Unter den mannigfaltigen Erſcheinungen, welche der Bau der Blüthentheile uns darbietet, iſt die Prolification gewiſs eine der auffallendſten und wunderſamſten. Bey den Syngeneſiſten, in denen die Natur die Fortpflan - zungswerkzeuge ſo nahe an einander häuft, und eine gröſſere Fülle des Saamenſtoffs bereitet, beobachten wir dieſelbe am häufigſten. Die Gattungen Bellis, Ca - lendula, Hieracium, geben Beyſpiele davon, beſonders wenn ſie durch Kultur verändert werden und dadurch dem ſtrengen Geſeze*)Einige organiſche Weſen ſind mehr, andere weniger feſt an dieſes Geſez geknüpft. Wie unter den Pflanzen die Ar - ten der Roſa, Papauer, Heſperis, Cheiranthus, Malua &c. läufig monſtrös ſind, ſo ſind es unter den Thieren die Rin - der, Hausſchweine, Haſen, Kaninchen und Hüner. Von den natürl. Ordnungen der Papilionaceæ, Stellatæ und Verticillatæ hingegen (von denen Linné in der Philos. bot. p. 81. etwas kühn ſagt: flores luxuriantes exhibere nequeunt) kommen Miſsgeburthen eben ſo ſelten vor als unter Pferden, wilden Schweinen und Fischen. das ſie an eine ewig gleiche Form bindet, weniger gehorchen. Unter den einfa - chen Blumen ſind die durchwachſenen ſeltener; doch hat ſie Tournefort ſchon bey dem Ranunculus, der Anemone und wenigen anderen bemerkt. Von unſe -6 ren deutſchen Siliquoſis iſt, ſo viel ich weiſs, noch kein Beyſpiel einer Prolification gefunden. Daher ſtehe, ich nicht an, eine Beobachtung bekannt zu machen, die ich ſelbſt anzuſtellen Gelegenheit hatte, und deren Mittheilung dem forſchenden Phyſiologen vielleicht nicht ganz unwill - kommen ſeyn wird.
Im Frühlinge dieſes Jahrs ſah ich in dem Walde zwi - ſchen Berlin und Tegel, auf einer botaniſchen Excur - ſion eine Cardamine pratenſis, welche durch die Gröſſe ihrer Blüthentheile und die Dicke ihrer Stengel meine Aufmerkſamkeit reizte. Als ich ſie genauer betrachtete, fand ich daſs dieſe Blüthen (deren ich 4 bereits völlig entwikelte zählte) gefüllt und dabey noch zweyfach durchwachſen — Flores pleni ſimulque duplicato - proli - feri — waren. Jede Corolla beſtand aus drey kleinen Corollen. In der unteren war das Piſtill in einen voll - kommenen Pedunculus verwandelt, welcher die zwei - te, mit einem eigenen Kelch verſehene Blumenkrone trug. Dieſe zweyte hatte faſt eben ſo lange petala als die erſte, ſtatt des piſtills aber, in ihrer Mitte, eben - falls einen Blüthenſtengel mit der dritten Corolla. Alle dieſe Blüthen waren mit Staubfäden verſehen, von de - nen aber die längeren in petala verwachſen waren Bei einigen war das Filamentum nur weiter gedehnt (dilatatum) und bildete den vnguis petali, bei ande - ren ſah man aus dem vollkommenen Blumenblatte noch den Staubbeutel (anthera) herabhängen, bei noch an - deren hatte ſich die halbe anthera zu einem petalum umgebildet.
Welche Fülle plaſtiſcher Kräfte muſsten in dieſem Gewächſe zuſammenwirken, um in den weſentlich - ſten Theilen desſelben ſolche Veränderungen hervorzu -7 bringen! Und dennoch erſchien dieſer üppige Pflan - zenwuchs in einer Gegend, wo ich keine Cardamine vermuthet hätte, in einer dürren Sandebene zwiſchen Carex arenaria, Cladonia gracilis und Aira caneſcens.
CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
Ueber eine zweifache Prolification der Cardamie pratensis. Alexander von Humboldt. . I+3 S. 1792. Annalen der Botanick (1, 3. St.) pp. 5-7.
Antiqua
Distributed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial 3.0 Unported License.