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PHILOLOGISCHE UNTERSUCHUNGEN
FÜNFTES HEFT: BILD UND LIED ARCHÄOLOGISCHE BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE DER GRIECHISCHEN HELDENSAGE
BERLINWEIDMANNSCHE BUCHHANDLUNG. 1881.
BILD UND LIED
ARCHÄOLOGISCHE BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE DER GRIECHISCHEN HELDENSAGE
MIT ACHT IN DEN TEXT GEDRUCKTEN ABBILDUNGEN.
BERLINWEIDMANNSCHE BUCHHANDLUNG. 1881.

ADOLPH KIRCHHOFF IN LIEBE UND VEREHRUNG DER VERFASSER.

Inhalt.

  • Seite
  • I. Die Entwickelung des griechischen Mythos in Kunst und Poesie. Vortrag, gehalten im wissenschaftlichen Verein in der Singakademie am 7. Febr. 18803
  • II. Erweiterung und Verschmelzung der Typen52
  • III. Über Auswahl und Zusammenstellung bildlicher Scenen80
  • IV. Das attische Drama und die Vasenmalerei des fünften Jahrhunderts129
  • V. Der Tod des Aigisthos149
  • Excurse I. Die Laokoonsage192
  • II. Ὅπλων κρίσις213
  • III. Arktinos und Lesches222
  • IV. Die Jugend des Paris233
  • V. Euripides Orestes V. 431 436240
  • VI. Zu den Hypotheseis242
  • Nachträge249
  • Register253
[1]

BILD UND LIED.

Philolog. Untersuchungen V. 1[2][3]

I. DIE ENTWICKELUNG DES GRIECHISCHEN MYTHOS IN KUNST UND POESIE.

Vortrag, gehalten im wissenschaftlichen Verein1)Der Vortrag steht hier in seinem ursprünglichen ausführlichen Ent - wurf, nicht in der abgekürzten Form, in der er gehalten wurde. in der Singakademie am 7. Februar 1880.

Mehr als in dem Kulturleben irgend eines anderen Volkes stehen im griechischen Altertum Kunst und Poesie in be - ständiger enger Wechselwirkung bald empfangend bald gebend; ist doch auch der Grund, aus welchem sie ihre Nahrung ziehen, ein und derselbe: Hellas urväterlicher Sagen göttlich helden - hafter Reichtum , die ewig junge, auch uns noch liebe und vertraute Heldensage der Griechen. Wie diese in Bild und Lied gestaltet wird, wie das Bild vom Liede abhängig ist und wiederum das Lied vom Bilde, das möchte ich versuchen, in all - gemeinen Umrissen Ihnen vorzuführen. Vorwiegend interessiert eine solche Betrachtungsweise freilich die Altertumsforschung, da sie für zwei groſse Disciplinen derselben die unerläſsliche Vorbedin - gung ist für die Archäologie: denn nur wenn die Abhängigkeit der Kunst von der Poesie klar erkannt ist, kann eine methodische Interpretation der Denkmäler gelingen, für die Litteratur - geschichte: denn nur wenn die Art und die Grenzen der von der1*4Poesie ausgehenden Wirkung festgestellt sind, läſst sich bestimmen, mit welcher Berechtigung und mit welcher Beschränkung die Darstellungen auf antiken Monumenten zur Rekonstruktion unter - gegangener Litteraturwerke, namentlich also der verlorenen Epen und Dramen, benützt werden dürfen. Doch will mir scheinen, dass die Klarstellung des Verhältnisses zwischen Kunst und Poesie, auch wenn sich die Betrachtung zunächst nur auf ein Volk beschränkt, über den engeren Kreis der Fachgenossen hinaus ein allgemeines Interesse beanspruchen darf, zumal in unserer Zeit der Illustrationen und illustrierten Ausgaben, und zumal wenn sich herausstellen sollte, daſs dies Verhältnis keineswegs immer dasselbe, sondern in verschiedenen Perioden verschieden, mit einem Worte einer bestimmten historischen Entwickelung unter - worfen ist.

Obgleich wir bei unserer Betrachtung den Nachdruck auf ganz andere Punkte legen werden, muſs doch hier gleich der unvergänglichen Gedanken Erwähnung geschehen, die Lessing in seinem Laokoon niedergelegt hat. Die verschiedene Weise, in welcher die Kunst und in welcher die Poesie denselben Gegen - stand behandeln muſs, ist von Lessing endgültig festgestellt. Durch Vergleichung eines der effectvollsten Werke antiker Plastik mit der glänzenden Behandlung desselben Mythos durch Vergil kommt Lessing zur Feststellung der Grenzen zwischen Poesie und Malerei. Seine Resultate haben dadurch nichts von ihrer Wahr - heit eingebüſst, daſs, wie wir seitdem gelernt haben, die antike Kunst wiederholt gegen die von ihm erkannten Prinzipien ver - stöſst, ja sich ihrer schwerlich auch nur dunkel, geschweige denn in der klaren Formulierung Lessing’s, bewusst war.

Für Lessing wie für seine Zeit ist es stillschweigende Vor - aussetzung, daſs die Künstler des Laokoon nur mit der Sage und ihren poetischen Behandlungen, nicht aber mit früheren bild - lichen Darstellungen desselben Stoffes zu rechnen hatten. Die Frage nach der Richtigkeit dieser Voraussetzung ist für Lessings Be - weisführung, bei dem mehr die philosophische als die historische Seite der Frage in Betracht kommt, ziemlich belanglos. Ob sie für das gerade gewählte Beispiel des Laokoon zutrifft, will ich5 hier nicht untersuchen2)Die alte Streitfrage nach der Zeit des Laokoon kann und soll hier nicht aufs Neue behandelt werden; wenn ich auch bekennen muſs, daſs es mir persönlich unmöglich ist, die litterarischen und paläographischen Zeugnisse mit den verbreiteten Anschauungen von der Entstehung der Gruppe vor der Kaiserzeit in Einklang zu bringen. Es soll nur bei dieser Gelegenheit konstatiert werden, daſs es von der Gruppe abgesehen keine bildliche Darstellung des Mythos giebt, die älter wäre wie die Kaiserzeit und somit wie die Vergilsche Schilderung. Denn die jetzt im brit. Mus. befindliche etruskische Aschen - kiste aus Chiusi, die durch Hübners Beschreibung (Nord und Süd VIII S. 362; vgl. Blümner, Lessings Laokoon, 2. Aufl. S. 716) bekannt geworden ist, hat, wie ich nach einer Prüfung des Originals versichern kann, mit Laokoon nichts zu thun; sie stellt den kleinen schlangenwürgenden Herakles dar, der beide Schlangen, von denen die eine zweiköpfig ist, an den Hälsen packt; unter ihnen sinkt Iphiklos erschreckt nieder; von links eilt Amphitryon in völliger Rüstung, von rechts ein Genosse herbei, der nicht der Tragödie noch der Tradition, sondern der von den etruskischen Urnenarbeitern bis zur pein - lichsten Ängstlichkeit beobachteten Symmetrie seine Entstehung verdankt; vgl. den Genossen des Achilleus auf den Troilosurnen. Daſs das Wittmersche und das Madrider Relief, selbst wenn ihre Echtheit feststände, auf ein Original der hellenistischen Periode zurückgehen ([Blümner] a. a. O. S. 706), folgt aus der An - wesenheit des Eros noch keineswegs; er ist schwerlich eine Symbolisierung des tiefen Mitleids, das die Schreckensscene in dem Beschauer erweckt , wo fände sich Eros so verwandt? sondern spielt auf die Version von Laokoons heftiger Leidenschaft zu seiner Gattin an, die gerade aus den mythologischen Handbüchern der Kaiserzeit bekannt ist. Daſs das pompejanische Bild einer - seits von der Gruppe unabhängig, andererseits durch Vergils Schilderung hervorgerufen ist eine Überzeugung, die ich immer gehegt habe scheint mir jetzt durch Blümner a. a. O. S. 708 endgültig bewiesen zu sein. In dem eben erscheinenden Heft der Arch. Zeit. 1880 S. 189 will Klein die Laokoonsage gar auf einer attischen Vase nachweisen. Vgl. darüber unten den Excurs: die Laokoonsage., das aber darf unbedenklich behauptet werden, daſs sie in weitaus den meisten Fällen nicht zutrifft. In weitaus den meisten Fällen hat der antike Künstler nicht nur zur Sage und ihren poetischen Bearbeitungen, sondern auch zu ihren früheren bildlichen Darstellungen Stellung zu nehmen. Nur der Künstler, der als der erste eine Sage bildlich gestaltet, steht dem Stoffe als solchem und seinen poetischen Bearbeitungen unbefangen gegenüber; jeder folgende Künstler steht unter dem Banne dieser ersten künstlerischen Gestaltung. Aber weit entfernt,6 vor dem Vorwurf der Entlehnung ängstlich zurückzubeben, frei von der nervösen Sucht nach einer um jeden Preis erkauften Origi - nalität übernimmt der antike Künstler den überkommenen Typus der Darstellung und sucht ihn nur zu immer gröſserer Voll - kommenheit auszubilden, bald leise ändernd, bald gewaltsamer und rücksichtsloser eingreifend; aber stets bleibt er sich des Zusammenhangs mit der Tradition bewuſst; er weiſs, daſs der Bann des eingebürgerten Typus der Darstellung auf ihm lastet, er ist zu bescheiden und zu ernst, um das Gute, was ihm die früheren Kunstschöpfungen bieten, aus Eitelkeit und Eigensinn zu verschmähen, zu stolz und zu ehrlich, seine Abhängigkeit zu maskieren. Die bildliche Tradition, wie sie die Entwickelung der griechischen Götterideale bedingt und beherrscht, ist auch für die Gestaltung und Entwickelung der einzelnen Momente der griechischen Heldensage in hervorragender Weise maſsgebend3)Vgl. Kekulé, Über die Entstehung der Götterideale der griechischen Kunst. Ders. Über ein griechisches Vasengemälde im akademischen Kunst - museum zu Bonn, S. 26. Löschcke, Arch. Zeit. 1876 S. 115. Ders. Über die Reliefs der altspartanischen Basis (Dorpat. Progr. 1879). Es mag vergönnt sein, auf die sehr verwandte, wenn auch ein scheinbar ganz verschiedenes Gebiet, das der Sprache, betreffende Betrachtung Herders im II. Band S. 18 (der Ausgabe von Suphan) hinzuweisen. Jede Nation spricht also, nach dem sie denkt, und denkt, nach dem sie spricht. So verschieden der Gesichtspunkt war, in dem sie die Sache nahm, bezeichnete sie dieselbe. Und da dies niemals der Anblick des Schöpfers war, der diese Sache in ihrem Innern nicht bloſs werden sah, auch werden hieſs, sondern ein äuſserer einseitiger Gesichtspunkt, so ward derselbe zugleich mit in die Sprache ein - getragen. Eben damit konnte also das Auge aller Nachfolger an diesen Gesichtspunkt gleichsam gewöhnt, gebunden, in ihn eingeschränkt oder ihm mindestens genähert werden. So wurden Wahrheiten und Irrtümer auf - bewahrt und fortgepflanzt, wie vorteilhafte oder nachteilige Vorurteile; zum Vorteil oder Nachteil hingen sich Nebenideen an, die oft stärker wirken als der Hauptbegriff, zum Vorteil oder Nachteil wurden zufällige Ideen mit wesentlichen verwechselt: Fächer gefüllet oder leer gelassen, Felder bearbeitet oder in Wüsteneien verwandelt. Dies gilt mit geringer Modifikation auch von den bildlichen Typen und ihrer Entwickelung..

Längst werden Ihnen, hochverehrte Anwesende, die analogen Erscheinungen in der Kunstentwickelung anderer Völker, nament - lich in der älteren italienischen Malerei, in den Sinn gekommen7 sein. Auch dort finden wir ja das einmal geschaffene Schema der Darstellung von Geschlecht zu Geschlecht, von Schule zu Schule vererbt, umgebildet, vervollkommnet. Und doch besteht ein sehr bedeutsamer Unterschied zwischen der bildlichen Tradition der älteren italienischen und der der antiken Kunst. Die Stoffe der italienischen Kunst, mögen es nun die Geschichten der heiligen Schrift sein oder die Legenden von Benedictus und Franciscus, haben eine feste kanonische Form, an der sich Nichts ändert und Nichts ändern darf, die dieselbe bleibt Jahrhunderte lang und fest eingeprägt ist dem schaffenden Künstler wie dem an - dächtigen Beschauer. Ganz anders steht der antike Künstler da, seine Stoffe sind in beständigem lebhaftem Fluſs. Der antike Künstler teilt seine Ansprüche auf den Stoff mit dem Dichter. Der Dichter aber, namentlich der dramatische, bildet mit mäch - tiger Hand den Stoff um, während gleichzeitig der Geschichts - schreiber ihn mühselig und nicht ohne gewaltsame Änderungen seinem genealogischen System einordnet und der Philosoph an ihm herumkritisiert und interpretiert. In mannigfaltigen Brechungen liegen die einzelnen Sagen vor dem antiken Künstler; er hat die Wahl, welcher der vielfachen litterarischen Be - handlungen er sich anschlieſsen will.

Er hat die Wahl? hat er sie wirklich? wird nicht die An - schauung seiner Zeitgenossen auch sein Urteil wesentlich be - stimmen? wird er nicht derjenigen Version der Sage folgen müssen, welche seinen Zeitgenossen besonders geläufig ist? und welche ist es? wie verhalten sich die Vorstellungen des Volkes zu den poetischen Bearbeitungen der Sage?

Aus dem Volksbewusstsein ist die Sage entsprungen, aus dem Volksbewuſstsein schöpft der Dichter; aber bleibt wirklich die Volksvorstellung unverändert Jahrhunderte lang? Ist sie die klare Quelle, aus der Poesie und Kunst schöpfen, ohne daſs von Poesie und Kunst jemals ein Spiegelbild in sie zurückfällt, um ihr neue Farben und neuen Glanz zu verleihen? Nein, der Quell der Sage hat die Zauberkraft, das Bild des ächten Sängers, des ächten Bildners, der aus ihm schöpft, in sich aufzunehmen und8 festzuhalten, so lange festzuhalten, bis ein gröſserer naht, der das alte Bild verdrängt und sein eigenes an dessen Stelle setzt.

Auch die Sage, wie sie im Volksbewuſstsein lebt, hat ihre Entwickelung und ihre Geschichte. So fest sie auch in den verborgensten Tiefen des Volkslebens zu wurzeln scheint, so alt und ehrwürdig sie uns oft entgegentritt, gleich als ob die Jahr - hunderte, die Staaten umwälzen und die Weltanschauung ver - wandeln, nur sie gänzlich unberührt gelassen hätten, als ob sie dieselbe sei zur Zeit Cäsars, die sie in den Tagen des Perikles war, auch die Sage befindet sich in ewigem Fluſs, und die beiden mächtigen Faktoren der Kulturentwickelung, die aus der Sage ihre erste, kräftigste, gesundeste Nahrung ziehen, Bild und Lied, üben auf das Volksbewuſstsein einen viel gewaltigeren Rückschlag aus, als man in der Regel erkennen und zugeben will. Eine wirklich schöpferische Dichterkraft setzt die Form, welche sie der Sage giebt, an Stelle der lokalen Tradition; die dichterische Um - bildung des Stoffes wird selbst zur Volksvorstellung, und es ent - wickelt sich an Stelle der Volkstradition eine noch viel mächtigere poetische Tradition. Unserer Zeit, in der keine Volkssage mehr wahrhaft lebendig ist, fällt es schwer, eine klare Vorstellung von diesem Vorgang zu gewinnen. Vergleichen lieſse sich etwa die Art, wie die von unsern groſsen dramatischen Dichtern behandel - ten historischen Stoffe und historischen Persönlichkeiten in unserer Volksvorstellung leben. Auch hier hat die Allgewalt der dich - terischen Gestaltung sowohl die historische Wahrheit wie die volkstümliche Legende verdrängt; bei den Namen Wallenstein und Egmont denkt gewiſs weitaus der gröſste Teil unseres Volkes an die Gestalten unserer Dichter und überträgt die Züge derselben unwillkürlich auf die historischen Persönlichkeiten.

Je allmählicher sich dieser Prozess in der Volksvorstellung vollzieht, um so stärker und nachhaltiger ist seine Wirkung. Eine mehr als tausendjährige Entwickelung ist es, welche die Heldensage der Hellenen auf diese Weise durchgemacht hat, und wenn wir auch diese Entwickelung nur bei einigen wenigen Mythen beobachten und verfolgen können, so dürfen wir doch nie vergessen, daſs sie bei allen antiken Sagen stattgefunden9 hat, und daſs die Formen, in welchen uns die einzelnen antiken Mythen lieb und vertraut sind, die Karakterbilder, in denen die einzelnen Gestalten der griechischen Heldensage für uns typisch geworden sind, keineswegs in allen Epochen des klassischen Altertums gegolten haben, daſs vielmehr in be - stimmter Zeit ein bestimmter Dichter diese Sage in diese Form gegossen, jenem Heros jene Karakterzüge verliehen hat. Der uns geläufige Gesamtschatz antiker Mythen geht auf sehr ver - schiedene Zeiten zurück: die troischen Mythen, soweit sie die Kämpfe um Ilion selbst angehen, sind uns in der altehrwürdigen Form vertraut, in welcher der Heldensang der kleinasiatischen Colonien sie zuerst dichterisch fixiert hat, aber einzelne Züge, namentlich aus der Vorgeschichte, wie der Apfel der Eris beim Parisurteil oder die Unverwundbarkeit des Achilleus, entstammen einer viel späteren Periode; sie gehören der alexandrinischen, viel - leicht sogar erst der römischen Sagenbildung an. Die Sage vom Schicksal des Orestes, die Mythen von Andromeda, Medeia, Iphi - geneia kennen wir in der Form, die ihnen das attische Drama des fünften Jahrhunderts, die Argonautensage in derjenigen, welche ihr ein alexandrinischer Dichter des dritten Jahrhunderts gegeben hat; und den Zug der Sieben gegen Theben lernen wir sogar einzig in der aus sehr heterogenen Elementen kompilierten Form kennen, welche in den mythologischen Handbüchern der römischen Kaiser - zeit stand. Wir vergessen das zu leicht; es ist gut, sich zu - weilen ins Gedächtniss zu rufen, daſs dem Griechen vor Euripides die Medeia keineswegs das war, was sie uns ist, daſs ihm bei diesem Namen nicht das Bild der düsteren grauenhaften Zauberin aus Kolchis, des leidenschaftlichen Weibes, der Mörderin ihrer eigenen Kinder aufstieg, sondern daſs sie ihm die hohe Sprossin und berechtigte Erbin des alten ehrwürdigen Königsgeschlechts von Korinth war, die Enkelin des Sonnengottes. So ist den Griechen dieselbe Sage in anderer Fassung zur Zeit des Peisistratos, in anderer zur Zeit des Perikles, in anderer zur Zeit der römischen Herrschaft lieb und wert. Ich will hier nicht untersuchen, welche Berechtigung der fromme Glaube hat, daſs in einigen Thälern der Peloponnes sich die alte Volkssage in ursprünglicher10 Reinheit bis zu den Tagen des Kaisers Antoninus erhalten habe und damals von einem eifrigen und pflichtgetreuen Reisenden er heiſst Pausanias aus dem Munde eisgrauer Männlein und Weiblein aufgezeichnet worden sei; allein daſs die groſse Masse des Volkes in der Kaiserzeit die antiken Sagen nur in der Form kennt, welche ihnen das attische Drama und die alexandrinische Poesie gegeben hat, kann keinem aufmerksamen Leser der Lit - teratur jener Zeit entgehen.

Von dieser wechselnden Volksvorstellung hängt nun der Künstler ebenso sehr wie von der bildlichen Tradition ab; denn es ist für den antiken Künstler bezeichnend, daſs er äuſserst selten, ja fast nie in unserem heutigen Sinne Illustrationen schafft4)Dies betont richtig auch Luckenbach in seiner verdienstlichen Arbeit Das Verhältnis der griechischen Vasenbilder zu den Gedichten des epischen Kyklos im XI. Supplementband des Jahrb. für classische Philologie S. 493 f. Die Anschauungen des Verfassers freue ich mich in allen wesentlichen Punk - ten teilen zu können, wenn ich auch die Erscheinungen etwas anders for - mulieren und meist auf andere Weise erklären zu müssen glaube, wie es in der angeführten Schrift geschehen ist.. Selten nur steht er dem Dichtwerk als solchem gegen - über, meist der von diesem beeinfluſsten Volksvorstellung; er wahrt sich seine völlige künstlerische Freiheit nicht nur im Hinzufügen und Weglassen einzelner Personen oder einzelner Umstände, sondern auch in der Neuschöpfung von Scenen und Situationen, die dem Dichtwerk fremd sind, aber sich aus den Elementen desselben entwickeln lassen, für die also nichts - destoweniger das Dichtwerk die eigentliche litterarische Quelle ist. Es kann dabei vorkommen, daſs dem Künstler selbst diese Abhängigkeit von der Dichtung gar nicht zum Bewuſstsein kommt; sie bleibt deshalb doch in voller Kraft bestehen5)Ein Beispiel aus der unmittelbaren Gegenwart mag das erläutern. Pilotys Wallenstein auf der Reise von Pilsen nach Eger, Defreggers Hofer auf seinem letzten Gang sind gewiſs keine Illustrationen zu Schillers Wallen - stein und Mosens Hofer; denn nirgend findet sich dort eine entsprechende Situation. Dennoch muſs behauptet werden, daſs beide Maler ihre Bilder gewiſs nicht so gemalt hätten, wenn jene beiden Gedichte nicht existiert hät - ten. Die Künstler schaffen aus der Anschauung heraus, die durch die Werke. Der an -11 tike Künstler steht also nicht in solcher sklavischen Abhängigkeit von dem Wortlaut des Dichtwerks, wie der moderne Illustrator, er steht selbstbildend, selbstschöpferisch da, und es ist daher sehr wohl denkbar, daſs auch durch ein Bildwerk, wie durch eine Dichtung, die Sage umgewandelt und weitergebildet wird.

Der Weg, den ein antiker Mythos an der Hand von Poesie und Kunst wandelt, führt zu Verschlingungen mannigfacher Art. Wie leicht kann es geschehen, daſs die bildliche Tradition mit der Sagenvorstellung der Zeitgenossen in Widerspruch gerät; wie wird sich in diesem Fall der bildende Künstler verhalten? wird er der einen oder der anderen rücksichtslos folgen, oder wird er einen Ausgleich versuchen? es wird sich zeigen, daſs hier in verschiedenen Perioden anders verfahren wird. Meine Absicht ist, in Kürze die wichtigsten Perioden antiker Kunst und Poesie an unserem Auge vorüberziehen zu lassen und auf die Art hin, wie sich in ihnen Kunst und Poesie verhalten, zu untersuchen.

Dabei ist aber noch ein weiterer Gesichtspunkt in Betracht zu ziehen; nicht nur in der befolgten Sagenform, dem dar - gestellten Gegenstand, zeigt sich der mehr oder minder direkte Einfluſs der Poesie auf die Kunst, sondern auch in der Art, wie der Gegenstand behandelt wird, in der Vortragsweise. Es ist eine meines Wissens zuerst von O. Jahn gemachte Beobachtung, daſs im Altertum die Poesie nicht nur der Kunst den Stoff giebt, sondern auch formell die Art der Behandlung bestimmt, daſs in den ältesten Darstellungen der Heroensage ein epischer Grundton, in den Bildwerken des fünften und vierten[Jahrhunderts] ein dramatisches Leben, in anderen Werken eine lyrische Stim - mung vorherrscht. Die historische Betrachtungsweise wird auch nach dieser Seite hin die Erscheinungen der einzelnen Perioden zu prüfen haben.

Wir beginnen mit der Periode des Volksliedes und des Volksepos; eine ganze Fülle heroischer Sagen finden in dem5)der Dichter hervorgerufen ist, und insofern ist allerdings für jenen Schillers Drama, für diesen Mosens Gedicht die litterarische Quelle.12 ionischen Epos ihre dichterische Gestaltung, wahrscheinlich be - deutend mehr, als die, von denen wir es heute konstatieren können. So die Sage vom Raub der Helena und dem Kampf um Troia, an welche die Sage von den Irrfahrten des Odysseus angeschlos - sen wird, die Sage von dem Zug der Sieben gegen Theben, deren notwendige Voraussetzung wieder die Oidipussage, die Sage von der Fahrt der Argo, deren Voraussetzung die Phrixossage bildet. Wie sich diese Gestaltung vollzogen, wie sich aus der Fülle von Sagen und Sagenformen einzelne ausgesondert, die andern ver - drängt und zuletzt kanonische Geltung gewonnen haben, wie in jener Epoche, da die Unterschiede der einzelnen Stämme noch schroffer hervortraten, die Sage von Stamm zu Stamm ge - wandert, wie Heros auf Heros und Sage auf Sage gepfropft worden ist, dies zu untersuchen gehört zu den anziehendsten, aber auch schwierigsten Aufgaben der Sagenforschung; und wenn auch durch die epochemachenden Forschungen Adolf Kirchhoff’s über die Entstehung der homerischen Odyssee auf einen Teil dieses dunklen Gebietes ein heller Lichtstreif gefallen ist, so vermissen wir um so schmerzlicher eine klare Einsicht in die Entwickelungsgeschichte der übrigen Sagen. Ich muſs es mir hier versagen, auch nur ein annäherndes Bild von diesen Vor - gängen zu entwerfen und insbesondere auf die interessante Er - scheinung des Eindringens dorischer Elemente in das ionische Heldenepos näher einzugehen. Eine Entwickelungsgeschichte voll des mannigfachsten Wechsels muſste sich vollziehen, ehe das, was wir jetzt als den Sagenstoff des Epos zusammenfassen, feste kanonische Form erhielt, ehe die unter dem Namen Hesiods gehenden Gedichte in ihren Heroengenealogieen gleichsam das Facit dieser ganzen Epoche zogen und den Boden bereiteten, auf welchem die erste griechische Geschichtsschreibung, die, so - weit sie die Heldensage behandelt, ja selbst wesentlich genealo - gisch ist, erwachsen konnte.

Die vom Volkslied und Volksepos poetisch behandelten Sagen sind in sehr früher Zeit künstlerisch gestaltet worden; diese erste bildliche Darstellung einer Sage ist bestimmend für alle folgenden; aus ihr erwächst die allgewaltige bildliche Tra -13 dition. Wohl dürfen wir hoffen, daſs einst die Zeit kommen wird, in welcher die Forschung auch hier schärfer scheiden und die Entstehungszeit und den Entstehungsort der einzelnen Typen wird bestimmen können; es wird sich dann vielleicht konstatieren lassen, daſs die verschiedenen griechischen Stämme, wie ihren eigen - artigen Dialekt und ihr eigenartiges Alphabet, ihre eigenen Sagen und ihre eigenen Lieder, so auch ihre eigenartigen bild - lichen Typen hatten. Heute ist diese Zeit noch nicht gekom - men6)Das Eigentum des dorischen und des ionischen Stammes zu scheiden hat namentlich Georg Löschcke mit Glück versucht (Über die Reliefs der altspartan. Basis S. 10.). Ich muſs mich daher damit begnügen, die karakteristi - schen Eigentümlichkeiten der aus jener Periode erhaltenen oder auf Schöpfungen jener Periode zurückgehenden Darstellungen im allgemeinen ohne Rücksicht auf die feineren Unterschiede der Stämme zu schildern. Die Vorstellung von dieser Kunstperiode beruht teils auf den ausführlichen Beschreibungen zweier unter - gegangener Kunstwerke, teils auf den in spärlicher Anzahl erhal - tenen Reliefs und den in überwältigender Anzahl erhaltenen bemalten Vasen schwarzfiguriger Technik und, der groſsen Masse nach, korinthischer chalkidischer attischer Fabrik, welche die erwähnten Beschreibungen ergänzen, indem sie den überlieferten Typus pietät - voll reproducieren.

Aus allen diesen Produkten des archaischen Kunsthandwerks blickt uns die helle Freude am Darstellen und am Dargestellten gar treuherzig an; die helle Freude, daſs das, was bisher nur im Liede von Mund zu Mund ging, leibhaftig im Bilde vor Augen steht; daſs sie alle dastehen die wohlbekannten Gestalten des troianischen und thebanischen Krieges, die Männer in derselben Rüstung, die Frauen in derselben Tracht, wie sie die Beschauer selbst tragen, denn, wie jede echte Kunst und jede echte Poesie, lebt und athmet die Antike in lauter Anachronismen . Der Grund - ton aber, den diese archaische Kunstperiode anschlägt, ist der - selbe, der das Epos beherrscht, der Ton der mit breiter Behag - lichkeit ausgeführten Erzählung. Das erzählt und plaudert, wie der alte Nestor bei Homer, und kann des Erzählens und Plau -14 derns kein Ende finden, und überstürzt sich im Erzählen; denn diese Kunstperiode möchte gern gleich Alles erzählen, und es will ihr nicht in den Sinn, daſs sie nicht, wie die Poesie, den ganzen Verlauf der Handlung, sondern nur einen Abschnitt be - handeln darf.

Wenn sie den Auszug des Amphiaraos darstellen will, des groſsen Königs und Sehers, der durch den Verrat seines Weibes Eriphyle gezwungen ist, den unheilvollen Zug gegen Theben mitzumachen, der in der ersten Aufwallung des Zornes das verräterische Weib töten will, aber bezwungen durch die Bitten seiner Kinder sie verschont und das Rächeramt seinem Sohn Alkmaion überträgt, so möchte sie gern dem Beschauer alle Umstände dieser Sage auf einmal vor Augen stellen. Sie zeigt7)Von den erhaltenen Darstellungen ist die wichtigste der korinthische Krater des Berliner Museums (M. d. I. X tav. IV. V.); mit ihm muſs die Dar - stellung der Scene auf dem Kypseloskasten in allen wesentlichen Punkten übereingestimmt haben. Als ich das Monument A. d. I. 1874 S. 82 f. besprach, hielt ich noch fälschlich an der Forderung einer einheitlichen Handlung und eines klar erfaſsten Momentes fest; ein Irrtum, der an vielen Verkehrtheiten jenes Artikels schuld ist. Amphiaraos, wie er kampfgerüstet den Wagen besteigen will, auf dem bereits sein Wagenlenker, der sagenberühmte Baton, steht; einen Fuſs hat Amphiaraos schon auf den Wagen gesetzt, der andere berührt noch den Boden; in der Hand hält er das gezückte Schwert, der Blick ist zornig auf Eriphyle gerichtet. Vor ihm stehen seine Kinder, die beiden halbwüchsigen Töchter, der Knabe Alkmaion, der berufen ist, den Vater zu rächen, der kleine Amphilochos, den die Amme noch auf der Schulter trägt; alle, auch dieser jüngste, strecken flehend beide Hände zum Vater empor; sie bitten für das Leben der Mutter. Diese steht im Hintergrund, das groſse Perlenhalsband der Harmonia, den Preis des Verrates, in der Hand. Unterdessen empfängt Baton aus der Hand der Schaffnerin den Abschiedstrunk; vor den Pferden steht ein Diener, ein zweiter sitzt trauernd am Boden.

Dieser Darstellung fehlt das klare Erfassen und scharfe Wiedergeben eines ganz bestimmten Momentes der Handlung,15 einer ganz bestimmten Situation, in welcher oder in Beziehung auf welche alle dargestellten Figuren gedacht sein müſsten. Sollte der Moment dargestellt werden, in dem Amphiaraos sein Weib töten will, so durfte er nicht schon mit einem Fuſs auf dem Wagen stehen und nur noch den Kopf nach Eriphyle hin - wenden; sollte er aber in dem Augenblick dargestellt werden, als er dem Rachegedanken entsagt hat und sich zur Abfahrt an - schickt, so durfte er nicht das gezückte Schwert mehr tragen er müſste wenigstens im Begriff sein, es in die Scheide zu - rückzustoſsen8)Dies ist vielleicht auf der, doch wohl chalkidischen, Münchener Vase (Micali Storia 95 = Overbeck Her. Gall. III 5) der Fall; oder will er dort, was noch unangemessener wäre, das Schwert erst ziehen? und die flehend erhobenen Arme der Kinder sind gleichfalls nicht mehr am Platz. Unter beiden Voraus - setzungen gleich unpassend ist die ruhige Haltung der Eriphyle; wir würden erwarten, daſs sie vor dem Schwert des Gatten sich zur Flucht wenden oder um Erbarmen flehen, daſs sie entweder Angst vor der drohenden Gefahr oder Freude über die unverhoffte Rettung zeigen würde. Sie aber steht ohne irgend welche Bewegung, ohne irgend eine Gefühlsäuſserung, ruhig, fast teilnamlos da, das auffallend groſse Halsband in der Hand offenbar mehr für den Beschauer, als für die anwesenden Per - sonen. Ebensowenig ist Baton und die übrigen Diener in einer der Situation entsprechenden Haltung dargestellt. Man würde er - warten, daſs in einem Augenblick, wo ihr Herr im höchsten Zorn sein Weib töten will oder töten wollte, die Diener voll Entsetzen und Grausen ihre ganze Aufmerksamkeit auf diese schreckliche Scene richten würden. Statt dessen empfängt Baton ruhig aus der Hand der Schaffnerin den Abschiedstrunk, und Niemand auf der rechten Seite des Bildes scheint den Vorgang auf der linken Seite zu bemerken oder zu beachten. Es ist klar, daſs, was wir hier mit einem Blicke übersehen, nicht gleichzeitig sich ereignet haben kann; es fehlt eine alle Figuren gleichmäſsig umfassende bestimmte Situation, es fehlt die Einheit der Handlung: alle Figuren sind mehr oder weniger mit sich selbst beschäftigt, jede16 ist eigentlich in einem andern Moment der Handlung aufgefaſst, oder richtiger, der eigentliche Moment der Handlung ist vom Künstler unbestimmt gelassen. Der Grund dieser Unbestimmtheit liegt aber darin, daſs diese archaische Kunst von keiner Be - schränkung wissen will, daſs sie sich und dem Beschauer nicht genugthun zu können glaubt und gleich Alles erzählen möchte.

Oder ein anderes Beispiel; sehr beliebt ist die Darstellung vom Tode des schönen Troilos, des jüngsten Priamossohnes, der im Anfang des Krieges ausgeritten ist, seine Schwester Polyxena zum Brunnen vor der Stadt zu begleiten und selbst seine Rosse zu tränken, und dort von Achilleus überrascht wird. Polyxena entkommt, aber den Knaben, so sehr er seine Rosse zur Eile antreibt, holt Achilleus ein und tötet ihn; zu spät eilt Hek - tor, zu spät die übrigen Brüder dem Knaben zu Hülfe. Hier begnügt sich die Kunst nur selten damit, Polyxena, die im Schrecken den Wasserkrug fallen läſst, Troilos auf den flüch - tigen Rossen dahinsprengend, Achilleus mit mächtigen Schritten dem Fliehenden nacheilend darzustellen; bald erweitert sie den Typus9)Vgl. Cap. II, Erweiterung und Verschmelzung der Typen. und stellt auch den Brunnen dar10)Das Beispiel ist entnommen von der François-Vase (M. d. I. IV tav. LIV. LV; Arch. Zeit. 1850 Taf. XXIII. XXIV; Wiener Vorlegeblätter, Ser. II. Taf. I. II.), und als ob nichts geschehen als ob nicht eben Achilleus hier hervorgebrochen wäre und als ob nicht die Königskinder in tötlicher Gefahr schwebten, ist ein Trojanerknabe ruhig beschäftigt, seinen Krug zu füllen, ohne auf den fliehenden Troilos einen Blick zu werfen, ohne Angst zu verraten, daſs auch ihm der Rückweg zur Stadt ab - geschnitten und Verderben bereitet werde. Das Treiben am Brunnen vor der Stadt will der Künstler darstellen, aber er schildert es, wie es sich in ruhigen Tagen abspielt, nicht wie es in dem Augenblick sein müſste, da die drohende Kriegsgefahr sich der Stadt naht. Derselbe Mangel an einheitlicher Auffassung begegnet uns an der anderen Seite der Darstellung, wo das Ziel der Flucht, die Stadtmauer von Troia dargestellt ist. Vor der Mauer sitzt auf einem Steinsitz Priamos, dem Antenor eben die17 Gefahr, in der seine Kinder schweben, mitteilt; aus dem Stadt - thor eilen Hektor und Polites11)Polites ist in der Ilias Β 792 der Späher, der auf dem Grabhügel des Aisyetes Wache hält, um das Nahen der Achaeer von den Schiffen her zu beobachten. εἴρατο δὲ φϑογγὴν υἶι Πριάμοιο Πολίτῃ, ὃς Τρώων σκοπὸς ἶζε, ποδωκείῃσι πεποιϑώς, τύμβῳ ἐπ̕ ἀκροτάτῳ Αἰσυήταο γέροντος, δέγμενος ὁππότε ναῦφιν ἀφορμηϑεῖεν Ἀχαιοί. Hiezu stimmt vortrefflich, daſs als zum ersten Mal ein Achäer Achilleus sich der Stadtmauer nähert, Polites unter den ersten ist, die zu Hilfe eilen; er hat Hektor die Kunde von Achilleus Nahen gebracht. Von diesem Späheramt des Polites weiſs sonst die Ilias nichts. Es ist daher in hohem Grade wahrscheinlich, daſs dieser Zug, wie so manches andere in Β, aus den Kyprien eingesetzt ist; möglich sogar, daſs Polites dort in der Troilosepisode dieselbe Rolle spielte, wie auf der Françoisvase. dem bedrohten Bruder zu Hilfe. Es ist klar, daſs hier Ereignisse dargestellt sind, welche unmög - lich gleichzeitig stattgefunden haben können; in dem Augenblick, wo Antenor dem Priamos die erste Kunde bringt, können Hektor und Polites sich wohl rüsten, aber sie können noch nicht kampf - bereit aus dem Thor dringen. Was wir hier mit einem Blick als gleichzeitig übersehen, war in der Dichtung, welche dieser Sage poetische Form gegeben hat, den Kyprien, eine Folge von Ereignissen. Allein man würde irren, wenn man etwa glaubte, der Maler habe hier drei zeitlich verschiedene Scenen darstellen wollen. Die Erzählung in einer Folge von Scenen ist der archai - schen Kunst durchaus fremd12)Im Gegensatz zur orientalischen Kunst, die diesen Chroniken-Stil liebt. Neben den assyrischen Skulpturen liefert jetzt ein treffliches Beispiel die phönikische, in Palestrina gefundene Silberschale, (M. d. I. X 31) auf welcher in einer Reihenfolge von Scenen das Jagdabenteuer eines Königs dargestellt ist, wie kürzlich Clermont-Ganeau (la coupe phénicienne de Palestrine) dargethan hat.; in eine Scene preſst sie alles zusammen, aber es ist eben eine Scene ohne scharf präzisierten Moment. Als Prolepsis, wie es meistens geschieht, läſst sich diese Eigentümlichkeit nur uneigentlich und mit starker Ein - schränkung bezeichnen, die Darstellung greift nicht bloſs vor, sondern auch zurück, und gerade die Verlegenheit, in der wir uns befinden würden, wenn wir z. B. dieser TroilosdarstellungPhilolog. Untersuchungen V. 218gegenüber angeben sollten, was zur Charakteristik des Momentes gehört und was der Künstler vor - und zurückgreifend zufügt, zeigt, daſs wir mit dieser Frage einen dieser Kunstepoche frem - den Maſsstab anlegen13)Diese Unbestimmtheit kommt bei ausgedehnteren Kompositionen der Kunst sogar sehr zu statten, und sie behält dieselbe daher in einzelnen Fällen auch noch bei in Zeiten, wo die primitive Stufe im allgemeinen überwunden ist. So Mikon bei der Marathonschlacht, Pheidias beim Parthenon - fries. In dem Gemälde war das lehren die Berichte deutlich an der einen Seite der Kampf noch unentschieden (kommen doch die Plataier erst eilenden Laufes heran), in der Mitte fliehen die Perser, an der anderen Seite war der Kampf bei den Schiffen; allein es ist ein schwerer Irr - tum, sich dabei drei äuſserlich streng geschiedene Scenen oder gar die Gestalt des Miltiades und der übrigen Feldherren den Gesetzen dieser Kunstperiode zuwider mehrere Male dargestellt zu denken. Wie der Beschauer an dem ausgedehnten Gemälde vorbeischritt, nahm in gleichem Maſse die Entwickelung der Handlung ihren Fortgang. Es ist also an Stelle der zeitlichen Unbestimmtheit der Darstellung ein zeitlicher Fortschritt getreten. Dasselbe haben wir am Parthenonfries deutlich vor Augen; indem wir von der Nordwestecke bis zur Mitte des Ostfrieses fortschreiten, sehen wir die Reiter sich rüsten, aufsitzen, sich zu Gliedern ordnen, wir gehen an den Wagen, den Opfertieren, den Mädchen vorbei, bis wir zuletzt den Peplos denn das ist er trotz Brunns und seiner Schüler Widerspruch in der Hand des Priesters sehen. Gewiſs ist das nicht gleichzeitig zu denken, sondern unmerklich ist die Zeit fortgeschritten; aber meisterhaft hat uns Pheidias über den Verlauf hinweggetäuscht: wir sind in demselben Falle, wie einer, der vom Kerameikos aus neben dem sich stets bewegenden Zuge hereilt. Erwägungen, wie die von Flasch (Über den Parthenonfries S. 94), erledigen sich hierdurch von selbst; die Athener würden ihm, wenn sie überhaupt auf solche Fragen sich einlieſsen, entgegnet haben: die Reiter, die wir vorhin noch mit Vor - bereitungen beschäftigt sahen, sind unterdessen längst aufgesessen und auf der Akropolis angelangt und haben die Peplosübergabe mit angesehen . Man darf sogar fragen, ob bei Kompositionen, die nicht mit einem Blick zu übersehen sind, sondern im Weiterwandeln betrachtet sein wollen, ein solcher unmerk - licher zeitlicher Fortschritt nicht künstlerisch geboten erscheint..

In dieser Hinsicht ist mir auch die Art, wie die archaische Kunst die schöne Erzählung von Hektors Lösung im letzten Buche der Ilias bildlich gestaltet, immer besonders merkwürdig erschienen14)Von den archaischen Darstellungen dieses Typus ist leider nur eine sehr flüchtige schwarzfigurige Lekythos publiziert (Arch. Zeit. 1854, Taf. 72). Derselbe Typus liegt den strengen rothfigurigen Vasen (M. d. I. VIII 27 u.. 19Achilleus liegt auf der Kline, vor ihm steht der Tisch mit Speisen, wie ja auch in der Ilias Priamos den Peliden nach eben voll - endeter Mahlzeit findet; unter der Kline liegt die geschändete Leiche Hektors denn diese, um die sich die ganze Handlung dreht, muſs natürlich der Beschauer wirklich auf dem Bilde dar - gestellt sehen. Indem nun aber der Künstler zum Anbringen von Hektors Leichnam in höchst sinnreicher Weise den leeren Raum unter der Kline benutzt, entsteht gleichsam ganz von selbst, jeden - falls ohne Vorgang der Dichtung, der zu Achills hartem Charakter vortrefflich passende Zug, daſs er über der Leiche seines Feindes liegend die Freuden des Mahles genieſst. Dem Achill naht sich eiligen Schrittes wie ja in der archaischen Kunst jedes Ge - hen zu einem hastigen Laufen wird Priamos, die Arme flehend erhoben. Und wie empfängt ihn Achilleus? Er reicht ihm die Schale. In der Ilias bietet bekanntlich zuletzt Achilleus, als er, durch die Erinnerung an seinen eigenen greisen Vater gerührt, in die Auslieferung der Leiche gewilligt hat, dem tiefgebeugten Troerkönig Speise und Trank an mit den schönen Worten, daſs alles menschliche Leid seine Gränzen habe und daſs auch einst Niobe die schwergeprüfte zuletzt die Gaben der Demeter nicht verschmäht habe. Was dort den Abschluſs der Begegnung zwischen Achill und Priamos bildet, ist hier in den Anfang derselben ver - legt, oder richtiger: es ist gleich der ganze Verlauf dem Be - schauer vor Augen gestellt.

Wenn dies Bild in seiner Naivität etwas Ergreifendes hat, so führt dasselbe Verfahren doch auch zu Darstellungen, welche auf uns mit unwiderstehlicher Komik wirken, so wenig eine solche Wirkung von dem antiken Künstler beabsichtigt war. Ein recht drastisches Beispiel sind die Darstellungen des Aben - teuers des Odysseus in der Höhle des Polyphem15)Ich habe hier vor Allem den aus derselben Fabrik wie die Arkesilas -. Der Kyklop sitzt aufrecht auf einem Felssitz, in jeder Hand einen mensch -14)Overbeck XX 3) zu Grunde; doch ist hier dem Geschmack des fünften Jahr - hunderts entsprechend versucht, den Moment scharf zu präcisieren. Die Er - klärung, daſs Achill dem Priamos den Becher zu Spott und Hohn hinreiche, (Luckenbach a. a. O. S. 509) wäre besser nicht aufgestellt worden.2*20lichen Unterschenkel haltend; er ist also damit beschäftigt, einen der Gefährten des Odysseus zu verzehren. Dieser selbst steht vor ihm, mit der rechten Hand ihm den Becher reichend, aber gleich - zeitig faſst seine linke Hand einen gewaltigen Pfahl, der auf seiner und der drei hinter ihm herschreitenden Genossen Schultern ruht; er will das spitze Ende desselben in das Stirnauge des Kyklopen bohren. Auch hier also hat der Verfertiger sämmtliche Momente des Abenteuers auf einmal dargestellt und dadurch eine ebenso unmögliche wie lächerliche Scene uns vorgeführt; der Kyklop kann weder den Becher ergreifen, den ihm Odysseus bietet, da seine beiden Hände beschäftigt sind, noch ist es denkbar, daſs er in wachem und nüchternem Zustand sich geduldig den Pfahl in die Stirn bohren lassen würde16)S. Luckenbach a. a. O. S. 505..

Dieselbe Unbestimmtheit, wie hinsichtlich der Zeit, herrscht in dieser ersten Kunstperiode auch hinsichtlich des Ortes der Handlung. Dies zeigt sich, da eine Andeutung der Lokalität in der Regel fehlt, namentlich in der Anwesenheit von Personen, welche an dem Ort der Haupthandlung unmöglich anwesend sein können. So finden wir bei dem Kampf des Theseus mit dem Minotauros, dessen Schauplatz selbstverständlich das Innere des Labyrinthes ist17)Z. B. auf der attischen Vase des Archikles und Glaukytes (M. d. I. IV tav. LIX Gerhard A. V. 235. 236), auf der chalkidischen Vase (M. d. I. VI tav. XV) u. öfter., nicht nur die dem Tod geweihten athenischen Knaben und Mädchen, sondern auch Minos und Ariadne, ja auch die Amme der letzteren gegenwärtig; so ist bei der Scene, wo Achilleus die beiden trojanischen Königskinder Troilos und Polyxena beim Brunnen vor der Stadt überfällt, Priamos selbst zugegen18)Auf der korinthischen Vase Arch. Zeit. 1863 T. 175., so ist endlich bei der Ermordung der Ismene durch Tydeus, die im Gemach der thebanischen Königs - tochter erfolgt, der Knappe des Tydeus, Klytios, hoch zu Roſs, anwesend19)M. d. I. VI tav. XIV. Wiener Vorlegeblätter Ser. III T. I 2. Welcker,.

15)Vase stammenden Teller (M. d. I. I tav. VII, 1. Overbeck her. Gall. XXXI 4) im Auge.

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Diese Freiheit und Ungebundenheit von Ort und Zeit auf der einen, der Wunsch die Vorgänge möglichst vollständig darzustellen auf der andern Seite verführen diese in ihrer jungen Schöpferlust19)Alte Denkm. V T. 14 S. 253. Es ist gewiſs schon oft bemerkt, aber meines Wissens noch nicht ausgesprochen worden, daſs Welcker in der Auffassung dieser korinthischen Vase geirrt hat und daſs sich die richtige Deutung aus der Salustischen Hypothesis der Sophokleischen Antigone ergiebt. Dort heiſst es: Μίμνερμος δέ φησι τὴν μὲν Ἰσμήνην προσομιλοῦσαν Θεοκλυμένῳ ὑπὸ Τυδέως κατὰ Ἀϑηνᾶς ἐγκέλευσιν τελευτῆσαι. Es bedarf wohl kaum eines ausdrücklichen Hinweises, daſs auf der genannten Vase dieser Vorgang dargestellt ist und daſs auf diese Weise auch die Nacktheit der Ismene ihre Erklärung findet. Salust nennt den Liebhaber der Ismene Theoklymenos, ein Name, der in thebanischen Sagen sonst nicht vorkommt; und daſs an den gleichnamigen Seher der Odyssee hier nicht gedacht werden kann, bedarf keines ausdrücklichen Be - weises. Auf der Vase hingegen heiſst er Periklymenos, das ist der berühmte Sohn des Neleus oder nach andern des Poseidon, der Argonaut, der durch Posei - dons Gunst jede beliebige Gestalt annehmen kann und später von Herakles getötet wird. Im Krieg der Sieben steht er auf Seiten des Eteokles. In der Thebais (Paus. IX 18, 4) tötet er den Parthenopaios, und darin sind Euripides (Phoen. 1156) und Aristodemos in den Thebaika (schol. Eur. Phoen. 1156 fr. 4 F. H. G. III S. 309 Müller) dem Epos gefolgt; Apollodor hingegen III 6, 8 führt zwar auch die Euripideische Version als Variante an, erzählt aber in seinem Haupt - bericht, der wahrscheinlich in allen seinen Teilen dem Pherekydes entlehnt ist (vgl. de Apollodori bibliotheca p. 67 s.), daſs es vielmehr Amphiaraos war, der von Periklymenos verfolgt und getötet ward. Ich bin absichtlich aus - führlich gewesen, um zu zeigen, daſs dem antiken Kenner der theba - nischen Sagen die Figur des Periklymenos ebenso vertraut gewesen sein muſs, wie dem heutigen Leser der Ilias ein Aineias oder Deiphobos. So häufig nun doppelte Namensformen bei weniger bekannten Heroen sind, so bekenne ich doch, daſs mir diese Annahme bei einer so ausgebildeten Figur der Sage sehr bedenklich scheint und daſs ich daher geneigt bin, in der Form Θεοκλύμενος, wie sie die Hypothesis hat, nicht eine Variante, sondern eine Korruptel des wirklichen Namens Περικλύμενος zu sehen. Die auf der Vase dargestellte Sagenversion vom Tod der Ismene wird in der Hypothesis dem Mimnermos zugeschrieben; abweichend davon erzählte Pherekydes (schol. Eurip. Phoen. 53, fr. 48 Müller), daſs Tydeus die Ismene an der Quelle tötete, die später ihren Namen trug, und diese Version hat man sich nach Welckers Vorgang gewöhnt, auch für die Thebais vorauszusetzen. Allein die unter Mimnermos Namen überlieferte Version hat mindestens den gleichen Anspruch, auf die Thebais zurückgeführt zu werden, um so mehr, als gerade Kolophon, die Heimat des Mimnermos, auf die abschlieſsende Gestaltung, die der theba -22 schwelgende Kunst, die keine Schranke fesselt und kein Gesetz bindet, zu dem Versuch, Vorgänge, die nur für die Poesie, nicht aber für die Kunst darstellbar sind, bildlich zu gestalten, so z. B. Verwandlungsscenen. Ein charakteristisches Beispiel dafür ist des Peleus Werbung um Thetis. Scheu und flüchtig, wie alle Meermädchen, jede Gestalt anzunehmen fähig, wie alle Wassergott - heiten, sucht sich Thetis der Umarmung des Sterblichen zu ent - ziehen, indem sie in stets wechselnder Gestalt ihn bedroht, als Feuer ihn umlodert, als Schlange sich um seine Glieder schlingt, als Löwe oder Panther auf ihn eindringt: so berichtete die Sage, so sang das Volkslied. Das Bild faſst alle diese verschiedenen Momente in einen zusammen. Thetis in menschlicher Gestalt wird von Peleus um die Hüften gepackt und festgehalten, aber gleichzeitig sind alle Gestalten, welche Thetis der Reihe nach annimmt, angegeben und nicht ohne Geschick künstlerisch ver - wertet. Flammen schlagen hinter den Schultern der Thetis empor, Schlangen umwinden die Hände und Füſse des Peleus und züngeln gierig nach seinem Gesicht, ein Löwe ist ihm auf den Rücken gesprungen und hat die Zähne in seine Schulter eingeschlagen20)Sollte es nicht mit Panther und Schlange, die wir in den Darstel - lungen der Gigantomachie neben Dionysos erblicken, ursprünglich eine ähn - liche Bewandtnis haben? Man nimmt gewöhnlich an, daſs es die heiligen Tiere des Dionysos seien, die für ihn kämpfen, allein wie kommt es, daſs die Tiere der übrigen Götter, vor allem der Adler des Zeus, nicht auch schon in früherer Zeit, sondern erst auf dem pergamenischen Altar in den Kampf ein - greifen? Andererseits ist es bekannt genug, welche groſse Rolle in den ver - schiedenen Dionysos-Mythen gerade die Verwandlung spielt. Im homerischen Hymnus verwandelt er sich beim Abenteuer mit den tyrrhenischen Seeräubern in einen Löwen (hymn. hom. VII 44); und daſs er im Gigantenkampf den Rhoitos leonis unguibus terribilique mala niederwarf, wuſste noch Horaz (carm. II 19, 23). So scheint mir, daſs auf den älteren Darstellungen Panther. 19)nische Sagenstoff schlieſslich im Epos gefunden hat, sehr wesentlich einge - wirkt zu haben scheint, wie namentlich die Manto-Episode zeigt (schol. Apoll. Α 308). Unter diesen Umständen wird man denn bei einem kolopho - nischen Dichter gerade am ehesten die Version der Thebais zu erwarten be - rechtigt sein. Daſs die Vasen, die auf Tydeus und Ismene am Brunnen ge - deutet sind, in Wahrheit Achill und Polyxena darstellen, ist längst richtig gesehen.23Niemals würde ein Künstler des fünften oder vierten Jahrhunderts gewagt haben, solche in ihrer Naivität unglaublich verwegene Darstellung zu schaffen; da ihm dieselbe aber aus dieser frühesten Kunstperiode überliefert wird, behält er sie unbedenklich bei. Besitzen doch gerade die in dieser frühesten Zeit geschaffenen bildlichen Typen eine ungemein zähe Lebenskraft.

Wie sehr sich diese archaische Kunst ihrer Selbständigkeit der Poesie gegenüber bewuſst war, geht aus der bisherigen Schilderung genugsam hervor. Aber sie geht noch weiter. Aus den von der Sage gebotenen und von der Poesie geformten Ele - menten schafft sie neue Scenen, neue Situationen, die in der Poesie nicht vorgebildet sind oder wenigstens nicht vorgebildet zu sein brauchen. Den Abschied des Hektor z. B. schildert die archaische Kunst, obgleich ihr gewiſs das berühmte Lied der Ilias vorschwebt, ganz abweichend von dem Wortlaut jenes Liedes. Es fehlen Astyanax und die Amme. Dafür sind Priamos und Hekabe, Polyxena und Kassandra, Kebriones21)Vgl. Mon. e. Ann. d. Inst. 1855, T. XX. Wiener Vorlegeblätter Ser. III Taf. I, 1. Auf dieser korinthischen Vase erscheint Kebriones als Wagen - lenker, auf der chalkidischen Vase (Gerh. A. V. IV 322) als Rossehalter des Hek - tor. Kebriones, der Heros eponymos der troischen Stadt Kebrene (Strabo XIII 596), ist bekanntlich in der Ilias ein Bastard des Priamos, der später Π 738 von Patroklos getötet wird. In Θ 318 befiehlt ihm Hektor, dem nach einander zwei Wagenlenker getötet sind, die Zügel zu fassen, und so lenkt er Hektors Wagen bis zu seinem Tod. Es ist also doch klar, daſs sein Auftreten in der Kunst als Wagenlenker des Hektor ursprünglich auf einer undeutlichen Reminiscenz an die Schilderung der Ilias beruht, aber in der bildlichen Tradition festgehalten und weiter ausgebildet wird, so daſs er zuletzt als der eigentliche Wagenlenker des Hektor erscheint, ein Amt, das er in der Ilias nur zur Aushilfe versieht; wieder ein deutliches Beispiel, meine ich, wie die Kunst gleichsam unwillkürlich weiter dichtet. und viele andere20)und Schlange die verschiedenen Verwandlungen des Dionysos selbst darstel - len; später mochte man das immerhin vergessen haben und nur die heiligen Tiere des Gottes darin sehen. Aber wissen wir denn so sicher, ob nicht bei den späteren Darstellungen von dem Ringkampf des Peleus und der Thetis ein Gleiches stattfand und, ob die attischen Maler der zierlichen Le - kythos, (Overbeck her. Gall. VIII 1) und der aus Kameiros stammenden Pelike (Wiener Vorlegebl. II. 6, 2) unter den Tieren sich noch Thetis selbst und nicht Wassertiere, die der Nereide zu Hilfe kommen, vorstellen?24 gegenwärtig. Wie frei die archaische Kunst im Hinzufügen sol - cher zuschauenden Personen schaltet, zeigt sich noch deutlicher, wenn bei der Wappnung des Achilleus mit den von Thetis über - brachten Waffen Peleus und Neoptolemos gegenwärtig sind22)Rhangabé Aux amis de l’antiquité hommage du comité des antiquairs d’Athènes. Paris 1869. Heydemann Vasenbilder VI 4. Wiener Vorlege - blätter Ser. II 6, 1. oder wenn an dem Kampf um die Leiche des Achilleus Neoptolemos teilnimmt23)Gerhard A. V. III 227, 2. Overbeck a. a. O. XXIII 2., beides in vollständigem Widerspruch mit Sage und Poesie. Neoptolemos weilt, so lange sein Vater lebt, auf seiner Geburtsinsel Skyros, Peleus war niemals vor Troia. Aber der Künstler denkt: wer kann sich herzlicher an der Heldengröſse des Achilleus freuen als sein Vater Peleus und sein Sohn Neopto - tolemos, und wem ziemt es mehr für die Leiche des Vaters zu kämpfen, als dem Sohn.

Mit ihrer ganzen Freiheit im Gestalten, mit ihrer vollen, frischen Erzählungslust hat diese älteste Kunst einer Fülle von Sagenstoffen bildliche Form geliehen, die in diesen festgestellten Typen, wie ein köstlicher Schatz, von Generation zu Generation vererbt werden und die zähesten und unveräuſserlichsten Be - standtheile der bildlichen Tradition ausmachen.

In den Entwickelungsgang der Sage greift indessen bald ein neuer Faktor, die Lyrik, namentlich die der Dorer, mächtig um - gestaltend ein; ihr sehr nachhaltiger Einfluſs auf die Sagen - bildung und demgemäſs auf die Kunst wird in der Regel zu gering angeschlagen24)So noch neuerdings von Luckenbach a. a. O. S. 563, dem freilich die durch die Natur seiner Aufgabe gebotene Beschränkung zur ausreichen - den Entschuldigung dient. Hätte er die Nosten in den Kreis seiner Betrach - tung gezogen, so wäre er zu anderen Resultaten gekommen.. Wir können ihre Macht namentlich an der Wirkung eines Dichters abmessen, des Stesichoros von Himera. Dieser merkwürdige Mann, dessen Sagengestaltungen von Aischy - los und Euripides, von Theokrit und Alexander Aitolos vielfach übernommen wurden, dessen Gedichte im 5. Jahrhundert in Athen so populär waren, daſs die Komödiendichter Verse daraus ohne25 Nennung des Autors parodieren und doch bei dem Publikum auf Verständnis rechnen konnten, trat der überlieferten Volkssage und dem ausgebildeten Volksepos mit der ganzen Macht und dem ganzen Eigensinn einer schöpferischen Dichter-Individualität gegen - über, mit keckem Griff neugestaltend, mit beispiellosem Erfolg.

Οὐκ ἔστ̕ ἔτυμος λόγος οὗτος·
οὐδ̕ ἔβας ἐν ναυσὶν εὐσέλμοις
οὐδ̕ ἵκεο πέργαμα Τροίας.

So keck ist wohl selten ein Dichter der Volksvorstellung gegen - über getreten, wie Stesichoros in dieser seiner berühmten Apo - strophe an Helena, mittels welcher er seine Umgestaltung des Helena-Mythos einleitet; denn nur ein Scheinbild, so dichtete er, war es, das Paris geraubt hatte, nur ein Scheinbild, um das Troer und Achäer zehn Jahre lang gekämpft haben. Die wirk - liche Helena hatte Hermes auf das Geheiſs des Zeus nach Ägypten entführt, wo sie Menelaos auf seiner Irrfahrt wieder - findet. Für die Zähigkeit, mit welcher die Volksvorstellung an der Sagenform des Epos hängt, ist es bezeichnend, daſs, um eine solch unerhörte subjective Willkür zu erklären, alsbald die litterar - historische Sagenbildung geschäftig war und die Legende erfand, daſs Helena durch ein früheres Gedicht des Stesichoros erzürnt über den Sänger Blindheit verhängt habe und daſs er, um sich von dieser zu erlösen, jenes Gedicht zu Helenas Ehren - rettung gemacht habe, eine Legende, die schon zu Platons Zeit in Athen allgemein bekannt war; aber ebenso bezeichnend ist es für den gewaltigen Einfluſs des Stesichoros, daſs seine Fassung neben der der Ilias gekannt war, daſs sie sogar von Herodot adoptiert und von Euripides bei der Abfassung seiner Helena befolgt wurde. Daſs bei dieser Umgestaltung für Stesi - choros neben dem Anschluſs an gewisse tendenziöse Sagenformen der Dorer25)S. Cap. V Der Tod des Aigisthos. auch rationalistische Gesichtspunkte maſsgebend waren, können wir wenigstens an einem Beispiel darthun, an seiner Behandlung der Sage von Aktaion. Zwar an der Vor -26 stellung, daſs die Götter menschlichen Leidenschaften unterworfen seien und Liebe und Haſs gegen die Sterblichen empfinden, nahm Stesichoros keinen Anstoſs und behielt daher unbedenklich die ältere Fassung der Sage bei, nach welcher Zeus, in Liebe zu Semele entbrannt und eifersüchtig auf Aktaion, der auch um Semele wirbt, der Artemis befiehlt, den unbequemen Neben - buhler aus dem Weg zu räumen. Aber den weiteren Bericht der Sage, daſs Artemis den Aktaion in einen Hirsch verwandelt, den seine eigenen Jagdhunde zerreiſsen, verwarf Stesichoros. Denn ganz unglaublich schien es ihm, daſs ein Mensch in ein Tier verwandelt werden könne. Daher erzählte er, Artemis hätte dem Aktaion nur das Fell eines Hirsches um die Schulter ge - worfen, und die Hunde, hierdurch getäuscht, hätten den Aktaion für einen Hirsch gehalten und zerrissen26)Paus. IX 2. 3 = Stesichoros fr. 68 Bergk..

Daſs nun diese Stesichoreischen Neubildungen der Sagen auch auf die Kunstdarstellungen eingewirkt haben, läſst sich ge - rade an dem eben besprochenen Beispiel zeigen. Eine Metope des jüngsten Tempels von Selinunt, dessen Erbauung sicher in die zweite Hälfte des fünften Jahrhunderts fällt, stellt Aktaion dar, der das Hirschfell um die Schultern, das Hirschhaupt über den Hinterkopf gezogen, sich vergebens der an ihm emporspringenden Hunde zu erwehren sucht27)Dies hat Serradifalco erkannt Antichità della Sicilia II T. XXXII p. 65. Vgl. Benndorf Metopen v. Selinunt. Taf. IX S. 57. Auch auf einer roth - figurigen attischen Vase begegnen wir derselben Stesichoreischen Sagenversion. S. Micali Storia C 1.. Hier haben wir die Aktaionsage in der Fassung des Stesichoros, denn bei der ganz eigentümlichen Natur derselben wird niemand be - zweifeln wollen, daſs das Gedicht des Stesichoros im ganz eigentlichen Sinne die Quelle für diese Darstellung ist; da aber dem Verfertiger einer dekorativen Tempelskulptur gewiſs nichts ferner liegt, als die Absicht, ein bestimmtes Gedicht illustrie - ren zu wollen, da vielmehr an solchen Stellen nur wirklich volks - tümliche Sagen und zwar in volkstümlicher Fassung dargestellt zu27 werden pflegen, so haben wir ein eklatantes Beispiel von dem gewaltigen Einfluſs der Stesichoreischen Gedichte auf die Volks - vorstellung, allerdings in diesem Fall auf die Volksvorstellung in seinem Vaterland Sicilien, ein Beispiel, das um so schwerer ins Gewicht fällt, als es sich dabei um das Verdrängen des märchenhaft Wunderbaren, das doch seiner ganzen Natur nach ungleich populärer ist, und das Ersetzen desselben durch eine ziemlich frostige pragmatische Interpretation, die dem Volke eigent - lich antipathisch ist, handelt. Ebenso war die von Stesichoros geschaffene Oresteia von dem gewaltigsten Einfluſs auf die spätere Kunst28)S. Cap. V Der Tod des Aigisthos..

Das Gesagte muſs genügen zum Beweis, daſs überhaupt von der Lyrik ein Einfluſs auf die bildende Kunst ausgegangen ist. Stärke und Ausdehnung desselben lassen sich aber bis jetzt ebenso wenig bestimmen, wie der Zeitpunkt, wo er begann und wo er aufhörte; nur das mag noch ausdrücklich hervorgehoben wer - den, daſs natürlich auch andere Lyriker gleichen Einfluſs geübt haben werden, nur daſs uns der Nachweis nicht möglich ist. Namentlich möchte man es von Ibykos von Rhegion voraussetzen.

Wir kommen nun zu der weitaus bedeutendsten und ein - greifendsten Epoche antiker Sagenentwickelung, der Umgestaltung der alten durch Epos und Lyrik geformten Stoffe im attischen Drama. Wie gewaltig der Rückschlag gerade dieser Dichtungs - form auf die Sagenvorstellung selbst ist, wie mächtig der Zwang, einerseits die Handlung in einer Folge charakteristischer Scenen sich abspielen und in einer bestimmten Situation gipfeln zu lassen, andererseits die einzelnen Figuren scharf zu charakterisieren, auf die Sagenform einwirken muſs, bedarf keiner besonderen Auseinandersetzung. Sehr bedeutend ist hier der Einfluſs des Aischylos, verhältnismäſsig gering der des Sophokles, am ein - schneidendsten der des Euripides, eines Dichters, bei dessen Be - urteilung man doch auch gerade den gewaltigen Einfluſs auf die Sagenentwickelung in Betracht ziehen sollte, wenn man ihm ge - recht werden will. Eine ganze Fülle von Sagen werden von nun28 an einzig noch in Euripideischer Fassung gekannt und geschätzt, und kaum giebt es einen Dichter, dessen Sagenbehandlung eine solche epochemachende Wirkung gehabt hat; sie beherrscht nicht nur das ganze spätere Altertum, auch die klassische Tra - gödie der Franzosen und Italiener, auch unsere eigene Sagen - anschauung steht unter ihrem Bann.

Für die bildende Kunst bereitet das Drama den Sagenstoff in einer Weise vor, wie keine zweite Dichtungsgattung; auch in ihm werden ja schon die Vorgänge leibhaftig dem Zuschauer vor Augen gestellt, auch in ihm wird der Stoff in einzelne charak - teristische Scenen zerlegt vorgeführt. Diese ungemeinen Vorteile der dramatischen Sagenform konnten der bildenden Kunst nicht lange verborgen bleiben, aber es bedurfte Zeit, bis sie sich die - selbe zu Nutzen machte; die Wirkung war keine augenblickliche, sondern eine ganz allmähliche. Aus dem fünften Jahrhundert besitzen wir kein Kunstwerk, welches den Sagenstoff in derjenigen Form bildlich darstellt, in welcher ihn in derselben Zeit Aischylos, Sophokles und Euripides auf die attische Bühne brachten. Frei - lich in einem Punkte bedarf diese Behauptung einer Einschrän - kung. Das ausgelassene Treiben der nichtsnutzigen Satyrn im Satyrspiel bot zu so köstlichen Darstellungen Anlaſs, daſs sich die attischen Künstler diesen dankbaren Stoff unmöglich entgehen lassen konnten29)Ich meine vor allem die Satyrvase des Brygos (M. d. I. IX tav. XLVI. Wiener Vorlegeblätter Ser. VIII 6), auf der wahrscheinlich eine Scene aus der Iris des Achaios zu erkennen ist; vgl. Matz A. d. I. 1872 p. 300. Helbig B. d. I. 1872 p. 41. Urlichs D. Vasenmaler Brygos S. 5. Die dort gleichfalls als Möglichkeit zugelassene Beziehung auf den Inachos des So - phokles scheint mir wenig wahrscheinlich. Aber auch auf einer Duris - vase (Wiener Vorlegeblätter Ser. VI 4) läſst der Satyrherold (vgl. Athen V p. 198 A) die Einwirkung der Bühne erkennen. Ob nicht sowohl in diesem Herold als auch in dem durch bunten Chiton ausgezeichneten Satyr auf der be - rühmten Neapler Vase (Heydemann Nr. 3240) der Koryphaios des Satyrchores zu erkennen ist?; im Übrigen aber ist es bis jetzt nicht geglückt, wenigstens mit einiger Probabilität, bei Kunstwerken des fünften Jahrhunderts den Einfluſs der Sagengestaltung des Dramas nach -29 zuweisen30)Näheres siehe im Cap. IV Das attische Drama und die Vasen - malerei des fünften Jahrhunderts.. Sollte es aber auch in einzelnen Fällen glücken, so würde die Ausnahme nur die Regel bestätigen. Im Allgemei - nen dürfen wir die Thatsache konstatieren, daſs die Kunst des fünften Jahrhunderts in der Sagenform von dem Epos und in einzelnen Fällen von der Lyrik abhängig ist; aber wenn nicht in der Sagenfassung, so macht sich doch der Einfluſs des Dramas im Charakter der Darstellung zuerst leise und dann immer stärker geltend. Man darf vielleicht sagen, daſs in jener Periode zwar nicht der Stoff, aber die Form der Kunstdarstellungen dramatisch ist. Das zeigt sich zunächst darin, daſs stets die dargestellte Scene scharf präcisiert wird. Verschwunden ist jene Unbestimmt - heit und Ungewiſsheit der archaischen Kunstdarstellungen. Ein ganz bestimmter Moment schwebt dem Künstler vor, der mög - lichst dramatische, und alle dargestellten Figuren sind in diesem ganz bestimmten Moment und in engster Verbindung mit der Hauptgruppe gedacht; es ist bewundernswert, wie geschickt und zugleich wie pietätvoll diese Kunstperiode die alt überlieferten Typen, die natürlich gröſstenteils an der geschilderten Unbestimmt - heit leiden, so umzugestalten versteht, daſs eine spannende dra - matische Scene entsteht. Ein alter bildlicher Typus stellt den Streit des Aias und des Odysseus um die Waffen des Achilleus dar. Mit gezücktem Schwert wollen beide auf einander los, und mit gewaltiger Anstrengung sind die übrigen Achäer bemüht, sie von einander abzuhalten; kein Versuch ist gemacht, die einzelnen Achäer oder auch nur die beiden Hauptfiguren Aias und Odysseus näher zu charakterisieren, selbst der Gegenstand des Streites, die Waffen des Achilleus, ist nicht immer dargestellt. Im fünften Jahrhundert hat der Vasenmaler Duris mit gewissenhaftester An - lehnung an diesen alten Typus folgende Scene geschaffen: Aias hat bereits den Panzer des Achilleus angelegt, zu seinen Füſsen liegen Helm und Schild; nur die rechte Schulterspange des Pan - zers steht noch offen. Er hat das Schwert gezückt und will auf Odysseus los. Dieser hingegen ist eben erst im Begriff, das Schwert30 zu ziehen. Agamemnon und die übrigen Achäer sind bemüht, die Streitenden zu trennen und Frieden zu stiften. Mit lebendigster Klarheit steht die ganze Situation, steht auch das ganze Werden derselben vor unsern Augen, mit wenigen meisterhaften Strichen ist der Charakter der Haupthelden gezeichnet. Aias, hastig zufahrend, hat sich gleich der Waffen des gefallenen Achilleus bemächtigt und den Panzer angelegt, um zu prüfen, ob auch ihm dies Werk des Hephaistos passe. Dann ist Odysseus gekommen, in schlauer Rede seine Ansprüche geltend zu machen. Aufbrausend hat Aias das Schwert gezogen, ohne sich auch nur Zeit zu nehmen, den Panzer völlig anzulegen das zeigt die offen stehende Schulterklappe. Odysseus klug und bedächtig zieht erst das Schwert, da er angegriffen ist31)Die richtige Deutung dieser gegenwärtig im Wiener Industriemuseum befindlichen Durisvase (M. d. I. VIII T. XLI. Wiener Vorlegebl. Ser. VI Taf. I s. die Abbildung unten in dem Excurs Ὅπλων κρίσις) hat zuerst W. Klein auf der Innsbrucker Philologen-Versammlung ausgesprochen (Ver - handl. d. XXIX. Philologen-Versammlung S. 154); auch Brunn war schon vorher zu derselben Deutung gekommen (a. a. O. S. 151). Die im Text ge - gebene Erklärung weicht in einigen Punkten von Klein ab. S. unten..

Mit dieser schärferen Begrenzung der Situation hört natür - lich auch die Möglichkeit auf, den ganzen Verlauf der Handlung auf einmal darzustellen. Daher verfällt man darauf, die Sage in mehreren, zunächst zwei oder drei Scenen zu erzählen; nament - lich in der Gefäſsmalerei boten die beiden Seiten der Amphora und des Kraters oder die beiden Auſsenseiten und die Innenseite der Trinkschale die beste Gelegenheit zu einer pointierten Gegen - überstellung zweier besonders wichtiger Momente der Handlung, wie denn das Gegenbild der eben geschilderten Komposition des Duris die Abstimmung der Achäer über Aias und Odysseus zu Gunsten des letzteren darstellt.

Der Einfluſs des Dramas zeigt sich auch darin, daſs die Nebenfiguren jetzt nicht nur mit gröſserer Sorgfalt ausgewählt und wo möglich in enge, freundschaftliche oder verwandtschaftliche Beziehung zu den Hauptfiguren gesetzt werden, sondern auch nicht teilnahmlos und nur mit sich selbst beschäftigt dastehen,31 vielmehr in lebhaftester Weise ihre Teilnahme an der Handlung zu erkennen geben32)S. Cap. II Erweiterung der Typen; vgl. auch meine Schrift über Thanatos S. 15.. Sie übernehmen also gewissermaſsen die Rolle des Chors. Und vielleicht geht auch noch eine Eigentüm - lichkeit auf den Einfluſs der Bühne zurück. Es ist auf Darstel - lungen dieser Zeit besonders beliebt, daſs in dem Bilde selbst irgend eine Figur den Hauptvorgang sei es in derselben Scene sei es in der der Rückseite anderen erzählt und, der Eindruck, den diese Erzählung auf die Hörer macht, mit besonderer Liebe geschildert wird33)Vgl. Luckenbach a. a. O. S. 587.. Auf einer Darstellung der Entführung der Helena berichtet rechts eine Dienerin dem erschreckten Tyndareos was geschehen ist. Als Gegenbild zu dem oben geschilderten Ringkampf des Peleus und der Thetis wird im fünften Jahr - hundert der Augenblick dargestellt, wo fliehende Nereiden dem greisen Nereus die Gefahr seiner Tochter berichten. Es ist der Botenbericht des attischen Dramas in die bildende Kunst übertragen34)Damit soll natürlich nicht geleugnet werden, daſs Ansätze zu diesem Motiv schon in der archaischen Kunst vorhanden sind; so auf der François - Vase Antenor und Priamos. Aber dominierend wird es doch erst im fünften Jahrhundert..

