ADOLPH KIRCHHOFF IN LIEBE UND VEREHRUNG DER VERFASSER.
Vortrag, gehalten im wissenschaftlichen Verein1)Der Vortrag steht hier in seinem ursprünglichen ausführlichen Ent - wurf, nicht in der abgekürzten Form, in der er gehalten wurde. in der Singakademie am 7. Februar 1880.
Mehr als in dem Kulturleben irgend eines anderen Volkes stehen im griechischen Altertum Kunst und Poesie in be - ständiger enger Wechselwirkung bald empfangend bald gebend; ist doch auch der Grund, aus welchem sie ihre Nahrung ziehen, ein und derselbe: „ Hellas’ urväterlicher Sagen göttlich helden - hafter Reichtum “, die ewig junge, auch uns noch liebe und vertraute Heldensage der Griechen. Wie diese in Bild und Lied gestaltet wird, wie das Bild vom Liede abhängig ist und wiederum das Lied vom Bilde, das möchte ich versuchen, in all - gemeinen Umrissen Ihnen vorzuführen. Vorwiegend interessiert eine solche Betrachtungsweise freilich die Altertumsforschung, da sie für zwei groſse Disciplinen derselben die unerläſsliche Vorbedin - gung ist — für die Archäologie: denn nur wenn die Abhängigkeit der Kunst von der Poesie klar erkannt ist, kann eine methodische Interpretation der Denkmäler gelingen, — für die Litteratur - geschichte: denn nur wenn die Art und die Grenzen der von der1*4Poesie ausgehenden Wirkung festgestellt sind, läſst sich bestimmen, mit welcher Berechtigung und mit welcher Beschränkung die Darstellungen auf antiken Monumenten zur Rekonstruktion unter - gegangener Litteraturwerke, namentlich also der verlorenen Epen und Dramen, benützt werden dürfen. Doch will mir scheinen, dass die Klarstellung des Verhältnisses zwischen Kunst und Poesie, auch wenn sich die Betrachtung zunächst nur auf ein Volk beschränkt, über den engeren Kreis der Fachgenossen hinaus ein allgemeines Interesse beanspruchen darf, zumal in unserer Zeit der Illustrationen und illustrierten Ausgaben, und zumal wenn sich herausstellen sollte, daſs dies Verhältnis keineswegs immer dasselbe, sondern in verschiedenen Perioden verschieden, mit einem Worte einer bestimmten historischen Entwickelung unter - worfen ist.
Obgleich wir bei unserer Betrachtung den Nachdruck auf ganz andere Punkte legen werden, muſs doch hier gleich der unvergänglichen Gedanken Erwähnung geschehen, die Lessing in seinem Laokoon niedergelegt hat. Die verschiedene Weise, in welcher die Kunst und in welcher die Poesie denselben Gegen - stand behandeln muſs, ist von Lessing endgültig festgestellt. Durch Vergleichung eines der effectvollsten Werke antiker Plastik mit der glänzenden Behandlung desselben Mythos durch Vergil kommt Lessing zur Feststellung der Grenzen zwischen Poesie und Malerei. Seine Resultate haben dadurch nichts von ihrer Wahr - heit eingebüſst, daſs, wie wir seitdem gelernt haben, die antike Kunst wiederholt gegen die von ihm erkannten Prinzipien ver - stöſst, ja sich ihrer schwerlich auch nur dunkel, geschweige denn in der klaren Formulierung Lessing’s, bewusst war.
Für Lessing wie für seine Zeit ist es stillschweigende Vor - aussetzung, daſs die Künstler des Laokoon nur mit der Sage und ihren poetischen Behandlungen, nicht aber mit früheren bild - lichen Darstellungen desselben Stoffes zu rechnen hatten. Die Frage nach der Richtigkeit dieser Voraussetzung ist für Lessings Be - weisführung, bei dem mehr die philosophische als die historische Seite der Frage in Betracht kommt, ziemlich belanglos. Ob sie für das gerade gewählte Beispiel des Laokoon zutrifft, will ich5 hier nicht untersuchen2)Die alte Streitfrage nach der Zeit des Laokoon kann und soll hier nicht aufs Neue behandelt werden; wenn ich auch bekennen muſs, daſs es mir persönlich unmöglich ist, die litterarischen und paläographischen Zeugnisse mit den verbreiteten Anschauungen von der Entstehung der Gruppe vor der Kaiserzeit in Einklang zu bringen. Es soll nur bei dieser Gelegenheit konstatiert werden, daſs es — von der Gruppe abgesehen — keine bildliche Darstellung des Mythos giebt, die älter wäre wie die Kaiserzeit und somit wie die Vergilsche Schilderung. Denn die jetzt im brit. Mus. befindliche etruskische Aschen - kiste aus Chiusi, die durch Hübners Beschreibung (Nord und Süd VIII S. 362; vgl. Blümner, Lessings Laokoon, 2. Aufl. S. 716) bekannt geworden ist, hat, wie ich nach einer Prüfung des Originals versichern kann, mit Laokoon nichts zu thun; sie stellt den kleinen schlangenwürgenden Herakles dar, der beide Schlangen, von denen die eine zweiköpfig ist, an den Hälsen packt; unter ihnen sinkt Iphiklos erschreckt nieder; von links eilt Amphitryon in völliger Rüstung, von rechts ein Genosse herbei, der nicht der Tragödie noch der Tradition, sondern der von den etruskischen Urnenarbeitern bis zur pein - lichsten Ängstlichkeit beobachteten Symmetrie seine Entstehung verdankt; vgl. den Genossen des Achilleus auf den Troilosurnen. Daſs das Wittmersche und das Madrider Relief, selbst wenn ihre Echtheit feststände, auf ein Original der hellenistischen Periode zurückgehen ([Blümner] a. a. O. S. 706), folgt aus der An - wesenheit des Eros noch keineswegs; er ist schwerlich „ eine Symbolisierung des tiefen Mitleids, das die Schreckensscene in dem Beschauer erweckt “, — wo fände sich Eros so verwandt? — sondern spielt auf die Version von Laokoons heftiger Leidenschaft zu seiner Gattin an, die gerade aus den mythologischen Handbüchern der Kaiserzeit bekannt ist. Daſs das pompejanische Bild einer - seits von der Gruppe unabhängig, andererseits durch Vergils Schilderung hervorgerufen ist — eine Überzeugung, die ich immer gehegt habe — scheint mir jetzt durch Blümner a. a. O. S. 708 endgültig bewiesen zu sein. In dem eben erscheinenden Heft der Arch. Zeit. 1880 S. 189 will Klein die Laokoonsage gar auf einer attischen Vase nachweisen. Vgl. darüber unten den Excurs: die Laokoonsage., das aber darf unbedenklich behauptet werden, daſs sie in weitaus den meisten Fällen nicht zutrifft. In weitaus den meisten Fällen hat der antike Künstler nicht nur zur Sage und ihren poetischen Bearbeitungen, sondern auch zu ihren früheren bildlichen Darstellungen Stellung zu nehmen. Nur der Künstler, der als der erste eine Sage bildlich gestaltet, steht dem Stoffe als solchem und seinen poetischen Bearbeitungen unbefangen gegenüber; jeder folgende Künstler steht unter dem Banne dieser ersten künstlerischen Gestaltung. Aber weit entfernt,6 vor dem Vorwurf der Entlehnung ängstlich zurückzubeben, frei von der nervösen Sucht nach einer um jeden Preis erkauften Origi - nalität übernimmt der antike Künstler den überkommenen Typus der Darstellung und sucht ihn nur zu immer gröſserer Voll - kommenheit auszubilden, bald leise ändernd, bald gewaltsamer und rücksichtsloser eingreifend; aber stets bleibt er sich des Zusammenhangs mit der Tradition bewuſst; er weiſs, daſs der Bann des eingebürgerten Typus der Darstellung auf ihm lastet, er ist zu bescheiden und zu ernst, um das Gute, was ihm die früheren Kunstschöpfungen bieten, aus Eitelkeit und Eigensinn zu verschmähen, zu stolz und zu ehrlich, seine Abhängigkeit zu maskieren. Die bildliche Tradition, wie sie die Entwickelung der griechischen Götterideale bedingt und beherrscht, ist auch für die Gestaltung und Entwickelung der einzelnen Momente der griechischen Heldensage in hervorragender Weise maſsgebend3)Vgl. Kekulé, Über die Entstehung der Götterideale der griechischen Kunst. Ders. Über ein griechisches Vasengemälde im akademischen Kunst - museum zu Bonn, S. 26. Löschcke, Arch. Zeit. 1876 S. 115. Ders. Über die Reliefs der altspartanischen Basis (Dorpat. Progr. 1879). Es mag vergönnt sein, auf die sehr verwandte, wenn auch ein scheinbar ganz verschiedenes Gebiet, das der Sprache, betreffende Betrachtung Herders im II. Band S. 18 (der Ausgabe von Suphan) hinzuweisen. „ Jede Nation spricht also, nach dem sie denkt, und denkt, nach dem sie spricht. So verschieden der Gesichtspunkt war, in dem sie die Sache nahm, bezeichnete sie dieselbe. Und da dies niemals der Anblick des Schöpfers war, der diese Sache in ihrem Innern nicht bloſs werden sah, auch werden hieſs, sondern ein äuſserer einseitiger Gesichtspunkt, so ward derselbe zugleich mit in die Sprache ein - getragen. Eben damit konnte also das Auge aller Nachfolger an diesen Gesichtspunkt gleichsam gewöhnt, gebunden, in ihn eingeschränkt oder ihm mindestens genähert werden. So wurden Wahrheiten und Irrtümer auf - bewahrt und fortgepflanzt, wie vorteilhafte oder nachteilige Vorurteile; zum Vorteil oder Nachteil hingen sich Nebenideen an, die oft stärker wirken als der Hauptbegriff, zum Vorteil oder Nachteil wurden zufällige Ideen mit wesentlichen verwechselt: Fächer gefüllet oder leer gelassen, Felder bearbeitet oder in Wüsteneien verwandelt. “ Dies gilt mit geringer Modifikation auch von den bildlichen Typen und ihrer Entwickelung..
Längst werden Ihnen, hochverehrte Anwesende, die analogen Erscheinungen in der Kunstentwickelung anderer Völker, nament - lich in der älteren italienischen Malerei, in den Sinn gekommen7 sein. Auch dort finden wir ja das einmal geschaffene Schema der Darstellung von Geschlecht zu Geschlecht, von Schule zu Schule vererbt, umgebildet, vervollkommnet. Und doch besteht ein sehr bedeutsamer Unterschied zwischen der bildlichen Tradition der älteren italienischen und der der antiken Kunst. Die Stoffe der italienischen Kunst, mögen es nun die Geschichten der heiligen Schrift sein oder die Legenden von Benedictus und Franciscus, haben eine feste kanonische Form, an der sich Nichts ändert und Nichts ändern darf, die dieselbe bleibt Jahrhunderte lang und fest eingeprägt ist dem schaffenden Künstler wie dem an - dächtigen Beschauer. Ganz anders steht der antike Künstler da, seine Stoffe sind in beständigem lebhaftem Fluſs. Der antike Künstler teilt seine Ansprüche auf den Stoff mit dem Dichter. Der Dichter aber, namentlich der dramatische, bildet mit mäch - tiger Hand den Stoff um, während gleichzeitig der Geschichts - schreiber ihn mühselig und nicht ohne gewaltsame Änderungen seinem genealogischen System einordnet und der Philosoph an ihm herumkritisiert und interpretiert. In mannigfaltigen Brechungen liegen die einzelnen Sagen vor dem antiken Künstler; er hat die Wahl, welcher der vielfachen litterarischen Be - handlungen er sich anschlieſsen will.
Er hat die Wahl? hat er sie wirklich? wird nicht die An - schauung seiner Zeitgenossen auch sein Urteil wesentlich be - stimmen? wird er nicht derjenigen Version der Sage folgen müssen, welche seinen Zeitgenossen besonders geläufig ist? und welche ist es? wie verhalten sich die Vorstellungen des Volkes zu den poetischen Bearbeitungen der Sage?
Aus dem Volksbewusstsein ist die Sage entsprungen, aus dem Volksbewuſstsein schöpft der Dichter; aber bleibt wirklich die Volksvorstellung unverändert Jahrhunderte lang? Ist sie die klare Quelle, aus der Poesie und Kunst schöpfen, ohne daſs von Poesie und Kunst jemals ein Spiegelbild in sie zurückfällt, um ihr neue Farben und neuen Glanz zu verleihen? Nein, der Quell der Sage hat die Zauberkraft, das Bild des ächten Sängers, des ächten Bildners, der aus ihm schöpft, in sich aufzunehmen und8 festzuhalten, so lange festzuhalten, bis ein gröſserer naht, der das alte Bild verdrängt und sein eigenes an dessen Stelle setzt.
Auch die Sage, wie sie im Volksbewuſstsein lebt, hat ihre Entwickelung und ihre Geschichte. So fest sie auch in den verborgensten Tiefen des Volkslebens zu wurzeln scheint, so alt und ehrwürdig sie uns oft entgegentritt, gleich als ob die Jahr - hunderte, die Staaten umwälzen und die Weltanschauung ver - wandeln, nur sie gänzlich unberührt gelassen hätten, als ob sie dieselbe sei zur Zeit Cäsars, die sie in den Tagen des Perikles war, auch die Sage befindet sich in ewigem Fluſs, und die beiden mächtigen Faktoren der Kulturentwickelung, die aus der Sage ihre erste, kräftigste, gesundeste Nahrung ziehen, Bild und Lied, üben auf das Volksbewuſstsein einen viel gewaltigeren Rückschlag aus, als man in der Regel erkennen und zugeben will. Eine wirklich schöpferische Dichterkraft setzt die Form, welche sie der Sage giebt, an Stelle der lokalen Tradition; die dichterische Um - bildung des Stoffes wird selbst zur Volksvorstellung, und es ent - wickelt sich an Stelle der Volkstradition eine noch viel mächtigere poetische Tradition. Unserer Zeit, in der keine Volkssage mehr wahrhaft lebendig ist, fällt es schwer, eine klare Vorstellung von diesem Vorgang zu gewinnen. Vergleichen lieſse sich etwa die Art, wie die von unsern groſsen dramatischen Dichtern behandel - ten historischen Stoffe und historischen Persönlichkeiten in unserer Volksvorstellung leben. Auch hier hat die Allgewalt der dich - terischen Gestaltung sowohl die historische Wahrheit wie die volkstümliche Legende verdrängt; bei den Namen Wallenstein und Egmont denkt gewiſs weitaus der gröſste Teil unseres Volkes an die Gestalten unserer Dichter und überträgt die Züge derselben unwillkürlich auf die historischen Persönlichkeiten.
