Dem Königlich Preußiſchen Geheimen Cabinets-Rath Herrn Carl Chriſtian Müller, Doctor der Rechte und Ritter ꝛc. ꝛc. widmet an ſeinem funfzigjährigen Dienſtjubiläum dieſes Buch mit Sohnes Liebe der Verfaſſer.
Bereits vor mehreren Jahren regte mein verſtorbener Col - lege und Freund, Gans, den Gedanken an, eine gemein - ſchaftliche Bearbeitung des Völkerrechts zu unternehmen. Er wählte den Krieg und überließ mir den Frieden. Sein Tod hat die Ausführung dieſes Planes verhindert und mich län - gere Zeit hindurch von der eigenen alleinigen Behandlung des Gegenſtandes abgehalten. Durch verſchiedene Anläſſe bin ich indeß darauf zurückgeführt worden; ich habe die früheren Ar - beiten wieder aufgenommen und, — ſtrenge Selbſtprüfung läßt mich hoffen, durch eine treue kritiſche Zergliederung des Stoffes, den ich mir ſeit Anfang meines academiſchen Lebens zu Eigen gemacht habe, einigermaßen erſetzen zu können, was er durch die Mitthätigkeit des geiſtreichen Freundes gewon - nen haben würde. Vielleicht, daß in Kurzem die Herausge - ber ſeines Nachlaſſes wenigſtens eine Blumenleſe aus ſeinen glanzvollen Vorträgen über das öffentliche Recht erſcheinen laſſen. Ich ſelbſt habe von ihnen keine nähere Kenntniß er - halten. Nur wenige Puncte haben wir mit Einander durch - geſprochen. Gern aber nenne ich ihn als den erſten Urheber dieſes Werkes. Ehre ſeinem Andenken!
IVVorrede.Ob es nun gerade jetzt zeitgemäß ſei, an das Daſein ei - nes Völkerrechts und vorzüglich an manche Unvollkommenhei - ten der Staatenpraxis in dieſem Gebiete zu erinnern? kann vielleicht für ſolche Staaten weniger in Frage zu ſtellen ſein, die im Stande ſind, ihren Eigenwillen gegen den Widerſpruch anderer zu behaupten oder als Geſetz ihnen aufzudringen, wo - bei ſie höchſtens eines Scheines des Rechtes bedürfen und ſich daher ſchon mit einigen alten publiciſtiſchen Autoritäten und einſeitigen Präcedentien begnügen: mehr dagegen für diejeni - gen, welche ſtets für ihre Exiſtenz oder doch für ein gewiſſes Gleichgewicht zu kämpfen haben, niemals wenigſtens der Will - kühr anderer verfallen wollen. Sind nun noch Principien feſtzuſtellen und Schutzwehren für dieſelben zu erſtreben, ſo iſt gerade die Zeit des Friedens dazu die geeignetſte; verge - bens würde man jenes von einer Zeit des Unfriedens erwar - ten. Und waren in dem noch andauernden Friedensſtande die Nationen vielfach mit ſich ſelbſt in ihrem Innern beſchäftigt: ſo hat die meiſtens erfolgte Grundſteinlegung und der fernere Aufbau der Verfaſſungen bereits wieder geſtattet den Blick nach Außen hin zu richten und einen ſtets regeren Verkehr mit anderen Völkern zu ſuchen; es haben endlich ſchon wiederholent - lich Wolken am politiſchen Horizont die Regierungen und Völ - ker gemahnt, daß die Wirklichkeit eines ewigen Friedens, wenn überhaupt beſchieden, noch keinesweges ſo nahe ſei. Bis dahin bleibt gewiß das Bewußtſein von einem gemeinſamen Rechts - zuſtande unter allen oder doch gewiſſen Nationen der einzige Nothanker, um nicht in die Barbarei eines ewigen Krieges zurückzuſinken. In der That verkündigen einige Erſcheinungen am literariſchen Horizont hin und wieder, daß das Bedürfniß einer Wiederanfriſchung der völkerrechtlichen Studien, fürVVorrede.welche in Deutſchland ſeit Klüber nichts Erhebliches geleiſtet worden iſt, noch anderweitig begriffen werde. 1Wir haben hierbei beſonders die Beitraͤge zur Voͤlkerrechtsge - ſchichte und Wiſſenſchaft von Herrn Prof. K. Th. Puͤtter (Leipzig 1843 und einen Aufſatz von Haͤlſchner, zur wiſſenſchaftlichen Begruͤn - dung des Voͤlkerrechts (in G. Eberty Zeitſchr. fuͤr volksthuͤml. Recht. Heft I, 26.) im Auge.
Ueber die Auffaſſung des Stoffes habe ich nur wenig vorauszuſchicken.
Zuförderſt nenne ich das Völkerrecht noch immer bei ſei - nem alten Namen, nicht, wie es manche mit fremder Zunge zu nennen angefangen haben: internationales Recht; ich vin - dicire ihm eine Subſtanz, welche unter die letztere Benennung nicht genau paßt, wohl aber unter den alttechniſchen Begriff des Völkerrechts, des jus gentium der Alten; ich vindicire ihm die allgemeinen Menſchenrechte, deren Anerkennung kein Volk verweigern kann, die Rechte nämlich, welche jeder Ein - zelne, auch der außer dem Staate Lebende, dennoch in der menſchlichen Geſellſchaft fordern darf.
Aus welchem Geſichtspunct ſodann das Völkerrecht über - haupt zu behandeln ſei, ſteht bei mir längſt unerſchütterlich feſt. Ich ſehe darin weder eine bloße Staatenmoral oder ein Aggregat politiſcher Maximen, welchem darum der Character eines Rechtes zu verweigern wäre, weil ſich dafür noch keine Zwangsform der Geltendmachung gefunden hat; noch auch ein fragmentariſches willkührliches Recht, welches nur auf ei - nem beliebigen Herkommen oder auf Verträgen beruht; Er - ſteres nicht, weil es durchaus nicht an Mitteln zu ſeiner Rea - liſirung gebricht, ſelbſt nicht an Mitteln, um einen unparteii - ſchen Urtheilsſpruch zu erlangen, wenn man ihn nur haben will und ſich mit keinem Geheimniß umſchließt; ja einen un -VIVorrede.parteiiſcheren und gerechteren Urtheilsſpruch, als ihn der höchſte Richterſtuhl eines Landes abgeben kann —; Letzteres nicht, weil die bloß äußerliche Willkühr kein Rechtsprincip zu er - ſchaffen vermag, wenn ihr keine höhere Weihe zur Seite ſteht. Den tieferen Grund alles Völkerrechts finde ich in dem ver - nünftigen, d. h. auf der Nothwendigkeit des Gedankens be - ruhenden Willen der Menſchen, ſobald er in ein gemeinſa - mes Bewußtſein tritt, welches ſich nicht blos in dem Ein - zelſtaate als Satzung geltend zu machen ſucht, und das Ge - ſetz zu ſeinem Diener auffordert, ja ſich wohl ſelbſt an die Stelle des Geſetzes ſetzt, ſondern auch unter Nationen, die mit einander in Verkehr, in ein geſellſchaftliches Verhältniß treten, auf gleiche Weiſe als Bedingung davon erhebt. Wo eine Geſellſchaft iſt, da iſt auch ein Recht; der Staat ſelbſt iſt der vernünftige Menſch der Gattung; treten mehrere iſo - lirte Nationen zuſammen, ſo können ſie nur auf dieſer Baſis mit einander exiſtiren; Ungleichartigkeiten in dem Bildungs - grade, in dem Grade der Herrſchaft, welche die Vernunft über die Sinnlichkeit zu erlangen im Stande iſt, werden zwar die vollſtändige Entwickelung hemmen und einſtweilen Modi - ficationen erzeugen, aber die letzte und immerfort zu erſtre - bende Norm bleibt dasjenige, was wir als Inhalt der menſch - lichen Freiheit im Verhältniß zu einander, unſerer Natur und ihrer Entwickelung in dem Staate gemäß, erkennen müſſen.
Vielleicht konnte man von dem Völkerrecht des vorigen Jahrhunderts ſagen, daß es mehr nur in politiſchen Maximen der Regierungen beſtand, die man nach Convenienz als Rechts - grundſätze aufſtellte, aber auch wieder nach den Umſtänden ver - leugnete oder modificirte. Darin aber iſt ein großer Um - ſchwung im jetzigen Jahrhundert eingetreten. Es ſind nichtVIIVorrede.mehr die Regierungen allein, welche in allen oder in den meiſten Staaten, wie früher, das Recht nach eigener Ueber - zeugung ſetzen und dafür auch das Blut ihrer Unterthanen verhaftet glauben. Die Völker ſelbſt ſind in vielen Staa - ten durch die Verfaſſung zur Theilnahme an dem Rechte des Staates gelangt, und ſogar da, wo es formell in unantaſtbarer Weiſe nicht geſchehen iſt, wird doch nur ſelten die Ueberzeu - gung der Völker von Recht oder Unrecht in der Politik ganz bei Seite geſtellt werden können. Dadurch iſt dem Völker - recht eine feſtere Baſis gegeben worden. Wenn ſchon früher unter der alten Regierungsweiſe wenigſtens als Lehre behaup - tet und auch wohl von vielen Regierungen berückſichtigt ward, daß jeder Schritt derſelben mit dem Wohl des Ganzen, mit dem Heil des Volkes in Uebereinſtimmung ſein müſſe, ſo giebt es nun auch organiſche Vermittelungen um die Inter - eſſen der Völker nach ihrer eigenen Ueberzeugung kennen zu lernen; das Rechtsbewußtſein kann ſich gegenwärtig allgemei - ner ausſprechen, und in ſeiner Verallgemeinerung kann es eben kein anderes ſein, als dasjenige, was der menſchlichen denkenden Natur überhaupt entſpricht. Irrthum, nationale Befangenheit und Vorurtheile werden zwar noch ferner das reine Rechtsbewußtſein trüben, aber ſie können es ohne Unter - drückung der öffentlichen Meinung, dieſes Inſtinctes und Be - gleiters des wahren politiſchen Gedankens, nicht immer.
Macht dieſes Werk nun auch keinen Anſpruch eine ſchul - philoſophiſche Durchführung des Völkerrechts zu ſein, ſo wird es ſich doch als eine aus dem Leben des Staates gegrif - fene und von ſeinem Begriff aus durchdachte Grundlegung der politiſchen Praxis geltend machen können. Es iſt nicht leichtſinnig als Recht angenommen, was Einmal oder ſelbſtVIIIVorrede.öfters wirklich geſchehen iſt; es iſt kein bloßes Repertorium der Staatspraxis unter der Prätenſion damit das Recht ſelbſt anzuzeigen; es hat daher nicht alles und jedes wiederholen mögen, was die letzten Publiciſten der deutſchen hiſtoriſchen oder practiſchen Schule zuſammengetragen haben: ſondern es hat die Criterien der Richtigkeit der Praxis aufſuchen ſollen. Schwer war die Arbeit noch immer genug! Ob ſie einen Publiciſten von heut leichter werden möchte, muß ich anheim - geben. Mein Ziel war ein wirkliches Recht, mit menſch - lichem und nationalem Character; ſtrenge Wahrheit ohne Schminke. Ein ſpecielles Eingehen in noch ſchwebende Fra - gen der Tagespolitik lag jedoch außer dem Plan. Die Grund - ſätze zu ihrer Entſcheidung wird man leicht finden.
Den Anhang — ein Bruchſtück von politiſchem Teſtament — gebe ich, wie er mir zugekommen iſt, mit einigen Weg - laſſungen und Bedenken. Es iſt bei allem Streben nach Ob - jectivität dennoch viel Subjectives darin, wofür keine Ver - tretung übernommen werden darf. Gewiß regt das Studium des Völkerrechts und der Politik auch zu Blicken in die Zu - kunft an.
1. Völkerrecht, jus gentium, in ſeiner antiken und weiteſten Be - deutung, welche die Römiſche Jurisprudenz feſtgehalten hat,1Ueber dieſen Begriff ſ. m. Isidor. Orig. V, 4. Dirkſen im Rhein. Muſ. f. Jurispr. I, 1. Welcker Encyclop. u. Method. Stuttg. 1829. S. 88. 123. v. Savigny Syſtem I, S. 109. 413. iſt alles in gemeinſamer Völkerſitte begründete Recht, welches nicht al - lein unter den Nationen im gegenſeitigen Verkehr ſelbſt gilt, ſon - dern auch jedes Rechtsverhältniß einzelner Perſonen in ſich ſchließt, was nach allſeitigem Einverſtändniß überall gleiche Bedeutung, glei - chen Charakter hat und nicht in den Inſtitutionen einzelner Staa - ten ſeinen eigenthümlichen Grund oder ſeine eigenthümliche Ge - ſtaltung empfangen hat. Es umfaßt demnach zwei Beſtandtheile, nämlich
Dieſer letztere Beſtandtheil hat in der neuen Welt allein den Na - men Völkerrecht, droit des gens, jus gentium behauptet. Rich - tiger bezeichnet man ihn durch äußeres Staatenrecht im Ge - genſatz des inneren Staatsrechts der Einzelſtaaten, jus inter gen - tes,2Dieſer Ausdruck iſt zuerſt von Zouch im Jus feciale v. 1650 als der richtigere empfohlen. D’Aguesſeau nannte es droit entre les gens; ſeit droit international. Der erſtere Beſtandtheil des antiken12Einleitung. §. 2.Völkerrechts hat ſich dagegen in dem innern Rechtsſyſtem der Ein - zelſtaaten verloren oder damit amalgamirt, ohne ſeine Selbſtändigkeit dagegen behaupten zu können; in dem heutigen Völkerrecht kommt er nur noch in Betracht, als gewiſſe Menſchenrechte und Privat - verhältniſſe zugleich auch unter die Tutel oder Gewährleiſtung der Nationen gegenſeitig geſtellt ſind.
Giebt es nun ein ſolches äußeres Staatenrecht überhaupt und überall? In der Wirklichkeit gewiß nicht für alle Staaten oder Völker des Erdballs. Immer hat es nur einen Theil derſelben um - faßt; nur in Europa und in den von hier aus gegründeten Staa - ten iſt es in das allgemeine Bewußtſein getreten, ſo daß man ihm den Namen eines Europäiſchen gegeben hat und mit Recht noch immer geben darf. Die Staaten ſelbſt und ihre Angehörigen als ſolche ſind darin die Perſonen oder Rechtsſubjecte.
2. Recht im Allgemeinen iſt die äußere Freiheit der Perſon. Vereinzelt ſetzt es der Menſch ſich ſelbſt, indem er ſeinen Willen zur That in der Außenwelt macht und ihn wiederum bindet, wo es die innere Ueberzeugung gebietet oder der äußere Nutzen anräth. In geſelliger Verbindung mit Andern wird es durch den gemeinſamen Willen oder durch denjenigen geſetzt, welcher die Uebrigen ſeinem Recht unterworfen hält; es wird hier die geſellſchaftliche Ordnung. Entweder iſt es nun ein garantirtes Recht, welches unter den Schutz und Zwang einer dazu ausreichenden Macht geſtellt iſt, oder ein freies Recht, welches der Einzelne ſelbſt ſchützen und ſich er - halten muß. Das Völkerrecht gehört in ſeiner Urſprünglichkeit zur letzteren Art. Der einzelne Staat in ſeiner Perſönlichkeit ſetzt ſich zunächſt ſein Recht gegen Andere ſelbſt; giebt er die Iſolirung auf, ſo bildet ſich im Verkehr mit den anderen ein gemeinſames Recht, wovon er ſich nicht wieder losſagen kann, ohne ſeine Exiſtenz und ſeinen Zuſammenhang mit anderen aufzuopfern oder doch in Ge - fahr zu bringen. Mit der Bildungsſtufe der Völker hat dieſes Recht eine bald engere bald weitere Umfaſſung. Es beruht zuerſt nur auf äußerer Nothwendigkeit oder äußerlichen Nutzen. In höherer Entwickelung ſchließt es aber auch die ſittliche Nöthigung, den ſitt -2Bentham iſt die Benennung droit international, international law ge - bräuchlich worden. Wheaton, histoire du droit des gens. p. 45. 46.3§. 3. Einleitung.lichen Nutzen in ſich; es ſtößt das Unſittliche allmählig von ſich aus und fordert ein in dieſen Grenzen gehaltenes Handeln. In der That beruht es daher auf einem allſeitigen ausdrücklichen oder doch mit Gewißheit vorauszuſetzenden Einverſtändniß (consensus), auf der Ueberzeugung, daß jeder Theil unter gleichen Umſtänden die - ſelbe Nöthigung ſo und nicht anders zu handeln empfinden werde, es ſeien nun die Beweggründe äußerliche, oder moraliſche. Fremd iſt dagegen dem Völkerrecht eine legislative von höherer Gewalt ausgehende Geſtaltung,1Mehrere, beſonders Britiſche Rechtsgelehrte, z. B. Rutherforth, Institutes of nat. law. II. 5, leugnen deshalb dem äußeren Staatenrecht jeden poſi - tiven Charakter ab. Sie ſahen nicht, daß das Recht überall auch in den Staaten ſelbſt, wenigſtens zum größten Theil, ohne den Einfluß einer hö - heren Gewalt entſtanden und befeſtigt war, jenes ius non scriptum, quod consensus fecit. Richtiger hat Mr. Auſtin (Province of iurispr. de - term. Lond. 1832) die Sache durchſchaut. da die Staaten in ihrer Unabhängigkeit keiner gemeinſamen irdiſchen Obrigkeit unterworfen ſind. Es iſt das freieſte Recht welches exiſtirt, ſo wie es auch in der Anwendung einer organiſchen Richtergewalt mangelt. Aber ſein Organ und Re - gulator iſt die öffentliche Meinung und das letzte Gericht iſt die Geſchichte, welche als Dike das Recht beſtätigt und als Nemeſis das Unrecht ahndet. Seine Sanction iſt die Weltordnung, welche, indem ſie den Staat ſchuf, dennoch nicht die menſchliche Freiheit in Einzelſtaaten gebannt und damit abgeſchloſſen, ſondern dem Men - ſchengeſchlecht den ganzen Erdball erſchloſſen hat; ſeine Beſtimmung: der allſeitigen Entwickelung des Menſchengeſchlechts in dem Ver - kehr der Nationen und Staaten eine ſichere Baſis zu geben, wozu jeder Einzelſtaat nur Ein Hebel iſt, ohne daß er ſich deshalb von dem großen Ganzen losſagen darf. 2Dieſe großartigere Anſicht findet ſich bereits in des Spaniers Franz Sua - rez († 1617) Werk de legib. et Deo legisl. II, 19, 4. Vgl. v. Omp - teda Literatur I, 187.
3. Ausgeſetzt der Ebbe und Fluth der menſchlichen Leidenſchaf - ten ſowohl Einzelner wie ganzer Nationen, vorzüglich dem Reize der Macht, über Andere zu herrſchen oder ſie ſich dienſtbar zu machen, iſt das Völkerrecht, ſelbſt wo ſich ein ſolches im freien Verkehr ge - bildet hat, ſteten Gefahren und Verletzungen blos geſtellt. Zu ſei -1*4Einleitung. §. 4.nem Schutz kann indeſſen ein gewiſſes Gleichgewicht der Staaten und Nationen unter einander weſentlich beitragen. Dieſes Gleich - gewicht beſteht im Allgemeinen darin, daß jeder Einzelſtaat, indem er ſich zu einer Verletzung des Völkerrechts an Anderen entſchließt, eine gleichkräftige Reaction des Bedrohten oder ſelbſt der übrigen zu erwarten hat, welche an demſelben völkerrechtlichen Syſtem Theil nehmen. Praktiſch iſt es daher entweder als ein materielles Gleich - gewicht der einzelnen Staaten gegen einander denkbar, welches in - deſſen geſchichtlich nur ſelten exiſtirt hat und wenn ja zuweilen vor - handen, dennoch einer ſteten Veränderung unterworfen iſt, da die Nationalkraft ſich nicht in allen Staaten gleichmäßig entwickelt, fortſchreitet und ſinkt; oder es iſt ein moraliſches Gleichgewicht, nämlich eine moraliſche Geſammtbürgſchaft, worin alle Staaten nach dem nämlichen Recht zu einander und zum gemeinſamen Schutz deſſelben gegen die Uebermacht Einzelner treten, ſich wenigſtens mo - raliſch zur Mitabwehr derſelben verpflichtet halten. Natürlich darf aber auch hier die erforderliche phyſiſche und moraliſche Kraft der Uebrigen zur Abwehr des Mächtigſten nicht fehlen, ſonſt wird die - ſem gegenüber das Völkerrecht ein leerer Schall. An und für ſich aber iſt die Idee eines politiſchen Gleichgewichts der Staaten durch - aus keine Chimäre, wofür ſie Manche erklärt haben, ſondern eine höchſt natürliche für Staaten, die ſich zu demſelben Recht beken - nen wollen; nur die Anwendung, welche davon zu manchen Zei - ten gemacht iſt, und die Folgerungen, die darauf gebaut wurden, ſind verwerflich.
4. Nicht bloß der einzelne Menſch, auch die Nationen ſündi - gen an ſich und unter einander. Die Sühne, die Emporhebung aus dem Verſinken iſt der Krieg. Ein goldnes Zeitalter ohne ihn, ohne ſeine Nothwendigkeit, wäre ein Zuſtand der Sündloſigkeit der Völker. Gewiß erzeugt auch der Krieg geiſtige Bewegung, und ſtählt Kräfte, welche im Frieden ſchlafen oder verſumpfen und ohne5§. 4. Einleitung.Erndte bleiben. 1„ Nullum omnino corpus sive sit illud naturale sive politicum, absque exercitatiore sanitatem suam tueri queat. Regno autem aut reipublicae iustum atque honorificum bellum loco salubris exercitationis est. Bellum civile profecto instar caloris febrilis est, at bellum externum instar ca - loris ex motu, qui valetudini inprimis conducit. Ex pace enim deside et emolliuntur animi et corrumpuntur mores. “ Baco Serm. fidel. t. X. p. 86.Immerhin iſt er die Vorbereitung des Friedens, ein Schutz gegen das Unrecht und gegen Störungen der Freiheit des vernünftigen Völkerwillens. So kann ihn alſo auch das Völ - kerrecht nicht ignoriren, vielmehr hat es ihm recht eigentlich das Geſetz vorzuſchreiben. Es zerfällt daher ſelbſt weſentlich in zwei Abſchnitte:
An beides ſchließt ſich ſodann noch
Neben dem Völkerrecht und unter den Staatswiſſenſchaften am näch - ſten ſteht die äußere Politik der Staaten oder die Klugheitslehre von dem richtigen Verhalten eines einzelnen Staates gegen die anderen. Ein Widerſpruch zwiſchen Völkerrecht und Politik, wenn er auch in der Praxis öfters vorhanden iſt, kann naturgemäß nicht Statt finden; es giebt nur Eine Wahrheit und keine ſich widerſprechen - den Wahrheiten. Eine ſittlich correcte Politik kann niemals thun und billigen, was das Völkerrecht verwirft, und andererſeits muß auch das Völkerrecht gelten laſſen, was das Auge der Politik für den Beſtand eines Staates ſchlechterdings als nothwendig erkennt. Auf gleiche Weiſe iſt das Verhältniß der inneren Politik und des Staatsrechts zu einander beſchaffen.
5. Schon in der alten Welt finden ſich gewiſſe übereinſtim - mende Völkergebräuche im wechſelſeitigen Verkehr, vornehmlich in Betreff der Kriegführung, der Geſandtſchaften, Verträge und Zu - fluchtſtätten; jedoch beruhte die Beobachtung dieſer Gebräuche nicht ſowohl auf der Anerkennung einer Rechtsverbindlichkeit gegen an - dere Völker, als vielmehr auf religiöſen Vorſtellungen und der da - durch beſtimmten Sitte. Man hielt Geſandte und Flehende für unverletzbar, weil ſie unter dem Schutz der Religion ſtanden und mit heiligen Symbolen erſchienen; man ſtellte eben ſo die Verträge durch Eide und feierliche Opfer unter jene Schutzmacht. An und für ſich aber hielt man ſich keinem Fremden zu Recht verpflichtet; „ ewiger Krieg den Barbaren “war das Schiboleth ſelbſt der ge - bildetſten Nation des Alterthums, der Griechen;2„ Cum alienigenis, cum barbaris aeternum omnibus Graecis bellum est. “ Liv. 31, 29. auch ihre Phi - loſophen erkannten einen rechtlichen Zuſammenhang mit anderen Völ - kern nur auf Grund von Verträgen an. 3Am deutlichſten Epicur bei Diog. L. Apopht. XXXI, 34 — 36. Aber auch Plato, Ariſtoteles.Ein engeres Band und ein dauerndes Rechtsverhältniß beſtand wohl unter ſtammverwandten Völkerſchaften, jedoch hauptſächlich nur durch den Einfluß des ge - meinſamen Götter-Cultus und der damit zuſammenhängenden po - litiſchen Bundes-Anſtalten. 4Ein ſ. g. κοινὸς νόμος Ἑλλήνων. Thucyd. III, 58. Vgl. Sainte-Croix gouvernem. fédératifs. Hier griff beſonders der Amphictyonenbund ein, von welchem unten noch Näheres.
Kein höherer Standpunct zeigt ſich in dem Römerreiche. 5Man denke an das: adversus hostem aeterna auctoritas esto der Zwölf - Tafeln und an den noch im Juſtinianiſchen Recht beibehaltenen Grundſatz, daß alle Völker, mit denen keinerlei Bündniß beſtehe, hostes ſeien. l. 5. §. 2. l. 24. D. de captiv. l. 118. D. de V. S.
Will man dieſes nun das Völkerrecht der alten Welt nennen, ſo läßt ſich nicht widerſprechen; gewiß ſtand es auf einer ſehr ge -7§. 5. Einleitung.ringen Stufe; es war ein Theil des Religionsrechtes aller oder doch beſtimmter Nationen. 1Dies iſt im Weſentlichen das Reſultat der über dieſen Gegenſtand gewech - ſelten Schriften: W. Wachsmuth, Jus gentium quale obtin. apud Grae - cos. Berol. 1822. A. W. Heffter, Prol. acad. de antiquo iure gent. Bonn. 1823.
Noch roher erſcheint die Völkerſitte im Mittelalter, nicht allein in den Berührungen der Gläubigen mit den Ungläubigen, ſondern auch ſelbſt unter chriſtlichen Staaten. 2Eine ſehr verdienſtliche Darſtellung davon giebt K. Th. Pütter, Beitr. zur Völkerrechts-Geſch. u. Wiſſenſch. Leipz. 1843. S. 48. ff.
Dem Chriſtenthum war es indeß vorbehalten, die Völker auf einen anderen Weg hinzuleiten. Seine Weltliebe, ſein Gebot: thue auch deinen Feinden Gutes, konnte nicht mit einer ewigen Feind - ſchaft der Nationen zuſammen beſtehen. Zur gegenſeitigen Annähe - rung der Europäiſchen chriſtlichen Staaten und zur Anerkennung wechſelſeitiger allgemeiner Rechte trugen beſonders folgende Um - ſtände bei:
Hierin lag der Anfang eines allgemeinen Europäiſchen Völkerrechts. Seine poſitiven Grundlagen waren die Grundſätze des Chriſten - thums und das Römiſche Recht, ſo weit es die Kirche nicht miß - billigte; die für unantaſtbar, weil natürlich und göttlich, gehaltenen Regeln des Privatrechts wurden nun auch auf die Völkerverhält - niſſe übertragen, und ſelbſt die Glaubensſpaltung des ſechszehnten Jahrhunderts konnte das neugeſchlungene Band nicht wieder auf - löſen, da auch die reformatoriſchen Lehren daran feſthielten.
8Einleitung. §. 5.Bei weitem mehr wurde die neue Pflanze gefährdet durch die allmählige Verbreitung jener Staatskunſt, welche nur den eigenen Vortheil kennend jedes fremde Recht und Intereſſe hintanſetzt, ohne in der Wahl der Mittel bedenklich zu ſein; einer Politik, die in Italien geboren und in Spanien mit beſonderem Erfolg geübt, faſt bei allen Cabineten einwanderte und, wenn auch nicht zu gleich poſitiven Beſtrebungen, doch zu ähnlichen Gegenbeſtrebungen auf - forderte; einer Politik endlich, die indem ſie ſich der hergebrachten Formen mit täuſchendem Schein bediente, jeden Grundſatz des Rechts materiell verleugnete. Als Reaction hiergegen diente die Idee des ſ. g. politiſchen Gleichgewichts, aufgefaßt als das Prin - cip, daß jede Macht, ſei es für ſich allein, ſei es durch Coalitio - nen, jede andere Macht an der Erlangung einer Uebergewalt zu hindern habe, hergeleitet aus dem Recht der Selbſterhaltung, frei - lich aber auch nicht ſelten gemißbraucht. Die praktiſche Durch - führung dieſes Gedankens wurde nun die Hauptaufgabe der Euro - päiſchen Politik;1Unter anderem bezieht ſich darauf der Gedanke Heinrichs IV. von Frank - reich, wegen Bildung einer großen Europäiſchen Staatenrepublik. Das Nähere davon ſ. in Toze d. allgem. chriſtl. Republ. Göttingen 1752. Pläne ſolcher Art ſind ſelten ohne alle Selbſtſucht gemacht worden. Auch in neueſter Zeit haben ſie nicht ganz gefehlt. So z. B. G. Fr. Leckie, historical research into the nature of the balance of power in Europe. Lond. 1817. in dieſem Mittelpunct concentrirt ſich ſeit dem ſechszehnten Jahrhundert beinahe die Anregung und Entwirrung aller Staatshändel. Das Recht der Nationen und Staaten trat dabei freilich in den Hintergrund; es war faſt nur der wiſſenſchaft - lichen Pflege überlaſſen, die ſich aber auch, wie früher in der Re - formationszeit, ſo von Neuem aus den Gräueln des dreißigjähri - gen Krieges und des ganzen ſiebenzehnten Jahrhunderts zu einer Macht erhob, welcher ſich ſogar die Gewaltigen nicht ganz entziehen konnten. Der Aufgangsſtern war Hugo Grotius, angehörig einer kleinen neuentſtandenen aber thatenreichen Republik, wo das Sy - ſtem der Toleranz und des Moderantismus herrſchte, die zugleich auch der Heerd der Europäiſchen Diplomatie wurde. Groot rief mit allgemein verſtändlicher Sprache die Grundſätze des Chriſten - thums, die Lehren der Geſchichte, die Ausſprüche der Weiſen über4gen Türken und Sarazenen ſei nur Krieg und was der Krieg nach Röm. Recht mit ſich führe giltig. S. auch Leibnitz, praef. ad Cod. jur. gent. 9§. 5. Einleitung.Recht und Unrecht ins Gedächtniß zurück; ſein Werk wurde un - vermerkt ein Europäiſcher von allen Confeſſionen gebilligter Völ - ker-Codex. 1Treffende Bemerkungen hierüber ſ. in Fr. Schlegel’s Vorleſ. über die neuere Geſchichte. Wien 1811. S. 421 f.
Dennoch gelang es nicht das Recht auf den Thron zu heben, welchen die Politik eingenommen hatte; ſie benutzte das wiſſenſchaft - liche Recht mehr zur Färbung ihrer Anſprüche als ſie ſich demſel - ben unterordnete; nur eine gewiſſe Mäßigung der Staatskunſt in ihren Erfolgen, ein ſich Zufriedengeben mit billiger Ausgleichung wird ſtatt des ſtrengen Rechts im vorigen Jahrhundert ſichtbar (§. 8.). Völkerrecht und Gleichgewicht erlag indeß ſeit dem Aus - gang dieſes Jahrhunderts dem Waldſtrom der Revolution und dem von ihr gegründeten Kaiſerthum,2Die vielen dadurch herbeigeführten Verletzungen des Völkerrechts ſind ge - zeigt in v. Kamptz Beitr. zum Staats - u. Völkerr. I., n. 4. bis es der allgemeinen Coali - tion gegen Frankreich gelang, jenen Strom in ſeine früheren Gren - zen zurückzudrängen. Durch die Verträge von 1814 und 1815 wurden wenigſtens die germaniſchen Staaten Europa’s in ihrer naturgemäßen Sonderung wiederhergeſtellt, und dadurch für’s Erſte auch ein politiſches Gleichgewicht unter den Landmächten wieder möglich gemacht. Sofort mußten nun auch die Grundſätze des Völkerrechts in Anwendung treten, wenn die neue Schöpfung und das wiederhergeſtellte Gleichgewicht von Beſtand ſein ſollte. 3In dieſem Sinn erklärte auch der Fürſt von Benevento in einer Note vom 19. Decbr. 1814 „ das politiſche Gleichgewicht für gleichbedeutend mit den Grundſätzen zur Erhaltung der Rechte eines Jeden und der Ruhe Aller. “Bei - nahe ſämmtliche chriſtliche Monarchen Europa’s gaben ſich in ih - rer ſ. g. heiligen Alliance perſönlich das Wort, ſich und ihre Staa - ten als Glieder einer großen chriſtlichen Familie betrachten zu wol - len,4Martens Supplem. VI, 656. und erkannten dadurch eine der Hauptgrundlagen des Völ - kerrechts an; ausdrücklich erklärten endlich die Bevollmächtigten der fünf Europäiſchen Großmächte am Aachner Congreß 1818 den fe - ſten Entſchluß ihrer Regierungen, ſich weder unter einander noch auch gegen dritte Staaten von der ſtrengſten Beobachtung des Völ - kerrechts für den Zweck eines dauernden Friedenszuſtandes entfer - nen zu wollen. 5Martens Suppl. VIII, 560. „ Les souverains ont regardé comme la
10Einleitung. §. 5.Seit dieſer Zeit und auf den Grund der damals getroffenen Verabredungen bildeten jene Großmächte gewiſſermaßen ein Völker - tribunal, wo die wichtigſten politiſchen Angelegenheiten, nicht nur dieſer Staaten ſelbſt ſondern auch dritter Staaten, berathen und feſtgeſtellt wurden. Die hierdurch unterſtützte Reaction gegen die noch fortglimmende Revolution rief letztere im J. 1830 um ſo ent - ſchiedener hervor, und natürlicher Weiſe kann weder das revolu - tionaire Princip noch auch ſelbſt der baſirte nationale Conſtitutio - nalismus mit einer derartigen regulatoriſchen Gewalt der Groß - mächte ſich einverſtanden erklären. Das monarchiſche und popu - läre Princip bewachen ſich ſeitdem gegenſeitig auch in der Europäi - ſchen Politik. Keines derſelben verleugnet jedoch das Völkerrecht, und nur in der richtigen Erkenntniß des letzteren liegt die Ver - mittlung.
Als letztes Ergebniß für unſere Zeit ſprechen wir aus: Europa huldigt gleich den aus ihm hervorgegangenen transatlantiſchen Staa - ten einem gemeinſamen Recht. Dies aber iſt in vielen Stücken noch eine bloße Auctoritätslehre ohne ein ſchon vollendetes allſeitiges Be - wußtſein und ohne abſolute Sicherheit der Anwendung. Die unent - behrliche Vorausſetzung für ſeine zunehmende Feſtigkeit iſt ein bleiben - des Gleichgewicht der Staaten, beruhend auf Nationalkraft und ge - genſeitiger Achtung. Ein ſolches Gleichgewicht findet ſich jedoch vor - erſt nur unter den Landmächten, weniger zur See; daher iſt auch das Völker-Seerecht noch die ſchwächſte Seite des internationalen Rechts. Eben wenig haben die Verträge von 1814 und 1815 das Gleichge - wicht zu Lande unter den Europäiſchen Mächten nach einer anderen Seite hin ſo herzuſtellen vermocht, wie es das richtige Verhältniß5base fondamentable leur invariable resolution de ne jamais s’écarter ni entre eux ni dans leurs relations avec d’autres états de l’observation la plus stricte du droit des gens; principes qui dans leur application à un état de paix permanent peuvent seuls garantir efficacement l’in - dépendance de chaque gouvernement et la stabilité de leur association générale. Fidèles à ces principes les souverains les maintiendront éga - lement dans les réunions auxquelles ils assisteroient en personne, ou qui auraient lieu entre leurs ministres soit qu’elles aient pour objet de discuter en commun leurs propres intérêts soit qu’elles se rapportent à des questions dans lesquelles d’autres gouvernements auroient for - mellement réclamé leur intervention. “11§. 6. Einleitung.gefordert hätte, und dadurch die Gefahr einer Verletzung nicht ge - nügend entfernt. Sehr wahr bemerkte endlich ſchon Jean Paul: „ Ein ewiges Gleichgewicht ſetzt ein Gleichgewicht der vier übrigen Welttheile voraus, welches man, wenige Librationen abgerechnet, der Welt dereinſt verſprechen kann — “(Hesperus) ſollte auch letzteres eine ferne, vielleicht leere Hoffnung ſein.
6. Ein auf gegenſeitiger Anerkennung beruhendes Recht kann nur unter denjenigen Staaten Geltung haben, unter welchen eine Reciprocität der Anwendung geſichert iſt und demnach ein wechſelſei - tiger Verkehr nach denſelben Grundſätzen beſteht oder vorauszuſetzen iſt (commercium juris praebendi repetendique, Dikäodoſie). Hierzu bedarf es nicht nothwendig einer ausdrücklichen vertragwei - ſen Beſtimmung; es genügt ſchon die aus dem Charakter und den Intereſſen der einzelnen Staaten ſo wie aus dem beſtehenden Ver - kehr als Bedingung deſſelben hervorgehende Gewißheit, daß man auf Reciprocität der Behandlung nach beſtimmten Regeln zu rech - nen, oder im Fall der Verletzung einen Kampf oder Ausſchlie - ßung von der Gemeinſchaft mit anderen zu erwarten habe. So gilt denn auch das Europäiſche Völkerrecht ſeiner geſchichtlichen Wurzel nach (§. 5.) weſentlich nur unter chriſtlichen Staaten, de - ren Sittlichkeit durch ein Uebereinkommen in den höchſten Geſetzen der Humanität und dem damit übereinſtimmenden Charakter der Staatsgewalten verbürgt iſt. Es findet dagegen nur eine theil - weiſe, ſorgfältig nach der zu erwartenden Reciprocität abgemeſſene Anwendung gegen nicht chriſtliche Staaten, ſofern man nicht frei - willig auch hier das ſittliche Princip zur Richtſchnur ſeiner Hand - lungen machen will;1So ſteht es im Weſentlichen mit dem Verhältniß der Europäiſchen Mächte zur hohen Pforte. Alle Verbindungen mit derſelben beruhen zur Zeit auf politiſcher Convenienz und auf dem ſchweren Gewicht, welches der feſte Wille der vereinigten chriſtlichen Mächte der Pforte gegenüber ausübt. Sonſt würde noch immer wahr ſein, was Mably (droit des gens t. II, p. 13) mit Ricaut über die Unmöglichkeit eines wahrhaft rechtlichen Bandes be - merkt hat. Man ſehe auch Wheaton intern. law. §. 10. und auf gleiche Weiſe iſt das Verhalten gegen neu entſtehende oder entſtandene Staaten, die noch keine all -12Einleitung. §. 7.ſeitige Anerkennung in dem Gebiete des Europäiſchen Völkerrechts erlangt oder noch keinen ausgeſprochenen Charakter angenommen haben, nämlich ein bloß durch die Politik und Sittlichkeit beſtimm - bares.
7. Als Regulative des Europäiſchen Völkerrechts betrachten Viele lediglich und allein die in Verträgen ſo wie in gegenſeitiger gleichförmiger Behandlung deutlich ausgeſprochene Uebereinſtimmung der Staatsgewalten nebſt der Analogie der hierdurch vereinbarten Grundſätze. Andere ſetzen aber noch ein höheres, alle Staaten verpflichtendes Geſetz hinzu, ein Naturrecht, welches ſie philoſo - phiſch conſtruiren. Die Wahrheit iſt, daß für die Europäiſchen und von Europa ausgegangenen Staaten ein giltiges Recht nur durch gemeinſamen Willen (consensu) beſteht, daß es jedoch zu ſeiner Giltigkeit weder einer ausdrücklichen Anerkennung in Ver - trägen noch einer Beſtätigung durch Gewohnheit weſentlich bedarf, vielmehr iſt dieſes nur Eine Art der formellen Erſcheinung des Völ - kerrechts. Es giebt nämlich
Neben dem in ſolcher Weiſe begründeten gemeinſamen Staaten - recht einer beſtimmten Völker-Vereinigung kann es natürlich auch beſondere Rechte gewiſſer Staaten unter einander geben, deren Er - werbungsarten weiterhin nachgewieſen werden ſollen.
8. Schon die Phyſiologie und die allgemeine Geſchichte der Völkerſtaaten Europa’s, namentlich ihrer Sitten, bekräftigen das Daſein eines gemeinſamen Völkerrechts (§. 5.). Als die vorzüg - lichſte äußere Erkenntnißquelle des Europäiſchen Völkerrechts er - ſcheinen jedoch die Europäiſchen Staatshändel und Völkerverträge, in deren Geiſt und Buchſtaben ſich die Uebereinſtimmung der Na - tionen oder ihrer Regierungen beurkundet findet. Im Alterthum liegt darin faſt die einzige Manifeſtation eines gemeinſamen Rechts - princips. Die Verträge der alten Welt ſtehen jedoch meiſt nur auf einer geringen Stufe von Bedeutſamkeit; ſelten gehen ſie über die nächſten actuellen Intereſſen hinaus; entweder tritt aus ihnen das Wehe der Beſiegten entgegen oder die Gründung einer kürzeren oder längeren Waffenruhe, zuweilen jedoch auch die Stiftung eines Han - delsverkehrs und ſelbſt einer Dikäodoſie nach gleichen freundlichen Rechten. 1Eine verdienſtliche Sammlung der alten Völkerverträge findet ſich in Bar - beyrac Supplément au corps universel diplom. de J. Du Mont à le Haye 1739. t. I. Von dem bedeutendſten Intereſſe ſind darin die griechiſchen σύμβολα πεϱὶ τοῦ μὴ ἀδικεῖν, insbeſondere die Verträge zwiſchen Athen und Sparta, Rom und Carthago, dann zwiſchen K. Juſtinian und Cosroes 561 n. Chr. Barb. part. II. p. 196.
Auf einer faſt noch tieferen Stufe ſtehen politiſch die Staa - ten - oder vielmehr Fürſtenverträge des Mittelalters. Der Staat ſelbſt löſete ſich weſentlich in privatrechtliche Verhältniſſe und In - tereſſen auf; man verfügte über Staaten und Völker wie über Pri - vateigenthum; nur das Lehnsverhältniß und die Kirche genoß oder gewährte hiergegen einigen Schutz, oft auch dieſen kaum. 2Auch die Verträge jener Zeit finden ſich bei Barbeyrac a. a. O. P. II.
Eine Vertragspraxis der politiſchen Intereſſen begann im fünf - zehnten Jahrhundert, mit mancherlei Vor - und Rückſchritten,3Nachweiſungen und Darſtellungen dieſer neuen Vertragspolitik und Staats - händel ſ. in J. F. Schmauß, Einl. z. d. Staatswiſſenſch. Lpz. 1740. 1747. 2 Thle. Fr. Ancillon, tableau des revolutions du systême poli - tique de l’Europe. Berl. 1803 — 1805. 4 t. Par. 1806. 6 Vols. Deutſch überſ. v. Mann. Berl. 1805. 4 Bde. Ge. Fr. v. Martens, Grdr. einer diplom. Geſch. der Europ. Staatshändel und Friedensſchlüſſe. Berl. 1807.15§. 8. Einleitung.gleichzeitig mit der Entſtehung einer Europäiſchen Politik und im Geiſte derſelben. Man ſchloß damals Verträge auf Verträge, oft nur als Maske des Augenblicks, ſelten von allen Theilnehmern ernſtlich gemeint; eben ſo leicht hob man ſie auf und verbündete ſich mit dem Gegner des bisherigen Vertragsgenoſſen. 1Man denke nur an die Zeit der Italieniſchen Händel, welche Frankreichs Anſprüche auf Mailand und Neapel hervorriefen.Wo es etwas zu gewinnen und zu theilen gab, drängte man ſich dazu und ſuchte man mitzugewinnen (le systême copartageant). Vermäh - lungen und Ausſteuer ſpielten dabei eine wichtige Nebenrolle. 2Buchholz, Geſch. K. Ferdinands I. I, S. 60 f.
Höhere Intereſſen wurden durch die religiöſe Spaltung im ſechs - zehnten Jahrhundert angeregt, zuerſt mehr intenſiv im Schooße der Staaten ſelbſt; bald aber miſchte ſich die äußere Politik ein, um durch Benutzung der inneren Religionshändel Vortheile zu erlan - gen, ohne eben ängſtlich für das Intereſſe der eigenen Staatsreli - gion beſorgt zu ſein. In demſelben Zeitalter gelangte auch die3Koch, tableau des revolutions de l’Europe. Par. 1807. 3 Vols. n. ed. Par. (1813) 1814. 4 Vols. Abrégé de l’histoire des traités de paix entre les puissances de l’Europe, par Koch. à Bâle. 1796. 97. 4 Vols. refondu par Fr. Schoell, à Par. 1817. 1818. 15 ts. C. D. Voß, Geiſt der merkw. Bündniſſe des 18. Jahrh. Gera 1801. 1802. 5 Thle. — des 19. Jahrh. 1803. 1804. 2 Thle. Histoire générale et raison - née de la diplomatie française par Mr. de Flassan. Par. et Strasb. VI ts. n. ed. VII ts. 1811. Sammlungen der Staatenverträge, ohne Beſchränkung auf beſtimmte Na - tionen, ſind veranſtaltet von G. W. Leibnitz, Cod. iur. gent. Hannov. 1693. 1727. Guelferb. 1747. Ejusd. mantissa. Hannov. 1700. 1724. Guelferb. 1727. Jacques Bernard, Recueil des traités de paix etc. à Amst. et à la Haye. 4 ts. 1700. Jean Du Mont, Corps universel diplomatique. ib. 1726 — 1731. 8 ts. avec les supplém. par J. Bar - beyrac, J. Rousset et J. Yves de St. Priest. F. A. Wenck, Cod. jur. gent. recentiss. 3 ts. Lips. 1781. 86. 95. G. F. de Martens, rec. des principaux traités d’alliance etc. 7 ts. und eben ſo viele Supple - mentbände des Verf. ſelbſt; hiernächſt mit den Supplementbänden von Ch. B. de Martens, Sartorius und Murhard. Außerdem haben die bedeu - tenderen Staaten noch ihre beſonderen Sammlungen, nachgewieſen in den Literaturwerken von v. Ompteda u. v. Kamptz, desgl. in Klübers Biblio - thèque choisie am Ende ſeines droit des gens. Im Erſcheinen iſt be - griffen Nouveau Cours de diplomatie ou recueil universel des traités etc. par MM. L. B. Bonjean et Paul Odent. à Paris. 16Einleitung. §. 8.Handelspolitik zu einem großartigeren Einfluß auf die Europäi - ſchen Angelegenheiten, ſie verflocht mit dieſen die Colonialintereſſen, wie ſie, vorzüglich ſeit dem Abfall der vereinigten Niederlande von der Spaniſchen Monarchie, den Krieg ſelbſt in entferntere Weltge - genden hinüberſpielte.
Das ſiebenzehnte Jahrhundert brachte für’s Erſte die religiöſe Aufregung zum Stillſtande. Die Politik der Machthaber feierte ihren Triumph auf dem Weſtphäliſchen Friedens-Congreß. Er war lange Zeit ihr Stolz, wenn gleich der Friedensſchluß ſelbſt in man - cher Hinſicht ſich als verhängnißvolle Pandora demnächſt geoffen - bart hat. Gewiß wurde er eine langdauernde Baſis des ſüdweſt - lichen Europäiſchen Staatenbeſtandes und des Gleichgewichts darin. Zugleich aber auch der Wendepunct zwiſchen der älteren und neue - ſten Diplomatie. Bis dahin hatte man noch immer mindeſtens einen Schein des Rechts zur Grundlage der Verhandlungen ge - macht; der Friedens-Congreß zu Münſter und Osnabrück ließ es ſchon weniger ſeine Aufgabe ſein, gekränkte Rechte wiederherzuſtel - len, als vielmehr nach politiſchen Convenienzen zu verfahren und ſogar Rechte zu vernichten, z. B. im Wege der Säculariſation und Mediatiſirung. 1Die wichtigſten Schriften über den Weſtphäliſchen Friedens-Congreß ſ. in v. Martens Staatshändel S. 55.
Die nächſte Folge war eine überaus geſchäftige Politik, theils um jeden äußeren Vortheil zu erlangen, theils um das mühſam hergeſtellte Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. Die ſ. g. Einmi - ſchungspolitik kam zur vollen Blüthe, mit ihr die Praxis der all - gemeinen Friedens-Congreſſe und Concerts, worin man bei dem damals herrſchenden Regierungsſyſtem nach Unterdrückung der Feu - dalſtände nicht ſehr gehindert war. Im Haag war gewiſſermaßen der neutrale Heerd der Diplomatie, wo man die Karten miſchte oder das Spiel zu endigen ſuchte, und ſich gegenſeitig auch bei feindlichen Zuſtänden aufſuchen konnte.
Noch den größeren Theil des achtzehnten Jahrhunderts hin - durch blieb die Europäiſche Vertragspraxis ein Syſtem des poli - tiſchen Calcüls jede für das Gleichgewicht gefährliche Uebergewalt möglichſt zu beſeitigen, wo nicht das Glück der Waffen oder die Verwickelung der Umſtände einen Theil unrettbar in die Hand des anderen gegeben hatte. Außerdem ließ man zwar nicht das ſtrenge17§. 9. Einleitung.Recht, wohl aber eine gewiſſe Mäßigung in den Staatshändeln und bei deren Schlichtung vorwalten; es war vorzüglich der sta - stus quo auf welchen man wieder zurückzukommen ſuchte;1Vgl. Friedr. Schlegel’s Vorleſungen über m. Geſch. S. 509. eine möglichſt farbloſe blaſſe Diplomatie.
Jedoch auch dieſer Geiſt der Mäßigung ſchwand eine Zeitlang im Norden mit der Theilung Polens, im Weſten mit den Siegen der Revolution. Der Sieger dictirte die Tractaten; was dem Be - ſiegten blieb, war Gnade oder weiſe Schonung für den Augenblick; Veränderungen des Beſitzſtandes wurden oft nur durch ein Sena - tus-Conſult oder eine Proclamation angezeigt. Alle Verträge ſeit dem Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts bis 1814 drehten ſich beinahe um die Axe der Napoleoniſchen Herrſchaft oder ins - geheim um den entgegengeſetzten Pol, bis der Widerſtand dagegen offen aufzutreten vermochte und das Vertragsgewebe v. 1815 erſchuf.
Dieſer glückliche Erfolg führte die Praxis der Congreſſe zurück und erweiterte ſie noch in Form und Richtung. Die letztere war ein non plus ultra gegen die Revolution oder wo ſie nicht zu un - terdrücken war, wenigſtens die Erhaltung eines möglichſt gefahrlo - ſen status quo, während andrerſeits, wo die Revolution ſich in den Conſtitutionalismus eingefriedigt hatte, Alliancen zur Selbſt - entwickelung des inneren Staatenlebens geſchloſſen wurden.
Die großartigſten Gegenſtände von Staatenverträgen, welche theils in Verbindung mit der Tagespolitik ſtanden, theils außer derſelben abgehandelt wurden, waren in der zweiten Hälfte des vo - rigen Jahrhunderts die Rechte der Neutralen zur See, ſodann im gegenwärtigen das Napoleoniſche Continentalſyſtem, weiterhin die Unterdrückung des Sclavenhandels, endlich der deutſche Zollverein.
9. Eine andere, wenn auch nur mittelbare Quelle des Euro - päiſchen äußeren Staatenrechts iſt die wiſſenſchaftliche oder auch nur referirende Darſtellung deſſelben in den Schriften der verſchiedenen Entwickelungsſtadien. Wie in anderen Beziehungen hat auch hier die Wiſſenſchaft und Preſſe theils beſtätigend, theils vorauseilend und vorbereitend gewirkt; ſie iſt ein Zeugniß von der Wirklichkeit ihrer Zeit oder von den darin Statt findenden Schwankungen.
218Einleitung. §. 9.Die alte Welt bietet in dieſer Hinſicht kein zuſammenhängen - des Werk dar. Die Juriſten des Mittelalters haben die völker - rechtlichen Fragen ihrer Zeit nach romaniſtiſchen und canoniſtiſchen Sätzen entſchieden. In den Anfängen der neuen Europäiſchen Zeit trat an die Stelle des Rechts die raffinirende Staatsklugheit, de - ren Vertreter und Lehrer vorzüglich Nicolo Macchiavelli wurde. Seine Schrift vom Fürſten iſt ein Meiſterwerk der ſich über jede objective Schranke hinausſetzenden ſelbſtſüchtigen Subjectivität, de - ren es freilich zu mancher Zeit und für manche Völker bedurft hat, um ſie zum Bewußtſein ihrer Verſumpfung und zu einer neuen Erhebung zu bringen. 1Ueber den eigentlichen Charakter Machiavelli’s und ſeiner Lehren finden ſich tüchtige Bemerkungen bei Isambert, Annales politiques et diplomatiques. Par. 1823. p. 76.Weiterhin ſuchten im ſechszehnten Jahr - hundert practiſche Juriſten ein Syſtem gegenſeitiger Forderungs - rechte unter den chriſtlichen Staaten zu begründen; zuerſt nur mehr für einzelne nahe liegende Fragen,2Der bedeutendſte unter ihnen war Alberico Gentile † 1611, Italiener, zuletzt in Oxford. Seine Schriften: de legationibus. de iure belli. de iustitia bellica. bis Hugo Groot, geb. 1583 † 1645, den ganzen in der bisherigen Staatspraxis ſich darbie - tenden Kreis des internationalen Rechts umfaſſend, daſſelbe zu ei - ner eigenen ſelbſtändigen[Wiſſenſchaft] erhob, welche bis auf den heutigen Tag ununterbrochen gepflegt worden iſt. Er unterſchied in ſeinem unſterblich gewordenen Buche vom Recht des Friedens und des Krieges, welches 1625 vollendet ward,3Ueber die verſchiedenen Schickſale dieſes Buchs ſ. v. Ompteda §. 120 ff. und eine Ueberſicht ſeines Inhalts ebendaſ. §. 57 ff. ein doppeltes Völ - kerrecht, ein unveränderlich natürliches und ein willkührliches aller oder doch mehrerer Völker. Eine tiefere Grundlegung findet ſich nicht, alſo auch keine innere Vermittlung des natürlichen und po - ſitiven Rechts. Seine Hauptrichtung war, das wirklich ſchon, we - nigſtens in einzelnen Fällen geübte Recht, ſo weit es der Sitt - lichkeit entſpricht zu beſtätigen, für andere noch nicht entſchiedene Fragen dagegen eine der Sittlichkeit entſprechende Löſung aus all - gemeinen juriſtiſchen Regeln und ehrwürdigen Auctoritäten zu ge - ben. Dieſe ſittliche Durchſichtigkeit verſchaffte dem Buche ſelbſt den bleibendſten Beifall. Demnächſt aber haben ſich in der Grundan -19§. 9. Einleitung.ſicht und Behandlungsweiſe vorzüglich zwei Richtungen ergeben, de - ren jede wieder ihre beſonderen Nüancen darbietet.
Die Eine Hauptrichtung iſt die naturrechtliche, ausgehend von der Thatſache oder Fiction eines der menſchlichen Natur eingepflanz - ten oder vorgeſchriebenen Vernunftgeſetzes, dem ſich kein menſchli - ches Weſen und menſchlicher Verein entziehen dürfe. Dieſe Rich - tung beginnt ſchon vor Groot;1Dahin gehört: Jo Oldendorp † 1557 in ſ. Isagoge iur. natural. Col. 1539. Nic. Henning zu Copenhagen, in ſ. method. apod de L. nat. Vi - temb. 1562. ſie war der nothwendige Gegen - ſatz, um die Herrſchaft der rein materiellen politiſchen Intereſſen zu ſtürzen; aber auch in ihr ſelbſt fehlte es nicht an Gegenſätzen. Auf der einen Seite gab es Manche, welche ein durch ſich ſelbſt verbindliches poſitives, namentlich internationales Recht gänzlich leugneten, und das vermeintlich allein wahre natürliche Recht ent - weder auf die ſubſtanzielle Macht der Gewalt oder eines göttlichen Auftrags der Herrſchaft über Andere, wodurch dann erſt das menſch - liche Recht ſelbſt geſchaffen werde, gründeten, wie z. B. der Brite Hobbes, geb. 1588 † 1679, der die Gewalt vergötterte,2Sein am meiſten hierher gehöriges Werk ſind die Elementa philosophica de cive. 1642. in Frank - reich noch in neuerer Zeit, wenn auch in anderer Weiſe Herr von Bonald;3Zuerſt in ſ. théorie du pouvoir politique et religieux. Constance 1796. Dann in ſ. legislation primitive, u. ſ. f. oder auf die ethiſchen Regeln der Gerechtigkeit für alle Menſchen, wie Samuel v. Pufendorf, geb. 1631 † 1694, in ſeinem ius naturae et gentium;4Zuerſt erſchienen 1672. Voraus gingen die Elementa iurispr. universa - lis. 1660. Nachher folgte de officiis hominis et civis. 1673. Vgl. dar - über und über ſeine Gegner Struv, bibl. iur. imp. I, V. ſodann Chriſtian Thomaſius (1655 — 1728) in mehreren Schriften. 5Beſonders in den Fundamenta iur. naturae et gentium. Hal. 1705. 1708. Vgl. Struv. I, VI.
Je mehr dieſe Lehren aber gegen die Wirklichkeit anſtießen oder der Willkühr der Macht das Feld ebneten, deſto mehr fanden ſie Widerſtand. Der größere Theil der Rechtsgelehrten bewegte ſich lieber auf dem bequemeren und praktiſchen Boden der Grootiſchen Anſchauung, legte auch dem Poſitiven eine Verbindlichkeit bei und betrachtete das ſ. g. natürliche Recht der Einzelnen und der Völ -2*20Einleitung. §. 9.ker als das von ſelbſt vorherrſchende, wenigſtens als eine ſubſidia - riſch giltige Quelle. In dieſem Sinne lehrte und ſchrieb zunächſt nach Groot der Brite Richard Zouch (1590 — 1660). 1Juris et judicii fecialis sive iuris inter gentes et quaestionum de eo - dem explicatio. Zuerſt Oxon. 1650 und nachher ſehr oft. v. Ompteda §. 64. 130. Wheaton hist. d. progr. p. 45.Auch die Philoſophen kamen bald hiebei zur Hilfe, vorzüglich Chriſtian Friedrich v. Wolff (1679 — 1754), welcher ſich im Weſentlichen mit Groot einverſtanden zeigte. 2Sein Hauptwerk: ius gentium methodo scientifica pertractatum. 1749. Darüber v. Ompteda §. 93 f. Wheaton, hist. du progrès. p. 121.In dieſem Sinn dachten und ſchrieben Hermann Friedrich Kahrel (1719 — 1787), Adolph Fried - rich Glafey (1682 — 1754),3Sein Vernunft - und Völkerrecht erſchien 1723. Sein Völkerrecht 1752. vorzüglich Emerich von Vattel, ein Schweizer (1714 — 1767), deſſen Werk,4Le droit des gens. Zuerſt 1758; mit Noten von Pinheiro Ferreira, Pa - ris 1838. Darüber v. Ompteda §. 99. Wheaton p. 127. ganz dem Syſtem Wolfs entſprechend, nur durch ſeine gefällige und praktiſche, ob - gleich oft ſeichte Weiſe ſich einen Platz neben Groot in den Bi - bliotheken der Staatsmänner verſchafft hat; außerdem T. Ruther - ford,5Institutes of natural law. 2 Vols. Lond. 1754. J. J. Burlamaqui6Principes ou élements du droit politique. Zuerſt Genève 1747, zuletzt Lausanne 1784. In Gr. Britannien viel gebraucht. und Gerard de Rayneval. 7Institutions du dr. de la nature et des gens à Par. an. XI (1803).
Noch weiter in dem Gegenſatz zu Pufendorf gingen die vor - zugsweiſen Anhänger des hiſtoriſch-praktiſchen Rechts, unter denen ſich wieder zwei Fractionen unterſcheiden laſſen: nämlich die rei - nen Poſitiviſten, welche nur ein durch Herkommen oder Verträge beſtätigtes internationales Recht anerkennen, ein Naturrecht oder natürliches Völkerrecht aber ganz ignoriren oder dahingeſtellt ſein laſſen, und andrerſeits diejenigen, welche zwar in dem Völkerwil - len allein den Grund eines praktiſchen gemeinſamen Rechts finden, denſelben jedoch nicht bloß in äußeren Manifeſtationen ſuchen, ſon - dern in der Nothwendigkeit der Dinge, in den Standpuncten und Verhältniſſen, worin die Nationen zu einander treten, als von ſelbſt gegeben entdecken, ſomit zwar kein abſolut verbindliches ius natu -21§. 9. Einleitung.rale, wohl aber die naturalis ratio der Perſonen, Dinge und Ver - hältniſſe, oder auch überhaupt das Wollen der Gerechtigkeit, in den Willen der Nationen eingeſchloſſen betrachten.
Zur letzteren Fraction gehörte bereits Samuel Rachel (1628 — 1691), der unmittelbare Gegner Pufendorfs;1Ueber ihn und ſeine Anſichten vgl. v. Ompteda §. 73. ſodann Johann Wolfgang Textor (1637 — 1701) mit einigen Andern. 2S. ebendaſ. §. 74. 75.Zur Fraction der reinen Poſitiviſten hingegen, den Männern des Her - kommens, der Geſchichte und Praxis: Cornelius van Bynkershoek (1673 — 1743),3Hauptſchrift: Quaestionum iur. publ. Libri II. Lugd. -B. 1737 und öfter. Vgl. v. Ompteda §. 150. Wheaton intern. Law. §. 7. der Chevalier Gaspard de Real;4In ſeinem 1754 erſchienenen Werk: La science du gouvernement. P. V. in Deutſch - land J. J. Moſer (1701 — 1786), der ſich faſt nur an äußere Thatſachen hielt;5Hauptſchrift dieſes unermüdlichen Publiciſten: Verſuch des N. Europ. Völkerr. 1777 — 1780. X Thle. S. außerd. v. Ompteda §. 103. v. Kamptz N. Lit. §. 35. ſodann beinahe die ganze neuere publiciſtiſche Schule, nachdem Kant das Naturrecht geſtürzt, das Recht von der Ethik und Speculation getrennt und lediglich der poſitiven Will - kühr überwieſen hatte. In dieſem Sinn lehrte und ſchrieb Gr. Friedr. v. Martens (1756 — 1821), der das gegenſeitige Recht der Nationen weſentlich auf Verträge und die daſelbſt angenomme - nen Grundſätze baute;6Seine Anſichten ſind zuerſt dargeſtellt in einem zu Göttingen erſchienenen Programm v. d. Exiſtenz eines poſitiven Europ. Völkerrechts. 1784. Seine Schriften in v. Kamptz N. Lit. §. 35 u. ſ. f. ferner Carl Gottlob Günther (geb. 1772); ſpäterhin Theodor Anton Heinrich Schmalz (1760 — 1831), Joh. Ludwig Klüber (1762 — 1835), Julius Schmelzing, Carl Hein - rich Ludwig Pölitz (1772 — 1834) und Carl Salomo Zachariä (1769 — 1843), bei denen überall das natürliche oder philoſo - phiſche Völkerrecht höchſtens als influenzirendes Motiv des Poſiti - ven, oder auch als ſubſidiariſches Recht im Fall der Noth ange - ſehen wird, ohne daß man ſieht, wie es zu dieſer Ehre kommt, worauf es ſich ſtützt und ohne daß die vorgetragenen Lehren durch - gängig als poſitive dargethan werden können. Als Gegner dieſes Syſtems iſt in neueſter Zeit Pinheiro Ferreira in ſeinen Commen -22Einleitung. §. 10.tarien zu v. Martens aufgetreten,1Le droit des gens p. G. Fr. de Martens, avec des notes p. Pinh. Fer - reira. 1831. 2 ts. im Geiſt der zuvor erwähn - ten Fraction, welche eine wiſſenſchaftliche Reflexion und Polemik nicht entbehren kann, wogegen Mr. Wheaton2Elemens of the intern. law. Lond. 1836. 2 Vls. ſich weſentlich auf die Seite der Praxis und Poſitiviſten geſtellt hat, ohne ſich der Billigkeit und Critik aus den höheren Geſichtspuncten einer allge - meinen Gerechtigkeit zu verſchließen.
Am entfernteſten von allen bisher geſchilderten Fractionen ſte - hen diejenigen, welche das Völkerrecht nur von dem Intereſſe der Staaten abhängig machen, ſei es von dem Egoismus der Indi - vidual-Intereſſen jedes Einzelſtaats, oder von den allgemeinen In - tereſſen aller Staaten, wie Montesquieu,3De l’esprit des lois. I, 3. in neuerer Zeit Jere - mias Bentham.
Auch die neueſte Philoſophie hat den Streit der Syſteme und Principien noch nicht beſeitigt. Sie glaubt entweder mit Schel - ling an eine Geſetz-Offenbarung des göttlichen Geiſtes für die Na - tionen, oder ſie vindicirt mit Hegel auch das Völkerrecht der menſch - lichen Freiheit, dem Willen, der ſich ſelbſt das Recht ſetzt oder in Gemeinſchaft mit anderen bildet.
Unſere Ueberzeugung haben wir ſchon ausgeſprochen (§§. 2. 7.).
10. So weit nicht ein gemeines klar erweisliches Völkerrecht ſeine Kraft äußert, iſt die Geſtaltung der Staatenverhältniſſe noch allezeit der freien That, dem Willen der Einzelnen überlaſſen. Eben deshalb müſſen wir, bevor wir zur Entwickelung der einzelnen Ge - genſtände unſerer Wiſſenſchaft übergehen, noch eines thatſächlichen, wenigſtens proviſoriſchen Regulators der Staatenverhältniſſe geden - ken, der Macht des Beſitzes oder des gewöhnlich ſ. g. status quo. Es iſt nämlich jeder Beſitz, den eine Perſon für ſich wiſſentlich er - greift oder ausübt, als freiheitliche That die Satzung und Erklä - rung eines ſubjectiven Rechts, welche zwar keine entgegenſtehenden objectiven Rechte beſeitigen kann, dennoch aber deren Uebung hin - dert, und ſich bis zum Ausbruch eines etwanigen Streites als Recht23§. 11. Einleitung.der freien Perſon geltend macht. Muß darum ſelbſt das geſetzliche Recht im Innern der Staaten dem Beſitz einen gewiſſen Schutz leihen, ſo verſteht ſich jene Geltung des Beſitzes um ſo viel mehr nach dem freien Recht der Nationen unter ſich. Und auch für Dritte außer den Betheiligten und deren Angehörigen iſt wenigſtens einſtweilen der Beſitzſtand eine Thatſache, welche das Recht ſelbſt vertritt und die unter ihm entſtandenen Rechtsverhältniſſe ſanctio - nirt, als wären ſie von dem wirklich Berechtigten ausgegangen;1Wir finden dieſe Lehre bei Groot, I, 4, 20. II, 4, 8. §. 3. und ſonſt. Schmalz Völkerr. 208. Klüber dr. des gens. §. 6. Dieſes Princip be - folgt auch der Päbſtliche Stuhl. M. ſ. die Erklärung deſſelben d. non. Aug. 1831. nur mag dem Willen und Rechtszuſtand deſſelben für die Zukunft kein Zwang oder Eintrag angethan werden. Anwendungen dieſes Satzes werden in der Folge ſich ergeben.
Die Natur des Beſitzes für ſich ſelbſt iſt übrigens im Völker - recht keine andere, als im Privatrecht. Nur die näheren Bedingun - gen zum richterlichen Schutz des Beſitzes kommen dort nicht in Betrag: Es genügt die Thatſache des für ſich Selbſt-Beſitzens, ausgenommen in Staatenſyſtemen, wo es eine unblutige Dikäo - doſie der Genoſſen nach beſtimmten Geſetzen giebt, wie im Deut - ſchen Bunde nach vormaligen gemeinen Reichsrechten. Nicht bloß Sachen, ſondern auch Gerechtſame (iuris quasi possessio) kann ein völkerrechtlicher Beſitzſtand ergreifen. Unwiſſend übt man kei - nen Beſitz;2S. ſchon Groot, III, 21, 26. den Staat aber vertreten hier die Organe der Staats - gewalt und deren Beauftragte.
In welchen Fällen der Beſitz auch ein wirkliches Recht giebt, wird im Folgenden bemerkt werden.
11. Rechtsverhältniſſe einzelner Staaten, die nicht ſchon nach gemeingiltigen Grundſätzen des Völkerrechts exiſtiren, können nur ge - gründet werden auf Verträge, ſodann auf Beſitzergreifung herren - oder ſtaatloſer Gegenſtände, wovon weiterhin erſt im Zuſammen - hang zu handeln iſt; außerdem aber noch auf unvordenklichen Be - ſitz (vetustas, antiquitas, res quarum memoria non existit);24Einleitung. §. 11.endlich auf Beſitz einerſeits und ſtillſchweigende Aufgebung eines bisherigen entgegenſtehenden Rechts andrerſeits. Von einer eigent - lichen beſtimmten Verjährung kann dagegen in Ermangelung poſitiver Normen unter den Nationen ſelbſt keine Rede ſein,1Eine vielbehandelte Schulfrage, — m. ſ. die Monographieen bei v. Ompteda §. 213. u. v. Kamptz §. 150. — die aber dadurch nicht weiter gebracht iſt. Die Praxis hat ſich allezeit gegen das Aufdringen eines poſitiven Inſtituts der Art geſträubt. Zuſammengeſetzte Staaten - und Bundesverhältniſſe kön - nen daſſelbe allerdings aufnehmen. So galt es ehemals unter den Mit - gliedern des Deutſchen Reichs. Unter den heutigen Souveränen Deutſch - lands iſt es aber wegen der Verhältniſſe, die ſich nicht aus jener Zeit her - ſchreiben, ſchwerlich noch anwendbar. ſo immanent auch an ſich jedem geſchloſſenen Rechtsſyſtem die Idee oder Nothwendigkeit einer Verjährung iſt. 2Richtig ſagt Pinheiro Ferreira zu Martens Not. 31, daß man droit (ei - gentlich Rechtsnothwendigkeit) und loi de préscription unterſcheiden müſſe.Die Dauer von Staa - tenrechten, welche nicht durch Zweck und Convention auf beſtimmte Zeit beſchränkt ſind, iſt daher an ſich von dem Verlauf gewiſſer Jahre nicht abhängig; ſie beſtehen ſo lange, als der Berechtigte ſie nicht aufgegeben oder in die Unmöglichkeit gekommen iſt, ſie fer - ner geltend zu machen. Eine Aufgebung kann aber erfolgen ent - weder im Wege des Vertrags oder durch einſeitige Dereliction, wodurch dann von ſelbſt ein entgegenſtehender Beſitz jeder Anfech - tung überhoben wird; eine Dereliction aber kann allerdings auch aus einem langen Zeitverlauf zu erſchließen ſein, wenn der vor - mals Berechtigte Gelegenheiten des Widerſpruchs oder der Wie - derausübung ſeines Rechts hat vorübergehen laſſen. Immer jedoch entſcheidet hier nur die Regel eines erkennbaren Verzichts. 3Uebereinſtimmend H. Groot II, 4, 1 ff. und die meiſten ſeiner Commenta - toren. Auch Pufendorf, IV, 12, 11. Vattel, II, 11, §. 149. Wheaton II, 4, §. 4.
Was den unvordenklichen Beſitzſtand betrifft,4Hierüber noch immer ſehr gut: Groot, a. a. O. §. 7 ff. Vattel, II, 11, §. 143. C. E. Waechter, de modis tollendi pacta inter gentes. Sttg. 1779. §. 39 f. de Steck, Eclaircissements de divers sujets. In - golst. 1785. Günther, Völkerr. I, 116 f. ſo kann darun - ter nur ein ſolcher gemeint ſein, wo der Beweis, daß es jemals anders war, nicht geführt werden kann und demnach die Vermu - thung entſteht, daß von Anfang an die Sache oder das Recht zu dem beſitzenden Staat gehört habe. Der jetzige aber ſchon uralte25§. 11. Einleitung.Beſitzſtand iſt eine vollendete Thatſache, wogegen die Geſchichte Nichts vermag.
Wie viele Staatenrechte, Grenzen und Beſitzungen würden nach bloß theoretiſchen Rechtsgründen, oder wenn man nach den Rechtstiteln früge, anzufechten ſein, wenn nicht das von der Ge - ſchichte geborene Alter ſie niederſchlüge?
Außerdem muß freilich auch den Staaten geſagt ſein: hundert Jahr Unrecht iſt noch kein Tag Recht.
12. Die Subjecte, auf welche ſich das Völkerrecht überhaupt bezieht, ſind:
Allen dieſen ſtehen ſchon als Vorausſetzungen oder Theilen der völ - kerrechtlichen Verbindung gewiſſe unleugbare, gleichſam angeborene (native) Rechte zu, dann aber auch nach dem Herkommen und durch Verträge beſtimmte poſitive Rechtsanſprüche, welche bald nur die Verwirklichung oder concrete Weiterführung der naturalis ratio, eines nothwendigen Gedankens, eines nativen Rechts ſind, bald aber auch rein willkührliche äußerliche Zugeſtändniſſe ohne innere Noth - wendigkeit. Rechte dieſer Art bezeichnet die diplomatiſche Sprache häufig durch Cerimonialrechte (droits cérimoniels ou de cérémo - nie). Von ihnen wird hier zunächſt nur in ſo weit die Rede ſein, als ſie in einer unmittelbaren Beziehung zu den Grundverhältniſſen der Staaten und übrigen völkerrechtlichen Perſonen ſtehen.
13. Hat ſchon der Menſch mit ſeiner Exiſtenz gewiſſe angebo - rene Rechte, ſo muß ſie auch jeder Staat, weil er ſelbſt ein Theil des Menſchengeſchlechts iſt, als giltig anerkennen und achten, das Individuum gehöre zu ihm ſelbſt, oder zu einem anderen oder noch zu gar keinem Staat. Freilich aber iſt das Daſein ſolcher Urrechte oder allgemeiner Menſchenrechte bald geleugnet, bald in größerer und kleinerer Ausdehnung behauptet worden. Gewiß ſind ſie nur eine Wahrheit für Staaten, deren Geſetz die Sittlichkeit des Wil - lens iſt, und jeder derſelben kann dann auch wenigſtens für ſeine Unterthanen die Anerkennung dieſer Menſchenrechte in Anſpruch neh - men, keiner die Achtung oder das Verbleiben in dem Kreiſe der Uebrigen verlangen, wenn er dieſe Rechte ſelbſt an den ihm frem - den Perſonen mißkennet oder zu Boden tritt.
14. Alle Rechte nun, welche nach der Sittlichkeit dem Indi - viduum unabweislich zugeſtanden werden müſſen, concentriren ſich in dem Begriff der Freiheit, von ihrer objectiven Seite betrachtet; der Menſch iſt zum Menſchen geboren, d. i. der menſchlichen Na - tur und ihrem Entwickelungsgange gemäß phyſiſch und ſittlich zu exiſtiren; der Staat als Theil des Menſchengeſchlechts und für daſſelbe, darf dieſe Exiſtenz nicht ſtören oder unterdrücken; vielmehr hat er ihre freie Entwickelung durch Entfernung von Hinderniſſen zu befördern; gegen den überhaupt oder vorübergehend zur Freiheit, zu einem vernünftigen für ſich ſelbſt Handeln Unfähigen beſteht ſogar die Verpflichtung Aller, mithin auch des Staates, ihn mit den nothwendigſten Bedürfniſſen zu unterſtützen, zum vernünftigen Men - ſchen zu erziehen, oder doch approximativ auf der Höhe und in der Verbindung ſittlicher Menſchen zu erhalten. Aber kein Menſch kann28Erſtes Buch. §. 15.das Eigenthum eines Anderen, ſelbſt nicht des Staates ſein, kein Staat darf Sclaverei dulden. 1Nur einzelne Analogien der Sclaverei finden ſich noch im chriſtlichen Europa. Nicht ſowohl der Staat erhält dieſe, als vielmehr der Egoismus der Leib - herren. Sonſt herrſcht ſchon der Grundſatz vor: die Luft macht frei. So in Frankreich, Großbritannien, mit einer kleinen Modification auch in Preu - ßen. Ueber die allmählige Abſchaffung der Sclaverei vgl. man Biot, l’abo - lition de l’esclavage ancien. Par. 1841. Eine neue Aera hat für die Abſchaffung in Europäiſchen Colonien begonnen, namentlich ſeit der Engl. Parl. -Acte 3. 4. Will. 4. c. 73, vom 1. Aug. 1834 an. Der Höhe - punct der jetzigen Civiliſation macht überflüßig, das Princip der Sclaverei noch zu bekämpfen. Kein Theil des Menſchengeſchlechts hat eine Beſtim - mung dazu. Man vgl. Warnkönigs Bemerkungen in ſ. Rechtsphiloſophie S. 286. Foelix Revue étrangère t. IV et V. Esclavage et Traite des N. p. Agenor de Gasparin. Par. 1838.
15. Zergliedert man den Inhalt der menſchlichen Freiheit, d. i. der vernünftigen Exiſtenz des Individuums näher, ſo laſſen ſich weiter folgende Einzelrechte darin erkennen:
Erſtens: Freie Wahl des Ortes der Exiſtenz. Kein Menſch iſt zur Scholle eines beſtimmten Staates unabänderlich geboren. Das gemeinſame Vaterland iſt die Erde; der Einzelne muß über - all ſeine Heimath aufſchlagen können, wo er ſich am Meiſten in ſeiner Freiheit zu bewegen vermag; ja es kann Pflicht ſein, ſich nach einer anderen Stelle der Erde zu begeben, um ſeine Freiheit zu retten. Das Recht der Auswanderung iſt alſo ein unentziehba - res; nur ſelbſtauferlegte oder verſchuldete Verpflichtungen können es beſchränken;2Die zuläßigen Beſchränkungen ſ. in der Unterabth. 4. dieſes Abſchnitts. Die ältere Staatstheorie und Praxis war bei dieſer Frage ſehr befangen. Schriften ſ. in v. Kamptz Lit., §. 122. Heutzutage beſteht im Princip kaum noch ein Zweiſpalt. Selbſt v. Haller erkennt es als ein fundamentales an. nur moraliſche, nicht äußere Bande machen ein Land zum Vaterlande.
Zweitens: Erhaltung und Entwickelung der phyſiſchen Per - ſönlichkeit; daher das Recht ſich die Natur für die nothwendigen und nützlichen Bedürfniſſe des Lebens dienſtbar zu machen, Eigen - thum zu haben, es zu erhalten und zu erweitern in freiem Aus - tauſch mit anderen; ferner das Recht der Selbſtfortpflanzung durch Ehe und Kinderzeugung; alles in den Schranken der Sittlichkeit.
Drittens: das Recht der geiſtigen Perſönlichkeit, als Menſch auch geiſtig zu exiſtiren[und] zu entwickeln; ſich ein Wiſſen zu er -29§. 16. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.werben und im Verkehr mit anderen zu berichtigen; endlich auch ein religiöſes Bewußtſein über das Verhältniß zur unſichtbaren Welt ſich anzueignen um darnach zu leben.
In dieſen Stücken beſteht das Privatrecht der Menſchen. Der Staat ſchafft es nicht erſt, ſondern empfängt es als ein Gegebe - nes; er hat ihm nur die Ordnung und richtigen Grenzen vorzu - zeichnen, und die Mittel zu ſeiner Realiſirung zu gewähren. Ja, er muß, wo dieſe nicht ausreichen, dem Einzelnen die Selbſtver - theidigung ſeines Rechtsſtandes geſtatten, wie dieſe außer dem Staat das einzige Mittel ſeiner Erhaltung iſt.
Nur durch Verbrechen, d. h. durch Auflehnung gegen das We - ſentliche der Staatsordnung ſelbſt, kann es ganz oder theilweiſe verwirkt werden.
16. Staaten ſind die vereinzelten ſtetigen Verbindungen von Menſchen unter Einem Geſammtwillen für die ſittlichen und äu - ßeren Bedürfniſſe der menſchlichen Natur. Ihre gemeinſame Auf - gabe iſt die vernünftige Entfaltung des Menſchen in ſeiner Frei - heit. Denn der Staat an ſich iſt die praktiſche, das ganze Leben umfaſſende Vernunft. Aber es giebt keinen Univerſalſtaat. Gäbe es einen ſolchen, ſo müßten Alle dagegen kämpfen, um ihn wieder in die nationalen Stoffe aufzulöſen, in den Bau von Einzelſtaa - ten, in welchen ſich die menſchliche Kraft allein im gehörigen Maaß und Gleichmaaß entwickeln kann. Zur Exiſtenz jener Einzelſtaaten gehört nun:
Wo Eines oder das Andere fehlt oder anders iſt, da ſind entwe - der nur Embryonen oder Uebergänge zum Staat vorhanden, oder Geſellſchaftsaggregate zu einzelnen beſtimmten Zwecken; Horden oder Naturſtaaten, die ohne inneren Bildungsſtoff in ſich ſelbſt zergehen. Auch die geſchichtliche oder Weltbedeutung der wirklichen Staaten iſt bald nur eine vorübergehende mechaniſche (états de fait, de circonstance), welche ſich entweder ganz wieder auflöſen oder der Kern der anderen werden, bald aber auch eine bleibende natürliche, auf Naturfülle und Nationaleinheit gegründete.
17. Außerweſentlich iſt für das Völkerrecht im Allgemeinen das größere oder geringere Gewicht, welches ein Staat in die Wag - ſchale der Völkerereigniſſe zu legen vermag. 1Für das phyſiſche Leben der Staaten, für die Staatspraxis und Staats - kunſt iſt der Unterſchied der Macht natürlich von großer Bedeutung. Die dabei angenommene Eintheilung in Staaten des erſten, zweiten und drit - ten, auch wohl vierten Ranges hat ihren guten Grund und iſt eine unleug - bare Wahrhtit, nur aber nicht auf Bevölkerungsverhältniſſe numeriſch ſtreng zurückzuführen.Erheblicher iſt für die internationalen Verhandlungen die innere Verfaſſung der Ein - zelſtaaten, weil davon die Dispoſitionsfähigkeit der Regierungen ab - hängig iſt, obgleich ihre Herſtellung nicht den Staaten unter ſich, ſondern vielmehr jedem Staat in ſich ſelbſt weſentlich zuſteht. Von dieſer Seite betrachtet giebt es zwei Hauptarten der Staaten, nämlich
deren jede ihre natürlichen haltbaren Unterarten hat. Nebenbei lie - gen die Ausartungen (Parekbaſen von Ariſtoteles genannt) ſo wie die Miſchungen.
Das Weſen der wahren Monarchie iſt die auf anerkannten Ge - ſetzen oder anderen rechtlichen Grundlagen beruhende Alleinherrſchaft, welche nach vernünftigen Geſetzen regiert. Hierunter iſt begriffen die unbeſchränkte Monarchie, wo Wille des Herrſchers und der Staat identiſch ſind (l’état c’est moi) und der Monarch formell nicht Unrecht thun kann; dann: die beſchränkte Monarchie, wo die Regierung ſelbſt auch be - ſtimmten Geſetzen dem Volk gegenüber unterworfen und verantwort - lich, das Volk ein Rechtsbegriff iſt.
Die Benennungen der monarchiſchen Staaten richten ſich her - kömmlich nach den Titeln des Staatsoberhauptes. Dieſe aber ſind der Königs - und Kaiſertitel, wovon jener der älteſte und gewiſſermaßen urſprüngliche iſt, einen Herrn1Vgl. Grimm d. Rechts Alterth. 229. bezeichnend, die - ſer, der Imperatorentitel, der ſpätere, einen Befehlenden an - deutend; der Fürſtentitel, germaniſchen und ſlaviſchen Urſprungs, ur - ſprünglich nur einen Erſten im Staat anzeigend, mit verſchie - denen Abſtufungen aus dem Lehnſtaat des Mittelalters, Her - zog, Fürſt, Graf u. ſ. w. Als Mittelſtufe zwiſchen König und Fürſten hat ſich ſeit dem 16ten Jahrh. der Titel eines Großherzogs2Zuerſt für Toscana, durch päbſtliche und kaiſerliche Verleihung (ſeit 1569 resp. 1575). Pfeffinger, Vitr. illustr. I, 747. 748. gebildet.
Neben der Monarchie liegt die Tyrannis oder Uſurpation, wenn ein Einzelner nicht durch Recht ſondern durch Gewalt und Furcht herrſcht.
Ein Gemeinweſen iſt überhaupt vorhanden, wo es keine bloß Herrſchenden und gegenüber nur Gehorchende giebt, ſondern die Herr - ſchenden zugleich auch gehorchen und beherrſcht werden. Hierunter iſt begriffen: die reine Demokratie, wo alle natürlich fähigen Glieder des Volks zugleich an der Ausübung der Staatsgewalt Theil haben; die Ariſtokratie, wo nur Bevorrechtete herrſchen, eine Selbſtre -32Erſtes Buch. §. 18.gierung des Volks mit Ungleichheit, bald Timokratie, bald Fami - lienherrſchaft, bald Geldherrſchaft.
Eine Ausartung des Gemeinweſens iſt die Ochlokratie oder die wandelbare Herrſchaft des augenblicklichen Willens der Maſſe.
Die hiſtoriſche Stufenfolge der Staatsverfaſſungen iſt:
Den fruchtbarſten Boden hat das conſtitutionelle Princip im Weſten, Süd - und Nordweſt Europa’s gefunden. Abgeſchloſſen wird es gegen den ſlaviſchen und orientaliſchen Staat durch einen Gür - tel der mannigfaltigſten Staatennüancirungen, der von Italien durch das öſtliche und nördliche Deutſchland bis nach Dänemark ſich her - überzieht. Nebenher ſtehen unter den monarchiſchen Staaten ver - einzelte republikaniſche Gemeinweſen, theils von demokratiſcher theils ariſtokratiſcher Färbung.
Nähere Betrachtungen hierüber gehören dem Staatsrecht an.
33§§. 18. 19. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.18. Das weſentlichſte Kennzeichen eines wirklichen Staates be - ſteht in dem organiſchen Daſein einer eigenen vollkommenen Staats - gewalt. Ihre Ausſchließlichkeit und Unabhängigkeit von äußerem Einfluß iſt die völkerrechtliche Souveränetät der Staaten. Jedoch iſt letztere nicht immer in gleicher Weiſe, weder factiſch noch recht - lich vorhanden; unter den mancherlei Staatengebilden laſſen ſich in dieſer Hinſicht folgende Categorien erkennen:
Ueberdieß kann ſelbſt der völlig ſouveräne Staat in ſeinen äu - ßeren Beziehungen beſtimmten weſentlichen Beſchränkungen unter - worfen ſein (§. 22.).
19. Halbſouveränetät iſt zwar ein überaus vager Begriff, ja ein Widerſpruch in ſich, da der Ausdruck Souveränetät gerade die abſolute Negation jeder äußeren Abhängigkeit bedeutet und eine Beſchränkung dieſer Negation im Allgemeinen eine große, ja zahl - loſe Menge von Abſtufungen zuläßt, welche ſich nicht auf Zahlen - verhältniſſe zurückführen laſſen. In ſo fern jedoch die Souverä -334Erſtes Buch. §. 20.netät eine weſentlich doppelte Bedeutung und Wirkſamkeit hat, eine äußere, anderen Staaten gegenüber, und eine innere, in dem Be - reich des eigenen Staats, wovon letztere freilich auch regelmäßig die Baſis der erſteren iſt, kann man, wo zwar dieſe Baſis vorhan - den, jedoch die äußere Wirkſamkeit durch eine höhere Macht ent - zogen iſt, das Verhältniß der Staatsgewalt eine Halbſouveränetät nennen. Dieſem Verhältniß entſprach vormals1Aus der älteren Geſchichte laſſen ſich hieher die abhängigen Bundesgenoſ - ſen der Athener, dann die von den Römern unterworfenen populi liberi, mit der Bedingung: ut majestatem P. R. comiter conservarent (vgl. L. 7. §. 1. D. de captiv. ) rechnen. Das Verhältniß der ſeit 1806 mediatiſir - ten deutſchen Reichsſtände iſt, ſoweit es nach der deutſchen Bundesacte Art. 14. ausſchließlich regulirt iſt, noch keine Halbſouveränetät zu nennen. die deutſche lan - desherrliche Gewalt,2Günther, Völkerr. I, S. 121. vor ihrer letzten faſt maaßloſen Ausdehnung, ſo lange es noch eine kräftige Reichseinheit gab. Beiſpiele in heu - tiger Zeit ſind die Herrſchaft Kniphauſen in Norddeutſchland, mit allen Rechten der inneren Landeshoheit, des Seehandels und einer eigenen Flagge, unter dem Schutze des Deutſchen Bundes und un - ter der Hoheit, welche Oldenburg anſtatt der ehemaligen Deutſchen Reichsſtaatsgewalt, jedoch ohne das Recht der Geſetzgebung aus - zuüben hat3Das Verhältniß dieſer kleinen Herrſchaft iſt unter K. Oeſterreichiſcher, K. Preußiſcher und K. Ruſſiſcher Vermittelung durch freien Vertrag zwiſchen Oldenburg und dem letztverſtorbenen Beſitzer, Grafen von Bentinck, näher regulirt, und dieſes ſ. g. Berliner Abkommen d. d. 5. Juni 1825 durch Be - ſchluß des Deutſchen Bundes vom 9. Juni 1829 unter die Garantie deſ - ſelben genommen worden, vorbehaltlich der wohlbegründeten Rechte dritter Perſonen.; ſodann die Republik Poglizza in Dalmatien unter Oeſterreichiſcher Hoheit; endlich die Wahl-Fürſtenthümer der Mol - dau und Wallachei und das Erb-Fürſtenthum Serbien unter Tür - kiſcher Hoheit,4Die neueſten Beſtimmungen über ſie ſind durch den Frieden von Adria - nopel 1829 getroffen. Wegen der Ruſſiſchen Schutzgewalt über die Für - ſtenthümer der Moldau und Wallachei vgl. §. 22. der Barbareskenſtaaten nicht zu gedenken.
Das Recht des vorgeſetzten Souveräns wird gewöhnlich Ho - heit, Oberhoheit, auch suzeraineté genannt. 5Eigentlich bedeutet das Wort suzerain den Lehnsherrn.
20. Staatenvereine (unirte Staaten) entſtehen6Eine etwas verſchiedene Claſſification der Staatenvereine findet ſich in Klüber dr. des gens §. 27. ent -35§. 20. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.weder durch die zufällige Beherrſchung von einem und demſelben Sou - verän (unio personalis), wobei aber jeder Staat dem anderen völ - lig fremd bleiben und nur Bekriegung des einen durch den anderen faſt undenkbar wird, wenn beide gleich ſelbſtändig ſind und beſonders der Souverän beide gleich unabhängig regiert; oder die einzelnen Staaten ſtehen mit einander ſelbſt in Verbindung, ſo daß ihre Schick - ſale ganz oder theilweis gemeinſam werden (unio realis). Die ein - zelnen Abſtufungen dabei ſind
21. Sehr verſchieden von dem zuſammengeſetzten Staat iſt der Staatenbund, bei welchem es keine gemeinſame oberſte Staats - gewalt, ſondern nur Vertragsrechte und gemeinſame Organe zur Er - reichung der vereinbarten Bundeszwecke giebt; eine bleibende Staa - tengeſellſchaft mit eigenen organiſchen Einrichtungen für jene Zwecke. Die einzelnen verbündeten Staaten bleiben hier in allen Beziehun - gen ſouverän und ſind von dem gemeinſamen Willen des Vereins nur in ſo weit abhängig, als ſie ſich demſelben vertragsweiſe unterge - ordnet haben; im Bundesſtaat können ſie höchſtens nur halbſou - verän ſein. Ein derartiger Staatenbund iſt meiſtens die erſte Pro - greſſion der ſich ſelbſt aufgebenden und als ohnmächtig erkennen - den Kleinſtaaterei, gewöhnlich auch zuſammenhängend mit nationa - len Stammintereſſen; oder, wie bereits vorhin bemerkt, eine Auf - löſung des Bundesſtaates. Wir finden ihn im Alterthum, in den Verbindungen griechiſcher und lateiniſcher Städte (reine Schutz - und Trutzvereine); in der neueren Zeit in der Schweitzeriſchen Eid - genoſſenſchaft, in dem vormaligen Freiſtaat der ſieben vereinigten Niederlande, endlich jetzt in dem Deutſchen Bunde. Der Einfluß des Bundesverhältniſſes auf die einzelnen Staaten kann natürlich ein ſehr verſchiedener ſein und daſſelbe ſich bald mehr bald weni - ger einem Bundesſtaat annähern. Seine Hauptwirkſamkeit geht auf das äußere Verhältniß der Verbündeten zu anderen Mächten; nur in ſo fern iſt er ſelbſt auch eine völkerrechtliche Perſon. Als Haupt - arten laſſen ſich unterſcheiden: der dynaſtiſche Staatenbund, wo nur die Regierungen mit einander verbündet ſind und in der Bundesmacht zugleich ihre Anlehnung und Verſtärkung ſuchen; dann der Völker-Staatenbund, welcher auch die beherrſchten Stämme ſelbſt organiſch mit vereinigt.
37§. 22. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.Nur der letztere kann auf längeren Beſtand rechnen; der reine Regierungsbund iſt ein ephemeres Gebilde der Politik.
22. Die Modalitäten, deren die Staatsſouveränetät fähig iſt, ohne ſich ſelbſt aufzugeben, ſind außer dem eben berührten Bun - desverhältniß
23. Die Entſtehung der Einzelſtaaten in ihren mancherlei Nüan - cen iſt im Allgemeinen eine Thatſache des hiſtoriſchen, Proceſſes. Bald ſind ſie hervorgegangen aus dem Familien - und ſtammgenoſ - ſenſchaftlichen Leben, wie der alte patriarchaliſche Staat, bald aus dem Einfluß religiöſer Vorſtellungen, wie der Prieſterſtaat; bald aus der Thatkraft Einzelner, wie der alte Heroenſtaat, ſpäter der Imperatoren - und Feudalſtaat; bald aus dem Willen Aller oder doch einer kräftigen Majorität; im Altherthum vorzüglich auch durch Coloniſation mit Aufgebung des Mutterſtaates; im Mittelalter durch Uſurpation, Eroberung und Erbtheilungen; in neuerer Zeit durch das Selbſtändigwerden bisheriger Nebenländer mit Losreißung vom bis - herigen Ganzen oder vom Mutterlande. Vollendet iſt die Entſte - hung als Thatſache, ſobald ſich die ſchon oben §. 16. angezeigten Elemente vorfinden: Ein Wille und die Kraft, ſich als Staat zu behaupten. Hiermit iſt dann freilich auch ſchon für Andere eine Nöthigung verbunden, jenen neuen Staat als Staat für ſich be - ſtehen zu laſſen; allein erſt dann iſt nach den Grundſätzen der Ge - rechtigkeit, denen das chriſtliche Europäiſche Völkerrecht huldigt, die5Congreßacte Art. 6.; b) die Joniſchen Inſeln unter Britiſchem Protectorat, nach dem Pariſer Vertr. v. 5. Novbr. 1815 und der Conſtitut. -Acte vom 29. Decbr. 1817; c) die Fürſtenthümer der Moldau und Wallachei, ſeit dem Frieden v. Adrianopel 1829 unter Ruſſiſchem Schutze; d) das Für - ſtenthum Monaco, der Familie Grimaldi-Valentinois gehörig, ſeit dem Pa - riſer Frieden von 1815 unter Sardiniſchem Schutz und Beſatzungsrecht; vor - mals, ſeit 1641 bis zur Revolution, unter Franzöſiſchem Schutz, noch früher unter Spaniſchem. Vgl. Moſer ausw. Staatsr. V, 3, 399. de Real, science du Gouv. IV, 2, 3, 21. Murhard, N. Suppl. t. II. 1839. p. 343.39§. 23. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.Entſtehung juriſtiſch correct und der neue Staat legitim, wenn durch ſeine Schöpfung keine Rechte Anderer verletzt ſind (Neminem laede!), oder ſobald die zugefügte Rechtsverletzung beſeitigt oder von dem Verletzten aufgegeben iſt. Dieſer ſelbſt kann daher nicht allein die Entſtehung des neuen Staates hindern, ſondern auch den bereits entſtandenen auf den früheren Rechtsſtand zurückzuführen ſuchen oder dafür Genugthuung fordern, und ſo lange der beiderſeitige Kampf dauert, der ſein altes Recht vindicirende Staat nicht daſſelbe auf - giebt oder nicht ganz außer Stand zu ſeiner ferneren Verfolgung geſetzt wird, iſt kein Dritter verpflichtet oder berechtigt, den neuen Staat anzuerkennen oder mit ihm als ſolchem einen politiſchen Verkehr zu beginnen. Bloß der natürliche Verkehr der Völker, na - mentlich der commercielle, kann durch jenen Kampf nicht gehin - dert werden, ſo weit nicht der Kriegszuſtand hier Beſchränkungen ſetzt. Ob ein Recht durch die neue Schöpfung verletzt werde, liegt außerhalb der Comperenz dritter Staaten, die nicht ſelbſt Parteien ſind; für ſie iſt jene Schöpfung nichts als eine Begeben - heit, eine weltgeſchichtliche Revolution und deren Geſchehenlaſſen oder Hemmung eine Frage der Politik und Sittlichkeit. Nur für die bisher in Einem Staatsverbande begriffenen iſt ſie eine Rechts - frage, worüber das innere Staatsrecht entſcheiden muß, nebenbei für dritte Mächte, welche eine Integrität des bisherigen Staats - verbandes ſich ſtipulirt oder aus anderen Rechtsgründen im eigenen Intereſſe zu fordern, nicht aber bloß acceſſoriſch verbürgt haben. Unter allen Umſtänden iſt der neue Staat ſchuldig, jede Verbind - lichkeit, die ſeinen Theilen noch aus dem bisherigen Verhältniß obliegt, zu erfüllen. Andrerſeits bedarf es für ihn keiner ausdrück - lichen Anerkennung der ſchon beſtehenden Mächte zu ſeinem Da - ſein; er iſt ein Staat weil er es iſt; und eben ſo wenig iſt ein ſchon beſtehender Staat zu einer politiſchen Anerkennung oder zur Eröffnung eines politiſchen Verkehrs mit dem neuen verpflichtet, wenn nicht das Eine wie das Andere den politiſchen Intereſſen zuträglich befunden wird. Die Anerkennung iſt eben nichts als die Bekräftigung der völkerrechtlichen Exiſtenz und die Zulaſſung ei - nes neuen Gliedes in das ſchon beſtehende völkerrechtliche Syſtem.
24. Staaten entſtehen, wachſen, altern und vergehen, wie der einzelne Menſch; unſterblich iſt der Staat nur in ſeinem Begriff und als Motif; unſterblich der Einzelſtaat höchſtens in dem Sinn, daß er nicht von der phyſiſchen Exiſtenz beſtimmter Glieder abhän - gig iſt, ſondern ſo lange beſteht, als ſich neue Glieder in ihm re - produciren. 1Respublica aeterna. Universitas non moritur sed conservatur in uno. Weitläuftige gelehrte Nachweiſungen dieſes Satzes aus den Alten, deren wir nicht weiter bedürfen, ſ. bei Groot J. B. ac P. II, 9, 3. u. Pufen - dorf J. N. et G. VIII, 12, 7.Im Uebrigen iſt er vergänglich wie alles Irdiſche, und ſeine Macht nicht über ſich ſelbſt hinausreichend. Wann nun ein Einzelſtaat aufhöre zu exiſtiren, iſt darum keine unpraktiſche Frage, weil mit der Exiſtenz die davon abhängigen Rechtsverhältniſſe er - löſchen müſſen. Als oberſter Grundſatz muß hier gelten: Jeder ſouveräne Einzelſtaat beſteht ſo lange, als er noch un - ter irgend einer Form die weſentlichen Bedingungen oder Ele - mente eines Staatsverbandes (§. 16.) bewahrt, als mithin eine für ſich ſeiende und dazu ferner fähige, ſich ſelbſt repro - ducirende Gemeinde vorhanden iſt, gleichviel, ob ſie ſich aus ſich ſelbſt durch Fortpflanzung oder anderswoher durch Ein - wandrer forterzeugt. Er erliſcht alſo völlig:
Nur theilweis verliert er ſeine Exiſtenz durch Subſtanzverminde - derung, nämlich:
Dagegen bleibt es derſelbe Staat wenn bloß in der Regierungsform oder im Subject der Staats - gewalt eine Aenderung eintritt,2Ariſtoteles nahm bei dieſer ſchon damals berühmten Frage das Gegentheil an (Polit. III, 1.). Allein bei den neueren Publiciſten iſt nur eine Stimme darüber. S. Groot, §. 8, 1. a. a. O. Pufendorf, §. 1. a. a. O. Böcler, de actis civitat. (Diss. acad. Vol. I, p. 881). Hert, de plurib. homi - nib. unam person. sustinentib. §. 7. 8. Die Elemente des Staats blei - ben ja unverändert. wohin auch der Fall einer gleichen Vereinigung mit einem anderen Staat gehört; ſodann bei Ueberſiedelung aus einem Territorium in ein anderes, wo - bei Erſterer ganz aufgehoben wird,3Feſte Sitze erachten wir freilich für weſentlich zu einem wahren Staat, aber dieſelbe Scholle macht nicht den Staat. S. auch Groot, §. 7. a. a. O. Pufendorf, §. 9. während die Staatsgemeinde ſelbſt in ihrer Ausſchließlichkeit und Selbſtändigkeit verbleibt.
Durch Fälle der letzteren Art wird natürlich in den Rechtsver - hältniſſen des bisherigen Staates Nichts geändert; ſie äußern nur dann einen Einfluß auf letztere, wenn und ſo weit ſolche von der unveränderten Beſchaffenheit der bisherigen Zuſtände abhängig ſind, z. B. in Betreff der Verträge.
25. Hinſichtlich der Fälle eines gänzlichen oder theilweiſen Staa - ten-Erlöſchens entſteht nun die Frage: ob und für wen dabei eine42Erſtes Buch. §. 25.Succeſſion in die Rechte und Pflichten des erloſchenen Staates Platz greife. Man hat dabei geſtritten ob die Succeſſion eine univerſale oder eine pärticuläre ſei1M. ſ. z. B. Klock, Consil. Vol. III, 152, n. 28. v. Cramer Wtzl. Nbſt. 110, S. 233. und ſo Begriffe des Privatrechts in das öffentliche Recht übergetragen, deren Anwendung die einfache Er - kenntniß des Princips nur ſtören kann.
Als Regel für den Fall einer gänzlichen Extinction muß ohne Zweifel gelten: daß alle öffentlichen Rechtsverhältniſſe der vormaligen Staats - genoſſenſchaft, da ſie eben nur für dieſen begründet waren, als erloſchen anzuſehen ſind, ſo weit nicht ihre Fortdauer auch in dem neuen Zuſtande der Dinge möglich und vorbedungen iſt; daß dagegen alle aus dem vormaligen Staatsverhältniß her - rührenden Privatrechte der Einzelnen (iura et obligationes singulorum privatae) mit Einſchluß der ſubſidiariſchen Ver - pflichtungen der Einzelnen für den Staat,2Z. B. alſo auch der Staatsſchulden, welche den Einzelnen zur Laſt fallen. ſie ruhen auf Per - ſonen oder Sachen, als noch fortbeſtehend geachtet werden müſ - ſen, wenn ſie nur irgendwo einen Gegenſtand oder Raum zur Realiſirung haben. Denn einmal entſtandene, auf keine Zeit beſchränkte Rechte ſind als zeitloſe immer dauernd, ſo lange die Subjecte und Sachen exiſti - ren, unter denen oder hinſichtlich derer ſie Statt finden.
Ganz daſſelbe iſt in Hinſicht auf Privatrechte bei theilweiſer Ver - nichtung eines bisherigen Staatsverbandes zu behaupten; was aber die öffentlichen Rechtsverhältniſſe der Staatsglieder betrifft, ſo müſ - ſen ſich dieſelben denjenigen Veränderungen unterwerfen, welche durch den nunmehrigen Zuſtand der Dinge nöthig werden,3Daher z. B. die Beſtimmung des Reichs-Deputations-Hauptſchluſſes von 1803 §. 3. g. E. wegen der landſtändiſchen Verfaſſungen im vormaligen Fürſtenthum Münſter. oder welche, wenn die Veränderung im Wege des Krieges ohne ſichernde Stipula - tionen eingetreten iſt, der Sieger damit vorzunehmen für gut findet.
Vermögensrechte und Verpflichtungen eines ganzen aufgelöſeten Staates werden ihm auch noch in ſeinem neuen Zuſtande verblei - ben, nur die Verwaltung wird geändert;4In ſo fern ſagt man, der Fiscus des neuen Staates ſuccedire univerſell bei Theilungen werden43§. 26. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.ſie auf die einzelnen Theile verhältnißmäßig übergehen. 1Erörterungen über dieſen Gegenſtand finden ſich in der vormaligen Zeitſchr. Hermes XXX, 1. S. 113. S. auch Groot, §. 10. Pufendorf, §. 5. a. a. O. Wheaton, a. a. O. §. 20. p. 99. ferner das (Lübecker) Auſträ - galurtheil in Sachen Preußen wider Bayern, die Anſprüche der Fürſtin Ber - keley betr., in Leonhardi Auſträgalverf. des D. Bundes S. 645.Wie es jedoch in Fällen der letzteren Art mit dem unbeweglichen Staatsei - genthum gehalten werde, ſoll im Sachenrecht ſeine Stelle finden (Abſchn. 2.).
26. Die Rechtsverhältniſſe der Staaten als ſolcher, d. h. in ſo fern ſie dabei unmittelbar als Rechtsſubjecte betrachtet wer - den, ſind:
Wir haben vorab die allgemeinen urſprünglichen Rechte in Ver - bindung mit der ihnen durch das Herkommen gegebenen cerimo - nialen Geſtaltung und mit den zuläſſigen Beſchränkungen zu erörtern. Es ſind weſentlich:
Als Grundprincip des gegenſeitigen Verhaltens ergiebt ſich aber Gleichheit des Rechts aller ſouveränen Staaten, welches da - her auch mit ſeinen poſitiven Modificationen jenen Specialrechten voranzuſtellen iſt.
