Dem Königlich Preußiſchen Geheimen Cabinets-Rath Herrn Carl Chriſtian Müller, Doctor der Rechte und Ritter ꝛc. ꝛc. widmet an ſeinem funfzigjährigen Dienſtjubiläum dieſes Buch mit Sohnes Liebe der Verfaſſer.
Bereits vor mehreren Jahren regte mein verſtorbener Col - lege und Freund, Gans, den Gedanken an, eine gemein - ſchaftliche Bearbeitung des Völkerrechts zu unternehmen. Er wählte den Krieg und überließ mir den Frieden. Sein Tod hat die Ausführung dieſes Planes verhindert und mich län - gere Zeit hindurch von der eigenen alleinigen Behandlung des Gegenſtandes abgehalten. Durch verſchiedene Anläſſe bin ich indeß darauf zurückgeführt worden; ich habe die früheren Ar - beiten wieder aufgenommen und, — ſtrenge Selbſtprüfung läßt mich hoffen, durch eine treue kritiſche Zergliederung des Stoffes, den ich mir ſeit Anfang meines academiſchen Lebens zu Eigen gemacht habe, einigermaßen erſetzen zu können, was er durch die Mitthätigkeit des geiſtreichen Freundes gewon - nen haben würde. Vielleicht, daß in Kurzem die Herausge - ber ſeines Nachlaſſes wenigſtens eine Blumenleſe aus ſeinen glanzvollen Vorträgen über das öffentliche Recht erſcheinen laſſen. Ich ſelbſt habe von ihnen keine nähere Kenntniß er - halten. Nur wenige Puncte haben wir mit Einander durch - geſprochen. Gern aber nenne ich ihn als den erſten Urheber dieſes Werkes. Ehre ſeinem Andenken!
IVVorrede.Ob es nun gerade jetzt zeitgemäß ſei, an das Daſein ei - nes Völkerrechts und vorzüglich an manche Unvollkommenhei - ten der Staatenpraxis in dieſem Gebiete zu erinnern? kann vielleicht für ſolche Staaten weniger in Frage zu ſtellen ſein, die im Stande ſind, ihren Eigenwillen gegen den Widerſpruch anderer zu behaupten oder als Geſetz ihnen aufzudringen, wo - bei ſie höchſtens eines Scheines des Rechtes bedürfen und ſich daher ſchon mit einigen alten publiciſtiſchen Autoritäten und einſeitigen Präcedentien begnügen: mehr dagegen für diejeni - gen, welche ſtets für ihre Exiſtenz oder doch für ein gewiſſes Gleichgewicht zu kämpfen haben, niemals wenigſtens der Will - kühr anderer verfallen wollen. Sind nun noch Principien feſtzuſtellen und Schutzwehren für dieſelben zu erſtreben, ſo iſt gerade die Zeit des Friedens dazu die geeignetſte; verge - bens würde man jenes von einer Zeit des Unfriedens erwar - ten. Und waren in dem noch andauernden Friedensſtande die Nationen vielfach mit ſich ſelbſt in ihrem Innern beſchäftigt: ſo hat die meiſtens erfolgte Grundſteinlegung und der fernere Aufbau der Verfaſſungen bereits wieder geſtattet den Blick nach Außen hin zu richten und einen ſtets regeren Verkehr mit anderen Völkern zu ſuchen; es haben endlich ſchon wiederholent - lich Wolken am politiſchen Horizont die Regierungen und Völ - ker gemahnt, daß die Wirklichkeit eines ewigen Friedens, wenn überhaupt beſchieden, noch keinesweges ſo nahe ſei. Bis dahin bleibt gewiß das Bewußtſein von einem gemeinſamen Rechts - zuſtande unter allen oder doch gewiſſen Nationen der einzige Nothanker, um nicht in die Barbarei eines ewigen Krieges zurückzuſinken. In der That verkündigen einige Erſcheinungen am literariſchen Horizont hin und wieder, daß das Bedürfniß einer Wiederanfriſchung der völkerrechtlichen Studien, fürVVorrede.welche in Deutſchland ſeit Klüber nichts Erhebliches geleiſtet worden iſt, noch anderweitig begriffen werde. 1Wir haben hierbei beſonders die Beitraͤge zur Voͤlkerrechtsge - ſchichte und Wiſſenſchaft von Herrn Prof. K. Th. Puͤtter (Leipzig 1843 und einen Aufſatz von Haͤlſchner, zur wiſſenſchaftlichen Begruͤn - dung des Voͤlkerrechts (in G. Eberty Zeitſchr. fuͤr volksthuͤml. Recht. Heft I, 26.) im Auge.
Ueber die Auffaſſung des Stoffes habe ich nur wenig vorauszuſchicken.
Zuförderſt nenne ich das Völkerrecht noch immer bei ſei - nem alten Namen, nicht, wie es manche mit fremder Zunge zu nennen angefangen haben: internationales Recht; ich vin - dicire ihm eine Subſtanz, welche unter die letztere Benennung nicht genau paßt, wohl aber unter den alttechniſchen Begriff des Völkerrechts, des jus gentium der Alten; ich vindicire ihm die allgemeinen Menſchenrechte, deren Anerkennung kein Volk verweigern kann, die Rechte nämlich, welche jeder Ein - zelne, auch der außer dem Staate Lebende, dennoch in der menſchlichen Geſellſchaft fordern darf.
Aus welchem Geſichtspunct ſodann das Völkerrecht über - haupt zu behandeln ſei, ſteht bei mir längſt unerſchütterlich feſt. Ich ſehe darin weder eine bloße Staatenmoral oder ein Aggregat politiſcher Maximen, welchem darum der Character eines Rechtes zu verweigern wäre, weil ſich dafür noch keine Zwangsform der Geltendmachung gefunden hat; noch auch ein fragmentariſches willkührliches Recht, welches nur auf ei - nem beliebigen Herkommen oder auf Verträgen beruht; Er - ſteres nicht, weil es durchaus nicht an Mitteln zu ſeiner Rea - liſirung gebricht, ſelbſt nicht an Mitteln, um einen unparteii - ſchen Urtheilsſpruch zu erlangen, wenn man ihn nur haben will und ſich mit keinem Geheimniß umſchließt; ja einen un -VIVorrede.parteiiſcheren und gerechteren Urtheilsſpruch, als ihn der höchſte Richterſtuhl eines Landes abgeben kann —; Letzteres nicht, weil die bloß äußerliche Willkühr kein Rechtsprincip zu er - ſchaffen vermag, wenn ihr keine höhere Weihe zur Seite ſteht. Den tieferen Grund alles Völkerrechts finde ich in dem ver - nünftigen, d. h. auf der Nothwendigkeit des Gedankens be - ruhenden Willen der Menſchen, ſobald er in ein gemeinſa - mes Bewußtſein tritt, welches ſich nicht blos in dem Ein - zelſtaate als Satzung geltend zu machen ſucht, und das Ge - ſetz zu ſeinem Diener auffordert, ja ſich wohl ſelbſt an die Stelle des Geſetzes ſetzt, ſondern auch unter Nationen, die mit einander in Verkehr, in ein geſellſchaftliches Verhältniß treten, auf gleiche Weiſe als Bedingung davon erhebt. Wo eine Geſellſchaft iſt, da iſt auch ein Recht; der Staat ſelbſt iſt der vernünftige Menſch der Gattung; treten mehrere iſo - lirte Nationen zuſammen, ſo können ſie nur auf dieſer Baſis mit einander exiſtiren; Ungleichartigkeiten in dem Bildungs - grade, in dem Grade der Herrſchaft, welche die Vernunft über die Sinnlichkeit zu erlangen im Stande iſt, werden zwar die vollſtändige Entwickelung hemmen und einſtweilen Modi - ficationen erzeugen, aber die letzte und immerfort zu erſtre - bende Norm bleibt dasjenige, was wir als Inhalt der menſch - lichen Freiheit im Verhältniß zu einander, unſerer Natur und ihrer Entwickelung in dem Staate gemäß, erkennen müſſen.
Vielleicht konnte man von dem Völkerrecht des vorigen Jahrhunderts ſagen, daß es mehr nur in politiſchen Maximen der Regierungen beſtand, die man nach Convenienz als Rechts - grundſätze aufſtellte, aber auch wieder nach den Umſtänden ver - leugnete oder modificirte. Darin aber iſt ein großer Um - ſchwung im jetzigen Jahrhundert eingetreten. Es ſind nichtVIIVorrede.mehr die Regierungen allein, welche in allen oder in den meiſten Staaten, wie früher, das Recht nach eigener Ueber - zeugung ſetzen und dafür auch das Blut ihrer Unterthanen verhaftet glauben. Die Völker ſelbſt ſind in vielen Staa - ten durch die Verfaſſung zur Theilnahme an dem Rechte des Staates gelangt, und ſogar da, wo es formell in unantaſtbarer Weiſe nicht geſchehen iſt, wird doch nur ſelten die Ueberzeu - gung der Völker von Recht oder Unrecht in der Politik ganz bei Seite geſtellt werden können. Dadurch iſt dem Völker - recht eine feſtere Baſis gegeben worden. Wenn ſchon früher unter der alten Regierungsweiſe wenigſtens als Lehre behaup - tet und auch wohl von vielen Regierungen berückſichtigt ward, daß jeder Schritt derſelben mit dem Wohl des Ganzen, mit dem Heil des Volkes in Uebereinſtimmung ſein müſſe, ſo giebt es nun auch organiſche Vermittelungen um die Inter - eſſen der Völker nach ihrer eigenen Ueberzeugung kennen zu lernen; das Rechtsbewußtſein kann ſich gegenwärtig allgemei - ner ausſprechen, und in ſeiner Verallgemeinerung kann es eben kein anderes ſein, als dasjenige, was der menſchlichen denkenden Natur überhaupt entſpricht. Irrthum, nationale Befangenheit und Vorurtheile werden zwar noch ferner das reine Rechtsbewußtſein trüben, aber ſie können es ohne Unter - drückung der öffentlichen Meinung, dieſes Inſtinctes und Be - gleiters des wahren politiſchen Gedankens, nicht immer.
Macht dieſes Werk nun auch keinen Anſpruch eine ſchul - philoſophiſche Durchführung des Völkerrechts zu ſein, ſo wird es ſich doch als eine aus dem Leben des Staates gegrif - fene und von ſeinem Begriff aus durchdachte Grundlegung der politiſchen Praxis geltend machen können. Es iſt nicht leichtſinnig als Recht angenommen, was Einmal oder ſelbſtVIIIVorrede.öfters wirklich geſchehen iſt; es iſt kein bloßes Repertorium der Staatspraxis unter der Prätenſion damit das Recht ſelbſt anzuzeigen; es hat daher nicht alles und jedes wiederholen mögen, was die letzten Publiciſten der deutſchen hiſtoriſchen oder practiſchen Schule zuſammengetragen haben: ſondern es hat die Criterien der Richtigkeit der Praxis aufſuchen ſollen. Schwer war die Arbeit noch immer genug! Ob ſie einen Publiciſten von heut leichter werden möchte, muß ich anheim - geben. Mein Ziel war ein wirkliches Recht, mit menſch - lichem und nationalem Character; ſtrenge Wahrheit ohne Schminke. Ein ſpecielles Eingehen in noch ſchwebende Fra - gen der Tagespolitik lag jedoch außer dem Plan. Die Grund - ſätze zu ihrer Entſcheidung wird man leicht finden.
Den Anhang — ein Bruchſtück von politiſchem Teſtament — gebe ich, wie er mir zugekommen iſt, mit einigen Weg - laſſungen und Bedenken. Es iſt bei allem Streben nach Ob - jectivität dennoch viel Subjectives darin, wofür keine Ver - tretung übernommen werden darf. Gewiß regt das Studium des Völkerrechts und der Politik auch zu Blicken in die Zu - kunft an.