Je allmählicher sich dieser Prozess in der Volksvorstellung vollzieht, um so stärker und nachhaltiger ist seine Wirkung. Eine mehr als tausendjährige Entwickelung ist es, welche die Heldensage der Hellenen auf diese Weise durchgemacht hat, und wenn wir auch diese Entwickelung nur bei einigen wenigen Mythen beobachten und verfolgen können, so dürfen wir doch nie vergessen, daſs sie bei allen antiken Sagen stattgefunden9 hat, und daſs die Formen, in welchen uns die einzelnen antiken Mythen lieb und vertraut sind, die Karakterbilder, in denen die einzelnen Gestalten der griechischen Heldensage für uns typisch geworden sind, keineswegs in allen Epochen des klassischen Altertums gegolten haben, daſs vielmehr in be - stimmter Zeit ein bestimmter Dichter diese Sage in diese Form gegossen, jenem Heros jene Karakterzüge verliehen hat. Der uns geläufige Gesamtschatz antiker Mythen geht auf sehr ver - schiedene Zeiten zurück: die troischen Mythen, soweit sie die Kämpfe um Ilion selbst angehen, sind uns in der altehrwürdigen Form vertraut, in welcher der Heldensang der kleinasiatischen Colonien sie zuerst dichterisch fixiert hat, aber einzelne Züge, namentlich aus der Vorgeschichte, wie der Apfel der Eris beim Parisurteil oder die Unverwundbarkeit des Achilleus, entstammen einer viel späteren Periode; sie gehören der alexandrinischen, viel - leicht sogar erst der römischen Sagenbildung an. Die Sage vom Schicksal des Orestes, die Mythen von Andromeda, Medeia, Iphi - geneia kennen wir in der Form, die ihnen das attische Drama des fünften Jahrhunderts, die Argonautensage in derjenigen, welche ihr ein alexandrinischer Dichter des dritten Jahrhunderts gegeben hat; und den Zug der Sieben gegen Theben lernen wir sogar einzig in der aus sehr heterogenen Elementen kompilierten Form kennen, welche in den mythologischen Handbüchern der römischen Kaiser - zeit stand. Wir vergessen das zu leicht; es ist gut, sich zu - weilen ins Gedächtniss zu rufen, daſs dem Griechen vor Euripides die Medeia keineswegs das war, was sie uns ist, daſs ihm bei diesem Namen nicht das Bild der düsteren grauenhaften Zauberin aus Kolchis, des leidenschaftlichen Weibes, der Mörderin ihrer eigenen Kinder aufstieg, sondern daſs sie ihm die hohe Sprossin und berechtigte Erbin des alten ehrwürdigen Königsgeschlechts von Korinth war, die Enkelin des Sonnengottes. So ist den Griechen dieselbe Sage in anderer Fassung zur Zeit des Peisistratos, in anderer zur Zeit des Perikles, in anderer zur Zeit der römischen Herrschaft lieb und wert. Ich will hier nicht untersuchen, welche Berechtigung der fromme Glaube hat, daſs in einigen Thälern der Peloponnes sich die alte Volkssage in ursprünglicher10 Reinheit bis zu den Tagen des Kaisers Antoninus erhalten habe und damals von einem eifrigen und pflichtgetreuen Reisenden — er heiſst Pausanias — aus dem Munde eisgrauer Männlein und Weiblein aufgezeichnet worden sei; allein daſs die groſse Masse des Volkes in der Kaiserzeit die antiken Sagen nur in der Form kennt, welche ihnen das attische Drama und die alexandrinische Poesie gegeben hat, kann keinem aufmerksamen Leser der Lit - teratur jener Zeit entgehen.
Von dieser wechselnden Volksvorstellung hängt nun der Künstler ebenso sehr wie von der bildlichen Tradition ab; denn es ist für den antiken Künstler bezeichnend, daſs er äuſserst selten, ja fast nie in unserem heutigen Sinne Illustrationen schafft4)Dies betont richtig auch Luckenbach in seiner verdienstlichen Arbeit „ Das Verhältnis der griechischen Vasenbilder zu den Gedichten des epischen Kyklos “im XI. Supplementband des Jahrb. für classische Philologie S. 493 f. Die Anschauungen des Verfassers freue ich mich in allen wesentlichen Punk - ten teilen zu können, wenn ich auch die Erscheinungen etwas anders for - mulieren und meist auf andere Weise erklären zu müssen glaube, wie es in der angeführten Schrift geschehen ist.. Selten nur steht er dem Dichtwerk als solchem gegen - über, meist der von diesem beeinfluſsten Volksvorstellung; er wahrt sich seine völlige künstlerische Freiheit nicht nur im Hinzufügen und Weglassen einzelner Personen oder einzelner Umstände, sondern auch in der Neuschöpfung von Scenen und Situationen, die dem Dichtwerk fremd sind, aber sich aus den Elementen desselben entwickeln lassen, für die also nichts - destoweniger das Dichtwerk die eigentliche litterarische Quelle ist. Es kann dabei vorkommen, daſs dem Künstler selbst diese Abhängigkeit von der Dichtung gar nicht zum Bewuſstsein kommt; sie bleibt deshalb doch in voller Kraft bestehen5)Ein Beispiel aus der unmittelbaren Gegenwart mag das erläutern. Pilotys Wallenstein auf der Reise von Pilsen nach Eger, Defreggers Hofer auf seinem letzten Gang sind gewiſs keine Illustrationen zu Schillers Wallen - stein und Mosens Hofer; denn nirgend findet sich dort eine entsprechende Situation. Dennoch muſs behauptet werden, daſs beide Maler ihre Bilder gewiſs nicht so gemalt hätten, wenn jene beiden Gedichte nicht existiert hät - ten. Die Künstler schaffen aus der Anschauung heraus, die durch die Werke. Der an -11 tike Künstler steht also nicht in solcher sklavischen Abhängigkeit von dem Wortlaut des Dichtwerks, wie der moderne Illustrator, er steht selbstbildend, selbstschöpferisch da, und es ist daher sehr wohl denkbar, daſs auch durch ein Bildwerk, wie durch eine Dichtung, die Sage umgewandelt und weitergebildet wird.
Der Weg, den ein antiker Mythos an der Hand von Poesie und Kunst wandelt, führt zu Verschlingungen mannigfacher Art. Wie leicht kann es geschehen, daſs die bildliche Tradition mit der Sagenvorstellung der Zeitgenossen in Widerspruch gerät; wie wird sich in diesem Fall der bildende Künstler verhalten? wird er der einen oder der anderen rücksichtslos folgen, oder wird er einen Ausgleich versuchen? es wird sich zeigen, daſs hier in verschiedenen Perioden anders verfahren wird. Meine Absicht ist, in Kürze die wichtigsten Perioden antiker Kunst und Poesie an unserem Auge vorüberziehen zu lassen und auf die Art hin, wie sich in ihnen Kunst und Poesie verhalten, zu untersuchen.
Dabei ist aber noch ein weiterer Gesichtspunkt in Betracht zu ziehen; nicht nur in der befolgten Sagenform, dem dar - gestellten Gegenstand, zeigt sich der mehr oder minder direkte Einfluſs der Poesie auf die Kunst, sondern auch in der Art, wie der Gegenstand behandelt wird, in der Vortragsweise. Es ist eine meines Wissens zuerst von O. Jahn gemachte Beobachtung, daſs im Altertum die Poesie nicht nur der Kunst den Stoff giebt, sondern auch formell die Art der Behandlung bestimmt, daſs in den ältesten Darstellungen der Heroensage ein epischer Grundton, in den Bildwerken des fünften und vierten[Jahrhunderts] ein dramatisches Leben, in anderen Werken eine lyrische Stim - mung vorherrscht. Die historische Betrachtungsweise wird auch nach dieser Seite hin die Erscheinungen der einzelnen Perioden zu prüfen haben.
Wir beginnen mit der Periode des Volksliedes und des Volksepos; eine ganze Fülle heroischer Sagen finden in dem5)der Dichter hervorgerufen ist, und insofern ist allerdings für jenen Schillers Drama, für diesen Mosens Gedicht die litterarische Quelle.12 ionischen Epos ihre dichterische Gestaltung, wahrscheinlich be - deutend mehr, als die, von denen wir es heute konstatieren können. So die Sage vom Raub der Helena und dem Kampf um Troia, an welche die Sage von den Irrfahrten des Odysseus angeschlos - sen wird, die Sage von dem Zug der Sieben gegen Theben, deren notwendige Voraussetzung wieder die Oidipussage, die Sage von der Fahrt der Argo, deren Voraussetzung die Phrixossage bildet. Wie sich diese Gestaltung vollzogen, wie sich aus der Fülle von Sagen und Sagenformen einzelne ausgesondert, die andern ver - drängt und zuletzt kanonische Geltung gewonnen haben, wie in jener Epoche, da die Unterschiede der einzelnen Stämme noch schroffer hervortraten, die Sage von Stamm zu Stamm ge - wandert, wie Heros auf Heros und Sage auf Sage gepfropft worden ist, dies zu untersuchen gehört zu den anziehendsten, aber auch schwierigsten Aufgaben der Sagenforschung; und wenn auch durch die epochemachenden Forschungen Adolf Kirchhoff’s über die Entstehung der homerischen Odyssee auf einen Teil dieses dunklen Gebietes ein heller Lichtstreif gefallen ist, so vermissen wir um so schmerzlicher eine klare Einsicht in die Entwickelungsgeschichte der übrigen Sagen. Ich muſs es mir hier versagen, auch nur ein annäherndes Bild von diesen Vor - gängen zu entwerfen und insbesondere auf die interessante Er - scheinung des Eindringens dorischer Elemente in das ionische Heldenepos näher einzugehen. Eine Entwickelungsgeschichte voll des mannigfachsten Wechsels muſste sich vollziehen, ehe das, was wir jetzt als den Sagenstoff des Epos zusammenfassen, feste kanonische Form erhielt, ehe die unter dem Namen Hesiods gehenden Gedichte in ihren Heroengenealogieen gleichsam das Facit dieser ganzen Epoche zogen und den Boden bereiteten, auf welchem die erste griechische Geschichtsschreibung, die, so - weit sie die Heldensage behandelt, ja selbst wesentlich genealo - gisch ist, erwachsen konnte.
Die vom Volkslied und Volksepos poetisch behandelten Sagen sind in sehr früher Zeit künstlerisch gestaltet worden; diese erste bildliche Darstellung einer Sage ist bestimmend für alle folgenden; aus ihr erwächst die allgewaltige bildliche Tra -13 dition. Wohl dürfen wir hoffen, daſs einst die Zeit kommen wird, in welcher die Forschung auch hier schärfer scheiden und die Entstehungszeit und den Entstehungsort der einzelnen Typen wird bestimmen können; es wird sich dann vielleicht konstatieren lassen, daſs die verschiedenen griechischen Stämme, wie ihren eigen - artigen Dialekt und ihr eigenartiges Alphabet, ihre eigenen Sagen und ihre eigenen Lieder, so auch ihre eigenartigen bild - lichen Typen hatten. Heute ist diese Zeit noch nicht gekom - men6)Das Eigentum des dorischen und des ionischen Stammes zu scheiden hat namentlich Georg Löschcke mit Glück versucht (Über die Reliefs der altspartan. Basis S. 10.). Ich muſs mich daher damit begnügen, die karakteristi - schen Eigentümlichkeiten der aus jener Periode erhaltenen oder auf Schöpfungen jener Periode zurückgehenden Darstellungen im allgemeinen ohne Rücksicht auf die feineren Unterschiede der Stämme zu schildern. Die Vorstellung von dieser Kunstperiode beruht teils auf den ausführlichen Beschreibungen zweier unter - gegangener Kunstwerke, teils auf den in spärlicher Anzahl erhal - tenen Reliefs und den in überwältigender Anzahl erhaltenen bemalten Vasen schwarzfiguriger Technik und, der groſsen Masse nach, korinthischer chalkidischer attischer Fabrik, welche die erwähnten Beschreibungen ergänzen, indem sie den überlieferten Typus pietät - voll reproducieren.
Aus allen diesen Produkten des archaischen Kunsthandwerks blickt uns die helle Freude am Darstellen und am Dargestellten gar treuherzig an; die helle Freude, daſs das, was bisher nur im Liede von Mund zu Mund ging, leibhaftig im Bilde vor Augen steht; daſs sie alle dastehen die wohlbekannten Gestalten des troianischen und thebanischen Krieges, die Männer in derselben Rüstung, die Frauen in derselben Tracht, wie sie die Beschauer selbst tragen, denn, wie jede echte Kunst und jede echte Poesie, „ lebt und athmet “die Antike „ in lauter Anachronismen “. Der Grund - ton aber, den diese archaische Kunstperiode anschlägt, ist der - selbe, der das Epos beherrscht, der Ton der mit breiter Behag - lichkeit ausgeführten Erzählung. Das erzählt und plaudert, wie der alte Nestor bei Homer, und kann des Erzählens und Plau -14 derns kein Ende finden, und überstürzt sich im Erzählen; denn diese Kunstperiode möchte gern gleich Alles erzählen, und es will ihr nicht in den Sinn, daſs sie nicht, wie die Poesie, den ganzen Verlauf der Handlung, sondern nur einen Abschnitt be - handeln darf.
Wenn sie den Auszug des Amphiaraos darstellen will, des groſsen Königs und Sehers, der durch den Verrat seines Weibes Eriphyle gezwungen ist, den unheilvollen Zug gegen Theben mitzumachen, der in der ersten Aufwallung des Zornes das verräterische Weib töten will, aber bezwungen durch die Bitten seiner Kinder sie verschont und das Rächeramt seinem Sohn Alkmaion überträgt, so möchte sie gern dem Beschauer alle Umstände dieser Sage auf einmal vor Augen stellen. Sie zeigt7)Von den erhaltenen Darstellungen ist die wichtigste der korinthische Krater des Berliner Museums (M. d. I. X tav. IV. V.); mit ihm muſs die Dar - stellung der Scene auf dem Kypseloskasten in allen wesentlichen Punkten übereingestimmt haben. Als ich das Monument A. d. I. 1874 S. 82 f. besprach, hielt ich noch fälschlich an der Forderung einer einheitlichen Handlung und eines klar erfaſsten Momentes fest; ein Irrtum, der an vielen Verkehrtheiten jenes Artikels schuld ist. Amphiaraos, wie er kampfgerüstet den Wagen besteigen will, auf dem bereits sein Wagenlenker, der sagenberühmte Baton, steht; einen Fuſs hat Amphiaraos schon auf den Wagen gesetzt, der andere berührt noch den Boden; in der Hand hält er das gezückte Schwert, der Blick ist zornig auf Eriphyle gerichtet. Vor ihm stehen seine Kinder, die beiden halbwüchsigen Töchter, der Knabe Alkmaion, der berufen ist, den Vater zu rächen, der kleine Amphilochos, den die Amme noch auf der Schulter trägt; alle, auch dieser jüngste, strecken flehend beide Hände zum Vater empor; sie bitten für das Leben der Mutter. Diese steht im Hintergrund, das groſse Perlenhalsband der Harmonia, den Preis des Verrates, in der Hand. Unterdessen empfängt Baton aus der Hand der Schaffnerin den Abschiedstrunk; vor den Pferden steht ein Diener, ein zweiter sitzt trauernd am Boden.