Ueberall iſt hier nur die Rede von wohlbegründeten Rechten der Staaten unter einander, nicht auch von demjenigen, was je - der Staat innerhalb ſeines eigenthümlichen Rechtskreiſes zu ſeiner4in die Rechte und Pflichten des aufgelöſten. Auch greift der Satz ein: bona non intelliguntur nisi deducto aere alieno. 44Erſtes Buch. §. 27.Selbſtentwickelung thun und unterlaſſen kann. Dies iſt Gegen - ſtand des inneren Staatsrechts. Zwar iſt auch noch in der äu - ßeren Staatenpraxis oft von einem ſ. g. Convenienzrecht (droit de convenance) die Rede geweſen, als der Befugniß jedes Staa - tes, im Fall collidirender Intereſſen gegen andere Staaten ſo zu verfahren, wie es dem eigenen Intereſſe am angemeſſenſten erachtet wird. Eine ſolche Befugniß hat man jedoch nur, ſofern kein wohl - begründetes Recht des anderen Staates entgegenſteht, was begreif - lich auch auf keinem einſeitigen politiſchen Intereſſe beruhen kann, und es verſteht ſich dann das Handeln nach eigener Convenienz ganz von ſelbſt. Außerdem läßt ſich ein ſolches Handeln und ein Recht dazu nur nachweiſen Einmal: im Zuſtande des Krieges, wo es mit der ſ. g. Kriegsräſon identiſch iſt; und Zweitens: im Fall eines wirklichen Nothſtandes, wo es identiſch iſt mit dem ſ. g. Nothrecht oder äußerſten Recht der Staaten, ſich in der Gefahr eines bevorſtehenden Verluſtes der Exiſtenz oder eines einzelnen beſtimmten Rechtes, ſelbſt auf Koſten und mit Verletzung Anderer, die Exiſtenz und unter - ſcheidungsweiſe das gefährdete Recht zu retten.
Keine dieſer beiden Arten legitimer Convenienz iſt jedoch völlig regellos, wie weiterhin gezeigt werden ſoll. 1Man ſ. über das ſ. g. Convenienzrecht Moſer, Beitr. I, 5. F. H. Stru - ben, Abh. von d. Kriegsraiſon und dem Convenienzrecht, in d. Samml. auserl. jur. Abh. Leipz. 1768. S. 31 f. Verhandlungen darüber haben am Deutſchen Bundestage im J. 1821 Statt gefunden. M. ſ. L. v. Dreſch Abh. über Gegenſt. des öffentl. R. 1830. Nr. 1. Heffter, Beitr. z. d. Staats - u. Priv. -Fürſtenr. S. 184. Klüber, öffentl. R. des D. Bundes §. 175.
27. Ein ſouveräner Staat iſt ſeinem Begriff nach überall der - ſelbe und trägt daher eine vollkommene Rechtsgleichheit aller in ſich, ganz abgeſehen von der verſchiedenen politiſchen Bedeutung jedes einzelnen. Auch der kleinſte Staat kann ſonach, gleich dem größe - ren, daſſelbe Recht mit dieſem in Anſpruch nehmen und ausüben, und hat ſich keiner Ungleichheit der Behandlung von Seiten eines45§. 28. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.anderen zu unterwerfen. Indeſſen ſind auch hier theils natürliche, theils willkührliche Modificationen gegeben.
Zuvörderſt nämlich verſteht ſich das Geſetz der Rechtsgleich - heit nur von allem demjenigen, was aus der Perſönlichkeit und freien Selbſtändigkeit eines ſouveränen Staates von ſelbſt herfließt, nämlich für einen ſolchen gehalten zu werden und alle Rechte der Souveränetät, wie jeder andere Staat, nach eigenem Ermeſſen in - nerhalb der allgemeinen völkerrechtlichen Schranken ausüben zu dür - fen. Keineswegs aber kann ein Staat fordern, daß von dem an - deren bei Ausübung der einzelnen Souveränetätsrechte das nämliche Syſtem beobachtet werde, welches er ſelbſt in auswärtigen Be - ziehungen befolgt, dafern kein beſtimmter Rechtstitel hierzu erlangt iſt. So iſt kein Staat gehindert, ſeine eigenen Unterthanen mehr zu begünſtigen als die Ausländer, insbeſondere jenen in Colliſions - fällen mit letzteren beſtimmte Vorzüge einzuräumen. Es liegt darin keine Illegalität, ſondern nur Iniquität, welche zur Retorſion be - rechtigt (Buch 2.). So iſt ferner kein Staat gehindert, nur ge - wiſſen Nationen beſondere Vortheile und Rechte zu gewähren, ohne daß dritte ſich dadurch verletzt halten können,1Günther, Völkerr. I, 316. wiewohl ſie auch hier ein Gleiches thun und Retorſion üben dürfen.
Auf höchſt natürlichem Wege endlich bringt politiſche Macht - ungleichheit auch eine gewiſſe Rechtsungleichheit mit ſich. Minder mächtige Staaten können ſich meiſt nur durch Anlehnung an mäch - tigere behaupten; es fehlt ihnen an Mitteln, ſich in allen Stücken in gleicher Linie mit dieſen mächtigeren auf würdige Art zu behaup - ten. Hieraus entſtehen Zugeſtändniſſe und Maximen des Verhal - tens, die unter anderen im Europäiſchen Staatenſyſtem ein eigenes Rangrecht erzeugt haben.
28. Die conventionellen Regeln, welche ſich in Betreff des Ranges der einzelnen Staaten und Staaten-Categorien gebildet ha - ben, ſind in heutiger Zeitlage dieſe:
46Erſtes Buch. §. 28.29. Das Erſte Recht eines Staates iſt eben das, als beſon - derer Staat für ſich zu beſtehen und ſich zu entwickeln. Jeder Staat kann ſich demnach ſelbſt eine beſtimmte Form geben, zuerſt alſo eine beſtimmte Regierungsform, da eine formloſe Staatsge - walt ein Unding, mithin auch der Staat ſelbſt nicht vorhanden wäre. In wie fern dabei Einmiſchungen anderer Mächte zuläſſig ſind, wird ſich weiter ergeben. Unbedenklich iſt ferner, daß jeder Staat auch ſich ſelbſt und ſeinen Auctoritäten einen beſtimmten Namen und Titel geben, ſo wie gewiſſe äußere Inſignien, Wap - pen1Die Staatspraxis richtet ſich dabei, verſteht ſich zwanglos, nach den Re - geln der Heraldik oder ſ. g. Wappenkunſt, l’art du blason. Eine Nach - weiſung der darauf bezüglichen Schriften ſ. in Berend, Allgem. Schriften - kunde der Wappenk. 1835. 3 Thle. u. dergl. beilegen und gebrauchen kann. 2Vattel, II, 3, §. 41 f. de Réal, science du Gouv. V, 5, 6. Günther, Völkerr. II, 4, 1.Ein Widerſpruchs - recht oder Urtheil ſteht rückſichtlich der Annahme ſolcher Wahrzei - chen anderen Staaten an und für ſich nicht zu, wohl aber kann dieſelbe unter folgenden Vorausſetzungen angefochten werden: Erſtens, inſofern Tractaten oder hoheitliche Beziehungen zu anderen Staaten (§. 18 f.) entgegenſtehen; Zweitens, inſofern bereits anerkannte Wahrzeichen fremder Staaten angenommen werden; Endlich überhaupt, wenn andere Mächte zur förmlichen Be - achtung des angenommenen Titels, Namens und der damit ver - bundenen herkömmlichen Prärogativen verpflichtet ſein ſollen. Eine ſolche Verpflichtung kann durch das eigene Handeln eines Staates anderen nicht auferlegt werden. Es iſt alſo von ſelbſt die Nothwendigkeit gegeben, ſich die Anerkennung wenigſtens derjeni - gen Staaten zu verſchaffen, welche ein Intereſſe und auch wohl die Macht haben, einen Widerſpruch geltend zu machen. Gleiches gilt von Veränderungen bisheriger Titel, Wappen und anderer Kennzeichen. 3Schmelzing, Europ. V. R. §. 40. Schmalz, Völkerr. S. 182.
450Erſtes Buch. §. 30.30. Mit dem Daſein iſt auch das Recht der Selbſterhal - tung gegeben. Hierunter iſt begriffen:
51§. 30. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.Die Gefahr kann entweder Naturgewalt und Complication der Weltverhältniſſe ſein, oder menſchliche Vergewaltigung. Erſtere geben an und für ſich kein Recht, andere Staaten und deren An - gehörige in ihrer Exiſtenz, ihren Beſitzthümern und Rechten zu be - ſchädigen; nur die äußerſte Noth entſchuldigt, ſeine eigene Exiſtenz auf Koſten einer fremden, oder ſeine eigenen Rechte mit Hintan - ſetzung der Rechte Anderer zu retten, ja auch dieſes nur, wenn man nicht etwa ſelbſt die Gefahr herbeigeführt hat. 2Es können hier keine anderen Grundſätze für die Staaten aufgeſtellt wer - den als für das ſ. g. Nothrecht der Einzelmenſchen. Die erſteren werden freilich ſeltener in den Fall kommen, ſich darauf zu berufen. Man ſetze in - deß einen kleinen Staat in Hungersnoth gebracht, und man wird gewiß ihm keine Rechtsverletzung beimeſſen können, wenn er ſich, nach Erſchö - pfung aller Mittel, ſogar mit Gewalt in den Beſitz des Nothwendigen bei ſeinen Nachbaren zu ſetzen ſucht (Vattel II, 120.); freilich mit der Ver - bindlichkeit einer wenigſtens künftig zu leiſtenden Entſchädigung. Bynkers - hoeck, quaest. iur. publ. II, 15. Groot, II, 2, 9.
Gegen drohende oder bereits angefangene Vergewaltigung An - derer tritt das Recht der Nothwehr bis zur völligen Abwendung der Gefahr in Kraft, und jeder dritte ſogar iſt berechtigt dazu Bei - ſtand zu leiſten, wenn der Bedrohte ihn nicht von ſich weiſet. Weſentliche Vorausſetzung iſt jedoch Wirklichkeit der Gefahr und Abſichtlichkeit auf Seite deſſen woher ſie kommt. Bis dahin kön - nen rechtmäßiger Weiſe nur Sicherungsmittel, z. B. durch Coali - tion mit Anderen, Befeſtigungen, Kriegsrüſtungen u. ſ. f. ergriffen werden; mit dem erſten Moment der Gefahr iſt aber auch der Be - drohte befugt, zuerſt thatſächlich einzuſchreiten und durch eigenen An - griff den zu befürchtenden zu beſeitigen. 3Denn melius est occurrere in tempore quam post exitum vindicare. L. 1. C. quando liceat unicuique.
4*52Erſtes Buch. §. 30.Begreiflicher Weiſe läßt ſich in den Staatenverhältniſſen nicht der engere Maaßſtab anlegen, wornach der Gebrauch der vorſte - henden Grundſätze in Privatverhältniſſen beurtheilt werden muß. Bei dem Geheimniß, worin ſich die Politik einhüllt, iſt es oft ſchwer, die Abſichtlichkeit einer Richtung, das wahre Ziel einer Bewegung zu erkennen. Zuweilen wird ſelbſt längere Beobachtung des ganzen Syſtems eines Hofes doch nur Vermuthungen an die Hand geben und ein Irrthum ſehr zu entſchuldigen ſein. Gewiß iſt aber auch Vorſicht gegen Uebereilungen und gegenſeitige Offenheit geboten. 1Ueber das hier eintretende Fragerecht ſ. unten bei der Materie der Inter - vention.
Daß der bedeutende, obwohl völlig legitime Anwachs einer ein - zelnen Macht, weil ſie in der Folge einmal gefährlich werden könnte, noch keinen Zuſtand der Nothwehr oder eines rechtmäßigen Krieges hervorrufe, zeigt ſich in dem Mangel an den erforderlichen Bedin - gungen der Nothwehr, hauptſächlich eines wirklich zu befürchtenden unrechtmaͤßigen Angriffs. Auch kann das Coloſſale einer Macht noch nicht als ein ſchon vorhandener Nothſtand für die Uebrigen angeſehen werden. Unbedenklich liegt es aber in deren Befugniſſen, jeder fer - neren Vergrößerung einer Macht, wozu ſie noch keinen unbeſtritte - nen Titel hat, z. B. Vermaͤhlungen, Ceſſionen und dergl. zu verhin - dern zu ſuchen, ohne daß darin an und für ſich eine Beleidigung gefunden werden kann. 2Die verſchiedenen Anſichten ſind zuſammengeſtellt bei Günther I, S. 362 ff.
Auf ähnliche Weiſe verhält es ſich mit der Frage, ob bevor - ſtehende oder ſchon eintretende Aenderungen des momentanen Gleich - gewichts der Staaten den dadurch möglicher Weiſe in Gefahr ge - rathenden ein Recht zum thatſächlichen Widerſtande geben. Be - ruht die Veränderung auf bereits vorhandenen rechtmäßigen Titeln, ſo wird jeder Widerſtand in der Regel unrechtmäßig ſein; außer - dem aber kann die Präventivpolitik ihre ganze Thätigkeit zur Hin - derung des Bevorſtehenden entwickeln. 3Hier iſt vorzüglich die Coalitionspolitik an ihrem Ort. Darauf beruhten unter anderm die großen Coalitionen in Betreff der Spaniſchen Monarchie vor Abſterben König Carls II., der Deutſche Fürſtenbund von 1785, die Coalition gegen Napoleon u. ſ. f.
Nur deutlich erkennbare Beſtrebungen einer Macht zu einer Univerſalherrſchaft verſetzen unbedenklich alle übrigen in den Fall eines Nothſtandes.
31. Will oder kann ein Staat nicht völlig iſolirt von allen übrigen beſtehen, ſo muß er auch das Daſein derſelben in der Welt - ordnung anerkennen, mithin ſie als derſelben angehörig achten, wie bei dem einzelnen Menſchen das Recht auf Achtung ebenfalls ſchon mit dem phyſiſchen Daſein beginnt. Verweigern kann ſie dem an - deren Staat nur derjenige, welcher ſeine Legitimät beſtreitet und je - der Verbindung mit ihm entſagt, wodurch freilich den Geſetzen der Sittlichkeit und Humanität nicht abgeſagt werden kann.
Die dem Recht auf Achtung entſprechenden Verpflichtungen ſind nun theils negativen theils poſitiven Inhalts. Im Weſentlichen ſind es dieſe:
Was übrigens ein Staat oder ſeine Regierung ſelbſt gegen an - dere Staaten zu beobachten und zu unterlaſſen hat, muß oder ſollte55§. 31. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.er doch von ſeinen Angehörigen gleichfalls beobachten laſſen und nicht dulden. Allein bis auf dieſen Augenblick hat ſich wenigſtens die Geſetzgebung der Einzelſtaaten nur wenig oder gar nicht mit einer Sicherſtellung anderer Staaten gegen mögliche Verletzungen beſchäf - tigt. Einer wartet hier meiſt auf den anderen. Nur Bundesver - hältniſſe führen von ſelbſt zur Berückſichtigung der Bundesgenoſ - ſenſchaft. Die nähere Darſtellung der hiernach eintretenden Ver - hältniſſe bleibt dem Capitel von den Verbindlichkeiten aus Rechts - verletzungen vorbehalten.
32. Soll ein dem höchſten Ziel des Völkerrechts (§. 2.) ent - ſprechender Verband unter Nationen beſtehen, ſo müſſen ſie ſich auch einem gegenſeitigen Verkehr zum Austauſch ihrer geiſtigen und materiellen Mittel öffnen, deren die menſchliche Natur zu ihrer Ent - faltung bedarf. Das Princip einer Freiheit des Verkehrs iſt jedoch kein unbedingtes. Die nächſte Grenze ſetzt ihm die Gerechtigkeit, welche auf Gleichheit und richtiger Ausgleichung des Ungleicharti - gen beruht, mithin auch keinen Staat verpflichtet, einen Verkehr mit anderen zu führen, wobei er nur im Nachtheil und letztere al - lein im Vortheil ſein würden; eine fernere Grenze auch die Selbſt - erhaltung jedes Staates, welche nicht zugeben kann, ſich durch Ge - ſtattung eines unbedingten Verkehrs in Abhängigkeit von anderen Staaten zu ſetzen oder ſchädliche Einwirkungen von ihnen in ſich aufzunehmen.
Welche Vorſichts -, Abwehr -, Ausgleichungs - oder Beförde - rungsmaaßregeln nun in der einen oder anderen Beziehung zu er - greifen, fällt allein der inneren Politik jedes Staates anheim. Ihr ſteht es zu, ſchädliche Arten des Verkehrs und Handels in ihrem Gebiet ganz zu verbieten, den Fremdenverkehr durch Paßvorſchrif - ten und polizeiliche Anſtalten zu controliren, fremde Artikel der Aus - gleichung halber mit Schutzzöllen zu belegen, die Stapelplätze und Wege des Verkehrs zu beſtimmen, durch Handelsverträge, Errich - tung von Freihäfen und ähnlichen Anordnungen den Verkehr zu be - fördern, hierbei auch einzelne Nationen vor anderen zu begünſtigen, ja ſelbſt Monopole zu ertheilen, wenn dergleichen noch in irgend einer Hinſicht wahrhaften Vortheil gewähren könnten; endlich kann eine Nation ſich freiwillig durch Vertrag gewiſſen Handelsbeſchrän - kungen unterwerfen, wenn ſie nur ihre Exiſtenz nebſt dem Fortſchritt der Entwickelung nicht aufgiebt.
Die Grundſätze, auf welche das Völkerrecht beſtehen muß, ſind allein dieſe:
33. Aus dem Begriff der Staatsſouveränetät fließt endlich noch das Recht der freien Bewegung und Unabhängigkeit, welches we - ſentlich in einer freien inneren Selbſtentwickelung des Staates und in der von keiner fremden Gewalt gehinderten Ausübung aller Macht - befugniſſe der Staatsgewalt beſteht. Es zeigt ſich in ſeiner Vollen - dung in der völligen Abſchließung eines eigenthümlichen Staatsge - bietes (als ius territorii, Territorialprincip) und ſomit in der Zu - rückweiſung jedes fremden Einfluſſes von den diesſeitigen Gebiets - grenzen, in dieſer Beziehung auch Recht auf Integrität oder Unverletzbarkeit der Staaten genannt. Keiner auswärtigen Staatsgewalt, keinem einzelnen legislativen oder executiven Act der - ſelben iſt man demnach im diesſeitigen Gebiet Raum zu vergön - nen ſchuldig, keinem unter fremder Staatsauctorität entſtandenen Rechtsverhältniß unmittelbare Vollziehbarkeit zuzugeſtehen. Natür - lich findet aber auch das in Rede ſtehende Recht in der Integri - tät und Unverletzbarkeit der anderen Staaten ſeine eigene Beſchrän - kung. Es kann alſo
Andere Verpflichtungen oder Beſchränkungen der Staatsgewal - ten fließen, abgeſehen von den Grenzen, welche ihnen durch das in - nere Staatsrecht geſetzt werden, aus der anderen Staaten ſchuldigen Achtung (§. 31.), ſo wie aus den Europäiſchen Rangverhältniſſen (§. 28.); aus den allgemeinen Menſchenrechten, welche jeder Staat ſelbſt den ihm nicht Angehörigen zugeſtehen muß; aus den Verhältniſſen der Unterthanen zu auswärtigen ſpi - rituellen Mächten, von welchen ſie in Betreff ihres Religions - cultus abhängig ſind, wobei insbeſondere die Inſtitutionen der Römiſch-katholiſchen Kirche in Betracht kommen; aus dem Verhältniß der Exterritorialität; aus der Beſtellung von Staatsſervituten; endlich können in einzelnen Fällen Interventionsrechte An - derer begründet ſein.
Von allen dieſen iſt, ſo weit es noch nicht geſchehen, der Reihe nach zu handeln, nachdem zuvor noch das Verhältniß verſchiede - ner Staatsgewalten in Colliſionsfällen, in Betreff einzelner Ge - genſtände, erörtert ſein wird.
34. Unmöglich kann dem Territorialprincip und dem Recht auf Unabhängigkeit die ausgedehnte Deutung gegeben werden, daß Sou - veränetätsacte und Rechtsverhältniſſe fremder Staaten für einen an - deren völlig gleichgiltig und ein Non ens ſeien. Schon das Recht auf gegenſeitige Achtung würde ſich einem ſolchen Indifferentismus widerſetzen; es giebt aber noch außerdem beſtimmte Gründe, welche zur Berückſichtigung der Rechte fremder Staatsgewalten nöthigen; namentlich
Im Uebrigen ſteht es in der Willkühr jeden Staates, fremden Regierungsacten auch in ſeiner Mitte beſtimmte Wirkungen beizu - legen, wiewohl dieſes immer nur unter Bedingung der Reciproci - tät oder mit ſtillſchweigender Vorausſetzung derſelben zu geſchehen pflegt.
Haben endlich mehrere Staatsgewalten ein gleiches Beſtim - mungsrecht hinſichtlich deſſelben Falles oder Gegenſtandes, ſo ver - fährt jede unabhängig und die Priorität entſcheidet ſich allein nach dem Geſetz der Prävention, d. h. des dermaligen Beſitzſtandes.
35. Aus denſelben Geſichtspuncten des Rechts und der Con - venienz iſt das Verhältniß der Juſtizverwaltungen verſchiedener Staa - ten zu beſtimmen. 3Die umfaſſenderen Werke über dieſen Gegenſtand des internationalen Rechts ſind von Story, Commentaries on the conflict of laws foreign and do -Denn auch die Juſtizhoheit, d. h. die Geſetz -62Erſtes Buch. §. 35.gebung und richterliche Gewalt über die Individualrechte der Staats - angehörigen, welche ihnen als Privatperſonen zuſtehen ſollen, iſt nur ein Theil der Staatsgewalt, mithin in keiner anderen Lage als jedes andere Hoheitsrecht.
Als leitende Grundſätze ſind hierbei folgende an die Spitze zu ſtellen:
Alles Uebrige gehört den beſonderen Zweigen der Rechtsverwal - tung an. Vieles iſt hierbei der Convenienz der Staaten überlaſſen, oder es iſt particuläres Herkommen mehrerer Staaten unter einan - der geworden; jedoch darf die zufällige Uebereinſtimmung vieler oder der meiſten bekannten Particularrechte von Einzelſtaaten noch nicht3mestic. Boston 1841; und von Foelix, traité du droit international privé. Par. 1843. Andere bloß auf das Civilrecht ſich beſchränkende Werke ſ. nachher zu §. 37.63§. 36. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.als Beweis eines ſchlechthin verbindlichen unveränderlichen gemein - ſamen Rechtsgrundſatzes gelten.
36. In Betreff der Strafrechtspflege ſind weſentlich die nach - ſtehenden Grundſätze zu rechtfertigen:
Von Recht und Pflicht der Auslieferungen wird weiterhin §. 63. die Rede ſein.
37. Eine zum Theil ſehr verſchiedene Bewandtniß hat es mit der Juſtizgewalt der Staaten in bürgerlichen Rechtsangelegenheiten.
Ein allgemein giltiges Privatvölkerrecht (ius gentium priva - tum), wovon ſich die Spuren im älteren Römerſtaat finden und wonach man im Verkehr mit Fremden über Privatrechtsverhältniſſe entſchied, iſt zu keiner ſelbſtändigen Entwickelung gediehen (§. 1.). Eben ſo wenig hat ſich das Princip des germaniſchen Mittelal - ters, den Fremden nach ſeinem Nationalrecht zu beurtheilen, in die neuere Zeit in ſeiner Allgemeinheit fortgepflanzt; auch könnte5mittelbar ſind Strafurtheile gegen einen Unterthan auch im Auslande von Einfluß, inſofern ſie ſeinen bürgerlichen Status, mithin auch ſeine privat - rechtliche Capacität verändern, wovon nachher, bei der bürgerlichen Rechts - pflege.566Erſtes Buch. §. 37.letzteres nicht jeden Conflict beſeitigen. Bei der heutigen Abſchlie - ßung der Einzelſtaaten und Unterordnung des Privatrechts unter dieſelben entſteht oder vollendet ſich wenigſtens jedes Rechtsverhält - niß ſcheinbar nur relativ für den einen oder anderen, und es kann dadurch die Anſicht entſtehen, als ob jeder Staat die Privat-Rechts - verhältniſſe anderer Staaten, wie bei dem Strafrecht, als ihm völ - lig fremd behandeln und ignoriren dürfe. Allein dadurch würde er überhaupt alles Privatrecht außerhalb ſeines Gebietes negiren, und ſomit die Freiheit der menſchlichen Perſon, was kein Staat als einzelner Träger des Menſchengeſchlechtes kann. Ein Privat - recht zu haben iſt ein allgemeines Menſchenrecht, zu deſſen Erhal - tung und Gewährung jeder Staat beitragen muß; inſofern aber ſeine nähere Entwickelung von der Sanction der Staatsgewalten abhängig iſt, muß gewiß auch jeder Einzelſtaat die Schweſteraucto - rität des anderen Staates, welchem jene Sanction anheimfällt, nach dem Princip der Gleichheit und gegenſeitigen Achtung aner - kennen. Die Schwierigkeit liegt allein in der Beſtimmung der Zu - ſtändigkeit, worauf ſich der nachfolgende Verſuch bezieht; an ſich aber iſt jedes unter Sanction des competenten Staates erwachſene Rechtsverhältniß eine vollendete Thatſache für Jedermann, jedoch kann dadurch wiederum keinem Staat die Verbindlichkeit auferlegt werden, jener Thatſache dieſelben Wirkungen beizulegen, wie ſie der andere zuläßt oder beſtimmt; jeder kann vielmehr die Wirkungen der einzelnen Rechtsverhältniſſe nach ſeinem Ermeſſen geſetzlich be - ſtimmen, oder noch von zuſätzlichen Bedingungen abhängig ma - chen; ja er kann ihnen ſogar alle Wirkſamkeit in ſeinem Bereich abſprechen. Iſt eine derartige geſetzliche Beſtimmung von ihm nicht ertheilt,1Dies iſt eine Frage der Interpretation. ſo muß angenommen werden, daß er dem außerhalb zur Exiſtenz gekommenen Rechtsverhältniß ſeine urſprüngliche Kraft und Wirkſamkeit belaſſen wolle. Niemals kann jedoch einem anderen Staat ein Rechtsverhältniß aufgedrungen werden, welches er ſelbſt reprobirt;2So kann kein Muſelmann im chriſtlich Europäiſchen Staat das Geſetz der Vielweiberei ſeiner Heimath anrufen, um in eine polygamiſche Verbin - dung zu treten. Kein quoad vinculum in ſeiner Heimath geſchiedener Aus - länder kann in einem Staate, der dieſe Eheſcheidung verwirft, eine neue gil - tige Ehe ſchließen. nie können in ihm Wirkungen reclamirt werden, welche67§. 38. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.ſeinem eigenen Rechtsſyſtem widerſprechen;1So muß ſich z. B. die väterliche Gewalt eines Fremden über ſeine Kin - der nach den Geſetzen des Aufenthalts modificiren. oder ſolche Wirkun - gen, die er nur ſeinen inländiſchen Rechtsverhältniſſen zugeſteht; nie iſt die bloß geſetzliche Fiction eines Staates auch für einen anderen, der ſie nicht hat, verbindlich,2Z. B. keine gerichtliche Todeserklärung kann für andere Staaten, welche dieſes Inſtitut nicht haben, oder in anderer Art haben, die Stelle der wirk - lichen Todeserweiſung vertreten; keine Legitimation eines unehelichen Kin - des den in einem anderen Staat erforderlichen Nachweis der ehelichen Geburt. wiewohl die auf Grund ſolcher Fiction im Auslande bereits eingetretenen fernerweiten Rechts - verhältniſſe in ihrer Exiſtenz nicht negirt werden können. 3Z. B. die bereits erfolgte Succeſſion in die Rechte eines Todterklärten.Nie kann aber auch das Syſtem beſtehen, daß ſelbſt Exiſtenz und Be - dingungen eines Rechtsverhältniſſes, welches in einem auswärti - gen zuſtändigen Staate erwachſen iſt, von jedem anderen, wo die Wirkungen in Anſpruch genommen werden, nach ſeinem eigenen Recht zu beurtheilen ſeien. Man würde dadurch dem eigenen Ge - ſetz eine ultraterritoriale und ſelbſt retroactive Kraft geben.
38. Als leitende Grundſätze hinſichtlich der Zuſtändigkeit der Rechtsſatzungen ergeben ſich dieſe:
In allen Fällen verſteht ſich übrigens die Bedeutſamkeit aus - ländiſcher Rechtsacte und Obligationen, nächſt den ſchon §. 37. ge - machten allgemeinen Beſchränkungen, für andere Staaten nur von den rein privatrechtlichen Wirkungen, nicht auch von ſolchen Ne -71§. 39. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.benwirkungen, z. B. Hypotheken und Vorzugsrechten, welche ein Staat lediglich den unter ſeinem Rechtsſyſtem entſtandenen Rechts - verhältniſſen beilegt, ſofern nicht hierüber ein Einverſtändniß mit anderen Staaten beſteht. 1Vergl. Foelix, p. 502.
39. Hinſichtlich der richterlichen Entſcheidungsgewalt laſſen ſich die nachſtehenden Sätze als gemeingiltig annehmen:2Foelix, p. 166. Klüber, dr. d. g. §. 58. 59.
Endlich iſt wegen der Contractsnatur eines Privatrechtsſtreits auch die Einrede der Rechtshängigkeit in jedem anderen Staate zu beachten. 3Foelix, p. 227.
40. Verhältniſſe eigenthümlicher Art treten ein in Beziehung auf auswärtige ſpirituelle Mächte, von denen alle oder ein Theil der Staatsangehörigen vermöge ihrer religiöſen Ueberzeugung ab - hängig ſind, insbeſondere zu dem Römiſchen Stuhl, in ſeiner Ei -8des Landes, wo geklagt wird, dem Inſtitute der Klageverjährung unterlegt. Sofern jedoch der Richter die Einrede nicht von Amtswegen zu beachten hat, ſie alſo zum ius partis gehört und mit der Qualität der Obligation in Verbindung ſteht, wird auch die Anſicht, daß es auf das Geſetz des ur - ſprünglichen Rechtsverhältniſſes ankommt, immer die meiſte Anziehungskraft ausüben. S. überhaupt Wächter, Arch. S. 408. Foelix, p. 140. Eine beſondere Schwierigkeit macht dann freilich oft wieder die Veränderung der Präſcriptionsgeſetze.73§. 40. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.genſchaft als oberſten Regierers der abendländiſchen katholiſchen Kirche.
Jeder Conflict zwiſchen einer derartigen Macht und den Staats - gewalten würde nur gehoben werden, wenn entweder dieſe ſich ganz den Beſtimmungen der erſteren auch in weltlichen Dingen unter - werfen wollten, gleichſam als eine theokratiſch beherrſchte Staaten - familie; eine Idee, die zwar im Mittelalter mit Conſequenz ver - folgt, jedoch niemals durchgeſetzt wurde, und auch jetzt, nur von einzelnen kirchlichen Eiferern empfohlen, ſchwachen Anklang ſelbſt in katholiſchen Staaten gefunden hat, denn ſie vernichtet alle Na - tionalität — oder zweitens, wenn die geiſtliche Gewalt ſich eben nur auf die Grenzen eines ſpirituellen Wirkens beſchränken, nicht etwa auch eine politiſche Form des Daſeins in Anſpruch nehmen und jedem Einfluß auf das äußere Leben entſagen könnte oder wollte.
So lange nun Kirchen - und Staatsgewalten in ihrer Freiheit und Selbſtändigkeit beſtehen, wird es nöthig, das Rechtsverhältniß beider zu einander zu beſtimmen. Die Entſcheidungsquellen aber können keine anderen ſein, als diejenigen, welchen alle unabhängi - gen Mächte oder Rechtsſubjecte, die mit einander Verbindung ha - ben wollen oder zufällig haben, unterworfen ſind; nämlich:
41. Die nähere praktiſche Geſtaltung der Verhältniſſe des Rö - miſchen Stuhles, wie ſie ſich theils hiſtoriſch ergeben hat, theils aus den vorangeführten Quellen begründet werden kann, iſt im Allgemeinen dieſe:
Alle übrigen Verhältniſſe der Römiſchen Kirchengewalt gehö - ren dem particulären Staats - und Kirchenrecht an. Es gab eine Zeit, wo Rom alle weltlichen Reiche auch in weltlichen Dingen in Abhängigkeit von ſich zu ſetzen ſuchte. Es legte ſich ein Con - firmationsrecht über Kaiſer, Könige und Fürſten bei, eine oberſte Cenſur von Regierungshandlungen, Beſteuerungsrechte und derglei - chen. Frankreich widerſtand zuerſt ſiegreich und die hochgeſpann - ten Prätenſionen ſind ſeitdem verſchollen. 4Ausführlich iſt hierüber Günther, Völkerr. I., 162 f.Würdig und natür - lich für eine allgemeine Kirche erſcheint nur ein ſchiedrichterliches78Erſtes Buch. §. 42.Amt des gemeinſamen Oberbiſchofs, wenn es, um Frieden zu er - halten, von den Parteien angerufen wird.
42. Exterritorialität iſt im Allgemeinen die völkerrechtliche Exem - tion gewiſſer Perſonen und damit in Verbindung ſtehender Sachen von der Staatsgewalt desjenigen Territoriums, worin ſie ſich kör - perlich befinden; man faßt ſie ſogar als eine Fiction auf, daß jene ſich überhaupt nicht in fremdem, vielmehr in ihrem eigenen Territorium befänden, wodurch dem Verhältniß eine viel weitere Ausdehnung gegeben werden würde, als es wirklich hat und ſei - nen Gründen nach in Anſpruch nehmen kann. 2Es würde z. B. die ſeltſame Folgerung eintreten müſſen, daß Alles, was der Exterritoriale im fremden Staate thut, lediglich nach dem Geſetz ſei - ner Heimath zu beurtheilen wäre, was gewiß nicht behauptet werden mag. Man könnte ſich unter andern auf das Princip: locus regit actum nicht berufen.Der Grund ei - nes ſolchen Rechts iſt nämlich kein anderer, als daß die Staats - gewalt eines Territoriums entweder keine rechtliche Botmäßigkeit über eine gewiſſe Perſon an ſich hat, oder daß er ſelbige wenig - ſtens im Intereſſe des völkerrechtlichen Verkehrs ſuspendiren muß. Welche Perſonen demnach hierzu allein befugt ſind, welche natür - liche oder cerimonielle Ausdehnung dem Recht in der einen oder anderen Hinſicht zuſtehe, wird erſt weiterhin vorkommen; nur fol - gende allgemeine Sätze gehören unbeſtreitbar hierher:
43. Schon aus den natürlichen Verhältniſſen, in welchen meh - rere Staaten neben einander aufgewachſen ſind, fließen gewiſſe Be - ſchränkungen oder ſ. g. natürliche Staatsdienſtbarkeiten (servitu - tes iuris gentium naturales), denen ſich ein Staat zu Gunſten des anderen nicht entziehen kann, ohne ſich gegen die natürliche Be - ſchaffenheit der Dinge aufzulehnen und die hiermit gegebene Regel des friedlichen Nebeneinanderbeſtehens zu verletzen. 4Vergl. Hert, opusc. II, III, p. 103 s. Dieſer Schriftſteller geht nur darin zu weit, daß er auch die Nothrechte, welche die Staaten gegen ein - ander ausüben und dulden müſſen, zu dieſen Servituten rechnet. Eben ſo Engelbrecht. Andere ſcheinen wieder von den natürlichen Servituten gar Nichts wiſſen zu wollen, wie Klüber, §. 139. n. a. Dahin gehört z. B. die Aufnahme des aus den Grenzen eines anderen Staates natür -682Erſtes Buch. §. 43.lich abfließenden Gewäſſers,1„ Semper haec est servitus inferiorum praediorum, ut natura pro - fluentem aquam recipiant. L. I. §. 22. D. de aqua. Ueber die hierbei eintretenden ferneren Verhältniſſe vergl. Hirt, S. 135 f. und andererſeits die freie Heraus - laſſung eines fließenden Waſſers in den Nachbarſtaat (vergl. §. 33.), worauf ſich unbedenklich auch die privatrechtlichen Vor - ſchriften des Römiſchen Weltrechts anwenden laſſen.
Außerdem ſind aber noch gewiſſe poſitive Beſchränkungen der Staatsgewalten denkbar durch gewillkührte Staatsdienſtbarkeiten (servitutes iuris gentium voluntariae), d. i. durch jedes von dem Willen eines Staates unabhängig geſtellte Recht eines ihm nicht unterworfenen Subjects, wodurch jenem die freie Ausübung ſeiner Hoheitsgewalt in Betreff eines oder des anderen Gegenſtan - des entzogen wird.
Die dabei vorkommenden Subjecte ſind: ein berechtigter Staat, zu deſſen Gunſten eine ſolche Beſchränkung der fremden Staatsge - walt beſteht, oder, was jedoch nur ſelten der Fall ſein wird, ein von dem verpflichteten Staat unabhängiges, durch das Völkerrecht geſchütztes Individuum;2So iſt das im R. D. H. Schl. von 1803. §. 13., und in der Deutſchen B. Acte Art. 17. geſchützte Poſtrecht des Hauſes Thurn und Taxis, ſofern nicht durch Verträge Etwas geändert iſt, immerhin eine völkerrechtliche Servitut. Dagegen iſt allerdings keine Servitut von der obigen Beſchaf - fenheit denkbar, wenn ein Staat ſeinem eigenen Unterthan, oder ſelbſt ei - nem fremden, ohne völkerrechtliche Garantie ein Hoheitsrecht zugeſteht. Vielmehr iſt hier die Conceſſion lediglich nach dem inneren Staatsrecht zu beurtheilen. Vergl. Engelbrecht II, 1, 12. ſodann ein verpflichteter, an ſich ſelb - ſtändiger Staat; auch kann eine und dieſelbe Dienſtbarkeit gegen - ſeitig zuſtehen, z. B. in Betreff der Beſteuerung.
Die Gegenſtände, worauf ſich dergleichen Dienſtbarkeiten er - ſtrecken, ſind lediglich und allein Rechte der Staatsgewalt, ſowohl hohe wie niedere Regalien des verpflichteten Landes; überhaupt nur öffentliches Eigenthum, nicht aber Privatrechte und Privateigen - thum deſſelben oder ſeiner Unterthanen, wiewohl dieſe mittelbar durch eine Dienſtbarkeit berührt werden können. 3Vergl. Gönner, a. O. §. 27 — 36. Klüber, §. 138.
Die Wirkung einer Staatsdienſtbarkeit beſteht darin, daß ent - weder der Berechtigte zu ſeinem Vortheil eine hoheitliche Befugniß in dem fremden Staate als ſeine eigene übernimmt und unabhän -83§. 43. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.gig von letzterem ausübt;1Sonſt wäre es eine bloße Privatconceſſion, und dafür iſt allerdings wohl bei gewöhnlich verleihbaren Regalien die Vermuthung. Vergl. Klüber, §. 138. 5°. oder daß der fremde Staat zu Gun - ſten des Berechtigten ſich der Ausübung einer gewiſſen Hoheitsge - walt in ſeinen eigenen Grenzen bis zu einem beſtimmten Umfange enthalten muß. Daher der Unterſchied von affirmativen und ne - gativen Servituten auch im Völkerrecht Anwendung leidet. 2Andere Eintheilungen z. B. in continuae und discontinuae, erſcheinen völlig unnütz. Beiſpiele von negativen Servituten ſind das Unterſagungs - recht gegen die Anlage von Feſtungen, gegen Aufſtellung einer größeren Heeresmacht u. ſ. w. Engelbrecht, II, 2, 27.Ob der Vortheil dem Berechtigten unmittelbar und allein, oder ſeinen von ihm vertretenen Angehörigen zukommt, ändert an dem Weſen der Servitut Nichts. 3So ward in Art. 17. des Pariſer Friedens von 1763 den Britiſchen Un - terthanen ausbedungen, in gewiſſen Gegenden Campechenholz zu fällen. De Steck, essais, 1775. Gönner, §. 24. 25.
Die äußerſte Grenze dabei iſt, daß der verpflichtete Staat in keine völlige Abhängigkeit von dem Willen des Berechtigten ge - ſetzt, ſondern immer nur in beſtimmten Hoheitsbefugniſſen beſchränkt wird, und daher wenigſtens noch als halbſouveräner Staat beſte - hen kann. 4Dieſer Punct iſt der ſchwierigſte für die Theorie. In der Praxis wird er ſelten zur Sprache kommen. Eine andere Formel findet ſich bei Schmelzing, §. 239. S. auch Gönner, §. 37. 38.
Eine Beſtellung iſt nur denkbar durch Vertrag, ſogar ſchon ohne Tradition;5Gönner, §. 67. jedoch kann die rechtmäßige Erwerbung auch durch einen unvordenklichen Beſitzſtand vertreten werden (§. 11.). Ein anderer Beſitzſtand legt dem Verpflichteten keine Verbindlich - keit auf, die Ausübung auch noch ferner zu geſtatten; vielmehr kann er zu jeder Zeit erſt den Beweis der rechtmäßigen Beſtellung fordern. 6Das Gegentheil ſcheint Klüber §. 139. mit Engelbrecht und Gönner zu behaupten. Beide ſprechen aber nur vom Deutſchen Reich. Und ohne Zweifel beſteht eine Geltung des Beſitzſtandes auch noch jetzt unter den Deutſchen Bundesgenoſſen nach Bundesacte Art. 11.; allein unter ganz freien Staaten kann dem präſumtiven Alleinberechtigten der bloße bishe - rige Beſitzſtand gewiß nicht entgegengeſetzt werden.Die Präſumtion iſt für ihn.
Der Umfang des Rechts beſtimmt ſich bei Verträgen nach der6*84Erſtes Buch. §. 43.deutlichen Conceſſion des Verpflichteten;1Alſo ſtricte Erklärung. Gönner, §. 80. Klüber, §. 139. Von einem Hoheitsrecht gilt kein Schluß auf ein anderes. Gönner, §. 81. Im Zwei - fel nur der geringere Grad. Ebendaſ. §. 82. bei unvordenklichem Be - ſitzſtande aus der bisherigen vollkommen gleichförmigen Ausübung. 2Tantum praescriptum, quantum possessum. Sixtin., de regal. I, 5, 171.Der Verpflichtete iſt im Zweifel nicht von der Ausübung derſelben Befugniß ausgeſchloſſen, wenn dieſe nicht ihrer Natur nach eine ausſchließliche, bloß von Einem Subject auszuübende, oder auf Mitausübung verzichtet iſt. 3Engelbrecht, II, 1, 12. Gönner, §. 90.Die Art der Ausübung kann übri - gens nur eine möglichſt unſchädliche4Gönner, §. 83. und eine ſolche ſein, die mit der Verfaſſung des fremden Staates im Einklange ſteht. 5Ebendaſ. §. 84 ff.Eine entgegengeſetzte Conceſſion iſt undenkbar. —
Jede Staatsdienſtbarkeit iſt als ein dauerndes Realrecht ſo - wohl für den Berechtigten wie für den Verpflichteten anzuſehen,6Engelbrecht, II, 3, 14. Gönner, §. 78. geht alſo auch auf jeden Succeſſor der einen und anderen Staats - gewalt (activ und paſſiv) über. Dieſelben Gründe jedoch, welche einen Staatenvertrag außer Kraft ſetzen, müſſen bei Staatsdienſt - barkeiten gleichfalls ihre Anwendung finden. 7Vergl. Gönner, §. 94 ff.Außerdem erlöſchen ſie durch Dereliction und Conſolidation.
44. Ob und in wie weit nun ein Staat ſich in die Angele - genheiten eines fremden Staates einmiſchen dürfe, kann nach den bisherigen Erörterungen nicht mehr zweifelhaft ſein. Es giebt im Allgemeinen keine Befugniß dazu, weder in Anſehung deſſen, was jedem Einzelſtaat ſelbſt vermöge ſeiner Freiheit und Unabhängigkeit zu ordnen zuſteht, namentlich in Beziehung auf Verfaſſung, Re - gierungsprincipien und Anwendung derſelben; noch auch in Anſe - hung der beſonderen völkerrechtlichen Verhältniſſe, welche unter mehreren fremden Staaten als Betheiligten Statt finden. Kein Staat kann daher dem anderen eine beſtimmte Verfaſſung aufdrin - gen, Veränderungen darin fordern oder denſelben entgegentreten; kei - ner die Glieder der fremden Staatsgewalt eigenmächtig beſtimmen; keiner demſelben Geſetze des Verhaltens vorſchreiben, die Annahme beſtimmter Regierungsmaximen und Errichtung oder Aufhebung ge - wiſſer Anſtalten fordern; keiner endlich den anderen zum Gebrauch oder Nichtgebrauch ſeiner auswärtigen Hoheitsrechte nöthigen. Das Princip der Nicht-Intervention iſt demnach allerdings die Regel, eine Intervention die Ausnahme, und nur aus beſonderen Grün - den zu rechtfertigen, wozu in der Praxis freilich nicht immer Rechts - gründe, ſondern oft nur einſeitige oder vermeintliche Intereſſen ge - dient haben. Im Völkerrecht kann nur von Rechtsgründen die Rede ſein. Um genau zu verfahren, wird man nach dem Gegen - ſtande unterſcheiden: Einmiſchung in Verfaſſungsſachen und Einmiſchung in Regierungsangelegenheiten, wozu auch Händel mit anderen Staaten gehören; außerdem der Form nach: eine eigentliche Intervention, wo die fremde Macht86Erſtes Buch. §. 45.ihre Entſchließungen als Hauptpartei, äußerſten Falls ſogar mit Gewalt, durchzuſetzen trachtet; ſodann: eine bloße Cooperation mit einer Gewalt oder Partei in dem fremden Staate ſelbſt1Dieſe Form der Intervention und ihre Benennung gehört vorzüglich erſt der neueſten Staatspraxis an. Sie iſt die Idee der Quadrupelalliance v. 22. April 1834 und des Additionalvertrages vom 18. Aug. ejsd. Martens, (Murhard), Nouv. Rec. t. XI. 1837. p. 808 s. und t. XII, p. 716. Praktiſch iſt ſie auch ſchon zuvor geübt worden. — eine acceſſoriſche Hilfeleiſtung; ferner: die Ergreifung von Vorbeugungsmitteln zur Abwendung drohender Gefahren; endlich: freundſchaftliche Interceſſion für eigene oder fremde In - tereſſen.
Gemeinſame Vorausſetzung iſt, daß der Gegenſtand, auf wel - chen ſich die Einmiſchung bezieht, an und für ſich dem Ermeſſen des von ihr betroffenen Staates zuſteht, daß eine Aenderung des bisherigen Rechtszuſtandes beabſichtigt wird, jedoch noch nicht vollendet iſt. Die Regierungsverfaſſung begründet keinen Unter - ſchied in der Anwendung der völkerrechtlichen Grundſätze, wiewohl in der älteren Staatspraxis die Eigenthümlichkeit der Wahl - und Bundesſtaaten am meiſten ein Feld zu politiſchen Einmiſchungen aller Art dargeboten hat. 2Ein ſehr beſtimmtes Syſtem gegen auswärtige Einmiſchungen hat der Deut - ſche Bund ausgeſprochen durch Beſchluß v. 18. Septbr. 1834. Martens (Murhard), N. Suppl. Goett. 1842. p. 56.
45. Eine eigentliche Intervention, wobei man als Hauptpartei handelt, findet in Verfaſſungs - und Regierungsange - legenheiten eines fremden Staates nur Anwendung:
Andere Rechtstitel zu einer thatſächlichen Einmiſchung in fremde Staatsangelegenheiten giebt es nicht, außer den vorſtehenden. Sie beſtimmen zugleich die Richtung und Modalitäten der Interven - tion. Ihr Zweck nämlich iſt Geltendmachung des zuſtehenden Rechts oder Genugthuung für deſſen Verletzung. Das letzte Mittel iſt der Krieg, wenn mildere Mittel nicht ſchon genügen ſollten.
Nur Vorbeugungs - und Schutzmittel oder gütliche Verhand - lungen ſind dagegen zuläſſig, wenn Vorgänge oder Veränderungen in einem Staate anderen Einzelſtaaten oder deren Intereſſen Ge -3legenheiten der Einzelſtaaten, ſo weit dadurch die weſentlichen Zwecke des Bundes und übernommene Garantien berührt werden.88Erſtes Buch. §. 46.fahr drohen. So kann der Ausbruch einer Revolution zur Auf - ſtellung eines Grenzcordons, die Bildung einer Propaganda zur Verbreitung aufrühreriſcher Grundſätze in einem Staate zu ſtren - ger polizeilicher Abſchließung gegen denſelben, auch wohl zur For - derung von Sicherheiten berechtigen; die ſchon wirkliche Verletzung von Intereſſen anderer Staaten aber zu Retorſionsmitteln ver - anlaſſen. Ungewöhnliche Kriegszurüſtungen im Inneren eines Staa - tes ohne deutlich erkennbaren Zweck berechtigen die dadurch mög - licher Weiſe bedrohten Staaten zu Anfragen über den Zweck und zur Forderung beſtimmter Erklärungen,1J. J. Moſer, Verſ. VI, 398. F. C. v. Moſer, vom Rechte eines Sou - veräns, den anderen zur Rede zu ſtellen. Kl. Schr. VI, 287. Günther, I, 293. Dort finden ſich Beiſpiele der Praxis des vorigen Jahrhunderts. Auch die neueſte Zeit hat dergleichen. welche ohne Beleidigung nicht verweigert werden können (§. 30. 31.).
Kriegsunternehmungen eines Staates gegen einen anderen kön - nen dritte Staaten zu politiſchen Maaßregeln ermächtigen, daß nicht durch den Erfolg das bisherige Gleichgewicht geſtört werde, indem durch freundſchaftliche Interpoſition der Zweck oder die Grenze der Unternehmung beſtimmt wird, oder indem man durch Defenſivbündniſſe mit anderen ein Gegengewicht zu bilden ſucht, oder ſich ſelbſt zum Kriege rüſtet, um ſeine eigenen und gemeinſa - men Rechte aller Staaten im Fall der Verletzung aufrecht zu er - halten (La paix armée). Daß der deutlich ausgeſprochene Zweck der Gründung einer Univerſalherrſchaft Kriegserklärung gegen Alle ſei, ward ſchon oben §. 30 a. E. bemerkt.
46. So oft es ſich nun weder von drohenden Rechtsverletzun - gen oder Gefahren handelt, kann ſelbſt die ſchreiendſte Ungerechtig - keit, welche in einem Staate begangen wird, keinen anderen zu ei - nem eigenwilligen Einſchreiten gegen den erſteren berechtigen; denn kein Staat iſt zum Richter des anderen geſetzt. Indeſſen gebietet und rechtfertigt die moraliſche Pflicht den Verſuch gütlicher In -89§. 47. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.terceſſion zur Abwendung der Ungerechtigkeit, und wenn dennoch da - bei beharrt werden ſollte, wenn vorzüglich eine Gewaltherrſchaft alles Recht mit Füßen tritt, die völlige Abbrechung jeder Verbindung.
Eine weitere Befugniß, nämlich zu einer thatlichen Coopera - tion, eröffnet ſich, wenn in einem Staate ein innerer Krieg wirk - lich ausgebrochen iſt und ein anderer Staat von dem im Recht befindlichen oder widerrechtlich bedrängten Theile um Hilfe ange - rufen wird. Es iſt ſchon das Recht jedes einzelnen Menſchen, dem widerrechtlich Gekränkten zu ſeiner und ſeines Rechts Erhal - tung beizuſtehen; es muß auch das Recht der Staaten ſein. 1Vattel, a. a. O. §. 56. Jo. Guil. Marckart, de jure atque obligatione gentium succurrendi injusta oppressis. Harderov. 1748. S. auch oben S. 51.Der Gebrauch darf nur kein leichtſinniger werden; denn das Urtheil über Recht und Unrecht im einzelnen Fall kann leicht trügen; die Hilfeleiſtung nimmt zugleich Leben und Vermögen der Unterthanen in Anſpruch; es kann die Gefahr und der ſchlimmſte Erfolg auf den Hilfeleiſtenden ſelbſt zurückfallen. Unter allen Umſtänden muß die Cooperation in den natürlichen Schranken des Acceſſoriſchen blei - ben; ſie kann nicht aufgedrungen werden, nicht weiter gehen als der Wille der Hauptpartei und muß aufhören, wenn dieſe ſelbſt nicht mehr exiſtirt oder ſich unterwirft.
Nach dieſen Grundſätzen entſcheidet ſich unter anderm in wie fern eine Einmiſchung in Religionsangelegenheiten eines fremden Staates, namentlich bei religiöſen Verfolgungen und Maaßregeln der Intoleranz zuläſſig ſei. 2Erörterungen hierüber bei Vattel, a. a. O. §. 58 — 62. Schmelzing, §. 190.
47. Die Befugniſſe, welche ein Staat an dem anderen, au - ßer den allgemein völkerrechtlichen, durch giltige Titel (§. 11.) er - werben kann (§. 26.), ſind theils ſchon bei Gelegenheit der all - gemeinen Rechte der Perſönlichkeit vorgekommen, theils werden ſie noch fernerhin im Sachen -, Obligationen - und Actionenrechte ihre Stelle finden. Ein gemeinſames geſetzliches Erbrecht beſteht an ſich nicht unter den Europäiſchen Staaten. Wohl aber kann durch Verträge Einer Staatsgewalt die Succeſſion in die Rechte90Erſtes Buch. §. 48.der Anderen auf einen gewiſſen Fall zugeſichert und eröffnet wer - den. Im Mittelalter waren dergleichen vertragsmäßige Erbſchaf - ten nichts ſeltenes,1So kam im J. 1032 das Königreich Burgund (Arelat) an das Deut - ſche Reich auf den Grund eines Erbvertrages von 1016 u. 1018. Mas - cov., de regni Burgund. ortu etc. I, §. 10. und auch noch in der Folge werden manche Erbverträge aus älterer Zeit ihre Wirkſamkeit unter deutſchen Staa - ten äußern können. 2Hierdurch iſt jedoch nicht ſowohl den Staaten, als vielmehr den regieren - den Familien ein Erbrecht ertheilt. Im Allgemeinen bezeichnet die Deut - ſche Staatsſprache dergleichen Erbverträge durch Erbeinungen (uniones hereditariae), einzelne derſelben durch Erbverbrüderungen (confraternitates hereditariae), womit die Annahme des Brudernamens, auch wohl die Ver - einigung der beiderſeitigen Beſitzungen zu einem Geſammteigenthum mit eventueller Huldigungspflicht der Unterthanen verbunden war. M. ſ. Gün - ther II, 106 und Beſeler, Vergabungen I, 215 ff. ; II, 3, 90. Die noch möglichen Anwartſchaften aus ſolchen Verträgen ſ. in Heinrich Gottlieb Reichard, Monarchie, Landſtände und Bundesverfaſſung in Deutſchland. Leipz. 1836. S. 149. 150. S. auch Wiener Congr. A. 99.Ihre Giltigkeit iſt nach der Zeit ihrer Ent - ſtehung zu beurtheilen; ihre Wirkſamkeit aber vielleicht in einzel - nen Fällen durch neuere Staatsumwälzungen unmöglich gemacht.
48. Die zweite Categorie der völkerrechtlichen Perſonen bil - den die Souveräne der Staaten, ihre Familien und unmittelba - ren Vertreter. Souverän iſt die phyſiſche oder moraliſche Per - ſon, welche die geſammte Staatsgewalt in ihren verſchiedenen Ver - zweigungen vereinigt, und inſofern ein weſentlicher Theil des wirk - lichen Staates. Auch ſein Recht heißt Souveränetät mit ei - ner zweifachen Wirkſamkeit im Inneren und außerhalb des eige - nen Staates. Sie iſt entweder eine volle, unbeſchränkte Souveränetät, wie in der abſoluten Monarchie, oder eine ver - faſſungsmäßig beſchränkte (conſtitutionelle) oder auch äu - ßerlich nur eine Halbſouveränetät. In Hinſicht auf den In - haber iſt ſie ferner entweder eine ſolitariſche, im Alleinbeſitz ei - nes Einzigen ausſchließend befindlich, oder ſie iſt ein gemeinſa - mes Recht Mehrerer, die zu ſeiner Ausübung entweder gleichmä -91§. 49. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.ßig in Collegialweiſe, oder in gewiſſen Verhältniſſen concurriren1Verhältniſſe dieſer Art ſind ſelten. Als Beiſpiel können dienen: die al - ten deutſchen Ganerbſchaften und noch jetzt hin und wieder beſtehenden Con - dominate (S. Abſch. 2. dieſes Buches); die gemeinſame Regierung man - cher Deutſcher Fürſtenhäuſer für gewiſſe Angelegenheiten, z. B. der Meck - lenburgiſchen, ſo wie Herzoglich-Sächſiſchen Linien, die jüngere Linie Reuß, in einzelnen Beziehungen auch das Haus Lippe. M. ſ. Klüber, öffentl. R. d. teutſchen B. §. 81. Heffter, Beitr. z. Staats - u. Fürſtenr. S. 311. In Gemeinweſen ſind noch größere Verſchränkungen der Organe der Staats - gewalt denkbar. oder auch wohl jeder es in solidum auszuüben haben. 2Letzteres kann der Fall ſein bei der unbedingten Annahme eines Mitregen - ten (darüber ſchon J. J. Moſer, Staatsr. XXIV, 236), ohne daß der Hauptregent auf fortgeſetzte Mitregierung verzichtet; bei einer Conſularregie - rung ohne Vertheilung der Functionen. Hier gilt der Grundſatz der l. 25. D. ad municip. : „ Magistratus (plures) cum unum magistratum admi - nistrent, etiam unius hominis vicem sustinent. “ S. auch Hert, de plurib. hominib. personam unam sustinentib. in Comm. et Op. III, p. 61. Bis zur Perfection eines Regierungsactes hat dann jeder Mitberech - tigte ein Recht der Interceſſion und des Veto.
49. Hinſichtlich der Erwerbung der Souveränetät iſt dieſelbe eine legitime, wenn die Erlangung ohne Verletzung eines bis da - hin giltig geweſenen rechtlichen Zuſtandes und der daran Bethei - ligten, oder doch mit deren Zuſtimmung erfolgt iſt; ſie iſt eine illegi - time, uſurpirte, wenn ſie mit Verletzung früherer Rechte geſchahe; ſie kann aber durch Zuſtimmung oder gänzliches Erlöſchen der frü - her Berechtigten eine legitime werden. 3Auf dieſe einfachen Sätze läßt ſich der ganze Streit über Legitimität oder Illegitimität der Souveräne vor dem Tribunal des Rechts zurückführen. Vergl. übrigens unten, Buch II. im Kriegsrecht, die Bemerkungen über die Uſurpationen.Wo und ſo lange die Erwerbung, insbeſondere die Legitimität derſelben beſtritten wird, vertritt die Thatſache des Souveränetätsbeſitzes das Recht des - ſelben, und zwar nicht allein für den eigenen Staat, ſo weit er jenem Beſitz thatſächlich unterworfen iſt, ſondern auch für aus - wärtige Staaten, hinſichtlich ihrer Rechtsverhältniſſe zu jenem. Auch die illegitime factiſche Souveränetät ſetzt den bisherigen Staat fort, vertritt ihn und erzeugt ihm Rechte und Verbindlichkeiten für die Zukunft,4Denn es iſt noch immer derſelbe Staat. §. 24. Für Großbritannien iſt unbeſchadet der Privatrechte des legitimen Souve -92Erſtes Buch. §. 49.räns. Freilich hat der nicht legitime Souverän gegen fremde Staa - ten keinen rechtlichen Anſpruch auf Anerkennung als legitime Gewalt und auf die damit verbundenen Befugniſſe, oder auf Un - terhaltung einer öffentlichen völkerrechtlichen Verbindung; er ſelbſt kann jedoch nicht bei einer derartigen Unterbrechung der Verhält - niſſe dem ſich von ihm zurückziehenden Staate alle Vortheile ei - nes ſolchen Verkehrs verſagen.
Unter allen Umſtänden gebietet Völkerrecht und Politik, ſo lange der Streit über die Souveränetät in einem Staate dauert, Beobachtung der ſtrengſten Neutralität von Seiten anderer Staa - ten; in wie fern aber dabei ein Interventions - oder Cooperations - recht begründet ſein könne, beurtheilt ſich nach den ſchon zuvor (§. 44 f.) dargelegten Grundſätzen. Ein Entſcheidungsrecht ſteht an ſich anderen Staaten nicht zu. Sie ſelbſt können jedoch ihrer - ſeits während des Souveränetätsſtreites nach eignem rechtlichen Ermeſſen hinſichtlich der mehreren Prätendenten handeln, ohne daß die Begünſtigung des Einen vor dem Anderen als Rechtsver - letzung zugerechnet werden mag. Erſt mit Eintritt eines beſtimm - ten Beſitzſtandes ſind ſie thatſächlich bei Verhandlung von Staats - intereſſen an den Beſitzer gewieſen, ohne daß der Gegenprätendent hierin eine Beleidigung finden, noch auch ſeinem Recht dadurch präjudicirt werden kann.
50. Die Souveränetät oder Hoheitsgewalt über einen Staat iſt keine ſubſtanzielle Macht, welche an und für ſich einem Gliede der Staatsgemeinde oder dieſer ſelbſt in ihrem Ganzen beiwohnt;1Auch die Souveränetät des Volks iſt, als Thatſache und nicht als bloße Idee aufgefaßt, nur eine Möglichkeit, welche erſt realiſirt werden muß, eben ſo wie die dynaſtiſche Souveränetät. ſie iſt eine Gewalt, deren organiſche Erſcheinung und unabhängige Stel - lung das Product eines eigenen Willensactes iſt, wodurch ſie das Recht Einer oder mehrerer Perſonen in Gemeinſchaft wird. Ihre Erwerbung oder Conſtituirung gehört demnach theils dem inneren organiſchen Entwickelungsprozeß des Staates an, der eben ſowohl zu einer Souveränetät des Volks wie zu einer dynaſtiſchen Herr - ſchergewalt führen kann; theils unterliegt ſie äußeren oder völker - rechtlichen Einflüſſen und kann insbeſondere durch das Recht des Eroberers oder Siegers ganz unabhängig von dem Willen des beſiegten Volkes werden. Eben ſo iſt die Vererblichkeit oder Nicht - Vererblichkeit der Staatsgewalt keine ſich von ſelbſt verſtehende Sache, ſondern abhängig von dem Conſtitutivgeſetz, oder in deſſen Ermangelung von dem gemeinſamen Willen, oder, wo auch dieſer ſich nicht geltend macht, von dem Willen des jeweiligen Machtha - bers und ſeinen wie der Seinigen Mitteln ſich dabei zu behaup - ten. Das Recht der Erbfolge kann demnach, wie in den Euro -95§. 51. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.päiſchen Staaten meiſt der Fall iſt, entweder auf ein beſtimmtes Geſchlecht beſchränkt ſein (successio gentilitia), oder ſie kann auch auf Andere übertragen werden. 1Z. B. nach der Baieriſchen, Heſſiſchen und Sächſiſchen Verfaſſungsur - kunde durch eine Erbverbrüderung (§. 47.) und ſo auch nach einigen an - deren Grundgeſetzen.Letzteres verſteht ſich aber gleichfalls ſo wenig von ſelbſt,2Das Gegentheil hat von den Deutſchen Staaten Maurenbrecher: die Deut - ſchen Fürſten und die Souveränetät. Frkf. 1839. S. 109 und 119 als Regel behauptet, ohne Zweifel gegen das hiſtoriſche Recht. Wegen der Franzöſiſchen Krone wurde ebenfalls ſchon unter dem alten Regime eine von Maurenbrechers Lehre abweichende Anſicht aufgeſtellt und durchgeſetzt, als Ludwig XIV. verſucht hatte, ſeinen legitimirten außerehelichen Deſcen - denten eine eventuelle Succeſſion in die Krone zu verſchaffen. Struvii, Jurisprud. heroica t. IV. p. 544 sq. Die Erblichkeit einer Krone beſteht zunächſt nur darin, daß ein gewiſſes Geſchlecht, und nur dieſes herrſche. als in dem Begriff der Erblich - keit der Staatsgewalt an ſich noch kein Eigenthum, d. h. ein freies Dispoſitionsrecht über Land und Leute enthalten iſt, wo nicht auch dieſes erworben und feſtgehalten ſein ſollte. 3Die älteren Publiciſten deuteten die verſchiedenen Möglichkeiten hierbei durch die Unterſcheidung von regna usufructuaria und patrimonialia an. Groot, de J. B. I, 3, 11 f. Vergl. darüber Klüber §. 31.
51. Mit der thatſächlichen Erwerbung der inneren (ſtaats - rechtlichen) Souveränetät tritt auch die Ausübung der internatio - nalen Souveränetätsrechte in Kraft; es bedarf dazu keiner Anerken - nung anderer Mächte; es genügt, daß die Erwerbung dem inneren (allgemeinen oder beſonderen) Staatsrecht entſpricht. Jedoch iſt es üblich, wiewohl nur nach politiſcher Convenienz, anderen Staa - ten und deren Vertretern Kenntniß von eingetretenen Regierungs - wechſeln zu geben und die Fortdauer eines guten Vernehmens in Erwartung der Gegenſeitigkeit zuzuſichern. 4Günther II, 430. Der Römiſche Stuhl betrachtet die Abfertigung eige - ner Obedienzgeſandtſchaften von Seiten katholiſcher Regenten nach über - nommener Regierung als Schuldigkeit. S. ebdſ. Not. e. Buder, de le - gationib. obedientiae. Jen. 1737.Bei beſtrittenem oder zweifelhaftem Recht ſo wie bei neu erworbener, nicht ſchon an - geerbter und verſicherter Souveränetät bewirbt man ſich auch wohl um die ausdrückliche Anerkennung anderer Mächte. 5Günther II, 432.Dieſe kann96Erſtes Buch. §§. 52. 53.zwar nicht als eine rechtliche Verpflichtung, wohl aber als Bedin - gung internationalen Verkehrs in Anſpruch genommen werden.
52. Im Allgemeinen läßt ſich in der Perſon eines Souve - räns ein zweifacher rechtlicher Charakter unterſcheiden, nämlich ei - nerſeits die ſtaats - und damit verbundene völkerrechtliche Perſön - lichkeit, andererſeits die privatrechtliche. Jedoch wird letztere alle - zeit bedingt durch die erſtere und kann daher nie derſelben präju - diciren. 1Nach dem Satz, daß das öffentliche Recht allezeit dem Privatrecht vor - geht.So ſteht an ſich Nichts entgegen, daß der Souverän eines Staates auch Privatrechte erwerbe, ausübe und gegen ſich ertheile, daß er als Privatperſon Vaſall eines Anderen ſei, oder in Civil - und Militärdienſte eines fremden Staates eintrete oder auch ſelbſt in einem Unterthansverhältniß zu jenem ſtehe und ver - möge deſſen ſtändiſche oder parlamentariſche Rechte darin aus - übe. 2So war der regierende Biſchof zu Osnabrück als Herzog von York 1787 Peer von Großbritannien und Mitglied des Oberhauſes. Günther II, 271. Ein noch neueres Beiſpiel iſt bekannt.Unzuläſſig würde dergleichen ſein:
Bei eintretender Incompatibilität iſt das eine Verhältniß auf - zugeben oder wenigſtens, ſo weit es möglich iſt, zu ſuspendiren; allemal wird es dem Souverän zuſtehen, ſich im Fall des Con - flicts ungehindert durch das etwanige Privatverhältniß in ſeine perſönliche Souveränetät zurückzuziehen.
53. Die Rechte der in einer beſtimmten Perſon verkörperten Souveränetät ſind im Verkehr der Staaten unter dem Princip der Gegenſeitigkeit und Gleichheit dieſe:
54. Betritt oder berührt ein Souverän ein fremdes Territo - rium, ſo findet das Gaſtrecht Anwendung, d. h. einmal das her -7*100Erſtes Buch. §. 54.kömmliche Cerimoniell des Empfanges und der Behandlung, gemäß dem Range des fremden Souveräns, wenn dieſer nicht etwa aus - drücklich oder ſtillſchweigend durch Annahme eines Incognito1Dabei Unterſchied des ſtrengen oder völligen Incognito und des einfachen Incognito unter fremdem Namen. J. J. Moſer, Grdſ. d. V. in Frie - densz. S. 128 f. Jo. Chr. Dresler, de iurib. principis incognito pere - grinantis odiosis. Martisb. 1730. Günther, I, 478. oder eines Dienſtverhältniſſes verzichtet, oder wenn er nicht etwa gegen den Willen der auswärtigen Staatsgewalt deren Gebiet be - tritt;2Daher vorläufige Anfragen. ſodann das Recht der Exterritorialität ſowohl für ſich, wie für ſeine Begleiter und die zum perſönlichen Bedarf ge - hörigen Sachen (§. 42.). Als darin eingeſchloſſen gilt die Be - freiung von allen perſönlichen Abgaben an den fremden Staat; ja ſogar eine eigene Gerichtsbarkeit über ſeine Angehörigen, frei - lich aber bloß in demjenigen Umfange, in welchem er ſie in ſeinem eigenen Staate ſelbſt ausüben, oder durch außerordentlich Beauf - tragte ausüben laſſen könnte; überdem wohl nur ausnahmsweiſe in dringenden Fällen, vorzüglich der freiwilligen Gerichtsbarkeit. 3Der Souverän eines Landes kann in einem auswärtigen Staate kein grö - ßeres Recht über die Seinen oder in Verwaltung der Hoheitsrechte haben als daheim. Und da der Aufenthalt im fremden Staat von deſſen Bewil - ligung abhängig iſt, ſo kann dieſer natürlich auch die Bedingungen ſtellen oder gegen die Ausübung einer ihm mißfälligen Gerichtsbarkeit interveniren, indem er augenblickliche Entfernung fordert.
Unfehlbar gehört die Feſtſtellung dieſes Rechts der Exterrito - rialität erſt dem neueren Völkerrecht an. Im Mittelalter findet ſich kein beſtimmter derartiger Rechtsſtand der Souveräne;4Gefangennehmungen und verdrießliche Behandlungen fremder Fürſten wa - ren im Mittelalter ſelbſt ohne erklärten Krieg nichts Seltenes. Ward, hi - story I, 279. Pütter, Beitr. z. Völkerr. Geſch. S. 115. ſo - gar die Doctrin hat ihn noch längere Zeit in Zweifel gezogen. 5Z. B. ſelbſt Cocceji, de fundata in territorio et plur. concurr. potestate II, §. 12. Leibnitz, de jure supremat. cap. XXV. Aber ſ. Jo. Tes - mar, tribunal principis peregrinantis. Marp. 1675. Stephan. Cassius, de iure et iud. legator. II, 18. Bynkersh., de jud. comp. leg. III, 3 sq. Franz Joach. Chſt. v. Grape, Unterſ., ob der Souverän eines Staa - tes der Souveränetät deſſen unterworfen ſei, wo er ſich befindet? Frkf. Leipz. 1752 und ſo die Neueren. Unbeſtimmt noch Günther I, 480.Folgerichtig fließt derſelbe aus dem Princip der Gleichheit der Souveräne (§. praes.)
101§. 55. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.Ein Recht des Aſyls für dritte iſt, wenigſtens zugeſtandener Maaßen, damit nicht verbunden.
55. Auch die Mitglieder der Familie eines Souveräns haben wenigſtens in Erbmonarchieen einen approximativen Antheil an den Prärogativen des regierenden Familienhauptes. So theilt die Gemahlin deſſelben bei vollgiltiger Ehe Rang und Titel1Moſer, Verſuch I, 316. Staatsr. XX, 352. und be - hält ſie auch als Wittwe, wiewohl ſie der Gemahlin des alsdann Regierenden in cerimonieller Hinſicht nachſteht. 2Klüber, öffentl. R. des t. B. §. 248. de Neum. in Wolffsfeld J. Princ. priv. t. II, tit. 29. §. 361.Welche Rechte dem Gemahl einer Souveränin zuſtehen ſollen, iſt zunächſt Verfaſ - ſungsſache eines jeden Staates. 3Verſchiedenes darüber bei Schwertner, de matrimonio feminae imperan - tis cum subdito. Lips. 1686. Pathenius, Diss. II. de marito reginae. Gryphisw. 1707. Moſer, Verſ. I, 314. J. J. Surland, vom Gemahl einer Königin. Halle 1777. v. Steck, vom Gemahl einer Königin. Berl. 1777.
Alle übrigen Mitglieder einer ſouveränen Familie führen durch - gängig gewiſſe Titel und Prädicate, welche dieſer Stellung entſpre - chen, gewöhnlich aber, wenigſtens in Kaiſerlichen und Königlichen Häuſern, etwas geringer ſind als die des Regierenden ſelbſt, nämlich
ſo weit ſie ſelbſt ſchon von Kaiſern und Königen abſtammen, oder jene Prädicate beſonders erworben haben; in Großherzoglichen Häuſern und im Heſſiſchen Curhauſe: Hoheit, wiewohl in jenen dem präſumtiven Erbfolger aus der Descendenz des regierenden Großherzogs als Erbgroßherzog häufig ſchon das väterliche Prädi - cat: „ Königliche Hoheit “gegeben wird und gegeben werden darf. 4S. oben S. 50.Alle Glieder herzoglicher und fürſtlicher Familien von bereits fürſt - licher Abkunft führen das Prädikat Durchlaucht.
102Erſtes Buch. §. 55.Es erleidet auch die Führung dieſer Prädicate dadurch keinen Abbruch, wenn ſchon den einzelnen Familiengliedern noch beſon - dere, ſelbſt geringere Titel beigelegt ſein ſollten, als die auf ihre Ab - ſtammung unmittelbar bezüglichen. 1Die Sitte des Franzöſiſchen und Britiſchen Könighauſes iſt bekannt. Auch in Deutſchland iſt es nichts unerhörtes, nachgeborenen Prinzen bloße höhere Adelstitel zu geben. Eichhorn, RGeſch. II, §. 301. not. c. Lü - nig, thes. jur. Comitum. p. 390. Huld. ab Eyben. de tit. nobilis. Giess. 1677. §. 7. Pfeffinger, ad Vitriar. I, 17, 3, 6. p. 575. t. II. Die weiblichen Mitglieder be - halten bei ſtandesmäßigen Vermählungen ihre angeſtammten Titel und Prädicate und vereinigen ſie mit denen des Gemahls, die höheren voranſtellend. 2Ludolf, de j. feminar. illustr. p. 28. Moſer, Staatsr. XX, 353. Schmid, Beitr. z. Geſch. des Adels 42. 43. Cocceji, de L. morganat. III, 12.
Die Mitglieder aller ſouveränen Familien, ſo weit ſie ſucceſ - ſionsfähig ſind oder wenigſtens mit dieſen gleiche Herkunft haben, ſind einander dem Stande nach gleich oder ebenbürtig, ohne daß jedoch hierdurch den einzelnen Staaten und ſouveränen Häuſern ein Zwang auferlegt iſt, bei dieſer allgemeinen Grenze fürſtlicher Ebenbürtigkeit in Betreff der davon abhängigen Rechtsverhältniſſe ſtehen zu bleiben;3Am ſtrengſten hält die Linie der Ebenbürtigkeit das K. Ruſſiſche Manifeſt v. 20. März 1820. Ueber die Sitte der einzelnen Europäiſchen regieren - den Häuſer vergl. die Hall. Allg. Lit. Zeit. v. 1829. Mai Nr. 96 ff. vielmehr entſcheidet hierüber allein das beſon - dere Staats - und Familienrecht.
Alle Familienglieder,4Vergl. Moſer, Famil. -Staatsr. II, 338. 471. Klüber, öffentl. R. §. 249. ſelbſt die Gemahlin5Vormals ſehr beſtritten. Moſer, Staatsr. XX, 388 ff. Struv., Ipr. heroic. II, 438. Hauptſächlich jedoch nur aus dem Standpuncte der Deut - ſchen Reichsverfaſſung. Juriſtiſch wird ſich nach allgemeinen Grundſätzen nicht leicht das Gegentheil des obigen Satzes erweiſen laſſen. Sogar der Gemahl einer regierenden Dame wird nach Verlegung ſeines Domicils in das Reich derſelben, ein Staatsunterthan, wenn ihm nicht ſonſt eine un - abhängige Stellung zukommt. des Regierenden, ſind Unterthanen des Staats - und Familienhauptes. Die nähere Beſtimmung ihrer Rechtsverhältniſſe iſt demnach auch nur von der verfaſſungsmäßigen Staatsgewalt oder der daneben beſtehen - den Familienverfaſſung und Autonomie abhängig, und jeder frem - den Einmiſchung, außer im Wege der Interceſſion oder wegen verletzter eigener Rechte, entzogen. 6Da das Familienband ein natürliches und ſittliches iſt, welches durch aus -
103§. 56. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.Das Recht der Exterritorialität in fremden Staaten ſteht, wenn ein allgemeines Herkommen berückſichtigt wird, den Mitgliedern ſouveräner Familien als ſolchen nicht zu, wiewohl ſie ſich eines beſonderen Gaſtcerimoniells zu erfreuen haben und gewöhnlich auch den Thronfolgern eine beſondere Aufmerkſamkeit erwieſen, ja ſelbſt Exterritorialität zugeſchrieben und bewilligt wird. 1Allgemein zugeſtanden iſt dies nicht! Schmelzing §. 211.
Einem wirklichen Mitregenten oder ſouveränen Reichsverweſer gebühren mit Ausnahme der Titel gleiche Rechte wie dem eigent - lichen Souverän ſelbſt.
56. In privatrechtlicher Beziehung ſind zunächſt die Mitglie - der der ſouveränen Familie, außer dem regierenden Haupte ſelbſt, dem allgemeinen Recht des Landes ſo wie den einſchlagenden Lo - calrechten gleich anderen Unterthanen unterworfen, wofern nicht beſondere Ausnahmen zu ihren Gunſten in den Geſetzen gemacht ſind oder ein eigenthümliches Familienrecht, wie dieſes in Deutſch - land hergebracht iſt, zu ihren Gunſten beſteht. 2Es exiſtirt hier ſogar ein gemeinſames Privatfürſtenrecht, allerdings nun vielfach verſchmolzen mit dem Landes-Staatsrecht. Seine Literatur ſ. in Maurenbrecher, Geſch. des D. Staatsr. vor. §. 227.Hinſichtlich des Souveräns iſt zwar eine Abhängigkeit von privatrechtlichen Ge - ſetznormen in ſo fern nicht zu behaupten, als gegen ſeine Perſon niemals ein rechtlicher Zwang ausgeübt werden darf; nichts deſto weniger aber iſt,3Schon das Römiſche Recht, obgleich es den Satz an die Spitze ſtellt: Princeps legibus solutus est, erkennt doch an, daß es würdiger ſei, ſich im Privatverkehr den Geſetzen unterzuordnen. L. 23. D. de legat. 3. l. 4. C. de Legib. §. fin. J. quemadm. testam. infirm. Und ſo wird es durchgängig auch in der neueren Staatspraxis gehalten, wo nicht der augen - blickliche Wille des Souveräns Geſetz iſt. Denn es giebt in den neueren Staaten kein anderes Recht als das geſetzliche. Dahin hat es auch in Großbritannien die Praxis gebracht, ungeachtet ſonſt die Maxime beſteht: the king is not bound by any statute unless expressly named therein; wenn es ſich um Ertheilung oder Erwerbung6wärtige Verheirathungen nicht verändert wird, und worin zugleich Recht und Pflicht zu gegenſeitiger Hilfe begründet iſt, ſo kann ein regierendes Haus allerdings auch ſeinen auswärts verheiratheten Gliedern bei ungerech - ter Behandlung im Auslande thätigen Beiſtand leiſten. Vgl. v. Martens, Völkerr. §. 170. Günther II, 491.104Erſtes Buch. §. 57.und Verfolgung reiner Privatrechte handelt, auch der Souverän an die unter Privatperſonen anwendbaren Rechtsnormen gebun - den; er kann ſich ſelbſt auch davon nur dispenſiren, ſo weit er einen Unterthan davon dispenſiren könnte, nicht aber, wo dies der Sitte des Staates ſchlechthin widerſprechen würde. 1Die Geſetze eines Staates ſind ſeine Sitte; das ſchlechthin Unſittliche kann aber durch einſeitigen Willen nicht ſittlich, alſo auch kein Recht werden.
57. Die perſönliche Souveränetät hört auf mit dem Erlöſchen der Perſon2Ein Verſtorbener hat keine Rechte mehr. Wohl aber haben die Lebenden, deren Angehöriger er war, ein Recht, ſein Andenken in Ehren zu halten und zu vertheidigen. L. 1. §. 4. 6. D. de injur. und mit dem Verluſt der Staatsgewalt, letzteres für immer, ſobald der Verluſt auf einem legitimen Staats - oder völ - kerrechtlichen Wege eingetreten iſt; oder aber vorübergehend, mit dem Vorbehalt des Poſtliminium, wenn jener durch einen illega - len Zwang herbeigeführt wird, z. B. durch Uſurpation. 3Sedes impedita. Hiervon Buch II, Abſchn. 4.Ob ei - nem abgetretenen Souverän noch die früheren internationalen Rechte und Ehren verbleiben ſollen, hängt lediglich von der Convenienz der anderen Mächte ab;4Beiſpiele abgetretener Regenten, denen man noch Königliche Ehren er - wies, waren Chriſtine von Schweden 1654 — 1689, welche ſogar noch das Recht der Exterritorialität mit eigener Gerichtsbarkeit in Frankreich in An - ſpruch nahm (Bynkershoek, de jud. legat. c. III, 4 u. 16. und de Martens, N. Causes célèbr. t. II. Append. No. IV. ), Stanislaus Lescinsky 1709 — 1766, K. Carl IV. von Spanien ſeit 1808, K. Guſtav IV. von Schwe - den, K. Ludwig von Holland. einem bloß gehinderten kann ſie wenig - ſtens derjenige Staat nicht verſagen, welcher ein Recht deſſelben auf Wiederherſtellung ausdrücklich anerkennt, wofern nur noch eine Möglichkeit dazu in Ausſicht geſtellt werden kann.
Daß übrigens die Acte der Staatsgewalt eines früheren Herr - ſchers, welche der Verfaſſung des regierten Staates entſprechen, auch für den Nachfolger verbindlich ſind, kann gewiß nach inter - nationalem Recht in keinen Zweifel gezogen werden. 5Die Literatur der Frage im weiteſten Umfange ſ. bei Maurenbrecher, Staatsr. §. 243 b. und Zachariä, Staats - u. Bundesr. §. 58.
58. Die der Staatsgewalt eines beſtimmten Staates unter - worfenen Perſonen ſind es entweder in jeder Beziehung (eigent - liche Staatsgenoſſen oder Unterthanen), oder nur in gewiſſer Hinſicht.
Eigentliche Staatsgenoſſen oder Unterthanen ſind nach völkerrechtlichen Grundſätzen:
Nur in einzelnen Beziehungen ſind der Staatsge - walt unterworfen (subditi secundum quid):
59. Das Unterthans-Verhältniß kann in Staaten, welche ihre Beſtimmung in der Weltordnung und demnach für die Ent - wickelung des Menſchengeſchlechtes in ſeiner Freiheit nicht verkennen, nur ein freiwilliges ſein, welches durch Auswanderung wieder auf - zuheben iſt. 2S. ſchon oben §. 15. Merlin, Repert. m. souveraineté §. 14. u. Za - chariä 40 B. IV, 1, 258.Sie ſind nur nicht verbunden, den Austritt früher zu geſtatten, bevor nicht allen bisher ſchon eingetretenen verfaſ - ſungsmäßigen Verpflichtungen genügt iſt, und dürfen daher vorhe - rige Anzeige des Entſchluſſes zur Prüfung der noch zu erfüllenden Verbindlichkeiten und Sicherſtellung derſelben fordern, ſo wie die Unterlaſſung mit Strafen ahnden. 3In älterer Zeit mußte der Auswandernde regelmäßig einen Theil ſeines Vermögens opfern. Noch ſind nicht alle Reſte dieſer Gewohnheit durch Freizügigkeits-Conventionen unter den Einzelſtaaten getilgt.
Unterthan mehrerer Staaten zugleich kann man nur durch Dul - dung derſelben ſein. 4Zouch, de j. fecial. II, 2, 13. leugnet dieſe Wahrheit ganz und gar. Jedoch iſt dies zu weit gegangen. Alles hängt von dem Willen der Einzelſtaaten ab. Schon das Staatsrecht der alten Welt war hierin verſchieden. Cic. pro Balb. 12. „ Sed nos (Romani) non possumus et hujus esse ci - vitatis et cujusvis praeterea; ceteris omnibus concessum est. Ueber die neuere Praxis ſ. ſchon Moſer, Verſ. VI, 52 und Günther II, 326.Jeder Staat kann eine derartige Duplici - tät verbieten und die Aufgebung des ausländiſchen Unterthans - Verhältniſſes fordern oder eine Wahl ſtellen.
So lange nun das Unterthans-Verhältniß nicht durch Aus - bürgerung aufgehoben iſt, ſtehen der heimathlichen Staatsgewalt folgende Befugniſſe in internationaler Beziehung zu:
60. Unterthanen auswärtiger Staaten ſtehen an und für ſich in keiner Abhängigkeit von einer fremden Staatsgewalt und kön - nen auch durch dieſelbe keine politiſchen oder ſtaatsbürgerlichen Rechte in ihrem eigenen oder einem dritten Staat ohne deren Zuſtimmung erwerben. 2Folgt aus der Unabhängigkeit der Staatsgewalten. S. ſchon oben §. 33. S. 58. Not. 1. Vergl. Günther, Völkerr. II, 262. 315. 323. v. Mar - tens, Völkerr. §. 80. 87. Schmelzing, §. 142. Daher haben auch Er - findungspatente eines Staates in einem anderen keine ausſchließende Kraft. Foelix, droit internat. p. 575 s.
Eine Abhängigkeit von fremden Staaten tritt nur ein:
In Betreff des erſten Puncts ſteht es zwar in der Macht je - des Staates, die Bedingungen zu beſtimmen, unter welchen den Ausländern ein rechtlicher Verkehr in ſeinem Bereiche geſtattet ſein ſolle und ſie vornehmlich von politiſchen und ſtaatsbürgerlichen Be - fugniſſen auszuſchließen; es ſollte jedoch, wenn ſich ein Staat ein - mal dem Verkehr mit fremden Nationen öffnet, nie den Angehö - rigen derſelben der Genuß des Privatrechts (§. 14.) nach gleichem Fuße mit den eigenen Unterthanen, bei völliger Gleichheit der Ver - hältniſſe, verſagt werden3Ueber den Grundſatz iſt man gewiß längſt im Allgemeinen einverſtanden. Vergl. v. Martens, Völkerr. §. 79. 93. Schmelzing, §. 132. 146. Es kann auch nach den heutigen Verhältniſſen ein Unterſchied zwiſchen natio - nalen und allgemeinen Civilrechten nicht mehr gemacht werden, wie zwi - ſchen ius civile und ius gentium der Römer, ausgenommen inſofern ver - und eine Zurückſetzung derſelben gegen109§. 60. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.die einheimiſchen Bürger nur dann Platz greifen, wenn die aus - wärtige Nation ſelbſt ein Syſtem der Ungleichheit befolgt.
Völlig von allem Grunde entblößt erſcheint eine Gerichtsbar - keit über Ausländer, welche ſich gar nicht einmal in dem Gebiet des fremden Staates befinden oder Vermögen daſelbſt beſitzen, wo - ran die daſſelbe betreffenden Anſprüche in Vollzug geſetzt werden könnten;1Gleichwohl iſt in Frankreich dies Syſtem adoptirt durch Art. 14. des C. c. Es verſtößt gegen das Princip: daß Niemand ſeinem natürlichen Richter entzogen werden kann; gegen das Princip: actor rei forum sequitur, und extra territorium ius dicenti impune non paretur. S. darüber und über das Syſtem anderer Staaten Foelix, p. 213. Ueber das Verhalten der Deutſchen Staaten dem franzöſiſchen bürgerl. Geſetzb. Art. 14. gegenüber vergl. Kappler, juriſt. Promtuar., W.: Ausländer. S. 88 f. ed. 2. indeß kein Staat ſein richterliches Amt einem Frem - den wider einen anderen Fremden verſagen ſollte, wenn ein An - ſpruch des erſteren an den letzteren dadurch auf demſelben Wege realiſirt werden könnte, als es gegen den eigenen Unterthan zuläſ - ſig ſein würde. 2Auch hier befolgt Frankreich ein ſehr abweichendes Princip von dem ande - rer Staaten. S. Foelix, p. 187 f. Gerechtfertigt wird das obige durch die weltbürgerliche Stellung des Individuums, welche zu keiner Zeit recht - los gelaſſen werden kann. Statusklagen unter Ausländern ſind natürlich auszu - ſchließen, weil der Status eines Menſchen lediglich von dem vaterländiſchen Recht abhängig iſt und ſich nur dort in Ausführung bringen läßt. Alle anderen Anſprüche an die Perſon hingegen ſind beweglich und vollziehbar mit der Perſon. Wegen Immobilarklagen iſt kein Zweifel.
Andererſeits können Verträge, welche eine Staatsgewalt ſelbſt als Partei mit auswärtigen Unterthanen geſchloſſen hat, nicht ih - rer eigenen Willkühr unterworfen werden; vielmehr ſtehen dieſe un - ter dem Schutz des Völkerrechts;3Wichtig bei Staatsſchulden. Davon bei den Verträgen. es kann endlich in Privat -3faſſungsmäßig der Erwerb gewiſſer Rechte an eine beſtimmte ſtaatsbürger - liche Eigenſchaft geknüpft iſt. Die neuere Geſetzgebung iſt durchgängig auf dieſem Wege und nur in einzelnen Puncten noch bedenklich. Daß Fremde als Kläger Caution leiſten müſſen, iſt eine, durch natürliche Verſchiedenheit der Verhältniſſe gerechtfertigte Regel; daher auch die allgemeine Praxis derſelben. Vergl. Foelix, p. 169 s. Wenn dagegen Erbſchaften und Ver - mächtniſſe einem Fremden entweder ganz vorenthalten oder einem Abzugsgeld (ius defractus, traite foraine) unterworfen werden, ſo iſt dies noch ein Reſt vormaliger Befangenheit, deſſen Beibehaltung dem Princip eines freien Verkehrs der Nationen nicht mehr entſpricht, daher auch ſchon die häufige, wiewohl noch nicht durchgängige Abſchaffung jener Sitte durch ausdrück - liche Verträge.110Erſtes Buch. §. 61.Angelegenheiten ausländiſcher Unterthanen alsdann kein unbeding - tes Entſcheidungsrecht ausgeübt werden, wenn dabei ein inter - nationales Rechtsverhältniß zu ihrem heimathlichen Staat ſelbſt in Frage kommt und dieſer auf politiſchem Wege intervenirt, der Streit folglich aufhört ein privatrechtlicher zu ſein. 1Zuerſt kam dies in Frage zwiſchen Großbritannien und Preußen wegen der von Engliſchen Capern gegen Preußiſche Unterthanen gemachten Pri - ſen. S. darüber Ch. de Martens, Causes célèbres. t. II, p. 1 — 88. Martens, Völkerr. §. 95. Klüber, dr. d. g. §. 58.
61. Forenſe Beſitzer von Grundſtücken oder denſelben gleich - geachteten Real-Berechtigungen in einem anderen Staate werden dieſem lediglich nur in Bezug auf jene Beſitzungen unterworfen, insbeſondere alſo
Blos zu den Eigenthümlichkeiten einzelner Staaten gehört es, daß an die Erwerbung gewiſſer Beſitzungen oder eines Anrechts daran die Bedingung der vollſtändigen perſönlichen Unterwerfung, mittelſt Leiſtung eines Unterthan-Eides, geknüpft iſt (ein ſ. g. vol - ler Landſaſſiat), ſo daß der Erwerber nunmehr auch für ſeine Perſon, verſteht ſich ohne ſeine im Auslande befindliche Familie und Vermögensbeſtandtheile, in ein vollkommenes Unterthansver - hältniß eintreten ſoll. 4C. H. Geisler, de landsassiatu. Marp. 1781. u. Klüber, a. a. O. §. 269. 466 a. Weder der Heimathſtaat eines ſolchen Forenſen, noch auch ein dritter Staat, ſind indeſſen verpflichtet, dieſem Verhältniß eine gleiche Bedeutung mit dem wahren perſön - lichen Unterthansverhältniſſe zuzugeſtehen; namentlich kann jener wegen Unverträglichkeit die Aufhebung einer ſolchen Duplicität in111§. 62. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.Wahl ſtellen. 1Günther II, 426.Es iſt eine vertrocknete Reliquie des Lehns - weſens.
62. In Bezug auf Fremde, welche ein anderes Staatsgebiet betreten wollen oder wirklich ſchon betreten, hängt es zuvörderſt von der dortigen Staatsgewalt ab, ob und wie lange ihnen ein Aufenthalt geſtattet werden ſoll. Sie können aus Rückſichten des öffentlichen Wohls einzeln oder in Maſſe zurückgewieſen werden,2S. ſchon oben §. 32. Schmelzing, §. 168. Günther, II, 219. 223. 314. Martens, §. 74. Schilter, l. c. §. 52. Dem Alterthum waren allgemeine Fremdenvertreibungen (ξενηλασίαι) nicht fremd. In neuerer Zeit kommen ſie meiſt nur in Verbindung mit kriegeriſchen Maaßregeln vor. Eine Vertheidigung der ſonſtigen Britiſchen Fremdenbill gab Can - ning am 3. April 1824. Jetzt beſteht auch dort ein einfacheres, milderes Syſtem, ein bloßes Einregiſtriren von 6 — 6 Monaten. S. Geo. 4, c. 54. ſo weit man nicht durch Verträge gebunden iſt, und kein Staat kann ſich weigern, ſeine Staatsgenoſſen wieder bei ſich aufzuneh - men. 3Nur ſie förmlich zu übernehmen iſt er nicht verpflichtet. Jedoch finden ſich dieſerhalb zahlloſe Verträge wegen der Vagabunden in gegenſeiti - gem Intereſſe. S. beſonders de Martens, Suppl. VIII, 282 u. ſ. ff. Ueber den Begriff eines Vagabunden Chr. Thomasius, de vagab. Lips. 1681. van Haesten, de vagabundis. Vltraj. 1773. Günther, II, 259.Nur gänzliche Ausſchließung einer Nation vom perſönli - chen Verkehr würde im Europäiſchen Staatenſyſtem eine Beleidi - gung ſein. (§. 32.)
Während des Aufenthaltes im fremden Territorium, er ſei aus - drücklich geſtattet oder erſchlichen, treten, nächſt den ſchon in §. 60. bemerkten, folgende Grundſätze in Anwendung:
63. Jeder Staat gewährt vermöge ſeiner Unabhängigkeit mit ſeinem Territorium nicht bloß den eigenen Unterthanen, ſondern auch dem Fremden, der es betritt, ein natürliches Aſyl gegen aus - ländiſche Verfolgungen. Ob die Staatsgewalt aber auch befugt und verpflichtet ſei, es jederzeit zu gewähren, ob ſie es nicht ver - weigern oder wieder aufheben, namentlich anderen Staaten flüch - tige Verbrecher ausliefern dürfe, ja müſſe, iſt von jeher eine nicht ganz ſtreitloſe Frage geweſen. 4Die neueſten Unterſuchungen darüber ſ. in Provò-Kluit, de deditione profugor. Lugd. -Bat. 1829. Die neueſte Staatenpraxis ſ. bei Foelix, dr. intern. p. 578. Die ältere Literatur bei v. Kamptz, §. 111.
Nach älteſtem Völkerrecht lieferte man den bei den Göttern des Landes um Schutz flehenden Fremdling niemals aus, wenn er an - derwärtsher mit Schuld beladen kam; höchſtens den Fremdling, welcher ſich im Lande ſeines Aufenthalts ſelbſt an Fremden vergangen hatte;5Hierzu hielt man wenigſtens Repreſſalien erlaubt. Heffter, Athen. Ger. Verf. S. 428. den eigenen Mitbürger wohl nur dann, wenn ſein Verſchulden gegen einen fremden Staat ſo groß war, daß er deſſen Rache geopfert werden mußte. 6Abegg, Unterſuchungen der Strafrechtsw. S. 133.— Das Kirchenthum des Mittelalters erſchuf zahlloſe Zufluchtſtätten, übte dann aber ſelbſt ein Gericht aus;7Vergl. Walter, Kirchenr. §. 270. 345. Grimm, d. Rechts-Alterth. S. 886.8114Erſtes Buch. §. 63.unter den weltlichen Mächten beſtand keine Regel, als der Wille des Stärkeren. Die neuere Staatenpraxis iſt vermöge der ſelbſtändigen Abſchließung der Staaten zu folgenden richtigen Ergebniſſen ge - langt:
Einige Staaten liefern niemals aus, wenn ſie ſich nicht durch Verträge gebunden haben und gewähren in einzelnen Fällen höch - ſtens einer fremden Regierung die Möglichkeit, ſich der Perſon ei - nes Verbrechers zu bemächtigen. 3So iſt die Britiſche Praxis. Foelix, p. 605. Die Verträge gehen nur auf wenige Arten von Verbrechen. Den neueſten mit Frankreich vom 13. Febr. 1843 ſ. in Gazette des Trib. v. 21. März d. J.
64. Auch in völkerrechtlicher Hinſicht ſind die Sachen, d. i. die Gegenſtände der Rechte entweder körperliche oder unkörperliche,117§. 64. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.und jene theils unbeweglich, theils beweglich. Ferner ſind ſie ent - weder im Eigenthum eines beſtimmten Staates, oder ſie ſind die - ſes nicht (res nullius), und dann bald eigenthumsfähig, nur für jetzt herrnlos (adespota), bald ſolche, die ſich in Niemandes Ei - genthum befinden, wohl aber zum gemeinſamen Gebrauch oder Nutzen vorübergehend dienen (res communes). Alles kommt hier - bei auf den richtigen Begriff des Staats-Eigenthums an. Wir nennen aber Staats - oder Staaten-Eigenthum diejenige Herr - ſchaft, welche eine Staatsgewalt über beſtimmte Sachen1Perſonen können in freien Staaten wenigſtens in keinerlei Eigenthum ſein. §. 14 a. E. Groot, II, 9, 1. in ih - rem Bereich mit Ausſchließung jeder auswärtigen Gewalt ausüben und vermöge deren ſie unabhängig nach eigener Macht dem inne - ren Staatsrecht gemäß verfügen kann. Ein ſolches völkerrechtli - ches Eigenthum hat nur im Verhältniß zu anderen Staaten den - ſelben Charakter, wie das Privateigenthum, nämlich den Charakter der Ausſchließlichkeit und freien Verfügung. Unter ſeinem Schutz ſteht in den einzelnen Staaten das Privateigenthum, nicht aber zur unbedingten Dispoſition der Staatsgewalten, wofern es nicht von letzteren mit dieſem Vorbehalt übertragen iſt, oder die Noth - wendigkeit es erheiſcht. Omnia rex imperio possidet, singuli dominio. 2Seneca, orat. 31. Die Dispoſitionsrechte der Staatsgewalt über das Privateigenthum haben die Publiciſten ein dominium eminens genannt. Schriften in Struve, biblioth. jur. imp. II, 11. und in Pütter, Lit. des Staatsr. III, 378. S. auch Vattel, I, 20, 235. 244. II, 7, 81. Rutherford Instit. II, 9, 6.Ja, der Staat ſelbſt ſo wie der Souverän, kann Pri - vateigenthum haben und erwerben, und zwar nicht bloß inländi - ſches, ſondern auch ausländiſches in fremden Staatsgebieten, wel - ches ſich aber dann der Herrſchaft der auswärtigen Geſetzgebung und Gerichtsbarkeit nicht entziehen kann, wofern nicht in dieſer Hinſicht beſondere Berechtigungen, z. B. Staatsſervituten, erwor - ben ſind. Dergleichen ausländiſches Eigenthum iſt, wofern es nicht zum Familiengut der landesherrlichen Familie gehört,3Hierauf bezieht ſich vorzüglich: Schmelzer, in der ſchon angef. Schrift, das Verhältn. ausw. Kammergüter. Halle 1819. S. 48 f. 179 f. ein wirk - liches Pertinenzſtück des Eigenthumsberechtigten Staates. Kein Staat iſt indeſſen die Erwerbung von Grundeigenthum in ſeinem118Erſtes Buch. §. 65.Gebiet andern Staaten oder deren Souveränen zu geſtatten ſchul - dig, ja es kann auf Veräußerung des etwa ſchon von ihnen Er - worbenen gedrungen werden, wenn dadurch die Unabhängigkeit ge - fährdet oder die Verfaſſung des Landes zerſtört werden könnte. 1Beſchränkende Verordnungen und Maaßregeln beſtehen in einzelnen Staa - ten, z. B. im Großherzogthum Mecklenburg-Schwerin. S. übrigens Gün - ther, II, 216. Klüber, dr. d. g. §. 124. 128.
65. Ein Hauptgegenſtand des völkerrechtlichen Staats-Eigen - thums iſt das Territorium oder das ausſchließliche Gebiet je - des Einzelſtaates innerhalb derjenigen Grenzen, welche ihn von an - dern Staaten ſcheiden. 2Moſer, Grdſ. in Friedensz. 361. Deſſen Verſuch V, 58. 164.Ob daſſelbe ein in ſich völlig zuſammen - hängendes oder zerſtückeltes, vielleicht von andern Staaten ganz umſchloſſenes iſt, ändert nichts an der Unabhängigkeit und an den Rechten der Staatsgewalt. Auch kann ein Staat ein oder meh - rere von ihm abhängige Staatsgebiete (territoria subordinata), ſelbſt mit eignen Unterlandesherrn oder bevorrechteten Grundherrn, in ſich ſchließen, welche dann aber auswärtigen Mächten gegenüber nur als Theile des Hauptgebietes (territorium principale) anzu - ſehen ſind. 3In Deutſchland finden ſich deren mehrere. S. Heffter, Beitr. z. d. Staats - u. Fürſtenr. I, S. 289 f Vergl. auch Mich. Henr. Griebner, s. Chn. Henr. Drewer, de iure territorii subordinati. Diss. I et II. Lips. 1727. In Frankreich gehörte vormals das Fürſtenthum Bar in dieſe Ca - tegorie. Vergl. Merlin, Rep. univ. m. Bar. Einzelne Gebiete können überdies der Hoheit meh - rerer Staatsgewalten unterworfen ſeyn4Und zwar bald pro indiviso, bald pro partibus divisis. Beiſpiele fanden ſich ſonſt mehrere, als jetzt, da ſolche Verhältniſſe ſtets ihren Nachtheil ha - ben. Ein getheiltes Miteigenthum hat z. B. Preußen und Lippe an Lipp - ſtadt. S. übr. Jo. Andr. Frommann, de condominio territorii. Tub. 1682. Ge. Jos. Wagner, diss. s. eod. tit. Mogunt. 1719. (Condomonate). Endlich kannte man in der ältern Zeit geſchloſſene und ungeſchloſſene Ter - ritorien (t. clausa et non clausa), in deren Erſteren eine Einzige in ſich zuſammenhängende und compacte Staatsgewalt die Herr - ſchaft übte, während in den Letzteren das durchgehende Walten der119§. 66. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.Einen durch entgegenſtehende Rechte und Exceptionen von der Ter - ritorialgewalt durchbrochen war. 1Nur Deutſchland kannte dieſen Unterſchied, der überdies mehr theoretiſch als praktiſch war. Die Umwälzungen dieſes Jahrhunderts, beſonders die Rheinb. -Acte Art. 34. haben ihn beſeitigt. S. übr. Henr. Hildebrand, de territorio clauso et non clauso. Altorf. 1715. Klüber, öffentl. R. des t. Bundes §. 277.
Alle Staatsgebiete ſind in ihrer Ausdehnung etwas künſtli - ches, natürlich nur in ihrem Kern. Wie weit ſich jene naturge - mäß für jede geſchloſſene Nationalität erſtrecke, iſt bisher noch nicht gelungen zu beſtimmen. Ein fremdes Clima, eine fremde Tel - lus kann ein Volk denationaliſiren. Auch ſind Uebergangsſtaaten unter ſcharf geſchnittenen Nationalitäten natürlich und indicirt, wie Belgien und die Schweiz zwiſchen Deutſchen und Franzoſen, die Nord-Niederlande zwiſchen Deutſchland und Britannien. Dies ſind natürliche Barrièren. 2Erörterungen über das Verhältniß der Nationalität zum Staatsgebiet ha - ben mit Montesquieu vorzüglich begonnen. Unter den Neueren vergl. Ideen über das polit. Gleichgew. Leipz. 1814. C. IV.
66. Die Grenzen eines Territoriums oder die Staatsgren - zen3Die Literatur ſ. bei v. Kamptz §. 106. Günther, II, 170. ſind theils phyſiſche, theils intellectuelle. Zu jenen gehören allein freie Meere, unüberſteigbare Berge, Steppen, Sandbänke, ſofern ſie nicht rings von demſelben Gebiet umſchloſſen ſind;4Flüſſe ſind keine natürlichen Grenzen. Sie ſind vielmehr recht eigentlich die inneren Adern eines jeden Landes. Iſt ein Flußufer zur Grenze ge - macht, ſo kann ſchwerlich der Fluß ſelbſt noch zur Hälfte dazu gerechnet werden. Und eben ſo wenig wenn ein Fluß ganz dem Lande zugeſtanden iſt, auch noch das jenſeitige Ufer. Dennoch iſt das Gegentheil behauptet worden. Günther, II, 20. 21. die intellectuellen Grenzen beſtehen in bloß gedachten Linien, welche aber meiſt durch äußere Zeichen, wenigſtens punctweiſe, kenntlich gemacht werden, z. B. durch Pfähle, Erdhaufen, Graben, befeſtigte Tonnen, Dämme und dergl. Sie beruhen theils auf ausdrücklichen Verträgen mit den Grenznachbarn, theils auf unvordenklichem un - angefochtenen Beſitz. Zweifelhafte Grenzen geben Veranlaſſung zu120Erſtes Buch. §. 67.Grenz-Commiſſionen und Grenzverträgen;1Günther II, 176. 184 f., Bielfeld, institutions politiques II, 6, §. 22. 23. iſt die wahre Grenze nicht mehr zu ermitteln, ſo muß das zweifelhafte Gebiet entweder getheilt oder in gemeinſchaftlichem Beſitz behalten werden, oder man erklärt es für neutral bis zur ferneren Entſcheidung. 2So iſt es der Fall mit dem an der Grenze Rheinpreußens und Belgiens gelegenen Grubendiſtrict Moresnet. S. auch Moſer, Verſ. V, 25. 354. Günther, II, 17. 181.Bei Grenz - flüſſen iſt die Mittellinie derſelben die eigentliche Grenze, wofern nicht andere Beſtimmungen dieſerhalb getroffen ſind. 3Groot, II, 3, 18. Vattel, I, 22, 266. v. Martens, §. 121. Günther, II, 20. Schmelzing, §. 220. Klüber, §. 133. Zuweilen iſt der Thalweg zur Grenze genommen, wie auf dem Rhein u. 1809. zwiſchen Rußland u. Schweden.Verändert der Fluß von ſelbſt ſeinen Lauf, ſo bleibt es dennoch bei der bis - herigen Grenzlinie in dem alten Fluß. Wegen der Rechte, welche der nun von dem neuen Flußbett ausgeſchloſſene Nachbarſtaat auf die Benutzung des Fluſſes, namentlich in Betreff der Schiffahrt hatte, werden wegen Veränderung der Umſtände nach Beſchaffen - heit derſelben neue Regulirungen nöthig. 4Groot, II, 3, 17. Pufendorf, IV, 7, 11. Vattel, a. a. O. §. 270. Günther, II, 25. 198.Von Landſeen an den Staatsgrenzen gilt Aehnliches, ganz wie nach Civilrecht. 5Günther, II, 55, 203. Beſondere Beſtimmungen finden ſich über den Bodenſee. S. ſchon Buder, de dominio maris Suevici. Jen. 1742. Moſer, nachb. Staatsr. 440.Grenzt ein Staat an das offene Meer, ſo finden die weiterhin (§. 73.) folgenden Grundſätze Anwendung.
