PRIMS Full-text transcription (HTML)
I
Athenaeum.
Eine Zeitschrift
Ersten Bandes Erstes Stuͤck.
Berlin,1798. bey Friedrich Vieweg dem aͤlteren.
IIIII

Vorerinnerung.

Die ersten Stuͤcke dieser Zeitschrift koͤnnen den Leser hinlaͤnglich uͤber ihren Zweck und Geist verstaͤndigen. Jn Ansehung der Gegenstaͤnde streben wir nach moͤglichster Allgemeinheit in dem, was unmittelbar auf Bildung abzielt; im Vortrage nach der freyesten Mittheilung. Um uns jener naͤher zu bringen, hielten wir eine Verbruͤderung der Kenntnisse und Fertigkeiten, um welche sich ein jeder von uns an seinem Theile bewirbt, nicht fuͤr unnuͤtz. Bey dieser leitet uns der gemeinschaftliche Grundsatz, was uns fuͤr Wahrheit gilt, niemals aus Ruͤcksichten nur halb zu sagen.

Jn der Einkleidung werden Abhandlungen mit Briefen, Gespraͤchen, rhapsodischen Betrachtungen und aphoristischen Bruchstuͤcken wechseln, wie in dem Jnhalte besondre Urtheile mit allgemeinen Untersuchungen, Theorie mit geschichtlicher Darstellung, Ansichten der vielseitigen Strebungen unsers Volks und Zeitalters mit Blicken auf das Ausland und die Vergangenheit, vorzuͤglich auf das klassische Alterthum. Was in keiner Beziehung auf Kunst und Philosophie, beyde in ihrem ganzen Umfange genommen, steht, bleibt ausgeschlossen, so wie auch Aufsaͤtze,IV die Theile von groͤßeren Werken sind. Der Pruͤfung der Kenner widmen wir unsre angestrengtesten Bemuͤhungen; fuͤr die Unterhaltung aller Leser wuͤnschen wir so viel anziehendes und belebendes in unsre Vortraͤge zu legen, als ernstere Zwecke erlauben.

Wir theilen viele Meynungen mit einander; aber wir gehn nicht darauf aus, jeder die Meynungen des andern zu den seinigen zu machen. Jeder steht daher fuͤr seine eignen Behauptungen. Noch weniger soll das geringste von der Unabhaͤngigkeit des Geistes, wodurch allein das Geschaͤft des denkenden Schriftstellers gedeihen kann, einer flachen Einstimmigkeit aufgeopfert werden; und es koͤnnen folglich sehr oft abweichende Urtheile in dem Fortgange dieser Zeitschrift vorkommen. Wir sind nicht bloß Herausgeber, sondern Verfasser derselben, und unternehmen sie ohne alle Mitarbeiter. Fremde Beytraͤge werden wir nur dann aufnehmen, wenn wir sie, wie unsre eignen, vertreten zu koͤnnen glauben, und Sorge tragen, sie besonders zu unterscheiden. Die Arbeiten eines jeden von uns sind mit dem Anfangsbuchstaben seines Vornamens, die gemeinschaftlichen mit beyden bezeichnet.

W. und F.

Jnhalt.

  • I. Die Sprachen. Ein Gespraͤch uͤber Klopstocks grammatische Gespraͤche. W. Seite 3.
  • II. Bluͤthenstaub. Von Novalis70
  • III. Elegien aus dem Griechischen. W.u. F. 107.
  • IV. Beytraͤge zur Kritik der neuesten Litteratur. W. 141.
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Athenaeum.

Ersten Bandes Erstes Stuͤck.

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I. Die Sprachen. Ein Gespraͤch uͤber Klopstocks grammatische Gespraͤche. *)Was in den Reden des Deutschen mit Haͤkchen bezeichnet ist, sind Klopstocks Saͤtze aus dieser oder fruͤheren Schriften, immer dem Jnhalte, zuweilen auch dem Ausdrucke nach. Der dialogischen Form wegen mußte in den Reden des Griechen einiges als Behauptung vorgetragen werden was nur Vermuthung ist.

Poesie. Soll ich meinen Augen trauen? Du lebst also wirklich?

Grammatik. Ja, es ist mir selbst wunderlich dabey zu Muthe. Vor Klopstocks grammatischen Gespraͤchen ist es mir niemals begegnet.

Poesie. Ganz recht! Klopstocks grammatische Gespraͤche. Derentwegen bin ich eben herbeschieden. Aber sage mir, was habe ich mit ihnen zu schaffen? Jch trete ja nicht darin auf.

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Grammatik. Wie konntest du? Weißt du nicht, daß Leben und Tod einander immer das Gleichgewicht halten, und daß, wo die Grammatik lebt, die Poesie todt seyn muß?

Poesie. Wir werden uns also auch jetzt freundschaftlich darum vertragen, und beyde mit einem halben Leben zufrieden seyn muͤßen.

Grammatik. Nach geendigtem Geschaͤft will ich dirs ganz abtreten: denn dir kommt das Leben zu, fuͤr mich ist es immer nur ein gezwungner Zustand.

Poesie. Zu dem du dich aber, Klopstock zu Gefallen, bequemt hast.

Grammatik. Er belohnt es mir durch die reichhaltigen Winke, die seinen Bemerkungen, die Aufforderungen zu tieferer Forschung, die in seinem Buch verborgen liegen.

Poesie. Verborgen allerdings! Habe ich doch auf meinen Wanderungen bis jetzt nie davon gehoͤrt. Warum wissen denn die Deutschen kaum, daß sie so etwas besitzen?

Grammatik. Viel thut wohl die Einkleidung; dann der Grad von Einsicht, der bey dem Leser vorausgesetzt wird; die Hauptsache ist aber, daß es von etwas Deutschem handelt.

Poesie. Und doch wird diese Sache aus der Fremde, und sogar aus dem Alterthum her in Anregung gebracht?

Grammatik. Die alten und neuen Sprachen sind hoͤchlich entruͤstet: sie behaupten, Klopstock habe5 die Vorzuͤge der seinigen weit uͤberschaͤtzt, und herabwuͤrdigend von ihnen gesprochen.

Poesie. Und da sollen wir den Streit schlichten. Wie schlau sie doch sind! Sie befuͤrchteten, wir moͤchten beyde, aus alter Freundschaft Klopstocks Sachwalterinnen werden; um uns zur Unparteylichkeit zu noͤthigen, haben sie uns das Richteramt anvertraut.

Grammatik. Wie ist mir? Du bist ja gar nicht, wie ich dich mir aus der Ferne vorgestellt habe. Du redest so schlicht.

Poesie. Jch muß wohl, um mich von der poetischen Prosa zu unterscheiden. Doch still! dieß sind vermuthlich die Parteyen.

Grammatik. Weswegen kommt ihr? wer seyd ihr?

Deutscher. Die andern um Klopstock anzuklagen, ich um ihn zu vertheidigen. Wir sind Repraͤsentanten unsrer Sprachen.

Grammatik. Warum kommen diese nicht selbst?

Deutscher. Sie glaubten, es wuͤrde euch so besser gefallen. Du, Grammatik, hast es lieber mit den Begriffen selbst als mit ihrer Scheinbelebung zu thun; und du, Poesie, haͤltst nicht viel auf lustige Begriffpersonen.

Poesie. Jch merke, ihr macht die Sitte der Zeit mit: denn das repraͤsentative System ist in den schoͤnen Kuͤnsten wie in der Politik herrschend geworden. Jst kein Repraͤsentant der Menschheit unter euch?

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Deutscher. Wir wollen dir nicht ins Amt fallen. Du sollst ja Repraͤsentanten der Menschheit, und nichts anders als solche aufstellen.

Poesie. Da wuͤrde ich am Ende selbst nur repraͤsentirt.

Grammatik. Kommt sogleich zur Sache, und bringt die einzelnen Punkte der Klage und Vertheidigung nach einer gewissen Ordnung vor.

Deutschheit. (draußen.) Wehrt mirs nicht. Jch wage mein Leben fuͤr den aͤchten Deutschen Barden. Meine Losung ist: Er und uͤber ihn!

Franzose. Wie grob! Jch hielt nur die Thuͤr zu, um erst zu fragen, wer sie waͤre, und sie schleudert mich eine Ecke weit in den Saal hinein.

Grieche. Wer ist diese blonde Gigantin?

Deutschheit. Jch achte mich hoͤher als euch alle. Nur du bist meines Grußes werth, Goͤttin des Gesangs! Bist groß und gut, ein biedres Deutsches Weib.

Poesie. O weh! sie zerdruͤckt mir die Hand.

Grammatik. Was willst du hier, Deutschheit? Jch kenne dich, du hast mir auch schon Unheil genug angerichtet.

Deutschheit. Er ist mein Vater. Wer mir von dem auslaͤndischen Volke etwas wider ihn und unsre alte Kernsprache sagt, dem soll diese starke Faust

Grammatik. Hier wird nicht mit Gewalt gestritten, sondern mit Gruͤnden.

Deutscher. Jch erkenne sie nicht an, ich habe nichts mit ihr gemein, sie wuͤrde meinen guten Handel verderben.

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Poesie. Schafft sie hinaus! Die Ungeschlachte gehoͤrt nicht in diesen gebildeten Kreis.

Deutschheit. Bey Herrmanns Schatten!

Franzose. O der erscheint laͤngst nicht mehr!

Grieche. Die Barbarin! fort mit ihr!

Poesie. So haͤtten wir dann wieder Ruhe. Aber sage mir, Deutscher, welche Bewandniß hat es mit der Abstammung, deren sie sich ruͤhmt?

Deutscher. Es ist wohl nur eine von ihren Prahlereyen, denn du weißt ja: Von selbst weiß niemand wer ihn gezeuget. Bedenke, daß eine Stunde der uͤberfluͤßigen Kraft noch ganz andern Geschoͤpfen das Daseyn gegeben hat. Auch waͤre es unbillig ihm die Schuld ihres Betragens beyzumessen. Sie hatte zwar schon als Kind etwas von gezierter Maͤnnlichkeit und prunkhaftem Biedersinn an sich, aber erst durch die Erziehung der Juͤnger ist sie so leer und hochtrabend, und endlich, wie es den meisten Menschen geht, wenn sie nun recht ins buͤrgerliche Leben eintreten, platt geworden.

Poesie. Von den Nachaͤffern laß uns nicht reden, aber selbst der Urheber hat einen schlimmen Mißgriff gethan. Die meisten Nazionen haben das Vorurtheil, sich hoͤher als alle andern zu halten: wenn nun einmal eine es nicht hat, warum soll man es ihr mit Gewalt anschwatzen? Übrigens, wie stolz auch dieß vorsaͤtzliche und unaufhoͤrliche Erinnern an den Werth alles Deutschen klingt, so ist es doch etwas sehr demuͤthiges: denn es setzt voraus, das, woran man erinnert, sey so beschaffen, daß es gar leicht koͤnnte vergessen werden.

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Deutscher. Wenn man nun aber seine Vorzuͤge wirklich vergißt?

Poesie. Es hat damit bey Nazionen eben so wenig auf sich, als bey einzelnen Menschen. Man soll ja nicht im Bewußtseyn ihres Besitzes unthaͤtig werden. Wenn man nur die Vorzuͤge nicht vergißt, nach welchen man zu streben hat.

Deutscher. So wird man uns doch freyen Ausdruck unsrer Eigenthuͤmlichkeit erlauben?

Poesie. Der wird verfehlt, so bald man ihn sich vornimmt. Überdieß muͤßt ihr uͤber euern Karakter erst mit euch selbst einig werden. Was ihr fuͤr Deutschheit ausgebt, ist meistens, bey Licht besehn, nur die Nordischheit. Jch kann am besten wissen, ob ihr nazionale Eigenthuͤmlichkeit habt.

Deutscher. Freylich keine einseitig beschraͤnkte.

Grammatik. Zur Sache. Die Sprache des Griechen hat den Vorrang der Wuͤrde und des Alterthums; und Klopstock macht sich, eben weil er sie am meisten ehrt, fast immer mit ihr zu thun, um die seinige mit ihr zu messen. Was er von ihr sagt, gilt zum Theil die roͤmische mit. Auf die neueren wirft er nur einige schnoͤde Seitenblicke. Der Grieche sey also Wortfuͤhrer der Klage, die andern moͤgen sie bey den Punkten, die auf sie Bezug haben, unterstuͤtzen; und wenn ihnen besondre Beleidigungen widerfahren sind, nachher reden.

Deutscher. Sollen unsre Sprachen sich einfinden, Grieche? Sie sind Schwestern.

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Grieche. Mir war nichts davon bewußt, ich habe es erst durch Klopstock erfahren.

Deutscher. Schon Plato hat ja πῦρ und andre solche zugleich Griechische und altdeutsche Worte aus dem Scythischen, dem ersten Quell des Deutschen, abgeleitet.

Grieche. Leitet der Philosoph nicht etwa auch das Wort Jronie aus dem Scythischen her? Die Stelle ist im Kratylus, wo Sokrates die etymologische Weisheit eines gewissen Eutyphro durch die wunderlichsten und drolligsten Ableitungen, immer unter dem Schein des Ernstes, zum Besten giebt. Bey allen unerhoͤrten Gewaltthaͤtigkeiten, die er sich mit den Woͤrtern erlaubt, behaͤlt er sich immer noch das Recht vor, wo er sich gar nicht weiter zu helfen weiß, vorzugeben, ein Wort sey barbarischen Ursprungs und er koͤnne es also nicht erklaͤren. Dieß thut er bey πῦρ. Gesetzt aber er spraͤche im Ernste, so bewiese seine Aussage grade das Gegentheil von Verwandtschaft. Denn es waͤren ja nach ihm nur einige Scythische Woͤrter fremd in das Griechische gekommen, und zwar hauptsaͤchlich durch die unter den Barbaren wohnenden Hellenen.

Deutscher. Jhr verdankt eure erste Bildung dem Orpheus, einem Getischen Druiden.

Grieche. Weil er ein Thracier heißt? Wanderte nicht auch der Thracier Thamyris im Pelopoponnesus umher? Durch jene Benennung wird Orpheus zu einer historischen Person gemacht, da er doch bloß eine mythische ist. Die Sage von ihm verdient10 um so weniger Glauben, da sie nicht so alt zu seyn scheint, als Priester sie ausgeben. Homer kennt sie nicht.

Deutscher. Die Deutschen bildeten vor Alters viele ihrer Zeitwoͤrter durch Verdoppelung des anfangenden Mitlauts und hatten einen Dual wie ihr. Sprachen, die sogar solche Sonderbarkeiten gemein haben, wie der Dual ist, haben uͤberhaupt viel gleiches.

Grammatik. Die Verdoppelung ist allerdings eine seltnere Eigenheit, die der Roͤmer aber auch mit dem Griechen gemein hat. Der Dual findet sich in den verschiedensten Sprachen; im Hebraͤischen und im Finnischen. Er ist dem Ursprunge der Gesellschaften und der Kindheit des menschlichen Geistes sehr natuͤrlich: je weniger zahlreich jene sind, desto haͤufiger tritt der Fall ein, daß nur zwey zusammen handeln; und der unmuͤndige Verstand erhebt sich durch den Begriff des Paares wie durch eine Stufe zu dem allgemeineren der Vielheit. Die Griechen gaben vielleicht das einzige Beyspiel einer Sprache, die den Dual auch in der hoͤchsten Ausbildung nicht abgelegt; und wer weiß was geschehn waͤre, haͤtten die Dichter nicht gethan.

Deutscher. Die Stammvaͤter der Deutschen und Griechen waren in ihren urspruͤnglichen Sitzen Nachbarn.

Grieche. Reicht eure Geschichte bis da hinauf? Homer und Herodot sagen nichts davon. Doch nimm an, die Pelasger waͤren von Norden her in mein Vaterland eingewandert: das Volk der Hellenen ist erst11 weit spaͤter durch Abtrennung von jenen entstanden, und hat zugleich mit dieser durch unbekannte Ursachen bewirkten Umwandlung eine andre Sprache bekommen. Herodot wagt es nicht, mit Sicherheit zu bestimmen, welche Sprache die Pelasger geredet; er vermuthet aber eine barbarische, das heißt, nicht eine durch die Mundart sondern wesentlich und durchaus von der Hellenischen verschiedne. War also auch die Pelasgische Sprache mit der Deutschen verwandt, was folgt daraus fuͤr die Hellenische?

Deutscher. Durch alles dieß wird die Thatsache nicht umgestoßen, daß viele Deutsche Benennungen mit den Griechischen auffallend uͤbereinstimmen.

Grieche. Wenn ihr die ausnehmt wo eine gewisse Beziehung des Zeichens auf den Gegenstand Statt findet, und die, welche ihr durch Vermittlung der Roͤmer, entweder bey der Niederlassung christlicher Priester oder schon fruͤher erhalten, so wird keine betraͤchtliche Zahl uͤbrig bleiben. Wie viele Namen erhieltet ihr zugleich mit den Dingen! Oder haben die Germanier in ihren uralten Waͤldern den Wein schon mit Rosen gekraͤnzt?

Deutscher. Nein, aber bis zehn gezaͤhlt haben sie doch wohl?

Grieche. Sie nahmen vielleicht mit der Erlernung der Ziffern auch die dazu gehoͤrigen Benennungen großentheils an, und ließen ihre alten dahinten. Jch sage nur, was ein entschiedner Zweifler einwenden koͤnnte.

Franzose. Es ist lustig anzuhoͤren, wenn einer12 dem andern seine Verwandtschaft im zwanzigsten Grade vorrechnet, die dieser nicht anerkennen will.

Englaͤnder. Man moͤchte ihm antworten: ich will glauben, daß ihr mein Vetter seyd; aber ich weiß gewiß, daß ich eurer nicht bin.

Grieche. Wir streiten zu lange uͤber die Herkunft. Welcher Verstaͤndige giebt bey Menschen und Sprachen etwas darauf, wenn sie sich nicht durch Verdienst bewaͤhrt? Hatte eure Sprache gleiche Abstammung mit der unsrigen, desto schlimmer fuͤr euch, daß ihr nichts gefaͤlligers aus ihr gemacht. Doch da sie in ihrer Kindheit einen mildern Himmel gewohnt war, so hat sie sich vermuthlich in den feuchten Wildnissen Germaniens erkaͤltet, und seitdem eine heisere Stimme behalten.

Roͤmer. Die Verwandtschaft der Lateinischen Sprache mit der Griechischen war, denke ich, von ganz andrer Art. Und dennoch waͤre sie bey den Versen, welche vordem die Faunen und Priester gesungen, geblieben, haͤtte die Siegerin nicht die Erziehung ihrer Überwundnen empfangen.

Jtaliaͤner. Da das Lateinische aus den aͤltesten Mundarten des Griechischen, das Jtaliaͤnische aber aus der Vermischung von jenem mit dem Gothischen und Longobardischen entstanden ist, welches Deutsche Sprachen waren, so haben sich ja in uns die beyden Zweige der Familie wieder vereinigt.

Franzose. Auch in uns die Franken mit den Lateinisch gewordenen Galliern. Wir haͤtten also saͤmtlich13 das Vergnuͤgen unter lauter Vettern und Basen zu seyn, den Senor Castellano mit eingeschlossen, wiewohl er sich mit dem Heidenthum etwas gemein gemacht hat.

Deutscher. Unsre Sprachen, Grieche, haben auch im Klange viel aͤhnliches.

Grieche. Hier erwartete ich dich: ich wollte vorhin schon vom Wohlklange anfangen.

Jtaliaͤner. Ja, das scheint mir auch die Hauptsache.

Deutscher. Klopstock giebt eine Menge Beyspiele von aͤhnlichen Woͤrtern, ja ganzen Halbversen.

Grieche. Selbst die Richtigkeit der Vergleichung zugestanden, behielten wir noch den Vorzug. Denn in den kurzen Sylben, wo wir toͤnende Vokale haben, steht bey euch meistens das unbedeutende E. Allein er legt die Deutsche Aussprache der Griechischen zum Grunde. So spottet er uͤber Bettinelli, dem man Griechische und Deutsche Verse vermischt vorsagte, da er beyde Sprachen nicht kannte, und der lauter Deutsche gehoͤrt zu haben glaubte. Der arme Bettinelli! Er hatte ja wirklich lauter Deutsche Verse gehoͤrt.

Deutscher. Wich denn eure Aussprache so sehr von unsrer heutigen ab?

Grieche. Mehr als eure Schriftzeichen ausdruͤcken, und eure Organe nachbilden koͤnnen. Jch rede nicht vom ungefaͤhren Nachsprechen, sondern von den Feinheiten, woran Theophrast nach Jahren des Studiums von einer Attischen Gemuͤsehaͤndlerinn als Fremdling erkannt ward.

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Deutscher. Du legst viel Gewicht auf unmerkliche Schattirungen.

Grieche. Dieser lebendige Hauch ist grade das Eigenthuͤmlichste im Vortrage der Sprachen, und wie in haͤßlichen das Abschreckendste, so in schoͤnen der Gipfel ihrer Anmuth.

Jtaliaͤner. Er hat Recht! Der Gipfel unsrer Anmuth!

Grieche. Aber wenn wir auch bey den groͤberen koͤrperlichen Bestandtheilen stehn bleiben: welche Aussprache ist die eurige! Jhr unterscheidet ϑ nicht von τ das saͤuselnde ζ, von dem es zweifelhaft seyn konnte, ob es fuͤr ςδ oder δς staͤnde, stoßt ihr auf eure heftige Art heraus; φ und das Roͤmische f gilt euch gleich, da doch jenes ein schmeichelnder Laut, dieses ein ungeheurer Buchstabe war; ihr verwechselt die Diphthongen αι und ει, und die nicht das geringste mit einander gemein haben, οι und ευ

Deutscher .. Gut, daß du der Diphthongen erwaͤhnst. Jhre nicht selten unvermeidliche Haͤufung ist ein großer Übelstand eurer Sprache. Sie artet dadurch in Rauhigkeit aus. Das οι ist uͤbelklingend.

Grieche. Das entscheidest du, da du uͤberhaupt im blinden bist, wie es geklungen hat?

Grammatik. Jch zweifle, daß ihr euch uͤber die Diphthongen je verstehen werdet. Über keinen Punkt der Aussprache weichen die Voͤlker, sowohl durch das Urtheil ihres Ohres als durch die Schreibung, so weit von einander ab.

Roͤmer. Jn Ansehung des letzten wir schon15 durchgaͤngig von den Griechen. Zur Bezeichnung jedes ihrer Diphthongen setzen wir andre Vokale zusammen als sie.

Grammatik. Sie sind nicht einmal daruͤber einig, was Diphthongen, und was einfache Vokale sind.

Englaͤnder. So gilt uns das ei des Deutschen in wine u. s. w. nur fuͤr ein langes i.

Roͤmer. Das habt ihr wohl von uns angenommen.

Grammatik. Einige haben Diphthongen, die sich andre, ohne sie gehoͤrt zu haben, gar nicht wuͤrden vorstellen koͤnnen.

Franzose. So wir oiseau, nuire ..

Grammatik. Auch haͤtte das Zutrauen zu der Schreibung der Alten nicht so weit gehn sollen, anzunehmen, was sie auf einerley Art geschrieben, sey in allen Verbindungen auf einerley Art ausgesprochen worden, denn die Armuth der Bezeichnung mußte hinter den mannichfaltigen Abstufungen der Toͤne zuruͤckbleiben.

Roͤmer. Freylich, wir hatten sogar fuͤr alle Vokale, die lang oder kurz seyn koͤnnen, in beyden Faͤllen nur dieselben Buchstaben. Und glaubt man, es sey ohne Grund gewesen, daß wir fuͤr das Griechische ει bald i bald e setzen? sAlexandria, Medea.

Grieche. Du haͤttest billig zweifeln sollen, Deutscher, ob es etwas so breites und vollmundiges, wie eure DDoppellaute sind, uͤberhaupt in unsrer Sprache gegeben habe. Kannst du dir wohl vorstellen, wie man zwey Vokale, ohne daß sie in der Verschmelzung16 verlohren gehn, und ein ganz verschiedenes Gemischtes daraus wird, und doch in Einer Sylbe, hoͤren laͤßt?

Deutscher. Ganz und gar nicht.

Jtaliaͤner. Jch sehr gut: Euro, lauro, mai, voi .. Jn buono wird der letzte Vokal mehr gehoͤrt.

Grieche. Der Übergang des αι, ει, οι, in , , , waͤre bey deiner Aussprache unerklaͤrlich. Wenn aber das, ι dem vorangehenden Vokal leiser nachhallte, so mußte es bey seiner Verlaͤngerung ganz verschwinden. Auch die Verwandlung von α υ und ε υ in η υ, und von α υ in η ω haͤtte dich auf den Argwohn bringen muͤssen, daß dir hier etwas verborgen waͤre.

Deutscher. Aber wenn die Vokale in den Diphthongen schon abgesondert gehoͤrt wurden, wozu die Trennungspunkte, wenn eure Dichter sie in zwey Sylben aufloͤsten?

Grieche. Du vergißst immer, daß unser Ohr auch feine Unterschiede wahrnahm. Selbst dieser Umstand konnte dir jene Vermuthung bestaͤtigen: denn wie haͤtten die Dichter trennen duͤrfen, was so, wie durch eure Aussprache, vereinigt war?

Grammatik. Über das Zusammentreffen der Vokale weichen die Urtheile ab. Einige Voͤlker lieben es, andre halten es fuͤr weichlich oder hart, und vermeiden es, wo moͤglich, durch Herauswerfung.

Roͤmer. Dieß thaten wir. Doch war uns die Weise der Griechen in ihrer Sprache nicht zuwider, und unsre Dichter ließen daher Griechische Namen ohne Elision auf einander folgen.

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Jtaliaͤner. Wir sind achtsamer auf den Wohlklang als ihr waret, und unser Ohr stimmt hierin mit dem Griechischen uͤberein.

Grieche. Die zusammentreffenden Vokale muͤssen aber nicht gleichsam gegen einander gaͤhnen, sondern mit Stetigkeit hinuͤberschmelzen und dazu gehoͤrt unsre Biegsamkeit der Stimme.

Jtaliaͤner. Oder unsre.

Grammatik. Aber ehe die Parteyen weiter fortfahren ist der Streit der Sprachen uͤber den Wohlklang nicht vergeblich und nie auszugleichen? Sage mir, Poesie, du bist ja Kennerin des Schoͤnen, giebt es dabey etwas allgemeines, und an sich guͤltiges, oder haͤngt alles von der verschiednen Organisazion, Gewoͤhnung und Übereinkunft ab, und gilt auch hier das Sprichwort: jedem ist seine Koͤnigin schoͤn?

Englaͤnder. Oder jedem Narren gefaͤllt seine Kappe.

Jtaliaͤner. Du siehst ja, Grammatik, daß sich alle Nazionen Europa's vereinigen, unsre Sprache wohlklingend zu finden.

Franzose. Fuͤr den Gesang.

Jtaliaͤner. Was sich gut singt, spricht sich auch gut.

Poesie. Hierin hast du nicht Unrecht, Jtaliaͤner. Aber dein selbstgefaͤlliges Berufen auf jene Anerkennung war wenigstens sehr voreilig. Was ist das heutige Europa gegen den Umfang des Menschengeschlechtes in den verschiedensten Himmelsstrichen und Zeitaltern? Europaͤischer Geschmack ist nur ein erweiterter18 Nazionalgeschmack. So weit es sich ohne geistige und koͤrperliche Zergliederung thun laͤßt, Grammatik, will ich deinem Verlangen Genuͤge leisten. Jch habe ja die Welt umwandert und umflogen: habe an den schoͤnen Ufern des Ganges und des Ohio geweilt, die Wuͤsten Afrika's und die Steppen Sibiriens besucht, und mich unter den Nebeln des Schottischen Hochlandes, wie unter dem ewig unbewoͤlkten Himmel der Suͤdsee-Hesperiden gelagert.

Franzose. Au qu'elle devient poetique!

Poesie. Keinem Volke, wie roh und beschraͤnkt es seyn mochte, verschmaͤhte ich durch meine Toͤne die Muͤhen des Lebens zu lindern.

Franzose. Dieß wird zu arg. Sie schreibt nur nicht den Feuerlaͤndern bel esprit zu.

Poesie. Jch kenne daher auch die unzaͤhligen Sprachen, welche du niemals geordnet, noch ihnen zur Kenntniß ihrer selbst geholfen hast. Es giebt allerdings allgemeine Gesetze des Wohlklanges, auf die menschliche Natur und das Wesen der Toͤne gegruͤndet.

Deutscher. Es ist mir doch lieb, daß man auch daruͤber etwas a priori wissen kann.

Poesie. Alles was den Sprachorganen leicht wird hervorzubringen, ist dem Ohr angenehm zu vernehmen. Dieß ist die nothwendige Wirkung einer sinnlichen Sympathie. Jndessen koͤnnen die Organe durch Gewoͤhnung es auch in den gewaltsamsten und verworrensten Bewegungen zu einer gewissen Leichtigkeit bringen, und deswegen scheinen sogar die rauhesten Sprachen den Einheimischen, von ihnen selbst gesprochen,19 sehr leidlich. Erst wenn Fremde dieselben Laute mit Anstrengung herauszwingen, wird ihr Ohr beleidigt. Auf der andern Seite kann den Organen bey einer solchen Gewoͤhnung das leichteste schwer fallen: sie werden durch harte Arbeit zu den sanfteren Biegungen ungeschickt; die Faust des Tageloͤhners kann nicht auf Harmonikaglocken hingleiten. Doch das angegebne Gesetz betrift mehr die Vermeidung des Mißfaͤlligen als die Hervorbringung dessen, was ich in den Sprachen liebe und hervorhebe. Das Wohlklingende muß wie alles Schoͤne einen Gehalt haben, und diesen bekommt es nur durch einen mannichfaltigen, toͤnenden und ausdrucksvollen Gebrauch der Stimme. Der Sitz der Stimme ist, wo nach Homer die Seele wohnt, in der Brust. Was nicht aus ihr hervorgeht, ist nicht Stimme; die Verrichtungen der Zunge, des Gaumens, der Lippen und Zaͤhne beym Sprechen werden erst durch ihre Begleitung recht hoͤrbar, da sie sonst ein unvernehmliches Geraͤusch seyn wuͤrden. Die Alten haben daher die Selbstlaute die Stimmigen, (φωνηεντα) wenn es solch ein Wort gaͤbe, oder schlechthin die Stimmen (voces) genannt.

Deutscher. Jenes hat man ehedem durch die Stimmer zu verdeutschen gesucht.

Poesie. Die Mitlauter hingegen hießen den Griechen die Stimmlosen (αφωνα). Wenn nun in einer Sprache die stimmlosen Buchstaben herrschen, und von den Stimmen hoͤchstens nothduͤrftig begleitet werden, so entsteht nicht nur jenes, daß das Ohr die gehaͤuften20 und oft mit einander streitenden Bewegungen der Organe ungern vernimmt, sondern die Wirkung der Stimme wird auch durch das Geraͤusch verdunkelt. Geraͤusch hat gar nichts musikalisches an sich, nur die Stimme kann sich zum Gesange erheben; und derjenige Gebrauch der redenden ist der schoͤnste, von welchem dieser Übergang am leichtesten ist. Also entschiedne, reine, volle, nicht dumpfe noch schleichende Toͤne. Die natuͤrliche Tonleiter der Vokale werde durch Akzente, durch einen belebten Wechsel der Hoͤhe und Tiefe unterstuͤtzt. Wo mehre unmittelbar folgen, wird es durch diese beyden Umstaͤnde entschieden, ob gefaͤllige Stetigkeit dabey moͤglich ist. Aber damit es gegliederte Rede bleibe, und nicht in ein singendes Auf - und Absteigen der Stimme ausarte, muͤßen der Regel nach die Vokale durch Bewegungen der Sprachorgane getrennt, und doch auch wieder verknuͤpft werden: denn waͤhrend derselben geht die zur Hervorbringung eines andern Vokals noͤthige Erweiterung oder Verengung des Mundes am unmerklichsten vor. Manche einfache Bewegungen vereinigen sich ohne Schwierigkeit in zusammengesetzte; andre Verbindungen sind widerspaͤnstig, noch mehre ganz unmoͤglich. Das Ausdrucksvolle und Musikalische der Stimme beruht auf der Freyheit, fluͤchtiger uͤber die Toͤne hinzueilen, oder dabey auszuhalten und zu schweben; dieß erlauben die offene (rosa) am meisten, weniger die gedehnten, (Lohn) am wenigsten die abgebrochnen, (halten) die daher auch fuͤr den Musiker am wenigsten taugen. Also ist die Anordnung, daß die stimmlosen21 Buchstaben, und oͤfter einfache als verbundne, vor den Stimmen hergehn, die schoͤnere; seltner sey der Vokal an beyden Seiten mit Konsonanten eingefaßt, oder bestehe die Sylbe bloß aus jenem. Die Mannichfaltigkeit erfordert jedoch Einmischung der weniger schoͤnen Folgen und Anordnungen, damit das Ohr nicht durch Wohlklang uͤbersaͤttigt werde. Jm Ganzen genommen sey das Verhaͤltniß der Vokale und Konsonanten ungefaͤhr gleich. Überwiegen jene zu merklich, so geht der Karakter der Rede verloren; diese, so hemmt das Geraͤusch nicht nur den Ausdruck der Stimme, sondern zerstoͤrt auch durch die entgegengesetzten und sich abstoßenden Bewegungen der Sprachorgane die fließende Stetigkeit der Toͤne.

Grammatik. Und warum haben nur so wenige Voͤlker ihre Sprachen nach diesen Gesetzen gebildet?

Poesie. Wie die Natur den Menschen beruͤhrt, so giebt er es ihr zuruͤck. Ein von selbst ergiebiger Boden, eine warme Sonne machen ihm das Leben leicht. Seine Brust hebt sich dem beseelenden Odem der reinen Luft entgegen. Sein ganzes Wesen wird elastisch und expansiv. Das schoͤne Gemaͤhlde der Natur steigt in heitern leichten Farben vor seinen Blicken auf, und die Bewegungen des Lebens um ihn gleiten in vollen Melodien, nicht verworren oder schreyend, vor seinem innern Sinn voruͤber. Sein Geist sondert und ordnet die Gegenstaͤnde schnell und mit Leichtigkeit; er darf nicht muͤhselig ihre Merkmahle haͤufen, um sie festzuhalten. Die Empfindung22 daher den freyesten Spielraum, und gaukelt unaufhoͤrlich auf der Oberflaͤche seines Daseyns.

Wende dich in Gedanken von diesen gluͤcklichen Gefilden weg, und durchschneide wie jene kuͤhnen Weltumsegler die Zonen bis gegen den Nordpol hin. So wie die Natur karger, der Himmel unfreundlicher wird, so weicht die froͤhliche Hingegebenheit dem Ernst und der Sorge. Die Brust verengt sich. Die Sinne, nicht mehr dem Genusse offen, sind nur zu Kampf und Arbeit geschaͤrft. Der langsamere Verstand greift alles schwer und gewaltsam an. Der schlanke Leib badet sich nicht mehr leicht bekleidet in der freyen Luft, die unfoͤrmlichere Gestalt wird in Thierfelle eingewickelt, und endlich verkriecht sich der innre Mensch wie der aͤußre in dumpfe Winterhoͤhlen.

Wenn nun die Sprache nie aufhoͤrt im Ganzen, obschon nicht in den einzelnen Bestandtheilen, das zu seyn, was sie in ihrem Ursprunge war: Darstellung der Gegenstaͤnde, und Verkuͤndigung des Eindrucks den sie machen; wenn die Stimme aus der Brust mehr ausdruͤckende Gebaͤhrde, die Verrichtung der Sprachorgane mehr nachahmende Handlung ist: so laͤßt sich leicht einsehn, welchen Einfluß die umgebende Welt, außer dem unmittelbaren auf die Organisazion des Ohres und der Werkzeuge der Rede, auf die Art haben muß, wie der Mensch seine Sprache bildet. Es kann eine so uͤppige und zerfloßne Sinnlichkeit geben, daß der Geist aller Spannung unfaͤhig wird, und dann verschwimmt auch die Sprache ohne Haltung in Vokalen, wie die der Otaheitier. Wo die23 Beweglichkeit der anschauenden Kraͤfte mit der Fuͤlle der Empfaͤnglichkeit in schoͤnem Gleichgewichte steht, da geht dieß auch in die Sprachen uͤber: sie fuͤgen sich, toͤnend und gefluͤgelt, den Gesetzen des Wohlklanges wie von selbst. So sind, ich nenne mit Fleiß keine der hier streitenden Sprachen, die Arabische und Persische, jene Zierden des Morgenlandes, gebildet, die mir so aromatische Bluͤthen zum Opfer bringen; so die zarte Sanskrita oder die Vollendete, zu welcher die Gottheit selbst die Schriftzuͤge ersann. Je verschloßner und ungestuͤmer die Natur wird, je mehr sich ihr Bild entfaͤrbt und umnebelt: desto rauher, verworrner und muͤhseliger wird auch die Bezeichnung der Gegenstaͤnde durch stimmloses Geraͤusch, wozwischen sich die Empfindung nur kleinlaut und mißfaͤllig vernehmen laͤßt. Sehr schoͤn hat daher ein Weiser die nordischen Sprachen Toͤchter der Noth, die suͤdlichen der Freude genannt.

Franzose. Es ist Rousseau.

Deutscher. Wenn es sich so verhielte wie sie sagt, so stuͤnde es schlimm um meine Sache. Doch sie wird nur ein Stuͤck Poesie vorgebracht haben. Jch muß mir ein Herz fassen.

Grammatik. Mich duͤnkt, Poesie, es faͤnden sich manche Ausnahmen von deiner allgemeinen Angabe.

Poesie. Allerdings. Aber vergiß nicht die vielen Wanderungen der Voͤlker. Eine schon fertige Sprache, die sie unter einen andern Himmelstrich mitbrachten, konnte zwar abgeaͤndert werden, aber sich24 nicht gaͤnzlich verwandeln. Auch haben die Grade der Bildung großen Einfluß.

Grammatik. Dieß weiß ich selbst aus der Geschichte der Sprachen. Die noch ungezaͤhmte Leidenschaftlichkeit des Barbaren aͤußert sich toͤnend und laut, aber auf eine ungeschlachte Art.

Deutscher. So war das Deutsche vor Alters.

Grammatik. Ein Übermaaß der Verfeinerung kann das entgegengesetzte Äußerste hervorbringen und mit der fluͤchtigen Oberflaͤchlichkeit der Empfindungen die Toͤne bis zum Unbedeutenden abschleifen.

Franzose. Jch hoffe nicht, daß sie auf uns zielt.

Grammatik. Vielleicht koͤnnte man dem Karakter der Nazionen auch in der Art nachspuͤren, wie sie allmaͤhlig zu hoͤherem Wohlklange zu gelangen gestrebt. Einige ließen Konsonanten weg.

Franzose. Dieß thaten wir und die Provenzalen.

Grammatik. Andre setzten Vokale hinzu.

Jtaliaͤner. Dieß wir und die Spanier meistens, doch auch jenes nicht selten.

Grieche. Jch kann von dem Verfahren meines Volkes hiebey keine Rechenschaft geben. Jn den aͤltesten Denkmaͤhlern finden wir das Hellenische schon wohllautend: es war wohl urspruͤnglich so.

Deutscher. Und die Pelasger?

Grammatik. Die groͤßte Gefuͤhllosigkeit des Ohres beweist es aber, wenn man zum Beyspiel bey Aufnahme fremder Woͤrter das schon vorhandne Verhaͤltniß25 zerstoͤrt, die Konsonanten behaͤlt, und kaum nothduͤrftig Vokale uͤbrig laͤßt.

Deutscher. O weh! das sind wir.

Grieche. Die Poesie, Deutscher, hat auch hier bewaͤhrt, daß ihr Wesen Wahrheit ist. Sie hat, ohne es zu wollen, meine Sache gefuͤhrt, und ich kann mich nun kurz fassen. Klopstock hat behauptet, der Klang des Griechischen arte nicht selten durch gehaͤufte Diphthongen und uͤbelvereinte Konsonanten in Rauhigkeit, auf der andern Seite durch allzuviele Vokale in Weichheit aus.

Deutscher. Richtig, und jenes habe unsre Sprache mit eurer gemein, von der letzten schlimmeren Ausartung sey sie frey.

Grieche. Von den Diphthongen habe ich schon genug gesagt. Die harten Zusammenstellungen der Konsonanten, die mir Klopstock vorwirft, stehn zu Anfange der Sylben, wo sie sehr leidlich sind, weil das Ohr bey dem darauf folgenden Vokale wieder ausruht.

Deutscher. Dieß mildert nur, aber es hebt nicht auf.

Grieche. Überdieß sind sie gar nicht haͤufig. Jene Milderung gilt auch von den in der Mitte zweyer Sylben zusammentreffenden Konsonanten: der vorangehende und der folgende theilen sich in sie. Und was sind sie gegen die bey euch vorkommenden? Finde doch im Griechischen Woͤrter wie Gesichtskreis.

Deutscher. Jhr endigt auch oft das Wort mit mehren Konsonanten.

26

Grieche. Niemals als vor dem schließenden ς mit den wenigen, die sich leicht damit vereinigen lassen: ἅλς, ἄψ, φάλαγξ. Klopstock fuͤhrt verschiedne, unstatthafte Beyspiele von Woͤrtern an, die wir durch mehr als einen Mitlaut endigen sollen: πάντ᾽, βάςκ᾽, ἄμφ᾽; der Apostroph haͤngt sie so genau mit dem naͤchsten Worte zusammen, daß sie eigentlich gar nicht mehr schließen, und daß der letzte Konsonant mit dem anfangenden Vokal des naͤchsten Wortes ausgesprochen wird.

Deutscher. Wir schließen wie ihr am gewoͤhnlichsten mit dem sanften N.

Grieche. Und werdet dadurch einfoͤrmig, weil ihr nicht so wie wir mancherley Vokale, sondern immer das unbedeutende E vorangehn laßt. Doch wir reden jetzt nicht vom Toͤnenden sondern vom Fließenden des Wohlklangs. Wir schließen außer dem ν, nur noch haͤufig mit dem ς, und selten mit κ und ρ. Jhr schließt mit diesen und mit welchen nicht? Aber nicht nur mit allen einzelnen sondern mit dreyen, vieren, fuͤnfen: Furcht, stuͤrzt, Herbst, stampfst; auch nach Gelegenheit mit zweyen, die fuͤr sechse gelten koͤnnen: Kopf.

Deutscher. Diese endenden Mitlaute werden von einem Deutschen sehr schnell ausgesprochen.

Grieche. Das ist Sache der Noth: der vorhergehende Vokal wuͤrde sonst gaͤnzlich verhallen, ehe man damit fertig waͤre. Aber desto schlimmer, denn je mehr ihr eilen muͤßt, um so mehr draͤngen sich die streitenden Bewegungen der Organe.

27

Deutscher. Die Aussprache mildert dergleichen.

Grieche. Sie kann das Unmoͤgliche nicht. Und wie sollte sie es wollen, da sie gar nicht einmal das Beduͤrfniß fuͤhlt? Jhr glaubt zum Beyspiel, sanft sey ein sehr sanftes Wort, da es doch einem Griechen unertraͤglich hart geschienen haͤtte.

Grammatik. Jch kann es dir nicht verhehlen, Deutscher, daß sich die Sorgfalt der suͤdlichen Voͤlker fuͤr den Wohlklang am meisten auf Wegschaffung der schließenden Konsonanten gewandt hat.

Roͤmer. Wir waren hierin etwas weniger ekel als die Griechen; wir erlaubten: b, c, d, l, m, n, r, s, t, die beyden letzten noch mit andern vorhergehenden.

Jtaliaͤner. Wir haben nie zwey Konsonanten nacheinander am Ende und uͤberhaupt nur folgende vier: l, m, n, r. Wir waͤhlten also ungefaͤhr gleich mit den Griechen, oder noch feiner.

Grieche. Jch wuͤnschte zu wissen, Deutscher, was Deine Voreltern in diesem Stuͤck fuͤr die Verschoͤnerung ihrer Sprache gethan haben.

Jtaliaͤner. Sie haben die Schlußvokale, wo sie vorhanden waren, weggenommen.

Deutscher. Doch auch oft das mildernde E hinzugefuͤgt. Jhr vergeßt, daß der Wohlklang die Staͤrke liebt, welche aus gut vereinten Konsonanten entsteht. Woͤrter von starker Bedeutung fodern den starken Klang als Mitausdruck.

Grieche. Die Darstellung der Sprache sollte, wie die des Dichters, wahr und doch verschoͤnernd28 seyn; sie bedarf also niemals das uͤbelklingende. Glaubst du, die Staͤrke beruhe mehr auf der Stimme oder auf dem Geraͤusch? Bey den gehaͤuften Schlußkonsonanten hoͤrt man nur das letzte.

Franzose. Die Staͤrke einer Sprache in die Haͤufung und Rauhigkeit der Konsonanten zu setzen, kommt mir so vor als glaubte man, die Tapferkeit der alten Ritter haͤtte in ihrer rasselnden Ruͤstung gesteckt.

Jtaliaͤner. Wenn der Klang Mitausdruck ist so hat sich eure Sprach, so heißt es ja noch jetzt in einigen Mundarten, durch diese Benennung drollig genug charakterisirt. Sp ist die Bezeichnung des Bestandes, der Festigkeit, der ruhenden Kraft; Str des angestrengten; Spr der ploͤtzlichlosbrechenden, wie in Springen, Spruͤtzen, Spreizen; alsdann kommt der gedehnte breite Vokal, und endlich ein rauher Hauch. Klopstock leitet es ja auch selbst von brechen durch das verstaͤrkende S ab.

Franzose. So daß es also ein wahres Losbrechen waͤre.

Deutscher. Eine so weichliche Sprache wie deine, Jtaliaͤner, darf gegen unsre maͤnnliche gar nicht den Mund oͤffnen.

Grieche. Gut, daß du des Weichlichen erwaͤhnst: dieser Punkt blieb mir noch uͤbrig. Die zusammentreffenden Diphthongen sollen bey mir Rauhigkeit, die Vokale in gleichem Falle Weichheit hervorbringen. Wie stimmt dieß zusammen; wenn es nicht vor allem auf die Beschaffenheit der sich folgenden Vokale ankommt,29 ob sie stark oder sanft klingen? Jch denke niemand von euch findet Woͤrter wie ἄωτος oder ὄυατα weich.

Jtaliaͤner. Wegen des Weichlichen laß mich nur die Klage gegen ihn fuͤhren. Klopstock ist hierin mit niemanden uͤbler umgegangen als mit meiner Sprache.

Deutscher. Sie zerfließt auch beynah, und ist obendrein einfoͤrmig. Jhre Schlußsylben wechseln meistens nur mit den vier Vokalen a, e, i, o.

Jtaliaͤner. Wer fragt nach uͤbelklingender Mannichfaltigkeit? Und hast du ein Recht, mir diesen Wechsel als Einfoͤrmigkeit vorzuruͤcken, da du fast keinen schließenden Vokal als E kennst?

Deutscher. Dieser Fehler wird durch die einfoͤrmige Sylbenzeit noch auffallender; denn deine Endungen sind fast immer weiblich

Jtaliaͤner. Durch die dreyerley Akzente (amd, amàndo, amàbile) werden die Schlußfaͤlle der Woͤrter mannichfaltig genug. Den weiblichen hoͤrt man freylich am oftesten, aber er faͤllt weniger auf, weil der Schlußvokal sich so oft in den anfangenden des naͤchsten Worts verschmelzt. Das Vorurtheil, als ob die Weichheit durchgaͤngig in unsrer Sprache herrschte, hat Rousseau schon wiederlegt, und man muß sich wundern, dergleichen Behauptungen immer wieder gebracht zu sehn. Wenn ich dir nun zeigte, daß meine Sprache das Starke der Gegenstaͤnde weit besser als deine bezeichnet?

Deutscher. Das waͤre!

30

Jtaliaͤner. So haͤtte ich wohl mehr gethan, als du foderst oder wuͤnschest. Jch fuͤhre dir Woͤrter an, nenne mir welche von aͤhnlichen Bedeutungen. Rauco, forte, fracafso, rimbombo, orrore, squarciar, mugghiando, spaventoso.

Deutscher. Heiser, stark, Getoͤse, Wiederhall, Schauer, zerreißen, bruͤllend, furchtbar.

Jtaliaͤner. Guai, crollo, zampa, selvaggio, alpestro, orgoglioso, torbido, abbajar, s'accapriccia, arroncsigliò.

Deutscher. Wehklage, Erschuͤtterung, Tatze, wild, gebirgig, stolz, unruhig, bellen, straͤubt sich, einhakte.

Franzose. Jch kann ihm auch dergleichen aufgeben: ècraser, s'écrouler, gouffre, rage, flamboyant, sanglots, foudre, tonnerre.

Deutscher. Zerschmettern, einstuͤrzen, Abgrund, Wuth, flammend, Gestoͤhn, Blitz, Donner. Koͤnntest du lange so fortfahren?

Franzose. Warum nicht? Torrent, effroyable, èpouvante, frapper, rocailleux, gonflè.

Jtaliaͤner. Die Zufriedenheit des Deutschen mit seinen meistens geraͤuschigen aber dumpfen Woͤrtern sollte einen auf den Gedanken bringen, die Einbildung und der Ton des Redenden muͤße bey der nachahmenden Bezeichnung das Beste thun. Jhr glaubt Wunder, wie stark es in eurem Donner donnert. Laßt das r weg, und derselbe Klang macht unser Herz von den suͤßesten Regungen huͤpfen. Le donne!

Franzose. Wie sagt ihr das?

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Deutscher. Ehedem die Frauenzimmer oder das Frauenzimmer, jetzt die Frauen, und wenn man auf Franzoͤsische Art uͤber sie philosophiren will, die Weiber.

Franzose. Da habt ihr einen großen Schritt zur Kultur gethan, daß ihr nunmehr die Wohnung von der Person unterscheiden koͤnnt.

Jtaliaͤner. Die Frauen? Und ihr fuͤrchtet euch nicht, wenn ihr das hoͤrt?

Franzose. Jch besorge, Deutscher, du hast Woͤrter im Hinterhalt, womit du uns zuletzt aufs Haupt schlagen willst.

Deutscher. Wie so?

Franzose. Die ausdruckvollsten sind doch die, welche die bezeichnete Sache selbst hervorbringen, und es giebt ihrer in eurer Sprache: Kopfschmerz macht Kopfschmerz, wenn man es ausspricht, und Pfropf propft einem den Mund zu.

Deutscher. Auch der Name Liebe erregt was er nennt.

Franzose. Dieses Wort mag ein weißer Rabe im Deutschen seyn, sonst wuͤrdet ihr nicht so viel Aufhebens davon machen.

Jtaliaͤner. Was streiten wir laͤnger mit einzelnen Woͤrtern? Kannst du Verse wie folgende aufweisen?

Sentesi un scoppio in un perpetuo suono,
Simile a un grande e spaventoso tuono
Aspro concento, orribile armonia
D'alte querele, e d'ululi e di strida
32
De la misere gente, che peria
Nel fondo per cagion de la sua guida,
Jstranamente concordar s'udia
Col fiero suon de la fiamma omicida.

Deutscher. Sogleich.

Poesie. Jch rathe dir nicht, Deutscher, dich auf diesen Wettstreit einzulassen. Du kannst zwar leicht Stellen aus deinen Dichtern anfuͤhren, die einen weit staͤrkern rythmischen Ausdruck aͤhnlicher Gegenstaͤnde haben, wiewohl auch darin die angefuͤhrten Zeilen sehr schoͤn sind: allein hier gilt es bloß die Staͤrke des Klanges, worin deine Sprache wegen der Beschaffenheit ihrer Vokale besonders derer in den kurzen Sylben zu weit nachsteht.

Grieche. So ist es. Es fehlt ihr nicht nur an dem rechten Verhaͤltniß zwischen Vokalen und Konsonanten; sie gebraucht von den letzten uͤber anderthalb Mal mehr als das Griechische: sondern ihre wenigeren Vokale sind obendrein nicht die rechten. Man kann Verse, ja ganze Strophen durchwandern, ohne auf ein einziges A zu stoßen, aber fast nie einen, ohne zu oft von dem E heimgesucht zu werden.

Deutscher. Jch konnte es voraussehn, daß ihr mich von Seiten der Euphomie angreifen wuͤrdet: von der weit wichtigeren Eurhythmie schweigt ihr, weil ihr hier meine Uberlegenheit kennt. Jene ist, wo der Klang nicht ausdruͤckt, nur das sinnlich Angenehme; diese das eigentlich Schoͤne.

Grieche. Jch gebe dir dieß nicht ohne Einschraͤnkung zu: denn auch im Klange der Sylben und33 Woͤrter sind Verhaͤltnisse bemerkbar. Aber es sey: das Sinnliche muß doch immer dem Schoͤnen zur Unterlage dienen, und was hilft eine schoͤne Form an einem widrigen Stoffe?

Jtaliaͤner. Zum Beyspiel eine vortreffliche Musik auf einem verstimmten, halb besaiteten Klavier gespielt. Man hoͤrt da nur die Tasten klappern.

Deutscher. Wessen Sprache gar keine bestimmte Sylbenzeit hat, rede nicht mit. Die begriffmaͤßige Bestimmung der unsrigen, Grieche, hat große Vorzuͤge vor eurer bloß mechanischen

Grieche. Den Ausdruck mechanisch muß ich verbitten. Mechanisch nennt man die todten Kraͤfte. Der lebendige Hauch des Vortrags, der jedem Laute seine natuͤrliche Dauer giebt, gehoͤrt doch wohl nicht zu diesen? Sinnlich bestimmt war bey uns die Sylbenzeit: und wird nicht etwas sinnliches durch einen sinnlichen Maßstab am besten gemessen?

Deutscher. Auch bey uns ist die Sylbenmessung sinnlich, aber sie steht unter einem hoͤhern Gesetze und erhaͤlt dadurch Bedeutung. So wie der Verstand uͤber die groͤßere und geringere Wichtigkeit der Begriffe entschieden hat, so vernimmt nun auch das Ohr die Laͤngen und Kuͤrzen.

Grieche. Meine Landsleute haͤtten bey euern Laͤngen Verstaͤrkung und Hoͤhe der Stimme, weil ja bey euch der Akzent immer auf die Laͤnge faͤllt, wahrgenommen; aber schwerlich das Verhaͤltniß der Dauer zwischen unsern Laͤngen und Kuͤrzen. Die Laͤnge war bey uns gleichzeitig mit zwey Kuͤrzen.

34

Deutscher. Das war nun so ein Einfall eurer Theoristen.

Grieche. Gleichwohl waren diesem Einfalle gemaͤß alle unsre Sylbenmaße erfunden worden, ehe es noch Theoristen gab. Wie sollen wir uns verstehn, wenn du solche Saͤtze nachsprichst? Fuͤhlst du nicht, was der wagt, der in einer Sache, wo alles auf die sinnliche Anschauung ankommt, die ihm fehlt, den Kunstverstaͤndigen, welche sie hatten, entscheidend widerspricht? Klopstock mußte bey noch so tiefem Studium die alte Metrik durchaus verkennen, weil er sich uͤber den unguͤltigen Gesichtspunkt seiner eignen Sprache nicht erheben konnte. Er scheint nicht selten zu vergessen, was er doch alles sehr gut weiß, daß unsre uͤberhaupt weit leichter und fluͤchtiger forteilte, daß sie weit staͤrkere musikalische Akzente hatte; daß ihr Vortrag weit gesungner und in Versen weit abgemessener war; daß Metrik und Musik urspruͤnglich eins waren, und immer einig blieben; daß in allen Dichtarten die Kunst schon verfiel, sobald an die Stelle des Gesanges Deklamazion trat; daß selbst diese Deklamazion

Poesie. Du ereiferst dich; streitet ruhig. Fuͤhre du die Vorzuͤge der begriffmaͤßig bestimmten Sylbenzeit an.

Deutscher. Sie lassen sich unter wenige Hauptpunkte bringen, die aber von erstaunlichem Umfange sind. Unsre Sylbenzeit legt den Nachdruck der Laͤnge niemals an die unrechte Stelle, sondern immer dahin, wo er hin gehoͤrt.

35

Grieche. Und wo gehoͤrt er hin?

Deutscher. Bey einsylbigen Woͤrtern auf die bedeutenderen Redetheile: das Nennwort, Zeitwort, Beywort, Umstandswort, manchmal das Fuͤrwort; bey mehrsylbigen auf die Stammsylben. Die Ableitungs - und Biegungssylben sind meistens kurz.

Grieche. Sage mir, wirken die Woͤrter als Ganze oder Theilweise?

Deutscher. Wie verstehst du das?

Grieche. Jch meyne, wenn du etwa das Wort Begleitung hoͤrst, ob du dir erst bey der Sylbe Be die Anwendung auf einen Gegenstand, dann bey gleit den allgemeinen Begriff von geleiten, endlich bey ung eine Handlung denkst, und so aus diesen Stuͤcken die vollstaͤndige Vorstellung von Begleitung zusammen liesest; oder ob sie auf einmal, sobald du das Wort zu Ende gehoͤrt hast, in deine Seele tritt?

Deutscher. Doch wohl das letzte. Nur ein Sprachkundiger koͤnnte jenes. Die wenigsten Menschen sind mit der Übung ihres Absonderungsvermoͤgens und mit ihrem Nachdenken uͤber die Sprache weit genug dazu gekommen.

Grieche. Denkt sich denn etwa der Sprachkundige bey dem Worte leider erst den Begriff von leid und dann den Begriff von er?

Deutscher. Schwerlich, denn die Bedeutung der Ableitungssylbe ist hier, wenigstens ohne etymologische Untersuchungen, dunkel. Allein die zusammengesetzten Woͤrter loͤset man doch in die einfachen Begriffe auf.

36

Grieche. Freylich muͤßen die, welche man sich nur zu bilden erlaubt, ohne Schwierigkeit aufgeloͤst werden koͤnnen, um verstaͤndlich zu seyn. Aber setze mir doch aus dem Umstande Bey und dem allgemeinen Begriff von Spiel das Beyspiel zusammen. Die weitere Anwendung wirst du selbst machen. Wenn der Hoͤrer also die Woͤrter nicht zerstuͤckt, so ist es fuͤr ihn gleichviel, ob der prosodische Werth ihrer Bestandtheile mit dem grammatischen uͤbereinstimmt; denn um diese Übereinstimmung zu bemerken, muͤßte er jeden der Bestandtheile besonders denken.

Deutscher. Sie kann auf ihn wirken, ohne daß er sich ihrer bewußt wird. Seine Aufmerksamkeit faͤllt nun von selbst auf das wichtigere.

Grieche. Da das Wort nach seinem unmittelbaren Eindruck ein untheilbares Ganzes ist, so findet in dieser Ruͤcksicht auch in der Wichtigkeit seiner Theile gar keine Unterordnung statt.

Deutscher. Jst es nicht im hoͤchsten Grade verstimmte Sylbenzeit, wenn man zum Beispiel in φιληϑησοιμην nach der kurzen Stammsylbe vier lange Veraͤnderungssylben anhoͤren muß?

Grieche. Man hoͤrt die Stammsylbe ja doch hinlaͤnglich mit der Kuͤrze. Seyd ihr so schwer zu verstaͤndigen, oder so unaufmerksam, daß ihr sie nicht unterscheiden koͤnnt, wenn ihr nicht insbesondre mit den Ohren darauf gestoßen werdet?

Deutscher. Wenn die Theile selbst des dem Jnhalte des Wortes angemessensten Fußes in Ansehung ihrer Laͤnge oder Kuͤrze den Begriffen widersprechen,37 so bekommt jener dadurch etwas welches nun nicht mehr so recht uͤbereinstimmt, kurz der Eindruck des einen wird durch den des andern geschwaͤcht.

Grieche. Du setzest bey diesem Eindruck außer der schon widerlegten Zergliederung des Wortes in seine Theilbegriffe, auch das voraus, woruͤber gestritten wird, ob naͤmlich diese Eigenheit eurer Sprache ein allgemeinguͤltiges Gesetz zum Grunde hat? ob wichtigere oder unwichtigere Theilbegriffe eines Wortes in einem natuͤrlichen Verhaͤltnisse zu Laͤngen und Kuͤrzen stehn? Dieß scheint mir nun gar nicht so, ich finde da gar keinen Übergang. Wenn noch von kurzen und langen Begriffen die Rede waͤre! Aber da moͤchten die Nebenbestimmungen oft die weitlaͤufigste Eroͤrterung verlangen. Vielleicht leuchtet dir das willkuͤhrliche der Regel mehr ein, wenn ich dir ein Beyspiel aus deiner Sprache anfuͤhre, wo sie nicht beobachtet ist.

Deutscher. Es giebt deren nur wenige.

Grieche. Jhr sagt lebendig: wuͤrde das Wort nun deutlicher, nachdruͤcklicher, schoͤner werden, wenn ihr lebendig sagtet?

Deutscher. Es ist uͤberhaupt nicht gut abgeleitet; ein Deutscher muß bey naͤherer Betrachtung etwas unschickliches darin wahrnehmen.

Grieche. Weil es Ausnahme macht. Sonst, denke ich, koͤnnte eure Sprache aus lauter Woͤrtern bestehn, die auf diese Art die Laͤnge von den Stammsylben wegverlegten, und sich sehr wohl dabey befinden. Es versteht sich, daß sie darnach organisirt38 seyn, und die Woͤrter toͤnend und vielsylbig veraͤndern muͤßte.

Deutscher. Dadurch wuͤrde sie ganz aus ihrem Karakter herausgehn.

Grieche. Allerdings, dieser Umstand greift in den innersten Bau der Sprachen ein. Er hat einen unuͤbersehbaren Einfluß auf die Wortstellung, und worauf nicht alles?

Deutscher. Wir sind zu ruhig um einen unverhaͤltnißmaͤßigen Nachdruck auf das Unwichtigere zu legen, und lieben die Kuͤrze zu sehr, um es weitlaͤuftig zu bezeichnen.

Roͤmer. Wir waren lakonischer als ihr, und hatten doch Ableitungen und Biegungen von mehren und zum Theil langen Sylben.

Grieche. Was ist das wichtigere an einem Begriffe? Das nackte Allgemeine, oder die naͤheren Bestimmungen, die besondern Beziehungen, worin man ihn jetzt grade denkt?

Deutscher. Unstreitig jenes, weil alles andre sich daran knuͤpft.

Grieche. Fuͤr den kalten Verstand, ja; aber auch fuͤr die rege Fantasie, fuͤr das beschaͤftigte Gemuͤth des Redenden? Wenn Voͤlker von lebhaftem Geist vielsylbig und toͤnend ableiten, biegen, steigern und umwenden, so siehst du, was man aus eurer kurzen, karglauten und nur nicht stummen Art es zu thun, schließen muß. Sie haͤngt mit der begriffmaͤßigen Sylbenzeit so zusammen, daß man nicht weiß, was Ursache und Wirkung ist. Sollten die Stammsylben39 Ton und Laͤnge behalten, so durften sich die hinzugesetzten freylich nicht sehr laut machen; aber waͤren diese haͤufiger stark ins Ohr gefallen; so haͤtten jene vielleicht beydes verlohren. Jhr sagt undankbare, da es doch nach der Regel undankbare heißen sollte.

Deutscher. Es komme woher es will, so bleibt es ein großer Vorzug, daß bey uns die Bewegung der Worte mit ihrem Jnhalte immer uͤbereinstimmt.

Grieche. Mit ihrem Jnhalte! Du redest wirklich, als ob die prosodische Beschaffenheit des Wortes das Bild und die Empfindung ausdruͤckte, die es mittheilen soll. Hat nicht steigen und fallen denselben Fuß? Und pfeilschnell den schweren Sponbeen, Verzug den muntern Jamben? Fuͤhre dieß durch unzaͤhlige Faͤlle hindurch. Der Jnhalt, welcher die begriffmaͤßige Sylbenzeit bezeichnet, ist nicht einmal die logische, sondern nur ungefaͤhr die grammatische Form, das Verhaͤltniß des Urspruͤnglichen und Abgeleiteten. Was kann mit Bezeichnung derselben fuͤr die Darstellung des Dichters gewonnen seyn?

Deutscher. Jhr habt Hauptwoͤrter, die ganz unschicklich aus lauter kurzen Sylben bestehn.

Grieche. Der Akzent hob sie hinlaͤnglich. Doch ihr koͤnnt euch die Musik einer Sprache gar nicht vorstellen, deren starke Akzente von der Quantitaͤt getrennt und unabhaͤngig sind.

Deutscher. Jhr laßt oft lange Reihen von Kuͤrzen und Laͤngen ununterbrochen auf einander folgen, was bey unsrer Bestimmung der Sylbenzeit niemals der Fall seyn kann.

40

Grieche. Jn der Poesie wird dieß schon durch die Regel des Sylbenmaßes beschraͤnkt; in der Prosa giebt die freyere Wortfolge und der Reichthum an Synonymen Mittel genug an die Hand, es zu vermeiden.

Deutscher. Jhr habt einen Überreichthum an Spondeen.

Grieche. Unsre Laͤngen waren weniger lang als eure. Jhr Übergewicht konnte also nicht schaden, sondern diente vielmehr dazu die allzugroße Fluͤchtigkeit unsrer Sprache aufzuhalten. Jhr habt dagegen viel zu wenig Spondeen: Klopstock hat ja selbst diesen Mangel durch sein liebliches Klagelied an Sponda verewigt.

Deutscher. Er hat nachher seine Gesinnung veraͤndert, und fragt nicht mehr so viel nach den Spondeen.

Grieche. Sponda hat andre Liebhaber gefunden, die der etwas starkgegliederten Schoͤnen ihre Gunst abzwingen, wenn sie sie nicht freywillig erhalten. Es ist eine große Unbequemlichkeit bey eurer Bestimmung der Sylbenzeit, daß mit dem logischen Verhaͤltnisse der Haupt - und Nebenbegriffe auch das Verhaͤltniß der Laͤngen und Kuͤrzen so festgesetzt ist, daß es nur innerhalb sehr enger Graͤnzen wechseln kann.

Deutscher. Wir haben doch verschiedne lyrische Gedichte, wo ungewoͤhnlich viel Laͤngen oder Kuͤrzen zusammengestellt sind.

Grieche. Dafuͤr ist denn auch die am Sinn41 und an der Sprache veruͤbte Gewaltthaͤtigkeit sehr sichtbar.

Poesie. Jch will es dir nicht verschweigen, Deutscher, daß einige von euch, die sich zu meiner Religion bekennen, manchmal in die Abgoͤtterey des Rhythmusdienstes verfallen.

Grieche. Und die Opfer, die bey diesem Dienste gebracht werden, sind Holokauste: niemand kann sie genießen.

Deutscher. Wenn dergleichen Versuche auch mißlingen, so stellen sie doch die prosodische Beschaffenheit unsrer Sprache ins Licht, und bringen unsre Verskunst weiter. Warum haͤltst du dich bey diesen Nebensachen auf? Es ist doch, daͤucht mich, so etwas in der epischen Versart, der schoͤnsten unter allen, die Griechen zu uͤbertreffen.

Grieche. Der schoͤnsten? Das kann ich dir nicht zugeben.

Deutscher. Deine eignen Landsleute sagen es ja.

Grieche. Spaͤtere Grammatiker. Koͤnntest du ein solches Urtheil aus der Zeit anfuͤhren, wo lyrische und dramatische Kunst bluͤhten? Der Hexameter war vollkommen fuͤr seine Bestimmung, der tragische Trimeter war es eben so sehr fuͤr seine noch wuͤrdigere. Und welch ein Reichthum von musikalischem Zauber liegt in den lyrischen Sylbenmaßen und Choͤren! Jch finde uͤberhaupt bey Klopstock die Ansicht den Hexameter fuͤr den Gipfel der Griechischen Metrik zu halten, da er doch nur ihre allereinfachste Grundlage war.

42

Deutscher. Der Homerische Hexameter ist wenigstens der vorzuͤglichste unter allen.

Grieche. Jnsofern der Hexameter damals die natuͤrliche Bluͤthe der Sprache war, konnte kein Spaͤterer diese leichte Fuͤlle wieder erreichen, auch bey dem groͤßten Aufwande von Feinheiten der Kunst, welche Homer noch nicht kannte.

Deutscher. Und dennoch ist an Homers Versbau noch viel zu tadeln. Er uͤbt oft Sylbenzwang aus.

Grieche. Etwas ganz eignes, daß jemand, der einen Saͤnger nie gehoͤrt hat, ihn nach drey Jahrtausenden hoͤren lehren will. Klopstock hat den Homer fleißig gelesen; aber Homer, weißt du, bestimmte seine Rhapsodien eben nicht fuͤr den Druck. Wissen wir, wie sehr sich die Aussprache des Griechischen in dem, zwischen der Entstehung der Homerischen Gesaͤnge und ihrer Aufzeichnung verflossenen, Zeitraume veraͤndert hat? Vermuthlich hatte zu jener ersten Zeit der Akzent noch einen Einfluß auf die Laͤnge, den er nachher verlohr. Endlich mußte in einem Zeitalter, wo die schriftliche Bezeichnung noch gar nicht, oder sehr wenig in Gebrauch war, das Ohr ohne alle Regeln uͤber die Sylbenmessung entscheiden: und man wundert sich, daß es auch bey der groͤßten Zartheit nicht immer mit grammatischer Genauigkeit entschied? Es fehlt so viel, daß die andern Dichter auch in der Beobachtung der Sylbenzeit unter Homeren gewesen waͤren, daß man vielmehr viele Freyheiten ganz allein bey ihm findet.

43

Deutscher. Homers Hexameter keucht manchmal unter der Spondeenlast, und kann kaum fort.

Grieche. Du beurtheilst den Griechischen Spondeen nach dem Deutschen. Jch gab dir schon vorhin den Grund an, warum unsre Sprache mehr Laͤngen vertraͤgt als eure. Ein Vers von zwoͤlf Sylben, wovon meistens acht, haͤufig neun lang waͤren, wuͤrde im Deutschen unfehlbar schwerfaͤllig scheinen. Und doch ist der Trimeter des Aeschylus so beschaffen und verdankt seine Groͤße hauptsaͤchlich dem oͤfteren Gebrauch der Spondeen.

Deutscher. Homers Verse gehen nicht selten ihren Weg fuͤr sich, und lassen den Jnhalt den seinigen gehen, oder sie gehen gar gerade zu gegen den Jnhalt an.

Grieche. Wenn nun Homer gar nirgends die Absicht gehabt haͤtte, den besondern Jnhalt durch den Gang des Verses auszudruͤcken? Wenn dieser Gedanke ganz außerhalb seines Kreises lag?