Dieser Darstellung fehlt das klare Erfassen und scharfe Wiedergeben eines ganz bestimmten Momentes der Handlung,15 einer ganz bestimmten Situation, in welcher oder in Beziehung auf welche alle dargestellten Figuren gedacht sein müſsten. Sollte der Moment dargestellt werden, in dem Amphiaraos sein Weib töten will, so durfte er nicht schon mit einem Fuſs auf dem Wagen stehen und nur noch den Kopf nach Eriphyle hin - wenden; sollte er aber in dem Augenblick dargestellt werden, als er dem Rachegedanken entsagt hat und sich zur Abfahrt an - schickt, so durfte er nicht das gezückte Schwert mehr tragen — er müſste wenigstens im Begriff sein, es in die Scheide zu - rückzustoſsen8)Dies ist vielleicht auf der, doch wohl chalkidischen, Münchener Vase (Micali Storia 95 = Overbeck Her. Gall. III 5) der Fall; oder will er dort, was noch unangemessener wäre, das Schwert erst ziehen? — und die flehend erhobenen Arme der Kinder sind gleichfalls nicht mehr am Platz. Unter beiden Voraus - setzungen gleich unpassend ist die ruhige Haltung der Eriphyle; wir würden erwarten, daſs sie vor dem Schwert des Gatten sich zur Flucht wenden oder um Erbarmen flehen, daſs sie entweder Angst vor der drohenden Gefahr oder Freude über die unverhoffte Rettung zeigen würde. Sie aber steht ohne irgend welche Bewegung, ohne irgend eine Gefühlsäuſserung, ruhig, fast teilnamlos da, das auffallend groſse Halsband in der Hand offenbar mehr für den Beschauer, als für die anwesenden Per - sonen. Ebensowenig ist Baton und die übrigen Diener in einer der Situation entsprechenden Haltung dargestellt. Man würde er - warten, daſs in einem Augenblick, wo ihr Herr im höchsten Zorn sein Weib töten will oder töten wollte, die Diener voll Entsetzen und Grausen ihre ganze Aufmerksamkeit auf diese schreckliche Scene richten würden. Statt dessen empfängt Baton ruhig aus der Hand der Schaffnerin den Abschiedstrunk, und Niemand auf der rechten Seite des Bildes scheint den Vorgang auf der linken Seite zu bemerken oder zu beachten. Es ist klar, daſs, was wir hier mit einem Blicke übersehen, nicht gleichzeitig sich ereignet haben kann; es fehlt eine alle Figuren gleichmäſsig umfassende bestimmte Situation, es fehlt die Einheit der Handlung: alle Figuren sind mehr oder weniger mit sich selbst beschäftigt, jede16 ist eigentlich in einem andern Moment der Handlung aufgefaſst, oder richtiger, der eigentliche Moment der Handlung ist vom Künstler unbestimmt gelassen. Der Grund dieser Unbestimmtheit liegt aber darin, daſs diese archaische Kunst von keiner Be - schränkung wissen will, daſs sie sich und dem Beschauer nicht genugthun zu können glaubt und gleich Alles erzählen möchte.
Oder ein anderes Beispiel; sehr beliebt ist die Darstellung vom Tode des schönen Troilos, des jüngsten Priamossohnes, der im Anfang des Krieges ausgeritten ist, seine Schwester Polyxena zum Brunnen vor der Stadt zu begleiten und selbst seine Rosse zu tränken, und dort von Achilleus überrascht wird. Polyxena entkommt, aber den Knaben, so sehr er seine Rosse zur Eile antreibt, holt Achilleus ein und tötet ihn; zu spät eilt Hek - tor, zu spät die übrigen Brüder dem Knaben zu Hülfe. Hier begnügt sich die Kunst nur selten damit, Polyxena, die im Schrecken den Wasserkrug fallen läſst, Troilos auf den flüch - tigen Rossen dahinsprengend, Achilleus mit mächtigen Schritten dem Fliehenden nacheilend darzustellen; bald erweitert sie den Typus9)Vgl. Cap. II, Erweiterung und Verschmelzung der Typen. und stellt auch den Brunnen dar10)Das Beispiel ist entnommen von der François-Vase (M. d. I. IV tav. LIV. LV; Arch. Zeit. 1850 Taf. XXIII. XXIV; Wiener Vorlegeblätter, Ser. II. Taf. I. II.), und als ob nichts geschehen als ob nicht eben Achilleus hier hervorgebrochen wäre und als ob nicht die Königskinder in tötlicher Gefahr schwebten, ist ein Trojanerknabe ruhig beschäftigt, seinen Krug zu füllen, ohne auf den fliehenden Troilos einen Blick zu werfen, ohne Angst zu verraten, daſs auch ihm der Rückweg zur Stadt ab - geschnitten und Verderben bereitet werde. Das Treiben am Brunnen vor der Stadt will der Künstler darstellen, aber er schildert es, wie es sich in ruhigen Tagen abspielt, nicht wie es in dem Augenblick sein müſste, da die drohende Kriegsgefahr sich der Stadt naht. Derselbe Mangel an einheitlicher Auffassung begegnet uns an der anderen Seite der Darstellung, wo das Ziel der Flucht, die Stadtmauer von Troia dargestellt ist. Vor der Mauer sitzt auf einem Steinsitz Priamos, dem Antenor eben die17 Gefahr, in der seine Kinder schweben, mitteilt; aus dem Stadt - thor eilen Hektor und Polites11)Polites ist in der Ilias Β 792 der Späher, der auf dem Grabhügel des Aisyetes Wache hält, um das Nahen der Achaeer von den Schiffen her zu beobachten. εἴρατο δὲ φϑογγὴν υἶι Πριάμοιο Πολίτῃ, ὃς Τρώων σκοπὸς ἶζε, ποδωκείῃσι πεποιϑώς, τύμβῳ ἐπ̕ ἀκροτάτῳ Αἰσυήταο γέροντος, δέγμενος ὁππότε ναῦφιν ἀφορμηϑεῖεν Ἀχαιοί. Hiezu stimmt vortrefflich, daſs als zum ersten Mal ein Achäer — Achilleus — sich der Stadtmauer nähert, Polites unter den ersten ist, die zu Hilfe eilen; er hat Hektor die Kunde von Achilleus’ Nahen gebracht. Von diesem Späheramt des Polites weiſs sonst die Ilias nichts. Es ist daher in hohem Grade wahrscheinlich, daſs dieser Zug, wie so manches andere in Β, aus den Kyprien eingesetzt ist; möglich sogar, daſs Polites dort in der Troilosepisode dieselbe Rolle spielte, wie auf der Françoisvase. dem bedrohten Bruder zu Hilfe. Es ist klar, daſs hier Ereignisse dargestellt sind, welche unmög - lich gleichzeitig stattgefunden haben können; in dem Augenblick, wo Antenor dem Priamos die erste Kunde bringt, können Hektor und Polites sich wohl rüsten, aber sie können noch nicht kampf - bereit aus dem Thor dringen. Was wir hier mit einem Blick als gleichzeitig übersehen, war in der Dichtung, welche dieser Sage poetische Form gegeben hat, den Kyprien, eine Folge von Ereignissen. Allein man würde irren, wenn man etwa glaubte, der Maler habe hier drei zeitlich verschiedene Scenen darstellen wollen. Die Erzählung in einer Folge von Scenen ist der archai - schen Kunst durchaus fremd12)Im Gegensatz zur orientalischen Kunst, die diesen Chroniken-Stil liebt. Neben den assyrischen Skulpturen liefert jetzt ein treffliches Beispiel die phönikische, in Palestrina gefundene Silberschale, (M. d. I. X 31) auf welcher in einer Reihenfolge von Scenen das Jagdabenteuer eines Königs dargestellt ist, wie kürzlich Clermont-Ganeau (la coupe phénicienne de Palestrine) dargethan hat.; in eine Scene preſst sie alles zusammen, aber es ist eben eine Scene ohne scharf präzisierten Moment. Als Prolepsis, wie es meistens geschieht, läſst sich diese Eigentümlichkeit nur uneigentlich und mit starker Ein - schränkung bezeichnen, die Darstellung greift nicht bloſs vor, sondern auch zurück, und gerade die Verlegenheit, in der wir uns befinden würden, wenn wir z. B. dieser TroilosdarstellungPhilolog. Untersuchungen V. 218gegenüber angeben sollten, was zur Charakteristik des Momentes gehört und was der Künstler vor - und zurückgreifend zufügt, zeigt, daſs wir mit dieser Frage einen dieser Kunstepoche frem - den Maſsstab anlegen13)Diese Unbestimmtheit kommt bei ausgedehnteren Kompositionen der Kunst sogar sehr zu statten, und sie behält dieselbe daher in einzelnen Fällen auch noch bei in Zeiten, wo die primitive Stufe im allgemeinen überwunden ist. So Mikon bei der Marathonschlacht, Pheidias beim Parthenon - fries. In dem Gemälde war — das lehren die Berichte deutlich — an der einen Seite der Kampf noch unentschieden (kommen doch die Plataier erst eilenden Laufes heran), in der Mitte fliehen die Perser, an der anderen Seite war der Kampf bei den Schiffen; allein es ist ein schwerer Irr - tum, sich dabei drei äuſserlich streng geschiedene Scenen oder gar die Gestalt des Miltiades und der übrigen Feldherren — den Gesetzen dieser Kunstperiode zuwider — mehrere Male dargestellt zu denken. Wie der Beschauer an dem ausgedehnten Gemälde vorbeischritt, nahm in gleichem Maſse die Entwickelung der Handlung ihren Fortgang. Es ist also an Stelle der zeitlichen Unbestimmtheit der Darstellung ein zeitlicher Fortschritt getreten. Dasselbe haben wir am Parthenonfries deutlich vor Augen; indem wir von der Nordwestecke bis zur Mitte des Ostfrieses fortschreiten, sehen wir die Reiter sich rüsten, aufsitzen, sich zu Gliedern ordnen, wir gehen an den Wagen, den Opfertieren, den Mädchen vorbei, bis wir zuletzt den Peplos — denn das ist er trotz Brunns und seiner Schüler Widerspruch — in der Hand des Priesters sehen. Gewiſs ist das nicht gleichzeitig zu denken, sondern unmerklich ist die Zeit fortgeschritten; aber meisterhaft hat uns Pheidias über den Verlauf hinweggetäuscht: wir sind in demselben Falle, wie einer, der vom Kerameikos aus neben dem sich stets bewegenden Zuge hereilt. Erwägungen, wie die von Flasch (Über den Parthenonfries S. 94), erledigen sich hierdurch von selbst; die Athener würden ihm, wenn sie überhaupt auf solche Fragen sich einlieſsen, entgegnet haben: „ die Reiter, die wir vorhin noch mit Vor - bereitungen beschäftigt sahen, sind unterdessen längst aufgesessen und auf der Akropolis angelangt und haben die Peplosübergabe mit angesehen “. — Man darf sogar fragen, ob bei Kompositionen, die nicht mit einem Blick zu übersehen sind, sondern im Weiterwandeln betrachtet sein wollen, ein solcher unmerk - licher zeitlicher Fortschritt nicht künstlerisch geboten erscheint..
In dieser Hinsicht ist mir auch die Art, wie die archaische Kunst die schöne Erzählung von Hektors Lösung im letzten Buche der Ilias bildlich gestaltet, immer besonders merkwürdig erschienen14)Von den archaischen Darstellungen dieses Typus ist leider nur eine sehr flüchtige schwarzfigurige Lekythos publiziert (Arch. Zeit. 1854, Taf. 72). Derselbe Typus liegt den strengen rothfigurigen Vasen (M. d. I. VIII 27 u.. 19Achilleus liegt auf der Kline, vor ihm steht der Tisch mit Speisen, wie ja auch in der Ilias Priamos den Peliden nach eben voll - endeter Mahlzeit findet; unter der Kline liegt die geschändete Leiche Hektors — denn diese, um die sich die ganze Handlung dreht, muſs natürlich der Beschauer wirklich auf dem Bilde dar - gestellt sehen. Indem nun aber der Künstler zum Anbringen von Hektors Leichnam in höchst sinnreicher Weise den leeren Raum unter der Kline benutzt, entsteht gleichsam ganz von selbst, jeden - falls ohne Vorgang der Dichtung, der zu Achills hartem Charakter vortrefflich passende Zug, daſs er über der Leiche seines Feindes liegend die Freuden des Mahles genieſst. Dem Achill naht sich eiligen Schrittes — wie ja in der archaischen Kunst jedes Ge - hen zu einem hastigen Laufen wird — Priamos, die Arme flehend erhoben. Und wie empfängt ihn Achilleus? Er reicht ihm die Schale. In der Ilias bietet bekanntlich zuletzt Achilleus, als er, durch die Erinnerung an seinen eigenen greisen Vater gerührt, in die Auslieferung der Leiche gewilligt hat, dem tiefgebeugten Troerkönig Speise und Trank an mit den schönen Worten, daſs alles menschliche Leid seine Gränzen habe und daſs auch einst Niobe die schwergeprüfte zuletzt die Gaben der Demeter nicht verschmäht habe. Was dort den Abschluſs der Begegnung zwischen Achill und Priamos bildet, ist hier in den Anfang derselben ver - legt, oder richtiger: es ist gleich der ganze Verlauf dem Be - schauer vor Augen gestellt.
Wenn dies Bild in seiner Naivität etwas Ergreifendes hat, so führt dasselbe Verfahren doch auch zu Darstellungen, welche auf uns mit unwiderstehlicher Komik wirken, so wenig eine solche Wirkung von dem antiken Künstler beabsichtigt war. Ein recht drastisches Beispiel sind die Darstellungen des Aben - teuers des Odysseus in der Höhle des Polyphem15)Ich habe hier vor Allem den aus derselben Fabrik wie die Arkesilas -. Der Kyklop sitzt aufrecht auf einem Felssitz, in jeder Hand einen mensch -14)Overbeck XX 3) zu Grunde; doch ist hier dem Geschmack des fünften Jahr - hunderts entsprechend versucht, den Moment scharf zu präcisieren. Die Er - klärung, daſs Achill dem Priamos den Becher zu Spott und Hohn hinreiche, (Luckenbach a. a. O. S. 509) wäre besser nicht aufgestellt worden.2*20lichen Unterschenkel haltend; er ist also damit beschäftigt, einen der Gefährten des Odysseus zu verzehren. Dieser selbst steht vor ihm, mit der rechten Hand ihm den Becher reichend, aber gleich - zeitig faſst seine linke Hand einen gewaltigen Pfahl, der auf seiner und der drei hinter ihm herschreitenden Genossen Schultern ruht; er will das spitze Ende desselben in das Stirnauge des Kyklopen bohren. Auch hier also hat der Verfertiger sämmtliche Momente des Abenteuers auf einmal dargestellt und dadurch eine ebenso unmögliche wie lächerliche Scene uns vorgeführt; der Kyklop kann weder den Becher ergreifen, den ihm Odysseus bietet, da seine beiden Hände beschäftigt sind, noch ist es denkbar, daſs er in wachem und nüchternem Zustand sich geduldig den Pfahl in die Stirn bohren lassen würde16)S. Luckenbach a. a. O. S. 505..
Dieselbe Unbestimmtheit, wie hinsichtlich der Zeit, herrscht in dieser ersten Kunstperiode auch hinsichtlich des Ortes der Handlung. Dies zeigt sich, da eine Andeutung der Lokalität in der Regel fehlt, namentlich in der Anwesenheit von Personen, welche an dem Ort der Haupthandlung unmöglich anwesend sein können. So finden wir bei dem Kampf des Theseus mit dem Minotauros, dessen Schauplatz selbstverständlich das Innere des Labyrinthes ist17)Z. B. auf der attischen Vase des Archikles und Glaukytes (M. d. I. IV tav. LIX Gerhard A. V. 235. 236), auf der chalkidischen Vase (M. d. I. VI tav. XV) u. öfter., nicht nur die dem Tod geweihten athenischen Knaben und Mädchen, sondern auch Minos und Ariadne, ja auch die Amme der letzteren gegenwärtig; so ist bei der Scene, wo Achilleus die beiden trojanischen Königskinder Troilos und Polyxena beim Brunnen vor der Stadt überfällt, Priamos selbst zugegen18)Auf der korinthischen Vase Arch. Zeit. 1863 T. 175., so ist endlich bei der Ermordung der Ismene durch Tydeus, die im Gemach der thebanischen Königs - tochter erfolgt, der Knappe des Tydeus, Klytios, hoch zu Roſs, anwesend19)M. d. I. VI tav. XIV. Wiener Vorlegeblätter Ser. III T. I 2. Welcker,.
15)Vase stammenden Teller (M. d. I. I tav. VII, 1. Overbeck her. Gall. XXXI 4) im Auge.