67. Von Allem was ſich in, unter und auf dem Staatsge - biet befindet oder ereignet, gilt die Vermuthung, daß es auch der dortigen Staatsgewalt unterworfen ſei. Quicquid est in terri - torio, est etiam de territorio. 6Die Wahrheit des Satzes iſt unleugbar; Streit kann nur in concreto dar - über obwalten, ob ein gewiſſes Territorium bereits ein abgeſchloſſenes ſei. In ſofern konnte Thomaſius de inutilitate brocardici: Qu. i. t. e. e. e. d. t. ſchreiben.Die Staatsgrenze iſt aber auch die Hoheitsgrenze, welche die einzelne Staatsgewalt durch ihre Re -121§. 68. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.gierungsacte nicht überſchreiten kann,1Auch Erzadern, die in einem Staatsgebiet entdeckt und bebaut werden, dürfen nicht in ein fremdes Staatsgebiet ohne dortige Conceſſion verfolgt werden. und in welche von aus - wärtigen Gewalten nicht herübergegriffen werden darf (§. 33.), ſollte ſich darin auch Einiges befinden, was zur Zeit noch nie ſpe - ciell in Beſitz genommen war. 2Z. B. Steppen, Gletſcher u. dgl. Vattel II, 7, 86 f.Was auf der Grenzlinie ſelbſt ſich befindet oder begiebt, gehört den zuſammengrenzenden Staaten gemeinſchaftlich an. 3Bei Grenzbäumen wird nach Chrn. Aug. Menius, diss. de finib. terri - torii. Lips. 1740. §. 20. das Eigenthum des Baumes zu Gunſten desje - nigen Landes beſtimmt, auf deſſen Seite ſich allein eine Grenzmarke vor - findet.Ausnahmen von der Ausſchließlichkeit des Territorialprincips entſtehen nur durch die Rechte der Exterritoria - lität (§. 42.) und in Folge von Staatsſervituten (§. 43.). Da - gegen ſind ſelbſt herrenloſe aber des Privateigenthums empfängliche Sachen, z. B. frei herumſchweifende Thiere, ſo lange ſie ſich in einem Territorium befinden, in einem wenngleich nur vorüberge - henden Staatseigenthume (dominium transiens), welches wieder aufhört, ſobald ſie das Staatsgebiet verlaſſen, und eine Vindica - tion derſelben von einem Staate zum andern findet natürlich nicht ſtatt. Nach Groot gehören ſie zum dominium generale der Men - ſchen, oder der einzelnen ſich abſchließenden Staaten. 4Vgl. z. B. de J. B. ac P. II, 3, a. E. II, 4, 14. Weitläuftig über die Eigenthumsverhältniſſe an ſolchen Gegenſtänden iſt Pufendorf, IV, 6, 4 ff. Die Gegenwart wird ſchwerlich noch ſolcher Unterſuchungen bedür - fen. Ob eine zuvor herrenloſe Sache bereits in das Privateigenthum über - gegangen ſei, und welche Rechte dieſerhalb Statt finden ſollen, bleibt allein der Geſetzgebung der Einzelſtaaten oder der vertragsmäßigen Vereinbarung überlaſſen.
68. Auswärtige Zubehörungen5Sam. Stryk, de probatione pertinentiar. Frcf. Viadr. 1688. Henr. En - gelbrecht, de reunione pertinentiarum. Helmst. 1715. Günther II, 178. eines Staates ſind zu - nächſt: auswärtige Berechtigungen der Staatsgewalt, z. B. active Staatsſervituten, Grundeigenthum, lehnsherrliche und nutzbare Rechte unter den ſchon früher angezeigten Rechtsverhältniſſen (§. 43 u. 64.). Die Pertinenzeigenſchaft entſteht von ſelbſt dadurch, daß die122Erſtes Buch. §. 68.Staatsgewalt eines Landes als ſolche dergleichen Rechte erworben hat. Sodann: die Zubehörungen des Landes ſelbſt, d. h. alle die - jenigen Diſtricte, welche, wenn auch außerhalb des hauptſächlichen Gebietszuſammenhanges gelegen, ohne eigene Selbſtändigkeit unter derſelben Verfaſſung und Regierung mit jenem ſtehen und daher auch unter derſelben Benennung mit begriffen werden, nicht minder die ausdrücklich incorporirten Lande (§. 20. I.) Sonſt aber kann ein Land als ſolches, ohne ausdrückliche Conſtituirung, keine auswär - tigen Zubehörungen haben; es folgt insbeſondere nicht, daß, wenn einmal mit der Regierung eines gewiſſen Landes auswärtige Rechte und Beſitzungen in Verbindung geſtanden haben, ſolche auch Per - tinenzen des Landes ſeien und auf jeden Nachfolger in Beſitz des letzteren übergehen müſſen, wie die franzöſiſche Reunionspraxis im ſiebzehnten Jahrhundert durchzuſetzen ſuchte. 1Auf Grund des Münſteriſchen Friedens v. 1648. XI, 70.— Nur was einer Staatsgewalt oder dem Staatsoberhaupt als ſolchem, nicht für ſich als Privatperſon oder für ſeine Familie, zugeſtanden hat, wird auf jeden Succeſſor in der Staatsgewalt über den ganzen bisherigen Staat übergehen; bei einer nur theilweiſen Succeſſion wird es von der Natur und dem Inhalt des Succeſſionstitels abhangen, welche Pertinenzien der noch theilsweis fortdauernden bisherigen Staats - gewalt verbleiben oder der neuhinzutretenden zu Theil werden ſol - len. Im Zweifel würden ſie in Gemeinſchaft verbleiben müſſen. 2Die Beſtimmungen der Ceſſionsverträge haben ſchon ſehr oft Zweifel in dieſer Beziehung erregt. Vorſichtiger Weiſe wird man hier jeden zu gene - rellen Ausdruck lieber vermeiden.
Colonien3Zur Geſchichte der Coloniſation bei den Alten vgl. Hegewiſch, Nachr. die Colonien der Griechen betr. Altona 1808. Raoul-Rochette, histoire criti - que des colonies etc. Par. 1815. Heeren, Ideen z. Geſch. der Menſch - heit. — Die Geſchichte der neuern Coloniſation liegt noch zerſtreut in Spe - cialwerken. aus einem Lande in einem fremden Lande ge - ſtiftet, ſind nicht ſofort Zubehörungen des Erſtern oder der dorti - gen Staatsgewalt. Werden ſie durch auswandernde Unterthanen nach Aufgebung des Mutterlandes auf einem völlig freien, Nie - mandes Gewalt untergebenen oder doch von ihr erworbenen Gebiet mit eigenen Kräften und Mitteln gegründet, ſo kann dadurch ein eigener Staat entſtehen. 4Dies war meiſt die Politik der Griechen. Man überließ den Colonien ſichBleiben ſie unter der Autorität und123§. 69. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.dauernden Botmäßigkeit des Heimathſtaates, ſo ſtellen ſie ein Zube - hör der Staatsgewalt dar, welches von dieſer ſeine eigene Verfaſſung erhält und regiert wird. Es kann aber auch eine Colonie unter der Botmäßigkeit eines auswärtigen Staates, wo die Niederlaſſung erfolgt, entſtehen und verbleiben, während zugleich die Coloniſten ihr heimathliches Bürgerrecht beibehalten und den Schutz des Mut - terlandes genießen. 1S. überhaupt Groot II, 9, 10. und dazu Cocceji; Vattel I, 18. §. 210.Die nähere Beſtimmung des rechtlichen Ver - hältniſſes der Colonien macht beſonders in Gegenden, wo noch keine ausgebildete Staatsgewalt organiſirt iſt, und dritten Staa - ten gegenüber, manche Schwierigkeit. 2So z. B. bei den Europäiſchen Colonien an der Weſtküſte von Afrika.Der Beſitzſtand wird hier oft die alleinige Entſcheidungsnorm ſein.
69. Völkerrechtliche Erwerbsarten eines neuen Staatseigen - thums können allein ſolche Handlungen und Begebenheiten ſein, wodurch die ausſchließliche unmittelbare Verfügung über eine be - ſtimmte Sache, insbeſondere über ein gewiſſes Gebiet dem Willen einer Staatsgewalt (oder auch verſchiedenen Staatsgewalten in Ge - meinſchaft) bleibend unterworfen wird, ohne Verletzung eines ſchon vorhandenen ausſchließlichen Verfügungsrechtes; nämlich
In wie fern überdies die Verjährung, vorzüglich ein unvor - denklicher Beſitzſtand die Stelle einer giltigen Erwerbung vertreten kann,5Es ließen ſich viele Beiſpiele, unter andern in Deutſchland nachweiſen, wo das Recht der Staatsgewalt nur auf langen Beſitzſtand gegründet iſt ohne erweislichen Rechtstitel. iſt ſchon an einem andern Ort erörtert (§. 12.).
70. Die Erwerbung neuen Staatseigenthums, oder der Rechte der Staatsgewalt über beſtimmte Sachen iſt im Wege der Occu - pation von folgenden Bedingungen abhängig:
Eine Beſitzergreifung kann übrigens durch Bevollmächtigte, ſowohl auf Grund allgemeiner2Beiſpiele davon bei Wheaton intern. L. I, p. 209. Eine ſtillſchweigende Vollmacht für alle Unterthanen eines Staates exiſtirt nicht. Nur der Sclave einer Staatsgewalt würde für ſie unmittelbar erwerben. wie ſpecieller Vollmachten vollzo - gen werden, und giebt dann vom Augenblick der Vollziehung dem Machtgeber das Eigenthum. Sie kann ſelbſt vermöge einer Ge - ſchäftsführung für einen andern Herrn mit hinzukommender Rati - habition deſſelben vor ſich gehn, in welchem Fall Beſitz und Eigenthum für dieſen jedoch erſt mit der Genehmigung, alſo erſt nach erlangter Kenntniß beginnt. 3L. 24. D. de negot. gest. und die Regel: ignoranti possessio non ac - quiritur, alſo auch nicht das Recht, welches ſie ferner gewährt. Vergl. v. Savigny Beſitz S. 365.Haben mehrere zugleich für ſich Eigenthumsbeſitz von derſelben Sache ohne Beſchränkung auf einzelne Theile ergriffen, ſo entſteht dadurch ein Miteigenthum. 4Streitigkeiten ſchlichtete bei neuen Entdeckungen in älterer Zeit der Pabſt. Die Theilung der Indien zwiſchen Portugal und Spanien durch ihn iſt bekannt. S. die Bullen v. 1454 1481. 1493. in Du Mont Corps univ. III, 1, 200. III,2, 302. Schmauss C. jur. gent. I, 112. 130. Vgl. Günther II, 7. Walter, Kirchenr. §. 342.
71. Die rechtlich möglichen Verfügungen über einzelne Gegen - ſtände des Staatseigenthums ſind im Allgemeinen dieſelben, wie über Privateigenthum und Vermögensrechte. Zu den bemerkens - werthern gehört, nächſt den eigentlichen Veräußerungen (§. 72.)
Ob die Staatsregierung für die Schulden des Staates auch das Privatvermögen der Unterthanen giltig verpfänden könne, iſt eine Frage des innern Staatsrechts, der Regel nach aber nur im Fall der Noth zu bejahen. 3Groot III, 20, 7., Simon, quomodo iure gent. bona subditor. pro de - bitis princip. obligari possunt. Jen. 1675. (Praesid. acad. I, n. 20.) de Neumann in Wolffsf. de part. et contract. Princ. I, 3, 86.
72. Das völkerrechtliche Eigenthum an Sachen hört auf
Solcher Veränderungen ungeachtet beſtehen regelmäßig alle auf dem abgetretenen Staatseigenthum haftenden Verbindlichkeiten un - ter dem neuen Erwerber fort (§. 25.), da Niemand mehr Rechte an einer Sache auf einen Andern zu übertragen vermag, als ihm ſelbſt daran gebühren, und kein wohlerworbenes Recht dritter durch einſeitigen Willen aufgehoben werden kann. 1L. 31. §. 1. D. de V. S. L. 11. D. de j. fisc. „ id enim bonorum cujusque esse intelligitur, quod aeri alieno superest. “Erſtreckt ſich die Veräußerung nur auf einen Theil, ſo werden die Laſten des Gan - zen in Ermangelung anderer Beſtimmungen verhältnißmäßig auf den einzelnen Theilen verbleiben,2Vgl. das Austrägalurtheil des OAG. zu Celle wegen der Rheinpfälzer Staatsoblig. in v. Leonhardi Austrägalverf. S. 550. Ferner das Urtheil des OAG. zu Jena ebdſ. S. 888. 897. mit Ausnahme der objectiv un - theilbaren, wozu indeß Hypotheken im diplomatiſchen Sinn des Wortes nicht gerechnet werden können.
So lange übrigens das Staatseigenthumsrecht nicht verloren iſt, kann es gegen jeden, ſelbſt in gutem Glauben befindlichen Beſitzer verfolgt werden, ohne daß dieſem wiedererſtattet zu werden braucht, was er für die Erwerbung der Sache gegeben hat. 3Die Publiciſten ſind rückſichtlich dieſer Principien noch nicht einverſtanden (vgl. Günther II, 214.); die Praxis hat zu wenig Gelegenheit gehabt, dar - über zu entſcheiden. Wir vereinigen uns im Allgem. mit Groot II, 10, 1. Pufendorf IV, 13. Gewiß im Sinn aller rechtlichen Nationen. Recht muß Recht bleiben. Beſitz giebt ein ſolches noch nicht in ausſchließender Weiſe.Dagegen ſind ihm die nützlichen Verwendungen, welche nicht aus der Sache ſelbſt genommen ſind, zu vergüten und auch die vor der Rückfor - derung bezogenen Früchte zu belaſſen, wenn es an dem eigentlich Berechtigten gelegen hat, ſein Recht an der Sache ſchon früher zu vindiciren. 4Denn hier hat das Stillſchweigen des Berechtigten den Beſitzſtand des Andern gut geheißen; er kann die demgemäß vollzogenen Handlungen nicht anfechten.
73. Zu den des Privateigenthums unfähigen Sachen gehört anerkanntermaaßen der Luftzug und das frei fließende Waſſer, na - mentlich das Meer, indem eine ausſchließliche dauernde Beſitzergrei - fung wenigſtens für Einzelne unter die Unmöglichkeiten zu rechnen iſt. Wegen gleichmäßiger Wichtigkeit für alle Menſchen ſchreibt man daher auch allen Individuen ein gleichmäßiges Recht der freien Benutzung daran zu, ſo daß nur der augenblicklich ſie Nutzende für jetzt jeden andern davon ausſchließt. 1Ulpian bemerkte bereits (l. 13. §. 7. D. de iniur. ) „ et quidem mare commune omnium est et litora sicuti aer. — Usurpatum tamen et hoc est, tametsi nullo iure, ut quis prohiberi possit ante aedes meas vel praetorium meum piscari; quare si quis prohibeatur, adhuc iniu - riarum agi potest. “ Gegen Jeden findet eine Injurienklage, d. h. im All - gemeinen wegen Unrechts Statt, der den Andern an einem ſchon angefan - genen Gebrauch einer ſolchen res communis hindert. Qui prior venit, potior iure. Vgl. Klüber Dr. d. g. §. 47.Minder ausgemacht iſt, ob nicht ein Staateneigenthum an jenen Sachen, vorzüglich am Meere oder an einzelnen Theilen deſſelben zuläſſig und wirklich begründet ſey. 2Die zahlreichen Schriften hierüber, außer den das Völkerrecht überhaupt betreffenden ſ. bei v. Ompteda, §. 218 f. v. Kamptz §. 172 f.; vor - züglich v. Cancrin, Abhl. v. dem Waſſerrechte. Halle 1789. Die Haupt - puncte finden ſich bei Günther II, 25. Klüber §. 130. Wheaton, intern. L. I, 4, §. 10. und histoire des progrès p. 99. s. Das Mittelalter ſchrieb ein ſolches dem Römiſchen Kaiſer zu. 3Vermöge des: Ego quidem mundi dominus. in l. 9. D. de lege Rho - dia. Die Römer ſelbſt hatten dieſe Anſicht ſchwerlich ſelbſt. Vgl. Fr. Guil. Pestel, de dominio maris mediterr. Rinteln. 1764.Spanien und Portugal reclamirten ein Eigenthum der von ihnen entdeckten Meere. 4Hiergegen war die Schrift von H. Groot, mare liberum (zuerſt Leyden 1609) gerichtet, womit die publiciſtiſche Erörterung der Frage begann.Großbritannien eignete ſich die Sou - veränetät über die vier, die Brittiſchen Inſeln umſchließenden Meere (the narrow-seas) an, ohne daß jedoch die Grenzen dieſer Prä - tenſion jemals nach allen Seiten genau beſtimmt worden ſind. 5Wheaton, progr. p. 101. Das Hauptwerk über die älteren Prätenſionen iſt: Jo. Borough, Imperium maris Britannici. London. 1686.Venedig reclamirte das Adriatiſche Meer, Genua das Liguriſche. Alle dieſe Anſprüche ſind beſtritten und in neuerer Zeit nicht mehr131§. 74. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.ernſtlich behauptet. Nur das Recht auf Flaggengruß iſt von Groß - britannien ſtets in ſeinen Engmeeren reclamirt worden. 1Wheaton intern. L. l. c. §. 9. Edinburgh Review XI, p. 17. s. Zuge - geben wird überdies von den Meiſten, daß das Staatseigenthum oder, was gleichbedeutend iſt, die Souveränetät jedes Landes ſich noch ausdehnt
74. Bleibt man bei den natürlichen Verhältniſſen der Menſchen unter einander und zu den Kräften der lebloſen Schöpfung ſtehen, ſo iſt wohl nicht zu leugnen, daß ein einzelnes mächtiges Volk oder mehrere in Gemeinſchaft im Stande ſein würden, allen übri - gen die Mitbenutzung eines beſtimmten Meeres, ja ſelbſt des ſ. g. großen Weltmeeres zu verſchließen, oder doch dieſelben bei der Mit - benutzung von dem Willen des herrſchenden Theiles abhängig zu machen. Allein abgeſehen von den endloſen Schwierigkeiten, womit eine alleinige oder Oberherrſchaft zu kämpfen haben würde, die zu9*132Erſtes Buch. §. 74.beſiegen bisher wohl noch kein einziges Volk der Erde bei ernſtem Gegenſtreben der Uebrigen vermocht hätte, müßte jene Herrſchaft gewiß allezeit als eine rechtloſe erſcheinen, da ſie den allgemeinen Menſchenrechten zuwider läuft, mit welcher Milde ſie auch immer ausgeübt werden möchte. Das Geſetz des Meeres und ſeiner Be - nutzung wäre nämlich ein allen übrigen Menſchen außer der herr - ſchenden Nation wider Willen aufgedrungenes, rückſichtlich eines Elements, welches den einzigen möglichen Verbindungsweg unter den dadurch ganz getrennten, bewohnten und bewohnbaren Erdthei - len darbietet, folglich auch nicht der freien Begegnung verſchloſſen werden darf; welches ferner in ſeiner ſich ſtets bewegenden Sub - ſtanz und in dem Inhalt derſelben an Fiſchen, Foſſilien und dgl. einen reichen Naturſchatz zu einer gleichartigen Benutzung für alle Menſchen umfaßt, woran kaum für gewiſſe Diſtricte durch Tita - nenarbeit ein ausſchließendes Privateigenthum erlangt werden könnte. Da nun an und für ſich kein Menſch in der natürlichen Herrſchaft eines andern ſteht, ſo bald er ſich zur ſittlichen Selbſtändigkeit des Willens erhoben hat: ſo wird auch das Geſetz eines einzelnen Vol - kes über eine gemeinſame Sache Aller kein verbindliches Geſetz für die Uebrigen ohne deren freie Annahme ſein, vielmehr zu jeder Zeit und mit allen Mitteln bekämpft werden dürfen. Zu allen Zeiten hat ſich auch ein Widerſpruch dagegen erhoben, und es giebt daher nach dem poſitiven Europäiſchen Völkerrecht durchaus keine geſetzliche Oberherrſchaft über das Weltmeer oder deſſen einzelne Theile, ſo fern ſie nur irgend einzelnen Völkern und Individuen zugänglich und nicht entgegenſtehende Zugeſtändniſſe ausdrücklich oder ſtillſchwei - gend gemacht ſind, wozu inbeſondere in Betreff einzelner Waſſerge - biete der gemeinſame Nutzen führen kann, indem man die Schiff - fahrts - und Handels-Intereſſen unter den regulatoriſchen Schutz des nächſtgelegenen Küſtenſtaates ſtellt und ihm eine gewiſſe Geſetz - gebung und Polizeigewalt, oder auch noch größere Rechte, ſo wie gewiſſe Nutzungen, geſtattet, und dafür den Vortheil einer deſto ungehinderteren Benutzung der Gewäſſer genießt. Außerdem fließen auch noch gewiſſe Staatenrechte über beſtimmte Theile des Waſ - ſergebietes ganz von ſelbſt aus der Befugniß der Selbſterhaltung (§. 76.).
Dagegen iſt die privative Erwerbung eines auch noch ſo klei - nen Theiles des großen gemeinſamen Meergebietes für einen Staat133§. 75. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.oder deſſen Angehörige im Wege der Occupation wenigſtens recht - lich unmöglich. Selbſt die Einpferchung eines beſtimmten Meer - gebietes durch Schutz - und Abwehrungs-Anſtalten aller Art würde immer nur einen factiſchen Zuſtand begründen, der ohne deutliches Zugeſtändniß anderer Nationen kein Eigenthum geben, vielmehr mit dem Verfall jener Anſtalten von ſelbſt wieder aufhören würde. So - gar ein unvordenklicher Beſitzſtand, wenn er nicht ein freiwilliges Zugeſtändniß anderer Nationen deutlich erkennen läßt, vermag keine ausſchließlichen Befugniſſe bei einer ſolchen res merae facultatis zu ertheilen. 1Vattel I, 23, §. 285. 286. Nicht ganz übereinſtimmend ſcheint Mr. Whea - ton, intern. L. a. a. O. §. 10. a. E. in Betreff eines hier zuläſſigen ta - citus consensus.
75. Nach dem vorangeſtellten Princip giebt es im Allgemeinen keine andere Naturgrenze für die freie gemeinſame Benutzung des Weltmeeres als das Land, und es kann an und für ſich keine Ausnahme in Betreff derjenigen beſondern Theile des großen Meer - ſyſtems gemacht werden, welche durch noch ſo ſchmale Verbindungs - ſtraßen zwiſchen angrenzenden Länderſtrecken hindurch mit dem Ocean zuſammenhangen. Wahre Ausnahmen, weil natürliches Zubehör des Landes, bilden nur
Rückſichtlich der ſeewärts allgemein zugänglichen Meere könnte dagegen die Eigenſchaft eines unter der ausſchließlichen Herrſchaft eines Territoriums ſtehenden Binnenmeeres lediglich durch eine that - ſächliche, nicht mehr zu beſeitigende Vernichtung des Verbindungs - weges oder durch ausdrückliches oder ſtillſchweigendes Einverſtänd -134Erſtes Buch. §. 75.niß aller andern Nationen (§. 74.) hervorgebracht werden. In dieſer Hinſicht hat man vormals, wenigſtens von Seiten einzelner Nationen, als gleichſam unter beſonderer Herrſchaft ſtehend, vor - züglich folgende Meere und Meerestheile betrachtet: das Schwarze Meer, das Aegeiſche, das Mar di Marmora, unter Türkiſcher Ho - heit, den Bothniſchen Meerbuſen von der Oſtſee unter Schwediſcher Hoheit,1Günther II, 53. Wegen des Nordweſtlichen Küſtenmeers von Amerika und die darüber zwiſchen den Nordamerikaniſchen Freiſtaaten und Rußland getroffene Vereinbarung ſ. Wheaton intern. L. a. a. O. §. 5. ſodann mehrere unter dem Schutz eines Landes und ſei - nes Inſelgebietes unmittelbar ſtehende kleine Meergewäſſer, z. B. das Alte Haff, das Friſche und Curiſche Haff und dgl. Von den zuerſt genannten kann jedoch der Bothniſche Meerbuſen wenigſtens nicht mehr wie ſonſt als ein Schwediſches Eigenthumsmeer gel - ten,2Seit der Abtretung von Finnland an Rußland durch den Frieden von Friedrichshamm v. 5 / 17. Septbr. 1809, wodurch der Bothniſche Meerbuſen ſelbſt als Grenze genommen und die Inſeln darin nach der Nähe des Ufers getheilt ſind. Martens N. Rec. t. I, p. 19. Vgl. den Grenzvertrag vom 8. Nvbr. 1810. Ebdſ. t. IV, p. 33. auch iſt das Schwarze Meer vom Mittelländiſchen Meer her und nach demſelben hin für die Schiffahrt der Nationen3Vermöge des Friedens v. Adrianopel 1829. Martens N. R. VIII, 143. geöff - net worden.
Was die natürlichen Verbindungsſtraßen zwiſchen den verſchie - denen Theilen des Weltmeers ſelbſt anbelangt, ſo gehören ſie, wenn auch noch ſo eng und in dem unmittelbarſten Bereich eines Küſten - landes gelegen, dennoch an ſich zu den freien Gewäſſern, hinſicht - lich deren bloß die nämlichen Rechte, wie bei den Küſtengewäſſern überhaupt in Anſpruch genommen werden können (§. 76.), ſofern keine größeren Zugeſtändniſſe von Eigenthums - und Hoheitsrechten darüber Seitens anderer Nationen gemacht ſind.
Was nun im freien Meer befindlich iſt, ſteht dem freien Ge - nuß und der Occupation Aller offen. Nur was auf den Küſten oder auf den mit ihnen noch zuſammenhängenden Klippen und Sandbänken ſich darbietet, gehört noch zum Lande und deſſen Ober - herrſchaft.
Iſt eine ſolche über einen Theil des Meeres ſelbſt begründet: ſo begreift ſie in ſich das Recht der Gerichtsbarkeit, Polizei und Beſteuerung, ſo wie die Aneignung aller Vortheile des Meeres,135§. 76. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.wenn nicht auch andern Nationen Rechte der Art zugeſtanden ſind. 1Z. B. die Häringsfiſcherei in den Britiſchen Meeren. Vattel I, 23, §. 287. Vgl. übrigens Jouffroy, p. 27. s.
76. Ein unmittelbares Intereſſe und Recht haben unbeſtreitbar alle Küſtenſtaaten, zur Sicherſtellung ihres Landgebietes gegen un - erwartete Ueberfälle, ſo wie zur Aufrechthaltung ihres Handels -, Steuer - und Verkehrſyſtems, nicht nur jede Annäherung von der Seeſeite her zu beobachten, ſondern auch Anſtalten zu treffen,2Nam quod quisque propter defensionem sui fecerit, iure fecisse vide - tur. L. 3. D. de J. et J. Vgl. Vattel I, 23, §. 288. daß das Staatsgebiet von Niemand betreten werde, dem die Auf - nahme darin verweigert werden kann, ſo wie daß die hierzu erfor - derlichen Bedingungen erfüllt werden. Jeder Staat darf daher auch, wenn er nicht durch entgegenſtehende Verträge gebunden iſt, eine eigene Küſtenbewachung und Küſtenpolizei einrichten, und nach den beſondern Verhältniſſen der Küſte ſo wie der Gewäſſer die er - forderliche Ausdehnung beſtimmen;3In einzelnen Verträgen hat man beſtimmte Entfernungen angenommen. Z. B. in einem Vertrage zwiſchen Großbritannien und Spanien v. 1790. wegen der Südſeefiſcherei. Wheaton intern. L. §. 8. l. c. Ebenſo 1689. zwiſchen Frankreich und Algier; in manchen Fällen 3 Lieues, z. B. im Pa - riſer Frieden von 1763. Art. 5., ebendaſ. Art. 15. aber wieder 15 Meilen. England erſtreckt ſeine Zollaufſicht auf 2 Meilen. Am richtigſten urtheilt wohl Vattel I, 23. §. 289., welcher Alles von den Umſtänden abhängig ſein läßt. Die weiteſte Grenze dürfte nach Rayneval, der ſichtbare Horizont von der Küſte für die Aufſichtsanſtalten ſein. Die Kanonen des Landes können aber allein nicht entſcheiden! jeder Fremde, der in den Be - reich dieſer Anſtalten kommt, iſt demnächſt verbunden, ſich den getroffenen Einrichtungen zu fügen, er mag durch Zufall oder ab - ſichtlich dahin gelangt ſein. Zu den an ſich erlaubten Maaßregeln gehört hierbei auf Seiten des Küſtenſtaates:
Dagegen kann ein bloßes Hereinkommen in dieſe Polizeigrenze we - der die Gerichtsbarkeit noch ein Beſteuerungsrecht von Seiten des Küſtenſtaates begründen; dieſe Befugniſſe treten vielmehr erſt in Kraft mit dem wirklichen Ueberſchreiten der eigentlichen Gebiets - grenze und mit dem Eintritt der ſonſtigen Bedingungen, von de - nen Gerichtsgang und Beſteuerung der Fremden überhaupt abhän - gig iſt (§. 79.).
Nur Zugeſtändniſſe anderer Nationen können auch hierin grö - ßere Rechte verleihen. Einzig in ſeiner Art iſt in ſolcher Bezie - hung der Sundzoll der Krone Dänemärk. 2Ueber dieſen ſ. die Lit. bei v. Kamptz §. 176. Beſonders v. Steck Verſuche S. 39. Moſer, kl. Schriften IX, 290 f. Wheaton, histoire des pro - grès p. 105 ff. S. auch Vattel, I, 23, §. 292.
77. Flüſſe, welche ſich in das Meer ergießen, gehören bis zu ihrer Ausmündung, d. h. wo ſie die äußerſte Linie zwiſchen ihren letzten Uferpunkten verlaſſen, zum Gebiet des oder derjenigen Staa - ten, welche ſie durchfließen und zwar, wenn ſie die Grenze zweier Länder bilden, in dem ſchon oben §. 66. angegebenen Verhältniß, außerdem zu dem Gebiet jedes Einzelſtaates, welchen und ſoweit ſie ihn durchſtrömen. Sie ſind Zubehör des Landes, da ſie dieſem unmittelbar entquellen und der elementariſchen Selbſtändigkeit er - mangeln, welche das Meer darbietet. Jeder Staat kann alſo von ſeinem Stromgebiet bis zur Grenzſcheide mit andern Staatsgebie - ten, welche unverändert belaſſen werden muß (§. 33. III. IV. ), alle Vortheile ſich und den Seinigen allein zueignen und andere Nationen davon ausſchließen. Nur wenn ein Fluß eine unent - behrliche Verkehrſtraße für die Subſiſtenz einer andern Nation wäre (§. 32. III. ), könnte ſie derſelben nicht verſchloſſen werden. 3Die ältern Publiciſten nahmen hier meiſt ein viel allgemeineres jus ususIn -137§. 77. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.zwiſchen hat die größere Annäherung der Nationen in neuerer Zeit zu weniger excluſiven Principien geführt. Durch Verträge, zu wel - chen faſt alle Europäiſchen Staatsgewalten concurrirt haben1S. Pariſer Friede von 1814. Art. 5. Schlußacte des Wiener Congr. Art. 108 — 117. u. 118. Die Geſchichte der Verhandlungen ſ. in Klüber Acten des Wiener Congr. Bd. III. Vgl. Wheaton, histoire des progrès. p. 388. s. Wilhelm v. Humboldt’s großes Verdienſt! oder beigetreten ſind,2Namentlich die deutſchen Bundesgenoſſen durch Beſchluß von 3. Auguſt 1820. hat man ſich verſtändigt:
Dieſe Grundſätze ſind bei mehreren Europäiſchen Hauptflüſſen3innocui für alle Nationen an, wiewohl mit dem Zugeſtändniß, daß dies nur ein unvollkommnes Recht ſei, alſo nur durch Verträge geſichert werden könne. So meint auch noch mit Groot, Pufendorf und Vattel, Mr. Whea - ton, intern. Law. II, 4, §. 12. Die intereſſante Verhandlung der Frage in Betreff des Miſſiſippi (jetzt erledigt) und in Betreff des St. Lawrence - Fluſſes ſ. ebend. §. 18. 19.138Erſtes Buch. §. 78.demnächſt durch beſondere Conventionen in Anwendung gebracht worden. 1Annexum XVI. der Wiener Congr. Acte und dieſe ſelbſt Art. 14. 96. 109. 118. Wegen der deutſchen Flüſſe ſ. Klüber a. a. O. §. 567 f. Wegen der Weichſel: Verträge zwiſchen Rußland und Preußen und Oeſterreich vom 3. Mai 1815.
78. Die Schiffe, welche die Nationen aus ihren Gewäſſern in das freie Meer entſenden, ſind gewiſſermaaßen ihre wandelnden Gebietstheile,2La continuation ou la prorogation du territoire, wie die franzöſiſchen Juriſten es ausdrücken. Die Folgerungen und Grenzen dieſer Anſicht ka - men vorzüglich in der Angelegenheit des Carlo Alberto zur Sprache. Vgl. den folg. §. welche ſelbſt in fremden Gewäſſern ihre Nationa - lität nicht verlieren, ſo lange das Eigenthum des Schiffes keinem Fremden übertragen iſt. Die darauf befindliche Mannſchaft bildet eine eigenthümliche Genoſſenſchaft unter dem Schutze des Staates, von welchem ſie ausgeht, ſo wie ſie ſeinen Geſetzen auch außer - halb des eigenen Waſſergebietes unterworfen bleibt. Jedes von einem Unterthanen auf dem Schiff geborene Kind iſt daher auch Unterthan des ſchiffsherrlichen Staates. 3Vattel I, 19, 216. Günther II, 258. Nach Britiſchem Staatsrecht gel - ten nur die auf Britiſchen Meeren gebornen als ſofort Eingeborne. Mo - ſer Verſ. VI, 8.
Die beſonderen Rechte, welche jeder Staatsgewalt in Betreff der Schiffarth zuſtehen, ſind:
Jeder unerlaubte Gebrauch einer fremden Flagge iſt ahndungs - werth, ſowohl in Anſehung des Staates, deſſen Flagge gemißbraucht iſt, wie der Drittbetheiligten. 2Moſer Verſ. V, 303. Enschede, diss. de tutelis et insignib. navium. Lugd. B. 1770.
79. In Hinſicht auf das Verhältniß der Einzelſtaaten zu frem - den Schiffen, deren Bemannung und Zwecke, neigt ſich das heutige Völkerrecht, wiewohl noch mit einigen Schwankungen, im Allge - meinen zu folgenden Grundſätzen:
80. Gegen fremde Schiffe auf offnem freien Waſ - ſer hat kein Staat irgend ein Recht in friedlichen Zeiten, außer dem Recht der Selbſthülfe wider einen unrechtmäßigen Angriff und wegen zugefügter rechtswidriger Beſchädigungen; denn es beſteht dort kein gemeinſames Geſetz und keine Auctorität zur Handhabung deſ - ſelben. Indeſſen wird der hiermit verbundene Uebelſtand dadurch möglichſt beſeitigt,
142Erſtes Buch. §. 80.ſo daß ein Recht der Selbſthilfe, außer dem Fall unabwendbarer Noth, auf offener See von den Staaten nicht mehr anerkannt wird, diejenigen aber, welche ſich jedem Geſetz und Recht entziehen, wie z. B. die Piraten, von allen Nationen als rechtloſe (outlaws) behandelt werden. 1Davon ſ. Abſchnitt III. dieſes Buches, von den internationalen Verbrechen.
Dagegen hat kein Staat außerhalb ſeiner Eigenthumsgewäſſer und Polizeigrenze gegen fremde Nationalſchiffe ein Recht ſie anzu - halten, zu durchſuchen und in Beſchlag zu nehmen, wenn dieſes auch zu einem an ſich erlaubten Zweck geſchehen ſollte, wofern nicht ausdrücklich und beſtimmt ein derartiges Zugeſtändniß von einer Nation der andern gemacht iſt. Aufgetaucht iſt dieſe Frage in Beziehung auf die Unterdrückung des Sclavenhandels, und er - wartet hier ihre fernere Löſung. 2Die Vertheidigung des an ſich unbeſtreitbaren obigen Satzes ſ. in Whea - ton Enquiry into the validity of the British claim to a right of visi - tation and search of American vessels. Lond. 1842. Kein Unterſchied zwiſchen droit de visite und droit de perquisition (right of search) kann hier zur Löſung führen. Einen Finger hier geben, heißt die Hand in eine Kette ſchmieden.
Ein freies und gleiches See - und Handelsrecht würde erſt dann ſich entwickeln, wenn die Nationen ſich entſchließen könnten, von ihren Entſcheidungen in ſtreitigen Fällen mit andern Staaten eine Berufung auf des unparteiiſche Urtheil eines dritten Staates nach dem Vorbild der Alten zuzulaſſen. 3Bis jetzt iſt das See - und Handelsrecht der civiliſirten Völker nur ein einſeitiges particulares Recht mit Ausnahme weniger allgemein zugeſtande -
81. Zu allen Zeiten ſind Verträge ſowohl unter rohen wie un - ter gebildeten Völkern auch ohne gemeinſames Geſetz als rechtliche3ner Puncte, deren Zuſammenſtellung in dem Obigen verſucht worden iſt. Es gehört daher auch eine umfaſſendere Vorlage keineswegs ſchon in das Syſtem des internationalen Rechts, ſondern in das Staats - und Privat - recht der einzelnen ſelbſtändigen Länder. Als gemeinſame hiſtoriſche Grund - lage dieſer Rechtsentwicklung haben aus dem Mittelalter her verſchiedene Localgeſetze gedient, die ſich zu einer anerkannten Auctorität erhoben; ins - beſondere die Aſſiſen des bourgeois für das Königreich Jeruſalem; das Seerecht von Oleron, die Jugemens von Damme und Geſetze von Weſtkapelle, die Coutümes von Amſterdam, das Seerecht von Wisby, der Conſolato del Mare, der Guidon de la Mer, das hanſeatiſche Seerecht und andere weniger bedeutende, welche ſämmtlich wieder unter einander in einer gewiſſen Verwandſchaft ſtanden. Zur nähern Kenntniß dieſer und der neuern Seerechte dient vorzüglich das treffliche Werk von Pardessus, collection des lois maritimes anté - rieures au XVIII siècle. Par, 1828. ff. V Bde. 4. Ferner zum Hand - gebrauch für die neueſten See - und Handelsgeſetze im internationalen Ver - kehr: Alex. de Miltitz, Manuel des Consuls. t. 1. II. In eben dieſen Werken, ferner in von Kamptz Lit. §. 160 — 171. 252 bis 255. finden ſich auch die hauptſächlichſten Schriften über das See - und Haudelsrecht der einzelnen Nationen; eine zweckmäßige Auswahl und Ergänzung der Literatur in Mittermaier Grundſ. des deutſchen Privatrechts §. 26. und §. 44. a. E. Als periodiſche Schriften wären endlich anzuführen: Henrichs, Archives du Commerce II. éd. Par. 1833. 39. 21 Bde. und Nouvelles archives du commerce p. Ternante et Colombel. Par. ſeit 1838.144Erſtes Buch. §. 81.Bindungsmittel benutzt worden, und dennoch hat man ihnen nicht immer allein vertraut; vielmehr hat man in älterer Zeit die Macht der Religion und die Furcht vor dem Ueberſinnlichen zu Hilfe ge - nommen, um ihnen größere Haltbarkeit zu verleihen; ſeitdem aber auch jenes Mittel ſich oft als unzureichend für dieſen Zweck erge - ben, iſt wohl der nackte Glaube an eine Selbſtgiltigkeit der Ver - träge übrig geblieben und durch das Chriſtenthum, wie durch das poſitive Recht, endlich auch durch die Philoſophie gekräftigt wor - den; aber nicht ſelten hat ihm die Praxis Hohn geſprochen und noch immer hat man ſich nicht darüber verſtändigt, ob, warum und wie weit ein Vertrag durch ſich ſelbſt verpflichte. 1Man ſehe die verſchiedenen Erklärungen in Warnkönig Rechtsphiloſophie §. 176.
Schwerlich wird man darüber eine andere Anſicht vertheidigen können, als die, daß ein Vertrag (duorum vel plurium in idem consensus) an ſich nur durch die Einheit des Willens ein Recht ſetze, folglich auch nur ſo lange dieſe Einheit dauert; und daß im Fall der Willensänderung eines Theiles der Andere nur berechtigt iſt, die Wiederherſtellung des vorigen Zuſtandes zu fordern mit Einſchluß des Schadens, den er durch redliches Eingehen in den Willen des Mitcontrahenten in ſeinen bisherigen Rechten erduldet hat. Nur der allgemeine Wille, geſtützt auf gleiches Intereſſe und gleiche ſittliche Geſinnung, kann außerdem nach dem Vertrag Ein - zelner eine Verpflichtung zur directen dauernden Erfüllung desjeni - gen hinzufügen, was verſprochen worden iſt. Dazu beſitzt indeſſen bloß der Staat in ſich ſelbſt für die Individuen die Mittel; für das internationale Recht fehlt es an einer ſolchen Zwingmacht; der Vertrag hat demnach hier nur die angegebene natürliche Kraft und Bedeutung; eine beſondere Stütze findet er bloß im gegenſei - tigen Intereſſe, durch ſeine Vermittelung fortdauernd im Verkehr mit andern Staaten zu bleiben und neue Rechte zu erwerben; eine noch größere Garantie erhält er im Staatenſyſteme, wie das Eu - ropäiſche iſt, welches an ſich auf Gegenſeitigkeit und Willensüber - einſtimmung beruht, dem man folglich nur angehören kann, wenn man diejenigen Grundſätze von der verpflichtenden Kraft der1)v. Kamptz §. 239 ff. Unter den Syſtemen ſind beſonders beachtenswerth: Moſer, Verſ. VIII. de Neumann in Wolffsf. de pact. et contractib. Princip. 1752. Vattel II. ch. 12.145§. 82. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.Verträge anerkennt, welche den Intereſſen Aller entſprechen, ohne welche überhaupt kein Vertrauen und Verkehr denkbar iſt. Aller - dings ſind daher die Völkerverträge Etwas, wenn ihnen auch die Sanctionen des Privatrechts abgehen. Pacta sunt servanda bleibt dennoch ein oberſter Grundſatz des Völkerrechts;1Die ältern Publiciſten bedienen ſich auch des Gemeinſatzes: das Wort ei - nes Fürſten habe die Geltung eines Eidſchwurs. So z. B. de Neumann l. c. §. 83. Es iſt nicht nöthig, hierzu ſeine Zuflucht zu nehmen, da nach der Sittlichkeit des Rechts ein Unterſchied zwiſchen hohen und niedern nicht zu machen iſt. nur die Gegenſtände geben dem internationalen Vertragsrecht eine gewiſſe Beſonderheit, auch beſteht in ihm eine größere Ungebundenheit der Erfüllung, wie nun näher darzuſtellen iſt.
82. Nimmt man das Völkerrecht im weiteſten, §. 1. dar - gelegten Sinn, für das natürliche allen Menſchen in ihrer Freiheit zuſtändige Recht, ſo ſind der Herrſchaft deſſelben alle Verträge un - terworfen, welche und ſo weit ſie nicht unter das Geſetz der Ein - zelſtaaten fallen. Es gehören alſo dahin alle Verträge unter denjenigen Perſonen, welche von gar kei - ner Staatsgewalt, keinem Staatswillen abhangen, z. B. in Gegenden, wo noch keine Staatsgenoſſenſchaften beſtehen, und dieſe werden nur durch den ſubjectiven Willen eine Bedeutung haben; gewiſſermaaßer auch die conſtitutiven Verträge der Staatsgewalten mit den eige - nen Völkern über Gegenſtände des öffentlichen innern Rechts, welchen aber der ſittliche allgemeine Wille eines jeden Volkes und das dem ſchon geſchloſſenen Staat einwohnende Intereſſe der Ste - tigkeit eine dauernde Garantie und Haltbarkeit bis zur gemeinſa - men Willensänderung verleihet.
Von beiden vorſtehenden Categorien wird im Nachfolgenden keine weitere Rede ſein, da ſie in andern Gebieten erörtert werden, ſondern nur von denjenigen, welche dem eigentlichen internationa - len Recht untergeben ſind. Dieſes ſind:
Dahingegen liegen dem Kreiſe des Völkerrechts überhaupt ſo wie insbeſondere des internationalen Vertragsrechtes fremd:
Hier wird überall das Privatrecht2Aeltere Publiciſten haben zwar die Staatsgewalten von der Anwendbarkeit der Privatrechte eximiren und auf ſie immer nur das natürliche oder Völ - kerrecht anwenden wollen, z. B. noch Hellfeld in der diss. de fontib. ju - ris quo illustres utuntur, §. 37. (vor t. 1. Jurispr. heroic. ) allein die neuere Rechtsentwickelung iſt eine andere, wie bereits §. 56. bemerkt iſt. entſcheiden, und zwar be - ziehungsweiſe nach den oben (§. 37 f.) erörterten Grundſätzen der147§. 83. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.Colliſion verſchiedener Staatenrechte. Sollte dagegen der Vertrag eines Staates oder Souveräns mit einem Fremden in Hinſicht auf den Gegenſtand keinem Staatsgeſetz und Richter unterworfen ſein, ſo würden auch hier nur die völkerrechtlichen Grundſätze der Verträge Anwendung leiden. 1Bemerkungen über Verträge ſolcher Art ſ. bei Vattel II, §. 214. Im Allgemeinen vermißt man jedoch in den meiſten Syſtemen ſchärfere Feſt - ſtellungen.
In allen vorſtehenden Fällen a — d können endlich die von der Herrſchaft des internationalen Rechts eximirten Verträge durch Rechtsverweigerung Gegenſtand völkerrechtlicher Verhandlungen und Maaßregeln werden, ſo wie durch Verbindung völkerrechtlicher Ver - träge mit Privatverträgen eine Art gemiſchter Verträge ent - ſtehen kann. Alsdann werden, es mag nun der eine Vertrag die Bedingung des andern ſein und damit in weſentlicher Verbindung ſtehen, oder jeder für ſich ein ſelbſtändiges, von dem andern trenn - bares Geſchäft bilden, auf einen jeden die ihm eigenthümlichen Rechtsgrundſätze, unabhängig von dem andern, zur Anwendung kommen, jedoch die völkerrechtlichen ſich nie den privatrechtlichen unterordnen.
83. Das erſte weſentliche Erforderniß eines völkerrechtli - chen Vertrages iſt eine zuläſſige causa. Wir verſtehen hierunter die Möglichkeit einer übernommenen Verbindlichkeit an ſich. 2S. wegen der verſchiedenen Bedeutungen des Wortes causa bei Verträ - gen de Neumann l. c. §. 217 s. Cocceji zu H. Groot, II, 610.Nur das phyſiſch und ſittlich Mögliche kann Gegenſtand eines Vertrags ſein. 3de Neumann §. 177 s. Pufendorf III, 7, 2. Der Letztere (§. 9. ebdſ. ) und Schmalz im Völkerr. S. 64. will hier nicht einmal eine Rückforde - rung des ſchon Geleiſteten zulaſſen, und Schmelzing §. 383. ſtimmt ihnen bei. Schwerlich wird indeß dieſer Satz als ein allgemein anerkannter oder nothwendiger nachzuweiſen ſein. Auch der Empfänger hat in dieſem Fall kein Recht auf das Gegebene. Alles muß in den frühern Stand zurück - reten.Unmöglich iſt z. B. jede Verbindlichkeit, die der ſittlichen Weltordnung widerſpricht, namentlich auch der Beſtimmung der Einzelſtaaten zur Entwickelung der menſchlichen Freiheit, ſo daß10*148Erſtes Buch. §. 83.alſo Einführung oder Aufrechthaltung von Sclaverei niemals gil - tig verſprochen werden kann, ſo wenig als eine Verſchließung des Verkehrs der Nationen für ihre gegenſeitigen ſittlichen oder phyſi - ſchen Bedürfniſſe. Niemals kann auch ein Treubruch wider noch beſtehende Verbindlichkeiten gegen Dritte zur Pflicht gemacht wer - den, wiewohl derjenige Theil, welcher eine ſolche Pflicht gegen ei - nen Andern von dem Widerſpruch nicht Unterrichteten übernimmt, für das Intereſſe des nicht in Ausführung zu ſetzenden Vertrages haftet. Niemals kann ferner eine Handlung oder Unterlaſſung wi - der unbeſtreitbare Rechte eines Dritten, oder dasjenige, was man bereits einem Dritten ausſchließlich bewilligt hat,1Vgl. Moſer Verſ. VI, 420 f. Vattel §. 165 — 167. Klüber dr. d. g. §. 144. Pufendorf III, 7. 11. Mably, droit des gens I, p. 27. Gegenſtand ei - ner Vertragsverbindlichkeit ſein, ſo wenig als eine Handlung oder das Recht eines Dritten, worüber man keine Botmäßigkeit oder Verfügungsgewalt hat. 2Vgl. l. 83. pr. D. de V. O. de Neumann §. 187.Jedoch darf man ſich zu einer thätigen Verwendung (Intercessio im weitern Sinne) bei einer dritten Per - ſon verpflichten, daß dieſelbe in ein gewiſſes Rechtsverhältniß ein - trete, und zwar entweder durch Anwendung freundlicher Dienſte (bona officia), indem man den Dritten im Wege der Unterhand - lung für den beabſichtigten Zweck zu gewinnen und zu entſprechen - den Gewährungen zu veranlaſſen ſucht, oder durch eigentliche In - terceſſion mit Anwendung aller den Umſtänden entſprechender er - laubter Mittel, jedoch mit Ausſchluß der Waffengewalt, wofern man nicht auch hierzu ein Recht hat, und eine ſ. g. bewaffnete Interceſſion ausdrücklich übernommen iſt. Für die wirkliche Er - reichung des Zweckes haftet man jedoch nur dann bis zum Be - trage des Intereſſe, wenn man auch in dieſer Ausdehnung ſich verbindlich gemacht hat. 3Pufendorf a. a. O. §. 10. de Neumann §. 146 s. 187 s. — Man kann außerdem ſich darüber ver - ſtändigen, welche Maaßregeln einem Dritten gegenüber ergriffen werden ſollen. Sonſt aber kann ein Vertrag nur ein Rechts - verhältniß unter den Contrahenten zum Gegenſtand haben und her - vorbringen, nicht auch einem Dritten ein Recht oder Verbindlichkeit erzeugen;4Vgl. Frid. Lang, de nonnullis fundamentis obligationum ex pacto ter - tii quaesitarum. Goetting. 1798. ausgenommen149§. 83. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.vermöge eines vorherigen Auftrags, bei einer unbedingten oder doch beziehungsweiſe Statt finden - den Abhängigkeit des Dritten von dem Willen eines oder al - ler Contrahenten; ſodann indem ein Contrahent im eignen Intereſſe dem andern die Verpflichtung auferlegt, einer dritten Perſon etwas zu leiſten, was dieſelbe ohnehin ſchon zu fordern berechtigt iſt, und da - durch die Verpflichtung verſtärkt; endlich indem man dem Dritten ſeinen Beitritt vorbehält und dadurch die Giltigkeit der Stipulation oder des Verſprechens für ihn bedingt, was ſich bei jeder directen Vertragsbeſtimmung für einen Dritten von ſelbſt verſteht. Bis zur Erklärung des Dritten bleibt im letztern Fall das Rechts - verhältniß deſſelben zu den andern aufgeſchoben; es kann auf den ihm beſtimmten Vortheil von dem Stipulanten verzichtet werden, wenn er ſich nicht gegen den andern Contrahenten gebunden hat, die Erklärung abzuwarten. 1Unter den ältern Publiciſten beſteht in Betreff dieſes Punctes eine große Verſchiedenheit der Anſichten, hervorgebracht durch den Conflict des Rö - miſchen Rechts mit naturrechtlichen Theorieen. Vgl. z. B. Groot II, 11, 18. und dazu Cocceji; Pufendorf III, 9, 4 f. de Neumann §. 151. Die neueren Codificationen des Privatrechts haben ſich den obigen Sätzen als den einfachſten und natürlichſten zugewendet. Vgl. Allg. Preuß. Landr. I, 5, §. 74. Code Nap. Art. 1121. 1165.
Im Uebrigen kennt das internationale Recht keine Beſchrän - kung der Vertragsfreiheit auf beſtimmte Arten von Verträgen, wie etwa das Privatrecht; keinen Unterſchied von klagbaren und nicht klagbaren Conventionen. Ohne Grund behauptete man auch, es gehöre zu allen völkerrechtlichen Verträgen eine beſondere causa debendi, mit andern Worten, ſie könnten nur auf Leiſtung und Gegenleiſtung beruhen; jede Bewilligung ſetzte ein Aequivalent vor - aus. Wem indeß eine freie Verfügung über ſein Vermögen zuſteht, dem kann auch die Befugniß zu rein freigebigen Verfügungen nicht abgeſprochen werden, da ſie nur in einer an ſich erlaubten Auf - gebung von Eigenthum beſtehen, wovon zu Gunſten eines andern150Erſtes Buch. §. 84.Gebrauch gemacht wird. 1Grot. II, 14, 4 et 12. de Neumann in Wolffsfeldt, de Pact. prin - cip. I, 3, 90. I, 5, 219. Günther, Völkerr. II, 95.Eben ſo wenig kann die Nichterkenn - barkeit eines Nutzens für den ſtipulirenden Theil die Giltigkeit ei - ner Paction aufheben,2de Neumann l. c. I, 5, 220. oder die Behauptung einer enormen Lä - ſion, wenn nicht andere Reſciſſionsgründe damit in Verbindung treten. 3Vattel §. 158. Martens E. Völkerr. §. 45. a. E. Schmelzing §. 381.
Unverbindlich würde jedoch vorzüglich im Zuſtand des Friedens eine bleibende vertragsmäßige Unterwerfung unter den Willen eines Andern oder Dritten ſein, wodurch die Fortexiſtenz einer freien Perſönlichkeit für immer unmöglich gemacht und nicht vielmehr ein Schutz derſelben erlangt würde. 4Darauf muß wohl reducirt werden, was von früheren Publiciſten über die Gleichheit und Ungleichheit der Völkerverträge geſagt worden iſt. S. z. B. Vattel §. 172 ff. Groot hat die Theorie zuerſt mit darauf geführt, be - ſtimmt durch Ariſtoteles. Dagegen hat ſich mit Recht ſchon Cocceji zu Groot II, 12, 8 f. erklärt. S. auch Martens, E. Völkerr. §. 46 a. E. u. §. 55.
84. Die zweite weſentliche Vorausſetzung zu einem giltigen Vertrage iſt Dispoſitionsfähigkeit der Contrahenten. Dieſe haben
Von den bei öffentlichen Verträgen etwa concurrirenden Pri - vatperſonen gelten die Grundſätze ihres Heimathsrechtes.
Statt der vorgenannten Perſonen können nur ausdrücklich au - toriſirte Stellvertreter giltig für dieſelben contrahiren; und, was ein unbefugter Stellvertreter oder freiwilliger Geſchäftsführer con - trahirt hat, kann erſt durch nachherige Ratification des Berechtig - ten Giltigkeit erlangen. Insbeſondere gilt dies von den ſ. g. Sponſionen oder Verſprechungen, welche der Unterthan eines Staates einem andern Staat ohne Autoriſation des Erſtern macht. 4Eine große Menge von Schriften und Anſichten über dieſen Gegenſtand ſ. in v. Ompteda Literatur II, 585. und v. Kamptz N. Lit. §. 244. Am einfachſten und der Wahrheit am Nächſten entſcheidet Vattel L. II, §. 209 sq. Hieraus kann weder für den ungehörig vertretenen Staat irgend eine Verbindlichkeit entſtehen, noch auch für den Spondirenden ſelbſt, wofern er nicht ganz beſtimmt für ſeine Perſon übernommen hat, die Genehmigung oder Vollziehung der Sponſion zu bewir -152Erſtes Buch. §. 85.ken, in welchem Fall er für das Intereſſe haftet;1Eine perſönliche Addiction des Sponſor ſogar wollte Groot II, 15, 3 u. 16, wozu ihn die bei den Alten wohl übliche Deditio verleitete. auch muß im Zuſtand des Friedens der ungehörig vertretene Staat die Vortheile wieder herausgeben, welche ihm durch die Sponſion bereits zuge - floſſen ſind. Alles Uebrige iſt den Geſetzen der Ehre und Staats - klugheit namentlich im Kriege anheimgegeben. — Eine ſtillſchwei - gende Vollmacht kann nur denjenigen Staatsdienern zugeſchrieben werden, welche vermöge ihres Amtes gewiſſe Zwecke nach eigenem Ermeſſen zu verfolgen haben, wobei ſie mit auswärtigen Mächten in Berührung kommen, jedoch verſteht ſich von ſelbſt, lediglich zu Abſchließung von Verträgen über ſolche Gegenſtände, welche zur Dispoſition des Staatsdieners vermöge ſeines Amtes geſtellt ſind, ſo daß jede weiter gehende Verfügung einer Ratification der Staatsgewalt bedarf, außerdem aber hinfällig wird. Anwendung von dieſen Grundſätzen wird beſonders im Kriegsrecht gemacht werden.
85. Eine dritte weſentliche Vorausſetzung giltiger Verträge iſt Freiheit des Willens der Contrahenten und ſomit Abweſenheit ſol - cher Zuſtände, wodurch jene aufgehoben wird. Irrthum, Hinter - liſt und Zwang haben demnach denſelben Einfluß auf den Rechts - beſtand der Verträge, wie derſelbe ſchon längſt in allen Privatrech - ten feſtgeſtellt iſt. Als wahres Hinderniß der Willensfreiheit kann inzwiſchen nicht jede Art von preßhaften Zuſtänden gelten, welche die Wahl eines Entſchluſſes nur erſchweren, vielmehr iſt ein Zwang erforderlich, wodurch ſelbſt ein kräftiger beharrlicher Muth erſchüt - tert werden kann, welches allemal der Fall ſein wird, wo Gefahr für die phyſiſche oder moraliſche Exiſtenz eintritt, mithin die Pflicht der Selbſterhaltung ein Nachgeben gebietet, und nicht etwa das Beſtehen der Gefahr durch höhere Pflichten geboten wird. Für einen Staat wird eine ſolche Gefahr vorhanden ſein, wenn ſeine eigene Exiſtenz als ſelbſtändiger Staat auf dem Spiele ſteht; für den Souverän oder Unterhändler, wenn ſein Leben, ſeine Geſund - heit, Ehre oder Freiheit ernſtlich bedroht wird, und die Ausfüh - rung der Drohung wirklich in der Macht des Drohenden ſteht. Nur kann ein ſchon vorhandener rechtmäßiger Zuſtand des Zwan -153§. 86. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.ges oder der Unfreiheit den zur Beſeitigung deſſelben geſchloſſenen Vertrag nicht vitiiren, z. B. eine rechtmäßige Kriegsgefangenſchaft oder die bereits erfolgte Eroberung eines ganzen Staates, wovon der Vertrag eine Befreiung gewähren ſoll. 1Verhandelt ſind dieſe Fragen in den bei v. Kamptz §. 249. angeführten Schriften, womit zu vergl. Pufendorf III, 6. v. Neumann §. 192 ff. Schmelzing §. 382.
86. Zu jedem Vertrag gehört ſeinem Weſen nach alſo auch völkerrechtlich zunächſt eine Willenseinigung durch Promiſſion und Acceptation mit deutlicher Erklärung deſſen, wozu der Eine dem Andern gebunden und dieſem ein beſtimmtes Recht auf Erfüllung gegen Jenen gegeben ſein ſoll. Bloß einſeitige Verſprechungen (Pollicitationen) geben daher vor erfolgter Annahme dem andern Theil noch kein Forderungsrecht, ſelbſt wenn mit ihrer Erfüllung bereits der Anfang gemacht wäre, ſofern nicht in der Annahme der Erfüllung einer Acceptation des Ganzen zu erkennen iſt; fer - ner ſelbſt dann nicht, wenn ſie in Form religiöſer Gelübde (vota) gegeben oder durch Eid bekräftigt wären. 2Cocceji zu Groot II, 11, 3.Eben ſo wenig iſt ſchon ein Vertrag verhanden, ſo lange nur ſ. g. Tractaten Statt gefunden haben, d. h. vorläufige Verabredungen über einen dem - nächſt abzuſchließenden Vertrag, auch wenn man bereits über ein - zelne Puncte einverſtanden iſt, die jedoch nur Theile des Ganzen ſein ſollen, ſo lange nicht die beſtimmte Abſicht gegenſeitig erklärt iſt, ſich durch das ſchon Vereinbarte gebunden halten zu wollen, wie der Fall ſein kann bei ſ. g. pactis de contrahendo, welche bereits Alles zum Geſchäft gehörige enthalten und nur noch den vollſtändigeren formellen Ausdruck des Vertragswillens vorbe - halten. 3Ein beſtimmterer Grundſatz kann hierüber nicht aufgeſtellt werden. S. auch Cocceji, ebdſ. II, 11, §. 1. p. 600 f.
In keinem Fall wird man die bloße Beruhigung eines Thei - les bei Handlungen des Andern ſchon als vertragsmäßige Ge - nehmigung anſehen können. Sie zeigt höchſtens die Geneigtheit dazu nicht aber ſofort die beſtimmte Abſicht, ein Recht aufgeben oder dem andern zugeſtehen zu wollen. Dagegen läßt ſich von154Erſtes Buch. §. 87.präſumirten Conventionen reden, wenn im Völkerverkehr ein Theil nach einer gewiſſen Regel verfährt, lediglich in der Vor - ausſetzung, daß der andere Theil nach derſelben Regel oder nach Analogie derſelben verfahren werde, letzterer auch die Anwendung der Regel im Bewußtſein von jener Vorausſetzung geſchehen läßt. Es beruhet hierauf im Allgemeinen das Cerimonialrecht der Staa - ten obligatoriſch alſo auch nur, ſo lange die Vorausſetzung der gegenſeitigen gleichartigen Handlungsweiſe beſteht. Das Völker - recht im Ganzen hat man darauf zu gründen keine Urſache, wenn ſich jede Nation wie der Einzelne ſchon an das Geſetz des ſittli - chen Willens gebunden hält.
Eine andere Bewandniß hat es mit ſtillſchweigenden Ver - trägen oder Vertragsbeſtimmungen, welche in einem ſchon beſte - henden Vertragsverhältniß als nothwendige Vorausſetzungen oder Folgen mitenthalten ſind, wovon weiterhin bei den Wirkungen der Verträge mitzuhandeln iſt. 1Man vgl. wegen der gemachten Unterſcheidungen Ad. Fr. Reinhard, Samml. juriſt. philoſ. u. crit. Aufſ. 1775. I, 5, N. 1. S. 307 f. Klüber dr. d. g. §. 3. auch v. Neumann §. 52.
87. Eine beſtimmte äußere Form der Willenserklärung iſt bei völkerrechtlichen Verträgen nicht weſentlich zur Perfection, vielmehr iſt dieſe als vorhanden anzunehmen, ſobald ein Theil eine beſtimmte Zuſage gemacht hat, mit dem Willen, ſich durch die Acceptation des andern gebunden zu halten und ſobald dieſe Acceptation eben ſo beſtimmt erfolgt iſt. 2Bemerkenswerth iſt ſchon, was der Römiſche Juriſt Gaius in ſeinen wie - dergefunden Inſtit. Comment. III, §. 94. ſagt: „ dicitur uno casu hoc verbo (Spondesne? Spondeo) peregrinum quoque obligari posse, velut si Imperator noster Principem alicujus peregrini populi de pace ita in - terroget: Pacem futuram spondes? vel ipse eodem modo interrogetur: quod nimium subtiliter dictum est; quia si quid adversus pa - ctionem fiat, non ex stipulatu agitur, sed jure belli vindicatur. “ Alſo völlige Freiheit der Form. Ueblich aber waren im Römiſchen Staatsver - kehr allerdings drei verſchiedene Formen; nämlich einfache pactiones, spon - siones und feierliche foedera. Liv. 34, 57. Cic. pro Balbo 12. pro Rabir. 16. Sigon. de ant. jur. Hal. p. 465 s. Vorſicht und Herkommen bringt aller - dings ſchriftliche Abfaſſung mit ſich; ſie iſt insbeſondere eine na -155§. 87. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.türliche Vorausſetzung bei Verträgen, welche durch Bevollmächtigte geſchloſſen werden; dennoch würde ſich keine Nichtigkeit des Ver - trags behaupten laſſen, wenn nichtsdeſtoweniger von den Staats - gewalten eine andere Form der Abſchließung beliebt worden wäre. 1Daß nur ſchriftliche Staatsverträge verbindlich ſeien, behauptet Neyron, de vi foederum inter gentes. Goett. 1778. §. 23. und Schmalz, Eur. Völkerr. S. 52 f. Allein warum ſollte das ernſtliche Verſprechen und deſſen Annahme, wo man die ſchriftliche Form nicht gebrauchen will, vor - ausgeſetzt, daß jene auch vollkommen erweislich ſind, weniger Kraft haben? Beſonnener urtheilt Martens, E. V. §. 45. Schmelzing §. 377. Klü - ber §. 141. 143. und ſo auch die Aelteren, z. B. v. Neumann, §. 226. 238. Ob übrigens der Vertrag in einem Inſtrument enthalten iſt oder in gegenſeitigen Erklärungen, wie z. B. die neueren Vereinbarungen des Pab - ſtes mit acatholiſchen Mächten zu Stande gekommen ſind, iſt gleichgiltig, wenn dabei wirklich die Abſicht ſich gegenſeitig zu verpflichten, vorgewaltet hat. Es kann auch nur ein Theil ſich ſchriftlich erklärt, der andere dieſe Erklärung durch unzweideutige Zeichen und Handlungen angenommen ha - ben. Vgl. Martens a. a. O. und Vattel, §. 234. Wheaton III, 2, 3.In demſelben Fall der Abſchließung durch Bevollmächtigte iſt auch unter den Staatsgewalten ſogar ohne ausdrücklichen Vorbehalt die gegenſeitige Ratification des abgeſchloſſenen Vertrags und die Auswechſelung derſelben für die Bündigkeit des Vertrages her - gebracht. 2Der Gebrauch iſt ſchon ſehr alt. So ſchon zwiſchen Juſtinian und Chos - roes. Barbeyrac, suppl. au Corps univ. de Du Mont. II, p. 197. Ael - tere Schriften über dieſen Gegenſtand ſ. bei v. Kamptz §. 249. und über - haupt Klüber dr. d. g. §. 142.Sie iſt die Beglaubigung, daß der Bevollmächtigte die Grenzen ſeines Auftrags nicht überſchritten hat, worüber es an einem beſondern Richterſtuhl fehlt; ſie ſuspendirt daher auch nur die Execution des geſchloſſenen Vertrags, und ihre Ertheilung ſetzt ihn rückwärts in volle Kraft, ſofern nicht Anderes verabredet iſt. 3v. Neumann §. 213. Klüber a. a. O. Not. e. und Martens §. 42.Moraliſch kann ſie freilich nicht verweigert werden, wenn der Ver - trag der dem andern Theile vorgezeigten ausdrücklichen Vollmacht entſpricht; allein ein Zwangsrecht iſt dem Herkommen nach nicht anzunehmen, auch wenn ſchon ein Theil ſeine Ratification erklärt hat. 4Neuere und ältere Vorgänge beſtätigen dies. Im Weſentlichen iſt es auch die Anſicht der ausgezeichneteren Publiciſten. Vgl. Vattel II, 12, 156. Byn - kershoek, quaest. iur. publ. II, 7. Klüber a. a. O. Wheaton l. c. §. 4. Die Anſichten früherer Zeit finden ſich bei Wicquefort, l’Ambassad. II,Die grundloſe Verweigerung iſt nur eine Incorrectheit,156Erſtes Buch. §. 88.welche das Vertrauen des andern Theiles verletzt und eine Mißſtim - mung deſſelben rechtfertigt, ſo wie unter Umſtänden eine Entſchä - digungsforderung für die im Vertrauen auf den Umfang der Voll - macht getroffenen Maaßregeln und für den gemachten vergeblichen Aufwand. Unentbehrlich iſt die Ratification wenn ſie ausdrücklich vorbehalten iſt, oder eine Sponſion (§. 84.) Rechtsverbindlichkeit für den Betheiligten erlangen ſoll, obwohl auch in dieſen Fällen der Anfangspunct der Giltigkeit in den Zeitpunct der Abſchließung zu verſetzen iſt, ſobald die Ratification wirklich erfolgt. Endlich giebt bei bloß impliciten Vollmachten (§. 84 a. E.) die Ratification des Vertretenen erſt die volle Gewißheit über den Umfang der er - theilten Berechtigung. Gewiß kann ſie aber auch in allen Fällen durch concludirte Handlungen, namentlich durch ſtillſchweigende Vollziehung der getroffenen Vereinbarung erklärt werden. 1Groot II, 15, 17. Wheaton §. 3. a. E.
88. Zu den Zufälligkeiten bei der Abſchließung völkerrechtlicher Verträge gehört
Zu einem bereits abgeſchloſſenen Vertrag kann überdies noch hinzukommen der Beitritt eines dritten Intereſſenten durch aus - drückliche Acceſſionserklärung,3Moſer, Verſ. VIII, 306 f. 314. v. Steck, Ausführung politiſcher und rechtl. Mater. n. 2. S. 49. Klüber §. 161. entweder auf vorausgegangene Ein - ladung der Hauptparteien oder ohne ſolche. Die einzelnen Arten davon ſind:
89. Der Inhalt völkerrechtlicher Verträge kann in gleicher Weiſe, wie bei Privatverträgen, von möglichen Bedingungen, Zeit - und Zweckbeſtimmungen abhängig gemacht werden. Mit Hinſicht auf größere oder geringere Bedeutung einzelner Verträge laſſen ſich dem - nächſt Präliminar - und Definitivverträge unterſcheiden, von welchen die Erſteren meiſt nur pacta de contrahendo ſind oder einen pro - viſoriſchen Zuſtand feſtſetzen;1Vgl. Moſer, Verſ. VIII, 55. X, 2, 356. die letzteren dagegen zerfallen wie - der in Haupt - und Nebenverträge, wovon dieſe öfter unter andern Intereſſenten geſchloſſen ſein können als jene. Bei der Redaction der ſchriftlichen Verträge pflegt die Artikelform beobachtet zu wer - den, wobei man ebenfalls Haupt - und Nebenartikel unterſcheiden kann, auch werden dem Tenor des eigentlichen Vertrags häufig noch Zuſätze, desgleichen Separatartikel beigefügt, bald offen, bald insgeheim, wiewohl dieſes Alles ohne Einfluß auf die Giltigkeit der einzelnen Stipulationen iſt.
90. Ihrem Gegenſtande nach haben die dem Völkerrecht un - terworfenen Verträge entweder nur beſtimmte Leiſtungen einer Sache oder eines Rechts, ſo wie die Feſtſtellung eines ſolchen zum Zweck; oder ſie gehen auf die Gründung eines dauernden Geſellſchaftsver - hältniſſes hinaus; natürlich können aber auch beiderlei Zwecke in der Form Eines Vertrages, es ſei nun in weſentlicher oder außer - weſentlicher Verbindung mit Einander verknüpft werden. 2v. Martens hat ſchon in ähnlicher Weiſe die Staatenverträge in tranſito - riſche Verträge, Bündniſſe und aus beiden gemiſchte Verträge eingetheilt. Eben ſo Klüber und Andere. Hierbei läßt ſich höchſtens wegen der Be - nennungen ſtreiten. Sehr unglücklich erſcheint dagegen die Polemik von Pölitz, Völkerr. §. 50 ff., welcher an die Stelle dieſer Eintheilung eine an - dere in rein politiſche und privatrechtliche Staatenverträge ſetzen wollte.
Zu dem Erſten Geſchlecht gehören jene zahlloſen Verträge der Staaten oder Souveräne über politiſche Intereſſen, wodurch von Einem Theile dem Andern ein gewiſſes einzelnes Recht auf159§. 90. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.ähnliche Weiſe, wie im privatrechtlichen Verkehr, ſei es einſeitig oder gegenſeitig, mit oder ohne entſprechendem Aequivalent bewil - ligt, oder ein ſchon beſtehendes Rechtsverhältniß der Art beſtätigt, genauer beſtimmt oder aufgelöſet wird; vornehmlich Abtretungs - und Verzichtsverträge mittelſt Kaufs, Tauſches oder ſchenkungsweiſe vollzogen; Grenzverträge; Theilungsverträge; Schuldverträge; Beſtellung von Staatsdienſtbarkeiten; Lehnsverträge, ſoweit nicht dabei ein ius curiae eingreift; Erbverträge und dergleichen.
Bei allen dieſen dürfen im Weſentlichen wohl dieſelben Grund - ſätze in Anwendung gebracht werden, welche ſich, zumeiſt auf der Grundlage des Römiſchen Rechts, in dem Rechtsſyſtem aller civi - liſirten chriſtlichen Europäiſchen Staaten gleichförmig entwickelt und behauptet haben, jedoch freilich mit Abſonderung aller der - jenigen Grundſätze, welche dem Privatrecht durch das innere Staats - intereſſe eingepflanzt ſind und z. B. die Formen der Rechtsgeſchäfte betreffen, oder wodurch mit Hinſicht auf die Moralität der Indi - viduen gewiſſe Geſchäfte ganz verboten ſind. 1So können z. B. Erbverträge über die Staatsgewalt eines noch lebenden Herrſchers ſchwerlich in die Reihe der verbotenen geſtellt werden, weil das Römiſche Recht und auch noch einige neuere dergleichen als unmoraliſch verwerfen.So iſt denn ins - beſondere bei denjenigen Verträgen, wodurch ein Theil dem andern eine Sache oder ein Recht gegen ein beſtimmtes Aequivalent abtritt, auch eine Evictionsverpflichtung gegen Anſprüche Dritter und eine Vertretung der Mängel, deren Abweſenheit bei dem Vertrage Vor - ausſetzung war, begründet2Oft iſt ſie ausdrücklich verſprochen. Vgl. Günther, Völkerr. II, 135. nicht aber ein Widerruf des Vertrags, wenn höhere Gewalt und Zufall den Verluſt oder die Mängel erſt nachmals herbeigeführt haben. 3So auch bei Theilungen gemeinſchaftlicher Sachen. L. 11. pr. D. de eviction. Am ſtreitigſten ſind die Naturrechtslehrer immer wegen der Ge - fahr der veräußerten aber noch nicht übergebenen Sache geweſen. Vergl. z. B. Groot II, 12, 15. Pufendorf V, 5, 3.
Eine genauere Erörterung, wie ſich in allen ſolchen Vertrags - verhältniſſen das Völkerrecht zum Privatrecht der Einzelſtaaten ver -160Erſtes Buch. §. 91.halte, erſcheint theils wegen der heutigen größeren Seltenheit von völkerrechtlichen Acten der obigen Art, theils wegen der Vorſicht, womit ſie in den Verträgen ſelbſt behandelt werden, unnöthig.
91. Von meiſt größerer Bedeutung ſind die Geſellſchaftsver - träge der Staaten und Souveräne, wodurch eine bleibende Ver - bindung unter ihnen zu beſtimmten Zwecken gegründet wird, weit über die Zwecke bloßer Privatgeſellſchaften hinausgehend. Das Völkerrecht der alten Welt unterſchied hier amicitia, hospitium, foedus. 1L. 5. §. 2. D. de captiv. In der neueren Staatenpraxis laſſen ſich unterſcheiden2Andere Unterſcheidungen finden ſich bei Pufendorf VIII, 9. Freundſchafts-Bündniſſe (alliances) in der weitern Bedeutung des Wortes, wodurch das politiſche Verhalten mehrerer Staaten und Souveräne entweder unter ſich oder gegen andere Staaten, ſei es in gegenſeitigem oder einſeitigem Intereſſe, mit gleichen oder ungleichen Mitteln, allgemein oder nur auf gewiſſe Fälle beſtimmt wird, und Conföderationen oder eigentliche Geſellſchaftsverträge, welche die fortgeſetzte Erreichung eines oder mehrerer ge - meinſamer Zwecke mit gemeinſamen bleibenden Anſtalten zum Zweck haben.
Von beiden Arten iſt nachſtehend zu handeln. Nichtig würde nur derjenige Geſellſchaftsvertrag ſein, wo Ein Theil allen Vor - theil, der Andere alle Laſt ohne den mindeſten Vortheil nach der Natur der übernommenen Verbindlichkeit und nicht bloß durch zu - fällige Umſtände hätte. Denn dieſes wäre eine Löwengeſellſchaft und der Natur eines ſocialen Verhältniſſes ganz zuwider; es müßte denn bei deutlicher Vorausſicht einer ſolchen ungleichen Stellung mit dem ſchenkungsweiſen Vertrage, von dem andern Theile keinen Beitrag zu den Laſten zu fordern eingegangen ſein. 3Ueber das Princip ſind alle Civilgeſetzgebungen einverſtanden; daher auch die ältern Publiciſten. Groot II, 12, 24. Pufendorf V, 8, 3. Allein auch die oben beigefügte Modification iſt bei dispoſitionsfähigen Parteien unbeſtreitbar. Stryk, de diversis socior. pactis. Hal. 1708. p. 26. v. Neu - mann l. c. §. 731. daher auch z. B. das A. L. R. für die Preuß. Staa - ten II, 17, 245. dieſe Ausnahme im Privatrecht zugelaſſen hat.
161§. 92. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.92. Zu den Freundſchaftsbündniſſen oder Alliancen im weitern Umfang dürfen wir rechnen:
So ſchloß man in der älteren Zeit eigene Verträge, ſich gegenſeitig nicht zu beleidigen und für etwanige Verletzungen Genugthuung zu geben;1So die griechiſchen σύμβολα πεϱὶ τοῦ μὴ ἀδικεῖν. Vgl. des Verfaſſers Athen. Ger. Verf. S. 89 flg. und die Zuſätze dazu; auch Prolus. acad. de antiquo j. gent. p. 7. s. Dergleichen Verträge ſind der erſte Schritt zu einem völkerrechtlichen Verhältniß. Sie kommen in dieſer allgemeinen Weiſe nicht mehr vor. Vgl. auch Vattel II, 12, §. 171. aus der neueren Praxis laſſen ſich dahin die Aner - kennungsverträge rechnen, wodurch man neue oder veränderte Staatsgeſtaltungen und Titel als rechtgiltige annimmt und für die Zukunft im gegenſeitigen Verhalten als Norm gelten läßt. Bei - ſpiele von umfaſſenderer Art und eigenthümlichen Inhalt ſind die bereits S. 9. angeführte h. Alliance2Art. I. „ Les trois monarques contractans démeureront unis par les liens d’une fraternité véritable et indissolubile et se considérant comme compatriotes, ils se prêteront en toute occasion et en tout lieu assi - stance, aide et sécours; se regardant envèrs leurs sujets et armées comme pères de famille, ils les dirigeront dans le même esprit de fra - ternité pour protéger la réligion, la paix et la justice. “ Art. II. „ En conséquence le seul principe en vigueur soit entre les dits gouverne - mens soit entre leurs sujets sera celui de se rendre reciproquement service, de se témoigner par une bienveillance inaltérable l’affection mu - tuelle dont ils doivent être animés, de ne se considérer que comme membres d’une même nation chrétienne etc. “ Als juriſtiſche Wirkung ſol - cher Stipulationen kann hauptſächlich nur die Verbindlichkeit angeſehn wer - den, jede Feindſeligkeit möglichſt auszuſchließen und freundſchaftlichen Vor - ſtellungen und Verhandlungen bei Abweichung von dem Princip der Ver - einigung Raum zu geben, darin alſo keine unbefugte Einmiſchung zu er - kennen, und ſich eine den Umſtänden angemeſſene Unterſtützung zu leiſten. und die Aachener Congreßer - klärung von 1818.
Von dieſer Art waren in der alten Welt ſchon die Zugeſtändniſſe des Bürgerthums und Connubiums unter befreundeten Völkern,1Beiſpiele aus dem griechiſchen und römiſchen Staatenverkehr ſ. bei Bar - beyrac, Suppl. au Corps univ. I, p. 282. 286. 288. 300. 355 und in das Verf. prolus. acad. p. 8. 9. ſodann in alter wie in neuerer Zeit die Handels - und Schif - fahrtsverträge der Nationen,2Ueber die politiſche Bedeutung und Arten derſelben: Mably, droit publ. de l’Europe II, 12. p. 287. ed. 1761. Bouchaud théorie des traités de commerce. Par. 1777. J. C. W. v. Steck, Verſ. über Handels - und Schiffahrtsverträge. Halle 1782. Klüber dr. d. g. §. 152. Saalfeld Eur. Völkerr. §. 95. Nachweiſungen der Handelsverträge ſ. bei v. Steck a. a. O. Lampredi, Remarques historiques. à Lond. et Par. 1788. t. II. v. Kamptz Lit. §. 255 f. und in B. de Miltitz, Manuel des Consuls. welche ſich ſogar auf den Fall einer gegenſeitigen Bekriegung zuweilen ausdehnen und während dem giltig bleiben können; desgleichen Münz -, Maaß - und Ge - wichtsconventionen, wodurch man ſich über ein gemeinſames Sy - ſtem zur Erleichterung des Nationalverkehrs verſtändigt, und der - gleichen.
Die Verpflichtung iſt entweder eine gegenſeitige oder nur einſeitige, ferner eine dem Maaß nach gleiche oder ungleiche, ohne daß davon die Giltigkeit des Vertrags weſentlich abhängig iſt (§. 83. a. E.); ſie beſteht jedoch bloß für den deutlich erklärten casus foederis, der ſich bald nur auf eine gewiſſe Begebenheit oder Gefahr erſtreckt, bald aber eine Allgemeinheit von Fällen begreifen kann. 4Ueber dieſen vgl. Vattel a. a. O. §. 88. und Wheaton, intern. L. III,Gewinn und163§. 92. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.Verluſt theilen ſich zwar, wenn ein Anderes nicht ausgemacht wor - den, nach dem Verhältniß der für den Zweck anzuwendenden Lei - ſtungen;1Groot II, 12, 24. Pufendorf V, 8, 2. wenn jedoch der Zweck der Verbindung nur ein be - ſtimmter Vortheil des einen oder anderen Theiles iſt, ſo fällt ihm auch der Vortheil oder der dabei eintretende Nachtheil allein zu; lediglich die Vortheile welche nebenbei errungen worden ſind, ge - hören dann bei gemeinſchaftlichem Handeln den Verbündeten ver - hältnißmäßig an; bei einſeitigem Handeln dem Einzelnen allein, ſo wie jeden auch ohne ausdrückliche Beſtimmung ein erlittener Zufall allein trifft. 2Auch hiervon wird im Kriegsrecht weitere Rede ſein.
Hierunter gehört zuförderſt ein freier Schutzvertrag, wodurch ſich ein Staat der ſchützenden Macht eines Andern unterwirft, mit der bereits §. 22. dargelegten Bedeutung; ſodann
der für ſich beſtehende Garantievertrag, wodurch ſich ein Theil gegen den Anderen für die Erhaltung oder Erlangung gewiſ - ſer Sachen oder Rechte, ja des ganzen Inbegriffs deſſelben ver - pflichtet,3Neyron, Essai historique et politique sur les Garanties. Götting. 1777. Moſer Verſ. V, 455., vorzüglich auch Günther II, 243 f. was weſentlich die Bedeutung hat, daß der Spondent die ihm zu Gebot ſtehenden Mittel auf Anruf des Stipulators an - wenden muß, um demſelben die verſicherten Rechte gegen unrecht - mäßige Anfechtungen und Angriffe zu erhalten oder gegen derar - tigen Widerſpruch durchzuſetzen. Nicht aber iſt er im Fall einer dennoch eintretenden Entziehung für den Schaden zu haften ver - bunden,4Vgl. Wheaton intern. L. a. a. O. §. 10. es müßte denn zugleich eine Evictionspflicht (§. 90.) begründet ſein. 5v. Neumann §. 259.
Schließlich bedarf es kaum einer Bemerkung, daß ein Vertrag mehreren der vorſtehenden Categorien zugleich angehören kann,42, §. 13 s. Es entſcheiden dabei allgemeine Grundſätze der Verträge und die im ſpeciellen Fall anwendbaren Regeln der Auslegung. Wir werden darauf im Kriegsrecht (Buch II, Abſchn. 2.) zurückkommen.11*164Erſtes Buch. §. 93.wovon unter Andern der Bourboniſche Familienvertrag vom 15. Aug. 1761 ein merkwürdiges Beiſpiel gewährt. 1Martens, Recueil. I, p. 16. ed. 2.
93. Staatenvereinsverträge oder Conföderationen haben das Eigene, daß ſie nicht etwa bloß die Sonderintereſſen einzelner Staaten, ſondern ein Allen gemeinſames, freilich meiſt auch wie - der in Sonderintereſſen aufzulöſendes, mit gemeinſamen bleiben - den Anſtalten zum Zweck haben. Ihre Wirkſamkeit kann ſich ſowohl auf ausländiſche wie auf inländiſche Angelegenheiten in dem ganzen Umfang der ſittlichen und rechtlichen Intereſſen er - ſtrecken; ihre Rechtmäßigkeit2Ubi societas ibi et jus est; ein altes Sprichwort. Vgl. Cocceji ad Proleg. H. Groot §. VIII. beruhet auf der ſocialen Natur des Menſchengeſchlechts, auf der Verpflichtung des Staates, das Wohl der Einzelnen durch möglichſte Entwickelung und Vereinigung phy - ſiſcher und ſittlicher Kräfte zu fördern. Es bedarf alſo auch zur Giltigkeit ſolcher Vereine gar nicht erſt der Anerkennung anderer Staaten, ſondern jene haben das Recht, mit den einzelnen bereits anerkannten Staaten als deren Ausdehnung zu beſtehen, und ge - meinſame Bevollmächtigte der verbündeten Staaten oder vereinigte Erklärungen derſelben können von dritten Staaten ohne Rechts - kränkung nicht zurückgewieſen oder als eines völkerrechtlichen Cha - racters entbehrend behandelt werden.
Von einer ſolchen Beſchaffenheit iſt nun die Schließung eines eigentlichen Staatenbundes in größerer oder engerer Ausdehnung (§. 21.), ferner der deutſche Zollverein und jeder andere Verein, der etwa zur Einführung eines gemeinſamen Handels - und Ge - werbeſyſtems mit gemeinſamen Mitteln geſtiftet werden könnte. Ihr Geſetz erhalten dergleichen Vereine zunächſt durch den aus - drücklichen Willen der ſich vereinigenden Staatsgewalten; in deſſen Ermangelung treten bei den ſchon beſtehenden Vereinen die allge - meinen Grundſätze des Völkerrechts, insbeſondere die aus dem oberſten Grundſatz der Gerechtigkeit, d. i. der Gleichheit und Aus - gleichung des Ungleichen, herfließenden Regeln menſchlicher Geſell - ſchaften in Anwendung. Es ſind vorzüglich dieſe:
Die Rechte und Pflichten der Vereinsglieder ſind einander165§. 94. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.gleich; der Antheil eines jeden an den Vortheilen und Laſten des Vereins muß ſich aber nach dem Maaße der Fonds und Kräfte beſtimmen, womit er dem Verein beigetreten iſt.
Keine Veränderung in der Bundesverfaſſung kann gegen den Widerſpruch auch nur Eines Bundesgliedes von der Mehrheit durchgeſetzt werden; kein Bundesglied kann aber auch die Ausfüh - rung der Vereinsgrundſätze auf dem verfaſſungsmäßigen Wege, ſo lange der Verein beſteht, durch ſeinen Widerſpruch verhindern; auch iſt es keine Verletzung der Vereinspflichten, wenn einzelne Glieder für ſich eine Maaßregel in Ausführung bringen, welche der Grundverfaſſung nicht widerſtreitet und keinem andern Ver - einsgliede ſchadet. 1Dies iſt der Sinn des Satzes: in re pari potiorem esse prohibentis causam (L. 28 D. comm. divid. ) anwendbar auch auf Staatengemein - ſchaften. Vgl. Ludolph. Hugo, de statu region. Germ. c. 6. §. 7.
Selbſt wo das Princip der Stimmenmehrheit entſcheidend iſt, kann dennoch hierdurch keinem Einzelnen oder mehreren derſelben eine Leiſtung auferlegt werden, die nicht ſchon in den grundverfaſ - ſungsmäßigen Verpflichtungen enthalten iſt, und noch viel weniger eine Beſtimmung getroffen werden, welche ſich auf die vom Verein unabhängigen Rechtsverhältniſſe der Einzelnen bezieht, ohne freie Zuſtimmung der Betheiligten. 2Dies ſind die ſ. g. iura singulorum. Eine nähere Beſtimmung derſelben hat von jeher Schwierigkeiten gemacht, namentlich in Folge des Weſtphäl. Osnab. Friedens V, 52. Darüber ſ. ab Ickstadt, Opusc. t. II, 1 — 5. Eine, das Obige ausſprechende, Feſtſetzung enthält für den deutſchen Bund die Wiener Schlußacte v. 1820. Art. 15. Vgl. Klüber öffentl. R. des t. B. §. 129.
94. Alle Verträge verpflichten zur vollſtändigen redlichen Er - füllung4Alle Verträge ſind nach Völkerrecht bonae fidei contractus! deſſen, was dadurch zu leiſten übernommen worden, und zwar nicht bloß desjenigen, was dadurch buchſtäblich verſprochen, ſondern auch desjenigen, was dem Weſen eines jeden Vertrages, ſo wie der übereinſtimmenden Abſicht der Contrahenten gemäß iſt (dem ſ. g. Geiſt der Verträge). — Die Verpflichtung, welche der dispoſitionsfähige Repräſentant für den Staat, ſelbſt in einem ge -166Erſtes Buch. §. 94.miſchten Vertrage (§. 82. a. E.) eingegangen, ruht auf dem ganzen Staat (ſie iſt in rem) und dauert bis zur Erfüllung, ſo lange als der Staat ſelbſt noch beſteht (§. 24.), wenn auch mit verän - dertem Beſtande und mit veränderter Verfaſſung; mit Vorbehalt der aus der Veränderung der Verhältniſſe ſich ergebenden Modifi - cationen oder der gänzlichen Aufhebung bei völlig geänderten Um - ſtänden (§. 98.). Verpflichtungen des Souveräns in Beziehung auf ſeine Souveränetätsrechte eingegangen, werden, als den Staat ſelbſt auch treffend, regelmäßig auf jeden Regierungsfolger über - gehn; Privatverpflichtungen nur auf ſeine Privatnachfolger, ſofern nicht in beiden Fällen nur ein rein perſönliches Factum verſpro - chen ſeyn ſollte. 1Die älteren Publiciſten haben hierüber weitläuftige Unterſuchungen ange - ſtellt, z. B. Groot und[Pufendorf] VIII, 9, 6. und deren Schulen. Das Verhältniß der Souveräne zu den Staaten iſt ſeitdem klarer geworden. Richtige Anſichten finden ſich bei Vattel II, 12, §. 183 ff. Die bloße Benennung der Souveräne, ohne der Staaten zu gedenken, thut an ſich Nichts zur Sache. Zweifelhaft könnte die Frage ſein, ob der h. Bund ein perſönlicher oder reeller ſei? S. indeß oben S. 161. den Art. 2. Nach den Erklärungen, die gleich Anfangs von Seiten einiger Regierungen gemacht worden ſind, ſollte die Idee eines Staatenvertrags ausgeſchloſſen ſein. Vgl. Wiener Jahrbücher v. 1822. Bd. IV, S. 93.Staatenverträge (in rem) welche die Unter - thanen und deren individuelle Verhältniſſe betreffen, haben, wenn ſie überhaupt giltig eingegangen und publicirt ſind, die Natur der Staatsgeſetze. 2Vgl. Groot II, 14, 9. II, 22, 5. v. Neumann §. 333.
Nie kann ein völkerrechtlicher Vertrag Staaten oder Souve - räne als die Repräſentanten und Traͤger des Rechts, zu einem Unrecht gegen ewige Grundſätze des Rechts und der Sittlich - keit, worin auch die religiöſen Intereſſen eingeſchloſſen ſind, ver - pflichten. Bei der Vollziehung iſt Schonung und Billigkeit zu beweiſen, ſo wie jeder von dem andern ſelbſt behandelt ſein wollte, wenn ihm das Forderungsrecht zuſtände; es ſind daher auch angemeſſene Friſten zu geſtatten, damit ſo wenig als möglich der Verpflichtete im Nachtheil verſetzt wird oder in ſeinem Rechts - beſtande eine Verminderung erleidet. Es darf auch der Verpflich - tete bei ſolchen Leiſtungen, welche nicht ſchon ganz beſtimmt an einen beſtimmten Zeitpunct unaufſchiebbar geknüpft ſind, vorerſt die Aufforderung des Berechtigten erwarten, ehe er für die Nach -167§. 95. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.theile des Verzuges zu haften hat, welche ſich auch im Völkerrecht in das Intereſſe der rechtzeitigen Leiſtung auflöſen.
Welche Folgen die Nichterfüllung eines Vertrags haben könne, lehrt das Actionenrecht (Buch II.).
Dritten Parteien kann ein Vertrag an ſich keinen Vortheil noch Nachtheil bringen. Inſofern jedoch letzteres unmittelbar oder mit - telbar und widerrechtlicher Weiſe der Fall ſein würde, können ſie dagegen conſervatoriſche Maaßregeln ergreifen, vorläufig auch ſich durch Proteſtationen verwahren. Indeſſen hindern dieſe an und für ſich nicht die Giltigkeit und Vollziehung eines rechtmäßigen Vertrages unter den Intereſſenten ſelbſt. 1Rom und einzelne Glieder der kirchlichen Hierarchie haben zu verſchiedenen Malen gegen die der Kirche nachtheiligen Staatenverträge proteſtirt. So der Biſchof von Augsburg gegen den Religionsfrieden von 1555. Rom gegen den Weſtphäliſchen Frieden und noch ſpäter. Die Staatsgewalten haben ſich darüber hinausſetzen müſſen, und auch die Kirche iſt der Noth - wendigkeit der Weltverhältniſſe unterworfen.
95. Die Auslegung der Verträge2Vgl. im Allgemeinen Groot II, 16. und dazu Cocceji; auch Pufendorf V, 12. Am ausführlichſten hat ſich Vattel II, 17. über die Vertragsaus - legung verbreitet. S. auch v. Neumann Jus Princ. l. c. tit. 6. §. 221. Rutherford, Instit. II, 7. Crome und Jaup Germanien II, 2, 161. Die Rechtfertigung der obigen Sätze liegt meiſtens ſchon im vorhergehenden §. muß im Fall des Zwei - fels nach der erkennbaren gegenſeitigen Abſicht, dann aber nach demjenigen geſchehen, was dem Einen Theil von dem Andern nach den dabei gebrauchten Worten des letztern, bei redlicher und verſtändiger Geſinnung vorausgeſetzt werden darf. So kann denn vorab niemals als bewilligt gelten, worüber der fordernde Theil ſich gar kein beſtimmtes Verſprechen hat ertheilen laſſen,3Vgl. Mably droit publ. I, p. 59. oder bei unklarer Faſſung die dem Rechtsſtand des Promittenten, ſeinem und ſeines Volkes Wohl nachtheiligere Deutung entſcheiden; iſt ein Recht verſchiedener Abſtufungen fähig, ſo darf zunächſt nur die geringſte Stufe als zugeſtanden angenommen werden;4v. Neumann §. 225. Vattel §. 277. iſt eine Sache im Allgemeinen verſprochen (im genus), ſo muß im Zwei - fel das gewöhnliche, insbeſondere eine mittlere Qualität gemeint168Erſtes Buch. §. 96.ſein. 1Wie dieſes auch im Privatrecht nach dem Vorgang des Römiſchen Rechts (l. 37. D. de legat. I.) ohne Zweifel allenthalben angenommen wird.Nur was nothwendig und untrennbar mit der ausdrück - lich bewilligten Leiſtung verbunden iſt, darf als ſtillſchweigend in dieſer mitenthalten gefordert werden. — Eine vollkommen ver - bindliche Auslegung können nach internationalem Recht natürlich nur die Intereſſenten ſich ſelbſt geben oder durch einen Schieds - richter geben laſſen; alle Interpretationsregeln der Verträge dienen außerdem bloß zur einſeitigen Unterſtützung von Anſprüchen oder Einwendungen.
96. Zur Bekräftigung und Verſtärkung giltiger Vertragsver - bindlichkeiten haben im internationalen Verkehr alter und neuerer Zeit, außer den jetzt nicht mehr üblichen religiöſen Feierlichkeiten bei Schließung der Verträge ſelbſt3Vgl. v. Neumann §. 241. 242. und außer den Anerkennungs - acten, wodurch dieſelben Contrahenten oder deren Nachfolger die noch fortdauernde Giltigkeit eines Vertrages erklären, hauptſächlich folgende Mittel gedient:
97. Als ein beſonders wirkſames, obwohl der That nach im - mer ſehr unſicheres Mittel hat man oft im internationalen Verkehr die Stellung von Gewährsmännern für übernommene Verbindlich - keiten benutzt. In der älteren Zeit ließ der Promittent Vaſal - len oder Unterthanen als Gewähren (warrandi, garants, conser - vatores pacis) dafür einſtehn und ſich verpflichten, daß dem Ver - trage Folge gegeben werden ſolle;2Beiſpiele finden ſich bis in das ſechzehnte Jahrhundert. Vgl. Leibnitz, Cod. iur. gent. I, p. 8. Recueil des traités I, p. 471. Klüber §. 155. not. c. in der neueren Zeit iſt die Ab - ſchließung acceſſoriſcher Garantieverträge mit dritten Mächten üb - licher geworden, wodurch dieſe die Verbindlichkeit übernehmen, für die Aufrechthaltung eines geſchloſſenen Hauptvertrages ſowohl unter den Contrahenten ſelbſt wie gegen die Eingriffe Anderer mit den ihnen zu Gebot ſtehenden Mitteln thätig ſein zu wollen; eine Anwendung des ſchon §. 92. IV. erwähnten Garantievertrages auf das obligatoriſche Band, welches unter zweien oder mehreren Hauptparteien beſteht.
Dergleichen Garantien können nicht aufgedrungen werden, ſon - dern nur auf freiwilliger Annahme der Hauptintereſſenten beruhen. 3Die Annahme eines Garant von Seiten Eines Contrahenten giebt gegen den Anderen nur die Befugniſſe einer einſeitigen Garantie. Vgl. v. Neu - mann §. 792. 796.
Die Annahme muß eine beſtimmte ſein und von allen, unter denen die Gewährſchaft gelten ſoll, zugeſtanden werden; ſie fließt nicht von ſelbſt aus einem bloßen Acceſſionsvertrage ſo wenig wie aus dem Amte des Vermittlers,4Cocceji l. c. IV, 13. v. Neumann §. 793. auch iſt bei einem unter mehr als zwei Parteien geſchloſſenen Vertrage nicht etwa jeder Theilneh -5ſer Verſ. IX, 2, 457. v. Neumann §. 751 f. Vattel II, 16, §. 311 f. v. Steck, Verſ. über verſch. Gegenſt. 1772. S. 48. und die bei v. Ompteda §. 276. und v. Kamptz §. 250. angezeigten Schriften.171§. 97. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.mer in Betreff der die Anderen individuell betreffenden Stipulatio - nen als Gewährsmann zu betrachten,1Man hat dies aus dem gewöhnlichen Inhalt der Ratificationsurkunden herleiten wollen. Allein dieſes ſind einſeitige Erklärungen. wenn nicht auch dieſes verabredet worden. 2Cocceji II, 3. Klüber §. 158. b. c. Ein Beiſpiel der Aachener Friede v. 1748.
Die Uebernahme der Gewährſchaft geſchieht entweder bei der Schließung des Hauptvertrages ſelbſt oder in einem acceſſoriſchen Vertrage oder durch Abgabe der dem Dritten vorbehaltenen Garan - tieerklärung. Sie iſt entweder eine allgemeine, ſämmtliche Ver - tragsverbindlichkeiten umfaſſende, oder eine ſpecielle für gewiſſe Stipulationen; und geht bald auf die ganze Dauer der Haupt - verbindlichkeit, bald nur auf eine beſtimmte Zeitdauer.
Die Wirkung der acceſſoriſchen Garantie beſteht im Weſent - lichen darin, daß der Gewähre, wenn er dazu von einem der Hauptintereſſenten aufgefordert wird3Allgemeines Einverſtändniß. S. z. B. Cocceji IV, 12. v. Neumann §. 796. a. E. Vattel §. 236. und der Fall der Garantie wirklich vorhanden iſt, dem Vertrage diejenige Wirkſamkeit zu ver - ſchaffen bemüht ſein muß, welche ihm nach völkerrechtlichen Grund - ſätzen zukommt. Unaufgefordert darf er ſich nicht einmiſchen; auch darf er dem Vertrage keine andere Auslegung und Bedeutung ge - ben, als worüber die Hauptparteien einig ſind, und wenn ſie dies nicht ſind, wenigſtens in keinem andern Sinn, als welchen der ihn allein anrufende Theil damit verbunden haben will. Iſt der Gewährsmann hierüber anderer Meinung, ſo muß er ſeinen Bei - ſtand verſagen. Wird er von beiden Theilen angerufen, ſo hat er das Recht der Auslegung, nur nicht über die beiderſeitige, wenn auch verſchiedene Auffaſſung hinaus.
Eine Abänderung des Vertrages, ſo wie eine Entlaſſung des Gewähren vor ſeiner Verbindlichkeit durch Einverſtändiß der Hauptparteien kann er niemals verhindern, wenn er nicht ſelbſt auch als ein Intereſſent an dem Hauptvertrage Theil genommen hat oder darin begriffen iſt. Eben ſo wenig wird der Gewähre eines Vertrags, worin ein anderer früherer Vertrag als noch fort - dauernd unter den Hauptparteien anerkannt und beſtätigt wird, ſofort der Gewähre dieſes früheren Vertrages in ſeinen einzelnen172Erſtes Buch. § 98.Beſtimmungen, ſondern er wird es im Weſentlichen nur für die Giltigkeit der Anerkennung, wenn nicht ein Mehreres unter den Vertragſchließenden beabſicht worden iſt. 1Eine Frage dieſer Art iſt durch den Teſchener Frieden angeregt worden. S. die Streitſchriften in v. Kamptz Lit. S. 81. No. 5 flg.
98. Ein Vertrag kann nach Völkerrecht als nichtig angefoch - ten werden, wenn ihm die ſchon oben §. 83. u. f. angezeigten weſentlichen Vorausſetzungen und Erforderniſſe abgehen; insbe - ſondere
In Fällen ſolcher Art exiſtirt ganz eigentlich gar kein Vertrag. Eine einſeitige Anfechtung iſt überdem zuläſſig
jedoch nur von Seiten desjenigen Theiles, in deſſen Perſon der Mangel eines freien Conſenſes Statt fand.
Nicht minder kann ſich der Promittent der übernommenen Ver - bindlichkeit entziehen:
insbeſondere wegen eines Conflicts mit Pflichten gegen ſich ſelbſt, mit den Rechten und dem Wohle des Volkes, oder mit den Rechten Dritter, wenn z. B. das frühere ſchon zur Zeit des Ver - trages vorhandene Recht eines Dritten verletzt werden würde; ob - gleich hier der Promittent, welchem die Unmöglichkeit bereits zur Zeit des Vertrages bekannt war, für das Intereſſe haftet;1Vgl. v. Neumann §. 177. Klüber §. 144. 164. Not. e. Breuning l. c. §. 4. 10. ferner:
Als eine ſolche Veränderung iſt diejenige zu betrachten, wobei der Verpflichtete ſeine bisherige politiſche Stellung nicht behaupten könnte und ſich namentlich in eine Ungleichheit gegen andere Staa - ten verſetzen würde, die zur Zeit des Vertrages nicht exiſtirte, auch nicht beabſichtigt war;3S. auch Schmelzing §. 403. ferner wenn ein gewiſſes Ereigniß oder Verhältniß das Motiv des eingegangenen Vertrages war, ſelbiges aber entweder gar nicht eingetreten iſt oder wieder aufgehört hat, z. B. eine Familienverbindung als Veranlaſſung einer Staatenal - liance, wo jene die ſtillſchweigende Bedingung der letztern war.
Steht die Unmöglichkeit der Erfüllung oder die eingetretene Ver - änderung der Umſtände nur einem Theile der übernommenen Ver - tragsverpflichtungen entgegen, ſo kann auch nur eine Modification174Erſtes Buch. §. 99.derſelben, nicht die Auflöſung des ganzen Vertrages gefordert werden. 1Fälle, worauf dieſes Anwendung leidet, können ſein: die Realverbindung eines bisher unabhängigen Staates mit einem anderen; Eintritt in ein Schutzverhältniß zu einem anderen; Verluſt eines Theiles des Territoriums und dgl. Vgl. auch Vattel II, §. 204.
Unbedenklich iſt endlich, daß, wenn Ein Contrahent die Erfül - lung des Vertrages beſtimmt verweigert, und nicht bloß ein Grund, wie vorſtehend, zu einer Vertragsmodification vorliegt, auch der andere Theil ſich davon ſchlechthin losſagen kann, ſollte gleich die Verweigerung der Erfüllung ſich nur auf einen vereinzelten Punct oder Artikel des Vertrages beziehen. Denn die Grundlage jeder Vertragsverbindlichkeit iſt vollkommene Willenseinheit über Alles, worüber man ſich erklärt hat, deren Verletzung in Einem Stücke auch eine Verletzung der übrigen befürchten läßt und einen Zuſtand der Ungleichheit mit ſich führt. 2Der obigen Anſicht ſind nach Groot II, 15, 15. auch Mably, dr. d. g. I, p. 164. Vattel II, 200 f. Klüber §. 165. Not. c. wo die wichtigſten Schriften angemerkt ſind, ſodann Schmelzing §. 403. Martens wollte Principalartikel und Nebenartikel unterſcheiden. Völkerr. §. 59. Ein ſol - cher Unterſchied iſt aber ſehr ſchwierig und immer wieder von dem indivi - duellen Ermeſſen abhängig. Dagegen wird die Verletzung Eines Vertrages noch nicht zur Aufhebung aller übrigen Verträge mit demſelben Contrahen - ten berechtigen. S. Vattel a. a. O. Zuweilen iſt in Verträgen ausdrück - lich vorbehalten, daß bei dem Eintritt von Vertragsverletzungen zuerſt güt - liche[Verſtändigung] verſucht werden ſoll. Osnabr. Weſtph. Friede Art. 17. §. 5. Frieden von Oliva, Art. 35. §. 2.