Deutscher. So haͤtte er ja Wesen und Zweck des Sylbenmaßes verkannt. Sylbenmaß ist Mitausdruck durch Bewegung.

Grieche. Sage mir nur, wie der Deutsche Hexameter sich vom Griechischen unterscheidet, und was er dabey gewinnt. Das wird uns auf die Pruͤfung dieses Satzes fuͤhren.

Deutscher. Unser Hexameter hat den Trochaͤen zum dritten kuͤnstlichen Fuße angenommen, und verlangt sogar diesen merklich oͤfter als den Spondeen. Er wird dadurch mannichfaltiger, und bekommt fast44 den vierten Theil mehr metrischen Ausdruck. Der Griechische hat nur siebzehn verschiedne Wortfuͤße; der Deutsche, die fuͤnf - und mehrsylbigen nicht mitgerechnet, zwey und zwanzig.

Grieche. Also Mannichfaltigkeit und Ausdruck. Haͤltst du Mannichfaltigkeit fuͤr etwas unbedingt Gutes?

Deutscher. Nun freylich, sie gefaͤllt an sich.

Grieche. Waͤre Mannichfaltigkeit ohne Einschraͤnkung gut, so waͤre jedes Sylbenmaß fehlerhaft: denn jedes schraͤnkt die Mannichfaltigkeit der rhythmischen Bewegungen ein. Ferner: soll der Ausdruck auf die einzelnen Gegenstaͤnde der Darstellung, oder auf das Allgemeine gehen?

Deutscher. Unstreitig auf jene.

Grieche. Aber kehren die einzelnen Gegenstaͤnde der Darstellung in dem Gedicht wieder?

Deutscher. Nein, sie ziehen vorbey und es kommen andre und andre.

Grieche. Allein das Sylbenmaß ist ein Gesetz der Wiederkehr: du siehst also der Mitausdruck durch Bewegung, auf diese Art ausgelegt, wuͤrde niemals darauf fuͤhren.

Deutscher. Was verstehst du aber unter dem Allgemeinen, und wie soll es der Dichter metrisch ausdruͤcken?

Grieche. Weiß etwa einer unter euch Repraͤsentanten der Sprachen, was episch ist?

Franzose. Epique? Poeme épique? Das sollten wir nicht wissen?

45

Deutscher. Unsre Theoretiker lehren es umstaͤndlich. Vor allem sind die Epopeen episch.

Grieche. Die nun grade am wenigsten. Dir, Deutscher, sollte durch Nachbildungen der Homerischen Erzaͤhlungsweise, die ihr seit kurzem erhalten habt, schon ein Licht uͤber das bisherige Nichtwissen angezuͤndet seyn. Was fuͤr Gegenstaͤnde weist Klopstock dem metrischen Ausdrucke an?

Deutscher. Erst die sinnlichen; hauptsaͤchlich aber gewisse Beschaffenheiten der Empfindung und Leidenschaft.

Grieche. Der Empfindung und Leidenschaft wessen? Des Dichters, oder der von ihm dargestellten Personen?

Deutscher. Beydes faͤllt in eins: der Dichter nimmt an seinen Personen den innigsten Antheil.

Grieche. Wenn nun der epische Dichter Herrschaft genug uͤber sich selbst besaͤße, um von diesem Antheile nichts zu aͤußern?

Franzose. Das muͤßte ein entsetzlich harter Mensch seyn.

Grieche. Und wenn eben diese uͤber die Darstellung verbreitete Ruhe der Grundkarakter des epischen Gedichts waͤre?

Deutscher. Wie kann es dann gut seyn? Jn guten Gedichten herrscht die Leidenschaft.

Grieche. Wer das sagte, dachte wohl nur an lyrische. Das Sylbenmaß soll durch das Gesetz seiner Wiederkehr den Geist der Dichtart ausdruͤcken; die in diesen Graͤnzen freygelaßne Abwechselung gestattet46 dem Dichter sich auch dem Einzelnen durch metrischen Ausdruck zu naͤhern. Der Geist des Epos ist der unbestimmteste, umfassendste, ruhigste: das Gesetz der Wiederkehr durfte also sehr einfach, und der freygelassene Spielraum sehr groß seyn. Die ganz individuell bestimmte Richtung des lyrischen Gedichts hingegen, die das Einzelne unumschraͤnkt beherrscht, erfordert oft ein sehr komplizirtes Gesetz der Wiederkehr, Strophen, auch wohl Antistrophen und Epoden, und hebt die Freyheit der Abwechselung fast gaͤnzlich auf. Du wirst dieß weiter anwenden: die Sache ist zu weitlaͤuftig, um sie hier auszufuͤhren. Es koͤnnte doch wohl seyn, daß eben die Veraͤnderung, welche eurem Hexameter mehr Mannichfaltigkeit und also Faͤhigkeit, das Einzelne auszudruͤcken, gab, ihn zum Ausdruck der Hauptsache, naͤmlich des Epischen, weniger geschickt gemacht haͤtte.

Deutscher. Der Trochaͤe vertritt ja den Spondeen beynahe. Er beschuͤtzte euch vor den uͤbermaͤßigen Laͤngenreihen, wenn ihr ihn ebenfalls aufnahmt.

Grieche. Mit der Gleichzeitigkeit der beyden Haͤlften jedes Fußes, waͤre der ruhige, ebenmaͤßige Rhythmus des Hexameters zerstoͤrt worden.

Deutscher. Das beruht wieder auf dem Einfall mit der doppelten Dauer der Laͤnge.

Grieche. Nennst du es auch einen Einfall wenn jemand Dreyachteltakte zwischen Zweyvierteltakte einmischen wollte, und ein Musiker sagte ihm, das ginge nicht?

47

Deutscher. Verse und Musik sind auch sehr verschieden.

Grieche. Bey euch freylich, unsre Hexameter wurden gesungen. Dieß vergißt Klopstock auch, wenn er seinen, fuͤr den Vorleser ganz richtigen, Unterschied zwischen kuͤnstlichen und Wortfuͤßen auf uns anwendet, und daraus folgert. Wie die Poesie uͤberhaupt bey uns weit mehr Gewalt uͤber die Sprache hatte, so vermehrte sie auch ihre so schon große Stetigkeit, und was ein Abschnitt des Verses in sich schloß, wurde gleichsam zu einem einzigen poetischen Worte.

Deutscher. Du verwirfst also unsern Hexameter gaͤnzlich?

Grieche. Nicht doch, ich kann nur nicht zugeben, daß er unserm vorgezogen werde. Eben weil der Deutsche nur zum Vorlesen bestimmt ist, darf sein Gesetz weniger streng seyn. Überdieß hat ja Klopstock, wo er wollte, und mehre eurer Dichter haben gezeigt, daß man im Deutschen Hexameter machen kann, die in Ansehung des Rhythmischen, von der Euphonie ist hier nicht die Rede, unsern sehr nahe kommen.

Deutscher. Jch bin zufrieden: du raͤumst mir immer noch mehr ein, als alle meine neueren Gegner von ihren Sprachen ruͤhmen koͤnnen.

Jtaliaͤner. O wir haben auch Hexameter aufzuweisen.

Franzose. Wir auch.

Englaͤnder. Wir auch.

Deutscher. Jhr habt euch alle bemuͤht welche zu machen, aber es ist euch mißlungen.

48

Jtaliaͤner. Mißlungen? Jch denke, unsere Hexameter koͤnnten den alten wohl aͤhnlicher werden als eure. Man hat nur keinen Geschmack daran gefunden.

Poesie. Ein erster Versuch gelingt nie ganz. Wenn die Sachen gleich stehen sollten, so muͤßte in einer gleich guͤnstigen Epoche der Bildung jener Sprachen ein eben so hoher Dichtergeist seinen Ruhm an die Einfuͤhrung der alten Sylbenmaße gewagt haben. Mir scheint Klopstock allzubescheiden sein eignes Verdienst der Sprache zuzurechnen.

Deutscher. Die andern haben ja gar nicht einmal eine bestimmte Sylbenzeit.

Poesie. Kannte man die eurige als solche, so lange ihr bey den gereimten Sylbenmaßen verharrtet? Hat nicht Klopstock selbst ihre Gesetze nur allmaͤlig entdeckt? Hat nicht Hagedorn sich in einem Briefe an Ebert wegen einer ihm zweifelhaften Quantitaͤt erkundigt, uͤber die ihn jetzt jeder Schuͤler der Prosodie zurechtweisen kann?

Deutscher. Es bleibt doch ein Verdienst der Deutschen, daß sie die alten Sylbenmaße so willig aufgenommen.

Poesie. Du vergißt, welche saure Mienen ihr Geschmack gemacht, ehe er sich diese Medizin hat eingehn lassen. Die vom Zaune gebrochnen Einwendungen rechne ich mit zu den sauren Mienen. Es gehoͤrte wirklich Klopstocks feste Maͤnnlichkeit dazu, um die Sache durchzusetzen. Über ein halbes Jahrhundert ist es nun her, seit der Anfang gemacht wurde;49 Klopstock hat gleich damals, und besonders in den neuesten Zeiten von großen Dichtern fleißige Nachfolge gefunden: und wie weit ist es denn nun mit der Popularitaͤt der alten Sylbenmaße?

Deutscher. So weit, daß es nie wieder ruͤckwaͤrts gehen kann. Auch deswegen nicht, weil wir ein Beduͤrfniß haben, die Alten in ihrer aͤchten Gestalt zu lesen, und uns in eignen Werken an ihre große Formen anzuschließen.

Poesie. Über die anfaͤngliche Abneigung gegen die antiken Sylbenmaße darf man sich indessen nicht wundern: ihre Verschiedenheit von den modernen liegt nicht auf der Oberflaͤche, sondern ist in dem wesentlich verschiednen Karakter der Bildung gegruͤndet. Laß bey den andern Nazionen den Sinn fuͤr das Antike einmal erwachen, so werden sie in ihren Sprachen die Faͤhigkeit zu den alten Sylbenmaßen schon hervorzurufen wissen, und deine verliert ihr Monopol damit.

Deutscher. Es soll mir lieb seyn, wenn das geschieht: Klopstocks Name wird immer zuerst dabey genannt werden.

Roͤmer. Zur Vergeltung dafuͤr, daß er die Roͤmer ohne Umstaͤnde Meisterer genannt hat, weil sie die Freyheiten des Griechischen Versbaues aus Gruͤnden, die in der Natur ihrer Sprache lagen, enger einschraͤnkten, mache ich ihm den Ruhm der Erfindung streitig.

Deutscher. Es kann ihm nur in so fern daran liegen, als er es zuerst auf die rechte Art angefangen und die Erfindung behauptet hat.

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Roͤmer. Dem sey wie ihm wolle, es sind schon vor mehr als siebzehnhundert Jahren Deutsche Hexameter gemacht. Jhr wundert euch? Jch hoͤrte ja erst, die Geten waͤren ein Deutsches Volk gewesen.

Deutscher. Ganz richtig.

Roͤmer. Ovid lebte in der Verbannung unter den Geten und machte aus Langerweile, oder weil er es gar nicht lassen konnte, Getische Verse:

Ach, ich schaͤme mich deß! ich schrieb auch ein Getisches Buͤchlein,
Fuͤgte barbarische Wort 'unseren Weisen gemaͤß.

Also in Roͤmischen Sylbenmaßen. Daß es Hexameter waren, laͤßt der Jnhalt des Gedichtes, das Lob des Jmperators, nicht zweifeln. Er fand auch Beyfall damit:

Und ich gefiel, ja wuͤnsche mir Gluͤck, und es faͤngt bey den wilden
Geten mein Dichterruhm schon zu erheben sich an ..
Als ich das Werk durchlesen der nicht mir heimischen Muse,
Als mir das schließende Blatt nieder zum Finger gelangt:
Haben sie alle das Haupt und die vollen Koͤcher geschuͤttelt,
Waͤhrend von Getischem Mund langes Gemurmel erscholl.

Deutscher. Die Geten waren also schon kluͤger als die neueren Europaͤer, die nichts von den alten Sylbenmaßen wissen wollten.

51

Grieche. Jch komme auf die Kuͤrze. Klopstock hat sich besonders bemuͤht zu zeigen, seine Sprache uͤbertreffe hierin die beyden alten.

Deutscher. Es ist ihm auch gelungen. Er hat eine Menge Stellen alter Dichter in der Übersetzung verkuͤrzt, ohne ihnen etwas zu nehmen.

Grieche. Sollen wir die Kuͤrze mit der Elle messen, oder nach der Uhr berechnen?

Deutscher. Wozu diese spoͤttische Frage?

Grieche. Die Kuͤrze ist ja etwas sinnliches: sie wird also im Raume oder in der Zeit wahrzunehmen seyn.

Deutscher. Allerdings in beyden. Du siehst ja, Klopstocks Verdeutschungen haben immer weniger Verse als das Original.

Grieche. Das waͤre denn doch eine Art von sinnlichem Maßstabe. Aber er ist mir nicht genau genug: welch ein Unterschied zwischen Vers und Vers! Daß ein Deutscher Hexameter auf dem Papiere laͤnger ist als ein Griechischer, faͤllt in die Augen, und wenn du noch zweifelst, so befrage den Setzer. Um jenen Maßstab nach der Zeit naͤher zu pruͤfen, muͤßte der Originaldichter und der Dollmetscher, jeder so geschwind er koͤnnte, die angeblich verkuͤrzte Stelle hersagen, und man saͤhe dann, wer am ersten fertig waͤre.

Englaͤnder. Schoͤn, da giebt es Verse-races. Jch will gleich eine Wette anstellen.

Franzose. Auf diese Art werde ich den Deutschen auch leicht in der Kuͤrze besiegen, denn drey52 von seinen Sylben dauern oft laͤnger als sechs von meinen. Jrritabilité, Reizbarkeit.

Deutscher. Wie kannst du so laͤcherliche Vorschlaͤge thun? Je kuͤrzer der Ausdruck, desto mehr Wuͤrde, Nachdruck und also auch Langsamkeit erfodert der Vortrag.

Grieche. So geht ja der ganze Vortheil der Kuͤrze, das bischen ersparte Zeit, wieder verlohren.

Deutscher. Du redest unmoͤglich im Ernst, denn du weißt so gut, wie ich, daß die Kuͤrze wenige Theile durch Worte von starker Bedeutung zusammenfasset und gleich einer großen Lichtmasse auf einem Gemaͤhlde leuchtet.

Grieche. Vortrefflich! Das hat ein Meister gesagt. Jch wollte dich nur zu dem Gestaͤndniß bringen, daß man die Kuͤrze nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen einer gewissen hervorzubringenden Wirkung sucht, und daß sie nicht uͤberall in gleichem Grade hingehoͤrt.

Deutscher. Sie beguͤnstigt doch uͤberall das schnellere Denken; und der schnellere Gedanke ist lebendiger, hat mehr Kraft!

Grieche. Schnell und langsam sind Verhaͤltnißbegriffe, wobey es auf Gewoͤhnung ankommt. Jhre großen Streiche thut die Kuͤrze nur durch das Ungewoͤhnliche. Der bestaͤndige Lakonismus mag eine große sittliche oder politische Eigenthuͤmlichkeit seyn, aber er ist weder etwas dichterisches noch rednerisches.

Deutscher. Jst es nicht erhaben, wenn die Spartanische Mutter den Schild uͤbergiebt: Den oder auf dem.

53

Grieche. Weil es das schlichte und entschiedne einer erhabnen Gesinnung ausdruͤckt. Aber gewiß fiel dieß den Athenern, eben weil sie vom Morgen bis in den Abend zu plaudern pflegten, staͤrker auf, als den halb stummen Spartanern selbst. Der gesellige Mensch liebt zu reden, der Dichter ist der geselligste aller Menschen. Wenn er nun immer mit den Worten und Sylben geizte, so waͤre seine Freude ja gleich zu Ende.

Deutscher. Er ist so reich, daß er viel in wenigem geben kann, ohne sich zu erschoͤpfen.

Grieche. Seine Erhebung uͤber die Wirklichkeit fodert eben so oft Entfaltung als Zusammendraͤngung von ihm. Der angestellte Wettstreit bewiese nichts, wenn die uͤbersetzten Stellen auch noch viel betraͤchtlicher in einer Dollmetschungsmuͤhle zusammengestampft wuͤrden. Die alten Dichter wollten ja nicht kuͤrzer seyn, als sie waren. Man muͤßte sie nun erst wieder erwecken, und ihnen gestatten, aus ihren Versen Kunststuͤcke der Kuͤrze zu machen.

Deutscher. Es ist die Frage, ob sie dasselbe kuͤrzer ausdruͤcken konnten.

Grieche. Nach der Wahl der aus dem Griechischen uͤbersetzten Stellen kann es Klopstocken unmoͤglich rechter Ernst damit gewesen seyn. Aus dem Homer, und immer aus dem Homer! Homer kennt keine andre Kuͤrze als die der Einfalt, und ihm ist auch ihre ganze Weitlaͤuftigkeit eigen. Überdieß ist schoͤner Uberfluß der Hauptkarakter seines Styls. Galt es bey dem Wettstreite wirklich eine Entscheidung: warum wurden nicht Stellen des tragischen54 Dialogs gewaͤhlt, wo die Gedanken mit jeder Zeile wie Geschosse hin und wieder fliegen? Oder von jenen Versen des Aeschylus, wovon zwey in die Wage gelegt, den ganzen Euripides mit Weib, Kindern, Kephisophon und Buͤchern aufwiegen konnten? Oder von jenen gewaltigen Spruͤchen des Pindar, womit er seiner uͤber ihre Ufer brausenden Rede auf einmal einen Damm entgegensetzt? Oder wenigstens von den gediegnen Sittenspruͤchen des Menander?

Roͤmer. Auch die aus dem Roͤmischen gewaͤhlten Stellen sind meistens Virgilische, mit einer gewissen Fuͤlle geschmuͤckte. Und vollends aus dem geschwaͤtzigen Ovid!

Deutscher. Doch auch aus Horazens Oden.

Roͤmer. Das bedeutet schon mehr. Man muß, denke ich, froh seyn, ihn ohne Verkuͤrzung uͤberhaupt nur gut uͤbersetzen zu koͤnnen.

Deutscher. Kurz und gut.

Roͤmer. Es moͤchte kurz und schlecht daraus werden. Dieß waͤre der Fall, wenn an die Stelle der Anmuth und Leichtigkeit, die sich beym Horaz mit dem sinnreichen Nachdruck der Kuͤrze paart, Haͤrte und Dunkelheit traͤte.

Deutscher. Klopstock hat deine Sprache durch die Bedingung des Wettstreits genug geehrt, Roͤmer. Die Bereinung soll ja Siegerin seyn, wenn sie auch die uͤbersetzten Stellen ein wenig verlaͤngern muͤßte.

Roͤmer. Sie thut es nur einmal, und wo es nicht noͤthig war, bey diesen Zeilen Virgils:

Jlle caput quassans: Non me tua fervida terrent Verba, ferox, dJ me terrent, et Juppiter hoftis.

55
Turnus schuͤttelt sein Haupt: nicht deine flammenden
Worte
Schrecken, wuͤtender, mich, mich schrecken die Goͤtter
und der mir
Zuͤrnet, Jupiter!

Warum nicht.

Jener schuͤttelnd das Haupt: Nicht deine brausenden
Worte
Schrecken mich, Wilder, mich schrecken die Goͤtter und
Jupiters Zuͤrnen.

Du siehst, die einzelnen Faͤlle beweisen weder fuͤr noch wider die groͤßere Kuͤrze einer Sprache; es mischt sich da zu viel Zufaͤlliges hinein. Man muß auf ihren Bau zuruͤckgehn.

Deutscher. Gut, die meinige hat kuͤrzere Worte.

Englaͤnder. Wenn es darauf ankommt, so nehmt es einmal mit mir auf.

Roͤmer. Soll die Sprachkuͤrze dichterischen Werth haben, so muß sie der Schoͤnheit nicht Eintrag thun. Das thut aber die Einsylbigkeit. Zur Wuͤrde gehoͤrt ein gewisser Umfang der Worte. Die Schoͤnheit liebt toͤnende und durch den Wohlklang befluͤgelte Vielsylbigkeit. Alles beruht darauf, daß eine Sprache die Theile der Gedanken in große Massen zusammenfasse, und daß sie kuͤhn auslassen duͤrfe.

Deutscher. Dieß hat Klopstock selbst dadurch angedeutet, daß er die Vereinung mit Harmosis und dann mit Ellipsis den Wettstreit der Kuͤrze halten laͤßt.

56

Roͤmer. Jn beyden Stuͤcken kann es die Deutsche Sprache den alten und besonders meiner nicht gleich thun. Diese ist noch kuͤrzer als die Griechische, weil sie keinen Artikel und keine Partikeln hat.

Grieche. Die Partikeln verlaͤngern die Sprache wenig, weil sie sich ganz an die groͤßern Wortmassen anfuͤgen. Der Artikel ist erst spaͤter in unsre Sprache gekommen: Homer hat ihn noch nicht, und unsre Dichter waren daher uͤberhaupt nicht so sehr an ihn gebunden.

Roͤmer. Und weil sie vieles durch Umendungen der Nennwoͤrter anzeigt, wozu die Griechische Beziehungswoͤrter braucht. Das Deutsche hat nun obendrein die unvollstaͤndige Biegung der Zeitwoͤrter, welche ihm oft doppelte Huͤlfswoͤrter, und die bestaͤndige Wiederholung der persoͤnlichen Fuͤrwoͤrter noͤthig macht. Redensarten wie: ostendite bellum, pacem habebitis, moͤgt ihr in der Sylbenzahl kuͤrzen; in wie viele Woͤrter und Woͤrtchen muͤßt ihr sie zerstuͤcken! Eben die vollstaͤndige Bestimmtheit, womit wir die Nebenbegriffe und Verhaͤltnisse an den Hauptwoͤrtern bezeichnen, macht auch, daß wir viel auslassen duͤrfen, ohne, wie ihr, Zweydeutigkeit und Verworrenheit zu befuͤrchten. Dazu kommen nun noch jene zusammendraͤngenden Wendungen: der bey euch so sehr beschraͤnkte Gebrauch des Partizips, der absolute Ablativ u. s. w.

Deutscher. Wir koͤnnen mehre Hauptbegriffe zu einem Worte vereinigen.

Roͤmer. Das ist etwas. Unsre Sprache hat57 sich hierin freylich sehr eingeschraͤnkt. Aber du siehst, daß es bey weitem nicht entscheidet: denn sonst koͤnnten wir nicht kuͤrzer als die Griechen seyn, die ebenfalls viel zusammensetzen.

Franzose. Hoͤrt endlich auf, so langweilig uͤber die Kuͤrze zu seyn. Jhr beweist, daß es damit weit mehr an dem Menschen als an den Sprachen liegt. Unsre zum Beyspiel ist kurz, weil es uns natuͤrlich ist, uns kurz zu fassen.

Deutscher. Oder wenigstens schnell uͤberhin zu gehn.

Franzose. Die eurige hingegen ist lang, weil ihr bedaͤchtig, langsam und schwerfaͤllig mit naͤheren Bestimmungen, Einschraͤnkungen, und Gegeneinschraͤnkungen, Erlaͤuterungen, Einschaltungen, Bevorwortungen etwaniger Mißverstaͤndnisse und halben Zuruͤcknehmungen gar nicht fertig werden koͤnnt. Über die Heiligeroͤmischereichdeutschernazionsperioden hat sich ja euer Fuͤrsprecher selbst lustig gemacht. Hier laßt ihr euch doch oͤffentlich als Nazion vernehmen. Vergleicht nur einen einzigen Reichstagsschluß mit einer ganzen Konstituzion von uns.

Deutscher. Deswegen habt ihr auch beynah so viel Konstituzionen noͤthig, als wir Reichstagsschluͤße.

Jtaliaͤner. Warum wird denn mir Weitschweifigkeit vorgeworfen? Giebt es einen Deutschen Dichter, der so sehr Meister in der Kuͤrze waͤre als Dante? Wir haben auch eine vollstaͤndigere Biegung der Zeitwoͤrter, und knuͤpfen oft mehre Fuͤrwoͤrter an sie an.

58

Deutscher. O ja, ihr seyd besonders in der Prosa allerbewundernswuͤrdigst kurz! Maravigliofisfimamente!

Jtaliaͤner. Das ist nun wieder Sache des Geschmacks. Wir lieben den Superlativ.

Poesie. Da Klopstock einen so ungemeinen Werth auf die Kuͤrze legt, warum hat er nicht neben der Bildsamkeit, Bedeutsamkeit und so manchen aͤhnlichen auch die Schweigsamkeit aufgefuͤhrt?

Grammatik. Sie konnte ja nicht mitreden, ohne ihren Karakter zu verlaͤugnen.

Poesie. So haͤtte sie wenigstens, wie die Niobe des Aeschylus, mit verhuͤlltem Antlitz unter den Streitenden gesessen und Ehrfurcht geboten.

Grammatik. Klopstock spielt selbst die Rolle der Schweigsamkeit in dem ganzen Buche. Kaum giebt er Winke, wo man befriedigende Belehrung von ihm wuͤnscht.

Franzose. Jn den grammatischen Gespraͤchen wird ein Wettstreit zwischen den Sprachen angekuͤndigt, worin ihnen der Vorrang nach der Geschicklichkeit im Übersetzen zuerkannt werden soll. Jch protestire hiegegen im Namen der meinigen. Es ist ein bloß nazionaler Kanon, denn die Deutschen sind ja Allerweltsuͤbersetzer. Wir uͤbersetzen entweder gar nicht, oder nach unserm eignen Geschmack.

Deutscher. Das heißt, ihr paraphrasirt und travestirt.

Franzose. Wir betrachten einen auslaͤndischen Schriftsteller, wie einen Fremden in der Gesellschaft,59 der sich nach unsrer Sitte kleiden und betragen muß, wenn er gefallen soll.

Deutscher. Welche Beschraͤnktheit ist es, sich nur einheimisches gefallen zu lassen!

Franzose. Die Wirkung der Eigenthuͤmlichkeit und der Bildung. Hellenisirten die Griechen nicht auch alles?

Deutscher. Bey euch eine Wirkung einseitiger Eigenthuͤmlichkeit und konvenzioneller Bildung. Uns ist eben Bildsamkeit eigenthuͤmlich.

Poesie. Huͤte dich, Deutscher, diese schoͤne Eigenschaft zu uͤbertreiben. Graͤnzenlose Bildsamkeit waͤre Karakterlosigkeit.

Grieche. Was ihr im Übersetzen leisten koͤnnt, weiß ich. Jndessen wollte ich euch doch in wenigen Zeilen allerley zu rathen geben, und sehr lebhaft daran erinnern, daß unsre Sprache ihre ganz unnachahmlichen Reize hat. Es versteht sich, daß nur das mit gleicher oder beynah gleicher Wuͤrde, Kraft und Anmuth nachgebildete uͤbersetzt heißen kann.

Deutscher. Jch erwarte deine Auftraͤge.

Grieche. Hier ein paar Verse des Sophokles:

ἄλυρος, ἄχορος,[ἀναπέφηνε].

Und folgendes Distichan des Hermesianax:

Μίμνερμος δὲ τὸν ἡδὺν ὅς εὕρετο, πολλὸν[ἀνατλάς],
Ἦχον, καὶ μαλακοῦπνεῦμ᾽ ἀπὸ πενταμέτρου.

Es ist nur eine kleine Probe.

Jtaliaͤner. Laß mich auch eine hinzufuͤgen, es sollen nur einzelne Verse seyn. Von Dante aus der Jugendgeschichte der Seele:60 L'anima semplicetta, che sa nulla; und vom Ariost auf den großen Buonarroti: Michel, più che mortal, Angel divino.

Deutscher. Nach diesem Spiel fuͤrchte ich, daß mir der Roͤmer Semibovemque virum semivirumque bovem aufgiebt.

Roͤmer. Sey unbesorgt, ich habe besseres zu waͤhlen. Hier ist eine Schilderung des Hylas an der Quelle:

Et circumdigro furgebant lilia prato
Candida purpureis mista papaveribus.
Quae modo decerpens tenero pueriliter ungui,
Propofito florem praetulit officio.
Et modo formofis incubens nefsius undis
Errorem blandis tardat imaginibus.

Du hast die Bedingung, mit fast gleicher Anmuth, nicht vergessen.

Deutscher. Jch werde die Aufgaben aus den Alten Klopstocken und Bossen vorlegen. Wir koͤnnen freylich keine solchen Pentameter machen. Dann schließe ich auch aus eurer Wahl, daß ihr einen mir unmoͤglichen Fehler mit uͤbertragen wuͤnscht.

Grieche. Welchen Fehler?

Deutscher. Die Abtrennung der Beywoͤrter von ihren Hauptwoͤrtern, und uͤberhaupt eure verworfne Wortfolge.

Grieche. Die Freyheit der Wortfolge, die schoͤnste Frucht von dem vollkommnen Bau unsrer Sprachen, soll ein Fehler seyn?

Deutscher. Gut, ich will mit beybehaltner Wortstellung aus euren Dichtern uͤbersetzen.

61

Roͤmer. Jch weiß wohl, daß Klopstock, um die Unschicklichkeit unsrer Wortfolge zu beweisen, diese Probe an einer schoͤnen Stelle des Horaz gemacht hat. Aber was beweist sie? Zuerst wird in jeder Sprache vieles fuͤr natuͤrlich gehalten, was bloß auf der Gewoͤhnung beruht. Es ist eben so, als wenn jemand aus einer fremden Sprache mit beybehaltnem Geschlecht der Hauptwoͤrter uͤbersetzte, etwa argenteus Luna und aurea sol sagte, und sich dann uͤber die Wunderlichkeit jener wunderte. Ferner ist die Sache durch die Übertragung ins Deutsche durchaus veraͤndert. So wie ihr die Woͤrter aus den erlaubten Stellen wegruͤckt, entsteht Zweydeutigkeit und Verworrenheit, weil bey euren unvollstaͤndigen Biegungen die Stellung zu Huͤlfe kommen muß, um die Verhaͤltnisse der Woͤrter zu erkennen, die bey uns auf das deutlichste an ihnen selbst bezeichnet sind.

Deutscher. Die Wirkung wird geschwaͤcht, waͤhrend man die Worte, die hie und da getrennt herum taumeln, mit Zeitverluste zusammen suchen muß.

Grieche. Und wer mußte das? Die Einheimischen, die es von Jugend auf so gewohnt waren? Überdieß fallen unsre toͤnenden und vielsylbigen Biegungen, du erinnerst dich dessen, was ich vorhin von ihrem vielfachem Einflusse sagte, stark ins Ohr; das durch die Bedeutung verknuͤpfte ordnet sich von selbst auch sinnlich zusammen. Eine so aͤngstliche Wortfolge zu beobachten, wie in eurer und andern neueren Sprachen, waͤre bey uns uͤbermaͤßige Deutlichkeit gewesen, und diese ist fuͤr eine schnelle Fassungskraft laͤstig und beleidigend.

62

Deutscher. Gleichwohl scheint ihr selbst das Fehlerhafte gefuͤhlt zu haben. Jhr Griechen gingt in der Verwerfung der Worte nicht so weit als die Roͤmer, und Homer war unter euren Dichtern der enthaltsamste.

Grieche. Das brachte die Einfalt seines Zeitalters und der Geist der Gattung mit sich. Auf diese Art wuͤrfest du aber der Sprache vor, was die Dichter versehen haͤtten. Eine Freyheit ist ja niemals ein Übel. Man kann sich ihrer bedienen, oder auch nicht.

Deutscher. Eure verworfne Wortfolge war eine Sache der Noth. Sie ist vermuthlich bloß daher entstanden, daß ihr aus lauter Laͤngen oder Kuͤrzen bestehende Woͤrter habt, daß also die natuͤrliche Ordnung zu viel lange oder kurze Sylben zusammenbrachte, die des Sylbenmaßes und in Prosa des Numerus wegen getrennt werden mußten.

Grieche. Du siehst das als einen Nothbehelf an, was die durchgaͤngige Unabhaͤngigkeit unsrer Poesie vom Beduͤrfnisse auf das schoͤnste beurkundet. Du kennst doch die orientalische Weise, mit Blumen Briefe zu schreiben? Nimm nun an, die Bedeutung jeder Blume sey bestimmt, und ihre Verhaͤltnisse zu einander ebenfalls; moͤchtest du dann den Kranz daraus lieber so geflochten sehen, daß die gleichartigen Blumen beysammen blieben, oder daß sie sich mannichfaltig durchschlaͤngen? Unsre Strophen, unsre Distichen sind solche Kraͤnze; eben durch die Stellung werden sie zu Ganzen, wo nichts herausgerissen werden kann, ohne sie zu zerstoͤren. Das Bild, der Gedanke wirkt nun als eine untheilbare, innig vereinigte Masse.

63

Franzose. Jn dem Verdienst einer natuͤrlichen, dem Verstande gemaͤßen, ordentlichen Wortfolge sind wir dir uͤberlegen, Deutscher.

Englaͤnder. Wir auch.

Deutscher. Jhr muͤßt wohl: man verstaͤnde euch sonst gar nicht, da ihr keine Umendungen der Haupt - und Beywoͤrter habt.

Franzose. Du fuͤhrst eben das gegen uns an, was der Grieche gegen dich. Überhebe dich also nicht deiner etwas weniger kargen Wortaͤndrung.

Englaͤnder. Deine Sprache ist auf halben Wege stehn geblieben. Meine hat nicht nur die Umendungen, sondern auch die unnuͤtzen Geschlechtsunterschiede der Haupt - und Beywoͤrter abgeschafft; ja sie konjugirt nur eben zwischen den Zaͤhnen. Sie ist eine Philosophin.

Deutscher. Auch eine Dichterin?

Englaͤnder. Sie ist sehr kuͤhn und frey, so oft sie will.

Franzose. Welches ist das Gesetz der Deutschen Wortfolge?

Deutscher. Sie laͤßt gewoͤhnlich das Unbestimmtere vorangehen.

Grieche. Damit leistet sie der Einbildungskraft einen schlechten Dienst.

Deutscher. Überhaupt liebt sie es, Erwartungen zu erregen: sie setzt daher das Beywort vor die Benennung, und die Modifikazion vor das Modifizirte.

Franzose. Deswegen trennt sie auch das unmittelbar64 mittelbar zusammen gehoͤrige: das persoͤnliche Fuͤrwort und Huͤlfswort vom Zeitworte, dieses von der Konjunkzion wodurch es regiert wird; die trennbaren Praͤposizionen von den Zeitwoͤrtern, womit sie zusammengesetzt sind u.s.w. Das eine stellt sie zu Anfange, das andre zu Ende des Satzes. Kurz, eure Wortfuͤgung gleicht, besonders in den langen prosaischen Perioden, einer Krebsschere die sich langsam und bedaͤchtig oͤffnet, und dann auf einmal zuschnappt.

Deutscher. Du hast keine Ursache zu spotten. Wie gebunden ist deine poetische Wortfolge gegen meine!

Jtaliaͤner. Und wiederum die Deutsche gegen meine!

Franzose. Jhr koͤnnt nicht einmal wie wir das Beywort vor oder hinter das Hauptwort setzen.

Deutscher. Wir thun jetzt auch das letzte mit Huͤlfe des wiederhohlten Artikels.

Poesie. Man kann einer Sprache eigentlich das nicht anrechnen, wozu nur die Kuͤhnheit einiger Maͤnner von Ansehn sie allmaͤhlig nicht ohne Widersetzlichkeit gebracht hat. Erinnre dich, Deutscher, wie gar weniges von poetischer Wortstellung ihr hattet, ehe Klopstock dichtete.

Englaͤnder. Jetzt habe ich eine besondre Klage gegen ihn vorzubringen. Er beschuldigt mich der barbarischen Sprachmischerey: ich nehme Lateinische Woͤrter aus dem eisernen Zeitalter auf, und selbst aus dem bleyernen der Moͤnche.

Deutscher. Es liegt ja am Tage. Er hat auch durch Übersetzung einer Stelle Miltons, worin er die65 Franzoͤsischen und Lateinischen Ausdruͤcke im Deutschen beybehaͤlt, gezeigt, welchen Eindruck das machen muß.

Englaͤnder. Freylich ist unsre Sprache aus fremdartigen Bestandtheilen erwachsen, aber sie sind so amalgamirt, daß man den verschiednen Ursprung derselben gar nicht einmal bemerkt.

Deutscher. Das thut nichts, dadurch wird dem Unedlen der Mischung nicht abgeholfen.

Englaͤnder. Haͤltst du entkoͤrpern fuͤr ein edles Wort?

Deutscher. Allerdings.

Englaͤnder. Wenn nun jemand, wo es in einem eurer Dichter vorkommt, entkorporiren setzte? Oder gar statt, der Lorbeer kroͤnt ihn, der Laurusbeer koronirt ihn? Wuͤrde dadurch nicht die ganze Sache veraͤndert? Dennoch hat es mit jener Übersetzung aus Milton ungefaͤhr diese Bewandtniß.

Deutscher. Die spaͤteren verwerflichen Einmischungen der Gelehrten und Weltleute abgerechnet, enthaͤlt das Deutsche wenig fremde Woͤrter. Es ist eine urspruͤngliche und reine Sprache.

Grieche. Das Urspruͤngliche ist mehr, als ich von der Hellenischen zu ruͤhmen wage.

Roͤmer. Und was das Reine betrifft, so weiß ich bessern Bescheid zu geben.

Deutscher. Nun ja, die Ausdruͤcke, welche auf den Religionsdienst Bezug haben, brachten freylich die Lateinischen Priester mit.

Roͤmer. Nicht doch! Jhr koͤnnt ohne unsre66 Huͤlfe keine Verse machen; ihr habt nicht einmal eine einheimische Natur.

Grieche. Jch befuͤrchte, Deutscher, deine Landsleute werden die Ausdruͤcke aus den fremden, besonders aus den alten Sprachen nicht los, bis sie es einmal wie die Kaunier machen.

Deutscher. Was thaten die Kaunier?

Grieche. Man richtete Tempel fremder Goͤtter bey ihnen auf, gegen die sie eine Abneigung hatten. Sie bewaffneten sich also einst saͤmmtlich, schlugen mit ihren Speeren in die Luft, und zogen so bis an die Graͤnze, indem sie dabey sagten, sie trieben die fremden Goͤtter aus.

Franzose. Der unwiderstehliche Hang, der sich in einer Sprache aͤußert, aus einer andern zu entlehnen, deutet auf hoͤhere Bildung dieser. Die Minnesinger borgten schon von unsern Provenzalen, und noch jetzt

Deutscher. Die wissenschaftlichen Ausdruͤcke nehmen wir meistens von den Roͤmern und Griechen; mit den Namen der gesellschaftlichen Thorheiten versehen uns unsre Nachbarn.

Franzose. Die feineren Thorheiten und ihre Beobachtung zeugen auch von Bildung: sie machen das Leben liebenswuͤrdig. Doch nun ist die Reihe an mir, uͤber die ausgezeichnete Feindseligkeit zu klagen, daß in den grammatischen Gespraͤchen aus einer einzelnen Grille meiner Sprache eine eigne Person, die Wasistdaswasdasistwashaftigkeit, gemacht wird

Grammatik. Was erhebt sich draußen fuͤr ein Geraͤusch?

67

Poesie. Da tritt eine seltsame Figur herein. Wer bist du?

Grille .. Eine maͤchtige Fee. Jch nenne mich, wie es mir einfaͤllt und es euch beliebt. Oft herrsche ich uͤber dich, Grammatik, und nicht selten auch uͤber dich, Poesie.

Grammatik. Daß wir nicht wuͤßten.

Grille. Jch komme jetzt nur um euch zu melden, welch ein Ungluͤck bevorsteht, wenn ihr nicht schleunigst diese Versammlung trennt. Die Deutschheit, entruͤstet uͤber die ihr widerfahrne uͤble Begegnung, hat Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, und das Geruͤcht von dem, was hier vorgeht, uͤberall verbreitet. Nun sind alle in den grammatischen Gespraͤchen vorkommende Personen und noch andre rege geworden; sie wollen anklagen, vertheidigen, oder wenigstens als Zeugen auftreten. Sie sind zum Theil heftig unter einander entzwyt, und wenn ihr nicht schnell aufbrecht, so werdet ihr diesen friedlichen Ort zum Schauplatze des allgemeinen Krieges werden sehn. Der Verstand und die Vernunft lagen einander in den Haaren: jener behauptete, er sey einerley mit der Vernunft, sie wuͤrden nur in der Kantischen Philosophie unterschieden. Die Kunstwoͤrterey, die sich fuͤr die Philosophie ausgab, trat hinzu und wollte sich den Ausspruch daruͤber anmaßen. Das Gemuͤth weinte, Klopstock habe es fuͤr ein schlechtes nichts sagendes Wort erklaͤrt. Diese Entscheidung sey ihm gewiß nicht aus dem Gemuͤthe gekommen. Die Einbildungskraft forderte das Urtheil auf, das Buch in68 Schutz zu nehmen, worin sie beyde eine so artige Rolle spielten. Das Urtheil war verdrießlich, weil es nur schlechthin so heißen solle, und nicht Urtheilskraft; da doch Klopstock selbst Einbildungskraft sage. Es kuͤmmere sich nicht darum, ob bey dem ganzen Handel Urtheil oder Einbildung mehr Kraft beweisen wuͤrde. Ein beruͤhmter Grammatiker hatte einen Sturm gegen die grammatischen Gespraͤche vor, und setzte sich dazu ritterlich auf den Ruͤcken des Sprachgebrauchs. Da der Grammatiker aber etwas stark beleibt war, so konnte der Sprachgebrauch nicht einmal aufrecht stehen, geschweige denn traben, sondern er kroch auf allen Vieren. Der Purismus wollte als Vertheidiger auftreten. Die Auslaͤnderey warf ihm vor, er sey ein Siebenschlaͤfer, der nur alle halbe Jahrhunderte wach werde: zur Zeit der fruchtbringenden Gesellschaft, unter Gottsched, und jetzt. Klopstock halte es gar nicht mit ihm: das beweise die Gelehrtenrepublik, die Fragmente uͤber Sprache und Dichtkunst, endlich die grammatischen Gespraͤche. Der Purismus erwiederte, man koͤnne es in dergleichen Dingen nicht so genau nehmen; sein Geschaͤft werde ihm sehr sauer gemacht, er habe selbst noch nicht zu einem Deutschen Namen gelangen koͤnnen. Hierauf fragte ihn die Auslaͤnderey, ob er Reinigkeitsengel oder Reinigkeitsteufel heißen wollte? Jhr koͤnnt denken, wie er ergrimmte, nicht sowohl wegen der Schimpflichkeit des einen Namens, als weil man geglaubt hatte, er wisse nicht, daß Engel und Teufel Griechisch waͤren. Der Reim war außer sich uͤber die Verunglimpfungen69 von Eintoͤnigkeit, von Klinglern, u.s.w. Er pflege sonst auf dergleichen nur zu antworten: ich gefalle, thu mir was! Allein jetzt wolle er in einer tiefsinnigen Schutzrede zeigen, wie innig sein Wesen in die ganze Natur verwebt sey; reimen sey vergleichen, und im Vergleichen bestehe ja alle Poesie. Der goͤttliche Prophet Mahomed habe seinen Offenbarungen durch ihn Eingang verschafft. Auch bey den Griechen sey die Rhetorik auf ihn gebaut gewesen; ja selbst in Gedichten habe ihn der Pentameter eher gesucht als verschmaͤht. Die Rivarolade, die Palissotie, die Wasistdaswasdasistwashaftigkeit, und wie soll ich sie alle nennen? sie kommen mit Macht angezogen. Eilt, sonst uͤberraschen sie euch!

Grammatik. Um die vielen vorgebrachten Klagen zu pruͤfen, beduͤrfen wir ruhigerer Muße. Aber wollen wir nicht sogleich noch erklaͤren, Poesie, daß sich Klopstock durch Anregung so vernachlaͤßigter Untersuchungen um uns beyde verdient gemacht hat?

Poesie. Von ganzem Herzen.

Grille. Jch sage euch nochmals, brecht auf!

Grieche. So endigt also dieses grammatische Gespraͤch wie eine Tragoͤdie des Euripides mit einer langen Erzaͤhlung.

Deutscher. Oder wie ein Ritterschauspiel mit Aufruhr und Waffengeklirr.

Grille. Sie haben sich wirklich schrecken lassen, und mein Zweck ist erreicht, diese Zusammenkunft zu trennen, wobey ich, ohne daß sie es wußten, den Vorsitz fuͤhrte.

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II. Bluͤthenstaub.

Freunde, der Boden ist arm, wir muͤßen reichlichen Samen
Ausstreun, daß uns doch nur maͤßige Erndten gedeihn.

Wir suchen uͤberall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge.

Die Bezeichnung durch Toͤne und Striche ist eine bewundernswuͤrdige Abstrakzion. Vier Buchstaben bezeichnen mir Gott; einige Striche eine Million Dinge. Wie leicht wird hier die Handhabung des Universums, wie anschaulich die Konzentrizitaͤt der Geisterwelt! Die Sprachlehre ist die Dynamik des Geisterreichs. Ein Kommandowort bewegt Armeen; das Wort Freyheit Nazionen.

Der Weltstaat ist der Koͤrper, den die schoͤne Welt, die gesellige Welt, beseelt. Er ist ihr nothwendiges Organ.

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Lehrjahre sind fuͤr den poetischen, akademische Jahre fuͤr den philosophischen Juͤnger. Akademie sollte ein durchaus philosophisches Jnstitut seyn: nur Eine Facultaͤt; die ganze Einrichtung zur Erregung und zweckmaͤßigen Übung der Denkkraft organisirt.

Lehrjahre im vorzuͤglichen Sinn sind die Lehrjahre der Kunst zu leben. Durch planmaͤßig geordnete Versuche lernt man ihre Grundsaͤtze kennen und erhaͤlt die Fertigkeit nach ihnen beliebig zu verfahren.

Ganz begreifen werden wir uns nie, aber wir werden und koͤnnen uns weit mehr, als begreifen.

Gewisse Hemmungen gleichen den Griffen eines Floͤtenspielers, der um verschiedene Toͤne hervorzubringen, bald diese bald jene Öffnung zuhaͤlt, und willkuͤhrliche Verkertungen stummer und toͤnender Öffnungen zu machen scheint.

Der Unterschied zwischen Wahn und Wahrheit liegt in der Differenz ihrer Lebensfunkzionen. Der Wahn lebt von der Wahrheit; die Wahrheit lebt ihr Leben in sich. Man vernichtet den Wahn, wie man Krankheiten vernichtet, und der Wahn ist also nichts, als logische Entzuͤndung oder Verloͤschung, Schwaͤrmerey oder Philisterey. Jene hinterlaͤßt gewoͤhnlich einen scheinbaren Mangel an Denkkraft, der durch nichts zu heben ist, als eine abnehmende Reihe von Jnzitamenten, Zwangsmitteln. Diese geht oft in eine72 truͤgliche Lebhaftigkeit uͤber, deren gefaͤhrliche Revoluzionssymptome nur durch eine zunehmende Reihe gewaltsamer Mittel vertrieben werden koͤnnen. Beyde Disposizionen koͤnnen nur durch chronische, streng befolgte Kuren veraͤndert werden.

Unser saͤmtliches Wahrnehmungsvermoͤgen gleicht dem Auge. Die Objekte muͤßen durch entgegengesetzte Media durch, um richtig auf der Pupille zu erscheinen.

Die Erfahrung ist die Probe des Razionalen, und so umgekehrt. Die Unzulaͤnglichkeit der bloßen Theorie in der Anwendung, uͤber die der Praktiker oft kommentirt, findet sich gegenseitig in der razionalen Anwendung der bloßen Erfahrung, und wird von den aͤchten Philosophen, jedoch mit Selbstbescheidung der Nothwendigkeit dieses Erfolgs, vernehmlich genug bemerkt. Der Praktiker verwirft deshalb die bloße Theorie ganz, ohne zu ahnden, wie problematisch die Beantwortung der Frage seyn duͤrfte: Ob die Theorie fuͤr die Anwendung, oder die Anwendung um der Theorie willen sey?

Das Hoͤchste ist das Verstaͤndlichste, das Naͤchste, das Unentbehrlichste.

Wunder stehn mit naturgesetzlichen Wirkungen in Wechsel: sie beschraͤnken einander gegenseitig, und machen zusammen ein Ganzes aus. Sie sind vereinigt,73 indem sie sich gegenseitig aufheben. Kein Wunder ohne Naturbegebenheit und umgekehrt.

Die Natur ist Feindin ewiger Besitzungen. Sie zerstoͤrt nach festen Gesetzen alle Zeichen des Eigenthums, vertilgt alle Merkmale der Formazion. Allen Geschlechtern gehoͤrt die Erde; jeder hat Anspruch auf alles. Die Fruͤhern duͤrfen diesem Primogeniturzufalle keinen Vorzug verdanken. Das Eigenthumsrecht erlischt zu bestimmten Zeiten. Die Ameliorazion und Deteriorazion steht unter unabaͤnderlichen Bedingungen. Wenn aber der Koͤrper ein Eigenthum ist, wodurch ich nur die Rechte eines aktiven Erdenbuͤrgers erwerbe, so kann ich durch den Verlust dieses Eigenthums nicht mich selbst einbuͤßen. Jch verliere nichts, als die Stelle in dieser Fuͤrstenschule, und trete in eine hoͤhere Korporazion, wohin mir meine geliebten Mitschuͤler nachfolgen.

Leben ist der Anfang des Todes. Das Leben ist um des Todes willen. Der Tod ist Endigung und Anfang zugleich, Scheidung und naͤhere Selbstverbindung zugleich. Durch den Tod wird die Redukzion vollendet.

Auch die Philosophie hat ihre Bluͤthen. Das sind die Gedanken, von denen man immer nicht weiß, ob man sie schoͤn oder witzig nennen soll.

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Die Fantasie setzt die kuͤnftige Welt entweder in die Hoͤhe, oder in die Tiefe, oder in der Metempsychose zu uns. Wir traͤumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unsers Geistes kennen wir nicht. Nach Jnnen geht der geheimnißvolle Weg. Jn uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt, sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich. Jetzt scheint es uns freylich innerlich so dunkel, einsam, gestaltlos, aber wie ganz anders wird es uns duͤnken, wenn diese Verfinsterung vorbey, und der Schattenkoͤrper hinweggeruͤckt ist. Wir werden mehr genießen als je, denn unser Geist hat entbehrt.

Darwin macht die Bemerkung, daß wir weniger vom Lichte beym Erwachen geblendet werden, wenn wir von sichtbaren Gegenstaͤnden getraͤumt haben. Wohl also denen, die hier schon von Sehen traͤumten! Sie werden fruͤher die Glorie jener Welt ertragen koͤnnen.

Wie kann ein Mensch Sinn fuͤr etwas haben, wenn er nicht den Keim davon in sich hat? Was ich verstehn soll, muß sich in mir organisch entwickeln; und was ich zu lernen scheine, ist nur Nahrung, Jnzitament des Organismus.

Der Sitz der Seele ist da, wo sich Jnnenwelt und Außenwelt beruͤhren. Wo sie sich durchdringen, ist er in jedem Punkte der Durchdringung.

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Wenn man in der Mittheilung der Gedanken zwischen absolutem Verstehen und absolutem Nichtverstehen abwechselt, so darf das schon eine philosophische Freundschaft genannt werden. Geht es uns doch mit uns selbst nicht besser. Und ist das Leben eines denkenden Menschen wohl etwas andres als eine stete innere Symphilosophie?

Genie ist das Vermoͤgen von eingebildeten Gegenstaͤnden, wie von wirklichen zu handeln, und sie auch wie diese zu behandeln. Das Talent darzustellen, genau zu beobachten, zweckmaͤßig die Beobachtung zu beschreiben, ist also vom Genie verschieden. Ohne dieses Talent sieht man nur halb, und ist nur ein halbes Genie; man kann genialische Anlage haben, die in Ermangelung jenes Talents nie zur Entwickelung kommt.

Das willkuͤhrlichste Vorurtheil ist, daß dem Menschen das Vermoͤgen außer sich zu seyn, mit Bewußtseyn jenseits der Sinne zu seyn, versagt sey. Der Mensch vermag in jedem Augenblicke ein uͤbersinnliches Wesen zu seyn. Ohne dies waͤre er nicht Weltbuͤrger, er waͤre ein Thier. Freylich ist die Besonnenheit, Sichselbstfindung, in diesem Zustande sehr schwer, da er so unaufhoͤrlich, so nothwendig mit dem Wechsel unsrer uͤbrigen Zustaͤnde verbunden ist. Je mehr wir uns aber dieses Zustandes bewußt zu seyn vermoͤgen, desto lebendiger, maͤchtiger, genuͤgender ist die Überzeugung, die daraus entsteht; der Glaube an76 aͤchte Offenbarungen des Geistes. Es ist kein Schauen, Hoͤren, Fuͤhlen; es ist aus allen dreyen zusammengesetzt, mehr als alles Dreyes: eine Empfindung unmittelbarer Gewißheit, eine Ansicht meines wahrhaftesten, eigensten Lebens. Die Gedanken verwandeln sich in Gesetze, die Wuͤnsche in Erfuͤllungen. Fuͤr den Schwachen ist das Faktum dieses Moments ein Glaubensartikel. Auffallend wird die Erscheinung besonders beym Anblick mancher menschlichen Gestalten und Gesichter, vorzuͤglich bey der Erblickung mancher Augen, mancher Minen, mancher Bewegungen, beym Hoͤren gewisser Worte, beym Lesen gewisser Stellen, bey gewissen Hinsichten auf Leben, Welt und Schicksal. Sehr viele Zufaͤlle, manche Naturereignisse, besonders Jahres - und Tageszeiten, liefern uns solche Erfahrungen. Gewisse Stimmungen sind vorzuͤglich solchen Offenbarungen guͤnstig. Die meisten sind augenblicklich, wenige verweilend, die wenigsten bleibend. Hier ist viel Unterschied zwischen den Menschen. Einer hat mehr Offenbarungsfaͤhigkeit, als der andere. Einer hat mehr Sinn, der andere mehr Verstand fuͤr dieselbe. Der letzte wird immer in ihrem sanften Lichte bleiben, wenn der erste nur abwechselnde Erleuchtungen, aber hellere und mannichfaltigere hat. Dieses Vermoͤgen ist ebenfalls Krankheitsfaͤhig, die entweder Überfluß an Sinn und Mangel an Verstand, oder Überfluß an Verstand und Mangel an Sinn bezeichnet.

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Scham ist wohl ein Gefuͤhl der Profanazion. Freundschaft, Liebe und Pietaͤt sollten geheimnißvoll behandelt werden. Man sollte nur in seltnen, vertrauten Momenten davon reden, sich stillschweigend daruͤber einverstehen. Vieles ist zu zart um gedacht, noch mehres um besprochen zu werden.

Selbstentaͤußerung ist die Quelle aller Erniedrigung, so wie im Gegentheil der Grund aller aͤchten Erhebung. Der erste Schritt wird Blick nach Jnnen, absondernde Beschauung unsers Selbst. Wer hier stehn bleibt, geraͤth nur halb. Der zweyte Schritt muß wirksamer Blick nach Außen, selbstthaͤtige, gehaltne Beobachtung der Außenwelt seyn.

Derjenige wird nie als Darsteller etwas vorzuͤgliches leisten, der nichts weiter darstellen mag, als seine Erfahrungen, seine Lieblingsgegenstaͤnde, der es nicht uͤber sich gewinnen kann, auch einen ganz fremden, ihm ganz uninteressanten Gegenstand, mit Fleiß zu studiren und mit Muße darzustellen. Der Darsteller muß alles darstellen koͤnnen und wollen. Dadurch entsteht der große Styl der Darstellung, den man mit Recht an Goethe so sehr bewundert.

Hat man nun einmal die Liebhaberey fuͤrs Absolute und kann nicht davon lassen: so bleibt einem kein Ausweg, als sich selbst immer zu widersprechen, und entgegengesetzte Extreme zu verbinden. Um den Satz des Widerspruchs ist es doch unvermeidlich geschehen,78 und man hat nur die Wahl, ob man sich dabey leidend verhalten will, oder ob man die Nothwendigkeit durch Anerkennung zur freyen Handlung adeln will.

Eine merkwuͤrdige Eigenheit Goethe's bemerkt man in seinen Verknuͤpfungen kleiner, unbedeutender Vorfaͤlle mit wichtigern Begebenheiten. Er scheint keine andre Absicht dabey zu hegen, als die Einbildungskraft auf eine poetische Weise mit einem mysterioͤsen Spiel zu beschaͤftigen. Auch hier ist der sonderbare Genius der Natur auf die Spur gekommen, und hat ihr einen artigen Kunstgriff abgemerkt. Das gewoͤhnliche Leben ist voll aͤhnlicher Zufaͤlle. Sie machen ein Spiel aus, das wie alles Spiel auf Überraschung und Taͤuschung hinauslaͤuft.

Mehre Sagen des gemeinen Lebens beruhn auf einer Bemerkung dieses verkehrten Zusammenhangs. So z. B. bedeuten boͤse Traͤume Gluͤck; todtsagen langes Leben; ein Hase, der uͤber'n Weg laͤuft, Ungluͤck. Fast der ganze Aberglaube des gemeinen Volks beruht auf Deutungen dieses Spiels.

Die hoͤchste Aufgabe der Bildung ist, sich seines transcendentalen Selbst zu bemaͤchtigen, das Jch seines Jch's zugleich zu seyn. Um so weniger befremdlich ist der Mangel an vollstaͤndigem Sinn und Verstand fuͤr Andre. Ohne vollendetes Selbstverstaͤndniß wird man nie andere wahrhaft verstehn lernen.

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Humor ist eine willkuͤhrlich angenommene Manier. Das Willkuͤhrliche ist das Pikante daran: Humor ist Resultat einer freyen Vermischung des Bedingten und Unbedingten. Durch Humor wird das eigenthuͤmlich Bedingte allgemein interessant, und erhaͤlt objektiven Werth. Wo Fantasie und Urtheilskraft sich beruͤhren, entsteht Witz; wo sich Vernunft und Willkuͤhr paaren, Humor. Persifflage gehoͤrt zum Humor, ist aber um einen Grad geringer: es ist nicht mehr rein artistisch, und viel beschraͤnkter. Was Fr. Schlegel als Jronie karakterisirt, ist meinem Beduͤnken nach nichts anders als die Folge, der Karakter der Besonnenheit, der wahrhaften Gegenwart des Geistes. Schlegels Jronie scheint mir aͤchter Humor zu seyn. Mehre Rahmen sind einer Jdee vortheilhaft.

Das Unbedeutende, Gemeine, Rohe, Haͤßliche, Ungesittete, wird durch Witz allein Gesellschaftfaͤhig. Es ist gleichsam nur um des Witzes willen: seine Zweckbestimmung ist der Witz.

Um das Gemeine, wenn man nicht selbst gemein ist, mit der Kraft und mit der Leichtigkeit zu behandeln, aus der die Anmuth entspringt, muß man nichts sonderbarer finden als das Gemeine, und Sinn fuͤrs Sonderbare haben, viel darin suchen und ahnden. Auf die Art kann auch wohl ein Mensch, der in ganz andern Sphaͤren lebt, gewoͤhnliche Naturen so befriedigen, daß sie gar kein Arg aus ihm haben, und80 ihn fuͤr nichts weiter halten, als was sie unter sich liebenswuͤrdig nennen.

Wir sind auf einer Mißion: zur Bildung der Erde sind wir berufen.

Wenn uns ein Geist erschiene, so wuͤrden wir uns sogleich unsrer eignen Geistigkeit bemaͤchtigen: wir wuͤrden inspirirt seyn durch uns und den Geist zugleich. Ohne Jnspirazion keine Geistererscheinung. Jnspirazion ist Erscheinung und Gegenerscheinung, Zueignung und Mittheilung zugleich.

Der Mensch lebt, wirkt nur in der Jdee fort, durch die Erinnerung an sein Daseyn. Vor der Hand giebts kein anderes Mittel der Geisterwirkungen auf dieser Welt. Daher ist es Pflicht an die Verstorbenen zu denken. Es ist der einzige Weg in Gemeinschaft mit ihnen zu bleiben. Gott selbst ist auf keine andere Weise bey uns wirksam als durch den Glauben.

Jnteresse ist Theilnahme an dem Leiden und der Thaͤtigkeit eines Wesens. Mich interessirt etwas, wenn es mich zur Theilnahme zu erregen weiß. Kein Jnteresse ist interessanter, als was man an sich selbst nimmt; so wie der Grund einer merkwuͤrdigen Freundschaft und Liebe die Theilnahme ist, zu der mich ein Mensch reizt, der mit sich selbst beschaͤftigt ist, der mich durch seine Mittheilung gleichsam einladet, an seinem Geschaͤfte Theil zu nehmen.

81

Wer den Witz erfunden haben mag? Jede zur Besinnung gebrachte Eigenschaft, Handlungsweise unsers Geistes ist im eigentlichsten Sinn eine neuentdeckte Welt.

Der Geist erscheint immer nur in fremder, luftiger Gestalt.

Jetzt regt sich nur hie und da Geist: wann wird der Geist sich im Ganzen regen? wann wird die Menschheit in Masse sich selbst zu besinnen anfangen?

Der Mensch besteht in der Wahrheit. Giebt er die Wahrheit preis, so giebt er sich selbst preis. Wer die Wahrheit verraͤth, verraͤth sich selbst. Es ist hier nicht die Rede vom Luͤgen, sondern vom Handeln gegen Überzeugung.

Jn heitern Seelen giebts keinen Witz. Witz zeigt ein gestoͤrtes Gleichgewicht an: er ist die Folge der Stoͤrung und zugleich das Mittel der Herstellung. Den staͤrksten Witz hat die Leidenschaft. Der Zustand der Aufloͤsung aller Verhaͤltnisse, die Verzweiflung oder das geistige Sterben ist am fuͤrchterlichsten witzig.

Von einem liebenswerthen Gegenstande koͤnnen wir nicht genug hoͤren, nicht genug sprechen. Wir freuen uns uͤber jedes neue, treffende, verherrlichende Wort. Es liegt nicht an uns, daß er nicht Gegenstand aller Gegenstaͤnde wird.

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Wir halten einen leblosen Stoff wegen seiner Beziehungen, seiner Formen fest. Wir lieben den Stoff, in so fern er zu einem geliebten Wesen gehoͤrt, seine Spur traͤgt, oder Ähnlichkeit mit ihm hat.

Ein aͤchter Klub ist eine Mischung von Jnstitut und Gesellschaft. Er hat einen Zweck, wie das Jnstitut; aber keinen bestimmten, sondern einen unbestimmten, freyen: Humanitaͤt uͤberhaupt. Aller Zweck ist ernsthaft; die Gesellschaft ist durchaus froͤhlich.

Die Gegenstaͤnde der gesellschaftlichen Unterhaltung sind nichts, als Mittel der Belebung. Dieß bestimmt ihre Wahl, ihren Wechsel, ihre Behandlung. Die Gesellschaft ist nichts, als gemeinschaftliches Leben: eine untheilbare denkende und fuͤhlende Person. Jeder Mensch ist eine kleine Gesellschaft.

Jn sich zuruͤckgehn, bedeutet bey uns, von der Außenwelt abstrahiren. Bey den Geistern heißt analogisch, das irdische Leben eine innere Betrachtung, ein in sich Hineingehn, ein immanentes Wirken. So entspringt das irdische Leben aus einer urspruͤnglichen Reflexion, einem primitiven Hineingehn, Sammeln in sich selbst, das so frey ist, als unsre Reflexion. Umgekehrt entspringt das geistige Leben in dieser Welt aus einem Durchbrechen jener primitiven Reflexion. Der Geist entfaltet sich wiederum, geht aus sich selbst wieder heraus, hebt zum Theil jene Reflexion wieder auf, und in diesem Moment sagt er zum erstenmal83 Jch. Man sieht hier, wie relativ das Herausgehn und Hineingehn ist. Was wir Hineingehn nennen, ist eigentlich Herausgehn, eine Wiederannahme der anfaͤnglichen Gestalt.

Ob sich nicht etwas fuͤr die neuerdings so sehr gemißhandelten Alltagsmenschen sagen ließe? Gehoͤrt nicht zur beharrlichen Mittelmaͤßigkeit die meiste Kraft? und soll der Mensch mehr als einer aus dem Popolo seyn?

Wo aͤchter Hang zum Nachdenken, nicht bloß zum Denken dieses oder jenes Gedankens, herrschend ist, da ist auch Progreßivitaͤt. Sehr viele Gelehrte besitzen diesen Hang nicht. Sie haben schließen und folgern gelernt, wie ein Schuster das Schuhmachen, ohne je auf den Einfall zu gerathen, oder sich zu bemuͤhen, den Grund der Gedanken zu finden. Dennoch liegt das Heil auf keinem andern Wege. Bey vielen waͤhrt dieser Hang nur eine Zeitlang. Er waͤchst und nimmt ab, sehr oft mit den Jahren, oft mit dem Fund eines Systems, das sie nur suchten, um der Muͤhe des Nachdenkens ferner uͤberhoben zu seyn.

Jrrthum und Vorurtheil sind Lasten, indirekt reizende Mittel fuͤr den Selbstthaͤtigen, jeder Last gewachsenen. Fuͤr den Schwachen sind sie positiv schwaͤchende Mittel.

Das Volk ist eine Jdee. Wir sollen ein Volk84 werden. Ein vollkommener Mensch ist ein kleines Volk. Ächte Popularitaͤt ist das hoͤchste Ziel des Menschen.

Jede Stufe der Bildung faͤngt mit Kindheit an. Daher ist der am meisten gebildete, irdische Mensch dem Kinde so aͤhnlich.

Jeder geliebte Gegenstand ist der Mittelpunkt eines Paradieses.

Das Jnteressante ist, was mich, nicht um mein selbst willen, sondern nur als Mittel, als Glied, in Bewegung setzt. Das Klassische stoͤrt mich gar nicht; es afficirt mich nur indirect durch mich selbst. Es ist nicht fuͤr mich da, als klassisch, wenn ich es nicht setze, als ein solches, das mich nicht afficiren wuͤrde, wenn ich mich nicht selbst zur Hervorbringung desselben fuͤr mich, bestimmte, anregte; wenn ich nicht ein Stuͤck von mir selbst losrisse, und diesen Keim sich auf eine eigenthuͤmliche Weise vor meinen Augen entwickeln ließe. Eine Entwickelung, die oft nur einen Moment bedarf, und mit der sinnlichen Wahrnehmung des Objects zusammen faͤllt, so daß ich ein Object vor mir sehe, in welchem das gemeine Object und das Jdeal, wechselseitig durchdrungen, nur Ein wunderbares Jndividuum bilden.

Formeln fuͤr Kunstindividuen finden, durch die sie im eigentlichsten Sinn erst verstanden werden, macht85 das Geschaͤft des artistischen Kritikers aus, dessen Arbeiten die Geschichte der Kunst vorbereiten.

Je verworrener ein Mensch ist, man nennt die Verworrenen oft Dummkoͤpfe, desto mehr kann durch fleißiges Selbststudium aus ihm werden; dahingegen die geordneten Koͤpfe trachten muͤssen, wahre Gelehrte, gruͤndliche Encyklopaͤdisten zu werden. Die Verworrenen haben im Anfang mit maͤchtigen Hindernissen zu kaͤmpfen, sie dringen nur langsam ein, sie lernen mit Muͤhe arbeiten: dann aber sind sie auch Herrn und Meister auf immer. Der Geordnete kommt geschwind hinein, aber auch geschwind heraus. Er erreicht bald die zweyte Stufe: aber da bleibt er auch gewoͤhnlich stehn. Jhm werden die letzten Schritte beschwerlich, und selten kann er es uͤber sich gewinnen, schon bey einem gewissen Grade von Meisterschaft sich wieder in den Zustand eines Anfaͤngers zu versetzen. Verworrenheit deutet auf Überfluß an Kraft und Vermoͤgen, aber mangelhafte Verhaͤltnisse; Bestimmtheit, auf richtige Verhaͤltnisse, aber sparsames Vermoͤgen und Kraft. Daher ist der Verworrne so progressiv, so perfektibel, dahingegen der Ordentliche so fruͤh als Philister aufhoͤrt. Ordnung und Bestimmtheit allein ist nicht Deutlichkeit. Durch Selbstbearbeitung kommt der Verworrene zu jener himmlischen Durchsichtigkeit, zu jener Selbsterleuchtung, die der Geordnete so selten erreicht. Das wahre Genie verbindet diese Extreme. Es theilt die Geschwindigkeit mit dem letzten und die Fuͤlle mit dem ersten.

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Das Jndividuum interessirt nur, daher ist alles Klassische nicht individuell.

Der wahre Brief ist seiner Natur nach poetisch.

Witz, als Prinzip der Verwandtschaften ist zugleich das menstruum universale. Witzige Vermischungen sind z. B. Jude und Kosmopolit, Kindheit und Weisheit, Raͤuberey und Edelmuth, Tugend und Hetaͤrie, Üeberfluß und Mangel an Urtheilskraft in der Naivetaͤt und so fort ins Unendliche.

Der Mensch erscheint am wuͤrdigsten, wenn sein erster Eindruck der Eindruck eines absolut witzigen Einfalls ist: nemlich Geist und bestimmtes Jndividuum zugleich zu seyn. Einen jeden vorzuͤglichen Menschen muß gleichsam ein Geist zu durchschweben scheinen, der die sichtbare Erscheinung idealisch parodirt. Bey manchen Menschen ist es als ob dieser Geist der sichtbaren Erscheinung ein Gesicht schnitte.

Gesellschaftstrieb ist Organisationstrieb. Durch diese geistige Assimilazion entsteht oft aus gemeinen Bestandtheilen eine gute Gesellschaft um einen geistvollen Menschen her.

Das Jnteressante ist die Materie, die sich um die Schoͤnheit bewegt. Wo Geist und Schoͤnheit ist,87 haͤuft sich in konzentrischen Schwingungen das Beste aller Naturen.

Der Deutsche ist lange das Haͤnschen gewesen. Er duͤrfte aber wohl bald der Hans aller Haͤnse werden. Es geht ihm, wie es vielen dummen Kindern gehn soll: er wird leben und klug seyn, wenn seine fruͤhklugen Geschwister laͤngst vermodert sind, und er nun allein Herr im Hause ist.

Das beste an den Wissenschaften ist ihr philosophisches Jngrediens, wie das Leben am organischen Koͤrper. Man dephilosophire die Wissenschaften: was bleibt uͤbrig? Erde, Luft und Wasser.

Menschheit ist eine humoristische Rolle.