21Diese Freiheit und Ungebundenheit von Ort und Zeit auf der einen, der Wunsch die Vorgänge möglichst vollständig darzustellen auf der andern Seite verführen diese in ihrer jungen Schöpferlust19)Alte Denkm. V T. 14 S. 253. Es ist gewiſs schon oft bemerkt, aber meines Wissens noch nicht ausgesprochen worden, daſs Welcker in der Auffassung dieser korinthischen Vase geirrt hat und daſs sich die richtige Deutung aus der Salustischen Hypothesis der Sophokleischen Antigone ergiebt. Dort heiſst es: Μίμνερμος δέ φησι τὴν μὲν Ἰσμήνην προσομιλοῦσαν Θεοκλυμένῳ ὑπὸ Τυδέως κατὰ Ἀϑηνᾶς ἐγκέλευσιν τελευτῆσαι. Es bedarf wohl kaum eines ausdrücklichen Hinweises, daſs auf der genannten Vase dieser Vorgang dargestellt ist und daſs auf diese Weise auch die Nacktheit der Ismene ihre Erklärung findet. Salust nennt den Liebhaber der Ismene Theoklymenos, ein Name, der in thebanischen Sagen sonst nicht vorkommt; und daſs an den gleichnamigen Seher der Odyssee hier nicht gedacht werden kann, bedarf keines ausdrücklichen Be - weises. Auf der Vase hingegen heiſst er Periklymenos, das ist der berühmte Sohn des Neleus oder nach andern des Poseidon, der Argonaut, der durch Posei - dons Gunst jede beliebige Gestalt annehmen kann und später von Herakles getötet wird. Im Krieg der Sieben steht er auf Seiten des Eteokles. In der Thebais (Paus. IX 18, 4) tötet er den Parthenopaios, und darin sind Euripides (Phoen. 1156) und Aristodemos in den Thebaika (schol. Eur. Phoen. 1156 fr. 4 F. H. G. III S. 309 Müller) dem Epos gefolgt; Apollodor hingegen III 6, 8 führt zwar auch die Euripideische Version als Variante an, erzählt aber in seinem Haupt - bericht, der wahrscheinlich in allen seinen Teilen dem Pherekydes entlehnt ist (vgl. de Apollodori bibliotheca p. 67 s.), daſs es vielmehr Amphiaraos war, der von Periklymenos verfolgt und getötet ward. Ich bin absichtlich aus - führlich gewesen, um zu zeigen, daſs dem antiken Kenner der theba - nischen Sagen die Figur des Periklymenos ebenso vertraut gewesen sein muſs, wie dem heutigen Leser der Ilias ein Aineias oder Deiphobos. So häufig nun doppelte Namensformen bei weniger bekannten Heroen sind, so bekenne ich doch, daſs mir diese Annahme bei einer so ausgebildeten Figur der Sage sehr bedenklich scheint und daſs ich daher geneigt bin, in der Form Θεοκλύμενος, wie sie die Hypothesis hat, nicht eine Variante, sondern eine Korruptel des wirklichen Namens Περικλύμενος zu sehen. — Die auf der Vase dargestellte Sagenversion vom Tod der Ismene wird in der Hypothesis dem Mimnermos zugeschrieben; abweichend davon erzählte Pherekydes (schol. Eurip. Phoen. 53, fr. 48 Müller), daſs Tydeus die Ismene an der Quelle tötete, die später ihren Namen trug, und diese Version hat man sich nach Welckers Vorgang gewöhnt, auch für die Thebais vorauszusetzen. Allein die unter Mimnermos Namen überlieferte Version hat mindestens den gleichen Anspruch, auf die Thebais zurückgeführt zu werden, um so mehr, als gerade Kolophon, die Heimat des Mimnermos, auf die abschlieſsende Gestaltung, die der theba -22 schwelgende Kunst, die keine Schranke fesselt und kein Gesetz bindet, zu dem Versuch, Vorgänge, die nur für die Poesie, nicht aber für die Kunst darstellbar sind, bildlich zu gestalten, so z. B. Verwandlungsscenen. Ein charakteristisches Beispiel dafür ist des Peleus Werbung um Thetis. Scheu und flüchtig, wie alle Meermädchen, jede Gestalt anzunehmen fähig, wie alle Wassergott - heiten, sucht sich Thetis der Umarmung des Sterblichen zu ent - ziehen, indem sie in stets wechselnder Gestalt ihn bedroht, als Feuer ihn umlodert, als Schlange sich um seine Glieder schlingt, als Löwe oder Panther auf ihn eindringt: so berichtete die Sage, so sang das Volkslied. Das Bild faſst alle diese verschiedenen Momente in einen zusammen. Thetis in menschlicher Gestalt wird von Peleus um die Hüften gepackt und festgehalten, aber gleichzeitig sind alle Gestalten, welche Thetis der Reihe nach annimmt, angegeben und nicht ohne Geschick künstlerisch ver - wertet. Flammen schlagen hinter den Schultern der Thetis empor, Schlangen umwinden die Hände und Füſse des Peleus und züngeln gierig nach seinem Gesicht, ein Löwe ist ihm auf den Rücken gesprungen und hat die Zähne in seine Schulter eingeschlagen20)Sollte es nicht mit Panther und Schlange, die wir in den Darstel - lungen der Gigantomachie neben Dionysos erblicken, ursprünglich eine ähn - liche Bewandtnis haben? Man nimmt gewöhnlich an, daſs es die heiligen Tiere des Dionysos seien, die für ihn kämpfen, allein wie kommt es, daſs die Tiere der übrigen Götter, vor allem der Adler des Zeus, nicht auch schon in früherer Zeit, sondern erst auf dem pergamenischen Altar in den Kampf ein - greifen? Andererseits ist es bekannt genug, welche groſse Rolle in den ver - schiedenen Dionysos-Mythen gerade die Verwandlung spielt. Im homerischen Hymnus verwandelt er sich beim Abenteuer mit den tyrrhenischen Seeräubern in einen Löwen (hymn. hom. VII 44); und daſs er im Gigantenkampf den Rhoitos leonis unguibus terribilique mala niederwarf, wuſste noch Horaz (carm. II 19, 23). So scheint mir, daſs auf den älteren Darstellungen Panther. 19)nische Sagenstoff schlieſslich im Epos gefunden hat, sehr wesentlich einge - wirkt zu haben scheint, wie namentlich die Manto-Episode zeigt (schol. Apoll. Α 308). Unter diesen Umständen wird man denn bei einem kolopho - nischen Dichter gerade am ehesten die Version der Thebais zu erwarten be - rechtigt sein. Daſs die Vasen, die auf Tydeus und Ismene am Brunnen ge - deutet sind, in Wahrheit Achill und Polyxena darstellen, ist längst richtig gesehen.23Niemals würde ein Künstler des fünften oder vierten Jahrhunderts gewagt haben, solche in ihrer Naivität unglaublich verwegene Darstellung zu schaffen; da ihm dieselbe aber aus dieser frühesten Kunstperiode überliefert wird, behält er sie unbedenklich bei. Besitzen doch gerade die in dieser frühesten Zeit geschaffenen bildlichen Typen eine ungemein zähe Lebenskraft.
Wie sehr sich diese archaische Kunst ihrer Selbständigkeit der Poesie gegenüber bewuſst war, geht aus der bisherigen Schilderung genugsam hervor. Aber sie geht noch weiter. Aus den von der Sage gebotenen und von der Poesie geformten Ele - menten schafft sie neue Scenen, neue Situationen, die in der Poesie nicht vorgebildet sind oder wenigstens nicht vorgebildet zu sein brauchen. Den Abschied des Hektor z. B. schildert die archaische Kunst, obgleich ihr gewiſs das berühmte Lied der Ilias vorschwebt, ganz abweichend von dem Wortlaut jenes Liedes. Es fehlen Astyanax und die Amme. Dafür sind Priamos und Hekabe, Polyxena und Kassandra, Kebriones21)Vgl. Mon. e. Ann. d. Inst. 1855, T. XX. Wiener Vorlegeblätter Ser. III Taf. I, 1. Auf dieser korinthischen Vase erscheint Kebriones als Wagen - lenker, auf der chalkidischen Vase (Gerh. A. V. IV 322) als Rossehalter des Hek - tor. Kebriones, der Heros eponymos der troischen Stadt Kebrene (Strabo XIII 596), ist bekanntlich in der Ilias ein Bastard des Priamos, der später Π 738 von Patroklos getötet wird. In Θ 318 befiehlt ihm Hektor, dem nach einander zwei Wagenlenker getötet sind, die Zügel zu fassen, und so lenkt er Hektors Wagen bis zu seinem Tod. Es ist also doch klar, daſs sein Auftreten in der Kunst als Wagenlenker des Hektor ursprünglich auf einer undeutlichen Reminiscenz an die Schilderung der Ilias beruht, aber in der bildlichen Tradition festgehalten und weiter ausgebildet wird, so daſs er zuletzt als der eigentliche Wagenlenker des Hektor erscheint, ein Amt, das er in der Ilias nur zur Aushilfe versieht; wieder ein deutliches Beispiel, meine ich, wie die Kunst gleichsam unwillkürlich weiter dichtet. und viele andere20)und Schlange die verschiedenen Verwandlungen des Dionysos selbst darstel - len; später mochte man das immerhin vergessen haben und nur die heiligen Tiere des Gottes darin sehen. Aber wissen wir denn so sicher, ob nicht bei den späteren Darstellungen von dem Ringkampf des Peleus und der Thetis ein Gleiches stattfand und, ob die attischen Maler der zierlichen Le - kythos, (Overbeck her. Gall. VIII 1) und der aus Kameiros stammenden Pelike (Wiener Vorlegebl. II. 6, 2) unter den Tieren sich noch Thetis selbst und nicht Wassertiere, die der Nereide zu Hilfe kommen, vorstellen?24 gegenwärtig. Wie frei die archaische Kunst im Hinzufügen sol - cher zuschauenden Personen schaltet, zeigt sich noch deutlicher, wenn bei der Wappnung des Achilleus mit den von Thetis über - brachten Waffen Peleus und Neoptolemos gegenwärtig sind22)Rhangabé Aux amis de l’antiquité hommage du comité des antiquairs d’Athènes. Paris 1869. Heydemann Vasenbilder VI 4. Wiener Vorlege - blätter Ser. II 6, 1. oder wenn an dem Kampf um die Leiche des Achilleus Neoptolemos teilnimmt23)Gerhard A. V. III 227, 2. Overbeck a. a. O. XXIII 2., beides in vollständigem Widerspruch mit Sage und Poesie. Neoptolemos weilt, so lange sein Vater lebt, auf seiner Geburtsinsel Skyros, Peleus war niemals vor Troia. Aber der Künstler denkt: wer kann sich herzlicher an der Heldengröſse des Achilleus freuen als sein Vater Peleus und sein Sohn Neopto - tolemos, und wem ziemt es mehr für die Leiche des Vaters zu kämpfen, als dem Sohn.
Mit ihrer ganzen Freiheit im Gestalten, mit ihrer vollen, frischen Erzählungslust hat diese älteste Kunst einer Fülle von Sagenstoffen bildliche Form geliehen, die in diesen festgestellten Typen, wie ein köstlicher Schatz, von Generation zu Generation vererbt werden und die zähesten und unveräuſserlichsten Be - standtheile der bildlichen Tradition ausmachen.
In den Entwickelungsgang der Sage greift indessen bald ein neuer Faktor, die Lyrik, namentlich die der Dorer, mächtig um - gestaltend ein; ihr sehr nachhaltiger Einfluſs auf die Sagen - bildung und demgemäſs auf die Kunst wird in der Regel zu gering angeschlagen24)So noch neuerdings von Luckenbach a. a. O. S. 563, dem freilich die durch die Natur seiner Aufgabe gebotene Beschränkung zur ausreichen - den Entschuldigung dient. Hätte er die Nosten in den Kreis seiner Betrach - tung gezogen, so wäre er zu anderen Resultaten gekommen.. Wir können ihre Macht namentlich an der Wirkung eines Dichters abmessen, des Stesichoros von Himera. Dieser merkwürdige Mann, dessen Sagengestaltungen von Aischy - los und Euripides, von Theokrit und Alexander Aitolos vielfach übernommen wurden, dessen Gedichte im 5. Jahrhundert in Athen so populär waren, daſs die Komödiendichter Verse daraus ohne25 Nennung des Autors parodieren und doch bei dem Publikum auf Verständnis rechnen konnten, trat der überlieferten Volkssage und dem ausgebildeten Volksepos mit der ganzen Macht und dem ganzen Eigensinn einer schöpferischen Dichter-Individualität gegen - über, mit keckem Griff neugestaltend, mit beispiellosem Erfolg.
So keck ist wohl selten ein Dichter der Volksvorstellung gegen - über getreten, wie Stesichoros in dieser seiner berühmten Apo - strophe an Helena, mittels welcher er seine Umgestaltung des Helena-Mythos einleitet; denn nur ein Scheinbild, so dichtete er, war es, das Paris geraubt hatte, nur ein Scheinbild, um das Troer und Achäer zehn Jahre lang gekämpft haben. Die wirk - liche Helena hatte Hermes auf das Geheiſs des Zeus nach Ägypten entführt, wo sie Menelaos auf seiner Irrfahrt wieder - findet. Für die Zähigkeit, mit welcher die Volksvorstellung an der Sagenform des Epos hängt, ist es bezeichnend, daſs, um eine solch unerhörte subjective Willkür zu erklären, alsbald die litterar - historische Sagenbildung geschäftig war und die Legende erfand, daſs Helena durch ein früheres Gedicht des Stesichoros erzürnt über den Sänger Blindheit verhängt habe und daſs er, um sich von dieser zu erlösen, jenes Gedicht zu Helenas Ehren - rettung gemacht habe, eine Legende, die schon zu Platons Zeit in Athen allgemein bekannt war; aber ebenso bezeichnend ist es für den gewaltigen Einfluſs des Stesichoros, daſs seine Fassung neben der der Ilias gekannt war, daſs sie sogar von Herodot adoptiert und von Euripides bei der Abfassung seiner Helena befolgt wurde. Daſs bei dieser Umgestaltung für Stesi - choros neben dem Anschluſs an gewisse tendenziöse Sagenformen der Dorer25)S. Cap. V Der Tod des Aigisthos. auch rationalistische Gesichtspunkte maſsgebend waren, können wir wenigstens an einem Beispiel darthun, an seiner Behandlung der Sage von Aktaion. Zwar an der Vor -26 stellung, daſs die Götter menschlichen Leidenschaften unterworfen seien und Liebe und Haſs gegen die Sterblichen empfinden, nahm Stesichoros keinen Anstoſs und behielt daher unbedenklich die ältere Fassung der Sage bei, nach welcher Zeus, in Liebe zu Semele entbrannt und eifersüchtig auf Aktaion, der auch um Semele wirbt, der Artemis befiehlt, den unbequemen Neben - buhler aus dem Weg zu räumen. Aber den weiteren Bericht der Sage, daſs Artemis den Aktaion in einen Hirsch verwandelt, den seine eigenen Jagdhunde zerreiſsen, verwarf Stesichoros. Denn ganz unglaublich schien es ihm, daſs ein Mensch in ein Tier verwandelt werden könne. Daher erzählte er, Artemis hätte dem Aktaion nur das Fell eines Hirsches um die Schulter ge - worfen, und die Hunde, hierdurch getäuscht, hätten den Aktaion für einen Hirsch gehalten und zerrissen26)Paus. IX 2. 3 = Stesichoros fr. 68 Bergk..