Aber nicht nur die alten Typen werden in diesem neuen, dramatischen Sinne umgestaltet und vervollkommnet, auch neue Typen tauchen in erstaunlicher Fülle auf, so daſs mit der for - mellen Vervollkommnung der Komposition ein sehr bedeutender stofflicher Zuwachs, eine ungemeine Erweiterung des Kreises der Darstellungen, Hand in Hand geht. Den Anstoſs dazu gab die Verpflanzung der ionischen monumentalen Wandmalerei auf attischen Boden; von den Werkstätten jener ionischen Zuwanderer, die ihre Inseln mit der mächtig aufblühenden Hauptstadt des attischen Reiches vertauscht hatten, von den Werkstätten eines Polygnotos von Thasos, seiner Genossen und Schüler ist die Schöpfung dieser Typen ausgegangen, tief das ganze künstlerische Treiben Athens durchdringend und belebend; den Stoff aber suchten und fanden32 diese Künstler, wie gar bald auch die einfachen Kunsthandwerker, unmittelbar in der Volkssage. Die speciell attischen Sagen, die für die Kunst durchaus, für die Poesie wenigstens gröſstenteils terra vergine waren, dominieren nun gar bald wie auf den Wänden der Tempel und Hallen, so auf den bescheidenen Gerätschaften des täg - lichen Lebens, vor allen der Vasen; so die der ältesten attischen Mythenschicht angehörigen Sagen von der Geburt und Pflege des Erichthonios und vom Raub der Oreithyia, die jüngeren Sagen von den attischen Abenteuern des Theseus35)S. Philologische Untersuchungen I. Heft S. 43., die eleusinische Sage von der Ausfahrt des Triptolemos, die paralische Sage vom schönen Jäger Kephalos36)Kephalos erscheint aber nicht bloſs als Jäger, sondern mit allen Attributen des attischen Knaben und Jünglings; mit dem Diptychon des Knaben, der zum γραμματιστής geht, und mit der Leier, die keineswegs den Sänger andeutet, sondern nur den gebildeten Athener, der κιϑαρίζειν ἐπίστα - ται oder, wenn er knabenhaft erscheint, εἰς κιϑαριστοῦ ἔρχεται. Es ist des - halb nicht nur, wie Helbig richtig gesehen hat, die neue Hermonaxvase (B. d. I. 1873 p. 167. Arch. Zeit. 1878 S. 112), sondern sämmtliche Darstellungen, auf denen eine geflügelte Frau einen Jüngling mit der Leier verfolgt, auf Eos und Kephalos zu deuten. O. Jahns Bedenken (Arch. Beitr. S. 99), es sei nicht erlaubt hier Kephalos zu erkennen, weil diesem die Sage nicht den Zug ephebischer Bildung gegeben habe, daſs er mit Leier und Büchern um - zugehen wuſste, kann heute schwerlich mehr aufrecht erhalten werden. Auch ohne daſs die Sage oder die Poesie es vorgebildet hat, kann Kephalos einfach als attischer Jüngling oder Knabe erscheinen, mit demselben Rechte wie Ganymed mit dem Spielzeug attischer Knaben, dem Reifen, und in Be - gleitung eines Pädagogen auf attischen Vasen erscheint, da doch Sage und Poesie ihn als Hirtenknaben kennen. Die Beischriften Νίκα und Λίνος auf einer zu dieser Klasse gehörigen Berliner Vase (Arch. Zeit. 1848 Taf. 21, 1), welche unserer Auffassung widersprachen, sind jetzt von Körte und Furt -. Es ist als ob ein Bann, der auf der attischen Sagenwelt gelegen, auf einmal gebrochen sei, da nun der Athener nicht bloſs die fremden durch ionisches Epos und do - rische Lyrik ihm zugeführten und freilich seit lange vertrauten Geschichten, sondern auch die ganz eigentlich auf attischem Boden gewachsenen und an der attischen Landschaft haftenden Sagen im Bildwerk vor sich sieht. Ob und wie diese attischen Lokalmythen vor dem fünften Jahrhundert poetisch fixiert worden33 sind, ist schlechterdings nicht auszumachen37)Wann die von Aristoteles (Poet. 1451a 16) und Anderen erwähnten Θησηΐδες entstanden sind, ist schlechterdings nicht auszumachen; aber ebenso wenig steht es fest, daſs sie die attische und nicht vielmehr die alte troi - zenische Theseussage enthielten. Daſs die Atthis des Hegesinoos eine Fäl - schung oder richtiger eine Fiction ist, glaube ich (de Gratiis Atticis in den Commentationes Mommsenianae p. 145) gezeigt zu haben. In die genealo - gischen Systeme der Geschichtsschreiber werden die attischen Sagen erst am Ende des fünften Jahrhunderts durch Hellanikos eingeführt.. Aber nichts deutet darauf, daſs diese Poesieen, wenn es, abgesehen von der dem Kultus und dem Geschlechterstolz botmäſsigen Hymnenpoesie38)So z. B. die von Plato im Lysis p. 205 C erwähnten Gedichte, wo Ktesippos von seinem Lysis rühmt: τὸν γὰρ τοῦ Ἡρακλέους ξενισμὸν πρῴην ἡμῖν ἐν ποιήματί τινι διῄει, ὡς διὰ τὴν τοῦ Ἡρακλέους ξυγγένειαν πρόγονος αὐτῶν ὑποδέξαιτο τὸν Ἡρακλέα γεγονὼς αὐτὸς ἐκ Διός τε καὶ τῆς τοῦ δήμου ἀρχηγέτου ϑυγατρός, ἅπερ αἱ γραῖαι ᾄδουσιν., solche gegeben hat, über einen ganz engen Kreis hinaus Bedeu - tung gewonnen haben. Im fünften Jahrhundert aber bemäch - tigen sich sowohl das Drama wie die bildende Kunst, jedoch beide wie es scheint selbständig dieser dankbaren Stoffe, und hier dürfte zuweilen der seltene Fall eingetreten sein, daſs in dem Er - fassen eines neuen Stoffes die Kunst voranging, die Poesie folgte. Ein Beispiel für diese beachtenswerte Erscheinung liefert uns das Gemälde des Mikon im Theseion, Theseus auf dem Meeresgrund bei seinem göttlichen Vater Poseidon, ein Mythos, den nach aller Wahrscheinlichkeit Euripides in seinem Theseus behandelt hat39)Vgl. Wilamowitz im Hermes XV S. 483 Leo Seneca I p. 181 und das von mir Eratosthenis catasterismorum reliquiae p. 221 n. 1 Bemerkte. Die oft besprochene Vase des Neapler Museums (Heydemann Nr. 3352. Bull. Nap. N. S. V 2) scheint mir nach Analogie dieser attischen Sage Achilleus auf dem Grund des Meeres bei Nereus darzustellen, ohne daſs an etwas anderes zu denken wäre, als an den Besuch des Enkels bei seinem gött - lichen Groſsvater. Die Beziehung auf den Auszug nach Troia wird von den Interpreten willkürlich hineingelegt.;36)wängler (Arch. Zeit. 1880 S. 101 u. 161) als modern erwiesen. So steht zu hoffen, daſs die richtige bereits von Em. Braun (A. d. I. 1840 p. 154) aufge - stellte Deutung endlich in ihr Recht treten und die seltsame Anschauung als ob bei den Alten die Jünglinge von Nike verfolgt würden und vor ihr wegliefen, aus der archäologischen Litteratur verschwinden wird.Philolog. Untersuchungen V. 334aber das Bild gehört der ersten, das Stück zweifellos der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts an. Noch augenscheinlicher ist dies in einem anderen Fall, wo der ionische Künstler nicht eine attische, sondern eine Sage seiner Heimat dargestellt und dadurch vielleicht erst in Athen eingebürgert hat. In irgend einem Gebäude Athens in welchem wissen wir nicht, jedoch sicher nicht in den Propyläen hatte Polygnot den Mythos von Achill unter den Töchtern des Lykomedes dargestellt, einen Mythos, der ein durchaus epichorisches Gepräge hat und aus dem Lokalpatriotis - mus der Inselgriechen, zunächst der Skyrier, entsprungen ist, welcher sich gegen die Überlieferung von einer feindlichen Erobe - rung der Insel durch Achilleus, wie sie das Epos kannte, auflehnte, anderseits aber um des Neoptolemos willen den Aufenthalt des Achilleus auf Skyros beibehalten und nur anders motivieren muſste. Hier ist es also auch für den skeptischsten Forscher klar, daſs die Tragödie des Euripides Σκύριοι nicht nur später, das ver - steht sich bei einer Euripideischen Tragödie von selbst40)Ein gewiſs schon von Vielen stillschweigend korrigierter Irr - tum ist die von Heyne und Brunck aufgestellte, von Welcker übernom - mene Ansicht, dass die Σκύριοι des Sophokles denselben Mythos behandelt hätten. Wir sind selten in der glücklichen Lage unter nur zwei gröſseren Fragmenten eines Stückes ein so entscheidendes zu haben, wie das bei Stobaeus (Floril. 124, 17. fr. 510 Nauck. ) erhaltene. Wer kann so sprechen, als Neoptolemos zu Phoinix, der seinem Schmerz um Achilleus in übermäſsi - gen Klagen Luft macht, und wie männlich schön sind die Worte:ἀλλ̕ εἰ μὲν ἦν κλαίουσιν ἰᾶσϑαι κακά καὶ τὸν ϑανόντα δακρύοις ἀνιστάναι, χρυσὸς ἧσσον κτῆμα τοῦ κλαίειν ἄν ἦν. νῦν δ̕, γεραιέ, ταῦτ̕ ἀνηνύτως ἔχει τὸν ἐν τάφῳ κρυφϑέντα πρὸς τὸ φῶς ἄγειν· κἀμοὶ γὰρ ἂν πατήρ γε δακρύων χάριν ἀνῆκτ̕ ἂν εἰς φῶς. Nicht klagen um ihn will ich , so mag es weiter geheiſsen haben, sondern ihn rächen. Welckers Annahme, daſs dem Lykomedes sein einziger Sohn gestorben, ist eben so unglücklich wie willkürlich. Das Stück behandelte also, wie schon Tyrwhitt (zu Aristot. Poet. p. 191) richtig gesehen, die Ab - holung des Neoptolemos von Skyros. son - dern in direkter Abhängigkeit von Polygnot gedichtet ist.

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Wenn also die gewaltige Umwälzung, welche sich durch die Tragödie mit den alten Sagenstoffen sowohl solchen, die bereits in Epos und Lyrik poetisch verarbeitet waren, wie solchen, die jetzt zum ersten Mal von der Poesie aus der Volkstradition auf - genommen wurden, vollzog, keinen sofortigen merkbaren Einfluſs auf die Kunst ausübte, so war derselbe, als er später zum Durch - bruch kam, um so gewaltiger und nachhaltiger, ja man kann sagen ein für alle Zeiten maſsgebender. Wie überhaupt, so spiegelt auch hierin die Kunst die Wandlung der Volksvorstellung wieder; denn auch für diese hat eben das Drama die endgültige, von jetzt an allein bekannte und populäre Sagenform geschaffen. Diese immer ausschlieſslichere Herrschaft des Dramas über die Kunst geht nun Hand in Hand mit dem Aufblühen der Tafelmalerei, und gerade bei den Vertreteren dieser Richtung, den Meistern klein - asiatisch-ionischer Abkunft aus dem Anfang des vierten Jahrhunderts, läſst sich dieser Einfluſs am frühesten constatieren. Da malt Parrhasios die Heilung des Telephos, den verlassenen Philoktet auf Lemnos, den erheuchelten Wahnsinn des Odysseus, Timanthes von Kythnos das Opfer der Iphigeneia, lauter Scenen, die, ob - gleich im Epos ausgebildet, doch der archaischen Kunst durchaus fremd sind, und erst jetzt, da ihnen die dramatische Behandlung neuen Reiz gegeben hat, auch in die Kunst eindringen. Und wenn derselbe Timanthes den schlafenden Kyklopen darstellt und die Satyrn, die mit einem Thyrsos die Gröſse seines Daumens messen, so ist doch wahrlich unverkennbar, daſs die eigentliche Veranlassung zu diesem launigen Einfall der Kyklops des Euripides ist. Nir - gend sonst kommt Polyphem mit Satyrn zusammen, und der Künst - ler würde, ohne den Vorgang der Bühne, schwerlich zu dieser Er - findung gelangt sein und gewiſs nicht auf Verständnis bei dem Publikum haben rechnen können, da ihm das motivierende Wort versagt ist. Allein auch jetzt liegt natürlich der antiken Kunst nichts ferner, als eine genaue Illustration des Dramas oder eine direkte Wiedergabe der Bühne; auch jetzt wird der Zusammen - hang zwischen Bild und Lied vermittelt durch die herrschende Volksvorstellung, richtiger vielleicht die Vorstellung der Gebil - deten, wenn sich auch die Künstler jetzt in einzelnen Fällen der3*36Übereinstimmung mit der Dichtung bestimmter bewuſst gewesen sein mögen, als in früheren Zeiten. Es versteht sich von selbst, daſs es zunächst die dem Dramatiker durch dramaturgische Rück - sichten gesetzten Schranken sind, welche der Künstler durchbricht. Während in der Schluſsscene der Antiopa nur Zethos, Amphion und Hermes als ϑεὸς ἐκ μηχανῆς, allenfalls auch Lykos wenn derselbe nicht vorher abgeführt war, auf der Bühne sein konnten, fügt der Künstler nicht nur die Hauptfigur des Stückes Antiopa hinzu, sondern stellt auch auf der anderen Seite des Bildes die Schleifung der Dirke dar41)Vgl. Arch. Zeit. 1878 Taf. 7. Dilthey a. a. O. S. 43 giebt freilich den Zusammenhang mit Euripides nur bedingt zu.; die litterarische Quelle bleibt nichts desto weniger Euripides und nur Euripides, auch wenn bei ihm diese Ereignisse weder gleichzeitig noch genau in derselben Weise statt - haben, wie auf dem Bilde. Der Künstler hat weiter das Recht und wahrt es sich, Personen menschlicher und göttlicher Wesen - heit hinzuzufügen, von denen der Dichter nichts weiſs; und ge - rade hierin wird der Künstler am meisten dem Geschmack und der Anschauung seiner eigenen Zeit gerecht. Die Vorliebe der alexandrinischen Periode für Personifikation und Allegorie führt ganz von selbst zur Einfügung jener dämonischen Ge - stalten, jener Repräsentanten von Leidenschaften und anderen abstracten Begriffen, denen schon das Epos je nach Bedürfnis Per - sönlichkeit geliehen, die sogar in einzelnen Fällen der tragische Dichter dem Zuschauer gezeigt hat. Die Leidenschaft, unter deren Bann die Scene sich abspielt, stellt der Künstler leibhaftig dem Beschauer vor Augen, Oistros und Lyſsa reiſsen den Menschen zum Verbrechen hin, Ate führt ihn ins Verderben. Den eigent - lichen Anstoſs hierzu hat allerdings das Drama gegeben, aber es ist keineswegs notwendig, nicht einmal wahrscheinlich, daſs auch in jedem einzelnen Fall der Dichter es dem Künstler vor - gemacht haben muſs. Der hellenistische Künstler stellt neben die kindermordende Medeia den Oistros, wie der römische neben den jagenden Hippolytos die Virtus stellt, ohne daſs der eine darin einem nacheuripideischen griechischen, der andre37 einem römischen Dichter folgt. Ebenso selbstverständlich ist es, daſs der Künstler je nach Bedürfnis, namentlich bei figuren - reicheren Compositionen, Gestalten hinzufügt, die in der eigent - lichen dramatischen Hauptquelle gar nicht vorkommen, aber vom Mythos gegeben sind oder auch nicht gegeben sind, sondern vom Künstler nach Belieben eingeführt werden. Als Beispiel kühner und freier künstlerischer Weiterbildung des Mythos mag hier die Münchener Medeiavase näher betrachtet werden42)O. Jahn Vasensammlung König Ludwigs Nr. 810, abgebildet Millin Tombeaux de Canose Taf. 7. (Danach Wiener Vorlegeblätter Ser. I Taf. 12). Arch. Ztg. 1847 Taf. 3.. Eine Fülle von neuen Personen und neuen Motiven, die alle dem Euripideischen Drama fremd sind, hat der Künstler in dieser figurenreichen Composition vor uns ausgebreitet, und doch ist die Scene, die er uns vorführt, keine andere als die Euripideische, und kein anderes Dichtungswerk, keine spätere Überarbeitung hat ihm vorgelegen; er verfuhr so, wie ein mit der Sage in der Euripi - deischen Form vertrauter, aber frei schaffender und phantasie - voller Künstler verfahren muſste, der das ganze Rachewerk der Medeia in einem Bilde vor Augen stellen wollte. Das bekannte Dispositionsschema der unteritalischen Prachtamphora wird in geschickter Weise zur Darstellung der beiden Hauptakte dieses Rachewerkes benutzt: die Rache an Kreusa wird in der Mitte, die Rache an Iason auf dem unteren Teil der Vase dargestellt. In dem Gemach, das die Mitte der ganzen Darstellung einnimmt, steht Kreon jammernd neben seiner von den Flammen ergriffenen und ohnmächtig auf den Thron niedersinkenden Tochter43)Sie heiſst auf der Vase Κρεοντεία scil. παῖς oder ϑυγάτηρ, wie Flasch (B. d. I. 1871 p. 20) richtig erklärt; bei Euripides ist sie bekanntlich namenlos, ebenso wie die Ἡράκλειοι παῖδες im Herakles v. 71. Die Namen Glauke oder Kreusa kommen erst in den ὑποϑέσεις und den mythographischen Hand - büchern auf. Heydemanns Einwürfe gegen Flasch (A. d. I. 1873 S. 23) können mich nicht überzeugen.. Man verlangt teilnehmende ergriffene Zuschauer bei dieser Schreckens - scene; bei Euripides in der Botenerzählung werden dem Gebrauch des Dramas gemäſs nur untergeordnete Personen gegenwärtig38 gedacht, Dienerinnen, unter denen eine Alte besonders hervorge - hoben wird. Der Künstler braucht näher beteiligte Personen: Iason ist nun bei der unteren Scene unumgänglich notwendig, also hier nicht zu verwerten; er läſst daher von der einen Seite die entsetzte Mutter Merope44)Der Name von Kreons Gemahlin ist uns in der erhaltenen Litteratur nicht überliefert; aber Jahn Arch. Ztg. 1847 S. 36 macht mit Recht darauf auf - merksam, daſs gerade Merope auch sonst noch zweimal als Name korinthi - scher Königinnen vorkomme, denn die Gattin des Sisyphos und die des Polybos, die Pflegemutter des Oidipus, führen diesen Namen. Es ist nun ebenso mög - lich, daſs in einem genealogischen Werke die Gattin des Kreon diesen Namen hatte, als daſs der Vasenmaler ihr denselben in Erinnerung an jene beiden anderen korinthischen Königinnen auf eigene Hand gab., von der andern den Bruder Hippotes45)Hippotes stand in der alten korinthischen Königsliste als Sohn und Nachfolger des Kreon; nach einer Version ist er es (Schol. Eur. Med. 19 u. 20. Diod. IV 53) und nicht Kreon, mit dessen Tochter sich Iason vermählt. S. O. Jahn a. a. O. Anm. 14. hilfreich herbeieilen. Aber und hierin zeigt sich wieder augenscheinlich die Abhängigkeit von Euripides auch die alte Dienerin der Botenerzählung läſst sich der Künstler nicht entgehen46)Gleichfalls von Jahn a. a. O. bemerkt.. Wir sehen sie (durch den über den Kopf gezogenen Schleier als Amme charakterisiert) sich eilig nach rechts entfernen, offenbar um den Iason zu rufen, dessen Fehlen sonst auffallen würde. Unten mordet Medeia die Kinder, und Iason von einem Doryphoros begleitet eilt zur Rache herbei, zwei zeitlich kurz aufeinanderfolgende Scenen hat der Künstler in eine zusammengezogen. Aber der Beschauer will auch wissen, wie Medeia sich der Rache des Gatten entzieht. Darum muſs der Schlangenwagen, auf welchem Medeia bei Euripides erst in der folgenden Scene erscheint, im Bilde schon jetzt gegenwärtig sein. Aber damit erwächst dem Künstler auch die Nötigung einen Wagenlenker zu erfinden, da bei Euripides Medeia selbst lenkt; er greift zu der Personifikation ihrer Leidenschaft, Oistros ist es, der den Wagen für Medeia bereit hält. Um nun eine Verbin - dung der unteren mit der oberen Scene herzustellen und zugleich dem Beschauer ins Gedächtnis zu rufen, daſs es die Kinder der39 Medeia waren, die der Königstochter die unheilvollen Geschenke überbracht haben, läſst er den Pädagogen, der die Kinder hin - und zurückgeleitet hat47)Anders O. Jahn a. a. O., auf halbem Wege sich umkehren, entsetzt das Unheil wahrnehmen und den Schritt hemmen, während eine Dienerin im Begriff ist, ihn mit sich zur Medeia fortzuziehen. So wird durch diese Gruppe ein streng entsprechendes Gegen - bild zu der alten Dienerin der Kreusa gewonnen, die auf der anderen Seite gleichfalls nach der unteren Scene zu Iason hineilt. Den Kindern, die bereits bei der Mutter angelangt sind, muſs aber jetzt noch ein anderer Begleiter zugesellt werden; der Künstler wählt einfach einen Doryphoros, aber gleichzeitig benutzt er diese neue Figur, indem er das Motiv einer früheren Stelle des Stückes hierherzieht, zu einem schönen und ergreifenden Zuge. Am Schluſs des Prologes heiſst die Amme den Pädagogen die Kinder hineinführen und dafür Sorge zu tragen, daſs sie der Mutter nicht zu nahe kommen:

σὺ δ̕ ὡς μάλιστα τούςδ̕ ἐρημώσας ἔχε
καὶ μὴ πέλαζε μητρὶ δυσϑυμουμένῃ.
ἤδη γὰρ εἶδον ὄμμα νιν ταυρουμένην
τοῖςδ̕ ὥς τι δρασείουσαν.

So der Dichter; der Künstler läſst jetzt im Augenblick der höchsten Gefahr den Doryphoros noch einen Versuch machen, wenigstens den einen Knaben den Augen und Händen der Mutter zu entziehen48)Daſs dabei der Vasenmaler an die Sagenversion gedacht haben sollte, nach welcher der eine Sohn der Medeia gerettet wird (Diod. IV 54), erscheint mir wenig glaublich.. Soweit ergeben sich Änderungen und Zusätze von selbst aus der dem Künstler gestellten Aufgabe; nur ein Zusatz ist ohne solche Nötigung seiner künstlerischen Phantasie entsprun - gen, ein Zusatz von solcher Schönheit, daſs es manchen Gelehrten schien, er müsse notwendig aus einer anderen poetischen Quelle geflossen sein: als Zuschauer der Greuelthaten steigt rechts das Schattenbild des Aietes auf, um die Wirkung seines Fluches zu40 schauen49)O. Jahn a. a. O. und C. Dilthey (Arch. Zeit. 1875 S. 71) glauben eine nacheuripideische Tragödie als Quelle für diese Einfügung von Aietes Schat - tenbild statuieren zu müssen. Den Keim zu dieser Erfindung ist man ver - sucht in Eur. Med. v. 31 33 zu vermuten.. Allein bedenkt man, mit welch feinem Takt auch im Übrigen der Künstler verfährt, so wird man auch diese Er - findung ihm oder seinem künstlerischen Vorbild wohl zutrauen mögen. Der obere Raum, den nach feststehender Regel dieses Vasenstils die Götter einzunehmen pflegen, wird hier zunächst von der Schützerin und Verfertigerin der Argo, Athena, dann von den zu Göttern gewordenen Argonauten, Herakles50)Herakles scheint im vierten Jahrhundert durchaus als ein Haupt - teilnehmer an der Argonautenfahrt betrachtet zu werden; so sehen wir ihn auch auf der Meidiasvase mit den Argonauten bei den Hesperiden; beiläufig mag bemerkt werden, daſs dort der Name des sitzenden Königs zweifellos zu Ἄτλας zu ergänzen ist. Ein engeres Verhältnis zwischen Medeia und He - rakles besteht bei Diodor IV 54, 6. 55, 4, der, wahrscheinlich nach Dionysios Skytobrachion (vgl. Welcker Ep. Cyklus I S. 82, Schwartz de Dionysio Scyto - brachione p. 4 f.), erzählt, daſs Medeia nach dem Kindermord zu Herakles nach Theben flieht und ihn vom Wahnsinn heilt, eine seltsam pointierte Zu - sammenstellung des im gottverhängten Wahnsinn zum Kindermörder gewor - denen Mannes mit dem durch Rachsucht zum Kindermord getriebenen Weibe. und den Dios - kuren ausgefüllt. Diese reiche und durchdachte Composition ist in gewisser Beziehung typisch für die Art und Weise, in welcher sich die gesammte spätere Kunst zu der Tragödie des 5. Jahr - hunderts stellt; völlige Abhängigkeit von der Sagenversion, enger An - schluſs an die wichtigsten Situationen, aber im Detailkein sklavisches Nachbeten, keine Beschränkung der frei schaffenden künstlerischen Phantasie, die zuweilen selbst in die Rechte der Dichtung eingreift.

Aber noch zu einer weiteren Betrachtung ladet unsere Vase ein. Das Streben, den Mythos in seinem ganzen Verlauf, in jedem einzelnen Zug vor Augen zu stellen, den Beschauer gleich auf den weiteren Verlauf hinzuweisen, wie hier durch den Drachen - wagen, und ihn zugleich an die Vorgeschichte, an zum Teil weit zurückliegende Ereignisse zu erinnern, wie hier durch die An - wesenheit der heroisirten Argonauten und die Erscheinung des Schattens des Aietes geschieht, erinnert es nicht an die ver -41 wandten nur weit naiveren Versuche der archaischen Kunst? Freilich solche Unzuträglichkeiten, solche Unbestimmtheit in Bezug auf Ort und Zeit, wie wir sie dort wahrnahmen, sind hier vermieden. Hier spielt die Scene in und vor dem Königspalast des Kreon, und ein bestimmter entscheidungsvoller Augenblick ist wohl über - legt zur Darstellung ausgewählt, ein Augenblick freilich, in dem gar vielerlei zugleich geschieht, in dem Kreusa, von den Flammen gequält niedersinkt, ihr Vater sie umfaſst, Mutter und Bruder herbeieilen, in dem Medeia ihr eines Kind tötet, ein Diener das andere zu flüchten sucht, Iason zur Rache herbeieilt, Oistros mit dem Drachenwagen naht; denn daſs das Zusammenfallen aller dieser Ereignisse in einen Moment denkbar ist, wird doch niemand leugnen wollen. Ja, aber auch nur denkbar. Je länger man sich in die Situation vertieft, desto weniger glaubt man an die Wahrscheinlichkeit, daſs alles dies sich auch wirklich gleichzeitig ereignet habe man sehe doch nur den Pädagogen, der noch auf dem Rückweg befindlich auf die sterbende Kreusa hinstarrt, während schon einer seiner Pflegebefohlenen von der Mutter gemordet wird desto mehr kommt man zu der Ueberzeugung, daſs etwas weniger mehr ge - wesen wäre. Es ist wahr, alle Figuren sind in einer sehr prä - gnanten Handlung gedacht, die zu den Hauptfiguren in einer engen Beziehung steht, nur die als Zuschauer gedachten Götter er - scheinen ruhiger, die Dioskuren fast teilnamlos aber gerade hierdurch werden wir verwirrt, die Einzelfiguren greifen nicht harmonisch in einander, und wenn wir eine Darstellung des fünften Jahrhunderts damit vergleichen, so werden wir zwar einen dramatischen Grundton unserer Vase nicht absprechen können, ja wir werden eine groſse Fähigkeit, heftige Leiden - schaften wiederzugeben, gerne anerkennen, aber wir werden auch eingestehen müssen, daſs die Kunst in demselben Maſse, als sie an Pathos gewonnen, an Charakteristik verloren hat, und das sowohl hinsichtlich der Wiedergabe der ganzen Situation als der einzelnen Figuren.

Und damit berühren wir jene verhängnisvolle Richtung, welche die Kunst bei der Darstellung mythologischer Scenen zuerst un -42 merklich, dann immer entschiedener einschlägt; das Interesse an dem Gegenstande selbst geht mehr und mehr verloren; an seine Stelle tritt das mehr formelle Interesse an der Art der Behandlung. Daher zunächst die starke Betonung des psycho - logischen Elements, auf das ja überhaupt im 4. Jahrhundert sich die Aufmerksamkeit immer mehr richtet, daher der stark pathe - tische Zug, der sich im Kunsthandwerk zuweilen bis zum thea - tralisch Übertriebenen steigert. Bildwerke, wie die sterbende Iokaste des Silanion, die Pasiphae des Bryaxis, der Athamas des Aristonidas sind in hohem Grade charakteristisch für die Richtung dieser Zeit, die im Mythos nicht mehr die stoffliche, sondern die menschliche Seite sucht, die die Heroengestalten nicht mehr als halbgöttliche Wesen der Vorzeit, sondern als psychologische Probleme interessieren, der endlich die alten Gestalten der Helden - sage wesentlich von der Bühne her vertraut sind. Denn gerade im 4. Jahrhundert, als auf die Periode der dramatischen Produktion, wie so oft, der Aufschwung der Schauspielerkunst folgt und sich in dieser ein ausgesprochenes Virtuosentum zu entwickeln beginnt51)Sehr charakteristisch für die Wichtigkeit, die man im vierten Jahr - hundert der Schauspielkunst beimaſs, ist die Art der Konkurrenz, wie wir sie aus den vor wenigen Jahren am Südabhang der Akropolis ausgegrabenen Inschriften kennen gelernt haben. (Ἀϑήναιον VI S. 476 Mitt. d. deutsch. archäol. Instituts III 1878 S. 112.) Nicht mehr wie in früherer Zeit hat jeder Dichter seine Schauspieler, sondern jedes der drei Stücke der einzel - nen Dichter wird von einem anderen Schauspieldirektor aufgeführt und da - bei sogar streng darauf geachtet, daſs durch die Reihenfolge der Stücke nicht der eine Schauspieler bevorzugt, der andere benachteiligt; vielmehr muſs jeder der Schauspieler einmal an erster, einmal an zweiter und einmal an dritter Stelle spielen. Wenn wir also die Dichter mit a b c, die Schauspieler - truppen mit α β γ bezeichnen, so führen die drei Schauspielertruppen die Stücke von a in der Reihenfolge α β γ, die von b in der Folge β α γ, die von c in der Folge γ β α auf., ist der unmittelbare Einfluſs der Bühne ein sehr bedeutender, namentlich auf die bildende Kunst. Nicht nur die bunten Theatergewänder und die der Bühne entstammenden Typen des Pädagogen, der Amme, der Doryphoroi u. a. dringen in die Kunst ein, auch die Bewegung und die Gebärden der Figuren bekommen etwas entschieden Theatralisches,43 und in einzelnen Fällen ist sogar die ganze Komposition ent - schieden von dem scenischen Bilde beeinfluſst52)Siehe z. B. Wiener Vorlegeblätter Ser. B. Taf. IV. Millingen vases grecs XXIII. Bull. nap. II 7; namentlich gilt dies von solchen Scenen, wo ein Flüchtiger sich dem Altar genaht hat und von der einen Seite die Aus - lieferung verlangt, von der andern verweigert wird. Zuweilen scheint sogar an der Sitte der Bühne, daſs die rechte Seite die Stadt, die linke das Land bedeutet, festgehalten zu werden; so steht auf den Antigonevasen Kreon rechts, Antigone, die vom Lande herbeigeführt wird, links.. Gewiſs ist es kein Zufall, daſs in dieser Zeit die Kunst auch das rein Technische des Schauspiels in den Kreis der Darstellung zieht, daſs Maler wie Aristeides den Schauspieler im Kostüm darstellen, und daſs z. B. gerade in dieser Zeit die prächtige attische Vase gefertigt wird, welche Schauspieler und Choreuten im Kostüm eines Satyrspiels um ihren göttlichen Schutzherrn Dionysos ver - sammelt zeigt53)M. d. I. III 31. Wieseler Theatergebäude VI 2. Heydemann Nr. 3240. Es scheint mir zweifellos, daſs wir zehn Choreuten mit dem Chorführer als elftem, drei Schauspieler: Herakles, der wilde von ihm besiegte König und Seilenos, endlich ein κωφὸν πρόσωπον, die auf der Kline neben Dionysos und Ariadne sitzende Frau, wohl die Tochter des Barbarenkönigs, anzunehmen haben. Wir wissen von der Einrichtung des Satyrspiels zu wenig, um a priori in Abrede stellen zu dürfen, daſs die sehr sorgfältige Vase sich nicht auch in der Zahl der Choreuten eng an die wirklichen Verhältnisse ange - schlossen haben könne. Die in Anm. 51 erwähnten Inschriften haben insofern etwas Klarheit gebracht, als sie zeigen, daſs im vierten Jahrhundert das Satyrspiel, wenn überhaupt ein solches aufgeführt wurde, die Reihe der Vorstellungen eröffnete. Hierdurch wird auch die viel besprochene und viel miſshandelte Stelle des Zenobios V 40 s. v. οὐδὲν πρὸς τὸν Διόνυσον verständ - lich: διὰ γοῦν τοῦτο τοὺς Σατύρους ὕστερον ἔδοξεν αὐτοῖς προεισάγειν, ἵνα μὴ δοκῶσιν ἐπιλανϑάνεσϑαι τοῦ ϑεοῦ; sie spricht, worauf ja auch ὕστερον hinweist, von einer Neuerung des vierten Jahrhunderts..

Wie aber verhielt sich diese Zeit zu den älteren bildlichen Typen? zu den Gestaltungen der epischen und lyrischen Poesie? Am Anfang des vierten Jahrhunderts begegnen wir mannigfachen Versuchen mit der bildlichen Tradition zu brechen, vor allem bei solchen Typen, die in ihrer Naivität dem vorgeschrittenen Ge - schmack nicht mehr behagten; so wird der alte Ringkampf von44 Peleus und Thetis bald in eine Liebesverfolgung54)S. Luckenbach a. a. O. S. 588. Auch auf der von Körte publizierten Hermonax-Vase (Arch. Zeit. 1878 Taf. 12) sind unbedenklich Peleus und Thetis zu erkennen; schon die Vergleichung mit der bei Gerhard A. V. III 182 publizierten Vase genügt, um diese Deutung zu sichern., bald in eine Überraschung im Bade umgewandelt. Allein in Einzelheiten ist die bildliche Tradition von einer erstaunlichen Zähigkeit. Die Tiere, welche die Verwandlung der Thetis andeuten, wagt die Kunst nur in einzelnen Fällen ganz wegzuwerfen. Einzelheiten werden sogar aus den alten in die neuen eine ganz andere Sagen - version repräsentierenden Typen mit herübergenommen. Auf römischen Monumenten bringt nicht Peleus in Begleitung der Thetis, sondern diese allein den Achilleus zu Cheiron. Sie trägt ihn aber auch auf ganz späten Monumenten in derselben Weise auf der Hand, wie Peleus in den Vasendarstellungen des 5. Jahr - hunderts55)So auf der Amphora des Pamphaios, die aus der Sammlung Cam - pana in den Louvre gekommen ist (vgl. Brunn, Künstler-Geschichte II S. 725 Nr. 20) und der in dem Journal of hellenic studies I pl. II publizierten Oinochoe..

Vielfach findet die Umgestaltung der alten Typen in der Weise statt, daſs an Stelle einer Handlung die Darstellung einer Situation tritt. Denn neben die dramatisch bewegten Schilderungen treten in dieser Zeit gleichberechtigt Darstellungen eines ruhigen behaglichen Zusammenseins, der ruhigen Unterhaltung ohne Andeutung einer bestimmten Handlung, Scenen die Gelegenheit geben eine Reihe von Figuren in anmutigster Stellung und Bewegung vorzuführen und deren Prototyp weit zurück liegt; es sind Fortbildungen der Abfahrtscenen der archaischen, der Credenzscenen der entwickel - ten Kunst. Während die ältesten Darstellungen des Parisurteils die Göttinnen noch auf dem Wege zum Ida zeigen, die Kunst des fünften Jahrhunderts hingegen sie eben angelangt sein läſst, zeigt die Kunst des vierten Jahrhunderts sie in anmutiger Gruppierung um Paris herumsitzend, und so sehr ist schon in dieser Zeit die Empfindung für das der Situation Angemessene geschwunden, daſs schon jetzt, wie später häufig, Hera auf dem Thronsessel sitzend45 erscheint56)S. Welcker Alte Denkmäler V. Taf. B., von dem ein Unbefangener nicht begreift, wie er auf den Ida kommt. Gespräche werden jetzt mit Vorliebe dargestellt, das Gespräch des Perseus mit der an den Felsen geschmiedeten Andro - meda, das Gespräch des Herakles und der Hesperiden, das Gespräch der Eris und Themis auf der Parisvase, Gespräche zwischen Paris und Helena, Gespräche der Wanderer mit den Trauernden am Grabe, Gespräche von Mädchen und Jünglingen; und wenn wir hören, daſs Parrhasios auf einem Bilde Meleager, Herakles und Perseus dargestellt habe57)Plin. 35, 69., so kann dies doch schlechter - dings auch nur ein Gespräch gewesen sein, das Herakles im Hades mit seinem Ahnherrn und dem kalydonischen Helden führt, der ihm seine Schwester zum Weibe verspricht58)Schol. II. Φ 194. Ἡρακλῆς εἰς Ἅιδου κατελϑὼν ἐπὶ τὸν Κέρβερον συνέτυχε Μελεάγρῳ τῷ Οἰνέως, οὗ καὶ δεηϑέντος γῆμαι τὴν ὰδελφὴν Δηϊάνειραν ἐπανελϑὼν εἰς φῶς κτλ. ἱστορία παρὰ Πινδάρῳ. Apollod. II 5, 12, 4 ὁπηνίκα εἶδον αὐτὸν (d. Herakles) αἱ ψυχαί, χωρὶς Μελεάγρου καὶ Μεδούσης τῆς Γοργόνος ἔφυγον.. Es konnte nicht fehlen, daſs diese Richtung der Kunst immer höhere Anforderungen an das Divinations-Vermögen des Beschauers stellte; den Inhalt des Gespräches auch nur anzudeuten ist dem bildenden Künstler auſser - ordentlich schwer, aus einer Situation läſst sich schwer der Zu - sammenhang erraten. Und die Kunst verlor immer mehr und mehr die Empfindung für das, was sie dem Beschauer zum Ver - ständnis bieten muſs, sie rechnete mit ihrer eigenen Vorstellung und setzte dieselbe ohne weiteres beim Beschauer voraus. In hohem Grade gilt dies von einer groſsen Anzahl pompejanischer Bilder, also doch wohl auch für deren hellenistische Originale. Die Kenntnis der alexandrinischen Gedichte bildet die Voraussetzung für ihr Verständnis, im Vertrauen auf diese Kenntnis hat der Maler auch im Allgemeinen die Vorgänge nur so wenig charak - terisiert, daſs uns die Deutung auſserordentlich erschwert, in vielen Fällen direkt unmöglich ist. Die Art wie Figuren fast ohne jede Beziehung neben einander gestellt sind, erinnert oft an die sacre conversazioni der italienischen Kunst. So sehen46 wir einmal Apollon und Poseidon ohne jede Handlung einander gegenübergestellt, in sich versunken, teilnahmlos wir glauben zwei Statuen zu sehen59)S. Helbig Nr. 1266.; aber ganz im Hintergrunde sehen wir Arbeiter beim Bau einer Stadtmauer, der Künstler hat also Apollon und Poseidon im Dienste des Laomedon beim Bau der Mauern von Troia darstellen wollen.

Am Ende des vierten Jahrhunderts, also mit dem Erlöschen der eigentlichen hellenischen und dem allmählichen Erblühen der helle - nistischen Kultur, begegnen wir aber noch einmal einer bedeutsamen und für die ganze Folgezeit maſsgebenden Neuerung: wir können in dieser Zeit die ersten Bildercyklen constatieren. Ansätze dazu giebt es natürlich schon in früherer Zeit: allein es ist, meine ich, doch etwas anderes, wenn auf den verschiedenen Seiten eines Frieses, auf der Vorderseite und Rückseite einer Vase verschiedene Scenen des - selben Mythos einander gegenübergestellt, wenn in den Metopen des Theseions und nach diesem Vorgang auf den Vasen die ein - zelnen Abenteuer des Theseus aneinander gereiht werden, als wenn der Inhalt eines bestimmten Gedichts in einer Reihe von Tafelbildern vor Augen geführt wird. Dort ist das Gegebene der Raum, der mit einer bestimmten Anzahl von Darstellungen geschmückt wer - den soll, wobei sich vom fünften Jahrhundert an das Bestreben geltend macht in diese verschiedenen Darstellungen einen Zu - sammenhang zu bringen. Hier ist das Gegebene das Gedicht oder der Mythos, dessen Entwickelung sich der Maler in eine beliebige Anzahl von Scenen zerlegt, wodurch sich wieder die Anzahl der Bilder bestimmt. So malt Theon von Samos den troischen Krieg, also den Inhalt des epischen Cyklus, und dann wieder die Schicksale des Orestes in einer Reihe von Bildern60)Plinius 35, 144. Den Zusammenhang der römischen Sarkophag - compositionen mit Theon vermutet Benndorf Ann. d. Inst. 1865 p. 239 vgl. auch Cap. V der Tod des Aigisthos.. Welcher Dichtung er dabei folgte, ist freilich nicht mehr auszumachen; allein wenn wirk - lich die Nachklänge dieser Schöpfungen auf den römischen Sarko - phagen uns vorliegen, so würde dadurch bestätigt, was wir von vorn - herein vermuten durften, daſs er sich der vom Drama geschaffenen47 Mythenversion anschloſs. Hier also begegnet uns zum ersten Mal eine Erscheinung, die sich noch am ehesten mit unseren moder - nen Klassiker-Illustrationen in Parallele bringen läſst. Sobald die dekorative Wandmalerei und das Relief, das auch in dieser Periode noch sich enger an den Entwickelungsgang der Malerei anschlieſst, als moderne Kunsttheoretiker zugeben wollen, der Tafel - malerei auf dies Gebiet zu folgen beginnen, werden sie ganz von selbst dahin getrieben, an Stelle umrahmter Einzelscenen eine Reihe von zeitlich aufeinanderfolgenden, räumlich ohne Abgren - zung in einander überlaufenden Scenen zu setzen; bei dieser gan - zen Neuerung mag übrigens auch die erneute enge Berührung mit dem Orient, in dessen Kunst ein solches chronikartiges Aneinander - reihen von Scenen seit alten Zeiten heimisch war61)Siehe oben Anm. 12., wesentlich mitgesprochen haben. Denn wenn man früher geneigt sein muſste, dies gerade in römischer Zeit so beliebte Aneinanderreihen von Scenen für eine Neuerung dieser späteren Periode zu halten, so haben uns die Ausgrabungen von Pergamon gelehrt, daſs dies Verfahren schon im zweiten Jahrhundert gang und gäbe war, und wer weiſs, ob es nicht schon in die Anfänge der hellenistischen Periode, in die Zeit der ersten intimeren Berührung mit dem Orient zurückdatiert werden muſs. Wie verhält sich nun der pergamenische Telephos - Fries, das älteste Beispiel von der Vereinigung zeitlich aufein - anderfolgender Scenen, zur Poesie? Hier war dem Künstler die Aufgabe gestellt, die Geschichte des mythischen Gründers von Pergamon in einer Reihenfolge von Scenen zu erzählen, aber in der Poesie fand er wohl einzelne Episoden aus dem Leben seines Helden, so namentlich sein Zusammentreffen mit Achilleus, in Epos und Drama behandelt, aber nirgend eine zusammenhängende Schilderung seiner Schicksale. Wenn nun auch eine syste - matische Durcharbeitung der Friesfragmente bis jetzt vermiſst wird, so läſst sich doch so viel erkennen, daſs durchaus die von dem Drama geschaffenen Versionen dem Künstler vorgeschwebt haben, und der Inhalt verschiedener Tragödien von ihm wohl oder übel zu einer einheitlichen Geschichte zusammengearbeitet ist;48 constatieren lassen sich bis jetzt die Auge und der Telephos des Euripides und wenigstens mit einer gewissen Wahrscheinlich - keit die Myser des Sophokles62)Vgl. die Ausgrabungen in Pergamon in den Jahrbüchern der könig - lichen Museen I S. 182 f.. Der Künstler hätte also hier im Kleinen an einer einzelnen Sage dieselbe Operation vollzogen, die aller Wahrscheinlichkeit nach Asklepiades von Tragilos an dem ganzen Mythenschatz des Altertums vollzog, der in seinen Tragodu - menen die vom Drama geschaffene Gestaltung der Sage einheitlich zusammengefast zu haben scheint63)vgl. Wilamowitz Analecta Euripidea p. 181 n. 3 Robert de Apollo - dori bibliotheca p. 74.. Charakteristisch aber ist es gewiſs in hohem Grade, daſs die offiziell recipierte Grün - dungssage des Attalidenhauses denn diese dürfen wir doch an solcher Stelle dargestellt erwarten direkt abhängig ist vom attischen Drama. Dies Erzählen in einer Bilderreihe nimmt, wie so vieles andere, die römische Kunst von der hellenistischen auf; es ist bekannt, wie die römischen Sarkophage einzelne Scenen der Tragödie speciell der Euripideischen, die tabulae iliacae Scenen des troischen Sagenkreises nach der Reihenfolge der erzählten Ereignisse aneinander reihen. Bei letzteren ist die Absicht zu illustrieren durch die beigesetzten Namen und Inhalts - angaben der Gedichte direkt ausgesprochen. Um so mehr muſste es befremden, selbst hier keine genaue Übereinstimmung mit dem Dichter zu finden, vielmehr starke Abweichungen, Zusätze und Erweiterungen manigfachster Art, selbst Scenen, die der Ilias durchaus fremd sind. Dies auffällige Verhältnis wird nicht sowohl aus der mangelhaften durch Hypotheseis vermittelten Bekanntschaft des Künstlers mit dem Dichter64)Dies nahm O. Jahn Griech. Bilderchroniken S. VI an, und ich bin ihm früher darin gefolgt (B. d. I. 1876 p. 217). Jetzt scheint mir, daſs sich die Abweichungen auf die oben angegebene Weise natürlicher erklären, worauf ich übrigens a. a. O. bereits hingewiesen hatte. als vielmehr durch die Ab - hängigkeit desselben von den Schöpfungen früherer Künstler zu er - klären sein, die der Dichtung frei gegenüber traten und es oft vorzogen, sich der dramatischen Version anzuschlieſsen; die Macht49 der bildlichen Tradition tritt dem Entstehen einer genauen Illustra - tion hemmend in den Weg.

Eine letzte bedeutende stoffliche Bereicherung erfährt die Kunst noch durch die alexandrinischen Dichter, ja sogar schon durch ihre Vorläufer im vierten Jahrhundert. Hier bedarf es keines besonderen Beweises, daſs die Quelle nicht die Volksvor - stellung, sondern die Dichtung war, die sich nicht mehr an das ganze Volk, sondern an einen engen Kreis hochgebildeter und fein - sinniger Männer wendete, wie sie an den Höfen der Diadochen und später in Rom den Mittelpunkt des geistigen Lebens bildeten; es kann also auch nicht mehr der vom Dichter beeinfluſste Vor - stellungsreichtum der Nation, sondern nur der dieser Kreise sein, aus welchem der Künstler seinen Gegenstand empfängt, wenn er es nicht, was jetzt immer häufiger geschieht, vorzieht, sich direkt an den Dichter zu wenden und sich mit deutlichem Bewuſstsein und unverkennbarer Absichtlichkeit an die Worte des Dichters an - zuschlieſsen; auch hier also entsteht eine Art Illustration; wie uns denn die letzten Jahre in Pompeji drei Bilder geliefert haben, welche direkt drei alexandrinische Epigramme illustrieren65)M. d. I. X tav. XXV, XXXV. Dilthey A. d. I. 1876 p. 294 s. vgl. das von mir Eratosth. catast. rel. p. 7 n. 10 Bemerkte.. Der enge Anschluſs an die Worte des Dichters führt aber auch zu mannigfachen Auswüchsen, die zu ernsten Erwägungen über die Gränzen der Poesie und Malerei in noch andern Fällen, als den von Lessing erörterten, Anlaſs geben. Ich meine namentlich das vielleicht schon im vierten Jahrhundert aufgekommene Verfahren, bildliche Ausdrücke des Dichters im Kunstwerk darzustellen. An - sätze auch hierzu finden sich schon in früher Zeit, wie wenn Eros gegen den Verliebten das Kentron schwingt oder ihm Liebes - sehnsucht in die Augen träufelt66)vgl. B. d I. 1871 p. 155. 1874 p. 8 S. 102. v. Duhn Commentat. Bonn. p. 102.. Allein zur eigentlichen Herr - schaft kommt dies Verfahren erst in der alexandrinischen Zeit. Ein Dichter des vierten Jahrhunderts67)Likymnios von Chios (Bergk P. L. G. III S. 1250) bei Athen. XIII 564 C Λικύμνιος δ̕ Χῖος τὸν Ὕπνον φήσας ἐρᾶν τοῦ Ἐνδυμίωνος οὐδὲ καϑεύ - hat den artigen EinfallPhilolog. Untersuchungen V. 450gehabt, daſs nicht nur Selene, sondern auch der Schlafgott Hypnos sich in Endymion verliebt und daſs er, um des Anblicks der schönen Augen seines Geliebten zu genieſsen, ihn mit offenen Augenliedern einschlafen läſst. Sehr schön für den Dich - ter; in der bildenden Kunst aber ist ein mit offenen Augen Schlafender von einem Wachenden nicht zu unterscheiden. Und wenn auch zuzugeben ist, daſs auf dem verlorenen Original der unbekannte Meister die im Schlaf gelösten Glieder besser zu charakterisieren verstanden haben wird, als die pompejanischen Maler und die römischen Sarkophagarbeiter68)Helbig Nr. 957. 960. Bull. d. Inst. 1869 p. 65. und öfter., die das Motiv copieren, so beweist doch eben der Umstand, daſs jede Andeu - tung des Schlafens zuletzt verloren geht, und die römischen Arbeiter sich offenbar des ursprünglichen Motives gar nicht mehr bewuſst sind, wie gefährlich es ist, einen poetischen Ausdruck ohne weiteres bildlich gestalten zu wollen. Übrigens liefert auch dies Beispiel uns den denkbar besten Beweis für die Anforderungen, welche die hellenistische Kunst an die Belesenheit des Beschauers stellte. Auch die Kunst richtet sich, wie die Poesie, an ein aus - erlesenes Publikum. Eine Fülle erotischer Sagen, wesentlich solcher, die durch die hellenistische Poesie bekannt und be - rühmt geworden sind, dringt in die Kunst ein, Daphne, Endy - mion, Narkissos, auch alte Stoffe im neuen Gewande, wie die verbrecherische Liebe der Skylla und der Pasiphae. Vor allem wird auch hier das Situationsbild geliebt, das trauliche Zusammen - sein der Liebenden, das Liebessehnen der Einsamen, das Klagen der Verlassenen die Töne der alexandrinischen Elegie klingen uns auch aus dem Bilde entgegen.

Alle diese verschiedenen Strömungen flieſsen endlich zusammen in der römischen Welt; es ist ein buntes Bild, welches die durch Poesie und Kunst klassisch gewordene griechische Sagenwelt auf67)δοντος αὐτοῦ κατακαλύπτει τοὺς ὀφϑαλμούς, ἀλλ̕ ἀναπεπταμένων τῶν βλεφάρων κοιμίζει τὸν ἐρώμενον, ὅπως διὰ παντὸς ἀπολαύῃ τῆς τοῦ ϑεωρεῖν ἡδονῆς· λέγει δ̕ οὕτως·Ὕπνος δὲ χαίρων ὀμμάτων αὐγαῖς ἀναπεπταμένοις ὄσσοισιν ἐκοίμιζε κοῦρον. 51 römischem Boden uns darbietet. Altes und Junges liegt dicht neben einander, poetische und bildliche Tradition wirken unbe - wuſst, aber noch immer mächtig nach. Allein der lebendige Zu - sammenhang mit dem Volksbewuſstsein, der sich seit dem fünf - ten Jahrhundert immer mehr gelockert hat, ist jetzt zerrissen. Das Beste, was Bild und Lied aus der Sage gemacht haben und machen konnten, gehört der Vergangenheit an, die Gegenwart steht ihm receptiv und reflektierend gegenüber; wohl ihr, wenn sie für das wahrhaft Groſse und Schöne, was sie überkommen, ein un - befangenes Verständnis, ein offenes Auge und Herz bewahrt hat. Wie ihr diese Schätze überkommen sind, welche wunderbare Ent - wickelung dahinter liegt, welche Schichten von Sagenbildung, von poetischer und künstlerischer Entwickelung hier übereinanderliegen, wie jede Sage, jedes poetische Motiv und jeder künstlerische Typus ein eigenes Leben hat, einen eigenen Kampf ums Dasein kämpft, das ahnt die römische Welt so wenig, wie es die Renais - sance und die moderne Welt ahnt, die diese Schätze wie etwas Selbstverständliches in Empfang nehmen.

4*[52]

II. ERWEITERUNG UND VERSCHMELZUNG DER TYPEN.

Die ältesten bildlichen Darstellungen der Heldensage be - schränken sich in der Regel auf wenige, oft nur zwei oder drei Figuren; in weitaus den meisten Fällen geschieht die Fortbil - dung durch Hinzufügen von mehr oder weniger beteiligten und teilnehmenden Zuschauern, wobei das im ersten Abschnitte ge - schilderte Bestreben nach möglichster Vollständigkeit und Aus - führlichkeit der Darstellung und die damit eng zusammenhängende Unbekümmertheit um Zeit und Ort sehr wesentlich mitsprechen; so treten zu Peleus und Thetis die fliehenden Nereiden, Cheiron, Nereus, Triton u. a., zu Theseus und Minotauros Minos, Ari - adne, die Amme der letzteren und die attischen Knaben und Mädchen, auf attischen Monumenten zuweilen wohl gezählte vier - zehn, wie sie die alte Kultlegende von Phaleron kennt, zu dem alten Typus von der Verfolgung des Troilos, der ursprünglich aus nur drei Figuren Polyxena, Troilos und Achilleus besteht, treten hinzu die helfenden Götter Athena und Hermes, der Zielpunkt der Flucht, Priamos und die Troer, und der Ausgangspunkt, der Brunnen mit den dort waltenden Göttern und den wasserschöpfenden troischen Knaben. Es versteht sich, daſs gerade diese Zuthaten, die sich wie eine üppige Moosschicht über einen alten felsigen Kern ausbreiten, nur mit sehr groſser Vorsicht zu Rückschlüssen auf die litterarische Quelle benutzt werden dürfen; noch viel weniger als sonst ist hier der Künstler von dem Wortlaut der53 Dichtung abhängig, noch viel mehr als gewöhnlich schafft er hierbei aus der im Volke lebendigen Sagenvorstellung heraus, mag dieselbe auch selbst durch die Dichtung bestimmt sein. Wohin ein Verkennen der Natur dieses Anwachsens der bildenden Typen führt, davon liefern die letzten Arbeiten über die Kyprien ein trauriges Beispiel.

Es ist eine äuſserst lehrreiche Aufgabe, bei den ausgebildeten und figurenreichen Darstellungen der Vasen des fünften Jahr - hunderts den Kern und die Zuthaten zu scheiden und den alten bildlichen Typus zu rekonstruieren, der sich dann auch nicht selten als wirklich noch auf archaischen Kunstwerken vorhanden nach - weisen läſst, deren richtige Deutung fast nur auf diesem Wege erreicht werden kann. Zugleich glaube ich, daſs solche Unter - suchungen ein wichtiges Indicium für die Entstehungsperiode der bildlichen Typen abgeben; Darstellungen wie die von der Erich - thoniosschlange und den Kekropstöchtern oder von Paris Eintritt ins Vaterhaus auf den Vasen1)Die erste Darstellung ist publicirt A. d. I. 1850 tav. d’agg. G. Welcker A. D. III. T. 12. Gerhard, Trinkschalen und Gefässe Taf. A. B. Wiener Vorlegeblätter Ser. VIII Taf. II, die zweite A. d. I. 1856 tav. 14. Wiener Vorlegeblätter Ser. VIII Taf. III. Die im Text befolgten Deutungen werden unten im Kapitel III Auswahl und Zusammenstellung der Scenen ausführlich begründet werden. des Brygos, die sich nicht auf einen solchen einfachen Kern reduciren lassen, in denen keine Figur entbehrt werden kann, tragen hierdurch in sich selbst die Gewähr dafür, daſs sie erst im fünften Jahrhundert und wesentlich so, wie sie uns vorliegen, geschaffen worden sind.

Ich will versuchen dieses analytische Verfahren an einem Bei - spiel klar zu machen. Auf der einen Seite der Berliner Schale des Hieron2)Gerhard Trinkschalen und Gefässe Taf. 11, 12. Overbeck Heroische Gallerie XIII 3. Wiener Vorlegeblätter Ser. A. Taf. V. ist bekanntlich die Entführung der Helena darge - stellt. Die Komposition ist dreifach gegliedert. Links führt Paris, den Petasos im Nacken und zwei Speere in der Hand, die zögernd folgende Helena mit sich fort, die Mittelgruppe zeigt Aineias, der, gleichfalls mit Petasos und zwei Speeren aus -54 gerüstet, die erschreckt nacheilende Timandra, das ist die aus Hesiod bekannte Schwester der Helena, abzuwehren sucht. Auf der rechten Seite wird die Darstellung durch eine aus drei Figuren bestehende Gruppe abgeschlossen. Hier überbringt Euopis, eine, so viel ich sehe, nicht vom Mythos ausgebildete Figur, die wir wohl als Dienerin oder Gespielin der Helena fassen müssen, den beiden erstaunten und entsetzten Alten, dem Groſsvater Tyndareos und dem Groſsoheim Ikarios, die Kunde vom Raub der Helena.

Was ist nun hier Erfindung und Zuthat des Hieron? und was ist durch bildliche Tradition überkommen? Ohne Weiteres auszuscheiden ist zunächst die Gruppe rechts die Botenerzäh - lung , die wie oben dargestellt eines der beliebtesten Mittel der Künstler des fünften Jahrhunderts ist, um die Darstellung per - sonenreicher zu machen. Die dann noch übrig bleibenden vier Fi - guren bilden nun aber keine festgeschlossene, sondern eine ausein - anderfallende Gruppe; dies wird bewirkt durch das Einschreiten der Timandra, deren vergeblicher Rettungsversuch indessen ein zu unbedeutendes Motiv ist, um ihn für alt überliefert zu halten. Diese Erwägung führt also zu dem Resultat, daſs der alte Typus nur aus drei Personen bestand, und zwar aus den durch Mythos und Poesie gegebenen: Paris, Aeneias und Helena.

Dies Resultat wird durch die Darstellung auf dem kürzlich gefundenen Skyphos3)Gazette archéologique 1880 pl. 8., welchen derselbe Hieron in Gemeinschaft mit dem bisher ganz unbekannten Vasenmaler Makron verfertigt hat, in erfreulichster Weise bestätigt. Auch hier finden wir die drei Hauptpersonen Paris, Helena und Aeneias wieder, nur daſs letzterer voranschreitet, aber statt der übrigen Figuren der Ber - liner Schale finden wir die göttlichen Helferinnen bei dem Raub, Aphrodite und Peitho, hinter Helena herschreiten, während Eros vor ihr herfliegt und sie zu ermuntern scheint. Ein Knabe, der am rechten Ende der Darstellung unter dem Henkel angebracht mit erhobener Rechten seine Verwunderung kundgiebt, wird am natürlichsten als der Sohn der Helena, Nikostratos, erklärt wer -55 den; der Ilias ist Nikostratos freilich fremd, war jedoch dem hesiodeischen Epos bekannt, vgl. fr. CXIII Markscheffel (schol. Sophokl. Elektra 539)

(Helena) τέκεϑ̕ Ἑρμιόνην δουρικλειτῷ Μενελάῳ·
ὁπλότατον δ̕ ἔτεκεν Νικόστρατον, ὄζον Ἄρηος
4)Auch Kinaithon hatte ihn erwähnt, und an dem amykläischen Thron war er mit seinem Halbbruder Megapenthes, dem aus der Odyssee bekannten Bastard des Menelaos, zusammen auf demselben Pferde reitend dargestellt (Paus. III 18, 13). Wenn schon dies auf die Vermutung führt, daſs wir es mit lakedaimonischer Lokaltradition zu thun haben, so wird uns das noch durch Porphyrios (schol. Il. Γ 175), dem wir auch die Notiz aus Kinaithon verdanken, ausdrücklich bestätigt; derselbe erzählt nämlich, daſs Nikostratos und sein sonst gänzlich unbekannter Bruder Aithiolas bei den Lakedaimoniern heroische Ehren genoſsen. Abweichend davon erzählt Pausanias II 18, 6, daſs auch Nikostratos, wie Megapenthes, ein Bastard des Menelaos gewesen sei und der von demselben Schriftsteller III 19, 9 nach rhodischer Tradition be - richtete Zug, daſs nach dem Tode des Menelaos Nikostratos und Megapenthes die Helena aus Sparta vertrieben hätten, beruht offenbar auf eben dieser Voraussetzung. Auch in kretischen Gründungsmythen spielt Nikostratos eine Rolle; Wilamowitz macht mich darauf aufmerksam, daſs Aglaosthenes (bei Eratosthenes Katasterismoi II S. 56. 57) offenbar diesen Sohn des Menelaos meint, wo er von der Gründung von Ἱστοί spricht. Die Sage lieſs sich leicht an die Beziehung, die Menelaos schon im Epos zu Kreta hat, anknüpfen. Von anderen Söhnen des Menelaos und der Helena wissen Ariaithos (schol. Il. Γ 175) und die Sammler kyprischer Lokalsagen (schol. Eurip. Andro - mache 888) zu berichten.
4),

und auf diese Stelle gehen auch in letzter Linie Lysimachos (fr. 18 Müller F. H. G. III 340. Vgl. schol. Eurip. Andromache 880) und Apollodor III 11, 1 zurück. Aus Hesiod entnahm also Hieron diese Figur, wie wahrscheinlich auch die Timandra auf der Berliner Trinkschale.

Es ist nun wohl auf den ersten Blick klar, daſs eben die - jenigen drei Figuren, welche beide Vasen mit einander gemein haben, den alten Typus repräsentieren, alles Übrige aber freie Zutat, sei es der rotfigurigen Vasenmalerei überhaupt, sei es des Hieron und seines Genossen ist. Auch wird man wohl unbedenk - lich zugeben, daſs die Schale die ursprüngliche, ja einzig mög -56 liche Gruppierung dieser Figuren bewahrt hat: Helena in der Mitte ihrer Entführer, während die Umstellung auf dem Skyphos nur zu dem Zwecke gemacht ist, um Helena in unmittelbare Be - rührung mit Aphrodite zu bringen. Hingegen scheint die voll - ständige Bewaffnung der beiden Helden auf dem Skyphos, der Helm auf dem Haupte des Paris, der Schild am Arme des Aineias auf älterer bildlicher Tradition zu beruhen.

Sind wir einmal in der Rekonstruktion des Typus bis zu diesem Punkte gelangt, so fällt es nicht schwer denselben in der That auf einer Reihe von Vasen wiederzufinden. Folgende Exemplare sind publiciert5)Eine Aufzählung der übrigen hierher gehörigen Vasen giebt W. Klein A. d. I. 1877 p. 261 n. 8. So sehr ich mich freue mit demselben in der Ver - werfung der gewöhnlichen Deutung auf die Wiedergewinnung der Helena übereinzustimmen, so wenig kann ich mich von der Richtigkeit seiner eigenen Deutung auf die Fortführung der Polyxena durch Neoptolemos überzeugen.:

  • a) früher bei Durand (de Witte n. 20), gegenwärtig im Brit. Mus. (Catal. of the vases in the Brit. Mus. Nr. 510, wo die Darstellung auf Aithra, Akamas und Demophon gedeutet wird), abgeb. Gerhard A. V. I 2. Revers Ge - burt d. Athena.
  • b) abgeb. Gerhard A. V. I 72. Revers Parisurteil.
  • c) abgeb. Gerhard A. V. 171, wo die Darstellung auf Bri - seis und die Boten Agamemnons gedeutet wird. Rev. Parisurteil.
  • d) abgeb. Arch. Zeit. 1851 Taf. 30. Overbeck Her. Gall. XXVI 2. Revers von Overbeck u. A. auf Achilleus und Memnon gedeutet; ich möchte vielmehr an den durch Aphrodite aufgehobenen Zweikampf zwischen Menelaos und Paris oder zwischen Aineias und Diomedes denken

    6)Bei der Deutung auf Memnon und Achilleus kommt die Bewegung der zwischen beiden Kämpfern stehenden Göttin nicht genug zu ihrem Rechte. Overbeck Arch. Zeit. 1854 S. 354 beschreibt dieselbe folgendermaſsen: In diesem Augenblick ist die ahnungsvolle Mutter des dem Tode verfallenen Aithioperfürsten zwischen die Kämpfer gestürzt, aber vergebens, sie kann den

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Auf allen diesen Vasen erscheint ein völlig gerüsteter Krie - ger, der das gezückte Schwert oder die Lanze in der Hand eine verschleierte Frau, die zwar keinen Widerstand leistet, aber doch zu zögern scheint, mit sich fortführt, während ein gleichfalls ge - wappneter Krieger folgt. Man sieht gewöhnlich in dieser Dar - stellung eine Variation des bekannten Typus von der Wieder - findung der Helena bei Trojas Zerstörung, des Typus, den zuletzt Löschcke abschlieſsend behandelt hat7)Ueber die Reliefs der altspartanischen Basis (Dorpater Universitäts - programm 1879).. Indessen scheint mir für diese Darstellung gerade das Wegführen charakteristisch; die Frau leistet keinen Widerstand, der Mann hat das Schwert nicht gezückt, um die Frau zu bedrohen, sondern um sich und sie zu schützen, wie ja auch Odysseus und Diomedes beim Palladion - raub mit gezücktem Schwert erscheinen. Vor Allem aber scheint6)Todesstreich nicht abwehren; indem sie den Schritt zu ihrem Sohne zurück - wendet, schaut sie um gegen den Sieger und erhebt verzweiflungsvoll die rechte Hand zum Himmel . Man begreift bei dieser Auffassung schwer, in welcher Absicht sie sich denn überhaupt zwischen die Kämpfenden gestürzt hat, wie sie denn auch auf keiner der übrigen zahlreichen Memnondar - stellungen an dieser Stelle erscheint. In der That gebührt der Platz zwischen den Streitern nur dem, der durch sein Dazwischentreten entweder den Kampf aufhebt, wie der Zeus auf den Kyknosvasen, oder dem einen der Kämpfer einen thatsächlich wirksamen Schutz gewährt. So auch hier; die Füſse der Frau sind dem Krieger rechts zugewandt, den Kopf aber wendet sie nach seinem Gegner hin und hebt, nicht jammernd, sondern drohend und einhaltgebietend die rechte Hand. Also eine Göttin, die den Zweikampf dem Krieger rechts zu Liebe aufhebt. In der Ilias kommt zweimal eine solche Scene vor; einmal bei dem Kampfe zwischen Paris und Menelaos, und dann bei dem zwischen Aeneias und Diomedes, beidemal ist die intervenierende Göttin Aphrodite; beide Male ist der Gerettete einer der beiden auf der Vorderseite dargestellten Entführer. Daſs die Darstellung der Schilderung der Ilias nur ganz im allgemeinen entspricht, wird nach dem im ersten Kapitel Bemerkten nicht mehr befremden. Auch die beiden rotfigurigen Vasen, auf denen uns die genannten Zwei - kämpfe inschriftlich bezeugt vorliegen, die jetzt in Louvre befindliche Duris - schale (Fröhner choix de vases grecs pl. 3. 4, Wiener Vorlegeblätter Ser. VI. Taf. VII) und die im britischen Museum befindliche Schale aus Kameiros (Journal of philology 1877 Taf. B.,) entfernen sich sehr stark von dem Wortlaut der Ilias. Vgl. Luckenbach a. a. O. S. 517.58 mir die Übereinstimmung mit dem den beiden Hieronvasen zu Grunde liegenden Typus den Ausschlag zu geben. Daſs nun dieser zu dem allerältesten Bestand der bildlichen Tradition ge - hört, erhellt daraus, daſs wir ihn sogar auf einem alt-etruskischen Monument wiederfinden; ich meine die bei Micali Monumenti per servire alla storia degli antichi popoli italiani XXII publi - cierte Bucchero-Vase. Dies Zusammentreffen hat in der von Milchhöfer (Mitth. d. athen. Instituts II S. 462) nachgewiesenen Übereinstimmung eines etruskischen Reliefs mit der einen Dar - stellung der altspartanischen Basis seine nächste Analogie, und wenn Löschcke’s sehr ansprechende Vermutung8)a. a. O. S. 12., daſs es die Chalkidier waren, welche den altgriechischen Typenschatz den Etruskern vermittelten, das Richtige trifft, so dürfen wir voraus - setzen, daſs auch unser Typus aus der chalkidischen Kunst sowol in die attische wie in die etruskische übergegangen ist.

Während Hieron, wie wir sahen, diesen Typus zweimal in verschiedener Weise erweitert, erscheint derselbe in dem Innen - bild einer etwa gleichzeitigen rotfigurigen Schale strengen Stiles (Brit. Mus. 8299)Im Katalog auf Peleus und Thetis gedeutet. Ueber die Auſsenbilder s. unten den Excurs Ὅπλων κρίσις.). Birch Archäologia XXXII pl. 8, 9 Wiener Vorlegeblätter Ser. VI Taf. 2) auf die beiden Hauptfiguren, Paris und Helena, beschränkt.

In derselben Periode wird er auch mit leichten Umbildungen auf andere Mythen übertragen; namentlich auf solche, die zuerst im fünften Jahrhundert ihre bildliche Gestaltung erfahren; er liegt sowol den Darstellungen von Aithras Wiedergewinnung durch Aka - mas und Demophon, wie denen von der Wegführung der Briseis zu Grunde.

Aber nicht bloſs durch Hinzufügung von Figuren vollzieht sich die Entwickelung und Fortbildung der Typen, sondern auch durch die Verschmelzung verschiedener Typen zu einer groſsen einheitlichen Komposition. Auf diesem Wege werden aus den Einzelkämpfen, wie sie die archaische Kunst fast ausschlieſslich59 kennt, groſse zusammenhängende Schlachtenbilder, allerdings nur sehr allmählich; die Darstellungen der Giganten -, Amazonen - und Kentaurenkämpfe bieten in ihrer Entwickelungsgeschichte dafür die beste Illustration. Selbst im fünften Jahrhundert kommt die Vasenmalerei bei der Darstellung der Gigantomachie noch nicht über ein loses Aneinanderreihen der Zweikämpfe, wie sie schon von der archaischen Kunst typisch ausgebildet sind, hinaus, und wenn zu derselben Zeit einzelne Darstellungen des Amazonen - kampfes bereits ein abgerundetes Schlachtenbild bieten, wie na - mentlich die unvergleichlich schöne kumanische Lekythos10)Heydemann Vasensammlungen d. Museo nazionale zu Neapel, Racc. Cumana 239; abgebildet Fiorelli Vasi Cumani VIII. Bull. Nap. N. S. IV 8 u. öfter., so er - klärt sich das einfach daraus, daſs die groſsen Kompositionen des Mikon in der Stoa ποικίλη und dem Theseion, sowie die des Pheidias auf dem Schild der Parthenos vorausgegangen sind.

Eines der lehrreichsten Beispiele bietet aber die Entwickelung der Darstellungen von Ilions Zerstörung, die darum einer ausführ - licheren Besprechung unterzogen werden mag. Die archaische Kunst stellt immer nur eine einzelne Episode aus der Eroberung von Ilion dar, und zwar sind, soviel sich erkennen läſst, folgende Scenen bildlich gestaltet worden:

  • A) Neoptolemos tötet den Astyanax vor dem auf dem Altar des Zeus Herkeios sitzenden Priamos; zuweilen ist der Tod des Priamos allein dargestellt. Die hier - her gehörigen Darstellungen sind von Heydemann Iliupersis S. 14 Anm. 2, Overbeck Her. Gall. S. 621 f., Luckenbach a. a. O. S. 631 besprochen. Hinzuzufügen ist die Darstellung auf einem in der Sammlung Sabu - roff befindlichen Dreifuſs.
  • B) Menelaos und Helena; der Symmetrie wegen fügt die schwarzfigurige Vasenmalerei meist einen zweiten be - waffneten Krieger hinzu; wahrscheinlich ist er als Odysseus zu erklären, der zugleich mit Menelaos in das Haus des Deiphobos eingedrungen ist. S. Overbeck Her.60 Gall. S. 628 Nr. 113 115. Klein A. d. I. 1877 p. 261 n. 1.
  • C) Aias und Kassandra. Overbeck S. 635 Nr. 124 132. Heydemann a. a. O. S. 29, Anm. 4. Klein, A. d. I. 1877 p. 251.
  • D) Fortführung der Polyxena zum Grabhügel des Achilleus: bis jetzt nur auf einer Hydria des Berliner Museums Nr. 1694. Gerhard Trinkschalen und Gefässe II, 16. Overbeck XXVII, 17.
  • E) Flucht des Aineias. Overbeck S. 655. Heydemann S. 31 n. 1. Luckenbach S. 630.

Hierzu kommt im fünften Jahrhundert die erst auf rot - figurigen Vasen bildlich dargestellte attische Sage von der Auffin - dung der Aithra durch Akamas und Demophon (s. S. 58).

Der erste Schritt zu einer gröſseren Komposition geschieht durch die Vereinigung von zunächst nur zwei Scenen; eine solche liegt vollzogen vor auf der schwarzfigurigen Amphora des Ber - liner Museums (Gerhard Etrusk. u. campan. Vasenb. T. 21, Overbeck Her. Gall. XXXVI 18.), auf welcher die beiden wichtigsten, gewissermaſsen den Abschluſs des troischen Krieges bedeutenden Scenen A und B, also der Tod des Priamos und die Wiedergewinnung der Helena, zu einem einheitlichen Bilde zusammengefaſst sind. Auſser zwei jammernden und flehenden Frauen, die auch sonst auf A vorkommen und zweifellos als Töchter des Priamos zu deuten sind, ist vor Allem die Leiche eines bärtigen Mannes hinzugefügt, dessen Oberkörper zwischen den Füſsen des Neoptolemos sichtbar wird. Die gewöhnliche An - nahme erklärt ihn für einen eben von Neoptolemos getöteten Troer, der dann von den Einen nach Vergil Polites, von den Andern nach Lesches und Arktinos Agenor benannt wird. Letzteres ist an sich möglich; aber für Polites Tod besitzen wir kein altes Zeugnis, und der sinnreiche Einfall, daſs dieser Priamide, der treue Wächter der Burg und Stadt (vgl. oben S. 16 Anm. 11,), zuletzt allein von seinen Brüdern übrig ist und allein den greisen Vater noch zu schützen sucht, darf mit hoher Wahrscheinlichkeit der alexandrinischen Periode zugeschrieben61 werden. Sei dem wie ihm wolle, das Fehlen der Figur auf den übrigen archaischen Darstellungen der Scene beweist wenigstens so viel, daſs sie nicht zu dem alten Typus gehört; und da sie uns zuerst auf einer aus zwei Scenen kombinierten Darstellung begegnet, erscheint die Frage berechtigt, ob sie nicht mit dem - selben Recht in nahe Beziehung zu B wie zu A gesetzt werden kann. Bedenkt man, wie passend neben der Darstellung von Helena und Menelaos ein Hinweis auf die entscheidende That, durch die schlieſslich Helena wiedergewonnen wird, auf die Tötung ihres dritten Gatten, sein würde, so wird man wohl die Deutung des Toten auf den von Menelaos getöteten Deiphobos neben der auf Polites oder Agenor oder einen anderen von Neoptolemos getöteten Troer zunächst wenigstens als gleichbe - rechtigt gelten lassen müssen.

Mit einer anderen Scene, der Wegführung der Polyxena D, erscheint, wie die Beischriften lehren, die Darstellung von Priamos Tod vereinigt auf der Iliupersisvase des Brygos11)Dieselbe ist vor kurzem aus dem Besitze Jolly de Bammeville’s in das Louvre gekommen. (Heyde - mann Iliupersis Taf. I. Wiener Vorlegebl Ser. VIII. T. 4). Durch diese Verbindung werden die drei Haupttaten des Neoptolemos zu einem einheitlichen Ganzen zusammengefasst, die Tötung des Königs von Troja, die Tötung von Hektors Kind, die Opferung der Polyxena am Grabe des Achill. Natürlich musste in D die Gestalt des Neoptolemos, die nicht auf demselben Bilde zweimal in zwei verschiedenen Situationen vorkommen konnte, durch einen anderen Griechen ersetzt werden. Der attische Vasenmaler nimmt dazu den ihm zunächst liegenden Helden, den Theseiden Akamas; daſs auch in der Hekabe des Euripides (V. 123) bei der Beratung über Polyxena die beiden Theseiden eine hervor - ragende Rolle spielen, ist zwar ein zufälliges, aber doch recht bezeichnendes Zusammentreffen; daſs ferner in dieser Darstellung, wo nicht B, sondern D mit A kombiniert ist, der Tote fehlt, ver - dient immerhin hervorgehoben zu werden. Brunn hat allerdings gegen die Glaubwürdigkeit der Namensbeischriften Bedenken62 erhoben12)Troische Miscellen in den Sitzungsber. d. königl. bayer. Akad. d. Wissenschaften 1868 S. 90 f.. Die Haltung des Mädchens schien ihm für Polyxena zu ruhig; in dem Augenblick, wo ihr Vater getötet wird, müſste sie lebhafter ihren Schmerz ausdrücken; aus diesem Grunde wird angenommen, daſs die Namen von dem Vasenmaler irrtümlich beigeschrieben, und die Figuren vielmehr Menelaos und Helena zu benennen seien. Indessen, soweit es ihm physisch möglich ist, da der Krieger seine rechte Hand gefaſst hat und es gewaltsam mit sich fortzieht, äuſsert das Mädchen die innere Bewegung in sehr deutlicher Weise; es hemmt den Schritt, den Kopf wendet es zurück zu seinem Vater und blickt ihn mit weitgeöffnetem starrem Auge entsetzt an man vergleiche nur die Augen - bildung der übrigen Frauen, um sich der von Brygos hier beab - sichtigten Wirkung zu vergewissern. Freilich schlägt es sich nicht mit der Hand an den Kopf, und gerade auf das Fehlen dieser typischen Trauergeberde reduciert sich schlieſslich der Vorwurf der Teilnahmlosigkeit; aber spricht sich denn in den krampfhaft gebogenen, fast möchte man sagen zuckenden Fingern der linken Hand der tiefe innere Schmerz nicht deutlich genug aus? So haben wir also glücklicher Weise nicht nötig zu der doch immer sehr bedenklichen Annahme verkehrter Namensbei - schriften unsere Zuflucht zu nehmen13)Vgl. Kapitel III Auswahl und Zusammenstellung der Scenen S. 101.. Für Helena dürfte überdieſs der mädchenhafte Charakter der ganzen Gestalt schwerlich passen.

Die Darstellung auf der anderen Seite derselben Schale, von welcher die Abbildung auf S. 64 wenigstens eine allgemeine Vorstellung geben wird, hat zu sehr verschiedenen Deutungen Veranlassung gegeben.

Unverkennbar und allgemein zugegeben ist zunächst, daſs wir es auch hier mit Scenen der Iliupersis zu thun haben, aber, wie gleich hinzugesetzt werden muſs, keine dieser Scenen deckt sich mit einer der oben aufgezählten fünf Darstellungen, die aus der älteren bildlichen Tradition stammen. Dies führt63 zu der Vermutung, daſs die erste bildliche Gestaltung dieses Vor - gangs überhaupt erst im fünften Jahrhundert, also in der Periode, in welcher die Schale gemalt wurde, erfolgt ist, eine Annahme, zu der auch die verhältnismäſsig groſse Anzahl der beteiligten Personen vortrefflich stimmt. Zwei gewappnete Krieger, ohne Zweifel Achäer, haben zwei Trojaner, die in der durch die nächtliche Über - rumpelung hervorgerufenen Verwirrung bloſs eine Chlamys umwer - fen und ein Schwert ergreifen konnten, niedergeworfen und tötlich verwundet; neben dem einen dieser Gefallenen, dessen Kopf im Tode zurücksinkt und dessen Hand das Schwert fallen läſst, eilt mit geschwungener Mörserkeule14)Zuerst von Heydemann erkannt (Iliupersis S. 24); vgl. Blümner Tech - nologie S. 17 f. eine Frau herbei; sie trägt bloſsen Chiton, denn den Überwurf anzulegen hatte sie keine Zeit: sie ward überrascht, wie die Männer; rechts von ihr flieht ein Knabe, und weiter links zwischen den beiden Griechen, eine Frau mit aufgelöstem Haar, entsetzt den Kopf nach dem einen, jugendlicheren Griechen hinwendend.