1. Völkerrecht, jus gentium, in ſeiner antiken und weiteſten Be - deutung, welche die Römiſche Jurisprudenz feſtgehalten hat,1Ueber dieſen Begriff ſ. m. Isidor. Orig. V, 4. Dirkſen im Rhein. Muſ. f. Jurispr. I, 1. Welcker Encyclop. u. Method. Stuttg. 1829. S. 88. 123. v. Savigny Syſtem I, S. 109. 413. iſt alles in gemeinſamer Völkerſitte begründete Recht, welches nicht al - lein unter den Nationen im gegenſeitigen Verkehr ſelbſt gilt, ſon - dern auch jedes Rechtsverhältniß einzelner Perſonen in ſich ſchließt, was nach allſeitigem Einverſtändniß überall gleiche Bedeutung, glei - chen Charakter hat und nicht in den Inſtitutionen einzelner Staa - ten ſeinen eigenthümlichen Grund oder ſeine eigenthümliche Ge - ſtaltung empfangen hat. Es umfaßt demnach zwei Beſtandtheile, nämlich
Dieſer letztere Beſtandtheil hat in der neuen Welt allein den Na - men Völkerrecht, droit des gens, jus gentium behauptet. Rich - tiger bezeichnet man ihn durch äußeres Staatenrecht im Ge - genſatz des inneren Staatsrechts der Einzelſtaaten, jus inter gen - tes,2Dieſer Ausdruck iſt zuerſt von Zouch im Jus feciale v. 1650 als der richtigere empfohlen. D’Aguesſeau nannte es droit entre les gens; ſeit droit international. Der erſtere Beſtandtheil des antiken12Einleitung. §. 2.Völkerrechts hat ſich dagegen in dem innern Rechtsſyſtem der Ein - zelſtaaten verloren oder damit amalgamirt, ohne ſeine Selbſtändigkeit dagegen behaupten zu können; in dem heutigen Völkerrecht kommt er nur noch in Betracht, als gewiſſe Menſchenrechte und Privat - verhältniſſe zugleich auch unter die Tutel oder Gewährleiſtung der Nationen gegenſeitig geſtellt ſind.
Giebt es nun ein ſolches äußeres Staatenrecht überhaupt und überall? In der Wirklichkeit gewiß nicht für alle Staaten oder Völker des Erdballs. Immer hat es nur einen Theil derſelben um - faßt; nur in Europa und in den von hier aus gegründeten Staa - ten iſt es in das allgemeine Bewußtſein getreten, ſo daß man ihm den Namen eines Europäiſchen gegeben hat und mit Recht noch immer geben darf. Die Staaten ſelbſt und ihre Angehörigen als ſolche ſind darin die Perſonen oder Rechtsſubjecte.
2. Recht im Allgemeinen iſt die äußere Freiheit der Perſon. Vereinzelt ſetzt es der Menſch ſich ſelbſt, indem er ſeinen Willen zur That in der Außenwelt macht und ihn wiederum bindet, wo es die innere Ueberzeugung gebietet oder der äußere Nutzen anräth. In geſelliger Verbindung mit Andern wird es durch den gemeinſamen Willen oder durch denjenigen geſetzt, welcher die Uebrigen ſeinem Recht unterworfen hält; es wird hier die geſellſchaftliche Ordnung. Entweder iſt es nun ein garantirtes Recht, welches unter den Schutz und Zwang einer dazu ausreichenden Macht geſtellt iſt, oder ein freies Recht, welches der Einzelne ſelbſt ſchützen und ſich er - halten muß. Das Völkerrecht gehört in ſeiner Urſprünglichkeit zur letzteren Art. Der einzelne Staat in ſeiner Perſönlichkeit ſetzt ſich zunächſt ſein Recht gegen Andere ſelbſt; giebt er die Iſolirung auf, ſo bildet ſich im Verkehr mit den anderen ein gemeinſames Recht, wovon er ſich nicht wieder losſagen kann, ohne ſeine Exiſtenz und ſeinen Zuſammenhang mit anderen aufzuopfern oder doch in Ge - fahr zu bringen. Mit der Bildungsſtufe der Völker hat dieſes Recht eine bald engere bald weitere Umfaſſung. Es beruht zuerſt nur auf äußerer Nothwendigkeit oder äußerlichen Nutzen. In höherer Entwickelung ſchließt es aber auch die ſittliche Nöthigung, den ſitt -2Bentham iſt die Benennung droit international, international law ge - bräuchlich worden. Wheaton, histoire du droit des gens. p. 45. 46.3§. 3. Einleitung.lichen Nutzen in ſich; es ſtößt das Unſittliche allmählig von ſich aus und fordert ein in dieſen Grenzen gehaltenes Handeln. In der That beruht es daher auf einem allſeitigen ausdrücklichen oder doch mit Gewißheit vorauszuſetzenden Einverſtändniß (consensus), auf der Ueberzeugung, daß jeder Theil unter gleichen Umſtänden die - ſelbe Nöthigung ſo und nicht anders zu handeln empfinden werde, es ſeien nun die Beweggründe äußerliche, oder moraliſche. Fremd iſt dagegen dem Völkerrecht eine legislative von höherer Gewalt ausgehende Geſtaltung,1Mehrere, beſonders Britiſche Rechtsgelehrte, z. B. Rutherforth, Institutes of nat. law. II. 5, leugnen deshalb dem äußeren Staatenrecht jeden poſi - tiven Charakter ab. Sie ſahen nicht, daß das Recht überall auch in den Staaten ſelbſt, wenigſtens zum größten Theil, ohne den Einfluß einer hö - heren Gewalt entſtanden und befeſtigt war, jenes ius non scriptum, quod consensus fecit. Richtiger hat Mr. Auſtin (Province of iurispr. de - term. Lond. 1832) die Sache durchſchaut. da die Staaten in ihrer Unabhängigkeit keiner gemeinſamen irdiſchen Obrigkeit unterworfen ſind. Es iſt das freieſte Recht welches exiſtirt, ſo wie es auch in der Anwendung einer organiſchen Richtergewalt mangelt. Aber ſein Organ und Re - gulator iſt die öffentliche Meinung und das letzte Gericht iſt die Geſchichte, welche als Dike das Recht beſtätigt und als Nemeſis das Unrecht ahndet. Seine Sanction iſt die Weltordnung, welche, indem ſie den Staat ſchuf, dennoch nicht die menſchliche Freiheit in Einzelſtaaten gebannt und damit abgeſchloſſen, ſondern dem Men - ſchengeſchlecht den ganzen Erdball erſchloſſen hat; ſeine Beſtimmung: der allſeitigen Entwickelung des Menſchengeſchlechts in dem Ver - kehr der Nationen und Staaten eine ſichere Baſis zu geben, wozu jeder Einzelſtaat nur Ein Hebel iſt, ohne daß er ſich deshalb von dem großen Ganzen losſagen darf. 2Dieſe großartigere Anſicht findet ſich bereits in des Spaniers Franz Sua - rez († 1617) Werk de legib. et Deo legisl. II, 19, 4. Vgl. v. Omp - teda Literatur I, 187.
3. Ausgeſetzt der Ebbe und Fluth der menſchlichen Leidenſchaf - ten ſowohl Einzelner wie ganzer Nationen, vorzüglich dem Reize der Macht, über Andere zu herrſchen oder ſie ſich dienſtbar zu machen, iſt das Völkerrecht, ſelbſt wo ſich ein ſolches im freien Verkehr ge - bildet hat, ſteten Gefahren und Verletzungen blos geſtellt. Zu ſei -1*4Einleitung. §. 4.nem Schutz kann indeſſen ein gewiſſes Gleichgewicht der Staaten und Nationen unter einander weſentlich beitragen. Dieſes Gleich - gewicht beſteht im Allgemeinen darin, daß jeder Einzelſtaat, indem er ſich zu einer Verletzung des Völkerrechts an Anderen entſchließt, eine gleichkräftige Reaction des Bedrohten oder ſelbſt der übrigen zu erwarten hat, welche an demſelben völkerrechtlichen Syſtem Theil nehmen. Praktiſch iſt es daher entweder als ein materielles Gleich - gewicht der einzelnen Staaten gegen einander denkbar, welches in - deſſen geſchichtlich nur ſelten exiſtirt hat und wenn ja zuweilen vor - handen, dennoch einer ſteten Veränderung unterworfen iſt, da die Nationalkraft ſich nicht in allen Staaten gleichmäßig entwickelt, fortſchreitet und ſinkt; oder es iſt ein moraliſches Gleichgewicht, nämlich eine moraliſche Geſammtbürgſchaft, worin alle Staaten nach dem nämlichen Recht zu einander und zum gemeinſamen Schutz deſſelben gegen die Uebermacht Einzelner treten, ſich wenigſtens mo - raliſch zur Mitabwehr derſelben verpflichtet halten. Natürlich darf aber auch hier die erforderliche phyſiſche und moraliſche Kraft der Uebrigen zur Abwehr des Mächtigſten nicht fehlen, ſonſt wird die - ſem gegenüber das Völkerrecht ein leerer Schall. An und für ſich aber iſt die Idee eines politiſchen Gleichgewichts der Staaten durch - aus keine Chimäre, wofür ſie Manche erklärt haben, ſondern eine höchſt natürliche für Staaten, die ſich zu demſelben Recht beken - nen wollen; nur die Anwendung, welche davon zu manchen Zei - ten gemacht iſt, und die Folgerungen, die darauf gebaut wurden, ſind verwerflich.
4. Nicht bloß der einzelne Menſch, auch die Nationen ſündi - gen an ſich und unter einander. Die Sühne, die Emporhebung aus dem Verſinken iſt der Krieg. Ein goldnes Zeitalter ohne ihn, ohne ſeine Nothwendigkeit, wäre ein Zuſtand der Sündloſigkeit der Völker. Gewiß erzeugt auch der Krieg geiſtige Bewegung, und ſtählt Kräfte, welche im Frieden ſchlafen oder verſumpfen und ohne5§. 4. Einleitung.Erndte bleiben. 1„ Nullum omnino corpus sive sit illud naturale sive politicum, absque exercitatiore sanitatem suam tueri queat. Regno autem aut reipublicae iustum atque honorificum bellum loco salubris exercitationis est. Bellum civile profecto instar caloris febrilis est, at bellum externum instar ca - loris ex motu, qui valetudini inprimis conducit. Ex pace enim deside et emolliuntur animi et corrumpuntur mores. “ Baco Serm. fidel. t. X. p. 86.Immerhin iſt er die Vorbereitung des Friedens, ein Schutz gegen das Unrecht und gegen Störungen der Freiheit des vernünftigen Völkerwillens. So kann ihn alſo auch das Völ - kerrecht nicht ignoriren, vielmehr hat es ihm recht eigentlich das Geſetz vorzuſchreiben. Es zerfällt daher ſelbſt weſentlich in zwei Abſchnitte:
An beides ſchließt ſich ſodann noch
Neben dem Völkerrecht und unter den Staatswiſſenſchaften am näch - ſten ſteht die äußere Politik der Staaten oder die Klugheitslehre von dem richtigen Verhalten eines einzelnen Staates gegen die anderen. Ein Widerſpruch zwiſchen Völkerrecht und Politik, wenn er auch in der Praxis öfters vorhanden iſt, kann naturgemäß nicht Statt finden; es giebt nur Eine Wahrheit und keine ſich widerſprechen - den Wahrheiten. Eine ſittlich correcte Politik kann niemals thun und billigen, was das Völkerrecht verwirft, und andererſeits muß auch das Völkerrecht gelten laſſen, was das Auge der Politik für den Beſtand eines Staates ſchlechterdings als nothwendig erkennt. Auf gleiche Weiſe iſt das Verhältniß der inneren Politik und des Staatsrechts zu einander beſchaffen.
