PRIMS Full-text transcription (HTML)
230Monatl. Correſp. 1812. SEPT.

XVI. Über die Verbindung zwiſchen dem Orinoco und Amazonenfluſs.

Von Alexander v. Humboldt.

(Aus dem Franzöſiſchen.)

Zu den auſserordentlichſten und ſeltenſten Erſchei - nungen, welche der Lauf der Ströme darbietet, ge - hört die Spaltung in zwey Theile nahe bey ihrem Urſprung, und die natürliche Verbindung zwiſchen zweyen Fluſsbetten, deren Abhang nach entgegen - geſetzter Richtung geht. Prony beſchreibt in dem vorhergehenden Artikel die Voltata des Arno und den Arm, welchen er ehedem in die Tiber geſchickt zu haben ſcheint. Eine Zeichnung, die nach der groſsen, im Jahr 1806 erſchienenen Carte militaire von dem Königreich Hetrurien gemacht iſt, ſtellt dieſe Verbindung zwiſchen zweyen Flüſſen, von welchen der eine gegen Süden, der andere gegen Weſten geht, deutlich vor Augen. *)Eine etwas verkleinerte Copie dieſer Zeichnung iſt dieſem Hefte beygefügt. 2Dieſelbe Er - ſcheinung, die hier durch die Unterſuchungen von Foſſombroni wahrſcheinlich gemacht iſt, findet auf eine nicht zu bezweifelnde Weiſe, im ſüdlichen Ame - rika ſtatt. Ich habe ſie durch meine Fahrt auf demOri -231XVI. Verbind. zwiſch. d. Orinoco u. d. Amazonenfl. Orinoco, Caſſiquiari, und Rio Negro in den Mona - ten März, April, Mai und Jun. 1800 auſser Zweifel geſetzt. Die beygefügte Skizze von dem Laufe des Orinoco, die nach meiner groſsen Karte, welche ich an Ort und Stelle aufgenommen habe, gemacht iſt, kann als Seitenſtück zu der Karte von Prony dienen. *)Auch von dieſer erhalten unſere Leſer auf demſelben Blatte, auf welchem die Karte von Prony befindlich iſt, eine Copie in gleicher Gröſse mit dem Original.Für den Hydrographen iſt es von Wich - tigkeit, den Einfluſs, welchen die Ungleichheiten des Bodens und die beſondere Geſtalt eines Erdſtrichs auf die Richtung und Verzweigung der Flüſſe, in den verſchiedenſten Theilen der Erdkugel, haben, kennen zu lernen.