Daſs einst alle diese Figuren Namensbeischriften hatten, ist wohl kaum zu bezweifeln; erhalten sind davon nur vier und von diesen nur zwei ohne Weiteres verständlich. Sie belehren uns, daſs das kühne Weib Andromache, der fliehende Knabe ihr Sohn Astyanax ist. Da wir nun den Tod des letzteren auf der andern Seite gefunden haben, so folgt, daſs die Scenen der beiden Seiten nicht gleichzeitig, sondern zeitlich auf ein - ander folgend zu denken sind, und natürlich die Scene mit Priamos und Astyanax Tod die spätere ist. 15)Brunn a. a. O. S. 91 meint zwar, daſs durch das Fortlaufen der Dar - stellung unter dem einen Henkel die Einheit des ganzen Bildes stark betont werde, allein, um nur ein Beispiel von vielen anzuführen, auch auf der Tri - ptolemosschale desselben Brygos (Wiener Vorlegebl. Ser. VIII Taf. II vgl. Anm. 1), die doch zeitlich und örtlich weit auseinanderliegende und von ein - ander ganz unabhängige Vorgänge darstellt, fehlt nicht nur unter dem Henkel jedes trennende Ornament, sondern die Zeichnung der einen Seite greift sogar tief in die der anderen hinein. S. unten Kap. III S. 88.Wer aber ist der Troer, den Andromache rächt, und wer der Grieche, den sie bedroht? Die Beischrift bezeichnet den ersteren als〈…〉〈…〉64

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65 oder 〈…〉〈…〉 wenn man das〈…〉〈…〉 vom Andromache zweimal, das eine Mal als〈…〉〈…〉, das andere Mal als〈…〉〈…〉 gelten läſst; man ergänzt die Reste zu (νδρ) όμαχος, mehr sinnreich als wahrscheinlich16)So steht der Name auf einer beim archäologischen Institut in Rom befindlichen Durchzeichnung, die nach Brunns Angabe (bei Heydemann a. a. O.) vielleicht nach der Vase selbst, aber etwas flüchtig gefertigt ist, gegen deren Lesung man also doch ein gewisses Miſstrauen zu hegen berechtigt ist. Hoffentlich dürfen wir von den Beamten des Louvre recht bald eine genauere Revision der Beischriften erwarten.; ist es denkbar, daſs Andromache einen dem Mythos ganz unbekannten Troer verteidigt? Geradezu unsinnig ist die Beischrift des Siegers〈…〉〈…〉: sie spottet jeder plausibelen Erklärung17)Man ergänzt Ὀψιμένης, Ὀψιμήδης, Ὀψιμέδων, lauter unbezeugte und, wenn auch an sich mögliche, so doch für den siegreichen Griechen recht unpassende Namen; ganz abgesehen davon, daſs für Brygos die Buchstaben - verbindung〈…〉〈…〉 für〈…〉〈…〉 doch ganz undenkbar ist. und jeder Emendation. Unter diesen Umständen scheint die Annahme zulässig, daſs die Namen entweder verlesen oder modern über - malt sind. Vielleicht wäre es da geraten, bis zu einer gründ - lichen Reinigung des Originals, auf jeden Deutungsversuch zu verzichten. Dennoch glaube ich, daſs man schon jetzt zu einer plausibelen Deutung gelangen kann, wenn man uns nur gestattet, von den beiden sinnlosen Beischriften abzusehen.

Klar ist zunächst, daſs, wenn die Namen Andromache und Astyanax richtig beigeschrieben sind, was doch die nächste und natürlichste Annahme ist, diese That der Andromache mit all ihrem, keineswegs einfachen Detail in einer Dichtung behandelt gewesen sein muſs. Aber die Richtigkeit der Namens - beischriften wird auch hier wieder von Brunn a. a. O. S. 99 in Frage gestellt. Mancherlei Bedenken, z. B. daſs das wild an - stürmende Weib mit der edlen duldenden Gattin des Hektor nicht die geringste Ähnlichkeit habe oder daſs der fliehende Astyanax in Poesie und Kunst sonst nicht vorkomme, veranlassen ihn zu der Annahme, daſs die Namen unrichtig beigeschrieben seien. Die ganze Darstellung wird unter dieser Voraussetzung mit folgenden Worten charakterisiert: Die wehrhaften Männer aus Priamos Geschlecht sind bereits früher gefallen. WerPhilolog. Untersuchungen V. 566bleibt nun nach dem Tode der Edlen übrig? Nur das namenlose Volk. Seinem Untergange ist die zweite Hälfte des Bildes ge - widmet18)Brunns Auffassung wird auch von Luckenbach a. a. O. S. 525 geteilt, nur daſs dieser die Namen nicht für irrtümlich beigeschrieben, sondern für bedachtsam und beziehungsweise ersonnen hält; er sagt: Der Maler, der eine Scene allgemeinerer Art entworfen hatte, sucht Namen für seine Personen; das mutige Weib nennt er Andromache, den Gefallenen, den sie verteidigt, Andromachos, den schüchternen Knaben Astyanax. Man darf nicht die Frage stellen, ob dies die Andromache und der Astyanax des Epos sind; sie sind es und sind es auch nicht; denn ihre Namen hatte der Künstler im Auge, aber eine sie betreffende Scene des Epos stellte er nicht dar . Nur schade, daſs dann Brygos den schlimmsten Fehler begangen haben würde, den ein Künstler begehen kann, nämlich den, das Verständnis seines Werkes durch Irreführung des Beschauers zu erschweren, ja unmöglich zu machen. Denn Jeder, der Andromache und Astyanax neben einander sieht, muſs in ihnen die Gattin und den Sohn des Hektor erkennen und wird consequenter Weise auch in den übrigen Figuren bestimmte Personen der Sage und in der ganzen Dar - stellung einen aus Mythos oder Poesie geflossenen bestimmten Vorgang zu finden erwarten. . Allein selbst zugegeben, daſs auf mythischen Dar - stellungen des fünften Jahrhunderts das namenlose Volk über - haupt jemals eine Rolle spielte, wofür man sich vergeblich nach einem Belege umsieht, so würde doch der Umstand, daſs die that - kräftige Frau mit der Mörserkeule auch auf der Vivenziovase vor - kommt, und zwar in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Tode des Priamos und der Auffindung der Aithra, zum Beweise genügen, daſs wir nicht mit einer Frau aus dem Volke, sondern mit einer Heroine, nicht mit einer von Brygos willkürlich ersonnenen, sondern von der poetischen Tradition gegebenen Episode zu thun haben.

Gerade die Darstellung der Vivenziovase19)Heydemann Vasensammlungen d. Mus. nap. zu Neapel 2422, abgeb. Mus. Borb. XIV 41 43, Müller-Wieseler Denkm. der alt. Kunst I 43, 202, Overbeck Her. Gall. XXV 24, Heydemann Iliupersis II u. öfter. bringt aber, wenn man sie mit der Brygosschale und der Berliner Amphora ver - gleicht und die bei der Betrachtung dieser beiden Monumente gewonnenen Resultate auf sie anwendet, für alles noch Zweifel - hafte die erwünschteste Aufklärung. Diese ausführlichste und voll -67

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endeteste unter den auf Vasen erhaltenen Darstel - lungen des Iliupersis be - findet sich bekanntlich auf der Schulterfläche einer Hy - dria und zerfällt in fünf Hauptgruppen, von denen drei auf altüberlieferte Ty - pen und zwar auf A C E zurückgehen. Die neben - stehende Abbildung zeigt die drei mittelsten Gruppen.

Die Mitte nimmt der Tod des Priamos und des Astya - nax (A) ein, und hier be - gegnet uns auch wieder zu den Füſsen des Neoptole - mos ausgestreckt der getö - tete Troer, den wir bisher nur auf der schwarzfiguri - gen Berliner Amphora ge - funden haben. Rechts ne - ben dem Gefallenen kniet ein völlig gewappneter Krie - ger, der den Kopf gegen die mit der Mörserkeule heranstürmende Frau die Andromache der Brygos - vase umwendet und mit vorgehaltenem Schild und gezücktem Schwert sich ge - gen ihren Angriff zu decken sucht. Die knieende Stel - lung dieses Kriegers findet wie ein eifriger Schüler, Herr Friedr. Deneken, zu -5*68erst gesehen hat, darin und nur darin ihre Erklärung, daſs er im Begriff ist den getöteten Troer zu spoliieren; daraus ergiebt sich aber mit fast unabweisbarer Notwendigkeit der weitere Schluſs, daſs dieser Grieche und nicht Neoptolemos es ist, der den Troer getötet hat. Diese Folgerung auf die Berliner Amphora angewandt ergiebt weiter, daſs die oben nur als gleichberechtigt hingestellte Deutung des Toten auf Deiphobos die einzig richtige ist; und aus der Darstellung dieser Am - phora ergiebt sich wieder für die Vivenziovase, daſs der knie - ende Krieger Menelaos ist. Der dargestellte Vorgang ist also einfach der, daſs Menelaos, während er den von ihm getöteten Deiphobos spoliieren will, von Andromache mit erhobener Mörser - keule angegriffen wird. Was aber bewegt Andromache zu ihrem Eingreifen? Doch wahrlich nicht bloſs der Wunsch den gefallenen Schwager zu rächen; sie will dem Räuber ihres Sohnes nach und stöſst nieder, was ihren Weg hemmt; umsonst, denn Astyanax liegt bereits getötet auf den Knien des Priamos.

Verlassen wir nun zunächst die Vivenziovase, und wenden uns zur Brygosschale zurück. Für diese ergeben sich aus dem Gesagten ohne Weiteres eine Reihe von Folgerungen. Der tötlich getroffen zurücksinkende Troer, der scheinbar als Andromachos Bezeichnete, ist Deiphobos, wobei ich dahingestellt lasse, ob Brygos den Namen zu〈…〉〈…〉 verschrieben hatte; der sieg - reiche Grieche mit der räthselhaften Beischrift〈…〉〈…〉 ist Me - nelaos. Andromache greift hier in einem etwas früheren Zeit - punkt ein, als auf der Vivenziovase; wie auch in der Reihenfolge der Episoden der Iliupersis der Vorgang bei Brygos eine frühere Stelle einnimmt als dort. Während derselbe nämlich dort dem Tode des Priamos gleichzeitig und also Astyanax schon tot ist, zeigt bei Brygos erst die zeitlich spätere Darstellung der anderen Seite den Tod des Priamos, und so finden wir in dieser früher zu denkenden Scene Astyanax noch lebend und fliehend. Da - durch ist auch Andromaches That zwar nicht ihrem Wesen, aber ihrem Zweck nach auf beiden Darstellungen eine verschie - dene. Auf der Vivenziovase will Andromache dem ihr schon entrissenen Astyanax noch im letzten Augenblick zu Hilfe eilen;69 bei Brygos deckt sie seine Flucht, indem sie sich mit männ - licher Kühnheit dem andringenden Menelaos entgegenwirft; beides wahrlich nicht im Widerspruch, sondern im schönsten Einklang mit dem Charakter von Hektors Weibe, dessen her - vorstechendster Zug, neben der hingebenden Liebe zum Gatten, die aufopferndste Mutterliebe ist, in Troja wie in Phthia, bei Homer wie bei Euripides.

Die Frage nach der hier zu Grunde liegenden poetischen Quelle kann zwar erst unten in gröſserem Zusammenhange er - ledigt werden, doch scheint es nicht überflüssig gleich hier dar - auf hinzuweisen, daſs es unnötig oder vielmehr im höchsten Grade verkehrt wäre, für diese kleine Verschiedenheit in dem Auf - treten Andromaches auch eine Verschiedenheit der poetischen Quellen anzunehmen. Lediglich in der verschiedenen Weise, in welcher Brygos und der Maler der Vivenziovase diesen Vorgang mit anderen Episoden der Iliupersis, speciell mit dem Tode des Priamos, combiniert haben, hat dieselbe ihren Grund. Ge - geben war in der poetischen Quelle und der durch sie beein - fluſsten Sagenanschauung der Zeit, daſs Menelaos den Deiphobos tötet, gegeben ohne Zweifel auch, daſs er dabei oder kurz nach - her von Andromache mit der einzigen ihr in der Hast zu Ge - bote stehenden Waffe, einer Mörserkeule, angegriffen wird. Ob dies aber bei dem Dichter geschah, bevor oder nachdem Neopto - lemos den Astyanax ergriffen hatte, ob zum Schutz, wie auf der Brygosschale, oder zur Rettung, wie auf der Vivenziovase, läſst sich aus den Bildwerken und, wie gleich hinzugefügt werden mag, mit unserem Material überhaupt nicht entscheiden.

Die fliehende Frau darf nun unbedenklich Helena benannt werden; schon der Vergleich der Berliner Amphora wäre für die Richtigkeit dieser Benennung beweisend; aber deutlich spricht dafür auch die vortreffliche Charakteristik der Figur; mit aufge - löstem Haar eilt sie hinweg, den Blick starr auf den hinsinken - den Deiphobos und auf ihren ersten treulos verlassenen Gatten gerichtet. Es ist gewiſs kein Zufall, daſs gerade in der Zeit des Brygos in der rotfigurigen Vasenmalerei ein neuer Typus für die Wiedergewinnung der Helena aufkommt; statt des alten70 Schemas (B), das Menelaos der Helena mit gezücktem Schwerte ruhig gegenüberstehend zeigt, finden wir jetzt auf den Vasen und, nach Michaelis glänzendem Nachweis, auch auf zwei Me - topen des Parthenon Helena, zuweilen20)z. B. Museo Gregoriano II 5, 2, Overbeck Her. Gall. XXVI 12. wie bei Brygos mit aufgelöstem Haar, fliehend, und Menelaos sie mit bloſsem Schwert verfolgend. Es ist klar, daſs diese Situation sich aus der von Brygos dargestellten sehr einfach entwickeln kann, daſs sie nur einen wenig späteren Moment repräsentiert. Menelaos wird sich alsbald, wenn er sich der Andromache erwehrt hat, zur Ver - folgung der fliehenden Helena wenden; und so darf mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daſs diese Vasen auf dieselbe poetische Tradition zurückgehen, wie die Brygosschale21)Es ist gewiſs richtig, daſs diese Darstellungen im Zusammenhang mit den übrigen im fünften Jahrhundert aufkommenden Liebesverfolgungen be - trachtet sein wollen (vgl. v. Duhn Commentationes Bonnenses p. 99 s. Löschcke Über die altspartanische Basis S. 6), aber sie unterscheiden sich von dem Typus der letzteren durch zwei ganz individuelle Züge: einmal dadurch, daſs als Zielpunkt von Helenas Flucht ein Götterbild erscheint, und dann dadurch, daſs Menelaos das Schwert fallen läſst. Für diese beiden besondern Eigen - tümlichkeiten würden wir berechtigt sein, ein Vorbild in der Poesie zu suchen, auch wenn dasselbe nicht direkt überliefert wäre..

Noch bleibt die Gruppe des Kämpferpaares links von He - lena zu benennen, denn daſs nicht mitten unter Haupthelden des troischen Krieges ein paar namenlose Kämpfer dargestellt sein können, scheint mir für eine Vase dieser Zeit, zumal bei einer so durchdacht angelegten Komposition, keines Beweises zu be - dürfen; auch ist ohne weiteres klar, daſs der Kampf in einem gewissen Zusammenhang mit dem des Menelaos und des Deiphobos stehen muſs, und so spitzt sich schlieſslich alles zu der Frage zu: wer war bei dem nächtlichen Kampf in Troja der Genosse des Menelaos? Die Antwort giebt uns der Sänger der Phäaken, Demodokos, ϑ 514:

ἤειδεν δ̕ ὡς ἄστυ διέπραϑον υἰες Ἀχαιῶν
ἱππόϑεν ἐκχύμενοι, κόϊλον λόχον ἐκπρολιπόντες.
ἄλλον δ̕ ἄλλῃ ἄειδε πόλιν κεραϊζέμεν αἰπήν,
71
αὐτὰρ Ὀδυσσῆα προτὶ δώματα Δηιφόβοιο
βήμεναι ἠύτ̕ Ἄρηα σὺν ἀντιϑέῳ Μενελάῳ.
κεῖϑι δὴ αἰνότατον πόλεμον φάτο τολμήσαντα
νικῆσαι καὶ ἔπειτα διὰ μεγάϑυμον Ἀϑήνην
22)Vgl. Vergil. Aen. VI 529.
22).

Vollkommen richtig erklärt des Odysseus Beteiligung hierbei der Scholiast: ᾔδει δὲ τὴν Δηιφόβου οἰκίαν Ὀδυσσεὺς, ὅτε αὐτομολῶν εἰσῆλϑε. Bei dem Gegner des Odysseus läſst uns leider die litterarische Überlieferung im Stich, denn an Helikaon, den Odysseus in der Nyktomachie erkennt und rettet (Lesches bei Pausan. X 26, 7), kann natürlich nicht gedacht werden. Die auf dieser Seite der Schale dargestellte Scene läſst sich also kurz als das Eindringen des Menelaos und Odysseus in den Königs - palast bezeichnen: es gilt Helena zu suchen. Dieser Episode hat Brygos eine besondere Scene gewidmet, während sie auf der Berliner Amphora mit dem Tod des Priamos zu einem einheit - lichen Bilde zusammengefaſst ist. Die Frage, in wie weit das Innenbild der Brygosschale mit den Darstellungen der Auſsen - seite in Beziehung steht, wird im dritten Kapitel (S. 102) in anderem Zusammenhang besprochen werden.

Kehren wir nun zu der Vivenziovase zurück. Mit hoher Wahrscheinlichkeit darf auch in dieser Darstellung die Anwesen - heit der Helena vorausgesetzt werden. Auf der Brygosschale sahen wir sie, während des Kampfes zwischen Menelaos und Deiphobos eilenden Laufes entfliehen, auf der Vivenziovase, wo Deiphobos bereits getötet ist, werden wir sie an einer von dem Kampfplatz entfernteren Stelle, also auf der linken Seite des Bildes zu suchen haben. Hier finden wir zunächst neben Priamos am Fuſs der den Altar des Zeus Herkeios beschatten - den Palme eine klagende Frau sitzen. Dann folgt die oben als C bezeichnete Scene, Aias reiſst Kassandra von dem Pallasbild weg; aber nicht nur daſs der alte Typus in der Weise des fünften Jahrhunderts frei umgebildet erscheint, er ist auch durch zwei Figuren erweitert. Zu den Füſsen des Aias liegt ein ge -72 töteter Trojaner, hinter dem Palladium sitzt halb versteckt eine Frau zusammengekauert, mit beiden Händen sich das Haar raufend. Einen Augenblick mag man zweifeln, ob diese Frau oder die unter dem Palmenbaum gröſseren Anspruch auf die Benennung Helena hat23)Diese Deutung ist zuerst von W. Klein A. d. I. 1877 p. 258 ausge - sprochen, in ganz anderem Zusammenhang und auf Grund einer Argumentation, von der die oben gegebene in den wesentlichen Punkten unabhängig ist, ein Umstand, der für die Richtigkeit des gewonnenen Resultates eine gewisse Gewähr bieten dürfte. Der Kleinschen Liste ist hinzuzufügen ein auf Kythnos gefundenes, gegenwärtig im Berliner Museum befindliches archaisches Thon - relief (No. 6283 85), von dem leider nur die untere Hälfte erhalten ist: Kassandra hat das Palladium umklammert, Helena naht sich eiligen Laufes, ihr folgt Menelaos; der zwischen den Beinen des letzteren entstehende leere Raum ist durch eine knieende Frauengestalt ausgefüllt.; es mag auch Voreingenommenheit sein, daſs die letztere mir in Haltung und Gebärde matronaler erscheint und also nach meinem Dafürhalten Hekabe zu benennen ist. Den Ausschlag für die am Palladium sitzende Frau giebt die Vergleichung der schon oben herangezogenen rotfigurigen Vasen, die Helena fliehend und Menelaos sie verfolgend darstellen; als Zielpunkt von Helenas Flucht erscheint sehr häufig ein Götterbild, und wiederholt, wie auf der Vase des Museum Gre - gorianum das Bild des Pallas.

Der Tote zu Aias Füssen wird von den meisten Erklärern für Koroibos gehalten, vielleicht mit Recht. Vergil Aen. II 409 425 kennt ihn als Freier der Kassandra und läſst ihn bei dem Versuch, seine Braut zu retten, getötet werden. Ersteres beruht, wie auch Pausanias X 27, 1 lehrt, auf alter poetischer Erfindung, zu der das Motiv aus Ν 363 entnommen ist; letzterer Zug würde zur Vivenziovase stimmen. Bedenken macht nur, daſs niemals auch nicht bei Vergil, Koroibos durch Aias fällt, was für den Toten der Vivenziovase doch vorauszusetzen ist.

Die Scenenreihe wird links durch die Flucht des Aineias, also die oben als E bezeichnete Episode, rechts durch die Auffindung der Aithra durch ihre Enkel Akamas und Demophon, also eine erst im fünften Jahrhundert bildlich gestaltete Scene, ab - geschlossen. Abweichend von den gewöhnlichen Darstellungen73 dieser Scene, welche sich auf die eigentliche Wegführung beziehen, läſst der Maler der Vivenziovase den einen Theseiden die Aithra am Arm fassen, um ihr beim Aufstehen zu helfen, während der Bruder ruhig dabei steht. Rechts erscheint noch eine traurig sitzende Frau, die in Haltung und Erscheinung der Aithra so gleich ist, daſs Schorn vollkommen Recht hat, wenn er deren Mitsklavin Klymene in ihr erkennt; bekannt ist ja daſs bei der Teichoskopie Helena erscheint Γ 144

οὐκ οἴη, ἅμα τῇ γε καὶ ἀμφίπολοι δύ̕ ἕποντο,
Αἴϑρη Πιτϑῆος ϑυγάτηρ Κλυμένη τε βοῶπις.

Von diesem Endpunkt der Komposition geht übrigens die ganze Bewegung aus; von hier, wo durch die Sklavinnen der Helena das Frauengemach deutlich bezeichnet ist, hat sich Helena zum Palladium geflüchtet, von hier hat Neoptolemos den Astyanax geraubt, von hier stürzt Andromache dem Räuber ihres Knaben nach. Durch diese in die verschiedenen Scenen eingemischten, aber alle von einem Punkte ausgegangenen Personen ist es nicht am wenigsten gelungen, die ursprünglich getrennten Scenen zu einer organischen Einheit zu verbinden24)In ganz ähnlichem Sinne ist auf dem Bologneser Krater (M. d. I. X Tav. LIV, vgl. Brizio A. d. I. 1878 p. 61), die Flucht der Helena mit der Auffindung der Aithra, ihrer Dienerin, durch die Theseiden zusammen - gestellt; auch auf der tabula iliaca finden sich beide Scenen unmittelbar unter einander..

Es bedarf nun kaum des besonderen Beweises, daſs es bei solchen groſsen, aus einzelnen Typen gleichsam zusammenge - wachsenen Kompositionen mit der Frage nach den mittelbaren oder unmittelbaren poetischen Quellen seine ganz eigene Be - wandnis hat. Es kann sein, daſs die Version so, wie wir sie aus dem Bilde uns rekonstruieren würden, überhaupt bei keinem Dichter vorlag; ja eine genaue Überstimmung einer auf solchem Wege entstandenen Komposition mit einem Gedicht würde, wenn sie vorhanden wäre, für zufällig zu halten sein, da eben hier noch ganz andere, rein künstlerische Faktoren in Betracht kommen. Es ist daher methodisch falsch, zu fragen, welche74 poetische Version hat Brygos oder der Verfertiger der Vivenzio - vase befolgt? Richtig gestellt muſs die Frage lauten: welche poetische Version liegt den einzelnen Typen zu Grunde, die die Elemente dieser beiden groſsen Kompositionen sind? und es leuchtet ein, daſs die Antwort bei den verschiedenen Einzel - scenen verschieden lauten kann.

Für die oben aufgezählten fünf ältesten Typen kommt als Quelle nur das Epos in Betracht, und hierbei kann es sich wesentlich nur um die beiden Fortsetzungen des Ilias, die ein - stimmig dem Arktinos zugeschriebene Iliupersis und die kleine Ilias handeln, für deren Verfasser in der späteren Zeit meist Lesches gilt25)Vgl. den Excurs Lesches und Arktinos..

Vom Tod des Priamos (A) kennen wir die Erzählung beider Epen; bei Arktinos wird er von Neoptolemos am Altar des Zeus Herkeios getötet, bei Lesches aber reiſst ihn Neoptolemos von dem Altar weg und tötet ihn an der Thüre des Hauses (Paus. X 27, 2). Die bildlichen Darstellungen schlieſsen sich also ent - schieden an die Version des Arktinos an. Auch vom Tod des Astyanax kennen wir die Erzählung der beiden Gedichte. Bei Arktinos tötet ihn Odysseus, und Euripides in den Troerinnen V. 721 ist offenbar von dem milesischen Dichter abhängig; in der kleinen Ilias hingegen tötet ihn Neoptolemos, indem er ihn der Amme entreiſst und ihn am Fuſs fassend von der Mauer herab - schleudert: ῥῖψε ποδὸς τεταγὼν ὰπὸ πύργου. Gerade so ist es auf den Vasen Neoptolemos, der den Astyanax tötet, und gerade, wie die Worte der kleinen Ilias sagen, hat er ihn am Fuſs gepackt; nur schleudert er ihn nicht, wie dort, von der Mauer herunter, sondern gegen Priamos und den Altar. Dies Motiv entsteht, ohne daſs die Poesie es vorgebildet hat, ganz spontan dadurch, daſs die archaische Kunst in dem ihr eigentümlichen Bestreben möglichst viel geben zu wollen, die beiden Hauptthaten des Neoptolemos bei der πέρσις, die Tötung des Priamos und des Astyanax, auf einmal darstellen will26)S. Luckenbach a. a. O. S. 632.. Typus A zeigt uns also den Tod des75 Priamos in der Version des Arktinos, hingegen den des Astyanax in der der kleinen Ilias.

Weit schwieriger ist das Urteil über die poetischen Quellen der vier anderen Typen B C D E. Aus den Excerpten des Proklos lernen wir, daſs diese vier Episoden entweder genau so oder wenigstens sehr ähnlich, wie wir sie auf den Bildwerken sehen, von Arktinos erzählt waren:

  • B: Μενέλαος ἀνευρὼν Ἑλένην ἐπὶ τὰς ναῦς κατάγει Δηί - φοβον φονεύσας.
  • C: Κασσάνδραν δὲ Αἴας Ἰλέως πρὸς βίαν ἀποσπῶν συνεφέλκεται το τῆς Ἀϑηνᾶς ξόανον.
  • D: Πολυξένην σφαγιάζουσιν ἐπὶ τὸν τοῦ Ἀχιλλέως τάφον.
  • E: οἱ περὶ τὸν Αἰνείαν ὑπεξῆλϑον εἰς τὴν Ἴδην.

Von der Persis der kleinen Ilias besitzen wir bekanntlich keine zusammenhängende Inhaltsangabe; wir erfahren nur ge - legentlich, was sich von selbst versteht, daſs die Wiedergewinnung der Helena darin vorkam (schol. Aristoph. Lysistr. 155), und dürfen aus der Erwähnung der Eurydike schlieſsen, daſs auch die Flucht des Aineias erzählt war. Bei dieser Lückenhaftigkeit unserer Nachrichten und bei der lakonischen Kürze des Proklos ist es also absolut nicht auszumachen, ob die genannten Typen auf Arktinos oder die kleine Ilias zurückgehen.

Wie steht es nun mit den erst in der rotfigurigen Malerei vorkommenden, also wahrscheinlich erst im fünften Jahrhundert geschaffenen Typen. Hier begegnet uns zuerst die Wiederauffindung der Aithra durch Akamas und Demophon. Von dieser stand bei Arktinos zu lesen; denn Proklos sagt: Δημοφῶν δὲ καὶ Ἀκάμας Αἴϑραν εὑρόντες ἄγουσι μεϑ̕ ἑαυτῶν; in der kleinen Ilias kamen die Theseiden vor, wie ein erhaltenes Fragment beweist (schol. Euripid. Troad. 31); und daſs auch die Wieder - findung der Aithra dort erwähnt war, ist zwar nicht sicher, aber in hohem Grade wahrscheinlich. Und da auch auf der tabula iliaca, die bekanntlich in der Iliupersis sich dem Stesichoros anzu - schlieſsen behauptet, die Scene sich findet, so würde man, die unbedingte Glaubwürdigkeit jener Angabe vorausgesetzt, die Episode auch für das Gedicht des Sängers von Himera voraus -76 zusetzen haben. Welche Bewandnis es nun damit haben mag, daſs wir diese doch offenbar specifisch attische Sage im ionischen Epos und in der sicilischen Lyrik finden, und ob nicht hier attische Interpolation im Spiel ist, dort aus der bildlichen Tra - dition eine dem Stesichoros fremde Episode in die Darstellung aufgenommen ist, muſs hier unerörtert und somit die litterarische Quelle für diese Darstellung der attischen Vasen unbestimmt bleiben.

Wichtiger wäre es, wenn sich entscheiden lieſse, wo die poetische Quelle für die beiden andern im fünften Jahrhun - dert zu den alten Typen neu hinzutretenden Episoden zu suchen sei, die Flucht der Helena zu einem Götterbilde und das mannhafte Eingreifen der Andromache. Über die erste Episode haben vor kurzem Klein A. d. I. 1877 p. 258 s. und Brizio A. d. I. 1878 p. 61 ausführlich gesprochen. Letztere Untersuchung begeht den methodischen Fehler, daſs sie für jede Nüancierung des Typus, die aus dem freien Schalten der einzel - nen Künstler entsteht, eine besondere poetische Quelle voraus - setzt; erstere Untersuchung kommt zu dem Schluſs, daſs wenig - stens für die Version, daſs Kassandra und Helena beide zum Palladium flüchten, die kleine Ilias die Quelle sei, ein Re - sultat, das lediglich auf der Schluſsfolgerung beruht, daſs, während die übrigen Dichter andere Versionen befolgen, von der kleinen Ilias eine abweichende Erzählung nicht bezeugt ist weil wir nämlich überhaupt nicht wissen, wie dort der Vorgang berichtet wurde.

Die Möglichkeit, daſs einzelne Episoden des Epos erst im fünften Jahrhundert zum ersten Male bildlich gestaltet worden sind, ist an sich gewiſs zuzugeben; für die Ilias ist sie einfach That - sache. Allein es ist doch sehr zu bemerken, wenn das Motiv, daſs Helena zu einem Heiligtum flieht, erst für die Lyrik ausdrück - lich bezeugt ist, zunächst für Ibykos von Rhegion: schol. Euripid. Andromache 631 ἄμεινον ᾠκονόμηται τὰ περὶ Ἴβυκον· εἰς γὰρ Ἀφροδίτης ναὸν καταλύει Ἑλένη, κἀκεῖϑεν διαλέγεται τῷ Μενε - λάῳ, δ̕ ὑπ̕ ἔρωτος ἀφίησι τὸ ξίφος27)S. Wilamowitz de Rhesi scholiis p. 5.. Es ist zu beachten, daſs77 hier die Erzählung des Ibykos ausdrücklich der des Euripides entgegengesetzt wird, nach welcher es der Anblick von Helenas schöner Brust ist, der in Menelaos wieder die alte Liebe erwachen läſst. Die oft citierte Stelle lautet (Andromache V. 629):

ἀλλ̕ ὡς ἐσεῖδες μαστόν, ἐκβαλὼν ξίφος
φίλημ̕ ἐδέξω.

Mit der Angabe des sehr unterrichteten Euripidesscholiasten, der hier wahrscheinlich den Lysimachos benutzt, steht es nun in scheinbar unlösbarem Widerspruch, wenn die Scholien zu V. 155 der Lysistrata des Aristophanes:

γῶν Μενέλαος τᾶς Ἑλένας τὰ μᾶλά πα
γυμνᾶς παραϝιδὼν ἐξέβαλ̕, οἰῶ, τὸ ξίφος

bemerken ἱστορία παρὰ Ἰβύκῳ· τὰ δὲ αὐτὰ καὶ Αέσχης Πυρ - ραῖος ἐν τῇ μικρᾷ Ἰλιάδι καὶ Εὐριπίδης· womit schol. Aristoph. Vesp. 711 übereinstimmt ἱστορία παρὰ Ἰβύκῳ καὶ Εὐριπίδῃ. Doch ist der Widerspruch in der That nur ein scheinbarer, da in den beiden Scholien auf ganz verschiedene Punkte der Nachdruck gelegt wird. Der Aristophanesscholiast will nur sagen, der Zug, daſs Menelaos von Helenas Schönheit be - rührt das Schwert habe fallen lassen, finde sich in gleicher Weise von Lesches, Ibykos und Euripides erzählt. Der Euripides - scholiast untersucht schärfer, was die Sinnesänderung bei Menelaos hervorgerufen habe, und giebt der Fassung des Ibykos, wonach Aphrodite in ihrem Heiligtum Helena aufnimmt und offenbar ist das die Meinung mit ihrer göttlichen Macht auf Menelaos ein - wirkt28)Späte Nachklänge an dies Motiv bei Vergil. Aen. II 588. Quint. Smyrn. XIII 385., den Vorzug vor der gröberen sinnlichen Motivierung, der Euripides folgt. Als Quelle der letzteren, ja auch dem Aristo - phanes vertrauten Fassung, darf nun auf Grund des angeführten Aristophanesscholions unbedenklich die kleine Ilias in Anspruch genommen werden; und wenn man dies Resultat mit der An - gabe des Euripidesscholiasten kombiniert, so folgt weiter, daſs78 Helenas Flucht zu einem Heiligtum der kleinen Ilias fremd war. Und daſs sie auch bei Arktinos nicht vorkam, hat man mit Recht aus den Worten des Proklos geschlossen: Μενέλαος δὲ ἀνευρὼν Ἑλένην ἐπὶ τὰς ναῦς κατάγει Δηΐφοβον φονεύσας, die sonst doch gar zu lakonisch wären.

Während also Helenas Flucht zu Aphrodites Heiligtum dem Epos fremd ist, scheint sie doch schon vor Ibykos von Stesichoros in seiner Iliupersis erzählt worden zu sein; wenigstens ist auf der tabula iliaca die Begegnung von Menelaos und Helena vor einem inschriftlich als ἱερὸν Ἀφροδίτης bezeichneten Gebäude dargestellt29)S. O. Jahn Griechische Bilderchroniken Taf. I S. 34.. Das alte dem Epos entstammende Motiv hat aber Stesichoros keinesweges ganz verworfen, nur überträgt er es mit feinem Takt auf den rohen Haufen des achäischen Heeres, der zuerst Helena steinigen will, aber geblendet von ihrer Schönheit die Steine fallen läſst (fr. 25 Bergk. schol. Eurip. Orest. 1286).

Von der allergröſsten Wichtigkeit ist es nun, daſs uns diese von den Lyrikern geschaffene Version des Mythos, wie zuerst Brizio gesehen, auf einer attischen Trinkschale des fünften Jahrhunderts begegnet, die in Corneto gefunden sich in dem dor - tigen Museum befindet, leider aber noch nicht publiciert ist; s. Helbig B. d. I. 1875 p. 175. Brizio A. d. I. 1878 p. 62 n. L. und p. 71. Die eine Seite zeigt Helena von Menelaos ver - folgt auf einen Tempel zufliehend, in dem Aphrodite sitzt, ihrem Schützling die rechte Hand entgegenstreckend; also abermals ein sicheres Beispiel von dem Einfluſs der von der Lyrik geschaffenen Sagenversion auf die bildende Kunst. Und gewiſs liegt auch den ver - schiedenen Modifikationen, in welchen diese Scene erscheint, keine weitere Quelle zu Grunde, als die eine von Ibykos und Stesichoros herrührende Fassung. Ganz spontan geschieht es dann, daſs die Götter selbst, sei es Aphrodite und Peitho, sei es Athena, per - sönlich eingreifen und dem Menelaos in den Weg treten; ganz spontan ferner, daſs statt des Aphroditetempels das bekann - teste troische Heiligtum, das des thymbräischen Apollo, als Zielpunkt von Helenas Flucht erscheint, wie auf einer Wiener79 Vase (Laborde Vases Lamberg II 34, A. d. I. 1849 tav. d’agg. D. Overbeck Her. Gall. XXVI 11) und dem Bologneser Krater (M. d. I. X tav. IV), oder daſs der athenische Künstler es seine Göttin, Athena, selbst sein läſst, bei deren Bilde Helena Rettung sucht und findet, wie wir es auf der Parthenonmetope und der Vase des Museum Gregorianum sehen. Letzteres Motiv aber, wenn es einmal erfunden war, mit dem durch poetische und bildliche Tradition gegebenen Zug, daſs Kassandra zum Palla - dium flüchtet, zu kombinieren, lag doch sehr nahe; und so sehen wir sowol auf dem kythnischen Relief als auf der Vivenziovase Helena und Kassandra neben einander am Fuſs des Pallasbildes, ohne daſs dieser Zug auf den Vorgang eines Dichters, am wenigsten aber des Lesches, zurückzugehen braucht.

Wenn so für die eine der neu hinzutretenden Episoden Stesichoros mit Wahrscheinlichkeit als Quelle betrachtet werden darf, so fehlt uns für die zweite, den heldenmütigen Kampf der Andromache gegen Menelaos, jeder Anhalt in der Litteratur. Da sie aber zusammen mit ersterer auftritt, darf es wenigstens als Vermutung ausgesprochen werden, daſs der Erfinder auch dieser Episode Stesichoros ist.

Es hat sich also gezeigt, daſs auf der Vivenziovase und der Brygosschale Episoden des alten Epos und der Lyrik zu einer einheitlichen Handlung verbunden sind, die in dieser Form bei keinem Dichter vorlag. Möglich ist dies nur durch eine solche Zusammenschmelzung der Typen, wie ich sie oben zu schildern versucht habe. Für die archäologische Exegese erwächst aber aus dieser Betrachtung die Regel, daſs gegenüber gröſseren Kompositionen des fünften Jahrhunderts die Frage nach der poetischen Quelle nur beantwortet werden kann, wenn die ein - zelnen Elemente der Komposition auseinandergelöst und auf ihre künstlerische Entwicklungsgeschichte hin genau untersucht worden sind.

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III. ÜBER AUSWAHL UND ZUSAMMENSTELLUNG BILDLICHER SCENEN.

Während die früharchaische Kunst in reiner unbefangenster Freude am Bildwerk Scene an Scene aus den verschiedensten Sagenkreisen an einander reiht, und es ein ebenso vergebliches wie verkehrtes, jetzt auch von den Einsichtigen aufgegebenes Unterfangen ist, in den verschiedenartigen Scenen des Kypselos - kastens, des amykläischen Thrones oder der Vase des Klitias und Ergotimos einen geheimnisvollen Faden, eine tiefe Grundidee er - kennen zu wollen, beobachten wir, wie etwa gegen Ende des sechsten Jahrhunderts sich das Bestreben geltend macht, die einzelnen Scenen in eine gewisse Beziehung zu einander zu bringen. Obgleich auch die monumentale Kunst Beispiele für die schrittweise Entwicklung der Kunst nach dieser Seite hin bietet, können wir das allmähliche Erwachen dieses Triebes doch gerade in der Kleinkunst am besten beobachten; ich will im folgenden nur mit dieser und zwar speziell mit der Vasenmalerei exemplificieren.

Sobald man die alte streifenförmige Anordnung von rings um den Bauch laufenden Darstellungen aufgegeben hatte und die Vorder - und Rückseite nur mit je einer Darstellung zu schmücken begann, ergab es sich ganz von selbst, daſs man häufig beide Scenen aus demselben Kreise wählte und bald in eine engere Beziehung zu einander setzte. Vereinzelt findet sich dergleichen schon auf schwarzfigurigen attischen Vasen. 81Bekannt ist die von Friederichs so schön besprochene Amphora des Berliner Museums, auf deren Vorderseite der Krieger von Vater und Mutter Abschied nimmt, während auf der Rück - seite ein Genosse die Leiche des Gefallenen, dessen Helm der Lorbeerkranz ziert, ins Vaterhaus zurückträgt (Arch. Zeit. 1861 T. CLVI). Ein anderes Beispiel ist die von Ritschl heraus - gegebene Amphora des Gregorianischen Museums, (M. d. I. II Tav. 44 b. A. d. I. 1837 p. 183. s. Ritschl Opusc. I Taf. 1. S. 788. Panofka, Bild. ant. Lebens XVII 8. 9., s. die Abbil - dung1)In der Darstellung der Vorderseite sind Kopf und Nacken des rechts sitzenden Mannes ergänzt. auf S. 82), die um so mehr hier etwas eingehender be - sprochen werden mag, als der erste Herausgeber weder den Vorgang selbst, noch den köstlichen Humor der Darstellung ver - standen hat. Auf der Vorderseite sitzen ein paar athenische Männer auf Stühlen einander gegenüber; der Ort der Handlung ist durch einen die Mitte einnehmenden Ölbaum als ein Baum - garten bezeichnet. Neben jedem der Männer steht eine Amphora derselben Form, wie das mit der Darstellung geschmückte Ge - fäſs selbst. Zwischen den Männern steht nach rechts gewandt ein Hund, den Kopf neugierig, aber ruhig und zutraulich zu dem Manne rechts erhebend. Dieser ist also offenbar der Fremde, der Mann links der Besitzer des Ölgartens und Eigentümer des Hundes. Dieser Schluſs wird durch die Thätigkeit des letzteren noch weiter bestätigt; wir sehen ihn nämlich beschäftigt, ver - mittelst eines trichterförmigen Hebers eine kleine Quantität Flüssig - keit, ohne Zweifel Öl, aus der Amphora in eine kleine Lekythos umzufüllen. Unbegreiflich ist es, wie Ritschl glauben konnte, er nehme diese Operation vor, um die Masse des in der Amphora befindlichen Öles, die wieder den ganzen Betrag der gemachten Ernte repräsentiere, zu bestimmen, und das beigeschriebene Stoſs - gebet Ζεῦ πάτερ αἴϑε πλούσιος γενοί (μαν) heiſse etwa: Gieb Vater Zeus, daſs sich bei der Messung herausstelle, daſs ich eine reiche Ernte gemacht habe . Die attischen Ölhändler wären wahr - lich sehr zu beklagen gewesen, wenn sie sich zur Messung vonPhilolog. Untersuchungen V. 682

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83Flüssigkeiten einer so langwierigen Operation bedient hätten, und obendrein der denkbar unpraktischsten! Denn wer wird als Meſsgefäſs ein kleines enghalsiges Fläschchen nehmen, das nur vermittelst eines Hebers zu füllen ist? Und überdies, wäre es nicht ebenso leicht und viel einfacher gewesen, den Kubikinhalt der Amphora selbst zu bestimmen? Ich denke, es bedarf nur eines einfachen Hinweises, daſs nicht eine Abmessung, sondern ein Ölhandel dargestellt ist. Rechts sitzt der Kauflustige, links der Verkäufer, der eine Probe des feilgehaltenen Öles in ein kleineres Fläschchen umfüllt, damit jener die Qualität prüfen könne. Unter - dessen hat der Käufer einen Stock ergriffen, wie sie zum Ab - schlagen der Oliven dienen und in jedem Ölgarten herumliegen2)Sie heiſsen ῥάκτριαι und sind durch ihre Länge und das zugespitzte Ende leicht von den gewöhnlichen Spazierstöcken der Athener zu unter - scheiden. Poll. VII 146. X 130. vgl. Stephani C. R. 1872 S. 16. Den Gebrauch veranschaulichen Darstellungen, wie Micali Mon. per servire etc. XCII., und neckt damit den Hund des Ölhändlers, während er ihn zu - gleich mit der vorgestreckten linken Hand an sich zu locken scheint. Das Stoſsgebet des Verkäufers aber heiſst nichts anderes als: Lieber Vater Zeus, laſs mich ein gutes Geschäft machen .

Auf der Rückseite hat sich die Scene gewaltig verändert. Der Verkäufer ist aufgesprungen, hat den Stock ergriffen, mit dem auf der Vorderseite der Käufer gespielt hat, und gestikuliert leb - haft mit der rechten Hand; auch sein Hund ist nicht mehr zu - traulich, sondern bellt mit erhobenem Kopf den Käufer an. Dieser sitzt da, den Blick auf seine vor ihm stehende Amphora gerichtet, während die des Verkäufers verschwunden ist, und scheint mit erhobenen Fingern zu zählen und zu rechnen. Es ist deutlich, daſs sich ein Streit zwischen den Männern erhoben hat, bei dem sich der Verkäufer leidenschaftlich, der Käufer kühl und besonnen benimmt. Die Kontroverse können wir aus den erhobenen Fingern des Käufers und aus den dem Verkäufer beigeschriebenen Worten erraten: ἤδη μὲν ἤδη πλέον· παραβέβακεν, deren Sinn ziemlich derselbe bleibt, mag man nun an παραβέβακεν festhalten oder6*84nach G. Hermann’s3)G. Hermann, Zeitschrift für Altertumswissenschaft IV S. 847, dem Ritschl a. a. O. S. 793, O. Jahn, Vasensammlung Königs Ludwig S. LXVII und Kaibel, Epigrammata graeca p. 509 n. 1133 zugestimmt haben. Bedenken macht nur, daſs der Raum zwischen dem Ν und der Schnautze des Hundes für einen weiteren Buchstaben doch sehr klein erscheint und daſs auch Herr Dr. Maaſs, der auf meine Bitte die Beischriften einer erneuten Revision unterzogen hat, keine Spur eines solchen entdecken konnte, was bei der vor - trefflichen Erhaltung der übrigen Buchstaben doch sehr befremdlich ist. Es muſs unter diesen Umständen auch zweifelhaft bleiben, ob G. Hermann mit Recht in den Beischriften katalektische jambische Trimeter gesehen hat. Den auffälligen dorischen Dialekt neben der Form des〈…〉〈…〉 vermag ich nicht zu erklären. scharfsinniger Vermutung () π̕ ἄρα βέβακεν lesen. Im ersten Falle heiſsen die Worte: Das Gefäſs ist schon voll, es ist schon daneben gegangen nämlich das zugemessene Öl, das in dem übervollen Gefäſse keinen Platz mehr findet: in dem zweiten Falle wird man zu übersetzen haben: meine Rechnung ist also gemacht, meine Verpflichtung erfüllt . In jedem Falle also handelt es sich um die Frage der richtigen Messung; während der Verkäufer hoch und teuer versichert, seinen Verpflichtungen nachgekommen zu sein und richtig oder, wenn wir πλέον als Neutrum von πλείων fassen, überreichlich gemessen zu haben, überrechnet der Käufer mit den Fingern die Zahl der χόες, er πεμπάζει. Es scheint, daſs er die fünf Finger der rechten und drei der linken ausstreckt: acht χόες hat er kaufen wollen; ist wirklich richtig gemessen? Der Beschauer kann sich jedesfalls des stillen Verdachtes nicht erwehren, daſs sich der Verkäufer nicht bloſs auf den lieben Vater Zeus ver - lassen, sondern selbst nachgeholfen habe4)Ritschl nimmt an, daſs auf der Rückseite die Männer den Platz ge - wechselt haben; die Darstellung zeige die Erfüllung des Gebetes auf der Vorder - seite: die Messung habe so viel Öl ergeben, daſs der Besitzer des Ölgartens zufrieden den Ertrag überrechne, und sein Genosse ihm zurufe: ecce quantum tua iam exspectatio non expleta, sed adeo superata sit. Richtiger erkannten G. Hermann und Panofka, daſs beide Male die Männer an derselben Stelle erscheinen. Auch daſs es sich um einen Ölkauf handele, entging dem klaren Blick G. Hermanns nicht. Nur hielt er irrtümlich den rechtssitzenden Mann für den Hausherrn und Besitzer des Ölgartens; den links für den Käufer..

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Während hier bei den Genredarstellungen zwei bedeutende Momente derselben Handlung zusammengestellt sind, begnügt man sich bei den mythologischen Darstellungen meist damit, Scenen desselben Sagenkreises zusammenzustellen. So finden wir, um nur einige beliebig herausgerissene Beispiele namhaft zu machen, einmal den Tod des Troilos auf der Vorderseite, den Tod des Astyanax und des Priamos sowie die Wiedergewinnung der Helena auf der Rückseite5)Gerhard, Etrusk. u. campanische Vasenbilder T. XXI.. Die Wiedergewinnung der Helena allein finden wir bald mit dem Parisurteil6)Vgl. oben Kap. II S. 56., bald mit der Über - gabe des kleinen Achill an Cheiron7)Auf einer Vase des Pamphaios, früher bei Campana, jetzt im Louvre, s. Brunn, Künstlergeschichte II S. 725 n. 20. Löschcke a. a. O. S. 7., ihren Raub einmal mit dem Zweikampf zwischen Menelaos und Paris8)S. oben Kap. II S. 56. Arch. Zeit. 1851 T. 30. zusammengestellt.

Während so die Ansätze zu dem Bestreben, inhaltlich zu - sammengehörige Scenen zu verbinden, schon in der schwarz - figurigen Vasenmalerei sich finden, kommt dasselbe in der strengen rotfigurigen Vasenmalerei zu vorwiegender Geltung, wenn auch nicht gerade zu ausschlieſslicher Herrschaft. W. Klein9)Euphronios S. 45. Den weiteren Aufstellungen des Verfassers und namentlich seiner Unterscheidung von kyklischer und antithetischer Kom - position bin ich freilich auſser Stande zu folgen. hat mit Recht betont, wie gerade die Schalenmaler sich dieses Prin - cipes mit Vorliebe bemächtigten und es weiter ausbildeten, so daſs sie zuletzt auch in einzelnen Fällen das Innenbild zu den Auſsenbildern in Beziehung setzten. Es galt also, die alten bildlichen Typen zu diesem neuen Verfahren zu verwenden;4)Auf der Vorderseite messe letzterer das gekaufte Öl aus der vor dem Haus - herrn stehenden Amphora in die vor ihm selbst stehende ab was doch billig Sache des Verkäufers wäre ; in der zweiten Scene sei das Ge - schäft vollendet; der Kaufmann stehe reisefertig da und, während der Haus - herr den Gewinn berechne, sage ihm der Kaufmann, schon sei die Amphora voll, jenem bleibe also noch viel zu verkaufen übrig, und so sei der Wunsch des Verkäufers, reich zu werden, erfüllt. Das Gezwungene dieser Auffassung springt von selbst in die Augen.86 dies that man auf dreifache Weise. Entweder wurde einfach durch Erweiterung des alten Typus, durch Hinzufügen von Neben - figuren und dergleichen, eine zweite meist gleichzeitig gedachte Scene geschaffen, oder es wurden zwei verschiedene, demselben Sagenkreis angehörige Typen zusammengestellt, oder endlich zu dem alten Typus wurde als Pendant eine ganz neue Scene aus demselben Mythenkreise zum ersten Mal bildlich gestaltet.

Das erste Verfahren befolgt z. B. Euphronios bei seiner Geryoneusvase10)Mon inéd. publ. par la société française de l’Institut arch. pl. 16 17. Wiener Vorlegebl. Ser. V T. 3. Klein a. a. O. S. 27.. Während die Vorderseite das alte Schema des Zweikampfes zeigt, wird auf der Rückseite die Herde des Geryoneus, die auch bereits auf dem Kypseloskasten und einer chalkidischen Vase11)Gerhard A. V. 105. 106. neben den Kämpfenden dargestellt war, durch Iolaos und andere Genossen des Herakles weggetrieben. Ähnlich verfährt derselbe Euphronios mit dem Troilostypus12)Gerhard A. V. 124 126. Wiener Vorlegebl. Ser. V T. 6. Klein a. a. O. S. 79. Den dort gemachten Versuch, die einzelnen Troer in der Rüstungs - scene der Rückseite zu benennen, halte ich nicht für glücklich.. Schon die um Rücksicht auf Zeit und Ort unbekümmerte archaische Kunst hatte sowol mit dem Typus der Flucht als dem der Tötung des Troilos die zur Hilfe herbeirückenden Troer vereinigt; dies ist der Fall auf der Vase des Klitias und Ergotimos (M. d. I. IV 55); auf der Vase bei Gerhard (A. V. III 223) ist der Kampf bereits entbrannt, und auf der Münchener Hydria (M. d. I. I. 34) beschieſsen die troischen Bogenschützen und Lanzenkämpfer von Ilions Zinnen den Achilleus, während in dem Thore das Ge - spann des zu Hilfe eilenden Hektor erscheint. Euphronios, der strenger an Zeit und Ort sich bindet, trennt die Troer ab und benutzt sie zu einer eigenen der Darstellung der Vorderseite gleichzeitig gedachten Scene; während dort Achilleus den Troilos zum Altar schleift, sehen wir auf der Rückseite die Troer sich rüsten. In ähnlicher Weise wird der Typus des Ringkampfes von Peleus und Thetis bei seiner Verwendung zum Schmuck der Schalen erweitert. Schon in der archaischen Kunst werden87 symmetrisch neben der Hauptgruppe fliehende Nereiden ange - bracht; ja dieselben gehören vielleicht schon zum ursprünglichen Typus. Jetzt wird die Zahl derselben erheblich vermehrt und auch auf die Rückseite ausgedehnt, wo als Zielpunkt ihrer Flucht in der Regel Nereus dargestellt ist. So auf der frühen Schale im britischen Museum, wo auſser den fliehenden Nereiden auch Hermes als Träger eines göttlichen Befehls an Nereus auf der Rückseite erscheint13)Br. Mus. 828*, Gerhard A. V. III 178 179. Overbeck VII 4., ferner auf den Trinkschalen des Duris14)Im Louvre, früher Campana IV 702. Wiener Vorlegeblätter Ser. VII 2. und des Hieron15)O. Jahn, Vasensamml. König Ludwigs 369. Wiener Vorlegebl. Ser. A. Taf. I.. Den Endpunkt der Entwickelung repräsen - tiert dann die attische Schale aus Kameiros16)Journal of philology 1877 t. A., auf welcher um das den Ringkampf darstellende Innenbild herum ein Bilder - streifen mit fliehenden Nereiden läuft, während auf der Auſsen - seite die Zweikämpfe des Herakles mit Kyknos und des Dio - medes mit Aineias dargestellt sind, Kämpfe, die beide das mit einander gemeinsam haben, daſs der intervenierende Gott, hier Ares dort Aphrodite, von dem siegreichen Kämpfer selbst an - gegriffen wird.

Beispiele für das zweite, wie wir oben schon sahen, be - reits der schwarzfigurigen Vasenmalerei geläufige Verfahren, Zusammenstellung zweier demselben Sagenkreise entnommener, oft inhaltlich eng zusammengehöriger Darstellungen sind sehr häufig; und zwar werden sowol die alt überlieferten als die erst kürzlich entstandenen Typen in dieser Weise gruppiert. So stellt Hieron einmal das Parisurteil mit dem Raub der Helena17)Gerhard, Trinkschalen und Gefäſse I 11. 12. Overbeck X 4, XIII 3. Wiener Vorlegebl. Ser. A Taf. V., ein ander Mal den Raub der Helena mit deren Wiedergewinnung durch Menelaos zusammen18)Gazette archéologique 1880 pl. 7. 8.. Brygos hat eine Vase mit lauter auf attische Lokalmythen bezüglichen d. h. also88 erst im fünften Jahrhundert entstandenen Darstellungen ge - schmückt19)Gerhard, Trinkschalen und Gefäſse Taf. A B. A. d. I. 1850 tav. d’agg. G. Welcker, Alte Denkmäler III T. XII. Wiener Vorlegebl. Ser. VIII T. 2, zuletzt besprochen von Heydemann Iliupersis S. 11 und Urlichs d. Vasen - maler Brygos S. 3.. Das Innenbild zeigt Poseidon und Aithra20)Diese Deutung scheint mir durch den Vergleich mit Gerhard A. V. T. XII gesichert. Die jetzt beliebte, auf Panofka (Arch. Zeit. 1850 S. 187) und O. Jahn (bei Heydemann a. a. O. S. 12) zurückgehende Deutung auf Poseidon und Salamis steht im Zusammenhang mit der im Texte zurückgewiesenen Deutung der einen Seite auf den Kychreus-Mythos., das Auſsenbild die Entsendung des Triptolemos auf der einen, die Sage von der Erichthoniosschlange und den neugierigen Kekropstöchtern auf der anderen Seite. Denn daſs diese von Gerhard21)Gerhard a. a. O. S. 20. angedeutete Erklärung das Richtige trifft, kann zwar ein Blick auf das Bild lehren, mag aber, da dieselbe von ihrem Entdecker selbst aufgegeben, von Andern einer ernstlichen Prü - fung nicht wert gehalten und jetzt sogar fast vergessen ist, hier ausführlicher erörtert worden.

Am rechten Ende der Darstellung erblicken wir eine riesige Schlange, die mit weit aufgerissenem Rachen sich eilig nach links fortzubewegen scheint. Ihr gewaltiger Leib zieht sich unter dem Henkel hin, greift sogar noch weit in die Darstellung der Rückseite ein und endet erst zwischen dem jugendlichen Krieger (Eumolpos) und dem Mädchen mit den Fackeln (Hekate) in einen spitzen Schweif. Hinter dem Jüngling steht ein vier - eckiger Gegenstand, der wohl füglich nichts anderes sein kann, als ein Kasten, welcher doch mit dem Auszug des Triptolemos in keine auch noch so entfernte Beziehung gebracht werden kann. Da nun überdies der Leib der Schlange an einer Stelle durch diesen Kasten verdeckt wird, so ist es, meine ich, klar, daſs Schlange und Kasten zusammen gehören und daſs wir uns nach der Intention des Künstlers die Schlange aus dem Kasten herauskommend denken sollen. Schon dieser eine Umstand würde ausreichen, die Deutung auf Erichthonios zu sichern. Vor der Schlange her laufen, offenbar von ihr verfolgt, zwei Mädchen89 mit Blumen in den Händen, die neugierigen Kekropstöchter Herse und Aglauros. Ihnen entgegen eilt mit besorgten Ge - bärden die Hände ausstreckend ein drittes Mädchen Pandrosos; in dem Gemach, aus dem sie herauskommt, sitzen neben einan - der ein bärtiger Mann und ein noch etwas knabenhaft aussehen - der Jüngling. Dieser streckt, wie Pandrosos, den heranfliehenden Mädchen beide Arme entgegen, jener erhebt erstaunt und er - schrocken die Hand. Der Mann ist der Vater Kekrops, der Jüngling sein Sohn Erysichthon, den sich also Brygos und viel - leicht auch die Volkssage bei diesem Ereignis noch lebend denkt. Ich glaube, daſs damit den Anforderungen, die man an die Probabilität einer Deutung stellen kann, hinreichend genügt ist, auch wenn wir über das eine oder das andere Detail keine Aufklärung geben könnten. Schwierigkeiten machen nämlich die stilisierten Blüten, welche die beiden Mädchen in den Händen tragen, und die Ranken und Palmetten, welche von dem Hals und Leib der Erichthoniosschlange auszugehen scheinen. Dieser Umstand veranlaſste O. Jahn zu der Annahme, daſs die Mädchen beim Blumenpflücken von der Schlange überrascht worden wären und daſs wir es mit einer im Übrigen spurlos untergegangenen Version des Kychreus-Mythos zu thun hätten. Indessen scheint es mir die weitaus naheliegendste und einfachste Annahme, daſs die Erichthoniosschlange von Zweigen und Blumen überdeckt in der Kiste lag und daſs die Mädchen neugierig die Zweige auf - hoben und nun noch in den Händen halten. In der Litteratur kann ich diesen Zug freilich augenblicklich nicht nachweisen; aber sollten in einer so einfachen Sache wirklich litterarische Nachweise für nötig erachtet werden?

Der dritte der oben aufgezählten Fälle, freie Erfindung eines Pendants zu einem alten Typus, ist weitaus der seltenste: er stellt an das Erfindungsvermögen des Künstlers die gröſsten Anforderungen. Ein sicheres Beispiel dafür glaube ich in einer Schale desselben Malers Brygos anführen zu können22)Mon. e. Ann. d. Inst. 1856 T. XIV. Wiener Vorlegebl. Ser. VIII Taf. 3. Vgl. Heydemann a. a. O. S. 10. Urlichs a. a. O. S. 4.. Die90 eine Seite zeigt das Parisurteil nach dem bekannten Typus; hingegen ist die Darstellung der anderen Seite (vgl. d. neben - stehende Abbildung) ohne jede Analogie und hat der Deutung bisher groſse Schwierigkeiten gemacht; unter allen Erklärungs - versuchen hat der letzte von Urlichs den meisten Beifall gefunden, doch will mir scheinen, daſs ihm sehr gewichtige Bedenken ent - gegenstehen, wenn auch Urlichs gewiſs recht daran thut, eine enge Beziehung zu der Darstellung der Vorderseite zu postulieren.

Der Vorgang im allgemeinen ist auf den ersten Blick klar; zwei Gestalten treten in ein Gemach ein, wo ihr Erscheinen groſses Erstaunen und groſse Aufregung hervorruft. Urlichs Verdienst ist es erkannt zu haben, daſs der erste dieser Männer, der eiligen Schrittes freudig eintritt, dieselbe Figur sein muſs, wie die Hauptperson der Vorderseite, Paris, und daſs Brygos dies durch die im allgemeinen gleiche Gewandung, ionischen Chiton und Himation, und vor allem durch das ganz gleiche Scepter, daſs er in der Hand trägt, angedeutet hat. Schwieriger ist das Urteil über die ihm folgende, leider zum gröſsten Teil er - gänzte Gestalt, welche die rechte Hand auf seine Schulter legt und ihn vorwärts zu schieben scheint. Nicht einmal das läſst sich mit Bestimmtheit sagen, ob wir eine Frau oder einen, wie Paris, mit ionischem Chiton bekleideten Mann vor uns haben. Wenden wir uns zu den im Gemach befindlichen Personen. Die Haus - herrin denn als solche bezeichnet sie der Schleier wie ihre ganze Erscheinung ist von ihrem Sessel, auf dem sie noch eben dem spinnenden Mädchen gegenüber gesessen hat, auf - gesprungen, eilt dem eintretenden Paris entgegen und reicht ihm die Hand, die dieser freudig ergreift. Der Hausherr hin - gegen, der durch Scepter und Diadem gekennzeichnet hinter seiner Gattin steht, hebt erstaunt die rechte Hand und scheint noch unschlüssig, welchen Empfang er dem Ankömmling zu teil werden lassen soll. Zwei weibliche Figuren schlieſsen links die Dar - stellung ab, die erste, mit einer Haube bekleidet, sitzt auf einem Stuhle und spinnt; sie blickt, ohne sich in ihrer Arbeit unter - brechen zu lassen, die Eintretenden an. Ganz anders ist das Gebaren des zweiten Mädchens. Sie will wie die Richtung91

[figure]

92 ihrer Füſse zeigt das Gemach verlassen, aber noch einmal wendet sie den Kopf zurück und streckt mit einer Gebärde des Abscheus und Entsetzens die Arme gegen Paris aus. Es sind also sehr verschiedene Empfindungen, welche das Eintreten des Paris bei den im Gemache Anwesenden erregt: helle unverhohlene Freude bei der Hausfrau, Zweifel und Bedenken bei dem Haus - herrn, Neugierde bei dem einen, Entsetzen bei dem zweiten Mädchen. Urlichs sieht den Moment dargestellt, wo Paris von Aineias geleitet in den Palast des Menelaos eintritt, eine Scene, für welche die moderne Archäologie eine unbegreifliche Vorliebe hat, während sie der antiken Kunst fast völlig fremd geblieben ist und das aus guten Gründen. Die Frau also ist nach Urlichs Helena, der Mann Menelaos, die Dienerinnen Elektra und Pan - thalis, oder auch die Schwester der Helena, Timandra, und eine Dienerin Euopis (nach der Hieronvase). Aber ist es denkbar, daſs jemals ein antiker Künstler, und nun gar ein Künstler des fünften Jahrhunderts, diesen Vorgang so dargestellt habe? Wie kann Helena, mag auch die Liebesleidenschaft beim Anblick des Paris noch so jäh und mächtig in ihr auflodern, so aller Sitte und Scham vergessen, daſs sie aufspringt und dem Fremd - ling die Hand reicht dem Fremdling, dessen Namen und Herkunft sie noch nicht einmal kennt, denn man weiſs doch, daſs eine Handreichung bei den Griechen ganz etwas anderes ist, als bei uns, daſs sie nicht etwa eine conven - tionelle Form der Bewillkommung, sondern eine Liebkosung ist, die sich nur nahe und lange Befreundete erweisen. Und nun vergleiche man die Haltung der Helena auf anderen Darstellungen des fünften Jahrhunderts, z. B. auf den beiden Hieronvasen mit dem Raub der Helena, man beachte, wie sie dort scheu und fast züchtig dem Verführer folgt, und man wird zugeben müssen, daſs ihr Gebaren auf dieser Vase dem antiken Beschauer nicht naiv, sondern unanständig erschienen wäre. Nicht minder an - stöſsig ist aber auch das Benehmen des vermeintlichen Menelaos. Wie sonderbar muſs es jeden Griechen berühren, daſs er den Fremdling nicht bewillkommt23)Wie Urlichs aus der Haltung des angeblichen Menelaos schlieſsen; welche Verletzung der Pflicht93 der Gastfreundschaft; denn er kann doch jetzt noch nicht wissen, welche Gefahr ihm der Ankömmling bringt. Und ist es ferner erhört, daſs fremde unbekannte Ankömmlinge statt in den Saal in das Frauengemach geführt werden? denn dieses ist doch auf der Vase wie durch die arbeitenden Mädchen so namentlich durch die an der Wand hängende Haube der Hausfrau deutlich genug charakterisiert. Seltsam muſs es auch berühren, Aineias und Paris ohne Waffen ohne Reisehut in der Fremde umherirren zu sehen, während wir beide auf den sicheren älteren Darstellungen vom Raub der Helena ent - weder in völliger Rüstung, oder mit Petasos und Schwert oder Lanze24)An der ausländischen Kleidung und den Lanzen erkennt der ältere Miltiades die Dolonker als Fremde. Herodot VI 35 ὁρέων τοὺς Δολόγκους παριόντας ἐσϑῆτα ἔχοντας οὐκ ἐγχωρίην καὶ αἰχμὰς προσεβώσατο καί σφι προσ - ελϑοῦσι ἐπηγγείλατο καταγωγὴν καὶ ξείνια. finden. Und nun gar das Gebaren der einen Diene - rin . Sie muſs mit übernatürlichem Scharfsinn begabt sein, um gleich beim ersten Anblick dem Paris anzumerken, daſs er gekommen ist, ihre Herrin zu entführen. Diesen Bedenken gegenüber wird wohl die Urlichs’sche Deutung aufzugeben sein. Nicht in den Palast des Menelaos, sondern in sein Vaterhaus tritt hier Paris ein. Seine Mutter Hekabe eilt ihm freudig ent - gegen; Priamos aber steht zweifelnd. In ihm kämpft die Vater - liebe mit der Furcht vor dem Schicksalswort, daſs Paris ihm und seinem Volk Verderben bringe. Die beiden Mädchen sind Töchter des Priamos. Unverkennbar ist Kassandra, die, da sie Paris zurück - kehren und jetzt das Verderben gewiſs sieht, das Gemach ver - lässt mit allen Zeichen des Schreckens und Entsetzens. Das spinnende Mädchen ist nicht näher charakterisiert. Möglich, ja wahrscheinlich, daſs Brygos hier Polyxena darstellen wollte, deren Gestalt in anderen Sagen am meisten ausgebildet und deren Tod eng mit Ilions Fall verknüpft ist. Die Gestalt aber, welche hinter Paris schreitet und ihn ins Vaterhaus zurückführt, ist Niemand anders, als Aphrodite selbst; Brygos hat ihr mit Absicht23)kann, daſs er mit königlicher Würde die Pflicht des Gastfreundes übe , ist mir unverständlich.94 dieselbe Gewandung gegeben, wie auf der Vorderseite beim Parisurteil. Um den Preis der Schönheit zu erlangen, hat ihm Aphrodite den Besitz der Helena versprochen; die notwendige Vorbedingung dazu ist die Rückkehr ins Vaterhaus, und so sehen wir Aphrodite selbst ihn unter ihrem göttlichen Schutz ins Vaterhaus zurückgeleiten.

Mit der uns geläufigen Vorstellung von des Paris Rückkehr ins Vaterhaus stimmt diese Darstellung nun freilich nicht. Wir haben uns einmal gewöhnt, die Fassung der Sage, wie sie im attischen Drame vorlag, für alt und ursprünglich zu halten. Allein es läſst sich leicht erkennen und soll unten (s. den Excurs: die Jugend des Paris) ausführlich bewiesen werden, daſs die Sage von Paris Aussetzung und Wiedererkennung vielleicht erst im fünften Jahrhundert erfunden, jedenfalls aber dem Epos fremd ist. Brygos aber folgt natürlich der epischen Fassung der Sage.

Daſs es nun Brygos selbst war, der diese Scene zuerst künst - lerisch gestaltet hat und zwar eben in der Absicht sie als Gegen - bild zum Parisurteil zu verwenden, schlieſse ich zunächst aus dem Umstand, daſs dieselbe sowol auf schwarzfigurigen wie auf rot - figurigen Vasen sonst völlig fehlt und überhaupt nur auf dieser Vase vorkommt. Doch gebe ich das Trügerische dieser Argumen - tation zu, obgleich bei der Fülle der zu Tage gekommenen Vasen vorausgesetzt werden darf, daſs uns die meisten wirklich populären und verbreiteten Typen vorliegen. Allein mehr Gewicht glaube ich auf folgende Erwägung legen zu sollen. Die Dar - stellung ist einmal eminent dramatisch und einheitlich und zeichnet sich weiter dadurch aus, daſs alle sechs Personen vortrefflich cha - rakterisiert sind und keine derselben entbehrt werden kann; bei Typen jedoch, die schon früher entstanden, aber erst im fünften Jahr - hundert im dramatischen Sinne umgestaltet sind, pflegt entweder diese Einheit zu fehlen, oder das Einfügen der Flickfiguren fühl - barer zu sein. So hängen doch bei der Entführung der Helena die Schwestern und die Alten oder auf der andern Vase Aphrodite und Peitho viel loser mit der Haupthandlung zusammen, als hier Kassandra und Polyxena. Jene kann man unbeschadet wegnehmen, man stellt dadurch nur den ursprünglichen Typus in seiner Ein -95 fachheit her. Daſs aber die Scene der Brygosschale je in kürzerer Gestalt, etwa nur aus Paris, Aphrodite, Priamos und Hekabe be - standen habe, ist schwer zu glauben. Hätte sie aber aus mehreren Figuren schon in der archaischen Kunst bestanden, so wäre der einheitliche Charakter im Vergleich mit anderen archaischen Werken, z. B. der Amphiaraosvase, auffallend. Es kommt hinzu, daſs der Vorgang an sich zu unbedeutend ist, zu wenig sagen - stofflich Interessantes, zu wenig wirkliche Handlung enthält, um die archaische Kunst zu interessieren; mit einem Wort, daſs er eben erst durch die Zusammenstellung mit dem Parisurteil be - deutsam wird.

Noch augenfälliger ist das Verfahren bei einem Krater des Hieron, weil sich hier die Elemente, aus denen die neue Scene gebildet wird, mit Wahrscheinlichkeit nachweisen lassen. Ein bekannter und beliebter Typus stellt die Gesandtschaft an Achilleus vor; er besteht aus fünf Figuren, Achilleus Phoinix Diomedes Aias und Odysseus. Auf einem kleinen aus Attika stammenden Aryballos des Berliner Museums25)Dieselbe wird zusammen mit einer kleinen aus Boiotien stammenden schwarzfigurigen Vase, die nur die beiden Hauptfiguren Achilleus und Odysseus zeigt, in dem laufenden Jahrgang der Arch. Zeit. von mir veröffentlicht werden., die uns wahrscheinlich den Typus in seiner reinsten und ursprünglichsten Gestalt repräsen - tiert, sitzt Achilleus zwischen Aias und Odysseus, während Diomedes und Phoinix mit einander sprechen. Auf dem be - kannten Krater des Louvre26)M. d. I. VI 21, vgl. Thanatos S. 4. Die von Luckenbach a. a. O. S. 619 als β besonders aufgezählte Vase ist zweifellos mit diesem Krater identisch. Der Beschreiber hat den verhüllten Achilleus für weiblich gehalten und als Penelope erklärt. ist als Gegenstück zu dieser Scene ein alter Typus, die von Thanatos und Hypnos getragene Leiche des Sarpedon, also eine bald darauf folgende Episode der Ilias gewählt. Hieron27)M. d. I. VI tav. XIX. vgl. oben S. 58. hingegen schafft sich selbst ein neues Gegenstück, die Veranlassung des ganzen Konfliktes, die Weg - führung der Briseis; er bedient sich dazu eines alten, aber für eine andere Scene geschaffenen Typus, der Darstellung des Raubes96 der Helena. An Stelle der Helena setzt er Briseis, an Stelle des Aineias den einen Herold, Talthybios. An Stelle des Paris müſste also Eurybates treten; da ihm aber die im Typus ge - gebene Haltung des Paris, die Art, wie er Helena an der Hand faſst und den Kopf nach ihr umwendet, für einen Herold nicht geziemend erscheinen mochte, so setzt er an Stelle des zweiten Herolds Agamemnon selber, wobei ihm, wie Brunn (A. d. I. 1858 p. 375) scharfsinnig hervorhebt, die Iliasstelle Α 184

ἐγὼ δέ κ̕ ἄγω Βρισηΐδα καλλιπάρῃον
αὐτὸς ἰὼν κλισίηνδε, τὸ σὸν γέρας

zu statten kam. Was in der Ilias nur gedacht wird, ist hier als wirklich geschehen angenommen und dargestellt, bekannt - lich eine öfter beobachtete Erscheinung28)Das bekannteste Beispiel ist die von Aischylos im Anschluſs an Χ 551 erfundene Wägung von Hektors Leichnam, die aus Aischylos in spätere Kunstdarstellungen eindringt, vgl. Kap. IV.. Nun hatte aber Hieron für die eine Seite nur drei, für die andere fünf Figuren. Um die Symmetrie herzustellen, nimmt er aus der Gruppe πρεσβεία die eine Figur, den Diomedes, auf die andere Seite hinüber, und es wird nun diesem die Haltung des Aineias gegeben; so schreitet nun Diomedes hinter Talthybios her, dreht aber den Kopf zu der Gruppe der anderen Seite zurück und leitet so die Aufmerksamkeit des Beschauers zu der Rückseite über, wo ja in der That das Zelt des Achilleus, freilich in einem späteren Moment, als Ort der Handlung voraus - zusetzen ist. Von dieser Darstellung der Hieronvase ist nur noch ein Schritt zu der Trinkschale des britischen Museums29)Br. Mus. 831. Gerhard, Trinkschalen und Gefäſse Taf. E. F. Over - beck, Her. Gall. XVI 3., auf welcher mit der Gruppe der von zwei Herolden weggeführten Briseis der trauernd dasitzende und von Diomedes und Phoinix ge - tröstete Achilleus, also Elemente aus dem Typus der πρεσβεία, zu einer Scene vereinigt sind.

Schon das allmähliche Aufkommen solcher Zusammenstel - lungen von Scenen muſs uns davor warnen, eine allzu sehr zu -97 gespitzte Pointe, eine gar zu feine Beziehung in die Auswahl und Gruppierung der Darstellungen zu legen. Wie ja überhaupt das Gesuchte und Zugespitzte dem einfachen und schlichten Geist des fünften Jahrhunderts widerspricht, so dürfen wir am wenigsten tiefe und versteckte Gedanken bei schlichten attischen Werkmeistern voraussetzen.

Anders lautet das Urteil von Brunn. Nach seiner An - schauung, die er vor kurzem im dritten Heft seiner Troischen Miscellen (Ber. d. bayer. Akad. d. Wissenschaften 1880 S. 167 f.) ausführlich dargelegt hat, haben die Vasenmaler in der Auswahl und Zusammenstellung der Scenen einen Tiefsinn und einen Gedanken - reichtum entwickelt, wie Pindar in seinen Oden und die Tragiker in ihren Chorgesängen (s. Brunn a. a. O. S. 185) teils wirklich teils nach der Meinung einer jetzt glücklich überwundenen Interpre - tationsmethode gezeigt haben. Wir werden von Brunn belehrt: erstens S. 184, daſs die Vasenmaler nicht jede beliebige Scene des troischen Krieges (und also doch auch der übrigen Sagen - kreise) darstellten, selbst wenn dieselbe an sich in der Schilde - rung eines epischen Dichters die Elemente für eine künstlerische Konception darbot, sondern in ähnlichem Sinn wie die Tragiker mit Umsicht und im Hinblick auf die Gesamtentwicklung des Sagenkreises dasjenige auswählten, was über die äuſsere Gestal - tung der Darstellung hinaus der Phantasie eine reichere Anre - gung bot oder, wie der Lehrsatz an einer anderen Stelle S. 186 in kürzerer Formulierung lautet, daſs nur Kern - und Knoten - punkte der Sage in der älteren und mittleren Vasenmalerei eine typische Geltung erlangt haben . Wir lernen zweitens S. 185, daſs derselbe feine poetische Sinn auch in der Verbindung ver - schiedener Scenen auf einem und demselben Gefäſse in nicht ge - ringerem Maſse vorauszusetzen ist, daſs dabei nicht etwa reine Willkür, sondern (wenigstens bei sorgfältiger ausgeführten Ge - fäſsen) ein einheitlicher zusammenfassender Grundgedanke maſs - gebend war, daſs zwar ausnahmsweise auch die Scene der einen Seite die fast unmittelbare Fortsetzung der anderen bildet, daſs aber in den weitaus meisten Fällen der Zusammenhang nicht in dem Stofflichen des Inhaltes, sondern in poetischen BeziehungenPhilolog. Untersuchungen V. 798anderer Art zu suchen ist, Beziehungen, bei denen es sich zu - meist um dieselben einfachen Gesetze der poetischen Analogie handelt, nach denen Pindar und die Tragiker die Thaten, Schick - sale und Situationen ihrer Helden durch verwandte Thaten, Schicksale und Situationen in ein helles Licht zu setzen lieben. Das Beobachten dieser beiden Grundsätze ist das Merkmal der höheren, mit klassischem Ausdruck als divinatio bezeichneten Kritik ; der niederen Kritik, die auch S. 185 als banausischer Standpunkt bezeichnet wird, gehen sie ab. Da hier von hoch - angesehener Seite Anschauungen vertreten werden, die den in diesen Abhandlungen niedergelegten Beobachtungen diametral entgegengesetzt sind, da sie auſserdem direkt an eine gegen mich gerichtete Polemik anknüpfen, so kann ich nicht umhin, sie hier einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Es wird dabei, da bei so total verschiedenen Grundanschauungen eine Verständigung kaum zu hoffen ist, wenigstens eine scharfe Prä - zisierung des Gegensatzes herauskommen.