5. Schon in der alten Welt finden ſich gewiſſe übereinſtim - mende Völkergebräuche im wechſelſeitigen Verkehr, vornehmlich in Betreff der Kriegführung, der Geſandtſchaften, Verträge und Zu - fluchtſtätten; jedoch beruhte die Beobachtung dieſer Gebräuche nicht ſowohl auf der Anerkennung einer Rechtsverbindlichkeit gegen an - dere Völker, als vielmehr auf religiöſen Vorſtellungen und der da - durch beſtimmten Sitte. Man hielt Geſandte und Flehende für unverletzbar, weil ſie unter dem Schutz der Religion ſtanden und mit heiligen Symbolen erſchienen; man ſtellte eben ſo die Verträge durch Eide und feierliche Opfer unter jene Schutzmacht. An und für ſich aber hielt man ſich keinem Fremden zu Recht verpflichtet; „ ewiger Krieg den Barbaren “war das Schiboleth ſelbſt der ge - bildetſten Nation des Alterthums, der Griechen;2„ Cum alienigenis, cum barbaris aeternum omnibus Graecis bellum est. “ Liv. 31, 29. auch ihre Phi - loſophen erkannten einen rechtlichen Zuſammenhang mit anderen Völ - kern nur auf Grund von Verträgen an. 3Am deutlichſten Epicur bei Diog. L. Apopht. XXXI, 34 — 36. Aber auch Plato, Ariſtoteles.Ein engeres Band und ein dauerndes Rechtsverhältniß beſtand wohl unter ſtammverwandten Völkerſchaften, jedoch hauptſächlich nur durch den Einfluß des ge - meinſamen Götter-Cultus und der damit zuſammenhängenden po - litiſchen Bundes-Anſtalten. 4Ein ſ. g. κοινὸς νόμος Ἑλλήνων. Thucyd. III, 58. Vgl. Sainte-Croix gouvernem. fédératifs. Hier griff beſonders der Amphictyonenbund ein, von welchem unten noch Näheres.
Kein höherer Standpunct zeigt ſich in dem Römerreiche. 5Man denke an das: adversus hostem aeterna auctoritas esto der Zwölf - Tafeln und an den noch im Juſtinianiſchen Recht beibehaltenen Grundſatz, daß alle Völker, mit denen keinerlei Bündniß beſtehe, hostes ſeien. l. 5. §. 2. l. 24. D. de captiv. l. 118. D. de V. S.
Will man dieſes nun das Völkerrecht der alten Welt nennen, ſo läßt ſich nicht widerſprechen; gewiß ſtand es auf einer ſehr ge -7§. 5. Einleitung.ringen Stufe; es war ein Theil des Religionsrechtes aller oder doch beſtimmter Nationen. 1Dies iſt im Weſentlichen das Reſultat der über dieſen Gegenſtand gewech - ſelten Schriften: W. Wachsmuth, Jus gentium quale obtin. apud Grae - cos. Berol. 1822. A. W. Heffter, Prol. acad. de antiquo iure gent. Bonn. 1823.
Noch roher erſcheint die Völkerſitte im Mittelalter, nicht allein in den Berührungen der Gläubigen mit den Ungläubigen, ſondern auch ſelbſt unter chriſtlichen Staaten. 2Eine ſehr verdienſtliche Darſtellung davon giebt K. Th. Pütter, Beitr. zur Völkerrechts-Geſch. u. Wiſſenſch. Leipz. 1843. S. 48. ff.
Dem Chriſtenthum war es indeß vorbehalten, die Völker auf einen anderen Weg hinzuleiten. Seine Weltliebe, ſein Gebot: thue auch deinen Feinden Gutes, konnte nicht mit einer ewigen Feind - ſchaft der Nationen zuſammen beſtehen. Zur gegenſeitigen Annähe - rung der Europäiſchen chriſtlichen Staaten und zur Anerkennung wechſelſeitiger allgemeiner Rechte trugen beſonders folgende Um - ſtände bei:
Hierin lag der Anfang eines allgemeinen Europäiſchen Völkerrechts. Seine poſitiven Grundlagen waren die Grundſätze des Chriſten - thums und das Römiſche Recht, ſo weit es die Kirche nicht miß - billigte; die für unantaſtbar, weil natürlich und göttlich, gehaltenen Regeln des Privatrechts wurden nun auch auf die Völkerverhält - niſſe übertragen, und ſelbſt die Glaubensſpaltung des ſechszehnten Jahrhunderts konnte das neugeſchlungene Band nicht wieder auf - löſen, da auch die reformatoriſchen Lehren daran feſthielten.
8Einleitung. §. 5.Bei weitem mehr wurde die neue Pflanze gefährdet durch die allmählige Verbreitung jener Staatskunſt, welche nur den eigenen Vortheil kennend jedes fremde Recht und Intereſſe hintanſetzt, ohne in der Wahl der Mittel bedenklich zu ſein; einer Politik, die in Italien geboren und in Spanien mit beſonderem Erfolg geübt, faſt bei allen Cabineten einwanderte und, wenn auch nicht zu gleich poſitiven Beſtrebungen, doch zu ähnlichen Gegenbeſtrebungen auf - forderte; einer Politik endlich, die indem ſie ſich der hergebrachten Formen mit täuſchendem Schein bediente, jeden Grundſatz des Rechts materiell verleugnete. Als Reaction hiergegen diente die Idee des ſ. g. politiſchen Gleichgewichts, aufgefaßt als das Prin - cip, daß jede Macht, ſei es für ſich allein, ſei es durch Coalitio - nen, jede andere Macht an der Erlangung einer Uebergewalt zu hindern habe, hergeleitet aus dem Recht der Selbſterhaltung, frei - lich aber auch nicht ſelten gemißbraucht. Die praktiſche Durch - führung dieſes Gedankens wurde nun die Hauptaufgabe der Euro - päiſchen Politik;1Unter anderem bezieht ſich darauf der Gedanke Heinrichs IV. von Frank - reich, wegen Bildung einer großen Europäiſchen Staatenrepublik. Das Nähere davon ſ. in Toze d. allgem. chriſtl. Republ. Göttingen 1752. Pläne ſolcher Art ſind ſelten ohne alle Selbſtſucht gemacht worden. Auch in neueſter Zeit haben ſie nicht ganz gefehlt. So z. B. G. Fr. Leckie, historical research into the nature of the balance of power in Europe. Lond. 1817. in dieſem Mittelpunct concentrirt ſich ſeit dem ſechszehnten Jahrhundert beinahe die Anregung und Entwirrung aller Staatshändel. Das Recht der Nationen und Staaten trat dabei freilich in den Hintergrund; es war faſt nur der wiſſenſchaft - lichen Pflege überlaſſen, die ſich aber auch, wie früher in der Re - formationszeit, ſo von Neuem aus den Gräueln des dreißigjähri - gen Krieges und des ganzen ſiebenzehnten Jahrhunderts zu einer Macht erhob, welcher ſich ſogar die Gewaltigen nicht ganz entziehen konnten. Der Aufgangsſtern war Hugo Grotius, angehörig einer kleinen neuentſtandenen aber thatenreichen Republik, wo das Sy - ſtem der Toleranz und des Moderantismus herrſchte, die zugleich auch der Heerd der Europäiſchen Diplomatie wurde. Groot rief mit allgemein verſtändlicher Sprache die Grundſätze des Chriſten - thums, die Lehren der Geſchichte, die Ausſprüche der Weiſen über4gen Türken und Sarazenen ſei nur Krieg und was der Krieg nach Röm. Recht mit ſich führe giltig. S. auch Leibnitz, praef. ad Cod. jur. gent. 9§. 5. Einleitung.Recht und Unrecht ins Gedächtniß zurück; ſein Werk wurde un - vermerkt ein Europäiſcher von allen Confeſſionen gebilligter Völ - ker-Codex. 1Treffende Bemerkungen hierüber ſ. in Fr. Schlegel’s Vorleſ. über die neuere Geſchichte. Wien 1811. S. 421 f.
Dennoch gelang es nicht das Recht auf den Thron zu heben, welchen die Politik eingenommen hatte; ſie benutzte das wiſſenſchaft - liche Recht mehr zur Färbung ihrer Anſprüche als ſie ſich demſel - ben unterordnete; nur eine gewiſſe Mäßigung der Staatskunſt in ihren Erfolgen, ein ſich Zufriedengeben mit billiger Ausgleichung wird ſtatt des ſtrengen Rechts im vorigen Jahrhundert ſichtbar (§. 8.). Völkerrecht und Gleichgewicht erlag indeß ſeit dem Aus - gang dieſes Jahrhunderts dem Waldſtrom der Revolution und dem von ihr gegründeten Kaiſerthum,2Die vielen dadurch herbeigeführten Verletzungen des Völkerrechts ſind ge - zeigt in v. Kamptz Beitr. zum Staats - u. Völkerr. I., n. 4. bis es der allgemeinen Coali - tion gegen Frankreich gelang, jenen Strom in ſeine früheren Gren - zen zurückzudrängen. Durch die Verträge von 1814 und 1815 wurden wenigſtens die germaniſchen Staaten Europa’s in ihrer naturgemäßen Sonderung wiederhergeſtellt, und dadurch für’s Erſte auch ein politiſches Gleichgewicht unter den Landmächten wieder möglich gemacht. Sofort mußten nun auch die Grundſätze des Völkerrechts in Anwendung treten, wenn die neue Schöpfung und das wiederhergeſtellte Gleichgewicht von Beſtand ſein ſollte. 3In dieſem Sinn erklärte auch der Fürſt von Benevento in einer Note vom 19. Decbr. 1814 „ das politiſche Gleichgewicht für gleichbedeutend mit den Grundſätzen zur Erhaltung der Rechte eines Jeden und der Ruhe Aller. “Bei - nahe ſämmtliche chriſtliche Monarchen Europa’s gaben ſich in ih - rer ſ. g. heiligen Alliance perſönlich das Wort, ſich und ihre Staa - ten als Glieder einer großen chriſtlichen Familie betrachten zu wol - len,4Martens Supplem. VI, 656. und erkannten dadurch eine der Hauptgrundlagen des Völ - kerrechts an; ausdrücklich erklärten endlich die Bevollmächtigten der fünf Europäiſchen Großmächte am Aachner Congreß 1818 den fe - ſten Entſchluß ihrer Regierungen, ſich weder unter einander noch auch gegen dritte Staaten von der ſtrengſten Beobachtung des Völ - kerrechts für den Zweck eines dauernden Friedenszuſtandes entfer - nen zu wollen. 5Martens Suppl. VIII, 560. „ Les souverains ont regardé comme la
10Einleitung. §. 5.Seit dieſer Zeit und auf den Grund der damals getroffenen Verabredungen bildeten jene Großmächte gewiſſermaßen ein Völker - tribunal, wo die wichtigſten politiſchen Angelegenheiten, nicht nur dieſer Staaten ſelbſt ſondern auch dritter Staaten, berathen und feſtgeſtellt wurden. Die hierdurch unterſtützte Reaction gegen die noch fortglimmende Revolution rief letztere im J. 1830 um ſo ent - ſchiedener hervor, und natürlicher Weiſe kann weder das revolu - tionaire Princip noch auch ſelbſt der baſirte nationale Conſtitutio - nalismus mit einer derartigen regulatoriſchen Gewalt der Groß - mächte ſich einverſtanden erklären. Das monarchiſche und popu - läre Princip bewachen ſich ſeitdem gegenſeitig auch in der Europäi - ſchen Politik. Keines derſelben verleugnet jedoch das Völkerrecht, und nur in der richtigen Erkenntniß des letzteren liegt die Ver - mittlung.