Unsere alte Nazionalitaͤt, war, wie mich duͤnkt, aͤcht roͤmisch. Natuͤrlich, weil wir auf eben dem Wege wie die Roͤmer entstanden; und so waͤre der Name, roͤmisches Reich, warlich ein artiger, sinnreicher Zufall. Deutschland ist Rom, als Land. Ein Land ist ein großer Ort mit seinen Gaͤrten. Das Kapitol ließe sich vielleicht nach dem Gaͤnsegeschrey vor den Galliern bestimmen. Die instinktartige Universalpolitik und Tendenz der Roͤmer liegt auch im Deutschen Volk. Das Beste, was die Franzosen in der Revoluzion gewonnen haben, ist eine Porzion Deutschheit.

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Gerichtshoͤfe, Theater, Hof, Kirche, Regierung, oͤffentliche Zusammenkuͤnfte, Akademieen, Kollegien u.s.w. sind gleichsam die speciellen, innern Organe des mystischen Staatsindividuums.

Alle Zufaͤlle unsers Lebens sind Materialien, aus denen wir machen koͤnnen, was wir wollen. Wer viel Geist hat, macht viel aus seinem Leben. Jede Bekanntschaft, jeder Vorfall, waͤre fuͤr den durchaus Geistigen erstes Glied einer unendlichen Reihe, Anfang eines unendlichen Romans.

Der edle Kaufmannsgeist, der aͤchte Großhandel, hat nur im Mittelalter und besonders zur Zeit der deutschen Hanse gebluͤht. Die Medicis, die Fugger waren Kaufleute, wie sie seyn sollten. Unsere Kaufleute im Ganzen, die groͤßten nicht ausgenommen, sind nichts als Kraͤmer.

Eine Übersetzung ist entweder grammatisch, oder veraͤndernd, oder mythisch. Mythische Übersetzungen sind Übersetzungen im hoͤchsten Styl. Sie stellen den reinen, vollendeten Karakter des individuellen Kunstwerks dar. Sie geben uns nicht das wirkliche Kunstwerk, sondern das Jdeal desselben. Noch existirt wie ich glaube, kein ganzes Muster derselben. Jm Geist mancher Kritiken und Beschreibungen von Kunstwerken trifft man aber helle Spuren davon. Es gehoͤrt ein Kopf dazu, in dem sich poetischer Geist und philosophischer Geist in ihrer ganzen Fuͤlle durchdrungen haben. 89Die griechische Mythologie ist zum Theil eine solche Übersetzung einer Nazionalreligion. Auch die moderne Madonna ist ein solcher Mythus.

Grammatische Übersetzungen sind die Übersetzungen im gewoͤhnlichen Sinn. Sie erfordern sehr viel Gelehrsamkeit, aber nur diskursive Faͤhigkeiten.

Zu den veraͤndernden Übersetzungen gehoͤrt, wenn sie aͤcht seyn sollen, der hoͤchste poetische Geist. Sie fallen leicht ins Travestiren, wie Buͤrgers Homer in Jamben, Popens Homer, die Franzoͤsischen Übersetzungen insgesamt. Der wahre Übersetzer dieser Art muß in der That der Kuͤnstler selbst seyn, und die Jdee des Ganzen beliebig so oder so geben koͤnnen. Er muß der Dichter des Dichters seyn und ihn also nach seiner und des Dichters eigner Jdee zugleich reden lassen koͤnnen. Jn einem aͤhnlichen Verhaͤltnisse steht der Genius der Menschheit mit jedem einzelnen Menschen.

Nicht bloß Buͤcher, alles kann auf diese drey Arten uͤbersetzt werden.

Jm hoͤchsten Schmerz tritt zuweilen eine Paralysis der Empfindsamkeit ein. Die Seele zersetzt sich. Daher der toͤdliche Frost, die freye Denkkraft, der schmetternde unaufhoͤrliche Witz dieser Art von Verzweiflung. Keine Neigung ist mehr vorhanden; der Mensch steht wie eine verderbliche Macht allein. Unverbunden mit der uͤbrigen Welt verzehrt er sich allmaͤhlig selbst, und ist seinem Princip nach Misanthrop und Misotheos.

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Unsere Sprache ist entweder mechanisch, atomistisch, oder dynamisch. Die aͤcht poetische Sprache soll aber organisch, lebendig seyn. Wie oft fuͤhlt man die Armuth an Worten, um mehre Jdeen mit Einem Schlage zu treffen.

Dichter und Priester waren im Anfang Eins, und nur spaͤtere Zeiten haben sie getrennt. Der aͤchte Dichter ist aber immer Priester, so wie der aͤchte Priester immer Dichter geblieben. Und sollte nicht die Zukunft den alten Zustand der Dinge wieder herbeyfuͤhren?

Schriften sind die Gedanken des Staats, die Archive sein Gedaͤchtniß.

Je mehr sich unsere Sinne verfeinern, desto faͤhiger werden sie zur Unterscheidung der Jndividuen. Der hoͤchste Sinn waͤre die hoͤchste Empfaͤnglichkeit fuͤr eigenthuͤmliche Natur. Jhm entspraͤche das Talent der Fixirung des Jndividuums, dessen Fertigkeit und Energie relativ ist. Wenn der Wille sich in Beziehung auf diesen Sinn aͤußert, so entstehn die Leidenschaften fuͤr oder gegen Jndividualitaͤten: Liebe und Haß. Die Meisterschaft im Spiel seiner eignen Rolle verdankt man der Richtung dieses Sinns auf sich selbst bey herrschender Vernunft.

Nichts ist zur wahren Religiositaͤt unentbehrlicher als ein Mittelglied, das uns mit der Gottheit verbindet. 91Unmittelbar kann der Mensch schlechterdings nicht mit derselben in Verhaͤltniß stehn. Jn der Wahl dieses Mittelglieds muß der Mensch durchaus frey seyn. Der mindeste Zwang hierin schadet seiner Religion. Die Wahl ist karakteristisch, und es werden mithin die gebildeten Menschen ziemlich gleiche Mittelglieder waͤhlen, dahingegen der Ungebildete gewoͤhnlich durch Zufall hier bestimmt werden wird. Da aber so wenig Menschen einer freyen Wahl uͤberhaupt faͤhig sind, so werden manche Mittelglieder allgemeiner werden; sey es durch Zufall, durch Associazion, oder ihre besondre Schicklichkeit dazu. Auf diese Art entstehn Landesreligionen. Je selbstaͤndiger der Mensch wird, desto mehr vermindert sich die Quantitaͤt des Mittelglieds, die Qualitaͤt verfeinert sich, und seine Verhaͤltnisse zu demselben werden mannichfaltiger und gebildeter: Fetische, Gestirne, Thiere, Helden, Goͤtzen, Goͤtter, Ein Gottmensch. Man sieht bald, wie relativ diese Wahlen sind, und wird unvermerkt auf die Jdee getrieben, daß das Wesen der Religion wohl nicht von der Beschaffenheit des Mittlers abhange, sondern lediglich in der Ansicht desselben, in den Verhaͤltnissen zu ihm bestehe.

Es ist ein Goͤtzendienst im weitern Sinn, wenn ich diesen Mittler in der That fuͤr Gott selbst ansehe. Es ist Jrreligion, wenn ich gar keinen Mittler annehme; und in so fern ist Aberglaube und Goͤtzendienst, und Unglaube oder Theismus, den man auch aͤltern Judaism nennen kann, beydes Jrreligion. Hingegen ist Atheism nur Negazion aller Religion uͤberhaupt,92 und hat also gar nichts mit der Religion zu schaffen. Wahre Religion ist, die jenen Mittler als Mittler annimmt, ihn gleichsam fuͤr das Organ der Gottheit haͤlt, fuͤr ihre sinnliche Erscheinung. Jn dieser Hinsicht erhielten die Juden zur Zeit der Babylonischen Gefangenschaft eine aͤcht religioͤse Tendenz, eine religioͤse Hoffnung, einen Glauben an eine kuͤnftige Religion, der sie auf eine wunderbare Weise von Grund aus umwandelte, und sie in der merkwuͤrdigsten Bestaͤndigkeit bis auf unsre Zeiten erhielt.

Die wahre Religion scheint aber bei einer naͤhern Betrachtung abermals antinomisch getheilt in Pantheismus und Monotheismus. Jch bediene mich hier einer Licenz, indem ich Pantheism nicht im gewoͤhnlichen Sinn nehme, sondern darunter die Jdee verstehe, daß alles Organ der Gottheit, Mittler seyn koͤnne, indem ich es dazu erhebe: so wie Monotheism im Gegentheil den Glauben bezeichnet, daß es nur Ein solches Organ in der Welt fuͤr uns gebe, das allein der Jdee eines Mittlers angemessen sey, und wodurch Gott allein sich vernehmen lasse, welches ich also zu waͤhlen durch mich selbst genoͤthigt werde: denn ohnedem wuͤrde der Monotheism nicht wahre Religion seyn.

So unvertraͤglich auch beyde zu seyn scheinen, so laͤßt sich doch ihre Vereinigung bewerkstelligen, wenn man den monotheistischen Mittler zum Mittler der Mittelwelt des Pantheism macht, und diese gleichsam durch ihn centrirt, so daß beyde einander jedoch auf verschiedene Weise nothwendig machen.

93

Das Gebet, oder der religioͤse Gedanke besteht also aus einer dreyfach aufsteigenden, untheilbaren Abstrakzion oder Setzung. Jeder Gegenstand kann dem Religioͤsen ein Tempel im Sinn der Auguren seyn. Der Geist dieses Tempels ist der allgegenwaͤrtige Hohepriester, der monotheistische Mittler, welcher allein im unmittelbaren Verhaͤltnisse mit der Gottheit steht.

Die Basis aller ewigen Verbindung ist eine absolute Tendenz nach allen Richtungen. Darauf beruht die Macht der Hierarchie, der aͤchten Maconnerie, und des unsichtbaren Bundes aͤchter Denker. Hierin liegt die Moͤglichkeit einer Universalrepublik, welche die Roͤmer bis zu den Kaisern zu realisiren begonnen hatten. Zuerst verließ August diese Basis, und Hadrian zerstoͤrte sie ganz.

Fast immer hat man den Anfuͤhrer, den ersten Beamten des Staats, mit dem Repraͤsentanten des Genius der Menschheit vermengt, der zur Einheit der Gesellschaft oder des Volks gehoͤrt. Jm Staat ist alles Schauhandlung, das Leben des Volks ist Schauspiel; mithin muß auch der Geist des Volks sichtbar seyn. Dieser sichtbare Geist kommt entweder, wie im tausendjaͤhrigen Reiche, ohne unser Zuthun, oder er wird einstimmig durch ein lautes oder stilles Einverstaͤndniß gewaͤhlt.

Es ist unwidersprechliche Thatsache, daß die meisten Fuͤrsten nicht eigentlich Fuͤrsten, sondern gewoͤhnlich mehr oder minder eine Art von Repraͤsentanten94 des Genius ihrer Zeit waren, und die Regierung mehrentheils, wie billig, in subalternen Haͤnden sich befand.

Ein vollkommner Repraͤsentant des Genius der Menschheit duͤrfte leicht der aͤchte Priester und der Dichter ξαϒ εχοξηϒ seyn.

Unser Alltagsleben besteht aus lauter erhaltenden, immer wiederkehrenden Verrichtungen. Dieser Zirkel von Gewohnheiten ist nur Mittel zu einem Hauptmittel, unserm irdischen Daseyn uͤberhaupt, das aus mannichfaltigen Arten zu exisciren gemischt ist.

Philister leben nur ein Alltagsleben. Das Hauptmittel scheint ihr einziger Zweck zu seyn. Sie thun das alles, um des irdischen Lebens willen; wie es scheint und nach ihren eignen Äußerungen scheinen muß. Poesie mischen sie nur zur Nothdurft unter, weil sie nun einmal an eine gewisse Unterbrechung ihres taͤglichen Laufs gewoͤhnt sind. Jn der Regel erfolgt diese Unterbrechung alle sieben Tage, und koͤnnte ein poetisches Septanfieber heißen. Sonntags ruht die Arbeit, sie leben ein bißchen besser als gewoͤhnlich und dieser Sonntagsrausch endigt sich mit einem etwas tiefern Schlafe als sonst; daher auch Montags alles noch einen raschern Gang hat. Jhre parties de plaisir muͤssen konvenzionell, gewoͤhnlich, modisch seyn, aber auch ihr Vergnuͤgen verarbeiten sie, wie alles, muͤhsam und foͤrmlich.

Den hoͤchsten Grad seines poetischen Daseyns erreicht der Philister bey einer Reise, Hochzeit, Kindtaufe,95 und in der Kirche. Hier werden seine kuͤhnsten Wuͤnsche befriedigt, und oft uͤbertroffen.

Jhre sogenannte Religion wirkt blos, wie ein Opiat: reizend, betaͤubend, Schmerzen aus Schwaͤche stillend. Jhre Fruͤh - und Abendgebete sind ihnen, wie Fruͤhstuͤck und Abendbrot, nothwendig. Sie koͤnnen´s nicht mehr lassen. Der derbe Philister stellt sich die Freuden des Himmels unter dem Bilde einer Kirmeß, einer Hochzeit, einer Reise oder eines Balls vor: der sublimirte macht aus dem Himmel eine praͤchtige Kirche mit schoͤner Musik, vielem Gepraͤnge, mit Stuͤhlen fuͤr das gemeine Volk parterre, und Kapellen und Emporkirchen fuͤr die Vornehmern.

Die schlechtesten unter ihnen sind die revoluzionairen Philister, wozu auch der Hefen der fortgehenden Koͤpfe, die habsuͤchtige Race gehoͤrt.

Grober Eigennutz ist das nothwendige Resultat armseliger Beschraͤnktheit. Die gegenwaͤrtige Sensazion ist die lebhafteste, die hoͤchste eines Jaͤmmerlings. Über diese kennt er nichts hoͤheres. Kein Wunder, daß der durch die aͤußern Verhaͤltnisse par force dressirte Verstand nur der listige Sklav eines solchen stumpfen Herrn ist, und nur fuͤr dessen Luͤste sinnt und sorgt.

Jn den ersten Zeiten der Entdeckung der Urtheilskraft war jedes neue Urtheil ein Fund. Der Werth dieses Fundes stieg, je anwendbarer, je fruchtbarer dieses Urtheil war. Zu Sentenzen, die uns jetzt sehr gemein vorkommen, gehoͤrte damals noch ein ungewoͤhnlicher96 Grad von Leben des Verstandes. Man mußte Genie und Scharfsinn aufbieten, um mittelst des neuen Werkzeugs neue Verhaͤltnisse zu finden. Die Anwendung desselben auf die eigenthuͤmlichsten, interessantesten und allgemeinsten Seiten der Menschheit mußte vorzuͤgliche Bewunderung erregen und die Aufmerksamkeit aller guten Koͤpfe auf sich ziehn. So entstanden die gnomischen Massen, die man zu allen Zeiten und bey allen Voͤlkern so hoch geschaͤtzt hat. Es waͤre leicht moͤglich, daß unsere jetzigen genialischen Entdeckungen im Laufe der Zeiten ein aͤhnliches Schicksal traͤfe. Es koͤnnte leicht eine Zeit kommen, wo das alles so gemein waͤre, wie jetzt Sittenspruͤche, und neue, erhabenere Entdeckungen den rastlosen Geist der Menschen beschaͤftigten.

Ein Gesetz ist seinem Begriffe nach, wirksam. Ein unwirksames Gesetz ist kein Gesetz. Gesetz ist ein kausaler Begriff, Mischung von Kraft und Gedanken. Daher ist man sich nie eines Gesetzes, als solchen, bewußt. Jn so fern man an ein Gesetz denkt, ist es nur ein Satz d. h. ein Gedanke mit einem Vermoͤgen verbunden. Ein widerstehender, ein beharrlicher Gedanke, ist ein strebender Gedanke und vermittelt das Gesetz und den bloßen Gedanken.

Eine allzugroße Dienstfertigkeit der Organe wuͤrde dem irdischen Daseyn gefaͤhrlich seyn. Der Geist in seinem jetzigen Zustande wuͤrde eine zerstoͤrende Anwendung davon machen. Eine gewisse Schwere des97 Organs hindert ihn an allzuwillkuͤhrlicher Thaͤtigkeit, und reizt ihn zu einer regelmaͤßigen Mitwirkung, wie sie sich fuͤr die irdische Welt schickt. Es ist unvollkommener Zustand desselben, daß ihn diese Mitwirkung so ausschließlich an diese Welt bindet. Daher ist sie ihrem Prinzip nach terminirt.

Die Rechtslehre entspricht der Physiologie, die Moral der Psychologie. Die Vernunftgesetze der Rechts - und Sittenlehre in Naturgesetze verwandelt, geben die Grundsaͤtze der Physiologie und Psychologie.

Flucht des Gemeingeistes ist Tod.

Jn den meisten Religionssystemen werden wir als Glieder der Gottheit betrachtet, die, wenn sie nicht den Jmpulsionen des Ganzen gehorchen wenn sie auch nicht absichtlich gegen die Gesetze des Ganzen agiren, sondern nur ihren eignen Gang gehn und nicht Glieder seyn wollen, von der Gottheit aͤrztlich behandelt, und entweder schmerzhaft geheilt, oder gar abgeschnitten werden.

Jede spezifische Jnzitazion verraͤth einen spezifischen Sinn. Je neuer sie ist, desto plumper, aber desto staͤrker; je bestimmter, je ausgebildeter, mannichfacher sie wird, desto schwaͤcher. So erregte der erste Gedanke an Gott eine gewaltsame Emotion im ganzen Jndividuum; so die erste Jdee von Philosophie, von Menschheit, Weltall, u. s. w.

98

Jnnigste Gemeinschaft aller Kenntnisse, scientifische Republik, ist der hohe Zweck der Gelehrten.

Sollte nicht die Distanz einer besondern Wissenschaft von der allgemeinen, und so der Rang der Wissenschaften untereinander, nach der Zahl ihrer Grundsaͤtze zu rechnen seyn? Je weniger Grundsaͤtze, desto hoͤher die Wissenschaft.

Man versteht das Kuͤnstliche gewoͤhnlich besser, als das Natuͤrliche. Es gehoͤrt mehr Geist zum Einfachen, als zum Complizirten, aber weniger Talent.

Werkzeuge armiren den Menschen. Man kann wohl sagen, der Mensch versteht eine Welt hervorzubringen, es mangelt ihm nur am gehoͤrigen Apparat, an der verhaͤltnißmaͤßigen Armatur seiner Sinneswerkzeuge. Der Anfang ist da. So liegt das Prinzip eines Kriegsschiffes in der Jdee des Schiffbaumeisters, der durch Menschenhaufen und gehoͤrige Werkzeuge und Materialien diesen Gedanken zu verkoͤrpern vermag, indem er durch alles dieses sich gleichsam zu einer ungeheuren Maschine macht. So erforderte die Jdee eines Augenblicks oft ungeheure Organe, ungeheure Massen von Materien, und der Mensch ist also, wo nicht actu, doch potentia Schoͤpfer.

Jn jeder Beruͤhrung entsteht eine Substanz, deren Wirkung so lange, als die Beruͤhrung dauert. 99Dies ist der Grund aller synthetischen Modifikazionen des Jndividuums. Es giebt aber einseitige und wechselseitige Beruͤhrungen. Jene begruͤnden diese.

Je unwissender man von Natur ist, desto mehr Kapazitaͤt fuͤr das Wissen. Jede neue Erkenntniß macht einen viel tiefern, lebendigern Eindruck. Man bemerkt dieses deutlich beym Eintritt in eine Wissenschaft. Daher verliert man durch zu vieles Studiren an Kapazitaͤt. Es ist eine der ersten Unwissenheit entgegengesetzte Unwissenheit. Jene ist Unwissenheit aus Mangel, diese aus Überfluß der Erkenntnisse. Letztere pflegt die Symptome des Skeptizismus zu haben. Es ist aber ein unaͤchter Skeptizismus, aus indirekter Schwaͤche unsers Erkenntnißvermoͤgens. Man ist nicht im Stande die Masse zu durchdringen, und sie in bestimmter Gestalt vollkommen zu beleben: die plastische Kraft reicht nicht zu. So wird der Erfindungsgeist junger Koͤpfe und der Schwaͤrmer, so wie der gluͤckliche Griff des geistvollen Anfaͤngers oder Layen leicht erklaͤrbar.

Welten bauen genuͤgt dem tiefer dringenden Sinn nicht:
Aber ein liebendes Herz saͤttigt den strebenden Geist.

Wir stehen in Verhaͤltnissen mit allen Theilen des Universums, so wie mit Zukunft und Vorzeit. Es haͤngt nur von der Richtung und Dauer unsrer100 Aufmerksamkeit ab, welches Verhaͤltniß wir vorzuͤglich ausbilden wollen, welches fuͤr uns vorzuͤglich wichtig, und wirksam werden soll. Eine aͤchte Methodik dieses Verfahrens duͤrfte nichts weniger, als jene laͤngstgewuͤnschte Erfindungskunst seyn; es duͤrfte wohl mehr noch, als diese seyn. Der Mensch verfaͤhrt stuͤndlich nach ihren Gesetzen und die Moͤglichkeit dieselben durch genialische Selbstbeobachtung zu finden ist unzweifelhaft.

Der Geschichtschreiber organisirt historische Wesen. Die Data der Geschichte sind die Masse, der der Geschichtsschreiber Form giebt, durch Belebung. Mithin steht auch die Geschichte unter den Grundsaͤtzen der Belebung und Organisazion uͤberhaupt, und bevor nicht diese Grundsaͤtze da sind, giebt es auch keine aͤchten historischen Kunstgebilde, sondern nichts als hie und da Spuren zufaͤlliger Belebungen, wo unwillkuͤhrliches Genie gewaltet hat.

Beynah alles Genie war bisher einseitig, Resultat einer krankhaften Konstituzion. Die eine Klasse hatte zu viel aͤußern, die andere zu viel innern Sinn. Selten gelang der Natur ein Gleichgewicht zwischen beiden, eine vollendete genialische Konstituzion. Durch Zufaͤlle entstand oft eine vollkommene Proporzion, aber nie konnte diese von Dauer seyn, weil sie nicht durch den Geist aufgefaßt und fixirt ward: es blieb bey gluͤcklichen Augenblicken. Das erste Genie, das sich selbst durchdrang, fand hier den typischen Keim einer unermeßlichen Welt; es machte eine Entdeckung,101 die die merkwuͤrdigste in der Weltgeschichte seyn mußte, denn es beginnt damit eine ganz neue Epoche der Menschheit, und auf dieser Stufe wird erst wahre Geschichte aller Art moͤglich: denn der Weg, der bisher zuruͤckgelegt wurde, macht nun ein eignes, durchaus erklaͤrbares Ganzes aus. Jene Stelle außer der Welt ist gegeben, und Archimedes kann nun sein Versprechen erfuͤllen.

Vor der Abstrakzion ist alles eins, aber eins wie Chaos; nach der Abstrakzion ist wieder alles vereinigt, aber diese Vereinigung ist eine freye Verbindung selbststaͤndiger, selbstbestimmter Wesen. Aus einem Haufen ist eine Gesellschaft geworden, das Chaos ist in eine mannichfaltige Welt verwandelt.

Wenn die Welt gleichsam ein Niederschlag aus der Menschennatur ist, so ist die Goͤtterwelt eine Sublimazion derselben. Beyde geschehen uno actu. Keine Praͤzipitazion ohne Sublimazion. Was dort an Agilitaͤt verloren geht, wird hier gewonnen.

Wo Kinder sind, da ist ein goldnes Zeitalter.

Sicherheit vor sich selbst und den unsichtbaren Maͤchten, war die Basis der bisherigen geistlichen Staaten.

Der Gang der Approximazion ist aus zunehmenden Progressen und Regressen zusammengesetzt. Beide102 retardiren, beyde beschleunigen, beyde fuͤhren zum Ziel. So scheint sich im Roman der Dichter bald dem Spiel zu naͤhern, bald wieder zu entfernen, und nie ist es naͤher, als wenn es am entferntesten zu seyn scheint.

Ein Verbrecher kann sich uͤber Unrecht nicht beklagen, wenn man ihn hart und unmenschlich behandelt. Sein Verbrechen war ein Eintritt ins Reich der Gewalt, der Tyrannen. Maß und Proporzion giebt es nicht in dieser Welt, daher darf ihn die Unverhaͤltnißmaͤßigkeit der Gegenwirkung nicht befremden.

Die Fabellehre enthaͤlt die Geschichte der urbildlichen Welt, sie begreift Vorzeit, Gegenwart und Zukunft.

Wenn der Geist heiligt, so ist jedes aͤchte Buch Bibel. Aber nur selten wird ein Buch um des Buchs willen geschrieben, und wenn Geist gleich edlem Metall ist, so sind die meisten Buͤcher Ephrcimiten. Freylich muß jedes nuͤtzliche Buch wenigstens stark legirt seyn. Rein ist das edle Metall in Handel und Wandel nicht zu gebrauchen. Vielen wahren Buͤchern geht es wie den Goldklumpen in Jrland. Sie dienen lange Jahre nur als Gewichte.

Manche Buͤcher sind laͤnger als sie scheinen. Sie haben in der That kein Ende. Die Langeweile die sie erregen, ist wahrhaft absolut und unendlich. Musterhafte103 Beyspiele dieser Art haben die Herren Heydenreich, Jacob, Abicht und Poͤlitz aufgestellt. Hier ist ein Stock, den jeder mit seinen Bekannten der Art vergroͤßern kann.

Es sind viele antirevoluzionaͤre Buͤcher fuͤr die Revoluzion geschrieben worden. Burke hat aber ein revoluzionaͤres Buch gegen die Revoluzion geschrieben.

Die meisten Beobachter der Revoluzion, besonders die Klugen und Vornehmen, haben sie fuͤr eine lebensgefaͤhrliche und ansteckende Krankheit erklaͤrt. Sie sind bey den Symptomen stehn geblieben und haben diese auf eine mannichfaltige Weise unter einander geworfen und ausgelegt. Manche haben es fuͤr ein bloß lokales Übel gehalten. Die genievollsten Gegner drangen auf Kastrazion. Sie merkten wohl, daß diese angebliche Krankheit nichts als Krise der eintretenden Pubertaͤt sey.

Wie wuͤnschenswerth ist es nicht, Zeitgenoß eines wahrhaft großen Mannes zu seyn! Die jetzige Majoritaͤt der kultivirten Deutschen ist dieser Meynung nicht. Sie ist fein genug, um alles Große wegzulaͤugnen, und befolgt das Planirungssystem. Wenn das Kopernikanische System nur nicht so fest staͤnde, so wuͤrde es ihnen sehr bequem seyn, Sonne und Gestirn wieder zu Jrwischen und die Erde zum Universum zu machen. Daher wird Goethe, der jetzt der wahre Statthalter des poetischen Geistes auf Erden104 ist, so gemein als moͤglich behandelt und schnoͤde angesehn, wenn er die Erwartungen des gewoͤhnlichen Zeitvertreibs nicht befriedigt, und sie einen Augenblick in Verlegenheit gegen sich selbst setzt. Ein interessantes Symptom dieser direkten Schwaͤche der Seele ist die Aufnahme, welche Herrmann und Dorothea im Allgemeinen gefunden hat.

Die Geognosten glauben, daß der physische Schwerpunkt unter Fetz und Marocco liege. Goethe als Anthropognost meynt im Meister, der intellektuelle Schwerpunkt liege unter der Deutschen Nazion.

Menschen zu beschreiben ist deswegen bis jetzt unmoͤglich gewesen, weil man nicht gewußt hat, was ein Mensch ist. Wenn man erst wissen wird, was ein Mensch ist, so wird man auch Jndividuen wahrhaft genetisch beschreiben koͤnnen.

Nichts ist poetischer, als Erinnerung und Ahndung oder Vorstellung der Zukunft. Die Vorstellungen der Vorzeit ziehn uns zum Sterben, zum Verfliegen an. Die Vorstellungen der Zukunft treiben uns zum Beleben, zum Verkuͤrzen, zur assimilirenden Wirksamkeit. Daher ist alle Erinnerung wehmuͤthig, alle Ahndung freudig. Jene maͤßigt die allzugroße Lebhaftigkeit, diese erhebt ein zu schwaches Leben. Die gewoͤhnliche Gegenwart verknuͤpft Vergangenheit und Zukunft durch Beschraͤnkung. Es entsteht Kontiguitaͤt, durch Erstarrung Krystallisazion. Es giebt aber105 eine geistige Gegenwart, die beyde durch Aufloͤsung identifizirt, und diese Mischung ist das Element, die Atmosphaͤre des Dichters.

Die Menschenwelt ist das gemeinschaftliche Organ der Goͤtter. Poesie vereinigt sie, wie uns.

Schlechthin ruhig erscheint, was in Ruͤcksicht der Außenwelt schlechthin unbeweglich ist. So mannichfach es sich auch veraͤndern mag, so bleibt es doch in Beziehung auf die Außenwelt immer in Ruhe. Dieser Satz bezieht sich auf alle Selbstmodifikazionen. Daher erscheint das Schoͤne so ruhig. Alles Schoͤne ist ein selbsterleuchtetes, vollendetes Jndividuum.

Jede Menschengestalt belebt einen individuellen Keim im Betrachtenden. Dadurch wird diese Anschauung unendlich, sie ist mit dem Gefuͤhl einer unerschoͤpflichen Kraft verbunden, und darum so absolut belebend. Jndem wir uns selbst betrachten, beleben wir uns selbst.

Ohne diese sichtbare und fuͤhlbare Unsterblichkeit wuͤrden wir nicht wahrhaft denken koͤnnen.

Diese wahrnehmbare Unzulaͤnglichkeit des irdischen Koͤrpergebildes zum Ausdruck und Organ des inwohnenden Geistes, ist der unbestimmte, treibende Gedanke, der die Basis aller aͤchten Gedanken wird, der Anlaß zur Evoluzion der Jntelligenz, dasjenige, was uns zur Annahme einer intelligiblen Welt und einer unendlichen Reihe von Ausdruͤcken und Organen106 jedes Geistes, deren Exponent oder Wurzel seine Jndividualitaͤt ist, noͤthigt.

Je bornirter ein System ist, desto mehr wird es den Weltklugen gefallen. So hat das System der Materialisten, die Lehre des Helvetius und auch Locke den meisten Beyfall unter dieser Klasse erhalten. So wird Kant jetzt noch immer mehr Anhaͤnger als Fichte finden.

Die Kunst Buͤcher zu schreiben ist noch nicht erfunden. Sie ist aber auf dem Punkt erfunden zu werden. Fragmente dieser Art sind litterarische Saͤmereyen. Es mag freylich manches taube Koͤrnchen darunter seyn: indessen, wenn nur einiges aufgeht!

107

III. Elegien aus dem Griechischen.

Viele Gattungen der alten Poesie sind in dem Zeitalter, auf der Stelle, wo sie sich bildeten und bluͤhten, auch auf ewig verbluͤht. Jhr Geist hat sich nach den Naturgesetzen der Metempsychose, welche auch im Reiche der Kunst gilt, in andre Gestalten verlohren, oder er ist der Erde gen Olymp entflohen, wie einst die Scham und die Gerechtigkeit vor den wachsenden Greueln des eisernen Geschlechts. Andern Gebilden der Kunst ward mehr als eine Woge in der ewigen Fluth und Ebbe des Lebens zu Theil. Sie durchlebten mehr als einen Sommer der Bildung, und oft entsproßte dem Stamm, der schon verdorrt schien, ein neues Gewaͤchs, dem alten aͤhnlich, ja gleich, und doch verwandelt.

Naͤchst dem Epos hat sich diese Metamorphose der sich selbst verjuͤngenden Poesie nirgends schoͤner offenbart und bewaͤhrt als in der Elegie. So groß war die Lebenskraft oder die Bildsamkeit dieser vielgestalteten Dichtart, daß sie seit ihrem Entstehen fast nie aufgehoͤrt hat zu bluͤhen, und daß sie auch noch,108 nachdem so viele andre Dichtarten untergegangen, oder in Mißbildung entartet waren, den Geist der feinsten und edelsten Bildung athmete, und das Schoͤnste und Reizendste was das Leben und die Kunst dieses Zeitalters noch hatte und haben konnte, in zierlichen Formen fuͤr die Nachwelt bewahrte. Auch die Priester andrer Dichtarten huldigten ihr nicht selten, und eine Geschichte der Griechischen Elegie wuͤrde nur wenige der großen Stifter und Heroen der Poesie nicht nennen duͤrfen.

Ja so allgemein ist ihr Karakter, so weltbuͤrgerlich ihre Gesinnung, daß sie es ungeachtet ihrer zarten Weichheit doch nicht verschmaͤhte, die haͤrtere Sprache des großen Roms zu reden, ja sogar aus dem suͤdlichen Mutterlande nach Norden zu wandern. Die Roͤmer glaubten in dieser Kunstart den Griechen naͤher gekommen zu seyn, und sind ihren Vorbildern hier wenigstens treuer geblieben als in vielen andern Faͤchern. Unter den Deutschen der jetzigen Zeit hat man das klassische Metrum derselben nachgebildet, und ein Dichter, von dem es nie entschieden werden kann, ob er groͤßer oder liebenswuͤrdiger sey, hat zu seinen fruͤhern unverwelklichen Lorbern auch den Namen eines Wiederherstellers der alten Elegie gesellt.

Sie ist nun nicht mehr bloß eine schoͤne Antiquitaͤt: sie ist hier einheimisch, und lebt unter uns. Wer mag, dieses Wunder vor Augen, misbilligen, wenn jemand glaubte, keine Bestimmung sey der Elegie zu groß, und sich in Vermuthungen uͤber alle die Metamorphosen verloͤhre, welche ihr auch die Zukunft wohl109 bereitet? Wenn aber gleich Ahndungen der Art die Kunstgeschichte umschweben duͤrfen und muͤssen, so ists doch gefahrloser und schoͤner, sich vorzuͤglich an diese zu halten, und die Gestalt gleichsam vor unsern Augen werden und wachsen zu sehen. Auch ist es dem Gegenstande gemaͤßer: denn die Elegie umarmt die Gegenwart, aber sie blickt gern in die Vergangenheit, lieber als in die Zukunft. Die natuͤrliche Stimmung der Kunstgeschichte aͤhnelt bey dieser Dichtart der Stimmung des Kuͤnstlers selbst. Man moͤchte sagen, es sey etwas Elegisches, bey den Bruchstuͤcken der alten Poesie mit stiller Liebe zu verweilen, die gleich Blaͤttern wechselnden Geschlechter der Poesie mit heiterm Ernst zu betrachten, wie sie entstehen und vergehen; die zarte Anmuth der Vorwelt nachzubilden, was man dabey fuͤhlt oder denkt, zu sagen, sie zu uns und uns zu ihr zu versetzen.

Es ist wohlthaͤtig, nach der großen Aussicht auf das unermeßliche Weltall der alten Poesie, nun auch den Blick wieder auf eine Gattung zu beschraͤnken, sich ihr inniger zu naͤhern, und mit der Theilnahme eines Freundes oder Liebenden in alle Einzelnheiten ihrer Natur und ihrer Geschichte zu folgen, bald nur zu genießen, und bald das Gefuͤhl durch Nachdenken zu erhoͤhen; und wenn die Art selbst so mannichfaltig und umfassend ist, wie diese, so kann sie den, welcher sie noch nicht genossen, zu jener Aussicht vorbereiten, durch die auch der nicht beschraͤnkte Geist sich weit uͤber sich selbst erhoben fuͤhlt.

110

Da die Natur der Elegie so historisch, und da Goethe dem Propertius so aͤhnlich ist, scheint es beynah uͤberfluͤßig, vor dem irrigen Sprachgebrauch der Neuern, und den damit verknuͤpften Vorurtheilen, wie vor allen nicht geschichtlichen Begriffen von der Elegie zu warnen. Jener Sprachgebrauch scheint das Wesen der Elegie in klagende Empfindsamkeit zu setzen, welche in dem großen Gebiet der alten nur eine sehr kleine Stelle einnimmt. Zwar redet auch im Mimnermos und Solon eine schoͤne Trauer uͤber die Nichtigkeit des fluͤchtigen Lebens; und zur Zeit des Simonides, Pindaros, Euripides und Antimachos verstand man unter Elegie oft vorzugsweise Klaggesaͤnge, besonders uͤber verstorbene Geliebte. Aber wie vieles umfaßte nicht selbst die alte und mittlere Elegie der Griechen, was außerhalb der Graͤnzen jenes Begriffs liegt? Schlachtgesaͤnge voll befehlender Wuͤrde und gefluͤgelter Kraft, wie die von Kallinos und Tyrtaeos, sinnreiche Bemerkungen und Einfaͤlle uͤber die Natur sittlicher und uͤber die sittlichen Verhaͤltnisse natuͤrlicher Dinge, wie die von Theognis und viele von Solon und Mimnermos. Und die Muse der spaͤtern Elegie, welche die sonst das Aeltere gern vorziehenden Griechen am hoͤchsten schaͤtzten, und die Roͤmer mit Bewunderung nachbildeten, ist die befriedigte Sehnsucht, die gluͤckliche Liebe (voti sententia compos). Sie ist ganz der Anmuth geweiht, und der Leidenschaft. Nachlaͤßig und reizbar wie sie ist, liebt sie erotische Taͤndeleyen und verirrt auch wohl in priapejische Gemaͤhlde.

111

Die Bruchstuͤcke dieses Zeitalters, in welchem die elegische Kunst nach dem Urtheile der Alten ihren Gipfel erreichte, zuerst zu uͤbersetzen und zu erklaͤren, schien auch darum das schicklichste, weil diese der vollstaͤndiger erhaltenen und uns bekanntern roͤmischen Elegie naͤher liegen, und doch von diesem Standpunkt aus die Aussicht auf die aͤltere Griechische Elegie nicht mehr so ganz entfernt ist. Auch sind die Bruchstuͤcke gluͤcklicherweise von der Art, daß sie viel Stoff und Veranlassung zum Nachdenken uͤber die eigentliche Natur der Elegie geben koͤnnen, die hier schon auf Nebenwegen zu lustwandeln scheint; und doch, wenn erotische Anmuth und Bildung die Seele der spaͤtern Griechischen Elegie sind, kann wohl nichts elegischer gefunden werden, als das koͤstliche Bruchstuͤck des Hermesianax.

I. Bruchstuͤck von Phanokles.

Das Werk, zu welchem diese Stelle von der Liebe des Orpheus zum Kalais gehoͤrte, hieß die Schoͤnen oder die Eroten; eine mythische Elegie von den beruͤhmten Knaben und Juͤnglingen der Vorzeit und von der Liebe der Goͤtter und Helden zu ihnen; eine erotische Sagenlehre oder Archaeologie. Die Richtung dieser Liebe aufs maͤnnliche Geschlecht kann derjenige, welcher es nicht anerkennt, daß Schoͤnheit das einzige Gesetz und die wahre Sittlichkeit der Empfindungen ist, daß der freye Mensch unnatuͤrlich seyn112 darf, und daß manches, was an sich Verirrung ist, fuͤr eine bestimmte Zeit und Stufe der Entwicklung nothwendig und also auch gut seyn kann, am besten fuͤr bloße Poesie halten, ohne dabey laͤnger zu verweilen, als um sich zu erinnern, daß Apollo und Hyakinthos Trotz jenes Fehlers doch wohl natuͤrlicher und gesitteter seyn koͤnnten, als alle, die dagegen reden.

Oder wie einst, von Oeagros erzeugt, der Thrakier Orpheus,
Kalais aus dem Gemuͤth liebte, des Boreas Sohn.
Oftmals saß er nunmehr in den schattigen Hainen, besingend
Sein Verlangen, und nie war ihm der Busen in Ruh.
Sondern im Geiste geheim schlaflose Bekuͤmmerniß immer
Haͤrmt 'ihn, er schaute nur an Kalais bluͤh'nde Gestalt.
Aber die Bistoniden
*)Bistoniden, Thrakierinnen
*), umdraͤngend, toͤdteten jenen,
Grausame, welche fuͤr ihn schneidende Schwerter gewetzt,
113
Weil er im Thrakischen Volke zuerst die maͤnnliche Liebe,
10 Hatte gelehrt, und nicht weibliches Sehnen erfuͤllt.
Und sie hieben sein Haupt mit dem Erz ab, warfen alsbald es
Jn die Thrakische See hin mit der Laute zugleich,
Fest mit dem Nagel daran es heftend, daß in dem Meere
Beyde zusammen genetzt schwommen von blaulicher Flut.
15 An die heilige Lesbos nun spuͤlte sie dunkel das Meer an.
Da sich der Leyer Getoͤn uͤber die Wellen erhob
An die Jnseln und Kuͤsten, die salzbeschaͤumten, begruben
Maͤnner das hell vordem toͤnenden Orphische Haupt;
Legten die Laut 'ins Grab, die klingende, welche die stummen
20 Felsen, des Phorkos
*)Phorkos, sonst Phorkyn, ein Meergott
*). sogar grause Gewaͤsser besiegt.
Seitdem waltet Gesang und der Saiten gefaͤllige Kunst dort,
Unter den Jnseln ist keine so liederbegabt.
Als die streitbaren Thraker der Frau'n feindselige Thaten
Hoͤrten, und alle darum schrecklicher Kummer befiel:
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Zeichnete jeder die Gattin, damit sie, die schwaͤrzlichen Punkte
Tragend am Leibe, hinfort daͤchten des grausenden Mords.
Also zahlen dem Orpheus bis jetzt, dem erschlagnen, die Weiber
Bußen fuͤr jene Graͤn'l, welchen an ihm sie veruͤbt.

Die schoͤne Einfachheit, welche dieses Bruchstuͤck unterscheidet, und ihm Anspruͤche auf ein verhaͤltnißmaͤßig hoͤheres Alterthum zu geben scheint, gefaͤllt auch in dem noch erhaltenen Distichon desselben Dichters:

Aber der Moͤren Gespinnst ist unaufloͤslich, und niemand
Kann ihm entgehn, so viel unser die Erde nur naͤhrt.

Zwar kann die Zeit, wenn Phanokles lebte und bluͤhte, nicht mit Genauigkeit bestimmt werden. Wenn es aber auch gar keine Winke daruͤber gaͤbe, so wuͤrde ihm doch schon der in dem Bruchstuͤcke vom Orpheus sichtbare Hang, alte Sitten sinnreich durch alte seiner Absicht gemaͤß ausgebildete und der Gegenwart angeschmiegte Sagen zu erklaͤren, seine Stelle in der Periode der elegischen Kunst anweisen, wo die Dichter zugleich auch Gelehrte, Liebhaber und Kenner des schoͤnen Alterthums, waren, und wo die erotische Poesie,115 nicht zufrieden, die lieblichen Freuden der Gegenwart, die zarte Leidenschaft des Dichters selbst, durch eine gebildete Darstellung zu verewigen, auch die Vergangenheit nach ihrer eigenthuͤmlichen Ansicht verwandelte, und die Gestalten der Vorwelt mit dem Geist der reizendsten Sinnlichkeit neu beseelte.

II. Bruchstuͤck des Hermesianax.

Die Griechische Poesie hat einen entschiedenen und urspruͤnglichen Hang, die Vergangenheit und die Gegenwart zu verweben und zu verschmelzen. Auch wenn sie, um sich zu vervielfaͤltigen, sich in bestimmte Arten theilt, und nur auf ein Stuͤck ihrer vollstaͤndigen Bestimmung beschraͤnkt, weiß sie durch Abschweifungen, die doch immer wieder auf den Hauptzweck zuruͤckfuͤhren, ihren Sinn fuͤr das Weltall zu offenbaren. Sie spielt wenigstens in Bildern, Beziehungen, Gleichnissen und Beyspielen in die angraͤnzenden Gebiete hinuͤber, und erhebt sich uͤber die Schranken ihrer Gattung ins Unendliche, ohne doch dem Gesetz ihrer einmal angenommenen Eigenthuͤmlichkeit im mindesten untreu zu werden, weil sie sich das Fremdartigste zu veraͤhnlichen weiß und die Welt umzubilden und anzueignen strebt.

So liebt das alterthuͤmliche Epos Beschreibungen und Gleichnisse aus der lebendigsten Gegenwart der Natur; und so liebt die leidenschaftliche Elegie mythische Beyspiele auszuwaͤhlen, und in schoͤne Kraͤnze zu116 flechten. Sie spart die Blumen nicht und liebt auch hier den geschwaͤtzigen Überfluß, wie die weiche Empfindung selbst, deren schoͤner Ausdruck sie seyn will. Alles was dazu mitwirken kann, mag es sich noch so sorglos im Lustwandeln zu verirren scheinen, geht doch grade zum Ziel und kann in ihr nicht eigentlich Episode genannt werden.

Auf diesem Wege hatte sich auch die klagende und troͤstende Elegie des Antimachos uͤber den Tod seiner geliebten Lyde zu einem Werke von weitem Umfang entfaltet: und nach einigen Bruchstuͤcken zu urtheilen enthielt auch die groͤßte Elegie des Mimnermos auf seine geliebte Nanno viel alte Sage.

Auf eine aͤhnliche Weise fuͤhrt Hermesianax in dem merkwuͤrdigsten aller elegischen Bruchstuͤcke seiner Freundin Leontion, nach welcher eine Sammlung seiner Elegien in drey Buͤchern benannt ward, das Beyspiel der groͤßten Dichter und Denker in der einfachsten Ordnung an, indem er das Schoͤnste und Eigenthuͤmlichste von dem, was die Poesie oder die Geschichte uͤber die beruͤhmtesten Leidenschaften erzaͤhlte und darbot, mit leichter Hand hervorhebt, und bedeutsam und zierlich ausbildet; mit einer Fuͤlle von Geist und Dichtung, die gedraͤngt ist, und doch leicht, zart und fluͤchtig.

So anziehend das kostbare Stuͤck dem Liebhaber der Poesie und des Schoͤnen durch seine unbeschreibliche Anmuth, und dem Freund der alten Geschichte durch die Menge interessanter Anspielungen und Andeutungen ist, so merkwuͤrdig ist es denen, welche die117 Kunst uͤben, die schriftlichen Denkmahle und Bruchstuͤcke des klassischen Alterthums zu ergaͤnzen und zu reinigen, durch seine Verdorbenheit. Nachdem es durch Ruhnkenius zuerst gerettet worden war, hat es Jlgen durch seine unermuͤdlichen Bemuͤhungen vollstaͤndiger lesbar gemacht, mehre von jenem unberuͤhrt gelassene Schaͤden mit leichter und gluͤcklicher Hand geheilt, hie und da auch die alte Leseart durch eine bessere Auslegung gerettet. Diesen ist der Übersetzer groͤßtentheils gefolgt, doch hat er einige Male die alte von Beyden verworfne Leseart anders erklaͤrt und beybehalten. Luͤcken in der Übersetzung zu lassen, wo die Vermuthungen nicht ganz sicher waͤren, schien ihm durchaus zweckwidrig. Man mag noch so sehr gegen das Ergaͤnzen alter Statuen seyn, so muͤssen doch die abgestoßnen Nasenzipfel angesetzt werden, weil die Gesichter sonst gar zu verschimpft aussehn. Das Emendiren ist uͤberdem eine Ergaͤnzung, die ohne Schaden der Statue wieder abgenommen werden kann, und der Übersetzer verrichtet es nun vollends an einen Gipsabguß. Es kommt weniger darauf an, welche unter zwey doch nicht ganz unaͤhnlichen Beschaffenheiten dieser oder jener Stelle die richtige ist, als auf den Geist und Karakter des Gedichts im Ganzen.

118
Gleichwie Agriope'n auch der geliebte Sohn des Oeagros,
Heim, mit der Cither bewehrt, fuͤhrte, dem Thrakischen Spiel,
Aus dem Hades; und schifft 'an unerbittlicher Staͤtte,
Dort wo Charon draͤngt in das gemeinsame Boot
5 Seelen der Abgeschiednen, und wo fernhallend der See tobt.
Wie er die Flut hinwaͤlzt durch das gewaltige Schilf.
Aber es wagt' an den Wogen die Cither einsam zu spielen
Orpheus, und lenkte den Sinn naͤchtlicher Goͤtter beredt.
Auch den Kokytos bestand er, den unter den Brauen unselig
10 Laͤchelnden und das Gesicht jenes entsetzlichen Hunds,
Dem entflammt die gellende Stimm ', und entflammt ist das Auge,
Wild, mit welchem der Kopf, dreyfachgetheilet, erschreckt.
Dort nun Gesang anhebend, erweicht' er die hohen Gebieter,
Daß Agriope Hauch liebliches Lebens empfing,
*)Agriope, sonst bey allen Alten Eurydike.
*)
119
15 Auch der Mene Sohn ließ unverherrlicht im Liede
Nimmer Musaeos, der Huld Liebling, Antiope seyn,
Die, an Eleusis Fuß, der gefeyerten Mutter und Tochter
An mit geheimem Sinn stimmte das Jubelgeschrey,
Wann sie Demetern dienend, der Rharischen, festliches Klanges,
20 Orgien hielt: sie ist selbst noch im Hades beruͤhmt.
Ferner sag 'ich, sein vaͤterlich Haus um die Fremde verlassend,
Habe Hesiodos sich reichlich mit Wissen geziert,
Gern gewandt nach Askraea, dem Helikonischen Flecken.
Um Eoea bemuͤht, um die Askraeerin dort,
25 Duldet' er viel, und schrieb der Heldinnen saͤmtliche Buͤcher,
Wo mit des Maͤdchens Preis jeglicher Hymnus beginnt.
*)Mene, Selene, Luna. Antiope, sonst unbekannt, Priesterin der Ceres. Mutter und Tochter, Ceres und Proserpina. Rharischen, von dem der Sage nach zuerst besaͤeten Felde Rharion so benannt. Gern, nicht, wie er selbst erzaͤhlt, von Noth gedrungen. Eoea, ein scherzhaft erdichteter Name, aus der Wendung gemacht, womit Hesiodus jede seiner Heldinnen einfuͤhrte: οἵη Oder wie.
*)
120
Jener Saͤnger sogar, den Zeus Verhaͤngniß beschirmet,
Aller, die Musendienst uͤben, geliebtester Gott,
Strebte zum aͤrmlichen Jthaka hin, der große Homeros,
30 Mit Gesaͤngen, zu lieb, kluge Penelope, dir.
Viel ausstehend um sie, betrat er das kleinere Eiland,
Ließ sein Geburtsland fern, raͤumig an Fluren, zuruͤck.
Also weinet 'er Jkaros Stamm, und das Volk des Amyklas,
Sparta auch, und gedacht' eigenes Kummers dabey.
35 Aber Mimnermos ferner, der diesen lieblichen Ton einst,
Vieles duldend, erfand, lindes Pentameters Hauch,
Brannte fuͤr Nanno: und oft, erschoͤpft von den vielen Gefechten,
Wandelt 'er kraftlos schon, mit zu dem Schmause gesellt.
Doch Hermobios haßt' er, den laͤstigen; und dem Pherekles,
Zuͤrnend wie seinem Feind, sandt 'er ein solches Gedicht.
*)Jkaros Stamm, Penelope. Amyklas, Spartanischer Heros. Das Volk des Amyklas und Sparta, statt Helena. Eigenes Kummers, Anspielung auf Jlias XIX, 301. 302. Hermobios, Pherekles, unbekannt; wahrscheinlich Nebenbuhler.
*)
121
Auch Antimachos hat, von der Liebe zum Lydischen Maͤdchen
Lyde verwundet, des Stroms Flut, des Paktolos, beruͤhrt.
Als er die Urne der Todten verwahrt in trockenem Boden
Mit Wehklag 'und Gestoͤhn, kam er, verlassend das Land,
45 Hin zu Kolophons Hoͤhe, und erfuͤllte mit Trauer die Buͤcher,
Jhr geweiht: ihm gab Linderung jegliches Leid.
Auch wie viel Alkaeos, der Lesbier, Weisen gelehrt hat,
Sappho toͤnend, der Brust lieblich erregte Begier,
Weißt du: es liebte der Saͤnger die Nachtigall, oft mit des Liedes
50 Klug geordnetem Sinn aͤngstend den Tejischen Mann.
Denn es gesellte zu ihr der suͤße Anakreon auch sich,
Wann sie geschmuͤckt in der Schaar Lesbierinnen erschien.
Samos verlassend nun wandert er oft, und oft der Geburtsstadt
Traubenbegabte Flur, unter dem Speere gebeugt,
*)Jegliches Leid, fremde aͤhnliche Unfaͤlle, die er in dem Gedichte Lyde sammelte. Geburtsstadt, Tejos, damals von Harpagos erobert.
*)
122
55 Zur weinbluͤhenden Lesbos: es sah von druͤben ihn oftmals
Lektons Vorgebirg auf dem Aeolischen Meer.
So die Attische Biene, vom huͤgelreichen Kolonos
Kommend, wann sie den Reihn fuͤhrte des tragischen Chors,
Sang den Bakchos und Eros; es weckte Theoris Gestalt erst
60 Anmuth, welche von Zeus Sophokles eigen bekam.
Auch von jenem sag 'ich, dem stets sich bewachenden Manne,
Welcher von Jugend auf hegend den Haß, an den Frau'n
Alles an allen verfolgte: verletzt von dem krummen Geschosse
Hab' er nicht zu entfliehn naͤchtlichen Qualen vermocht.
65 Er durchirrte die Au'n Makedoniens, viel um Aegino,
Die als Schaffnerin dort dient 'Archelaos, bemuͤht.
Bis dann endlich ein Gott dem Euripides sandte Verderben,
Da er in Todesnoth grimmigen Hunden gewehrt.
*)Kolonos, Attischer Flecken, des Sophokles Geburtsort. Archelaos, Koͤnig von Makedonien, Freund des Euripides.
*)
123
Aber der Mann aus Kythere, von pflegenden Musen erzogen,
70 Der, von ihnen gelehrt, treuester Ordner dem Spiel
Bakchos war und der Floͤte, Philoxenos: wie er von Klagen
Abgehaͤrmt, einmal reiste durch unsere Stadt,
Weißt du ja; du vernahmst die Sehnsucht nach Galatea,
Die er der Heerden sogar zartem Geschlechte geliehn.
75 Kennst du den Saͤnger doch auch, den Eurypylos Buͤrger, die Koer,
Schoͤn aufstellten aus Erz, unter des Platanus Laub:
Wie er die fluͤchtige Bittis besang, Philetas; mit Schmachten
Alle Worte, den Fluß alles Gekoses erfuͤllt.
Nicht auch jene sogar, so viel der Menschen das strenge
80 Leben gestiftet, und ernst kluͤgelnde Weisheit erforscht,
Die schwerlastend mit Schluͤssen bestrickt ihr eigener Tiefsinn,
Und die Tugend, des Ruhms wuͤrdig, die harte, geschaͤtzt:
*)Dem Spiel Bakchos und der Floͤte, der dithyrambischen Poesie. Unsere Stadt, Kolephon. Eurypylos, Sohn des Herkules, Koͤnig von Kos.
*)
124
Selbst nicht diese entgingen den schrecklichen Kaͤmpfen des Eros,
Unter des schrecklichen Gotts lenkende Zuͤgel gebracht.
85 Gleichwie Pythagoras einst, den Samier, Liebesbethoͤrung
Band an Theauo; der klug Raͤthsel der Geometrie,
Linien schlingend, erdacht, und so weit der Äther den Kreis woͤlbt
Wohl nachahmend geformt alles an winzigem Ball.
Oder wie Kypris, erzuͤrnt, ihn, welchem es ziemt ', in der Weisheit
90 Vor dem Haufen des Volks groß zu erscheinen und hoch.
Waͤrmte mit maͤchtiger Glut, den Sokrates: nun mit dem tiefen
Geist ergruͤndet' er nur Sorgen von leichterm Gehalt
Jmmer besuchend das Haus Aspasiens; konnte kein Ende
Finden, da er so viel Kruͤmmen der Schluͤsse doch fand.
95 Den von Kyrene auch zog uͤber den Jsthmos Verlangen,
Als er in Lais Netz fiel, der Korinthierin,
Aristippos, der kluge: da mied er der Weisen Gespraͤche
Abgeneigt; ihm floh nichtig das Leben dahin.
125

So reich und beziehungsvoll ist diese zierliche Rhapsodie von reizenden Epigrammen, daß es auch dem schnellsten Sinn selbst bey vertrauter Bekanntschaft mit dem behandelten Stoff schwer ja unmoͤglich fallen duͤrfte, gleich beym ersten Eindruck alle Feinheiten des Kuͤnstlers wahrzunehmen. Seiner Absicht gemaͤß, die unwiderstehliche Macht der zaͤrtlichen Sehnsucht durch große und schoͤne Beyspiele zu offenbaren, umfaßt er gleichsam alle Zeitalter der Bildung und der Geschichte von den ehrwuͤrdigen Stiftern uralter Mysterien, den dichtenden Priestern der grauen Vorzeit, bis zu seinem Freunde und Zeitgenossen, dem also schon damahls hochgeehrten und von Propertius und Ovidius so oft gefeyerten Philetas, bis zu dem auch in der Vaterstadt des Hermesianax, dem dichterreichen Kolophon, bekannten Philoxenos, dem geistvollsten und ausschweifendsten Virtuosen des uͤppigsten Zeitalters und der gesetzlosesten Dichtart. Alles weiß er zu brauchen und zu bilden; allegorische Priestersagen, wie die vom Orpheus; Anekdoten vom Leben der Dichter, die oft auch durch Dichter entstanden, oder ausgeschmuͤckt waren, wie die Weiberfeindschaft des Euripides durch eifersuͤchtige Komiker, und wie die gegen die Zeitrechnung erdichtete Liebe des Anakreon vielleicht der neuern Komoͤdie ihr Daseyn verdankt, die auch als erste oder zweyte Quelle der Liebe der Sappho zum Phaon zu betrachten ist; die Werke der Dichter selbst, wie bey Mimnermos und Antimachos, die ihm durch das doppelte Band des gemeinsamen Vaterlandes und der gemeinsamen Kunstart naͤher waren126 und auch in seiner Behandlung nebst dem Philetas mit besondrer Liebe und noch genauerer Unterscheidung des Eigenthuͤmlichen hervorgehoben scheinen koͤnnten. So auch bey Sappho und Alkaeos, der nicht gluͤcklich liebte, nach einigen noch vorhandnen Versen von jener an ihn zu urtheilen, die in ihrer Einfalt etwas Zartes und Hohes haben; so auch beym Philoxenos, der selbst in den Latomien, in welche ihn der Tyrann, der sein Nebenbuhler war, werfen ließ, weil er die Galatea verfuͤhrt hatte, ein Gedicht von der damahls schon uͤber ihre Graͤnzen auf die Wege andrer Gattungen ausschweifenden dithyrambischen Gattung, welches den alten satyrischen Dramen nachstreben mochte, worin er mit Anwendung der alten Sage auf sein Ungluͤck den Dionysios als Kyklopen, die geliebte Floͤtenspielerin als Galatea und sich als Odyßeus darstellte. Überhaupt wuͤrde man sehr irren, wenn man glaubte, der Liebe der alten Poeten, die freylich nicht so um die Begriffe der Ehre und die Bilder des Himmels taͤndelte oder anbetete, wie die romantische habe irgend ein Reiz gefehlt, den die geistreichste Geselligkeit, die reizbarste Leidenschaftlichkeit bey gebildeter und schoͤner Sinnlichkeit und ein zartes Gemuͤth verleihen koͤnnen. Eben so die Liebe der Philosophen, an denen der Dichter, der die ganze Welt nur aus einem elegischen Standpunkt betrachtet, die Gewalt der Liebe wie durch einen Gegensatz zeigt; schon daß sie liebten, scheint ihm außerordentlich, da er hingegen bey den Dichtern die außerordentliche Art, wie sie ihre Liebe durch wunderbare Thaten oder durch127 ewige Werke bewaͤhrten, hervorzuheben sucht. Alles strebt er zu elegisiren, und auch das verschiedenartigste weiß er naͤher zu ruͤcken, aͤhnlich zu gestalten und freundlich zu verbinden, so daß das Ganze wie aus einem Guß ist; und wenn er so ungleiche Gegenstaͤnde, wie die weise Freundin des strengen Pythagoras, die gebildete Aspasia, die erste Frau ihres Zeitalters in allen geselligen Kuͤnsten, und Lais, welche in dem seiner Hetaͤren wegen beruͤhmten Korinth den Preis in der Üppigkeit und Verfuͤhrung verdienen konnte, in gewissen Sinn als gleich und auf gleiche Art behandelt; so weiß er doch uͤberall das Eigenthuͤmliche mit der feinsten Schicklichkeit herauszuheben, wie zum Beyspiel beym Sophokles die nach den Alten ihm ganz eigne Suͤßigkeit. Beym Homeros und Hesiodos, wo ihn Sage und Geschichte verließ, und keine Geliebte nannte, hilft er sich, da der Ruhm der Gattung und der Maͤnner zu glaͤnzend war, um in dieser Auswahl des Koͤstlichsten fehlen zu duͤrfen, mit einer absichtlich offenbaren Erdichtung. Es ist ihm freylich der heiligste Ernst, und er ist dabey mit ganzem Gemuͤthe: aber er laͤchelt dann auch wieder uͤber seinen Gegenstand, uͤber sich selbst, und die an seinem Stoff veruͤbte Willkuͤhr mit unschuldiger Schalkheit und kindlicher Anmuth. Er weiß um seine Kunst, und uͤber sie spottend gefaͤllt er sich doch mit ihr und zeigt sie gern.

Der wunderbare und unaufloͤsliche Zauber, der aus diesem Gemisch von Liebe und Witz, von schmachtender Hingegebenheit und geselliger Besonnenheit hervorgeht, darf auch fuͤr die nicht ganz verlohren gehn,128 welche aus Unkunde der alten Geschichte, bey der Betrachtung und dem Genuß dieses Bruchstuͤcks das entbehren muͤssen, was die fruͤhere Bekanntschaft mit dem Stoff und die Vergleichung desselben mit der Behandlung und Ausbildung des Dichters gewaͤhrt. Ersetzen kann es ihnen eine die Übersetzung begleitende Einleitung oder Nachschrift in diesem Falle um so weniger, da schon die Erlaͤuterung des Erwaͤhnten, wenn sie vollstaͤndig seyn sollte, sich leicht so ausbreiten koͤnnte, daß man den Text selbst daruͤber aus den Augen verloͤhre, und da man um die kuͤnstliche Weisheit der Auswahl ganz zu verstehen, auch das wissen muͤßte, was der Dichter auf seinem Wege unerwaͤhnt liegen ließ.

Bedeutender und gefaͤlliger Schmuck ist ein wesentliches Beduͤrfniß und eine schoͤne Zierde der menschlicher Natur und der menschlichen Kunst. Auch die Poesie liebt ihn mit angebohrner Neigung. Der wahre Dichter ist unbeschraͤnkt frey: aber selbst seine Abwege werden ihn zum Ziele fuͤhren, und in einem aͤchten Kunstwerk wird selbst das, was nur Putz scheint, so innigst vom Geist des Ganzen beseelt seyn, wie das mitausdruͤckende Metrum und die Sprache in der Art, Stellung und Bildung der Woͤrter der eigensten Eigenthuͤmlichkeit des Werks und seiner Gattung entspricht. Was man im Gegensatz dieser grammatischen und metrischen die poetische Ausbildung der Poesie nennen koͤnnte, darf eben so wohl auch an sich gewuͤrdigt werden, und Bedeutsamkeit, gesetzliche Freyheit in Verhaͤltniß zu seinem Ganzen, eine gewisse129 Entfaltung und Steigerung, und vor allem jene Umgestaltung, durch die, was uns schon bekannt war, nun wieder neu erscheint, sind Eigenschaften, die jedes Gleichniß, Beyspiel oder Bild besitzen muß, ohne Ruͤcksicht auf das Einzelne und die besondre Art. Aus diesem Gesichtspunkte hat das Bruchstuͤck des Hermestanax noch außer seiner elegischen Vortrefflichkeit eine gleichsam eigenthuͤmlichere und selbstaͤndigere: denn an Zierlichkeit und Zartheit der poetischen Mahlerey duͤrfte diese Reihe kleiner Kunstwerke wohl vor allen den Kranz erhalten. Wenn die Beschreibungen der alten Tragoͤdie reich und groß gegliedert mit architektonischer Festigkeit wie fuͤr die Ewigkeit dastehn; wenn in der Pindarischen Poesie oft eine hohe Gestalt von einfachen und allgemeinen Zuͤgen sanft vor uns zu ruhen oder in mildem Glanz zu schweben scheint: so moͤchte man diese Bilder des Hermestanax an sorgloser Lebensfuͤlle mit den erhobenen Arbeiten, an zierlicher Sorgfalt mit den geschnittnen Steinen des Alterthums vergleichen.

III. Das Bad der Pallas von Kallimachos.

Dieses in der Sprache und auch durch eine gewisse Vorliebe fuͤr gymnastische Bilder zum dorischen Styl sich neigende Gelegenheitsgedicht war fuͤr ein Fest von der Gattung bestimmt, in welchen eine Handlung der Gottheit vorgestellt ward, bloß wie zum Spiel ohne alle Bedeutsamkeit und Beziehung auf ihre Geheimnisse,130 und welche der Natur nur eines Geschlechts, Alters oder Standes angemessen, und im Vergleich mit den großen Volksversammlungen und Kampfspielen, wo jeder freye Hellene seine Kraft und Geschicklichkeit versuchen und beweisen durfte und sollte, sehr eng umschraͤnkt waren; so eng, daß ihre Vortrefflichkeit eben in ihrer Eigenthuͤmlichkeit bestand. Wenn an dem Feste selbst dem Sinne bluͤhender Jungfrauen von edelstem Geschlecht einer dorischen Stadt von altem Glanz alles so entsprach, wie in diesem elegischen Festgesange des sinnreichen und gelehrten Kallimachos, so war es in seiner Art gut und schoͤn, und entsprach dem kleineren Zwecke, die natuͤrlichen Gelegenheitsgedanken grade dieser Gattung verschoͤnernd zu bestaͤtigen, mit achtungswuͤrdiger Treue.