Es wird sich empfehlen zuerst mit Brunns zweitem Lehrsatz zu beginnen, auf dessen systematische Behandlung er freilich vorläufig verzichtet hat, für den er aber einige Beispiele anführt. Hier wo uns greifbare Resultate vorgelegt werden, dürfen wir hoffen, für den Wert der höheren Kritik durch eingehende Prüfung derselben den besten Maſsstab zu finden. Beginnen wir mit der von Brunn im Anhang unter dem Titel eine Achilleis besprochenen (jetzt im Louvre befindlichen) Trinkschale des Duris30)Fröhner, Choix de vases grecs pl. 2 4. Wiener Vorlegebl. Ser. VI Taf. 7.. Das Innenbild stellt Eos mit der Leiche des Memnon dar, auf beiden Auſsenbildern ist je ein Zweikampf, beide Mal in Gegen - wart zweier Götter, dargestellt. Die einzelnen Figuren sind durch Beischriften bezeichnet. Hier dringt Aias unter dem Beistand der Athena mit langem Speer auf Hektor ein, der auſs Knie gesunken ihm das Schwert zu seiner Verteidigung entgegen - streckt, während Apollo bereits zu seinem Schutze herbeieilt. Dort flieht Alexandros vor Menelaos. Artemis steht auf Seiten99 des Alexandros, hinter Menelaos kommt eiligen Schrittes eine Göttin herbei, sie allein von allen Figuren der Vase ohne Na - mensbeischrift. Sie ist mit Haube, Chiton und Himation beklei - det, in der linken Hand hält sie eine Blume, mit der Rechten faſst sie die rechte, das Schwert haltende Hand des Menelaos, als wolle sie dieselbe festhalten und am Stoſs verhindern, ein Um - stand, den Brunn übersehen hat. Zwei Kämpfe der Ilias also, und zwar obendrein die beiden einzigen Zweikämpfe, die auf Grund gegenseitiger Herausforderung inmitten der beiden zuschauenden Heere stattfinden, die beide nicht zu Ende gekämpft, sondern in dem Augenblick unterbrochen werden, als sich das Glück des Kampfes auf Seiten des Achäers neigt. Bedarf es für solche Zu - sammenstellung noch einer besonderen Rechtfertigung? ist aber nicht damit auch alles gesagt, was Duris durch diese Paralleli - sierung ausdrücken wollte? Ich weiſs nicht, ob die höhere Kritik diese beiden Zweikämpfe der Ilias für Kern - und Knotenpunkte der Sage hält, die der Phantasie eine reichere Anregung dar - bieten. Brunn spricht sich darüber nicht aus, da er aus anderen Gründen die Deutung verwirft; freilich basiert dieselbe auf den zweifellos echten und intakten Namensbeischriften, aber , so sagt Brunn, in einem Kunstwerk muſs in erster Linie das, was sich in den künstlerischen Motiven klar ausspricht, für die Er - klärung bestimmend sein, und kein beigefügter Name vermag die Bedeutung einer in klaren Zügen dargestellten Handlung zu verändern, auf unserer Vase aber sind , meint Brunn, die Unterschiede, die wir in den Zweikämpfen des Aias mit Hektor und des Menelaos mit Paris bei Homer finden, so be - deutend, daſs es auch bei der Annahme des gröſsten Maſses künstlerischer Freiheit nicht mehr möglich ist, in den beiden Bildern eine Darstellung der durch die Beischriften bezeichneten homerischen Scenen anzuerkennen. Andererseits kommen wir immer mehr davon zurück, wo eine solche Übereinstimmung fehlt, zu dem Auskunftsmittel zu greifen, daſs eben der Maler einer anderen, uns nicht mehr zugänglichen Version gefolgt sei. Denn diese andere Version würde hier im Grunde einer Vernichtung der Substanz der homerischen Dichtung gleich kommen. Das7*100für den vorliegenden Fall im Einzelnen nachzuweisen , so schlieſst Brunn, halte ich für überflüssig, genug, daſs eine Deutung der Bilder auf Grund der Inschriften nicht möglich ist. Ich kann mich diesen Sätzen gegenüber darauf beschränken, auf die treffenden Bemerkungen von Luckenbach a. a. O. S. 517 zu verweisen, der richtig und schön zeigt, wie die Darstellung in allem Wesentlichen allerdings mit der Ilias übereinstimmt, und mehr als eine Übereinstimmung im Wesentlichen haben wir bei Kunstwerken des fünften Jahrhunderts überhaupt nicht zu er - warten. Hinzuzufügen ist nur, daſs Duris sehr mit Absicht dem Hektor ein groſses, recht in die Augen springendes Schwert ge - geben hat. Es ist dasselbe, das nach dem Zweikampf Aias als Geschenk erhält und mit dem er sich später den Tod giebt. Es wäre also doch nicht so ganz überflüssig gewesen, wenn Brunn uns im einzelnen nachgewiesen hätte, warum eine Deutung der Bilder auf Grund der Inschriften nicht möglich sei. Bis jetzt scheint mir dieser Nachweis noch nicht erbracht, während die Unhaltbarkeit der in den troischen Miscellen aufgestellten neuen Erklärung ohne groſse Mühe gezeigt werden kann. Diese neue Deutung sieht in den Bildern der Auſsenseite hier den Kampf des Achilleus mit Kyknos, dort den mit Hektor dargestellt, diesen im Beisein von Thetis und Artemis, jenen im Beisein von Athena und Apollo. Hierdurch treten die Darstellungen der Auſsen - seite in Zusammenhang mit dem Innenbild und die Verherrlichung des Achilles in seinen drei berühmtesten Kämpfen ist also das Grund - thema, das gewissermaſsen in trilogischer Gliederung entwickelt wird oder auch zu den beiden Auſsenbildern als Strophe und Antistrophe wird das Innenbild als Epode hinzugefügt. Und die - selben Kämpfe habe ja auch Pindar Ol. II. 145 zusammengestellt; gewiſs, und auch Isthm. IV. 49, nur daſs dort noch Telephos hinzu - kommt. Bei dieser Auffassung wird nur ganz auſser Acht gelassen, daſs die Gegenwart der Götter auf seiten des Fallenden und des Fliehenden jedem Beschauer die Garantie für die Rettung der Bedrohten giebt; denn die dem Tode unrettbar Verfallenen verläſst der Gott (λίπεν δέ μιν Φοῖβος Ἀπόλλων). Allein Kyknos und Hektor fallen doch beide. Ganz unmöglich endlich ist die101 Deutung der unbenannten Göttin auf Thetis; wie sollte sie dazu kommen, den Achill an der Tötung des Kyknos zu verhindern?

Und noch ein Wort über die voreilige Annahme falscher Namensbeischriften. Wenn man auf dem banausischen Stand - punkt steht, in den attischen Vasenmalern βάναυσοι, freilich solche des fünften Jahrhunderts zu sehen, die aus ihrem Homer und der ganzen bunten Heldensage mit freier Hand schöpfen, ohne viel nach geheimen Bezügen zu fragen, so wird mans begreifen, daſs auch einmal, wenn auch verhältnismäſsig selten, eine falsche Namensbeischrift mit unterläuft31)In den sehr seltenen Fällen, wo falsche Namensbeischriften sicher nachgewiesen sind, hat es damit meist seine eigene Bewandnis. Wenn auf der bekannten Amphora (Raoul Rochette M. I. LXXI 2, Overbeck Her. Gall. XIII 7) die Namen〈…〉〈…〉 und〈…〉〈…〉 vertauscht sind, so erklärt sich das aus dem gleichen Aussehen der drei ersten Buchstaben. Verschreibungen wie〈…〉〈…〉 statt〈…〉〈…〉 (Stephani Compte rendu pour l’année 1877 V, 6), die ebenso gut auf ein Versprechen oder Verhören zurückgeführt werden könnten, begegnen uns Allen auch heute.. Wenn man aber dem attischen Vasenmaler eine geistige Thätigkeit zuschreibt, wie dem tragischen Dichter bei Abfassung einer Trilogie, so ist es mir völlig unbe - greiflich, wie überhaupt den Figuren falsche Namen beigeschrieben werden konnten. Denn entweder schreibt der Maler selbst die Namen: wie ist es dann möglich, daſs er seine eigenen tiefen Gedanken vergessen hat? Oder er läſst sie durch einen Ge - hilfen schreiben: dann frage ich aber, wie kommt dieser zu total falschen Bezeichnungen und wie ist es möglich, daſs ein Maler vom Schlage des Duris es zuläſst, daſs die Schöpfungen seines poetischen Sinnes durch die Dummheit und Nachlässigkeit eines Gehilfen vernichtet werden32)Auf diese Frage wird uns auch in den Troischen Miscellen II S. 95 (Sitzungsber. d. bayer. Akad. 1868) keine Antwort zu teil, wo es heiſst: Wir werden wenigstens als möglich zugeben müssen, daſs zuweilen eine fremde Hand die Inschriften hinzufügte, wenn es sich nicht etwa gar noch heraustellen sollte, worauf einzelne Spuren hindeuten, daſs es in den gröſseren Fabriken besondere Schriftmaler gab, wie heutzutage neben den Kupferstechern besondere Schriftstecher. Dadurch aber waren dem Irrtum und den Miſs - verständnissen die Wege hinlänglich geebnet. ? Warum schult und beauf -102 sichtigt er auch seine Leute nicht besser. Es ist doch gerade so, als wenn Sophokles es zulieſse, daſs sein Schauspieler in der Rolle des Aias die Maske des Herakles aufsetzte. Über diesen Punkt also erwarte ich Aufklärung von der höheren Kritik; denn ich für meine Person könnte mir ein solches Versehen, nur aus einem ganz heimtückischen Charakterzug des Duris erklären, der Vexierrätsel für die attischen Epheben bei ihren Symposien und für die höheren archäologischen Kritiker bei ihren Übungen malen wollte.

Das zweite Monument, auf das die höhere Kritik angewendet wird, ist die Iliupersis des Brygos33)S. oben Kap. II S. 61 71.. Der unbefangene Be - trachter glaubt in dem Innenbild nur eine hübsche Erfindung des Malers vor sich zu haben, eine Kredenzscene, wie sie für die Dekoration der Trinkschale so besonders paſst. Hier hat Brygos Briseis und einen Alten gewählt, der durch keine Namensbei - schrift bezeichnet ist. Am wahrscheinlichsten ist es, daſs Phoinix gemeint ist, denn die aufgehängten Waffen deuten auf Krieg und werden am einfachsten als Andeutung eines Zeltes gefaſst, und Briseis wird man sich ja auch am liebsten im Zelt des Achilleus vorstellen. Heydemanns Deutung (Iliupersis S. 27) auf Peleus wäre ja an sich möglich, und wenn der Name bei - geschrieben wäre, müſsten wir uns mit ihr zufrieden geben, wo - bei es ganz gleichgültig ist, ob dieser Zug irgendwo in der Litteratur vorkommt oder nicht; genug, daſs Brygos sich ge - dacht hätte, daſs Briseis zuletzt nach Phthia zum Peleus kommt. Da aber der Name nicht beigeschrieben ist, so liegt es näher, sich Briseis da zu denken, wo sie die poetische Tradition und die Volksvorstellung zunächst kennen, im Zelt des Achilleus. Also Phoinix und Briseis hat Brygos hier als Innenbild gewählt, aber ebenso gut hätte er Achilleus und Briseis oder Neoptolemos und Hermione oder Menelaos und Helena oder jeden beliebigen troischen Heros mit seiner Gattin, Geliebten oder Mutter dar - stellen können. Zu der Aufsenseite, der Darstellung der Iliu - persis, steht also das Mittelbild nur insofern in einer laxen103 Beziehung, als die Personen demselben Sagenkreis entnommen sind. So denkt der unbefangene Beschauer von seinem banau - sischen Standpunkt aus, die höhere Kritik aber erkennt ver - mittelst der ihr innewohnenden divinatio, daſs Briseis dem Peleus die Geschichte von Ilions Untergang erzählt; und was sie erzählt, das sehen wir in dem Aufsenbilde wirklich darge - stellt, und da Briseis es ist, welche es schildert, so tritt zu - gleich vor unsere Phantasie die Gestalt des Achilles, der zwar an dem Schluſse der Katastrophe nicht selbst, sondern nur durch seinen Sohn teil nahm, aber das Ende durch seine früheren Thaten vorbereitet hatte. So erweitert sich die Darstellung der Schale des Brygos von einer Iliupersis zur Idee einer ganzen und vollen Ilias . Man wird nicht umhin können, den Scharfsinn, der das Alles aus der einfachen Figur eines einschenkenden Mädchens mit der Beischrift Briseis herausliest, zu bewundern, auch wenn man nicht gerade den Standpunkt des Malers be - neiden wird, der sich die bedenklichste und zweischneidigste Aufgabe gewählt hat, eine Erzählungsscene zu malen. In der That, wenn wirklich die attische Kunst im fünften Jahrhundert sich über die Aufgabe der Malerei so unklar war, so kann ich sie nur bedauern. Den Ausdruck der Erzählenden, den Eindruck des Erzählten wiedergeben, das kann und soll die Kunst und thut es in der bei ihr so beliebten Darstellung der Botenberichte, aber den Inhalt des Erzählten, den muſs der Zuschauer erraten, und ich glaubte immer, daſs die gute Kunst so wenig wie möglich zu erraten übrig lassen sollte. Wie liebenswürdig war nicht das Bild des Brygos, Briseis mit der ganzen Anmut eines attischen Mädchens schenkt dem Phoinix oder auch meinetwegen dem alten Peleus ein. Nun aber soll ich mir auf einmal vorstellen, daſs das Mädchen etwas erzählt wovon ich durchaus Nichts sehe, denn weder spricht das Mädchen noch hört der Alte; ich soll mir aber auch vorstellen, was es erzählt, die Zerstörung Ilions und, wenn ich die Schale umkehre, sehe ich Episoden dieses Vorgangs darge - stellt; noch mehr: bei dem Namen Briseis soll ich an Achilleus denken; und was soll ich nicht Alles! welch ein Gewirr von104 halbfertigen Vorstellungen ist an Stelle des einheitlichen Bildes getreten; doch wahrlich nicht das Bild einer ganzen und vollen Ilias, sondern unklare Reminiscenzen. Warum muſste auch Brygos mir eine ganze Geschichte erzählen wollen, was er doch nimmer - mehr vermag; und warum muſste mir, da ers wenigstens so that, daſs man es nicht merkte, die höhere Kritik über seine Gedanken die Augen öffnen.

Ich kann diesen Gegenstand nicht verlassen, ohne um sichere Feststellung der Indicien zu bitten, an denen man erkennen kann, wann wir uns vorzustellen haben, daſs im Innenbild erzählt wird, was auf den Auſsenbildern dargestellt ist, und wann nicht. Soll ich mir z. B. denken, daſs auf der Theseusschale des Euphronios Theseus der Amphitrite die Abenteuer erzählt, die wir auf der Auſsenseite dargestellt sehen, oder daſs auf der Eurystheusvase desselben Meisters die Hetäre dem athenischen Mann den Mythos vom Herakles erzählt, oder auf der Satyrvase des Duris Chry - sippos der Zeuxo von dem Satyrspiel an den letzten Dionysien oder Achilleus der Diomede von seinen jugendlichen Reitübungen in Phthia? Denn was sind diese Deutungen anders als die ein - fache Konsequenz jener neuen Erklärung der Brygosschale?

Vom Standpunkte dieser höheren Kritik aus bestreitet nun Brunn auch die zuletzt von mir (Thanatos S. 7) vertretene Deutung der Darstellung des Pariser Kraters34)M. d. I. VI 21. vgl. J. Lessing de mortis apud veteres figura p. 39. Luckenbach a. a. O. S. 619. auf den von Hypnos und Thanatos getragenen Sarpedon und hält an seiner eigenen, früher aufgestellten Deutung auf Memnon35)A. d. I. 1858 p. 372 s. fest. Ich bekenne allerdings geglaubt zu haben, daſs Brunn seine damalige Argumentation längst aufgegeben habe, und ein näheres Eingehen auf die Einzelnheiten derselben nicht mehr am Platze sei; da er aber zu meiner Überraschung noch heute an derselben festhält und sogar die Geltung als höhere Methode für dieselbe bean - sprucht, so nötigt er mich, das Versäumte nachzuholen.

Auf dem schon oben (S. 95) gelegentlich erwähnten Krater ist auf der einen Seite die Gesandtschaft an Achill, auf der andern105 die von Hypnos und Thanatos getragene Leiche eines Kriegers dargestellt. Brunn erklärt also, daſs der Künstler nicht zwei un - mittelbar auf einander folgende Scenen vereinigt habe, dies geschehe überhaupt selten sondern sich durch die poetische Analogie habe leiten lassen.

Der Grundgedanke der Vase wird nun folgendermaſsen entwickelt:

L ecceſso dell ira del Pelide richiama sopra di se la vendetta divina; non vien espiata, se non colla morte del di - vino eroe.

Brunn mag es mir verzeihen, wenn ich ihn schon hier unter - brechen muſs: Das Übermaſs des Zornes des Peliden ruft die göttliche Rache wach? Wie seltsam! Waren es nicht die Götter selbst, die ihn zum Zürnen aufgestachelt und in seinem Groll unterstützt haben? Hat nicht Athena selbst zu ihm gesagt, als er den Agamemnon töten wollte Α 211:

ἀλλ̕ τοι ἔπεσιν μὲν ὀνείδισον ὡς ἔσεταί περ,
ὧδε γὰρ ἐξερέω, τὸ δὲ καὶ τετελεσμένον ἔσται ·
καὶ ποτέ τοι τρὶς τόσσα παρέσσεται ἀγλαὰ δῶρα
υβριος εἵνεκα τῆςδε· σὺ δ̕ ἴσχεο, πείϑεο δ̕ ἡμῖν.

Hat ihm nicht seine Mutter, die zukunftskundige Thetis, selbst geboten Α 421:

ἀλλὰ σὺ μὲν νῦν νηυσὶ παρήμενος ὠκυπόροισιν
μήνι̕ Ἀχαιοῖσιν, πολέμου δ̕ ἀποπαύσεο πάμπαν.

Hat nicht Zeus selbst durch das Versprechen, den Troern Sieg zu geben, sich mit Achills Handlungsweise einverstanden erklärt? Und irgend eine Aufforderung, im Groll nachzulassen, hat doch weder Zeus noch Athena noch Thetis ihm zugehen lassen. Und nun sollen es die Götter selbst sein, die über ihn wegen des Zornes göttliche Strafe erhängen; also der Rat seiner Mutter Thetis selbst ist es, der ihm den Zorn und die Strafe der Götter zugezogen hat; und doch hat sie auch, als die Gesandschaft der Achäer kommt, keine Warnung und keinen Rat für ihren Sohn. Ist dies nicht in der That seltsam? Aber noch seltsamer ist die106 zweite Behauptung, daſs nur Achills Tod die Götter versöhnen könne, das heiſst also doch, daſs sein Tod die Strafe für die μῆνις sei. Hätte also Achilleus auf das Bitten der Gesandten nach - gegeben, so wäre er leben geblieben? Dies ist wenigstens neu. Bisher glaubte man, aus den verschiedenen Stellen der Ilias, die vom Tod des Achilleus sprechen, wenigstens das eine als fest - stehenden Zug herauslesen zu sollen, daſs ihm ein kurzes Leben beschieden sei und daſs er vor Troja fallen müsse. Die einzelnen Liedersänger lassen ihn mehr oder weniger genaue Kunde davon haben (Α 352, Φ 110, 275); einmal wird auch hervorgehoben, daſs er durch die Heimkehr nach Phthia dem frühen Tode ent - gehen könne (410), ein ander Mal, daſs ihm bestimmt sei, unmittel - bar nach Hektor zu fallen, und sehr schön wird Achill dadurch in den Konflikt gestellt, entweder den Freund ungerächt zu lassen oder die Rache mit dem eigenen Leben zu erkaufen (Σ 95); allein daſs der Zorn gegen Agamemnon dem Achill das Leben kostet, das habe ich niemals bei einem alten Dichter gelesen und bin sehr gespannt, die Quellen, aus denen diese für Sagengeschichte so wichtige Entdeckung stammt, kennen zu lernen. Bisher nahmen selbst diejenigen Forscher, welche an einem einheitlichen Grund - gedanken der Ilias festhalten zu sollen glaubten, doch nur an, daſs Achill, nachdem er durch Zurückweisung der angebotenen Versöhnung strafbar geworden sei, durch den Tod seines theuersten Freundes für die Maſslosigkeit seines Grolles büſse36)S. Nitzsch Sagenpoesie der Griechen S. 87 u. 259.. Ob dies wirklich die Auffassung der epischen Dichter war, was bekannt - lich mehr als fraglich ist37)Vgl. Bonitz Über den Ursprung der homerischen Gedichte S. 19., dies zu erörtern ist hier nicht der Ort. Es genügt zu konstatieren, daſs, wenn von einer Buſse des Achilleus im Epos überhaupt die Rede sein kann, dieselbe in dem Tod des Patroklos und nicht in dem eigenen Tod des Achilleus besteht. Doch hören wir weiter:

Potea dunque l’artista, per iscogliere il tragico nodo, rap - presentar quella morte steſsa, ma ha preferito a fecondare, per così dire, la fantasia dello spettatore col richiamar alla mente107 l’ultimo fatto d Achille, la vittoria sopra Memnone: fatto fatale che avea per conseguenza immediata la propria morte. Ma nemmeno questa vittoria steſsa l’artista ci ha voluto mettere in - nanzi agli occhi. Caduto Memnone vittima dell’inesorabile fato, egli rientra per così dire ne diritti accordatigli per la sua nas - cita divina coll eſsere chiamato a nuova vita. ciò che fu conceſso a lui fu negato al suo avversario, eguale a lui di nascita. E così vedendo Memnone tralle braccia del Sonno e della Morte ci si presenta alla nostra fantasia pure l’immagine del Pelide, che dopo aver adempiuto il suo fato vien traspor - tato al soggiorno de beati, l’isola Leuce.

Also der Künstler hätte der Darstellung von Achills Wider - stand gegen die Gesandtschaft den Tod des Achilleus gegenüber - stellen können, d. h. in Brunns Sinne: der Schuld die Strafe. Aber ein solches Verfahren wäre zu banausisch gewesen, es hätte der Phantasie über die äuſsere Gestaltung der Darstellung hinaus keine reichere Anregung geboten . Also wählt er die letzte Heldenthat des Achilleus, auf die sein Tod unmittelbar folgt, die Besiegung des Memnon; aber auch diesen Kampf selbst stellt er nicht dar, auch das hätte der Phantasie noch nicht genug An - regung gegeben, sondern die Leiche des Memnon in den Armen von Schlaf und Tod. Mit diesem meisterhaften Griff regt er nun die Phantasie des in die höhere Kritik eingeweihten Be - schauers zu einer ganzen Reihe von Vorstellungen an, denn derselbe sieht mit den Augen die Leiche des Memnon, im Geist aber noch viererlei 1) zurückgreifend: den Kampf zwischen Achilleus und Memnon, 2) vorgreifend: den Tod des Achilleus, 3) die Er - weckung des Memnon zu neuem Leben, denn wie troisch. Misc. III p. 133 ausgeführt wird, wenn die beiden Dämonen vielleicht auf das Geheiſs des Zeus durch Hermes oder Iris zur Stelle ge - rufen die Überführung nach Äthiopien besorgen, so ist damit nicht nur eine äuſsere Verherrlichung des Helden gegeben, sondern wir sind durch das Wunderbare dieser Errettung auf das Weitere noch Ungewöhnlichere vorbereitet, daſs Zeus auch dem Memnon die Unsterblichkeit verleiht , 4) endlich erinnert man sich vermöge des Gesetzes der poetischen Analogie, daſs108 auch Achill auf die Insel der Unsterblichen geleitet werden wird. Dies Alles liest man, wie gesagt, vermittelst der höheren Methode aus der Darstellung der Rückseite heraus, wenn dort Memnons Leiche gemeint ist.

Und wenn, wie ich behaupte, Sarpedons Leiche dargestellt ist? Dann geschieht das Wunderbare, daſs man die Brunnschen Sätze fast wörtlich auch auf Sarpedon anwenden kann, mit dem einzigen Unterschiede, daſs der Grundgedanke dann freilich nicht mehr die von Brunn aus verborgenen litterarischen Quellen ans Licht gezogene, sondern die oben angeführte, der Ilias wenigstens nicht widersprechende und dem Drama geläufige Auffassung ist, daſs Achilleus seine Hartnäckigkeit nicht durch den eigenen Tod, sondern durch den Verlust des liebsten Freundes büſst. Im übrigen aber paſst Brunns Ausführung vortrefflich auf Sarpedon: man höre nur: Der Künstler hätte um den tragischen Knoten zu lösen, den Tod des Patroklos selbst darstellen können; er hat es aber vorgezogen, so zu sagen, die Phantasie des Be - schauers zu befruchten, indem er demselben die letzte Helden - that des Patroklos, den Sieg über Sarpedon, den Sohn des höchsten Gottes selbst, ins Gedächtnis rief, die verhängnisvolle Heldenthat, die zur unmittelbaren Folge den eigenen Tod des Patroklos hatte. Aber auch nicht diesen Sieg selbst hat uns der Künstler vor Augen stellen wollen. Als Sarpedon dem un - erbittlichen Geschick zum Opfer gefallen ist (Ν 441), tritt er gewissermaſsen in die ihm durch seine Abstammung von Zeus angeborenen Rechte ein, indem er heroische Ehren genieſst. Durch die Erinnerung an Patroklos tritt aber auch das Bild des Peliden vor die befruchtete Phantasie, wir erinnern uns, daſs das, was dem Sarpedon gebührt, auch dem gröſsern Freund seines Besiegers, obgleich er nicht von so vornehmer Geburt ist, zu teil werden wird. Und so stellt sich uns, indem wir Sarpedon in den Armen von Schlaf und Tod sehen, auch das Bild des Peliden vor die Phantasie, der, nachdem er sein Schicksal erfüllt hat, zum Aufenthalt der Seligen, auf die Insel Leuke, gebracht wird .

Nichts liegt mir natürlich ferner, als diese Betrachtung im Ernste zur Stütze meiner Deutung auf Sarpedon verwerten zu109 wollen, obgleich dieselbe vor der Brunnschen wenigstens den Vorzug hat, daſs sie nicht im Widerspruch mit der Ilias und mit der Sagenanschauung des gesamten Altertumes steht. Ich will nur zeigen, daſs Betrachtungen, wie die von Brunn ange - stellten, sich leicht in jede beliebige Form gieſsen lassen; gewiſs der beste Beweis, daſs sie durchaus nur subjektive Geltung be - anspruchen können. Für mich ist maſsgebend, daſs nur einmal in der Poesie Thanatos und Hypnos als Träger eines Toten auf - treten, und zwar des Sarpedon, daſs bei dieser Gelegenheit ihr Auftreten als etwas ganz besonderes, als eine nur dem Sohne des höchsten Gottes zu teil gewordene Ehre, von dem Dichter besonders hervorgehoben wird. Wenn dem gegenüber Brunn daran festhalten will, daſs diese Einführung auf Volksvorstellung beruhen müsse, so verstehe ich nicht, wie der Dichter etwas Gewöhnliches und jedem Toten zu teil Werdendes als eine be - sondere Auszeichnung hervorheben kann38)Auch Kekulé (Deutsche Litteratur-Zeitung 1880 S. 382) bezweifelt daſs eine solche vereinzelte dichterische Erfindung eine derartige Be - deutung für die bildliche Darstellung erhalten haben könne, ohne daſs sie eben nur die Verwendung oder sehr leichte Umdeutung eines bereits vor - handenen mythologischen Substrats gewesen sei . Aber was ist denn der von der gesamten antiken Kunst und zwar schon der archaischen weitaus am häufigsten dargestellte Mythos, das Parisurteil, anders, als eben solche ver - einzelte dichterische Erfindung und noch dazu recht jungen Datums, sicher - lich jünger, als das Sarpedonlied? Auch kann ich mir kaum vorstellen, welcher Art das vom Dichter umgedeutete mythologische Substrat gewesen sein soll. Soll es wirklich Volksvorstellung gewesen sein, daſs Schlaf und Tod, zwei Personifikationen abstrakter Begriffe, die Toten in ihre Heimat tragen? Wie kommt es denn, daſs dieser Zug sonst nicht wiederkehrt, daſs Hera erst den Zeus daran mahnen muſs? Oder tragen sie nach dem Volks - glauben ihn etwa zu den Inseln der Seligen? Aber was in aller Welt be - rechtigt uns, diese Vorstellung, von der sich in Ilias und Odyssee keine Spur findet, für so alt zu halten?. Mir scheint, daſs doch der poetischen Bearbeitung der Sage ein gut Stück eigener Er - findung zugeschrieben werden muſs, welches von dem eigentlichen mythischen Gehalt wohl zu trennen ist; und daſs andererseits die Ilias den allerdominierendsten Einfluſs auf die Vorstellung des Volkes geübt hat, wird doch allgemein zugegeben. Ist es dann110 aber so wunderbar, wenn ein Zug, den freilich einmal ein ionischer Sänger mit seiner dichterischen Phantasie geschaffen hat, der aber seitdem von Mund zu Mund und von Geschlecht zu Ge - schlecht gewandert ist, auch zuletzt auf Darstellungen des ge - wöhnlichen Lebens übertragen wird39)Brunn S. 191 will auch die unklaren Vorstellungen, die bei mir und anderen über die Bedeutung des Thanatos herrschen, berichtigen, und dem - selben den ihm abgesprochenen Charakter einer mythologischen Persönlich - keit zurückgeben. Unter dieser Bezeichnung scheint Brunn eine im religiösen Bewuſstsein des Volkes lebende göttliche Persönlichkeit zu verstehen; ob mit oder ohne Kult, ist nicht klar. Das Ursprüngliche im Wesen des Thanatos liegt also nach Brunn etwa in dem, was der Name sagt, im Todbringen, im Vernichten? weit gefehlt, gerade in seiner Beziehung zur Bestattung, zur Grablegung. Er hat nichts zu thun mit den Seelen der Abgeschiedenen im Hades, sondern nur mit den Leichen, die er unter die Erde zu bringen und dem Hades zu übergeben hat. Der unbehagliche Zwischenzustand zwischen dem Moment des Sterbens und dem bleibenden Eintritte in die Behausungen des Hades ist das eigenste Gebiet, welches dem Wirken und der Thätigkeit des Thanatos anheimfällt, über welches sich sein Wirken aber auch nirgends hinaus erstreckt. Ich bedaure nur, daſs Brunn es für überflüssig gehalten hat anzugeben, wie er sich denn das Verhältnis der Thanatos zum Hermes ψυχοπομπός denkt, denn bisher hatte man aus Litteratur und Kunst die Anschauung geschöpft, daſs nach dem religiösen Bewuſstsein der Griechen es die Sache dieses Gottes sei, die Toten zum Hades zu gelei - ten; und was die Bestattung betrifft, so hatte man sich vorgestellt, daſs diese auch bei den Alten von den Hinterbliebenen, und nicht von Hypnos und Thanatos, besorgt worden sei. Auch wäre eine Belehrung darüber nicht ganz überflüssig gewesen, wie es denn kommt, daſs bei Euripides Thanatos noch über Alkestis verfügen kann, da diese doch nicht nur in aller Form unter feierlichen Totenopfern bestattet, sondern schon in das Boot des Charon ge - stiegen ist und, wie V. 850 lehrt, sich bereits im Reich des Hades befindet, mit dem nach Brunns eigenen Worten Thanatos nichts zu schaffen hat..

In dieser Überzeugung können mich auch Brunns weitere Einwendungen nicht irre machen. Derselbe führt zunächst gegen meine Deutung die Pamphaiosschale40)Archaeologia XXIX pl. 16. Gerhard A. V. CCXXI II. Overbeck Her. Gall. XXII 14. S. 533, vgl. Robert, Thanatos S. 9. an, auf deren Rückseite Amazonen dargestellt sind denn dafür erklärt Brunn die Figuren mit Recht, und ich spreche ihm für seine Zurechtweisung in diesem Punkt um so lieber meinen Dank,111 je schärfer ich seinen übrigen Aufstellungen entgegentreten muſs. Daraus folgt aber mit nichten, daſs der Tote der Vorderseite Sarpedon ist, so wenig als die Rüstungsscene der Amazonen der Einleitung der Aithiopis entspricht. Freilich dem modernen Beschauer, der die Aithiopis nur losgelöst von der Iliupersis aus der Hypothesis des Proklos kennt, stellen sich als Inhalt des Gedichtes nur zwei Episoden dar, Penthesileia und Memnon. Anders dem antiken Maler, dem das ganze Gedicht vorschwebte. Das Athen des fünften Jahrhunderts konnte sich auch schon während des Todes des Sarpedon Ama - zonen in Troja vorstellen, so gut wie auf einer schwarzfigurigen Vase beim Kampf um Achills Leiche sein Sohn Neoptolemos gegenwärtig ist: und gerade Pamphaios und seine Genossen lieben ja ganz besonders Amazonendarstellungen.

Ferner beruft sich Brunn auf die von mir zuerst veröffent - lichte Trinkschale im Barbakeion (s. Thanatos S. 17), auf welcher in der That der in Rede stehende Typus auf Memnon übertragen ist. Es habe, sagt Brunn, bisher als Grundsatz in der Archäologie gegolten, daſs eine in gewissem Grad unvollständige Komposition, wie die des am Anfange genannten Campanaschen Kraters nach der vollständigeren, hier der attischen Schale, zu deuten sei, nicht umgekehrt. Dem gegenüber muſs ich zunächst die Richtigkeit des Grundsatzes in solcher Allgemeinheit bestreiten. Die Geschichte der bildlichen Typen weist vielmehr einen zwiefachen Entwickelungs - gang auf. Entweder steht an der Spitze eine groſse umfangreiche Komposition, die bei ihrer Fortbildung vereinfacht wird, indem einzelne Figuren, ja ganze Gruppen ausgelassen werden; oder am Anfang steht eine nur wenige Figuren enthaltende Kompo - sition, um die sich wie um einen Kern mancherlei andere Ge - stalten im Laufe der Zeit gruppieren. Beide Fälle sind mindestens gleich häufig, der letztere für die archaische Kunst der gewöhn - lichere, wie ich das im zweiten Kapitel hinreichend gezeigt zu haben glaube. Es ist nun doch klar, daſs die Erklärung für diesen Fall nicht von der figurenreichsten, deshalb aber inter - poliertesten, sondern von der einfachsten, den Kern repräsentieren - den Komposition ausgehen muſs; das sind aber in unserem Falle112 die Pariser Amphora und der Pariser Krater. Die attische Schale ist eine Kombination des Typus von Memnon und Eos mit dem Sarpedontypus; sie zu Grunde legen wäre dasselbe, wie die Recension eines Schriftstellers auf den interpoliertesten Kodex gründen. Daſs Übertragungen ähnlicher Art, wie diese, in der Vasenmalerei vorkommen, wird Brunn selbst nicht leugnen. Ich nenne nur als ein eklatantes Beispiel die schwarzfigurige Hydria mit dem Tod des Troilos, auf welcher der Typus von Neoptolemos und Astyanax für Achilleus und Troilos verwandt ist41)M. d. I. I 34. Daſs in der That die Tötung des Troilos und nicht die des Astyanax gemeint ist, folgt mit absoluter Sicherheit aus dem Umstand, daſs die Scene vor der noch aufrecht stehenden und von troischen Kriegern besetzten Stadtmauer spielt, was bei einer Episode der Iliupersis undenkbar wäre. Welcker A. d. I. V p. 251. O. Jahn Telephos und Troilos S. 70.. Ähnlich wird der (ursprünglich peloponnesische?) Typus, der die Entführung der Helena durch Theseus darstellt42)Gerhard A. V. CLXVII., von Kachrylion auf Theseus und Antiope übertragen43)Brit. Mus. Nr. 827. Brunn Künstlergeschichte II S. 702 Nr. 5; nicht publiziert.. Der alte Typus, Herakles im Amazonenkampf44)Brit. Mus. Nr. 544. Lenormant et de Witte Él. céram. I 61 u. öfter., ist auf einer im brit. Mus. befindlichen Vase Nr. 586 auf den Kampf desselben Heros mit zwei Kriegern, vielleicht den Molioniden, übertragen.

Allein nicht bloſs wegen der Zusammenstellung mit der Gesandtschaft an Achilleus weist Brunn die Deutung auf Sarpe - don zurück, sondern auch weil sie gegen den ersten seiner oben angegebenen Grundsätze verstöſst. Der Tod des Sarpedon könne überhaupt nicht dargestellt sein, denn er sei kein Kern - und Knotenpunkt der Sage und nur solche gewinnen in der älteren und mittleren Vasenmalerei typische Geltung. Der Tod des Sarpedon sei eine rein poetische epische Episode zur Verherr - lichung des Patroklos , welche dessen Geschick nur für einen Augenblick aufhalte, aber ohne eine entscheidende Bedeutung für den Fortschritt der Handlung sei. Der Kampf gegen Memnon hingegen solle den Achilleus vor seinem Ende noch113 einmal im vollen Glanze seines Heldentums zeigen, was nur dadurch erreicht werde, daſs ihm ein an Geburt, Rang und Tapferkeit durchaus ebenbürtiger Gegner gegenüberstehe. 45)Vgl. Overbeck Arch. Zeit. 1851 S. 346. In Memnon nämlich tritt Achill zuerst ein völlig und in alle Wege ebenbürtiger Feind entgegen. Memnon ist, wie Achill, Sohn einer Göttin, Memnon in vollständiger hephai - stischer Rüstung, wie sie auch Achill trägt, kurz der Kampf mit Memnon und seine Besiegung ist so sehr der Glanz - und Höhepunkt aller achilleischer Groſsthaten, daſs auf sie, da Troia einzunehmen, dem Sohne der Thetis nicht vergönnt war, nur noch sein tragischer Tod folgen konnte .Unter diesem Gesichtspunkte sei denn auch die Memnonsage in ihren verschiedenen Phasen, besonders von der Vasenmalerei, seit früher Zeit behandelt und reich entwickelt worden. Wenn es nur nicht auch hier wieder möglich wäre, Brunns Behauptun - gen einfach umzukehren und zu sagen: das Auftreten des Memnon sei eine rein poetische epische Episode , nur bestimmt, Achilleus Geschick für einen Augenblick aufzuhalten, aber ohne entscheidende Bedeutung für den Fortschritt der Handlung, der Kampf gegen Sarpedon hingegen solle Patroklos vor seinem nahen Ende noch einmal im vollen Glanze seines Heldentums zeigen, indem ihm der an Geburt und Rang weitaus vornehmste Held, der auf dem Schlachtfeld von Troia kämpft, der Sohn des höchsten Gottes selbst, unterliege. Gerade wenn man eine Betrachtungsweise, wie die Brunnsche, anwendet, wird man eigentlich mit unerbittlicher Notwendigkeit zu dieser Konsequenz gedrängt. Denn giebt die nähere oder weitere Beziehung, in welcher die Ereignisse zu dem Haupthelden Achilleus stehen, den Maſsstab für ihre Geltung als Kern - und Knotenpunkte der Sage ab, wie das doch offen - bar Brunns Anschauung ist, welcher Abschnitt der Ilias hat dann mehr Anspruch auf diesen Titel, als die gröſste Heldenthat seines Freundes Patroklos, die dieser in den Waffen des Achilleus verrichtet, bei der Zeus selbst nicht hindernd einzuschreiten wagt, die seinem Tod unmittelbar vorhergeht und das Wieder - eingreifen des Achilleus in den Kampf sowie seine Versöhnung mit Agamemnon vorbereitet? Ohne Sarpedon würde das ganze Auftreten des Patroklos ohne eigentliche Wirkung sein; schonPhilolog. Untersuchungen V. 8114das fünfzehnte Lachmannsche Lied ist ohne diese Gestalt schwer denkbar; wie will man aber gar ohne sie fertig werden, wenn man in der Ilias ein einheitliches Gedicht oder, wie Brunn zu thun scheint, eine auf gemeinsamer poetischer Grundidee auf - gebaute Reihe von Liedern sieht? Das Auftreten Memnon’s ist hingegen in ganz eigentlichem Sinne eine Episode; denn sie ist der älteren Sage und der älteren epischen Poesie bekanntlich völlig fremd; der Dichter, der Thetis sagen läſst Σ 96

αὐτίκα γάρ τοι ἔπειτα μεϑ̕ Ἕκτορα πότμος ἑτοῖμος

hatte keine Ahnung, daſs erst noch ein weiterer an Geburt Rang und Tapferkeit dem Achill durchaus ebenbürtiger Gegner auftreten müsse, um jenen vor seinem Ende noch einmal im vollen Glanze seines Heldentums zu zeigen. Als die Mem - nonsage poetisch gestaltet wurde, müssen die von Patroklos und Hektors Tod handelnden Lieder der Ilias wesentlich schon in der Form abgeschlossen vorgelegen haben, in der wir sie lesen. Denn für jeden einzelnen Zug der Memnonepisode bis zur Psy - chostasie hinab findet sich bekanntlich in jenem Abschnitt der Ilias das Prototyp; der Verfasser des Memnonliedes trägt nur, da er in der Weise der Nachdichter sein Vorbild noch überbieten will, die Farben stärker auf. 46)Anknüpfend an die Bemerkung von Lachmann, daſs die Verse Π 432 458, 666 683 das Werk eines Nachdichters seien, hatte ich Thanatos S. 5 gesagt, es sei möglich, daſs in diesem später hinzugefügten Zug eine Nachahmung des Memnonliedes vorliege; niemals ist es mir eingefallen, die Sarpedonepisode für jünger zu erklären als das Memnonlied. Ich verstehe deshalb nicht, wie Brunn S. 190 von einer plötzlichen Wendung und von einer Einschränkung der Koncession auf die Rettung der Leiche des Mem - non sprechen kann, da überhaupt nur von dieser die Rede war. Wie aus den weiter unten im Text angestellten Erörterungen ersichtlich, bin ich in - dessen jetzt von dieser Anschauung zurückgekommen und muſs die von Lach - mann athetierten Verse für ächt und alt halten. In Folge dessen glaube ich jetzt auch, daſs die Entführung des Memnon durch Eos der Ilias nach - gebildet ist.Das Alles ist so oft beobachtet und ausgesprochen, daſs man einen Nachweis im Einzelnen an dieser Stelle nicht erwarten wird. Daſs aber auch in der späteren Periode115 des Epos die Memnonepisode als nicht notwendig zum troischen Krieg gehörig betrachtet wurde, beweist das Fehlen derselben in der kleinen Ilias. Wie verträgt sich dies Alles mit ihrer Geltung als Kern - und Knotenpunkt der Sage?

Aber auch wer den Wert der troischen Helden nicht nach ihrer Beziehung zu Achilleus miſst, sondern der Meinung ist, daſs sie als selbständige Figuren im Lied der Dichter und in der Vorstellung des Volkes leben und zum Teil in der letzteren unabhängig von der Ilias und lange, bevor es troische Sagen gab, gelebt haben, auch ein solcher oder vielmehr gerade ein solcher wird über die Bedeutung des Sarpedon nicht im Zweifel sein, er wird wissen, daſs diese Gestalt der des Memnon mindestens gleichberechtigt gegenübersteht, ursprünglich sie sogar an Be - deutung überragte.

Sarpedon ist der Landesheros des südwestlichen Teiles der kleinasiatischen Küste, der Landschaften Karien und Lykien, ganz in demselben Sinne wie Telephos der von Mysien, Hektor der der Troas ist, der Geburt nach aber ist er beiden als Sohn des höchsten Gottes überlegen. Der homerischen Version, die ihn mütterlicherseits zum Enkel des Bellerophon macht, steht die hesiodeische47)Hesiod. fr. XXXIX Marksch. (schol. Il. Μ 292. schol. (Eur.) Rhes. 28.) Daſs die pragmatisierende Mythenforschung schon im Altertum den Sarpedon der Ilias von dem gleichnamigen Sohn der Europa unterscheiden zu müssen glaubt (schol. Rhes. 28), darf uns in der richtigen Auffassung des Sachverhalts nicht irre machen. Die Schwierigkeit muſste sich herausstellen, sobald man die Heroen κατὰ γενεάς ordnete; aber in der älteren Zeit scheint man unbe - fangen genug gewesen zu sein, sich mit der Annahme zu helfen, daſs Zeus seinem Sohne verliehen habe ἐπὶ τρεῖς γενεὰς ζῆν (Apollod. III 1, 2, 3). Vgl. Weil Revue de philologie IV 145. gegenüber, die ihm die Europa zur Mutter, Minos und Rhadamanthys zu Brüdern giebt. Es kann sein, daſs das poetische Weiterbildung ist; wahrscheinlicher aber ist, daſs diese Version dieselben, ja höhere Ansprüche hat, für die ur - sprüngliche zu gelten, als die homerische; jedesfalls ward sie zur Volksvorstellung; denn Herodot, ein für karische und lykische Lokalsagen doch gewiſs im höchsten Grade maſsgebender Ge -8*116währsmann, knüpft I 173 (vgl. VII 92) an diese Genealogie an und läſst Sarpedon von seinem Bruder Minos vertrieben nach Lykien fliehen, wobei, wie aus einer anderen Herodotstelle IV 45 ersichtlich, seine Mutter Europa ihn begleitet48)Man beachte, daſs auch Telephos nach der älteren Version mit seiner Mutter nach Mysien kommt.. Veranlassung zu dem Bruderzwist gab nach Apollodor III 1, 2, 3 die Liebe zu einem schönen Knaben, der nach der einen Version Atymnios, auch in der Ilias Name eines Lykiers nach der anderen Miletos heiſst. Ausführlich berichtet das Apollodor a. a. O. οἱ δὲ (Sarpedon und Miletos) φεύγουσι καὶ Μίλητος μὲν Καρίᾳ προσ - σχὼν ἐκεῖ πόλιν ἀφ̕ ἑαυτοῦ ἔκτισε Μίλητον, Σαρπηδὼν δὲ συμμα - χήσας Κίλικι πρὸς Λυκίους ἔχοντι πόλεμον, ἐπὶ μέρει τῆς χώρας, Λυκίας ἐβασίλευσε. Hier erscheint also Sarpedon aufs engste mit der Gründungssage von Milet verknüpft, und diese An - schauung muſs als uralt betrachtet werden, auch wenn man die übrige Fassung der Sage, wozu ich übrigens keine Veranlassung sehe, für jüngern Ursprungs halten sollte. Ausdrücklich als Gründer von Milet wird Sarpedon auch von Strabo XII 573 ge - nannt. Erst von Milet, also von Karien aus, erfolgt die Er - oberung von Lykien, die er mit seinem Oheim Kilix49)Die Genealogie: Europa Kadmos Phoinix Kilix als Geschwister und Kinder des Agenor und der Telephassa bei Apollodor III 1, 1, 2 u. A. Ab - weichend schol. Apoll. B 178: Phoinix und Kassiopeia sind die Eltern von Kilix, Phineus, Doryklos; dieselbe Kassiopeia hatte dem Zeus den Atymnios geboren. Diese Genealogie stammt offenbar aus der andern Version der Sarpedonsage, so daſs dort Sarpedon sich mit dem Halbbruder seines Ge - liebten verbündet, vgl. O. Jahn, Entführung der Europa S. 30. Die dort angeführte Stelle des Clemens Romanus homil. V 13, daſs Zeus in Gestalt des Phoinix sich der Kassiopeia naht, erinnert aufs augenscheinlichste an den Alkmene-Mythos; und gerade einen solchen Lokalmythos in den Teilen des kleinasiatischen Festlandes, die der Insel Rhodos, der Heimat der Alkmene - Elektrone, gegenüberliegen, zu finden, ist im Zusammenhang der Beobachtungen von Wilamowitz über Ἀλεκτρώνα (Hermes XIV S. 457) nicht ohne Bedeutung. gemein - sam unternimmt. Möglich, daſs es auch gerade diese Sage war, welche den Inhalt des aischyleischen Stückes Κᾶρες Εὐρώπη bildete50)Die Auffindung des Papyros Didot, der nach H. Weils scharf -. So steht Sarpedon als eine selbständige, von dem117 troischen Sagenkreise ganz unabhängige Gestalt mit seiner eigentümlichen Genealogie und seinem eigenen Mythenkreise da. Es ist evident, daſs Sarpedon der ältesten Sage vom troischen Krieg, d. h. der äolisch-lesbischen Form derselben, fremd ge - wesen ist; erst die Ionier51)Auf sprachlichem Gebiet hat die Sonderung des Äolischen und des Ionischen in den homerischen Gedichten nach Kirchhoffs Vorgang in muster - gültiger Weise Hinrichs (de homericae elocutionis vestigiis aeolicis, dissertat. in - aug. Berlin 1875) vorgenommen; auf sagengeschichtlichem Gebiete ist die Scheidung noch vorzunehmen, eine ebenso dringend gebotene wie dankbare Aufgabe. Auch hier hat Kirchhoff die Wege gewiesen., vielleicht speziell die Milesier, haben50)sinniger Entdeckung einige Verse aus dem Prolog dieses Stückes enthält hat in der jüngsten Zeit vielfache Besprechungen dieser Tragödie hervor - gerufen (vgl. H. Weil Un papyros inédit de la bibliothèque de M. Ambroise Firmin-Didot in den Monuments grecs publiés par l’Association pour l’encourage - ment des études grecques en France). Wenn man, wie Blaſs (Rh. Mus. XXXV S. 85) mit Weils Zustimmung (Revue de philologie IV 145) thut, Vers 19 Τρώων liest, was dem überlieferten Τρώαν allerdings am nächsten steht, dann muſs der Inhalt des Stückes, wie Blaſs auch annimmt, die Sorge Europas um ihren vor Troia kämpfenden Sohn und ihre Klage um seinen Tod gewesen sein, dann ist es allerdings, wie derselbe Gelehrte annimmt, auch in hohem Grade wahrscheinlich, daſs in diesem Stück Thanatos und Hypnos mit der Leiche des Sarpedon auf der Bühne erschienen, und dann würden wir Brunns Aus - führungen gegenüber uns einfach begnügen können, ihn auf dieses Stück zu verweisen; denn da nach seiner Anschauung die Vasenmaler in der Auswahl der Stoffe ähnlich verfahren wie die Tragiker, da er sogar meint, daſs die bekannte Stelle der aristotelischen Poetik über das numerische Verhältnis der aus der Ilias und aus den kyklischen Epen geflossenen Dramen auch für die Archäologie ihre tiefe Bedeutung habe , so würde die Thatsache, daſs die Sarpedonsage dramatisch behandelt worden wäre, und nun obendrein von Aischylos, hinreichen, seine ganze Darlegung hinfällig zu machen. Dennoch habe ich im Texte dieses Argument deshalb nicht gebraucht, weil die Meinung von Blaſs doch immer nur eine Hypothese, freilich die zunächst liegende und wahrscheinlichste ist, und weil mir die Einwände von Bücheler (Rh. Mus. XXXV S. 94) und Bergk (ebenda S. 248) mit Ausnahme des chronologischen, über den ich urteile, wie Weil doch immer der Erwägung wert erscheinen. Handelt es sich aber, wie Blaſs und Bücheler meinen, nicht um den troischen Krieg, so wird man eben an die oben genannten Kriegs - züge des Sarpedon gegen Lykien denken, das dem Kilix gehört und von fremden Scharen (Tlepolemos und seinen Rhodier?) bedroht wird; dann ist aber auch unbedenklich mit Bergk Τλώων zu schreiben.118 als sie die äolische Heldensage übernahmen und weiterbildeten, diese ihnen geläufige Figur als Bundesgenossen der Troer ein - gefügt52)Sehr merkwürdig ist der siegreiche Zweikampf des Sarpedon mit dem Herakliden Tlepolemos d. h. dem Vertreter der Dorer auf Rhodos (Π 628 669), ein Kampf also, wie der Dichter ausdrücklich hervorzuheben nicht unterläſst, zwischen einem Sohn und einem Enkel des Zeus. Sieht diese Episode nicht ganz aus, wie eine Lokalsage aus der Südwestecke Klein - asiens, deren Schauplatz ursprünglich gar nicht Troia, sondern Lykien ist, wenn sie auch jetzt unlösbar in den Zusammenhang jenes troischen Schlachtenbildes hineinverwebt ist?; denn was für die Lesbier die Kämpfe mit der Troas, das waren für sie die Kämpfe mit den Lykiern und Kariern; und beide flossen zu einem groſsen einheitlichen Bilde, dessen Schauplatz Troia ist, zusammen. Es ist klar, daſs damals mit Sarpedon auch seine Lykier in die troische Sage aufgenommen wurden und damals zuerst die Gegner der Griechen als Τρῶες καὶ Λύκιοι καὶ Δάρδανοι ἀγχιμαχηταί zusammengefaſst wurden; und gewiſs war es auch damals, daſs der Hauptfluſs Lykiens, Xanthos, seinen Namen hergeben muſste, um als zweiter bei den Göttern gebräuchlicher Name des Skamandros zu dienen53)So Hercher, Homerische Aufsätze S. 37 Anm. 4, von dessen Auffassung ich nur insofern abweiche, als ich die Einführung des Doppelnamens Xan - thos nicht als das willkürliche Spiel eines Nachdichters, sondern als notwen - dige Konsequenz des oben geschilderten Vorgangs der Sagenentwicklung oder vielmehr Sagenverschmelzung ansehe.. Es bedarf übrigens kaum der ausdrücklichen Versicherung, daſs dieser sagengeschichtliche Vorgang lange vor die Entstehung der uns erhaltenen Gedichte fällt, daſs also die Sänger Sarpedon und seine Lykier bereits als integrierenden Bestandteil der Sage über - nahmen.

Als eine ächt volkstümliche Gestalt wird Sarpedon endlich durch den ihm geweihten religiösen Kult erwiesen. Das Σαρπηδόνειον bei Xanthos bezeugt Appian (bell. civ. IV 78. 79); gerade dieser Umstand aber, daſs man in Lykien das Grab des Sarpedon be - saſs, während die Sage die Gräber der übrigen vor Troia ge - fallenen Helden in die Troas selbst setzt, wird wohl den ionischen Sänger zu der singulären Erfindung veranlaſst haben, daſs Schlaf119 und Tod die Leiche des Sarpedon vom Schlachtfelde weg nach Lykien tragen.

Aus ganz anderm Holz ist Memnon. Vergebens sieht man sich nach einem Volksstamm um, der ihn als seinen Heros ver - ehrt54)Daſs später, vielleicht schon im 6. Jahrhundert, Memnon zum Re - präsentanten der Bewohner des inneren Asiens, zuerst der Assyrer und später der Meder wurde, so daſs Aischylos seine Mutter (Eos?) geradezu als eine Kissierin bezeichnen konnte (Strabo XV 728), hat mit der älteren Sagen - anschauung natürlich nichts zu schaffen. Ebenso wenig kommen die später an verschiedenen Lokalitäten vollzogenen Taufen auf den Namen des durch die Poesie berühmt gewordenen Helden hier in Betracht. Sein Grab verlegt noch Simonides (bei Strabo a. a. O.) nach Syrien; das Grab in der Troas, welches die spätere Zeit kennt, verdankt aber, wie vieles andere, der erst auf dem Boden des ausgebildeten Epos erwachsenen Lokallegende seine Ent - stehung (Strabo XIII 587. Paus. X 31, 6. Aelian hist. anim. V 1)., vergebens nach einem Mythos, in dem er auſserhalb des Ramens des troischen Krieges handelnd auftritt. Fern im Osten an den Grenzen der bewohnten Erde, wo die fabel - haften Aithiopen wohnen, ist er zu Hause; ein Sohn der Eos, ein Märchenprinz vom Scheitel bis zur Sohle. Ganz eigentlich für den troischen Krieg erfunden unterscheidet er sich sehr wesentlich von den in der Sage selbst wurzelnden Heldengestalten. Und diese Erfindung fällt obendrein in eine sehr späte Periode der Sagenentwickelung. Der Boden, auf dem sie entstanden, ist die bereits poetisch sehr ausgebildete Sage. Schon oben ist gelegentlich darauf hingewiesen worden, daſs für die Memnon - sage eine Reihe von Liedern unserer heutigen Ilias die Voraus - setzung bilden; und das sind keineswegs bloſs so alte Bestand - teile, wie der Auszug und Tod des Patroklos, sondern auch so junge, wie die Ὁπλοποιΐα. Ja die ganze Einführung des Memnon setzt zu ihrer Motivierung die augenscheinlich späte Genealogie des troischen Königsgeschlechtes aus Υ 215 240 voraus. Dort heiſst Tithonos, der Gemahl der Eos, den diese entführt hat (gerade wie in den Vorstellungen anderer Stämme, den Kleitos, Kephalos, Orion), Bruder des Priamos. Gewiſs ist es ein sinn - reicher Einfall, daſs der aus diesem Ehebündnis entsprossene Sohn aus dem Fabelland des Ostens den bedrängten Vettern in120 der zehn Jahre lang belagerten Stadt zu Hilfe kommt, aber ein Einfall, wie er nur auf dem Hintergrunde eines vollständig poetisch durchgebildeten Sagenkreises entstehen konnte, ein rechter Einfall eines Epigonen. Und recht epigonenhaft ist es auch, daſs die Dichtung nicht mehr im Stande ist, neue Motive zu erfinden, sondern nur die alten Motive in gesteigerter Form bei dieser ihrer jüngsten Schöpfung wiederholt, wobei allerdings die märchenhaften Übertreibungen dem Fürsten aus dem Wunderlande sehr gut zu Gesichte stehen. Wenn so Hektor und Sarpedon, ja Achilleus selbst die Farben herleihen müssen, ist es freilich kein Wunder, daſs das schlieſslich zustande ge - kommene Bild eines der prächtigsten und blendendsten des ganzen troischen Sagenkreises ist. In der That hat das Gedicht von Memnon entschiedenes Glück gemacht55)Brunn a. a. O. S. 201 denkt sich die Sage von dem Ende und der Verklärung des Memnon zuerst in der Volkspoesie entwickelt; doch habe sie ihre abgerundete harmonische dichterische Ausgestaltung erst in der Äthiopis erhalten und sei von hier aus in den Kreis künstlerischer Darstellungen aufgenommen worden . Wenn das Lied von Memnon ursprünglich unabhängig von dem Amazonenkampf und der Iliupersis bestanden hat, was ja an sich mög - lich, vielleicht sogar wahrscheinlich ist, so kann dies nur in der Form eines Epyllions von der Art des älteren Nostos der Odyssee und der Telemachie der Fall gewesen sein. Allein ich kann mir nicht denken, daſs der Inhalt dieses Epyllions sich von dem der späteren Äthiopis wesentlich unterschieden oder weniger die Spuren der Nachahmung getragen haben könne, als diese. Das oben über die späte Entstehung Bemerkte würde dann einfach Wort für Wort auch von diesem Epyllion gelten. Die abgerundete harmonische dichterische Ausgestaltung , die ein Arktinos, oder wer sonst der Verfasser der Äthiopis war, mit der Sage vorgenommen hätte, könnte sich dann auch nicht wesentlich von der Operation der letzten Odysseebearbeiter unter - schieden haben, d. h. es wäre ein Zusammenarbeiten verschiedener kleiner Epen gewesen, bei dem am Inhalt so gut wie nichts, an der Form ver - hältnismäſsig wenig geändert worden wäre. Warum aber diese Aus - gestaltung in der Äthiopis erst vorausgegangen sein muſste, ehe die Sage in den Kreis künstlerischer Darstellungen aufgenommen werden konnte, ist mir völlig unverständlich.. Aber daſs man darüber das Original, den Sarpedon, vergessen oder vernach - lässigt hätte, soweit ist es doch nie gekommen. Höchstens als gleichberechtigt stehen beide neben einander, wie auch nach dem121 hübschen Einfall des Aristophanes, die Götter den Todestag beider durch Trauer und Fasten begehen: nub. 621

πολλάκις δ̕ ἡμῶν ἀγόντων τῶν ϑεῶν ἀπαστίαν,
ἡνίκ̕ ἂν πενϑῶμεν τὸν Μέμνον̕ Σαρπηδόνα κτλ.

Auch von dieser Seite her läſst sich also nicht erkennen, welches Vorrecht Memnon vor Sarpedon gehabt haben sollte; im Gegenteil, je früher man sich jenen bildlichen Typus ent - standen denkt, desto ausschlieſslicher wird der Anspruch des Letzteren.

Noch ist eines weiteren Einwandes, den Brunn gegen die Deutung auf Sarpedon macht, zu gedenken; er sagt S. 186 Wenn schon der um so viel bedeutsamere Tod des Patroklos zu einer sehr schwachen, fast nur durch die Beziehung auf Achill bedingten künstlerischen Entwickelung gelangt ist, so ist für den Tod des Sarpedon (der nur eine Episode zur Verherrlichung des Patroklos sei s. oben S. 112), eine stärkere Betonung in der Kunst sicher nicht zu erwarten . Seltsam; einige Seiten vorher hat uns Brunn be - lehrt (S. 176) daſs die Darstellungen von Memnons Tod die - jenigen vom Tode des Achilleus bei weitem überragen . Nun ist es aber doch gewiſs Brunns Meinung, daſs der Tod des Achilleus noch ein weit bedeutsameres Ereignis sei, als der des Memnon. Worin unterscheidet sich denn nun das Verhältnis, wie es Brunn zwischen den Darstellungen von Memnons und Achilleus Tode voraussetzt, von demjenigen, das sich bei meiner Deutung für die Darstellungen von Sarpedons und Patroklos Tode ergiebt?

Ich darf hoffen, durch die bisherigen Erörterungen den Nach - weis geführt zu haben, daſs gerade eine Betrachtungsweise, wie die von Brunn angestellte, die Deutung auf Sarpedon nicht nur nicht ausschliefen, sondern sie vielmehr in hohem Grade stützen würde. Damit soll jedoch keineswegs gesagt sein, daſs ich die Richtigkeit oder die Berechtigung einer solchen Betrachtungs - weise ohne weiteres anerkenne; vielmehr muſs ich bekennen, daſs ich einige Zweifel nicht unterdrücken kann. Es mag an mir liegen, aber ich bin wirklich auſser Stande, mir einen klaren122 Begriff davon zu machen, was eigentlich ein Kern - und Knoten - punkt der Sage ist und woran man ihn erkennt. Bei einem Roman, einem Drama, auch einem Kunstepos, kurz jedem nach einem einheitlichen Plan entworfenen Dichtwerk, kann man von Kern - und Knotenpunkten sprechen; wie das aber bei der Sage und dem Volkslied möglich sein soll, wie sich eine solche An - schauung mit der allmählichen Entwickelung der Volkssage und der Entstehungsgeschichte der homerischen Gedichte und des so - genannten Kyklus vertragen soll, dies einzusehen, bin ich absolut auſser Stande; es scheint demnach, daſs Brunn zu ganz neuen über - raschenden Resultaten auf diesem Gebiete gekommen ist, die er hoffentlich nicht unterlassen will, ausführlich im Zusammenhang dar - zulegen und zu begründen56)Es scheint manchmal in der That, als ob sich Brunn die Ilias und die übrigen den troischen Sagenkreis behandelnden Epen vorstelle, wie ein groſses nach einheitlichem wohlüberlegten Plan ausgearbeitetes Dichtungs - werk, etwa wie die Shakespearischen Königsdramen oder einen Romancyclus. Wenigstens weiſs ich nicht, wie man sich anders Äuſserungen, wie die folgen - den, erklären will: Die Liebeswerbung des Peleus und das Urteil des Paris sind die anerkannten durch den Ratschluſs des Zeus gewollten Ausgangs - punkte des gesamten troischen Krieges und überragen dadurch an tieferer, ich möchte hier sagen epischer (?), Bedeutung sogar den factischen äuſseren (?) Anlaſs zum Kriege, die Liebeswerbung des Paris und die Ent - führung der Helena (S. 171) . des Odysseus erheuchelter Wahnsinn .. hat für das Epos nur den Werth einer Episode von entschiedener Wichtigkeit für das Epos ist hingegen die Teilnahme des Achilles, als des Haupthelden des ganzen Krieges, der für diesen Krieg ausdrücklich geboren und erzogen wird (S. 172) . Die Gegenwart des Telephos im Griechenlager wird im Epos da - durch motiviert, daſs er nach der ersten verfehlten Fahrt den Hellenen als Wegweiser nach Troia dienen soll, eine Thatsache, die allerdings für die weitere Entwicklung poetisch nicht gerade ins Gewicht fällt (S. 173) . Die Opferung der Iphigenie hat eine tiefere Bedeutung weniger für den troischen Krieg, als für die Nostoi und die Orestessage (ebenda) . Anders verhält es sich mit dem von Welcker so schön nachgewiesenen aufgehobenen Zweikampf zwischen Achill und Hektor. Es ist natürlich, daſs die beiden Haupthelden der feindlichen Parteien vor Begierde brennen, ihre Kräfte mit einander zu messen und daſs darum der Dichter sie so schnell als möglich, wahrschein - lich unmittelbar nach dem Tode des Kyknos, einander gegenüberstellt, aber ebenso natürlich, daſs es im Interesse der beiden Parteien liegt, die besten. So lange aber diese Belehrung uns123 nicht zu Teil geworden ist, scheint es thatsächlich unmöglich, die Gründe anzugeben, weshalb gerade diese Sage ein Knotenpunkt der Handlung, jene nur eine wertlose Episode sein soll, weshalb gerade diese Sage bildlich gestaltet worden ist, jene hingegen nicht. Ein Fernerstehender wird sogar die Empfindung nicht unterdrücken können, daſs diese Unterscheidung oft nach recht willkürlichen, mindestens ganz subjektiven Gesichtspunkten ge - macht wird.

Es ist nicht schwer dies an einem Beispiel zu zeigen. So hebt Brunn mit Recht hervor, daſs aus dem Kreis der Kyprien drei Episoden in früher Zeit bildlich gestaltet worden sind: der Ringkampf des Peleus und der Thetis, das Parisurteil, der Tod des Troilos. Das vermeintliche Fehlen der Entführung der Helena57)Daſs dieselbe tatsächlich auf schwarzfigurigen Vasen dargestellt war, habe ich oben S. 56 zu zeigen versucht. macht Brunn nur einen Augenblick bedenklich; er motiviert es dadurch, daſs der Raub der Helena nur der faktische äuſsere Anlaſs zum Kriege sei und von keiner solch tiefen epischen Bedeutung , wie die beiden zuerst genannten Episoden, welche die anerkannten durch den Ratschluſs des Zeus gewollten Ausgangspunkte des gesamten troischen Krieges seien. Hingegen wird eine vierte, in dieselbe Reihe gehörige Darstellung, die Übergabe des kleinen Achill an Cheiron58)Daſs dies in den Kyprien vorkam, ist übrigens nichts weniger wie ausgemacht. Daſs Λ 832 nur von einem Unterricht in der Heilkunde spricht und die Ilias von der Erziehung des Achilleus durch Cheiron nichts weiſs, hat S. 17256)Kräfte nicht sofort beim ersten feindlichen Zusammentreffen aufs Spiel zu setzen, sondern für die letzten Entscheidungskämpfe aufzusparen. So wird die erste Begegnung beziehungsreich für die Folgen, und die Bedeutung der beiden Helden für die letzte Entscheidung des Krieges tritt gerade durch die gewaltsame Verzögerung derselben in das hellste Licht (S. 174) . Letztere Stelle bezieht sich auf die Darstellung des M. d. I. I 35. 36 (= Welcker A. D. III 15. Overbeck, Her. Gall. XV 4) veröffentlichten Vasenbildes, das Welcker in dem von Brunn angegebenen Sinne deutet, während es vielmehr, wie Luckenbach a. a. O. S. 519 schlagend nachweist, den aufgehobenen Zweikampf zwischen Hektor und Aias darstellt, also eine Scene der Ilias, von der ich freilich nicht sagen kann, ob sie nach Brunns Ansicht die Geltung einer wertlosen Episode oder eines Kern - und Knotenpunktes der Handlung hat.124 kurz abgefertigt: obgleich Achills Teilnahme von entschiedenster Wichtigkeit sei, habe sich auch (?) hier die Vasenmalerei auf die Erziehung bei Cheiron und auf Abschied und Auszug be - schränkt.

So bleiben also nur die drei oben aufgezählten Vorgänge übrig; worauf gründet sich nun gerade bei diesen dreien der Anspruch, für Kern - und Knotenpunkte der Sage zu gelten? Die Motivierung für die beiden ersten haben wir eben gehört, weil sie die durch den Ratschluſs des Zeus gewollten Ausgangspunkte des ganzen Krieges seien, das heiſst das Resultat der Beratung des Zeus und der Themis. Nun, ob der Ringkampf des Peleus und der Thetis überhaupt in den Kyprien erwähnt war, bleibt zunächst diskutabel. Man verstehe mich recht, die Sage ist sehr58)Aristarch zu jener Stelle richtig bemerkt; aber ebenso sicher ist es, daſs gerade jene Iliasstelle der Keim ist, aus dem sich jene Anschauung ent - wickelt hat. An den beiden Stellen, wo die Sage für uns zuerst auftritt, bei Pindar und Pherekydes, erscheint gleichzeitig die Motivierung: Peleus habe das Kind zu Cheiron gebracht, nachdem Thetis ihn verlassen habe. Pind. - Pyth. VI 21 τά ποτ̕ ἐν οὔρεσι φαντὶ μεγαλοσϑενῆ | Φιλύρας υἱὸν ὀρφανιζομένῳ Πηλεΐδᾳ παραινεῖν. Pherekydes denn dieser ist, da aus ihm sowol der An - fang wie der Schluſs des von Peleus handelnden Abschnittes nachweislich ge - flossen ist (de Apollodori bibl. p. 67), auch für diesen Teil unbedenklich als Quelle anzusehen erzählt bei Apollodor III 13, 6, 2 Θέτις νήπιον τὸν παῖδα ἀπολιποῦσα πρὸς Νηρηΐδας ᾤχετο, κομίζει δὲ τὸν παῖδα πρὸς Χείρωνα Πηλεύς. Wenn sich die Vasenmaler dieses Zusammenhangs nicht immer mehr klar be - wuſst sind und zuweilen bei der Übergabe des kleinen Achilleus an Cheiron Thetis noch gegenwärtig sein lassen (z. B. Gerhard A. V. III 71. 183. Benndorf Griech. u. sicil. Vasenbild. XLI 1), so ist man deshalb noch lange nicht be - rechtigt, eine andere Sagenversion als Quelle für die Vasenmalerei anzu - nehmen; vielmehr erklärt sich die Gegenwart der Thetis hinlänglich aus dem oben im ersten und namentlich im Eingang des zweiten Kapitels Bemerkten. Von den hesiodeischen Katalogen steht fest, daſs sie die Hochzeit des Peleus und der Thetis ausführlich schilderten, (fr. 93 Markscheff. ), aber auch auf die früheren Schicksale des Peleus eingingen und namentlich seine Vermählung mit Polydore berichteten (fr. 94), gerade wie Apollodor-Pherekydes III 13, 4. Demnach ist es nicht unwahrscheinlich, daſs dies Gedicht, wie öfter, so auch für diese Sage die gemeinsame Quelle von Pindar und Pherekydes war; und was die Kunstdarstellungen betrifft, so hat es mindestens den gleichen An - spruch, für die Quelle derselben zu gelten, wie die Kyprien.125 alt, und einzelne Stellen der Ilias (Σ 84. 432) lassen auch schlieſsen, daſs sie poetisch in einem Liede behandelt war; aber bei dem Schweigen des Proklos ist es fraglich, ob und in welcher Weise der Verfasser der Kyprien das Lied benutzt habe; er konnte den Ringkampf gerade so gut ignorieren, wie es der Dichter von Ω 60 thut, einer Stelle, die vielleicht jünger als die Kyprien und mit direkter Beziehung auf dieselben gedichtet ist. Und das Urteil des Paris? ob sich die Vasenmaler dabei wirklich der Beratschlagung der Themis und des Zeus aus dem Proömium der Kyprien erinnert haben? Sonderbar, mit Figuren geizt doch gerade die archaische Kunst nicht, aber niemals sind Zeus und Themis zugegen, wie man doch erwarten sollte, wenn die Vasenmaler an jene Episode, durch welche das Parisurteil zum Knotenpunkt der Sage wird, gedacht hätten. Erst auf Vasen des vierten Jahrhunderts finden wir beide gegen - wärtig59)Stephani C. R. 1861 T. 3. Wiener Vorlegebl. Ser. A. T. XI., aber inzwischen hatte auch Euripides (Helena 40. Orest. 1642) die Erinnerung an jene Stelle aufgefrischt. Und endlich Troilos: Für den äuſseren Verlauf des Krieges, sagt Brunn, bildet des Troilos Tod doch nur eine Episode ohne nach - haltige Bedeutung. Selbst die Angabe, daſs das Schicksal Trojas mit dem Tode des Troilos vor erreichter Mannbarkeit aufs Engste verknüpft war60)Brunn meint offenbar die aus Plautus Bacchides 954 bekannte Version, die aber den Tod des Troilos konsequenter Weise an eine ganz andere Stelle, nämlich nach dem des Hektor, verlegt, also von der Erzählung der Kyprien total verschieden ist. Zuletzt hat Kieſsling in den Analecta Plautina (ind. schol. Gryph. 1878 p. 16) scharfsinnig diese Sagenform behandelt. Überzeugend wird dort nachgewiesen, daſs jenes Spielen mit der troischen Sage Plautus bereits in seiner Vorlage, dem Δὶς ἐξαπατῶν des Menandros, vorfand, und daſs Letzterer damit dieselbe griechische Tragödie parodierte, welche das Vorbild für die Andromacha aechmalotis des Ennius gewesen ist, und mit Recht wird darauf hingewiesen, daſs dieselbe Sagenversion auf dem von O. Jahn (Telephos und Troilos und kein Ende. Taf. 2) und Schreiber (M. d. I. X 22, 2) publicierten rot - figurigen Vasenbilde strengen Stiles vorliege. Allein mag man nun die von mir vertretene Anschauung, daſs auf Vasen des fünften Jahrhunderts die jungen vom gleichzeitigen Drama geschaffenen Sagenformen noch nicht vorkommen, teilen oder nicht, in diesem Falle wird wohl niemand sich zu der Be -, würde die Bevorzugung dieser Scene von Seiten126 der Künstler nur ungenügend rechtfertigen. Das tief innerlich Entscheidende liegt vielmehr darin, daſs bei diesem Anlaſs Achilles das Heiligtum des thymbräischen Apollo entweiht, daſs er sich dadurch die persönliche Feindschaft des Gottes zuzieht, und daſs dadurch sein späterer Tod als die Sühnung einer be - stimmten Schuld moralisch begründet61)A. d. I. 1858 p. 352 hatte Brunn, wie wir oben sahen, erklärt, daſs Achilleus durch Abweisung der Gesandtschaft der Achaier sich den Zorn der Götter zuziehe und das dies seinen Tod herbeiführe; er hatte dies benutzt, um die Zusammenstellung der Gesandtschaft mit Memnons Leiche als Gegen - bild zu motivieren; hier (Troische Miscellen S. 175) ist es die Entweihung des thymbräischen Heiligtums, durch die Achilleus eine Schuld auf sich ladet, welche er durch seinen späteren Tod büſst. Ich constatiere den Wider - spruch, ohne ihn lösen zu können. wird . Daſs diese Be - ziehung in die Sage einmal hineinkommt, ist ja allgemein bekannt und längst zugegeben. Es fragt sich nur, ob sie ur - sprünglich darin liegt und, wenn nicht, wann sie hineingekommen ist. Dies hängt aber wieder mit der Frage zusammen, wann und wo Achilleus fällt. Die älteste Stelle Χ 364 weiſs von Achilleus Tod am skäischen Thor; bei Arktinos fällt er, als er in die Stadt eindringt. Die Fassung des Lesches kennen wir nicht62)Vgl. den Excurs Lesches und Arktinos., aber die aus seinem Gedicht bezeugte Version vom Streit60)hauptung versteigen wollen, daſs jenes Drama eines unbekannten Verfassers die Quelle für die Vase gewesen sei. Wie sollte auch das Stück eines der unbedeutenderen Tragiker aus der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts denn an Sophokles ist nicht zu denken, da dieser in seinem Troilos den Kyprien folgte einerseits einen so rapiden Einfluſs auf die Kunst geübt haben können, andererseits so populär geblieben sein, daſs noch Menandros Veranlassung genommen hätte, es zu parodieren? Die Sagenform ist also sowol von dem Vasenmaler wie von jenem unbekannten Dramatiker aus der - selben älteren, vor dem 5. Jahrh. liegenden Quelle entnommen. Möglich, daſs wir auch hier wieder den Einfluſs der Lyrik constatieren müssen; aber auch die Möglichkeit, daſs die Sage aus der kleinen Ilias stammt, ist nicht ausgeschlossen. Denn für die ersten Partien dieses Epos läſst uns Proklos bekanntlich im Stich; und die beiden andern Facta, die Plautus und also auch Menander mit dem Tod des Troilos zusammen nennen, der Raub des Palladiums und das hölzerne Pferd, kommen ja thatsächlich in der kleinen Ilias vor.127 um die Waffen beruht auf derselben Anschauung von Achills Tod in der Schlacht, wie wir sie aus der Ilias kennen und wie sie für Arktinos bezeugt ist. Die ältesten Vasen, eine chalkidische63)M. d. I. I 51. Overbeck, Her. Gall. XXIII 1. und eine attische64)Gerhard A. V. III 227, 2. Overbeck a. a. O. XXIII 2., zeigen den Tod des Achilleus im Kampfgewühl, ebenso der Giebel von Aigina, und so stellt sich auch der späte Dichter von ω 39 die Sache vor, wenn er Agamemnon zu Achilleus sagen läſst:

σὺ δ̕ ἐν στροφάλλιγγι κονίης
κεῖσο μέγας μεγαλωστί.

