unterdrückt. Die Blätter mit Peinlichkeit überwacht, die freie Aus - sprache in Versammlungen durch Strafurteile geahndet und gefährdet. Die Ar - beiterbewegung will Freiheit für ihre politischen und gewerkschaftlichen Verbände, für ihre Zeitungen, für ihr gesamtes Wirken, sie kämpft diesen Kampf nicht bloß für sich, sondern für die Gesamtheit überhaupt. Die Staaten, in welchen die Freiheit der Rede und der Versammlung gewaltsam unterdrückt werden, kranken an einem unheilbaren Uebel, sie sind der Zersetzung verfallen. Die Pflichten der Staatsbürger sind so mannigfach, sie nehmen den ganzen Menschen so in An - spruch, daß diese ursprünglichen politischen Rechte die notwendige Voraussetzung bilden, ohne welche ein verfassungsmäßiges Leben sich gar nicht denken läßt. Ein - schränkung der bezeichneten Rechte, ihre Unterdrückung ist im Grunde die Herr - schaft einer verkappten Selbstherrlichkeit. Die Staatsleitung, welche keine Be - sprechung allgemein wichtiger Angelegenheiten ohne jede Einschränkung duldet, welche die Presse mit Späheraugen überwacht, jedes Wort auf die Goldwage legt und die Vereinsfreiheit zu nichte macht, ist im Kerne ihres Wesens so zarisch wie der Herrscher aller Reußen, und es ist nur ein Unterschied der Abstufung, nicht der Art, wenn dieser rücksichtsloser, als jene eingreift.

Wie sollen die Staatsbürger sich über die politischen Vorgänge ungezwungen und gründlich unterrichten, wie sollen sie ohne Rückhalt ihre Meinung offenbaren, wie ihre verschiedenartigen Wünsche und Forderungen je nach ihrer gesellschaft - lichen Stellung in Vereinen verbunden, aussprechen und verfechten, wenn der Polizeiknüttel und der Strafrichter jede Kundgebung beschränken und lahmlegen? Das Gefährliche des gegenwärtigen Zustandes ist es, daß nach dem Gutdünken der Regierung die Zügel straffer angezogen und gelockert werden können, daß das Belieben der Gewalthaber, wie es sich ergibt aus der jedesmaligen Lage der Dinge, mit den bürgerlichen Freiheiten Fangball spielen kann. Was in Preußen erlaubt ist, wird in Sachsen verboten, in Hamburg ist verpönt, was man in Hessen gestattet. Nichts ist fest und gesichert, keine deutliche Grenze ist der Will - kür gezogen, Milde wechselt mit Strenge, und der ruhende Pol in der Er - scheinungen Flucht ist einzig und allein das selbstbewußte: So will ich, so be - fehle ich! der Mächtigen.

Aber wenn die politische Unterdrückung beseitigt werden soll, wie ist die Stellung der Frau zu ordnen?

V.Abschaffung aller Gesetze, welche die Frau in öffentlich - und privatrechtlicher Beziehung gegenüber dem Manne benachteiligen.

Nur aus dem Wesen der gesellschaftlichen Einrichtungen heraus läßt sich das herrschende Recht erklären. Die Gesetze sind nichts als der Niederschlag der so - zialen Entwickelung. Die das Weib betreffenden Gesetze erscheinen als der in gewisse Rechtssätze gefaßte Ausdruck einer bestimmten Wirtschaftsweise. So ist die rechtliche Stellung der Frau ein Spiegelbild ihrer vollendeten Abhängigkeit unter der Herrschaft des Privateigentums. Wie die Arbeiter das Opfer der kapitalistischen Ausbeutung sind, so ist das Weib das Opfer der im Laufe einer jahrtausendlangen Geschichte herausgebildeten Männerherrschaft. Der Umsturz des ursprünglich herrschenden Mutterrechts, nach welchem die Ab - stammung nur in weiblicher Linie gerechnet wurde, war, wie Friedrich Engels sagt, die weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts. Der Mann er - griff das Steuer auch im Hause, die Frau wurde entwürdigt, geknechtet, Sklavin seiner Lust und bloßes Werkzeug der Kindererzeugung. Diese erniedrigte Stel - lung der Frau ist allmählich beschönigt und verheuchelt, auch stellenweise in mildere Formen gekleidet worden; beseitigt ist sie keineswegs.

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Jm öffentlichen wie im privaten Recht die Unterordnung des Weibes, die Vormundschaft und das Vorrecht des Mannes. Kein Anteil am politischen Leben, keine Freiheit der Ausbildung, der Berufstätigkeit, kein Stimm - und Wahlrecht; privatrechtlich Einschränkung über Einschränkung in der Verwaltung der eigenen Angelegenheiten, mag es sich um eine Bürgschaft, um einen letzten Willen, um die Geschicke der Familie handeln. Der Widerspruch der gesellschaft - lichen Tatsachen mit den bestehenden Gesetzen ist ein offenbarer. Die Frau ist mitten in den Strudel des wirtschaftlichen Lebens hineingerissen, sie ist auf eigene Füße gestellt, zum Erwerb außerhalb des Hauses, fern vom eigenen Herde ge - zwungen worden. Mit der Frauenarbeit, welche einen immer stärkeren Bruch - teil der gewerblichen Arbeit bildet, ist eine Gesetzgebung nicht vereinbar, welche das Weib als das durchaus abhängige Mündel des für seinen Unterhalt sorgenden Mannes auffaßt, während in Wirklichkeit das Weib immer mehr selbsttätig wird, selbst erwirbt und oft genug den gesamten Haushalt, den Mann und die Kinder zu erhalten genötigt ist. Je empfindlicher der Rückschritt der Lage des arbeitenden Volkes, desto größer die Zunahme der Ehelosigkeit, desto schärfer die Zuspitzung der Frauenfrage. Gerade das Weib, das die Männer aus einem Erwerbszweige nach dem andern verdrängt, das den schäbigsten Angriffen des Unternehmertums am meisten ausgesetzt, das unter den bestehenden Verhält - nissen zu harter Arbeit bei niedrigstem Entgelt verurteilt ist und oft genug nicht bloß seine Arbeitskraft, sondern auch seinen Leib verkaufen muß, das Weib, sagen wir, ist am hülflosesten dem Sturm und Drang des Daseinskampfes überant - wortet, ist rechtlos und mit tausend Banden gefesselt. Jm Deutschen Reich hat sich die Zahl der erwerbstätigen Frauen von 1882 1895 von 5541000 auf 6578000, um über eine Million vermehrt. Sie nahmen verhältnismäßig viel rascher zu als die erwerbstätigen Männer. Jn Jndustrie und Handel ver - mehrten sich im genannten Zeitraum die männlichen Lohnarbeiter um 53 Pro - zent, die weiblichen um 105 Prozent, ihre Zahl wuchs also doppelt so rasch, wie die der Männer. Unter den ländlichen Wanderarbeitern, den Sachsen - gängern sind die Mehrzahl weibliche Arbeitskräfte. Unter 544980 Heimar - beitern, den schlechtestbezahlten und am elendesten gestellten Arbeitern, gab es 247654 Frauen.

Gegenüber diesen nüchternen Zahlen, welche den Umschwung der Verhält - nisse klipp und klar aufzeigen, und wir stehen erst in einem der ersten Ab - schnitte dieser wirtschaftlichen Umwälzung ist die Unhaltbarkeit der Männer - herrschaft, von allem anderen abgesehen, nicht zu leugnen. Jn der Arbeiterklasse, der Trägerin einer hoffnungsreichen Zukunft, setzt sich die Veränderung am schärfsten durch und ihr ist es darum vorbehalten, auch die Frauenfrage, welche ein notwendiger Bestandteil der Arbeiterfrage ist, zu einer glücklichen Lösung zu bringen. Sie hat deshalb, unbeschadet der Rücksicht auf die aus dem Geschlechts - verhältnis sich ergebenden natürlichen Unterschiede, die schöne Aufgabe, die Aus - nahmegesetze zu beseitigen, welche die gesellschaftliche und politische Gleich - stellung des Weibes mit dem Manne noch verhindern.

VI.

Erklärung der Religion zur Privatsache.

Jst die Meinungsfreiheit und die Gleichstellung aller seiner Angehörigen ein Erfordernis jedes gesitteten Gemeinwesens, so ergibt sich, daß jeder auch in Glaubenssachen befugt ist, sich allein nach seiner Ueberzeugung zu richten und zu dem Glauben sich zu bekennen, welchen er für den besten hält. Die Gemein - schaft hat demnach die vollkommene Bekenntnisfreiheit zu verbürgen. Diejenigen, welche die Entwickelungsstufe des religiösen Bewußtseins hinter sich, welche sie überwunden haben, müssen den gleichen Rechtsschutz, dieselbe Sicherheit, wie die43 Gläubigen genießen. Dieser Grundsatz der Duldsamkeit ist auf das strengste durchzuführen, eine Pfaffenherrschaft ist gleich unerträglich, mag die Pfäfferei als Gottesleugnerin oder als Gottesbekennerin auftreten. Was ein Staats - bürger oder ob er etwas glaube, ist ihm zu überlassen. Der Staat hat sich jeder Einmischung in diese Privatangelegenheit zu enthalten, er darf einen Gewissens - zwang weder üben, noch dulden. Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, poli - tischen Aufgaben eines Gemeinwesens dürfen nicht mit Dingen verquickt werden, bei denen der Einzelne allein zu entscheiden hat. Eine Staatsreligion, von Amtswegen vorgeschrieben, eine herrschende Stellung gegenüber Andersgläubigen und Nichtgläubigen einnehmend, ist ein Unding, jede Art des sogenannten Kul - tur kampfes muß auf das Entschiedenste verworfen werden. Hinter der spa - nischen Wand der Staatsreligion versteckt sich der Kampf um Herrschaft und Be - sitz, die Absicht der wirtschaftlichen Unterdrückung.

Abschaffung aller Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln zu kirchlichen und religiösen Zwecken.

Da der Staat die Religion als Privatsache zu betrachten hat, so ist er nicht berechtigt oder verpflichtet, öffentliche Mittel für kirchliche und religiöse Zwecke zu verwenden. Die Einnahmen des Staatssäckels fließen aus den Beiträgen aller Angehörigen des Gemeinwesens ohne Unterschied des Bekenntnisses, die Steuerpflicht trifft jeden, mag er sich zu einem Glauben bekennen oder nicht. Es geht deshalb nicht an, daß die öffentlichen Gelder, welche die Bedürfnisse des Staates decken sollen, zu Nutz und Frommen einer Kirche, eines religiösen Be - kenntnisses in Anspruch genommen werden. Sonst werden aus der Tasche der Allgemeinheit die Ausgaben für Sonderzwecke bestritten, welche nicht für die Gesamtheit, sondern nur für einen größeren oder kleineren Bruchteil Bedeutung haben. Daß übrigens die streng durchgeführte Trennung der Kirche vom Staat nicht den Niedergang einer Religionsgemeinschaft bedeutet, wenn nur deren soziale Grundlagen noch gesichert find, zeigt das Beispiel des Katholizismus in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Dadurch daß das politische Dasein eines Bekenntnisses, sein staatliches Vorrecht erlischt, ist die Entfaltung dieses Bekenntnisses keineswegs unmöglich gemacht. Jm Gegenteil! Erst wenn die ge - schichtlichen Lebensbedingungen einer Religion, die immer in einem gesellschaft - lichen Grunde wurzelt, zerstört sind, erst wenn die Massen sich von ihr befreien und an ihre Stelle eine neue Weltanschauung setzen, eine Befreiung, welche Hand in Hand mit der Befreiung der Unterdrückten überhaupt geht, erst dann ist das Todesurteil über eine, über die Religion in ihrer jetzigen Gestalt gesprochen.

Keinesfalls aber soll der Staat die Rolle eines schlechten Haushalters spielen, der für fremde Zwecke, welche gar nicht in den Bereich seiner Tätigkeit fallen, zum Schaden des Haushalts seine Einkünfte verwendet. Sache der Glaubens - gemeinschaften ist es, durch den Bestand aus eigener Kraft ihre Lebensfähigkeit zu erweisen.

Die kirchlichen und religiösen Gemeinschaften sind als private Vereinigungen zu betrachten, welche ihre Angelegenheiten vollkommen selbständig ordnen.