Als letztes Ergebniß für unſere Zeit ſprechen wir aus: Europa huldigt gleich den aus ihm hervorgegangenen transatlantiſchen Staa - ten einem gemeinſamen Recht. Dies aber iſt in vielen Stücken noch eine bloße Auctoritätslehre ohne ein ſchon vollendetes allſeitiges Be - wußtſein und ohne abſolute Sicherheit der Anwendung. Die unent - behrliche Vorausſetzung für ſeine zunehmende Feſtigkeit iſt ein bleiben - des Gleichgewicht der Staaten, beruhend auf Nationalkraft und ge - genſeitiger Achtung. Ein ſolches Gleichgewicht findet ſich jedoch vor - erſt nur unter den Landmächten, weniger zur See; daher iſt auch das Völker-Seerecht noch die ſchwächſte Seite des internationalen Rechts. Eben wenig haben die Verträge von 1814 und 1815 das Gleichge - wicht zu Lande unter den Europäiſchen Mächten nach einer anderen Seite hin ſo herzuſtellen vermocht, wie es das richtige Verhältniß5base fondamentable leur invariable resolution de ne jamais s’écarter ni entre eux ni dans leurs relations avec d’autres états de l’observation la plus stricte du droit des gens; principes qui dans leur application à un état de paix permanent peuvent seuls garantir efficacement l’in - dépendance de chaque gouvernement et la stabilité de leur association générale. Fidèles à ces principes les souverains les maintiendront éga - lement dans les réunions auxquelles ils assisteroient en personne, ou qui auraient lieu entre leurs ministres soit qu’elles aient pour objet de discuter en commun leurs propres intérêts soit qu’elles se rapportent à des questions dans lesquelles d’autres gouvernements auroient for - mellement réclamé leur intervention. “11§. 6. Einleitung.gefordert hätte, und dadurch die Gefahr einer Verletzung nicht ge - nügend entfernt. Sehr wahr bemerkte endlich ſchon Jean Paul: „ Ein ewiges Gleichgewicht ſetzt ein Gleichgewicht der vier übrigen Welttheile voraus, welches man, wenige Librationen abgerechnet, der Welt dereinſt verſprechen kann — “(Hesperus) ſollte auch letzteres eine ferne, vielleicht leere Hoffnung ſein.
6. Ein auf gegenſeitiger Anerkennung beruhendes Recht kann nur unter denjenigen Staaten Geltung haben, unter welchen eine Reciprocität der Anwendung geſichert iſt und demnach ein wechſelſei - tiger Verkehr nach denſelben Grundſätzen beſteht oder vorauszuſetzen iſt (commercium juris praebendi repetendique, Dikäodoſie). Hierzu bedarf es nicht nothwendig einer ausdrücklichen vertragwei - ſen Beſtimmung; es genügt ſchon die aus dem Charakter und den Intereſſen der einzelnen Staaten ſo wie aus dem beſtehenden Ver - kehr als Bedingung deſſelben hervorgehende Gewißheit, daß man auf Reciprocität der Behandlung nach beſtimmten Regeln zu rech - nen, oder im Fall der Verletzung einen Kampf oder Ausſchlie - ßung von der Gemeinſchaft mit anderen zu erwarten habe. So gilt denn auch das Europäiſche Völkerrecht ſeiner geſchichtlichen Wurzel nach (§. 5.) weſentlich nur unter chriſtlichen Staaten, de - ren Sittlichkeit durch ein Uebereinkommen in den höchſten Geſetzen der Humanität und dem damit übereinſtimmenden Charakter der Staatsgewalten verbürgt iſt. Es findet dagegen nur eine theil - weiſe, ſorgfältig nach der zu erwartenden Reciprocität abgemeſſene Anwendung gegen nicht chriſtliche Staaten, ſofern man nicht frei - willig auch hier das ſittliche Princip zur Richtſchnur ſeiner Hand - lungen machen will;1So ſteht es im Weſentlichen mit dem Verhältniß der Europäiſchen Mächte zur hohen Pforte. Alle Verbindungen mit derſelben beruhen zur Zeit auf politiſcher Convenienz und auf dem ſchweren Gewicht, welches der feſte Wille der vereinigten chriſtlichen Mächte der Pforte gegenüber ausübt. Sonſt würde noch immer wahr ſein, was Mably (droit des gens t. II, p. 13) mit Ricaut über die Unmöglichkeit eines wahrhaft rechtlichen Bandes be - merkt hat. Man ſehe auch Wheaton intern. law. §. 10. und auf gleiche Weiſe iſt das Verhalten gegen neu entſtehende oder entſtandene Staaten, die noch keine all -12Einleitung. §. 7.ſeitige Anerkennung in dem Gebiete des Europäiſchen Völkerrechts erlangt oder noch keinen ausgeſprochenen Charakter angenommen haben, nämlich ein bloß durch die Politik und Sittlichkeit beſtimm - bares.
7. Als Regulative des Europäiſchen Völkerrechts betrachten Viele lediglich und allein die in Verträgen ſo wie in gegenſeitiger gleichförmiger Behandlung deutlich ausgeſprochene Uebereinſtimmung der Staatsgewalten nebſt der Analogie der hierdurch vereinbarten Grundſätze. Andere ſetzen aber noch ein höheres, alle Staaten verpflichtendes Geſetz hinzu, ein Naturrecht, welches ſie philoſo - phiſch conſtruiren. Die Wahrheit iſt, daß für die Europäiſchen und von Europa ausgegangenen Staaten ein giltiges Recht nur durch gemeinſamen Willen (consensu) beſteht, daß es jedoch zu ſeiner Giltigkeit weder einer ausdrücklichen Anerkennung in Ver - trägen noch einer Beſtätigung durch Gewohnheit weſentlich bedarf, vielmehr iſt dieſes nur Eine Art der formellen Erſcheinung des Völ - kerrechts. Es giebt nämlich
Neben dem in ſolcher Weiſe begründeten gemeinſamen Staaten - recht einer beſtimmten Völker-Vereinigung kann es natürlich auch beſondere Rechte gewiſſer Staaten unter einander geben, deren Er - werbungsarten weiterhin nachgewieſen werden ſollen.
8. Schon die Phyſiologie und die allgemeine Geſchichte der Völkerſtaaten Europa’s, namentlich ihrer Sitten, bekräftigen das Daſein eines gemeinſamen Völkerrechts (§. 5.). Als die vorzüg - lichſte äußere Erkenntnißquelle des Europäiſchen Völkerrechts er - ſcheinen jedoch die Europäiſchen Staatshändel und Völkerverträge, in deren Geiſt und Buchſtaben ſich die Uebereinſtimmung der Na - tionen oder ihrer Regierungen beurkundet findet. Im Alterthum liegt darin faſt die einzige Manifeſtation eines gemeinſamen Rechts - princips. Die Verträge der alten Welt ſtehen jedoch meiſt nur auf einer geringen Stufe von Bedeutſamkeit; ſelten gehen ſie über die nächſten actuellen Intereſſen hinaus; entweder tritt aus ihnen das Wehe der Beſiegten entgegen oder die Gründung einer kürzeren oder längeren Waffenruhe, zuweilen jedoch auch die Stiftung eines Han - delsverkehrs und ſelbſt einer Dikäodoſie nach gleichen freundlichen Rechten. 1Eine verdienſtliche Sammlung der alten Völkerverträge findet ſich in Bar - beyrac Supplément au corps universel diplom. de J. Du Mont à le Haye 1739. t. I. Von dem bedeutendſten Intereſſe ſind darin die griechiſchen σύμβολα πεϱὶ τοῦ μὴ ἀδικεῖν, insbeſondere die Verträge zwiſchen Athen und Sparta, Rom und Carthago, dann zwiſchen K. Juſtinian und Cosroes 561 n. Chr. Barb. part. II. p. 196.
Auf einer faſt noch tieferen Stufe ſtehen politiſch die Staa - ten - oder vielmehr Fürſtenverträge des Mittelalters. Der Staat ſelbſt löſete ſich weſentlich in privatrechtliche Verhältniſſe und In - tereſſen auf; man verfügte über Staaten und Völker wie über Pri - vateigenthum; nur das Lehnsverhältniß und die Kirche genoß oder gewährte hiergegen einigen Schutz, oft auch dieſen kaum. 2Auch die Verträge jener Zeit finden ſich bei Barbeyrac a. a. O. P. II.
Eine Vertragspraxis der politiſchen Intereſſen begann im fünf - zehnten Jahrhundert, mit mancherlei Vor - und Rückſchritten,3Nachweiſungen und Darſtellungen dieſer neuen Vertragspolitik und Staats - händel ſ. in J. F. Schmauß, Einl. z. d. Staatswiſſenſch. Lpz. 1740. 1747. 2 Thle. Fr. Ancillon, tableau des revolutions du systême poli - tique de l’Europe. Berl. 1803 — 1805. 4 t. Par. 1806. 6 Vols. Deutſch überſ. v. Mann. Berl. 1805. 4 Bde. Ge. Fr. v. Martens, Grdr. einer diplom. Geſch. der Europ. Staatshändel und Friedensſchlüſſe. Berl. 1807.15§. 8. Einleitung.gleichzeitig mit der Entſtehung einer Europäiſchen Politik und im Geiſte derſelben. Man ſchloß damals Verträge auf Verträge, oft nur als Maske des Augenblicks, ſelten von allen Theilnehmern ernſtlich gemeint; eben ſo leicht hob man ſie auf und verbündete ſich mit dem Gegner des bisherigen Vertragsgenoſſen. 1Man denke nur an die Zeit der Italieniſchen Händel, welche Frankreichs Anſprüche auf Mailand und Neapel hervorriefen.Wo es etwas zu gewinnen und zu theilen gab, drängte man ſich dazu und ſuchte man mitzugewinnen (le systême copartageant). Vermäh - lungen und Ausſteuer ſpielten dabei eine wichtige Nebenrolle. 2Buchholz, Geſch. K. Ferdinands I. I, S. 60 f.
Höhere Intereſſen wurden durch die religiöſe Spaltung im ſechs - zehnten Jahrhundert angeregt, zuerſt mehr intenſiv im Schooße der Staaten ſelbſt; bald aber miſchte ſich die äußere Politik ein, um durch Benutzung der inneren Religionshändel Vortheile zu erlan - gen, ohne eben ängſtlich für das Intereſſe der eigenen Staatsreli - gion beſorgt zu ſein. In demſelben Zeitalter gelangte auch die3Koch, tableau des revolutions de l’Europe. Par. 1807. 3 Vols. n. ed. Par. (1813) 1814. 4 Vols. Abrégé de l’histoire des traités de paix entre les puissances de l’Europe, par Koch. à Bâle. 1796. 97. 4 Vols. refondu par Fr. Schoell, à Par. 1817. 1818. 15 ts. C. D. Voß, Geiſt der merkw. Bündniſſe des 18. Jahrh. Gera 1801. 1802. 5 Thle. — des 19. Jahrh. 1803. 1804. 2 Thle. Histoire générale et raison - née de la diplomatie française par Mr. de Flassan. Par. et Strasb. VI ts. n. ed. VII ts. 1811. Sammlungen der Staatenverträge, ohne Beſchränkung auf beſtimmte Na - tionen, ſind veranſtaltet von G. W. Leibnitz, Cod. iur. gent. Hannov. 1693. 1727. Guelferb. 1747. Ejusd. mantissa. Hannov. 1700. 1724. Guelferb. 1727. Jacques Bernard, Recueil des traités de paix etc. à Amst. et à la Haye. 4 ts. 1700. Jean Du Mont, Corps universel diplomatique. ib. 1726 — 1731. 8 ts. avec les supplém. par J. Bar - beyrac, J. Rousset et J. Yves de St. Priest. F. A. Wenck, Cod. jur. gent. recentiss. 3 ts. Lips. 1781. 86. 95. G. F. de Martens, rec. des principaux traités d’alliance etc. 7 ts. und eben ſo viele Supple - mentbände des Verf. ſelbſt; hiernächſt mit den Supplementbänden von Ch. B. de Martens, Sartorius und Murhard. Außerdem haben die bedeu - tenderen Staaten noch ihre beſonderen Sammlungen, nachgewieſen in den Literaturwerken von v. Ompteda u. v. Kamptz, desgl. in Klübers Biblio - thèque choisie am Ende ſeines droit des gens. Im Erſcheinen iſt be - griffen Nouveau Cours de diplomatie ou recueil universel des traités etc. par MM. L. B. Bonjean et Paul Odent. à Paris. 16Einleitung. §. 8.Handelspolitik zu einem großartigeren Einfluß auf die Europäi - ſchen Angelegenheiten, ſie verflocht mit dieſen die Colonialintereſſen, wie ſie, vorzüglich ſeit dem Abfall der vereinigten Niederlande von der Spaniſchen Monarchie, den Krieg ſelbſt in entferntere Weltge - genden hinüberſpielte.