Wir haben also kein einziges älteres Zeugnis für den Tod des Achilleus am Altar des thymbräischen Apollo, und dürfen mindestens soviel daraus schlieſsen, daſs diese Sagenversion nicht die verbreitetere war. Unser ältester Zeuge dafür ist über - haupt Hellanikos, also ein Mann, der die Sagenversionen des hesiodeischen Epos, der Lyrik, vielleicht sogar des Dramas, allerdings auch die auf dem Boden des Epos gewachsenen jüngeren Lokallegenden benutzte. Mit welchem Rechte setzen wir also diesen absolut unepischen Zug für Arktinos gegen das direkte Zeugnis des Proklos oder für Lesches voraus? Wird aber Achill im Epos nicht am Altar des thymbräischen Apollo getötet, so fällt ja das tief innerlich Entscheidende für den Troilosmythos weg und, was übrig bleibt, ist ja dann nur eine Episode ohne nachhaltige Bedeutung . Und die Häufigkeit der Troilosdarstellungen beruht am Ende wirklich auf rein künst - lerischen Gründen oder gar auf bloſsem Zufall? Aber wird da - durch nicht der Grundsatz von den Knoten - und Kernpunkten der Sage unhaltbar? Ich denke, er ist es schon längst geworden. Wenn nach Brunns eigenem Geständnis Momente, wie der Raub der Helena (das mit Unrecht), der Streit zwischen Achill und Agamemnon, der Zweikampf zwischen Paris und Menelaos, der Raub des Palladiums, der Tod des Paris, das hölzerne Pferd, fehlen, kann da noch von einer Bevorzugung der für den Verlauf der Sage wichtigsten Momente die Rede sein? Andererseits ge -128 hört weder groſser Scharfsinn noch groſse Belesenheit dazu, jede beliebige Episode des troischen Sagenkreises als einen Kern - und Knotenpunkt, der der Phantasie eine reichere Anregung bietet, zu erweisen. Ich denke, ob und welche Gesetze über der Aus - wahl der einzelnen Scenen walteten, das werden wir vielleicht jetzt überhaupt noch nicht, auf diesem Wege aber nie erkennen, denn gewiſs war es nicht die Reflexion der Künstler über die tiefen Bezüge des Mythos, die dafür maſsgebend war. Es will mir scheinen, daſs wir dem Sinne der Alten um so näher treten, je mehr wir die Dinge nehmen, wie sie sich geben, je unbefangener wir uns an den Werken der Un - befangenen freuen, je williger wir aber auch die Grenzen un - seres Erkennens gestehen. Solche schillernden und kokettieren - den Bezüge, wie sie Brunn sowol in der Auswahl der ein - zelnen Scenen sucht wie in ihrer Verbindung, würden weder dem Erfinder groſse Ehre machen, noch würde für uns das Unglück allzu groſs sein, wenn wir sie nicht verstünden. Das Jagen nach diesen Bezügen artet gar zu leicht aus in ein geistreiches Spiel, und von da bis zu dem Rebusraten einer gewissen Richtung, auf die wir uns gewöhnt haben, mit Ver - achtung herab zu sehen, ist nur ein Schritt. Nach diesem Allen wird man es begreiflich finden, wenn ich bis jetzt weder Neigung noch Beruf fühle, aus den Schranken der niederen Methode herauszutreten, um mich an dem kühnen Fluge der höheren, mit klassischem Ausdruck als divinatio bezeichneten Kritik zu beteiligen.

[129]

IV. DAS ATTISCHE DRAMA UND DIE VASENMALEREI DES FÜNFTEN JAHRHUNDERTS.

Der oben S. 28 aufgestellte Satz, daſs die vom Drama ge - schaffenen Sagenversionen entweder überhaupt nicht oder nur in ganz vereinzelten Fällen auf die gleichzeitige Kunst und ins - besondere auf die gleichzeitige Vasenmalerei Einfluſs geübt haben, bedarf, da er der herrschenden Ansicht widerstreitet, einer näheren Erläuterung. Die Begründung desselben ist indessen deshalb etwas unerquicklich, weil, so oft man auch die Dar - stellungen auf rotfigurigen Vasen strengen Stiles auf das Drama zurückführen hört, ein ernsthafter Versuch, diesen Zusammen - hang zu beweisen, fast nie gemacht wird, und es in der Regel vielmehr dem Leser überlassen bleibt, sich die Gründe für eine solche Zurückführung selbst zu suchen. Ich muſs mich unter diesen Umständen darauf beschränken, ein par einzelne Fälle, teils solche, in denen der Einfluſs des Dramas besonders zu - versichtlich behauptet und geglaubt worden ist, teils solche, in welchen das Urteil wirklich schwanken kann, ausführlicher zu erörtern. Natürlich handelt es sich dabei in erster Linie um Aischylos, da die beiden anderen groſsen Tragiker auf die Vasen - malerei bis 445 schon aus chronologischen Gründen nur einen geringen Einfluſs gehabt haben könnten.

Ich beginne mit der tragischen Ilias . Bekanntlich haben übereinstimmend G. Hermann und Welcker die drei aischyleischenPhilolog. Untersuchungen V. 9130Titel Μυρμιδόνες, Νηρηίδες und Φρύγες Ἕκτορος λύτρα zu einer Trilogie zusammengestellt, die mit der Teilnahme des Patroklos am Kampfe begann und mit der Lösung des Hektor endete, also in ihrem Inhalt den Büchern Π Ω der Ilias entsprach. Es ist ferner bekannt, daſs sich auf eben diese Trilogie die Verse 912 bis 915 der Frösche des Aristophanes beziehen:

Πρώτιστα μὲν γὰρ ἕνα γέ τινα καϑῖσεν ἐγκαλύψας
Ἀχιλλέα τιν̕ Νιόβην τὸ πρόσωπον οὐχὶ δεικνύς,
πρόσχημα τῆς τραγῳδίας, γρύζοντας οὐδὲ τουτί.
........ δὲ χορός γ̕ ἤρειδεν ὁρμαϑοὺς ἄν
μελῶν ἐφεξῆς τέτταρας ξυνεχῶς ἄν· οἱ δ̕ ἐσίγων.

Also im Anfang eines Stückes saſs Achilleus während der langen Parodos des Chores mit verhülltem Antlitz auf der Bühne. Nach der Angabe des Scholiasten waren es die Φρύγες, also das dritte Stück der Trilogie, und man wird zugeben, daſs der um seinen liebsten Freund in stummen Schmerz versunken dasitzende Achil - leus nicht nur an sich ein sehr passendes dramatisches Motiv, sondern auch das passendste Gegenstück zu der von Aristophanes in demselben Vers erwähnten Niobe ist. Mit dem Aristophanes - scholiasten stimmt die vita des Aischylos überein, aus der wir nur noch lernen, daſs der Parodos als Prolog ein kurzes Ge - spräch zwischen Achilleus und Hermes voranging: ἐν δὲ τοῖς Ἕκτορος λύτροις Ἀχιλλεὺς ὁμοίως ἐγκεκαλυμμένος οὐ φϑέγγεται πλὴν ἐν ἀρχαῖς ὀλίγα πρὸς Ἑρμῆν ἀμοιβαῖα. Nun sagen aber die jüngeren Scholien εἰκὸς τὸν ἐν τοῖς Φρυξὶν Ἀχιλλέα Ἕκτορος λύτροις τὸν ἐν Μυρμιδόσιν, ὃς μέχρι τριῶν ἡμε - ρῶν οὐδὲν φϑέγγεται. Daſs letztere Bemerkung hier in einen ganz falschen Zusammenhang geraten ist und sich ursprüng - lich auf die drei Tage lang stumm am Grabe ihrer Kinder sitzende Niobe bezieht, lehrt, wie G. Hermann festgestellt hat, die Vergleichung mit der schon erwähnten Aischylosvita, die eben auf unser Scholion in reiner und vollständiger Gestalt zurück - geht; von den Myrmidonen aber steht dort kein Wort. Schon dies ist bedenklich; aber, wie wenig glaublich ist es auch, daſs Aischylos das erste und das dritte Stück genau mit derselben131 Situation, dem verhüllt und schweigend dasitzenden Achilleus habe beginnen lassen! Soll sich der Schmerz um den selbst - verschuldeten Verlust1)Daſs Aischylos die Sache so darstellte, beweist bekanntlich das schöne Fragment 135, namentlich die Schluſsworte τάδ̕ οὐχ ὑπ̕ ἄλλων ἀλλὰ τοῖς αὑτῶν πτεροῖς ἁλισκόμεσϑα. des Freundes genau in derselben Weise äuſsern, wie der Zorn über die entführte Briseis? Ich dächte, wenn irgendwo, so wäre hier eine Steigerung nötig gewesen. Der Achilleus des ersten Teiles der Ilias zürnt und schilt um Briseis, das ist menschlich richtig; Niobe nach dem Verlust ihrer Kinder, Achilleus bei Patroklos Tod versinken in ein dumpfes Hinbrüten, in dem sie der Auſsenwelt vergessen; und diesen höchsten Trumpf sollte Aischylos schon gleich beim ersten Stück der Trilogie ausgespielt haben? Diese und ähnliche Er - wägungen haben G. Hermann, Nauck u. A. dahin geführt die Worte τὸν ἐν Μυρμιδόσιν für ein thörichtes und ganz unglaub - würdiges Einschiebsel zu erklären, dem ebenso wenig Glauben beizumessen ist, als der Versicherung der Scholien zu V. 1400, daſs der notorisch euripideische Vers βέβληκ̕ Ἀχιλλεὺς κτλ. aus denselben Myrmidonen des Aischylos sei.

Anders urteilt Brunn. Schon in den Ann. d. Inst. 1858 p. 366 hält er nicht nur an der Nachricht, daſs auch im Anfang der Myrmidonen Achilleus verhüllt auf der Bühne gesessen habe, fest, er schlieſst aus den bildlichen Darstellungen sogar, daſs auch im mittleren Stück der Trilogie, den Nereiden Achilleus genau so dagesessen habe, so daſs also alle drei Stücke genau mit demselben Bühnenbilde begonnen haben würden; und auf derselben Voraus - setzung kann es doch auch nur beruhen, wenn Brunn neuerdings wieder im dritten Heft seiner Troischen Miscellen S. 179 mit Entschiedenheit erklärt, daſs die Darstellungen der Wegführung der Briseis, der Gesandtschaft an Achill, weiter die Darstellungen der Waffenübergabe an Achill, sowie der Lösung des Hektor, in denen die typische Gestalt des erzürnt (?) dasitzenden Achilleus konstant wiederkehrt, in bestimmter Weise auf Aischylos als Quelle hinweisen .

9*132

Daſs der Achill in den Briseisdarstellungen aus dem Typus der πρεσβεία einfach entlehnt ist, wurde oben S. 96 gezeigt und kann doch auch nur Brunns Meinung sein, da die Wegführung der Briseis doch weder in der tragischen Ilias noch in einem andern aischyleischen Stück vorkam. So können wir uns also gleich zu den schon oben S. 95 in anderem Zusammenhang be - sprochenen Darstellungen der Gesandtschaft an Achilleus wenden, auf denen dieser allerdings mehr oder minder verhüllt dazusitzen pflegt. Ich finde es nun zwar nirgends bei Brunn ausdrücklich ausgesprochen, muſs es aber nach dem ganzen Zusammenhang seiner Darlegung annehmen, daſs er die Myrmidonen für die poetische Quelle dieser Darstellungen hält und somit die Ansicht G. Hermanns teilt, nach welcher die Gesandtschaft an Achilleus den ersten Teil dieses Stückes ausmachte. Auf wie schwachen Füſsen die Annahme steht, daſs im Beginn dieses Stückes Achilleus verhüllt und schweigend dasaſs, ist oben gezeigt worden. Allein auch diese weitere Annahme, daſs in dem Stück die πρεσβεία vorgekommen sei, ist keineswegs über allen Zweifel erhaben. Kein Fragment weist auf diese oder eine ähnliche Scene hin; es giebt für dieselbe überhaupt nur zwei Anhaltspunkte; einmal die Annahme, daſs die Myrmidones des Accius im wesentlichen eine Übersetzung des gleichnamigen aischyleischen Stückes seien, dann die Bemerkung der späten byzantinischen Scholien zu Aristophanes Fröschen 1264 Φϑιῶτ̕ Ἀχιλλεῦ κτλ. τοῦτο ἀπὸ τῶν πρέσβεων πρὸς Ἀχιλλέα Αἰσχύλος ἐποίησεν. Was zunächst letzteren Punkt betrifft, so sind die parodierten Verse Worte des Chores und zwar aus der Parodos. Somit können die hier genannten πρέσβεις nicht die Gesandten des Agamemnon, es müssen die Delegierten der Myrmidonen sein. Dies sah G. Hermann Opusc. V p. 140. Damit ist aber diese Notiz voll - ständig in Ordnung, und es ist weder nötig noch gerechtfertigt, mit G. Hermann anzunehmen, daſs auſser den πρέσβεις der Myrmidonen noch die des Agamemnon aufgetreten seien und daſs dies vom Scholiasten verwechselt worden sei; eine solche Verwechslung anzunehmen, haben wir in keiner Weise Veran - lassung; aber als Zeugnis für das Vorkommen der πρεσβεία in133 den Myrmidonen lassen sich die Worte dann freilich nicht mehr verwerten.

Was aber die Myrmidones des Accius betrifft, so hege ich trotz G. Hermanns schöner Auseinandersetzung starke Zweifel, ob sie mit den Μυρμιδόνες des Aischylos etwas anderes gemein haben als den Namen. Keines der Fragmente weist darauf hin, daſs der Tod des Patroklos vorkam; die meisten beziehen sich auf die μῆνις des Achilleus. Fr. I Ribb. zeigt, daſs Anti - lochos Person war, wie auch in den Myrmidonen des Aischylos; aber dort verkündet er den Tod des Patroklos, während er hier den zornigen Achilleus zu beruhigen sucht, also eine lange vor dem Auszug des Patroklos liegende Scene. Mit fr. II, der Drohung des Achilleus abzufahren,

classis trahere in salum [me] et vela ventorum animae
immittere

hat G. Hermann die Worte verglichen, die Achilleus in der Ilias (Ι 359) an die Gesandtschaft richtet, und auf dieser Über - einstimmung beruht auch lediglich die Annahme, daſs die πρεσβεία in dem Stücke vorgekommen sei. Indessen ganz zwingend ist dieser Schluſs nicht; auch in der Streitscene mit Agamemnon im ersten Buch Α 169 droht Achilleus

νῦν δ̕ εἶμι Φϑίηνδ̕, ἐπειὴ πολὺ φέρτερόν ἐστιν
οἴκαδ̕ ἴμεν σὺν νηυσὶ κορωνίσιν,

und dem Wortlaut nach schlieſst sich das Fragment des Accius weder an die eine noch an die andere Stelle so eng an, daſs sich hieraus entscheiden lieſse, welche das Vorbild war. Ebensowenig ist es notwendig, daſs fr. IV

Quodsi ut decuit stares mecum aut meus te maestaret dolor,
iam diu inflammari Atridae naves vidissent suas,

von Achilleus zu Aias gerade bei Gelegenheit der Gesandtschaft gesprochen wird. Die Schilderung der πρεσβεία in der Ilias bietet hierfür keine Parallelstelle. Denkbar wäre, daſs Achilleus134 diese Worte unmittelbar nach dem Streit an einen Genossen richtete; dann lieſse sich Ilias Α 231 vergleichen:

δημοβόρος βασιλεὺς, ἐπεὶ οὐτιδανοῖσι ἀνάσσεις.
γὰρ ἂν, Ἀτρεΐδη, νῦν ὕστατα λωβήσαιο.

Denkbar wäre auch, daſs sie gar nicht dem Achilleus gehörten, zumal dessen Zorn sich nur gegen den einen Atriden richtet. Den übrigen Fragmenten aber würde jeder, der ohne vorgesetzte Meinung an sie herantritt, gewiſs unbedenklich in der Streitscene ihren Platz anweisen. Namentlich läſst fr. VIII regnum tibi per - mitti malunt? cernam, tradam exercitum2)Wie die Änderung Merciers: cernant geduldet werden kann, ist mir unverständlich. Nonius 261, 64 führt die Stelle zum Beweise dafür an, daſs cernere in die Bedeutung von cedere übergehen könne. Der Sinn ist also: Wenn sie lieber dir den Oberbefehl übertragen wollen, nun gut, so will ich abdanken und dir die Heere übergeben . Was ist an diesem Gedanken oder an dieser Fassung auszusetzen? doch kaum eine andere Auffassung zu, als die, daſs es Worte des Agamemnon sind; im höchsten Zorn kann dem Agamemnon dieser natürlich nur ironisch gemeinte Ausruf entfahren, etwa in einer Weiter - bildung der Worte Α 288 f. Worte des Achilleus sind fr. III und VI; das erstere mea facta in acie obliti würde in denselben Gedankenzusammenhang gehören wie Α 165 168, das zweite tua honestitudo Danaos decepit diu würde in einer Rede wie Α 225 eine passende Stelle haben; auch als Schmähung des Aga - memnon gegen Kalchas wäre es denkbar; fr. V

iram infrenes, obstes animis, reprimas confidentiam

kann Nestor sagen entsprechend den Iliasversen Α 282

αὐτὰρ ἔγωγε
λίσσομ̕ Ἀχιλλῆα μεϑέμεν χόλον.

Es würde vermessen und dem nächsten Zweck dieser Be - trachtungen nicht entsprechend sein, wollte ich über den In - halt des Stückes weitere Betrachtungen anstellen. Es kam mir nur darauf an, zweierlei festzustellen, erstens: keines der135 Fragmente berechtigt zu der Annahme, daſs der Tod des Patro - klos vorkam; zweitens: selbst ob die Gesandtschaft an Achilleus vorkam, ist durchaus unsicher; man kann mit demselben und vielleicht sogar mit besserem Rechte den einzelnen Fragmenten in der Streitscene zwischen Achill und Agamemnon und den un - mittelbar darauf folgenden Verwickelungen ihren Platz anweisen3)Denkbar wäre, daſs das Stück mit der Streitscene begonnen und mit der Gesandtschaft an Achilleus geendet, also A I der Ilias entsprochen hätte, wie man es für den Agamemnon des Ion voraussetzt.. Daſs aber der Tod des Patroklos in den Myrmidonen überhaupt nicht vorgekommen sein kann, wird zu einer an Gewiſsheit grenzenden Wahrscheinlichkeit erhoben durch den Umstand, daſs diese Katastrophe den Inhalt einer andern Tragödie desselben Dichters bildete, nämlich der Epinausimache. Dies ist seltsamer Weise noch nicht erkannt oder, nachdem es ausgesprochen war4)Nieberding de Iliade a L. Attio in dramata conversa, Gymnasial - Programm von Conitz 1838 p. 12 erkannte zwar richtig, daſs das Stück den Auszug und Tod des Patroklos enthielt, lieſs es aber schon mit dem Zwei - kampf zwischen Hektor und Aias beginnen und erst mit Hektors Tod oder gar dessen Lösung schlieſsen., bestritten worden, weil man sich durch die Gleichsetzung der Myrmidonen des Accius mit dem gleichnamigen Stück des Aischy - los den Blick getrübt hatte. Eine unbefangene Betrachtung der Fragmente kann zu keinem anderen Resultate führen: fr. I wird von Nonius 233, 16 als Beleg dafür citiert, daſs anima significat iracundum vel furiosum, unde et animosi dicuntur iracundi. Es lautet

ut nunc cum animatus iero, satis armatus sum,

Worte des Achilleus, als er sich in den Kampf stürzt, um die Leiche seines Freundes zu retten; er hat keine Waffen, die hat Hektor erbeutet, sein Zorn ersetzt ihm die Rüstung. Wie matt ist das, wenn man sie, wie O. Ribbeck (Römische Tragödie S. 357), in eine Scene setzt in welcher die leidenschaftliche Ungeduld Achills (der nicht warten kann, bis ihm seine Mutter die ersehnten Waffen bringt) von einem ruhigeren Freunde z. B. Antilochos noch hin -136 gehalten wurde , wie matt ist es, wenn er ohne Nötigung, wie sie sich bei unserer Annahme durch die Gefahr der Freundes-Leiche ergiebt, so spricht, wie matt, wenn seinem Worte nicht die That folgt. Fühlte denn Accius gar nicht, zu welch leerem Prahler da - durch Achilleus wurde? Schon dies ist eigentlich ausreichend, um Ribbecks Annahme zu widerlegen, daſs nicht der Tod des Patro - klos, sondern der des Hektor, ja sogar noch die Lösung von Hektors Leiche den Inhalt des Stückes gebildet habe. Dazu kommt der Titel Epinausimache, mit welchem auf der capito - linischen tabula iliaca und mehrfach in der Litteratur das Ν passend bezeichnet wird. Durch das Eintreten des Patroklos in den Kampf werden die Troer zur Stadt zurückgetrieben und die Schlacht bei den Schiffen erreicht ihr Ende; als Achill die Botschaft vom Tode seines Freundes erhält, ist sie schon lange vorüber. Mit welchem Rechte behauptet also O. Ribbeck S. 356: Im Drama setzte sich der Kampf bei den Schiffen, welcher in unserer Ilias (XIII XV) der Πατρόκλεια vorangeht, nach dem Tode des Patroklos noch fort oder entbrannte erst recht heftig . Ich finde keine Begründung für diese Behauptung angeführt, wenn nicht etwa der folgende Satz sie enthalten soll: So sieht man auf einer archaischen Amphora bei Gerhard, Auserles. Vasenb. CXCVIII den Schatten des Helden, gleichsam Sühne heischend, speerbewaffnet und geflügelt über den Schiffen schwe - ben . Allein diese Anschauung beruht einfach auf falscher Deutung. Die Vase stellt den Schatten des Achilleus dar, der nach der Zerstörung von Ilion über den Schiffen erscheint und die Opferung der Polyxena verlangt. Darum ist kein Grund, dem Titel einen anderen als den zunächst liegenden und allein be - zeugten Sinn zu geben.

Eine Musterung der Fragmente wird dies Resultat lediglich bestätigen; sie ordnen sich leicht ein, wenn der Tod des Patro - klos der Inhalt war, während sie bei Ribbecks Annahme nur sehr gezwungen untergebracht werden können.

Eine Reihe von Fragmenten gehört augenscheinlich in den Botenbericht vom Kampf:

137
  • fr. IX ab classe ad urbem tendunt, neque quisquam potest fulgentium armum armatus ardorem obtui.
  • fr. X incursio ita erat acris.
  • fr. XIV primores procerum provocavit nominans si esset quis, qui armis secum vellet cernere.
  • fr. XI Mavortes armis duo congressos crederes.

Also von der Flotte zur Stadt geht die Flucht und niemand vermag den Anblick der funkelnden Rüstung offenbar des Helden zu ertragen; die Tapfersten der Gegner ruft er beim Namen zum Kampf; zuletzt findet er einen ebenbürtigen Gegner. Wer ist der Held? und wer sein Gegner? Ribbeck antwortet: Achill und Hektor. Unbegreiflich; als Achill sich in den Kampf stürzt, sind die Troer längst nicht mehr nahe bei der Flotte, schon am Tage vorher hat sie Patroklos zurückgetrieben; und weiter, welche Veranlassung hat Achill, die Helden der Troer einzeln herauszufordern? Es ist ihm doch wahrlich jetzt nicht um eine Schaustellung seiner Stärke, sondern um Rache zu thun. Achill sucht in diesem Moment nur einen auf dem ganzen Schlachtfeld, Hektor. Wie paſst dazu die Herausforderung? Und weiter, das in Trochäen abgefaſste Fragment XII zeigt, daſs Achill selbst seine Thaten erzählt; welche Tautologie, wenn bereits ein Boten - bericht vorausgegangen war. Wie trefflich fügt sich hingegen Alles, wenn Patroklos der Held des Berichtes ist. An der Spitze der Myrmidonen treibt er die Troer von der Flotte zur Stadt zurück; der Glanz der Achilleusrüstung, die er trägt, blendet die Troer; bei Namen ruft er die tapfersten Troer auf, und als er mit Hektor (oder Sarpedon?) kämpft, da sah es aus, als ob zwei Kriegsgötter mit einander sich messen wollten.

Eine zweite Gruppe von Fragmenten ordnet sich fast von selbst zu der Scene zusammen, in welcher Patroklos den Achilleus zuerst zur Teilnahme am Kampfe zu bewegen sucht, dann wenigstens seine Waffen erbittet und erhält, und endlich zum Kampf auszieht. Hierher gehören als Worte des Patroklos5)So schon Nieberding p. 14.

138
  • fr. XVI tamen haut fatiscar quin tuam implorem fidem.
  • fr. II proin tu id cui fiat, non qui facias compara.

ich will nicht müde werden, dich anzuflehen; sieh mehr auf mich, dem du etwas zu Liebe thun sollst, als auf deinen Stolz, dem es schwer wird, auch nur den Schein der Nachgiebigkeit auf sich zu nehmen . Auf den Vorwurf, daſs sein Starrsinn ihn in schlechten Leumund beim Heere bringe, mochte Achilleus antworten:

  • fr. V probis probatus
    6)probatus Ribbeck in der adnotatio: probatum die Überlieferung.
    6) potius quam multis forem.

Und derselbe mochte dem kampfbegierigen Patroklos warnend zu bedenken geben:

  • fr. III contra quantum obfueris, si victus sies considera et quo revoces summam exerciti;

als aber Patroklos fest bleibt, giebt er ihm dieselbe Mahnung, wie in der Ilias Π, sich mit dem Ruhm zu begnügen, die Troer von den Schiffen zurückzutreiben, und nicht in die Ebene selbst vorzurücken; denn in diesen Zusammenhang gehört, wie Wilamo - witz gesehen hat,

  • fr. IV quod si procedit neque te neque quemquam arbitror tuae paeniturum laudis, quam ut serves vide.

Wegen der Verschiedenheit des Metrums ist es bedenklich, fr. VIII

nec perdolescit fligi socios, morte campos contegi

derselben Scene zuzuweisen, obgleich dies an sich passend wäre; vielleicht gehören die Worte in eine vorangehende Scene; sie sind sowohl im Munde des Phoinix als des Chores, der etwa aus Myrmidonen bestanden haben mag, denkbar und gehören natür - lich einer früheren Scene, vielleicht der Parodos, an.

Für Ribbecks Annahme spricht nur das Fragment XII und auch dies nur scheinbar; es lautet:

139
Scamandriam undam salso sanctam obtexi sanguine
atque acervos alta in amni corpore explevi hostico,

Worte des Achilleus, die sich nur auf den Kampf an und im Skamander beziehen können, also eine Episode, die in der Ilias dem Tod des Hektor unmittelbar vorhergeht. Aber muſs es auch bei Accius so gewesen sein? konnte nicht der Tragiker den Achilleus schon gleich nach Patroklos Tod bis zum Skamander vordringen lassen, um die Leiche des Patroklos zu retten. In der Ilias freilich springt er bloſs auf den Wall und treibt nur durch seine Stimme und das Funkeln seiner Augen die Troer zurück; allein, daſs er bei Accius sich wirklich in den Kampf stürzt, scheint sich doch aus fr. I unmittelbar zu ergeben. In dieselbe Scene wird man schon des gleichen Metrums wegen geneigt sein auch fr. VII zu verweisen:

Mors amici subigit, quod mi est senium multo acerrimum,

und es mag verstattet sein, hier eine freilich sehr unsichere Ver - mutung über den Zusammenhang dieser Worte aufzustellen. Wozu zwingt der Tod des Freundes den Achill? doch zum Kampf, speziell gegen Hektor; aber warum wird denn der Zwang so ganz besonders betont? Hat sich vielleicht Accius des schönen Motivs der Ilias bedient, daſs dem Achill bestimmt war, unmittel - bar nach Hektor selbst zu fallen, daſs er also durch die Rache für den Freund den eigenen Tod beschleunigt? 7)Vgl. oben Kap. III S. 106.Dann hätten wir uns als die Person, mit der Achilleus spricht, Thetis zu denken; an sie würde dann auch die Erzählung des Kampfes gerichtet sein. Mit dem Beschluſs des Achill, trotz dem Schicksalsspruch den Hektor zu töten, mit dem Versprechen der Thetis, ihm Waffen zu bringen, könnte das Stück in einer äuſserst dra - matischen Weise schlieſsen, einer Weise, die dem Hörer zugleich jeden Zweifel über den weiteren Verlauf benimmt.

So läſst sich der Gang dieses Stückes so klar erkennen, wie der von wenigen römischen Dramen. Zuerst die kampfeslustigen Myrmi -140 donen, dann Achilleus und Patroklos und des ersteren Auszug in den Kampf, weiter in einer oder zwei Botenreden die Schilderung von Patroklos Heldentaten und Tod, Achill stürzt sich in den Kampf, zuletzt Achill und Thetis an der Leiche des Patroklos8)In dem heillos verdorbenen Fragment XV scheint wenigstens der Name Phoinix richtig überliefert; er war also Person; möglicherweise könnte auch er es sein, an den Achilleus seine Erzählung (fr. XII) richtet..

Es ist also klar, daſs es die Epinausimache des Accius ist, und nicht die Myrmidonen, die den Myrmidonen des Aischylos ent - spricht; wenigstens dem Inhalte nach; denn ob eine direkte Be - nutzung des Aischylos von Seiten des Accius stattfand, ist nicht auszumachen; aber auch von den Fragmenten dieses Stückes be - rechtigt keines zu der Annahme, daſs die πρεσβεία darin vor - kam. Es ist also weder erweislich noch wahrscheinlich, daſs Accius diese Episode der Ilias dramatisch behandelt hat, viel weniger noch, daſs er es nach dem Vorbild des Aischylos gethan hat, und ein Schluſs aus Accius auf Aischylos ist somit durch - aus unzulässig.

Kehren wir nun zu diesem zurück. So wenig wie es ein äuſseres Zeugnis dafür giebt, daſs die Myrmidonen des Aischylos mit der πρεσβεία begannen, ebenso wenig ist dies aus inneren Gründen wahrscheinlich zu machen. Im Gegenteil wird man fragen, ob es nicht eine bedenkliche Tautologie wäre, wenn sowohl der Chor der Myrmidonen als die Gesandten Agamemnons den Achilleus vergeblich zur Teilnahme am Kampfe aufforderten. Ent - scheidend aber ist, daſs bereits im Anfang des Stückes, wie die beiden Fragmente der Parodos beweisen, die Schlacht in der Nähe des Lagers und der Schiffe tobt, also zu friedlicher Ab - sendung der Haupthelden der Zeitpunkt schlecht gewählt wäre. Da es also weder ausdrücklich bezeugt noch an sich wahrschein - lich ist, daſs in den Myrmidonen die πρεσβεία vorkam, und da wir auch von keinem anderen Stück des Aischylos, das diesen Gegenstand behandelt haben könnte, Kunde haben, so ergiebt sich daraus die Unrichtigkeit der Behauptung, daſs die Vasen - maler bei Darstellung der πρεσβεία von Aischylos abhängig sind. 141Der Schöpfer dieses Typus wollte nichts Anderes darstellen, als die Scene der Ilias; freilich fehlt dort Diomedes. Aber der Maler mochte sich erinnern, daſs kurz vorher und kurz nachher Diomedes im Rate der Achäer eine groſse Rolle spielt und ihn aus diesem Grunde oder auch aus ungenauer Reminiscenz der Gesandtschaft beigesellen.

Es bliebe nun noch eine entfernte Möglichkeit, daſs zwar nicht die ganze Scene, aber wenigstens die Hauptfigur der Dar - stellung aus Aischylos entnommen wäre. Denn denkbar wäre es doch, daſs der verhüllt dasitzende Achilleus in den Phrygern des Aischylos der gleichzeitigen Kunst den Anlaſs geboten hätte, den Helden nun auch bei andern Gelegenheiten in ähnlicher Weise darzustellen. Ja, wenn nur die Analogie wirklich schlagend wäre; aber gerade das eigentlich Charakteristische, die Verhüllung des Gesichts, ist nirgends dargestellt; er legt nur die Hand traurig an den Kopf; für diesen gewöhnlichen Gestus tiefer Trauer be - durften aber die Künstler wahrlich nicht des Vorgangs der Bühne. Doch wollte man in dieser einen Figur auch die Einwirkung der Bühne zugeben, so bliebe doch dabei die Behauptung, daſs die dargestellte Sagenform die alte des Epos und nicht eine neue, vom Drama geschaffene ist, in voller Kraft bestehen.

Genau so steht es mit dem zweiten Stück der Trilogie, den Nereiden. Hier kommt namentlich die aus Kameiros stammende Pelike des britischen Museums in Betracht, die Engelmann M. d. I. XI tav. VIII publiziert hat. Das Monument ist aus stilistischen und paläographischen Gründen dem fünften Jahr - hundert zuzuweisen. Thetis umarmt ihren verhüllt und traurig dasitzenden Sohn, während zwei Nereiden die Waffen halten und Athena und Phoinix als Zuschauer gegenwärtig sind. Die Dar - stellung enthält nichts, das uns zu der Annahme einer anderen poetischen Quelle als der Ilias zwänge; denn daſs auch in den Nereiden zuerst Achill stumm und verhüllt auf der Bühne ge - sessen hätte, wie Brunn auf ähnliche oder spätere Darstellungen gestützt annahm, ist weder erweislich noch wahrscheinlich. Die Verhüllung des Hauptes aber ist hier durch die Trauer um Pa - troklos auch ohne Vorgang des Aischylos hinreichend motiviert.

142

So bleiben also nur noch die Darstellungen von Hektors Lösung übrig; ihre Betrachtung aber liefert die allererwünschteste Bestätigung für meine Behauptung. Auf den Vasen des fünften Jahrhunderts finden wir den alten archaischen auf dem Epos be - ruhenden Typus einfach beibehalten (s. oben S. 19): Achill auf der Kline, vor ihm der Tisch mit Speisen, unter der Kline die Leiche des Hektor. Von der Verhüllung des Hauptes, die doch gerade für das entsprechende Stück der Trilogie, die Φρύγες, ausdrück - lich bezeugt ist, findet sich auf den rotfigurigen Vasen strengen Stiles keine Spur9)An dieser Stelle würde die Darstellung einer Münchener Vase (Nr. 890 Jahn, Gerhard A. V. III 197, Overbeck Her. Gall. XX 2) einzureihen sein, auf der Priamos die Kniee des verhüllt dasitzenden Achilleus flehend um - faſst. Nach der Publikation würde man geneigt sein, die Vase der Über - gangsperiode zum freieren Stil, also dem Ende des fünften Jahrhunderts zu - zuschreiben; dazu würde es vortrefflich stimmen, daſs wir auf ihr den Bruch mit dem alten Typus bereits vollzogen sehen. Das Motiv der Verhüllung könnte in dieser Periode allerdings auf Aischylos zurückgehen, obgleich es so sehr durch die Situation selbst gegeben ist, daſs der Maler wahrlich keiner besonderen poetischen Vorlage bedurfte. Allein Brunn, Troische Miscellen III S. 182 versichert, die Vase sei von provinciell etruskischer Technik (rot auf schwarz aufgemalt) und so muſs ich mich, da ich keine klare Erinnerung von derselben habe, bescheiden. Wie aber Brunn dazu kommt, an der - selben Stelle von einem Besuch des Priamos bei dem (zürnenden) Achill zu sprechen, ist mir unverständlich.. Auf der späten tarentinischen Vase aber und der Mehrzahl der römischen Monumente wird Hektor ge - wogen, ein Zug, der ausdrücklich für Aischylos bezeugt ist; die Verhüllung des Hauptes ist nur auf der tarentinischen Vase und zwar in wenig charakteristischer Weise angedeutet.

Die Musterung der Monumente hat also gezeigt, daſs die tragische Ilias des Aischylos auf die Vasenmalerei des fünften Jahrhunderts entweder überhaupt keinen oder wenigstens keinen die Sagenversion bestimmenden Einfluſs gehabt hat.

Auch die Gruppe von Vasenbildern, die, wie Brunn und Klein scharfsinnig erkannt haben, den Streit um die Waffen des Achilleus darstellen, sollen nach Brunns Versicherung vom Drama beeinfluſst sein. Da indessen der Typus der Streitscene selbst143 schon auf schwarzfigurigen Vasen sich findet, also der epischen oder wenigstens vor dem Drama liegenden Sagengestaltung an - gehört, so könnte sich der Einfluſs des Dramas nur auf das Gegenbild beschränken, der Darstellung der Abstimmung, die in der früher (Kap. III) geschilderten Weise als Gegenstück zum alten Typus wahrscheinlich erst im fünften Jahrhundert von der Vasenmalerei geschaffen ist. Aber daſs der Streit durch die Abstimmung der Achaier entschieden wird, ist gewiſs der ältere und trotz Welckers Auseinandersetzung auch für Arktinos vorauszusetzende Zug10)S. unten den Excurs Ὅπλων κρίσις..

Ich übergehe Behauptungen, die ohne jeden Versuch des Beweises aufgestellt werden, wie die, daſs Hierons Darstellung der zwei Palladien eine spezifisch attische Lokalsage oder Danae oder Odysseus und Penelope in der dargestellten Sagen - version vom Drama abhängen, und wende mich zu zwei Vasen - bildern, bei welchen die Möglichkeit einer Abhängigkeit von Aischylos nicht so leicht von der Hand gewiesen werden darf, wie bei den bisher besprochenen.

Das erste ist die sehr fragmentierte Vase aus der Samm - lung des duc de Luynes (jetzt im Cabinet des médailles befind - lich, s. M. d. I. II 10 b, Overbeck XXII 9), auf der in der Mitte Hermes mit der Seelenwage, links Zeus und rechts eine mit lebhafter Gebärde ihre Teilnahme bezeigende Frau, offenbar die Mutter eines der beiden Helden, deren Geschick abgewogen wird, dargestellt ist. Man erkennt die Seelenwägung des Memnon und des Achilleus und in der Frau rechts Eos. In der sichersten Weise ist nun diese Scene für die Ψυχοστασία des Aischylos bezeugt, und zwar von den allerglaubwürdigsten Gewährsmännern Aristonikos und Plutarch. Aristonikos bemerkt: schol. Il. Θ 70 (δύο κῆρε τανηλεγέος ϑανάτοιο) ὅτι τὰς ϑανατηφόρους μοίρας λέγει. δὲ Αἰσχύλος νομίσας λέγεσϑαι τὰς ψυχὰς ἐποίησε τὴν ψυχοστασίαν, ἐν ἐστὶν Ζεὺς ἱστὰς ἐν τῷ ζυγῷ τὴν τοῦ Μέμνονος καὶ Ἀχιλλέως ψυχήν11)Vgl. auch denselben Aristonikos zu Χ 209 und Porphyrios zu beiden Stellen., und Plutarch Mor. p. 17 A ἐπὶ τοῦ144 Διὸς εἰρηκότος Ὁμήρου·· ἐν δ̕ ἐτίϑει δύο κῆρε τανηλεγέος ϑανα - τοιο, τὴν μὲν Ἀχιλλῆος, τὴν δ̕ Ἕκτορος ἱπποδάμοιο· ἕλκε δὲ μέσσα λαβών· ῥέπε δ̕ Ἕκτορος αἴσιμον ἦμαρ· ᾤχετο δ̕ εἰς Ἀίδαο, λίπεν δέ Φοῖβος Ἀπόλλων̕, τραγῳδίαν Αἰσχύλος ὅλην τῷ μύϑῳ περιέϑηκεν ἐπιγράψας Ψυχοστασίαν καὶ παραστήσας ταῖς πλάστιγξι τοῦ Διὸς ἔνϑεν μὲν Θέτιν, ἔνϑεν δὲ τὴν Ἠὦ δεομένας ὑπὲρ τῶν υἱέων μαχομένων, was durch Pollux IV 130 bestätigt wird. Es ist nun augenscheinlich, daſs das Vasen - bild mit der hier beschriebenen Scene keineswegs übereinstimmt. Es möchte noch hingehen, daſs nur eine der Mütter dargestellt ist; der Vasenmaler kann die andere aus Rücksicht auf die Symmetrie der Komposition weggelassen haben. Aber wie kommt es, daſs Hermes die Wage hält? Auch die Ausrede, daſs er vielleicht bei Aischylos κωφὸν πρόσωπον gewesen sei, wie Bia im Prometheus, hält nicht Stich, da beide Gewährsmänner auch aus - drücklich hervorheben, daſs Zeus selbst die Wage hielt. Dies ist um so auffälliger, als nicht nur auf späteren Darstellungen, wie dem etruskischen Spiegel (Gerhard II 235, Overb. XXII 5) und der unteritalischen Vase (Overb. XXII 7), sondern auch auf der dem fünften Jahrhundert angehörigen Schale M. d. I. VI 5 a stets Hermes es ist, der die Wägung vollzieht; auf der rotfigurigen Vase strengen Stiles bei Overb. XXII 10, die Zeus in der Mitte und auf beiden Seiten die flehenden Mütter zeigt, fehlt Hermes, aber mit ihm auch jede Andeutung der Psychostasie. Wie soll man sich das erklären, wenn wirklich die Tragödie des Aischylos diese Scene der Kunst übermittelt hat. An sich ist es ja leicht be - greiflich, daſs das Amt der Seelenwägung dem Seelenführer über - tragen, daſs aus dem ψυχοπομπός ein ψυχοστάιης wird, aber man verlangt doch zu wissen, wie gerade die Kunst dazu kam, diese Figur einzufügen, statt sich mit der Gruppe des wägenden Zeus in der Mitte der Mütter, wie sie bei Aischylos auf dem ϑεολογεῖον sichtbar war, zu begnügen; wie sie weiter dazu kam, gerade diese dem Aischylos fremde Figur mit solcher Zähigkeit festzuhalten und lieber den Zeus selbst oder eine der Mütter wegzulassen. Wie leicht wäre es z. B. dem Maler der Luynes - schen Vase gewesen eine symmetrische Komposition herzustellen,145 wenn er einfach herübergenommen hätte, was auf der Bühne Jedermann sah, Zeus mit der Wage in der Mitte und zu beiden Seiten die flehenden Mütter, allein er konnte sich nicht ent - schlieſsen, auf den Hermes zu verzichten. Ich denke das Alles weist mit zwingender Notwendigkeit darauf hin, daſs diese Rolle des Hermes schon durch die bildliche oder poetische Tra - dition übermittelt ist, und der nächstliegende Gedanke ist gewiſs der, daſs schon Arktinos die Psychostasie aus der Ilias und zwar aus Χ 209 herübergenommen oder richtiger herausentwickelt hat, und daſs bei ihm nicht Zeus, sondern Hermes in Gegenwart des Zeus die Wägung vollzog. Aus der lakonischen Hypothesis des Pro - klos läſst sich wenigstens so viel entnehmen, daſs Eos vor oder nach dem Kampfe bei Zeus war, um ihrem Sohn Unsterblichkeit zu erwirken (καὶ τούτῳ μὲν Ἠὼς παρὰ Διὸς αἰτησαμένη ἀϑα - νασίαν δίδωσι.) Allein dieser scheinbar einfachen Annahme stellt der Wortlaut der Iliasscholien und der Plutarchstelle eine sehr erhebliche Schwierigkeit entgegen. Die Einführung des Hermes ist bedingt durch die Auffassung der δύο κῆρε als ψυχαί, eine Auffassung, die eben Aristarch und seine Schule als gänzlich ver - fehlt rügt und dem Aischylos zum Vorwurf macht. Wenn aber unsere Annahme richtig ist, so hätte Aischylos seine Auffassung einfach von Arktinos entlehnt, und nicht den attischen Tragiker, sondern den milesischen Epiker hätte Aristarchs Tadel treffen sollen. Und wie kann Plutarch sagen, daſs Aischylos aus der Iliasstelle eine ganze Tragödie gemacht habe, wenn schon Arktinos die Psychostasie auf Memnon übertragen hatte? Allein man weiſs ja, daſs die alexandrinischen Grammatiker sich um die Gedichte des Cyklus ebenso wenig bei ihren mythologischen wie bei ihren grammatischen Untersuchungen kümmerten, und daſs sie nament - lich bei der Frage nach dem Verhältnis der Tragiker zu Homer dieses Mittelglied häufig ganz ignorierten12)S. Wilamowitz, Philologische Untersuchungen IV Antigonos S. 165.. Plutarch aber ist eben von dieser alexandrinischen Anschauung abhängig; hätte er aber auſser seinem Homercommentar noch andere Quellen einzusehen Veranlassung genommen, so würde er sich schwerlich an die ver -Philolog. Untersuchungen V. 10146schollene Aithiopis, sondern höchstens an die ὑπόϑεσις derselben ge - wandt haben, in der die Psychostasie nicht erwähnt wird. Ein Schluſs aus dem Schweigen sei es der Alexandriner sei es des Plutarch auf den Inhalt der Aithiopis ist also unzulässig, und somit steht der Hypothese, daſs auch in der Aithiopis die Psychostasie vor - gekommen sei und daſs diese die letzte poetische Quelle für die Darstellungen sowohl auf den attischen Vasen, wie auf dem etruskischen Spiegel sei, wenigstens nichts direkt im Wege. Ja die Weiterbildung eines in der Ilias vorliegenden Motivs wäre ganz im Charakter dieses Gedichtes.

Das zweite Monument, das mit einigem Anspruch auf Wahrscheinlichkeit als Beweis von Aischylos Einfluſs auf die gleichzeitige Vasenmalerei angeführt werden könnte, ist eine noch dem fünften Jahrh. angehörige Vase des britischen Mu - seums (früher Cabinet Durand nr. 68, abgebild. Jahn Arch. Aufs. T. 2. Overbeck Her. Gall. XIII 9), welche Telephos mit dem kleinen Orestes auf dem Hausaltar des Agamemnon dar - stellt. Die späteren Darstellungen dieser Scene auf etruskischen Urnen, unteritalischen Vasen und dem pergamenischen Fries sind ausnahmslos von Euripides abhängig; denn wenn sie auch in richtiger künstlerischer Empfindung die bettelhafte Erscheinung des Telephos ganz verwischen oder nur leicht andeuten, gerade wie die des Odysseus beim Freiermord auf einer attischen Vase nur durch die Exomis angedeutet wird, so behalten sie doch den eigentlich charakteristischen Zug bei, daſs Achilleus gegen den kleinen Orestes das Schwert zückt. Anders hier, wo Telephos die Rechte ruhig auf den Speer stützend den kleinen Orestes auf dem Schoſs hält, Agamemnon zwar erstaunt, aber ohne jedes Zeichen des Schreckens naht, und der Knabe ruhig und freundlich dem Vater die Arme entgegenstreckt: das ist nun und nimmer die euripideische Scene. Ist also etwa Aischylos die Quelle? 13)Über den Telephos des Euripides und den des Aischylos hat zuletzt N. Wecklein (Sitzungsber. der bayer. Akad. 1878 S. 198) gesprochen; weder die Methode noch die Resultate dieser Abhandlung kann ich für richtig er - achten und habe daher keine Veranlassung, dieselbe zu berücksichtigen.Der Scholiast zu Aristophanes Acharn. 332 sagt: Τήλεφος κατὰ147 τὸν τραγῳδοποιὸν Αἰσχύλον, ἵνα τύχῃ παρὰ τοῖς Ἕλλησι σωτηρίας, τὸν Ὀρέστην εἶχε συλλαβών. Hierdurch würde also die Scene auch für das Stück des Aischylos bezeugt, wenn nur die Überlieferung glaubhaft wäre. Allein mit Recht bemerkt Wilamowitz, daſs unmöglich jemals es einem Leser entgehen konnte, daſs Aristo - phanes in jener Scene den Euripides und nicht den Aischylos parodieren will. Wilamowitz urteilt deshalb gewiſs mit Recht, daſs der Scholiast ursprünglich nur κατὰ τὸν τραγῳδοποιόν ge - schrieben und damit den Euripides gemeint hatte, daſs aber ein späterer Interpolator miſsverständlich den Aischylos einsetzte14)Eine Verwechselung des Aischylos und des Euripides nahm auch be - reits Vater Aleaden S. 19 an; anders O. Jahn Telephos u. Troilos S. 37.. Ein direktes Zeugnis für das Vorkommen der Scene bei Aischylos giebt es also nicht, freilich auch keines, daſs gegen das Vor - kommen derselben spräche. Ähnlich steht es mit den Kyprien; Proklos bemerkt nur summarisch: ἔπειτα Τήλεφον κατὰ μαντείαν παραγενόμενον εἰς Ἄργος ἰᾶται Ἀχιλλεὺς ὡς ἡγεμόνα γενησόμενον τοῦ ἐπ̕ Ἴλιον πλοῦ, Worte, die nach keiner von beiden Seiten hin eine Entscheidung ermöglichen. Dennoch hat bereits Over - beck Her. Gall. S 398 angenommen, daſs bereits in den Kyprien der Vorgang erzählt gewesen und daſs die Darstellung der in Rede stehenden Vase von diesem Epos abhängig sei.

Für die Entscheidung der Frage ist es wesentlich, wie man über das Verhältnis dieser Episode zu der Geschichte von Themistokles bei dem Molotterkönig Admetos denkt. Schon der Bericht des Thukydides I 136, der doch gewiſs die attische Volksvorstellung jener Zeit wiedergiebt, stimmt mit dieser Epi - sode der Telephos-Sage in der uns geläufigen Fassung so augen - fällig überein, daſs der Gedanke an Zufall ausgeschlossen scheint. Vergebens sucht man das Gewicht dieser Übereinstimmung da - durch abzuschwächen, daſs man auf die Ähnlichkeit der Motive im Ὀδυσσεὺς μαινόμενος und in der Andromache verweist; gerade diese Vergleichung lehrt, daſs die Ähnlichkeit in unserem Falle über die eines allgemeinen Motives weit hinausgeht. Ich sehe zur Erklärung dieser auffälligen Erscheinung nur zwei Wege. 10*148Entweder die Episode aus dem Leben des Themistokles ist historisch; da man sich nun schwerlich zu der Annahme wird entschlieſsen können, daſs Themistokles und Admet eine Episode der Kyprien oder eines eben aufgeführten attischen Dramas ins praktische Leben übersetzt haben, wie das allerdings schon im Altertum einige Historiker gethan zu haben scheinen (Plutarch Themist. 25), so wird man sich in diesem Falle der Vermutung Geels zuneigen müssen, daſs Aischylos ein Ereignis aus dem Leben des Themistokles, wie es sich wirklich begeben hatte oder wie es wenigstens das Gerücht erzählte, auf Telephos übertragen habe, vielleicht mit einer ganz bestimmten politischen Tendenz. In diesem Falle wäre also die Episode in den Kyprien nicht vor - gekommen und die poetische Quelle für das Vasenbild würde Aischylos sein. Oder die Episode gehört bereits der Themistokles - legende15)So urteilt auch Mommsen, Römische Forschungen I S. 118. 146., dann natürlich in ihrem frühesten Stadium an; dann ist sie von Telephos auf Themistokles übertragen, und dann ist es weit wahrscheinlicher, daſs die Volksphantasie aus alter epischer Überlieferung als aus junger dramatischer Erfindung schöpfte. Wer den starken Trieb schon des fünften Jahrhunderts zur Legendenbildung kennt, wird nicht umhin können, die letztere Annahme für die weitaus wahrscheinlichere zu halten. So darf also das Epos mindestens mit demselben Recht, wie Aischylos, für die poetische Quelle der Darstellung auf der Londoner Vase gelten.

Nähere Prüfung hat also gezeigt, daſs Einwirkung des attischen Dramas auf die Vasenmalerei des fünften Jahrhunderts in keinem einzigen Falle wirklich erwiesen ist, und man also kein Recht hat, wie es so häufig geschieht, eine solche ohne weiteres zu postulieren und rotfigurige Vasen strengen Stiles zur Rekonstruktion von Dramen zu verwenden.

[149]

V. DER TOD DES AIGISTHOS.

Eine kleine schon wiederholt besprochene Gruppe attischer Vasen des fünften Jahrhunderts stellt die Ermordung des Aigisthos dar; die hier in Betracht kommenden Gefäſse, sämtlich rotfigurig und meist strengen Stils, sind die folgenden:

  • A) Sog. Pelike in Wien, gefunden in Cervetri, abgeb. M. d. I. VIII tav. XV (darnach Wiener Vorlege - blätter Serie I Taf. 1 nr. 2), besprochen von Benndorf A. d. I. 1865 p. 212 f.
  • B) Stamnos im Berliner Museum, gef. in Vulci. Gerhard, Berlins antike Bildwerke nr. 1007, abgeb. Gerhard, Etruskische und Campanische Vasen - bld. Taf. 24 (darnach Overbeck Her. Gall. XXVIII 10, Welcker A. D. V S. 247, Conze, Vorlegebl. Ser. I Taf. I 1, in Jahns Ausgabe d. Electra u. öft. ), bespr. auch von Jahn Arch. Zeit. 1860 S. 43.
  • C) Kylix des Kachrylion, gef. in Vulci, früher in der Sammlung Canino (Gerhard rapp. volc. 417. Musée étrusque du prince de Canino nr. 1186), jetzt verschollen, vgl. auch Brunn, Künstler - gesch. II S. 703.
  • D) Amphora, früher bei Baseggio, abgeb. M. d. I. V tav. LVI (darnach Welcker A. D. V. T. XVIII), bespr. von Welcker, A. d. I. 1853 p. 272 (= A. D. V S. 287 f.).
150
  • E) Kelebe in Bologna, beschrieben B. d. I. 1872 p. 110 ungenau. Eine Gruppe aus dieser Komposition kehrt wieder auf
  • F) Amphora in Wien
    1)Daſs diese Vase mit der bei Millin peint. de vases II 24 (darnach Gall. Myth. 170, 614) abgebildeten, damals in Hope’s, früher in Hamiltons Besitz befindlichen und ferner mit der von Hirt in Catania im Museo Biscari gesehenen (Berl. Kunstblatt 1829 p. 70) identisch ist, scheint mir unabweislich; vgl. O. Jahn a. a. O. Anm. 11.
    1), abgeb. Arch. Zeit. 1854 Taf. LXVI 1, bespr. von O. Jahn a. a. O. S. 230 f. Endlich gehört in diesen Zusammenhang:
  • G) Kleine Kylix aus Corneto im Berliner Museum No. 1610, abgeb. Arch. Zeit. 1854 Taf. LXVI, bespr. von O. Jahn a. a. O. S. 233.

Der am längsten bekannte Berliner Stamnos (B) mag in der Besprechung vorangestellt werden. Dem auf einem reich ge - schmückten Sessel sitzenden Aigisthos (〈…〉〈…〉) stöſst der völlig gerüstete Orestes (〈…〉〈…〉) das Schwert in die Brust. Umsonst sucht der Getroffene den rechten Arm seines Gegners zu umfassen und das linke Bein desselben mit seinem rechten Fuſs wegzudrängen. Hinter Orestes eilt in reich geschmücktem Doppelgewande und Haube Klytaimnestra herbei, das Doppelbeil über dem Haupte mit beiden Händen erhebend, um den Geliebten, wenn nicht zu retten, so doch zu rächen (〈…〉〈…〉), während hinter Aigisthos Elektra (〈…〉〈…〉) erscheint, die Linke mit der bekannten Geberde des Entsetzens an den Hinterkopf legend und die Rechte gegen Orestes hin ausstreckend. Das Befremdliche und, man darf wohl sagen, Peinliche dieser Dar - stellung liegt darin, daſs wir nicht sehen, wie Orestes dem drohenden Todesstreich entgehen kann. Wohl hat O. Jahn richtig darauf aufmerksam gemacht, daſs Elektra den Orestes durch Zu - ruf warnt, allein das Beil ist ihm zu nahe, als daſs er sich, wenn er auch noch jetzt die Gefahr bemerkt, davor schützen könnte; und so muſs jeder unbefangene und nicht durch eine bestimmte Sagenversion voreingenommene Beschauer allerdings den Eindruck151 haben, daſs Elektras Warnung vergeblich ist und das Beil im nächsten Augenblick auf das Haupt des Orestes niederfällt, daſs also der Maler eine Sage darstellen wollte, nach der Orestes zwar seinen Vater an Aigisthos rächt, aber in demselben Augenblick von seiner eigenen Mutter erschlagen wird. Da nun eine solche Version unserer gesamten Überlieferung von der Orestes-Sage widerspricht und wenigstens für das Athen des 5. Jahrhunderts, ja überhaupt es sei denn für einen Mythographen vom Schlage des Ptolemaios Hephaistion nicht denkbar ist, so würde man schwerlich so bald die richtige Deutung gefunden oder ihr, wenn sie aufgestellt worden wäre, Glauben geschenkt haben, wäre nicht die Meinung des Vasenmalers durch die beigesetzten Namen sicher gestellt. So also gilt es, sich mit dem Befremdlichen der Scene auf die eine oder andere Weise abzufinden. Für Welcker war mehr als alles Andere der Gedanke abstoſsend, daſs die Mutter das Mordbeil gegen ihren Sohn schwingen solle, weil er gerechte Rache übe, (freilich vergaſs er dabei, daſs in der dargestellten Scene Kly - taimnestra ihren Sohn noch nicht erkannt hat) er nimmt also an, daſs der Maler die Gestalten der Klytaimnestra und Elektra vertauscht habe, daſs in der ursprünglichen Komposition die hinter Aigisthos stehende Elektra das Beil geschwungen habe, natürlich gegen Aigisthos. Veranlaſst wurde Welcker zu dieser Annahme durch die Darstellung auf D, wo in der That die hinter Aigisthos herbeieilende Frau nach Welckers Deutung Elektra mit beiden Händen das Doppelbeil über ihrem Haupte zum Schlag erhebt. Wenden wir uns nun also zu D, so muſs zuerst konstatiert werden, daſs diese Vase nicht, wie Welcker annahm, älter, sondern mindestens ebenso jung, wahrscheinlich weit jünger ist, als der Berliner Stamnos, auf dem noch konsequent dreistrichiges Sigma geschrieben ist und Ν und Ε noch schräg stehen. D gehört zu jener Klasse von Amphoren, die mit einer rings um den Bauch des Gefäſses herumlaufenden Dar - stellung geschmückt sind, ein Verfahren, wodurch der Maler ge - nötigt wird, viele Nebenfiguren, meistens namenlose, anzubringen. In dieser Manier pflegt der Vasenmaler Hermonax2)Vgl. Körte Arch. Zeit. 1878 S. 111., der kon -152 sequent vierstrichiges Sigma schreibt und seine Künstlerinschrift in eigentümlicher Weise στοιχηδόν zu setzen liebt, seine Gefäſse zu bemalen; und ich kenne kein Gefäſs dieser Art, welches ich über die Mitte des fünften Jahrhunderts zurückdatieren möchte. Die Amphora Baseggio darf daher wohl für das jüngste der fünf ersten oben aufgezählten Gefäſse gelten.

Der tragische Eindruck der Hauptgruppe ist auf D im Vergleich mit der Berliner Vase ungemein abgeschwächt; auch ist ein etwas früherer Moment dargestellt. Aigisthos sitzt nicht auf dem Thron, er ist auf ein Knie niedergesunken, während er sich mit dem Stab unter der Achsel stützt. Orestes ohne Rüstung, nur mit kurzem Chiton und Chlamys bekleidet, ist erst im Begriff den Stoſs zu führen; der linke Arm mit der leeren Schwertscheide ist zur Deckung vorgestreckt, der rechte holt zum Stoſse aus. Mit Recht hat man auf die Ähnlichkeit mit dem Harmodios des Antenor hingewiesen. Hinter Orest steht ein ähnlich gekleideter bärtiger Mann die Hand auf den Speer gestützt als ruhiger Zu - schauer Pylades nennt ihn Welcker, ob mit Recht, wird sich später zeigen. Hinter Aigisth eilt die schon oben erwähnte Frau mit geschwungenem Beil herbei; ihre Stellung und Haltung ist dieselbe, wie die der Klytaimnestra auf B, nur im Gegensinne; auch trägt sie wie jene eine Haube; aber ihr Gewand ist dem ganzen Charakter der Vase entsprechend einfacher. Unmittelbar hinter ihr und zwar, wenn auch auf der Rückseite der Vase, durch keine äuſsere Abgrenzung von ihr geschieden, finden wir vier Frauen, die in lebhaftester Weise ihren Schmerz äuſsern; die drei vorderen eilen der Beilschwingerin nach; die Haltung der dritten ist der der Elektra auf B sehr ähnlich. Welckers Deutung auf den Schatten der Klytaimnestra und die drei Erinyen wird heute gewiſs Niemand mehr für möglich halten. Sie ist schon deshalb hinfällig, weil nach dem oben Gesagten nicht zwei Scenen zu scheiden sind, sondern die Darstellung um den Bauch des Gefäſses herum gleichsam in sich selbst zurück - läuft, weshalb auch die vierte Frau en face gestellt ist, um den Übergang zu dem sog. Pylades, dessen Körper gleichfalls en face steht, zu vermitteln. Die vier Frauen sind Dienerinnen,153 welche hinter ihrer Herrin her aus dem Frauengemach hervor - eilen. Sie sind natürlich nicht zu benennen.

Ist nun aber die beilschwingende Frau wirklich Elektra? Daſs die Richtung ihres Schlages viel mehr auf Orestes, als auf Aigisthos hin geht, könnte Ungeschicklichkeit der Zeichnung sein; allein in der ganzen Haltung stimmt die Figur so sehr mit der Klytaimnestra der Berliner Vase überein, daſs diese Benennung mindestens ernsthaft in Erwägung gezogen zu werden verdient. Da der Schlag von vorn den Orestes bedroht und überdies der Gefährte ihm jeden Moment zu Hilfe eilen kann, fällt hier das der Darstellung von B gegenüber geäuſserte Bedenken weg, wie auch die That der Klytaimnestra hier weniger anstöſsig er - scheint, da sie noch hoffen kann, den Aigisthos durch ihre Hilfe zu retten.

Die definitive Entscheidung der Frage brachte die Wiener Pelike A (vgl. die umstehende Abbildung), die in Benndorf einen scharfsinnigen Interpreten fand. Diese Vasenform mit ihren tief ansetzenden Henkeln läſst eine Dekoration mit rings - umlaufender Darstellung, wie bei D, nicht zu, zwingt vielmehr den Vasenmaler, die Darstellung der Vorder - und Rückseite zu trennen und also entweder zwei verschiedene Scenen darzustellen oder die eine Scene in zwei Gruppen zu zerlegen. Die Vorderseite zeigt die Hauptgruppe, wie auf B, nur noch ungleich dramatischer als dort. Aigisthos (〈…〉〈…〉), aus zwei tiefen Brustwunden blutend, gleitet am Stuhl herab; mit der linken Hand (die auf B untätig herabhängt) sucht er sich vergeblich an dem einen Stuhl - bein zu halten. Der rechte (auf B der linke) Fuſs ist erhoben, um den Gegner wegzustoſsen, allein er stöſst in die Luft. Die rechte Hand faſst den linken (auf B den rechten) Arm des Orestes. Dieser (〈…〉〈…〉), im Panzer wie auf B, aber ohne Helm und Beinschienen, hat mit der Linken Aigisthos beim Schopf gepackt, um ihm die zwei3)Zwei Wunden giebt bei Sophokles Orestes der Klytaimnestra; durch zwei Wunden hat diese bei Aischylos den Agamemnon zu Fall gebracht; dem Toten versetzt sie dann noch einen dritten Schlag. Todeswunden zu versetzen. Dies154

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155 ist gewiſs das ursprüngliche Motiv, während auf B die linke Hand des Orestes hinter dem Kopf des Aigisthos verschwindet, und es dem Beschauer überlassen bleibt, die Funktion des vorgestreckten linken Armes zu erraten. Ein noch gewichtigerer Unterschied von B liegt darin, daſs Orestes, der bereits den Stoſs vollführt und eben das Schwert, dem ein mächtiger Blutstrom folgt, aus der Wunde herauszieht, den Kopf nach links zurückwendet, als ob dort etwas seine Aufmerksamkeit erregt habe. Nach derselben Richtung sehen wir in groſser Erregung ein Mädchen enteilen, das die Hände, ob zum Zeichen des Schreckens oder um zu begütigen, ist zunächst nicht klar, erhoben hat. Die Bewegung dieses Mädchens, der Chry - sothemis (〈…〉〈…〉), wie uns die Beischrift belehrt, sowie die Kopfwendung des Orestes machen die Aufmerksamkeit des Be - schauers auf die Darstellung der Rückseite rege und leiten so in geschickter Weise auf diese über. Hier erblicken wir Kly - taimnestra (〈…〉〈…〉), die mit beiden Händen das Beil gefaſst hält und nach rechts eilend dem Aigisthos zu Hilfe kommen will. Allein der greise Talthybios (〈…〉〈…〉) mit dem Heroldshut auf dem Kopfe hält mit der linken Hand ihren linken Arm, mit der Rechten das Beil fest und hindert sie, den Streich gegen Orestes zu führen.

Die hier dargestellte Situation ist in ihrem Entstehen und in ihrem weiteren Verlauf durchaus verständlich: Klytaimnestra hat das Beil ergriffen, um Aigisthos zu vertheidigen und Orestes, den sie noch nicht erkannt zu haben braucht, zu töten. Aber der alte treue Diener fällt ihr in den Arm und rettet den Sohn seines toten Herrn. Kein Zweifel, daſs wir hier die ursprüng - liche Komposition vor uns haben, kein Zweifel, daſs auch der Zeichner von B dieselbe Sagenversion und sogar ziemlich genau denselben Moment darstellen wollte, daſs er demselben Typus folgt, wie der Zeichner von A; und hätte dieser hinter Klytai - mnestra die Figur des Talthybios hinzugefügt, so wäre das Unver - ständliche und Befremdliche, was die Darstellung jetzt für uns hat, vermieden worden. Er hat ihn weggelassen, weil die strenge Symmetrie der Komposition, die für seine, ich möchte sagen etwas akademische Richtung maſsgebend war, zu beiden Seiten156 der Hauptgruppe nur je eine Figur zulieſs, er konnte ihn weg - lassen, weil er sowohl die Sagenversion als den künstlerischen Typus derselben als so bekannt voraussetzen durfte, daſs dem Beschauer über den Ausgang der Scene kein Zweifel blieb, daſs derselbe vielmehr in der Phantasie im nächsten Augenblick den Talthybios herbeispringen und dem Orestes Rettung bringen sah. Was bei einer neugeschaffenen, selbständig erfundenen bildlichen Darstellung ein grober, weil das Verständniſs aufhebender Fehler wäre, ist bei einer als einzelnes Glied in der Reihe der bildlichen Tradition stehenden Darstellung, wenn nicht unbedingt gestattet, so doch verzeihlich. Daſs nun auch die Frau auf D als Klytai - mnestra gefaſst werden muſs, braucht kaum noch ausdrücklich her - vorgehoben zu werden.

Daſs diese drei Vasen (A B D) auf dieselbe Komposition zurückgehen oder, wie ich lieber sagen möchte, denselben Typus repräsentieren, springt in die Augen, und zwar entfernt sich D, die jüngste, am weitesten von dem ursprünglichen Typus und hält nur die allgemeinsten Züge desselben fest; die beiden anderen hingegen, von denen A augenscheinlich die ältere ist, stehen sich und dem Original ziemlich nahe, und es fragt sich nur, wenn beide von einander abweichen, welche von beiden die ursprüng - lichen Züge treuer bewahrt hat. Es wiederholt sich hier eine Erscheinung, welche die ganze bildliche Tradition durchzieht: ein - zelne Züge sind in A, andere in B treuer bewahrt.

In der Darstellung der Hauptgruppe Orestes und Aigisthos steht gewiſs A dem Original am nächsten; denn die Bewegung der linken Arme ist dort zweckmäſsig und verständlich, auf B unklar und zwecklos; auch ist es gewiſs natürlicher, daſs Aigi - sthos zunächst die Hand des Orestes von seinem Haupte zu ent - fernen sucht und deshalb dessen rechten Arm umfaſst. Hingegen scheint auf B richtig der Fuſstritt des Aigisthos das Knie des Orestes zu treffen, während er auf A ins Leere geht. Daſs Orestes den Kopf umwendet und die drohende Gefahr bemerkt, ist gewiſs das glücklichere Motiv; allein auf A ist die Ursache dieser Be - wegung dunkel, nur vermuten können wir, daſs etwa das Ge - räusch der Schritte und des Ringens zwischen Klytaimnestra und157 Talthybios ihn aufmerksam gemacht habe. Auf B hingegen könnte der Ruf und die Handbewegung der Elektra eine solche Reflex - bewegung bei Orestes sehr wohl zur Folge haben aber hier gerade wendet Orestes den Kopf nicht um. So haben wir auf B die Ursache, auf A die Wirkung; und es wird nicht zu kühn sein, daraus den Schluſs zu ziehen, daſs in der ursprüng - lichen Komposition Orestes wesentlich wie auf A, Elektra an derselben Stelle und in derselben Stellung wie auf B dargestellt war. Denn daſs Chrysothemis, die auf A ihre Schwester ver - tritt, an einen anderen Platz und daher auch in veränderter Haltung erscheint, hat in der dort gewählten, durch die Form dieses Gefäſses bedingten Kompositionsmanier seinen Grund; sie soll, wie oben hervorgehoben, ein Mittelglied zwischen Vorder - und Rückseite bilden; mithin ist sie für die Re - konstruktion des ursprünglichen Typus nicht verwendbar.

Eine Komposition nun, die in allem Wesentlichen der eben durch Rekonstruktion gefundenen entspricht, zeigt uns die Vorder - seite der Vase von Bologna E, die auf eine strenge Symmetrie verzichtet hat; die Darstellung besteht aus fünf Figuren, die sich von links nach rechts in dieser Weise folgen: Talthybios im Bull. fälschlich als Pylades bezeichnet, aber durch den Herolds - hut gesichert Klytaimnestra Orestes (ohne Rüstung, in Chla - mys wie auf D) Aigisthos Elektra. Elektra streckt, wie auf B, den rechten Arm gegen Orestes hin aus und scheint ihm zu - zurufen. Orestes wendet, durch sie aufmerksam gemacht, den Kopf nach rückwärts, wo Klytaimnestra mit dem Beil über dem Haupte zum Streiche ausholt, aber von dem herbeigeeilten Tal - thybios, der mit der Rechten ihre Hand, mit der Linken das Beil festhält, am Schlage gehindert wird. Von allen erhaltenen Dar - stellungen dieser Gruppe hat also E den ursprünglichen Typus am treuesten bewahrt wenigstens in der Gesamtkomposition; denn in den einzelnen Figuren, wie in der der Klytaimnestra und der Gruppe von Aigisthos und Orestes steht es, abgesehen von der Kopfwendung des letzteren, B näher als A.

Zweifelhaft bleibt, ob in dem ursprünglichen Typus Kly - taimnestra mit erhobenem wie auf B D E oder mit gesenktem158 Beil, wie auf A zu denken ist; in ähnlicher Haltung, wie dort, kehrt sie auch auf der Wiener Amphora F wieder, die nur die Gruppe von Klytaimnestra und Talthybios auf der Vorderseite, auf der Rückseite einen nach rechts fliehenden nackten Jüngling mit dem Reisesack in der Hand, etwa einen Gefährten des Orestes zeigt4)Diese Deutung scheint mir durch die Vergleichung mit A unabweisbar zu sein; natürlich ist Klytaimnestra in derselben Situation dargestellt, wie in der Gruppe A E; es ist also sowohl die Deutung Millins und Gerhards auf Aigisthos und Klytaimnestra im Augenblick vor der Ermordung Aga - memnons als die Welckers und Jahns auf Merope und Kresphontes abzu - weisen. Der Jüngling der Rückseite ist auch äuſserlich zu sehr als Neben - figur behandelt, um für Kresphontes gelten zu können. Die Amphoren dieser Form und dieses Stils pflegen in der Regel eine gleichgültige mit der Haupt - scene nur in einem losen Zusammenhange stehende Figur auf die Rückseite zu setzen. Andererseits lieben sie gerade einzelne Gruppen aus gröſseren Kompositionen herauszunehmen, da sie selten mehr als zwei Figuren auf die Vorderseite setzen. Auf einer Vase des Brit. Museums nr. 875 (abgeb. de Witte et Lenormant Élite céramog. II 51, M. d. I. I 5) ist Hermes vor dem leierspielenden Paris dargestellt; die Göttinnen fehlen; allein der Vergleich der Paris-Vasen des Hieron und Brygos setzt die angeführte Deutung auſser Zweifel; bisher wollte man fälschlich Hermes und Apollon erkennen. Daſs übrigens eine von Euripides beeinfluſste und obendrein in die der Historie nahestehende Mythenperiode gehörige Darstellung auf einer Vase des fünften Jahrhunderts etwas Unerhörtes wäre, bedarf nach den oben (Kap. IV) gegebenen Auseinandersetzungen keines besonderen Be - weises..

Der nicht publicierten und verschollenen Trinkschale des Kachrylion (C) ihren festen Platz in dieser Reihe anzuweisen, ist nach der kurz gehaltenen Beschreibung5)Die Beschreibung im Musée étrusque de Canino nr. 1186 sagt: A l’en - terieur d’un côté un homme est renversé par un adolescent furieux qui d’une main le retient par les cheveux, et de l’autre lève l’épée pour le percer: une matrone drapée retient l’epée; une autre femme plus jeune accourt avec une espèce de massue dans la main droite; près de l’homme renversé un adolescent encourage par ses gestes le meurtrier à accomplir sa vengeance, vgl. auch Benndorf a. a. O. p. 223 nr. 1, welcher in der letzten Gruppe Klytaimnestra und Pylades erblickt. nicht leicht. Die Haupt - gruppe scheint ähnlich gewesen zu sein, wie auf A; wie dort,159 faſst Orestes den Aigisthos bei den Haaren, der jedoch nicht auf dem Sessel sitzt, sondern, ähnlich wie auf D, am Boden liegt. Die Handlung der Frau neben Orestes scheint miſsverstanden; sie wird denselben nicht zurückgehalten, sondern auf die drohende Gefahr hingewiesen haben. Es war, wenn sie wirklich alt war, die Amme, wahrscheinlicher aber Elektra. In der von Brunn auf Elektra und Pylades gedeuteten Gruppe vielmehr Klytai - mnestra und Talthybios zu erblicken, scheint mir nach allem bisher Gesagten nicht zu kühn6)Einem mir immer wieder aufsteigenden Zweifel, ob die Vase überhaupt hierhergehöre, möchte ich wenigstens in der Anmerkung Ausdruck geben. Wenn die Frau wirklich eine Keule und kein Doppelbeil schwingt, liegt der Gedanke an die Andromache der Iliupersis nahe, s. oben S. 63 f. Der Ge - fallene wäre dann Deiphobos, der Sieger Menelaos, die Frau, welche seinen Arm faſst, Helena; der Mann neben Andromache je nach seiner Handlung, die durch die Beschreibung nicht deutlich wird, Odysseus oder ein Tro - ianer..

Der dieser ganzen Vasengruppe zu Grunde liegende Typus stellt also folgende Scene dar: Orestes in voller Rüstung stöſst dem Aigisthos das Schwert in die Brust. Klytaimnestra eilt mit geschwungenem Doppelbeil dem Gatten zu Hilfe; ein warnender Zuruf der erschreckten Elektra denn daſs diese und nicht Chrysothemis ursprünglich ist, wird sich gleich zeigen macht den Bruder auf die ihm vom Rücken drohende Gefahr aufmerksam, so daſs er sich umsieht, aber schon ist der greise Talthybios zu Hilfe geeilt und entwaffnet Klytaimnestra. Woher stammt diese Sagenversion? Längst ist bemerkt, daſs keiner der drei groſsen Tragiker die Quelle sein könne; denn bei Euripides wird bekannt - lich Aigisthos bei einem Opfer auf dem Lande, bei Sophokles zwar im Palaste, aber erst nach der Klytaimnestra getötet7)Vgl. über diese Umgestaltung und ihre Gründe die feinen Bemer - kungen von A. Mau in den Commentationes Mommsenianae S. 291 f.. Bei Aischylos endlich wird zwar Aigisthos im Palast, auch vor Klytaimnestra getötet, allein eine den Vasendarstellungen genau entsprechende Scene findet sich in den Choephoren nicht. Wohl ruft dort Klytaimnestra, als ihr der Sklave (mit den geheimniſs -160 vollen Worten der Tote tötet den Lebenden ) den Tod des Aigisth meldet:

v. 882

δοίη τις ἀνδροκμῆτα πέλεκυν, ὡς τάχος·
εἰδῶμεν εἰ νικῶμεν, νικώμεϑα,

aber ehe noch ihrem Wort gehorcht werden kann, tritt schon Orestes vor sie hin, sie erkennt ihn, und vom Widerstand zum Bitten sich wendend zeigt sie ihm die Brust, die ihn genährt hat. Diese Version verhält sich also zu der von den Vasen - malern befolgten, wie Vorsatz zur That; und es fragt sich, wie dieser Zusammenhang, den Niemand für zufällig halten wird, zu erklären ist. Hat etwa ein Dichter oder ein bildender Künstler anknüpfend an die citierte Stelle der Choephoren den Moment so ausgebildet, wie wir ihn auf den Vasen sehen? An Analogien für einen solchen Vorgang fehlt es ja nicht8)Vgl. auch Thanatos S. 29.. Es braucht bloſs an die aischyleische Behandlung von Hektors Lösung erinnert zu werden (s. oben S. 96). Allein, daſs eine von einem der unbedeutenderen dramatischen Dichter des fünften Jahrhunderts herrührende Behand - lung der Orestessage die aischyleische Version in der Volksphantasie so verdrängt haben sollte, daſs sie in die Kunstdarstellungen sich nicht nur Eingang verschaffte, sondern dieselben sogar aus - schlieſslich beherrschte, ist doch schwer zu glauben; und so hoch man auch den Einfluſs der Entwickelung bildlicher Typen auf die Fortbildung der Sagenstoffe anschlagen mag, so ist doch undenkbar, daſs die Gestalt und das entscheidende Eingreifen des Talthybios die freie Erfindung eines Künstlers sein sollte. Hier muſs die Poesie vorangegangen sein. Glücklicherweise läſst sich aber in unserem Fall die Sache noch handgreiflicher beweisen; denn das älteste Exemplar unserer Gruppe A muſs nach der kolossalen Umgestaltung, welche die Vasendatierung durch die neuesten Ent - deckungen gemacht hat entschieden vor die Aufführung der Oresteia, die bekanntlich Ol. 80,2 (458) gegeben wurde, fallen. Wer aber auch behauptet, daſs für eine so zuversichtliche Datierung der rotfigurigen Vasen strengern Stils unsere Indicien nicht aus -161 reichen, wird wenigstens die Vase nicht weit über diesen Zeitpunkt hinabrücken können. Auf alle Fälle ist der Zeitraum ein viel zu kurzer für den ziemlich langwierigen Prozeſs, der in der Zeit zwischen der Aufführung der Choephoren und der Verfertigung von A sich hätte abspielen müssen: zuerst nämlich müſste ein Tragiker an die citierten Aischylos-Verse anknüpfend den Mythos umgestalten, dann müſste ein groſser Künstler denn auf ältere bildliche Tradition dürften wir ja in diesem Fall nicht zurück - greifen also ein groſser Künstler, etwa ein Maler aus der Schule des Polygnotos die neue Sagenversion bildlich gestalten, endlich müſste diese neue Schöpfung in den Typenvorrat des Kunsthandwerks eindringen. Absichtlich habe ich bei dieser De - duktion den oben aufgestellten Satz, daſs in der strengen rot - figurigen Vasenmalerei Sagenversionen des Dramas unerhört sind, bei Seite gelassen; derselbe würde, wenn er auch für Andere dieselbe Beweiskraft hätte, wie für mich, allein ausgereicht haben, die Sache zu entscheiden.