Daſs nun diese Stesichoreischen Neubildungen der Sagen auch auf die Kunstdarstellungen eingewirkt haben, läſst sich ge - rade an dem eben besprochenen Beispiel zeigen. Eine Metope des jüngsten Tempels von Selinunt, dessen Erbauung sicher in die zweite Hälfte des fünften Jahrhunderts fällt, stellt Aktaion dar, der das Hirschfell um die Schultern, das Hirschhaupt über den Hinterkopf gezogen, sich vergebens der an ihm emporspringenden Hunde zu erwehren sucht27)Dies hat Serradifalco erkannt Antichità della Sicilia II T. XXXII p. 65. Vgl. Benndorf Metopen v. Selinunt. Taf. IX S. 57. Auch auf einer roth - figurigen attischen Vase begegnen wir derselben Stesichoreischen Sagenversion. S. Micali Storia C 1.. Hier haben wir die Aktaionsage in der Fassung des Stesichoros, denn bei der ganz eigentümlichen Natur derselben wird niemand be - zweifeln wollen, daſs das Gedicht des Stesichoros im ganz eigentlichen Sinne die Quelle für diese Darstellung ist; da aber dem Verfertiger einer dekorativen Tempelskulptur gewiſs nichts ferner liegt, als die Absicht, ein bestimmtes Gedicht illustrie - ren zu wollen, da vielmehr an solchen Stellen nur wirklich volks - tümliche Sagen und zwar in volkstümlicher Fassung dargestellt zu27 werden pflegen, so haben wir ein eklatantes Beispiel von dem gewaltigen Einfluſs der Stesichoreischen Gedichte auf die Volks - vorstellung, — allerdings in diesem Fall auf die Volksvorstellung in seinem Vaterland Sicilien, — ein Beispiel, das um so schwerer ins Gewicht fällt, als es sich dabei um das Verdrängen des märchenhaft Wunderbaren, das doch seiner ganzen Natur nach ungleich populärer ist, und das Ersetzen desselben durch eine ziemlich frostige pragmatische Interpretation, die dem Volke eigent - lich antipathisch ist, handelt. Ebenso war die von Stesichoros geschaffene Oresteia von dem gewaltigsten Einfluſs auf die spätere Kunst28)S. Cap. V Der Tod des Aigisthos..
Das Gesagte muſs genügen zum Beweis, daſs überhaupt von der Lyrik ein Einfluſs auf die bildende Kunst ausgegangen ist. Stärke und Ausdehnung desselben lassen sich aber bis jetzt ebenso wenig bestimmen, wie der Zeitpunkt, wo er begann und wo er aufhörte; nur das mag noch ausdrücklich hervorgehoben wer - den, daſs natürlich auch andere Lyriker gleichen Einfluſs geübt haben werden, nur daſs uns der Nachweis nicht möglich ist. Namentlich möchte man es von Ibykos von Rhegion voraussetzen.
Wir kommen nun zu der weitaus bedeutendsten und ein - greifendsten Epoche antiker Sagenentwickelung, der Umgestaltung der alten durch Epos und Lyrik geformten Stoffe im attischen Drama. Wie gewaltig der Rückschlag gerade dieser Dichtungs - form auf die Sagenvorstellung selbst ist, wie mächtig der Zwang, einerseits die Handlung in einer Folge charakteristischer Scenen sich abspielen und in einer bestimmten Situation gipfeln zu lassen, andererseits die einzelnen Figuren scharf zu charakterisieren, auf die Sagenform einwirken muſs, bedarf keiner besonderen Auseinandersetzung. Sehr bedeutend ist hier der Einfluſs des Aischylos, verhältnismäſsig gering der des Sophokles, am ein - schneidendsten der des Euripides, eines Dichters, bei dessen Be - urteilung man doch auch gerade den gewaltigen Einfluſs auf die Sagenentwickelung in Betracht ziehen sollte, wenn man ihm ge - recht werden will. Eine ganze Fülle von Sagen werden von nun28 an einzig noch in Euripideischer Fassung gekannt und geschätzt, und kaum giebt es einen Dichter, dessen Sagenbehandlung eine solche epochemachende Wirkung gehabt hat; sie beherrscht nicht nur das ganze spätere Altertum, auch die klassische Tra - gödie der Franzosen und Italiener, auch unsere eigene Sagen - anschauung steht unter ihrem Bann.
Für die bildende Kunst bereitet das Drama den Sagenstoff in einer Weise vor, wie keine zweite Dichtungsgattung; auch in ihm werden ja schon die Vorgänge leibhaftig dem Zuschauer vor Augen gestellt, auch in ihm wird der Stoff in einzelne charak - teristische Scenen zerlegt vorgeführt. Diese ungemeinen Vorteile der dramatischen Sagenform konnten der bildenden Kunst nicht lange verborgen bleiben, aber es bedurfte Zeit, bis sie sich die - selbe zu Nutzen machte; die Wirkung war keine augenblickliche, sondern eine ganz allmähliche. Aus dem fünften Jahrhundert besitzen wir kein Kunstwerk, welches den Sagenstoff in derjenigen Form bildlich darstellt, in welcher ihn in derselben Zeit Aischylos, Sophokles und Euripides auf die attische Bühne brachten. Frei - lich in einem Punkte bedarf diese Behauptung einer Einschrän - kung. Das ausgelassene Treiben der nichtsnutzigen Satyrn im Satyrspiel bot zu so köstlichen Darstellungen Anlaſs, daſs sich die attischen Künstler diesen dankbaren Stoff unmöglich entgehen lassen konnten29)Ich meine vor allem die Satyrvase des Brygos (M. d. I. IX tav. XLVI. Wiener Vorlegeblätter Ser. VIII 6), auf der wahrscheinlich eine Scene aus der Iris des Achaios zu erkennen ist; vgl. Matz A. d. I. 1872 p. 300. Helbig B. d. I. 1872 p. 41. Urlichs D. Vasenmaler Brygos S. 5. Die dort gleichfalls als Möglichkeit zugelassene Beziehung auf den Inachos des So - phokles scheint mir wenig wahrscheinlich. Aber auch auf einer Duris - vase (Wiener Vorlegeblätter Ser. VI 4) läſst der Satyrherold (vgl. Athen V p. 198 A) die Einwirkung der Bühne erkennen. Ob nicht sowohl in diesem Herold als auch in dem durch bunten Chiton ausgezeichneten Satyr auf der be - rühmten Neapler Vase (Heydemann Nr. 3240) der Koryphaios des Satyrchores zu erkennen ist?; im Übrigen aber ist es bis jetzt nicht geglückt, wenigstens mit einiger Probabilität, bei Kunstwerken des fünften Jahrhunderts den Einfluſs der Sagengestaltung des Dramas nach -29 zuweisen30)Näheres siehe im Cap. IV Das attische Drama und die Vasen - malerei des fünften Jahrhunderts.. Sollte es aber auch in einzelnen Fällen glücken, so würde die Ausnahme nur die Regel bestätigen. Im Allgemei - nen dürfen wir die Thatsache konstatieren, daſs die Kunst des fünften Jahrhunderts in der Sagenform von dem Epos und in einzelnen Fällen von der Lyrik abhängig ist; aber wenn nicht in der Sagenfassung, so macht sich doch der Einfluſs des Dramas im Charakter der Darstellung zuerst leise und dann immer stärker geltend. Man darf vielleicht sagen, daſs in jener Periode zwar nicht der Stoff, aber die Form der Kunstdarstellungen dramatisch ist. Das zeigt sich zunächst darin, daſs stets die dargestellte Scene scharf präcisiert wird. Verschwunden ist jene Unbestimmt - heit und Ungewiſsheit der archaischen Kunstdarstellungen. Ein ganz bestimmter Moment schwebt dem Künstler vor, der mög - lichst dramatische, und alle dargestellten Figuren sind in diesem ganz bestimmten Moment und in engster Verbindung mit der Hauptgruppe gedacht; es ist bewundernswert, wie geschickt und zugleich wie pietätvoll diese Kunstperiode die alt überlieferten Typen, die natürlich gröſstenteils an der geschilderten Unbestimmt - heit leiden, so umzugestalten versteht, daſs eine spannende dra - matische Scene entsteht. Ein alter bildlicher Typus stellt den Streit des Aias und des Odysseus um die Waffen des Achilleus dar. Mit gezücktem Schwert wollen beide auf einander los, und mit gewaltiger Anstrengung sind die übrigen Achäer bemüht, sie von einander abzuhalten; kein Versuch ist gemacht, die einzelnen Achäer oder auch nur die beiden Hauptfiguren Aias und Odysseus näher zu charakterisieren, selbst der Gegenstand des Streites, die Waffen des Achilleus, ist nicht immer dargestellt. Im fünften Jahrhundert hat der Vasenmaler Duris mit gewissenhaftester An - lehnung an diesen alten Typus folgende Scene geschaffen: Aias hat bereits den Panzer des Achilleus angelegt, zu seinen Füſsen liegen Helm und Schild; nur die rechte Schulterspange des Pan - zers steht noch offen. Er hat das Schwert gezückt und will auf Odysseus los. Dieser hingegen ist eben erst im Begriff, das Schwert30 zu ziehen. Agamemnon und die übrigen Achäer sind bemüht, die Streitenden zu trennen und Frieden zu stiften. Mit lebendigster Klarheit steht die ganze Situation, steht auch das ganze Werden derselben vor unsern Augen, mit wenigen meisterhaften Strichen ist der Charakter der Haupthelden gezeichnet. Aias, hastig zufahrend, hat sich gleich der Waffen des gefallenen Achilleus bemächtigt und den Panzer angelegt, um zu prüfen, ob auch ihm dies Werk des Hephaistos passe. Dann ist Odysseus gekommen, in schlauer Rede seine Ansprüche geltend zu machen. Aufbrausend hat Aias das Schwert gezogen, ohne sich auch nur Zeit zu nehmen, den Panzer völlig anzulegen — das zeigt die offen stehende Schulterklappe. Odysseus klug und bedächtig zieht erst das Schwert, da er angegriffen ist31)Die richtige Deutung dieser gegenwärtig im Wiener Industriemuseum befindlichen Durisvase (M. d. I. VIII T. XLI. Wiener Vorlegebl. Ser. VI Taf. I s. die Abbildung unten in dem Excurs Ὅπλων κρίσις) hat zuerst W. Klein auf der Innsbrucker Philologen-Versammlung ausgesprochen (Ver - handl. d. XXIX. Philologen-Versammlung S. 154); auch Brunn war schon vorher zu derselben Deutung gekommen (a. a. O. S. 151). Die im Text ge - gebene Erklärung weicht in einigen Punkten von Klein ab. S. unten..
Mit dieser schärferen Begrenzung der Situation hört natür - lich auch die Möglichkeit auf, den ganzen Verlauf der Handlung auf einmal darzustellen. Daher verfällt man darauf, die Sage in mehreren, zunächst zwei oder drei Scenen zu erzählen; nament - lich in der Gefäſsmalerei boten die beiden Seiten der Amphora und des Kraters oder die beiden Auſsenseiten und die Innenseite der Trinkschale die beste Gelegenheit zu einer pointierten Gegen - überstellung zweier besonders wichtiger Momente der Handlung, wie denn das Gegenbild der eben geschilderten Komposition des Duris die Abstimmung der Achäer über Aias und Odysseus zu Gunsten des letzteren darstellt.
Der Einfluſs des Dramas zeigt sich auch darin, daſs die Nebenfiguren jetzt nicht nur mit gröſserer Sorgfalt ausgewählt und wo möglich in enge, freundschaftliche oder verwandtschaftliche Beziehung zu den Hauptfiguren gesetzt werden, sondern auch nicht teilnahmlos und nur mit sich selbst beschäftigt dastehen,31 vielmehr in lebhaftester Weise ihre Teilnahme an der Handlung zu erkennen geben32)S. Cap. II Erweiterung der Typen; vgl. auch meine Schrift über Thanatos S. 15.. Sie übernehmen also gewissermaſsen die Rolle des Chors. Und vielleicht geht auch noch eine Eigentüm - lichkeit auf den Einfluſs der Bühne zurück. Es ist auf Darstel - lungen dieser Zeit besonders beliebt, daſs in dem Bilde selbst irgend eine Figur den Hauptvorgang sei es in derselben Scene sei es in der der Rückseite anderen erzählt und, der Eindruck, den diese Erzählung auf die Hörer macht, mit besonderer Liebe geschildert wird33)Vgl. Luckenbach a. a. O. S. 587.. Auf einer Darstellung der Entführung der Helena berichtet rechts eine Dienerin dem erschreckten Tyndareos was geschehen ist. Als Gegenbild zu dem oben geschilderten Ringkampf des Peleus und der Thetis wird im fünften Jahr - hundert der Augenblick dargestellt, wo fliehende Nereiden dem greisen Nereus die Gefahr seiner Tochter berichten. Es ist der Botenbericht des attischen Dramas in die bildende Kunst übertragen34)Damit soll natürlich nicht geleugnet werden, daſs Ansätze zu diesem Motiv schon in der archaischen Kunst vorhanden sind; so auf der François - Vase Antenor und Priamos. Aber dominierend wird es doch erst im fünften Jahrhundert..