Hat der Staat kein Einspruchs - oder Aufsichtsrecht, hat er nichts drein - zureden und zuzuschießen, so leuchtet es ein, daß die von den Bekennern eines bestimmten Glaubens gebildeten Verbände, ihre kirchlichen und religiösen Ge - meinschaften, nach dem Grundsatze einer unbeschränkten Selbstverwaltung ge - leitet werden. Ueber die Art und Weise der Wirtschaftsführung, über die Ein - richtungen des kirchlichen Dienstes, der Gebräuche und Satzungen entscheidet die Gemeinschaft. Jn welchen Bahnen diese Verwaltung sich bewegt, wie sie geordnet ist, was für Grundsätze in der Lehre und dem Leben einer kirchlichen und 44 religiösen Gemeinschaft gültig sind, kümmert bloß ihre Angehörigen. Ob die Beschlüsse, Glaubenssätze, Gesetze dieser privaten Bereinigungen vor der Wissen - schaft Stich halten oder nicht, ob sie mit der Aufklärung in Widerspruch stehen oder ihr Zugeständnisse machen, kommt für das Staatswesen nicht in Frage. Der Staat darf nicht der Büttel sein, welcher der Ueberzeugung eines Einzelnen oder einer Gemeinschaft mit Knebel und Handschellen zu Leibe geht. Die geistige Entwickelung wird mit allen Rückständen aufräumen, und auf dem Felde des Unterrichts hat das Gemeinwesen sich zu bewähren.

VII.

Weltlichkeit der Schule.

Jst die Religion Privatsache, ihre Pflege das Werk privater Verbände, so ist folgerichtig die Schule, welche alle ohne Unterschied unterrichtet und im Dienste der Gesamtheit steht, eine rein weltliche Einrichtung. Der Unterrichts - zweck ist die geistige Ausbildung, die Ueberrnittelung eines bestimmten Wissens, einer Reihe tatsächlicher Kenntnisse, die geistige Ausbildung des heranwachsenden Geschlechts. Die Unterweisung der Kinder mit religiösen Dingen zu verquicken ist ein grundsätzlicher Fehler. Die Mitwirkung kirchlicher Kräfte beim Unterricht ist deshalb unzulässig, die religiöse Unterweisung der Kinder, soweit eine solche von der Familie für nötig gehalten wird, ist von dem Schulplane auszuschließen. Hier etwas zu tun, ist Sache der Eltern oder ihrer kirchlichen Gemeinschaft; die Schule wahrt ihr weltliches Wesen und hält sich von allen Beziehungen zu irgend einem Glaubensbekenntnis fern. Sie erfüllt ihre Pflicht, wenn sie die erforder - liche Summe von Kenntnissen und Fertigkeiten den Kindern mitteilt, durch gute Zucht das kindliche Gemüt veredelt, schon in dem Kinde die Liebe zur Freiheit pflegt und für die Einsicht in die staatsbürgerlichen Pflichten und Rechte vor - sorglich sich bemüht. Die Schule erziehe kenntnisreiche Menschen, gute Staats - bürger, aber sie mache sich nicht zum Werkzeuge irgend einer kirchlichen Richtung.

Obligatorischer Besuch der öffentlichen Volksschulen.

Die Schulpflicht ist zu einer Volksschulpflicht zu erweitern. Wenn alle Kinder ohne Rücksicht auf die Stellung ihrer Eltern eine Schule zu besuchen ge - halten sind, dann wird die Volksschule ihren Namen mit Recht verdienen. Dann wird sie auch die natürliche Vorstufe für die höheren Unterrichtsstufen sein und den unmittelbaren Uebergang eines jeden Befähigten von jener zu dieser ermög - lichen. Heute trägt die Volksschule durchgängig die kapitalistischen Stempel an der Stirne, sie ist in der Regel ihrem Wesen nach eine Armenschule, welche die notdürftigsten Anfangsgründe einiger Fächer unzulänglich lehrt. Die Schulen sind überfüllt, die schlechtbezahlten Lehrkräfte ungenügend. Jn Preußen wurden noch 1901 858000 Schulkinder in überfüllten Klassen unterrichtet. Als überfüllt gelten aber erst Klassen mit mehr als 70, in einklassigen Schulen sogar erst solche mit mehr als 80 Schülern. Jn Norwegen dagegen darf keine Klasse mehr als 40 Schüler zählen. Die Zahl der Volksschüler, die wegen Raummangels in den Volksschulen nicht Aufnahme fanden, hat in Preußen zugenommen, von 2409 im Jahre 1896 auf 2735 im Jahre 1901. Noch mehr wuchs der Lehrermangel. Von 1896 bis 1901 stieg die Zahl der unbesetzten Lehrerstellen von 472 auf 1862. 1)Näheres in Der preußigsche Landtag , Handbuch für sozialdemokratische Landtags - wähler. Berlin, Verlag der Buchhandlung Vorwärts, 1903.Der gesetzlich festgestellte allgemeine Zwang zum Besuche der Volksschule hebt diese auf einen höheren Stand, löscht den ihr heute anhaftenden Klassencharakter aus, und wandelt sie zugleich in eine Vorbereitungsanstalt für die weiteren Bildungsstufen um.

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Unentgeltlichkeit des Unterrichts, der Lehrmittel und der Ver - pflegung in den öffentlichen Volksschulen, sowie in den höheren Bildungsanstalten für diejenigen Schüler und Schülerinnen, die kraft ihrer Fähigkeit zur weiteren Ausbildung geeignet erachtet werden.

Wie das Gemeinwesen die aus der Wehrpflicht erwachsenden Ausgaben be - streitet, so hat es auch die aus der Schulpflicht sich ergebenden Ansprüche zu be - friedigen. Es gibt wenige Auslagen aus öffentlichen Mitteln, welche so wohl - begründet und so fruchtbringend sind. Wenn die Staatsbürger ihre öffentlichen Pflichten erfüllen sollen, so hat der Staat die wirtschaftliche Grundlage dafür zu schaffen. Wie kärglich sind heute die Volksschulen bedacht, in wie glänzender Lage befinden sich dagegen die von den Besitzenden benützten Anstalten! Ein Vergleich der für einen Volksschüler, für einen Gymnasiasten oder Besucher der Hochschule ausgeworfenen Mittel offenbart auch hier die Tatsache, daß. die Be - sitzlosen zu Gunsten derer, die etwas haben, unterdrückt und benachteiligt werden. Jn Preußen kostete 1896 der Elementarschüler 30, der Besucher höherer Schulen (Gymnasien usw. ) über 200, der Universitätsstudent über 800 Mark, der Gym - nasiast also 6mal, der Student mehr als 20mal so viel wie der Volksschüler. Und der Volksschüler besucht die Schule höchstens 7 bis 8 Jahre, der Sprößling der besitzenden Klaffe 12 bis 14 Jahre das Gymnasium, 4 bis 5 Jahre die Uni - versität. Das Arbeiterkind kostet also die Gesellschaft für Bildungszwecke etwa 290, der Gymnasiast 2800, der Student aber (Universität und Gymnasium zu - sammen) 6 7000 Mark, also mehr als das zwanzigfache dessen, was für das Proletarierkind verausgabt wird. Die große Masse, welche von der Hand in den Mund lebt, sie, welche am Ende unmittelbar oder mittelbar die sämtlichen Staatsmittel aufbringt, bedarf der Schulgeldfreiheit, der unentgeltlichen Lehr - mittel und auch der Verpflegung der die Schule besuchenden Kinder. Die hungern - den Kinder, diese Geschichte, so regelmäßig in den Zeitungen wiederkehrend, machen die Schulpflicht zum eitlen Gespött. Mit leerem Magen lernen, welch ein Hohn auf die vielgepriesene Zeit des Fortschritts ! Die Beköstigung der Schul - kinder ist nur eine kleine Abschlagszahlung angesichts des Massenelends. Aber die Unentgeltlichkeit des Unterrichts, die Verpflegung sollen in der Schule all - gemein sein.

Werden ferner die Befähigten unentgeltlich die höheren Lehranstalten be - suchen, so fällt das heute bestehende Vorrecht der Besitzenden auf die wissenschaft - liche Bildung. Unter den jetzigen Verhältnissen sind dem Proletarier Tür und Tor dazu verschlossen, und nur ein seltener Glücksfall verschafft ihm Zutritt. Aber dies ist ein Treffer unter unzähligen Nieten. Die bürgerliche Gesellschaft läßt Tausende verderben, die kraft ihrer Begabung in Kunst und Wissenschaft Vorzügliches geschaffen hätten, in der Tretmühle der Lohnknechtschaft gehen die besten Köpfe jämmerlich zugrunde. Und wie gewaltig, wie ergreifend ist der Wissensdrang der Arbeiterklasse, die trotz der Jämmerlichkeit der herrschenden Zustände den Kampf um das Wissen mit Begeisterung kämpft und die abge - stumpften, geistig abgewirtschafteten Großbürger durch ihren Schwung und ihre Einsicht in die gesellschaftlichen Zusammenhänge tief beschämt!

Neben die Sicherung des Unterrichts tritt der Schutz der Rechtssicherheit

VIII.

Unentgeltlichkeit der Rechtspflege und des Rechtsbeistandes.

Heutzutage steht für große Schichten der Bevölkerung der Rechtsschutz nur auf dem Papier. Die beim Suchen des Rechts erwachsenen Kosten machen es dem Armen in vielen Fällen unmöglich, die richterliche Entscheidung herbeizu - 46 führen. Der Verzicht darauf, durch die Not erzwungen, überliefert die Prole - tarier nur zu oft der Willkür irgend eines Reichen, schädigt ihn in seiner Ehre und in seinen wirtschaftlichen Verhältnissen, macht ihn in Wirklichkeit da recht - los, wo die Besitzenden sich ausgiebig zu schützen vermögen. Der Einwand, daß die Kostenlosigkeit der Rechtspflege die Zahl der Prozesse ins Ungeheure steigern werde, ist die verkleidete Lehre von der Erbsünde, ins Rechtliche übersetzt. Hier die erschreckende Zunahme der Klagen und Verhandlungen, dort die angeborene Schlechtigkeit der menschlichen Kreatur, hüben wie drüben als Wirkung Scheuel und Greuel. Mag die Uebergangszeit die Zahl der Prozesse auch ziemlich steigen machen, der Strom wird bald in seine Ufer zurücktreten, die Gewöhnung das Gleichgewicht wiederherzustellen. Derartige Einwürfe lassen sich zuletzt gegen jede Neuerung vorbringen. Und nimmt auch die Zahl der Prozesse zu, so ist es wichtiger, daß jeder, der sein Recht sucht, es auch finde, als daß der Geldsack das Sesam bleibt, welchem der Fels sich öffnet. Das Rechtsbewußtsein des Volkes zu schärfen, es an den Kampf ums Recht zu gewöhnen, ist auch ein Stück Er - ziehung und wahrlich nicht das geringste. Heute schreckt die Kostenrechnung von Gericht, Gerichtsvollzieher, Anwalt nur zu Viele ab, denen bitteres Unrecht widerfahren ist, weil ihre wirtschaftliche Lage keine derartige Belastung erträgt.

Eine immer tiefere Kluft scheidet das Rechtsbewußtsein des Volkes von den Ergebnissen der gelehrten Rechtsprechung unserer Tage. Der Widerstreit zwischen der neuen Weltanschauung, wie sie von der Arbeiterklasse vertreten wird, und dem in der bürgerlichen Welt wurzelnden Richterstand ist nur eine Wiederholung des Klassengegensatzes, ein Zusammenstoß zwischen Besitzenden und Besitzlosen auch aus diesem Schlachtfelde. Es ist ein alter Grundsatz, den wir verfechten, wenn die Wahl der Richter durch das Volk von uns gefordert wird. Vor seines - gleichen Recht suchen und Recht finden, vor solchen Richtern seine Sache führen, die mit dem Wohl und Wehe, dem Denken und Empfinden, den wirklichen Zu - ständen der großen Masse vertraut sind und unbefangen kraft ihrer Einsicht in die Verhältnisse urteilen und entscheiden, ist daß nicht ein wohlbegründetes Ver - langen? Das Vertrauen, das wir dem Richter entgegenbringen müssen, wird dann sich am leichtesten finden, wenn das Volk sich seine Richter selbst erliest. Jn der Schweiz geschieht dies schon heute.

Berufung in Strafsachen.