Wenn also der besprochene Typus weder unmittelbar noch mittelbar von der Oresteia des Aischylos abhängig ist, so müssen beide auf dieselbe ältere Sagenbehandlung zurückgehen. Aischylos hat den gräſslichen Zug, daſs die Mutter gegen den Sohn mag sie ihn nun erkannt haben oder nicht das Beil erhebt, ausgemerzt, aber so mächtig war diese Tradition, so tief war sie der Volksphantasie eingeprägt, daſs er mit den Worten δοίη τις ἀνδροκμῆτα πέλεκυν ὡς τάχος wenigstens daran erinnern zu müssen glaubte. Hier sehen wir den selbständig schaffenden Dichter im Kampf mit der poetischen Sagentradition.

Aber diese Sagentradition woher stammt sie? Unser nächster Gedanke wird das Epos, also die Nostoi des Hagias von Troizen sein. Allein die kurze Notiz der von Proklos überlieferten Hypothe - sis: ἔπειτα Ἀγαμέμνονος ὑπὸ Αἰγίσϑου καὶ Κλυταιμνήστρας ἀναι - ρεϑέντος ὑπ̕ Ὀρέστου καὶ Πυλάδου τιμωρία καὶ Μενελάου εἰς τὴν οἰκείαν ἀνακομιδή giebt uns keinen genügenden Anhalt; ja die Erwähnung des Pylades muſs uns miſstrauisch machen, da von den besprochenen Vasen nur die jüngste D neben Orestes einen Gefährten zeigt, der möglicher Weise aber keineswegs mitPhilolog. Untersuchungen V. 11162Notwendigkeit auf Pylades gedeutet werden könnte. Fragen wir also die Odyssee, die ja wesentlich auf demselben Sagen - hintergrund steht, wie die Nosten. Hier muſs nun auffallen, daſs stets nur die Rache an Aigisthos, nie der Muttermord des Orestes erwähnt wird; so α 30. γ 199. δ 514, und endlich an dem eigentlichen locus classicus γ 304 312, einer Stelle, die mit den Worten der Hypothesis bei Proklos in einer so augenfälligen Weise übereinstimmt, daſs der Verdacht sich unabweisbar regt, der Verfasser der Hypothesis habe nicht die Nosten, sondern diese Odysseestelle vor Augen gehabt9)Vgl. den Excurs: Zu den Hypotheseis.. Jedenfalls steht die Sache so, daſs wir entweder über die Sagenversion in den Nosten absolut Nichts wissen können, oder daſs sie dieselbe war, wie die in diesen Odysseeversen skizzierte. Ich setze die wichtige Stelle, das älteste erhaltene Zeugnis für unseren Mythos voll - ständig her; es heiſst von Aigisthos:

ἑπτάετες δ̕ ἤνασσε πολυχρύσοιο Μυκήνης
κτείνας Ἀτρεΐδην, δέδμητο δὲ λαὸς ὑπ̕ αὐτῷ,
τῷ δέ οἱ ὀγδοάτῳ κακὸν ἤλυϑε δῖος Ὀρέστης
ἂψ ἀπ̕ Ἀϑηνάων, κατὰ δ̕ ἔκτανε πατροφονῆα.
[Αἴγισϑον δολόμητιν, ὃς οἱ πατέρα κλυτὸν ἔκτα]
10)Diesen Vers athetiert Kirchhoff.
10)
τοι τὸν κτείνας δαίνυ τάφον Ἀργεΐοισιν
μητρός τε στυγερῆς καὶ ἀνάλκιδος Αἰγίσϑοιο·
αὐτῆμαρ δέ οἱ ἦλϑε βοὴν ἀγαϑὸς Μενέλαος
11)Von diesen Versen und zwar lediglich von diesen ausgehend und die notwendigen Konsequenzen daraus ziehend ist Euripides zu der groſsartigen Erfindung seines Orestes gekommen.
11).

Die beiden vorletzten Verse fehlten, wie die Scholien be - merken, in einigen Ausgaben. Aristarchos bemerkt dazu, es sei in ihnen angedeutet, daſs Klytaimnestra zugleich mit Aigisthos umkomme; ob aber auch sie von Orestes getötet werde, sei unklar; auch die Ermordung der Eriphyle durch Alkmaion kenne ja Homer nicht. Mir däucht, wenn die beiden Verse nicht eine163 ganz späte Interpolation sind, so lassen sie nur die Auffassung zu, daſs Klytaimnestra aus Scham und Verzweiflung sich selbst getötet habe. Wie könnte über den Muttermord des Orestes hier und an den anderen Stellen in solch wahrhaft frivoler Weise hinweggegangen werden? Steht doch noch ein anderes hiermit in unverkennbarem Zusammenhang. Bei der Ermordung des Aga - memnon steht in der Odyssee und wir dürfen wohl sagen überhaupt im Epos Klytaimnestra durchaus im Hintergrund. Aigisthos ist es, der die That vollbringt (γ 194. 254 304. δ 514 537. λ 409 434); in der offenbar ältesten Fassung in der Tele - machie ist Klytaimnestra nicht einmal gegenwärtig, ja man kann zweifeln, ob sie anders als durch Konivenz gerade wie ihre späteste Ausläuferin, die Gertrud im Hamlet Teil an der That hat. Ihr schweres Verbrechen ist der Treubruch gegen den Gatten, dem sie aber erst nach langem Kampf φρεσὶ γὰρ κέχρητ̕ ἀγαϑῇσιν und, wie der Dichter entschuldigend hinzusetzt, ὅτε δή μιν μοῖρα ϑεῶν ἐπέδησε δαμῆναι, begeht. Schuldiger erscheint sie in der Nekyia, wo sie bei der That gegenwärtig ist und die Kebse ihres Mannes mit eigener Hand erschlägt. Man sieht, wie ihre Strafe, so ist auch ihre Schuld im Epos eine kleinere.

Total verändert ist das Bild im Drama; hier ist sie ganz eigentlich die Mörderin des Gatten πρὸς ἡμῶν κάππεσε, κάτϑανε, καὶ καταϑάψομεν Aigisthos hingegen der Weichling, der die Ehre des fernen Helden schändet und selbst die Ausführung des Ver - brechens dem Weibe überläſst; und ganz konsequent trifft die Rache des Orestes hauptsächlich die Mutter. Kein Besonnener wird diese ungeheuere Umgestaltung des Mythos wie der Charaktere für eine Neuerung des Aischylos halten. Umgestaltungen der populären Sagenversion werden mit einem ganz anderen Aufwand von Mitteln eingeführt. Euripides giebt uns dafür mehr als ein Beispiel. Im Agamemnon aber wird die eigentliche Katastrophe nur angedeutet: erst in den prophetischen Reden der Kassandra, dann in dem kurzen Resumé der Klytaimnestra, nirgends wird wirklich erzählt; so kann der Dichter nur verfahren, wenn er einer alten, jedem Zuschauer von Kindheit an vertrauten Version folgt. 11*164So muſs also in der Periode zwischen dem Absterben des ioni - schen Epos und dem Aufblühen des attischen Drama’s ein gewaltiger Umschwung in der Sagengestaltung erfolgt sein, zu dem sich ein Ansatz allerdings bereits in der späteren Partie der Nekyia findet, ein Umschwung, durch den die von Natur gutartige, aber schwache und den Verführungskünsten des Aigisthos nicht gewachsene Frau, die bei Homer Klytaimnestra ist, um - gewandelt wird in das leidenschaftliche von Lieb und Haſs und Eifersucht bis in’s Innerste bewegte, listige und thatkräftige Weib, als welches uns Klytaimnestra bei Aischylos entgegentritt. Aus dieser Anschauung heraus ist die Situation gebildet, die wir auf den Vasen fanden; das Weib, das mit kalter List den Gatten erschlug, verteidigt kühn den Buhlen auch gegen ihren Sohn, auch wenn sie ihn als Sohn erkannt hätte. Ob letzterer Zug gleichzeitig mit der Umwandlung des Charakters der Klytaim - nestra oder erst in Folge davon in den Mythos eindringt, muſs vorläufig unentschieden bleiben.

Um nun der Ermittelung der dichterischen Vorlage, auf der sowohl der bildliche Typus dieser Vasen beruht, als Aischylos seine Oresteia aufbaut, näher zu treten, müssen wir einige Punkte ge - nauer ins Auge fassen, welche für den auf diesen Vasen dargestellten Moment die Voraussetzung bilden. Es ist klar, daſs sowohl Talthybios als Elektra im Einverständnis mit Orestes sind, beide müssen ihn also kennen oder erkannt haben. Für Talthybios kommt hier das Zeugnis des Nicolaos Damascenus Exc. de insid. Cod. Escor. fol. 77 = C. Müller F H G. III fr. 34 p. 374 in Betracht: ὅτι Αἴγισϑος Ἀγαμέμνονα κτείνας τὸν βασιλέα συμβουλῇ τῆς γυναικὸς Κλυταιμνή - στρας καὶ τὸν Ὀρέστην τὸν τοῦ Ἀγαμέμνονος υἱὸν ἔμελλεν ἀνελεῖν. τοῦτον δὲ ἐρρύσατο Ταλϑύβιος ἐξαρπάσας καὶ ἐκϑέμενος εἰς τὴν Φωκίδα παρὰ Στρόφιον. δεκάτῳ δ̕ ἔτει ἐκ Φωκέων ἐλϑὼν μετὰ Πυλάδου τοῦ Στροφίου Αἴγισϑον καὶ τὴν μητέρα κτείνας τῶν Μυκηνῶν ἐβασίλευεν. ἐλαυνόμενος δὲ ὑπὸ τῶν Αἰγίσϑου φίλων, κατὰ δὲ τὸν πλεῖστον λόγον ὑπὸ Ἐρινύων ὡς ἐναγὴς ϑεοῦ κελεύ - σαντος εἰς Ἀϑήνας ἀφίκετο καὶ ἐν Ἀρείῳ πάγῳ κριϑεὶς ἀπέφυγεν. αὕτη δίκη φόνου τετάρτη ἐν Ἀϑήναις ἐκρίϑη. Mit dieser Nachricht, soweit sie Talthybios betrifft, stimmt auch Dictys Cret. VI 2 überein. 165Die letzten Worte des Nicolaos-Excerpts sind, wie C. Müller richtig bemerkt, aus Hellanikos (schol. Eur. Orestes 1643. F H G. I p. 56 fr. 82, vgl. Kirchhoff im Hermes VIII S. 184) geflossen. Daſs auch die vorhergehende Erzählung ganz oder teilweise aus Hellanikos stammt, läſst sich nicht behaupten, aber auch nicht von vornherein abweisen. Für das Alter der Tradition von Talthybios haben wir, auſser unseren Vasen, wenigstens ein in - direktes Zeugnis in der Elektra des Sophokles sowohl wie der des Euripides. Der παιδαγωγός des einen, der πρέσβυς des anderen sind augenscheinlich die Weiterbildungen des in einer früheren poetischen Behandlung vorkommenden Talthybios. Daſs sie namenlos sind, beruht auf dem von Wilamowitz An. Eurip. p. 185 beobachteten und begründeten Gesetz, ut paucae tantum per - sonae inducantur remota omni supervacanea turba, secundi vero ordinis personae nomine certe careant. Deshalb wird auch bei dem Pädagogen vermieden, auf sein Verhältnis zu Agamemnon irgendwie hinzudeuten; geschähe es, so würde er zu sehr hervor - treten, statt des namenlosen Alten würde dann der Beschauer eine bekannte Gestalt der Heroensage, den Talthybios, sehen, und dies gerade soll vermieden werden. Aber sonst spielt der Paidagogos des Sophokles in seinem Verhältnis zu Orestes genau dieselbe Rolle, wie der Talthybios bei Nicolaos. Er hat den Knaben, dem auch der Tod drohte, gerettet, er der einzig treue im Hause des Agamemnon (V. 1351 1356), er hat ihn nach Phokis geflüchtet, dort auferzogen und führt ihn nun als Rächer des Vaters zurück (V. 11 14). Es ist evident, daſs dies auch die Voraussetzung für die Darstellung der Vasen ist. Auch nach der dort befolgten Version ist augenscheinlich Talthybios nicht im Hause geblieben, sondern erst mit Orestes zurückgekehrt. Und noch ein Be - rührungspunkt findet sich zwischen Sophokles und den Vasen. Wie in der Elektra der Pädagog v. 1327 f. Wache steht und die Beratung der Geschwister vor plötzlichem Überfall schützt, so hat er auch hier Wache gehalten, während Orestes ins Gemach des Aigisthos eindringt: nur so erklärt es sich, daſs er im Augen - blick der Gefahr sofort zur Hilfe bereit ist. Man sieht, wie viele Züge dieser alten poetischen Version Sophokles bewahrt166 hat. Weiter entfernt sich Euripides von der poetischen Tradition; bei ihm ist aus Talthybios der πρέσβυς geworden, der zuerst Agamemnon und dann Elektra erzogen hat12)Im Orestes hingegen läſst Euripides den Talthybios ein zweideutiges Spiel spielen.; aber wieder ist es er, der den Orestes gerettet hat und bei der Vollführung der Rache mit Rat und That hilft, wie in der alten Tradition Tal - thybios. Sind wir einmal auf die groſse Bedeutung des Tal - thybios aufmerksam geworden, so erhält auch das Auftreten des κήρυξ im Agamemnon, der natürlich wieder kein anderer als Talthybios ist, einen ganz anderen Nachdruck. So finden wir also in der Kunst wie bei den drei groſsen Tragikern die ver - einzelten Spuren dieses Talthybios, dessen Charakter gerade wie der der Klytaimnestra in einer durchschlagenden poetischen Be - handlung ausgebildet sein muſs, die jenseits des attischen Dramas und diesseits des ionischen Epos fällt; diese Dichtung aber näher zu bestimmen, ist uns noch immer nicht gelungen.

Allein auch Elektra steht in der Darstellung der Vasen im Einverständnis mit Orestes, sie muſs ihn also kennen und da sie nicht, wie Talthybios, mit Orestes aus der Fremde kommt, so muſs der auf den Vasen dargestellten Situation eine Scene des Wieder - sehens und Wiedererkennens zwischen den beiden Geschwistern vorangegangen sein; es ist weiter mindestens wahrscheinlich, daſs diese Scene auſserhalb des Palastes vor sich ging, und dazu muſste wieder motiviert werden, warum Elektra den Palast ver - läſst. Diese Betrachtung führt uns auf den Schluſs, daſs dem auf den Vasen dargestellten Moment eine Scene vorausgegangen sein muſs sehr ähnlich oder identisch mit derjenigen, welche den ersten Teil der Choephoren des Aischylos bildet. Dann würden wir also wieder auf eine gemeinsame Quelle für Aischylos und die Vasen geführt, und glücklicherweise läſst sich in der That der monumentale Nachweis beibringen, daſs das Wiedersehen der Geschwister am Grabe des Agamemnon nicht von Aischylos er - funden, sondern schon einer älteren und zwar bedeutend älteren Dichtung entstammt.

167

Conze hat in den Mon. d. Inst. VI tav. LVII ein aus Melos stammendes dem entwickelten archaischen Stile angehöriges Relief veröffentlicht, welches eine der Eingangsscene der Choephoren ganz verwandte Situation zeigt. Der in tiefe schmerzliche Gedanken versunken am Grabe ihres Vaters sitzenden Elektra (〈…〉〈…〉. ) sind drei Männer genaht, von denen der erste ihr zuzureden scheint, während die beiden anderen sich in bescheide - ner Entfernung halten; das dabeistehende Roſs und der Sack, welchen der dritte von ihnen offenbar ein Diener an einem Stab über der Schulter trägt, zeigen, daſs sie sich auf der Reise befinden. Der erste trägt auf dem Kopf ebenso wie der Diener den Pileus der alten Form (wie Talthybios auf der Wiener Vase), er hat das Schwert an der Seite und in der linken Hand einen Stab, dessen oberes Ende fehlt; der zweite offenbar jugendlichere hat das Schwert in der linken Hand, den Petasos im Nacken, eine Tänie im Haar und hebt nachdenklich und aufmerksam die rechte Hand an das Kinn, es ist offenbar der Vornehmste, ihm gehört auch wohl das Roſs. Neben Elektra steht die Kanne mit der Totenspende, hinter ihr wird eine ältliche Frau mit Kopftuch sichtbar doch wohl die Amme. Daſs nun diese Darstellung nicht auf die Choephoren zurückgeht, folgt nicht sowohl aus den unerheblichen Abweichungen von Aischylos solche haben wir schon oft gefunden und werden sie noch gar manchmal finden sondern, wie bereits Conze hervorgehoben hat, aus chronologischen Gründen. Der noch sehr altertümliche Stil nötigt uns die Verfertigung dieses Reliefs vor die Aufführung der Oresteia zu setzen. Wollte man nun auch einwenden, daſs sich an abgelegenen Orten die Kunst länger auf einer altertümlichen Stufe hält und daſs deſshalb sehr wohl das Relief geraume Zeit nach 458 gefertigt sein könnte, so bliebe eben die Schwierigkeit, daſs an einem so abgelegenen Ort eine vom attischen Drama geschaffene Situation so rasch Eingang finden und selbst in das Kunsthandwerk eindringen konnte. Das Relief ist, wie der dorische Dialekt der Beischriften zeigt, in einer dorischen Gegend gefertigt worden und Nichts hindert uns anzunehmen, daſs der Fundort168 auch der Fabrikort sei13)Vgl. über dieses und die verwandten Reliefs R. Schoene, Griech. Reliefs S. 61. Fragmente, die von einer oder gar mehreren Repliken dieser Darstellung herrühren, sind vor einigen Jahren im athenischen Kunsthandel aufgetaucht.. Wer wird glauben wollen, daſs selbst beim Beginn des peloponnesischen Krieges die aischyleische Version bereits so das Volksbewustsein in ausserattischen Landschaften durchdrungen habe, daſs selbst melische Thonarbeiter, sei es mittelbar oder unmittelbar, unter ihrem Einflus standen? Und ein Blick auf die Gruppe rechts führt uns noch einen Schritt weiter: der zweite Jüngling, der im Ephebenkostüm, ist offenbar der Vornehmste, mithin Orestes, für den mir die nachdenkliche Haltung besonders charakteristisch und schön erscheint14)Conze erklärt diese Figur für Pylades und den vordersten Mann für Orestes.. Sollte nun der andere Mann, der zu Elektra spricht, wirklich Pylades sein? ihm würde, sollte man meinen, die Anknüpfung des Gespräches wenig ziemen. Mir scheint, die ganze bisherige Betrachtung führt gebieterisch auf eine andere Benennung; es ist Talthybios15)Die Unbärtigkeit ist kein entscheidender Gegengrund; die Züge sind ebenso wie die des Dieners offenbar mit Absicht härter und ältlicher, die Gesichtsbildung knochiger, als die des fast jugendlich zarten Orestes. Im Anbringen und Weglassen des Bartes ist bekanntlich die archaische Kunst sehr frei. Es genügt an den bärtigen Troilos auf der korinthischen Vase des Timonidas zu erinnern. Auf dem Kypseloskasten war bekanntlich der eine der Dioskuren bärtig, der andere unbärtig. Daraus Schlüsse für die entwickelte Kunst zu ziehen ist sehr bedenklich.. Der Herold geht voran, er allein kennt Elektra, aus ihren Händen hat er einst den kleinen Orestes empfangen; ihm ziemt es die Unterredung anzuknüpfen und die Erkennung herbeizuführen. Und sollte nicht der Stab in seiner Linken ebenso gut, nein, besser ein Kerykeion etwa von der längeren Form, wie sie Hermes auf den schwarzfigurigen Vasen trägt sein können, als ein Speer? 16)Noch auf der späten unteritalischen Vase im Neapler Museum (Heyde - mann nr. 2858, R. Rochette M. I. pl. 34) finden wir, wie auch Conze hervor - hebt, im Gefolge des Orestes einen bärtigen Mann mit Stab und einen auf dem Reisesack sitzenden Diener. Ob die Übereinstimmung eine zufällige ist oder ob wirklich eine bildliche Tradition von dem melischen Terrakotta -169So haben wir wieder einen Punkt, der von Aischylos abweicht, aber auf dieselbe ältere poetische Version zurückweist, zu der uns schon so viele Spuren leiten17)Auch das etwas jüngere, von Conze an derselben Stelle veröffentlichte Thonrelief gehört zweifellos hierher, wie Conze sofort erkannt hat. Ich hätte (Arch. Zeit. 1875 S. 136 Anm. 7) noch rückhaltloser meine Zustimmung aussprechen sollen. Orestes hat das Schwert gezogen, um es hier am Grabe des Vaters zum Racheakt zu weihen. Es ist sehr wahrscheinlich, daſs auch dieser Zug schon in der älteren poetischen Tradition, aus der Talthybios stammt, vorkam. Den zweiten Jüngling aber wage ich wegen seiner Jugend - lichkeit hier nicht anders zu benennen als Pylades. Zweifelnd äuſsert sich Kekulé B. d. I. 1868 S. 56.. In der Hauptsache liegt dem Thonarbeiter dieselbe Sagentradition vor wie dem Aischylos, nur hat letzterer die Rolle des Talthybios ausgemerzt; das Thon - relief gehört also auch hierdurch ganz mit den attischen Vasen zusammen; auf der einen Seite steht die konservative Kunst - tradition, auf der andern die neuschaffenden Dichter18)Die neueste Deutung von Milchhöfer (Mitth. der athen. Instituts V S. 181 Anm. 3) auf Elektra und die Dioskuren kann ich so wenig für richtig halten, wie seine Behauptung, daſs das Relief archaistisch und daſs die Scene nach dem Typus, der auf den attischen Grab-Lekythen vorkommt, gebildet sei. Wenn ein Zusammenhang zwischen letzteren und dem Relief wirklich vorhanden ist, so würde ich mich keinen Augenblick scheuen, daraus die Konsequenz zu ziehen, daſs der ursprünglich für Orestes und Elektra ge - schaffene Typus auf Scenen des täglichen Lebens übertragen sei. Ich habe eben von dem Einfluſs dichterischer Erfindungen auf die Volksvorstellung eine andere Anschauung, als der Verfasser jenes Artikels..

Am Grabe ihres Vaters sitzt Elektra auf dem Relief wie bei Aischylos; eine Spende will oder soll sie bringen hier wie im Drama, das zeigt der neben ihr stehende Krug. Bei Aischylos hat ihr16)Relief bis zu der späten Basilikata-Vase reicht, wage ich bei dem Fehlen aller Mittelglieder nicht zu entscheiden. Undenkbar aber wäre letzteres nicht, obgleich natürlich die dem Vasenmaler vorschwebende Situation die aischyleische aus den Choephoren ist. Noch auf römischen Sarkophagen, welche die Ermordung des Aigisthos darstellen, erscheint der Typus der strengen attischen Vasen beibehalten vor allem Aigisthos auf dem Thron. Und doch ist die zu Grunde liegende Version auch hier entschieden die aischy - leische; einer der vielen Fälle, wo die neue Sagengestaltung mit dem über - lieferten auf ganz anderer Grundlage beruhenden künstlerischen Typus ein Kompromiſs schlieſst.170 die Mutter den Auftrag gegeben und diesen Zug hat bekanntlich auch Sophokles, nur daſs sie dort nicht Elektra, der sie miſstraut, sondern der von Sophokles als Folie derselben aus Ilias Ι 145 eingeführten Chrysothemis den Auftrag erteilt. Ein Traum ist es, der Klytaimnestra ängstigt und sie treibt, den Schatten des gemordeten Gatten zu versöhnen; aber den Inhalt des Traumes geben beide Dichter verschieden an. Bei Sophokles träumt ihr, daſs Agamemnon wieder gekommen sei und die Rechte des Gatten ausgeübt habe, dann habe er sein altes Szepter ergriffen, es in die Erde gesteckt und ein Baum sei daraus hervorgewachsen, der das ganze Mykenerland überschattet habe. Der letzte Zug ist, wie Classen Über die Beziehungen Sophokleischer Stellen zu der Erzählung des Herodot (in den Verhandlungen der Kieler Philo - logenversammlung S. 114) bemerkt, der Erzählung des Herodot vom Traum der Mandane (I 108) nachgebildet; er ist freie auf den frischen Eindruck des Herodoteischen Werkes berechnete Erfindung des Dichters und kommt daher für die poetische Tra - dition nicht in Betracht. Aischylos läſst den Chor in der Parodos nur andeutungsweise von dem ὀρϑόϑριξ φόβος δόμων ὀνειρόμαντις sprechen, in dem die Traumdeuter den fortdauernden Groll der Unterirdischen gegen die Mörder erblicken; den Inhalt des Traumes erzählen die Frauen erst V. 527 534 dem Orestes: es hatte Klytaimnestra geträumt, daſs sie einen Drachen geboren und an die Brust gelegt habe, da habe dieser Blut mit der Milch aus ihrer Brust gesogen. Dies Motiv des Traumes der Klytaimnestra können wir nun in einer früheren, aber nachepischen Behandlung nachweisen und damit stoſsen wir zum ersten Mal auf festen Boden; es entstammt der Oresteia des Stesichoros: Plutarch de sera numinis vindicta c. 10 p. 554 F (= Bergk Poetae lyrici III fr. 42) hat uns leider nur zwei Verse aus der betreffenden Partie erhalten, welche an sich betrachtet eine verschiedene Deutung zulassen und auch in der That erfahren haben:

τᾷ δὲ δράκων ἐδόκησε μολεῖν κάρα βεβροτωμένος ἄκρον,
ἐκ δ̕ ἄρα τοῦ βασιλεὺς Πλεισϑενίδας ἐφάνη·

im allein Zusammenhang der Sagenentwickelung betrachtet lassen,171 meine ich, die Worte nur eine Auffassung zu. Der Drache selbst ist Agamemnon, das blutige Haupt deutet auf die Kopf - wunde19)Vgl. Sophokles Elektra 98:μήτηρ δ̕ ἡμὴ χὠ κοινολεχής Αἴγισϑος ὅπως δρῦν ὑλοτόμοι σχίζουσι κάρα φονίῳ πελέκει. , die ihm Klytaimnestra versetzt hat; in dem zweiten Verse kommt nun nicht etwas Neues hinzu, nicht Orestes ist gemeint, der gewiſs nicht βασιλεύς und schwerlich nach seinem unberühmten Groſsvater Πλεισϑενίδας, höchstens nach dem Stammvater des Geschlechts Πελοπίδας heiſsen würde; das Traum - bild verschiebt sich nur: Einen Drachen mit blutigem Haupt glaubte sie auf sich zukommen zu sehen; da wars auf einmal Agamemnon . Ob und wie der Traum nun weiter ging, können wir nur erraten; aber die Vermutung scheint kaum zu gewagt, daſs in dem Traum bei Aischylos und in dem ersten Teil des Traumes bei Sophokles auch inhaltlich Stücke dieser stesichoreischen Erfindung vorliegen. Wenigstens entsteht, wenn man beide mit dem Stesichoros-Fragment vereinigt, ein so harmonisches Ganze, daſs es mir schwer wird, an einen Zufall zu glauben: der Drache mit dem blutigen Haupt, aus dem plötzlich Agamemnon wird, nähert sich Klytaimnestra und umarmt sie, und diese gebiert von dem Drachen einen Drachen, der Blut mit der Milch aus ihrer Brust trinkt. Wenn nun also der Traum, durch den bei beiden Tragikern die Totenspende am Grab des Agamemnon moti - viert und das Wiedersehen der Geschwister herbeigeführt wird, bei Stesichoros stand, so liegt der weitere Schluſs sehr nahe, daſs auch die Folge dieses Traumes, die Scene am Grabe, die ja, wie das melische Terrakottarelief beweist, älter als Aischylos sein muſs, gleichfalls auf stesichoreischer Erfindung beruht, ja daſs, um gleich das letzte entscheidende Wort zu sprechen, das so lange von uns gesuchte Dichtwerk, in dem jene gewaltige Umgestaltung des Charakters der Klytaimnestra erfolgt ist, in dem Talthybios eine so groſse Rolle spielte, kurz, auf das sowohl die bildlichen Darstellungen wie die Behandlung des attischen Dramas172 zurückgehen, kein anderes ist, als eben die Oresteia des Stesichoros. Wir sind bisher von den attischen Vasenbildern Schritt für Schritt zurückgehend ganz von selbst auf Stesichoros gekommen. Es fragt sich, ob unter den dürftigen direkten Zeugnissen über die Oresteia dieses Dichters nicht einige sich finden, welche diese Annahme erhärten.

Zunächst scheint die Abhängigkeit des melischen Reliefs von Stesichoros dadurch eine neue Stütze zu erhalten, daſs auf dem Bildwerk eine Alte gegenwärtig ist und in dem Gedicht eine Amme des Orestes sie hieſs dort Laodameia erwähnt war. Wie geschickt sie bei Aischylos verwandt wird, ist bekannt, aber das ist dramatisch und nicht episch. Am Grabe des Agamemnon, ihres alten Herren, beim Wiedersehen der Geschwister ist der Platz, den ihr der Dichter anweisen muſs20)Aus der scharfen Kritik, welche Euripides an der Art, wie in den Choephoren die Erkennung durch Fuſsstapfen, Haarfarbe und ein altes Ge - wand herbeigeführt wird, ausübt, darf und muſs man doch wohl folgern, daſs dies alles von Aischylos selbst erfunden ist. Gegen Stesichoros gerichtet wäre die Polemik doch wirklich zu kindisch. Bei diesem haben vielmehr wenn die im Text ausgesprochenen Vermutungen richtig sind die beiden alten Diener, die sich natürlich kennen, die Amme des Orestes, Laodameia, auf Seiten der Elektra, Talthybios auf Seiten des Orestes das Wiedererkennen vermittelt. Unter dem Einfluſs dieser stesichoreischen Episode hat dann so - wohl Sophokles die Scene zwischen den Geschwistern und dem Pädagogen Elektr. V. 1346 66, als Euripides die derselben Personen mit dem Πρέσβυς Elektr. V. 487 698 gedichtet. Man beachte, wie letzterer das stesichoreische Motiv wieder aufnimmt, namentlich V. 567 βλέψον νυν ὡς τόνδ̕ τέκνον τὸν φίλτατον u. οὐκ εὖ φρονῶ ̕γὼ σὸν κασίγνητον βλέπων. Auch ist zu beachten, daſs Pindar Pyth. XI 25 der Amme bei ihm Arsinoe genannt die eigent - liche Rettung des Orestes zuschreibt. So wird wohl ursprünglich d. h. bei Stesichoros sie und nicht Elektra es gewesen sein, die den Knaben in die Hände des Talthybios legte. Bei Pherekydes tötet Aigisthos den Sohn dieser Amme im Wahne, den Orestes zu töten., hier erkennt auch sie ihren Pflegling: φίλον δ̕ Ὀρέστην, τῆς ἐμῆς ψυχῆς τρίβην, ὃν ἐξέϑρεψα μητρόϑεν δεδεγμένη.

Weiter ist Elektra selbst, die auf den Kunstwerken wie im attischen Drama eine so hervorragende Rolle spielt, bekanntlich dem Homer fremd und nichts berechtigt, sie in die Nosten zu173 setzen. Die älteste Erwähnung derselben wäre die bei dem Meliker Xanthos, wenn Aelians Quelle Glauben verdiente; nach Xanthos hätte, so erzählt Aelian V. H. IV 26, Elektra ursprünglich Laodike geheiſsen d. h. sie wäre identisch gewesen mit der zweiten bei Homer erwähnten Tochter; erst als sie unvermählt nach der Ermordung ihres Vaters im Hause des Aigisth ein traurig Dasein dahingeschleppt habe, sei ihr der Name Ἠλέκτρα oder Ἀλέκτρα gegeben worden, eine Etymologie, die augenschein - lich von einem dorischen oder wenigstens dorisch schreibenden Manne herrühren muſs21)In Wahrheit hängt der Name natürlich mit Ἠλεκτρώνη zusammen; s. Wilamowitz im Hermes XIV S. 457.. Es ist klar, daſs dies bereits ein Versuch ist, die Elektra, die bereits in der poetischen Tradition festen Fuſs gefaſst hat, mit dem Homervers in Einklang zu setzen; die Elektra müſste also schon in einem vor Xanthos entstandenen Gedicht eine gewisse Rolle gespielt haben. Aber wie steht es überhaupt mit diesem Xanthos? Auſser Aelian thut seiner nur noch Megakleides, wahrscheinlich ein Peripatetiker, Erwähnung, aus dem ein längeres Excerpt bei Athen. XII 513 steht. Da lesen wir denn unter Anderem, daſs Herakles ein groſser Weichling gewesen sei, dem das Vergnügen am Essen, Trinken und schönen Frauen über Alles gegangen sei; erst Stesi - choros von Himera habe ihn zu dem wilden Gesellen gemacht, der wie ein Straſsenräuber mit einem Löwenfell bekleidet und mit Keule und Bogen bewaffnet die Welt durchziehe. Noch der Dichter Xanthos, der doch älter als Stesichoros sei, wie dieser selbst bezeuge, habe ihm das homerische Gewand gegeben. Die - sen Xanthos habe übrigens Stesichoros vielfach ausgeschrieben. So sei auch die Oresteia ein Plagiat an Xanthos22)Mit Unrecht hat Westermann gegen Jonsius in Abrede gestellt, daſs diese Bruchstücke in das Werk des Peripatetikers Megakleides περὶ Ὁμήρου gehören, das in den Iliasscholien wiederholt und in den Odysseescholien ein - mal citiert wird. Es lassen sich noch deutlich die Stellen der Ilias und Odyssee nachweisen, auf welche sich die Fragmente beziehen. Das Fragment bei Aelian stammt aus einer Besprechung von Ι 145, das groſse Fragment über die Weichlichkeit des Herakles bezieht sich auf Ε 640, wo in den. Nun dieses174 Peripatetiker-Geschwätz wird heute keinen Kundigen mehr täuschen. Zunächst muſs konstatiert werden, daſs nach allen Gesetzen der Quellenkritik auch die Aelian-Stelle auf Megakleides zurückgeführt werden muſs, denn auch dort wird mit Nach - druck hervorgehoben ἐγένετο δὲ οὗτος πρεσβύτερος Στησιχόρου τοῦ Ἱμεραίου, wie es auch bei Athenaios heiſst Ξάνϑος δ̕ μελο - ποιὸς πρεσβύτερος ὢν Στησιχόρου. So wird also dieser Dichter in der erhaltenen Litteratur nur von Megakleides erwähnt, und ein Mann, den Stesichoros in so ausgiebiger Weise be - nutzt hätte, sollte in der antiken Litteratur so ganz verschollen22)Scholien des Venet. B sogar der Anfang der ganzen Auseinandersetzung steht; freilich hat der Venetus B Μενεκλῆς, aber C. Müller hat längst gesehen (F H G IV p. 443), daſs Μεγακλῆς zu schreiben und dieser dann natürlich mit unserem Megakleides identisch sei. Daſs W. Dindorf das gänzlich ignoriert, wird Niemanden, der seine Ausgabe näher kennt, verwundern. Dort heiſst es also: Μεγακλῆς φησὶν ἐψεῦσϑαι τὴν ἐπὶ Ἴλιον στρατείαν (des Herakles) und daran schloſs sich unmittelbar an, was bei Athenaios steht: Μεγακλεί - δης ἐπιτιμᾷ τοῖς μεϑ̕ Ὁμηρον καὶ Ἡσίοδον ποιηταῖς, ὅσοι περὶ Ἡρακλέους εἴρήκασιν ὡς στρατοπέδων ἡγεῖτο καὶ πόλεις ᾕρει. Bei dem zweiten Fragment hat Athenaios (XII. 513 B) die betreffenden Verse der Odyssee (ϑ 248) selbst beigeschrieben. Noch ein Wort über die in den Ilias - scholien enthaltenen Fragmente; zu Κ. 274 bringt er die λύσις für eine ἀπορία des Zoilos; ganz sinnreich ist die Bemerkung zu Π 140: den Speer müsse Achilleus zurückbehalten, weil der Dichter schon im Sinne habe, ihm später neue Waffen von Hephaistos machen zu lassen; einen Speer aber könne ihm dieser nicht verschaffen, weil es im Himmel keine Bäume gebe. Charakteristisch ist, daſs der Kampf zwischen Hektor und Achilleus für ein πλάσμα erklärt wird (schol. Il. Χ. 205) gerade wie oben die Eroberung Ilions durch Herakles. Er geht also darauf aus, die poetische Fiktion von dem zu Grunde liegenden historischen Kern zu scheiden. Ächt peripatetisch ist die Be - hauptung, die Athenerinnen hätten sich nicht Ἀϑηναῖαι, sondern Ἀττικαὶ γυναῖκες genannt, damit sich die Jungfrau Ἀϑηναία nicht durch die Gleich - namigkeit mit Frauen verletzt fühlte; als zuletzt doch der Name Ἀϑηναῖαι durchgedrungen sei, habe man den Namen der Göttin in Ἀϑηνᾶ geändert (Eustathius in Iliad. p. 84). Dies genügt, um die Richtung des Mannes zu charakterisieren. Man sieht, wenn auch Welcker (ep. Cyclus I S. 189) mit Recht davon Abstand genommen hat, den Namen überall in Ἡρακλείδης zu ändern, ein Geistesverwandter des Herakleides Pontikos war er allerdings, und ein Verfahren, wie das oben im Text angenommene, ist ihm wohl zu - zutrauen.175 sein? Ich sollte meinen, der Peripatetiker-Kniff, einen groſsen Dichter des Plagiats zu zeihen und ein angeblich gänzlich ver - nachlässigtes Gedicht, was entweder nie existiert hat oder früh verloren gegangen ist, als Quelle zu präsentieren, wo möglich einzelne Stellen von eigener Mache daraus zu citieren, wäre be - kannt genug. Daſs Stesichoros wirklich von einem Xanthos ge - sprochen, zu bezweifeln ist kein Grund; aber wer weiſs, in welchem Zusammenhang und ob es wirklich ein Dichter war; dies bot dem Megakleides die Handhabe für seine Fiktion. Allein die Notiz über Elektra sieht nicht nach Erfindung eines Peripatetikers aus, und wenn Megakleides behauptete, daſs Stesi - choros in der Oresteia sich genau an Xanthos angeschloſsen habe, so konnte er ja den Inhalt einer Stelle der Oresteia des Stesi - choros ruhig unter Xanthos Namen geben.

Sollte indessen auch wirklich das Gedicht des Xanthos existiert haben, so würde eben aus der von Megakleides bezeugten Übereinstimmung des Stesichoros und des Xanthos folgen, daſs auch bei ersterem Elektra vorkam; und die Art, wie wir sie im fünften Jahrhundert plötzlich in den Mittelpunkt des Interesses gerückt finden, läſst auf die Einwirkung eines schöpferisch wirken - den und viel beliebten Dichters, also nicht des gänzlich ver - schollenen Xanthos, sondern des sehr populären Stesichoros schlieſsen. Wie sehr übrigens die Erkennungsscene der Ge - schwister am Grabe gerade zur Behandlung in einem lyrischen Gedichte geeignet war, brauche ich kaum besonders hervor - zuheben.

Direkt bezeugt ist dann noch aus der Oresteia des Stesi - choros, daſs Apollo dem Orestes einen goldenen Bogen als Waffe gegen die Erinyen giebt, ein Zug, den Euripides bekanntlich in seinem Orestes benutzt hat (schol. Eur. Orestes 40). Für Stesi - choros lernen wir hieraus, daſs auch bei ihm schon die Erinyen als Rächerinnen des Muttermordes auftraten, eine indirekte Be - stätigung dafür, daſs auch bei Stesichoros Klytaimnestra von der Hand ihres Sohnes fällt; und weiter, daſs schon bei Stesi - choros Apollo als Schützer des Orestes erscheint, woraus sich unmittelbar der Schluſs ergiebt, daſs der Muttermord auch bei176 ihm bereits, wie im attischen Drama, auf Geheiſs des Apollo ge - schieht.

So zeigen auch diese wenigen direkten Zeugnisse keinen Widerspruch, sondern in wesentlichen Punkten genaue Überein - stimmung mit der Sagenentwickelung, die wir als Grundlage des attischen Dramas wie der attischen Vasen und des melischen Thonreliefs erkannt haben. Sagenentwickelung? doch wohl Sagen - behandlung; denn auch der eifrigste Verteidiger der Rechte mündlicher Volkstradition wird zugeben müssen, daſs eine so durchgreifende Ausbildung der einzelnen Charaktere und ein so detaillirtes Ausmalen der einzelnen Situationen das Eingreifen einer dichterischen Individualität zur Voraussetzung hat, als welche ich jetzt unbedenklich Stesichoros in Anspruch nehmen zu dürfen glaube. Wie populär er und speziell seine Oresteia in Athen war, dafür giebt es vielleicht kein besseres Zeichen, als daſs Aristophanes in der Parabase des Friedens V. 775 die Eingangs - worte der Oresteia Μοῦσα σὺ μὲν κλείουσα ϑεῶν τε γάμους ἀνδρῶν τε δαῖτας in die Ode verarbeitet, ohne Stesichoros zu nennen; denn wer den Gebrauch antiker Poesie kennt, weiſs, daſs Aristophanes hier kein Plagiat begehen, sondern auf eine bekannte und beliebte Stelle anspielen will; die Anspielung wäre aber absurd, wenn er nicht die Worte als der groſsen Mehrzahl des attischen Publikums bekannt voraussetzen dürfte. Für Euripides ist die Anlehnung an Stesichoros im Orestes direkt bezeugt, in der Helena ist sogar die ganze Sagenversion stesichoreisch. Für Aischylos und Sophokles ergiebt sie sich uns jetzt aus dem oben Gesagten. Wir dürfen aber jetzt noch weiter gehen und einzelne Züge der aischyleischen Trilogie, solche namentlich, die nur kurz angedeutet sind, also dem attischen Publikum ohne Weiteres verständlich sein muſsten, während sie doch nicht aus dem Epos stammen, für die Rekonstruktion der stesichoreischen Oresteia in Anspruch nehmen. So vor Allem die ganze erste Tragödie der Trilogie, namentlich die Version von Agamemnons Tod. Im Bade tötet ihn sein Weib mit dem Beil, zwei Schläge giebt sie ihm, und als er am Boden liegt den dritten τοῦ κατὰ χϑονὸς Διὸς νεκρῶν σωτῆρος εὐκταίαν χάριν. Die von Klytaimnestra dem Agamemnon177 versetzte Kopfwunde haben wir schon oben bei Stesichoros kon - statiert. Jetzt ist es Zeit, darauf hinzuweisen, daſs in den Vasen - darstellungen und also auch in der zu Grunde liegenden Dichtung des Stesichoros ein tiefer poetischer Zug liegt: das Beil, welches Klytaimnestra gegen ihren Sohn schwingt, ist dasselbe, mit dem sie ihren Gatten erschlagen hat. Dies Beil spielt von nun an überhaupt in Kunst und Poesie eine groſse Rolle: auf den römi - schen Orestessarkophagen finden wir die drei Erinyen zusammen - gekauert schlafen am Grabhügel des Agamemnon, in ihrer Mitte liegt das Mordbeil, mit dem Agamemnon getötet worden ist23)Auf dem vatikanischen Sarkophag (Visconti Museo Pio-Clement. V 22) dem giustinianischen (Gall. Giustiniani II 130) und endlich auf dem Sarko - phag von Husillos (Museo español de antiguedades I 3). Michaelis Arch. Zeit. 1875 S. 107 hat das Verdienst, zuerst mancherlei verkehrten Aufstellungen gegenüber mit Entschiedenheit betont zu haben, daſs die drei schlafenden Erinyen eine selbständige Scene bilden und ganz an ihrem Platze sind. Nur die Beziehung des Beiles scheint ihm entgangen zu sein., oder neben der Grabesthür, in welcher der Schatten des Agamemnon steht24)Auf dem lateranensischen Sarkophag (Benndorf und Schoene 415, Garucci II, 1) und einem Fragment in Villa Albani., liegt schlafend eine Erinys, aber auch neben ihr das Beil der Klytaimnestra. Wenn Benndorfs ansprechende Kom - bination, daſs diese Sarkophage auf den Bildercyklus des Theon von Samos zurückgehen, das Richtige trifft, und ich halte sie in der That für sehr wahrscheinlich so haben wir auch den Urheber des ergreifend schönen Gedankens, daſs an dem Grabe des Gemordeten die Erinyen schlafen und die mörderische Waffe, das Symbol ungesühnten Verbrechens, als Mahnung zur Rache25)Auf derselben Empfindung beruht es, wenn Goethe, der allein unter allen deutschen Dichtern antik empfindet, in der Iphigeneia dichtet: Elektra habe den Orestes zu der Stelle geführt, wo der Vater gefallen sei, wo eine alte leichte Spur des frech - vergoss’nen Blutes oft gewaschnen Boden mit blassen ahndungsvollen Streifen färbte . neben ihnen liegt, bis der Rächer naht und sie erwachen. Nur wird man zur Rekonstruktion des Gemäldes die beiden TypenPhilolog. Untersuchungen V. 12178zusammennehmen müssen26)Dies deutet auch Michaelis a. a. O. S. 108 an, ohne sich jedoch be - stimmt zu entscheiden.: in der Grabthüre stand der Schatten des Agamemnon; auf und um den Grabhügel gelagert schliefen die drei Erinyen, in ihrer Mitte lag das Beil, als ob sie es be - wachten.

An dieser Stelle muſs auch der kleinen Berliner Kylix G gedacht werden. Klytaimnestra, das Beil in der Hand, eilt in groſser Aufregung auf eine Thüre zu die Thüre zu dem Bade - gemach, in dem Agamemnon weilt. Am Beil erkannte jeder antike Beschauer die Klytaimnestra, an ihrer wilden Bewegung, daſs sie im Begriffe stehe, das Verbrechen zu begehen; die richtige Deutung gab schon Millin; wenn Jahn an Merope, denkt, so kann ich ihm darin hier so wenig wie bei F beistimmen schon darum nicht, weil die Mythen der Herakliden in der Kunst wohl überhaupt nicht und in der Poesie erst vom Drama behandelt worden sind, und eine Einwirkung der Tragödie auf die Kunst und das Kunsthandwerk im 5. Jahrh. nach dem früher Bemerkten (Kap. IV) weder nachweisbar noch wahrscheinlich ist. Der attische Vasenmaler befolgte bewuſst oder unbewuſst die Version des Stesichoros.

Wenn wir die bisher einzeln als stesichoreisch erkannten Züge zusammenfassen, so würde sich als Inhalt der stesichoreischen Oresteia etwa das Folgende ergeben, das ich in der Form einer Hypothesis hersetzen will, wobei ich für jeden einzelnen Zug die Quelle beifüge.

Klytaimnestra hat Agamemnon mit einem Beile erschlagen (G, Aischylos, Sophokles); den kleinen Orestes hat seine Amme Laodameia den treuen Händen des Talthybios übergeben (fr. 41. Nicol. Damasc., Dictys, Sophokles, vielleicht Pindar), der ihn flüchtet (ob auch hier nach Phokis wegen Apollons?). Zehn Jahre sind ver - gangen, da träumt Klytaimnestra, daſs ein Drache mit blutigem Haupt sich ihr nahe, aber auf einmal ist’s kein Drache mehr, sondern ihr gemordeter Gatte, der sich aufs Neue ihr vermählt; sie gebiert einen Drachen, aber als sie ihm die Brust reicht, trinkt er Blut179 mit der Milch (fr. 42, Aischylos, Sophokles). Erschreckt erwacht Klytaimnestra und sendet, da sie selbst nicht zu gehen wagt, Elektra mit einer Totenspende zum Grabe des Agamemnon (Aichyl. Soph. Eur. melisches Relief), die alte Amme des Orestes Laodameia begleitet sie (fr. 40. melisches Relief). Als Elektra traurig am Grabe ihres Vaters sitzt, naht ein Jüngling und ein alter Mann, Orestes und Talthybios (melisches Relief). Talthybios und Laodameia erkennen sich und führen das Wiedererkennen der Geschwister herbei (Euripides in freier Umgestaltung, ähnlich Sophokles), Orestes zieht sein Schwert und weiht es am Grabe des Vaters zum Rachewerk ein (zweites melisches Relief, Nach - klänge bei Sophokles und Euripides), Orestes dringt in das Gemach27)Unter welchem Vorwand gelangte bei Stesichoros Orestes in den Palast und zu Aigisthos? Da auf allen Vasen auſser D Elektra gegenwärtig ist und zwar hinter dem Stuhl des Aigisthos steht, während Klytaimnestra erst hereingeeilt kommt, so liegt die Vermutung nahe, daſs nach der Meinung der Vasenmaler und also auch wohl nach der Dichtung des Stesichoros Elektra es ist, die den Orestes als unbekannten Fremdling zu Aigisthos geführt hat. Vielleicht gab sie vor, daſs er eine Nachricht bringe, vielleicht sogar die - selbe, wie bei Aischylos und Sophokles, die fingierte von seinem eigenen Tod. Auffallend und schwerlich zufällig ist es, daſs Orestes zweimal, auf A und B, gerüstet erscheint; denn Gedankenlosigkeit des Vasenmalers ist bei der sorgfältigen und durchdachten Komposition kaum anzunehmen; gab etwa Orestes vor, daſs er aus der Schlacht komme und dort den Tod des Orestes gesehen habe? oder gar, daſs er selbst ihn erschlagen habe? So heiſst es bei Hygin. fab. 119 von Orestes: dicitque se Aeolium hospitem esse nuntiatque Orestem esse mortuum quem Aegisthus populo necandum demandaverat; und daſs auf den Kopf des Orestes von Aigisthos ein Preis gesetzt worden sei, findet sich auch in der Elektra des Euripides V. 33. Wilamowitz vermutet ansprechend, daſs das Motiv aus dieser Sage durch Euripides auf die Kres - phontes-Sage übertragen worden sei., während Talthybios drauſsen Wache hält, und ermordet den Aigisthos, der auf dem Thron des Agamemnon sitzt28)Auch auf diesen stesichoreischen Zug hat Aischylos eine Anspielung, die gewiſs jeder antike Hörer verstand. Zwar wird bei ihm Aigisthos erst herbeigerufen und empfängt den Todesstoſs, als er ins Gemach tritt; aber vorher, als Orestes dem Chor seinen Plan mitteilt, sagt er V. 558:εἰ δ̕ οὖν ἀμείψω βαλὸν ἑρκείων πυλῶν κἀκεῖνον ἐν ϑρόνοισιν εὑρήσω πατρός,. 12*180Klytaimnestra eilt dem Aigisthos zu Hilfe mit demselben Beil, mit dem sie einst Agamemnon erschlagen hat; ein Zuruf der Elektra warnt den Orestes, aber schon hat Talthybios die Klytaimnestra ergriffen und hält ihre Arme fest (A F). Der Muttermord muſs hierauf unmittelbar gefolgt sein.

Von dem weiteren Verlauf wissen wir nur so viel, daſs die Erinyen den Orestes verfolgten und daſs dieser sich gegen sie mit dem ihm von Apollo geschenkten Bogen verteidigte. Ob Pylades erwähnt war, wissen wir nicht; da er auf den Vasenbildern fehlt denn den bärtigen Mann auf D dürfen wir jetzt unbedenklich Talthybios nennen ist es wahrscheinlich, daſs er auch bei Stesichoros nicht vorkam, zumal er neben Talthybios überflüssig war. Die Tragiker haben ihn aus den Nosten beibehalten, wie Aischylos die Kassandra aus der Odyssee29)Aus der Odyssee hat Aischylos bekanntlich auch den φύλαξ, der den Prolog spricht:Θεοὺς μὲν αἰτῶ τῶνδ̕ ἀπαλλαγὴν πόνων φρουρᾶς ἐτείας μῆκος,und später 36βοῦς ἐπὶ γλώσσῃ μέγας βέβηκεν:vgl. δ 524τὸν δ̕ ἄρ̕ ἀπὸ σκοπιῆς εἶδε σκοπός, ὅν ῥα καϑεῖσεν Αἴγισϑος δολόμητις ἄγων· ὑπὸ δ̕ ἔσχετο μισϑόν χρυσοῦ δοιὰ τάλαντα· φύλασσε δ̕ γ̕ εἰς ἐνιαυτόν. Aristophanes von Byzanz sagt freilich: Θεράπων Ἀγαμέμνονος προλογιζόμενος, οὐχὶ ὑπὸ Αἰγίσϑου ταχϑείς, was aber die Herleitung des Motivs nicht aus - schlieſst.. Keine auch noch28) καὶ μολὼν ἔπειτά μοι κατὰ στόμα ἀρεῖ, σάφ̕ ἴσϑι, καὶ κατ̕ ὀφϑαλμοὺς βαλεῖ, πρὶν αὐτὸν εἰπεῖν· ποδαπὸς ξένος; νεκρὸν ϑήσω, ποδώκει περιβαλὼν χαλκεύματι. Was bei Stesichoros nach unserer Vermutung als wirklich geschehen berichtet ward und was wir auf den Vasen dargestellt sehen, erwähnt Aischylos als bloſse Möglichkeit. Es ist genau derselbe Fall, wie der oben bei Vers 882 konstatierte. Zur Änderung mochte Aischylos unter Anderem durch die Er - wägung bewogen werden, daſs ein auf dem Throne sitzender König von Waffenträgern umgeben sein müsse, die des Orestes That hindern würden. Deshalb wird V. 749 753 Sorge dafür getragen, daſs Aigisthos allein und ohne δορυφόροι dem Orestes gegenüber trete.181 so schwache Spur führt uns zu einer Hypothese über die schlieſs - liche Lösung. Daſs wir die attische Tradition von dem Gericht auf dem Areopag bei Stesichoros nicht suchen dürfen, bedarf kaum der ausdrücklichen Erwähnung; aber dieselbe hat später haupt - sächlich durch die Eumeniden des Aischylos eine solche Allein - herrschaft in der poetischen und künstlerischen Phantasie erhalten, daſs alle früheren Behandlungen vergessen sind. Nur vermuten dürfen wir, daſs Stesichoros sich enger an die peloponnesische Lokal - sage anschloſs, die den Orestes dahin gelangen läſst, wo er gewiſs ursprünglich zu Hause ist, nach der Parrhasia zur Stadt Orestheia, wo er im Heiligtum der Artemis Ἱέρεια vor den Erinyen Schutz findet30)Wenigstens in einer Note mag folgende Kombination einen Platz finden. Am Schlusse des euripideischen Orestes befiehlt Apollo 1643 f. σὲ δ̕ αὖ χρεών, Ὀρέστα, γαίας τῆςδ̕ ὑπερβαλόνϑ̕ ὅρους Παρράσιον οἰκεῖν δάπεδον ἐνιαυτοῦ κύκλον. κεκλήσεται δὲ σῆς φυγῆς ἐπώνυμον Ἀζᾶσιν Ἀρκάσιν τ̕ Ὀρέστειον πέδον (Valckenaer. καλεἵν d. Hdschr.). ἐνϑένδε δ̕ ἐλϑὼν τὴν Ἀϑηναίων πόλιν δίκην ὑπόσχες αἵματος μητροκτόνου Εὐμενίσι τρισσαῖς κτλ. Der sehr unterrichtete Scholiast bemerkt, daſs diese einjährige Verbannung nach der Parrhasia nur bei Euripides sich finde (ἰδίως Εὐριπίδης ἐνιαυτίσαι τὸν Ὀρέστην ἐκεῖ φησίν), während er sonst entweder überhaupt dort bleibe oder erst später nach dem Gericht auf dem Areopag dorthin gelange. Mir scheint dies doppelte Motiv nicht glücklich und eher störend. Man versteht nicht, wozu erst das Jahr Verbannung, bevor die Anrechte der Erinyen auf dem athenischen Areopag geprüft sind. Es ist sehr wahrscheinlich, daſs Euripides hier zwischen zwei Versionen vermittelt, der attischen einerseits und der peloponnesischen andererseits. Aber welche Veranlassung konnte ein attischer Dichter haben, vor einem attischen Publikum, dem die heimische Tradition noch durch Aischylos besonders vertraut war, der peloponnesischen überhaupt zu gedenken? Ich denke, das erklärt sich, wenn sie in einer Dichtung vorkam, welche dem attischen Publikum lieb und vertraut war, und an die der Dichter selbst sich bei der Abfassung des Stückes anlehnt. Beides trifft für die Oresteia des Stesichoros zu. Auch mag darauf hin - gewiesen werden, daſs der Schauplatz des stesichoreischen Gedichtes Lake - (Pherekydes im schol Eur. Orest. 1645. vgl. Pausan. VIII182 44, 2) und später als siebzigjähriger Greis durch den Biſs einer Schlange getötet wird (Asklepiades im schol. Orest. 1. 1.).

Für einen früheren Moment hingegen bietet vielleicht die Notiz einen schwachen Anhalt, daſs im zweiten Buch der Oresteia Palamedes erwähnt war (Bekker Anecd. II 783, 14. Stesichoros fr. 31 Bergk). So wenig ich verkenne, wie trügerisch im Allgemeinen Schlüsse sind, die sich auf eine solche gelegentliche und lakonische Notiz stützen, und so gern ich zugebe, daſs gerade in einem lyrischen Gedicht Personen Mythen Gegenstände aller Art erwähnt sein konnten, die mit dem eigentlichen Gang der Handlung gar Nichts zu thun haben, so scheint mir doch in diesem Falle geboten, wenigstens auf eine Möglichkeit hinzuweisen, in welchem Zusammen - hang Palamedes erwähnt gewesen sein könne. Das Schicksal des Palamedes und sein schmählicher Untergang vor Ilion wird all - mählich in eine enge Verbindung gesetzt mit dem Verderben Agamemnons und seines Hauses. Wie sicher bei Sophokles, vielleicht schon in den Nosten Nauplios es ist, der, um seinen Sohn zu rächen, den Schiffbruch bei den kaphareischen Felsen, sei es herbeiführt, sei es ausnutzt, so finden wir in der späteren Poesie und Kunst seine Söhne Oiax und Nausimedon als Gegner des Orestes auf Seiten des Aigisthos und der Klytaimnestra.

Auf einem in dem später als Pinakothek verwandten Nord - flügel der Propyläen befindlichen Gemälde war dargestellt (Paus. I 22, 6) Ὀρέστης Αἴγισϑον φονεύων καὶ Πυλάδης τοὺς παῖδας τοὺς Ναυπλίου βοηϑοὺς ἐλϑόντας Αἰγίσϑῳ. Es darf heute wohl als sicheres Resultat der Forschung31)Daſs der unfertige Zustand der Wände der Pinakothek jeden Ge - danken an Wandgemälde ausschlieſst, hat schon Ivanoff (Ann. d. Inst. 1861 S. 278) konstatiert und Leop. Julius (Mitt. d. athen. Instituts II S. 192) aufs Neue hervorgehoben; die in jenem Gemach befindlichen Bilder müssen also Tafelbilder gewesen sein. Dies zeigt auch schon der Name dieses Gebäude - betrachtet werden, daſs dies30)daimon ist (schol. Eurip. Orest. 46), also für Orestes die Flucht nach der Parrhasia besonders nahe liegt. Gelegentlich mag bemerkt werden, daſs die Ausführung des Pausanias VIII 34, 4, wie die jetzt ganz in der Luft schwebende Erwähnung des Tyndareos beweist, augenscheinlich auch aus einem Kommentar zu unserer Stelle des Orestes stammt.183 Gemälde so wenig wie irgend eines der übrigen in der Pinakothek be - findlichen Tafelbilder mit Polygnotos etwas zu thun hat, daſs vielmehr die beiden einzigen Gemälde, die Pausanias an jener Stelle als von Polygnotos herrührend erwähnt, Achill auf Skyros und Odys - seus bei Nausikaa, sich gar nicht in der Pinakothek befanden, sondern nur als Beispiele für die Abhängigkeit oder Abweichung der bildenden Kunst von Homer erwähnt werden, eine Frage, die vermutlich in der Quelle des Pausanias noch ausführlicher erörtert war. Wir kennen also weder den Maler noch die Ent - stehungszeit des erwähnten Bildes; eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daſs es nicht älter ist, als die Vollendung der Propyläen (Ol. 86, 4. 433), zumal es kein eigentliches Votivgemälde gewesen zu sein scheint. Denn bei einem solchen wäre allerdings der Fall denkbar, daſs es ursprünglich etwa im Parthenon auf - gestellt gewesen, dann aber, als dort der Raum zu enge war, in einem besonderen Raum der Propyläen untergebracht worden wäre, die ja auch, wie überhaupt die ganze Burg, der Athena heilig waren. So kann das Gemälde ebenso wohl in dem vierten ja in einem noch späteren Jahrhundert gemalt worden sein, als in den letzten Jahrzehnten des fünften: an einen Zusammenhang, der an der Spitze dieses Kapitels aufgezählten Vasen mit diesem31)teils Πινακοϑήκη, ein Indicium, das Viele, vor allem der hochverdiente Letronne, mit Unrecht abschwächen wollten. Ist es nun denkbar, daſs Polygnot Tafelbilder gemalt hat? Tafelbilder, die durchaus Votivgemälde waren, allerdings; so gut wie Aglaophon die eben in der Pinakothek be - findlichen Votivgemälde für Alkibiades. Aber auch Tafelbilder mythologischen Inhalts? Ich denke, wenn man nicht jede Entwickelungsgeschichte der griechischen Malerei leugnen und unseren Quellenschriftstellern allen Glauben absprechen will, muſs dies unbedingt verneint werden. Denn wie will man die Notiz über Apollodor von Athen (Plin. 35, 60) neque ante eum tabula ullius ostenditur quae teneat oculos mit dem Ruhm und der Gröſse Polygnots in Einklang bringen, wenn auch dieser Tafelbilder gemalt hat? Die that - sächlichen Verhältnisse haben hier bestätigt, was Gottfried Hermann (Opusc. V 207) durch einfache philologische Interpretation der Stelle des Pausanias längst festgestellt hatte, ohne, wenigstens bei der archäologischen Forschung den verdienten Glauben zu finden, daſs die Bilder des Polygnot nicht als in der Pinakothek befindlich, sondern nur als Beispiele angeführt werden.184 Gemälde zu denken, wie man wohl gethan hat, ist nach dem Gesagten schlechterdings unmöglich.

In der erhaltenen Litteratur begegnet uns die Spur einer ähnlichen Version zuerst im Orestes des Euripides; in dem Gespräch zwischen Menelaos und Orestes entgegnet dieser auf die Frage V. 431

τίνες πολιτῶν ἐξαμιλλῶνταί σε γῆς;

mit den Worten

Οἴαξ, τὸ Τροίας μῖσος ἀναφέρων πατρί,

und Menelaos versteht sofort den Beweggrund seines Handelns

ξυνῆκα ·Παλαμήδους σε τιμωρεῖ φόνου.

Hier erscheint also Oiax als der eigentliche Gegner des Orestes, der die Rache für Klytaimnestra übernimmt und auf Ver - bannung des Orestes dringt, und so, meine ich, könnte sehr wohl Stesichoros gedichtet haben und die Erwähnung des Pala - medes im zweiten Buch, also offenbar einer späteren Partie, fände ihre Erklärung. Wenn es feststände, daſs die citierte Stelle wirklich von Euripides herrührte, so hätten wir abermals eine Anlehnung an Stesichoros, wie sie in demselben Stück für V. 268 bezeugt und von uns für V. 1645 vermutet worden ist (s. Anm. 31). Doch kann ich nicht verhehlen, daſs die offenbaren Widersprüche, welche die Verse 431 438 nicht bloſs gegen das übrige Stück, sondern gegen die unmittelbar vorhergehenden und folgenden Fragen und Antworten enthalten, mir so stark erscheinen, daſs sie selbst durch die vorausgesetzte Beziehung auf die Oresteia des Stesichoros nicht entschuldigt werden und daſs an dem Ver - dacht nicht-euripideischen Ursprungs festgehalten werden muſs32)S. den Excurs: Euripides Orestes 431 438.; natürlich haben wir es mit einer ursprünglich an den Rand ge - schriebenen Parallelstelle aus einem anderen Stück zu thun; denn ein Interpolator, der die Verse erst dichtete, würde sich wohl genauer an den Inhalt des ächten Gespräches angeschlossen185 haben; auch wäre die Absicht, die er mit dieser Erweiterung verband, absolut unerfindlich. Die spätere Poesie scheint die Gestalt des Oiax noch mehr ausgebildet und ihn namentlich in ein nahes Verhältnis zu der Tochter des Aigisthos Erigone ge - setzt zu haben33)Dies scheint der Fall zu sein in dem Dulorestes des Pacuvius und also auch dem vorauszusetzenden griechischen Original desselben. Bekannt - lich hat O. Jahn (Hermes II 229) nachgewiesen, daſs der Inhalt dieses Stückes die Ermordung des Aigisthos sei, und den Gang der Handlung, nament - lich auch die Rolle des Oiax, im Ganzen endgültig festgestellt. Ribbecks abermalige reifliche Erwägung des sehr unsicheren Materials (Röm. Trag. S. 239) hat den Gegenstand nicht gefördert. Nur in einem Punkte muſs ich von O. Jahn abweichen. An dem Tage, an welchem das Stück spielt, soll eine Hochzeit gefeiert werden fr. I. II. ; O. Jahn glaubt zwischen Oiax und Elektra. Aber ist es glaublich, daſs Aigisthos und Klytaimnestra dem gefährlichen auf Rache sinnenden Mädchen solchen Gatten geben sollten? Vergebens müht man sich, ein solches Verfahren zu motivieren. Nein, nicht Elektra, sondern Erigone, die Tochter des Aigisthos und der Klytaimnestra (Hyg. fab. 122), ist die Braut. Denn daſs die Ehe des Aigisthos und der Klytaimnestra kinderlos gewesen sei, braucht doch nicht notwendig, wie Ribbeck will, aus fr. XV zu folgen. Die Worte vel cum illum videas sollicitum orbitudine können, wenn wir denn einmal mit bloſsen Möglich - keiten operieren wollen, beispielsweise auch der groſsen Streitscene zwischen Elektra und Klytaimnestra, in die ja auch fr. VII (vgl. Soph. Elektr. 552 555) gehört, zugeteilt und auf die traurige elternlose Jugend des Orestes bezogen werden; vgl. Soph. Elektr. 601 δ̕ ἄλλος ἔξω χεῖρα σὴν μόλις φυγών τλή - μων Ὀρέστης δυστυχῆ τρίβει βίον. Man wird ferner zugeben, daſs fr. IIgnatam despondit, nuptiis hanc dat diempassender von Aigisth und Erigone als von Aigisth und Elektra gesagt werde. Endlich darf auf den wirkungsvollen Gegensatz zwischen der glücklichen Erigone und der einsamen Elektra hingewiesen werden; letzterer gehört viel - leicht fr. I hymenaeum fremunt aequales aber ich habe keinen Teil an der Festfreude , wie man den Gedanken ergänzen könnte.. Auf einem römischen Sarkophag, der von den übrigen Orestessarkophagen unabhängig eine eigene Klasse repräsentiert, eilt Erigone dem Aigisthos, Oiax der Klytai - mnestra34)Ich meine den Sarkophag Lezzani (Visconti Museo Pio-Clementino V A M. d. I. VIII tav. XV), dessen Darstellungen zuerst Benndorf richtig auf - gefaſst hat. Die Scene links zeigt die Ermordung des Aigisthos, die Haupt - zu Hilfe.

186

Wenden wir von diesen unsicheren Versuchen, für die Rekon - struktion der letzten Hälfte des stesichoreischen Gedichtes Anhalts - punkte zu gewinnen, den Blick auf das Ganze, wie wir es als die eigentlich maſsgebende poetische Behandlung des Stoffes vor dem attischen Drama und voll des weitgreifendsten Einflusses auf dieses selbst und die Kunstdarstellungen nachzuweisen gesucht haben, so wird man den Eindruck gewinnen, daſs wir es mit einer epochemachenden dichterischen Erscheinung zu thun haben, der sich an Einfluſs auf die Sagenvorstellung des ganzen helle - nischen Volkes nur wenige an die Seite stellen können. So hoch ich nun die freie dichterische Schöpfung gerade des Stesichoros anschlagen zu müssen glaube, und so kühn und rücksichtlos derselbe auch nachweislich sonst mit der volkstümlichen und poetischen Tradition gebrochen hat, so wird es mir doch in diesem Falle schwer, mir die ungeheure Umgestaltung des Stoffes, wie sie die stesichoreische Oresteia den homerischen Gedichten gegenüber darstellt, als das Werk eines einzigen Mannes vorzustellen, wenn nicht wenigstens hier und da in dem Volksbewuſstsein und in der späteren epischen Poesie sich eine solche Umwandlung vorbereitet34)gruppe nach demselben Typus, wie auf den rotfigurigen attischen Vasen, ein Umstand, auf welchen schon oben (Anm. 16) hingewiesen wurde; allein an Stelle der Klytaimnestra erscheint ein Mädchen mit Haube, das statt des Beiles einen Fuſsschemel gegen Orestes schwingt. Sie für Klytaimnestra zu halten, ver - bietet teils ihre zu groſse Jugendlichkeit, teils der Umstand, daſs diese in der zweiten Scene in ganz anderer Gewandung erscheint. Dies sah Benndorf, begnügte sich jedoch, die Figur allgemein als una partigiana di Egisto zu bezeichnen. Nach dem im Text Bemerkten wird man gewiſs der Benennung Erigone eine gröſsere Probabilität nicht absprechen können. Ebenso kommt in der Scene rechts der niedergesunkenen Klytaimnestra ein nackter Jüng - ling, der in den erhobenen Händen ein Gefäſs schwingt, zu Hilfe; un servo nach Benndorf. Allein für einen solchen erscheint die Figur doch zu sehr hervorgehoben; auch pflegen Sklaven, wie der auf den übrigen Orestes - sarkophagen, mit der Exomis dargestellt zu werden; Nacktheit hingegen deutet immer den vornehmen heroischen Jüngling an. Man wird deshalb die Deutung auf Oiax vorziehen. Ein seltsames Zusammentreffen ist es aller - dings, daſs auf den etruskischen Urnen in derselben Stellung, wie hier Erigone und gleichfalls mit einem Schemel bewaffnet, Klytaimnestra bei der Ermordung des Agamemnon erscheint (Brunn, Urne etrusche LXXIV).187 hatte. Der Schwerpunkt dieser Veränderung scheint mir in der Umgestaltung der Charaktere der Klytaimnestra, die zur Gatten - mörderin, und des Orestes, der zum Muttermörder wird, zu liegen; und ähnliche Wandlungen erfährt auch der Mythos von der Vorge - schichte des Atridenhauses, die ja überhaupt erst in der Zeit des ab - sterbenden Epos im Einzelnen ausgebildet worden ist. Während die Ilias bekanntlich weder von einer Einwanderung des Geschlechtes35)Das wird wohl heute allgemein zugestanden: von Hermes hatte Pelops das Szepter erhalten, nicht also die Herrschaft usurpiert, und wie wäre es denkbar, daſs in dem ganzen homerischen Epos niemals darauf hingewiesen würde, daſs der Schauplatz des Krieges der alten Heimat des Atridengeschlechts nahe liegt, wenn die Sage von der Einwanderung des Pelops dem Sänger und dem Hörer bekannt gewesen wäre. Und Oinomaos und Hippodameia? Dem homerischen Epos sind sie bekanntlich fremd, und wenn ich die dürftigen, aber laut genug sprechenden Reste einer von der vulgären Anschauung ab - weichenden älteren Überlieferung richtig deute, so gehören beide ursprüng - lich nach Lesbos, und nach der ältesten Sagenversion freite nicht der lydische Ankömmling Pelops die einheimische peloponnesische Königstochter Hippo - dameia, sondern der einheimische Herrscher von Argos, Pelops, raubte sich aus dem fernen Lesbos die Braut. Die freilich ziemlich jungen Münchener Scholien zum Orestes 990 nennen Oinomaos König von Lesbos. Auf Lesbos liegt Killa und das Heiligtum des Apollo Killaios, Stätten, die zur Er - dichtung des Wagenlenkers des Pelops, Killos, Veranlassung gegeben haben, und deren Gründung dann umgekehrt die aus dem Theopompos erhaltene lokale Stiftungssage mit dem Tod dieses Killos in Verbindung bringt (schol. Il. Α 38). Die Stätte, an welcher die eigentliche Katastrophe, der Tod des Myrtilos, haftet, das Vorgebirge Geraistos an der Südspitze von Euboia, liegt weit ab von Elis, auch dem Isthmos, der später das Endziel der Wett - fahrt ist, nicht allzu nahe, aber für den, der auf geradem Wege von Argos nach Lesbos oder von Lesbos nach Argos gelangen will, ist es unver - meidlich. In Poesie und Kunst hat Pelops von Poseidon göttliche Rosse, die über das Meer laufen können (Cic. Tusc. II 27, 67), auch auf dem Kypseloskasten geflügelt dargestellt waren. Die wirklich alte gute Sage pflegt mit solchen wunderbaren Motiven äuſserst ökonomisch zu verfahren; sie erdichtet sie nur dann, wenn sie wirklich nötig sind. Wenn daher die Rosse des Pelops, sei es vermöge der Beflügelung, sei es vermöge einer ihnen von Poseidon eigens verliehenen Wundergabe, über das Meer laufen können, so muſs Pelops mit ihnen auch wirklich über das Meer gefahren sein, wie es ja auch die herrliche Vase von Arezzo (M. d. I. VIII taf. 3) darstellt, und auch, wie dort, mit Hippodameia. Man hat diese Abweichungen von der188 noch von einer Feindschaft zwischen Atreus und Thyestes weiſs, sondern nur von einer ruhigen Herrscherfolge, in welcher sich das Szepter, das einst Hermes dem Ahnherrn Pelops verliehen hat, friedlich vom Vater auf den Sohn, vom Bruder auf den Bruder vererbt, erscheint in der Mythengestaltung, die das attische Drama bereits zeitig übernimmt, das Geschlecht der Pelopiden als das fremde zugewanderte, das sich durch Verrat der Herrschaft bemächtigt hat und dessen Geschichte eine Reihe von Frevlern und eine Häufung von Gräueltaten aufzuweisen hat, wie sie sich sonst nur bei dem Labdakidenhause, dort aber schon in der ältesten Sagenform, finden. Mir scheint, dies ist Alles so ausgesprochen tendenziös gefärbt, daſs es nicht zweifelhaft sein kann, welchem Stamm und welcher Zeit diese Umbildung angehöre. Die alten Sagen, wie sie die Tisameniden auf Lesbos von ihren Ahnherrn, die für sie ob mit Recht oder Unrecht, das zu erörtern, muſs mir hier ganz fern liegen die alten Herren von Mykene und Sparta waren, erzählten, die Sagen, die in der Form, welche ihnen der ionische Heldensang gab, bald Gemeingut von ganz Hellas wurden, muſsten dem dorischen Einwanderer, der auf denselben von Sage und Lied verherrlichten Stätten saſs, ein Dorn im Auge sein. Die peloponnesischen Dorer sind es, in deren Sagen immer neue Schmach auf das Haus der Pelopiden gehäuft wird, während gleichzeitig die Mythen von Herakles in immer hellerem Lichte strahlen. Schon in den späteren Partien der Ilias macht sich dieser Einfluſs, der hier offenbar von der dorischen Hexapolis ausgeht, geltend: lange vor Agamemnon hat schon Herakles Troia erobert; die stolze Herrin des goldreichen Mykene, die Schützerin der Atriden, Herakles hat sie verwundet; und so dichtet die Sage35)späteren Vulgärsage längst erkannt, aber der Versuch sie dadurch zu er - klären, daſs Pelops mit der Hippodameia nach Lydien zurückgekehrt sei, steht auf derselben Stufe, wie der des Theopomp die lesbische Tradition durch die Fabel zu erklären, daſs Killos auf der Reise von Lydien nach Argos umgekommen sei. Es versteht sich, was auch schon von Anderen ge - bührend hervorgehoben ist, daſs es sich ursprünglich um einen Brautraub handelt, bei dem Myrtilos verräterischer Weise hilft, und daſs die Umwandlung zu einem Wettrennen erst in Olympia entstanden ist.189 fort und fort, bis es dahin kommt, daſs selbst der tapferste der Neliden, der kühne Argonaut und starke Schützer von Theben Periklymenos, dem Herakles unterliegt und gar der alte Tyndareos seine Herrschaft nur der Groſsmut des Herakles verdankt. Den poetischen Niederschlag dieser Umbildung und Neubildung ent - hielten die geneologischen Epen des Hesiod; ob durch Vermitte - lung der schon erwähnten kleinasiatischen Dorer, wie Wilamowitz scharfsinnig vermutet, mag hier unentschieden bleiben. An Hesiod aber knüpft, bald zustimmend, bald abweichend, unmittelbar Stesichoros an, und in diesem höheren Sinne hat die doch wohl peripatetische Legende, die ihn einen Sohn des Hesiodos nennt, vollkommen Recht. Dem Hesiod entnimmt Stesichoros z. B. die Sage vom Fluch, den Aphrodite aus Zorn darüber, daſs Tyndareos ihrer beim Opfer vergessen, auf seine drei Töchter legt, dem Fluch, in Folge dessen sie ihre Gatten ver - lassen und dem Verführer folgen; so geht Timandra von Echemos weg zu Phyleus man beachte: von dem einheimischen arka - dischen Herrscher, dem Feind der Herakliden, von dessen Hand Hyllos fällt (Paus. VIII 5. vgl. Apollod. III 10, 6), zu Phyleus dem Augeiassohn, dem Freund des Herakles, dem Liebling der olympischen Götter, wie Hesiod nachdrücklich hervorhebt, und so bricht Klytaimnestra dem Agamemnon, Helena dem Mene - laos die Treue (schol. Eur. Orest. 249 = Hesiod. fr. 112 Kink. Stesichoros fr. 35). Von Hesiod weicht Stesichoros ab z. B. im Kyknos (vgl. das Hypothesisfragment des stesichoreischen Kyknos in den Scholien zu Pind. Ol. X 19. Fr. 12 mit der er - haltenen Ἀσπίς); aber er unterläſst nicht ausdrücklich die Ab - weichung zu markieren, das schlieſse ich aus den Worten der Hypothesis der hesiodeischen Ἀσπίς: ὡσαύτως δὲ καὶ Στησίχορός φησιν Ἡσιόδου εἶναι τὸ ποίημα. Denn wo anders sollte sich diese Erwähnung haben finden können als im Kyknos, und wie anders ist sie zu erklären, als dadurch daſs Stesichoros auf die abweichende Behandlung des Hesiod Bezug nahm und dieselbe kritisierte? Daſs nun im Κατάλογος des Hesiod wie überhaupt die Geschichte des Atridengeschlechtes so auch die Ermordung des Aigisthos erzählt war, ist von vorne herein wahrscheinlich und wird durch190 die Fragmente 108. 111. 113 bei Marckscheffel (112. 115. 116 Kinkel) bestätigt, Fragmente, die freilich zu dürftig sind, um über die Version ein Urteil zu gestatten. Doch scheint es immerhin bedeutsam, daſs Aerope als Gemahlin des Atreus und ihr Sohn Pleisthenes in die Königsliste eingeschoben waren, auch bei Stesichoros heiſst Agamemnon Πλεισϑενίδας, denn beide Personen werden immer genannt, wenn von den Gräueln des Pelopidenhauses die Rede ist; sie scheinen gleichzeitig mit der oben erwähn - ten dorischen Umgestaltung der Sage in die Genealogie dieses Geschlechtes eingefügt worden zu sein. Andererseits deutet die Erwähnung der Mutter des Pylades, der Anaxibia, als Schwester des Agamemnon und des Menelaos auf die Einführung des Freundschaftsverhältnisses von Orestes und Pylades hin, einen Punkt, in welchem Stesichoros, wenn die oben vorgetragene Ver - mutung richtig ist, von Hesiod abwich.