Aber nicht nur die alten Typen werden in diesem neuen, dramatischen Sinne umgestaltet und vervollkommnet, auch neue Typen tauchen in erstaunlicher Fülle auf, so daſs mit der for - mellen Vervollkommnung der Komposition ein sehr bedeutender stofflicher Zuwachs, eine ungemeine Erweiterung des Kreises der Darstellungen, Hand in Hand geht. Den Anstoſs dazu gab die Verpflanzung der ionischen monumentalen Wandmalerei auf attischen Boden; von den Werkstätten jener ionischen Zuwanderer, die ihre Inseln mit der mächtig aufblühenden Hauptstadt des attischen Reiches vertauscht hatten, von den Werkstätten eines Polygnotos von Thasos, seiner Genossen und Schüler ist die Schöpfung dieser Typen ausgegangen, tief das ganze künstlerische Treiben Athens durchdringend und belebend; den Stoff aber suchten und fanden32 diese Künstler, wie gar bald auch die einfachen Kunsthandwerker, unmittelbar in der Volkssage. Die speciell attischen Sagen, die für die Kunst durchaus, für die Poesie wenigstens gröſstenteils terra vergine waren, dominieren nun gar bald wie auf den Wänden der Tempel und Hallen, so auf den bescheidenen Gerätschaften des täg - lichen Lebens, vor allen der Vasen; so die der ältesten attischen Mythenschicht angehörigen Sagen von der Geburt und Pflege des Erichthonios und vom Raub der Oreithyia, die jüngeren Sagen von den attischen Abenteuern des Theseus35)S. Philologische Untersuchungen I. Heft S. 43., die eleusinische Sage von der Ausfahrt des Triptolemos, die paralische Sage vom schönen Jäger Kephalos36)Kephalos erscheint aber nicht bloſs als Jäger, sondern mit allen Attributen des attischen Knaben und Jünglings; mit dem Diptychon des Knaben, der zum γραμματιστής geht, und mit der Leier, die keineswegs den Sänger andeutet, sondern nur den gebildeten Athener, der κιϑαρίζειν ἐπίστα - ται oder, wenn er knabenhaft erscheint, εἰς κιϑαριστοῦ ἔρχεται. Es ist des - halb nicht nur, wie Helbig richtig gesehen hat, die neue Hermonaxvase (B. d. I. 1873 p. 167. Arch. Zeit. 1878 S. 112), sondern sämmtliche Darstellungen, auf denen eine geflügelte Frau einen Jüngling mit der Leier verfolgt, auf Eos und Kephalos zu deuten. O. Jahns Bedenken (Arch. Beitr. S. 99), es sei nicht erlaubt hier Kephalos zu erkennen, weil diesem die Sage nicht den Zug ephebischer Bildung gegeben habe, daſs er mit Leier und Büchern um - zugehen wuſste, kann heute schwerlich mehr aufrecht erhalten werden. Auch ohne daſs die Sage oder die Poesie es vorgebildet hat, kann Kephalos einfach als attischer Jüngling oder Knabe erscheinen, mit demselben Rechte wie Ganymed mit dem Spielzeug attischer Knaben, dem Reifen, und in Be - gleitung eines Pädagogen auf attischen Vasen erscheint, da doch Sage und Poesie ihn als Hirtenknaben kennen. Die Beischriften Νίκα und Λίνος auf einer zu dieser Klasse gehörigen Berliner Vase (Arch. Zeit. 1848 Taf. 21, 1), welche unserer Auffassung widersprachen, sind jetzt von Körte und Furt -. Es ist als ob ein Bann, der auf der attischen Sagenwelt gelegen, auf einmal gebrochen sei, da nun der Athener nicht bloſs die fremden durch ionisches Epos und do - rische Lyrik ihm zugeführten und freilich seit lange vertrauten Geschichten, sondern auch die ganz eigentlich auf attischem Boden gewachsenen und an der attischen Landschaft haftenden Sagen im Bildwerk vor sich sieht. Ob und wie diese attischen Lokalmythen vor dem fünften Jahrhundert poetisch fixiert worden33 sind, ist schlechterdings nicht auszumachen37)Wann die von Aristoteles (Poet. 1451a 16) und Anderen erwähnten Θησηΐδες entstanden sind, ist schlechterdings nicht auszumachen; aber ebenso wenig steht es fest, daſs sie die attische und nicht vielmehr die alte troi - zenische Theseussage enthielten. Daſs die Atthis des Hegesinoos eine Fäl - schung oder richtiger eine Fiction ist, glaube ich (de Gratiis Atticis in den Commentationes Mommsenianae p. 145) gezeigt zu haben. In die genealo - gischen Systeme der Geschichtsschreiber werden die attischen Sagen erst am Ende des fünften Jahrhunderts durch Hellanikos eingeführt.. Aber nichts deutet darauf, daſs diese Poesieen, wenn es, abgesehen von der dem Kultus und dem Geschlechterstolz botmäſsigen Hymnenpoesie38)So z. B. die von Plato im Lysis p. 205 C erwähnten Gedichte, wo Ktesippos von seinem Lysis rühmt: τὸν γὰρ τοῦ Ἡρακλέους ξενισμὸν πρῴην ἡμῖν ἐν ποιήματί τινι διῄει, ὡς διὰ τὴν τοῦ Ἡρακλέους ξυγγένειαν ὁ πρόγονος αὐτῶν ὑποδέξαιτο τὸν Ἡρακλέα γεγονὼς αὐτὸς ἐκ Διός τε καὶ τῆς τοῦ δήμου ἀρχηγέτου ϑυγατρός, ἅπερ αἱ γραῖαι ᾄδουσιν., solche gegeben hat, über einen ganz engen Kreis hinaus Bedeu - tung gewonnen haben. Im fünften Jahrhundert aber bemäch - tigen sich sowohl das Drama wie die bildende Kunst, jedoch beide wie es scheint selbständig dieser dankbaren Stoffe, und hier dürfte zuweilen der seltene Fall eingetreten sein, daſs in dem Er - fassen eines neuen Stoffes die Kunst voranging, die Poesie folgte. Ein Beispiel für diese beachtenswerte Erscheinung liefert uns das Gemälde des Mikon im Theseion, Theseus auf dem Meeresgrund bei seinem göttlichen Vater Poseidon, ein Mythos, den nach aller Wahrscheinlichkeit Euripides in seinem Theseus behandelt hat39)Vgl. Wilamowitz im Hermes XV S. 483 Leo Seneca I p. 181 und das von mir Eratosthenis catasterismorum reliquiae p. 221 n. 1 Bemerkte. Die oft besprochene Vase des Neapler Museums (Heydemann Nr. 3352. Bull. Nap. N. S. V 2) scheint mir nach Analogie dieser attischen Sage Achilleus auf dem Grund des Meeres bei Nereus darzustellen, ohne daſs an etwas anderes zu denken wäre, als an den Besuch des Enkels bei seinem gött - lichen Groſsvater. Die Beziehung auf den Auszug nach Troia wird von den Interpreten willkürlich hineingelegt.;36)wängler (Arch. Zeit. 1880 S. 101 u. 161) als modern erwiesen. So steht zu hoffen, daſs die richtige bereits von Em. Braun (A. d. I. 1840 p. 154) aufge - stellte Deutung endlich in ihr Recht treten und die seltsame Anschauung als ob bei den Alten die Jünglinge von Nike verfolgt würden und vor ihr wegliefen, aus der archäologischen Litteratur verschwinden wird.Philolog. Untersuchungen V. 334aber das Bild gehört der ersten, das Stück zweifellos der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts an. Noch augenscheinlicher ist dies in einem anderen Fall, wo der ionische Künstler nicht eine attische, sondern eine Sage seiner Heimat dargestellt und dadurch vielleicht erst in Athen eingebürgert hat. In irgend einem Gebäude Athens — in welchem wissen wir nicht, jedoch sicher nicht in den Propyläen — hatte Polygnot den Mythos von Achill unter den Töchtern des Lykomedes dargestellt, einen Mythos, der ein durchaus epichorisches Gepräge hat und aus dem Lokalpatriotis - mus der Inselgriechen, zunächst der Skyrier, entsprungen ist, welcher sich gegen die Überlieferung von einer feindlichen Erobe - rung der Insel durch Achilleus, wie sie das Epos kannte, auflehnte, anderseits aber um des Neoptolemos willen den Aufenthalt des Achilleus auf Skyros beibehalten und nur anders motivieren muſste. Hier ist es also auch für den skeptischsten Forscher klar, daſs die Tragödie des Euripides Σκύριοι nicht nur später, — das ver - steht sich bei einer Euripideischen Tragödie von selbst40)Ein gewiſs schon von Vielen stillschweigend korrigierter Irr - tum ist die von Heyne und Brunck aufgestellte, von Welcker übernom - mene Ansicht, dass die Σκύριοι des Sophokles denselben Mythos behandelt hätten. Wir sind selten in der glücklichen Lage unter nur zwei gröſseren Fragmenten eines Stückes ein so entscheidendes zu haben, wie das bei Stobaeus (Floril. 124, 17. fr. 510 Nauck. ) erhaltene. Wer kann so sprechen, als Neoptolemos zu Phoinix, der seinem Schmerz um Achilleus in übermäſsi - gen Klagen Luft macht, und wie männlich schön sind die Worte:ἀλλ̕ εἰ μὲν ἦν κλαίουσιν ἰᾶσϑαι κακά καὶ τὸν ϑανόντα δακρύοις ἀνιστάναι, ὁ χρυσὸς ἧσσον κτῆμα τοῦ κλαίειν ἄν ἦν. νῦν δ̕, ὦ γεραιέ, ταῦτ̕ ἀνηνύτως ἔχει τὸν ἐν τάφῳ κρυφϑέντα πρὸς τὸ φῶς ἄγειν· κἀμοὶ γὰρ ἂν πατήρ γε δακρύων χάριν ἀνῆκτ̕ ἂν εἰς φῶς. „ Nicht klagen um ihn will ich “, so mag es weiter geheiſsen haben, „ sondern ihn rächen. “ Welckers Annahme, daſs dem Lykomedes sein einziger Sohn gestorben, ist eben so unglücklich wie willkürlich. Das Stück behandelte also, wie schon Tyrwhitt (zu Aristot. Poet. p. 191) richtig gesehen, die Ab - holung des Neoptolemos von Skyros. — son - dern in direkter Abhängigkeit von Polygnot gedichtet ist.
35Wenn also die gewaltige Umwälzung, welche sich durch die Tragödie mit den alten Sagenstoffen sowohl solchen, die bereits in Epos und Lyrik poetisch verarbeitet waren, wie solchen, die jetzt zum ersten Mal von der Poesie aus der Volkstradition auf - genommen wurden, vollzog, keinen sofortigen merkbaren Einfluſs auf die Kunst ausübte, so war derselbe, als er später zum Durch - bruch kam, um so gewaltiger und nachhaltiger, ja man kann sagen ein für alle Zeiten maſsgebender. Wie überhaupt, so spiegelt auch hierin die Kunst die Wandlung der Volksvorstellung wieder; denn auch für diese hat eben das Drama die endgültige, von jetzt an allein bekannte und populäre Sagenform geschaffen. Diese immer ausschlieſslichere Herrschaft des Dramas über die Kunst geht nun Hand in Hand mit dem Aufblühen der Tafelmalerei, und gerade bei den Vertreteren dieser Richtung, den Meistern klein - asiatisch-ionischer Abkunft aus dem Anfang des vierten Jahrhunderts, läſst sich dieser Einfluſs am frühesten constatieren. Da malt Parrhasios die Heilung des Telephos, den verlassenen Philoktet auf Lemnos, den erheuchelten Wahnsinn des Odysseus, Timanthes von Kythnos das Opfer der Iphigeneia, lauter Scenen, die, ob - gleich im Epos ausgebildet, doch der archaischen Kunst durchaus fremd sind, und erst jetzt, da ihnen die dramatische Behandlung neuen Reiz gegeben hat, auch in die Kunst eindringen. Und wenn derselbe Timanthes den schlafenden Kyklopen darstellt und die Satyrn, die mit einem Thyrsos die Gröſse seines Daumens messen, so ist doch wahrlich unverkennbar, daſs die eigentliche Veranlassung zu diesem launigen Einfall der Kyklops des Euripides ist. Nir - gend sonst kommt Polyphem mit Satyrn zusammen, und der Künst - ler würde, ohne den Vorgang der Bühne, schwerlich zu dieser Er - findung gelangt sein und gewiſs nicht auf Verständnis bei dem Publikum haben rechnen können, da ihm das motivierende Wort versagt ist. Allein auch jetzt liegt natürlich der antiken Kunst nichts ferner, als eine genaue Illustration des Dramas oder eine direkte Wiedergabe der Bühne; auch jetzt wird der Zusammen - hang zwischen Bild und Lied vermittelt durch die herrschende Volksvorstellung, richtiger vielleicht die Vorstellung der Gebil - deten, wenn sich auch die Künstler jetzt in einzelnen Fällen der3*36Übereinstimmung mit der Dichtung bestimmter bewuſst gewesen sein mögen, als in früheren Zeiten. Es versteht sich von selbst, daſs es zunächst die dem Dramatiker durch dramaturgische Rück - sichten gesetzten Schranken sind, welche der Künstler durchbricht. Während in der Schluſsscene der Antiopa nur Zethos, Amphion und Hermes als ϑεὸς ἐκ μηχανῆς, allenfalls auch Lykos wenn derselbe nicht vorher abgeführt war, auf der Bühne sein konnten, fügt der Künstler nicht nur die Hauptfigur des Stückes Antiopa hinzu, sondern stellt auch auf der anderen Seite des Bildes die Schleifung der Dirke dar41)Vgl. Arch. Zeit. 1878 Taf. 7. Dilthey a. a. O. S. 43 giebt freilich den Zusammenhang mit Euripides nur bedingt zu.; die litterarische Quelle bleibt nichts desto weniger Euripides und nur Euripides, auch wenn bei ihm diese Ereignisse weder gleichzeitig noch genau in derselben Weise statt - haben, wie auf dem Bilde. Der Künstler hat weiter das Recht und wahrt es sich, Personen menschlicher und göttlicher Wesen - heit hinzuzufügen, von denen der Dichter nichts weiſs; und ge - rade hierin wird der Künstler am meisten dem Geschmack und der Anschauung seiner eigenen Zeit gerecht. Die Vorliebe der alexandrinischen Periode für Personifikation und Allegorie führt ganz von selbst zur Einfügung jener dämonischen Ge - stalten, jener Repräsentanten von Leidenschaften und anderen abstracten Begriffen, denen schon das Epos je nach Bedürfnis Per - sönlichkeit geliehen, die sogar in einzelnen Fällen der tragische Dichter dem Zuschauer gezeigt hat. Die Leidenschaft, unter deren Bann die Scene sich abspielt, stellt der Künstler leibhaftig dem Beschauer vor Augen, Oistros und Lyſsa reiſsen den Menschen zum Verbrechen hin, Ate führt ihn ins Verderben. Den eigent - lichen Anstoſs hierzu hat allerdings das Drama gegeben, aber es ist keineswegs notwendig, nicht einmal wahrscheinlich, daſs auch in jedem einzelnen Fall der Dichter es dem Künstler vor - gemacht haben muſs. Der hellenistische Künstler stellt neben die kindermordende Medeia den Oistros, wie der römische neben den jagenden Hippolytos die Virtus stellt, ohne daſs der eine darin einem nacheuripideischen griechischen, der andre37 einem römischen Dichter folgt. Ebenso selbstverständlich ist es, daſs der Künstler je nach Bedürfnis, namentlich bei figuren - reicheren Compositionen, Gestalten hinzufügt, die in der eigent - lichen dramatischen Hauptquelle gar nicht vorkommen, aber vom Mythos gegeben sind — oder auch nicht gegeben sind, sondern vom Künstler nach Belieben eingeführt werden. Als Beispiel kühner und freier künstlerischer Weiterbildung des Mythos mag hier die Münchener Medeiavase näher betrachtet werden42)O. Jahn Vasensammlung König Ludwigs Nr. 810, abgebildet Millin Tombeaux de Canose Taf. 7. (Danach Wiener Vorlegeblätter Ser. I Taf. 12). Arch. Ztg. 1847 Taf. 3.. Eine Fülle von neuen Personen und neuen Motiven, die alle dem Euripideischen Drama fremd sind, hat der Künstler in dieser figurenreichen Composition vor uns ausgebreitet, und doch ist die Scene, die er uns vorführt, keine andere als die Euripideische, und kein anderes Dichtungswerk, keine spätere Überarbeitung hat ihm vorgelegen; er verfuhr so, wie ein mit der Sage in der Euripi - deischen Form vertrauter, aber frei schaffender und phantasie - voller Künstler verfahren muſste, der das ganze Rachewerk der Medeia in einem Bilde vor Augen stellen wollte. Das bekannte Dispositionsschema der unteritalischen Prachtamphora wird in geschickter Weise zur Darstellung der beiden Hauptakte dieses Rachewerkes benutzt: die Rache an Kreusa wird in der