Das ſiebenzehnte Jahrhundert brachte für’s Erſte die religiöſe Aufregung zum Stillſtande. Die Politik der Machthaber feierte ihren Triumph auf dem Weſtphäliſchen Friedens-Congreß. Er war lange Zeit ihr Stolz, wenn gleich der Friedensſchluß ſelbſt in man - cher Hinſicht ſich als verhängnißvolle Pandora demnächſt geoffen - bart hat. Gewiß wurde er eine langdauernde Baſis des ſüdweſt - lichen Europäiſchen Staatenbeſtandes und des Gleichgewichts darin. Zugleich aber auch der Wendepunct zwiſchen der älteren und neue - ſten Diplomatie. Bis dahin hatte man noch immer mindeſtens einen Schein des Rechts zur Grundlage der Verhandlungen ge - macht; der Friedens-Congreß zu Münſter und Osnabrück ließ es ſchon weniger ſeine Aufgabe ſein, gekränkte Rechte wiederherzuſtel - len, als vielmehr nach politiſchen Convenienzen zu verfahren und ſogar Rechte zu vernichten, z. B. im Wege der Säculariſation und Mediatiſirung. 1Die wichtigſten Schriften über den Weſtphäliſchen Friedens-Congreß ſ. in v. Martens Staatshändel S. 55.
Die nächſte Folge war eine überaus geſchäftige Politik, theils um jeden äußeren Vortheil zu erlangen, theils um das mühſam hergeſtellte Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. Die ſ. g. Einmi - ſchungspolitik kam zur vollen Blüthe, mit ihr die Praxis der all - gemeinen Friedens-Congreſſe und Concerts, worin man bei dem damals herrſchenden Regierungsſyſtem nach Unterdrückung der Feu - dalſtände nicht ſehr gehindert war. Im Haag war gewiſſermaßen der neutrale Heerd der Diplomatie, wo man die Karten miſchte oder das Spiel zu endigen ſuchte, und ſich gegenſeitig auch bei feindlichen Zuſtänden aufſuchen konnte.
Noch den größeren Theil des achtzehnten Jahrhunderts hin - durch blieb die Europäiſche Vertragspraxis ein Syſtem des poli - tiſchen Calcüls jede für das Gleichgewicht gefährliche Uebergewalt möglichſt zu beſeitigen, wo nicht das Glück der Waffen oder die Verwickelung der Umſtände einen Theil unrettbar in die Hand des anderen gegeben hatte. Außerdem ließ man zwar nicht das ſtrenge17§. 9. Einleitung.Recht, wohl aber eine gewiſſe Mäßigung in den Staatshändeln und bei deren Schlichtung vorwalten; es war vorzüglich der sta - stus quo auf welchen man wieder zurückzukommen ſuchte;1Vgl. Friedr. Schlegel’s Vorleſungen über m. Geſch. S. 509. eine möglichſt farbloſe blaſſe Diplomatie.
Jedoch auch dieſer Geiſt der Mäßigung ſchwand eine Zeitlang im Norden mit der Theilung Polens, im Weſten mit den Siegen der Revolution. Der Sieger dictirte die Tractaten; was dem Be - ſiegten blieb, war Gnade oder weiſe Schonung für den Augenblick; Veränderungen des Beſitzſtandes wurden oft nur durch ein Sena - tus-Conſult oder eine Proclamation angezeigt. Alle Verträge ſeit dem Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts bis 1814 drehten ſich beinahe um die Axe der Napoleoniſchen Herrſchaft oder ins - geheim um den entgegengeſetzten Pol, bis der Widerſtand dagegen offen aufzutreten vermochte und das Vertragsgewebe v. 1815 erſchuf.
Dieſer glückliche Erfolg führte die Praxis der Congreſſe zurück und erweiterte ſie noch in Form und Richtung. Die letztere war ein non plus ultra gegen die Revolution oder wo ſie nicht zu un - terdrücken war, wenigſtens die Erhaltung eines möglichſt gefahrlo - ſen status quo, während andrerſeits, wo die Revolution ſich in den Conſtitutionalismus eingefriedigt hatte, Alliancen zur Selbſt - entwickelung des inneren Staatenlebens geſchloſſen wurden.
Die großartigſten Gegenſtände von Staatenverträgen, welche theils in Verbindung mit der Tagespolitik ſtanden, theils außer derſelben abgehandelt wurden, waren in der zweiten Hälfte des vo - rigen Jahrhunderts die Rechte der Neutralen zur See, ſodann im gegenwärtigen das Napoleoniſche Continentalſyſtem, weiterhin die Unterdrückung des Sclavenhandels, endlich der deutſche Zollverein.
9. Eine andere, wenn auch nur mittelbare Quelle des Euro - päiſchen äußeren Staatenrechts iſt die wiſſenſchaftliche oder auch nur referirende Darſtellung deſſelben in den Schriften der verſchiedenen Entwickelungsſtadien. Wie in anderen Beziehungen hat auch hier die Wiſſenſchaft und Preſſe theils beſtätigend, theils vorauseilend und vorbereitend gewirkt; ſie iſt ein Zeugniß von der Wirklichkeit ihrer Zeit oder von den darin Statt findenden Schwankungen.
218Einleitung. §. 9.Die alte Welt bietet in dieſer Hinſicht kein zuſammenhängen - des Werk dar. Die Juriſten des Mittelalters haben die völker - rechtlichen Fragen ihrer Zeit nach romaniſtiſchen und canoniſtiſchen Sätzen entſchieden. In den Anfängen der neuen Europäiſchen Zeit trat an die Stelle des Rechts die raffinirende Staatsklugheit, de - ren Vertreter und Lehrer vorzüglich Nicolo Macchiavelli wurde. Seine Schrift vom Fürſten iſt ein Meiſterwerk der ſich über jede objective Schranke hinausſetzenden ſelbſtſüchtigen Subjectivität, de - ren es freilich zu mancher Zeit und für manche Völker bedurft hat, um ſie zum Bewußtſein ihrer Verſumpfung und zu einer neuen Erhebung zu bringen. 1Ueber den eigentlichen Charakter Machiavelli’s und ſeiner Lehren finden ſich tüchtige Bemerkungen bei Isambert, Annales politiques et diplomatiques. Par. 1823. p. 76.Weiterhin ſuchten im ſechszehnten Jahr - hundert practiſche Juriſten ein Syſtem gegenſeitiger Forderungs - rechte unter den chriſtlichen Staaten zu begründen; zuerſt nur mehr für einzelne nahe liegende Fragen,2Der bedeutendſte unter ihnen war Alberico Gentile † 1611, Italiener, zuletzt in Oxford. Seine Schriften: de legationibus. de iure belli. de iustitia bellica. bis Hugo Groot, geb. 1583 † 1645, den ganzen in der bisherigen Staatspraxis ſich darbie - tenden Kreis des internationalen Rechts umfaſſend, daſſelbe zu ei - ner eigenen ſelbſtändigen[Wiſſenſchaft] erhob, welche bis auf den heutigen Tag ununterbrochen gepflegt worden iſt. Er unterſchied in ſeinem unſterblich gewordenen Buche vom Recht des Friedens und des Krieges, welches 1625 vollendet ward,3Ueber die verſchiedenen Schickſale dieſes Buchs ſ. v. Ompteda §. 120 ff. und eine Ueberſicht ſeines Inhalts ebendaſ. §. 57 ff. ein doppeltes Völ - kerrecht, ein unveränderlich natürliches und ein willkührliches aller oder doch mehrerer Völker. Eine tiefere Grundlegung findet ſich nicht, alſo auch keine innere Vermittlung des natürlichen und po - ſitiven Rechts. Seine Hauptrichtung war, das wirklich ſchon, we - nigſtens in einzelnen Fällen geübte Recht, ſo weit es der Sitt - lichkeit entſpricht zu beſtätigen, für andere noch nicht entſchiedene Fragen dagegen eine der Sittlichkeit entſprechende Löſung aus all - gemeinen juriſtiſchen Regeln und ehrwürdigen Auctoritäten zu ge - ben. Dieſe ſittliche Durchſichtigkeit verſchaffte dem Buche ſelbſt den bleibendſten Beifall. Demnächſt aber haben ſich in der Grundan -19§. 9. Einleitung.ſicht und Behandlungsweiſe vorzüglich zwei Richtungen ergeben, de - ren jede wieder ihre beſonderen Nüancen darbietet.
Die Eine Hauptrichtung iſt die naturrechtliche, ausgehend von der Thatſache oder Fiction eines der menſchlichen Natur eingepflanz - ten oder vorgeſchriebenen Vernunftgeſetzes, dem ſich kein menſchli - ches Weſen und menſchlicher Verein entziehen dürfe. Dieſe Rich - tung beginnt ſchon vor Groot;1Dahin gehört: Jo Oldendorp † 1557 in ſ. Isagoge iur. natural. Col. 1539. Nic. Henning zu Copenhagen, in ſ. method. apod de L. nat. Vi - temb. 1562. ſie war der nothwendige Gegen - ſatz, um die Herrſchaft der rein materiellen politiſchen Intereſſen zu ſtürzen; aber auch in ihr ſelbſt fehlte es nicht an Gegenſätzen. Auf der einen Seite gab es Manche, welche ein durch ſich ſelbſt verbindliches poſitives, namentlich internationales Recht gänzlich leugneten, und das vermeintlich allein wahre natürliche Recht ent - weder auf die ſubſtanzielle Macht der Gewalt oder eines göttlichen Auftrags der Herrſchaft über Andere, wodurch dann erſt das menſch - liche Recht ſelbſt geſchaffen werde, gründeten, wie z. B. der Brite Hobbes, geb. 1588 † 1679, der die Gewalt vergötterte,2Sein am meiſten hierher gehöriges Werk ſind die Elementa philosophica de cive. 1642. in Frank - reich noch in neuerer Zeit, wenn auch in anderer Weiſe Herr von Bonald;3Zuerſt in ſ. théorie du pouvoir politique et religieux. Constance 1796. Dann in ſ. legislation primitive, u. ſ. f. oder auf die ethiſchen Regeln der Gerechtigkeit für alle Menſchen, wie Samuel v. Pufendorf, geb. 1631 † 1694, in ſeinem ius naturae et gentium;4Zuerſt erſchienen 1672. Voraus gingen die Elementa iurispr. universa - lis. 1660. Nachher folgte de officiis hominis et civis. 1673. Vgl. dar - über und über ſeine Gegner Struv, bibl. iur. imp. I, V. ſodann Chriſtian Thomaſius (1655 — 1728) in mehreren Schriften. 5Beſonders in den Fundamenta iur. naturae et gentium. Hal. 1705. 1708. Vgl. Struv. I, VI.