Die Berufung, das Rechtsmittel, wodurch ein gerichtliches Urteil angefochten werden kann, um eine nochmalige Prüfung und Entscheidung der Sache durch das zuständige höhere Gericht zu erlangen, ist zurzeit in Deutschland so gut wie beseitigt. Gerade für diejenigen Strafsachen, bei denen die wichtigsten Dinge auf dem Spiele stehen, für die, welche in den landgerichtlichen und schwurgericht - lichen Kreis gehören, gibt es keine Berufung. Jn schwereren Fällen, wo es sich um lange und entehrende Freiheitsstrafen handeln kann, besteht kein Rechts - mittel, das zur Erbringung neuer Tatsachen und Beweismittel, zur Aufhellung und Richtigstellung von Jrrtümern geeignet ist. Unter den berufsmäßigen Richtern herrschen oft die einseitigsten Ansichten, der Angeklagte entnimmt häufig genug erst aus den Verhandlungen der ersten Jnstanz, auf was es eigentlich an - kommt. Jst das Strafmaß zu hoch bemessen, so kann es ohne Berufung nicht herabgesetzt werden. Aus dem Anwaltstande heraus, der in solchen Fragen sicherlich sachkundig ist, sind diese zutreffenden Gründe geltend gemacht und auf dem deutschen Anwaltstag und dem deutschen Juristentag näher erörtert worden. Auch im Reichstag ist die Frage, leider ohne entschieden zu werden, schon mehreremal verhandelt worden. Die Revision, die heute allein in jenen Straf - sachen zulässig ist, welche von den Strafkammern der Landgerichte und den Schwurgerichten verhandelt werden, beschäftigt sich allein mit der Frage, ob die47 tatsächlichen Feststellungen rechtlich richtig sind, nicht aber ob die tatsächlichen Feststellungen selbst der Wahrheit entsprechen. Was für Unheil dieses Fehlen einer Jnstanz, welche von neuem die Sache wiederholt gründlicher und sorg - fältiger prüft, schon angerichtet hat und noch anrichten wird, dafür gibt es der Beispiele zur Genüge. Den Geist unserer Gesetzgebung kennzeichnet es, daß die Berufung in Strafsachen, abgesehen von den schöffengerichtlichen Bagatellsachen, schlankweg beseitigt ist, also gerade für die Angelegenheiten, welche die große Masse am meisten angehen, daß dagegen in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, welche sich um Fragen des Privateigentums in erster Reihe drehen, die Berufung zwar eingeschränkt, aber nicht aufgehoben ist. Der Mangel einer Berufung trifft am wuchtigsten die arbeitende Klasse, für die Kapitalisten, welche die er - drückende Mehrheit der bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten für sich in Anspruch nehmen, ist dagegen weit besser gesorgt. Hier Wandel zu schaffen, hier einen Schutzdamm gegen Einseitigkeit, gegen Befangenheit, gegen Jrrtum und un - billiges Verhalten zu errichten und Justizmorde zu verhüten, ist eine For - derung, welche von jedem menschlich Gesinnten unterstützt werden kann.

Entschädigung unschuldig Angeklagter, Verhafteter, Verurteilter.

Schuldlos vor den Strafrichter gebracht, angeklagt zu werden, die auf - reibende Qual einer Untersuchungshaft zu erdulden, ungerecht verurteilt zu werden und im Kerker zu schmachten, an Leben und Gesundheit, an Vermögen und Ehre geschädigt zu werden, welch furchtbares Unglück für den Betroffenen, der darüber samt den Seinen elend zu Grunde gehen kann! Und was bietet ihm, in welchem das Rechtsgefühl, das Volk tödlich beleidigt ist, ihm, der durch die unbegründete Anklage, durch die ungerechte Verhängung der Untersuchungs - haft durch die kraft eines irrtümlichen Richterspruches ausgesprochene Strafe die schwersten Nachteile erduldet, der Staat als Entgelt? Jn Deutschland so gut wie nichts, denn die Entschädigung solcher, die zu Unrecht verurteilt wurden, und die es vermögen, im Wiederaufnahmeverfahren ihre Unschuld zu erweisen, ist eine ganz ungenügende. Und unschuldig Angeklagte und Verhaftete werden überhaupt nicht entschädigt. Der Staat, welcher bei Zwangsenteignungen die volle Entschädigung zahlt, gibt keinen Heller, wenn er einen Unschuldigen ver - folgt und in Untersuchungshaft nimmt. Die Proletarier, die kleinen Leute, die Handwerker, die Bauern, welche solch ein unverschuldetes Mißgeschick trifft, sind nicht, wie der Reiche imstande, durch Bürgschaft, durch schnelles Eingreifen eines Rechtsbeistandes eine Haft abzuwehren, zu mildern, zu kürzen. Wenn ein Arbeiter eines Vergehens verdächtig erscheint, wie schnell sitzt er oft hinter Schloß und Riegel, mag seine Unschuld dann auch später zutage treten! Nicht bloß für die unschuldig Verurteilten, auch für die unschuldig Jnhaftierten ist eine Entschädigung zu gewähren. Wenn dem grundlos in Untersuchungshaft Ver - strickten ein Rechtsanspruch zusteht, wird man dieselbe fernerhin vorsichtiger anwenden und nicht mehr bei uns mit der persönlichen Freiheit so rücksichtslos umspringen, wie bisher. Bereits der italienische Forscher Beccaria schrieb im Jahre 1764: Der Bürger sitzt in Untersuchungshaft und leidet, nicht weil man weiß, daß er schuldig ist, sondern weil man es nicht weiß. Daß ferner schon die gegen einen Unschuldigen erhobene Anklage bei der jetzigen Sachlage für ihn von beträchtlichem Nachteil sein kann, leuchtet ein. Der Geschäftsmann, der Hand - werker, der unter der Anklage eines ehrenrührigen Vergehens steht, erscheint bemakelt und verfällt der gesellschaftlichen Aechtung, und dies bedeutet nur zu leicht den Vermögensverfall. Der Arbeiter verliert dann oft seine Arbeit, ist dem Elend überliefert und gerät in die schlimmste Notlage. Also auch hier ist eine Entschädigung angemessen.

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Abschaffung der Todesstrafe.

Es ist nicht nachzuweisen, daß die Zahl der Morde sich vermindert hat, weil auf sie Todesstrafe gesetzt ist. Wenn man daran festhält, daß die Ursache des Verbrechens als eine Massenerscheinung in den gesellschaftlichen Zuständen zu suchen ist, daß das Auf und Ab der wirtschaftlichen Lage den bestimmenden Ein - fluß auf die Mehrzahl der Vergehen und Verbrechen übt, daß die Not der Nähr - boden der meisten Frevel ist, so ist von vornherein schon der Glaube an die Abschreckungslehre, welche mit den rohesten Mitteln arbeitet, in seiner Nichtigkeit erkannt. Die Auffassung aber, welche die Strafe als Werkzeug der Besserung des Verbrechers betrachtet, versagt gegenüber der Todesstrafe, welche mit dem Verbrecher die Möglichkeit seiner Besserung vernichtet. Jm Grunde ist die Todesstrafe nur das barbarische Ueberbleibsel einer früheren Gesellschafts - verfassung, sie ist die in rechtliche Hüllen vermummte alte Blutrache. Grausam und zweckwidrig, ist sie ein Hohn auf die vielgerühmte moderne Gesittung, fügt sich indes willig in den Rahmen einer Ordnung der Dinge ein, welche den Massenmord im Kriege verherrlicht und die langsamere oder raschere Zerstörung zahlloser Arbeiterleben, den mehr als herodischen Kindermord der Heimarbeit und des Großgewerbes die Hungerkrankheiten der Armen zu ihren Lebens - notwendigkeiten zählt. Schon der eine Einwand reicht aus, um die ganze Ein - richtung in ihrer Verwerflichkeit zu kennzeichnen, daß nämlich durch ein irrtüm - liches Urteil auch ein Unschuldiger, dem Henker überliefert, daß ein Justizmord begangen werden kann. Wie viele deren begangen worden sind und begangen werden, wer weiß es! Es gibt sicherlich mehr als einen Jean Calas, der seinen Voltaire noch nicht gefunden hat. Daß das Verzeichnis der als solcher bekannt gewordenen Justizmorde lang genug ist, um der Todesstrafe das Todesurteil zu sprechen, ist bekannt genug. Und in Deutschland steht auch auf politischen Ver - brechen die Todesstrafe. Vor der Einführung des norddeutschen Strafgesetz - buches war die Todesstrafe in Anhalt, Bremen, Oldenburg und im Königreich Sachsen abgeschafft; der norddeutsche Reichstag hatte sich 1870 gegen ihre Ein - führung entschieden, war aber dann vor dem Kürassierstiefel des damals all - mächtigen Hausmeiers Bismarck in die Knie gesunken. Jn Rumänien, Holland, Portugal, in einigen nordamerikanischen Staaten und in vielen Schweizer Kantonen besteht sie nicht. Wir haben diese Einrichtung, und es ist die höchste Zeit, daß sie beseitigt werde.

IX.

Unentgeltlichkeit der ärztlichen Hülfeleistung einschließlich der Geburtshülfe und der Heilmittel.

Jm Kampfe ums Recht sei jedes Glied der Gemeinschaft gesichert, im Kampfe gegen Krankheit soll ihm gleichfalls Schutz und Hülfe zu Teil werden.

So verfehlt und kleinlich die deutsche Krankenversicherung ist, so erkennt sie doch den Grundsatz an, daß das Gemeinwesen für seine erkrankten Mitglieder Fürsorge zu treffen hat. Viel ist noch zu tun, um diese Fürsorge würdig und ausreichend zu gestalten. Während der heutige Staat den Geistlichen besoldet, weil dieser ein Arzt der Seele sei, hat er sich noch nicht dazu bereit gefunden, den für das Wohlergehen der Menschen so wichtigen Arzt des Leibes zum Staats - diener zu machen. Die Gesundheitspflege ist eine so hervorragende gesellschaft - liche Aufgabe, daß die weitgehendsten Maßregeln in diesem Betracht nur zu billigen sind. Das Gemeinwesen bedarf gesunder, leistungsfähiger Angehöriger, der Nutzen des einzelnen deckt sich hier mit dem der Gesamtheit, die Herabsetzung der Erkrankungshäufigkeit, das rasche, sorgfältige Eingreifen des Arztes ist eine öffentliche Pflicht. Die Heilmittel gehören zur ärztlichen Hülfeleistung, die Unentgeltlichkeit dieser bedingt die unentgeltliche Lieferung von Arznei, Bruch - 49 bändern, Brillen usw. Für das Weib in Kindesnöten, welches der Gemeinschaft neue Mitglieder gebären wird, die Geburtshülfe unentgeltlich zu machen, ist gleichfalls ein Erfordernis der Menschlichkeit und der gesellschaftlichen Einsicht. Was heute die Krankenhäuser, die Gebäranstalten der Staaten, Kreise, Ge - meinden, in welchen Unbemittelte umsonst Aufnahme finden, nur unvollkommen leisten ganz abgesehen von dem dieser Hülfe anhaftenden Merkmale der Armenpflege , das hat auf breitester Grundlage die Gemeinschaft zu ihrem eigenen Vorteile durchzuführen.

Unentgeltlichkeit der Totenbestattung.

Uebernimmt die Gemeinschaft die oben gekennzeichneten Pflichten, so ist die Unentgeltlichkeit der Totenbestattung aus den gleichen Gründen zu fordern. Jn Zürich besteht sie bereits heute. Der schroffe Gegensatz zwischen dem widerlichen Prunk einer großbürgerlichen Bestattung und einem Armenbegräbnisse fällt dann fort, wenn das Gemeinwesen für alle die gleiche Verbindlichkeit übernimmt, ohne einen Unterschied zwischen Reich und Arm zu machen. Kein Nasenquetscher mehr für den Proletarier, kein Prachtsarg für den Großbürger!

X.

Stufenweis steigende Einkommen - und Vermögenssteuer zur Bestreitung aller öffentlichen Ausgaben, soweit diese durch Steuern zu decken sind.

Wie sollen die öffentlichen Lasten getragen werden? Offenbar ist jeder hierzu gemäß seiner Leistungsfähigkeit heranzuziehen. Der leitende Gedanke müßte sein: Jeder nach seinen Kräften, nach seinem Vermögen. Jn Wirklichkeit ist die Steuerbürde ungleichmäßig verteilt, so daß die wirtschaftlich Schwachen weit schwerer getroffen werden, als die wirtschaftlich Starken. Daß dem so ist, stellt sich dar als eine Wirkung der Klassenherrschaft, welche die Besitzlosen zum Gegenstande der Ausbeutung auch auf dem Gebiete der Steuerpolitik gemacht hat. Das Kapital in seinen verschiedenen Erscheinungswesen weiß die ihm auf - gelegten Beiträge zu den Kosten des öffentlichen Haushaltes mittelbar oder un - mittelbar von sich auf andere abzuwälzen, und in letzter Reihe sind es jedesmal die Arbeiter, welche die Zeche zu zahlen haben. Von den indirekten Steuern hier noch ganz zu schweigen, ist die bunte Mannigfaltigkeit der übrigen Steuern (Grund -, Gebäude -, Gewerbesteuer usf. ) nicht imstande, die Steuerpflichtigen überhaupt oder so wie es ihrer Steuerkraft entspricht, heranzuziehen. Die Steuer wird überwälzt. Jmmer mehr bricht sich deshalb die Ueberzeugung Bahn, daß die Quelle, aus welcher zu schöpfen ist, das Einkommen sei, dessen Wesen in der mehr oder minder regelmäßigen Wiederkehr gewisser Einkünfte besteht. Das Einkommen ist es, welches die Steuerkraft bedingt, und deshalb ist die Einkommensteuer die Grundlage einer gerechteren Besteuerung. Erst im neunzehnten Jahrhundert hat sie weitere Verbreitung gefunden, doch ist sie zumeist mangelhaft, nur zu oft Lückenbüßer und Notbehelf, und eben nur ein Glied eines vielverzweigten Besteuerungswesens. Haben wir auch in Preußen, Sachsen, Baden, Hessen usw. die allgemeine, alle Einkommenszweige treffende Einkommensteuer, während sie in Bayern und Württemberg nur bestimmte Arten des Einkommens trifft, so trifft für sie doch das eben Gesagte zu.