Badegehuͤlfinnen ihr der Pallas, gehet, ihr alle
Gehet hervor! Jch hoͤrt 'eben des Rossegespanns
Wiehern, des heiligen, schon; bereitet naht sich die Goͤttin.
Eilt, blondlockige, nun! eile, Pelasgierin!
*)Pelasgierin, alterthuͤmlicher Name fuͤr Griechin.
*)
131
5. Niemals hat Athenaͤea die maͤchtigen Arme gewaschen,
Eh sie den Rossen den Staub ab von den Weichen geschwemmt;
Nicht selbst, als sie mit Blut uͤberall besudelte Waffen
Tragend, vom frechen Heer Erdegebohrener kam.
Sondern vor allen zuerst der Pferde Nacken vom Wagen
10. Loͤste sie, spuͤlte dann ab in des Okeanos Quell
Schweiß und besprengende Tropfen, und reinigte ganz den verdickten
Schaum von ihren gebißknirschenden Maͤulern hinweg.
Geht, o Achaeerinnen! Noch Balsam, noch Onyxgefaͤße,
(Hoͤr 'ich die Axe nicht schon laut in den Naben sich drehn?)
15. Balsam, ihr Badegehuͤlfinnen, nicht, noch Onyxgefaͤße,
(Denn Athenaea liebt nicht ja der Salben Gemisch)
Bringet, noch Spiegel, herbey. Schoͤn glaͤnzt ihr immer das Auge.
Nicht da der Phryger den Zwist dort auf dem Jda entschied,
Schaute die große Goͤttin in Orichalkon,
*)Orichalkon, Metallspiegel
*) und nicht auch
20. Jn durchsichtige Flut, Simois Wirbel, hinab;
132
Noch auch Here; nur Kypris, das strahlende Erz in den Haͤnden,
Ordnete zweymal oft eben dasselbige Haar
Jene, wann sie der Bahnen an zweymal sechzig durchmessen,
Wie an Eurotas Rand pflegte das Doppelgestirn
25. Lakedaemons, dann rieb, wohlkundig, sie nur die geringe
Salbe sich ein, vom ihr eignen Gewaͤchse gezeugt:
O ihr Maͤdchen! es hob die Roͤthe sich ihr, wie die fruͤhen
Rosen, oder das Korn in der Granate gefaͤrbt.
Darum bietet allein auch jetzt das maͤnnliche Oel ihr,
30. Welches den Kastor, womit selber Herakles sich salbt.
Bringt ganz golden ihr ferner den Kamm, damit sie das Haupthaar
Ebnend, streiche mit ihm glaͤnzende Locken hindurch.
Geh, Athenaea, hervor! schon harrt die willkommene Schaar dein:
Jungfrau'n alle, dein groß Akestoridengeschlecht.
*)Akestoriden, das maͤchtigste und aͤlteste adliche Geschlecht in Argor
*)
35. O Athene! es wird auch der Schild Diomedes getragen,
Wie den Argeiern einst diesen bejahrten Gebrauch
133
Hat Eumedes gelehrt, der der gefaͤllige Priester,
Welcher, da er erfuhr, daß den beschlossenen Tod
Jhm bereite das Volk, durch Flucht dein heiliges Bildniß
40. Mit sich entriß, ins Gebirg Kreons darauf sich begab,
Kreons Gebirg; und dich, du Goͤttliche, barg in den Kluͤften
Schroffer Felsen, daher jetzt Pallatiden genannt.
Komm, Athenaea, du Staͤdteverwuͤsterin, goldengehelmte,
Die an der Rosse sich freut, und an der Schilde Getoͤs!
45. Heute taucht nicht ein, ihr Wassertragenden; heute
Trinkt von den Quellen bloß Argos, und nicht von dem Strom.
Heute traget, ihr Maͤgde, die Kruͤge zum Born Physadea;
Oder, des Danaos Kind, fuͤll 'Amymone sie euch.
Denn es wird, mit Bluͤthen und Gold die Gewaͤßer vermischend,
50. Von viehweidenden Hoͤh'n Jnachos kommen herab,
Fuͤhrend ein Bad fuͤr Athene, ein liebliches. Aber Pelasger,
Sorge, die Koͤnigin nicht wider Begehren zu sehn!
134
Denn wer Pallas nackt, die Staͤdtebeschuͤtzerin, anschaut,
Der hat dieses zuletzt unter den Dingen erblickt.
55. Geh, Athenaea, hervor, Ehrwuͤrdige! Diesen erzaͤhl' ich
Unterdessen; es ist Andrer die Sage, nicht mein.
Maͤdchen, es liebt 'einmal Athenaea der Nymphen in Thebe
Eine so sehr, zog weit allen Gespielinnen vor
Sie, des Tiresias Mutter; und niemals schieden die beyden.
60. Sondern, wenn sie nunmehr Thespiaͤs altes Gebiet,
Jetzo Koronea, und jetzt Haliartos besuchte,
Durch der Boeoter Flur lenkend ihr schoͤnes Gespann;
Jetzo Koronea, wo lieblich duftend ein Hain ihr
Gruͤnt, wo Altaͤr' am Strom dort des Koralios stehn:
65. Oftmals stellte die Goͤttin sie neben sich dann auf den Wagen.
Weder der Nymphen Geschwaͤtz, weder der Reigen im Chor
135
War ihr suͤß und gefaͤllig, wenn nicht anfuͤhrte Chariklo.
Aber es warteten noch haͤufige Thraͤnen auf die,
War sie gleich Athenaea's gemuͤthliche liebe Genossin.
70. Denn da sie einst des Gewands haltende Spangen geloͤst
Am schoͤnfließenden Born des Helikonischen Rosses,
Badeten sie; das Gebirg ruht 'in der Mitte des Tags.
Nur mit den Hunden noch Tiresias, eben am Kinne
Zart gebraͤunt, umirrt' einsam den heiligen Ort.
75. Folgend unloͤschbarem Durste, gelangt 'er zur Welle des Bornes,
Armer! und sah ungern, was zu erschauen nicht ziemt.
Aber, obschon erzuͤrnt, doch redet' ihn an Athenaea:
Was fuͤr ein Gott, o du, welcher die Augen von hier
Nie wegtraͤgt, Eueride, hat schadenden Weg dich gefuͤhret?
80. Also sprach sie, es fiel Nacht auf des Juͤnglinges Blick.
Dieser stand sprachlos; denn Weh 'umstrickte die Kniee
Fest ihm, die Stimme hielt bange Bestuͤrzung zuruͤck.
136
Aber es schrie die Nymphe: Was thatest du mir an dem Knaben,
Hohe? Der Freundschaft Bund, Goͤttinnen, ehrt ihr ihn so?
85. Mir zu entreißen des Sohnes Gesicht! Du hast Athenaea's,
Mein ungluͤckliches Kind, Huͤften und Bruͤste gesehn,
Aber du schauest die Sonne nicht mehr. O wehe mir Armen!
Helikon! kuͤnftig von mir nimmer betretnes Gebirg!
Kleines vergiltst du mit Großem fuͤrwahr: um wen'ge Gazellen,
90. Wenige Rehe gebracht, nimmst du die Augen des Sohns.
So den geliebten Knaben mit beyden Armen umschlingend,
Hob die Mutter nun an, weinend, das Jammergetoͤn
Klagender Nachtigallen. Und ihrer Genossin erbarmte
Gleich sich die Goͤttin, und sprach troͤstende Worte zu ihr:
95. Herrliches Weib, nimm alles zuruͤck, so viel du im Zorne
Vorgebracht, nicht ich habe geblendet dein Kind.
Jst es ja doch Athenaeen nicht suͤß, die Augen der Knaben
Weg zu rauben; doch so saget des Kronos Gesetz:
137
Wer der Unsterblichen einen, wofern der Gott es nicht selber
100. Waͤhlet, erblickt, dem kommt theuer das Schauen zu stehn.
Herrliches Weib, was geschah, nicht wiederruflicher Art ists,
Weil es also mit ihm lenkte der Moͤren Gespinnst,
Damals, als du ihn eben gebahrst: du aber empfange,
O Eueride! nunmehr jenes beschiedene Loos.
105. Ach wie viel wohl boͤte dereinst Brandopfer Kadmeis,
Und Aristaeos wie viel, flehend, den einzigen Sohn,
Bluͤhend in zarter Jugend, Aktaeon blind nur zu sehen!
Und Mitjaͤger ja wird dieser der maͤchtigen seyn,
Artemis; aber es rettet noch Jagd, noch auf den Gebirgen
110. Oft gemeinsam geuͤbt, Zielen des Bogens ihn dann
Wann er, obschon unwillig, der Goͤttin liebliches Bad sieht,
Sondern ihn werden selbst, ihren Gebieter zuvor,
Eigene Hund' aufzehren; die Mutter wird die Gebeine
Sammeln des Sohns, umher streichend im Wald 'uͤberall.
138
115. Und sie wird Gluͤckseligste dich, und Gesegnete nennen,
Daß du geblendet den Sohn aus den Gebirgen empfingst.
O Genossin, deshalb nicht jammere! Diesen erwartet,
Dir zu Liebe, von mir mancherley Ehrengeschenk.
Denn ich mach' ihn zum Seher, besungen von kommenden Altern,
120. Daß er weit in der Kunst rage vor allen hervor.
Kennen soll er die Voͤgel: was guͤnstige, welche nach Willkuͤhr
Fliegen, und welche Art schaͤdliche Fittige schwingt.
Viel Verkuͤndungen wird den Boeotern, viele dem Kadmos
Er weißagen, und einst Labdakos großem Geschlecht.
125. Einen Stab auch will ich, der recht ihm lenke die Fuͤße,
Und vieljaͤhriges Ziel will ich dem Leben verleihn.
Er allein, wann er stirbt, wird unter den Schatten verstaͤndig
Wandeln umher, von des Volks großem Versammler geehrt.
Sprach es und winkte dazu; untruͤglich ist aber, was winkend
130. Pallas verheißt: denn dieß gab von den Toͤchtern allein
139
Zeus Athenaeen, zu erben vom Vater jegliches Vorrecht.
Keine Mutter, wißt, brachte die Goͤttin ans Licht,
Sondern die Scheitel des Zeus. Zeus Scheitel winket Betrug nie;
Unvollendet auch nicht blieb, was die Tochter gewinkt.
135. Augenscheinlich nun naht Athenaea sich; aber die Goͤttin,
Jhr Jungfrauen, empfangt, denen die Sorge gebuͤhrt,
Mit lobredendem Munde, mit Jubelgeschrey und Gebeten.
Heil dir, Goͤttin! beschirm 'Argos Jnachische Stadt.
Heil dir, wann du sie treibest hinaus, und wieder herbey lenkst
140. Deine Ross', und verleih Segen des Danaos Land.

Wenn schon die Richtung des Ganzen an bestimmte Personen, das Gegenwaͤrtige, Lokale, die ploͤtzlichen Spruͤnge des hervortretenden Dichters diesen elegischen Hymnus, der von allen epischen des Kalimachos von Grund aus und unendlich verschieden ist, der lyrischen Gattung, auch nach allgemeineren, noch nicht durch die Strenge der scheidenden Kunst bestimmten Begriffen von derselben, aneignet: so koͤnnte140 eine Geschichte, welche ein so seltsames Gemisch von Willkuͤhr und Nothwendigkeit, von Zufall und Absicht enthaͤlt, fuͤr die Elegie, welche so gern mit streitenden Empfindungen spielt, und Widerspruͤche verkettet, ein sehr angemessener und gluͤcklicher Stoff scheinen. Jn jedem Fall waͤre die Voraussetzung, die Beschaffenheit des Rhythmus, der uͤberall in der alten Poesie der Natur des Ganzen wunderbar innig und tief entspricht, koͤnne bey einem so absichtsvollen Kuͤnstler zufaͤllig seyn und von keiner Bedeutung, durchaus geschichtswidrig

Vergleicht man diese Elegie des Kallimachos mit dem Bruchstuͤcke des Hermesianax, so kann es befremden, daß jener der beruͤhmtere war. Ohne uns in Vermuthungen daruͤber zu verlieren, ob diese Sonderbarkeit des Kunsturtheils der Alten eben so natuͤrlich und nothwendig war, wie das verschiedene Vorziehen der Jlias und der Odyssee bey den Alten und bey den Neuern, muͤssen wir nur kurz erinnern: daß der elegische Hymnus des Kallimachos wie seine elegischen Epigramme doch nur eine Nebenart war, und daß wir nur aus seinen erotischen Elegien wuͤrden beurtheilen koͤnnen, warum er fuͤr das Haupt seiner Gattung gehalten ward. Er konnte wie der uͤberstroͤmende Philetas leidenschaftlicher, antithetischer, ja sogar gefeilter seyn, wenn er gleich an natuͤrlicher Anmuth den Hermesianax nie erreicht haben kann.

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IV. Beytraͤge zur Kritik der neuesten Litteratur.

Deutschland ist unstreitig jetzt die erste unter den schreibenden Maͤchten Europa's, wenn man auch noch so viel darauf abrechnet, daß sich von der Anzahl der gedruckten Artikel kein sichrer Schluß auf die Masse des Gedruckten ziehn laͤßt, weil eben die Konkurrenz die Staͤrke der Auflagen vermindert. Das viele Schreiben, sagt man, kommt vom vielen Lesen, und dieß ist auch bis auf einen gewissen Punkt sehr richtig; aber daruͤber hinaus moͤchte beydes in umgekehrtem Verhaͤltnisse gegen einander stehn. Wer viel schreibt, hat desto weniger Zeit zum Lesen. So wie niemand gehoͤrt wird, wo alle sprechen, so wuͤrde auch, wenn sich einmal alle Leser zu Schreibern konstituirten (eine Revoluzion, zu der wir keinen so großen Schritt zu thun haben, als man vielleicht denkt) jeder darauf reduzirt seyn, von sich selbst gelesen zu werden: er wuͤrde in seiner eignen Person Schriftsteller, Beurtheiler und Publikum, die ganze litterarische Welt im Kleinen, vorstellen muͤßen. Die damit verknuͤpfte142 Langeweile und sonstigen Unbequemlichkeiten wuͤrden eine neue Epoche herbeyfuͤhren, wo man gar nichts schriebe, um recht viel und mit gutem Bedacht zu lesen.

Bis dieser Kreislauf vollendet ist, bey der jetzigen Lage der Dinge, da es noch ziemlich viele giebt, die nicht bloß schreiben, sondern mit unter auch lesen, ja sogar einige, die bloß lesen ohne zu schreiben, ist das Rezensiren ein nothwendiges Übel. Man wuͤrde seine ganze Zeit und Muͤhe darauf wenden muͤßen, um zu erfahren was und wie geschrieben worden ist, wenn es keine Jnstitute gaͤbe, die daruͤber offizielle Berichte ertheilen. Die fruͤheste, kuͤrzeste und also auf gewisse Weise die beste aller Rezensionen ist der Meßkatalog. Jhm wird aber Schuld gegeben, man koͤnne sich auf seine Nachrichten nicht sonderlich verlassen: unter andern erfahre man nicht einmal mit Sicherheit daraus, ob ein Buch wirklich existirt; ein Umstand, der freylich zuweilen schwer genug auszumachen ist. Es laͤßt sich eine Rezensionsanstalt denken, wobey diese Maͤngel vermieden wuͤrden, und die doch mit dem Meßkatalog beynah gleichen Schritt halten koͤnnte. Man schnitte nemlich aus jedem zur Messe gebrachten Buche aufs Gerathewohl einige Blaͤtter heraus, ließe sie nebst den Titeln zusammendrucken, und so waͤre die Sache fuͤr das halbe Jahr mit einmal abgethan. Dieß ist im Ganzen genommen die Methode der Englischen Journalisten: sie pflegen zwar des Wohlstands wegen die abgedruckten Blaͤtter mit einer Vorerinnerung oder einem Nachrufe zu begleiten;143 aber gewoͤhnlich sind dieß nur hors d'oeuvres, die unbeschadet der Vollstaͤndigkeit der Rezensionen wegbleiben koͤnnten. Bey der gewissenhaften Deutschen Umstaͤndlichkeit ist es auch in den umfassendsten Jnstituten unvermeidlich, daß nicht viele Anzeigen verspaͤtet werden, oder gar unterbleiben sollten. Noch nie hat man es erlebt, daß ein litterarisches Tageblatt inne gehalten haͤtte, weil einmal alles fertig rezensirt gewesen waͤre; sie sind vielmehr wie Menschen, die nur eben das Kinn uͤber dem Wasser halten, und wenn sie einen Augenblick abließen zu rudern, in der großen Flut untergehn wuͤrden. Dieß ist auch wohl der Grund, warum noch niemand darauf gefallen ist, ungeschriebne Buͤcher zu rezensiren, was sonst Gelegenheit gaͤbe viel Neues zu sagen, und das ziemlich trockne Geschaͤft ein wenig genialisch zu machen.

Das Leben ist kurz und die Buͤcher sind lang: was Wunder also, wenn man sich so geschwind mit ihnen abzufinden sucht, als man weiß und kann? Viele fleißige Leser kritischer Zeitschriften wuͤrden es eine sehr unbillige Zumuthung finden, erst die Rezension und dann noch hinterdrein die Schrift selbst zu lesen. Sie betrachten jene vielmehr als eine fuͤr sich verstaͤndliche Abbreviatur von dieser, und den Rezensenten als einen lebendigen Storchschnabel der ihnen die weitlaͤuftigen Umrisse ins Feine und Kleine bringt. Auch laͤßt sich hiegegen nicht viel einwenden, da die Beurtheiler ja selbst beschuldigt werden, daß sie oft bey den Physiognomien der Buͤcher stehn bleiben. Mit144 einiger Übung muß man in diesem Studium wirklich etwas leisten koͤnnen. Ein Blatt vorn und ein Blatt hinten geben schon viel Licht; besonders aber sind die Vorreden von unschaͤtzbarem Werth. Gaͤbe es litterarische Reichstage, so wuͤrde gewiß von Seiten der Beurtheiler der Vorschlag zu einem Gesetze geschehn, daß es erlaubt seyn solle, eine Vorrede ohne Buch, aber nicht ein Buch ohne Vorrede zu schreiben. Zwar wenn alle Schriftsteller so redlich und naiv zu Werke gingen, wie Jean Paul, so koͤnnte man sich mit den bloßen Titeln begnuͤgen. Aber leider haben die mancherley Kunstgriffe der verderbten Welt auch aus diesem Theile der Schriftstellerey die Unschuld verbannt. So wenige Titel gehoͤren dem Verfasser, oder zu seinem Werke. Wer einen Aufmerksamkeit erregenden ersinnt, hat einen außerordentlichen Fund gethan, der ihm aber durch den Druck sogleich entgeht und ein Gemeingut wird. Die trostlose Schwierigkeit neu zu seyn, kann gerade hier auch den besten, wenn er noch nicht Ruhm genug hat, um fremder Huͤlfsmittel zu entrathen, aus seinem Karakter heraustreiben.

Ein Hauptnachtheil der allgemeinen kritischen Jnstitute ist es, daß sie die verschiedenartigsten Dinge auf einerley Fuß behandeln muͤssen. Zuerst die guten Buͤcher und die schlechten. Von jenen muß dargethan werden, daß sie gut, und von diesen, daß sie schlecht sind. Wie sehr dieß auch dem heiligen Grundsatze der Gleichheit gemaͤß scheint, so kann die Gerechtigkeit doch niemals verpflichten, etwas uͤberfluͤßiges zu thun. Entweder man nimmt an, daß alle Buͤcher145 schlecht sind, bis das Gegentheil erwiesen ist; so wird man sich bloß mit dem Vortrefflichen beschaͤftigen, und das Übrige mit Stillschweigen uͤbergehn. Ein solches Journal haben wir nicht, und es wuͤrde sich aus mancherley Ursachen nicht lange halten koͤnnen. Oder man nimmt an, daß alle Buͤcher gut sind, bis das Gegentheil erwiesen ist, und daraus wird das umgekehrte Verfahren entstehn. Diese demuͤthige Maxime scheint die Allgemeine Deutsche Bibliothek (die das erste Beywort wohl nur noch pleonastisch fuͤr Gemein fuͤhrt) im Fache des Geschmacks zu befolgen, indem sie bloß bemuͤht ist, die armseligsten Produkte noch tiefer herunter zu reißen, von den Meisterwerken aber, die den Fortschritt der Bildung bezeichnen, gar keine Notiz nimmt. Man sieht, daß diese Kritik dem Wesen nach viel milder ist, als man nach ihren finstern Gebehrden glauben sollte; daß vielleicht gar eine stille Selbsterkenntniß der Rezensenten dabey zum Grunde liegt, die nur so die Überlegenheit behaupten zu koͤnnen meynen, welche faͤlschlich als das nothwendige Verhaͤltniß zwischen dem Beurtheiler und dem Beurtheilten angenommen wird. Aber auch in Zeitschriften, die zuweilen Meisterstuͤcke der Kritik liefern, muß die Abfertigung des Schlechten und Unbedeutenden einen viel zu großen Raum anfuͤllen, und dadurch die Wuͤrdigung dessen beengen, was die Wissenschaft oder die Kunst weiter bringt. Nachbarlich beruͤhren sich hier Autoren und Werke, die sich ewig nicht kennen, sondern in ganz getrennten Sphaͤren ihr Wesen treiben: alles wird nur durch die Begriffe Buch und Rezension146 zusammen gehalten. Manche Rezensionen sind die Grabschriften der angezeigten Buͤcher; andre koͤnnen fuͤr nichts als Taufscheine gelten. Nimmt man nun noch die vorwaͤrts gekehrten Taufscheine der Buchhaͤndler (ihre Ankuͤndigungen naͤmlich) und das Geschrey der Antikritiken dazu, so hat man ein Konzert, worin bey allen Dissonanzen doch im ganzen eine ziemliche Einfoͤrmigkeit herrscht.

Man hat fuͤr das Beduͤrfniß der verschiednen Faͤcher durch spezielle Journale gesorgt; selbst fuͤr die unlaͤngst mit Tode abgegangnen schoͤnen Wissenschaften hat man dergleichen gestiftet. Hier findet der Gelehrte dasjenige schon aus der chaotischen Masse gesondert, was ihn angeht, und der beschraͤnktere Plan laͤßt bey dem Einzelnen mehr Ausfuͤhrlichkeit zu. Allein es liegt in der Natur der Sache, daß solche Anstalten bey gleicher Guͤte in allem, was zum Gebiet des Schoͤnen und der Kunst gehoͤrt, doch weit weniger befriedigend seyn koͤnnen, als fuͤr eigentliche Gelehrsamkeit und Wissenschaft. Hier reicht oft ein treuer und mit Einsicht gemachter Auszug vollkommen hin; dort ist die Form des Urtheils eben so wichtig als der Gehalt: denn sie ist gleichsam das Gesaͤß, worin allein sich die fluͤchtige Wahrnehmung auffassen laͤßt. Der Genuß schoͤner Geisteswerke darf nie ein Geschaͤft seyn; sie treffend charakterisiren, ist ein sehr schweres, aber es muß nicht als solches erscheinen; und wie ist dieß anders zu vermeiden als dadurch, daß es nach Lust und Liebe, und losgesprochen von dem Zwange aͤußrer Verhaͤltnisse, getrieben wird? Sobald man147 rezensirt, ist man in der Amtskleidung: man redet nicht mehr in seinem eignen Namen, sondern als Mitglied eines Kollegiums. Wer eigenthuͤmlichen Geist hat, muß ihn dem Zweck und Ton des Jnstituts unterordnen; und es fragt sich, ob durch die Theilnahme an der Wuͤrde desselben die Aufopferung ersetzt werden kann, da es mit einem kollektiven Geist immer eine verwickelte Bewandniß hat. Hieraus entsteht gar leicht etwas steifes und zunftmaͤßiges, das mit jener beseelten Freyheit, welche das gemeinschaftliche Element der bildenden Kraft und der Empfaͤnglichkeit fuͤr ihre Schoͤpfungen ist, im Widerspruche steht. Überdieß liegt in diesem foͤrmlichen Vortrage ein Anspruch auf allgemeine Guͤltigkeit, den nur die wissenschaftliche Anwendung wissenschaftlicher Wahrheiten zu machen hat, der aber keinesweges auf Gegenstaͤnde ausgedehnt werden kann, die erst in der Seele des Betrachtenden durch ein wunderbares Spiel der innern Kraͤfte ihre Bestimmung erreichen. Ein Kunstrichter zu seyn, naͤmlich der uͤber Kunstwerke zu Gericht sitzt und nach Recht und Gesetz Urtheil spricht, ist etwas eben so unstatthaftes als unersprießliches und unerfreuliches. Mit Einem Worte, da die Wahrnehmung hier immer von subjektiven Bedingungen abhaͤngig bleibt, so lasse man ihren Ausdruck so individuell, daß heißt so frey und lebendig seyn wie moͤglich.

Die folgenden Beytraͤge wollen sich nicht zum Range von Rezensionen erheben: ihr Verfasser erklaͤrt sie fuͤr nichts weiter als Privatansichten eines in und148 mit der Litteratur lebenden. Seine Meynung glaubt er eben deswegen um so unbefangner und entschiedner aͤußern zu duͤrfen, etwa wie in einem zwanglosen Gespraͤche. Ein jedesmal vorangeschicktes: ich sollte vermeynen wuͤrde nur laͤstig und langweilig seyn, ohne an der Sache etwas zu veraͤndern; wem aber die tief in der menschlichen Natur eingewurzelte Unart des Behauptens anstoͤßig ist, der mag es sich immer hinzudenken. Der Raum, den diese Blaͤtter von Zeit zu Zeit im Athenaeum einnehmen werden, erlaubt unter der Menge der Erscheinungen nur wenige auszuheben. Und wozu auch Vollstaͤndigkeit in Ansehung der litterarischen Makulatur und All such reading, as was never read, womit gerade dieses Fach so unselig uͤberladen ist? Jch werde nur das zu karakterisiren suchen, was eine Art von Leben hat, entweder durch seine ausgebreitete Popularitaͤt oder durch seinen innern Werth. Selbst uͤber die bedeutendsten Werke behalte ich mir vor, schweigen zu duͤrfen, wenn ihr Eindruck mich nicht auf den Pfad eigenthuͤmlicher Betrachtungen geleitet hat. Auch mache ich mich zu keiner Vollstaͤndigkeit der Beurtheilungen (wenn man es so nennen will) anheischig: meine Absicht ist nicht, den Leser mit den erwaͤhnten Schriften erst bekannt zu machen; dieß setze ich schon voraus, und suche nur durch die Mittheilung uͤber sie die Entwicklung entgegengesetzter oder uͤbereinstimmender Gedanken zu veranlassen. Ohne um historisch geordneten Zusammenhang in diesen Rhapsodien bemuͤht zu seyn, werde ich die Gegenstaͤnde149 selbst in ihrem Zusammenhange zu fassen suchen. Beym Rezensiren ist ein mehr oder weniger isolirendes Verfahren nothwendig und hergebracht: alle vergleichenden Seitenblicke gelten da fuͤr Lizenzen. Und doch lassen sich nur die Buchstaben eines Buches in die Scheidewaͤnde des Bandes einschließen: in so fern es lebt, einen Geist und einen Gehalt hat, steht es als Wirkung und wiederum wirkend in mannichfaltigen Beziehungen. Das Verhaͤltniß des Schriftstellers zu seinen Vorgaͤngern und Nebenbuhlern, die Laufbahn, die er schon durchmessen hat oder zu betreten anfaͤngt, die Aufnahme, die er bey seinen Zeitgenossen findet, sind eben so viel aufklaͤrende Gesichtspunkte. Wie sich mir Aussichten darbieten, werde ich ihnen nachgehn: denn wo das Ganze Digression ist, hat man sich nicht vor Digressionen zu huͤten; und ich kann zu einem nicht erschoͤpften Gegenstande immer noch zuruͤckkehren, um ihn in einer verschiednen Zusammenstellung zu beleuchten.

Der Punkt, wo die Litteratur das gesellige Leben am unmittelbarsten beruͤhrt, ist der Roman. Bey ihm offenbart sich daher am auffallendsten der ungeheure Abstand zwischen den Klassen der lesenden Menge, die man durch den bloß postulirten Begriff eines Publikums in eine Einheit zusammenschmelzt: hier koͤnnen die Unternehmungen des Meisters, dessen Blick, seinem Zeitalter voraus, in graͤnzenlose Fernen dringt, dem regsten und vielseitigsten Streben nach Bildung begegnen, so wie eben hier die stupide Genuͤgsamkeit des Handwerkers, der nur denselben verworrnen Knaͤuel150 der Begebenheiten auf - und abzuwinden versteht, unaufhoͤrlich fuͤr die Saͤttigung schlaffer Leerheit arbeitet. Die gesetzlose Unbestimmtheit, womit diese Gattung nach so unzaͤhligen Versuchen immer noch behandelt wird, bestaͤrkt in dem Glauben, als habe die Kunst gar keine Forderungen an dieselbe zu machen, und das eigentliche Geheimniß bestehe darin, sich alles zu erlauben; waͤhrend sie doch vielmehr auf die Hoͤhe der Aufgabe hindeutet, die wie eine irrazionale Gleichung nur durch unendliche Annaͤherung geloͤst werden kann. Wer haͤlt sich nicht im Stande einen Roman zu schreiben? Daß nebst vielen und wichtigen Erfordernissen unter andern auch ein bedeutendes Menschenleben dazu noͤthig ist, laͤßt man sich nicht im Traume einfallen. Wie koͤnnten sonst die beliebten Romanschreiber so fruchtbar, und die fruchtbaren so beliebt seyn? Nur Einen Roman geschrieben zu haben, wird fuͤr gar nichts gerechnet: man muß beynah mit jeder Messe wieder erscheinen, um nicht auf der Liste der Beliebten ausgestrichen zu werden. Jch habe sogar von Schriftstellern gehoͤrt, welche gestehn, daß sie aus allen Kraͤften eilen, den Vorrath von Romanen, den sie noch in sich tragen, auszuschuͤtten, ehe die Gelaͤufigkeit ihrer Feder und ihrer Phantasie mit den zunehmenden Jahren erstarrt. Wie verschieden von der Sproͤdigkeit des zuruͤckhaltenden Genius, der wie die Loͤwin nur eins gebiert, aber einen Loͤwen! Jene duͤrfen sich nicht bruͤsten, wenn sie fuͤr den Augenblick vor diesem glaͤnzen: ihr Ruhm wird ebenfalls erstarren, sobald sie ihn nicht mehr bestaͤndig warm halten koͤnnen.

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Bey so unermuͤdlichen Ergießungen muß man natuͤrlich auf seltsame Huͤlfsmittel verfallen, um die Armuth an selbstaͤndigem Geiste zu bemaͤnteln, und wirklich ist auch bis zur rohesten Abgeschmacktheit nichts unversucht geblieben. Wer Romane fertigen kann, ohne Gespenster zu citiren und die Riesengestalten einer chimaͤrischen Vorzeit aufzurufen, wer sich ohne Geheimnisse mit simpeln Leidenschaften behilft, der haͤlt schon etwas auf sich und sein Publikum. Macht er sich denn auch mit Karakteren nicht viel zu schaffen, wenn ihm nur jene in einer gewissen Fuͤlle zu Gebote stehn, so kann er gewiß seyn, den mittleren Durchschnitt der Lesewelt fuͤr sich zu gewinnen, der fuͤr das grobe Abentheuerliche schon zu gesittet, fuͤr die heitern ruhigen Ansichten aͤchter Kunst noch nicht empfaͤnglich, starke Beduͤrfnisse der Sentimentalitaͤt hat.

Solch ein Schriftsteller ist Lafontaine. Wundern kann man sich also nicht uͤber das große Gluͤck, das er gemacht hat. Die Vorliebe fuͤr Jean Paul ist schon etwas viel ausgezeichneteres; er bewirthet nicht mit so leichten Speisen, da sich Lafontaine hingegen mit unglaublicher Schnelligkeit und in ganzen Baͤnden auf einmal genießen laͤßt, besonders wenn man schon einiges von ihm gelesen hat, und also gewisse Lieblingsschilderungen nur wie alte Bekannte im Vorbeygehn begruͤßt. Auch in dem einzelnen Werke wiederhohlt er die Szenen so reichlich, daß er dem geuͤbteren Leser die Haͤlfte der Zeit erspart, obwohl dem Verleger nichts an der Bogenzahl. Sicher kommt das diesem aber nicht so theuer zu stehn, da die leeren152 Bogen immer mit gekauft werden, als dem Verfasser selbst, dem es genuͤgen kann, sie dem Scheine nach angefuͤllt zu haben. Zwar sollten wir ihn nicht so ernsthaft nehmen. Dem froͤhlichen Manne ist es schwerlich um Vortrefflichkeit zu thun; es scheint ihm vielmehr, so oft er auch die Ewigkeit als das große point de vue hinstellt, hauptsaͤchlich an der Zeitlichkeit gelegen zu seyn. Um es dabey noch recht bequem zu haben, macht man sich eine Moral, eine Tugend, eine Unschuld, eine Liebe, die ein fuͤr allemal dafuͤr gelten muͤßen, ein wenig auf den Kauf gemacht, unhaltbar, aber gut in die Augen fallend.

Wenn man ihn indessen auch so jovialisch ansehn will, wie er selbst sein Thun und Treiben, so ist es doch nicht gleichguͤltig, was er fuͤr Begriffe von allen jenen Dingen unter die Leute bringt, und es ist der Muͤhe werth zu fragen, worin es liegt, daß er mit so viel gutem Willen und Glauben sittlich zu seyn, den schon so maͤchtigen Hang zur Erschlaffung und Passivitaͤt befoͤrdert. Es ist gewiß, wenn er sich als Schriftsteller strenger zu betrachten wuͤßte, so wuͤrde er auch die menschliche Natur hoͤher zu halten verstehn. Jn seinen fruͤheren Sachen schien er einen zugleich eigenthuͤmlichen und gefaͤlligen Gang nehmen zu wollen, ob er gleich von dem, was ein Gedicht ist, nie einen reinen Begriff gehabt haben muß, da er seine Szenen Gedichte nennen, ja sie sogar als Annaͤherungen zur tragischen Dichtkunst betrachten konnte. Vermuthlich hatte er schon damals kein hoͤheres Jdeal von dieser letzten als den tragischen153 Arnaud (St. Julien) und verwechselte mit Poesie die Art von Feuer, welche die Franzosen mit dem Ausdruck Verve bezeichnen, und die er in vollem Maße besitzt. Feinere Schattirungen deuteten bey alle dem auf Anlagen, von denen man, vorausgesetzt daß der Schreiber noch ein Juͤngling war, eine bedeutende Entwicklung hoffen durfte. Solche Zugaben, wie das Gegenstuͤck zu den Gamnitischen Heyrathen, oder Kunigunde, ließ man unbeachtet hingehn, wie manche einzelne Flecken an seinen mehr ausgearbeiteten Erzaͤhlungen. Die erste auffallende und nicht zu entschuldigende Jndelikatesse beging er an Julien in: Liebe und Redlichkeit auf der Probe, und daß er den Rudolf von Werdenberg nicht von solchen Auswuͤchsen wie die Begebenheit mit Heloisen rein erhielt, zeigt, wie sehr es ihm an Sinn fuͤr die Einheit und organische Bildung eines Werkes fehlte, und daß er sich im mindesten nicht um Zeichnung, sondern nur um ein uͤppiges Kolorit bekuͤmmerte. Dieses liefert ihm die bloße Leidenschaftlichkeit, ohne irgend einen aͤcht geistigen oder schoͤn sinnlichen Zusatz, hinlaͤnglich. Er gesteht selbst in der Vorrede zur zweyten Auflage der Gewalt der Liebe, daß er nur Eine Empfindung des menschlichen Herzens beleuchte (in welchem Sinn seine saͤmmtlichen Schriften die Gewalt der Liebe heißen koͤnnten) und von dieser nur ein paar Seiten. Schlimm genug, daß er von allen nur die gemeinste und schwaͤchste aufzufassen wußte! Schlimm genug, daß die ersten Reime in einen bloßen Blaͤtterreichthum aufgegangen sind,154 der ohne Stamm und Frucht sich nie uͤber eine gewisse Hoͤhe erhebt!

Wenn ihn auch seine Lektuͤre der Alten, die er recht angenehm, man moͤchte sagen auf weibliche Art, zu benutzen weiß, zu strengerem Ernst auffordert, wie in seinen neueren Griechischen Geschichten, so behandelt er doch alles mit Spannung, Schlag auf Schlag, bunt durch einander, und spart die Aufopferungen und Tode fuͤrs Vaterland so wenig wie bey andern Gelegenheiten die Kuͤsse. Die wechselnden Farben, das tumultuarische Leben, stehn mit der Wuͤrde des Gegenstandes in solchem Streit, daß man wohl sieht, in wie fern er mit ihm bekannt war. Eben dieses Farbenspiel ist es denn doch, und seine bluͤhende Dikzion und stroͤmende Rhetorik, der es nicht an den Grazien der Nachlaͤssigkeit fehlt, was schon so manchen jungen Busen erschuͤttert hat, und manches aͤltere Urtheil so verwirrt, daß Clara du Plessis der nouvelle Heloise an die Seite gesetzt und, um seiner schlechtesten Produkte willen Lafontaine mit vieler Praͤtension zum Kuͤnstler kreirt worden ist. (A.L.Z. 98. No. 47.) Es muß ihm selbst ein wenig lustig vorkommen, sich von Kunst vorschwatzen zu hoͤren, da man eher vermuthen sollte, daß er sich sogar bey den Werken Anderer wenig daraus macht. Laßt ihn doch nur so gefallen, wie ein frisches Maͤdchen, die weder bestimmte Zuͤge, noch Seele in den Augen, aber ein paar recht bluͤhende Wangen und artige Lippen hat. Es ist auch schon mehr begegnet, daß die edelsten Gestalten unbemerkt stehn blieben, und ein großes Gedraͤnge155 um solch ein Gesichtchen war, daß eben jedermann zusagte, weil nichts darin zu lesen war, als was jedermann versteht. Seine Schriftstellerey ist recht sichtlich die unerzogne Tochter der Natur, und es waͤre sehr zu wuͤnschen, daß das Dargestellte bey ihm (unter andern der dramatische Versuch jenes Namens) eben so viel Natur an sich haben moͤchte.

Kann denn aber wohl etwas unnatuͤrlicher, und zugleich unsittlicher seyn, als seine Kinderliebschaften? Er nimmt ohne weiteres an, daß das erste, was sich im Menschen regt, das Jnteresse des einen Geschlechtes fuͤr das andre ist. Wenn ein so fruͤhes Verhaͤltniß Statt findet, so lehrt die Erfahrung wenigstens, daß es sich zuerst als Abneigung offenbart. Man wird unter Kindern haͤufig Absonderungen der Knaben und Maͤdchen wahrnehmen. Oder haͤtten besondre Gewohnheiten und Antriebe dergleichen Buͤndnisse gestiftet, so trennt eine nachmalige verschiedne Bildung sie eben so oft wieder, als sie gluͤcklich oder ungluͤcklich fuͤr beyde Theile Bestand behalten. Lafontaine impft der gesunden Natur durch seine Voraussetzung eine Reizbarkeit ein, die ihr fremd ist. Waͤre es erst dahin gekommen, daß Kinder bey einer koͤrperlichen Beruͤhrung so heftig empfaͤnden wie Lissow und Kaͤthe im Flaming, da er ihr die Hand zum Schreiben lernen fuͤhrt, so wuͤrde ihre Jugend dem Verwelken naͤher wie dem Reifen seyn, und Eltern und Aufseher billig die Schuld davon tragen. Wenn die Unschuld wie die zarte Blume einer Schneeflocke ist, die ein Hauch verzehrt, (Flaming) so muß sie bey156 jungen Geschoͤpfen durch einen Blick in die meisten seiner Buͤcher zerstoͤrt werden. Jn den moralischen Erzaͤhlungen, in der Gewalt der Liebe, im Flaming, in Clara du Plessis, im Werdenberg, allenthalben verlieben sich die Kinder in einander. Lafontaine ist ihr wahrer Ovid.

Bedeutend ist es allerdings, daß er die Liebe so oft in die Zeiten der gedankenlosen Kindheit versetzt. Sie traͤgt durchgehends bey ihm etwas von dem Karakter ihres Ursprunges, von leerer Anhaͤnglichkeit und blinder Gewalt an sich, und es laͤßt sich genau von ihr sagen, was er bey Borde und Anne (im St. Julien) bemerkt: Beyde waren jung, das ist das ganze Geheimniß. Dieses Geheimniß auf halbem Wege stehn bleiben zu heißen, macht denn das Geheimniß seiner Unschuld aus, deren seine Helden, ebenfalls nach einem eignen Ausdruck von ihm, so unbeschreiblich viel haben. Wenn er bey der geistigen Liebe recht fein verfahren und psychologische Einsicht zeigen will, so haͤlt er sich bey Anspornungen der Eitelkeit, bey jugendlichen Wallungen auf, kurz, er setzt sie zu lauter Zufaͤlligkeiten herab. Eben so ist er, um hohe Unschuld darzuthun, unerschoͤpflich im Ausmahlen aller Arten von nahen Verhaͤltnissen und sinnlichen Annaͤherungen, in denen keine Sinnlichkeit seyn soll und die ohne Folgen bleiben. Ein Mahler wirft leicht eine schwebende Stellung hin, aber laßt es jemand versuchen, sie in der Wirklichkeit nachzuahmen, so wird er bald das Gleichgewicht verlieren. Jn dieser angeblichen Unschuld hat Lafontaine gaͤnzlich das Wesen157 schoͤner Menschheit verkannt. Je vollkommner die Organisazion ist, um so sichrer muͤßen auch die Sinne eine edle Entzuͤndbarkeit an sich haben. Fuͤrwahr, so ungestraft auf sie losarbeiten zu duͤrfen, verriethe nicht Reinheit, sondern eine große Stupiditaͤt derselben, und einen Mangel an Fantasie, der nichts weniger wie reizend seyn moͤchte. Er aber glaubt der Natur ihr Recht erwiesen und auch die guten Sitten gerettet zu haben, wenn er Kindern sowohl wie Erwachsenen eine Menge Vertraulichkeiten erlaubt, denen man gar nicht zusehn mag, und sie nicht mehr dabey fuͤhlen laͤßt, als bey einem freundlichen Kopfnicken. Beyde, die Natur und die guten Sitten, haben sich denn doch bitterlich uͤber ihn zu beschweren. Den Lesern allein macht er es recht, deren Sinn sich nicht von so widerwaͤrtigen Vermischungen abwendet, die er in eine schmeichelnde Stimmung versetzt, wo der Lockung kein Widerstand geleistet zu werden braucht, weil doch die Tugend unverletzt bleibt.

Man nehme unter einer Menge von Beyspielen nur seine Jacobine im Flaming. Sie lebt gleich anfangs mit Lissow in der aͤußersten Ungezwungenheit. Sie bot ihm die schoͤne Wange zum Morgengruß, er nahm sie in Gegenwart ihrer Eltern in die Arme und liebkoste ihr. Sie ging, wenn sie wollte, zu ihm, und saß neben ihm von seinem Arm umschlungen. Kam ihr Vater dazu, so setzte er sich auf die andre Seite und schlug seinen Arm gleichfalls um ihren Leib. (Die Zuschauer muͤssen uͤberhaupt oft bey ihm die Heimlichkeiten der Liebe sankzioniren.) 158Lissow war ein junger Mann, der Jacobinen nie gesagt hatte, daß sie seine Frau werden koͤnnte. Sie wird uns als das reinste, erhabenste Gemuͤth vorgestellt. Was Vertraulichkeit bedeutet, konnte sie indeß bey ihrer Erziehung wohl nicht umhin zu wissen, und Zuruͤckhaltung von einer jeden, die nicht das erste uͤberraschende Gestaͤndniß der Liebe oder die Folge desselben war, mußte die Bewegungen eines so gebildeten jungen Maͤdchens leiten. Heilige unwillkuͤhrliche Scheu sich hinzugeben, ist Unschuld, nicht Lafontainens unendliche Arglosigkeit im Hingeben, die seine Frauen, er mag sie nun so edel schildern als er will, mehr oder weniger zu Gurli´s macht. Jacobine treibt sie so weit, daß sie auch als Lissows Gattin dem jungen, schoͤnen und reichen Maltheserritter, der ihr Hausfreund war, die schoͤne Wange hinhielt, wenn er kam und wenn er ging. Wie unverstaͤndig muͤßte ein sittsames Weib seyn, um sich so zu betragen? Welche Vorwuͤrfe haͤtte sie sich zu machen, wenn aͤhnliches Unheil wie bey dieser Gelegenheit daraus entsteht.

Ein andrer moralischer Hebel des Lafontaine ist die Wohltaͤtigkeit und uͤberhaupt alle die Ruͤhrungen, die aus der rohen Gutherzigkeit entspringen. Nicht, als ob er versaͤumte, in Worten die gehoͤrige Dosis Weisheit beyzumischen, wie er zum Beyspiel dem Flaming einen alten Grumbach zugestellt, der mit seiner Freygebigkeit haushaͤlt: aber er mag noch so sehr dazu und davon thun, er bringt es doch zu keinem edleren Metall in der Jugend, als zu diesem materiellen159 Triebe des Gebens; damit lockt er seine Thraͤnen hervor, damit beruhigt er die zerruͤtteten Gemuͤther. Was daruͤber ist, bleibt doch nur die trockne Moral der Fabel. Denn freylich weiß er wohl, daß sonst noch Heroismus, Thaͤtigkeit, Wissenschaft, Bildung, Maͤßigung dazu gehoͤren kann, aber da er die letzte niemals uͤbt, so kommt das alles bey ihm heraus, wie die Beschreibung von ungeheuren Thaten der Tapferkeit, wo Einer ganze Haufen in die Flucht jagt oder niedermacht. Jst so ein Held einmal im Siegen, so weiß man auch schon, er wird ohne Wunde davon kommen. Sich aufopfern, sich beherrschen u.s.w. ist leicht gesagt; es kommt nur darauf an, zu zeigen, wie das geschah, und dann kann Ein Zug mehr werth seyn wie hundert. Lafontaine scheint aber so fest uͤberzeugt, daß in allen Dingen viel mehr thut wie wenig, als er es in Buͤcherfabrik-Angelegenheiten seyn darf. Selbst die Fehler und Thorheiten, mit denen er den Schwall der Tugenden versetzt, vermoͤgen sie nicht zu wuͤrzen, und eben so wenig ein recht natuͤrliches Konterfey des Menschen hervorzubringen, als diese ein idealisches.

Jm Verlauf seiner Schriftstellerbahn ist er auf mehre Auswege verfallen. Er hat etwa eine launige und antithetische Karakterzeichnung zu Huͤlfe genommen, oder sich an fremden Mustern erwaͤrmt. St. Julien gruͤndet sich auf den Landpriester von Wakefield, im Flaming ist etwas Siegfried von Lindenberg, zu Anfang von Natur und Buhlerey schimmert viel guter Wille den Werther zu machen hindurch, und160 was das pikanteste ist: er Jean-Paul-Richterisirt seit kurzem mit dem besten Anstande. Jst gleich die Wiegenrede unter den Platanen im St. Julien nicht im Kostum, so beweist sie doch, wie viel sich in dieser Gattung mit der bloßen Mechanik thun laͤßt. Einige andre Auftritte, als die mit dem Rudern des Borde und der Familie des Kapitaͤns, sind dafuͤr ganz im Ton Franzoͤsischer Empfindungsart, deren Oberflaͤchlichkeit wenigstens elektrische Funken spruͤht.

Man thaͤte Lafontainen vielleicht Unrecht, ihn nach dem Flaming allein zu beurtheilen, obwohl es sein dickstes Buch ist. Eben darum wuchern die Begebenheiten darin so in die Breite, und es hat eine Menge Raͤsonnement, Satire, Lehre und Beyspiel auf einander gepackt, und das Drollige bis auf den Faden abgenutzt werden muͤßen, so daß nichts wie der Überdruß zuruͤckbleibt. Philosophie ist uͤberdieß Lafontainens Sache nicht, weder die strenge noch die humoristische. Die Universalitaͤt, der er hier nachgeht, konnte also nur in allgemeine Plattheit ausarten. Duͤrfte man, unter andern, nicht annehmen, daß Hilberts Reden im dritten Theil den Gesichtspunkt angeben sollen, aus denen der Philosoph, oder der gesunde Menschenverstand, Flamings Narrheiten und ehrlicher Leute Enthusiasmus ungefaͤhr so in Eins zu werfen habe, wie die Vorrede zum Flaming unkritische Hypothesen und kritische Philosophie? Und nun seht, wie leichtfertig er sich dabey ausdruͤckt. Hoͤren Sie einmal jemand, der in Rom gewesen ist! Er erzaͤhlt Jhnen mit einem Entzuͤcken, das an Raserey161 graͤnzt, von einem Kopfe aus Stein oder aus Knochen geformt das ist wohl so ziemlich einerley und findet in Apolls Gesicht Stoff zu tagelangem Nachdenken, zu den erhabensten Empfindungen. Sollten Sie den Apoll selbst sehn, so wuͤrden Sie glauben, der Mensch sey nicht bey Sinnen gewesen. Diese Ansicht ist noch viel weiter ausgefuͤhrt, und gehoͤrt zu seinen glaͤnzenden Stellen. Ob aber die Leser folgende aus dem Gebiet der Moral zu den glaͤnzenden oder soliden rechnen? Du sollst tugendhaft seyn, ist der ewige Befehl der Vernunft; und du sollst gluͤcklich seyn, der eben so ewige, eben so strenge Befehl aller unsrer Gefuͤhle. Diese beyden Jnstinkte unsrer Natur moͤchte ich sie nennen, diese beyden Grundtriebe unsrer moralischen und fuͤhlenden Natur, duͤrfen einander nie widersprechen. Sie sind gleich herrschend, gleich ewig, gleich nothwendig; die beyden großen Lebensstroͤme, durch die wir sind, was wir sind. Sie wechseln ewig ihre Natur mit einander. Die Tugend wird die Quelle unsres Gluͤckes und aus dem unausloͤschlichen Wunsche sich gluͤcklich zu machen, erhaͤlt die Tugend ihre Staͤrke. Der eine Befehl ist gleichsam der Nachhall des andern: der eine toͤnt vom Richterstuhl des Ewigen; der andre saͤuselt von dem Meer der ewigen Liebe zu uns hernieder. Sey tugendhaft! sey gluͤcklich! Zwey Toͤne die zugleich erklingen, und die schoͤnste Harmonie des Weltalls bilden; zwey Stroͤme aus Einer Quelle, die das Paradies einschließen, und sich dann wieder162 vereinigen. Der eine Befehl ohne den andern ist todt, schrecklich, abscheulich. Sey gluͤcklich ohne Tugend! und die Erde faͤllt unter dem Gluͤck des Menschen in Truͤmmer. Sey tugendhaft ohne Gluͤck! und der Thron der Liebe stuͤrzt unter diesem barbarischen Befehle. Beyde gehoͤren ewig zusammen, die beyden Staͤmme einer Wurzel. Sie haben Eine Natur, Ein Wesen, und befehlen beyde, ohne Gruͤnde anzugeben. Sey gluͤcklich! nur ein Narr fragt, warum. Sey tugendhaft! nur ein Rasender fragt nach der Ursache. Das eine erhaͤlt die fuͤhlende Natur, das andre die moralische. Beyde machen unser Wesen aus, eins und unzertrennlich. Das heißt doch gewiß Tugend und Gluͤck von allen Seiten beleuchten, und ist nun so die gehaltvolle Form dessen, was er Weisheit nennt. Der gluͤcklichste Zufall ist noch die Eile, mit der er auf den letzten Seiten die Franzoͤsische und die Kantische Revolution abzufertigen genoͤthigt ist. Bey Jglou unterdruͤckt man gern die profane Vermuthung, daß Mignon im Wilhelm Meister auf diese Schoͤpfung gefuͤhrt haben moͤchte; denn es ist nicht zu laͤugnen, sie macht zu Anfang eine mehr huͤndische als menschliche Erscheinung, mit der die nachherige hohe Bildung, die er ihr beylegt, nicht aussoͤhnt. Den Hang, groteske Figuren gleichsam auf die Spitze des Edlen zu treiben, hat er uͤbrigends mit dem Jtzehoer Muͤller gemein, so wie mehre unsrer komischen Schriftsteller, auch Wezel, der diese beyden bey weitem uͤberwiegt, oft lustig anfangen und so ernsthaft endigen, daß die Natur der Sache und163 des Buchs gaͤnzlich alterirt wird. Jhr komisches geht ins Betruͤbte uͤber, denn wer bey Anspruͤchen auf beyde Gattungen nicht rein komisch zu seyn weiß, erhebt sich auch nicht bis zum Tragischen; und so wird Muͤller trocken, Wezel truͤbsinnig und Lafontaine konvulsivisch.

So viel ich weiß, zieht selbst das Lafontainische Publikum St. Julien dem Flaming vor. Eben durch die Reminiszenzen aus dem Landpriester von Wakefield bekommt er eine bedeutendere Physiognomie. Die Striche, welche den Karakter ausdruͤcken sollen, sind zwar etwas groͤber gerathen, und auch nicht immer unter sich zusammenhaͤngend. Es war sehr moͤglich, daß ein Mann, wie der Landpriester, sich mit allen seinen kleinen Schwaͤchen schilderte. Er hatte grade Überlegenheit genug, um mit dem leisen Spott uͤber sich selbst, der den Reiz jener Darstellung ausmacht, das Gemaͤhlde zu entwerfen. Aber St. Julien steht unter der Herrschaft einer Schwaͤche, die kein so freyes Gestaͤndniß vertraͤgt, weder was die innre Wahrscheinlichkeit, noch was die Wirkung betrifft. Die Furcht uͤbermannt ihn, nicht bis zur Thorheit allein, bis zur Niedrigkeit. Der Landpriester giebt seine Frau fuͤr nichts anders als was sie ist; St. Julien erklaͤrt die seinige fuͤr die beste Frau fuͤr ihn in ganz Frankreich. Alle die gemeinen Zuͤge an ihr kann er damit nicht adeln, wie es sein Bestreben ist. Jn ihrem Karakter sowohl, wie in dem seinigen ist auf einer Seite das schlechte, was da ist, zu schlecht, auf der andern das Resultat, was herauskommen soll,164 zu hoch; daraus entsteht ein Misverhaͤltniß, woran sich die Unaͤchtheit der Fikzion erkennen laͤßt. Es kann ein Gegenstand der reifsten Poesie seyn, auch eine sehr gewoͤhnliche Natur in ihrer vollen Wahrheit und Beschraͤnkung darzustellen; aber das erfodert eine Enthaltsamkeit, die Lafontaine freylich nicht kennt, da sie eben mit zur reifen Poesie gehoͤrt. Er kann uͤber allem Schildern nicht zum Darstellen kommen. Wie kindlich sind einige von den ersten karakteristischen Familienszenen angelegt, wo so viel von den Alten und vom Brutus die Rede ist. Welche uͤberzeugende Argumenta ad hominem! Auch kommen gleich drey, vier Exempel von der naͤmlichen Sache hinter einander, und dazwischen die ausdruͤcklichen Berichte, wie sich ein jeder benahm. Wenn das rechte fehlt, so moͤgt ihr noch so viel daruͤber singen und sagen; glauben mag man, aber sehen wird man nicht, und der Überfluß macht es niemals aus. So muß man auch aufs Wort glauben, daß Anna ein außerordentliches Wesen ist. Die geheimnißvolle Ankuͤndigung loͤst sich nach und nach in truͤben Dunst auf. Alsdann tritt Adelaide als das seltne Geschoͤpf hervor, die sich von ihnen allen durch ihren Karakter unterscheidet. Jhr Herz war ein lebender Hauch der Liebe, und zugleich stark wie ein Diamant, ihr offnes Auge war heiter, aber in diesen Augen spielte nicht der leichte Sinn der Jugend, es leuchtete darin ein Stral des ewigen Lebens, es schien uͤber das Elend hinweg in eine Welt voll Ruhe zu sehn, und die Thraͤne, die an den langen Augenwimpern165 hing, zeigte das Elend, das zwischen ihr und der Ewigkeit lag. Jhre Stimme war sanft und ernst triumphirend wie der Halleluja Gesang der Engel, ihre Wange stralend von einem sanften Morgenroth u. s. w. So geht es ganze Blaͤtter hindurch. Welche lockende Worte! Koͤnnte man mit Worten allein dichten, so waͤre Lafontaine der Mann. Aber aus dem Ganzen ergiebt sich, wie wenig poetischen Sinn sie im Hinterhalt haben, und daß sie hoͤchstens als eine musikalische Verzierung zu betrachten sind. Jean Paul musizirt zuweilen auch so; doch ist es wirklich seine Phantasie die da spielt, nicht bloß eine mechanische Fertigkeit der Haͤnde. Jenes ergreift wieder die Phantasie, und oft nur allzustark; dieses soll unser Herz ruͤhren, allein wie nicht jedem Freunde der Musik die Fertigkeit genuͤgen wird, so moͤchte sich auch nicht jedes Herz von Lafontaine in Bewegung setzen lassen. Den Verstand hat er nie besonders in Anschlag gebracht; er geht nur immer auf das Herz los, (ein solches, das weder Kopf noch Sinne hat) indessen koͤnnte eben jener, wo er sich mit dem Herzen im Bunde befaͤnde, ihm manche Beute abwendig machen, da er weder mit der bloßen Jnnigkeit zu gewinnen, noch mit dem bloßen Schein derselben zu taͤuschen ist.

Das Ende von St. Julien ist zu schwach, um etwas anders als den frommen Wunsch zu erregen, daß alle unschuldig Guillotinirten noch einmal auf dieser Erde so lebendig versammelt werden moͤchten, wie die Auferstandnen in dieser Familiengeschichte.

166

Am ersten ließe sich wohl in Natur und Buhlerey der bessre Lafontaine wieder finden. Der junge Mann ist freylich nicht so ausgezeichnet, wie er dafuͤr gelten soll. Er sehnt sich nach dem Lande; er schmaͤhet die Stadt, es ist ihm mit seinen Gefuͤhlen zu eng darin. Was so einen Menschen druͤckt, das koͤnnte man am Ende wie eine Feder wegblasen. Werthers Leiden gingen ein wenig tiefer, als daß er uͤber das Laͤcheln einiger artigen Maͤdchen spekulirt haben sollte, wenn es ihm eingefallen waͤre, getrocknete Jasminbluͤthen aus dem vaͤterlichen Garten zu kuͤssen. Warum braucht Lafontaine hier auch so zur Unzeit Ton und Wendungen, die eine solche Vergleichung, noch so fluͤchtig, herbeyziehen? Dazu paßt nachher der pathetische Ruf des Freundes, der den Eduard Bomston macht, vollkommen. Jch befehle dir Juͤngling, dort zu bleiben und deine Laufbahn zu vollenden! Der Juͤngling predigt mit unendlichem Feuer von seinen Gefuͤhlen und der Ewigkeit, und vertheidigt mit leidenschaftlicher Hitze die Eindruͤcke der Jugend. Das dekontenanzirt die Weltleute gar sehr, und daraus wird seine große Überlegenheit dargethan. Durch eine wohlthaͤtige Handlung schlaͤgt seine Geliebte allen Verdacht gegen die Guͤte und Aufrichtigkeit ihres Karakters bey ihm nieder; daruͤber kann Lafontaine also wieder nicht hinaus. Was aber die beyden Maͤdchen und sonst den Gang der Geschichte betrifft, so ist Waͤrme und jener feinere Glanz in der Behandlung, welche von Lafontaine die angenehme Hoffnung erregten, er wuͤrde im Fach der Erzaͤhlungen167 vorzuͤglich werden. Wir haben so wenig ausgebildetes darin. Unter dem wenigen erinnert man sich mit Vergnuͤgen und Bedauern der Bagatellen des fuͤr die Welt und sich selbst verlornen Anton Wall. Wie viel Grazie ist nicht besonders in seiner Antonie! Meisners Andenken, an dessen Stelle Lafontaine gleichsam trat, ruft nur noch dann und wann ein grauer Apollo zuruͤck. Seine steife Eleganz hatte immer etwas todtes an sich. Er war so pruͤde und kostbar, als Lafontaine lebendig und ungezwungen, und es ist ihm nie wie diesem gelungen, der Liebenswuͤrdige zu heißen. An Verstand uͤbertraf ihn Meisner leicht, aber es war von der duͤrren Gattung, die den Geist nicht zu fesseln vermag. Lieblingsschriftsteller ist er dennoch gewesen. Mehr kann Lafontaine auch nicht werden; das ist wenig genug, aber immer zu viel fuͤr die im Ganzen so herabziehende Tendenz seiner Produkte, denen es an Poesie, an Geist, ja sogar an romantischem Schwunge fehlt.

Wer also einiges Beduͤrfniß fuͤr alle diese Dinge hat, wird sich gern von jener materiellen Masse, jener breiten Natuͤrlichkeit, zu luftigeren Bildungen der Fantasie wenden, die bald heitern Scherz hingaukeln, bald die Musik zarter Regungen anklingen lassen. Jhm wird alsdann eine ruhige Darstellung sehr erquickend entgegen kommen, die, wenn sie auch noch nicht bis zur Vollendung gediehen ist, doch in der milden Temperatur eines kuͤnstlerischen Sinnes geboren wurde. Die theils dramatisirten, theils erzaͤhlten Volksmaͤhrchen von Tieck unter dem Namen Peter168 Leberecht, sind von dieser Art: doch scheinen sie bis jetzt nicht mit der Aufmerksamkeit bewillkommt worden zu seyn, auf die eine so gefaͤllige Erscheinung wohl rechnen duͤrfte, wenn es nicht gar wenige gaͤbe, welche in der Dichtung nur die Dichtung suchen. Ob dieß letzte daher ruͤhrt, daß die Urheber derselben ihre Unabhaͤngigkeit so selten zu behaupten wissen, oder ob der Mangel an reinem Sinn dafuͤr genoͤthigt hat, zu fremden Huͤlfsmitteln seine Zuflucht zu nehmen, um Eingang zu finden, will ich hier nicht untersuchen. Allein gewiß ist es, daß vieles, was fuͤr Poesie gegeben und genommen wird, durch etwas ganz anders sein Gluͤck macht. Wie man guten Seelen immer die Gewalt der Liebe ans Herz legt, haben wir eben gesehen; andre und mitunter beruͤhmte Maͤnner sind in dem Falle, daß die Luͤsternheit bey ihnen ein nothwendiges Jngrediens zu einem Gedicht ist, ohne welches sie sich gar nicht getrauen es schmackhaft zu machen. Gegentheils koͤnnen andre die Tugend niemals los werden, und ergießen ihr Baͤchlein, da gute Lehre und Warnung innen fleußt, hinter dem Dichterlande vorbey, um die Äcker der Paͤdagogik und Aszetik zu waͤssern. Die Unschuld einer Muse, welche weder ein bloß leidenschaftliches Jnteresse zu erregen sucht, noch dem groͤberen Sinne schmeichelt, noch moralischen Zwecken froͤhnt, kann daher leicht als Unbedeutendheit misverstanden werden. Und in der That ist es auch eine naͤhere Beziehung auf die Wirklichkeit, was unter diesen Volksmaͤhrchen vorzuͤglich den gestiefelten Kater mehr in Umlauf gebracht,169 und nach dem Maße des gegebnen Ärgernisses ihm Leser und Tadler verschafft hat. Jn einer Erzaͤhlung der Mutter Gans das leibhaftige Deutsche Theater sammt allem Zubehoͤr aufs Theater zu bringen, ist wahrlich unerhoͤrt. Wenn die Satire noch methodisch, deklamatorisch, gallicht waͤre; aber grade umgekehrt, sie ist durchaus muthwillig und possenhaft, kurz gegen alle rechtliche Ordnung. Jch gebe den Verfasser verloren: er wird sich niemals von den Streichen, die er ausgetheilt hat, erholen koͤnnen. Oder glaubt er, den großen Schikaneder ungestraft antasten zu duͤrfen? Besonders, da er es mit den Schildbuͤrgern durch seine Geschichtschronik derselben unheilbar verdorben hat, und wie ein Korsar kecklich in die Haͤfen dieser angesehenen Nazion eingelaufen ist, die durch ihr Schutz - und Trutzbuͤndniß mit den ebenfalls zahlreichen Philistern noch furchtbarer wird. Sie werden es ihm schon einzutraͤnken wissen, und den Spaß auf eine Art verstehn, daß es ihm vergehn soll, welchen zu machen. Eher moͤchte der Prolog zu einem Schauspiele, das niemals aufgefuͤhrt wird, vor der Polizey der Ernsthaftigkeit durchschluͤpfen: der ganz heterogene Sinn der vom Theaterwesen entlehnten Einkleidung wird vielleicht nicht allen klar werden, weil sie in dem theologischphilosopihschen Vorspiele selbst zu eifrig mitagiren, um Unrath zu merken. Was den Theaterdirektor betrifft, uͤber den hier viel spekulirt wird, so ist er eine lieberale Person, die gern jedes in seiner Art leben laͤßt; wenn nur die Lampenputzer nicht in seinem Namen empfindlich werden, daß170 man ihren Verkuͤndigungen uͤber ihn den Schwaͤbischen Dialekt aufruͤckt.

Dieß sind ungefaͤhr die Schalkheiten, die sich unter dem ehrsamen Titel Volksmaͤhrchen (Boͤcke unter den Schafen) eingedraͤngt haben. Kann ihnen die unbesonnene Leichtigkeit, womit sie in die Welt gesprungen sind, keine Verzeihung auswirken; scheinen sie vielmehr wegen des jugendlichen Talents, das noch viel dergleichen befuͤrchten laͤßt, doppelt bedenklich, so wird man sie wenigstens uͤber der kindlichen Unbefangenheit, womit die uͤbrigen Stuͤcke behandelt sind, vergessen. Man erkennt in allen dieselbe Hand, aber gewiß nicht an der Einfoͤrmigkeit der Manier. Der Dichter bestrebt sich vielmehr uͤberall den Ton des Gegenstandes zu halten, und er trifft ihn gewoͤhnlich mit der Sicherheit einer unabsichtlichen Richtung. Deswegen konnte er aus der Geschichte von den Heymons Kindern, in zwanzig altfraͤnkischen Bildern, nichts anders machen wollen als einen poetischen Holzschnitt. Die genaue Beobachtung der Perspektive muß man einem solchen schon erlassen; aber in den eckichten und groben Umrissen dieser kolossalen Figuren duͤrfte leicht mehr Natur und Karakter seyn, als in der Kritik eines Kunstrichters, der sie unnatuͤrlich und karakterlos nennt, ihre Erdichtung der Unwissenheit und dem Aberwitz zuschreibt, und das Ganze vornehm in die Jahrmarktsbuden zuruͤckweist. Man sollte sich doch huͤten, in einem prosaischen Zeitalter ehrliche alte Volkssagen so schnoͤde anzulassen, denen es, wie unfoͤrmlich sie auch sonst seyn171 moͤgen, schwerlich ganz an poetischer Energie fehlt. Auf dem Grund und Boden solcher Maͤhrlein ist der Feenpallast des goͤttlichen Meisters Ariosto erbaut; und es koͤnnte schon deswegen anziehend seyn, sie in ihrer urspruͤnglichen rohen Treuherzigkeit vorgefuͤhrt zu sehen, um damit die welschen Umbildungen eines hellen und feinen Verstandes zu vergleichen. Der juͤngste und gewaltigste unter den Heymonskindern, Reynold, ist Ariosto's Rinaldo, Figliuol d'Amon, Signor di Mont 'Albano; und sein Pferd Bayart, das in der Geschichte eine so große Rolle spielt, und zuletzt der Aussoͤhnung seines Herrn mit Kaiser Karl aufgeopfert und ertraͤnkt wird (eine Begebenheit, welche Kindern und auch Erwachsenen, welche sich noch nicht gegen dergleichen abgehaͤrtet haben, immer eine große Ruͤhrung kosten wird, wie der Hund Argos beym Homer) ist derselbe Bayardo, der gleich zu Anfang des Orlando furioso so klug, gewandt und stark erscheint. Hat dieß treffliche Roß etwa keinen Karakter, weil die Motive seiner Handlungen nicht gruͤndlich genug nach der Pferdepsychologie zergliedert worden sind? Das ist nun so die Art der Poesie, daß sie die lebendigen Kraͤfte hinstellt, unbekuͤmmert um das Problem, warum ihre Eigenthuͤmlichkeit grade diese und keine andre ist. Wenn nicht ein geheimer Grund zu einem bestimmten Daseyn in ihnen laͤge, so waͤren es ja eben keine Naturen.

Jn der wundersamen Liebesgeschichte der schoͤnen Magelone und des Grafen Peter172 aus der Provence hat sich der Erzaͤhler eine zu schwere Aufgabe gemacht, die vielleicht nicht rein zu loͤsen war. Die Anlage ist einfaͤltig, Und taͤndelt mit der Unschuld suͤßer Liebe, So wie die alte Zeit; aber diesen Gang der Begebenheiten sollte nun ein Spiel der Empfindungen entfaltend begleiten, das nur uͤber den Liebenden schwebt, und sich ihnen nicht recht aneignen will. Jene schlichten Sitten und der reiche Ausdruck einer Schwaͤrmerey, die alle Gegenstaͤnde in ihre gluͤhenden Farben taucht, konnten vermischt, aber nicht voͤllig verschmelzt werden, und man fuͤhlt das Fremdartige und die Willkuͤhr der Zusammenstellung. Zwar die Poesie ist die gemeinschaftliche Zunge aller Zeiten, Geschlechter, Alter und Sitten; und wenn sich die innre Regung in Gesang ausathmet, findet sie in einer hoͤhern Region die Simplicitaͤt wieder, die ihr unter dem rednerischen Bemuͤhen, sich in der gewoͤhnlichen Sprache vollstaͤndig mitzutheilen, verloren gegangen war. Die eben geruͤgte Mishelligkeit erstreckt sich also nicht auf die zahlreich eingestreueten Lieder. Haͤtte der Dichter den lyrischen Theil der Darstellung ganz auf sie versparen, und noch mehr eine Erzaͤhlung mit Gesang (eine Gattung, von der sich eben so wohl eine mannichfaltige Bearbeitung denken laͤßt, als von dem Schauspiele mit Gesang) daraus machen koͤnnen, als schon geschehn ist, so haͤtte fuͤr den veraͤnderten Punkt der Betrachtung gewiß alles an Wahrheit und Harmonie gewonnen. Allein auch wie es jetzt steht, fehlt es nicht an bestechenden173 Reizen: die Poesie geht nie so in das Bluͤhende und Üppige uͤber, daß nicht eine leichtere Fuͤlle sichtbar bliebe und ihre Bilder gestaltet eine nicht bloß fruchtbare, sondern befluͤgelten Phantasie.

Die reifsten Stuͤcke in der Sammlung scheinen mir Ritter Blaubart und der blonde Ekbert, jenes unter den dramatischen, dieses unter den erzaͤhlten: es laͤßt sich daraus ungefaͤhr abnehmen, was Tieck in beyden Gattungen leisten kann, ohne daß ich entscheiden moͤchte, zu welcher ihn seine Anlagen mehr hinneigen. Die Umgebungen, wodurch das Ammenmaͤhrchen Blaubart zum Umfange eines Schauspiels erweitert ist, sind mit Einsicht und Schicklichkeit gewaͤhlt: nichts ablenkendes und stoͤrendes, wenn auch manches entbehrliche ist in die Zusammensetzung aufgenommen worden. Die Figuren sind bestimmt gezeichnet, vielleicht durch zu schneidende Graͤnzen gesondert: wenn man nicht darauf etwas rechnen will, daß, da die ganze Erdichtung der ungeuͤbtesten Fassungskraft entgegen kommt, auch die einzelnen Gegenstaͤnde in ihr leichter erkennbar seyn muͤssen, als in einer erwachsenen Welt. Das Wunderbare ist in eine vertrauliche Naͤhe geruͤckt, der Dialog ist ungezwungen und ohne Anmaßung, und die Handlung bewegt sich in leichten Wendungen fort, bis sie zu den entscheidenden Momenten gelangt, wo die Besonnenheit, in der wir durch eine heitre Gegenwart immer erhalten werden, in eine lebhaftere Theilnahme uͤbergehen kann. Die Neugier der Agnes nach dem verbotnen Zimmer steigt mit großer Wahrheit174 von der ersten unmerklichen Anmuthung durch alle Grade hindurch bis zu einem unwiderstehlichen Geluͤste, ohne daß sich der Dichter nach nur einen Augenblick zu lange dabey verweilt haͤtte. Durch die Behandlung der folgenden Szenen hat er gezeigt, daß er selbst eine volle tragische Wirkung zu erreichen faͤhig ist, wo sie, wie durch den Schrecken geschieht, unmittelbar die Fantasie beruͤhrt. Es ist ein meisterhafter Zug, wie Agnes in ihrem zerruͤtteten Zustande zu sehn glaubt, daß sich das Gesicht der Alten waͤhrend der Gespenstergeschichte verzerre; und eben so ergreifend offenbart sich uͤberhaupt ihre Angst, ohne in ein widerwaͤrtiges Grausen uͤberzugehn.

Jm blonden Ekbert werden ebenfalls Schauer erregt, an denen keine Haͤßlichkeit der Erscheinungen Theil hat, und die um so uͤberraschender treffen, weil sie nicht mit großen Zuruͤstungen herbeygefuͤhrt werden. Durch die ganze Erzaͤhlung geht eine stille Gewalt der Darstellung, die zwar nur von jener Kraft des Geistes herruͤhren kann, welcher die Gestalten unbekannter Dinge bis zur hellen Anschaulichkeit und Einzelnheit Rede stehn, deren Organ jedoch hier vorzuͤglich die Schreibart ist: eine nicht sogenannte poetische, vielmehr sehr einfach gebaute, aber wahrhaft poetisirte Poesie. Das Geheimniß ihres Maßes und ihrer Freyheit, ihres rhythmischen Fortschrittes, und ihres schoͤn entfaltenden Überflusses hat, fuͤr unsre Sprache wenigstens, Goethe entdeckt; und die Art wie Tieck seinen Styl, besonders im Wilhelm Meister und in dem goldnen Maͤhrchen, dem Maͤhrchen par175 excellence, studirt haben muß, um es ihm so weit abzulernen, wuͤrde allein schon seinen Sinn fuͤr dichterische Kunst bewaͤhren.