Je mehr dieſe Lehren aber gegen die Wirklichkeit anſtießen oder der Willkühr der Macht das Feld ebneten, deſto mehr fanden ſie Widerſtand. Der größere Theil der Rechtsgelehrten bewegte ſich lieber auf dem bequemeren und praktiſchen Boden der Grootiſchen Anſchauung, legte auch dem Poſitiven eine Verbindlichkeit bei und betrachtete das ſ. g. natürliche Recht der Einzelnen und der Völ -2*20Einleitung. §. 9.ker als das von ſelbſt vorherrſchende, wenigſtens als eine ſubſidia - riſch giltige Quelle. In dieſem Sinne lehrte und ſchrieb zunächſt nach Groot der Brite Richard Zouch (1590 — 1660). 1Juris et judicii fecialis sive iuris inter gentes et quaestionum de eo - dem explicatio. Zuerſt Oxon. 1650 und nachher ſehr oft. v. Ompteda §. 64. 130. Wheaton hist. d. progr. p. 45.Auch die Philoſophen kamen bald hiebei zur Hilfe, vorzüglich Chriſtian Friedrich v. Wolff (1679 — 1754), welcher ſich im Weſentlichen mit Groot einverſtanden zeigte. 2Sein Hauptwerk: ius gentium methodo scientifica pertractatum. 1749. Darüber v. Ompteda §. 93 f. Wheaton, hist. du progrès. p. 121.In dieſem Sinn dachten und ſchrieben Hermann Friedrich Kahrel (1719 — 1787), Adolph Fried - rich Glafey (1682 — 1754),3Sein Vernunft - und Völkerrecht erſchien 1723. Sein Völkerrecht 1752. vorzüglich Emerich von Vattel, ein Schweizer (1714 — 1767), deſſen Werk,4Le droit des gens. Zuerſt 1758; mit Noten von Pinheiro Ferreira, Pa - ris 1838. Darüber v. Ompteda §. 99. Wheaton p. 127. ganz dem Syſtem Wolfs entſprechend, nur durch ſeine gefällige und praktiſche, ob - gleich oft ſeichte Weiſe ſich einen Platz neben Groot in den Bi - bliotheken der Staatsmänner verſchafft hat; außerdem T. Ruther - ford,5Institutes of natural law. 2 Vols. Lond. 1754. J. J. Burlamaqui6Principes ou élements du droit politique. Zuerſt Genève 1747, zuletzt Lausanne 1784. In Gr. Britannien viel gebraucht. und Gerard de Rayneval. 7Institutions du dr. de la nature et des gens à Par. an. XI (1803).
Noch weiter in dem Gegenſatz zu Pufendorf gingen die vor - zugsweiſen Anhänger des hiſtoriſch-praktiſchen Rechts, unter denen ſich wieder zwei Fractionen unterſcheiden laſſen: nämlich die rei - nen Poſitiviſten, welche nur ein durch Herkommen oder Verträge beſtätigtes internationales Recht anerkennen, ein Naturrecht oder natürliches Völkerrecht aber ganz ignoriren oder dahingeſtellt ſein laſſen, und andrerſeits diejenigen, welche zwar in dem Völkerwil - len allein den Grund eines praktiſchen gemeinſamen Rechts finden, denſelben jedoch nicht bloß in äußeren Manifeſtationen ſuchen, ſon - dern in der Nothwendigkeit der Dinge, in den Standpuncten und Verhältniſſen, worin die Nationen zu einander treten, als von ſelbſt gegeben entdecken, ſomit zwar kein abſolut verbindliches ius natu -21§. 9. Einleitung.rale, wohl aber die naturalis ratio der Perſonen, Dinge und Ver - hältniſſe, oder auch überhaupt das Wollen der Gerechtigkeit, in den Willen der Nationen eingeſchloſſen betrachten.
Zur letzteren Fraction gehörte bereits Samuel Rachel (1628 — 1691), der unmittelbare Gegner Pufendorfs;1Ueber ihn und ſeine Anſichten vgl. v. Ompteda §. 73. ſodann Johann Wolfgang Textor (1637 — 1701) mit einigen Andern. 2S. ebendaſ. §. 74. 75.Zur Fraction der reinen Poſitiviſten hingegen, den Männern des Her - kommens, der Geſchichte und Praxis: Cornelius van Bynkershoek (1673 — 1743),3Hauptſchrift: Quaestionum iur. publ. Libri II. Lugd. -B. 1737 und öfter. Vgl. v. Ompteda §. 150. Wheaton intern. Law. §. 7. der Chevalier Gaspard de Real;4In ſeinem 1754 erſchienenen Werk: La science du gouvernement. P. V. in Deutſch - land J. J. Moſer (1701 — 1786), der ſich faſt nur an äußere Thatſachen hielt;5Hauptſchrift dieſes unermüdlichen Publiciſten: Verſuch des N. Europ. Völkerr. 1777 — 1780. X Thle. S. außerd. v. Ompteda §. 103. v. Kamptz N. Lit. §. 35. ſodann beinahe die ganze neuere publiciſtiſche Schule, nachdem Kant das Naturrecht geſtürzt, das Recht von der Ethik und Speculation getrennt und lediglich der poſitiven Will - kühr überwieſen hatte. In dieſem Sinn lehrte und ſchrieb Gr. Friedr. v. Martens (1756 — 1821), der das gegenſeitige Recht der Nationen weſentlich auf Verträge und die daſelbſt angenomme - nen Grundſätze baute;6Seine Anſichten ſind zuerſt dargeſtellt in einem zu Göttingen erſchienenen Programm v. d. Exiſtenz eines poſitiven Europ. Völkerrechts. 1784. Seine Schriften in v. Kamptz N. Lit. §. 35 u. ſ. f. ferner Carl Gottlob Günther (geb. 1772); ſpäterhin Theodor Anton Heinrich Schmalz (1760 — 1831), Joh. Ludwig Klüber (1762 — 1835), Julius Schmelzing, Carl Hein - rich Ludwig Pölitz (1772 — 1834) und Carl Salomo Zachariä (1769 — 1843), bei denen überall das natürliche oder philoſo - phiſche Völkerrecht höchſtens als influenzirendes Motiv des Poſiti - ven, oder auch als ſubſidiariſches Recht im Fall der Noth ange - ſehen wird, ohne daß man ſieht, wie es zu dieſer Ehre kommt, worauf es ſich ſtützt und ohne daß die vorgetragenen Lehren durch - gängig als poſitive dargethan werden können. Als Gegner dieſes Syſtems iſt in neueſter Zeit Pinheiro Ferreira in ſeinen Commen -22Einleitung. §. 10.tarien zu v. Martens aufgetreten,1Le droit des gens p. G. Fr. de Martens, avec des notes p. Pinh. Fer - reira. 1831. 2 ts. im Geiſt der zuvor erwähn - ten Fraction, welche eine wiſſenſchaftliche Reflexion und Polemik nicht entbehren kann, wogegen Mr. Wheaton2Elemens of the intern. law. Lond. 1836. 2 Vls. ſich weſentlich auf die Seite der Praxis und Poſitiviſten geſtellt hat, ohne ſich der Billigkeit und Critik aus den höheren Geſichtspuncten einer allge - meinen Gerechtigkeit zu verſchließen.
Am entfernteſten von allen bisher geſchilderten Fractionen ſte - hen diejenigen, welche das Völkerrecht nur von dem Intereſſe der Staaten abhängig machen, ſei es von dem Egoismus der Indi - vidual-Intereſſen jedes Einzelſtaats, oder von den allgemeinen In - tereſſen aller Staaten, wie Montesquieu,3De l’esprit des lois. I, 3. in neuerer Zeit Jere - mias Bentham.
Auch die neueſte Philoſophie hat den Streit der Syſteme und Principien noch nicht beſeitigt. Sie glaubt entweder mit Schel - ling an eine Geſetz-Offenbarung des göttlichen Geiſtes für die Na - tionen, oder ſie vindicirt mit Hegel auch das Völkerrecht der menſch - lichen Freiheit, dem Willen, der ſich ſelbſt das Recht ſetzt oder in Gemeinſchaft mit anderen bildet.
Unſere Ueberzeugung haben wir ſchon ausgeſprochen (§§. 2. 7.).
10. So weit nicht ein gemeines klar erweisliches Völkerrecht ſeine Kraft äußert, iſt die Geſtaltung der Staatenverhältniſſe noch allezeit der freien That, dem Willen der Einzelnen überlaſſen. Eben deshalb müſſen wir, bevor wir zur Entwickelung der einzelnen Ge - genſtände unſerer Wiſſenſchaft übergehen, noch eines thatſächlichen, wenigſtens proviſoriſchen Regulators der Staatenverhältniſſe geden - ken, der Macht des Beſitzes oder des gewöhnlich ſ. g. status quo. Es iſt nämlich jeder Beſitz, den eine Perſon für ſich wiſſentlich er - greift oder ausübt, als freiheitliche That die Satzung und Erklä - rung eines ſubjectiven Rechts, welche zwar keine entgegenſtehenden objectiven Rechte beſeitigen kann, dennoch aber deren Uebung hin - dert, und ſich bis zum Ausbruch eines etwanigen Streites als Recht23§. 11. Einleitung.der freien Perſon geltend macht. Muß darum ſelbſt das geſetzliche Recht im Innern der Staaten dem Beſitz einen gewiſſen Schutz leihen, ſo verſteht ſich jene Geltung des Beſitzes um ſo viel mehr nach dem freien Recht der Nationen unter ſich. Und auch für Dritte außer den Betheiligten und deren Angehörigen iſt wenigſtens einſtweilen der Beſitzſtand eine Thatſache, welche das Recht ſelbſt vertritt und die unter ihm entſtandenen Rechtsverhältniſſe ſanctio - nirt, als wären ſie von dem wirklich Berechtigten ausgegangen;1Wir finden dieſe Lehre bei Groot, I, 4, 20. II, 4, 8. §. 3. und ſonſt. Schmalz Völkerr. 208. Klüber dr. des gens. §. 6. Dieſes Princip be - folgt auch der Päbſtliche Stuhl. M. ſ. die Erklärung deſſelben d. non. Aug. 1831. nur mag dem Willen und Rechtszuſtand deſſelben für die Zukunft kein Zwang oder Eintrag angethan werden. Anwendungen dieſes Satzes werden in der Folge ſich ergeben.
Die Natur des Beſitzes für ſich ſelbſt iſt übrigens im Völker - recht keine andere, als im Privatrecht. Nur die näheren Bedingun - gen zum richterlichen Schutz des Beſitzes kommen dort nicht in Betrag: Es genügt die Thatſache des für ſich Selbſt-Beſitzens, ausgenommen in Staatenſyſtemen, wo es eine unblutige Dikäo - doſie der Genoſſen nach beſtimmten Geſetzen giebt, wie im Deut - ſchen Bunde nach vormaligen gemeinen Reichsrechten. Nicht bloß Sachen, ſondern auch Gerechtſame (iuris quasi possessio) kann ein völkerrechtlicher Beſitzſtand ergreifen. Unwiſſend übt man kei - nen Beſitz;2S. ſchon Groot, III, 21, 26. den Staat aber vertreten hier die Organe der Staats - gewalt und deren Beauftragte.
