Jn jeder Bewegung liegt etwas Reizvolles. Das Überwinden eines Widerstandes und die dazu nötige Kraftentwicklung bringt ein Lustgefühl, erhöhtes Selbstbewußt - sein hervor, das viele Menschen davor bewahrt, in dumpfe Trägheit zu verfallen. Zielbewußte, nützliche Bewegung, also Arbeit, ist darum, wenn sie die Kräfte des Arbeiters nicht übersteigt, etwas sehr Beglückendes. Wenn eine Bewegung in Sport ausartet, d. h. bloß der Eitelkeit und verwandten Motiven dient, wird sie wertlos.
Was von körperlicher Bewegung und Kraftleistung gilt, gilt auch von geistiger Bewegung. Etwas durchdenken. Etwas begreifen, Hindernisse, auf die man trifft, bewältigen, gehört zu den höchsten Genüssen des menschlichen Lebens, und solche geistige Arbeit kann inmitten eines sonst traurigen, freudlosen Daseins zu einer unerschöpflichen Quelle von Glück werden.
Aber auch eine Bewegung auf geistigem Gebiete kann ein fortreißendes Tempo annehmen, das die vernünftigen, wohlbegründeten Anfänge in sportartige Übertreibung aus - arten läßt, und damit der guten Sache schadet.
Auf einem solchen Punkt ist im Moment die Frauen - bewegung in Deutschland angekommen, erkenntlich an den einzelnen Rufen nach Frauenstimmrecht, die sich vernehmen lassen.
Die Veranlassung zur Frauenbewegung überhaupt gab die Not. Frauen darbten; der Selbsterhaltungstrieb führte sie zur Arbeit, und da man uns das Recht auf jede Arbeit, die wir leisten können, nicht frei zugesteht, so müssen wir es uns erkämpfen. So entstand die Bewegung, an der nach und nach alle Frauen teilnehmen werden: hemmend oder fördernd je nach Verständnis, Jnteresse oder Bedürfnis.
Die Frauen, deren geistiges Leben bisher als ziemlich leichtes Rieselwässerchen dahin geflossen ist, empfinden das Beglückende einer geistigen Bewegung und des Kampfes für ihr gutes Bewußtsein unser selbst, die Proben unserer Kraft und unseres Könnens machen uns so kampfesfroh, daß viele Frauenin ihrer Begeisterung für die gerechte Sache schon über das Ziel hinaus schießen, indem sie das Frauenstimmrecht ver - langen.
Den nächsten Anstoß hierzu gab das neue, deutsche Bürgerliche Gesetzbuch.
Weibliche und männliche Juristen stimmen darüber über - ein, daß die bezüglichen Paragraphen des neuen Gesetzes dem Recht der Frau in Ehe und Familie zu wenig Rechnung tragen. Das ist von Jenen, die das Recht im Staate zu ver - treten und durch Gesetze zu ordnen haben, ungerecht. Die viertausendstimmige Petition der deutschen Frauen hätte im Reichstage Gehör finden müssen, denn wir verlangten nur die Möglichkeit, daß jeder einzelnen Frau im einzelnen Fall, wenn sie sich auf dem vorgeschriebenen Rechtsweg begiebt, ihr Recht werde. Die Petition hatte keinen Erfolg; aber aus dieser an uns Frauen verübten Ungerechtigkeit das Frauenstimmrecht ableiten zu wollen, ist bei dem heutigen Durchschnittsmaß von Frauenbildung doch ein verfrühter Gedanke, den einzelne Vertreterinnen der Frauenbewegung nur zu lebhaft akkla - mieren.