Mitte, die Rache an Iason auf dem unteren Teil der Vase dargestellt. In dem Gemach, das die Mitte der ganzen Darstellung einnimmt, steht Kreon jammernd neben seiner von den Flammen ergriffenen und ohnmächtig auf den Thron niedersinkenden Tochter43)Sie heiſst auf der Vase Κρεοντεία scil. παῖς oder ϑυγάτηρ, wie Flasch (B. d. I. 1871 p. 20) richtig erklärt; bei Euripides ist sie bekanntlich namenlos, ebenso wie die Ἡράκλειοι παῖδες im Herakles v. 71. Die Namen Glauke oder Kreusa kommen erst in den ὑποϑέσεις und den mythographischen Hand - büchern auf. Heydemanns Einwürfe gegen Flasch (A. d. I. 1873 S. 23) können mich nicht überzeugen.. Man verlangt teilnehmende ergriffene Zuschauer bei dieser Schreckens - scene; bei Euripides in der Botenerzählung werden dem Gebrauch des Dramas gemäſs nur untergeordnete Personen gegenwärtig38 gedacht, Dienerinnen, unter denen eine Alte besonders hervorge - hoben wird. Der Künstler braucht näher beteiligte Personen: Iason ist nun bei der unteren Scene unumgänglich notwendig, also hier nicht zu verwerten; er läſst daher von der einen Seite die entsetzte Mutter Merope44)Der Name von Kreons Gemahlin ist uns in der erhaltenen Litteratur nicht überliefert; aber Jahn Arch. Ztg. 1847 S. 36 macht mit Recht darauf auf - merksam, daſs gerade Merope auch sonst noch zweimal als Name korinthi - scher Königinnen vorkomme, denn die Gattin des Sisyphos und die des Polybos, die Pflegemutter des Oidipus, führen diesen Namen. Es ist nun ebenso mög - lich, daſs in einem genealogischen Werke die Gattin des Kreon diesen Namen hatte, als daſs der Vasenmaler ihr denselben in Erinnerung an jene beiden anderen korinthischen Königinnen auf eigene Hand gab., von der andern den Bruder Hippotes45)Hippotes stand in der alten korinthischen Königsliste als Sohn und Nachfolger des Kreon; nach einer Version ist er es (Schol. Eur. Med. 19 u. 20. Diod. IV 53) und nicht Kreon, mit dessen Tochter sich Iason vermählt. S. O. Jahn a. a. O. Anm. 14. hilfreich herbeieilen. Aber — und hierin zeigt sich wieder augenscheinlich die Abhängigkeit von Euripides — auch die alte Dienerin der Botenerzählung läſst sich der Künstler nicht entgehen46)Gleichfalls von Jahn a. a. O. bemerkt.. Wir sehen sie (durch den über den Kopf gezogenen Schleier als Amme charakterisiert) sich eilig nach rechts entfernen, offenbar um den Iason zu rufen, dessen Fehlen sonst auffallen würde. Unten mordet Medeia die Kinder, und Iason von einem Doryphoros begleitet eilt zur Rache herbei, zwei zeitlich kurz aufeinanderfolgende Scenen hat der Künstler in eine zusammengezogen. Aber der Beschauer will auch wissen, wie Medeia sich der Rache des Gatten entzieht. Darum muſs der Schlangenwagen, auf welchem Medeia bei Euripides erst in der folgenden Scene erscheint, im Bilde schon jetzt gegenwärtig sein. Aber damit erwächst dem Künstler auch die Nötigung einen Wagenlenker zu erfinden, da bei Euripides Medeia selbst lenkt; er greift zu der Personifikation ihrer Leidenschaft, Oistros ist es, der den Wagen für Medeia bereit hält. Um nun eine Verbin - dung der unteren mit der oberen Scene herzustellen und zugleich dem Beschauer ins Gedächtnis zu rufen, daſs es die Kinder der39 Medeia waren, die der Königstochter die unheilvollen Geschenke überbracht haben, läſst er den Pädagogen, der die Kinder hin - und zurückgeleitet hat47)Anders O. Jahn a. a. O., auf halbem Wege sich umkehren, entsetzt das Unheil wahrnehmen und den Schritt hemmen, während eine Dienerin im Begriff ist, ihn mit sich zur Medeia fortzuziehen. So wird durch diese Gruppe ein streng entsprechendes Gegen - bild zu der alten Dienerin der Kreusa gewonnen, die auf der anderen Seite gleichfalls nach der unteren Scene zu Iason hineilt. Den Kindern, die bereits bei der Mutter angelangt sind, muſs aber jetzt noch ein anderer Begleiter zugesellt werden; der Künstler wählt einfach einen Doryphoros, aber gleichzeitig benutzt er diese neue Figur, indem er das Motiv einer früheren Stelle des Stückes hierherzieht, zu einem schönen und ergreifenden Zuge. Am Schluſs des Prologes heiſst die Amme den Pädagogen die Kinder hineinführen und dafür Sorge zu tragen, daſs sie der Mutter nicht zu nahe kommen:
So der Dichter; der Künstler läſst jetzt im Augenblick der höchsten Gefahr den Doryphoros noch einen Versuch machen, wenigstens den einen Knaben den Augen und Händen der Mutter zu entziehen48)Daſs dabei der Vasenmaler an die Sagenversion gedacht haben sollte, nach welcher der eine Sohn der Medeia gerettet wird (Diod. IV 54), erscheint mir wenig glaublich.. Soweit ergeben sich Änderungen und Zusätze von selbst aus der dem Künstler gestellten Aufgabe; nur ein Zusatz ist ohne solche Nötigung seiner künstlerischen Phantasie entsprun - gen, ein Zusatz von solcher Schönheit, daſs es manchen Gelehrten schien, er müsse notwendig aus einer anderen poetischen Quelle geflossen sein: als Zuschauer der Greuelthaten steigt rechts das Schattenbild des Aietes auf, um die Wirkung seines Fluches zu40 schauen49)O. Jahn a. a. O. und C. Dilthey (Arch. Zeit. 1875 S. 71) glauben eine nacheuripideische Tragödie als Quelle für diese Einfügung von Aietes’ Schat - tenbild statuieren zu müssen. Den Keim zu dieser Erfindung ist man ver - sucht in Eur. Med. v. 31 — 33 zu vermuten.. Allein bedenkt man, mit welch feinem Takt auch im Übrigen der Künstler verfährt, so wird man auch diese Er - findung ihm oder seinem künstlerischen Vorbild wohl zutrauen mögen. Der obere Raum, den nach feststehender Regel dieses Vasenstils die Götter einzunehmen pflegen, wird hier zunächst von der Schützerin und Verfertigerin der Argo, Athena, dann von den zu Göttern gewordenen Argonauten, Herakles50)Herakles scheint im vierten Jahrhundert durchaus als ein Haupt - teilnehmer an der Argonautenfahrt betrachtet zu werden; so sehen wir ihn auch auf der Meidiasvase mit den Argonauten bei den Hesperiden; beiläufig mag bemerkt werden, daſs dort der Name des sitzenden Königs zweifellos zu Ἄτλας zu ergänzen ist. Ein engeres Verhältnis zwischen Medeia und He - rakles besteht bei Diodor IV 54, 6. 55, 4, der, wahrscheinlich nach Dionysios Skytobrachion (vgl. Welcker Ep. Cyklus I S. 82, Schwartz de Dionysio Scyto - brachione p. 4 f.), erzählt, daſs Medeia nach dem Kindermord zu Herakles nach Theben flieht und ihn vom Wahnsinn heilt, eine seltsam pointierte Zu - sammenstellung des im gottverhängten Wahnsinn zum Kindermörder gewor - denen Mannes mit dem durch Rachsucht zum Kindermord getriebenen Weibe. und den Dios - kuren ausgefüllt. Diese reiche und durchdachte Composition ist in gewisser Beziehung typisch für die Art und Weise, in welcher sich die gesammte spätere Kunst zu der Tragödie des 5. Jahr - hunderts stellt; völlige Abhängigkeit von der Sagenversion, enger An - schluſs an die wichtigsten Situationen, aber im Detailkein sklavisches Nachbeten, keine Beschränkung der frei schaffenden künstlerischen Phantasie, die zuweilen selbst in die Rechte der Dichtung eingreift.
Aber noch zu einer weiteren Betrachtung ladet unsere Vase ein. Das Streben, den Mythos in seinem ganzen Verlauf, in jedem einzelnen Zug vor Augen zu stellen, den Beschauer gleich auf den weiteren Verlauf hinzuweisen, wie hier durch den Drachen - wagen, und ihn zugleich an die Vorgeschichte, an zum Teil weit zurückliegende Ereignisse zu erinnern, wie hier durch die An - wesenheit der heroisirten Argonauten und die Erscheinung des Schattens des Aietes geschieht, erinnert es nicht an die ver -41 wandten nur weit naiveren Versuche der archaischen Kunst? Freilich solche Unzuträglichkeiten, solche Unbestimmtheit in Bezug auf Ort und Zeit, wie wir sie dort wahrnahmen, sind hier vermieden. Hier spielt die Scene in und vor dem Königspalast des Kreon, und ein bestimmter entscheidungsvoller Augenblick ist wohl über - legt zur Darstellung ausgewählt, ein Augenblick freilich, in dem gar vielerlei zugleich geschieht, in dem Kreusa, von den Flammen gequält niedersinkt, ihr Vater sie umfaſst, Mutter und Bruder herbeieilen, in dem Medeia ihr eines Kind tötet, ein Diener das andere zu flüchten sucht, Iason zur Rache herbeieilt, Oistros mit dem Drachenwagen naht; denn daſs das Zusammenfallen aller dieser Ereignisse in einen Moment denkbar ist, wird doch niemand leugnen wollen. Ja, aber auch nur denkbar. Je länger man sich in die Situation vertieft, desto weniger glaubt man an die Wahrscheinlichkeit, daſs alles dies sich auch wirklich gleichzeitig ereignet habe — man sehe doch nur den Pädagogen, der noch auf dem Rückweg befindlich auf die sterbende Kreusa hinstarrt, während schon einer seiner Pflegebefohlenen von der Mutter gemordet wird — desto mehr kommt man zu der Ueberzeugung, daſs etwas weniger mehr ge - wesen wäre. Es ist wahr, alle Figuren sind in einer sehr prä - gnanten Handlung gedacht, die zu den Hauptfiguren in einer engen Beziehung steht, — nur die als Zuschauer gedachten Götter er - scheinen ruhiger, die Dioskuren fast teilnamlos — aber gerade hierdurch werden wir verwirrt, die Einzelfiguren greifen nicht harmonisch in einander, und wenn wir eine Darstellung des fünften Jahrhunderts damit vergleichen, so werden wir zwar einen dramatischen Grundton unserer Vase nicht absprechen können, ja wir werden eine groſse Fähigkeit, heftige Leiden - schaften wiederzugeben, gerne anerkennen, aber wir werden auch eingestehen müssen, daſs die Kunst in demselben Maſse, als sie an Pathos gewonnen, an Charakteristik verloren hat, und das sowohl hinsichtlich der Wiedergabe der ganzen Situation als der einzelnen Figuren.
Und damit berühren wir jene verhängnisvolle Richtung, welche die Kunst bei der Darstellung mythologischer Scenen zuerst un -42 merklich, dann immer entschiedener einschlägt; das Interesse an dem Gegenstande selbst geht mehr und mehr verloren; an seine Stelle tritt das mehr formelle Interesse an der Art der Behandlung. Daher zunächst die starke Betonung des psycho - logischen Elements, auf das ja überhaupt im 4. Jahrhundert sich die Aufmerksamkeit immer mehr richtet, daher der stark pathe - tische Zug, der sich im Kunsthandwerk zuweilen bis zum thea - tralisch Übertriebenen steigert. Bildwerke, wie die sterbende Iokaste des Silanion, die Pasiphae des Bryaxis, der Athamas des Aristonidas sind in hohem Grade charakteristisch für die Richtung dieser Zeit, die im Mythos nicht mehr die stoffliche, sondern die menschliche Seite sucht, die die Heroengestalten nicht mehr als halbgöttliche Wesen der Vorzeit, sondern als psychologische Probleme interessieren, der endlich die alten Gestalten der Helden - sage wesentlich von der Bühne her vertraut sind. Denn gerade im 4. Jahrhundert, als auf die Periode der dramatischen Produktion, wie so oft, der Aufschwung der Schauspielerkunst folgt und sich in dieser ein ausgesprochenes Virtuosentum zu entwickeln beginnt51)Sehr charakteristisch für die Wichtigkeit, die man im vierten Jahr - hundert der Schauspielkunst beimaſs, ist die Art der Konkurrenz, wie wir sie aus den vor wenigen Jahren am Südabhang der Akropolis ausgegrabenen Inschriften kennen gelernt haben. (Ἀϑήναιον VI S. 476 Mitt. d. deutsch. archäol. Instituts III 1878 S. 112.) Nicht mehr wie in früherer Zeit hat jeder Dichter seine Schauspieler, sondern jedes der drei Stücke der einzel - nen Dichter wird von einem anderen Schauspieldirektor aufgeführt und da - bei sogar streng darauf geachtet, daſs durch die Reihenfolge der Stücke nicht der eine Schauspieler bevorzugt, der andere benachteiligt; vielmehr muſs jeder der Schauspieler einmal an erster, einmal an zweiter und einmal an dritter Stelle spielen. Wenn wir also die Dichter mit a b c, die Schauspieler - truppen mit α β γ bezeichnen, so führen die drei Schauspielertruppen die Stücke von a in der Reihenfolge α β γ, die von b in der Folge β α γ, die von c in der Folge γ β α auf., ist der unmittelbare Einfluſs der Bühne ein sehr bedeutender, namentlich auf die bildende Kunst. Nicht nur die bunten Theatergewänder und die der Bühne entstammenden Typen des Pädagogen, der Amme, der Doryphoroi u. a. dringen in die Kunst ein, auch die Bewegung und die Gebärden der Figuren bekommen etwas entschieden Theatralisches,43 und in einzelnen Fällen ist sogar die ganze Komposition ent - schieden von dem scenischen Bilde beeinfluſst52)Siehe z. B. Wiener Vorlegeblätter Ser. B. Taf. IV. Millingen vases grecs XXIII. Bull. nap. II 7; namentlich gilt dies von solchen Scenen, wo ein Flüchtiger sich dem Altar genaht hat und von der einen Seite die Aus - lieferung verlangt, von der andern verweigert wird. Zuweilen scheint sogar an der Sitte der Bühne, daſs die rechte Seite die Stadt, die linke das Land bedeutet, festgehalten zu werden; so steht auf den Antigonevasen Kreon rechts, Antigone, die vom Lande herbeigeführt wird, links.. Gewiſs ist es kein Zufall, daſs in dieser Zeit die Kunst auch das rein Technische des Schauspiels in den Kreis der Darstellung zieht, daſs Maler wie Aristeides den Schauspieler im Kostüm darstellen, und daſs z. B. gerade in dieser Zeit die prächtige attische Vase gefertigt wird, welche Schauspieler und Choreuten im Kostüm eines Satyrspiels um ihren göttlichen Schutzherrn Dionysos ver - sammelt zeigt53)M. d. I. III 31. Wieseler Theatergebäude VI 2. Heydemann Nr. 3240. Es scheint mir zweifellos, daſs wir zehn Choreuten mit dem Chorführer als elftem, drei Schauspieler: Herakles, der wilde von ihm besiegte König und Seilenos, endlich ein κωφὸν πρόσωπον, die auf der Kline neben Dionysos und Ariadne sitzende Frau, wohl die Tochter des Barbarenkönigs, anzunehmen haben. Wir wissen von der Einrichtung des Satyrspiels zu wenig, um a priori in Abrede stellen zu dürfen, daſs die sehr sorgfältige Vase sich nicht auch in der Zahl der Choreuten eng an die wirklichen Verhältnisse ange - schlossen haben könne. Die in Anm. 51 erwähnten Inschriften haben insofern etwas Klarheit gebracht, als sie zeigen, daſs im vierten Jahrhundert das Satyrspiel, wenn überhaupt ein solches aufgeführt wurde, die Reihe der Vorstellungen eröffnete. Hierdurch wird auch die viel besprochene und viel miſshandelte Stelle des Zenobios V 40 s. v. οὐδὲν πρὸς τὸν Διόνυσον verständ - lich: διὰ γοῦν τοῦτο τοὺς Σατύρους ὕστερον ἔδοξεν αὐτοῖς προεισάγειν, ἵνα μὴ δοκῶσιν ἐπιλανϑάνεσϑαι τοῦ ϑεοῦ; sie spricht, worauf ja auch ὕστερον hinweist, von einer Neuerung des vierten Jahrhunderts..