Die schmeichelnden kleinen Lieder habe ich oben bey Gelegenheit der Magelone erwaͤhnt; auch in den andern Stuͤcken sind ihrer einzelne eingeflochten. Es liegt ein eigner Zauber in ihnen, dessen Eindruck man nur in Bildern wiederzugeben versuchen kann. Die Sprache hat sich gleichsam alles Koͤrperlichen begeben, und loͤst sich in einen geistigen Hauch auf. Die Worte scheinen kaum ausgesprochen zu werden, so daß es fast noch zarter wie Gesang lautet: wenigstens ist es die unmittelbarste und unaufloͤslichste Verschmelzung von Laut und Seele, und doch ziehn die wunderbaren Melodien nicht unverstanden voruͤber. Vielmehr ist diese Lyrik in ihrer heimlichen Beschraͤnkung hoͤchst dramatisch; der Dichter darf nur eben die Situazion andeuten, und dann den suͤßen Floͤtenton hervorlocken, um das Thema auszufuͤhren. Jn diesen klaren Thautropfen der Poesie spiegelt sich alle die jugendliche Sehnsucht nach dem Unbekannten und Vergangenen, nach dem was der frische Glanz der Morgensonne enthuͤllt, und der schwuͤlere Mittag wieder mit Dunst umgiebt; die ganze ahndungsvolle Wonne des Lebens und der froͤhliche Schmerz der Liebe. Denn eben dieses Helldunkel schwebt und wechselt darin: ein Gefuͤhl, das nur aus der innersten Seele kommen kann, und doch leicht und lose in der Außenwelt umhergaukelt; Stimmen, von der vollen Brust weggehoben, die dennoch wie aus weiter Ferne176 leise heruͤberhallen. Es ist der romantische Ausdruck der wahrsten Jnnigkeit, schlicht und fantastisch zugleich.

Um mehr als alles bisher gesagte in eins zusammenzufassen: ich weiß nicht, wer außer Goethen unter uns aͤhnliche Lieder gedichtet haͤtte. Wenn man nun dazu und zu der Nachbildung der Goetheschen Poesie hinzunimmt, daß Tieck nach dem Beyspiele desselben Meisters in dem Prolog die Hans-Sachsische Manier gluͤcklich genug auf neuere Gegenstaͤnde angewendet, so sieht man, daß er sein Vorbild eben so wenig einseitig gefaßt hat, als er ihm ohne selbstaͤndige Aneignung nachgefolgt ist. Er verbindet damit ein tiefes und vertrautes Studium Shakspeare's (fuͤr den Goethe ein neues Medium der Erkenntniß geworden ist; so daß nun von beyden gemeinschaftlich eine Dichterschule ausgehn kann) und eben das, was ihn fuͤr die Entwickelung seiner Anlagen so richtig leitete, laͤßt hoffen, daß er sie auch vor unguͤnstigen Einfluͤssen zu bewahren wissen wird. Seine Einbildungskraft, die sich im William Lolelv zum Theil in truͤben Fantomen herumtrieb und ihre Fluͤge verschwendete, ist seitdem auffallend zu groͤßerer Heiterkeit und Klarheit hindurchgedrungen. Das Trauerspiel Karl von Bernek und sonst hie und da Spuren von Gewoͤlk gehoͤren nach dem ersten Morgennebel an. Jn jenem weniger das Einzelne als die Kraftlosigkeit des Ganzen. Man schreibt freylich die Trauerspiele nicht so obenhin: in dieser Gattung artet allzugroße Leichtigkeit unfehlbar in Oberflaͤchlichkeit aus. 177Enthaltsamkeit und Maͤßigung, seltne Eigenschaften bey jungen Dichtern, sind dem Verfasser der Volksmaͤhrchen so natuͤrlich, daß sie fuͤr ihn keiner besondern Empfehlung beduͤrfen; desto mehr hat er die zweyte Haͤlfte von dem Rath seines Freundes Shakspeare zu beherzigen, der, wie er dem Schauspieler ermahnt hat, niemals die Bescheidenheit der Natur zu uͤberschreiten, zu der ersten Warnung vor dem Overdone sogleich die zweyte vor dem Come tardy off hinzufuͤgt. Er vergesse nicht, daß alle Wirkung der Kunst einem Brennpunkte gleicht, diesseits und jenseits dessen es nicht zuͤndet, er behalte immer ihr Hoͤchstes vor Augen, und achte sein schoͤnes Talent genug, um nichts geringeres leisten zu wollen, als das Beste was er vermag. Er sammle sich, er draͤnge zusammen, und ziehe auch die aͤußere Formen vor, welche von selbst dazu noͤthigen.

Die Fortsetzung folgt.

1

Athenaeum.

Ersten Bandes Zweytes Stuͤck.

23

I. Fragmente.

Ueber keinen Gegenstand philosophiren sie seltner als uͤber die Philosophie.

Die Langeweile gleicht auch in ihrer Entstehungsart der Stickluft, wie in den Wirkungen. Beyde entwickeln sich gern, wo eine Menge Menschen im eingeschloßnen Raum beysammen ist.

Kant hat den Begriff des Negativen in die Weltweisheit eingefuͤhrt. Sollte es nicht ein nuͤtzlicher Versuch seyn, nun auch den Begrif des Positiven in die Philosophie einzufuͤhren?

Zum großen Nachtheil der Theorie von den Dichtarten vernachlaͤßigt man oft die Unterabtheilungen der Gattungen. So theilt sich zum Beyspiel die Naturpoesie in die natuͤrliche und in die kuͤnstliche, und die Volkspoesie in die Volkspoesie fuͤr das Volk und in die Volkspoesie fuͤr Standespersonen und Gelehrte.

4

Was gute Gesellschaft genannt wird, ist meistens nur eine Mosaik von geschliffnen Karikaturen.

Manche haben es in Herrmann und Dorothea als einen großen Mangel an Delikatesse getadelt, daß der Juͤngling seiner Geliebten, einer verarmten Baͤurin, verstellter Weise den Vorschlag thut, als Magd in das Haus seiner guten Eltern zu kommen. Diese Kritiker moͤgen uͤbel mit ihrem Gesinde umgehen.

Jhr verlangt immer neue Gedanken? Thut etwas neues, so laͤßt sich etwas neues daruͤber sagen.

Gewissen Lobrednern der vergangnen Zeiten unsrer Litteratur darf man kuͤhnlich antworten, wie Sthenelos dem Agamemnon: wir ruͤhmen uns viel besser zu seyn denn unsre Vaͤter.

Zum Gluͤck wartet die Poesie eben so wenig auf die Theorie, als die Tugend auf die Moral, sonst haͤtten wir fuͤrs erste keine Hoffnung zu einem Gedicht.

Die Pflicht ist Kants Eins und Alles. Aus Pflicht der Dankbarkeit behauptet er, muͤsse man die Alten vertheidigen und schaͤtzen; und nur aus Pflicht ist er selbst ein großer Mann geworden.

Der Parisischen schoͤnen Welt haben Geßners Jdyllen grade so gefallen, wie der an haut gout gewoͤhnte Gaum sich manchmal an Milchspeisen labt.

5

Man hat von manchem Monarchen gesagt: er wuͤrde ein sehr liebenswuͤrdiger Privatmann gewesen seyn, nur zum Koͤnige habe er nicht getaugt. Verhaͤlt es sich etwa mit der Bibel eben so? Jst sie auch bloß ein liebenswuͤrdiges Privatbuch, das nur nicht Bibel seyn sollte?

Wenn junge Personen beyderley Geschlechts nach einer lustigen Musik zu tanzen wissen, so faͤllt es ihnen gar nicht ein, deshalb uͤber die Tonkunst urtheilen zu wollen. Warum haben die Leute weniger Respekt vor der Poesie?

Schoͤner Muthwille im Vortrage ist das Einzige was die poetische Sittlichkeit luͤsterner Schilderungen retten kann. Sie zeugen von Schlaffheit und Verkehrtheit wenn sich nicht uͤberschaͤumende Fuͤlle der Lebenskraft in ihnen offenbart. Die Einbildungskraft muß ausschweifen wollen, nicht dem herrschenden Hange der Sinne knechtisch nachzugeben gewohnt seyn. Und doch findet man unter uns meistens die froͤhliche Leichtfertigkeit am verdammlichsten; hingegen hat man das staͤrkste in dieser Art verziehen, wenn es mit einer fantastischen Mystik der Sinnlichkeit umgeben war. Als ob eine Schlechtigkeit durch eine Tollheit wieder gut gemacht wuͤrde!

Der Selbstmord ist gewoͤhnlich nur eine Begebenheit, selten eine Handlung. Jst es das erste, so hat der Thaͤter immer Unrecht, wie ein Kind, das sich6 emanzipiren will. Jst es aber eine Handlung, so kann vom Recht gar nicht die Frage seyn, sondern nur von der Schicklichkeit. Denn dieser allein ist die Willkuͤhr unterworfen, welche alles bestimmen soll was in den reinen Gesetzen nicht bestimmt werden kann, wie das Jetzt, und das Hier, und alles bestimmen darf, was nicht die Willkuͤhr andrer, und dadurch sie selbst vernichtet. Es ist nie Unrecht, freywillig zu sterben, aber oft unanstaͤndig, laͤnger zu leben.

Wenn das Wesen des Cynismus darin besteht, der Natur vor der Kunst, der Tugend vor der Schoͤnheit und Wissenschaft den Vorzug zu geben; unbekuͤmmert um den Buchstaben, auf den der Stoiker streng haͤlt, nur auf den Geist zu sehen, allen oͤkonomischen Werth und politischen Glanz unbedingt zu verachten, und die Rechte der selbststaͤndigen Willkuͤhr tapfer zu behaupten: so duͤrfte der Christianismus wohl nichts anders seyn, als universeller Cynismus.

Die dramatische Form kann man waͤhlen aus Hang zur systematischen Vollstaͤndigkeit, oder um Menschen nicht blos darzustellen, sondern nachzuahmen und nachzumachen, oder aus Bequemlichkeit, oder aus Gefaͤlligkeit fuͤr die Musik, oder auch aus reiner Freude am Sprechen, und Sprechen lassen.

Es giebt verdiente Schriftsteller, die mit jugendlichem Eifer die Bildung ihres Volkes betrieben haben,7 sie aber da fixiren wollen, wo die Kraft sie selbst verließ. Dieß ist umsonst: wer einmal thoͤricht, oder edel, sich bestrebt hat, in den Gang des menschlichen Geistes mit einzugreifen, muß mit fort, oder er ist nicht besser dran als ein Hund im Bratenwender, der die Pfoten nicht vorwaͤrts setzen will.

Das sicherste Mittel unverstaͤndlich oder vielmehr misverstaͤndlich zu seyn, ist, wenn man die Worte in ihrem urspruͤnglichen Sinne braucht; besonders Worte aus den alten Sprachen.

Duclos bemerkt, es gebe wenig ausgezeichnete Werke, die nicht von Schriftstellern von Profession herruͤhren. Jn Frankreich wird dieser Stand seit langer Zeit mit Achtung anerkannt. Bey uns galt man ehedem weniger als nichts wenn man bloß Schriftsteller war. Noch jetzt regt sich dieß Vorurtheil hier und da, aber die Gewalt verehrter Beyspiele muß es immer mehr laͤhmen. Die Schriftstellerey ist, je nachdem man sie treibt, eine Jnfamie, eine Ausschweifung, eine Tageloͤhnerey, ein Handwerk, eine Kunst, eine Wissenschaft und eine Tugend.

Die Kantische Philosophie gleicht dem untergeschobnem Briefe, den Maria in Shakspeare's Was ihr wollt, dem Malvolio in den Weg legt. Nur mit dem Unterschiede, daß es in Deutschland zahllose philosophische Malvolios giebt, die nun die Knieguͤrtel8 kreuzweise binden, gelbe Struͤmpfe tragen, und immer fort fantastisch laͤcheln.

Ein Projekt ist der subjektive Keim eines werdenden Objekts. Ein vollkommnes Projekt muͤßte zugleich ganz subjektiv, und ganz objektiv, ein untheilbares und lebendiges Jndividuum seyn. Seinem Ursprunge nach, ganz subjektiv, original, nur grade in diesem Geiste moͤglich; seinem Charakter nach ganz objektiv, physisch und moralisch nothwendig. Der Sinn fuͤr Projekte, die man Fragmente aus der Zukunft nennen koͤnnte, ist von dem Sinn fuͤr Fragmente aus der Vergangenheit nur durch die Richtung verschieden, die bei ihm progressiv, bei jenem aber regressiv ist. Das Wesentliche ist die Faͤhigkeit, Gegenstaͤnde unmittelbar zugleich zu idealisiren, und zu realisiren, zu ergaͤnzen, und theilweise in sich auszufuͤhren. Da nun transcendental eben das ist, was auf die Verbindung oder Trennung des Jdealen und des Realen Bezug hat; so koͤnnte man wohl sagen, der Sinn fuͤr Fragmente und Projekte sey der transcendentale Bestandtheil des historischen Geistes.

Es wird manches gedruckt, was besser nur gesagt wuͤrde, und zuweilen etwas gesagt was schicklicher gedruckt waͤre. Wenn die Gedanken die besten sind, die sich zugleich sagen und schreiben lassen, so ists wohl der Muͤhe werth, zuweilen nachzusehen, was sich von dem Gesprochnen schreiben, und was sich von dem Geschriebnen drucken laͤßt. Anmaßend ist es9 freylich, noch bey Lebzeiten Gedanken zu haben, ja bekannt zu machen. Ganze Werke zu schreiben ist ungleich bescheidner, weil sie ja wohl bloß aus andern Werken zusammengesetzt seyn koͤnnen, und weil dem Gedanken da auf den schlimmsten Fall die Zuflucht bleibt, der Sache den Vorrang zu lassen, und sich demuͤthig in den Winkel zu stellen. Aber Gedanken, einzelne Gedanken sind gezwungen, einen Werth fuͤr sich haben zu wollen, und muͤßen Anspruch darauf machen, eigen und gedacht zu seyn. Das einzige, was eine Art von Trost dagegen giebt, ist, daß nichts anmaßender seyn kann, als uͤberhaupt zu existiren, oder gar auf eine bestimmte selbstaͤndige Art zu existiren. Aus dieser urspruͤnglichen Grundanmaßung folgen nun doch einmal alle abgeleiteten, man stelle sich wie man auch will.

Viele Werke der Alten sind Fragmente geworden. Viele Werke der Neuern sind es gleich bey der Entstehung.

Nicht selten ist das Auslegen ein Einlegen des Erwuͤnschten, oder des Zweckmaͤßigen, und viele Ableitungen sind eigentlich Ausleitungen. Ein Beweis, daß Gelehrsamkeit und Spekulazion der Unschuld des Geistes nicht so schaͤdlich sind, als man uns glauben machen will. Denn ist es nicht recht kindlich, froh uͤber das Wunder zu erstaunen, das man selbst veranstaltet hat?

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Die Deutschheit ist wohl darum ein Lieblingsgegenstand der Charakteriseurs, weil eine Nazion je weniger sie fertig, um so mehr ein Gegenstand der Kritik ist, und nicht der Historie.

Die meisten Menschen sind, wie Leibnitzens moͤgliche Welten, nur gleichberechtigte Praͤtendenten der Existenz. Es giebt wenig Existenten.

Folgendes scheinen naͤchst der vollendeten Darstellung des kritischen Jdealismus, die immer das Erste bleibt, die wichtigsten Desiderata der Philosophie zu seyn: eine materiale Logik, eine poetische Poetik, eine positive Politik, eine systematische Ethik, und eine praktische Historie.

Witzige Einfaͤlle sind die Spruͤchwoͤrter der gebildeten Menschen.

Ein bluͤhendes Maͤdchen ist das reizendste Symbol vom reinen guten Willen.

Pruͤderie ist Praͤtension auf Unschuld, ohne Unschuld. Die Frauen muͤssen wohl pruͤde bleiben, so lange Maͤnner sentimental, dumm und schlecht genug sind, ewige Unschuld und Mangel an Bildung von ihnen zu fodern. Denn Unschuld ist das Einzige, was Bildungslosigkeit adeln kann.

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Man soll Witz haben, aber nicht haben wollen; sonst entsteht Witzeley, Alexandrinischer Styl in Witz.

Es ist weit schwerer, andre zu veranlassen, daß sie gut reden, als selbst gut zu reden.

Fast alle Ehen sind Konkubinate, Ehen an der linken Hand, oder vielmehr provisorische Versuche, und entfernte Annaͤherungen zu einer wirklichen Ehe, deren eigentliches Wesen, nicht nach den Paradoxen dieses oder jenes Systems, sondern nach allen geistlichen und weltlichen Rechten darin besteht, daß mehre Personen nur Eine werden sollen. Ein artiger Gedanke, dessen Realisirung jedoch viele und große Schwierigkeiten zu haben scheint. Schon darum sollte die Willkuͤhr, die wohl ein Wort mitreden darf, wenn es darauf ankommt, ob einer ein Jndividuum fuͤr sich, oder nur der integrante Theil einer gemeinschaftlichen Personalitaͤt seyn will, hier so wenig als moͤglich beschraͤnkt werden; und es laͤßt sich nicht absehen, was man gegen eine Ehe à quatre gruͤndliches einwenden koͤnnte. Wenn aber der Staat gar die misgluͤckten Eheversuche mit Gewalt zusammenhalten will, so hindert er dadurch die Moͤglichkeit der Ehe selbst, die durch neue, vielleicht gluͤcklichere Versuche befoͤrdert werden koͤnnte.

Der Cyniker duͤrfte eigentlich gar keine Sachen haben: denn alle Sachen die ein Mensch hat, haben ihn doch in gewissen Sinne wieder. Es koͤmmt also12 nur darauf an, die Sachen so zu haben, als ob man sie nicht haͤtte. Noch kuͤnstlicher und noch cynischer ists aber, die Sachen so nicht zu haben, als ob man sie haͤtte.

Niemand beurtheilt eine Dekorazionsmahlerey und ein Altarblatt, eine Operette und eine Kirchenmusik, eine Predigt und eine philosophische Abhandlung nach demselben Maßstabe. Warum macht man also an die rhetorische Poesie, welche nur auf der Buͤhne existirt, Foderungen, die nur durch hoͤhere dramatische Kunst erfuͤllt werden koͤnnen?

Manche witzige Einfaͤlle sind wie das uͤberraschende Wiedersehen zwey befreundeter Gedanken nach einer langen Trennung.

Die Geduld, sagte S., verhaͤlt sich zu Chamforts état d'epigramme wie die Religion zur Philosophie.

Die meisten Gedanken sind nur Profile von Gedanken. Diese muß man umkehren, und mit ihren Antipoden synthesiren. Viele philosophische Schriften, die es sonst nicht haben wuͤrden, erhalten dadurch ein großes Jnteresse.

Noten zu einem Gedicht, sind wie anatomische Vorlesungen uͤber einen Braten.

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Die welche Profession davon gemacht haben, den Kant zu erklaͤren, waren entweder solche, denen es an einem Organ fehlte, um sich von den Gegenstaͤnden uͤber die Kant geschrieben hat, einige Notiz zu verschaffen; oder solche, die nur das kleine Ungluͤck hatten, niemand zu verstehen als sich selbst; oder solche, die sich noch verworrener ausdruͤckten als er.

Gute Dramen muͤssen drastisch seyn.

Die Philosophie geht noch zu sehr grade aus, ist noch nicht cyklisch genug.

Jede philosophische Rezension, sollte zugleich Philosophie der Rezensionen seyn.

Neu, oder nicht neu, ist das, wornach auf dem hoͤchsten und niedrigsten Standpunkte, dem Standpunkte der Geschichte, und dem der Neugierde, bey einem Werk gefragt wird.

Ein Regiment Soldaten en parade ist nach der Denkart mancher Philosophen ein System.

Kritisch heißt die Philosophie der Kantianer wohl per antiphrasin; oder es ist ein epitheton ornans.

Mit den groͤßten Philosophen geht mirs, wie dem Plato mit den Spartanern. Er liebte und achtete14 sie unendlich, aber er klagt immer, daß sie uͤberall auf halbem Wege stehn geblieben waͤren.

Die Frauen werden in der Poesie eben so ungerecht behandelt, wie im Leben. Die weiblichen sind nicht idealisch, und die idealischen sind nicht weiblich.

Wahre Liebe sollte ihrem Ursprunge nach, zugleich ganz willkuͤhrlich und ganz zufaͤllig seyn, und zugleich nothwendig und frey scheinen; ihrem Charakter nach aber zugleich Bestimmung und Tugend seyn, ein Geheimniß, und ein Wunder scheinen.

Naiv ist, was bis zur Jronie, oder bis zum steten Wechsel von Selbstschoͤpfung und Selbstvernichtung natuͤrlich, individuell oder klassisch ist, oder scheint. Jst es bloß Jnstinkt, so ists kindlich, kindisch, oder albern; ists bloß Absicht, so entsteht Affektazion. Das schoͤne, poetische, idealische Naive muß zugleich Absicht, und Jnstinkt seyn. Das Wesen der Absicht in diesem Sinne ist die Freyheit. Bewußtseyn ist noch bey weitem nicht Absicht. Es giebt ein gewisses verliebtes Anschauen eigner Natuͤrlichkeit oder Albernheit, das selbst unsaͤglich albern ist. Absicht erfordert nicht gerade einen tiefen Calcul oder Plan. Auch das Homerische Naive ist nicht bloß Jnstinkt: es ist wenigstens so viel Absicht darin, wie in der Anmuth lieblicher Kinder, oder unschuldiger Maͤdchen. Wenn15 Er auch keine Absichten hatte, so hat doch seine Poesie und die eigentliche Verfasserin derselben, die Natur, Absicht.

Es giebt eine eigne Gattung Menschen, bey denen die Begeistrung der Langenweile, die erste Regung der Philosophie ist.

Es ist gleich toͤdtlich fuͤr den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen muͤßen, beydes zu verbinden.

Man kann nur Philosoph werden, nicht es seyn. So bald man es zu seyn glaubt, hoͤrt man auf es zu werden.

Es giebt Klassifikazionen, die als Klassifikazionen schlecht genug sind, aber ganze Nazionen und Zeitalter beherrschen, und oft aͤußerst charakteristisch und wie Centralmonaden eines solchen historischen Jndividuums sind. So die griechische Eintheilung aller Dinge in goͤttliche und menschliche, die sogar eine Homerische Antiquitaͤt ist. So die Roͤmische Eintheilung in Zu Haus, und Jm Kriege. Bey den Neuern redet man immer von dieser und jener Welt, als ob es mehr als eine Welt gaͤbe. Aber freylich ist bey ihnen auch das meiste so isolirt und getrennt wie ihre Diese und Jene Welt.

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Da die Philosophie jetzt alles was ihr vorkoͤmmt kritisirt, so waͤre eine Kritik der Philosophie nichts als eine gerechte Repressalie.

Mit dem Schriftstellerruhm ist es oft wie mit Frauengunst, und Gelderwerb. Jst nur erst ein guter Grund gelegt, so folgt das uͤbrige von selbst. Viele heißen durch Zufall groß. . Es ist alles Gluͤck nur Gluͤck; ist das Resultat mancher litterarischen Phaͤnomene nicht minder als der meisten politischen.

An das Herkommen glaubend, und immer um neue Tollheiten bemuͤht; nachahmungssuͤchtig und stolz auf Selbstaͤndigkeit, unbeholfen in der Oberflaͤchlichkeit, und bis zur Gewandtheit geschickt im tief - oder truͤbsinnig Schwerfaͤlligen; von Natur platt, aber dem Streben nach transcendent in Empfindungen und Ansichten; in ernsthafter Behaglichkeit gegen Witz und Muthwillen durch einen heiligen Abscheu verschanzt; auf die große Masse welcher Litteratur moͤchten diese Zuͤge etwa passen?

Die schlechten Schriftsteller klagen viel uͤber Tyranney der Rezensenten; ich glaube diese haͤtten eher die Klage zu fuͤhren. Sie sollen schoͤn, geistvoll, vortrefflich finden, was nichts von dem allen ist; und es stoͤßt sich nur an dem kleinen Umstande der Macht, so gingen die Rezensirten eben so mit ihnen um wie Dionysius mit den Tadlern seiner Verse. Ein Kotzebue hat dieß ja laut bekannt. Auch ließen sich die neuen17 Produkte von kleinen Dionysen dieser Art hinreichend mit den Worten anzeigen: Fuͤhrt mich wieder in die Latomien.

Die Unterthanen in einigen Laͤndern ruͤhmen sich einer Menge Freyheiten, die ihnen alle durch die Freyheit entbehrlich werden wuͤrden. So legt man wohl nur deswegen einen so großen Nachdruck auf die Schoͤnheiten mancher Gedichte, weil sie keine Schoͤnheit haben. Sie sind im einzelnen kunstvoll, aber im Ganzen keine Kunstwerke.

Die wenigen Schriften welche gegen die Kantische Philosophie existiren, sind die wichtigsten Dokumente zur Krankheitsgeschichte des gesunden Menschenverstandes. Diese Epidemie, welche in England entstanden ist, drohte einmal sogar die Deutsche Philosophie anstecken zu wollen.

Das Drucken lassen verhaͤlt sich zum Denken, wie eine Wochenstube zum ersten Kuß.

Jeder ungebildete Mensch ist die Karikatur von sich selbst.

Moderantismus ist Geist der kastrirten Jlliberalitaͤt.

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Viele Lobredner beweisen die Groͤße ihres Abgottes antithetisch, durch die Darlegung ihrer eignen Kleinheit.

Wenn der Autor dem Kritiker gar nichts mehr zu antworten weiß, so sagt er ihm gern: Du kannst es doch nicht besser machen. Das ist eben, als wenn ein dogmatischer Philosoph dem Skeptiker vorwerfen wollte, daß er kein System erfinden koͤnne.

Es waͤre illiberal, nicht vorauszusetzen, ein jeder Philosoph sey liberal, und folglich rezensibel; ja es nicht zu fingiren, wenn man auch das Gegentheil weiß. Aber anmaßend waͤre es, Dichter eben so zu behandeln; es muͤßte denn einer durch und durch Poesie und gleichsam ein lebendes und handelndes Kunstwerk seyn.

Nur der Kunstliebhaber liebt wirklich die Kunst, der auf einige seiner Wuͤnsche voͤllig Verzicht thun kann, wo er andre ganz befriedigt findet, der auch das Liebste noch streng wuͤrdigen mag, der sich im Nothfall Erklaͤrungen gefallen laͤßt, und Sinn fuͤr Kunstgeschichte hat.

Die Pantomimen der Alten haben wir nicht mehr. Dagegen ist aber die ganze Poesie jetzt pantomimisch.

Wo ein oͤffentlicher Anklaͤger auftreten soll, muß schon ein oͤffentlicher Richter vorhanden seyn.

19

Man redet immer von der Stoͤrung, welche die Zergliederung des Kunstschoͤnen dem Genuß des Liebhabers verursachen soll. So der rechte Liebhaber laͤßt sich wohl nicht stoͤren!

Uebersichten des Ganzen, wie sie jetzt Mode sind, entstehen, wenn einer alles Einzelne uͤbersieht, und dann summirt.

Sollte es mit der Bevoͤlkerung nicht seyn wie mit der Wahrheit, wo das Streben, wie man sagt, mehr werth ist als die Resultate?

Nach dem verderbten Sprachgebrauche bedeutet Wahrscheinlich so viel, als Beynah wahr, oder Etwas wahr, oder was noch vielleicht einmal wahr werden kann. Das alles kann das Wort aber schon seiner Bildung nach, gar nicht bezeichnen. Was wahr scheint, braucht darum auch nicht im kleinsten Grade wahr zu seyn: aber es muß doch positiv scheinen. Das Wahrscheinliche ist der Gegenstand der Klugheit, des Vermoͤgens unter den moͤglichen Folgen freyer Handlungen die wirklichen zu errathen, und etwas durchaus subjektives. Was einige Logiker so genannt und zu berechnen versucht haben, ist Moͤglichkeit.

Die formale Logik und die empirische Psychologie sind philosophische Grotesken. Denn das Jnteressante einer Arithmetik der vier Species oder einer20 Experimentalphysik des Geistes kann doch nur in dem Kontrast der Form und des Stoffs liegen.

Die intellektuale Anschauung ist der kategorische Jmperativ der Theorie.

Ein Dialog ist eine Kette, oder ein Kranz von Fragmenten. Ein Briefwechsel ist ein Dialog in vergroͤßertem Maßstabe, und Memorabilien sind ein System von Fragmenten. Es giebt noch keins was in Stoff und Form fragmentarisch, zugleich ganz subjektiv und individuell, und ganz objektiv und wie ein nothwendiger Theil im System aller Wissenschaften waͤre.

Das Nichtverstehen kommt meistens gar nicht vom Mangel an Verstande, sondern vom Mangel an Sinn.

Die Narrheit ist bloß dadurch von der Tollheit verschieden, daß sie willkuͤhrlich ist wie die Dummheit. Soll dieser Unterschied nicht gelten, so ists sehr ungerecht einige Narren einzusperren, waͤhrend man andre ihr Gluͤck machen laͤßt. Beyde sind dann nur dem Grade, nicht der Art nach verschieden.

Der Historiker ist ein ruͤckwaͤrts gekehrter Prophet.

Die meisten Menschen wissen von keiner andern Wuͤrde, als von repraͤsentativer; und doch haben nur21 so aͤußerst wenige Sinn fuͤr repraͤsentativen Werth. Was auch fuͤr sich gar nichts ist, wird doch Beytrag zur Charakteristik irgend einer Gattung seyn, und in dieser Ruͤcksicht koͤnnte man sagen: Niemand sey uninteressant.

Die Demonstrazionen der Philosophie sind eben Demonstrazionen im Sinne der militaͤrischen Kunstsprache. Mit den Dedukzionen steht es auch nicht besser wie mit den politischen; auch in den Wissenschaften besetzt man erst ein Terrain, und beweist dann hinterdrein sein Recht daran. Auf die Definizionen laͤßt sich anwenden, was Chamfort von den Freunden sagte, die man so in der Welt hat. Es giebt drey Arten von Erklaͤrungen in der Wissenschaft: Erklaͤrungen, die uns ein Licht oder einen Wink geben; Erklaͤrungen, die nichts erklaͤren; und Erklaͤrungen, die alles verdunkeln. Die rechten Definizionen lassen sich gar nicht aus dem Stegreife machen, sondern muͤßen einem von selbst kommen; eine Definizion die nicht witzig ist, taugt nichts, und von jedem Jndividium giebt es doch unendlich viele reale Definizionen. Die nothwendigen Foͤrmlichkeiten der Kunstphilosophie arten aus in Etikette und Luxus. Als Legitimazion und Probe der Virtuositaͤt haben sie ihren Zweck und Werth, wie die Bravourarien der Saͤnger, und das Lateinschreiben der Philologen. Auch machen sie nicht wenig rhetorischen Effekt. Die Hauptsache aber bleibt doch immer, daß man etwas weiß, und daß man es sagt. Es beweisen oder gar erklaͤren22 wollen, ist in den meisten Faͤllen herzlich uͤberfluͤßig. Der kategorische Styl der Gesetze der zwoͤlf Tafeln, und die thetische Methode, wo die reinen Fakta der Reflexion ohne Verhuͤllung, Verduͤnnung und kuͤnstliche Verstellung wie Texte fuͤr das Studium oder die Symphilosophie da stehen, bleibt der gebildeten Naturphilosophie die angemessenste. Soll beydes gleich gut gemacht werden, so ist es unstreitig viel schwerer behaupten, als beweisen. Es giebt Demonstrazionen die Menge, die der Form nach vortrefflich sind, fuͤr schiefe und platte Saͤtze. Leibniz behauptete, und Wolf bewies. Das ist genug gesagt.

Der Satz des Widerspruchs ist auch nicht einmal das Prinzip der Analyse, nemlich der absoluten, die allein den Namen verdient, der chemischen Dekomposizion eines Jndividuums in seine schlechthin einfachen Elemente.

Subjektiv betrachtet, faͤngt die Philosophie doch immer in der Mitte an, wie das epische Gedicht.

Grundsaͤtze sind fuͤrs Leben, was im Kabinet geschriebene Jnstrukzionen fuͤr den Feldherrn.

Ächtes Wohlwollen geht auf Befoͤrderung fremder Freyheit, nicht auf Gewaͤhrung thierischer Genuͤsse.

Das Erste in der Liebe ist der Sinn fuͤr einander, und das Hoͤchste, der Glauben an einander. 23Hingebung ist der Ausdruck des Glaubens, und Genuß kann den Sinn beleben und schaͤrfen, wenn auch nicht hervorbringen, wie die gemeine Meynung ist. Darum kann die Sinnlichkeit schlechte Menschen auf eine kurze Zeit taͤuschen, als koͤnnten sie sich lieben.

Es giebt Menschen, deren ganze Thaͤtigkeit darin besteht, immer Nein zu sagen. Es waͤre nichts kleines, immer recht Nein sagen zu koͤnnen, aber wer weiter nichts kann, kann es gewiß nicht recht. Der Geschmack dieser Neganten ist eine tuͤchtige Schere, um die Extremitaͤten des Genies zu saͤubern; ihre Aufklaͤrung eine große Lichtputze fuͤr die Flamme des Enthusiasmus; und ihre Vernunft ein gelindes Laxativ gegen unmaͤßige Lust und Liebe.

Die Kritik ist das einzige Surrogat der von so manchen Philosophen vergeblich gesuchten und gleich unmoͤglichen moralischen Mathematik und Wissenschaft des Schicklichen.

Der Gegenstand der Historie ist das Wirklichwerden alles dessen, was praktisch nothwendig ist.

Die Logik ist weder die Vorrede, noch das Jnstrument, noch das Formular, noch eine Episode der Philosophie, sondern eine der Poetik und Ethik entgegengesetzte, und koordinirte pragmatische Wissenschaft, welche von der Forderung der positiven Wahrheit,24 und der Voraussetzung der Moͤglichkeit eines Systems ausgeht.

Ehe nicht die Philosophen Grammatiker, oder die Grammatiker Philosophen werden, wird die Grammatik nicht, was sie bey den Alten war, eine pragmatische Wissenschaft und ein Theil der Logik, noch uͤberhaupt eine Wissenschaft werden.

Die Lehre vom Geist und Buchstaben ist unter andern auch darum so interessant, weil sie die Philosophie mit der Philologie in Beruͤhrung setzen kann.

Jmmer hat noch jeder große Philosoph seine Vorgaͤnger, oft ohne seine Absicht, so erklaͤrt, daß es schien, als habe man sie vor ihm gar nicht verstanden.

Einiges muß die Philosophie einstweilen auf ewig voraussetzen, und sie darf es, weil sie es muß.

Wer nicht um der Philosophie willen philosophirt, sondern die Philosophie als Mittel braucht, ist ein Sophist.

Als voruͤbergehender Zustand ist der Skeptizismus logische Jnsurrekzion; als System ist er Anarchie. Skeptische Methode waͤre also ungefaͤhr wie insurgente Regierung.

25

Philosophisch ist Alles, was zur Realisirung des logischen Jdeals beytraͤgt, und wissenschaftliche Bildung hat.

Bey den Ausdruͤcken, Seine Philosophie, Meine Philosophie, erinnert man sich immer an die Worte im Nathan: Wem eignet Gott? Was ist das fuͤr ein Gott, der einem Menschen eignet?

Poetischer Schein ist Spiel der Vorstellungen, und Spiel ist Schein von Handlungen.

Was in der Poesie geschieht, geschieht nie, oder immer. Sonst ist es keine rechte Poesie. Man darf nicht glauben sollen, daß es jetzt wirklich geschehe.

Die Frauen haben durchaus keinen Sinn fuͤr die Kunst, wohl aber fuͤr die Poesie. Sie haben keine Anlage zur Wissenschaft, wohl aber zur Philosophie. An Spekulazion, innerer Anschauung des Unendlichen fehlts ihnen gar nicht; nur an Abstrakzion, die sich weit eher lernen laͤßt.

Daß man eine Philosophie annihilirt, wobey sich der Unvorsichtige leicht gelegentlich selbst mit annihiliren kann, oder daß man ihr zeigt, sie annihilire sich selbst, kann ihr wenig schaden. Jst sie wirklich Philosophie, so wird sie doch wie ein Phoͤnix aus ihrer eignen Asche immer wieder aufleben.

26

Nach dem Weltbegriffe ist jeder ein Kantianer, der sich auch fuͤr die neueste deutsche philosophische Litteratur interessirt. Nach dem Schulbegriffe ist nur der ein Kantianer, der glaubt, Kant sey die Wahrheit, und der, wenn die Koͤnigsberger Post einmal verungluͤckte, leicht einige Wochen ohne Wahrheit seyn koͤnnte. Nach dem veralteten Sokratischen Begriffe, da die, welche sich den Geist des großen Meisters selbstaͤndig angeeignet, und angebildet hatten, seine Schuͤler hießen, und als Soͤhne seines Geistes nach ihm genannt wurden, duͤrfte es nur wenige Kantianer geben.

Schellings Philosophie, die man kritisirten Mystizismus nennen koͤnnte, endigt, wie der Prometheus des Aeschylus, mit Erdbeben und Untergang.

Die moralische Wuͤrdigung ist der aͤsthetischen voͤllig entgegengesetzt. Dort gilt der gute Wille alles, hier gar nichts. Der gute Wille witzig zu seyn, zum Beyspiel, ist die Tugend eines Pagliaß. Das Wollen beym Witze darf nur darin bestehen, daß man die konvenzionellen Schranken aufhebt, und den Geist frey laͤßt. Am witzigsten aber muͤßte der seyn, der es nicht nur ohne es zu wollen, sondern wider seinen Willen waͤre, so wie der bienfaisant bourru eigentlich der allergutmuͤthigste Charakter ist.

Das stillschweigends vorausgesetzte, und wirklich erste Postulat aller Kantianischen Harmonien der27 Evangelisten, lautet: Kants Philosophie soll mit sich selbst uͤbereinstimmen.

Schoͤn ist, was zugleich reizend und erhaben ist.

Es giebt eine Mikrologie, und einen Glauben an Autoritaͤt, die Charakterzuͤge der Groͤße sind. Das ist die vollendende Mikrologie des Kuͤnstlers, und der historische Glaube an die Autoritaͤt der Natur.

Es ist ein erhabner Geschmack, immer die Dinge in der zweyten Potenz vorzuziehn. Z.B. Kopieen von Nachahmungen, Beurtheilungen von Rezensionen, Zusaͤtze zu Ergaͤnzungen, Kommentare zu Noten. Uns Deutschen ist er vorzuͤglich eigen, wo es aufs Verlaͤngern ankommt; den Franzosen, wo Kuͤrze und Leerheit dadurch beguͤnstigt wird. Jhr wissenschaftlicher Unterricht pflegt wohl die Abkuͤrzung eines Auszugs zu seyn, und das hoͤchste Produkt ihrer poetischen Kunst, ihre Tragoͤdie, ist nur die Formel einer Form.

Die Lehren welche ein Roman geben will, muͤssen solche seyn, die sich nur im Ganzen mittheilen, nicht einzeln beweisen, und durch Zergliederung erschoͤpfen lassen. Sonst waͤre die rhetorische Form ungleich vorzuͤglicher.

Die Philosophen welche nicht gegen einander sind, verbindet gewoͤhnlich nur Sympathie, nicht Symphilosophie.

28

Eine Klassifikazion ist eine Definizion, die ein System von Definizionen enthaͤlt.

Eine Definizion der Poesie kann nur bestimmen was sie seyn soll, nicht was sie in der Wirklichkeit war und ist; sonst wuͤrde sie am kuͤrzesten so lauten: Poesie ist, was man zu irgend einer Zeit, an irgend einem Orte so genannt hat.

Daß es den Adel vaterlaͤndischer Festgesaͤnge nicht entweihen kann, wenn sie tuͤchtig bezahlt werden, beweisen die Griechen und Pindar. Daß aber das Bezahlen nicht allein selig macht, beweisen die Englaͤnder, die wenigstens darin die Alten haben nachahmen wollen. Die Schoͤnheit ist also doch in England nicht kaͤuflich und verkaͤuflich, wenn auch die Tugend.

Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Jhre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie, und Rhetorik in Beruͤhrung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialitaͤt und Kritik, Kunstpoesie, und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisiren, und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfuͤllen und saͤttigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom groͤßten wieder mehre Systeme29 in sich enthaltenden Systeme der Kunst, bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen Gesang. Sie kann sich so in das Dargestellte verlieren, daß man glauben moͤchte, poetische Jndividuen jeder Art zu charakterisiren, sey ihr Eins und Alles; und doch giebt es noch keine Form, die so dazu gemacht waͤre, den Geist des Autors vollstaͤndig auszudruͤcken: so daß manche Kuͤnstler, die nur auch einen Roman schreiben wollten, von ungefaͤhr sich selbst dargestellt haben. Nur sie kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden. Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frey von allem realen und idealen Jnteresse auf den Fluͤgeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenziren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen. Sie ist der hoͤchsten und der allseitigsten Bildung faͤhig; nicht bloß von innen heraus, sondern auch von außen hinein; indem sie jedem, was ein Ganzes in ihren Produkten seyn soll, alle Theile aͤhnlich organisirt, wodurch ihr die Aussicht auf eine graͤnzenlos wachsende Klassizitaͤt eroͤffnet wird. Die romantische Poesie ist unter den Kuͤnsten was der Witz der Philosophie, und die Gesellschaft, Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben ist. Andre Dichtarten sind fertig, und koͤnnen nun vollstaͤndig zergliedert werden. Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet seyn kann. Sie kann durch keine Theorie30 erschoͤpft werden, und nur eine divinatorische Kritik duͤrfte es wagen, ihr Jdeal charakterisiren zu wollen. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frey ist, und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkuͤhr des Dichters kein Gesetz uͤber sich leide. Die romantische Dichtart ist die einzige, die mehr als Art, und gleichsam die Dichtkunst selbst ist: denn in einem gewissen Sinn ist oder soll alle Poesie romantisch seyn.

Werke, deren Jdeal fuͤr den Kuͤnstler nicht eben so viel lebendige Realitaͤt, und gleichsam Persoͤnlichkeit hat, wie die Geliebte oder der Freund, blieben besser ungeschrieben. Wenigstens Kunstwerke werden es gewiß nicht.

Es ist nicht einmal ein feiner, sondern eigentlich ein recht grober Kitzel des Egoismus, wenn alle Personen in einem Roman sich um Einen bewegen wie Planeten um die Sonne, der dann gewoͤhnlich des Verfassers unartiges Schoßkind ist, und der Spiegel und Schmeichler des entzuͤckten Lesers wird. Wie ein gebildeter Mensch nicht bloß Zweck sondern auch Mittel ist fuͤr sich und fuͤr andre, so sollten auch im gebildeten Gedicht alle zugleich Zweck und Mittel seyn. Die Verfassung sey republikanisch, wobey immer erlaubt bleibt, daß einige Theile aktiv andre passiv seyn.

Auch solche Bilder der Sprache, die bloß Eigensinn scheinen, haben oft tiefe Bedeutung. Was fuͤr eine Analogie, koͤnnte man denken, ist wohl zwischen31 Massen von Gold oder Silber, und Fertigkeiten des Geistes, die so sicher und so vollendet sind, daß sie willkuͤhrlich werden, und so zufaͤllig entstanden, daß sie angebohren scheinen koͤnnen? Und doch faͤllt es in die Augen, daß man Talente nur hat, besitzt, wie Sachen, die doch ihren soliden Werth behalten, wenn sie gleich den Jnhaber selbst nicht adeln koͤnnen. Genie kann man eigentlich nie haben, nur seyn. Auch giebt es keinen Pluralis von Genie, der hier schon im Singularis steckt. Genie ist nemlich ein System von Talenten.

Den Witz achten sie darum so wenig, weil seine Äußerungen nicht lang, und nicht breit genug sind, denn ihre Empfindung ist nur eine dunkel vorgestellte Mathematik; und weil sie dabey lachen, welches gegen den Respekt waͤre, wenn der Witz wahre Wuͤrde haͤtte. Der Witz ist wie einer, der nach der Regel repraͤsentiren sollte, und statt dessen bloß handelt.

Eine Jdee, ist ein bis zur Jronie vollendeter Begriff, eine absolute Synthesis absoluter Antithesen, der stete sich selbst erzeugende Wechsel zwey streitender Gedanken. Ein Jdeal ist zugleich Jdee und Faktum. Haben die Jdeale fuͤr den Denker nicht so viel Jndividualitaͤt wie die Goͤtter des Alterthums fuͤr den Kuͤnstler, so ist alle Beschaͤftigung mit Jdeen nichts als ein langweiliges und muͤhsames Wuͤrfelspiel mit hohlen Formeln, oder ein nach Art der Chinesischen Bonzen, hinbruͤtendes Anschauen seiner eignen Nase. 32Nichts ist klaͤglicher und veraͤchtlicher als diese sentimentale Spekulazion ohne Objekt. Nur sollte man das nicht Mystik nennen, da dieß schoͤne alte Wort fuͤr die absolute Philosophie, auf deren Standpunkte der Geist alles als Geheimniß und als Wunder betrachtet, was er aus andern Gesichtspunkten theoretisch und praktisch natuͤrlich findet, so brauchbar und so unentbehrlich ist. Spekulazion en detail ist so selten als Abstrakzion en gros, und doch sind sie es, die allen Stoff des wissenschaftlichen Witzes erzeugen, sie die Prinzipien der hoͤhern Kritik, die obersten Stufen der geistigen Bildung. Die große praktische Abstrakzion macht die Alten, bey denen sie Jnstinkt war, eigentlich zu Alten. Umsonst war es, daß die Jndividuen das Jdeal ihrer Gattung vollstaͤndig ausdruͤckten, wenn nicht auch die Gattungen selbst, streng und scharf isolirt, und ihrer Originalitaͤt gleichsam frey uͤberlassen waren. Aber sich willkuͤhrlich bald in diese bald in jene Sphaͤre, wie in eine andre Welt, nicht bloß mit dem Verstande und der Einbildung, sondern mit ganzer Seele versetzen; bald auf diesen bald auf jenen Theil seines Wesens frey Verzicht thun, und sich auf einen andern ganz beschraͤnken; jetzt in diesem, jetzt in jenem Jndividuum sein Eins und Alles suchen und finden, und alle uͤbrigen absichtlich vergessen: das kann nur ein Geist, der gleichsam eine Mehrheit von Geistern, und ein ganzes System von Personen in sich enthaͤlt, und in dessen Jnnerm das Universum, welches, wie man sagt, in jeder Monade keimen soll, ausgewachsen, und reif geworden ist.

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Wenn Buͤrgern ein neues Buch von der Art vorkam, die einen weder kalt noch warm macht, so pflegte er zu sagen: es verdiene in der Bibliothek der schoͤnen Wissenschaften gepriesen zu werden.

Sollte die Poesie nicht unter andern auch deswegen die hoͤchste und wuͤrdigste aller Kuͤnste seyn, weil nur in ihr Dramen moͤglich sind?

Wenn man einmal aus Psychologie Romane schreibt oder Romane liest, so ist es sehr inkonsequent, und klein, auch die langsamste und ausfuͤhrlichste Zergliederung unnatuͤrlicher Luͤste, graͤßlicher Marter, empoͤrender Jnfamie, ekelhafter sinnlicher oder geistiger Jmpotenz scheuen zu wollen.

Vielleicht wuͤrde eine ganz neue Epoche der Wissenschaften und Kuͤnste beginnen, wenn die Symphilosophie und Sympoesie so allgemein und so innig wuͤrde, daß es nichts seltnes mehr waͤre, wenn mehre sich gegenseitig ergaͤnzende Naturen gemeinschaftliche Werke bildeten. Oft kann man sich des Gedankens nicht erwehren, zwey Geister moͤchten eigentlich zusammengehoͤren, wie getrennte Haͤlften, und nur verbunden alles seyn, was sie koͤnnten. Gaͤbe es eine Kunst, Jndividuen zu verschmelzen, oder koͤnnte die wuͤnschende Kritik etwas mehr als wuͤnschen, wozu sie uͤberall so viel Veranlassung findet, so moͤchte ich Jean Paul und Peter Leberecht kombinirt sehen. Grade alles, was jenem fehlt, hat dieser. Jean34 Pauls groteskes Talent und Peter Leberechts fantastische Bildung vereinigt, wuͤrden einen vortrefflichen romantischen Dichter hervorbringen.

Alle nazionale und auf den Effekt gemachte Dramen sind romantisirte Mimen.

Klopstock ist ein grammatischer Poet, und ein poetischer Grammatiker.

Nichts ist klaͤglicher, als sich dem Teufel umsonst ergeben; zum Beyspiel schluͤpfrige Gedichte machen, die nicht einmal vortrefflich sind.

Manche Theoristen vergessen bey Fragen, wie die uͤber den Gebrauch des Sylbenmaßes im Drama allzusehr, daß die Poesie uͤberhaupt nur eine schoͤne Luͤge ist, von der es aber dafuͤr auch heißen kann: Magnanima menzogna, ov 'or' è il vero Si bello, che si possa a te preporre?

Es giebt auch grammatische Mystiker. Moriz war einer.

Der Dichter kann wenig vom Philosophen, dieser aber viel von ihm lernen. Es ist sogar zu befuͤrchten, daß die Nachtlampe des Weisen den irre fuͤhren moͤchte, der gewohnt ist im Licht der Offenbarung zu wandeln.

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Dichter sind doch immer Narzisse.

Es ist als wenn die Weiber alles mit eignen Haͤnden machten, und die Maͤnner mit dem Handwerksgeraͤth.

Das maͤnnliche Geschlecht wird nicht eher durch das weibliche verbessert werden, als bis die Geschlechtsfolge der Nayren nach den Muͤttern eingefuͤhrt seyn wird.

Zuweilen nimmt man doch einen Zusammenhang zwischen den getrennten, und oft sich widersprechenden Theilen unsrer Bildung gewahr. So scheinen die besseren Menschen in unsern moralischen Dramen aus den Haͤnden der neuesten Paͤdagogik zu kommen.

Es giebt Geister, denen es bey großer Anstrengung und bestimmter Richtung ihrer Kraft an Biegsamkeit fehlt. Sie werden entdecken, aber weniges, und in Gefahr seyn diese Lieblingssaͤtze immer zu wiederhohlen. Man dringt nicht tief, wenn man einen Bohrer mit großer Gewalt gegen ein Brett druͤckt, ohne ihn umzudrehen.

Es giebt eine materiale, enthusiastische Rhetorik die unendlich weit erhaben ist uͤber den sophistischen Misbrauch der Philosophie, die deklamatorische Styluͤbung, die angewandte Poesie, die improvisirte Politik, welche man mit demselben Nahmen zu bezeichnen36 pflegt. Jhre Bestimmung ist, die Philosophie praktisch zu realisiren, und die praktische Unphilosophie und Antiphilosophie nicht bloß dialektisch zu besiegen, sondern real zu vernichten. Rousseau und Fichte verbieten auch denen, die nicht glauben, wo sie nicht sehen, dieß Jdeal fuͤr chimaͤrisch zu halten.

Die Tragiker setzen die Szene ihrer Dichtungen fast immer in die Vergangenheit. Warum sollte dieß schlechthin nothwendig, warum sollte es nicht auch moͤglich seyn, die Szene in die Zukunft zu setzen, wodurch die Fantasie mit einem Streich von allen historischen Ruͤcksichten und Einschraͤnkungen befreyt wuͤrde? Aber freylich muͤßte ein Volk, das die beschaͤmenden Gestalten einer wuͤrdigen Darstellung der bessern Zukunft ertragen sollte, mehr als eine republikanische Verfassung, es muͤßte eine liberale Gesinnung haben.

Aus dem romantischen Gesichtspunkt haben auch die Abarten der Poesie, selbst die ekzentrischen und monstroͤsen, ihren Werth, als Materialien und Voruͤbungen der Universalitaͤt, wenn nur irgend etwas drin ist, wenn sie nur original sind.

Die Eigenschaft des dramatischen Dichters scheint es zu seyn, sich selbst mit freygebiger Großmuth an andere Personen zu verlieren, des lyrischen, mit liebevollem Egoismus alles zu sich heruͤber zu ziehn.

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Es heißt, in Englischen und Deutschen Trauerspielen waͤren doch so viel Verstoße gegen den Geschmack. Die Franzoͤsischen sind nur ein einziger großer Verstoß. Denn was kann geschmackwidriger seyn, als ganz außerhalb der Natur zu schreiben, und vorzustellen?

Hemsterhuys vereinigt Plato's schoͤne Seherfluͤge mit dem strengen Ernst des Systematikers. Jacobi hat nicht dieses harmonische Ebenmaß der Geisteskraͤfte, aber desto freyer wirkende Tiefe und Gewalt; den Jnstinkt des Goͤttlichen haben sie mit einander gemein. Hemsterhuys Werke moͤgen intellektuelle Gedichte heißen. Jacobi bildete keine untadeligen vollendeten Antiken, er gab Bruchstuͤcke voll Originalitaͤt, Adel, und Jnnigkeit. Vielleicht wirkt Hemsterhuys Schwaͤrmerey maͤchtiger, weil sie sich immer in den Graͤnzen des Schoͤnen ergießt; hingegen setzt sich die Vernunft sogleich in wehrbaren Stand, wenn sie die Leidenschaftlichkeit des gegen sie eindringenden Gefuͤhls gewahr wird.

Man kann Niemand zwingen, die Alten fuͤr klassisch zu halten, oder fuͤr alt; das haͤngt zuletzt von Maximen ab.

Das goldne Zeitalter der roͤmischen Litteratur war genialischer und der Poesie guͤnstiger; das sogenannte silberne in der Prosa ungleich korrekter.

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Als Dichter betrachtet, ist Homer sehr sittlich, weil er so natuͤrlich, und doch so poetisch ist. Als Sittenlehrer aber, wie ihn die Alten trotz den Protestazionen der aͤlteren und bessern Philosophen haͤufig betrachteten, ist er eben darum sehr unsittlich.

Wie der Roman die ganze moderne Poesie, so tingirt auch die Satire, die durch alle Umgestaltungen, bey den Roͤmern doch immer eine klassische Universalpoesie, eine Gesellschaftspoesie aus und fuͤr den Mittelpunkt des gebildeten Weltalls blieb, die ganze roͤmische Poesie, ja die gesammte roͤmische Litteratur, und giebt darin gleichsam den Ton an. Um Sinn zu haben fuͤr das, was in der Prosa eines Cicero, Caesar, Suetonius das urbanste, das originalste und das schoͤnste ist, muß man die Horazischen Satiren schon lange geliebt und verstanden haben. Das sind die ewigen Urquellen der Urbanitaͤt.

Klassisch zu leben, und das Alterthum praktisch in sich zu realisiren, ist der Gipfel und das Ziel der Philologie. Sollte dies ohne allen Cynismus moͤglich seyn?

Die groͤßte aller Antithesen, die es je gegeben hat, ist Caesar und Cato. Sallust hat sie nicht unwuͤrdig dargestellt.

Der systematische Winkelmann, der alle Alten gleichsam wie Einen Autor las, alles im Ganzen sah,39 und seine gesammte Kraft auf die Griechen konzentrirte, legte durch die Wahrnehmung der absoluten Verschiedenheit des Antiken und des Modernen, den ersten Grund zu einer materialen Alterthumslehre. Erst wenn der Standpunkt und die Bedingungen der absoluten Jdentitaͤt des Antiken, und Modernen, die war ist oder seyn wird, gefunden ist, darf man sagen, daß wenigstens der Kontour der Wissenschaft fertig sey, und nun an die methodische Ausfuͤhrung gedacht werden koͤnne.

Der Agrikola des Tacitus ist eine klassisch praͤchtige, historische Kanonisazion eines konsularischen Oekonomen. Nach der Denkart die darin herrscht, ist die hoͤchste Bestimmung des Menschen, mit Erlaubniß des Jmperators zu triumphiren.

Jeder hat noch in den Alten gefunden, was er brauchte, oder wuͤnschte; vorzuͤglich sich selbst.

Cicero war ein großer Virtuose der Urbanitaͤt, der ein Redner, ja sogar ein Philosoph seyn wollte, und ein sehr genialischer Antiquar, Litterator, und Polyhistor altroͤmischer Tugend und altroͤmischer Festivitaͤt haͤtte werden koͤnnen.

Je populaͤrer ein alter Autor ist, je romantischer ist er. Dies ist das Prinzip der neuen Auswahl, welche die Modernen aus der alten Auswahl der Klassiker40 durch die That gemacht haben, oder vielmehr immer noch machen.

Wer frisch vom Aristophanes, dem Olymp der Komoͤdie, kommt, dem erscheint die romantische Persifflage wie eine lang ausgesponnene Faser aus einem Gewebe der Athene, wie eine Flocke himmlischen Feuers, von der das beste im Herabfallen auf die Erde verflog.

Die rohen kosmopolitischen Versuche der Carthager und andrer Voͤlker des Alterthums erscheinen gegen die politische Universalitaͤt der Roͤmer, wie die Naturpoesie ungebildeter Nazionen gegen die klassische Kunst der Griechen. Nur die Roͤmer waren zufrieden mit dem Geist des Despotismus, und verachteten den Buchstaben; nur sie haben naive Tyrannen gehabt.

Der komische Witz ist eine Mischung des epischen und des jambischen. Aristophanes ist zugleich Homer und Archilochus.

Ovid hat viel Aehnlichkeit mit dem Euripides. Dieselbe ruͤhrende Kraft, derselbe rhetorische Glanz und oft unzeitige Scharfsinn, dieselbe taͤndelnde Fuͤlle, Eitelkeit und Duͤnnheit.

Das beste im Martial ist das, was Katullisch scheinen koͤnnte.

41

Jn manchem Gedicht der spaͤtern Alten, wie zum Beyspiel in der Mosella des Ausonius, ist schon nichts mehr antik, als das antiquarische.

Weder die Attische Bildung des Xenophon, noch sein Streben nach Dorischer Harmonie, noch seine Sokratische Anmuth, durch die er liebenswuͤrdig scheinen kann, diese hinreißende Einfalt, Klarheit und eigne Suͤßigkeit des Styls, kann dem unbefangnen Gemuͤth die Gemeinheit verbergen, die der innerste Geist seines Lebens, und seiner Werke ist. Die Memorabilien beweisen, wie unfaͤhig er war, die Groͤße seines Meisters zu begreifen, und die Anabase, das interessanteste und schoͤnste seiner Werke, wie klein er selbst war.

Sollte die cyklische Natur des hoͤchsten Wesens bey Plato und Aristoteles nicht die Personifikazion einer philosophischen Manier seyn?

Hat man nicht bey Untersuchung der aͤltesten griechischen Mythologie viel zu wenig Ruͤcksicht auf den Jnstinkt des menschlichen Geistes zu parallelisiren und zu antithesiren genommen? Die Homerische Goͤtterwelt ist eine einfache Variazion der Homerischen Menschenwelt; die Hesiodische, welcher der heroische Gegensatz fehlt, spaltet sich in mehre entgegengesetzte Goͤttergeschlechter. Jn der alten Aristotelischen Bemerkung, daß man die Menschen aus ihren Goͤttern kennen lerne, liegt nicht bloß die von selbst einleuchtende Subjektivitaͤt aller Theologie, sondern auch die42 unbegreiflichere angebohrne geistige Duplicitaͤt des Menschen.

Die Geschichte der ersten Roͤmischen Caesaren ist wie die Symphonie und das Thema der Geschichte aller nachfolgenden.

Die Fehler der griechischen Sophisten waren mehr Fehler aus Ueberfluß als aus Mangel. Selbst in der Zuversicht und Arroganz, mit der sie alles zu wissen, ja auch wohl zu koͤnnen glaubten und vorgaben, liegt etwas sehr philosophisches, nicht der Absicht, aber dem Jnstinkt nach: denn der Philosoph hat doch nur die Alternative, Alles oder Nichts wissen zu wollen. Das, woraus man nur Etwas, oder Allerley lernen soll, ist sicher keine Philosophie.

Jm Plato finden sich alle reinen Arten der Griechischen Prosa in klassischer Jndividualitaͤt unvermischt, und oft schneidend neben einander: die logische, die physische, die mimische, die panegyrische, und die mythische. Die mimische ist die Grundlage und das allgemeine Element: die andern kommen oft nur episodisch vor. Dann hat er noch eine ihm besonders eigne Art, worin er am meisten Plato ist, die dithyrambische. Man koͤnnte sie eine Mischung der mythischen, und panegyrischen nennen, wenn sie nicht auch etwas von dem gedraͤngten und einfach Wuͤrdigen der physischen haͤtte.

43

Nazionen und Zeitalter zu charakterisiren, das Große groß zu zeichnen, das ist das eigentliche Talent des poetischen Tacitus. Jn historischen Portraͤten ist der kritische Suetonius der groͤßere Meister.

Fast alle Kunsturtheile sind zu allgemein oder zu speziell. Hier in ihren eignen Produkten sollten die Kritiker die schoͤne Mitte suchen, und nicht in den Werken der Dichter.

Cicero wuͤrdigt die Philosophieen nach ihrer Tauglichkeit fuͤr den Redner: eben so laͤßt sich fragen, welche die angemessenste fuͤr den Dichter sey. Gewiß kein System, das mit den Ausspruͤchen des Gefuͤhls und Gemeinsinnes im Widerspruch steht; oder das Wirkliche in Schein verwandelt; oder sich aller Entscheidung enthaͤlt; oder den Schwung zum Uebersinnlichen hemmt; oder die Menschheit von den aͤußern Gegenstaͤnden erst zusammenbettelt. Also weder der Eudaͤmonismus, noch der Fatalismus, noch der Jdealismus, noch der Skeptizismus, noch der Materialismus, noch der Empirismus. Und welche Philosophie bleibt dem Dichter uͤbrig? Die schaffende, die von der Freyheit, und dem Glauben an sie ausgeht, und dann zeigt wie der menschliche Geist sein Gesetz allem aufpraͤgt, und wie die Welt sein Kunstwerk ist.

Das Demonstriren a priori fuͤhrt doch eine selige Beruhigung bey sich, waͤhrend die Beobachtung immer etwas halbes und unvollendetes bleibt. Aristoteles44 machte durch den bloßen Begriff die Welt kugelrund: nicht das kleinste Eckchen heraus, oder hineinwaͤrts ließ er ihr. Er zog deswegen auch die Kometen in die Atmosphaͤre der Erde, und fertigte die wahren Sonnensysteme der Pythagoraͤer kurz ab. Wie lange werden unsre Astronomen, die durch Herschelsche Teleskope sehen, zu thun haben, ehe sie wieder zu einer so bestimmten klaren und kugelrunden Einsicht uͤber die Welt gelangen?

Warum schreiben die Deutschen Frauen nicht haͤufiger Romane? Was soll man daraus auf ihre Geschicklichkeit Romane zu spielen fuͤr einen Schluß ziehen? Haͤngen diese beyden Kuͤnste unter einander zusammen, oder steht diese mit jener in umgekehrtem Verhaͤltnisse? Das letzte sollte man beynah aus dem Umstande vermuthen, daß so viele Romane von Englischen, so wenige von Franzoͤsischen Frauen herruͤhren. Oder sind die geistreichen und reizenden Franzoͤsinnen in dem Fall affairirter Staatsmaͤnner, die nicht anders dazu kommen ihre Memoiren zu schreiben, als wenn sie etwa des Dienstes entlassen werden? Und wann glaubt wohl solch ein weiblicher Geschaͤftsmann seinen Abschied zu haben? Bey der steifen Etikette der weiblichen Tugend in England, und dem zuruͤckgezogenen Leben, wozu die Ungeschliffenheit des maͤnnlichen Umgangs die Frauen dort oft noͤthigt, scheint die haͤufige Romanenautorschaft der Englaͤnderinnen auf das Beduͤrfniß freyerer Verhaͤltnisse zu deuten. Man sonnt sich wenigstens im Mondschein, wenn man45 durch das Spazierengehn am Tage seine Haut zu schwaͤrzen fuͤrchtet.

Ein Franzoͤsischer Beurtheiler hat in Hemsterhuys Schriften le flegme allemand gefunden; ein andrer nach einer Franzoͤsischen Uebersetzung von Muͤllers Geschichte der Schweiz gemeynt, das Buch enthalte gute Materialien fuͤr einen kuͤnftigen Geschichtschreiber. Solche uͤberschwengliche Dummheiten sollten in den Jahrbuͤchern des menschlichen Geistes aufbewahrt werden, man kann sie mit allem Verstande nicht so erfinden. Sie haben auch die Ähnlichkeit mit genialischen Einfaͤllen, daß jedes als Kommentar hinzugefuͤgte Wort ihnen das Pikante nehmen wuͤrde.

Man kann sagen, daß es ein charakteristisches Kennzeichen des dichtenden Genies ist, viel mehr zu wissen, als es weiß, daß es weiß.

Jm Styl des aͤchten Dichters ist nichts Schmuck, alles nothwendige Hieroglyphe.

Die Poesie ist Musik fuͤr das innere Ohr, und Mahlerey fuͤr das innere Auge; aber gedaͤmpfte Musik, aber verschwebende Mahlerey.

Mancher betrachtet Gemaͤhlde am liebsten mit verschloßnen Augen, damit die Fantasie nicht gestoͤrt werde.

46

Von vielen Plafonds kann man recht eigentlich sagen, daß der Himmel voll Geigen haͤngt.

Fuͤr die so oft verfehlte Kunst, Gemaͤhlde mit Worten zu mahlen, laͤßt sich im Allgemeinen wohl keine andre Vorschrift ertheilen, als mit der Manier, den Gegenstaͤnden gemaͤß, aufs mannichfaltigste zu wechseln. Manchmal kann der dargestellte Moment aus einer Erzaͤhlung lebendig hervorgehn. Zuweilen ist eine fast mathematische Genauigkeit in lokalen Angaben noͤthig. Meistens muß der Ton der Beschreibung das Beste thun, um den Leser uͤber das Wie zu verstaͤndigen. Hierin ist Diderot Meister. Er musizirt viele Gemaͤhlde wie der Abt Vogler.

Darf irgend etwas von Deutscher Mahlerey im Vorhofe zu Raphaels Tempel aufgestellt werden, so kommen Albrecht Duͤrer und Holbein gewiß naͤher am Heiligthume zu stehn, als der gelehrte Mengs.

Tadelt den beschraͤnkten Kunstgeschmack der Hollaͤnder nicht. Fuͤrs erste wissen sie ganz bestimmt was sie wollen. Fuͤrs zweyte haben sie sich ihre Gattungen selbst erschaffen. Laͤßt sich eins von beyden von der Englischen Kunstliebhaberey ruͤhmen?

Die bildende Kunst der Griechen ist sehr schamhaft, wo es auf die Reinheit des Edlen ankommt; sie deutet zum Beyspiel an nackten Figuren der Goͤtter und Helden das irdische Beduͤrfniß auf das bescheidenste47 an. Freylich weiß sie nichts von einer gewissen halben Delikatesse, und zeigt daher die viehischen Luͤste der Satyrn ohne alle Verhuͤllung. Jedes Ding muß in seiner Art bleiben. Diese unbezaͤhmbaren Naturen waren schon durch ihre Gestalt aus der Menschheit hinausgestoßen. Eben so war es vielleicht nicht bloß ein sinnliches, sondern ein sittliches Raffinement, das die Hermaphroditen erschuf. Da die Wollust einmal auf diesen Abweg gerathen war, so dichtete man eigne urspruͤnglich dazu bestimmte Geschoͤpfe.

Rubens Anordnung ist oft dithyrambisch, waͤhrend die Gestalten traͤge und auseinander geschwommen bleiben. Das Feuer seines Geistes kaͤmpft mit der klimatischen Schwerfaͤlligkeit. Wenn in seinen Gemaͤhlden mehr innre Harmonie seyn sollte, mußte er weniger Schwungkraft haben, oder kein Flamaͤnder seyn.

Sich eine Gemaͤhldeausstellung von einem Diderot beschreiben lassen, ist ein wahrhaft kaiserlicher Luxus.

Hogarth hat die Haͤßlichkeit gemahlt, und uͤber die Schoͤnheit geschrieben.

Peter Laar's Bambocciaten sind Niederlaͤndische Kolonisten in Jtalien. Das heißere Klima scheint ihr Kolorit gebraͤunt, Charakter und Ausdruck aber durch ruͤstigere Kraft veredelt zu haben.

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Der Gegenstand kann die Dimensionen vergessen machen: man fand es nicht unschicklich, daß der Olympische Jupiter nicht aufstehen durfte, weil er das Dach eingestoßen haͤtte, und Herkules auf einem geschnittnen Steine erscheint noch uͤbermenschlich groß. Über den Gegenstand koͤnnen nur verkleinernde Dimensionen taͤuschen. Das Gemeine wird durch eine kolossale Ausfuͤhrung gleichsam multiplizirt.

Wir lachen mit Recht uͤber die Chinesen, die beym Anblick Europaͤischer Portraͤte mit Licht und Schatten, fragten, ob die Personen denn wirklich so fleckig waͤren? Aber wuͤrden wir es wagen, uͤber einen alten Griechen zu laͤcheln, dem man ein Stuͤck mit Rembrandschen Helldunkel gezeigt, und der in seiner Unschuld gemeynt haͤtte: so mahlte man wohl im Lande der Cimmerier?

Kein kraͤftigeres Mittel gegen niedrige Wollust als Anbetung der Schoͤnheit. Alle hoͤhere bildende Kunst ist daher keusch, ohne Ruͤcksicht auf die Gegenstaͤnde; sie reinigt die Sinne, wie die Tragoͤdie nach Aristoteles die Leidenschaften. Jhre zufaͤlligen Wirkungen kommen hiebey nicht in Betracht, denn in schmutzigen Seelen kann selbst eine Vestalinn Begierden erregen.

Gewisse Dinge bleiben unuͤbertroffen, weil die Bedingungen, unter denen sie erreicht werden, zu herabwuͤrdigend sind. Wenn nicht etwa einmal ein versoffner Gastwirth wie Jan Steen ein Kuͤnstler wird,49 einem Kuͤnstler kann man nicht zumuthen ein versoffner Gastwirth zu werden.

Das wenige, was in Diderots Essai sur la peinture nicht taugt, ist das Sentimentale. Er hat aber den Leser, den es irre fuͤhren koͤnnte, durch seine unvergleichliche Frechheit selbst zurecht gewiesen.

Die einfoͤrmigste und flachste Natur erzieht am besten zum Landschaftsmahler. Man denke an den Reichthum der Hollaͤndischen Kunst in diesem Fache. Armuth macht haushaͤlterisch: es bildet sich ein genuͤgsamer Sinn, den selbst der leiseste Wink hoͤheres Lebens in der Natur erfreut. Wenn der Kuͤnstler dann auf Reisen romantische Szenen kennen lernt, so wirken sie desto maͤchtiger auf ihn. Auch die Einbildungskraft hat ihre Antithesen: der groͤßte Mahler schauerlicher Wuͤsteneyen, Salvator Rosa, war zu Neapel geboren.

Die Alten, scheint es, liebten auch in der Miniatur das Unvergaͤngliche: die Steinschneidekunst ist die Miniatur der Bildnerey.