Seit einem Jahrhundert hat man darüber geſtrit - ten, ob zwiſchen zweyen der gröſsten Flüſſe der Welt, dem Orinoco und Amazonenfluſs, eine Ver - bindung ſtatt finde oder nicht. Der P. Gumilla hatte in ſeiner Geſchichte des Orinoco eine ſolche Verbin - dung geläugnet; Condamine hingegen, der den Aus - fluſs des Rio negro in den Amazonenfluſs geſehen hatte, ſammelte während ſeines Aufenthaltes in Para unwiderlegbare Beweiſe von der Verbindung des Orinoco mit dem Rio negro. D'Anville, der das ſeltne Talent hatte, die Wahrheit aus einfa - chen Angaben zu treffen, ſtellte auf ſeiner ſchö - nen Karte von Südamerika, den Caſſiquiari ziemlich richtig als einen Arm des Orinoco dar. Bey der mi - litäriſchen Expedition, welche die ſpaniſche Regie - rung im Jahr 1755 zur Berichtigung der Gränzenzwi -232Monatl. Correſp. 1812. SEPT. zwiſchen ihren und den portugieſiſchen Beſitzungen unternahm, wurde der Caſſiquiari unterſucht, nicht von den Anführern der Expedition, den Herren Hur - riaga und Solano, ſondern von einigen Unteroffi - cieren ihres Corps. Der P. Caulin, ein Franzikaner, welcher den Solano bis zu den Waſſerfällen des Ori - noco begleitet hatte, gab in ſeiner chorographi - ſchen Geſchichte von Neu-Andaluſien, eine Karte des ſpaniſchen Guiana's heraus. In dieſer findet man auſser der wirklich vorhandenen Verbindung zwi - ſchen den mehrgedachten Flüſſen, noch mehrere Verzweigungen derſelben, deren Kenntniſs ſich aber nur auf unbeſtimmte und ungenaue Ausſagen grün - det. Die Karte des P. Caulin, die auſserhalb Spa - nien ſehr wenig bekannt iſt, und ungeheure Fehler in den Breiten enthält, wurde von la Cruz in ſeiner groſsen Karte von Süd-Amerika, welche 1775 in Madrid herauskam, copirt. Ein franzöſiſcher Geo - graph, deſſen Arbeiten viel zum Fortgang der Wiſ - ſenſchaften beygetragen haben, gab im Jahr 1798 eine neue Karte von Guiana heraus, worinn er, nach ſeinen theoretiſchen Anſichten, das Bette des Orinoco zwiſchen dem Rio Jao und dem Cunucu - numo durch eine Kette ſehr hoher Berge durchſchnei - den läſst. Er fügt in einer beſondern Anmerkung hinzu: Daſs die vermeintliche Verbindung zwi - ſchen dem Orinoco und Amazonenfluſs eine geogra - phiſche Ungereimtheit wäre, und daſs man, um die Ideen darüber zu berichtigen, die Richtung der Cordilleren, durch welche die Gewäſſer getheilt würden, gehörig unterſuchen müſste.

Ich233XVI. Verbind. zwiſch. d. Orinoco u. d. Amazonenfl.

Ich habe Gelegenheit gehabt, dieſe Unterſuchung der Richtung der Berge an Ort und Stelle vorzuneh - men; ich habe den Lauf der Flüſſe durch eine be - trächtliche Anzahl aſtronomiſcher Beobachtungen beſtimmt; ich bin mit Hrn. Bonpland den Atabapo, den Tuamini und den Terni hinaufgegangen; ich habe mein Canot von Javita über den Schlangenwald bis zum Canno Pimichin tragen laſſen; ich bin auf dieſem Fluſs in den Guainia eingelaufen, welchen die Europäer Rio negro nennen; auf dem Guainia bin ich abwärts gefahren bis zu dem kleinen Fort San Carlos; alsdann bin ich den Caſſiquiari aufwärts gegangen bis zu der Stelle, wo er ſich vom Orinoco trennt; und auf dieſem wieder herunter bis nach San-Thomas de Guiana, und habe auf dieſe Weiſe die Gebirgskette, von welcher man wähnte, daſs ſie die Gewäſſer des Orinoco und Caſſiquiari von einander trennte, im Canot durchſchnitten. Dieſe Fahrt, die bey niedrigem Waſſerſtande gemacht, und durch nichts als durch die Stelle bey Javita unterbro - chen worden war, hat nicht den geringſten Zweifel über die Spaltung des Orinoco ganz nahe bey ſeinem Urſprung übrig gelaſſen. Die ungeheuere Ebene, die ſich zwiſchen den Miſſionen von San Fernando de Atabapo, Esmeralda, Maroa und San-Carlos del Rio negro ausbreitet, zeigt uns die auſserordentliche Erſcheinung von vier Flüſſen, von denen zwey und zwey einander beynahe parallel, obwohl nach ent - gegengeſetzten Seiten hin, laufen. Der Orinoco flieſst gegen N. W., der Guainia gegen S. O., der Caſſi - quiari gegen S. und der Atabapo gegen N. Die cul - minirenden Puncte auf dieſer Ebene finden ſich ineiner234Monatl. Correſp. 1812. SEPT. einer Linie, die von N. O. gegen S. W. geht. Ein groſser Theil von Guiana iſt eine Inſel, die durch das Meer und durch die ſtrömenden Gewäſſer des Amazonenfluſſes, des Guainia, des Caſſiquiari und des Orinoco gebildet wird.