Alle vorſtehend bemerkten Einreden können übrigens beſeitigt werden theils durch vorherigen Verzicht, theils durch ausdrückliche oder ſtillſchweigende Beſtätigung des an ſich möglichen Vertrages, insbeſondere durch Vollziehung deſſelben, nachdem das Hinderniß der Giltigkeit gehoben iſt.
99. Vertragsverbindlichkeiten erlöſchen von Rechtswegen
Endlich entſteht, wenn auch nicht immer eine völlige Aufhebung, doch Suspenſion von Vertragsverbindlichkeiten durch den Eintritt eines allgemeinen nicht bloß partiellen Kriegszuſtandes unter den Contrahenten, ohne daß der Vertrag ausdrücklich auch für die Dauer des erſteren geſchloſſen iſt; eine Conſequenz, die ſich aus der näheren Betrachtung der rechtlichen Bedeutung des Krieges im fol - genden Buche rechtfertigen wird. 4Vorläufig iſt hier auf die bei Klüber §. 165. Not. a. gegen Ende ange - zeigten Schriften zu verweiſen. Siehe auch Wheaton, intern. L. III, 2, §. 8. und dann unten §. 122. 181.
Jeder an ſich erloſchene Vertrag kann übrigens durch eine aus - drückliche oder ſtillſchweigende Erneuerung5G. F. v. Martens, über die Erneuerung der Verträge in den Friedens - ſchlüſſen d. Europ. Mächte. Gött. 1797. wieder ins Leben ge - rufen werden; nur die Erneuerung ſelbſt aber wird hier das Ge - ſetz für die Zukunft und iſt daher an die Vorausſetzungen und Bedingungen giltiger Verträge allenthalben gebunden. Eine ſtill - ſchweigende Erneuerung muß demnach auch vollkommen erkennbare und unzweideutige Merkmale für ſich haben, woraus die Abſicht4die Erfüllung in einem unfreien Zuſtand erfolgt iſt, kann ein Rückforde - rungsrecht begründet ſein. Vgl. Vattel II, 192.176Erſtes Buch. §. 100.der Parteien hervorgeht, den früheren Vertrag überhaupt und in allen ſeinen Beſtimmungen fortleben zu laſſen. Sonſt wird eine fortgeſetzte Leiſtung und Annahme deſſen, was aus dem früheren Vertrage gefordert werden konnte, nur wie ein einzelnes für ſich beſtehendes Factum zu betrachten ſein.
100. Ohne Vertrag, aber nach Art der Vertragsverbindlich - keiten (quasi ex contractu) entſtehen1In vielen völkerrechtlichen Syſtemen wird ein gänzliches Schweigen hier - über beobachtet. Einige ältere Schriftſteller und Lehrer des Naturrechts wollten auch dergleichen Verbindlichkeiten geradezu leugnen. Was indeſſen alle Geſetzgebungen und Rechtsverwaltungen civiliſirter Völker unter Pri - vatperſonen als ein ſich von ſelbſt verſtehendes Recht angenommen haben, kann unmöglich unter den Staatsgewalten ſelbſt eine Chimäre ſein. Siehe übrigens auch v. Neumann Jus Princ. Priv. de pact. et contract. §. 824 f. Nur wenn und ſoweit die Civilgeſetze der Völker in einzelnen Puncten aus - einander gehen, kann eine Conteſtation Statt finden; nicht über die Prin - cipien. Wahr iſt, daß in der Völkerpraxis nur ſehr ſelten Fälle der An - wendung vorkommen werden. in ähnlicher Weiſe wie nach Civilrecht, ſo auch nach öffentlichem Recht vertragsartige Wirkungen aus folgenden erlaubten Handlungen und Verhältniſſen:
101. Kennt auch das Völkerrecht keine Verbrechen in dem Sinne des inneren Staatsrechtes, d. h. mit der Bedeutung rechts - widriger Handlungen oder Unterlaſſungen, wofür man von einer gewiſſen Autorität zur Rechenſchaft und Strafe gezogen werden kann: ſo giebt es doch auch nach Völkerrecht unerlaubte Handlun - gen oder Verletzungen des Völkerrechts ſelbſt, wenn eine unter ſei - nem Schutz ſtehende Perſönlichkeit an dieſer oder an den damit zuſammenhängenden weſentlichen Rechten, welche überall dieſelbe Bedeutung haben, namentlich an Freiheit, Ehre und Eigenthum gekränkt wird, ohne daß dem Verletzenden ſelbſt ein Rechtsgrund hierzu zur Seite ſteht. Jede ſolche Verletzung verpflichtet den rechtswidrig Handelnden zu einer Genugthuung des Gekränkten; denn überall, wo durch Willkühr eine Ungleichheit hervorgebracht iſt, muß es auch eine Wiederausgleichung geben; dies iſt das Ge - ſetz der Gerechtigkeit.
Die Genugthuung beſteht in der Zufriedenſtellung des Verletz - ten in den Schranken der Sittlichkeit. Zunächſt alſo in der Er - ſtattung des zugefügten materiellen, d. i. äußerlich erkennbaren und ſchätzbaren Schadens oder angerichteten Nachtheiles, ferner aber auch des intellectuellen Schadens, welcher der Würde des Gekränkten in ſeinem eignen und der Anderen Bewußtſein zugefügt wird. Die Verminderung dieſes Rechtsbeſtandes iſt wenigſtens immer durch ent - ſprechende Handlungen oder Leiſtungen des Beleidigers wieder aus - zugleichen, und das Intereſſe, welches der Beleidigte an der In - tegrität ſeines Rechtsſtandes hat, zu gewähren;2Hierzu dienen beruhigende Erklärungen, Rechtsanerkennungen und Garan - tien für die Zukunft. Beiſpiele ſ. im folg. §. ſonſt iſt dieſer befugt die Genugthuung zu erzwingen oder ſelbſt zu nehmen, und zwar in einer der zugefügten Kränkung analogen nicht an ſich un -179§. 102. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.ſittlichen Weiſe. 1Eine rein äußerliche Wiedervergeltung der Beleidigung mit einer gleichen darf zwar als äußerſte Grenze der ſtrengen Gerechtigkeit angeſehen werden, aber ſie kann es nicht nach der Sittlichkeit. Es verhält ſich damit genau ſo wie im Strafrecht. S. ſchon Augustin. Exposit. Psalm. 108. (und in c. 1. C. 23. qu. 1.) „ reddere mala pro malis-propinquum malis; con - venit tamen et bonis. Unde et lex modum ultionis statuit: Oculum pro oculo. Quae si dici potest, injustorum justitia est, non quia ini - qua est ultio quam lex statuit, sed quia vitiosa est libido ulciscendi. “ S. auch Vattel II, 51. 52. 339. Nur gegen völlig rohe, wilde Völker kann eine Talion als Repreſſalie ſich nothwendig machen.Mit Ausnahme einiger Handlungen, welche den Rechten aller Nationen gleichmäßig zuwider ſind und daher auch von allen vindicirt werden können (§. 104.), hat der Regel nach nur der Beleidigte oder ſein Rechtsnachfolger in der gekränk - ten Perſönlichkeit ein Recht auf Genugthuung wider den Beleidi - ger, wobei ſich aus der Subjectivität und den allgemeinen Rechts - verhältniſſen die nachfolgenden Unterſcheidungen ergeben.
102. Wird ein Staat oder deſſen Souverän durch eine aus - wärtige Staatsgewalt in ſeiner völkerrechtlichen Perſönlichkeit und den davon abhängigen Rechten verletzt, und befindet ſich das ver - letzende Organ nicht in dem Bereiche des beleidigten Theiles, ſo bleibt nichts übrig, als im Wege der Reclamation eine Genug - thuung zu fordern, oder wenn ſie verweigert wird, durch Selbſt - hilfe zu ſuchen. Auch mächtige Staaten pflegen bei wirklichem Un - recht eine Genugthuung dem minder mächtigen nicht zu verſagen. Man giebt ſie außer dem Erſatz eines etwa materiellen Schadens durch ſolenne Geſandſchaften und Erklärungen. 2Beiſpiele von gegebenen Genugthuungen für zugefügte Kränkungen, Belei - digungen und Verletzungen finden ſich in der neuern Geſchichte: 1662. zwiſchen Spanien und Frankreich, wegen verletzter Präcedenz. Ch. de Martens, Causes célèbr. II, 391. Schmauss Corp. J. G. I, 760. Günther I, 233. 235. 1685. zwiſchen Genua und Frankreich. de Martens l. c. II, 399. 1687. zwiſchen England und Spanien. de Martens Nouv. C. cél. II, 497. 1702. zwiſchen Venedig und Frankreich. de Martens Caus. cél. II, 405. 1709. zwiſchen England und Rußland, wegen Verletzung des Geſand - ten der letztern Macht. Ebdſ. I, 47. 1752. zwiſchen Schweden und Rußland. Ebdſ. II, 414. 1785. zwiſchen den Niederlanden und dem Kaiſer, wegen Verletzung der kaiſerlichen Flagge auf der Schelde. Ebd. II, 271.
12*180Erſtes Buch. §. 102.Sollte ein auswärtiger Souverän in einem fremden Staate wi - der dieſen ſelbſt oder die darin geheiligte Rechtsordnung eine Ver - letzung unternehmen oder begehen, ſo fällt zwar nach dem Grund - ſatz der Exterritorialität (§. 42. 53. ) die Ausübung einer förm - lichen Strafgerichtsbarkeit weg; wohl aber iſt der angegriffene Staat berechtigt, nicht nur der erſt unternommenen aber noch nicht ausgeführten Rechtsverletzung mit Gewalt entgegenzutreten, ſondern auch, wenn ſie bereits vollendet iſt, ſich der Perſon des Verletzenden zu bemächtigen und ſie bis zu erlangter Genugthuung zurückzubehal - ten, ja bei einem ſchlechthin feindſeligen Attentat wider die Exiſtenz und Integrität des angegriffenen Staates ſogar das Recht des Krieges auszuüben! 1Die Haupterörterung dieſer Frage ſ. in Bynkershoek de jud. comp. leg. cap. III. Huber, de jure civitatis I, 3, 3, 1. Thomasius, juris - prud. divina. III, 9, 76. Ward, Enquiry II, p. 485.
Daſſelbe gilt von untergeordneten Repräſentanten einer aus - wärtigen Staatsgewalt, ungehindert durch ihren exterritorialen Cha - racter, wenn ſie im Gebiet des fremden Staates, wo ſie beglau - bigt ſind, ein Verbrechen verüben,2Hierzu bietet die Geſchichte der vergangenen Jahrhunderte Beiſpiele in ziemli - cher Anzahl. S. Wicquefort, l’Ambassadeur I, sect. 27-29. u. Ward. Be - ſonders lehrreich ſind die Fälle, welche Merlin, Répertoire m. Ministre public, V, §. 4. n. XII. XIII. anführt. Vgl. auch wegen der Angele - genheit des Grafen Ghillenborg und Görtz, und des Grafen Cellamare (1717. 1718.) Ch. de Martens, Causes célèbres. I, 75 u. 179. We - gen der Grundſätze im Einzelnen vgl. Bynkershoek l. c. cap. XVII — XX. ſie mögen dieſes nun für ſich allein aus eigenem Antrieb oder auf Befehl ihrer Regierung un - ternommen haben. 3Thomasius l. c. „ illud autem absurdum, quod quidam arbitrantur im - pune licere legato exequi quidquid sibi a principe est mandatum. “etc.
Beſteht unter den betheiligten Staaten ein Lehnsverhältniß, ſo kann überdies die Feloniefrage eintreten; im Allgemeinen aber hat die Verfeinerung der Sitte und der Einfluß der öffentlichen2Aus denſelben Schriften laſſen ſich noch andere Beiſpiele von Verletzungen auswärtiger Geſandten und dafür gegebenen Genugthuungen nachweiſen. Vgl. auch Wicquefort, l’Ambassadeur. I, sect. XXVII. In der neue - ſten Zeit haben beſonders Verletzungen des Völker-Seerechts im gegenſeiti - gen Verkehr Anlaß zu Reclamationen und zu Gewährung von Entſchädi - gungen gegeben.181§. 103. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.Meinung in unſerer Zeit an Fragen der vorſtehenden Art im Gan - zen nur noch ein geringes practiſches Bedürfniß übrig gelaſſen.
103. Auch bei Verletzungen, welche ein Privatmann oder auch ein Agent der Regierung ohne deren Autoriſation1Sonſt gehörte der Fall unter §. 102. Die Regierung wird hier jedenfalls ihre Mißbilligung ausdrücklich erklären müſſen. Ein Beiſpiel zwiſchen Frank - reich und Sardinien ſ. bei Vattel II, 338. einem frem - den Staate, es ſei direct oder indirect an deſſen Angehörigen, zu - fügt, kommt es darauf an, ob dieſes im Gebiete des Letzteren ſelbſt geſchieht oder außerhalb deſſelben. Im erſteren Fall macht er ſich nach den Strafgeſetzen des fremden Staates ſelbſt verantwortlich (§. 36.) und verfällt auch der dortigen Strafgerichtsbarkeit, dafern er ſich im Bereiche derſelben fortdauernd befindet oder wiederbetreten läßt. In allen übrigen Fällen hingegen läßt ſich nur ein An - ſpruch des verletzten Staates an denjenigen denken, deſſen Botmä - ßigkeit der Beleidiger dermalen unterworfen iſt, nämlich darauf hinzuwirken, daß dem Beleidigten die gebührende Genugthuung ge - geben werde, ſei es auf dem geeigneten Civil - oder Criminalwege, oder durch Auslieferung oder endlich in einer ſonſtigen, dem recht - lichen Intereſſe des Verletzten entſprechenden Weiſe. 2Uebereinſtimmend im Allgemeinen, obwohl ohne genauere Unterſcheidung der verletzten Rechte iſt Vattel II, 71 — 78. Vgl. auch Groot II, 17, 20.Denn un - möglich kann unter befreundeten, im Verhältniß der Dikäodoſie zu Einander ſtehenden Staaten eine Genugthuung für Beeinträchtigung weſentlicher Staaten - oder Menſchenrechte verſagt werden, indem, wenn bei zugefügten Beſchädigungen an wohlbegründeten Rechten der Anſpruch auf Schadenserſatz geleugnet oder willkührlich abge - lehnt werden dürfte, das Recht ſelbſt ein Unding oder ohne Rea - lität ſein würde. Allerdings kann jedoch von einer Verpflichtung der anderen Staaten, eine Genugthuung dem Verletzten zu gewäh - ren oder zu vermitteln, nur, wie ſchon wiederholentlich bemerkt ward, bei weſentlichen Rechten, die überall eine Nothwendigkeit und den - ſelben Werth haben, die Rede ſein, nicht auch bei ſolchen Rechts - verhältniſſen, welche erſt durch den beſondern Willen der Staaten ihre Entſtehung und Geſtaltung empfangen, ſelbſt wenn dabei eine zufällige Gleichheit unter mehreren Staaten Statt finden ſollte. 3S. ſchon oben §. 31. Eben darauf gründet ſich auch der §. 39. Not. 3. behauptete Satz.
104. Zu den Verletzungen des Völkerrechts, welche alle Na - tionen unter der Herrſchaft eines gleichen ſittlichen Rechtes gleich - mäßig betreffen, und ſie ſämmtlich zu einer Unterdrückung oder Beſei - tigung gleichmäßig berechtigen, gehört überhaupt jede thatſächliche ab - ſolute Verleugnung der Rechte aller Menſchen und Nationen, eine Rechtlosſtellung derſelben überhaupt oder in gewiſſen Beziehungen, welche ſich wenigſtens ſchon in Einer Handlung als beſtimmte Ten - denz mit dazu geeigneten Mitteln Kund gegeben hat; insbeſondere
Eine Art hiervon iſt die Seeräuberei (Piraterie), beſtehend in gewaltſamer Anhaltung und Wegnahme von Nationalſchiffen oder des darauf befindlichen Eigenthums, um ſich damit zu bereichern, ohne dazu den Auftrag einer ſich dafür verantwortlich machenden Staatsgewalt nachweiſen zu können. 4Ueber den Begriff der Piraterie vgl. Wheaton, intern. L. II, 2, §. 16. Geſetze von Einzelſtaaten können dieſen Begriff in Betreff ihrer Untertha - nen noch anders beſtimmen oder erweitern; allein ſie können dies nicht zum Präjudiz anderer Staaten thun.Dergleichen Beginnen gilt als eine Feindſeligkeit gegen alle Menſchen, wenn es entweder ſchon ein habituelles geworden iſt oder doch als beabſichtigt erkannt wer - den kann. Werden Seeräuber in der That ſelbſt begriffen und ma -183§. 104. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.chen ſie von Waffen Gebrauch, ſo hat der Sieger Recht auf Le - ben und Tod (es geht mit ihnen an die Raa); jeder Staat, der ſich ihrer bemächtigt, iſt befugt, ſie nach ſeinen Geſetzen zu richten. 1Schon Cicero nannte (de off. III. ) praedones, worunter gewöhnlich auch die Piraten mitverſtanden werden, communes hostes omnium. Die regel - mäßige Strafe war der Tod. Verrina V, 26. Im Mittelalter Ertränkung. Leibnit. Cod. iur. gent. Urk. 124. Einzelne Unterthanen haben jedoch das Tödtungsrecht außer dem Falle eines Piratenangriffs nicht. Loccenius de j. marit. II, 3. 9. Valin z. Ordonnanz von 1681. III, 9, 3. p. 236. Bemerkenswerth iſt jetzt das franzöſiſche Geſetz v. 10. April 1825.
Nicht in dieſelbe Categorie hat man aber bisher die Schiffe und Angehörigen der Barbareskenſtaaten, ſo wie anderer osmani - ſcher Ufervölker geſtellt, ſondern ſich wegen der Verhältniſſe mit der Pforte nur auf einen Vertheidigungsfuß gegen ſie geſetzt oder durch Verträge und Geſchenke Sicherung verſchafft. Hoffentlich iſt die Zeit einer ſo traurigen Connivenz vorüber. 2Bynkershoeck quaest. I, c. 17. Nau, Völkerſeer. §. 130 ff. Ueber die älteſte Grundlage der obigen Verträge vgl. Ward, Enqu. II, 331.
Wäre bereits von allen Europäiſchen Völkerrechtsgenoſſen die Sclaverei der Neger aufgegeben und aller Schutz ihr entzogen, ſo würde auch die Zufuhr derſelben auf offener See von jedem Staat als ein Verbrechen gegen die allgemeinen Menſchenrechte behandelt werden dürfen. Für jetzt kann jede Nation nur, wenn ſie ſelbſt die Sclaverei verwirft, den, wenn auch nur durch Zufall in ihr Gebiet gekommenen Sclaven eine Zuflucht gewähren, und die Aus - lieferung ihren unnatürlichen Herrn verſagen, thatſächlich alſo je - nen das geben, was ſie nie verlieren konnten.
105. Völkerrechtliche Conteſtationen oder Streitigkeiten entſtehen im Allgemeinen über Anſprüche, deren Erledigung dem verfaſſungs - mäßigen Rechtsgang eines beſtimmten Staates nicht angehört, oder wegen willkührlicher von Seiten der dortigen Staatsgewalt entge - gengeſtellter Hinderniſſe daſelbſt nicht erreicht werden kann; folglich nicht allein über Anſprüche der Staatsgewalten und Souveräne an Einander, ſondern auch über Privatanſprüche eines Unterthans an einen auswärtigen Staat oder deſſen Unterthanen, wenn jenem das Recht von dem fremden Staat verweigert wird und ſich der Staat des in ſeinem Recht gekränkten Unterthans vermöge des ihm zuſtehenden Repräſentationsrechtes (§. 53.) gegen den frem - den Staat annimmt. Eine Einmiſchung dritter Mächte iſt allein unter den Bedingungen des §. 45 f. zuläſſig.
106. Völkerrechtliche Anſprüche haben der Regel nach keine andere Garantie für ſich, als die Macht der Wahrheit und den185§. 107. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.thatkräftigen Willen der Betheiligten; kein anderes Forum, als die eigne Gewiſſenhaftigkeit und die öffentliche Meinung. Es gebührt demnach zunächſt den Betheiligten, ſich unter Einander über die Entſcheidung zu verſtändigen, oder, dafern eine Vereinigung nicht zu bewirken wäre, ſich durch eigene Kraft in dem einſeitig erkann - ten Recht zu behaupten oder daſſelbe zu erſtreben. Das äußerſte Mittel zur Erhaltung, Wiedererlangung oder Durchſetzung des Rechts gegen Widerſpruch iſt demnach Gewalt oder Selbſthilfe, und zwar entweder eine defenſive gegen bevorſtehende Gefähr - dungen des Rechts oder der ganzen Exiſtenz, oder eine aggreſ - ſive Selbſthilfe wegen Rechtsverweigerung. Die Erſtere geht ihrer Natur nach lediglich auf Abwendung der Gefahr und Siche - rung gegen fernere Beeinträchtigung, die Letztere auf Erlangung vollſtändiger Genugthuung. Sogar die völlige Vernichtung des Gegners iſt bis zur Erreichung dieſer Zwecke nicht ausgeſchloſſen, wiewohl dieſelbe nie als das ſofortige unmittelbare Ziel mit Recht betrachtet werden darf. Das Daſein eines hinreichenden Grundes zur Selbſthilfe und die Beobachtung der richtigen Grenzen, welche durch den Zweck beſtimmt werden, entſcheidet zugleich über die Ge - rechtigkeit der Selbſthilfe. Außerdem iſt ſie eine tadelnswerthe und unrechte. Tadelnswerth erſcheint ſie insbeſondere, wenn außer dem Fall unmittelbarer Gefahr ohne Verſuch gütlicher Mittel, ohne Vorbringung und gehörige Unterſtützung eines vermeintlichen An - ſpruchs ſogleich zu dem letzten Mittel gegriffen wird. Denn es iſt dieſes an und für ſich ein unzuläſſiges Mittel, gerecht nur als Noth mittel.
107. Zweckdienliche Mittel um den Andern von ſeinem Unrecht zu überzeugen und zur Nachgiebigkeit zu beſtimmen, welche auch nicht unverſucht bleiben dürfen, ſo lange keine unmittelbare Gefahr eines Rechtsverluſtes bevorſteht, ſind dieſe:
In dieſem Letzteren liegt mehr als im vorhergehenden. Die Ver - mittlung ſuspendirt die Feindſeligkeiten, ſo lange nicht das Amt des Vermittlers aufgehört hat, von Rechtswegen. Freundliche Dienſte haben nur eine moraliſche Bedeutung.
Befindet ſich ein Theil gar nicht in der Gefahr eines wirkli - chen Rechtsverluſtes, könnte ſeine Handlung oder ſein Stillſchwei - gen nur einer rechtsnachtheiligen Deutung verfallen: ſo genügt zur Erhaltung des Rechts gegen etwanige Anfechtung ſchon eine bloße Proteſtation, wenn ſie nicht den bereits für den Proteſtirenden ein - getretenen wohlbegründeten Rechtsverhältniſſen oder den gleichzeiti - gen Handlungen deſſelben zuwider iſt, eine protestatio facto con - traria.
108. Iſt ein Rechtsverhältniß an ſich feſtſtehend und nur noch ei - ner näheren Regulirung bedürftig, wie z. B. eine noch nicht ſpeciell ge - zogene oder in Unklarheit gerathene Landesgrenze, oder iſt es wegen der einem Anſpruch entgegengeſetzten Rechtsgründe ein zweifelhaftes und findet darüber unter den Parteien ſelbſt keine Einigung ſtatt, ſo muß vorab auf die Erlangung einer unparteiiſchen Entſcheidung hinge - wirkt werden. Hierzu eignet ſich in einzelnen Fällen das Loos, ſei es, um jedem Intereſſenten einen beſtimmten Antheil an einer ſtreitigen Sache zuzutheilen, ſei es um an die Stelle eines völlig ungewiſſen Zuſtandes für immer oder auch nur vorläufig eine Ge - wißheit durch den zufälligen Ausſchlag des Loſes zu ſetzen. 1Anwendung davon iſt oft bei fürſtlichen Erbtheilungen, desgleichen zur Vermeidung von Rangſtreitigkeiten gemacht worden. Fr. C. v. Moſer in Schott jur. Wochenbl. Jahrg. III, S. 615 f.Al - les hängt hier begreiflich von der Vereinigung der Betheiligten ab. Auch der Zweikampf iſt als ein Waffenloos zuweilen in Antrag gebracht, ſelten aber angenommen worden oder zu einem Ausſchlag187§. 109. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.gelangt,1Beiſpiele aus älterer Zeit ſ. in Pet. Müller de duellis Principum. Jen. 1702. Ward, Enquiry, II, p. 216 s. Die neueſte Provocation erließ K. Guſtav IV. an Napoleon. Die Sache ſelbſt bedarf keiner Erörterung für das heutige Völkerrecht. Das Mittel iſt ein an ſich unzuläſſiges Ent - ſcheidungsmittel, weil es die Entſcheidung auch zu Gunſten des im Unrecht befindlichen Theiles wenden kann. und gewiß nicht zu bevorworten. Das billigſte, wie - wohl auch nicht immer entſprechende Mittel iſt die Unterwerfung unter einen Schiedſpruch. 2Vergl. im Allgemeinen Abr. Gerh. Sam. Haldimund, de modo compo - nendi controversias inter aequales et potissimum de arbitris compromis - sariis. Lugd. B. 1738.
109. Soll durch Auftragsertheilung von Einem oder mehre - ren Dritten ein völkerrechtlicher Streit entſchieden werden, ſo be - darf es dazu einer ausdrücklichen Convention der Betheiligten mit den auserſehenen Schiedsperſonen ganz nach den Grundſätzen der völkerrechtlichen Verträge. Ein ſolches Compromiß geht dann ent - weder nur dahin, ein ſchon durch Vereinbarung feſtſtehendes Prin - cip in Beziehung auf einen gewiſſen Gegenſtand unter den Par - teien in Ausführung zu bringen (arbitratio), z. B. eine Grenz - berichtigung oder Theilung nach gewiſſen Maaßen oder Proportio - nen zu vollziehen,3Die Unterſcheidung dieſes Falles von dem eigentlichen Arbitrium iſt vor - längſt von den Proceſſualiſten als eine natürliche erkannt und jeder Anfech - tung entzogen. Vgl. im Allgemeinen v. Neumann J. princ. priv. t. VIII, §. 1 sqq. oder auch eine Streitfrage ſelbſt erſt zu erör - tern und nach Recht und Billigkeit zu entſcheiden (eigentliches arbitrium). Das Compromiß muß die näheren Modalitäten be - ſtimmen, an welche die Ausführung des Schiedsauftrags gebun - den ſein ſoll, aber es bedarf dazu keiner Pönalſtipulation. Sowohl Privatperſonen4In älterer Zeit, ſelbſt in Staats - und Fürſten-Angelegenheiten ſehr ge - wöhnlich. Vgl. Hellfeld zu Struv. Jurispr. heroic. Cap. I, §. 21 u. ſ. w. 77. v. Neumann l. c. 12. 13. wie auch Souveräne können zu Schiedsrichtern gewählt werden; Erſtere können nur in Perſon handeln, Letztere können ſich bei der Erörterung durch Delegirte vertreten laſſen oder ſich dabei ihrer Räthe bedienen, wenn ſie nur den endlichen Aus -188Zweites Buch. §. 109.ſpruch ſelbſt thun. 1v. Neumann J. Princip. Priv. t. VIII, §. 18.Sind mehrere Schiedsrichter ohne nähere Beſtimmung erwählt, ſo kann keiner ohne den Andern giltig ver - fahren oder ein Urtheil ſprechen. 2Verſteht ſich als ſtillſchweigende Abſicht der Intereſſenten von ſelbſt. S. auch l. 17. a. E. und l. 18. D. de recept. Die davon abweichende Vor - ſchrift in cap. 2. de arbitr. in VI. iſt ſchwerlich als Regel des Völkerrechts anzuſehen.Bei Meinungsverſchiedenheiten iſt unſtreitig die Stimmenmehrheit als entſcheidend zu betrachten;3Iſt auch allgemeine civilrechtliche Praxis. Siehe l. 27. §. 3. D. l. c. im Fall einer Stimmengleichheit oder völligen Diſſonanz würde nur durch Zutritt der Betheiligten ein fernerer Ausweg zu gewin - nen ſein. 4Daß die Schiedsrichter ſich ſelbſt einen Obmann wählen, wie das Römi - ſche Civilrecht geſtattet, beruht auf einer poſitiven Vorſchrift, welche jedoch nicht in allen Civilrechten einmal beibehalten iſt.Iſt wegen des Verfahrens nicht beſtimmt, ſo ſteht dem Schiedsrichter zu, eine Zeit feſtzuſtellen, bis wohin die gegen - ſeitigen Ausführungen und Beweiſe vorgelegt werden ſollen, worauf er dann ohne weiteren Aufenthalt zur Vollendung ſeines Auftrags ſchreiten kann. Zwangsrechte ſtehen ihm gegen keinen Theil zu. 5Vgl. l. 27. pr. l. 49. §. 1. D. cit. und ſo überall!Sein Amt erliſcht durch neue Conventionen der Hauptparteien, durch Ablauf der ihm geſetzten Zeit, durch den Tod oder eingetre - tene Unfähigkeit des Schiedsmannes, endlich mit dem Entſcheid ſelbſt. Dieſer hat für die Intereſſenten die Bedeutung eines gilti - gen Vergleiches. 6Die beſchränktere Kraft des Schiedsſpruches im Römiſchen Recht iſt für das neuere Europa durch andere Ueberzeugungen von der Kraft der Ver - träge jeder Giltigkeit entbunden. Vgl. Groot III, 20. 46. Unrichtig iſt gewiß auch die Vorſtellung, daß wenn in dem Compromiß eine Conven - tionalſtrafe bedungen worden, der Schuldigerklärte ſich durch Erlegung der Strafe von der Erfüllung des Schiedsſpruches befreien könne!Er kann nur angefochten werden a) wegen Ungiltigkeit des Compromiſſes; b) wegen abſoluter Unfähigkeit des Schiedsmannes; c) wegen Unredlichkeit deſſelben oder der Gegen - partei; d) wegen mangelhaften oder gänzlich verweigerten Gehörs; e) wegen Ueberſchreitung der Grenzen des Compromiſſes; f) we - gen abſoluter Rechtswidrigkeit der in dem Entſcheid getroffenen Verordnungen, welche daher auch keine zuläſſige Cauſa eines Ver - trags (§. 83.) abgeben könnten, wogegen bloße Verſtöße in der Beurtheilung des beſonderen Falles, ſofern ihnen nicht etwa Par -189§. 110. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.teilichkeit zum Grunde liegt, keinen Grund zur Anfechtung darbie - ten. 1Vgl. Groot a. a. O.Nur bei der eigentlichen Arbitratio iſt der Nachweis einer thatſächlichen Unrichtigkeit und darauf beruhenden Unbilligkeit ſtets vorbehalten. 2Die ſ. g. reductio ad arbitrium viri boni, worauf ſich auch l. 76. 78. 79. D. pro soc. u. l. 9. D. qui satisd. cog. bezieht.
Zu allen Zeiten iſt der ſchiedsrichterliche Weg in verſchiedenen Formen benutzt worden. Bei den Griechen durch Berufung auf eine dritte befreundete Stadt;3Die πόλις ἔκκλητος. M. ſ. des Verf. Athen. Gerichtsverf. S. 340. bei den Römern in älterer Zeit durch die Reciperatio. 4Gallus Aelius bei Feſtus: „ Reciperatio est, cum inter populum et re - ges nationesque ac civitates peregrinas lex convenit, quomodo per re - ciperatorem reddantur res reciperenturque, resque privatas inter se per - sequantur. “Einen feſteren faſt ſtaatsrichterlichen Cha - racter haben die Bundesgerichte in Bundesſtaaten und Staaten - vereinen; ſo ſchon in den griechiſchen Staatenvereinen5Z. B. im Achäiſchen Bundesverhältniß. Polyb. II, 37, 10. Fr. W. Titt - mann griech. Staatsverf. S. 687. Die Verſammlung der Amphictyonen hatte ſchwerlich eine ſo große Bedeutung, als man ihr oft beigelegt hat. und ge - genwärtig die Austrägal-Inſtitution des deutſchen Bundes für die ſouveränen Glieder deſſelben6Das Neueſte hierüber: v. Leonhardi, das Austrägalverfahren des d. Bun - des. Frkf. 1838., oder Statt deren das Bundesſchieds - gericht. 7Nach dem Bundesbeſchluß vom 30. Oct. 1834. Art. XII. Hier tritt die vollziehende Macht des Bundes ſelbſt hinzu.
110. Sind gütliche Verſuche vergebens angewandt, oder ge - ſtattet das Dringende der Gefahr überhaupt keinen ſolchen Verſuch, ſo beginnt das Recht der Selbſthilfe und zwar bei Forderungen beſtimmter Gegenſtände, durch Wegnahme derſelben wo man ſie findet, oder durch Aneignung eines Aequivalents aus den Gütern des ſchuldigen Theiles, welche man in ſeiner Gewalt hat, außer - dem aber durch Anwendung von Repreſſivmitteln gegen das Un - recht des andern Theiles, und zwar entweder mit Eröffnung eines eigentlichen Kriegszuſtandes (Abſchn. 2.) oder vorerſt mit Anwen -190Zweites Buch. §. 110.dung von einzelnen Repreſſalien1Schriften ohne Zahl über dieſen Gegenſtand ſ. bei v. Ompteda §. 288. v. Kamptz §. 270. Der Gebrauch der Repreſſalien, ſelbſt im Privatver - kehr, iſt uralt. Sie heißen im Mittelalter auch pressaliae. Ueber ihre Anwendung im Mittelalter vgl. Hüllmann, Städteweſen I, 197. Pütter, Beitr. z. Völkerr. Geſch. I, 49. dann auch P. Frider. de Process. I, cap. 46 sq. Ueber den neueren völkerrechtlichen Gebrauch: Groot III, 2. v. Neumann, ius Princ. priv. t. VIII, §. 35. Martens Essai conc. les armateurs I, §. 4. Steck, Essais p. 42. Vattel II, §. 342 f. Whea - ton IV, 1, §. 2. 3. Nicht zu billigen iſt die Unterſcheidung von allge - meinen und beſondern Repreſſalien, wenn man unter Erſteren die Verhän - gung oder Erlaubniß aller und jeder Gewaltmaaßregeln wider Perſonen und Sachen eines fremden Staates verſteht, ohne beſtimmte Grenze. Dieſes wäre, wie ſchon der Großpenſionar Witt bemerkt hat, nichts anderes als Eröffnung eines Kriegszuſtandes. (von reprendere) d. h. ſol - chen Gewaltmaaßregeln, wodurch Perſonen oder Sachen der an - deren Partei der einſtweiligen Verfügung des ſein Recht verfolgen - den oder vertheidigenden Theiles unterworfen werden, um dadurch Erſtere zur Nachgiebigkeit oder zur Leiſtung ſchuldiger Genugthuung zu veranlaſſen. Hierunter gehört in weiterer Bedeutung: die Retaliation derſelben rechtswidrigen Handlung oder Un - terlaſſung, deren ſich der andere Theil ſchuldig gemacht hat, an Perſonen oder Objecten, welche demſelben angehören, ſo weit ein ſolches Verfahren mit den Geſetzen der Menſchlichkeit zu - ſammen beſtehen kann;2Z. B. wenn Geſandte eines Staates von einer fremden Staatsgewalt völ - kerrechtswidrig behandelt ſind und keine Genugthuung gegeben wird. Hier ſind die Repreſſalien die Genugthuung, die Strafe ſelbſt, zugleich auch ein Zwang zu correcterem Handeln für die Zukunft. ſodann die Innebehaltung und Beſchlagnahme von Perſonen, Sachen und Forderungen des anderen Theiles, welche ſich im Bereiche des verletzten Theiles befinden; eine Art von Arreſt oder Pfän - dung, wodurch jedoch weder ein Recht auf Leben und Tod der gepfändeten Perſonen, noch auf Appropriation der gepfän - deten Sachen begründet wird. Erſt wenn das Mittel bei dem Gegner ſeinen Zweck nicht erreicht, können jene Sachen zur Genugthuung für die verletzten Intereſſen verwendet wer - den. Die Perſonen aber ſind als Geißeln zu behandeln. 3Schon Schilter de jure obsidum ſtellt Repreſſalien gegen Perſonen mit den Geißeln zuſammen. S. auch Vattel §. 351. Selbſt wenn nächſtdem191§. 111. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.Einen zureichenden Grund zu derartigen Repreſſalien gewährt jede völkerrechtlich anfechtbare Verzögerung oder Verweigerung des Rechtes durch Eigenmächtigkeit der zum Recht verpflichteten Par - tei, es ſei nun im legislativen, gerichtlichen oder Verwaltungs - wege. 1Beiſpiele und Verhandlungen darüber ſ. in Ch. de Martens Causes cé - lèbr. II, p. 1. und p. 151 s. Nur unabhängige Mächte können von jenen Mitteln Ge - brauch machen, jedoch dürfen ſie auch Einzelnen ihrer Angehörigen die Ausübung überlaſſen;2Dies geſchah ſonſt durch Ertheilung ſ. g. Markebriefe (lettres de mar - que) in Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden u. ſ. w. Vgl. v. Mar - tens, Pütter und Wheaton a. a. O. Dieſer Gebrauch beſteht nicht mehr. dritte Mächte ſind hingegen weder ſchuldig auf etwanige Requiſition ſich der Ausübung zu unterzie - hen, noch auch berechtigt, Repreſſalien im Intereſſe einer andern Macht anzuwenden, wofern kein legitimer Fall einer Intervention vorliegt, wie bei Staatenvereinen insbeſondere eintreten kann,3Vgl. wegen des deutſchen Bundes die Wiener Schlußacte Art. 37. In der Schweizeriſchen Eidgenoſſenſchaft wird es ausdrücklich als Grundſatz an - geſehen, daß einzelne Cantons für die anderen Repreſſalien üben dürfen. Vgl. Martens Völkerr. §. 256. oder eine allgemeine Verletzung des Völkerrechts, um einem un - menſchlichen abſolut rechtswidrigen Verfahren ein Ziel zu ſetzen. Denn die Staaten ſind die Vertreter der Menſchheit.
111. Erlaubt ſich eine unabhängige Macht gegen andere Mächte oder deren Angehörige zwar keine Ungerechtigkeit, wohl aber eine Unbilligkeit, d. h. eine ungleiche Behandlung fremder Staaten oder der Ihrigen innerhalb des eigenen Rechtskreiſes, in - dem ſie dieſelben entweder von gewiſſen Vortheilen ganz ausſchließt, welche ſie ihren eigenen Unterthanen bewilligt, oder ſie doch zu Gunſten der letztern oder auch gegen andere bevorzugtere Natio - nen zurückſtellt, oder endlich indem ſie auswärtige Nationen bei der Einräumung gewiſſer Vortheile auf ungewöhnliche Weiſe be - laſtet: ſo finden keine eigentlichen Repreſſalien Statt, ſondern es3der Krieg ausbricht, iſt noch kein Recht auf Leben und Tod begründet, ob - gleich dies von älteren Publiciſten, z. B. ſelbſt von Cocceji zu Groot noch behauptet iſt.192Zweites Buch. §. 111.tritt das Recht der Retorſion1Schriften bei v. Ompteda §. 287. v. Kamptz §. 269. S. auch Moſer Verſ. VIII, 485. Vattel II, §. 341. v. Martens, Völkerr. §. 250. und Mittermaier deutſches Privatr. §. 110. in Kraft, d. h. die Rückan - wendung deſſelben Princips gegen die ſolchergeſtalt handelnde Macht, um ſich in Gleichheit mit derſelben zu ſtellen oder zu erhalten, bis die Unbilligkeit gehoben iſt, eine retorsio iuris, geheiligt in dem Rechtsſatz: quod quisque in alterum statuerit ut ipse eodem iure utatur, um den Egoismus oder die Einſeitigkeit des Andern ihm ſelbſt fühlbar zu machen. 2Die Retorſion iſt eine Reaction gegen eine Iniquität (ius iniquum), die Repreſſalien gegen eine Ungerechtigkeit (injustitia). S. beſonders Jo. Go - thofr. Bauer, in Opusc. t. I, p. 157 s.
Einer Anwendung dieſer Maxime iſt nicht allein dann erſt Raum gegeben, wenn eine Macht von dem für eine andere Nation be - ſchwerlichen Grundſatz ſchon in einem oder dem anderen Falle Ge - brauch gemacht hat, ſondern es genügt dazu ſchon die Aufſtellung des Grundſatzes als eines fortan giltig ſein ſollenden. Ungenügend iſt hingegen eine bloße Verſchiedenheit der Geſetze verſchiedener Länder, wonach zufällig bei einzelnen Ereigniſſen der Ausländer nicht daſſelbe Recht erlangen kann, welches er in ſeinem eigenen Vater - lande unter gleichen factiſchen Vorausſetzungen haben würde, ohne daß aber das von dem einheimiſchen abweichende ausländiſche Ge - ſetz gegen die Fremden berechnet iſt; z. B. wenn ein Staat bei der Inteſtaterbfolge andere Erbqualificationen oder Claſſificationen aufſtellt, als ein anderer Staat.
Niemals verſteht ſich ſodann die Ausübung der Retorſion ge - gen fremde Staaten ganz von ſelbſt als ein Recht der einzelnen Staatsgenoſſen, ſondern es bedarf dazu eines legislativen Beſchluſ - ſes der Staatsgewalt und einer Autoriſation für die Behörden oder die Einzelnen. 3Vgl. Dav. Gr. Struben, Rechtl. Bedenken V, n. 47. (Ausg. v. Span - genberg Bd. II, S. 321.Jene allein hat auch zu beſtimmen, in wel - cher Form und in welchen Grenzen die Retorſion beſtehen, wem endlich der Vortheil davon zuwachſen ſoll. Dies iſt Sache des inneren Staatsrechts.
Kann nach der Natur des Falles nicht genau an denſelben Gegenſtänden oder in derſelben Form eine Retaliation deſſelben ge -193§. 112. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.ſchehen, was der andere Staat gegen das Ausland ſtatuirt, ſo iſt eine analoge Anwendung des Princips nach den dieſſeits gegebe - nen Verhältniſſen durchaus unverfänglich und gerecht. 1Z. B. wenn ein Staat gewiſſe Artikel des Nachbarſtaates mit außerge - wöhnlichen Steuern belegt und den Verkehr damit hemmt, ſo kann der Nachbarſtaat ſeinerſeits andere Artikel des Erſteren auf ähnliche Weiſe be - handeln.
112. Als eine bald conſervatoriſche bald präparatoriſche Maaß - regel erſcheint unter den Staatenactionen das Embargo (ſpan. em - bargar, anhalten), ein vorläufiger Arreſt auf die in den Häfen oder Territorialmeeren eines Staates eben befindlichen Schiffe einer oder mehrerer Nationen, um das Auslaufen derſelben zu verhindern, eine Britiſche Erfindung, dann aber auch von andern Nationen übernommen. 2Schriften bei v. Kamptz §. 276. Vornehmlich ſ. Jouffroy, droit ma - rit. p. 31. Nau’s Völkerſeerecht (1802.), §. 258 f.
Eine derartige Maaßregel iſt entweder die unmittelbare Beglei - terin eines eintretenden Kriegszuſtandes, oder eine vorſorgliche in der Erwartung eines ſolchen Zuſtandes, die ſich bei dem Eintritt deſſelben in eine definitive mit den Wirkungen verwandelt,3Wheaton IV, 1. §. 4. wel - chen feindliche Güter und Perſonen rechtmäßig unterworfen wer - den können, wovon im nächſten Abſchnitt; oder ſie iſt auch nur eine ſtaatspolizeiliche für die inneren Intereſſen des ſie verhängen - den Staates; insbeſondere
oder auch ſelbſt
Endlich kann auch das Embargo ein Mittel oder eine Vorbereitung ſpecieller Repreſſalien ſein.
13194Zweites Buch. §. 113.In ähnlicher Weiſe kann ein Blocadezuſtand, d. h. die effective Abſperrung einer fremden Küſte, eines oder mehrerer Hä - fen, gegen allen Verkehr von Außen durch bewaffnete Macht zu verſchiedenen Zwecken angewandt werden. Nämlich:
Zwar erſt die neueſte Geſchichte liefert Beiſpiele der letzteren Art von Blocaden, nämlich in der Geſtalt von Repreſſalien;1Wir erinnern hier an die von Frankreich gegen Portugal 1831 und gegen Mexico im J. 1838 eingeleitete Blocade, welche letztere nachmals durch die Mexicaniſche Kriegserklärung ſich in eine vollkommen kriegeriſche verwan - delte. N. Suppl. au Rec. III, 570. und N. Recueil t. XVI, p. 803 f. Dieſe Maaßregeln konnten, weil bis dahin weniger im Gebrauch, einiges Bedenken verurſachen, ſind aber dennoch von andern Mächten, ſo viel be - kannt, nicht entſchieden angefochten. es kann jedoch kein Bedenken haben, daß dieſe Anwendung eine vollkom - men rechtmäßige ſei, und daß ſelbſt neutrale Mächte, unter den im dritten Abſchnitt dieſes Buches darzulegenden Bedingungen und mit den daſelbſt näher zu erörternden Bedingungen daran gebun - den ſind. Auch Blocaden ganzer Küſten beſtreitet man vergebens.
113. Krieg iſt ſeiner äußeren Erſcheinung nach ein feindſeli - ges Verhältniß unter verſchiedenen Parteien, worin man ſelbſt die195§. 113. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.äußerſten Gewaltthätigkeiten gegen Einander erlaubt hält. Dies iſt jedoch bloß eine thatſächliche Erklärung. Ein Rechtsbegriff wird der Krieg erſt, wenn man ſich ihn als Anwendung des äu - ßerſten ſelbſt vernichtenden Zwanges wider einen Andern denkt, zur Realiſirung rechtlicher Zwecke bis zur Erreichung derſelben. Er iſt mit anderen Worten die äußerſte Selbſthilfe. Wie dieſe iſt er daher entweder ein Vertheidigungskrieg zur Abwehrung eines ungerechten Angriffs, womit man bedroht wird, ohne daß man ſelbſt den Angriff erſt abzuwarten hat, wenn nur eine wirkliche Kriegsgefahr von Seiten des Andern droht,1S. ſchon oben S. 51. Not. 3. und Guiel. Schooten, de iure hostem imminentem praeveniendi. Specim. iurid. L. Bat. 1. oder er iſt ein An - griffskrieg, wegen ſchon erlittener Rechtsverletzung und zum Zweck der Genugthuung. Eben dadurch wird ſofort auch die Gerechtig - keit eines Krieges beſtimmt. Er iſt nur gerecht, wann und ſo weit Selbſthilfe erlaubt iſt,2S. oben §. 106. Friedrich der Große erklärte in ſ. Antimacchiavell, Cap. 26. toutes les guerres qui n’auront pour but que de repousser des usur - pateurs, de maintenir des droits légitimes, de garantir la liberté de l’univers et d’éviter les violences et les oppressions des ambi - tieux, als conformes à la justice. wiewohl auch der ungerechte Krieg in ſeinen Wirkungen dem gerechten thatſächlich gleichſteht. 3Dies wird von Allen anerkannt, auch von denen, welche mit Aengſtlich - keit die Gründe gerechter Kriege zu beſtimmen geſucht haben, und eine rechtliche Verantwortlichkeit deſſen behaupten, der einen ungerechten Krieg führt, wie z. B. von Groot und von Vattel III, §. 183 f. 190. Wie un - begründet gerade hier die Unterſcheidung eines natürlichen und willkühr - lichen Rechts ſei, erkannte ſchon Cocceji zu Groot III, 10, 3 f.Denn es giebt keinen irdiſchen Richter, von welchem ein Ausſpruch über Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit eines Krieges mit Unfehlbarkeit zu erwarten wäre; Zufälligkeiten würfeln ihn oft zuſammen und machen ihn meiſt zu einem Spiel, deſſen Schwankungen nie zuvor zu berechnen ſind; er ſetzt ein Chaos an die Stelle der Ordnung, aus welchem dieſe erſt wieder neu erſtehen muß. Gewiß aber wer - den die moraliſchen Nachwirkungen des ungerechten Krieges an - dere ſein, als die des gerechten, und niemals werden bloße Gründe des politiſchen Nutzens oder moraliſch gute Zwecke ohne das Da - ſein einer bevorſtehenden oder ſchon zugefügten Rechtsverletzung2ſchichte des Krieges ſ. bei v. Clauſewitz, vom Kriege. Berl. 1832. I, S. 105.13*196Zweites Buch. §. 114.die Ungerechtigkeit eines Krieges beſeitigen können. Alle abſtracten Fragen, ob Religionskriege, ob Strafkriege, ob Kriege zur Erhal - tung des politiſchen Gleichgewichts gerecht ſeien? ſind daneben überflüſſig und beantworten ſich aus den vorangeſchickten Erörte - rungen der völkerrechtlichen Verhältniſſe ganz von ſelbſt. 1Schriften über dieſe Fragen findet man bei v. Ompteda §. 294. 298. 299. v. Kamptz §. 274. 280. 281.
114. Ein Kriegsſtand kann rechtmäßiger Weiſe nur unter Par - teien eintreten, unter welchen der äußerſte Grad der Selbſthilfe erlaubt und möglich iſt, hauptſächlich alſo unter völlig freien von einander unabhängigen, keiner gemeinſamen höheren Gewalt unter - worfenen Parteien;2Schriften bei v. Kamptz §. 273. insbeſondere ein Staatenkrieg unter ſouverä - nen Staaten ſo wie gegen ſtaatenlos Lebende: z. B. Freibeuter, Flibuſtier, Seeräuber und dgl. Ein innerer Krieg politiſcher Par - teien deſſelben Staates kann höchſtens nur als ein Nothkrieg An - ſpruch auf Rechtmäßigkeit haben; er kann auch nie einen eigent - lichen Kriegsſtand, wie unter fremden Staatsgewalten, hervorbrin - gen. 3So ſchon Ulpian, 1. 21. §. 1. D. de captiv. „ In civilibus dissensio - nibus, quamvis saepe per eas respublica laedatur, non tamen in exi - tium reipublicae contenditur: qui in alterutras partes discedent, vice hostium non sunt eorum, inter quos jura captivitatum aut postliminio - rum fuerint. “Private Fehden oder Kriege auf eigene Fauſt unter Per - ſonen deſſelben oder verſchiedener Staaten hat die neuere Entwicke - lung des Europäiſchen Staatslebens völlig unterdrückt. 4Die Sitten des Mittelalters oder der Feudalzeit ſ. bei Ward, Enquiry I, p. 344. II, 209 f. Ein merkwürdiges Beiſpiel einer Kriegführung auf eigene Hand gaben noch Mannsfeld und Bernhard von Weimar im 30 jäh - rigen Kriege. S. auch Ward II, 312. Schill’s Zug ward reprobirt.Selbſt Aſſociationen vieler Privaten, wie z. B. kaufmänniſche Genoſſen - ſchaften, würden ohne Zulaſſung ihrer Staatsgewalten keinen Krieg zu führen berechtigt ſein, ſo lange ſie ſich nicht, wie einſt die197§. 115. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.Hanſa,1Deren merkwürdige völkerrechtliche Stellung: Ward II, 276 f. Pütter, Beitr. z. Völkerr. Geſch. 141. mit ſteinernen und hölzernen Mauern zu einer nicht mehr gehorchenden Macht erhoben haben ſollten. 2Erörterung des Kriegsrechtes von Handels-Compagnien ſ. bei Car. Fr. Pauli, de jure belli societatum mercatoriar. Hal. 1751.
Unter den kriegführenden Theilen ſind nun zu unterſcheiden die Hauptparteien und Nebenparteien, welche jenen Kriegshilfe leiſten.
115. Zu den Nebenparteien gehören im Allgemeinen diejeni - gen, welche der einen oder andern in Krieg gerathenden Macht Hilfe leiſten. Eine ſolche Kriegshilfe iſt entweder eine allgemeine, ungemeſſene, mit allen der Hilfsmacht zu Gebot ſtehenden Kräften und Mitteln, oder eine particuläre, gemeſſene, welche nur in qua - litativ und quantitativ beſtimmten Leiſtungen oder Vergünſtigungen beſteht; namentlich in Stellung eines beſtimmten Hilfscorps, in der Zahlung von Subſidien, Einräumung eines Waffenplatzes, Hafens; überhaupt in der Gewährung beſtimmter Vortheile, wo - durch das Angriffs - oder Vertheidigungsſyſtem einer kriegführen - den Macht gegen die andere verſtärkt wird, mit dauernder Ver - bindlichkeit dafür bis zur Erreichung eines gewiſſen feindſeligen Endzwecks. Dieſes iſt der entſcheidende Punct. Nur dadurch tritt man aus der ſtrengen Neutralität heraus. (Vgl. Abſchn. III.)
Die Leiſtung der Kriegshilfe iſt ſelten eine ganz aus einſeiti - gem Antriebe im Wege der Intervention übernommene; gewöhn - lich eine ausdrücklich verabredete und ſtipulirte; der casus foede - ris bald ein Angriffs - bald ein Vertheidigungskrieg;4Stillſchweigend verſteht ſich eine allgemeine Kriegshilfe bei übernommenen Garantien. Vattel III, 91. entweder mit Gegenſeitigkeit oder auch ohne ſolche. Es gelten dabei die allgemeinen Grundſätze und Auslegungsregeln der Verträge, deren Anwendung jedoch hier oft Schwierigkeiten und Conflicte erzeugt. Gebieteriſche Rückſichten auf das eigene Wohl, ältere Verpflichtun -198Zweites Buch. §. 116.gen gegen den zu bekämpfenden Feind ſetzen der verſprochenen Hil - feleiſtung oft unabweisbare Hinderniſſe entgegen;1Ueber den Fall, wenn man den beiden kriegführenden Hauptparteien Hilfe verſprochen hat, ſ. Groot II, 15, 13. und dazu Cocceji. Juridiſche Beſtim - mungen werden indeß hierbei ſchwerlich ausreichen. in jedem Falle bleibt auch dem Verbündeten die Prüfung vorbehalten, ob der Krieg, an welchem er Theil nehmen ſoll, ein gerechter Krieg ſei. 2Hierüber ſind Alle einverſtanden. Eine Menge Discuſſionen über die Exi - ſtenz des casus foederis ſ. bei Moſer a. a. O. S. 43 f. Dazu auch die Beiſpiele bei Wheaton III, 2, §. 13.Nichts trügeriſcher und unſicherer alſo, als das Vertrauen auf ge - ſchloſſene Alliancen, wo nicht ein vollkommen gleichartiges und bleibendes Intereſſe vorwaltet, wie in Staatenvereinen!
116. Das Verhältniß unter den Verbündeten ſelbſt, ſofern es nicht genau in anderer Weiſe durch den Bundesvertrag beſtimmt iſt, wird ſich der Natur der Sache und der Praxis gemäß im Weſentlichen dahin feſtſtellen:
117. Sieht man auf das Verhältniß des Feindes zu den Kriegs - verbündeten ſeines Gegners, ſo kann jenem unmöglich zugemuthet werden, ſich eine derartige Verſtärkung der Kriegsmacht des Letz - teren ohne Weiteres gefallen zu laſſen und der Verbündeten zu ſchonen, ſofern ſie ihm nicht unmittelbar entgegentreten. Es iſt unleugbar, daß auch ſie an den Feindſeligkeiten gegen ihn Theil nehmen, und daher auch unbedenklich, daß er ſich ihrer zur un - gehinderten Durchſetzung ſeiner Kriegszwecke zu entledigen befugt ſein muß.
Während dieſe Befugniß nun von Allen zugegeben wird, inſo -200Zweites Buch. §. 118.fern eine Kriegshilfe erſt während eines ausgebrochenen Kriegszu - ſtandes oder mit Hinſicht auf einen beſtimmt bevorſtehenden Kriegs - zuſtand übernommen wird, ſo meint man andererſeits ſie beſtrei - ten zu dürfen, wenn eine Macht der anderen ſchon im Voraus für die von ihr zu führenden Kriege, es ſei überhaupt oder wegen eines gewiſſen Gegenſtandes, eine particuläre Kriegshilfe ganz all - gemein ohne Deſignation eines beſtimmten Feindes zugeſagt hat, ja ſelbſt eine allgemeine Kriegshilfe für einen zu führenden Ver - theidigungskrieg. 1S. hierüber de Beulwitz de auxilüs hosti praestitis more gentium ho - dierno hostem non efficientib. Hal. Sax. 1747.Demungeachtet kann der Gegner hierdurch nicht gezwungen ſein, den Hilfsmächten Neutralität zuzugeſtehen, und ſie nur da feindſelig zu behandeln, wo ſie ihm unmittelbar gegenüberteten, wenn ihm nicht die Politik ein ſolches Verfahren anräth; vielmehr darf er jede ihm nachtheilige Ligue zu ſprengen ſuchen; er darf dem Verbündeten daher die Wahl ſtellen, entwe - der von der ihm feindſeligen Kriegshilfe abzuſtehen, oder den Krieg ſelbſt ganz und gar anzunehmen. 2Beiſpiel: das Verfahren Rußlands gegen Preußen im Anfang des Jahres 1813. in Beziehung auf die franzöſiſche Alliance.Gerechtfertigt iſt die Stellung einer ſolchen Alternative freilich erſt dann, wenn der Verbündete des Gegners ſich anſchickt, die verſprochene Kriegshilfe zu leiſten; ſo lange dieſes zweifelhaft iſt, ſteht nur das ſchon früher (§. 30. 45. ) erwähnte Fragerecht zu; wird aber die Antwort unter be - denklichen Umſtänden verweigert oder verzögert, ſo iſt der Bedrohte unfehlbar befugt, ſogar das Prävenire zu ſpielen. 3So verfuhr Friedrich II. von Preußen gegen Churſachſen, bei Ausbruch des 7 jähr. Krieges.
118. Sein natürliches Feld findet der Krieg zu Lande in den Staatsgebieten der feindlichen Parteien; der Seekrieg in den feind - lichen Territorialgewäſſern wie auf der offenen See. Neutrales Gebiet darf nur im Fall der Noth ohne Feindſeligkeit betreten werden; das nähere Verhalten dabei zeichnet das Recht der Neu - tralität vor. Das Verhältniß einer Hilfsmacht, auch wenn ihre Neutralität zugeſtanden iſt, ſchließt wenigſtens den Feind von der Verfolgung der geſtellten Hilfstruppen in ihr eigenes Gebiet nicht201§. 119. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.aus; iſt ſie völlig in den Kriegsſtand eingetreten, ſo theilt ſie das Loos der kriegenden Hauptparteien.
Beſchränkungen des Kriegsfeldes können nur durch Conventio - nen oder Politik herbeigeführt werden. Die Geſchichte liefert Bei - ſpiele von bloß particulären Kriegsoperationen gegen einen beſtimm - ten Theil eines Gebietes, anſtatt eines ſonſt die Regel bildenden allgemeinen Kriegszuſtandes der feindlichen Territorien, und zwar vorzüglich bei Interventionen im Intereſſe des Europäiſchen Friedens. 1Wir erinnern an die Intervention Frankreichs, Großbritanniens und Ruß - lands in den Griechiſchen Angelegenheiten: Nouv. Recueil t. XII, 1 sqq.; an den particulären Feldzug Frankreichs gegen Antwerpen 1832. auf Grund der Verträge mit Großbritannien vom 22. Oct. 1832. und mit Belgien vom 10. Nov. d. J. Ebdſ. XIII, 39. 57. ; an die Intervention in den orientaliſchen Angelegenheiten: an S. Jean d’Acre —. Im 7 jähr. Kriege war von einer während des Waffenſtillſtandes fortzuſetzenden Belagerung der Feſtung Neiße die Rede. Flassan, dipl. franç. V, 146.
119. Auch der Krieg hat ſeine beſtimmten Rechte und Formen. Dieſes iſt das eigentliche ius belli. Schon die Alten hatten ein ſolches;2Vgl. Liv. 2, 12. 31, 30. „ esse enim quaedam belli iura, quae ut fa - cere ita pati sit fas. “aber es ſetzte der ungebundenen Willkühr nur wenige Schranken. Erſt im Mittelalter ſtreiften ſich manche Härten ab, theils durch den Einfluß des Chriſtenthums, theils auch durch den Geiſt des Ritterthums. 3Die einzelnen Momente ſind hervorgehoben bei Ward, Enquiry von chap. X. an. S. auch oben S. 7 f.Die letzten Jahrhunderte haben nach manchen Schwankungen die Menſchlichkeit, das Bewußtſein der Gattung, als Regulativ angenommen. Civiliſirte Völker erkennen in dem Kriege nur einen Nothſtand, ein unvermeidliches Uebel; welches nicht weiter ausgedehnt werden darf, als die Noth es er - fordert; wo nicht der Menſch gegen den Menſchen zu ſeiner Ver - nichtung und ſo gegen ſich ſelbſt, ſondern Staat gegen Staat mit den einem jeden zu Gebot ſtehenden Kräften und Mitteln kämpft, und ſeinen Willen durch Angriff und Vertheidigung durchzuſetzen ſucht. 4So Portalis in ſeiner Rede bei Inſtallation des Conseil des prises am 14 Flor. J. VIII. : „ Le droit de la guerre est fondé sur ce qu’un peuple pour l’intérêt de sa conservation ou pour le soin de sa défense
202Erſtes Buch. §. 119.Daher iſt auch ſein oberſter Grundſatz, geheiligt eben ſo ſehr durch Recht und Humanität (Menſchenliebe), wie durch den eigenen Nutzen: füge Deinen Feinden auch im Kriege nicht mehr Uebel zu, als es für die Durchſetzung des Zweckes unvermeidlich iſt; wäh - rend das alte Kriegsrecht den Grundſatz befolgte: füge dem Feinde ſo viel Uebel zu als Du kannſt und nützlich findeſt. Die von der Sitte im Einzelnen beſtimmte rechte Weiſe des Krieges iſt die ſ. g. Kriegsmanier, auf deren gleichmäßige Beobachtung jeder bei dem anderen rechnet; ſie zeichnet die erlaubten Mittel und äu - ßerſten Grenzen vor; ſie verbannt und ächtet mit dem Fluch der Geſchichte jede Unmenſchlichkeit und Barbarei. Ihre Ueberſchrei - tung berechtigt jede Nation, alle Verbindung mit der fehlenden ab -4veut, peut, ou doit faire violence à un autre peuple. C’est 1 rapport des choses et non des personnes, qui constitue la guerre; elle est une relation d’état à état, et non d’individu à individu. Entre deux ou plusieurs nations belligérantes, les particuliers dont ces nations se composent, ne sont ennemis que par accident: ils ne le sont point comme hommes, ils ne le sont même pas comme citoyens; ils le sont uniquement comme soldats. “ Völlig übereinſtimmend mit dem Obigen und dem Nachfolgenden äußerte ſich auch Talleyrand in einer Depeſche an Napoleon vom 20. Nov. 1806: „ Trois Siècles de civilisation ont donné à l’Europe un droit des gens que, selon l’expression d’un écrivain illustre, la nature humaine ne saurait assez reconnaître. Ce droit est fondé sur le principe, que les nations doivent se faire: dans la paix le plus de bien, et dans la guerre, le moins de mal qu’il est possible. D’après la maxime que la guerre n’est point une relation d’homme à homme, mais une relation d’Etat à Etat, dans laquelle les particu - liers ne sont ennemis qu’accidentellement, non point comme hommes, non pas même comme membres ou sujets de l’Etat, mais uniquement comme ses défenseurs, le droit des gens ne permet pas que le droit de guerre, et le droit de conquête qui en dérive, s’étendent aux ci - toyens paisibles, et sans armes, aux habitations et aux propriétés pri - vées, aux marchandises du commerce, aux magasins qui les renferment, aux charriots qui les transportent, aux bâtimens non armés qui les voiturent sur les rivières ou sur les mers, en un mot à la personne et aux biens des particuliers. Ce droit né de la civilisation en a favorisé les progrès. C’est à lui qui l’Europe à été redevable du maintien et de l’accroissement de prospérité, au milieu même des guerres fréquentes qui l’ont divi - sée. “— — — — (Moniteur univ. du 5 Dcbr. 1806.) 203§. 120. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.zubrechen. Nur außerordentliche Umſtände, nämlich entweder die äußerſte Noth oder die Erhaltung der Gleichheit des Kampfes und der Regel ſelbſt, können als ſ. g. Kriegsräſon zu Ueberſchreitun - gen der gewöhnlichen Sitte berechtigen. 1S. außer der ſchon oben S. 45. Not. 1. angeführten Schrift von Stru - ben, Groot III, 1, 19. 18, 4. Pufendorf II, 3, 23. J. J. Moſer, IX, 1, 111 f. Bynkershoek, Quaest. I, 3. und die Schriften bei v. Ompteda §. 300. v. Kamptz, §. 282 f.Regellos iſt daher ſchon an ſich jeder Krieg wider Horden und Banden, welche kein Geſetz der Menſchlichkeit über ſich anerkennen. Strenger endlich und ver - nichtender als der Landkrieg iſt der Seekrieg; die Maximen deſſel - ben haben ſich bei dem Mangel eines gehörigen Gleichgewichtes der Seemächte, noch bei Weitem nicht zu einer gleichen Parallele mit dem des Landkrieges erhoben; zur Hälfte iſt er noch immer ein Raubkrieg, wie ſich weiterhin ergeben wird.
120. Ehe zu wirklichen Feindſeligkeiten geſchritten wird, muß, wenn bisher ein gegenſeitiger freundſchaftlicher Verkehr beſtand, dem Gegner, welchen man mit Krieg überziehen will, eine Kriegs - erklärung gemacht werden. Es würde keine Treue und Glauben unter den Nationen Statt finden, ſondern ein Syſtem der Iſoli - rung und Furcht Platz greifen, wenn eine unerwartete Kriegsüber - ziehung in jedem Augenblicke befürchtet werden müßte. Das Al - terthum beobachtete dabei beſonders feierliche Formen;2Die Römiſche Sage leitete ſie von den Aequicolern ab. Liv. I, 32. der rit - terliche Geiſt des ſpäteren Mittelalters hielt dergleichen ebenfalls für erforderlich;3Bei Privatfehden wie bei öffentlichen Kriegen. Ward, Enquiry II, 207 f. die Gewohnheit feierlicher Kriegserklärung dauerte bis in das ſiebenzehnte Jahrhundert. Seit dieſer Zeit aber hat man ſich ganz von beſtimmten Formen entbunden. Man begnügt ſich, jeden diplomatiſchen Verkehr mit dem Gegner abzubrechen4Daß die Zurückberufung der Geſandten den Anfang des Krieges dar - ſtelle, kann nicht behauptet werden. In Verträgen iſt jedoch zuweilen dar - auf zurückgegangen worden. v. Martens §. 262. Not. g. und auf einem der Publicität nicht entzogenen Wege, z. B. durch ſ. g. Kriegsmanifeſte, die Abſicht einer Kriegsunternehmung zu er - klären, oder ſofort zu einer ſolchen factiſch zu ſchreiten, ohne eine unmittelbare Benachrichtigung des Gegners noch für nöthig zu204Zweites Buch. §. 121.halten, wiewohl ſie immer etwas geziemendes ſein wird. 1S. beſonders Bynkershoek, Quaest. iur. publ. 1, 2. und daneben die Schriften bei v. Ompteda §. 295. vergl. mit v. Kamptz §. 275. ſodann Vattel III, §. 51. Emerigon, traité des assurances I, 12, 35. v. Mar - tens §. 262. Schmalz S. 223. Klüber §. 238.Gewiß bedarf es nach der Natur der Sache keiner näheren Erklärung bei Vertheidigungskriegen wider einen beſtimmt ſchon erklärten oder doch wahrſcheinlichen Angriff des Gegners. Recht und Bil - ligkeit fordern nur, daß eine plötzliche Schilderhebung nicht etwa gegen Privatperſonen und deren Eigenthum, ſo wie gegen Dritte, namentlich gegen Neutrale, gemißbraucht werde, um ſich dadurch Vortheile anzueignen, welche das Beſtehen eines legalen Kriegszu - ſtandes dem Kriegführenden darbietet. In dieſer Hinſicht kann ſich kein Staat, ohne Treue und Glauben zu verletzen, entbrechen, be - ſtimmte Erklärungen, Bekanntmachungen und Friſten Statt finden zu laſſen, und dadurch den Betheiligten Gelegenheit zu geben, ſich und das Ihrige gegen einen unvorhergeſehenen Verluſt zu ſichern. Noch iſt indeſſen die neueſte Staatenpraxis nicht ganz auf dieſem Wege, und mit wenigem Erfolg hat man ſchon längſt die Aneig - nung ſolcher Vortheile bei dem erſten Anfang der Feindſeligkeiten ohne vorherige Ankündigung derſelben als illegal angefochten. 2Vattel §. 56. v. Martens l. c. In der That iſt ſie Raub. Specielle Anwendungen dieſes Princips wer - den weiterhin vorkommen. (§. 139.)
Sobald übrigens unter den Hauptparteien der Kriegszuſtand ein - getreten iſt, ſo tritt er auch für die Bundesgenoſſen mit den §. 117. gemachten Unterſcheidungen ein, ſobald dieſelben anfangen, ihrer Bundespflicht zu genügen. 3Vgl. Groot III, 3, 9. Vattel III, §. 102.
121. Maaßregeln, welche der Eröffnung eines vollſtändigen Kriegszuſtandes, d. h. eines ſolchen Zuſtandes, wo die Integrität und Selbſtändigkeit eines Staates mit Waffengewalt bedroht wird, noch vorangehen können, ohne ſelbſt ſchon einen Kriegsanfang noth - wendig darzuſtellen, ſind das Embargo und die Verhängung einer Blocade (§. 112.). 205§. 121. Voͤlkerrecht im Zuſtande des Unfriedens.Beide begründen vorerſt nur ein Beſchlagnahmerecht, welches aber, wofern die Maaßregel ſelbſt durch ſchon zuvor exiſtirende Gründe gerechtfertigt war, nach wirklich eröffnetem Kriege in eine Aneig - nung der in Beſchlag genommenen, und jener nach Kriegsrecht un - terworfenen Sachen verwandelt werden kann. 1In dieſer Weiſe wurden auch bei der Blocade von Vera-Cruz 1838 die von dem Franzöſiſchen Geſchwader weggenommenen navires Mexicains zu - erſt als séquestrés pendant le cours du blocus und dann als capturés à la suite de la déclaration de guerre betrachtet. Man ſtellte aber nach - her in der Convention vom 9. März 1839 die Frage zum ſchiedsrichterli - chen Ausſpruch: s’ils devaient être considérés comme légalement acquis aux capteurs. de Martens Nouv. Rec. XVI, 610.
Fernere Maaßregeln ſind:
die Erlaſſung von Manifeſten, worin die Urſachen des Krieges öffentlich dargelegt werden; nebenbei auch wohl die Verbreitung beſonderer Rechtsausführungen, zur Beglaubigung der weſentlichen Thatſachen und Grundſätze. Die Würde der Staaten gebietet hier - bei gemeſſene Haltung, insbeſondere eine zurückhaltende Schonung der Perſönlichkeit des Feindes; die Thatſachen allein müſſen ſpre - chen. — Sodann:
die Erlaſſung von Abberufungspatenten an die im feindlichen Lande befindlichen Unterthanen;2Darüber vgl. v. Kamptz, Lit. §. 277.
die Erlaſſung von Martialgeſetzen, Unterſagung eines jeden oder doch beſtimmten Verkehrs mit dem Feinde;
eine Benachrichtigung der neutralen Mächte von dem bevor - ſtehenden oder ſchon eingetretenen Kriegszuſtande; endlich auch wohl
Austreibung der feindlichen Unterthanen aus dem dieſſeitigen Gebiete zur Vermeidung der etwanigen Nachtheile, welche aus dem ungeſtörten Verweilen feindlicher Staatsangehörigen entſpringen könnten. 3[Dergleichen] Xenelaſien haben in älterer und neuerer Zeit Statt gefunden. So noch im J. 1755 in Frankreich gegen die Engländer mit Trompeten und Pauken. J. J. Moſer Verſ. IX, 45. Dabei muß eine billige Friſt geſtattet werden. Vattel III, 63. Man kann aber auch, und dazu wird die gegenwärtige Civiliſation gern hinneigen, einen unſchädlichen ferneren Aufenthalt den unverdächtigen Perſonen gern geſtatten.
Alle dieſe Maaßregeln ſind jedoch dem politiſchen Ermeſſen der einzelnen kriegführenden Theile lediglich und allein überlaſſen.
122. Die nächſte Wirkung einer Kriegseröffnung iſt die that - ſächliche Suspenſion jedes friedensrechtlichen Verhältniſſes und Verkehrs unter den kriegführenden Mächten; denn es fehlt nun an der Möglichkeit einer Dikäodoſie, auch nimmt der Krieg alle Mit - tel und Kraftanſtrengungen für ſich in Anſpruch. Dagegen kann nicht behauptet werden, wenigſtens nicht nach den Principien des neueren Kriegsrechtes, daß der Krieg jedes rechtliche Band unter den ſtreitenden Parteien von Rechtswegen auflöſe und ein ſolches erſt durch den Frieden von Neuem entſtehen laſſe, weil der Krieg Alles, ſogar die Exiſtenz eines Staates auf das Spiel ſetze. 1So z. B. Schmalz Völkerr. S. 69. S. dagegen Wheaton III, 2, 7 — 9. und zum Theil auch Mably droit publ. I, 169. Erörterungen der Frage bei Frdr. Chph. Wächter, de modis tollendi pacta inter gentes. Sttgrd. 1780. §. 53 f. Leopold, de effectu novi belli Quoad vim obligandi pri - stinar. pacification. Hlmst. 1792. J. J. Moſer, verm. Abh. I. Klü - ber §. 165.Die bloße Möglichkeit eines Unterganges ſteht noch nicht dem wirkli - chen Untergang ſelbſt gleich.
Eine fortdauernde Giltigkeit haben zunächſt diejenigen Verpflich - tungen, welche ausdrücklich auf den Fall eines Krieges übernom - men oder ausgedehnt ſind, ſo lange kein Theil ſich einer Verletzung ſchuldig macht und den andern dadurch zur Aufhebung der Ver - bindlichkeit oder wenigſtens zur Suspenſion derſelben als Repreſ - ſalie berechtigt;2Dahin gehört namentlich die Stipulation der 6 Monate zu Gunſten der Unterthanen, ihre Perſonen und Güter im Fall eines Krieges in Sicher - heit zu bringen. Mably a. a. O. de Steck Essais sur div. sujets. 1785. p. 5. Ein anderes Beiſpiel bei Wheaton §. 8, 3. S. auch Klüber §. 152. Martens §. 263. Vattel III, 175. denn bis dahin beſteht präſumtiv eine Einheit des Willens, die Grundlage der Vertragsverbindlichkeiten. Eben ſo müſſen auch diejenigen Rechtsverhältniſſe in Kraft bleiben, welche durch frühere ſchon in Vollzug geſetzte Verträge in das Leben ge - treten, folglich ſchon vollendete rechtliche Thatſachen ſind, voraus - geſetzt, daß nicht im künftigen Friedensſchluß eine ausdrückliche Aenderung damit vorgenommen wird. 3Z. B. geſchehene Ceſſionen von Ländern, Grenzbeſtimmungen, Eigenthums - titel für Unterthanen u. dgl.
207§. 122. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.Ferner treten ſelbſt die allgemeinen friedensrechtlichen Verhält - niſſe der Staaten während des Krieges nur inſoweit außer Kraft, als es Abſicht und Nothwendigkeit der Kriegführung erfordert. Das Recht auf Achtung kann ſelbſt dem Feinde nicht abgeſprochen werden und wird im neueren Kriegsgebrauch beſonders unter den Souveränen nicht bei Seite geſetzt. Treue und Glauben darf man auch unter den Waffen fordern.
Vertragsverbindlichkeiten, deren Erfüllung noch nicht geleiſtet iſt, werden theils ſchon durch den Krieg, wenigſtens für die Dauer deſſelben, unmöglich gemacht, wenn ihre Vorausſetzung ein Frie - denszuſtand iſt; theils können ſie überhaupt nicht als fortwirkend gelten, weil ihr Giltigkeitsgrund, nämlich eine dauernde Willensein - heit, und die Möglichkeit einer Verſtändigung nach gleichem freien Recht durch den Krieg unterbrochen iſt, außerdem auch kein Völ - kergebrauch zur Erfüllung früherer Verträge dem Feinde gegenüber verbindet, vielmehr ſie als aufgehoben oder ſuspendirt zu betrach - ten ſcheint. Ob und welche davon mit dem künftigen Frieden wie - deraufleben, wird ſich im vierten Abſchnitte dieſes Buches heraus - ſtellen. Iſt die Erfüllung eines Vertrages bereits vor oder wäh - rend des Krieges fällig geworden, ſo kann ſich der glückliche Feind freilich das Object oder Aequivalent davon mit eigener Willkühr anzueignen ſuchen. Allein die Willkühr wird dadurch noch keine rechtliche Thatſache; erſt durch den Frieden kann ſie dieſen Cha - racter erlangen.
Allgemeine Menſchenrechte der Einzelnen werden an ſich durch den Krieg nicht aufgehoben. Sie unterliegen nur den Zufälligkei - ten der Kriegsgeißel, welche ohne Wahl trifft, auch müſſen ſie ſich den Beſchränkungen1Die meiſten Beſchränkungen treffen den Handel. Vgl. darüber den nächſt - folgenden §. 128. unterwerfen, welche die kriegführenden Mächte dem Verkehr ihrer Unterthanen unter Einander oder mit Neutra - len zu ſetzen für gut finden. So weit dies nicht ausdrücklich ge - ſchieht, darf in den Privatrechten der Einzelnen, ja ſelbſt in der Rechtsverfolgung derſelben in Feindesland nach neuerem Kriegs - recht keine Veränderung vermuthet werden. 2Zachariä 40 B. vom Staat XXVIII, 7, 2. (IV. Bd. S. 103.)
123. Obgleich im Allgemeinen ein eigentlicher ſowohl activer wie paſſiver Kriegsſtand nur unter den feindlichen Staatsgewal - ten, deren Hilfsmächten und unter den zur Ausübung von Feind - ſeligkeiten beſtimmten Perſonen nach der Kriegsweiſe civiliſirter Völ - ker beſteht: ſo treten doch auch alle übrigen Unterthanen daneben wenigſtens in einen paſſiven Kriegsſtand, inſofern ihr Zuſammen - hang mit der Staatsgewalt, ſo wie Art und Zweck des Krieges, eine Mitleidenheit unvermeidlich macht. 1Vgl. ſchon Vattel III, 15, §. 226.Aber nur mit dem Wil - len der eigenen Staatsgewalt tritt der Einzelne auch in einen ge - regelten activen Kriegsſtand ein,2Das Allgemeine Landrecht für Preußen ſagt dieſes in der Einleitung §. 81. mit den Worten: „ den Schutz gegen auswärtige Feinde erwartet der Staat lediglich von der Anordnung ſeines Oberhauptes. “ Eine ſonſt allgemeine Formel der Kriegserklärungen war zwar die Aufforderung an alle Unterthanen de courir sus aux ennemis; indeſſen deutete die - ſes ſchon Vattel a. a. O. §. 227. auf ein bloßes Feſthalten feindlicher Perſonen und Sachen. Jetzt möchte ſie wohl überhaupt nicht mehr vor - kommen. ſei es durch Berufung in die re - gulären Truppen oder in einen organiſirten Landſturm oder durch Einrolirung in ein autoriſirtes Freicorps, oder endlich durch das Aufgebot der ganzen Nation, wenigſtens der waffenfähigen, zu feindſeligen Handlungen. Endlich iſt, wenn der Feind ſelbſt ei - nen Vernichtungskrieg erklärt oder factiſch führt, oder wenn ein - zelne Glieder des feindlichen Staates ſich nicht nach Kriegsſitte be - tragen, jedem Einzelnen auch das Recht des activen Widerſtandes gegeben. Außerdem aber iſt jede feindſelige Handlung an Perſo - nen und Eigenthum der feindlichen Partei nicht bloß eine Ver - letzung der Kriegsſitte, die der Feind ahnden kann, ſondern ſogar eine Uebertretung der eigenen Staatsgeſetze, wodurch Verletzungen von Perſonen und Sachen als den Bürgerpflichten zuwider ver - pönt werden, und ſie verfällt entweder dem einheimiſchen ordentlichen Strafgeſetz3„ Der ſcheinbare Grund des Gegentheils “, ſagt Abegg, Unterſuch. aus dem Gebiete der Strafrechtswiſſenſch. 1830. S. 86. „ iſt, daß der Staat, den im Kriegszuſtande das Unglück traf, in ſeinen Landestheilen feindliche Trup - pen aufnehmen zu müſſen, weder Pflicht noch Intereſſe habe, jene Feinde wider Angriffe zu ſichern, nachdem an die Stelle des rechtlichen ein Ge - oder beſondern Martialgeſetz.
124. Was die Mittel der Kriegführung betrifft, ſo iſt im All - gemeinen nicht blos offene Gewalt ſondern auch Liſt für zuläſſig zu halten, um den Zweck des Krieges zu erreichen. Nur die Ehre und Humanität ſetzen den Nationen gewiſſe Schranken, welche ent - weder nie, oder doch nur ausnahmsweiſe aus Kriegsräſon über - ſchritten werden dürfen.
Als unbedingt verboten, weil unmenſchlich, betrachten wir Ver - breitung von Giftſtoffen und Contagionen in feindlichem Lande,1Sogar der Islam verbot und verbietet dergleichen. Pütter, Beitr. S. 54. den Gebrauch vergifteter2Dieſe verbot ſchon das chriſtliche Mittelalter. c. 1. X. de sagittar. Den - noch finden ſich Beiſpiele des Gegentheiles bis ins 16te Jahrhundert. Ward, I, 252. 253. und ſolcher Waffen, wodurch unnöthige Schmerzen und beſonders ſchwer zu heilende Wunden zugefügt wer - den, z. B. das Schießen à la mitraille, oder mit zackigen oder von Glas und Kalk durchmiſchten Kugeln, oder mit doppelten oder hal - birten Kugeln, gewiß auch Brandraketen gegen Perſonen; endlich ein allgemeines Schlachten derer, welche keinen Widerſtand leiſten oder dazu ganz unfähig ſind. Sogar ein erlaubter Vernichtungs - krieg gegen einen Staat kann dazu nicht berechtigen oder nöthigen.
Regelmäßig unzuläſſig, jedoch zur Rettung aus ſonſt unabwendba - rer Gefahr oder als Repreſſalie erlaubt, iſt nach Kriegsgebrauch jede Verheerung des feindlichen Gebietes, Zerſtörung der Aerndten, Ein -3waltverhältniß getreten iſt. Allein bekanntlich wird durch den Kriegsſtand — allenfalls ein bellum internecinum abgerechnet, welches nach dem Standpunct unſerer Zeit wohl nicht vorkommt, — keineswegs der Rechtszu - ſtand in dem Grade aufgehoben, daß für den Bürger, deſſen Rechte auch vom Feinde ſelbſt im Weſentlichen anerkannt werden, eine Befreiung von den ihn verbindenden Geſetzen, gegenüber wem es auch wolle, gerechtfertigt werden könnte. Man muß nur die bereits gerügte Anſicht aufgeben, daß das Criterium des Strafgeſetzes in dem Schutze zu ſuchen ſei, welchen es Jemand gewähre. — In wie fern durch den Fall der Nothwehr oder ſon - ſtige Modificationen, die durch den Einfluß des Krieges auf das Strafrecht herbeigeführt werden, Strafloſigkeit oder Milderung der Strafe entſtehen können, in wie fern das Gebiet der Gnade eintreten dürfe? gehört einer andern Seite der Beurtheilung an. “ S. auch Frisius Rinia van Nauta, de delictis adv. peregrinos, maxime adv. milites hostiles. Groning. 1825. und des Verf. Lehrbuch des Crim. Rechts §. 37.14210Zweites Buch. §. 124.äſcherung der Wohnungen, wo ſie nicht ſchon die Durchführung einer Kriegsoperation mit ſich bringt;1Nach Alt-Engliſchen Maximen, die man während des Nordamericaniſchen Freiheitskrieges bekannte, und auch in neueſter Zeit in Oſtindien geübt hat, wären Verwüſtungen erlaubt: a) pour forcer les habitans à satisfaire aux démandes de contri - butions etc.; b) pour engager l’ennemi à s’exposer en tachant de couvrir le pays; c) pour nuire à l’ennemi ou pour l’amener à la raison; d) en cas de révolte ou de rebellion des habitans du pays! v. Martens Völkerr. §. 274. (280.)
ſodann die Anwendung von Vertilgungsmitteln, welche mit Einem Act maſchinmäßig ganze Maſſen von Feinden niederſchleu - dern, wodurch der Menſch zu einem thatenloſen Object herabge - ſetzt und entwürdigt auch wohl das Blutvergießen unnöthig ver - größert wird; z. B. der Gebrauch von Kettenkugeln im Landkriege oder von glühenden Kugeln und Pechkränzen im Seegefecht um feindliche Schiffe mit ihrem ganzen Inhalt auf Einmal zu vernichten. 2Ueber die vorgetragenen Sätze vergleiche man Vattel III, 155 — 157. 166. 167. v. Martens §. 268 f. Klüber §. 244. 262. 263. Die Schrif - ten bei v. Ompteda §. 301. und v. Kamptz §. 289.
Unter den Mitteln der Liſt erſcheinen zunächſt alle diejenigen rechtlich unzuläſſig, welche die vom Feinde dem Feinde ſelbſt gege - bene Treue verletzen;3S. ſogar Macchiavelli, dei discorsi III, 40. Wer ſelbſt die Treue ver - letzt, kann natürlich auf Bewahrung derſelben keinen Anſpruch machen. S. Vattel §. 176. Ehre und eigenes Intereſſe verbieten ſo - dann den Meuchelmord am Feinde und Aufreizung dazu, ferner Aufforderungen der Unterthanen zum Abfall von ihrer rechtmäßi - gen Staatsgewalt. Dagegen kann Sparung von Menſchenleben und ein ſchneller zu erreichendes Ziel des Krieges Anreizungen Ein - zelner zum Verrath durch Beſtechung und ähnliche Vortheile das Unſittliche des Mittels einigermaßen entſchuldigen. 4Pufendorf VIII, 6, 18. Vattel §. 180. Klüber §. 243. Not. a. Be - denklicher iſt Groot III, 1, 21. Schriften ſ. noch bei v. Ompteda §. 303. und v. Kamptz §. 291.
Unverſagt iſt die Annahme und Benutzung aller freiwillig von der feindlichen Seite her dargebotenen Vortheile, wenn ſie nicht wieder zu einer an ſich unerlaubten oder verdammenswerthen Hand - lung hinführen, z. B. zum Meuchelmord; ſo die Annahme von211§. 125. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.Deſerteurs, ſelbſt von Verräthern; allgemein zugeſtanden der Ge - brauch von Kundſchaftern. 1Von dieſen wird noch im dritten Buch a. E. beſonders gehandelt wer - den. S. übrigens wegen des Obigen Vattel §. 181. Klüber §. 266.Jedem Theile ſtehet aber zu gegen Liſten und Verrath kräftige Reaction zu gebrauchen;2So bei den intelligences doubles. Vattel §. 182. geht die Liſt zu offenem Kampf über, ſo muß die Verſtellung aufhören. 3So muß beim Seegefecht jeder Theil die wahre Flagge, wenigſtens beim Anfang des Kampfes, zeigen. Bouchaud, théorie des traités de com - merce p. 377.
Wendet der Feind nun unerlaubte Mittel der Bekämpfung an, ſo darf auch er rechtlos behandelt werden. Er unterliegt dem Ge - ſetz der Wiedervergeltung, wenn nur eine ſolche möglicher Weiſe den Schuldigen treffen kann.
125. In Hinſicht auf die Behandlung feindlicher Perſonen kannte das alte Kriegsrecht gar keine oder doch nur wenige Schran - ken. Es überließ ſie der Willkühr des Siegers, mit der Wahl zwiſchen Tödtung oder Knechtung. Das neuere Kriegsrecht chriſt - licher Nationen iſt auch hierin, ſeinem obigen Princip gemäß, hu - maner; es beſchränkt ſich auf das Unvermeidliche und unterſchei - det die verſchiedene Beſtimmung ſo wie das Verhalten der feind - lichen Perſonen in folgender Weiſe:
126. Dem Looſe der Kriegsgefangenſchaft waren nach altem Völkerrecht alle feindlichen Perſonen unterworfen, die der Sieger214Zweites Buch. §. 127.in ſeine Gewalt bekam. Er konnte mit ihnen nach Belieben ver - fahren, wenn er ſich nicht durch Vertrag zu einer beſtimmten Schonung verpflichtet hatte — und auch dieſer ſchützte nicht im - mer; er konnte ſie tödten, mißhandeln, oder in Knechtſchaft ge - ben. 1Details bei Groot III, 11, 7 f.Nur bei einzelnen Völkerſtämmen finden ſich theilweis mildere Grundſätze, obgleich ſie nicht immer befolgt wurden. So das Geſetz der Amphictyonen, die in die Tempel geflüchteten nicht zu tödten;2Saint-Croix gouv. fédérat. p. 51. oder der angeblich allgemeine Brauch der Hellenen, ſolche die ſich freiwillig übergeben und um ihr Leben flehen, am Leben zu ſchonen,3Thucydid. III, 52. oder, was bei den Römern beobachtet zu ſein ſcheint, das Leben der Belagerten zu ſchonen, wenn ſie ſich noch vor dem Berennen der Mauern mit dem Belagerungsgeſchütz überlieferten. 4Cäſar, bell. gall. II, 32. Cicero, de offic. I, 12.
Im Mittelalter trat zwar die Kirche vermittelnd für gewiſſe Claſſen durch Gottesfrieden ein,5Vgl. c. 2. X. de treuga. allein es blieb die willkührlichſte ja ſelbſt grauſame Behandlung der feindlichen Unterthanen und Kriegsgefangenen in ungehinderter Uebung;6Ward liefert dazu an mehreren Stellen die gräßlichſten Beweiſe. S. auch Pütter Beiträge, S. 47 ff. nur die Ausſicht auf Löſegeld und ritterlicher Sinn führten zu Schonung, auch ſetzte die Kirche allmählig jede Sclaverei chriſtlicher Kriegsgefangener unter chriſtlichen Nationen außer Gebrauch. 7Im Abendlande verbot das dritte Lateraniſche Concil unter Alexander III. Chriſten zu Sclaven zu machen und zu verkaufen. (1179.) Auch bei den orientaliſchen Chriſten hatte man denſelben Grundſatz angenommen, wie Nicephorus Greg c. 1260. berichtet. Vgl. Pütter Beitr. 69. 86.
127. Nach heutigem Kriegsrecht8Schriften bei v. Ompteda §. 311. und v. Kamptz §. 305. Dazu Groot III, c. 7. Moſer Verſ. IX, 2, 250. 311 f. Bynkershoek, Quaest. jur. publ. I, 3. Vattel III, §. 139 f. Klüber §. 249. Wheaton IV, 2, 2. unterliegen der Kriegsge - fangenſchaft, wie ſchon angedeutet ward, nur der Souverän mit den waffentragenden oder waffenfähigen Gliedern ſeiner Familie, ſodann alle zur bewaffneten activen Macht gehörigen Perſonen. Ausnahmsweiſe hat man auch noch in einzelnen Fällen die in Feindesland befindlichen Unterthanen des anderen Staates als Kriegsgefangene behandelt. (§. 125. II.)
215§. 128. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.Ihren Anfang nimmt nun die Kriegsgefangenſchaft in dem Augenblick, wo eine feindliche dem Kriegsrecht unterworfene Per - ſon entweder unfähig zu fortgeſetztem Widerſtand in des anderen Theiles Gewalt geräth, und ihres Lebens geſchont werden kann, oder wo ſie ſich freiwillig, ſei es mit, ſei es ohne Bedingung als Kriegsgefangen übergiebt.
Weder in dem einen noch anderen Falle kann nach Rechtsregeln dem Gefangenen noch das Leben genommen werden; denn jede erlaubte Gewalt endigt, wenn der Gegner widerſtandlos geworden iſt und berechtiget blos zu weiteren Sicherungsmitteln. Nur wo dieſe unter den vorwaltenden Umſtänden nicht zur Hand liegen und ergriffen werden können, würde die Noth der Selbſterhaltung und der ferner zu verfolgenden Kriegszwecke eine Zurückweiſung der angebotenen Uebergabe und ſelbſt eine Vernichtung des wider - ſtandloſen, jedoch noch widerſtandfähigen gefangenen Feindes ent - ſchuldigen. Iſt die Uebergabe auf Treue und Glauben geſchehen und angenommen, ſo fällt auch dieſe Entſchuldigung weg, es müßte denn ein Treubruch des Gefangenen oder eine neue durch ſein Daſeyn verſtärkte Gefahr hinzugetreten ſein.
Sollte ſich ein Gefangener, der ſich nicht auf beſtimmte Be - dingungen ergeben hat, vorher einer Verletzung der Kriegsmanier ſchuldig gemacht haben, ſo würde zwar dem Sieger ein Recht der Ahndung, innerhalb der Grenzen menſchlicher Wiedervergeltung, nicht beſtritten werden können;1Vgl. Vattel III, §. 141. verdammenswürdig aber wäre jede Rache an einem Feinde, der nur ſeine Pflicht als Krieger ge - than hat, wie z. B. die Tödtung eines tapferen und ausdauern - den Vertheidigers einer Feſtung, ſollte man ihn auch zuvor mit Rache bedroht haben. 2Derſ. §. 143.Die Annalen der künftigen Geſchichte werden dergleichen unter chriſtlichen Mächten hoffentlich nicht re - produciren.
128. Das Weſen der heutigen Kriegsgefangenſchaft beſteht le - diglich in einer thatſächlichen Beſchränkung der natürlichen Frei - heit, um die Rückkehr in den feindlichen Staat und eine fernere Theilnahme an den Kriegsunternehmungen zu verhindern. Mit - glieder der ſouveränen Familie werden zwar bewacht, jedoch rück - ſichtsvoll behandelt, und vorzüglich, wenn ſie ihre Treue verpfän -216Zweites Buch. §. 128.den, von drückenden perſönlichen Beläſtigungen befreit. Ebenſo geſtattet man gefangenen Officieren auf ihr Ehrenwort größere Freiheiten; Unterofficiere und Gemeine werden unter engerer Auf - ſicht gehalten und zu angemeſſenen Arbeiten gebraucht, um einen Theil des Unterhaltes abzuverdienen, welchen der Staat in deſſen Gewalt ſie ſich befinden, wenn auch mit Vorbehalt der Erſtattung oder Ausgleichung, ihnen verabreichen muß. Unbedenklich iſt der Gefangene waͤhrend der Dauer der Gefangenſchaft der Gerichts - barkeit des auswärtigen Staates unterworfen, insbeſondere der Strafgerichtsbarkeit wegen der daſelbſt von ihm begangenen Ver - brechen. Eine willkührliche Behandlung durch Mißhandlung und Gewaltthätigkeit anderer Art liegt außer den Grenzen der Noth - wendigkeit des Krieges; nur wenn die Gefangenen ſelbſt die ge - ſetzten Beſchränkungen überſchreiten oder den auswärtigen Staat auf gefährliche Weiſe bedrohen, finden Zuchtmittel und ſtrengere Reactionen gegen ſie Anwendung; nicht aber ſollten an ihnen, wegen der von ihnen ſelbſt nicht verſchuldeten Thatſachen Repreſ - ſalien an ihrer Perſon gebraucht werden, obgleich dies ſonſt als Kriegsräſon in Ermangelung anderer Mittel behauptet, ausgeführt, oder wenigſtens gedroht worden iſt. 1Vgl. Vattel §. 142. Merkwürdige Beſtimmungen über Behandlung von Kriegsgefangenen finden ſich im Preußiſch Nordamericaniſchen Vertrage von 1799. Art. 24.Zwang zum Eintritt in feindliche Militärverhältniſſe iſt unerlaubt.
Geendet wird die Kriegsgefangenſchaft:
Geräth ein Selbſtranzionirter von Neuem in Feindesgewalt, ſo wird dies ungeahndet gelaſſen; denn der Gefangene hat nur dem natürlichen Triebe zur Freiheit und zum Vaterlande Folge ge - geben. Aber der Bruch des Ehrenwortes oder einer geſtellten Bedin - gung der Loslaſſung z. B. nicht mehr gegen den andern Staat dienen zu wollen, berechtigt zu einer entſprechenden Ahndung durch eine ſchlimmere als die ſonſt gewöhnliche Behandlung.
129. Muß man es gleich als Recht jedes Erdenbürgers be - trachten, die Verbindungswege der Völker zum Verkehr mit den - ſelben, folglich auch zum Handel zu benutzen, und müßte dieſes Recht an und für ſich wie jedes andere Privatrecht ſelbſt unter den Waf - fen fortbeſtehen: ſo darf es doch nicht in Widerſpruch mit den Intereſſen der Staaten geübt werden, unter deren Schutze es ſteht; der Handel kann ſich leicht mit ſeinem gewaltigen Nerv zu einer unabhängigen, die Staaten ſelbſt bedrohenden Macht erheben, wie die Geſchichte bereits an dem Beiſpiel der Hanſe gezeigt hat; er würde in ſeiner Freiheit zuletzt der Beherrſcher der Staaten wer - den, deſſen ſpeculative Einſeitigkeit viele edlen Elemente erdrücken könnte; zuverläſſig aber würde er ſchon bei einzelnen Kriegen eine große Abhängigkeit der kriegführenden Mächte von ſich herbeifüh - ren, eine gewiſſe Zweideutigkeit in das ſtreng geſchiedene Verhält - niß derſelben hineinlegen und die Durchführung der Kriegsunter - nehmungen vielfach durchkreuzen, ja dem Feinde ſelbſt oft zu Gun - ſten dienen, wenn man ſogar unter den ſtreitenden Nationen einen unbeſchränkten Handelsverkehr zu geſtatten hätte. Denn der Han - del hat keinen Feind außer demjenigen, welcher ihn ſtört, und ſein natürliches Princip iſt Eigennutz ohne Vaterland; auch ſein groß - artiges Verdienſt um die Civiliſation ordnet ſich dieſer Triebfeder unter. Es liegt daher in der Natur der Sache, daß ein unge - ſtörter Handelsverkehr zwiſchen den Unterthanen der ſtreitenden Theile nicht zugelaſſen werden kann, vielmehr jeder kriegführende Staat zur Verhinderung derſelben Maaßregeln zu ergreifen befugt iſt. Deshalb darf er nicht allein ſeinen eigenen Unterthanen mit Androhung von Strafen und Confiscationen die gänzliche Unter - laſſung oder gewiſſe Beſchränkungen vorſchreiben, ſondern er kann auch thatſächlich jeden feindlichen Unterthan von ſolchem Verkehr zurückweiſen und Reactionen dagegen gebrauchen, wovon das Nä - here in Betreff des Seehandels bei der Seebeute vorkommen wird; er kann feindlichen Handelsforderungen die Klagbarkeit verſagen,218Zweites Buch. §. 130.z. B. den Verſicherungen feindlicher Güter,1de Steck, Essais sur div. sujets. p. 14 s. ſo wie er anderer - ſeits durch Ertheilung ſpecieller Licenzen einen beſtimmten Ver - kehr erlauben mag, wodurch aber natürlich dem feindlichen Theile keine Verbindlichkeit zur Beachtung der Licenz auferlegt wird. 2Ueber dieſe und ihre ſtricte Bedeutung ſ. Jacobſen Seerecht, S. 423 f. 719 — 731. Wheaton, intern. L. IV, 1, §. 22.Keineswegs läßt ſich übrigens behaupten, daß eine abſolute Han - dels - und Handelsgeſchäftsſperre unter feindlichen Staaten die Selbſtfolge der Kriegseröffnung ſei, wenn ſie gleich das Geſetz ein - zelner Staaten iſt. Es bedarf vielmehr deutlicher Erklärungen je - der Staatsgewalt über dieſen Gegenſtand, wenigſtens eines aus - drücklichen allgemeinen Handelsverbotes,3Vgl. Nau, Völkerſeerecht §. 263. Anderer Meinung ſcheint Bynkershoeck, quaest. iur. publ. 1, 3. indem die Handelsfrei - heit der Einzelnen nicht erſt von dem Staate kommt, ſondern von demſelben nur ſeine Beſchränkungen zu empfangen hat, der Krieg aber an ſich ein abſolutes natürliches Hinderniß des Handelsver - kehrs unter Einzelnen nicht darſtellt. 4Die ſtrenge Britiſche, Nordamericaniſche und Franzöſiſche Praxis ſ. bei Wheaton a. a. O. §. 13. vergl. mit Valin, Commentar zur Ordonn. v. 1681. III, 6, 3.Eben ſo wenig kann ein Alliirter dem andern Alliirten eine abſolute Prohibition, wenn ſie nicht ſchon durch Vertrag feſtſteht, zur Pflicht machen wollen; nur offenbare Handelsbegünſtigungen des feindlichen Theiles von Seiten eines Alliirten darf der Andere unterſagen und thatſächlich dagegen durch Beſchlagnahme einwirken. 5Auch hierüber findet man eine ſtrengere Anſicht bei Bynkershoeck quaest. 1, 10. und Wheaton a. a. O. §. 14. Billig aber fragt man, wie ein Alliirter ſich anmaßen dürfe, dem Verbündeten Geſetze ſeines Verhaltens vorzuſchreiben und eine Jurisdiction über ſeine Unterthanen auszuüben, wenn das Bündniß kein Recht dazu ertheilt?
130. Nach dem Geiſte des älteren Kriegsrechtes, welches je - den Krieg als Vernichtungskrieg, und jeden Feind als rechtlos betrachtete, war es eine natürliche Conſequenz, daß auch alles feindliche Eigenthumsrecht an Sachen, welche in die Gewalt des219§. 130. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.andern Theiles geriethen, hinfällig und wirkungslos wurde, und dem Sieger die Aneignung dieſer Sachen mit allen Wirkungen des Eigenthums zufiel. 1L. 1. §. 1. l. 5. §. 7. pr. D. de acqu. rer. domin. 1. 20. §. 1. D. de captiv. et postl. Gaii Comment. II, 69. §. 17. J. de div. rer. Ja, man hielt das dem Feinde abge - nommene Gut für das ſicherſte und gerechteſte Eigenthum! 2„ Omnium maxime “, ſagt der Juriſt Gaius a. a. O. IV, 16. von den Vorfahren, „ sua esse credebant quae ex hostibus cepissent. Unde in centumviralibus iudiciis hasta praeponitur. “Was man nicht behalten wollte, unterlag willkührlicher Zerſtörung. Nichts hatte auf Schonung Anſpruch; Verwüſtungen des feindli - chen Landes, der Städte und Wohnungen, ja ſelbſt der Tempel waren wenigſtens der Regel nach nicht ausgeſchloſſen; noch in der römiſch-chriſtlichen Zeit wurden die ſonſt ſo heilig gehaltenen Grabmäler, worin Leichen der feindlichen Staatsangehörigen ge - borgen waren, nicht als unverletzbar geachtet. 3L. 4. D. de sepulcro viol. l. 36. D. de religios. „ sepulcra hostium nobis religiosa non sunt. “Auch was ſich beim Ausbruche des Krieges in Feindesland befand, verfiel dem Feinde als Beute. 4L. 51. D. de acqu. rer. dom. l. 12. pr. D. de captiv.
Hinſichtlich der Perſon des Erwerbers beſtand nicht überall ein gleiches Recht. Im Römerreiche beobachtete man hauptſächlich den Unterſchied, daß alles feindliche unbewegliche Gut durch die Wegnahme des Siegers (occupatio bellica) Eigenthum des ſie - genden Staats ward, wogegen das bewegliche Gut der Feinde als Beute (praeda bellica) den beſitzergreifenden Einzelnen anheim fiel, die in Gemeinſchaft gemachte Beute aber in gewiſſen Ver - hältniſſen unter den Theilnehmern, auch wohl mit beſtimmten Abzü - gen für den Staatsſchatz und die Tempel getheilt ward. 5Vgl. Groot III, 6, 14 f. Cujas, Obss. XIX, 7. Vinnius zu §. 17. J. de rer. divis. J. J. Barthelemy, Oeuvr. div. Par. 1798. I, 1.
Ein ganz anderes Recht mußte ſich aus der Idee des neueren Kriegsrechtes ergeben, die wir bereits oben dargelegt haben. Der Krieg iſt nicht nothwendig, ſondern nur ſoweit als nothwendig eine That der Vernichtung und eine Auflöſung aller Rechtsver - hältniſſe; es iſt kein ewiger Krieg unter ſittlichen Nationen, ſon - dern ſein immer im Auge behaltenes Ziel iſt der Frieden. Dieſer iſt nur einſtweilen ſuspendirt; jener, eine vorübergehende Thatſache,220Zweites Buch. §. 131.welche jeder Theil, wie ihn das Glück mehr oder weniger begün - ſtigt, zu ſeinem Vortheil als glücklicher Beſitzer für die rechtlichen Zwecke des Krieges benutzen kann, ohne einer Dikäodoſie deshalb unterworfen zu ſein. Immer findet jedoch dieſer Beſitzſtand we - ſentlich nur gegen die feindliche Staatsgewalt Statt, gegen die Angehörigen derſelben blos in ſo weit, als ſie derſelben unterwor - fen ſind, oder als die Nothwendigkeit dazu treibt. Man ſieht dieſe Idee des neueren Kriegsrechtes ſeit Groot immer entſchiedener her - vortreten; ſie kann gegenwärtig jede Schüchternheit ablegen; denn ſie findet überall in den geſitteten Völkern Europas einen Nach - hall. 1Unter den neueſten Schriftſtellern nennen wir Iſambert, Annales politi - ques et diplomat. Introduction Par. 1823. p. CXV. „ Nous pensons avec Grotius qu’on acquiert par une guerre iuste autant de choses qu’il en faut pour indemniser complètement des frais de la guerre; mais il n’est pas vrai que par le droit des gens on acquière le droit de la propriété entière des biens des sujets. On n’admet plus au - jourdhui le principe que la conquête engendre des droits. Il n’y a d’immuable, dans la pratique des nations, que les principes qui déri - vent immédiatement du droit de la nature. “ Zachariä 40 B. vom Staate, IV, 1. S. 102. „ Feindesgut, das Privateigenthum iſt, ſteht un - ter dem Schutze des Völkerrechts; es darf nur ausnahmsweiſe, wenn und in wie fern der Zweck des Krieges nach Zeit und Umſtänden nicht anders erreichbar iſt, angetaſtet werden. Denn das Privatvermögen der Untertha - nen iſt nur in ſofern ein Beſtandtheil der Kriegsmacht der Staaten, als einem jeden Staate die Herrſchaft über das Vermögen ſeiner Unterthanen zuſteht. “
131. Als unmittelbare Folgerungen aus dem vorſtehenden neueren Kriegsprincip ergeben ſich die nachſtehenden Sätze:
132. Muß man auch der neueren Kriegspraxis das Zeugniß ertheilen, daß ſie auf dem Wege ſei, die vorſtehenden Grundſätze zur Richtſchnur ihres Verhaltens zu nehmen, ſo hat ſie ſich den - noch bisher zur keiner vollkommenen Folgerichtigkeit erhoben und noch manchen Reſt des älteren Kriegsgebrauches beibehalten, auch in der Theorie, vorzüglich der rein hiſtoriſchen Schule, ſtets ei - nige Unterſtützung gefunden.