In welchen Fällen der Beſitz auch ein wirkliches Recht giebt, wird im Folgenden bemerkt werden.
11. Rechtsverhältniſſe einzelner Staaten, die nicht ſchon nach gemeingiltigen Grundſätzen des Völkerrechts exiſtiren, können nur ge - gründet werden auf Verträge, ſodann auf Beſitzergreifung herren - oder ſtaatloſer Gegenſtände, wovon weiterhin erſt im Zuſammen - hang zu handeln iſt; außerdem aber noch auf unvordenklichen Be - ſitz (vetustas, antiquitas, res quarum memoria non existit);24Einleitung. §. 11.endlich auf Beſitz einerſeits und ſtillſchweigende Aufgebung eines bisherigen entgegenſtehenden Rechts andrerſeits. Von einer eigent - lichen beſtimmten Verjährung kann dagegen in Ermangelung poſitiver Normen unter den Nationen ſelbſt keine Rede ſein,1Eine vielbehandelte Schulfrage, — m. ſ. die Monographieen bei v. Ompteda §. 213. u. v. Kamptz §. 150. — die aber dadurch nicht weiter gebracht iſt. Die Praxis hat ſich allezeit gegen das Aufdringen eines poſitiven Inſtituts der Art geſträubt. Zuſammengeſetzte Staaten - und Bundesverhältniſſe kön - nen daſſelbe allerdings aufnehmen. So galt es ehemals unter den Mit - gliedern des Deutſchen Reichs. Unter den heutigen Souveränen Deutſch - lands iſt es aber wegen der Verhältniſſe, die ſich nicht aus jener Zeit her - ſchreiben, ſchwerlich noch anwendbar. ſo immanent auch an ſich jedem geſchloſſenen Rechtsſyſtem die Idee oder Nothwendigkeit einer Verjährung iſt. 2Richtig ſagt Pinheiro Ferreira zu Martens Not. 31, daß man droit (ei - gentlich Rechtsnothwendigkeit) und loi de préscription unterſcheiden müſſe.Die Dauer von Staa - tenrechten, welche nicht durch Zweck und Convention auf beſtimmte Zeit beſchränkt ſind, iſt daher an ſich von dem Verlauf gewiſſer Jahre nicht abhängig; ſie beſtehen ſo lange, als der Berechtigte ſie nicht aufgegeben oder in die Unmöglichkeit gekommen iſt, ſie fer - ner geltend zu machen. Eine Aufgebung kann aber erfolgen ent - weder im Wege des Vertrags oder durch einſeitige Dereliction, wodurch dann von ſelbſt ein entgegenſtehender Beſitz jeder Anfech - tung überhoben wird; eine Dereliction aber kann allerdings auch aus einem langen Zeitverlauf zu erſchließen ſein, wenn der vor - mals Berechtigte Gelegenheiten des Widerſpruchs oder der Wie - derausübung ſeines Rechts hat vorübergehen laſſen. Immer jedoch entſcheidet hier nur die Regel eines erkennbaren Verzichts. 3Uebereinſtimmend H. Groot II, 4, 1 ff. und die meiſten ſeiner Commenta - toren. Auch Pufendorf, IV, 12, 11. Vattel, II, 11, §. 149. Wheaton II, 4, §. 4.
Was den unvordenklichen Beſitzſtand betrifft,4Hierüber noch immer ſehr gut: Groot, a. a. O. §. 7 ff. Vattel, II, 11, §. 143. C. E. Waechter, de modis tollendi pacta inter gentes. Sttg. 1779. §. 39 f. de Steck, Eclaircissements de divers sujets. In - golst. 1785. Günther, Völkerr. I, 116 f. ſo kann darun - ter nur ein ſolcher gemeint ſein, wo der Beweis, daß es jemals anders war, nicht geführt werden kann und demnach die Vermu - thung entſteht, daß von Anfang an die Sache oder das Recht zu dem beſitzenden Staat gehört habe. Der jetzige aber ſchon uralte25§. 11. Einleitung.Beſitzſtand iſt eine vollendete Thatſache, wogegen die Geſchichte Nichts vermag.
Wie viele Staatenrechte, Grenzen und Beſitzungen würden nach bloß theoretiſchen Rechtsgründen, oder wenn man nach den Rechtstiteln früge, anzufechten ſein, wenn nicht das von der Ge - ſchichte geborene Alter ſie niederſchlüge?
Außerdem muß freilich auch den Staaten geſagt ſein: hundert Jahr Unrecht iſt noch kein Tag Recht.
12. Die Subjecte, auf welche ſich das Völkerrecht überhaupt bezieht, ſind:
Allen dieſen ſtehen ſchon als Vorausſetzungen oder Theilen der völ - kerrechtlichen Verbindung gewiſſe unleugbare, gleichſam angeborene (native) Rechte zu, dann aber auch nach dem Herkommen und durch Verträge beſtimmte poſitive Rechtsanſprüche, welche bald nur die Verwirklichung oder concrete Weiterführung der naturalis ratio, eines nothwendigen Gedankens, eines nativen Rechts ſind, bald aber auch rein willkührliche äußerliche Zugeſtändniſſe ohne innere Noth - wendigkeit. Rechte dieſer Art bezeichnet die diplomatiſche Sprache häufig durch Cerimonialrechte (droits cérimoniels ou de cérémo - nie). Von ihnen wird hier zunächſt nur in ſo weit die Rede ſein, als ſie in einer unmittelbaren Beziehung zu den Grundverhältniſſen der Staaten und übrigen völkerrechtlichen Perſonen ſtehen.
13. Hat ſchon der Menſch mit ſeiner Exiſtenz gewiſſe angebo - rene Rechte, ſo muß ſie auch jeder Staat, weil er ſelbſt ein Theil des Menſchengeſchlechts iſt, als giltig anerkennen und achten, das Individuum gehöre zu ihm ſelbſt, oder zu einem anderen oder noch zu gar keinem Staat. Freilich aber iſt das Daſein ſolcher Urrechte oder allgemeiner Menſchenrechte bald geleugnet, bald in größerer und kleinerer Ausdehnung behauptet worden. Gewiß ſind ſie nur eine Wahrheit für Staaten, deren Geſetz die Sittlichkeit des Wil - lens iſt, und jeder derſelben kann dann auch wenigſtens für ſeine Unterthanen die Anerkennung dieſer Menſchenrechte in Anſpruch neh - men, keiner die Achtung oder das Verbleiben in dem Kreiſe der Uebrigen verlangen, wenn er dieſe Rechte ſelbſt an den ihm frem - den Perſonen mißkennet oder zu Boden tritt.
14. Alle Rechte nun, welche nach der Sittlichkeit dem Indi - viduum unabweislich zugeſtanden werden müſſen, concentriren ſich in dem Begriff der Freiheit, von ihrer objectiven Seite betrachtet; der Menſch iſt zum Menſchen geboren, d. i. der menſchlichen Na - tur und ihrem Entwickelungsgange gemäß phyſiſch und ſittlich zu exiſtiren; der Staat als Theil des Menſchengeſchlechts und für daſſelbe, darf dieſe Exiſtenz nicht ſtören oder unterdrücken; vielmehr hat er ihre freie Entwickelung durch Entfernung von Hinderniſſen zu befördern; gegen den überhaupt oder vorübergehend zur Freiheit, zu einem vernünftigen für ſich ſelbſt Handeln Unfähigen beſteht ſogar die Verpflichtung Aller, mithin auch des Staates, ihn mit den nothwendigſten Bedürfniſſen zu unterſtützen, zum vernünftigen Men - ſchen zu erziehen, oder doch approximativ auf der Höhe und in der Verbindung ſittlicher Menſchen zu erhalten. Aber kein Menſch kann28Erſtes Buch. §. 15.das Eigenthum eines Anderen, ſelbſt nicht des Staates ſein, kein Staat darf Sclaverei dulden. 1Nur einzelne Analogien der Sclaverei finden ſich noch im chriſtlichen Europa. Nicht ſowohl der Staat erhält dieſe, als vielmehr der Egoismus der Leib - herren. Sonſt herrſcht ſchon der Grundſatz vor: die Luft macht frei. So in Frankreich, Großbritannien, mit einer kleinen Modification auch in Preu - ßen. Ueber die allmählige Abſchaffung der Sclaverei vgl. man Biot, l’abo - lition de l’esclavage ancien. Par. 1841. Eine neue Aera hat für die Abſchaffung in Europäiſchen Colonien begonnen, namentlich ſeit der Engl. Parl. -Acte 3. 4. Will. 4. c. 73, vom 1. Aug. 1834 an. Der Höhe - punct der jetzigen Civiliſation macht überflüßig, das Princip der Sclaverei noch zu bekämpfen. Kein Theil des Menſchengeſchlechts hat eine Beſtim - mung dazu. Man vgl. Warnkönigs Bemerkungen in ſ. Rechtsphiloſophie S. 286. Foelix Revue étrangère t. IV et V. Esclavage et Traite des N. p. Agenor de Gasparin. Par. 1838.
15. Zergliedert man den Inhalt der menſchlichen Freiheit, d. i. der vernünftigen Exiſtenz des Individuums näher, ſo laſſen ſich weiter folgende Einzelrechte darin erkennen:
Erſtens: Freie Wahl des Ortes der Exiſtenz. Kein Menſch iſt zur Scholle eines beſtimmten Staates unabänderlich geboren. Das gemeinſame Vaterland iſt die Erde; der Einzelne muß über - all ſeine Heimath aufſchlagen können, wo er ſich am Meiſten in ſeiner Freiheit zu bewegen vermag; ja es kann Pflicht ſein, ſich nach einer anderen Stelle der Erde zu begeben, um ſeine Freiheit zu retten. Das Recht der Auswanderung iſt alſo ein unentziehba - res; nur ſelbſtauferlegte oder verſchuldete Verpflichtungen können es beſchränken;2Die zuläßigen Beſchränkungen ſ. in der Unterabth. 4. dieſes Abſchnitts. Die ältere Staatstheorie und Praxis war bei dieſer Frage ſehr befangen. Schriften ſ. in v. Kamptz Lit., §. 122. Heutzutage beſteht im Princip kaum noch ein Zweiſpalt. Selbſt v. Haller erkennt es als ein fundamentales an. nur moraliſche, nicht äußere Bande machen ein Land zum Vaterlande.
Zweitens: Erhaltung und Entwickelung der phyſiſchen Per - ſönlichkeit; daher das Recht ſich die Natur für die nothwendigen und nützlichen Bedürfniſſe des Lebens dienſtbar zu machen, Eigen - thum zu haben, es zu erhalten und zu erweitern in freiem Aus - tauſch mit anderen; ferner das Recht der Selbſtfortpflanzung durch Ehe und Kinderzeugung; alles in den Schranken der Sittlichkeit.
Drittens: das Recht der geiſtigen Perſönlichkeit, als Menſch auch geiſtig zu exiſtiren[und] zu entwickeln; ſich ein Wiſſen zu er -29§. 16. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.werben und im Verkehr mit anderen zu berichtigen; endlich auch ein religiöſes Bewußtſein über das Verhältniß zur unſichtbaren Welt ſich anzueignen um darnach zu leben.
In dieſen Stücken beſteht das Privatrecht der Menſchen. Der Staat ſchafft es nicht erſt, ſondern empfängt es als ein Gegebe - nes; er hat ihm nur die Ordnung und richtigen Grenzen vorzu - zeichnen, und die Mittel zu ſeiner Realiſirung zu gewähren. Ja, er muß, wo dieſe nicht ausreichen, dem Einzelnen die Selbſtver - theidigung ſeines Rechtsſtandes geſtatten, wie dieſe außer dem Staat das einzige Mittel ſeiner Erhaltung iſt.