Unterſucht man den Boden eines Fluſſes, nach einem in die Queere laufenden Durchſchnitt, mit dem Senkbley, ſo findet man beſtändig, daſs er, weit entfernt eine horizontale Ebene zu bilden, aus einer Reihe von Furchen von ungleicher Tiefe beſteht. Je breiter der Fluſs iſt, deſto gröſser iſt die Anzahl der Furchen; und oft behaupten ſie auf groſse Stre - cken einen vollkommenen Parallelismus. Jeder Fluſs kann angeſehen werden, als beſtände er aus meh - rern Canälen; und es findet bey ihm eine Spaltung in zwey Theile ſtatt, wenn ein Theil des Erdreichs, welches an das Ufer ſtöſst, niedriger iſt, als der Bo - den einer ihm zur Seite liegenden Furche. Dieſe Spaltungen ſind in der Nähe der Mündungen der Flüſſe, wo das Erdreich wenig Ungleichheiten hat, ziemlich gemein. Das Delta des Nils und das des Orinoco geben uns Beyſpiele dieſer Erſcheinung. In dieſen Fällen gibt es ſogar bisweilen Verbindungen zwiſchen zweyen Flüſſen, wenn die Arme derſel - ben einander nahe laufen. Die Spaltungen im In - nern des Landes in der Nähe der Quellen ſind deſto ſeltener, da die meiſten groſsen Flüſſe in bergigten Ge - genden entſpringen und in Thälern fortflieſsen, die durch mehr oder minder beträchtliche Erhöhungen von einander abgeſondert ſind. Ein Arm der Loire könnte ſich unmöglich einen Weg zum Bette der Seine bahnen. Das Innere von Guiana, derjenigeTheil235XVI. Verbind. zwiſch. d. Orinoco u. d. Amazonenfl. Theil des Landes, welcher ſich von den Granitber - gen des Duida und Parima bis über den Aequator hinaus erſtreckt, iſt ſo eben, daſs die kleinſten Un - gleichheiten des Bodens den Lauf der Flüſſe daſelbſt beſtimmen. Wir haben oben geſehen, daſs der Caſ - ſiquiari, deſſen mittlere Breite vier - bis fünfhundert Métres beträgt, nur ein Arm des Orinoco iſt; und eben dieſer Arm zeigt oberhalb des Orts, wo ſonſt der indianiſche Flecken Capivary gelegen hat, eine neue Spaltung. Er ſchickt einen Arm gegen We - ſten, den Canno Conorichiti, der ſich zehn Meilen oberhalb der Mündung des Caſſiquiari, in den Rio negro ergieſst.

Dieſe letzte Spaltung hat groſse Aehnlichkeit mit der ſonderbaren Verzweigung, welche die Sor - que, die Louvere und Nesque, zwiſchen Avignon und Montenk in dem Departement von Vaucluſe zei - gen. Der Arm der Aigues, der ſich bey Travaillans abſondert, um ſich in der Nähe der Meierey Lam - pourde mit der Rhone zu vereinigen, gibt ein Bey - ſpiel von Spaltung, das dem des Conorichiti ganz ähnlich iſt. Ueberall beſtimmt die Geſtaltung des Bodens die Richtung der Flüſſe, nach beſtändigen und gleichförmigen Geſetzen.

XVI.

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TextÜber die Verbindung zwischen dem Orinoco und Amazonenfluss
Author Alexander von Humboldt
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Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic information Über die Verbindung zwischen dem Orinoco und Amazonenfluss. Alexander von Humboldt. . 6 S. 1812. Monatliche Correspondenz zur Beförderung der Erd- und Himmels-Kunde (26) pp. 230-235.

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ClassificationAbhandlungen in Zeitschriften, Sammelbänden etc.; ready; avh

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