Wie aber verhielt sich diese Zeit zu den älteren bildlichen Typen? zu den Gestaltungen der epischen und lyrischen Poesie? Am Anfang des vierten Jahrhunderts begegnen wir mannigfachen Versuchen mit der bildlichen Tradition zu brechen, vor allem bei solchen Typen, die in ihrer Naivität dem vorgeschrittenen Ge - schmack nicht mehr behagten; so wird der alte Ringkampf von44 Peleus und Thetis bald in eine Liebesverfolgung54)S. Luckenbach a. a. O. S. 588. Auch auf der von Körte publizierten Hermonax-Vase (Arch. Zeit. 1878 Taf. 12) sind unbedenklich Peleus und Thetis zu erkennen; schon die Vergleichung mit der bei Gerhard A. V. III 182 publizierten Vase genügt, um diese Deutung zu sichern., bald in eine Überraschung im Bade umgewandelt. Allein in Einzelheiten ist die bildliche Tradition von einer erstaunlichen Zähigkeit. Die Tiere, welche die Verwandlung der Thetis andeuten, wagt die Kunst nur in einzelnen Fällen ganz wegzuwerfen. Einzelheiten werden sogar aus den alten in die neuen eine ganz andere Sagen - version repräsentierenden Typen mit herübergenommen. Auf römischen Monumenten bringt nicht Peleus in Begleitung der Thetis, sondern diese allein den Achilleus zu Cheiron. Sie trägt ihn aber auch auf ganz späten Monumenten in derselben Weise auf der Hand, wie Peleus in den Vasendarstellungen des 5. Jahr - hunderts55)So auf der Amphora des Pamphaios, die aus der Sammlung Cam - pana in den Louvre gekommen ist (vgl. Brunn, Künstler-Geschichte II S. 725 Nr. 20) und der in dem Journal of hellenic studies I pl. II publizierten Oinochoe..
Vielfach findet die Umgestaltung der alten Typen in der Weise statt, daſs an Stelle einer Handlung die Darstellung einer Situation tritt. Denn neben die dramatisch bewegten Schilderungen treten in dieser Zeit gleichberechtigt Darstellungen eines ruhigen behaglichen Zusammenseins, der ruhigen Unterhaltung ohne Andeutung einer bestimmten Handlung, Scenen die Gelegenheit geben eine Reihe von Figuren in anmutigster Stellung und Bewegung vorzuführen und deren Prototyp weit zurück liegt; es sind Fortbildungen der Abfahrtscenen der archaischen, der Credenzscenen der entwickel - ten Kunst. Während die ältesten Darstellungen des Parisurteils die Göttinnen noch auf dem Wege zum Ida zeigen, die Kunst des fünften Jahrhunderts hingegen sie eben angelangt sein läſst, zeigt die Kunst des vierten Jahrhunderts sie in anmutiger Gruppierung um Paris herumsitzend, und so sehr ist schon in dieser Zeit die Empfindung für das der Situation Angemessene geschwunden, daſs schon jetzt, wie später häufig, Hera auf dem Thronsessel sitzend45 erscheint56)S. Welcker Alte Denkmäler V. Taf. B., von dem ein Unbefangener nicht begreift, wie er auf den Ida kommt. Gespräche werden jetzt mit Vorliebe dargestellt, das Gespräch des Perseus mit der an den Felsen geschmiedeten Andro - meda, das Gespräch des Herakles und der Hesperiden, das Gespräch der Eris und Themis auf der Parisvase, Gespräche zwischen Paris und Helena, Gespräche der Wanderer mit den Trauernden am Grabe, Gespräche von Mädchen und Jünglingen; und wenn wir hören, daſs Parrhasios auf einem Bilde Meleager, Herakles und Perseus dargestellt habe57)Plin. 35, 69., so kann dies doch schlechter - dings auch nur ein Gespräch gewesen sein, das Herakles im Hades mit seinem Ahnherrn und dem kalydonischen Helden führt, der ihm seine Schwester zum Weibe verspricht58)Schol. II. Φ 194. Ἡρακλῆς εἰς Ἅιδου κατελϑὼν ἐπὶ τὸν Κέρβερον συνέτυχε Μελεάγρῳ τῷ Οἰνέως, οὗ καὶ δεηϑέντος γῆμαι τὴν ὰδελφὴν Δηϊάνειραν ἐπανελϑὼν εἰς φῶς κτλ. … ἡ ἱστορία παρὰ Πινδάρῳ. Apollod. II 5, 12, 4 ὁπηνίκα εἶδον αὐτὸν (d. Herakles) αἱ ψυχαί, χωρὶς Μελεάγρου καὶ Μεδούσης τῆς Γοργόνος ἔφυγον.. Es konnte nicht fehlen, daſs diese Richtung der Kunst immer höhere Anforderungen an das Divinations-Vermögen des Beschauers stellte; den Inhalt des Gespräches auch nur anzudeuten ist dem bildenden Künstler auſser - ordentlich schwer, aus einer Situation läſst sich schwer der Zu - sammenhang erraten. Und die Kunst verlor immer mehr und mehr die Empfindung für das, was sie dem Beschauer zum Ver - ständnis bieten muſs, sie rechnete mit ihrer eigenen Vorstellung und setzte dieselbe ohne weiteres beim Beschauer voraus. In hohem Grade gilt dies von einer groſsen Anzahl pompejanischer Bilder, also doch wohl auch für deren hellenistische Originale. Die Kenntnis der alexandrinischen Gedichte bildet die Voraussetzung für ihr Verständnis, im Vertrauen auf diese Kenntnis hat der Maler auch im Allgemeinen die Vorgänge nur so wenig charak - terisiert, daſs uns die Deutung auſserordentlich erschwert, in vielen Fällen direkt unmöglich ist. Die Art wie Figuren fast ohne jede Beziehung neben einander gestellt sind, erinnert oft an die sacre conversazioni der italienischen Kunst. So sehen46 wir einmal Apollon und Poseidon ohne jede Handlung einander gegenübergestellt, in sich versunken, teilnahmlos — wir glauben zwei Statuen zu sehen59)S. Helbig Nr. 1266.; aber ganz im Hintergrunde sehen wir Arbeiter beim Bau einer Stadtmauer, der Künstler hat also Apollon und Poseidon im Dienste des Laomedon beim Bau der Mauern von Troia darstellen wollen.
Am Ende des vierten Jahrhunderts, also mit dem Erlöschen der eigentlichen hellenischen und dem allmählichen Erblühen der helle - nistischen Kultur, begegnen wir aber noch einmal einer bedeutsamen und für die ganze Folgezeit maſsgebenden Neuerung: wir können in dieser Zeit die ersten Bildercyklen constatieren. Ansätze dazu giebt es natürlich schon in früherer Zeit: allein es ist, meine ich, doch etwas anderes, wenn auf den verschiedenen Seiten eines Frieses, auf der Vorderseite und Rückseite einer Vase verschiedene Scenen des - selben Mythos einander gegenübergestellt, wenn in den Metopen des Theseions und nach diesem Vorgang auf den Vasen die ein - zelnen Abenteuer des Theseus aneinander gereiht werden, als wenn der Inhalt eines bestimmten Gedichts in einer Reihe von Tafelbildern vor Augen geführt wird. Dort ist das Gegebene der Raum, der mit einer bestimmten Anzahl von Darstellungen geschmückt wer - den soll, wobei sich vom fünften Jahrhundert an das Bestreben geltend macht in diese verschiedenen Darstellungen einen Zu - sammenhang zu bringen. Hier ist das Gegebene das Gedicht oder der Mythos, dessen Entwickelung sich der Maler in eine beliebige Anzahl von Scenen zerlegt, wodurch sich wieder die Anzahl der Bilder bestimmt. So malt Theon von Samos den troischen Krieg, also den Inhalt des epischen Cyklus, und dann wieder die Schicksale des Orestes in einer Reihe von Bildern60)Plinius 35, 144. Den Zusammenhang der römischen Sarkophag - compositionen mit Theon vermutet Benndorf Ann. d. Inst. 1865 p. 239 vgl. auch Cap. V der Tod des Aigisthos.. Welcher Dichtung er dabei folgte, ist freilich nicht mehr auszumachen; allein wenn wirk - lich die Nachklänge dieser Schöpfungen auf den römischen Sarko - phagen uns vorliegen, so würde dadurch bestätigt, was wir von vorn - herein vermuten durften, daſs er sich der vom Drama geschaffenen47 Mythenversion anschloſs. Hier also begegnet uns zum ersten Mal eine Erscheinung, die sich noch am ehesten mit unseren moder - nen Klassiker-Illustrationen in Parallele bringen läſst. Sobald die dekorative Wandmalerei und das Relief, das auch in dieser Periode noch sich enger an den Entwickelungsgang der Malerei anschlieſst, als moderne Kunsttheoretiker zugeben wollen, der Tafel - malerei auf dies Gebiet zu folgen beginnen, werden sie ganz von selbst dahin getrieben, an Stelle umrahmter Einzelscenen eine Reihe von zeitlich aufeinanderfolgenden, räumlich ohne Abgren - zung in einander überlaufenden Scenen zu setzen; bei dieser gan - zen Neuerung mag übrigens auch die erneute enge Berührung mit dem Orient, in dessen Kunst ein solches chronikartiges Aneinander - reihen von Scenen seit alten Zeiten heimisch war61)Siehe oben Anm. 12., wesentlich mitgesprochen haben. Denn wenn man früher geneigt sein muſste, dies gerade in römischer Zeit so beliebte Aneinanderreihen von Scenen für eine Neuerung dieser späteren Periode zu halten, so haben uns die Ausgrabungen von Pergamon gelehrt, daſs dies Verfahren schon im zweiten Jahrhundert gang und gäbe war, und wer weiſs, ob es nicht schon in die Anfänge der hellenistischen Periode, in die Zeit der ersten intimeren Berührung mit dem Orient zurückdatiert werden muſs. Wie verhält sich nun der pergamenische Telephos - Fries, das älteste Beispiel von der Vereinigung zeitlich aufein - anderfolgender Scenen, zur Poesie? Hier war dem Künstler die Aufgabe gestellt, die Geschichte des mythischen Gründers von Pergamon in einer Reihenfolge von Scenen zu erzählen, aber in der Poesie fand er wohl einzelne Episoden aus dem Leben seines Helden, so namentlich sein Zusammentreffen mit Achilleus, in Epos und Drama behandelt, aber nirgend eine zusammenhängende Schilderung seiner Schicksale. Wenn nun auch eine syste - matische Durcharbeitung der Friesfragmente bis jetzt vermiſst wird, so läſst sich doch so viel erkennen, daſs durchaus die von dem Drama geschaffenen Versionen dem Künstler vorgeschwebt haben, und der Inhalt verschiedener Tragödien von ihm wohl oder übel zu einer einheitlichen Geschichte zusammengearbeitet ist;48 constatieren lassen sich bis jetzt die Auge und der Telephos des Euripides und wenigstens mit einer gewissen Wahrscheinlich - keit die Myser des Sophokles62)Vgl. die Ausgrabungen in Pergamon in den Jahrbüchern der könig - lichen Museen I S. 182 f.. Der Künstler hätte also hier im Kleinen an einer einzelnen Sage dieselbe Operation vollzogen, die aller Wahrscheinlichkeit nach Asklepiades von Tragilos an dem ganzen Mythenschatz des Altertums vollzog, der in seinen Tragodu - menen die vom Drama geschaffene Gestaltung der Sage einheitlich zusammengefast zu haben scheint63)vgl. Wilamowitz Analecta Euripidea p. 181 n. 3 Robert de Apollo - dori bibliotheca p. 74.. Charakteristisch aber ist es gewiſs in hohem Grade, daſs die offiziell recipierte Grün - dungssage des Attalidenhauses — denn diese dürfen wir doch an solcher Stelle dargestellt erwarten — direkt abhängig ist vom attischen Drama. Dies Erzählen in einer Bilderreihe nimmt, wie so vieles andere, die römische Kunst von der hellenistischen auf; es ist bekannt, wie die römischen Sarkophage einzelne Scenen der Tragödie speciell der Euripideischen, die tabulae iliacae Scenen des troischen Sagenkreises nach der Reihenfolge der erzählten Ereignisse aneinander reihen. Bei letzteren ist die Absicht zu illustrieren durch die beigesetzten Namen und Inhalts - angaben der Gedichte direkt ausgesprochen. Um so mehr muſste es befremden, selbst hier keine genaue Übereinstimmung mit dem Dichter zu finden, vielmehr starke Abweichungen, Zusätze und Erweiterungen manigfachster Art, selbst Scenen, die der Ilias durchaus fremd sind. Dies auffällige Verhältnis wird nicht sowohl aus der mangelhaften durch Hypotheseis vermittelten Bekanntschaft des Künstlers mit dem Dichter64)Dies nahm O. Jahn Griech. Bilderchroniken S. VI an, und ich bin ihm früher darin gefolgt (B. d. I. 1876 p. 217). Jetzt scheint mir, daſs sich die Abweichungen auf die oben angegebene Weise natürlicher erklären, worauf ich übrigens a. a. O. bereits hingewiesen hatte. als vielmehr durch die Ab - hängigkeit desselben von den Schöpfungen früherer Künstler zu er - klären sein, die der Dichtung frei gegenüber traten und es oft vorzogen, sich der dramatischen Version anzuschlieſsen; die Macht49 der bildlichen Tradition tritt dem Entstehen einer genauen Illustra - tion hemmend in den Weg.
Eine letzte bedeutende stoffliche Bereicherung erfährt die Kunst noch durch die alexandrinischen Dichter, ja sogar schon durch ihre Vorläufer im vierten Jahrhundert. Hier bedarf es keines besonderen Beweises, daſs die Quelle nicht die Volksvor - stellung, sondern die Dichtung war, die sich nicht mehr an das ganze Volk, sondern an einen engen Kreis hochgebildeter und fein - sinniger Männer wendete, wie sie an den Höfen der Diadochen und später in Rom den Mittelpunkt des geistigen Lebens bildeten; es kann also auch nicht mehr der vom Dichter beeinfluſste Vor - stellungsreichtum der Nation, sondern nur der dieser Kreise sein, aus welchem der Künstler seinen Gegenstand empfängt, wenn er es nicht, was jetzt immer häufiger geschieht, vorzieht, sich direkt an den Dichter zu wenden und sich mit deutlichem Bewuſstsein und unverkennbarer Absichtlichkeit an die Worte des Dichters an - zuschlieſsen; auch hier also entsteht eine Art Illustration; wie uns denn die letzten Jahre in Pompeji drei Bilder geliefert haben, welche direkt drei alexandrinische Epigramme illustrieren65)M. d. I. X tav. XXV, XXXV. Dilthey A. d. I. 1876 p. 294 s. vgl. das von mir Eratosth. catast. rel. p. 7 n. 10 Bemerkte.. Der enge Anschluſs an die Worte des Dichters führt aber auch zu mannigfachen Auswüchsen, die zu ernsten Erwägungen über die Gränzen der Poesie und Malerei in noch andern Fällen, als den von Lessing erörterten, Anlaſs geben. Ich meine namentlich das vielleicht schon im vierten Jahrhundert aufgekommene Verfahren, bildliche Ausdrücke des Dichters im Kunstwerk darzustellen. An - sätze auch hierzu finden sich schon in früher Zeit, wie wenn Eros gegen den Verliebten das Kentron schwingt oder ihm Liebes - sehnsucht in die Augen träufelt66)vgl. B. d I. 1871 p. 155. 1874 p. 8 S. 102. v. Duhn Commentat. Bonn. p. 102.. Allein zur eigentlichen Herr - schaft kommt dies Verfahren erst in der alexandrinischen Zeit. Ein Dichter des vierten Jahrhunderts67)Likymnios von Chios (Bergk P. L. G. III S. 1250) bei Athen. XIII 564 C Λικύμνιος δ̕ ὁ Χῖος τὸν Ὕπνον φήσας ἐρᾶν τοῦ Ἐνδυμίωνος οὐδὲ καϑεύ - hat den artigen EinfallPhilolog. Untersuchungen V. 450gehabt