Um in einer beratenden und gesetzgebenden Körperschaft erfolgreich stimmberechtigt teilnehmen zu können, dazu gehört ein weiterer Blick, von Erfahrung unterstützte tiefe Bildung, und Routine im öffentlichen Leben und Verkehr – und darüber werden im heutigen Deutschland wohl nur sehr wenige Frauen ausreichend verfügen. Denn außer den wenigen Paragraphen über Ehe - und Familienrecht, in denen die Frau naturgemäß und als zunächst beteiligt urteilsfähiger ist als der Mann, sind doch das Jahr hindurch noch viele andere Dinge Gegenstand der Beratung und Abstimmung im Reichstag, in denen wir Frauen mit unserem heutigen Wissen nicht mitsprechen können.
Aber nicht nur für die höchsten Ansprüche eines weib - lichen Abgeordneten im Parlament sind wir nicht gerüstet, auch für Wähler sind wir noch nicht reif genug.
Wer die Tragweite gewisser politischer Vorgänge nicht kennt, wer nicht weiß was finanzielle, verkehrstechnische, in - dustrielle, wissenschaftliche Fragen und Unternehmungen für Bedeutung gewinnen können – wer die Telegramme einer Zeitung ohne Leitartikel nicht versteht – soll nicht den An - spruch machen, stimmberechtigt und wahlfähig zu sein. Jch möchte den Einwurf der enragierten Frauenstimmrechtlerinnen, daß auch eine große Anzahl von Männern ohne Verstand und Verständnis von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen, nicht gelten lassen. Nicht nur weil der Mann das Stimm - recht hat, soll die Frau es zu verlangen suchen und eigen - sinnig die Gleichheit zwischen Mann und Frau durchsetzen wollen. Das politische ist ein Gebiet, auf dem die deutsche Frau vorläufig noch nicht im Stande wäre, ihr Recht nützlich zu gebrauchen. Daraus ist uns kein Vorwurf zu machen, denn die Politik ist ein großes, kompliziertes Jnteressengebiet, dem wir bisher absichtlich fern gehalten wurden und in das auch höchst gebildete und begabte Männer sich einarbeiten müssen, um etwas zu leisten.
Wir Frauen sollten deshalb heute noch gar keine Be - friedigung darin finden, nur stimmen und wählen zu können wie jene Unfähigen und Ungebildeten unter den Männern, die ohne Überzeugung und ohne eigene Jnitiative an die Wahlurne treten. Wir wollen uns auch im Wahlkampfe nur mit dem Besten des Volkes messen – aber das können wir heute noch nicht.
Darum soll in der Begeisterung für unsere Rechte keine Übertreibung eintreten, keine Überschätzung unserer Leistungen platzgreifen. Wir müssen unseren Weg langsam gehen. Erst wenn wir geistig den gleichen Entwicklungsgang durchgemacht haben werden wie der Mann, sollen wir anfangen auf unsere politischen Rechte Anspruch zu erheben.
Wenn heute schon das Frauenstimmrecht in Deutschland eingeführt würde, so würde das wahrscheinlich gar keine Ver - änderung im Wahlbilde hervorrufen, denn die Frauen würden in ihrer politischen Urteilslosigkeit und Unselbstständigkeit nur im Sinne der Männer des Kreises, dem die Einzelne an -107 gehört, wählen. Es würden also nur mehr Stimmen ab - gegeben werden, ohne, daß man mehr oder andere Meinungen zu hören bekäme. Ein solches übereiltes Vorgehen wäre aber für die gesamte Frauenwelt von großem Schaden.
Jm verfrühten Besitz des höchsten bürgerlichen Gutes, dessen sie sich in Zukunft würdig zu zeigen hat, würde sie es gar leicht versäumen, jenen einzigen Bildungsgang einzu - schlagen, der die Frau zu der berechtigten Gleichheit mit dem Mann führt.
Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU GießenNote: Bereitstellung der Texttranskription.Note: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2019-05-23T16:04:02Z Anna PfundtNote: Bearbeitung der digitalen Edition.2019-05-23T16:04:02Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
Eine Frauenstimme über Frauenstimmrecht. Bertha PappenheimP. Berthold. . Verlag für ethische KulturBerlin1897. Ethische Kultur 5 (14) p. 106–107.
Fraktur
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