Soll eine durchgreifende Aenderung im Sinne eines richtigen Ausmaßes der Auflagen sich vollziehen, so muß eine einzige allgemeine Einkommensteuer an Stelle der mannigfachen Abgaben treten. Unsere Forderung hat ihre Vor - geschichte. Für die Vielheit die Einheit zu setzen, schlug, um nur einen zu nennen, Marschall Vauban, einer der besten Männer Frankreichs, in seiner 1707 ge -50 druckten Schrift: Der königliche Zehnte (Dime royale) vor. Er wollte in Hinblick besonders auf das Los des von Adel und Königtum ausgewucherten, im Elend verkommenden Landvolkes, dessen Geschick er ergreifend schildert, und unter ausdrücklicher Schonung der Kleinhandwerker und Arbeiter, des kleinen Volkes , eine einzige Einkommensteuer, allerdings unter Beibehaltung einiger Verbrauchsabgaben. Er lehrte schon, daß das Einkommen der Maßstab der Steuer sein müsse. Der geheime Rat des Königs Ludwig XIV. antwortete verständnisinnig auf die Vorschläge Vaubans durch einen Beschluß vom 14. Februar 1707, welcher anordnete, der Königliche Zehnte sei zu beschlag - nahmen und in der Papierstampfe zu vernichten.

Vauban starb aus Gram. 1707 siegte der Polizeiminister Argenson, 1793 legte Ludwig XVI. sein Haupt auf den Richtblock: die gegen jede Reform sich sperrende Selbstherrlichkeit hatte ihren Lohn dahin.

Die von uns geforderte einzige allgemeine Einkommensteuer ermöglicht ein Verfahren, das den Bezug der für das Gemeinwesen nötigen Einnahmen ver - einfacht, verbilligt und beschleunigt. Sie trifft den Steuerpflichtigen, ohne ihm zu gestatten, seine Steuer auf andere abzuwälzen, wie dies bei anderen Steuern der Fall ist, sie verteilt die Lasten je nach der Steuerkraft des einzelnen, wie diese sich ausdrückt in der Höhe seines Einkommens. Je nach der Größe des Einkommens ist, um eine gerechte Verteilung herbeizuführen, die Steuerlast des Pflichtigen festzustellen, die Einkommensteuer muß sich stufenweise von unten nach oben in bestimmten Verhältnissen erhöhen. Der Steuersatz muß mit der Größe des Einkommens wachsen. Die Leistungsfähigkeit nimmt in stärkerem Verhältnis als das Einkommen zu, da mit dem Wachstum des letzteren das sogenannte freie Einkommen einen immer größeren Anteil des Einkommens ausmacht. Wie hoch der Steuerfuß zu bemessen ist, hat die Praxis zu entscheiden. Als allgemein gültiger Grundsatz ist daran festzuhalten, daß die kleinen Ein - kommen, sofern sie gerade zur Deckung der allernotwendigsten Lebensbedürfnisse (Existenzminimum) ausreichen, steuerfrei zu belassen, die übrigen stufenweise nach ihrer Größe zu treffen sind. Die zaghaft-schwächliche Art der Einkommen - besteuerung, wie sie das so viel gerühmte Miquelsche Gesetz für Preußen ge - bracht hat, das Höchstmaß für die größten Einkommen beträgt vier vom Hundert ist bei einer durchgreifenden Umgestaltung des Steuerwesens, das mit der Einsteuer an Stelle einer Vielheit von Auflagen steh begnügt, ganz und gar nicht zu gebrauchen. Der konservative Volkswirt Adolf Wagner, in Deutsch - land wohl der beste Kenner des Steuerwesens, welcher die Einkommensteuer nur als eine neben anderen Steuern bestehen lassen will, hält 4 bis 5 Prozent, aus - nahmsweise 6 bis 8 Prozent in gewöhnlichen, 6 bis 10 Prozent in Kriegs - und dergleichen Zeiten für angemessen. Daß die von uns angestrebte Einrichtung über diesen Steuerfuß bei den großen Einkommen hinausgehen würde, dürfte einleuchten. Einer der Vorteile der Einkommensteuer ist die Beweglichkeit des Steuerfußes, die es gestattet, dem Bedarf und den Umständen entsprechend die Steuer umzulegen.

Jn Verbindung mit der eben gekennzeichneten Einkommensteuer fordern wir eine allgemeine Vermögenssteuer. Der Kernpunkt ist die Frage des verschiedenen Ausmaßes der Steuer nach der Art des Einkommens, je nachdem dieses ein auf Besitz, auf Vermögen, oder ein auf Arbeit gegründetes ist. (Ersteres nennt man fundiertes , letzteres unfundiertes Einkommen.) Die Vermögenssteuer soll neben der Einkommensteuer eine höhere Besteuerung des fundierten Ein - kommens bewirken. Mit ihrer Hülfe ist es möglich, in der Abstufung der Steuern das durch geistige Tätigkeit, durch Kopfarbeit erzielte Einkommen, welches mit dem Versiegen der geistigen Tätigkeit untergeht, von dem arbeits - losen, auf Zinsgenuß, Grundrente usw. beruhenden Einkommen zu scheiden,51 Ueber die Art der Durchführung entscheidet die Besteuerungszunft. Jn der Schweiz ist die Vermögenssteuer die Hauptgrundlage der direkten Besteuerung, in Nordamerika findet sie sich gleichfalls, z. B. im Staate New York. Ob sie sich bewährt oder nicht, hängt von der Art der Steuertechnik ab. Bei sorgfältiger Durchführung ist ihre Ertragsfähigkeit nicht zu bezweifeln.

Selbsteinschätzungspflicht.

Die von uns für unseren Steuervorschlag geheischte Selbsteinschätzungspflicht besteht bereits in einer Anzahl von Staaten für die Einkommensteuer zu Recht. Freilich hat ein englischer Erzbourgeois, der Lobredner der Bankkönige und Bauernleger, Ehren-MacCulloch, davon gesagt, das sei eine Besteuerung der Ehrlichkeit und eine Prämie für Meineid und Betrug , freilich meint ein neuerer Forscher, eine einzige auf Selbsteinschätzung beruhende Abgabe fordere einen hohen Grad von Gewissenhaftigkeit, ehrenhafter Gesinnung, Vaterlandsliebe, mit einem Wort, eine sittliche Reife des Volkes, welche wir gegenwärtig noch nicht antreffen , und er zeigt, daß er unter Volk nur die wohlhabenderen Volksklassen versteht, von denen man nach seiner Ansicht allein die Selbst - angabe der Pflichtigen fordern könne. Aber diese Befürchtungen sind über - trieben, sobald eine verständige Art der Einsteuerung, eine haarscharfe Kontrolle, eine bis ins Kleinste peinlich gewissenhafte fortgesetzte Aufsicht die Ehrlichkeit erzwingt und den Großbürgern die sittliche Reife einpaukt. Wo erst die volks - tümliche Selbstverwaltung besteht, die den Unredlichen genau und rücksichtslos auf die Finger sieht, wird die Selbsteinschätzungspflicht gut wirken. Und bereits heute ist sie sehr ersprießlich, wie die Ergebnisse der auf der Selbstangabe beruhenden neuen Veranlagung zur Einkommensteuer in Preußen zeigen. Dazu treten noch andere Vorsichtsmaßregeln, wie die sogleich zu besprechende Erb schaftssteuer.

Erbschaftssteuer, stufenweise steigend nach Umfang des Erb - guts und nach dem Grade der Verwandtschaft.

Die Erbschaftssteuer, welche nach dem im Todesfall auf Dritte übergehenden Vermögen erhoben wird, ergänzt die Einkommen - und Vermögensbesteuerung. Bei der Aufnahme des Nachlasses findet die Nachprüfung der Steuerkraft des Erblassers statt, und bei sorgfältiger Aufstellung ist die Gelegenheit geboten, Steuerhinterziehungen des Verstorbenen auf den Grund zu kommen und die vergangenen und unterschlagenen Steuern nachzuholen und eine angemessene Geldbuße für die Hinterziehung einzuziehen. Zugleich ist die Kontrolle für die zukünftige Steuer des Erben selbst gegeben. Unser Geldverkehr ist so entwickelt und so beweglich, daß eine solche Sicherheitsmaßregel gegen Steuerbetrug als eine Notwendigkeit sich darstellt.

Die Erbschaftssteuer ist jedoch nicht bloß ein Kontrollmittel, sie soll eine allgemeine Vermögenssteuer sein, welche das ganze im Todesfalle auf andere übergehende Vermögen trifft. Jhre Erträge dienen zur Deckung öffentlicher Be - dürfnisse. Sie ist billig zu erheben, leicht zu entrichten, sie ist ferner unüber - wälzbar, sie verteilt den Steuerdruck in angemessener Weise. Daß der Staat, solange er die Führung und Erhaltung der kapitalistischen Einzelwirtschaft sichert, einen Anteil daran, eine Entschädigung dafür zu fordern und beim Erbgang als Miterbe aufzutreten habe, ist eine in der bürgerlichen Forschung des öfteren vertretene Ansicht. Ein unentgeltlicher, unverdienter Vermögenszuwachs, wie er dem Erben in den Schoß fällt, wird durch eine Steuer getroffen, welche das Gemeinwesen zu seinem Nutzen verwendet. Und diese Steuer wendet sich vor allem an die leistungsfähigen Pflichtigen, an die Angehörigen der besitzenden Kreise. Die Proletarier als Klasse stehen dem Erbrecht kühl bis ans Herz hinan gegenüber, sie find vermögenslos, sie haben weder zu vererben, noch erben sie.

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Aber der Besitz, welcher bis jetzt durch die Gesetzgebung zum Schaden der Armen bevorrechtet war, ist durch die von uns geplante Steuerreform schärfer an - gespannt. Mit Recht, denn seine Steuerkraft wächst stetig mit der Aufhäufung des Reichtums und ist deshalb für die Gesamtheit möglichst nutzbar zu machen. Dadurch, daß die Erbschaftssteuer stufenweise steigt nach der Größe des Erbguts, ist eine Ueberlastung der schwachen Steuerkräfte vermieden. Je kleiner die Erb - masse, desto geringer die Abgabe. Der Kleinbesitz, der kleine Bauer, der Händler, der Handwerker werden auf diese Weise ihrer ganzen Stellung gemäß behandelt und gebührend entlastet. Wer einige Morgen Land, ein Werkstättchen, einen Kramladen ererbt, wird in einem anderen Verhältnis besteuert, als der Reiche, dem große Besitzungen, Fabriken und dergleichen zufallen. Es gelten hier die gleichen Grundsätze, wie bei der Einkommensteuer.

Aber die Erbschaftssteuer soll stufenweise steigen, nicht bloß nach dem Um - fange des Erbgutes, sondern auch nach dem Grade der Verwandtschaft. Wo die Bande der Blutsverwandtschaft Erblasser und Erben verbinden, ist ein niedrigerer Steuersatz begründet, als in den Fällen, in welchen nur eine entfernte Ver - wandtschaft besteht. Je lockerer die verwandtschaftlichen Beziehungen, desto weniger gerechtfertigt ist der Anspruch auf das Vermögen des Verstorbenen, desto mehr erhält die Erbschaft die Bedeutung eines unerwarteten Glücksfalles, eines Spiels des Zufalls, desto stärker kann deshalb schon die Steuerschraube angezogen werden. Für Eltern und Kinder sind andere Gesichtspunkte geltend, als für Vettern und Muhmen zweiten oder dritten Grades; der weitläufige Verwandte und der Fremde sind von einem gewissen Punkte an gleichzusetzen.

Von zwei Seiten also will unsere Erbschaftssteuer das Vermögen erfassen. Sie wächst in entsprechendem Maße mit dem Wachsen der Erbmasse, sie fordert höhere Beträge ferner je nach dem Verwandtschaftsgrade. Die deutschen Erb - schaftsgesetze sind völlig unzureichend; sie sind von der ängstlichen Rücksicht auf die bürgerliche Klasse erfüllt, ihre Unergiebigkeit und ihre Mängel springen in die Augen. Eine weit bessere Erbschaftssteuer hat England, wo sie 1896 265 Millionen Mark einbrachte, während sie in Deutschland 1896 22 Millionen Mark abwarf. Preußen bezog in den letzten Jahren durchschnittlich 10 Millionen Mark, ein lächerlich kleiner Betrag gegenüber der gewaltigen zum Erbgang kommenden Vermögensmenge.