Nur durch Verbrechen, d. h. durch Auflehnung gegen das We - ſentliche der Staatsordnung ſelbſt, kann es ganz oder theilweiſe verwirkt werden.
16. Staaten ſind die vereinzelten ſtetigen Verbindungen von Menſchen unter Einem Geſammtwillen für die ſittlichen und äu - ßeren Bedürfniſſe der menſchlichen Natur. Ihre gemeinſame Auf - gabe iſt die vernünftige Entfaltung des Menſchen in ſeiner Frei - heit. Denn der Staat an ſich iſt die praktiſche, das ganze Leben umfaſſende Vernunft. Aber es giebt keinen Univerſalſtaat. Gäbe es einen ſolchen, ſo müßten Alle dagegen kämpfen, um ihn wieder in die nationalen Stoffe aufzulöſen, in den Bau von Einzelſtaa - ten, in welchen ſich die menſchliche Kraft allein im gehörigen Maaß und Gleichmaaß entwickeln kann. Zur Exiſtenz jener Einzelſtaaten gehört nun:
Wo Eines oder das Andere fehlt oder anders iſt, da ſind entwe - der nur Embryonen oder Uebergänge zum Staat vorhanden, oder Geſellſchaftsaggregate zu einzelnen beſtimmten Zwecken; Horden oder Naturſtaaten, die ohne inneren Bildungsſtoff in ſich ſelbſt zergehen. Auch die geſchichtliche oder Weltbedeutung der wirklichen Staaten iſt bald nur eine vorübergehende mechaniſche (états de fait, de circonstance), welche ſich entweder ganz wieder auflöſen oder der Kern der anderen werden, bald aber auch eine bleibende natürliche, auf Naturfülle und Nationaleinheit gegründete.
17. Außerweſentlich iſt für das Völkerrecht im Allgemeinen das größere oder geringere Gewicht, welches ein Staat in die Wag - ſchale der Völkerereigniſſe zu legen vermag. 1Für das phyſiſche Leben der Staaten, für die Staatspraxis und Staats - kunſt iſt der Unterſchied der Macht natürlich von großer Bedeutung. Die dabei angenommene Eintheilung in Staaten des erſten, zweiten und drit - ten, auch wohl vierten Ranges hat ihren guten Grund und iſt eine unleug - bare Wahrhtit, nur aber nicht auf Bevölkerungsverhältniſſe numeriſch ſtreng zurückzuführen.Erheblicher iſt für die internationalen Verhandlungen die innere Verfaſſung der Ein - zelſtaaten, weil davon die Dispoſitionsfähigkeit der Regierungen ab - hängig iſt, obgleich ihre Herſtellung nicht den Staaten unter ſich, ſondern vielmehr jedem Staat in ſich ſelbſt weſentlich zuſteht. Von dieſer Seite betrachtet giebt es zwei Hauptarten der Staaten, nämlich
deren jede ihre natürlichen haltbaren Unterarten hat. Nebenbei lie - gen die Ausartungen (Parekbaſen von Ariſtoteles genannt) ſo wie die Miſchungen.
Das Weſen der wahren Monarchie iſt die auf anerkannten Ge - ſetzen oder anderen rechtlichen Grundlagen beruhende Alleinherrſchaft, welche nach vernünftigen Geſetzen regiert. Hierunter iſt begriffen die unbeſchränkte Monarchie, wo Wille des Herrſchers und der Staat identiſch ſind (l’état c’est moi) und der Monarch formell nicht Unrecht thun kann; dann: die beſchränkte Monarchie, wo die Regierung ſelbſt auch be - ſtimmten Geſetzen dem Volk gegenüber unterworfen und verantwort - lich, das Volk ein Rechtsbegriff iſt.
Die Benennungen der monarchiſchen Staaten richten ſich her - kömmlich nach den Titeln des Staatsoberhauptes. Dieſe aber ſind der Königs - und Kaiſertitel, wovon jener der älteſte und gewiſſermaßen urſprüngliche iſt, einen Herrn1Vgl. Grimm d. Rechts Alterth. 229. bezeichnend, die - ſer, der Imperatorentitel, der ſpätere, einen Befehlenden an - deutend; der Fürſtentitel, germaniſchen und ſlaviſchen Urſprungs, ur - ſprünglich nur einen Erſten im Staat anzeigend, mit verſchie - denen Abſtufungen aus dem Lehnſtaat des Mittelalters, Her - zog, Fürſt, Graf u. ſ. w. Als Mittelſtufe zwiſchen König und Fürſten hat ſich ſeit dem 16ten Jahrh. der Titel eines Großherzogs2Zuerſt für Toscana, durch päbſtliche und kaiſerliche Verleihung (ſeit 1569 resp. 1575). Pfeffinger, Vitr. illustr. I, 747. 748. gebildet.
Neben der Monarchie liegt die Tyrannis oder Uſurpation, wenn ein Einzelner nicht durch Recht ſondern durch Gewalt und Furcht herrſcht.
Ein Gemeinweſen iſt überhaupt vorhanden, wo es keine bloß Herrſchenden und gegenüber nur Gehorchende giebt, ſondern die Herr - ſchenden zugleich auch gehorchen und beherrſcht werden. Hierunter iſt begriffen: die reine Demokratie, wo alle natürlich fähigen Glieder des Volks zugleich an der Ausübung der Staatsgewalt Theil haben; die Ariſtokratie, wo nur Bevorrechtete herrſchen, eine Selbſtre -32Erſtes Buch. §. 18.gierung des Volks mit Ungleichheit, bald Timokratie, bald Fami - lienherrſchaft, bald Geldherrſchaft.
Eine Ausartung des Gemeinweſens iſt die Ochlokratie oder die wandelbare Herrſchaft des augenblicklichen Willens der Maſſe.
Die hiſtoriſche Stufenfolge der Staatsverfaſſungen iſt:
Den fruchtbarſten Boden hat das conſtitutionelle Princip im Weſten, Süd - und Nordweſt Europa’s gefunden. Abgeſchloſſen wird es gegen den ſlaviſchen und orientaliſchen Staat durch einen Gür - tel der mannigfaltigſten Staatennüancirungen, der von Italien durch das öſtliche und nördliche Deutſchland bis nach Dänemark ſich her - überzieht. Nebenher ſtehen unter den monarchiſchen Staaten ver - einzelte republikaniſche Gemeinweſen, theils von demokratiſcher theils ariſtokratiſcher Färbung.
Nähere Betrachtungen hierüber gehören dem Staatsrecht an.
33§§. 18. 19. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.18. Das weſentlichſte Kennzeichen eines wirklichen Staates be - ſteht in dem organiſchen Daſein einer eigenen vollkommenen Staats - gewalt. Ihre Ausſchließlichkeit und Unabhängigkeit von äußerem Einfluß iſt die völkerrechtliche Souveränetät der Staaten. Jedoch iſt letztere nicht immer in gleicher Weiſe, weder factiſch noch recht - lich vorhanden; unter den mancherlei Staatengebilden laſſen ſich in dieſer Hinſicht folgende Categorien erkennen:
Ueberdieß kann ſelbſt der völlig ſouveräne Staat in ſeinen äu - ßeren Beziehungen beſtimmten weſentlichen Beſchränkungen unter - worfen ſein (§. 22.).
19. Halbſouveränetät iſt zwar ein überaus vager Begriff, ja ein Widerſpruch in ſich, da der Ausdruck Souveränetät gerade die abſolute Negation jeder äußeren Abhängigkeit bedeutet und eine Beſchränkung dieſer Negation im Allgemeinen eine große, ja zahl - loſe Menge von Abſtufungen zuläßt, welche ſich nicht auf Zahlen - verhältniſſe zurückführen laſſen. In ſo fern jedoch die Souverä -334Erſtes Buch. §. 20.netät eine weſentlich doppelte Bedeutung und Wirkſamkeit hat, eine äußere, anderen Staaten gegenüber, und eine innere, in dem Be - reich des eigenen Staats, wovon letztere freilich auch regelmäßig die Baſis der erſteren iſt, kann man, wo zwar dieſe Baſis vorhan - den, jedoch die äußere Wirkſamkeit durch eine höhere Macht ent - zogen iſt, das Verhältniß der Staatsgewalt eine Halbſouveränetät nennen. Dieſem Verhältniß entſprach vormals1Aus der älteren Geſchichte laſſen ſich hieher die abhängigen Bundesgenoſ - ſen der Athener, dann die von den Römern unterworfenen populi liberi, mit der Bedingung: ut majestatem P. R. comiter conservarent (vgl. L. 7. §. 1. D. de captiv. ) rechnen. Das Verhältniß der ſeit 1806 mediatiſir - ten deutſchen Reichsſtände iſt, ſoweit es nach der deutſchen Bundesacte Art. 14. ausſchließlich regulirt iſt, noch keine Halbſouveränetät zu nennen. die deutſche lan - desherrliche Gewalt,2Günther, Völkerr. I, S. 121. vor ihrer letzten faſt maaßloſen Ausdehnung, ſo lange es noch eine kräftige Reichseinheit gab. Beiſpiele in heu - tiger Zeit ſind die Herrſchaft Kniphauſen in Norddeutſchland, mit allen Rechten der inneren Landeshoheit, des Seehandels und einer eigenen Flagge, unter dem Schutze des Deutſchen Bundes und un - ter der Hoheit, welche Oldenburg anſtatt der ehemaligen Deutſchen Reichsſtaatsgewalt, jedoch ohne das Recht der Geſetzgebung aus - zuüben hat3Das Verhältniß dieſer kleinen Herrſchaft iſt unter K. Oeſterreichiſcher, K. Preußiſcher und K. Ruſſiſcher Vermittelung durch freien Vertrag zwiſchen Oldenburg und dem letztverſtorbenen Beſitzer, Grafen von Bentinck, näher regulirt, und dieſes ſ. g. Berliner Abkommen d. d. 5. Juni 1825 durch Be - ſchluß des Deutſchen Bundes vom 9. Juni 1829 unter die Garantie deſ - ſelben genommen worden, vorbehaltlich der wohlbegründeten Rechte dritter Perſonen.; ſodann die Republik Poglizza in Dalmatien unter Oeſterreichiſcher Hoheit; endlich die Wahl-Fürſtenthümer der Mol - dau und Wallachei und das Erb-Fürſtenthum Serbien unter Tür - kiſcher Hoheit,4Die neueſten Beſtimmungen über ſie ſind durch den Frieden von Adria - nopel 1829 getroffen. Wegen der Ruſſiſchen Schutzgewalt über die Für - ſtenthümer der Moldau und Wallachei vgl. §. 22. der Barbareskenſtaaten nicht zu gedenken.
Das Recht des vorgeſetzten Souveräns wird gewöhnlich Ho - heit, Oberhoheit, auch suzeraineté genannt. 5Eigentlich bedeutet das Wort suzerain den Lehnsherrn.
20. Staatenvereine (unirte Staaten) entſtehen6Eine etwas verſchiedene Claſſification der Staatenvereine findet ſich in Klüber dr. des gens §. 27. ent -35§. 20. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.weder durch die zufällige Beherrſchung von einem und demſelben Sou - verän (unio personalis), wobei aber jeder Staat dem anderen völ - lig fremd bleiben und nur Bekriegung des einen durch den anderen faſt undenkbar wird, wenn beide gleich ſelbſtändig ſind und beſonders der Souverän beide gleich unabhängig regiert; oder die einzelnen Staaten ſtehen mit einander ſelbſt in Verbindung, ſo daß ihre Schick - ſale ganz oder theilweis gemeinſam werden (unio realis). Die ein - zelnen Abſtufungen dabei ſind