Wenn ich es nach dem Gesagten für sehr wahrscheinlich halten muſs, daſs gewisse allgemeine Züge der stesichoreischen Oresteia schon bei Hesiod sich fanden und daſs Stesichoros auch in diesem Gedicht in eine bewuſste Abhängigkeit von seinem Vorgänger trat, so fürchte ich nicht, andererseits dem Einwand zu begegnen, daſs unter dieser Voraussetzung ja auch das Gedicht des Hesiodos es gewesen sein könnte, welches auf das attische Drama und die attischen Vasen sowie auf das melische Relief vorzugsweise be - stimmend eingewirkt hätte; denn solche Züge, wie das Wiedersehen der Geschwister am Grabe, Züge, die für die poetische und künst - lerische Tradition gerade vorzugsweise bestimmend geworden sind, kann man sich im Ramen des geneologischen Epos nur schwer denken, sie weisen auf eine mächtig und eigenartig gestaltende Dichterinduvidualität hin und scheinen gerade für die Lyrik eines Stesichoros besonders passend.

Fragen wir nun, indem wir zum Schluſs wieder zum Ausgangs - punkt unserer Betrachtung, den attischen Vasen, zurückkehren, in welcher Zeit der dort vorliegende bildliche Typus geschaffen worden ist, so läſst sich eine sichere Antwort darauf nicht geben. Konstatiert muſs werden, daſs auf schwarzfigurigen Vasen der Typus sich bis jetzt noch nicht gefunden hat; das kann Zufall191 sein, allein, beachtet man die ächt dramatische, auf einen Moment der höchsten Krisis koncentrierte Komposition, so wird man der Ansicht einen gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit zuerkennen müssen, daſs der Typus diesen Charakter nicht erst nachträglich bekommen, sondern von Anfang an gehabt hat, mit andern Worten, daſs seine Schöpfung dem fünften Jahrhundert angehört und mit der Thätigkeit der polygnotischen Schule in Verbindung gebracht werden darf.

[192]

EXCURS I.

DIE LAOKOONSAGE.

Der Mythos von dem Tode des Laokoon und seiner beiden Söhne, der heute, Dank der vatikanischen Gruppe, zu den populärsten Sagen gehört, scheint sich im Altertum keineswegs der gleichen Beliebtheit und Verbreitung erfreut zu haben; wie es keine bildliche Darstellung desselben giebt, die mit Sicherheit für älter zu halten wäre, als Vergil, so sind auch die Er - wähnungen desselben in der Litteratur recht vereinzelt und dürftig. Es erscheint, namentlich einigen neueren Besprechungen gegenüber, nicht überflüssig, das Wenige, was sich über die Ent - wickelungsgeschichte des Mythos erkennen läſst, hier in Kürze zusammenzustellen.

Die älteste Erwähnung des Mythos in der Litteratur ist die bei Arktinos; in der Inhaltsangabe des Proklos heiſst es: τρα - πέντες δὲ εἰς εὐφροσύνην εὐωχοῦνται ὡς ἀπηλλαγμένοι τοῦ πολέ - μου· ἐν αὐτῷ δὲ τούτῳ δύο δράκοντες ἐπιφανέντες τόν τε Λαο - κόωντα καὶ τὸν ἕτερον τῶν παίδων διαφϑείρουσιν· ἐπὶ δὲ τῷ τέρατι δυσφορήσαντες οἱ περὶ τὸν Αἰνείαν ὑπεξῆλϑον εἰς τὴν Ἴδην1)Daſs Tzetzes zu Lykophron 344 und Posthom. 714 den Proklos ausschreibt, also als selbständiger Zeuge nicht in Betracht kommt, würde ich nicht er - innern, wenn nicht Welcker, Griech. Trag. S. 155 und Stark, Arch. Zeit. 1879 S. 169 auf diese Stellen Gewicht zu legen schienen; von Eudokia p. 31 ganz zu geschweigen.. Charakteristisch ist an dieser Fassung vor Allem die193 Verbindung von Laokoons Tod mit dem Auszug des Aineias, und diese Verbindung war auch augenscheinlich für die Form der Sage bestimmend; denn das τέρας symbolisiert das Schicksal Troias und des Geschlechtes des Tros; wie Laokoon und sein einer Sohn untergeht, so auch Troia und das Geschlecht des Priamos, d. h. der auf Ilos, den ältesten Sohn des Tros, zurück - gehende Zweig; aber wie der jüngere Laokoonsohn gerettet wird, so zieht, durch das τέρας gewarnt, Aineias und sein Geschlecht, d. h. der auf Assarakos, den jüngeren Sohn des Tros, zurück - gehende Zweig, aus der Stadt aus und wird gerettet. Ent - sprechend der Zahl der Opfer werden zwei Schlangen eingeführt. Ob und in welcher Weise Arktinos den geretteten Laokoontiden verwante, ob er ihn mit Aineias ausziehen oder in der Nykto - machie umkommen lieſs, entzieht sich unserer Kenntnis, und ist auch im Grunde ziemlich gleichgültig. Das Wesentliche ist, daſs die ganze Episode nur um des Aineias Willen eingefügt gewesen zu sein scheint, es ist deshalb weder notwendig noch nach der Verfahrungsweise des Epos wahrscheinlich, daſs der Untergang des Laokoon durch eine von ihm begangene Schuld noch beson - ders motiviert war.

Nach langem Zwischenraum finden wir die Sage dann wieder bei Bakchylides; wir lesen darüber in den vortrefflichen Vergil - scholien des Fuldensis zur Aen. II 201: Sane Bacchylides de Lao - coonte et uxore eius vel de serpentibus a Calydnis insulis venientibus atque in homines conversis dicit, Worte, die, so kaum verständlich, erst im Verlauf der Untersuchung Licht er - halten werden.

Wir gehen deshalb gleich zum Laokoon des Sophokles über, einem Stück, von dem kürzlich vermutet worden ist, daſs es das Dramatische des Stoffes aus der epischen Erzählung poetisch einheitlicher und abgeschlossener herausgehoben und den bildenden Künstlern gewissermaſsen vorgebildet, dazu die Sage ethisch tiefer begründet haben möge , während von anderer Seite versichert wird, daſs eben durch den Laokoon des Sophokles alle Kunstdarstellungen der Sage inspiriert worden seien . Dar - nach könnte es scheinen, als ob wir über den Inhalt dieser Tra -Philolog. Untersuchungen V. 13194gödie sehr genau unterrichtet wären; dies ist indessen keines - wegs der Fall. Die verbreitete Vorstellung von dem Inhalt des sophokleischen Laokoon beruht vielmehr einzig auf der zuerst von Heyne ausgesprochenen und von Welcker acceptierten An - nahme, daſs uns Hygin fab. 135 die Hypothesis dieser Tragödie überliefere. Daſs Hygin den Inhalt der sophokleischen Tragödie wiedergebe , sagt Overbeck Plastik II2 S. 237, ist noch nicht bestritten worden, geschweige denn widerlegt . Ja, aber auch noch nie bewiesen; denn wenn auch ein Teil der Hyginschen Fabeln teils eigentliche ὑποϑέσεις, teils aus solchen abgeleitet sind, so gilt dies doch keineswegs von allen und muſs in jedem einzelnen Fall besonders bewiesen werden. Hygins Erzählung2)Sehr merkwürdig ist die Stelle, die Hygin der Laokoonfabel gegeben hat; sie steht nicht etwa mit den übrigen troischen Sagen zusammen, sondern hinter den Abenteuern des Dionysos und vor der Geschichte des Polyeidos. Für letztere Zusammenstellung war vielleicht der Umstand maſsgebend, daſs in beiden Erzählungen zwei Schlangen die Hauptrolle spielen, und zwar wenn wir annehmen dürfen, daſs die Laokoonfabel in dem ursprünglichen Werk ausführlicher erzählt war beide Male eine männliche und eine weib - liche Schlange. lautet: Laocoon Capyos3)Acoetis Micyllus; dieser Name ist aus der vorhergehenden Fabel 133 (Tyrrheni), wo der Steuermann so heiſst, hier aus Versehen wiederholt; man hätte also an sich völlige Freiheit, jeden anderen Namen einzusetzen; aber die Worte Anchisae pater zwingen mit unabweisbarer Notwendigkeit, nach Munckers Vorgang Capyos zu schreiben. filius Anchisae frater Apollinis sacer - dos contra voluntatem Apollinis cum uxorem duxisset atque liberos procreasset, sorte ductus ut sacrum faceret Nep - tuno ad litus, Apollo occasione data a Tenedo per fluctus maris dracones misit duos, qui filios eius Antiphatem et Thymbraeum necarent; quibus Laocoon cum auxilium ferre vellet, ipsum quoque nexum necaverunt. quod Phryges idcirco factum putarunt, quod Laocoon hastam in equum Troianum miserit. Die letzten beiden Sätze stimmen nach Inhalt und Fassung in auffälliger Weise mit Vergil Aen. II 216 überein:195

post ipsum auxilio subeuntem ac tela ferentem
corripiunt spirisque ligant ingentibus,

und mit 229

scelus expendisse merentem
Laocoonta ferunt, sacrum qui cuspide robur
laeserit et tergo sceleratam intorserit hastam.

Auf letztere Übereinstimmung hat auch schon M. Schmidt hin - gewiesen; aber auch schon vorher stimmt, wie derselbe Heraus - geber bemerkt, der Satz sorte ductus Neptuno ad litus fast wörtlich mit Vergil überein, er ist einfach Paraphrase von 201:

Laocoon ductus Neptuno sorte sacerdos,

und ebenso wird man die Worte a Tenedo per fluctus maris, gleichfalls nach Schmidts Vorgang, auf 203:

ecce autem gemini a Tenedo tranquilla per alta

zurückzuführen haben. Ob diese Zusätze aus Vergil von Hygin selbst oder einem späteren Interpolator herrühren, der das Fabel - buch mit dem Hauptgedicht der Schullektüre gerade so in Ein - klang setzen wollte, wie die griechischen Schulmeister ihre mythologischen Handbücher mit Homer, ist für die hier be - handelte Frage zunächst gleichgültig. Letzteres für das richtige zu halten, veranlaſst mich nicht sowohl die vielleicht nur subjek - tive Überzeugung4)S. Eratosthenes p. 15. 232., daſs in dem ursprünglichen Werk des Hygin auf die römische Litteratur überhaupt fast keine Rücksicht genom - men ward, als die sprachlich wie sachlich gleich anstöſsige Ver - bindung der Worte Laocoon occasione data; sprachlich, denn selbst durch Schmidts Vorschlag, essetque vor ductus einzusetzen, wird nur ein sehr holpriger Satz und eine sehr ungelenke Aus - druckweise hergestellt; sachlich, denn es ist absolut unerfindlich, warum der Moment, wo Laokoon am Meere dem Poseidon opfert, eine besonders passende Gelegenheit für Apollo sein soll, die Strafe an ihm zu vollziehen. Vielmehr steht occasione data13*196hier wie öfter, um anzudeuten, daſs der Autor auf die ausführliche Darlegung der näheren Umstände verzichtet5)Hygin schreibt auch so occasione nacta, s. Muncker zu Fab. I Anm. e.. Hygin kann also das Opfer nicht erwähnt haben.

Es ist klar, daſs, um die ursprüngliche griechische Sagen - form zu erhalten, zunächst diese sämtlichen Zusätze aus Vergil auszuscheiden sind. Dann lautet die Fabel folgendermaſsen: Laocoon Capyos filius Anchisae frater Apollinis sacerdos contra voluntatem Apollinis cum uxorem duxisset atque liberos pro - creasset, Apollo occasione data dracones misit duos, qui filios eius Antiphatem et Thymbraeum necarent. Der Schluſs ist offen - bar durch die Interpolation verdrängt; es kann diesem Um - stand zugeschrieben werden, daſs von einem Zusammenhang mit dem Auszug des Aineias nicht die Rede ist, aber andererseits muſs darauf hingewiesen werden, daſs nach dieser Fassung ein solcher Zusammenhang auch nicht notwendig war, ja daſs es gar nicht gesagt ist, ob die Katastrophe gerade mit dem Unter - gang Ilions zusammentrifft; sie kann lange vorher, vielleicht überhaupt vor die Ankunft der Griechen, gefallen sein. Das Charakteristische dieser Version ist, daſs Laokoon eine Schuld auf sich geladen hat und für sie büſst; Apollo hat dem Laokoon verboten, sich zu vermählen ein aus der Laiossage bekanntes Motiv; da er dies Verbot übertritt, rächt Apollo den Un - gehorsam an der Frucht dieses Ehebündnisses, und darum müssen nach dieser Version beide Söhne, nicht einer, wie bei Arktinos, sterben; aber auch, wenigstens nach der Absicht des Gottes, nur die Söhne. Es wäre zwar möglich, daſs auch in dieser Version der Vater umkam, sei es, daſs er, wie bei Vergil, den Knaben Hilfe bringen wollte und dabei selbst von den Schlangen um - strickt wurde, sei es, daſs er sich aus Verzweiflung über den Tod seiner Söhne selbst den Tod gab; aber Nichts berechtigt uns, diese Möglichkeit als sichere Thatsache hinzustellen, zumal auch Quintus Smyrnaeus den Laokoon seine Söhne überleben läſst gewiſs nach älterer poetischer Tradition.

Dieselbe oder eine sehr ähnliche Sagenform, wie wir sie197 hier bei Hygin kennen lernen, muſs nun auch Bakchylides be - folgt haben; das zeigen die bereits oben citierten Worte der Vergilscholien: sane Bacchilides de Laocoonte et uxore eius dicit; da nun Bakchylides in den mythologischen Handbüchern6)Apollod. bibl. II 5, 5, 2 = Bakchyl. fr. 60 (schol. Od. φ 295). notorisch benutzt ist, so hat er mindestens den gleichen An - spruch, für den Urheber der von Hygin berichteten Erzählung zu gelten, wie Sophokles.

Unter diesen Umständen empfiehlt es sich, nicht von der Erzählung Hygins, sondern von solchen Zeugnissen, die ausdrück - lich auf das sophokleische Stück Bezug nehmen, auszugehen.

Hier gebührt der erste Platz der Stelle des Dionysios Arch. I 48: Σοφοκλῆς μὲν τραγῳδοποιὸς ἐν Λαοκόωντι δράματι μελλούσης ἁλίσκεσϑαι τῆς πόλεως πεποίηκε τὸν Αἰνείαν ἀνασκευα - ζόμενον εἰς τὴν Ἴδην, κελευσϑέντα ὑπὸ τοῦ πατρὸς Ἀγχίσου κατὰ τὴν μνήμην, ὧν Ἀφροδίτη ἐπέσκηψε, καὶ ἀπὸ τῶν νεωστὶ γενο - μένων περὶ τοὺς Λαοκοωντίδας σημείων τὸν μέλλοντα ὄλεϑρον τῆς πόλεως συντεκμηράμενον; worauf dann ein Stück der Boten - erzählung, das von dem Auszug des Aineias handelt, ausgeschrieben wird. Wie im Epos also ist die Katastrophe des Laokoon ein Wahrzeichen für Aineias, nur daſs bei Sophokles nicht ein, son - dern beide Söhne umkommen; aber freilich, wenn man die Worte des Dionysios genau nimmt, nur die Söhne und nicht der Vater. Nichts aber berechtigt uns, mit Welcker dem Dionysios eine Ungenauigkeit des Ausdrucks zuzutrauen, zumal wir dieselbe Version schon zweimal gefunden haben und noch öfter finden werden.

Weiter hilft uns die Notiz der Fuldaer Vergilscholien zur Aen. II 204, daſs in dem Stück die Namen der Schlangen er - wähnt waren: horum sane draconum nomina Sophocles in Lao - coonte dicit. Dieselben Scholien bemerken zu II 211: hos dracones Lysimachus curifin et periboeam dicit. Es ist augen - scheinlich, daſs wir hier ein und dieselbe Notiz vor uns haben; daſs also Lysimachos d. i. der bekannte Verfasser der Νόστοι7)Vgl. unten den Excurs Lesches und Arktinos.198 hier die sophokleischen Namen giebt, und daſs auch die erste Notiz über Sophokles, wahrscheinlich auch die über Bakchylides und die über den sonst unbekannten Tessandros (schol. Aen. II 211) auf Lysimachos zurückgeht, der in seinem Werke die ver - schiedenen Sagenformen nebeneinander gestellt hatte. Die in den Vergilscholien verderbten Namen hat Madvig zweifellos richtig zu Porkes und Chariboia hergestellt. So lauten dieselben in den alten Lykophronscholien zu V. 347: Πόρκης καὶ Χαρίβοια ὀνό - ματα· οἳ πλεύσαντες ἐκ τῶν Καλυδνῶν νήσων ἦλϑον εἰς Τροίαν καὶ διέφϑειραν τοὺς παῖδας Λαοκόωντος ἐν τῷ τοῦ Θυμ - βραίου Ἀπόλλωνος νεῷ. δὲ Λαοκόων υἱὸς ἦν Ἀντήνορος. τοῦτο δὲ γέγονε σημεῖον τῆς Ἰλίου ἁλώσεως. Derselbe Lysimachos, den wir in den Vergilscholien citiert finden, ist wahrscheinlich auch in den Lykophronscholien, freilich ohne Nennung des Namens, benutzt, und so liegt es nahe, die angeführte Stelle direkt auf die Νόστοι dieses Schriftstellers zurückzuführen; indirekt ist aber unbedingt Sophokles die Quelle; auf ihn dürfen wir nicht nur die Namen, sondern auch die übrigen hier berichteten Züge um so unbedenklicher zurückführen, als zwei derselben auch durch Dionysios von Halikarnass bezeugt sind; einmal, daſs die Kata - strophe ein Zeichen für den nahen Untergang Troias ist, dann weiter, daſs nur die Söhne sterben. Denn es wäre bare Willkür, annehmen zu wollen, daſs sowohl Dionysios als Lysimachos oder der Lykophronscholiast aus Ungenauigkeit den Tod des Vaters übergangen hätten. Auch Lykophron selbst sagt V. 347:

καὶ παιδοβρῶτος Πορκέως νήσους διπλᾶς

offenbar gleichfalls nach Sophokles. Ich kann mich nicht enthalten, hier gleich die unabweisbare Schluſsfolgerung zu ziehen, daſs die vatikanische Gruppe mit dem sophokleischen Stück in keinem Falle etwas zu thun haben kann8)Was Lessing Laokoon S. 53 als allgemein griechische Anschauung an - nahm, ist also vielmehr die Version des Sophokles, vielleicht auch die des Bakchylides..

Wie aber kam Sophokles dazu, den Schlangen Namen zu199 geben? Die von C. Keil Anal. epigr. p. 191 Anm. angeführten Analogieen, der Drache Λάδων oder der Πύϑων, treffen nicht zu, da es sich nicht um bekannte Tiere, die als Wächter bestellt sind, sondern um plötzlich erscheinende Ungeheuer handelt, die im Drama nur von dem Boten erwähnt werden konnten; woher aber konnte dieser ihre Namen kennen? und wie seltsam, daſs der eine Name männlich, der andere weiblich ist! es handelt sich also um ein Schlangenpaar. Und nun lese man noch ein - mal das Lykophronscholion: Niemand würde aus diesen Worten allein erraten, daſs von Schlangen die Rede ist; ja der Ausdruck πλεύσαντες ist, von Schlangen gebraucht, kaum erträglich. Aus diesen Schwierigkeiten giebt es, soviel ich sehe, nur einen Aus - weg; man wird sich zu der Annahme entschlieſsen müssen, daſs Porkes und Chariboia bei Sophokles Personen waren, die von den kalydnischen Inseln herüberkommen, sich aber plötzlich in Schlangen verwandeln; von einer Verwandlung, nur freilich um - gekehrt der Schlangen in Menschen, wuſste auch Bakchylides, wenn dem lakonischen Ausdruck der Vergilscholien zu trauen ist. Einmal aufmerksam gemacht wird man auch den auffallenden Zug der Vergilschen Schilderung, daſs die Schlangen als Schlangen über das Meer schwimmen, bemerken, ein Motiv, für das man in der griechischen Mythologie schwerlich ein Analogon finden wird. Das κῆτος schwimmt über das Meer, der ὄφις haust in den dunklen Winkeln der Tempel oder in Höhlen oder unter der Erde. Diese Anschauung verbietet uns, das Vergilsche Motiv, daſs die Schlangen über das Meer herbeischwimmen, auch schon für Arktinos vorauszusetzen, zumal auch Proklos kein Wort da - von sagt. Wenn Sophokles im Gegensatz zu Arktinos die Schlangen oder vielmehr die Menschen, aus denen später Schlan - gen werden, von den kalydnischen Inseln herkommen läſst, so liegt hier, mag nun Sophokles das Motiv erfunden oder, wie wir nach dem Vergilscholion fast notwendig anzunehmen gezwungen sind, von Bakchylides übernommen haben, eine Weiterbildung vor; sie kommen von derselben Stelle, wo die Achaierflotte verborgen liegt und von wo sich das Verderben über ganz Ilion nahen wird. Noch einen weiteren Anhalt bietet uns das Scholion zu Lykophron200 durch die Angabe, daſs der Ort der Katastrophe das Heiligtum des thymbräischen Apollo war; daſs dieselbe bei Gelegenheit eines Opfers eintrat, wird nicht gesagt, ist aber in hohem Grade wahr - scheinlich. Es ist unabweislich, damit in Verbindung zu bringen, daſs sowohl bei Hygin als bei Servius Laokoon Priester des Apollo ist, und daſs bei ersterem auch der eine Sohn nach dem Gotte Thymbraeus heiſst. Und wenn nun weiter Hygin erzählt, daſs der Gott den Ungehorsam des Vaters durch den Tod der beiden Söhne, der Spröſs - linge aus dem verbotenen Ehebündnis, straft, so liegt es nahe genug, dasselbe oder ein ähnliches Motiv für Sophokles vorauszusetzen, bei dem ja gerade wie bei Hygin beide Söhne, aber auch nur diese ohne den Vater umkommen; und dies um so mehr, da im Drama, wie namentlich Welcker mit Recht gefordert hat, die Katastrophe durch eine Schuld des Laokoon motiviert sein muſs. Und so befinden wir uns von neuem der Frage gegenüber, ob nicht doch in jener Hyginschen Fabel, natürlich in der reinen und un - verfälschten Gestalt, wie ich sie oben abgedruckt habe, wenigstens der Anfang einer Hypothesis von Sophokles Laokoon erhalten sei. Diese Frage zu verneinen, veranlaſst mich eine doppelte Er - wägung. Erstens paſst zu der Katastrophe im thymbräischen Heiligtum noch weit besser, als die von Hygin überlieferte, die - jenige Version von Laokoons Schuld, die in den Vergilscholien (Aen. II 201) erzählt wird: hic (Laocoon) piaculum com - miserat ante simulacrum numinis (Thymbraei Apollinis) cum Antiopa sua uxore coeundo; denn bekanntlich ist es ein sehr beliebtes tragisches Motiv, daſs die Strafe an demselben Orte erfolgt, an dem die Schuld begangen ist, hier also im thymbräischen Heiligtum. Nimmt man aber diesen Zug, wie man konsequenter Weise muſs, für Sophokles in Anspruch, so kann man andererseits Hygins Erzählung nicht mehr auf Sophokles zurückführen. Denn anzunehmen, daſs mit Rücksicht auf den Zweck der fabulae als Schulbuch das anstöſsige Motiv entfernt worden sei, geht aus dem Grunde schwerlich an, weil in anderen fabulae Dinge enthalten sind, die sich nach unseren Begriffen noch viel weniger zur Schullektüre eignen. Zweitens aber kann die Fabel auch deshalb nicht auf Sophokles zurückgehen, weil201 bei diesem Laokoon Sohn des Antenor war, wie das nach unserer Annahme unmittelbar auf Lysimachos mittelbar auf Sophokles zurückgehende Lykophronscholion lehrt. Nun ist ja freilich bei Hygin der ächte Vatername durch einen falschen verdrängt und Capyos nur erst durch Koniektur eingesetzt worden. Allein die Worte Anchisae frater, auf denen letztere beruht, machen die Ergänzung Antenoris zu einer reinen Unmöglichkeit. Den uralten Anchises zum Sohne des Antenor zu machen, hätte sich selbst der ungenierteste Genealog nicht herausgenommen. Er - innert man sich nun, daſs die Geschichte bei Hygin von den übrigen troischen Fabeln getrennt steht, daſs in ihrer ursprüng - lichen Fassung gar kein Hinweis auf irgend welchen Zusammen - hang mit Ilions Fall sich findet, sondern einfach Laokoons Schuld und Strafe erzählt wird, so wird man ein gleiches auch für die poetische Quelle voraussetzen, mag dies nun Bakchylides sein, für welchen alle unsere Voraussetzungen sehr gut zutreffen würden, oder ein anderer.

Doch kehren wir zu Sophokles zurück; daſs bei ihm Laokoon ein Sohn des Antenor war, giebt mancherlei zu denken. Zunächst wird man es recht passend finden, daſs auf diese Weise der Apollo-Priester Laokoon der Sohn der Athena-Priesterin Theano ist. Und wenn man weiter erwägt, daſs unter den zahlreichen Antenoriden der Ilias sich die Namen Koon und Laodokos finden, so liegt die Vermutung nahe, daſs aus diesen beiden oder auch nur aus dem ersten die jüngere Sage oder das spätere Lied sich den Laokoon gebildet und daſs somit Sophokles seine Genea - logie von Arktinos übernommen habe. Allein Sophokles hatte ja auch ein besonderes Stück Ἀντηνορίδαι geschrieben, welches gerade wie der Laokoon unmittelbar vor und während der Er - oberung Troia’s spielte, in welchem die Antenoriden auszogen, wie Aineias im Laokoon; und man beachte, daſs in der Aufzählung der sophokleischen Stücke aus dem troischen Sagenkreis, die in der ὑπόϑεσις zum Aias erhalten ist, wohl die Ἀντηνορίδαι, nicht aber der Laokoon genannt wird. Ich muſs mich mit diesen Andeu - tungen begnügen; denn zu einer Entscheidung der sich nach allem diesem unwillkürlich aufdrängenden Frage, ob nicht Ἀντηνορί -202 δαι und Λαοκόων verschiedene Titel für daſselbe Stück seien, reicht unser Material nicht aus, und die Strabostelle XIII p. 608 würde, wenn sie sich wirklich auf die Antenoriden bezieht, der Annahme der Identität nicht günstig sein.

So wenig sich also im Einzelnen über den Gang des sophok - leischen Stückes erkennen läſst, so ist doch die Stelle, die es in der Entwickelungsgeschichte der Sage einnimmt, klar bezeichnet: es vereinigt die Version des Arktinos mit der des Bakchylides; vom ersteren entlehnt Sophokles den Zusammenhang des τέρας mit dem Auszug des Aineias, vom letzterem die Schuld des Laokoon und den Tod der beiden Söhne.

Auf den attischen Tragiker folgt sofort der römische Epiker. Vergil war durch die ganze Tendenz seiner Dichtung zu weit - greifenden Umgestaltungen der Laokoonepisode genötigt. In - dem er einerseits ängstlich bemüht ist, auch jeden Schein der Feigheit von seinem Helden fern zu halten, und es andererseits nach der ganzen Anlage des Gedichtes unumgänglich ist, daſs Aineias als Augenzeuge die Eroberung Ilions erzählt, verlegt er den Auszug desselben, den sämmtliche alten und ursprüng - lichen Berichte vor die eigentliche Eroberung, in die Zeit zwischen die Einführung des hölzernen Pferdes und das Feuer - signal des Sinon, setzen, ans Ende derselben und läſst Aineias an der Nyktomachie tatkräftigen Anteil nehmen. Dadurch ver - liert aber die Laokoonepisode ihren Charakter als Warnungs - zeichen für Aineias, den sie bei Arktinos und Sophokles hat. Und da das Schicksal des Laokoon an sich, seine Schuld und seine Strafe, wie sie Bakchylides und Sophokles erzählen, für die Schilderung des Vergil völlig ohne Belang ist, weil sie auſser jeder Beziehung zu Ilions Untergang steht, so hätte man erwarten sollen, daſs Vergil die ganze Episode einfach fallen lieſse. Er hat dies nicht gethan. Die Katastrophe, deren Schilderung ja für die Eigenart des Vergilschen Talentes ganz besonders verlockend sein muſste, behielt er bei, aber die Moti - vierung derselben, wie sie die griechischen Lyriker und Tragiker geschaffen hatten, lieſs er fallen, und setzte eine andere, frei er - fundene an deren Stelle. In der Odyssee singt Demodokos ϑ 507 f.,203 daſs hinsichtlich des hölzernen Pferdes die Meinung der Troer dreifach geteilt war:

ἠὲ διαπλῆξαι κόϊλον δόρυ νηλέϊ χαλκῷ,
κατὰ πετράων βαλέειν ἐρύσαντας ἐπ̕ ἄκρης,
ἐάαν μέγ̕ ἄγαλμα ϑεῶν ϑελκτήριον εἶναι.

Arktinos wich nur in dem ersten Vorschlag ab; Proklos sagt: καὶ τοῖς μὲν δοκεῖ κατακρημνίσαι αὐτόν, τοῖς δὲ καταφλέγειν, οἱ δὲ ἱερὸν αὐτὸν ἔφασαν δεῖν τῇ Ἀϑηνᾷ ἀνατεϑῆναι. Beide Versionen combiniert Vergil, so daſs bei ihm im Ganzen vier Vorschläge gemacht werden, und zwar der unbesonnene duci intra muros et arce locari durch Thymoetes, die drei übrigen durch Capys und seine Sinnesgenossen:

aut pelago Danaum insidias suspectaque dona
praecipitare iubent subiectisque urere flammis
aut terebrare cavas uteri et temptare latebras.

Aber Vergil geht noch einen Schritt weiter und läſst das an dritter Stelle vorgeschlagene Experiment auch wirklich durch Laokoon ausführen. Indem nun diese That aufgefaſst und dar - gestellt wird als eine Entweihung des von Pallas selbst er - sonnenen und ihr geweihten Pferdes, also als ein Verbrechen, gewinnt Vergil eine Motivierung für die über Laokoon herein - brechende Katastrophe; und in äuſserst geschickter Weise wird diese Katastrophe wieder benützt, um die endgültige Entschlieſsung der Troianer über das hölzerne Pferd herbeizuführen und zu bestimmen; sie wird von den Troianern aufgefaſst als eine gött - liche Beglaubigung für die Heiligkeit des Pferdes.

Um dies zu erreichen, ist jedoch Vergil genötigt, in seiner Dichtung mit der Laokoonsage noch einige weitere Änderungen vorzunehmen. Zunächst kann es bei ihm nicht mehr Apollo sein, der die Schlangen sendet, denn weder ist dieser bei Vergil durch Laokoon beleidigt, noch will es sich für den energischsten gött - lichen Schützer Troias ziemen, wenn auch nur indirekt durch Erweckung einer falschen Vorstellung, zur Aufnahme des hölzer - nen Pferdes innerhalb der Mauern und somit zum Fall von Ilion204 beizutragen. Vielmehr sendet Athena, die daſs Roſs ersonnen hat, der es geweiht ist und die sich also durch Laokoons Lan - zenstoſs beleidigt fühlt, die Schlangen. Daſs dies die Meinung Vergils ist, zeigen V. 225 227, wo die Schlangen sich unter dem Schild des Athenabildes bergen zur Genüge, und Quintus Smyrnaeus XII 448 hat dies vollkommen richtig erkannt, wenn er auch hier, wie stets, seine Schilderung zum Ungeheuerlichen steigert.

Auch der Zeitpunkt der Katastrophe muſs etwas verschoben werden. Nicht als das hölzerne Pferd bereits in die Stadt hin - eingeführt worden ist, wie im Epos und doch wohl auch bei Sophokles, sondern schon vorher müssen die Schlangen erscheinen, da ja eben durch Laokoons Tod die Entscheidung der Troer hinsichtlich des Pferdes wesentlich mitbestimmt werden soll. Auch der Ort der Katastrophe wird dadurch ein anderer, sie spielt nicht in der Stadt, sondern vor den Mauern in Gegenwart der das hölzerne Pferd umdrängenden Troianer, also an der Stätte, wo das Griechenlager stand, am Gestade des Meeres. Und zu dieser Verlegung konnte sich Vergil um so leichter entschlieſsen, als sich mit ihr das sophokleische Motiv, daſs die Schlangen von Tenedos her über das Meer kommen, leichter in Einklang bringen lieſs, wobei freilich an Stelle des später in Schlangen verwandel - ten Menschenpares von vornherein ein Schlangenpaar gesetzt wird. Nun erfolgte, wie wir sahen, die Katastrophe bei Sophokles im Tempel des thymbräischen Apollo und zwar wahrscheinlich bei einem Opfer. Wollte Vergil auf letzteres äuſserst wirksame Motiv nicht verzichten, so muſste er, da ein Opfer am Meerestrand doch schwerlich dem thymbräischen Apollo gelten konnte, zu noch weiteren Änderungen sich entschlieſsen; das Opfer am Strande wird dem Poseidon dargebracht, und Laokoon wird aus einem Apollopriester zu einem Priester des Poseidon.

In der ganzen Tendenz der Vergil’schen Sagenbehandlung liegt es, daſs wieder, wie einst bei Arktinos, Laokoon selbst seinen Frevel gegen Athena durch den eigenen Tod büſsen muſs; aber sein Tod würde auch an sich genügen, und es ist wohl kein Zweifel, daſs Vergil, wenn er die Episode frei erfunden hätte,205 niemals darauf verfallen wäre, auch die beiden Söhne mit um - kommen zu lassen. Da aber Vergil nicht frei erfindet, sondern aus der poetischen Traditon schöpft, nach welcher in ihrer letzten auf Sophokles zurückgehenden Gestaltung beide Söhne umkommen, so behält er diesen Zug bei, zumal er ihm Gelegenheit zu einer prächtigen Schilderung bietet. Ihn aufzugeben, hatte er ja auch keine direkte Veranlassung; noch weniger aber konnte er sich versucht fühlen, auf die älteste epische Version zurückzugreifen, nach welcher der eine Sohn gerettet wird.

Der hier gemachte Versuch die Abweichungen Vergils von den griechischen Versionen der Laokoonsage, und speziell der sophokleischen, einfach aus der Tendenz des Dichters und dem Zusammenhang der Ereignisse im zweiten Buch der Aeneis zu erklären, wird gewiſs Manchem bedenklich erscheinen. Na - mentlich wird man einwenden, daſs einige von den Zügen, die ich eben als Neuerung des Vergil bezeichnet und zu erklären gesucht habe, sich schon bei Euphorion fanden; daſs also vielmehr diesem ein sehr wesentlicher Einfluſs auf die Ent - wickelung der Laokoonsage zuzuschreiben sei und daſs nament - lich Vergil in sehr wesentlichen Punkten sich dem Euphorion angeschlossen habe. Dies ist in der That die heute wohl von den Meisten vertretene Ansicht, die einerseits in der bekannten Verehrung Vergils und seiner Zeitgenossen für Euphorion, ander - seits in der häufigen Erwähnung des Euphorion bei Servius scheinbar eine nicht geringe Stütze hat. Die eigentliche Grundlage für die ganze Hypothese bilden die Worte des Servius zu Vergils Aen. II 201: Ut Euphorion dicit, post adventum Graecorum sacerdos Nep - tuni lapidibus occisus est, quia non sacrificiis eorum vetavit adventum; postea abscedentibus Graecis cum vellent sacrificare Neptuno, Laocoon Thymbraei Apollinis sacerdos sorte ductus est, ut solet fieri, cum deest sacerdos certus. hic piaculum com - miserat ante simulacrum numinis cum Antiopa sua uxore coeundo, et ob hoc immissis draconibus cum suis filiis in - teremptus est. historia quidem hoc habet, sed poeta interpretatur ad Troianorum excusationem, qui hoc ignorantes decepti sunt. alii dicunt quod post contemptum semel a Laomedonte Neptunum206 certus eius sacerdos apud Troiam (l. Troianos) non fuit; unde putatur Neptunus etiam inimicus fuisse Troianis et, quod illi meruerint, in sacerdote monstrare.

Schon Heyne (V. Excurs zu Verg. Aen. II p. 333) und nach ihm Meineke Anal. Al. p. 153 sehen in dem ersten Teil dieses Scholions bis zu den Worten interemptus est die Erzählung des Euphorion wiedergegeben. Wenn das richtig wäre, so hätte sich also Euphorion zwar wesentlich an Sophokles an - geschlossen, aber im Einzelnen schon selbständig geneuert; vor Allem wären schon bei ihm der Vater und beide Söhne umge - kommen und auch bei ihm schon wäre die Katastrophe bei einem dem Poseidon dargebrachten Opfer erfolgt; letztere Än - derung wäre indessen etwas auffallend gewesen; denn da bei ihm Laokoon durch Entweihung des thymbräischen Heiligtums schuldig wird, hätte man erwarten sollen, daſs er auch das Motiv, die Katastrophe an dem Orte des Frevels, also im thymbräischen Heiligtum, erfolgen zu lassen, beibehalten hätte. Denn für ihn lag kein Grund vor, hierin von der poetischen Tradition abzuweichen, während ein solcher für Vergil oben nachgewiesen ist. Es wäre ferner unter der Voraussetzung, daſs Heyne und Meineke Recht haben, in der That der Schluſs nicht abzuweisen, daſs Vergil den Euphorion benutzt hätte; namentlich, daſs Laokoon Poseidonpriester war, würde Vergil von Euphorion entnommen haben. Allein gerade hier ist, wie ich glaube, der Punkt, wo die Kritik einzusetzen hat. Euphorion hätte also, so ist die verbreitete Ansicht, erzählt, da kein Poseidonpriester vorhanden gewesen, habe man den Apollopriester Laokoon durchs Los zur Vollziehung des Opfers für Poseidon bestimmt: cum vellent sacrificare Neptuno, Laocoon Thymbraei Apollinis sacerdos sorte ductus est, sagt Servius und fast mit den - selben Worten lesen wir bei Vergil Aen. II 201 Laocoon ductus Neptuno sorte sacerdos; aber mit keiner Silbe deutet Vergil an, daſs Laokoon eigentlich Apollopriester sei, und aus den Worten sorte ductus allein würde Niemand etwas Anderes entnehmen, als daſs Laokoon ein durchs Los zu besetzendes Priestertum be - kleidet hätte; denn daſs er das Amt nur zur Aushilfe versieht,207 würde gewiſs Niemand erraten; und so hat auch Petron die Sachlage aufgefaſst, wenn er 89 V. 18 an Stelle der Vergilschen Worte sagt:

namque Neptuno sacer
crinem solutus omne Laocoon replet
clamore vulgus.

Ich meine es ist augenscheinlich, daſs nur Jemand, der schon von anderswoher wuſste, daſs Laokoon eigentlich Apollopriester war, die Worte sorte ductus anders faſsen konnte; daſs aber Vergil, wenn er die Sache so hätte darstellen wollen, wie es Euphorion wirklich oder vermeintlich that, sich deutlicher und unzweideutiger ausgedrückt haben würde, ist nicht minder klar. Ich meine, hiermit ist uns der Schlüssel zur richtigen Auffassung des Serviusscholions gegeben. Die Kommentatoren nahmen Anstoſs daran, daſs bei Vergil Laokoon Priester des Poseidon ist, während er in den mythologischen Handbüchern, die von Arktinos oder Bakchylides oder Sophokles abhingen, Priester des Apollon genannt wurde. Die einfachste Lösung für dies Problem, daſs Vergil hier frei geändert habe, wird man bei einem Kommentator der Kaiserzeit von vornherein nicht erwarten dürfen; die Lösungen muſsten durch Citate oder wenigstens durch Anlehnung an mythologische Handbücher begründet werden. Zwei solche λύσεις hat uns Servius in der oben ausgeschriebenen Stelle erhalten. Die erste beginnt mit ut Euphorion und schlieſst mit deest sacerdos certus; da nun Niemand glauben wird, daſs im Euphorion sich die λύσεις zu ἀπορίαι fertig vorfanden, so ist klar, daſs das Euphorioncitat nur für den ersten Satz gilt. Euphorion hatte erzählt, daſs die Troer ihren Poseidonpriester nach der Ankunft der Griechen gesteinigt hätten, weil er nicht seinen Gott durch Opfer bewogen hatte, die Ankunft der Achaier zu verhindern. Hieraus zieht der Grammatiker den Schluſs: also war kein be - stimmter Priester da, und der Apollopriester Laokoon wurde zur Aushilfe bestellt. In diesem dem Grammatiker gehörigen Teil (postea-certus) findet sich sowohl das wörtliche Vergilcitat, wie die kecke Behauptung: ut solet fieri, cum deest sacerdos certus.

208

Die zweite λύσις beginnt mit alii dicunt; ähnlich wie bei der ersten wird vorausgesetzt, daſs die Troer einen eigentlichen Poseidonpriester nicht gehabt hätten, nur wird dieser Umstand, Gott weiſs nach wessen Vorgang, durch das feindliche Verhältnis zwischen Poseidon und Laomedon motiviert.

Der zwischen diese beiden λύσεις eingeschobene mittlere Abschnitt (hic piaculum decepti sunt) ist durchaus selb - ständig; er behandelt eine andere, allerdings verwante ἀπορία und sucht sie auch mit ähnlicher Methode zu lösen. Wieder geht der Anstoſs aus von dem Widerspruch der Vergil’schen Sagen - form mit den mythologischen Handbüchern; nach letzteren büſst Laokoon für die Entweihung des Heiligtums, davon findet sich bei Vergil keine Spur. Servius führt nun zunächst die historia, wie es scheint, wesentlich nach Sophokles an, nur daſs, wie bekanntlich häufig in den Scholien, die mythische Ge - schichte dem Vergiltext noch besser angepaſst wird, indem er - zählt wird, daſs der Vater und die beiden Söhne umgekommen seien. Das sei nun, sagt Servius, auch nach Vergils Meinung der wahre Grund von Laokoon’s Tod gewesen; die Troer aber hätten das Ereigniſs anders aufgefaſst und seien dadurch betrogen worden. Genau in denselben Gedankenzusammenhang gehören die Worte, welche wir jetzt hinter der zweiten λύσις lesen: quod autem ad arcem ierunt serpentes, id est ad templum Mi - nervae, aut quod et ipsa inimica Troianis fuit, aut signum fuit periturae civitatis9)Die Überlieferung ist vollkommen untadelig; natürlich ist zu dem ersten Teil des Nachsatzes factum est zu ergänzen, aber es einzusetzen, wie Thilo will, ist man deshalb noch lange nicht berechtigt.. Gegen die gezwungene und offenbar falsche Erklärung, daſs auch bei Vergil Laokoon zur Strafe für eine frühere Schuld umkomme, konnte man nämlich den sehr triftigen Einwand erheben, daſs die Schlangen von Athena gesandt sein müſsten, da sie sich später zu ihr flüchten. Diesem Einwand suchen die angeführten Worte zu begegnen, indem sie für diesen Zug zwei anderweitige Erklärungsversuche beibringen, beide gleich gesucht und gleich verkehrt.

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Die Analyse der Serviusstelle hat uns also gelehrt, daſs nur die Worte post adventum Graecorum sacerdos Neptuni lapidibus occisus est, quia non sacrificiis eorum vetavit adventum sich auf die Erzählung des Euphorion beziehen. Wir haben also kein Zeugnis dafür, daſs Euphorion die Laokoonsage behandelt hat, und es ohne Zeugnis anzunehmen, haben wir weder Grund noch Recht.

Nur der Vollständigkeit halber sei hier noch Quintus Smyr - naeus genannt; es ist bekannt, daſs er im Wesentlichen sich an Vergil anschlieſst; wenn er aber nur die Söhne und nicht Laokoon selbst von den Schlangen getötet werden läſst, so kehrt er damit zu der alten Sagenversion zurück, die er aus einer Hypothesis des sophokleischen Laokoon oder aus einem mythologischen Hand - buch, wie Hygins Fabulae, kennen konnte.

Die Betrachtung des Entwickelungsganges, den die Laokoon - sage in der Poesie zurücklegt, hat uns also gezeigt, daſs noch heute das alte Wort, das Lessing im Laokoon S. 54 ausgesprochen hat, zu vollem Rechte besteht: Vergil ist der erste und ein - zige, welcher sowohl Vater als Kinder von den Schlan - gen umbringen läſst . Ich brauche es nicht auszusprechen, welche Schluſsfolgerung sich daraus für die vatikanische Gruppe ergiebt. Wohl aber muſs kurz des neuesten Erklärungsversuches10)Nach Andeutungen von Stark ausgeführt von Brunn Arch. Zeit. 1879 S. 167. gedacht werden, nach welchem es die Absicht der rhodischen Künstler wäre, den älteren Sohn als dem Untergange nicht ge - weiht darzustellen , und also das Epos des Arktinos die poetische Quelle für die vatikanische Gruppe wäre. Auf die naive Vor - stellung, als ob das Epos des Arktinos in der alexandrinischen und römischen Zeit noch einem weiteren Leserkreise bekannt ge - wesen wäre, will ich nicht näher eingehen. Nur auf die Be - trachtung der Gruppe selbst verweise ich. Wollte man selbst zugeben, daſs der Knabe die Schlange vom linken Fuſs ab - streifen könnte, der rechte Arm ist fest umstrickt; und gesetzt auch die Schlinge, wie wir sie sehen, könnte überhaupt keinePhilolog. Untersuchungen V. 14210Tötung, sondern höchstens einen Armbruch herbeiführen , so würde das vollständig ausreichen, den Knaben an der Flucht zu verhindern, und das genügt zu seinem Verderben. War es die Meinung der rhodischen Künstler, daſs der ältere Sohn am Leben bleiben sollte, so haben sie es meisterhaft verstanden, ihre Ge - danken zu verstecken; und wir haben um so weniger Ursache, uns unserer Blindheit zu schämen, als schon sämtliche antike Nachbildner der Gruppe in das gleiche Miſsverständnis ver - fallen sind.

Es darf nun vielleicht darauf hingewiesen werden, daſs es kein Zufall ist, wenn gerade die römische Kunst diese Sage bildlich gestaltet hat; denn wegen der engen Verbindung, in welcher dieselbe seit alten Zeiten mit der Aineiassage steht, muſsten gerade die Römer an ihr ein hervorragendes Interesse haben. Bei den Griechen hingegen scheint sie nie besonders populär ge - wesen zu sein, und dazu stimmt es, wenn sie von der griechischen Kunst nicht dargestellt wird.

Diese letzte Beobachtung ist freilich hinfällig, wenn Klein die bekannte Darstellung auf dem Kantharos Pourtalès (abgeb. Raoul - Rochette Mon. inéd. pl. 40. Panofka Cab. Pourtalès pl. 7. Arch. Zeit. 1880 S. 189) mit Recht auf Laokoon gedeutet hat. Klein meint, daſs die Wunde des sterbenden Jünglings, wie ihre Form zeige, nicht von dem Schwert des Mannes auf dem Altar, sondern von dem Biſs der Schlange, die jetzt auch jenen umringelt hat und in die Schulter beiſst, herrühre. Man mag dies zugestehen, obgleich sich für das Fehlen des frischen roten die Schwertwunde andeutenden Strichs immerhin Analogien anführen lieſsen, z. B. bei dem Priamos auf der Brygosvase, dem Memnon auf der Duris - schale und durchweg bei den Verwundeten auf einer unpublizier - ten Schale des letzteren Malers im Berliner Museum. Klein hält nun dies und die Erinnerung an die Version des Arktinos für ausreichend, um die Deutung auf Laokoon zu sichern. Diesen selbst erkennt er in dem schlangenumwundenen Manne auf dem Altar, der sterbende Jüngling sei der ältere Sohn, den Thanatos in seinen Armen auffange; der königliche Mann endlich, der mit einem Stein in der Hand, zum Wurf bereit, herbeieilt, sei Laokoons211 Bruder Anchises (nach Hygin). Ich will nicht zu viel Gewicht darauf legen, daſs ein Künstler, der die Version des Arktinos hätte darstellen wollen, doch füglich den zweiten Sohn des Laokoon, der gerettet wird, nicht auslassen durfte; man mag das für eine Ungeschicklichkeit des Vasenmalers erklären; aber ich muſs behaupten, daſs weder die dargestellte Situation noch die einzelnen Figuren mit der Laokoonsage und den dabei betei - ligten Personen auch nur die entfernteste Aehnlichkeit haben. Bei allen unseren Gewährsmännern von Arktinos bis auf Quintus Smyrnaeus erscheinen zwei Schlangen, auf der Vase nur eine; in allen dichterischen und bildlichen Darstellungen sind die Söhne des Laokoon noch Kinder, hier ist der angebliche Laokoontide ein kräftiger Jüngling. Und Laokoon selbst? Wie kommt der Apollopriester zu dem wirren Haar und dem struppigen Bart, zu dem wilden und trotzigem Aussehen, das so auffällig an den verbrecherischen Ixion der Rückseite erinnert? Gebietet der Maler über so geringe Mittel, daſs er nicht im Stande ist, den beklagens - werten Apollopriester, der sich einmal nur vergessen, von dem ruchlosen Gotteslästerer äuſserlich zu unterscheiden? Und wie kommt der Apollopriester zu Chlamys und Schwert? Denn nicht das ist das Auffällige, daſs er neben dem Schwert auch die Scheide hat, wofür Klein nicht erst nach Schriftstellerbelegen zu suchen brauchte, sondern das, daſs er schon jetzt das Opfer - schwert hält in einem Augenblick, da die Vorbereitungen zum Opfer noch nicht im Gange, priesterliche Gewänder noch nicht angethan, Opfergerät und Opfertier noch nicht herbeigeführt sind , und daſs er neben dem Opfermesser die dem Priester nicht ziemliche Chlamys trägt. Daſs endlich der vermeintliche Anchises (der übrigens viel priesterlicher aussieht, als der Priester selbst) in keiner Weise dem gebeugten, vom Blitz gelähmten Alten, den sein Sohn auf dem Rücken aus Troia tragen muſs, entspricht, will ich zu sehr nicht betonen, da die Benennung dieser Figur von der Deutung des Vorgangs im Allgemeinen unabhängig ist. Und nun vergegenwärtige man sich die ganze Situation. Laokoon hat mit seinem erwachsenen Sohn am Altar gestanden, Gott weiſs zu welchem Zweck, bereits mit dem Schwert in der Hand. Da14*212erscheint eine Schlange, die den Sohn umringelt und tötet, Laokoon zieht das Schwert und flüchtet sich auf den Altar, zu welchem Zweck ist wiederum nicht klar, wie es auch unver - ständlich ist, warum er sich des gezückten Schwertes nicht zur Verteidigung seines Sohnes bedient hat oder jetzt, da die Schlange ihn selbst umringelt, zu seiner eigenen bedient. Aber noch im letzten Augenblick naht unerwartete Hilfe; sein Bruder Anchises eilt herbei und schleudert einen Stein auf die Schlange. Leider wird es ihm nicht gelingen sie zu töten, ohne daſs er gleichzeitig seinem Bruder Laokoon die Schulter zerschmettert.

Sollte dieser Erklärungsversuch im Stande sein, den eben aus - gesprochenen Satz umzustoſsen, daſs eine Darstellung der Laokoon - sage in der Blütezeit der griechischen Kunst bis zur Stunde noch nicht nachgewiesen ist?

[213]

EXCURS II.

ΟΠΛΩΝ ΚΡΙΣΙΣ.

Als Beispiel für den allmählichen Fortschritt, den die rot - figurige Vasenmalerei sowohl in der Charakteristik der einzelnen Heroen wie in der scharfen Präcisierung des gewählten Momentes macht, habe ich oben (S. 29) die Darstellungen des Streites zwischen Aias und Odysseus um die Waffen des Achilleus an - geführt, deren richtige Auffassung wir dem glänzenden Scharf - sinn von Brunn und Klein1)Verhandlungen der XXIX Philologen-Versammlung in Innsbruck 1874 S. 152 158. Übrigens hat bereits Birch Archaeologia XXXII p. 153 auf diese Deutung hingewiesen, sie aber selbst wieder aufgegeben. verdanken. Die wenigen neben - sächlichen Berichtigungen, die ich im Folgenden geben zu können glaube, sind, wie ich mir selbst am Besten bewuſst bin, lediglich der von diesen beiden Männern gegebenen Anregung entsprungen, und es ist als rein zufällig zu betrachten, daſs dieselben nicht von den Entdeckern der richtigen Erklärung selbst erkannt wor - den sind.

Die Streitscene liegt uns bis jetzt, so weit bekannt, auf sieben rotfigurigen Vasen vor2)S. das Verzeichnis derselben bei Roulez A. d. I. 1867 p. 153.; allen ist derselbe Typus ge - meinsam: links Aias, rechts Odysseus, die wütend auf einander losstürzen wollen, aber beide von je zwei Achaiern zurückgehalten werden, welche sie mit äuſserster Kraftanstrengung umklammern und ihnen die Schwerter zu entwinden suchen; in der Mitte214 Agamemnon, der die Wütenden zu beschwichtigen sucht. Auf der ältesten3)Der Harcontur ist noch eingeritzt. dieser Vasen (Br. Mus. 830, abgeb. Archaeologia XXXII pl. 10) ist das Objekt des Streites, die Waffen des Achilleus, überhaupt nicht angegeben; Aias und Odysseus halten bereits beide das gezückte Schwert in der Hand. Auch auf der ihr zeitlich zunächst stehenden Leydener Amphora (Roulez Choix de vases pl. 13), auf welcher Aias und Odysseus behelmt, Aga - memnon sogar vollständig gerüstet erscheint, und auf jeder Seite nur ein Achaier die Streitenden zurückhält, fehlt jede Andeutung der Waffen des Achilleus. Dieselben begegnen uns in der rot - figurigen Vasenmalerei zum ersten Male auf einer Trinkschale des Britischen Museums (No. 829, abgeb. Archaelogia XXXII pl. 11, darnach wiederholt in den Wiener Vorlegeblättern Ser. VI T. 2), auf welcher sie in sinnreicher Weise zur Ausfüllung des leeren Raumes unter den Henkeln verwant sind. Auf dieser Vase wird auch zum ersten Mal der Versuch gemacht, die beiden streitenden Helden etwas näher zu charakterisieren. Der be - dächtige Odysseus ist erst im Begriff, das Schwert aus der Scheide zu ziehen; Aias hat es schon gezogen; derselbe ist sowohl hier wie auf der Darstellung der Rückseite durch starken Haarwuchs auf der Brust charakterisiert, der bei Odysseus nur leicht ange - deutet ist; in der Abbildung ist das nicht genügend wiedergegeben. Duris endlich (M. d. I. VIII 41, Wiener Vorlegebl. Ser. VI T. 1, dar - nach die nebenstehende Abbildung), der gleichfalls Odysseus das Schwert erst ziehen läſst, legt die umstrittenen Waffen in die Mitte zwischen Aias und Odysseus, und das ist weitaus das natürlichste und schönste. Auſserdem aber trägt bei ihm Aias einen Panzer, dessen rechte Schulterklappe jedoch lose in die Höhe steht. Klein meint, derselbe habe mit so plötzlicher Heftigkeit das Schwert aus der Scheide gerissen, daſs die Achselklappe seines Panzers aufgesprungen sei. Allein etwas höhere Vorstellungen dürfen wir uns doch wohl von der Kriegsbrauchbarkeit home - rischer Montierungsstücke machen. Überdies darf man bei einem Werk des Duris die Frage aufwerfen, wie es denn komme, daſs215

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216 Aias bei einer doch offenbar im Lager spielenden Scene den Panzer trägt, und zwar er allein von allen anwesenden Achaiern? Diese Schwierigkeiten fallen weg, wenn wir, wie im ersten Kapitel geschehen ist, annehmen, daſs Aias, als der durch Tapfer - keit wie durch seine Abstammung dem Achill am nächsten stehende, sich sofort der Waffen des Toten bemächtigt hat und, wie eben durch die eine noch offene Schulterklappe angedeutet wird, im Begriff ist, sie anzulegen, als sich Odysseus naht und die Waffen für sich beansprucht. Eine Bestätigung dieser Auffassung bietet das Innenbild, auf dem, wie Brunn scharfsinnig erkannt hat, die - selben Waffen von Odysseus dem Neoptolemos übergeben werden; dort entspricht der Panzer dem auf dem Auſsenbilde von Aias getragenen im Wesentlichen genau; die geringe Verschiedenheit in der Bildung der Schuppen hat in der verschiedenen Decoration des Helmbügels eine ausreichende Analogie; vgl. auch die Rüstung des Achilleus auf dem Innen - und Auſsenbilde der Troilosschale des Euphronios, die im Allgemeinen übereinstimmt, im Detail mannigfach abweicht. Auch der Umstand, daſs unter den an der Erde liegenden Waffen sich noch ein zweiter Panzer befindet, kann gegen unsere Auffassung nicht geltend gemacht werden; es ist ein ϑώραξ στάδιος, während der von Aias angezogene ein ϑώραξ φολιδωτός ist. Duris meint offenbar, daſs Achilleus zwei ver - schiedenartige Panzer besessen habe, wie auch unter den Waffen des Patroklos auf der M. d. I. IX 32. 33 publicierten Vase diese beiden Panzerarten erscheinen.

Diese Vase des Duris repräsentiert uns die weitaus glück - lichste und charakteristischste Auffassung des Vorganges; mit ihr hat der Typus den Höhepunkt seiner Entwickelung erreicht. Schon die Olla Feoli, die ich freilich nur aus Brunns Beschrei - bung (B. d. I. 1865 p. 13) kenne, scheint in der Charakteristik des Vorganges weit hinter ihr zurückzubleiben; und die beiden noch übrigen rotfigurigen Vasenbilder (Tischbein I 234)Zuerst von Birch Archaeologie XXXII p. 151 richtig gedeutet. und Bröndstedt Descr. of 32 anc. greek paint. vas. 25 p. 505)Von O. Jahn (Ber. d. sächs. Ges. 1853 S. 26) als in diesen Kreis ge - hörig erkannt.), welche217 die Darstellung auf die drei Hauptfiguren beschränken und wieder, wie es schon in früherer Zeit gewöhnlich war, die Waffen des Achilleus einfach weglassen, repräsentieren bereits den Verfall.

Auf den älteren schwarzfigurigen Darstellungen der Scene ist natürlich von einer feineren Charakteristik der Helden über - haupt noch nicht die Rede, so daſs zweimal Odysseus, einmal sogar Agamemnon bartlos erscheint. Daſs die Waffen des Achilleus nicht dargestellt werden, ist hier einfach die Regel; eine ganz vereinzelte Ausnahme macht die Darstellung auf einer Lekythos im Berliner Museum (No. 709 H. O, 23), welche die beifolgende Abbildung verkleinert wiedergiebt.

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Hier sehen wir als Andeutung der umstrittenen Waffen einen Helm, einen Schild und einen Speer in der Mitte liegen. Der kleine Raum zwang den Künstler, die einschreitenden Achaier wegzulassen und die Scene auf Aias, Odysseus und Agamemnon zu beschränken, gerade wie es auf den eben erwähnten späten rotfigurigen Vasen geschehen ist.

Ob Klein übrigens Recht daran getan hat, die Münchener Vase (No. 330, publiziert Arch. Zeit. 1854 Taf. LXVII) aus dieser Reihe auszuschlieſsen, erscheint mir mehr als fraglich. Klein218 wendet ein, daſs der König fehle, daſs die Krieger bewaffnet, nicht Streitende, sondern Streiter seien und endlich, daſs zwei Greise (also ein charakteristisches Moment) sie trennen. Allein, daſs Agamemnon fortgelassen ist und zwei der einschreitenden Achaier als Greise, also etwa als Nestor und Phoinix charak - terisiert sind, geht nicht über das Maſs der Änderungen hinaus, die ein phantasievoller Vasenmaler sich überhaupt mit den über - lieferten Typen gestattet. Bedenklicher könnte die Bewaffnung scheinen, allein auch auf dem Leydener Krater haben wir Ähnliches gefunden, und nicht bei jedem Vasenmaler dürfen wir ein so ausgebildetes Gefühl für das der Situation Angemessene erwarten, wie bei einem Duris. Daſs jedenfalls Kleins eigene Deutung auf den von Welcker vermuteten aufgehobenen Zweikampf zwischen Achilleus und Hektor jetzt nach Luckenbachs Auseinandersetzung nicht mehr haltbar ist, wird derselbe wohl selbst zugeben.

Als unmittelbare Fortsetzung dieser Streitscene ist die Dar - stellung zu fassen, welche zweimal sowohl bei Duris als auf der zweiten Londoner Schale (Br. Mus. 829, abgeb. Archaeologia XXXII pl. XI) als Gegenstück mit derselben zusammengestellt ist; auch dies hat Klein richtig erkannt, allein entschieden irrig ist seine Auffassung des Vorgangs. Schon der Satz, mit dem Klein seine Deutung einleitet, daſs die Lösung durch das einzige nach griechischem Sinne noch übrige Mittel, durch göttliche Ent - scheidung erfolge ist höchst befremdlich. Denn kein Dichter weiſs von einer solchen, bei Allen erfolgt die Entscheidung durch Abstimmung, und das ist ein absolut notwendiger, unveräuſser - licher Zug der Sage, weil durch ihn allein der Haſs des Aias gegen die Atriden und sein späterer Wahnwitz motiviert wird. Doch fassen wir die Darstellung, zunächst die des Duris, näher ins Auge. Die Mitte nimmt eine ziemlich niedrige Basis ein, auf welcher links eine gröſsere, rechts eine geringere Anzahl kleiner rundlicher Gegen - stände liegt. Hinter der Basis steht Athena mit erhobener Rechten auf das Lebhafteste ihre Teilnahme kundgebend. Von beiden Seiten ist je ein bärtiger Mann zur Basis herangetreten, jeder beugt sich nieder und scheint je einen jener kleinen rundlichen Gegenstände auf die Basis legen zu wollen. Hinter dem zur Rechten naht219 ein dritter Mann, gleichfalls mit einem rundlichen Gegenstand zwischen den Fingern; ihm entspricht auf der linken Seite ein Mann mit Chiton, Himation und Speer also in der Gewandung dem Agamemnon der Vorderseite ähnlich welcher sich eiligen Schrittes von der Basis entfernt, aber den Kopf nach ihr zurück - wendet. An den beiden Enden der Darstellung finden wir rechts einen Mann, der in tiefster Betrübnis sich abgewant hat, während er zugleich die Stirne in die Hand stützt und sich das Gesicht verhüllt, links hingegen einen Mann, der starr auf die Basis hinblickt und voll Freude beide Arme erhebt. Nach Klein haben wir in den beiden an der Basis stehenden Figuren Aias und Odysseus zu erkennen. Beide Helden , so sagt er, sind vor der Athena mit dem Würfeln der Loose beschäftigt, jener Art von Orakel, von der wir nur zwei, aber hier sehr passende Punkte wissen: daſs es das spezielle Orakel dieser Göttin war (?) und daſs es nicht immer die Wahrheit sprach (?); der Künstler hat die Ent - scheidung schon durch die verschiedene Anzahl der Würfel auf beiden Seiten, noch mehr aber durch die Haltung der Athena ausgedrückt; die Spannung macht an den Enden auf der Seite des Aias dem Schmerze, auf der des Odysseus der Freude Platz. Es ist mir nicht gelungen zu ermitteln, wie Klein sich den Vorgang bei dem Würfelorakel denkt, namentlich in welchem Zusammenhang die verschiedene Zahl der Würfel mit dem Ausgang stehen soll. Doch sei dem wie ihm wolle; mir däucht, es ist klar, daſs die Männer nicht würfeln, sondern die Würfel niederlegen; da nun überdieſs auch noch ein dritter einen Würfel in der Hand hält, so ist die Deutung Kleins unhaltbar. Kein Würfelorakel, sondern eine Abstimmung ist dargestellt; links liegen die für Odysseus, rechts die für Aias abgegebenen Stimmsteine; einer nach dem andern treten die Achaier zur Basis, um unter Athenas Aufsicht abzustimmen. Schon hat Odysseus die entschiedene Majorität, Aias, denn so dürfen wir jetzt unbedenklich die rechte Eck - figur benennen wendet sich traurig ab und verhüllt sein Gesicht; Odysseus das ist der Mann an dem linken Ende der Darstellung erhebt freudig die Hände. Auf ihn eilt Agamemnon, der eben für ihn gestimmt hat, zu. In scharfer Erfassung des220 Momentes und feiner Charakteristik der einzelnen Figuren steht die Darstellung derjenigen der Vorderseite durchaus nicht nach.

Die Darstellung der Londoner Vase unterscheidet sich wesent - lich dadurch, daſs die Bewegungen der vier abstimmenden Achaier, unter denen Agamemnon entweder fehlt oder wenigstens nicht besonders gekennzeichnet ist, weniger charakteristisch sind, ferner dadurch, daſs Aias zwar im Allgemeinen in derselben Stellung wie bei Duris, aber der Mitte zugewant erscheint, Odysseus endlich auf seinen Stab sich lehnend in aufmerksam gespannter Haltung und mit offenem Mund die Abstimmung beobachtet. Dieselbe Scene begegnet uns endlich auch auf einer in Leyden befindlichen Trinkschale (Roulez Choix de vases pl. II), dort ist sie aber auf die Figur der Athena und dreier abstimmenden Achaier beschränkt, wie auch auf dem Innenbild dieselbe Scene in ganz verkürzter Gestalt: Athena und ein Achaier, wiederkehrt. Die in dieser Scene fehlenden Gestalten des Aias und Odysseus hat aber der Vasenmaler benutzt, um auf der Rückseite eine neue selbständige Scene zu bilden; dort sehen wir nämlich die beiden Helden im Augenblick nach erfolgter Entscheidung. Aias in der typischen Haltung des tief Gebeugten, wie bei Duris und auf der Londoner Vase, wird von einem Genossen getröstet. Odysseus steht mit den frisch errungenen Waffen geschmückt da und empfängt aus der Hand eines jugendlichen Genossen das letzte Stück der Rüstung, die Chlamys.

Nach dem Gesagten bedarf es keiner besonderen Auseinander - setzung mehr, daſs die namentlich auf schwarzfigurigen Vasen häufigen Darstellungen zweier Helden, meist Aias und Achilleus, die sich in Gegenwart der Athena oder auch allein am Brett - oder Würfelspiel ergötzen, mit der in Rede stehenden Scene ganz und gar nichts zu thun haben. Auf schwarzfigurigen Vasen ist dieselbe bis jetzt überhaupt noch nicht gefunden worden, und darauf gründet sich die oben S. 30 ausgesprochene Vermutung, daſs sie erst von der rotfigurigen Vasenmalerei, und zwar als Gegenstück zur Streitscene, geschaffen sein möge.

Wir lernen also durch diese Vasen eine Sagenversion kennen, nach welcher Aias und Odysseus um die Waffen des Achilleus221 in heftigen thätlichen Streit gerieten, so daſs es nur mit Mühe Agamemnon und den übrigen Achaiern gelang, sie zu trennen. Es wird beschlossen, den Streit durch Abstimmung zu entscheiden, bei welcher dann Odysseus siegt. Es ist klar, daſs diese oder eine sehr ähnliche Sagenversion die Voraussetzung des sophokleischen Aias bildet; sie ist so bekannt, daſs Sophokles es unterlassen kann, den Vorgang überhaupt zu erzählen. Behandelt hatte die Sage bekanntlich auch Aischylos in der Ὅπλων κρίσις. Die äuſserst dürftigen Fragmente lassen nur erkennen, daſs die Schmähreden, wie sie die spätere Rhetorik und nach ihrem Vor - gang die römische Tragödie und zuletzt Ovid kennt, schon im attischen Drama vorkamen. Daſs aber auch in diesem Fall nicht etwa Aischylos die Quelle für die Vasenmalerei ist, wie man wohl behauptet hat, beweist für die Streitscene das Vorkom - men derselben schon in der schwarzfigurigen Vasenmalerei, für die Abstimmung das Zeugnis des Pindar, der Nem. VIII 26 be - reits diese Sagenversion kennt, wenn er sagt:

κρυφίαισι γὰρ ἐν ψάφοις Ὀδυσσῆ Δαναοὶ ϑεράπευσαν,
χρυσέων δ̕ Αἴας στερηϑεὶς ὅπλων φόνῳ πάλαισεν.

Diese einfache Fassung sind wir nun wohl berechtigt auch für die älteste zu halten und für die Aithiopis vorauszusetzen; die sehr gekünstelte Fassung der kleinen Ilias ist gewiſs nicht ursprünglich, sondern aus dem Bestreben hervorgegangen, die frühere poetische Behandlung zu überbieten. Daſs der Inter - polator von Odyssee λ 547 gerade diese Version im Sinne hat, sich aber ungeschickt ausdrückt, scheint mir klar. Die Erklärung des Scholiasten, daſs Agamemnon die gefangenen Troer habe richten lassen, ist augenscheinlich erst aus dem Odysseevers er - schlossen. In keinem Falle haben wir ein Recht, dieselbe für Arktinos vorauszusetzen.

[222]

EXCURS III.

ARKTINOS UND LESCHES.

Unter diesem Titel sollen aphoristisch einige teils auf den Inhalt und die Verbreitung der beiden Fortsetzungen der Ilias, teils auf die Traditionen über ihre Verfasser bezügliche Be - merkungen zusammengestellt werden, Bemerkungen, die zwar ge - wiſs schon von Vielen gemacht, aber meines Wissens noch nicht mit genügender Entschiedenheit ausgesprochen worden sind, und die ich hier um so weniger übergehen kann, als sie für einige der in diesem Buche gegebenen Darlegungen die notwendige Voraussetzung bilden.

Bereits K. O. Müller Kl. deutsche Schriften I 401 und neuer - dings wieder Th. Schreiber im Hermes X S. 312 haben mit Recht darauf hingewiesen, daſs Proklos vor allem darauf ausgeht, eine zusammenhängende Erzählung des troianischen Krieges zu geben. Um dies zu erreichen, war er gezwungen, wenn etwa dasselbe Ereignis in zwei verschiedenen Epen erzählt war, nur die Fas - sung des einen aufzunehmen, die des anderen zu verwerfen. Um für eine summarische Übersicht über die Ereignisse des troischen Krieges benutzt zu werden, muſsten sich die Hypothe - seis der einzelnen Epen mindestens erhebliche Kürzungen, viel - leicht auch Änderungen anderer Art gefallen lassen, wobei es zunächst unerörtert bleiben mag, ob Proklos selbst zuerst diese Operation vornahm oder ob er sie bereits in irgend einer mytho - graphischen Quelle vollzogen vorfand. So viel ergiebt sich ohne223 Weiteres aus dem Gesagten, daſs man von den sogenannten Proklosexcerpten weder Vollständigkeit noch überhaupt Auf - klärung über die Ausdehnung der einzelnen Epen erwarten darf.

In der That wäre das Bild, das wir aus Proklos allein von den unter Arktinos und Lesches Namen gehenden Epen gewinnen würden, ein unglaublich verschrobenes; Arktinos würde darnach zwei Epen gemacht haben, die Aithiopis, welche sich unmittelbar an die Ilias angeschlossen und mitten in der Erzählung vom Streit um die Waffen des Achilleus noch vor der Entscheidung abgebrochen hätte, und die Iliupersis, die mit dem Moment, da die Troer staunend und ratlos das hölzerne Pferd umstehen, begonnen haben würde. Die Ereignisse, welche zwischen das Ende der Aithiopis und den Anfang der Iliupersis fallen, hätte dann Lesches in einem besonderen Gedicht behandelt, der kleinen Ilias, welche mit dem Waffengericht begonnen und der Verfertigung des troischen Pferdes und der Abfahrt der Griechen nach Tenedos geendet, also so genau in die Lücke der Epen des Arktinos ge - paſst hätte, daſs die Vermutung nicht abzuweisen wäre, jenes Gedicht sei eben zum Zweck der Vervollständigung des von Arktinos hintergelassenen Epos geschrieben worden. Seit Welcker zweifelt Niemand daran, daſs diese Vorstellungen durchaus irrige sein würden. Man ist sich darüber einig, daſs, wie einerseits die kleine Ilias bis zur Zerstörung von Ilion ging, so andererseits die Aithiopis keineswegs mitten im Waffenstreit abbrach, sondern auch die Entscheidung desselben enthielt, ja einfach mit der Iliupersis ein zusammenhängendes Epos bildete. Auſser der Ὅπλων κρίσις und dem sich daran schlieſsenden Wahnsinn und Tod des Aias, für dessen Vorkommen bei Arktinos wir zwei ausdrückliche Zeug - nisse (schol. Pind. Isthm. III 53. schol. Il. Λ 515) besitzen, muſs in jenem mittleren Teile des Gedichtes, für den uns Proklos im Stich läſst, mindestens noch der Tod des Paris und die Abholung des Neoptolemos, da dieser bei der Eroberung und Zerstörung die Hauptrolle spielt, berichtet gewesen sein. Daſs auch der Palladionraub erzählt war, wissen wir durch Dionysios von Halicarnaſs Arch. I 69. Wie von dem Gedicht des Arktinos die Mitte, so fehlt bei Proklos von der kleinen Ilias Anfang und Ende;224 über letzteres geben Pausanias und Lysimachos einzelne Notizen, von ersterem setzt man voraus, daſs er doch wenigstens noch den Ausbruch des Zwistes zwischen Aias und Odysseus enthalten habe. Aber man wird noch weiter gehen und die Möglichkeit zugeben müssen, daſs auch noch früher fallende Ereignisse, wie der Tod des Achill, in diesem Gedicht behandelt gewesen sein können. Ich weiſs wohl, daſs man gegen diese Annahme zweierlei einwenden kann und einzuwenden pflegt. Einmal die Dar - stellungen der capitolinischen tabula iliaca, auf welcher der der kleinen Ilias gewidmete Streifen mit dem in Wahnwitz ver - sunken dasitzenden Aias beginnt; aber derselbe Streifen endet auch mit der Einführung des troischen Pferdes, stimmt also im Anfange und Ende sowie auch in den einzelnen Scenen genau mit dem Bericht des Proklos über die kleine Ilias überein, ein Zusammentreffen, aus welchem bereits Michaelis den in der That unabweisbaren Schluſs gezogen hat, daſs Proklos nicht erst selbst jene Kürzung und Umarbeitung der Hypotheseis vorgenommen hat, sondern sie bereits in mythologischen Hand - büchern vorfand, und daſs auf diese selben Handbücher eben auch die Darstellungen der tabulae iliacae zurückgehen. Zweitens könnte man entgegnen, daſs unter den Stoffen, welche Aristoteles an der bekannten Stelle seiner Poetik aufzählt, der früheste die Ὅπλων κρίσις ist. Allein einmal ist Vollständigkeit an jener Stelle von Aristoteles nicht zu erwarten, denn er zählt natürlich nur die klassischen Stücke auf, und dann haben wir in der That keine Kunde davon, daſs einer der groſsen Tragiker den Tod des Achilleus behandelt habe, auch nicht Aischylos, denn die be - rühmte, unvergleichlich schöne Klage der Thetis (fr. 340 Nauck) setzt man mit Recht in die Ὅπλων κρίσις. So bleibt es eben dabei, daſs wir nicht wissen, inwieweit noch Ereignisse, die vor den Waffenstreit fallen, in der kleinen Ilias erzählt waren.