Die alte Kunst selbst will nicht ganz wiederkommen, so rastlos auch die Wissenschaft alle angehaͤuften Schaͤtze der Natur bearbeitet. Zwar scheint es oft: aber es fehlt immer noch etwas, naͤmlich grade das, was nur aus dem Leben kommt und was kein Modell geben kann. Die Schicksale der alten Kunst50 indessen kommen mit buchstaͤblicher Genauigkeit wieder. Es ist als sey der Geist des Mummius, der seine Kennerschaft an den Korinthischen Kunstschaͤtzen so gewaltig uͤbte, jetzt von den Todten auferstanden.

Wenn man sich nicht durch Kuͤnstlernamen und gelehrte Anspielungen blenden laͤßt, so findet man bey alten und neuen Dichtern den Sinn fuͤr bildende Kunst seltner als man erwarten sollte. Pindar kann vor allen der plastische unter den Dichtern heißen, und der zarte Styl der alten Vasengemaͤhlde erinnert an seine Dorische Weichheit und suͤße Pracht. Propertius, der in acht Zeilen eben so viel Kuͤnstler charakterisiren konnte, ist eine Ausnahme unter den Roͤmern. Dante zeigt durch seine Behandlung des Sichtbaren große Mahleranlagen, doch hat er mehr Bestimmtheit der Zeichnung als Perspektive. Es fehlte ihm an Gegenstaͤnden, diesen Sinn zu uͤben: denn die neuere Kunst war damals in ihrer Kindheit, die alte lag noch im Grabe. Aber was brauchte der von Mahlern zu lernen, von dem Michel Angelo lernen konnte? Jm Ariost trifft man auf starke Spuren, daß er im bluͤhendsten Zeitalter der Mahlerey lebte, sein Geschmack daran hat ihn bey Schilderung der Schoͤnheit manchmal uͤber die Graͤnzen der Poesie fortgerissen. Bey Goethen ist dieß nie der Fall. Er macht die bildenden Kuͤnste manchmal zum Gegenstande seiner Dichtungen, außerdem ist ihre Erwaͤhnung darin niemals angebracht, oder herbey gezogen. Die Fuͤlle des ruhigen Besitzers draͤngt sich nicht an den Tag,51 sie verheimlicht sich auch nicht. Alle solche Stellen hinweggenommen, wuͤrde doch die Kunstliebe und Einsicht des Dichters, in der Gruppirung seiner Figuren, in der einfachen Großheit seiner Umrisse unverkennbar seyn.

Als ein Merkmahl der Ächtheit antiker Muͤnzen kennt man in der Numismatik den sogenannten edlen Rost. Die verfaͤlschende Kunst hat alles besser nachahmen gelernt, als dieß Gepraͤge der Zeiten. Solch einen edlen Rost giebt es auch an Menschen, Helden, Weisen, Dichtern. Johannes Muͤller ist ein vortrefflicher Numismatiker des Menschengeschlechts.

Hat Condorcet sich nicht ein schoͤneres Denkmal gesetzt, da er, von Todesgefahren umringt, sein Buch von den progrès de l'esprit humain schrieb, als wenn er die kurze Frist dazu angewandt haͤtte, sein endliches Jndividuum statt jener unendlichen Aussichten hinzustellen? Wie konnte er besser an die Nachwelt appelliren, als durch das Vergessen seiner selbst im Umgange mit ihr?

Reine Autobiographien werden geschrieben: entweder von Nervenkranken, die immer an ihr Jch gebannt sind, wohin Rousseau mit gehoͤrt; oder von einer derben kuͤnstlerischen oder abentheuerlichen Eigenliebe, wie die des Benvenuto Cellini; oder von gebornen Geschichtsschreibern, die sich selbst nur ein Stoff historischer Kunst sind; oder von Frauen, die auch52 mit der Nachwelt kokettiren; oder von sorglichen Gemuͤthern, die vor ihrem Tode noch das kleinste Staͤubchen in Ordnung bringen moͤchten, und sich selbst nicht ohne Erlaͤuterungen aus der Welt gehen lassen koͤnnen; oder sie sind ohne weiteres bloß als plaidoyers vor dem Puplikum zu betrachten. Eine große Klasse unter den Autobiographen machen die Autopseusten aus.

Schwerlich hat irgend eine andre Litteratur so viele Ausgeburten der Originalitaͤtssucht aufzuweisen als unsre. Es zeigt sich auch hierin daß wir Hyperboreer sind. Bey den Hyperboreern wurden naͤmlich dem Apollo Esel geopfert, an deren wunderlichen Spruͤngen er sich ergoͤtzte.

Ehedem wurde unter uns die Natur, jetzt wird das Jdeal ausschließend gepredigt. Man vergißt zu oft, daß diese Dinge innig vereinbar sind, daß in der schoͤnen Darstellung die Natur idealisch und das Jdeal natuͤrlich seyn soll.

Die Meynung von der Erhabenheit des Englischen Nazionalcharakters ist unstreitig zuerst durch die Gastwirthe veranlaßt; aber Romane und Schauspiele haben sie beguͤnstigt, und dadurch einen nicht zu verwerfenden Beytrag zu der Lehre von der erhabenen Laͤcherlichkeit geliefert.

53

Jch will einem Narren niemals trauen sagt ein sehr gescheidter Narr beym Shakspeare, bis ich sein Gehirn sehe. Man moͤchte diese Bedingung des Zutrauens gewissen angeblichen Philosophen zumuthen; was gilts, man faͤnde papier maché aus Kantischen Schriften verfertigt.

Diderot ist im Fatalisten, in den Versuchen uͤber die Mahlerey, und uͤberall wo er recht Diderot ist, bis zur Unverschaͤmtheit wahr. Er hat die Natur nicht selten im reizenden Nachtkleide uͤberrascht, er hat sie mitunter auch ihre Nothdurft verrichten sehen.

Seit die Nothwendigkeit des Jdeals in der Kunst so dringend eingeschaͤrft worden ist, sieht man die Lehrlinge treuherzig hinter diesem Vogel herlaufen, um ihm, so bald sie etwa nahe genug waͤren, das Salz der Ästhetik auf den Schwanz zu streuen.

Moriz liebte den Griechischen Gebrauch der geschlechtlosen Adjektive fuͤr Abstrakte, und suchte etwas geheimnißvolles darin. Man koͤnnte in seiner Sprache von der Mythologie und Anthusa sagen, daß das Menschliche dem Heiligen sich hier uͤberall zu naͤhern und das Denkende im Sinnbildlichen sich wieder zu erkennen sucht, aber sich manchmal selbst nicht versteht.

Mag es noch so gut seyn, was jemand vom Katheder herab sagt: die beste Freude ist weg, weil man54 ihm nicht drein reden darf. Eben so mit dem lehrhaften Schriftsteller.

Sie pflegen sich selbst die Kritik zu nennen. Sie schreiben kalt, flach, vornehmthuend und uͤber alle Maßen waͤßericht. Natur, Gefuͤhl, Adel und Groͤße des Geistes sind fuͤr sie gar nicht vorhanden, und doch thun sie, als koͤnnten sie diese Dinge vor ihr Richterstuͤhlchen laden. Nachahmungen der ehemaligen Franzoͤsischen Schoͤnenweltsversemacherey, sind das aͤußerste Ziel ihrer lauwarmen Bewunderung. Korrektheit gilt ihnen fuͤr Tugend. Geschmack ist ihr Jdol; ein Goͤtze dem man nur ohne Freude dienen darf. Wer erkennt nicht in diesem Portraͤt die Priester im Tempel der schoͤnen Wissenschaften, welche von dem Geschlecht sind wie die Priester der Cybele?

Ein Fragment muß gleich einem kleinen Kunstwerke von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet seyn wie ein Jgel.

Die Freygeisterey geht immer in dieser Stufenleiter fort: zuerst wird der Teufel angegriffen, dann der heilige Geist, demnaͤchst der Herr Christus, und zuletzt Gott der Vater.

Es giebt Tage wo man sehr gluͤcklich gestimmt ist, und leicht neue Entwuͤrfe machen, sie aber eben so wenig mittheilen, als wirklich etwas hervorbringen kann. Nicht Gedanken sind es; nur Seelen von Gedanken.

55

Sollte sich eine durch Konvenienzen gefesselte Sprache, wie etwa die Franzoͤsische, nicht durch einen Machtspruch des allgemeinen Willens republikanisiren koͤnnen? Die Herrschaft der Sprache uͤber die Geister ist offenbar: aber ihre heilige Unverletzlichkeit folgt daraus eben so wenig, als man im Naturrecht den ehemals behaupteten goͤttlichen Ursprung aller Staatsgewalt gelten lassen kann.

Man erzaͤhlt, Klopstock habe den Franzoͤsischen Dichter Rouget de Lisle, der ihn besuchte, mit der Anrede begruͤßt: wie er es wage in Deutschland zu erscheinen, da sein Marseiller Marsch funfzigtausend braven Deutschen das Leben gekostet? Dieser Vorwurf war unverdient. Schlug Simson die Philister nicht mit einem Eselskinnbacken? Hat aber der Marseiller Marsch wirklich Antheil an den Siegen Frankreichs, so hat wenigstens Rouget de Lisle die moͤrderische Gewalt seiner Poesie in diesem einen Stuͤcke erschoͤpft: mit allen seinen uͤbrigen zusammengenommen, wuͤrde man keine Fliege todt schlagen.

Die Menge nicht zu achten, ist sittlich; sie zu ehren, ist rechtlich.

Werth ist vielleicht kein Volk der Freyheit, aber das gehoͤrt vor das forum Dei.

Nur derjenige Staat verdient Aristokratie genannt zu werden, in welchem wenigstens die kleinere56 Masse, welche die groͤßere despotisirt, eine republikanische Verfassung hat.

Die vollkommne Republik muͤßte nicht bloß demokratisch, sondern zugleich auch aristokratisch und monarchisch seyn; innerhalb der Gesetzgebung der Freyheit und Gleichheit muͤßte das Gebildete das Ungebildete uͤberwiegen und leiten, und alles sich zu einem absoluten Ganzen organisiren.

Kann eine Gesetzgebung wohl sittlich heißen, welche die Angriffe auf die Ehre der Buͤrger weniger hart bestraft, als die auf ihr Leben?

Die Franzoͤsische Revoluzion, Fichte's Wissenschaftslehre, und Goethe's Meister sind die groͤßten Tendenzen des Zeitalters. Wer an dieser Zusammenstellung Anstoß nimmt, wem keine Revoluzion wichtig scheinen kann, die nicht laut und materiell ist, der hat sich noch nicht auf den hohen weiten Standpunkt der Geschichte der Menschheit erhoben. Selbst in unsern duͤrftigen Kulturgeschichten, die meistens einer mit fortlaufendem Kommentar begleiteten Variantensammlung, wozu der klassische Text verlohren ging, gleichen, spielt manches kleine Buch, von dem die laͤrmende Menge zu seiner Zeit nicht viel Notiz nahm, eine groͤßere Rolle, als alles was diese trieb.

Alterthuͤmlichkeit der Worte, und Neuheit der Wortstellungen, gedrungne Kuͤrze und nebenausbildende57 Fuͤlle, die auch die unerklaͤrlichern Zuͤge der charakterisirten Jndividuen wieder giebt; das sind die wesentlichen Eigenschaften des historischen Styls. Die wesentlichste von allen ist Adel, Pracht, Wuͤrde. Vornehm wird der historische Styl durch die Gleichartigkeit und Reinheit einheimischer Worte von aͤchtem Stamm, und durch Auswahl der bedeutendsten, gewichtigsten und kostbarsten; durch groß gezeichneten, und deutlich, lieber zu hart als unklar, artikulirten Periodenbau, wie der des Thucydides; durch nackte Gediegenheit, erhabene Eil und großartige Froͤhlichkeit der Stimmung und Farbe, nach Art des Caesar; besonders aber durch jene innige und hohe Bildung eines Tacitus, welche die trocknen Fakta der reinen Empirie so poetisiren, urbanisiren und zur Philosophie erheben laͤutern und generalisiren muß, als sey sie von Einem der zugleich ein vollendeter Denker, Kuͤnstler, und Held waͤre, aufgefaßt, und vielfach durchgearbeitet, ohne daß doch irgendwo rohe Poesie, reine Philosophie oder isolirter Witz die Harmonie stoͤrte. Das alles muß in der Historie verschmolzen seyn, wie auch die Bilder und Antithesen nur angedeutet oder wieder aufgeloͤst seyn muͤßen, damit der schwebende und fließende Ausdruck dem lebendigen Werden der beweglichen Gestalten entspreche.

Man wundert sich immer mißtrauisch, wenn man zu wissen scheint: das und das wird so seyn. Und doch ist es grade eben so wunderbar, daß wir wissen koͤnnen: das und das ist so; was niemanden auffaͤllt weil es immer geschieht.

58

Jm Gibbon hat sich die gemeine Bigotterie der Englaͤndischen Pedanten fuͤr die Alten auf klassischem Boden bis zu sentimentalen Epigrammen uͤber die Ruinen der versunknen Herrlichkeit veredelt, doch konnte sie ihre Natur nicht ganz ablegen. Er zeigt verschiedentlich fuͤr die Griechen gar keinen Sinn gehabt zu haben. Und an den Roͤmern liebt er doch eigentlich nur die materielle Pracht, vorzuͤglich aber, nach Art seiner zwischen Merkantilitaͤt und Mathematik getheilten Nazion, die quantitative Erhabenheit. Die Tuͤrken sollte man denken, haͤtten es ihm eben auch gethan.

Jst aller Witz Prinzip und Organ der Universalphilosophie, und alle Philosophie nichts andres als der Geist der Universalitaͤt, die Wissenschaft aller sich ewig mischenden und wieder trennenden Wissenschaften, eine logische Chemie: so ist der Werth und die Wuͤrde jenes absoluten, enthusiastischen, durch und durch materialen Witzes, worin Baco und Leibniz, die Haͤupter der scholastischen Prosa, jener einer der ersten, dieser einer der groͤßten Virtuosen war, unendlich. Die wichtigsten wissenschaftlichen Entdeckungen sind bonmots der Gattung. Das sind sie durch die uͤberraschende Zufaͤlligkeit ihrer Entstehung, durch das Kombinatorische des Gedankens, und durch das Barokke des hingeworfenen Ausdrucks. Doch sind sie dem Gehalt nach freylich weit mehr als die sich in Nichts aufloͤsende Erwartung des rein poetischen Witzes. Die besten sind echappées de vue ins Unendliche. 59Leibnizens gesammte Philosophie besteht aus wenigen in diesem Sinne witzigen Fragmenten und Projekten. Kant der Kopernikus der Philosophie hat von Natur vielleicht noch mehr synkretistischen Geist und kritischen Witz als Leibnitz: aber seine Situazion und seine Bildung ist nicht so witzig; auch geht es seinen Einfaͤllen wie beliebten Melodieen: die Kantianer haben sie todt gesungen; daher kann man ihm leicht Unrecht thun, und ihn fuͤr weniger witzig halten, als er ist. Freylich ist die Philosophie erst dann in einer guten Verfassung, wenn sie nicht mehr auf genialische Einfaͤlle zu warten, und zu rechnen braucht, und zwar nur durch enthusiastische Kraft, und mit genialischer Kunst aber doch in sicherer Methode stetig fortschreiten kann. Aber sollen wir die einzigen noch vorhandenen Produkte des synthesirenden Genie's darum nicht achten, weil es noch keine kombinatorische Kunst und Wissenschaft giebt? Und wie kann es diese geben, so lange wir die meisten Wissenschaften nur noch buchstabiren wie Quintaner, und uns einbilden, wir waͤren am Ziel, wenn wir in einem der vielen Dialekte der Philosophie dekliniren und konjugiren koͤnnen, und noch nichts vom Syntax ahnden, noch nicht den kleinsten Perioden konstruiren koͤnnen?

A. Sie behaupten immer Sie waͤren ein Christ. Was verstehn Sie unter Christenthum? B. Was die Christen als Christen seit achtzehn Jahrhunderten machen, oder machen wollen. Der Christianismus scheint mir ein Faktum zu seyn. Aber ein erst angefangnes60 Faktum, das also nicht in einem System historisch dargestellt, sondern nur durch divinatorische Kritik charakterisirt werden kann.

Der revoluzionaͤre Wunsch, das Reich Gottes zu realisiren, ist der elastische Punkt der progressiven Bildung, und der Anfang der modernen Geschichte. Was in gar keiner Beziehung auf's Reich Gottes steht, ist in ihr nur Nebensache.

Die sogenannte Staatenhistorie, welche nichts ist als eine genetische Definizion vom Phaͤnomen des gegenwaͤrtigen politischen Zustandes einer Nazion, kann nicht fuͤr eine reine Kunst oder Wissenschaft gelten. Sie ist ein wissenschaftliches Gewerbe, das durch Freymuͤthigkeit und Opposizion gegen Faustrecht und Mode geadelt werden kann. Auch die Universalhistorie wird sophistisch, sobald sie dem Geiste der allgemeinen Bildung der ganzen Menschheit irgend etwas vorzieht, waͤre auch eine moralische Jdee das heteronomische Prinzip, so bald sie fuͤr eine Seite des historischen Universums Parthey nimmt; und nichts stoͤrt mehr in einer historischen Darstellung als rhetorische Seitenblicke und Nutzanwendungen.

Johannes Muͤller thut in seiner Geschichte oft Blicke aus der Schweiz in die Weltgeschichte; seltner aber betrachtet er die Schweiz mit dem Auge eines Weltbuͤrgers.

61

Strebt eine Biographie zu generalisiren, so ist sie ein historisches Fragment. Konzentrirt sie sich ganz darauf, die Jndividualitaͤt zu charakterisiren: so ist sie eine Urkunde oder ein Werk der Lebenskunstlehre.

Da man immer so sehr gegen die Hypothesen redet, so sollte man doch einmahl versuchen, die Geschichte ohne Hypothese anzufangen. Man kann nicht sagen, daß etwas ist, ohne zu sagen, was es ist. Jndem man sie denkt, bezieht man Fakta schon auf Begriffe, und es ist doch wohl nicht einerley, auf welche. Weiß man dieß, so bestimmt und waͤhlt man sich selbst unter den moͤglichen Begriffen die nothwendigen, auf die man Fakta jeder Art beziehen soll. Will man es nicht anerkennen, so bleibt die Wahl dem Jnstinkt, dem Zufall, oder der Willkuͤhr uͤberlassen, man schmeichelt sich reine solide Empirie ganz a posteriori zu haben, und hat eine hoͤchst einseitige, hoͤchst dogmatizistische und transcendente Ansicht a priori.

Der Schein der Regellosigkeit in der Geschichte der Menschheit entsteht nur durch die Kollisionsfaͤlle heterogener Sphaͤren der Natur, die hier alle zusammentreffen und in einander greifen. Dann sonst hat die unbedingte Willkuͤhr in diesem Gebiet der freyen Nothwendigkeit und nothwendigen Freyheit, weder konstitutive noch legislative Gewalt, und nur den taͤuschenden Titel der exekutiven und richterlichen. Der skizzirte Gedanke einer historischen Dynamik macht dem Geiste des Condorcet so viel Ehre, als seinem62 Herzen der mehr als franzoͤsische Enthusiasmus fuͤr die beynah trivial gewordene Jdee der unendlichen Vervollkommnung.

Die historische Tendenz seiner Handlungen bestimmt die positive Sittlichkeit des Staatsmanns und Weltbuͤrgers.

Die Araber sind eine hoͤchst polemische Natur, die Annihilanten unter den Nazionen. Jhre Liebhaberey, die Originale zu vertilgen, oder wegzuwerfen, wenn die Uebersetzung fertig war, charakterisirt den Geist ihrer Philosophie. Eben darum waren sie vielleicht unendlich kultivirter, aber bei aller Kultur rein barbarischer als die Europaͤer des Mittelalters. Barbarisch ist naͤmlich, was zugleich antiklassisch, und antiprogressiv ist.

Die Mysterien des Christianismus mußten durch den unaufhoͤrlichen Streit, in den sie Vernunft und Glauben verwickelten, entweder zur skeptischen Resignazion auf alles nicht empirische Wissen, oder auf kritischen Jdealismus fuͤhren.

Der Katholizismus ist das naive Christenthum; der Protestantismus ist sentimentaler, und hat außer seinem polemischen revoluzionaͤren Verdienst auch noch das positive, durch die Vergoͤtterung der Schrift die einer universellen und progreßiven Religion auch wesentliche Philologie veranlaßt zu haben. Nur fehlt es63 dem protestantischen Christenthum vielleicht noch an Urbanitaͤt. Einige biblische Historien in ein Homerisches Epos zu travestiren, andre mit der Offenheit des Herodot und der Strenge des Tacitus im Styl der klassischen Historie darzustellen, oder die ganze Bibel als das Werk Eines Autors zu rezensiren; das wuͤrde allen paradox, vielen aͤrgerlich, einigen doch unschicklich und uͤberfluͤßig scheinen. Aber darf irgend etwas wohl uͤberfluͤßig scheinen, was die Religion liberaler machen koͤnnte?

Da alle Sachen die recht Eins sind, zugleich Drey zu seyn pflegen, so laͤßt sich nicht absehen warum es mit Gott grade anders seyn sollte. Gott ist aber nicht bloß ein Gedanke, sondern zugleich auch eine Sache, wie alle Gedanken, die nicht bloße Einbildungen sind.

Die Religion ist meistens nur ein Supplement oder gar ein Surrogat der Bildung, und nichts ist religioͤs in strengem Sinne, was nicht ein Produkt der Freyheit ist. Man kann also sagen: Je freyer, je religioͤser; und je mehr Bildung, je weniger Religion.

Es ist sehr einseitig und anmaßend, daß es grade nur Einen Mittler geben soll. Fuͤr den vollkommnen Christen, dem sich in dieser Ruͤcksicht der einzige Spinosa am meisten naͤhern duͤrfte, muͤßte wohl alles Mittler seyn.

64

Christus ist jetzt verschiedentlich a priori deduzirt worden: aber sollte die Madonna nicht eben so viel Anspruch haben, auch ein urspruͤngliches, ewiges, nothwendiges Jdeal wenn gleich nicht der reinen, doch der weiblichen und maͤnnlichen Vernunft zu seyn?

Es ist ein grobes, doch immer noch gemeines Mißverstaͤndniß, daß man glaubt, um ein Jdeal darzustellen, muͤße ein so zahlreiches Aggregat von Tugenden wie moͤglich auf einen Namen zusammengepackt, ein ganzes Kompendium der Moral in einem Menschen aufgestellt werden; wodurch nichts erlangt wird als Ausloͤschung der Jndividualitaͤt und Wahrheit. Das Jdeale liegt nicht in der Quantitaͤt sondern in der Qualitaͤt. Grandison ist ein Exempel, und kein Jdeal.

Humor ist gleichsam der Witz der Empfindung. Er darf sich daher mit Bewußtseyn aͤußern: aber er ist nicht aͤcht, sobald man Vorsatz dabei wahrnimmt.

Es giebt eine Poesie, deren Eins und Alles das Verhaͤltniß des Jdealen und des Realen ist, und die also nach der Analogie der philosophischen Kunstsprache Transcendentalpoesie heißen muͤßte. Sie beginnt als Satire mit der absoluten Verschiedenheit des Jdealen und Realen, schwebt als Elegie in der Mitte, und endigt als Jdylle mit der absoluten Jdentitaͤt beyder. So wie man aber wenig Werth auf eine Transcendentalphilosophie legen wuͤrde, die nicht kritisch waͤre,65 nicht auch das Producirende mit dem Produkt darstellte, und im System der transcendentalen Gedanken zugleich eine Charakteristik des transcendentalen Denkens enthielte: so sollte wohl auch jene Poesie die in modernen Dichtern nicht seltnen transcendentalen Materialien und Voruͤbungen zu einer poetischen Theorie des Dichtungsvermoͤgens mit der kuͤnstlerischen Reflexion und schoͤnen Selbstbespiegelung, die sich im Pindar, den lyrischen Fragmenten der Griechen, und der alten Elegie, unter den Neuern aber in Goethe findet, vereinigen, und in jeder ihrer Darstellungen sich selbst mit darstellen, und uͤberall zugleich Poesie und Poesie der Poesie seyn.

Bey der Liebe der Alexandrinischen und Roͤmischen Dichter fuͤr schwierigen und unpoetischen Stoff liegt doch der große Gedanke zum Grunde: daß alles poetisirt werden soll: keineswegs als Absicht der Kuͤnstler, aber als historische Tendenz der Werke. Und bey der Mischung aller Kunstarten der poetischen Eklektiker des spaͤtern Alterthums, die Foderung, daß es nur Eine Poesie geben solle wie Eine Philosophie.

Jm Aristophanes ist die Jmmoralitaͤt gleichsam legal, und in den Tragikern ist die Jllegalitaͤt moralisch.

Wie bequem ist es doch daß mythologische Wesen allerley bedeuten, was man sich zueignen moͤchte! Jndem man unaufhoͤrlich von ihnen spricht, glaubt einen der gutmuͤthige Leser im Besitz der bezeichneten66 Eigenschaft. Einer oder der andre von unsern Dichtern waͤre ein geschlagner Mann, wenn es keine Grazien gaͤbe.

Wenn jemand die Alten in Masse charakterisiren will, das findet niemand paradox; und doch, so wenig wissen sie meistens was sie meynen, wuͤrde es ihnen auffallen wenn man behauptete: die alte Poesie sey ein Jndividuum im strengsten und buchstaͤblichsten Sinne des Worts; markirter von Physiognomie, origineller an Manieren und konsequenter in ihren Maximen als ganze Summen solcher Phaͤnomene, welche wir in rechtlichen und gesellschaftlichen Verhaͤltnissen fuͤr Personen, ja sogar fuͤr Jndividuen gelten lassen muͤßen und gelten lassen sollen. Kann man etwas andres charakterisiren als Jndividuen? Jst, was sich auf einen gewissen gegebnen Standpunkte nicht weiter multipliziren laͤßt, nicht eben so gut eine historische Einheit, als was sich nicht weiter dividiren laͤßt? Sind nicht alle Systeme Jndividuen, wie alle Jndividuen auch wenigstens im Keime und der Tendenz nach Systeme? Jst nicht alle reale Einheit historisch? Giebt es nicht Jndividuen, die ganze Systeme von Jndividuen in sich enthalten?

Das Trugbild einer gewesenen goldnen Zeit ist eins der groͤßten Hindernisse gegen die Annaͤherung der goldnen Zeit die noch kommen soll. Jst die goldne Zeit gewesen, so war sie nicht recht golden. Gold kann nicht rosten, oder verwittern: es geht aus allen67 Vermischungen und Zersetzungen unzerstoͤrbar aͤcht wieder hervor. Will die goldne Zeit nicht ewig fortgehend beharren, so mag sie lieber gar nicht anheben, so taugt sie nur zu Elegien uͤber ihren Verlust.

Die Komoͤdien des Aristophanes sind Kunstwerke, die sich von allen Seiten sehen lassen. Gozzi's Dramen haben einen Gesichtspunkt.

Ein Gedicht oder ein Drama, welches der Menge gefallen soll, muß ein wenig von allem haben, eine Art Mikrokosmus seyn. Ein wenig Ungluͤck und ein wenig Gluͤck, etwas Kunst, und etwas Natur, die gehoͤrige Quantitaͤt Tugend und eine gewisse Dosis Laster. Auch Geist muß drin seyn nebst Witz, ja sogar Philosophie, und vorzuͤglich Moral, auch Politik mitunter. Hilft ein Jngrediens nicht, so kann vielleicht das andre helfen. Und gesetzt auch, das Ganze koͤnnte nicht helfen, so koͤnnte es doch auch, wie manche darum immer zu lobende Medizin, wenigstens nicht schaden.

Magie, Karikatur, und Materialitaͤt sind die Mittel durch welche die moderne Komoͤdie der alten Aristophanischen im Jnnern, wie durch demagogische Popularitaͤt im Äußern, aͤhnlich werden kann, und im Gozzi bis zur Erinnerung geworden ist. Das Wesen der komischen Kunst aber bleibt immer der enthusiastische Geist und die klassische Form.

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Dante's prophetisches Gedicht ist das einzige System der transcendentalen Poesie, immer noch das hoͤchste seiner Art. Shakspeare's Universalitaͤt ist wie der Mittelpunkt der romantischen Kunst. Goethe's rein poetische Poesie ist die vollstaͤndigste Poesie der Poesie. Das ist der große Dreyklang der modernen Poesie, der innerste und allerheiligste Kreis unter allen engern und weitern Sphaͤren der kritischen Auswahl der Klassiker der neuern Dichtkunst.

Die einzelnen Großen stehen weniger isolirt unter den Griechen und Roͤmern. Sie hatten weniger Genie's, aber mehr Genialitaͤt. Alles Antike ist genialisch. Das ganze Alterthum ist ein Genius, der einzige den man ohne Übertreibung absolut groß, einzig und unerreichbar nennen darf.

Der dichtende Philosoph, der philosophirende Dichter ist ein Prophet. Das didaktische Gedicht sollte prophetisch seyn, und hat auch Anlage, es zu werden.

Wer Fantasie, oder Pathos, oder mimisches Talent hat, muͤßte die Poesie lernen koͤnnen, wie jedes andre Mechanische. Fantasie ist zugleich Begeisterung und Einbildung; Pathos ist Seele und Leidenschaft; Mimik ist Blick und Ausdruck.

Wie viele giebt es nicht jetzt, die zu weich und gutmuͤthig sind, um Tragoͤdien sehen zu koͤnnen, und zu edel und wuͤrdig, um Komoͤdien hoͤren zu wollen. 69Ein großer Beweis fuͤr die zarte Sittlichkeit unsers Jahrhunderts, welches die Franzoͤsische Revoluzion nur hat verlaͤumden wollen.

Eine eigentliche Kunstlehre der Poesie wuͤrde mit der absoluten Verschiedenheit der ewig unaufloͤslichen Trennung der Kunst und der rohen Schoͤnheit anfangen. Sie selbst wuͤrde den Kampf beyder darstellen, und mit der vollkommnen Harmonie der Kunstpoesie und Naturpoesie endigen. Diese findet sich nur in den Alten, und sie selbst wuͤrden nichts anders seyn, als eine hoͤhere Geschichte vom Geist der klassischen Poesie. Eine Philosophie der Poesie uͤberhaupt aber, wuͤrde mit der Selbstaͤndigkeit des Schoͤnen beginnen, mit dem Satz, daß es vom Wahren und Sittlichen getrennt sey und getrennt seyn solle, und daß es mit diesem gleiche Rechte habe; welches fuͤr den, der es nur uͤberhaupt begreifen kann, schon aus dem Satz folgt, daß Jch = Jch sey. Sie selbst wuͤrde zwischen Vereinigung und Trennung der Philosophie und der Poesie, der Praxis und der Poesie, der Poesie uͤberhaupt und der Gattungen und Arten schweben, und mit der voͤlligen Vereinigung enden. Jhr Anfang gaͤbe die Prinzipien der reinen Poetik, ihre Mitte die Theorie der besondern eigenthuͤmlich modernen Dichtarten, der didaktischen, der musikalischen, der rhetorischen im hoͤhern Sinn u. s. w. Eine Philosophie des Romans, deren erste Grundlinien Platos politische Kunstlehre enthaͤlt, waͤre der Schlußstein. Fluͤchtigen Dilettanten ohne Enthusiasmus, und ohne70 Belesenheit in den besten Dichtern aller Art freylich muͤßte eine solche Poetik vorkommen, wie einem Kinde, das bildern wollte, ein trigonometrisches Buch. Die Philosophie uͤber einen Gegenstand kann nur der brauchen, der den Gegenstand kennt, oder hat; nur der wird begreifen koͤnnen, was sie will und meynt. Erfahrungen und Sinne kann die Philosophie nicht inokuliren oder anzaubern. Sie soll es aber auch nicht wollen. Wer es schon gewußt hat, der erfaͤhrt freylich nichts neues von ihr; doch wird es ihm erst durch sie ein Wissen und dadurch neu von Gestalt.

Jn dem edleren und urspruͤnglichen Sinne des Worts Korrekt, da es absichtliche Durchbildung und Nebenausbildung des Jnnersten und Kleinsten im Werke nach dem Geist des Ganzen, praktische Reflexion des Kuͤnstlers, bedeutet, ist wohl kein moderner Dichter korrekter als Shakspeare. So ist er auch systematisch wie kein andrer: bald durch jene Antithesen, die Jndividuen, Massen, ja Welten in mahlerischen Gruppen kontrastiren lassen; bald durch musikalische Symmetrie desselben großen Maßstabes, durch gigantische Wiederholungen und Refrains; oft durch Parodie des Buchstabens und durch Jronie uͤber den Geist des romantischen Drama und immer durch die hoͤchste und vollstaͤndigste Jndividualitaͤt und die vielseitigste alle Stufen der Poesie von der sinnlichsten Nachahmung bis zur geistigsten Charakteristik vereinigende Darstellung derselben.

71

Noch ehe Hermann und Dorothee erschien, verglich man es mit Vossens Luise; die Erscheinung haͤtte der Vergleichung ein Ende machen sollen; allein sie wird jenem Gedicht immer noch richtig als Empfehlungsschreiben an das Publikum mit auf den Weg gegeben. Bey der Nachwelt wird es Luisen empfehlen koͤnnen, daß sie Dorotheen zur Taufe gehalten hat.

Je mehr die Poesie Wissenschaft wird, je mehr wird sie auch Kunst. Soll die Poesie Kunst werden, soll der Kuͤnstler von seinen Mitteln und seinen Zwecken, ihren Hindernissen und ihren Gegenstaͤnden gruͤndliche Einsicht und Wissenschaft haben, so muß der Dichter uͤber seine Kunst philosophiren. Soll er nicht bloß Erfinder und Arbeiter sondern auch Kenner in seinem Fache seyn, und seine Mitbuͤrger im Reiche der Kunst verstehn koͤnnen, so muß er auch Philolog werden.

Der Grundirrthum der sophistischen Ästhetik ist der, die Schoͤnheit bloß fuͤr einen gegebnen Gegenstand, fuͤr ein psychologisches Phaͤnomen zu halten. Sie ist freylich nicht bloß der leere Gedanke von etwas was hervorgebracht werden soll, sondern zugleich die Sache selbst, eine der urspruͤnglichen Handlungsweisen des menschlichen Geistes; nicht bloß eine nothwendige Fikzion, sondern auch ein Faktum, naͤmlich ein ewiges transcendentales.

Die Gesellschaften der Deutschen sind ernsthaft; ihre Komoͤdien und Satiren sind ernsthaft; ihre Kritik72 ist ernsthaft; ihre ganze schoͤne Litteratur ist ernsthaft. Jst das Lustige bey dieser Nazion immer nur unbewußt und unwillkuͤhrlich?

Alle Poesie, die auf einen Effekt geht, und alle Musik die der ekzentrischen Poesie in ihren komischen oder tragischen Ausschweifungen und Übertreibungen folgen will, um zu wirken und sich zu zeigen, ist rhetorisch.

A. Fragmente, sagen Sie, waͤren die eigentliche Form der Universalphilosophie. An der Form liegt nichts. Was koͤnnen aber solche Fragmente fuͤr die groͤßeste und ernsthafteste Angelegenheit der Menschheit, fuͤr die Vervollkommung der Wissenschaft, leisten und seyn? B. Nichts als ein Lessingsches Salz gegen die geistige Faͤulniß, vielleicht eine cynische lanx fatura im Styl des alten Lucilius oder Horaz, oder gar fermenta cognitionis zur kritischen Philosophie, Randglossen zu dem Text des Zeitalters.

Wieland hat gemeynt, seine beynah ein halbes Jahrhundert umfassende Laufbahn habe mit der Morgenroͤthe unsrer Litteratur angefangen, und endige mit ihrem Untergange. Ein recht offenes Gestaͤndniß eines natuͤrlichen optischen Betrugs.

Wie das Lebensmotto des poetischen Vagabunden in Claudine von Villabella Toll aber klug auch der Charakter manches Werks des Genies ist: so73 ließe sich der entgegengesetzte Wahlspruch auf die geistlose Regelmaͤßigkeit anwenden: Vernuͤnftig aber dumm.

Jeder gute Mensch wird immer mehr und mehr Gott. Gott werden, Mensch seyn, sich bilden, sind Ausdruͤcke, die einerley bedeuten.

Ächte Mystik ist Moral in der hoͤchsten Dignitaͤt.

Man soll nicht mit allen symphilosophiren wollen, sondern nur mit denen die à la hauteur sind.

Einige haben Genie zur Wahrheit; viele haben Talent zum Jrren. Ein Talent, dem eine eben so große Jndustrie zur Seite steht. Wie zu einem Lekkerbissen sind oft zu einem einzigen Jrrthum die Bestandtheile aus allen Weltgegenden des menschlichen Geistes mit unermuͤdlicher Kunst zusammen geholt.

Koͤnnte es nicht noch vor Abfassung der logischen Konstituzion eine provisorische Philosophie geben; und ist nicht alle Philosophie provisorisch, bis die Konstituzion durch die Akzeptazion sankzionirt ist?

Je mehr man schon weiß, je mehr hat man noch zu lernen. Mit dem Wissen nimmt das Nichtwissen in gleichem Grade zu, oder vielmehr das Wissen des Nichtwissens.

74

Was man eine gluͤckliche Ehe nennt, verhaͤlt sich zur Liebe, wie ein korrektes Gedicht zu improvisirtem Gesang.

W. sagte von einem jungen Philosophen: Er trage einen Theorien-Eyerstock im Gehirne, und lege taͤglich wie eine Henne seine Theorie; und das sey fuͤr ihn der einzig moͤgliche Ruhepunkt in seinem bestaͤndigen Wechsel von Selbstschoͤpfung und Selbstvernichtung, welches eine fatigante Manoeuvre seyn moͤchte.

Leibniz ließ sich bekanntlich Augenglaͤser von Spinosa machen; und das ist der einzige Verkehr den er mit ihm oder mit seiner Philosophie gehabt hat. Haͤtte er sich doch auch Augen von ihm machen lassen, um in die ihm unbekannte Weltgegend der Philosophie, wo Spinosa seine Heimath hat, wenigstens aus der Ferne hinuͤber schauen zu koͤnnen!

Vielleicht muß man um einen transcendentalen Gesichtspunkt fuͤr das Antike zu haben, erzmodern seyn. Winkelmann hat die Griechen wie ein Grieche gefuͤhlt. Hemsterhuys hingegen wußte modernen Umfang durch antike Einfachheit schoͤn zu beschraͤnken, und warf von der Hoͤhe seiner Bildung, wie von einer freyen Graͤnze, gleich seelenvolle Blicke in die alte, und in die neue Welt.

Warum sollte es nicht auch unmoralische Menschen geben duͤrfen, so gut wie unphilosophische und75 unpoetische? Nur antipolitische oder unrechtliche Menschen koͤnnen nicht geduldet werden.

Mystik ist was allein das Auge des Liebenden an dem geliebten sieht. Jeder mag seine Mystik fuͤr sich haben, nur muß er sie auch fuͤr sich behalten. Es giebt wohl viele, die das schoͤne Alterthum travestiren, gewiß aber auch einige die es mystifiziren, und also fuͤr sich behalten muͤßen. Beydes entfernt von dem Sinn in dem es rein genossen, und von dem Wege worauf es zuruͤckgebracht werden kann.

Jede Philosophie der Philosophie, nach der Spinosa kein Philosoph ist, muß verdaͤchtig scheinen.

Sie jammern immer, die Deutschen Autoren schrieben nur fuͤr einen so kleinen Kreis, ja oft nur fuͤr sich selbst untereinander. Das ist recht gut. Dadurch wird die Deutsche Litteratur immer mehr Geist und Charakter bekommen. Und unterdessen kann vielleicht ein Publikum entstehen.

Leibniz war so sehr Moderantist, daß er auch das Jch, und Nicht-Jch, wie Katholizismus und Protestantismus verschmelzen wollte, und Thun und Leiden nur dem Grade nach verschieden hielt. Das heißt die Harmonie chargiren, und die Billigkeit bis zur Karikatur treiben.

76

An die Griechen zu glauben, ist eben auch eine Mode des Zeitalters. Sie hoͤren gern genug uͤber die Griechen deklamiren. Kommt aber einer und sagt: Hier sind welche; so ist niemand zu Hause.

Vieles was Dummheit scheint, ist Narrheit, die gemeiner ist, als man denkt. Narrheit ist absolute Verkehrtheit der Tendenz, gaͤnzlicher Mangel an historischem Geist.

Leibnizens Methode der Jurisprudenz ist ihrem Zwecke nach eine allgemeine Ausstellung seiner Plane. Er hatte es auf alles angelegt: Praktiker, Kanzellist, Professor, Hofmeister. Das Eigne davon ist bloße Kombinazion des juristischen Stoffs mit der theologischen Form. Die Theodicee ist im Gegentheil eine Advokatenschrift in Sachen Gottes contra Bayle und Konsorten.

Man haͤlt es fuͤr ein Ungluͤck, daß es kein bestimmtes Gefuͤhl der physischen Gesundheit giebt, wohl aber der Krankheit. Wie weise diese Veranstaltung der Natur sey, sieht man aus dem Zustande der Wissenschaften, wo der Fall umgekehrt ist, und wo ein Wassersuͤchtiger, Hektischer und Gelbsuͤchtiger, wenn er sich mit einem Gesunden vergleicht, glaubt, es gaͤbe zwischen ihnen keinen andern Unterschied als den zwischen Fett und Mager oder Bruͤnett und Blondin.

77

Fichte's Wissenschaftslehre ist eine Philosophie uͤber die Materie der Kantischen Philosophie. Von der Form redet er nicht viel, weil er Meister derselben ist. Wenn aber das Wesen der kritischen Methode darin besteht, daß Theorie des bestimmenden Vermoͤgens und System der bestimmten Gemuͤthswirkungen in ihr wie Sache und Gedanken in der praestabilirten Harmonie innigst vereinigt sind: so duͤrfte er wohl auch in der Form ein Kant in der zweyten Potenz und die Wissenschaftslehre weit kritischer seyn, als sie scheint. Vorzuͤglich die neue Darstellung der Wissenschaftslehre ist immer zugleich Philosophie und Philosophie der Philosophie. Es mag guͤltige Bedeutungen des Worts Kritisch geben, in welchem es nicht auf jede Fichtische Schrift paßt. Aber bey Fichte muß man, wie er selbst, ohne alle Nebenruͤcksicht nur auf das Ganze sehen und auf das Eine worauf es eigentlich ankommt; nur so kann man die Jdentitaͤt seiner Philosophie mit der Kantischen sehen und begreifen. Auch ist Kritisch wohl etwas, was man nie genug seyn kann.

Wenn der Mensch nicht weiter kommen kann, so hilft er sich mit einem Machtspruche, oder einer Machthandlung, einem raschen Entschluß.

Wer sucht wird zweifeln. Das Genie sagt aber so dreist und sicher, was es in sich vorgehn sieht, weil es nicht in seiner Darstellung und also auch die Darstellung nicht in ihm befangen ist, sondern seine Betrachtung und das Betrachtete frey zusammen zu78 stimmen, zu einem Werke frey sich zu vereinigen scheinen. Wenn wir von der Außenwelt sprechen, wenn wir wirkliche Gegenstaͤnde schildern, so verfahren wir wie das Genie. Ohne Genialitaͤt existirten wir alle uͤberhaupt nicht. Genie ist zu allem noͤthig. Was man aber gewoͤhnlich Genie nennt, ist Genie des Genie's.

Der Geist fuͤhrt einen ewigen Selbstbeweis.

Der transcendentale Gesichtspunkt fuͤr dieses Leben erwartet uns. Dort wird es uns erst recht bedeutend werden.

Das Leben eines wahrhaft kanonischen Menschen muß durchgehends symbolisch seyn. Waͤre unter dieser Voraussetzung nicht jeder Tod ein Versoͤhnungstod? Mehr oder weniger versteht sich; und ließen sich nicht mehre hoͤchst merkwuͤrdige Folgerungen daraus ziehen?

Nur dann zeige ich, daß ich einen Schriftsteller verstanden habe, wenn ich in seinem Geiste handeln kann; wenn ich ihn, ohne seine Jndividualitaͤt zu schmaͤlern, uͤbersetzen und mannichfach veraͤndern kann.

Wir sind dem Aufwachen nah, wenn wir traͤumen daß wir traͤumen.

Ächt geselliger Witz ist ohne Knall. Es giebt eine Art desselben, die nur magisches Farbenspiel in hoͤhern Sphaͤren ist.

79

Geistvoll ist das, worin sich der Geist unaufhoͤrlich offenbart, wenigstens oft von neuem in veraͤnderter Gestalt wiedererscheint; nicht bloß etwa nur einmal, so zu Anfang, wie bey vielen philosophischen Systemen.

Deutsche giebt es uͤberall. Germanitaͤt ist so wenig, wie Romanitaͤt, Graͤcitaͤt oder Brittannitaͤt auf einen besondern Staat eingeschraͤnkt; es sind allgemeine Menschenkaraktere die nur hie und da vorzuͤglich allgemein geworden sind. Deutschheit ist aͤchte Popularitaͤt, und darum ein Jdeal.

Der Tod ist eine Selbstbesiegung, die wie alle Selbstuͤberwindung, eine neue leichtere Existenz verschafft.

Brauchen wir zum Gewoͤhnlichen und Gemeinen vielleicht deswegen so viel Kraft und Anstrengung, weil fuͤr den eigentlichen Menschen nichts ungewoͤhnlicher nichts ungemeiner ist als armselige Gewoͤhnlichkeit?

Genialischer Scharfsinn ist scharfsinniger Gebrauch des Scharfsinns.

Auf die beruͤhmte Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften uͤber die Fortschritte der Metaphysik sind Antworten jeder Art erschienen: eine feindliche, eine guͤnstige, eine uͤberfluͤßige, noch eine,80 auch eine dramatische, und sogar eine Sokratische von Huͤlsen. Ein wenig Enthusiasmus, wenn er auch roh seyn sollte, ein gewisser Schein von Universalitaͤt verfehlen ihre Wirkung nicht leicht, und verschaffen auch wohl dem Paradoxen ein Publikum. Aber der Sinn fuͤr reine Genialitaͤt ist selbst unter gebildeten Menschen eine Seltenheit. Kein Wunder also, wenn es nur wenige wissen, daß Huͤlsens Werk eines von denen ist, wie sie in der Philosophie immer sehr selten waren und es auch jetzt noch sind: ein Werk im strengsten Sinne des Worts, ein Kunstwerk, das Ganze aus Einem Stuͤck, an dialektischer Virtuositaͤt das naͤchste nach Fichte, und das eine erste Schrift, die der Veranlassung nach eine Gelegenheitsschrift seyn sollte. Huͤlsen ist seines Gedankens und seines Ausdrucks voͤllig Meister, er geht sicher und leise; und diese ruhige hohe Besonnenheit bey dem weitumfassenden Blick und der reinen Humanitaͤt, ist es eben was ein historischer Philosoph in seinem antiquarischen und aus der Mode gekommenen Dialekt das Sokratische nennen wuͤrde; eine Terminologie, die sich jedoch ein Kuͤnstler, der so viel philologischen Geist hat, gefallen lassen muß.

Ungeachtet er so eine idyllische Natur ist, hat Fontenelle doch eine starke Antipathie gegen den Jnstinkt, und vergleicht das reine Talent, welches er fuͤr unmoͤglich haͤlt, mit dem ganz absichtslosen Kunstfleiße der Biber. Wie schwer ist es sich selbst nicht zu uͤbersehen! Denn wenn Fontenelle sagt: La gêne fait81 l'essence et le merite brillant de la Poesie: so scheints kaum moͤglich, die franzoͤsische Poesie mit wenigen Worten besser zu karakterisiren. Aber ein Biber, der Academicien waͤre, koͤnnte wohl nicht mit vollkommnerem Unbewußtseyn das Rechte treffen.

Gebildet ist ein Werk, wenn es uͤberall scharf begraͤnzt, innerhalb der Graͤnzen aber graͤnzenlos und unerschoͤpflich ist, wenn es sich selbst ganz treu, uͤberall gleich, und doch uͤber sich selbst erhaben ist. Das Hoͤchste und Letzte ist, wie bey der Erziehung eines jungen Englaͤnders, le grand tour. Es muß durch alle drey oder vier Welttheile der Menschheit gewandert seyn, nicht um die Ecken seiner Jndividualitaͤt abzuschleifen, sondern um seinen Blick zu erweitern und seinem Geist mehr Freyheit und innre Vielseitigkeit und dadurch mehr Selbstaͤndigkeit und Selbstgenugsamkeit zu geben.

Die Orthodoxen unter den Kantianern suchen das Prinzip ihrer Philosophie vergeblich im Kant. Es steht in Buͤrgers Gedichten und lautet: Ein Kaiserwort soll man nicht drehn noch deuteln.

An genialischem Unbewußtseyn koͤnnen die Philosophen, duͤnkt mich, den Dichtern den Rang recht wohl streitig machen.

Wenn Verstand und Unverstand sich beruͤhren, so giebt es einen elektrischen Schlag. Das nennt man Polemik.

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Noch bewundern die Philosophen im Spinosa nur die Konsequenz, wie die Englaͤnder am Shakspeare bloß die Wahrheit preisen.

Vermischte Gedanken sollten die Kartons der Philosophie seyn. Man weiß, was diese den Kennern der Mahlerey gelten. Wer nicht philosophische Welten mit dem Crayon skizziren, jeden Gedanken, der Physiognomie hat, mit ein paar Federstrichen karakterisiren kann, fuͤr den wird die Philosophie nie Kunst, und also auch nie Wissenschaft werden. Denn in der Philosophie geht der Weg zur Wissenschaft nur durch die Kunst, wie der Dichter im Gegentheil erst durch Wissenschaft ein Kuͤnstler wird.

Jmmer tiefer zu dringen, immer hoͤher zu steigen, ist die Lieblingsneigung der Philosophen. Auch gelingt es, wenn man ihnen aufs Wort glaubt, mit bewundrungswuͤrdiger Schnelligkeit. Mit dem Weiterkommen geht es dagegen langsam genug. Besonders in Ruͤcksicht der Hoͤhe uͤberbieten sie sich ordentlich, wie wenn zwey zugleich auf einer Aukzion unbedingte Commission haben. Vielleicht ist aber alle Philosophie, die philosophisch ist, unendlich hoch und unendlich tief. Oder steht Plato niedriger als die jetzigen Philosophen?

Auch die Philosophie ist das Resultat zwey streitender Kraͤfte, der Poesie und Praxis. Wo diesesich ganz durchdringen und in Eins schmelzen, da entsteht83 Philosophie; wenn sie sich wieder zersetzt, wird sie Mythologie, oder wirft sich ins Leben zuruͤck. Aus Dichtung und Gesetzgebung bildete sich die Griechische Weisheit. Die hoͤchste Philosophie, vermuthen einige, duͤrfte wieder Poesie werden; und es ist sogar eine bekannte Erfahrung, daß gemeine Naturen erst nach ihrer Art zu philosophiren anfangen, wenn sie zu leben aufhoͤren. Diesen chemischen Prozeß des Philosophirens besser darzustellen, wo moͤglich die dynamischen Gesetze desselben ganz ins Reine zu bringen, und die Philosophie, welche sich immer von neuem organisiren und desorganisiren muß, in ihre lebendigen Grundkraͤfte zu scheiden, und zu ihrem Ursprung zuruͤckzufuͤhren, das halte ich fuͤr Schellings eigentliche Bestimmung. Dagegen scheint mir seine Polemik, besonders aber seine litterarische Kritik der Philosophie eine falsche Tendenz zu seyn; und seine Anlage zur Universalitaͤt ist wohl noch nicht gebildet genug, um in der Philosophie der Physik das finden zu koͤnnen, was sie da sucht.

Absicht bis zur Jronie, und mit willkuͤhrlichem Schein von Selbstvernichtung ist eben sowohl naiv, als Jnstinkt bis zur Jronie. Wie das Naive mit den Widerspruͤchen der Theorie und der Praxis, so spielt das Groteske mit wunderlichen Versetzungen von Form und Materie, liebt den Schein des Zufaͤlligen und Seltsamen, und kokettirt gleichsam mit unbedingter Willkuͤhr. Humor hat es mit Seyn und Nichtseyn zu thun, und sein eigentliches Wesen ist Reflexion. Daher84 seine Verwandtschaft mit der Elegie und allem, was transcendental ist; daher aber auch sein Hochmuth und sein Hang zur Mystik des Witzes. Wie Genialitaͤt dem Naiven, so ist ernste reine Schoͤnheit dem Humor nothwendig. Er schwebt am liebsten uͤber leicht und klar stroͤmenden Rhapsodien der Philosophie oder der Poesie und flieht schwerfaͤllige Massen, und abgerißne Bruchstuͤcke.

Die Geschichte von den Gergesener Saͤuen ist wohl eine sinnbildliche Prophezeyung von der Periode der Kraftgenie's, die sich nun gluͤcklich in das Meer der Vergessenheit gestuͤrzt haben.

Wenn ich meine Antipathie gegen das Katzengeschlecht erklaͤre, so nehme ich Peter Leberechts gestiefelten Kater aus. Krallen hat er, und wer davon geritzt worden ist, schreyt, wie billig, uͤber ihn; Andre aber kann es belustigen, wie er gleichsam auf dem Dache der dramatischen Kunst herumspaziert.

Der Denker braucht grade ein solches Licht wie der Mahler: hell, ohne unmittelbaren Sonnenschein oder blendende Reflexe, und, wo moͤglich, von oben herab.

Welche Vorstellungen muͤssen die Theoristen gehabt haben, die das Portraͤt vom Gebiet der eigentlich schoͤnen, freyen und schaffenden Kunst ausschließen. Es ist grade, als wollte man es nicht fuͤr Poesie85 gelten lassen, wenn ein Dichter seine wirkliche Geliebte besingt. Das Portraͤt ist die Grundlage und der Pruͤfstein des historischen Gemaͤhldes.

Neuerdings ist die unerwartete Entdeckung gemacht worden, in der Gruppe des Laokoon sey der Held sterbend vorgestellt, und zwar an einem Schlagflusse. Weiter laͤßt sich nun die Kennerschaft in dieser Richtung nicht treiben, es muͤßte uns denn jemand belehren, Laokoon sey wirklich schon todt, welches auch in Ruͤcksicht auf den Kenner seine vollkommene Richtigkeit haben wuͤrde. Bey Gelegenheit werden Lessing und Winkelmann zurechtgewiesen: nicht Schoͤnheit, wie jener behauptet, (eigentlich beyde und mit ihnen Mengs) noch stille Groͤße und edle Einfalt, wie dieser, sey das Grundgesetz der Griechischen Kunst gewesen, sondern Wahrheit der Karakteristik. Karakterisiren will wohl alle menschliche Bildnerey bis auf die hoͤlzernen Goͤtzen der Kamtschadalen hinunter. Wenn man aber den Geist einer Sache in Einem Zuge fassen will, so nennt man nicht das, was sich von selbst versteht, und was sie mit andern gemein hat, sondern was wesentlich ihre Eigenthuͤmlichkeit bezeichnet. Karakterlose Schoͤnheit laͤßt sich nicht denken: sie wird, wenn auch keinen ethischen, doch allezeit einen physischen Karakter haben, d. h. die Schoͤnheit eines gewissen Alters und Geschlechts seyn, oder bestimmte koͤrperliche Gewoͤhnungen verrathen, wie die Koͤrper der Ringer. Die alte Kunst hat nicht nur ihre unter Anleitung der Mythologie erschaffnen86 Bildungen in dem hoͤchsten und wuͤrdigsten Sinne gedacht, sondern mit jedem Karakter der Formen und des Ausdrucks den Grad von Schoͤnheit vereinbart, der dabey Statt finden konnte, ohne jenen zu zerstoͤren. Daß sie dieß auch da moͤglich zu machen gewußt, wo ein barbarischer Geschmack nicht einmal des Gedankens faͤhig gewesen waͤre, laͤßt sich, z. B. an antiken Medusenkoͤpfen, beynah mit Haͤnden greifen. Wenn komische oder tragische Darstellungen ein Einwurf gegen dieß allgemeine, durchgaͤngige Streben nach Schoͤnheit waͤren, so laͤge er zu nahe, als daß er Kennern des Alterthums wie Mengs und Winkelmann haͤtte entgehen koͤnnen. Man vergleiche die groͤbste Ausgelassenheit antiker Satyren und Bakchantinnen mit aͤhnlichen Vorstellungen aus der Flamaͤndischen Schule, und man muͤßte selbst ganz unhellenisch seyn, wenn man nicht dort noch das Hellenische fuͤhlte. Es ist ganz etwas anders, im Schmutze gemeiner Sinnlichkeit einheimisch seyn, oder sich, wie eine Gottheit in eine Thiergestalt, aus muthwilliger Lust dazu herablassen. Auch bey der Wahl schrecklicher Gegenstaͤnde kommt ja noch alles auf die Behandlung an, welche den mildernden Hauch der Schoͤnheit daruͤber verbreiten kann, und in der Griechischen Kunst und Poesie wirklich verbreitet hat. Grade in streitenden Elementen, in dem unaufloͤslich scheinenden Widerspruche zwischen der Natur des Dargestellten und dem Gesetze der Darstellung, erscheint die innre Harmonie des Geistes am goͤttlichsten. Oder wird man in den Tragoͤdien des Sophokles, deswegen87 weil sie hoͤchst tragisch sind, die stille Groͤße und edle Einfalt weglaͤugnen? Daß im Koͤrper des Laokoon der gewaltsamste Zustand des Leidens und der Anstrengung ausgedruͤckt sey, hat Winkelmann sehr bestimmt anerkannt; nur im Gesichte, behauptet er, erscheine die nicht erliegende Heldenseele. Jetzt erfahren wir, daß Laokoon nicht schreyt, weil er nicht mehr schreyen kann. Naͤmlich von wegen des Schlagflusses. Freylich kann er nicht schreyen, sonst wuͤrde er gegen eine so entstellende Beschreibung und Verkennung seiner heroischen Groͤße die Stimme erheben.

Wenn der Geschmack der Englaͤnder in der Mahlerey, wie die mechanische Zierlichkeit ihrer Kupferstiche befuͤrchten laͤßt, sich auf dem festen Lande noch weiter verbreiten sollte, so moͤchte man darauf antragen, den ohne dieß unschicklichen Namen, historisches Gemaͤhlde, abzuschaffen und dafuͤr theatralisches Gemaͤhlde einzufuͤhren.

Gegen den Vorwurf, daß die eroberten Jtaliaͤnischen Gemaͤhlde in Paris uͤbel behandelt wuͤrden, hat sich der Saͤuberer derselben erboten, ein Bild von Carracci halb gereinigt und halb in seinem urspruͤnglichen Zustande aufzustellen. Ein artiger Einfall! So sieht man bey ploͤtzlichem Laͤrm auf der Gasse manchmal ein halb rasirtes Gesicht zum Fenster herausgukken; und mit Franzoͤsischer Lebhaftigkeit und Ungeduld betrieben, mag das Saͤuberungsgeschaͤft uͤberhaupt viel von der Barbierkunst an sich haben.

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Die zarte Weiblichkeit in Gedanken und Dichtungen, die auf den Bildern der Angelika Kaufmann anzieht, hat sich bey den Figuren mitunter auf eine unerlaubte Art eingeschlichen: ihren Juͤnglingen sieht es aus den Augen, daß sie gar zu gern einen Maͤdchenbusen haͤtten, und wo moͤglich auch solche Huͤften. Vielleicht waren sich die Griechischen Mahlerinnen dieser Graͤnze oder Klippe ihres Talentes bewußt. Unter den wenigen, die Plinius nennt, fuͤhrt er von der Timarete, Jrene und Lala nur weibliche Figuren an.

Da man jetzt uͤberall moralische Nutzanwendungen verlangt, so wird man auch die Nuͤtzlichkeit der Portraͤtmahlerey durch eine Beziehung auf haͤusliches Gluͤck darthun muͤssen. Mancher, der sich an seiner Frau ein wenig muͤde gesehen, findet seine ersten Regungen vor den reineren Zuͤgen ihres Bildnisses wieder.

Der Ursprung der Griechischen Elegie, sagt man, liege in der lydischen Doppelfloͤte. Sollte er nicht naͤchstdem auch in der menschlichen Natur zu suchen seyn?

Fuͤr Empiriker, die sich auch bis zum Streben nach Gruͤndlichkeit und bis zum Glauben an einen großen Mann erheben koͤnnen, wird die Fichtische Wissenschaftslehre doch nie mehr seyn als das dritte Heft von dem philosophischen Journal, die Konstituzion.

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Wenn Nichts zuviel so viel bedeutet als Alles ein wenig: so ist Garve der groͤßte deutsche Philosoph.

Heraklit sagte, man lerne die Vernunft nicht durch Vielwisserey. Jetzt scheint es noͤthiger zu erinnern, daß man durch reine Vernunft allein noch nicht gelehrt werde.

Um einseitig seyn zu koͤnnen, muß man wenigstens eine Seite haben. Dieß ist gar nicht der Fall der Menschen, (die gleich aͤchten Rhapsoden nach Platos Karakteristik dieser Gattung) nur fuͤr Eins Sinn haben, nicht weil es ihr Alles, sondern weil es ihr Einziges ist, und immer dasselbe absingen. Jhr Geist ist nicht so wohl in enge Graͤnzen eingeschlossen; er hoͤrt vielmehr gleich auf, und wo er aufhoͤrt, geht unmittelbar der leere Raum an. Jhr ganzes Wesen ist wie ein Punkt, der aber doch die Aehnlichkeit mit dem Golde hat, das er sich zu einem unglaublich duͤnnen Plaͤttchen sehr weit auseinanderschlagen laͤßt.

Warum fehlt in den modigen Verzeichnissen aller moͤglichen Grundsaͤtze der Moral immer das Ridicuͤle? Etwa weil dieses Prinzip nur in der Praxis allgemein gilt?

Über das geringste Handwerk der Alten wird keiner zu urtheilen wagen, der es nicht versteht. Über die Poesie und Philosophie der Alten glaubt jeder90 mitsprechen zu duͤrfen, der eine Konjektur oder einen Kommentar machen kann, oder etwa in Jtalien gewesen ist. Hier glauben sie einmal dem Jnstinkt zu viel: denn uͤbrigens mag es wohl eine Foderung der Vernunft seyn, daß jeder Mensch ein Poet und ein Philosoph seyn solle, und die Foderungen der Vernunft, sagt man, ziehen den Glauben nach sich. Man koͤnnte diese Gattung des Naiven das philologische Naive nennen.

Das bestaͤndige Wiederhohlen des Themas in der Philosophie entspringt aus zwey verschiedenen Ursachen. Entweder der Autor hat etwas entdeckt, er weiß aber selbst noch nicht recht was; und in diesem Sinne sind Kants Schriften musikalisch genug. Oder er hat etwas Neues gehoͤrt, ohne es gehoͤrig zu vernehmen, und in diesem Sinne sind die Kantianer die groͤßten Tonkuͤnstler der Litteratur.

Daß ein Prophet nicht in seinem Vaterlande gilt ist wohl der Grund, warum kluge Schriftsteller es so haͤufig vermeiden, ein Vaterland im Gebiete der Kuͤnste und Wissenschaften zu haben. Sie legen sich lieber aufs Reisen, Reisebeschreibungen, oder aufs Lesen und Übersetzen von Reisebeschreibungen, und erhalten das Lob der Universalitaͤt.

Alle Gattungen sind gut, sagt Voltaire, ausgenommen die langweilige Gattung. Aber welches ist denn nun die langweilige Gattung? Sie mag groͤßer91 seyn als alle andern und viele Wege moͤgen dahin fuͤhren. Der kuͤrzeste ist wohl, wenn ein Werk nicht weiß, zu welcher Gattung es gehoͤren will oder soll. Sollte Voltaire diesen Weg nie gegangen seyn?

Wie Simonides die Poesie eine redende Mahlerey und die Mahlerey eine stumme Poesie nannte, so koͤnnte man sagen, die Geschichte sey eine werdende Philosophie, und die Philosophie eine vollendete Geschichte. Aber Apoll, der nicht verschweigt und nicht sagt, sondern andeutet, wird nicht mehr verehrt und wo sich eine Muse sehen laͤßt, wollen sie sie gleich zu Protokoll vernehmen. Wie uͤbel verfaͤhrt selbst Lessing mit jenem schoͤnen Wort des geistvollen Griechen, der vielleicht keine Gelegenheit hatte, an descriptive poetry zu denken, und dem es sehr uͤberfluͤßig scheinen mußte, daran zu erinnern, daß die Poesie auch eine geistige Musik sey, da er keine Vorstellung davon hatte, daß beyde Kuͤnste getrennt seyn koͤnnten.

Wenn gemeine Menschen, ohne Sinn fuͤr die Zukunft, einmal von der Wuth des Fortschreitens ergriffen werden, treiben sie's auch recht buchstaͤblich. Den Kopf voran und die Augen zu schreiten sie in alle Welt, als ob der Geist Arme und Beine haͤtte. Wenn sie nicht etwa den Hals brechen, so erfolgt gewoͤhnlich eins von beyden: entweder sie werden staͤtisch oder sie machen linksum. Mit den letzten muß mans machen wie Caesar, der die Gewohnheit hatte, im92 Gedraͤnge der Schlacht fluͤchtig gewordene Krieger bey der Kehle zu packen, und mit dem Gesicht gegen die Feinde zu kehren.

Virtuosen in verwandten Gattungen verstehn sich oft am wenigsten, und auch die geistige Nachbarschaft pflegt Feindseligkeiten zu veranlassen. So findet man nicht selten, daß edle und gebildete Menschen, die alle goͤttlich dichten, denken oder leben, deren jeder aber sich der Gottheit auf einem andern Wege naͤhert, einander die Religion absprechen, gar nicht um der Parthey oder des Systems willen, sondern aus Mangel an Sinn fuͤr religioͤse Jndividualitaͤt. Die Religion ist schlechthin groß wie die Natur, der vortrefflichste Priester hat doch nur ein klein Stuͤck davon. Es giebt unendlich viel Arten derselben, die sich jedoch von selbst unter einige Hauptrubriken zu ordnen scheinen. Einige haben am meisten Talent fuͤr die Anbetung des Mittlers, fuͤr Wunder und Gesichte. Das sind die, welche der gemeine Mann, wie es kommt, Schwaͤrmer oder Poeten nennt. Ein andrer weiß vielleicht mehr von Gott dem Vater, und versteht sich auf Geheimnisse und Weissagungen. Dieser ist ein Philosoph, und wird wie der Gesunde von der Gesundheit, nicht viel von der Religion reden, am wenigsten von seiner eignen. Andre glauben an den heiligen Geist, und was dem anhaͤngt, Offenbarungen, Eingebungen u.s.w.; an sonst aber niemand. Das sind kuͤnstlerische Naturen. Es ist ein sehr natuͤrlicher ja fast unvermeidlicher Wunsch, alle Gattungen der Religion93 in sich vereinigen zu wollen. Jn der Ausfuͤhrung ists damit aber ungefaͤhr, wie mit der Vermischung der Dichtarten. Wer aus wahrem Jnstinkt zugleich an den Mittler und an den heiligen Geist glaubt, pflegt schon die Religion als isolirte Kunst zu treiben; welches eine der mißlichsten Professionen ist, die ein ehrlicher Mann treiben kann. Wie muͤßte es erst einem ergehn, der an alle drey glaubt!

Nur der, welcher sich selbst setzt, kann andre setzen. Eben so hat nur der, welcher sich selbst annihilirt, ein Recht jeden andern zu annihiliren.

Es ist kindisch, den Leuten das einreden zu wollen, wofuͤr sie keinen Sinn haben. Thut als ob sie nicht da waͤren, und macht ihnen vor, was sie sehen lernen sollen. Dieß ist zugleich hoͤchst weltbuͤrgerlich und hoͤchst sittlich; sehr hoͤflich und sehr cynisch.

Viele haben Geist oder Gemuͤth oder Fantasie. Aber weil es fuͤr sich selbst nur in fluͤchtiger dunstfoͤrmiger Gestalt erscheinen koͤnnte, hat die Natur Sorge getragen, es durch irgend einen gemeinen erdigen Stoff chemisch zu binden. Dieses Gebundne zu entdecken ist die bestaͤndige Aufgabe des hoͤchsten Wohlwollens, aber es erfodert viel Übung in der intellektuellen Chemie. Wer fuͤr jedes, was in der menschlichen Natur schoͤn ist, ein untruͤgliches Reagens zu entdecken wuͤßte, wuͤrde uns eine neue Welt zeigen. 94Wie in der Vision des Propheten wuͤrde auf einmal das unendliche Feld zerstuͤckter Menschenglieder lebendig werden.

Es giebt Menschen, die kein Jnteresse an sich selbst nehmen. Einige, weil sie uͤberhaupt keines, auch nicht an andern, faͤhig sind. Andere, weil sie ihres gleichmaͤßigen Fortschreitens sicher sind, und weil ihre selbstbildende Kraft keiner reflektirenden Theilnahme mehr bedarf, weil hier Freyheit in allen ihren hoͤchsten und schoͤnsten Aeußerungen gleichsam Natur geworden ist. So beruͤhrt sich auch hier in der Erscheinung das Niedrigste und das Erhabenste.

Unter den Menschen, die mit der Zeit fortgehn, giebt es manche, welche, wie die fortlaufenden Kommentare, bey den schwierigen Stellen nicht still stehn wollen.

Gott ist nach Leibnitz wirklich, weil nichts seine Moͤglichkeit verhindert. Jn dieser Ruͤcksicht ist Leibnitzens Philosophie recht gottaͤhnlich.

Dafuͤr ist das Zeitalter noch nicht reif, sagen sie immer. Soll es deswegen unterbleiben? Was noch nicht seyn kann, muß wenigstens immer im Werden bleiben.

Wenn Welt der Jnbegriff desjenigen ist, was sich dynamisch afficirt, so wird es der gebildete95 Mensch wohl nie dahin bringen, nur in einer Welt zu leben. Die eine muͤßte die beste seyn, die man nur suchen soll, nicht finden kann. Aber der Glaube an sie ist etwas so heiliges, wie der Glaube an die Einzigkeit in der Freundschaft und Liebe.