Abschaffung aller indirekten Steuern, Zolle und sonstigen wirt - schaftspolitischen Maßnahmen, welche Jnteressen der Allgemeinheit den Jnteressen einer bevorzugten Minderheit opfern.

Ueber das Wesen der indirekten Steuern, der Verbrauchsabgaben, der Schutzzölle sich des weiteren auszulassen, ist heute überflüssig. Die Wirkungen der indirekten Besteuerung und der auf die notwendigen Lebensmittel gelegten Schutzzölle, wie der gesamten Schutzzöllnerei überhaupt, hat Deutschland so ausgiebig kennen gelernt, die Mißwirtschaft ist eine so unerträgliche geworden, daß es genügt, die Hauptgesichtspunkte kurz anzudeuten. Seit 1879, dem An - fangsjahre des berüchtigten Schutzes der nationalen Arbeit , ist die Aus - powerung der Massen durch die Steuerpolitik auf eine noch nie dagewesene Höhe gebracht worden. Der Großgrundbesitz, Junker und Junkergenossen, die groß - gewerblichen Unternehmer, Baumwollspinner und Eisenleute, haben ihre Beute - züge gegen die große Masse in ungezügelter Lust ausführen, Millionen über Millionen aufschatzen, den Lebensmaßstab der arbeitenden Klasse tiefer und immer tiefer herabdrücken können. Brot, Fleisch, Holz, Branntwein, die ganze Reihe der für den kleinen Mann unbedingt nötigen Lebensbedürfnisse ist zum Gegenstand der schmählichsten Gewinnmacherei gemacht, der schleichende Notstand, welcher ab und an, wie 1891 / 92, als offenbarste Teuerung zutage trat, ist eine53 Lebensbedinung der Zollherrlichkeit geworden. Denn die Preise des Roggens und des Weizens gleich stehen, wenn Mißernten bei uns und bei den Haupt - bezugsländern eintreten, dann erschrickt selbst mancher Zöllner einen Augenblick über das drohende Elend, um freilich dann das Volk ruhig weiter zu plündern. Jm Jahre 1890 belasteten die Getreidezölle den Brotverbrauch einer Berliner Arbeiterfamilie mit einer Mehrausgabe von 108 Mark 72 Pfennige; 1891, mit seinem Roggenpreis von 240 Mark für die Tonne (zu 20 Zentnern) schwellte diese Ausgabe noch bedeutend an. Was dies besagt bei dem kärglichen Jahres - verdienst eines proletarischen Haushalts, bedarf keiner Erläuterung. Unersättlich ist der Goldhunger der Zöllner: die Millionentrinkgelder, welche z. B. die Schnapssteuer (40 Millionen Mark Liebesgabe an die Fuselbrenner) bringt, werden ebenso vergnüglich eingestrichen, wie die Gewinne der landwirtschaft - lichen Zölle.

Wie die Zölle auf Vieh, Holz, Getreide, Petroleum usw., so sind die Tabak -, Bier -, Branntwein -, Zuckersteuern, nicht minder die städtischen Verzehrungs - steuern (Oktroi) eine den Besitzlosen, den kleinen Leuten durch die herrschenden Klassen aufgewälzte Last. Die Absicht ist sinnenfällig und sie wird nur zu sehr erreicht: die wirtschaftlich Schwachen zugunsten der Starken mit der vollen Wucht einer ungerechten Besteuerung zu treffen, einer Besteuerung, die den Armen um so härter trifft und um so mitleidsloser aussaugt, je günstiger und entlastender sie für den Reichen wirkt. Jndem die notwendigen Lebensbedürfnisse der breiten Volksschichten zum reichsprudelnden Quell staatlicher Einnahmen und kapitalistischer Gewinne gemacht werden, wird die Aussaugung der Arbeiter vollendet. Die, welche im heftigen Daseinskampfe stehen und von der Hand in den Mund leben, unterhalten aus ihren Mitteln den Staat, der ihre Ausbeuter vertritt und beschützt; sie bereichern den Kapitalisten, für welchen sie den Mehr - wert erzeugen, auch noch dadurch, daß sie statt seiner die Steuern zahlen, sie werden unter den heutigen Zuständen bis aufs Weiße zur Ader gelassen. Was für riesige Erträge die Zölle und Verbrauchssteuern abwerfen, dafür nur einige wenige Angaben. Sie lieferten 1878 236 Millionen, 1904 dagegen 844 Millionen Mark. Und das sind bloß die Erträge, die in die Reichskasse fließen. Aber die Zölle erlauben auch den Produzenten im Jnlande die Preise ihrer Produkte entsprechend zu steigern. So betrugen unter den ermäßigten Zöllen, welche die Handelsverträge 1892 herbeiführten, die jährlichen Einnahmen des Reiches aus den Getreidezöllen in den letzten Jahren 130 bis 160 Millionen Mark. Dagegen wird die gesamte Belastung der Konsumenten infolge der Preis - steigerung der fünf Hauptgetreidearten, die der Zoll bewirkt, auf über 800 Millionen berechnet. Fast 700 Millionen davon fließen in die Taschen der Agrarier, namentlich der großen Grundbesitzer. Die neuen Zölle werden diese Last nahezu verdoppeln, damit aber auch die Einnahmen der Junker um eine weitere halbe Milliarde im Jahre erhöhen. Man sieht, der junkerliche Patrio - tismus macht sich bezahlt. Jeder Bissen Brot, jedes Stück Fleisch, das Gläschen Branntwein, der Krug Bier des kleinen Mannes, das Oel in seiner Lampe, der Stock, den er trägt, alles zollt und steuert dem Staate und den bevorzugten Nutz - nießern der Steuerwirtschaft, den Herren mit Wappenschild so gut wie den Raubrittern , welche, wie der Geheimrat Wagener, der Kreuzzeitungs mann gesagt hat, hinter den hohen Fabrikschornsteinen sitzen . Je ärmer der Staats - bürger, desto grausamer wird ihm mitgespielt. Nicht genug mit der Verelendung, wie sie die heutige Wirtschaftsweise denen bringt, welche gar nichts haben, sind diese selben Habenichtse die Träger der Hauptlasten des Steuerwesens, werden sie von einem Schmarotzertum ausgesogen, das keine Gnade, keine Rücksicht kennt und auf die tödliche Qual der das Volk erschöpfenden Abgabenwirtschaft den Trumpf der Hohnrede von dem Schutze der nationalen Arbeit setzt. Dieser54 Mißstand ist endlich aus der Welt zu schaffen, damit die Preistreibereien der Lebensmittelwucherer und die steuerpolitische Ausplünderung der Arbeiterklasse ein Ende nehmen.

Neben dem Kampf um die politischen Rechte und die politische Freiheit führt die Arbeiterklasse den Kampf um den Arbeiterschutz. Der Arbeiterschutz ist der Jnbegriff der sozialpolitischen Maßregeln, welche der zügellosen Ausbeutung, dem freien Spiel der Kräfte , durch staatlichen Eingriff, entgegentreten, die Vereinigungsfreiheit sichern und den Arbeitern in allen den Fragen, welche auf die Arbeiterzustände sich beziehen, eine maßgebende Mitwirkung verschaffen. Ohne die Verbesserung seiner wirtschaftlichen Lage, ohne die durchgreifende Reform der oder seiner materiellen Verhältnisse ist das Proletariat nicht im - stande, erfolgreich für seine Ziele zu wirken. Eine Arbeiterschaft, welche im Elend rettungslos verkommt, welche abgestumpft und entartet zum blöden Fron - dienst herabgewürdigt wird, ist nicht fähig, die modernen Gedanken in sich auf - zunehmen, das Klassenbewußtsein durch den Klassenkampf zum lebendigen Aus - druck zu bringen. So stehen die politischen und die sozialen Bestrebungen der Arbeiterklasse im naturnotwendigen Zusammenhang, sie bedingen sich gegen - seitig, und der Erfolg auf dem einem Gebiete verbürgt den Erfolg auch auf dem anderen. Neben - und miteinander sind also die Forderungen unseres Pro - gramms zu vertreten und durchzusetzen. Auf den furchtbaren Druck der herrschenden Zustände erfolgt der wuchtige Gegendruck des zur Einsicht in seine Klassenlage kommenden, gegen die Unterdrückung und Verelendung sich kräftiger und kräftiger wehrenden Proletariats. Eines Proletariats, das in demselben Maße den Zusammenhang aller seiner Schichten, aller seiner Abstufungen, seine Zusammengehörigkeit und Jnteressengemeinschaft versteht und benützt, in welchem die Kapitalistenklasse, alles häuslichen Haders vergessend, gegen die Arbeiter gemeinsame Sache macht. Und wie das Kapital keine Grenze kennt, wenn sein Vorteil auf dem Spiele steht, wie es das Erdrund nach neuen Absatz - märkten durchjagt, wie es Länder durchquert und Meere durcheilt, um Reichtum auf Reichtum zu häufen, so fallen auch für die Arbeiter der verschiedenen Länder die nationalen Schränken, die Einheit des Zieles, des Sturzes der kapitalistischen Gütererzeugung, wird ihnen eine unumstößliche Ueberzeugung, die inter - nationale Solidarität tritt in die Erscheinung.

Von Tag zu Tag entfaltet sich in immer gewaltigerem Maßstabe die groß - gewerbliche Wirtschaft, die technische Entwickelung feiert Triumph auf Triumph. Das Maschinenwesen erobert ein Gebiet nach dem anderen, drückt die Arbeiter zu Handlangern, zu Anhängseln von Räder - und Schraubenwerk, zu belebten Werkzeugen herab, ersetzt den geschickten Arbeiter durch den Taglöhner, den Mann durch das Weib, das Kind; jeder Triumph der Maschinenbauer und Er - finder setzt zahlreiche Hände frei. Sprunghaft, vom Fieber der Uebererzeugung zum schleichenden Notstand der Geschäftsflauheit und Stockung, in tollem Wechsel von Ueberarbeit und leidensreicher Arbeitslosigkeit, vollzieht sich der gewerbliche Kreislauf. Das Gespenst der Krisis steht hinter dem Wertsaal, in welchem Tag und Nacht geschafft wird, plötzlich setzt es die Räder still und treibt die Arbeiter auf die Gasse, ins Elend, in die Prostitution. Hunger und Entbehrungen, Hurenhaus, Schnapshaus, Arbeitshaus, Zuchthaus, das sind die lockenden Aus - sichten für die vom Kapitalismus aufs Pflaster geworfenen Arbeiter. Neben die Krisis tritt das Elend der Saisonarbeit, welche mit einem Schlage zu Ende geht und die bisher über die Grenzen des Erträglichen Abgemarterten brotlos macht, ohne Gnade, ohne Mitleid. Keine planmäßige Verteilung der Produktion, die wilde Jagd nach dem Gewinn auf eine möglichst kurze Zeit zusammen - 55 gedrängt, bis das Hallaki ertönt, bis die Beute am Boden liegt. Rasch und wohlfeil Reichtum erzeugen ist die Losung, billig produzieren, aus dem Arbeiter für geringsten Lohn möglichst große Leistungen auspressen, ist der Gipfel der Unternehmerkunst. Ueberarbeit, Unterbezahlung, eine wahre Sintflut von Leiden, Gewerbekrankheiten, frühes Siechtum, hohe Kindersterblichkeit, niedriges Sterbealter, ungenügende Ernährung, eine abscheuliche Behausung, Mangel an Licht und Lust, an Muße und Bildung, an Freiheit der Bewegung sind die Wirkungen der schrankenlosen Ausnützung. Mit reißender Geschwindigkeit wächst das Großkapital empor, die Produktionsmittel vereinigen sich in immer weniger Händen, das Gewicht der Ausbeutung drückt wie ein Alp auf die Arbeiterschaft. Die Klein - und Mittelbetriebe schwinden dahin, von dem übermächtigen Gegner schonungslos aufgesaugt, die Aktiengesellschaft tritt an die Stelle des einzelnen Unternehmers, der bescheiden von seiner Stellung zurücktritt, im satten Genuß der Dividende, und auf der Bildfläche erscheint in seinen verschiedenen Ab - stufungen, immer bedeutsamer und furchtbarer sich entfaltend, der wahre König im sozialen Reich der Unternehmerverband, Höhepunkt der kapitalistischen Ent - wickelung und schon hinüberweisend in die aufdämmernden Bezirke der gesell - schaftlichen Produktion.

So wird der Arbeiterschutz politisch und sozial eine unabweisbare Not - wendigkeit, ein Arbeiterschutz, der nicht bloß auf dem Papier steht, sondern von Fleisch und Blut ist, durchgreifende Vorkehrungen gegen die zügellose Gewinn - sucht des volksverwüstenden Geldprotzentums trifft, die leibliche, geistige und sittliche Wiedergeburt des verelendeten Proletariats herbeiführt, eine Reforma - tion an Haupt und Gliedern, planvoll, umfaßend, fruchtbringend, die Bürgschaft für die politische Reste.