Was zuförderſt die Rechte und das Vermögen der beſiegten Staatsgewalt betrifft, ſo hat man in der Praxis des letzten Jahr - hunderts noch immer ſehr häufig das Recht der bloßen Invaſion223§. 132. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.mit dem der völligen Debellation (ultima victoria) verwechſelt und jenem zugeſchrieben, was erſt in dem letzteren enthalten ſeyn kann. Es war nichts Seltenes, daß der Sieger ſich ſofort bei der Beſetzung eines Gebietes oder Gebietstheiles von den dortigen Unterthanen huldigen ließ; man ſchrieb ferner dem Sieger, der vor - läufig verdrängten Staatsgewalt gegenüber, ein Confiscationsrecht zu, geleitet durch die Anſicht des älteren Kriegsrechts, welche ſich auch noch bei vielen Publiciſten erhielt, daß die Sachen des Fein - des res nullius ſeien und als ſolche behandelt werden könnten. Man disponirte ſogar zuweilen über occupirte Länder wie über wirkliches Eigenthum. 1„ Georg I. von Großbritannien kaufte das Herzogthum Bremen, Verden und Stade von Dänemark, welches dieſe Beſitzungen den Schweden abge - nommen hatte, durch Act ratificirt am 17. Juli 1715; vier Monate zuvor, ehe Großbritannien den Krieg an Schweden erklärte! “ Britiſche Publici - ſten nahmen dieſes gelegentlich in Schutz. Andere Beiſpiele bei Martens §. 277. Not. b. Indeß iſt dieſe Praxis nicht auch noch in den Kriegen des jetzigen Jahrhunderts bleibend befolgt worden, ſondern man hat ſie in der That nur im Fall einer Debellation und einer damit verbundenen totalen Beſitznahme der ganz außer Kraft geſetzten bisherigen Staatsgewalt geübt, in der Zwiſchenzeit aber ſich mit der thatſächlichen Benutzung aller Mittel und Hilfs - quellen der bis dahin beſtandenen Regierung begnügt.
Ebenſo hat man ſich im Landkriege hinſichtlich des Privatei - genthums der Angehörigen des occupirten Landes im Weſentlichen auf ein Contributions - und Requiſitionsſyſtem beſchränkt, und für das augenblickliche Bedürfniß eine disciplinirte Maraude in An - wendung gebracht; man hat ferner Zerſtörungen von Sachen we - nigſtens von Seiten der Kriegsvorgeſetzten ſoviel als möglich ver - mieden, und nur als exceptionelle Maaßregel zu vertheidigen ge - ſucht. Dagegen hat man im Seekriege noch immer ein das Pri - vateigenthum ſchwer verletzendes Syſtem befolgt (ſ. unten), nicht minder im Landkriege das Recht der Kriegsbeute (praeda bellica) binnen gewiſſer Grenzen beibehalten; endlich ſind auch noch über einzelne Gegenſtände ſowohl des öffentlichen wie Privatvermögens ſelbſt von den Publiciſten der neueren Zeit manche Grundſätze be - hauptet worden, welche mit den aus der rechtlichen Natur des Krieges fließenden nicht vereinigt werden können. Alle dieſe Punkte ſind nun noch im Einzelnen zu erörtern.
133. In Anſehung der unbeweglichen Sachen iſt man im Allgemeinen ſchon ſeit längerer Zeit einverſtanden, daß dieſelben wenigſtens dann, wenn ſie feindlichen Unterthanen gehören, durch Invaſion und Landesbeſitznahme von Seiten der anderen Kriegs - partei, ihren Eigenthümer nicht verändern und nicht mehr, wie in älterer Zeit, in das Eigenthum des Siegers übergehen. 1Hierüber beſteht durchaus keine Meinungsverſchiedenheit unter den neueren Publiciſten. S. beſonders Meermann, von dem Recht der Eroberung. Erf. 1774. Pufendorf VIII, 6, 20. Vattel III, §. 195. 196. Klüber §. 256. v. Martens §. 277. Wheaton IV, 2, §. 16. Alle geſtehen we - nigſtens zu, daß noch eine Beſtätigung der Erwerbung durch den Friedens - ſchluß nöthig ſei. Dies iſt das Zugeſtändniß, daß die Beſitzergreifung allein nicht genüget.Es folgt daraus von ſelbſt, daß jede von demſelben vorgenomme Verände - rung eine rechtlich unhaltbare iſt, nur thatſächliche Wirkungen her - vorbringen kann und durch das Poſtliminium hinfällig wird. Sollte ſich der Sieger künftighin in dem eroberten Lande behaupten und es zu dem Seinigen machen, ſo würde er freilich auch dem mit - beſiegten Unterthan ein Geſetz vorſchreiben können, welches der that - ſächlichen Veräußerung einen juriſtiſchen Character zu geben im Stande wäre. Ganz auf dieſelbe Weiſe verhält es ſich mit dem unbe - weglichen Privateigenthum des verdrängten Souveräns, welches er nicht als Souverän beſitzt;2Vergl. die Entſcheidung des Pariſer Caſſationshofes bei Sirey XVII, 1, 217. „ Le droit de conquête n’a effet au préjudice des princes que sur les biens qu’ils possèdent en qualité de princes et non sur les biens qu’ils possèdent comme simple propriété. “ja auch von dem öffentlichen unbe - weglichen Staatseigenthum wird, ſo lange nicht die Staatsgewalt ſelbſt wenigſtens interimiſtiſch auf den Sieger übergegangen iſt, ein Anderes nicht zu behaupten ſein. 3So entſchied derſelbe Caſſationshof bei Sirey XXX, 1. 280. „ La con - quête et l’occupation d’un Etat par un Souverain n’autorisent pas ce souverain à disposer par donation ou autrement du domaine conquis ou occupé. “ S. auch A. L. R. für die Preuß. Staaten I, 9, 198.Natürlich wird in beider - lei Hinſicht dem Sieger eine vorläufige Beſchlagnahme und die Beziehung der Einkünfte zu ſeinem Vortheil freiſtehen.
134. Eine beſondere Streitfrage hat ſich auch noch in neue - rer Zeit in Betreff der unkörperlichen Sachen fortgeſponnen, in wie fern nämlich dieſe ein Gegenſtand der Kriegsoccupation ſind, und von dem Sieger als ſein mit rechtlicher Wirkung behandelt werden dürfen. Die meiſten Publiciſten haben ſich in langer Rei - hefolge für ein ſolches Verfügungsrecht ausgeſprochen, dergeſtalt, daß ein Poſtliminium des urſprünglichen Forderungsberechtigten ausgeſchloſſen ſei und der Schuldner durch den Sieger giltig li - berirt werde; ja man hat behauptet, daß dieſes auch auf ſolche Forderungen Anwendung leide, deren Schuldner ſich in dritten neutralen Staaten befinden. Zur Begründung dieſer Anſicht hat man ſich hauptſächlich auf die traditionelle romaniſtiſche Lehre von der Unbedingtheit der occupatio bellica bezogen; auf das vermeint - lich darin begründete Confiscationsrecht, unter welchem Titel auch in vielen früheren Kriegen die Einziehung ausſtehender feindlicher Forderungen betrieben worden iſt. Man hat ſich auf verſchiedene Friedensſchlüſſe berufen, worin dergleichen ſogenannte Confiscatio - nen beſtätigt worden ſind;2Eine große Reihe von Friedensſchlüſſen ſ. bei Schweikart S. 74, beſon - ders von S. 82 an. S. auch Bynkershoeck, Quaest. jur. publ. 1, 7. p. 177. v. Kamptz Beitr. a. a. O. §. 5. Not. 4. Es ſind dies aber eben ausdrückliche conventionelle Beſtimmungen für einzelne Fälle, die noch keine Regel begründen. man hat ſogar eine vermeintliche Entſcheidung der Amphictyonen in Beziehung auf ein Schuldver - hältniß der Theſſalier gegen Theben in Bezug genommen, wonach die Schuldforderung der Thebaner an die Theſſalier durch eine Schen - kung aufgehoben worden ſei, welche Alexander den Letzteren bei der Zerſtörung Thebens mit der Schuldverſchreibung gemacht habe. 3Dieſe Geſchichte ſteht allein bei Quintilian Inst. or. V, 10, 111 f. Die Publiciſten haben mit Liebhaberei dieſelbe beſprochen. S. die Schriften bei Schweikart S. 53 f. Das Amphictyonenurtheil darüber iſt wahrſcheinlich nur eine Fabel, Saint-Croix, des anciens gouv. fédérat. p. 52. Fr. W.
15226Zweites Buch. §. 134.Dennoch aber muß dieſe Theorie und Praxis aus dem Stand - punct des Rechts ſehr beſtritten, wenigſtens modificirt werden. Wird doch ſchon auf allen Seiten zugegeben, daß durch Zahlung des Schuldners an einen Andern außer dem wahren Gläubiger, oder durch eine ſonſtige Liberation von Seiten eines Dritten das Recht des wahren Gläubigers ſtreng juriſtiſch nicht aufgehoben werde!
Vor allen Dingen muß man von den unkörperlichen Sachen diejenigen abſondern, welche in dinglichen Rechten und nicht als bloße Acceſſorien perſönlicher Forderungen beſtehen; jene haben die Natur des unbeweglichen Eigenthums, mit welchen ſie auch vielfach zuſammen hängen, wie z. B. Servituten, und theilen da - her auch das Schickſal des unbeweglichen Eigenthums im Kriege, wovon zuvor gehandelt worden iſt. Unter den perſönlichen For - derungen giebt es ſodann einige, welche das Surrogat von Ei - genthumsnutzungen ſind, wie z. B. Pachtgelder. Bei dieſen mag nicht beſtritten werden, daß ſie dem Feinde verfallen, welcher ſich der fruchttragenden Sache bemächtigt hat, weil es nur allein von ihm abhängt, ob er die Pacht oder Miethe ferner geſtatten wolle und durch die factiſche Fortbelaſſung derſelben ein eigener Pacht - oder Miethsvertrag zwiſchen dem Feinde und dem bisherigen Ge - brauchsberechtigten geſchloſſen wird. 1Ziegler de iurib. majestat. 1, 33, §. ult. Dagegen widerſtreitet es der Natur aller anderen perſönlichen Forderungen durchaus, ſich dieſelben als Gegenſtand einer thatſächlichen Beſitzergreifung, wie doch die occupatio bellica an ſich iſt, zu denken; ſelbſt der zu - fällige Beſitz der Schuldverſchreibungen giebt, wie man allgemein einverſtanden iſt und ſein muß, kein Recht auf Einziehung der Schuld;2Vgl. v. Kamptz a. a. O. §. 8. eine perſönliche Forderung iſt eben etwas unkörperliches, beſteht eben nur in einem rechtlichen Bande zwiſchen Gläubiger und Schuldner; das Recht des Erſteren kann auf einen Dritten nur mit ſeinem Willen oder durch eine legitime rechtliche Ge - walt übertragen werden, wofür, wenigſtens ſo lange der Krieg mit ſeinen wandelbaren Schickſalen ſchwebt, eine feindliche Gewalt nicht gehalten werden kann. Nöthigt ſie den Schuldner zu zahlen, ſo3Tittmann, über den Bund der Amphict. 1812. S. 135. Man erfährt nicht einmal, wie es gelautet habe; aus Quintilian conſtruirt man ſich den Inhalt nach Belieben.227§. 135. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.iſt dies ein Unglück, welches ihn trifft;1Als civilrechtlicher Satz unbeſtreitbar. S. Schweikart, S. 94 f. 105. 109. aber es kann ihm daraus nur eine Einrede oder eine Forderung wegen nützlicher Verwendung aus Billigkeit gegen den wahren Gläubiger oder einen Dritten zu - ſtehen, der dadurch ſelbſt von einer Zahlung an den Feind befreit worden iſt. Ein Anderes wird ſich nur im Falle einer Debella - tion oder vermöge ausdrücklicher friedensgeſetzlicher Beſtimmungen behaupten laſſen; namentlich, wenn die Schuldner unter der Bot - mäßigkeit des occupirenden Feindes ſtehen, der jedoch dritten Mäch - ten keine desfallſige Verbindlichkeit auferlegen kann. 2Das Gegentheil wird natürlich, wiewohl bald mehr, bald weniger bedingt, von den Publiciſten angenommen, welche überhaupt eine Occupation un - körperlicher Dinge vertheidigen. Vgl. v. Kamptz a. a. O. §. 6. 7.
Unbedenklich darf dagegen den Forderungen feindlicher Unter - thanen an dieſſeitige Unterthanen und Anſtalten die Klagbarkeit im Wege der Repreſſalien oder Retorſion verſagt werden, wenn nicht etwa hierauf vertragsmäßig verzichtet iſt. 3Ein Beiſpiel ſolchen Vertrages iſt der Handelsvertrag zwiſchen Großbri - tannien und Nordamerica v. 1794. Vgl. Wheaton IV, 1, 12.
135. Ein allenthalben anerkanntes Aneignungsrecht findet in Landkriegen bei eigentlicher Kriegsbeute Statt. Gegenſtände der - ſelben ſind unbeſtritten alle beweglichen körperlichen Sachen, welche dem feindlichen Heere oder einzelnen dazu gehörigen Individuen von rechtmäßigen Streitern der Gegenpartei, oder ausnahmsweiſe denje - nigen Staatsangehörigen abgenommen werden, deren Plünderung von dem Befehlshaber der Gegenpartei erlaubt worden iſt, z. B. bei Erſtürmung einer Feſtung oder eines anderen hartnäckig ver - theidigten Platzes. Nur in erſterer Hinſicht verſteht ſich das Beu - terecht ohne weitere Erlaubniß; die kriegführenden Theile geben gleichſam wechſelſeitig dem Spiel des Krieges dasjenige preis, was ſie bei ihrem Zuſammentreffen bei ſich führen; in dem zweiten oder Ausnahmefall erſcheint die Beute als eine eigenmächtige Compen - ſation für dasjenige, was man bei einer ſo beſonderen Gelegenheit auf das Spiel zu ſetzen genöthigt geweſen iſt, wobei man die Wie - derausgleichung den betroffenen feindlichen Unterthanen mit ihrer15*228Zweites Buch. §. 135.eigenen Staatsgewält überläßt. Daß es großartiger und edler iſt, ſolche Ausnahmen nicht zu geſtatten, da es beſonders mit der Wiederausgleichung des den Einzelnen zugefügten Schadens ſehr mißlich ſteht, und durch eine ſolche Gewaltmaaßregel gewöhnlich nur Unſchuldige betroffen werden, iſt in neueſter Zeit ſogar in der Praxis nur ſelten verkannt worden. — Sollte außer den obigen Fällen einem feindlichen Unterthan von ſeiner perſönlichen Habe durch einen Krieger der Gegenpartei Etwas weggenommen wer - den, ſo iſt dieſes zwar aus dem Geſichtspunct der heutigen Mi - litärdisciplin eine ungiltige Beute und der Wegnehmende kann ſich ſeinem Vorgeſetzten gegenüber der Herausgabe an den bisherigen Eigenthümer nicht entziehen; wird dieſe jedoch nicht erlangt, ſo wer - den dergleichen Sachen nichtsdeſtoweniger mit dem Friedensſchluſſe die Natur giltiger Kriegsbeute annehmen. Daß ſich dagegen auch ein Privatmann einem feindlichen Unterthan und ſogar Krieger gegenüber, deſſen Habſeligkeiten jener ſich ohne beſondere Autori - ſation zugeeignet hat, auf ein Recht der Beute berufen könne, wird aus dem heutigen Standpunct gewiß beſtritten werden dürfen. 1Eine entgegengeſetzte Anſicht findet ſich noch bei Struben, Rechtl. Be - denken II, Nr. 20. S. aber ſchon Pufendorf VIII, 6, 21. Auch das Allg. Preuß. Landrecht I, 9, §. 193. 197. ſtellt den Grundſatz auf: das Recht Beute zu machen, kann nur vom Staat ertheilt werden. Und: ge - gen denjenigen feindlichen Unterthan, der weder zur Armee gehört noch der - ſelben folgt, kann nur mit ausdrücklicher Erlaubniß der Befehlshaber der Trup - pen Beute gemacht werden.
In Beziehung auf die Perſon des Erwerbers unterſcheidet der allerdings durch kein Völkergeſetz gebundene aber gewöhnliche Ge - brauch der Staaten einerſeits diejenigen Sachen, welche zur Aus - rüſtung eines Kriegsheeres gehören und zu kriegeriſchen Operatio - nen dienen, ohne dem einzelnen Krieger einen unmittelbaren Ge - brauch oder Nutzen zu gewähren; andererſeits ſolche Sachen, welche einen unmittelbaren Werth für den Einzelnen haben. Letz - tere, wie z. B. Geld, einzelne Armaturſtücke und Koſtbarkeiten wer - den regelmäßig dem beutemachenden Krieger oder dem dabei ge - meinſchaftlich concurrirenden Truppentheil überlaſſen; erſtere hinge - gen, z. B. ſchweres Geſchütz, ganze Convois, Magazine und dgl. behalten ſich die Kriegsherren gewöhnlich ſelbſt vor, allenfalls gegen eine Vergütigung an die Beutemachenden. 2Vgl. z. B. das A. L. R. für die Preußiſchen Staaten I, 9, §. 195 sq. Jedoch bleibt229§. 136. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.dieſes den eigenen Regulativen jedes Kriegesherren anheimgeſtellt. — Seltſam war der frühere Kriegsgebrauch, wornach die Glocken eines eroberten Platzes dem Chef der Artillerie verfielen, wenigſtens dann, wenn ſie während der Belagerung in Benutzung geblieben waren. 1Moſer Verſuch IX, 2, 109.
136. Bei näherer Erwägung läßt ſich nun eine Appropriation von Beutegegenſtänden nicht etwa aus der Fiction rechtfertigen, daß dieſelben res nullius ſeien, was ſie in der Wirklichkeit nicht ſind, und eben ſo wenig kann der Mangel einer Dikäodoſie im Kriege einer eigenmächtigen Beſitzergreifung ſchon den Character einer Eigenthumserwerbung wider Jedermann verleihen. Nur wenn die Dikäodoſie unter chriſtlichen Staaten überhaupt noch etwas willkührliches wäre und ſein dürfte, wie in der alten Welt, ließe ſich darauf die Idee der ſicherſten Eigenthumserwerbung gründen; jetzt, wo der Kriegſtand ein nur vorübergehender iſt, kann dieſe Vorſtellungsweiſe nicht Statt finden. Vielmehr wird man folge - richtig mit den heutigen Begriffen einen Eigenthumsübergang bei der Beute überhaupt nicht annehmen dürfen, ſondern dem Beute - machenden nur die ungehinderte Befugniß zu allen thatſächlichen nach den Umſtänden möglichen Verfügungen über Nutzen und Subſtanz der Sache zuſchreiben müſſen, ohne daß darüber von ihm oder demjenigen, welchem er ſie überträgt, Rechenſchaft zu ge - ben iſt, ſo lange noch der Kriegsſtand dauert und der Beſitzer dem Eigenthümer feindlich gegenüberſteht. Der letztere wird dagegen ſein Recht an der Sache allezeit wieder verfolgen dürfen, wenn er dieſelbe an einem dritten friedlichen Ort, z. B. in neutralem Ge - biet findet, oder in eigenem Lande außerhalb der feindlichen Ge - walt, oder endlich nach wiederhergeſtelltem Frieden, wenn nicht darin Aufgebung aller Anſprüche für entzogenes Privateigenthum oder in Betreff von Beutegegenſtänden insbeſondere ſtipulirt wäre. Kurz das von jedem Staat garantirte und unter der Geſamtbürg - ſchaft aller Staaten ſtehende Civileigenthum wird nur einſtweilen ſuspendirt und ſeiner Gemeingiltigkeit beraubt; der Beſitzſtand tritt inzwiſchen an die Stelle des Rechts, das Heute mir, Morgen Dir, des Krieges. Von jedem einzelnen Staat hängt es demnächſt ab, ob und wie weit er während des Krieges oder nach Beendigung2und ſchon die älteren deutſchen Militärgeſetze, z. B. den Artikelsbrief von 1672. Art. 73.230Zweites Buch. §. 136.deſſelben dem früheren Eigenthümer einen Rechtsanſpruch auf Wie - dererlangung des weggenommenen Gutes gegen den Beſitzer zuge - ſtehen wolle, welcher ſeiner Gerichtsbarkeit unterworfen iſt; aber es exiſtirt durchaus kein alle Staaten verpflichtender Grundſatz, eine unter gewiſſen Umſtänden gemachte Beute als unwiderrufli - ches Eigenthum des Beutemachenden und ſeiner Nachfolger im Beſitz gelten zu laſſen, wenn nicht Friedens - und andere Verträge dem Beſitzſtand einen ſolchen Character ertheilen.
So giebt es denn auch kein allgemeines völkerrechtliches Ge - ſetz, mit welchem Zeitpunct das Eigenthum auf den Beutemachen - den übergeht, weil die Statuirung des Eigenthums ſelbſt nur auf der Auctorität der Einzelſtaaten beruhet. 1Vgl. Cocceji zu Groot III, 6, 3. a. E.In älterer Zeit galt dem Römiſchen Völkerrecht gemäß für die meiſten Europäiſchen Völker als Zeitpunct der vollendeten Kriegsappropriation kein an - derer als der der vollendeten ausſchließlichen Beſitzergreifung ſelbſt, welche nicht mehr durch den bisherigen Eigenthümer oder ſeine Hilfsgenoſſen verhindert wird, mithin ſobald das erbeutete Gut in Sicherheit gegen eine unmittelbare Wiedernahme gebracht iſt, und die letztere nur durch eine völlig neue Kraftanſtrengung oder durch unabhängige Zufälligkeiten bewirkt werden mag. Die Beute iſt dagegen noch nicht gemacht, ſo lange dieſelbe Action noch fort - dauert und ein ohne Unterbrechung fortgeſetzter Kampf das Ver - lorene wiedergeben könnte. 2Wegen der hier Statt findenden Bedenken in der Auslegung des Römiſchen Rechts vgl. Ziegler de jurib. majestat. I, 33, §. 79. Allein die Grund - ſätze über die Vollendung einer Beſitzergreifung ſind keinem erheblichen Zweifel unterworfen. Zu berückſichtigen iſt vorzüglich auch l. 3. §. 9. D. de vi. Denſelben Zeitpunct haben auch noch manche neuere Codificationen beihehalten. 3So das Allg. L. R. für die Preuß. Staaten I, 9, §. 201. „ Die Beute iſt erſt alsdann für erobert zu achten, wenn ſie von den Truppen, welche ſie gemacht haben, bis in ihr Lager, Nachtquartier oder ſonſt in völlige Sicherheit gebracht worden. §. 202. So lange der Feind noch verfolgt wird, bleibt dem vorigen Eigenthümer der abgenommenen Sachen ſein Recht darauf vorbehalten. “Wegen der Schwie - rigkeit ſeiner Feſtſtellung hat man auch wohl eine vierundzwanzig - ſtündige Dauer des Beſitzes als maaßgebend und entſcheidend für den Eigenthumsübergang wie bei der Seebeute angewendet4So nach de Thou bei Eroberung und Wiedernahme der Stadt Lierre in Brabant, 1595. und231§. 137. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.empfohlen;1Groot III, 6, 3. allein es läßt ſich ſchlechterdings nicht behaupten, daß dieſer, ohnehin auch nicht alle Schwierigkeiten beſeitigende Termin, ein gemeiner Völkergrundſatz geworden ſei. In Ländern des franzöſiſchen Civilrechtes entſcheidet der auf kriegeriſche Zuſtände vorzüglich paſſende Grundſatz: En fait de meubles la possession vaut titre. 2Code civil Art. 2279.
137. Dehnt der Krieg ſein Gebiet auch auf die See aus, ſo ſind nicht allein die Schiffe der feindlichen Staatsgewalten gegen - ſeitig dem Recht der Eroberung und Aneignung unterworfen, wenn ſie bis zum Frieden behauptet werden können, ſondern man legt ſich auch eine unbedingte Appropriationsbefugniß gegen feindliche Privatſchiffe und Güter bei,3Betrachtungen über dieſen Gegenſtand ſ. in Büſch, über das Beſtreben der Völker neuerer Zeit, einander in ihrem Seehandel recht wehe zu thun. Hamb. 1800. Jouffroy, dr. maritime, p. 57 s. Zachariä 40 B. IV, 1, S. 111. Hinſichtlich der Praxis vgl. man N. Carlos Abreu, tratado jurid. politico sobre las presas marit. Cadix 1746. Franz. 1758 u. 1802. R. J. Valin zur Ordonn. v. 1681. und ſein traité des prises ou prin - cipes de la iurispr. franç. concernant les prises; à la Rochelle et Par. 1782. v. Steck, Verſ. über Handels - und Schiffahrtsvertr. Halle 1782. S. 171. G. F. de Martens, Essai concernant les armateurs. 1795. u. deutſch im ſelb. J. Nau, Völkerſeerecht, §. 265 f. Wheaton, intern. L. IV, 3, §. 9 f. wovon man nur etwa die Fahr - zeuge und Geräthſchaften der Fiſcher an den Küſten menſchenfreund - lich ausnimmt,4In Frankreich haben die Gerichte ſich ſehr beſtimmt dahin ausgeſprochen, daß nicht einmal zur Ausübung von Repreſſalien Fiſcherböte des Feindes als gute Priſe behandelt werden dürften. Sirey, I, 2, 331. desgleichen ſchiffbrüchige und verſchlagene Güter. 5Respect pour le malheur! Sirey, ebdſ. p. 296.
Wenigſtens bis zur letzten allgemeinen Pacification Europas war der Seekrieg, wie wir ihn ſchon nannten, noch immer vor - zugsweiſe ein Raubkrieg gegen den Seehandel, worin auch ſo lange keine Aenderung zu erwarten iſt, als Habſucht, Geld und Krä - merintereſſen den vorzüglichſten Einfluß auf Entſtehung und Füh - rung der Kriege äußern werden.
Der bisherige Grundſatz war: alles feindliche Gut zur See, es gehöre dem Staat oder dem Einzelnen, iſt gute Priſe der ſich232Zweites Buch. §. 137.deſſelben bemächtigenden Gegenpartei, dafern nicht etwa Rechte der Neutralen hiebei verletzt werden, auf deren Darſtellung weiterhin zu kommen iſt. Das Priſenrecht beginnt mit dem Ausbruch der Feindſeligkeiten, ſogar gegen ſolche Schiffe, die hiervon noch nicht unterrichtet ſein konnten. 1So iſt wenigſtens die neuere Britiſche Praxis nicht verlegen geweſen zu verfahren. Vgl. v. Steck, über Handelsvertr. S. 171. Nau, Völkerſeer. §. 257. Wheaton, intern. L. IV, 1, §. 10. 11. Faber, N. Europ. Staatscanz - lei VI, 426.Jede kriegführende Seemacht übt es nicht allein durch die von ihr ſelbſt unmittelbar zum Seekriege ausgerüſteten Schiffe, ſondern ſie überläßt die Ausübung auch an Corſaren oder ſ. g. Privatcaper (Armateurs), denen ſie zu ihrer Legitimation Caper - oder Markebriefe ausfertigt. 2Ueber die Geſchichte der Caperei ſ. das claſſiſche Werk von Martens. Franklins Meinung über dieſelbe: in Wheaton histoire p. 233.Keine Nation hat zur Zeit darauf ganz verzichtet. 3Preußen und die Nordamericaniſchen Freiſtaaten hatten dieſes gegenſeitig im Handelsvertrage von 1785. Art. 23. gethan. Die neueren Verträge beider Staaten von 1799. und 1828. ſchweigen davon. Nau, im Völkerſeerecht §. 279. (1802.) citirt auch noch den damals neueſten Vertrag Großbritan - niens und Rußlands. Allein die Verträge dieſer Mächte von 1801. enthal - ten nur eine Modification der Caperbefugniſſe.
Dieſe für den kleinen Seekrieg beſtimmten patentirten Seeräu - ber werden als Theil der bewaffneten Macht angeſehen. Sie ſte - hen unter den Befehlen der Admiralität, bei welcher ſie auch eine Caution für die gehörige Beobachtung und Erfüllung ihrer Oblie - genheiten ſtellen müſſen;4Martens a. a. O. §. 12. ſie werden nach Kriegsgebrauch auch vom Feinde behandelt, ſo lange ſie ſich ſelbſt darnach verhalten.
Das Recht zur Ausfertigung gebührt indeſſen nur den wirk - lich kriegführenden Hauptparteien. Eine Auxiliarmacht hat das Recht nicht, ſo lange ſie ihren Character als bloße Hilfspartei be - haupten will; eben ſo können Privatſchiffe, die blos zur Verthei - digung armirt ſind, nur unter Autoriſation ihrer Staatsgewalt mit - telſt ſ. g. lettres de commission Seebeute machen;5Ebendaſ. §. 12. ſonſt gehört das etwa bei glücklicher Vertheidigung eroberte feindliche Schiffs - gut dem Fiscus des Staates. Auffallender Weiſe können übri - gens nicht allein die eigenen Unterthanen eines Kriegsherrn, ſon - dern auch fremde Unterthanen neutraler Staaten, dem Gebrauche gemäß, und ſofern keine Verträge mit einer kriegführenden Macht233§. 138. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.entgegenſtehen, als Caper angenommen werden. Außer dem Kriegs - recht ſtehen nur, den Piraten gleich,
Von ſelbſt verſteht ſich endlich, daß Seebeute auch durch Land - truppen, z. B. durch Eroberung eines Hafenplatzes gemacht wer - den kann, wobei dann die Beſchränkungen auf die Grundſätze der Landbeute nicht Statt finden. 2Vgl. Martens §. 34.
138. Hinſichtlich des Zeitpunctes, wo die Seebeute als ge - macht anzuſehen iſt, richtete man ſich vormals nach demſelben Grundſatz des Römiſchen Rechts, der bereits oben als entſchei - dend bei der Landbeute angezeigt ward. Noch der Conſolato del Mar iſt im Art. 287 ff. darauf gegründet. Späterhin erſt wurde durch Landesgeſetze und Verträge vielfach eine vierundzwanzigſtün - dige Beſitzdauer als maaßgebend angenommen, und das Recht des Eroberers ſo wie die Möglichkeit einer poſtliminiſchen Wiedererobe - rung für den Eigenthümer davon abhängig gemacht. 3S. vorzüglich Martens von §. 55. an.Jedoch iſt auch dieſes noch zur Zeit kein gemeines Völkerrecht geworden. 4So hat noch das Allg. L. R. für die Preuß. Staaten a. a. O. §. 208. verordnet: „ Güter und Schiffe, welche von Capern weggenommen werden, ſind erſt für verloren anzuſehen, wenn dieſelben in einem feindlichen oder neutralen Hafen aufgebracht worden. “Außerdem beſteht die Einrichtung,5Dieſe Inſtitution hat ſich beſonders in Frankreich ſeit Carls VI. Ordon - nanz von 1400 entwickelt. Vgl. Valin zur Ord. v. 1681. III, 9, 1. daß der Nehmer des Schiffes ſich bei einem competenten Priſengericht über die Rechtmäßigkeit der gemachten Priſe ausweiſen und den Eigenthumserwerb daſelbſt beſtätigen laſſen muß, obgleich ſolcher nicht erſt hierdurch bewirkt werden ſoll. Und nicht bloß Caper, ſondern auch ſelbſt Schiffe der Staatsmarine ſind dieſen Förmlichkeiten unterworfen;6Vgl. Valin z. Ordonn. II, S. 309. ſo wie andererſeits den Capern in neuerer Zeit gewöhnlich das Recht234Zweites Buch. §. 138.entzogen worden iſt, genommene Schiffe nach eigenem Gutfinden gegen ein Löſegeld freizulaſſen. 1Martens Caper §. 23. Wheaton intern. L. IV, 2, §. 27.
Als competent betrachtet man in der Staatenpraxis die eige - nen Gerichtshöfe oder eigends dazu angeordneten Priſengerichte und Commiſſionen des Staates, zu deſſen Seemacht der Wegnehmende gehört. Die Anwendung dieſer Priſengerichtsbarkeit hält man le - diglich dann für unzuläſſig: wenn die Priſe innerhalb der Land - und Seegrenzen eines neutralen Staates gemacht ſein ſollte, oder wenn durch bewaffnete Schiffe, die innerhalb eines neutralen Gebietes ausgerüſtet ſind; in welchen Fällen nur allein die Gerichtsbarkeit des neutralen Staates als begründet angeſehen oder doch ſeine Reclamation beach - tet wird. 2Wheaton ebdſ. §. 13. Jouffroy p. 282 f.Es wird ſogar eine etwanige Conſulargerichtsbarkeit, die der kriegführende Theil innerhalb eines neutralen Gebietes in ſeinen Angelegenheiten auszuüben hat, nicht für berechtigt gehalten in Priſenſachen dort zu entſcheiden. 3Noch weniger kann die Gerichtsbarkeit den Geſandten im fremden Lande übertragen werden. Vgl. Martens §. 37. Wheaton §. 14.Wohl aber hält man die Priſe ſchon für hinreichend geborgen und geſichert, wenn ſie ſich auch nur erſt in einem neutralen Hafen befinden ſollte und dann ein Erkenntniß der heimathlichen Priſengerichte für zuläſſig. 4Wheaton §. 12. a. E.
Das Verfahren bei dieſen Priſengerichten, dem Führer eines un - beſtreitbar feindlichen Schiffes gegenüber, iſt ein höchſt ſummariſches, jede Vertheidigung ausſchließend und lediglich nur eine Rechtfer - tigung des Fanges von Seiten des Erbeuters bezielend; ein Re - clamverfahren,5Hierüber vgl. Jouffroy, p. 86. 296 f. d. i. ein Streitverfahren über die Giltigkeit der Priſe wird es nur dann, wenn der Weggenommene die feindliche Nationalität des Schiffes6Hierbei muß in der Regel die legitime Flaggenführung entſcheiden. Vgl. Wheaton §. 21. beſtreitet oder ſich auf ein beſonderes Schutzprivilegium berufen kann, und als Kläger die Herausgabe deſſelben fordert. Die Priſengerichte erkennen übrigens allein nach den Geſetzen und Reglements ihres Staates, von welchen auch235§. 139. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.die Vertheilung des erbeuteten Gutes abhängt. Ungeachtet der Principienloſigkeit einer ſolchen Geſetzgebung und Gerichtsbarkeit hat man ſich doch in der langen Praxis der letzten Kriege ſchon gewöhnt, das Eigenthum der weggenommenen Schiffe für verloren und confiscirt zu halten, ſobald von einem competenten Priſenge - richt die Erbeutung als rechtmäßig erklärt worden iſt. Selbſt Großbritannien reſpectirt hierin die gleiche Berechtigung anderer Staaten,1Wheaton IV, 2, §. 12. 13. Jouffroy, p. 209 f. freilich wohl, um deſto weniger in der ihm ſelbſt den meiſten Vortheil bringenden Praxis angefochten zu werden.
139. Bei näherer Betrachtung wird man ſich unmöglich ent - ſchließen können die vorher bemerkten Maximen der Europäiſchen Staaten in Betreff der Seebeute ſchon als ein unſtreitiges feſtge - gründetes Völkerrecht anzuerkennen. Geſetzt auch, alle der großen Eu - ropäiſchen Staatenfamilie einverleibten Regierungen befolgten ohne die geringſte Verſchiedenheit dieſelben Maximen, ſo würde jede doch nur als für ſich handelnd und durch politiſchen Intereſſen dazu beſtimmt erſcheinen, namentlich als geleitet durch das äußerliche Princip der Reciprocität und weil es zur Zeit zu keiner allgemei - nen freien Verſtändigung über die hier in Rede ſtehenden Fragen gekommen iſt. Es fehlt dabei an einer inneren Nöthigung jene Maximen als wahr anzunehmen; es fehlt dabei gewiß die ſitt - liche Zuſtimmung der Völker, welche ſich unmöglich mit ei - nem Syſtem reiner Willkühr befreunden kann. Wodurch ſoll es gerechtfertigt werden, daß die bloße Wegnahme einer Sache und ein mehrſtündiger, beliebig 24ſtündiger Beſitz, das Eigenthum einer fremden Sache, beſonders einer Privatſache zu geben im Stande ſei! Welche Kraft kann das Urtheil einer Behörde äußern, die für das Intereſſe des an dem Fange und ſeinen Vortheilen allein betheiligten Staates niedergeſetzt iſt, und an deſſen eigene Satzun - gen gebunden iſt! Fürwahr ſchon längſt iſt es ausgeſprochen, freilich nur von einzelnen Männern der Wiſſenſchaft und Verthei - digern der Humanität, daß ein ſolches Syſtem einer chriſtlich er - leuchteten Zeit unwürdig ſei. Es wird auch dies allmälig immer - mehr in das Bewußtſein der Völker treten, je würdiger ſie werden und im Stande ſind, die Anforderungen der Gerechtigkeit denen gegenüber zu vertheidigen und durchzuſetzen, welche bisher in einem ſolchen Willkührſyſtem vorzüglich die Beförderung ihrer Intereſſen236Zweites Buch. §. 140.gefunden haben und darum auch ferner daſſelbe fortzuſetzen geneigt ſein möchten. Es kann allerdings nicht die Tendenz ſein, einer kriegführenden Macht die Wegnahme von feindlichen Staats - und ſelbſt Privatſchiffen mit den darauf befindlichen Gütern unterſagen zu wollen. Es kann ihr nicht zugemuthet werden dem feindlichen Staat eine ungeſtörte Benutzung der Waſſerſtraßen zu geſtatten, um ſich die Mittel zu einer fortgeſetzten Kriegführung zu verſchaf - fen und einen Verkehr zu treiben, welcher dem eigenen Handel je - ner anderen kriegführenden Macht verderblich werden kann. Ein ſolches Syſtem würde allerdings mit gutem Grunde für eine fromme Chimäre zu erklären ſein. Wenn man aber einmal ſitt - liche Rechtsprincipien will, keine politiſchen oder bloße Fictionen, ſo wird man ſich endlich zu der Anſicht bequemen müſſen: Die Wegnahme eines feindlichen Schiffes giebt niemals dem Erbeuter ein Eigenthum auf daſſelbe und das darin befind - liche Gut, ſondern lediglich und allein das Recht der Be - ſchlagnahme und einer factiſchen Dispoſition darüber wäh - rend der Dauer des Krieges, um ſich dadurch für deſſen Nachtheile und wegen ſeiner Forderungen an den Feind zu entſchädigen. Erſt der Friede oder eine gänzliche Zerſtörung des feindlichen Staates giebt demjenigen, was ſolchergeſtalt geſchehen und verfügt worden iſt, den Character eines fort - hin giltigen Verhältniſſes, ſoweit man nicht genöthigt oder veranlaßt iſt, in dem Friedensſchluß das Weggenommene ganz oder theilweiſe herauszugeben. Bis dahin findet denn auch das Recht der Wiedernahme einer Priſe zu Gunſten des Eigenthümers Statt, von deſſen bisheriger Praxis erſt weiterhin (Abſchn. IV. dieſes Buches) gehandelt werden kann.
140. Sachen eines im Kriege befindlichen Staates, welche ſich im Gebiete des Feindes befinden, unterwarf das ältere Völ - kerrecht dem feindlichen Appropriationsrecht durch Beſitzergreifung, gleich anderer Beute. 1L. 51. §. 1. D. de acquir. rer. dom. „ Et quae res hostiles apud nos sunt, non publicae sed occupantium fiunt. “ Vergl. mit l. 12. pr. D. de captiv. Das heutige Völkerrecht kann dieſen Satz nicht mehr adoptiren; die Praxis der Staaten aber hat bis -237§. 140. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.her noch immer ziemlich daſſelbe Ziel zu erreichen gewußt, indem man nämlich dergleichen Sachen unter dem Titel von Repreſſalien ſogleich im Anfange des Krieges, ja ſogar oft ohne ausdrückliche Kriegserklärung, mit Beſchlag belegt und dann confiscirt. 1Die Behauptung dieſes Satzes ſ. bei de Real science du Gouvern. t. V, ch. II, V, 3. v. Steck, Verſ. über Handels - und Schiffahrtsvertr. S. 168. und über die Praxis des Satzes Moſer, Verſ. IX, 1, S. 45. 49. Die arge Unbilligkeit derſelben iſt einleuchtend.Die - ſes Schickſal betrifft vorzüglich die feindlichen Schiffe, welche ſich zufällig zu dieſer Zeit in den Häfen eines Kriegstheiles befinden und mit einem Embargo beſtrickt werden können. Es trifft fer - ner die Waaren, welche ein Unterthan des feindlichen Staates in dem anderen Staate gekauft und für ſeine Rechnung liegen hat, ferner die Waaren und ſonſtiges Eigenthum von feindlichen Un - terthanen, die ſich bisher ſogar längere Zeit hindurch friedlich für ihren Geſchäftsverkehr in dem auswärtigen Gebiet aufgehalten ha - ben. Die Priſengerichte mächtiger Staaten haben dann kein Be - denken gefunden durch ihre gelehrten Richter mit großer Scrupu - loſität die Heimathseigenſchaft ſolcher Verkehrstreibenden unterſu - chen zu laſſen, wobei man nicht verfehlt hat, wenn nur der ge - ringſte Verdacht obwaltete, ob dieſelben noch feindliche Unterthanen ſeien oder ihr Domicil dieſſeits genommen, eine Confiscation aus - zuſprechen. 2Man vgl. Wheaton, intern. L. IV, 1, §. 16 — 18.Selbſt lang etablirte Handelshäuſer und Comptoirs feindlicher Unterthanen in des anderen Theiles Gebiete ſind dieſem Schickſal nicht entgangen. 3Ebdſ. §. 19.Nur ſpecielle Vertragsſtipulationen, dergleichen ſich in den meiſten neueren umfaſſenden Handelsverträ - gen finden, können hiergegen ſchützen und die Möglichkeit einer ungehinderten Herausziehung von Perſonen und Gütern aus feind - licher Botmäßigkeit gewähren. 4Beiſpiele ſ. in Nau Völkerſeerecht §. 258.
Auf der andern Seite hat man gewöhnlich vermieden, die un - beweglichen dieſſeitigen Güter feindlicher Unterthanen unter einen ſolchen Beſchlag zu legen und Repreſſalien daran auszuüben, um nicht eine Retaliation der Maaßregel von Seiten des Feindes und dadurch ebenſo viele oder ſelbſt noch größere Nachtheile für die dieſſeitigen Unterthanen hervorzurufen. 5Wheaton a. a. O. §. 12.
238Zweites Buch. §. 141.Man erkennt hieraus leicht, daß es beſonders die Handelsin - tereſſen ſind, welche das Verfahren kriegführender Mächte beſtim - men; die Abſicht, den Handel des feindlichen Staates zu zerſtören, wo möglich zum Vortheil des eigenen. Wie ſollte man alſo wohl ein Rechtsprincip im Hintergrunde und eine folgerichtige Anwen - dung deſſelben erwarten! Immerhin mag es erlaubt ſein, wie ſchon öfter wiederholt ward, dem Feinde zu ſchaden, ſeine Hülfsquellen zu verſtopfen, vorzüglich alſo ſeinen Handel anzugreifen; allein es folgt daraus nicht, wenn es wirklich ein ſittliches Princip in dem neueren Kriegsrecht giebt, daß Schiffs - und Waareneigenthum feindlicher Privaten einer Confiscation mit der Wirkung einer ſo - fortigen Eigenthumsübertragung unterworfen werden darf; alles kann ſich nur auf eine Beſchlagnahme, desgleichen auf eine vor - läufige Verwendung deſſelben ſtatt der Angreifung des eigenen Ca - pitals beſchränken; das Verwendete aber und noch Vorhandene muß bei eintretendem Frieden wieder herausgegeben, oder gegenſeitig dar - über, es ſei ausdrücklich oder ſtillſchweigend, im Friedensſchluß dar - über abgerechnet werden.
141. Daß ſelbſt unter feindlichen Parteien und während des Krieges ein gegebenes und angenommenes Wort verpflichte, d. h. nach Treue und Glauben zu erfüllen ſei, ſo lange die Möglichkeit dazu gegeben iſt; daß vorzüglich auch das vom Feinde bewieſene Vertrauen nicht zu ſeinem Nachtheile gemißbraucht werden dürfe, iſt eine heutzutage von allen chriſtlichen civiliſirten Völkern aner - kannte Regel, deren Verletzung den Gegner zur entſchiedenſten Ge - nugthuung berechtigen, und vor dem allgemeinen Völkertribunal der öffentlichen Meinung infamiren würde. 2Fides etiam hosti servanda. Augustin. c. 3. C. 23. qu. 1. Es giebt Niemand, der das Gegentheil behauptet. S. ſelbſt Bynkershoek Quaest. I, 1, der ſonſt Betrug gegen den Feind für erlaubt hält. Vgl. Wheaton IV, 2, 17. Specialſchriften bei v. Ompteda §. 302. v. Kamptz §. 290.
Dergleichen im Kriege vorkommende Conventionen haben ent - weder ein dauerndes Verhältniß zum Zweck oder nur gewiſſe vor -239§. 142. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.übergehende Leiſtungen. Zu der erſteren Art allgemeineren Inhal - tes gehören
Erſtens: die Cartels wegen des Poſtverkehrs zwiſchen den kämpfenden Staaten; wegen der Bezeichnung und Behandlung der etwanigen Parlamentärs; wegen der Couriere und Päſſe; wegen des Gebrauchs oder Nichtgebrauchs gewiſſer Waffen; we - gen der Behandlung der Kriegsgefangenen u. dergl. mehr.
Zweitens: etwanige Neutralitätsverträge, wodurch be - ſtimmte Gebiete, Plätze und Perſonen eines Territoriums oder ganze Categorien von Unterthanen1Moſer, Verſ. X, 154 f. außerhalb des Kriegsſtandes geſtellt werden, mit denſelben Wirkungen, welche die Neutralität überhaupt gewährt, es ſei nun in jeder Hinſicht oder nur in ge - wiſſen Beziehungen. 2Beiſpiel: die Conventionen wegen der Küſtenfiſchereien und Fiſcherböte zwiſchen Frankreich und Großbritannien.
In naher Verwandtſchaft ſteht damit die Ertheilung von Sauvegardes (salva guardia), wenn einer feindlichen Perſon oder Sache ein ausdrücklicher Freibrief gegen feindliche Behand - lung von Seiten der Partei des Ertheilers oder ein lebendiger Schutz durch Militairperſonen gegeben wird, in welchem Falle die letztern, ſo lange ſie ſich ſelbſt friedlich und ihrer Beſtimmung ge - mäß verhalten, bis zu ihrer Rückkehr zu den Ihrigen, ſogar von der Gegenpartei als unverletzbar geachtet werden müſſen;3Gr. Engelbrecht de salva guardia. Jen. 1743. Vattel IV, §. 171. Mo - ſer Verſ. IX, 2, 452 f. ferner die Ertheilung eines ſicheren Geleites für beſtimmte Perſonen, um einen ihnen ſonſt verbotenen oder gefährlichen Ort beſuchen zu können. 4Groot III, 21, §. 14 f. Vattel, §. 265 f.
142. Specielle Kriegsverträge ſind:
a) Die Contributionsverträge, welche mit feindlichen Unterthanen abgeſchloſſen werden und wodurch dieſelben die Zahlung beſtimmter Summen oder gewiſſe Lieferungen übernehmen; ferner die Ausſtellung von Schuldbekenntniſſen Statt zu leiſtender baarer Zah - lung. Verpflichtungen dieſer Art eignen ſich zwar zu einer Einkla - gung bei den Gerichten des feindlichen Landes ſelbſt nur in ſo240Zweites Buch. §. 142.weit, als letztere ſich im Bereich des forderungsberechtigten Occu - panten befinden; natürlich kann dieſer aber auch ſelbſt im Wege der Gewalt die Realiſirung herbeiführen. — In wie weit derglei - chen Verpflichtungen auch nach vorübergegangener Occupation noch fortdauern, wird durch die Grundſätze des Abſchn. IV. beſtimmt.
b) Loslaſſungs - oder Ranzionirungs-Verträge bei der Seecaperei, wenn der von einem feindlichen Caper genom - mene Schiffer ſeine Loslaſſung gegen ein beſtimmtes Löſegeld mit - telſt Ausſtellung eines billet de rançon und Beſtellung einer oder der anderen Geißel erhält; üblich etwa ſeit dem Ausgang des 17ten Jahrhunderts. Soweit dergleichen Ranzionirung nicht durch neuere Staatsgeſetze den Capern verboten iſt, entſteht daraus ei - nerſeits die unbedingte Verpflichtung zur Bezahlung des Löſe - geldes, ſofern die Priſe ſelbſt nur rechtmäßig gemacht war, eine Verpflichtung, welche ſogar von den Gerichten des Schuldners ge - handhabt werden muß; andererſeits ein Recht auf Schutz des feindlichen Staates, dem das Löſegeld zufließen ſoll, gegen fernere Angriffe bis zu dem angewieſenen Ziele der Reiſe unter der Be - dingung jedoch, daß der Losgelaſſene davon nicht willkührlich ab - weicht. Das billet de rançon wird übrigens ſelbſt wieder ein Gegenſtand der Beute, wenn der Caper ſeinerſeits genommen wird. Gehört der Unternehmer des Caperſchiffs zu dem Staate des Ran - zionſchuldners, ſo hängt es von den dortigen Geſetzen ab, ſo - wie von den weiterhin darzuſtellenden Grundſätzen der Wiedernahme oder des Poſtliminiums, inwiefern der Schuldner von ſeiner Ver - bindlichkeit befreit wird. 1Wheaton, intern. L. VI, 2. §. 27. Vgl. v. Martens, Verſ. über Ca - per §. 23.
c) Auswechſelungsverträge wegen der Gefangenen. Dieſe kamen vorzüglich erſt in der zweiten Hälfte des 17ten Jahr - hunderts in lebendigeren Gebrauch. 2Du Mont, Corps univ. t. VII, I, p. 231. hat den älteſten Cartel dieſer Art aus dem Jahre 1673.Es werden dabei die ver - ſchiedenen Categorien der Militairperſonen berückſichtigt und ge - wiſſe Verhältnißzahlen bei der Ausgleichung zum Grunde gelegt. Die Ausgleichung des plus oder minus geſchieht entweder durch Geld oder in ſonſtigem Aequivalent. 3Moſer Verſ. IX, 2, 388 f. Wheaton IV, 2, §. 3. Wegen der älteren Praxis im Mittelalter: Ward, Enqu. I, 298 s.
241§. 142. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.d) Capitulationen1J. Fr. Ludovici, de capitulationib. Hal. 1707. Moſer IX, 2, 155. Sonſtige Schriften bei v. Ompteda §. 315. v. Kamptz §. 300. von Truppentheilen oder Waffen - plätzen. Sie werden bedingt2Eine ſonſt häufige Bedingung war: wenn nicht innerhalb einer gewiſſen Friſt Entſatz kommen ſollte und dann es auf den Ausgang des Kampfes ankommen zu laſſen. Ward II, 226 f. oder unbedingt geſchloſſen; die Ver - tragsform beſteht meiſtens in der ſchriftlichen Propoſition der Be - dingungen von Seiten des Capitulirenwollenden und in der ſchrift - lichen Erklärung des andern Theiles auf jene Propoſition.
e) Waffenſtillſtandsverträge3Ueber dieſe: Groot III, 21. Pufendorf VIII, 7, 3. Jo. Strauch, diss. acad. n. 5. Moſer Verſ. X, 2, 1. Vattel III, §. 233 f. wegen Unterbrechung der Feindſeligkeiten. Sie ſind entweder allgemeine, für die feindli - chen Parteien an allen Puncten giltig, oder nur beſondere für ge - wiſſe Truppen, Gegenden und Linien, und werden bald auf be - ſtimmte bald auf unbeſtimmte Zeit eingegangen. Sie ſind für die Staatsgewalten verbindlich mit dem verabredeten Anfangspunct, Einzelne hingegen dafür nur verantwortlich von dem Tage der er - haltenen Kenntniß an. Den hierdurch dem anderen Theile er - wachſenen Nachtheil müſſen die Staatsgewalten wieder ausglei - chen. Natürliche Bedeutung jedes Waffenſtillſtandes iſt Erhaltung des status quo in Bezug auf die gegenſeitige kriegeriſche Stellung, ohne weitere Ausdehnung derſelben zum Schaden des Gegners. Zur Befeſtigung und Sicherung der bisherigen kann jeder Theil thun was ihm gut dünkt. 4Dies ſcheint die richtigſte Formel, welcher die von Pinheiro-Ferreira zu Vattel III, 245. vorgeſchlagene ſchwerlich vorzuziehen iſt, „ de ne rien faire de ce que l’ennemi aurait été intéressé d’empêcher et que, sans la trève, il aurait probablement empêché. “ Beſonders ſtreitig iſt, ob einem bela - gerten Ort erlaubt ſei, ſeine Mauern wiederherzuſtellen und neue Verthei - digungsbarrièren aufzuführen? Bejaet wird es mit Recht von Groot §. 7. noch beſtimmter in Bezug auf jede Vertheidigungsmaaßregel von Pufen - dorf §. 10. Geleugnet von H. Cocceji zu Groot §. 10. von Vattel und Wheaton IV, 2, 20. Daß der Belagerer ſeine Belagerungsarbeiten nicht fortſetzen dürfe, iſt außer Zweifel.— Die Wiedereröffnung von Feindſeligkeiten pflegt, wenn die Friſt keine ganz momentane iſt, geziemender Weiſe wenigſtens durch eine vorherige Aufkündigung angezeigt zu wer - den,5Pufendorf VIII, 7. 6. bei dem unbeſtimmt eingegangenen Waffenſtillſtand iſt ſie16242Zweites Buch. §. 143.ſogar weſentlich, wenn nicht durch einen anderen beſtimmten Grund der Vertrag ſeine Exiſtenz bereits verloren hat.
143. Von allen vorſtehend bemerkten Verträgen gelten im All - gemeinen die nämlichen Grundſätze, wie auch im Frieden, ja, die kriegeriſche Ehre gebietet eine um ſo ſtrengere Beobachtung jener Grundſätze. Befugt zur Abſchließung ſolcher Conventionen iſt von Amtswegen jeder Truppenbefehlshaber ſoweit das Bedürf - niß derſelben in ſeinen beſonderen Wirkungskreis eingreift, ohne daß es dazu der Ratification des Souveräns bedarf.
Nur in ſofern als die übernommenen Verpflichtungen über je - nen Wirkungskreis hinausgehen, ſind dieſelben als perſönliche Spon - ſionen zu betrachten und daher ohne Ratification nicht giltig, ſon - dern einer Reſciſſion unterworfen. (§. 84.)
Als Verſtärkungsmittel und zur größeren Sicherheit der aufer - legten Verpflichtung dienen die ſchon oben (§. 96.) angegebenen, mit Ausnahme der reinprivatrechtlichen für einen Feind nicht realiſirbaren, namentlich alſo die Beſtellung von Geißeln, deren Rechtsverhältniß auch im Kriege kein anderes ſein kann, als im Frieden, ferner die Einräumung von Waffenplätzen, endlich auch die Ueberlieferung von Fauſtpfändern, woran ſich der Feind im Falle der Nichterfüllung factiſch gleichſam im Wege der Repreſſa - lien halten kann.
Jede Contravention des andern Theiles berechtigt zur ſoforti - gen Aufhebung des Vertrages ohne weitere Aufkündigung. 1Groot III, 21, 11. Pufendorf VIII, 7, 12.Es machen daher Verträge dieſer Art eine vorzüglich ſorgfältige Ab - faſſung nothwendig und eine ſofortige Erfüllung ohne einigen Ver - zug räthlich. 2Treffend bemerkt Mr. Wheaton IV, 2, 23. „ In these compacts, time is material: indeed it may be said to be of the very essence of the contract. If any thing occurs to render its immediate execution im - practicable, it becomes of no effect, or at least is subject to be varied by fresh negotiation. “ Warnende Beiſpiele: die wiederaufgehobene Con - vention von Kloſter Zeven 1757. Die Convention von El Ariſch, 1800. Die Capitulation des Marſchalls St. Cyr, 1814.
144. Nichts iſt ſo wichtig für den Beſtand einer freien ſittli - chen Staatengeſellſchaft, als das Verhältniß der Neutralität.
Neutral (medius in bello) iſt in der weiteren Bedeutung je - der Staat, welcher an einem Kriege nicht als Hauptpartei Theil nimmt; der allgemeine Character dieſes Verhältniſſes iſt: Fortbe - ſtand aller Rechte des Friedens mit Parteiloſigkeit und ohne Feind - ſeligkeit gegen die Kriegführenden. Hierbei finden allerdings Ab - ſtufungen ſtatt.
Es giebt eine vollkommene oder ſtrenge Neutralität, welche ſich jeder Art von Theilnahme zu Gunſten einer Kriegspar - tei enthält. Es giebt aber auch eine unvollſtändige Neutra - lität, welche innerhalb der Grenzen einer erlaubten Hilfeleiſtung zu Gunſten eines Kriegführenden beſteht. Ein ſolcher Fall tritt ein:
Einmal bei derjenigen Macht, welche vor dem jetzigen Kriege und ohne Hinſicht auf denſelben eine particuläre Kriegshilfe oder auch ſelbſt eine angemeſſene Defenſivhilfe zugeſagt hat, ſo lange ſie nicht in einen Angriff übergeht und der Gegner ſich dabei beru - higt (§. 117.), im Uebrigen auch die Grenzen der Neutralität be - obachtet werden. 2Beiſpiele ſolcher Neutralität ſ. im Pyren. Frieden v. 7. Nov. 1659. Art.
16*244Zweites Buch. §. 145.Zweitens: wenn ein Staat allen kriegführenden Theilen die - ſelben Vergünſtigungen gewährt; oder zwar nur dem einen Theile, jedoch vermöge früherer Verträge; oder mit ausdrücklicher Geneh - migung des anderen Theiles; oder auch nur vorübergehend und bona fide im Drange der Umſtände.
Außer dieſer qualitativen Verſchiedenheit der Neutralität giebt es auch eine quantitative, indem ſie nämlich ſowohl eine allge - meine, dem Staat in ſeiner Geſamtheit zuſtehende oder nur eine partielle, auf gewiſſe Theile oder Perſonen deſſelben beſchränkte ſein kann. 1Vgl. Moſer, S. 154.
145. Das Recht der Neutralität verſteht ſich von vorn herein bei jedem Theilnahmloſen ganz von ſelbſt. Es kann aber auch ein durch Verträge beſonders garantirtes ſein und dadurch ſeine eigen - thümliche Grenzen erhalten, ja die Neutralität kann ſelbſt eine noth - wendige, durch Verträge auferlegte ſein. Im letzteren Falle befin - den ſich z. B. nach den Verträgen von 1815 die Schweiz2Declaration vom 20. März 1815. Acceptation der Schweizer Tagſatzung vom 27. Mai d. J. Congreßacte Art. 84. 92. und Anerkennungsacte vom 20. Nvbr. 1815. de Martens Suppl. VI, 157. 173. 740. und die Stadt Cracau;3Convention vom (21. April) 3. Mai 1815. Art. 6. und Congreßacte Art. 118. de Martens l. c. p. 254. 429. ferner nach neuerer Regulirung das König - reich Belgien4Separationsvertr. vom 15. Novbr. 1831. Art. 1. Nouv. recueil t. XI, p. 394. und Vertrag v. 19. April 1839. Art. 7. Ebend. XVI, 777. gegen alle andere Staaten auf immerwährende Zeiten. Wiederum giebt es Staaten, denen unter Umſtänden die Annahme oder Beibehaltung der Neutralität unmöglich gemacht iſt, wie z. B. denjenigen die durch eine Familien-Alliance zu einer vollſtändigen ſelbſt offenſiven Kriegshilfe zu Gunſten eines anderen Staates verpflichtet ſind, desgleichen denjenigen, welche zu einer Staatenconföderation gehören, wenn dieſe einen Krieg unternimmt,5Vgl. für den deutſchen Bund die Wiener Schlußacte Art. 41. oder aber welche in dem Verhältniß einer Realunion zu einem an -2III. Du Mont. t. VI, P. II, p. 265; in dem däniſchen ſchwediſchen Kriege v. 1658. 1659. hinſichtlich der Niederlande; im ſpaniſchen Succeſſions - kriege, hinſichtlich Dänemarks. Vgl. Nau’s Völkerſeerecht §. 233. 234.245§. 146. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.deren Staate ſtehen, ſie ſei nun eine gleiche oder ungleiche Ver - bindung;1Man vergleicht z. B. Schweden und Norwegen im Vereinigungsvertrag vom 31. Juli bis 6. Aug. 1815. Art. 4. de Martens N. R. II, p. 612. In Betreff der einzelnen Fragen: Galiani I, c. 3. wogegen eine nur perſönliche Union mehrerer Staaten unter einem gemeinſchaftlichen Oberhaupte ohne Realverband die Möglichkeit einer Neutralität nicht ausſchließt.
Unläugbar iſt jeder Staat berechtigt die Annahme und Erhal - tung der Neutralität mit den Waffen in der Hand zu ſchützen und jede Beeinträchtigung durch Vertheidigungsmaaßregeln, die ſich auf jenen Zweck beſchränken, zurückzuweiſen. Dies iſt die bewaffnete Neutralität, zu deren Erhaltung ſelbſt auch wieder Bündniſſe ge - ſchloſſen werden können.
Jede Neutralität endigt mit einer Kriegserklärung, welche an den neutralen Staat oder von ihm an einen der kriegführenden Theile ergeht, oder mit einer ſofort factiſchen Kriegseröffnung. Da - gegen kann der Ablauf einer vertragsmäßig der Neutralität vor - beſtimmten Zeit jene noch nicht von ſelbſt in einen Kriegsſtand verwandeln. 2Moſer a. a. O. S. 491.
146. Die Bedingungen unter welchen man allein auf Aner - kennung und Achtung der Neutralität Anſpruch machen kann, ſo - weit nicht eine Relaxation davon in den Fällen unvollkommener Neutralität ſtattfindet, ſind weſentlich dieſe:3Klüber §. 287.
Erſtlich: die Nichtduldung von unmittelbar feindlichen Hand - lungen einer kriegführenden Partei wider die andere innerhalb des neutralen Gebietes.
Zweitens: die Unterlaſſung jeder poſitiven Begünſtigung eines kriegführenden Theiles, wodurch deſſen Angriffs - oder Vertheidi - gungsſyſtem verſtärkt wird, desgleichen die Nichtgeſtattung von Be - fugniſſen, welche der einen Partei einen beſonderen Vortheil vor der andern gewähren, ſollte man auch bereit ſein, die nämlichen Befugniſſe der letzteren einzuräumen.
Wird dieſen Bedingungen zuwider gehandelt, ſo ſind die Krieg - führenden berechtigt ſich einer ferneren Beachtung der Neutralität246Zweites Buch. §. 147.zu entheben und entweder Repreſſalien zu gebrauchen oder aber eine Kriegserklärung ergehen zu laſſen.
Iſt die Neutralität eine unvollkommene, ſo ſind ihre Grenzen der ſtrengſten Auslegung unterworfen. Es kann auch, wenn durch vorausgegangene Verträge einem kriegführenden Theile gewiſſe vor - theilhafte Zugeſtändniſſe gemacht ſind, der hierdurch benachtheilig - ten Partei das Recht nicht abgeſprochen werden, dieſe Vergünſti - gungen durch Reactionen zu paralyſiren, wenn nicht darauf von ihm verzichtet iſt. 1Vgl. Nau’s Völkerr. §. 233. a. E.Keinesweges kann er aber präciſe von dem Neutralen dieſelbe Vergünſtigung als ein Recht fordern. 2Streitigkeiten über einen ſolchen Punct zwiſchen Großbritannien u. Nord - america ſ. bei Wheaton IV, 3, 3.
147. In der erſten Hinſicht des vorigen Paragraphen darf kein neutraler Staat zugeben, daß eine Kriegspartei in ſeinem Ge - biete eine unmittelbar feindſelige Handlung gegen Perſonen oder Sachen der anderen Partei vornehme oder auch fortſetze, wenn er es zu hindern im Stande iſt. Vermag er dies nicht, ſo darf er wenigſtens keine Billigung zu erkennen geben, wodurch er fernere Handlungen der Art legaliſiren würde. Er muß demnach den ver - folgten Theil, ſo viel er ohne eigene Gefahr und Nachtheil vermag, in Schutz nehmen, und das ihm etwa ſchon Entzogene von dem anderen Theile wieder herausgeben laſſen. 3Bynkershoeck quaest. I, 8. v. Martens, Caper §. 18. Wheaton IV, 3. §. 4. 6. 7. 9. Bouchaud, théorie des traités de commerce. p. 183.Damit hängt zuſam - men, daß ein Neutraler keiner Partei die Ausübung der Priſenge - richtsbarkeit gegen die andere in ſeinem Gebiete erlauben darf, ſo wenig als er eine ſolche zu Gunſten des einen Theiles gegen die andere ſelbſt auszuüben berechtigt iſt, es ſei denn in denjenigen Fällen, wo überhaupt einem Neutralen zuſteht, über die Rechtmä - ßigkeit oder Unrechtmäßigkeit einer Priſe zu erkennen. 4Darüber ſ. §. 138. und unten §. 167.— Völlig unverfänglich iſt, wie ſich von ſelbſt verſteht, jede Beihilfe, welche einzelnen Nothleidenden der einen oder anderen Kriegspartei aus Menſchlichkeit geleiſtet wird.
In der zweiten Hinſicht des vorigen Paragraphen darf der247§. 147. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.neutrale Staat einer kriegführenden Partei weder Mannſchaften noch auch Schiffe für ihre Kriegsunternehmungen zur Dispoſition ſtellen, auch keine Waffenplätze oder Schiffsſtationen für feindliche Unternehmungen einräumen, noch endlich Geldmittel zum Fortbe - triebe des Krieges zufließen laſſen. Für erlaubt hielt man ehedem zwar die Vermiethung ja gewiſſermaßen Seelenverkäuferei von Trup - pen an einen kriegführenden Theil, ſelbſt ohne einen dem Kriege vorausgegangenen Vertrag; theils machen jedoch die conſtitutio - nellen Rechte der Völker dergleichen heut zu Tage unmöglich; theils wird auch, wenn es noch vorkäme,1In der Schweiz beſteht allerdings noch dieſe Gewohnheit. Allein es iſt ſehr zu bezweifeln, ob die Cantons vermöge der ihnen allgemein zugeſtande - nen ja auferlegten ſteten Neutralität gegen die Europäiſchen Mächte noch berechtigt ſein würden, mit einer derſelben gegen die andere, Militärcapitu - lationen nach bereits ausgebrochenem Kriege ferner zu ſchließen. keine Kriegspartei durch ein feſtes Herkommen gebunden, gegen einen ſolchen Truppenlieferanten nach ſeinem politiſchen Intereſſe zu handeln. — Nicht ſo unbe - dingt verboten kann beim erſten Anblick erſcheinen, wenn ein neu - traler Staat einer kriegführenden Macht geſtattet, ſein Gebiet für ihr Angriffs - und Vertheidigungsſyſtem zum Schaden des Gegners vorübergehend zu benutzen, falls man dieſem ſelbſt auch das Näm - liche zu erlauben bereit iſt, z. B. einen Durchzug von Truppen, oder die Durchführung von Schiffen durch das neutrale Waſſer - gebiet, ferner die Anhäufung von Magazinen, Ausrüſtung von Truppen, Kriegsſchiffen und Capern; und noch entfernter von ei - nem parteiiſchen feindſeligen Verhalten liegt im Allgemeinen, wenn der Neutrale einzelnen Perſonen der einen Kriegspartei den Auf - enthalt in ſeinem Gebiet, ſowie das einſtweilige Einlaufen von Kriegs - und Handelsſchiffen in ſeinen Häfen, ferner die Wieder - inſtandſetzung derſelben2Jouffroy meint, die Wiedereinnahme von Waffen und Munition dürfe nicht geſtattet werden. Dr. marit. p. 92. Das dürfte zu weit gehen. Verkauf iſt dem neutralen Staat nicht verboten, auch darf derſelbe nicht die Ur - ſache werden, daß ein bewaffnetes Schiff ſeiner Beſtimmung zuwider wehr - los den Feinden entgegengehe. bewilligt; allein unbedingt laſſen ſich den - noch dieſe Vergünſtigungen nicht mit dem Weſen der Neutralität in jedem Falle vereinbaren. Sind nämlich die Umſtände ſo gear - tet, daß aus ſolchen Geſtattungen ein wirkliches Präjudiz für die andere Partei wenigſtens mit Wahrſcheinlichkeit entſtehen kann;248Zweites Buch. §. 148.iſt die Lage eines neutralen Landes für die eine Kriegspartei gün - ſtiger als die andere, und ihre Benutzung von Seiten der Einen wirkliche Förderung ihrer feindlichen Zwecke gegen die andere Par - tei: ſo iſt es gewiß auch Pflicht des Neutralen dergleichen Vergün - ſtigungen nicht zu geſtatten; er muß ſich wenigſtens mit dem anderen Theile hierüber verſtändigen. 1Vgl. Moſer Verſuch X, S. 238. „ Ganze Armeen, Corps u. dgl. durch ein neutrales Land marſchiren zu laſſen, iſt man nicht ſchuldig. Und wann es geſtattet, kann es nach den Umſtänden als eine Verletzung der Neutra - lität angeſehen werden. Wann einem Theil ein ſolcher Durchzug bewil - ligt, dem anderen abgeſchlagen wird, iſt es eine offenbare Parteilichkeit. Wann ferner von einem Durchzug nur der eine Theil Nutzen zieht, der andere hingegen ſich deſſen mit Nutzen nicht bedienen kann, — ſo kann der Letztere an den neutralen Staat wohl verlangen, den Durchzug abzu - ſchlagen. “ A. M. Galiani, doveri dei neutr. I, VIII, §. 4. und Mar - tens Völkerr. §. 305.— Vortheile, welche ein Kriegfüh - render über den anderen bereits definitiv errungen hat, z. B. Beute und Capergut, deſſen Appropriation eine völkerrechtlich bereits un - antaſtbare geworden iſt, kann ein neutralen Staat unbedenklich erwerben oder den Verkauf erlauben. 2In manchen Verträgen iſt dies ausdrücklich ſtipulirt. Denn eine Verbind - lichkeit zur Geſtattung des Verkaufs hat der neutrale Staat nicht. Byn - kershoeck, Quaest. I, 15. v. Steck, Handels - u. Schiffahrtsvertr. S. 176.Anzufechten wäre dagegen die Geſtattung eines eigentlichen dem einen beſonders vortheilhaft gelegenen Depots zur Unterbringung ſolcher Gegenſtände; feindlich auch, die Annahme und Erwerbung von Eroberungen, welche erſt durch den Frieden einer legitimen Dispoſition des Siegers unter - worfen werden. (§. 132.)
148. Durch das Vorſtehende ſind mit Berückſichtigung der wichtigſten Fälle die engſten Grenzen gezogen, innerhalb deren ſich die Unparteilichkeit der neutralen Staatsgewalten halten muß. Was dieſe nicht zu thun berechtigt ſind, kann im Allgemeinen auch ih - ren Unterthanen nicht geſtattet werden. Inzwiſchen kann dadurch die Freiheit der Einzelnen nicht ſo völlig beſchränkt werden, als es für die Staatsgewalt ſelbſt, mithin auch für die Maße der Na - tion Geſetz der Neutralität iſt. Es kann daher keine Regierung, den Fall ausdrücklicher Vertragsverbindlichkeit ausgenommen,3So beſtehen Verträge darüber, daß man den Unterthanen nicht geſtatten da -249§. 149. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.für verantwortlich gemacht werden, wenn einzelne ihrer Untertha - nen freiwillig in der einen oder der anderen Weiſe an einem frem - den Kriege Theil nehmen, wenn ſie ſich mit einer Kriegspartei in Lieferungs - und Darlehn-Geſchäfte einlaſſen, oder in die Truppen - reihen derſelben eintreten,1Es giebt Nationen, größere oder kleinere, auch Zeiten wo der einzelne oft für den Drang nach kriegeriſcher Ehre keine Befriedigung finden kann. Er muß ſie daher anderweitig ſuchen. Ferner kann eine Regierung Bedenken tragen ſich der Gefahr eines Krieges, ſelbſt für eine gute Sache, auszuſetzen, die Moral kann aber dem Einzelnen eine Theilnahme an der gerechten Sache zur Pflicht machen. In Deutſchland gehörte ſonſt dieſes Eintreten in fremde Heere zur „ löblichen Geſtalt deutſcher Freiheit. “ Reichs Abſch. v. 1570. §. 4. einem kriegeriſchen Drange oder be - ſonderen moraliſchen Intereſſen an der Sache dieſer Partei nach - gehend. Im äußerſten Fall würden hier nur die Grundſätze von der Auswanderung der Unterthanen zur Anwendung kommen. Sollte freilich die Theilnahme der Unterthanen eine maßenhafte werden, dadurch die Aufmerkſamkeit und Bedenklichkeit der Gegenpartei er - regen, demnach Repreſſalien derſelben befürchten laſſen: ſo wird es von dem politiſchen Ermeſſen der betheiligten Staatsgewalt abhän - gen, ob und wie weit ſie dagegen einſchreiten wolle, jedoch nicht aus Pflicht gegen den kriegführenden Theil, ſondern lediglich aus Rückſicht auf das eigene Staatswohl.
149. Hinſichtlich der Rechte der neutralen Staaten iſt das all - gemeine Princip aufzuſtellen, daß ihnen auch im Kriege alle dieje - nigen Rechte verbleiben und ungekränkt erhalten werden müſſen, welche ihnen im Friedensſtande gebühren, ſoweit ſie nicht durch die vorausgeſchickten Bedingungen der Neutralität eine Modifica - tion erleiden. Es folgt daraus insbeſondere:
Erſtlich die Unverletzbarkeit des Gebietes und die un - geſtörte Ausübung aller Hoheitsrechte in dem Innern deſſelben.
Das neutrale Gebiet iſt ein Aſyl, welches man auch einzelnen3wolle Caperbriefe von kriegführenden Theilen anzunehmen. v. Steck Ver - ſuche über Handels - und Schiffahrtsvertr. S. 173. v. Martens über Ca - per §. 13. Dieſe Verträge kann man aber nicht als eine Regel, ſondern nur als Ausnahme von der Regel betrachten.250Zweites Buch. §. 149.Gliedern und Angehörigen der fremden Kriegsmächte zu öffnen und zu geſtatten nicht gehindert iſt. 1Vgl. Wheaton intern. L. IV, 3, 11. vorzüglich Lud. Ern. Püttmann, de iure recipiendi hostes alienos. Lips. 1777.Es kann daher ſelbſt die Auf - nahme einer verfolgten Kriegsſchaar oder Marine der feindlichen Partei noch kein Recht zur Verfolgung der flüchtigen Schaar in das neutrale Gebiet hinüber geben; nur muß die neutrale Staats - gewalt verhindern, daß die aufgenommene Truppen - oder Schiffs - macht ſich hier von Neuem ſammle und das Aſyl zu einem An - griffsplatze wider den Gegner benutze. Man hat ſie mit einem Worte nur als Einzelne und Private zu behandeln, nur Pflichten der Menſchlichkeit zu erfüllen und lediglich zu ihrem weiteren unge - kränkten Fortkommen über die Landesgrenzen, ohne ſie den Angrif - fen des Feindes wehrlos bloszuſtellen, nicht aber zu einer Wieder - vereinigung mit der bewaffneten Macht, wozu ſie bisher gehörten, oder zu einer unmittelbaren Offenſive die Hand zu bieten. 2Ueber die Maximen, welche man in Seehäfen befolgt, wenn feindliche Schiffe ſich neben einander daſelbſt befinden vgl. Moſer Verf. X, 1, 159. 311. v. Martens Völkerrecht §. 307. Klüber §. 258. Not. b. — Wird das neutrale Gebiet wirklich zu einem Angriff oder Gefecht zu Waſſer oder zu Lande benutzt, ſo hat die dortige Staatsgewalt das Recht eines thatſächlichen Einſchreitens zur Verhinderung der Gebietsverletzung. Der Kampf iſt in Hinſicht ihrer ein durchaus illegaler, dem ſie alſo auch keine rechtlichen Wirkungen zuzugeſte - hen verpflichtet iſt; befinden ſich demnach die ſtreitigen Parteien in ihrem Bereiche und unter ihrer Botmäßigkeit, ſo kann ſie ſelbſt dem Sieger die Früchte des illegalen Kampfes wieder entziehen und z. B. Gefangene und Beute wieder frei machen. 3Auch eine ſchon früher begonnene Verfolgung giebt dem Kriegführenden kein beſſeres Recht. Wheaton intern. L. IV, 3, 6 u. 7. v. Martens, Caper §. 18. Vgl. Nau, Völkerſeer. §. 235.Thut ſie es nicht, obgleich ſie es ohne Gefahr und Kampf vermöchte, ſo würde dieſes eine Verletzung der Bedingungen der Neutralität dar - ſtellen. (§. 147.) Hat der Neutrale ein Hilfscorps einem krieg - führenden Theile geſtellt, ſo kann er ſich natürlich über eine Ver - letzung des Gebietes nicht beklagen, wenn jenes von dem ſiegrei - chen Feinde dorthin verfolgt und der Kriegsſchauplatz gegen daſ - ſelbe nun dahin verlegt wird. (§. 118.)
150. Zweitens. Jeder neutrale Staat kann, ſo lange er ſelbſt Treue und Glauben bewahrt, die ihm auch im Frieden gebüh - rende Achtung vor ſeiner Perſönlichkeit, ſeinen Hand - lungen und Erklärungen fordern. Er hat die Präſumtion für ſich, daß er den Character der Neutralität ſtreng bewahre und nicht etwa Erklärungen oder ſonſtige Handlungen zum Deckmantel einer Ungerechtigkeit gegen den einen kriegführenden Theil zu Gun - ſten des anderen, oder auch beiden gegenüber in gleicher Weiſe be - nutzen werde. Wichtig iſt dies vorzüglich in Anſehung der von einer neutralen Gewalt ausgeſtellten Päſſe, Commiſſionen und Be - glaubigungen. Kein Neutraler kann
Drittens vermöge der ihm zuſtehenden Unabhängigkeit und Gleichheit mit anderen Staaten von den Kriegführenden oder Einem derſelben in Beziehung auf ſein Verhalten, Geſetzen oder einer Gerichtsbarkeit unterworfen werden, welche nicht in Verträ - gen mit ihm oder in allgemeingiltigen Grundſätzen des Völker - rechts ihre Stütze finden. Er darf, wo dieſe nicht Platz greifen, innerhalb ſeines Rechtsgebietes ganz nach eigenem Ermeſſen ver - fahren und hat dagegen keiner kriegführenden Macht die Hand zur Ausführung einſeitiger Maximen derſelben zu bieten; vielmehr iſt er berechtigt, innerhalb ſeines Gebietes einer Kriegspartei ſeinen Schutz gegen offenbares Unrecht zu ertheilen, vorzüglich auch ſeine eigenen Unterthanen in der Ausübung ihrer völkerrechtlichen Be - fugniſſe und Sicherſtellung gegen die Willkühr der Kriegführenden kräftig zu handhaben.
Viertens. Alles was dem neutralen Staate außerhalb ſeines Gebietes gehört, verbleibt ihm als unantaſtbares Eigenthum ſelbſt dann, wenn es ſich bei einer kriegführenden Partei oder im Gemenge mit den Sachen derſelben befindet. Das Beuterecht findet daran nicht Statt. Eine Ausnahme tritt herkömmlich nur ein, in ſo - fern das neutrale Eigenthum zur unmittelbaren Unterſtützung eines kriegführenden Theiles bei den Kriegsunternehmungen dient und dem - ſelben ausdrücklich zur Dispoſition geſtellt iſt, namentlich wenn es zur Kriegsconterbande gehört, deren Begriff noch weiterhin feſtzu - ſtellen iſt, in welchem Falle auch das neutrale Gut der Beſchlag - nahme und Aneignung von Seiten des ſiegenden Gegners, ſo we - nig als feindliches Gut überhaupt entgeht. —
252Zweites Buch. §. 151.Unbewegliches Gut eines neutralen Staates oder ſeiner Unter - thanen in Ländern der kriegführenden Staaten kann natürlich der Mitleidenheit an den Kriegslaſten nicht entzogen werden. Dage - gen iſt es höchſtens nur als eine Maaßregel der höchſten Noth zu entſchuldigen und nur gegen vollſtändige Entſchädigung zulaͤſſig, wenn ein kriegführender Theil neutrale Sachen, z. B. Schiffe in Beſchlag nimmt und zu ſeinen Zwecken verwendet,1Ludwig XIV. erklärte ein ſolches Embargo geradezu für ein Recht. Vgl. de Real V, 2. a. E. In neueren Verträgen iſt es entweder ganz aufge - hoben oder ausdrücklich nur gegen volle Entſchädigung geſtattet. Vgl. Nau, Völkerſeer. §. 260. u. im Allgem. nach Groot III, 17, 1. v. Steck Essais, p. 7. oder neutrale Waaren, Magazine, Getreide und dgl. was ſich zufällig in ſeinem Gebiete befindet oder auf offener See angetroffen wird, für ſeine Zwecke gebraucht, wenngleich gegen Vergütung des Werthes ver - mittelſt eines ſogenannten Vorkaufs. 2Le droit de préemtion, ausgeübt freilich auch wohl anßer dem Falle der Noth. Es wird davon noch weiterhin die Rede ſein.
Daſſelbe gilt von der Wegnahme und dem eigenmächtigen Ver - brauch der Matroſen oder Schiffsführer eines neutralen Staates.
151. Welche Uebereinſtimmung auch im Ganzen über die vor - ausgeſchickten Grundſätze obwaltet, ſo mißlich ſteht es mit der An - wendung derſelben auf das Recht des freien Verkehrs der Nationen, insbeſondere auf den Seehandel. Zwar findet, was den Verkehr der Neutralen unter einander ſelbſt betrifft, kein Bedenken über die unbedingte Freiheit deſſelben Statt; nur die Signaliſirung oder Kenntlichmachung eines ſolchen Verkehrs und die Abwehrung einzelner Plackereien, welche der Kriegsſtand unter anderen Natio - nen nach der bisherigen Praxis mit ſich gebracht hat, macht noch die Feſtſtellung gewiſſer Principien auf die Zukunft nothwendig, welche jedoch wieder mit der Hauptfrage zuſammenhängen, ob und was für Beſchränkungen nämlich der neutrale Handelsverkehr mit den kriegführenden Theilen ſelbſt ſich auferlegen laſſen müſſe. Dieſe Frage nun iſt ſchon ſeit Jahrhunderten ein Apfel der Eris für die Staaten geworden; ſie iſt es, welche am meiſten den Mangel eines Staatencodex oder doch Staatentribunals fühlbar macht; bei ihrer Entſcheidung tritt in der Praxis vorzüglich das Recht des253§. 152. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.Stärkeren und die Rechtloſigkeit der Schwächeren hervor. Und nicht bloß in der Staatenpraxis ſtreitet man über die Frage, ſon - dern auch die Theorie iſt es, welche noch nicht zu einer Verſtän - digung über die Principien gelangt iſt. Zwar iſt es ihnen gelun - gen ſich in die Hülle von geſetzlichen Vorſchriften und von Rich - terſprüchen in einzelnen Landen einzukleiden und dadurch eine ge - wiſſe imponirende Auctorität zu erlangen; dennoch ſind dieſe Ge - ſetze und Urtheilsſprüche nichts als Acte der Politik einzelner Staa - ten, nicht bindend für die andern, ausgenommen wenn ſie der ſchwächere Theil ſind und die Vollziehung jener Geſetze, ihrer Un - gerechtigkeit ungeachtet, zu befürchten haben.
Nirgends ſieht die Wiſſenſchaft des Völkerrechts eine unge - bahntere Straße vor ſich; keine Uebereinſtimmung der Praxis und Verträge, keine der Denker! und doch kann es auch hier an all - gemein giltigen Grundſätzen für die Staaten, womit ſich unſer Syſtem beſchäftigt, nicht fehlen, wenn überhaupt ein Recht unter ihnen beſtehen ſoll, wenn die Rechtsverhältniſſe unter ihnen, wie ſie bisher feſtgeſtellt wurden, in ſich wahr ſind und der Wirklich - keit entſprechend. Aus dieſer wollen wir daher auch jetzt die Lö - ſung der einzelnen Streitfragen vorzüglich ſchöpfen, indem wir die in der Staatenpraxis gegenſeitig und allgemein angenommenen Grundſätze als Geſetz des gemeinen Willens gelten laſſen, und nur wo ein ſolcher nicht erweislich iſt, eine Löſung aus dem vorange - ſchickten Ganzen verſuchen.
152. Die Geſchichte unſerer Frage beginnt vorzüglich erſt mit dem ſechzehnten Jahrhundert, ſeitdem nämlich der Seehandel nicht mehr bloß in den Händen einiger weniger begünſtigter thatenrei - cher Nationen, Geſellſchaften und Städte verblieb, ſondern eine allgemein anziehende Kraft auf jede Nation ausübte, als eine Haupt - quelle des Wohlſtandes der Nationen erkannt und von den Re - gierungen befördert. Der Wettkampf der Intereſſen, welcher hier - durch hervorgerufen ward, erzeugte in den Staaten, die dazu Ge - legenheit hatten, ſowohl eine Vermehrung der Handels - wie auch der Kriegsmarine und einen eiferſüchtigen Kampf der Nationen254Zweites Buch. §. 152.mit einander, aus welchem nur Ein Staat nach ungeheueren An - ſtrengungen mit einer Größe und Bedeutung hervorgegangen iſt, wie ihn in bleibender Geſtalt weder die alte noch neue Welt bis - her geſehen hat. Mit Hinſicht auf ihn hat ſich die ganze neuere Seekriegspraxis geſtaltet. Scheinbar dem alten einfachen Recht früherer Jahrhunderte anhängend, Abweichungen davon nur der Vertragswillkühr zuweiſend, hat der gedachte Staat nicht der Mit - tel ermangelt bei Anwendung ſeiner Grundſätze ſein Uebergewicht allen anderen Staaten fühlbar zu machen, ja zuweilen jene zu einer unerträglichen Strenge auszudehnen, wodurch eine Reaction unver - meidlich und nothwendig ward. Eine ſolche trat vornehmlich ſeit dem ſiebzehnten Jahrhundert während der oftmaligen Kriege Groß - britanniens mit Spanien und Frankreich hervor; die letztere Macht unter Ludwig XIV. ſchuf ſich ſelbſt, mit Losſagung von dem bis - herigen gemeinſamen und dem Aufblühen des Handels verderbli - chen Syſteme einen neuen Seecodex in dem Meiſterwerk der Or - donnanz von 1681, deren Grundſätze1Ihr liegen allerdings ſchon einige ältere Reglements zum Grunde, allein Ludwig XIV. geſtaltete dieſe erſt zu einem Syſteme. Das Seerecht wurde dadurch zwar particulariſirt, allein auch dieſer Weg mußte erſt durchgegan - gen werden, um im Kampfe über die Principien zu ſicheren völkerrechtli - chen Regeln zu gelangen. allmälig immer größeren Beifall fanden. Noch compacter ward die Reaction gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, während des Nordamericaniſchen und Fran - zöſiſchen Revolutionskrieges. Einer nordiſchen Minerva entſprang unter Panins Beihilfe das Syſtem der bewaffneten Neutralität, unterſtützt von dem Anſchluß mehrerer Seemächte, zur Handhabung beſtimmter Grundſätze2Der erſten Erklärung des Ruſſiſchen Hofes vom 28. Febr. 1780. gemäß ſind es dieſe: 1) Que les vaisseaux neutres puissent naviguer librement de port en port sur les côtes des nations en guerre; 2) que les effets apartenans aux sujets des dites puissances en guerre soient libres sur les vaisseaux neutres à l’exception des marchan - dise de contrebande; 3) que l’impératrice se tient quant à la fixation de celles-ci à ce qui est enoncé dans l’Art. X. et XI. de son traité de commerce avec la Grande-Britagne en étendant ces obligations à toutes les puissances en guerre; 4) que pour déterminer ce qui characterise un port bloqué on n’ac - dem Britiſchen Dreizeck gegenüber, wodurch,255§. 153. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.wenn auch die Verbindung in ihrer urſprünglichen Integrität wieder gelöſet ward, dennoch Großbritannien einige vertragsmäßige Zuge - ſtändniſſe abgezwungen ſind. 1Nämlich durch die Convention vom 5 / 17 Juni 1801. (Martens Rec. VII, 260.) welcher nachher auch Dänemark am 23. Oct. 1801. und Schweden am 18 / 30 März 1802. beigetreten iſt. Sie iſt gewiſſermaßen das bisherige Britiſche Ultimatum. Vgl. Wheaton a. a. O. S. 314 f.Den letzten Kampf wider das Bri - tiſche Syſtem führte Napoleon durch Aufſtellung des Continental - ſyſtems,2Auch dieſes iſt klar und einfach in den Hauptpuncten dargelegt von Klü - ber §. 310 — 316. Die darauf bezüglichen Schriften ſ. bei v. Kamptz §. 257. Nr. 113 ff. was gewiß, wenn es mit Strenge nach Außen und mit weiſer Mäßigung gegen die Verbündeten durchgeführt worden wäre, wenn es eine wahre innige Vereinigung aller Continentalmächte geworden wäre, das rechte Kampfmittel war und nur durch ſeine häßliche, parteiiſche, ja verkäufliche Vollziehung, durch gleichzeitige Erdrückung aller Freiheit im Leben des Continents eine ſchlechte Geſtalt in der Geſchichte bildet. Aber die Idee war die eines großen Mannes! Es giebt vielleicht kein anderes Mittel, Eng - lands Seeherrſchaft zu zügeln.
153. Da im Allgemeinen den Neutralen das Recht des Han - dels im Kriege nicht beſtritten wird, ſondern nur die Begrenzung deſſelben: ſo kommt es hauptſächlich auf Unterſuchung folgen - der Puncte an, die ſich aus einer Colliſion der Rechte der Krieg - führenden mit dem Handel der Neutralen ergeben:
Zum Theil ſtehen dieſe Fragen unter einander ſelbſt wieder in weſentlicher Verbindung, ſo daß ſie erſt vollſtändig durch eine Be - leuchtung aller beantwortet werden können.
In den publiciſtiſchen Erörterungen derſelben iſt man meiſt von einem vorangeſtellten allgemeinen Princip ausgegangen. Die Einen von dem Princip abſoluter Unabhängigkeit der neutralen Staaten, die Anderen von einem Coordinationsſyſtem oder von den Regeln der Rechtscolliſionen. Es wird ſich aus dem Nach - folgenden ergeben, ob es ſolcher Anlehnungen bedürfe und nicht vielmehr die ſchon vorgetragenen einfachen Grundſätze über die Rechtsverhältniſſe der Staaten unter Einander genügen.
154. Schon oben (§. 112. u. 121.) iſt das Recht der Blo - cade gegen feindliche Häfen, Feſtungen, ja, ganze Küſten als ein legitimes Recht der Kriegführenden unter einander aufgeſtellt wor - den; alle Mächte, die dazu die Mittel haben, üben es; auch Neu - tralbleibende können es daher den wirklich Kriegführenden nicht17258Zweites Buch. §. 154.ſtreitig machen und müſſen folglich die Rückwirkungen dieſes Rechts auf ſich ſelbſt anerkennen. Es iſt ein Act der Occupation eines Theiles des feindlichen Gebietes; auf offener See aber ein Act der Prävention, den ein ſpäter Kommender ohne Kränkung nicht ſtören darf. (§. 73.) In der That beſteht nun darüber nicht der min - deſte Zweifel, daß ein effectiver Blocadeſtand, d. h. in ſofern ein im Kriegsſtand begriffenes Gebiet durch feindliche Kriegsmacht wirklich eingeſchloſſen iſt, es ſei zur See oder zu Lande, den Neu - tralen die Verbindlichkeit auferlegt, ſich jeder Störung dieſer krie - geriſchen Maaßregel und der darin begriffenen Zwecke zu enthal - ten;1Wenn man ſogar neutrale Ströme im Blocadezuſtand erklärt hat, wie im J. 1803. wegen der franzöſiſchen Beſetzung Hannovers, ſo findet dieſes allenfalls eine Rechtfertigung in der Gemeinſchaftlichkeit eines Fluſſes. Ge - wiß ſind aber hier beſondere Modificationen zu Gunſten der Neutralen zu ſtatuiren. Dennoch iſt dieſes nicht immer geſchehen. Vgl. Jacobſen S. 707. der weſentliche Zweck iſt aber die Abſchließung des blokirten Ortes von jedem auswärtigen Verkehr und von jeder auswärtigen Unterſtützung, welche nicht nur durch Zufuhren von Lebensmitteln, ſondern auch durch Mittheilung von Nachrichten und Verſendun - gen nach Außen geleiſtet werden kann. 2Jouffroy detaillirt S. 160. die einzelnen Zwecke der Blocade näher; jedoch ſcheinen die daran geknüpften unterſchiedlichen Wirkungen nicht begründet; auch ſind ſie in der Praxis nicht angenommen.Wer dennoch hiergegen handelt, es ſei durch Ein - oder Auslaufen, ſtört nicht nur die Aufmerkſamkeit der blokirenden Kriegsmacht, ſondern läßt auch eine Vereitelung der Blocadezwecke befürchten, oder macht ſich offenbar zu einem Gehülfen des Feindes; er kann ſich alſo dann keiner anderen Behandlung getröſten, als dem Feinde ſelbſt zu Theil wer - den würde. Wegnahme der Schiffe oder ſonſtiger Transport - mittel mit allem darauf Befindlichen, und dann ferner nach Um - ſtänden eine Appropriation dieſer Gegenſtände, ſo wie Repreſſalien gegen die Führer und Mitſchuldigen erſcheinen demnach im Allge - meinen ganz als eine kriegsrechtliche Conſequenz, welche ſich auch die Staaten bisher und wechſelſeitig ohne allen Einſpruch zuge - ſtanden haben. Dennoch fehlt es in der Ausübung dieſes an ſich unſtreitigen Rechts nicht an Zweifeln und Controverſen. 3Eine der älteſten und wichtigſten Urkunden für das neuere Europäiſche Blocaderecht iſt das Edict der Generalſtaaten der vereinigten Niederlande von 1630. (commentirt von Bynkershoeck in quaest. publ. I, 11.) worin
259§. 155. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.155. Als erſter Streitpunct erſcheint die Frage: von welchem Moment an die Blocade den Neutralen gegenüber als wirklich vor - handen anzunehmen ſei. 1S. beſonders Wheaton, intern. L. II, p. 232 s.Der Natur der Sache nach gehört dazu die wirkliche Einſchließung des blokirten Ortes, wodurch jeder Zugang von Außen her, es ſei nun auf allen Seiten oder doch auf derjenigen Seite, von woher die Annäherung eines neutralen Transportmittels erfolgt, wenn auch nicht unmöglich gemacht, doch aber ſo erſchwert wird, daß die Verbindung mit dem blokirten Orte nicht bewirkt werden kann, ohne die Blocadelinie zu zerſchnei - den, und ohne ſich der Gefahr auszuſetzen von der Blocademacht aufgehalten oder mit Kriegsgeſchoſſen betroffen zu werden. In mehreren Staatenverträgen ſind ausdrückliche Beſtimmungen in die - ſem Sinne,2v. Steck, S. 188. 189. Nau’s Völkerſeer. §. 202 f. Die bewaffnete Neutralität von 1800. ließ denjenigen Hafen als blokirt gelten, où il y a par la disposition de la puissance qui l’attaque avec des vaisseaux ar - rêtés et suffisamment proches un danger évident d’entrer. Martens Rec. VII, 176. Die Ruſſiſch Engliſche Convention vom Juni 1801. ſetzte an die Stelle des et ein ou. Vgl. darüber Wheaton, hist. p. 326. Das Preuß. Allg. Landrecht Th. I. Tit. 9. §. 219. hat die Neutralitäts - convention als Norm beibehalten: „ Für eingeſchloſſen iſt ein Hafen zu hal - ten, wenn derſelbe durch eine feindliche Landbatterie oder durch Kriegsſchiffe, die vor dem Hafen ſtationirt ſind, geſperrt iſt. “zuweilen ſelbſt in der Art getroffen worden, daß man bei Blocaden zur See die Zahl der Schiffe eines Blocadegeſchwa - ders feſtgeſetzt hat,3Zwei Schiffe z. B. oder ſechs. Vgl. v. Steck, S. 188. Klüber dr. d. gens. §. 297, Dieſe Verträge ſind aber ganz vereinzelt, und gehören dem vorigen Jahrh. an. Nur der neueſte zwiſchen Preußen und Dänemark vom Juni 1818., welcher Artikel 18. zwei (nicht zwanzig, wie Klüber an - giebt) Schiffe verlangt, iſt von dieſem Jahrhundert. Martens N. R. IV, 532. was indeß nicht zur Regel geworden iſt. In welcher Nähe ſich die blokirende Macht bei dem blokirten Platze zu befinden habe, muß natürlich von den Umſtänden abhängen. Gewiß muß es ſchon genügen, wenn ein Geſchwader dergeſtalt ſta - tionirt iſt, daß es den Zugang zu dem blokirten Orte beobachten und nach gewöhnlicher Berechnung einem ſich annähernden frem - den Schiffe noch zuvor oder beikommen kann.
Nach allgemeinem Einverſtändniß, welches wieder auf der an ſich unabhängigen Stellung der Neutralen beruht, kann indeſſen die bloße Gegenwart einer Kriegsmacht vor einem feindlichen Platze noch keine Gewißheit darüber geben, daß eine Blocade oder Ab - ſperrung der Zweck davon ſei, namentlich bei Blocaden zur See. Es wird deshalb noch immer eine beſondere Bekanntmachung an die Neutralen für nöthig erachtet, welche entweder an Ort und Stelle einem ſich Annähernden oder ſchon unterwegs durch Kreutzer u. ſ. w. gegeben wird, oder auch allgemein auf dem Wege diplo - matiſcher Mittheilung an die neutralen Staatsgewalten, welche nicht verfehlen ihre Angehörigen davon weiter in Kenntniß zu ſetzen. Iſt eine ſolche Notification geſchehen, ſo nimmt man an, daß ſelbſt eine momentane Entfernung der Blocademacht aus zufälligen Urſa - chen den Blocadeſtand noch nicht aufhebt, vielmehr ebenſo reſpec - tirt werden muß wie der effectiv vorhandene,1Jouffroy p. 165. Jacobſen S. 680. Wheaton, intern. L. p. 233. und gewiß iſt hier - gegen ein Bedenken weder nach juriſtiſchen Analogien noch nach der wirklichen Staatenpraxis zu erheben; die von den Neutralen angenommene und den Unterthanen mitgetheilte Notification ver - tritt die Stelle eines Geſetzes für die letzteren. 2Andere Arten der Notification, welche nicht entweder durch die neutrale Staatsgewalt oder durch Kriegsſchiffe der blokirenden Staatsgewalt geſche - hen ſind, werden für nicht ebenſo bindend gehalten. Z. B. die bloßen Be - kanntmachungen in Häfen durch den kriegführenden Theil. Wenigſtens rügte man dieſes franzöſiſcher Seits bei dem Blocadedecret der Republik Chili von 1838. Martens, N. Rec. XV, p. 507.Dieſelbe verliert jedoch ihre Verbindlichkeit bei wirklichen Unterbrechungen der Blo - cade durch Zurückziehung oder Vertreibung des Geſchwaders oder der Belagerungstruppen, wobei für jetzt die Fortſetzung der Ein - ſchließung aufgegeben wird. 3Jacobſen, S. 683. Wheaton, p. 241.Es kann daher auch zu gänzlicher Auf - hebung des Blocadeſtandes keiner ausdrücklichen Notification an die Neutralen bedürfen; er dauert wenigſtens für den Verkehr nicht län - ger als die effective Abſperrung. Dieſe iſt immer das Subſtanzielle, die Bedingung zur Wirkſamkeit der Notification.
156. Eine fernere Frage iſt, unter welchen Bedingungen der effective Blocadeſtand als von den Neutralen verletzt gelten kann. Als erſte Bedingung erſcheint dabei, ohne Widerrede, die wirkliche Kenntniß des Neutralen von dem Daſein der Blocade. Dieſer261§. 156. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.Punct iſt ein rein thatſächlicher, welcher vielfach nur nach Vermu - thungen zu entſcheiden ſein wird; gewiß aber läßt ſich keine Prä - ſumtion als Regel aufſtellen, es werden vielmehr von billigen Rich - tern die vorwaltenden Umſtände jedesmal beſonders erwogen wer - den müſſen. 1Wheaton S. 233. Vgl. F. F. L. Pestel, selecta cap. iur. marit. § 11.Die zweite Bedingung iſt, wie ebenfalls außer Streit liegt, daß der neutrale Theil ſchon thatſächlich in der Ausführung des Verſuchs betreten worden und nicht erſt rein intentionell im Be - griff ſtehen muß, die Blocadelinie hindurch in den abgeſperrten Ort einzudringen. 2Actus aliquis, non solum consilium. Vgl. Vattel III, 177. So wollte auch die bewaffnete Neutralität von 1800. den Grundſatz durchſetzen: que tout bâtiment naviguant vers un port bloqué ne pourra être regardé comme contrevenient, que lorsqu’ après avoir été averti par le com - mandant du blocus de l’état du port, il tâchera d’y pénétrer en em - ploiant la force ou la ruse. Die Conventionen mit Großbritannien von 1801. haben dieſes wieder ausgelöſcht!Entfernte Präſumtionen können hierbei, wie man ſchon mit Recht getadelt hat, noch keineswegs genügen; ja es würde ſogar höchſt unbillig ſein, das nicht ſofortige Einhalten des Laufes eines Schiffes auf geſchehenen Anruf für den Beweis eines beabſichtigten effectiven Eindringens in den blokirten Ort zu er - klären. 3Gerügt wurde dieſes ebenfalls an dem ſchon erwähnten Blocadedecret der Republik Chili von 1838.
Nicht allein unbillig, ſondern ſogar ungerecht iſt und wird es allezeit ſein, ein neutrales Schiff ſchon deshalb, weil es ſich auf dem Wege nach einem blokirten Orte befindet, wenn auch in noch ſo weiter Entfernung, in den Fall einer Blocadeverletzung zu er - klären. 4Gleichwohl iſt dies Praxis geworden, beſonders Britiſche, wie man ſich aus den Priſengerichtsentſcheidungen überzeugen kann. Es iſt die Ausübung eines Strafrechtes, wozu man nicht die geringſte Befugniß aufweiſen kann! Schon die bloße Verſegelung mit der Beſtimmung nach einem blokirten Hafen genügt! Jacobſen, S. 682. 687. Man confiscirt Schiffe und Gut, auch wenn es dem Blocadegeſchwader ſchon vorbeigefahren iſt! S. 698. ebdſ. Welch’ ein Recht!Es iſt hier nicht nur die Möglichkeit vorhanden, daß das Schiff bei Fortſetzung ſeines Laufes die Blocade aufgehoben findet; ſeine Intention iſt gewiß nicht ſofort als eine unabänder - liche anzuſehen; es kommt aber noch außerdem dazu, daß, wie wir weiterhin ſehen werden, das Anhalten eines neutralen Schiffes au -262Zweites Buch. §. 157.ßerhalb der in Krieg befindlichen Gebiete gar nicht gerechtfertigt werden kann. 1Neuere Verträge ſind hierin viel billiger und nachſichtiger und geſtatten das Herankommen bis zum Blocadegeſchwader, wenn die Schiffe beſonders aus weiter Ferne kommen. Schwediſch-Nordamericaniſcher Vertrag vom 4. Sept. 1816. Art. 13. und 4. Juli 1827. Art. 18. Martens Rec. IV, 258. N. rec. VII, 280.; ferner die Nord - und Südamericaniſchen Ver - träge von 1824. 25. 31. 32. 36. Vergl. den von den Hanſeſtädten mit Mexico geſchloſſenen v. 15. Sept. 1828. Art. 20. N. Suppl. I, 687.
Ob und in wie fern das Herauskommen eines Neutralen aus einem blokirten Orte für einen Bruch der Blocade zu erklären ſei, ſollte ganz und gar von den beſonderen Zwecken und Umſtänden abhängig gemacht werden. Man wird z. B. Nachſicht ha - ben müſſen, wenn die Zwecke der Blocade nicht geſtört wurden; wenn das Schiff bona fide vor Eröffnung der Blocade ſich in den abgeſperrten Ort begeben hatte, und ſein Wiederauslaufen keine Verbindung mit den Feinden zum Zweck hat; man ſollte nur in dem offenbaren Fall eines ſolchen Zweckes feindſelig gegen daſſelbe verfahren, bei bloßem Verdacht hingegen mehr nicht als eine Be - ſchlagnahme ohne Confiscation eintreten laſſen. Die Praxis läßt freilich auch hier dem Priſenrichter einen beliebigen Spielraum zur Confiscation. Freigegeben wird indeß wohl regelmäßig jedes neu - trale Schiff, welches ſchon vor der Blocade in den blokirten Ort hineinkam und mit Ballaſt oder mit einer ſchon vor jenem Termin angekauften Ladung nach einem unverfänglichen Beſtimmungsort ab - ſegelt. 2Vgl. Jacobſen, 697. Der eben angeführte Handelsvertrag der Hanſe - ſtädte mit Mexico vom 15. Sept. 1828. giebt unbedingt ein ſolches Wie - derauslaufen frei.
Iſt die Blocade einmal aufgehoben, was nothwendig von der effectiven verſtanden werden ſollte, ſo kann auch ſelbſt ein beab - ſichtigter Blocadebruch nicht ferner geahndet werden. Das vermeint - liche Delict iſt ein unmögliches, körperloſes geworden, und gewiſſer - maßen ein Schleier darüber geworfen. 3Wie Sir William Scott 1807. ſagte. Jacobſen, 709.