Wer mit seiner Manier, kleine Silhouetten von sich selbst in verschiednen Stellungen aus freyer Hand auszuschneiden und umherzubieten, eine Gesellschaft unterhalten kann, oder auf den ersten Wink fertig ist, den Kastellan von sich selbst zu machen, und was in ihm ist jedem, der an seiner Thuͤre stehn bleibt, zu zeigen wie ein Landedelmann die verschrobenen Anlagen seines englischen Gartens, der heißt ein offner Mensch. Fuͤr die, welche auch in die Gesellschaft ihre Traͤgheit mitbringen und beylaͤufig gern was sie um sich sehn mustern und klassifiziren moͤchten, ist dies freylich eine bequeme Eigenschaft. Auch giebt es Menschen genug, die dieser Foderung entsprechen, und durchaus in dem Styl eines Gartenhauses gebaut sind, wo jedes Fenster eine Thuͤr ist, und jedermann Platz zu nehmen genoͤthigt wird, in der Voraussetzung, daß er nicht mehr zu finden erwarte, als was ein Dieb in einer Nacht ausraͤumen koͤnnte, ohne sich sonderlich zu bereichern. Ein eigentlicher Mensch, der etwas mehr in sich hat, als diesen aͤrmlichen Hausbedarf, wird sich freylich nicht so preis geben, da es ohnedieß vergeblich waͤre, ihn aus Selbstbeschreibungen, auch aus den besten und geistvollsten, kennen lernen zu wollen. Von einem Karakter giebt es keine andre96 Erkenntniß als Anschauung. Jhr muͤßt selbst den Standpunkt finden, aus dem grade ihr das Ganze uͤbersehn koͤnnt, und muͤßt verstehn aus den Erscheinungen das Jnnere nach festen Gesetzen und sichern Ahndungen zu konstruiren. Fuͤr einen reellen Zweck ist also jenes Selbsterklaͤren uͤberfluͤßig. Und Offenheit in diesem Sinne zu fodern, ist eben so anmaßend als unverstaͤndig. Wer duͤrfte sich selbst zerlegen, wie das Objekt einer anatomischen Vorlesung, das Einzelne aus der Verbindung, in der es allein schoͤn und verstaͤndlich ist, herausreißen, und auch das Feinste und Zarteste mit Worten gleichsam ausspruͤzen, daß es zur Ungestaltheit ausgedehnt wird? Das innere Leben verschwindet unter dieser Behandlung; sie ist der jaͤmmerlichste Selbstmord. Der Mensch gebe sich selbst, wie ein Kunstwerk, welches im Freyen ausgestellt Jedem den Zutritt verstattet, und doch nur von denen genossen und verstanden wird, die Sinn und Studium mitbringen. Er stehe frey und bewege sich seiner Natur gemaͤß, ohne zu fragen, wer ihn ansieht und wie. Diese ruhige Unbefangenheit verdient eigentlich den Namen der Offenheit allein: denn offen ist, wo hinein jeder gehn kann, ohne daß etwas gewaltthaͤtiges noͤthig waͤre; versteht sich, daß er auch das, was nicht Niet - und Nagelfest ist, mit Achtung behandle. Mehr gehoͤrt nicht zu der Gastfreyheit die der Mensch innerhalb seines Gemuͤths beweisen muß: alles uͤbrige ist nur in den Ergießungen und den Genuͤssen einer vertrauten Freundschaft nicht an der unrechten Stelle. Um diesen engeren Kreis erst zu finden, bedarf97 es freylich einer etwas zuvorkommendern Mittheilung, einer schamhaften, schuͤchtern versuchenden Offenheit, die hie und da durch einen kleinen Druck ihr innerstes Daseyn mit seinen Spring federnerrathen laͤßt, und ihre Tendenz zu Liebe und Freundschaft offenbart. Sie ist aber kein permanenter Zustand, sondern wie eine Wuͤnschelruthe schlaͤgt sie nur da an, wo der Jnstinkt der Freundschaft seinen Schatz zu heben hoft. Über diese schmale Linie des sittlich Schoͤnen werden liebenswuͤrdige Seelen nur durch Mißverstand zu beyden Seiten etwas hinausgefuͤhrt. Durch mißlungene Versuche dieses schoͤnen Jnstinkts zu jener interessanten Verschlossenheit, die sich nicht verstellen, sondern nur verbergen will, und die jeden, der das Vortreffliche zu ahnden weiß, so zauberisch intriguirt; durch sanguinische Hoffnungen und durch eine Reizbarkeit, welche auch von der geringsten Affinitaͤt in Bewegung gesetzt wird, zu jener naiven Herzlichkeit, welche, wie die Freymaurer meynt, daß wenigstens der erste Grad niemals zu Vielen gegeben werden kann. Diese Erscheinungen sind erfreulich und interessant, weil sie noch an der Graͤnze des Besten liegen, und nur der Uneingeweihte wird sie mit Manieren verwechseln, die aus reiner Unfaͤhigkeit hervorgehn. So wie man ein nicht verstandnes Buch lieber verlaͤugnet, so sind viele nur deswegen verschlossen, weil sie den Fragen uͤber sich selbst ausweichen wollen; und wie Manche nicht fuͤr sich lesen koͤnnen, ohne zugleich die Worte hoͤren zu lassen, so koͤnnen Manche sich nicht anschaun, ohne immer zu sagen, was sie seyn. Diese Verschlossenheit98 aber ist aͤngstlich und kindisch verlegen, und diese nur scheinbare Offenheit kuͤmmert sich nicht, ob Jemand da ist und wer, sondern stroͤmt ihren Stoff aus ins Weite und nach allen Richtungen wie eine elektrische Spitze. Eine andre langweilige Offenheit, der mehr mit Hoͤrern gedient ist, ist die der Enthusiasten die aus reinem Eifer fuͤr das Reich Gottes sich selbst vortragen, erlaͤutern und uͤbersetzen, weil sie glauben Normal-Seelen zu seyn, an denen alles lehrreich und erbaulich ist. Heinrich Stilling mag leicht der vollkommenste unter diesen seyn; und wie ist er nun ganz herunter? Mit dem was wir nur haben, koͤnnen wir uns ohne so große Gefahr viel freygebiger zeigen. Erfahrungen und Erkenntnisse deren Erwerbung an lokalen und temporellen Verhaͤltnissen abhaͤngt, darf keiner nur fuͤr sich haben wollen; sie muͤßen fuͤr jeden rechtlichen Mann immer bereit liegen. Es giebt freylich eine nicht eben beneidenswerthe Art, auch Meinungen, Gefuͤhle und Grundsaͤtze nur so zu haben, und mit wem es so steht, der hat natuͤrlich fuͤr seine unbedeutende Offenheit einen weit groͤßern Spielraum. Dagegen sind diejenigen sehr uͤbel daran, bey denen Eigenthuͤmlichkeit des Sinnes und Karakters uͤberall ins Spiel kommt. Jhnen muß man erlauben, auch mit dem was andren nur lose anzuhaͤngen pflegt zuruͤckhaltender zu seyn, bis vollendete Kenntniß ihrer selbst und der andern ihnen den sichern Takt giebt, die Sache, worauf es den Leuten allein ankommt von ihrer individuellen Ansicht durchaus zu trennen und zu jedem Stoff, die ihnen fremde, Jenen aber so erwuͤnschte99 gemeine Form zu finden. So koͤnnen Notizen und Urtheile mitgetheilt werden, ohne auf Jdeen hinzudeuten und Empfindungen zu profaniren; und die Heiligkeit des Gemuͤths kann bewahrt werden, ohne irgend einem zu versagen, was ihm auch nur entfernt gebuͤhrt. Wer es dahin gebracht haͤtte, koͤnnte fuͤr jeden offen seyn, nach dem Maß, welches ihm zukommt. Jeder wuͤrde glauben, ihn zu haben und zu kennen, und nur der, der ihm gleich waͤre, oder dem er es gaͤbe, wuͤrde ihn wirklich besitzen.

Arrogant ist, wer Sinn und Karakter zugleich hat, und sich dann und wann merken laͤßt, daß diese Verbindung gut und nuͤtzlich sey. Wer beydes auch von den Weibern fodert, ist ein Weiberfeind.

Nur die aͤußerlich bildende und schaffende Kraft des Menschen ist veraͤnderlich und hat ihre Jahreszeiten. Veraͤndrung ist nur ein Wort fuͤr die physische Welt. Das Jch verliert nichts, und in ihm geht nichts unter; es wohnt mit allem, was ihm angehoͤrt, seinen Gedanken und Gefuͤhlen, in der Burgfreyheit der Unvergaͤnglichkeit. Verloren gehn kann nur das, was bald hierhin bald dorthin gelegt wird. Jm Jch bildet sich alles organisch, und alles hat seine Stelle. Was du verlieren kannst, hat dir noch nie angehoͤrt. Das gilt bis auf einzelne Gedanken.

Sinn der sich selbst sieht, wird Geist; Geist ist innre Geselligkeit, Seele ist verborgene Liebenswuͤrdigkeit100 Aber die eigentliche Lebenskraft der innern Schoͤnheit und Vollendung ist das Gemuͤth. Man kann etwas Geist haben ohne Seele, und viel Seele bey weniger Gemuͤth. Der Jnstinkt der sittlichen Groͤße aber, den wir Gemuͤth nennen, darf nur sprechen lernen, so hat er Geist. Er darf sich nur regen und lieben, so ist er ganz Seele; und wann er reif ist, hat er Sinn fuͤr alles. Geist ist wie eine Musik von Gedanken; wo Seele ist, da haben auch die Gefuͤhle Umriß und Gestalt, edles Verhaͤltniß und reizendes Kolorit. Gemuͤth ist die Poesie der erhabenen Vernunft, und durch Vereinigung mit Philosophie und sittlicher Erfahrung entspringt aus ihm die namenlose Kunst, welche das verworrne fluͤchtige Leben ergreift und zur ewigen Einheit bildet.

Was oft Liebe genannt wird, ist nur eine eigne Art von Magnetismus. Es faͤngt an mit einem beschwerlich kitzelnden en rapport Setzen, besteht in einer Desorganisazion und endigt mit einem ekelhaften Hellsehen und viel Ermattung. Gewoͤhnlich ist auch einer dabey nuͤchtern.

Wer einen hoͤheren Gesichtspunkt fuͤr sich selbst gefunden hat, als sein aͤußeres Daseyn, kann auf einzelne Momente die Welt aus sich entfernen. So werden diejenigen, die sich selbst noch nicht gefunden haben, nur auf einzelne Momente wie durch einen Zauber in die Welt hineingeruͤckt, ob sie sich etwa finden moͤchten.

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Es ist schoͤn, wenn ein schoͤner Geist sich selbst anlaͤchelt, und der Augenblick, in welchem eine große Natur sich mit Ruhe und Ernst betrachtet, ist ein erhabener Augenblick. Aber das Hoͤchste ist, wenn zwey Freunde zugleich ihr Heiligstes in der Seele des Andern klar und vollstaͤndig erblicken, und ihres Werthes gemeinschaftlich froh ihre Schranken nur durch die Ergaͤnzung des Andern fuͤhlen duͤrfen. Es ist die intellektuale Anschauung der Freundschaft.

Wenn man ein interessantes philosophisches Phaͤnomen, und dabey ein ausgezeichneter Schriftsteller ist, so kann man sicher auf den Ruhm eines großen Philosophen rechnen. Oft erhaͤlt man ihn auch ohne die letzte Bedingung.

Philosophiren heißt die Allwissenheit gemeinschaftlich suchen.

Es waͤre zu wuͤnschen, daß ein transcendentaler Linné die verschiedenen Jchs klassifizirte und eine recht genaue Beschreibung derselben allenfalls mit illuminirten Kupfern herausgaͤbe, damit das philosophirende Jch nicht mehr so oft mit dem philosophirten Jch verwechselt wuͤrde.

Der gepriesne Salto mortale der Philosophen ist oft nur ein blinder Lerm. Sie nehmen in Gedanken einen erschrecklichen Anlauf und wuͤnschen sich Gluͤck zu der uͤberstandnen Gefahr; sieht man aber nur102 etwas genau zu, so sitzen sie immer auf dem alten Fleck. Es ist Don Quixotes Luftreise auf dem hoͤlzernen Pferde. Auch Jacobi scheint mir zwar nie ruhig werden zu koͤnnen, aber doch immer da zu bleiben, wo er ist: in der Klemme zwischen zwey Arten von Philosophie, der systematischen und der absoluten, zwischen Spinosa und Leibnitz, wo sich sein zarter Geist etwas wund gedruͤckt hat.

Es ist noch ungleich gewagter, anzunehmen, daß jemand ein Philosoph sey, als zu behaupten, daß jemand ein Sophist sey: Soll das letzte nie erlaubt seyn, so kann das erste noch weniger gelten.

Es giebt Elegien von der heroisch klaͤglichen Art, die man so erklaͤren koͤnnte: es sind die Empfindungen der Jaͤmmerlichkeit bey den Gedanken der Albernheit von den Verhaͤltnissen der Plattheit zur Tollheit.

Die Duldung hat keinen andern Gegenstand als das Vernichtende. Wer nichts vernichten will, bedarf gar nicht geduldet zu werden; wer alles vernichten will, soll nicht geduldet werden. Jn dem was zwischen beyden liegt, hat diese Gesinnung ihren ganz freyen Spielraum. Denn wenn man nicht intolerant seyn duͤrfte, waͤre die Toleranz nichts.

Keine Poesie, keine Wirklichkeit. So wie es trotz aller Sinne ohne Fantasie keine Außenwelt giebt, so103 auch mit allem Sinn ohne Gemuͤth keine Geisterwelt. Wer nur Sinn hat, sieht keinen Menschen, sondern bloß Menschliches: dem Zauberstabe des Gemuͤths allein thut sich alles auf. Es setzt Menschen und ergreift sie; es schaut an wie das Auge ohne sich seiner mathematischen Operazion bewußt zu seyn.

Hast du je den ganzen Umfang eines Andern mit allen seinen Unebenheiten beruͤhren koͤnnen, ohne ihm Schmerzen zu machen? Jhr braucht beyde keinen weitern Beweis zu fuͤhren, daß ihr gebildete Menschen seyd.

Es ist eine Dichtung der Geschichtschreiber der Natur, daß ihre plastischen Kraͤfte lange in vergeblichen Anstrengungen gearbeitet, und nachdem sie sich in Formen erschoͤpft hatten, die kein dauerndes Leben haben konnten, noch viele andre erzeugt worden waͤren, die zwar lebten, aber untergehn mußten, weil es ihnen an der Kraft fehlte sich fortzupflanzen. Die sich selbst bildende Kraft der Menschheit steht noch auf dieser Stufe. Wenige leben, und die meisten unter diesen haben nur ein vergaͤngliches Daseyn. Wenn sie ihr Jch in einem gluͤcklichen Moment gefunden haben, so fehlt es ihnen doch an der Kraft es aus sich selbst wieder zu erzeugen. Der Tod ist ihr gewoͤhnlicher Zustand, und wenn sie einmal leben, glauben sie in eine andre Welt entzuͤckt zu seyn.

104

Jene Geschichte von einem Franzosen der alten Zeit, welcher seine Adelszeichen den Gerichten uͤbergab, um sie wieder zu fodern, wenn er durch den Handel einiges Vermoͤgen erlangt haben wuͤrde, ist eine Allegorie auf die Bescheidenheit. Wer den Ruhm dieser beliebten Tugend haben will, muß es mit seinem innern Adel eben so machen. Er gebe ihn der gemeinen Meynung ad depositum und erwerbe sich dadurch ein Recht ihn wieder zu fodern, daß er mit Gluͤck und Fleiß einen Spedizionshandel treibt mit fremden Verdiensten, Talenten und Einfaͤllen, feinem und Mittelgut, wie es jeder verlangt.

Wer Liberalitaͤt und Rigorismus verbinden wollte, bey dem muͤßte jene etwas mehr seyn als Selbstverlaͤugnung, und dieser etwas mehr als Einseitigkeit. Sollte das aber wohl erlaubt seyn?

Jaͤmmerlich ist freylich jene praktische Philosophie der Franzosen und Englaͤnder, von denen man meynt, sie wuͤßten so gut, was der Mensch sey, unerachtet sie nicht daruͤber spekulirten, was er seyn solle. Jede organische Natur hat ihre Regel, ihr Sollen; und wer darum nicht weiß, wie kann der sie kennen? Woher nehmen sie denn den Eintheilungsgrund ihrer naturhistorischen Beschreibungen und wonach messen sie den Menschen? Eben so gut sind sie aber doch als jene, die mit dem Sollen anfangen und endigen. Diese wissen nicht, daß der sittliche Mensch aus eigner Kraft sich um seine Axe frey bewegt. Sie haben105 den Punkt außer der Erde gefunden, den nur ein Mathematiker suchen wollen kann, aber die Erde selbst verloren. Um zu sagen, was der Mensch soll, muß man einer seyn, und es nebenbey auch wissen.

Die Welt kennen, heißt wissen, daß man nicht viel auf derselben bedeutet, glauben, daß kein philosophischer Traum darin realisirt werden kann, und hoffen, daß sie nie anders werden wird, hoͤchstens nur etwas duͤnner.

Von einer guten Bibel fodert Lessing Anspielungen, Fingerzeige, Voruͤbungen; er billigt auch die Tautologien, welche den Scharfsinn uͤben, die Allegorien und Exempel, welche das Abstrakte lehrreich einkleiden; und er hat das Zutrauen, die geoffenbarten Geheimnisse seyen bestimmt, in Vernunftwahrheiten ausgebildet zu werden. Welches Buch haͤtten die Philosophen nach diesem Jdeal wohl schicklicher zu ihrer Bibel waͤhlen koͤnnen, als die Kritik der reinen Vernunft?

Leibniz bedient sich einmal, indem er das Wesen und Thun einer Monade beschreibt, des merkwuͤrdigen Ausdrucks: Cela peut aller jusqu'au sentiment. Dieß moͤchte man auf ihn selbst anwenden. Wenn jemand die Physik universeller macht, sie als ein Stuͤck Mathematik und diese als ein Charadenspiel behandelt, und dann sieht daß er die Theologie dazu nehmen muß, deren Geheimnisse seinen diplomatischen106 und deren verwickelte Streitfragen seinen chirurgischen Sinn anlocken: cela peut aller jusqu'a la philosophie, wenn er noch so viel Jnstinkt hat als Leibniz. Aber eine solche Philosophie wird doch immer nur ein konfuses, unvollstaͤndiges Etwas bleiben, wie der Urstoff nach Leibniz seyn soll, der nach Art der Genies die Form seines Jnnern einzelnen Gegenstaͤnden der Außenwelt anzudichten pflegt.

Freundschaft ist parziale Ehe und Liebe ist Freundschaft von allen Seiten und nach allen Richtungen, universelle Freundschaft. Das Bewußtseyn der nothwendigen Graͤnzen ist das Unentbehrlichste und das Seltenste in der Freundschaft.

Wenn eine Kunst die schwarze Kunst heißen sollte, so waͤre es die, den Unsinn fluͤßig klar und beweglich zu machen, und ihn zur Masse zu bilden. Die Franzosen haben Meisterwerke der Gattung aufzuweisen. Alles große Unheil ist seinem innersten Grunde nach eine ernsthafte Fratze, eine mauvaise plaisanterie. Heil und Ehre also den Helden, die nicht muͤde werden, gegen die Thorheit zu kaͤmpfen, deren Unscheinbarstes oft den Keim zu einer endlosen Reihe ungeheurer Verwuͤstungen in sich traͤgt! Lessing und Fichte sind die Friedensfuͤrsten der kuͤnftigen Jahrhunderte.

Leibniz sieht die Existenz an wie eine Hofcharge, die man zu Lehn haben muß. Sein Gott ist nicht107 nur Lehnsherr der Existenz, sondern er besitzt auch als Regale allein Freyheit, Harmonie, synthetisches Vermoͤgen. Ein fruchtbarer Beyschlaf ist die Expedizion eines Adelsdiploms fuͤr eine schlummernde Monade aus der goͤttlichen geheimen Kanzley.

Die Fertigkeit, zu einem gegebnen Zweck die Mittel zu finden, welche ihn, ohne Ruͤcksicht auf etwas anders zu nehmen, am vollkommensten erreichen, und die, sie so zu waͤhlen, daß nicht außer ihrer Beziehung auf den gegebnen Zweck noch etwas anders daraus erfolge, was entweder einen andern von unsern Zwecken hintertreibt, oder irgend einen Gegenstand fuͤr die Zukunft von unsern Bestrebungen ausschließt, sind sehr unterschiedene Talente, obgleich die Sprache fuͤr beyde nur das Wort Klugheit darbietet. Man sollte es nicht an jeden verschwenden, der sich nur in den gemeinsten Faͤllen des Schicklichen zu bemaͤchtigen weiß, oder der sich durch kleinliche Selbstbeobachtung eine gewisse Menschenkenntniß erworben hat, die weder etwas schweres noch etwas ruͤhmliches ist. Man denkt sich unter Klugheit doch etwas bedeutendes und wichtiges, und das Talent aus einer Mustercharte von Mitteln die zweckmaͤßigsten auszuwaͤhlen ist etwas so geringfuͤgiges, daß auch der gemeinste Verstand dazu hinreicht, und daß kaum etwas anders als leidenschaftliche Verblendung jemanden darin kann fehl gehen lassen. Sich fuͤr so ein Objekt mit einem so imposanten Wort in Unkosten zu stecken, lohnt wahrlich der Muͤhe nicht. Auch rechtfertigt es108 der Sprachgebrauch nicht. Man schreibt der Natur oder dem hoͤchsten Wesen nie Klugheit zu, ungeachtet man in allen ihren Veranstaltungen dieß Talent in einem hohen Grade preist. Es waͤre daher besser, dieß Wort fuͤr die zweyte Eigenschaft allein aufzubewahren. Bey dem Streben nach einem Zweck zugleich auf alle wirklichen und moͤglichen Zwecke hinsehn, und die natuͤrlichen Wirkungen, die eine jede Handlung nebenher haben kann, berechnen, das ist in der That etwas großes, und was man nur von wenigen wird ruͤhmen koͤnnen. Daß man im gemeinen Sprachgebrauch wirklich so etwas unter Klugheit versteht, geht auch aus dem Gefuͤhl hervor, welches erregt wird, wenn man Jemand mit einem gewissen Akzent als klug preist. Das erste ist, daß er uns imponirt, und das zweyte, daß wir uns nach Wohlwollen und Jronie bey dem geruͤhmten Manne umsehn, und daß er uns verhaßt wird, wenn wir nicht beydes antreffen. Das letzte duͤrfte eben so allgemein seyn, als das erste und gewiß ist es auch, so bald man Klugheit in dieser Bedeutung nimmt, eben so natuͤrlich. Wir hoffen naͤmlich von jedem Menschen, daß wir ihn mehr oder weniger zu unsern Absichten werden gebrauchen koͤnnen, und zugleich wuͤnschen wir, daß er uns durch das freye Naturspiel seines Gemuͤths und durch absichtslose und unverwahrte Aeußerungen ein Gegenstand des Wohlwollens und nach Gelegenheit auch ein Gegenstand fuͤr den Scherz oder den arglosen Spott werden moͤge. Bey andern Menschen sind wir ziemlich sicher beydes allenfalls auch wider ihren109 Willen zu erlangen. Der ausgezeichnet Kluge aber, der seine Handlungen so abmißt, daß nichts dabey herauskommen kann, als was er selbst beabsichtigt, macht uns fuͤr beydes bloß von seinem guten Willen abhaͤngig; und wenn er nicht Wohlwollen besitzt, um mit Bewußtseyn und Freyheit in die Absichten Andrer hinein zu gehen, oder wenn es ihm an der Jronie fehlt, die ihn dahin bringen koͤnnte, absichtlich sich aus seiner Klugheit herauszusetzen und sich mit Entsagung auf dieselbe als ein Naturwesen der Gesellschaft zum beliebigen Gebrauch hinzugeben: so ist es natuͤrlich, daß wir die Stelle, die er in unserm Kreise einnimmt, von einem andern besetzt wuͤnschen.

Das Geliebte zu vergoͤttern ist die Natur des Liebenden. Aber ein andres ist es, mit gespannter Jmaginazion ein fremdes Bild unterschieben und eine reine Vollkommenheit anstaunen, die uns nur darum als solche erscheint, weil wir noch nicht gebildet genug sind, um die unendliche Fuͤlle der menschlichen Natur zu begreifen, und die Harmonie ihrer Widerspruͤche zu verstehn. Laura war des Dichters Werk. Dennoch konnte die wirkliche Laura ein Weib seyn, aus der ein nicht so einseitiger Schwaͤrmer etwas weniger und etwas mehr als eine Heilige gemacht haͤtte.

Jdee zu einem Katechismus der Vernunft fuͤr edle Frauen. Die zehn Gebote. 1) Du sollst keinen Geliebten haben neben ihm: aber du sollst Freundin110 seyn koͤnnen, ohne in das Kolorit der Liebe zu spielen und zu kokettiren oder anzubeten. 2) Du sollst dir kein Jdeal machen, weder eines Engels im Himmel, noch eines Helden aus einem Gedicht oder Roman, noch eines selbstgetraͤumten oder fantasirten; sondern du sollst einen Mann lieben, wie er ist. Denn sie die Natur, deine Herrin, ist eine strenge Gottheit, welche die Schwaͤrmerey der Maͤdchen heimsucht an den Frauen bis ins dritte und vierte Zeitalter ihrer Gefuͤhle. 3) Du sollst von den Heiligthuͤmern der Liebe auch nicht das kleinste mißbrauchen: denn die wird ihr zartes Gefuͤhl verlieren, die ihre Gunst entweiht und sich hingiebt fuͤr Geschenke und Gaben, oder um nur in Ruhe und Frieden Mutter zu werden. 4) Merke auf den Sabbath deines Herzens, daß du ihn feyerst, und wenn sie dich halten, so mache dich frey oder gehe zu Grunde. 5) Ehre die Eigenthuͤmlichkeit und die Willkuͤhr deiner Kinder, auf daß es ihnen wohlgehe, und sie kraͤftig leben auf Erden. 6) Du sollst nicht absichtlich lebendig machen. 7) Du sollst keine Ehe schließen, die gebrochen werden muͤßte. 8) Du sollst nicht geliebt seyn wollen, wo du nicht liebst. 9) Du sollst nicht falsch Zeugniß ablegen fuͤr die Maͤnner; du sollst ihre Barbarey nicht beschoͤnigen mit Worten und Werken. 10) Laß dich geluͤsten nach der Maͤnner Bildung, Kunst, Weisheit und Ehre. Der Glaube. 1) Jch glaube an die unendliche Menschheit, die da war, ehe sie die Huͤlle der Maͤnnlichkeit und der Weiblichkeit annahm. 2) Jch glaube, daß ich nicht lebe, um zu gehorchen oder111 um mich zu zerstreuen, sondern um zu seyn und zu werden; und ich glaube an die Macht des Willens und der Bildung, mich dem Unendlichen wieder zu naͤhern, mich aus den Fesseln der Mißbildung zu erloͤsen, und mich von den Schranken des Geschlechts unabhaͤngig zu machen. 3) Jch glaube an Begeisterung und Tugend, an die Wuͤrde der Kunst und den Reiz der Wissenschaft, an Freundschaft der Maͤnner und Liebe zum Vaterlande, an vergangene Groͤße und kuͤnftige Veredlung.

Die Mathematik ist gleichsam eine sinnliche Logik, sie verhaͤlt sich zur Philosophie, wie die materiellen Kuͤnste, Musik und Plastik zur Poesie.

Verstand ist mechanischer, Witz ist chemischer, Genie ist organischer Geist.

Man glaubt Autoren oft durch Vergleichungen mit dem Fabrikwesen zu schmaͤhen. Aber soll der wahre Autor nicht auch Fabrikant seyn? Soll er nicht sein ganzes Leben dem Geschaͤft widmen, litterarische Materie in Formen zu bilden, die auf eine große Art zweckmaͤßig und nuͤtzlich sind? Wie sehr waͤre manchem Pfuscher nur ein geringer Theil von dem Fleiß und der Sorgfalt zu wuͤnschen, die wir an den gemeinsten Werkzeugen kaum noch achten!

Es gab und giebt schon Aerzte, die uͤber ihre Kunst zu philosophiren wuͤnschen. Die Kaufleute allein112 machen nicht einmal diese Praͤtension und sind recht altfraͤnkisch bescheiden.

Der Deputirte ist etwas ganz anders als der Repraͤsentant. Repraͤsentant ist nur, wer das politische Ganze in seiner Person, gleichsam identisch mit ihm, darstellt, er mag nun gewaͤhlt seyn oder nicht; er ist wie die sichtbare Weltseele des Staats. Diese Jdee, welche offenbar nicht selten der Geist der Monarchien war, ist vielleicht nirgends so rein und konsequent ausgefuͤhrt wie zu Sparta. Die Spartanischen Koͤnige waren zugleich die ersten Priester, Feldherren und Praͤsidenten der oͤffentlichen Erziehung. Mit der eigentlichen Administrazion hatten sie wenig zu schaffen; sie waren eben nichts als Koͤnige im Sinne jener Jdee. Die Gewalt des Priesters, des Feldherrn und des Erziehers ist ihrer Natur nach unbestimmt, universell, mehr oder weniger ein rechtlicher Despotismus. Nur durch den Geist der Repraͤsentazion kann er gemildert und legitimirt werden.

Sollte nicht das eine absolute Monarchie seyn, wo alles Wesentliche durch ein Kabinet im Geheim geschieht, und wo ein Parlament uͤber die Formen mit Pomp oͤffentlich reden und streiten darf? Eine absolute Monarchie koͤnnte sonach sehr gut eine Art von Konstituzion haben, die Unverstaͤndigen wohl gar republikanisch schiene.

113

Um den Unterschied der Pflichten gegen sich selbst und der Pflichten gegen andre zu bestimmen, duͤrften sich schwerlich andre Kennzeichen finden, als die welche jener einfaͤltige Mensch fuͤr den der Tragoͤdie und der Komoͤdie angab. Lachst du dabey und bekommst du am Ende etwas, so nimms fuͤr eine Pflicht gegen dich selbst; ist dir das Weinen naͤher und bekommts ein andrer, so nimms fuͤr eine Pflicht gegen den Naͤchsten. Daß die ganze Eintheilung am Ende darauf hinauslaͤuft, und daß es auch ein ganz unmoralischer Unterschied ist, leuchtet ein. Es entsteht daraus die Ansicht als ob es zwey ganz verschiedne im Streit liegende Stimmungen gaͤbe, die entweder sorgfaͤltig auseinander gehalten oder durch eine kleinliche Arithmetik kuͤnstlich verglichen werden muͤßten. Es entstehn daraus die Fantome von Hingebung, Aufopferung, Großmuth und was alles fuͤr moralisches Unheil. Überhaupt ist die gesammte Moral aller Systeme eher jedes andre, nur nicht moralisch.

Jn den Werken der groͤßten Dichter athmet nicht selten der Geist einer andern Kunst. Sollte dieß nicht auch bey Mahlern der Fall seyn; mahlt nicht Michelangelo in gewissem Sinn wie ein Bildhauer, Rafael wie ein Architekt, Correggio wie ein Musiker? Und gewiß wuͤrden sie darum nicht weniger Mahler seyn als Tizian, weil dieser bloß Mahler war.

Die Philosophie war bey den Alten in ecclesia pressa, die Kunst bey den Neuern; die Sittlichkeit114 aber war noch uͤberall im Gedraͤnge, die Nuͤtzlichkeit und die Rechtlichkeit mißgoͤnnen ihr sogar die Existenz.

Sieht man nicht auf Voltaire's Behandlung, sondern bloß auf die Meinung des Buchs, das Weltall persiffliren sey Philosophie und eigentlich das Rechte: so kann man sagen, die Franzoͤsischen Philosophen machen es mit dem Candide, wie die Weiber mit der Weiblichkeit; sie bringen ihn uͤberall an.

Grade die Energie hat am wenigsten das Beduͤrfniß, zu zeigen, was sie kann. Fodern es die Umstaͤnde, so mag sie gern Passivitaͤt scheinen, und verkannt werden. Sie ist zufrieden, im Stillen zu wirken ohne Accompagnement und ohne Gestikulazion. Der Virtuose, der genialische Mensch will einen bestimmten Zweck durchsetzen, ein Werk bilden u. s. w. Der energische Mensch benutzt immer nur den Moment, und ist uͤberall bereit und unendlich biegsam. Er hat unermeßlich viel Projekte oder gar keins: denn Energie ist zwar mehr als bloße Agilitaͤt, es ist wirkende, bestimmt nach Außen wirkende Kraft, aber universelle Kraft, durch die der ganze Mensch sich bildet und handelt.

Die passiven Christen betrachten die Religion meistens aus einem medicinischen, die aktiven aus einem merkantilischen Gesichtspunkte.

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Hat der Staat denn ein Recht, Wechsel aus reiner Willkuͤhr guͤltiger zu heiligen, als andre Vertraͤge, und dadurch diese ihrer Majestaͤt zu entsetzen?

Es ist nicht selten, daß jemand lange kalt scheint und heißt, der nachher bey außerordentlichen Veranlassungen durch die gewaltigsten Explosionen von Leidenschaft alles in Erstaunen setzt. Das ist der wahrhaft gefuͤhlvolle Mensch, bey dem die ersten Eindruͤcke nicht stark sind, aber lange nachwirken, tief ins Jnnre dringen, und im Stillen durch ihre eigne Kraft wachsen. Jmmer gleich zu reagiren ist das Kennzeichen der Schwaͤche, jenes innre Crescendo der Empfindungen ist die Eigenheit energischer Naturen.

Der Satan der Jtaliaͤnischen und Englaͤndischen Dichter mag poetischer seyn: aber der deutsche Satan ist satanischer; und insofern koͤnnte man sagen, der Satan sey eine deutsche Erfindung. Gewiß ist er ein Favorit deutscher Dichter und Philosophen. Er muß also wohl auch sein Gutes haben, und wenn sein Karakter in der unbedingten Willkuͤhrlichkeit und Absichtlichkeit, und in der Liebhaberey am Vernichten, Verwirren und Verfuͤhren besteht, so findet man ihn unstreitig nicht selten in der schoͤnsten Gesellschaft. Aber sollte man sich bisher nicht in den Dimensionen vergriffen haben? Ein großer Satan hat immer etwas Ungeschlachtes, und Vierschroͤtiges; er paßt hoͤchstens nur fuͤr die Praͤtensionen auf Ruchlosigkeit116 solcher Caricaturen, die nichts koͤnnen und moͤgen, als Verstand affektiren. Warum fehlen die Satanisten in der christlichen Mythologie? Es giebt vielleicht kein angemeßneres Wort und Bild fuͤr gewisse Bosheiten en miniature, deren Schein die Unschuld liebt; und fuͤr jene reizend groteske Farbenmusik des erhabensten und zartesten Muthwillens, welche die Oberflaͤche der Groͤße so gern zu umspielen pflegt. Die alten Amorinen sind nur eine andre Race dieser Satanisten.

Vorlesen und Deklamiren ist nicht einerley. Dieses erfodert den richtig hoͤchsten, jenes einen gemaͤßigten Ausdruck. Deklamazion gehoͤrt fuͤr die Ferne, nicht in das Zimmer. Die laute Stimme zu welcher sie sich, um den gehoͤrigen Wechsel hervorzubringen, erhoͤhen muß, beleidigt ein feines Gehoͤr. Alle Wirkung geht in der Betaͤubung verloren. Mit Gestikulazion verbunden wird sie widrig wie alle Demonstrazionen heftiger Leidenschaft. Die gebildete Empfindung kann sie nur in solcher Entfernung ertragen, die gleichsam wieder einen Schleyer uͤber sie wirft. Der Ton, statt sich zu erheben, muß, um die Wirkung durch ein andres Mittel hervorzubringen, gedaͤmpft, in der Tiefe gehalten und der Akzent nur so bezeichnet werden, daß das Verstehen dessen was man liest angedeutet wird, ohne das Gelesene ganz auszudruͤcken. Bey epischen Gedichten und dem Roman insbesondre sollte der Vorleser nie von seinem Gegenstande hingerissen scheinen, sondern die stille117 Superioritaͤt des Verfassers selbst behaupten, der uͤber seinem Werke ist. Überhaupt waͤre es sehr noͤthig das Vorlesen zu uͤben, damit es allgemeiner eingefuͤhrt wuͤrde, und sehr noͤthig es einzufuͤhren, um es desto besser zu uͤben. Bey uns bleibt die Poesie wenigstens stumm und wer denn doch zum Beyspiel den Wilhelm Meister nie laut gelesen oder lesen gehoͤrt haͤtte, der hat diese Musik nur in den Noten studirt.

Viele der ersten Stifter der modernen Physik muͤssen gar nicht als Philosophen, sondern als Kuͤnstler betrachtet werden.

Der Jnstinkt spricht dunkel und bildlich. Wird er mißverstanden, so entsteht eine falsche Tendenz. Das widerfaͤhrt Zeitaltern und Nazionen nicht seltener als Jndividuen.

Es giebt eine Art von Witz, den man wegen seiner Gediegenheit, Ausfuͤhrlichkeit und Symmetrie den architektonischen nennen moͤchte. Aeußert er sich satirisch, so giebt das die eigentlichen Sarkasmen. Er muß ordentlich systematisch seyn, und doch auch wieder nicht; bey aller Vollstaͤndigkeit muß dennoch etwas zu fehlen scheinen, wie abgerissen. Dieses Barokke duͤrfte wohl eigentlich den großen Styl im Witz erzeugen. Es spielt eine wichtige Rolle in der Novelle: denn eine Geschichte kann doch nur durch eine solche einzig schoͤne Seltsamkeit ewig neu bleiben. 118Dahin scheint die wenig verstandne Absicht der Unterhaltungen der Ausgewanderten zu gehn. Wunder nimmts gewiß niemand, daß der Sinn fuͤr reine Novellen fast nicht mehr existirt. Doch waͤre es nicht uͤbel, ihn wieder zu erwecken, da man unter andern die Form der Shakspeareschen Dramen ohne das wohl nie begreifen wird.

Jeder Philosoph hat seine veranlassende Punkte, die ihn nicht selten real beschraͤnken, an die er sich akkommodirt u. s. w. Da bleiben denn dunkle Stellen im System fuͤr den, welcher es isolirt, und die Philosophie nicht historisch und im Ganzen studirt. Manche verwickelte Streitfragen der modernen Philosophie sind wie die Sagen und Goͤtter der alten Poesie. Sie kommen in jedem System wieder, aber immer verwandelt.

Jn den Handlungen und Bestimmungen, welche der gesetzgebenden, ausuͤbenden oder richterlichen Gewalt zur Erreichung ihrer Zwecke unentbehrlich sind, kommt oft etwas absolut Willkuͤhrliches vor, welches unvermeidlich ist, und sich aus dem Begriff jener Gewalten nicht ableiten laͤßt, wozu sie also fuͤr sich nicht berechtigt scheinen. Jst die Befugniß dazu nicht etwa von der konstitutiven Gewalt entlehnt, die daher auch nothwendig ein Veto haben muͤßte, nicht bloß ein Recht des Jnterdikts? Geschehn nicht alle absolut willkuͤhrlichen Bestimmungen im Staat kraft der konstitutiven Gewalt?

119

Der platte Mensch beurtheilt alle andre Menschen wie Menschen, behandelt sie aber wie Sachen, und begreift es durchaus nicht, daß sie andre Menschen sind als er.

Man betrachtet die kritische Philosophie immer so als ob sie vom Himmel gefallen waͤre. Sie haͤtte auch ohne Kant in Deutschland entstehn muͤssen, und es auf viele Weisen koͤnnen. Doch ists so besser.

Transcendental ist was in der Hoͤhe ist, seyn soll und kann: transcendent ist, was in die Hoͤhe will, und nicht kann oder nicht soll. Es waͤre Laͤsterung und Unsinn zu glauben, die Menschheit koͤnne ihren Zweck uͤberschreiten, ihre Kraͤfte uͤberspringen, oder die Philosophie duͤrfe irgend etwas nicht, was sie will und also soll.

Wenn jede rein willkuͤhrliche oder rein zufaͤllige Verknuͤpfung von Form und Materie grotesk ist: so hat auch die Philosophie Grotesken wie die Poesie; nur weiß sie weniger darum, und hat den Schluͤssel zu ihrer eignen esoterischen Geschichte noch nicht finden koͤnnen. Sie hat Werke, die ein Gewebe von moralischen Dissonanzen sind, aus denen man die Desorganisazion lernen koͤnnte, oder wo die Konfusion ordentlich konstruirt und symmetrisch ist. Manches philosophische Kunstchaos der Art hat Festigkeit genug gehabt, eine Gothische Kirche zu uͤberleben. Jn unserem Jahrhundert hat man auch in den Wissenschaften120 leichter gebaut, obgleich nicht weniger grotesk. Es fehlt der Litteratur nicht an chinesischen Gartenhaͤusern. So zum Beyspiel die Englaͤndische Kritik, die doch nichts enthaͤlt, als eine Anwendung der Philosophie des gesunden Menschenverstandes, die selbst nur eine Versetzung der Naturphilosophie und Kunstphilosophie ist, auf die Poesie ohne Sinn fuͤr die Poesie. Denn von Sinn fuͤr die Poesie findet sich in Harris Home und Johnson, den Koryphaͤen der Gattung, auch nicht die schamhafteste Andeutung.

Es giebt rechtliche und angenehme Leute, die den Menschen und das Leben so betrachten und besprechen, als ob von der besten Schafzucht oder vom Kaufen und Verkaufen der Guͤter die Rede waͤre. Es sind die Oekonomen der Moral, und eigentlich behaͤlt wohl alle Moral ohne Philosophie auch bey großer Welt und hoher Poesie immer einen gewissen illiberalen und oͤkonomischen Anstrich. Einige Oekonomen bauen gern, andre flicken lieber, andre muͤssen immer etwas bringen, andre treiben, andre versuchen alles, und halten sich uͤberall an, andre legen immer zurecht und machen Faͤcher, andre sehen zu und machen nach. Alle Nachahmer in der Poesie und Philosophie sind eigentlich verlaufne Oekonomen. Jeder Mensch hat seinen oͤkonomischen Jnstinkt, der gebildet werden muß, so gut wie auch die Orthographie und die Metrik gelernt zu werden verdienen. Aber es giebt oͤkonomische Schwaͤrmer und Pantheisten,121 die nichts achten als die Nothdurft und sich uͤber nichts freuen als uͤber ihre Nuͤtzlichkeit. Wo sie hinkommen, wird alles platt und handwerksmaͤßig, selbst die Religion, die Alten und die Poesie, die auf ihrer Drechselbank nichts edler ist als Flachshecheln.

Lesen heißt den philologischen Trieb befriedigen, sich selbst litterarisch affiziren. Aus reiner Philosophie oder Poesie ohne Philologie kann man wohl nicht lesen.

Viele musikalische Komposizionen sind nur Übersetzungen des Gedichts in der Sprache der Musik.

Um aus den Alten ins Moderne vollkommen uͤbersetzen zu koͤnnen, muͤßte der Übersetzer desselben so maͤchtig seyn, daß er allenfalls alles Moderne machen koͤnnte; zugleich aber das Antike so verstehn, daß ers nicht bloß nachmachen, sondern allenfalls wiederschaffen koͤnnte.

Es ist ein großer Jrrthum, den Witz bloß auf die Gesellschaft einschraͤnken zu wollen. Die besten Einfaͤlle machen durch ihre zermalmende Kraft, ihren unendlichen Gehalt und ihre klassische Form oft einen unangenehmen Stillstand im Gespraͤch. Eigentlichen Witz kann man sich doch nur geschrieben denken, wie Gesetze; man muß seine Produkte nach dem Gewicht wuͤrdigen, wie Caesar die Perlen und Edelsteine122 in der Hand sorgfaͤltig gegen einander abwog. Der Werth steigt mit der Groͤße ganz unverhaͤltnißmaͤßig; und manche, die bey einem enthusiastischen Geist und barokkem Aeußern, noch beseelte Akzente, frisches Kolorit und eine gewisse krystallne Durchsichtigkeit haben, die man mit dem Wasser der Diamanten vergleichen moͤchte, sind gar nicht mehr zu taxiren.

Jn der wahren Prosa muß alles unterstrichen seyn.

Caricatur ist eine passive Verbindung des Naiven und Grotesken. Der Dichter kann sie eben so wohl tragisch als komisch gebrauchen.

Da die Natur und die Menschheit sich so oft und so schneidend widersprechen, darf die Philosophie es vielleicht nicht vermeiden, dasselbe zu thun.

Der Mystizismus ist die maͤßigste und wohlfeilste aller philosophischen Kasereyen. Man darf ihm nur einen einzigen absoluten Widerspruch creditiren, er weiß alle Beduͤrfnisse damit zu bestreiten und kann noch großen Luxus treiben.

Polemische Totalitaͤt ist zwar eine nothwendige Folge aus der Annahme und Forderung unbedingter Mittheilbarkeit und Mittheilung, und kann wohl die Gegner vollkommen vernichten, ohne jedoch die Philosophie123 ihres Eigenthuͤmers hinreichend zu legitimiren, so lange sie bloß nach Außen gerichtet ist. Nur wenn sie auch auf das Jnnere angewandt waͤre, wenn eine Philosophie ihren Geist selbst kritisirte, und ihren Buchstaben auf dem Schleifstein und mit der Feile der Polemik selbst bildete, koͤnnte sie zu logischer Correctheit fuͤhren.

Es giebt noch gar keinen Skeptizismus, der den Nahmen verdient. Ein solcher muͤßte mit der Behauptung und Forderung unendlich vieler Widerspruͤche anfangen und endigen. Daß Konsequenz in ihm vollkommne Selbstvernichtung nach sich ziehen wuͤrde, ist nichts Karakteristisches. Das hat diese logische Krankheit mit aller Unphilosophie gemein. Respekt vor der Mathematik, und Appelliren an den gesunden Menschenverstand sind die diagnostischen Zeichen des halben unaͤchten Skeptizismus.

Um jemand zu verstehn, der sich selbst nur halb versteht, muß man ihn erst ganz und besser als er selbst, dann aber auch nur halb und grade so gut wie er selbst verstehn.

Bey der Frage von der Moͤglichkeit, die alten Dichter zu uͤbersetzen, koͤmmts eigentlich darauf an, ob das treu aber in das reinste Deutsch uͤbersetzte nicht etwa immer noch griechisch sey. Nach dem Eindruck auf die Layen, welche am meisten Sinn und Geist haben, zu urtheilen, sollte man das vermuthen.

124

Die aͤchte Recension sollte die Aufloͤsung einer kritischen Gleichung, das Resultat und die Darstellung eines philologischen Experiments und einer litterarischen Recherche sey.

Zur Philologie muß man gebohren seyn, wie zur Poesie und zur Philosophie. Es giebt keinen Philologen ohne Philologie in der urspruͤnglichsten Bedeutung des Worts, ohne grammatisches Jnteresse. Philologie ist ein logischer Affekt, das Seitenstuͤck der Philosophie, Enthusiasmus fuͤr chemische Erkenntniß: denn die Grammatik ist doch nur der philosophische Theil der universellen Scheidungs - und Verbindungskunst. Durch die kunstmaͤßige Ausbildung jenes Sinns entsteht die Kritik, deren Stoff nur das Klassische und schlechthin Ewige seyn kann, was nie ganz verstanden werden mag: sonst wuͤrden die Philologen, an deren meisten man die gewoͤhnlichsten und sichersten Merkmahle der unwissenschaftlichen Virtuositaͤt wahrnimmt, ihre Geschicklichkeit eben so gern an jedem andern Stoff zeigen als an den Werken des Alterthums, fuͤr das sie in der Regel weder Jnteresse noch Sinn haben. Doch ist diese nothwendige Beschraͤnktheit um so weniger zu tadeln oder zu beklagen, da auch hier die kuͤnstlerische Vollendung allein zur Wissenschaft fuͤhren, und die bloß formelle Philologie einer materialen Alterthumslehre und einer humanen Geschichte der Menschheit naͤhern muß. Besser als eine sogenannte Anwendung der Philosophie auf die Philologie im gewoͤhnlichen Styl derer, welche die125 Wissenschaften mehr kompiliren als kombiniren. Die einzige Art, die Philosophie auf die Philologie oder, welches noch weit noͤthiger ist, die Philologie auf die Philosophie anzuwenden, ist, wenn man zugleich Philolog und Philosoph ist. Doch auch ohne das kann die philologische Kunst ihre Anspruͤche behaupten. Sich ausschließlich der Entwicklung eines urspruͤnglichen Triebes zu widmen, ist so wuͤrdig und so weise, wie das Beste und das Hoͤchste, was der Mensch nur immer zum Geschaͤft seines Lebens waͤhlen kann.

Die Mildthaͤtigkeit ist die schmaͤhliche Tugend die es in Romanen und Schauspielen immer ausbuͤßen muß, wenn gemeine Natur zum edlen Karakter erhoben, oder gar wie in Kotzebue´s Stuͤcken anderweitige Schlechtigkeit wieder gut gemacht werden soll. Warum benutzt man nicht die wohlthaͤtige Stimmung des Augenblicks, und laͤßt den Klingelbeutel im Schauspielhause umhergehn?

Wenn jedes unendliche Jndividuum Gott ist, so giebts so viele Goͤtter als Jdeale. Auch ist des Verhaͤltniß des wahren Kuͤnstlers und das wahren Menschen zu seinen Jdealen durchaus Religion. Wem dieser innre Gottesdienst Ziel und Geschaͤft des ganzen Lebens ist, der ist Priester, und so kann und soll es jeder werden.

Das wichtigste Stuͤck der guten Lebensart ist die Dreistigkeit, sie denen absichtlich andichten zu koͤnnen,126 von denen man weiß, daß sie sie nicht haben: das schwerste ist, unter der Huͤlle der allgemeinen guten Sitte die eigenthuͤmliche Gemeinheit zu ahnden und zu errathen.

Niedliche Gemeinheit und gebildete Unart heißt in der Sprache des feinen Umgangs Delikatesse.

Um sittlich zu heißen, muͤssen Empfindungen nicht bloß schoͤn, sondern auch weise, im Zusammenhange ihres Ganzen zweckmaͤßig, im hoͤchsten Sinne schicklich seyn.

Alltaͤglichkeit, Oekonomie ist das nothwendige Supplement aller nicht schlechthin universellen Naturen. Oft verliert sich das Talent und die Bildung ganz in diesem umgebenden Element.

Das wissenschaftliche Jdeal des Christianismus ist eine Karakteristik der Gottheit mit unendlich vielen Variazionen.

Jdeale die sich fuͤr unerreichbar halten, sind eben darum nicht Jdeale, sondern mathematische Fantome des bloß mechanischen Denkens. Wer Sinn fuͤrs Unendliche hat, und weiß was er damit will, sieht in ihm das Produkt sich ewig scheidender und mischender Kraͤfte, denkt sich seine Jdeale wenigstens chemisch, und sagt, wenn er sich entschieden ausdruͤckt, lauter Widerspruͤche. So weit scheint die Philosophie127 des Zeitalters gekommen zu seyn; nicht aber die Philosophie der Philosophie: denn auch chemische Jdealisten haben doch nicht selten nur ein einseitiges mathematisches Jdeal des Philosophirens. Jhre Thesen daruͤber sind ganz wahr d.h. philosophisch: aber die Antithesen dazu fehlen. Eine Physik der Philosophie scheint noch nicht an der Zeit zu seyn, und nur der vollendete Geist koͤnnte Jdeale organisch denken.

Ein Philosoph muß von sich selbst reden so gut wie ein lyrischer Dichter.

Giebts eine unsichtbare Kirche, so ist es die jener großen Paradoxie, die von der Sittlichkeit unzertrennlich ist, und von der bloß philosophischen noch sehr unterschieden werden muß. Menschen, die so ekzentrisch sind, im vollen Ernst tugendhaft zu seyn und zu werden, verstehn sich uͤberall, finden sich leicht, und bilden eine stille Opposizion gegen die herrschende Unsittlichkeit, die eben fuͤr Sittlichkeit gilt. Ein gewisser Mystizismus des Ausdrucks, der bey einer romantischen Fantasie und mit grammatischem Sinn verbunden, etwas sehr Reizendes und etwas sehr Gutes seyn kann, dient ihnen oft als Symbol ihrer schoͤnen Geheimnisse.

Sinn fuͤr Poesie oder Philosophie hat der, fuͤr den sie ein Jndividuum ist.

128

Zur Philosophie gehoͤren, je nach dem man es nimmt, entweder gar keine oder alle Sachkenntnisse.

Man soll niemanden zur Philosophie verfuͤhren oder bereden wollen.

Auch nach den gewoͤhnlichsten Ansichten ist es Verdienst genug, um einen Roman beruͤhmt zu machen, wenn ein durchaus neuer Karakter darin auf eine interessante Art dargestellt und ausgefuͤhrt wird. Dieß Verdienst hat William Lovell unlaͤugbar, und daß alles Nebenwerk und Geruͤste darin gemein oder misgluͤckt ist, wie der große Maschinist im Hintergrunde des Ganzen, daß das Ungewoͤhnliche darin oft nur ein umgekehrtes Gewoͤhnliches ist, haͤtte ihm wohl nicht geschadet: aber der Karakter war ungluͤcklicherweise poetisch. Lovell ist wie seine nur etwas zu wenig unterschiedene Variazion Balder ein vollkommner Fantast in jedem guten und in jedem schlechten, in jedem schoͤnen und in jedem haͤßlichen Sinne des Worts. Das ganze Buch ist ein Kampf der Prosa und der Poesie, wo die Prosa mit Fuͤßen getreten wird und die Poesie uͤber sich selbst den Hals bricht. Übrigens hat es den Fehler mancher ersten Produkte: es schwankt zwischen Jnstinkt und Absicht, weil es von beyden nicht genug hat. Daher die Wiederholungen, wodurch die Darstellung der erhabenen Langenweile zuweilen in Mittheilung uͤbergehn kann. Hier liegt der Grund,129 warum die absolute Fantasie in diesem Roman auch von Eingeweihten der Poesie verkannt und als bloß sentimental verachtet werden mag, waͤhrend dem vernuͤnftigen Leser, der fuͤr sein Geld maͤßig geruͤhrt zu werden verlangt, das Sentimentale darin keineswegs zusagt und sehr furios duͤnkt. So tief und ausfuͤhrlich hat Tieck vielleicht noch keinen Karakter wieder dargestellt. Aber der Sternbald vereinigt den Ernst und Schwung des Lovell mit der kuͤnstlerischen Religiositaͤt des Klosterbruders und mit allem was in den poetischen Arabesken, die er aus alten Maͤhrchen gebildet, im Ganzen genommen das Schoͤnste ist: die fantastische Fuͤlle und Leichtigkeit, der Sinn fuͤr Jronie, und besonders die absichtliche Verschiedenheit und Einheit des Kolorits. Auch hier ist alles klar und transparent, und der romantische Geist scheint angenehm uͤber sich selbst zu fantasiren.

Die Welt ist viel zu ernsthaft, aber der Ernst ist doch selten genug. Ernst ist das Gegentheil von Spiel. Der Ernst hat einen bestimmten Zweck, den wichtigsten unter allen moͤglichen; er kann nicht taͤndeln und kann sich nicht taͤuschen; er verfolgt sein Ziel unermuͤdet bis er es ganz erreicht hat. Dazu gehoͤrt Energie, Geisteskraft von schlechthin unbegraͤnzter Extension und Jntension. Giebt es keine absolute Hoͤhe und Weite fuͤr den Menschen, so ist das Wort Groͤße in sittlicher Bedeutung uͤberfluͤßig. Ernst ist Groͤße in Handlung. Groß ist was zugleich Enthusiasmus und Genialitaͤt hat, was zugleich goͤttlich130 und vollendet ist. Vollendet ist, was zugleich natuͤrlich und kuͤnstlich ist. Goͤttlich ist was aus der Liebe zum reinen ewigen Seyn und Werden quillt, die hoͤher ist als alle Poesie und Philosophie. Es giebt eine ruhige Goͤttlichkeit ohne die zermalmende Kraft des Helden und die bildende Thaͤtigkeit des Kuͤnstlers. Was zugleich goͤttlich, vollendet und groß ist, ist vollkommen.

Ob eine gebildete Frau, bey der von Sittlichkeit die Frage seyn kann, verderbt oder rein sey, laͤßt sich vielleicht sehr bestimmt entscheiden. Folgt sie der allgemeinen Tendenz, ist Energie des Geistes und des Karakters, die aͤußre Erscheinung derselben und was eben durch sie gilt, ihr Eins und Alles, so ist sie verderbt. Kennt sie etwas groͤßeres als die Groͤße, kann sie uͤber ihre natuͤrliche Neigung zur Energie laͤcheln, ist sie mit einem Worte des Enthusiasmus faͤhig, so ist sie unschuldig im sittlichen Sinne. Jn dieser Ruͤcksicht kann man sagen, alle Tugend des Weibes sey Religion. Aber daß die Frauen gleichsam mehr an Gott oder an Christus glauben muͤßten, als die Maͤnner, daß irgend eine gute und schoͤne Freygeisterey ihnen weniger zieme als den Maͤnnern, ist wohl nur eine von den unendlich vielen gemeingeltenden Plattheiten, die Rousseau in ein ordentliches System der Weiblichkeitslehre verbunden hat, in welchem der Unsinn so ins Reine gebracht und ausgebildet war, daß es durchaus allgemeinen Beyfall finden mußte.

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Der große Haufen liebt Friedrich Richters Romane vielleicht nur wegen der anscheinenden Abentheuerlichkeit. Überhaupt interessirt er wohl auf die verschiedenste Art und aus ganz entgegengesetzten Ursachen. Waͤhrend der gebildete Oekonom edle Thraͤnen in Menge bey ihm weint, und der strenge Kuͤnstler ihn als das blutrothe Himmelszeichen der vollendeten Unpoesie der Nazion und des Zeitalters haßt, kann sich der Mensch von universeller Tendenz an den grotesken Porzellanfiguren seines wie Reichstruppen zusammengetrommelten Bilderwitzes ergoͤtzen, oder die Willkuͤhrlichkeit in ihm vergoͤttern. Ein eignes Phaͤnomen ist es; ein Autor, der die Anfangsgruͤnde der Kunst nicht in der Gewalt hat, nicht ein Bonmot rein ausdruͤcken, nicht eine Geschichte gut erzaͤhlen kann, nur so was man gewoͤhnlich gut erzaͤhlen nennt, und dem man doch schon um eines solchen humoristischen Dithyrambus willen, wie der Adamsbrief des trotzigen, kernigen, prallen, herrlichen Leibgeber, den Namen eines großen Dichters nicht ohne Ungerechtigkeit absprechen duͤrfte. Wenn seine Werke auch nicht uͤbermaͤßig viel Bildung enthalten, so sind sie doch gebildet: das Ganze ist wie das Einzelne und umgekehrt, kurz, er ist fertig. Es ist ein großer Vorzug des Siebenkaͤs, daß die Ausfuͤhrung und Darstellung darin noch am besten ist; ein weit groͤßerer, daß so wenig Englaͤnder darin sind. Freylich sind seine Englaͤnder am Ende auch Deutsche, nur in idyllischen Verhaͤltnissen und mit sentimentalen Namen: indessen haben sie immer eine starke Aehnlichkeit132 mit Louvets Pohlen und gehoͤren mit zu den falschen Tendenzen, deren er so viele hat. Dahin gehoͤren auch die Frauen, die Philosophie, die Jungfrau Maria, die Zierlichkeit, die idealischen Visionen und die Selbstbeurtheilung. Seine Frauen haben rothe Augen und sind Exempel, Gliederfrauen zu psychologischmoralischen Reflexionen uͤber die Weiblichkeit oder uͤber die Schwaͤrmerey. Überhaupt laͤßt er sich fast nie herab, die Personen darzustellen; genug daß er sie sich denkt, und zuweilen eine treffende Bemerkung uͤber sie sagt. So haͤlt ers mit den passiven Humoristen, den Menschen, die eigentlich nur humoristische Sachen sind: die aktiven erscheinen auch selbstaͤndiger, aber sie haben eine zu starke Familienaͤhnlichkeit unter sich und mit dem Autor, als daß man ihnen dieß fuͤr ein Verdienst anrechnen duͤrfte. Sein Schmuck besteht in bleyernen Arabesken im Nuͤrnberger Styl. Hier ist die an Armuth graͤnzende Monotonie seiner Fantasie und seines Geistes am auffallendsten: aber hier ist auch seine anziehende Schwerfaͤlligkeit zu Hause, und seine pikante Geschmacklosigkeit, an der nur das zu tadeln ist, daß er nicht um sie zu wissen scheint. Seine Madonna ist eine empfindsame Kuͤstersfrau, und Christus erscheint wie ein aufgeklaͤrter Candidat. Je moralischer seine poetischen Rembrandts sind, desto mittelmaͤßiger und gemeiner; je komischer, je naͤher dem Bessern; je dithyrambischer und je kleinstaͤdtischer, desto goͤttlicher: denn seine Ansicht des Kleinstaͤdtischen ist vorzuͤglich gottesstaͤdtisch. Seine humoristische Poesie sondert sich immer133 mehr von seiner sentimentalen Prosa; oft erscheint sie gleich eingestreuten Liedern als Episode, oder vernichtet als Appendix das Buch. Doch zerfließen ihm immer noch zu Zeiten gute Massen in das allgemeine Chaos.

Mirabeau hat eine große Rolle in der Revoluzion gespielt, weil sein Karakter und sein Geist revoluzionaͤr war; Robespierre, weil er der Revoluzion unbedingt gehorchte, sich ihr ganz hingab, sie anbetete, und sich fuͤr den Gott derselben hielt; Buonaparte, weil er Revoluzionen schaffen und bilden, und sich selbst annihiliren kann.

Sollte der jetzige franzoͤsische Nazionalkarakter nicht eigentlich mit dem Kardinal Richelieu anfangen? Seine seltsame und beynah abgeschmackte Universalitaͤt erinnert an viele der merkwuͤrdigsten franzoͤsischen Phaͤnomene nach ihm.

Man kann die franzoͤsische Revoluzion als das groͤßte und merkwuͤrdigste Phaͤnomen der Staatengeschichte betrachten, als ein fast universelles Erdbeben, eine unermeßliche Überschwemmung in der politischen Welt; oder als ein Urbild der Revoluzionen, als die Revoluzion schlechthin. Das sind die gewoͤhnlichen Gesichtspunkte. Man kann sie aber auch betrachten als den Mittelpunkt und den Gipfel des franzoͤsischen Nazionalkarakters, wo alle Paradoxien desselben zusammengedraͤngt sind; als die furchtbarste134 Groteske des Zeitalters, wo die tiefsinnigsten Vorurtheile und die gewaltsamsten Ahndungen desselben in ein grauses Chaos gemischt, zu einer ungeheuren Tragikomoͤdie der Menschheit so bizarr als moͤglich verwebt sind. Zur Ausfuͤhrung dieser historischen Ansichten findet man nur noch einzelne Zuͤge.

Die erste Regung der Sittlichkeit ist Opposizion gegen die positive Gesetzlichkeit und konvenzionelle Rechtlichkeit, und eine graͤnzenlose Reizbarkeit des Gemuths. Kommt dazu noch die selbstaͤndigen und starken Geistern so eigne Nachlaͤssigkeit, und die Heftigkeit und Ungeschicklichkeit der Jugend, so sind Ausschweifungen unvermeidlich, deren nicht zu berechnende Folgen oft das ganze Leben vergiften. So geschiehts, daß der Poͤbel die fuͤr Verbrecher oder Exempel der Unsittlichkeit haͤlt, welche fuͤr den wahrhaft sittlichen Menschen zu den hoͤchst seltnen Ausnahmen gehoͤren, die er als Wesen seiner Art, als Mitbuͤrger seiner Welt betrachten kann. Wer denkt hiebey nicht an Mirabeau und Chamfort?

Es ist natuͤrlich, daß die Franzosen etwas dominiren im Zeitalter. Sie sind eine chemische Nazion, der chemische Sinn ist bey ihnen am allgemeinsten erregt, und sie machen ihre Versuche auch in der moralischen Chemie immer im Großen. Das Zeitalter ist gleichfalls ein chemisches Zeitalter. Revoluzionen sind universelle nicht organische, sondern chemische Bewegungen. Der große Handel ist die Chemie der135 großen Oekonomie; es giebt wohl auch eine Alchemie der Art. Die chemische Natur des Romans, der Kritik, des Witzes, der Geselligkeit, der neuesten Rhetorik und der bisherigen Historie leuchtet von selbst ein. Ehe man nicht zu einer Karakteristik des Universums und zu einer Eintheilung der Menschheit gelangt ist, muß man sich nur mit Notizen uͤber den Grundton und einzelne Manieren des Zeitalters begnuͤgen lassen, ohne den Riesen auch nur silhouettiren zu koͤnnen. Denn wie wollte man ohne jene Vorkenntnisse bestimmen, ob das Zeitalter wirklich ein Jndividuum, oder vielleicht nur ein Collisionspunkt andrer Zeitalter sey; wo es bestimmt anfange und endige? Wie waͤre es moͤglich, die gegenwaͤrtige Periode der Welt richtig zu verstehen und zu interpungiren, wenn man nicht wenigstens den allgemeinen Karakter der naͤchstfolgenden anticipiren duͤrfte? Nach der Analogie jenes Gedankens wuͤrde auf das chemische ein organisches Zeitalter folgen, und dann duͤrften die Erdbuͤrger des naͤchsten Sonnenumlaufs wohl bey weitem nicht so groß von uns denken wie wir selbst, und vieles was jetzt bloß angestaunt wird, nur fuͤr nuͤtzliche Jugenduͤbungen der Menschheit halten.

Eine sogenannte Recherche ist ein historisches Experiment. Der Gegenstand und das Resultat desselben ist ein Faktum. Was ein Faktum seyn soll, muß strenge Jndividualitaͤt haben, zugleich ein Geheimniß und ein Experiment seyn, naͤmlich ein Experiment der bildenden Natur. Geheimniß und Mysterie ist alles136 was nur durch Enthusiasmus und mit philosophischem poetischem oder sittlichem Sinn aufgefaßt werden kann.

Auch die Sprache begegnet der Sittlichkeit schlecht. Sie ist nirgends so roh und arm, als wo es auf die Bezeichnung sittlicher Begriffe ankommt. Zum Beyspiel nehme ich die drey Karaktere, die sich aus den verschiedenen Verbindungen zwischen Zweck und Mittel konstruiren lassen. Es giebt Menschen, denen unter der Hand alles was sie als Mittel behandeln, zum Zweck wird. Sie widmen sich einer Wissenschaft um ihr Gluͤck zu machen, und werden von den Reizen derselben gefesselt. Sie suchen einen Anhaͤnger derselben auf, und sie fangen an ihn zu lieben. Sie besuchen seine Zirkel um mit ihm zu seyn, und sie werden die leidenschaftlichsten Mitglieder derselben. Sie schreiben, oder treiben schoͤne Kuͤnste, oder kleiden sich besser, um in diesen Zirkeln zu gefallen, und ehe man sich versieht, finden sie unabhaͤngig von Gefallen und Mißfallen in ihren Schreibereyen, in ihrem Kunststudium, in ihrer Eleganz einen innigen Genuß. Dieß ist ein sehr bestimmter Karakter der sich uͤberall leicht erkennen laͤßt; hat aber die Sprache einen Namen dafuͤr? Ein großer Kreis von verschiedenen Thaͤtigkeiten wird auf diese Art durchlaufen, und die Sprache vergoͤnnt auch ihn deswegen veraͤnderlich oder vielseitig zu nennen: das ist aber nur ein Theil von den Erscheinungen dieser Denkungsart, welchen sie mit manchen andern gemein hat. Menschen137 von dieser Art machen den endlichen Raum vom gegenwaͤrtigen Augenblick bis zur Erreichung eines gewissen Zweckes zu einer unendlichen und ins Unendliche getheilten Groͤße. Wem diese Fertigkeit das Endliche als etwas Unendliches zu behandeln, immer liebenswuͤrdig erscheint, moͤchte sie so nennen: aber dieß ist nur die Beschreibung eines Eindrucks. Fuͤr das Wesen dieses Karakters, von dem Jnteresse fuͤr etwas als Mittel in ein unmittelbares Jnteresse leicht und oft uͤberzugehn, hat die Sprache kein Zeichen. Es giebt andre Menschen, welche den entgegengesetzten Weg gehn, und sehr leicht das, was ihnen Anfangs Zweck war, nur als Mittel fuͤr etwas andres behandeln; die wenn sie einen Schriftsteller leidenschaftlich gelesen haben, mit einer Karakteristik desselben endigen, wenn sie eine Wissenschaft lange getrieben haben, sich bald zur Philosophie der Wissenschaft erheben, und selbst wenn eine persoͤnliche Anhaͤnglichkeit sie fesselt, in Gefahr sind, eine zaͤrtliche Verbindung als Mittel zu behandeln, um eine neue Ansicht der menschlichen Natur zu gewinnen, oder uͤber die Liebe aus eignen Experimenten zu philosophiren. Nenne mir das Jemand auf Deutsch! Von den Wirkungen und dem Eindruck eines solchen Karakters zu reden, ist wohlfeil: daß es groß ist, das Endliche wegzuwerfen, weil man auf das Unendliche losgeht, daß es originell ist, Schranken umzureißen, wo Andere haͤngen bleiben, neue Bahnen zu eroͤffnen, wo Andere einen geschloßnen Kreis zu sehen glauben, große Leidenschaften in reißendem Fluge zu durchlaufen, und138 große Kunstwerke gleichsam im Vorbeygehn aufzubaun; denn das sind die natuͤrlichen Aeußerungen eines solchen Karakters, wenn er nicht erlischt; dieß zu mahlen, hat die Sprache nicht Mangel an Worten. Es giebt einen dritten Karakter, der beyde vereinigt, der so lange er einen Zweck vor Augen hat, alles wieder zum Zweck macht, was in das System desselben gehoͤrt, bey diesem endlichen Genuß dennoch das Hoͤherstreben nicht vergißt und mitten auf seinen Riesenschritten immer wieder zu jenem zuruͤckkehrt. Er verbindet das Talent, seine eignen Graͤnzen leicht zu finden, und nichts zu wollen, als was man kann, mit dem, seine Endzwecke mit den Kraͤften zugleich zu erweitern: die Weisheit und ruhige Resignazion des in sich gekehrten Gemuͤths, mit der Energie eines aͤußerst elastischen und expansibeln Geistes, der durch die geringste Oeffnung, die sich darbietet, entweicht, um in einem Augenblick einen weit groͤßern Kreis als den bisherigen auszufuͤllen. Er macht nie einen vergeblichen Versuch, den erkannten Schranken des Augenblicks zu entweichen, und gluͤht dabey doch von Sehnsucht, sich weiter auszudehnen; er widerstrebt nie dem Schicksal, aber er fodert es in jedem Augenblick auf, ihm eine Erweiterung seines Daseyns anzuweisen; er hat immer alles im Auge, was ein Mensch nur werden kann und zu werden wuͤnschen mag, aber strebt nie nach etwas, bis der guͤnstige Moment erschienen ist. Daß ein solcher Karakter ein vollendetes praktisches Genie waͤre, daß bey ihm alles Absicht und alles Jnstinkt, alles Willkuͤhr139 und alles Natur seyn wuͤrde, das kann man sagen, aber ein Wort, um das Wesen dieses Karakters zu bezeichnen, wird vergebens gesucht.