Welche sozialpolitischen Forderungen wir an die bürgerliche Gesellschaft stellen, darüber gibt Aufschluß der zweite Abschnitt des zweiten Teiles des Programms.

Zweiter Abschnitt.

I.Eine wirksame nationale und internationale Arbeiterschutzgesetz - gebung.

Eine Arbeiterschutzgesetzgebung fordern wir, nicht etwa bloß eine Fabrik - gesetzgebung. So sicher es ist, daß in der Großindustrie die Uebelstände der Produktionsweise besonders scharf hervortreten, daß die Arbeiter dieser Betriebs - form in erster Reihe den Kampf um die Befreiung führen und am ehesten die Aufmerksamkeit der Herrschenden erzwingen, so sicher ist es auch daß die Not, die Unterdrückung, die zerstörenden Einflüsse des Kapitalismus auf allen Ge - bieten der Lohnarbeit zutage treten, oft versteckt, vermummt, verzerrt, aber dadurch nur um so gefährlicher. Hülflos, ohne Selbständigkeit, ohne Zusammen - halt, verfallen zahlreiche Arbeitergruppen einem Elend, das unbeschreiblich ist. Der Arbeiterschutz hat nicht nur die Fabrikarbeiter, er hat die Arbeiter im hand - werksmäßigen Betriebe, in der Hausindustrie zu erfassen. Die im Verkehrs - wesen, in Handel und Wandel Tätigen, die kaufmännischen Angestellten so gut wie die in den der Beherbung und Erquickung dienenden Gewerben beschäftigten Arbeiter bedürfen der staatlichen Fürsorge nicht minder, wie die Millionen,56 welche in Land - und Forstwirtschaft ihr kärgliches Dasein fristen. Nicht bloß die Schlotjunker, auch die Krautjunker, die Standesherren und die Reeder, die kauf - männischen Verleger und die Jnnungshelden, sie alle müssen die zügelnde Hand des Arbeiterschutzes spüren, wenn anders der drohende Niedergang der Volks - masse, der Ruin der Arbeiterschaft, verhütet werden soll.

Jn allen Jndustriestaaten der gleiche Vorgang, überall die eben gekenn - zeichneten Zustände, je nach dem Stande der gewerblichen Entwickelung grad - weise verschieden, überall das gleiche Bedürfnis nach einer Reform. Mitleid be - ginnt zu Hause, sagt treffend ein englisches Sprichwort, und so ist es eine Binsen - wahrheit, daß im nationalen Rahmen die Arbeiterschutzgesetzgebung, zuvörderst tatkräftig in Angriff zu nehmen ist. Je tiefer die wirtschaftliche Einsicht der Arbeiterklasse des einzelnen Landes, je besser ihre Vereinigung, ihr Zusammen - halt, je einflußreicher ihre politische Stellung, um so tatkräftiger wird für den Arbeiterschutz gewirkt werden, um so sicherer die Aussicht, den zähen Widerstand der Unternehmer zu brechen. Jn allen europäischen Ländern, so gut wie in Nord - amerika usw. besieht eine lebhafte Bewegung nach Einschränkungen der Aus - beutung, zum Teil schon von Erfolg begleitet, zum Teil Erfolg versprechend. Der Staat hat seine Verpflichtung, die Arbeiter vor der ungehemmten Auspowerung zu schützen, anerkennen müssen, und so zögernd er auch tatsächliche Sozialpolitik treibt, ein Zugeständnis nach dem andern wird ihm entrissen werden. Denn der Sozialismus, dieser Stürmer und Dränger, zwingt die Gesetzgebung dazu, die Bahn der sozialen Reform zu beschreiten, und je mächtiger er wird, desto rascher, desto tiefergehend der Fortschritt.

Alle Nationen, alle Länder bewegt der Gedanke des Arbeiterschutzes, und so wird diese Bewegung des nationalen Eingriffs zu Gunsten der Unterdrückten folgerichtig international. Die tatsächliche Vorbedingung dazu ist gegeben, der internationale Wettbewerb. Nicht mehr, wie vor einem halben Jahrhundert, beherrscht Großbritannien mit seinen Jndustrieerzeugnissen den Weltmarkt, seine Abnehmer wandelten sich allmählich in Nebenbuhler um, seine Hinterländer, die ihm tributpflichtig waren, wie die Vereinigten Staaten, nahmen einen fabelhaften Aufschwung, das europäische Festland befreite sich von der Abhängigkeit, in welcher es zu England gestanden. Die Konkurrenz ist eine furchtbare, die Suche nach neuen Absatzgebieten peitscht das Unternehmertum in die fernsten Bezirke, die Preisschleuderei wird zum obersten Gesetz. Dadurch verschlechtert sich zusehends die Lage der Arbeiter, dadurch steigert sich das Bedürfnis nach einem Arbeiter - schutz. Aber die Heftigkeit des Wettbewerbs auf dem Weltmarkt wächst, die Bourgeoisie verschanzt sich hinter die internationale Konkurrenz, sobald sie auf - gefordert wird, den Arbeiterschutz zu begründen, auszudehnen, zu festigen. Auf diese Weise reifte der Vorschlag, gleichzeitig, gemeinsam vorzugehen, um den Ka - pitalisten die Ausrede der gefährdeten Konkurrenzfähigkeit zu nehmen.

Die internationale Arbeiterschutzgesetzgebung ist zuerst, dies kennzeichnet den Verlauf des Vorganges, von klugen Unternehmern, denen das Feuer der Kon - kurrenz auf den Nägeln brannte, in Vorschlag gebracht worden. Als im Jahre 1841 in Frankreich ein Gesetz über die Kinderarbeit beraten wurde, empfahl der elsässische Fabrikant Daniel Legrand der französischen Regierung ein internatio - nales Fabrikgesetz. Die Fabrikanten im schweizerischen Kanton Glarus traten 1855 mit dem gleichen Wunsche hervor. Und am 5. Juni 1876 empfahl der da - malige Präsident des Schweizer Nationalrats, Oberst Freh, in seiner Eröffnungs - rede den Abschluß internationaler Verträge zum Zwecke möglichst gleichmäßiger Regulierung der Arbeiterverhältnisse in allen Jndustriestaaten. Derselbe setzte im Dezember 1880 im Nationalrate den Antrag durch, daß mit den hauptsäch - lichsten Jndustriestaaten Unterhandlungen zum Zwecke der Anbahnung einer57 internationalen Fabrikgesetzgebung angeknüpft werden sollten. Es ist bekannt, daß die meisten Regierungen damals ablehnend antworteten.

Als die Arbeiterbewegung diesen Gedanken aufnahm, ohne in ihrer Wirksam - keit für den nationalen Arbeiterschutz auch nur eine Sekunde zu erlahmen, gewann er mehr praktische Bedeutung. Von der Schweiz drang er nach Deutschland, Oesterreich, nach den romanischen Ländern und nach England. Es folgten die Anträge unserer Abgeordneten 1885 im Reichstage, der französischen Sozialisten in der Deputiertenkammer im selben Jahre zu Gunsten des internationalen Ar - beiterschutzes. Der 1887 zu St. Gallen beschlossene internationale Arbeiter - kongreß, der 1889 in Paris tagte und die bekannten sieben Forderungen, darunter vor allen den Achtstundentag, aufstellte, erzwang die Aufmerksamkeit der Re - gierungen. Jndes hatte die Berliner Arbeiterschutzkonferenz nur ein klägliches Ergebnis. Die sozialistischen Parteien wurden aber durch die Verhältnisse dahin gedrängt, den Arbeiterschutz im eigenen Lande wieder überall mehr in den Vordergrund zu schieben.

Töricht ist es, wenn der Eigennutz der Unternehmer in hohlen Flausen den Druck der internationalen Konkurrenz verantwortlich macht für die Nichtein - führung oder Nichtausdehnung des Arbeiterschutzes in einem einzelnen Lande. Es ist nicht nötig, damit zu warten, bis internationale Abmachungen getroffen sind. Wenn Oesterreich, das gewerblich weit hinter dem Deutschen Reiche zurück - steht, wenn die kleine Schweiz Arbeiterschutzgesetze einführen, so kann Deutschland nicht bloß das Gleiche, sondern mehr tun. Aber das bischen Arbeiterschutz der Gewerbenovelle, verquickt mit sehr viel Unternehmerschutz, hat es glücklich bis zum Elfstundentag für Frauen gebracht, der noch dazu durch Ausnahmebefugnisse nur zu oft bloß auf dem Papier stehen bleibt.

a) Festsetzung eines höchstens acht Stunden betragenden Normalarbeitstages.

Aber wir können uns nicht mehr mit dem Elfstundentag, auch nicht mit dem Zehnstundentag begnügen. Die Reform muß tiefer gehen, wir brauchen den Achtstundentag. Es hieße Wasser ins Meer tragen, wollten wir im ersten Jahr - zehnt des zwanzigsten Jahrhunderts deutschen Arbeitern die Vorteile des Nor - malarbeitstages denn so, nicht wie staatssozialistische Pfiffigkeit sagt, Maxi - malarbeitstags, müssen wir ihn nennen, da er nicht bloß die Dauer, sondern An - fang, Ende, Pausen usw. regelt wenn wir also die Vorteile des Normalarbeits - tages ausführlich erst begründen wollten. Die Geschichte des Normalarbeitstages in England, wo er für einen Teil der Arbeiterklasse die moralische und physische Wiedergeburt bedeutete, um mit Marx zu reden, in Oesterreich, in der Schweiz, jenseits des Weltmeeres ist ein vollgültiger Beweis für die Notwendigkeit dieser obersten sozialen Reformmaßregel. Der Normalarbeitstag stählt die Wider - standsfähigkeit der Arbeiter, er verkürzt nicht die Löbne, wie seine Gegner fabeln, er steigert sie. Die Jndustrie schädigt er nicht, im Gegenteil nötigt er sie zu tech - nischen Verbesserungen, zu verständigerem, intensiverem Wirtschaften, zu zahl - reichen Ersparnissen. Die Verkürzung der Arbeitszeit vermindert durchaus nicht die Menge der erzeugten Waren, denn die Leistungsfähigkeit des Arbeiters, seine Frische, seine Aufmerksamkeit stehen im umgekehrten Verhältnis zur Länge des Arbeitstages: je kürzere Zeit er schafft, desto Besseres leistet, desto mehr pro - duziert er. Jn einer Schweizer Spinnerei wurden, auf 10000 Spindeln be - rechnet, 1876 und 1877 bei zwölfstündiger Arbeitszeit täglich 372,18 Kilogramm Garn gesponnen, 1879 und 1880 bei elfstündiger Arbeitszeit 388,88 Kilogramm erzeugt. Ein englischer Landarbeiter schafft 10, ein russischer 16 Stunden: der Engländer verrichtet in einem Tage die Tagesarbeit von zwei Russen. Der Kampf für den Achtstundentag wurde 1856 in Australien mächtig dadurch gefördert, daß 58 ein großer Unternehmer, Mr. James Stephen in Melbourne, nach dem in seinen Ziegeleien angestellten Versuchen erklärte, die von ihm beschäftigten Arbeiter leisteten in acht Stunden so viel Arbeit wie in zehn. Je länger der Arbeitstag, desto stumpfer wird der Arbeiter, desto schlechter die Arbeitsleistung, desto zahl - reicher die Unfälle usw. Dazu tritt die reißend schnelle Entfaltung des Maschinen - wesens; die Unternehmer führen schneller laufende, bessere, größere Maschinerie ein, ersetzen die Handarbeit durch die maschinelle. Daß dabei die kleinen Unter - nehmer zu Grunde gehen, rascher zu Grunde gehen, als wenn der alte Schlen - drian fortbestünde, ist nicht zu leugnen. Aber ihr Untergang ist besiegelt, und sie gerade sind es zumeist, welche mit den kleinlichsten und schäbigsten Mitteln die Arbeiter placken, um sich noch einige Zeit gegen den Großbetrieb zu behaupten.