Aithiopis und kleine Ilias stellen sich somit als zwei selb - ständig nebeneinander stehende Fortsetzungen der Ilias dar, die sich nicht ergänzen, sondern ausschlieſsen, und zwar in dem Sinne, daſs das zweifellos jüngere von beiden Gedichten, die kleine Ilias, mit Bewuſstsein gewisse Züge des älteren ändert und225 mildert. Das hat mir Wilamowitz an einem einzigen, aber durch - schlagenden Beispiel nachgewiesen. In der Aithiopis ich gebrauche den Namen von dem ganzen Epos, ob nach Vorgang der Alten weiſs ich freilich nicht in der Aithiopis also tötet Neoptolemos den Priamos am Altar des Zeus Herkeios, in der kleinen Ilias reiſst er ihn vom Altar weg und tötet ihn an der Schwelle; der Frevel gegen die Gottheit wird dadurch zwar nicht aufgehoben, aber doch in etwas gemildert.

Daſs die Aithiopis ein Werk des Arktinos von Milet sei, scheint für die Alten eine ebenso unumstöſsliche Thatsache gewesen zu sein, wie daſs Homer der Verfasser der Ilias sei, und wir Neueren haben uns diesen Sprachgebrauch in demselben Sinne und mit derselben Reserve, wie bei Ilias und Odyssee, angeeignet. Wenn wir aber in gleicher Weise Lesches als Verfasser der kleinen Ilias nennen, so thun wir dies nicht in Übereinstimmung mit der An - schauung des Altertums, wenigstens nicht des gesamten Altertums. An der einzigen Stelle, wo Aristoteles dieses Gedichtes gedenkt, sagt er: τὴν μικρὰν Ἰλιάδα ποιήσας, und diese Ausdrucksweise beweist wenigstens so viel, daſs er entweder eine Tradition über den Verfasser dieses Gedichtes überhaupt nicht kannte oder derselben keinen Glauben schenkte. Erst im späteren Altertum finden wir die Meinung allgemein verbreitet, daſs Lesches, der Sohn des Aischy - linos aus der Stadt Pyrrha auf Lesbos, der Verfasser der kleinen Ilias sei. Auf der tabula iliaca sowohl wie in den Excerpten des Proklos wird Lesches als Verfasser dieses Gedichtes genannt; seine Autorschaft war also in der römischen Kaiserzeit ein Dogma der Litteraturgeschichte geworden, und so kann es nicht ver - wundern, wenn in den Pindarscholien (Nem. VI 85) Λέσχου μικρὰ Ἰλιάς, und in den Aristophanesscholien (Lysistr. 155) Λέσχης Πυρραῖος ἐν τῇ μικρᾷ Ἰλιάδι citiert wird, und wenn Tzetzes den Namen Lesches auch an solchen Stellen einfügt, wo seine Quelle nur τὸν τὴν περσίδα συντεταχότα oder τὸν τὴν μικρὰν Ἰλιάδα γρά - ψαντα kennt1)Tzetzes zu Lykophr. 344 aus schol. Eurip. Hekabe 910, zu Lykophron 1263 aus schol. Eurip. Troiades 10, in den alten Scholien zu Lykophron heiſst zu V. 780 der Verfasser τὴν μικρὰν Ἰλιάδα γράψας.. Endlich spricht Pausanias im X. Buch mit VorliebePhilolog. Untersuchungen V. 15226von der Iliupersis des Lescheos, wie er sich den Nominativ zu dem in seiner Quelle vorgefundenen Genetiv Λέσχεω gebildet hat2)Dies hat zuerst Wilamowitz bemerkt.. Der Verdacht, daſs dieser Lescheos derselbe Verfasser ist, den er vorher III 26, 9 als τὸν τὰ ἔπη ποιήσαντα τὴν μικρὰν Ἰλιάδα aus einer anderen Quelle citiert hat, scheint ihm nicht gekommen zu sein. Dieser Lesches nun begegnet uns zum ersten Mal bei dem Peripatetiker Phanias von Eresos. Die überaus wichtige Angabe ist uns bei Clemens Alexandrinus I 21 erhalten, wo derselbe über die Lebenszeit des Terpandros spricht. Sie lautet: Ἑλλάνικος γοῦν τοῦτον (den Terpandros) ἱστορεῖ κατὰ Μίδαν γεγονέναι, Φανίας δὲ πρὸ Τερπάνδρου τιϑεὶς Λέσχην τὸν Λέσβιον̕ Αρχιλόχου νεώτερον φέρει τὸν Τέρπανδρον, διημιλλῆσϑαι δὲ τὸν Λέσχην Ἀρ - κτίνῳ καὶ νενικηκέναι. Wenn man nun auch den Wettkampf mit Arktinos sofort in das Reich der litterarhistorischen Mythenbildung, der auch der Wettkampf desselben Dichters mit Hesiod (Plut. conviv. VII sap. 153 F. vgl. Wilamowitz im Hermes XIV S. 161) angehört, verweisen und in dem Sieg des Lesbiers über den Mi - lesier einen Ausdruck des Lokalpatriotismus erkennen wird, so scheint doch dies Zeugnis zu beweisen, daſs eine alte auf Lesbos bestehende Überlieferung, der zu miſstrauen kein Grund ist und der denn auch das ganze spätere Altertum Glauben schenkte, die kleine Ilias für das Werk eines Lesbiers Namens Lesches er - klärte; die genauen Angaben, daſs dieser Mann aus Pyrrha ge - wesen und sein Vater Aischylinos geheiſsen habe, hat zwar Cle - mens Alexandrinus nicht; aber man wird sie an sich unbedenklich gleichfalls für alte Tradition halten dürfen.

Leider aber tritt dem Zeugnis des Phanias das eines anderen Lesbiers entgegen. Wir lesen in den Scholien zu Eurip. Troad. 821, daſs der Tragiker in der Angabe über die Abstammung des Ganymedes übereinstimme mit τῷ τὴν μικρὰν Ιλιάδα πεποιηκότι, ὃν οἱ μὲν Θεστορίδην Φωκέα φασίν, οἱ δὲ Κιναίϑωνα Λακεδαιμόνιον, ὡς Ἑλλάνικος, οἱ δὲ Διόδωρον Ἐρυϑραῖον. Also Hellanikos, der doch selbst aus Mytilene war, erklärt die kleine Ilias nicht für das Werk seines Landsmannes,227 sondern für das eines Spartaners oder vielmehr eines in Sparta lebenden Chiers. Da nun kein Besonnener annehmen wird, daſs Hellanikos von einer solchen in seiner Heimat lebenden Über - lieferung Nichts gewuſst habe, so folgt aus dieser Angabe des Scho - liasten mit unabweisbarer Notwendigkeit, daſs entweder zu Hellani - kos Lebzeiten, also am Ende des fünften Jahrhunderts, die Tra - dition von Lesches noch nicht existierte oder daſs sie dem Hellanikos ganz unglaubhaft schien: in letzterem Falle müssen es sehr starke und jedenfalls absolut entscheidende Gründe gewesen sein, die dem Lokalpatriotismus des Hellanikos das Geständnis ab - nötigten, daſs der Ruhm, das Vaterland der kleinen Ilias zu sein, nicht seiner Heimat, sondern Sparta oder Chios gebühre. Weitaus wahrscheinlicher ist aber die erste Annahme. Dann würde Lesches, der Mann, der die alten Fabeln in der λέσχη erzählt, der litterarhistorischen Mythenbildung des vierten Jahr - hunderts angehören; denn daſs Phanias ihn erfunden haben sollte, stimmt nicht zu dem wissenschaftlichen Charakter des Mannes; dazu paſst vortrefflich, daſs ihn Aristoteles nicht kennt. Lesches ist die Gestalt, welche lesbischer Lokalpatriotismus dem Geschöpf der ionischen Legende, Thestorides von Phokaia, entgegenstellt. Thestorides der Name ist doch wohl aus dem Patrony - mikon des Kalchas entstanden Thestorides, der Schulmeister von Phokaia, ist bekanntlich ziemlich früh in die Homerlegende eingedrungen. Ob er stets den häſslichen Charakter gehabt hat, den ihm die vita Homeri giebt, ist mindestens zweifelhaft. Worauf die Angabe, daſs der ganz unbekannte Diodoros von Erythrai der Verfasser sei, beruht, läſst sich nicht entscheiden, ebensowenig welche Gründe Hellanikos für Kinaithon’s Autor - schaft hatte. Kein Besonnener wird heute sich vermessen, die Frage nach dem Autor der kleinen Ilias beantworten zu wollen. Sollen aber doch einmal die Ansprüche abgewogen werden, so ist sowohl Diodoros als Kinaithon weit eher berechtigt, für den Verfasser der kleinen Ilias zu gelten, als Lesches.

Wenn Phanias den Lesches nicht erfunden hat, so scheint er ihn doch in die Litterarhistorie eingeführt zu haben3)Der ausgedehnte Gebrauch, den das Drama von dem Sagenstoff der. Na -15*228mentlich am Hofe von Pergamon scheint man sich für den Dichter Lesches begeistert zu haben; unter Eumenes dem Ersten finden wir dort den Dichter Leschides, und so wird es wohl auch ein pergamenischer Altertumsforscher gewesen sein, aus welchem Pausanias seine Angaben über das Verhältnis der Polygnotischen Iliupersis zu Lesches geschöpft hat.

Allein nicht überall scheint man so gläubig gewesen zu sein; auch nach Phanias Zeit begegnet uns die besonnene Citierweise γράψας τὴν περσίδα und τὴν μικρὰν Ἰλιάδα συντεταχώς, und der gelehrte Forscher, auf welchen das oben citierte Euripides - scholion zurückgeht, hält die Hypothese von Lesches Autorschaft nicht einmal der Erwähnung für wert. Wir können diesen Mann mit Wahrscheinlichkeit noch heute nachweisen. Es ist kein anderer, als Lysimachos, der bekannte Verfasser der Νόστοι, dessen mythographische Schriften in den Scholien zur Andro - mache, zu den Troerinnen und zum Rhesos vielfach benutzt sind; und es läſst sich sogar, worauf mich Wilamowitz hingewiesen hat, unschwer der Nachweis führen, daſs, abgesehen von den Angaben des Pausanias, die übrigen Fragmente und Notizen aus der kleinen Ilias, denen wir in der antiken Litteratur begegnen, alle oder fast alle dem Lysimachos entnommen sind.

In dem Scholion zur Hekabe 910 steht ein Auszug aus des Lysimachos Auseinandersetzung über das Jahr und den Tag von Troias Fall; in derselben wird ohne Nennung des Autors der Vers

νὺξ μὲν ἔην μέσση, λαμπρὴ δ̕ ἐπέτελλε σελήνη

citiert. Denselben Vers mit Nennung des Lesches citiert Tzetzes zu Lykophron 344; in den alten Scholien fehlt das Citat. Ich muſs es, bevor Scheer’s Ausgabe der Lykophronscholien vorliegt, unentschieden lassen, ob Tzetzes das Euripidesscholion vollstän - diger las oder ob er das Citat aus einem vollständigeren Exem - plar der Lykophronscholien entnahm. Letztere Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen, da auch die alten Lykophronscholien zu V. 780 die kleine Ilias citieren und Lysimachische Bestandteile in3)kleinen Ilias macht, fiel schon dem Aristoteles auf; da ist es denn kein Wunder, wenn man dem Lesches einen kleinen Aischylos zum Vater gab.229 diesen Scholien bereits oben, im ersten Excurs S. 198, nachgewiesen worden sind. Den Lesches aber hat, wie schon oben bemerkt, Tzetzes selbst eingesetzt; Lysimachos schrieb: τὴν μικρὰν Ἰλιάδα γράψας.

Genau dasselbe Verhältnis besteht zwischen Tzetzes zu Ly - kophron 1263 und dem schol. Eur. Androm. 10; letzteres, dessen genaue Lesung sowohl als Emendation wir Wilamowitz de Rhesi scholiis p. 4 verdanken, enthält die Angaben des Lysimachos über den Tod des Astyanax und schlieſst mit den Worten Στη - σίχορον μὲν γὰρ ἱστορεῖν, ὅτι τεϑνήκοι καὶ τὸν τὴν περσίδα συντεταχότα κυκλικὸν ποιητὴν, ὅτι καὶ ἀπὸ τοῦ τείχους ῥιφείη. Welcker Epischer Cyklus II S. 528 bezieht diese Angabe auf Arktinos, und der neueste Herausgeber der Epikerfragmente ist ihm darin gefolgt. Ist diese Annahme schon an sich be - denklich, weil die Lysimachosfragmente zwar vielfache Be - nutzung der kleinen Ilias, hingegen von einer Bekanntschaft mit Arktinos nirgends eine Spur aufweisen, so wird sie zur baren Unmöglichkeit dadurch, daſs die betreffenden Verse der kleinen Ilias, auf welche Lysimachos sich bezieht, erhalten sind. Denn wollte man auch annehmen, daſs bei Arktinos nur der Mörder des Kindes ein anderer, Odysseus statt Neoptolemos, die Todesart aber dieselbe gewesen wäre, so bliebe es doch un - begreiflich, daſs Lysimachos nicht beide Gedichte citiert und in diesem einen Fall die sonst so vielfach von ihm benutzte kleine Ilias ignoriert hätte. Jene Verse der kleinen Ilias hat nun aber eben Tzetzes a. a. O. erhalten; ob er sie aus einem vollständigeren Exemplar der Lykophronscholien oder aus einem besser erhaltenen Euripidesscholion hat, mag auch hier dahingestellt bleiben, doch ist letzteres in diesem Falle darum das wahrscheinlichere, weil das von Tzetzes mit diesen Versen zusammengeschweiſste Simmiasfragment gleichfalls den Euripides - scholien entnommen ist; könnten nicht die fünf unleserlichen Zeilen, welche im Marcianus auf ῥιφείη folgen, das Citat ent - halten haben? In diesem Falle wäre die Entlehnung aus Lysi - machos sicher, im anderen wenigstens im höchsten Grade wahr - scheinlich.

230

Dagegen ist sowohl der Name Lysimachos als das Citat aus der kleinen Ilias erhalten in dem Scholion zu V. 31 der Troerinnen; denn nach dem eben Gesagten bedarf es keines besonderen Beweises mehr, daſs auch hier unter τὴν περσίδα πεποιηκώς der Verfasser der kleinen Ilias zu verstehen ist, während Welcker auch dies Frag - ment dem Arktinos zuteilt, aber wenigstens hier die Möglichkeit, daſs es auch in die kleine Ilias gehören könne, zugiebt.

Sind nun diese drei in den Euripidesscholien stehenden Fragmente nachweislich dem Lysimachos entlehnt, so dürfen wir dasselbe auch für das vierte ebendort (schol. Eur. Troades 821) erhaltene Fragment ohne Weiteres voraussetzen, zumal auch diesmal in echt lysimacheischer Weise τὴν μικρὰν Ἰλιάδα πεποιηκώς citiert wird. In diesem Scholion sind aber auch, und zwar un - lösbar mit dem Citat verknüpft, die verschiedenen Dichter, die für Verfasser der kleinen Ilias gelten, aufgezählt, wobei indessen Lesches offenbar absichtlich übergangen ist; und hieraus erhellt eben, was ich schon oben ausgesprochen habe, daſs auch diese Angaben auf Lysimachos zurückgehen.

Von den übrigen Fragmenten stehen III (Welcker) bei Eusta - thios (285, 34), IV in den Iliasscholien (Τ 326), V in den Pindar - scholien (Nem. VI 85), VIII in den Lykophronscholien 780 und IX im Hesych (s. v. Διομήδειος ἀνάγκη), also in lauter Werken, welche notorisch auch sonst Bestandtheile lysimacheischer Gelehr - samkeit enthalten4)Den Lysimachos citiert Eustathios zur Od. 1796, 10 (fr. 17 Müller), die Pindarscholien zu Isthm. IV 104 und Pyth. V 108 (fr. 7, 9), Hesychios s. v. Σκῦρος (fr. 12); für die Iliasscholien folgt die Benutzung aus Eustathios; über die Lykophronscholien siehe oben.. Daſs speziell fr. IV, welches von Achills Landung auf Skyros handelt, aus Lysimachos entnommen ist, wird auch durch die bei Hesych s. v. Σκῦρος erhaltene Notiz, nach welcher Lysimachos eine Etymologie des Namens Skyros gegeben hatte, erwiesen.

Sehen wir von den in der vita Homeri stehenden Anfangs - versen ab, so bleiben noch drei sichere Fragmente der kleinen Ilias übrig; zwei davon stehen in den Aristophanesscholien, die - selben müssen aber verschiedenen Quellen entstammen, da das231 eine Mal (Equites 1056) in der Weise des Lysimachos τὴν μικρὰν Ἰλιάδα πεποιηκώς, das andere Mal (Lysistrate 155) Λέσχης Πυρραῖος ἐν τῆ μικρᾷ Ἰλιάδι citiert wird. Das dritte endlich steht bei Pausanias III 26, 9 und muſs, da nicht Lescheos , sondern τὰ ἔπη ποιήσας τὴν μικρὰν Ἰλιάδα citiert wird, einer anderen Quelle entnommen sein, als die Citate des zehnten Buches.

Wenn sich so mit verschwindend geringen Ausnahmen alle aus der kleinen Ilias erhaltenen Fragmente und Notizen auf nur zwei Quellen, Lysimachos und die von Pausanias ausgeschriebene Periegese von Delphi (Polemon?), zurückführen lassen, so beweist dies, daſs die Kenntnis dieses Gedichtes keine sehr verbreitete gewesen sein kann. In der That, so populär eine Zeitlang die sog. kyk - lischen Epen gewesen sein müssen, so scheinen dieselben doch mehr und mehr zurückgetreten zu sein, seit das attische Drama die aus ihnen entnommenen Stoffe in einer eigenartigen Weise be - handelt hatte und die von diesem geschaffene Sagenversion die popu - läre geworden war. Nur Ilias und Odyssee behaupteten ihren alten Rang und werden ihn behaupten für alle Zeit. Die übrigen Epen kennt man seit dem dritten Jahrhundert nicht sowohl aus eigener Lectüre, als aus den Hypotheseis und gelegentlichen Citaten in den mythographischen Handbüchern und den Dichterkommentaren5)Dafür liefert Ovid ein artiges Beispiel. Wir wissen aus der Hypo - thesis zu Euripides Medeia, daſs in den Nosten Medeia den Aison verjüngte; dieselbe Geschichte erzählt Ovid Met. VII 159 296. Hat also Ovid die Nosten gelesen? Keineswegs, er kannte die Notiz eben daher, woher wir sie auch kennen, aus der Medeia-Hypothesis, und seine Schilderung enthält da - her absolut nichts Sagenstoffliches, nichts, worauf nicht ein römischer Dich - ter von selbst hätte kommen können, nichts als eine lange prächtige Aus - malung des in der Medeia-Hypothesis citierten Nosten-Verses φάρμακα πόλλ̕ ἕψουσ̕ ἐπὶ χρυσείοισι λέβησιν. Daſs nun Ovid seine ganze Kenntnis von jener Sage aus dieser Hypothesis nicht bloſs entnehmen konnte, sondern daſs er sie auch wirklich daher entnommen hat, beweist folgender Umstand mit aller nur denkbaren Evidenz. Auf das Citat aus den Nosten folgen in der Hypo - thesis die Worte: Αἰσχύλος δὲ ἐν ταῖς Διονύσου τροφοῖς ἱστορεῖ, ὅτι καὶ τὰς Διονύσου τροφοὺς μετὰ τῶν ἀνδρῶν αὐτῶν ἀνεψήσασα ἐνεοποίησεν. Und Ovid fährt, nachdem er die Verjüngung des Aison erzählt hat, folgendermaſsen fort. 232Noch in weit höherem Grade, als von der kleinen Ilias, gilt das von der Aithiopis. Wenn Aristoteles neben der Ilias Kyprien und kleine Ilias nennt, so hat er damit in seinem Sinne die den troischen Krieg behandelnden Gedichte Homerica Antehomerica und Posthomerica erschöpft; Arktinos existiert für ihn nicht. Ebensowenig nehmen Lysimachos und der Perieget der delphischen Lesche auf Arktinos die mindeste Rücksicht. Und dazu stimmt es denn vortrefflich, daſs, nachdem die beiden in den Euripidesscholien erhaltenen Frag - mente der kleinen Ilias zugefallen sind, nur noch vier Fragmente aus der Aithiopis übrig bleiben, also nicht einmal der fünfte Teil von den Fragmenten der kleinen Ilias.

5)viderat ex alto tanti miracula monstri Liber, et admonitus iuvenes nutricibus annos posse suis reddi, capit hoc a Colchide munus. Hier ist es wo möglich noch klarer, daſs Ovid die aischyleische Tragödie mit keinem Auge gesehen hat; schon die Dürftigkeit der Behandlung zeigt, daſs er nicht mehr von der Sage wuſste, als in der Hypothesis steht; geradezu gravierend ist aber, daſs er den Vorgang in der Reihenfolge der Ereignisse zeitlich nach der Verjüngung des Aison setzt und ihn in einen Causalnexus mit der letzteren bringt; dazu konnte ihn nur der Umstand veranlassen, daſs die Sage in der natürlich nicht chronologisch gemeinten Aufzählung der Hypo - thesis ihren Platz hinter der Verjüngung des Aison erhalten hatte. Daſs bei Aischylos das Alles ganz anders gewesen sein muſs, versteht sich von selbst. Wie sollten auch die Hyaden nach Iolkos kommen?

[233]

EXCURS IV.

DIE JUGEND DES PARIS.

Die oben (S. 94) bei Gelegenheit der Deutung der Brygos - schale ausgesprochene Behauptung, daſs die uns geläufige Sage von der Aussetzung und Wiedererkennung des Paris dem Epos fremd und erst im fünften Jahrhundert entstanden sei, wird zu - nächst gewiſs manchem Leser bedenklich erscheinen. Die Sagen - version, die den späteren Kunstwerken zu Grunde liegt und welche, wie teils die Bruchstücke teils andere Anzeichen lehren, von Sopho - kles und Euripides in ihrem Alexandros dramatisch behandelt war, hat man sich nach Welckers Vorgang (Ep. Cykl. II S. 90) gewöhnt, auch für die Kyprien vorauszusetzen, obgleich Proklos von dem Vor - gang schweigt. Welckers Argumentation ist folgende: Paris ist bei ihm (Proklos) wie nach den Bruchstücken selbst, als er richtet, auf dem Ida in ländlicher Abgeschiedenheit, nicht in der Stadt, wo die Scene sich gar nicht denken läſst, und nachher wahrsagt ihm Helenos, sein Bruder, der zu dem freien Landmanne, dem unbekannten Heerdenbesitzer und Jäger im Gebirge keine Be - ziehung hatte. Demnach hatte die Tragödie Alexandros von Sophokles und Euripides in den Kyprien ihre Grundlage, wie viel auch hinzugedichtet sein mag. Paris, der von Hekabe ausgesetzt und von Hirten im Gebirg erzogen worden war, folgt seinem ihm weggeführten Stier in die Königsburg, wird zu den Wett - kämpfen zugelassen, als Sieger erkannt und wider die Wahr - sagung der Kassandra in seine Familie aufgenommen . Allein234 mir scheint, es bedarf nur eines geringen Nachdenkens, um einzu - sehen, daſs diese ganze Argumentation auf einer falschen Voraus - setzung beruht. Daraus, daſs Paris auf dem Lande weilt und die Heerde weidet, daſs, wie es in der bekannten wahrscheinlich schon im Hinblick auf die Kyprien oder des zu Grunde liegenden Liedes gedichteten Stelle des letzten Buches der Ilias (Ω 29) heiſst, die Göttinnen zum Gehöft des Paris kommen, folgt doch noch keineswegs, daſs der Dichter der Kyprien auch von der Aussetzung des Paris und dem Traum der Hekabe weiſs. Auch Anchises weilt auf dem Lande und weidet die Heerde, als Aphrodite ihm erscheint. Ganymed wird in der späteren Sage konsequent als Hirte gedacht. Antiphos und Isos, die Priamiden, weiden am Ida die Schafheerden, als Achilleus sie überfällt (Λ 106), Demokoon, der Bastardsohn des Priamos (Δ 500), und Melanippos, der Sohn des Hiketaon, haben bis zum Ausbruch des Krieges die Pferde - heerden geweidet (Ο 547), ja auch Aineias wird von Achill am Ida bei den Heerden überfallen (Υ 89). An Aussetzung kann doch in allen diesen Fällen nicht gedacht werden. Nicht also eine Aus - nahme, sondern ein ganz gewöhnlicher, übrigens recht beachtens - werter Zug der Sage ist es, daſs die jungen Troer vor dem Beginn des Krieges drauſsen die Heerden weideten; und es be - durfte also gar keiner besonderen Motivierung, wenn die Göttinnen Paris auf dem Ida bei seiner Heerde fanden.

Ja man darf noch weiter gehen: es ist überhaupt sehr zweifelhaft, ob die Sage vom Traume der Hekabe und der Aus - setzung des Paris älter ist, als das 5. Jahrhundert, vielleicht läſst sich sogar der Zeitpunkt ihrer Entstehung noch näher be - stimmen. Fest steht zunächst, daſs sie dem 415 aufgeführten Alexandros des Euripides zu Grunde lag, und in welcher Form, das lehren uns auſser den Fragmenten vor Allem zwei Stellen des erhaltenen dritten Stückes der Trilogie, der Troerinnen; denn mit offenbarem Hinblick auf das erste Stück sagt V. 597 Andro - mache zur Hekabe: das Unglück hat begonnen, ὅτε σὸς γόνος ἔκφυγεν Ἅιδαν, und noch klarer spricht Helena in der groſsen Streitscene mit Hekabe V. 919:

235
πρῶτον μὲν ἀρχὰς ἔτεκεν ἥδε τῶν κακῶν
Πάριν τεκοῦσα· δεύτερον δ̕ ἀπώλεσε
Τροίαν τε κἄμ̕ πρέσβυς οὐ κτανὼν βρέφος,
δαλοῦ πικρὸν μίμημ̕ Ἀλέξανδρόν ποτε.

Daraus lernen wir, daſs Euripides diesen Teil der Sage in der - selben Version kannte und in seinem Alexandros in derselben Weise behandelt hatte, wie er dem späteren Altertum geläufig war. Hekabe träumt, daſs sie eine Fackel gebiert; die Wahrsager (oder Kassandra?) deuten den Traum auf den neugeborenen Paris, dieser soll getötet werden, aber der Greis, dem der Mord auf - getragen wird, erbarmt sich seiner und setzt ihn aus. Von dem Alexandros des Sophokles besitzen wir nur wenige Fragmente, darunter aber ein absolut entscheidendes fr. 91:

βοτῆρα νικᾶν ἄνδρας ἀστίτας. τί γάρ;

Dies zeigt, daſs die Kampfspiele vorkamen, daſs Paris als Hirt, also unerkannt, die Städter, das sind seine Brüder die Priamiden, besiegte, und für diese Situation bildet die Aussetzung des Paris die unumgängliche Voraussetzung. Wir konstatieren also, So - phokles und Euripides kennen den Mythos in der uns geläufigen Version. Um so mehr muſs es befremden, daſs Euripides in einem früheren Stück diese Version nicht kennt oder wenigstens sie als nicht bekannt oder nicht populär genug nicht befolgt. In der zur Zeit des Archidamischen Krieges aufgeführten Andro - mache singt der Chor V. 293 300:

Ἀλλ̕ εἴϑ̕ ὑπὲρ κεφαλὰν ἔβαλεν κακὸν
τεκοῦσά νιν Πάριν,
πρὶν Ἰδαῖον κατοικίσαι λέπας,
ὅτε νιν παρὰ ϑεσπεσίῳ δάφνᾳ
βόασε Κασάνδρα κτανεῖν,
μεγάλαν Πριάμου πόλεως λώβαν.
τίν̕ οὐκ ἐπῆλϑε, ποῖον οὐκ ἐλίσσετο
δαμογερόντων βρέφος φονεύειν;

Der Sinn dieser Worte kann nur der sein: vergebens fleht236 Kassandra, daſs man das Kind töte, vergebens fleht sie zu den Ältesten der Stadt, man schenkt ihr kein Gehör und keinen Glauben das ist ja der Fluch, den Apollo auf ihre Propheten - gabe gelegt hat, und das Kind bleibt leben. Der Scholiast freilich faſst als Gegensatz des Tötens die Aussetzung, wenn er sagt: κατ̕ ὄναρ ϑεασαμένη Ἑκάβη, ὅτι λαμπάδα ἅμα τῷ τεχϑῆναι τὸν Ἀλέξανδρον ἐγέννησεν, ἐδυσφόρει καὶ ἤρετο τοὺς μάντεις. οἱ δὲ ἔφασκον χρῆναι τὸ τεχϑὲν φονεύειν. δὲ ἐξέϑηκεν αὐτὸ μή τολμῶσα φονεῦσαι. Allein dies kann unmöglich die Meinung des Dichters gewesen sein; denn durch die Aussetzung bezweckt ja Hekabe wirklich, das Kind zu töten, so gut wie Laios und Iokaste den Oidipus. Weiter ergänzt sich jeder unbefangene Hörer als Gegensatz zu κτανεῖν: σῶσαι und empfängt den Ein - druck, daſs Kassandras Bitten vergeblich gewesen, also dem Kinde überhaupt kein Leid geschehen sei; wenn dies nicht die Meinung des Dichters war, so hätte er sich anders und klarer ausdrücken müssen. Endlich wäre, wenn es sich um die Gegen - sätze aussetzen oder töten handelte, gerade der Ausdruck εἴϑ̕ ὑπὲρ κεφαλὰν ἔβαλεν sehr schlecht gewählt; denn derselbe würde auch auf die Aussetzung ebenso gut, ja sogar in noch viel eigentlicherem Sinne passen. Über den Kopf wirft man das, wovon man nichts mehr wissen will; man kümmert sich nicht darum, was daraus werde. Für den Ausdruck läſst sich ver - gleichen Herodot IV 188: ἐπεὰν τοῦ ω̕τὸς ἀπάρξωνται τοῦ κτήνιος, ῥιπτέουσι ὑπὲρ τὸν ὦμον (nach Reiskes schöner Emendation für ὑπὲρ τὸν δόμον) vgl. auch Nauck Euripideische Studien II S. 99.

Nach dem Gesagten glaube ich zu der Annahme berechtigt zu sein, daſs Euripides hier einer anderen Version folgt, als im Alexandros und den Troerinnen; nach dieser versuchte Kassandra bei der Geburt des Paris vergebens, ihre Eltern und den Rat der Geronten zur Tötung des Kindes zu bewegen; der Fluch Apollons bewährt sich, sie findet keinen Glauben. Das Kind bleibt am Leben und wächst in der Königsburg auf; als es gröſser ge - worden, wird es, wie die anderen Königskinder von Troia, auf das Land zu den Heerden am Ida geschickt. Da nahen sich237 ihm eines Tages drei göttliche Frauen u. s. w. Daſs diese Version als die einfachere auch die ältere ist, bedarf keines ausführlichen Beweises, und wir dürfen somit die Existenz der Sage in dieser oder einer sehr ähnlichen Form für das Epos, speziell für die Kyprien voraussetzen. Und wenn Euripides sich dieser Version in einem Chorlied anschlieſst, so dürfen wir unbedenklich daraus den Schluſs ziehen, daſs auch den Zuhörern diese Version ent - weder allein bekannt oder doch vorzugsweise geläufig war, und das noch zur Zeit des peloponnesischen Krieges. Hierdurch wird es aber immer wahrscheinlicher, daſs die uns geläufige Version von der Aussetzung des Paris erst durch das Drama ge - schaffen und dann populär geworden ist und daſs es eben eines der oben genannten Stücke, entweder der sophokleische oder euripideische Alexandros, war, in welchem die neue Version zuerst poetisch bearbeitet worden ist. Wäre die Andromache in Athen selbst aufgeführt worden, so würde ich mich zu der Folgerung berechtigt glauben, daſs der Alexandros des Sophokles später gegeben sei, als die Andromache, wie wir dies ja von dem euripideischen Alexandros mit Bestimmtheit wissen. Da aber die Andromache nicht zuerst in Athen, sondern aller Wahr - scheinlichkeit nach in Argos aufgeführt ist, und Euripides nicht voraussetzen konnte, daſs eine vom attischen Drama geschaffene Version bereits bis nach Argos gedrungen und dort populär geworden sei, so verlieren wir diesen Anhalt für die Datierung des sophokleischen Alexandros. Welchem der beiden Dichter die Priorität gehört, läſst sich mit Sicherheit nicht entscheiden, da uns bekanntlich beide Stücke verloren sind und die Aufführungs - zeit nur für das euripideische Stück feststeht. Ein Umstand jedoch, der mir zu Gunsten des Sophokles zu sprechen scheint, soll nicht verschwiegen werden. Die Ähnlichkeit der wir dürfen jetzt wohl unbedenklich sagen dramatischen Version von dem Schicksal des jungen Paris mit der herodoteischen Er - zählung von der Jugend des Kyros ist oft bemerkt und hervor - gehoben worden. Wenn nun, wie ich zu zeigen gesucht habe, diese Version erst im fünften Jahrhundert entstanden ist, so wird es wahrscheinlich, daſs die Übereinstimmung im Schicksale beider238 Helden nicht auf der verschiedenen Verwendung desselben alt - überlieferten mythischen Motivs, sondern auf direkter Abhängig - keit beruht, und zwar kann es dann nicht zweifelhaft sein, daſs Herodots Werk die Quelle ist, aus welcher der attische Tragiker mit freier und kühner Umgestaltung der dort gegebenen Motive schöpft. Nun ist es bekannt, welch tiefen Eindruck gerade auf Sophokles das Werk des Herodot gemacht hat; und wie gerade bei ihm mehrfache Benutzung desselben nachzuweisen und ge - wiſs noch viel öfter vorhanden ist, als wir es merken. Darum scheint es mir gerade für Sophokles besonders passend, daſs er mit Benutzung der herodoteischen Erzählung von Kyros die Jugendgeschichte des Paris so total umgestaltet.

Es mag auch noch darauf hingewiesen werden, wie sowohl die ganze Fassung der Sage eine durchaus dramatische als namentlich der Zug, daſs für den tot geglaubten Paris Wett - kämpfe veranstaltet werden sollen, und dieser selbst dabei er - scheint und den Sieg erringt, eine höchst glückliche dramatische Erfindung ist, auch für den äuſseren Aufbau des Dramas höchst glücklich; denn der Dichter hatte dadurch ungesucht Veranlassung, den Zuschauer in die Vorgeschichte des Dramas einzuweihen.

Da die Wettspiele und die Wiedererkennung natürlich die Aussetzung des Paris zur unerläſslichen Voraussetzung haben, so ist es selbstverständlich, daſs auch diese Züge dem attischen Drama ihre Entstehung verdanken, dem Epos also durchaus fremd sind. Die Fassung der Kyprien läſst sich aus den Worten des Proklos sehr gut rekonstruiren; nach der Erwähnung des Streites der Göttinnen heiſst es: καὶ προκρίνει τὴν Ἀφροδίτην ἐπαρϑεὶς τοῖς Ἑλένης γάμοις Ἀλέξανδρος, ἔπειτα δὲ Ἀφροδίτης ὑποϑεμένης ναυπηγεῖται καὶ Ἕλενος περὶ τῶν μελλόντων αὐτῷ προϑεσπίζει καὶ Ἀφροδἰτη Αἰνείαν συμπλεῖν αὐτῷ κελεύει. καὶ Κασσάν - δρα περὶ τῶν μελλόντων προδηλοῖ. Im Gegensatz zu Welckers Anschauung muſs ich behaupten, daſs eine durch eine Reihen - folge zufälliger Ereignisse herbeigeführte Wiedererkennung des Paris durch diesen Wortlaut ausgeschlossen erscheint. Viel - mehr folgen sich die Ereignisse Schlag auf Schlag; auf den Richterspruch des Paris unmittelbar die Maſsregeln der239 Aphrodite zur Erfüllung ihres Versprechens. Freilich ist Paris beim Richterspruch auf dem Ida, unmittelbar darauf in Troia; aber dieser Wechsel des Lokals hat nur für denjenigen Hörer oder Leser etwas Auffallendes, der von der Aussetzung des Paris etwas weiſs. Fällt diese weg, so bedarf es keiner besonderen ausführlichen Motivierung, daſs Paris vom Ida, wo er auf das Geheiſs des Pria - mos die Heerden weidet, zur Stadt zurückkehrt, der Dichter konnte das mit wenigen Worten abmachen; da aber im Folgenden Aphrodite dem Paris als geschäftige Helferin zur Seite steht, da sie ihm beim Schiffsbau hilft und ihm ihren Sohn Aineias zum Begleiter mitgiebt, so lag es für den Dichter nahe, auch bei dem unerwartet plötzlichen Entschluſs des Paris, der doch auf Widerstand bei Priamos stoſsen muſste, Aphrodite eingreifen zu lassen; und wenn der Dichter sich dieses Motiv entgehen lieſs, hatte der Künstler das Recht, es in solcher Weise zu ver - wenden, wie es auf der Vase des Brygos geschehen ist. Diese aber ist somit ein wichtiges Dokument für die ältere epische Fassung der Sage.

[240]

EXCURS V.

EURIPIDES ORESTES V. 431 436.

Meinen S. 184 geäuſserten Verdacht, daſs diese Verse inter - poliert seien, will ich hier etwas näher begründen. Ich setze die Stelle von V. 427 in ihrem Zusammenhang her:

Μ. τὰ πρὸς πόλιν δὲ πῶς ἔχεις δράσας τάδε;
Ο. μισούμεϑ̕ οὕτως ὥστε μὴ προσεννέπειν.
Μ. οὐδ̕ ἥγνισαι σὸν αἷμα κατὰ νόμον χεροῖν;
430 Ο. ἐκκλῄομαι γὰρ δωμάτων ὅπῃ μόλω.
Μ. τίνες πολιτῶν ἐξαμιλλῶνταί σε γῆς;
Ο. Οἴαξ, τὸ Τροίας μῖσος ἀναφέρων πατρί.
Μ. συνῆκα· Παλαμήδους σε τιμωρεῖ φόνου.
Ο. οὗ γ̕ οὐ μετῆν μοι· διὰ τριῶν ἀπόλλυμαι.
435 Μ. τίς δ̕ ἄλλος; που τῶν ἀπ̕ Αἰγίσϑου φίλων;
Ο. οὗτοι μ̕ ὑβρίζουσ̕ ὧν πόλις τὰ νῦν κλύει.
Μ. Ἀγαμέμνονος δὲ σκῆπτρ̕ ἐᾷ σ̕ ἔχειν πόλις;
Ο. πῶς, οἵτινες ζῆν οὐκ ἐῶσ̕ ἡμᾶς ἔτι;
Μ. τί δρῶντες τι καὶ σαφὲς ἔχεις εἰπεῖν ἐμοί;
440 Ο. ψῆφος καϑ̕ ἡμῶν οἴσεται τῇδ̕ ἡμέρᾳ
Μ. φεύγειν πόλιν τήνδ̕ ϑανεῖν μὴ ϑανεῖν;
Ο. ϑανεῖν ὑπ̕ ἀστῶν λευσίμῳ πετρώματι.

Ich behaupte nun, daſs die Verse 431 436 in schreiendem Widerspruch zu dem Vorangehenden und zu dem Folgenden stehen, denn man beachte: V. 427 weiſs Menelaos Nichts von den241 Maſsregeln, die der Staat gegen Orestes ergreifen will; V. 431 weiſs er plötzlich, daſs dem Orestes die Verbannung droht, und fragt, wer diese hauptsächlich betreibe; hingegen V. 441 ist er auf einmal wieder im Unklaren darüber, ob die Bürger den Orestes nur verbannen oder töten wollen. Und nun Orestes! V. 432 hat er ohne Weiteres zugegeben, daſs ihm Verbannung bevorstehe, V. 442 erklärt er auf einmal, daſs man ihm nicht mit Verbannung, sondern mit dem Tode drohe. Und weiter: wie absurd ist es, daſs Menelaos, der doch zu wissen scheint, daſs Orestes verbannt werden soll (V. 431), der eben gehört hat, daſs die Leiter des Staates den Orestes miſshandeln (V. 436), an den - selben Orestes die Frage richtet, ob ihm die Stadt die väter - liche Herrschergewalt gelassen habe? Das könnte doch nur der bitterste Hohn sein; allein wie paſste der hierher? Nun han - delt es sich aber im ganzen Stück um den Tod, nicht um die Verbannung des Orestes; die Verse stehen also zu dem ganzen Stück in ebenso grellem Widerspruch wie zu dieser einzelnen Scene. Weniger Gewicht würde ich darauf legen, daſs Oiax sonst im Stück nicht erwähnt wird und namentlich in der Volksversamm - lung (V. 866 956) gar keine Rolle spielt. Denn dort kommt es dem Dichter wesentlich darauf an, Typen aus der athenischen Volksversammlung vorzuführen. Streicht man die bezeichneten sechs Verse, so schlieſst V. 437 sehr passend an 430 an, und die Fragen des Menelaos folgen sich ohne jeden Widerspruch und in logischer Reihe: Wie behandeln dich die Bürger? bist du entsühnt? läſst man dir das Scepter? droht dir Tod oder Verbannung?

Philolog. Untersuchungen V. 16[242]

EXCURS VI.

ZU DEN HYPOTHESEIS.

Wilamowitz hat (Analect. Euripid. p. 186) die tiefeinschnei - dende Bemerkung gemacht, daſs die Namen, welche vom Dichter namenlos gelassene Personen in den Hypotheseis erhalten, von späteren Grammatikern, die ihre Kenntnis nicht sowohl der Lektüre der Dichtung selbst als der Hypothesis verdanken oder wenigstens im gegebenen Fall sich begnügen, die letztere nach - zuschlagen, statt die erstere aufs neue durchzulesen, dem Dichter selbst zugeschrieben werden. So erklärt es sich, um nur eins der von Wilamowitz angeführten Beispiele herauszugreifen, daſs nach dem Zeugnis der Pindarscholien (Isthm. IV 104) bei Euripi - des die drei Söhne des Herakles Therimachos Deikoon und Aristodemos geheiſsen haben sollen, während sie, wie der er - haltene Herakles, auf den sich die Notiz allein beziehen kann, zeigt, bei Euripides namenlos waren. Allein diese Beobachtung be - schränkt sich nicht bloſs auf die Namen; auch andere, der Dich - tung fremde Zusätze pflegen die Hypotheseis zu haben; so, um von der Angabe abweichender Versionen in anderen Dichtungen zu schweigen, namentlich eine mehr oder minder ausführliche Erzählung der Ereignisse, welche vor den Zeitpunkt, mit dem das Stück beginnt, fallen und die Voraussetzung desselben bilden; natürlich ist man bei Abfassung derselben darauf bedacht, sie möglichst vollständig aus den im Stücke selbst über die Vorgeschichte gegebenen Andeutungen zusammenzustellen; allein243 nicht immer gelingt es, auf diesem Wege über jeden ein - zelnen Punkt Aufklärung zu erhalten, und gerade in solchem Falle ist eine ausführliche Darlegung der Vorgeschichte doppelt im Interesse des Lesers. Die Aufgabe ist nun, der Sagenversion, die der Dichter als die seinem Publikum vertraute und bekannte voraussetzte, möglichst nahe zu kommen und sich vor Allem nicht in Widerspruch mit dem Stücke selbst zu setzen. Die so entstandene Erzählung wird aber in der mythographischen Litte - ratur, ebenso gut wie die hinzugefügten Namen, dem Dichter selbst auf Rechnung gesetzt und unter seinem Namen citiert. Ein lehrreiches Beispiel dafür bieten die Scholien zur Ilias Ξ 325, in welchen der die Vorgeschichte behandelnde Anfang einer Hypothesis von Euripides Bakchen ausgeschrieben ist mit dem Citat ἱστορία παρ̕ Εὐριπίδῃ ἐν Βάκχαις. Ed. Schwartz hat in seiner vortrefflichen Schrift: de scholiis Homericis ad histo - riam fabularem pertinentibus commentatio (p. 49 des Separat - abdrucks) darauf hingewiesen, daſs dies ganze Stück wörtlich in Apollodors Bibliothek III 4, 3 wiederkehrt und daſs der dort zu - nächst folgende Satz sich unverkennbar als Paraphrase einiger Verse (26 31) des Prologs zu erkennen giebt. Nach dem oben Gesagten würden wir daraus die Schluſsfolgerung ziehen, daſs eben der Verfasser der Bibliothek die Hypothesis noch weiter abgeschrieben hat, während der Scholiast an der Stelle abbrach, wo von Dionysos Einnähung in den Schenkel des Zeus die Rede ist; und in der That finden wir in der Bibliothek wenige Para - graphen (III 5, 2) weiter eine wirkliche ὑπόϑεσις von Euripides Bakchen, die sich als solche durch die genaue Anlehnung an die Verse des Stückes, namentlich des Prologs, ohne Weiteres zu er - kennen giebt1)In den ersten Worten διελϑὼν δὲ Θρᾴκην κτλ. ist die dem Euripides und also auch der Hypothesis fremde Erwähnung von Thrakien von dem Verfasser der Bibliothek selbst eingesetzt mit Rücksicht darauf, daſs die Hypothesis der aischyleischen Lykurgeia unmittelbar vorhergeht; die folgen - den Worte sind nicht mit Hercher zu streichen, sondern nach Piersons (Verisimilia p. 120) Vorschlag in τελετὰς ἐκεῖ καταστήσας zu ändern. Die auf die Erzählung der Katastrophe folgenden Worte δείξας δὲ Θηβαίοις, ὅτι ϑεός. Zu ganz anderen Resultaten kommt Ed. Schwartz;16*244er nimmt an, daſs auch in den Iliasscholien auf die Worte ἐνέρ - ραψε τῷ μηρῷ einst dieselben Worte gefolgt seien, wie bei Apollodor: ἀποϑανούσης δὲ Σεμέλης, αἱ λοιπαὶ Κάδμου ϑυγατέρες διήνεγκαν λόγον, συνηυνάσϑαι ϑνητῷ τινὶ Σεμέλην καὶ καταψεύ - σασϑαι Διὸς, καὶ ὅτι διὰ τοῦτο ἐκεραυνώϑη. Auf diese aus dem Prolog V. 26 31 entlehnte Angabe habe sich ursprünglich das Citat Εὐριπίδης ἐν Βάκχαις bezogen; irrtümlich habe man es später von der ganzen Erzählung verstanden und zuletzt sei gar der einzige wirklich auf Euripides bezügliche Satz ausgefallen. Diese Annahme, die, wie gar nicht geleugnet werden kann, auf den ersten Anblick etwas sehr Bestechendes hat, unterliegt in - dessen groſsen Bedenken. Der Scholiast, mag er nun aus einer Hypothesis oder anderswoher schöpfen, erzählt die Geschichte von der Geburt des Dionysos gerade so weit, als sie zu der Illustration des Iliasverses Ξ 325 δὲ Διώνυσον Σεμέλη τέκε, χάρμα βροτοῖσιν dienen kann, d. h. bis zur Einnähung des Kindes in den Schenkel des Zeus. Was später noch weiter auf Erden sich zutrug, wie die verläumderischen Reden der Kadmostöchter, hat weder für den Iliaskommentator noch für den Leser irgend ein Interesse, und es ist daher mit guter Überlegung geschehen, wenn der Scholiast gerade an dieser Stelle abbricht. Es ist nun gewiſs nicht un - bedenklich, durch Einfügung eines weiteren Satzes die Erzählung noch weiter zu führen und das Interesse auf Dinge rege zu machen, die weder mit dem zu kommentierenden Iliasverse in Verbindung stehen noch überhaupt erzählt werden. Was veran - laſst nun überhaupt Schwartz zu seiner Annahme? Er bemerkt zuerst, daſs von der Erzählung des Scholiasten sich Nichts bei1)ἐστιν, ἧκεν εἰς Ἄργος entsprechen dem Prolog V. 47 s.:ὧν εἵνεκ̕ αὐτῷ ϑεὸς γεγὼς ἐνδείξομαι πᾶσίν τε Θηβαίοισιν· εἰς δ̕ ἄλλην χϑόνα τἀνϑένδε ϑέμενος εὖ μεταστήσω πόδα. Der Schluſs der Hypothesis, das Schicksal des Kadmos, folgt dann etwas später III 5, 4. So bildet von III 4, 3 bis III 5, 4 die Hypothesis der euripi - deischen Bakchen den Grundstock der Erzählung, in den die übrigen Dionysos - abenteuer mit mehr oder weniger Geschick eingefügt sind.245 Euripides finde; und weiter, daſs auch nicht etwa eine nachlässig geschriebene Bakchen-Hypothesis die Quelle des Scholions sein könne, weil in einer solchen nicht sowohl von Semele als von Pentheus die Rede sein müsse. Letzteres Argument bekenne ich, nicht zu verstehen. Die Frage nach der göttlichen Geburt des Dionysos ist so sehr der Angelpunkt des ganzen Stückes, daſs der Verfasser der Hypothesis gar nicht anders konnte, als die Erzählung von der Liebe des Zeus zur Semele an die Spitze zu stellen. Im Stücke selbst fand er darüber nur kurze An - deutungen; nur das Einnähen der Frühgeburt in den Schenkel des Zeus als der dem fünften Jahrhundert anstöſsigste Punkt wird immer und immer wieder hervorgezogen, teils in poetischer Ausmalung 521, teils als ἱερὸς λόγος 88 97, teils als Objekt etymologisierend-allegorischer Pfaffenerklärung 286 297; letztere konnte natürlich für die Hypothesis absolut nicht verwant werden, und bei den übrigen Stellen genügte es, aus aller poetischen Aus - schmückung die nackte Thatsache herauszuschälen: Σεμέλης δὲ διὰ τὸν φόβον ἐκλιπούσης, ἑξαμηνιαῖον τὸ βρέφος ἐξαμβλωϑὲν ἐκ τοῦ πυρὸς ἁρπάσας ἐνέρραψε τῷ μηρῷ. Im Übrigen war der Verfasser der Hypothesis auf sich selbst angewiesen; er erzählt die verbreitete Sagenform, welche aber nicht nur keinen Wider - spruch mit dem Stück enthält, sondern wahrscheinlich eben diejenige war, welche dem Dichter und dem attischen Publikum vor - schwebte. Nicht also eine nachlässige, sondern eine sehr gute Hypothesis ist die Quelle des Iliasscholions und der Anstoſs, den Schwartz nahm, erledigt sich durch die Erklärung, daſs auch in diesem Falle, wie bei den Namen, die Angaben der Hypothesis stillschweigend auf Rechnung des Dichters gesetzt werden.

Dieser Punkt ist also bei Benutzung der Hypotheseis für die Rekonstruction verlorener Dichtungswerke wohl im Auge zu be - halten. Während aber diese vom ursprünglichen Verfasser her - rührenden Angaben und Zusätze wenigstens Nichts enthalten, was mit der Dichtung direkt im Widerspruch stände, werden die Hypotheseis von dem Moment an, wo sie von der Dichtung losgelöst gewissermaſsen ein selbständiges Dasein als mytho -246 graphische Schriften zu führen beginnen, im Detail mancherlei Modi - fikationen unterworfen, durch die sie zuweilen direkt in Widerspruch zu derjenigen Dichtung treten, deren Inhalt sie doch eigentlich wiedergeben wollen. Sobald die Hypotheseis in den mythologischen Handbüchern zu einer zusammenhängenden Darstellung der Hel - densage zusammengestellt werden, ist es ganz natürlich, daſs man die zwischen den einzelnen Hypotheseis bestehenden Wider - sprüche, soweit es sich mit leichter Hand thun läſst, auszu - gleichen oder wenigstens zu mildern bemüht ist. Beispiele dafür liefern die Bibliothek des Apollodor und die Fabeln des Hygin fast auf jeder Seite. Da ferner diese mythographischen Hand - bücher wesentlich Schulzwecken dienen, so wird eine möglichst enge Anlehnung an das wichtigste Buch der Schullektüre, an die homerischen Gedichte, erstrebt und durch Änderung des Wortlautes der ὑποϑέσεις, oft nur in Kleinigkeiten, auch wirklich erreicht. Ein recht augenfälliges Beispiel dafür findet sich in der apollodorischen Bibliothek. Ich habe schon früher (de Apol - lodori bibliotheca p. 77) darauf hingewiesen, daſs die in jener Schrift vorliegende Darstellung der Argofahrt gröſstenteils auf Apollonios zurückgeht; insbesondere die Episode von den Symple - gaden lehnt sich auch im Ausdruck genau an die Verse des Apollonios an (Apollodor I 9, 22 Apollon. Β 549 618). Um so auffälliger ist die Abweichung in einem scheinbar ganz gering - fügigen Punkt. Bei Apollonios giebt Athena, bei Apollodor Hera dem Schiffe den helfenden Stoſs. Wie kommt Apollodor zu dieser Änderung? Ich wuſste mir früher dieser Schwierigkeit gegenüber so wenig zu helfen, daſs ich einen Schreibfehler entweder des Verfassers selbst oder seiner Abschreiber annehmen zu müssen glaubte. Erst später habe ich erkannt, daſs der Odysseevers μ 72

ἀλλ̕ Ἥρη παρέπεμψεν, ἐπεὶ φίλος ἦεν Ἰήσων

die Veranlassung zu der Änderung gewesen ist. Konkordanz mit Homer soll, soweit es irgend geht, hergestellt werden.

Dieser Art von Umarbeitung oder, wenn man will, Inter - polation waren aber mehr, als alle anderen, die Hypotheseis der kyklischen Epen ausgesetzt, zumal seit sie als Einleitung zu der247 Homerlectüre in die Handschriften der Ilias aufgenommen wor - den waren. Es ist längst bemerkt, daſs die Hypothesis der Kyprien in ihrer Erzählung von der Rückfahrt des Paris sich mit den Kyprien selbst im entschiedensten Widerspruch befindet, hingegen mit der Ilias genau übereinstimmt. Herodot II 117 be - zeugt mit teilweise wörtlicher Anführung, daſs in den Kyprien Paris nach dreitägiger Fahrt mit günstigem Wind und bei ruhiger See in Ilion anlangte; er macht auf den Widerspruch dieser Darstellung mit der Ilias Ζ 290 f. aufmerksam und be - gründet damit seine Behauptung, daſs die Kyprien von einem anderen Verfasser herrühren müſsten, als die Ilias. Bei Proklos hingegen lesen wir: χειμῶνα δὲ αὐτοῖς ἐφίστησιν Ἥρα· καὶ προσ - ενεχϑεὶς Σιδῶνι Ἀλέξανδρος αἱρεῖ τὴν πόλιν, Worte, welche zu den Iliasversen Ζ 289 292:

ἔνϑ̕ ἔσαν οἱ πέπλοι παμποίκιλοι, ἔργα γυναικῶν
Σιδονίων, τὰς αὐτὸς Ἀλέξανδρος ϑεοειδής
ἤγαγε Σιδονίηϑεν ἐπιπλὼς εὐρέα πόντον
τὴν ὁδὸν, ἣν Ἑλένην περ ἀνήγαγεν εὐπατέρειαν

aufs Beste stimmen, aber sich mit der Angabe Herodots auf keine Weise in Einklang setzen lassen. Schon Wüllner de cyclo epico p. 73 erkannte diese willkürliche Änderung und ihren Grund; und wenn er die angeführten Worte deshalb für Inter - polation erklärt, so hat er auch von dem heutigen Standpunkt unserer Kenntnisse aus Recht; nur ist der Urheber derselben nicht der, qui hoc argumentum e Proclo excerpsit (also Photios?), son - dern der, welcher zuerst diese Hypothesis in die Iliashandschriften aufnahm, wo sie auch Proklos las. Ich denke, die bei dieser Ände - rung maſsgebende Absicht liegt auf der Hand. Etwas Ähnliches scheint aber auch in der Hypothesis der Νόστοι vorzuliegen. Der erste Teil derselben Ἀϑηνᾶ Ἀγαμέμνονα ἐν τῷ πελάγει entspricht genau mit zuweilen wörtlicher Anlehnung den Erzäh - lungen des Nestor (γ 132 183 u. 254 328), und auch an an - deren Stellen zeigt sie gleiche Übereinstimmung mit der Odyssee. Es ist also bei dem Mangel anderweitiger Zeugnisse schlechterdings nicht auszumachen, ob in der That Nosten und Odyssee in diesen248 Erzählungen aufs genaueste übereinstimmten oder ob diese Über - einstimmung erst durch Umarbeitung und Interpolation der Hypo - thesis entstanden ist; so lange aber bleibt unser Urteil über diesen Teil der Nosten ein äuſserst schwankendes.

Dies habe ich im Sinne gehabt, als ich in meiner Schrift über Thanatos S. 5 sagte, nur wer die Hypotheseis richtig zu behandeln verstehe, könne über die sogenannten kyklischen Epen ein einigermaſsen sicheres Urteil fällen. Da diese Bemerkung Miſsdeutungen erfahren hat, habe ich nicht versäumen wollen, meine Ansichten an dieser Stelle etwas ausführlicher vorzulegen.

[249]

NACHTRÄGE.

Zu S. 59 f. In der während des Druckes ausgegebenen Lieferung des XI. Bandes der Monumenti dell Instituto ist auf Taf. XIV. XV ein in Bologna gefundener rotfiguriger Krater schönen Stiles veröffentlicht (bespr. von Michaelis A. d. I. 1880 p. 270), welcher in diese Reihe gehört. Auf der Vorderseite ist der Tod des Priamos und Astyanax dargestellt, aber dem Raum entsprechend durch zwei symmetrisch die Darstellung ein - fassende Krieger, einen Achaier und einen Troianer, erweitert; auſserdem erscheint links von Neoptolemos ein kleines fliehen - des Mädchen mit Trinkschale und Weinschlauch in den Händen, eine Figur, welche der Erklärung groſse Schwierigkeit macht. Auf der Rückseite ist Aias Frevel an Kassandra mit der Auf - findung der Aithra zu einer einheitlichen Scene zusammen - gefaſst; also gerade die beiden Eckscenen der Darstellung auf der Vivenziovase.

Zu S. 78. Die hier erwähnte Trinkschale ist jetzt in den Monumenti dell Instituto XI T. XX publiziert und von Kekulé A. d. I. 1880 p. 150 besprochen. Das Innenbild, ein bärtiger Mann mit Chiton, Himation und Speer, welcher eine ihm zag - haft folgende Frau mit sich fortführt, gehört in eine Reihe mit den S. 56 besprochenen Darstellungen und stimmt namentlich mit dem S. 58 erwähnten Innenbilde der Londoner Schale (Brit. 250Mus. 829) aufs Genaueste überein, nur daſs der Mann auf der Londoner Schale einen Petasos trägt. Die Darstellung würde demnach, wenn meine oben gegebene Darlegung richtig ist, auf Paris und Helena zu deuten sein. Anders urteilt Kekulé a. a. O. p. 156.

Zu S. 128. Auf die Frage, welche Gesetze über die Aus - wahl der einzelnen Scenen walteten, hat, soweit sie die archaische Kunst betrifft, unterdessen Löschcke in der Arch. Zeit. 1880 S. 50 eine Antwort gegeben, mit der ich mich vollständig ein - verstanden erklären kann. Sie lautet: Diejenigen Scenen er - hielten unter dekorativ sonst gleich verwendbaren den Vorzug, die sich mit schon vorhandenen und den Handwerkern geläufigen Figuren ausdrücken lieſsen oder wenigstens eine nur geringe Modifikation derselben heischten . Gegenüber dem letzten Satze des Artikels aber muſs ich behaupten, daſs es für die Frage nach der Popularität des Epos völlig gleichgültig ist, ob ein fertiger Typus auf eine Scene der Ilias übertragen oder die bildliche Darstellung derselben durch Kombinierung fertiger Figuren oder endlich durch Neuschöpfungen erzielt wird. Die Bekanntschaft mit dem Sagengehalt der homerischen Gedichte bildet in gleicher Weise die unumgängliche Voraussetzung für alle drei Fälle, so verschieden sie auch sein mögen. Vermittelt kann aber diese Bekanntschaft nur sein durch eine, wenn auch noch so flüchtige Kenntnis der homerischen Gedichte, welche die Vasenmaler jener Zeit zwar gewiſs nicht gelesen, aber ebenso gewiſs häufig gehört hatten. Denn wenn Löschcke an einer andern Stelle (Archäologische Miscellen. Dorpater Programm 1880) bezweifelt, daſs ein schwarzfiguriger oder gar ein korin - thischer Maler Ilias und Odyssee gekannt habe, so möchte ich auf den Kebriones der S. 23 Anm. 21 erwähnten korinthischen Vase und das dort Bemerkte verweisen. Wollte man selbst zu - geben, was ich indessen durchaus in Abrede stellen muſs, daſs eine Anzahl besonders drastischer und volkstümlicher Geschichten dem Stoffe nach (also unabhängig von ihrer poetischen Behandlung) überall bekannt waren, wollte man mit anderen Worten zu - geben, daſs die von den Griechen aus dem griechischen Mutter -251 lande nach Kleinasien mitgenommenen Sagenstoffe durch die Behandlung im ionischen Epos nur unwesentliche Veränderungen erfahren hatten, was ich, wie ich wiederhole, nun und nimmer - mehr glauben kann (Theseus Helena in der Peloponnes, Alexandros Helena in Kleinasien), so ist doch der Heros einer in der Troas gelegenen Stadt, Kebrene, eben nicht nach Klein - asien mit hinübergenommen, sondern aus Kleinasien nach dem Mutterland herübergekommen. Nun ist Kebriones doch alles Andere als eine volkstümliche oder drastische Figur; und die Form, in welcher solche Sagenstoffe wandern, ist eben die des Liedes. Wenn wir also auf einem korinthischen Bild - werk selbst einem ganz beliebigen Manne den Namen Kebriones beigeschrieben fänden, so müſsten wir schon daraus auf eine Einwirkung der Ilias auf die korinthische Kunst schlieſsen. Noch viel zwingender wird dieser Schluſs aber dann, wenn Kebriones, wie auf der Vase, in derselben Rolle erscheint, wie in der Ilias, als Wagenlenker des Hektor. Wie ein korin - thischer Vasenmaler auf diesen Einfall kommen soll, wenn er nicht Θ Π, in welcher Gestalt es immer sei, gehört hatte, ist völlig unerfindlich.

Zu S. 141. Daſs auch das einzelne Motiv der Verhüllung des Achilleus nicht durch das Drama in die Kunst eingedrungen, sondern älter ist, beweist eine im Berliner Museum befindliche kleine schwarzfigurige Amphora aus Boiotien, auf welcher die Darstellung der πρεσβεία auf die beiden Hauptfiguren Achilleus und Odysseus beschränkt ist, ersterer aber genau so verhüllt da sitzt, wie auf den rotfigurigen Darstellungen. Die Vase wird zusammen mit dem S. 95 erwähnten Aryballos im 2. Hefte des laufenden Jahrgangs der Archäologischen Zeitung von mir ver - öffentlicht und besprochen werden.

Zu S. 173. Zu Megakleides giebt mir Wilamowitz folgenden Nachtrag: im schol. Hesiod. scut. 1 wird aus Megakles berichtet erstens, daſs er das Gedicht für hesiodeisch hielt, weiter aber, daſs er die Ungeschicklichkeit des Hesiod tadelte, der den He - phaistos für die Feinde seiner Mutter Hera Waffen machen lässt. Die Bemerkung kann entweder in der Abhandlung über252 Herakles zu Ε 640 oder in der Bemerkung zu Μ 14 gestanden haben.

Zu S. 178. Es hätte noch ausdrücklich darauf hingewiesen werden sollen, daſs der Erfindung des Stesichoros der religiöse Glaube an das Fortleben der Verstorbenen in Schlangengestalt zu Grunde liegt.

[253]

REGISTER.

  • Seite
  • Accius Epinausimache135
    • Myrmidones133
  • Achaios Iris28
  • Achilleus Unverwundbarkeit9
    • bei Cheiron44 .85. 123
    • auf Skyros34
    • bei Nereus33
    • tötet den Kyknos100
    • tötet den Troilos5. 16
    • und Polyxena22
    • Zorn105
    • Gesantschaft an ihn95132. 140
    • empfängt die Waffen141
    • Wappnung24
    • tötet den Hektor100. 218
    • und Priamos19. 142
    • tötet den Memnon107 .111119. 143
    • Tod24 .126. 224
    • Kampf um seine Leiche24111
    • Streit um seine Waffen29 .142.213. 223
    • Schatten über den Schiffen136
  • Aerope190
  • Agamemnon96 .170. 214
  • Aglaophon183
  • Aias der Salaminier u. Hektor100
  • Seite
  • Aias Streit mit Odysseus29 .142213. 223
    • Tod223
    • der Lokrer u. Kassandra60 .71. 75
  • Aietes39
  • Aigisthos in der Odyssee163
    • sein Tod auf Vasen149
  • Aineias beim Raub der Helena53. 92
    • auf dem Ida234
    • kämpft mit Diomedes56. 87
    • Auszug60 .72.75. 193
    • bei Vergil202
  • Aischylos benutzt die Odyssee159
    • d. Stesichoros25
    • tragische Ilias 130
    • Myrmidonen130. 140
    • Nereiden141
    • Hektors Lösung96. 130142
    • Διονύσου τρουοί231
    • Europa116
    • Ὅπλων κρίσις221
    • Oresteia159
    • Telephos146
    • Φυχοστασία143
  • Aithiolas55
  • Aithiopis111 .145 .221 (s. auch unter Arktinos)
  • Aithra58 .60.72.75. 80
  • Aktaion25
  • 254
  • Seite
  • Alexandrinische Kunst45
    • Poesie49
  • Alkmaion14
  • Amazonen59 .110. 112
  • Amme der Kreusa38
    • des Orestes172
  • Amphiaraosvase14
  • Amphilochos14
  • Amphitryon5
  • Anchises211
  • Andromache64. 159
  • Andromeda9
  • Antenor201
  • Apollo u. Orestes175. 180
    • u. Poseidon46
  • Apollodors Bibliothek21 .243. 246
  • Aphrodite33
  • Argonauten9. 12
  • Aristodemos Thebaika21
  • Aristonidas42
  • Aristophanes77 .155. 176
  • Aristoteles224
  • Arktinos74 .145.192.209.221. 223
  • Asklepiades v. Tragilos48
  • Astyanax59 .64.74.85.112. 229
  • Attische Familiensagen33
    • Volkssagen32
  • Atymnios116
  • Bakchylides193. 197
  • Baton14
  • Beil der Klytaimnestra177
  • Bellerophon115
  • Bildercyklen46. 177
  • Botenbericht31. 54
  • Briseis58 .95.102. 132
  • Bryaxis42
  • Brygos Satyrvase28
    • Parisvase53 .90. 339
    • Erichthoniosschlange u. Kekropstöchter53. 88
    • Iliupersis61. 102
  • Seite
  • Chariboia Schlangenname198
  • Chrysothemis155. 170
  • Deiphobos61 .68. 159
  • Didaskalien42
  • Diodoros von Erythrai227
  • Diomedes bei Wegführung der Briseis96
    • bei der Gesantschaft an Achilleus95
    • Kampf mit Aineias56. 87
  • Dionysos Geburt243
    • im Gigantenkampf22
  • Dirkevase36
  • Dorische Umbildung der Sagen188
  • Drama, Einfluss auf die Kunst28. 129
  • Duris Satyrvase28
    • Ὅπλων κρίσις29. 214
    • Memnonvase98
    • Thetisvase87
  • Echemos189
  • Elektra150 .166. 172
  • Endymion50
  • Eos143
  • Epos, Einfluss auf die Kunst12. 250
  • Erichthonios32 .53. 88
  • Erigone185
  • Erinyen175. 177
  • Eriphyle14
  • Eris9
  • Eros5
  • Erysichthon89
  • Euopis54
  • Euphorion205
  • Euphronios Geryoneusvase86
    • Troilosvase86
  • Euripides benützt die Odyssee162
    • den Stesicho - ros25 .165.175.181. 184
    • Einfluss auf die Sagen - gestaltung27
  • 255
  • Seite
  • Euripides Einfluss auf die Kunst35
    • Alexandros234
    • Andromache77. 235
    • Antiope36
    • Auge48
    • Bakchen243
    • Elektra159. 165
    • Kyklops35
    • Orestes162 .175.181. 184210
    • Skyrier34
    • Telephos48. 146
    • Theseus33
    • Troerinnen74
  • Euripidesscholien228
  • Europa215
  • Françoisvase16. 86
  • Gegenstücke30. 85
  • Geryoneus86
  • Gespräche45
  • Gigantomachie22. 59
  • Hagias von Troizen161 (s. auch unter Nosten.)
  • Hekabe12 .93. 234
  • Hektor und Troilos16
    • Auszug23. 250
    • Kampf mit Aias98
    • Achilleus100
    • Lösung seiner Leiche18. 96142
  • Helena Gedicht des Stesichoros25
    • bei Ibykos76
    • Raub durch Theseus112
    • durch Paris auf einer Bucchero - vase58
    • durch Paris auf schwarzfig. Vasen56123
  • Seite
  • Helena Raub durch Paris auf Vasen des Hieron3153 .85.92. 96
    • beim Tode des Deiphobos69159
    • Wiedergewinnung57 .59.7075.85. 249
    • am Palladion71 .76. 79
    • im Aphroditeheiligtum78. 249
    • im Apolloheiligtum78
  • Hellanikos33 .127.226.
  • Herakles schlangenwürgend5
    • Argonaut40
    • Kindermord40
    • in der Unterwelt mit Meleager45
    • kämpft mit den Amazo - nen112
    • bei Megakleides173
  • Hermes ψυχοστάτης144
  • Hermonax Kephalosvase32
    • Thetisvase44
  • Herodotos abhängig von Stesi - choros25
    • Einfluss auf Sopho - kles170. 238
  • Hesiodos12 .54.189. 226
  • Hieron Thetisvase87
    • Wegführung der Briseis u. Gesantschaft an Achill95
    • Raub der Helena und Parisurteil53 .87. 92
    • und Makron Raub und Wiedergewinnung der Helena54 .87. 92
  • Hippodameia187
  • Hippotes38
  • Hyginus194
  • Hypotheseis162 .231. 242
  • Ibykos76
  • Ἰλιὰς μικρά74 .221. 223
  • 256
  • Seite
  • Iliupersis59. 159
  • Iphigeneia9. 35
  • Ismene20
  • Kachrylion Theseus u. Antiope112
    • Tod d. Aigisthos149. 158
  • Kantharos Pourtalès210
  • Kassandra bei Paris Rückkehr93
    • bei Hektors Auszug23
    • und Aias60 .71. 75
  • Kebriones23. 250
  • Kekropstöchter53. 88
  • Kephalos32
  • Kilix116
  • Killos187
  • Kinaithon226
  • Klymene73
  • Klytaimnestra150 .162.170. 177
  • Klytios20
  • Koroibos72
  • Kreonteia37
  • Kreusa37
  • Kychreus89
  • Kyknos100. 189
  • Kyprien17 .123.233.238. 247
  • Laodike173
  • Laokoon4. 192
  • Lesbische Sagen187
  • Lesches74. 223
  • Leschides228
  • Lessing4 .198. 209
  • Likymnios von Chios49
  • Lykier in der Ilias118
  • Lykomedes34
  • Lykophron198
  • Lykophronscholien228
  • Lyrik Einfluss auf die Volksvor - stellung24
    • die Kunst26 .78. 172
  • Lysimachos77 .198. 228
  • Seite
  • Medeia9 .36.40. 231
  • Medeia-Vase in München37
  • Megakleides aus Athen173. 250
  • Megapenthes55
  • Memnon107 .111. 119
  • Menelaos Zweikampf mit Paris5685. 98
    • tötet den Deiphobos68. 159
    • und Helena57 .59. 75
    • und Orestes241
  • Merope von Korinth38
    • von Messenien158. 178
  • Mikon Schlacht bei Marathon18
    • Theseus bei Amphitrite33
    • Amazonenschlacht59
  • Miletos116
  • Mimnermos21
  • Minos116
  • Namensbeischriften auf Vasen6165. 101
  • Nauplios182
  • Neoptolemos bei Achills Wapp - nung24
    • beim Kampf um Achills Leiche24. 111
    • Abholung von Skyros34223
    • tötet den Astyanax5974. 229
    • tötet den Priamos74. 225
  • Nikostratos55
  • Nostoi des Hagias161 .182.231. 247
    • des Lysimachos228
  • Odyssee162 .180. 447
  • Odysseus erheuchelter Wahnsinn35
    • Streit mit Aias29 .213. 223
    • bei der Iliupersis71
    • tötet den Astyanax74. 229
    • bei Polyphem19
  • Oiax182. 241
  • 257
  • Seite
  • Oidipus12
  • Oinomaos187
  • Oistros36. 38
  • Ölverkauf81
  • Ὅπλων κρίσις29. 213
  • Oreithyia31
  • Orestes9 .150.163.177.182. 241
  • Orestessarkophage177. 185
  • Orestheia181
  • Ovid231
  • Pacuvius Dulorestes185
  • Palamedes182
  • Palladionraub223
  • Pamphaios Peleus Achill Cheiron44. 85
    • Leiche des Sarpedon111
  • Paris Aussetzung232
    • Rückkehr ins Vaterhaus53. 90
    • Urteil9 .44.85.123.158. 234
    • Raub der Helena54. 85
    • Zweikampf mit Menelaos56 .85.98.
    • Tod223
  • Parrhasios35
    • Meleager Herakles Perseus45
  • Parthenonfries18
  • Pausanias10 .182.226.228. 231
  • Peleus Ringkampf mit Thetis22 .3144.52.86.123. 125
    • bringt Achill zu Cheiron44
    • bei Achills Wappnung24
  • Pelops187
  • Pergamenische Skulpturen47
  • Periklymenos21. 189
  • Personifikationen36
  • Petronius207
  • Phanias von Eresos226
  • Pherekydes21
  • Philoktet auf Lemnos35
  • Phoinix102
  • Phrixos12
  • Phyleus189
  • Seite
  • Pinakothek182
  • Pleisthenes190
  • Polites17. 60
  • Polygnotos31
    • Achill auf Skyros34. 183
    • Iliupersis in Delphi228
  • Polyphem19
  • Polyxena bei Paris Rückkehr93
    • und Troilos16 .20. 22
    • bei Hektors Auszug23
    • Opferung60. 75
  • Pompejanische Bilder45. 49
  • Porkes Schlangenname198
  • Poseidon und Apollo46
    • und Aithra88
  • Priamos und Paris93
    • beim Tod des Troilos17. 20
    • bei Hektors Auszug23
    • bei Achilleus19. 142
    • Tod59 .74.85. 225
  • Proklos222. 225
  • Propyläen, Bilder daselbst182
  • Psychostasie114. 143
  • Pylades152 .161. 190
  • Quintus Smyrnaeus209
  • ῥάκτριαι83
  • Salamis88
  • Salustius Hypothesis zu Sopho - kles Antigone21
  • Sarkophage46 .48. 177
  • Sarpedon104 .109.112. 115
  • Satyren bei Polyphem35
  • Satyrherold28
  • Satyrspiel28
  • Schauspieler im Kostüm43
  • Schauspielkunst42
  • Schlangennamen197
  • Selinunt, Metopen von26
  • Semele26. 243
  • 258
  • Seite
  • Servius205
  • Silanion42
  • Silberschale aus Palestrina17
  • Situationsbilder44
  • Skyrische Lokalsage34
  • Sophokles Einfluss auf die Kunst27
    • benützt den Herodot170. 238
    • Aias221
    • Alexandros235
    • Antenoriden231
    • Elektra159 .165. 170
    • Laokoon193
    • Myser48
    • Nauplios182
    • Skyrier34
  • Stesichoros24. 189
    • Iliupersis75. 78
    • Oresteia170
  • tabulae iliacae48 .73.75.78. 224
  • Tafelmalerei35. 183
  • Talthybios155 .157. 164
  • Telephos auf dem Altar146
    • Heilung35
  • Telephosfries aus Pergamon47. 146
  • Terrakottarelief mit Elektra am Grabe Agamemnons167
  • Terrakottarelief mit Helena72
  • Thanatos104. 110
  • Thebais21
  • Themis125
  • Themistokleslegende147
  • Theoklymenos21
  • Theon von Samos46. 177
  • Theseides33
  • Theseionmetopen46
  • Theseussagen32
  • Seite
  • Theseus ἆϑλα46
    • und Helena112
    • und Antiope112
    • bei Amphitrite33
    • Kampf mit dem Mino - tauros20. 52
  • Thestorides von Phokaia227
  • Thetis und Peleus22 .44.52.86123. 125
    • bringt Achill zu Cheiron4485
  • Timandra53. 189
  • Timanthes35
  • Tlepolemos118
  • Tradition, bildliche43
    • poetische8
  • Triptolemos32. 88
  • Troilos5 .16.20.52.86.112. 123125
  • Tydeus20
  • Tyndareos189
  • Tzetzes228
  • Unbestimmtheit der archaischen Kunst20
  • Vergil195 .202. 209
  • Vergilscholien193
  • Verwandlungen22
  • Virtus36
  • Vivenziovase66
  • Würfelorakel219
  • Xanthos, Fluss118
    • Dichter173

Druck von W. Pormetter in Berlin.

About this transcription

TextBild und Lied
Author Carl Robert
Extent275 images; 79729 tokens; 13145 types; 554098 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationBild und Lied Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage Carl Robert. . 258 S. WeidmannBerlin1881.

Identification

Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, Va 9120-5/8<a>http://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=718558340

Physical description

Antiqua

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Kunst; Wissenschaft; Kunstgeschichte; core; ready; china

Editorial statement

Editorial principles

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

Publication information

Publisher
  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-09T17:34:09Z
Identifiers
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Distributed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial 3.0 Unported License.

Holding LibraryStaatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
ShelfmarkSBB-PK, Va 9120-5/8<a>
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