157. Selbſt in den bisher geſchilderten weiteſten Grenzen iſt die Seepraxis einzelner Seemächte nicht ſtehen geblieben, ſondern263§. 157. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.ſie hat noch zu verſchiedenen Zeiten unternommen dem Blocade - recht eine Ausdehnung zu geben, welche über den natürlichen und gewöhnlich feſtgehaltenen Character deſſelben hinausgeht. Man hat weitausgedehnte Küſten ſchon dadurch in Blocadezuſtand erklären zu dürfen gemeint, daß man jede Zufuhr dahin und von dorther unterſagte, einige Kreutzer in der Nähe derſelben aufſtellte und da - mit eine Notification an die Neutralen verband;1Eine derartige Abſperrung verſuchte bereits Schweden 1560 gegen Ruß - land; die Holländer 1652 gegen Großbritannien; Beide 1689 in Gemein - ſchaft gegen Frankreich. (Dumont Corps diplomatique VII, 2, p. 238. Wheaton, histoire p. 90.) Dann 1793 die Coalition gegen Frankreich, indem man zur Rechtfertigung geltend zu machen ſuchte, gegen Frankreich könne in ſeinen damaligen Zuſtänden das ordentliche Völkerrecht nicht be - obachtet werden. Wheaton, histoire p. 284 s. Im J. 1798 erklärte Großbritannien alle Häfen und Waſſermündungen Belgiens blokirt! Vgl. Nau’s Völkerſeer. §. 209 — 213. eine Maxime, welche freilich wohl nur als eine außerordentliche bezeichnet wor - den iſt, jedoch den Neutralen unendlichen Nachtheil zufügte und zum Theil das Syſtem der bewaffneten Neutralität hervorrief; durch weitere Generaliſirung kam man endlich dahin, daß man ganze Länder und Inſeln ohne alle Mittel eines effectiven Blocade - zuſtandes dennoch für blokirt erklärte und gegen die Contravenien - ten, denen man beikommen konnte, die Nachtheile der wirklichen Blocade eintreten ließ. 2Ein engliſcher Priſenrichter James Mariott hatte im J. 1780 die Stirn, bei dem Ausſpruch eines Urtheils gegen holländiſche neutrale Schiffe zu er - klären: „ Wenn ihr gefaßt werdet, ſo ſeid ihr blokirt. Großbritannien ſchließt wegen ſeiner inſulariſchen Lage natürlich alle Häfen von Spanien und Frankreich. Es hat ein Recht, ſich dieſe Lage als ein Geſchenk der Vorſehung zu Nutze zu machen! “v. Martens, Erzählungen merkw. Fälle II, S. 35.Dieſer blocus sur papier war eine Frucht des franzöſiſch-englichen Krieges und das Hauptmittel des Continentalſyſtemes zur Reaction gegen die britiſche Uebermacht und Ueberhebung. Niemals hat indeß dieſe Maxime die Zuſtimmung der Nationen erhalten; ſie war ſtets nur etwas Einſeitiges und zugeſtandenermaßen Außerordentliches; ſie iſt widerrechtlich, weil ſie in der That den neutralen Mächten ein Geſetz vorſchreiben will, welches durch ſich ſelbſt verpflichtend ſie in ihrer Freiheit beſchrän - ken ſoll. Man wird ſie demnach ihrer Einſeitigkeit überlaſſen und den Neutralen, die es vermögen, auch das Recht zugeſtehen müſſen,264Zweites Buch. §. 158.dieſelbe mit aller Macht zu bekämpfen. Das Blocaderecht ohne effective Abſperrung iſt ein bloßer Deckmantel ungemeſſener Han - delsverbote, ein verſchleierter Krieg gegen den Handel des Feindes und der Neutralen überhaupt.
158. Ein zweite Beſchränkung, welche die kriegführenden Staa - ten neutralen Mächten aufzulegen für befugt gehalten werden, be - trifft die Zufuhr der ſogenannten Kriegscontrebande. 2Von contra bandum i. q. bannum. Contrabannum heißt daher ſchon im Mittelater eine verbotene und deshalb verfallene Waare. Carpentier, gloss. nov. Tom. I. col. 1113.Dieſe Be - ſchränkung hat ihren Urſprung in einem analogen Verhältniß; ſie gründet ſich auf die Ausdehnung der geſetzlichen Verbote von Zu - fuhren gewiſſer Artikel, welche man bereits in der alten Welt von Seiten der Staatsgewalten an die Unterthanen in Beziehung auf den Verkehr mit dem Feinde erließ. Schon das römiſche Recht enthielt bekanntlich dergleichen Verbote;3Hauptſtelle 1. 2. Cod. quae res export. non debeant. von den Kaiſern Valens und Gratian. ähnliche ergingen von den Päpſten und Concilien während der Kreuzzüge in Hinſicht auf den Verkehr mit den Sarazenen;4Conc. Lat. III. von 1179. unter Alexander III. Can. 24. und Lat. IV. von 1215. (Innocent. III. ); cap. 6 u. 17. X de judaeis et sarac. weiterhin erlaubte ſich die Hanſe in ihren Kriegen den Neutralen den Handel mit Kriegs - artikeln oder wohl überhaupt jeden Handel mit ihren Feinden zu unterſagen. 5Sartorius Hanſeat. Bund II, p. 663.Im Allgemeinen ſcheint ſich unter dem Ein - fluß der Civiliſten die Anſicht gebildet zu haben, daß ſich jeder265§. 158. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.Neutrale durch die Zufuhr derartiger Handelsartikel ſogar ſtraffäl - lig gegen den dadurch benachtheiligten kriegführenden Staat mache und dieſem es zuſtehe im Falle der Verletzung und Ertappung ein Strafrecht gegen den Uebertreter auszuüben. Zu einer vollſtändi - gen Praxis erhob ſich dieſe Anſicht freilich erſt mit der Entſtehung bedeutenderer Kriegsmarinen und mit der Einführung des Caperei - ſyſtems, weil nun erſt hierin das Mittel gegeben war, das ver - meintliche Recht gegen die Neutralen in Ausführung zu bringen. Freilich die ſtets bewaffnete Hanſe, ſo lange ſie von Bedeutung war, unterſtand ſich zuweilen die völlige Freiheit ihres Handels ſogar in dieſen Artikeln zu behaupten, ſowie es ihr gelungen war durch Verträge eine völlig freie Fahrt ſelbſt nach den Landen der Feinde ihrer Vertragsgenoſſen zu erlangen. 1Vgl. Pütter Beitr. S. 154.Während der letzten drei Jahrhunderte haben ſich dagegen alle europäiſchen Seemächte meiſtens ausdrücklich das Zugeſtändniß gemacht, daß jede im Krieg begriffene Macht die Neutralen an der Zufuhr der ſogenannten Kriegscontrebande hindern und dafür ſtrafen dürfe, worüber eine unzählige Menge von Handels - und Schiffahrtverträgen Zeugniß giebt;2v. Steck a. a. O. S. 194 — 204. Nau’s Völkerſeerecht §. 156 f. woran ſich dann die neueren Handels - und Schiffahrtsverträge des jetzigen Jahr - hunderts anſchließen, deren wir noch weiterhin gedenken werden. ja ſie betrachten dieſes als eine ſchon feſtſtehende Befug - niß. Sie haben daher auch ohne Vertrag eine ſolche Befugniß geübt und Geſetze darüber erlaſſen;3So in franzöſiſchen Geſetzen, namentlich in der Ordonnanz von 1681. III, 9, 11. im Allg. Preuß. Landr. II, 8, §. 2034 f. vgl. mit I, 9, §. 216 ff. und in vielen andern Staatsgeſetzgebungen. man hat ihnen dieſelbe an und für ſich niemals conteſtirt; nur gegen eine zu weite Aus - dehnung iſt gekämpft worden; was man aber ſelbſt als Befugniß ausübt, kann man dem andern Gleichſtehenden ebenfalls nicht ver - weigern. Wenn demnach einzelne Publiciſten ein internationales gemeinſames Recht der Kriegscontrebande geleugnet oder es nur von ausdrücklichen Vertragsbewilligungen abhängig erklärt haben,4Den Anfang hat hierin vorzüglich Samuel Cocceji gemacht im Nov. syst. prud. nat. §. 789., woran ſich dann die Uebrigen angeſchloſſen haben. Vgl. Jouffroy, S. 111. Daſſelbe Syſtem hat auch noch Klüber §. 288 f. feſt - ſo muß dieſes als der hiſtoriſchen Wahrheit widerſprechend verwor - fen werden.
159. Wenn es nun darauf ankommt einen allgemein giltigen Begriff der Kriegscontrebande wenigſtens für die europäiſchen und damit in Verbindung ſtehenden europäiſirten Nationen feſtzuſtellen, ſo kann dieſes nicht a priori durch bloße Räſonnements aus der Natur der Sache geſchehen,1Ueber Verſuche dieſer Art vgl. man Jouffroy dr. mar. p. 102 ff., wo er die Anſichten früherer Publiciſten einer Critik unterwirft. die eben erſt gefunden werden ſoll, ſondern lediglich auf hiſtoriſchem Wege. Es handelt ſich um ein poſitives beſtimmtes Geſetz, woran unabhängige Mächte und de - ren Unterthanen in Beziehung auf einen ihnen fremden Kriegsſtand und in Anſehung einer ihnen ſonſt zuſtehenden Befugniß, nämlich eines beliebigen Verkehrs und Handels mit jeder Nation, die ihn ſelbſt nicht zurückweiſet, gebunden ſein ſollen. Ein ſolches Geſetz kann nur das Product des Willens der Betheiligten ſein.
Aus der vorausgeſchickten geſchichtlichen Skizze, aus den Ge - ſetzen der einzelnen Völker und der Staatenpraxis tritt nun auf das Beſtimmteſte die Idee entgegen: daß die Zufuhr von Kriegs - contrebande an einen Kriegführenden eine ſtrafbare Handlung hinſichtlich des Anderen ſei2So wird noch in dem Alliancevertrage Englands und Schwedens von 1661. Art. 12. von der Contrebande als von einem Verbrechen geſprochen, welches eine Strafe verdiene qualis summis criminibus debetur! und deshalb wenigſtens zur Confis - cation der Waare, ja ſelbſt zu weiterer Strafe gegen den wiſſent - lich Zuführenden, der in der That begriffen wird, berechtige. Stra - fen kann aber ein Staat bloß diejenigen Fremden, die er innerhalb der legitimen Grenzen ſeiner Botmäßigkeit erreichen kann, alſo ent - weder in ſeinem eigenen Gebiete oder in dem einſtweilig occupirten feindlichen Gebiete. Soll er noch anderwärts, namentlich auf völ - kerrechtlich freiem Gebiete, wie z. B. auf der See, dazu befugt ſein, ſo gehört dazu die Erlaubniß derjenigen Mächte, unter deren Schutz und Botmäßigkeit die Betheiligten ſtehen. Ohne dieſe Er - laubniß darf zwar ein kriegführender Staat gegen neutrale Staats -4gehalten. In dem Syſtem der bewaffneten Neutralität von 1782. und 1800. iſt keine Beſtätigung dieſer Anſicht zu finden. Es iſt darin das Princip der Kriegscontrebande nicht negirt, ſondern nur gegen willkührliche Ausdehnung gekämpft und eine Verſtändigung dieſerhalb gefordert und vor - bereitet worden.267§. 160. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.angehörige, welche ihm in ſeinen durch das Kriegsrecht erlaubten Unternehmungen gegen den Feind ſtörend entgegentreten, Repreſſiv - maaßregeln gebrauchen; allein dieſe werden nicht den Character der Strafe an ſich tragen dürfen, eines Actes der inneren Staats - gewalt; ſie werden der Anfechtung der anderen Staaten unterwor - fen bleiben, wenn die richtigen Grenzen überſchritten ſind oder es an einer rechtmäßigen Bedingung mangelt. Wo dagegen die Ge - ſtattung eines Strafrechts beſteht, bleibt die Ausübung deſſelben dem Kriegführenden nach ſeinem Ermeſſen anheimgegeben, und höch - ſtens eine Interceſſion gegen offenbares Unrecht oder gegen Un - menſchlichkeit zuläſſig. — Wenn ſich nun nach dem vorausgeſchickten hiſtoriſchen Verhalt nicht mehr in Zweifel ziehen läßt, daß das Recht der Kriegführenden, gegen die Zufuhr der Kriegscontrebande von Seiten der Neutralen, Strafreactionen zu gebrauchen, insbe - ſondere die Artikel ſelbſt wegzunehmen, ein gemeingiltiger Grund - ſatz des europäiſchen Völkerrechts bisher geweſen und daſſelbe nicht erſt von jeder Macht ſpeciell nachzuweiſen ſei, ſo bleiben nur noch die Fragen zu löſen:
160. Schon öfter hat man verſucht, die Gegenſtände der Kriegs - contrebande in einer beſtimmten Formel zuſammenzufaſſen, allein eine allſeitige Anerkennung iſt bisher keiner zu Theil geworden. 1Auch die Formel, welche Jouffroy p. 130. 134. aufgeſtellt hat, leidet an Allgemeinheit und bedarf für jeden Kriegsfall einer beſonderen Auslegung.Nur im Allgemeinen läßt ſich in der bisher beſtandenen Rechts - ſitte die Abſicht der Nationen erkennen: es ſoll keinem kriegfüh - renden Theile gegen den Anderen im Wege des neutralen Handels - verkehrs eine wirkliche, dem Princip der Neutralität zuwiderlaufende Kriegshilfe geleiſtet werden. Die Sachen, welche hierzu dienen kön - nen, ſind nun aber entweder unmittelbar und unbedingt dazu ge - eignet, wie z. B. Militäreffecten und Munition; oder ſie kön - nen ſowohl zum unmittelbaren Kriegsgebrauch wie auch zu un - verfänglichen, nicht feindlichen Zwecken ſofort verwendet werden,268Zweites Buch. §. 160.wie z. B. Pferde; oder es ſind auch nur erſt Stoffe oder Theile der vorerwähnten Sachen, die noch weiter verarbeitet werden müſſen; oder es ſind wohl gar erſt die Mittel, um Stoffe oder fertige Gegenſtände der Art ſich zu verſchaffen. 1Unzureichend iſt der von Groot III, 1, 5. gemachte Unterſchied, obgleich er von ſpäteren Publiciſten weiter ausgebeutet worden iſt. Vgl. Wheaton, histoire p. 75. 293.Ferner kön - nen Zeiten und Umſtände Etwas für einen Kriegführenden unent - behrlich, für den anderen oder zu anderer Zeit ſehr entbehrlich und nutzlos machen. Man erkennt ſofort, daß aus dem Begriff der Kriegshilfe an und für ſich keine Entſcheidung genommen werden kann, welche der vorbemerkten Sachen für Contrebande zu halten ſeien oder nicht. Gleichwohl handelt es ſich um eine genaue, keiner Willkühr unterworfene Feſtſetzung, weil um Strafe, und auch dieſe Feſtſtellung kann, wie das Recht der Contrebande über - haupt, nur durch Einverſtändniß der betheiligten Staatsgewalten erlangt werden. Nie iſt den Kriegführenden allein nach eigenem Gutfinden eine derartige Beſtimmung überlaſſen worden, obgleich ſie ſich dieſes bei hinreichender Macht herausgenommen haben.
Zunächſt alſo geben die einzelnen Verträge für die darin Be - griffenen Maaß und Ziel. Die Kriegscontrebande erſtreckt ſich dar - nach bald auf mehr bald auf weniger Artikel. Dabei iſt der Grundſatz einer ſtrengen Auslegung gerechtfertigt, denn es handelt ſich um Einräumung eines Strafrechts. 2Sir Will. Scott hat ſich freilich daran nicht gekehrt. Ein Priſenurtheil ge - gen die Holländer wegen des Schiffbauholzes von 1779 giebt davon Zeugniß.Fehlt es an giltigen Verträgen, ſo kann nur dasjenige als Kriegscontrebande gelten, was immer und gleichförmig von allen Völkern als Contrebande der Neutralen behandelt worden iſt. Dahin gehören indeß allein militäriſche Angriffs - und Schutzwaffen nebſt Kriegsmunition,3Man ſehe das Corollarium bei v. Steck S. 203. und Nau §. 156. Frank - reich hielt dieſe Regel in dem Utrechter Vertrag mit England im Jahre 1713 feſt. Man findet ſie ferner in den Verträgen der bewaffneten Neu - tralität (Nau §. 157.) und darnach in dem Allg. Preuß. Landr. Th. II, Tit. 8. §. 2034 ff. Selbſt Großbritannien geſtand ſie in dem Vertrage mit Rußland vom Juni 1801. Art. 2. Nr. 1. zu. (Man vgl. Wheaton, histoire p. 324 u. f.) Auch in den neueſten Verträgen iſt ſie vorherr - ſchend geblieben; ſo in den Verträgen der Nord - und Südamericaniſchen Staaten; mit Columbien v. 3. Dec. 1824. mit Chili v. 16. Mai 1832. Art. 14. mit Centralamerica vom 5. Dec. 1825. mit dem Mexicaniſchen269§. 160. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.worüber ſich auch noch ein größeres Detail durch Zuſammenſtel - lung aller Verträge gleichſam durch ein Abrechnungsexempel geben ließe. Alſo nur unbedingt zu feindlichem Kriegsgebrauch dienendes, nichts problematiſches! Außergewöhnliche Gegenſtände der Contre - bande hingegen, die ſich nur in vereinzelten Verträgen oder in der Praxis einzelner Staaten finden, ſind:
Von Artikeln dieſer Art wird man ſchon an und für ſich nicht behaup - ten können, daß ſie eine unleugbar feindſelige Beſtimmung haben, was doch wohl nach dem conventionellen Begriff der Contrebande Vorausſetzung iſt. Es kann daher den Kriegführenden nur geſtattet ſein, thatſächlich gegen die Neutralen oder den neutralen Handel ein - zuſchreiten, wenn jenen Artikeln eine Beſtimmung für die feindliche Staatsgewalt und deren Kriegsmacht mit zureichenden Gründen bei - zumeſſen ſteht. Allein der Begriff der Contrebande, in dem Sinne3Staatenbund vom 5. April 1831. Art. 16. mit Venezuela vom 20. Jan. 1836. Art. 17. Nouv. rec. Tom. VI, p. 831. Tom. X, p. 334. Tom. XI, p. 442. Tom. XIII, p. 554. Nouv. suppl. Tom. II, p. 415. Fer - ner in dem Handelsvertrage Frankreichs mit Braſilien vom 28. Januar 1826. Art. 21. Nouv. rec. Tom. VI, p. 874. mit Texas vom 25. Sept. 1839. Art. VI. Nouv. rec. Tom. XIII, p. 988. In dem Handelsver - trage Preußens mit Braſilien vom 9. Juli 1827. Nouv. rec. Tom. VII, p. 274. und mit Mexico vom 18. Febr. 1831. Art. 11. Nouv. rec. Tom. XII, p. 544. Endlich in dem Vertrage der freien Hanſeſtädte mit Ve - nezuela vom 27. Mai 1837. Art. 16. N. R. Tom. XIV, p. 242.270Zweites Buch. §. 161.eines ſchlechthin unerlaubten ſtrafbaren Handels mit einem krieg - führenden Theile, welcher daher auch den Verfall der Waare nach ſich zieht, kann damit nicht verbunden werden.
161. Um wegen Contrebande einem Kriegführenden ſtraffällig zu werden, genügt noch kein bloßer Verkauf der verbotenen Ge - genſtände an den Feind, ſondern es muß auch ein Verſuch der Zuführung an den Feind hinzukommen und eine Betretung auf der Zufuhr. 1Vgl. wegen der britiſchen Praxis Wheaton, intern. L. II, p. 219. Siehe auch Jouffroy p. 154.Der Verkauf an und für ſich allein kann zwar von einem neutralen Staate ſelbſt ſeinen Angehörigen unterſagt2Nau’s Völkerſeerecht §. 193 ff. werden; allein durch die Ueberſchreitung dieſes Verbotes macht man ſich nur dem eigenen Staate verantwortlich; der Kriegfüh - rende ſelbſt hat ſeinerſeits keine Befugniß die Contravention zu ahnden. Mit Beendigung der Reiſe iſt die Schuld getilgt, wie - wohl die neuere britiſche Praxis dieſen ſonſt allgemein recipirten Grundſatz in einzelnen Fällen nicht mehr hat gelten laſſen. 3Jacobſen Seerecht 422. 423. Wheaton, intern. L. IV, 3, 23.
Die Folge der Betretung mit Contrebande4Das Geſchichtliche hierzu findet ſich bei Wheaton, hist. p. 82 ff. iſt nach uraltem Herkommen, welches ſich wohl ganz oder zum Theil auf die Lehre der alten Civiliſten und auf das römiſche Recht gründet, die Weg - nahme der verbotenen Gegenſtände und Confiscation derſelben im Wege der Priſenjuſtiz. Die Transportmittel und namentlich die Schiffe werden regelmäßig nur dann als mitverfallen angeſehen und erklärt, wenn der Schiffseigenthümer, Schiffsherr oder Rheder davon Kenntniß gehabt hat. 5S. ſchon 1. 11. §. 2. D. de publicanis. Jacobſen Seerecht S. 642. Die Praxis hat allerdings nicht immer dieſen Unterſchied gemacht. We - gen Frankreich vgl. z. B. Jacobſen S. 656.Auch iſt in vielen Verträgen die Confiscation der Schiffe ſogar ausdrücklich ausgeſchloſſen,6v. Steck Handelsvertr. S. 208. 209. des - gleichen dem Schiffsführer die Befugniß ertheilt, durch ſofortige Herausgabe der verbotenen Waare ſich von jeder Wegführung und271§. 162. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.Störung ſeiner Fahrt zu befreien. 1S. z. B. die bereits S. 268. Note 3. angeführten Verträge der Nord - americaniſchen Freiſtaaten mit den Südamericaniſchen.Eine ſonſtige Beſtrafung der Con - trebandeführer iſt wenigſtens völkerrechtlich nicht mehr hergebracht.
In Betreff ſolcher Artikel, welche nicht unter den ſtrengen Be - griff der Contrebande oder zu den vertragsmäßig dahin gerechneten Artikeln gehören, erlaubt man ſich zwar nicht immer dieſelbe Strenge, wie bei eigentlicher Contrebande, wohl aber ein eigenmächtiges Vor - kaufsrecht (le droit de préemtion), indem nämlich die dem Feinde beſtimmten Waaren zwar weggenommen, jedoch dem Eigenthümer vergütet werden. Schon in der älteren franzöſiſchen Praxis be - ſtand ein ſolcher Gebrauch, ja er vertrat ſelbſt bei eigentlicher Con - trebande die Stelle der Confiscation. 2Franzöſiſche Ordonn. von 1584. Art. 69. Groot III, 1. 5. Nr. 6.In der ſpäteren Zeit iſt er auf die ausnahmsweiſen Contrebandeartikel hauptſächlich ange - wendet worden, bald mit mehr bald mit weniger Billigkeit. 3Jacobſen, Seerecht S. 656. Wheaton, hist. p. 83 und 285. Jouffroy p. 154.Eine gemeine Regel des Völkerrechts iſt er nicht; juriſtiſch erſcheint er als ein gewaltſamer Eintritt des Kriegführenden in eine Forderung des Feindes an den Neutralen, oder, wenn eine ſolche noch nicht beſteht, als eine Eigenmacht gegen die Neutralen, welche daher auch vollſtändig entſchädigt werden müſſen. Denn der Vorwand, man dürfe dem Feinde ſo viel ſchaden, als möglich, giebt noch kein Recht einem Dritten zu ſchaden. Die Vergütigung muß alſo jedenfalls das volle Intereſſe mitumfaſſen, welches der Neutrale der anderen Kriegspartei wegen Nichterfüllung der gegen ſie über - nommenen Verbindlichkeiten zu leiſten hat.
Neuere Verträge haben ſelbſt bei eigentlicher Contrebande die Confiscation ausgeſchloſſen und an deren Stelle die bloße Wegnahme gegen Vergütung geſetzt. 4Dieſer Satz iſt angenommen in dem Preuß. Nordameric. Vertrage vom 11. Juli 1799. und beſtätigt in dem vom 1. Mai 1828. de Martens rec. T. VI, p. 679. und Nouv. rec. Tom. VII, p. 615.
162. Auf gleicher Stufe mit der Contrebande, wo nicht höher, ſtehen, weil ein wirkliches Einverſtändniß mit dem Feinde und die Leiſtung einer Kriegshilfe offenbar an ſich tragend, folgende Fälle:
272Zweites Buch. §. 162.In allen dieſen Fällen wird nicht nur Wegnahme, ſondern auch eine Appropriation des Transportsmittels, ja ſogar der übrigen Ladung gegen den von dem verbotenen Zweck der Reiſe unterrich - teten neutralen Eigenthümer zuläſſig gehalten, obwohl nicht immer mit gleicher Strenge gehandhabt. 1Vgl. Jacobſen Seerecht S. 667 — 672. Wheaton, internat. L. VI, 3, 22. 23. Jouffroy p. 136.Man kann darin eine Re - preſſivmaaßregel finden, welcher der Neutrale unterworfen werden darf, wenn er ſich zum Complicen des Feindes gemacht hat und dieſem ſelbſt kein anderes Loos zu Theil werden würde. Hierzu kommt
Zu den noch zweifelhaften Fällen eines erlaubten neutralen Han - dels - und Schiffsverkehrs gehört:
163. Zu den erlaubten oder von den Kriegführenden nicht zu verhindernden Handelsgeſchäften der Neutralen gehören:
Ein activer Speditionshandel aus neutralem Lande nach feind - lichem Lande darf, ſo weit nicht die Grundſätze des Blocaderechts oder der Contrebande entgegenſtehen, dem neutralen Abſender recht - licher Weiſe niemals ſein Eigenthum gefährden.
Abweichungen von dieſen Regeln und beſondere Rechte der Kriegführenden können indeſſen noch aus der Art und Weiſe der Verladung entſtehen, wovon in den nachfolgenden Sätzen das Nä - here bemerkt werden muß.
164. Da nach einem allgemeinen noch immer andauernden Kriegsgebrauch der ganze Handels - und Schiffsverkehr der mit Einander im Kriege begriffenen Nationen ein Gegenſtand feindli - cher Maaßregeln unter ihnen wird und die dazu gehörigen Sachen und Güter als gute Priſe betrachtet werden: ſo mußte ſchon längſt die Frage entſtehen: welchen Rückſchlag dieſe Maxime auf den an ſich freien Frachtverkehr der Neutralen äußere, wenn feindliches Gut damit verſendet wird; ſo wie umgekehrt auf die Verſendun - gen neutraler an ſich unverbotener Güter mit feindlichen Trans - portmitteln.
Im Laufe der Zeiten und nach Maaßgabe der Entfaltung des Handels - und Schiffsverkehrs, ſo wie der bewaffneten Marinen haben ſich ſeit dem Mittelalter2In der alten Welt findet ſich keine Frage der Art. Der Seekrieg war Piraterie, der Seehandel ziemlich einfacher Natur, ohne die vielfachen Com - plicationen des neueren directen und indirecten Handels - und Frachtver - kehrs. Streitigkeiten mit befreundeten Neutralen wurden ſchiedsrichterlich oder ſonſt in conventionellem Wege verhandelt; Nichtverbündeten hielt man ſich zu keinem Recht ſchuldig. zwei Syſteme neben Einander ge - ſtellt, ohne daß Eines derſelben ſchon zur Ausſchließung des An - deren gelangt iſt.
Dieſes zweite Syſtem iſt das Neuere; es iſt ein Schutzſyſtem für die Intereſſen der Neutralen gegen die mit der Ausführung des Er - ſten verbundenen Beläſtigungen, ohne daß man dabei das vollſtän - dige Bewußtſein eines zureichenden inneren Rechtsgrundes hat.
165. Das Erſte der zuvor bezeichneten Syſtemen war wäh - rend des Mittelalters vorherrſchend. Es findet ſich im Conſolato del Mar,1Die merkwürdige, ſchon oft angeführte Stelle ſteht bei Pardeſſus, Collect. des lois maritim. t. II, p. 303. und zwar cap. 231. (in anderen Aus - gaben 276. auch 273. u. 264.), in der franzöſiſchen Ueberſetzung des ſpa - niſch-romaniſchen Grundtextes alſo lautend: Lorsqu’un navire armé al - lant ou revenant, ou étant en course, rencontrera un navire marchand, si ce dernier appartient à des ennemis, ainsi que sa cargaison, il est inutile d’en parler, parceque chacun est assez instruit pour savoir ce qu’on doit faire, et, dans ce cas, il n’est pas nécessaire de donner de règle. Mais si le navire qui sera pris appartient à des amis, tandis que les marchandises qu’il porte appartiennent à des ennemis, l’amiral du navire armé peut forcer et contraindre le patron du navire qu’il aura pris à lui apporter ce qui appartiendra aux ennemis, et même il peut l’obliger à le garder jusqu’à ce qu’il soit en lieu de sûreté; mais il faut pour cela que l’amiral on un autre pour lui ait amarré le navire pris a sa poupe en lieu où il n’ait pas craint que des ennemis le lui deſſen Weithinverbreitung über die europäiſchen ſüd -277§. 165. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.weſtlichen Küſtenlande mit Recht als ein Hauptzeugniß dafür be - trachtet wird; überdies auch in der einen oder anderen Hinſicht1enlèvent, à la charge néanmoins par l’amiral de payer au patron de ce navire tout le fret qu’il aurait dû recevoir s’il avait porté la cargaison là où il devait la décharger ou de la manière qui sera écrite sur le régistre. Si, par événement, on ne trouve point de régistre, le patron doit être cru à son serment sur le montant du fret. Encore plus, si, par événement, lorsque l’amiral on quelque autre pour lui sera en lieu où il puisse mettre la prise en sûreté, il veut que le navire porte la marchandise confisquée, le patron ne peut s’y refuser. Mais ils doivent faire une convention à cet égard, et, quel - que convention ou accord qui intervienne entre eux, il faut que l’ami - ral on celui qui le représente la tienne. Si, par événement, il n’est fait entre eux aucune promesse un con - vention relativement au fret, il faut que l’amiral ou celui qui le repré - sente paie an patron du navire qui aura porté dans le lieu qu’ils lui auront prescrit les marchandises capturées, un fret égal à celui qu’un autre navire devrait avoir pour des marchandises pareilles, et même davantage, sans aucune contestation; bien entendu que ce paiement ne doit être fait qu’ après que le navire sera arrivé au lieu où l’amiral, ou celui qui tient sa place, aura mis sa prise en sûreté, et que ce lieu jusqu’ auquel il fera porter la prise, soit en pays d’amis. Lorsque le patron du navire capturé ou quelques-uns des matelots qui sont avec lui, disent qu’ils ont des effets qui leur appartiennent, si ce sont des marchandises, ils ne doivent pas être crus à leur sim - ple parole; mais on doit s’en rapporter au régistre du navire, si l’on en trouve un. Si, par évènement, on n’en trouve point, le patron ou les matelots doivent affirmer la vérité de leur assertion. S’ils font ser - ment que ces marchandises leur appartiennent, l’amiral, ou celui qui le représente, doit les délivrer sans aucune contestation en ayant égard cependant à la bonne réputation et à l’estime dont jouissent ceux qui prêteront ce serment et réclameront les marchandises. Si le patron capturé refuse de porter les marchandises ennemies qui seront sur son navire, jusqu’à ce que ceux qui les auront prises soient en lieu de sûreté, malgre l’ordre que l’amiral lui en donne, celui-ci peut le couler à fond ou l’y faire couler, s’il le veut, sauf qu’il doit sauver les personnes qui montent le navire; et aucune autorité ne peut lui en demander compte, quelques soient les demandes et plaintes, qu’on lui en fasse. Mais il faut entendre que toute la cargaison de ce navire, on la majeure partie, appartient à des ennemis. Si le navire appartient à des ennemis et sa cargaison à des amis, les marchands qui s’y trouvent et à qui la cargaison appartiendra en tout on en partie, doivent s’accorder avec l’amiral pour racheter à un prix convenable et comme ils pourront ce navire qui est de bonne278Zweites Buch. §. 165.beſtätigt durch mehrere Verträge älterer und ſpäterer Zeit,1So bereits, wie Pardeſſus zum ang. Cap. des Conſolats nachweiſet, in einem Vertrage der Städte Piſa und Arles von 1221 und in zwei Ver - trägen Eduards III. von England mit den Seeſtädten Biscayens und Caſti - liens von 1351 und mit den portugiſiſchen Städten Lisboa und Porto. (v. Steck, Handelsvertr. S. 211.) Ferner in den engliſchen Verträgen mit Burgund von 1406, mit Genua von 1460, mit dem Herzoge von Bretagne 1486, mit dem Erzherzog Philipp von Oeſterreich 1495. Nau’s Völkerſeer. §. 175. Weiterhin noch Handelsvertrag zwiſchen England und Dännemark v. 29. Nov. 1669. Art. 20. nicht minder durch die Praxis;2In dem Schreiben Ludwigs XI. von Frankreich an den König von Sici - lien bei Leibnitz, Cod. jur. gent. Prodr. n. XVIII. wird als usus in hoc occidentali mari indelebiliter observatus erwähnt, res hostium et bona endlich auch als Regel anerkannt von einer Menge der bedeutendſten Publiciſten bis in das achtzehnte1prise; et il doit leur offrir une composition ou pacte raisonnable sans leur faire supporter aucune injustice. Mais si les marchands ne veu - lent pas faire un accord avec l’amiral, celui-ci a le droit d’amariner le navire et de l’envoyer au lieu ou lui-même aura armé, et les mar - chands sont obligés de payer le fret de ce navire de même que s’il avait porte leur cargaison au lieu pour lequel elle était destinée, et rien de plus. Si, par événement, les marchands éprouvent quelque lésion en raison de la violence que l’amiral leur aura faite, celui-ci ne doit leur répon - dre de rien, puisqu’ils n’ont pas voulu faire d’accord avec lui pour le rachat de ce navire qui était de bonne prise, encore par une autre raison, parceque souvent le navire vaut plus que les marchandises qu’il porte. Mais cependant, si les marchands ont annoncé le désir de faire un accord, comme il est déjà dit ci-dessus, et que l’amiral s’y soit refusé par orgueil ou par esprit de jactance, et, comme il a été dit, emmène avec les marchands la cargaison sur laquelle il n’avait aucun droit, ceux-ci ne sont pas obligés de payer de fret, en tout ni en partie, à cet amiral: au contraire, il est obligé de leur rendre et restituer tout le dommage qu’ils éprouveront on qu’ils auront possibilité d’éprouver par l’effet de cette violence. Mais lorsque le navire armé se trouve avec le navire capturé en un lieu où les marchands ne pourraient pas réaliser l’accord qu’ils ont fait, si ces marchands sont des hommes connus, et tels qu’il n’y ait point à craindre l’inexécution de l’accord fait avec eux, l’amiral ne doit point leur faire violence; et s’il leur fait violence, il est obligé de payer le dommage qu’ils souffriront; mais si, par évènement, les mar - chands ne sont pas des gens connus on ne peuvent pas payer le ra - chat, l’amiral peut agir comme il a été dit. 279§. 166. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.Jahrhundert hinein. 1Beachtenswerth ſind vorzüglich die auch von Wheaton, intern. L. IV, 3, §. 16. und histoire des progr. p. 56. nachgewieſenen Schriftſteller: Alb. Gentilis Hisp. advoc. I, 27. Groot III, 6, 6. u. 26. I, 5, not. 6. Zouch, jus fecial. II, 8, 5. u. 6. Bynkershoeck, quaest. I, 13 u. 14. Heineccius, de nav. ob vectur. merc. comm. II, 8. u. 9. Robinſon, Collectan. marit. p. 25. 26. 149. 171. 176. Loccenius de jure marit. II, 4, 12. Vattel III, 115.Großbritannien und einzelne andere Staa - ten betrachten es daher noch jetzt als die eigentliche Regel des ge - meinſamen Völkerrechts, wovon nur durch Vertrag eine Abwei - chung begründet werden könne. 2Vgl. Wheaton, intern. L. l. c. p. 176 sq. t. II. Unter dieſer Regel ſteht dann auch ſelbſt derjenige Fall, wenn ein Neutraler ſeine an ſich unverbo - tenen Güter auf ein feindliches bewaffnetes Schiff geladen haben ſollte, wofern der Eigenthümer nur nicht etwa ſelbſt an einem Widerſtande wider den Angriff des Kriegsgegners Theil genommen hat. Wenigſtens die nord - americaniſche Priſenpraxis hat nach Wheaton ebdſ. p. 257. §. 28. dieſe billige Anſicht gefaßt.
Nicht immer und allenthalben wurde indeß nach dem an ſich ſo löblich ſcheinenden Syſtem verfahren; ganz das Entgegengeſetzte wurde in Frankreich eingeführt, nämlich: Feindliches Schiff wird mit allen darauf befindlichen ſelbſt neutralen Gütern confiscirt, — eine Maxime die man nach Vorgang von De - mornac auf eine vermeintliche Analogie des römiſchen Rechts ſtützte, — und ſogar ferner: Neutrales Schiff verfällt, wenn es feindliche Güter geladen hat. Die Parlamente ſcheinen zwar der Anwendung des letztern Grundſatzes widerſtan - den zu haben: allein noch die Ordonnanz von 1681 behielt ihn bei, und erſt 1744 ward derſelbe, welcher außerdem nur noch in Spanien Geltung hatte, ausdrücklich in dem franzöſiſchen Rechts - ſyſteme gelöſcht. 3Wheaton, histoire p. 61. 142.
166. Da mit der Handhabung der angeführten älteren Regel ebenſowohl wie mit der erwähnten franzöſiſchen Praxis die größe -2etiamsi infra amicorum aut confoederatorum triremes seu naves positae sint, nisi obstiterit securitas specialiter super hoc concessa, impune et licite iure bellorum capi posse. Eine niederländiſche Entſcheidung von 1438. für die Freiheit der neutralen Waaren auf feindlichen Schiffen führt Groot an, Not. e. zu J. B. ac P. III, 1, 5, 4.280Zweites Buch. §. 166.ſten Beſchwerden für die Neutralen insbeſondere in Kriegen der bedeutenderen Seemächte und ſeit dem Aufkommen des neueren Caperſyſtemes verbunden waren, indem der Vorwand oder ge - ringſte Verdacht der feindlichen Qualität eines Schiffes, ja ſelbſt nur eines Theiles der Ladung zu der Wegführung des neutralen Eigenthums außerhalb ſeines beſtimmten Weges, mithin zu ſteten Störungen des neutralen Handels einen Deckmantel abgeben konnte: ſo ſuchte man in Verträgen Schutz, wodurch die Contrahenten im Falle der Neutralität des Einen bei Kriegen des Anderen auf eine Durchſuchung und Wegführung der Schiffe des Neutralen, ausge - nommen wegen Contrebande, verzichteten, mithin ſelbſt feindliche Güter durch die Flagge decken ließen, wogegen man ſich oft, wie - wohl nicht immer das Zugeſtändniß der Wegnahme neutraler Gü - ter auf den feindlichen Schiffen machte. 1Vgl. Wheaton hist. p. 69 f. 73. 144. 221. Moshamm, über die neue - ſten Anſichten, nach welchen die auf neutralen Schiffen geladenen Güter behandelt werden. Landsh. 1808.
Vorzüglich Frankreich hat ſich die vertragsweiſe Stipulation des combinirten Grundſatzes: frei Schiff, frei Gut; unfrei Schiff, unfrei Gut, als Aufgabe ſeiner Politik geſtellt2Der Anfang wurde mit der Pforte gemacht, welche im J. 1604. in ſ. g. Capitulationen der Krone Frankreich verſchiedene Bewilligungen, darunter auch die obige, machte. Flassan, dipl. franc. I, 225 f. Die ferneren Verträge mit anderen Mächten finden ſich allegirt in Büſch Beſtreben der Völker ꝛc. Hamb. 1800. S. 56 ff. Ein letztes Beiſpiel iſt der Vertrag mit Texas vom 25. Sept. 1839. Art. 4. Nouv. Recueil t. XVI, p. 989. und ſie nur zu - weilen kleineren Staaten ungroßmüthig vorenthalten, dann vielmehr den Grundſatz des Conſolats: „ frei Schiff, unfrei Gut “adoptirt. 3So in den Verträgen mit den Hanſeſtädten, namentlich mit Hamburg, während des vorigen Jahrhunderts. Nau’s Völkerſeer. §. 177.Außerdem ſind die vereinigten Niederlande vielfach auf das ver - tragsmäßige Zugeſtändniß des neueren Neutralitätsſyſtemes bedacht geweſen; ſeltener hat Großbritannien einzelnen Nationen die Frei - heit der neutralen Flagge zugeſtanden,4Namentlich geſchahe es im Utrechter Frieden von 1713. und implicite wohl von Neuem im Aachener von 1748. oder wie ſeine Publiciſten es wohl ſonſt ausgedrückt haben, ſie damit privilegirt! Ganz beſonders ſuchte man ſich mit den Barbaresken auf dieſen Fuß von Seiten aller Seemächte zu ſtellen. 5Vgl. Büſch, a. a. O. S. 242 f. Nau’s Völkerſeer. §. 130.Endlich wurde wenig -281§. 166. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.ſtens der Grundſatz frei Schiff, frei Gut von der bewaffneten Neutralität angenommen, und zwar nicht bloß gegen die ihr bei - tretenden Nationen, ſondern überhaupt zu Gunſten aller Nationen, gewiß derjenigen, welche kein entgegenſtehendes Princip aufſtellen würden. Freilich aber iſt ſie hiervon wieder in den Conventionen mit Großbritannien von 1801 abgegangen,1de Martens N. Causes celèbres. t. II, p. 267. Wheaton hist. p. 316. und ſeitdem iſt das den Neutralen bequemere Syſtem nicht mehr in entſchiedener Wirk - ſamkeit verblieben. Die nordamericaniſchen Freiſtaaten ſind zwar im Allgemeinen geneigt geweſen, die beiden obigen combinirten Grundſätze der neueren Handelspolitik gleichfalls in Verträgen an - zunehmen, jedoch in neueſter Zeit mit der Beſchränkung, daß ſie nur bei Kriegen wider ſolche Gegner gelten ſollten, welche jenes Syſtem gleichfalls beobachteten,2So in den ſchon mehrerwähnten Verträgen mit den Central - und Süd - americaniſchen Staaten ſeit 1824, desgleichen in den Verträgen mit Preu - ßen von 1799 u. 1828, worüber zu vergl. Wheaton hist. p. 461. 462. ohne welche Vorausſetzung aller - dings Verwickelungen und Nachtheile unvermeidlich ſind.
Darüber beſteht kein Zweifel, daß aus der vertragsmäßigen Sanction des einen Grundſatzes: frei Schiff, frei Gut — noch kei - neswegs von ſelbſt auch die Adoption des anderen: unfrei Schiff, unfrei Gut, gefolgert werden darf,3Jouffroy p. 197. Wheaton intern. L. IV, 3, 20. ſo wenig als dieſes im um - gekehrten Falle zuläſſig ſein würde. Wo der letztere Satz angenom - men iſt, hat man oft wieder die Strenge der Stipulation dadurch gemildert, daß man die ſchon vor bekannt gewordener Kriegserklä - rung auf feindliche Schiffe geladenen neutralen Waaren von der Confiscation befreite. 4Vertrag Englands und der vereinigten Niederlande v. 1. Decbr. 1674. Art. 8. Frankreichs und Nordamericas v. 1778. Art. 14. Der vereinig - ten Niederlande u. Nordamericas v. 8. Oct. 1782. Art. 12.
In der bisher geſchilderten Lage befindet ſich dieſer wichtige Punct des neutralen Seehandels. Unmöglich kann man behaup - ten, daß das neuere Syſtem ſich zu einem gemeingiltigen erhoben habe. Die Vielheit der Verträge, worin es ſtipulirt iſt, bewei - ſet noch nicht die allgemeine Annahme. Gerade die bedeutendſte Seemacht hat ſich demſelben ſtets widerſetzt und in ſeinem Zuge - ſtändniß immer nur ein Privilegium geſehen. Eben ſo wenig iſt282Zweites Buch. §. 167.aber auch als ausgemacht zu halten, daß das ältere Syſtem eine gemeingiltige Regel in Ermangelung vertragsmäßiger Ausnahmen darſtelle und jeder europäiſche Staat gebunden ſei, ſich demſelben zu unterwerfen. Der Conſolato del Mar, worauf man ſich Bri - tiſcher Seits erſt in ſehr neuerer Zeit berufen hat, iſt kein von den Nationen mit gemeinſamem Willen angenommenes Geſetz, auch hat es die Auctorität einzelner, wenn gleich noch ſo geachteter Publiciſten, nicht dazu erheben können. Haben die Seemächte in ihrer früheren Vereinzelung die Grundſätze des Conſolats in An - wendung gebracht, ſo geſchahe dieſes nicht in der Ueberzeugung von einer rechtlichen Verpflichtung, ſondern nach politiſcher Wahl, wo - von man wieder abzugehen nicht verhindert iſt.
Das wahre Recht der Neutralen wird ſich uns allererſt bei der Frage von dem Durchſuchungsrecht der Kriegführenden erge - ben. Man kann zugeſtehen, daß es jedem Kriegführenden erlaubt ſei, feindliches Gut wegzunehmen wo er es findet, aber man hat ihm darum noch nicht einzuräumen oder ſchon eingeräumt, dieſes mit Verletzung der Rechte von Dritten zu ſuchen. Hierin liegt die Entſcheidung!
167. Zur Sicherſtellung der Kriegführenden, daß der neutrale Verkehr in ſeinen nothwendigen oder conventionellen Schranken bleibe, dient hauptſächlich, auch von dem Falle einer Blocade ab - geſehen, die Anhaltung und demnächſt eine Unterſuchung neutraler Schiffe oder ſonſtiger Transportmittel. Obgleich von mehreren Schriftſtellern ſchon während des vorigen Jahrhunderts den Krieg - führenden ein eigentliches Recht hierzu, neutralen Staaten gegen - über, nach dem Princip der Unabhängigkeit und Freiheit aller Na - tionen, wenigſtens in der einen oder anderen Hinſicht, namentlich auf offener See beſtritten worden iſt:1Beſonders iſt dies geſchehen ſeit Hübner von der Mitte des vorigen Jahr - hunderts an. Einzelne polemiſche Schriften ſ. bei Klüber §. 293a. Eine Prüfung der verſchiedenen Anſichten findet ſich bei Jouffroy S. 213 ff. Vgl. Nau Völkerſeer. §. 216. ſo ſteht doch die Thatſache unwiderlegbar feſt, daß alle Seemächte, welche nur irgend die Mit - tel dazu beſitzen, ein ſolches Unterſuchungsrecht (droit de visite) in ihren Kriegen wirklich ausgeübt haben, und daß ſie es gleich -283§. 168. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.falls auch anderen Seemächten in deren Kriegen, theils durch aus - drückliche Convention, theils auch ohne ſolche und ohne Wider - ſpruch, ausgenommen bei vorkommenden Ueberſchreitungen gewiſſer Grenzen zugeſtanden haben. 1Als uralter Gebrauch erſcheint das Unter - oder Durchſuchungsrecht ſchon in dem zuvor angeführten Consolato del mar; nur über einzelne Puncte hat es Streitigkeiten unter den Völkern gegeben. Eine große Menge von Verträgen, worin das Durchſuchungsrecht ausdrücklich zugeſtanden und nä - her beſtimmt iſt, findet ſich angegeben bei Nau §. 163. und v. Martens über Caper §. 21.Es kann daher mindeſtens nach Lage der bisherigen internationalen Verhältniſſe nicht erſt noch auf eine innere Rechtfertigung der Unterſuchungsbefugniß für jeden krieg - führenden Staat ankommen, vielmehr ſich nur davon handeln, die Bedingungen, Modalitäten und Grenzen derſelben theils aus dem anerkannten Zweck, theils aus der gemeinſamen Völkerpraxis darzuſtellen.
168. Als Zweck der Unterſuchung erſcheint im Allgemei - nen die Ueberzeugung des Kriegführenden, welcher einem Trans - port in einem denkbaren Zuſammenhang mit der feindlichen Par - tei begegnet, in wiefern ſolcher wirklich vorhanden ſei, um demnächſt die ihm zuſtehenden materiellen Rechte ſowohl den feindlichen Staa - ten als auch den Neutralen gegenüber in Ausübung zu bringen.
Eine derartige Unterſuchung kann demnach nur Statt finden
endlich allgemeinem Gebrauche gemäß,
Unſtatthaft iſt ſie dagegen innerhalb des Souveränetätsgebietes be - freundeter oder neutraler Staaten, ja ſelbſt in dem Gebiete der ei - genen Bundesgenoſſen, wofern dieſelbe nicht ausdrücklich oder ſtill - ſchweigend dazu die Erlaubniß oder Genehmigung ertheilen. 3Vgl. Jacobſen, Seerecht S. 585.Die in exemten Gebieten dennoch gemachten Priſen müſſen auf die Re - clamation des verletzten Gebietsſtaates wieder heraus gegeben wer -284Zweites Buch. §. 169.den. 1Jocobſen, Seerecht S. 584.— Sachen, welche viſitirt werden dürfen, ſind alle Arten von Transportmitteln, denen keine vollkommen unverfängliche oder unantaſtbar ausſchließliche Beſtimmung zu gewiſſen erlaubten, mit dem Feinde in gar keinem Zuſammenhang ſtehenden Zwecken deut - lich und unverkennbar anklebt. Befreit ſind namentlich alle Kriegs - ſchiffe der neutralen Staaten, ſoweit ſich deren Qualität unzwei - deutig kund giebt;2Die Militärflagge allein kann einem Schiffe ſchwerlich ſchon den unzwei - felhaften Character eines Kriegsſchiffes ertheilen, Verhandlungen über dieſe Frage finden ſich in v. Martens Erzählungen merkwürdiger Fälle. Bd. II, S. 1 u. f. unterworfen dagegen alle Privatſchiffe und ſolche Transportmittel, deren Qualität und Eigenthum oder un - verfängliche Beſtimmung nicht von ſelbſt in die Augen ſpringt.
Specielle Zwecke der Unterſuchung ſind hiernächſt:
Demnach iſt zu ermitteln:
Im Uebrigen kann ſelbſt die Maxime: „ Frei Schiff, frei Gut “das Recht der Unterſuchung zu Gunſten der Neutralen nicht ausſchlie - ßen, da wenigſtens immer eine Nachfrage und Nachſuchung nach Contrebande, desgleichen nach der Nationalität des Schiffcs ver - gönnt werden muß. 4Vgl. die richtigen Bemerkungen in dem Urtheil von Sir William Scott in Robinſon, Adm. Rep. I, p. 340. Wheaton intern. L. II, p. 250.
169. Berechtigt zur Vornahme einer Unterſuchung ſind allein die von den kriegführenden Staatsgewalten hierzu berufenen285§. 168. Voͤlkerrecht im Zuſtande des Unfriedens.oder autoriſirten Perſonen, insbeſondere Befehlshaber der bewaff - neten Land - und Seemacht, und zwar ſelbſt ohne ausdrücklichen ſpeciellen Auftrag, ſodann die mit giltigen Markebriefen verſehenen Caper, wofern nicht auf den Gebrauch derſelben gegen einzelne Staaten verzichtet iſt. 1Dies war der Fall in den Verträgen Großbritanniens mit den nordiſchen Mächten vom Jahre 1801 in Bezug auf convoiirte Schiffe. (§. 170.)Das gewöhnliche Verfahren der Anhal - tung und Unterſuchung iſt nun nach der Mehrzahl der hierüber geſchloſſenen Verträge, welche ſich vorzüglich dem pyrenäiſchen Frie - den Artikel 17. als Muſter angeſchloſſen haben, dieſes:2v. Martens, über Caper §. 20. 21. der krieg - führende Theil nähert ſich dem zu durchſuchenden Schiff auf Kano - nenſchußweite, nachdem letzteres durch ein beſtimmtes Signal (coup d’assurance, semonce) zum Innehalten ſeines Laufes aufgefor - dert worden iſt. Der anhaltende Theil ſendet dann eine Scha - luppe mit einer geringen Zahl von Leuten an Bord des fremden Schiffes, oder er begnügt ſich den fremden Schiffer mit den See - briefen zu ſich kommen zu laſſen. Von weſentlicher Wichtigkeit ſind hierbei folgende Papiere:
endlich
Iſt in Verträgen nichts Genaueres feſtgeſetzt, was für Papiere vorgelegt werden ſollen und welche Beſchaffenheit ſie haben müſ - ſen, ſo iſt unbedenklich als Grundſatz zu befolgen, daß es nur auf die moraliſche Ueberzeugung von der Unverfänglichkeit eines neu - tralen Schiffseigenthums und ſeiner Ladung ankomme und daß dabei nicht etwa ſubtile Beweisgrundſätze entſcheiden können; ja, die eigenen Landesgeſetze des durchſuchenden Theiles müſſen in die - ſem Sinne verſtanden werden. 4Zu Grundſätzen dieſer Art hat ſich vorzüglich die franzöſiſche Priſen - praxis neuerer Zeit unter dem Einfluß der ſo noblen, wie billigen Re - quiſitorien von Portalis bekannt. Siehe übrigens auch v. Martens überErſt wenn ſich aus den Papie -286Zweites Buch. §. 170.ren ſelbſt oder aus dem Verhalten der Mannſchaft der Verdacht einer Unrichtigkeit in der einen oder anderen Hinſicht ergiebt, darf der Unterſuchung eine weitere und ſchärfere Ausdehnung gegeben werden.
170. Um den Beſchwerlichkeiten der Durchſuchung zu entgehen, iſt man vorlängſt auf ein Auskunftsmittel bedacht geweſen, wel - ches den Kriegführenden die Sicherheit gewähren ſollte, daß auf gewiſſen Schiffen keine verbotenen Waaren, Feindes Güter oder Mannſchaften verſendet würden, mithin die gewöhnliche Durchſu - chung ſelbſt entbehrlich machte. Dazu iſt nun die Convoiirung der Handelsſchiffe durch (bewaffnete) Staatsſchiffe der neutralen Nationen bei verſchiedenen Gelegenheiten und Veranlaſſungen in Gang gekommen, nachdem man ſchon früher das Convoiiren der Handelsſchiffe als allgemeines Schutzmittel gegen Handelsbeein - trächtigungen, Seeraub und dgl. gebraucht hatte. (Vgl. §. 174.) Der Gedanke von jener ſpeciellen Anwendung des Convoirechtes ſuchte ſich beſonders in der Mitte des ſiebzehnten Jahrhunderts geltend zu machen; namentlich ergriffen und vertheidigten ihn die Holländer. Indeſſen wurde er nicht von allen Seemächten, am wenigſten von Großbritannien zugeſtanden. Erſt während der bei - den letzten americaniſchen Kriege des vorigen Jahrhunderts gewann er größere Conſiſtenz; man verſicherte ſich ſeiner durch Verträge;2Vgl. v. Martens, über Caper §. 20. die bewaffnete Neutralität des Nordens nahm ihn 1800 unter ihre Maximen auf;3Es wurde vereinbart: „ que la déclaration de l’officier commandant le vaisseau ou les vaisseaux de la marine royale ou impériale, qui ac - compagneront le convoi d’un ou de plusieurs bâtimens marchands, que son convoi n’a à bord aucune marchandise de contrebande, doit suffire pour qu’il n’y ait lieu à aucune visite sur son bord ni à celui des bâ - timents de son convoi. Großbritannien hat in jenen Kriegen einige4Caper §. 21. Not. m. Für die Geſetzgebung der einzelnen Staaten iſt es außerordentlich wichtig, Formen und Beglaubigungen feſtzuſtellen, welche das Schiffs - und Waareneigenthum ihrer Nation gegen Anfechtung ſichern können. In der britiſchen Praxis wird hierbei großer, Leider! zu viel Werth auf den Eid gelegt.287§. 170. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.Connivenz dabei gezeigt, ohne jedoch das Princip ſelbſt einzuräu - men und in ſeinen Conventionen mit den nordiſchen Mächten von3Pour assurer d’autant mieux à ces principes le respect dû a des sti - pulations dictées par le désir des intéressés, de maintenir les droits im - préscriptibles de nations neutres, et donner une nouvelle preuve de leur loyauté et de leur amour pour la justice les hautes parties con - tractantes prennent ici l’engagement le plus formel, de renouveller les défenses les plus sevères à leurs capitaines, soit de hautbord, soit de la marine marchande, de charger, tenir, on recéler à leurs bord au - cun des objets, qui, aux termes de la présente convention, pourraient être reputés de contrebande, et de tenir respectivement la main à l’exé - cution des ordres qu’elles feront publier dans leurs amirautés et par - tout où besoin sera, à l’effet de quoi l’ordonnance, qui renouvellera cette défense sous les peines les plus graves, sera imprimée à la suite du présent acte, pour qu’il n’en puisse être prétendu cause d’igno - rance. Les hautes parties contractantes voulant encore prévenir tout sujet de dissension à l’avenir en limitant le droit de visite des vaisseaux marchands allant sous convoi, aux seuls cas où la puissance belli - gérante pourrait essuier un préjudice réel par l’abus du pavillon neu - tre, sont convenues: 1) Que le droit de visiter les navires marchands appartenant aux su - jets de l’une des puissances contractantes et naviguant sous le convoi d’un vaisseau de guerre de la dite puissance n’en sera exercé, que par les vaisseaux de guerre de la partie belligérante, et ne s’étendra jamais aux armateurs, corsaires ou autres bâtimens, qui n’appartiennent pas à la flotte impériale on royale de leurs Ma - jestés, mais que leurs sujets aurient armés en guerre. 2) Que les propriétaires de tous les navires marchands appartenant aux sujets de l’un des Souverains contractans, qui seront desti - nés à aller sous convoi d’un vaisseau de guerre, seront tenus, avant qu’ils ne recevaient leurs instructions de navigation, de pro - duire au commandant du vaisseau de convoi leurs passeports et certificats ou lettres de mer, dans la forme annexée au présent traité. 3) Que, lorsqu’un tel vaisseau de guerre, ayant sous convoi des na - vires marchands, sera rencontré par un vaisseau ou des vaisseaux de guerre de l’autre partie contractante qui se trouvera alors en état de guerre, pour éviter tout désordre, on se tiendra hors de la portée du canon, à moins que l’état de la mer on le lieu de la rencontre ne nécessite un plus grand rapprochement; et le commandant du vaisseau de la puissance belligérante enverra une chaloupe à bord du vaisseau de convoi, où il sera procédé réci - proquement à la verification des papiers et certificats qui doivent constater, d’une part que le vaisseau de guerre neutre est auto -288Zweites Buch. §. 170.1801 nur eine Milderung der ſtrengeren Viſitation bei convoiirten Schiffen bewilligt.
Wiewohl nun kein allgemeines gleiches Einverſtändniß der Mächte über den Grundſatz beſteht und ſogar viele der ihn un - bedingt oder modificirt enthaltenden Verträge im Laufe des jetzi - gen Jahrhunderts wieder gelöſet ſind: ſo wird er doch mit vollem Recht von den Neutralen auch noch in Zukunft zu behaupten ſein, wofern ſie bei ausbrechenden Kriegen ſolche Maaßregeln treffen, daß die unter Convoi zu ſtellenden Handelsſchiffe vor der Abſege - lung der genaueſten Inſpection unterworfen und die Führer der Bedeckung mit authentiſchen Legitimationen verſehen werden. Iſt dieſes beobachtet, ſo würden die Kriegführenden die den neutralen Mächten gebührende Achtung verletzen, wollten ſie jenen Legitima - tionen und den Verſicherungen des Convoiführers keinen Glauben3risé à prendre sous son escorte tels on tels vaisseaux marchands de sa nation, chargés de telle cargaison et pour tel port; de l’au - tre part, que le vaisseau de guerre de la partie belligérante ap - partient à la flotte impériale on royale de leurs Majestés. 4) Cette verification faite, il n’y aura lieu à aucune visite, si les papiers sont reconnus en règle, et s’il n’éxiste aucun motif vala - ble de suspicion. Dans le cas contraire, le commandant du vais - seau de guerre neutre (y étant duement requis par le comman - dant du vaisseau ou des vaisseaux de la puissance belligérante) doit amener et detenir son convoi pendant le temps nécessaire pour la visite des bâtiments qui le composent; et il aura la fa - culté de nommer et déléguer un ou plusieurs officiers pour assi - ster à la visite des dits bâtiments, laquelle se fera en sa présence sur chaque bâtiment marchand, conjointement avec un on plu - sieurs officiers préposés par le commandant du vaisseau de la par - tie belligérante. 5) S’il arrive que le commandant du vaisseau ou des vaisseaux de la puissance en guerre, ayant examiné les papiers trouvás à bord, en ayant interrogé le maître et l’equipage du vaisseau, appercevra des raisons justes et suffisantes pour detenir le navire marchand, afin de procéder à une recherche ulterieure, il notifiera cette in - tention au commandant du vaisseau de convoi, qui aura le pou - voir d’ordonner à un officier de rester à bord du navire ainsi détenu, et assister à l’examen de la cause de sa détention. Le navire marchand sera amené tout de suite au port le plus proche et le plus convenable appartenant à la puissance belligérante, et la recherche ultérieure sera conduite avec toute la diligence pos - sible. 289§. 171. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.beimeſſen. Mehrere Verträge des jetzigen Jahrhunderts laſſen auch die Abſicht der Seemächte erkennen, noch ferner den Grundſatz in Anwendung bringen zu wollen. 1Man vgl. den Tractat Preußens mit Nordamerica von 1828, wodurch Ar - tikel 14. der Convention von 1799 für die Dauer des Erſteren beibehalten ward. Ferner die Verträge Nordamericas mit den Central - und Südame - ricaniſchen Freiſtaaten von 1824 ff. auch den Vertrag Frankreichs mit Texas von 1839. Art. 5.Natürlich können aber nur die ausdrücklich und beſtimmt unter die Bedeckung von der abſenden - den Staatsgewalt aufgenommenen Privatſchiffe auf das Privilegium Anſpruch machen, nicht auch ſolche, die ſich einem Convoi eigen - mächtig oder unterweges erſt angeſchloſſen haben. Auch können ſich diejenigen Schiffe, welche unterweges von der Bedeckung ſich tren - nen oder abgetrennt werden, auf das Privilegium nicht wieder be - rufen; vielmehr laufen dieſe oft Gefahr, bei ihrer demnächſtigen Betretung von den Kriegführenden als beſonders verdächtig behan - delt zu werden. 2Jacobſen Seerecht S. 140.
171. Jedes Schiff ſetzt ſich der Beſchlagnahme und Wegfüh - rung aus:
endlich
Von den weiteren Folgen kann ſich das angehaltene Schiff demnächſt nur durch Ranzionirung, wenn ſolche dem Captor nach - gelaſſen iſt, befreien (§. 142 d.), oder im Fall von Contrebande und ähnlichen Contraventionen, wobei nicht Schiff und übrige Ladung verwirkt wird, durch Auslieferung der verbotenen Artikel, ſofern ſie der Nehmer auf ſein Schiff aufnehmen kann,3v. Martens §. 24. gegen ein Em - pfangsbekenntniß deſſelben. 3v. Martens §. 24.
Von dem Augenblick der Beſchlagnahme an wird der Nehmer, abgeſehen auch von den Verpflichtungen gegen ſeinen eigenen Staat, dem neutralen Schiffseigenthümer und Befrachter für alle Nach - theile einer ungerechten Beſchlagnahme verantwortlich,4S. hierüber ausführlich Jacobſen, S. 565 — 577. insbeſon - dere für jede durch ſein Verſchulden hervorgebrachte Einbuße oder Verſchlimmerung von Sachen. Der Nehmer muß daher für die Priſe die hergebrachte ſeemänniſche Sorgfalt anwenden; über den Beſtand derſelben ein ſummariſches Verzeichniß aufnehmen, die Schiffspapiere verſiegeln, die Schiffslucken verſchließen und ſo viel als möglich jede Veränderung oder Deplacirung in den einzelnen Sachen unterlaſſen, wenn dergleichen aber nothwendig wird, ſo wie überhaupt des beſſeren Beweiſes wegen ſchon bei Ausführung der Beſchlagnahme, den Schiffer des genommenen Schiffes zuziehen und ſich die zweckdienlichen Beſcheinigungen von ihm ertheilen laſſen. 5v. Martens a. a. O. §. 22. Zweckmäßig erſcheint auch die Aufnahme ei - ner ſchriftlichen Verhandlung über die Anhaltung und über die Gründe der - ſelben, wie das franzöſiſche Priſenrecht verlangt. Jacobſen S. 564.
Hinſichtlich der Wegführung der Priſe wird eben ſo verfahren wie bei offenklar feindlichen Schiffen.
172. Ganz in derſelben Weiſe wird auch die Rechtmäßigkeit der Priſe gegen den Neutralen der Entſcheidung eines Priſenge - richts unterworfen. Dieſe Gerichtsbarkeit iſt in neuerer Zeit un - angefochten von jedem kriegführenden Staate ſelbſt ausgeübt wor - den, ungeachtet dagegen von neueren Publiciſten ſeit der Mitte des vorigen Jahrhunderts mancherlei Bedenken erhoben ſind, zuweilen mit entſchiedener Denegation. 1Vgl. Jouffroy S. 282 f. Nau §. 215 f.Beruht ſie, wie unter einigen Staaten der Fall iſt, auf ausdrücklichen Verträgen, ſo kann kein Streit darüber erhoben werden. Außerdem iſt ſie Nichts als eine politiſche Maaßregel, für welche ſich juriſtiſch nur die Analogie ei - nes forum arresti s. deprehensionis anführen läßt, vorausgeſetzt, daß ſie ſich auf wirkliche Rechtsverletzungen neutraler Unterthanen gegen den kriegführenden Staat beſchränkt. Eine res iudicata ent - ſpringt daraus an und für ſich nur für den Staat, welcher eine ſolche Gerichtsbarkeit übt (§. 39.); anderen Staaten wird dadurch kein verbindliches Geſetz ertheilt; jedoch pflegt man meiſtens im Intereſſe der Eigenthumsgewißheit und zur Vermeidung von Con - teſtationen die Priſenzuſprüche als giltig anzuerkennen, wenn nur dadurch kein unzweifelhaftes Princip des Völkerrechts verletzt wor - den iſt. Eine Ausnahme von der Competenz des kriegführenden Staates, für welchen der Fang gemacht iſt, wird vorzüglich dann behauptet und zugeſtanden
Im erſteren Falle wird nicht nur der neutrale Staat, welcher die weggenommenen Gegenſtände in ſeiner Gewalt hat, über die Ille - galität der Priſe zu entſcheiden befugt gehalten, ſondern es wird auch ſeiner Reclamation der unrechtmäßigen nicht mehr in ſeiner Gewalt befindlichen Priſe im Wege der diplomatiſchen Verhand - lung von den Kriegführenden Folge gegeben; im zweiten Falle kann er gleichergeſtalt nach ſeinen eigenen Geſetzen und nach den mit dem Kriegführenden beſtehenden Verträgen über die Reclama -19*292Zweites Buch. §. 173.tion des Eigenthümers entſcheiden. 1Vgl. Jouffroy S. 295. v. Martens über Caper §. 36. Wheaton, intern. L. IV, 3, §§. 6 — 10. u. IV, 2, §. 13. Jacobſen Seerecht S. 584.Daß aber ein neutraler Staat auch über die Rechtmäßigkeit der von einem Kriegführenden gegen einen dritten neutralen Staat gemachten Priſe das Entſcheidungs - recht habe, kann ſelbſt, wenn die Priſe ſich unter ſeiner Botmäßig - keit befindet, als hergebracht nicht nachgewieſen werden; nur ein proviſoriſcher Schutz darf hier dem Weggenommenen angedeihen; im Uebrigen iſt die Sache zwiſchen dem Kriegführenden und neu - tralen Staate auszutragen.
173. Das Verfahren bei den Priſengerichten der Kriegfüh - renden iſt auch den Neutralen gegenüber ein ſ. g. Reclameproceß, wobei den reclamirenden Neutralen der Beweis der Unrechtmäßig - keit der Captur aufgebürdet wird. 2v. Martens a. a. O. §. 27. Vertheidigt iſt das Princip von Pinheiro Ferreira in den Noten zu v. Martens Introduction, §. 317. Desgl. von Jouffroy S. 296. Nach dem Grundſatz: spoliatus ante omnia restituen - dus, und nach Analogie des Arreſtverfahrens ſollte freilich wohl erſt der Captor nachweiſen, daß er einen genügenden Grund zur Wegnahme gehabt habe. Aber dies umgeht man!Sowohl die Form des Ver - fahrens, wie auch die Grundſätze des Beweiſes und das Mate - rielle der abzugebenden Entſcheidung richten ſich nach den Geſetzen des Landes, deſſen Behörden mit der Priſengerichtsbarkeit beauf - tragt ſind, wofern nicht Verträge mit den Neutralen im concreten Fall ein Anderes mit ſich bringen. 3Solche Verträge giebt es zur Zeit nur wenige. Die meiſten beſchrän - ken ſich darauf, eine unparteiiſche Juſtiz in Priſenſachen gegenſeitig zur Pflicht zu machen, oder unverdächtige Richter zu poſtuliren (wie der eng - liſch-ruſſiſche Vertrag von 1801). Einige Verträge haben auch die Mit - theilung der betreffenden Priſenurtheile ſtipulirt. So die Verträge der nord -, mittel - und ſüdamericaniſchen Republiken unter Einander.Im Allgemeinen ſind jene Proceduren und Entſcheidungsnormen nichts weniger als günſtig für die Neutralen; ſie ſind politiſche Werkzeuge und Angeln des Eigennutzes, wie man ſich leicht ſchon aus dem Durchblättern der Sammlungen von Priſengerichtsurtheilen überzeugen kann, trotz der Bewunderung, welche Viele den „ gelehrten Priſenrichtern “man - cher Nationen gezollt haben! Häufig werden nur diejenigen Be - weiſe zugelaſſen, welche bei der Captur eines Schiffes vorgefunden werden; mit den Schiffspapieren werden die Ausſagen der Schiffs -293§. 174. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.mannſchaft verglichen, hinſicht deren man faſt inquiſitoriſch ver - fährt. 1v. Martens a. a. O. Specielle Mittheilungen aus der Priſenpraxis und Betrachtungen darüber ſ. bei Jacobſen Seerecht S. 544 ff. u. 441 f.
Welche Folgen den unterliegenden Reclamanten treffen, iſt nach den vorausgeſchickten Maximen der neueren Seepraxis in Betreff der einzelnen ſ. g. Contraventionen leicht zu bemeſſen. Bald be - ſtehen ſie in dem Verluſt des Schiffes und der Ladung, bald in dem des Einen oder Anderen, bald auch nur in dem Verluſte eines Theiles der Ladung oder auch der Fracht. Der ganz oder theil - weis Siegende erhält die Reſtitution, auch wohl Schäden und Ko - ſten vergütet, obgleich die Captoren dabei häufig geſchont werden. Ein nicht ganz abgelehnter Verdacht hat meiſt dieſelben Wirkungen wie die offenklare Contravention, oder entbindet doch die Captoren von den Koſten. Indeß — es giebt hierüber keinen Völkercodex;2Eine nähere Beſtimmung der einzelnen Fälle nach Recht und Billigkeit hat Jouffroy S. 299 f. verſucht. Vgl. auch noch v. Martens über Caper §. 30. Alles iſt von der Stimmung des Kriegführenden, ſeinem guten oder ſchlimmen Willen, von der Gerechtigkeitsliebe oder Eingenom - menheit ſeiner Priſenrichter abhängig. Gewiß haben die Neutra - len das Recht, jeder Ungerechtigkeit die ſie betrifft, Zwangsmaaß - regeln entgegenzuſetzen,3Groot III, 2, 5. Bynkershoeck, quaest. jur. publ. I, cap. 9. Vattel II, §. 84. Wheaton IV, 2, 15. Hierher gehört das preußiſche Verfahren gegen Großbritannien im Jahre 1752 und die damalige diplomatiſche Ver - handlung, dargeſtellt in v. Martens Erzählungen I, 236 ff. Ch. de Martens causes célèbr. II, p. 1 f. und wenigſtens eine Entſchädigung für jene zu reclamiren.
174. Nicht immer haben ſich die Kriegführenden an dem Ge - wöhnlichen genügen laſſen. Einige minder läſtige Verfügungen, denen die Neutralen zuweilen unterworfen worden ſind, namentlich Embargos auf ihre Schiffe, um dadurch gewiſſe Zwecke zu ver - ſchleiern, oder Benutzung neutraler Schiffe zum Transport; fer - ner die Wegnahme neutraler Ladungen für das augenblickliche oder294Zweites Buch. §. 174.zu erwartende Kriegsbedürfniß — wurden ſchon oben (§. 150.) erwähnt und auf ihre äußerſte Regel zurückgeführt.
Mißlicher aber ſteht es noch mit denjenigen, obſchon vorgeblich auch nur außerordentlichen Beſchränkungen, welchen ſich die Neutra - len in dem ihnen ſonſt regelmäßig geſtatteten Verkehr auf die Anord - nung eines Kriegführenden unter dem Vorwand fügen ſollen, daß au - ßerdem der Feind nicht bekämpft werden könne, als da ſind:
Zu Excentricitäten dieſer Art führte unter Anderen das ſ. g. Aushungerungsſyſtem, welches von der Coalition gegen das revo - lutionäre Frankreich aufgeſtellt, beſonders von England exequirt und gegen den Widerſpruch der Neutralen 1793 vertheidigt wurde;1Das Geſchichtliche hiervon ſ. bei Wheaton historie p. 284. intern. L. IV, 3, p. 194 s. Vgl. Nau, Völkerſeer. §. 209. Büſch über das Be - ſtreben der Völker Kap. 8 u. 13. Wegen älterer approximativer Präce - dentien vgl. ſchon oben §. 162. dann das britiſche allgemeine Blocadeſyſtem gegen Frankreich und ſeine Alliirten ſeit dem 16. Mai 1806 ohne allſeitigen effectiven Blocadezuſtand;2Klüber dr. d. g. §. 314. hiernächſt das Napoleoniſche Continentalſyſtem als Generaliſirung aller bisherigen Prohibitivmaaßregeln. 3Man ſ. die Decrete Napoleons vom 21. Novbr. 1807 und vom 17. Dec. 1807 mit den entgegengeſetzten britiſchen Conſeil-Verordnungen v. 7. Jan. 1807 u. 11. Nov. 1807. Klüber ebdſ. §. 312 f.
Legitime Gründe zur Anwendung ſolcher Mittel würden allein vorliegen
Die Neutralen dürfen ihrerſeits die Anwendung ablehnen
295§. 175. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.und
Findet keine Verſtändigung Statt, ſo handelt jeder Theil nach ſei - nem Ermeſſen. Der Kriegführer, indem er auf ſeinem Syſtem be - harrt, ſtellt den Neutralen die Wahl zwiſchen Krieg oder Nachgie - bigkeit. Ein ſonſtiges Regulativ giebt es nicht.
Unbedenklich ſteht jedem Neutralen das Recht zu, gegen un - rechtmäßige Behandlung und drohende Exceſſe Vorkehrungen zu treffen, ſich mit bewaffneter Hand in ſeinen Befugniſſen zu ſchützen und gegen Uebergriffe der Kriegführenden Repreſſalien zu gebrau - chen. Ein durchaus erlaubtes Sicherungsmittel iſt die Convoiirung der Handelsſchiffe durch Kriegsſchiffe,1Sie iſt vorzüglich durch die Hanſeaten eingeführt. England ſelbſt ſandte 1715, während des nordiſchen Krieges beeinträchtigt durch die ſchwediſchen Caper, ein Geſchwader nach der Nordſee zur Beſchützung des britiſchen Handels, kann alſo auch andern nicht das Nämliche beſtreiten. Lamberti, histoire du siècle XIV. t. IX, p. 251. überhaupt die Aufſtellung einer bewaffneten Macht, es ſei in Vereinzelung oder in Verbin - dung mit anderen Mächten zur Handhabung der Grundſätze der Neutralität. 2So die bewaffnete nordiſche Neutralität. Nicht unbedenklich war es viel - leicht dabei, daß die Theilnehmer an derſelben das Baltiſche Meer für ein geſchloſſenes erklärten, worin feindliche Kriegsſchiffe keinen Zutritt haben und keine Feindſeligkeiten geduldet werden ſollten. Martens Rec. II, p. 195. 205. 250. Großbritannien hat ſich am 18. Dcbr. 1807 dagegen ausgeſprochen.
175. Blicken wir auf die bisher in kurzer Skizze aus der Wirklichkeit dargelegten Rechte der Neutralen zurück: ſo erkennen wir darin bei weitem mehr Beſchränkungen und Hemmniſſe als Freiheit und Unabhängigkeit der Neutralen; andererſeits maasloſe Anmaßungen der Kriegführenden; ja man kann ſagen es giebt im Felde des Völkerrechts keine traurigere Geſtalt als die eines Neu - tralen, den größeren Seemächten gegenüber. Der ganze neutrale Seehandel wird in den Kriegszuſtand hineingezogen und von der296Zweites Buch. §. 175.Willkühr des Seeherrn abhängig gemacht. Das iſt zum Theil die Folge gemeinſamer Verſündigung, indem beinahe kein Seeſtaat ſich geſcheuet hat die Grundſätze, welche oft wieder zu ſeinem eigenen Verderben dienen konnten, bei vorkommender günſtiger Gelegenheit ſelbſt zu üben.
Iſt aber darum dieſes ſ. g. Völkerſeerecht ein gerechtes? un - abänderliches? und kann es Beſtand haben?
dürfen wir als Theſen eines künftigen darauf allein gebauten Völ - kercodex noch immer mit manchem älteren Publiciſten dieſe be - haupten:
Denn hier iſt jener wirklicher Poſſeſſor feindlichen Landes oder See -297§. 175. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.gebietes, oder Beſitzer einer Operationslinie auf einer gemeinfreien Sache, die nicht von mehreren zugleich ohne Kränkung des Prä - venirenden gebraucht werden kann.
Denn Schiffe ſind wandelnde Gemeinden ihrer Staaten, auf offe - ner See nur von dieſen abhängig. Fragen aber darf der Krieg - führende jedes Schiff wer es ſei, weil die offene See dem Freunde und Feinde dient, Treue und Glauben überall bewahrt werden muß, und Jeder wider Gefahr ſich zu ſichern berechtigt iſt. Kampf oder Ausweis über friedliche Nationalität iſt alſo eine rechtmäßige Al - ternative, welche der Kriegführende ſtellen kann.
Wir ſind weit entfernt, dieſe Sätze als ein ſchon giltiges Völ - kerrecht vorzutragen, aber wir glauben, daß man zu ihnen über - gehen wird, je mehr die Völker ſelbſt eine politiſche Stimmfähig - keit erlangen, und die Regierungen ſich an das nationale Bewußt - ſein, an die Ehre und das Wohl der beherrſchten Völker gebun - den halten müſſen, darin aber auch ihre kräftigſte Stütze finden. Kein Opfer kann zu groß ſein um die Knechtſchaft zu brechen, worin die Uebermacht einer oder der anderen Nation die übrigen298Zweites Buch. §. 176.Staaten ſchmiedet; an Mitteln des Widerſtandes wird es beſon - ders dann nicht fehlen, wenn Alle gegen die Uebermacht gemein - ſchaftliche Sache machen, ſollten auch einſtweilige große Verluſte und Entſagungen damit verbunden ſein. Das Aeußerſte wäre viel - leicht eine längere aber nachdrücklich und ohne Baratterie zu übende Continentalſperre, nebſt Eröffnung eines neuen Militär - und Han - delsweges zu Lande nach dem Oſten. Hoffen wir indeß, daß das Rechtsgefühl aller Völker, gegründet auf das Bewußtſein der menſchlichen, nicht blos nationalen Freiheit, auch ohne jene Spal - tung der See - und Landmächte ſich übereinſtimmend von dem mor - ſchen Kram ſelbſtſüchtiger Maximen losſagen werde, welche bis - her das vermeintliche Seerecht der Neutralen bildeten,1Ein „ Vorſchlag zur Güte “findet ſich in Betreff unſerer Materie bei Püt - ter, Beitr. S. 189., der aber gerade auch nur in dem Verzicht der See - mächte auf ihre bisherige Praxis, namentlich auf die Zulaſſung von Pri - ſencapern beſteht. Gewiß iſt alles dort Geſagte ſehr beherzigungswerth. Leider iſt es ſchon oft vergeblich geſagt. durch deſ - ſen Anwendung jene berühmten Priſenrichter, wie Sir Marriot, Will. Scott und Jenkinſon in patriotiſchem Eifer den Handel der Neutralen abſchlachteten, jede andere Rechtsanforderung in das Reich der Chimäre eines goldenen Zeitalters verweiſend!
176. Die einzigen legitimen Beendigungsarten des Krieges ſind:
Dagegen tritt nur ein Zuſtand uſurpirter Ruhe ein, wenn zwar der Widerſtand der feindlichen Staatsgewalt beſeitigt, ein Wieder - eintritt derſelben jedoch nicht völlig ausgeſchloſſen iſt. Endlich fin - det vor oder nach Beendigung eines Krieges nicht ſelten eine all - gemeine oder partielle Wiederkehr der früheren, durch den Krieg thatſächlich geſtörten Rechtsverhältniſſe (ein ſogenanntes Poſtlimi - nium) Statt.
Ueber Alles dieſes müſſen hier noch die entſcheidenden Grund - ſätze zuſammengeſtellt werden.
177. Es iſt nicht nothwendig, daß ein Kriegszuſtand durch formelle Erklärungen der kriegführenden Theile aufgehoben werde, obgleich es räthlich und gewöhnlich iſt. Man kann ſtillſchwei - gend die Feindſeligkeiten einſtellen und einen gegenſeitigen freund - ſchaftlichen Verkehr wiedereröffnen, und Niemand wird dann noch eine Fortdauer des Krieges für ſich anrufen können. Von ſelbſt verſteht ſich dabei als Baſis des ferneren gegenſeitigen Rechtszu - ſtandes der status quo, bei welchem ſich jeder Theil ſeit Einſtel - lung der Feindſeligkeiten beruhigt hat. 1So endigte der Krieg zwiſchen der Krone Polen und Schweden im Jahre 1716 mit einer gänzlichen Intermiſſion der Feindſeligkeiten und der einge - tretene Friedenszuſtand wurde nur noch 10 Jahre ſpäter durch gegenſeitige Schreiben der Souveräne anerkannt. de Steck Essais sur divers sujets de polit. n. 2.Allein es würde daraus ohne beſtimmte Friedenserklärung ſchwerlich ſchon eine Beilegung der Streitigkeiten gefolgert werden können, welche zu dem Kriege Anlaß gegeben haben, ſo wenig als ein Verzicht auf diejenigen Forderungen, welche jedem Theile durch das Verhalten des Ande - ren im Kriege erwachſen ſein können. 2Auf einen ſolchen, jetzt ſehr ſeltenen Fall, würde im Allgemeinen zur An - wendung geeignet ſein, was H. Cocceji in ſeiner Abhandlung de postlimi - nio et amnestia von einen Friedensſchluß ohne Amneſtieclauſel deducirt hat.
178. Die ältere Geſchichte liefert Beiſpiele in Menge, wo der Krieg zu einer völligen ausdrücklichen Unterwerfung überwundener300Zweites Buch. §. 179.Staaten mit Einſchluß der Souveräne führte. Sie kann eine un - bedingte oder bedingte ſein; aber auch im erſteren Falle verſteht ſich die Unterwerfung nur nach menſchlichem Recht, ſo daß dem Sieger keine Macht gegeben wird, Etwas zu verfügen und anzu - ordnen, was der Menſch dem Menſchen abzufordern und aufzule - gen nicht berechtigt iſt. Wohl die höchſte und unbeſchränkteſte Staatsgewalt kann nach neuerem Kriegsrecht auf den Sieger über - gehen, nicht aber das Recht auf die Perſonen und Privatrechte der beſiegten Unterthanen. 1Unterſuchungen hierüber finden ſich in Henr. de Cocceji disp. de iure victoriae §. 10 — 32. und im Comment. zu Groot III, 8. wobei jedoch Einzelnes einer Berichtigung bedürfen würde, namentlich, daß der Sieger über den beſiegten Staat keine andere Gewalt erlange, als diejenige, welche ihm über den eigenen bisherigen Staat zuſtand!Der unterdrückte Staat wird übri - gens meiſt mit dem ſiegenden Staate in einer der obigen Weiſen (§. 19. 20. ) und mit den ſchon früher beſprochenen Wirkungen (§. 24. 25. ) vereinigt. Ob ihn der ſiegende Souverän ſich ſelbſt vorbehalten oder einem Dritten abtreten dürfe, hängt von ſeinem Verhältniß zum eigenen Staate ab. 2Unbedingt behauptet Vattel die Vereinigung mit dem ſiegenden Staate. Aber die Frage iſt eine ſtaatsrechtliche und keine völkerrechtliche für den Souverän. Es giebt auch Beiſpiele genug von Dispoſitionen des ſiegenden Souveräns über eroberte Länder zu eigenen oder fremden Gunſten, nament - lich zu Gunſten ſeiner Familienglieder.
179. Friedenſchlüſſe ſind die feierlichſten Vertraͤge, wodurch zwei oder mehrere Staaten den Krieg unter ſich für beendigt er - klären und ferneren Gewaltthätigkeit ein Ziel ſetzen, ohne daß einer ſich in völlige Abhängigkeit des anderen begiebt, wodurch ſich die - ſer Fall von dem vorigen der Deditio unterſcheidet. Alle Regeln der Staatenverträge gelten vorzüglich auch von den Friedensſchlüſ - ſen. 3Was bei Vattel im vierten Buche und in ähnlicher Weiſe bei anderen Schriftſtellern über die Friedensſchlüſſe geſagt iſt, beruhet in der That nur auf einer Anwendung der allgemeinen Vertragslehre. Die Specialſchriften über Frieden und Friedensſchlüſſe bei v. Ompteda §. 323. und v. Kamptz §. 321. ſind von keiner ſonderlichen Bedeutung. S. indeß noch Chrſtn.Das Eigenthümliche derſelben wird in dem Folgenden an - gemerkt werden.
301§. 180. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.180. Als natürliche Ergebniſſe der allgemeinen Grundſätze, welche das Recht der Staaten leiten ſo wie des Weſens der Frie - densſchlüſſe, müſſen hauptſächlich folgende anerkannt werden:
endlich
Unberührt bleiben der Regel nach alle Privatrechte, ſowohl der Unterthanen wie der Souveräne und ihrer Familien, ſo weit nämlich nicht auch hierüber Stipulationen gemacht worden ſind. 2Vergl. Groot a. a. O. §. 7. Pufendorf VIII, 8, 3. und oben §. 84. Weitere Anwendungen des Satzes werden ſich bei dem Poſtliminium er - geben.
182. Beſondere Regeln für gewiſſe Friedensclauſeln mit eigen - thümlicher Bedeutung ſind:
a) Wird die Reſtitution einer Sache aus dem Beſitze eines Theiles dem anderen verſprochen, ſo verſteht ſich ſolches lediglich von demjenigen Zuſtande, worin ſie ſich zur Zeit der Wegnahme befand. Allein vermöge der Amneſtieclauſel können weder die von dem Occupanten daran in der Zwiſchenzeit vorgenommenen Zer - ſtörungen und Beſchädigungen, noch auch die davon bezogenen Früchte reclamirt werden, ſo wenig als die Nachtheile zufälliger Veränderungen. Was aber der Beſitzer ſelbſt daran geändert oder hinzugethan hat, darf er wieder hinwegnehmen. 1Vergl. Heinr. v. Cocceji de postlim. et amnestia und zu Groot III, 9. (t. IV, p. 140 s.) Vattel IV, §. 31. Wheaton a. a. O. §. 6. We - gen der Früchte ſ. auch Schweikart, heſſiſche Staatscapitalien S. 72 ff.
b) Wird die Abtretung eines beſtimmten Landes oder Landes - theiles verſprochen: ſo iſt darunter regelmäßig der Mitübergang aller darauf bisher ſchon haftenden Verbindlichkeiten begriffen, des - gleichen der darin befindlichen Staatsgüter und Rechte, da es der Zweck der Abtretung iſt, die Gemeinſchaft mit dem gegenſeitigen Territorium ganz aufzuheben; es müſſen endlich den abgetretenen Unterthanen nicht bloß ihre privatbürgerlichen, ſondern auch poli - tiſchen Rechte gelaſſen werden, wenn ſie möglicher Weiſe in dem neuen Zuſtande der Dinge fortbeſtehen können, oder wenn nicht ſchon der Erwerber ſich vor dem Frieden in vollſtändigen unbeſchränk - ten Beſitz der Staatsgewalt gegen die nächſtdem auch abgetretenen Unterthanen mit Aufhebung der früheren Verfaſſung geſetzt hatte, in welchem Falle die nachherige Abtretung im Frieden nur noch das Recht des früheren Souveräns aufheben konnte;2Vgl. oben §. 25 u. 72.
Alles dieſes mit Vorbehalt entgegenſtehender Bedingungen.
183. Der Zeitpunct, von welchem ab der geſchloſſene Friede ſeine Wirkungen äußert, iſt, wie bei Verträgen überhaupt, der Tag der Abſchließung durch Bevollwortete oder ein eigends dazu be - ſtimmter Termin. (§. 86. 87.) Werden dennoch Feindſeligkeiten20306Zweites Buch. §. 184.nach dieſem Zeitpunct von einem Theile wider den Gegner, oder auch kriegsrechtliche Maaßregeln wider Neutrale verübt, ſo muß der Staat, von welchem ſie ausgehen, dafür Entſchädigung leiſten, ſollte auch der eigentliche Vollzieher des verſpäteten Gewaltactes wegen Unwiſſenheit über den Friedensſchluß deshalb außer Ver - antwortlichkeit ſein. 1Groot III, 20, 20. 21, 5. „ But the better opinion seems to be “, ſagt Mr. Wheaton intern. L. IV, 4, 5., „ that wherever a capture takes place at sea, after the signature of the treaty of peace, mere ignorance of the fact will not protect the captor from civil responsa - bility in damages; and that, if he acted in good faith, his own govern - ment must protect him and save him harmly. “ Noch wird hinzuge - fügt: „ When a place or country is exempted from hostility by articles of peace, it is the duty of the state to give its subjects timely notice of the fact and it is bound in iustice to indemnity its officers and sub - jects who act in ignorance of the fact. In such a case it is the actual wrong-doer who is made responsible to the iniured party, and not the superior commanding officer of the fleet, unless he be on spot and actually participating in the transaction. Nor will damages be decreed by the prize court, even against the actual wrong-doer, after the lapse of a great time. “ Es gründet ſich dieſes jedoch nur auf eine Entſcheidung von Will. Scott in Sachen des Mentor (vgl. Jacobſen Seer. S. 565.), gegen deren Principien immerhin Manches zu erinnern ſein dürfte. In Frankreich ſcheint man alle Priſen für gut zu halten, welche der Captor noch vor erlangter Kenntniß von dem Frieden gemacht hat. Sirey, Rec. général. III, 2, 15.Dagegen iſt dasjenige Glied einer feindli - chen Land - oder Seemacht, welches bereits von dem Friedensſchluß glaubhaft unterrichtet iſt, ſelbſt innerhalb der noch etwa vereinbar - ten zuſätzlichen Friſt, mit deren Ablauf alle Feindſeligkeiten ſchlech - terdings ceſſiren ſollen, nicht mehr befugt dergleichen auszuüben, ſondern zur Herausgabe des Weggenommenen und zur Entſchädi - gung unmittelbar verpflichtet. Der Termin iſt hier nur das äu - ßerſte Ziel für die beiderſeitigen Staaten hinſichtlich der noch etwa bona fide von Einzelnen fortgeſetzten Gewaltthätigkeiten. 2Wheaton ebdſ. Valin, traité des prises p. 47. v. Martens über Ca - per II, §. 38.
184. Nach geſchloſſenem Frieden tritt die Pflicht der Vollzie - hung unter den Contrahenten und ihren Angehörigen ein. Alles, was von Auslegung und Wirkſamkeit der Verträge, von den Mit -307§. 185. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.teln ihrer Befeſtigung u. ſ. w. gilt, kommt vorzüglich auch bei Friedensſchlüſſen in Betracht. 1Wegen der Auslegung ſ. noch Einzelnes bei Groot III, 20, 23 f. Wenn Groot daſelbſt §. 25. und Pufendorf VIII, 8, 9. den zur Erfüllung ge - ſetzten Termin als einen ſtricten betrachten, wo ohne unvorhergeſehene Hin - derniſſe keine purgatio morae zuläſſig ſei, ſo geht dieß über das Billigkeits - princip hinaus, welches in allen Staatenverträgen voran ſtehen muß. §. 94. Vgl. Vattel IV, 26. 27. 50.Zur Ausführung einzelner Artikel können nachträgliche Regulirungen erforderlich ſein; man vereinigt ſich darüber in zuſätzlichen Verträgen oder überträgt ſie beſonders ernannten Commiſſarien. Ueber die Nichterfüllung oder Verletzung eines Artikels können neue Streitigkeiten entſtehen, nur darf der Friede ſelbſt doch nicht als hiermit gebrochen gelten, ſondern erſt dann, wenn der beſchuldigte Theil in ſeiner Weigerung verharrt und zu keinem gütlichen Ausweg die Hand bietet. 2In manchen Verträgen iſt dieſes ausdrücklich bemerkt. Vergl. z. B. den Tractat zwiſchen Dänemark und Genua von 1756. Art. 37. Wenck Cod. jur. Gent. III, p. 103. Ueber den Unterſchied eines Friedensbruches und eines neuen Krieges ſ. Vattel IV, 42.Alles Wei - tere bemißt ſich aus dem ſchon entwickelten Syſtem von ſelbſt. 3Ueber die Frage: in wiefern Friedensſchlüſſe durch neu ausbrechenden Krieg ihre Giltigkeit verlieren, welche ſich auch ſchon aus den vorgetragenen Grund - ſätzen beantwortet, vgl. noch J. J. Moſer, vermiſchte Abhandlung Nr. 1. und P. C. A. Leopold, de effectu novi belli quoad vim obligandi pri - stinarum obligationum. Helmst. 1792.
185. Gelingt es einem Kriegführenden, ſich in den Beſitz des feindlichen Landes oder eines Theiles deſſelben zu ſetzen und darin zu behaupten: ſo beläßt er es entweder bei dem status quo, in - dem er ſich auf die thatſächlichen Vortheile der Kriegsoccupation beſchränkt (§. 131 f.), oder er beginnt eine ſelbſtändige proviſori - ſche Verwaltung, indem er, wenn auch fürs Erſte ohne die beſtimmte Abſicht, das eroberte Land ſeiner Herrſchaft bleibend zu unterwerfen, ſich der einzelnen Hoheitsrechte bemächtigt und deren Verwaltung ganz oder theilweis von ſeinem Willen abhängig macht; oder er übernimmt auch wohl zuletzt die ganze Staatsgewalt, ſich an die Stelle des früheren Souveräns ſetzend, mit der Abſicht, den - ſelben von dem Wiedereintritt in jene für die Zukunft ganz aus -20*308Zweites Buch. §. 185.zuſchließen, ohne einen andern Titel als den der Eroberung — die eigentlich ſ. g. Uſurpation. 1Schriften über dieſen wichtigen Punct ſ. bei v. Kamptz, Lit. §. 312. Am bedeutendſten iſt Sam. de Cocceji diss. de regimine usurpatoris. Frcf. Viadr. 1702. (auch in dem Commentar zu H. Groot I, 4, §. 15.) Ludw. Schaumann, die rechtl. Verhältniſſe des legitimen Fürſten, des Uſurpators und des unterjochten Volks. Caſſel 1820. Pfeiffer, das Recht der Kriegs - eroberung in Bezug auf Staatscapitalien. Caſſel 1823. Ferner die Zeit - ſchrift Nemeſis X, 2, 127 f.
Durch eine ſolche Uſurpation wird nun zuweilen der alte Staat ganz aufgelöſet, wenn er dem des Eroberers incorporirt oder gänz - lich dismembrirt wird; zuweilen aber auch der alte Staat in ſei - ner Abſchließung fortgeſetzt, ſo daß nur das Subject des Souve - ränetätsbeſitzes wechſelt. Unzweifelhaft haben in jedem dieſer Fälle die Acte des Uſurpators für die ſeiner Herrſchaft thatſächlich Un - terworfenen gleiche Kraft wie die Acte einer legitimen Staatsge - walt. Dann ein Staat, wie er auch beſtehen mag, hat in ſich die Fülle der Machtvollkommenheit oder ganzen Regierungsgewalt. Der Eroberer iſt dabei auch keinesweges, wie Manche behaupten,2Z. B. Zachariä 40 Bücher v. Staat, IV, 1, S. 104., worin er ſeine früheren Anſichten in der Schrift: über die verbindende Kraft der Regie - rungshandlungen des Eroberers. Heidelb. 1816. bedeutend modificirt hat. an die Regel des früheren Staates gebunden. Er hat nur die all - gemeinen Menſchenrechte ſo wie die demgemäß erworbenen ſpeciel - len Privatrechte der Unterthanen zu beachten; aber die Form des öffentlichen Verhältniſſes hat er allein als freier Inhaber der Staats - gewalt zu beſtimmen. Das Staatsgut ſteht unter ſeiner Dispo - ſition. Geſetzgebung und Verwaltung ordnet er nach Belieben. Nur bis dieſes geſchieht, bleibt es bei der früheren Formel. Nie - mals kann indeß ein ſolches Gewaltverhältniß das Recht des prä - exiſtirenden Staates, ſo lange deſſen Wiederherſtellung möglich bleibt und nicht darauf verzichtet wird, thatſächlich beſeitigen;3Chr. Gottl. Schwarz, de iure victoris in res incorpor. Altort. 1720. ch. XXVII. „ invasor quem usurpatorum vocant, ex victoria in subje - ctos nanciscitur exercitium iuris regii, quod in ipsa possessione et ad - ministratione consistit, quia illi ipsi devicti subjectique cives victori non possunt non praestare obsequium. Interim rex injuste expulsus retinet salvum et intactum ius regni. “ S. auch Cocceji a. a. O. dieſem bleibt das Poſtliminium gleichwie denjenigen, welche ſich außer dem uſurpatoriſchen Staate befinden, oder ihm fortdauernd Widerſtand309§. 186. Voͤlkerrecht im Zuſtande des Unfriedens.leiſten, in Betreff der Rechte, welche ſie in dem alten legitimen Staate hatten, ſo lange ſie ſich nicht jenem unterwerfen. Wegen des Verhältniſſes zu dritten Staaten gilt das ſchon oben §. 23. und 49. Bemerkte; wegen den Verbindlichkeiten des alten Staates der Grundſatz des §. 25.
186. Anlangend den Fall einer bloß proviſoriſchen Verwaltung, hängt zuförderſt die Bedeutung und der Umfang derſelben von den Zwecken und Grenzen ab, welche ſich der Eroberer dabei vor - ſtecken will. Denn das iſt klar, daß er weder gegen den früheren Staat noch auch gegen den verdrängten Souverän in einem obli - gatoriſchen Verhältniſſe ſteht; ſein Recht und die allgemeinen Gren - zen deſſelben ſind allein die Geſetze des Krieges. Zwei Hauptfälle dürften jedoch dabei zu unterſcheiden ſein:
Entweder nämlich hat der Eroberer noch nicht die beſtimmte Abſicht und Möglichkeit, das eroberte Land zu behalten: und dann kann er zwar die Verwaltung von ſeiner Auctorität abhängig ma - chen, jede Einwirkung des fremden Souveräns davon ausſchließen und ſich den Nutzen aneignen: jedoch wird er hier noch nicht als der eigentliche Beſitzer der Staatsgewalt anzuſehen ſein, dieſe viel - mehr nur einſtweilen unter ſeiner Curatel, nach Art einer privat - rechtlichen missio in bona debitoris ſtehen, mithin nach ihren früheren Principien und weſentlichen Formen fortzuüben ſein, mit Vorbehalt der demnächſtigen Rechenſchaft oder Ausgleichung im Frieden.
Oder der Eroberer hat ſchon die Möglichkeit und die Abſicht das Eroberte zu behalten, beziehungsweiſe darüber für ſich zu disponiren: dann iſt die Einſetzung einer proviſoriſchen Verwaltung ſchon der Anfang der Uſurpation, nur noch nicht in der vollendeten Form, wovon jedoch materiell daſſelbe gilt, was zuvor von der Uſurpa - tion bemerkt wurde. Eine ſolche proviſoriſche Verwaltung macht ſich beſonders dadurch bemerklich, daß die einzelnen Hoheitsrechte ſchon im Namen des Eroberers verwaltet werden. 1Dies geſchahe z. B. in Curheſſen, alsbald nachdem Napoleon daſſelbe 1806 in Beſitz genommen hatte. Schweikart, Napoleon und die Curheſ - ſiſche Staatsgl. S. 25 f. Aehnliche proviſoriſche Verwaltungen und Gou - vernements wurden von den Alliirten 1813 u. 1814 eingeſetzt.
Von ſelbſt verſteht ſich übrigens, daß die unter der Auctorität des Feindes handelnden Behörden eines von Jenem für ſich in310Zweites Buch. §. 187.Beſitz genommenen Landes ihre Wirkſamkeit auf die occupirten Grenzen beſchränken müſſen und, wenn nur ein Theil des Landes occupirt iſt, nicht auch ihr altes Reſſortverhältniß über jene Gren - zen hinaus fortſetzen können; es ſei denn, daß der frühere Beſitz - ſtand in dieſer Hinſicht ungeſtört und unbeeinträchtigt durch den Feind fortgedauert hätte. 1Fragen dieſer Art haben ſich unter Andern in Betreff gerichtlicher Urtheile ergeben. v. Dalwigk, juriſtiſche Aufſätze. Frankf. 1796. No. II, S. 25. Der osnabrückſche Friedensſchluß IV, 49. behält ſich für ſolche Fälle eine Reviſion der Urtheile vor.
187. Außerhalb eines Friedensſchluſſes können die durch Krieg geſtörten Rechtsverhältniſſe vermöge des Poſtliminiums, d. i. nach factiſcher Befreiung von feindlicher Gewalt in ihre vorigen Fugen zurücktreten, dergeſtalt, daß ſie als fortdauernd für die Zukunft gel - ten, gleich als wären ſie nie unterbrochen geweſen. Aber auch nur die Rechtsverhältniſſe, nicht die Wirklichkeit des Genuſſes, nicht die vom Beſitz und Genuß abhängigen Rechte, ſo lange man ſich nicht auch dieſe für die Zukunft wiederverſchaft hat; niemals end - lich mit Wiedererlangung des in der Zwiſchenzeit von dem Feinde thatſächlich Entzogenen,3Vgl. Ziegler, de iurib. majest. I, 33, §. 83. wenn es dem Feinde nicht im Frieden oder noch während des Krieges durch Gewalt wieder abgezwun - gen wird.
Anwendbar iſt der Grundſatz des Poſtliminiums ſowohl auf öffentliche wie auf Privatverhältniſſe; er beruhet darauf, daß wohl - erworbene Rechte, außerhalb des Staatswillens in einem gemein - ſamen Staatsverbande, durch keine einſeitige Willkühr, alſo auch durch keine feindliche Gewalt vernichtet werden können; er findet auch noch nach eingetretenem Frieden Anwendung, wenn in dem -311§. 188. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.ſelben keine entgegenſtehende Verfügung ausdrücklich oder ſtillſchwei - gend getroffen iſt;1Die älteren Publiciſten, verleitet zum Theil durch Schwierigkeiten des Rö - miſchen Rechts, nehmen den Satz nur mit vielen Beſchränkungen und als Ausnahme an. Vattel, welcher ihn im §. 216. noch behauptet, widerſpricht ſich ſelbſt im §. 214. er bedarf endlich keiner vorerſtigen geſetzlichen Anerkennung in den Einzelſtaaten, ſondern verſteht ſich von ſelbſt und kann durch das Geſetz nur unterdrückt oder modificirt wer - den. Was das Römiſche Recht darüber enthält, bezieht ſich faſt lediglich auf die privatrechtliche Seite der Anwendung, beſtätigt aber dabei mehrentheils das natürliche Princip und bietet nur Ei - genthümliches dar aus dem antiken Standpunct des Völkerrechts ſo wie aus den beſonderen Rechtsverhältniſſen des Römiſchen Bür - gerthums. Daß die neuere Rechtsſitte davon mehrfach und ſehr entſchieden abgewichen iſt, daß ſie ſich an den obigen Grundſatz in ſeiner ganzen Einfachheit und Beſtimmtheit hält, iſt längſt er - kannt worden. 2S. ſchon Groot a. a. O. §. 15 u. 19.
188. Hat ein Kriegführender das Territorium des Gegners ganz oder theilweis in Beſitz genommen, jedoch daſſelbe bereits vor oder in dem Friedensſchluß wieder aufgegeben, ſo tritt unbedenk - lich das frühere Staatsverhältniß wieder in Kraft, es mag nun der Feind ſich an einer bloßen Occupation haben genügen laſſen oder ſich einer wirklichen Zwiſchenherrſchaft bemächtigt haben; er mag freiwillig ſich zurückgezogen oder der frühere Staat ſich ſei - ner mit Gewalt entledigt oder endlich ein Bundesgenoſſe ihn da - von befreit haben. 4Groot II, 4, 14. III, 9, §. 9 u. 12. Dazu H. Cocceji. Vattel III, §. 213. Klüber dr. d. g. §. 270.Nur die Verdrängung des Feindes durch einen Dritten ohne eigenes Zuthun giebt wider deſſen Willen nicht von ſelbſt die frühere ſtaatliche Exiſtenz zurück. 5Nur als billig oder human wird die Reſtitution gefordert von Vattel §. 203. Allein ein Rechtsanſpruch beſteht nicht. Verhandlungen über die Frage im britiſchen Parlament ſ. in Wheaton histoire p. 379. Auch am Wiener Congreß kam dieſelbe in einer weiteren Form, worunter gewiſſermaßen
312Zweites Buch. §. 188.Die einzelnen Wirkungen eines ſolchen Poſtliminiums ſind leicht zu beſtimmen.
Hat nur eine Occupation ohne Anmaßung von Regierungs - rechten Statt gefunden, ſo nimmt die bisherige Staatsgewalt al - les noch Vorhandene zurück, was auch früher ihrem Recht unter - worfen war; ſie kann ſogar die vom Feinde veräußerten Sachen, und zwar ſelbſt von Bundesgenoſſen und Neutralen, reclamiren, wenn nicht etwa nach allgemein angenommenen Grundſätzen dem feindlichen Eroberer ein Verfügungsrecht darüber zuſtand. 1Vgl. H. Cocceji zu Groot III, 9. tom. IV. p. 125. Wheaton, intern. L. IV, 2, 16. In wie weit dem Eroberer ein Verfügungsrecht über Ein - zelnes zuſteht? haben wir bereits im zweiten Abſchnitt dieſes Buches §. 131 fgg. erörtert.In wie fern der Erwerber ſich gegen die Herausgabe durch giltige Einreden ſchützen könne, hängt lediglich von den Regeln des Pri - vatrechts ab.