Es ist nicht zu hoffen, daß der Normalarbeitstag die alle Bande sprengenden Produktivkräfte fesseln, die Ueberproduktion beseitigen, der Arbeitslosigkeit ein Ziel setzen werde. Dies vermag erst die grundstürzende Umwandlung der gesell - schaftlichen Zustände. Aber er wird die Verelendeten vor dem Untergang, die bessergestellten Arbeiter vor dem Sturz in die Tiefe bewahren, er wird die Spann - kraft und Widerstandsfähigkeit der Arbeiterklasse erhöhen, er wird das Elend der Arbeitslosigkeit zwar nicht aufheben, aber mildern. Nichts ist kennzeichnen - der für die sittigenden Einflüsse der Verkürzung der Arbeitszeit wie der dadurch gesteigerten Lohnsätze, als die amtlich festgestellte Tatsache, daß in allen austra - lischen Kolonien, wo die achtstündige Arbeitszeit vorherrscht, die Trunksucht stetig sich vermindert hatte, wie dies aus der Statistik des Verbrauchs geistiger Getränke, der Schankläden und der Arretierungen wegen Trunkenheit hervorgeht. Die Zahl der Verhaftungen wegen Trunkenheit fiel von 18,9 auf tausend Bewohner im Jahre 1877 auf 9,4 im Jahre 1888. Jn Probegallonen beträgt der Alkoholver - brauch auf den Kopf in Frankreich 5,10, in England 3,87, in Deutschland 3,08, in Neuseeland 1,70 Gallonen. Die australischen Schankwirte haben am lebhaftesten gegen den Achtstundentag agitiert, weil sie, wie ein Fachmann sagt, von der größeren Muße und besseren Lebensstellung der Arbeiter eine Schädigung ihrer Geschäftsinteressen befürchteten. Ein Wink mit dem Zaunpfahl für die ver - heuchelte Auffassung, welche aus der größeren Muße der Arbeiter Suff und Lüderlichkeit wachsen sieht.

Jn vielen Jndustriezweigen wird zwar die Technik arbeitsparende Ma - schinerie einführen, um eine Zufuhr neuer Arbeitskräfte zu ersparen, aber in anderen nicht unmittelbar durch die Maschinerie bedrohten Gewerben, wie Bau - handwerk usw., wird vielen Arbeitslosen Beschäftigung verschafft. Als die Bäcker in der australischen Kolonie Victoria im Jahre 1882 die achtstündige Arbeitszeit durchsetzten, fand ein Drittel der arbeitslosen Bäcker Verwendung, ohne daß die Löhne sanken oder die Brotpreise stiegen. Doch weit bedeutsamer ist es, daß die Produktion durch die gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit etwas beständiger, gleichmäßiger über das ganze Jahr verteilt wird; auf diese Weise wird die Ueber - arbeit und die daraus sich ergebende Arbeitslosigkeit verhütet. Die Löhne der Arbeiter steigen durch die Verkürzung der Arbeitszeit, das Angebot von Händen, die Schmutzkonkurrenz drückt nicht mehr auf den Arbeitsmarkt wie bisher. Der Normalarbeitstag kräftigt den Proletarier, gibt ihm Muße zur Erholung, zur Ausbildung, zur Teilnahme am gewerkschaftlichen, am politischen Leben, er macht die Arbeiterklasse selbständiger und schlagfertiger.

Das über den Normalarbeitstag gesagte gilt doppelt und dreifach für den Achtstundentag, welchen der geniale englische Sozialist und Vorkämpfer des Ar - beiterschutzes, R. Owen, zum ersten Male im Jahre 1817, als eine gerechte Tagesarbeit bezeichnet hat. Er besteht in Australien für eine Reihe von Ge - werben, allerdings nicht durch die Gesetzgebung auferlegt, sondern unter außer -59 gewöhnlich günstigen Verhältnissen durch die Gewerkschaften erkämpft. Wie die Erfahrung von Jahrzehnten zeigt, hat er sich glänzend bewährt. Trotzdem weigern sich die Kapitalisten hartnäckig, ihn weiter auszudehnen, und die Nieder - lage in dem großen Streik von 1890 hat die Lage der Gewerkschaften erheblich verschlechtert. Auch in Australien kommen so die Arbeiter immer mehr zur Ein - sicht, daß nur auf dem Wege der Gesetzgebung weitere Fortschritte des Acht - stundentages zu erreichen sind.

Die an das Proletariat gestellten Anforderungen wachsen von Jahr zu Jahr, seine gewerbliche Leistungsfähigkeit wird stärker und stärker angespannt, die Ge - fahren für Leben und Gesundheit nehmen zu, die Entartung des werktätigen Volkes, das in Stadt und Land vom Jndustrialismus erfaßt wird, macht er - schreckende Fortschritte, die Rekrutenaushebungen erweisen eine immer bedenk - lichere Zunahme der Dienstuntauglichen. Zugleich wird der Arbeiter durch die öffentlichen Angelegenheiten mehr und mehr in Anspruch genommen. Er muß sich politischen Vereinigungen und Gewerkschaften anschließen, er muß sich weiter bilden, er braucht das Recht auf Muße so gut wie die Lebenslust. Der Acht - stundentag ist ein Gebot der Entwickelung, das zu erfüllen eine wichtigste Pflicht des Gemeinwesens ist, er ist der Grund - und Eckstein der sozialen Reform.

b) Verbot der Erwerbsarbeit der Kinder unter vierzehn Jahren.

Die deutsche Gewerbenovelle verbietet die Fabrikarbeit von Kindern unter dreizehn Jahren, eine durchaus ungenügende Vorschrift. Seit 1877 dürfen in der Schweiz Kinder unter vierzehn Jahren in Fabriken nicht beschäftigt werden, in Oesterreich ist gleichfalls die Beschäftigung dieser Altersstufen erheblich einge - schränkt. Aber es reicht durchaus nicht aus, bloß die Großgewerbe an der Aus - beutung der Arbeiterkinder zu verhindern, dem Massenaufgebot kindlicher Ar - beitskräfte begegnen wir gerade in dem Kleinbetrieb und in der Hausindustrie. Jn den Fabriken des Reichs waren nach den Berichten der Gewerbeinspektoren von 1896 nur 5300 Kinder unter 14 Jahren tätig; dagegen ergab die Erhebung von 1898 eine Zahl von 532300 Kindern, die außerhalb der Fabriken gewerblich tätig waren. Dabei war diese Erhebung eine äußerst lückenhafte und beachtete gar nicht die Kinderarbeit in der Landwirtschaft. Namentlich in der Hausindustrie ist die Arbeit der Kinder vom zartesten Alter an eine ausgedehnte. Jn manchem hausindustriellen Orte Thüringens sind von 100 Schulkindern 86 gewerblich tätig, oft bis tief in die Nacht hinein. Hier herrschen die grauen - vollsten Zustände, hier feiert die schamloseste Geldgier ihre Feste, hier werden zahllose Opfer des Kapitals mitleidslos zugrunde gerichtet. Erbärmliche Be - zahlung, die schmählichsten Arbeitsbedingungen, Arbeitsräume, die Brutstätten von Krankheiten sind, ein unmenschlich langer Arbeitstag, das sind die Merkmale dieses herodischen Kindermordes . So werden Arbeitergeschlechter eins nach dem andern vernichtet, frühes Siechtum, früher Tod sind die Folge der vernich - tenden Beschäftigungsweise, jede nachfolgende Generation wird schwächer und lebensunfähiger. Die Erwerbsarbeit der Kinder unter vierzehn Jahren, auf dem Lande oder in der Stadt, im Großgewerk und beim Verleger, im Handwerk und im Handel, sei deshalb überhaupt untersagt. Das Kind gehört in die Schule und auf den Spielplatz, es freue sich seiner Jugend, stähle seinen Körper, bilde seinen Geist. Man kehre sich nicht an das verlogene Gezeter von der Heilsamkeit der Arbeit für die Kinder der Arbeiter. So sicher die zukünftige Gesellschaft den Gedanken R. Owens von der Verbindung der Arbeit mit Leibesübungen und Unterricht verwirklichen wird, so gewiß ist die heutige Kinderarbeit, die der blinden Gewinnsucht, nicht erziehlichen Zwecken dient, zu verwerfen. Sie ver - mehrt die Volksmassen an der Lebenswurzel.

60

c) Verbot der Nachtarbeit, außer für solche Jndustriezweige, die ihrer Natur nach aus technischen Gründen oder aus Gründen der öffentlichen Wohlfahrt Nachtarbeit erheischen.

Alle Aerzte und Sozialpolitiker sind sich über die schädlichen Einwirkungen der Nachtarbeit auf die Gesundheit der Arbeiter einig. Aus Gier nach Gewinn raubt der Kapitalist den Arbeitern die natürliche Ruhezeit und zwingt sie zu einer aufreibenden Tätigkeit, die den Verfall und die Arbeitsunfähigkeit be - schleunigt. Und zwar geschieht dies in einer Unzahl von Unternehmungen, welche der Nachtarbeit nicht bedürfen, bloß aus dem Grunde, um die Kräfte der Lohn - sklaven bis zum Aeußersten auszunützen und die Einstellung von mehr Arbeitern, als ob es davon nicht zur Genüge gäbe, zu vermeiden. Wirft man einen Blick in die Fabrikinspektorenberichte, so erschrickt man über die weite Verbreitung der Nachtarbeit. Es versteht sich, daß in den Betrieben, welche ihrer Natur nach eine Unterbrechung nicht gestatten oder im Jnteresse der öffentlichen Wohlfahrt Nachtarbeit bedürfen, von einem vollkommenen Verbote nicht die Rede sein kann; aber auch in diesen letztgenannten ist sie auf das Allernotwendigste einzuschränken, da ja in den meisten Fällen nur eine Ueberwachung bestimmten Arbeitsprozesse (wie in der chemischen Jndustrie usw. ) erforderlich ist.

d) Eine ununterbrochene Ruhepause von mindestens 36 Stunden in jeder Woche für jeden Arbeiter.

Nach einer Wochenarbeit eine genügende Ruhepause, und das Werktags - gewand ablegen, einmal ohne widrige Unterbrechung sich und den Seinen leben, mit öffentlichen Angelegenheiten sich ausgiebiger beschäftigen zu können, das ist eine bescheidene, eine billige Forderung. Wir fordern eine Pause von sechsund - dreißig Stunden, damit die freie Zeit nicht bloß gerade dazu ausreicht, daß der abgeplagte, zum Tod erschöpfte Arbeiter sich einmal ausschläft, um dann sofort wieder ins Joch zu gehen. Er soll seines Daseins froh werden, und aller Ar - beitspein entledigt, Mensch unter Menschen sein.

e) Verbot des Trucksystems (der Bezahlung der Arbeiterin Waren statt in Geld).

Eine entschieden durchgreifende Maßregel tut not gegenüber dem heute scham - los sich breit machenden Truckunfug. Die schwächlichen Strafbestimmungen der Gewerbeordnung werden unzählige Male umgangen. Statt baren Geldes er - hält der Arbeiter Waren, die er nicht brauchen kann oder die er viel zu teuer be - zahlt, er wird bei Strafe der Maßregelung und Entlassung gezwungen, in den vom Unternehmer oder seinen Angestellten gehaltenen Läden seine Bedürfnisse zu decken, zu höheren Preisen als anderswo, er wird mit minderwertigen Waren abgespeist, zum Schuldenmachen durch schmählichen, ihm aufgedrungenen Lotter - kredit genötigt. Die Hungerpeitsche wirft, und keine scharfe Aufsicht, kein schnei - diges Gesetz packt die Frevler, welche den von ihnen ausgebeuteten Proletarier auch noch außerhalb der Werkstätte des Fabriksaales schinden und prellen. Dazu kommt, daß eine der gefährlichsten Arten des Trucks, die Lieferung von Roh - stoffen, wie sie vor allem bei den Heimarbeitern im Schwange ist (Korbmacher in Lichtenfels, Spielwarenmacher in Sonneberg, schlesische Weber usw. ) noch heute Dank dem vom Reichstag angenommenen Antrage des Königs Stumm ge - setzlich gestattet und in ausgiebigster Weise ausgenützt wird. An den Erzeug - nissen, die für ein Spottgeld verschleudert werden, klebt das Blut der Haus - industriellen, welche den Verlegern für Hungerlöhne fronden und ihnen die Roh - stoffe hundert Prozent und mehr noch über den Marktpreis abkaufen müssen. Ebenso verwerflich sind die versteckten Truck-Arten, bei denen die Schelmerei hinter der Gewährung von Wohnung, Hausbrand, Ackerland sich versteckt.

61

II.

Ueberwachung aller gewerblichen Betriebe, Erforschung und Regelung der Arbeitsverhältnisse in Stadt und Land durch ein Reichs - arbeitsamt, Bezirksarbeitsämter und Arbeitskammern.