Wie die Novelle in jedem Punkt ihres Seyns und ihres Werdens neu und frappant seyn muß, so sollte vielleicht das poetische Maͤhrchen und vorzuͤglich die Romanze unendlich bizarr seyn; denn sie will nicht bloß die Fantasie interessiren, sondern auch den Geist bezaubern und das Gemuͤth reizen; und das Wesen des Bizarren scheint eben in gewissen willkuͤhrlichen und seltsamen Verknuͤpfungen und Verwechslungen des Denkens, Dichtens und Handelns zu bestehn. Es giebt eine Bizarrerie der Begeisterung, die sich mit der hoͤchsten Bildung und Freyheit vertraͤgt, und das Tragische nicht bloß verstaͤrkt, sondern verschoͤnert und gleichsam vergoͤttlicht; wie in Goethe's Braut von Korinth, die Epoche in der Geschichte der Poesie macht. Das Ruͤhrende darin ist zerreißend und doch verfuͤhrerisch lockend. Einige Stellen koͤnnte man fast buͤrlesk nennen, und eben in diesen erscheint das Schreckliche zermalmend groß.

Es giebt unvermeidliche Lagen und Verhaͤltnisse, die man nur dadurch liberal behandeln kann, daß man sie durch einen kuͤhnen Akt der Willkuͤhr verwandelt und durchaus als Poesie betrachtet. Also sollen alle gebildete Menschen im Nothfalle Poeten seyn koͤnnen, und daraus laͤßt sich eben so gut folgern, daß der140 Mensch von Natur ein Poet sey, daß es eine Naturpoesie gebe, als umgekehrt.

Opfre den Grazien, heißt, wenn es einem Philosophen gesagt wird, so viel als: Schaffe dir Jronie und bilde dich zur Urbanitaͤt.

Bey manchen, besonders historischen Werken von Umfang, die im Einzelnen uͤberall sehr anziehend und schoͤn geschrieben sind, empfindet man dennoch im Ganzen eine unangenehme Monotonie. Um dieß zu vermeiden, muͤßte Kolorit und Ton und selbst der Styl sich veraͤndern und in den verschiedenen großen Massen des Ganzen auffallend verschieden seyn, wodurch das Werk nicht bloß mannichfaltiger, sondern auch systematischer werden wuͤrde. Es leuchtet ein, daß eine solche regelmaͤßige Abwechslung nicht das Werk des Zufalls seyn koͤnne, daß der Kuͤnstler hier ganz bestimmt wissen muͤsse, was er wolle, um es machen zu koͤnnen; aber es leuchtet auch ein, daß es voreilig sey, die Poesie oder die Prosa Kunst zu nennen, ehe sie dahin gelangt sind, ihre Werke vollstaͤndig zu konstruiren. Daß das Genie dadurch uͤberfluͤßig gemacht werde, steht nicht zu besorgen, da der Sprung vom anschaulichsten Erkennen und klaren Sehen dessen, was hervorgebracht werden soll, bis zum Vollenden immer unendlich bleibt.

Das Wesen des poetischen Gefuͤhls liegt vielleicht darin, daß man sich ganz aus sich selbst afficiren,141 uͤber Nichts in Affekt gerathen und ohne Veranlassung fantasiren kann. Sittliche Reizbarkeit ist mit einem gaͤnzlichen Mangel an poetischem Gefuͤhl sehr gut vereinbar.

Soll denn die Poesie schlechthin eingetheilt seyn? oder soll sie die eine und untheilbare bleiben? oder wechseln zwischen Trennung und Verbindung? Die meisten Vorstellungsarten vom poetischen Weltsystem sind noch so roh und kindisch, wie die aͤlteren vom astronomischen vor Kopernikus. Die gewoͤhnlichen Eintheilungen der Poesie sind nur todtes Fachwerk fuͤr einen beschraͤnkten Horizont. Was einer machen kann, oder was eben gilt, ist die ruhende Erde im Mittelpunkt. Jm Universum der Poesie selbst aber ruht nichts, alles wird und verwandelt sich und bewegt sich harmonisch; und auch die Kometen haben unabaͤnderliche Bewegungsgesetze. Ehe sich aber der Lauf dieser Gestirne nicht berechnen, ihre Wiederkunft nicht vorherbestimmen laͤßt, ist das wahre Weltsystem der Poesie noch nicht entdeckt.

Einige Grammatiker scheinen den Grundsatz des alten Voͤlkerrechts, daß jeder Fremde ein Feind sey, in die Sprache einfuͤhren zu wollen. Aber ein Autor, der auch ohne auslaͤndische Worte fertig zu werden weiß, wird sich immer berechtigt halten duͤrfen, sie zu brauchen, wo der Karakter der Gattung selbst ein Kolorit der Universalitaͤt fodert oder wuͤnscht; und ein historischer Geist wird sich immer fuͤr alte Worte,142 die so oft nicht bloß mehr Erfahrung und Verstand, sondern auch mehr Lebenskraft und Einheit haben, als viele sogenannte Menschen oder Grammatiker, mit Ehrfurcht und Liebe interessiren und sie bey Gelegenheit gern verjuͤngen.

Ganz ohne Ruͤcksicht auf den Jnhalt ist der Fuͤrstenspiegel sehr schaͤtzbar als ein Muster des guten Tons in geschriebner Konversazion, wie die deutsche Prosa nur wenige aufzuweisen hat, aus denen der Autor, der die Philosophie und das gesellschaftliche Leben en rapport setzen will, lernen muß, wie man das Dekorum der Konvenzion zum Anstand der Natur adelt. So sollte eigentlich jeder schreiben koͤnnen, der Veranlassung findet, etwas drucken zu lassen, ohne darum eben ein Autor seyn zu wollen.

Wie kann eine Wissenschaft auf wissenschaftliche Strenge und Vollendung Anspruch machen, die meistens in usum delphini oder nach dem System der gelegenheitlichen Ursachen angeordnet und eingetheilt ist, wie die Mathematik?

Urbanitaͤt ist der Witz der harmonischen Universalitaͤt, und diese ist das Eins und Alles der historischen Philosophie und Plato's hoͤchste Musik. Die Humaniora sind die Gymnastik dieser Kunst und Wissenschaft.

143

Eine Karakteristik ist ein Kunstwerk der Kritik, ein visum repertum der chemischen Philosophie. Eine Rezension ist eine angewandte und anwendende Karakteristik, mit Ruͤcksicht auf den gegenwaͤrtigen Zustand der Litteratur und des Publikums. Übersichten, litterarische Annalen sind Summen oder Reihen von Karakteristiken. Parallellen sind kritische Gruppen. Aus der Verknuͤpfung beyder entspringt die Auswahl der Klassiker, das kritische Weltsystem fuͤr eine gegebne Sphaͤre der Philosophie oder der Poesie.

Alle reine uneigennuͤtzige Bildung ist gymnastisch oder musikalisch; sie geht auf Entwicklung der einzelnen und auf Harmonie aller Kraͤfte. Die Griechische Dichotomie der Erziehung ist mehr als eine von den Paradoxien des Alterthums.

Liberal ist wer von allen Seiten und nach allen Richtungen wie von selbst frey ist und in seiner ganzen Menschheit wirkt; wer alles, was handelt, ist und wird, nach dem Maß seiner Kraft heilig haͤlt, und an allem Leben Antheil nimmt, ohne sich durch beschraͤnkte Ansichten zum Haß oder zur Geringschaͤtzung desselben verfuͤhren zu lassen.

Philosophische Juristen nennen sich auch solche, die neben ihren andern Rechten, die oft so unrechtlich sind, auch ein Naturrecht haben, welches nicht selten noch unrechtlicher ist.

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Die Dedukzion eines Begriffs ist die Ahnenprobe seiner aͤchten Abstammung von der intellektuellen Anschauung seiner Wissenschaft. Denn jede Wissenschaft hat die ihrige.

Es pflegt manchem seltsam und laͤcherlich aufzufallen, wenn die Musiker von den Gedanken in ihren Composizionen reden; und oft mag es auch so geschehen, daß man wahrnimmt, sie haben mehr Gedanken in ihrer Musik als uͤber dieselbe. Wer aber Sinn fuͤr die wunderbaren Affinitaͤten aller Kuͤnste und Wissenschaften hat, wird die Sache wenigstens nicht aus dem platten Gesichtspunkt der sogenannten Natuͤrlichkeit betrachten, nach welcher die Musik nur die Sprache der Empfindung seyn soll, und eine gewisse Tendenz aller reinen Jnstrumentalmusik zur Philosophie an sich nicht unmoͤglich finden. Muß die reine Jnstrumentalmusik sich nicht selbst einen Text erschaffen? und wird das Thema in ihr nicht so entwickelt, bestaͤtigt, variirt und kontrastirt, wie der Gegenstand der Meditazion in einer philosophischen Jdeenreihe?

Die Dynamik ist die Groͤßenlehre der Energie, welche in der Astronomie auf die Organisazion des Universums angewandt wird. Jnsofern koͤnnte man beyde eine historische Mathematik nennen. Die Algebra erfordert am meisten Witz und Enthusiasmus, naͤmlich mathematischen.

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Der konsequente Empirismus endigt mit Beytraͤgen zur Ausgleichung der Misverstaͤndnisse oder mit einer Subskripzion auf die Wahrheit.

Die unaͤchte Universalitaͤt ist entweder theoretisch oder praktisch. Die theoretische ist die Universalitaͤt eines schlechten Lexikons, einer Registratur. Die praktische entsteht aus der Totalitaͤt der Einmischung.

Die intellektualen Anschauungen der Kritik sind das Gefuͤhl von der unendlich feinen Analyse der Griechischen Poesie und das von der unendlich vollen Mischung der Roͤmischen Satire und der Roͤmischen Prosa.

Wir haben noch keinen moralischen Autor, welcher den Ersten der Poesie und Philosophie verglichen werden koͤnnte. Ein solcher mußte die erhabene antiquarische Politik Muͤllers mit Forsters großer Oekonomie des Universums und mit Jacobi's sittlicher Gynmastik und Musik verknuͤpfen, und auch in der Schreibart den schweren, ehrwuͤrdigen und begeisterten Styl des ersten, mit dem frischen Kolorit, der liebenswuͤrdigen Zartheit des zweyten, und mit der uͤberall wie ferne Harmonika der Geisterwelt antoͤnenden gebildeten Fuͤhlbarkeit des dritten verbinden.

Rousseau's Polemik gegen die Poesie ist doch nur eine schlechte Nachahmung des Plato. Plato hat es mehr gegen die Poeten als gegen die Poesie; er hielt146 die Philosophie fuͤr den kuͤhnsten Dithyrambus und fuͤr die einstimmigste Musik. Epikur ist eigentlicher Feind der schoͤnen Kunst: denn er will die Fantasie ausrotten und sich bloß an den Sinn halten. Auf eine ganz andre Art koͤnnte Spinosa ein Feind der Poesie scheinen; weil er zeigt, wie weit man mit Philosophie und Moralitaͤt ohne Poesie kommen kann, und weil es sehr im Geist seines Systems liegt, die Poesie nicht zu isoliren.

Universalitaͤt ist Wechselsaͤttigung aller Formen und aller Stoffe. Zur Harmonie gelangt sie nur durch Verbindung der Poesie und der Philosophie: auch den universellsten vollendetsten Werken der isolirten Poesie und Philosophie scheint die letzte Synthese zu fehlen; dicht am Ziel der Harmonie bleiben sie unvollendet stehn. Das Leben des universellen Geistes ist eine ununterbrochne Kette innerer Revoluzionen; alle Jndividuen, die urspruͤnglichen, ewigen naͤmlich leben in ihm. Er ist aͤchter Polytheist und traͤgt den ganzen Olymp in sich.

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II. Über Goethe's Meister.

Ohne Anmaßung und ohne Geraͤusch, wie die Bildung eines strebenden Geistes sich still entfaltet, und wie die werdende Welt aus seinem Jnnern leise emporsteigt, beginnt die klare Geschichte. Was hier vorgeht und was hier gesprochen wird, ist nicht außerordentlich, und die Gestalten, welche zuerst hervortreten, sind weder groß noch wunderbar: eine kluge Alte, die uͤberall den Vortheil bedenkt und fuͤr den reicheren Liebhaber das Wort fuͤhrt; ein Maͤdchen, die sich aus den Verstrickungen der gefaͤhrlichen Fuͤhrerin nur losreißen kann, um sich dem Geliebten heftig hinzugeben; ein reiner Juͤngling, der das schoͤne Feuer seiner ersten Liebe einer Schauspielerin weiht. Jndessen steht alles gegenwaͤrtig vor unsern Augen da, lockt und spricht uns an. Die Umrisse sind allgemein und leicht, aber sie sind genau, scharf und sicher. Der kleinste Zug ist bedeutsam, jeder Strich ist ein leiser Wink und alles ist durch helle und lebhafte Gegensaͤtze gehoben. Hier ist nichts, was die Leidenschaft148 heftig entzuͤnden, oder die Theilnahme sogleich gewaltsam mit sich fortreißen koͤnnte. Aber die beweglichen Gemaͤhlde haften wie von selbst in dem Gemuͤthe, welches eben zum ruhigen Genuß heiter gestimmt war. So bleibt auch wohl eine Landschaft von einfachem und unscheinbarem Reiz, der eine seltsam schoͤne Beleuchtung oder eine wunderbare Stimmung unsers Gefuͤhls einen augenblicklichen Schein von Neuheit und von Einzigkeit lieh, sonderbar hell und unausloͤschlich in der Erinnerung. Der Geist fuͤhlt sich durch die heitre Erzaͤhlung uͤberall gelinde beruͤhrt, leise und vielfach angeregt. Ohne sie ganz zu kennen, haͤlt er diese Menschen dennoch schon fuͤr Bekannte, ehe er noch recht weiß, oder sich fragen kann, wie er mit ihnen bekannt geworden sey. Es geht ihm damit wie der Schauspielergesellschaft auf ihrer lustigen Wasserfarth mit dem Fremden. Er glaubt, er muͤßte sie schon gesehen haben, weil sie aussehn wie Menschen und nicht wie Hinz oder Kunz. Dieß Aussehn verdanken sie nicht eben ihrer Natur und ihrer Bildung: denn nur bey einem oder dem andern naͤhert sich diese auf verschiedne Weise und in verschiednem Maß der Allgemeinheit. Die Art der Darstellung ist es, wodurch auch das Beschraͤnkteste zugleich ein ganz eignes selbstaͤndiges Wesen fuͤr sich, und dennoch nur eine andre Seite, eine neue Veraͤnderung der allgemeinen und unter allen Verwandlungen einigen menschlichen Natur, ein kleiner Theil der unendlichen Welt zu seyn scheint. Das ist eben das Große, worin jeder Gebildete nur sich selbst wiederzufinden149 glaubt, waͤhrend er weit uͤber sich selbst erhoben wird; was nur so ist, als muͤßte es so seyn, und doch weit mehr als man fodern darf.

Mit wohlwollendem Laͤcheln folgt der heitre Leser Wilhelms gefuͤhlvollen Erinnerungen an die Puppenspiele, welche den neugierigen Knaben mehr beseeligten als alles andre Naschwerk, als er noch jedes Schauspiel und Bilder aller Art, wie sie ihm vorkamen, mit demselben reinen Durste in sich sog, mit welchem der Neugebohrne die suͤße Nahrung aus der Brust der liebkosenden Mutter empfaͤngt. Sein Glaube macht ihm die gutmuͤthigen Kindergeschichten von jener Zeit, wo er immer alles zu sehen begehrte, was ihm neu war, und was er gesehn hatte, nun auch gleich zu machen oder nachzumachen versuchte oder strebte, wichtig, ja heilig, seine Liebe mahlt sie mit den reizendsten Farben aus, und seine Hoffnung leiht ihnen die schmeichelhafteste Bedeutung. Eben diese schoͤnen Eigenschaften bilden das Gewebe seines Lieblingsgedankens, von der Buͤhne herab die Menschen zu erheben, aufzuklaͤren und zu veredeln, und der Schoͤpfer eines neuen schoͤneren Zeitalters der vaterlaͤndischen Buͤhne zu werden, fuͤr die seine kindliche Neigung, erhoͤht durch die Jugend und verdoppelt durch die Liebe, in helle Flammen emporschlaͤgt. Wenn die Theilnahme an diesen Gefuͤhlen und Wuͤnschen nicht frey von Besorgniß seyn kann, so ist es dagegen nicht wenig anziehend und ergoͤtzlich, wie Wilhelm auf einer kleinen Reise, auf welche ihn die Vaͤter zum ersten Versuch senden, einem Abentheuer150 von der Art, die sich ernsthaft anlaͤßt und drollig entwickelt, begegnet, in welchem er den Widerschein seines eignen Unternehmens, freylich nicht auf die vorteilhafteste Weise abgebildet, erblickt, ohne daß ihn dieß seiner Schwaͤrmerey untreu machen koͤnnte. Unvermerkt ist indeß die Erzaͤhlung lebhafter und leidenschaftlicher geworden, und in der warmen Nacht, wo Wilhelm, sich einer ewigen Verbindung mit seiner Mariane so nahe waͤhnend, liebevoll um ihre Wohnung schwaͤrmt, steigt die heiße Sehnsucht, die sich in sich selbst zu verlieren, im Genuß ihrer eignen Toͤne zu lindern und zu erquicken scheint, aufs aͤußerste, bis die Gluth durch die traurige Gewißheit und Norbergs niedrigen Brief ploͤtzlich geloͤscht, und die ganze schoͤne Gedankenwelt des liebenden Juͤnglings mit einem Streich vernichtet wird.

Mit diesem so harten Mißlaut schließt das erste Buch, dessen Ende einer geistigen Musik gleicht, wo die verschiedensten Stimmen, wie eben so viele einladende Anklaͤnge aus der neuen Welt, deren Wunder sich vor uns entfalten sollen, rasch und heftig wechseln; und der schneidende Abstich kann die erst weniger, dann mehr als man erwartete, gereizte Spannung mit einem Zusatz von Ungeduld heilsam wuͤrzen, ohne doch je den ruhigsten Genuß des Gegenwaͤrtigen zu stoͤren, oder auch die feinsten Zuͤge der Nebenausbildung, die leisesten Winke der Wahrnehmung zu entziehn, die jeden Blick, jede Miene des durch das Werk sichtbaren Dichtergeistes zu verstehen wuͤnscht.

Damit aber nicht bloß das Gefuͤhl in ein leeres151 Unendliches hinausstrebe, sondern auch das Auge nach einem großen Gesichtspunkt die Entfernung sinnlich berechnen, und die weite Aussicht einigermaßen umgraͤnzen koͤnne, steht der Fremde da, der mit so vielem Rechte der Fremde heißt. Allein und unbegreiflich, wie eine Erscheinung aus einer andern edleren Welt, die von der Wirklichkeit, welche Wilhelmen umgiebt, so verschieden seyn mag, wie von der Moͤglichkeit, die er sich traͤumt, dient er zum Maßstab der Hoͤhe, zu welcher das Werk noch steigen soll; eine Hoͤhe, auf der vielleicht die Kunst eine Wissenschaft und das Leben eine Kunst seyn wird.

Der reife Verstand dieses gebildeten Mannes ist wie durch eine große Kluft von der bluͤhenden Einbildung des liebenden Juͤnglings geschieden. Aber auch von Wilhelms Serenate zu Norbergs Brief ist der Übergang nicht milde, und der Kontrast zwischen seiner Poesie und Marianens prosaischer ja niedriger Umgebung ist stark genug. Als vorbereitender Theil des ganzen Werks ist das erste Buch eine Reihe von veraͤnderten Stellungen und mahlerischen Gegensaͤtzen in deren jedem Wilhelms Karakter von einer andern merkwuͤrdigen Seite, in einem neuen helleren Lichte gezeigt wird; und die kleineren deutlich geschiednen Massen und Kapitel bilden mehr oder weniger jede fuͤr sich ein mahlerisches Ganzes. Auch gewinnt er schon jetzt das ganze Wohlwollen des Lesers, dem er, wie sich selbst, wo er geht und steht, in einer Fuͤlle von praͤchtigen Worten die erhabensten Gesinnungen vorsagt. Sein ganzes Thun und Wesen besteht fast152 im Streben, Wollen und Empfinden, und obgleich wir voraussehn, daß er erst spaͤt oder nie als Mann handeln wird, so verspricht doch seine graͤnzenlose Bildsamkeit, daß Maͤnner und Frauen sich seine Erziehung zum Geschaͤft und zum Vergnuͤgen machen und dadurch, vielleicht ohne es zu wollen oder zu wissen, die leise und vielseitige Empfaͤnglichkeit, welche seinem Geiste einen so hohen Zauber giebt, vielfach anregen und die Vorempfindung der ganzen Welt in ihm zu einem schoͤnen Bilde entfalten werden. Lernen muß er uͤberall koͤnnen, und auch an pruͤfenden Versuchungen wird es ihm nie fehlen. Wenn ihm nun das guͤnstige Schicksal oder ein erfahrner Freund von großem Überblick guͤnstig beysteht und ihn durch Warnungen und Verheißungen nach dem Ziele lenkt, so muͤssen seine Lehrjahre gluͤcklich endigen.

Das zweyte Buch beginnt damit, die Resultate des ersten musikalisch zu wiederhohlen, sie in wenige Punkte zusammenzudraͤngen und gleichsam auf die aͤußerste Spitze zu treiben. Zuerst wird die langsame aber voͤllige Vernichtung von Wilhelms Poesie seiner Kindertraͤume und seiner ersten Liebe mit schonender Allgemeinheit der Darstellung betrachtet. Dann wird der Geist, der mit Wilhelmen in diese Tiefe gesunken, und mit ihm gleichsam unthaͤtig geworden war, von neuem belebt und maͤchtig geweckt, sich aus der Leere herauszureißen, durch die leidenschaftlichste Erinnerung an Marianen, und durch des Juͤnglings begeistertes Lob der Poesie, welches die Wirklichkeit seines urspruͤnglichen Traums von Poesie durch seine153 Schoͤnheit bewaͤhrt, und uns in die ahndungsvollste Vergangenheit der alten Heroen und der noch unschuldigen Dichterwelt versetzt.

Nun folgt sein Eintritt in die Welt, der weder abgemessen noch brausend ist, sondern gelinde und leise wie das freye Lustwandeln eines, der zwischen Schwermuth und Erwartung getheilt, von schmerzlichsuͤßen Erinnerungen zu noch ahndungsvolleren Wuͤnschen schwankt. Eine neue Scene oͤffnet sich, und eine neue Welt breitet sich lockend vor uns aus. Alles ist hier seltsam, bedeutend, wundervoll und von geheimem Zauber umweht. Die Ereignisse und die Personen bewegen sich rascher und jedes Kapitel ist wie ein neuer Akt. Auch solche Ereignisse, die nicht eigentlich ungewoͤhnlich sind, machen eine uͤberraschende Erscheinung. Aber diese sind nur das Element der Personen, in denen sich der Geist dieser Masse des ganzen Systems am klarsten offenbart. Auch in ihnen aͤußert sich jene frische Gegenwart, jenes magische Schweben zwischen Vorwaͤrts und Ruͤckwaͤrts. Philine ist das verfuͤhrerische Symbol der leichtesten Sinnlichkeit; auch der bewegliche Laertes lebt nur fuͤr den Augenblick; und damit die lustige Gesellschaft vollzaͤhlig sey, repraͤsentirt der blonde Friedrich die gesunde kraͤftige Ungezogenheit. Alles was die Erinnerung und die Schwermuth und die Neue nur Ruͤhrendes hat, athmet und klagt der Alte wie aus einer unbekannten bodenlosen Tiefe von Gram und ergreift uns mit wilder Wehmuth. Noch suͤßere Schauer und gleichsam ein schoͤnes Grausen erregt das heilige Kind, mit dessen Erscheinung154 die innerste Springfeder des sonderbaren Werks ploͤtzlich frey zu werden scheint. Dann und wann tritt Marianens Bild hervor, wie ein bedeutender Traum; ploͤtzlich erscheint der seltsame Fremde und verschwindet schnell wie ein Blitz. Auch Melina's kommen wieder, aber verwandelt, naͤmlich ganz in ihrer natuͤrlichen Gestalt. Die schwerfaͤllige Eitelkeit der Anempfinderin kontrastirt artig genug gegen die Leichtigkeit der zierlichen Suͤnderin. Überhaupt gewaͤhrt uns die Vorlesung des Ritterstuͤcks einen tiefen Blick hinter die Coulissen des theatralischen Zaubers wie in eine komische Welt im Hintergrunde. Das Lustige und das Ergreifende, das Geheime und das Lockende sind im Finale wunderbar verwebt, und die streitenden Stimmen toͤnen grell neben einander. Diese Harmonie von Dissonanzen ist noch schoͤner als die Musik, mit der das erste Buch endigte; sie ist entzuͤckender und doch zerreißender, sie uͤberwaͤltigt mehr und sie laͤßt doch besounener.

Es ist schoͤn und nothwendig, sich dem Eindruck eines Gedichtes ganz hinzugeben, den Kuͤnstler mit uns machen zu lassen, was er will, und etwa nur im Einzelnen das Gefuͤhl durch Reflexion zu bestaͤtigen und zum Gedanken zu erheben, und wo es noch zweifeln oder streiten duͤrfte, zu entscheiden und zu ergaͤnzen. Dieß ist das erste und das wesentlichste. Aber nicht minder nothwendig ist es, von allem Einzelnen abstrahiren zu koͤnnen, das Allgemeine schwebend zu fassen, eine Masse zu uͤberschauen, und das Ganze festzuhalten, selbst dem Verborgensten nachzuforschen155 und das Entlegenste zu verbinden. Wir muͤssen uns uͤber unsre eigne Liebe erheben, und was wir anbeten, in Gedanken vernichten koͤnnen: sonst fehlt uns, was wir auch fuͤr andre Faͤhigkeiten haben, der Sinn fuͤr das Weltall. Warum sollte man nicht den Duft einer Blume einathmen, und dann doch das unendliche Geaͤder eines einzelnen Blatts betrachten und sich ganz in diese Betrachtung verlieren koͤnnen? Nicht bloß die glaͤnzende aͤußre Huͤlle, das bunte Kleid der schoͤnen Erde, ist dem Menschen, der ganz Mensch ist, und so fuͤhlt und denkt, interessant: er mag auch gern untersuchen, wie die Schichten im Jnnern auf einander liegen, und aus welchen Erdarten sie zusammengesetzt sind; er moͤchte immer tiefer dringen, bis in den Mittelpunkt wo moͤglich, und moͤchte wissen, wie das Ganze konstruirt ist. So moͤgen wir uns gern dem Zauber des Dichters entreißen, nachdem wir uns gutwillig haben von ihm fesseln lassen, moͤgen am liebsten dem nachspaͤhn, was er unserm Blick entziehen oder doch nicht zuerst zeigen wollte, und was ihn doch am meisten zum Kuͤnstler macht: die geheimen Absichten, die er im Stillen verfolgt, und deren wir beym Genius, dessen Jnstinkt zur Willkuͤhr geworden ist, nie zu viele voraussetzen koͤnnen.

Der angebohrne Trieb des durchaus organisirten und organisirenden Werks, sich zu einem Ganzen zu bilden, aͤußert sich in den groͤßeren wie in den kleineren Massen. Keine Pause ist zufaͤllig und unbedeutend; und hier, wo alles zugleich Mittel und Zweck ist, wird es nicht unrichtig seyn, den ersten Theil unbeschadet156 seiner Beziehung aufs Ganze als ein Werk fuͤr sich zu betrachten. Wenn wir auf die Lieblingsgegenstaͤnde aller Gespraͤche und aller gelegentlichen Entwickelungen, und auf die Lieblingsbeziehungen aller Begebenheiten, der Menschen und ihrer Umgebung sehen: so faͤllt in die Augen, daß sich alles um Schauspiel, Darstellung, Kunst und Poesie drehe. Es war so sehr die Absicht des Dichters, eine nicht unvollstaͤndige Kunstlehre aufzustellen, oder vielmehr in lebendigen Beyspielen und Ansichten darzustellen, daß diese Absicht ihn sogar zu eigentlichen Episoden verleiten kann, wie die Komoͤdie der Fabrikanten und die Vorstellung der Bergmaͤnner. Ja man duͤrfte eine systematische Ordnung in dem Vortrage dieser poetischen Physik der Poesie finden; nicht eben das todte Fachwerk eines Lehrgebaͤudes, aber die lebendige Stufenleiter jeder Naturgeschichte und Bildungslehre. Wie naͤmlich Wilhelm in diesem Abschnitt seiner Lehrjahre mit den ersten und nothduͤrftigsten Anfangsgruͤnden der Lebenskunst beschaͤftigt ist: so werden hier auch die einfachsten Jdeen uͤber die schoͤne Kunst, die urspruͤnglichen Fakta, und die rohesten Versuche, kurz die Elemente der Poesie vorgetragen: die Puppenspiele, diese Kinderjahre des gemeinen poetischen Jnstinkts, wie er allen gefuͤhlvollen Menschen auch ohne besondres Talent eigen ist; die Bemerkungen uͤber die Art, wie der Schuͤler Versuche machen und beurtheilen soll, und uͤber die Eindruͤcke, welche der Bergmann und die Seiltaͤnzer erregen; die Dichtung uͤber das goldne Zeitalter der jugendlichen Poesie, die Kuͤnste der Gaukler,157 die improvisirte Komoͤdie auf der Wasserfahrt. Aber nicht bloß auf die Darstellungen des Schauspielers und was dem aͤhnlich ist, beschraͤnkt sich diese Naturgeschichte des Schoͤnen; in Mignons und des Alten romantischen Gesaͤngen offenbart sich die Poesie auch als die natuͤrliche Sprache und Musik schoͤner Seelen. Bey dieser Absicht mußte die Schauspielerwelt die Umgebung und der Grund des Ganzen werden, weil eben diese Kunst nicht bloß die vielseitigste, sondern auch die geselligste aller Kuͤnste ist, und weil sich hier vorzuͤglich Poesie und Leben, Zeitalter und Welt beruͤhren, waͤhrend die einsame Werkstaͤtte des bildenden Kuͤnstlers weniger Stoff darbietet, und die Dichter nur in ihrem Jnnern als Dichter leben, und keinen abgesonderten Kuͤnstlerstand mehr bilden.

Obgleich es also den Anschein haben moͤchte, als sey das Ganze eben so sehr eine historische Philosophie der Kunst, als ein Kunstwerk oder Gedicht, und als sey alles, was der Dichter mit solcher Liebe ausfuͤhrt, als waͤre es sein letzter Zweck, am Ende doch nur Mittel: so ist doch auch alles Poesie, reine, hohe Poesie. Alles ist so gedacht und so gesagt, wie von einem der zugleich ein goͤttlicher Dichter und ein vollendeter Kuͤnstler waͤre; und selbst der feinste Zug der Nebenausbildung scheint fuͤr sich zu existiren und sich eines eignen selbstaͤndigen Daseyns zu erfreuen. Sogar gegen die Gesetze einer kleinlichen unaͤchten Wahrscheinlichkeit. Was fehlt Werners und Wilhelms Lobe des Handels und der Dichtkunst, als das Metrum, um von jedermann fuͤr erhabne Poesie anerkannt158 zu werden? Überall werden uns goldne Fruͤchte in silbernen Schalen gereicht. Diese wunderbare Prosa ist Prosa und doch Poesie. Jhre Fuͤlle ist zierlich, ihre Einfachheit bedeutend und vielsagend und ihre hohe und zarte Ausbildung ist ohne eigensinnige Strenge. Wie die Grundfaͤden dieses Styls im Ganzen aus der gebildeten Sprache des gesellschaftlichen Lebens genommen sind, so gefaͤllt er sich auch in seltsamen Gleichnissen, welche eine eigenthuͤmliche Merkwuͤrdigkeit aus diesem oder jenem oekonomischen Gewerbe, und was sonst von den oͤffentlichen Gemeinplaͤtzen der Poesie am entlegensten scheint, dem Hoͤchsten und Zartesten aͤhnlich zu bilden streben.

Man lasse sich also dadurch, daß der Dichter selbst die Personen und die Begebenheiten so leicht und so launig zu nehmen, den Helden fast nie ohne Jronie zu erwaͤhnen, und auf sein Meisterwerk selbst von der Hoͤhe seines Geistes herabzulaͤcheln scheint, nicht taͤuschen, als sey es ihm nicht der heiligste Ernst. Man darf es nur auf die hoͤchsten Begriffe beziehn und es nicht bloß so nehmen, wie es gewoͤhnlich auf dem Standpunkt des gesellschaftlichen Lebens genommen wird: als einen Roman, wo Personen und Begebenheiten der letzte Endzweck sind. Denn dieses schlechthin neue und einzige Buch, welches man nur aus sich selbst verstehen lernen kann, nach einem aus Gewohnheit und Glauben, aus zufaͤlligen Erfahrungen und willkuͤhrlichen Foderungen zusammengesetzten und entstandnen Gattungsbegriff beurtheilen; das ist, als wenn ein Kind Mond und Gestirne mit159 der Hand greifen und in sein Schaͤchtelchen packen will.

Eben so sehr regt sich das Gefuͤhl gegen eine schulgerechte Kunstbeurtheilung des goͤttlichen Gewaͤchses. Wer moͤchte ein Gastmahl des feinsten und ausgesuchtesten Witzes mit allen Foͤrmlichkeiten und in aller uͤblichen Umstaͤndlichkeit recensiren? Eine sogenannte Recension des Meister wuͤrde uns immer erscheinen, wie der junge Mann, der mit dem Buche unter dem Arm in den Wald spazieren kommt, und den Philine mit dem Kuckuck vertreibt.

Vielleicht soll man es also zugleich beurtheilen und nicht beurtheilen; welches keine leichte Aufgabe zu seyn scheint. Gluͤcklicherweise ist es eben eins von den Buͤchern, welche sich selbst beurtheilen, und den Kunstrichter sonach aller Muͤhe uͤberheben. Ja es beurtheilt sich nicht nur selbst, es stellt sich auch selbst dar. Eine bloße Darstellung des Eindrucks wuͤrde daher, wenn sie auch keins der schlechtesten Gedichte von der beschreibenden Gattung seyn sollte, außer dem, daß sie uͤberfluͤssig seyn wuͤrde, sehr den Kuͤrzern ziehen muͤssen; nicht bloß gegen den Dichter, sondern sogar gegen den Gedanken des Lesers, der Sinn fuͤr das Hoͤchste hat, der anbeten kann, und ohne Kunst und Wissenschaft gleich weiß, was er anbeten soll, den das Rechte trifft wie ein Blitz.

Die gewoͤhnlichen Erwartungen von Einheit und Zusammenhang taͤuscht dieser Roman eben so oft als er sie erfuͤllt. Wer aber aͤchten systematischen Jnstinkt, Sinn fuͤr das Universum, jene Vorempfindung der160 ganzen Welt hat, die Wilhelmen so interessant macht, fuͤhlt gleichsam uͤberall die Persoͤnlichkeit und lebendige Jndividualitaͤt des Werks, und je tiefer er forscht, je mehr innere Beziehungen und Verwandschaften, je mehr geistigen Zusammenhang entdeckt er in demselben. Hat irgend ein Buch einen Genius, so ist es dieses. Haͤtte sich dieser auch im Ganzen wie im Einzelnen selbst karakterisiren koͤnnen, so duͤrfte niemand weiter sagen, was eigentlich daran sey, und wie man es nehmen solle. Hier bleibt noch eine kleine Ergaͤnzung moͤglich, und einige Erklaͤrung kann nicht unnuͤtz oder uͤberfluͤßig scheinen, da trotz jenes Gefuͤhls der Anfang und der Schluß des Werkes fast allgemein seltsam und unbefriedigend, und eins und das andre in der Mitte uͤberfluͤßig und unzusammenhaͤngend gefunden wird, und da selbst der, welcher das Goͤttliche der gebildeten Willkuͤhr zu unterscheiden und zu ehren weiß, beym ersten und beym letzten Lesen etwas Jsolirtes fuͤhlt, als ob bey der schoͤnsten und innigsten Übereinstimmung und Einheit nur eben die letzte Verknuͤpfung der Gedanken und der Gefuͤhle fehlte. Mancher, dem man den Sinn nicht absprechen kann, wird sich in Vieles lange nicht finden koͤnnen: denn bey fortschreitenden Naturen erweitern, schaͤrfen und bilden sich Begriff und Sinn gegenseitig.

Über die Organisazion des Werks muß der verschiedne Karakter den einzelnen Massen viel Licht geben koͤnnen. Doch darf sich die Beobachtung und Zergliederung, um von den Theilen zum Ganzen gesetzmaͤßig161 fortzuschreiten, eben nicht ins Unendlichkleine verlieren. Sie muß vielmehr als waͤren es schlechthin einfache Theile bey jenen groͤßern Massen stehn bleiben, deren Selbststaͤndigkeit sich auch durch ihre freye Behandlung, Gestaltung und Verwandlung dessen, was sie von den vorhergehenden uͤberkamen, bewaͤhrt, und deren innre absichtslose Gleichartigkeit und urspruͤngliche Einheit der Dichter selbst durch das absichtliche Bestreben, sie durch sehr verschiedenartige doch immer poetische Mittel zu einem in sich vollendeten Ganzen zu runden, anerkannt hat. Durch jene Fortbildung ist der Zusammenhang, durch diese Einfassung ist die Verschiedenheit der einzelnen Massen gesichert und bestaͤtigt; und so wird jeder nothwendige Theil des einen und untheilbaren Romans ein System fuͤr sich. Die Mittel der Verknuͤpfung und der Fortschreitung sind ungefaͤhr uͤberall dieselben. Auch im zweyten Bande locken Jarno und die Erscheinung der Amazone, wie der Fremde und Mignon im ersten Bande, unsre Erwartung und unser Jnteresse in die dunkle Ferne, und deuten auf eine noch nicht sichtbare Hoͤhe der Bildung; auch hier oͤffnet sich mit jedem Buch eine neue Scene und eine neue Welt; auch hier kommen die alten Gestalten verjuͤngt wieder; auch hier enthaͤlt jedes Buch die Keime des kuͤnftigen und verarbeitet den reinen Ertrag des vorigen mit lebendiger Kraft in sein eigenthuͤmliches Wesen; und das dritte Buch, welches sich durch das frischeste und froͤhlichste Kolorit auszeichnet, erhaͤlt durch Mignons Dahin und durch Wilhelms und der Graͤfin ersten162 Kuß, eine schoͤne Einfassung wie von den hoͤchsten Bluͤthen der noch keimenden und der schon reifen Jugendfuͤlle. Wo so unendlich viel zu bemerken ist, waͤre es unzweckmaͤßig, irgend etwas bemerken zu wollen, was schon dagewesen ist, oder mit wenigen Veraͤnderungen immer aͤhnlich wiederkommt. Nur was ganz neu und eigen ist, bedarf der Erlaͤuterungen, die aber keineswegs alles allen hell und klar machen sollen: sie duͤrften vielmehr eben dann vortrefflich genannt zu werden verdienen, wenn sie dem, der den Meister ganz versteht, durchaus bekannt, und dem, der ihn gar nicht versteht, so gemein und leer, wie das, was sie erlaͤutern wollen, selbst vorkaͤmen; dem hingegen, welcher das Werk halb versteht, auch nur halb verstaͤndlich waͤren, ihn uͤber einiges aufklaͤrten, uͤber anders aber vielleicht noch tiefer verwirrten, damit aus der Unruhe und dem Zweifeln die Erkenntniß hervorgehe, oder damit das Subjekt wenigstens seiner Halbheit, so viel das moͤglich ist, inne werde. Der zweyte Band insonderheit bedarf der Erlaͤuterungen am wenigsten: er ist der reichste, aber der reizendste; er ist voll Verstand aber doch sehr verstaͤndlich.

Jn dem Stufengange der Lehrjahre der Lebenskunst ist dieser Band fuͤr Wilhelmen der hoͤhere Grad der Versuchungen, und die Zeit der Verirrungen und lehrreichen, aber kostbaren Erfahrungen. Freylich laufen seine Vorsaͤtze und seine Handlungen vor wie nach in parallellen Linien neben einander her, ohne sich je zu stoͤren oder zu beruͤhren. Jndessen hat er163 doch endlich das gewonnen, daß er sich aus der Gemeinheit, die auch den edelsten Naturen urspruͤnglich anhaͤngt oder sie durch Zufall umgiebt, mehr und mehr erhoben, oder sich doch aus ihr zu erheben ernstlich bemuͤht hat. Nachdem Wilhelms unendlicher Bildungstrieb zuerst bloß in seinem eignen Jnnern gewebt und gelebt hatte, bis zur Selbstvernichtung seiner ersten Liebe und seiner ersten Kuͤnstlerhoffnung, und sich dann weit genug in die Welt gewagt hatte, war es natuͤrlich, daß er nun vor allen Dingen in die Hoͤhe strebte, sollte es auch nur die Hoͤhe einer gewoͤhnlichen Buͤhne seyn, daß das Edle und Vornehme sein vorzuͤglichstes Augenmerk ward, sollte es auch nur die Repraͤsentazion eines nicht sehr gebildeten Adels seyn. Anders konnte der Erfolg dieses seinem Ursprunge nach achtungswuͤrdigen Strebens nicht wohl ausfallen, da Wilhelm noch so unschuldig und so neu war. Daher mußte das dritte Buch eine starke Annaͤherung zur Komoͤdie erhalten; um so mehr, da es darauf angelegt war, Wilhelms Unbekanntschaft mit der Welt und den Gegensatz zwischen dem Zauber des Schauspiels und der Niedrigkeit des gewoͤhnlichen Schauspielerlebens in das hellste Licht zu setzen. Jn den vorigen Massen waren nur einzelne Zuͤge entschieden komisch, etwa ein paar Gestalten zum Vorgrunde oder eine unbestimmte Ferne. Hier ist das Ganze, die Scene und Handlung selbst komisch. Ja man moͤchte es eine komische Welt nennen, da des Lustigen darin in der That unendlich viel ist, und da die Adlichen und die Komoͤdianten zwey abgesonderte164 Corps bilden, deren keines dem andern den Preis der Laͤcherlichkeit abtreten darf, und die auf das drolligste gegen einander manoͤvriren. Die Bestandtheile dieses Komischen sind keinesweges vorzuͤglich fein und zart oder edel. Manches ist vielmehr von der Art, woruͤber jeder gemeiniglich von Herzen zu lachen pflegt, wie der Kontrast zwischen den schoͤnsten Erwartungen und einer schlechten Bewirthung. Der Kontrast zwischen der Hoffnung und dem Erfolg, der Einbildung und der Wirklichkeit spielt hier uͤberhaupt eine große Rolle: die Rechte der Realitaͤt werden mit unbarmherziger Strenge durchgesetzt und der Pedant bekommt sogar Pruͤgel, weil er doch auch ein Jdealist ist. Aus wahrer Affenliebe begruͤßt ihn sein College, der Graf, mit gnaͤdigen Blicken uͤber die ungeheure Kluft der Verschiedenheit des Standes; der Baron darf an geistiger Albernheit und die Baronesse an sittlicher Gemeinheit niemanden weichen; die Graͤfin selbst ist hoͤchstens eine reizende Veranlassung zu der schoͤnsten Rechtfertigung des Putzes; und diese Adlichen sind den Stand abgerechnet den Schauspielern nur darin vorzuziehen, daß sie gruͤndlicher gemein sind. Aber diese Menschen, die man lieber Figuren als Menschen nennen duͤrfte, sind mit leichter Hand und mit zartem Pinsel so hingedruckt, wie man sich die zierlichsten Caricaturen der edelsten Mahlerey denken moͤchte. Es ist bis zum Durchsichtigen gebildete Albernheit. Dieses Frische der Farben, dieses kindlich Bunte, diese Liebe zum Putz und Schmuck, dieser geistreiche Leichtsinn und fluͤchtige Muthwillen haben165 etwas was man Aether der Froͤhlichkeit nennen moͤchte, und was zu zart und zu fein ist, als daß der Buchstabe seinen Eindruck nachbilden und wiedergeben koͤnnte. Nur dem, der vorlesen kann, und sie vollkommen versteht, muß es uͤberlassen bleiben, die Jronie, die uͤber dem ganzen Werke schwebt, hier aber vorzuͤglich laut wird, denen die den Sinn dafuͤr haben, ganz fuͤhlbar zu machen. Dieser sich selbst belaͤchelnde Schein von Wuͤrde und Bedeutsamkeit in dem periodischen Styl, diese scheinbaren Nachlaͤssigkeiten, und Tautologien, welche die Bedingungen so vollenden, daß sie mit dem Bedingten wieder eins werden, und wie es die Gelegenheit giebt, Alles oder Nichts zu sagen oder sagen zu wollen scheinen, dieses hoͤchst Prosaische mitten in der poetischen Stimmung des dargestellten oder komoͤdirten Subjekts, der absichtliche Anhauch von poetischer Pedanterie bey sehe prosaischen Veranlassungen; sie beruhen oft auf einem einzigen Wort, ja auf einem Akzent.

Vielleicht ist keine Masse des Werks so frey und unabhaͤngig vom Ganzen als eben das dritte Buch. Doch ist nicht alles darin Spiel und nur auf den augenblicklichen Genuß gerichtet. Jarno giebt Wilhelmen und dem Leser eine maͤchtige Glaubensbestaͤtigung an eine wuͤrdige große Realitaͤt und ernstere Thaͤtigkeit in der Welt und in dem Werke. Sein schlichter trockner Verstand ist das vollkommne Gegentheil von Aureliens spitzfindiger Empfindsamkeit, die ihr halb natuͤrlich ist und halb erzwungen. Sie ist durch und durch Schauspielerin, auch von Karakter;166 sie kann nichts und mag nichts als darstellen und auffuͤhren, am liebsten sich selbst, und sie traͤgt alles zur Schau, auch ihre Weiblichkeit und ihre Liebe. Beyde haben nur Verstand: denn auch Aurelien giebt der Dichter ein großes Maß von Scharfsinn; aber es fehlt ihr so ganz an Urtheil und Gefuͤhl des Schicklichen wie Jarno'n an Einbildungskraft. Es sind sehr ausgezeichnete aber fast beschraͤnkte durchaus nicht große Menschen; und daß das Buch selbst auf jene Beschraͤnktheit so bestimmt hindeutet, beweist, wie wenig es so bloße Lobrede auf den Verstand sey, als es wohl anfaͤnglich scheinen koͤnnte. Beyde sind sich so vollkommen entgegengesetzt wie die tiefe innige Mariane und die leichte allgemeine Philine; und beyde treten gleich diesen staͤrker hervor als noͤthig waͤre, um die dargestellte Kunstlehre mit Beyspielen und die Verwicklung des Ganzen mit Personen zu versorgen. Es sind Hauptfiguren, die jede in ihrer Masse gleichsam den Ton angeben. Sie bezahlen ihre Stelle dadurch, daß sie Wilhelms Geist auch bilden wollen, und sich seine gesammte Erziehung vorzuͤglich angelegen seyn lassen. Wenn gleich der Zoͤgling trotz des redlichen Beystandes so vieler Erzieher in seiner persoͤnlichen und sittlichen Ausbildung wenig mehr gewonnen zu haben scheint als die aͤußre Gewandtheit, die er sich durch den mannichfaltigeren Umgang und durch die Übungen im Tanzen und Fechten erworben zu haben glaubt: so macht er doch dem Anscheine nach große Fortschritte, und zwar mehr durch die natuͤrliche Entfaltung167 seines Geistes als auf fremde Veranlassung. Er lernt nun auch eigentliche Virtuosen kennen, und die kuͤnstlerischen Gespraͤche unter ihnen sind außerdem, daß sie ohne den schwerfaͤlligen Prunk der sogenannten gedraͤngten Kuͤrze, unendlich viel Geist, Sinn und Gehalt haben, auch noch wahre Gespraͤche; vielstimmig und in einander greifend, nicht bloß einseitige Scheingespraͤche. Serlo ist in gewissem Sinne ein allgemeinguͤltiger Mensch, und selbst seine Jugendgeschichte ist wie sie seyn kann und seyn soll bey entschiedenem Talent und eben so entschiedenem Mangel an Sinn fuͤr das Hoͤchste. Darin ist er Jarno'n gleich: beyde haben am Ende doch nur das Mechanische ihrer Kunst in der Gewalt. Von den ersten Wahrnehmungen und Elementen der Poesie, mit denen der erste Band Wilhelmen und den Leser beschaͤftigte, bis zu dem Punkt, wo der Mensch faͤhig wird, das Hoͤchste und das Tiefste zu fassen, ist ein unermeßlich weiter Zwischenraum, und wenn der Übergang, der immer ein Sprung seyn muß, wie billig durch ein großes Vorbild vermittelt werden sollte: durch welchen Dichter konnte dieß wohl schicklicher geschehen, als durch den, welcher vorzugsweise der Unendliche genannt zu werden verdient? Grade diese Seite des Shakespear wird von Wilhelmen zuerst aufgefaßt, und da es in dieser Kunstlehre weniger auf seine große Natur als auf seine tiefe Kuͤnstlichkeit und Absichtlichkeit ankam, so mußte die Wahl den Hamlet treffen, da wohl kein Stuͤck zu so vielfachem und interessanten Streit, was die verborgne Absicht168 des Kuͤnstlers oder was zufaͤlliger Mangel des Werks seyn moͤchte, Veranlassung geben kann, als eben dieses, welches auch in die theatralische Verwicklung und Umgebung des Romans am schoͤnsten eingreift, und unter andern die Frage von der Moͤglichkeit, ein vollendetes Meisterwerk zu veraͤndern oder unveraͤndert auf der Buͤhne zu geben, gleichsam von selbst aufwirft. Durch seine retardirende Natur kann das Stuͤck dem Roman, der sein Wesen eben darin setzt, bis zu Verwechselungen verwandt scheinen. Auch ist der Geist der Betrachtung und der Ruͤckkehr in sich selbst, von dem es so voll ist, so sehr eine gemeinsame Eigenthuͤmlichkeit aller sehr geistigen Poesie, daß dadurch selbst dieß fuͤrchterliche Trauerspiel, welches zwischen Verbrechen und Wahnsinn schwankend, die sichtbare Erde als einen verwilderten Garten der luͤsternen Suͤnde, und ihr gleichsam hohles Jnnres wie den Wohnsitz der Strafe und der Pein darstellt und auf den haͤrtesten Begriffen von Ehre und Pflicht ruht, wenigstens in einer Eigenschaft sich den froͤhlichen Lehrjahren eines jungen Kuͤnstlers anneigen kann.

Die in diesem und dem ersten Buche des naͤchsten Bandes zerstreute Ansicht des Hamlet ist nicht so wohl Kritik als hohe Poesie. Und was kann wohl anders entstehn als ein Gedicht, wenn ein Dichter als solcher ein Werk der Dichtkunst anschaut und darstellt? Dieß liegt nicht darin, daß sie uͤber die Graͤnzen des sichtbaren Werkes mit Vermuthungen und Behauptungen hinausgeht. Das muß alle Kritik, weil jedes vortreffliche Werk, von welcher Art es auch sey, mehr169 weiß als es sagt, und mehr will als es weiß. Es liegt in der gaͤnzlichen Verschiedenheit des Zweckes und des Verfahrens. Jene poetische Kritik will gar nicht wie eine bloße Jnschrift nur sagen, was die Sache eigentlich sey, wo sie in der Welt stehe und stehn solle: dazu bedarf es nur eines vollstaͤndigen ungetheilten Menschen, der das Werk so lange als noͤthig ist, zum Mittelpunkt seiner Thaͤtigkeit mache; wenn ein solcher muͤndliche oder schriftliche Mittheilung liebt, kann es ihm Vergnuͤgen gewaͤhren, eine Wahrnehmung, die im Grunde nur eine und untheilbar ist, weitlaͤufig zu entwickeln, und so entsteht eine eigentliche Karakteristik. Der Dichter und Kuͤnstler hingegen wird die Darstellung von Neuem darstellen, das schon Gebildete noch einmal bilden wollen; er wird das Werk ergaͤnzen, verjuͤngern, neu gestalten. Er wird das Ganze nur in Glieder und Massen und Stuͤcke theilen, nie in seine urspruͤnglichen Bestandtheile zerlegen, die in Beziehung auf das Werk todt sind, weil sie nicht mehr Einheiten derselben Art wie das Ganze enthalten, in Beziehung auf das Weltall aber allerdings lebendig und Glieder oder Massen desselben seyn koͤnnten. Auf solche bezieht der gewoͤhnliche Kritiker den Gegenstand seiner Kunst, und muß daher seine lebendige Einheit unvermeidlich zerstoͤren, ihn bald in seine Elemente zersetzen, bald selbst nur als ein Atom einer groͤßern Masse betrachten.

Jm fuͤnften Buche kommt es von der Theorie zu einer durchdachten und nach Grundsaͤtzen verfahrenden Ausuͤbung; und auch Serlo's und der andern170 Rohheit und Eigennutz, Philinens Leichtsinn, Aureliens Überspannung, des Alten Schwermuth und Mignons Sehnsucht gehen in Handlung uͤber. Daher die nicht seltne Annaͤherung zum Wahnsinn, die eine Lieblingsbeziehung und Ton dieses Theils scheinen duͤrfte. Mignon als Maͤnade ist ein goͤttlich lichter Punkt, deren es hier mehrere giebt. Aber im Ganzen scheint das Werk etwas von der Hoͤhe des zweyten Bandes zu sinken. Es bereitet sich gleichsam schon vor, in die aͤußersten Tiefen des innern Menschen zu graben, und von da wieder eine noch groͤßere und schlechthin große Hoͤhe zu ersteigen, wo es bleiben kann. Überhaupt scheint es an einem Scheidepunkte zu stehn und in einer wichtigen Krise begriffen zu seyn. Die Verwicklung und Verwirrung steigt am hoͤchsten, und auch die gespannte Erwartung uͤber den endlichen Aufschluß so vieler interessanter Raͤthsel und schoͤner Wunder. Auch Wilhelms falsche Tendenz bildet sich zu Maximen: aber die seltsame Warnung warnt auch den Leser, ihn nicht zu leichtsinnig schon am Ziel oder auf dem rechten Wege dahin zu glauben. Kein Theil des Ganzen scheint so abhaͤngig von diesem zu seyn, und nur als Mittel gebraucht zu werden, wie das fuͤnfte Buch. Es erlaubt sich sogar bloß theoretische Nachtraͤge und Ergaͤnzungen, wie das Jdeal eines Souffleurs, die Skizze der Liebhaber der Schauspielkunst, die Grundsaͤtze uͤber den Unterschied des Drama und des Romans.

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Die Bekenntnisse der schoͤnen Seele uͤberraschen im Gegentheil durch ihre unbefangene Einzelheit scheinbare Beziehungslosigkeit auf das Ganze und in den fruͤheren Theilen des Romans beispiellose Willkuͤhrlichkeit der Verflechtung mit dem Ganzen, oder vielmehr der Aufnahme in dasselbe. Genauer erwogen aber duͤrfte Wilhelm auch wohl vor seiner Verheirathung nicht ohne alle Verwandtschaft mit der Tante seyn, wie ihre Bekenntnisse mit dem ganzen Buch. Es sind doch auch Lehrjahre, in denen nichts gelernt wird, als zu existiren, nach seinen besondern Grundsaͤtzen oder seiner unabaͤnderlichen Natur zu leben; und wenn Wilhelm uns nur durch die Faͤhigkeit, sich fuͤr alles zu interessiren, interessant bleibt, so darf auch die Tante durch die Art, wie sie sich fuͤr sich selbst interessirt, Anspruͤche darauf machen, ihr Gefuͤhl mitzutheilen. Ja sie lebt im Grunde auch theatralisch; nur mit dem Unterschiede, daß sie die saͤmmtlichen Rollen vereinigt, die in dem graͤflichen Schlosse, wo alle agirten und Komoͤdie mit sich spielten, unter viele Figuren vertheilt waren, und daß ihr Jnnres die Buͤhne bildet, auf der sie Schauspieler und Zuschauer zugleich ist und auch noch die Jntriguen in der Coulisse besorgt. Sie steht bestaͤndig vor dem Spiegel des Gewissens, und ist beschaͤftigt, ihr Gemuͤth zu putzen und zu schmuͤcken. Überhaupt ist in ihr das aͤußerste Maß der Jnnerlichkeit erreicht, wie es doch auch geschehen mußte, da das Werk von Anfang an einen so entschiednen Hang offenbarte, das Jnnre und das Aeußre scharf zu trennen und172 entgegenzusetzen. Hier hat sich das Jnnre nur gleichsam selbst ausgehoͤhlt. Es ist der Gipfel der ausgebildeten Einseitigkeit, dem das Bild reifer Allgemeinheit eines großen Sinnes gegenuͤbersteht. Der Onkel naͤmlich ruht im Hintergrunde dieses Gemaͤhldes, wie ein gewaltiges Gebaͤude der Lebenskunst im großen alten Styl, von edlen einfachen Verhaͤltnissen, aus dem reinsten gediegensten Marmor. Es ist eine ganz neue Erscheinung in dieser Suite von Bildungsstuͤcken. Bekenntnisse zu schreiben waͤre wohl nicht seine Liebhaberey gewesen; und da er sein eigner Lehrer war, kann er keine Lehrjahre gehabt haben, wie Wilhelm. Aber mit maͤnnlicher Kraft hat er sich die umgebende Natur zu einer klassischen Welt gebildet, die sich um seinen selbstaͤndigen Geist wie um den Mittelpunkt bewegt.

Daß auch die Religion hier als angebohrne Liebhaberey dargestellt wird, die sich durch sich selbst freyen Spielraum schafft und stufenweise zur Kunst vollendet, stimmt vollkommen zu dem kuͤnstlerischen Geist des Ganzen und es wird dadurch, wie an dem auffallendsten Beyspiele gezeigt, daß er alles so behandeln und behandelt wissen moͤchte. Die Schonung des Oheims gegen die Tante ist die staͤrkste Versinnlichung der unglaublichen Toleranz jener großen Maͤnner, in denen sich der Weltgeist des Werks am unmittelbarsten offenbart. Die Darstellung einer sich wie ins Unendliche immer wieder selbst anschauenden Natur war der schoͤnste Beweis, den ein Kuͤnstler von der unergruͤndlichen Tiefe seines Vermoͤgens geben173 konnte. Selbst die fremden Gegenstaͤnde mahlte er in der Beleuchtung und Farbe und mit solchen Schlagschatten, wie sie sich in diesem alles in seinem eignen Wiederscheine schauenden Geiste abspiegeln und darstellen mußten. Doch konnte es nicht seine Absicht seyn, hier tiefer und voller darzustellen, als fuͤr den Zweck des Ganzen noͤthig und gut waͤre; und noch weniger konnte es seine Pflicht seyn, einer bestimmten Wirklichkeit zu gleichen. Überhaupt gleichen die Karaktere in diesen Roman zwar durch die Art der Darstellung dem Portrait, ihrem Wesen nach aber sind sie mehr oder minder allgemein und allegorisch. Eben daher sind sie ein unerschoͤpflicher Stoff und die vortrefflichste Beyspielsammlung fuͤr sittliche und gesellschaftliche Untersuchungen. Fuͤr diesen Zweck muͤßten Gespraͤche uͤber die Karaktere im Meister sehr interessant seyn koͤnnen, obgleich sie zum Verstaͤndniß des Werks selbst nur etwa episodisch mitwirken koͤnnten: aber Gespraͤche muͤßten es seyn, um schon durch die Form alle Einseitigkeit zu verbannen. Denn wenn ein Einzelner nur aus dem Standpunkte seiner Eigenthuͤmlichkeit uͤber jede dieser Personen raͤsonnirte und ein moralisches Gutachten faͤllte, das waͤre wohl die unfruchtbarste unter allen moͤglichen Arten, den Wilhelm Meister anzusehn; und man wuͤrde am Ende nicht mehr daraus lernen, als daß der Redner uͤber diese Gegenstaͤnde so, wie es nun lautete, gesinnt sey.

174

Mit dem vierten Bande scheint das Werk gleichsam mannbar und muͤndig geworden. Wir sehen nun klar, daß es nicht bloß, was wir Theater oder Poesie nennen, sondern das große Schauspiel der Menschheit selbst und die Kunst aller Kuͤnste, die Kunst zu leben, umfassen soll. Wir sehen auch, daß diese Lehrjahre eher jeden andern zum tuͤchtigen Kuͤnstler oder zum tuͤchtigen Mann bilden wollen und bilden koͤnnen, als Wilhelmen selbst. Nicht dieser oder jener Mensch sollte erzogen, sondern die Natur, die Bildung selbst sollte in mannichfachen Beyspielen dargestellt, und in einfache Grundsaͤtze zusammengedraͤngt werden. Wie wir uns in den Bekenntnissen ploͤtzlich aus der Poesie in das Gebiet der Moral versetzt waͤhnten, so stehn hier die gediegnen Resultate einer Philosophie vor uns, die sich auf den hoͤhern Sinn und Geist gruͤndet, und gleich sehr nach strenger Absonderung und nach erhabner Allgemeinheit aller menschlichen Kraͤfte und Kuͤnste strebt. Fuͤr Wilhelmen wird wohl endlich auch gesorgt: aber sie haben ihn fast mehr als billig oder hoͤflich ist, zum besten; selbst der kleine Felix hilft ihn erziehen und beschaͤmen, indem er ihm seine vielfache Unwissenheit fuͤhlbar macht. Nach einigen leichten Kraͤmpfen von Angst, Trotz und Reue verschwindet seine Selbstaͤndigkeit aus der Gesellschaft der Lebendigen. Er resignirt foͤrmlich darauf, einen eignen Willen zu haben: und nun sind seine Lehrjahre wirklich vollendet, und Nathalie wird Supplement des Romans. Als die schoͤnste Form der reinsten Weiblichkeit und Guͤte macht sie einen175 angenehmen Kontrast mit der etwas materiellen Therese. Nathalie verbreitet ihre wohlthaͤtigen Wirkungen durch ihr bloßes Daseyn in der Gesellschaft: Therese bildet eine aͤhnliche Welt um sich her, wie der Oheim. Es sind Beyspiele und Veranlassungen zu der Theorie der Weiblichkeit, die in jener großen Lebenskunstlehre nicht fehlen durfte. Sittliche Geselligkeit und haͤusliche Thaͤtigkeit, beyde in romantisch schoͤner Gestalt, sind die beyden Urbilder, oder die beyden Haͤlften eines Urbildes, welche hier fuͤr diesen Theil der Menschheit aufgestellt werden.

Wie moͤgen sich die Leser dieses Romans beym Schluß desselben getaͤuscht fuͤhlen, da aus allen diesen Erziehungsanstalten nichts herauskommt, als bescheidne Liebenswuͤrdigkeit, da hinter allen diesen wunderbaren Zufaͤllen, weissagenden Winken und geheimnißvollen Erscheinungen nichts steckt als die erhabenste Poesie, und da die letzten Faͤden des Ganzen nur durch die Willkuͤhr eines bis zur Vollendung gebildeten Geistes gelenkt werden! Jn der That erlaubt sich diese hier, wie es scheint mit gutem Bedacht, fast alles, und liebt die seltsamsten Verknuͤpfungen. Die Reden einer Babara wirken mit der gigantischen Kraft und der wuͤrdigen Großheit der alten Tragoͤdie; von dem interessantsten Menschen im ganzen Buch wird fast nichts ausfuͤhrlich erwaͤhnt, als sein Verhaͤltniß mit einer Paͤchterstochter; gleich nach dem Untergang Marianens, die uns nicht als Mariane, sondern als das verlassene, zerrissene Weib uͤberhaupt interessirt, ergoͤtzt uns der Anblick des Ducaten zaͤh -176 lenden Laertes; und selbst die unbedeutendsten Ne - bengestalten wie der Wundarzt sind mit Absicht hoͤchst wunderlich. Der eigentliche Mittelpunkt dieser Will - kuͤhrlichkeit ist die geheime Gesellschaft des reinen Ver - standes, die Wilhelmen und sich selbst zum besten hat, und zuletzt noch rechtlich und nuͤtzlich und oͤkonomisch wird. Dagegen ist aber der Zufall selbst hier ein gebildeter Mann, und da die Darstellung alles an - dern im Großen nimmt und giebt, warum sollte sie sich nicht auch der hergebrachten Lizenzen der Poesie im Großen bedienen? Es versteht sich von selbst, daß eine Behandlung dieser Art und dieses Geistes nicht alle Faͤden lang und langsam ausspinnen wird. Jndessen erinnert doch auch der erst eilende dann aber unerwartet zoͤgernde Schluß des vierten Ban - des, wie Wilhelms allegorischer Traum im Anfange desselben, an vieles von allem, was das Jnteressan - teste und Bedeutendste im Ganzen ist. Unter andern sind der segnende Graf, die schwangre Philine vor dem Spiegel, als ein warnendes Beyspiel der komi - schen Nemesis und der sterbend geglaubte Knabe, welcher ein Butterbrodt verlangt, gleichsam die ganz buͤrlesken Spitzen des Lustigen und Laͤcherlichen.

Wenn bescheidner Reiz den ersten Band dieses Romans, glaͤnzende Schoͤnheit den zweyten und tiefe Kuͤnstlichkeit und Absichtlichkeit den dritten unterschei - det; so ist Groͤße der eigentliche Karakter des letzten, und mit ihm des ganzen Werks. Selbst der Glieder - bau ist erhabner, und Licht und Farben heller und hoͤher; alles ist gediegen und hinreißend, und die177 Überraschungen draͤngen sich. Aber nicht bloß die Dimensionen sind erweitert, auch die Menschen sind von groͤßerem Schlage. Lothario, der Abbé und der Oheim sind gewissermaßen jeder auf seine Weise, der Genius des Buchs selbst; die andern sind nur seine Geschoͤpfe. Darum treten sie auch wie der alte Mei - ster neben seinem Gemaͤhlde bescheiden in den Hinter - grund zuruͤck, obgleich sie aus diesem Gesichtspunkt eigentlich die Hauptpersonen sind. Der Oheim hat einen großen Sinn; der Abbé hat einen großen Ver - stand, und schwebt uͤber dem Ganzen wie der Geist Gottes. Dafuͤr daß er gern das Schicksal spielt, muß er auch im Buch die Rolle des Schicksals uͤbernehmen. Lothario ist ein großer Mensch: der Oheim hat noch etwas Schwerfaͤlliges, Breites, der Abbé etwas Magres, aber Lothario ist vollendet, seine Erscheinung ist einfach, sein Geist ist immer im Fort - schreiten, und er hat keinen Fehler als den Erbfeh - ler aller Groͤße, die Faͤhigkeit auch zerstoͤren zu koͤn - nen. Er ist die himmelanstrebende Kuppel, jene sind die gewaltigen Pilaster, auf denen sie ruht. Diese architektonischen Naturen umfassen, tragen und erhal - ten das Ganze. Die andern, welche nach dem Maß von Ausfuͤhrlichkeit der Darstellung die wichtigsten scheinen koͤnnen, sind nur die kleinen Bilder und Ver - zierungen im Tempel. Sie interessiren den Geist un - endlich, und es laͤßt sich auch gut daruͤber sprechen, ob man sie achten oder lieben soll und kann, aber fuͤr das Gemuͤth selbst bleiben es Marionetten, alle - gorisches Spielwerk. Nicht so Mignon, Sperata undAthenaeum. Ersten Bds. 2. St. M178Augustino, die heilige Familie der Naturpoesie, welche dem Ganzen romantischen Zauber und Musik geben, und im Übermaß ihrer eignen Seelengluth zu Grunde gehn. Es ist als wollte dieser Schmerz unser Gemuͤth aus allen seinen Fugen reißen: aber dieser Schmerz hat die Gestalt, den Ton einer klagenden Gottheit und seine Stimme rauscht auf den Wogen der Melodie daher wie die Andacht wuͤrdiger Choͤre.

Es ist als sey alles Vorhergehende nur ein geistreiches interessantes Spiel gewesen, und als wuͤrde es nun Ernst. Der vierte Band ist eigentlich das Werk selbst; die vorigen Theile sind nur Vorbereitung. Hier oͤffnet sich der Vorhang des Allerheiligsten, und wir befinden uns ploͤtzlich auf einer Hoͤhe, wo alles goͤttlich und gelassen und rein ist, und von der Mignons Exequien so wichtig und so bedeutend erscheinen, als ihr nothwendiger Untergang.

(Die Fortsetzung folgt).

Druckfehler im ersten Stuͤck.

  • S. 8. Z. 29. einfinden l. anfeinden.
  • 18. Z. 10. Statt Au lies Ah.
  • 18. Z. 13. Sp. l. St.
  • 36. Z. 2. nur l. neu.
  • 60. Z. 10. circumdigro l. circumriguo.
  • 113. Z. 11. schwommen lies schwoͤmmen.
  • Z. 19. toͤnenden l. toͤnende.
  • 114. Z. 7. jene l. jenen.
  • 118. Z. 10. tobt. l. tobt,
  • Z. 18. Brauen l. Brau'n.
  • Z. 27. das l. daß.
  • Z. 28. empfing, l. empfing.
  • 121. Z. 9. Hoͤhe l. Hoͤh'n.
  • 124. Z. 16. hoch. l. hoch,
  • 128. Z. 11. kuͤnstliche l. kuͤnstlerische.
  • 133. Z. 1. der der l. der dir.
  • 173. Z. 1. Poesie l. Prosa.
  • Z. 4. befluͤgelten l. befluͤgelte.
  • 174. Z. 15. Poesie l. Prosa.
  • 176. Z. 8. desgleichen.
  • Z. 10. v. u. Lololv l. Lovell.

About this transcription

TextAthenaeum
Author August Wilhelm von Schlegel; Friedrich von Schlegel
Extent371 images; 69193 tokens; 12700 types; 477359 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationAthenaeum Erster Band August Wilhelm von Schlegel, Friedrich von Schlegel. Friedrich von Schlegel, August Wilhelm von Schlegel (eds.) . IV, 177 S., [1] Bl., 178 S., [1] Bl. ViewegBerlin1798. (Erster Band) p. Athenaeum.

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Library University of Michigan Library University of Michigan, 838 S338at

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LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Lyrik; Drama; Prosa; Belletristik; Lyrik; Drama; Prosa; core; ready; mts

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ShelfmarkLibrary University of Michigan, 838 S338at
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