Iſt es zu einer Zwiſchenherrſchaft gekommen, ſo wird folge - richtig mit dem im Paragraph 185. Bemerkten behauptet werden dürfen:2Hier iſt allerdings ſehr Vieles, beinahe Alles ſtreitig. Man ſ. die Anſich - ten von Klüber, dr. d. g. §. 258. 259. und die dort angeführten Schrif - ten. Sodann Wheaton, intern. L. I, 2, §. 20.; überdies B. W. Pfeif - fer, in wie fern ſind Regierungshandlungen eines Zwiſchenherrſchers für den rechtmäßigen Regenten nach deſſen Rückkehr verbindlich? 1819.
Alles Poſtliminium eines unterdrückten Staates fällt übrigens dann weg, wenn er ſich in ſeiner Geſamtheit dem Eroberer ergeben und damit jedem Anſpruch auf Wiederherſtellung ausdrücklich oder ſtill - ſchweigend entſagt hat. Nur eine Selbſtrevolution oder das Ge - ſchenk eines Dritten kann ihn wieder daraus befreien, nicht aber das bloße Factum einer Wiederaufhebung der früheren feindlichen Staatsgewalt. 1Vattel §. 210. 213. Eine freiwillige bleibende Unterwerfung kann aber gewiß aus der bloßen Fügſamkeit unter den Willen des Eroberers, aus der Huldigungsleiſtung, aus der Annahme von Aemtern noch nicht gefolgert werden, da Alles dies nur einem Zwange zuzuſchreiben und als das ein - zige Mittel, ſich Schlimmeres zu erſparen oder ſo Viel als möglich zu retten, ergriffen ſein konnte.
189. In Beziehung auf Privatperſonen, worunter wir auch die Souveräne und ſouveränen Familienglieder rückſichtlich ihrer Privatrechte begreifen, findet, wie bereits im römiſchen Rechte un - terſchieden wird, ein zweifaches Poſtliminium Statt, einmal näm - lich in Anſehung ihrer Perſon, ſofern dieſe dem Feinde unterwor - fen oder kriegsgefangen war, ſodann in Anſehung ihrer Privat - rechtsverhältniſſe.
Das perſönliche Poſtliminium ſteht vorzüglich mit dem Cha -2det ſich zuſammengedrängt in einem oldenburgiſchen Votum am deutſchen Bundestage, Sitzung v. 4. Dec. 1823.315§. 189. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.racter der Kriegsgefangenſchaft in Verbindung. Es hatte daher auch eine andere Bedeutung nach dem Rechte der alten Welt als ihm eine ſolche noch nach dem neueren Kriegsrecht zugeſchrieben wer - den kann. Die alte Kriegsgefangenſchaft brachte in den Zuſtand der Knechtſchaft, womit an und für ſich jedes bürgerliche Rechts - verhältniß unvereinbarlich iſt. Es bedurfte daher für ein ſo con - ſequentes Rechtsſyſtem, wie das römiſche war, einer beſonderen Fiction, um den Kriegsgefangenen und die von ihm abhängigen Perſonen in dem Genuß der vaterländiſchen bürgerlichen Rechte zu erhalten oder wieder darin einzuſetzen; ſo fingirte man denn auf den Grund eines von dem Dictator Cornelius Sulla gegebenen Geſetzes, daß das Teſtament eines in der Kriegsgefangenſchaft ver - ſtorbenen Römers, wenn es vor der Gefangennehmung errichtet war, das Teſtament eines freien Römers ſei; ſodann daß der aus der Gefangenſchaft wirklich Befreite auch in der Zwiſchenzeit, frei und ein römiſcher Bürger geblieben ſei. Da nach heutigem Kriegsrecht die Kriegsgefangenſchaft nur in einer thatſächlichen Suspenſion der Freiheit beſteht, ſo kann auch nur eine Suspenſion der Ausübung bürgerlicher Rechte im Vaterlande damit verbunden ſein, indem und ſoweit ſelbige wegen der temporären Unfreiheit der Gefangenen un - möglich iſt. Die Rechtsverhältniſſe ſelbſt, abgeſehen von ihrer Aus - übung, können dadurch nicht lädirt werden; der volle Genuß der - ſelben muß ſofort bei der Befreiung aus der Gefangenſchaft wie - der eintreten; ja, es kann ſchon in der Zwiſchenzeit durch ſelbſtge - wählte oder obrigkeitlich geſetzte Vertreter für die Ausübung, we - nigſtens Erhaltung der Privatrechte, geſorgt werden. 1Schon das neuere röm. Recht (l. 3. C. de postl. ) geſtattet eine derartige Sorgfalt für die Gefangenen durch Beſtellung von Curatoren.Nicht mit Unrecht iſt daher von manchem neueren Publiciſten ein eigentliches jus postliminii personarum für eine ganz unnöthige Rechtsformel erklärt worden. 2S. namentlich Titius, Jus priv. X, 15. §. 20. 21. 16, §. 6.Es iſt nichts als das Rechtsverhältniß eines bisher Abweſenden, nun aus der Abweſenheit Wiederkehrenden.
Ebendeßhalb erſcheint auch die Frage, wann das Poſtliminium eintrete, in einem ganz anderen Lichte als nach dem antiken ins - beſondere römiſchen Rechte. Nach dem letzteren trat es ein, ſo - bald der Gefangene im Kriege aus der feindlichen Gewalt in ſein Vaterland oder zu befreundeten Nationen zurückkehrte; ausnahms -316Zweites Buch. §. 190.weiſe ſtand es auch noch nach dem Frieden offen. 1S. l. 14. pr. D. de captiv., eine Stelle, deren Lesart und Auslegung übrigens nicht außer Zweifel iſt.Ausgeſchloſ - ſen waren diejenigen, welche ſich mit den Waffen dem Feinde über - geben hatten, die Ueberläufer, die von dem vaterländiſchen Staat ſelbſt Ausgelieferten, ferner, wer freiwillig bei dem Feinde blieb oder ausdrücklich bei dem Friedensſchluß dem Feinde überlaſſen ward. Nach dem heutigen Völkerrecht könnte nur denjenigen das Poſtliminium entzogen ſein, welche nach vaterländiſchen Geſetzen oder nach den mit dem Feinde getroffenen Conventionen jeder Rück - kehr in ihr früheres bürgerliches Verhältniß beraubt ſind, oder ihrer bürgerlichen Rechte verluſtig ſein ſollen; alle anderen römi - ſchen Ausſchließungsgründe des Poſtliminiums können dagegen nur bei der Frage in Betracht kommen: ob eine Kriegsgefangenſchaft für rechtmäßig beendigt zu halten ſei? wobei das Poſtliminium ſelbſt noch immer vorbehalten und nur zur Zeit noch thatſächlich ſuspendirt bleibt; wie z. B. dann der Fall ſein kann, wenn ein Kriegsgefangener von ſeiner eigenen Nation dem Feinde zurückge - liefert würde, weil er dort ſein Ehrenwort gebrochen, oder wenn der Kriegsgefangene ſich zu einer neutralen Nation gerettet, dieſe aber, wie ſie zu thun befugt iſt, ihn der feindlichen Gewalt wieder überliefert hätte.
Wenn das römiſche Recht auch da ein Poſtliminium annimmt, ſobald Jemand von einer zwar nicht offenbar feindlichen, jedoch auch nicht in friedlichen Verhältniſſen mit ſeinem Staate lebenden Nation gefangen und zum Sclaven gemacht iſt, dagegen die Fiction des Poſtliminiums für unnöthig erachtet, wo man in die Gewalt von Piraten oder eines Gegners im Bürgerkriege gerathen iſt: ſo bedürfen heut zu Tage alle dieſe Fälle keiner beſonderen Berückſichti - gung, indem das Princip des neueren Völkerrechts, welches in der Gefangenſchaft nur eine auferlegte Abweſenheit ſieht, auch hierauf An - wendung leidet, und kein Grundſatz des neueren Staatsrechtes ent - gegenſteht.
190. Sieht man auf die Privatrechtsverhältniſſe, welche durch das Poſtliminium wieder erlangt werden, ſo kann im Allgemeinen keine317§. 190. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.Art derſelben, weder ein rein perſönliches noch ein dingliches, noch auch ein obligatoriſches ſowohl nach römiſchen Rechte wie nach heutigem Völkerrechte ausgeſchloſſen werden. Sogar einzelne Aus - nahmen des älteren römiſchen Rechtes finden nicht mehr Statt. Es geht aber das Poſtliminium der Rechte auf eine zweifache Art vor ſich; entweder durch Wiedereintritt eines Kriegsgefangenen in die ihm in der Zwiſchenzeit entzogen geweſenen Rechte, oder durch Wiedererlangung der von dem Feinde in Beſchlag genommenen Sachen eines Unterthans des anderen kriegführenden Theiles. 1Vgl. l. 19. pr. D. h. t.
Was zuförderſt die öffentlichen perſönlichen Verhältniſſe betrifft, ſo iſt eine Fortdauer des früheren Status unleugbar, wenn er nicht nach Staatsgeſetzen durch ein verbrecheriſches Verhalten in Bezie - hung auf den Feind verwirkt ſein ſollte. Ob die in der Zwiſchen - zeit zu beziehen geweſenen Vortheile, welche mit dem öffentlichen Status, z. B. mit einem Amte verbunden waren, nach Beendigung der Kriegsgefangenſchaft reclamirt werden können, iſt lediglich eine Frage des inneren Staatsrechtes. Das römiſche Recht ſchloß der - gleichen Anſprüche aus z. B. auf den in der Zwiſchenzeit fälligen Sold oder Gehalt. 2L. 1. C. de re milit. S. indeß Brunnemann, ad h. tit. n. 23.Billigkeit und Staatsverfaſſung können aber ein Anderes mit ſich bringen.
Von rein perſönlichen Privatverhältniſſen, worin das Poſtlimi - nium wieder einſetzt, ſchloß das römiſche Recht die Ehe aus, ver - langte wenigſtens daran Redintegration. Iſt dieſes nicht ſchon durch Juſtinian geändert, ſo hat es die chriſtliche Kirche gethan; die Ehe dauert auch mit einem Kriegsgefangenen fort. 4S. beſond. c. 1. §. 1. C. 34. quaest. 1 et 2. Leyſer, medit. sp. 659. med. 16.
Dingliche Rechte an unbeweglichen oder denſelben gleichſtehen - den Sachen unterliegen durchaus der allgemeinen Regel; nur der in der Zwiſchenzeit verlorene Beſitz, weil er etwas thatſächliches iſt, wird nicht von Rechtswegen wiedererlangt, ſondern muß erſt von Neuem begonnen werden. 5L. 20. §. 1. D. h. t. Groot h. t. §. 13. Wheaton intern. L. IV. 2. §. 16. Vgl. den vorher angeführten Canon u. Capitul. Franc. libr. VII. c. 157.
Obligatoriſche Verhältniſſe erleiden überall keine Aenderung und bleiben ſelbſt während der Kriegsgefangenſchaft nach heutigem Recht wirkſam, der Abweſende ſei Gläubiger oder Schuldner; es mag der Feind die Forderung von dem Schuldner eingezogen haben oder nicht: gemäß demjenigen, was bereits oben von den Rechten eines Kriegführenden über unkörperliche Sachen der Gegenparthei aus - geführt worden iſt. 1Die einzelnen hier in Betracht kommenden Fälle ſind von Heinr. Cocceji in der diss. de postlim. et amnest. und zu Groot S. 133. dargelegt.(§. 134.) Hat der Feind bewegliche Sa - chen an ſich genommen, ſo kann nur hinſichtlich derjenigen kein Poſtliminium ſtatuirt werden, welche vermöge eines allgemeinen internationalen Herkommens, oder aber vermöge der beſonderen bei der Vindication in Anwendung kommenden Landesrechte als Kriegs - beute in das Eigenthum des wegnehmenden Feindes übergegangen ſind. Wie es nun mit einem allgemeinen Völkerherkommen bei dieſem Puncte beſchaffen ſei, iſt gleichfalls ſchon oben (§. 135. 136. ) dargelegt worden. Nicht wenige Rechtsgelehrte haben da - her auch ein Poſtliminium in bewegliche Sachen als die gemeine Regel aufgeſtellt, wovon nur durch Particulargeſetze oder durch Friedensſchlüſſe eine Ausnahme begründet werden könne,2Textor Synops. iuris. gent. 18, 102. Titius l. c. 10, 16. §. 10 u. 11. Leyſer spec. 659. med. 1 — 3. Cocceji zu Groot III, 9. 15. da das römiſche Recht, welches die beweglichen Sachen, wenn als Kriegs - beute weggenommen, von dem Poſtliminium ſchlechterdings aus - ſchloß und es nur gewiſſen Sachen, die zur öffentlichen Kriegs - ausrüſtung gehörten, geſtattete,3Cic. top. c. 8. „ postliminio redeunt homo, navis, mulus clitellarius, equus, equa, quae frena recipere solet. “ Vgl. mit l. 2. D. h. t. kein die Völker gegenſeitig binden - des Geſetz geworden ſei, ſondern nur als recipirtes Civilrecht ein - zelner Lande auch in dieſem Stücke entſcheiden könne. Daß es ſelbſt dort, wo es recipirt worden, nicht ſeinem ganzen angeführten Inhalte3„ Quicunque necessitate captivitatis ducti sunt, et non sua voluntata, sed hostili depraedatione ad adversarios transierunt, quaecunque in agris vel in mancipiis ante tenuerunt sive a fisco possidentur, sive aliquid ex his per principem cuicunque datum est, sine ullius contradictione personae, tempore quo redierint, vindicent ac praesumant: si tamen cum adversariis non sua voluntate fuerint sed captivitate se detentos esse probaverint. “319§. 191. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.nach in feſten Gebrauch gekommen ſei wird von den meiſten prac - tiſchen Schriftſtellern zugeſtanden. 1Vgl. Groot h. t. §. 15. und Schilter exercit. ad pand. 50. §. 11.
Alles Vorerwähnte gilt nun unbedenklich auch von den Sou - veränen und ihren Familien rückſichtlich ihrer Privatrechte z. B. auch in Betreff ihrer Haus - und Feideicommißgüter, welche die Natur eigentlicher Staatsgüter nicht haben. Kann über letztere in Folge einer feindlichen Uſurpation eine ſelbſt im Fall der Wie - derkehr des vorigen Staatsverbandes giltig bleibende Verfügung Statt finden, wie zuvor §. 188. behauptet worden iſt, ſo folgt daraus keine gleiche Berechtigung in Betreff der Privatgüter der ſouveränen Familie.
191. Eigenthümliche Schwierigkeiten entſtehen vermöge der bis - herigen Seekriegspraxis in denjenigen Fällen, wo das von einem Kriegführenden weggenommene Schiff eines fremden Staates jenem wiederum von einer feindlichen Partei abgenommen wird, in wie fern nämlich hier ein Poſtliminium zu Gunſten des früheren Ei - genthümers (ein jus recuperationis, droit de recousse ou de re - prise) Statt habe. 2v. Steck, Essais sur plusieurs matières Nr. 8. v. Martens über Ca - per §. 40 n. f. Jouffroy droit maritime p. 313.Die Frage befindet ſich ziemlich noch in derſelbe Lage, worin ſie zu Ende des vorigen Jahrhunderts befan - gen war, ſo daß im Allgemeinen noch immer auf dasjenige ver - wieſen werden darf, was v. Martens claſſiſche Schrift über die Caper hinſichtlich dieſes Gegenſtandes enthielt. Die in Betracht kommenden Fälle ſind dieſe. Eine Wiedernehmung kann geſchehen
oder endlich
Das wiedergenommene Schiff, oder ſeine Ladung oder beides zugleich, kann, ehe es vom Feinde genommen wurde, gehört haben:
320Zweites Buch. §. 192.oder endlich
Es kann überdieß noch geſchehen, daß die Repriſe abermals dem Wiedernehmer weggenommen wird.
Vor allen Dingen leuchtet ein, daß, wenn das wiedergenom - mene Schiff zu demjenigen Staate gehört, ſeitens deſſen die Wie - dernahme geſchehen iſt, alsdann lediglich die Geſetze dieſes Staa - tes darüber entſcheiden müſſen, ob oder unter welchen Bedingun - gen und Modalitäten das wiedergenommene Schiff und Gut ſei - nem früheren Eigenthümer verbleiben ſoll. Auf dieſen Fall be - ſchränken ſich auch die Seegeſetze der einzelnen Nationen faſt al - lein und die darin angenommenen Principien ſind kein Theil des Völkerrechts, noch weniger einer Critik deſſelben unterworfen. 1Eine Ueberſicht davon findet ſich bei v. Martens §. 60 ff.Andererſeits kann bei der Frage, wie es gehalten werden ſoll, wenn das wiedergenommene Schiff einer dritten Nation zugehört, die Entſcheidung nicht lediglich von dem Staate des Wiederneh - mers abhängig ſein. Die Beſtimmung muß hier vielmehr einem gemeinſamen giltigen Grundſatz gemäß getroffen werden, widrigen - falls der durch eine entgegenſtehende Entſcheidung verletzte Theil dagegen auf völkerrechtlichem Wege reclamiren kann. Denn es han - delt ſich hier regelmäßig von einer Thatſache, welche außer dem Bereiche der Geſetze der Einzelſtaaten liegt, nämlich von einer That - ſache auf offener See. Nur wenn die Wiedernahme im eigenen Seegebiet geſchehen ſollte, können die Geſetze dieſes Staates wider Jedermann als entſcheidend betrachtet werden.
192. Was nun als gemeinſam giltiger Grundſatz des interna - tionalen Rechts zu erklären ſei, iſt überaus zweifelhaft. Die Haupt - ſache, worauf es ankommt, iſt, ob das wiedergenommene Schiff wirklich ſchon dem erſten Captor beziehungsweiſe deſſen Staat ei - genthümlich verfallen war oder nicht. Dem römiſchen Recht, wel - ches, wenn nicht alle, doch gewiſſe Arten von Schiffen dem Poſt - liminium unterwarf, ohne Unterſchied wie lange ſie in Feindesge -321§. 192. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.walt geweſen waren, kann begreiflich nicht die Kraft eines jetzt ge - meingiltigen Völkergeſetzes beigelegt werden; eben ſo wenig dem Consolato del mare, welches ohnehin nur Beſtimmungen über Wiedernahme eines von der Gegenpartei genommenen Schiffes durch den betheiligten Staat des früheren Eigenthümers enthält. 1Art. 287. deſſelben. Vgl. v. Martens §. 56.Was in einzelnen internationalen Verträgen wegen der Wiedernahme ſti - pulirt iſt, ſteht zur Zeit noch ſo vereinzelt, daß daraus keine Regel abgeleitet werden kann. 2Nachweiſungen ſolcher Verträge ſiehe ebendaſelbſt §. 61. 63. 65. 67. 69. 71. u. f. Einen ueuerlichen Vertrag zwiſchen Spanien und Großbritannien vom Februar 1814 in dem Nouv. Suppl. II. 640. Eine Erörterung der Frage, ob die Clauſel in den Handelsverträgen „ den eigenen Landesunter - thanen gleich “oder doch „ wie die am meiſten begünſtigte Nation behandelt zu werden “, auch ein Privilegium in Betreff der Repriſen gewähre? ſ. bei v. Martens §. 57 u. 58.Ebenſo unſicher erſcheint die Praxis der verſchiedenen Seemächte; ſie wird dritten Mächten gegenüber mehr durch Convenienz als durch wirkliche Rechtsprincipien geleitet. 3Die franz. Praxis ſcheint in neuerer Zeit die Freigebung eines wiederge - nommenen neutralen Schiffes adoptirt zu haben. Sirey recueil. I, 2, 201.— Befragt man die verſchiedenen Anſichten der Publiciſten, woran ſich auch zum Theil die Praxis hält, ſo wird allermeiſt wohl davon ausgegangen, daß ein Kriegführender durch Wegnahme ſowohl wirk - lich feindlicher wie auch präſumtiv feindlicher und neutraler Schiffe, die den Bedingungen der Neutralität contravenirten, das Eigenthum daran und an der Ladung von Rechtswegen erwerben kann; allein man ſtreitet, ob dazu ſchon das Factum der Wegnahme genüge, oder wenigſtens ein 24 ſtündiger Beſitz oder aber die Wegführung intra praesidia, oder wohl gar ein adjudicirendes Priſenurtheil hin - zugekommen ſein müſſe. Nicht minder ſtreitig ſind, wie wir frü - her geſehen haben, ſchon die Grundſätze, aus welchen ſich die Recht - mäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit einer Priſe beurtheilen läßt.
Ein gemeingiltiges Princip exiſtirt demnach ſo gut wie gar nicht; die Wahrheit aber iſt, wie ſie bereits v. Martens4a. a. O. §. 45. durchſchaut, obwohl nur ſchüchtern ausgeſprochen hat, weil er den Strom ge - gen ſich hatte, wie ſie indeß auch Lingnet5Annales tom. VI, p. 104. und Jouffroy6S. 332 ff. uner - ſchrocken vertheidigt haben:
21322Zweites Buch. §. 192.„ Das Recht des Krieges giebt überhaupt keinem Kriegführenden ein Recht des Eigenthums auf weggenommene Schiffe weder des Feindes noch einer dritten Macht. Es bleibt daher während des Krieges das Recht des urſprünglichen Eigenthümers wider Jeder - mann bei Kräften; auch eine Wiedernahme kann ihm daſſelbe nicht entziehen, vielmehr nur die Verbindlichkeit einer Entſchädigung und Belohnung des Wiedernehmers gegen Rückempfang ſeines Eigen - thums auferlegen. Erſt mit dem Friedensſchluß wird unter den kriegführenden Theilen und deren Alliirten jede ſpätere Wiedernahme der von dem einen Theil gegen den anderen weggenommenen Schiffe und Ladungen ausgeſchloſſen; neutrale Mächte, ſogar bloße Hilfs - mächte, deren nicht im Kriegsſtand befindlich geweſene Schiffe weggenommen ſind, behalten dagegen den Anſpruch auf Wieder - nahme des thatſächlich entzogenen Eigenthums, wo ſie ihm beikom - men können, auch noch ferner. “
Vor dieſer einfachen Wahrheit ſchwinden alle Controverſen wie die Schatten der Nacht vor der Sonne. Die Annahme dieſes Syſtems kann vorzüglich auch als Mittel dienen, um dem Raub - ſyſtem der bisherigen Seekriege oder einzelner Seemächte entgegen zu wirken. Keine Priſe muß gemacht werden können, ohne daß ihr Wiederverluſt ſogar noch im Frieden (wenigſtens den Neutralen gegenüber) bevorſtehen bleibt. Auch dieſe Zeit wird kommen, trotz dem daß Sir William Scott das Verlangen, als müſſe alles wiedereroberte Eigenthum in Kriegszeiten dem Eigenthümer ohne Unterſchied der Zeit zurückgegeben werden, für leere Chimäre einer vorſündfluthlichen Philoſophie erklärt hat. 1v. Martens Erzählungen I, S. 292.
193. Annäherung und Verbindung der Völker unter Einander iſt, wie wir ſchon im Anfange zeigten, die Tendenz des Völker - rechts. Inſofern nun der internationale Verkehr ein bloßer Pri - vatverkehr von Staatsindividuen aus einem Lande in das andere für Privatzwecke iſt, wird er durch die Geſetze ſowohl des einhei - miſchen Staates wie des fremden Staates innerhalb eines jeglichen Gebietes regulirt; inſofern er aber in freiem gemeinſamen Gebiet oder unter den Staatsgewalten und deren Repräſentanten Statt findet, treten ſowohl im Frieden wie im Kriege beſondere Formen in Anwendung, welche theils dem ſ. g. Cerimonial - theils dem di - plomatiſchen Recht angehören, von welchen beiden hier noch zu handeln iſt.
194. Aus der Achtung, welche die Staaten einander ſchuldig ſind (§. 31.), fließt zwar von ſelbſt die Verbindlichkeit, ſich bei21*324Drittes Buch. §. 194.perſönlichen Begegnungen und Correſpondenzen jeder nach allgemein ſittlicher Ueberzeugung kränkenden Form zu enthalten, nicht aber auch von ſelbſt die Verbindlichkeit eine beſtimmte poſitive Form der Be - handlung zu beobachten. Indeſſen hat die Sorge für die eigene Würde, verbunden mit der Ungleichheit, welche ſich hinſichtlich des Ranges der einzelnen Staaten unter einander ergeben hat, ſodann der Geiſt des abendländiſchen Ritterthums und die Mode des Hof - lebens zur Annahme gewiſſer Formen geführt und ein eigenes Staa - tencerimonial erzeugt,1Schriften über dieſen allerdings wenig juriſtiſchen Stoff enthaltenden Ge - genſtand ſ. bei v. Ompteda §. 207. 208. und bei v. Kamptz §. 138. Die bedeutendſten, wenn auch in vielen Stücken nicht mehr brauchbaren, da - von ſind: Il Cerimoniale historico e politico di Gregorio Leti. 6 Vol. Am - stell. 1685. 12. Friedrich Wilhelm v. Winterfeld. Teutſche und Cerimonial Politika. 3 Thle. Frankf. u. Leipz. 1700 u. 1702. 8. Gottfr. Stievens Europäiſches Hofcerimonial. Leipz. 1714. 2. 1723. Joh. Chr. Lünig Theatrum cerimoniale historico-politicum. Leipz. 1716. 2. 1719. 20. Julius Bernhard v. Rohr Einleitung zur Cerimonialwiſſenſchaft. Ber - lin 1730. 2. 1735. Georg Chr. Gebauer Programma de cerimon. natura atque jure. Götting. 1737. Cérémonial diplomatique des cours de l’Europe par Rousset. II. Amsterd. et à la Haye 1739. fol. Joh. J. Moſer Verſuch des neueſten europ. Völkerr. Th. II. In allen dieſen Schriften iſt indeſſen Staats - und Hofcerimonial nebſt Staatsgalanterie untereinander vermiſcht, und, was wahrhaft Cerimonial - recht ſei? nicht dargethan worden. welches zwar im Allgemeinen nur in Aeu - ßerlichkeiten beſteht, dennoch aber, ſoweit es ein vollkommen be - gründetes und verbindliches iſt, von der politiſchen Wiſſenſchaft nicht ganz überſehen werden darf. Es kommt zur Anwendung
Man kann demnach unterſcheiden ein Land - und Seecerimonial, oder noch genauer: ein rein perſönliches bei perſönlicher Annäherung, ein ſchriftliches, insbeſondere Canzleicerimonial, endlich ein Seecerimonial. Alles beruht hierbei auf willkührlichen Gebräuchen. Ein Rechts - anſpruch auf Befolgung derſelben, mithin ein wahres internationa - les Cerimonialrecht kann jedoch nur angenommen werden hin - ſichtlich derjenigen Gebräuche, welche entweder auf Verträgen be - ruhen, oder in einem ſo entſchiedenen Herkommen, mit deſſen Nicht - beobachtung die allgemeine Ueberzeugung die Idee einer Beleidigung verknüpft. Daneben und außer dem Bereiche des internationalen Rechtes ſteht das beſondere Hofcerimonial,1Ueber dieſes vergl. das ſchon oben S. 98. Note 7. angeführte Hofrecht von Friedrich Carl v. Moſer. Daneben ſ. J. J. Moſer Verſuche Th. I. c. 6. S. 331. welches jeder Souverän nach Belieben einrichten kann, wenn er nur das vorerwähnte Staa - tencerimonial nicht verletzt; ſodann die ſogenannte Staatsgalanterie oder dasjenige, was die Re - gierungen und deren Vertreter untereinander zwanglos nur aus Freundſchaft oder Höflichkeit und Ergebenheit gegen ein - ander beobachten, wie z. B. die Notification freudiger oder trauriger Ereigniſſe, Beglückwünſchungen, Beileidsbezeugun - gen, Begrüßung eines durch - oder vorüberreiſenden Souve - räns oder ſeiner Familienglieder, Traueranlegung, Ertheilung von Geſchenken und Orden. So gewöhnlich dergleichen ſein mag, und ſo oft aus der Unter - laſſung in dem einen oder anderen Fall eine Mißſtimmung hervor - gehen wird, ſo wenig kann daraus ohne Hinzutritt ſonſtiger Um - ſtände und Verhältniß eine Beleidigung hergeleitet werden; viel - mehr werden Vernachläſſigungen der Höflichkeit nur zu einem glei - chen Verfahren veranlaſſen, niemals aber eine Forderung auf Ge - nugthuung begründen, wie ſie bei der Verletzung eines wirklichen Cerimonialrechts zuläſſig iſt.
Zunächſt ſoll hier nun dasjenige, was außerhalb des ſchriftlichen326Drittes Buch. §. 195.und diplomatiſchen Verkehrs im Allgemeinen hergebracht iſt, dar - geſtellt werden, während das auf jenen Verkehr ſpeciell bezügliche Cerimonial in den nachfolgenden Abſchnitten ſeine Stelle finden mag.
195. So oft als Repräſentanten verſchiedener Staaten mitein - ander in perſönliche Berührung kommen, wird eine Beſtimmung wegen der einzunehmenden Plätze, insbeſondere wegen des ſoge - nannten Ehrenplatzes, nothwendig. Zwar ſollte an und für ſich jeder Platz nur durch die Perſon ſeine Bedeutung erhalten, nicht aber die Perſon durch die Stelle, welche ſie einnimmt; dennoch aber hat die Mode gewiſſen Plätzen eine Erſtigkeit, anderen eine min - dere Bedeutung beigelegt, und da einmal das Herkommen gewiſſe Rangverſchiedenheiten der Staaten eingeführt hat, ſo kann gewiß auch der im Range höher Stehende einen höher geachteten Platz vor den Anderen für ſich verlangen; Perſonen aber, die in einem gleichen Verhältniß zu einander ſtehen, können mindeſtens fordern, bei der Einnahme der Plätze nicht auf eine Weiſe behandelt zu werden, welche als Zurückſetzung oder als Anerkennung des höhe - ren Ranges eines anderen ausgelegt werden könnte.
Der Ehrenplatz nun, welcher dem im Range Höheren gebührt, iſt verſchieden im Sitzen, im Nebeneinanderſtehen, im Auf - oder Herabſteigen, bei Proceſſionen in einer Linie oder bei einem Auf - treten neben einander in gerader Linie (in latere). 1Das Nähere kann man hierüber aus Lünig, Moſer Hofrecht, und in der Kürze aus Klüber droit des gens §. 101 — 103. entnehmen, und darnach auch aus de Martens manuel diplomatique §. 39. ſo wie deſſen guide diplomatique.
Kommt es auf Vollziehung gemeinſchaftlicher Urkunden an, ſo wird im Eingang und Context der entſchieden Höhere im Range vor dem Nachfolgenden genannt. Die Unterſchrift aber geſchieht gewöhnlich in zwei Columnen, von denen die heraldiſch rechte zu oberſt dem Erſten im Range, die linke zu oberſt dem Nächſtfolgen - den gebührt, worauf dann die übrigen Unterſchriften in derſelben Weiſe von der rechten zur linken Columne hinübergehen.
Stehen die betheiligten Staaten in gleichem Range oder in Streit darüber, ſo müſſen gewiſſe Auswege benutzt werden, ins - beſondere:327§. 196. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.eine conventionelle Aufhebung aller Förmlichkeit, eine gegenſeitige Abwechſelung (Alternat), der Gebrauch des Looſes, ein freiwilliges Nachgeben unter Vorbehalt oder gegen Revers, oder endlich eine gegenſeitige Erklärung der Unverfänglichkeit. Außerdem wird bei Beſuchen das Gaſtrecht auf eine für den Gaſt ſoviel als möglich zuvorkommende Weiſe ausgeübt; der Wirth giebt dem Gaſt, ſelbſt wenn er nur ſeines Gleichen iſt, den Vorgang und die main d’honneur.
Bei gemeinſamen Urkunden, wovon mehrere Ausfertigungen ge - macht werden, ſetzt jeder Theil im Eingang und Context ſeine ei - genen Titel und Bezeichnungen den fremden voran; in Betreff der Unterſchriften muß entweder einer der zuvor erwähnten Auswege beliebt werden, oder jeder Theil unterſchreibt nur das Exemplar des anderen. 2Moſer Verſ. VIII, 276. 277.
196. Alle Souveräne und demnächſt auch die Mitglieder der ſouveränen Familien haben ein Recht auf eine beſtimmte Courtoi - ſie, d. h. auf Ertheilung gewiſſer Titulaturen im gegenſeitigen münd - lichen oder ſchriftlichen Verkehr. Hierzu dienen die bereits §. 53. IV. und §. 55. angezeigten Prädicate, welchen bei Anreden kein anderes geringeres ſubſtituirt werden darf. Außerdem iſt herge - bracht, daß gekrönte Häupter ſich unter einander den Bruder - und Schweſtertitel geben und ihn auch noch allen denen, welche Königli - cher Ehren genießen, ertheilen. Daſſelbe iſt mit den Gemahlinnen der Fall. 3S. deſſelben Opusc. academ. p. 413.Nur zwiſchen dem Papſt und den katholiſchen Fürſten beſteht ein anderer Styl; er empfängt von ihnen (auch wohl aus Condeſcendenz von proteſtantiſchen Mächten) das Prädicat: Eure Heiligkeit; und ertheilt den katholiſchen Fürſten das Prädicat: ge - liebte Söhne. Ferner werden gekrönte Häupter, und nur ſie, durch Sire angeredet. 4Ueber den Gebrauch dieſes Werkes vergl. Lünig, theatr. ceremoniale p. 20. 88.Alles Uebrige in der gegenſeitigen Cour -1Nur Ludwig XVIII. that es, dem Vernehmen nach, nicht, als er die al - liirten Souveräne bei ſich bewirthete.328Drittes Buch. §. 197.toiſie beruhet auf freundſchaftlichen und verwandſchaftlichen Ge - brauch, oder gehört hauptſächlich nur dem Canzleiſtyl an, in wel - cher Hinſicht es weiterhin (Abſchn. II. dieſes Buches) ſeine Stelle finden wird.
197. Ein eigenthümliches Seecerimonial wird beobachtet:
ſodann
Es beſteht in gewiſſen Ehrenbezeugungen, namentlich in dem ſoge - nannten Schiffsgruß, worauf meiſtens eine Erwiederung erfolgt. Seine Arten ſind:
endlich
In Betreff der Anwendung ſolcher Cerimonien können, abgeſehen von einzelnen meiſt widerſprochenen Forderungen gewiſſer Natio - nen und von den darüber beſtehenden Verträgen, nur folgende Grundſätze als völkerrechtliche gemeine Regeln angeſehen werden:
Reine Höflichkeit bringt ferner noch mit ſich, daß Feſtungen und Häfen, wenn ſich ihnen fremde Regenten oder Stellvertreter derſel - ben nähern oder vorüberfahren, ſelbige zuerſt mit Kanonen be - grüßen.
Zu wünſchen wäre, daß man ſich endlich, mindeſtens auf offe - ner See, wegen Unterlaſſung jedes Schiffsgrußes unter den Natio - nen vereinigte. 2Dergleichen Vereinigungen beſtehen bereits unter einzelnen Nationen. Mo - ſer kleine Schriften XII, 22. Klüber droit des gens §. 121. Nau §. 143.Unbefugt und unverantwortlich iſt es, wegen der Unterlaſſung eines ſolchen Grußes, ſogar wenn ſie gefordert wer - den könnte, in Gewaltthätigkeiten überzugehen,3Beiſpiele ſolcher Gewaltthaten ſ. in Moſers Beiträgen II, 445. anſtatt ſich mit blo - ßen Zurückweiſungen zu begnügen, oder auf friedlichem Wege zu - erſt bei der Regierung des unterlaſſenden Theiles auf Genugthuung anzutragen.
198. Die auswärtigen Intereſſen der Einzelſtaaten können ihrer Natur nach allein von den Souveränen und den ihnen oder auch den Nationen ſelbſt verfaſſungsmäßig verantwortlichen Organen ih - res Willens wahrgenommen und beſorgt werden. Seit langer Zeit hat die Politik der Staaten dieſem Gegenſtand ihres Wirkens die größeſte Aufmerkſamkeit und Sorgfalt gewidmet; denn die Schick - ſale der Völker erhalten dadurch wenigſtens ihre förmliche Geſtal - tung, wenn ſie auch nicht allein dadurch bewegt und gemacht wer - den können. Alles was ſich darauf bezieht oder damit weſentlich beſchäftigt iſt, bezeichnet die neuere europäiſche Sprache durch di - plomatiſch, hindeutend damit theils auf die urkundlichen Grund - lagen der Staatenintereſſen, theils auf die zu ihrer Sicherſtellung dienende und nicht wohl zu entbehrende urkundliche Form der Ver - handlungen und Reſultate; bisweilen freilich in einer etwas lächer - lichen Ausdehnung auf fremdartige Dinge. Der Nimbus, womit ſich vormals die Diplomatie umhüllte, hat manchen publiciſtiſchen Schrift - ſteller angeregt, vornehmlich ihre Aeußerlichkeiten mit einer gewiſſen Coquetterie und Devotion zu behandeln und auszuſchmücken. Wir wollen im Folgenden hauptſächlich nur die leitenden Grundſätze aufſuchen und zuerſt von den beſonderen diplomatiſchen Organen, ſodann von der diplomatiſchen Kunſt, endlich von den Formen ihres Wirkens einfach nach unſerer Weiſe handeln. Die Diploma - tie geht ſelbſt nicht mehr ſo geſpreizt und blaſirt einher, wie vor - mals. Sie iſt einfacher und, wenn auch nicht öffentlich geworden, wie ſie es in der alten Welt war, wenigſtens erkennbarer und zu - gänglicher.
199. Schon die alte Welt hatte ihre diplomatiſchen Verbin - dungen, jedoch keine dauernden, ſondern vorübergehende. Die332Drittes Buch. §. 199.Völker verhandelten mit einander durch abgeſandte Staatsmänner und Redekundige (πϱεσβεῖς, legati, oratores) über die ſich gerade darbietenden Intereſſen;1Eine Darſtellung der alten Geſandſchaftsrechte ſ. in Weiske, Considera - tions sur les Ambassadeurs des Romains, comparés avèc les moder - nes. Zwickau 1834. die Diplomatie war eine offene Kunſt; nur die Päpſte unterhielten ſchon früh am Conſtantinopolitaniſchen Hofe und in den fränkiſchen Reichen bleibende Apocriſiarier oder Reſpon - ſales. 2Vgl. Inſtinians Nov. 123. c. 25.Seit dem funfzehnten Jahrhundert entwickelte ſich indeß auch an anderen Höfen gleichzeitig mit der neueren Geheimpolitik (S. 8.) und mit den ſtehenden Heeren das Syſtem ſtehender Geſandſchaften zum Zweck wechſelſeitiger Beaufſichtigung, wie zur dauernden Erhal - tung eines guten Vernehmens, endlich zur ſofortigen Beförderung ſpe - cieller internationaler Intereſſen. 3Ward, Enquiry II, 483.So haben ſich bei den Höfen diplomatiſche Corps gebildet, und man würde ſich vom europäiſchen Staatenſyſtem ausſchließen, wollte man eine derartige Verbindung mit den übrigen dazu gehörigen Staaten völlig aufheben oder zu - rückweiſen.
200. Das Recht Abgeordnete in Staatsangelegenheiten zu ſchicken hat unbeſtreitbar jeder wirkliche Souverän;1S. vorzüglich Merlin a. a. O. sect. II, §. 1. Schmelzing §. 274. gewiß kann auch nur von dieſem ein characteriſirter Geſandter mit amtlicher Bedeutſamkeit beſtellt werden. Kein Unterthan, auch von noch ſo großem Einfluß und mit noch ſo vielen Privilegien begabt, hat ein ſolches Recht. Dagegen kann daſſelbe nicht verweigert werden
endlich
Unterbehörden eines Souveräns haben das Geſandtſchaftsrecht nicht, es müßte ihnen denn, wie bei Vicekönigen und Gouverneurs zu - weilen der Fall geweſen iſt, daſſelbe ausdrücklich übertragen wor - den ſein.
Das Nämliche gilt im Ganzen auch von der Annahme frem - der Geſandten, wenigſtens von einer völlig unangefochtenen An - nahme und mit völkerrechtlicher Bedeutung; denn an und für ſich würden natürlich ſelbſt Privatperſonen einen von den vorgedachten Auctoritäten an ſie Abgeordneten empfangen können; insbeſondere wäre kaum abzuſehen, warum nicht einem Souverain erlaubt ſein ſollte, in einer rein perſönlichen Angelegenheit, z. B. wegen einer Vermählung, einen Abgeordneten mit einem geſandtſchaftlichen Ti -334Drittes Buch. §. 201.tel ſelbſt an ein fremder Staatshoheit unterworfenes Haus abzuſen - den. Niemals würden jedoch geſandtſchaftliche Rechte und Privile - gien ohne die Conceſſion dieſer Staatsgewalt in Ausübung zu brin - gen ſein. 1Ein merkwürdiges Actenſtück über das Recht Geſandte zn ſchicken, zu em - pfangen und zu behandeln ſind die bei de Real t. V, p. 140 ff. und in Rousset, Cerem. diplom. t. II, p. 481. abgedrucktem angeblichen Geſetze Kaiſer Carls V. in Betreff der Geſandten. S. auch v. Martens Erzäh - lungen I, S. 371. So wenig bei ihrem Inhalt Bedenken Statt finden, ſo wenig ſcheint das Aufſchreiben ſolcher Geſetze der Zeit Kaiſer Carls V. zu entſprechen. Bis auf beſſeren Beweis halten wir ſie für apokryphiſch. Ein ähnliches Actenſtück über die Immunitäten der Geſandten wird wei - erhin zu erwähnen ſein.
Eine Pflicht zur Annahme fremder Agenten exiſtirt an und für ſich nicht, ſondern es iſt eine reine Intereſſenfrage, ob man ſie empfangen wolle. Allein man würde andererſeits die Rückſendung ſeiner eigenen Abgeordneten zu erwarten haben, auch wird die Hu - manität nicht erlauben, friedliche Mittheilungen auf dieſem Wege ungehört zurückzuweiſen. 2Vattel IV, 65. 66. Merlin a. a. O. Sect. II, §. 3.Gewiß kann ſich jede Regierung die Zuſendung einer ihr unangenehmen Perſon oder die Beauftragung ihrer eigenen Unterthanen verbitten. 3J. J. Moſer Verſuch III, 89. Beiträge III, 90. Bielfeld, Institut. II, 178. Merlin, Sect. III, n. 3. Klüber, dr. d. g. §. 176. 187.
201. Organe für den heutigen Betrieb der auswärtigen Staats - intereſſen ſind, abgeſehen von dem Antheil welchen die Souveräne ſelbſt daran nehmen können,
In letzterer Hinſicht unterſcheidet die neuere Staatspraxis folgende Categorien, bald mit einer bleibenden allgemeinen Miſſion zur Un - terhaltung einer dauernden Verbindung, bald nur zu beſtimmten Einzelzwecken:
Alle dieſe können entweder auf beſtimmte oder unbeſtimmte Zeit, definitiv oder nur einſtweilen (ad interim) angeſtellt werden.
Dazu kommen dann noch die erforderlichen Hilfsperſonen, ihre Secretäre und ſonſtigen Büreauglieder, ſo wie die zur Correſpon - denz dienenden Couriere, Feldjäger und dgl.
202. Jede in den vorgedachten Categorien begriffene diploma - tiſche Perſon ſteht zuförderſt in einem ſtaatsdienſtlichen Verhältniß zu dem von ihr vertretenen Staat, mit den nach dem inneren Staatsrecht darauf haftenden Verpflichtungen, Rechten und Ga - rantien; ſodann in einem völkerrechtlichen Verhältniß zu demjeni - gen Staat, mit welchem zu unterhandeln iſt, oft auch zu dritten Staaten, mit welchem ſie ihre Miſſion nothwendig oder zufällig in Berührung bringt, und nur dieſe völkerrechtlichen Beziehungen ſind hier noch näher zu erörtern, zuerſt im Allgemeinen, dann we - gen jeder Categorie noch insbeſondere. Ein gemiſchtes Staats - und völkerrechtliches Verhältniß tritt ein, wenn der diplomatiſche Agent eines Staates bei einem Anderen Unterthan des Letzteren iſt. Denn hier bedarf es unter allen Umſtänden erſt der Zuſtimmung des Letzteren, welche natürlich auch nur eine bedingte oder be - ſchränkte ſein kann. Unbedingt ſchließt ſie eine Suspenſion des bisherigen Unterthansverhältniſſes für die Dauer der Miſſion, we - nigſtens in allen denjenigen Beziehungen in ſich, welche mit dem diplomatiſchen Character und Amt in Colliſion gerathen. 1Die Praxis mancher Höfe iſt daher auch gegen ein ſolches gemiſchtes Ver - hältniß ihrer Unterthanen, z. B. die franzöſiſche, obſchon nicht ohne alle Ausnahme. Merlin a. a. O. S. 250. Erſt ſeit Ludwig XVI. iſt das Princip der Nichtannahme franzöſiſcher Unterthanen als diplomatiſcher Agen - ten für fremde Staaten ſtreng feſtgehalten worden. Eben ſo ſind die ſchwediſchen Geſetze dagegen. Cod. Leg. Succ. de criminib. §. 7. Aus beſonderen Rückſichten empfängt der deutſche Bund keine frankfurter Bür -
203. Unleugbar liegt ſchon in der gegenſeitigen Anknüpfung und Geſtaltung einer diplomatiſchen Verbindung die Bedingung ſo wie das Zugeſtändniß, dem Vertreter des anderen Staates dieje - nige Sicherheit und Freiheit einräumen zu wollen, ohne welche die giltige, ehrenhafte und ungeſtörte Vollziehung von Staatsgeſchäften überhaupt nicht denkbar iſt. Die weſentlichen Rechte nun, welche aus dieſem im Allgemeinen ſo zu nennenden Repräſentativ - character1Von manchen Publiciſten werden höchſt nebelhafte Begriffe mit dieſem Ausdruck verbunden, wie mit Recht von Pinheiro-Ferreira zu Vattel IV, 70. gerügt iſt. der diplomatiſchen Perſonen mit einer beſtimmten Geſchäftsführung herfließen, ſind Unverletzbarkeit der Perſon und eine gewiſſe perſönliche Exemtion von den Einwirkungen der auswärtigen Staatsgewalt, ſoweit dadurch die Geſchäftsfüh - rung des fremden Vertreters gehindert werden würde. Hiermit können aber ferner noch gewiſſe außerweſentliche Befugniſſe und Ehrenrechte verbunden ſein, die dem Cerimonialrecht angehören und den ſ. g. Cerimonialcharacter diplomatiſcher Perſonen conſti - tuiren, ſei es nach dem allgemeinen Gebrauch der Staatsgewalten oder nach der beſonderen Obſervanz einzelner Staaten. Sie ſind verſchieden nach Maaßgabe der einzelnen Categorien.
204. Unverletzbarkeit diplomatiſcher Abgeordneter für den äu - ßeren Staatenverkehr iſt ein ſo von ſelbſt ſich verſtehendes Recht, daß es auch von jeher bei allen Völkern ſogar in vorchriſtlicher Zeit Anerkennung gefunden hat. 3S. ſchon lex ult. D. de legat. und Cicero in Verr. I, 33. Die in - nere Rechtfertigung ſ. bei Ward, Enquiry II, 494.Es beſteht darin, daß nicht blos der fremde Staat, an welchen die Miſſion erfolgt in ſeiner Geſamtheit, ſondern auch jeder Angehörige deſſelben ſich aller ver -1ger als Vertreter deutſcher Souveräne, außer für die Stadt Frankfurt ſelbſt. Die deshalb getroffene Verabredung vom Jahre 1816 ſ. in Klübers Staats - archiv II. 337§. 204. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.letzenden körperlichen oder unkörperlichen Angriffe gegen dergleichen Perſonen enthalten muß, und jede Art von Beleidigung derſelben zugleich auch für eine Beleidigung des abſendenden Staates zu hal - ten iſt. 1Daher wird auch in den Strafgeſetzgebungen die Beleidigung eines Ge - ſandten für ein Staatsverbrechen erklärt; z. B. in l. 7. D. ad leg. Jul. de vi publica. Allgem. L. R. für die Preuß. Staaten Th. II. Tit. 20. §. 135. 136. Bairiſches Strafgeſetzbuch I. Art. 306.Nicht einmal Repreſſalien würden einen Vorwand dazu gewähren, wenn nicht der abſendende Staat gerade auch an ſol - chen Perſonen das Völkerrecht verletzt hat. 2Merlin a. a. O. Sect. V, §. 3.
Das Recht beginnt ſobald der Character des Abgeordneten ge - hörig beglaubigt und die Miſſion nicht etwa wider den ausdrück - lich erklärten Willen des anderen Staates erfolgt iſt. 3Merlin Sect. V, §. 3. n. 3. vgl. mit §. 4. n. 14.Es wird nicht allein jedem legitimirten diplomatiſchen Abgeordneten unmit - telbar für ſeine Perſon, ſondern auch denjenigen zugeſtanden, welche zu ſeiner Begleitung in der gedachten Eigenſchaft gehören4Vgl. die obige l. 7. D. ad L. Jul. cit. und zu derſelben legitimirt werden können. Es erſtreckt ſich ferner auf ei - nen ungehinderten Brief - und Depeſchenwechſel mit dem einhei - miſchen Staate, es ſei durch eigene Couriere die ſich als ſolche ausweiſen, oder durch Benutzung der Poſtanſtalten, ſofern nur die zur Beförderung übergebenen Correſpondenzen durch deutliche Zei - chen als diplomatiſche zu erkennen ſind. 5Moſer Verſuch IV, 140. Beiträge IV, 542. F. C. v. Moſers kleine Schriften 4. Nr. 2. Schmelzing Völkerr. §. 339.Allein es kann nicht geltend gemacht werden, wenn der Abgeordnete oder die zu ihm gehörige Perſon durch ein eigenes rechtswidriges Verfahren eine Reaction und insbeſondere eine Sicherungs - oder Vertheidigungs - maaßregel gegen ſich hervorgerufen hat; es kann ferner nicht in Betracht kommen, mindeſtens zu keiner völkerrechtlichen Ahndung führen, wenn der Abgeordnete ſich in ein Verhältniß begeben hat, welches mit ſeiner völkerrechtlichen Stellung in keinem Zuſammen - hange ſteht, wobei er auch nur eine Behandlung als Privatperſon erwarten konnte;6So kann ein Diplomat, welcher als Schriftſteller auftritt, durch ſeinen officiellen Character nicht gegen eine Critik geſchützt ſein, welche auch ge - gen einen anderen Schriftſteller zuläſſig iſt; ſogar eine perſönlich kränkende endlich aber dann, wenn ſein völkerrechtlicher22338Drittes Buch. §. 205.Character der ihn verletzenden Gegenpartei unbekannt war. 1Vgl. Vattel IV, §. 82. Merlin V, Nr. 2.— Iſt eine Beleidigung der völkerrechtlichen Perſon eines Abge - ordneten wirklich geſchehen, und zwar von Seiten der auswärti - gen Staatsgewalt ſelbſt, ſo iſt ſie auch zu einer Genugthuung im völkerrechtlichen Wege nach Maaßgabe der zugefügten Kränkung in einer der bereits früher bezeichneten Weiſen verbunden. (§. 102.) Iſt ſie von einem ihrer Unterthanen zugefügt, ſo kann die Genug - thuung nur von dieſem nach den Geſetzen ſeines Staates gefordert und dafür deſſen Vermittelung in Anſpruch genommen werden. (§. 103.) Daß indeſſen der Abgeordnete ſelbſt ſich Rechte nehmen dürfe, wie behauptet worden iſt, kann wenigſtens außer dem Fall eines noch zuläſſigen Vertheidigungsrechtes nicht für erlaubt erach - tet werden. 2v. Pacaſſy Geſandtſchaftsrecht S. 167. Klüber droit des gens §. 203. N. e. woſelbſt die entgegenſtehende Anſicht v. Römer’s angeführt iſt. Eine Menge Beiſpiele von Verletzungen geſandtſchaftlicher Perſonen und dafür ge - gebenen Genungthuungen ſ. in B. de Martens Causes célèbr. II, 390. 439 f.
205. Auch eine Exemtion der diplomatiſchen Agenten von je - dem ſtörenden Einfluß der fremden Staatsgewalt auf ihre Hand - lungen verſteht ſich ſo ſehr von ſelbſt, daß ſie bereits im Alterthum in einzelnen Beziehungen hervortritt. So wurde im Römerſtaat ſchon den Abgeordneten einzelner Provinzen oder Städte ein jus domum revocandi zugeſtanden, d. h. das Recht während ihres Aufenthaltes in Rom die Einlaſſung auf Civilklagen aus älteren Forderungen, ja ſelbſt auf Anklagen wegen früherer Vergehen zu verweigern oder ſich doch nur vorläufig darauf einzulaſſen.3L. 2. §. 3 — 6. l. 24. §. 1. 2. l. 25. D. de judiciis. L. 12. D. de accusation. und dazu Bynkershoeck de iudice comp. c. 6. Merlin V, §. 4. Die Hauptanſichten der neueren Publiciſten ſind auch dargeſtellt in Wheaton histoire p. 170. Das6wird hier als ſchlichte Injurie zu behandeln ſein, wenn der amtliche Character dabei nicht angegriffen wird. Die beim Beſuch eines Bordells oder einer gemeinen Geſellſchaft erlittene Unbill vermag ſchwerlich eine völkerrechtliche Ahndung zu begründen. Vgl. l. 15. §. 15. D. de injur. Si quis virgines appellasset si tamen ancillari veste vestitas, minus peccare videtur; multo minus si meritricia veste vestitae fuissent. 339§. 206. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.neuere Völkerherkommen hat dieſes bei eigentlichen Geſandten in Verbindung mit der perſönlichen Unverletzbarkeit zu einem Exterri - torialitätsverhältniß geſtaltet, wovon jedoch kein Schluß auf alle diplomatiſche Perſonen (§. 198.) ſofort zu machen ſein würde, deſſen zweifelhafte Puncte auch nur aus den natürlichen Verhält - niſſen des diplomatiſchen Verkehrs zu erklären und zu reguliren ſind.
In der Natur der Sache iſt nun ein Mehreres nicht begrün - det, als daß alle diplomatiſchen Perſonen, wenn ihre Function ge - hörig beglaubigt und anerkannt iſt, ſogar in ihren eigenen perſön - lichen Angelegenheiten mit einer beſonderen Rückſicht behandelt wer - den müſſen, damit das ihnen aufgetragene Geſchäft nicht unter - brochen oder beeinträchtigt wird. 1„ Ne impediatur legatio “, „ ne ab officio suscepto legationis avocetur “— iſt auch der Grund der obigen Vorſchriften des römiſchen Rechts.In welcher Weiſe dergleichen Störungen indeſſen zu entfernen ſeien, würde in Ermangelung con - ventioneller Beſtimmungen von den Geſetzen und Anordnungen jeder Staatsgewalt abhängen, in deren Bereich ſich jene Perſonen befin - den; die allgemeine Regel des Völkerrechts widerſetzt ſich nur je - dem Act der Staatsgewalt, es ſei in Juſtiz - oder Verwaltungs - ſachen, womit die perſönliche Unverletzbarkeit eines fremden Abge - ordneten und die Würde des von ihm vertretenen Staates nicht zuſammen beſtehen könnte, ſo daß insbeſondere kein perſönliches Zwangsverfahren gegen ihn angewendet werden darf. 2Eine gänzliche Befreiung von der auswärtigen Gerichtsbarkeit in perſön - lichen Sachen des Geſandten kann aus der Natur des Geſandtſchaftsver - hältniſſes allerdings wohl nicht hergeleitet werden, wie ſolches auch neuer - dings wieder von Pinheiro Ferreira zu Vattel IV, 92 fgg. und ſchon von vielen Aelteren bemerkt, auch nicht allezeit in der Praxis der einzelnen Staa - ten angenommen iſt. Freilich aber eine Gerichtsbarkeit ohne die Möglich - keit einer Zwangsrealiſirung hat ſehr wenig Bedeutung, und die Gren - zen, bis wohin ſie demnach gehen kann, ihre großen Schwierigkeiten. Da - her erklärt ſich die Annahme der Exterritorialitätsfiction in der neueren Staatenpraxis.
206. Das Hauptmotiv, welches das Verhalten eines Abgeord - neten in dem fremden Staate beſtimmen muß, iſt die Pflicht einer treuen Vertretung aller Intereſſen des abſendenden Staates nach22*340Drittes Buch. §. 206.den Zielen und in den Grenzen des empfangenen Auftrages, deſſen Erklärung und Auffaſſung ſelbſt wieder nur durch die Sorge für das Heil, die Würde und den Beſtand des vertretenen Staates geleitet werden muß. Andererſeits iſt es die dem fremden Staate und ſeinem Rechte gebührende Achtung, welche die zur Erreichung des Zweckes dienlichen Mittel normiren muß. Der Abgeordnete hat ſich daher ſtreng jeder Kränkung des auswärtigen Staates und ſeiner Inſtitutionen zu enthalten, desgleichen aller Einmiſchung in die Verwaltung mit Anmaßung von befehlender Gewalt und Form. 1Wicquefort, l’Amb. II, c. 4.Er hat ſich lediglich auf Anträge und Verhandlungen zu beſchrän - ken, ſo wie auf thatſächliche Behauptung ſeiner Stellung im Wege der Vertheidigung. Ueberſchreitet er die Grenzen ſeiner Stellung, ſo hat andererſeits die fremde Regierung das Recht, ihn auf dieſelben zurückzuweiſen und überdies nach Bewandniß der Umſtände auf eine Genugthuung bei dem abſendenden Souverän zu beſtehen; end - lich auch bei wirklichen Angriffen und Verletzungen der Staatsord - nung vertheidigungsweiſe, ja ſelbſt feindlich gegen ſeine Perſon zu verfahren. 2Vgl. Merlin, sect. V, §. 4. n. 10. 11.Sogar die Fiction der Exterritorialität kann hierge - gen, wie man weiterhin ſehen wird, keinen Schutz gewähren; denn das Hausrecht des fremden Staates gegen jede fremdartige Beein - trächtigung bleibt dadurch unberührt.
Dagegen iſt Alles, was der Abgeordnete innerhalb der Gren - zen ſeines vorgezeigten und beglaubigten Auftrages gethan hat, auch für den abſendenden Staat verbindlich, deſſen Gutheißung und Vollziehung von dieſem nicht verweigert werden kann, ausge - nommen ſofern noch die rechtliche Möglichkeit einer Ratifications - verweigerung gegeben iſt (§. 87.), oder ſofern ſich der Abgeord - nete einer treuloſen Benutzung ſeiner Vollmachten ſchuldig gemacht hat, oder ſofern die vorzulegende Vollmachtbeſchränkung von ihm nicht vorgelegt worden iſt. Daß der eigene Dolus der fremden Regierung bei der Verhandlung mit dem Abgeordneten ihr kein Recht gegen den abſendenden Staat verſchaffen könne, verſteht ſich von ſelbſt.
Die Summe der Pflichten im diplomatiſchen Verkehr iſt Treue gegen den eigenen Staat, Redlichkeit gegen den fremden; nichts alſo auch widerſprechender als ein Syſtem gegenſeitiger Beſtechung341§. 207. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.der Staatenvertreter. Nicht einmal Geſchenke für vollendete Ver - handlungen ſollen erlaubt oder gebräuchlich ſein, ſo wenig als im übrigen Staatsdienſt. Auch die Ausſicht auf ein Geſchenk kann blenden und das Gewiſſen für das Staatswohl einſchläfern. 1Die angeblichen Lois de Charles V au sujet des ambassadeurs ſagen über Obiges: „ IX. Le caractère d’Ambassadeur est si respectable, que quand même il feroit un traité contraire aux intérêts du Prince qui l’a envoié, ce Prince n’en serait pas moins tenû d’observer inviolablement le traité. Autrement il violeroit le droit des gens et de la societé ci - vile. — X. Si un Ambassadeur devient infidèle au Prince qui l’envoie, et s’il le trahit en faveur du Prince chez lequel il réside, tous les trai - tés qu’il conclura dans cette situation seront absolument nuls, de quel - que espèce et nature qu’ils soient. — XI. Aucun Prince ne pourra, sans encourir le blâme d’infamie, tenter de corrompre l’Ambassadeur d’un autre, quand même cet autre Prince seroit son ennemi, parcequ’une séduction de cette nature blesse le droit des gens. S’il arrive qu’un Ambassadeur devienne infidèle à son prince, le souverain chez lequel il reside doit le lui renvoier chargé de fers. — XII. Qu’il soit défendu à l’Ambassadeur de recevoir des présens du Prince avèc lequel il traite, surtout si l’on peut soupçonner que par là ce Prince veut l’obliger à favoriser set intérêts. Il peut néanmoins selon l’usage établi dans les cours, recevoir, à la fin des négociations l’illustre marque de bienveil - lance que les souverains ont coutume de donner en pareille conjon - cture; mais lorsqu’il est de retour dans sa patrie il doit mettre ce présent aux pieds de son prince et reconnoître qu’il ne le tient que de sa bonté. “ S. übrigens auch Jo. Chr. Eschenbach, Imperans — an factum ministri contra jussum specialem agentis ratum habere sit ob - ligatus? Rost. 1753. Aug. Gtthf. Schmuck (s. Eisler) de contractu legati contra mandatum arcanum valido. Vitemb. 1758.
207. Alles Vorbemerkte leidet weſentlich nur Anwendung demjeni - gen Staate gegenüber, an welchen die Miſſion erfolgt, nicht aber auch gegen einen dritten Staat. Dieſer hat nur ſolche Rückſichten zu neh - men, welche er überhaupt fremden Unterthanen und insbeſondere de - nen des abſendenden Staates zu erweiſen ſchuldig iſt; auch kann ſei - nen eigenen Rechten in anderer Beziehung nichts durch die fremde Miſſion entzogen werden. Indeſſen gebietet das allgemeine In - tereſſe an einem ungehinderten diplomatiſchen Verkehr und die jedem anderen Staate ſchuldige Achtung, vornehmlich bei friedlichen und freundſchaftlichen Verhältniſſen, von ſelbſt jedem dritten Staat, ſich342Drittes Buch. §. 207.einer unnöthigen Störung des fremden Durchgangverkehres ſchlech - terdings zu enthalten, ja, das gleiche Intereſſe fordert, wie durch ſtillſchweigende Convention, zur möglichſten Beförderung ſolchen Ver - kehres auf. Gewiß aber exiſtirt kein Zugeſtändniß der Unverletzbar - keit fremder Geſandten Seitens dritter Staaten,1In den angeblichen Geſetzen von Carl V heißt es zwar unter Nr. XV.: „ Lorsque les Ambassadeurs dévront passer par d’autres souverainetés que celles où leur maître les a envoié, il faudra qu’ils soient munis de Passeports pour éviter tous fâcheux accidens, car à leur passage, ils ne peuvent prétendre d’autres égards que ceux qui sont accordés par le droit des gens et aux étrangers selon leur rang et leur fortune; mais la correspondence mutuelle des nations veut qu’un caractère si éminent soit respecté partout. “ Eine ähnliche Anſicht ſtellte Vattel auf IV, 84. Allein es iſt Alles nur guter Wille des dritten Staates. Die richtige Anſicht ſ. bei Merlin V, §. 3. n. 4. und §. 5. n. 14. Ward, Enquiry II, 556 s. Wheaton intern. L. III, 1, 11. vielmehr haben dieſe in einzelnen Fällen ſtets den Grundſatz, daß ſie den Charac - ter des fremden Abgeordneten nicht zu reſpectiren haben, ſobald ihr eigenes Recht damit in Conflict kommt, behauptet. Man hat durch - reiſende Geſandte einer fremden Macht, mit welcher man im Kriege befindlich war, arretirt,2Wie dem Marſchall Belleisle 1744 wiederfuhr. v. Martens Erzähl. I, 152. B. de Martens C. cel. I, 285. ferner den Perſonalarreſt wegen civilrecht - licher Verbindlichkeiten verfügt. 3So gegen den Grafen Wartensleben 1763. v. Martens Erzähl. I, 170.Ebenſo wenig kann bezweifelt werden, daß gegen einen Abgeordneten wegen Verbrechen, womit er dem dritten Staate verhaftet iſt, eine Arretirung, Unterſuchung und Beſtrafung[zuläſſig] ſei. Kein diplomatiſcher Agent darf ſich endlich in die Angelegenheiten eines dritten Staates mit dem an - deren miſchen, bei welchem er angeſtellt iſt, ſofern ihm dazu kein Auftrag ertheilt iſt, widrigenfalls gegen ihn auf Zurechtweiſung bei der abſendenden Regierung angetragen werden kann. 4Ein Beiſpiel ſ. in B. de Martens C. cel. I, 311.Geſchützt bleibt dagegen die völkerrechtliche Perſon des Abgeordneten in dem Staate, bei welchem er accreditirt iſt, ſelbſt wenn derſelbe in die Hände einer dritten Gewalt geräth, ſofern er nur ſelbſt keine Feind - ſeligkeiten wider letztere verübt hat;5Dies war der Fall des Grafen Monti in Danzig. B. de Martens ib. I, 210. desgleichen ſeine Correſpon - denz auf neutralen Schiffen aus neutralem Lande nach dem Mutter - lande. 6Wheaton intern. L. III, 1. p. 281.
208. Obgleich an und für ſich kein innerer Unterſchied unter den Abgeſandten der Staatsgewalten als weſentlich hervortritt, ſo hat doch das Cerimoniell der Höfe und die gemeinſame Staaten - praxis eine gewiſſe Claſſification mit beſtimmten Rechtsverſchieden - heiten hervorgebracht.
Die erſte Claſſe bilden: die päpſtlichen Legaten a oder de latere1Es iſt ein Irrthum, daß zwiſchen den legati a und de latere ein Unter - ſchied beſtehe, wie Bielfeld institut. politiq. T. II, p. 272. zu behaupten ſcheint. Nur zwiſchen Legaten a (oder de) latere und den Nuntien be - ſteht der Unterſchied, daß jene aus der Zahl der Cardinäle ſind, letztere nicht. und Nuntien, desgleichen die Ambaſſadeurs2Spaniſch: embaxadores, italiſch: ambaciatori. Offenbar von dem deut - ſchen Ambacht = Amt. Eine ſeltſame Etymologie des Wortes giebt Pin - heiro Ferreira zu Vattel IV, 70. oder Botſchafter der weltlichen Mächte.
Die zweite Claſſe: alle mit dem Titel eines Internuntius, Geſandten oder Mi - niſters oder bevollmächtigten Miniſters bei fremden Souve - ränen beglaubigten Diplomaten.
Die dritte Claſſe: die bloßen Geſchäftsträger, welche nur bei den Miniſterien der auswärtigen Angelegenheiten beglaubigt ſind, und zwar ohne Unterſchied ob ihnen noch der Titel eines Miniſters gegeben iſt oder nicht. Eben dahin würden auch die mit diplomatiſchen Functionen beauftragten Conſuln zu rechnen ſein, wogegen die mit dem Titel eines Miniſter-Reſidenten bei fremden Höfen Angeſtellten eine Mittelclaſſe zwiſchen der zweiten und dritten ausmachen ſollen. 3Die neueſten Regulative hierüber ſind während des Wiener und Aachener Congreſſes getroffen worden, nämlich: a) in dem Protokoll der Bevollmächtigten der acht hauptſächlichen Un - terzeichner der Congreßacte vom 19. März 1815. „ Pour prévenir les embarras, qui se sont souvent présentés, et qui pourraient naître encore des prétentions de préséance entre les diffé - rens agens diplomatiques, les plénipotentiaires des puissances signa - taires du traité de Paris sont convenus des articles qui suivent; et ils croient devoir inviter ceux des autres têtes couronnées à adopter le même règlement:
344Drittes Buch. §. 208.Der älteren Praxis waren dieſe Unterſcheidungen fremd; man kannte nur Botſchafter (Ambassadeurs) und Agenten. Allmälig wurden dann aber bei einzelnen Höfen die übrigen Titel und Qua - lificationen mehr oder weniger üblich. In Anſehung der geſandt - ſchaftlichen Geſchäfte ſelbſt, der Fähigkeit dazu und ihrer Giltig - keit, iſt der ganze Rangunterſchied völlig ohne Einfluß. Nur die3Art. I. „ Les employés diplomatiques sont partagés en trois classes: celle des ambassadeurs, légates ou nonces; celle des envoyés, ministres ou autres accrédités auprès des sou - verains; celle des chargés d’affaires accredités auprès des ministres char - gés des affaires étrangères. Art. II. Les ambassadeurs, légates ou nonces, ont seuls le caractère représentatif. Art. III. Les employés diplomatiques en mission extraordinaire, n’ont à ce titre, aucune supériorité de rang. Art. IV. Les employés diplomatiques prendront rang entre-eux dans chaque classe, d’après la date de la notification officielle de leur arrivée. Le présent règlement n’apportera aucune innovation relative - ment aux représentans du Pape. Art. V. Il sera déterminé dans chaque état un mode uniforme pour la réception des employés diplomatiques de chaque classe. Art. VI. Les liens de parenté ou d’alliance de famille entre les cours, ne donnent aucun rang à leurs employés diplomatiques. Il en est de même des alliances politiques. Art. VII. Dans les actes ou traités entre plusieurs puissances, qui admettent l’alternat le sort décidera entre les ministres, de l’ordre qui devra être suivi dans les signatures. “ Le présent règlement est inseré an protocote des plénipoten - tiaires des huit puissances signataires du traité de Paris dans leur séance du 19. Mars 1815. b) In dem Aachener Protocolle der Bevollmächtigten von Oeſtreich, Frank - reich, Großbritannien, Preußen und Rußland vom 21ſten November 1818. „ Pour éviter les discussions desagréables qui pourraient avoir lieu à l’avenir sur un point d’étiquette diplomatique que l’annexe du recès de Vienne par laquelle les questions de rang ont été réglées ne parait pas avoir prévu, il est arrêté entre les cinq cours que les ministres résidens accrédités auprès d’elles formeront par rapport à leur rang une classe intermediaire entre les ministres du second ordre et les chargés d’affaires. “ Wegen der ſucceſſiven Ausbildung der obigen Claſſification vgl. Merlin a. a. O. Sect. I. Schmelzing, Völkerr. §. 281.345§. 209. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.Fähigkeit der perſönlichen Vertretung wird den Botſchaftern im höchſten Grade oder vorzugsweiſe beigelegt. 1Vielleicht nach dem Vorgang der Cardinal-Legaten, welche als Cardinäle in der römiſch-katholiſchen Kirchenſprache als Söhne des Papſtes gelten.
209. Die Wahl der Perſon des Geſandten hängt lediglich von dem Willen des Abſenders ab. Weder Geſchlecht,2Beiſpiele weiblicher Abgeſandten bei Merlin sect. III, n. 3. noch Geburt oder Rang begründen an ſich ein Hinderniß. Rathſam iſt nur eine dem auswärtigen Souverän angenehme Perſon zu wählen, da derſelbe, wie ſchon bemerkt (§. 197.), in keinem Falle verpflichtet ſein kann, eine ihm unangenehme Perſon perſönlich zu empfangen oder eine ſpecielle Unterhandlung mit ihr beginnen zu laſſen. Nach Beſchaffenheit der Größe und des Characters der Miſſion können auch mehrere Geſandte zugleich für denſelben Zweck abgeordnet wer - den, es ſei nun mit gleichem Recht und Rang oder mit ungleichem, wie die Vollmacht näher zu beſtimmen hat. Ein Geſandter kann ferner bei mehreren Höfen zugleich oder auch von mehreren Höfen bei einem anderen accreditirt werden.
Zu welcher Rangclaſſe die Geſandten gehören ſollen, hängt eben - falls von dem Willen des Senders ab. Indeſſen beſteht hierbei die Maxime
Schwerlich kann man indeſſen beweiſen, daß das Recht Bot - ſchafter zu ernennen nur ein Königliches Recht ſei. 3S. ſchon Vattel IV, 78. Vergl. auch in gemeinſchaftlicher Beziehung Moſer Verſ. III, 5. und Beitr. III, 7. Merlin, sect. II, §. 2. n. 1.Gewiß iſt es ſchon öfter von geringeren Souveränen geübt worden. Ja, iſt es wahr, daß Botſchafter die eigentlichen Vertreter der Perſon des Souveräns ſind, ſo muß ſogar, wenn es auf eine ſolche perſönliche Vertretung ankömmt, z. B. in Vermählungsan -346Drittes Buch. §. 210.gelegenheiten, jederzeit ein Geſandter erſter Claſſe abgeordnet werden, und ſelbſt dem geringſten Souverän dürfte demnach dieſelbe Be - fugniß nicht verſagt werden. Indeſſen trifft man ſchon der Koſten wegen hierbei gern eine andere Auskunft.
210. Der öffentliche Character eines Geſandten beginnt in An - ſehung des von ihm repräſentirten Staates mit ſeiner Ernennung. Er erhält vom Letzteren ſeine Inſtructionen, aus welchen das Maaß ſeiner Verantwortlichkeit gegen den eigenen Staat beſtimmt wird. 1Zur Nebenausrüſtung gehört die Mitgabe einer Geheimſchrift und ein Schlüſ - ſel derſelben (chiffre chiffrant et déchiffrant) auch wohl eines ſ. g. chiffre banal, zur Correſpondenz mit den übrigen Geſandten derſelben Macht. Vgl. J. L. Klüber Kryptographie. Tübing. 1809. Callière, sur la manière de négocier. chap. 20.Zur Beglaubigung ſeiner Qualität bei der auswärtigen Staatsgewalt hingegen empfängt er, wenn ihm beſtimmte Geſchäfte oder Verhandlungen aufgetragen ſind, eine ſchriftliche förmliche Vollmacht,2Sonſt zuweilen ad omnes populos. Lamberti Mémoires VIII, 742. IX, 655. welche den Zweck ſo wie die Grenzen des Auf - trags bezeichnet und die Grundlage der Giltigkeit aller Handlun - gen des Vertreters, ungehindert durch den Inhalt der Inſtructio - nen bildet, wenn nicht auch dieſe zur Erklärung der Vollmacht mit - getheilt worden ſind; ſodann regelmäßig oder auch ganz allein, vor - züglich bei allgemeinen dauernden Miſſionen, ein eigenes Beglau - bigungsſchreiben (lettre de créance), wodurch der abſendende Souverän dem auswärtigen die Miſſion ſeines Abgeordneten im Allgemeinen bekannt macht und ihn den Erklärungen deſſelben Gehör zu ſchenken erſucht. Geſandte dritter Claſſe werden auch wohl nur durch den Miniſter der auswärtigen Angelegenheiten bei dem aus - wärtigen Amt im fremden Staat beglaubigt.
Der völkerrechtliche Repräſentativcharacter mit den davon ab - hängigen Rechten beginnt demnächſt für den fremden Staat erſt nach erhaltener officieller Kenntniß von der Miſſion und Perſon des Abgeordneten. Einer ausdrücklichen oder ſtillſchweigenden An - nahme bedarf es jedoch nicht; der beglaubigte Abgeordnete ſteht nichtsdeſtoweniger unter dem Schutz des Völkerrechts ſelbſt im347§. 211. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.feindlichen Gebiete, ſo lange nicht ſeine Zurückweiſung deutlich er - klärt, und die ihm erforderliche Zeit, um den fremden Staat wie - der zu verlaſſen, verſtrichen iſt. Ausfertigung und Zuſtellung von Päſſen iſt nur das gewöhnliche Zeichen der Genehmigung von Sei - ten der auswärtigen Staatsgewalt und die officielle Legitimation gegen die Behörden ihres Landes; eine Sicherſtellung des völker - rechtlichen Characters. Die cerimoniellen Befugniſſe und Vorrechte können natürlicher Weiſe nicht eher in Kraft treten, als bis der fremde Staat nach erhaltener Kenntniß von der Miſſion dieſerhalb die nöthigen Verfügungen zu treffen vermocht und der Abgeordnete ſelbſt dasjenige beobachtet hat, was zu ſeinem Auftreten bei der fremden Staatsgewalt erforderlich iſt; in Beziehung auf die Aeu - ßerlichkeiten des Hoflebens alſo vorzüglich erſt nach geſchehener Vorſtellung. 1„ Il est certain “, ſagt Merlin mit Recht in der ſchon §. 201. angeführ - ten Stelle V, 3, 3, „ que son caractère public ne se développe dans toute son étendue, que lorsqu’il est reconnu et admis par le sou - verain à qui il remet ses lettres de créance. Mais pour ce qui est de la protection du droit des gens, de la sureté et de l’inviolabilité de sa personne, il doit en jouir dès qu’il a mis le pied dans le pays où il est envoié, et qu’il s’est fait connaître. “Erfolgt eine Veränderung in der amtlichen Stel - lung eines Geſandten, namentlich eine Beförderung in eine höhere Rangclaſſe, ſo wird auch hierüber eine neue Beglaubigung ausge - fertigt und hinſichtlich derſelben dasjenige beobachtet, was bei dem erſten Auftreten in der neuen Eigenſchaft in cerimonieller Weiſe er - forderlich geweſen ſein würde.
211. Schon längſt iſt es an den Höfen und bei den mit ih - nen wetteifernden Republiken üblich geworden, ihren Geſandten, welche ſie mit herkömmlichen Titeln und gehörigen Beglaubigungen abſchicken, gewiſſe Rechte beizulegen, zu vindiciren und gegenſeitig zuzugeſtehen, welche weit über den nothwendigen Bedarf hinausge - hen. Dieſelben erſcheinen
Ein allgemein und ausdrücklich als verpflichtend anerkanntes Ge - ſetz giebt es weder in der einen noch anderen Beziehung. 2Die bei de Real, Rousset und v. Martens Erzähl. I, 369. abgedruckten Immunités accordées par l’Empereur aux Ambassadeurs (angeblich von Carl V) ſind wohl ebenſo apocryphiſch, als die ſchon oben angeführten Lois (S. 334.). Beſondere Verordnungen einzelner Staaten finden ſich abgedruckt bei v. Martens a. a. O. I, 330. u. II, 344.Nur in einzelnen Stücken läßt ſich ein feſtes, auf die Meinung der Noth - wendigkeit geſtütztes Herkommen oder eine Obſervanz unter gewiſ - ſen Staaten darthun.
212. Was zunächſt die Unverletzbarkeit anbetrifft, ſo be - ſchränkt ſich dieſe nicht bloß auf die Perſon des Geſandten und ſeines Gefolges unmittelbar, ſondern erſtreckt ſich noch überdies auf diejenigen Sachen, welche mit ſeiner Perſon und ſeiner Würde im nächſten Zuſammenhange ſtehen; insbeſondere
endlich
Alle dieſe Sachen gelten als befriedet; weder die auswärtige Staats - gewalt ſelbſt, noch auch ihre Unterthanen dürfen ſich daran di - rect vergreifen ohne ſich einer Verletzung des Völkerrechts ſchuldig449[349]§. 212. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.machen;1Dies iſt jedoch ſchwerlich auf die Ausübung eines Retentionsrechtes zu be - ziehen, welches ein Staatsunterthan an effectiv ſchon in ſeinen Händen be - findlichen Sachen wider einen fremden Geſandten ohne Zuthun der Juſtiz auszuüben vermag. Privatrechte kann der geſandtſchaftliche Character nicht beſeitigen. jedoch können auch andererſeits dieſe Sachen nicht dazu dienen, um Acte der auswärtigen Staatsgewalt, welche ihnen ge - gen dritte Perſonen zuſtändig ſind, zu vereiteln; insbeſondere iſt, wie gegenwärtig wohl außer Zweifel ſteht, kein Aſylrecht damit ver - bunden, obgleich es zuweilen in Anſpruch genommen worden iſt. 2Chr. Thomasius de iure asyli legator. aedib. competente. Lips. 1689. und diss. Lips. 1695. n. XVI. Bynkershoeck, l. c. cap. 21. Merlin V, §. 5. n. 4.Ereignet ſich demnach, daß ein Verfolgter ſeine Zuflucht in die ge - ſandtſchaftliche Wohnung oder Caroſſe nimmt: ſo muß unbedingt die Auslieferung erfolgen; nur bringt es die Achtung gegen den Geſandten und deſſen Staat mit ſich, daß die Auslieferung auf eine ſo wenig als möglich auffällige oder für den Geſandten ver - letzende Weiſe verlangt werde. Dieſes kann jedoch nicht hindern ſo - fortige Sicherungsmaaßregeln zu treffen, daß der Flüchtige durch den hiermit entſtehenden Aufenthalt ſich nicht der Verfolgung ent - ziehe; auch kann im Falle verweigerter Auslieferung die fremde Re - gierung ſich unbedenklich ſeiner Perſon ſogar wider den Willen des Geſandten bemächtigen und hierzu in das Hotel deſſelben eindrin - gen, immer jedoch unter der Bedingung, jeder thatſächlicher Ver - letzung ſeiner Perſon und der mit ihm befriedeten Sachen ſich zu enthalten. 3Einzelne Fälle, welche Obiges beſtätigen, ſ. bei Merlin a. a. O. Ferner in v. Martens Erzähl. I, S. 217 f. Bar. de Martens, Causes célèbr. I, 174. In der älteren Zeit hat man freilich von Seiten der Geſandten ſtarke Prätenſionen gemacht und jede Perquifition abweiſen wollen. Vgl. z. B. B. de Martens l. c. II, 371.Außer dieſem Falle iſt gewiß jedes Eindringen und Durchſuchen des Hotels etwas Unerlaubtes, ſogar wenn der Ver - dacht obwaltete, daß daſſelbe zum Schutz eines Verbrechers oder zur Verhelung der Spuren eines Verbrechens benutzt werde. In - zwiſchen muß auch hierüber der Geſandte auf Befragen Auskunft ertheilen; würde die Antwort verweigert oder in ungenügender Weiſe gegeben, ſo würde die Staatsregierung nicht verhindert ſein die Durchſuchung dennoch vorzunehmen; ohne alle Frage dann,350Drittes Buch. §. 213.wenn ſie Grund zu dem Verdacht hätte, daß das Hotel zu einer feindlichen Unternehmung gegen ſie dienen ſolle.
In dieſen einfachen Grenzen beſteht die ſogenannte Quartier - freiheit der Geſandten (la franchise de l’hôtel, jus franchisiae sive franchisiarum); wenn man ſie in älterer Zeit an einigen Or - ten auf das ganze Stadtquartier des Hotels ausgedehnt und dem - ſelben dadurch einen gewiſſen Character von Exterritorialität gege - ben hat, ſo beruht dies lediglich nur auf einzelnen Conceſſionen, die jedoch in neuerer Zeit meiſtens oder gänzlich zurückgenommen ſind. 1S. die Note 2. 3. der vorigen S. angeführten Schriften.Ebenſo unbefugt, ohne Vergünſtigung des auswärtigen Staates, iſt die Ertheilung von Schutzbriefen für einzelne Perſonen, welche ein Geſandter unter ſeine Aegide zu nehmen beabſichtigen könnte. 2Moſer Verſuch IV, 320.
In Betreff dritter Staaten gilt das Obige (§. 204.); auch characteriſirte Geſandte können ſich hier nicht auf Unverletzbarkeit berufen, wie die a. a. O. bemerkten Beiſpiele darthun.
213. Dieſelbe Unverletzbarkeit und Unabhängigkeit, welche einem Geſandten der fremden Staatsregierung gegenüber zuſteht, gewährt ihm auch das Recht einer eigenen freien Religionsübung, ſogar einer ſolchen, welche nach den auswärtigen Staatsgeſetzen verboten ſein ſollte. 3S. vorzüglich über dieſen Gegenſtand: J. H. Boehmer, J. Eccles. Prot. III, 3, 37, 45 sqq. J. J. Moſer Verſ. IV, 155. Deſſen Beitr. IV, 185. v. Martens Völkerr. Hptſt. VII. Klüber §. 215. 216. Schmel - zing §. 355.Allerdings verſteht ſich jedoch dieſelbe nur innerhalb der Grenzen einer ſogenannten Hausandacht, mithin nur innerhalb des geſandtſchaftlichen Hotels, ohne alles öffentliche Gepränge, na - mentlich ohne Gebrauch von Glocken und Orgeln und ohne äu - ßerlich nach der Straße hin ſichtbare Zeichen einer beſonderen Cul - tuseinrichtung, z. B. ohne die Geſtalt von Kirchenfenſtern, wenn nicht in dieſer Hinſicht die auswärtige Staatsregierung eine beſon - dere Conceſſion macht. Im Uebrigen gehört es zu den ausge - machten Befugniſſen der Geſandten erſter und zweiter Claſſe ſowie auch der Miniſterreſidenten, eine eigene Capelle in ihrem Quartier351§. 214. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.und für den Gottesdienſt einen eigenen Geiſtlichen ihrer Confeſſion zu haben, wenigſtens dann, wenn ſich am nämlichen Orte keine vollſtändige Kircheneinrichtung für dieſelbe befinden ſollte. Ein ſolcher Geiſtlicher kann aber nicht von dem Geſandten ſelbſt, ſon - dern nur von ſeiner Regierung oder mit deren Erlaubniß ange - nommen werden; iſt dieſes geſchehen, ſo würde ihm auch die Aus - übung von Parochialhandlungen mit bürgerlicher Giltigkeit inner - halb des geſandtſchaftlichen Hotels nicht abzuſprechen, und er als der eigentlich competente Pfarrer — falls er nur die hierzu erfor - derlichen kirchlichen Eigenſchaften beſitzt — in Beziehung auf das geſandtſchaftliche Perſonal zu betrachten ſein. 1Ob dergleichen Perſönlichkeiten auch an anderen Perſonen giltig vollzogen werden können, hängt von den auf ſie in Anwendung kommenden bürger - lichen Geſetzen ab.In keiner Weiſe darf ein ſolcher Geiſtlicher öffentlich mit den Zeichen ſeines Stan - des erſcheinen und ebenſo wenig ſonſtigen Perſonen die Theilnahme an dem geſandtſchaftlichen Gottesdienſt geſtattet werden, oder die Aufnahme von Proſelyten aus einer anderen Religionspartei, es ſei denn unter Zulaſſung oder Connivenz der auswärtigen Staats - regierung.
Das Recht eines ſolchen particulären Cultus dauert ſo lange, als der Geſandte ſeine geſandtſchaftliche Qualität beibehält, ſollte er auch eine Zeitlang von ſeinem Poſten abweſend ſein, zu Gunſten der Seinigen. 2Schlözer Briefwechſel Th. III, S. 76.Es muß jedoch eingeſtellt werden bei einer wirk - lichen Suspenſion des geſandtſchaftlichen Characters und mit die - ſem ſelbſt völlig aufhören.
214. Völlig außer Zweifel ſteht in der heutigen Staatenpraxis, daß keine geſandtſchaftliche Perſon ſelbſt nicht wegen verübter Ver - gehen oder Verbrechen der Strafgerichtsbarkeit des auswärtigen Staates unterworfen iſt, wiewohl dieſes in früheren Jahrhunder - ten bedenklich gefunden und beſtritten worden iſt. 3Die Geſchichte dieſes internationalen Dogmas ſ. bei Bynkershoeck de jud. comp. legati cap. 24. und 17 — 19. Vgl. Wheaton hist. p. 170 s. Fixirt iſt die Anſicht hauptſächlich ſeit Groot II, 18. §. 4.Die Praxis352Drittes Buch. §. 214.ſelbſt bietet ſchon aus den letzten drei Jahrhunderten kein Beiſpiel des Gegentheils dar. Ebenſo ausgemacht iſt aber auch auf der anderen Seite, daß der geſandtſchaftliche Character nicht etwa das Privilegium giebt, ungehindert ſelbſt die unerlaubteſten oder ſchänd - lichſten Handlungen zu begehen, vielmehr ſteht nicht allein dem mit einem Angriffe bedrohten Privatmanne das Recht der Vertheidi - gung, und der Polizei des auswärtigen Staates das Recht einer thatſächlichen Intervention gegen beabſichtigte Unordnungen oder Verbrechen zu, ſondern es können auch, wenn dergleichen ſchon be - gangen ſind, unbedenklich alle Maaßregeln ergriffen werden, welche die Intereſſen des verletzten Staates gegen weitere Beeinträchtigun - gen ſichern und das Aergerniß entfernen, was durch das Verhal - ten des fremden Geſandten gegeben worden iſt, ohne dabei die Würde des fremden Staates ſelbſt zu beeinträchtigen, folglich mit größeſter Schonung.
Zu dieſen Maaßregeln, welche allerdings nur von der höchſten Staatsgewalt, nicht aber von untergeordneten Behörden ausgehen können,1Merlin questions de droit mot: parlamentair. gehört:
endlich
Steht ein Geſandter auch noch in einem dauernden Unterthans - oder Dienſtverhältniß zu dem Staate, bei welchem er als Geſand - ter einer anderen Macht accreditirt iſt, ſo kann jenem das Recht der Beſtrafung durch das geſandtſchaftliche Verhältniß ſchwerlich entzogen ſein. 1In dieſem Falle befand ſich Wicquefort ſelbſt im Jahre 1675, wie Byn - kershoeck Cap. 18. §. 6. darlegt.Gewiß aber wird zuvor das Intereſſe des aus - wärtigen Staates durch genommene Rückſprache mit demſelben vor weiterem gerichtlichen Einſchreiten ſicher zu ſtellen ſein.
215. Nachdem ſich einmal die Fiction einer Exterritorialität der Geſandten aufgethan hatte, konnte nun ihre Exemtion von der bürgerlichen Gerichtsbarkeit in dem bereits §. 42. No. VII. dar - gelegten Umfang nicht ausbleiben. Zwar ſind die Meinungen hier - über ſtets getheilter geweſen, als in Betreff der Strafgerichtsbar - keit;2Die Erörterung dieſes Punctes nach ſeinen inneren und geſchichtlichen Gründen ſiehe bei Bynkershoeck de jud. compet. ; ſonſtige Schriften bei v. Ompteda §. 265. und v. Kamptz §. 236. es würde auch, wie wir noch an einer anderen Stelle (§. 202.) bemerkt haben, eine gaͤnzliche Exemtion in allen bürgerlichen Streitſachen ohne Unterſchied aus der Natur der geſandtſchaftlichen Miſſion nicht zu rechtfertigen ſein; indeſſen giebt es, ſo viel uns bekannt, zur Zeit kein Land, in welchem noch andere Ausnahmen von der Exemtion der Geſandten ſtatuirt würden, als die mit der Exterritorialität an ſich verträglichen;3Den Nachweis liefert Merlin Sect. V, §. 4. Nr. 1 — 9. Ward Eu - quiry II, 497. ſo daß für jetzt jeder Streit unerheblich oder niedergeſchlagen ſein dürfte. Aus dem theoretiſchen Standpuncte laſſen ſich allerdings Bedenken erheben, ob dieſe all - ſeitige Staatenpraxis nur auf einer precären Convenienz oder auf einer Ueberzeugung von der inneren Nothwendigkeit des Principes beruht; ob nicht alſo jeder Staat von der bisherigen Obſervanz2ſ. bei v. Ompteda §. 253. und bei v. Kamptz §. 228. Der letzte Verſuch einer Anklage eines fremden Geſandten wurde 1765 von dem Chevalier D’Eon wider den franzöſiſchen Ambassadeur de Guerchy gemacht, indeſſen ſcheint die Sache keinen Fortgang gehabt zu haben. Moſer Verſuch 419. Ward gedenkt dieſes Falles nicht in ſeiner ſorgfältigen Auseinanderſetzung der Frage.23354Drittes Buch. §. 216.ohne Rechtsverletzung gegen die übrigen wieder abgehen dürfe. 1S. auch Pinheiro Ferreira zu Vattel IV, §. 92 u. ff.Geſetzt es wäre zu bejahen, ſo würde ſich die bürgerliche Gerichts - barkeit wider einen fremden Geſandten immerhin doch in denjeni - gen Grenzen halten müſſen, innerhalb deren ſie gegen einen nicht anweſenden Ausländer ausgeübt werden darf; niemals aber zu kör - perlichen Zwangsmaaßregeln gegen die Perſon des Geſandten und auf die mit ihm befriedeten Sachen erſtreckt werden können.
Was von der bürgerlichen Gerichtsbarkeit gilt, leidet im We - ſentlichen auch auf die polizeiliche Gerichtsbarkeit Anwendung. Zwar kann ſich ein Geſandter der Beobachtung der polizeilichen Anord - nungen in Betreff der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in und außer ſeinem Hotel nicht entheben; jedoch kann er im Falle der Contravention nicht zur Verantwortung gezogen werden, vielmehr leidet hier nur der Weg Anwendung, welcher im vorhergehenden Paragraphen in Anſehung leichter Vergehungen als der geeignete bezeichnet worden iſt.
216. Aus der iſolirten Stellung der Geſandten im Auslande, aus der Fiction der Exterritorialität in Betreff ihrer und ihrer An - gehörigen, endlich aus der Vorſtellung, daß die Geſandten, wenig - ſtens die der erſten Claſſe, die perſönlichen Vertreter des Souve - räns ſeien, konnte leicht die Anſicht entſtehen, daß denſelben eine eigne Gerichtsbarkeit innerhalb des exterritorialen Bereichs ihrer Miſſion gebühre;2Verſchiedene Anſichten hierüber und Verſuche einer Jurisdictionsattribution ſ. bei Bynkershoeck a. a. O. c. 15 u. 21. Merlin sect. V, §. 6. n. 2. und IV, n. 4 s. und es fehlt auch nicht an geſchichtlichen Beiſpielen, daß ſogar die Ausübung der höchſten Strafgerichtsbarkeit, nämlich ei - nes Blutgerichts, in einzelnen Fällen verſucht oder behauptet wor - den iſt,3Memoires de Sully VI, 1. und darnach B. de Martens Causes célèbr. II, 370. wie man ſie in der älteren Zeit jedem Souverän als über die Seinigen nach eigenem Ermeſſen zuſtändig vindiciren wollte; um wieviel mehr alſo die bürgerliche Gerichtsbarkeit. Dieſe Anſicht hat ſich indeſſen nie zu einer wirklichen Praxis erhoben. Auf alle Fälle würde es dazu einer ausdrücklichen Delegation der Gerichts -355§. 216. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.barkeit von Seiten des abſendenden Souveräns bedurft haben und noch bedürfen; die Verhängung von Criminalſtrafen aber würde ei - nem Botſchafter in ſeinem Hotel ebenſowenig von dem auswärtigen Staate, worin er ſich befindet, nachgeſehen werden, als man jene einem fremden Souverän ſelbſt geſtatten würde. Nur in den mu - ſelmänniſchen Staaten des Orients iſt meiſtens den europäiſchen Abgeordneten eine umfaſſende Gerichtsbarkeit, beſonders in Straf - ſachen „ gemäß den Gebräuchen der Franken “bewilligt, ſo wie man den muſelmänniſchen Geſandten an europäiſchen Höfen eine unbe - ſchränkte Gerichtsbarkeit über ihre Leute geſtattet oder nachgeſehen hat. 1Moſer Beitr. IV, 256.Unter den europäiſchen Mächten ſelbſt hingegen iſt ſie nur auf eine ſehr untergeordnete Thätigkeit beſchränkt und dem vater - ländiſchen Staate die volle Gerichtsbarkeit vorbehalten.
Jene Thätigkeit beſteht nun
Das Recht einer Privatgerichtsbarkeit iſt den Geſandten an euro -23*356Drittes Buch. §. 217.päiſchen chriſtlichen Höfen ſelbſt für die Perſon ihres Gefolges, ſo viel bekannt, nirgends eingeräumt, ſondern ſie vollziehen hier nur etwanige Requiſitionen, insbeſondere Zeugenverhöre, und zwar Alles dieſes nach den Geſetzen ihres Heimathsſtaates.
Daß jeder Geſandter in Betreff ſeiner Hausgenoſſen, welche nicht beigeordnete Beamte ſind, wenigſtens das Recht einer mäßi - gen Züchtigung oder eine ſ. g. Correctionalgerichtsbarkeit habe, iſt zwar in älterer Zeit oft als Regel behauptet worden, allein nach den jetzigen Staatseinrichtungen entweder überhaupt nicht oder doch nur ſehr ausnahmsweiſe zuzugeben. 1Vgl. Merlin a. a. O. IV, n. 4 f.
217. Zu allen bisherigen Privilegien haben ſich ohne Zweifel durch Ausdehnung des Exterritorialitätsbegriffs und durch Rück - ſichten der Hospitalität auch noch manche andere Befreiungen, ins - beſondere eine allgemeine Abgabenfreiheit geſellt, worin jedoch eine innere Nothwendigkeit oder Conſequenz des geſandtſchaftlichen Cha - racters nicht erkannt zu werden vermag. Zwar eine Befreiung von allen regelmäßigen perſönlichen Staatslaſten folgt ſchon aus der gewöhnlich dem Geſandten anklebenden Eigenſchaft eines Auslän - ders; allein ſie wird auch noch auf indirecte Abgaben ausgedehnt, ſo daß die Artikel für den Bedarf der Geſandtſchaft zollfrei aus dem Auslande von den Geſandtſchaften bezogen werden können. Inzwiſchen hat man in neuerer Zeit von Seiten der Regierungen gewiſſe Grenzen geſetzt, da eine Verbindlichkeit zur Bewilligung der - artiger Privilegien durchaus nicht vorhanden iſt. Ein Geſandter kann ſich ſogar nicht einmal der zur Sicherſtellung des Abgaben - intereſſe nothwendigen Durchſuchungen entziehen, wenn nur ſein Hotel und ſein Staatswagen unberührt bleibt, und er die Verſiche - rung giebt, daß ſich keine Contrebande darin befindet.
In keinem Falle erſtreckt ſich die Abgabenfreiheit der Geſandten
Im Allgemeinen kann daher von einem feſtſtehenden völkerrechtli - chen Privilegium hinſichts dieſes Punctes keine Rede ſein. 1Vgl. Merlin sect. V, §. 5. n. 2. Im einzelnen vergleiche man die ſchon oben angeführten geſetzlichen Verordnungen einzelner Staaten in v. Mar - tens Erzähl. Th. I u. II. Anhang. Dazu wegen Rußland die Ukas von 1817 im Nouv. Recueil t. III, p. 96.
218. Zu den ſogenannten Cerimonialrechten der Geſandten ge - hört vor allen Dingen eine ihrer Stellung entſprechende Aufnahme in dem fremden Staate. Wie jene eingerichtet werden ſolle, hängt an ſich von dem Ermeſſen des letzteren ab. Der Geſandte kann nur verlangen und erwarten, in keiner irgendwie herabſetzenden Weiſe, ſondern mit Rückſicht auf den Rang ſeines Staates und auf die Categorie des ihm beigelegten Geſandtſchaftscharacters, ohne Nach - ſtellung gegen Andere von gleicher Categorie, aufgenommen zu wer - den. Er ſelbſt muß auch dazu die Veranlaſſung geben, indem er ſich vorerſt bei dem Miniſter der auswärtigen Angelegenheiten mel - det und ihn erſucht, die weiteren Veranſtaltungen zu ſeiner Auf - nahme bei dem Souverän zu treffen, namentlich zur Uebergabe ſei - ner Creditive, ſofern dieſe an den Souverän ſelbſt gerichtet ſind. Ob nun die Einführung und Audienz bei dem letzteren eine beſon - ders feierliche (ſogenannte öffentliche) oder private ſein ſoll; mit welchen Förmlichkeiten ſie begleitet und beendigt werden ſoll;2S. darüber Bynkershoeck Quaest. iur. p. II, 7. Wicquefort I, c. 19. alles dieſes hängt von dem ſpeciellen Staats - oder Hofſtyl, ſowie von der Entſchließung des fremden Souveräns ab, ſofern nur nicht dem angegebenen allgemeinen Princip entgegen gehandelt wird. Die dabei vorkommenden Förmlichkeiten ſind aber im weſentlichen kein Gegenſtand des Völkerrechts.
Lediglich ein Gegenſtand der politiſchen Convenienz ſind dem - nächſt auch die von den Geſandten abzuſtattenden fernerweiten Beſuche, wiewohl man auch hier von Rechten geſprochen und ſel - bige geltend zu machen geſucht hat.
358Drittes Buch. §. 219.Reine Convenienzbeſuche, die freilich kaum unterlaſſen werden dürfen, ſind vorab die Beſuche oder Vorſtellungen bei den Mitglie - dern der ſouveränen Familie in monarchiſchen Staaten; ſodann bei dem Miniſter der auswärtigen Angelegenheiten und bei den Mitgliedern des diplomatiſchen Corps. In der letzteren Beziehung iſt ſogar von einem Recht des erſten Beſuches die Rede; Geſandte erſter Claſſe haben einen ſolchen gewöhnlich von dem Miniſter der auswärtigen Angelegenheiten, gewiß auch von den bereits anwe - ſenden Gliedern des diplomatiſchen Corps verlangt; dennoch aber beruht hier alles auf bloßer Höflichkeit; ein Forderungsrecht iſt in keiner Weiſe begründet. 1Vgl. Merlin sect. IV.
219. Die Aengſtlichkeit, womit die Regierungen vormals ihre Würde zu bewachen ſuchten, führte auch zu einer ängſtlichen Be - obachtung der Rangverhältniſſe unter den diplomatiſchen Vertretern. Die größere Geſchmeidigkeit der jetzigen Zeit und Sitte macht es möglich ſie auf folgende Sätze zu beſchränken:
220. Specielle Ehrenrechte hat man in der neueren europäi - ſchen Staatspraxis allezeit den Geſandten erſter Claſſe zugeſtan - den, indem man ihnen vorzugsweiſe eine Repräſentation der Perſon ihrer Souveräne zuſchrieb. Kraft derſelben haben ſie an dem frem - den Hofe wohl gar den unmittelbaren Rang nach den Prinzen von kaiſerlichem oder königlichem Geblüt verlangt, desgleichen vor den regierenden Häuptern ſelbſt, falls ihr eigener Souverän denſelben vorgehen würde. Dieſer Anſpruch iſt ohne zureichenden Grund, da, wie ſchon bemerkt ward, die ſ. g. rein perſönliche Repräſentation der Geſandten erſter Claſſe eine bloße Fiction ohne innere Wahr - heit iſt. Der Vertreter einer Perſon iſt niemals die phyſiſche Perſon ſelbſt; ebenſo wenig kann ein Souverän ſich vervielfältigen und das was an ſeiner Perſon ausſchließlich haftet, ſelbſt noch anderen mittheilen. 1Vgl. Heinrich Cocceji de repraesentatione legator, und Commentar. zu Groot II, 18, 4.Auch der Geſandte erſter Claſſe iſt daher im frem - den Staate nichts als ein fremder Unterthan erſten Ranges, anderen Unterthanen ſelbſt nur als Organ ſeines Staates voranſtehend, da - durch aber nicht berechtigt, den eigenen höchſten Organen der frem - den Staatsgewalt vorzugehen.
Anerkannte Vorrechte der Geſandten erſter Claſſe ſind indeß:
Daß man den päpſtlichen Legaten und Nuntien, wenigſtens an ka - tholiſchen Höfen, den Vorrang vor weltlichen Geſandten erſter Claſſe360Drittes Buch. §. 221.einräumt, iſt nach der Stellung der Kirche erklärlich;1Unwiderſprochen iſt dieſes jedoch nicht immer geweſen. Vgl. Moſer Verſ. IV, 52. dagegen iſt es nicht gelungen den Cardinallegaten denjenigen Rang zu ver - ſchaffen, welchen das Cerimonill des römiſchen Hofes, namentlich ſeit Sixtus V, ihnen beſtimmt hatte. 2Vgl. Ward, Enqu. II, 385. 386. Wegen der Verhältniſſe der Nuntien in Frankreich. Merlin, sect. V, §. 7.
221. Unter die Perſonen, welche zu der Umgebung eines Ge - ſandten gehören und dadurch ebenfalls beſtimmter Rechte und Pri - vilegien, insbeſondere der perſönlichen Unverletzbarkeit und Exterri - torialität mittheilhaftig werden, gehören vorzüglich:
Eigenthümliche Cerimonialrechte ſind ihnen im Allgemeinen zwar nicht zugeſtanden; man behandelt ſie als Fremde von Diſtinction und weiſet ihnen aus Höflichkeit dieſelben Ehrenplätze unter den Da - men an, welche der Gemahl unter den Männern einnimmt. Nur die Gemahlin eines Botſchafters genießt herkömmlich des Prädi - cats einer Ambaſſadrice, ſo wie des Vorrechts des Tabourets in Zirkeln der Kaiſerinnen und Könniginnen. Einen beſonderen Re - ligionscult nach ihrer Confeſſion können ſie nicht prätendiren. 3Fr. Carl v. Moſer kl. Schriften B. 3. In England nehmen die Coun - teſſes den Rang vor den Ambaſſadricen.
Dieſe werden in cerimonieller Hinſicht lediglich wie Fremde glei - cher Standescategorien behandelt.
Anſpruch auf ein beſtimmtes Cerimoniell im auswärtigen Staat haben ſie nicht.
endlich
In älterer Zeit legte man größeren Werth auf dergleichen Gefolg - ſchaften, als es jetzt die öffentliche Meinung thut und die Staats - öconomie geſtattet. Unfehlbar kann auch der fremde Staat, an welchen die Miſſion geſchieht, einer übertriebenen Vermehrung des Perſonals Grenzen ſetzen, desgleichen genaue Mittheilung über die Per - ſonalien aus polizeilichen Rückſichten und im eigenen Intereſſe der Geſandten verlangen,1Schon die goldene Bulle ſetzte den churfürſtlichen Wahlgeſandtſchaften hierin beſtimmte Grenzen. endlich für den Eintritt von Unterthanen in den Dienſt eines Geſandten beſondere Förmlichkeiten vorſchreiben. 2Vgl. wegen Nordamerica v. Martens Erzähl. II, 398.