Soll die soziale Gesetzgebung erfolgreich durchgeführt und fortgebildet werden, so brauchen wir ein Arbeitsministerium, eine Geschäftsstelle, welche den Mittel - punkt für die soziale Politik bildet, das Reichsarbeitsamt. Diesem, welchem in bestimmter Gliederung als ausführende Werkzeuge die Bezirksämter und Arbeits - kammern (letztere kombinierte Vertretungen von Arbeitern und Unternehmern), unterstellt sind, fällt die Aufgabe zu, sich in den Dienst der sozialen Reformen zu stellen. Einheitliche Regelung der Aufsicht über die gewerblichen Betriebe, schärfste Kontrolle über die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften, fortgesetzte sorgfältige Buchung der wirtschaftlichen Vorgänge, statistische Erhebungen über die gesellschaftlichen Zustände, über die Lage der Arbeiter, ländlicher wie städtischer, über den Stand der Geschäfte usw., das sind einige der wichtigeren Gesichtspunkte, die hier in Frage kommen. Das Arbeitsamt soll Werkzeug zur Handhabung des Arbeiterschutzes, sozialpolitische Wetterwarte und Auskunftsstelle über sozial - politische Maßnahmen sein. Die Arbeitskammer hat bei der Ausführung wirt - schaftlicher und sozialer Verwaltungsaufgaben helfend einzugreifen, Beschwerden über Mißstände anzunehmen, über Gesetzentwürfe sich zu äußern u. s. f.

Durchgreifende gewerbliche Hygiene.

Gegen die Gewerbekrankheiten, welche verheerender als die Pest unter den Arbeitern aufräumen, so daß jedem Beruf seine Leiden, jeder Beschäftigung ihre besonderen Schädigungen und Gefahren eignen, muß ein unerbittlicher Krieg ge - führt werden. Die ungesunden Arbeitsräume, die anderen zahlreichen schädlichen Einflüsse (Staub usw. ), die Arbeit mit giftigen Stoffen, der Mangel an genügen - dem Luftwechsel, an Sicherheitsvorrichtungen, sie sind längst bekannt. Es ist fest - gestellt, daß durch umfassende, gründliche Vorkehrungen nicht bloß die Ziffer der Krankheitsfälle erheblich herabgesetzt, sondern der Springquell der Erkrankungen überhaupt verstopft werden kann. Es gilt, den Widerstand der Unternehmer energisch zu brechen, welche vor jeder Ausgabe zurückscheuen, die nicht auf den Gewinn, sondern nur auf die Verbesserungen der Gesundheitsverhältnisse des Arbeiters abzielt. Die Zahlen der ärztlichen Statistik, welche ein erschütterndes Bild von der hohen Sterblichkeit und kurzen Lebensdauer der von den Gewerbe - krankheiten dezimierten Proletarier entrollen, sind so beweiskräftig, daß es ge - nügt auf sie hinzuweisen. Von der männlichen Bevölkerung in Solingen über - haupt starben im Alter von 20 30 Jahren von je 100: 15,5, von Solinger Schlei - fern dieser Altersstufe 41,6; in der Altersstufe 30 40 Jahre betrugen die Ver - hältniszahlen: 12,4 bezw. 26,9, 40 50 Jahre 14,0 bezw. 23,4. Der frühe Tod, die hohe Sterblichkeit der Schleifer gegenüber den anderen Berufsklassen spricht für sich selbst. Von den badischen Zigarrenarbeitern starben rund 56 vom Hun - dert an Lungenschwindsucht, während der Landesdurchschnitt 37 beträgt. Nach Hirt litten von 100 erkrankten Arbeitern an Lungenschwindsucht nach ihrer Be - schäftigung mit metallischem Staub 28,6, mit mineralischem Staub 25,2, mit Staubgemischen 22,6, mit tierischem Staub 20,8. Unter 100 gewerblichen Ar - beitern litten 25 bis 30 an gewerblichen Vergiftungen in den Betrieben der An - streicher, Buchdrucker, Färber, Maler, Lackierer usw. Sobald die nötigen Vor - sichtsmaßregeln angewendet, die Ursachen der Erkrankung beseitigt oder doch in ihrer Einwirkung beschränkt werden, sinkt die Erkrankungsziffer. Welche Be - deutung hat nicht der Luftraum, welche Erfolge wird eine Hygiene erzielen, welche den gesetzlich notwendigen Luftraum feststellt und die entsprechende Gestaltung der Arbeitsstätten durchsetzt! Ständige Ventilation der Arbeitsräume, der Zahl 62 der Arbeiter entsprechende Größe betreiben, gute Netz - und Bekämpfungs - einrichtungen, Desinfektion der Ansteckung verursachenden Stoffe vor ihrer Ver - breitung, Reinlichkeit, welche Fülle von Aufgaben für die Äerzte!

III.Rechtliche Gleichstellung der landwirtschaftlichen Arbeiter und der Dienstboten mit den gewerblichen Arbeitern. Beseitigung der Gesindeordnungen.

Die landwirtschaftlichen Arbeiter, mögen sie zum Gesinde oder zu den Dienst - boten zählen, sind noch heute im Zustande der Hörigkeit. Jhre politische und soziale Rechtlosigkeit ist eine offenkundige Tatsache. So unterstehen, um Preußen herauszugreifen, die Millionen ländlichen Proletarier einer Botmäßigkeit, welche jede freie Regung hindert. Keine feste Arbeitszeit, keine genau umschriebene Tätigkeit, nichts Sicheres als die Knechtschaft. Nach der preußischen Gesindeord - nung, die aus dem Jahre 1810 stammt, darf der Dienstbote für Scheltworte oder geringe Tätlichkeiten keine gerichtliche Genugtuung fordern, er darf sich Mißhand - lungen, die nicht das Leben bedrohen, nicht widersetzen, er ist verpflichtet, sein Mitgesinde zu denunzieren. Sein Lohn ist nicht sichergestellt, sein Gesindevertrag läuft auf ein ganzes Jahr, die Kündigungsfrist beträgt drei Monate vor Ablauf der Dienstzeit. Die Herrschaft dagegen kann jederzeit kündigen, und das Ar - beitsbuch ist zugleich ein Mittel, um unbequeme Leute brotlos zu machen. Die Tagelöhner und die übrigen Arbeiter der Landwirtschaft stehen unter dem Gesetz vom 24. April 1834. Die Landarbeiter sind dadurch der Koalitionsfreiheit beraubt, jede Verabredung des Ausstandes, jede Aufforderung dazu, und natürlich der Aus - stand selbst sind Handlungen, auf welche bis zu einem Jahre Gefängnisstrafe steht. Was für die gewerblichen Arbeiter längst beseitigt ist, besteht für die Millionen ländlichen Arbeiter (1895 wurden in Deutschland 5628000 gezählt) noch heute, das Koalitionsverbot. Ebenso ist der Kontraktbruch bei allen landwirtschaftlichen Arbeitern strafbar, und der Vertragsbrüchige kann wie ein flüchtiges Wild gehetzt werden. Aber nicht bloß das Gefängnis steht dem Frevler offen, er hat auch noch Schadenersatz zu leisten. Das Gesinde indes kann zur Fortsetzung des Dienstes gewaltsam gezwungen werden. Diese Blütenlese zeigt, wie berechtigt unsere For - derung ist. Die zu Nutz und Frommen der Junker bestehenden Ausnahme - gesetze sind zu beseitigen.

IV.Sicherstellung des Koalitionsrechtes.

Bereits im ersten Abschnitt unter 4 sind die allgemeinen Gesichtspunkte er - örtert worden, welche hier in Betracht kommen. Es sei deshalb darauf verwiesen. Ohne Vereinigungsfreiheit keine Garantie für die wirtschaftspolitischen Be - strebungen, keine Möglichkeit, durch Gewerkschaften, durch straff gegliederte, das ganze Gewerbe umfassende, zentralisierte oder örtliche Verbände Einfluß auf die Regelung der Arbeitsverhältnisse zu gewinnen, kein zielbewußter Lohnkampf, kein Ausstand u. s. f. Das Koalitionsrecht ist eine elementare Bedingung für die Ar - beiterbewegung. Hören wir darüber Schönberg, einen bekannten bürgerlichen Volkswirtschafter. Er sagt: Die gesetzliche Anerkennung des Koalitionsrechtes ergibt sich als ein natürliches Recht schon aus dem Wesen des Rechtsstaates. Denn aus dem Grundprinzip desselben, der Freiheit und Rechtsgleichheit der Person, folgt, daß der einzelne seine Kraft benutzen könne, um seine Lage zu ver - bessern, soweit er nicht erworbene Rechte Dritter verletzt oder das Gesamtinteresse schädigt. Wie nun keine Verletzung der Rechte Dritter, keine Schädigung des Ge - samtinteresses in dem Streben des einzelnen Lohnarbeiters liegt, seinen Lohn zu erhöhen, eine inhumane Arbeitszeit oder unwürdige Bestimmungen zu be -63 seitigen, ist dies ebensowenig an sich der Fall, wenn der Arbeiter sich in diesem Streben mit anderen verbindet Erst die Vereinigung mit anderen …versetzt die Arbeiter in die Lage gleicher Kontrahenten, in welcher sie ihre berechtigten Ansprüche dem Arbeitgeber gegenüber durchzusetzen vermögen, sie macht die recht - liche Freiheit und Gleichberechtigung des Arbeiters beim Abschluß des Arbeits - vertrages auch zu einer wirklichen Das Koalitionsrecht umfaßt auch das Recht der Vereinigung zu einer gemeinsamen Arbeitseinstellung (Streik, Ausstand). Dies Recht darf dem Arbeiterstande nicht versagt werden, denn die Arbeitsein - stellung ist die Weigerung der Arbeiter, unter den Bedingungen, welche der Unter nehmer nur zugestehen will, ihre Arbeitskraft weiter dem Unternehmer zu über - lassen. Wie diese ein Recht de » Einzelnen ist, muß sie auch ein Recht mehrerer, die sich zu einer solchen vereinigen, sein.

V.Uebernahme der gesamten Arbeiterversicherung durch das Reich mit maßgebender Mitwirkung der Arbeiter an der Verwaltung.

Die bureaukratische Einrichtung der Versicherungsgesetze, die schwerfällige Verwaltung, das Vorherrschen der Herren vom grünen Tisch und der Unter - nehmer sind altbekannte Tatsachen, so gut wie die Zersplitterung, wie sie durch die partikularistischen Strebungen auf diesem Gebiete entstanden ist. Einheitlich - keit, straffe Ordnung der Dinge von Reichswegen, Verwaltung von großen Ge - sichtspunkten aus, Sparsamkeit am richtigen Ort, und zwar unter Heranziehung der Hauptbeteiligten, der Arbeiter, die jetzt zumeist die Rolle des stillen Dulden - den zu spielen haben, während sie an erster Stelle zu raten und taten hätten, da es sich um ihre Haut, um ihr Geld, um ihre Lage handelt, das ist es, was wir wollen.

Wir sind am Ende. Die Aufgaben, welche von dem klassenbewußten Prole - tariat zunächst und in Zukunft zu lösen sind, sie sind dargelegt und erläutert worden.

Die Wirksamkeit auf dem Boden der heutigen Gesellschaft ist vorgeschrieben durch den Gang der Dinge, sie ist die notwendige Voraussetzung für den Ein - tritt einer neuen sozialen Ordnung.

Nur wenn das Proletariat die politische Gewalt erringt, nur wenn es spann - kräftig und schlagfertig auf den Kampfplatz tritt, wird die Stunde schlagen, in welcher die endgültige Auseinandersetzung zwischen Besitzlosen und Besitzenden, Unterdrückten und Unterdrückern in weltgeschichtlicher Größe sich vollzieht. Nicht früher wird die Arbeiterklasse ein für allemal die Klassengegensätze aufheben, in denen heute das Leben der Völker sich bewegt, als bis sie zur Herrschaft gelangt ist. Jn dem Zeitalter des Uebergangs, welchen wir jetzt durchmachen, ist der plan - volle Klassenkampf, der aller Gebiete der öffentlichen Tätigkeit sich bemächtigt, der mitten im Strom der modernen Entwickelung vor sich geht, der Hebel des sozialen und politischen Fortschritts.

Die Forderungen, welche wir zunächst stellen, sind nur die Etappen auf der Bahn zum Ziel. Etappen, die wir erreichen oder auch vom Zwange rascher Ent - wickelung gedrängt, überspringen, der Zukunft sicher. Während die alte bürger - liche Welt in allen Fugen kracht, zeigt sich am Horizonte bereits die Morgensonne für eine neue Welt, eine neue Gesellschaft.

Dann gibt es keine Ausbeutung, keine Lohnsklaverei, keine Unterjochung mehr, sondern nur eine freie glückliche Menschheit

Vorwärts! heißt die Losung. Vorwärts, durch Kampf zum Sieg!

〈…〉〈…〉

About this transcription

TextGrundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie
Author Karl Kautsky; Bruno Schönlank
Extent68 images; 32496 tokens; 7491 types; 242173 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU GießenNote: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2018-12-08T17:50:02Z Anna PfundtNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2018-12-08T17:50:02Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationGrundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie Erläuterungen zum Erfurter Programm Karl Kautsky, Bruno Schönlank. . Buchhandlung VorwärtsBerlin1907.

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LanguageGerman
ClassificationGebrauchsliteratur; Gesellschaft; ready; tdef

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Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: gekennzeichnet; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;

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