Außer Zweifel liegt jetzt, daß alle vorgenannten Perſonen, ſogar wenn ſie Unterthanen des fremden Staates wären, in der Exter - ritorialität des Geſandten ſelbſt mitbegriffen und dadurch insbe - ſondere von der Straf - und bürgerlichen Gerichtsbarkeit des frem - den Staates in gleicher Weiſe eximirt, mithin der Gerichtsbarkeit des abſendenden Staates unterworfen ſind, ſoweit dieſe nicht dem Geſandten ſelbſt delegirt ſein ſollte. 3Die neuere Staatenpraxis iſt allgemein dafür. S. wegen England den Par - lamentsact von 1709. B. de Martens Causes célèbr. I, 59.; wegen Frankreich und mehrerer anderer Staaten Merlin; wegen Preußen Allgem. Ger. Ordn. Th. I, Tit. 2. §. 63. 67 ff. K. däniſche Verordn. v. 8. Oct. 1708. (v. Martens Erzähl. I, 353.) ferner die nordamerican. Congreßacte v. 1790 (ebend. II, S. 397.) — Desgleichen die Auctorität der gewichtig - ſten Publiciſten. Vgl. Ward, Enquiry II, 553 f. Merlin, sect. VI, n. 2 s. Streitigkeiten, welche hierüber noch im J. 1790 am Pfälziſchen Hofe mit dem Preußiſchen Miniſter bei Gelegenheit eines Falles vorkamen, ob - ſchon zu keinem Reſultat gediehen, ſ. noch in B. de Martens Nouv. cau - ses cél. II, 22 f. Dagegen auch wieder einen Fall, wo durch Repreſſa - lien die Exterritorialität der Domeſtiken aufrecht erhalten ward in deſſelben Causes célèbr. I, 247.(§. 214.) Nur bei zahlreich beſuchten Congreſſen hat man ſich zuweilen vereinigt, daß die ge - ſandtſchaftlichen Diener, welche keine wirklichen Beamten ſind, der Localobrigkeit untergeben ſein ſollten. 4Dies geſchahe am Congreß zu Münſter und zu Nimwegen. Wicquefort I, c. 28.Ueberdies kann ein Ge -362Drittes Buch. §. 222.ſandter unbedenklich jeden Domeſtiken, den er im Auslande ſelbſt angenommen hat, durch Wiederentlaſſung aus ſeinem Dienſte der dortigen Obrigkeit wieder unterwerfen; ſchwerlich aber kann er auf dieſem Wege einen ſeiner eigenen Landesangehörigen ohne Erlaub - niß des Souveräns der fremden Strafgewalt überliefern. 1Vgl. Vattel IV, §. 124., wo nur überſehen iſt, daß der Geſandte im obi - gen letzteren Falle nicht für ſich allein handeln darf.Ueber diejenigen Perſonen, welche dem Geſandten von ſeinem Souverän ſelbſt beigegeben ſind, hat der Geſandte ſo wenig wie über die Per - ſonen ſeiner Familie, vermöge der ihnen zuſtehenden ſtaatsbürger - lichen Garantien irgend eine derartige Befugniß. 2Vgl. wegen die Legationsſecretäre: Vattel IV, 122. Merlin sect. VI, n. 6.
Daß übrigens auch einer jeden dieſer Perſonen, wenn ſie den fremden Staat oder deſſen Angehörige thatſächlich verletzt, thatſäch - lich entgegengetreten werden kann und die Exterritorialität ſie nicht gegen Maaßregeln der Vertheidigung, ſo wie gegen augenblickliche Maaßregeln zur Handhabung der öffentlichen Ordnung ſchützen kann, verſteht ſich von ſelbſt. 3Ein Königl. Portug. Verordnung vom 11. Dcbr. 1748 erklärte ſogar die Hausgenoſſen der Geſandten ihrer Privilegien für verfallen und nach den Geſetzen ſtrafbar, wenn ſie die Juſtiz beleidigen. v. Martens Erzählungen I, 339.
222. Nichts iſt nach den Bemerkungen der neueſten Publici - ſten ſo unbeſtimmt, als das Rechtsverhältniß eines mit keinem ge - ſandtſchaftlichen Titel characteriſirten Agenten oder Commiſſarius, welcher in auswärtigen Angelegenheiten an einen fremden Staat geſendet wird. 4Merkwürdig iſt, wie z. B. Wicquefort und Vattel IV, 75. ſich drehen und wenden, um eigentlich von den obigen Perſonen nichts auszuſagen.Indeſſen liegt dabei zum Theil diplomatiſche Ei - telkeit und publiciſtiſche Devotion zum Grunde. Zu einer genaue - ren Feſtſtellung des Rechtsverhältniſſes ſolcher Emiſſaire muß man vorab unterſcheiden:
Endlich
223. Eine der älteſten Inſtitutionen des neueren europäiſchen Völkerverkehres im Intereſſe des Handels iſt die jetzt allgemein ſo - genannte Conſularinſtitution, wenn ſie auch in ihrer erſten Entſte - hung nicht überall unter jenem Namen vorkommt. Dieſelbe fällt in die Zeit, wo der Handel ſich ſelbſt eine Exiſtenz verſchaffen ja erkämpfen mußte, und er nur Schutz fand entweder in einer ſtäd - tiſchen Corporation, von welcher er ausging, oder in der Begrün - dung ſelbſtändiger Corporationen im Auslande, wo es ihm gelang Raum zu gewinnen, endlich auch, wiewohl erſt ſpäter, in dem Schutze der ſich mehr und mehr entwickelnden heimathlichen Staats - gewalt. Eines der erſten Bedürfniſſe, wofür geſorgt werden mußte, war dann nach ſeiner Conſolidirung an einem Orte die Gewinnung einer Jurisdiction, und zwar nicht blos für die Handelsgeſchäfte unter den Angehörigen derſelben Heimath und mit den Fremden, ſondern auch in anderen Beziehungen, worin der Handelsbetrieb ſo wie die Niederlaſſung an einem beſtimmten Orte verflechten kann, um gegen etwanige Willkühr und Eigenmacht geſichert zu ſein. Wie es nun ſchon im zwölften Jahrhundert, vornehmlich am mit - telländiſchen Meere in blühenden abendländiſchen Handelsſtädten, eigene Handelsrichter als Localobrigkeiten vielfältig unter dem Namen der Conſuln gab, ſo wurden weiterhin auch im Orient, in Folge der Kreuzzüge, zum Theil ſelbſt noch früher eben ſolche Beamte unter verſchiedenen Namen bei den Griechen und in den chriſtlichen Reichen, welche in Syrien gegründet waren, für die dorthin han - deltreibenden Nationen und Städte eingeſetzt, was indeſſen mit dem dreizehnten Jahrhundert aufhörte. Dabei galt im Allgemeinen das damals überhaupt herrſchende Syſtem der Nationalität des Rech - tes, indem jeder regelmäßig nach ſeinem angeborenen Recht behan - delt wurde. — Als der Orient dem Islam verfallen war, ſuchte man ſich die einmal angefangenen Handelsverbindungen durch Ver - träge mit den moslemiſchen Beherrſchern und Obrigkeiten, beſon -2Gerichtsbarkeit, aber keine Befreiung von den Staats - und Communallaſten an ihrem Stationsorte.365§. 224. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.ders in Egypten und bei den Barbaresken zu ſichern, namentlich eine eigene Rechtspflege in der Errichtung von Conſulaten zu ver - ſchaffen. Von derſelben Zeit an wurden auch in europäiſchen Län - dern, und nicht mehr blos am mittelländiſchen Meere, ſondern fer - nerweit längſt der Nord - und Oſtſee Handelsetabliſſements von italieniſchen Republiken, von den Seeſtädten Cataloniens, Frank - reichs und Deutſchlands gegründet, zum Schutze derſelben eigene Behörden mit richterlicher Gewalt eingeſetzt und von den auswär - tigen Staaten privilegirt. So hatten die Hanſeſtädte in ihren Niederlaſſungen ihre Aldermänner und Beigeordneten derſelben, an - dere Städte und Republiken ihre Gouverneurs, Conſervatoren, Pro - tectoren und Conſuln. Sie befanden ſich hier mit einer dauernden Wirkſamkeit und unter dauerndem Schutze, um ſo bedeutender und hervorragender, da es noch keine ſtehenden Geſandtſchaften an den Höfen der Fürſten gab. 1Ueber die obigen geſchichtlichen Momente vgl. man das Werk von Alex. v. Miltitz, insbeſondere auch das Reſumé daſelbſt T. II, P. I, p. 394. Sehr erhebliche Beiträge dazu waren ſchon durch v. Martens Verſuch ei - ner hiſtoriſchen Entwickelung des Wechſelrechts geliefert. Vgl. überdies von Steck, Handelsvertr. S. 215. und deſſelben Verſuche S. 119.
224. Mit der Entwickelung des neueren Staatsſyſtemes zu einer Fülle und ſtets regen Thätigkeit der Staatsgewalt in dem chriſtlichen Europa, konnte derſelben eine derartige exterritoriale In - ſtitution mitten im eigenen Lande und häufig im Conflict mit den eigenen Intereſſen, nicht mehr angemeſſen, ſondern eher als eine Beeinträchtigung der eigenen Freiheit und Unabhängigkeit erſchei - nen. Ueberall ging daher bald früher bald ſpäter die Tendenz da - hin, den Handel der Fremden den eigenen Geſetzen und Gerichten zu unterwerfen. Man trug Sorge für die Einſetzung eigener Han - delsrichter (zum Theil ſelbſt wieder unter dem Namen der Conſuln, wie z. B. in Frankreich ſeit dem 16ten Jahrhundert), unter wel - chen auch der fremde Handel in den ihm gebührenden oder anzu - weiſenden Grenzen fortbeſtehen konnte. Durch die Einrichtung blei - bender Geſandtſchaften an den Höfen erhielten überdies die frem - den Nationen einen bei der auswärtigen Staatsgewalt unmittel - bar wirkſamen Schutz. Es blieb dabei höchſtens noch das Bedürf - niß in den einzelnen Handelsplätzen Agenten zu haben, welche ſich an Ort und Stelle der Handeltreibenden einer Nation annehmen366Drittes Buch. §. 225.und zunächſt bei den Localobrigkeiten hilfreich einſchreiten konnten, überhaupt einen Anlehnungspunct zur Vermittelung der nationalen Handelsintereſſen mit der Ordnung des Staates im Auslande zu haben. Auf dieſe Weiſe ſank das Inſtitut der mittelalterlichen Handelsrichter und conſulariſchen Jurisdiction zu einem bloßen Schutzverhältniß mit einer gewiſſen polizeilichen Auctorität für die Angehörigen jeder Nation, wofür es beſtimmt war, herab; nur auf dieſem Fuße hat es ſich ſeitdem allenthalben in den chriſtlichen Staaten Europas und außer Europa mit einer heilſamen Wirk - ſamkeit durch gegenſeitige Conceſſion erhalten. Eine andere Geſtalt hat es nur, wiewohl in den neueren Zeiten immer mühſamer, unter den nichtchriſtlichen Nationen beſonders im Orient behauptet, vor - züglich in den muſelmänniſchen Staaten durch die einzelnen Natio - nen daſelbſt bewilligten Privilegien, oder in Gemäßheit ausdrück - licher Verträge, wodurch man eine Garantie für daſſelbe zu erlan - gen gewußt hat. 1Vgl. v. Miltitz T. II, P. II, p. 3 u. f.
225. Nach der gemeinſamen heutigen Staatenpraxis in den europäiſchen oder europäiſirten chriſtlichen Ländern bilden, wie be - reits bemerkt, die Conſuln eine eigene Art von Agenten, hauptſäch - lich für die Handels -, zum Theil aber auch für die ſonſtigen Ver - kehrsintereſſen auswärtiger Staaten in einem fremden Lande oder in einzelnen Theilen und Plätzen deſſelben. Ihre Einſetzung beruht nur auf dem Einverſtändniß der beiden betheiligten Staatsgewal - ten. Kein Staat würde ſchuldig ſein gegen ſeinen Willen die An - ordnung eines Conſuls zu dulden; man läßt ſie ſich daher auch ausdrücklich in Verträgen2Auch noch in den meiſten neueren Handelsverträgen unter Staaten, für welche noch kein beſtimmtes Herkommen beſteht, iſt es nicht unterlaſſen. Es giebt aber auch Beiſpiele von Verträgen, wodurch die Anſtellung von Conſuln gegenſeitig ausgeſchloſſen ward. v. Steck, Essais sur div. sujets int. p. 52. So zwiſchen Frankreich und den Niederlanden, wovon indeß jetzt abgegangen ſcheint. geſtatten. Die Ernennung geſchieht durch ſogenannte lettres de provision von demjenigen Staate, deſſen Intereſſen im Auslande vertreten werden ſollen;3Nach einer gewöhnlichen Lehre hat jeder Staat, auch der halbſouveräne, welcher eine beſondere Flagge führt, das Recht zur Anſtellung von Conſuln. außerdem367§. 226. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.aber bedarf es der ausdrücklichen oder ſtillſchweigenden Genehmi - gung der Staatsgewalt des fremden Landes, wo die Wirkſamkeit des Conſuls ſich äußern ſoll; gewöhnlich erfolgt ſie durch ein ſo - genanntes Exequatur oder Placet, welches die dortige Staatsge - walt den Functionen des Conſuls ertheilt, und wodurch deſſen Qualität bei ihren eigenen Landesbehörden beglaubigt wird. Es be - darf deſſen um ſo mehr, weil gewöhnlich ein Unterthan dieſes Staa - tes ſelbſt von der fremden Regierung mit den conſulariſchen Func - tionen beauftragt wird. Mit Hinſicht auf größere oder geringere Wirkſamkeit werden übrigens dieſe Handelsagenten bald mit mehr bald weniger bedeutenden Titeln angeſtellt; ſo als Generalconſuln für ein ganzes Land oder über mehrere Plätze, dann als Conſuln ſchlecht - hin, oder auch als Viceconſuln und Beigeordnete der Vorhererwähn - ten. Jedoch haben alle dieſe Titulaturen nicht immer eine ſo be - ſtimmte Bedeutung.
226. Die gewöhnlichen Conſularattributionen ſind:1Eine ſehr ausführliche Beſtimmung über die Attributionen und Vorrechte der Conſuln findet ſich in dem Vertrage Frankreichs und Spaniens vom 13. März 1769. Wenck codex juris gent. T. III, p. 746. Martens rec. T. I, p. 629. Unter den neueren Verträgen iſt bemerkenswerth der Vertrag zwiſchen Frankreich und der Republik Texas vom 25. Sept. 1839. Art. 8 — 13. eine ſtete Fürſorge für die gehörige Erfüllung der beſtehen - den Handels - und Schiffahrtverträge, ſowohl von Seiten des fremden Staates wie auch der durch den Conſul ver - tretenen Nation; daher alſo auch Entfernung aller etwani - gen Hinderniſſe und Störungen des guten Vernehmens durch geeignete Schritte bei den auswärtigen Behörden, desgleichen durch Kenntnißnahme von den ankommenden Nationalſchif - fen, ihren Ladungen und Equipagen; daher auch gewöhnlich Ausübung der Paßpolizei; hiernächſt die Verpflichtung, den ankommenden Nationalſchiffen und Handeltreibenden Schutz und Beiſtand zu leiſten, ſo weit ſie eines ſolchen bedürfen und dazu berechtigt ſind, dabei auch wohl die Befugniß, flüchtige Matroſen von dem auswärti - gen Staate zu reclamiren, inſofern ſich dieſer zur Ausliefe - rung von dergleichen Perſonen verpflichtet hat;368Drittes Buch. §. 226.ferner das Recht einer freiwilligen Gerichtsbarkeit für den vertre - tenen Staat wenigſtens zur Beglaubigung der Schiffspapiere, ſofern ihr keine größere Ausdehnung ausdrücklich oder ob - ſervanzmäßig zugeſtanden iſt; endlich, wie ſich von ſelbſt verſteht, das Recht der ſchiedsrichterlichen Intervention und Entſchei - dung, wenn eine ſolche von den Nationalen in Anſpruch ge - nommen wird. Von einem größeren Umfang ſind die Attributionen der Conſuln in den muſelmänniſchen Staaten, wiewohl in neuerer Zeit auf de - ren Beſchränkung hingearbeitet iſt; faſt durchgängig iſt aber ſelbſt noch in neueren Verträgen den dortigen europäiſchen Conſuln eine Criminalgerichtsbarkeit über die Angehörigen der vertretenen Na - tion zugeſtanden, woraus dann ferner das ſtillſchweigende Zuge - ſtändniß der vollen bürgerlichen Gerichtsbarkeit unter den Nationa - len des Conſuls, obſchon ohne executoriſche Kraft für die muſel - männiſchen Behörden gefolgert werden darf.
Zu den Vorrechten der Conſuln in den europäiſchen chriſt - lichen Staaten gehört weſentlich nur eine Unverletzbarkeit der Per - ſon, welche ihnen möglich macht ihren Conſulargeſchäften ohne per - ſönliches Hinderniß nachzukommen. Durch Verträge iſt dieſe Un - verletzbarkeit bald unbedingt, bald mit Beſchränkung, insbeſondere unter Ausnahme ſchwerer Verbrechen anerkannt worden. Der bür - gerlichen Gerichtsbarkeit des Landes, worin ſie fungiren, ſind ſie regelmäßig unterworfen, ja, ſelbſt wenn ſie Ausländer ſind und ih - nen im Uebrigen Exterritorialität zugeſtanden wäre, wenigſtens in Beziehung auf Handelsgeſchäfte. 1Man vgl. den vorhin angeführten Vertrag zwiſchen Frankreich und Spa - nien von 1769. Art. 2. Das allgemeine Princip iſt noch vor kurzem durch ein arrêt der cour roiale von Aix im Jahre 1843 (mitgetheilt in der Gazette des Tribunaux von dem gedachten Jahre) ausgeſprochen: Attendu que si les Ambassadeurs sont indépendants de l’autorité souveraine du pais dans lequel ils exercent leur ministère, ce pri - vilège n’est pas applicable aux consuls; qui ceux ci ne sont que des agens commerciels; que si les lois de police et de securété obligent en général tous ceux qui habitent le territoire français il en resulte que l’étranger, qui se trouveIn den muſelmänniſchen Staa -369§. 227. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.ten genießen die Conſuln derſelben Vorrechte und Behandlung, welche dem fremden Abgeordneten im Allgemeinen zu Theil wird; meiſtens iſt ihnen dort ausdrücklich auch das Recht eines beſonderen Got - tesdienſtes bewilligt.
Beſtimmte Cerimonialrechte finden wenigſtens vermöge eines all - gemeinen Herkommens nicht Statt. Nach dem gewöhnlichen Ge - brauch bezeichnen ſie ihre Wohnung durch das Wappen ihres Sou - veräns, auch richtet ſich ihr Rang nach deſſen Rang. Beſtimmte Ehrenbezeigungen ſind ihnen jedoch überall nicht eingeräumt. 1J. J. Moſer Verſuche VII, 831. 843. Wheaton international Law. III, 1. §. 22.
227. Jede diplomatiſche Function endet nach der rechtlichen Natur jedes Auftrages:
Sie wird wirkungslos und daher ebenfalls beendigt:
Eine bloße Unterbrechung der Functionen und des davon ab - hängigen officiellen Characters tritt endlich ein:
Denn ein Erlöſchen der Vollmacht kann hier von Rechtswegen nicht angenommen werden; es müßte etwa dieſelbe, wie ſchon ge - ſagt, ausdrücklich nur auf die Perſonen der Souveräne geſtellt ſein. Außerdem kann der Regierungswechſel höchſtens nur einen Still - ſtand in den diplomatiſchen Functionen mit ſich führen.
228. Weder die Suspenſion noch auch die Beendigung diplo - matiſcher Sendungen vernichtet ſofort die völkerrechtliche Stellung des Beauftragten, und wenn auch vormals die Staatenpraxis be - ſonders im Falle eines ausgebrochenen Krieges nicht ſelten, ja ſo - gar regelmäßig noch während des Mittelalters ſchonungslos gegen Geſandte verfuhr:1Ward, Enquiry I, 285. Wegen der Saraceniſchen Praxis ebendſ. II, 477. Pütter, Beitr. 167. ſo hat ſie ſich doch längſt einer beſſeren Rich - tung ergeben. Geſandte fremder Staaten müſſen auch unter den Feinden derſelben unverletzbar bleiben. 2Grundſatz auch des kirchlichen Rechts. Can. 2. Dist. I.
Was nun zunächſt den Fall einer bloßen Suspenſion betrifft: ſo erſtreckt ſich dieſe im Weſentlichen nur auf den Geſchäftsverkehr, und kann daher der Regel nach keine Aenderung in den perſön - lichen Rechtsverhältniſſen eines Abgeordneten nach ſich ziehen.
Hat die Miſſion ſelbſt völlig aufgehört, ſo verſteht ſich für den abſendenden Staat unzweifelhaft das Recht, ſeine Intereſſen gegen jede eigenmächtige und fremdartige Einmiſchung ſicher zu ſtel - len und das ihm Gebührende unverletzt aus dem fremden Lande zurückzuempfangen. Es muß daher ſogar bei eingetretener Miß - ſtimmung und Feindſeligkeit dem Abgeordneten Zeit und Gelegen - heit gegeben werden, ſich aus dem fremden Staate ungehindert mit ſeinen Angehörigen und Effecten zurückzuziehen, überdem auch bis dahin jede weſentliche Rechtszuſtändigkeit der Abgeſandten in ihrer heutigen Entwickelung, nämlich Unverletzbarkeit und Exterritorialität, reſpectirt werden. 3Bielfeld, instit. II, p. 179. §. 30.Die Beſtimmung der Zeit iſt allerdings von dem Ermeſſen des fremden Staates abhängig; aber eine offenbar zu kurze Friſt würde das Völkerrecht verletzen. Erſt wenn eine billige24*372Drittes Buch. §§. 229. 230.Friſt geſetzt und abgelaufen iſt, oder der Abgeordnete ſelbſt oder ſeine Regierung erklärt, daß er ganz in das Privatleben zurücktrete, oder daß ſein diplomatiſcher Character gänzlich aufgehoben ſei, fällt jede fernere Berückſichtigung deſſelben fort.
229. Stirbt ein Abgeordneter,1Ein Schriftſteller in Ludwigs XIV. Zeit machte hierüber die geiſtreiche Bemerkung: dès qu’un Ambassadeur est mort, il rentre aussitôt dans la vie privée! ſo beſteht zwar in Betreff ſei - ner Beerdigung kein beſonderes Cerimonialrecht, wohl aber bringt es ſeine bisherige Exterritorialität mit ſich, daß der Abführung der Leiche nach ſeiner Heimath keine Schwierigkeit entgegengeſetzt wer - den darf, ſelbige vielmehr von allen ſonſt herkömmlichen Laſten an Stolgebühren und dergleichen befreit bleibe, wenn nicht die Beer - digung im fremden Lande erfolgt. 2Moſer Verſuch IV, 192.Seine Angehörigen und Be - gleiter genießen bis zu ihrem eigenen Abzuge, oder bis zum Ablauf der ihnen dazu geſetzten Friſt,3Moſer Abhandl. verſch. Rechtsmat. VI, 438. Leyſer, medit. 5. sp. 671. Engelbrecht, obss. sel. for. sp 4. oder bis zu einer deutlichen Erklä - rung ihres Eintritts in das Privatverhältniß die zuvor zuſtändigen Rechte; die Verlaſſenſchaft muß frei von allen Laſten verabfolgt wer - den; ihre Regulirung richtet ſich nach den Geſetzen der Heimath; jedoch können nun auch Forderungen an dieſelbe in dem fremden Staate geltend gemacht und realiſirt werden.
Die Verſiegelung der Effecten gilt dagegen allgemein als ein Act, welcher der Jurisdiction des fremden Staates entzogen iſt, da es zunächſt auf Sicherſtellung der Intereſſen des abſendenden Staa - tes ankömmt. 4C. F. Pauli de obsignatione rerum legati ejusque comitatus. Hal. 1751. Moſer Verſ. IV, 569.Sie wird daher entweder von einer geſandtſchaft - lichen Perſon deſſelben Staates, oder in deren Ermangelung von dem Abgeordneten eines ihm befreundeten Staates, in Rom von dem etwanigen Cardinal-Protector, vollzogen. Nur im äußerſten Falle würde ſich die auswärtige Staatsregierung auf eine der Achtung des fremden Staates entſprechende Weiſe der Verſiegelung ſelbſt zu unterziehen haben.
230. Wird ein Geſandter zurückberufen, ſo pflegt es wegen der Verabſchiedung vom fremden Hofe, bei dauernden freundſchaftlichen Verhältniſſen, in ähnlicher Weiſe gehalten zu werden wie bei der An -373§. 230. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.kunft; Geſandte erſter und zweiter Klaſſe, auch wohl Miniſter-Re - ſidenten, übergeben ihr Abberufungsſchreiben in einer eigenen öffent - lichen oder Privataudienz und empfangen hiernächſt von dem frem - den Souverän ein ſogenanntes Recredentialſchreiben zur Beſtäti - gung des von ihnen beobachteten Verhaltens. Aus Höflichkeit fügt man außerdem wohl noch beſondere Geſchenke hinzu, ohne daß je - doch irgendwie ein rechtlicher Anſpruch darauf begründet ſein kann. 1Von dem was ſonſt hierin üblich war, vergleiche Moſer Verſuch IV, 531. Beiträge 432. ff. Jetzt vertritt meiſtens die Ertheilung von Orden die Stelle der vormaligen Geldgeſchenke.
Eine Zurückhaltung des Geſandten, ſo wie der mit ihm befrie - deten Perſonen und Sachen im fremden Territorium kann unter keinem Vorwand ſtattfinden, ausgenommen um eine Retaliation zu üben. So lange keine Friſt zum Abzug geſetzt und abgelaufen iſt, ſind auch keine anderen gerichtlichen oder außergerichtlichen Hoheits - acte gegen ihn für zuläſſig zu halten als diejenigen, welche ſelbſt ſchon während der Ausübung der geſandtſchaftlichen Functionen zu - läſſig waren. Insbeſondere können auch jetzt keine Schuldklagen förmlich eingeleitet noch auch Arreſte wider die befriedeten Perſo - nen und Sachen angelegt werden. Die fremde Staatsgewalt kann daher lediglich auf einem vermittelnden Wege für das Intereſſe ihrer Unterthanen hinſichtlich etwaniger Forderungen an den Geſand - ten und deſſen Begleiter ſorgen, z. B. durch eine öffentliche Bekannt - machung des bevorſtehenden Abganges und durch eine Interceſſion wegen Berichtigung oder Sicherſtellung der etwa liquidirten Schul - den; jedoch dürfen die Päſſe deshalb nicht vorenthalten werden. Vindicationsklagen, ſelbſt in Anſehung beweglicher Objecte, die ſonſt zu den befriedeten gehören würden, ſind nicht ausgeſchloſſen, folglich auch nicht die vorläufige Beſchlagnahme derſelben, ſoweit ſie ohne Antaſtung der perſönlichen Unverletzbarkeit ausführbar iſt. 2Merlin sect. V, §. 4. Nr. 6 u. 7.
Bleibt eine geſandtſchaftliche Perſon nach gänzlicher Ablegung ihres völkerrechtlichen Charakters in dem auswärtigen Staate, ſo leben auch alle dadurch gehemmten Rechtsverfolgungen in Anſehung der Civilanſprüche auf. Dagegen läßt ſich in Betreff der etwanigen Verbrechen und Vergehen, welche ſie während ihrer diplomatiſchen Miſſion begangen haben könnten, keine weitere Verantwortlichkeit annehmen, indem ſie nach dem Princip der Exterritorialität von374Drittes Buch. §. 231.der geſetzgebenden Gewalt des fremden Staates nicht abhängig wa - ren. Civilanſprüche ſind dagegen durch das Völkerrecht ſelbſt ge - ſchützt.
231. Auch die Diplomatie oder die ſtaatsmänniſche Thätigkeit in auswärtigen Angelegenheiten iſt eine Kunſt, ein ſich bewußtes Können. Um ſolches aber wahrhaft zu ſein, darf ſie weder eines vernünftigen Grundes entbehren, noch auch vernunftwidrige Zwecke verfolgen, überhaupt ihre Regeln nicht außerhalb dieſes Kreiſes ſu - chen. Ihr Grund iſt nun kein anderer, als das Recht und das Wohl eines jeden Staates; ihr Zweck nur das rechtliche Intereſſe deſſelben. Nicht aber ſoll die Diplomatie ein Werkzeug jener Politik ſein, die ſich alles ſelbſt Zuträgliche erlaubt hält, einer un - begränzten Herrſch - und Eroberungsſucht dient, oder eine gänzliche Abſchließung gegen andere Staaten bezielt; ſie darf ſich ebenſowenig ſelbſt als Zweck ſetzen, geſchäftig ſein ohne Princip, oder ſpielen mit der Verwirrung, um daraus Gewinn zu ziehen; ſie darf ſich end - lich nicht als die Schöpferin des Schickſals der Nationen betrach - ten, ſondern nur als eine Dienerin der Geſchichte. Sie muß wiſ - ſen, daß die Geſchicke der Völker auf einer ſittlichen Nothwendig - keit beruhen; daß jedem Staat ſein eigenthümliches Leben in der Kette der Dinge angewieſen iſt; daß es zwar durch gewaltige An - ſpannung der Kräfte möglich iſt, von dem geſchichtlich vorgezeichne - ten Wege abzuweichen, die Bedeutung eines Staates über ſein Gleich - maaß mit anderen zu erheben: daß indeſſen jede übermäßige An - ſtrengung ihr baldiges natürliches Ziel findet, in Erſchlaffung über - geht und ſo auch der über Gebühr erhobene Staat unrühmlich in ſeine vorige Lage, ja oft noch tiefer herabſtürzen kann, als er bei natürlicher Benutzung ſeiner Kräfte fortdauernd behauptet haben würde. Darin eben beſteht nun das echte diplomatiſche Wiſſen375§. 232. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.als Vorausſetzung diplomatiſcher Thätigkeit, nämlich in einer gründ - lichen Auffaſſung der Geſchichte und gegebenen Verhältniſſe, nicht etwa um blos Beiſpiele daraus für das eigene Handeln oder eine Prognoſe zu erhalten, ſondern um das Wirkliche und Nothwendige in den gegebenen Verhältniſſen ſelbſt zu erkennen; Aufgabe der Kunſt iſt es hiernächſt, darauf das fernere Verhalten für das Recht und das Wohl des Staates zu bauen, auf ſittlichem Wege das Schlechte und Schädliche zu bekämpfen, bis zum letzten Augenblicke endlich die Ehre des Staates aufrecht zu erhalten. 1Sehr gute Bemerkungen in dieſem Sinne ſ. ſchon bei Mably, principes des negociations chap. 2., womit auch noch Macchiavelli del Principe cap. 25. verglichen werden kann.Falſch aber iſt es, wenn die Diplomatie ſich blos zur Dienerin einer einſeitigen Anſicht, ei - ner Caſtenrichtung hingiebt; wenn das Syſtem, welches ſie verthei - digen und durchführen will, nicht aus der Nothwendigkeit hervor - geht, nicht in der Geſchichte und der Bewegung des Weltgeiſtes begründet iſt; denn alsdann hat ſie das Schickſal, und gewiß nicht verdienter Weiſe, daß ſie ihre Zwecke nicht nur nicht erreicht, ſon - dern eher zu einem entgegengeſetzten Ziele durch ihre einſeitigen Be - ſtrebungen mitwirkt.
Iſt demnach Wahrheit der Grund und das Ziel der diplomatiſchen Kunſt, ſo dürfen auch ihre Mittel nur der Wahrheit entſprechen: ſie darf keine Kunſt des Truges ſein. Darin hat ſie, wie in manchen anderen Stücken, Aehnlichkeit und Berührungen mit der Redekunſt. Auch die Redekunſt findet ihr eigentliches Feld in der Wahrheit, ihr künſtleriſcher Zweck kann nur ſein, von nicht gekannten oder noch unklaren Wahrheiten zu überzeugen; ſie entartet, wenn ſie ſich zu unmoraliſchen oder widerrechtlichen Zwecken gebrauchen läßt.
232. Vermöge der eben angedeuteten Verwandtſchaft zwiſchen Rede - und politiſcher Kunſt, ſehen wir im Alterthum auch die Füh - rung der Staatenverhandlungen meiſtens in den Händen oder in dem Munde bedeutender Redner. Redner und Staatsmann und Geſandter waren daher meiſt Eine Perſönlichkeit; als beſonderer Gegenſtand der politiſchen Wiſſenſchaft tritt die Diplomatie noch nicht hervor, ſo ausgezeichnete Diplomaten ſich auch ſchon im Al - terthum nachweiſen laſſen.
376Drittes Buch. §. 232.Im Mittelalter war, wie ſo vieles Andere, die Diplomatie theils in den Händen der unterrichteten Geiſtlichkeit, theils beſorgten ſie die Männer vom Degen; kurz, einfach, kunſtlos. Mit der Unter - drückung der Volksfreiheiten und Corporationen, mit dem Ueber - gang des Lehnsſtaates zum abſoluten Regierungsſtaat wuchs auch eine der bereits oben (S. 8.) geſchilderten Politik mit gleicher Fär - bung dienende Diplomatie auf. Es war im Allgemeinen eine Lü - gendiplomatie, wie man ſelbſt kein Bedenken hatte, einzugeſtehen; die Kunſt der Verſtellung im poſitiven Gewande der Lüge: Qui nescit dissimulare nescit regnare, und: Lügen mit Lügen gelten, war der Wahlſpruch. Kein Mittel galt dabei für unerlaubt, am wenigſten Beſtechung. Ludwig XI. von Frankreich und Ferdinand der Katholiſche waren die Hauptrepräſentanten dieſer Richtung. 1M. ſ. Flassan, histoire de la dipl. fr. I, 235. 246. 247. 306.
Die größere Verfeinerung der Sitte und beſſere Erziehung, auch der Einfluß der Wiſſenſchaft in ihrer lebendigen Verbreitung mit dem Ausgang des 15ten Jahrhunderts, brachte wenigſtens einen Schein von gutem Glauben und Recht in die Diplomatie, wenn gleich das Geheimniß, Liſt und künſtliche Prätexte ihre Hauptwerk - zeuge blieben. So zur Zeit Carls V. und Philipps II. 2Mably a. a. O. chap. IV, p. 37. Flassan p. 372.Wei - terhin umringte ſie ſich mit einem Nimibus von Galanterie, feinem Weltton und Aeußerlichkeiten aller Art, ſie ward das Spiel der Höfe und Hofintriguen; den Culminationspunct bildet das Zeital - ter Ludwigs XIV. Der Hof von Verſailles war gleichſam der Parnaß der Diplomatie, welchem man mit wenig Ausnahmen wäh - rend des ganzen vorigen Jahrhunderts huldigte. Neben dem Ge - heimniß und einer geſchmeidigen Verhandlungsweiſe war es doch im - mer ein Schein des Rechtes, den man allen Anſprüchen und Forde - rungen anzukleben ſuchte. Welche Mühe gab ſich nicht die franzöſiſche Diplomatie, um mit Rechtsgründen darzuthun, daß das Teſtament Carls II. von Spanien dem früher abgeſchloſſenen Theilungsver - trage vorgehen müſſe3Lamberty hist. du siècle I, p. 221. 243.; welch ein Hohn des Rechts waren die franzöſiſchen Reunionskammern, und wie ſchwach die erſten und letzten Prätexte der Theilung Polens?
Nur hin und wieder taucht in dieſer Periode der franzöſiſchen Hofdiplomatie ein redlicherer Character auf, ein Beſtreben um die377§. 233. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.Sache ſelbſt, um Wahrheit und Evidenz, z. B. an dem weſtphä - liſchen Friedenscongreß, wenn auch in der pedantiſchen Geſtalt von Doctoren der Rechte; ſodann in der britiſchen Diplomatie, welcher man, wenigſtens ſeitdem Großbritannien ſeine freie und unabhän - gige Stellung eingenommen hat, nicht den Vorwurf machen kann, daß ſie durch Täuſchungen ihre Ziele zu erlangen geſucht habe. Eher konnte man ihr Rückſichtsloſigkeit und Derbheit bei einzelnen Gelegenheiten vorwerfen. Mit dem ganzen Umgeſtüm des Repu - blicanismus, oft ſogar formlos trat die franzöſiſche Diplomatie in der Revolutionsperiode auf. Sie hatte keine andere Baſis als die der Macht und Convenienz. Kein Rechtsverhältniß galt mehr da - gegen. Dieſer Geiſt der Diplomatie behauptete ſich auch unter Napoleon; nur die Form wurde wieder monarchiſch, der Ton aber ſchneidend und tödtend. Als ihr Mittelpunct beſeitigt war, hatte die Diplomatie der Höfe vornehmlich nur die Herſtellung eines politiſchen Gleichgewichts zur Aufgabe. Die Rückkehr zur Baſis war ihr verſchloſſen; ſie mußte über Seelen und Länder wie mit dem Tranchirmeſſer verfügen; dann aber hatte ſie ihre zum Theil nur will - kührliche Geſtaltung in eine myſteriöſe Rechtsmetaphyſik zu hüllen, worin Legitimität der Hauptbegriff war, deſſen offener Erklärung manches Hinderniß entgegen ſtand.
Ihre jetzige Aufgabe ſcheint vorzüglich Friede, Handel und In - duſtrialismus zu ſein, damit die allgemeine Behaglichkeit und Wohl - habenheit nicht geſtört werde!
233. Große diplomatiſche Charaktere ſind zu allen Zeiten eine Seltenheit geweſen; manche ſind wohl ſelbſt der Geſchichte unbe - kannt geblieben; diejenigen vorzüglich, welche nur in untergeordne - ter Stellung arbeiteten, dennoch aber die Hauptfactoren unter frem - dem glänzenderen Namen waren. Oft verſchweigt auch die Ge - ſchichte die Werke der Staatsmänner im diplomatiſchen Bereich, denn nicht immer iſt es erlaubt geweſen in die Werkſtätte zu ſchauen und den Schleier zu lüften.
Wir haben hier nicht den Raum, noch weniger den Beruf eine Geſchichte der Diplomatie in den Lebensbildern ihrer Organe zu ſchreiben, am wenigſten aus der Gegenwart, deren Geſchichte378Drittes Buch. §. 233.noch nicht beendigt iſt. Welche große Reihe würden nicht ſchon diejenigen bilden, deren ſich die römiſche Kirche zu allen Zeiten be - dienen konnte! Beſchränken wir uns nun darauf, aus der Ge - ſchichte der weltlichen Staaten die hervorragendſten Talente kürz - lich zu bezeichnen, ſo treten uns theils große Souveräne ſelbſt, theils Miniſter der auswärtigen Angelegenheiten und Unterhändler entge - gen. Unter den Erſteren ſchon im Alterthum ein Philipp von Ma - cedonien als Meiſter der Diplomatie, wenn Klugheit und Liſt mit künſtlichen Myſtificationen auf dieſen Titel einen Anſpruch geben. In der neueren Zeit ein Carl V, Heinrich IV, Eliſabeth von Eng - land, König Wilhelm III — unſtreitig der größte Politiker des 17ten Jahrhunderts. Weiterhin Ludwig XIV und ſelbſt noch ſein Nach - folger Ludwig XV, der wenigſtens mit Liebhaberei der Diplomatie ſich ergab, Carl Emanuel, Herzog von Savoyen, mit ſeinem Sy - stème bascule, Catharina von Rußland, Friedrich II von Preu - ßen und Kaiſer Joſeph II, welche beide ſich gern über die diplo - matiſchen Contours hinausſetzend, wo möglich durch die That ein Gewicht in die Wage der Völkerſchickſale zu legen ſuchten.
Indeß bei großen Monarchen tritt jede partielle Thätigkeit un - ter den übrigen Seiten ihres Handelns in den Hintergrund; aus - ſchließliche Charactere ſind nur die dienenden Diplomaten. Ihre Lei - ſtungen, die ſie zum Theil ſelbſt in Memoiren der Nachwelt über - liefert haben, ſind ohne Zweifel auch die beſte Muſterſchule künf - tiger Diplomaten. Die größeſte Zahl bietet Frankreich; in der Zeit Heinrichs IV einen Sully, de Mornay, de Sillery, vor Allem Ar - nold Doſſat, deſſen Kunſt Offenheit und Redlichkeit war, wie auch allein in Rom mit Erfolg geltend gemacht werden kann; unter Ludwig XIII den Grafen von Brienne, Marſchall von Baſſom - pière, dann Richelieu mit dem Pater Joſeph de la Tremblaye; als Unterhändler vorzüglich den Grafen d’Eſtrades, und dann weiter unter Ludwig XIV einen Mazarin, Servien, Colbert und de Torcy, deſſen Aufgabe am Utrechter Congreß eine zuletzt doch mit Glück beendigte Siſyphusarbeit war. Weniger hervortretende Talente be - währte das Zeitalter Ludwigs XV; erſt ſpäter erſchöpfte ſich das diplomatiſche Genie in Talleyrand de Perigord. — Von britiſchen Diplomaten und Unterhändlern nennen wir vorzüglich den Cardi -1Verzeichniſſe derſelben ſ. bei Klüber dr. d. g. suppl. §. 37 s. und in B. de Martens Guide dipl. Bibl. choisie t. I, p. 509.379§. 233. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.nal Wolſey, ſodann die beiden Cecil unter Eliſabeth und, wenn wir den noch der älteren Diplomatie angehörigen Henry Wot - ton unter Jacob I übergehen,1Seine Maxime war noch: il volto sciolto, i pensieri stretti; und in Augs - burg konnte er noch in ein Stammbuch ſchreiben: Legatus est vir bonus peregre missus ad mentiendum reipublicae causa. als wahrhaft noblen Character William Temple, der ſich offen zu dem Grundſatz bekannte, daß man in der Politik ſtets die Wahrheit ſagen müſſe. 2Ueber ihn: Luden, Biographie v. W. Temple. Götting. 1808. Foreign quarterly Rev. a. a. O. S. 28.Groß wie im Felde ſo auch in der Unterhandlung war Marlborough mit ed - ler Haltung und Feinheit; weniger groß, ihm gegenüber, Charles Bolingbroke. Gewährten die Regierungen Georgs I und II mehr nur ein Feld für untergeordnete, obwohl mannigfache diplomatiſche Thätigkeit, ſo waren es wieder die Pitt,3Ueber dieſe vgl. Flaſſan, Th. IV. welche vollkommen das Ideal der britiſchen Politik in ſich trugen und durch die That le - bendig machten, wie ſie auch noch in neuerer Zeit in Canning einen nationalen Kern-Repräſentanten fand. Ebenbürtig den bri - tiſchen Diplomaten zur Seite ſtehen Washington und Franklin.
Unter den übrigen Staaten waren bis zu Ende des vorigen Jahrhunderts beſonders die Republiken Venedig und der vereinig - ten Niederlande ausgezeichnete Schulen für politiſche practiſche Ta - lente; jene hatte ihre Contarini, Cornaro, Soranzo und Nani, letz - tere ihren Franz von Aarsſens, ihren Großpenſionär Witt, Hiero - nymus Beverning, Jan Oldenbarneveld, ihren Hugo und Peter Groot. Spanien rühmt ſich eines Olivarez, Don Haro, eines Gra - fen von Pegneranda. — Eine ununterbrochene Reihe ſinniger Diplo - maten hatte ſtets das Haus Oeſterreich. Unſterbliches Verdienſt nicht nur für ſein Land, ſondern auch für den europäiſchen Frieden hat ſich darunter Graf Trautmannsdorf am Münſter-Osnabrückiſchen Friedenscongreß erworben, während in der Folge Graf Kaunitz mehr die iſolirten Intereſſen des Kaiſerhauſes wahrzunehmen Ge - legenheit und Character hatte. Die höchſte und glänzendſte Stel - lung war der öſtreichiſchen Diplomatie im gegenwärtigen Jahrhun - dert vorbehalten. — In Preußen hat die regelmäßige unmittelbare Theilnahme der Regenten an den Staatsgeſchäften den diplomati - ſchen Capacitäten meiſt nur die Thätigkeit der Ausführung gelaſ -380Drittes Buch. §. 234.ſen, aber es wäre undankbar die Namen eines Dohna, Herzberg, Hardenberg, Wilhelm v. Humboldt und Bernſtorff zu vergeſſen.
Blicken wir nach Scandinavien, ſo ſchauen uns die Geiſter eines Salvius, Oxenſtierna, in Dänemark die Bernſtorff und ein Graf Lynar an. Sollten wir auch noch der ruſſiſchen Diplo - matie gedenken müſſen, ſo würden wir nicht ſowohl geſchichtliche Namen anzuführen haben, als das Geſtändniß machen müſſen: ſie hat ohne äußere Fehler ihre Zwecke ſtets auf ſicherem Wege zu erreichen gewußt.
234. Die weſentliche Aufgabe der Diplomatie beſteht in der äußeren Sicherſtellung der Selbſtentwickelung eines Staates. Zu - nächſt beſtimmt ſich alſo ihr Verhalten aus der wahren, d. h. na - turgemäßen politiſchen Stellung des Staates, den ſie zu vertreten hat an und für ſich, ſo wie desjenigen mit welchen man in Be - rührung kommt; dieſe Stellung muß ſie richtig auffaſſen und ſich ganz damit identificiren. 1Mably droit des gens I, 15 u. 16.Ein anderes Syſtem wird dann eine Macht vom erſten Range, ein anderes die vom zweiten oder drit - ten Range verfolgen. 2Mably I, 39 f.
Eine große Macht hat auf Erfolg am meiſten zu rechnen, wenn ſie in ihrem Verhalten mit vollem Selbſtbewußtſein eine weiſe Mä - ßigkeit und Schonung verbindet. 3Mably verweiſet in dieſer Hinſicht auf das Beiſpiel der Römer a. a. O. S. 34. 35. Allein dieſes paßt nur auf die Zeiten der Republik, in ihrer tugendhaften Selbſtverleugnung. Zu anderen Zeiten haben ſie den Beweis des Gegentheils gegeben.Während ſie ihre dominirende Stellung zu behaupten ſucht, verwerfe ſie nie billige Anträge der anderen; ſie ſtrebe ihnen zuvor in freundlichen Dienſten, ſchenke aber nicht den rivaliſirenden Staaten zu viel Vertrauen und halte ſich nie für zu ſicher, ſorge alſo ſchon in Zeiten der Ruhe und des Glückes für die Zeiten der Gefahr. Nie ziehe ſie ſich ganz in Unthätigkeit zurück, ſondern ſie nehme Theil an anderen Angele - genheiten, nur nicht ſtörend, ſondern nach der Gerechtigkeit. Was diejenigen Mächte erſten Ranges betrifft, die zwar nicht zu den381§. 234. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.eigentlich Tongebenden gehören, jedoch mit ihnen rivaliſiren können, ſo beſteht ihre Hauptaufgabe darin, ſich in einem billigen Gleichge - wicht zu erhalten und ſich wohl zu hüten, nicht in den Ton einer herrſchenden Macht zu verfallen. Sie haben dabei den Vortheil, daß ſie bei weitem eher Bundesgenoſſen finden als die Tonange - benden, ein Vortheil welcher leicht durch Ueberſchreitung der Gren - zen ihrer Bedeutſamkeit verſcherzt werden kann.
Mächte des zweiten Ranges haben meiſt ein natürliches ge - meinſchaftliches Intereſſe unter einander, nämlich ſoviel als mög - lich Einmiſchungen und Uebermacht der Staaten erſten Ranges von ſich entfernt zu halten. Befindet ſich eine der erſteren in der Mitte mehrerer Großmächte, ſo muß ſie ihre Freundſchaft oder Neutralität ſtets theuer verkaufen. Erringt eine ſolche Macht un - ter glücklichen Conjuncturen Vortheile, ſo iſt es weiſe, ſich daran genügen zu laſſen und nicht nach dem oft betrüglichen Schimmer einer Großmacht zu ſtreben. Die innere Vollendung des Staates iſt es, was die Politik ſolcher Mächte vorzüglich zu erſtreben hat.
Mächte dritten Ranges haben hauptſächlich nur an ihre unge - ſtörte Erhaltung zu denken. Neutralität alſo, oder wenn dieſe un - möglich wäre, feſte Anſchließung an einen größeren, Vertrauen bie - tenden Staat, wird hier die Hauptrichtung der äußeren Politik ſein müſſen.
Allen Staatsmännern muß es aber in die Seele geſchrieben und die ſtete Triebfeder ihrer Handelsweiſe ſein, die Ehre und das Wohl ihres Staates bis zum letzten Augenblick feſtzuhalten und zu ſuchen, demnach auch nie vor der Gefahr zu zittern, ſondern ſie zu bekämpfen. Sie müſſen die Ereigniſſe kommen ſehen und richtig würdigen, aber ſie nicht machen wollen. Nichts iſt für die Staaten und das Wohl der Völker ſo nachtheilig, als Geſchäftig - keit der Diplomatie, blos um Etwas zu thun. Die Geſchichte des vorigen Jahrhunderts liefert hiergegen warnende Beiſpiele. Die damals herrſchende Vertragsſucht hat nichts Großes geleiſtet, ſon - dern oft nur Verwirrungen und Mißverſtändniſſe herbeigeführt. 1Mably I, 10. und des Grafen Lynar Staatsſchriften I, 216.Schädlich iſt auch zur ſelben Zeit mehrere Händel oder Angelegen - heiten zu haben. Ein erreichbares Ziel mit aller Kraftanſtrengung verfolgen, unter Beiſeiteſtellung der minder erheblichen oder ent -382Drittes Buch. §. 235.fernteren Ziele, iſt beſſer als Vergeudung der Kräfte nach ver - ſchiedenen Seiten hin. 1Beachtungswerth ſind in dieſer Beziehung Macchiavelli, discorsi II, 1. Mably I, 18.
235. Die Schule der Diplomatie iſt das Leben und die Ge - ſchichte. Vergebens wird man dafür Akademien errichten, wenn nicht jene beiden Lehrmeiſterinnen ein empfängliches Talent bilden. In älteren Zeiten waren es die Männer vom Schwerdt, welche oft ohne alle gelehrte Vorbereitung in politiſchen Angelegenheiten gebraucht wurden, oder Geiſtliche in der Schule der Hierarchie ge - bildet. Später erſt traten die Laienmänner von der Feder dazu. Darüber klagten anfangs die Männer vom Degen, weil jene oft Dinge unternehmen, die den Krieg nach ſich ziehen; denn da ihr eigenes Leben nicht in Gefahr komme, ſo kümmere es ſie nicht fremdes Blut vergießen zu laſſen. 2Die Klage findet ſich bei Brienne in ſeinen Memoiren in Beziehung ei - nes von ihm gemißbilligten Tractates von 1661.So haben noch in neuerer Zeit die Degen gemurrt, daß die Federn verderben oder wieder verlöhren, was jene erkämpften. Gewiß indeſſen iſt Politik und Diplomatie nicht das Feld des Kriegers. Dieſer verlangt oft mehr als Recht iſt, nur nach dem Stande der Gegenwart. Das Recht aber wird immer die ſicherſte Baſis für die fernere Geſchichte ei - nes Staates ſein. Damit ſoll nicht geſagt werden, daß Feldher - ren nicht ebenfalls tüchtige Diplomaten ſein können. Die ältere und neuere Zeit hat großartige Beiſpiele der Vereinigung beider Talente gegeben.
Kann nun auch ſchon ein politiſches Talent ohne ſchulmäßige Bildung ſich zu einem Diplomaten entwickeln, ſo wird es doch eine ſichere Stellung nicht ohne wirkliche Studien, vorzüglich in heutiger Zeit, behaupten können. Vorausſetzen muß man bei ihm ein Durchdrungenſein von den Grundſätzen des Rechtes überhaupt, hinreichende Kenntniß des europäiſchen Völkerrechtes, der Verfaſ - ſung der Staaten, der Weltgeſchichte, Kenntniß der Staatskräfte und die nöthigen linguiſtiſchen Fähigkeiten. 3Eine Zuſammenſtellung der dem Diplomaten nothwendigen oder nützlichen Wiſſenſchaften findet ſich in v. Dreſch kleinen Schriften 1827. S. 11 f.Ohne Zweifel wer -383§. 236. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.den hierzu beſondere Bildungsſtudien das Ihrige beitragen, nur allein können ſie den Diplomaten nicht ſchaffen und die Regie - rungen ſich in der Wahl der Perſönlichkeiten nicht an beſtimmte Courſe binden. 1Nur unter dieſem Vorbehalt iſt auch in Preußen durch eine Bekanntma - chung des Miniſteriums der auswärtigen Angelegenheiten vom 1827 be - ſtimmt worden, daß jeder Aspirant zur diplomatiſchen Laufbahn drei Jahr ſtudirt und ein Auscultatur-Examen beſtanden, demnächſt ein Jahr bei ei - ner Regierungsbehörde und ein Jahr bei einer Juſtizbehörde gearbeitet ha - ben, alsdann aber eine Prüfung beſonders auch zur Ermittelung der Kennt - niſſe von der inneren Verwaltung, den Cultur - und gewerblichen Zuſtänden beſtehen muß.Andererſeits iſt das Leben allein, ſelbſt in hö - herer Sphäre, ohne Studien ſelten zureichend, höchſtens für Figu - ranten.
236. Schon längſt hat man bemerkt, daß ſich zwar leicht das Ideal eines Diplomaten aufſtellen laſſe, daß es jedoch überaus ſchwer ſei ein ſolches überhaupt oder jederzeit in der Wirklichkeit aufzufinden, ja, daß nicht einmal die vollſtändigſte Vereinigung di - plomatiſcher Fähigkeiten geeignet ſein werde, einen beſtimmten Er - folg jederzeit zu ſichern. Dieſer iſt oft bei weitem mehr von äu - ßeren Umſtänden, als von der Gerechtigkeit und deutlichen Erkenn - barkeit des Zweckes bedingt, ſo daß die Kunſt des Staatsmannes oft nur darin beſteht, die Umſtände richtig zu würdigen und zu be - nutzen. So kann es geſchehen, daß gerade der edelſte und tüch - tigſte Mann in einer Angelegenheit das Ziel nicht erreicht, weil er ſich in die Conjunctur nicht zu ſchicken weiß, da ſie ihm zu klein - lich, oder die Benutzung derſelben mit der Ehre unverträglich er - ſcheint, während ein anderer minder bedeutender Staatsmann kein Bedenken trägt, das Gelingen ſeiner Aufgaben auf die Benutzung derartiger Umſtände zu gründen. So konnte man in früherer Zeit vornehmlich auf perſönliche Neigungen, Intriguen und Verlegen - heiten bei den Höfen ſpeculiren, ein gewandter Hofmann mehr er - reichen, als ein ernſter Staatsmann, eine Mademoiſelle Kerroual mit feiner Taille, kleinem Munde und großen Augen am Hofe Carls II von England beſſere Reſultate für Frankreich erreichen, als ein ganzer Friedenscongreß;2Vgl. Mably droit publ. I, chap. 19. und welche Vortheile ſind nicht zuweilen durch kleine diplomatiſche Galanterien erlangt worden! 384Drittes Buch. §. 236.Indeſſen ſind Rückſichten und Speculationen dieſer Art immer nur als exceptionelle zu betrachten. Die Zeiten haben ſich auch in die - ſem Stücke geändert; die Schickſale der Völker ſind nicht mehr ſo unbedingt von der Laune Einzelner abhängig. Die neuere Verfaſ - ſungsentwickelung hat insbeſondere einen größeren Ernſt und grö - ßere Zähigkeit in die Behandlung der Staatsangelegenheiten gelegt, und die Regierungspolitik gegen bloße Leichtfertigkeiten geharniſcht.
Kommt es nun auf die Auswahl tüchtiger diplomatiſcher Per - ſönlichkeiten an, ſo werden andere Geſichtspuncte für einen Leiter der geſammten auswärtigen Angelegenheiten eines Staates, und wiederum andere für den Unterhändler zu nehmen ſein. Für die erſtere Function bedarf es weniger des feinen Weltmannes; ſeine Stellung iſt mehr reflectirend und innerlich; er hat die Pläne zu zeichnen, die Ausführung zu beobachten und den Faden des Gan - zen feſtzuhalten; er kann kühner, kräftiger und gemeſſener auf - treten als der Unterhändler. Seine Perſönlichkeit muß die Poli - tik des ganzen Staates repräſentiren, folglich auf der Geſchichte und den wohlverſtandenen Intereſſen und Kräften des Staates be - ruhen.
Bei dem Unterhändler kommt es zunächſt auf die Zwecke an, welche ihm anvertraut werden. Für Angelegenheiten die ſich voll - kommen überſehen laſſen, wo keine Beeilung nöthig, das Ziel klar und die Motiven abgeſchloſſen ſind, wird ſchon ein mittelmäßiger Kopf genügen, welcher ſich ſtreng an ſeine Inſtructionen hält und darnach in den conventionellen Formen zu handeln verſteht. Hier - mit aber iſt in wichtigeren Angelegenheiten nicht auszureichen, wo ſich keine detaillirten Inſtructionen geben laſſen, wo vielleicht nur zu retten iſt, was nach Gunſt der Umſtände noch gerettet werden kann, oder wo zur Erreichung eines Zweckes ein anderes noch un - beſtimmtes Aequivalent geboten werden muß; hier bedarf es eben ſolcher Fähigkeiten, ja wohl noch größerer, als für den Miniſter des Auswärtigen im Allgemeinen nöthig ſind, einer beſonderen Ge - ſchmeidigkeit und eines extemporirenden Handelns. 1In dieſem Sinne ſchrieb Villeroi unter Heinrich IV. an den Präſidenten Janin: mais le roi entend que Vous tirez Vous-même les principales instructions de ce que vous avez à faire.Die eigen - thümlichen Zierden des Unterhändlers aber ſind: Natürlichkeit des Benehmens, Freiheit von aller Affectation; Selbſtkenntniß und385§. 237. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.Selbſtbeherrſchung, ſcharfe Beobachtungsgabe, Vorſicht, nur nicht bis zum Exceß oder bis zur Lächerlichkeit, Feinheit mit Würde, ohne das Ausſehen einer bloßen Puppe, Geiſtesgegenwart und Fer - tigkeit unvorbereitet zu reden und zu handeln, Beredſamkeit ohne Ueberladung aber mit Präciſion.
Cardinaltugenden aller, ſowohl der leitenden wie handelnden Diplomaten, ſind endlich:
Der Diplomat muß wiſſen, daß er mehr im Stillen zu wirken und ſich an ſeinem Bewußtſein zu begnügen hat, als daß er ſich durch ein hervortretendes Handeln einen Anſpruch auf Unſterblich - keit zu erwerben vermag.
Ueber die Verantwortlichkeit der diplomatiſchen Agenten hat ein gelehrter Publiciſt (Flaſſan) geſagt, und es iſt ihm nachge - ſprochen worden: „ man müſſe ſehr nachſichtig ſein gegen die Irr - thümer der Politik, wegen der Leichtigkeit darin zu verfallen. “ Aber es darf dadurch nicht jede ſtrenge Beurtheilung des Verfahrens der politiſchen Organe niedergeſchlagen werden. Denn ſie dürfen wenigſtens nie vergeſſen, welche heilige Intereſſen ihnen obliegen; wie ſie daher auch die höchſte Sorgfalt auf die Erfüllung ihrer Beſtimmung verwenden müſſen.
237. Kommt es auf Unterhandlungen mit einem fremden Staate zu einem gewiſſen Zwecke an, ſo hat der damit beauftragte25386Drittes Buch. §. 238.Diplomat ſich vor allen Dingen auf das Genaueſte von dem Zwecke, den Motiven und anwendbaren Mitteln zu informiren. Er muß alles beobachten und darüber getreulich berichten, die entſtehenden Hinderniſſe und Zweifel dem Committenten anzeigen, jedoch nicht bloß Inſtruction erwarten, ſondern auch ſelbſt Vorſchläge zu machen ver - ſtehen. An dem fremden Hofe wiederum muß er ſich vor Allem in ein gutes Vernehmen ſetzen und jeden Grund zu Mißverſtändniſſen ſorg - fältig vermeiden. Er muß Schlimmes unter einer guter Miene verbergen und ſich nicht durch leere Worte oder Fremdartiges hin - halten laſſen. In ſeinen Anträgen ſei er beſtimmt, in der Dis - cuſſion der Einwendungen ſicher und logiſch, überhaupt nie den Zweck aus den Augen verlierend; aber er verfolge ihn mit Mäßi - gung und ohne Opiniatrirung; er vermeide es gegen Hinderniſſe zu kämpfen, welche dennoch nicht ſofort beſeitigt werden können. Wohl kann es ſich in Privatſachen, wo Geſetz und Staatsgewalt ſchützend mitwirken, verlohnen, einem Anderen durch Beharrlichkeit Etwas abzutrotzen; aber in den Verhältniſſen der Staaten, wo auch Verträge meiſt nur ſo lange verbindlich bleiben, als man es zu - träglich findet ſie zu halten, oder ſo lange die Uebergewalt des An - deren zu befürchten iſt, wird es höchſt gefährlich den Dingen Zwang anthun zu wollen. Klugheit gebietet daher Nachſicht und vor - läufige Beruhigung, ſelbſt wo man entſchiedene Forderungsrechte hat. Der Diplomat verzichte lieber auf den Triumph die Verhältniſſe beſiegt zu haben, wenn er nicht auch dann eines ſicheren und dauern - den Erfolges gewiß iſt. Ein unerwartetes Ereigniß kann oft ſo leicht die Hinderniſſe beſeitigen.1Bemerkungen im obigen Sinne ſiehe bei Mably a. a. O. S. 174. 175. Foreign quarterly Rev. XIII, p. 4. —
238. Die Verhandlungen der Staaten werden entweder münd - lich oder ſchriftlich unter den Repräſentanten geführt, und zwar bald unter den Souveränen ſelbſt, bald durch die diplomatiſchen1ſeinem droit publ. de l’Europe). Die politiſche Unterhandlungskunſt oder Anweiſung mit Fürſten und Republiken zu unterhandeln. Aufgeſtellt von einem Staatsmanne in der Einſamkeit. Leipzig 1811. 8.387§. 239. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.Agenten, zuweilen ſelbſt nur einſeitig vor dem Publicum. Die Art und Weiſe dieſes Verkehres iſt ein Theil der Staatspraxis, und daher ſowohl in den allgemeinen auf letztere bezughabenden Schrif - ten, als auch in ihrer Beſonderheit von practiſchen Schriftſtellern dargeſtellt worden.
239. Die Sprache iſt das Recht jeder Nation, wie ſie überhaupt zum Menſchen gehört. Ohne Zweifel kann nun jeder Staat oder Souverän auch eine beſtimmte Sprache wählen, worin er ſeinen Willen erklärt und deren ſich ſeine Organe in den öffentlichen Ver - handlungen zu bedienen haben. Er kann dagegen aber nicht ver - langen, daß auswärtige Staaten mit ihm in derſelben Sprache ver - kehren; er muß ihnen gleichfalls ihre eigene Erklärungsweiſe zuge - ſtehen, und jeder Theil kann erwarten, daß, wenn von ihm eine Er - klärung gewünſcht wird, der Anlaß dazu auf eine ihm verſtändliche Art gegeben oder verdollmetſchet werde.
Die Unbequemlichkeit, welche mit dem Gebrauche verſchiedener Zungen verbunden iſt, erzeugt indeſſen, abgeſehen von dem vorausge - ſtellten unleugbaren Princip, das Bedürfniß von Mittheilungen in allgemeinen und für jeden Theil gleich verſtändlichen Sprachweiſen. So kann denn wenigſtens unter einzelnen Staaten oder vorüber -25*388Drittes Buch. §. 239gehend für gewiſſe Verhandlungen eine gewiſſe Sprache als diplo - matiſche beliebt werden, wovon ſich wieder die Hofſprache unter - ſcheiden läßt, d. i. die Sprache einzelner Höfe in der Privatcon - verſation. 1Vgl. Fr. Carl Moſer, Abhandl von den europäiſchen Hof - und Staats - ſprachen. Frankf. 1750. v. Rohr, Einleitung in die Cerimonialwiſſenſchaft. S. 405. J. J. Moſer Verſ. II, 153.
Der Gebrauch der Staaten und Höfe hat in beiderlei Hin - ſicht öfters gewechſelt, ohne jedoch von dem obigen Princip ſelbſt abgewichen zu ſein.
Sprache der diplomatiſchen Verhandlungen und Urkunden war noch bis in das vorige Jahrhundert hinein meiſtentheils die la - teiniſche;2Noch die Quadrupel-Alliance zu London von 1718 iſt in latein. Sprache abgefaßt. Einzelne Mächte, z. B. die päpſtliche Curie, bedient ſich in ihren völkerrechtlichen Urkunden noch jetzt derſelben Sprache. Hofſprache war früherhin gewöhnlich die Landesſprache; ſo lange jedoch König Philipp II von Spanien lebte, hatte die ſpaniſche Sprache bei einer großen Zahl europäiſcher Höfe ſtarken Eingang gefunden. Seit Ludwig XIV indeß überwog hier faſt allgemein die franzöſiſche Sprache; ſie wurde damit bald auch die Sprache der diplomatiſchen Verhandlungen, ein Umſtand worin die franzöſiſche Politik keinen geringen Bundesgenoſſen gefunden hat. 3Ein Beiſpiel liefert die Verfaſſung des pyrenäiſchen Friedens, worüber die Memoiren von Brienne nachzuſehen ſind. (v. Schiller, allgem. Samml. hiſtor. Mem. Abth. II. Bd. 17. S. 143.)Niemals iſt gleichwohl durch ein allgemeines Völkergeſetz oder durch ein auf der Idee der Nothwendigkeit beruhendes Herkommen die franzöſiſche Sprache als gemeinſame Staatenſprache wirklich reci - pirt, ſondern wie oft ſie auch in neuerer Zeit gebraucht worden iſt, hat man ſich meiſtens von Seiten anderer Staaten gegen et - wanige Conſequenzen ausdrücklich gewährt,4Einen ſehr allgemeinen Vorbehalt enthält in dieſer Beziehung die Wiener Congreßacte Art. 120. mit den Worten: La langue française ayant été exclusivement employée dans toutes les copies du présent traité il est reconnu par les puissances qui ont concouru à cet acte, que l’emploi de cette langue, ne tirera point à conséquence pour l’avenir; de sorte que chaque puissance se réserve d’adopter, dans les négociations et con - ventions futures, la langue dont elle s’est servie jusqu’ ici dans ses relations diplomatiques, sans que le traité actuel puisse être cité comme exemple contraire aux usages établis. “wenn nicht die fran -389§. 240. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.zöſiſche Sprache ſelbſt auch die hergebrachte Landesſprache des an - deren Staates iſt.
Mehrere Mächte beſtehen fortwährend auf dem Grundſatz, daß ihnen jede officielle Communication in ihrer Sprache gemacht oder wenigſtens mit einem Translat begleitet werde. So der deutſche Bund durch Beſchluß vom 12. Juni 1817. Andererſeits bedienen ſich auch Geſandte an fremden Höfen mit Recht ihrer eigenen Sprache, aber, wie ſich von ſelbſt verſteht, mit der Verpflichtung zu einem Translat, wenn ſie die Mittheilung im eigenen Intereſſe machen. 1Der Miniſter Canning befahl allen engliſchen Agenten im Auslande ſich keiner anderen Sprache als der engliſchen bei diplomatiſchen Communica - tionen zu bedienen. — Die Pforte communicirt in arabiſcher Sprache, ge - wöhnlich aber mit lateiniſchem, jetzt auch wohl franzöſiſchem Translat. Sie hält keinen Tractat für verbindlich, der nicht auch in ihrer Sprache abge - faßt worden.
Was den mündlichen förmlichen Verkehr betrifft, z. B. in förm - lichen Audienzen, ſo gilt auch hier ein gleiches Princip; der fremde Geſandte redet oder kann wenigſtens in ſeiner eigenen Sprache re - reden, während ein Dollmetſcher die Uebertragung unternimmt. Der Souverän antwortet in der ſeinigen. Das Umſtändliche eines ſol - chen Verkehres führt indeſſen wohl ſelbſt zur Aufgebung des Prin - cips. Der dem Range nach geringere giebt hier dem Verbindli - cheren den Vorzug, oder man verſtändigt ſich überhaupt, eine beiden Theilen geläufige Sprache anzuwenden, wie zur Zeit beſonders die franzöſiſche als die verbreiteteſte iſt.
240. Iſt der Styl, wie man geſagt hat, der Menſch, der ſich darin ſeinen Ideen gemäß ausſpricht, ſo muß auch andererſeits der Styl, wenn der Staat redet, ſeinem Weſen entſprechen, mithin das ihn vertretende Organ ſich der eigenen Individualität entäußern und eine Form wählen, welche die Bedeutung des Staates als eines Trägers der Geſammtvernunft erkennen läßt. Muß irgend eine Ausdrucksweiſe ſich von allem Niedrigen entfernt halten, ſo iſt es ganz beſonders von der diplomatiſchen zu erwarten und zu fordern. Freilich kann ſie ſich von dem Menſchlichen nicht los - ſagen; ſie kann keine Sprache der Götter ſein; aber ſie hat den390Drittes Buch. §. 241.Gedanken klar und in reiner edler Form darzuſtellen, gemeſſen und ernſt, fern von Pathos und ohne Wortputz. Sie muß die reine Objectivität der Dinge in ſich tragen, die leichte Hülle einer logi - ſchen Gedankenfolge ſein; ſie verträgt ſich weder mit metaphyſi - ſchen Spitzen noch auch mit der Sprache des Redners. 1Treffend ſagt darüber Flaſſan in ſeinem discours préliminaire zur hist. de la dipl. franç. : „ Le style diplomatique à quelque sujet, qu’il s’ap - plique, ne doit pas être celui de l’academicien mais celui d’un penseur froid, revêtant d’une expression pure et exacte une logique non inter - rompue. La chaleur qui fait presque toujours le succès de l’éloquence doit en être exclue. “
Das Gewicht, was auf diplomatiſchen Erklärungen ruht, die Achtung, welche der andere Theil ſeiner völkerrechtlichen Stellung nach fordern kann, bringt unſtreitig die Verpflichtung mit ſich, je - der diplomatiſchen Production, ja ſelbſt derjenigen, welche bloßen Cerimonialzwecken dient, eine beſondere Aufmerkſamkeit zu widmen. Schon leichte Verſtöße und Nachläſſigkeiten können Mißverſtänd - niſſe zur Folge haben, wenn es auch unpaſſend wäre, jeden Feh - ler mit gleicher Strenge zu behandeln. Laufen ſie nur gegen den ge - wöhnlichen Gebrauch, ohne daß ſie an ſich verletzend ſind, wie z. B. ſogenannte Canzleifehler, ſo überſieht man ſie entweder oder rügt ſie bei weiterer Communication nur durch einen beigefügten außeroffi - ciellen Canzleizettel, oder man verfährt ſeinerſeits in gleicher Weiſe, wie der abſendende Theil. Sind die Fehler von größerer Bedeu - tung und wohl gar verletzend, ſo nimmt man die Mittheilung ent - weder gar nicht an, oder verlangt dafür Genugthuung. 2Vgl. über Obiges: Fr. Carl Moſer Verſuch einer Staatsgrammatik. Deſ - ſelben Abhandl. von Canzleifehlern (kleine Schriften V, 229.). Von Ahn - dung fehlerhafter Schreiben. Frankfurt 1750.
241. Correſpondiren die Souveräne unter Einander ſelbſt in Staatsangelegenheiten auf eine obligatoriſche Weiſe, ſo pflegt ſich dieſes mehr nur auf Aeußerlichkeiten zu beſchränken und in allge - meinen Wendungen zu halten, als in die Sachen einzugehen. Die Mittheilungen enthalten meiſtens eine auctoritatis interpositio für die Handlungen ihrer Agenten, oder Empfehlungen beſtimmter Per - ſonen und Angelegenheiten. Sie beſtehen entweder in förmlichen391§. 241. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.Canzleiſchreiben (lettres de chancellerie, de conseil ou de cé - rémonie) oder in ſogenannten Cabinets - und Handſchreiben.
Canzleiſchreiben ſind die feierlichſte Art, wo Ceremonial und Courtoiſie (§. 196.) auf das Strengſte beobachtet werden. Der Eingang enthält die vollſtändige Titulatur des Schreibenden, bei monarchiſchen Souveränen mit: Wir von Gottes Gnaden, ſodann die Titulatur desjenigen, an welchen ſich der Schreibende wendet; demnächſt folgt die eigentliche Anrede in der üblichen Canz - leiform nebſt Beifügung etwaniger Ehrenprädicate, insbeſondere des Bruder - und Schweſtertitels. Im Context nennt ſich der Schrei - bende Wir, den Addreſſaten dagegen mit dem Prädicat ſeiner Würde (Ew. Majeſtät, Königl. Hoheit ꝛc.). Den Schluß bilden Freund - ſchaftsverſicherungen oder fromme Wünſche, ſodann eine nochma - lige Anrede des Addreſſaten mit ſeinem Prädicat und üblichen Eh - renwort, endlich Datum und Ort ſowie die Unterſchrift und die Contraſignatur nebſt Beifügung des großen Canzleiſiegels.
Cabinetsſchreiben enthalten nur eine einfache Anrede des Addreſſaten mit dem Prädicat ſeiner Würde oder mit einem ver - wandſchaftlichen Ehrenwort. Man ſchreibt im Context von ſich in der Einzahl; der Schluß wird mit der Unterſchrift durch ver - bindliche Erklärungen in Eines zuſammengefaßt. Das Ganze er - hält ein kleineres Couvert und das kleinere Staatsſiegel. 1Die nähere Einrichtung und etwanigen Variationen dabei ſiehe in Mo - ſer Verſuch II, 164 u. f. Sneedorf style des cours. chap. 2. Baron Martens manuel dipl. chap. 9. Außerdem auch noch J. Chrſtn. Lünig, theatrum cerimoniale historico politicum. Leipz. 1720. Jeder Hof rich - tet ſich auch wohl ſein eigenes Cerimonialbuch ein.
Noch verbindlicher als Cabinetsſchreiben ſind ganz eigen - händige Schreiben ohne alles Cerimoniell rückſichtlich der Titel.
Was nun den Gebrauch der einen oder der anderen Form be - trifft, ſo ſetzen die eigenhändigen Schreiben beſonderes Vertrauen, perſönliche Beziehungen oder eigenthümliche Vorfälle in den Fami - lien und dgl. voraus. Zur förmlichen Staatscorreſpondenz dienen nur Canzlei - und Cabinetsſchreiben. Eine Pflicht, die eine oder die andere Form zu gebrauchen, exiſtirt im Allgemeinen nicht. Canz - leiſchreiben in der oben angezeigten gewöhnlichen Form, pflegen in - deß nur unter Gleichen, oder von einem Höheren gegen einen Ge - ringeren gebraucht zu werden. Will ein Souverän von geringe -392Drittes Buch. §§. 242. 243.rem Range an einen Höheren ein Canzleiſchreiben erlaſſen, ſo ſind dabei gewiſſe Modificationen üblich.
242. Zu den diplomatiſchen Schriften, welche gewöhnlich von dem Departement der auswärtigen Angelegenheiten ausgehen und nicht nothwendig des Zuthuns eines Unterhandlers oder Bevoll - mächtigten bedürfen, ſind zu rechnen:
Einige derſelben verlangen die Vollziehung des Souveräns, Andere ſind entweder nur für das Publicum beſtimmt, oder werden von dem Departement der auswärtigen Angelegenheiten allein erlaſſen. Zweck und Umſtände beſtimmen den Inhalt und Styl, ohne daß gewiſſe eigenthümliche Formen zum Weſen ſolcher Acte gehören.
243. Eigenthümliche diplomatiſche Verhandlungen beſtehen ent - weder in bloßen Communicationen oder in Negociationen. Die letzteren werden bald unmittelbar mit dem fremden Souverän, bald mit dem Miniſter der auswärtigen Angelegenheiten oder mit einem Commiſſar der Regierung geführt, auch kann dabei die Theilnahme einer dritten Macht durch Leiſtung freundlicher Dienſte oder im Wege einer förmlichen Vermittelung Statt finden.
Die Verhandlungsweiſe iſt bald eine mündliche, bald eine ſchrift - liche. Zur letzteren dient die Uebergabe von Memoirs in die Hände des fremden Souveräns oder ein Notenwechſel unter den diplo - matiſchen Agenten ſelbſt. Hierbei unterſcheidet man unterzeich -393§. 244. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.nete Noten (notes signées), deren Inhalt der Regel nach als ein verpflichtender gelten muß, ſodann Verbalnoten (notes verbales ou non signées), wodurch meiſt nur der Fortgang ei - ner Angelegenheit in Erinnerung gebracht wird; endlich giebt es auch vertrauliche Noten in der Sache ſelbſt, worin ſich ein Mini - ſter mehr für ſeine Perſon als in Auftrag ausſpricht, die man da - her auch nicht immer zu unterzeichnen veranlaßt iſt. 1Baron Martens manuel dipl. §. 50 ff.
Zu den mündlichen Verhandlungen dienen:
Weder die Einen noch die Anderen können, wenn zuvor der Gegen - ſtand der gewünſchten Vernehmlaſſung in ſchicklicher Form ange - zeigt iſt und die beiderſeitigen Staatsintereſſen wirklich berührt, verſagt werden. Soll das Ergebniß einer Miniſterial-Conferenz zu weiteren Schritten benutzt werden oder eine Baſis für fernere Verhandlungen abgeben, ſo kann darüber ein Protocoll aufgenom - men und von den Theilnehmern der Verhandlung gezeichnet wer - den, oder der Geſandte ſetzt den Inhalt der beiderſeitigen Erklärun - gen in Form eines ſ. g. aperçu de conversation oder einer refe - rirenden Note auf, und läßt ſich in irgend einer Weiſe die Rich - tigkeit des Aufſatzes beſtätigen. 3Vgl. Bar. v. Martens a. a. O. §. 55.
244. Als beliebteſte Form zur Verhandlung auswärtiger Staats - angelegenheiten von höherem Intereſſe hat ſich in neueſter Zeit die Verhandlung auf ſogenannten Congreſſen ergeben, an welcher die betheiligten Souveräne entweder in Perſon oder aber durch beſon -2Dieſes Wort iſt erſt in neuerer Zeit in die diplomatiſche franzöſiſche Sprache aufgenommen worden. Unzweifelhaft iſt der Gebrauch dieſes Wortes ein befugter, da er ſchon in dem mittelalterlichen Latein einen officiellen Auf - ſatz über ſtattgehabte Verhandlungen und Erklärungen bedeutete, ebenſo wie das Wort registratura, registratio. 394Drittes Buch. §. 244.dere Abgeordnete Theil nehmen. Es gehört dazu keine Vielheit von Souveränen, ſondern es kann auch ſchon unter zweien allein zu einem Congreſſe kommen.
In älterer Zeit kannte man vornehmlich nur Friedenscongreſſe zum Zwecke einer Pacification und daneben perſönliche Zuſammen - künfte der Souveräne, letztere jedoch mehr zu perſönlichen Beſpre - chungen und Entſchließungen oder zu blos particulären Vertrags - ſchlüſſen. Das gegenwärtige Jahrhundert hat zuerſt das Beiſpiel von Congreſſen und Geſammtverhandlungen dabei ergeben, mit dem Zweck einen bereits eingetretenen Friedenszuſtand zu befeſtigen, wei - ter auszuführen, oder drohende Gefahren abzuwenden, überhaupt über Verhältniſſe von allgemeiner Wichtigkeit gemeinſchaftliche Beſchlüſſe zu faſſen. Ohne die Nichtanweſenheit von Souveränen hat man die Congreſſe bloßer Abgeordneten auch wohl nur durch „ Confe - renzen “bezeichnet.
Die Vorzüge der Congreſſe vor blos particulären Verhandlun - gen ſind evident, obwohl nicht immer die Politik der Staaten dazu rathen wird. 1Vgl. Mably I, 146.
Veranlaſſung zu dem Zuſammentreten eines Congreſſes oder einer Miniſterial-Conferenz kann im Allgemeinen jede Macht ge - ben. Man verſtändigt ſich in präliminären Verhandlungen oder Verträgen über Zweck, Ort und Form. Dritte Mächte können eine Theilnahme in der Regel nicht als Recht fordern, ſondern nur Maaßregeln gegen etwanige präjudicirliche Richtungen ergreifen.
Die Congreßverhandlungen ſelbſt beginnen mit Auswechſelung der Legitimationen und mit der Einrichtung eines beſtimmten Ge - ſchaͤftsganges, z. B. durch Bildung einer beſonderen Canzlei und ein - zelner Comités oder Bureaus. Die Leitung der gemeinſchaftlichen Verhandlungen wird entweder einem angenommenen Vermittler überlaſſen, oder es wird ein eigener Vorſitzender gewählt, oder, wie beim Wiener Congreß, ein leitendes Conſeil conſtituirt. Ne - ben den gemeinſchaftlichen Congreßverhandlungen können demnächſt auch Particularverhandlungen unter einzelnen Betheiligten Statt finden. Die Reſultate der Conferenzen werden in Protocollen nieder - gelegt, welche von den Theilnehmern nach vorheriger genauer Kennt - nißnahme unterzeichnet worden. Alle Vereinbarungen endlich, ſo - weit ſie mit dem gemeinſamen Zweck des Congreſſes in Verbin -395§. 245. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.dung ſtehen, werden auch wohl in eine gemeinſchaftliche Acte zu - ſammengefaßt. 1Nähere Auskunft über den Gang der Congreßverhandlungen ertheilen die Schriften über die wichtigſten europäiſchen Congreſſe; angezeigt in v. Omp - teda §. 180 f. v. Kamptz §. 74 — 91. Wegen der neueren ſeit dem Wie - ner Congreß auch die freilich noch nicht vollſtändigen Mittheilungen in der Fortſetzung von v. Martens Recueil de traités.
245. Spion, Späher, Kundſchafter iſt, wer im Intereſſe einer Partei und insbeſondere einer gewiſſen Regierung außerhalb ſei - nes öffentlichen Berufes, mit verheimlichter Abſicht, Zuſtände einer anderen Partei in ihrem eigenen Bereiche auszuforſchen ſucht, de - ren Bekanntwerden zu verhüten in ihrem Intereſſe und Recht liegt.
Es giebt militäriſche und politiſche Kundſchafter; Erſtere für Kriegsunternehmungen, Letztere für ſonſtige Staatszwecke. Daß es im allgemeinen erlaubt ſei ſich auf ſolchem Wege Kenntniſſe zu ver - ſchaffen, wofern es keinen offenen Weg dazu giebt, oder inſofern man dadurch ſich nur gegen Gefahren zu ſchützen ſucht, kann ſelbſt nach dem Moralgeſetz nicht bezweifelt werden. 3Vgl. Grotius III, 4. 19. und dazu Cocceji.Verwerflich er - ſcheint dabei allein die Anwendung von Mitteln, welche die innere Ordnung des auszukundſchaftenden Staates verletzen, z. B. Beſte - chung ſeiner Beamten. Gewiß kann von ihm in ſolchem Falle auch gegen abgeordnete fremde Kundſchafter nach der Strenge ſei - ner Geſetze verfahren werden, ohne daß jenen die Vertretung ihrer eigenen Regierung davon helfen kann. Dieſe ſelbſt würde ſich ſo - gar einer Kränkung durch ausdrückliche Anordnung oder Geneh - migung ſolcher Mittel ſchuldig machen.
Ob es eine Verpflichtung gebe ſich als Kundſchafter für ſei - nen heimathlichen Staat gebrauchen zu laſſen, oder andererſeits ein Recht, dergleichen Dienſt für einen fremden Staat zu überneh -396Drittes Buch. §. 246.men, iſt lediglich nach Grundſätzen des inneren Staatsrechtes zu beurtheilen.
246. Als Militärſpione können nur diejenigen gelten, welche außer ihrem ordentlichen militäriſchen Beruf über feindliche Ver - hältniſſe und in Beziehung auf einen Kriegsſtand zwiſchen dem abſendenden und fremden Staate heimliche Erkundigungen einzie - hen, und zwar entweder in dem feindlichen Staate ſelbſt oder doch in den von ſeinen Truppen beſetzten Ländern, Lagern und Linien, nicht aber auch derjenige, welcher ohne Verheimlichung, ſeinem or - dentlichen Militärberufe gemäß, in einen jener Bereiche eindringt, um Nachrichten zu ſammeln; z. B. auf einer Recognoscirung; oder wer auf dem ihm angewieſenen Poſten von Perſonen, deren er hier habhaft werden kann, Erkundigungen einzieht; und ebenſo wenig iſt derjenige ein eigentlicher Kriegskundſchafter, welcher nur für ſeine eigenen Zwecke ſich von der Lage einer feindlichen Partei aufzuklä - ren unternommen hat.
Iſt nun auch an und für ſich in der Uebernahme eines Kund - ſchaftauftrages kein Verbrechen enthalten, ſo wird es doch ein ſol - ches, wenn ihn ein Unterthan gegen ſeinen eigenen Staat unter - nimmt; denn er begeht einen Verrath; überdies ſteht dem Feinde unbedenklich zu, wider das[Auskundſchaften] ſeiner Lage und Ver - hältniſſe Reactionen als Vertheidigungsmittel zu gebrauchen. Der Späher iſt in einem feindlichen Unternehmen begriffen. Der Kriegs - gebrauch hat ihm daher längſt, wenn er auf ſolcher That betroffen wird, den Strang, oder zuweilen in neuerer Zeit die Kugel be - ſtimmt, wie es das Martialgeſetz jeder Nation mit ſich bringt. Auch hier kann eine ausdrückliche Auftragsertheilung der fremden Regierung nicht ſchützen, ſo wenig als die Berufung auf die Pflicht des Gehorſams im Militärdienſt. 1Ein trauriges, wenngleich in den Grenzen des Völkerrechts gehaltenes[Ver - fahren] fand nach dieſen Grundſätzen im Jahre 1780 gegen den britiſchen Major André, ungeachtet aller Verwendungen, Statt. v. Martens Erzäh - lungen I, 303.
Die nachherige Ergreifung, nachdem der Späher aufgehört hat, ein ſolcher zu ſein, kann höchſtens nur Sicherungsmittel gegen397§. 247. Die Formen des voͤlkerrechtlichen Verkehres.ſeine Perſon, nicht aber eine wirkliche kriegsrechtliche Ahndung wei - terhin veranlaſſen. 1v. Kamptz a. a. O. §. 14.
247. Politiſche Kundſchafter dienen weſentlich dazu, um den inneren politiſchen Zuſtand eines fremden Landes oder aber die Richtung und Angelegenheiten der auswärtigen Politik deſſelben zu erforſchen. Der Gebrauch ſolcher Späher iſt zu keiner Zeit für ſchlechthin unerlaubt gehalten worden; ja es gilt kaum für eine völkerrechtliche Verletzung, Beſtechungen zu Erlangung geheimer Nachrichten angewendet zu haben. Natürlich wird aber der Kund - ſchafter der Strafe nicht entzogen:
Endlich verwandelt ſich der politiſche Späher in einen militäriſchen, wenn er einer geheimen feindſeligen Unternehmung des ihn beauf - tragthabenden Staates nur vorausgeſchickt iſt, um den rechten Zeit - punct und Ort zur Ausführung derſelben zu ermitteln.
[Dieſer Aufſatz hatte eine zufällige Entſtehung in dem Verkehr mit ei - nem älteren Freunde. Er enthält in der That nur die Stimmung des Tages über die Lage der europäiſchen Angelegenheiten und mag daher als eine Ueber - gangsandeutung von dem jetzigen Völkerrecht zu einem künftigen ſeine Stelle finden. Dasjenige, was darin verfehlt, verkannt oder nur rein ſubjectiv iſt, wird dem denkenden Leſer leicht entgegentreten.]
Nahe genug ſchon bin ich den Säulen gerückt, welche das Jen - ſeits von dem Dieſſeits ſcheiden, wo man allerdings gedrängt wird, mehr in die Ferne zu ſchauen, als rückwärts oder in die Gegen - wart. Dennoch, wie ſchwer ein politiſches Teſtament, ein Teſta - ment über das Unverfügbare!
Große Staatsmänner konnten ihrem Lande zuweilen wohl ein Vermächtniß politiſcher Gedanken hinterlaſſen, deren Ernte noch einer ſpäteren Nachwelt vorbehalten blieb. Und dennoch, wie we - nige haben vermocht die fernere Geſchichte ſchon im Voraus zu beſtimmen. Nur die ſelbſtvollendete That war ihr eigentliches Ver - mächtniß, ihre Unſterblichkeit.
Können wir die Zukunft nach Seherart vorausſagen? Wüß - ten wir nur erſt die Geſchichte der Vergangenheit und Gegenwart, ſo könnten wir es vielleicht. Aber, wie Proteus dem Menelaus, würde man oft wohl dem Frager ſagen müſſen:
So ſeien denn dieſe Zeilen nur eine Hineintragung des Ge - dankens aus dem Boden der Gegenwart in dasjenige, was ſie ſchon in ihrem Schooße trägt, ein eigenes politiſches Fortleben und eine Votivtafel dem künftigen Geſchlecht, am meiſten dem Va - terlande.
Weltweiſe und Menſch enfreunde haben dem Menſchengeſchlecht dereinſt einen ewigen Frieden in Ausſicht geſtellt und ſeine Möglich - keit, ſeine Bedingungen darzuthun geſucht. Andere haben die Mög - lichkeit beſtritten. Wir glauben gern an ſie, aber ihre weſentliche Bedingung wäre, daß nur noch Einzelne, nicht die Völker, nicht die Staaten ſelbſt noch ſündigten. Wie weit iſt man noch von dieſem Ziele. Das Teſtament, welches dazu den Weg zeigt, liegt ſchon längſt aufgeſchlagen vor den Völkern. Aber noch immer ſind es die Fehler und Leidenſchaften der Einzelnen, welche auch in dem Staate herrſchen. Sie geſellen ſich oft zu dem vielgewoll - ten Guten; oft wecken ſie daſſelbe erſt zur Energie, aber ſelten oder nie laſſen ſie es ganz rein zur Erſcheinung gelangen. — —
Eine dauernde Geſchichte haben nur Völkerfamilien, worin eine geiſtige Einheit mit Bewegung und in organiſcher Vermittlung bei Selbſtgenugſamkeit beſteht. Je mehr Motiven und Richtungen jene Einheit in ſich aufnimmt, je großartiger ihre Ziele ſind, deſto be - ſtändiger und ruhmvoller wird auch das Leben eines Volkes ſein. Je einſeitiger die Uebereinſtimmung und bornirter das Ziel: deſto unſicherer iſt das Beſtehen einer Volksfamilie.
Alle Schwankungen, Vor - und Rückgänge der Staatenſchick - ſale haben ihren Grund in dem Einflußübergewicht, welches mo - raliſche oder ſinnliche Intereſſen auf den Character eines Staates ausüben. Dieſe Intereſſen ſind vorzüglich die Religion, die Ehre, die Lebensgenüſſe, und nur dieſe.
Auch in der Gegenwart finden ſich noch immer dieſelben Mo - tiven und Agentien in der Staatenpolitik.
Vergebens hatte man geglaubt, die religiöſen Intereſſen ſeien wenigſtens der äußeren Politik entfremdet worden, wie ſie ſich im Innern der Staaten unter der Toleranz zur Ruhe begeben hatten. Allein wer ſieht nicht, daß ſie wiederum eine gewaltige Poſitivität und Regſamkeit angenommen haben; ſie ſind um ſo mächtiger, je geheimnißvoller ſie einwirken; und gerade auf eine ſolche geheim - nißvolle Einwirkung hat die Politik der weltlichen Staaten die403Anhang.Leiter der kirchlichen Zwecke hingewieſen, ſeitdem man ſie von einer offenen Theilnahme an den weltlichen Angelegenheiten der Völker entfernt hat.
Abſtrahiren wir von dem freilich in Europa auf ſich ſelbſt be - ſchränkten Islam, ſo ſind es nicht mehr bloß, wie ſonſt, zwei Cul - tusſyſteme, welche gegen einander ſtreiten und auch die Staaten gegen einander ſelbſt ſchon aufgeregt haben, nämlich: der römiſche Katholicismus oder die Incarnation des Geiſtes in der Hierarchie mit bloß dialektiſcher Bewegung, und der Proteſtantismus oder die Befreiung des Geiſtes von einer äußerlichen Glaubensgewalt; eine dritte Kirche, die man erſtarrt glaubte und ohne Regſamkeit, die griechiſche, abgeſchloſſen und unbeweglich in ihrem orthodoxen Glauben, hat ſich in einen Bund mit dem Slavismus begeben; mit ihm drängt ſie ſich immer mehr nach dem Herzen Europas.
So hat Rom nun zwei Gegner zu bekämpfen. Gegen den neubelebten ſcheint es noch rathlos. Wider den Proteſtantismus und den mit ihm verbundenen, wenigſtens toleranten Staat ge - braucht es von neuem die alten Geſchütze des Vaticans und ſendet es ſeine Heerſchaaren aus; die Hierarchie ſucht ſich eine politi - ſche Stellung wiederzuerkämpfen. Der Proteſtantismus, unorga - niſch in ſich ſelbſt, hat derweile nichts entgegenzuſetzen als die par - ticuläre Hülfe einzelner Staaten. Er kämpft nur für ſeine Erhal - tung und Vertheidigung; nur erſt ganz neuerlich iſt auch in ihm der Gedanke lebendig geworden, von einer neuen Welt her dem Gegner an das Herz zu greifen, gleich als wären auch für ihn hölzerne Mauern und der Dreizack eine letzte Rettung.
Demnach iſt der Religionspunct in Beziehung auf das Staa - tenleben noch zu keinem Frieden gebracht, im Gegentheil ſteht es damit ſchlimmer als in den Zeiten, wo ſich die Gegenſätze ent - wickelten; denn damals war es ein Principienkampf, ein Kampf um die Wahrheit. Jetzt iſt alle confeſſionelle Topik erſchöpft; die Reli - gion, das Confeſſionelle iſt lediglich Sache des Willens und des Rechts.
Es bedarf hoher Weisheit der Regierungen auf dieſem vulka - niſchen Boden. Jede Parteinahme für eine Confeſſion mit Zu - rückſetzung der übrigen, die bereits beſtehen, iſt gefahrvvll, meiſtens26*404Anhang.auch eine Rechtsverletzung. Ein wahres Gleichgewicht zwiſchen Kirche und Staat beſteht nur dann, wenn jener den Cultus der Wiſſenſchaft und nationalen Tugend zu ſeiner Religion macht, die Kirche aber ſich auf ihre einfache, urſprüngliche Amtsverfaſſung beſchränkt, und ſich an Freiheit ihres Religionscultus ſo wie ihrer Lehre begnügen läßt; ſie erlangt aber ein gefährliches Uebergewicht, wenn ſie eigene geiſtliche Milizen ausrüſten darf und dieſe den Amtskreis ihrer ordentlichen Beamten theilen, ja die Familien und den Staat ſelbſt dadurch umgarnen läßt.
Es war und bleibt alle Zeit eine anziehende Idee, einen Mit - telpunct der ganzen Chriſtenheit, wenigſtens der abendländiſchen, zu haben. Gewiß ein Weg zum ewigen Frieden! Aber die Be - dingungen könnten ſeit der freien Entwickelung des Gedankens nur ſein:
Nur durch maaßloſe ultramontane Ausſpinnung des oberſten Hir - tenamts zum Abſolutismus hat ſich die Kirche die Wunden ge - ſchlagen, woran ſie noch blutet.
Faſſen wir die weltlichen Staaten Europas ins Auge: das Jahrhundert hat ihnen die Lehre gebracht, daß der Staat auf Na - tionalität gegründet allein haltbar ſei, Kosmopolitismus aber, den man ſonſt empfahl, ohne jene Grundlage zum Verderben führe. Es hat ferner mit den Segnungen des Friedens größere Bürger - freiheit und Thätigkeit gebracht, freilich aber auch zugleich Egois - mus und Verweichlichung. Die Welt iſt merkantiliſch geworden; der Staat ſoll eine Glückſeligkeitsmaſchine für die Einzelnen ſein, ohne daß er wagen darf den ſchneidenden Gegenſatz des Reich - thums und der Armuth aufzuheben. Innere Einheit iſt ſelten.
Nicht gebeſſert iſt die äußere politiſche Stellung der Völker. Es iſt wahr, die Regierungen arbeiten für den Frieden und theils wahrhaft, theils ſcheinbar zu einem gegenſeitigen Einverſtändniß. Allein in der That bleibt es mehr nur bei höflicher Form; nur die allgemeine egoiſtiſche Richtung der Zeit hindert und ſichert, daß das Wort „ Krieg “nicht leichtſinnig ausgeſprochen wird.
405Anhang.Ernſte Gefahren für die europäiſche Ruhe tauchen hin und wieder ſchon in Schattenbildern auf. Im Orient ſind es die be - kannten Verhältniſſe des osmaniſchen Reiches, welche unvermeid - lich zu europäiſchen Complicationen führen werden, ohne daß ſchon ein Ableitungsmittel gefunden iſt. Jede Combination des Rechts fehlt dabei; die Gründung eines eigenen chriſtlichen Reiches auf jenem Boden wäre die einzig zuläſſige Idee, womit ſich alle euro - päiſche Staaten einverſtanden erklären können. Eine andere Ge - fahr liegt in der conſequenten Weiterverbreitung des Panſlavismus, auf einem Boden vorzüglich, wo er die griechiſche Kirche zu ſeiner Unterſtützung findet; aber er hat darum noch nicht das Recht für ſich. Im Weſten bleibt das Monopol des Welthandels, nebenbei das Princip der Revolution im Innern der Staaten ein dauern - des Motiv des Mißtrauens und ein Heerd des Krieges. Weni - ger das kirchliche Intereſſe unmittelbar, wenn nicht ſchwere Ein - griffe in den Beſtand einer Kirche gemacht werden.
Kann die Politik der Einzelſtaaten nicht die Fälle einer künf - tigen Thätigkeit genau vorausſehen, ſo muß ſie doch gefaßt ſein auf jene Gefahren und die Kräfte kennen, gegen die ſie zu han - deln veranlaßt ſein kann, ſo wie ihre eigenen, womit ſie die Ge - fahren zu bekämpfen vermag. Ihr mächtigſter Schirm und He - bel iſt Nationaleinheit und Willensregſamkeit.
Meſſen wir die Staaten nach dieſem Fundament, ſo giebt es wohl kaum eine Großmacht mit vollkommener Einheit aller natio - nalen Elemente, ohne durch einzelne widerſtrebende Theile durch - brochen zu ſein. Die meiſte Einheit tragen in ſich Rußland und Frankreich, jedes in anderer Art. Dort nur Ein herrſchender Wille, Ein Schlagwort auf Tod und Leben für den großen Kern der Na - tion, wenn es mit deſſen Religion und Vorurtheilen harmonirt; die etwanigen heterogenen Beimiſchungen und Zugaben zu dieſem Kerne ſind zur Zeit nicht von der Intenſität, um jenen Willen zu hemmen. Eine noch vollkommnere Einheit bietet das franzöſiſche Volk dem Auslande gegenüber dar. Einheit der Nationalgeſinnung, influirt durch die Ehre ſeiner Geſchichte, ſteht es frei und gleich in ſeinem Innern; nur gewiſſe Familien - und Geldintereſſen, ſo wie die Gefahr allſeitiger Reaction des Auslandes, legen der Politik der Regierung Zügel an, wie dem ritterlichen Geiſt des Volkes.
Dann aber auch der Nachbar in Albion. Die Briten ſind406Anhang.die Römer der modernen Zeit. Wir wollen aus dieſer Analogie keine Folgerungen auf künftige Schickſale ziehen. Die Situationen ſind zu verſchieden; kein Volk, kein Schickſal iſt dem Andern völ - lig gleich, ſo wenig als ein Menſch dem andern. Aber die Ana - logie der Politik, gegründet auf das größeſte Kapital, auf den con - ſequenteſten Willen, auf ein practiſches Talent ohne Leidenſchaft, auf Gleichartigkeit des Characters iſt unverkennbar; die Verſchie - denheit liegt nur in dem germaniſch-chriſtlichen Typus Altenglands. Auf dieſes aber concentrirt ſich die Macht und Einheit. Einzeln gegen einzelne feindſelige Elemente, womit es umringt iſt, wird es nie unterliegen, ſelbſt nicht in der Vertheidigung gegen die Verei - nigung Aller. Sein größeſter Feind im Innern iſt der religiöſe Po - ſitivismus, ohne die Leichtigkeit der franzöſiſchen Nation, mit dem poſitiven Kirchenthum ein Compromiß zu ſchließen und ohne die philoſophiſche Selbſtopferung der Norddeutſchen; jene Zugänglich - keit der Hochkirche für den Romanismus, ſo wie die alte Hinnei - gung eines Theiles der Ariſtokratie zu Rom auf der einen Seite, der othodoxe Proteſtantismus auf der anderen Seite. Eine Er - neuerung des alten Kampfes iſt für die Folgen keinesweges aus - geſchloſſen. Von außen her bleibt England nur durch allſeitige Verſtopfung ſeines Handels und ſeiner Capitalien zu bekämpfen.
Dich aber, deutſches Vaterland, welche Zukunft erwartet Dich? Wir gern ſähe ich in Dir den Erben der größeſten Zukunft, wie Du langſam harrend Deine Geſchicke ertragen und bekämpft haſt. Wohl kannſt auch Du als eine Großmacht in die Schranken tre - ten. Auch Du haſt Deine Heroen gehabt, und kein deutſcher Mann darf an Deinem Volke verzweifeln. Seine Gebrechen, wer kennt ſie nicht? Aber ſie wurzeln auf einem Rechtsboden, den es anzutaſten ſich immer geſcheuet hat, obgleich man hier zuerſt wagte, ſich von einer geiſtlichen Herrſchaft loszuſagen und mit Gott ohne das Mit - tel eines Prieſterthums in Gemeinſchaft zu treten. Nirgends aber eine vollendete Einheit! Auf der einen Seite wuchtet proteſtantiſche Freiheit, dort eine innige Neigung zu Rom, deſſen mittelalterliche Politik ſo viel zur Vernichtung der Staatseinheit beigetragen hat; die meiſte Einheit beſteht noch in Geſittung, in gleichem Rechts - gefühl und in ehrenhaftem Widerſtand gegen das Unrecht. Aber nicht einmal das ganze Land gehört ſchon der Volksthätigkeit an;407Anhang.denn noch iſt ein großer, herrlicher Küſtenſtrich der gemeinſamen Benutzung verſchloſſen; es hat darum ſelbſt an Mitteln gefehlt, von einem fremden Miſchlingsvolk, dem der deutſche Sinn ſeine Liebe zugewendet und viel geopfert hatte, Genugthuung für den Hohn zu fordern, womit es Deutſchlands Söhne nackt und elend wieder von ſich geſtoßen hat.
Zunächſt wird immerhin das Daſein zweier Großmächte, welche Deutſchland ſelbſt nur theilweiſe angehören, im Bunde mit den rein deutſchen Subſtanzen das Ganze, wie es iſt, aufrecht erhalten. Ein anderer Zuſtand wird ſich nur durch dereinſtige gewaltige Er - ſchütterungen von außen her, vielleicht auch durch einzelne freiwillige Selbſtaufopferungen und Zufälligkeiten geſtalten. Aber auch wie es iſt, hat es kein Untergehen im Kampfe mit anderen Nationen zu befürchten, mit ſeiner Genügſamkeit, Ausdauer und geiſtigen Be - wegung. Seine gefährlichſte Lage wäre ein Compromiß Frank - reichs und Rußlands, jenem die Rheingrenze, dieſem eine altſlavi - ſche Grenze zu verſchaffen, wenn beiden eine ſolche gegenſeitige An - näherung erwünſcht ſcheinen könnte, wenn Frankreich thöricht ge - nug ſein wollte, für die Folge ſich ſelbſt, ſo wie Italien den An - griffen des Slavismus und Rom der griechiſchen Kirche Preis zu geben. Und ſelbſt wider ein derartiges Compromiß hätte Deutſch - land Kräfte genug, wenn der Bund fortfährt ſich militäriſch zu ent - wickeln, die in der Staatenzerſplitterung ſchlummernde National - kraft für das große Ganze heranzuziehen, ſeine Grenzen, darunter auch künftig die Seegrenze, gehörig zu ſichern. Bundesgenoſſen germaniſcher Brudervölker würden in ſolchem Kampfe um das Herz Europas nicht fehlen.
Eine völlige Umkehr oder Zerſtörung aller oder einzelner na - tionaler Verhältniſſe iſt vorerſt nicht abſehbar. Keine der Groß - mächte, welche eine erobernde Tendenz haben, iſt ſtark genug um eine andere geſchloſſene Nation niederzuſchlagen und zu vernichten; keine unter ihnen giebt es, deren Joch nicht auf die Dauer uner - träglich ſein würde. Hier Knechtſchaft; dort Geiz und Uebermuth.
Bisher haben wir die Dinge nur aus dem Standpunct der gemeinen oder Alltagspolitik betrachtet. Erheben wir uns auf ei - nen höheren Standpunct: ſollte dereinſt den Leitern der Politik es408Anhang.möglich werden, die Gerechtigkeit und das allgemeine menſchliche Intereſſe zur Baſis und zum Gegenſtand ihrer Wirkſamkeit zu ma - chen: dann erſcheint als nächſtes Problem in der civiliſirten euro - päiſchen Welt eine aufrichtige Verbindung zwiſchen Deutſchland und Frankreich nach freiem und gleichem Recht, worauf ſchon Männer dieſſeits und jenſeits des Rheines gedeutet haben. Beide allein würden in ihrer Einigkeit im Stande ſein, den Frieden und das Recht des Continentes zu ſichern. Zum Weltfrieden, zu einem großen Weltrecht mit practiſcher poſitiver Ausdehnung über die Grenzen Europas hinaus würde der Verein werden, wenn ihm Großbritannien beiträte, wenn ſein altengliſches Kernvolk ſeiner Be - fangenheit ſich entſchlagen könnte; eine germaniſche Einheit dann, de - ren ſich auch die ſcandinaviſchen Bruderſtaaten nicht entziehen wür - den. Möchte dann immer der Oſten dem Slavismus und dem in ihm erneuerten chriſtlichen Griechenthum verfallen. Aber die Leiter der europäiſchen Politik können dergleichen erſt wollen, wenn die Völker ſelbſt ſchon ſittlich vollendeter ſind und darauf hinſteuern.
Gewiß iſt eine ſolche Vereinigung von Nationen kein ungeſchicht - liches Traumbild. Es gab eine Zeit, wo alle germaniſchen und roma - niſchen Völker für das größeſte Ziel, welches die Religion ihrer Zeit darbot, mit gleichem Eifer kämpften — die Zeit der Kreuzzüge. Dieſelbe Idee kann nicht mit gleicher Stärke oder überhaupt nicht wiederkehren; die Zeit der bloßen Gemüthsreligion iſt vorüber; aber eine andere practiſche Idee könnte und ſollte es, die Religion der allgemeinen Menſchenliebe; und demnach Ausdehnung dorthin, wo ſie noch fehlt, ohne das Vaterland aufzugeben. Wie unendlich viel wäre dafür zu thun! Und wie armſelig iſt dagegen unſere Zeit mit all ihren Reichthümern und Genüſſen! Kein Märtyrerthum, keine politiſche Tugend! Keine große Idee und Erfindung, woran ſich nicht auch der Egoismus hängt. Eiſenbahnen, Induſtrie, Han - del, ſelbſt die Wiſſenſchaft dienen ihm, und doch können gerade ſie auch dem höhern Ziele dienen.
Wir wollen daran nicht verzweifeln. Nicht hoffnungslos will auch ich ſcheiden. Der Friedhof ſei am Kyffhäuſer.
Gedruckt bei A. W. Schade, Grünſtr. 18.
CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
Fraktur
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